IrEORL. BUCHNER
S^^MTLICHE WERKE
UND BRIEFE
INSEl,- AUSGABE
Presented to the
LIBRARY ofthe
UNIVERSITY OF TORONTO
by
Peter Kaye
GEORG BÜCHNERS
SÄMTLICHE WERKE
UND BRIEFE
-ÄB^--».^„ --
LEIPZIG
MDCCCCXXII
IM INSELVERLAG
DICHTUNG -vf
DANTONS TOD
EIN DRAMA
PERSONEN
Deputierte
Mitglieder des Wohlfahrtsausschusses
GEORG DANTON
LEGENDRE
CAMILLE DESMOULINS
HERAÜLT-SECHELLES
LACROIX
PHILIPPEAU
FABRE D'EGLANTINE
MERCIER
THOMAS PAYNE
ROBESPIERRE
ST. JUST
BARERE
COLLOT D'HERBOIS
BILL AUD - VARENNES
CHAUMETTE, Prokurator des Gemeinderats
DILLON, ein General
FOUQUIER-TINVILLE, öffentlicher Ankläger
HERRMANN
DUMAS
PARIS, ein Freund Dantons
SIMON, Souffleur
LAFLOTTE
JULIE, Dantons Gattin
LUCILE, Gattin des Camille Desmoulins
ROSALIE ]
ADELAIDE l Grisetten
MARION
Präsidenten des Revolutionstribunales
Männer und Weiber aus dem Volk, Grisetten,
Deputierte, Henker etc.
) 9 c
ERSTER AKT
H^rault-SühcUes^ einige Damen [am Spieltisch).
Danton^ Julie (etwas weiter zaeg, Danton auf einem Schemel
zu den Füßen von Julie).
DANTON. Sieh die hübsche Dame, wie artig sie die
Karten dreht! Ja wahrhaftig, sie versteht's; man sagt, sie
halte ihrem Manne immer das coeur und andern Leuten
das carreau hin. — Ihr könntet einen noch in die Lüge
verliebt machen.
JULIE. Glaubst du an mich?
DANTON. Was weiß ich! Wir wissen wenig voneinander.
Wir sind Dickhäuter, wir strecken die Hände nachein-
ander aus, aber es ist vergebliche Mühe, wir reiben nur
das grobe Leder aneinander ab — wir sind sehr einsam.
JULIE. Du kennst mich, Danton.
DANTON. Ja, was man so kennen heißt. Du hast dunkle
Augen und lockiges Haar und einen feinen Teint und sagst
immer zu mir: lieber Georg! Aber (er deutet ihr auf
Stirn und Augen) da, da, was liegt hinter dem: Geh, wir
haben grobe Sinne. Einander kennen.^ Wir müßten uns
die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken ein-
ander „aus den Hirnfasern zerren. —
EINE DAME {zu mrault). Was haben Sie nur mit Ihren
Fingern vor:
HfiRAULT. Nichts!
DAME. Schlagen Sie den Daumen nicht so ein, es ist
nicht zum An sehn!
HßRAULT. Sehn Sie nur, das Ding hat eine ganz eigne
Physiognomie. —
DANTON. Nein, Julie, ich liebe dich wie das Grab.
JULIE (sich abwendend). O!
DANTON. Nein, höre! Die Leute sagen, im Grab sei
Ruhe, und Grab und Ruhe seien eins. Wenn das ist, lieg
ich in deinem Schoß schon unter der Erde. Du süßes
Grab, deine Lippen sind Totehglocken, deine Stimme ist
mein Grabgeläute, deine Brust mein Grabhügel und dein
Herz mein Sarg. —
DAME. Verloren!
lo DICHTUNGEN
HfiRAULT. Das war ein verliebtes Abenteuer, es kostet
Geld wie alle andern.
DAME. Dann haben Sie Hire Liebeserklärungen, wie ein
Taubstummer, mit den Fingern gemacht.
HßRAULT. Ei, warum nicht.^ Man will sogar behaupten,
gerade die würden am leichtesten verstanden. — Ich zet-
telte eine Liebschaft mit einer Kartenkönigin an; meine
Finger waren in Spinnen verwandelte Prinzen, Sie, Ma-
dame, waren die Fee; aber es ging schlecht, die Dame
lag immer in den Wochen, jeden Augenblick bekam sie
einen Buben. Ich würde meine Tochter dergleichen nicht
spielen lassen, die Hen-en und Damen fallen so unanstän-
dig übereinander und die Buben kommen gleich hintennach.
Camille Desmouli?ts und Philippe au treten ein.
HßRAULT. Philippeau, welch trübe Augen! Hast du dir
ein Loch in die rote Mütze gerissen? Hat der heilige Ja-
kob ein böses Gesicht gemacht? Hat es während des
Guillotinierens geregnet? Oder hast du einen schlechten
Platz bekommen und nichts sehen können?
CAMILLE. Du parodierst den Sokrates. Weißt du auch,
was der Göttliche den Alcibiades fragte, als er ihn eines
Tages finster und niedergeschlagen fand: ''Hast du r^' einen
Schild auf dem Schlachtfeld verloren? Bist du im Wett-
lauf oder im Schwertkampf besiegt worden? Hat ein and-
rer besser gesungen oder besser die Zither geschlagen?"
Welche klassischen Republikaner! Nimm einmal unsere
Guillotinenromantik dagegen!
PHILIPPEAU. Heute sind wieder zwanzig Opfer gefallen.
Wir waren im Irrtum, man hat die Hebertisten nur aufs
Schafott geschickt, weil sie nicht systematisch genug ver-
fuhren, vielleicht auch, weil die Dezemvirn sich verloren
glaubten, wenn es nur eine Woche Männer gegeben hätte,
die man mehr fürchtete als sie.
HßRAULT. Sie möchten uns zu Antediluvianern machen.
St. Just sah es nicht ungern, wenn wir wieder auf allen
Vieren kröchen, damit uns der Advokat von Arras nach
der Mechanik des Genfer Uhrmachers Fallhütchen, Schul-
bänke und einen Herrgott erfände.
DANTONS TOD. ERSTER AKT ii
PHILIPPEAU. Sie würden sich nicht scheuen, zu dem
Behuf an Marats Rechnung noch einige Nullen zu hängen.
Wie lange sollen wir noch schmutzig und blutig sein wie
neugeborne Kinder, Särge zur Wiege haben und mit Köpfen
spielen? Wir müssen vorwärts: der Gnadenausschuß muß
durchgesetzt, die ausgestoßnen Deputierten müssen wieder
aufgenommen werden!
HERAULT. Die Revolution ist in das Stadium der Re-
organisation gelangt. — Die Revolution muß aufhören, und
die Republik muß anfangen. — In unsern Staatsgrundsätzen
muß das Recht an die Stelle der Pflicht, das Wohlbefinden
an die der Tugend und die Notwehr an die der Strafe
treten. Jeder muß sich geltend machen und seine Natur
durchsetzen können. Er mag nun vernünftig oder unver-
nünftig, gebildet oder ungebildet, gut oder böse sein, das
geht den Staat nichts an. Wir alle sind Narren, es hat
keiner das Recht, einem andern seine eigentümliche Narr-
heit aufzudringen. — Jeder muß in seiner Art genießen
können, jedoch so, daß keiner auf Unkosten eines andern
genießen oder ihn in seinem eigentümlichen Genuß stö-
ren darf.
CAMILLE. Die Staatsform muß ein durchsichtiges Ge-
wand sein, das sich dicht an den Leib des Volkes schmiegt.
Jedes Schwellen der Adern, jedes Spannen der Muskeln,
jedes Zucken der Sehnen muß sich darin abdrücken. Die
Gestalt mag nun schön oder häßlich sein, sie hat einmal
das Recht, zu sein^ wie sie ist; wir sind nicht berechtigt,
ihr ein Röcklein nach Beheben zuzuschneiden. — Wir wer-
den den Leuten, welche über die nackten Schultern der
allerliebsten Sünderin Frankreich den Nonnenschleier
werfen wollen, auf dieFinger schlagen. — Wir wollen nackte
Götter, Bachantinnen, olympische Spiele und melodische
Lippen; ach, die gliederlösende, böse Liebe! — Wir wollen
den Römern nicht verwehren, sich in die Ecke zu setzen
und Rüben zu kochen, aber sie sollen uns keine Gladiator -
spiele mehr geben wollen. — Der göttliche Epikur und die
Venus mit dem schönen Hintern müssen statt der Heiligen
Marat und Chalier die Türsteher der Republik werden. —
Danton, du wirst den Angriff im Konvent machen!
12 DICHTUNGEN
DANTON. Ich werde, du wirst, er wird. Wenn wir bis
dahin noch leben! sagen die alten Weiber. Nach einer
Stunde werden sechzig Minuten verflossen sein. Nicht
wahr, mein Junge .^
CAMILLE. Was soll das hier: Das versteht sich von
selbst.
DANTON. O, es versteht sich alles von selbst. Wer soll
denn all die schönen Dinge ins Werk setzen:
PHILIPPEAU. Wir und die ehrlichen Leute.
DANTON. Das ''und" dazwischen ist ein langes Wort,
es hält uns ein wenig weit auseinander; die Strecke ist
lang, die Ehrlichkeit verliert den Atem, eh wir zusammen-
kommen. Und wenn auch! — den ehrlichen Leuten kann
man Geld leihen, man kann bei ihnen Gevatter stehn und
seine Töchter an sie verheiraten, aber das ist alles!
CAMILLE. Wenn du das weißt, warum hast du den Kampf
begonnen:
DANTON. Die Leute waren mir zuwider. Ich konnte der-
gleichen gespreizte Katonen nie ansehn, ohne ihnen einen
Tritt zu geben. Mein Natiu-ell ist einmal so. [Er erheb fsic/i.)
JULIE. Du gehst:
DANTON [ZU Julie). Ich muß fort, sie reiben mich mit
ihrer Politik noch auf. — (/w Hinausgehn-) Zwischen Tür
und Angel will ich euch prophezeien: die Statue der Frei-
heit ist noch nicht gegossen, der Ofen glüht, wir alle
können uns noch die Finger dabei verbrennen. [Ab^
CAMILLE. Laßt ihn! Glaubt ihr, er könne die Finger
davon lassen, wenn es zum Handeln kömmt:
H^RAULT. Ja, aber bloß zum Zeitvertreib, wie man
Schach spielt.
EINE GASSE
Siinon\ sein Weib.
SIMON (schlagt das JVeib). Du Kuppelpelz, du runzliche
Sublimatpille, du wurmstichischer Sündenapfel!
WEIB. He, Hülfe! Hülfe!
Es kommen LEUTE gelaufen: Reißt sie auseinander, reißt
sie auseinander!
DANTONS TOD. ERSTER AKT 1 3
SIMON. Nein, laßt mich, Römer! Zerschellen will ich
dies Geripp! Du Vestalin!
WEIB. Ich eine Vestalin: Das will ich sehen, ich.
SIMON. So reiß ich von den Schultern dein Gewand.
Nackt in die Sonne schleudr' ich dann dein Aas.
DuHurenbett, in jeder Runzel deines Leibes nistet Unzucht.
[Sie werde?i getrennt.)
ERSTER BÜRGER. Was gibt's?
SIMON. Wo ist die Jungfrau? Sprich! Nein, so kann ich
nicht sagen. Das Mädchen! Nein, auch das nicht. Die
Frau, das Weib! Auch das, auch das nicht! Niu: noch ein
Name; o, der erstickt mich! Ich habe keinen Atem dafür.
ZWEITER BÜRGER. Das ist gut, sonst würde der Name
nach Schnaps riechen.
SIMON. Alter Virginius, verhülle dein kahl[es] Haupt—
der Rabe Schande sitzt darauf und hackt nach deinen
Augen. Gebt mir ein Messer, Römer! [Er sinkt inn.)
WEIB. Ach, er ist sonst ein braver Mann, er kann nur
nicht viel vertragen; der Schnaps stellt ihm gleich ein Bein.
ZWEITER BÜRGER. Dann geht er mit dreien.
WEIB. Nein, er fällt.
ZWEITER BÜRGER. Richtig, erst geht er mit dreien,
und dann fällt er auf das dritte, bis das dritte selbst wieder
fällt.
SIMON. Du bist die Vampirzunge, die mein wärmstes
Herzblut trinkt.
WEIB. Laßt ihn nur, das ist so die Zeit, worin er immer
gerührt wird; es wird sich schon geben.
ERSTER BÜRGER. Was gibt's denn?
WEIB. Seht ihr: ich saß da so auf dem Stein in der Sonne
und wärmte mich, seht ihr — denn wir haben kein Holz,
seht ihr—
ZWEITER BÜRGER. So nimm deines Mannes Nase.
WEIB. Und meine Tochter war da hinuntergegangen um
die Ecke — sie ist ein braves Mädchen und ernährt ihre
Eltern.
SIMON. Ha, sie bekennt!
WEIB. Du Judas! hättest du nur ein paar Hosen hinauf-
zuziehen, wenn die jungen Herren die Hosen nicht bei ihr
14 DICHTUNGEN
herunterließen? Du Branntweinfaß, willst du verdursten,
wenn das Brünnlein zu laufen aufhört, he: — Wir arbeiten
mit allen Gliedern, warum denn nicht auch damit; ihre
Mutter hat damit geschafft, wie sie zur Welt kam, und es
hat ihr weh getan; kann sie für ihre Mutter nicht auch
damit schaffen, he? und tut's ihr auch weh dabei, he? Du
Dummkopf!
SIMON. Ha, Lukretia! ein Messer, gebt mir ein Messer,
Römer! Ha, Appius Claudius!
ERSTER BÜRGER. Ja, ein Messer, aber nicht für die
arme Hure! Was tat sie? Nichts! Ihr Hunger hurt und
bettelt. Ein Messer für die Leute, die das Fleisch unserer
Weiber und Töchter kaufen! Weh über die, so mit den
Töchtern des Volkes hm-en! H-ir habt Kollern im Leib,
und sie haben Magendrücken; ihr habt Löcher in den
Jacken, und sie haben warme Röcke; ihr habt Schwielen
in den Fäusten, und sie haben Samthände. Ergo ihr ar-
beitet, und sie tun nichts; ergo ihr habt's erworben, und
sie haben's gestohlen; ergo wenn ihr von eurem gestohlnen
Eigentum ein paar Heller wiederhaben wollt, müßt ihr
huren und bettlen; ergo sie sind Spitzbuben, und man muß
sie totschlagen!
DRITTER BÜRGER. Sie haben kein Blut in den Adern,
als was sie uns ausgesaugt haben. Sie haben uns gesagt:
schlagt die Aristokraten tot, das sind Wölfe! Wir haben
die Aristokraten an die Laternen gehängt. Sie haben ge-
sagt: das Veto frißt euer Brot; wir haben das Veto tot-
geschlagen. Sie haben gesagt: die Girondisten hungern
euch aus; wir haben die Girondisten guillotiniert. Aber
sie haben die Toten ausgezogen, und wir laufen wie zuvor
auf nackten Beinen und frieren. Wir wollen ihnen die
Haut von den Schenkeln ziehen und uns Hosen daraus
machen, wir wollen ihnen das Fett auslassen und unsere
Suppen mit schmelzen. Fort! Totgeschlagen, wer kein
Loch im Rock hat!
ERSTER BÜRGER. Totgeschlagen, wer lesen und schrei-
ben kann!
ZWEITER BÜRGER. 1 otgeschlagen, wer auswärts geht!
ALLE (schreieii). Totgeschlagen! Totgeschlagen!
DANTONS TOD. ERSTER AKT 15
Einige schleppen einen jungen Menschen herbei.
EINIGE STIMMEN. Er hat ein Schnupftuch! ein Aristo-
krat! an die Laterne! an die Laterne!
ZWEITER BÜRGER. Wasr er schneuzt sich die Nase
nicht mit den Fingern? An die Laterne! {Eine Laterne
wird heruntergelassen?^
JUNGER MENSCH. Ach, meine Herren!
ZWEITER BÜRGER. Es gibt hier keine Herren! An die
Laterne!
EINIGE singen-.
Die da liegen in der Erden,
Von de Wurm gefresse werden;
Besser hangen in der Luft,
Als verfaulen in der Gruft!
JUNGER MENSCH. Erbarmen!
DRITTER BÜRGER. Nur ein Spielen mit einer Hanf-
locke um den Hals! 's ist nur ein Augenblick, wir sind
barmherziger als ihr. Unser Leben ist der Mord diurch Ar-
beit; wir hängen sechzig Jahre lang am Strick und zapplen,
aber wir werden uns losschneiden. — An die Laterne!
JUNGER MENSCH. Meinetwegen, ihr werdet deswegen
nicht heller sehen.
DIE UMSTEHENDEN. Bravo! Bravo!
EINIGE STIMMEN. Laßt ihn laufen! (Er entwischt)
Robespierre tritt auf^ begleitet von Weibern und Ohnehosen.
ROBESPIERRE. Was gibt's da, Bürger?
DRITTER BÜRGER. Was wird's geben? Die paar Tropfen
Bluts vom August und September haben dem Volk die
Backen nicht rot gemacht. Die Guillotine ist zu langsam.
Wir brauchen einen Platzregen!
ERSTER BÜRGER. Unsere Weiber und Kinder schreien
nach Brot, wir wollen sie mit Aristokratenfleisch füttern.
He! totgeschlagen, wer kein Loch im Rock hat!
ALLE. Totgeschlagen! Totgeschlagen!
ROBESPIERRE. Im Namen des Gesetzes!
ERSTER BÜRGER. Was ist das Gesetz?
ROBESPIERRE. Der Wille des Volks.
i6 DICHTUNGEN
ERSl'ER BÜRGER. Wir sind das Volk, und wir wollen,
daß kein Gesetz sei; ergo ist dieser Wille das Gesetz, ergo
im Namen des Gesetzes gibt's kein Gesetz mehr, ergo
totgeschlagen!
EINIGE STIMMEN. Hört den Aristides! hört den Un-
bestechlichen!
EIN WEIB. Hört den Messias, der gesandt ist, zu wählen
und zu richten; er wird die Bösen mit der Schärfe des
Schwertes schlagen. Seine Augen sind die Augen der
Wahl, und seine Hände sind die Hände des Gerichts!
ROBESPIERRE. Armes, tugendhaftes Volk! Du tust deine
Pflicht, du opferst deine Feinde. Volk, du bist groß! Du
offenbarst dich unter Blitzstrahlen und Donnerschlägen.
Aber, Volk, deine Streiche dürfen deinen eignen Leib
nicht verwunden; du mordest dich selbst in deinem Grimm.
Du kannst nur durch deine eigne Kraft fallen, das wissen
deine Feinde. Deine Gesetzgeber wachen, sie werden deine
Hände führen; ihre Augen sind untrügbar, deine Hände
sind unentrinnbar. Kommt mit zu den Jakobinern! Eure
Brüder werden euch ihre Arme öffnen, wir werden ein
Blutgericht über unsere Feinde halten.
VIELE STIMMEN. Zu den Jakobinern! Es lebe Robes-
pierre! [Alle ab.)
SIMON. Weh mir, verlassen! [Er versucht sich aufzic-
richte7i.)
WEIB. Da! {Sie unterstützt ihn.)
SIMON. Ach meine Baucis, du sammelst Kohlen auf mein
Haupt.
WEIB. Da steh!
SIMON. Du wendest dich ab: Ha, kannst du mir ver-
geben, Portiar Schlug ich dich? Das war nicht meine
Hand, war nicht mein Arm, mein Wahnsinn tat es.
Sein Wahnsinn ist des ir,rmen Hamlet Feind.
Hamlet tat's nicht, Hamlet verleugnet's.
Wo ist unsre Tochter, wo ist mein Sannchen?
WEIB. Dort um das Eck herum.
SIMON. Fort zu ihr! Komm, mein tugendreich Gemahl.
[Beide ab.)
DANTONS TOD. ERSTER AKT 1 7
DER JAKOBINERKLUB
EIN LYONER. Die Brüder von Lyon senden uns, um in
eure Brust ihren bittren Unmut auszuschütten. Wir wissen
nicht, ob der Karren, auf dem Ronsin zur Guillotine fulir,
der Totenwagen der Freiheit war, aber wir wissen, daß
seit jenem Tage die Mörder Chaliers wieder so fest auf
den Boden treten, als ob es kein Grab für sie gäbe. Habt
ihr vergessen, daß Lyon ein Flecken auf dem Boden Frank-
reichs ist, den man mit den Gebeinen der Verräter zu-
decken muß? Habt ihr vergessen, daß diese Hure der
Könige ihren Aussatz nur in dem Wasser der Rhone ab-
waschen kann.- Habt ihr vergessen, daß dieser revolutio-
näre Strom die Flotten Pitts im Mittelmeere auf den Lei-
chen der Aristokraten muß stranden machen: Eure Barm-
herzigkeit mordet die Revolution. Der Atemzug eines
Aristokraten ist das Röcheln der Freiheit. Nur ein Feig-
ling stirbt für die Republik, ein Jakobiner tötet für sie.
Wißt: finden wir in euch nicht mehr die Spannkraft der
^Männer des 10. August, des September und des 31. Mai,
so bleibt uns, wie dem Patrioten Gaillard, nur der Dolch
des Kato. [Beifall und verwirrtes Geschrei.)
EIN JAKOBINER. Wir werden den Becher des Sokrates
mit euch trinkenl
LEGENDRE [schwijigt sich auf die Tribüne). Wir haben
nicht nötig, unsere Blicke auf Lyon zu werfen. Die Leute,
die seidne Kleider tragen, die in Kutschen fahren, die in
den Logen im Theater sitzen und nach dem Diktionär der
Akademie sprechen, tragen seit einigen Tagen die Köpfe
fest auf den Schultern. Sie sind witzig und sagen, man
müsse Marat und Chalier zu einem doppelten Märt}Tertum
verhelfen und sie in effigie guillotinieren. [Heftige Be-
wegung in der V^ersam7nlung.)
EINIGE STIMMEN. Das sind tote Leute, ihre Zunge
guillotiniert sie.
LEGENDRE. Das Blut dieser Heiligen komme über sie!
Ich firage die anwesenden Mitglieder des Wohlfahrtsaus-
schusses, seit wann ihre Ohren so taub geworden sind —
COLLOT D"HERBOIS [unterbricht ihn). Und ich fi-age
dich, Legendre. wessen Stimme solchen Gedanken Atem
EÜCHKER 2.
i8 DICHTUNGEN
gibt, daß sie lebendig werden und zu sprechen wagen?
Es ist Zeit, die Masken abzureißen. Hört! Die Ursache
verklagt ihre Wirkung, der Ruf sein Echo, der Grund seine
Folge. Der Wohlfahrtsausschuß versteht mehr Logik,
Legendre. Sei ruhig! Die Büsten der Heiligen werden
unberührt bleiben, sie werden wie Medusenhäupter die
Verräter in Stein verwandlen.
ROBESPIERRE. Ich verlange das Wort.
DIE JAKOBINER. Hört, hört den Unbestechlichen!
ROBESPIERRE. Wir warteten nur auf den Schrei des
Unwillens, der von allen Seiten ertönt, um zu sprechen.
Unsere Augen waren offen, wir sahen den Feind sich rüsten
und sich erheben, aber wir haben das Lärmzeichen nicht
gegeben; wir ließen das Volk sich selbst bewachen, es hat
nicht geschlafen, es hat an die Waffen geschlagen. Wir
ließen den Feind aus seinem Hinterhalt hervorbrechen,
wir ließen ihn anrücken; jetzt steht er frei und ungedeckt
in der Helle des Tages, jeder Streich wird ihn treffen, er
ist tot, sobald ihr ihn erblickt habt.
Ich habe es euch schon einmal gesagt: in zwei Abteilungen,
wie in zwei Heereshaufen, sind die inneren Feinde der
Republik zerfallen. Unter Bannern von verschiedener
Farbe und auf den verschiedensten Wegen eilen sie alle
dem nämlichen Ziele zu. Die eine dieser Faktionen ist
nicht mehr. In ihrem affektierten Wahnsinn suchte sie die
erprobtesten Patrioten als abgenutzte Schwächlinge bei-
seite zu werfen, um die Republik ihrer kräftigsten Arme
zu berauben. Sie erklärte der Gottheit und dem Eigentum
den Krieg, um eine Diversion zugunsten der Könige zu
machen. Sie parodierte das erhabne Drama der Revolu-
tion, um dieselbe durch studierte Ausschweifungen bloß-
zustellen. Heberts Triumph hätte die Republik in ein Chaos
verwandelt, und der Despotismus war befriedigt. Das
Schwert des Gesetzes hat den Verräter getroffen. Aber
was liegt den Fremden daran, wenn ihnen Verbrecher einer
anderen Gattung zur Erreichung des nämlichen Zwecks
bleiben? Wir haben nichts getan, wenn wir noch eine an-
dere Faktion zu vernichten haben.
Sie ist das Gegenteil der vorhergehenden. Sie treibt uns
DANTONS TOD. ERSTER AKT 19
zur Schwäche, ihr Feldgeschrei heißt: Erbarmen! Sie will
dem Volk seine Waffen mid die Kraft, welche die Waffen
führt, entreißen, um es nackt und entnervt den Königen
zu überantworten.
Die Waffe der Republik ist der Schrecken, die Kraft der
Republik ist die Tugend — die Tugend, weil ohne sie der
Schrecken verderblich, der Schrecken, weil ohne ihn die
Tugend ohnmächtig ist. Der Schrecken ist ein Ausfluß
der Tugend, er ist nichts anders als die schnelle, strenge
und unbeugsame Gerechtigkeit. Sie sagen, der Schrecken
sei die Waffe einer despotischen Regierung, die unsrige
gliche also dem Despotismus. Freilich! aber so, wie das
Schwert in den Händen eines Freiheitshelden dem Säbel
gleicht, womit der Satellit des Tyrannen bewaffnet ist.
Regiere der Despot seine tierähnlichen Untertanen durch
den Schrecken, er hat recht als Despot; zerschmettert
durch den Schrecken die Feinde der Freiheit, und ihr habt
als Stifter der Republik nicht minder recht. Die Revo-
lutionsregierung ist der Despotismus der Freiheit gegen
die T}Tannei.
Erbarmen mit den Royalisten! rufen gewisse Leute. Er-
barmen mit Bösewichtern: Nein! Erbarmen für die Un-
schuld, Erbarmen für die Schwäche, Erbarmen für die Un-
glücklichen, Erbarmen für die Menschheit! Nur dem fried-
lichen Bürger gebührt von Seiten der Gesellschaft Schutz.
In einer Republik sind nur Republikaner Bürger, Royalisten
und Fremde sind Feinde. Die Unterdrücker der Mensch-
heit bestrafen, ist Gnade; ihnen verzeihen, ist Barbarei.
Alle Zeichen einer falschen Empfindsamkeit scheinen mir
Seufzer, welche nach England oder nach Ostreich fliegen.
Aber nicht zufrieden, den Arm des Volkes zu entwaffnen,
sucht man noch die heiligsten Quellen seiner Kraft durch
das Laster zu vergiften. Dies ist der feinste, gefährlichste
und abscheulichste Angriff auf die Freiheit. Das Laster ist
das Kainszeichen des Aristokratismus. In einer Republik
ist es nicht nur ein moralisches, sondern auch ein politi-
sches Verbrechen; der Lasterhafte ist der poHtische Feind
der Freiheit, er ist ihr um so gefährlicher, je größer die
Dienste sind, die er ihr scheinbar erwiesen. Der gefähr-
2 0 DICHTUNGEN
lichste Bürger ist derjenige, welcher leichter ein Dutzend
rote Mützen verbraucht, als eine gute Handlung voll-
bringt.
Ihr werdet mich leicht verstehen, wenn ihr an Leute denkt,
welche sonst in Dachstuben lebten und jetzt in Karossen
fahren und mit ehemaligen Marquisinnen und Baronessen
Unzucht treiben. Wir dürfen wohl fragen: ist das Volk
geplündert, , oder sind die Goldhände der Könige gedrückt
worden, wenn wir Gesetzgeber des Volks mit allen Lastern
und allem Luxus der ehemaligen Höfhnge Parade machen,
wenn wir diese Marquis und Grafen der Revolution reiche
Weiberheiraten, üppige Gastmähler geben, spielen, Diener
halten und kostbare Kleider tragen sehen? Wir dürfen
wohl staunen, wenn wir sie Einfälle haben, Schöngeistern
und so etwas vom guten Ton bekommen hören. Man hat
vor kurzem auf eine unverschämte Weise den Tacitus par-
odiert, ich könnte mit dem Sallust antworten und den
Katilina travestieren; doch ich denke, ich habe keine
Striche mehr nötig, die Porträts sind fertig.
Keinen Vertrag, keinen Waffenstillstand mit den Menschen,
welche niu: auf Ausplünderung des Volkes bedacht waren,
welche diese Ausplünderung ungestraft zu vollbringen hoff-
ten, für welche die Republik eine Spekulation und die
Revolution ein Handwerk war! In Schrecken gesetzt durch
den reißenden Strom der Beispiele, suchen sie ganz leise
die Gerechtigkeit abzukühlen. Man sollte glauben, jeder
sage zu sich selbst: '^Wir sind nicht tugendhaft genug,
um so schrecklich zu sein. Philosophische Gesetzgeber,
erbarmt euch unsrer Schwäche! Ich wage euch nicht zu
sagen, daß ich lasterhaft bin; ich sage euch also lieber:
seid nicht grausam!"
Beruhige dich, tugendhaftes Volk, beruliigt euch, ihr Pa-
trioten! sagt euren Brüdern zu Lyon: das Schwert des
Gesetzes roste nicht in den Händen, denen ihr es an-
vertraut habt! — Wir werden der Republik ein großes Bei-
spiel geben. [Allge?fieiner Beifall.)
VIELE STIMMEN. Es lebe die Republik! Es lebe Robes-
pierre!
PRÄSIDENT. Die Sitzung ist aufgehoben.
DANTONS TOD. ERSTER AKT 2 1
EINE GASSE
Lacroix. Legendre,
LACROIX. Was hast du gemacht, Legendre! Weißt du
auch, wem du mit deinen Büsten den Kopf herimterwirfstr
LEGENDRE. Einigen Stutzern und eleganten Weibern,
das ist alles.
LACROIX. Du bist ein Selbstmörder, ein Schatten, der
sein Original und somit sich selbst ermordet,
LEGENDRE. Ich begreife nicht.
LACROIX. Ich dächte, Collot hätte deutlich gesprochen.
LEGENDRE. Was macht das.' Er war wieder betrunken.
LACROIX. Narren, Kinder und — nun.' — Betrunkne sagen
die Wahrheit. Wen glaubst du denn, daß Robespierre mit
dem Katilina gemeint habe.'
LEGENDRE. Nun.-
LACROIX. Die Sache ist einfach. Man hat die Atheisten
und Ultrarevolutionärs aufs Schafott geschickt; aber dem
Volk ist nicht geholfen, es läuft noch barfuß in den Gassen
und will sich aus Aristokratenleder Schuhe machen. Der
Guillotinenthermometer darf nicht fallen; noch einige
Grade, und der Wohlfahrtsausschuß kann sich sein Bett
auf dem Revolutionsplatz suchen.
LEGENDRE. Was haben damit meine Büsten zu schaf-
fen:
LACROIX. Siehst du's noch nicht: Du hast die Contre-
revolution offiziell bekannt gemacht, du hast die Dezemvirn
zur Energie gezwmigen, du hast ihnen die Hand geführt.
Das Volk ist ein Minotaurus, der wöchentlich seine Lei-
chen haben muß, wenn er sie nicht auffressen soll.
LEGENDRE. Wo ist Danton:
LACROIX. Was weiß ich! Er sucht eben die mediceische
Venus stückweise bei allen Grisetten des Palais -Royal
zusammen; er macht Mosaik, wie er sagt. Der Himmel
weiß, bei welchem Glied er gerade ist. Es ist ein Jam-
mer, daß die Natur die Schönheit, wie Medea ihren Bru-
der, zerstückt und sie so in Fragmenten in die Körper
gesenkt hat.— Gehn wir ins Palais-Royal!
[Beide ab.)
2 2 DICHTUNGEN
EIN ZIMMER
Danton. Marion.
MARION. Nein, laß mich! So zu deinen P'üßen. Ich will
dir erzählen.
DANTON. Du könntest deine Lippen besser gebrauchen.
MARION. Nein, laß mich einmal so. Meine Mutter war
eine kluge Frau; sie sagte mir immer, die Keuschheit
sei eine schöne Tugend. Wenn Leute ins Haus kamen
und von manchen Dingen zu sprechen anfingen, hieß
sie mich aus dem Zimmer gehn; frug ich, was die Leute
gewollt hätten, so sagte sie mir, ich solle mich schämen;
gab sie mir ein Buch zu lesen, so mußt ich fast immer
einige Seiten überschlagen. Aber die Bibel las ich nach
Belieben, da war alles heilig; aber es war etwas darin,
was ich nicht begriff. Ich mochte auch niemand fragen,
ich brütete über mir selbst. Da kam der Früliling; es ging
überall etwas um mich vor, woran ich keinen Teil hatte.
Ich geriet in eine eigne Atmosphäre, sie erstickte mich
fast. Ich betrachtete meine Glieder; es war mir manchmal,
als wäre ich doppelt und verschmölze dann wieder in
eins. Ein junger Mensch kam zu der Zeit ins Haus; er
war hübsch und sprach oft tolles Zeug; ich wußte nicht
recht, was er wollte, aber ich mußte lachen. Meine Mutter
hieß ihn öfters kommen, das war uns beiden recht. End-
lich sahen wir nicht ein, warum wir nicht ebensogut zwi-
schen zwei Bettüchern beieinander liegen, als auf zwei
Stühlen nebeneinander sitzen durften. Ich fand dabei mehr
Vergnügen als bei seiner Unterhaltung und sah nicht ab,
warum man mir das geringere gewähren und das größere
entziehen wollte. Wir taten's heimlich. Das ging so fort.
Aber ich wurde wie ein Meer, was alles verschlang und
sich tiefer und tiefer wühlte. Es war für mich nur ein
Gegensatz da, alle Männer verschmolzen in einen Leib.
Meine Natur war einmal so, wer kann da drüber hinaus?
Endlich merkt' er's. Er kam eines Morgens und küßte mich,
als wollte er mich ersticken; seine Arme schnürten sich
um meinen Hals, ich war in unsäglicher Angst. Da ließ
er mich los und lachte und sagte: er hätte fast einen
DANTONS TOI). ERSTER AKT 23
dummen Streich gemacht; ich solle mein Kleid nur be-
halten und es brauchen, es würde sich schon von selbst
abtragen, er wolle mir den Spaß nicht vor der Zeit ver-
derben, es wäre doch das einzige, was ich hätte. Dann
ging er; kh wußte wieder nicht, was er wollte. Den Abend
saß ich am Fenster; ich bin sehr reizbar und hänge mit
allem um mich nur durch eine Empfindung zusammen;
ich versank in die Wellen der Abendröte. Da kam ein
Haufe die Straße herab, die Kinder liefen voraus, die
Weiber sahen aus den Fenstern. Ich sah hinunter: sie
trugen ihn in einem Korb vorbei, der Mond schien auf
seine bleiche Stirn, seine Locken waren feucht, er hatte
sich ersäuft. Ich mußte weinen. — Das war der einzige
Bruch in meinem Wesen. Die andern Leute haben Sonn-
und Werktage, sie arbeiten sechs Tage und beten am
siebenten, sie sind jedes Jahr auf ihren Geburtstag ein-
mal gerührt und denken jedes Jahr auf Neujahr ein-
mal nach. Ich begreife nichts davon: ich kenne keinen
Absatz, keine Veränderung. Ich bin immer nur eins;
ein ununter brochn es Sehnen und Fassen, eine Glut, ein
Strom. Meine Mutter ist vor Gram gestorben; die Leute
weisen mit Fingern auf mich. Das ist dumm. Es läuft
auf eins hinaus, an was man seine Freude hat, an Lei-
bern, Christusbildern, Blumen oder Kinderspielsachen;
es ist das nämliche Gefühl; wer am meisten genießt, betet
am meisten.
DANTON. Warum kann ich deine Schönheit nicht ganz
in mich fassen, sie nicht ganz umschließen?
MARION. Danton, deine Lippen haben Augen.
DANTON. Ich möchte ein Teil des Äther sein, um dich
in meiner Flut zu baden, um mich auf jeder W^lle deines
schönen Leibes zu brechen.
Lacroix^ Adelaide^ Rosalie treten ein.
LACROIX {hleiht in der Tiir stehn). Ich muß lachen, ich
muß lachen.
DANTON {unwillig). Nun?
LACROIX. Die Gasse fällt mir ein.
DANTON. Und?
2 4 DICHTUNGEN
LACROIX. Auf der Gasse waren Hunde, eine Dogge und
ein Bologneser Schoßhündlein, die quälten sich.
DANTON. Was soll das?
LACROIX. Das fiel mir nun grade so ein, und da mußt
ich lachen. Es sah erbaulich aus! Die Mädel guckten aus
den Fenstern; man sollte vorsichtig sein und sie nicht
einmal in der Sonne sitzen lassen. Die Mücken treiben's
ihnen sonst auf den Händen; das macht Gedanken. — Le-
gendre und ich sind fast durch alle Zellen gelaufen, die
Nönnlein von der Offenbarung durch das Fleisch hingen
uns an den Rockschößen und wollten den Segen. Legendre
gibt einer die Disziplin, aber er wird einen Monat dafür
zu fasten bekommen. Da bringe ich zwei von den Prieste-
rinnen mit dem Leib.
MARION. Guten Tag, Demoiselle Adelaide! guten Tag,
Demoiselle Rosalie!
ROSALIE. Wir hatten schon lange nicht das Vergnügen.
MARION. Es war mir recht leid.
ADELAIDE. Ach Gott, wir sind Tag und Nacht beschäftigt.
DANTON (zu Rosalie). Ei, Kleine, du hast ja geschmei-
dige Hüften bekommen.
ROSALIE. Ach ja, man vervollkommnet sich täglich.
LACROIX. Was ist der Unterschied zwischen dem an-
tiken und einem modernen Adonisr
DANTON. Und Adelaide ist sittsam -interessant gewor-
den; eine pikante Abwechslung. Ihr Gesicht sieht aus wie
ein Feigenblatt, das sie sich vor den ganzen Leib hält.
So ein Feigenbaum an einer so gangbaren Straße gibt
einen erquicklichen Schatten.
ADELAIDE. Ich wäre ein Herdweg, wenn Monsieur . . .
DANTON. Ich verstehe; nur nicht böse, mein Fräulein!
LACROIX. So höre doch! Ein moderner Adonis wird
nicht von einem Eber, sondern von Säuen zerrissen; er
bekommt seine Wunde nicht am Schenkel, sondern in den
Leisten, und aus seinem Blut sprießen nicht Rosen her-
vor, sondern schießen Quecksilberblüten an.
DANTON. Fräulein Rosalie ist ein restaurierter Torso,
woran niu: die Hüften und Füße antik sind. Sie ist eine
Magnetnadel: was der Pol Kopf abstößt, zieht der Pol Fuß
DANTONS TOD. ERSTER AKT 25
an; die Mitte ist ein Äquator, wo jeder eine Sublimattaufe
nötig hat, der zum erstenmal die Linie passiert.
LACROIX. Zwei barmherzige Schwestern; jede dient in
einem Spital, d. h. in ihrem eignen Körper,
ROSALIE. Schämen Sie sich, unsere Ohren rot zu machen!
ADELAIDE. Sie sollten mehr Lebensart haben!
(Adelaide imd Rosalie ab.)
DANTON. Gute Nacht, ihr hübschen Kinder!
LACROIX. Gute Nacht, ihr Quecksilbergruben!
DANTON. Sie dauern mich, sie kommen um ihr Nacht-
essen.
LACROIX. Höre, Danton, ich komme von den Jakobinern.
DANTON. Nichts weiter:
LACROIX. Die Lyoner verlasen eine Proklamation; sie
meinten, es bliebe ihnen nichts übrig, als sich in die Toga
zu wickeln. Jeder machte ein Gesicht, als wollte er zu sei-
nem Nachbar sagen: Paetus, es schmerzt nicht! — Legendre
rief, man wolle Chaliers und Marats Büsten zerschlagen.
Ich glaube, er will sich das Gesicht wieder rot machen;
er ist ganz aus der Terreur herausgekommen, die Kinder
zupfen ihn auf der Gasse am Rock.
DANTON. Und Robespierre?
LACROIX. Fingerte auf der Tribüne und sagte: die Tu-
gend muß durch den Schrecken herrschen. Die Phrase
machte mir Halsweh.
DANTON. Sie hobelt Bretter für die Guillotine.
LACROIX. Und Collot schrie wie besessen, man müsse
die Masken abreißen.
DANTON. Da werden die Gesichter mitgehen.
o
Paris tritt ein.
LACROIX. Was gibt's, Fabricius:
PARIS. Von den Jakobinern weg ging ich zu Robespierre;
ich verlangte eine Erklärung. Er suchte eine Miene zu
machen wie Brutus, der seine Söhne opfert. Er sprach im
allgemeinen von den Pflichten, sagte: der Freiheit gegen-
über kenne er keine Rücksicht, er würde alles opfern, sich,
seinen Bruder, seine Freunde.
DANTON. Das war deutlich; man braucht nur die Skala
2 6 DICHTUNGEN
herumzukehren, so steht er unten und hält seinen Freun-
den die Leiter. Wir sind Legendre Dank schuldig, er hat
sie sprechen gemacht.
LACROIX. Die Hebertisten sind noch nicht tot, das Volk
ist materiell elend, das ist ein furchtbarer Hebel. Die
Schale des Blutes darf nicht steigen, wenn sie dem Wohl-
fahrtsausschuß nicht zur Laterne werden soll; er hat Ballast
nötig, er braucht einen schweren Kopf.
DANTON. Ich weiß wohl— die Revolution ist wie Saturn,
sie frißt ihre eignen Kinder. [Nach einige?n Besmneni)
Doch, sie werden's nicht wagen.
LACROIX. Danton, du bist ein toter Heiliger; aber die
Revolution kennt keine Reliquien, sie hat die Gebeine
aller Könige auf die Gasse und alle Bildsäulen von den
Kirchen geworfen. Glaubst du, man würde dich als Mo-
nument stehen lassen?
DANTON. Mein Name! das Volk!
LACROIX. Dein Name! Du bist ein Gemäßigter, ich bin
einer, Camille, Philippeau, H^rault. Für das Volk sind
Schwäche und Mäßigung eins; es schlägt die Nachzügler
tot. Die Schneider von der Sektion der roten Mütze wer-
den die ganze römische Geschichte in ihrer Nadel fühlen,
wenn der Mann des September ihnen gegenüber ein Ge-
mäßigter war.
DANTON. Sehr wahr, und außerdem — das Volk ist wie
ein Kind, es muß alles zerbrechen, um zu sehen, was dar-
in steckt.
LACROIX. Und außerdem, Danton, sind wir lasterhaft,
wie Robespierre sagt, d. h. wir genießen; und das Volk
ist tugendhaft, d. h. es genießt nicht, weil ihm die Arbeit
die Genußorgane stumpf macht, es besäuft sich nicht, weil
es kein Geld hat, und es geht nicht ins Bordell, weil es
nach Käs und Hering aus dem Hals stinkt und die Mädel
davor einen Ekel haben.
DANTON. Es haßt die Genießenden wie ein Eunuch die
Männer.
LACROIX. Man nennt uns Spitzbuben, und (sich zu den
Ohren Dantons neigend) es ist, unter uns gesagt, so halb-
wegs was Wahres dran. Robespierre und das Volk werden
DANTONS TOD. ERSTER AKT 27
tugendhaft sein, St. Just wird einen Roman schreiben, und
Barere wird eine Carmagnole schneidern und dem Kon-
vent das Blutmäntelchen umhängen und — ich sehe alles.
DANTON. Du träumst. Sie hatten nie Mut ohne mich,
sie werden keinen gegen mich haben; die Revolution ist
noch nicht fertig, sie könnten mich noch nötig haben, sie
werden mich im Arsenal aufheben.
LACROIX. Wir müssen handeln.
DANTON. Das wird sich finden.
LACROIX. Es wird sich finden, wenn wir verloren sind.
MARION (zu Danton). Deine Lippen sind kalt geworden,
deine Worte haben deine Küsse erstickt.
DANTON (zu Marion). So viel Zeit zu verlieren! Das
war der Mühe wert! — (Zu Lacroix-.) Morgen geh ich zu
Robespierre; ich werde ihn ärgern, da kann er nicht
schweigen. Morgen also! Gute Nacht, meine Freunde,
gute Nacht! ich danke euch!
LACROIX. Packt euch, meine guten Freunde, packt euch!
Gute Nacht, Danton! Die Schenkel der Demoiselle guillo-
tinieren dich, der Mons Veneris wird dein tarpejischer
Fels. [Ab [mit Paris].)
EIN ZIMMER
Robespierre. Danton. Paris.
ROBESPIERRE. Ich sage dir, wer mir in den Arm fällt,
wenn ich das Schwert ziehe, ist mein Feind— seine Ab-
sicht tut nichts zur Sache; wer mich verhindert, mich zu
verteidigen, tötet mich so gut, als wenn er mich angriffe.
DANTON. Wo die Notwehr aufhört, fängt der Mord an;
ich sehe keinen Grund, der uns länger zum Töten zwänge.
ROBESPIERRE. Die soziale Revolution ist noch nicht
fertig; wer eine Revolution zur Hälfte vollendet, gräbt
sich selbst sein Grab. Die gute Gesellschaft ist noch nicht
tot, die gesunde Volkskraft muß sich an die Stelle dieser
nach allen Richtungen abgekitzelten Klasse setzen. Das
Laster muß bestraft werden, die Tugend muß durch den
Schrecken herrschen.
DANTON. Ich verstehe das Wort Strafe nicht.— Mit deiner
2 8 DICHTUNGEN
Tugend, Robespierre! Du hast kein Geld genommen, du
hast keine Schulden gemacht, du hast bei keinem Weibe
geschlafen, du hast immer einen anständigen Rock ge-
tragen und dich nie betrunken. Robespierre, du bist
empörend rechtschaffen. Ich würde mich schämen, dreißig
Jahre lang mit der nämlichen Moralphysiognomie zwischen
Himmel und Erde herumzulaufen bloß um des elenden Ver-
gnügens willen, andre schlechter zu finden als mich. — Ist
denn nichts in dir, was dir nicht manchmal ganz leise, heim-
lich sagte: du lügst, du lügst!?
ROBESPIERRE. Mein Gewissen ist rein.
DANTON. Das Gewissen ist ein Spiegel, vor dem ein
Affe sich quält; jeder putzt sich, wie er kann, und geht
auf seine eigne Art auf seinen Spaß dabei aus. Das ist
der Mühe wert, sich darüber in den Haaren zu liegen!
Jeder mag sich wehren, wenn ein andrer ihm den Spaß
verdirbt. Hast du das Recht, aus der Guillotine einen
Waschzuber für die unreine Wäsche anderer Leute und aus
ihren abgeschlagnen KöpfenFleckkugeln für ihre schmutzi-
gen Kleider zu machen, weil du immer einen sauber ge-
bürsteten Rock trägst? Ja, du kannst dich wehren, wenn
sie dir drauf spucken oder Löcher hineinreißen; aber was
geht es dich an, solang sie dich in Ruhe lassen? Wenn
sie sich nicht genieren, so herumzugehn, hast du des-
wegen das Recht, sie ins Grabloch zu sperren? Bist du
der Polizeisoldat des Himmels? Und kannst du es nicht
ebensogut mitansehn als dein lieber Herrgott, so halte dir
dein Schnupftuch vor die Augen.
ROBESPIERRE. Du leugnest die Tugend?
DANTON. Und das Laster. Es gibt nur Epikureer, und
zwar grobe und feine, Christus war der feinste; das ist
der einzige Unterschied, den ich zwischen den Menschen
herausbringen kann. Jeder handelt seiner Natur gemäß,
d. h. er tut, was ihm wohl tut. — Nicht wahr. Unbestech-
licher, es ist grausam, dir die Absätze so von den Schuhen
zu treten?
ROBESPIERRE. Danton, das Laster ist zu gewissen
Zeiten Hochverrat.
DANTON. Du darfst es nicht proskribieren, ums Him-
DANTONS TOD. ERSTER AKT 29
mels willen nicht, das wäre undankbar; du bist ihm zu
viel schuldig, durch den Kontrast nämlich. — Übrigens, um
bei deinen Begriffen zu bleiben, unsere Streiche müssen
der Republik nützlich sein, man darf die Unschuldigen
nicht mit den Schuldigen treffen.
ROBESPIERRE. Wer sagt dir denn, daß ein Unschul-
diger getroffen worden sei?
DANTON. Hörst du, Fabricius.^ Es starb kein Unschul-
diger! (Er geht; im HinausgeJm zu Paris:) Wir dürfen
keinen Augenblick verlieren, wir müssen uns zeigen!
[Danton und Paris ab.)
ROBESPIERRE {allein). Geh nur! Er will die Rosse der
Revolution am Bordell halten machen, wie ein Kutscher
seine dressierten Gäule; sie werden Kraft genug haben,
ihn zum Revolutionsplatz zu schleifen.
Mir die Absätze von den Schuhen treten! Um bei deinen
Begriffen zu bleiben!— Halt! Halt! Ist's das eigentlich?—
Sie werden sagen, seine gigantische Gestalt hätte zu viel
Schatten auf mich geworfen, ich hätte ihn deswegen aus
der Sonne gehen heißen. — Und wenn sie recht hätten? —
Ist's denn so notwendig? Ja, ja! dieRepublik! Ermußweg.
Es ist lächerlich, wie meine Gedanken einander beauf-
sichtigen.—Er muß weg. Wer in einer Masse, die vor-
wärts drängt, stehen bleibt, leistet so gut Widerstand, als
trat er ihr entgegen: er wird zertreten.
Wir werden das Schiff der Revolution nicht auf den seich-
ten Berechnungen und den Schlammbänken dieser Leute
stranden lassen; wir müssen die Hand abhauen, die es zu
halten wagt— und wenn er es mit den Zähnen packte!
Weg mit einer Gesellschaft, die der toten Aristokratie die
Kleider ausgezogen und ihren Aussatz geerbt hat!
Keine Tugend! die Tugend ein Absatz meiner Schuhe!
Bei meinen Begriffen!— Wie das immer wiederkommt.—
Warum kann ich den Gedanken nicht loswerden? Er deutet
mit blutigem Finger immer da, da hin! Ich mag so viel
Lappen darum wickeln, als ich will, das Blut schlägt immer
6.mch..— [Nach einer Pause:) Ich weiß nicht, was in mir
das andere belügt.
30 DICHTUNGEN
{Er tritt ans Fenster^ Die Nacht schnarcht über der Erde
und wälzt sich im wüsten Traum. Gedanken, Wünsche,
kaum geahnt, wirr und gestaltlos, die scheu sich vor des
Tages Licht verkrochen, empfangen jetzt Form und Ge-
wand und stehlen sich in das stille Haus des Traums. Sie
öflfnen die Türen, sie sehen aus den Fenstern, sie werden
halbwegs Fleisch, die Glieder strecken sich im Schlaf,
die Lippen murmeln. — Und ist nicht unser Wachen ein
hellerer Traum? sind wir nicht Nachtwandler.^ ist nicht
unser Handeln wie das im Traum, nur deutlicher, be-
stimmter, durchgeführter? Wer will uns darum schelten?
In einer Stunde verrichtet der Geist mehr Taten des Ge-
dankens, als der träge Organismus unsres Leibes in Jahren
nachzutun vermag. Die Sünde ist im Gedanken. Ob der
Gedanke Tat wird, ob ihn der Körper nachspielt, das ist
Zufall.
St. Just tritt ein.
ROBESPIERRE. He,werdaimFinstern? He, Licht, Licht!
ST. JUST. Kennst du meine Stimme?
ROBESPIERRE. Ah du, St. Just!
(Eine Dienerin hingt Licht.)
ST. JUST. Warst du allein?
ROBESPIERRE. Eben ging Danton weg.
ST. JUST. Ich traf ihn unterweges im Palais-Royal. Er
machte seine revolutionäre Stirn und sprach in Epi-
grammen; er duzte sich mit den Ohnehosen, die Grisetten
liefen hinter seinen Waden drein, und die Leute blieben
stehn und zischelten sich in die Ohren, was er gesagt
hatte. — Wir werden den Vorteil des Angriffs verlieren.
Willst du noch länger zaudern? Wir werden ohne dich
handeln. Wir sind entschlossen.
ROBESPIERRE. Was wollt ihr tun?
ST. JUST. Wir berufen den Gesetzgebungs-, den Sicher -
heits- und den Wohlfahrtsauschuß zu feierlicher Sitzung.
ROBESPIERRE. Viel Umstände.
ST. JUST. Wir müssen die große Leiche mit Anstand be-
graben, wie Priester, nicht wie Mörder; wir dürfen sie nicht
verstümmeln, all ihre Glieder müssen mit hinunter.
DANTONS TOD. ERSTER AKT 31
ROBESPIERRE. Sprich deutlicher!
ST. JUST. Wir müssen ihn in seiner vollen Waffenrüstung
beisetzen und seine Pferde und Sklaven auf seinem Grab-
hügel schlachten: Lacroix —
ROBESPIERRE. Ein ausgemachter Spitzbube, gewesener
Advokatenschreiber, gegenwärtig Generalleutnant von
Frankreich. Weiter!
ST. JUST. Herault-Sdchelles.
ROBESPIERRE. Ein schöner Kopf!
Sl\ JUST. Er war der schöngemalte Anfangsbuchstaben
der Konstitutionsakte; wir haben dergleichen Zierat nicht
mehr nötig, er wird ausgewischt. — Philippeau. — Camille.
ROBESPIERRE. Auch der?
ST. JUST {überreicht ihm ein Papier). Das dacht ich.
Da lies!
ROBESPIERRE. Aha, "Der alte Franziskaner"! Sonst
nichts? Er ist ein Kind, er hat über euch gelacht.
ST. JUST. Lies hier, hier! {Er zeigt ihm eifie Stelle.)
ROBESPIERRE {liest). "Dieser Glutmessias Robespierre
auf seinem Kalvarienberge zwischen den beiden Schachern
Couthon und Collot, auf dem er opfert und nicht geopfert
wird. Die Guillotinen-Betschwestern.stehen wie Maria
und Magdalena unten. St. Just liegt ihm wie Johannes am
Herzen und macht den Konvent mit den apokalyptischen
Offenbarungen des Meisters bekannt; er trägt seinen Kopf
wie eine Monstranz."
ST. JUST. Ich will ihn den seinigen wie St. Denis tragen
machen.
ROBESPIERRE {liest weiter). "Sollte man glauben, daß
der saubre Frack des Messias das Leichenhemd Frank-
reichs ist, und daß seine dünnen, auf der Tribüne herum -
zuckenden Finger Guillotinenmesser sind.^ — Und du. Ba-
rere, der du gesagt hast, auf dem Revolutionsplatz werde
Münze geschlagen! Doch — ich will den alten Sack nicht
aufwühlen. Er ist eine Witwe, die schon ein halb Dutzend
Männer hatte und sie begraben half. Wer kann was da-
für? Das ist so seine Gabe, er sieht den Leuten ein halbes
Jahr vor dem Tode das hippokratische Gesicht an. Wer mag
sich auch zu Leichen setzen und den Gestank riechen?"
32 DICHTUNGEN
Also auch du, Camiller— Weg mit ihnen! Rasch! Nur die
Toten kommen nicht wieder.
Hast du die Anklage bereit?
ST. JUST. Es macht sich leicht. Du hast die Andeu-
tungen bei den Jakobinern gemacht.
ROBESPIERRE. Ich wollte sie schrecken.
ST. JUST. Ich brauche nur diurchzuführen; die Fälscher
geben das Ei und die Fremden den Apfel ab. — Sie sterben
an der Mahlzeit, ich gebe dir mein Wort.
ROBESPIERRE. Dann rasch, morgen! Keinen langen
Todeskampf! Ich bin empfindlich seit einigen Tagen. —
Niu: rasch! [St. Just ab.)
ROBESPIERRE {allein). Jawohl, Blutmessias, der opfert
und nicht geopfert wird. — Er hat sie mit seinem Blut er-
löst, und ich erlöse sie mit ihrem eignen. Er hat sie sün-
digen gemacht, und ich nehme die Sünde auf mich. Er
hatte die Wollust des Schmerzes, und ich habe die Qual
des Henkers. Wer hat sich mehr verleugnet, ich oder er? —
Und doch ist was von Narrheit in dem Gedanken. — Was
sehen wir nur immer nach dem Einen? Wahrlich, der
Menschensohn wird in uns allen gekreuzigt, wir ringen
alle im Gethsemanegarten im blutigen Schweiß, aber es
erlöst keiner den andern mit seinen Wunden.
Mein Camille! — Sie gehen alle von mir — es ist alles wüst
und leer — ich bin allein.
ZWEITER AKT
EIN ZIMMER
Danton^ Lacroix^ Philippeau^ Paris, Cafnille Desmouli?is.
CAMILLE. Rasch, Danton, wir haben keine Zeit zu ver-
lieren!
DKHTON (er kleidet sich aii). Aber die Zeit verliert uns.
Das ist sehr langweilig, immer das Hemd zuerst und dann
die Hosen drüber zu ziehen und des Abends ins Bett und
morgens wieder heraus zu kriechen und einen Fuß immer
DANTONS TOD. ZWEITER AKT 33
so vor den andern zu setzen; da ist gar kein Absehen,
wie es anders werden soll. Das ist sehr traurig, und daß
Millionen es schon so gemacht haben, und daß Millionen
es wieder so machen werden, und daß wir noch oben-
drein aus zwei Hälften bestehen, die beide das nämliche
tun, so daß alles doppelt geschieht — das ist sehr traurig.
C AMILLE. Du sprichst in einem ganz kindischen Ton.
DANTON. Sterbende werden oft kindisch.
LACROIX. Du stürzest dich durch dein Zögern ins Ver-
derben, du reißest alle deine Freunde mit dir. Benach-
richtige die Feiglinge, daß es Zeit ist, sich um dich zu
versammeln, fordere sowohl die vom Tale als die vom
Berge auf! Schreie über die Tyrannei der Dezemvirn,
sprich von Dolchen, rufe Brutus an, dann wirst du die
Tribünen erschrecken und selbst die um dich sammeln,
die man als Mitschuldige Heberts bedroht! Du mußt dich
deinem Zorn überlassen. Laßt uns wenigstens nicht ent-
waffnet und erniedrigt wie der schändliche Hebert sterben!
DANTON. Du hast ein schlechtes Gedächtnis, du nann-
test mich einen toten Heiligen. Du hattest mehr Recht,
als du selbst glaubtest. Ich war bei den Sektionen; sie
waren ehrfurchtsvoll, aber wie Leichenbitter. Ich bin
eine Reliquie, und Reliquien wirft man auf die Gasse, du
hattest recht.
LACROIX. Warum hast du es dazu kommen lassen?
DANTON. Dazu: Ja wahrhaftig, es war mir zuletzt lang-
weilig. Immer im nämlichen Rock herumzulaufen und die
nämlichen Falten zu ziehen! Das ist erbärmlich. So ein
armseliges Instrument zu sein, auf dem eine Saite immer
nur einen Ton angibt! — 's ist nicht zum Aushalten. Ich
wollte mir's bequem machen. Ich hab es erreicht; die
Revolution setzt mich in Ruhe, aber auf andere Weise,
als ich dachte.
Übrigens, auf was sich stützen: Unsere Huren könnten es
noch mit den Guillotinen-Betschwestern aufnehmen; sonst
weiß ich nichts. Es läßt sich an den Fingern herzählen:
die Jakobiner haben erklärt, daß die Tugend an der Tages-
ordnung sei, die Cordeliers nennen mich Heberts Henker,
der Gemeinderat tut Buße, der Konvent— das wäre noch
BÜCHNER 3.
34 DICHTUNGEN
ein Mittel! aber es gäbe einen 31. Mai, sie würden nicht
gutwillig weichen. Robespierre ist das Dogma der Revo-
lution, es darf nicht ausgestrichen werden. Es ginge auch
nicht. Wir haben nicht die Revolution, sondern die Re-
volution hat uns gemacht.
Und wenn es ginge — ich will lieber guillotiniert werden
als guillotinieren lassen. Ich hab es satt; wozu sollen wir
Menschen miteinander kämpfen: Wir sollten uns neben-
einander setzen und Ruhe haben. Es wurde ein Fehler
gemacht, wie wir geschaffen wurden; es fehlt uns was, ich
habe keinen Namen dafür — aber wir werden es uns ein-
ander nicht aus den Eingeweiden herauswühlen, was sollen
wir uns drum die Leiber aufbrechen? Geht, wir sind
elende Alchymisten!
CAMILLE. Pathetischer gesagt würde es heißen: wie lange
soll die Menschheit in ewigem Hunger ihre eignen Glie-
der fressen? oder: wie lange sollen wir Schiffbrüchige
auf einem Wrack in unlöschbarem Durst einander das
Blut aus den Adern saugen? oder: wie lange sollen wir
Algebraisten im Fleisch beim Suchen nach dem unbe-
kannten, ewig verweigerten X unsere Rechnungen mit
zerfetzten Gliedern schreiben?
DANTON. Du bist ein starkes Echo.
CAMILLE. Nicht wahr, ein Pistolenschuß schallt gleich
wie ein Donnerschlag. Desto besser für dich, du solltest
mich immer bei dir haben.
PHILIPPEAU. Und Frankreich bleibt seinen Henkern?
DANTON. Was liegt daran? Die Leute befinden sich ganz
wohl dabei. Sie haben Unglück; kann man mehr verlangen,
um gerührt, edel, tugendhaft oder witzig zu sein, oder um
überhaupt keine Langeweile zu haben? — Ob sie nun an
der Guillotine oder am Fieber oder am Alter sterben! Es
ist noch vorzuziehen, sie treten mit gelenken Gliedern
hinter die Kulissen und können im Abgehen noch hübsch
gestikulieren und die Zuschauer klatschen hören. Das ist
ganz artig und paßt für uns; wir stehen immer auf dem
Theater, wenn wir auch zuletzt im Ernst erstochen werden.
Es ist recht gut, daß die Lebenszeit ein wenig reduziert
wird; der Rock war zu lang, unsere Glieder konnten ihn
DANTONS TOD. ZWEITER AKT 35
nicht ausfüllen. Das Leben wird ein Epigramm, das geht
an; wer hat auch Atem und Geist genug für ein Epos in
fünfzig oder sechzig Gesängen? 's ist Zeit, daß man das
bißchen Essenz nicht mehr aus Zubern, sondern aus Likör-
gläschen trinkt; so bekommt man doch das Maul voll, sonst
konnte man kaum einige Tropfen in dem plumpen Gefäß
zusammenrinnen machen.
Endlich — ich müßte schreien; das ist mir der Mühe zu
viel, das Leben ist nicht die Arbeit wert, die man sich
macht, es zu erhalten.
PARIS. So flieh, Danton!
DANTON. Nimmt man das Vaterland an den Schuh-
sohlen mit?
Und endlich — und das ist die Hauptsache:, sie werden's
nicht wagen. (Zu Camilie:) Komm, mein Junge; ich sage
dir, sie werden's nicht wagen. Adieu, adieu!
(Danton und Cmnille ab.)
PHILIPPEAU. Da geht er hin.
LACROIX. Und glaubt kein Wort von dem, was er ge-
sagt hat. Nichts als Faulheit! Er will sich lieber guillo-
tinieren lassen als eine Rede halten.
PARIS. Was tun?
LACROIX. Heimgehn und als Lukretia auf einen an-
ständigen Fall studieren.
EINE PROMENADE
Spaziergänger.
EIN BÜRGER. Meine gute Jacqueline— ich wollte sagen
Korn . . . wollt ich: Kor . . .
SIMON. Kornelia, Bürger, Kornelia.
BÜRGER. Meine gute Kornelia hat mich mit einem
Knäblein erfreut.
SIMON. Hat der Republik einen Sohn geboren.
BÜRGER. Der Republik, das lautet zu allgemein; man
könnte sagen . . .
SIMON. Das ist's gerade, das Einzelne muß sich dem
Allgemeinen . . .
S6 DICHTUNGEN
BÜRGER. Ach ja, das sagt meine Erau auch.
BÄNKELSÄNGER (smg^).
Was doch ist, was doch ist
Aller Männer Freud und Lust:
BÜRGER. Ach, mit den Namen, da komm ich gar nicht
ins reine.
SIMON. Tauf ihn Pike, Marat!
BÄNKELSÄNGER.
Unter Kummer, unter Sorgen
Sich bemühn vom frühen Morgen,
Bis der Tag vorüber ist.
BÜRGER. Ich hätte gern drei — es ist doch was mit der
Zahl Drei — und dann was Nützliches und was Rechtliches;
jetzt hab ich's: Pflug, Robespierre. Und dann das dritter
SIMON. Pike.
BÜRGER. Ich dank Euch, Nachbar; Pike, Pflug, Robes-
pierre, das sind hübsche Namen, das macht sich schön.
SIMON. Ich sage dir, die Brust deiner Kornelia wird
wie das Euter der römischen Wölfin — nein, das geht nicht:
Romulus war ein Tyrann, das geht nicht. (Gehn vorbei^
EIN BETTLER (singt). ''Eine Handvoll Erde und ein
wenig Moos ..." Liebe Herren, schöne Damen!
ERSTER HERR. Kerl, arbeite, du siehst ganz wohl-
genährt aus!
ZWEITER HERR. Da! (Er gibt ihm Geld) Er hat eine
Hand wie Sammet. Das ist unverschämt.
BETTLER. Mein Herr, wo habt Ihr Euren Rock herr
ZWEITER HERR. Arbeit, Arbeit! Du könntest den näm-
lichen haben; ich will dir Arbeit geben, komm zu mir,
ich wohne . . .
BETTLER. Herr, warum habt Ihr gearbeitet?
ZWEITER HERR. Narr, um den Rock zu haben.
BETTLER. Ihr habt Euch gequält, um einen Genuß zu
haben; denn so ein Rock ist ein Genuß, ein Lumpen tut's
auch.
ZWEITER HERR. Freilich, sonst geht's nicht.
BETTLER. Daß ich ein Narr wäre. Das hebt einander.
DANTONS TOD. ZWEITER AKT 37
Die Sonne scheint warm an das Eck, und das geht ganz
leicht. (Singf:) '^Eine Handvoll Erde und ein wenig
Moos . . ."
ROSALIE (zi/. Adelaiden). Mach fort, da kommen Sol-
daten! Wir haben seit gestern nichts Warmes in den Leib
gekriegt.
BETTLER. ''Ist auf dieser Erde einst mein letztes Los!''
Meine Herren, meine Damen!
SOLDAT. Halt! Wo hinaus, meine Kinder.^ (Zu Rosalie:)
Wie alt bist du:
ROSALIE. So alt wie mein kleiner Finger.
SOLDAT. Du bist sehr spitz.
ROSALIE. Und du sehr stumpf.
SOLDAT. So will ich mich an dir wetzen.
[Er singt:) Christinlein, lieb Christinlein mein,
Tut dir der Schaden weh, Schaden weh,
Schaden weh, Schaden weh:
ROSALIE {singt).
Ach nein, ihr Herrn Soldaten,
Ich hätt es gerne meh, gerne meh.
Gerne meh, gerne meh!
Danton und^Cafnilk treten auf.
DANTON. Geht das nicht lustig.-— Ich wittre was in der
Atmosphäre; es ist, als brüte die Sonne Unzucht aus.—
Möchte man nicht drunter springen, sich die Hosen vom
Leibe reißen und sich über den Hintern begatten wie die
Hunde auf der Gasse? {Gehn vorbei.)
JUNGER HERR. Ach, Madame, der Ton einer Glocke,
das Abendlicht an den Bäumen, das Blinken eines
Sterns . . .
MADAME. Der Duft einer Blume! Diese natürlichen
Freuden, dieser reine Genuß der Natur! (Zu ihrer Toch-
ter-}^ Sieh, Eugenie, nur die Tugend hat Augen dafür.
EUGENIE (küßt ihrer Mutter die Hand). Ach, Mama,
ich sehe niu* Sie.
MADAME. Gutes Kind!
38 DICHTUNGEN
JUNGER HERR (zischelt Eugenien ins Ohr), Sehen Sie
dort die hübsche Dame mit dem alten Herrn?
EUGENIE. Ich kenne sie.
JUNGER HERR. Man sagt, ihr Friseur habe sie ä l'en-
fant frisiert.
EUGENIE (lacht). Böse Zunge!
JUNGER HERR. Der alte Herr geht nebenbei; er sieht
das Knöspchen schwellen und führt es in die Sonne spa-
zieren und meint, er sei der Gewitterregen, der es habe
wachsen machen.
EUGENIE. Wie unanständig! Ich hätte Lust, rot zu
werden.
JUNGER HERR. Das könnte mich blaß machen. \Gehnab?^
DANTON (zu Camille). Mute mir nur nichts Ernsthaftes
zu! Ich begreife nicht, warum die Leute nicht auf der
Gasse stehen bleiben und einander ins Gesicht lachen.
Ich meine, sie müßten zu den Fenstern und zu den Gräbern
herauslachen, und der Himmel müsse bersten, und die
Erde müsse sich wälzen vor Lachen. (Gehn ab.)
ERSTER HERR. Ich versichre Sie, eine außerordent-
liche Entdeckung! Alle technischen Künste bekommen
dadurch eine andere Physiognomie. Die Menschheit eilt
mit Riesenschritten ihrer hohen Bestimmung entgegen.
ZWEITER HERR. Haben Sie das neue Stück gesehen:
Ein babylonischer Tium! Ein Gewirr von Gewölben,
Treppchen, Gängen, und das alles so leicht und kühn in
die Luft gesprengt. Man schwindelt bei jedem Tritt. Ein
bizarrer Kopfl (Er bleibt verlege?! steh?i.)
ERSTER HERR. Was haben Sie denn?
ZWEITER HERR. Ach, nichts! Ihre Hand, Herr! die
Pfütze — so! Ich danke Ihnen. Kaum kam ich vorbei; das
konnte gefährlich werden!
ERSTER HERR. Sie fürchteten doch nicht?
ZWEITER HERR. Ja, die Erde ist eine dünne Kruste;
ich meine immer, ich könnte durchfallen, wo so ein Loch
ist. — Man muß mit Vorsicht auftreten, man könnte durch-
brechen. Aber gehn Sie ins Theater, ich rat es Ihnen!
DANTONS TOD. ZWEITER AKT 39
EIN ZIMMER
D mit 071. Caviille. Lucile,
CAMILLE. Ich sage Euch, wenn sie nicht alles in höl-
zernen Kopien bekommen, verzettelt in Theatern, Kon-
zerten und Kunstausstellungen, so haben sie weder Augen
noch Ohren dafür. Schnitzt einer eine Marionette, wo man
den Strick hereinhängen sieht, an dem sie gezerrt wird
und deren Gelenke bei jedem Schritt in fünffüßigen Jamben
krachen — welch ein Charakter, welche Konsequenz! Nimmt
einer ein Gefühlchen, eine Sentenz, einen Begriff, und zieht
ihm Rock und Hosen an, macht ihm Hände und Füße,
färbt ihm das Gesicht und läßt das Ding sich drei Akte
hindurch herumquälen, bis es sich zuletzt verheiratet oder
sich totschießt — ein Ideal! Fiedelt einer eine Oper, welche
das Schweben und Senken im menschlichen Gemüt wieder-
gibt wie eine Tonpfeife mit Wasser die Nachtigall — ach,
die Kunst!
Setzt die Leute aus dem Theater auf die Gasse: die er-
bärmliche Wirklichkeit! — Sie vergessen ihren Herrgott
über seinen schlechten Kopisten. Von der Schöpfung, die
glühend, brausend und leuchtend, um und in ihnen, sich
jeden Augenblick neu gebiert, hören und sehen sie nichts.
Sie gehen ins Theater, lesen Gedichte und Romane,
schneiden den Fratzen darin die Gesichter nach und sagen
zu Gottes Geschöpfen: wie gewöhnlich! — Die Griechen
wußten, was sie sagten, wenn sie erzählten, Pygmalions
Statue sei wohl lebendig geworden, habe aber keine Kin-
der bekommen.
DANTON. Und die Künstler gehn mit der Natur um wie
David, der im September die Gemordeten, wie sie aus der
Force auf die Gasse geworfen wurden, kaltblütig zeichnete
und sagte: ich erhasche die letzten Zuckungen des Lebens
in diesen Bösewichtern. (Danton wird hinaus ge ruf e?!.)
CAMILLE. Was sagst du, Lucile:
LUCILE. Nichts, ich seh dich so gern sprechen.
CAMILLE. Hörst mich auch:
LUCILE. Ei freilich!
CAMILLE. Hab ich recht: Weißt du auch, was ich ge-
sagt habe:
40 DICHTUNGEN
LUCILE. Nein, wahrhaftig nicht. (Danton kömmt zu-
7ikk.)
CAMILLE. Was hast du?
DANTON. Der Wohlfahrtsausschuß hat meine Verhaf-
tung beschlossen. Man hat mich gewarnt und mir einen
Zufluchtsort angeboten.
Sie wollen meinen Kopf; meinetwegen. Ich bin der Hude-
leien überdrüssig. Mögen sie ihn nehmen. Was liegt daran?
Ich werde mit Mut zu sterben wissen; das ist leichter, als
zu leben.
CAMILLE. Danton, noch ist's Zeit!
DANTON. Unmöglich — aber ich hätte nicht gedacht . . .
CAMILLE. Deine Trägheit!
DANTON. Ich bin nicht trag, aber müde; meine Sohlen
brennen mich.
CAMILLE. Wo gehst du hin?
DANTON. Ja, wer das wüßte!
CAMILLE. Im Ernst, wohin?
DANTON. Spazieren, mein Junge, spazieren, {ßr gelit.)
LUCILE. Ach, Camille!
CAMILLE. Sei ruhig, lieb Kind!
LUCILE. Wenn ich denke, daß sie dies Haupt — ! Mein
Camille! das ist Unsinn, gelt, ich bin wahnsinnig?
CAMILLE. Sei ruhig, Danton und ich sind nicht eins.
LUCILE. Die Erde ist weit, und es sind viel Dinge drauf
— warum denn gerade das eine? Wer sollte mir's nehmen?
Das wäre arg. Was wollten sie auch damit anfangen?
CAMILLE. Ich wiederhole dir: du kannst ruhig sein.
Gestern sprach ich mit Robespierre: er war freundlich.
Wir sind ein wenig gespannt, das ist wahr; verschiedne
Ansichten, sonst nichts!
LUCILE. Such ihn auf!
CAMILLE. Wir saßen auf einer Schulbank. Er war
immer finster und einsam. Ich allein suchte ihn auf und
machte ihn zuweilen lachen. Er hat mir immer große An-
hänglichkeit gezeigt. Ich gehe.
LUCILE. So schnell, mein Freund? Geh! Komm! Nur
das (sie küßt ihr) und das! Geh! Geh! (Cmni/le ab.)
DANTONS TOD. ZWEITER AKT 41
Das ist eine böse Zeit. Es geht einmal so. Wer kann da
drüber hinaus? Man muß sich fassen.
(Swgt-?j Ach Scheiden, ach Scheiden, ach Scheiden,
Wer hat sich das Scheiden erdacht?
Wie kommt mir grad das in Kopf? Das ist nicht gut, daß
es den Weg so von selbst findet. — Wie er hinaus ist, war
mir's, als könnte er nicht mehr umkehren und müsse
immer weiter weg von mir, immer weiter.
Wie das Zimmer so leer ist; die Fenster stehn offen, als
hätte ein Toter drin gelegen. Ich halt es da oben nicht
aus. [Sie geht.)
FREIES FELD
DANTON. Ich mag nicht weiter. Ich mag in dieser Stille
mit dem Geplauder meiner Tritte und dem Keuchen meines
Atems nicht Lärmen machen.
[Er setzt sich nieder; nach einer Pause:)
Man hat mir von einer Krankh-eit erzählt, die einem das
Gedächtnis verlieren mache. Der Tod soll etwas davon
haben. Dann kommt mir manchmal die Hoffnung, daß er
vielleicht noch kräftiger wirke und einem alles verlieren
mache. Wenn das wäre! — Dann lief ich wie ein Christ,
um einen Feind, d. h. mein Gedächtnis, zu retten.
Der Ort soll sicher sein, ja für mein Gedächtnis, aber nicht
für mich; mir gibt das Grab mehr Sicherheit, es schafft
mir wenigstens Vergessen. Es tötet mein Gedächtnis.
Dort aber lebt mein Gedächtnis und tötet mich. Ich
oder es? Die Antwort ist leicht. [Er erhebt sich und
kehrt um.)
Ich kokettiere mit dem Tod; es ist ganz angenehm, so
aus der Ferne mit dem Lorgnon mit ihm zu lieb-
äugeln.
Eigentlich muß ich über die ganze Geschichte lachen. Es
ist ein Gefühl des Bleibens in mir, was mir sagt: es wird
morgen sein wie heute, und übermorgen und weiter hin-
aus ist alles wie eben. Das ist leerer Lärm, man will mich
schrecken; sie werden's nicht wagen! [Ab.)
42 DICHTUNGEN
EIN ZIMMER
Es ist Nacht.
DANTON (am Fenster). Will denn das nie aufhören? Wird
das Licht nie ausglühn und der Schall nie modern? Will's
denn nie still und dunkel werden, daß wir uns die gar-
stigen Sünden einander nicht mehr anhören und ansehen?
— September! —
JULIE [ruft V071 imiefi). Danton! Danton!
DANTON. He?
JULIE {tritt ein). Was rufst du?
DANTON. Rief ich?
JULIE. Du sprachst von garstigen Sünden, imd dann
stöhntest du: September!
DANTON. Ich, ich? Nein, ich sprach nicht; das dacht
ich kaum, das waren nur ganz leise, heimliche Gedanken.
JULIE. Du zitterst, Danton!
DANTON. Und soll ich nicht zittern, wenn so die Wände
plaudern? Wenn mein Leib so zerschellt ist, daß meine
Gedanken unstet, umirrend mit den Lippen der Steine
reden? Das ist seltsam.
JULIE. Georg, mein Georg!
DANTON. Ja, Julie, das ist sehr seltsam. Ich möchte
nicht mehr denken, wenn das gleich so spricht. Es gibt
Gedanken, Julie, für die es keine Ohren geben sollte.
Das ist nicht gut, daß sie bei der Geburt gleich schreien
wie Kinder; das ist nicht gut.
JULIE. Gott erhalte dir deine Sinne — Georg, Georg, er-
kennst du mich?
DANTON. Ei warum nicht! Du bist ein Mensch und
dann eine Frau und endlich meine Frau, und die Erde hat
fünf Weltteile, Europa, Asien, Afrika, Amerika, Austra-
lien, und zweimal zwei macht vier. Ich bin bei Sinnen,
siehst du. — Schrie's nicht September? Sagtest du nicht
so was?
JULIE. Ja, Danton, diurch alle Zimmer hört ich's.
DANTON. Wie ich ans Fenster kam — {er sieht hinaus:)
die Stadt ist ruhig, alle Lichter aus . . .
JULIE. Ein Kind schreit in der Nähe.
DANTONS TOD. ZWEITER AKT 43
DANTON. Wie ich ans Fenster kam — durch alle Gassen
schrie und zetert' es: September!
JULIE. Du träumtest, Danton. Faß dich!
DANTON. Träiuntestr Ja, ich träumte; doch das war an-
ders, ich will dir es gleich sagen— mein armer Kopf ist
schwach — gleich! So, jetzt hab ich's: Unter mir keuchte
die Erdkugel in ihrem Schwung; ich hatte sie wie ein
wildes Roß gepackt, mit riesigen Gliedern wühlt ich in
ihren Mähnen und preßt ich ihre Rippen, das Haupt ab-
wärts gewandt, die Flaare flatternd über dem Abgrund; so
ward ich geschleift. Da schrie ich in der Angst, und ich
erwachte. Ich trat ans Fenster — und da hört ich's, Julie.
Was das Wort nur will? Warum gerade das.^ Was hab ich
damit zu schaffen: Was streckt es nach mir die blutigen
Hände? Ich hab es nicht geschlagen. — O hilf mir, Julie,
mein Sinn ist stumpf! War's nicht im September, Julie?
JULIE. Die Könige waren noch vierzig Stunden von
Paris. . .
DANTON. Die Festungen gefallen, die Aristokraten in
der Stadt. . .
JULIE. Die Republik war verloren.
DANTON. Ja, verloren. Wir konnten den Feind nicht im
Rücken lassen, wir wären Narren gewesen: zwei Feinde
auf einem Brett; wir oder sie, der Stärkere .stößt den
Schwächeren hinunter — ist das nicht billig?
JULIE. Ja, ja.
DANTON. Wir schlugen sie — , das war kein Mord, das
war Krieg nach innen.
JULIE. Du hast das Vaterland gerettet.
DANTON. Ja, das hab ich; das war Notwehr, wir mußten.
Der Mann am Kreuze hat sich's bequem gemacht: es muß
ja Ärgernis kommen, doch wehe dem, durch welchen
Ärgernis kommt!— Es muß; das war dies Muß. Wer will
der Hand fluchen, auf die der Fluch des Muß gefallen?
Wer hat das Muß gesprochen, wer? Was ist das, was in
uns hurt, lügt, stiehlt und mordet?
Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten am Draht
gezogen; nichts, nichts wir selbst! die Schwerter, mit
44 DICHTUNGEN
denen Geister kämpfen — man sieht mir die Hände nicht,
wie im Märchen.— Jetzt bin ich ruhig.
JULIE. Ganz ruhig, lieb Herz?
DANTON. Ja, Julie; komm, zu Bette!
STRASSE VOR DANTONS HAUS
Simon. Biirgersoldafen.
SIMON. Wie weit ist's in der Nacht?
ERSTER BÜRGER. Was in der Nachtr
SIMON. Wie weit ist die Nacht?
ERSTER BÜRGER. So weit als zwisclien Sonnenunter-
gang und Sonnenaufgang.
SIMON. Schuft, wieviel Uhr?
ERSTER BÜRGER. Sieh auf dein Zifferblatt; es ist die
Zeit, wo die Perpendikel unter den Bettdecken ausschlagen.
SIMON. Wir müssen hinauf! Fort, Bürger! Wir haften
mit unseren Köpfen dafür. Tot oder lebendig! Er hat ge-
waltige Glieder. Ich werde vorangehn, Bürger. Der Frei-
heit eine Gasse! — Sorgt für mein Weib! Eine Eichenkrone
werd ich ihr hinterlassen.
ERSTER BÜRGER. Eine Eichelkrone? Es sollen ihr
ohnehin jeden lag Eicheln genug in den Schoß fallen.
SIMON. Vorwärts, Bürger, ihr werdet euch um das Vater-
land verdient machen!
ZWEITER BÜRGER. Ich wollte, das Vaterland machte
sich um uns verdient; über all den Löchern, die wir in
andrer Leute Körper machen, ist noch kein einziges in
unsern Hosen zugegangen.
ERSTER BÜRGER. Willst du, daß dir dein Hosenlatz
zuginge? Hä, hä, hä!
DIE ANDERN. Hä, hä, hä!
SIMON. Fort, fort! (^Sie dringen in Dantons Haus.)
DER NATIONALKONVENT
Eine Gruppe von Deputierten.
LEGENDRE. Soll denn das Schlachten der Deputierten
nicht aufhören.^ — Wer ist noch sicher, wenn Danton fällt?
EIN DEPUTIERTER. Was tun?
DANTONS TOD. ZWEITER AKT 45
EIN ANDERER. Er muß vor den Schranken des Kon-
vents gehört werden. — Der Erfolg dieses Mittels ist sicher;
was sollten sie seiner Stimme entgegensetzen:
EIN ANDERER. Unmöglich, ein Dekret verhindert uns.
LEGENDRE. Es muß zurückgenommen oder eine Aus-
nahme gestattet werden. — Ich werde den Antrag machen;
ich rechne auf eiure Unterstützung.
DER PRÄSIDENT. Die Sitzung ist eröffnet.
LEGENDRE [besteigt die Tribüne). Vier Mitglieder des
Nationalkonvents sind verflossene Nacht verhaftet wor-
den. Ich weiß, daß Danton einer von ihnen ist, die Na-
men der übrigen kenne ich nicht. Mögen sie übrigens
sein, wer sie wollen, so verlange ich, daß sie vor den
Schranken gehört werden.
Bürger, ich erkläre es: ich halte Danton für ebenso rein
wie mich selbst, und ich glaube nicht, daß mir irgendein
Vorwiurf gemacht werden kann. Ich will kein Mitglied des
Wohlfahrts- oder des Sicherheitsausschusses angTeifen,
aber gegTündete Ursachen lassen mich fürchten, Privat-
haß und Privatleidenschaften möchten der Freiheit Männer
entreißen, die ihr die größten Dienste erwiesen haben.
Der Mann, welcher im Jahre 1792 Frankreich durch seine
Energie rettete, verdient gehört zu werden; er muß sich
erklären dürfen, wenn man ihn des Hochverrats anklagt.
[Heftige Bewegung.)
EINIGE STIMMEN. Wir unterstützen Legendres Vor-
schlag.
EIN DEPUTIERTER. Wir sind hier im Namen des Vol-
kes; man kann uns ohne den Willen unserer Wähler nicht
von unseren Plätzen reißen.
EIN ANDERER. Eure Worte riechen nach Leichen; ihr
habt sie den Girondisten aus dem Munde genommen. Wollt
ihr Privilegien? Das Beil des Gesetzes schwebt über allen
Häuptern.
EIN ANDERER. Wir können unsern Ausschüssen nicht
erlauben, die Gesetzgeber aus dem Asyl des Gesetzes auf
die Guillotine zu schicken.
EIN ANDERER. Das Verbrechen hat kein Asyl, nur ge-
krönte Verbrecher finden eins auf dem Thron.
46 DICHTUNGEN
EIN ANDERER. Nur Spitzbuben appellieren an das Asyl-
recht.
EIN ANDERER. Nur Mörder erkennen es nicht an.
ROBESPIERRE. Die seit langer Zeit in dieser Versamm-
lung unbekannte Verwirrung beweist, daß es sich um große
Dinge handelt. Heute entscheidet sich's, ob einige Män-
ner den Sieg über das Vaterland davontragen werden. —
Wie könnt ihr eure Grundsätze weit genug verleugnen,
um heute einigen Individuen das zu bewilligen, was ihr
gestern Chabot, Delaunai und Fahre verweigert habt?
Was soll dieser Unterschied zugunsten einiger Männer?
Was kümmern mich die Lobsprüche, die man sich selbst
und seinen Freunden spendet? Nur zu viele Erfahrungen
haben uns gezeigt, was davon zu halten sei. Wir fragen
nicht, ob ein Mann diese oder jene patriotische Handlung
vollbracht habe; wir fragen nach seiner ganzen politischen
Laufbahn. — Legendre scheint die Namen der Verhafteten
nicht zu wissen; der ganze Konvent kennt sie. Sein Freund
Lacroix ist darunter. Warum scheint Legendre das nicht
zu wissen? Weil er wohl weiß, daß nur die Schamlosig-
keit Lacroix verteidigen kann. Er nannte nur Danton,
weil er glaubt, an diesen Namen knüpfe sich ein Privi-
legium. Nein, wir wollen keine Privilegien, wir wollen
keine Götzen! (Beifall}^
Was hat Danton vor Lafayette, vor Dumouriez, vor Brissot,
Fahre, Chabot, Hebert voraus? Was sagt man von diesen,
was man nicht auch von ihm sagen könnte? Habt ihr sie
gleichwohl geschont? Wodurch verdient er einen Vorzug
vor seinen Mitbürgern? Etwa, weil einige betrogne In-
dividuen und andere, die sich nicht betrügen ließen, sich
um ihn reihten, um in seinem Gefolge dem Glück und
der Macht in die Arme zu laufen? — ^Je mehr er die Pa-
trioten betrogen hat, welche Vertrauen in ihn setzten,
desto nachdrücklicher muß er die Strenge der Freiheits-
freunde empfinden.
Man will euchP'urcht einflößen vor dem Mißbrauche einer
Gewalt, die ihr selbst ausgeübt habt. Man schreit über
den Despotismus der Ausschüsse, als ob das Vertrauen,
welches das Volk euch geschenkt und das ihr diesen Aus-
DANTONS TOD. ZWEITER AKT 47
Schüssen übertragen habt, nicht eine sichre Garantie ihres
Patriotismus wäre. Man stellt sich, als zittre man. Aber
ich sage euch, wer in diesem Augenblicke zittert, ist schul-
dig; denn nie zittert die Unschuld vor der öfifentlichen
Wachsamkeit. (Allgemeiner Beifall^
Man hat auch mich schrecken wollen; man gab mir zu
verstehen, daß die Gefahr, indem sie sich Danton nähere,
auch bis zu mir dringen könne. Man schrieb mir, Dantons
Freunde hielten mich umlagert, in der Meinung, die Er-
innerung an eine alte Verbindung, der blinde Glauben an
erheuchelte Tugenden könnten mich bestimmen, meinen
Eifer und meine Leidenschaft für die Freiheit zu mäßi-
gen.— So erkläre ich denn: nichts soll mich aufhalten,
und sollte auch Dantons Gefahr die meinige werden. Wir
alle haben etwas Mut und etwas Seelengröße nötig. Nur
Verbrecher und gemeine Seelen fürchten, ihresgleichen
an ihrer Seite fallen zu sehen, weil sie, wenn keine Schar
von Mitschuldigen sie m.ehr versteckt, sich dem Licht der
Wahrheit ausgesetzt sehen. Aber wenn es dergleichen
Seelen in dieser Versammlung gibt, so gibt es in ihr auch
heroische. Die Zahl der Schurken ist nicht groß; wir
haben nur wenige Köpfe zu treffen, und das Vaterland ist
gerettet. (Beifall^
Ich verlange, daß Legendres Vorschlag zurückgewiesen
werde. [Die Deputierten erheben sich sämtlich zum Zeichen
allgemeiner Beistimmung. )
ST. JUST. Es scheint in dieser Versammlung einige emp-
findliche Ohren zu geben, die das Wort ''Blut" nicht wohl
vertragen können. Einige allgemeine Betrachtungen mö-
gen sie überzeugen, daß wir nicht grausamer sind als die
Natur und als die Zeit. Die Natur folgt ruhig und un-
widerstehlich ihren Gesetzen; der Mensch wird vernichtet,
wo er mit ihnen in Konflikt kommt. Eine Änderung in
den Bestandteilen der Luft, ein Auflodern des telluri-
schen Feuers, ein Schwanken in dem Gleichgewicht einer
Wassermasse und eine Seuche, ein vulkanischer Ausbruch,
eine Überschwemmung begraben Tausende, Was ist das
Resultat? Eine unbedeutende, im großen Ganzen kaum
bemerkbare Veränderung der physischen Natur, die fast
48 DICHTUNGEN
spurlos vorübergegangen sein würde, wenn nicht I.eichen
auf ihrem Wege lägen.
Ich frage nun: soll die geistige Natur in ihren Revo-
lutionen mehr Rücksicht nehmen als die physische? Soll
eine Idee nicht ebensogut wie ein Gesetz der Physik ver-
nichten dürfen, was sich ihr widersetzt? Soll überhaupt
ein Ereignis, was die ganze Gestaltung der moralischen
Natur, das heißt der Menschheit, umändert, nicht durch
Blut gehen dürfen? Der Weltgeist bedient sich in der
geistigen Sphäre unserer Arme ebenso, wie er in der phy-
sischen Vulkane und Wasserfluten gebraucht. Was liegt
daran, ob sie nun an einer Seuche oder an der Revolu-
tion sterben?
Die Schritte der Menschheit sind langsam, man kann sie
niu: nach Jahrhunderten zählen; hinter jedem erheben sich
die Gräber von Generationen. Das Gelangen zu den ein-
fachsten Erfindungen und Grundsätzen hat Millionen das
Leben gekostet, die auf dem Wege starben. Ist es denn
nicht einfach, daß zu einer Zeit, wo der Gang der Ge-
schichte rascher ist, auch mehr Menschen außer Atem
kommen?
Wir schließen schnell und einfach: da alle unter gleichen
Verhältnissen geschaffen werden, so sind alle gleich, die
Unterschiede abgerechnet, welche die Natiu: selbst ge-
macht hat. Es darf daher jeder Vorzüge und darf daher
keiner Vorrechte haben, weder ein einzelner noch eine
geringere oder größere Klasse von Individuen. — ^Jedes
Glied dieses in der Wirklichkeit angewandten Satzes hat
seine Menschen getötet. Der 14. Juli, der 10. August,
der 31. Mai sind seine Interpunktionszeichen. Er hatte
vier Jahre Zeit nötig, um in der Körperwelt durchgeführt
zu werden, und unter gewöhnlichen Umständen hätte er
ein Jahrhundert dazu gebraucht und wäre mit Genera-
tionen interpunktiert worden. Ist es da so zu verwundern,
daß der Strom der Revolution bei jedem Absatz, bei jeder
neuen Krümmung seine Leichen ausstößt?
Wir werden unserm Satze noch einige Schlüsse hinzuzu-
fügen haben; sollen einige hundert Leichen uns verhin-
dern, sie zu machen? — Moses führte sein Volk durch das
DANTONS TOD. DRITTER AKT 49
Rote Meer und in die Wüste, bis die alte verdorbne Ge-
neration sich aufgerieben hatte, eh er den neuen Staat
gründete. Gesetzgeber! Wir haben weder das Rote Meer
noch die Wüste, aber wir haben den Krieg und die Guil-
lotine.
Die Revolution ist wie die Töchter des Pelias: sie zer-
stückt die Menschheit, um sie zu verjüngen. Die Mensch-
heit wird aus dem Blutkessel wie die Erde aus den Wellen
der Sündflut mit lukräftigen Gliedern sich erheben, als
wäre sie zum ersten Male geschaffen. {Langer^ anhalteiidtr
Beifall. Einige Mitglieder erhebe7i sich im Enthusiasmus.)
Alle geheimen Feinde der Tyrannei, welche in Europa
und auf dem ganzen Erdkreise den Dolch des Brutus unter
ihren Gewändern tragen, fordern wir auf, diesen erhabnen
Augenblick mit uns zu teilen. (Die Zuhörer und die De-
putierten stimmen die Marseillaise an.)
DRITTER AKT
DAS LUXEMBURG. EIN SAAL MIT GEFANGNEN
Chaumette, Fayne, Mercier, Hirault de Sichelles und andre
Gefangne.
CHAUMETTE {zupft Payne am Ärmel). Hören Sie, Payne,
es könnte doch so sein, vorhin überkam es mich sa; ich
habe heute Kopfweh, helfen Sie mir ein wenig mit Ihren
Schlüssen, es ist mir ganz unheimlich zumut.
PAYNE. So komm, Philosoph Anaxagoras, ich will dich
katechisieren. — Es gibt keinen Gott, denn: Entweder
hat Gott die Welt geschaffen oder nicht. Hat er sie nicht
geschaffen, so hat die Welt ihren Grund in sich, und es
gibt keinen Gott, da Gott nur dadiurch Gott wird, daß er
den Grund alles Seins enthält. Nun kann aber Gott die
Welt nicht geschaffen haben; denn entweder ist die Schöp-
fung ewig wie Gott, oder sie hat einen Anfang. Ist letz-
teres der Fall, so muß Gott sie zu einem bestimmten
Zeitpunkt geschaffen haben, Gott muß also, nachdem er
eine Ewigkeit geruht, einmal tätig geworden sein, muß
BÜCHKER i.
so DICHTUNGEN
also einmal eine Veränderung in sich erlitten haben, die
den BegTifif Zeit auf ihn anwenden läßt, was beides gegen
das Wesen Gottes streitet. Gott kann also die Welt nicht
geschaffen haben. Da wir nun aber sehr deutlich wissen, daß
die AVeit oder daß unser Ich wenigstens vorhanden ist, und
daß sie dem Vorhergehenden nach also auch ihren Grund in
sich oder in etwas haben muß, das nicht Gott ist, so kann
es keinen Gott geben. Quod erat demonstrandum.
CHAUMETTE. Ei wahrhaftig, das gibt mir wieder Licht,
ich danke, danke!
MERCIER. Halten Sie, Payne! Wenn aber die Schöp-
fung ewig ist?
PAYNE. Dann ist sie schon keine Schöpfung mehr, dann
ist sie eins mit Gott oder ein Attribut desselben, wie Spi-
noza sagt; dann ist Gott in allem, in Ihnen, Wertester, im
Philosoph Anaxagoras und in mir. Das wäre so übel nicht,
aber Sie müssen mir zugestehen, daß es gerade nicht viel
um die himmlische Majestät ist, wenn der liebe Herrgott
in jedem von uns Zahnweh kriegen, den Tripper haben,
lebendig begraben werden oder wenigstens die sehr un-
angenehmen Vorstellungen davon haben kann.
MERCIER. Aber eine Ursache muß doch da sein.
PAYNE. Wer leugnet dies? Aber wer sagt Ihnen denn, daß
diese Ursache das sei, was wir uns als Gott, d. h. als das
Vollkommne denken? Halten Sie die Welt für vollkom-
men?
MERCIER. Nein.
PAYNE. Wie wollen Sie denn aus einer unvollkommnen
Wirkung auf eine vollkommne Ursache schließen? — Vol-
taire wagte es ebensowenig mit Gott als mit den Königen
zu verderben, deswegen tat er es. Wer einmal nichts hat
als Verstand und ihn nicht einmal konsequent zu ge-
brauchen weiß oder wagt, ist ein Stümper.
MERCIER. Ich frage dagegen: kann eine vollkommne
Ursache eine vollkommne Wirkung haben, d. h. kann et-
was Vollkommenes was Vollkommnes schaffen? Ist das
nicht unmöglich, weil das Geschaffne doch nie seinen
Grund in sich haben kann, was doch, wie Sie sagten, zur
Vollkommenheit gehört?
DANTONS TOD. DRITTER AKT 5 1
CHAUMETTE. Schweigen Sie! Schweigen Sie!
PAYNE. Beruhige dich, Philosoph! — Sie haben recht; aber
muß denn Gott einmal schaffen, kann er nur was Unvoll -
kommnes schaffen, so läßt er es gescheuter ganz bleiben.
Ist's nicht sehr menschlich, uns Gott nur als schaffend
denken zu können: Weil wir ims immer regen und schüt-
teln müssen, um uns niu: immer sagen zu können: wir sind!
müssen wir Gott auch dies elende Bedürfnis andichten? —
Müssen wir, wenn sich unser Geist in das Wesen einer
harmonisch in sich ruhenden, ewigen Seligkeit versenkt,
gleich annehmen, sie müsse die Finger ausstrecken und
über Tisch Brotmännchen kneten: aus überschwenglichem
Liebesbedürfnis, wie wir uns ganz geheimnisvoll in die
Ohren sagen. Müssen wir das alles, bloß um uns zu Götter-
söhnen zu machen: Ich nehme mit einem geringern Vater
vorlieb; wenigstens werd ich ihm nicht nachsagen können,
daß er mich unter seinem Stande in Schweinställen oder
auf den Galeeren habe erziehen lassen.
Schafft das Unvollkommne weg, dann allein könnt ihr
Gott demonstrieren; Spinoza hat es versucht. Man kann
das Böse leugnen, aber nicht den Schmerz; nur der Ver-
stand kann Gott beweisen, das Gefühl empört sich da-
gegen. Merke dir es, Anaxagoras: warum leide ich? Das
ist der Fels des Atheismus. Das leiseste Zucken des
Schmerzes, und rege es sich nur in einem Atom, macht
einen Riß in der Schöpfimg von oben bis unten.
MERCIER. Und die Moral?
PAYNE. Erst beweist ihr Gott aus der Moral und dann
die Moral aus Gott! — Was wollt ihr denn mit eiurer Moral:
Ich weiß nicht, ob es an und für sich was Böses oder was
Gutes gibt, und habe deswegen doch nicht nötig, meine
Handlungsweise zu ändern. Ich handle meiner Natur ge-
mäß; was ihr angemessen, ist für mich gut und ich tue
es, und was ihr zuwider, ist für mich bös und ich tue es
nicht und verteidige mich dagegen, wenn es mir in den
Weg kommt. Sie können, wie man so sagt, tugendhaft
bleiben und sich gegen das sogenannte Laster wehren,
ohne deswegen ihre Gegner verachten zu müssen, was
ein gar trauriges Gefühl ist.
52 DICHTUNGEN
CHAUMETTE. Wahr, sehr wahr!
HERAULT. O Philosoph Anaxagoras, man könnte aber
auch sagen: damit Gott alles sei, müsse er auch sein eignes
Gegenteil sein, d. h, vollkommen und unvollkommen, bös
und gut, selig und leidend; das Resultat freilich würde
gleich Null sein, es würde sich gegenseitig heben, wir
kämen zum Nichts. — Freue dich, du kömmst glücklich
durch; du kannst ganz ruhig in Madame Momoro das
Meisterstück der Natur anbeten, wenigstens hat sie dir
die Rosenkränze dazu in den Leisten gelassen.
CHAUMETTE. Ich danke Ihnen verbindlichst, meine
Herren! (AI;.)
PAYNE. Er traut noch nicht, er wird sich zu guter Letzt
noch die Ölung geben, die Füße nach Mekka zu legen und
sich beschneiden lassen, um ja keinen Weg zu verfehlen.
Danto?!., Lacroix^ Camille^ Philippeau werden Jiereingefiikrt.
HßRAULT {läuft auf Danton zu und wnarnit ihn). Guten
Morgen! Gute Nacht sollte ich sagen. Ich kann nicht
fragen, wie hast du geschlafen — : wie wirst du schlafen:
DANTON. Nun gut, man muß lachend zu Bett gehn.
MERCIER {zu Paync). Diese Dogge mit Taubenflügeln!
Er ist der böse Genius der Revolution; er wagte sich an
seine Mutter, aber sie war stärker als er.
PAYNE. Sein Leben und sein Tod sind ein gleich großes
Unglück.
LACROIX {zu Danton). Ich dachte nicht, daß sie so
schnell kommen würden.
DANTON. Ich wüßt es, man hatte mich gewarnt.
LACROIX. Und du hast nichts gesagt.^
DANTON. Zu was.^ Ein Schlagfluß ist der beste Tod;
wolltest du zuvor krank sein.^ Und — ich dachte nicht, daß
sie es wagen würden.
{Zu Hirault\) Es ist besser, sich in die Erde legen als
sich Leichdörner auf ihr laufen; ich habe sie lieber zum
Kissen als zum Schemel.
HfiRAULT. Wir werden wenigstens nicht mit Schwielen
an denFingern der hübschen Dame Verwesung die Wangen
streicheln.
DANTONS TOD. DRITTER AKT 53
C AMILLE {zu Danto?i). Gib dir nur keine Mühe! du
magst die Zunge noch so weit zum Hals heraushängen,
du kannst dir damit doch nicht den Todesschweiß von der
Stirne lecken. — O Lucile! Das ist ein großer Jammer!
{Die Gefangnen dränge^i sich um die neu Angekojnnmen.)
DANTON (zu Payne). Was Sie für das Wohl Ihres Landes
getan, habe ich für das meinige versucht. Ich war we-
niger glücklich, man schickt mich aufs Schafott; meinet-
wegen, ich werde nicht stolpern.
MERCIER (zu Dantoti). Das Blut der zweiundzwanzig
ersäuft dich.
EIN GEFANGENER (zu H^rault). Die Macht des Volkes
und die Macht der Vernunft sind eins.
EIN ANDRER (zu Caniille). Nun, Generalprokurator der
Laterne, deine Verbesserung der Straßenbeleuchtung hat
in Frankreich nicht heller gemacht.
EIN ANDRER. Laßt ihn! Das sind die Lippen, welche
das Wort ''Erbarmen'' gesprochen. (Er u mannt Camille^
mehrere Gefangne folgen seinem Beispiel^
PHILIPPEAU. Wir sind Priester, die mit Sterbenden ge-
betet haben; wir sind angesteckt worden und sterben an
der nämlichen Seuche.
EINIGE STIMMEN. Der Streich, der euch trifft, tötet
uns alle.
CAMILLE. Meine Herren, ich beklage sehr, daß unsere
Anstrengungen so fruchtlos waren; ich gehe aufs Schafott,
weil mir die Augen über das Los einiger Unglücklichen
naß geworden.
EIN ZIMMER
Fouquier- Tinville. Herrmann.
FOUQUIER. Alles bereit?
HERRMANN. Es wird schwer halten; wäre Danton nicht
darunter, so ginge es leicht.
FOUQUIER. Er muß vortanzen.
HERRMANN. Er wird die Geschwornen erschrecken, er
ist die Vogelscheuche der Revolution.
FOUQUIER. Die Geschwornen müssen wollen.
54 DICHTUNGEN
HERRMANN. Ein Mittel wüßt ich, aber es wird die ge-
setzliche Form verletzen.
FOUQUIER. Nur zu!
HERRMANN. Wir losen nicht, sondern suchen die Hand-
festen aus.
FOUQUIER. Das muß gehen. — Das wird ein gutes Hecke -
feuer geben. Es sind ihrer neunzehn. Sie sind geschickt
zusammenge worfelt. Die vier Fälscher, dann einige Ban-
kiers und Fremde. Es ist ein pikantes Gericht. Das Volk
braucht dergleichen. — Also zuverlässige Leute! Wer zum
Beispiel.^
HERRMANN. Leroi. Er ist taub und hört daher nichts
von all dem, was die Angeklagten vorbringen; Danton
mag sich den Hals bei ihm rauh schreien.
FOUQUIER. Sehr gut; weiter!
HERRMANN. Vilatte und Lumiere. Der eine sitzt immer
in der Trinkstube, und der andere schläft immer; beide
öffnen den Mund nur, um das Wort ''Schuldig" zu sagen. —
Girard hat den Grundsatz, es dürfe keiner entwischen,
der einmal vor das Tribunal gestellt sei. Renaudin . . .
FOUQUIER. Auchder.^ Er half einmal einigen Pfaffen durch.
HERRMANN. Sei ruhig! vor einigen Tagen kommt er
zu mir und verlangt, man solle allen Verurteilten vor der
Hinrichtung zur Ader lassen, um sie ein wenig matt zu
machen; ihre meist trotzige Haltung ärgere ihn.
FOUQUIER. Ach, sehr gut. Also ich verlasse mich!
HERRMANN. Laß mich nur machen!
[DIE CONCIERGERIE.] EIN KORRIDOR
Lacroix, Danton, Mercier und andre Gefangne auf und ab
gehend,
LACROIX (zu ehmn Gefangnen). Wie, so viel Unglück-
liche, und in einem so elenden Zustande.^
DER GEFANGNE. Haben Ihnen die Guillotinenkarren
nie gesagt, daß Paris eine Schlachtbank sei.''
MERCIER. Nicht wahr, Lacroix, die Gleichheit schwingt
ihre Sichel über allen Häuptern, die Lava der Revolution
DANTONS TOD. DRITTER AKT 55
fließt, die Guillotine republikanisiert! Da klatschen die
Galerien, und die Römer reiben sich die Hände; aber sie
hören nicht, daß jedes dieser Worte das Röcheln eines
Opfers ist. Geht einmal euren Phrasen nach bis zu dem
Punkt, wo sie verkörpert werden. — Blickt um euch, das
alles habt ihr gesprochen; es ist eine mimische Über-
setzung eurer Worte. Diese Elenden, ihre Henker und
die Guillotine sind eure lebendig gewordnen Reden. Ihr
bautet eure Systeme, wie Bajazet seine P}Tamiden, aus
Menschenköpfen.
DANTON. Du hast recht — man arbeitet heutzutag alles
in Menschenfleisch, Das ist der Fluch unserer Zeit. Mein
Leib wird jetzt auch verbraucht.
Es ist grade ein Jahr, daß ich das Revolutionstribunal schuf.
Ich bitte Gott und Menschen dafür um Verzeihung; ich
wollte neuen Septembermorden zuvorkommen, ich hoffte
die Unschuldigen zu retten, aber dies langsame Morden
mit seinen Formalitäten ist gräßlicher und ebenso unver-
meidlich. Meine Herren, ich hoffte, Sie alle diesen Ort
verlassen zu machen.
MERCIER. O, herausgehen werden wir.
DANTON. Ich bin jetzt bei Ihnen; der Himmel weiß,
wie das enden soll.
DAS REVOLUTIONSTRIBUNAL
HERRMANN {zu Danton). Ihr Name, Bürger.
DANTON. Die Revolution nennt meinen Namen. Meine
Wohnung ist bald im Nichts und mein Name im Pantheon
der Geschichte.
HERRMANN. Danton, der Konvent beschuldigt Sie, mit
Mirabeau, mit Dumoiu:iez, mit Orleans, mit den Giron-
disten, den Fremden und der Faktion Ludwig des XVII.
konspiriert zu haben.
DANTON. Meine Stimme, die ich so oft für die Sache
des Volkes ertönen ließ, wird ohne Mühe die Verleumdung
zurückweisen. Die Elenden, welche mich anklagen, mögen
hier erscheinen, und ich werde sie mit Schande bedecken.
Die Ausschüsse mögen sich hierher begeben, ich werde
56 DICHTUNGEN
nur vor ihnen antworten. Ich habe sie als Kläger und als
Zeugen nötig. Sie mögen sich zeigen.
Übrigens, was liegt mir an euch und eurem Urteil.^ Ich
hab es euch schon gesagt: das Nichts wird bald mein
Asyl sein; — das Leben ist mir zur Last, man mag mir es
entreißen, ich sehne mich danach, es abzuschütteln.
HERRMANN. Danton, die Kühnheit ist dem Verbrecher,
die Ruhe der Unschuld eigen.
DANTON. Privatkühnheit ist ohne Zweifel zu tadeln, aber
jene Nationalkühnheit, die ich so oft gezeigt, mit welcher
ich so oft für die Freiheit gekämpft habe, ist die verdienst-
vollste aller Tugenden. — Sie ist meine Kühnheit, sie ist
es, der ich mich hier zum Besten der Republik gegen
meine erbärmlichen Ankläger bediene. Kann ich mich
fassen, wenn ich mich auf eine so niedrige Weise ver-
leumdet sehe: — Von einem Revolutionär wie ich darf
man keine kalte Verteidigung erwarten. Männer meines
Schlages sind in Revolutionen unschätzbar, auf ihrer
Stirne schwebt das Genie der Freiheit. [Zeichen von Bei-
fall unter den Zi/hörern.)
Mich klagt man an, mit Mirabeau, mit Dumouriez, mit
Orleans konspiriert, zu den Füßen elender Despoten ge-
krochen zu haben; mich fordert man auf, vor der unent-
rinnbaren, unbeugsamen Gerechtigkeit zu antworten. —
Du elender St. Just wirst der Nachwelt für diese Läste-
rung verantwortlich sein!
HERRMANN. Ich fordere Sie auf, mit Ruhe zu ant-
worten; gedeiK en Sie Marats, er trat mit Ehrfurcht vor
seine Richter.
DANTON. Sie haben die Hände an mein ganzes Leben
gelegt, so mag es sich denn aufrichten und ihnen ent-
gegentreten; unter dem Gewichte jeder meiner Hand-
lungen werde ich sie begraben. — Ich bin nicht stolz dar-
auf. Das Schicksal führt uns die Arme, aber nur gewal-
tige Naturen sind seine Organe.
Ich habe auf dem Marsfelde dem Königtume den Krieg
erklärt, ich habe es am lo. August geschlagen, ich habe
es am 21. Januar getötet und den Königen einen Königs-
kopf als Fehdehandschuh hingeworfen. ( IViedef/wIte Zei-
DANTONS TOD. DRITTER AKT 57
chen von Beifall. — Et' ?imimt die Anklageakte?) Wenn ich
einen Blick auf diese Schandschrift werfe, fühle ich mein
ganzes Wesen beben. Wer sind denn die, welche Danton
nötigen mußten, sich an jenem denkwürdigen Tage (d.
10. August) zu zeigen.^ Wer sind denn die privilegierten
Wesen, von denen er seine Energie borgte: — Meine An-
kläger mögen erscheinen! Ich bin ganz bei Sinnen, wenn
ich es verlange. Ich werde die platten Schiurken entlarven
und sie in das Nichts zurückschleudern, aus dem sie nie
hätten hervorkriechen sollen.
HERRMANN {schellt). Hören Sie die Klingel nichtr
DANTON. Die Stimme eines Menschen, welcher seine
Ehre und sein Leben verteidigt, muß deine Schelle über-
schreien.
Ich habe im September die junge Brut der Revolution
mit den zerstückten Leibern der Aristokraten geätzt.
Meine Stimme hat aus dem Golde der Aristokraten und
Reichen dem Volke Waffen geschmiedet. Meine Stimme
war der Orkan, welcher die Satelliten des Despotismus
unter Wogen von Bajonetten begrub. {Lauter Beifall.)
HERRMANN. Danton, Ihre Stimme ist erschöpft, Sie
sind zu heftig bewegt. Sie werden das nächste Mal Ihre
Verteidigung beschließen, Sie haben Ruhe nötig.— Die
Sitzung ist aufgehoben.
DANTON. Jetzt kennt Ihr Danton—, noch wenige Stun-
den, und er wird in den Armen des Ruhmes entschlum-
mern.
DAS LUXEMBURG. EIN KERKER
Dillon, Laflotte., ein Gefangenwärter.
DILLON. Kerl, leuchte mir mit deiner Nase nicht so
ins Gesicht. Hä, hä, hä!
L AFLOTTE. Halte den Mund zu, deine Mondsichel hat
einen Hof. -HH;ä, hä, hä!
WÄRTER. Hä, hä, hä! Glaubt Ihr, Herr, daß Ihr bei
ihrem Schein lesen könntet: {Zeigt auf einen Zettel^ den
er in der Hand hält.)
DILLON. Gib her!
58 DICHTUNGEN
WÄRTER. Herr, meine Mondsichel hat Ebbe bei mir
gemacht.
LAFLOITE. Deine Hosen sehen aus, als ob Flut wäre.
WÄRTER. Nein, sie zieht Wasser. {Zu Dillon:) Sie hat sich
vor Eurer Sonne verkrochen, Herr; Ihr müßt mir was geben,
das sie wieder feiu"ig macht, wenn Ihr dabei lesen wollt.
DILLON: Da, Kerl! Pack dich! {Er gibt ihm Geld. Wärter
ab. — Dillon liest:) Danton hat das Tribunal erschreckt, die
Geschwornen schwankten, die Zuhörer murrten. Der Zu-
drang war außerordentlich. Das Volk drängte sich um den
Justizpalast und stand bis zu den Brücken. Eine Hand-
voll Geld, ein Arm endlich — hm! hm! {Er geht auf und
ab und schenkt sich von Zeit zu Zeit aus einer Flasche ein.)
Hätt ich nur den Fuß auf der Gasse! Ich werde mich nicht
so schlachten lassen. Ja, nur den Fuß auf der Gasse!
LAFLOTTE. Und auf dem Karren, das ist eins.
DILLON. Meinst du: Da lägen noch ein paar Schritte
dazwischen, lang genug, um sie mit den Leichen der De-
zemvirn zu messen. — Es ist endlich Zeit, daß die recht-
schaffnen Leute das Haupt erheben.
LAFLOTTE {für sich). Desto besser, um so leichter ist
es zu treffen. Nur zu, Alter; noch einige Gläser, und ich
werde Üott.
DILLON. Die Schurken, die Narren, sie werden sich zu-
letzt noch selbst guillotinieren. {Er läuft auf und ab.)
LAFLOTFE {beiseite). Man könnte das Leben ordentlich
wieder liebhaben, wie sein Kind, wenn man sich's selbst
gegeben. Das kommt gerade nicht oft vor, daß man so
mit dem Zufall Blutschande treiben und sein eigner Vater
werden kann. Vater und Kind zugleich. Ein behaglicher
Ödipus!
DILLON. Man füttert das Volk nicht mit Leichen; Dan-
tons und Camilles Weiber mögen Assignaten unter das
Volk werfen, das ist besser als Köpfe.
LAFLOITE [beiseite']. Ich würde mir hinfeennach die
Augen nicht ausreißen; ich könnte sie nötig haben, um
den guten General zu beweinen.
DILLON. Die Hand an Danton! Wer ist noch sicher.-
Die Furcht wird sie vereinigen.
DANTONS TOD. DRITTER AKT 59
LAFLOTTE \beiseite\ Er ist doch verloren. Was ist's
denn, wenn ich auf eine Leiche trete, um aus dem Grab
zu klettern?
DILLON. Niu- den Fuß auf der Gasse! Ich werde Leute
genug finden, alte Soldaten, Girondisten, Exadlige; wir
erbrechen die Gefängnisse, wir müssen uns mit den Ge-
fangnen verständigen.
LAFLOTTE \beiseite\. Nun freilich, es riecht ein wenig
nach Schufterei. Was tut's? Ich hätte Lust, auch das zu
versuchen; ich war bisher zu einseitig. Man bekommt
Gewissensbisse, das ist doch eine Abwechslung; es ist
nicht so unangenehm, seinen eignen Gestank zu riechen.
— Die Aussicht auf die Guillotine ist mir langweilig ge-
worden; so lang auf die Sache zu warten! Ich habe sie
im Geist schon zwanzigmal durchprobiert. Es ist auch gar
nichts Pikantes mehr dran; es ist ganz gemein geworden.
DILLON. Man muß Dantons Frau ein Billett zukommen
lassen.
LAFLOTTE \beiseite\. Und dann— ich fürchte den Tod
nicht, aber den Schmerz. Es könnte wehe tun, wer steht
mir dafür? Man sagt zwar, es sei nur ein Augenblick; aber
der Schmerz hat ein feineres Zeitmaß, er zerlegt eine Tertie.
Nein! Der Schmerz ist die einzige Sünde, und das Leiden
ist das einzige Laster; ich werde tugendhaft bleiben.
DILLON. Höre, Laflotte, wo ist der Kerl hingekommen?
Ich habe Geld, das muß gehen. Wir müssen das Eisen
schmieden; mein Plan ist fertig.
LAFLOTTE. Gleich, gleich! Ich kenne den Schließer,
ich werde mit ihm sprechen. Du kannst auf mich zählen,
General, wir werden aus dem Loch kommen — [für sich
im Hinausgehn:) um in ein anderes zu gehen: ich in das
weiteste, die Welt, er in das engste, das Grab.
DER WOHLFAHRTSAUSSCHUSS
St. Just ^ Barrere^ Collot d'Herbois, Billaud-Varennes .
BARRERE. Was schreibt Fouquier?
ST. JUST. Das zweite Verhör ist vorbei. Die Gefangnen
verlangen das Erscheinen mehrerer Mitglieder des Kon-
6o DICHTUNGEN
vents lind des Wohlfahrtsausschusses; sie appellierten an
das Volk, wegen Verweigerung der Zeugen. Die Bewe-
gung der Gemüter soll unbeschreiblich sein. — Danton
parodierte den Jupiter und schüttelte die Locken.
COLLOT. Um so leichter wird ihn Samson daran packen.
BARRERE. Wir dürfen uns nicht zeigen, die Fischweiber
und die Lumpensammler könnten uns weniger imposant
finden.
BILLAUD. Das Volk hat einen Instinkt, sich treten zu
lassen, und wäre es nur mit Blicken; dergleichen insolente
Physiognomien gefallen ihm. Solche Stirnen sind ärger
als ein adliges Wappen, der feine Aristokratismus der
Menschenverachtung sitzt auf ihnen. Es sollte sie jeder
einschlagen helfen, den es verdrießt, einen Blick von
oben herunter zu erhalten.
BARRERE. Er ist wie der hörnerne Siegfried, das Blut
der Septembrisierten hat ihn unverwundbar gemacht. —
Was sagt Robespierre?
ST. JUST. Er tut, als ob er etwas zu sagen hätte. — Die
Geschwornen müssen sich für hinlänglich unterrichtet er-
klären und die Debatten schließen.
BARRERE. Unmöglich, das geht nicht.
ST. JUST. Sie müssen weg, um jeden Preis, und sollten
wir sie mit den eignen Händen erwürgen. Wagt! Danton
soll uns das Wort nicht umsonst gelehrt haben. Die Revo-
lution wird über ihre Leichen nicht stolpern; aber bleibt
Danton am Leben, so wird er sie am Gewand fassen, und
er hat etwas in seiner Gestalt, als ob er die Freiheit not-
züchtigen könnte. (St. Just ivird /linausgeri/fen.)
Ein Schließer tritt ein.
SCHLIESSER. In St. Pelagie liegen Gefangne am Ster-
ben, sie verlangen einen Arzt.
BILLAUD. Das ist unnötig, so viel Mühe weniger für
den Scharfrichter.
SCHLIESSER. Es sind schwangere Weiber dabei.
BILLAUD. Desto besser, da brauchen ihre Kinder keinen
Sarg. ^
BARRERE. Die Schwindsucht eines Aristokraten spart
DANTONS TOD. DRITTER AKT 6i
dem Revolutionstribunal eine Sitzung. Jede Arznei wäre
contrerevolutionär.
COLTOT {iiimmt ein Papier). Eine Bittschrift, ein Weiber-
name!
BARRERE. Wohl eine von denen, die gezwungen sein
möchten, zwischen einem Guillotinenbrett und dem Bett
eines Jakobiners zu wählen. Die wie Lukretia nach dem
Verlust ihrer Ehre sterben, aber etwas später als die
Römerin: im Kindbett oder am Krebs oder aus Alters-
schwäche.— Es mag nicht so unangenehm sein, einen Tar-
quinius aus der Tugendrepublik einer Jungfrau zu treiben.
COLLOT. Sie ist zu alt. Madame verlangt den Tod, sie
weiß sich auszudrücken: das Gefängnis liege auf ihr wie
ein Sargdeckel; sie sitzt erst seit vier Wochen. Die Ant-
wort ist leicht [er scJweibt und liest): "Bürgerin, es ist noch
nicht lange genug, daß du den Tod wünschest.'' [Se/iließer
BARRERE. Gut gesagt! Aber, Collot, es ist nicht gut,
daß die Guillotine zu lachen anfängt; die Eeute haben
sonst keine Furcht mehr davor; man muß sich nicht so
familiär machen.
St. Just kommt zurück.
ST. JUST. Eben erhalte ich eine Denunziation. Man kon-
spiriert in den Gefängnissen; ein junger Mensch namens
Latlotte hat alles entdeckt. Er saß mit Dillon im näm-
lichen Zimmer, Dillon hat getrunken und geplaudert.
BxA.RRERE. Er schneidet sich mit seiner Bouteille den
Hals ab; das ist schon mehr vorgekommen.
ST. JUST. Dantons und Camilles Weiber sollen Geld
unter das Volk werfen, Dillon soll ausbrechen, man will
die Gefangnen befreien, der Konvent soll gesprengt werden.
BARRERE. Das sind Märchen.
ST. JUST. Wir werden sie aber mit dem Märchen in
Schlaf erzählen. Die Anzeige habe ich in Händen; dazu
die Keckheit der Angeklagten, das Murren des Volks, die
Bestürzung der Geschwornen — ich werde einen Bericht
machen.
BARRERE. Ja, geh, St. Just, und spinne deine Perioden,
62 DICHTUNGEN
worin jedes Komma ein Säbelhieb mid jeder Pmikt ein
abgeschlagner Kopf ist!
ST. JUST. Der Konvent muß dekretieren, das Tribunal
solle ohne Unterbrechung den Prozeß fortführen und dürfe
jeden Angeklagten, welcher die dem Gerichte schuldige
Achtung verletzte oder störende Auftritte veranlaßte, von
den Debatten ausschließen.
BARRERE. Du hast einen revolutionären Instinkt; das
lautet ganz gemäßigt und wird doch seine Wirkung tun.
Sie können nicht schweigen, Danton muß schreien.
ST. JUST. Ich zähle auf eure Unterstützung. Es gibt
Leute im Konvent, die ebenso krank sind wie Danton
und welche die nämliche Kur fürchten. Sie haben wieder
Mut bekommen, sie werden über Verletzung der Formen
sclireien . . .
BARRERE {ihn unterbrechend^. Ich werde ihnen sagen:
Zu Rom wurde der Konsul, welcher die Verschwörung
des Katilina entdeckte und die Verbrecher auf der Stelle
mit dem Tod bestrafte, der verletzten Förmlichkeit an-
geklagt. Wer waren seine Ankläger?
COLLOT {niit Pathos). Geh, St. Just! Die Lava der Re-
volution fließt. Die Freiheit wird die Schwächlinge, welche
ihren mächtigen Schoß befruchten wollten, in ihren Um-
armimgen ersticken; die Majestät des Volks wird ihnen
wie Jupiter der Semele unter Donner und Blitz erscheinen
und sie in Asche verwandeln. Geh, St. Just, wir werden
dir helfen, den Donnerkeil auf die Häupter der Feiglinge
zu schleudern! (St. Just ab.)
BARRERE. Hast du das Wort Kur gehört? Sie werden
noch aus der Guillotine ein Spezifikum gegen die Lust-
seuche machen. Sie kämpfen nicht mit den Moderierten,
sie kämpfen mit dem Laster.
BILLAUD. Bis jetzt geht unser Weg zusammen.
BARRERE. Robespierre will aus der Revolution einen
Hörsaal für Moral machen und die Guillotine als Katheder
gebrauchen.
BILLAUD. Oder als Betschemel.
DANTONS TOD. DRIITER AKT 63
COLLOT. Auf dem er aber alsdann nicht stehen, sondern
liegen soll.
BARRERE. Das wii'd leicht gehen. Die Welt müßte auf
dem Kopf stehen, wenn die sogenannten Spitzbuben von
den sogenannten rechtlichen Leuten gehängt werden
sollten.
COLLOT {zu Bai'rert-). AVann kommst du wieder nach
Clichy.-
BARRERE. Wenn der Arzt nicht mehr zu mir kommt.
COLLOT. Nicht wahr, über dem Ort steht ein Haarstern,
unter dessen versengenden Strahlen dein Rückenmark ganz
ausgedörrt wird.'
BILLAUD. Nächstens werden die niedlichen Finger der
reizenden Demaly es ihm aus dem Futterale ziehen und
es als Zöpfchen über den Rücken hinunterhängen machen.
BARRERE {zuckt die Achseln). Pst! davon darf der 1\i-
gendhafte nichts wissen,
BILLAUD. Er ist ein impotenter Masonet.
{Billaud und Collot ab.)
BARRERE {allehi). Die Ungeheuer!— "Es ist noch nicht
lange genug, daß du den Tod wünschest!" Diese Worte
hätten die Zunge müssen verdorren machen, die sie ge-
sprochen.
Und ich: — Als die Septembriseurs in die Gefängnisse
drangen, faßt ein Gefangner sein Messer, er drängt sich
unter die Mörder, er stößt es in die Brust eines Priesters,
er ist gerettet! Wer kann w^as dawider haben? Ob ich
mich nun unter die Mörder dränge oder mich in den Wohl-
fahrtsausschuß setze, ob ich ein Guillotinen- oder ein
Taschenmesser nehme.- Es ist der nämhche Fall, nur mit
etwas verwickeiteren Umständen; die Grundverhältnisse
sind sich gleich. — Und dürft er einen morden, dürft er auch
zwei, auch drei, auch noch mehr: wo hört das auf: Da
kommen die Gerstenkörner, machen zwei einen Haufen,
drei, vier, wieviel dann? Komm mein Gewissen, komm
mein Hühnchen, komm bi, bi, bi, da ist Futter!
Doch — war ich auch Gefangner? Verdächtig war ich, das
läuft auf eins hinaus; der Tod war mir gewiß. {Ab?j
64 DICHTUNGEN
DIE CONCIERGERIE
Lacroix, Danton^ Fhilippeau, Cainille.
LACROIX. Du hast gut geschrien, Danton; hättest du
dich etwas früher so um dein Leben gequält, es wäre jetzt
anders. Nicht wahr, wenn der Tod einem so unverschämt
nahekommt und so aus dem Hals stinkt und immer zu-
dringlicher wird:
CAMILLE. Wenn er einen noch notzüchtigte und seinen
Raub unter Ringen und Kampf aus den heißen Gliedern
riß! Aber so in allen Formalitäten wie bei der Hochzeit
mit einem alten Weibe, wie die Pakten aufgesetzt, wie
die Zeugen gerufen, wie das Amen gesagt und wie dann
die Bettdecke gehoben wird und es langsam hereinkriecht
mit seinen kalten Gliedernl
DANTON. War es ein Kampf, daß die Arme und Zähne
einander packten! Aber es ist mir, als wäre ich in ein
Mühlwerk gefallen, und die Glieder würden mir langsam
systematisch von der kalten physischen Gewalt abgedreht.
So mechanisch getötet zu werden!
CAMILLE. Und dann daliegen allein, kalt, steif in dem
feuchten Dunst der Fäulnis — vielleicht, daß einem der Tod
das Leben langsam aus den Fibern martert — mit Bewußt-
sein vielleicht sich wegzufaulen!
PHILIPPEAU. Seid ruhig, meine Freunde! Wir sind wie
die Herbstzeitlose, welche erst nach dem Winter Samen
trägt. Von Blumen, die versetzt werden, unterscheiden
wir uns nur dadurch, daß wir über dem Versuch ein wenig
stinken. Ist das so arg:
DANTON. Eine erbauliche Aussicht! Von einem Mist-
haufen auf den andern! Nicht wahr, die göttliche Klassen-
theorie r Von Prima nach Sekunda, von Sekunda nach
Tertia und so weiter? Ich habe die Schulbänke satt, ich
habe mir Gesäßschwielen wie ein Affe darauf gesessen.
PHILIPPEAU. Was willst du denn.-
D ANTON. Ruhe.
PHILIPPEAU. Die ist in Gott.
DANTON. Im Nichts. Versenke dich in was Ruhigers
als das Nichts, und wenn die höchste Ruhe Gott ist, ist
nicht das Nichts Gott? Aber ich bin ein Atheist. Der ver-
DAXTOXS TOD. DRITTER AKT 65
fluchte Satz: etwas kann nicht zu nichts werden! Und ich
bin etwas, das ist der Jammer! — Die Schöpfung hat sich
so breit gemacht, da ist nichts leer, alles voll Gewimmels.
Das Nichts hat sich ermordet, die Schöpfung ist seine
Wunde, wir sind seine Blutstropfen, die Welt ist das Grab,
worin es fault. — Das lautet verrückt, es ist aber doch was
Wahres daran.
CAMILLE. Die Welt ist der ewige Jude, das Nichts ist
der Tod, aber er ist unmöglich. O, nicht sterben können,
nicht sterben können! wie es im Lied heißt.
DANTON. Wir sind alle lebendig begraben und wie
Könige in drei- oder vierfachen Särgen beigesetzt, unter
dem Himmel, in unsern Häusern, in unsern Röcken und
Hemden. — Wir kratzen fünfzig Jahre lang am Sargdeckel.
Ja, wer an A^ernichtung glauben könnte! dem wäre ge-
holfen.— Da ist keine Hoffnung im Tod; er ist nur eine
einfachere, das Leben eine verwickeitere, organisiertere
Fäulnis, das ist der ganze Unterschied! — Aber ich bin
gerad einmal an diese Art des Faulens gewöhnt; der
Teufel weiß, wie ich mit einer andern zurechtkomme.
O Julie! Wenn ich allein ginge! Wenn sie mich einsam
ließe! — Und wenn ich ganz zerfiele, mich ganz auflöste:
ich wäre eine Handvoll gemarterten Staubes, jedes meiner
Atome könnte nur Ruhe finden bei ihr. — Ich kann nicht
sterben, nein, ich kann nicht sterben. Wir müssen schreien;
sie müssen mir jeden Lebenstropfen aus den Gliedern
reißen.
EIN ZIiMMER
Foiiquiei'. Amar. Vouland.
FOUQUTER. Ich weiß nicht mehr, was ich antworten
soll; sie fordern eine Kommission.
AMAR. Wir haben die Schurken — da hast du, was du
verlangst. (Er überreicht Foitquier ein Papier.)
VOULAND. Das wird sie zufriedenstellen.
FOUQUIER. Wahrhaftig, das hatten wir nötig.
AMAR. Nun mache, daß wir und sie die Sache vom Hals
bekommen.
BÜCHNER =;.
66 DICHTUNGEN
DAS REVOLUTIONSTRIBUNAL
DANTON. Die Republik ist in Gefahr, und er hat keine
Instruktion! Wir appellieren an das Volk; meine Stimme
ist noch stark genug, um den Dezemvirn die Leichenrede
zu halten.— Ich wiederhole es, wir verlangen eine Kom-
mission; wir haben wichtige Entdeckungen zu machen.
Ich werde mich in die Zitadelle der Vernunft zurückziehen,
ich werde mit der Kanone der Wahrheit hervorbrechen
und meine Feinde zermalmen. (Zeichen des Beifalls.)
Fouquier^ Amar und Vouland treten ein.
FOUQUIER. Ruhe im Namen der Republik, Achtung
dem Gesetz! Der Konvent beschließt:
In Betracht, daß in den Gefängnissen sich Spuren von
Meutereien zeigen, in Betracht, daß Dantons und Camilles
Weiber Geld unter das Volk werfen und daß der General
Dillon ausbrechen und sich an die Spitze der Empörer
stellen soll, um die Angeklagten zu befreien, in Betracht
endlich, daß diese selbst unruhige Auftritte herbeizuführen
sich bemüht und das Tribunal zu beleidigen versucht haben,
wird das Tribunal ermächtigt, die Untersuchung ohne Un-
terbrechung fortzusetzen und jeden Angeklagten, der die
dem Gesetze schuldige Ehrfurcht außer Augen setzen
sollte, von den Debatten auszuschließen.
DANTON. Ich frage die Anwesenden, ob wir dem Tri-
bunal, dem Volke oder dem Nationalkonvent Hohn ge-
sprochen haben?
VIELE STIMMEN. Nein! Nein!
CAMILLE. Die Elenden, sie wollen meine Lucile mor-
den!
DANTON. Eines Tages wird man die Wahrheit erkennen.
Ich sehe großes Unglück über Frankreich hereinbrechen.
Das ist die Diktatur; sie hat ihren Schleier zerrissen, sie
trägt die Stirne hoch, sie schreitet über unsere Leichen.
(AiifAma?' und Vouland deutend:) Seht da die feigen Mör-
der, seht da die Raben des Wohlfahrtsausschusses!
Ich klage Robespierre, St. Just und ihre Henker des Hoch-
verrats an.— Sie wollen die Republik im Blut ersticken.
Die Gleisen der Guillotinenkarren sind die Heerstraßen,
DANTONS TOD. DRITTER AKT 67
auf welchen die Fremden in das Herz des Vaterlandes
dringen sollen.
Wie lange sollen die Fußstapfen der Freiheit Gräber sein?
—Ihr wollt Brot, und sie werfen euch Köpfe hin! Ihr
durstet, und sie machen euch das Blut von den Stufen
der Guillotine lecken! [Heftige Bewegung unter den Zu-
hörern^ Geschrei des Beifalls^ viele Stimm e7i: Es lebe
Danton^ Glieder mit den Dezemvirnl — Die Gefangne7i werden
mit Gewalt hinausgefüh7't.)
PLATZ VOR DEM JUSTIZPALAST
Eifi Volkshaufe.
EINIGE STIMMEN. Nieder mit den Dezemvirn! Es lebe
Danton!
ERSTER BÜRGER. Ja, das ist wahr. Köpfe statt Brot,
Blut statt Wein!
EINIGE WEIBER. Die Guillotine ist eine schlechte Mühle
und Samson ein schlechter Bäckerknecht; wir wollen Brot,
Brot!
ZWEITER BÜRGER. Euer Brot, das hat Danton ge-
fressen. Sein Kopf wird euch allen wieder Brot geben,
er hatte recht.
ERSTER BÜRGER. Danton war unter uns am 10. Au-
gust, Danton war unter uns im September. Wo waren die
Leute, welche ihn angeklagt haben?
ZWEITER BÜRGER. Und Lafayette war mit euch in
Versailles und war doch ein Verräter.
ERSTER BÜRGER. Wer sagt, daß Danton ein Ver-
räter sei?
ZWEITER BÜRGER. Robespierre.
ERSTER BÜRGER. Und Robespierre ist ein Verräter!
ZWEITER BÜRGER. Wer sagt das?
ERSTER BÜRGER. Danton.
ZW^EITER BÜRGER. Danton hat schöne Kleider, Dan-
ton hat ein schönes Haus, Danton hat eine schöne Frau,
er badet sich in Burgunder, ißt das Wildbret von silbernen
Tellern und schläft bei errren Weibern und Töchtern, wenn
68 DICHTUNGEN
er betrunken ist.— Danton war arm wie ihr. Woher hat
er das alles: Das Veto hat es ihm gekauft, damit er ihm
die Krone rette. Der Herzog von Orleans hat es ihm ge-
schenkt, damit er ihm die Krone stehle. Der Fremde hat
es ihm gegeben, damit er euch alle verrate. — Was hat
Robespierre.' Der tugendhafte Robespierre! Ihr kennt
ihn alle.
ALLE. Es lebe Robespierre! Nieder mit Danton! Nieder
mit dem Verräter!
[VIERTER] AKT
[EIN ZIMMER]
Julie^ ein Knabe.
JULIE. Es ist aus. Sie zitterten vor ihm. Sie töten ihn
aus Fiu'cht. Geh! ich habe ihn zum letztenmal gesehen;
sag ihm, ich könne ihn nicht so sehen, {ßie gibt i/un eine
Locke.) Da, bring ihm das und sag ihm, er würde nicht
allein gehn — er versteht mich schon. Und dann schnell
zurück, ich will seine Blicke aus deinen Ausfen lesen.
EINE STRASSE
Dumas. Ein Bürger.
BÜRGER. Wie kann man nach einem solchen Verhör
so viel Unschuldige zum Tod verurteilen:
DUMAS. Das ist in der Tat außerordentlich; aber die
Revolutionsmänner haben einen Sinn, der andern Men-
schen fehlt, und dieser Sinn trügt sie nie.
BÜRGER. Das ist der Sinn des Tigers. — Du hast ein
Weib.
DUMAS. Ich werde bald eins gehabt haben.
BÜRGER. So ist es denn wahr.^
DUMAS. Das Revolutionstribunal wird unsere Eheschei-
dung aussprechen; die Guillotine wird uns von Tisch und
Bett trennen.
DANTOXS TOD. VIERTER AKT 69
BÜRGER. Du bist ein Ungeheuer!
DUMAS. Schwachkopf! Du bewunderst Brutus?
BÜRGER. Von ganzer Seele.
DUMAS. Muß man denn gerade römischer Konsul sein
und sein Haupt mit der Toga verhüllen können, um sein
Liebstes dem Vaterlande zu opfern.- Ich werde mir die
Augen mit dem Ärmel meines roten Fracks abwischen;
das ist der ganze Unterschied.
BÜRGER. Das ist entsetzlich!
DUMAS. Geh, du begreifst mich nicht! {Sie gehen ab.)
DIE CONCIERGERIE
Lacroix^ Htrault auf einem Bett^ Danton.,
Camille auf einem andern.
LACROIX. Die Haare wachsen einem so und die Nägel,
man muß sich wirklich schämen.
HERAULT. Nehmen Sie sich ein wenig in acht, Sie
niesen mir das ganze Gesicht voll Sand!
LACROIX. Und treten Sie mir nicht so auf die Füße,
Bester, ich habe Hühneraugen!
HßRAULT. Sie leiden noch an Ungeziefer.
LACROIX. Ach, wenn ich nur einmal die Würmer ganz
los wäre!
HERAULT. Nun, schlafen Sie wohl! wir müssen sehen,
wie wir miteinander ziu-echtkommen, wir haben wenig
Raum. — Kratzen Sie mich nicht mit Ihren Nägeln im
Schlaf! — So! — Zerren Sie nicht so am Leichtuch, es ist
kalt da unten! —
DANTON. Ja, Camille, morgen sind wir durchgelaufne
Schuhe, die man der Bettlerin Erde in den Schoß wirft.
CAMILLE. Das Rindsleder, woraus nach Piaton die Engel
sich Pantoffeln geschnitten und damit auf der Erde herum-
tappen. Es geht aber auch danach. — Meine Lucile!
DANTON. Sei ruhig, mein Junge!
CAMILLE. Kann ich's: Glaubst du, Danton.- Kann ich's.-
Sie können die Hände nicht an sie legen! Das Licht der
Schönheit, das von ihrem süßen Leib sich ausgießt, ist
DICHTUNGEN
unlöschbar. Sieh, die Erde würde nicht wagen, sie zu ver-
schütten; sie würde sich um sie wölben, der Grabdunst
würde wie Tau an ihren Wimpern funkeln, Kristalle wür-
den wie Blumen um ihre Glieder sprießen und helle Quel-
len in Schlaf sie murmeln.
DANTON. Schlafe, mein Junge, schlafe!
CAMILLE. Höre, Danton, unter uns gesagt, es ist so
elend, sterben müssen. Es hilft auch zu nichts. Ich will
dem Leben noch die letzten Blicke aus seinen hübschen
Augen stehlen, ich will die Augen offen haben.
DANTON. Du wirst sie ohnehin offen behalten, Samson
drückt einem die Augen nicht zu. Der Schlaf ist barm-
herziger. Schlafe, mein Junge, schlafe!
CAMILLE. Lucile, deine Küsse phantasieren auf meinen
Lippen; jeder Kuß wird ein Traum, meine Augen sinken
und schließen ihn fest ein. —
DANTON. Will denn die Uhr nicht ruhen.- Mit jedem
Picken schiebt sie die Wände enger um mich, bis sie so
eng sind wie ein Sarg. — Ich las einmal als Kind so 'ne
Geschichte, die Haare standen mir zu Berg.
Ja, als Kind! Das war der Mühe wert, mich so groß zu
füttern und mich warm zu halten. Bloß Arbeit für den
Totengräber!
Es ist mir, als roch ich schon. Mein lieber Leib, ich will
mir die Nase zuhalten und mir einbilden, du seist ein
Frauenzimmer, was vom Tanzen schwitzt und stinkt, und
dir Artigkeiten sagen. Wir haben uns sonst schon mehr
miteinander die Zeit vertrieben.
Morgen bist du eine zerbrochne Fiedel; die Melodie dar-
auf ist ausgespielt. Morgen bist du eine leere Bouteille;
der Wein ist ausgetrunken, aber ich habe keinen Rausch
davon und gehe nüchtern zu Bett — das sind glückliche
Leute, die sich noch besaufen können. Morgen bist du
eine durchgerutschte Hose; du wirst in die Garderobe ge-
worfen, und die Motten werden dich fressen, du magst
stinken, wie du willst.
Ach, das hilft nichts! Jawohl ist's so elend, sterben müssen.
Der Tod äfft die Geburt; beim Sterben sind wir so hilf-
los und nackt wie neugeborne Kinder. Freilich, wir
DANTONS TOD. VIERI ER AKl' 7 1
bekommen das Leichentuch zm- Windel. Was wird es
helfen: Wir können im Grab so gut wimmern wie in der
Wiege.
Camille! Er schläft; {indem er sich über ihn bückt:) ein
Traum spielt zwischen seinen Wimpern. Ich will den
goldnen Tau des Schlafes ihm nicht von den Augen
streifen.
[Er erhebt sich und tritt ans Fenster.) Ich werde nicht
allein gehn: ich danke dir, Julie! Doch hätte ich anders
sterben mögen, so ganz mühelos, so wie ein Stern fällt,
wie ein Ton sich selbst aushaucht, sich mit den eignen
Lippen totküßt, wie ein Lichtstrahl in klaren Fluten sich
begräbt. —
Wie schimmernde Tränen sind die Sterne durch die Nacht
gesprengt; es muß ein großer Jammer in dem Aug sein,
von dem sie abträufelten.
CAMILLE. O! (Er hat sich aufgerichtet und tastet ?iach
der Decke.)
DANTON. Was hast du, Camille:
CAMILLE. O, o!
DANTON {schiitte/t ihn). Willst du die Decke herunter-
kratzen:
CAMILLE. Ach du, du— o halt mich! sprich, du!
DANTON. Du bebst an allen Gliedern, der Schweiß
steht dir auf der Stirne.
CAMILLE. Das bist du, das ich — so! Das ist meine
Hand! Ja, jetzt besinn ich mich. O Danton, das war ent-
setzlich!
DANTON. Was denn:
CAMIIXE. Ich lag so zwischen Traum und Wachen.
Da schwand die Decke, und der Mond sank herein, ganz
nahe, ganz dicht, mein Arm erfaßt' ihn. Die Himmels -
decke mit ihren Lichtern hatte sich gesenkt, ich stieß
daran, ich betastete die Sterne, ich taumelte wie ein
Ertrinkender unter der Eisdecke. Das war entsetzlich,
Danton!
DANTON. Die Lampe wirft einen runden Schein an die
Decke, das sahst du.
7 2 DICHTUNGEN
CAMILLE. Meinetwegen, es braucht grade nicht viel,
um einem das bißchen Verstand verlieren zu machen. Der
Wahnsinn faßte mich bei den Haaren. [Er erhebt sic/i.)
Ich mag nicht mehr schlafen, ich mag nicht verrückt
werden. [Er greift nach einem Buch.)
DANTON. Was nimmst du:
CAMILLE. Die Nachtgedanken.
DANTON. Willst du zum voraus sterben: Ich nehme die
Pucelle. Ich will mich aus dem Leben nicht wie aus dem
Betstuhl, sondern wie aus dem Bett einer barmherzigen
Schwester wegschleichen. Es ist eine Hure; es treibt mit
der ganzen Welt Unzucht.
PLATZ VOR DER CONCIERGERIE
Ei7i Schließer, zwei Fuh-leute mit Karren^ Weiher.
SCHLIESSER. Wer hat euch herfahren geheißen:
ERSTER FUHRMANN. Ich heiße nicht Herfahren, das
ist ein kurioser Namen.
SCHLIESSER. Dummkopf, wer hat dir die Bestallung
dazu gegeben:
ERSTER FUHRMANN. Ich habe keine Stallung dazu
kriegt, nichts als zehn Sous für den Kopf.
ZWEITER FUHRMANN. Der Schuft will mich ums Brot
bringen.
ERSTER FUHRMANN. Was nennst du dein Brot? [Auf
die Fehlster der Gefangnen deutend-}^ Das ist Wurmfraß.
ZWEITER FUHRMANN. Meine Kinder sind auch Wür-
mer, und die wollen auch ihr Teil davon. O, es geht
schlecht mit unsrem Metier, und doch sind wir die besten
Fuhrleute.
ERSTER FUHRMANN. Wie das:
ZWEITER FUHRMANN. Wer ist der beste Fuhrmann.-
ERSTER FUHRMANN. Der am weitesten und am
schnellsten fährt.
ZWEITER FUHRMANN. Nun, Esel, wer fährt weiter,
als der aus der Welt fährt, und wer fährt schneller, als
der 's in einer Viertelstunde tut: Genau gemessen ist's
eine Viertelstunde von da bis zum Revolutionsplatz,
DANTONS TOD. VIERTER AKT 73
SCHLIESSER. Rasch, ihr Schlingel! Näher ans Tor;
Platz da, ihr Mädel!
ERSTER FUHR.MANN. Halt' euren Platz vor! um ein
Mädel fährt man nit herum, immer in die Mitt 'nein.
ZWEITER FUHRMANN. Ja, das glaub ich: du kannst
mit Karren und Gäulen hinein, du findst gute Gleise; aber
du mußt Quarantäne halten, wenn du herauskommst. (Sie
fahren vor. )
ZWEITER FUHRMANN (zu den Weibern). Was gafft ihr.-
EIN WEIB. Wir warten auf alte Kunden.
ZWEITER FUHRMANN. Meint ihr, mein Karren war
ein Bordell.- Er ist ein anständiger Karren, er hat den
König und alle vornehmen Herren aus Paris zur Tafel
gefahren.
LUCILE (tritt auf. Sie setzt sich auf einen Steiji unter die
Fenster der Gefangnen). Camille, Camille! (Camille er-
scheint am Fenster. ) Höre, Camille, du machst mich lachen
mit dem langen Steinrock imd der eisernen Maske vor
dem Gesicht; kannst du dich nicht bücken: Wo sind deine
Arme: — Ich will dich locken, lieber Vogel (singt-.)
Es stehn zwei Sternlein an dem Himmel,
Scheinen heller als der Mond,
Der ein' scheint vor Feinsliebchens Fenster,
Der andre vor die Kammertür.
Komm, komm, mein Freund! Leise die Treppe herauf,
sie schlafen alle. Der Mond hilft mir schon lange warten.
Aber du kannst ja nicht zum Tor herein, das ist eine un-
leidliche Tracht. Das ist zu arg für den Spaß, mach ein
Ende! Du rührst dich auch gar nicht, warum sprichst du
nicht: Du machst mir Angst.
Höre! die Leute sagen, du müßtest sterben, und machen
dazu so ernsthafte Gesichter. Sterben! ich muß lachen
über die Gesichter. Sterben! Was ist das für ein Wort:
Sag mir's, Camille. Sterben! Ich will nachdenken. Da,
da ist's. Ich will ihm nachlaufen; komm, süßer Freund,
hilf mir fangen, komm! komm! [Sie läuft iveg.)
CAMILLE (7'uft). Lucile! Lucile!
74 DICHTUNGEN
DIE CONCIERGERIE
Danton an einem Fenster^ ivas in das nächste Zimmer geht.
Camille^ Philippe au ^ Lacroix^ HJrault.
DANTON. Du bist jetzt ruhig, Fabre.
EINE STIMME {von innen). Am Sterben.
DANTON. Weißt du auch, was wir jetzt machen werden?
DIE STIMME. Nun?
DANTON. Was du dein ganzes Leben hindurch gemacht
hast — des vers.
CAMILLE {fih- sich). Der Wahnsinn saß hinter ihren
Augen. Es sind schon mehr Leute wahnsinnig geworden,
das ist der Lauf der Welt. Was können wir dazu? Wir
waschen unsere Hände — . Es ist auch besser so.
DANTON. Ich lasse alles in einer schrecklichen Verwir-
rung. Keiner versteht das Regieren. Es könnte vielleicht
noch gehn, wenn ich Robespierre meine Huren und Couthon
meine Waden hinterließe.
LACROIX. Wir hätten die Freiheit zur Hure gemacht!
DANTON. Was wäre es auch! Die Freiheit und eine
Hure sind die kosmopolitischsten Dinge unter der Sonne.
Sie wird sich jetzt anständig im Ehebett des Advokaten
von Arras prostituieren. Aber ich denke, sie wird die
Klytämnestra gegen ihn spielen; ich lasse ihm keine sechs
Monate Frist, ich ziehe ihn mit mir.
CAMILLE [ßir sich). Der Himmel verhelf ihr zu einer
behaglichen fixen Idee. Die allgemeinen fixen Ideen, wel-
che man die gesunde Vernunft tauft, sind unerträglich
langweilig. Der glücklichste Mensch war der, welcher
sich einbilden konnte, daß er Gott Vater, Sohn und Hei-
liger Geist sei.
LACROIX. Die Esel werden schreien ''Es lebe die Re-
publik", wenn wir vorbeigehen.
DANTON. Was liegt daran? Die Sündflut der Revolution
mag unsere Leichen absetzen, wo sie will; mit unsern
fossilen Knochen wird man noch immer allen Königen
die Schädel einschlagen können.
HfiRAULT. Ja, wenn sich gerade ein Simson für unsere
Kinnbacken findet.
DANTONS TOD. VIERTER AKT 75
DANTON. Sie sind Kainsbrüder.
LACROIX. Nichts beweist mehr, daß Robespierre ein
Nero ist, als der Umstand, daß er gegen Camille nie
freundlicher war als zwei Tage vor dessen Verhaftung.
Ist es nicht so, Camille?
CAMILLE. Meinetwegen, was geht das mich an? — [Für
sic/i:] Was sie aus dem Wahnsinn ein reizendes Ding ge-
macht hat! Warum muß ich jetzt fort: Wir hätten zusam-
men mit ihm gelacht, es gewiegt und geküßt.
DANTON, Wenn einmal die Geschichte ihre Grüfte öff-
net, kann der Despotismus noch immer an dem Duft unsrer
Leichen ersticken.
HfiRAULT. Wir stanken bei Lebzeiten schon hinläng-
lich.— Das sind Phrasen für die Nachwelt, nicht wahr,
Danton; uns gehn sie eigentlich nichts an.
CAMILLE. Er zieht ein Gesicht, als solle es verstei-
nern und von der Nachwelt als Antike ausgegraben wer-
den.
Das verlohnt sich auch der Mühe, Mäulchen zu machen
und Rot aufzulegen und mit einem guten Akzent zu spre-
chen; wir sollten einmal die Masken abnehmen, wir sähen
dann, wie in einem Zimmer mit Spiegeln, überall nur
den einen luralten, zahllosen, unverwüstlichen Schafskopf,
nichts mehr, nichts weniger. Die Unterschiede sind so
groß nicht, wir alle sind Schurken und Engel, Dummköpfe
und Genies, und zwar das alles in einem; die vier Dinge
finden Platz genug in dem nämlichen Körper, sie sind
nicht so breit, als man sich einbildet. Schlafen, Verdauen,
Kinder machen — das treiben alle; die übrigen Dinge sind
nur Variationen aus verschiedenen Tonarten über das
nämliche Thema. Da braucht man sich auf die Zehen zu
stellen und Gesichter zu schneiden, da braucht man sich
voreinander zu genieren! Wir haben uns alle am näm-
lichen Tische krank gegessen und haben Leibgrimmen;
was haltet ihr euch die Servietten vor das Gesicht? Schreit
nur und greint, wie es euch ankommt! Schneidet nur keine
so tugendhafte und so witzige und so heroische und so
geniale Grimassen, wir kennen uns ja einander, spart euch
die Mühe!
76 DICHTUNGEN
HßRAULT. Ja, Camille, wir wollen uns beieinander-
setzen und schreien; nichts dummer, als die Lippen zu-
sammenzupressen, wenn einem was weh tut. — Griechen
und Götter schrien, Römer und Stoiker machten die he-
roische Fratze,
DANTON. Die einen waren so gut Epikureer wie die
andern. Sie machten sich ein ganz behagliches Selbst-
gefühl zurecht. Es ist nicht so übel, seine Toga zu dra-
pieren und sich umzusehen, ob man einen langen Schatten
wirft. Was sollen wir uns zerren? Ob wir uns nun Lor-
beerblätter, Rosenkränze oder Weinlaub vor die Scham
binden oder das häßliche Ding offen tragen und es uns
von den Hunden lecken lassen.-
PHILIPPEAU. Meine Freunde, man braucht gerade nicht
hoch über der Erde zu stehen, um von all dem wirren
Schwanken und Flimmern nichts mehr zu sehen und die
Augen von einigen großen, göttlichen Linien erfüllt zu
haben. Es gibt ein Ohr, für welches das Ineinander -
schreien und der Zeter, die uns betäuben, ein Strom von
Harmonien sind.
DANTON. Aber wir sind die armen Musikanten und un-
sere Körper die Instrumente. Sind denn die häßlichen
Töne, welche auf ihnen herausgepfuscht werden, nur da, um
höher und höher dringend und endlich leise verhallend wie
ein wollüstiger Hauch in himmlischen Ohren zu sterben?
H^RAULT. Sind wir wie Ferkel, die man für fürstliche
Tafeln mit Ruten totpeitscht, damit ihr Fleisch schmack-
hafter werde?
DANTON. Sind wir Kinder, die in den glühenden Mo-
lochsarmen dieser Welt gebraten und mit Lichtstrahlen
gekitzelt werden, damit die Götter sich über ihr Lachen
freuen?
CAMILLE. Ist denn der Äther mit seinen Goldaugen
eine Schüssel mit Goldkari)fen, die am Tisch der seligen
Götter steht, und die seligen Götter lachen ewig, und die
Fische sterben ewig, und die Götter erfreuen sich ewig
am Farbenspiel des Todeskampfes?
DANTON. Die Welt ist das Chaos. Das Nichts ist der
zu gebärende Weltgott.
DANTONS TOD. VIERTER AKT 77
Der ScJiließc}' tritt ein.
SCHLIESSER. Meine Herren, Sie können abfahren, die
Wagen halten vor der Tür.
PHILIPPEAU. Gute Nacht, meine Freunde! legen wir
ruhig die große Decke über uns, worunter alle Herzen aus-
glühen und alle Augen zufallen. [Sie umarnien einander.)
HERAULT {nimmt Caniilles Arm). Freue dich, Camille,
wir bekommen eine schöne Nacht. Die Wolken hängen
am stillen Abendhimmel wie ein ausglühender Olymp
mit verbleichenden, versinkenden Göttergestalten. {^Sie
gehen ab.)
EIN ZIMMER
JULIE. Das Volk lief in den Gassen, jetzt ist alles still.
Keinen Augenblick möchte ich ihn warten lassen. [Sie
zieht eine Phiole hervor.) Komm, liebster Priester, dessen
Amen uns zu Bette gehn macht. [Sie tritt ans Fenster.)
Es ist so hübsch, Abschied zu nehmen; ich habe die Türe
nur noch hinter mir zuzuziehen. [Sie trinkt.)
Man möchte immer so stehn. — Die Sonne ist hinunter;
der Erde Züge waren so scharf in ihrem Licht, doch jetzt
ist ihr Gesicht so still und ernst wie einer Sterbenden. —
Wie schön das Abendlicht ihr um Stirn und Wangen
spielt. — Stets bleicher und bleicher wird sie, wie eine
Leiche treibt sie abwärts in der Flut des Äthers. Will
denn kein Arm sie bei den goldnen Locken fassen und
aus dem Strom sie ziehen und sie begraben:
Ich gehe leise. Ich küsse sie nicht, daß kein Hauch, kein
Seufzer sie aus dem Schlummer wecke. — Schlafe, schlafe!
[Sie stirbt.)
DER RE\^OLUTIONSPLATZ
Die Wagen kommen angefahren und halten vor der Guil-
lotine. Man?ier und Weiber singen und tanzen die Car-
magnole. Die Gefa?ignen stimmen die Marseillaise an.
EIN WEIB MIT KINDERN. Platz! Platz! Die Kinder
schreien, sie haben Hunger. Ich muß sie zusehen machen,
daß sie still sind. Platz!
78 DICHTUNGEN
EIN WEIB. He, Danton, du kannst jetzt mit den Wür-
mern Unzucht treiben.
EINE ANDERE. Hdrault, aus deinen hübschen Haaren
laß ich mir eine Perücke machen.
HERAULT. Ich habe nicht Waldung genug für einen so
abgeholzten Venusberg.
CAMILLE. Verfluchte Hexen! Ihr werdet noch schreien:
ihr Berge fallet auf uns!
EIN WEIB. Der Berg ist auf euch, oder ihr seid ihn viel-
mehr hinunter gefallen.
DANTON {zu Camille). Ruhig, mein Junge! du hast dich
heiser geschrien.
CAMILLE (gibt dem Fuhrmann Geld). Da, alter Charon,
dein Karren ist ein guter Präsentierteller! — Meine LIerren,
ich will mich zuerst servieren. Das ist ein klassisches
Gastmahl; wir liegen auf unsern Plätzen und verschütten
etwas Blut als Libation. Adieu, Danton! (Er besteigt das
Blutgerüst, die Gefangnen folgen ihm, einer nach dem afi-
dern. Danton steigt zuletzt hinauf }j
LACROIX [zu dem Volk). Ihr tötet uns an dem Tage, wo
ihr den Verstand verloren habt; ihr werdet sie an dem
töten, wo ihr ihn wiederbekommt.
EINIGE STIMMEN. Das war schon einmal da; wie lang-
weilig!
LACROIX. Die Tyrannen werden über unsern Gräbern
den Hals brechen.
HfiRAULT {zu Danton). Er hält seine Leiche für ein
Mistbeet der Freiheit.
PHILIPPEAU {auf dem Schafott). Ich vergebe euch; ich
wünsche, eure Todesstunde sei nicht bittrer als die mei-
nige.
HfiRAULT. Dacht ich's doch! er muß sich noch einmal
in den Busen greifen und den Leuten da unten zeigen,
daß er reine Wäsche hat.
FABRE. Lebe wohl, Danton! Ich sterbe doppelt.
DANTON. Adieu, mein Freund! Die Guillotine ist der
beste Arzt.
HfiRAULT {will Danton umarjuen). Ach, Danton, ich
DANTONS TOD. VIERTER AKT 79
bringe nicht einmal einen Spaß mehr heraus. Da ist's Zeit.
[Ein Henker stößt ihn ziiriick.)
DANTON {zum Henker). Willst du grausamer sein als der
Tod: Kannst du verhindern, daß unsere Köpfe sich auf
dem Boden des Korbes küssen:
EINE STRASSE
LUCILE. Es ist doch was wie Ernst darin. Ich will
einmal nachdenken. Ich fange an, so was zu be-
greifen.
Sterben— Sterben — ! — Es darf ja alles leben, alles, die
kleine Mücke da, der Vogel. Warum denn er nicht? Der
Strom des Lebens müßte stocken, wenn nur der eine
Tropfen verschüttet würde. Die Erde müßte eine Wunde
bekommen von dem Streich.
Es regt sich alles, die Uhren gehen, die Glocken schlagen,
die Leute laufen, das Wasser rinnt, und so alles weiter
bis da, dahin — nein, es darf nicht geschehen, nein, ich
will mich auf den Boden setzen und schreien, daß er-
schrocken alles stehn bleibt, alles stockt, sich nichts mehr
regt. (Sie setzt sich nieder^ verhüllt sich die Auge?i und
stößt einen Schrei aus. Nach einer Pause erhebt sie sich\)
Das hilft nichts, da ist noch alles wie sonst: die Häuser,
die Gasse, der Wind geht, die Wolken ziehen. — Wir
müssen's wohl leiden.
Einige Weiber kommen die Gasse herunter.
ERSTES WEIB. Ein hübscher Mann, der Herault!
ZWEITES WEIB. Wie er beim Konstitutionsfest so am
Triumphbogen stand, da dacht ich so, der muß sich gut
auf der Guillotine ausnehmen, dacht ich. Das war so 'ne
Ahnung.
DRITTES WEIB. Ja, man muß die Leute in allen Ver-
hältnissen sehen; es ist recht gut, daß das Sterben so
öffentlich wird. {Sie gehen vorbei))
LUCILE. Mein Camille! Wo soll ich dich jetzt su-
chen?
8o DICHTUNGEN
DER REVOLUTIONSPEATZ
Ziaei Henker an der Guillotine beschäftigt.
ERSTER HENKER (steht auf der Guillotine und singt).
Und wann ich harne geh,
Scheint der Mond so scheh . . .
ZWEITER HENKER. He, holla! Bist bald fertig:
ERSTER HENKER. Gleich, gleich! {Singt:)
Scheint in meines Ellervaters Fenster —
Kerl, wo bleibst so lang bei de Menscher?
So! die Jacke her! [Sie gehn singend ab\)
Und wann ich harne geh,
Scheint der Mond so scheh . . .
LUCILE (tritt auf und setzt sich auf die Stufen der Guil-
lotine). Ich setze mich auf deinen Schoß, du stiller Todes-
engel. (Sie singt:)
Es ist ein Schnitter, der heißt Tod,
Hat Gewalt vom höchsten Gott.
Du liebe Wiege, die du meinen Camille in Schlaf gelullt,
ihn unter deinen Rosen erstickt hast. Du Totenglocke,
die du ihn mit deiner süßen Zunge zu Grabe sangst. (Sie
singt-)
Viel Hunderttausend ungezählt,
Was nur unter die Sichel fällt.
(Eine Patrouille tritt auf)
EIN BÜRGER. He, wer da?
LUCILE (sinnend und wie einen Entschluß fassend, plötz-
lich). Es lebe der König!
BÜRGER. Im Namen der Republik!
(Sie wird von der Wache umringt und weggeführt)
LENZ
BUCHNER 6.
) 83 (
DEN 20. [Härtung] ging Lenz durchs Gebirg. Die Gip-
fel und hohen Bergflächen im Schnee, die Täler hin-
unter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen.
Es war naßkalt; das Wasser rieselte die Felsen hinunter
und sprang über den Weg. Die Äste der Tannen hingen
schwer herab in die feuchte Luft. Am Himmel zogen graue
Wolken, aber alles so dicht — und dann dampfte der Nebel
herauf und strich schwer und feucht durch das Gesträuch,
so trag, so plump.
Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am Weg,
bald auf- bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur
war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem
Kopf gehn konnte.
Anfangs drängte es ihm in der Brust, wenn das Gestein
so weg.sprang, der graue Wald sich unter ihm schüttelte
und der Nebel die Formen bald verschlang, bald die ge-
waltigen Glieder halb enthüllte; es drängte in ihm, er
suchte nach etwas, wie nach verlornen Träumen, aber er
fand nichts. Es war ihm alles so klein, so nahe, so naß;
er hätte die Erde hinter den Ofen setzen mögen. Er be-
grifl' nicht, daß er so viel Zeit brauchte, um einen Abhang
hinunter zu klimmen, einen fernen Punkt zu erreichen;
er meinte, er müsse alles mit ein paar Schritten ausmessen
können. Nur manchmal, wenn der Stiurm das Gewölk in
die Täler warf und es den Wald herauf dampfte, und die
Stimmen an den Felsen wach wurden, bald wie fern ver-
hallende Donner und dann gewaltig heranbrausten, in
Tönen, als wollten sie in ihrem wilden Jubel die Erde be-
singen, und die Wolken wie wilde, wiehernde Rosse her-
ansprengten, und der Sonnenschein dazwischen durchging
und kam und sein blitzendes Schwert an den Schneeflächen
zog, so daß ein helles, blendendes Licht über die Gipfel
in die Täler schnitt; oder wenn der Sturm das Gewölk
abwärts trieb und einen lichtblauen See hineinriß und dann
der Wind verhallte und tief unten aus den Schluchten, aus
den Wipfeln der Tannen wie ein Wiegenlied und Glocken-
geläute heraufsummte, und am tiefen Blau ein leises Rot
hinauf klomm und kleine Wölkchen auf silbernen Flügeln
durchzogen, und alle Berggipfel, scharf und fest, weit über
84 DICHTUNGEN
das Land hin glänzten und blitzten — riß es ihm in der
Brust, er stand, keuchend, den Leib vorwärts gebogen,
Augen und Mund weit offen, er meinte, er müsse den
Sturm in sich ziehen, alles in sich fassen, er dehnte sich
aus und lag über der Erde, er wühlte sich in das All hin-
ein, es war eine Lust, die ihm wehe tat; oder er stand
still und legte das Haupt ins Moos und schloß die Augen
halb, und dann zog es weit von ihm, die Erde wich unter
ihm, sie wurde klein wie ein wandelnder Stern und tauchte
sich in einen brausenden Strom, der seine klare Flut unter
ihm zog. Aber es waren nur Augenblicke; und dann erhob
er sich nüchtern, fest, ruhig, als wäre ein Schattenspiel
vor ihm vorübergezogen — er wußte von nichts mehr.
Gegen Abend kam er auf die Höhe des Gebirgs, auf das
Schneefeld, von wo man wieder hinabstieg in die Ebene
nach Westen. Er setzte sich oben nieder. Es war gegen
Abend ruhiger geworden; das Gewölk lag fest und un-
beweglich am Himmel; soweit der Blick reichte, nichts
als Gipfel, von denen sich breite Flächen hinabzogen, und
alles so still, grau, dämmernd. Es wurde ihm entsetzlich
einsam; er war allein, ganz allein. Er wollte mit sich
sprechen, aber er konnte nicht, er wagte kaum zu atmen;
das Biegen seines Fußes tönte wie Donner unter ihm, er
mußte sich niedersetzen. Es faßte ihn eine namenlose
Angst in diesem Nichts: er war im Leeren! Er riß sich
auf und flog den Abhang hinunter.
Es war finster geworden, Himmel und Erde verschmolzen
in eins. Es war, als ginge ihm was nach und als müsse
ihn was Entsetzliches erreichen, etwas, das Menschen
nicht ertragen können, als jage der Wahnsinn auf Rossen
hinter ihm.
Endlich hörte er Stimmen; er sah Lichter, es wurde ihm
leichter. Man sagte ihm, er hätte noch eine halbe Stunde
nach Waldbach.
Er ging durch das Dorf. Die Lichter schienen durch die
Fenster, er sah hinein im Vorbeigehen: Kinder am Tische,
alte Weiber, Mädchen, alles ruhige, stille Gesichter. Es
war ihm, als müsse das Licht von ihnen ausstrahlen; es
ward ihm leicht, er war bald in Waldbach im Pfarrhause.
LENZ 85
Man saß am Tische, er hinein; die blonden Locken hingen
ihm um das bleiche Gesicht, es zuckte ihm in den Augen
und um den Mund, seine Kleider waren zerrissen.
Oberlin hieß ihn willkommen, er hielt ihn für einen Hand-
werker: ''Sein Sie mir willkommen, obschon Sie mir unbe-
kannt."— ''Ich bin ein Freund von [Kaufmann] und bringe
Ihnen Grüße von ihm." — "Der Name, wenn's beliebt?" —
"Lenz." — "Ha, ha, ha, ist er nicht gedruckt: Habe ich
nicht einige Dramen gelesen, die einem Herrn dieses Na-
mens zugeschrieben werden?" — "Ja, aber belieben Sie,
mich nicht darnach zu beurteilen."
Man sprach weiter, er suchte nach Worten und erzählte
rasch, aber auf der Folter; nach und nach wurde er ruhig
— das heimliche Zimmer und die stillen Gesichter, die
aus dem Schatten hervortraten: das helle Kindergesicht,
auf dem alles Licht zu ruhen schien und das neugierig, ver-
traulich aufschaute, bis zur Mutter, die hinten im Schatten
engelgieich stille saß. Er fing an zu erzählen, von seiner
Heimat; er zeichnete allerhand Trachten, man drängte
sich teilnehmend um ihn, er war gleich zu Haus. Sein
blasses Kindergesicht, das jetzt lächelte, sein lebendiges
Erzählen! Er wiu-de ruhig; es war ihm, als träten alte Ge-
stalten, vergessene Gesichter wieder aus dem Dunkeln,
alte Lieder wachten auf, er war weg, weit weg.
Endlich war es Zeit zum Gehen. Man führte ihn über die
Straße: das Pfarrhaus war zu eng, man gab ihm ein Zim-
mer im Schulhause. Er ging hinauf. Es war kalt oben,
eine weite Stube, leer, ein hohes Bett im Hintergrund.
Er stellte das Licht auf den Tisch und ging auf und ab.
Er besann sich wieder auf den Tag, wie er hergekommen,
wo er war. Das Zimmer im Pfarrhause mit seinen Lichtern
und lieben Gesichtern, es war ihm wie ein Schatten, ein
Traum, und es wurde ihm leer, wieder wie auf dem Berg;
aber er konnte es mit nichts mehr ausfüllen, das Licht war
erloschen, die Finsternis verschlang alles. Eine unnenn-
bare Angst erfaßte ihn. Er sprang auf, er lief durchs Zim-
mer, die Treppe hinunter, vors Haus; aber umsonst, alles
finster, nichts — er war sich selbst ein Traum. Einzelne
Gedanken huschten auf, er hielt sie fest; es war ihm, als
86 DICHTUNGEN
müsse er immer ''Vater unser'' sagen. Er konnte sich nicht
mehr finden; ein dunkler Instinkt trieb ihn, sich zu retten.
Er stieß an die Steine, er riß sich mit den Nägehi; der
Schmerz fing an, ihm das Bewußtsein wiederzugeben. Er
.stürzte sich in den Brunnenstein, aber das Wasser war
nicht tief, er patschte darin.
Da kamen Leute; man hatte es gehört, man rief ihm zu.
Oberlin kam gelaufen. Lenz war wieder zu sich gekommen,
das ganze Bewußtsein seiner Lage stand vor ihm, es war
ihm wieder leicht. Jetzt schämte er sich und war betrübt,
daß er den guten Leuten Angst gemacht; er sagte ihnen,
daß er gewohnt sei, kalt zu baden, und ging wieder hin-
auf; die Erschöpfung ließ ihn endlich ruhen.
Den andern Tag ging es gut. Mit Oberlin zu Pferde durch
das Tal: breite Bergflächen, die aus großer Höhe sich
in ein schmales, gewundnes Tal zusammenzogen, das in
mannichfachen Richtungen sich hoch an den Bergen hinauf-
zog; gToße Felsenmassen, die sich nach miten ausbreiteten;
wenig Wald, aber alles im grauen, ernsten Anflug; eine
Aussicht nach Westen in das Land hinein und auf die
Bergkette, die sich grad hinunter nach Süden und Nor-
den zog und deren Gipfel gewaltig, ernsthaft oder schwei-
gend still, wie ein dämmernder Traum, standen. Gewaltige
Lichtmassen, die manchmal aus den Tälern, wie ein goldner
Strom, schwollen, dann wieder Gewölk, das an dem höch-
sten Gipfel lag mid dann langsam den Wald herab in das
Tal klomm oder in den Sonnenblitzen sich wie ein fliegen-
des, silbernes Gespenst herabsenkte und hob; kein Lärm,
keine Bewegung, kein Vogel, nichts als das bald nahe, bald
ferne Wehn des Windes. Auch erschienen Punkte, Ge-
rippe von Hütten, Bretter mit Stroh gedeckt, von schwarzer,
ernster Farbe. Die Leute, schweigend und ernst, als wagten
sie die Ruhe ihres Tales nicht zu stören, grüßten ruhig,
wie sie vorbeiritten.
In den Hütten war es lebendig: man drängte sich um Ober-
lin, er wies zurecht, gab Rat, tröstete; überall Zutrauens -
volle Blicke, Gebet. Die Leute erzählten Träume, Ah-
nungen. Dann rasch ins praktische Leben: Wege ange-
legt, Kanäle gegraben, die Schule besucht.
LENZ 87
Oberlin war unermüdlich, Lenz fortwährend sein Begleiter,
bald in Gespräch, bald tätig am Geschäft, bald in die
Natur versunken. Es wirkte alles wohltätig imd beruhi-
gend auf ihn. Er mußte Oberlin oft in die Augen sehen,
und die mächtige Ruhe, die uns über der ruhenden Natur,
im tiefen Wald, in mondhellen, schmelzenden Sommer-
nächten überfällt, schien ihm noch näher in diesem ruhigen
Auge, diesem ehrwürdigen ernsten Gesicht. Er war schüch-
tern; aber er machte Bemerkungen, er sprach. Oberlin war
sein Gespräch sehr angenehm, und das anmutige Kinder-
gesicht Lenzens machte ihm große Freude.
Aber nur solange das Licht im Tale lag, war es ihm er-
träglich; gegen Abend befiel ihn eine sonderbare Angst,
er hätte der Sonne nachlaufen mögen. Wie die Gegen-
stände nach und nach schattiger wurden, kam ihm alles
so traumartig, so zuwider vor: es kam ihm die Angst an
wie Kindern, die im Dunkeln schlafen; es war ihm, als
sei er blind. Jetzt wuchs sie, der Alp des Wahnsinns setzte
sich zu seinen Füßen: der rettungslose Gedanke, als sei
alles nur sein Traum, öffnete sich vor ihm; er klammerte
sich an alle Gegenstände. Gestalten zogen rasch an ihm
vorbei, er drängte sich an sie; es waren Schatten, das
Leben wich aus ihm, und seine Glieder waren ganz starr.
Er sprach, er sang, er rezitierte Stellen aus Shakespeare,
er griff nach allem, was sein Blut sonst hatte rascher
fließen machen, er versuchte alles, aber — kalt, kalt! Er
mußte dann hinaus ins Freie. Das wenige, durch die Nacht
zerstreute Licht, wenn seine Augen an die Dunkelheit ge-
wöhnt waren, machte ihm besser; er stürzte sich in den
Brunnen, die grelle Wirkung des W^assers machte ihm
besser; auch hatte er eine geheime Hoffnung auf eine
Krankheit — er verrichtete sein Bad jetzt mit weniger Ge-
räusch.
Doch je mehr er sich in das Leben hineinlebte, ward er
ruhiger. Er unterstützte Oberlin, zeichnete, las die Bibel;
alte, vergangne Hoffnungen gingen in ihm auf; das Neue
Testament trat ihm hier so entgegen — und eines Morgens
ging er hinaus. Wie Oberlin ihm erzählte, wie ihn eine
unaufhaltsame Hand auf der Brücke gehalten hätte, wie
88 DICHTUNGEN
auf der Höhe ein Glanz seine Augen geblendet hätte, wie
er eine Stimme gehört hätte, wie es in der Nacht mit ihm
gesprochen, und wie Gott so ganz bei ihm eingekehrt, daß
er kindlich seine Lose aus der Tasche holte, um zu wissen,
was er tun sollte: dieser Glaube, dieser ewige Himmel im
Leben, dieses Sein in Gott— jetzt erst ging ihm die Heilige
Schrift auf. Wie den Leuten die Natur so nah trat, alles
in himmlischen Mysterien; aber nicht gewaltsam maje-
stätisch, sondern noch vertraut!
Er ging des Morgens hinaus. Die Nacht war Schnee ge-
fallen; im Tal lag heller Sonnenschein, aber weiterhin
die Landschaft halb im Nebel, Er kam bald vom Weg ab
und eine sanfte Höhe hinauf, keine Spur von Fußtritten
mehr, neben einem Tannenwald hin; die Sonne schnitt
Kristalle, der Schnee war leicht und flockig, hie und da
Spur von Wild leicht auf dem Schnee, die sich ins Gebirg
hinzog. Keine Regung in der Luft als ein leises Wehen,
als das Rauschen eines Vogels, der die Flocken leicht
vom Schwänze stäubte. Alles so still, und die Bäume
weithin mit schwankenden weißen Federn in der tief-
blauen Luft. Es wurde ihm heimlich nach und nach. Die
einförmigen, gewaltigen Flächen und Linien, vor denen
es ihm manchmal war, als ob sie ihn mit gewaltigen Tönen
anredeten, waren verhüllt; ein heimliches Weihnachts-
gefühl beschlich ihn: er meinte manchmal, seine Mutter
müsse hinter einem Baume hervortreten, groß, und ihm
sagen, sie hätte ihm dies alles beschert. Wie er hin-
unterging, sah er, daß um seinen Schatten sich ein Regen-
bogen von Strahlen legte; es wurde ihm, als hätte ihn
was an der Stirn berührt, das Wesen sprach ihn an. Er
kam hinunter. Oberlin war im Zimmer; Lenz kam heiter
auf ihn zu und sagte ihm, er möge wohl einmal predi-
gen. ''Sind Sie Theologe?" — "J^!" — ''Gut, nächsten Sonn-
tag."
Lenz ging vergnügt auf sein Zimmer. Er dachte auf einen
Text zum Predigen und verfiel in Sinnen, und seine Nächte
wurden ruhig. Der Sonntagmorgen kam, es war Tauwetter
eingefallen. Vorüberstreifende Wolken, Blau dazwischen.
Die Kirche lag neben am Berg hinauf, auf einem Vor-
LENZ 89
Sprung; der Kirchhof drumherum. Lenz stand oben, wie
die Glocke läutete und die Kirchengänger, die Weiber
und Mädchen in ihrer ernsten schwarzen Tracht, das
weiße gefaltete Schnupftuch auf dem Gesangbuch und
den Rosmarinzweig, von den verschiedenen Seiten die
schmalen Pfade zwischen den Felsen herauf- und herab-
kamen. Ein Sonnenblick lag manchmal über dem Tal,
die laue Luft regte sich langsam, die Landschaft schwamm
im Duft, fernes Geläute — es war, als löste sich alles in
eine harmonische Welle auf.
Auf dem kleinen Kirchhof war der Schnee weg, dunkles
Moos unter den schwarzen Kreuzen; ein verspäteter Ro-
senstrauch lehnte an der Kirchhofmauer, verspätete Blumen
dazu unter dem Moos hervor; manchmal Sonne, dann
wieder dunkel. Die Kirche fing an, die Menschenstimmen
begegneten sich im reinen hellen Klang; ein Eindruck, als
schaue man in reines, durchsichtiges Bergwasser. Der Ge-
sang verhallte — Lenz sprach. Er war schüchtern; unter
den Tönen hatte sein Starrkrampf sich ganz gelegt, sein
ganzer Schmerz wachte jetzt auf und legte sich in sein
Herz. Ein süßes Gefühl unendlichen Wohls beschlich ihn.
Er sprach einfach mit den Leuten; sie litten alle mit ihm,
und es war ihm ein Trost, wenn er über einige müdge-
weinte Augen Schlaf und gequälten Herzen Ruhe bringen,
wenn er über dieses von materiellen Bedürfnissen gequälte
Sein, diese dumpfen Leiden gen Himmel leiten konnte.
Er war fester geworden, wie er schloß — da fingen die Stim-
men wieder an:
Laß in mir die heiigen Schmerzen,
Tiefe Bronnen ganz aufbrechen;
Leiden sei all mein Gewinst,
Leiden sei mein Gottesdienst.
Das Drängen in ihm, die Musik, der Schmerz, erschütterte
ihn. Das All war für ihn in Wunden; er fühlte tiefen, un-
nennbaren Schmerz davon. Jetzt ein anderes Sein: gött-
liche, zuckende Lippen bückten sich über ihm nieder und
sogen sich an seine Lippen; er ging auf sein einsames
Zimmer. Er war allein, allein! Da rauschte die Quelle,
Ströme brachen aus seinen Augen, er krümmte sich in
90 DICHTUNGEN
sich, es zuckten seine Glieder, es war ihm, als müsse er
sich auflösen, er konnte kein Ende finden der Wollust.
Endlich dämmerte es in ihm: er empfand ein leises tiefes
Mitleid mit sich selbst, er weinte über sich; sein Haupt
sank auf die Brust, er schlief ein. Der Vollmond stand am
Himmel; die Locken fielen ihm über die Schläfe und das
Gesicht, die Tränen hingen ihm an den Wimpern und
trockneten auf den Wangen — so lag er nun da allein, und
alles war ruliig und still und kalt, und der Mond schien
die ganze Nacht und stand über den Bergen.
Am folgenden Morgen kam er herunter, er erzählte Ober-
lin ganz ruhig, wie ihm die Nacht seine Mutter erschienen
sei: Sie sei in einem weißen Kleid aus der dunkeln Kirch -
hofmauer hervorgetreten und habe eine weiße und eine
rote Rose an der Brust stecken gehabt; sie sei dann in
eine Ecke gesunken, und die Rosen seien langsam über sie
gewachsen, sie sei gewiß tot; er sei ganz ruhig darüber.
Oberlin versetzte ihm nun, wie er bei dem Tod seines
Vaters allein auf dem Felde gewesen sei und er dann eine
Stimme gehört habe, so daß er wußte, daß sein Vater tot
sei; und wie er heimgekommen, sei es so gewesen. Das
führte sie weiter: Oberlin sprach noch von den Leuten im
Gebirge, von Mädchen, die das Wasser und Metall unter
der Erde fühlten, von Männern, die auf manchen Berg-
höhen angefaßt würden und mit einem Geiste rängen; er
sagte ihm auch, wie er einmal im Gebirg durch das
Schauen in ein leeres tiefes Bergwasser in eine Art von
Somnambulismus versetzt worden sei. Lenz sagte, daß
der Geist des Wassers über ihn gekommen sei, daß er
dann etwas von seinem eigentümlichen Sein empfunden
hätte. Er fuhr weiter fort: Die einfachste, reinste Natur
hinge am nächsten mit der elementarischen zusammen; je
feiner der Mensch geistig fühlt und lebt, um so abge-
stumpfter w^ürde dieser elementarische Sinn; er halte ihn
nicht für einen hohen Zustand, er sei nicht selbständig
genug, aber er meine, es müsse ein unendliches Wonne-
gefühl sein, so von dem eigentümlichen Leben jeder Form
berührt zu werden, für Gesteine, Metalle, Wasser und
Pflanzen eine Seele zu haben, so traumartig jedes Wesen
LENZ 91
in der Natiir in sich aufzunehmen, wie die Bkimen mit
dem Zu- und Abnehmen des Mondes die Luft.
Er sprach sich selbst weiter aus: wie in allem eine un-
aussprechliche Harmonie, ein Ton, eine Seligkeit sei, die
in den höhern Formen mit mehr Organen aus sich her-
ausgriffe, tönte, auffaßte und dafür aber auch um so tiefer
affiziert würde; wie in den niedrigen Formen alles zurück-
gedrängter, beschränkter, dafür aber auch die Ruhe in
sich größer sei. Er verfolgte das noch weiter. Oberlin
brach es ab, es führte ihn zu weit von seiner einfachen
Art ab. Ein andermal zeigte ihm Oberlin Farben täf eichen,
er setzte ihm auseinander, in welcher Beziehung jede Farbe
mit dem Menschen stände; er brachte zwölf Apostel her-
aus, deren jeder durch eine Farbe repräsentiert würde.
Lenz faßte das auf, er spann die Sache weiter, kam in
ängstliche Träume, und fing an, wie Stilling, die Apo-
kalypse zu lesen, und las viel in der Bibel.
Um diese Zeit kam Kaufmann mit seiner Braut ins Stein -
tal. Lenzen war anfangs das Zusammentreffen unange-
nehm; er hatte sich so ein Plätzchen zurechtgemacht, das
bißchen Ruhe war ihm so kostbar — imd jetzt kam ihm je-
mand entgegen, der ihn an so vieles erinnerte, mit dem
er sprechen, reden mußte, der seine Verhältnisse kannte.
Oberlin wußte von allem nichts; er hatte ihn aufgenom-
men, gepflegt; er sah es als eine Schickung Gottes, der
den Unglücklichen ihm zugesandt hätte, er liebte ihn herz-
lich. Auch war es allen notwendig, daß er da war; er ge-
hörte zu ihnen, als wäre er schon längst da, und niemand
frug, woher er gekommen imd wohin er gehen werde.
Über Tisch war Lenz wieder in guter Stimmung: man
sprach von Literatur, er war auf seinem Gebiete. Die
idealistische Periode fing damals an; Kaufmann war ein
Anhänger davon, Lenz widersprach heftig. Er sagte: Die
Dichter, von denen man sage, sie geben die Wirklichkeit,
hätten auch keine Ahnung davon; doch seien sie immer
noch erträglicher als die, welche die Wirklichkeit ver-
klären wollten. Er sagte: Der liebe Gott hat die Welt wohl
gemacht, wie sie sein soll, und wir können wohl nicht
was Besseres klecksen; unser einziges Bestreben soll sein,
92 DICHTUNGEN
ihm ein wenig nachzuschaffen. Ich verlange in allem —
Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist's gut; wir
haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es häßlich
ist. Das Gefühl, daß was geschaffen sei, Leben habe, stehe
über diesen beiden und sei das einzige Kriterium in Kunst-
sachen. Übrigens begegne es uns nur selten: in Shake-
speare finden wir es, und in den Volksliedern tönt es
einem ganz, in Goethe manchmal entgegen; alles übrige
kann man ins Feuer werfen. Die Leute können auch keinen
Hundsstall zeichnen. Da wollte man idealistische Gestal-
ten, aber alles, was ich davon gesehen, sind Holzpuppen.
Dieser Idealismus ist die schmählichste Verachtung der
menschlichen Natur. Man versuche es einmal und senke
sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder in
den Zuckimgen, den Andeutungen, dem ganzen feinen,
kaum bemerkten Mienenspiel; er hätte dergleichen ver-
sucht im ''Hofmeister" und den ''Soldaten". Es sind die
prosaischsten Menschen unter der Sonne; aber die Ge-
fühlsader ist in fast allen Menschen gleich, nur ist die
Hülle mehr oder weniger dicht, durch die sie brechen muß.
Man muß nur Aug und Ohren dafür haben. Wie ich gestern
neben am Tal hinaufging, sah ich auf einem Steine zwei
Mädchen sitzen: die eine band ihre Haare auf, die andre
half ihr; und das goldne Haar hing herab, und ein ernstes
bleiches Gesicht, und doch so jung, und die schwarze
Tracht, und die andre so sorgsam bemüht. Die schönsten,
innigsten Bilder der altdeutschen Schule geben kaum eine
Ahnung davon. Man möchte manchmal ein Medusen -
haupt sein, um so eine Gruppe in Stein verwandeln zu
können, und den Leuten zurufen, Sie standen auf, die
schöne Gruppe war zerstört; aber wie sie so hinabstiegen,
zwischen den Felsen, war es wieder ein anderes Bild.
Die schönsten Bilder, die schwellendsten Töne gruppie-
ren, lösen sich auf.
Nur eins bleibt: eine unendliche Schönheit, die aus einer
Form in die andre tritt, ewig aufgeblättert, verändert.
Man kann sie aber freilich nicht immer festhalten und in
Museen stellen und auf Noten ziehen, und dann alt und
jung herbeirufen, und die Buben und Alten darüber rado-
LENZ 93
tieren und sich entzücken lassen. Man muß die Menschheit
lieben, um in das eigentümliche Wesen jedes einzudringen;
es darf einem keiner zu gering, keiner zu häßlich sein,
erst dann kann man sie verstehen; das unbedeutendste
Gesicht macht einen tiefern Eindruck als die bloße Emp-
findung des Schönen, und man kann die Gestalten aus sich
heraustreten lassen, ohne etwas vom Äußern hinein zu
kopieren, wo einem kein Leben, keine Muskeln, kein Puls
entgegenschwillt und pocht.
Kaufmann warf ihm vor, daß er in der Wirklichkeit doch
keine Typen für einen Apoll von Belvedere oder eine Raf-
faelische Madonna finden würde. Was liegt daran, ver-
setzte er; ich muß gestehen, ich fühle mich dabei sehr tot.
Wenn ich in mir arbeite, kann ich auch wohl was dabei
fühlen, aber ich tue das Beste daran. Der Dichter und
Bildende ist mir der liebste, der mir die Natur am wirk-
lichsten gibt, so daß ich über seinem Gebild fühle; alles
übrige stört mich. Die holländischen Maler sind mir lieber
als die italienischen, sie sind auch die einzigen faßlichen.
Ich kenne nur zwei Bilder, und zwar von Niederländern, die
mir einen Eindruck gemacht hätten, wie das Neue Testa-
ment: das eine ist, ich weiß nicht von wem, Christus und
die Jünger von Emmaus. Wenn man so liest, wie die Jünger
hinausgingen, es liegt gleich die ganze Natur in den paar
Worten. Es ist ein trüber, dämmernder Abend, ein ein-
förmiger roter Streifen am Horizont, halbfinster auf der
Straße; da kommt ein Unbekannter zu ihnen, sie sprechen,
er bricht das Brot; da erkennen sie ihn, in einfach-mensch-
licher Art, und die göttlich -leidenden Züge reden ihnen
deutlich, und sie ersclirecken, denn es ist finster geworden,
und es tritt sie etwas Unbegreifliches an; aber es ist kein
gespenstisches Grauen, es ist, wie wenn einem ein ge-
liebter Toter in der Dämmerung in der alten Art entgegen -
träte: so ist das Bild mit dem einförmigen, bräunhchen
Ton darüber, dem trüben stillen Abend. Dann ein anderes:
Eine Frau sitzt in ihrer Kammer, das Gebetbuch in der
Hand. Es ist sonntäglich aufgeputzt, der Sand gestreut,
so heimlich rein und warm. Die Frau hat nicht zur Kirche
gekonnt, und sie verrichtet die Andacht zu Haus; das
94 DICHTUNGEN
Fenster ist offen, sie sitzt darnach hingewandt, und es ist,
als schwebten zu dem Fenster über die weite ebne Land-
schaft die Glockentöne von dem Dorfe herein und ver-
hallet der Sang der nahen Gemeinde aus der Kirche her,
und die Frau liest den Text nach.
In der Art sprach er weiter; man horchte auf, es traf
vieles. Er war rot geworden über dem Reden, und bald
lächelnd, bald ernst, schüttelte er die blonden Locken. Er
hatte sich ganz vergessen.
Nach dem Essen nahm ihn Kaufmann beiseite. Er hatte
Briefe von Lenzens Vater erhalten, sein Sohn sollte zu-
rück, ihn unterstützen. Kaufmann sagte ihm, wie er sein
Leben hier verschleudre, unnütz verliere, er solle sich ein
Ziel stecken, und dergleichen mehr. Lenz fuhr ihn an:
''Hier weg, weg: nach Haus: Toll werden dort: Du weißt,
ich kann es nirgends aushalten, als da herum, in der Ge-
gend. Wenn ich nicht manchmal auf einen Berg könnte
und die Gegend sehen könnte, und dann wieder herunter
ins Haus, durch den Garten gehn und zum Fenster hin-
einsehn— ich würde toll! toll! Laßt mich doch in Ruhe!
Nur ein bißchen Ruhe jetzt, wo es mir ein wenig wohl
wird! Weg, weg: Ich verstehe das nicht, mit den zwei
Worten ist die Welt verhunzt. Jeder hat was nötig; wenn
er ruhen kann, was könnt er mehr haben! Immer steigen,
ringen und so in Ewigkeit alles, was der Augenblick gibt,
wegwerfen und immer darben, um einmal zu genießen!
Dürsten, während einem helle Quellen über den Weg
springen! Es ist mir jetzt erträglich, und da will ich blei-
ben. Warum: warum: Eben weil es mir wohl ist. Was
will mein Vater? Kann er mehr geben: Unmöglich! Laßt
mich in Ruhe!" — Er wurde heftig; Kaufmann ging, Lenz
war verstimmt.
Am folgenden Tag wollte Kaufmann weg. Er beredete
Oberlin, mit ihm in die Schweiz zu gehen. Der Wunsch,
Lavater, den er längst diu-ch Briefe kannte, auch persön-
lich kennen zu lernen, bestimmte ihn. Er sagte es zu.
Man mußte einen Tag länger wegen der Zurüstungen
warten. Lenz fiel das aufs Herz. Er hatte, um seiner un-
endlichen Qual los zu werden, sich ängstlich an alles ge-
LENZ 95
klammert; er fühlte in einzelnen Augenblicken tief, wie
er sich alles nur zurechtmache; er ging mit sich um wie
mit einem kranken Kinde. Manche Gedanken, mächtige
Gefühle wurde er nur mit der größten x\ngstlos; da trieb
es ihn wieder mit unendlicher Gewalt darauf, er zitterte,
das Haar sträubte ihm fast, bis er es in der ungeheuersten
Anspannung erschöpfte. Er rettete sich in eine Gestalt,
die ihm immer vor Augen schwebte, und in Oberlin; seine
Worte, sein Gesicht taten ihm mi endlich wohl. So sah er
mit Angst seiner Abreise entgegen.
Es war Lenzen unheimlich, jetzt allein im Hause zu blei-
ben. Das Wetter war milde geworden: er beschloß, Ober-
lin zu begleiten, ins Gebirg. Auf der andern Seite, wo die
Täler sich in die Ebne ausliefen, trennten sie sich. Er ging
allein zurück. Er durchstrich das Gebirg in verschiedenen
Richtungen. Breite Flächen zogen sich in die Täler her-
ab, wenig Wald, nichts als gewaltige Linien und weiter
hinaus die weite, rauchende Ebne; in der Luft ein ge-
waltiges Wehen, nirgends eine Spiu: von Menschen, als
hie und da eine verlassene Hütte, wo die Hirten den
Sommer zubrachten, an den Abhängen gelehnt. Er wurde
still, vielleicht fast träumend: es verschmolz ihm alles in
eine Linie, wie eine steigende und sinkende Welle, zwi-
schen Himmel und Erde; es war ihm, als läge er an einem
unendlichen Meer, das leise auf imd ab wogte. Manchmal
saß er; dann ging er wieder, aber langsam träumend. Er
suchte keinen Weg.
Es war finstrer Abend, als er an eine bewohnte Hütte
kam, im Abhang nach dem Steintal. Die Türe war ver-
schlossen; er ging ans Fenster, durch das ein Lichtschim-
mer fiel. Eine Lampe erhellte fast nur einen Punkt: ihr
Licht fiel auf das bleiche Gesicht eines Mädchens, das
mit halb geöffneten Augen, leise die Lippen bewegend,
dahinter ruhte. Weiter weg im Dimkel saß ein altes Weib,
das mit schnarrender Stimme aus einem Gesangbuch
sang. Nach langem Klopfen öffnete sie; sie war halb taub.
Sie trug Lenz einiges Essen auf und wies ihm eine Schlaf-
stelle an, wobei sie beständig ihr Lied fortsang. Das Mäd-
chen hatte sich nicht gerührt. Einige Zeit daraufkam ein
96 DICHTUNGEN
Mann herein; er war lang und hager, Spuren von grauen
Haaren, mit unruhigem, verwirrtem Gesicht. Er trat zum
Mädchen, sie zuckte auf und wurde unruhig. Er nahm
ein getrocknetes Kraut von der Wand und legte ihr die
Blätter auf die Hand, so daß sie ruhiger wiurde und ver-
ständliche Worte in langsam ziehenden, durchschneiden-
den Tönen summte. Er erzählte, wie er eine Stimme im
Gebirge gehört und dann über den Tälern ein Wetter-
leuchten gesehen habe; auch habe es ihn angefaßt, und
er habe damit gerungen wie Jakob. Er warf sich nieder
und betete leise mit Inbrunst, während die Kranke in
einem langsam ziehenden, leise verhallenden Ton sang.
Dann gab er sich zur Ruhe.
Lenz schlummerte träumend ein, und dann hörte er im
Schlaf, wie die Uhr pickte. Durch das leise Singen des
Mädchens und die Stimme der Alten zugleich tönte das
Sausen des Windes, bald näher, bald ferner, und der bald
helle, bald verhüllte Mond warf sein wechselndes Licht
traumartig in die Stube. Einmal wurden die Töne lauter,
das Mädchen redete deutlich und bestimmt: sie sagte,
wie auf der Klippe gegenüber eine Kirche stehe. Lenz
sah auf, und sie saß mit weitgeöffneten Augen aufrecht
hinter dem Tisch, und der Mond warf sein stilles Licht
auf ihre Züge, von denen ein unheimlicher Glanz zu
strahlen schien; zugleich schnarrte die Alte, und über
diesem Wechseln und Sinken des Lichts, den Tönen und
Stimmen schlief endlich Lenz tief ein.
Er erwachte früh. In der dämmernden Stube schlief alles,
auch das Mädchen war ruhig geworden. Sie lag zurück-
gelehnt, die Hände gefaltet unter der linken Wange; das
Geisterhafte aus ihren Zügen war verschwunden, sie hatte
jetzt einen Ausdruck unbeschreiblichen Leidens. Er trat
ans Fenster und öffnete es, die kalte Morgenluft schlug
ihm entgegen. Das Haus lag am Ende eines schmalen,
tiefen Tales, das sich nach Osten öffnete; rote Strahlen
schössen durch den grauen Morgenhimmel in das däm-
mernde Tal, das im weißen Rauch lag, und funkelten am
grauen Gestein und trafen in die Fenster der Hütten. Der
Mann erwachte. Seine Augen trafen auf ein erleuchtet
LENZ 97
Bild an der Wand, sie richteten sich fest und starr darauf;
nun fing er an, die Lippen zu bewegen, und betete leise,
dann laut und immer lauter. Indem kamen Leute zur Hütte
herein, sie warfen sich schweigend nieder. Das Mädchen
lag in Zuckungen, die Alte schnarrte ihr Lied und plau-
derte mit den Nachbarn. Die Leute erzählten Lenzen, der
Mann sei vor langer Zeit in die Gegend gekommen, man
wisse nicht woher; er stehe im Ruf eines Heiligen, er
sehe das Wasser unter der Erde und könne Geister be-
schwören, und man wallfahre zu ihm. Lenz erfuhr zu-
gleich, daß er weiter vom Steintal abgekommen; er ging
weg mit einigen Holzhauern, die in die Gegend gingen.
Es tat ihm wohl, Gesellschaft zu finden; es war ihm jetzt
unheimlich mit dem gewaltigen Menschen, von dem es
ihm manchmal war, als rede er in entsetzlichen Tönen.
Auch fürchtete er sich vor sich selbst in der Einsamkeit.
Er kam heim. Doch hatte die verflossene Nacht einen
gewaltigen Eindruck auf ihn gemacht. Die Welt war ihm
helle gewesen, und er spürte an sich ein Regen und Wim-
meln nach einem Abgrund, zu dem ihn eine unerbittliche
Gewalt hinriß. Er wühlte jetzt in sich. Er aß wenig; halbe
Nächte im Gebet und fieberhaften Träumen. Ein gewalt-
sames Drängen, und dann erschöpft ziurückgeschlagen; er
lag in den heißesten Tränen. Und dann bekam er plötz-
lich eine Stärke und erhob sich kalt und gleichgültig; seine
Tränen waren ihm dann wie Eis, er mußte lachen. Je
höher er sich aufriß, desto tiefer stürzte er hinunter. Alles
strömte wieder zusammen. Ahnungen von seinem alten
Zustande durchzuckten ihn und warfen Streiflichter in das
wüste Chaos seines Geistes.
Des Tags saß er gewöhnlich unten im Zimmer. Madame
Oberlin ging ab und zu; er zeichnete, malte, las, griff nach
jeder Zerstreuung, alles hastig von einem zum andern.
Doch schloß er sich jetzt besonders an Madame Oberlin
an, wenn sie so dasaß, das schwarze Gesangbuch vor sich,
neben eine Pflanze, im Zimmer gezogen, das jüngste Kind
zwischen den Knien; auch machte er sich viel mit dem
Kinde zu tun. So saß er einmal, da wurde ihm ängstlich,
er sprang auf, ging auf und ab. Die Türe halb offen — da
BÜCHNER 7.
98 DICHTUNGEN
hörte er die Magd singen, erst unverständlich, dann ka-
men die Worte:
Auf dieser Welt hab ich kein Freud,
Ich hab mein Schatz und der ist weit.
Das fiel auf ihn, er verging fast unter den Tönen. Ma-
dame Oberlin sah ihn an. Er faßte sich ein Herz, er
konnte nicht mehr schweigen, er mußte davon sprechen.
"Beste Madame Oberlin, können Sie mir nicht sagen,
was das Frauenzimmer macht, dessen Schicksal mir so
zentnerschwer auf dem Herzen liegt?" — '-Aber Herr Lenz,
ich weiß von nichts."
Er schwieg dann wieder und ging hastig im Zimmer auf
und ab; dann fing er wieder an: ''Sehn Sie, ich will
gehen; Gott, Sie sind noch die einzigen Menschen, wo
ich's aushalten könnte, und doch — doch, ich muß weg,
zu ihr — aber ich kann nicht, ich darf nicht." — Er war
heftig bewegt und ging hinaus.
Gegen Abend kam Lenz wieder, es dämmerte in der Stube;
er setzte sich neben Madame Oberlin. "Sehn Sie," fing
er wieder an, "wenn sie so durchs Zimmer ging und so
halb für sich allein sang, und jeder Tritt war eine Musik,
es war so eine Glückseligkeit in ihr, und das strömte in
mich über; ich war immer ruhig, wenn ich sie ansah oder
sie so den Kopf an mich lehnte, und Gott! Gott — ich war
schon lange nicht mehr ruhig . . . Ganz Kind; es war, als
war ihr die Welt zu weit: sie zog sich so in sich zurück,
sie suchte das engste Plätzchen im ganzen Haus, und da
saß sie, als wäre ihre ganze Seligkeit nur in einem kleinen
Punkt, und dann war mir's auch so; wie ein Kind hätte
ich dann spielen können. Jetzt ist es mir so eng, so eng!
Sehn Sie, es ist mir manchmal, als stieß' ich mit den
Händen an den Himmel; o ich ersticke! Es ist mir dabei
oft, als fühlt ich physischen Schmerz, da in der linken
Seite, im Arm, womit ich sie sonst faßte. Doch kann ich sie
mir nicht mehr vorstellen, das Bild läuft mir fort, und dies
martert mich; nur wenn es mir manchmal ganz hell wird, so
ist mir wieder recht wohl." — Er sprach später noch oft
mit Madame Oberlin davon, aber meist in abgebrochenen
Sätzen; sie wußte wenig zu antworten , doch tat es ihm wohl.
LENZ 99
Unterdessen ging es fort mit seinen religiösen Quälereien.
Je leerer, je kälter, je sterbender er sich innerlich fühlte,
desto mehr drängte es ihn, eine Glut in sich zu wecken;
es kamen ihm Erinnerungen an die Zeiten, wo alles in
ihm sich drängte, wo er unter all seinen Empfindungen
keuchte. Und jetzt so tot! Er verzweifelte an sich selbst;
dann warf er sich nieder, er rang die Hände, er rührte
alles in sich auf — aber tot! tot! Dann flehte er, Gott möge
ein Zeichen an ihm tun; dann wühlte er in sich, fastete,
lag träumend am Boden.
Am 3. Hornung hörte er, ein Kind in Fouday sei ge-
storben; er faßte es auf wie eine fixe Idee. Er zog sich in
sein Zimmer und fastete einen Tag. Am 4. trat er plötz-
hch ins Zimmer zu Madame Oberlin; er hatte sich das
Gesicht mit Asche beschmiert und forderte einen alten
Sack. Sie erschrak; man gab ihm, was er verlangte. Er
wickelte den Sack um sich, wie ein Büßender^ und schlug
den Weg nach Fouday ein. Die Leute im Tale waren ihn
schon gewohnt; man erzählte sich allerlei Seltsames von
ihm. Er kam ins Haus, wo das Kind lag. Die Leute gingen
gleichgültig ihrem Geschäfte nach; man wies ihm eine
Kammer: das Kind lag im Hemde auf Stroh, auf einem
Holztisch.
Lenz schauderte, wie er die kalten Glieder berührte und
die halbgeöffneten gläsernen Augen sah. Das Kind kam
ihm so verlassen vor, und er sich so allein und einsam.
Er warf sich über die Leiche nieder. Der Tod erschreckte
ihn, ein heftiger Schmerz faßte ihn an: diese Züge, dieses
stille Gesicht sollte verwesen — er warf sich nieder; er
betete mit allem Jammer der Verzweiflung, daß Gott ein
Zeichen an ihm tue und das Kind beleben möge, wie er
schwach und unglücklich sei; dann sank er ganz in sich
und wühlte all seinen Willen auf einen Punkt. So saß er
lange starr. Dann erhob er sich und faßte die Hände des
Kindes und sprach laut und fest: ''Stehe auf und wandle!"
Aber die Wände hallten ihm nüchtern den Ton nach, daß
es zu spotten schien, und die Leiche blieb kalt. Da stürzte
er halb wahnsinnig nieder; dann jagte es ihn auf, hinaus
ins Gebirg.
loo DICHTUNGEN
Wolken zogen rasch über den Mond; bald alles im Finstern,
bald zeigten sie die nebelhaft verschwindende Landschaft
im Mondschein, Er rannte auf und ab. In seiner Brust
war ein Triiunphgesang der Hölle. Der Wind klang wie
ein Titanenlied. Es war ihm, als könne er eine ungeheure
Faust hinauf in den Himmel ballen und Gott herbeireißen
und zwischen seinen Wolken schleifen; als könnte er die
Welt mit den Zähnen zermalmen und sie dem Schöpfer
ins Gesicht speien; er schwur, er lästerte. So kam er auf
die Höhe des Gebirges, und das ungewisse Licht dehnte
sich hinunter, wo die weißen Steinmassen lagen, und der
Himmel war ein dummes blaues Aug, und der Mond stand
ganz lächerlich drin, einfältig. Lenz mußte laut lachen,
und mit dem Lachen griff der Atheismus in ihn und faßte
ihn ganz sicher und ruhig und fest. Er wußte nicht mehr,
was ihn vorhin so bewegt hatte, es fror ihn; er dachte,
er wolle jetzt zu Bette gehn, und er ging kalt und uner-
schütterhch durch das unheimliche Dunkel — es war ihm
alles leer und hohl, er mußte laufen und ging zu Bette.
Am folgenden Tag befiel ihn ein großes Grauen vor
seinem gestrigen Zustand. Er stand nun am Abgrund,
wo eine wahnsinnige Lust ihn trieb, immer wieder hinein-
zuschauen und sich diese Qual zu wiederholen. Dann
steigerte sich seine Angst, die Sünde wider den Heiligen
Geist stand vor ihm.
Einige Tage darauf kam Oberlin aus der Schweiz zurück,
viel früher, als man es erwartet hatte. Lenz war darüber
betroffen. Doch wurde er heiter, als Oberlin ihm von
seinen Freunden im Elsaß erzählte. Oberlin ging dabei
im Zimmer hin und her und packte aus, legte hin. Dabei
erzählte er von Pfeffel, das Leben eines Landgeistlichen
glücklich preisend. Dabei ermahnte er ihn, sich in den
Wunsch seines Vaters zu fügen, seinem Berufe gemäß zu
leben, heimzukehren. Er sagte ihm: ''Ehre Vater und
Mutter!" und dergleichen mehr. Über dem Gespräch ge-
riet Lenz in heftige Unruhe; er stieß tiefe Seufzer aus,
Tränen drangen ihm aus den Augen, er sprach abge-
brochen. '7^, ich halt es aber nicht aus; wollen Sie mich
verstoßen.- Nur in Ihnen ist der Weg zu Gott. Doch mit
LENZ loi
mir ist's aus! Ich bin abgefallen, verdammt in Ewigkeit,
ich bin der ewige Jude." Oberlin sagte ihm, dafür sei
Jesus gestorben; er möge sich brünstig an ihn wenden,
und er würde teilhaben an seiner Gnade,
Lenz erhob das Haupt, rang die Hände und sagte: '^\ch!
ach! göttlicher Trost — ". Dann frug er plötzlich freundlich,
was das Frauenzimmer mache, Oberlin sagte, er wisse
von nichts, er wolle ihm aber in allem helfen und raten;
er müsse ihm aber Ort, Umstände und Person angeben.
Er antwortete nichts wie gebrochne Worte: ''Ach ist sie
tot.- Lebt sie noch.^ Der Engel! Sie liebte mich — ich liebte
sie, sie war's würdig — o der Engel! Verfluchte Eifersucht,
ich habe sie aufgeopfert — sie liebte noch einen andern —
ich liebte sie, sie war's würdig — o gute Mutter, auch die
liebte mich — ich bin euer Mörder!" Oberlin versetzte:
vielleicht lebten alle diese Personen noch, vielleicht ver-
gnügt; es möge sein, wie es wolle, so könne und werde
Gott, wenn er sich zu ihm bekehrt haben \vürde, diesen
Personen auf sein Gebet und Tränen so viel Gutes er-
weisen, daß der Nutzen, den sie alsdann von ihm hätten,
den Schaden, den er ihnen zugefügt, vielleicht überwiegen
würde. Er wiurde darauf nach und nach ruhiger und ging
wieder an sein Malen,
Den Nachmittag kam er wieder. Auf der linken Schulter
hatte er ein Stück Pelz und in der Hand ein Bündel Gerten,
die man Oberlin nebst einem Briefe für Lenz mitgegeben
hatte. Er reichte Oberlin die Gerten mit dem Begehren,
er sollte ihn damit schlagen. Oberlin nahm die Gerten
aus seiner Hand, drückte ihm_ einige Küsse auf den Mund
und sagte: dies wären die Streiche, die er ihm zu geben
hätte; er möchte ruhig sein, seine Sache mit Gott allein
ausmachen, alle möglichen Schläge würden keine einzige
seiner Sünden tilgen; dafür hätte Jesus gesorgt, zu dem
möchte er sich wenden. Er ging.
Beim Nachtessen war er wie gewöhnlich etwas tiefsinnig.
Doch sprach er von allerlei, aber mit ängstlicher Hast.
Um Mitternacht wurde Oberlin durch ein Geräusch ge-
weckt, Lenz rannte durch den Hof, rief mit hohler, harter
Stimme den Namen Friederike, mit äußerster Schnelle,
I02 DICHTUNGEN
Verwirrung und Verzweiflung ausgesprochen; er stürzte
sich dann in den Brunnentrog, patschte darin, wieder
heraus und herauf in sein Zimmer, wieder herunter in den
Trog, und so einigemal — endlich wurde er still. Die Mägde,
die in der Kinderstube unter ihm schliefen, sagten, sie
hätten oft, insonderheit aber in selbiger Nacht, ein
Brummen gehört, das sie mit nichts als mit dem Tone
einer Haberpfeife zu vergleichen wüßten. Vielleicht war
es sein Winseln, mit hohler, fürchterlicher, verzweifelnder
Stimme.
Am folgenden Morgen kam Lenz lange nicht. Endlich
ging Oberlin hinauf in sein Zimmer: er lag im Bett ruhig
und unbeweglich. Oberlin mußte lange fragen, ehe er Ant-
wort bekam; endlich sagte er: "Ja, Herr Pfarrer, sehen
Sie, die Langeweile! die Langeweile! o, so langweilig! Ich
weiß gar nicht mehr, was ich sagen soll; ich habe schon
allerlei Figuren an die Wand gezeichnet." Oberlin sagte
ihm, er möge sich zu Gott wenden; da lachte er und sagte:
"Ja wenn ich so glücklich wäre wie Sie, einen so behag-
lichen Zeitvertreib aufzufinden, ja man könnte sich die
Zeit schon so ausfüllen. Alles aus Müßiggang. Denn die
meisten beten aus Langeweile, die andern verlieben sich
aus Langeweile, die dritten sind tugendhaft, die vierten
lasterhaft, und ich gar nichts, gar nichts, ich mag mich
nicht einmal umbringen: es ist zu langweilig!
O Gott! in deines Lichtes Welle,
In deines glühnden Mittags Helle,
Sind meine Augen wund gewacht.
Wird es denn niemals wieder Nacht?"
Oberlin blickte ihn unwillig an und wollte gehen. Lenz
huschte ihm nach, und indem er ihn mit unheimlichen
Augen ansah: "Sehn Sie, jetzt kommt mir doch was ein,
wenn ich niu: unterscheiden könnte, ob ich träume oder
wache; sehn Sie, das ist sehr wichtig, wir wollen es unter-
suchen"— er huschte dann wieder ins Bett.
Den Nachmittag wollte Oberlin in der Nähe einen Besuch
machen; seine Frau war schon fort. Er war im Begriff
wegzugehen, als es an seine Türe klopfte und Lenz herein-
trat mit vorwärts gebogenem Leib, niederwärts hängendem
LENZ 103
Haupt, das Gesicht über und über und das Kleid hie und da
mit Asche bestreut, mit der rechten Hand den linken Arm
haltend. Er bat Oberlin, ihm den Arm zu ziehen: er hätte
ihn verrenkt, er hätte sich zum Fenster heruntergestürzt;
weil es aber niemand gesehen, wolle er es auch niemand
sagen. Oberlin erschrak heftig, doch sagte er nichts; er tat,
was Lenz begehrte. Zugleich schrieb er an den Schulmeister
[Sebastian Scheidecker] von Bellefosse, er möge herunter-
kommen, und gab ihm Instruktionen. Dann ritt er weg.
Der Mann kam. Lenz hatte ihn schon oft gesehen und
hatte sich an ihn attachiert. Er tat, als hätte er mit Ober-
lin etwas reden wollen, wollte dann wieder weg. Lenz bat
ihn zu bleiben, und so blieben sie beisammen. Lenz schlug
noch einen Spaziergang nach Fouday vor. Er besuchte
das Grab des Kindes, das er hatte erwecken wollen, kniete
zu verschiedenen Malen nieder, küßte die Erde des Grabes,
schien betend, doch mit großer Verwirrung, riß etwas von
der auf dem Grab stehenden Krone ab, als ein An-
denken, ging wieder ziurück nach Waldbach, kehrte wieder
um, und Sebastian mit. Bald ging er langsam und klagte
über große Schwäche in den Gliedern, dann ging er mit
verzweifelnder Schnelligkeit; die Landschaft beängstigte
ihn, sie war so eng, daß er an alles zu stoßen fürchtete.
Ein unbeschreibliches Gefühl des Mißbehagens befiel ihn;
sein Begleiter ward ihm endlich lästig, auch mochte er
seine Absicht erraten und suchte Mittel, ihn zu entfernen.
Sebastian schien ihm nachzugeben, fand aber heimlich
Mittel, seinen Bruder von der Gefahr zu benachrichtigen,
und nun hatte Lenz zwei Aufseher, statt einen. Er zog sie
wacker herum; endlich ging er nach Waldbach zurück, und
da sie nahe am Dorfe waren, kehrte er wie ein Blitz wieder
um und sprang wie ein Hirsch gen Fouday zurück. Die
Männer setzten ihm nach. Indem sie ihn in Fouday such-
ten, kamen zwei Krämer und erzählten ihnen, man hätte
in einem Hause einen Fremden gebunden, der sich für einen
Mörder ausgäbe, der aber gewiß kein Mörder sein könne.
Sie liefen in dies Haus und fanden es so. Ein junger
Mensch hatte ihn, auf sein ungestümes Dringen, in der
Angst gebunden. Sie banden ihn los und brachten ihn
I04 DICHTUNGEN
glücklich nach Waldbach, wohin Oberlin indessen mit sei-
ner Frau zurückgekommen war. Er sah verwirrt aus. Da
er aber merkte, daß er liebreich und freundlich empfangen
wurde, bekam er wieder Mut; sein Gesicht veränderte
sich vorteilhaft, er dankte seinen beiden Begleitern freund-
lich und zärtlich, und der Abend ging ruhig herum. Oberlin
bat ihn inständig, nicht mehr zu baden, die Nacht ruhig
im Bette zu bleiben, und wenn er nicht schlafen könne,
sich mit Gott zu unterhalten. Er versprach^ s und tat es
so die folgende Nacht; die Mägde hörten ihn fast die
ganze Nacht hindurch beten.
Den folgenden Morgen kam er mit vergnügter Miene auf
Oberlins Zimmer. Nachdem sie verschiedenes gesprochen
hatten, sagte er mit ausnehmender Freundlichkeit: ^'Lieb-
ster Herr Pfarrer, das Frauenzimmer, wovon ich Ihnen
sagte, ist gestorben, ja gestorben — der Engel!" — 'Woher
wissen Sie das.^" — ' 'Hieroglyphen, Hieroglyphen!" und
dann zum Himmel geschaut und wieder: ''Ja gestorben —
Hieroglyphen!" Es war dann nichts weiter aus ihm zu
bringen. Er setzte sich und schrieb einige Briefe, gab sie
sodann Oberlin mit der Bitte, einige Zeilen dazu zu setzen.
Sein Zustand war indessen immer trostloser geworden.
Alles, was er an Ruhe aus der Nähe Oberlins und aus der
Stille des Tals geschöpft hatte, war weg; die Welt, die
er hatte nutzen wollen, hatte einen Ungeheuern Riß; er
hatte keinen Haß, keine Liebe, keine Hoffnung — eine
schreckliche Leere, und doch eine folternde Unruhe, sie
auszufüllen. Er hatte nichts. Was er tat, tat er nicht mit
Bewußtsein, und doch zwang ihn ein innerlicher Instinkt.
Wenn er allein war, war es ihm so entsetzlich einsam,
daß er beständig laut mit sich redete, rief, und dann er-
schrak er wieder, und es war ihm, als hätte eine fremde
Stimme mit ihm gesprochen. Im Gespräch stockte er
oft, eine unbeschreibliche Angst befiel ihn, er hatte das
Ende seines Satzes verloren; dann meinte er, er müsse das
zuletzt gesprochene Wort behalten und immer sprechen,
niu mit großer Anstrengung unterdrückte er diese Gelüste.
Es bekümmerte die guten Leute tief, wenn er manchmal
in ruhigen Augenblicken bei ihnen saß und unbefangen
LENZ 105
sprach, und er dann stockte und eine unaussprechliche
Angst sich in seinen Zügen malte, er die Personen, die
ihm zunächst saßen, krampfhaft am Arm faßte und erst
nach und nach wieder zu sich kam. War er allein oder
las er, war's noch ärger; all seine geistige Tätigkeit blieb
manchmal in einem Gedanken hängen. Dachte er an eine
fremde Person, oder stellte er sie sich lebhaft vor, so war
es ihm, als würde er sie selbst; er verwirrte sich ganz,
und dabei hatte er einen unendlichen Trieb, mit allem
um ihn im Geiste willkürlich umzugehen — die Natur, Men-
schen, nur Oberhn ausgenommen, alles traumartig, kalt.
Er amüsierte sich, die Häuser auf die Dächer zu stellen,
die Menschen an- und auszukleiden, die wahnwitzigsten
Possen auszusinnen. Manchmal fühlte er einen unwider-
stehlichen Drang, das Ding, das er gerade im Sinne hatte,
auszuführen, und dann schnitt er entsetzliche Fratzen.
Einst saß er neben Oberlin, die Katze lag gegenüber auf
einem Stuhl. Plötzlich wurden seine Augen starr, er hielt
sie unverrückt auf das Tier gerichtet; dann glitt er lang-
sam den Stuhl herunter, die Katze ebenfalls: sie war wie
bezaubert von seinem Blick, sie geriet in ungeheure Angst,
sie sträubte sich scheu; Lenz mit den nämlichen Tönen,
mit fürchterlich entstelltem Gesicht; wie in Verzweif-
lung stürzten beide aufeinander los — da endlich erhob
sich Madame Oberlin, imi sie zu trennen. Dann war er
wieder tief beschämt. Die Zufälle des Nachts steigerten
sich aufs schrecklichste. Nur mit der größten Mühe schlief
er ein, während er zuvor noch die schreckliche Leere zu
füllen versucht hatte. Dann geriet er zwischen Schlaf und
Wachen in einen entsetzlichen Zustand: er stieß an etwas
Grauenhaftes, Entsetzliches, der Wahnsinn packte ihn; er
fuhr mit fürchterlichem Schreien, in Schweiß gebadet, auf,
und erst nach und nach fand er sich wieder. Er mußte
dann mit den einfachsten Dingen anfangen, um wieder zu
sich zu kommen. Eigentlich nicht er selbst tat es, sondern
ein mächtiger Erhaltungstrieb: es war, als sei er doppelt,
und der eine Teil suche den andern zu retten und riefe
sich selbst zu; er erzählte, er sagte in der heftigsten Angst
Gedichte her, bis er wieder zu sich kam.
io6 DICHTUNGEN
Auch bei Tage bekam er diese Zufälle, sie waren dann
noch schrecklicher; denn sonst hatte ihn die Helle davor
bewahrt. Es war ihm dann, als existiere er allein, als
bestünde die Welt nur in seiner Einbildung, als sei nichts
als er; er sei das ewig Verdammte, der Satan, allein mit
seinen folternden Vorstellungen. Er jagte mit rasender
Schnelligkeit sein Leben durch, und dann sagte er: ''Kon-
sequent, konsequent"; wenn jemand was sprach: "In-
konsequent, inkonsequent"; — es war die Kluft unrettbaren
Wahnsinns, eines Wahnsinns durch die Ewigkeit.
Der Trieb der geistigen Erhaltung jagte ihn auf: er stürzte
sich in Oberlins Arme, er klammerte sich an ihn, als wolle
er sich in ihn drängen; er war das einzige Wesen, das für
ihn lebte und durch den ihm wieder das Leben ofifenbart
wurde. Allmählig brachten ihn Oberlins Worte dann zu
sich; er lag auf den Knien vor Oberlin, seine Hände in
den Händen Oberlins, sein mit kaltem Schweiß bedecktes
Gesicht auf dessen Schoß, am ganzen Leibe bebend und
zitternd. Oberlin empfand unendliches Mitleid, die Fa-
milie lag auf den Knien und betete für den Unglücklichen,
die Mägde flohen und hielten ihn für einen Besessenen.
Und wenn er ruhiger wurde, war es wie der Jammer eines
Kindes: er schluchzte, er empfand ein tiefes, tiefes Mitleid
mit sich selbst; das waren auch seine seligsten Augenblicke.
Oberlin sprach ihm von Gott. Lenz wand sich ruhig los und
sah ihn mit einem Ausdruck unendlichen Leidens an, und
sagte endlich: "Aber ich, war ich allmächtig, sehen Sie,
wenn ich so wäre, ich könnte das Leiden nicht ertragen,
ich würde retten, retten; ich will ja nichts als Ruhe, Ruhe,
nur ein wenig Ruhe, um schlafen zu können." Oberlin
sagte, dies sei eine Profanation. Lenz schüttelte trostlos
mit dem Kopfe.
Die halben Versuche zum Entleiben, die er indes fort-
während machte, waren nicht ganz ernst. Es war weniger
der Wunsch des Todes — für ihn war ja keine Ruhe und
Hoffnung im Tode — , es war mehr in Augenblicken der
fürchterlichsten Angst oder der dumpfen, ans Nichtsein
grenzenden Ruhe ein Versuch, sich zu sich selbst zu
bringen durch physischen Schmerz. Augenblicke, worin
LENZ 107
sein Geist sonst auf irgendeiner wahnwitzigen Idee zu
reiten schien, waren noch die glücklichsten. Es war doch
ein wenig Ruhe, und sein wirrer Blick war nicht so ent-
setzlich als die nach Rettung dürstende Angst, die ewige
Qual der Unruhe! Oft schlug er sich den Kopf an die
Wand oder veriursachte sich sonst einen heftigen physi-
schen Schmerz,
Den 8. morgens blieb er im Bette, Oberlin ging hinauf;
er lag fast nackt auf dem Bette und war heftig bewegt.
Oberlin wollte ihn zudecken, er klagte aber sehr, wie
schwer alles sei, so schwer! er glaube gar nicht, daß er
gehen könne; jetzt endlich empfinde er die ungeheure
Schwere der Luft. Oberlin sprach ihm Mut zu. Er blieb
aber in seiner frühern Lage und blieb den größten Teil
des Tages so, auch nahm er keine Nahrung zu sich.
Gegen Abend wurde Oberlin zu einem Kranken nach
Bellefosse gerufen. Es war gelindes Wetter und Mond-
schein. Auf dem Rückweg begegnete ihm Lenz. Er
schien ganz vernünftig und sprach ruhig mid freundlich
mit Oberlin. Der bat ihn, nicht zu weit zu gehen; er ver-
sprach's. Im Weggehn wandte er sich plötzlich um und
trat wieder ganz nahe zu Oberlin und sagte rasch: "Sehn
Sie, Herr Pfarrer, wenn ich das nur nicht mehr hören
müßte, mir wäre geholfen." — ''Was denn, mein Lieber?"
— ''Hören Sie denn nichts.- hören Sie denn nicht die ent-
setzliche Stimme, die um den ganzen Horizont schreit
und die man gewöhnlich die Stille heißt: Seit ich in
dem stillen Tal bin, hör ich's immer, es läßt mich nicht
schlafen; ja Herr Pfarrer, wenn ich wieder einmal schlafen
könnte!" Er ging dann kopfschüttelnd weiter.
Oberlin ging zurück nach Waldbach und wollte ihm jemand
nachschicken, als er ihn die Stiege herauf in sein Zimmer
gehen hörte. P2inen Augenblick darauf platzte etwas im
Hof mit so starkem Schall, daß es Oberlin unmöglich
von dem FaU eines Menschen herkommen zu können
schien. Die Kindsmagd kam todblaß und ganz zitternd . . .
Er saß mit kalter Resignation im Wagen, wie sie das Tal
hervor nach Westen fuhren. Es war ihm einerlei, wohin
io8 DICHTUNGEN
man ihn führte. Mehrmals, wo der Wagen bei dem
schlechten Wege in Gefahr geriet, blieb er ganz ruhig
sitzen; er war vollkommen gleichgültig. In diesem Zu-
stand legte er den Weg durchs Gebirg zurück. Gegen
Abend waren sie im Rheintale. Sie entfernten sich all-
mählig vom Gebirg, das nun wie eine tiefblaue Kristall-
welle sich in das Abendrot hob, und auf deren warmer
Flut die roten Strahlen des Abend spielten; über die
Ebene hin am Fuße des Gebirgs lag ein schimmerndes,
bläuliches Gespinst. Es wurde finster, je mehr sie sich
Straßburg näherten; hoher Volhnond, alle fernen Gegen-
stände dunkel, nur der Berg neben bildete eine scharfe
Linie; die Erde war wie ein goldner Pokal, über den
schäumend die Goldwellen des Mondes liefen. Lenz starrte
ruhig hinaus, keine Ahnung, kein Drang; nur wuchs eine
dumpfe Angst in ihm, je mehr die Gegenstände sich in der
Finsternis verloren. Sie mußten einkehren. Da machte
er wieder mehrere Versuche, Hand an sich zu legen, war
aber zu scharf bewacht.
Am folgenden Morgen, bei trübem, regnerischem Wetter,
traf er in Straßburg ein. Er schien ganz vernünftig, sprach
mit den Leuten. Er tat alles, wie es die andern taten; es
war aber eine entsetzliche Leere in ihm, er fühlte keine
Angst mehr, kein Verlangen, sein Dasein war ihm eine
notwendige Last. —
So lebte er hin . . .
LEONCE UND LENA
EIN LUSTSPIEL
VORREDE
Alfieri: ''E la Fama?'
Gozzi: ^'E la Farne?'''
PERSONEN
KÖNIG PETER vom Reiche Popo
PRINZ LEONCE, sein Sohn, verlobt mit
PRINZESSIN LENA vom Reiche Pipi
VALERIO
DIE GOUVERNANTE
DER HOFMEISTER
DER PRÄSIDENT DES STAATSRATS
DER HOFPREDIGER
DER LANDRAT
DER SCHULMEISTER
ROSETTA
Bediente. Staatsräte. Bauern etc.
) 11 I c
ERSTER AKT
"O war ich doch ein Narr!
Mein Ehrgeiz geht auf eine bunte Jacke."
Wie es euch gefällt.
ERSTE SZENE
EIN GARTEN
Leonce (halb ruhend auf einer Bank). Der Hofmeister.
LEONCE. Mein Herr, was wollen Sie von mir: Mich
auf meinen Beruf vorbereiten? Ich habe alle Hände voll
zu tun, ich weiß mir vor Arbeit nicht zu helfen. — Sehen
Sie, erst habe ich auf den Stein hier dreihundertfünfund-
sechzigmal hintereinander zu spucken. Haben Sie das noch
nicht probiert? Tun Sie es, es gewährt eine ganz eigne
Unterhaltung. Dann — sehen Sie diese Handvoll Sand?
{Er ninwit Sand auf wirft ihn in die Höhe und fängt ihn
mit dem Rücken der Hand wieder auf?) — ^Jetzt werf ich sie
in die Höhe. Wollen wir wetten? Wieviel Körnchen hab
ich jetzt auf dem Handrücken? Grad oder ungrad? — Wie?
Sie wollen nicht wetten? Sind Sie ein Heide? Glauben
Sie an Gott? Ich wette gewöhnlich mit mir selbst und
kann es tagelang so treiben. Wenn Sie einen Menschen
aufzutreiben wissen, der Lust hätte, manchmal mit mir zu
wetten, so werden Sie mich sehr verbinden. Dann — habe
ich nachzudenken, wie es wohl angehn mag, daß ich mir
auf den Kopf sehe. O wer sich einmal auf den Kopf sehen
könnte! Das ist eins von meinen Idealen. Mir wäre ge-
holfen. Und dann — und dann noch unendlich viel der
Art. — Bin ich ein Müßiggänger? Habe ich jetzt keine Be-
schäftigung.-— ^Ja, es ist traurig . . .
HOFMEISTER. Sehr traurig. Euer Hoheit.
LEONCE. Daß die Wolken schon seit drei Wochen von
Westen nach Osten ziehen. Es macht mich ganz melan-
cholisch.
HOFMEISTER. Eine sehr gegründete Melancholie.
LEONCE. Mensch, warum widersprechen Sie mir nicht?
Sie haben dringende Geschäfte, nicht wahr? Es ist mir
leid, daß ich Sie so lange aufgehalten habe. [Der Hof-
meister entfernt sich mit einer tiefen Verbeugung.) Mein
112
DICHTUNGEN
Herr, ich gratuliere Ihnen zu der schönen Parenthese,
die Ihre Beine machen, wenn Sie sich verbeugen.
LEONCE (allein^ streckt sich auf der Ba77k aus). Die Bienen
sitzen so trag an den Bkimen, und der Sonnenschein hegt
so faul auf dem Boden. Es krassiert ein entsetzlicher
Müßiggang. — Müßiggang ist aller Laster Anfang. — Was die
Leute nicht alles aus Langeweile treiben! Sie studieren
aus Langeweile, sie beten aus Langeweile, sie verlieben,
verheiraten und vermehren sich aus Langeweile und
sterben endlich aus Langeweile, und — und das ist der
Hiunor davon — alles mit den wichtigsten Gesichtern,
ohne zu merken, warum, und meinen Gott weiß was dazu.
Alle diese Helden, diese Genies, diese Dummköpfe, diese
Heiligen, diese Sünder, diese Familienväter sind im
Grunde nichts als raffinierte Müßiggänger. — Warum muß
ich es grade wissen? Wanun kann ich mir nicht wichtig
werden und der armen Puppe einen Frack anziehen und
einen Regenschirm in die Hand geben, daß sie sehr recht-
lich und sehr nützlich und sehr moralisch würde? — Der
Mann, der eben von mir ging, ich beneidete ihn, ich hätte
ihn aus Neid prügeln mögen. O wer einmal jemand an-
ders sein könnte! Nur 'ne Minute lang. — [Valerio, etwas
betrunken, tritt auf.) Wie der Mensch läuft! Wenn ich nur
etwas unter der Sonne wüßte, was mich noch könnte
laufen machen.
VALERIO (stellt sich dicht vor den Prinzen, legt den Finger
an die Nase und sieht ihn starr an). Ja!
LEONCE {ebenso). Richtig!
VALERIO. Haben Sie mich begriffen?
LEONCE. Vollkommen.
VALERIO. Nun, so wollen wir von etwas anderm reden.
(Er legt sich ins Gras\) Ich werde mich indessen in das
Gras legen und meine Nase oben zwischen den Halmen
herausblühen lassen und romantische Empfindungen be-
ziehen, wenn die Bienen und Schmetterlinge sich darauf
wiegen wie auf einer Rose.
LEONCE. Aber Bester, schnaufen Sie nicht so stark, oder
die Bienen und Schmetterlinge müssen verhungern über
den unsfeheuren Prisen, die Sie aus den Blumen ziehen.
LEONCE UND LENA. ERSTER AKT 113
VALERIO. Ach Herr, was ich ein Gefühl für die Natur
habe! Das Gras steht so schön, daß man ein Ochs sein
möchte, um es fressen zu können, und dann wieder ein
Mensch, um den Ochsen zu essen, der solches Gras ge-
fressen.
LEONCE. Unglücklicher, Sie scheinen auch an Idealen
zu laborieren.
VALERIO. Es ist ein Jammer! Man kann keinen Kirch-
turm herunterspringen, ohne den Hals zu brechen. Man
kann keine vier Pfund Kirschen mit den Steinen essen,
ohne Leibweh zu kriegen. Seht, Herr, ich könnte mich
in eine Ecke setzen und singen vom Abend bis zimi
Morgen: "Kei, da sitzt e Fleig an der Wand! Fleig an
der Wand! Fleig an der A^and!'' und so fort bis zum Ende
meines Lebens.
LEONCE. Halt's Maul mit deinem Lied, man könnte
darüber ein Narr werden.
VALERIO. So wäre man doch etwas. Ein Narr! Ein
Narr! Wer will mir seine Narrheit gegen meine Vernunft
verhandeln.- — Ha, ich bin Alexander der Große! Wie mir
die Sonne eine goldne Krone in die Haare scheint, wie
meine Uniform blitzt! Herr Generalissimus Heupferd,
lassen Sie die Truppen anrücken! Herr Finanzminister
Kreuzspinne, ich brauche Geld! Liebe Hofdame Libelle,
was macht meine teiu:e Gemahlin Bohnenstange? Ach
bester Herr Leibmedicus Kantharide, ich bin um einen
Erbprinzen verlegen. Und zu diesen köstlichen Phan-
tasien bekommt man gute Suppe, gutes Fleisch, gutes
Brot, ein gutes Bett und das Haar umsonst geschoren —
im Narrenhaus nämlich — , während ich mit meiner ge-
sunden Vernunft mich höchstens noch zur Beförderung
der Reife auf einen Kirschbamn verdingen könnte, um —
nun: — um?
LEONCE. Um die Kirschen diu-ch die Löcher in deinen
Hosen schamrot zu machen! Aber, Edelster, dein Hand-
werk, deine Profession, dein Gewerbe, dein Stand, deine
Kunst?
VALERIO {mit Würde). Herr, ich habe die große Be-
schäftigung, müßig zu gehen; ich habe eine ungemeine
BÜCHNER 8.
114 DICHTUNGEN
Fertigkeit im Nichtstun; ich besitze eine ungeheure Aus-
dauer in der Faulheit, Keine Schwiele schändet meine
Hände, der Boden hat noch keinen Tropfen von meiner
Stirne getrunken, ich bin noch Jungfrau in der Arbeit;
und wenn es mir nicht der Mühe zu viel wäre, würde ich
mir die Mühe nehmen, Ihnen diese Verdienste weitläufiger
auseinanderzusetzen.
LEONCE (mit komischem Enthusiasmus). Komm an meine
Brust! Bist du einer von den Göttlichen, welche mühelos
mit reiner Stirne durch den Schweiß und Staub über die
Heerstraße des Lebens wandeln, und mit glänzenden
Sohlen und blühenden Leibern gleich seligen Göttern in
den Olympus treten: Komm! Komm!
VALERIO [singt i?7i Abgehen). Hei, da sitzt e Fleig an
der Wand! Fleig an der Wand! Fleig an der Wand!
(Beide A^-m in Arm ab.)
ZWEITE SZENE
EIN ZIMMER
König Feter ivird von zwei Kam?n erdien cm angekleidet.
PETER (während er angekleidet wird). Der Mensch muß
denken, und ich muß für meine Untertanen denken; denn
sie denken nicht, sie denken nicht. — Die Substanz ist das
An -sich, das bin ich. (Er läuft fast nackt im Zimmer her-
um.) Begriffen: An-sich ist an sich, versteht ihr: Jetzt
kommen meine Attribute, Modifikationen, Affektionen und
Akzidenzien: wo ist mein Hemd, meine Hose: — Halt, pfui!
der freie Wille steht davorn ganz offen. Wo ist die Moral:
wo sind die Manschetten: Die Kategorien sind in der
schändlichsten Verwirrung: es sind zwei Knöpfe zuviel
zugeknöpft, die Dose steckt in der rechten Tasche; mein
ganzes System ist ruiniert. — Ha, was bedeutet der KJiopf
im Schnupftuch.- Kerl, was bedeutet der Knopf, an was
wollte ich mich erinnern:
ERSTER KAMMERDIENER. Als Eure Majestät diesen
Knopf in Ihr Schnupftuch zu knüpfen geruhten, so wollten
Sie—
LEONCE UND LENA. ERSTER AKT 115
KÖNIG. Nimr
ERSTER KAMMERDIENER. Sich an etwas erinnern.
PETER. Eine verwickelte Antwort! — Ei! Nun, und was
meint Er?
ZWEITER KAMMERDIENER. Eure Majestät wollten
sich an etwas erinnern, als Sie diesen Knopf in Ihr Schnupf-
tuch zu knüpfen geruhten.
PETER {läuft auf mid ab). Was? Was? die Menschen
machen mich konfus, ich bin in der größten Verwirrung.
Ich weiß mir nicht mehr zu helfen.
[Ei?i Diener tritt auf.)
DIENER. Eure Majestät, der Staatsrat ist versammelt.
PETER (freudig). Ja, das ist's, das ist's: Ich wollte mich
an mein Volk erinnern. — Kommen Sie, meine Herren!
Gehen Sie symmetrisch. Ist es nicht sehr heiß? Nehmen
Sie doch auch Ihre Schnupftücher und wischen Sie sich
das Gesicht. Ich bin immer so in Verlegenheit, wenn
ich öffentlich sprechen soll. (Alle ab.)
König Peter. Der Staatsrat.
PETER. Meine Lieben und Getreuen, ich wollte euch
hiermit kund und zu wissen tun, kund und zu wissen tun
— denn, entweder verheiratet sich mein Sohn, oder nicht
(legt den Finger an die N'ase)^ entweder, oder — ihr ver-
steht mich doch? Ein Drittes gibt es nicht. Der Mensch
muß denken. (Steht eine Zeitlang si7tne7id.) Wenn ich so
laut rede, so weiß ich nicht, wer es eigentlich ist, ich oder
ein anderer, das ängstigt mich. (Nach langem Besinnen-?)
Ich bin ich. — Was halten Sie davon, Präsident?
PRxÄ.SIDENT (gravitätisch langsam). Eiure Majestät, viel-
leicht ist es so, vielleicht ist es aber auch nicht so.
DER GANZE STAATSRAT IM CHOR. Ja, vielleicht
ist es so, vielleicht ist es aber auch nicht so.
PETER (77iit Rührung). O meine Weisen! — Also von was
war eigentlich die Rede? Von was wollte ich sprechen?
Präsident, was haben Sie ein so kurzes Gedächtnis bei einer
so feierlichen Gelegenheit? Die Sitzung ist aufgehoben.
[Er e7itfer7it sich feierlich, der ga7ize Staatsrat folgt ihm.)
ii6 DICHTUNGEN
DRITTE SZENE
EIN REICHGESCHMÜCKTER SAAL. KERZEN
BRENNEN
Leone e mit einigen Dienern.
LEONCE. Sind alle Läden geschlossen? Zündet die Kerzen
an! Weg mit dem Tag! Ich will Nacht, tiefe ambrosische
Nacht. Stellt die Lampen unter Kristallglocken zwischen
die Oleander, daß sie wie Mädchenaugen unter den Wim-
pern der Blätter hervorträumen. Rückt die Rosen näher,
daß der Wein wie Tautropfen auf die Kelche sprudle.
Musik! Wo sind die Violinen? Wo ist die Rosetta? — Fort!
Alle hinaus! (Die Diene?' gehen ah. Lecmce streckt sich
auf ein Ruhebett}^
Rosetta^ zierlich gekleidet^ tritt ein. Man hört Musik aus
der Ferne.
ROSETTA [nähert sich schmeichelnd). Leonce!
LEONCE. Rosetta!
ROSETTA. Leonce!
LEONCE. Rosetta!
ROSETTA. Deine Lippen sind trag. Vom Küssen?
LEONCE. Vom Gähnen!
ROSETTA. Oh!
LEONCE. Ach Rosetta, ich habe die entsetzliche Ar-
beit . . .
ROSETTA. Nun?
LEONCE. Nichts zu tun . . .
ROSETTA. Als zu lieben?
LEONCE. Freilich Arbeit!
ROSETTA [beleidigt). Leonce!
LEONCE. Oder Beschäftigung.
ROSETTA. Oder Müßiggang.
LEONCE. Du hast recht wie immer. Du bist ein kluges
Mädchen, und ich halte viel auf deinen Scharfsinn.
ROSEITA. So liebst du mich aus Langeweile?
LEONCE. Nein, ich habe Langeweile, weil ich dich liebe.
Aber ich liebe meine Langeweile wie dich. Ihr seid eins.
O dolce far niente! ich träume über deinen Augen wie an
LEONCE UND LENA. ERSTER AKT 117
wunderheimlichen tiefen Quellen, das Kosen deiner Lip-
pen schläfert mich ein wie Wellenraiischen. {^Er umfaßt
sie.) Komm, liebe Langeweile, deine Küsse sind ein wol-
lüstiges Gähnen, und deine Schritte sind ein zierlicher
Hiatus.
ROSEITA. Du liebst mich, Leonce.'
LEONCE. Ei warum nicht.-
ROSETTA. Und immer?
LEONCE. Das ist ein langes Wort: immer! Wenn ich
dich nun noch fünftausend Jahre und sieben Monate liebe,
ist's genug? Es ist zwar viel weniger als immer, ist aber
doch eine erkleckliche Zeit, und wir können uns Zeit
nehmen, uns zu lieben.
ROSETTA. Oder die Zeit kann uns das Lieben nehmen.
LEONCE. Oder das Lieben uns die Zeit. Tanze, Ro-
setta, tanze, daß die Zeit mit dem Takt deiner niedlichen
Füße geht.
ROSETTA. Meine Füße gingen lieber aus der Zeit.
[Sie tiwzt imd shigh)
O meine müden Füße, ihr müßt tanzen
In bunten Schuhen,
Und möchtet lieber tief
Im Boden ruhen.
O meine heißen Wangen, ihr müßt glühn
Im wilden Kosen,
Und möchtet lieber blühn —
Zwei weiße Rosen.
O meine armen Augen, ihr müßt blitzen
Im Strahl der Kerzen,
Und schlieft im Dunkel lieber aus
Von euren Schmerzen.
LEONCE (i?iäes träumend vor sich ki?i). O, eine sterbende
Liebe ist schöner als eine werdende. Ich bin ein Römer;
bei dem köstlichen Mahle spielen zum Dessert die goldnen
Fische in ihren Todesfarben. Wie ihr das Rot von den
Wangen stirbt, wie still das Auge ausglüht, wie leis das
Wogen ihrer Glieder steigt und fällt! Adio, adio, meine
Liebe, ich will deine Leiche lieben. i^Rosetta nähert sich
ii8 DICHTUNGEN
ihm wieder^ Tränen, Rosetta? Ein feiner Epikiiräismus —
weinen zu können. Stelle dich in die Sonne, damit die
köstlichen Tropfen kristallisieren, es muß prächtige Dia-
manten geben. Du kannst dir ein Halsband daraus machen
lassen.
ROSETTA. Wohl Diamanten, sie schneiden mir in die
Augen. Ach Leonce! (Will ihn umfassen}^
LEONCE. Gib acht! Mein Kopf! Ich habe unsere Liebe
darin beigesetzt. Sieh zu den Fenstern meiner Augen hin-
ein. Siehst du, wie schön tot das arme Ding ist: Siehst
du die zwei weißen Rosen auf seinen Wangen und die
zwei roten auf seiner Brust? Stoß mich nicht, daß ihm
kein Ärmchen abbricht, es wäre schade. Ich muß meinen
Kopf gerade auf den Schultern tragen, wie die Totenfrau
einen Kindersarg.
ROSETTA (scherzend). Narr!
LEONCE. Rosetta! [Rosetta macht ihm eine Fratze.) Gott
sei Dank! [Hält sich die Augen zu.)
ROSETTA {erschrocke7i). Leonce, sieh mich an!
LEONCE. Um keinen Preis!
ROSETTA. Nur einen Blick!
LEONCE. Keinen! Was meinst du: um ein klein wenig,
und meine liebe Liebe käme wieder auf die Welt. Ich
bin froh, daß ich sie begraben habe. Ich behalte den
Eindruck.
ROSETTA (entfernt sich traurig und langsam^ sie singt im
Abgehn).
Ich bin eine arme Waise,
Ich fürchte mich ganz allein.
Ach lieber Gram —
Willst du nicht kommen mit mir heim:
LEONCE (allein). Ein sonderbares Ding um die Liebe.
Man liegt ein Jahr lang schlafwachend zu Bette, und an
einem schönen Morgen wacht man auf, trinkt ein Glas
Wasser, zieht seine Kleider an und fährt sich mit der Hand
über die Stirn und besinnt sich — und besinnt sich. — Mein
Gott, wieviel Weiber hat man nötig, um die Skala der
Liebe auf und ab zu singen? Kaum, daß eine einen Ton
LEONCE UND LENA. ERSTER AKT 119
ausfüllt. Warum ist der Dunst über unsrer Erde ein Prisma,
das den weißen Glutstrahl der Liebe in einen Regenbogen
bricht: — [Er trinkt.) In welcher Bouteille steckt denn der
Wein, an dem ich' mich heute betrinken soll: Bringe ich
es nicht einmal mehr so weit: Ich sitze wie unter einer
Luftpumpe. Die Luft so scharf und dünn, daß mich friert,
als sollte ich in Nankinghosen Schlittschuh laufen. — Meine
Herren, meine Herren, wißt ihr auch, was Caligula und
Nero waren.- Ich weiß es. — Komm, Leonce, halte mir
einen Monolog, ich will zuhören. Mein Leben gähnt mich
an wie ein großer weißer Bogen Papier, den ich voll-
schreiben soll, aber ich bringe keinen Buchstaben heraus.
Mein Kopf ist ein leerer Tanzsaal, einige verwelkte Rosen
und zerknitterte Bänder auf dem Boden, geborstene Vio-
linen in der Ecke, die letzten Tänzer haben die Masken
abgenommen und sehen mit todmüden Augen einander
an. Ich stülpe mich jeden Tag vierundzwanzigmal herum
wie einen Handschuh. O ich kenne mich, ich weiß, was ich
in einer Viertelstunde, was ich in acht Tagen, was ich in
einem Jahre denken und träumen werde. Gott, was habe
ich denn verbrochen, daß du mich wie einen Schulbuben
meine Lektion so oft hersagen läßt: —
Bravo, Leonce! Bravo! [Er klatscht.) Es tut mir ganz
wohl, wenn ich mir so rufe. He! Leonce! Leonce!
VALERIO [unter eine/n Tisch Jierzwr). Eure Hoheit scheint
mir wirklich auf dem besten Weg, ein wahrhaftiger Narr
zu werden.
LEONCE. Ja, beim Licht besehen, kommt es mir eigent-
lich ebenso vor.
VALERIO. Warten Sie, wir wollen uns darüber sogleich
ausführlicher unterhalten. Ich habe nur noch ein Stück
Braten zu verzehren, das ich aus der Küche, und etwas
Wein, den ich von Ihrem Tische gestohlen. Ich bin gleich
fertig.
LEONCE. Das schmatzt. -Der Kerl verursacht mir ganz
idyllische Empfindungen; ich könnte wieder mit dem Ein-
fachsten anfangen, ich könnte Käs essen, Bier trinken,
Tabak rauchen. Mach fort, grunze nicht so mit deinem
Rüssel, und klappre mit deinen Hauern nicht so.
I20 DICHTUNGEN
VALERIO. Wertester Adonis, sind Sie in Angst um ihre
Schenkel? Sein Sie unbesorgt, ich bin weder ein Besen-
binder noch ein Schulmeister; ich brauche keine Gerten
zu Ruten.
LEONCE. Du bleibst nichts schuldig.
VALERIO. Ich wollte, es ginge meinem Herrn ebenso.
LEONCE. Meinst du, damit du zu deinen Prügeln kämst.^
Bist du so besorgt um deine Erziehung?
VALERIO. O Himmel, man kömmt leichter zu seiner Er-
zeugung als zu seiner Erziehung. Es ist traurig, in welche
Umstände einen andere Umstände versetzen können! Was
für Wochen hab ich erlebt, seit meine Mutter in die Wochen
kam! Wie viel Gutes hab ich empfangen, das ich meiner
Empfängnis zu danken hätte?
LEONCE. Was deine Empfänglichkeit betrifft, so könnte
sie es nicht besser treffen, um getroffen zu werden. Drück
dich besser aus, oder du sollst den unangenehmsten Ein-
druck von meinem Nachdruck haben. .
VALERIO. Als meine Mutter um das Vorgebirg der guten
Hoffnung schiffte . . .
LEONCE. Und dein Vater am Kap Hörn Schiffbruch
litt ...
VALERIO. Richtig, denn er war Nachtwächter. Doch
setzte er das Hörn nicht so oft an die Lippen, als die
Väter edler Söhne an die Stirn.
LEONCE. Mensch, du besitzest eine himmlische Unver-
schämtheit. Ich fühle ein gewisses Bedürfnis, mich in nähere
Berührung mit ihr zu setzen. Ich habe eine große Passion,
dich zu prügeln.
VALERIO. Das ist eine schlagende Antwort und ein trif-
tiger Beweis.
LEONCE (geht auf ihn los). Oder du bist eine geschlagene
Antwort. Denn du bekommst Prügel für deine Antwort.
VALERIO [läuft weg, Leone e stolpert und fällt). Und Sie
sind ein Beweis, der noch geführt werden muß; denn er
fällt über seine eigenen Beine, die im Grund genommen
selbst noch zu beweisen sind. Es sind höchst unwahr-
scheinliche Waden und sehr problematische Schenkel.
LEONCE UND LENA. ERSTER AKT 121
De7' Staatsrat tritt auf. Leone e bleibt auf dem Boden sitzen.
Valerio.
PRÄSIDENT. Eure Hoheit verzeihen . . .
LEONCE. Wie mir selbst! Wie mir selbst! Ich verzeihe
mir die Gutmütigkeit, Sie anzuhören. Meine Herren, wol-
len Sie nicht Platz nehmen? — Was die Leute für Gesichter
machen, wenn sie das Wort Platz hören! Setzen Sie sich
nur auf den Boden und genieren Sie sich nicht! Es ist
doch der letzte Platz, den Sie einst erhalten, aber er trägt
niemanden etwas ein — außer dem Totengräber.
PRÄSIDENT {verlegen mit de7i Fingern schnipsend). Ge-
ruhen Eure Hoheit . . .
LEONCE. Aber schnipsen Sie nicht so mit den Fingern,
wenn Sie mich nicht zum Mörder machen wollen.
PRÄSIDENT (im7ner stärker sc/wipsend). Wollten gnä-
digst, in Betracht ...
LEONCE. Mein Gott, stecken Sie doch die Hände in
die Hosen, oder setzen Sie sich darauf. Er ist ganz aus
der Fassung. Sammeln Sie sich.
VALERIO. Man darf Kinder nicht während des P
unterbrechen, sie bekommen sonst eine Verhaltung.
LEONCE. Mann, fassen Sie sich. Bedenken Sie Ihre Fa-
milie und den Staat. Sie riskieren einen Schlagfluß, wenn
Ihnen Ihre Rede zurücktritt.
PRÄSIDENT {zieht ein Papier aus der Tasche). Erlauben
Eure Hoheit . . .
LEONCE. Was.^ Sie können schon lesen: Nun denn . . .
PRÄSIDENT. Daß man der zu erwartenden Ankunft von
Eurer Hoheit Verlobter Braut, der durchlauchtigsten Prin-
zessin Lena von Pipi, auf morgen sich zu gewärtigen habe,
davon läßt Ihro königliche Majestät Eure Hoheit benach-
richtigen.
LEONCE. Wenn meine Braut mich erwartet, so werde
ich ihr den Willen tun und sie auf mich warten lassen.
Ich habe sie gestern nacht im Traum gesehen, sie hatte
ein paar Augen, so groß, daß die Tanzschuhe meiner Ro-
setta zu Augenbrauen darüber gepaßt hätten, mid auf den
Wangen waren keine Grübchen, sondern ein paar Ab-
122 DICHTUNGEN
zugsgräben für das Lachen. Ich glaube an Träume. Träu-
men Sie auch zuweilen, Herr Präsident? Haben Sie auch
Ahnungen?
VALERIO. Versteht sich. Immer die Nacht vor dem
Tag, an dem ein Braten verbrennt, ein Kapaun krepiert
oder Ihre königliche Majestät Leib weh bekommt.
LEONCE. Apropos, hatten Sie nicht noch etwas auf der
Zunge? Geben Sie nur alles von sich.
PRÄSIDENT. An dem Tage der Vermählung ist ein
höchster Wille gesonnen, seine allerhöchsten Willens-
äußerungen in die Hände Eurer Hoheit niederzulegen.
LEONCE. Sagen Sie einem höchsten Willen, daß ich
alles tun werde, das ausgenommen, was ich werde bleiben
lassen, was aber jedenfalls nicht so viel sein wird, als
wenn es noch einmal so viel wäre. — Meine Herren, Sie
entschuldigen, daß ich Sie nicht begleite, ich habe gerade
die Passion, zu sitzen, aber meine Gnade ist so groß, daß
ich sie mit den Beinen kaum ausmessen kann. {Er spreizt
die Beine auseinander }j Herr Präsident, nehmen Sie doch
das Maß, damit Sie mich später daran erinnern. Valerio,
gib den Herren das Geleite.
VALERIO. Das Geläute? Soll ich dem Herrn Präsiden-
ten eine Schelle anhängen? Soll ich sie führen, als ob
sie auf allen vieren gingen:
LEONCE. Mensch, du bist nichts als ein schlechtes Wort-
spiel. Du hast weder Vater noch Mutter, sondern die fünf
Vokale haben dich miteinander erzeugt.
VALERIO. Und Sie, Prinz, sind ein Buch ohne Buch-
staben, mit nichts als Gedankenstrichen. — Kommen Sie
jetzt, meine Herren. Es ist eine traurige Sache um das
Wort Kommen. Will man ein Einkommen, so muß man
stehlen; an ein Aufkommen ist nicht zu denken, als wenn
man sich hängen läßt; ein Unterkommen findet man erst,
wenn man begraben wird, und ein Auskommen hat man
jeden Augenblick mit seinem Witz, wenn man nichts mehr
zu sagen weiß, wie ich zum Beispiel eben, und Sie, ehe
Sie noch etwas gesagt haben. Ihr Abkommen haben Sie
gefunden, und Ihr Fortkommen werden Sie jetzt zu suchen
ersucht. [Staatsrat und Valerio ab.)
LEONCE UND I.ENA. ERSTER AKT 123
LEONCE (allein). Wie gemein ich mich zum Ritter an den
armen Teufeln gemacht habe! Es steckt nun aber doch ein-
mal ein gewisser Genuß in einer gewissen Gemeinheit. —
Hm! Heiraten! Das heißt einen Ziehbrunnen leer trinken.
O Shandy, alter Shandy, wer mir deine Uhr schenkte! —
[Valerio kommt zurück)) Ach Valerio, hast du es gehört:
VALERIO. Nun, Sie sollen König werden. Das ist eine
lustige Sache. Man kann den ganzen Tag spazieren fah-
ren und den Leuten die Hüte verderben durchs viele Ab-
ziehen; man kann aus ordentlichen Menschen ordentliche
Soldaten ausschneiden, so daß alles ganz natürlich wird;
man kann schwarze Fräcke und weiße Halsbinden zu
Staatsdienern machen; und wenn man stirbt, so laufen
alle blanken Knöpfe blau an, und die Glockenstricke
reißen wie Zwirnsfäden vom vielen Läuten. Ist das nicht
unterhaltend?
LEONCE. Valerio! Valerio! Wir müssen was anderes
treiben. Rate!
VALERIO. Ach die Wissenschaft, die Wissenschaft! Wir
wollen Gelehrte werden! A priori: oder a posteriori:
LEONCE. A priori, das muß man bei meinem Herrn
Vater lernen; und a posteriori fängt alles an, wie ein altes
Märchen: es war einmal!
VALERIO. So wollen wir Helden werden. {Er marschiert
trompetend und trommelnd auf und ab.) Trom — trom —
pläre — plem!
LEONCE. Aber der Heroismus fuselt abscheulich und be-
kommt das Lazarettfieber und kann ohne Leutnants und
Rekruten nicht bestehen. Pack dich mit deiner Alexanders-
und Napoleonsromantik!
VALERIO. So wollen wir Genies werden.
LEONCE. Die Nachtigall der Poesie schlägt den ganzen
Tag über unserm Haupt, aber das Feinste geht zum Teufel,
bis wir ihr die Federn ausreißen und in die Tinte oder
die Farbe tauchen.
VALERIO. So wollen wir nützliche Mitglieder der mensch-
lichen Gesellschaft werden.
LEONCE. Lieber möchte ich meine Demission als Mensch
geben.
124 DICHTUNGEN
VALERIO. So wollen wir zum Teufel gehen.
LEONCE. Ach, der Teufel ist nur des Kontrastes wegen
da, damit wir begreifen sollen, daß am Himmel doch
eigentlich etwas sei. {Aufsprmgefid\) Ah Valerie, Valerio,
jetzt hab ich's! Fühlst du nicht das Wehen aus Süden:
Fühlst du nicht, wie der tiefblaue, glühende Äther auf und
ab wogt, wie das Licht blitzt von dem goldnen, sonnigen
Boden, von der heiligen Salzflut und von den Marmor-
säulen und -leibern? Der große Pan schläft, und die
ehernen Gestalten träumen im Schatten über den tief-
rauschenden Wellen von dem alten Zaubrer Virgil, von
Tarantella und Tambiu-in und tiefen, tollen Nächten voll
Masken, Fackeln und Gitarren. Ein Lazzaroni! Valerio,
ein Lazzaroni! Wir gehen nach Italien.
VIERTE SZENE
EIN GARTEN
Prinzessin Lena im Braiitschmuck. Die Gouvernante.
LENA. Ja, jetzt! Da ist es. Ich dachte die Zeit an nichts.
Es ging so hin, und auf einmal richtet sich der Tag vor
mir auf. Ich habe den Kranz im Haar — und die Glocken,
die Glocken! [Sie lehnt sieh zurikk nmi schließt die Augen.)
Sieh, ich wollte, der Rasen wüchse so über mich, und
die Bienen summten über mir hin; sieh, jetzt bin ich ein-
gekleidet und habe Rosmarin im Haar. Gibt es nicht ein
altes Lied:
Auf dem Kirchhof will ich liegen.
Wie ein Kindlein in der Wiegen.
GOUVERNANTE. Armes Kind, wie Sie bleich sind unter
Ihren blitzenden Steinen!
LENA. O Gott, ich könnte lieben, warmn nicht: Man
geht ja so einsam und tastet nach einer Hand, die einen
hielte, bis die Leichenfrau die Hände auseinandernähme
und sie jedem über der Brust faltete. Aber warum schlägt
man einen Nagel durch zwei Hände, die sich nicht such-
ten? Was hat meine arme Hand getan: {Sie zieht einen
Ring vom Finger^ Dieser Ring sticht mich wie eine
Natter.
LEONCE UND LENA. ZWEITER AKT 125
GOUVERNANTE. Aber— er soll ja ein wahrer Don Carlos
sein!
LENA. Aber — ein Mann . . .
GOUVERNANTE. Nun:
LENA. Den man nicht liebt. {Sie erhebt sich.) Pfui! Siehst
du, ich schäme mich. — Morgen ist aller Duft und Glanz
von mir gestreift. Bin ich denn wie die arme, hülflose
Quelle, die jedes Bild, das sich über sie bückt, in ihrem
stillen Grund abspiegeln muß: Die Blumen öffnen und
schließen, wie sie wollen, ihre Kelche der Morgensonne
und dem Abendwind. Ist denn die Tochter eines Königs
weniger als eine Blume.^
GOUVERNANTE [weinend). Lieber Engel, du bist doch
ein wahres Opferlamm.
LENA. Jawohl, und der Priester hebt schon das Messer. —
Mein Gott, mein Gott, ist es denn wahr, daß wir uns selbst
erlösen müssen mit imserm Schmerz: Ist es denn wahr,
die Welt sei ein gekreuzigter Heiland, die Sonne seine
Dornenkrone, und die Sterne die Nägel und Speere in
seinen Füßen und Lenden:
GOUVERNANTE. Mein Kind, mein Kind! ich kann dich
nicht so sehen. Es kann nicht so gehen, es tötet dich. —
Vielleicht, wer weiß! Ich habe so etwas im Kopf. Wir
wollen sehen. Komm! [Sie führt die Prinzessin zaeg.)
ZWEITER AKT
Wie ist mir eine Stimme doch erklungen
Im tiefsten Innern,
Und hat mit einem Male mir verschlungen
All mein Erinnern.
Adalbert von Chamisso.
ERSTE SZENE
FREIES FELD. EIN WIRTSHAUS IM HINTERGRUND
Leonce und Valerio^ der eine7i Pack trägt, treten auf.
VALERIO (keuche7id). Auf Ehre, Prinz, die Welt ist doch
ein ungeheuer weitläuftiges Gebäude.
LEONCE. Nicht doch! Nicht doch! Ich wage kaum die
Hände auszustrecken, wie in einem engen Spiegelzimmer,
126 DICHTUNGEN
aus Furcht, überall anzustoßen, daß die schönen Figuren
in Scherben auf dem Boden lägen und ich vor der kahlen
nackten Wand stünde.
VALERIO. Ich bin verloren.
LEONCE. Da wird niemand einen Verlust dabei haben,
als wer dich findet.
VALERIO. Ich werde mich nächstens in den Schatten
meines Schattens stellen.
LEONCE. Du verflüchtigst dich ganz an der Sonne.
Siehst du die schöne Wolke da oben? Sie ist wenigstens
ein Viertel von dir. Sie sieht ganz wohlbehaglich auf
deine gröberen materiellen Stoffe herab.
VALERIO. Die Wolke könnte Ihrem Kopf nichts scha-
den, wenn man sie Ihnen Tropfen für Tropfen darauf
fallen ließe. — Ein köstlicher Einfall! Wir sind schon durch
ein Dutzend Fürstentümer, durch ein halbes Dutzend
Großherzogtümer und durch ein paar Königreiche ge-
laufen, und das in der größten Übereilung in einem halben
Tag — und warum? Weil man König werden und eine
schöne Prinzessin heiraten soll! Und Sie leben noch in
einer solchen Lage? Ich begreife Ihre Resignation nicht.
Ich begreife nicht, daß Sie nicht Arsenik genommen,
sich auf das Geländer des Kirchturms gestellt und sich
eine Kugel durch den Kopf gejagt haben, um es ja nicht
zu verfehlen.
LEONCE. Aber Valerio, die Ideale! Ich habe das Ideal
eines Frauenzimmers in mir und muß es suchen. Sie ist
unendlich schön und unendlich geistlos. Die Schönheit
ist da so hülflos, so rührend wie ein neugebornes Kind.
Es ist ein köstlicher Kontrast: diese himmlisch stupiden
Augen, dieser göttHch einfältige Mund, dieses schafnasige
griechische Profil, dieser geistige Tod in diesem geistlosen
Leib.
VALERIO. Teufel! da sind wir schon wieder auf der
Grenze. Das ist ein Land wie eine Zwiebel: nichts als
Schalen, oder wie ineinandergesteckte Schachteln: in der
größten sind nichts als Schachteln und in der kleinsten
ist gar nichts. [Er ivirft seinen Pack zu Boden?) Soll denn
dieser Pack mein Grabstein werden? Sehen Sie, Prinz — ich
LEONCE UND LENA. ZWEITER AKT 127
werde philosophisch — , ein Bild des menschlichen Lebens:
Ich schleppe diesen Pack mit wunden Füßen durch Frost
und Sonnenbrand, weil ich abends ein reines Hemd an-
ziehen will, und wenn endlich der Abend kommt, so ist
meine Stirn gefurcht, meine Wange hohl, mein Auge
dunkel, und ich habe grade noch Zeit, mein Hemd anzu-
ziehen, als Totenhemd. Hätte ich nun nicht gescheiter
getan, ich hätte mein Bündel vom Stecken gehoben und
es in der ersten besten Kneipe verkauft, und hätte mich
dafür betrunken und im Schatten geschlafen, bis es Abend
geworden wäre, und hätte nicht geschwitzt und mir keine
Leichdörner gelaufen? Und, Prinz, jetzt kommt die An-
wendung und die Praxis: aus lauter Schamhaftigkeit wollen
wir jetzt auch den inneren Menschen bekleiden und Rock
und Hosen inwendig anziehen. [Beide gehen auf das Wij-ts-
haus los.) Ei du lieber Pack, welch ein köstlicher Duft,
welche Weindüfte und Bratengerüche! Ei ihr lieben Hosen,
wie wmrzelt ihr im Boden und grünt und blüht, und die
langen, schweren Trauben hängen mir in den Mund, und
der Most gärt unter der Kelter. [Sie gehe?i ab.)
Prinzessin Lena. Die Gmiverna?ite [kommen).
GOUVERNANTE. Es muß ein bezauberter Tag sein, die
Sonne geht nicht unter, und es ist so unendlich lang seit
unsrer Flucht.
LENA. Nicht doch, meine Liebe, die Blumen sind ja
kaum welk, die ich zum Abschied brach, als wir aus dem
Garten gingen.
GOUVERNANTE. Und wo sollen wir ruhen? Wir sind
noch auf gar nichts gestoßen. Ich sehe kein Kloster, kei-
nen Eremiten, keinen Schäfer.
LENA. Wir haben alles wohl anders geträumt mit unser n
Büchern hinter der Mauer unsers Gartens, zwischen unsern
Myrten und Oleandern.
GOUVERNANTE. O die Welt ist abscheulich! An einen
irrenden Königssohn ist gar nicht zu denken.
LENA. O, sie ist schön und so weit, so unendlich weit!
Ich möchte immer so fort gehen, Tag und Nacht. Es
rührt sich nichts. Ein roter Blumenschein spielt über die
128 DICHTUNGEN
Wiesen, und die fernen Berge liegen auf der Erde wie
ruhende Wolken.
GOUVERNANTE. Du mein Jesus, was wird man sagen?
Und doch ist es so zart und weiblich! Es ist eine Ent-
sagung. Es ist wie die Flucht der heiligen Ottilia. Aber
wir müssen ein Obdach suchen: es wird Abend!
LENA. Ja, die Pflanzen legen ihre Fiederblättchen zum
Schlaf zusammen, und die Sonnenstrahlen wiegen sich an
den Grashalmen wie müde Libellen.
ZWEITE SZENE
DAS WIRTSHAUS AUF EINER ANHÖHE, AN EINEM
FLUSS, WEITE AUSSICHT. DER GARTEN
VOR DEMSELBEN
Valerie . Leone e.
VALERIO. Nun, Prinz, liefern Ilire Hosen nicht ein köst-
liches Getränk: Laufen Ihnen Ihre Stiefel nicht mit der
größten Leichtigkeit die Kehle hinunter.^
LEONCE. Siehst du die alten Bäume, die Hecken, die
Blumen, das alles hat seine Geschichten, seine lieblichen,
heimlichen Geschichten. Siehst du die greisen freund-
lichen Gesichter unter den Reben an der Haustür? Wie
sie sitzen und sich bei den Händen halten und Angst
haben, daß sie so alt sind und die Welt noch so jung ist.
O Valerio, und ich bin so jung, und die Welt ist so alt.
Ich bekomme manchmal eine Angst lun mich und könnte
mich in eine Ecke setzen und heiße Tränen weinen aus
Mitleid mit mir.
VALERIO [gibt ihm ein Glas). Nimm diese Glocke, diese
Taucherglocke, und senke dich in das Meer des Weines,
daß es Perlen über dir schlägt. Sieh, wie die Elfen über
dem Kelch der Weinblumen schweben, goldbeschuht, die
Cymbeln schlagend.
LEONCE (aufspringend). Komm, Valerio, wir müssen was
treiben, was treiben! Wir wollen uns mit tiefen Gedanken
abgeben; wir wollen imtersuchen, wie es kommt, daß
der Stuhl auf drei Beinen steht imd nicht auf zweien.
Komm, wir wollen Ameisen zergliedern, Staubfäden zäh-
LEONCE UND LENA. ZWEITER AKT 129
len! Ich werde es doch noch zu irgend einer fürstlichen
Liebhaberei bringen. Ich werde doch noch eine Kinder-
rassel finden, die mir erst aus der Hand fällt, wenn ich
Flocken lese und an der Decke zupfe. Ich habe noch eine
gewisse Dosis Enthusiasmus zu verbrauchen; aber wenn
ich alles recht warm gekocht habe, so brauche ich eine
unendliche Zeit, um einen Löffel zu finden, mit dem ich
das Gericht esse, und darüber steht es ab.
VALERIO. Ergo bibamus! Diese Flasche ist keine Ge-
liebte, keine Idee, sie macht keine Geburtsschmerzen, sie
wird nicht langweilig, wird nicht treulos, sie bleibt eins
vom ersten Tropfen bis zum letzten. Du brichst das Siegel,
und alle Träume, die in ihr schlummern, sprühen dir ent-
gegen.
LEONCE. O Gott! Die Hälfte meines Lebens soll ein
Gebet sein, wenn mir nur ein Strohhalm beschert wird,
auf dem ich reite wie auf einem prächtigen Roß, bis ich
selbst auf dem Stroh liege. — Welch unheimlicher Abend!
Da unten ist alles still, und da oben wechseln und ziehen
die Wolken, und der Sonnenschein geht und kommt wie-
der. Sieh, was seltsame Gestalten sich dort jagen! sieh
die langen weißen Schatten mit den entsetzlich magern
Beinen und Fledermausschwingen! und alles so rasch, so
wirr, und da unten rührt sich kein Blatt, kein Halm. Die
Erde hat sich ängstlich zusammengeschmiegt wie ein Kind,
imd über ihre Wiege schreiten die Gespenster.
VALERIO. Ich weiß nicht, was Ihr wollt, mir ist ganz
behaglich zumut. Die Sonne sieht aus wie ein Wirtshaus -
Schild, und die feurigen Wolken darüber wie die Aufschrift:
"Wirtshaus zur goldenen Sonne". Die Erde und das Was-
ser da unten sind wie ein Tisch, auf dem Wein verschüttet
ist, und wir liegen darauf wie Spielkarten, mit denen Gott
und der Teufel aus Langeweile eine Partie machen, imd
Ihr seid ein Kartenkönig, und ich bin ein Kartenbube,
es fehlt nur noch eine Dame, eine schöne Dame, mit
einem großen Lebkuchenherz auf der Brust und einer
mächtigen Tulpe, worin die lange Nase sentimental ver-
sinkt {die Gouvernante und die Prinzessin treten auf)^ und
—bei Gott, da ist sie! Es ist aber eigentlich keine Tulpe,
BÜCHNER 9.
I30 DICHTUNGEN
sondern eine Prise Tabak, und es ist eigentlich keine
Nase, sondern ein Rüssel. (Zur Gouvernante\) Warum
schreiten Sie, Werteste, so eilig, daß man Ihre weiland
Waden bis zu Ihren respektabeln Strumpfbändern sieht:
GOUVERNANTE [Jicftig erzürnt, bleibt stehen). Warum
reißen Sie, Geehrtester, den Mund so weit auf, daß Sie
einem ein Loch in die Aussicht machen:
VALERIO. Damit Sie, Geehrteste, sich die Nase am Ho-
rizont nicht blutig stoßen. Solch eine Nase ist wie der
Turm auf Libanon, der gen Damaskum steht.
LENA (zur Gouvernante). Meine Liebe, ist denn der Weg
so lang?
LEONCE (träumend vor sieh hin). O, jeder Weg ist lang.
Das Picken der Totenuhr in unserer Brust ist langsam,
und jeder Tropfen Blut mißt seine Zeit, und unser Leben
ist ein schleichend Fieber. Für müde Füße ist jeder Weg
zu lang . . .
LENA (die ihm ängstlich sinnend zuhört). Und müden
Augen jedes Licht zu scharf, und müden Lippen jeder
Hauch zu schwer, (lächelnd-.) und müden Ohren jedes Wort
zu viel. (Sie tritt 7Jiit der Gouvernante in das Haus.)
LEONCE. O lieber Valerio! Könnte ich nicht auch sagen:
''Sollte nicht dies und ein Wald von Federbüschen nebst
ein paar gepufften Rosen auf meinen Schuhen — "r Ich
hab es, glaub ich, ganz melancholisch gesagt. Gott sei
Dank, daß ich anfange, mit der Melancholie niederzu-
kommen. Die Luft ist nicht mehr so hell und kalt, der
Himmel senkt sich glühend dicht um mich, und schwere
Tropfen fallen.— O diese Stimme: ist denn der Weg so
lang: Es reden viele Stimmen über die Erde, und man
meint, sie sprächen von andern Dingen, aber ich habe
sie verstanden. Sie ruht auf mir wie der Geist, da er
über den Wassern schwebte, eh das Licht ward. Welch
Gären in der Tiefe, welch Werden in mir, wie sich die
Stimme durch den Raum gießt!— Ist denn der Weg so lang?
(Geht ab.)
VALERIO. Nein, der Weg zum Narrenhaus ist nicht so
lang; er ist leicht zu finden, ich kenne alle Fußpfade, alle
Vizinalwege und Chausseen dorthin. Ich sehe ihn schon auf
LEONCE UND LENA. ZWEITER AKT 131
einer breiten Allee dahin, an einem eiskalten Wintertag,
den Hut unter dem Arm, wie er sich in die langen Schatten
unter die kahlen Bäume stellt und mit dem Schnupftuch
fächelt. — Er ist ein Narr! {Folgt ihm.)
*
DRITTE SZENE
EIN ZIMMER
Lena. Die Gouvernante.
GOUVERNxA.NTE. Denken Sie nicht an den Menschen!
LENA. Er war so alt unter seinen blonden Locken. Den
Friililing auf den A\'angen und den Winter im Herzen!
Das ist traurig. Der müde Leib findet sein Schlafkissen
überall, doch wenn der Geist müd ist, wo soll er ruhen:
Es kommt mir ein entsetzlicher Gedanke: ich glaube, es
gibt Menschen, die unglücklich sind, unheilbar, bloß weil
sie s i n d. [Sie erhebt sich . )
GOUVERNANTE. WohAn, mein Kind:
LENA. Ich will hinunter in den Garten..
GOUVERNANTE. Aber . . .
LENA. Aber, liebe Mutter: Du weißt, man hätte mich
eigentlich in eine Scherbe setzen sollen. Ich brauche Tau
und Nachtluft, wie die Bhmien. — Hörst du die Harmonieen
des Abends: Wie die Grillen den Tag einsingen und die
Nachtviolen ihn mit ilirem Duft einschläfern! Ich kann
nicht im Zimmer bleiben. Die Wände fallen auf mich.
VIERTE SZENE
DER GARTEN. NACHT UND MONDSCHEIN
Man sieht Lena auf dem Rasen sitzend.
^^\LERIO [in einiger Entfernung). Es ist eine schöne
Sache um die Natur, sie wäre aber doch noch schöner,
wenn es keine Schnaken gäbe, die Wirtsbetten etwas
reinlicher wären und die Totenuhren nicht so in den
AVänden pickten. Drin schnarchen die Menschen, und
draußen quaken die Frösche, drin pfeifen die Hausgrillen
und draußen die Feldgrillen. Lieber Rasen, dies ist ein
rasender Entschluß! {^Er legt sieh auf den Käsen nieder.) _
132 DICHTUNGEN
LEONCE (tritt auf). O Nacht, balsamisch wie die erste,
die auf das Paradies herabsank! {Er bemerkt die Prin-
zessin und nähert sich ihr leise?)
LENA {spricht vor sich hi/i). Die Grasmücke hat im Traum
gezwitschert. — Die Nacht schläft tiefer, ihre Wange wird
bleicher und ihr Atem stiller. Der Mond ist wie ein
schlafendes Kind, die goldnen Locken sind ihm im Schlaf
über das liebe Gesicht heruntergefallen. — O, sein Schlaf
ist Tod. Wie der tote Engel auf seinem dunklen Kissen
ruht und die Sterne gleich Kerzen um ihn brennen! Armes
Kind! Es ist traurig, tot und so allein.
LEONCE. Steh auf in deinem weißen Kleid und wandle
hinter der Leiche durch die Nacht und singe ihr das
Sterbelied!
LENA. Wer spricht da?
LEONCE. Ein Traum.
LENA. Träume sind selig.
LEONCE. So träume dich selig und laß mich dein seliger
Traum sein.
LENA. Der Tod ist der seligste Traum.
LEONCE. So laß mich dein Todesengel sein. Laß meine
Lippen sich gleich seinen Schwingen auf deine Augen
senken. {Er kiißt sie.) Schöne Leiche, du ruhst so lieb-
lich auf dem schwarzen Bahrtuch der Nacht, daß die
Natur das Leben haßt und sich in den Tod verliebt.
LENA. Nein, laß mich! {Sie springt auf und entfernt sich
rasch.)
LEONCE. Zu viel! zu viel! Mein ganzes Sein ist in dem
einen Augenblick. Jetzt stirb! Mehr ist unmöglich. Wie
frischatmend, schönheitglänzend ringt die Schöpfung sich
aus dem Chaos mir entgegen! Die Erde ist eine Schale
von dunklem Gold: wie schäumt das Licht in ihr und
flutet über ihren Rand, und hellauf perlen daraus die
Sterne. Dieser eine Tropfen Seligkeit macht mich zu
einem köstlichen Gefäß. Hinab, heiliger Becher! {Er tvill
sich in den Fluß stürzen.)
YKIJEKIO {springt aufund umfaßt ihn). Halt, Serenissime!
LEONCE. Laß mich!
LEONCE UND LENA. DRITTER AKT 133
VALERIO. Ich werde Sie lassen, sobald Sie gelassen
sind imd das Wasser zu lassen versprechen.
LEONCE. Dummkopf!
VALERIO. Ist denn Eure Hoheit noch nicht über die
Leutnantsromantik hinaus: das Glas zum Fenster hinaus-
zuwerfen, womit man die Gesundheit seiner Geliebten
getrunken.-
LEONCE. Ich glaube halbwegs, du hast recht.
VALERIO. Trösten Sie sich. Wenn Sie auch nicht heut
nacht unter dem Rasen schlafen, so schlafen Sie wenig-
stens darauf. Es wäre ein ebenso selbstmörderischer Ver-
such, in eins von den Betten gehn zu wollen. Man liegt
auf dem Stroh wie ein Toter und wird von den Elöhen
gestochen wie ein Lebendiger.
LEONCE. Meinetwegen. {Er legt sich i7is Gras.) Mensch,
du hast mich um den schönsten Selbstmord gebracht! Ich
werde in meinem Leben keinen so vorzüglichen Augen-
blick mehr dazu finden, und das W^etter ist [0 vortrefflich.
Jetzt bin ich schon aus der Stimmung. Der Kerl hat mir
mit seiner gelben Weste und seinen himmelblauen Hosen
alles verdorben.— Der Himm.el beschere mir einen recht
gesunden, plumpen Schlaf.
VALERIO. Amen. — Und ich habe ein Menschenleben
gerettet und werde mir mit meinem guten Gewissen heut
nacht den Leib warm halten.
LEONCE. Wohl bekomm's, Valerio!
DRITTER AKT
ERSTE SZENE
Leo?ice. Valerio.
VALERIO. Heiraten.- Seit wann hat es Eure Hoheit zum
ewigen Kalender gebracht.-
LEONCE. Weißt du auch, Valerio, daß selbst der Ge-
ringste unter den Menschen so groß ist, daß das Leben
noch viel zu kurz ist, um ihn lieben zu können.^ Und dann
kann ich doch einer gewissen Art von Leuten, die sich
134 DICHTUNGEN
einbilden, daß nichts so schön und heilig sei, daß sie es
nicht noch schöner und heiliger machen müßten, die
Freude lassen. Es liegt ein gewisser Genuß in dieser
lieben Arroganz. Warum soll ich ihnen denselben nicht
gönnen?
VALERIO. Sehr human und philobestialisch! Aber weiß
sie auch, wer Sie sind.-
LEONCE. Sie weiß nur, daß sie mich liebt.
VALERIO. Und weiß Eure Hoheit auch, wer sie ist.-
LEONCE. Dummkopf! Frag doch die Nelke und die Tau-
perle nach ihrem Namen.
VALERIO. Das heißt, sie ist überhaupt etwas, wenn das
nicht schon zu unzart ist und nach dem Signalement
schmeckt. — Aber, wie soll das gehn? Hm! — Prinz, bin ich
Minister, wenn Sie heute vor Ihrem Vater mit der Un-
aussprechlichen, Namenlosen mittelst des Ehesegens zu-
sammengesclmiiedet werden: Ihr AVort:
LEONCE. Mein Wort!
VALERIO. Der arme Teufel Valerio empfiehJt sich Seiner
Exzellenz dem Herrn Staatsminister Valerio von Valerien-
tal.— '^Was will der Kerl? Ich kenne ihn nicht. Fort,
Schlingel!'*^ {Er läuft weg; Leonce folgt ihm.)
*
ZWEITE SZENE
FREIER PLATZ VOR DEM SCHLOSSE DES
KÖNIGS PETER
Der Landrat. Der Schulmeister, Bauern im Sonntagsputz.,
Tannenzweige haltend.
LANDRAT. Lieber Herr Schulmeister, wie halten sich
Eure Leute?
SCHULMEISTER. Sie halten sich so gut in ihren Leiden,
daß sie sich schon seit geraumer Zeit aneinander halten.
Sie gießen brav Spiritus in sich, sonst könnten sie sich
in der Hitze unmöglich so lange halten. Courage, ihr
Leute! Streckt eure Tannenzweige grad vor euch hin,
damit man meint, ihr wärt ein Tannenwald, und eure
Nasen die Erdbeeren, und eure Dreim.aster die Hörner
vom Wildbret, und eure hirschledernen Hosen der Mond=
LEONCE UND LENA. DRITI^ER AKT 135
schein darin. Und merkt's euch: der hinterste läuft immer
wieder vor den vordersten, damit es aussieht, als wärt
ihr ins Quadrat erhoben.
LANDRAT. Und, Schulmeister, Ihr steht vor die Nüch-
ternheit.
SCHULMEISTER. Versteht sich, denn ich kann vor
Nüchternheit kaum noch stehen.
LANDRAT. Gebt acht, Leute, im Programm steht: ''Sämt-
liche Untertanen werden von freien Stücken reinlich ge-
kleidet, wohlgenährt und mit zufriedenen Gesichtern sich
längs der Landstraße aufstellen. ' ' Macht uns keine Schande!
SCHULMEISTER. Seid standhaft! Kratzt euch nicht
hinter den Ohren und schneuzt euch die Nasen nicht, so-
lang das hohe Paar vorbeifährt, mid zeigt die gehörige
Rührung, oder es werden rührende Mittel gebraucht wer-
den. Erkennt, was man für euch tut: man hat euch grade
so gestellt, daß der Wind von der Küche über euch geht
und ihr auch einmal in eiu^em Leben einen Braten riecht.
Könnt ihr noch eure Lektion: He: Vi!
DIE BAUERN. Vi!
SCHULMEISTER. Vat!
DIE BAUERN. Vat!
SCHULMEISTER. Vivat!
DIE BAUERN. Vivat!
SCHULMEISTER. So, Herr Landrat. Sie sehen, wie die
Intelligenz im Steigen ist. Bedenken Sie, es ist Latein.
Wir geben aber auch heut abend einen transparenten Ball
mittelst der Löcher in unseren Jacken und Hosen, und
schlagen uns mit unseren Fäusten Kokarden an die Köpfe.
DRITTE SZENE
GROSSER SAAL. GEPUTZTE HERREN UND
DAMEN, SORGFÄLTIG GRUPPIERT
Der Zeremomenmeister mit einigen Bedie//ten auf dem
Vordergrund.
ZEREMONIENMEISTER. Es ist ein Jammer! Alles geht
zugrund. Die Braten schnm-ren ein. Alle Glückwünsche
stehen ab. Alle Vatermörder legen sich um, wie melan-
136 DICHTUNGEN
cholische Schweinsohren. Den Bauern wachsen die Nägel
und der Bart wieder. Den Soldaten gehn die Locken auf.
Von den zwölf Unschuldigen ist keine, die nicht das hori-
zontale Verhalten dem senkrechten vorzöge. Sie sehen in
ihren weißen Kleidchen aus wie erschöpfte Seidenhasen,
und der Hofpoet grunzt um sie herum wie ein bekümmertes
Meerschweinchen. Die Herrn Offiziere kommen um all
ihre Haltung, und die Hofdamen stehen da wie Gradier -
baue; das Salz kristallisiert an ihren Halsketten.
ZWEITER BEDIENTER. Sie machen es sich wenigstens
bequem; man kann ihnen nicht nachsagen, daß sie auf
den Schultern trügen. Wenn sie auch nicht offenherzig
sind, so sind sie doch offen bis zum Herzen.
ZEREMONIENMEISTER. Ja, sie sind gute Karten vom
türkischen Reich: man sieht die Dardanellen und das
Marmormeer. Fort, ihr Schlingel! An die Fenster! Da
kömmt Ihro Majestät!
König Peter und der Staatsrat treten ein.
PETER. Also auch die Prinzessin ist verschwunden. Hat
man noch keine Spur von unserm geliebten Erbprinzen?
Sind meine Befehle befolgt? Werden die Grenzen beob-
achtet?
ZEREMONIENMEISTER. Ja, Majestät. Die Aussicht
von diesem Saal gestattet uns die strengste Aufsicht. {Zu
dem ersten Bedienten^) Was hast du gesehen?
ERSTER BEDIENTER. Ein Hund, der seinen Herrn
sucht, ist durch das Reich gelaufen.
ZEREMONIENMEISTER {zu einem andern). Und du?
ZWEITER BEDIENTER. Es geht jemand auf der Nord-
grenze spazieren, aber es ist nicht der Prinz, ich könnte
ihn erkennen.
ZEREMONIENMEISTER. Und du?
DRITTER BEDIENTER. Sie verzeihen— nichts.
ZEREMONIENMEISTER. Das ist sehr wenig. Und du?
VIERTER DIENER. Auch nichts.
ZEREMONIENMEISTER. Das ist ebensowenig.
PETER. Aber, Staatsrat, habe ich nicht den Beschluß ge-
faßt, daß meine königliche Majestät sich an diesem Tage
LEONCE UND LENA. DRIITER AKT 137
freuen und daß an ihm die Hochzeit gefeiert werden sollte?
War das nicht unser festester Entschluß:
PRÄSIDENT. Ja, Eure Majestät, so ist es protokolliert
und aufgezeichnet.
PETER. Und würde ich mich nicht kompromittieren,
wenn ich meinen Beschluß nicht ausführte?
PRÄSIDENT. Wenn es anders für Eure Majestät möglich
wäre, sich zu kompromittieren, so wäre dies ein Fall, worin
sie sich kompromittieren könnte.
PETER. Habe ich nicht mein königliches Wort gegeben?
—Ja, ich werde meinen Beschluß sogleich ins Werk setzen,
ich werde mich freuen. {^Er reibt sich die Häjtde.) O, ich
bin außerordentlich froh!
PRÄSIDENT. Wu- teilen sämtlich die Gefühle Eurer Ma-
jestät, soweit es für Untertanen möglich und schicklich ist.
PETER. O, ich weiß mir vor Freude nicht zu helfen. Ich
werde meinen Kammerherren rote Röcke machen lassen,
ich werde einige Kadetten zu Leutnants machen, ich werde
meinen- Untertanen erlauben— aber, aber, die Hochzeit?
Lautet die andere Hälfte des Beschlusses nicht, daß die
Hochzeit gefeiert werden sollte?
PRÄSIDENT. Ja, Eure Majestät.
PETER. Ja, wenn aber der Prinz nicht kommt und die
Prinzessin auch nicht?
PRÄSIDENT. Ja, wenn der Prinz nicht kommt und die
Prinzessin auch nicht — dann — dann —
PETER. Dann, dann?
PRÄSIDENT. Dann können sie sich eben nicht heiraten.
PETER. Halt, ist der Schluß logisch? Wenn— dann— .
Richtig! Aber mein Wort, mein königliches Wort!
PRÄSIDENT. Tröste Eure Majestät sich mit andern
Majestäten. Ein königliches Wort ist ein Ding— ein Ding
— ein Ding — , das nichts ist.
PETER {zu defi Diener ti). Seht ihr noch nichts?
DIE DIENER. Eure Majestät, nichts, gar nichts.
PETER. Und ich hatte beschlossen, mich so zu freuen!
Grade mit dem Glockenschlag zwölf wollte ich anfangen
und wollte mich freuen volle zwölf Stunden — ich werde
ganz melancholisch.
138 DICHTUNGEN
PRÄSIDENT. Alle Untertanen werden aufgefordert, die
Gefühle Ihrer Majestät zu teilen.
ZEREMONIENMEISTER. Denjenigen, welche kein
Schnupftuch bei sich haben, ist das Weinen jedoch An-
standes halber untersagt.
ERSTER BEDIENTER. Halt! Ich sehe was! Es ist
etwas wie ein Vorsprung, wie eine Nase, das übrige ist
noch nicht über der Grenze; und dann seh ich noch einen
Mann, und dann noch zwei Personen entgegengesetzten
Geschlechts.
ZEREMONIENMEISTER. In welcher Richtung?
ERSTER BEDIENTER. Sie kommen näher. Sie gehn auf
das Schloß zu. Da sind sie.
Valerie)^ Leonce, die Gouvernante und die Prinzessin treten
maskiert auf.
PETER. Wer seid Ihr?
VALERIO. Weiß ich's? {Er ninunt langsam hintereinander
mehrere Masken ab.) Bin ich das: oder das? oder das?
Wahrhaftig, ich bekomme Angst, ich könnte m_ich so ganz
auseinanderschälen und blättern.
PETER (verlegen). Aber— aber etwas müßt Ilir denn doch
sein:
VALERIO. Wenn Eure Majestät es so befehlen. Aber,
meine Herren, hängen Sie alsdann die Spiegel herum und
verstecken Sie Ihre blanken Knöpfe etwas, und sehen Sie
mich nicht so an, daß ich mich in Ihren Augen spiegeln
muß, oder ich weiß wahrhaftig nicht mehr, was ich eigent-
lich bin.
PETER. Der Mensch bringt mich in Konfusion, zur De-
speration. Ich bin in der größten Verwirrung.
VALERIO. Aber eigentlich wollte ich einer hohen und
geehrten Gesellschaft verkündigen, daß hiermit die zwei
weltberühmten Automaten angekommen sind, und daß ich
vielleicht der dritte und merkwürdigste von beiden bin,
wenn ich eigentlich selbst recht wüßte, wer ich wäre,
worüber man übrigens sich nicht wundern dürfte, da ich
selbst gar nichts von dem weiß, was ich rede, ja auch
LEONCE UND LENA. DRITTER AKT 139
nicht einmal weiß, daß ich es nicht weiß, so daß es höchst
wahrscheinlich ist, daß man mich nur so reden läßt, und
es eigentlich nichts als Walzen und Windschläuche sind,
die das alles sagen. (Mit schnarre?idem Toni) Sehen Sie
hier, meine Herren und Damen, zwei Personen beiderlei
Geschlechts, ein Männchen und ein Weibchen, einen
Herrn und eine Dame. Nichts als Kunst und Mechanis-
mus, nichts als Pappendeckel und Uhrfedern! Jede hat
eine feine, feine Feder von Rubin unter dem Nagel der
kleinen Zehe am rechten Fuß, man drückt ein klein we-
nig, und die Mechanik läuft volle fünfzig Jahre. Diese
Personen sind so vollkommen gearbeitet, daß man sie
von andern Menschen gar nicht unterscheiden könnte,
wenn man nicht wüßte, daß sie bloße Pappdeckel sind;
man könnte sie eigentlich zu Mitgliedern der menschlichen
Gesellschaft machen. Sie sind sehr edel, denn sie sprechen
Hochdeutsch. Sie sind sehr moralisch, denn sie stehn auf
den Glockenschlag auf, essen auf den Glockenschlag zu
Mittag und gehn auf den Glockenschlag zu Bett; auch
haben sie eine gute Verdauung, was beweist, daß sie ein
gutes Gewissen haben. Sie haben ein feines sittliches Ge-
fühl, denn die Dame hat gar kein Wort für den Begriff
Beinkleider, und dem Herrn ist es rein unmöglich, hinter
einem Frauenzimmer eine Treppe hinauf- oder vor ihm
hinunterzugehen. Sie sind sehr gebildet, denn die Dame
singt alle neuen Opern, und der Herr trägt Manschetten.
Geben Sie acht, meine Herren und Damen, sie sind jetzt
in einem interessanten Stadium: der Mechanismus der
Liebe fängt an sich zu äußern, der Herr hat der Dame
schon einigemal den Schal getragen, die Dame hat schon
einigemal die Augen verdreht und gen Himmel geblickt.
Beide haben schon mehrmals geflüstert: Glaube, Liebe,
Hoffnung! Beide sehen bereits ganz akkordiert aus, es
fehlt nur noch das winzige Wörtchen: Amen.
PP^TER {den Finger an die N'ase legend). In effigie.- in
effigie.- Präsident, wenn man einen Menschen in effigie
hängen läßt, ist das nicht ebensogut, als wenn er ordent-
lich gehängt würde :
PRÄSIDENT. Verzeihen, Eure Majestät, es ist noch viel
I40 DICHTUNGEN
besser, denn es geschieht ihm kein Leid dabei, und er
wird dennoch gehängt.
PETER. Jetzt hab ich's. Wir feiern die Hochzeit in effigie!
[Auf Lena und Leo7ice deutend-^ Das ist die Prinzessin,
das ist der Prinz. — Ich werde meinen Beschluß durchsetzen,
ich werde mich freuen. — Laßt die Glocken läuten! macht
Eure Glückwünsche zurecht! hurtig, Herr Hofprediger!
Der Hofprediger tritt vor^ 7'äuspert sich, blickt einigemal
gen Himmel.
VALERIO. Fang an! Laß deine vermaledeiten Gesichter
und fang an! Wohlauf!
HOFPREDIGER {in der größten Verunrrimg.) Wenn wir
— oder — aber —
VALERIO. Sintemal und alldieweil—
HOFPREDIGER. Denn—
VALERIO. Es war vor Erschaffung der Welt—
HOFPREDIGER. Daß—
VALERIO. Gott Langeweile hatte—
PETER. Machen Sie es nur kurz. Bester.
HOFPREDIGER [sich fassend). Geruhen Eme Hoheit,
Prinz Leonce vom Reiche Popo, und geruhen Eure Ho-
heit, Prinzessin Lena vom Reiche Pipi, und geruhen Eure
Hoheiten gegenseitig, sich beiderseitig einander haben zu
wollen, so sprechen Sie ein lautes und vernehmliches Ja.
LENA und LEONCE. Ja!
HOFPREDIGER. So sage ich Amen.
VALERIO. Gut gemacht, kurz und bündig; so wären denn
das Männlein und Fräulein erschaffen, und alle Tiere des
Paradieses stehen um sie.
Leonce nimmt die Maske ab.
ALLE. Der Prinz!
PETER. Der Prinz! Mein Sohn! Ich bin verloren, ich
bin betrogen! (Er geht auf die Prinzessin los.) Wer ist die
Person? Ich lasse alles für ungültig erklären!
GOUVERNANTE (nimmt der Prinzessin die Maske ab.
triumphierc7id). Die Prinzessin!
LEONCE. Lena.?
LEONCE UND LENA. DRITTER AKT 141
LENA. Leoncer
LEONCE. Ei Lena, ich glaube, das war die Flucht in
das Paradies.
LENA. Ich bin betrogen.
LEONCE. Ich bin betrogen.
LENA. O Zufall!
LEONCE. O Vorsehung!
VALERIO. Ich muß lachen, ich muß lachen. Eure Ho-
heiten sind wahrhaftig durch den Zufall einander zuge-
fallen; ich hoffe, Sie werden dem Zufall zu Gefallen— Ge-
fallen aneinander finden.
GOUVERNANTE. Daß meine alten Augen endlich das
sehen konnten! Ein irrender Königssohn! Jetzt sterb ich
ruhig.
PETER. Meine Kinder, ich bin gerührt, ich weiß mir vor
Rührung kaum zu helfen. Ich bin der glücklichste Mann!
Ich lege aber auch hiermit feierlichst die Regierung in
deine Hände, mein Sohn, und werde sogleich ungestört
zu denken anfangen. Mein Sohn, du überlassest mir diese
Weisen (er deutet auf de?i Staatsrat)^ damit sie mich in
meinen Bemühungen unterstützen. Kommen Sie, meine
Herren, wir müssen denken, ungestört denken! [Er ent-
fernt sich mit dem Staatsrat.) Der Mensch hat mich vor-
hin konfus gemacht, ich muß mir wieder heraushelfen.
LEONCE (zu den Anweseiideii). Meine Herren! Meine
Gemahlin und ich bedauern unendlich, daß Sie uns heute
so lange zu Diensten gestanden sind. Ihre Stellung ist so
traurig, daß wir um keinen Preis Ihre Standhaftigkeit
länger auf die Probe stellen möchten. Gehn Sie jetzt
nach Hause, aber vergessen Sie Ihre Reden, Predigten
und Verse nicht, denn morgen fangen wir in aller Ruhe
und Gemütlichkeit den Spaß noch einmal von vorne an.
Auf Wiedersehn!
(Alle entfernen sich., Leonce, Lena^ Valerio und die Gou-
vernante ausge7wm?nen.)
LEONCE. Nun, Lena, siehst du jetzt, wie wir die Taschen
voll haben, voll Puppen und Spielzeug: Was wollen wir
damit anfangen.- Wollen wir ihnen Schnurrbarte machen
142 DICHTUNGEN
und ihnen Säbel anhängen? Oder wollen wir ihnen Fräcke
anziehen und sie infusorische Politik und Diplomatie trei-
ben lassen, und uns mit dem Mikroskop danebensetzen?
Oder hast du Verlangen nach einer Drehorgel, auf der
die milchweißen ästhetischen Spitzmäuse herumhuschen:
Wollen wir ein Theater bauen? (Lena lehnt sie/i an ihn
und Sihüttelt den Kopf.) Aber ich weiß besser, was du
willst: wir lassen alle Uhren zerschlagen, alle Kalender
verbieten und zählen Stunden und Monden nur nach der
Blumenuhr, nur nach Blüte und Frucht. Und dann um-
stellen wir das Ländchen mit Brennspiegeln, daß es kei-
nen Winter mehr gibt und wir uns im Sommer bis Ischia
und Capri hinaufdestillieren, und das ganze Jahr zwischen
Rosen und Veilchen, zwischen Orangen und Lorbeer
stecken.
VALERIO. Und ich werde Staatsminister, und es wird
ein Dekret erlassen, daß, wer sich Schwielen in die Hände
schafft, unter Kuratel gestellt wird; daß, wer sich krank
arbeitet, kriminalistisch strafbar ist; daß jeder, der sich
rühmt, sein Brot im Schweiße seines Angesichts zu essen,
für verrückt und der menschlichen Gesellschaft gefährlich
erklärt wird; und dann legen wir uns in den Schatten und
bitten Gott um Makkaroni, Melonen und Feigen, um mu-
sikalische Kehlen, klassische Leiber und eine kommende
Religion!
WOyZECK
) 145 c
FREIES FELD, DIE STADT IN DER FERNE
PVoyzeck und Andres schfieiden Stecken im Gebüsch.
WOYZECK. Ja, Andres, der Streif da über das Gras hin,
da rollt abends der Kopf. Es hob ihn einmal einer auf,
er meint', es war ein Igel: drei Tag und drei Nacht, und
er lag auf den Hobelspänen. {Leise-.) Andres, das waren
die Freimaiurer, ich hab's, die Freimaurer. Still!
ANDRES {singt). Saßen dort zwei Hasen,
Fraßen ab das grüne, grüne Gras . . .
WOYZECK. Still! es geht was!
ANDRES. Fraßen ab das grüne, grüne Gras
Bis auf den Rasen.
WOYZECK. Es geht hinter mir, unter mir. {Stampft auf
den Bode?i:) Hohl, hörst du.' alles hohl da unten. Die
Freimaurer!
ANDRES. Ich furcht mich.
WOYZECK. 's ist so kurios still. Man möcht den Atem
halten. Andres!
ANDRES. Was.^
WOYZECK. Red was! {Starrt in die Gegend.) Andres!
wie hell! Ein Feuer fährt um den Himmel und ein Getös
herunter wie Posaunen. Wie's heraufzieht! — Fort! Sieh
nicht hinter dich {reißt ihn ins Gebüsch)]
ANDRES {?iach eiiter Pause). Woyzeck, hörst du's noch:
WOYZECK. Still, alles still, als war die Welt tot.
ANDRES. Hörst du: Sie trommeln drin. Wir müssen fort!
[DIE STADT]
Marie {mit iJire^n Kind am Fenster), Margret.
Der Zapfenstreich geht vorbei , der Tambourmajor voran.
MARIE {das Kind wippend auf dem Arm.) He, Bub! Sa
ra ra ra! Hörst: Da kommen sie!
MARGRET. Was ein Mann, wie ein Baum!
MARIE. Er steht auf seinen Füßen wie ein Low. {Tam-
bourmajor grüßt. )
MARGRET. Ei, was freundliche Auge, Frau Nachbarin!
So was is man an ihr nit gewöhnt.
MARIE {singt). Soldaten das sind schöne Bursch . . .
BÜCHNER IC.
146 DICHTUNGEN
MARGRET. Ihre Auge glänze ja noch —
MARIE. Und wenn! Trag Sie ihre Auge zum Jud, und
laß Sie sie putze; vielleicht glänze sie noch, daß man sie
für zwei Knöpf verkaufe könnt.
MARGRET. Was Sie? Sie.- Frau Jungfer, ich bin eine
honette Person, aber Sie, Sie guckt sieben paar lederne
Hose durch.
MARIE. Luder! [Schlägt das Fenster diirc/i.)Y^omm.^ mcm
Bub! Was die Leut wollen. Bist doch nur ein arm Huren-
kind und machst deiner Mutter Freud mit deim unelirliche
Gesicht! Sa! sa! {Singt-)
Mädel, was fängst du jetzt an?
Hast ein klein Kind und kein' J\Iann!
Ei, was frag ich danach?
Sing ich die ganze Nacht
Heio, popeio, mein Bu juclilie!
Gibt mir kein Mensch nix dazu,
Hansel, spann deine sechs Schimmel an,
Gib ihn' zu fresse aufs neu!
Kein Haber fresse sie,
Kein Wasser saufe sie,
Lauter kühle Wein muß es sein, juchhe!
Lauter kühle Wein muß es sein.
(Es klopft am Fenster)
MARIE. Wer da? Bist du's, Franz? Komm herein!
WOYZECK. Kann nit. Muß zum Verles.
MARIE. Was hast du, Franz?
WOYZECK {geheimnisvoll). Marie, es war wieder was,
viel — steht nicht geschrieben: Und sieh, da ging ein
Rauch vom Land, wie der Rauch vom Ofen?
MARIE. Mann!
WOYZECK. Es ist hinter mir hergangen bis vor die
Stadt. Was soll das werden?
MARIE. Franz!
WOYZECK. Ich muß fort. {Ergeht.)
MARIE. Der Mann! So vergeistert. Er hat sein Kind
nicht angesehn! Er schnappt noch über mit den Ge-
danken! Was bist so still, Bub? Furchtst dich? Es wird
WOYZECK 147
so dunkel; man meint, man war blind. Sonst scheint
als die Latern herein. Ich halt's nicht aus; es schauert
mich! [Geht ab.)
BUDEN; LICHTER
Volk.
9Jiar!t[d)reier i>ov einer iBube. W{.<ix\\t $erren, meine Ferren!
(3el)n Sie bic 5\veatur, mt fie ©oü öeruadit: nix, gar mx.
(rel)n Sie jetjt bie .^unft: gel)t Qufred)t, T)Qt ^odE imb $ojen,
I)Qt ein Säbel! 9)o\ 9L)Mc^ .Kompliment! 80— biit Saron.
(5ib .Ku^! (ffr trompetet:) 9Bid)t i[t mujüalifii). 9;)^einc Ferren,
I)ter ift 3U fet)en bas a[tronomtf(f)e ^ferb unb bie üeine 5^anatne=
nögele. 3it S^aöorit r»on alle ge!rönte Rauptet. I)ie ^apräfen*
tation anfangen! 9Jlan madft Einfang üon Einfang. (£5 iDirb
[ogleit^ [ein bas (lommencement pon dommencement.
aBoi)3ed. äBillft bu?
9J?arte. lUZeinettoegen. Das mufe f^ön Dings [ein. äBas ber
9[I?en[d) Qua[ten t)at! Unb bie ^-rau I)at -§o[en!
^^ambourmajor. $alt, je^t! Siel)[t bu [ie? äBas ein
äBeibsbilb!
H n t e r 0 f f i 3 i e V. 3:eufel! 3um ^yortpflansen üon 5lüra[[iev*
regtntentern.
[3:ambourmaior.] Unb 3ur 3ii<i)t üon Xambourmajovs.
Untei-offi3ier. äl>ie [ie ben 5^opf trägt! man meint, 'h(x^^
[d)CDar3e §aar müf^t [ie abwärts 3iel)n ujie ein C6eir)id)t. Unb
fingen—
3:ambour major, ^tls ob man in ein 3iß^^runnen ober 3n
einem S(^oni[tein I)inunter gudt. O^ort, ^interbrein!—
Das 3nnere ber ^ube
[93orfüf)rer.] 3^^9 ^^^^^ Xalent! 3eig behie üiel)i[d)e 33er=
nünftigfeit! $ße[d)äme bie men[cE)lid)eSo3ietät! 9[)ieine Ferren,
bies 3^ier, coas Sie ha [ef)n, Sd)Doan3 am £eib, auf [eine oier
$ufe, i[t 9JiitgIieb üon alle gelel)rte So3ietät, ift ^rofeffor
an un[re Uniüer[ität, roo bie Stubente bei i!)m reiten unb
[d)Iagen lernen. — Das coar einfa^er 3]er[tanb. Den! je^t mit
ber boppelten 9?ai[on! äBas mad)[t bu, toann bu mit ber bop^
pelten 9iai[on benfft? 3it unter ber gelet)rten Societe ha ein
148 DICHTUNGEN
(£[el? (Der ©auifc^üttcitbcn Ropf.) Qt\)n Sie jc^t bte boppcitc
9?ai[on? X)a5 ift 93iet)[toitomt!. ^a, bas i[t !etn utefibummes 3^1*
bbibuum, bas t[t ein ^er[on, ein 9J^en[c^, ein tierifd)er SOZenfd) — ,
Unb bod) ein 93ief), ein ^ete (bas iPferb fü^rt ]id) ungcbüFjrUd)
auf). So, befd)äme bie Societe. Set)n Sie, bas 33ief) ift noä)
$Ratur, unibeale 9ktur! fiernen Sie bei i^m! (fragen Sie
ben ^rgt, es ijt [[onjt] \)ö6)\i fd)äbli(i)! Das l)at get)eifeen:
9J?en[d), [ei natürtid^ ! X)n bift ge[d)affen Staub, Sanb, t)red.
3Bin[t bu mel)r [ein als Staub, Sanb, X)rec!? Set)n Sie, iwas
35ernunft: es !ann rect)nen unb !ann boci) nit an ben i^iTiÖ^i^"
l)er5ät)len. 3Barum? i^ann fict) nur nit ausbrücfen, nur nit
eiplisieren— i[t ein oeriDanbelter S[Ren[^! Sag t)m Ferren,
rDieuiel Ut)r es ijt. 2ßer t)on htn ^^xx^n unb I)amen I)at ein
n\)x, ein Ut)r?
Hnteroffijier. (Eine Ut)r? Ote^t großartig imb gemeHcn eine Kf)r
aus bcr xojd)c:) Da, mein §err!
[äRarie.] 2)as mufe id) [el^n. (Sle riettert ouf ben erften «piati;
Hnterofftsier l^ilft xf)X.)
[!tambour major.] Das i[t ein ilBeibsbilb!
[SlRariens 5^ammer]
MARIE (sifzt, ihr Kmd auf dem Schoß, ein Stückchen
Spiegel in der Hand-, bespiegelt sicH). Was die Steine glän-
zen! Was sind's für? was hat er gesagt? Schlaf, Bub!
Drück die Auge zu, fest! (Das Kind versteckt die Augen
hiftter den Händen.) Noch fester! Bleib so— still oder er
holt dich! (Singt:)
Mädel, mach's Ladel zu,
's kommt e Zigeunerbu,
Führt dich an deiner Hand
Fort ins Zigeunerland.
(Spiegelt sich wieder.) 's ist gewiß Gold! Unsereins hat
nur ein Eckchen in der Welt und ein Stückchen Spiegel,
und doch hab ich einen so roten Mund als die großen
Madamen mit ihren Spiegeln von oben bis unten und
ihren schönen Herrn, die ihnen die Hand küssen. Ich bin
nur ein arm Weibsbild — (das Ki?id richtet sich auf\) Still,
Bub, die Auge zu! Das Schlafengelchen! wie's an der
WOYZECK 149
Wand läuft (sie blinkt 7nit de7n Glas)—iS\Q Auge zu, oder
es sieht dir hinein, daß du blind wirst!
Woyzeck tritt he^-ein^ hinter sie. Sie führt ai/f mit den
Händen nach den Ohren.
WOYZECK. Was hast du?
MARIE. Nix.
WOYZECK. Unter deinen Fingern glänzt's ja.
MARIE. Ein Ohrringlein; hab's gefunden.
WOYZECK. Ich hab so noch nix gefunden, zwei auf ein-
mal!
MARIE. Bin ich ein Mensch:
WOYZECK. 's ist gut, Marie.— Was der Bub schläft! Greif
ihm unters Ärmchen, der Stuhl drückt ihn. Die hellen
Tropfen stehn ihm auf der Stirn; alles Arbeit unter der
Sonn, sogar Schweiß im Schlaf. Wir arme Leut! Da is
wieder Geld, Marie; die Löhnung und was von mein'm
Hauptmann.
MARIE. Gott vergelt's. Franz.
W^OYZECK. Ich muß fort. Heut Abend, Marie! Adies!
MARIE (allein, nach einer Pause). Ich bin doch ein schlecht
Mensch! Ich könnt mich erstechen. — Ach! was Welt!
Geht doch alles zum Teufel, Mann und Weib!
[^eim §auptmann]
Hauptfnann auf einem Stuhl; Woyzeck rasiert ihn.
HAUPTMANN. Langsam, Woyzeck, langsam; eins nach
dem andern! Er macht mir ganz schwindlich. Was soll
ich dann mit den zehn Minuten anfangen, die Er heut
zu früh fertig wird: Woyzeck, bedenk Er, Er hat noch
seine schöne dreißig Jahr zu leben, dreißig Jahr! macht
360 Monate, und Tage, Stunden, Minuten! Was will Er
denn mit der ungeheiuren Zeit all anfangen: Teil Er sich
ein, Woyzeck!
WOYZECK. Jawohl, Herr Hauptmann,
HAUPTMANN. Es wird mir ganz angst um die Welt,
wenn ich an die Ewigkeit denke. Beschäftigung, Woyzeck,
Beschäftigimg! ewig, das ist ewig, das ist ewig— das siehst
ISO DICHTUNGEN
du ein; nun ist es aber wieder nicht ewig, und das ist ein
Augenblick, ja, ein Augenblick — Woyzeck, es schaudert
mich, wenn ich denke, daß sich die Welt in einem Tag
herumdreht! Was 'n Zeitverschwendung! Wo soll das hin-
aus? Woyzeck, ich kann kein Mühlrad mehr sehn, oder
ich werd melancholisch.
WOYZECK. Jawohl, Herr Hauptmann.
HAUPTMANN. Woyzeck, Er sieht immer so verhetzt
aus! Ein guter Mensch tut das nicht, ein guter Mensch,
der sein gutes Gewissen hat. — Red Er doch was, Woyzeck!
Was ist heut für Wetter:
WOYZECK. Schlimm, Herr Hauptmann, schlimm; Wind!
HAUPTMANN. Ich spür 's schon, 's ist so was Geschwin-
des draußen; so ein Wind macht mir den Effekt wie eine
Maus. [Fßfßg:] Ich glaub, wir haben so was aus Süd-Nord,
WOYZECK. Jawohl, Herr Hauptmann.
HAUPTMANN. Ha! ha! ha! Süd-Nord! Ha! ha! ha! O,
Er ist dumm, ganz abscheulich dumm! [Gerührt-?) Woy-
zeck, Er ist ein guter Mensch — aber {i}iit Würde) Woyzeck,
Er hat keine Moral! Moral, das ist, wenn man moralisch
ist, versteht Er. Es ist ein gutes Wort. Er hat ein Kind,
ohne den Segen der Kirche, wie unser hochehrwürdiger
Herr Garnisonsprediger sagt, ohne den Segen der Kirche,
es ist nicht von mir.
WOYZECK. Herr Hauptmann, der liebe Gott wird den
armen Wurm nicht drum ansehen, ob das Amen drüber
gesagt ist, eh er gemacht wurde. Der Herr sprach: Lasset
die Kleinen zu mir kommen.
HAUPTMANN. Was sagt Er da? Was ist das für eine
kuriose Antwort? Er macht mich ganz konfus mit seiner
Antwort. Wenn ich sag: Er, so mein ich ihn, ihn . . .
WOYZECK. Wir arme Leut . . . Sehn Sie, Herr Haupt-
mann: Geld, Geld! Wer kein Geld hat . . . Da setz ein-
mal eines seinesgleichen auf die Moral in die Welt. Man
hat auch sein Fleisch und Blut. Unseins ist doch einmal
unselig in der und der andern Welt. Ich glaub, wenn wir
in Himmel kämen, so müßten wir donnern helfen.
HAUPTMANN. Woyzeck, Er hat keine Tugend, Er ist
kein tugendhafter Mensch. Fleisch und Blut? Wenn ich
WOYZECK 151
am Fenster lieg, wenn's geregnet hat, und den weißen
Strümpfen so nachseh, wie sie über die Gassen springen
— verdammt, Woyzeck — , da kommt mir die Liebe. Ich
hab auch Fleisch und Blut. Aber, Woyzeck, die Tugend,
die Tugend! Wie sollte ich dann die Zeit herumbringen:
Ich sag mir immer: du bist ein tugendhafter Mensch, [ge-
rührt) ein guter Mensch, ein guter Mensch.
WOYZECK. Ja, Herr Hauptmann, die Tugend, ich hab's
noch nicht so aus. Sehn Sie, wir gemeine Leut, das hat
keine Tugend, es kommt einem nur so die Natiu:; aber
wenn ich ein Herr war und hätt einen Hut und eine Uhr
und eine Anglaise und könnt vornehm reden, ich wollt
schon tugendhaft sein. Es muß was Schönes sein um die
Tugend, Herr Hauptmann. Aber ich bin ein armer Kerl.
HAUPTMANN. Gut, Woyzeck. Du bist ein guter Mensch,
ein guter Mensch. Aber du denkst zu viel, das zehrt; du
siehst immer so verhetzt aus. — Der Diskurs hat mich ganz
angegriffen. Geh jetzt, und renn nicht so; langsam, hübsch
langsam, die Straße hinunter!
L'Q3or 9Jlartens i^ammerVJ
Marie. Tambourmajor.
TAMBOURMAJOR. Marie!
MARIE {ihn ansehend^ mit Ausdruck). Geh einmal vor
dich hin!— Über die Brust wie ein Rind imd ein Bart wie
ein Low. So ist keiner! — Ich bin stolz vor allen Weibern.
TAMBOURMAJOR. Wenn ich am Sonntag erst den
großen Federbusch hab und die weiße Handschuh, Donner-
wetter! Der Prinz sagt immer: Mensch, Er ist ein Kerl!
MARIE (spöttisch). Ach was! {Tritt vor ihn hin-) Mann!
TAMBOURMAJOR. Und du bist auch ein Weibsbild.
Sapperment, wir wollen eine Zucht von Tamboiurmajors
anlegen. Her {Er umfaßt sie.)
MARIE {verstimmt). Laß mich!
TAMBOURMAJOR. Wild Tier!
MARIE {heftig). Rühr mich an!
TAMBOURMAJOR. Sieht dir der Teufel aus den Augen:
MARIE. Meinetwegen. Es ist alles eins.
152 DICHTUNGEN
[9Jlarlen$ i^ammer]
Marie. Woyzeck.
FRANZ (sieht sie starr an und schüttelt de^i Kopf). Hm!
Ich seh nichts, ich seh nichts. O, man müßt's sehen, man
müßt's greifen könne mit Fäusten.
MARIE (verschüchtert). Was hast du, Franz? Du bist hirn-
wütig, Franz.
FRANZ. Eine Sünde, so dick und so breit — es stinkt, daß
man die Engelchen zum Himmel hinaus räuchern könnt.
Du hast ein roten Mund, Marie. Keine Blase drauf? Wie,
Marie, du bist schön wie die Sünde — kann die Todsünde
so schön sein?
MARIE. Franz, du redst im Fieber.
FRANZ. Teufel! — Hat er da gestanden, so, so?
MARIE. Dieweil der Tag lang und die Welt alt ist, kön-
nen viel Menschen an einem Platz stehn, einer nach dem
andern.
WOYZECK. Ich hab ihn gesehn.
MARIE. Man kann viel sehn, wenn man zwei Augen hat
und nicht blind ist und die Sonn scheint.
WOYZECK. 'mtxxW (®c^t auf |ic los.)
MARIE. '^\\\-)X mic^ an, %xmi\ 5d) f)ätt Heber ein SJlcffer in
ben £etb als beinc ^anb auf meiner.
WOYZECK. Sßcib!— 5iein, es mü^te tüas o^n bir fein! Scber
2Uen[d) i[t ein ^(bgrunb; es [cf)o:)inbelt einem, roenn man f)in=
ab|ief)t.
[iBetm DoÜor]
Woyzeck. Der Doktor.
DOKTOR. Was erleb ich, Woyzeck? Ein Mann von Wort!
WOYZECK. Was denn, Herr Doktor?
DOKTOR. Ich hab's gesehn, Woyzeck; Er hat auf die
Straß gepißt, an die Wand gepißt, wie ein Hund— und
doch drei Groschen täglich! Woyzeck, das ist schlecht;
die Welt wird schlecht, sehr schlecht.
WOYZECK. Aber Herr Doktor, wenn einem die Natur
kommt.
DOKTOR. Die Natur kommt, die Natur kommt! Die
Natur! Hab ich nicht nachgewiesen, daß der Musculus
WOYZECK 153
constrictor vesicae dem Willen unterworfen ist? Die Na-
tur! Woyzeck, der Mensch ist frei, in dem Menschen
verklärt sich die Individualität zur Freiheit. Den Harn
nicht halten können! (schüttelt den Kopf^ legt die Hände
auf den Ritcken und geht auf und ab.) Hat Er schon seine
Erbsen gegessen, Woyzeck: Es gibt eine Revolution in der
Wissenschaft, ich sprenge sie in die Luft. Harnstoff 0,10
salzsaures Ammonium, Hyperoxydul — Woyzeck, muß Er
nicht wieder pissen? Geh Er einmal hinein und probier Er's!
WOYZECK. Ich kann nit, Herr Doktor.
DOKTOR {mit Affekt). Aber an die Wand pissen! Ich
hab's schriftlich, den Akkord in der Hand. Ich hab's ge-
sehn, mit diesen Augen gesehn — ich steckt grade die Nase
zum Fenster hinaus und ließ die Sonnenstrahlen hinein
fallen, um das Niesen zu beobachten. ( Tritt auf ihn los:)
Nein, Woyzeck, ich ärgre mich nicht; Ärger ist ungesund,
ist unwissenschaftlich. Ich bin ruhig, ganz ruhig; mein
Puls hat seine gewöhnlichen 60, und ich sag's Ihm mit
der größten Kaltblütigkeit. Behüte, wer wird sich über
einen Menschen ärgern, ein' Menschen! Wenn es noch
ein Proteus wäre, der einen betrügt! Aber, Woyzeck,
Er hätte doch nicht an die W^and pissen sollen—
WOYZECK. Sehn Sie, Herr Doktor, manchmal hat einer
so 'en Charakter, so 'ne Struktur. — Aber mit der Natur
ist's was anders, sehn Sie; mit der Natur [er kracht mit
denFingern), das ist so was, wie soll ich doch sagen, z. B
DOKTOR. Woyzeck, Er philosophiert wieder.
WOYZECK {vertraulich). Herr Doktor, haben Sie schon
was von der doppelten Natur gesehn? Wenn die Sonn in
Mittag steht und es ist, als ging' die W^elt in Feuer auf,
hat schon eine fürchterliche Stimme zu mir geredt!
DOKTOR. Woyzeck, Er hat eine Aberratio.
WOYZECK {legt den Finger an die Nase). Die Schwämme,
Herr Doktor, da, da steckt's. Haben Sie schon gesehn,
in was für Figuren die Schwämme auf dem Boden wach-
sen? Wer das lesen könnt!
DOKTOR. Woyzeck, Er hat die schönste Aberratio men-
talis partialis, die zweite Spezies, sehr schön ausgeprägt.
Woyzeck, Er kriegt Zulage. Zweite Spezies, fixe Idee mit
154 DICHTUNGEN
allgemein vernünftigem Zustand.— Er tut noch alles wie
sonst, rasiert seinen Hauptmann?
WOYZECK. Jawohl.
DOKTOR. Ißt seine Erbsen:
WOYZECK. Immer ordentlich, Herr Doktor. Das Geld
für die Menage kriegt meine Frau.
DOKTOR. Tut seinen Dienst.;^
WOYZECK. Jawohl.
DOKTOR. Er ist ein interessanter Kasus. . Subjekt Woy-
zeck, Er kriegt Zulage, halt Er sich brav! Zeig Er seinen
Puls. Ja.
[STRASSE]
Hauptmann. Doktor.
\Hauptmann keucht die Straße herunter^ hält an] keucht^
sieht sich um.]
HAUPTMANN. Herr Doktor, die Pferde machen mir ganz
angst, wenn ich denke, daß die armen Bestien zu Fuß
gehen müssen. — Rennen Sie nicht so! Rudern Sie mit
Ihrem Stock nicht so in der Luft! Sie hetzen sich ja hinter
dem Tod drein. Ein guter Mensch, der sein gutes Ge-
wissen hat, geht nicht so schnell. Ein guter Mensch (^er
erwischt den Doktor am Rock-.) Herr Doktor, erlauben
Sie, daß ich ein Menschenleben rette; Sie schießen . . .
Herr Doktor, ich bin so schwermütig, ich habe so was
Schwärmerisches; ich muß immer weinen, wenn ich mei-
nen Rock an der Wand hängen sehe — da hängt er.
DOKTOR. Hm! aufgedunsen, fett, dicker Hals, apoplek-
tische Konstitution. Ja, Herr Hauptmann, Sie können eine
Apoplexia cerebri kiüegen; Sie können sie aber vielleicht
auch nur auf der einen Seite bekommen und dann auf der
einen gelähmt sein, oder aber Sie können im besten Fall
geistig gelähmt werden und nur fort vegetieren: das sind so
ohngefähr Ihre Aussichten auf die nächsten vier Wochen!
Übrigens kann ich Sie versichern, daß Sie einen von den
interessanten Fällen abgeben, und wenn Gott will, daß
Ihre Zunge zum Teil gelähmt wird, so machen wir die un-
sterblichsten Experimente.
HAUPTMANN. Herr Doktor, erschrecken Sie mich nicht;
WOYZECK 155
es sind schon Leute am Schreck gestorben, am bloßen
hellen Schreck.— Ich sehe schon die Leute mit den Zi-
tronen in den Händen: aber sie werden sagen, er war ein
guter Mensch, ein guter Mensch — Teufel Sargnagel.
DOKTOR. Was ist das, Herr Hauptmann:— Das ist Hohl-
kopf!
HAUPTMANN (macht eine Falte). Was ist das, Herr
Doktor: — Das ist Einfalt.
DOKTOR. Ich empfehle mich, geehrtester Herr Exerzier -
zagel.
HAUPTMANN. Gleichfalls, bester Herr Sargnagel.
DIE WACHTSTUBE
Woyzeck, Andres.
ANDRES [singt).
Frau AVirtin hat ne brave Magd,
Sie sitzt im Garten Tag und Nacht,
Sie sitzt in ihrem Garten . . .
WOYZECK. Andres!
ANDRES. Nu:
WOYZECK. Schön AVetter.
ANDRES. Sonntagsonnwetter— Musik vorder Stadt. Vorhin
sind die Weibsbilder hinaus; die Mensche dampfe, das geht!
WOYZECK {unruhig). Tanz, Andres, sie tanze!
ANDRES. Im Rössel und in Sternen.
WOYZECK. Tanz, Tanz!
ANDRES. Meintwege.
Sie sitzt in ihrem Garten,
Bis daß das Glöcklein zwölfe schlägt.
Und paßt auf die Solda — aten.
WOYZECK. Andres, ich hab kein Ruh.
ANDRES. Narr!
WOYZECK. Ich muß hinaus. Es dreht sich mir vor den
Augen. Tanz, Tanz! Wird sie heiße Hand habe! Ver-
dammt, Andres!
ANDRES. Was willst du:
WOYZECK. Ich muß fort, muß sehen.
ANDRES. Mit dem Mensch!
WOYZECK. Ich muß hinaus, "s ist so heiß dahie.
156 DICHTUNGEN
WIRTSHAUS
Die Fenster offen ^ Tanz. Bänke vor dem Haus. Bursche.
1. HANDWERKSBURSCH.
Ich hab ein Hemdlein an, das ist nicht mein;
Meine Seele stinkt nach Branndewein —
2. HANDWERKSBURSCH. Bruder, soll ich dir aus
Freundschaft ein Loch in die Natiu" machen: Vorwärts!
Ich will ein Loch in die Natur machen! Ich bin auch
ein Kerl, du weißt— ich will ihm alle Flöh am Leib tot-
schlagen.
I. HANDWERKSBURSCH. Meine Seele, meine Seele
stinkt nach Branndewein!— Selbst das Geld geht in Ver-
wesung über! Vergißmeinnicht, wie ist diese Welt so
schön! Bruder, ich muß ein Regenfaß voll greinen! Ich
wollt, unsre Nasen wären zwei Bouteillen, und wir könn-
ten sie uns einander in den Hals gießen.
ANDRE (im Chor).
Ein Jäger aus der Pfalz
Ritt einst diurch einen grünen Wald.
Halli, hailoh, ha lustig ist die Jägerei
Allhier auf grüner Heid.
Das Jagen ist mei Freud.
( Woyzeck stellt sich ans Fenster. Marie und der Tambour-
major tanzen vorbei^ ohne ihn zu bemerken^
WOYZECK. Er! Sie! Teufel!
MARIE (/;// Vorbeitanzen). Immer zu, immer zu —
WOYZECK (erstickt). Immer zu — immer zu! (fährt heftig
auf und sinkt zurück auf die Bank-?) immer zu, immer zu!
(Schlägt die Hände ineinander.) Dreht euch, wälzt euch!
Warum bläst Gott nicht die Sonn aus, daß alles in Un-
zucht sich übereinander wälzt, Mann und Weib, Mensch
und Vieh. Tut's am hellen Tag, tut's einem auf den Hän-
den wie die Mücken! — Weib — das Weib ist heiß, heiß! —
Immer zu, immer zu! (Fährt auf:) Der Kerl, wie er an
ihr herumgreift, an ihrem Leib! Er, er hat sie wie ich zu
Anfang.
I. liK^D^NERK^mjK^CB. (predigt auf dem Tisch). Je-
doch, wenn ein Wandrer, der gelehnt steht an dem Strom
der Zeit oder aber sich die göttliche Weisheit beantwortet
WOYZECK 157
und sich anredet: Warum ist der Mensch: AVarum ist
der Mensch:— Aber wahrlich, ich sage Euch, von was
hätte der Landniann, der Weißbinder, der Schuster, der
Arzt leben sollen, wenn Gott den Menschen nicht ge-
schaffen hätte: Von was hätte der Schneider leben sollen,
wenn er dem Menschen nicht die Empfindung der Scham
eingepflanzt hätte, von was der Soldat, wenn er ihn nicht
mit dem Bedürfnis sich totzuschlagen ausgerüstet hätte :
Darum zweifelt nicht — ja, ja, es ist lieblich und fein, aber
alles Irdische ist übel, selbst das Geld geht in Verwesung
über.— Zum Beschluß, meine geliebten Zuhörer, laßt uns
noch übers Kreuz pissen, damit ein Jud stirbt!
FREIES FELD
WOYZECK. Immer zu! immer zu! Still, Musik! {reckt
sich gegen den Boden-?) Ha! was, was sagt ihr.^ Lauter!
lauter! Stich, stich die Zickwölfin tot.-— stich, stich die—
Zickwölfin tot! — Soll ich: muß ich: Hör ich's da auch,
sagt's der Wind auch: Hör ich's immer, immer zu: stich
tot, tot!
[EIN ZIMMER in ber i^aferne]
Nacht. Andres und Woyzeck in einem Bett.
WOYZECK (schüttelt Andres). Andres! Andres! ich kann
nit schlafen! Wenn ich die Aug zumach, dreht sich's im-
mer, und ich hör die Geigen, immer zu, immer zu. Und
dann spricht's aus der Wand. Hörst du nix:
ANDRES. Ja — laß sie tanzen! Einer ist müd, und dann
Gott behüt uns, Amen.
WOYZECK. Es redt immer: stich! stich! und zieht mir
zwischen den Augen wie ein Messer —
ANDRES. Du mußt Schnaps trinken und Pulver drin, das
schneidt das Fieber.
WIRTSHAUS
Tambourmajor. Woyzeck. Leute.
TAMBOURMAJOR. Ich bin ein Mann! (schlägt sich auf
die Brust-) ein Mann, sag ich. AVer will was: AVer kein
158 DICHTUNGEN
besoffner Herrgott ist, der laß sich von mir. Ich will ihm
die Nas ins Arschloch prügeln. Ich will— (0// JVoyzeck:)
Du Kerl, sauf! Ich wollt, die Welt war Schnaps, Schnaps
— der Mann muß saufen!
WOYZECK {pfeift).
TAMBOURMAJOR. Kerl, soll ich dir die Zung aus dem
Hals ziehn und sie um den Leib herumwickeln? {Sie
ringen, IVoyzeck verliert}^ Soll ich dir noch so viel Atem
lassen als 'en Altweiberfurz, soll ich?
WOYZECK {setzt sich erschöpft zitternd auf eine Bank).
TAMBOURMAJOR. Der Kerl soll dunkelblau pfeifen.
Branndewein, das ist mein Leben,
Branndwein gibt Courage!
EINE. Der hat sein Fett.
ANDRE. Erblut'.
WOYZECK. Eins nach dem andern.
[ilramlabenj
Woyzeck. Der Jude.
W'OYZECK. Das Pistolchen ist zu teuer.
JUDE. Nu, kauft's oder kauft's nit, Avas is?
WOYZECK. Was kost' das Messer?
JUDE, 's ist ganz grad. Wollt Ihr Euch den Hals mit
abschneiden? Nu, was is es? Ich geb's Euch so wohl-
feil wie ein andrer. Ihr sollt Euern Tod wohlfeil haben,
aber doch nit umsonst. Was is es? Er soll einen öko-
nomischen [?] Tod haben,
W^OYZECK. Das kann mehr als Brot schneiden —
JUDE. Zwee Grosche.
WOYZECK. Da! {Geht ah.)
JUDE. Da! Als ob's nichts war! Und es is doch Geld—
der Hund!
[93Iarien5 i^ammer]
MARIE {allein, blättert in der Bibel). ''Und ist kein Be-
trug in seinem Munde erfunden" . . . Herrgott, Herrgott!
Sieh mich nicht an! {Blättert weiter-^ ''Aber die Pharisäer
brachten ein Weib zu ihm, im Ehebruch begriffen, und
stelleten sie ins Mittel dar. Jesus aber sprach: So ver-
WOYZECK 159
dämme ich dich auch nicht. Geh hin und sündige hin-
fort nicht mehr!" [Sc/ilägt die Hände zusanwiew) Herr-
gott! Herrgott! Ich kann nicht! — Herrgott, gib mir nur
so viel, daß ich beten kann. [Das Kind drängt sich an sie.)
Das Kind gibt mir einen Stich ins Herz. Karl! Das brüst'
sich in der Sonne! (N'arr liegt und ef'zählt sich Mäixhe?!
an den Finge?!!: Der hat die goldne Krön, der Herr Kö-
nig— Morgen hol ich der Frau Königin ihr Kind — Blut-
wurst sagt: komm Leberwurst. — Er nimmt das Kind und
7üird still.) — Der Franz ist nit gekommen, gestern nit, heut
nit. Es wird heiß hier! [Sie macht das Fenster auf.) — ''Und
trat hinein zu seinen Füßen und weinete, und fing an seine
Füße zu netzen mit Tränen und mit den Haaren ihres
Hauptes zu trocknen, und küssete seine Füße und salbete
sie mit Salben . . .'' (Schlägt sich auf die Brust-?) Alles tot!
Heiland! Heiland! ich möchte dir die Füße salben!—
KASERNE
Andres. Woyzeck kramt in seinen Sachen.
WOYZECK. Das Kamisolchen, Andres, ist nit zur Mon-
tui": du kannst's brauchen. Andres. Das Kreuz ist meiner
Schwester und das Ringlein; ich hab auch noch ein Hei -
ligen, zwei Herze und schön Gold — es lag in meiner Mutter
Bibel, und da steht:
Herr! wie dein Leib war rot und wund,
So laß mein Herz sein aller Stund.
Mein Mutter fühlt nur noch, wenn ihr die Sonn auf die
Hand scheint— das tut nix.
ANDRES (gajiz stai-r^ sagt zu allem): Jawohl.
WOYZECK {zieht ein Papier hervor). Friedrich Johann
Franz Woyzeck, Wehrmann, Füsilier im 2. Regiment,
2. Bataillon, 4. Kompagnie, geb. Maria Verkündigung d.
20. Juli— ich bin heut alt 30 Jalu-, 7 Monat und i 2 Tage.
ANDRES. Franz, du kommst ins Lazarett. Armer, du mußt
Schnaps trinken und Pulver drin, das tot' das Fieber.
WOYZECK. Ja, Andres, wenn der Schreiner die Hobel-
späne sammelt, es weiß niemand, wer seinen Kopf drauf-
legen wird.
i6o DICHTUNGEN
[3Beg 3um Xtid)]
9Jiarie unb 2Boi)3e(!.
9J?arie. ^I[o bort f)mau5 ift bie etabt. 's ift finfter.
2ßo:)3etf. I)u [olljt noc^ bleiben. 5^omm, [e^ bid)!
95?orie. "Kber id^ miife fort.
2Bor)3ec!. t)u iüxr[t bir bie güf^ ni^t roimb laufen.
ÜJlarie. 2Bie bi[t bu mir audf)?
2Boi)3ed. SBeifet bu auc^, ü3ie lang' es juft i[t, 9JZaric?
9[Rarie. ^m "ipfinglten jroei ^a\)x.
2Boi)3e(i. 3Beifet bu aud), roie lang' es noc^ fein rotrb?
95iarie. ^d) mufe fort, bas 9Zad)teffen richten.
2Bor)3ec!. ^yriert's bid), SÜkrie? Unb bod) bi[t bu marnt —
roas bu I)eifee fiippen I)aft! I)eife l)eifeen §urenatem! . . . 2Benn
man !alt ift, fo friert man nid)t mel)r; bu toirft oom 9J?orgen=
tau nid)t frieren.
SJ^arie. 2Ba5 [agft bu?
2Boi)3ed. 9li3E.
(S(i)H) eigen.)
SJtarie. SBas ber 9J?onb rot aufget)t!
2Boi)3ed. 3Bie ein blutig (£i[en.
SlKarie. 2Bas ))a]i bu cor? (^rans» i>u bift fo btafe.— t^rang,
\)a\t ein! Hm bes ^immels töillen, ^ülfe, §ülfe!
aBoi)3ed. 91imm bas unb bas!— 5lannft bu nid)t fterbcn?
So! fo!— §a, fie 3udt nod)— nod) nid)t? nod) nid)t? S^nmer
nod)? (itöfet 3u)— 5Bi|t bu tot? Xot! tot! ((£r läfet bas iWeafer fallen.]
(£s fomnicn £eute, [er] läuft lueg.) —
[2ßoi)3ed, 3urüd!e!)renb.] t)as 9JZeffer? äBo ift bas DJkffer?
3«^ I)ab es ba gelaf[en. (£5 oerrät mid)! 9Zät)er, nod) nä^er! —
2Bas ift bas für ein ^^la^? 3Bas \)öx id^? (£s rül)rt fid) etu)a5.
Still.— Da in ber $Rät)e. 9Jiarie? §a, 9Jlarie! Still! alles ftill!
— 3Bas bift bu fo bleid), 9Jtarie? 2Bas \)a\i bu eine rote S^nur
um ben ^als? !:Bei u)em f)aft bu bas .^alsbanb oerbient mit
bcinen Sünben? X)u ujarft fd)U)ar3 baoon, fd)U)ar3. ^^^ i^)
bid) je^t gebleicht. 2Bas t)ängen beine fd)U)ar3en §aare fo loilb?
§aft bu beine 3öpfe I)eut nid)t gefIod)ten? Da liegt toas!
Aalt, nafe, ftill! 3Beg oon bem Pa^!— Das XReffer, bas
9Jieffer. ^ab id)'s? So! £eute— bort! (Cr läuft tocg.)
WOYZECK i6i
5In bem Itid)
2B0I)3C(!. So, ba I)inunter! ((fr ur.rft bas DJJeJfer hinein.) (£5
tau(i)t in bas bunüe 2BQ[fer rote ein Stein.— 9Uin, es liegt 3U
toeit Dorn, roenn [ie \xä) baben (er gef)t in ben leid) unb iDtrfttDett:)
)o— i^^t aber im Sanbe, u)enn [ie tauchen na^ 9Jiuf(^eln?—
bat), es üoirbroitig. Jßerfann es— bann— f)ättid) es^erbrodfien.—
Sin ic^ nodE) blutig? ^d) nniB m\d) voa\d)zn. Da ein gletf—
unb ba no(i) einer . . .
Gs lommen Seutc.
(£r[te ^erfon. §alt!
3tDeite ^|>erion. §ör[t bu? Still! Xa\
(rrfte ^^erion. Da! toieber ein 2^on!
3rDeite ^er|on. (£5 ift bas 'iBai[er, bas ruft; [d)on lang ift
niemanb ertrunfen. gort! (£5 i[t nid)t gut, es 3U I)Dren.
(£r[te ^erfon. Unb je^t loieber— [trie] ein 9J?en|d^, ber [tirbt.
3töeite 'iperfon. (£5 i[t unt)eiml{(i): fo bunftig, anentt)alb
9tebel, grau — unb bas Summen ber i^dfer tote (5efpenfter[pu!.
gortl
BÜCHNER
DER HESSISCHE
LANDBOTE
) i65 c
DER HESSISCHE LANDBOTE
ERSTE BOTSCHAFT
Darmstadt, im Juli 1^34.
VORBERICHT
Dieses Blatt soll dem hessischen Lande die Wahrheit melden, aber
wer die Wahrheit sagt, wird gehenkt; Ja sogar der, welcher die Wahr-
heit liest, 7i<ird durch meineidige Richter vielleicht gestraft. Darum
haheyi die, welchen dies Blatt zukoi7iint, folgendes zti beobachten:
1. Sie müssen das Blatt sorgfältig außerhalb ihres Hauses vor der
Polizei verwahren;
2. sie dürfen es nur an treue Freunde mitteilen;
j. dejien, 7i<elchen sie nicht trauen wie sich selbst, dürfen sie es nur
heiinlich hinlegen;
4, würde das Blatt dennoch bei cifieni geftmdcji, der es gelesen hat,
so muß er gestehen, daß er es eben dem Kreisrat habe bringest
wollen;
^. wer das Blatt nicht gelesen hat, wenn man es bei ihm findet, der
ist natürlich ohne Schuld.
FRIEDE DEN HÜTTEN! KRIEG DEN PALÄSTEN!
/;;/ Jahr 1834 siehe t es aus^ als würde die Bibel Lügen ge-
straft. Es sieht aus, als hätte Gott die Bauern und Hand-
iverker amfünfte7i Tage und die Fürsten und Vornehmen
am sechsten gemacht, und als hätte der Herr zu diesen ge-
sagt: ''Herrschet über alles Getier, das auf E7'den h-iechf^
und hätte die Bauern und Bürger zum Geioürm gezählt.
Das Leben der Vornelwten ist ein langer Sonntag: sie
wohnen in schönen Häusern, sie tragen zierliche Kleider,
sie haben feiste Gesichter iind reden eine eigne Sprache;
das Volk aber liegt vor ihnen wie Dünger auf dem Acker.
Der Bauer geht hinter dem Pflug, der Vornehme aber geht
hinter ihm und dem Pflug und treibt ihn mit den Ochsen
am Pflug, er nimmt das Korn und läßt ihm die Stoppeln.
Das Leben des Bauern ist ein langer Werktag; Fremde
verzehren seine Äcker vor seinen Augen, sein Leib ist
eine Schwiele, sein Schweiß ist das Salz auf dem Tische
des Vornehmen.
Im Großherzogtum Hessen sind 718373 Einwohner, die
geben an den Staat jährlich an 6 363 436 Gulden, als
i66 DER HESSISCHE LANÜBOTE
I. Direkte Steuern . .
2 128 131 Fl.
2. Indirekte Steuern .
2478264 „
3. Domänen ....
1547394 „
4. Regalien ....
46938 „
5. Geldstrafen. . . .
98511 n
6. Verschiedene Quellen
64198 „
6363436 Fl.
Dies Geld ist der Blutzehnte, der von dem Leib des Vol-
kes genommen wird. An 700000 Menschen schwitzen,
stöhnen und hungern dafür. Im Namen des Staates wird
es erpreßt, die Presser berufen sich auf die Regierung,
und die Regierung sagt, das sei nötig, die Ordnung im
Staat zu erhalten. Was ist denn nun das für gewaltiges
Ding: der Staat? Wohnt eine Anzahl Menschen in einem
Land und es sind Verordnungen oder Gesetze vorhanden,
nach denen jeder sich richten muß, so sagt man, sie bil-
den einen Staat. Der Staat also sind alle; die Ordner
im Staate sind die Gesetze, dmxh welche das Wohl aller
gesichert wird und die aus dem Wohl aller hervorgehen
sollen. — Seht nun, was man in dem Großherzogtum aus
dem Staat gemacht hat; seht, was es heißt: die Ordnung
im Staate erhalten! 700000 Menschen bezahlen dafür
6 Millionen, d. h. sie werden zu Ackergäulen und Pflug-
stieren gemacht, damit sie in Ordnung leben. In Ordnung
leben heißt hungern und geschunden werden.
Wer sind denn die, welche diese Ordnung gemacht haben
und die wachen, diese Ordnung zu erhalten.^ Das ist die
Großherzogliche Regierung. Die Regierung wird gebildet
von dem Großherzog und seinen obersten Beamten. Die
andern Beamten sind Männer, die von der Regierung be-
rufen werden, um jene Ordnung in Kraft zu erhalten.
Ihre Anzahl ist Legion: Staatsräte und Regierungsräte,
Landräte und Kreisräte, geistliche Räte und Schulräte,
Finanzräte und Forsträte usw. mit allem ihrem Heer von
Sekretären usw. Das Volk ist ihre Herde, sie sind seine
Hirten, Melker und Schinder; sie haben die Häute der
Bauern an, der Raub der Armen ist in ihrem Hause; die
Tränen der Witwen und Waisen sind das Schmalz auf
DER HESSISCHE LANDBOTE 1 6 7
ihren Gesichtern; sie herrschen frei und ermahnen das
Volk zur Knechtschaft. Ihnen gebt ihr 6 000 oco Fl. Ab-
gaben; sie haben dafür die Mühe, euch zu regieren; d. h.
sich von euch füttern zu lassen und euch eure Menschen -
und Bürgerrechte zu rauben. Sehet, was die Ernte eures
Schweißes ist!
Für das Ministerium des Innern und der Gerechtigkeits-
pflege werden bezahlt i 1 10 607 Gulden. Dafür habt ihr
einen Wust von Gesetzen, zusammengehäuft aus willkür-
lichen Verordnungen aller Jahrhunderte, meist geschrie-
ben in einer fremden Sprache. Der Unsinn aller vorigen
Geschlechter hat sich darin auf euch vererbt, der Druck,
unter dem sie erlagen, sich auf euch fortgewälzt. Das
Gesetz ist das Eigentum einer unbedeutenden Klasse von
Vornehmen und Gelehrten, die sich durch ihr eignes Mach-
werk die Herrschaft zuspricht. Diese Gerechtigkeit ist nur
ein Mittel, euch in Ordnung zu halten, damit man euch
bequemer schinde; sie spricht nach Gesetzen, die ihr nicht
versteht, nach Grundsätzen, von denen ihr nichts wißt,
Urteile, von denen ihr nichts begreift. Unbestechlich ist
sie, weil sie sich gerade teuer genug bezahlen läßt, um
keine Bestechung zu brauchen. Aber die meisten ihrer
Diener sind der Regierung mit Haut und Haar ver-
kauft. Ihre Ruhestühle stehen auf einem Geldhaufen von
461373 Gulden (so viel betragen die Ausgaben für die
Gerichtshöfe und die Kriminalkosten). Die Fräcke, Stöcke
und Säbel ihrer unverletzlichen Diener sind mit dem
Silber von 197502 Gulden beschlagen (so viel kostet die
Polizei überhaupt, die Gendarmerie usw.). Die Justiz ist
in Deutschland seit Jahrhunderten die Hure der deutschen
Fürsten. Jeden Schritt zu ihr müßt ihr mit Silber pflastern,
und mit Armut und Erniedrigung erkauft ihr ihre Sprüche.
Denkt an das Stempelpapier, denkt an euer Bücken in
den Amtsstuben und euer Wachestehen vor denselben.
Denkt an die Sportein für Schreiber und Gerichtsdiener.
Ihr dürft euern Nachbar verklagen, der euch eine Kar-
toffel stiehlt; aber klagt einmal über den Diebstahl, der
von Staatswegen unter dem Namen von Abgabe und
Steuern jeden Tag an eurem Eigentum begangen wird,
1 68 DER HESSISCHE LANDBOTE
damit eine Legion unnützer Beamten sich von eurem
Schweiße mästen; klagt einmal, daß ihr der Willkür eini-
ger Fettwänste überlassen seid und daß diese Willkür
Gesetz heißt, klagt, daß ihr die Ackergäule des Staates
seid, klagt über eiure verlorne Menschenrechte: wo sind
die Gerichtshöfe, die eure Klage annehmen, wo die Rich-
ter, die Recht sprächen? — Die Ketten eurer Vogelsberger
Mitbürger, die man nach Rockenburg schleppte, werden
euch Antwort geben.
Uiid will endlich ein Richter oder ein andrer Beamte von
den wefiige7i, welchen das Recht und das gemeine Wohl
lieber ist als ihr Bauch und der Mammon^ ein Volksrat
und kein Volksschinder sein, so wird er von den obersten
Räten des Fürsten selber geschunden.
Für das Ministerium der Finanzen i 551 502 Fl,
Damit werden die Finanzräte, Obereinnehmer, Steuer-
boten, die Untererheber besoldet. Dafür wird der Ertrag
eurer Äcker berechnet und eure Köpfe gezählt. Der Bo-
den unter euren Füßen, der Bissen zwischen euren Zäh-
nen ist besteuert. Dafür sitzen die Herren in Fräcken
beisammen, und das Volk steht nackt und gebückt vor
ihnen; sie legen die Hände an seine Lenden und Schul-
tern und rechnen aus, wie viel es noch tragen kann, und
wenn sie barmherzig sind, so geschieht es nur, wie man
ein Vieh schont, das man nicht so sehr angreifen will.
Für das Militär wird bezahlt 914820 Gulden.
Dafür kriegen eure Söhne einen bunten Rock auf den
Leib, ein Gewehr oder eine Trommel auf die Schulter
und dürfen jeden Herbst einmal blind schießen, und er-
zählen, wie die Herren vom Hof und die ungeratenen
Buben vom Adel allen Kindern ehrlicher Leute vorgehen
und mit ihnen in den breiten Straßen der Städte herum-
ziehen mit Trommlen und Trompeten. Für jene 900000
Gulden müssen eure Söhne den Tyrannen schwören und
Wache halten an ihren Palästen. Mit ihren Trommeln
übertäuben sie eure Seufzer, mit ihren Kolben zerschmet-
tern sie euch den Schädel, wenn ihr zu denken wagt, daß
ihr freie Menschen seid. Sie sind die gesetzlichen Mör-
der, welche die gesetzlichen Räuber schützen; denkt an
DER HESSISCHE LANDBOTE 1 6 9
Södel! Eure Brüder, eure Kinder waren dort Brüder- und
Vatermörder.
Für die Pensionen 480000 Gulden.
Dafür werden die Beamten aufs Polster gelegt, wenn sie
eine gewisse Zeit dem Staate treu gedient haben, d. h.
wenn sie eifrige Handlanger bei der regelmäßig einge-
richteten Schinderei gewesen, die man Ordnung und Ge-
setz heißt.
Für das Staatsministerium und den Staatsrat 174600
Gulden.
Die größten Schurken stehen wohl jetzt allerwärts in
Deutschland den Fürsten am nächsten, wenigstens im
Großherzogtum. Kommt ja ein ehrlicher Mann in einen
Staatsrat, so wird er ausgestoßen. Könnte aber auch ein
ehrlicher Mann jetzo Minister sein oder bleiben, so wäre
er, wie die Sachen stehn in Deutschland, nur eine Draht-
puppe, an der die fürstliche Puppe zieht; und an dem
fürstlichen Popanz zieht wieder ein Kammerdiener oder
ein Kutscher oder seine Frau und ihr Günstling oder sein
Halbbruder — oder alle zusammen.
In Deutschland stehet es jetzt ^ wie der Pt'ophet Micha
schreibt, Kap./^ V. 3 ufid 4: '^Die Gewaltigen raten nach
ihrem Mutiuillen^ Schaden zu tun, und drehen es, wie sie
es wollen. Der Beste unter ihnen ist wie ein Dorn, und der
Redlichste wie eine HeckeT Ihr müßt die Dörner und
Hecken teuer bezahlen; denn ihr müßt ferner für das groß-
herzoghche Haus und den Hofstaat 827772 Gulden be-
zahlen.
Die Anstalten, die Eeute, von denen ich bis jetzt ge-
sprochen, sind nur Werkzeuge, sind nur Diener. Sie tun
nichts in ihrem Namen, unter der Ernennung zu ihrem
Amt steht ein L., das bedeutet Ludwig von Gottes Gna-
den, und sie sprechen mit Ehrfurcht: "Im Namen des
Großherzogs." Dies ist ihr Feldgeschrei, wenn sie euer
Gerät versteigern, euer Vieh wegtreiben, euch in den
Kerker werfen. Im Namen des Großherzogs sagen sie,
und der Mensch, den sie so nennen, heißt: unverletzlich,
heilig, souverän, königliche Hoheit. Aber tretet zu dem
Menschenkinde und blickt durch seinen Fürstenmantel.
1 70 DER HESSISCHE LANDBOTE
Es ißt, wenn es hungert, und schläft, wenn sein Auge
dunkel wird. Sehet, es kroch so nackt und weich in die
Welt wie ihr und wird so hart und steif hinausgetragen
wie ihr, und doch hat es seinen Fuß auf eurem Nacken,
hat 700000 Menschen an seinem Pflug, hat Minister, die
verantwortlich sind für das, was es tut, hat Gewalt über
euer Eigentum durch die Steuern, die es ausschreibt, über
euer Leben durch die Gesetze, die es macht, es hatadliche
Herrn und Damen um sich, die man Hofstaat heißt, und
seine göttliche Gewalt vererbt sich auf seine Kinder mit
Weibern, welche aus ebenso übermenschlichen Geschlech-
tern sind.
Wehe über euch Götzendienerl — Ihr seid wie die Heiden^
die das Krokodil anbeten^ von dejii sie zerrissen werden.
Ihr setzt ihm eine Krone aiif^ aber es ist eine Dornenkrone^
die ihr euch selbst in den Kopf drückt; ihr gebt ihm ein
Zepter in die Hand, aber es ist eine Rute, womit ihr ge-
züchtigt werdet] ihr setzt ihn auf cuern Thron, aber es ist
ein Marter stuhl für euch tmd eure Kinder. Der Fürst ist
der Kopf des Blutigels, der über euch hinkriecht, die Mi-
nister sind seine Zähne und die Beamten sein Schwanz.
Die hungrigen Mägen aller vornehmen Herren, denen er
die hohen Stellen verteilt, sind Schröpfköpfe, die er dem
Lande setzt. Das L., was unter seinen Verordnungen
steht, ist das Malzeichen des Tieres, das die Götzendiener
unserer Zeit anbeten. Der Fürstenmantel ist der Teppich,
auf dem sich die Herren und Damen vom Adel und Hofe
in ihrer Geilheit übereinander wälzen — mit Orden und
Bändern decken sie ihre Geschwüre, und mit kostbaren
Gewändern bekleiden sie ihre aussätzigen Leiber. Die
Töchter des Volks sind ihre Mägde und Huren, die
Söhne des Volks ihre Lakaien und Soldaten. Geht ein-
mal nach Darmstadt und seht, wie die Herren sich für
euer Geld dort lustig machen, und erzählt dann euern
hungernden Weibern und Kindern, daß ihr Brot an frem-
den Bäuchen herrlich angeschlagen sei, erzählt ihnen von
den schönen Kleidern, die in ihrem Schweiß gefärbt, und
von den zierlichen Bändern, die aus den Schwielen
ihrer Hände geschnitten sind, erzählt von den stattlichen
DER HESSISCHE LANDBOTE 1 7 1
Häusern, die aus den Knochen des Volks gebaut sind;
und dann kriecht in eure rauchigen Hütten und bückt
euch auf euren steinichten Äckern, damit eiu"e Kinder auch
einmal hingehen können, wenn ein Erbprinz mit einer
Erbprinzessin für einen andern Erbprinzen Rat schaffen
will, und durch die geöffneten Glastüren das Tischtuch
sehen, wovon die Herren speisen, und die Lampen rie-
chen, aus denen man mit dem Fett der Bauern illuminiert.
Das alles duldet iJir^ weil euch Schurken sagen: diese Re-
gierung sei V071 Gott. Diese Regierung ist nicht zwn Gott^
sondern vom Vater der Lüge7i. Diese deutschen Fürsten
sifid keine rechtmäßige Obrigkeit, sondern die rechtmäßige
Obrigkeit^ den deutschen Kaiser, der vormals vom Volke
frei gewählt wurde, haben sie seit Jahrhunderten verachtet
und endlich gar verraten. Aus Verrat und Meineid, und
nicht aus der Wahl des Volkes, ist die Gewalt der deutschen
Fürstefi hervo7gegangen, und darum ist ihr Wese^i und Tun
von Gott verflucht; ihre IVeisheit ist Trug, ihre Gerechtig-
keit ist Schinderei. Sie zertreten das Land und zerschlagen
die Person des Elenden. Ihr lästert Gott, we?in ihr einen
dieser Fürsten einen Gesalbten des Herrn nennt, das heißt:
Gott habe die Teußl gesalbt und zu Fürsteii über die deut-
sche Erde gesetzt. Deutschland, unser liebes Vaterland,
haben diese Fürsten zerrissen, den Kaiser, den unsere freien
Voreltern wählte7i, haben diese Fürsten verraten, und nun
fordern diese Verräter und Menschenquäler Treue von euch!
— Doch das Reich der Finsternis neiget sich zum Ende.
Über ein kleifies, und Deutschland, das jetzt die Fürsten
schinden, wird als ein Freistaat mit einer vom Volk ge-
wählten Obrigkeit wieder auf er s lehn. Die Heilige Schrift
sagt: ^^ Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist.^^ Was ist
aber dieser Fürsten, der Verräter? — Das Teil von Judas l
Für die Landstände 16000 Gulden.
Im Jahr 1789 war das Volk in Frankreich müde, länger
die Schindmähre seines Königs zu sein. Es erhob sich
und berief Männer, denen es vertraute, und die Männer
traten zusammen und sagten, ein König sei ein Mensch
wie ein anderer auch, er sei nur der erste Diener im
Staat, er müsse sich vor dem Volk verantworten, und
1 7 2 DER HESSISCHE LANDBOTE
wenn er sein Amt schlecht verwalte, könne er zur Strafe
gezogen werden. Dann erklärten sie die Rechte des Men-
schen: "Keiner erbt vor dem andern mit der Geburt ein
Recht oder einen Titel, keiner erwirbt mit dem Eigentum
ein Recht vor dem andern. Die höchste Gewalt ist in
dem Willen aller oder der Mehrzahl. Dieser Wille ist das
Gesetz, er tut sich kund durch die Landstände oder die
Vertreter des Volks, sie werden von allen gewählt, und
jeder kann gewählt werden; diese Gewählten sprechen
den Willen ihrer Wähler aus, und so entspricht der Wille
der Mehrzalil unter ihnen dem Willen der Mehrzahl unter
dem Volke; der König hat nur für die Ausübung der von
ihnen erlassenen Gesetze zu sorgen." Der König schwur,
dieser Verfassung treu zu sein; er wurde aber meineidig
an dem Volke, und das Volk richtete ihn, wie es einem
Verräter geziemt. Dann schafften die Franzosen die erb-
liche Königswürde ab und wählten frei eine neue Obrig-
keit, wozu jedes Volk nach der Vernunft und der Heiligen
Schrift das Recht hat. Die Männer, die über die Voll-
ziehung der Gesetze wachen sollten, wurden von der Ver-
sammlung der Volksvertreter ernannt, sie bildeten die
neue Obrigkeit. So waren Regierung und Gesetzgeber
vom Volk gewählt, und Frankreich war ein Freistaat.
Die übrigen Könige aber entsetzten sich vor der Gewalt
des französischen Volkes; sie dachten, sie könnten alle
über der ersten Königsleiche den Hals brechen, und ihre
mißhandelten Untertanen möchten bei dem Freiheitsruf
der Franken erwachen. Mit gewaltigem Kriegsgerät und
reisigem Zeug stürzten sie von allen Seiten auf Frank-
reich, und ein großer Teil der Adligen und Vornehmen im
Lande stand auf und schlug sich zu dem Feind. Da er-
grimmte das Volk und erhob sich in seiner Kraft. Es er-
drückte die Verräter und zerschmetterte die Söldner der
Könige. Die junge Freiheit wuchs im Blut der Tyrannen,
und vor ihrer Stimme bebten die Tlirone und jauchzten
die Völker. Aber die Franzosen verkauften selbst ihre
junge Freiheit für den Ruhm, den ihnen Napoleon darbot,
und erhoben ihn auf den Kaiserthron. — Da ließ der All-
mächtige das Heer des Kaisers in Rußland erfrieren und
DER HESSISCHE LANDBOTE 1 7 3
züchtigte Frankreich durch die Knute der Kosaken und
gab den Franzosen die dickwanstigen Bourbonen wieder
zu Königen, damit Frankreich sich bekehre vom Götzen-
dienst der erblichen Königsherrschaft und dem Gotte
diene, der die Menschen frei und gleich geschaffen. Aber
als die Zeit seiner Strafe verflossen war und tapfere Män-
ner im Julius 1830 den meineidigen König Karl den
Zehnten aus dem Lande jagten, da wendete dennoch das
befreite Frankreich sich abermals zur halberblichen Kö-
nigsherrschaft und band sich in dem Heuchler Louis
Philipp eine neue Zuchtrute auf. In Deutschland und ganz
Europa aber war große Freude, als der zehnte Karl vom
Thron gestürzt ward, und die unterdrückten deutschen Län-
der richteten sich [auf] zum Kampf für die Freiheit. Da
ratschlagten die Fürsten, wie sie dem Grimm des Volkes
entgehen sollten, und die listigen unter ihnen sagten: Laßt
uns einen Teil unserer Gewalt abgeben, daß wir das üb-
rige behalten. Und sie traten vor das Volk und sprachen:
Wir wollen euch die Freiheit schenken, um die ihr kämp-
fen wollt. Und zitternd vor Furcht warfen sie einige
Brocken hin und sprachen von ihrer Gnade. Das Volk
traute ihnen leider und legte sich zur Ruhe. — Und so ward
Deutschland betrogen wie Frankreich.
Denn was sind diese Verfassungen in Deutschland: Nichts
als leeres Stroh, woraus die Fürsten die Körner für sich
herausgeklopft haben. Was sind unsere Landtage: Nichts
als langsame Fuhrwerke, die man einmal oder zweimal
wohl der Raubgier der Fürsten und ihrer Minister in
den Weg schieben, woraus man aber nimmermehr eine
feste Burg für deutsche Freiheit bauen kann. Was sind
unsere Wahlgesetze: Nichts als Verletzungen der Bürger-
und Menschenrechte der meisten Deutschen. Denkt ^n
das Wahlgesetz im Großherzogtum, wornach keiner ge-
wählt werden kann, der nicht hochbegütert ist, wie recht-
schaffen und gutgesinnt er auch sei, wohl aber der Grol-
mann, der euch um die zwei Millionen bestehlen wollte.
Denkt an die Verfassung des Gi'oßherzogttuns. — Nach den
Artikeln derselben ist der Großherzog unverletzlich, heilig
lind unverantwortlich. Seine JVürde ist erblich in seiner
174 DER HESSISCHE LANDBOTE
Familie^ er hat das Recht ^ Krieg zuführen^ und ausschließ-
liche Verfügung über das Militär. Er beruft die Land-
stände ^ vertagt sie oder löst sie auf. Die Stände dürfen kei-
nen Gesetzesvorschlag machen^ sondern sie müssen um das
Gesetz bitte7i, und dem Gutdünken des Fürsten bleibt es un-
bedingt überlassen^ es zu geben oder zu verweigern. Er bleibt
im Besitz einer fast unumschränkten Gewalt^ mir darf er
keine neuen Gesetze machen und keine neuen Steuern aus-
schreiben ohne Zustimmung der Stände. Aber teils kehrt er
sich nicht an diese Zustimmung^ teils genügen ihm die alten
Gesetze^ die das Werk der Fürstengewalt si?id, und er be-
darf darum keiner neuen Gesetze. Eine solche Verfassung
ist ein elend jämmerlich Ding. Was ist von Ständen zu er-
7varten, die an eine solche Verfassung gebunden sind? Wenn
unter den Gewählten auch keine Volksvej-räter und feige
Me7mnen wären, ivenn sie aus lauter entschlossenen Volks-
freunden bestünden.^! Was ist von St ariden zu er-w arten ^ die
kaum die elenden Fetzen einer ai'mseligeii Verfassu7ig zu
vei'teidigen vernwgenl — Der einzige Widerstand^ den sie zu
leisten vermochten^ war die Venaeigenwg der zwei Millionen
Gulden, die sich der Großherzog vo?i dern überschuldeten
Volke wollte schenken lassen zur Bezahlung seiner Schul-
den.— Hätten aber auch die Landstände des Großherzogtums
genügende Rechte, und hätte das Großherzogtum, aber nur
das Großherzogtum allein, eine wahrhafte Verfassung, so
wiirde die Herrlichkeit doch bald zu Ende sein. Die Raub-
geier in Wien und Berlin imh'den ihre Henkerskrallen aus-
strecken und die kleine Freiheit mit Rumpf und Stumpf aus -
rottefi. Das ganze deutsche Volk muß sich die Freiheit er-
ringen. Und diese Zeit, geliebte Mitbürger, ist nicht ferne.
— Der Herr hat das schöne deutsche Land, das viele Jahr-
hunderte das herrlichste Reich der Erde war, i7i die Hä7ide
der fremden und ei7iheii7iische7i Schiruier gegeben, weil das
He7'z des deutschen Volkes vo7i der Fr-eiheit und Gleichheit
seiner Voreltern und von der Furcht des He7'rn abgefalle7i
war, tveil ihr de7n Götzendienste der vielen Herf'lein, Klein-
herzoge 7ind Däumlings -Kö7iige euch ergeben hattet.
Der Herr, der den Stecken des fremde7i Treibers Napoleon
zerbrochen hat, wird auch die Götzetibilder unserer ein-
DER HESSISCHE LANDBOTE 1 7 5
heimischen Tyrannen zerbrechen durch die Hände des Volks.
Wohl glänzen diese Götzenbilder von Gold und Edelsteinen^
von Orden und Ehrenzeichen^ aber in ihre?n Innerti stirbt
der Wurm nicht ^ und ihre Füße sind von Lehm.— Gott ivird
euch Kraft geben, ihre Füße zu zerschmeißen, sobald ihr
euch bekehret von dem Irrtum eures Wandels und die Wahr-
heit erkennet: daß nur ein Gott ist tmd keine Götter neben
ihm, die sich Hoheiten und Allerhöchste, heilig und unver-
antwortlich nennen lassen, daß Gott alle Menschen frei und
gleich i7i ihren Rechte?! schuf, und daß keine Obrigkeit von
Gott zum Segen verordnet ist als die^ welche auf das Ver-
trauen des Volkes sich gründet und vom Volke ausdrücklich
oder stillschweigend erwählt ist; daß dagegen die Obrigkeit,
die Gewalt, aber kein Recht über ein Volk hat, nur also
von Gott ist^ wie der Teufel auch von Gott ist, und daß der
Gehorsam gegen eine solche Teufelsobrigkeit nur so lange
gilt, bis ihre Teufelsgewalt gebrochen werden kann; — daß
der Gott, der ein Volk durch eine Sprache zu einem Leibe
verei?iigte, die Gewaltigen, die es zerfleischen und vierteilen
oder gar in dreißig Stücke zerreißen, als Volksniörder und
Tyrannen hier zeitlich und do7't ewiglich strafen wird, denn
die Schrift sagt: was Gott vereinigt hat, soll der Mensch
nicht trennen; und daß der Allmächtige, der aus der Einöde
ein Paradies schaffen kann, auch ein Land des Jammers
und des Elends wieder in ein Paradies um schaffen kanjz,
wie unser teucT^vertes Deutschland war, bis seine Fürsten
es zerfleischten und schunden.
Weil das deutsche Reich morsch und faul war und die
Deutschen von Gott und von der FreUieit abgefallen waren,
hat Gott das Reich zu Trümmern gehen lassen, um es zu
einem. Freistaat zu verjüngen. Er hat eine Zeitlang den
Satansengeln Gewalt gegeben, daß sie Deutschland mit
Fäuste?! schlüge??., er hat den Gewaltigen und Fürsten, die
in der Fi?isternis herrsche??, de?? bösen Geistern ?i?iter dem
Him?nel (Ephes. 6), Gewalt gegebe??, daß sie Bürger und
Bauern peinigten ?md ihr Blut aussaugte?? und ihre?? Mut-
willen trieben mit alle??, die Recht und Freiheit mehr lieben
als Unrecht und Knechtschaft.— Aber ihr Maß ist voll!
Sehet an das von Gott gezeichnete Scheusal, den König
1 7 6 DER HESSISCHE LANDBOTE
Ludwig von Bayern, den Gotteslästerer, der redliche
Männer vor seinem Bilde niederzuknien zwingt und die,
welche die Wahrheit bezeugen, durch meineidige Richter
zum Kerker verurteilen läßt; das Schwein, das sich in allen
Lasterpfützen von Italien wälzte, den Wolf, der sich für sei-
nen Baals-Hofstaat für immer jährlich fünf Millionen durch
meineidige Landstände verwilligen läßt, und fragt dann:
''Ist das eine Obrigkeit von Gott zum Segen verordnet?"
Hai du wärst Obrigkeit von Gott?
Gott spendet Segen aus\
Du raubst^ du schindest, kerkerst ein,
Du nicht von Gott, Tyrann!
Ich sage euch: sein und seiner Mitfürsten Maß ist voll.
Gott, der Deutschland um seiner Sünden willen geschlagen
hat durch diese Fürsten, wird es wieder heilen. ^^Er wird
die Hecken und Dorn er niederreiße7i und auf eine fn Haufe??.
verbre7men.'^ Jesaias 2/^, 4. So wenig der Höcker noch
wachset, womit Gott diesen Köfiig Ludwig gezeichnet hat,
so wenig werden die Schandtaten dieser Fürsten noch wach-
sen können. Ihr Maß ist voll. Der Herr wird ihre Körper
zerschmeißen, und in Deutschland wird dann Leben und
Kraft als Segen der Freiheit wieder erblühen. Zu eineiti
großeii Leichenfelde haben die Fürsten die deutsche Erde
gemacht, wie Ezechiel im sy. Kapitel beschreibt: ^^Der Herr
führte mich auf ein weites Feld, das voller Gebeine lag, und
siehe, sie tuaren sehr ver dorrt P Aber wie lautet des Herrn
Wort zu den verdorrten Gebeinen: ^^ Siehe, ich ivill euch
Adern geben und Fleisch lassen über euch wachsen, und euch
mit Haut überziehen, und will euch Odem geben, daß ihr
wieder lebendig werdet, und sollt erfahren, daß Ich der
Herr bin.'' Und des Herrn Wort wird auch an Deutsch-
land sich wahi'haftig beweisen, wie der Prophet spricht:
^^ Siehe, es rauschte und regte sich, und die Gebeine kamen
7vie der zusammen, ein jegliches zu seinem Gebein.— Da kam
Odem in sie, und sie wurden wieder lebendig und richteten
sich auf ihre Füße, und ihrer war ein sehr groß Heer.'"'
Wie der Prophet schreibet, also stand es bisher in Deutsch-
la?id: eure Gebeine sind verdorrt, den?! die Ordnung, in der
ihr lebt, ist eitel Schinderei. Sechs Millionen bezahlt ihr
DER HESSISCHE LANDBOTE 1 7 7
im Großherzogtum einer Handvoll Leute, deren Willkür
euer Leben und Eigentum überlassen ist, und die anderen
in dem zerrissenen Deutschland gleich also. Ihr seid
nichts, ihr habt nichts! Ihr seid rechtlos. Dir müsset
geben, was eure unersättlichen Presser fordern, und tra-
gen, was sie euch aufbürden. So weit ein Tyrann blicket
—und Deutschland hat dercfi wohl dreißig — , verdorret
Laiul und Volk. Aber wie der F?'ophet schreibet, so wird es
bald stehen in Deutschland: der Tag der Auferstehung wird
nicht säumen. In dem Lcicheufelde lüird sich's regen u?ul wii-d
rauschen, und der Neubclebten wit'd ein großes Heer sein.
Hebt die Augen auf und zählt das Häuflein eurer Presser,
die nur stark sind durch das Blut, das sie euch aussaugen,
und durch eure Arme, die ihr ihnen willenlos leihet. Ihrer
sind vielleicht 10 000 im Großherzogtum und eurer sind
es 700000, und also verhält sich die Zahl des Volkes zu
seinen Pressern auch im übrigen Deutschland. Wohl dro-
hen sie mit dem Rüstzeug und den Reisigen der Könige,
aber ich sage euch: Wer das Schwert erhebt gegen das
Volk, der wird durch das Schwert des Volkes umkommen.
Deutschland ist jetzt ein Leichenfeld, bald wird es ein
Paradies sein. Das deutsche Volk ist ein Leib, ihr seid
ein Glied dieses Leibes. Es ist einerlei, wo die Schein-
leiche zu zucken anfängt. Wann der Herr euch seine Zei-
chen gibt durch die Männer, durch welche er die Völker
aus der Dienstbarkeit zur Freiheit führt, dann erhebet
euch, und der ganze Leib wird mit euch aufstehen.
Ihr blicktet euch lange Jahre i?i den Dornäckern der Knecht-
schaft, dann schwitzt ihr einen Sommer im Weinberge der
Freiheit und werdet frei sein bis ins tausendste Glied.
Ihr wühltet ein langes Leben die Ej'de auf dann wiihlt ihr
euren Tyrannen ein Grab. Ihr bautet die Zwingburgen,
dann stürzt ihr sie und bauet der Freiheit Haus. Dann
könnt ihr eure Kinder frei taufen mit dem Wasser des Le-
bens. Und bis der Herr euch 7'uft durch seine Boten und
Zeichen, wachet und rüstet euch im Geiste und betet ihr
selbst und lehrt eure Kinder beten: ^Herr, zerbrich den
Stecken unserer Treiber und laß dein Reich zu uns kom-
men—das Reich der Gerechtigkeit. Atncn.''
BÜCHNER 12.
NATURWISSENSCHAFT^
LICHE UND PHILOSO-
PHISCHE SCHRIFTEN
MEMOIRE
SUR LH
SySTEME NERVEUX DU BARBEAU
<CyPRINUS BARBUS L.)
LU A LA SOCIETE D'HISTOIRE NATURELLE DE STRASBOURG,
DANS LES SEANCES DU 13 AVRIL, DU 20 AVRIL ET DU 4 MAI 1836
) 1^3 (
PARTIE DESCRIPTIVE
QUEL est le rapport des nerfs cerebraux avec les nerfs
spinaux, les veit^bres cräniennes et lesrenflements du
cerveaur Quels sont ceux d'entre eiix qui se trouvent les
Premiers au bas de l'e'chelle des animaux vertebrds: Quel-
les sont les lois d'apres lesquelles leur nombre est aug-
mente ou diminu^, leur distribution plus compliqude ou
plus simple?— Questions importantes, qui ne pourront etre
resolues que par la methode ghiHique^^ c'est-ä-dire par
une comparaison scrupuleuse du syst^m.e nerveux des
vertdbres en partant des organisations les plus simples et
en s'elevant peu ä peu aux plus developpdes. Mais en
commen^ant ces recherches par la derni^re classe des
vertdbres, les poissons, on est embarrasse aussitot par les
donnees les plus contradictoires. Les anatomistes ne peu-
vent s'entendre sur le nombre, la signification et la distri-
bution des nerfs. Le nombre des paires cerebrales qu'ils
admettent varie de huit ä onze. Les nerfs facial, glosso-
pharyngien, hypoglosse et accessoire de Willis, sont tantöt
admis, tantot nies dans les poissons. Le meme nerf est
decrit sous les noms les plus differents; les descriptions
de l'origine et de la distribution sont souvent diamdtrale-
ment opposees. C'est ä la nature elle-meme qu'il faut
s'adresser pour resoudre le probleme: puisse mon travail
contribuer ä cette Solution! J'ai choisi particuli^rement
pour objet de mes recherches les Cyprins, comme offrant,
d'apres Ca?'us, le type le plus pur des poissons osseux.
D'ailleurs le Systeme nerveux des poissons de cette famille
ofifre quelques particularites tr^s remarquables, ddcrites
par Weber, Des?noulins et Bischoff. Je donne ici la des-
cription des nerfs du Barbeau, ä laquelle j'ajouterai, lä
ou je le jugerai convenable, les particularites que m'ont
Offertes les autres poissons que j'ai disseques.
Je crois necessaire de faire prece'der cette description de
quelques de'tails sur les fibres du cerveau, details ndces-
saires pour comprendre ce que je dirai sur l'origine des
nerfs.
^ Terme emprunte ä Tecole allemande: Die genetische Methode.
i84 NATURVVISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFl^EN
Malgre les travaux de Malier^ et de Carus^, il n'y a rien
de bien arrete sur la maniere dont se compoitent les cor-
dons de la moelle dans le cerveau. Ce n'est que dans ces
derniers temps que les heiles recherches de Gottsched ont
rempli en partie cette lacune. Gotische admet quatre cor-
dons de chaque cote de la moelle, deux superieurs et deux
inferieurs, savoir: i°. Un cordon pyramidal anterieur, qui
passe sous la commissiira ansulata {Gottsche) et se divise
en deux faisceatix, dont rinterne se rend aux renflements
anterieurs du cerveau, compares aux hemispheres par la
plupart des anatomistes, et dont l'externe passe par les
renflements anterieurs de la cavite des lobes optiques
{^'■thalami optici'' Gottsche^ "-tori antirieurs^'' Se?'7'es, ^'tori
semicirculares'^ Haller), d'oü il sort en rayonnant pour
former la paroi interne des lobes optiques, 2°. Un cordon
exterieur au prece'dent, qu'il appelle leinnisciis. II passe
par la couwiissura ansulata et se perd, en melant ses fibres
avec Celles du cordon precedent, dans le bord externe des
couches optiques [Gottsc/ie). Ce cordon parait fournir la
cinquieme paire et l'acoustique. 3*^. Un cordon restiforme.
4^. Un cordon pyramidal posterieur. II ne les se'pare pas
dans leur description. Ils penetrent dans le cervelet, en-
tourent sa cavite, en formant une anse, et se rendent en-
suite aux renflements posterieurs de la cavite des lobes
optiques {^^^quadrijumeaux^^ de Haller, Cuvier, Gottsche,
^^tori postdrietirs^^ de Scrres), dont ils constituent la paroi
externe sous la forme d'une bände contournee en demi-
cercle. Chez les Cyprins, d'ailleurs, la commissura ansu-
lata, comparee par Gottsche au pont de Varole, emane de
ce cordon.
Serres^ parle de meme de huit cordons de la moelle; il
1 Opera mimva, tom. IIT, et Ekm. physioL, tom. IV. — - Versuch
einer Darstellung des ATervensystenis. — Je regrette de n'avoir pu me
procurer cet ouvrage; j'ai ete oblige de me contenter des notions
contenues dans l'ouvrage de Carus sur les parties primitives du
squelette et dans son traite de Zootomie, et des citations des autres
auteurs. Je n'ai pu non plus me procurer Timportante dissertation
^ Arsaky: De piscium cerebro et vieduUa spinali. — 3 Müllers Archiv,
1835. — 4 Anatomie comparee du cerveau dans les qtiatre classes des
animaux vertebres.
MEMOIRE SUR LE SYSTEME NERVEUX 185
les designe sous les noms de pyramides anterieures, cor-
dons olivaires, cordons restiformes et pyramides poste-
rieures. D'apres cet auteur, les pyramides anterieures se
rendent aiix hemispheres et forment les nerfs olfactifs; les
cordons olivaires, places au cöte externe des pre'cedents,
aboutissent aux lobes optiques.
Desmoulins^ enumere seulement quatre cordons : deux su-
perieurs et deux inferieurs.
Laurencef^^ enfin, admet six cordons, trois de chaque cöte:
1°. Les pyramides anterieures, qui comprennent aussi les
cordons olivaires, et qui se dirigent chacun en dehors et
en haut dans l'interieur du renflement que l'on trouve au
devant du cervelet (c'est-ä-dire dans le lobe optique).
2°. Les faisceaux moyens, ou les faisceaux de Vi?ifimdi-
bulu?ji, sont places entre les pyramides anterieiures et les
pyramides posterieures. Ces faisceaux passent ä la hauteur
du collet du bulbe rachidien, comme s'exprime Laure^icet^
par-dessus et entre les deux precedents, pour ressortir ä
la face anterieure; puis ils se dirigent, en augmentant
toujours de volume, dans les deux lobes qu'on voit de
chaque cote de Vinfundibulum, et s'y epanouissent visi-
blement. 3°. Les pyramides posterieures, qui montent au
cervelet.
Mes recherches sur le cerveau n'ont pour but que de de-
terminer le nombre des cordons nerveux et leur trajet dans
la masse ce'rebrale, ainsi que le rapport qui existe entre
eux et les racines des nerfs; je n'entrerai donc dans aucun
autre detail sur la structure du cerveau.
La moelle ne presente ä sa surface que les deux sillons
inferieur et superieur, qui la divisent en deux moities
Egales; cependant on de'couvre ä son extremite superieure,
mais seulement dans une etendue peu conside'rable, un
sillon late'ral produit par la saillie du faisceau inferieur des
pyramides posterieures, comme nous allons bientöt le voir ;
de ce sillon resultent de chaque cote deux cordons la-
teraux ine'gaux, dont l'inferieur surpasse de beaucoup en
voliune le superieur. Pour le reste, la surface de la moelle
^ Anato?fiie des systemes nerveux des animaux a vertebres. — 2 Ana-
tomie du cerveau dans les quatre classes d'' animaux vertebres.
i86 NATUR WISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
est parfaitement lisse; eile a presque la forme d'un tri-
angle ä cotes curvilignes, dont la base est forme'e par la
surface inferieure. En coupant la moelle par tranches ver-
ticales, on voit les sillons superieur et inferieur la separer
presque entierement en deux moitie's, qui ne sont reunies
que par une etroite commissure de substance grise^. Le
sillon supe'rieur descend jusqu'au-delä du centre de la
tranche, et s'elargit en formant le canal central de la
moelle. Ce canal est entoure d'une substance jaunätre,
presque liquide, disposee en triangle, dont le sommet re'-
pond au sillon superieur, et dont les deux angles infe-
rieurs se prolongent dans les parties laterales de la moelle.
Sur la moelle fraiche ce triangle lui-meme parait etre une
dilatation du canal central, ä cause du peu de consistance
de la substance dont il est forme; mais par l'action de
l'alcool on parvient ä la coaguler. Elle pre'sente alors une
couleur grisätre, et dans son milieu on aper^oit la lumiere
etroite du canal central. C'est ä l'aide des deux prolon-
gements lateraux de la substance jaunätre qu'on parvient
ä distinguer quatre cordons, deux superieurs et deux in-
f^rieurs, dont les premiers surpassent de beaucoup en vo-
lume les derniers; circonstance qui contraste fortement
avec le contour externe des cordons, produit sur une par-
tie de la surface de la moelle par le sillon late'ral dont je
viens de parier. Une section faite pr^s du quatrieme ven-
tricule, presente un contour presque quadrilatere, ä cor-
dons plus nettement dessines. Sur une autre section, pra-
tiquee vers l'extremite posterieure de la moelle, le sillon
superieur descend moins profondement, et les cordons
inferieurs acquierent par la plus de volume.
La moelle des poissons serait donc composee de quatre
cordons, dont les superieurs sont beaucoup plus deve-
loppes que les inferieurs. Je n'ai pu apercevoir de cor-
don lateral : la presence de ce cordon parait dependre du
1 Rigoureusement parlant, il n'y a pas de substance grise, quant ä
la couleur, dans le Systeme cerebro-spinal des poissons: c'est une
substance jaunätre tirant sur le rouge, qui, par sa couleur, contraste
beaucoup moins avec la substance medullaire que ne le fait la sub-
stance grise des animaux superieurs.
MEMOIRE SUR LE SYSTEME NERVEÜX 187
developpement de la substance grise; en effet, ce n'est
reellement autre chose que la partie medullaire situee entre
les deux cornes du croissant forme par la substance grise
dans chaque moitie de la moelle. Or, il n'y a pas de cor-
nes anterieures dans la moelle des poissons; la partie
qu'on appelle cordon lateral coincide donc avec le cor-
don superieur. Cette disposition detruit dejä ä eile seule
la Classification des nerfs faite par Charles BeW^. La di-
vision par laquelle il separe ses nerfs respiratoires des
autres nerfs du Systeme cerebro- spinal est entierement
basee sur le cordon lateral, qui doit pre'sider ä leur fonc-
tion particuliere. Or, chez les poissons nous trouvons
quatre des nerfs respiratoires de Bell, savoir: les nerfs
vague, glosso-pharyngien, facial et pathetique, s'inserant
aux memes cordons que les autres nerfs cerebraux, et
ayant chez ces animaux une fonction aussi bien respira-
toire que chez Thomme. II faut donc que cette fonction
ne soit pas aussi diffe'rente de celle des autres nerfs que
Bell le pretend.
Les cordons infe'rieurs, que je compare aux pyramides
anterieures, se dirigent en avant, en s'elargissant, le long
de la face infe'rieure de la moelle, passent sous la com-
missure des lobes du nerf vague, puis sous la commissura
ansulata, et se divisent en deux faisceaux. L'interne se
continue en ligne droite, passe du cote' interne du pedon-
cule des lobes inferieurs (eminences mamillaires), auquel
il donne des filets, et forme enfin le pe'doncule des he-
mispheres, dans lesquels il s'e'panouit en rayonnant. L'ex-
terne est le plus volumineux; il se reflechit en dehors et
passe ä travers l'amas de substance grise qui forme les
couches optiques(6'^//^^>^^), en s'epanouissant en eventail
ä sa sortie, pour former le feuillet interne des lobes op-
tiques. Les fibres de ce feuillet sont parfaitement separees
du feuillet exte'rieur jusqu'au delä de son tiers superieur;
alors elles s'y collent en formant une bände rayonne'e ver-
ticalement, qui s'e'tend jusqu'au bord superieur de ce
feuillet exterieur, oü elles passent dans la bände etendue,
^ Exposition du systhm fiaturddes nerfs.
i88 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
le long de ce bord, sur la surface du cerveau, et comparee
2.Vi foriiix par Gotische. Je n'ai pu apercevoir de stries sur
cette bände, pas meme ä l'aide de la loupe ; eile parait
formee principalement de substance grise, au moins eile
contraste de la maniere la plus apparente, par sa couleur
jaunätre, avec les filets blancs medullaires qui s'y rendent.
C'est du bord interne 6.uformx que rayonne la membrane
qui Unit les deux lobes optiques, et que Gotische compare
au Corps calleux^; eile est bien evidemment la continua-
tion des fibres qui se sont rendues au fornix^ et qui en
rayonnent de nouveau de la meme maniere qu'elles le
faisaient pour les couches optiques (^Gotische). Les fibres
les plus anterieures de ce faisceau externe forment la com-
missure anterieure des lobes optiques.
La face inferieure des pyramides anterieures montre de
chaque cote du sillon median deux stries plus blanches,
tr^s fines, et qu'on peut suivre pendant un trajet assez
long sur la moelle, oü elles sont un peu plus larges qu'ä
la base du cerveau. Je ne sais si l'on pourrait avec raison
en faire deux cordons particuliers. Elles me parurent for-
mer, apr^s s'etre croisees, les cuisses anterieures de la
commissiira ansiilata. La face supe'rieure des pyramides
anterieures se voit sur le plancher du quatrieme ventri-
cule; eile donne un faisceau au tubercule impair de ce
ventricule et presente beaucoup de stries transversales.
Les pyramides poste'rieures se divisent pres de la pointe
du quatrieme ventricule en deux faisceaux; le superieur
passe sous la commissure posterieure du quatrieme ven-
tricule, forme la paroi interne de cette cavite en rayon-
nant dans les lobes du nerf vague, et donne un faisceau
de fibres qui se repandent, comme les branches d'un arbre,
sur la face superieure du tubercule impair du quatrieme
ventricule ; puis il passe dans les pedoncules du cervelet,
entoure, en forme d'anse, la cavite de cet organe, en
envoyant, comme l'arbre de vie des animaux superieurs,
des fibres medullaires dans la substance grise, et se rend
1 Je conserve les noms donnes par Gotische ä des parties qu'il a le
premier decrites d'une maniere bien exacte, sans toutefois partager
son opinion sur leur determination.
MEMOIRE SUR LE SYSTEME NERVEUX 189
enfin ä la base du torus posterieur (Serres) de son cote.
Gotische compare cette cuisse medullaire au Processus ce-
rebelli ad emifientiam quadrigenmiam. En sortant de cette
base, notre faisceau contourne en dehors et en arriere le
bord inferieur et externe du torus, et envoie en haut des
filets qui constituent un large feuillet, formant la face
externe de ce tubercule, et plie en dedans au bord supe-
rieur, comme on le voit aise'ment en faisant une coupe
verticale sur le torus. Gotische a tres bien represente cette
disposition sur la Carpe; cependant je n'ai pas vu ce
feuillet seulement forme de substance medullaire, comme
le pre'tend Gotische, il y a beaucoup de substance jau-
nätre, mais assez claire, melee entre les fibres blanches.
Le faisceau inferieur passe sous le lobe du nerf vague ä
la face infe'rieure et externe de la moelle, dont il forme
la partie late'rale, sur laquelle s'inserent le pathetique, le
trijumeau, Tacoustique et le glosso-pharyngien. Arrive' ä
la base du cervelet, il fournit en bas la cuisse posterieure
de la C07ti7nissura ansulata, et envoie au cervelet un fais-
ceau, qui monte le long du bord anterieur du pedoncule,
et qui s'epanouit sur la surface du cervelet et entre le
bord interne des tori posterieurs, et le tuberculum cordi-
forme (HaUer\ le point central, d'oü se contournent en
dehors les tori. Le tronc de ce faisceau se m^le avec les
fibres du faisceau superieur ä la base des tori posterieurs,
et y produit un veritable centre medullaire, d'oü nait un
faisceau assez considerable qui se dirige en avant, en
passant par le fond de la cavite des lobes optiques pr^s
de la ligne me'diane, concourt ä la formation de la com-
missure anterieure, et me parait se rendre aux hdmi-
spheres en formant la partie superieure de leur pedoncule.
Un autre faisceau descend en dehors entre les fibres des
pyramides inferieures vers le pe'doncule des lobes infe-
rieurs, qu'ilconstitueprincipalement^; d'ailleursc'estdece
1 Voici ce que dit Gotische sur cette disposition: «Dans les poissons
qui ont les tubercules quadnjumeaux tres developpes, on peut dire
que des parties laterales du cerv^elet un faisceau considerable de
fibres blanches se dirige en avant de chaque cote; pres des tuber-
cules quadrijumeaux il donne une brauche qui va a la face externe
I90 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
centre medullaire cite que me paraissent naitre les fibres
medullaires du fascia lateralis et du feuillet externe de la
paroi des lobes optiques. Ce feuillet, forme de substance
grise, est traverse par des stries de substance medullaire.
Ces stries, dirigees horizontalement d'arriere en avant et
tres developpees, principalement le long des bords infe-
rieur et superieiu: qu'elles entourent comme un ruban,
convergent ä la partie ante'rieure des lobes optiques pour
former le nerf optique. Elles coupent ä angle droit les
fibres du feuillet interne, dirigees dans un sens vertical.
En examinant le bord inferieur du feuillet externe, on
trouve qu'il est tout-ä-fait separe du feuillet interne, et
qu'il est facile de le replier, sans produire de lesion, pour
voir les fibres rayonnantes des couches optiques. En in-
sufflant l'intervalle compris entre les deux feuillets, on
parvient facilement ä les separer jusqu'ä la ligne dejä
decrite, oü les fibres du feuillet interne s'accolent au
feuillet externe avant de penetrer dans le foniix. II est donc
impossible que ce feuillet externe soit aussi, comme le
feuillet interne, une emanation des pyramides inferieures,
comme on le suppose generalement. La direction seule
de ses fibres medullaires suffirait dejä poiu: prouver le
contraire. Quel est donc son point d'originer C'est le
centre medullaire, forme ä la base des tori posterieurs
par les fibres des faisceaux inferieur et superieur des pyra-
mides posterieures. Le feuillet externe est forme par
des fibres des pyramides posterieures, qui s'epanouissent
horizontalement en passant au-dessus des fibres verti-
cales provenant des pyramides inferieures; cependant je
ne suis pas encore tout-ä-fait sür de la justesse de cette
Observation, et j'appelle l'attention des anatomistes sur
ce point, qui me parait important pour la physiologie des
cordons medullaires. Car, comme il n'y a pas de trace
d'un entrecroisement des cordons de la moelle dans le
sens antero-posterieur, comme la continuation du nerf
optique avec les stries medullaires du feuillet externe est
de ces dminences. Le tronc se porte en avant, passe ä cote et au-
dessous des couches optiques, et concourt ä la formation de la
commissure ant^rieure. »
MßMOIRE SUR LE SYSTEME NERVEUX 191
evidente, il serait bien singulier qiie ce feuillet, comme
on Tadmet generalement, füt forme par les pyramides in-
ferieiires; cordons qiii, apres avoir donne le long de la
moelle les racines motrices des nerfs, entreraient dans le
cerveau en rapport avec im nerf de Sensation aussi pur
que l'optique.
On pourrait separer les deux faisceaux des pyramides
posterieures en deux cordons, appeler l'inferieur cordon
restiforme, et re'server le nom de pyramide posterieure
au superieur; et en separant de meme les pyramides in-
ferieures en deux cordons, on aurait huit cordons medul-
laires. Enfin, j'ai trouve entre le cordon restiforme et le
bord externe de la pyramide inferieure, un faisceau de
fibres me'dullaires d'un blanc moins pur que ces cordons,
II forme avec son congenere ä la base des lobes du nerf
vague une commissure assez large. Son extremite ante-
rieure se confond avec le bord externe des pyramides
inferieures, lä oü celles-ci entrent dans les couches op-
tiques. Son extremite posterieure se confond avec les
pyramides superieiures. On pourrait le nommer cordon
lateral, pourvu qu'on n'attache pas ä ce nom l'idee d'une
Separation des autres cordons, ä laquelle sa disposition
anatomique est contraire; c'est ce cordon et le faisceau
inferieur des pyramides posterieures qui me paraissent
repondre au lemniscus de Gotische^ et au faisceau de Vin-
fmidibiilum de Laurencet. Car d'abord Gotische dit que le
lemniscus parait donner l'origine de l'acoustiqiie et du
trijumeau, et c'est ce qui a lieu pour le faisceau inferieur
des pyramides posterieures; ensuite il pretend qu'il se
confond avec les fibres des pyramides inferieures, et c'est
ce qui arrive pour le cordon late'ral. Je n'ai rien vu qui
put justifier la description quefait Laurencet de la termi-
naison de son faisceau de l'infundibulum, pourvu qu'on
ne suppose pas qu'il y ait de'crit les fibres qui, du fais-
ceau inferieur des pyramides posterieures, descendent dans
les lobes inferieurs.
Je le re'pete du reste, je crois que la moelle epiniere des
poissons est composee de quatre cordons, deux superieurs
et deux inferieurs, qui, en s'epanouissant en membranes,
192 NATUR WISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
ou en rayonnant dans la substance grise, forment le cer-
veau.
Le long de la moelle naissent cinquante-huit paires de
nerfs, dont dix paires appartiennent ä la partie cerebrale.
Par des raisons que je donnerai apr^s la partie descrip-
tive, nous verrons que les paires cerebrales re'pondent
aux nerfs olfactif, optique, ociüo-moteur, pathetique, ab-
ducteur, trijiimeau, acoiistique, glosso-pharyngien, vagiie
et hypoglosse.
1. Nerf olfactif .
Les racines de 1' olfactif passent, d'apres Cuvier'^, Serres
et Desmoulins^ sous la face inferieiire des he'misph^res, et,
apres avoir concouru ä la formation de leur commissure,
elles se continuent immediatement avec le pedoncule de
ces lobes, forme exclusivement par les pyramides inferi-
eures^. Mais le raisonnement que je viens de faire ä l'oc-
casion de l'origine du nerf optique, applique egalement
ä ce nerf, suffit pour rendre douteuse une pareille dispo-
sition. Voici ce que j'ai observe de positif: ä peu de dis-
tance des hemispMres l'olfactif se separe en deux racines;
l'interne, beaucoup plus considerable que l'externe, passe
du cote interne des hemispheres et de leur pedoncule, et
forme la commissure des hemispheres. La racine externe
contourne en dehors le pedoncule des he'misph^res, de
Sorte que celui-ci est embrasse des deux cotes par les
deux racines. J'ai vu la racine externe se continuer, de
la maniere la plus e'vidente, avec le faisceau qui se rend
des pyramides poste'rieiu-es au pedoncule des hemispheres.
Je ne doute pas que la meme disposition n'ait lieu aussi
pour l'autre racine.
Les racines s'unissent, au devant des hemispheres, en un
large ruban plat, mince, et forme de fibres paralleles.
L'olfactif se dirige en avant dans la cavite du cräne, entre
1 Histoire naturelle des poissons. — 2 Haller, Opera ininora, t. III,
indique trois points d'origine pour le nerf olfactif: "/// omnino
h'iplex ne^'vi olfactorii sit origo, a glandtda pituitaria, a tuberculo
inferiori {^trigomi/n fissu7?i Gotische, lobule optique Serres) et a
sjipcriori (hemispheres)." Quant ä la racine provenant de son tuber-
cule inferieur, Haller parait d^signer par eile les p^doncules des
hemispheres.
MEMOIRE SUR LE SYSTEME NERVEUX 193
Les bases des petites alles Cuvier et Bojanus (grandes ailes
de Mecket), et des sphenoides anterieiirs Cuvier (petites
vXt's>MeckeI^ ^^rostrum sphenoidaW^ Bojanus)^ et se renfle,
Jerriere le grand trou, dans l'ethmoi'de Meckel (entre le
frontal anterieiir et l'ethmoi'de de Cuvier), en iin ganglion
Dblong, grisatre et d'une consistance molle. De la partie
Interieure de ce renflement partent des filets raous qiii
iraversent, comme par iine lame criblee, la membrane
Eibreuse qui bouche ce trou, pour se rendre aux feuillets de
ia pituitaire. Le nerf olfactif et son ganglion sont revctus
par la pie-m^re de la meme mani^re que le cerveau; eile
forme im tuyaii dans lequel est place le nerf, sans que ses
filets soient pourvus de gaines particuli^res de nevril^me.
Dans le Brochet le nerf olfactif se comporte d'une ma-
iiiere bien dififerente. Scarpa'^ dejä a fait remarquer cette
disposition. II n'y a pas de renflement au bout du nerf;
mais il y en a im ä son commencement au devant des
hemisph^res. Ce renflement communique avec les hemi-
spheres par im court pedicule dispose de la meme maniere
que le nerf olfactif des Cyprins. De sa partie anterieure sort
le nerf olfactif, qui devient peu ä peu plus large vers sa
terminaison, ses fibres formant entre elles une esp^ce de
plexus, avant de se porter dans les narines. Sastnicture est
analogue ä celle des autres nerfs cerebraux; il est rond et
compose de faisceaux paralleles de fibres medullaires.
D'apres les anatomistes on rencontre l'une ou l'autre de
ces dispositions chez tous les poissons, selon que leur
bulbe olfactif est place au commencement ou ä la fin du
nerf. On pourrait bien demander si ce que Ton appelle
ordinairement le nerf olfactif, chez les poissons qui ont le
bulbe olfactif derriere les narines, ne serait pas plutot un
pedicule long qui unirait ce renflement au cerveau; tan-
dis que le nerf olfactif proprement dit serait forme par les
filets qui sortent de sa partie anterieure. En efifet, le nerf
olfactif des anatomistes se comporte, pour sa stnicture et
son Insertion, absolument comme le court pedicule qui
imit les bulbes olfactifs aux hemispheres chez le brochet,
^ De auciitu et olfactu.
194 NATURVVISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
seulement il est plus long. L'objection faite par Gotische^
qui pretend que, d'apres cette maniere de voir, ime partie
du cerveau serait en dehors de la cavite du cräne, n'est
pas fondee. Les renflements des nerfs olfactifs des Cyprins
sont places, comme je Tai dit, derriere une membrane
fibreuse, qui bouche le trou par lequel passent les filets
du nerf olfactif. Scarpa dejä compare cette membrane,
ä cause de la maniere dont eile est percee par les filets
de l'olfactif, ä la lame criblee; les renflements en question
se trouvent donc au dedans de la cavite cränienne,
2. Nerf optique.
De quelle partie de la masse cerebrale provient ce nerf:
Des lobes optiques, d'apr^s tous les anatomistes; et,
d'apr^s tous aussi^, des deux feuillets de ces tubercules.
Cuvier seul ne parle que du feuillet externe^. Arsaky,
1 Haller, apres avoir toutefois d^signe encore d'autres points d'ori-
gine, admet pour origine generale du nerf optique les deux couches
du lobe optique; il sexprime en ces termes: '''' Earum fibrarum quae
interio7'es eae ex seiuicirculari toro (tubercules anterieurs de la cavite
des lobes optiques] natae, quem dicimus, 07nnes in nervum optiaim
coeunt. Exterius cjus7nodi fibrae ex convexo dorso optici thalami (lobe
optique) in ner^'i optici postei'iorem radicem colliguntur. Nej-vus op-
ticus et anferioi'i stia radice ex hoc thalamo prodit, quae vei'vis olfac-
toriis vicina adjacet; et altei-a postei'iori, majori, quae inter tuber culum
inferius majusque aiürorsum tendit. Pi'ior radix interiores et cavas
thalami partes tenet, haec exteriora et dorsum^"^ Opera minora, t. III,
il dit que dans le Cyp7-inus Capito et Tinea, et dans le Trutta alpina
et lacustris le nerf optique regoit en outre une racine de son tuber-
culu7n i7iferius. — Ca7-us, dans son Manuel d^ a7iato77tie co7nparee, me
parait admettre la meme chose; il dit: " Vo7i der Decke dieser Seh-
hügel 7tä77ilich, einer innerlich schön gestreif te77 Ma)-khaut, e7ttsp7'ingen
zu beiden Seite7i 77iit breite7i ba7tda7-tige7i lVurzeh2 die Seh7ie7'ven^'' —
Desmouli77s dit que les lames plissees du nerf optique s'unissent en
partie au feuillet interne, qu'il decrit comme une ou plusieurs lames
contournees en une seule volute. — Se?-res pretend avoir vu dans le
nerf optique les memes couches que dans le lobe optique. — Gottsche
assure que le nerf optique est forme par deux faisceaux de la svu"-
face du lobe optique et par des fibres de sa partie interne. Chez le
Pleuro7iectes Platessa il decrit et represente d'ailleurs un faisceau du
fascia lateralis se rendant dans ce nerf. — - Histoire natu7'elle des
poissons: «Les fibres de la couche externe des lobes creux se ren-
dent pour la plupart au nerf optique; mais elles concourent ä sa
fonnation avec d'autres fibres, venues les unes du lobe inferieur, les
autres de la moelle allongee, quelques-unes meme, comme il est
facile de le voir dans les Raies, du lobe anterieur.»
MEMOIRE SUR LE SYSTEME NERVEUX 195
Desmaulins^ et Cuvier assurent que le nerf optique re^oit
d'ailleurs des fibres des lobes inferieurs ou mamillaires.
D'apres Scrres^, il y a meme des fibres des pyramides
inferieiires qui s'y rendent. Haller^ Carus et Gotische nient
au contraire que des filets des lobes mamillaires parvien-
nent aux nerfs optiques.
Voici ce que j'ai observe relativement ä ce sujet.
Le nerf optique nait du feuillet externe du lobe optique,
et principalement des deux rubans medullaires qui bor-
dent ce tubercule. Gotische caracterise tres bien la ma-
niere dont se comportent ses racines, en disant: «Pour
donner une idee de la disposition des fibres de ce nerf,
on pourrait dire que le nerf optique est creuse ä sa partie
posterieure, et qu'il embrasse de ses racines les lobes op-
tiques.» Le nerf optique regoit en outre un faisceau du
fascia lateralis de la maniere dont Gottsche l'a represente
chez le Pleuronectes Platessa. Je n'ai pas trouve un seul
filet qui justifie l'opinion de ceux qui pretendent que le
nerf optique regoit aussi des racines du feuillet interne
ou de rinterieur du lobe optique. L'arrangement des deux
couches de ce lobe, que j'ai de'crit, suffirait ä lui seul pour
prouver l'impossibilite d'une pareille disposition. Le nerf
optique me parait appartenir exclusivement aux cordons
superieurs de la moelle; opinion dont la justesse est en
raison de ce que j'ai avance plus haut, sur le point de
depart des fibres medullaires de la couche externe des
lobes optiques. Apres son origine le nerf optique con-
tourne de haut en bas le pedoncule des hemispheres, pour
se croiser, au devant du trigonmn fissum^ avec celui du
cote' oppose, auquel il est uni, avant son croisement, par
la commissura transversa (Hallcr). C'est cette commissure
qui sugge'ra ä Haller l'opinion que, pour l'acte de la Vi-
sion, il fallait une union particuliere des deux nerfs op-
tiques; eile est placee immediatement au devant du tri-
1 Ouvr. cite, t. ler^ p. 334: «Dans les oiseaux, les reptiles et les
poissons il n'y a pas une seule fibre qui s'insere ailleurs qu'au lobe
optique et ä son renflement inferieur ou mamillairo — 2 Ouvr. cite,
t. jer^ p. 309: <:Independamment de cette origine, quelques fais-
ceaux des pyramides se continuent immediatement dans le nerf
optique.»
196 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
gonum ßsswn. Gotische la decrit comme formee de deux
faisceaux, places l'iin au devant de l'autre, et dont le
posterieur s'unit 2.Vi fascia latej-alis; tandis que l'anterieur
forme la commissure des nerfs optiqiies. Je puis confirmer
la justesse de cette description, et y ajouter que de la
bände postdrieure partent deux faisceaux meduUaires qui
se rendent au trigonumfissiun. L'entrecroisement des nerfs
optiques est complet. Immediatement apr^s cet entre-
croisement ils re^oivent une gaine fibreuse du pdrioste,
qui se continue avec la sclerotique; ils sont formes de
faisceaux assez gros, composes de fibres medullaires pa-
ralldes.
Le nerf optique entre dans l'orbite par un trou de la base
de la petite aile [Cuvier). L'endroit oü il penetre dans le
globe de l'oeil ne repond pas ä l'axe de cet Organe; mais
il est place plus en dehors. II penetre par un trou de la
sclerotique, se dirige un peu vers Taxe de l'cßil, entre les
feuillets de la membrane choroi'de, et, apres s'etre aplati
en bände, il s'epanouit pour former la retine qui rayonne
en partant d'une ligne dirige'e dans le sens de Taxe de
l'oeil. La Carpe presente sous ce rapport une disposition
dififerente : la retine rayonne d'un point, au lieu d'une
ligne, le nerf optique gaxdant sa forme ronde. II est fa-
cile, comme le dit CaruSj de se'parer la retine en deux
feuillets, externe et interne; ce dernier seulement montre
des fibres apparentes rayonnant vers la pe'ripherie. La
retine n'est pas plisse'e.
3. Nerf oculo-motcur.
II nait, d' apres tous les auteurs, des pyramides anterieures,
pres de la ligne mediane, derriere les lobes inferieurs.
Carus pretend en avoir suivi une fois, chez le Brochet, la
racine jusque dans le torus anterieur. J'ai trouve le point
d'insertion de l'oculo-moteur entre les deux cuisses de la
commisswa ansulaia. Si l'on compare le renflement, situe
au devant des lobes optiques, aux he'misph^res, comme
le fönt Arsaky, Carus^ Tiedemaim, Serres, les pyramides
anterieures forment les pedoncules du cerveau, et alors
l'oculo-moteur nait absolument de la meme maniere que
chez l'homme. L'oculo-moteiu:, apres son origine, cache'
MEMOIRE SUR LE SYSTEME NERVEUX 197
d'abord par le bord posterieur des lobes mamillaires, les
contoiirne d'arri^re eii avant; ensuite il se place au cote
interne du ganglion du trijumeau, et traverse la petite aile
du sphenoi'de {Ciivier)^ en passant par un trou particulier,
creuse pres du bord posterieur de cet os, tout pr^s du
canal que traverse le nerf maxillaire inferieur. II se dis-
tribue exactement aux memes muscles de l'cpil (jue chez
rhomme.
Le globe de l'ceil re^oit-il des tilets de la troisieme pairer
Desmoidins le nie. D'apres lui il n'y a que l'ceil des Raies
et des Pleuronectes, poissons dont l'iris est pourvu d'une
Sorte de palmette mobile, qui re^oive des filets de la
troisitoie paire; tandis que tous les yeux pourvus de glan-
des choroi'diennes, regoivent un ou plusieurs filets de la
brauche ophthalmique de la cinquieme paire, en propor-
tion du volume de cet appareil vasculaire. Cuvier dit au
contraire: «La troisieme paire pen^tre aussi dans l'inte-
rieur du globe, et donne les filets de sa membrane cho-
roide.» Haller^ parle de nerfs ciliaires chez le Saumon et
chez le Brochet: '•'Sahno: Una cum hoc vasculo campanulam
nervHS ciliaris adit, qui prope i?tgressu7ti nervi optici tuni-
cam scleroticam perforat. — Esox : Nervus ciliaris^ comes
nervi optici wucus.^'' Muck et Tiedemami trouverent chez
le Salmo Hucho des nerfs ciliaires fournis par Toculo-
moteur et l'ophthalmique, et qui s'anastomosent en partie;
chez la Car])e ils en observerent qui venaient de l'oculo-
moteur seul. D' apres les recherches de Schlemm^ les pois-
sons ne se distinguent pas des autres vertebres sous le
rapport des nerfs ciliaires. II trouva en ge'ne'ral les deux
racines ordinaires^. Voici ce que j'ai observe:
Apres avoir donne les filets aux muscles droit interne et
droit infe'rieur, l'oculo-moteur s'anastomose avec un filet
de l'ophthalmique; apres quoi il se renfle d'une maniere
presque imperceptible, et envoie au globe de l'oeil un filet
tres fin, qui penetre dans cet organe pres de Tentree du
nerf optique, au meme endroit que les vaisseaux de l'ceil.
Ce filet contourne en partie le nerf optique, se dirige en
1 Opera minora, t. III, Pisciwn oculi. — 2 Müller, Handbuch der
Physiologie, t. Jer, vol. 3, p. 766.
198 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
avant entre les deiix feuillets de la choroi'de, et se divise
en deiix filets qiii se distribuent dans Piris, en divergeant.
Chez la Carpe la distribution de la troisieme paire est ab-
solument la meme. Chez le Brochet la troisieme paire
traverse la membrane fibreuse, qui remplace en grande
partie la petite aile; du reste eile se comporte de la meme
maniere que chez les Cyprins, seiüement eile est plus vo-
lumineuse, circonstance qui coincide avec la nature car-
nassiere de ce poisson. Le nerf ciHaire est plus facile ä
suivre que chez les Cyprins.
Le filet fourni ä l'iris par la troisieme paire. contredit tout
ce qu'on a avance sur l'immobilite de cet Organe chez les
poissons; en efifet, comment supposer qu'un nerf emi-
nemment moteur dans les classes precedentes, moteur
aussi dans celle-ci, ait change de nature dans ce seul
filet? 11 n'y a jusqu'ä prdsent que RoseiithaP-^ que je sache,
qui ait attribue ä l'iris des poissons un mouvement, quoi-
que tres faible. Les experiences que j'ai faites pour m'e-
clairer sur cette question, ne m'ont point encore donn^
de resultats suffisants; cependant je puis assurer que j'ai
vu le diametre de la pupille change, apres avoir remis
dans l'obscurite le poisson dans l'ceil duquel j'avais fait
tomber une vive lumi^re ä l'aide d'une lentille.
4. N'erf patMtique.
Serres pretend que le nerf pathetique nait de la face su-
pdrieure du cerveau, entre la base du cervelet et le bord
posterieur des lobes optiques, ä l'endroit qui re'pond ä la
valvule de Vieussens. Gotische dit la meme chose. Serres
fonde en grande partie sa determination des lobes opti-
ques sur cette origine; et Carus"^, la supposant la meme
dans les poissons que dans les autres classes, en deduit
sa loi generale de la formation de la quatri^me paire.
Desmoulins, au contraire, soutient que cette disposition
ne se rencontre que chez les Raies et les Squales; tan-
dis que chez tous les poissons osseux, y compris les Cy-
clopteres, les T^trodons, les Baudroies et les Esturgeons,
la quatri^me paire s'ins^re ä l'autre extremitd du meme
^ Zergliederung des Fischauges, Reih Archiv^ T. VII, Heft III. —
^ Von den Urteilen des Knochen- und Schalengerüstes.
MEMOIRE SUR LE SYSTEME NERVEUX 199
(liametre de la moelle, c'est-ä-dire ä la face inferieiire
du Systeme, toujours sur la ligne mediane, de maniere
que les extremites des filets d'insertion du nerf d'un cote,
sont contigues ä Celles de l'autre.
Cuvier se ränge de Tavis de Scr?-es^ en disant: «Le nerf
de la quatrieme paire nait en arriere des lobes creux et
des tubercules qu'il renferme, et dans le sillon qui les
separe de la base anterieure du cervelet, quelquefois un
peu sur le cote; mais non, comme on Ta dit, tout-ä-fait
en dessous.»
J'ai trouve {'Insertion de ce nerf sur la face laterale de la
moelle, tout pres du bord externe des pyramides antd-
rieures, un peu au-dessus et au devant de la racine ante-
rieure du trijumeau. Elle est plus rapprochee de la face
infdrieure du cerveau que de la sup^rieure; neanmoins, a
en juger d'apres le Barbeau et la Carpe, et d'apres le Bro-
chet, Oll eile est la meme, quoiqu'un peu plus superieure
encore, je ne con^ois pas comva^nt De s?nouIi?is peut parier
d'une contiguite des racines. La delicatesse du nerf m'a
empeche de suivre sa racine dans la moelle; mais je ne
deute pas qu'elle ne vienne des pyramides anterieures.
Le path^tique est place' du cöte interne du ganglion de
la cinquieme paire; il sort par un trou de la petite aile du
sphenoi'de; presque au centre de cet os. Chez le Brechet
il traverse la membrane fibreuse; il est aussi plus volu-
mineux que chez les Cyprins. Comme chez Thomme, le
pathetique se rend au muscle oblique superieur, et avant
d'y entrer il se divise en deux filets.
5. Nerf abducteur.
Ce nerf nait des pyramides anterieures, entre les racines
post^rieures du trijumeau, dans un point assez rapproche
de la Hgne mediane; je lui ai vu deux filets d'origine. II
se dirige aussitöt en dehors pour traverser, avec la brauche
maxillaire, un canal propre ä ce nerf, entre les bases de
la grande et de la petite aile, et la face superieure con-
cave du corps du sphenoi'de. II se rend dans la partie
posterieure du muscle abducteur. Cette paire est tr^s fine
et difficile ä suivre. Je crois lui avoir trouve une anasto-
mose avec le grand sympathique, anastomose qui n'a ete
2 00 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
constatee pour les poissons, jusqu'ä present, que par Cu-
vier, siir la Morue.
6. Le trijumeau.
Les donnees siir Torigine de ce nerf sont generalement
vagiies. On se contente de dire qu'il nait du cote de la
moelle allongee, au devant ou au-dessus de l'acoustique,
au devant des lobes places derri^re le cervelet, au devant
des cuisses du cervelet, etc.
Desmoulins dit en outre qu'il nait des cordons superieurs.
Les stries medullaires transverses, que Ton voit sur le
plancher du quatrieme ventricule, paraissent ä Cuvier etre
en rapport avec les racines de la cinquieme paire; il as-
sure d'ailleurs qu'on peut suivre les racines du trijumeau
dans diverses directions, mais sans s'expliquer davan-
tage. Serres dit que, dans toutes les classes, le trijumeau
nait par deux racines, ä la maniere des nerfs spinaux.
Weber^ prononce la meme opinion ä l'egard des poissons.
Dans un me'moire^ qui a paru plus tard, il fait provenir le
trijumeau du cervelet, chez la Carpe, mais sans y parier
de deux racines. Gotische, enfin, dit que le trijumeau nait
du cordon qu'il appelle lemnisciis, et qu'on peut en suivre
les racines dans la moelle jusqu'au-delä du quatrieme
ventricule.
Le trijumeau nait des parties laterales de la moelle par
deux racines, une anterieure et une posterieiu^e. L'ante-
rieure s'ins^re tout pr^s du bord externe des pyramides
ante'rieures, ä l'endroit oü celles-ci se contournent en
dehors pour se rendre aux couches optiques. Dans l'in-
terieur de la moelle ses filets passent derriere le faisceau
inferieur des pyramides posterieiures, en se dirigeant en
bas et en arriere, et se rendent aux pyramides anterieures.
La racine posterieure surpasse de beaucoup en volume
l'ante'rieure; eile s'insere plus en arriere et en haut que
celle-ci, vis-a-vis la base du cervelet. Ses fibres se di-
1 De aure et audiUi, p. 87: ''^ Nervi cerebrales, frigeminus et vagus
pisciwn, more nervortwi spinaliuvi chiabus radicibus incipiunt, in
ganglia intumesamt, etc^"^ — - Meckels Archiv, 1827: ''Über das Ge-
schmacks-Organ des Karpfen und den Ursprtnig seiner Nerven, von
E. H. Weber.
MEMOIRE SUR LE SYSTEME NERVEUX 201
rigent en haut vers cette base, et en arriere le long de la
paroi du quatrieme ventricule, et se rendent dans le fais-
ceau superiem- des pyramides posterieures. Les filets de
la racine poste'rieure, disposes parallelement ä leur sortie
de la moelle, commencent aussitot ä s'entrecroiser, en
formant uii plexus qui constitue un ganglion tres consi-
derable et d'une forme irreguliere, dans lequel une aug-
mentation de substance a evidemment Heu, vu que pres-
que chacune des branches qui en partent surpasse en
volume la racine du ganglion, La racine anterieure est
placee ä la face interne du ganglion, le long de son bord
anteriem^, et passe, sans se meler ä ses fibres, dans le tronc
d'oü naissent les deux rameaux qui, des branches du tri-
jumeau, donnent probablement seuls des filets moteurs;
ces rameaux sont le maxillaire inferieur et l'operculaire,
donnant les filets des muscles de la respiration et de la
mastication. II est clair que le ganglion du trijumeau re-
pond au ganglion Gasseri, et que ses deux racines repon-
dent ä la grande et ä la petite racine du trijumeau de
rhomme. D'ailleurs il est evident que Torigine de ce nerf
est la meme que celle des nerfs spinaux, seulement eile
se fait dans une proportion de volume infiniment plus
grande.
Du bord superieur de ce ganglion partent deux ou trois
filets assez fins, qui se collent contre la paroi interne de
la cavite' cränienne, et qui y montent, en se ramifiant dans
les parties membraneuses et dans le tissu graisseux. Ils
forment une espece de plexus plus ou moins prononce
chez les dififerents individus, et semblable, quoique infini-
ment moins developpe, ä un plexus pareil de'crit et des-
sine par Weber, sur le Si/urus Glanis, dans l'ouvrage:
De aure et auditu.
Ciivicr compte en general six branches, dans lesquelles
se divise la cinquieme paire des poissons osseux: trois
d'entre elles repondent, d'apres lui, aux branches oph-
thalmique, maxillaire superieure et maxillaire inferieure;
tandis que les trois autres sont ichthyologiques ou pro-
pres aux poissons seuls. II les designe sous les noms de
branches occipitale, operculaire et pte'rygo-palatine. Des-
202 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
moulins^ au contraire, en compte cinq, savoir: l'ophthal-
mique de Willis, les nerfs maxillaires superieur et infe-
rieur, et les branches operculaire et ptdrygo-palatine
(Ctivier)^ qu'il appelle spheixO-palatine; le nerf occipital
de Cuvier, dont il change le nom en pt^rygo- dorsal, ne
se trouvant, d'apres lui, que chez les Gades et les Siliires.
Enfin, Webef'^ a trouve chez la Carpe iine branche toute
particuliere, sans analogue dans les autres poissons, et
qiii a 6t€ decouverte plus tard aussi dans d'autres Cyprins,
par Desmoulins (loc. cit.) et Bise hoff ^.
Dans le Barbeau et la Carpe j'ai vu le ganglion du triju-
meau se diviser en cinq branches, que j' appelle: Ophthal -
mique, maxillaire superieure (branche pterygo-palatine
Cuvier^ sphdno-palatine Dcsnioulins\ maxillaire inferieure
(branche maxillaire superieure et inferieure Cuviertt Des-
moulins), operculaire et re'ciurente (branche propre aux
Cyprins, decouverte par Weber).
a. V ophthahnique de Willis.
Cette branche nait du bord supdrieur du ganglion du tri-
jumeau, ses filets d'origine se prolongent du cote interne
de ce ganglion en deux cuisses divergentes, entre les-
quelles passe la racine anterieure du trijumeau. Aussitöt
apres son origine il se detache de son bord inferieur un
filet qui passe par le canal du nerf maxillaire, et qui, apr^s
avoir envoye un filet de communication ä la troisieme
paire, se dirige en avant entre les muscles droit supe-
rieur et droit externe, et pen^tre dans le globe de l'oeil ä
quelques lignes au devant du nerf optique; il perce la
scldrotique, se dirige vers l'iris entre le feuillet externe
de la choroi'de et la sclerotique, et se divise en deux
filets, qui embrassent en grande partie le contour de l'iris,
en se ramifiant le long du bord externe de cette mem-
brane. Ce fait suffit pour prouver c[\\e Desmoulins fait de-
pendre ä tort les filets ciliaires de Pophthalmique de
l'existence de la glande choroi'dienne. J'ai trouve la meme
disposition sur la Carpe et sur le Brochet; l'oeil de ces
poissons re^oit donc des filets des memes nerfs que celui
1 De aure et auditti. — 2 Js^gy^i accessorii Willisii anatomia et phy-
siologia.
MEMOIRE SUR LE SYSTEME NERVEUX 203
de l'homme; meme l'anastomose de la troisieme paire
avec rophthalmique nous rappeile le ganglion ciliaire.
Du bord superieiir de rophthalmique, aussitot apr^s son
origine, ou meme encore du bord superieur du ganglion
du trijumeau, nait un filet qui monte en formant une ar-
cade, de la convexite de laquelle partent des filets pour
la paroi interne du cräne. Ce rameau s'unit de nouveau
ä rophthalmique au moment oi^i ce nerf sort du cräne;
quelquefois cette union n'a pas lieu, et il traverse alors la
petite alle par un trou particulier et donne les filets or-
bitaires. L'ophthalmique passe par la petite aile du sphe-
noide, ä travers un trou situd pr^s du bord superieur et
posterieur de cet os, et traverse l'orbite le long de sa
paroi superieure, en donnant des filets au tissu graisseux
et aux parties membraneuses qui entourent le globe de
l'oeil; puis il passe par un canal entre la face inferieure du
frontal et la face superieure du frontal anterieur Cuvier
(ethmoide Meckel\ et se divise en deux filets, un supe-
rieur et un inferieur, qui contournent la narine en don-
nant des filets ä son bord, et d'autres qui penetrent dans
l'organe meme. Je me trouve donc de nouveau en Oppo-
sition avec Desnioulins^ qui nie ce fait, contrairement ä
Scarpa et ä Monro. Ces deux filets se dirigent apr^s vers
le museau, oü ils se perdent; l'inferieur s'anastomose
avec la brauche maxillaire superieure. Chez la Carpe, les
filets de rophthalmique, qui se rendent au tissu graisseux
du cräne et ä l'orbite, sont plus developp^s que chez le
Barbeau.
b. Le maxillaire supirieur.
II se detache du bord inferieur et interne du ganglion,
passe par un canal forme par la face superieure convexe
du Corps du sphenoide et les bases de la grande et de la
petite aile, se dirige le long de la paroi interne de l'orbite,
passe entre le frontal anteriem- et le palatin {'■'•os supra-
maxillare''^ Boja)ius\ longe le vomer, et forme une sorte
de plexus avec un rameau du nerf maxillaire inferieur. De
ce plexus sortent trois branches pour les deux barbillons
et pour la levre charnue, le long de Tos intermaxillaire.
Celle du barbillon superieur passe par un trou creuse ä
204 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
Pextrt^mite interne de l'os maxillaire siiperieur, qui parait
repondre au troii sous-orbitaire. Apres le nerf maxillaire
inferieur, la branche maxillaire superieiire est la plus vo-
lumineuse de celles du trijumeau.
c. Le maxillaire inßiieur.
Ce nerf se separe du ganglion, de son bord anterieur, et
traverse le cräne par un canal entre le bord anterieur de
la gi-ande et le bord posterieur de la petite aile. Apr^s
un court trajet ä travers le fond de l'orbite, il se divise
en deux branches; la superieure, designee ordinairement
comme nerf maxillaire superieur par les anatomistes, se di-
rige en haut en formant une arcade le long des appareils
palatin et pterygoidien. Apres avoir envoye un ou deux
filets au museau, eile forme, avec le nerf maxillaire supe-
rieur, le plexus ci-dessus decrit.
L'autre branche du nerf maxillaire, comparee par les ana-
tomistes au nerf maxillaire inferieur, se dirige en bas,
donne un fort rameau au muscle crotaphyte et un autre
aux environs du barbillon inferieur, et se place, enfin, du
cote interne de Fos maxillaire inferieur: la eile se divise
en deux rameaux; le superieur traverse un trou dans la
moitie anterieure de Tos maxillaire inferieur, trou qui re-
pond au trou mentonnier, et se distribue dans la levre
inferieure. Le rameau inferieur forme un petit plexus avec
les filets les plus anterieurs de la branche operculaire, et
donne des filets ä la membrane buccale. De ce plexus
part un filet pour le muscle genio-hyoidien (Cuvie?').
d. La branche operculaire.
Elle nait du ganglion, derriere la maxillaire inferieure, et
sort du cräne par un trou de la grande aile, divise en
deux par une petite lame osseuse; division qui fait que le
nerf parait naitre du ganglion par deux racines; aussitot
ce nerf re^oit, par son bord poste'rieur, la branche de
communication du grand sympathique, et envoie en ar-
riere un long filet destine aux muscles de la respiration,
savoir aux muscles de l'opercule et de Tappareil tympa-
nique. Ce filet s'anastomose ensuite avec un filet du nerf
vague, pour s'epanouir sur la membrane qui revet la face
interne de l'opercule. Du bord anterieur de la branche
MEMOIRE SUR LE SYSTEME NERVEUX 205
operculaire se detache un autre filet pour le grand muscle
dilatateur de l'appareil pterygo-tympanique, qui est par
cela un des plus puissants muscles respirateurs. Ensuite le
nerf operculaire s'engage dans un canal de Vos quad?'atum^
reparait sur la joue, donne un filet qui parait se perdre
dans le crotaphyte, mais qu'on peut suivre aisement ä
travers les fibres de ce muscle, dans la membrane de la
joue, et se divise enfin en trois branches; l'anterieure
forme, avec le nerf maxillaire inferieur, le plexus dejä
decrit, et les deux pcsterieures se distribuent aux muscles
de la membrane branchiost^ge: un de leurs filets parvient
aussi jusqu'au plexus.
e. La branche rhwrente.
D'apres les faits connus jusqu'ä present, la branche re-
currente parait etre propre exclusivement aux Cyprins.
C'est Webei' qui l'a decrite le premier, dans son ouvrage
De mi7'e et auditu. Voici ce qu'il en dit: ''/?/ Cyprino Car-
pione nervus trigeminus ramiim a-assum siib nervo acustico
traiiseiintem ret?vrsimi ablegat, qui in basi cranii in ma-
gnum gangUon ameduUa ob longa ta tectwn intumesccns quin-
qtie raniis of'igi?ie?n dat: a et b, diw ra7jii ad sacciim^ basi
ossis occipitis abditum^ alter ad anteriorem, alter ad poste-
riorem loculum descendimt\ c, tertius in ampt/llam canalis
posterioris insiniiatur; d, quartus ratniis musculis branc/iia-
rum desti7iatus, denuo finditur, alter eniin ejus 7'amus per
propriu77i cranii forame7i, juxta ostium 7iervi vagi positmn^
alter per ide77i ostium cu77i nervo vago e cranio editur; e, quin-
tus sub nervo vago tra7isie7ts, atque adforamen 77iag7iU7n la-
terale ossis occipitis ve7iiens^ cu7n 7iervo hypoglosso a 7nedulla
oblo7igata incipiente^ duabus 7'adicibus co/iju/igitur.^'
Des)7iouHns ajoute, que la branche recurrente communi-
que avec sa congen^re par une commissure transversale,
un peu plus mince qu'elle-meme, et qui passe sans ad-
herence sous la moelle en arri^re des eminences mamil-
laires; et que, chez le Barbeau, eile fournit le nerf ante-
rieur de la premi^re branchie (le glosso-pharyngien C^ivier).
II donne en outre, de l'origine du nerf recurrent, qu'il
regarde comme un embranchement de la branche spheno-
palatine, une description un peu singuli^re. La voici:
2o6 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
«La quatrieme branche (la spheno-palatine) est la plus
infdrieure de toiites pour son Insertion et son trajet dans
le cräne ou ä travers les os de la tete. Dans le genre
Cyprin eile offre dans le cräne, sous Tencephale, une dis-
position Sans exemple dans les vingt-neuf autres genres
de poissons que j*ai pu examiner; au lieu de converger
vers l'encephale, pour y terminer leurs fibres, soit par
insertion, soit par continuite, les deux nerfs de cet em-
branchement de la cinquieme paire, parvenus au contact
de la base du quatrieme ventricule, oü ils sont beaucoup
renfles, se reflechissent en dehors, redeviennent paralleles
sous forme d'un fuseau qui va toujours en diminuant, et
se dirigent, sans y adherer, sous l'insertion meduUaire
du ganglion pneumo-gastrique, jusqu'ä la racine infe-
rieure du premier nerf spinal, qui n'en est que la conti-
nuation.»
Bischoff (loc. cit.)^ enfin, ne contredit pas ses predeces-
seurs; mais il ajoute quelques details ä leurs descriptions,
en disant que chez la Carpe le rameau de la brauche re-
currente, qui s'unit ä Thypoglosse, est divise en deux, et
qu'il donne un rameau au ganglion du nerf vague.
En resumant donc les faits donnes par les auteurs cite's,
nous aurions une branche de la cinquieme paire recur-
rente au dedans de la cavite cränienne, s'anastomosant
avec le nerf vague, remplagant enpartie ce nerf etl'acous-
tique, donnant une des racines de Thypoglosse et for-
mant, enfin, une com.missure sous la moeile; branche qui
ä eile seule suffirait pour rendre impossible chaque theorie
rationnelle du Systeme nerveux. Mes observations ce-
pendant ne sont pas d'accord avec celles que je viens de
citer; la disposition si singuliere de cette branche devient,
d'apres ce que j'ai vu, beaucoup plus simple.
Du bord posterieur et inferieur du ganglion du trijumeau
nait une forte branche dirige'e en arriere dans 1' Interieur
de la cavite cränienne et divisee, aussitöt apr^s son ori-
gine, en deux rameaux. Le supe'rieur est le plus volumi-
neux, il passe le long de la moeile allongee dont il couvre
le bord inferieur, monte un peu en haut et s'unit au gan-
glion du nerf vague, dont il forme le bord superieur, et
MEMOIRE SUR LE SYSTEME NERVEUX 207
(lont il parait etre, au premier aspect, la racine supe-
rieure. Ses fibres entrent en partie dans le plexus de ce
ganglion, et se rendent pour la plupart dans la grande
branche late'rale du nerf vague. Ces demieres se distin-
guent facilement par leur direction, elles forment un fais-
ceau compose de fibres paralleles et bordant le ganglion
d'un ruban assez large, sous le bord infe'rieur duquel sor-
tent ä angle droit les filets qui forment le plexus nerveux
qui constitue le ganglion. Le rameau inferieur marche le
long de la face inferieure de la moelle, s'unit ä son con-
ge'nere par une commissure, passe sous la racine infe'-
rieure du nerf vague, et s'unit enfin aux deux racines dont
nait rhypoglosse au point de leur reunion; pendant ce
trajet, il donne un filet ä la face infdrieure du ganglion
du nerf vague. La commissure me parait sujette ä beau-
coup de variations; je Tai trouvee dirige'e tantot dans un
sens oblique, tantot transversalement, quelquefois meme
eile m'a paru manquer.
Les nerfs du sac et de l'ampoule posterieure, et le nerf
de la premiere branchie, naissent de la moelle absolu-
ment comme tous les autres nerfs; ils ne fönt que passer
entre les filets de la branche re'currente qui couvre, comme
je viens de le dire, la partie laterale et inferieure de la
moelle. II est facile de s'en convaincre quand on sort
soigneusement du cräne le cerveau avec ses nerfs, ou
quand on fend le cräne et le cerveau exactement le long
de la ligne mediane, et qu'on fait la preparation de de-
dans en dehors; mais en separant. le cerveau seul, et en
laissant le re'current sur la base du cräne, comme Weber
l'a repre'sente' pour la Carpe, on dechire Torigine des
nerfs en question, et ils paraissent provenir du recurrent;
cependant, en regardant de plus pres, on peut se con-
vaincre du contraire meme dans cet etat, les deux nerfs
du sac etant places comme deux rubans libres entre les
filets du recurrent. Quant au nerf que Weher a vu naitre
du recurrent et se distribuer aux muscles des branchies,
je n'ai rien trouve de semblable ni sur le Barbeau, ni sur
la Carpe, Je pense que Weber n'a de'crit dans ce nerf
que le nerf de la premiere branchie (le glosso-pharyn-
2o8 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
gien Cimer); car il dit qir il traverse le cräne par un trou
situe pr^s de celui du nerf vague. Or, il n'y a pas d'autre
trou possible que celui du glosso-pharyngien, nerf qui
sort du cräne precisement au devant du nerf vague. Des-
moulins n'aurait donc rien ajoute de nouveau en disant
que le nerf de la premiere branchie du Barbeau nait du
trijumeau. Chez la Carpe le re'current se comporte de la
raeme maniere que chez le Barbeau, seulement il est
moins volumineux, et le rameau inferieur est divise en
deux faisceaux paralleles. Gelte division se trouve aussi
parfois sur le Barbeau, oü toutefois eile est moins pro-
noncee.
Les singularites observe'es sur la brauche recurrente se
reduisent donc ä son trajet dans la cavite cränienne, sa
commissure et sa reunion avec l'hypoglosse et le nerf
vague; cette derni^re me parait etre la plus importante;
cependant ni Weber ^ ni DesmouUns n'en parlent, et Bi-
sc/wff'^ n'en fait qu'ä peine mention.
Chez le Brochet le trijumeau nait egalement par deux
racines, une anterieure et une posterieure; mais il n'y a
presque pas de renflement au point de leur reunion. Sauf
la brauche re'currente, le trijumeau du Brochet pre'sente
les memes rameaux que celui des Cyprins, savoir: l'oph-
thalmique, le raaxillaire superieur, le maxillaire inferieur
et l'operculaire; l'ophthalmique est tres faible, il traverse
la membrane fibreuse qui remplace presque entierement
la petite aile, donne des filets orbitaires et se divise en
deux rameaux; le superieur passe au-dessus du frontal
anterieur; l'inferieur traverse cet os, ou plutot ce carti-
lage. Les deux passent ensuite au-dessus des narines et
se perdent vers le museau; d'ailleurs il y a, pour ainsi
dire, un ophthalmique accessoire: ce filet, aussi volumi-
neux que l'ophthalmique meme, se detache du tronc du
1 Ouvr. cite: '•'Oritur enimhic nerviis in Cyprino Carpione non solum
tribtis radicihiis, sed qicatiior, quarum prima eademque maxima e
ganglio trigejuini oritur. Secunda mit ipsa oritur a trigeinino et ra-
vmm mitüt ad vagum, aut ramus est radicis, quam frigeminus ad
vagitm porrigit^ Voila tout ce qii'il dit de cette disposition. II n'en
fait pas mention pour le Barbeau, oü cependant eile est beaucoup
plus apparente que dans la Carpe.
MEMOIRE SUR LE SYSTEME NERVEUX 209
trijumeau, apres sa sortie du cräne, s'anastomose avec la
troisieme paire, donne le filet ciliaire de Tophthalrnique,
et s'unit enfin au rameau superieur de rophthalmique.
Le maxillaire superieur ne traverse pas de canal parti-
culier pour sortir de la cavite du cräne; mais il passe avec
le maxillaire inferieur par le meme trou, pres du bord an-
terieur de la grande aile. II se dirige en haut apres avoir
traverse le fond de l'orbite, s'anastomose avec un rameau
de la brauche maxillaire, en rappelant ainsi le plexus qu'il
forme chez les Cyprins, passe sous le bord infe'rieur des
narines, et se divise en deux rameaux. Le superieur marche
le long du vomer, entre le palatin et le frontal, vers le
museau; l'infe'rieur, destine aux os maxillaire et inter-
maxillaire, se sous-divise en deux filets qui repondent ä
ces OS. Le maxillaire superieiu: est beaucoup moins deve-
loppe que chez les Cyprins, circonstance qui coincide
avec l'absence des barbillons. Les branches maxillaire,
inferieure et operculaire sont les memes que chez les Cy-
prins, seulement le rameau de la premiere, regarde ordi-
nairement comme nerf maxillaire superieur, est peu deve-
loppe; il forme l'anastomose, mentionne'e ci-dessus, avec
le nerf maxillaire superieur.
7 . N'crf acoustiqiic.
L'opinion de Scarpa'^, qui regarde l'acoustique des pois-
sons comme une branche de la cinquieme paire, adoptee
par Ciivicr^ dans les «Le§ons d'anatomie comparee», et
par Serres, a ete refutee par Trcviranus^ et par Desmou-
lins. Ce dernier, cependant, veut avoir trouve sur les
Raies le rapport entre le trijumeau et l'acoustique, Si-
gnale par Sca7fa\ mais Weber nie aussi ce fait, et etablit
rindependance de l'acoustique du trijumeau, tant pour
les poissons cartilagineux, que pour les osseux.
L'acoustique s'anastomose-t-il avec les autres nerfs ccre-
brauxr Cuvier^ et Weber"^ parlent d'une anastomose qui
1 De azidihi et olfactu. — ~ G. R. und L. C. Trcviramis, "Vermischte
Schriften \ t. III. — 3 Histoire naturelle des poissons: Le nerf acous-
tique contracte aussi des unions avec la derniere branche de la
cinquieme paire, et en a surtout une constante avec la premiere
branche du nerf vague ou glosso-pharyngien — * IJW'er la re-
presente chez le Sihirus Glanis [De aiire et auditti^.
2IO NATUR WISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
alieii quelquefois entre l'acoustique et la cinqui^me paire.
Scarpa^ Cuvier et Weber signalent d'ailleurs une anasto-
mose qu'on trouve toujoiirs, selon les premiers, quelque-
fois seulement, selon le dernier, entre l'acoustique et un
nerf, naissant tantot de la paire vague, tantot de la moelle
entre ce nerf et l'acoustique, et ddsigne par Cuvier comme
glosso-pharyngien. Scarpa'^ ajoute encore que, chez tous
les poissons, l'ampoule du canal vertical poste'rieur regoit
constamment un filet re'sultant de cette anastomose. Des-
inoulins au contraire la nie pour tous les poissons qu'il a
disseques, et ne la constate que pour les Raies.
Weher avance que 1' Organe de l'oui'e est pourvu de deux
nerfs, l'acoustique et un autre nerf, qu'il designe comme
auditif accessoire (auditorius accessorius). L'acoustique, Se-
lon cet auteur, nait du cerveau, et fournit les nerfs aux
deux ampoules ant^rieures et au vestibule; l'auditif acces-
soire, au contraire, nait tantot du cerveau, comme chez
les Raies, la Lotte, le Brochet, tantot de la racine ante-
rieiure du nerf vague, comme dans le Spams Salpa, le
Scorpoe7ia Scropha^ l'Uranoscope, tantot du nerf recurrent
du trijumeau, comme chez les Cyprins. II manque dans
les Squales et dans la Torpille, poissons chez lesquels
c'est l'acoustique seul qui donne les filets du labyrinthe.
L'ampoule posterieure et le sac re^oivent leurs filets de
l'auditif accessoire. En comparant cette description des
nerfs de l'ouie ä celle des autres anatomistes, on trouve
que ce singulier accessoire est tantot une brauche de
l'acoustique, et tantot le glosso-pharyngien Cuvier (la
^^portio dura^^ de Scarpd). Les observations de Breschet^,
sur le nerf acoustique en gene'ral, confinnent en partie la
division que Weber fait subir ä l'acoustique. II dit: «Quand
on (Studie les nerfs auditifs sur les animaux dont l'oreille
1 Ouvr. cite, p. 19, § 6. '''■Propterea et in sqtiamosis pisdlms Organum
audittts immediatum ex diiplici fit nervoj'^mi ordine, et, qtiod ad-
notatione dignissimum arbitramur, tum in cartilagineis, quam in
squamosis piscibus ampulla canalis semicircularis posterioris nervum
recipit compositum ex filamentis portionis mollis^ et durae^ — ^ Annales
des sciences naturelles, t. XXIX, p. 325. Etudes anatomiques et
physiologiques sur l'organe de l'audition dans l'homme et les
animaux vertebres.
MEMOIRE SUR LE SYSTEME NERVEUX 211
interne est considerablement developpee, comme dans les
grands poissons, on observe c^ii'ü y a pour chaque la-
byrinthe deux cordons nerveux, qui se trouvent a une
certaine distance l'un de l'autre, et qui tous deux prennent
naissance sur le cöte de la moelle allongee, mais separe-
ment; ce sont les nerfs auditifs anterieur et posterieur.
L'anterieur donne des filets aux deux ampoules ante-
rieures et au sinus median, dans lequel se trouve la con-
cretion calcaire (vestibule). Le posterieiu* envoie un filet
ä l'ampoule posterieure, et fournit des filets au sac.»
Les racines de l'acoustique s'inserent sur la moelle, im-
mediatement derri^re la racine posterieure du trijumeau,
sur une ligne placee un peu plus bas que cette racine;
dans la moelle, ses fibres montent en haut au-dessous
des fibres posterieures de la racine posterieure du triju-
meau. Je suis parvenu ä les poursuivre jusqu'au contour
externe du tubercule impair et ä la commissure ant^rieure
du quatri^me ventricule; elles naissent donc du faisceau
superieui- des pyramides posterieures. Les racines de l'a-
coustique, apres leur sortie de la moelle, forment deux
rubans plats et larges; le superieur monte en haut, passe
au-dessus de la brauche superieure du rameau recurrent,
et donne, pour les deux ampoules anterieures, deux filets,
Tun de son bord anterieur, l'autre de son bord posterieur;
la partie du nerf comprise entre les deux bords, se sous-
divise aussitöt en un grand nombre de filets, passe au-
dessous du vestibule et se retiechit en haut sur sa face
ant^rieure, pour s'y epanouir en une membrane nerveuse.
Le filet de l'ampoule du canal vertical anterieur marche
le long du bord externe du vestibule; le filet de l'ampoule
du canal horizontal se reflechit comme les nerfs du vesti-
bule en dessous de cet Organe, et monte 1-e long de sa
face externe vers son ampoule.
Le ruban posterieur de l'acoustique, destine au sac et ä
l'ampoule posterieure, se sous-divise aussitöt en deux
faisceaux, qui descendent entre les fibres de la branche
recurrente et se repandent tous les deux sur la face pos-
terieure du sac. L'anterieur va au loculus anterio?-^ en
cheminant le long de la face convexe de la pierre longue.
212 NATURWISSf:NSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
Le post^rieur donne d'abord le filet de rampoule du canal
vertical posterieur; puis il se ramifie en rayonnant sur le
loculiis posterior. II a dejä ete constate qu'il n'y a pas de
contact entre les filets nerveux du vestibule et la pierre
de cet Organe. Je n'ai pu me convaincre que pour le sac
la chose se fasse d'une autre mani^re. Je n'ai rien vu, en
preparant sous Peau et en me servant d'une forte loupe,
qui puisse justifier l'opinion que les filets nerveux em-
brassent immddiatement les pierres du sac, et qu'ils les
tiennent ainsi presque suspendues. Le tronc du nerf est
place sur la face externe du sac; tandis que j'ai vu ses
filets penetrer par la membrane ext eri eure, et s'epanouir
entre cette membrane et une autre membrane tres fine
qui tapisse la face interne du sac, et qu'on pourrait aussi
bien comparer ä l'hyaloide ou ä la capsule du cristallin,
qu'on a compare les pierres de l'oreille aux liquides de
I'oeil. II y a dejä quelque chose d'etonnant de voir les
filets nerveux d'un sens si delicat entrer dans un contact
si immediat avec une concretion inorganique. Quant ä
la mani^re dont se terminent les nerfs des ampoules, je
trouve tr^s bien fonde ce que le docteur Steifensand i,
dans un memoire public dans les Archives de Miiller^ dit
de leur disposition dans la Carpe et le Brochet.
Chaque nerf ampoulaire se sous-divise pr^s de l'ampoule
en deux filets, qui se rendent au pli plac^ ä la base de
chaque ampoule, pour penetrer de lä dans l'interieur de
cette cavite, de chaque cöte du septum, decrit d'abord
par Scarpa^ et apr^s par Weber. C'est sur ce septum et
autour de lui que ces filets s'e'panouissent en une pulpe
nerveuse, tr^s delicate, que Steifensand compare ä la
retine.
Je n'ai vu l'acoustique s'anastomoser ni avec le trijumeau,
ni avec le glosso-pharyngien.
Chez le Brochet l'acoustique, ä son origine, est uni inti-
mement ä la racine posterieure du trijumeau; il se divise
dgalement en deux faisceaux. L'anterieur est destine aux
deux ampoules anterieures et au vestibule; le posterieur
1 V)itersuchiingen über die Anipiillen des Getiörorgans; Müllers Ar-
chiv, 1835, 11/2.
MEMOIRE SUR LE SYSTEME NERVEUX 213
marche sur la face posterieure du sac, le long de la grande
pierre, et se divise en deiix filets, dont riin monte vers
rampoule posterieure, et dont l'autre descend sur le lo-
culus posterior. II n'y a pas d'anastomose avec le glosso-
pharyngien. Je n'ai rien trouve, ni chez les Cyprins, ni
chez le Brochet, qui permette d'admettre Tauditif acces-
soire de Weber.
8. Le glosso-pharyngicn.
II nait immediatement au devant du lobe du nerf vague,
et est presque contigu ä la racine superieure de ce nerf,
de Sorte que Desmoulms le decrit comme la premiere
branche du nerf vague. Scarpa (loc. cit?)^ Camper'^, Cuvier
et Treviranus [loc. cit.), le regardent au contraire comme
un nerf particulier; les deux premiers l'appellent facial,
les deux derniers le comparent au glosso-pharyngien.
IVeber^^ enfin, me parait le decrire chez les Raies et le
Silurus Glanis ^ comme auditif accessoire. Cm-iis nie l'exis-
tence du glosso-pharyngien dans les poissons.
Aussitot apres son origine, le tronc du glosso-pharyngien
s'engage entre les filets du rameau recurrent qu'il traverse
de haut en bas; il ne contracte aucune anastomose ni avec
ce nerf, ni avec le filet de l'ampoule posterieure, qui se
degage tout pres de lui du rameau recurrent; il traverse
le cräne par un trou de Toccipital lateral (Cuvier). Chez
la Carpe ce nerf se comporte absolument de la meme
maniere; rien ne justifie ce que Desmoulins dit de l'ori-
gine diffe'rente de ce nerf dans ces deux poissons, quand
1 Kleine Schf'ifteti. — - Ouvr. cite: Nejinis auditorhis accessoj-itis. —
^^Inter netfuni auditorium et vagum alius nerviis, plerwnque cum
faciali comparatus, origmon habet, qiii pej- canaleju sibi proprhini
inter ampnllain canalis cartilaginei posterioris et vestibuhii/i situni e
cranio exit. Postquain fihim temiissiinnin a nervo anditorio accepit,
rainum satis niagmim ampullae canaJis semicircularis posterioris sup-
peditat^'' — 3 Ouvr. cite. II dit que chez le Silurus Glanis l'auditif
accessoire envoie par un trou particulier du cräne une branche aux
muscles des branchies. Cettedescriptioncoincideavec celle qu'il fait
d'une branche des Cyprins, qui d'apres lui nait du rameau recurrent,
et que j'ai supposee, par des raisons que j'ai donnees plus haut, iden-
tique au glosso-pharyngien. Pour augmenter encore la confusion
qui existe dans la description de ce nerf, Weber, dans les explica-
tions de la 7^ planche, nomme trou du facial le trou par lequel
passe le glosso-pharyngien.
214 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
il avance qiie chez le Barbeau le glosso-pharyngien nait
du rameau recurrent, et par consequent de la cinqui^me
paire; tandis qiie chez la Carpe il provient du ganglion
du nerf vague. Dans plusieurs endroits de son ouvrage il
invoque cette difiference pour argumenter contre ceux qui
essaient d'etablir une uniformite de plan dans l'organisa-
tion des etres; et certes un tel manque de lois dans l'ori-
gine des nerfs dans deux poissons places si pr^s Tun de
l'autre, viendrait bien ä l'appui de son raisonnement.
Heureusement pour la science, l'observation sur laquelle
il fonde ses objections les refute elle-meme. 11 est arrive
aux plus grands naturalistes de se tromper dans leurs ob-
servations; mais se fonder, dans de si graves questions
scientifiques, sur des faits observes avec tant de legerete,
c'est nuire ä la science, surtout (juand il etait si facile de
s'assurer de la veritable disposition des parties.
Apres sa sortie du cräne le glosso-pharyngien se dirige
en avant, se renfle en un ganglion considerable et, pr^s
de Textremite superieure de la premiere branchie, se di-
vise en deux raraeaux: le posterieur se comporte absolu-
ment comme un nerf branchial; il ne traverse pas seule-
ment la goutti^re de la premiere branchie, comme Wcbe?-^
l'assiu-e, mais il en longe le bord anterieur en donnant
aux feuillets respiratoires, de la meme mani^re que les
autres nerfs branchiaux, des filets qui accompagnent les
ramifications des vaisseaux. D'ailleurs, la premiere bran-
chie ne re^oit pas d'autre nerf branchial que le filet du
bord posterieur, commun ä toutes les branchies; de sorte
que le glosso-pharyngien forme le nerf branchial ante-
rieur, plus volumineux que le posterieur, comme dans les
autres branchies.
A l'extremite inferieure de la branchie attachee ä Tos
hyoi'de, le glosso-pharyngien, devenu assez grele, sort
de sa gouttiere, et se repand le long du cote externe du
mdiment de la langue. Cette ramification cependant ne
le fait pas differer des autres nerfs branchiaux, qui se ter-
minent de la meme maniere, seulement leurs filets lin-
guaux sont plus delies.
1 Meckcis Archiv, 1S27.
MEMOIRE SUR LE SYSTEME NERVEUX 2 1 5
La branche anterieure duglosso-pharyngien se sous-divise
aussitot en quatre ou cinq rameaux, qui se repandent sur
la membrane buccale, dont la partie posterieure est pour-
vue de fibres musculaires, ce qui la fait ressembler ä ini
pharynx; les plus anterieurs de ces filets parviennent jus-
qu'au museau.
Chez le Brochet le glosso-pharyngien nait en commun
avec la racine anterieure du nerf vague, dont il se se'pare
aussitot pour traverser la partie poste'rieure de la cavite
du sac, et pour sortir du cräne par un trou perce imme-
diatement au devant de celui du nerf vague; il n'est quc
simplement juxtapose ä la paroi du sac, et il m'a ete' im-
possible d'apercevoir une anastomose avec les nerfs de
cette partie. Le glosso-pharyngien du Brochet estunique-
ment destine ä la premi^re branchie; il n'y a pas de
branche anterieure.
9. Le nerf vague.
Parmi les anatomistes que j'ai etudies, Weber seul parle
de deux racines par lesquelles nait le nerf vague, ä la
maniere des nerfs spinaux. Chez le Brochet j'ai trouve
cette assertion fondee: le nerf vague nait par deux ra-
cines; l'anterieure s'insere sur le bord du quatrieme ven-
tricule, ä l'endroit qui repond aux lobes du nerf vague.
La poste'rieure nait, plus en arriere et en bas, bien evi-
demment des cordons inferieurs de la moelle. Ces racines
ne se re'unissent que dans leurs trous de sortie en un
ganglion peu considerable.
Je n'ai pu encore etablir d'une maniere positive quelle
est la disposition de ces racines dans les Cyprins; j'en ai
vu deux; rinferieure est de beaucoup la plus considerable,
eile sort de la base des lobes du nerf vague, et on voit
ses filets medullaires, sur la substance grise de ce renfle-
ment, se repandre comme les branches d'un arbre. La
superieure nait plus en haut et en avant, au devant des lobes
du vague, de la paroi externe du quatrieme ventricule;
eile s'unit au rameau supe'rieur de la branche recurrente.
Ces deux racines ne paraissent provenir que des cordons
superieurs de la moelle, et cependant le nerf vague donne
bien evidemment des filets musculaires. La racine in-
2i6 NATUR WISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
ferieure constitue iin large niban medullaire, tr^s blanc,
qui, chez la Carpe siirtout, est d'une consistance extre-
mem ent molle.
Les deux racines et le rameau superieiir du recurrent
sortent du cräne par un trou considerable de Toccipital
lateral {Cuvici^^ et se reunissent en formant un ganglion
extremement volumineux, surtout chez la Carpe. Ce gan-
glion est large, aplati et presque semi-lunaire; son bord
superieur, convexe, est engage en partie dans le trou de
sortie; son bord inferieur est decoupe en quatre ou cinq
digitations, dont les trois premieres donnent naissance
aux nerfs des branchies et de l'organe particulier aux Cy-
prins, appele langue de Carpe, et dont les posterieures
se continuent avec les branches laterale et intestinale, et
donnent les nerfs des dents pharyngiennes. Le bord su-
perieur du ganglion est forme, comme je l'ai dit, par le
rameau supe'rieur de la brauche re'currente; le ganglion
lui-meme est forme par un plexus de filets nerveux tres
apparent, dans lequel il y a sans doute une augmentation
de substance, vu la disproportion entre ses racines et les
branches qui en sortent. Du bord superieur du ganglion
naissent: un filet qui se repand le long de la paroi interne
du cräne dans le tissu graisseux de la cavite cränienne^
et deux autres filets pour les muscles des branchies; l'an-
terieur de ces derniers forme l'anastomose dejä decrite^
avec un filet de la brauche operculaire du trijumeau.
Les parties auxquelles se distribue le nerf vague sont:
l'organe probablement gustatif des Cyprins, les branchies,
les dents pharyngiennes, le cceur, le canal intestinal et la
surface externe du tronc.
L'organe gustatif re^oit quatre ou cinq filets qui, pour s'y
rendre, passent en dififerents endroits entre les branchies;
le posterieur est le plus volumineux, il passe entre les
dents pharyngiennes et la derniere branchie. Ces nerfs
sont, comme leur organe meme, beaucoup plus de've-
loppes chez la Carpe que chez le Barbeau.
Chaque branchie regoit trois rameaux, un pour sa face
interne concave, et deux pour l'externe creusee en gout-
ti^re; ces derniers sont tres considerables, et donnent
MEMOIRE SUR LE SYSTEME NERVEUX 2 1 7
aux feuillets des branchies des filets cpi accompagnent
les ramifications des vaisseaux branchiaiix. L'iin, et c'est
de beaucoup le plus fort, longe le bord anterieur de la
branchie; Paiitre le bord posterieur. Chacun des trois
troncs, d'oü sortent les nerfs des branchies, presente en-
core im renflement particulier considerable; les deux ren-
tlements posterieurs se confondent en partie avec le gan-
glion du nerf vague; tandis que Tanterieur en est separe
assez nettement.
Les nerfs des dents pharyngiennes, au nombre de trois,
se distribuent d'une maniere analogue ä celle des nerfs
branchiaux dans la membrane epaisse qui revet ces par-
ties, et prouvent par leur distribution combien l'idee de
Rathke'^ est ingenieuse, lorsqu'il regarde les dents pha-
ryngiennes comme des branchies metamorphosees.
La brauche intestinale contourne de haut en bas les dents
pharyngiennes; pendant ce trajet eile fournit un ou deux
filets, qui se ramifient dans les muscles de ces dents et
sur le pharynx, et un filet cardiaque tres fin, que je suis
parvenu ä poursuivre jusque dans l'oreillette du coeur.
Elle traverse ensuite le diaphragme et donne quatre ou
cinq filets assez fins ä Tcesophage, que je n'ai re'ussi ä
poursuivre sur la paroi du canal intestinal que pendant
un trajet assez court. Le tronc de la brauche intestinale
du cöte droit accompagne l'artere coeliaque, et se reunit
en un seul tronc avec le nerf splanchnique du grand sym-
pathique. Celle du cote gauche est moins volumineuse;
apres avoir donne des filets au canal intestinal, et un
autre au canal excreteur de la vessie natatoire, ä Pendroit
Oll il S'insere au canal intestinal, eile devient tres grele,
et accompagne l'artere mesenterique qui est placee au
cote gauche.
La plus posterieure et la plus volumineuse des branches
du nerf vague, c'est le grand nerf lateral qui cotoie le
tronc pendant toute sa longueur, depuis la tete jusqu'ä
la nageoire caudale: place assez superficiellement entre
les fibres du grand muscle late'ral et formant beaucoup de
1 Untersuchungen über den Kie»ien-Apparat ttnd das Zicngenbein der
Wirbeltiere.
2i8 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
petites intlexions, il marche parallelement ä la ligne des
pores, ä laquelle il est supe'rieur pour la majeure partie;
an-ive pres de la queue, il devient peu ä peu plus super-
ficiel, se place sous la peau et se divise, enfin, en deux
filets assez greles, un superieur et un inferieur, destines
a la nageoire caudale. Ils se dirigent en haut et en bas,
le long de la base des rayons de la nageoire, s'y anasto-
mosent avec des filets des nerfs caudaux, et envoient aux
rayons de la nageoire d^autres filets, qui me parurent se
perdre dans la peau qui revet ces parties ^. Aussitöt apr^s
son origine, le nerf lateral donne un filet qui monte vers
la crete du dos, et qu'on peut suivre sous la peau pen-
dant un long trajet. Le nerf lateral diminue peu ä peu de
volume, de sorte qu'il est assez grele pres de la queue.
Ce nerf s'anastomose-t-il avec les nerfs spinaux: Cuvier
le pretend, tandis que IVeber^ et Van Decn^ le nient.
Donne-t-il des filets aux muscles? ^^^^z- Tassure, tandis
que Cuvier et Van Deen n'ont vu aucun filet se terminer
dans les muscles, mais bien dans la peau; Des/nouli?is dit
qu'il ne donne pas de filets du tout.
Quant ä l'anastomose, je puis confirmer ce que Cuvier en
dit; je suis parvenu a la trouver avec quelques nerfs spi-
naux, et je ne doute pas qu'elle n'ait lieu pour tous. Elle
est extremement fine, et a lieu avec la brauche superfi-
cielle des nerfs spinaux; il faut faire cette preparation ä
l'aide de la loupe sur des sujets tout-ä-fait frais, oü la
couleur blanche des filets nerveux contraste encore for-
tement avec celle de la chair. Sur des pieces conservees
dans l'alcool il est impossible de distingiier ces filets. —
La seconde question est plus facile ä resoudre: le nerf
lateral donne pendant son trajet des filets de la mani^re
la plus apparente; je crois qu'ils sont tous destines ä la
peau, du moins ai-je poursuivi jusque-lä les filets les plus
1 Desmoulins dit ä ce sujet: «On dit que le nerf lateral s'^panouit
en rayonnant sur chaque face de la nageoire caudale: je n'ai pu le
constater nulle part; l'extreme petitesse de ce nerf pres de la queue
m'en fait douter.> li n'est pourtant pas si difficile de s'en con-
vaincre. — 2 Meckels Archiv, 1827, H. 2.-3 Dissertatio inauguralis
de differentia et tiexit inter mrvos vitac animalis et vitae organicae.
Lugd. Bat.; Müllers Archiv, 1834.
MßMOIRE SUR LE SYSTEME NERVEÜX 2 1 9
considerables. Ceux-ci dtaient si prononces, tant sur la
Carpe que sur le Barbeaii, qiie je ne con^ois pas com-
ment 011 n'ait pas pii les apercevoir, i)Our peu que la pre-
paration ait ete faite avec soin; cependant la diminution
de volume du nerf n'est pas en proportion des filets qu'il
donne.
Chez le Brochet le nerf vague se comporte ä peu pres
comme chez les Cyprins, seulement son ganglion et ses
rameaux branchiaux sont infiniment moins developpes.
La brauche intestinale des deux cotes donne un rameau
tres considdrable ä la vessie natatoire, rameau qui s'epa-
nouit sur la membrane interne et muqueuse de cet organe,
et prouve par la combien il est juste de regarder la vessie
ae'rienne comme le premier rudiment d'un poiunon. Le
nerf lateral est place plus profondement entre les muscles
que chez les Cyprins.
10. Vhypoglosse.
Treviranus et Desmoulifis nient qu'il y ait chez les pois-
sons un nerf repondant ä l'hypoglosse. Carus et Scrres
disent le contraire. Cimiemt se prononce pas; en decri-
vant le nerf que nous qualifions d'hypoglosse, il le de-
signe seulement comme le dernier des nerfs ce'rebraux,
sans lui donner une determination particuliere. Weber,
enfin, donne ä ce nerf le nom d'hypoglosse dans l'ou-
vrage De aure et auditu\ mais il change plus tard d'avis,
et le compare ä Taccessoire de Willis 1. Bischoff {Joe. eit.),
quoique se servant de ce dernier nom, hesite encore sur
la determination ä lui donner. 11 se rangerait du cote de
Desniouäns, qui le regarde comme le premier nerf spinal,
ai son origine dans la cavite cränienne et son anastomose
svec le trijumeau, n'etaient pas contraires ä cette opi-
nion.
L'hypoglosse nait de la moelle par deux racines, une in-
ferieure et une superieure, tout comme un nerf spinal.
La racine inferieure est plus considerable que la supe-
rieure, qui ne consiste qu'en un filet grele. Au point de
reunion des deux racines, la supt^rieure se renfle en un
petit ganglion, d'oü part un filet, qui se rend en haut
* Meckels Archiv, 1827, H. 2.
2 20 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
dans les miiscles spinaux; la racine inferieure donne un
filet semblable. C'est ä ce point de reunion que vient
s'inserer le rameau inferieiir de la brauche recurrente, et
par cette triple reunion il se forme iin renflement oblong,
qiii se continue dans le tronc du nerf. Ce renflement ne
me parait pas avoir le caractere d'un ganglion, c'est-ä-
dire que je n'y ai pas vu de plexus de filets nerveux; ce
n'est qu'une simple juxta-position de deux troncs ner-
veux, Tun forme par la reunion des deux racines de l'hy-
poglosse, l'autre par la brauche recurrente. On parvient
facilement ä les separer, et ce n'est qu'ä une distance
assez grande de leur reunion que leurs filets commencent
ä s'entremeler. Cette troisieme racine de l'hypoglosse ne
presente donc rien d'etonnant, ce n'est qu'un tronc ac-
colle ä ce nerf.
L'hypoglosse passe par le grand trou ovale, perce dans
la face posterieure de l'occipital lateral, se dirige en bas
et se divise en deux branches. L'anterieiu'e marche en
avant et en bas, et contourne les muscles des os pharyn-
giens, auxquels eile donne des filets, en formant une ar-
cade dont la convexite est tournee en bas. On parvient
ä la suivre pendant un trajet assez long dans les fibres du
muscle sternohyoidien {Cuvier)^ auquel eile est destinee.
La brauche posterieure, plus volumineuse que l'anterieure,
descend directement, s'unit au premier nerf spinal, et se
distribue aux muscles de la nageoire pectorale^.
Bischoff d\t qu'il n'a trouve ce nerf que chez les Cyprins.
Cuviey^ au contraire, l'a decrit et repre'sente chez la Per-
che, et, d'apr^s sa description, il parait le regarder comme
commun ä tous les poissons. Weber l'a trouve en outre
sur le Siliurus, et moi, je l'ai vu egalement dans le Krö-
chet et l'Alose. Dans tous ces poissons l'hypoglosse ne
presente pas d'union avec une brauche du trijumeau;
mais il nait de la moelle par deux racines, comme tous
les nerfs spinaux.
Dans le Brochet il sort de la cavite cränienne par un petit
1 Je n'ai jamais pu decouvrir, pas plus que Weber ni Bischoff, un
filet qui, d' apres Ctivier, serait foumi par ce nerf ä la vessie
natatoire.
MEMOIRE SUR LE SYSTEME NERVEUX 221
troii, situe entre le bord posterieiir des occipitaiix late-
raux et le bord anterieur de deiix petites lames osseuses,
qiii entourent le commencement de la moelle cerebrale:
ce troii repond exactement au grand trou ovale des Cy-
prins, quoiqu'il soit infiniment moins grand; diffe'rence
qiii s'explique lorsqu'on se rapelle que chez les Cyprins
ce trou sert ä la communication de la fossa auditoria
[Weber) avec la cavite cränienne. Dans la Perche, ce
trou ressemble par sa grandeur et sa Situation ä celui dn
Hrochet.
J'ai trouve en outre le trou de l'hypoglosse sur le cräne
du Saumon; je me crois donc autorise ä admettre aussi
rhypoglosse dans ce genre. En general, je ne crois pas
que ce nerf manque ä aucun poisson.
Des 7icrfs spinaux.
Le long de la moelle e'piniere naissent quarante-huit pai-
res de nerfs chez le Barbeau; trente-huit chez la Carpe.
Les quatre premieres paires appartiennent ä la nageoire
pectorale, les 10^—16*^ paires ä l'abdominale, et les cinq
dernieres ä la caudale.
Chaque nerf spinal provient, par deux racines, des cor-
dons superieur et inferieur de la moelle; ces racines ne
consistent point en plusieurs faisceaux, comme dans les
classes supe'rieures, mais elles sont simples. La racine
superieiu-e est tres fine, surtout ä son point d'insertion.
Desmoulins pretend formellement qu'il ne s'y trouve pas
de ganglion; Weber '^ et Cuvier^ assurent le contraire.
Chez les Cyprins les ganglions sont tr^s apparents, sur-
tout dans les quatre ou cinq premieres paires; ils ont
presque la forme d'un triangie et sont situes, pour la plu-
part, au-dessus de la moelle epiniere dans le canal rachi-
dien, accolles ä la bände fibreuse c^ui parcoiut la partie
* De nervo syinpathico. Deaiireetaudiht. Meckels Archiv, 1827, H. 2. —
2 Histoire tiaturelk des poissons: «Les nerfs spinaux des racines
superieures se renflent ä peine d'une maniere sensible en ganglion
dans les Chondropterygiens, et Ton a meme nie qu'ils se renflent
aucunement dans les poissons osseux. II est certain, cependant,
qu'ils forment des ganglions suffisamment marques dans le Bar, la
Perche, etc.>
2 22 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
superieure de ce canal. Du sommet de ces ganglions tri-
angulaires part iin filet considerable qiii se dirige en haut
et en arriere pour se rendre dans les muscles spinaux.
A l'angle infe'rieur et interne s'insere laracine superieure
qui vient de la moelle, et cette racine sort du ganglion
par l'angle inferieur et externe pour s'unir ä la racine in-
ferieure, de sorte que la racine superieure forme une ar-
cade dont la concavite embrasse la moelle. La racine
inferieure est un peu plus considerable ä son point de
depart, et, avant de se reunir ä la racine superieure, eile
envoie un filet en haut, destine aux muscles spinaux; de
Sorte que nous voyons partir des deux racines, avant leur
reunion, deux filets/ diriges dans le meme sens, et qui
portent separement la motilite et la sensibilite aux mus-
cles spinaux. Cette distribution est constante pour tous
les nerfs spinaux, et se fait avec la plus grande symetrie;
eile se retrouve meme dans les deux filets que fournissent
les racines de l'hypoglosse.
Les deux racines sortent toujours entre deux vertebres^,
et se reunissent ä quelque distance de leur sortie en un
nerf assez volumineux, qui se divise aussitot en deux
branches, une profonde et une superficielle. La brauche
superficielle est tres fine, eile se perd dans la couche
superieure du grand muscle late'ral et s'anastomose avec
le nerf lateral de la paire vague. La brauche profonde,
beaucoup plus volumin euse, descend dans les muscles
intercostaux et longe le bord anterieur de la cote poste-
rieure, s'appliquant tantot ä l'apondvrose qui couvre la
paroi interne du ventre, et tantot au peritoine lui-meme;
eile s'anastomose avec le grand sympathique.
Les nerfs de la nageoire pectorale, de Tabdominale, de
l'anale et de la caudale, sont plus developpes que les
autres; les ganglions spinaux des premiers sont en outre
plus ronds que les autres, et situes en dehors du canal
rachidien. Je n'ai pu apercevoir de renflement de la moelle
epini^re correspondant aux nerfs des nageoires pectorale
1 Les deux premiers nerfs spinaux sortent par l'espace laisse vide
par l'absence de l'arc de la prämiere vertebre entre Ic bord pos-
terieur de l'occipital lateral et l'arc de la seconde vertebre.
MEMOIRE SUR LE SYSTEME NERVEUX 223
et abdominale; qui representent les nerfs des extrdmitt^s
superieures et inferieures des autres classes.^
II n'y a pas de queue de cheval. Les racines partent de
la moelle epiniere ä angle droit. Le rapport entre le vo-
lume des racines et du nerf liii-meme ne parle pas en
faveur de la theorie des filets primitifs. La racine supe-
rieure, quoique ayant ä peine l'epaisseur d'un cheveu,
forme cependant im ganglion consid^rable, duquel par-
tent vers le haut et vers le bas denx filets plus volumi-
neux que la racine elle-meme.
Chez le Brochet la racine superieure est excessivement
grele comparativement k l'inferieure: eile ne prdsente pas
de ganglion; mais le point de re'union des deux racines
est un peu renfle.
Vii nerf sympathique.
L'opinion des auteurs qui avaient avance que le grand
sympathique n'est qu'ä Petat rudimentaire chez les pois-
sons, a ete refutee d'abord par Weber (De ne?'vo sympa-
thico)^ et ensuite par DesmouUns. Weber assure cepen-
dant que, dans le Brochet et la Carpe, ce nerf ne presente
pas de ganglions distincts, et qu'il ne consiste qu'en un
mince filet cotoyant la colonne vertebrale. Je trouve cette
Observation juste pour la partie abdominale du sympa-
thique de ces poissons; mais eile est erronee pour les par-
ties thoracique et cephahque, qui ont un developpement
conside'rable, tant chez le Brochet que chez la Carpe.
Chez les Cyprins le grand sympathique ne consiste, le
long de la partie poste'rieure de la colonne vertebrale,
qu'en un filet tres fin, presque imperceptible. Vers la
partie anterieure il est plus distinct, et presente de petits
ganglions qui s'anastomosent avec la brauche profonde
des nerfs spinaux. Depuis la cinquieme vertebre environ,
jusqu'ä sa terminaison sur la brauche operculaire du tri-
jumeau, on y compte six ganglions tr^s apparents. Lepre-
mi er de ces ganglions est tres volumineux, et uni intime -
1 La moelle epiniere duBarbeau, comme celle de la Carpe, presente
ä sa terminaison un petit renflement arrondi, d'oü part le filet par
lequel la moelle se termine. Weher a represent^ cette disposition
sur la Carpe, dans les Archives de Meckel^ t. VIT, 2« cahier.
2 24 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
ment au bord posterieur de la brauche operculaire, pre-
cisement lä oü celle-ci sort du cräne. II s'anastomose
par deux filets avec le ganglion du glosso-pharyngien et
avec sa branche anterieure, donne, par son bord ante-
rieur, un filet qui m'a paru s'anastomoser avec la branche
maxillaire inferieure du trijumeau, et envoie enfin un filet
considerable ä la premiere branchie. Une fois je crois
avoir poursuivi un filet de ce ganghon jusqu'ä la sixieme
paire, ä laquelle il se rendait par un petit trou situd pr^s
du bord externe du corps du sphdnoi'de anterieur.
Le second ganglion repond ä un filet qui s'anastomose
avec le renflement du premier tronc branchial. De la
branche de communication entre ce ganglion et le pre-
cedent, nait un filet considerable destine ä la seconde, et
quelquefois ä la troisi^me branchie.
Le troisi^me ganglion est situe au devant de Tapophyse
transverse de la partie basilaire de l'occipital qui forme
le canal osseux donnant passage ä l'aorte. II s'anastomose
avec l'hypoglosse, donne des filets aux deux dernieres
branchies, et communique avec le quatri^me ganglion
par un ou deux filets qui traversent le canal osseux dont
je viens de parier. Les filets branchiaux mentionnes jus-
qu'ici forment, avec les nerfs branchiaux de la paire vague,
un w<dv\t2h\t plexus pulmonaire^ ou plutot branchial. Aucun
anatomiste ne semble jusqu'ä pre'sent s'etre apergu de
cette disposition importante; ce n'est que dans ces der-
niers temps qu'on parait en avoir fait mention dans une
dissertation^ pubhee ä Leyde, et dont Midie?' fait l'ana-
lyse dans son rapport sur les travaux anatomiques et
physiologiques de l'annee 1834.2 Je regrette vivement
de n'avoir pu me procurer cette dissertation.
Le quatri^me ganglion, le plus volumineux de tous, com-
munique avec les deux premiers nerfs spinaux, et four-
nit un nerf splanchnique considerable. Les deux nerfs
splanchniques des deux cote's se dirigent ä droite, et se
reunissent en un ganglion considerable, mou et grisätre;
veritable ganglion semi-lunaire, applique ä droite contre
1 Giliay, De nervo synipathico, Ljcgd. Bat. — 2 Müllers Archiv, 1835,
H. I. ^£ -
MEMOIRE SUR LE SYSTEME NERVEUX 225
les muscles des os pharyngiens, et se continuant par iin
tronc volumineux, qui s'unit, sur l'art^re coeliaque, avec
la brauche intestinale droite du nerf vague. Cette union
ne consiste pas en ime simple juxtaposition, mais les
(leiix troncs se confondent d'une maniere tellement intime
qii'il est impossible de les separer sans dechirer leurs
filets, ce dont je me suis convaincu ä Taide de la loupe.
Le tronc nerveux qui resulte de leur reunion presente
l'aspect d'un nerf de la vie vegetative; il est assez mou,
jaunätre, et le ne'vrileme du nerf vague se continue sur
sa surface en stries blanches, fibreuses.i II est destine
aux organes renfermes dans la cavite' abdominale, accom-
pagne Tartere coeliaque, et se sous-divise en trois ou
quatre filets qui forment un plexus ä mailles tres larges,
dont partent des filets peu nombreux, lesquels se rendent
au foie et au canal intestinal, en accompagnant les rami-
fications de Tartere; Tun d'eux parvient ä la vessie nata-
toire. Le tronc du nerf se termine en formant un petit
ganglion, d'oü partent trois ou quatre filets pour les testi-
cules ou les ovaires et pour la rate. Les reins regoivent,
le long de la colonne vertebrale, des filets tres delies
provenant du tronc du grand sympathique, et un filet
plus considerable du nerf splanchnique, aussitot apres son
origine.
Le sympathique du Brochet ne presente que quatre ou
cinq ganglions bien developpes. Le premier est uni ä la
brauche operculaire, quoique moins intimement que chez
les Cyprins. Le second se reunit par sa partie superieure
au ganglion du nerf vague; il s'anastomose, en outre, avec
le glosso-pharyngien. Le troisieme, le plus volumineux,
repond au coqos de la troisieme ou de la quatrieme ver-
tebre. II fournit un filet aux reins, et forme un nerf splanch-
nique considerable, qui s'unit ä celui du cote oppose, au
devant de la colonne vertebrale, en un ganglion semi-
1 Cette fusion entre deux nerfs de la vie animale et de la vie de
nutritiou me parait extremement importante. D'apres Müller, Giltay
l'a aussi obsen^ee sur les Squales; je ne sais s'il domie des details
ä ce sujet. Weber a vu dans le Sandre [Ferra Lucio Perca), la branche
intestinale et le nerf splanchnique accompagner l'artere coeliaque,
Sans qu'une union cependant ait lieu entre eux.
2 26 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
lunaire, volumineux, d'oü partent deux troncs pom- les
intestins. Les filets branchiaux, et les anastomoses avec
rhypoglosse et les nerfs spinaux, se trouvent comme chez
les Cyprins, si ce n'est que les premiers sont moins deve-
loppes. Le grand sympathique de l'Alose est tres deve-
loppe; son plexus branchial surtout est tres apparent. II se
termine egalement siir la branche operculaire; ses gan-
glions sont tres volumineux. J'ai vu le troisieme ou le
quatrieme communiquer avec celui du cote oppose par
un filet qui passait au devant de l'aorte.
PARTIE PHILOSOPHIQUE
II s'agit maintenant de ddterminer ä quelles parties du
Systeme nerveux des animaux places plus haut dans l'e-
chelle on peut comparer les nerfs dont nous venons de
donner la description. Nous saisissons tres bien, au pre-
mier abord, la signification des nerfs olfactif, oj^tique,
oculo-moteiu-, pathetique, abducteur, trijumeau, acoustique
et vague; il n'y a que les branches du trijumeau et du
nerf vague qui offrent des difficultes.
Le trijumeau se divise, comme nous l'avons dit, en cinq
branches, dont trois, savoir la pterygo-palatine [Cuvier)^
l'operculaire et la recurrente, sont regardees comme pro-
pres aux poissons seuls; pour les deux premieres branches
je ne partage pas cette maniere de voir. La pterygo-pa-
latine me parait repondre au nerf maxillaire superieur, et
surtout ä la branche spheno-palatine de ce nerf, comme
je l'ai indique dans la description que j'en ai donn^e. Ce
qui me porte ä emettre cette opinion, c'est que, chez les
Cyprins, ce nerf sort du cräne par un canal particulier,
qu'il se dirige le long du vomer, et parcourt les paities
dont le developpement forme, dans les classes supe-
rieures,la cavite nasale, et enfin, parce que ce sontprinci-
palement ses filets qui traversent un trou de l'os maxil-
laire superieur, quirepond au trou sous-orbitaire. D'apres
cela, il faudrait considerer la branche maxillaire des ana-
tomistes essentiellement comme le nerf maxillaire infe-
rieur; et la branche qu'on designe ordinairement comme
MEMOIRE SUR LE SYSTEME xNERVEUX 227
maxillaire superieure, devra etre envisagee comme une
ramification de ce nerf. Une preuve assez directe de la
justesse de ces rtfflexions est fournie par le Brochet: dans
ce poisson il n'y a qu'iine seule branche qui donne les
filets de la mächoire supe'rieure, et qui par lä se carac-
terise de la maniere la plus e'vidente comme nerf maxil-
laire superieur; or, cette branche n'est pas une sous-di-
vision de la branche maxillaire des anatomistes, eile se
comporte, pour sa distribution, presque exactement comme
la branche pterygo-palatine des Cyprins; tandis que la
branche qui nait de la branche maxillaire commune, et
qu'on compare ordinairement au nerf maxillaire supe-
rieur, n'est que rudimentaire. La branche pterygo-pala-
tine ne se distingue de la branche maxillaire superieure
du Brechet que par son passage par un canal particulier
du cräne, canal qui cependant n'est separe du canal de
la branche maxillaire que par une lame osseuse; cette
lame manque chez le Brochet, et les deux nerfs maxil-
laires sortent par un trou commun.
L'examen de la branche operculaire est d'une plus grande
importance. D'apres Serres eile re'pond au nerf facial;
mais cet auteur ne donne pour preuve de ce qu'il avance,
que la distribution de ce nerf dans les muscles respira-
teiu-s. Je partage cette opinion, qui est presque directe -
ment confirmee par la maniere dont se comporte cette
branche chez les Raies et les Squales; car, d'apres la des-
cription de Serres et de Dcsjuouliris^ la branche opercu-
laire s'est se'pare'e du nerf de la cinquieme paire, et nait
isolement tout pres de l'acoustique, comme le nerf facial
des animaux superieurs; eile est identique avec la branche
en question des poissons osseux, car eile donne des filets
aux muscles de la soupape de l'event. Une seconde rai-
son nous est fournie par les fonctions, eminemment respi-
ratoires, de la branche operculaire, comme le prouve la
distribution de ses filets; et une troisieme, par son passage
ä travers un canal de Vos quadratum, que presque tous
les anatomistes regardent comme appartenant aux tem-
poraux. On m'objectera peut-etre que, d'apres mon opi-
nion, le nerf facial serait presque le meme dans la classe
2 28 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
la plus inferieure des vertebres que dans la classe la plus
elevee; tandis qu'il manqiie ä la pliipart des reptiles et des
oiseaux, ou qu'il y est du moins tout-ä-fait rudimentaire.
Mais le facial est le nerf respiratoire de la tete, et le nerf de
Fexpression physionomique, comme Charles Bell V 2, ^yow-
ve: or, dans les poissons la respiration des branchies de-
vient, par la juxtaposition de la tete et de la poitrine, ou
plutot de la cavite branchiale, respiration de la tete, comme
le passage de Tair ä travers le nez constitue la respira-
tion de la tete dans les animaux superieurs. Ceci n'a plus
lieu chez les oiseaux et les reptiles; la tete et la poitrine
sont Separees par un cou plus ou moins developpe, les
narines sont immobiles, du moins chez les oiseaux, la
physionomie n'a pas encore acquis d'expression, et c'est
ainsi que decroit et se perd le nerf facial; nerf qui en
general augmente ou diminue de la mani^re laplus frap-
pante, Selon le developpement de ses fonctions, comme
il resulte principalement des observations de Shaw. Du
reste, les filets que le nerf facial donne ä Toreille externe
et interne des classes superieures, rappellent toujours le
rapport primitif qui existe entre ce nerf et les branchies;
car, ainsi que l'a demontre Oke^i^ l'oreille, ä l'exception
du labyrinthe, n'est autre chose qu'une transformation de
la cavite branchiale. Ce rapport devient tres apparent
chez la grenouille oü, ä la verite, on ne trouve point de
facial, mais oii il y a cependant un filet de la cinquieme
paire qui traverse la caisse du tympan, passe par dessus
Tosselet de l'oui'e et s'auastomose avec la brauche an-
te'rieure du nerf vague^. Cette brauche est probablement
le rudiment des nerfs branchiaux du tetard, et rappelle
Tanastomose de la brauche operculaire des poissons avec
le nerf vague. Ainsi la meme anastomose, qui chez les
poissons a lieu dans la cavite branchiale, se fait chez la
grenouille dans la cavite tympanique.
1 Weber, dans son ouvrage sur le grand sympathique, a aussi decrit
le filet dont nous venons de parier. II le regarde comme appartenant
au Systeme du grand sympathique et comme servant de communi-
cation entre les renflements du trijumeau et du nerf vague, confondus
avec les deux premiers ganglions du grand sympathique. II dit avoir
trouve le meme filet dans l'oie.
MEMOIRE SUR LE SYSTEME NERVEUX 229
La distribution des filets de la brauche operculaire prouve,
qiroutre les filets de motilite, eile contient aiissi des filets
de sensibilite.
Je crois avoir demontre. par ce que je viens de dire, qiie
la brauche operculaire des poissons est identique avec le
nerf facial, qui, par conseqiient, ne serait primitivement
qu'une brauche de la cinqiüeme paire.
Reste encore ä expliquer la brauche recurrente. Elle pre-
sente im fait isole et difficile ä eclaircir: une anastomose
de la cinqiüeme paire avec les nerfs vague et hypoglosse
dans rinterieur de la cavite du cräne! On peut arriver ä
une hypothese assez satisfaisante en se rappelant que,
d'apres Ciivicr, JVeber^ et Des/noulins, une branche volu-
mineuse de la cinquieme paire se dirige, chez beaucoup
de poissons, en haut et en arriere, dans Finterieur du
cräne, s'anastomose souvent avec le nerf vague, passe par
iin trou paiticiüier du cräne, et se porte le long des apo-
physes epineuses jusqu'ä la nageoire caudale. La branche
recurrente des Cyprins n'est autre chose que la branche
que nous venons de decrire; mais au lieu de s'anasto-
moser avec le nerf vague, eile se jette entierement dans
ce nerf, et concourt ä former avec lui le nerf late'ral, ce
que de'montre la dissection. Or, Weber a trouve de plus,
dans la Lotte, un nerf provenant du nerf lateral de la
cinquieme paire, et se rendant ä la nageoire jugulaire:
c'est ä ce nerf que repond la branche infe'rieure du recur-
rent; eile s'imit ä l'hypoglosse pour se rendre ä la nageoire
pectorale.
Quant au nerf vague, il semble etre non-seulement nerf
de la vie animale, mais meme remplir en partie les fonc-
tions du grand sympathique. Weber a dejä fait cette Ob-
servation dans son ouvrage sur le grand sympathique, et
il dit meme que le nerf sympathique diminue au für et ä
mesiu-e que le nerf vague acquiert plus de de'veloppe-
ment dans les animaux inferieurs; de sorte que chez les
cephalopodes le nerf vague remplace entierement le sym-
pathique^. La maniere d'etre de la branche intestinale du
1 Meckds Archiv, 1827, H. 2. — 2 Weber admet que le nerf qui,
dans les Cephalopodes. nait ä cote de lacoustique, s'unit sous le
230 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
nerf vague, se confondant en im seiil tronc avec le nerf
splanchnique, et accompagnant dans sa distribiition les
ramifications des vaisseaiix sangiiins, parle en faveur de
cette opinion qui, d'ailleurs, se troiive encore confirmee
par le d^veloppement excessif des rameaiix branchiaux
du nerf vague, relativement aux filets branchiaux du sym-
pathique, par lamaniere dont les premiers accompagnent,
le long des feuillets des branchies, les ramifications des
vaisseaux sanguins, et par la diminution et Faugmentation
de leur calibre, selon les eaux qu'habitent les poissons.
Les poissons des eaux stagnantes et bourbeuses ont en
general, d'apres les observations de Desnioiilins^ le vague
beaucoup plus developpe que ceux qui habitent les eaux
limpides et courantes: cette difierence s'observe facile-
ment dans la Carpe et le Brochet. Si les nerfs bran-
chiaux du vague sont seulement sensitifs, on ne voit pas
poiurquoi ils seraient plus developpes dans les eaux bour-
beuses que dans les eaux claires; tandis qu'il est plus
facile de comprendre que ce changement de volume est
en rapport avec l'energie nerveuse plus ou moins puis-
sante, necessaire ä l'hematose dans les differentes eaux.
Le long nerf lateral du nerf vague presente de grandes
difficultes; il parait n'appartenir qu'aux poissons et aux
batraciens ä branchies, d'apres les observations de Va7i
Deen {Joe. cit.)^ qui l'a trouve chez les tetards et le Protee.
Est-il un nerf de sensibilite, ou de motilite, ou est-il nerf
respiratoire de la peau? Voilä des questions auxquelles on
ne saurait encore donner une re'ponse satisfaisante. Je ne
pus produire de mouvements ni en le tiraillant, ni en l'ir-
ritant avec la pointe du scalpel, dans le meme individu
chez lequel le frottement des branchies produisit ä l'in-
stant les plus vifs ebats. Le poisson parut absolument in-
sensible pendant l'irritation du nerf, qui, du reste, n'etait
pas coupe. Müller w^ reussit pas mieux ä l'aide d'une pile
galvanique composee de quarante plaques^. Les mouve-
ments du tronc et de la queue ne me parurent pas afFaiblis,
apres que j'eus coupe les nerfs des deux cote's. Ces ex-
cceur a celui du cote oppose et forme le plexus intestinal, est le
nerf vague. — ^ Handbuch der Physiologie.
MEMOIRE SUR LE SYSTEME NERVEUX 231
periences parient autant contre la sensibilite que contre
la motilite de ce nerf, et par conse'quent contre Topinion
de ceux qiii, comme Rola?ido^\ le comparent ä Taccessoire
de Willis, nerf eminenunent moteur, comme l'a prouve
Bischoff. Est-il donc nerf respiratoire: Les experiences de
Humboldt, qui demontrent la grande faciüte respiratrice
de la peau des poissons, et le mucus qui est secrete le
long du trajet de ce nerf, parient en faveiir de cette opi-
nion. La nageoire caudale ne rapi^ellerait-elle pas, sous
un certain rapport, Torganisation des animaux inferieurs,
oü les branchies sont en meme temps des organes de lo-
comotion?
Reste encore ä determiner les nerfs glosso-pharyngien et
hypoglosse. Le premier est caracterise comme tel, par son
origine au devant du nerf vague, dont il parait etre la
premiere brauche, comme chez l'homme, et par ses filets
distribnes äla membrane musculeuse du pharynx. En don-
nant le nerf principal de la premiere branchie, il se com-
porte en meme temps tout comme une brauche de la
huitieme paire. A en juger d'apres la distribution de ses
filets, le nerf glosso-pharyngien parait etre en meme temps
nerf de Sensation et de motilite.
Weher donne le nom d'hypoglosse au dernier nerf cere-
bral, sans en dire les raisons; dans un travail posterieur,
au contraire, il le compare ä Paccessoire de Willis, ä cause
de sa blanche destinee ä la nageoire pectorale. II est
evident que Weber n'a point considere la branche antc-
rieure de ce nerf, branche qui se rend au muscle rdtrac-
teurde l'os hyoide, compare par G/z^'/Vrau muscle sterno-
hyoi'dien; et c'est pour cela qu'elle repond ä la branche
linguale de Thypoglosse. La branche posterieure n'est
autre chose que le rameau descendant qui s'anastomose,
comme chez Thomme, avec les nerfs spinaux, et devient
en meme temps un des nerfs moteurs de l'extremite supe-
rieure attachee ä la tete. Le simple aspect dejä de ce nerf
vient ä l'appui de cette opinion; car l'arcade de l'hypo-
glosse et le rameau descendant montrent lesmemes formes
que chez Thomme. La grenouille en fournit d'ailleurs
* Osse>"'azio7n del cer^ieletfo.
23 2 NAl'URWISSENSCH. U. PHIT.OS. SCHRIFTEN
la preiive directe. Entre le nerf vague et le premier nerf
spinal nait im nerf, avec ime racine supt^rieure tr^s fine,
et une large racine inferieure exactement comme chez le
Barbeau: il se partage en deux branches, la posterieure
s'anastomose avec im rameau du premier nerf spinal, qui
se rend ä l'extremite superieure; Tanterieure, et de beau-
coup la plus volumineuse, forme une arcade en se diri-
geant vers les muscles de la langue, auxquels eile se distri-
bue. II est clair que ce nerf repond ä Thypoglosse des
autres vertebres, et il est encore evident qu'il est iden-
tique avec le nerf des poissons que j'ai designe sous le
nom d'hypoglosse. Chez la grenouille, l'hypoglosse forme
le passage des nerfs spinaux aux nerfs cerebraux; dans ce
batracien il se trouve meme en dehors de la cavite du
cräne, entre les deux premieres vertebres, de sorte qu'il
est reellement le i)remier nerf spinal. Les observations de
Mayer^ ajoutent, enfin, une nouvelle preuve ä l'analogie
entre l'hypoglosse des mammiferes et celui des poissons.
Cet anatomiste a trouve chez le chien, le boeuf, le cochon,
et une fois chez l'homme, une racine posterieure de l'hy-
poglosse, tr^s fine et pourvue d'un petit ganglion.
Je crois avoir prouve, par ce que je viens de dire, que
l'hypoglosse, nie jusqu'ici dans les poissons seuls, parmi
les vert^bres^, appartient egalement ä cette classe et y
conserve, de la maniere la plus apparente, son type pri-
mitif de nerf spinal.
En comparant les nerfs cerebraux des poissons ä ceux des
autres vertebres, Ton trouve six paires, savoir: l'olfactif,
l'optique, le trijumeau, l'acoustique, le vague et l'hypo-
glosse, qui se rencontrent dans toutes les classes, et qui,
dans toutes, se pre'sentent comme des nerfs separes et,
pour ainsi dire, comme des nerfs spinaux d'une puissance
superieure, ainsi que je vais le demontrer. Je donne le
nom de nerfs pj-mitifs ä ces nerfs, comme ä tous les autres
nerfs qui s'inserent ä la moelle, en y formant un segment
auquel repond une vert^bre. Les trois autres paires, au
1 Nov. acL nat cur. V, XVI. — 2 Müllers ''Handlmch der Physiolo-
gie'', p. 777.
MEMOIRE SUR LE SYSTEME NERVEUX 233
contraire, le facial, le glosso-pharyngien et l'accessoire
de Willis, se montrent tantot, et tantot disparaissent dans
les differentes classes et genres, en se separant tantot des
nerfs vagiie et trijumeaii, tantot se confondant avec eux;
de Sorte qiie, d'abord, elles apparaissent comme troncs
particuliers, et ensuite comme branches des nerfs vague
et trijumeau. C'est ainsi qiie l'accessoire de Willis est con-
fondu avec le vague chez les poissons et les batraciens,
et commence ä s'isoler chez les sam-iens, les cheloniens
et les oiseaux^; c'est ainsi que le glosso-pharyngien, isole
chez les poissons, devient une branche du nerf vague
chez les batraciens et les ophidiens, s'isole de nouveau
dans les cheloniens, et se montre enfin chez les oiseaux
comme un tronc particulier tres considerable^. De meme
le facial se trouve chez les poissons comme une brauche
de la cinquieme paire, disparait ensuite chez la plupart
des reptiles et des oiseaux, et se montre, enfin, de nou-
veau chez les mammiferes au für et ä mesure que la face
acquiert plus d'expression, et la respiration du nez plus
de developpement. Par cette raison je nomme ces nerfs
1 Bo/anus [Atiafo/iie fcshdünis airopcac) a observe l'accessoire de
Willis sur la tortue; Scrrcs l'a trouve dans les oiseaux, et Bischoff
dans les sauriens et les oiseaux. Ses racines naissent sur la meme
ligne immediatement ä la suite de Celles du nerf vague, et se con-
fondent avec elles dans le ganglion de ce nerf. C'est le tronc du
vague qui fournit, apres, l'accessoire de Willis [ßischoff]. Meme
pour les mammiferes en general il faut avouer que, par sa disposi-
tion anatomique, il n'est pas reellement distinct du nerf vague. —
2 II n'y a pas de glosso-pharyngien, d'apres Dcsmoidiiis, dans les
batraciens, les serpents et les lezards? mais il y a une forte brauche
linguale du nerf vagce, brauche que je regarde comme le glosso-
pharyngien uni ä son tronc nerveux priniitif. Je me suis convaincu
d'une pareille disposition sur la grenouille. On pourra m'objecter
i[u'on a tiouve chez les sauriens et chez les oiseaux en meme temps
le glosso-pharyngien et la branche linguale du nerf vague. Mais
cette branche linguale de la tortue est, d'apresÄyV?///^jr, une branche
laryngienne, et la meme chose pourrait aussi avoir lieu dans les
autres cas. Neanmoins, en supposant exactes les observations qu'on
m'oppose, je n'y vois rien d'embarrassant. Pourquoi dans certaines
circonstances la langue ne recevrait-t-elle pas deux branches du
nerf vague au lieu dune, le glosso-pharyngien, qu'on trouve ordi-
nairement? D'ailleurs, chez les corneilles, le glosso-pharyngien ne
donne aucun filet ä la langue, d'apres Desmouli>is\ mais il se distribue
entierement dans la glotte; il serait donc plutot le rameau larynge.
234 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTB:N
nerfs dirivis^ qiii naissent des nerfs vague et trijuineau, et
dont Fexistence isolee depend de la fonction plus deve-
loppde ä laquelle pre'sident leurs nerfs primitifs. Jamais
on ne trouvera pour les nerfs derives, m6me quand leur
isolement est arriv^ ä son plus haut degre, des parties os-
seuses, composant une vertebre qui re'ponde au segment
de la moelle, auquel ils s'inserent; bien plus, deux d'entre
eux, le glosso-pharyngien et Taccessoire de Willis, ne
passent pas par des trous particuliers, mais ils accom-
pagnent leur tronc primitif pour sortir du cräne. La maniere
dont les nerfs derives naissent des nerfs vague et triju-
meau, parait se faire par une Separation des filets de mo-
tilite et de sensibilite, en sorte que ce sont principalement
des filets moteurs qui s'isolent dans les nerfs facial et
accessoire, et des filets de sensibilite qui constituent le
glosso-pharyngien; mais sans que les uns excluent tout-ä-
fait les autres. La distribution des nerfs facial et glosso-
pharyngien des poissons parle en faveur de cette opinion,
par laquelle on evite les difficultes qu'on rencontre quand
on regarde le facial et Paccessoire de Willis comme les
racines motrices des nerfs vague et trijumeau, restees iso-
lees; car la sensibilite du facial au moins est prouvee par
les experiences de Eschricht (de functionibus nervorum fa-
ciei et olfactus organt) et de Gaedeschens^^ et a meme de-
termine Arnold^ Bischoß'tt Gaedescheiis ä compter le facial
parmi les nerfs primitifs, naissant par deux racines, et
pourvus d'un ganglion, opinion qui ne s'accorde guere
avec les observations de l'anatomie comparee; car jamais
un nerf primitif ne se comportera comme une branche
d'un autre tronc nerveux, comme cela arrive pour le facial
des poissons.
Quant aux nerfs cerebraux primitifs en particulier, je tä-
cherai de prouver qu'il ne faut pas les regarder comme
un Systeme nerveux special; mais qu'on peut les ramener
au type des nerfs spinaux, et que six segments de la moelle
cerebrale et six vertebres cräniennes leur repondent.
La loi qui preside au developpement des nerfs en ge'neral
1 Nervi fociaUs i)hysiologia et iyathologia. V. la Physiologie de
Müller.
MEMOIRE SUR LE SYSTEME NERVEUX 235
est enoncee par Carus^ en ces termes: «De meine que le
degre le plus bas du developpement nerveux est constitue
par un nerf homogene, ne presentant pas de racines Se-
parees de sensibilite et de motilite, et sortant d'un gan-
glion simple, le degre le plus eleve consiste en ce que les
deux racines, restant isolees, se comportent comme des
nerfs particuliers. II existe un troisieme degre interme-
diaire, dans lequel les deux racines naissent separement,
mais se reunissent bientot en un tronc commun.»
Le premier degre repond aux nerfs des insectes et des
mollusques; le troisieme repond ä tous les nerfs primitifs
des vertebres, excepte l'optique, l'acoustique et Tolfactif,
qui appartiennent au degre le plus eleve. Ce dernier de-
gre est indique aussi dans les nerfs trijumeau et vague,
par l'isolemert partiel des filets motem-s et sensitifs dans
les nerfs derives qu'ils fournissent; mais il n'est pas en-
core complet.
L'hypoglosse des poissons et de la grenouille, comme je
viens de le prouver, se comporte encore tout-ä-fait comme
un nerf spinal; la seule difference reside en ce que la
racine inferieure, ou racine de motilite, est beaucoup plus
developpee que la superieure ou racine de sensibilite,
difference qui acquiert son maximum chez l'homme oü,
dans rimmense majorite des cas, la racine superieure dis-
parait entierement.
Les nerfs vague et trijumeau sont caracterises comme
nerfs spinaux par leurs deux racines, par le renflement
qui se trouve ä la racine posterieure, et par leur distribu-
tion le long des branchies et des mächoires, qui presentent
encore tout-ä-fait le type des cotes; ces deux nerfs
ofifrent une symetrie frappante dans toute Techelle des
vertebres. Tous deux donnent Torigine des nerfs d^rives,
et ont pour fonction de Her la vie vegetative ä la vie ani-
male. Le nerf vague se comporte ä Fegard de la cavitt^
thoracique et abdominale, comme le trijumeau ä Tegard
j de la cavite nasale et buccale. Le premier est aux organes
de la respiration et de la digestion materielle ce que le
second est aux organes d'une digestion et d'une respira-
^ Von den l ^rteilen des Knochen- und Sc Iia lenger iistes.
I
236 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
tion plus subtile, ideale pour ainsi dire, savoir aux Or-
gan es du goüt et de rodorat^. Bref, le trijumeau est un nerf
vague d'une puissance superieure; ce rapport est dejä
prononce dans les poissons. A une grande brauche late-
rale du nerf vague repond une branche laterale du triju-
meau; aux branches intestinales et branchiales, les bran-
ches maxillaires; ä la premiere branche du nerf vague, au
glosso-pharyngien, la premiere branche du trijumeau,
Tophthalrnique de Willis. Dans les mammif^res, le nerf
vague est divise en trois troncs: l'accessoire de Willis, le
nerf vague proprement dit, et le glosso-pharyngien; le
trijumeau de meme en trois: le facial, le trijumeau pro-
prement dit, et Fophthalmique de Willis, qu'on pourrait
regarder comme un nerf particulier, aussi bien que le
glosso-pharyngien. De meme que l'accessoire de Willis
est le nerf respirateur du cou et d'une partie du tronc^,
le nerf facial est le nerf respirateur de la tete; de meme
que le tronc du nerf vague est le nerf de Sensation du
canal intestinal, la branche linguale du trijumeau est le
nerf du sens propre de la langue, la partie la plus parfaite
du tube digestif, l'organe du sens intestinal, comme Oken
appelle ingenieusement le goüt. Enfin, de meme que le
nerf vague fournit le glosso-pharyngien comme nerf acces-
soire ä l'organe du goüt, le trijumeau donne 1' ophtha! -
mique de Willis comme nerf accessoire ä l'organe de
l'odorat^
1 De meme que l'organisme s'empare, par la digestion et la respi-
ration, de la matiere elle-meme des corps exterieurs, il saisit par
l'odorat et le gout leur essence materielle la plus subtile, en sorte
que cette respiration et cette digestion consistent en une fonction
purement sensitive. — 2 Voici un fait anatomique qui vient ä l'appui
de l'opinion emise -^zx Arnold [Der Kopf teil des vegetativen Nerven-
systems), Scarpa [De gangliis nervoru?n deque essen tia ner^'i intercosta-
Hs. Ann. univers. di mediana, 1831) et Bischoff (ouvr. cite), sur le
rapport de l'accessoire de Willis et du nerf vague. Chez l'homme j'al
vu la brauche anterieure de Taccessoire de Willis, qui s'accolle au nerf
vague, donner non-seulement le rameau pharyngien du nerf vague,
mais former aussi presque entierement le nerf larynge superieur. —
^ Les experiences recentes de Panizza [Ricerche spe^-imentali sopra
i nenn, Pavia, 1834), qui ont pour but d'etablir que le nerf glosso-
pharyngien est le veritable nerf du goüt, changeraient en partie ces
reflexions sur la symetrie des nerfs vague et trijumeau. Cependant,
MEMOIRE SUR LE SYSTEME NERVEUX 237
Noiis arrivons maintenant ä l'optique, ä l'olfactif et ä
l'acoustique, comme pre'sentant le degre le plus eleve du
developpement nerveux signale par Carus, qui consiste
dans la Separation et Tisolement des deux racines. Pour
Tolfactif et racoustitjue cet isolement est accompagne de
Tavortement de la racine inferieure, de sorte qu'il n'y a
que les racines superieures qui se soient developpees; ces
nerfs presentent donc, sous ce rapport, l'inverse de l'hy-
poglosse de l'homme, qui ne consiste qu'en une racine
inferieiu'e.
Le nerf optique et les nerfs musculaires de Tail ne sont
qu'un seul nerf primitif, dont les racines superieures et in-
ferieures sont restees isolees, et dont chacune forme un
nerf particulier, un nerf de sensibilite etun nerf de motilite;
mais voici que, pour le developpement de la racine in-
ferieure, il se presente une nouvelle loi, que Cartis e'nonce
e'galement: «Dans la loi precedente nous avons vu que
les deux racines peuvent constituer deux nerfs particu-
liers; chacune de ces racines peut maintenant se sous-
Cüinme elles sont contraires aux resultats obtenus par tous les autres
anatcJmistes, il fandra attendre encore qu'elles soient confirmees
par d'autres experlmentateurs. Au moins lanatomie comparee de-
truit le principe a priori d'apres lequel Panizza concluait qu'il devait
y avoir un nerf particulier pour le goüt aussi bien que pour la vision,
l'odorat et l'audition, puisqu'elle prouve que le glosso-pharyngien
doit etre regarde comme la premiere brauche du nerf vague. Mais
precisement cette derniere opinion parle en faveur des experiences
de Pauizza. Le nerf vague etant le nerf du canal intestinal, il serait
assez naturel qu'il donndt aussi les filets nerveux de la langue, et
qu'il devint le nerf du sens du goüt, comme il est le nerf de Sen-
sation du canal intestinal. Une autre preuve en faveur de Panizza
parait etre fournie par la circonstance qu'il y a beaucoup d'animaux
pourvus d'une langue bien evidente, chez lesquels on ne trouve pas
de brauche linguale de la cinquieme paire. Chez la grenouille je ne
l'ai pas vue; Bojaiiiis ne l'a point trouvee sur la tortue, et, d' apres
Desmoulins, le cameleon meme en est depourvu. De plus, parmi
les oiseaux, les passereaux et les gallinaces en manquent. Reste a
savoir cependant si, dans ces animaux, la langue est un organe de
goüt, et si eile n'est pas seulement un Instrument de prehension et
de deglutition. Chez les Cyprins, enfin, l'organe particulier, pro-
bablement gustatif, ne recoit que des filets de la paire vague; cepen-
dant le rameau superieur de la brauche recurrente du trijumeau, se
confondant avec le ganglion du vague, laisse aussi dans ce cas la
question ind^cise.
238 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTP:N
diviser elle-meme en nerfs particuliers.»^ C'est precise-
ment ce qui a Heu pour la racine infe'rieure du nerf
optique: eile se sous-divise en trois branches, qui devien-
nent trois nerfs particuliers, l'oculo-moteur, l'abducteur
et le pathetique. L'oculo-moteur et Tabducteur naissent
du meme cordon de la moelle, presque sur la meme ligne,
l'un au devant de l'autre, et chez les poissons leurs points
d'origine sont assez rapproches. Ce sont deux fiiets de la
meme racine, dont Tun se ddgage plus tot de la moelle
que l'autre. Le pathetique presente plus de difficulte; ce-
pendant sa mani^re d'etre, chez les poissons, les ecarte
en grande partie. II nait du bord externe des pyramides
antdrieures, par consequent du meme cordon que les autres;
seulement son point de sortie de la moelle est plus e'leve.
L'anastomose de la sixieme paire avec le grand sympa-
thique s'explique des lors facilement, quand on se rap-
pelle que tous les nerfs primitifs complets s'anastomosent
avec le grand sympathique, et que le nerf optique ne fera
1 Carus ne me parait pas faire une application heureuse de ses
propres lois. Aux trois renflements du cerveau, savoir aux hemi-
spheres, aux tubercules quadrijumeaux et au cervelet, repondent,
d'apres lui, trois paires cerebrales, dont les racines superieures
isolees sont formees par l'olfactif, l'optique et l'acoustique, les
racines inf^rieures par les nerfs trijumeau et vague, tandis que la
troisieme racine, lepondant ä l'olfactif, ne s'est pas developpee
et est remplacee d'une nianiere rudimentaire par l'infundibulum.
D'apres la seconde loi, maintenant, les racines inferieures se sous-
divisent elles-memes, de sorte que le vague donne les nerfs glosso-
pharyngien, hypoglosse et accessoire de Willis, et le trijumeau le
facial, l'abducteur et Toculo-moteur. Une sous-division des racines
superieures n'a lieu que pour l'optique, et le nerf pathetique en
resulte. Voici le tableau de cette Classification, par lequel on voit
aisdment combien eile est contraire ä la physiologie et a Tanatomie
comparee.
I. Trois renflements cerebraux:
Hemispheres, tubercules quadrijumeaux, cervelet.
TT. Trois paires de nerfs cerebraux:
a. Racines superieures:
L'olfactif, l'optique, le pathetique, l'acoustique.
b. Racines inferieures:
T.'infundibulum, le trijumeau: le vague:
facial, oculo-moteur, glosso-pharyngien,
abducteur. hypoglosse, accessoire.
MEMOIRE SUR LE SYSTEME NERVEUX 239
pas exception; c'est par sa racine inferieure que cette
anastomose a lieu.
Ce developpement de la paire primitive destinee ä Toeil
coincide avec la haute perfection de cet Organe, le plus
animal du corps, pour ainsi dire. Toutes les parties du
cerveau sont repre'sentees dans le globe de Toeil. La dure-
m^re par la sclerotique; le cräne meme par les lames os-
seuses, qui se developpent dans cette membrane chez les
poissons, les reptiles et les oiseaux; la pie-m^re par la
choroide; la substance medullaire par la retine; les hu-
meurs aqueuses des ventricules par des humeurs solidi-
fiees, le cristallin et le corps vitre. Sur ce globe s'ins^re
un Systeme musculaire, par lequel l'oeil est porte autour
de son axe comme une main. Oken a dit metaphorique-
ment: Toeil est un cerveau mis en dehors, qui est telle-
ment lie au Systeme musculaire qu'il s'en irait, s'il n'e'tait
pas retenu par son amour pour la mere qui le nourrit. II
dit, d'ailleurs, que meme la vie vegetative se repete dans
l'ceil, par la glande lacrymale, les paupi^res semblables
ä des levres, le canal lacrymal, unissant l'ceil ä la cavite
nasale comme la trompe d'Eustache unit l'oreille ä la
cavite buccale, etc. D'apres lui, l'oeil est en petit un corps
entier, avec une grande predominance des systemes ner-
veux et musculaire; c'est l'organe le plus e'leve', la fleur,
üu plutot le fruit de l'organisation.
En comparant entre eux les nerfs primitifs du cerveau,
on trouve qu'ils se divisent en deux groupes. L'un, formd
par l'acoustique et l'optique, les nerfs du son et de la
lumi^re, est l'expression la plus pure de la vie animale;
Tautre, forme par l'hypoglosse, le vague, le trijumeau et
l'olfactif, el^ve la vie vegetative ä la vie animale. C'est
ainsi que nous avons la conscience de l'acte de la di-
gestion et de la respiration par le nerf vague; que la lan-
gue, partie essentielle du canal intestinal, devient un Or-
gane soumis ä la volonte, en quelque sorte un membre
de la tete sous l'influence de l'hypoglosse, et que le goCit
et l'odorat, comme sens de la digestion et de la respira-
tion, se de'veloppent par l'influence du trijumeau et de
Tolfactif. Les nerfs de ce groupe ne se distinguent ce-
2 40 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
pendant pas plus des autres nerfs primitifs, que ne le fönt
les nerfs lombaires qui se rendent aux organes de la ge-
neration. Les premiers sont ä la digestion et ä la respi-
ration ce que les derniers sont ä la gene'ration. D'ailleurs,
tous les nerfs spinaux sont en quelque sorte lies ä la vie
vegetative, puisque laplupartdesmouvementsmusoilaires,
necessaires ä la respiration, se fönt sous leur influenae.
II est encore interessant de voir comment les masses ce-
rebrales se developpent en raison des paires primitives.
A cinq des paires cerebrales primitives repondent cinq
renflements pairs ou impairs, places sur la meme ligne,
les uns derriere les autres. Au nerf olfactif repondent les
hemispheres, ä Toptique les lobes optiques, au trijumeau
le cervelet, ä Tacoustique le tubercule impair du qua-
trieme ventricule, au vague les lobes du nerf vague. La
moelle se comporte ä l'egard de l'hypoglosse comme ä
l'egard d'un nerf spinal. Ce rapport entre les nerfs et les
renflements de la moelle est particulierement prononce
chez les Trigles, dans lesquels, aux six premieres paires
spinales tr^s developpees, re'pondent six paires de renfle-
ments de la moelle epiniere. Ces renflements ofifrent la
transition la plus apparente de la moelle epiniere au cer-
veau. En les decrivant, Tiedemmin'^ indique la loi d^apres
laquelle se developpent les masses cerebrales. Voici ses
propres paroles: «Les renflements de la moelle epiniere
des Trigles me paraissent etre tres importants pom- la
connaissance de la structure et de la physiologie du Sys-
teme ce'rebro- spinal. La moelle epiniere est bien evi-
demment formee par une Serie de renflements, d'oü nais-
sent les nerfs; ces renflements se developpent dans ce
genre en m.eme temps que les nerfs qui en emanent aug-
mentent de volume, et qu'il y a des organes particuliers,
dans lesquels ces nerfs se distribuent. Une fonction ner-
veuse plus eleve'e parait etre lie'e ä un plus grand de've-
loppement de la moelle, qui fait apparaitre ces renfle-
ments. Pour la structure du cerveau des poissons, je crois
])Ouvoir etablir la loi suivante: au developpement plus
considerable d'organes particuliers est liee une augmen-
1 Mcckch Archiv. T. 11, H. 2.
MEMOIRE SUR LE SYSTEME NERVEUX 241
tation de masse de la moelle, ä Tendroit oü naissent les
nerfs poiir les organes plus developpe's.»
Je pense qu'on peut e'tendre cette loi sur la formation du
cerveau en geiieral. Les masses cerebrales ne sont pri-
mitivement que des renflements, qui repondent ä Tinser-
tion des nerfs cerebraux, et qui se developpent ä l'extre-
mite anterieui-e de la moelle, en raison de la gradation
des fonctions qui s'opere dans cette partie anterieure-
gradation de laquelle depend le developpement de l'ex,
tremite anterieure du corps, dont le resultat est la forma-
tion de la tete. Dans les autres classes, le developpement
uniforme des renflements cere'braux le long de la moelle,
disj^arait peu ä peu; il se porte toujours davantage vers
l'extre'mite anterieure, tandis que la partie posterieure
redevient semblable au reste de la moelle. C'est ainsi
que les lobes du nerf vague et le lobe du quatrieme ven-
tricule disparaissent, et que le cervelet et les lobes op-
tiques changent de proportion; tandis que les hemispheres
se developpent de la maniere la plus distincte. Ce chan-
gement cependant ne suit pas une marche uniforme ä
mesure qu'on remonte l'echelle des vertebre's; mais il y a
beaucoup d'oscillation dans les differents genres. S'il etait
vrai, comme le disent cjuelques anatomistes, que les lobes
optiques des poissons repondissent en partie ou enticre-
ment aiLx hemispheres, cette assertion fournirait une ob-
jection fondee ä ce raisonnement; en efifet, le lobe op-
tique presente bien des parties qui rapj^ellent celles qui se
developpent dans les hemispheres, savoir: le corps cal-
leux, la voüte, les tubercules quadrijumeaux et les couches
optiques, comme Gotische l'a prouve.
Une re'union des deiix hypotheses ne serait-elle pas pos-
sible: Le cerveau des poissons n'est qu'un assemblage
de tubercules, dont chacun repond ä un nerf. II faut ce-
])endant qu'il y ait un centre commun qui rassemble les
impressions, et qui preside ä la rcaction. Ce centre, qui
doit se trouver chez tous les animaux, ne serait-ii pas
construit sur un plan ge'neral, et son siege ne suivrait-il
pas le developpement progressif de la partie anterieure
de la moelle, de sorte que, chez les poissons, il serait
242 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
place dans les lobes optiques; tandis que dans les autres
animaux il se trouverait dans les hemispheres: Et, enfin,
ce centre ne se presenterait-il pas, d'apres son type pri-
mitif, sous des formes analogues, dans les lobes optiques,
comme dans les hemispheres?
J'arrive maintenant ä la determination des six vertebres
cräniennes qui, selon nous, repondent aux six paires de
nerfs cerebraux primitifs.
La transition la plus evidente des vertebres proprement
dites aux vertebres cräniennes, se voit dans les trois pre-
mieres vertebres des Cyprins; leur nnion plus intime, leurs
arcs et leurs apophyses epineuses, beaucoup plus de've-
loppes et formant des os particuliers, qui s'unissent par
sutures, fönt qu'elles presentent dejä au premier aspect
une forme tout-ä-fait cränienne. Elles fönt voir de quelle
maniere les difierentes parties de la vertebre s'isolent en
os particuliers, et prouvent par lä qu'il faut chercher pour
chaque vertebre cränienne trois parties, un corps, deux os
lateraux formant Tarc vertebral qui entoure lamoelle, et une
apophyse epineuse. D'apres ce fait, et en se rappelant que
chaque nerf doit etre en rapport avec sa vertebre, il est
facile de trouver les six vertebres en question.
En comptant d'arriere en avant, la premiere vertebre
repond ä l'hypoglosse. Le corps est forme par la partie
posterieure de la portion basilaire de Toccipital, l'arc par
les parties posterieures des os occipitaux late'raux {Cu-
vier)^ Separees de ces os par le grand trou ovale, et la
partie epineuse par Tos inter-parietal Cuvier {^^crista oc-
cipitis^^ Bojanus^ ^^Hinterhauptschuppe^^ Meckel), qui porte
Tapophyse epineuse de l'occipital. L'arc de cette vertebre
est separe de celui de la suivante par un veritable trou de
conjugaison, trou excessivement grand chez les Cyprins,
par lequel passe l'hypoglosse, et qui fait communiquer la
fossa auditoria ( Weder) avec la cavite' du cräne. Cette
vertebre porte des apophyses transverses, qui sont diri-
gees verticalement en bas, et s'unissent en circonscrivant
une Ouvertüre par laquelle passe l'aorte. Quant ä la com-
position de cette vertebre, on pourrait m'objecter que la
partie que je regarde comme le corps, n'est re'elleraent
MEMOIRE SUR LE SYSTEME NERVEUX 243
pas Separee de la portioo basilaire de l'occipital, avec
laquelle on la confond ordinairemeDt, et que la meme
chose arrive pour l'arc qui est confondu avec Foccipital
lateral {Cuvier). Je reponds ä la premiere objection, en
disant que j'use du meme droit dont se servent ceux qui
regardent le sphe'noi'de des poissons comme divise en
deux moities, quoique cette division n'existe pas reelle -
ment. La disposition des autres os justifie, dans les deux
cas, egalement cette Separation, que Geoffroy Saint-Hilaif-e
adopte d'ailleurs; il de'signe le corj)s de ma premiere ver-
tebre, ou la partie posterieure du basilaire, sous le nom
d'os basisphenal. La seconde objection se refute facile-
ment, quand on compare le cräne du Brochet ä celui des
Cyprins. Chez le premier, l'arc de la premiere vertebre
est forme bien evidemment par deux lames osseuses tout-
ä-fait Separees des occipitau^x lateraux. L'hypoglosse, qui
passe entre leur bord ante'rieur et le bord posterieur de
Toccipital lateral, l'anneau qu'elles forment autour de la
moelle, leur articulation avec Tarc de la premiere verte-
bre spinale, prouvent qu'elles sont identiques avec les os
en question des Cyprins. Coj-us regarde aussi ces parties
comme deux os particuliers, et les nomme die untern
Deckplatten des ersteht Zwischemuirbels. Le grand trou
ovale repond au trou condyloidien anterieur. J'appelle os
occipitaux lateraux poste'rieurs, les os qui forment l'arc
de ma premiere vertebre.
La seconde vertebre est celle du nerf vague. Le corps
est forme par la partie anterieure de la portion basilaire
(rotosph^nal Geoffroy)\ l'arc, par les occipitaux lateraux
Cuvier (exoccipitaux Geojfroy^ ^''seitliches unteres Hinter -
hauptstück^^ Meckel), et Papophyse dpineuse, par les occi-
pitaux externes (3/zV^;- (suroccipitaux Geoffroy^ '^ossa inter-
parietalia^^ Bojanus, ^^seitlicJies oberes Hifiterhaiiptstück'''
Meckel). Cette derniere n'est pas simple, mais dedoublee
par le developpement de l'apophyse epineuse de la ver-
tebre precedente; eile a ete d^jete'e sur les deux cotds,
comme cela arrive aussi ordinairement pour les parietaux.
II n'y a pas de trou intervertebral, le nerf vague et le
glosso-phar}'ngien traversent les os de l'arc.
244 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
Chez la grenouille les deux vertebres cräniennes que je
viens de decrire, presentent un fait un peu anomal. La
premiere vertebre s'est separee du crfine, et est redevenue
une vertebre spinale, en formant un anneau osseux entre
la seconde vertebre cranienne ou vertebre du nerf vague,
et la premiere vertebre spinale. Le nerf vague passe par
un trou de l'arc de sa vertebre (de Toccipital lateral an-
terieurj, comme chez les poissons. On supposerait main-
tenant que Thypoglosse düt passer entre la seconde ver-
tebre cranienne et la premiere (redevenue spinale); mais
cela n'a pas lieu. L'hypoglosse sort entre la premiere
vertebre cranienne et la premiere vertebre spinale, de
Sorte qu'il parait y avoir une vertebre ä laquelle ne re'-
pond pas de nerf. Chez le Protee, d'apres la description
de Meckel'^^ non-seulement la premiere vertebre cranien-
ne, mais aussi la seconde, se sont separe'es du crane,
et sont redevenues vertebres spinales, de sorte que la
seconde s'articule avec le corps du sphenoide par deux
apophyses articulaires.
Les deux premieres vertebres cräniennes sont soudees en
une seule piece osseuse chez les mammiferes; elles y for-
ment l'occipital, dont la division primitive en deux ver-
tebres est encore indiquee par les trous condyloi'diens
anterieurs, et par les os inter-parietaux qu'on distingue
sur de jeunes individus.
La troisieme vertebre, ou la vertebre auditive, est com-
posee par le frontal posterieur Ciwier (portion ecailleuse
du temporal Bojanus^ Meckel et Rosent/ial, os temporal
Geoffroy^ ^h^ordcre obere Grundplatte des ersten Zwisc/ien-
wirbels'^ Carus)^ le mastoidien Cuvier et Meckel (^^ hintere
obere Grundplatte des ersten Zwischenwirb eW'' Carus, ro-
cher Bojanus, os prerupeal Geoffroy), et Vos qiiadratum.
Je compare ces trois os ä la portion ecailleuse du tem-
poral, a l'apophyse mastoi'de et ä la portion tympanique,
mais Sans pretendre rechercher ä quelle partie d'une ver-
tebre ils repondent. Peut-etre que la portion tympanique
represente le corps, la portion ecailleuse l'arc, et l'apo-
physe mastoide l'apophyse epineuse. La maniere d'etre
^ Svsft'in der 7'cr^Ieichendai Anatomie, tom. TT.
MEMOIRE SUR LE SYSTEME NERVEUX 245
particiili^re de Torgane de Touie et du nerf acoustique,
qui reste dans ia cavite cranienne, fait c[ue cette vertebre
perd presque entierement son type, et qu'elle est poiissee
meme en partie en dehors des os du cräne, comme cela
a lieu pour Vos quadi-atiDn des vertebres inferieurs.
La quatrit-me vertebre repond au trijumeau. Le sphenoide
posterieur, les grandes ailes Cnvicr, Geoffroy et Bojamts
(rocher Meckel, ''Grutidplatten des ztvciten Schädelwirb ch''
Canis), et le parietal, en forment le corps, l'arc et l'apo-
physe t'pineuse. Ces os rcpondent aux os homonymes des
mammiferes. La brauche operculaire du trijumeau tra-
verse la grande aile; les branches maxillaires superieure
et inferieure au contraire passent par un veritable trou
intervertebral entre cette vertebre et la suivante. Chez
le Brochet, cependant, ces branches passent uniquement
par un trou de la grande aile.
La cinquieme vertebre, ou la vertebre oculaire, est com-
posee par le sphenoi'de anterieiu-, les petites ailes Cuvier^
Bojanus, Geoffroy (grandes ailes Meckel, ^^ Grundplatte?i
des dritte?i Schädelwirbels- ■ Carus), et le frontal, os re-
presentant le coips, l'arc et l'apophyse epineuse. Le nerf
optique, l'oculo-moteur, le pathetique et Tophthalrnique
de IJ^illis, traversent la petite aile.
La sixieme vertebre, ou la vertebre oliactive, change un
peu de forme, parce qu'elle termine en avant la cavite
vertebrale. Le corps de cette vertebre est forme par le
vomer (Cuvier, Bojaims^ Mechet), l'arc par Tethmoide de
Meckcl (frontal anterieur et ethmoi'de Ciivie?-)^ et l'apo-
physe epineuse par le nasal (Cuvier et Meckel). Le nerf
olfactif passe par un grand trou ovale de l'arc: cet arc
est divise en deux parties par une suture; la posterieure,
le frontal anterieur {Cuvic?'), est paire et embrasse encore
la moelle; l'anterieure, Tethmoide {Cuvier)^ doit etre re-
gardee comme formee par la partie anterieure des lames
osseuses de l'arc, qui, ne trouvant plus de moelle ä em-
brasser, s'unissent en un seul os par leur surface interne.
Le vomer et Tos nasal re'pondent aux parties homonymes
de rhomme; mais ä quoi repondent les deux parties de
l'arcr ä Tos ethmoi'de Sans doute, et Tanterieure, placee
246 NATURW1SSF:NSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
perpendiculairement entre le vomer et l'os nasal, ä la
lame perpendiculaire de cet os. La posterieure est plus
difficile ä expliquer. Mais quelles sont les parties qui con-
stituent l'ethmoide le plus complet? les lames criblee,
perpendiculaire et papyracee, et le labyrinthe. L'analogue
de la lame criblee est la membrane fibreuse, qui bouche
le trou par lequel passe Tolfactif; l'analogue du labyrinthe
sont les feuillets de la pituitaire. Reste donc seulement
la lame papyracee. La lame papyracee forme le bord ex-
terne du trou par lequel passe le nerf olfactif, et qui est
ferme par la lame criblee dans les vertebres superieurs.
La meme chose arrive chez les poissons, pour la portion
posterieure de l'ethmoide: eile forme le contour de ce
trou qui est place verticalement, au lieu de Fetre hori-
zontalement. Qu'on s'imagine que le developpement de
la vertebre precedente, savoir du frontal et de la partie
anterieure du sphenoide, domine la derniere vertebre, de
mani^re ä Texclure de la formation de la cavite cränienne;
qu'on se represente le trou olfactif place horizontalement,
et l'on verra l'os en question repondre par sa Situation
exactement ä la lame papyracee; seulement il est infini-
ment plus developpe: circonstance qui coi'ncide avec la
formation assez uniforme des vertebres cräniennes. Le
developpement de cette partie dans les vertebres infe'-
rieurs, est encore indique meme dans le foetus de l'homme,
en ce que les lames papyrac^es sont les parties de l'eth-
moide qui s'ossifient les premi^res. Aussi la Separation
de l'ethmoide des poissons, en deux parties, est encore
prononcee dans le foetus et les jeunes individus; car,
d' apres Mayer^ ce n'est que dans la seconde ou la troi-
sieme annee que la lame perpendiculaire va se souder,
avec les lames papyracdes et le labyrinthe, en un seul os.
L'ethmoide de la grenouille, quoique presentant encore
le type de celui des poissons, montre dejä une transition
ä une forme superieure, et me parait tr^s-propre ä justifier
mon hypotbese.
Pour trouver ces six vertebres je ne crois pas avoir tor-
ture les faits, ni altere l'arrangement naturel des parties;
cependant il faut que je signale une difficulte que je n'ai
MEMOIRE SUR LE SYSTEME NERVEUX 247
pu vaincre. Entre Tethmoide et la petite aile du sphenoide
on trouve un os considerable, fonnant une partie de la
piiroi laterale du cräne et constituant par cela un ve'ritable
arc de vertebre, sans qu'il soit possible de trouver ni un
nerf, ni un corps et une apophyse epineuse qui lui repon-
dent. Cuviei' appelle cet os sphenoide anterieur; Bojanus
le nomme rostrimi sphenoidale; Meckel^ enfin, lui donne
une veritable signification en le comparant aux petites
ailes. Poiu" etre consequent dans son hypothese, il a fallu
qu'il comparät la petite aile des autres anatomistes ä la
grande aile; il lui est reste alors ä determiner le grand os
regarde ordinairement comme la grande aile, il le ddsigne
comme rocher. Pour justifier son opinion, il se fonde sur
le passage des nerfs, en disant que le nerf maxillaire in-
ferieur passe en ge'ne'ral par la partie posterieure de la
grande aile, et souvent meme, le trou ovale n'etant pas
ferme dans sa partie posterieure, entre cet os et le rocher,
et que justement cela a Heu chez la Carpe. En faveur de
son opinion, je puis meme ajouter que la brauche de la
cinquieme paire, que je regarde comme le facial, passe
uniquement par cet os, et que cela parait aussi le carac-
teriser comme rocher. Mais le Brochet fournit une preuve
importante contre l'opinion de Meckcl. Le nerf maxillaire
ne passe pas entre le rocher (Meckel) et l'os prece'dent,
ou la grande aile (M ecket), mais il passe par le rocher
meme; son tronc est uniquement entoure par un anneau
osseux du roch er [Meckel). La meme chose a Heu chez
la Perche, d'apres Qivier^ oü les branches du trijumeau
passent par le milieu de ce pretendu rocher. Je le de-
mande, le trijumeau pourra-t-il jamais ctre en pareil
rapport avec le rocher: Impossible. Cette seule circon-
stance suffit pour refuter Meckel] cependant j'ajouterai
encore: la petite aile des autres anatomistes est, d'apres
Meckel^ la grande aile; or, la petite aile est toujours ca-
ractdris^e par le passage des nerfs optique, oculo-moteur,
pathetique et ophthalmique de Willis. Qu'on regarde de
pres le cräne des Cyprins, et l'on verra que tous ces nerfs
passent uniquement par la grande aile { Meckel); chose
egalement impossible. Le nerf optique ne passe nullement
248 NATURWISSENSCH. Ü. THILOS. SCHRIFTEN
entre cet os et le precedent, ou la petite aile {Mecket)\
mais il va seulement par im trou de la grande aile (Meckel).
Pour les aiitres nerfs il n'y a pas de contestation possible
soiis ce rapport, comme ils passent pres du bord poste-
rieur, et non pas pres de Tanterieur de la grande aile
(Mcckel). Je ne con^ois pas comment Mcckel ait pu dire
que le nerf maxillaire superieur passe entre sa grande et
sa petite aile. Dans les poissons seulement, oü une partie
de la grande aile [Meckel, petite aile Cuvicr) est rempla-
cee par une membrane, de sorte qu'une grande Ouvertüre
se trouve dans la paroi laterale du cräne, on pourrait dire
que les nerfs de Toäü passent entre la grande et la petite
aile {Meckcl). Mais cette membrane represente l'os, et
ses trous pour le passage des nerfs repondent aux trous
de l'os, comme le prouvent le Brochet et les Cyprins.
D'ailleurs, chez le premier, les nerfs de loeil ne passeraient
pas entre la grande et la petite aile de Meckel; mais ils
passeraient entre la petite aile et le rocher. En resume,
qu'on adopte Topinion de Mcckel, on est force d'admettre
que chez le Brochet et la Perche le trijumeau passe par
le rocher; que, chez les poissons en general, les nerfs de
Poeil traversent la grande aile {Mcckel), et que la petite
aile, enfin, ne donne passage ä aucun nerf, ni par un trou,
ni par une echancrure de son bord anterieur ou posterieur.
La seule objection qu'on pourrait faire en faveur de
Mcckel, c'est que, d'apres ma maniere de voir, la grande
aile touche immediatement ä l'occipital; tandis qu'une
partie du temporal est en general interposee entre ces
deux OS. A cela je reponds, que la partie interposee dans
les autres animaux, repond ä Vos quadratiim, comme la
grenouille le prouve de la maniere la plus evidente, et
que cet os, comme je Tai dejä dit, est pousse en dehors
du cräne chez les poissons. Qu'est-ce enfin que le rocher:
Le rocher n'est qu'une concretion osseuse, (ßü se deve-
loppe en raison de l'oreille interne; il est la coquille
osseuse de cette partie, tout comme l'anneau osseux qui
se developpe dans la sclerotique des poissons, des reptiles
et des oiseaux. Je ne crois pas qu'il entre dans le plan
du squelette des nerfs; mais je pense qu'il appartient au
MEMOIRE SUR LE SYSIKME NERVEUX 249
squelette intestinal. Ce n'est que la Situation particiüiere
des organes de roui'e qui fait qu'il entre en im rapport
si intime avec les os du cräne. Or, chez les poissons
osseux l'oreille interne est encore libre dans la cavite du
crane; eile n'a pas encore de coc[uille osseuse, et c'est
pour cela qu'il ne faut pas leur chercher de rocher.
Le rocher de Meckel est donc la grande alle; la grande
aile de Mcckel est la petite aile; ä quel os repond donc
enfin la petite aile de M ecket: Je ne saurais le dire posi-
tivement; son existence parait repondre au developpement
d'une paire de bulbes au devant des hemispheres. Je crois
qu'il appartient ä Tethmoide. Le cräne de la grenouille
parle en faveur de cette hypothese. Au devant de la petite
aile, caracterisee par le passage du nerf optique, se trouve
ime large lame osseuse, formant la partie anterieure de
la paroi laterale du cräne, et se soudant intimement avec
l'os qui, par une large apophyse, ressemble ä la portion
posterieure de l'ethmoide des poissons; de sorte que ces
deux os reunis constituent la majeure partie de Tethmoide
et repondent exactement ä la lame papyracee.
Pour resumer mon travail^ je crois avoir prouve' qu'il y a
six paires de nerfs ce'rebraux primitifs, que six vertebres
cräniennes y repondent, et que le developpement des
masses cerebrales se fait en raison de leur origine, d'oü
resulte que la tete n'est que le produit d'une metamor-
phose de la moelle et des vertebres, et que les organes
de la vie vegetative, place's au devant de la colonne
vertebrale, doivent se retrouver au devant du cräne,
quoique ä un degre superieur. Chaque corps de vertebre
porte deuxanneaux osseux: l'un, superieur, forme parl'arc
et l'apophyse epineuse, et tourne vers la lumiere, entoure
la moelle, Organe central de la vie animale; l'autre, in-
ferieui-, tourne en bas vers le sol, entoure les organes de
la vie vege'tative; il est forme par les apophyses trans-
verses et les cotes, Si l'on doute de la justesse de cette
comparaison, qu'on observe une des vertebres caudales
des poissons; on trouvera exactement les deux anneaux
dont je viens de parier. Le snperieur entoure l'organe
central de la vie animale; l'autre, l'organe central de la
250 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
vie Vegetative, l'aorte; de sorte que celle-ci a un veri-
table canal vertebral, absoliiment comme la moelle. Siip-
posez maiiitenant que les parties qui forment cet arc, ne
parviennent plus ä se reunir sur la ligne mediane, et vous
aurez les cötes. Chez les animaux superieurs cet arc re-
devient complet par l'interposition du sternum. Les or-
ganes principaux de la vie vegetative places au devant
de la colonne vertebrale, et entoures par Parc inferieur,
sont les tubes de digestion et de respiration; or, les os de
la face forment l'anneau inferieur, c'est-ä-dire les apo-
physes transverses et les cotes des vert^bres cräniennes;
la cavite buccale, avec ses organes salivaires, rep^te le
tube digestif avec ses conglomerations glanduleuses; le
nez rep^te le tube respiratoire.
Du reste, toutes ces comparaisons ne sont qu'approxima-
tives. Je ne nie pas les grandes dififerences entre la tete
et le tronc, entre le cerveau et la moelle epiniere, entre
les nerfs cerebraux et les nerfs spinaux; je ne veux que
demontrer le type primitif, d'apr^s lequel ces parties se
sont developpees. Ce n'est qu'en cherchant obstinement
des faits difficiles ä expliquer, arbitraires ä ce qu'il parait,
qu'on peut meconnaitre un pareil type. La nature est
gTande et riebe, non parce qu'ä chaque instant eile cree
arbitrairement des organes nouveaux pour de nouvelles
fonctions; mais parce qu'elle produit, d'apr^s le plan le
plus simple, les formes les plus elevees et les plus pures.
CARTESIÜS
I
) 253 c
PRINCIPIA PHILOSOPHIAE
WIE Cartesius die Philosophie als Wissenschaft sich
dachte, was er von ihr forderte, findet sich in der Ab -
handlung De methodo. Er sagt hier, er hätte es sich zur Regel
gemacht, bei dem Suchen nach Wahrheit immer in einer
gewissen Ordnung vorwärtszugehn, indem er von den ein-
fachsten und faßlichsten Grundsätzen allmählich und fast
stufenweise zu der Erkenntnis der schwierigen und zu-
sammengesetzten aufwärts stiege. Er setzt dann gleich
hinzu: Die langen Reihen ganz einfacher und leichter
Gründe, mittelst deren die Mathematiker die schwierigsten
5 Dinge zur Evidenz bringen, lassen mich glauben: alles,
j was zur menschlichen Erkenntnis gehört, folge in dersel-
Iben Weise eines auf das andre, dergestalt, daß, soferne
wir nur dem Irrtum den Zugang verschließen und die
rechte Ordnung, in welcher die Erkenntnisse auseinander
hervorgehen, festhalten, keine Erkenntnis so entfernt ist,
die wir nicht erreichen, keine so verborgen, die wir nicht
aufdecken könnten. Es fiel mir auch gar nicht schwer,
einzusehen, wovon ich in der Philosophie auszugehen
habe, denn ich wußte schon, daß das Einfachste und was
am leichtesten zu erkennen ist, das Erste sei. Außerdem
habe ich auch bemerkt, daß von allen, die sich bisher in
der Weltweisheit nach Wahrheit umgesehen haben, die
Mathematiker allein es zur Demonstration, d. h. zur
Gewißheit und Evidenz in der Erkenntnis gebracht haben
und, wie ich gleichfalls einsah, nur deshalb, weil sie vom
Einfachsten und Leichtesten ausgegangen sind.
Dies der esoterische Gang seiner [Philosophie]. Also
Demonstration, Evidenz. ^ Sehen wir nun, wie er das
Einfachste, das erste Glied seiner Kette, das a seiner
Philosophie zu finden strebt. ^ Das Einfachste kann nur
dasjenige sein, was zurückbleibt, wenn alles Zusammen-
gesetzte auf die Seite gelegt wird. Da nun beim Eingange
in die Philosophie noch kein Prinzip bekannt ist, nach
welchem das Einfache von dem Zusammengesetzten mit
.. R.: Das Beispiel des Mathematikers hat den Neid des Philo-
sophen erregt. — ~ a. R.: Wie Archimedes nur einen Punkt, so be-
gehrt er nur das erste Gewisse.
254 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
Sicherheit unterschieden werden könnte: so kommt man
auf den Zweifel als auf das Mittel zurück, das Einfachste
in der Erkenntnis zu finden.
Der erste schlechthin gewisse Satz soll gefunden werden.
Wer sich diese Aufgabe stellt, der muß offenbar in dem-
selben Augenblick eine Person spielen, die überall noch
nichts Gewisses weiß. Er muß all sein bisheriges Wissen
in Zweifel ziehen, es selbst für falsch und ungereimt halten.
Was bleibt ihm übrig r Die Kraft zu denken. Dieser Kraft
sich zu entledigen, ist immöglich ; das Subjekt wird sich
derselben stets bewußt bleiben. Der Philosoph, welcher
den eben genannten Reinigungsprozeß mit sich vorge-
nommen, findet sich eben in diesem Akte als denkend,
so daß er, auf sich selbst reflektierend, zu sich selbst sagen
muß: ich denke. Jede Tätigkeit ist aber mit einem Be-
wußtsein des eignen Seins verbunden. Daß ich bin, finde
ich durch jede selbsttätige oder leidende innere Verän-
derung. Nichts liegt also dem cogito näher als das sum.
Ich bemerke, daß ich bin, indem ich denke — cogito^ ergo
sum. Dies der Grundstein des cartesianischen Gebäu-
des, dies der esoterische Gang seiner Philosophie: vom
Zweifel zum ersten Gewissen. Am ausführlichsten zeichnet
er diesen Weg in der ersten Meditation. Dann findet er
sich auch einmal zu Anfang des 4. Kapitels der Abhand-
lung De inethodo. In den ersten Sätzen der Principia
philosophiae [Ii] faßt er ihn noch einmal zusammen: Wir
sind als Kinder geboren und haben über die Gegenstände
der Sinne viele Urteile gefällt, ehe wir zum voUkommnen
Gebrauch unserer Vernunft gelangten; daher hindern uns
viele Vorurteile an der Erkenntnis des Wahren, von denen
wir uns nicht anders befreien können, als wenn wir ein-
mal in unserm Leben an all dem zu zweifeln streben, was
nur der leiseste Verdacht der Ungewißheit trifft. Selbst
das Zweifelhafte müssen wir für falsch halten, um desto
deutlicher das Erste, Gewisse zu erfassen.
Weil wir nun wissen, daß die Sinne uns bisweilen täu-
schen, und daß wir folglich [?] in den Träumen Bilder
sehen, deren Objekte sich nirgends finden, so müssen wir
vorerst an der Realität aller Gegenstände der Sinne oder
CARTKSIUS 255
der Einbildungskraft zweifeln. Da wir ferner wissen, daß
mehrere selbst in der Mathematik geirrt mid Falsches für
absolute Wahrheiten genommen haben, so müssen wir
sogar an der mathematischen Demonstration zweifeln.
Besonders weil wir gehört haben, es gebe einen Gott, der
alles kann und von dem wir erschaffen sind. Denn wir
wissen nicht, ob er uns nicht vielleicht so schuf, daß wir
uns immer täuschen müssen, auch in demjenigen, was wir
bisher für das Gewisseste gehalten, weil dies ja ebenso-
wohl der Fall sein kann, als daß wir bisweilen getäuscht
werden. Nehm.en wir aber an, daß wir nicht durch den
allmächtigen Gott, sondern durch uns selbst oder durch
irgend etwas andres sind, so wird es, je unvollkommner
wir die Ursache unsres Daseins annehmen, desto glaub-
licher, wir seien von Natur zu irren bestimmt.
Die Ursache unsres Seins sei nun, welche sie wolle, sie
sei noch so mächtig und betrügerisch, so fühlen wir doch
in uns die Freiheit, uns des Glaubens an das, was nicht
ganz gewiß ist, zu enthalten und uns so vor jedem Irrtum
zu bewahren. Wenn wir auch alles, was zweifelhaft ist,
als falsch verwerfen und demzufolge voraussetzen, es
gebe keinen Gott, keinen Himmel, keine Erde, keinen
Körper, wir hätten weder Hände noch Füße noch einen
Körper, so können wir doch nicht denken, daß wir, die so
denken, nichts seien. Es ist ein Widerspruch, zu denken,
das, was denket, existiert zu der Zeit, da es denket, nicht.
Daher ist die Erkenntnis icJi denke^ also b'm ich die aller-
erste und gewisseste, welche einem methodisch Philoso-
phierenden sich darstellt.
In welcher Eigenschaft denkt sich nun Cartesius seinen
ersten Grundsatz der gewissen Erkenntnis.^ Er erklärt
sich nirgends deutlich darüber, sondern scheint sich selbst
in der Beziehung nicht klar gewesen zu sein. Nach einer
Stelle in dem io.§ des I. Buches //-/V/a/Z^r //;-'/ scheint er
ihn als den Schlußsatz eines Vernunftschlusses angesehen
zu haben, indem er sagt: Atque ubidixihancpropositmiem . . .
\idcirto 7io?i censui esse numerandas. \Frmc. / /O.] Doch
streitet wieder sein ganzer Weg vom Zweifel zur Gewiß-
heit dagegen; er sagt selbst, er wolle mit dem Ersten,
256 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
Einfachsten anfangen: ist also cogito der [Vordersatz] und
ergo siim der Schlußsatz eines Vernunftschlusses, so ist
der fehlende [Vordersatz] das Erste: ficri non potcst^ iit id
quod cogitet non existat. Dieser [Vordersatz] selbst aber
kann erst durch den Schlußsatz bewiesen werden, es wäre
also ein Zirkelschluß. Auch sagt Cartesius selbst in der
Responsio ad IL objectiones, das cogito^ ergo siim sei nach
ihm nicht der minor und die conclnsio der major: 2 lind
omne^ quod cogitat^ est, vielmehr werde dieser [Vorder-
satz] durch das cogito, ergo siim erst zur Wahrheit. Spi-
noza bringt hierüber in dem Kommentar zu den Prinzipien
des Cartesius folgendes vor: hinc appiime notandum, hanc
orationem ^^diihito, cogito ergo sum''' non esse syllogismum,
in quo inajor propositio est amissa ideoque ^^ cogito, ergo
suni''' unica est propositio, quae /luic ^'ego sum cogitaiis'"
aequivalet. [Spinoza II, S. 3^4-\
Gehört nun das cogito, ergo sum zu den unmittelbaren
Wahrheiten: Ebensowenig, ^ ob es gleich vielfach ist be-
hauptet worden, namentlich noch neuerdings von Hegel
in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften
und von HotJio in seiner Dissertation über die Cartesia-
nische Philosophie. ^ (Einige Cartesianer wollten den
Satz als unmittelbare Anschauungen angesehen wissen,
aber Huet, censu?'a p/iil. Cart. p. 26' hat sie gut abge-
fertigt.— Tennemann ^ Der Grundcharakter aller unmittel-
baren Wahrheit ist das Ponieren, das Affirmieren schlecht-
hin, durch das sekundäre Geschäft des Denkens gar nicht
vermittelt, wesentlich nicht einmal berührt. Die Existenz
seiner und der Dinge außer uns wird auf rein positive,
immittelbare, von der Funktion des Denkens unabhängige
Weise erkannt. Man fragt: ist das philosophierende Subjekt?
Nach Cartesius sagt man: es kann nicht denken, wenn es
nicht ist, also ist es; nach dem unmittelbaren Wissen ist es,
bevor es philosophiert, d. h. es ist positiv dem Bewußt-
1 a. R.: Allenfalls ließe sich noch ein hypothetischer Vemunftschluß
daraus bilden: Wenn etwas denkt, so ist es. Ich denke, also bin ich.
— 2 Immerhin könnte sich die Hcgehc\\Q Philosophie noch auf eine
Stelle zu Ende der dritten Meditatio berufen, wo Cartesius von der
Idee Gottes sagt: mihi est innata, qucniadrnodnm ctiam mihi est in-
nata idea mei ipsiils.
CARTESIUS 257
sein gegeben, daß das Ich ist, und dieses Sein ist dem
Denken unzugänglich, es kann gar nicht zu der positiven
Bejahung desselben gelangen.
Zu welcher Gattung von Wahrheiten, sagt Kuhn^ gehört
nun das cartesianische Feldgeschrei ? Zu der Gattung der
mathematischen Grundsätze, welche nichts andres dar-
stellen als eine bestimmte Anwendung der Gesetze des
Denkens auf das allgemeine Materiale des Mathematikers,
auf die Begriffe von Ausdehnung und Zahl. Cartesius hat
seinen Achilles sich in der Art gedacht, indem er ihn aus
der Anwendung des logischen Gesetzes des Widerspruchs
auf das Geschäft seines Zweifeins von selbst sich dar-
stellte. Cartesius wollte zur Gewißheit in den Gegen-
ständen der Philosophie kommen, indem er alles verwarf,
was bezweifelt werden kann. Nun fand er, daß an dem
Satze ich denke, also bin ich selbst die Möglichkeit des
Zweifels zuschanden werde, und dieses sei bei keinem
andern mehr der Fall, also sei er notwendig gewiß und
der erste gewisse. Daß man aber an diesem Satze nicht
zweifeln könne, dafür beruft er sich auf den unausbleib-
lichen Widerspruch, in den man dadurch geraten würde,
ein Widerspruch, der alles Zweifeln und Denken selbst
zunichte machen würde in dem Augenblicke, da man
zweifelt und denkt. Es wird nach Cartesius also nur er-
kannt, daß es unmöghch zu denken sei, der Denkende sei
nicht. Dies ist etwas bloß Negatives, und der Grundcha-
rakter aller unmittelbaren Wahrheit ist, wie schon gesagt,
das Positive, das Ponieren, das Affirmieren schlechthin.
Sehen wir jetzt, wie die übrigen Sätze der cartesianischen
Kette sich an dies Glied fügen und aneinanderreihen.
Jetzt kommen wir auf den Weg, den ich als den esote-
rischen bezeichnete; die Demonstration fängt an, der erste
Satz ist gefunden.
Nachdem Cartesius sich gesagt cogito, ergo sum, sich sein
Dasein bejaht, so fragt er: da ich weiß, daß ich bin, so
will ich wissen, was ich bin. Das Denken ist das Ein-
fachste, was sich mit meinem Dasein vereinigen läßt,
denn niu: durch es weiß ich, daß ich bin; Denken ist also
die erste Eigenschaft, die von mir erkannt wird. (Quid
BÜCHNER 17.
258 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
vero ex iis, quae animae tribuebam^ nutrirl vel incedere?
siini autem res vera^ et vere existens^ sed qualis res^
dixi^ cogitans. Meditat. II. — In de mtellexi7ne esse rem qiian-
dam . . , . . qiiamvis illiid non existeret. De methodo IV.)
Fragen wir, was wir sind, so können wir weder Ausdeh-
nung noch Figur noch örtliche Bewegung noch sonst etwas,
das vom Körper ausgesagt wird, zu unserem Wesen rech-
nen, sondern nur allein das Denken,^ welches folglich früher
und gewisser als irgendetwas Körperliches erkannt wird.
Denn das Denken ist erkannt worden, alles Übrige aber
ist noch zweifelhaft. Ferner, je mehr wir Eigenschaften
an einer Sache finden, desto klärer wird sie von uns er-
kannt. Nun finden wir in unsrer Vorstellungskraft weit
mehr Eigenschaften als an jeder andern Sache, weil wir
nichts erkennen können, ohne zugleich etwas von der
Seele zu erkennen; denn wenn wir urteilen, die Erde sei
wirklich, weil wir sie berühren oder sehen, so werden wir
uns der Wirklichkeit der Denkkraft noch weit mehr bewußt,
da wir ja urteilen könnten, wir berührten die Erde, ohne
daß sie vorhanden ist, wir aber nicht urteilen können,
wenn die Denkkraft, welche urteilet, nichts ist. Folglich
erkennen wir die Seele als das Denkende früher und ge-
wisser als jedes andre {Princ. /7./, § 8 u. § 1 1). Eine
gute Widerlegung des Materiahsmus.
Was ist nun das Denken? Alles, was den Akt des
Selbstbewußtseins in mir hervorbringt. ^ Also auch Wollen,
Einbilden, Fühlen. Nam si dicam, ego video vel ego ambulo^
ergo sum est plane ce^'ta [Princ. [I.] , §9)'
Indem wir uns nun weiter umsehen, um unsere Erkenntnis
zu erweitern, wir aber noch nichts Gewisses weiter ge-
1 a. R.: Daß Denken und Ausdehnung verschieden seien, wird be-
sonders in der Medit. VI. demonstriert: satis est, quod possum unam
rem absque altera clare et distincte intelligere, tU certus sim unam ab
altera esse diversam. Ferner: quafiivis habeam corpus . . . certum est
me a corpore meo revera esse distinctum et absque illo posse existere. —
Id, quod potest cogitare.^ est mens: sed cum mens et corpus realiter
distinguantur , nullum corpus est mens, ergo nullum corpus potest
cogitare. Dieser Satz paßt aber in das System nicht nach dem Be-
weis von Gott und der daraus folgenden Identität des Wissens und
Seins; wie er es auch in der VI. Meditation ausführte [?]. Vgl.
Resp. ad VI. object.—- a. R.: also jede Tätigkeit.
CARTESIUS 259
funden haben als uns selbst und das Bewußtsein unsrer
Geistigkeit, so finden wir allgemeine Begriffe, wie die
mathematische Demonstration, und Ideen von vielen
Dingen, in denen wir nicht irren, solange wir ihre abso-
lute Wahrheit oder ihre objektive Realität weder bejahen
noch verneinen. 1 Unter diesen Ideen ist nun eine, welche
die Idee der Existenz nicht als eine mögliche und zufällige,
sondern als eine ewige und notwendige in sich schließt.
Es ist die [eines] höchst vollkommnen Wesens.
Considerans deinde inter diversas ideas cns summe
perfectum exisfere. {Prhic. [I.]^ § 14, I^^ 16.)
Cartesius führt diesen Beweis in der V. Meditation weiter
aus: Cum enim assuetus sim in omnibus aliis rebus . . . co-
gitare mentem cui desit vallis etc. ^
Wollte man einwerfen, aus dem Umstände, daß ich keinen
Begriff ohne Tat denken kann, folgt doch nicht, daß ich
Begriff und Tat als irgendwie existierend denken müsse,
so antwortet Cartesius: freilich folgt nicht daraus, daß
Begriff oder Tat irgendwie existieren müßten, sondern nur,
daß der Begriff ohne Tat nicht gedacht werden könne, und
umgekehrt; und weil ich Gott nicht anders als seiend denken
kann, folgt, daß das Dasein von Gott nicht getrennt wer-
den könne und daß er also existiere, non quod inea cogi-
tatio hoc efficiat . . . , sed contra^ quia ipsius rei, nempe exi-
stentiae Dei, necessitas 7ne determinat ad hoc cogitandum,
[Medit. V.]
Auf den Einwurf: freiHch muß ich, sobald ich Gott setze,
auch das Sein desselben setzen, aber was zwingt mich
denn, Gott überhaupt zu setzen.^ antwortet Cartesius: es
sei freilich nicht notwendig, je auf den Gedanken von Gott
zu verfallen, sobald [man] aber über das erste und höchste
Wesen nachdenke, müsse man ihm auch notwendig alle
1 a. R.: Ihres Daseins in meiner Seele als modi des Denkens bin ich
mir unmittelbar bewußt, indem ich denke, empfinde, träume etc. —
2 a. R.: 2) Beweis aus dem Vorhandensein der Idee Gottes. 3) Wir
sind durch Gott. 4) Daher Beweis für die formale und materiale
Wahrheit der Ideen. Das erste beweist die Möglichkeit, daß wir
überhaupt richtig schließen können, das zweite die objektive Reali-
tät der erkannten Dinge. (Der Widerspruch zwischen einer Stelle
der ///. Medit. und Resp. ad II. obj.)
2 6o NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
Vollkommenheiten und somit das Dasein beilegen. Er
schließt dann: ac proinde magna differentia est inter ejus-
modi falsas positio7ies . . . ac denique quodmulta alia in Deo
percipia77i^ quorum nihil a me detrahi potest nee mutari
[Medit. V.J. (Vgl. J^esp. ad IL obj.,propos. /.)i
A posteriori wird dann noch das Dasein Gottes aus der
Idee von Gott, die wir in uns finden, bewiesen: Aus Nichts
wird Nichts. Jede Wirkung muß eine Ursache haben.
Außerdem muß jede Ursache wenigstens ebensoviel ent-
halten als ihre Wirkung, denn woher sollte die Wirkung
ihr Wesen (Sein, realitateni) nehmen, als von der Ursache:
Daraus folgt, daß etwas, das voUkommner ist, d. h. mehr
Realität in sich enthält (denn wie im vorgehenden Beweis
gezeigt ist worden, enthält das Vollkommne die meiste
Realität, d. h. es existiert notwendigerweise), nicht aus
etwas Unvollkommnerem entstehen kann, und dies ver-
hält sich nicht nur so bei den Wirkungen, deren Realität
actiialis oAtx formalis ist, sondern auch bei den Ideen,
insofern man nur auf ihre objektive ReaHtät Rücksicht
nimmt. D.h. es kann nicht nur ein Stein, der früher nicht
war, nicht zu sein anfangen, wenn er nicht von etwas
hervorgebracht wird, worin mchtformaliter oder eminenter
alles enthalten ist, was in dem Stein gesetzt wird, sondern
es kann sich auch in mir nicht die Idee eines Steines
bilden, wenn sie in mir nicht von einer Ursache hervor-
gebracht wird, worin nicht wenigstens ebensoviel Rea-
lität enthalten ist, als ich davon in dem Steine begreife.
(///, Defin. [in Resp. ad IL ohj.\\ Per realitatemobjectivam
ideae ... — IV, Defin. '. Eadem dictmtur esse forjnaliter in
idearum objectis . . .) Denn obgleich jene Ursache nichts von
ihrer actualen oder formalen Realität in meine Idee übertrug,
so darf man doch deswegen nicht glauben, dieselbe müsse
auch weniger real sein; denn die Natur der Idee ist von der
Art, daß sie keine andere formale Realität nötig hat als die,
welche sie von meinem Denken, deren modus sie ist, erhält.
Insofern^ nämlich die Ideen nur modi des Denkens sind,
1 a. R.: und Resp. ad I. obj. — 2 a. R.: /. Defin. Cogitationis nomine
complecfor . . . — //. Defin. Ideae nomine intelligo . . . — Resp. ad IL ob-
jectiones.
CARTESIUS 261
bemerke ich unter ihnen keinen Unterschied und finde,
om?ies a me eodem modo procedere videri\ daß aber eine Idee
diese oder jene reale Objektivität eher enthält als eine
andere, dies muß von einer Ursache herrühren, in welcher
wenigstens ebensoviel formale, als in ihr objektive Rea-
lität, enthalten ist. Auch werfe man nicht ein, daß, da die
Realität, welche ich in meinen Ideen betrachte, nur objek-
tiv ist, es deswegen nicht nötig wäre, daß dieselbe Realität
formaliter in den Ursachen dieser Ideen enthalten sei,
sondern es genüge, wenn sie sich in ihnen auch nur oh-
jcctivc fände; denn ebenso wie iste modus cssendi objccti-
vus den Ideen aus ihrer eignen Natur zukommt, ebenso
kommt der modus cssendi formalis den Ursachen der Ideen
zu, wenigstens den ersten und vorzüglichsten: und obgleich
vielleicht eine Idee aus einer andern entstehen kann, so
gibt es deswegen doch '^^in^rs. progressus in infinitum^ son-
dern man muß endHch zu einer ersten Idee kommen,
deren Ursache sit instar archetypi^ worin alle Realität,
welche sich objective in der Idee findet, formaliter ent-
halten ist. Ist nun die objektive Realität einer meiner
Ideen so groß, daß ich gewiß bin, sie sei v^td^r formaliter
noch e?ninenter in mir enthalten und ich könne also nicht
die Ursache derselben sein, so folgt notwendig daraus, ich
sei nicht allein in der Welt, sondern es existiere noch sonst
etwas als Ursache dieser Idee; findet sich aber nicht eine
solche Idee in mir, so habe ich kein Argument, was mich der
Existenz einer von mir verschiednen Sache gewiß mache.
Ich habe nun Ideen, weiche teils Gott, teils körperliche
Dinge, teils Engel, teils Tiere, teils Menschen vorstellen.
Was die Ideen von Menschen, Tieren und Engeln anbe-
langt, so sehe ich leicht ein, daß dieselben leicht aus den
Ideen, die ich von mir selbst, von Gott und den körper-
lichen Dingen habe, zusammengesetzt werden können,
ob es gleich weder Menschen noch Tiere noch Engel in
der Welt gibt. Von dem aber, was in dem Begriff der
körperlichen Dinge liegt, konnte einiges aus der Idee mei-
ner selbst geschöpft werden, nämlich die Begrifife von
Substanz, Dauer Zahl. (Omnis ?'es, cui igtest immediate
Defi7i, V. respons. ad II. obj.) Alles übrige aber, woraus
202 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
die Idee eines Körpers konstruiert wird, nämlich Ausdeh-
nung, Gestalt, Lage und Bewegung, sind zwar in mir, da
ich nichts bin als res cogitans^ fo7'maliter nicht enthalten;
da sie aber nur gewisse modi einer Substanz sind, ich aber
eine Substanz, so können sie eminenter in mir enthalten
sein. (Der Sinn des Beweises mit dem eminenter und der
Substanz ergibt sich erst eigentlich aus dem Beweis für
unsern Ursprung aus Gott. Propos. III. respons. ad II. obj.
und Axiom. VIII. u. IX. \ Qiwdpotest efficere ... — Majus
est creai-e . . .j Es bleibt also nur die Idee Gottes, und wir
wollen sehen, ob in ihr etwas ist, was von mir nicht her-
rühren kann. Unter dem Namen Gottes verstehe ich eine
unendliche, unabhängige, allererste und allmächtige Sub-
stanz, durch die ich und alles Andere, wenn es anders noch
ein Andres gibt, entstanden bin. Dies Alles ist wahrhaftig
von der Art, daß, je mehr ich Acht gebe, ich desto besser
sehe, daß es von mir nicht herrühren kann.
Folglich muß man aus dem Vorhergehenden schließen,
Gott existiere notwendigerweise; denn obgleich die Idee
einer Substanz, dadurch daß ich selbst eine Substanz bin,
in mir ist, so wäre es doch nicht die Idee einer unend-
lichen Substanz, wenn sie nicht von einer unendlichen
Substanz herrührte. Auch muß man nicht glauben, ich
würde mir des Unendlichen nicht durch eine wahre Idee
bewußt, sondern nur durch eine Negation des EndHchen;
denn ich sehe im Gegenteil, daß mehr Realität in der
unendlichen Substanz ist als in der endlichen und daß also
auch der Begriffdes Unendlichen gewissermaßen eher in mir
ist als der des EndHchen, d. h. eher der Gottes als der mei-
ner selbst: denn aus welchem Grunde würde ich einsehen,
ich zweifle, ich begehre, d. h. es fehle mir etwas und ich
sei nicht ganz vollkommen, wenn nicht die Idee eines
vollkommenen Wesens in mir wäre, aus dessen Verglei-
chung ich meine Mängel erkenne. Auch hindert es nicht,
daß ich das Unendliche nicht begreife und daß es noch
UnzähHges in Gott gibt, was ich weder begreifen noch
mit meinem Denken nur berühren kann; denn es liegt im
Wesen des Unendlichen, daß es von mir, als endlichem
Wesen, nicht begriffen werden kann; es genügt mir, daß
CARTESIUS 263
ich mir seiner bewußt bin und daß ich urteile, alles, was
ich als eine Vollkommenheit erkenne und vielleicht noch
unzähliches Andere sei emlncfiter odi^x formaliter m Gott.
Aber vielleicht bin ich mehr, als ich selbst weiß, und alle
Vollkommenheiten, die ich Gott beilege, %mA potentia in
mir enthalten, obgleich sie sich noch nicht actu äußern;
denn ich fühle, daß mieine Erkenntnis allmählich sich er-
weitert: warum sollte sie nun nicht so weiter und weiter
ins Unendliche wachsen und warum könnte ich nicht end-
lich mit ihrer Hülfe aller Vollkommenheiten Gottes teil-
haftig werden und warum sollte nicht das Vermögen zu
solchen Vollkommenheiten, wenn es in mir ist, nicht zum
Hervorbringen jener Idee hinreichen? Aber wahrhaftig,
von dem Allen ist nichts möglich; denn wäre es auch wahr,
daß meine Erkenntnis allmählich zunähme und vieles in
mir potentia und noch nicht actu vorhanden sei, so hat
doch nichts davon etwas mit der Idee Gottes gemein,
denn in ihr ist nichts Mögliches (poteiitiak)^ weil eine
stufenweise Vervollkommnung das sicherste Zeichen der
Unvollkommenheit ist. Auch ist noch zu bemerken, daß
das objektive Wesen der Idee nicht bloß von einem esse
potentiali^ waseigenthchzu reden nichts ist, sondern nur von
einem esse actiiaIisivefo?inaIih.Q.xworgtbT2iQh.t werden kann .
Außerdem: woher bin ich: Bin ich durch mich selbst, so
würde ich mir all das gegeben haben, was ich als voll-
kommen erkenne (siehe den Beweis weiter unten). Bin
ich aber durch etwas anderes, das nicht Gott ist und von
dem ich sowohl meine Existenz als die Idee Gottes habe,
so fragt es sich, woher hat dies selbst die Idee Gottes,
und so fort in infinitum.
Wollte man aber annehmen, es hätten mehrere Ursachen
zugleich zu meinem Entstehen beigetragen, und ich hätte
von einer die Idee einer Vollkommenheit Gottes und von
einer andern die einer andern Vollkommenheit erhalten, so
daß zwar alle diese Vollkommenheiten sich im Universum
befänden, aber nicht in Eins, in Gott vereinigt, so bemerke
ich, daß gerade die Einheit, Einfachheit, Unzertrennlich-
keit alles dessen, was in Gott ist, eine von den vorzüg-
lichsten Vollkommenheiten ist, die ich in Gott bemerke;
264 NATUR WISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFl^EN
denn gewiß kann ich die Idee von der Einheit aller jener
Vollkommenheiten einer Ursache nicht verdanken, von
der ich die Idee der übrigen Vollkommenheiten nicht habe;
denn sie könnte nicht machen, daß ich sie zugleich und
unzertrennbar denke, wenn sie nicht zugleich die Er-
kenntnis derselben bewirkte.
Auf welche Weise habe ich nun diese Idee Gottes erhal-
ten? Denn ich habe sie weder aus den Sinnen geschöpft,
noch ist sie in mir entstanden, wie die Ideen von den sinn-
lichen Dingen, wenn die Außendinge die Sinnorgane be-
rühren; noch ist sie von mir erfunden, denn ich kann
weder etwas weg- noch hinzutun—: sie kann also nur
noch angeboren sein, so wie mir das Bewußtsein meiner
selbst angeboren ist. {Meditatio III.)
Cartesius faßt diesen Beweis in der //. Propos. der Resp.
ad. II. <?^_/'. folgendermaßen zusammen: Realitas objectiva . . .
Weniger strikt und verständlich als in der Medit. III. fin-
det sich der nämliche Beweis in^^ //imd 18 deiFrinc. I.
Aus der Idee, die wir von der Existenz und den Vollkommen-
heiten Gottes haben, folgt aber noch, daß wir selbst durch
Gott sind. Denn: der Wille des denkenden Dinges strebt,
zwar freiwillig und frei (denn das liegt in dem Wesen des
Willen), doch unfehlbar nach dem von ihm erkannten Gu-
ten, so daß, wenn er einige Vollkommenheiten kennt, deren
er entbehrt, ersieh dieselben sogleich geben wird, wenn sie
in seiner Gewalt sind (Axio?n VII. resp. ad II obj.).
Ferner: wer das Größere oder Schwierigere bewirken kann,
kann auch das Geringere. Es ist außerdem schwieriger,
die Substanz zu erschafifen oder zu erhalten, als die Attri-
bute oder Eigenschaften derselben (Axiom. VII. u. /X).
Hätte ich nun die Kraft, mich selbst zu schaffen oder zu
erhalten, so hätte ich auch um so mehr die, mir alle Voll-
kommenheiten zu geben, welche mir fehlen^; denn diese
1 a. R.: Si a du essem^ o??mia ffiiJii dedissem etc. Darauf warf man
ein (/. obj.y. lam ejtim non audio ^ si dicas, si a se est, sibi facih omnia
dedisset; nee enim a se est ut a cansa, nee sibi praevitwi fiiit, tit ante
deligei'et, quod esset posUnodum. Cartesius antwortet darauf (^^j*/, ad
I. obj.): lu?)ien naturale non dietat ad rationein effieictitis requiri, ut
tempore prior sit szio effectu; nam eontra, non proprie habet rationein
causae, nisi quamdiu producit effeetum^ nee proinde illo est prior.
CARTESIUS 265
sind nur Attribute der Substanz, ich bin aber Substanz und
habe doch nicht die Kraft, mir diese Vollkommenheiten
zu verschaffen, denn sonst würde ich sie haben (axioin.
VII.). Also habe ich nicht die Kraft, mich zu erhalten, also
werde ich von etwas anderm erhalten, was ebensoviel
heißen will als geschaffen, denn jeder Augenblick ist eine
neue Erschafiung. Außerdem hat das, von dem ich er-
halten werde, alles, was in mir ist, formaliter oder emi-
iiejitcr in sich, in mir aber liegt die Erkenntnis vieler Voll-
kommenheiten, die mir fehlen, also ist auch die Erkennt-
nis derselben in dem, wodurch ich erhalten werde. Will
ich nun keinen progressus in iitfinitum machen, so muß
dies Gott sein. {Frop. III resp. ad. [II] obj.^ ferner
Prmc. [I] § 20.)
Es ist sonderbar, welche Umwege Cartesius macht, um
unsern Ursprung aus Gott zu beweisen; er hätte es ganz
im Sinne seines Systems schon kurzweg aus der in uns
enthaltnen Idee von Gott demonstrieren können. Spinoza
widerlegt ihn und i\:i^\\,^2Xixi\riAtxDemonstratio7i der Pro-
pos. VII. proleg. das aus, was Cartesius in seinen Sätzen
ahnend und verworren aussprach: Entweder bin ich durch
mich, oder durch etwas Anderes und dieses Andere ist ent-
weder Gott oder ist nicht Gott. {Qitivim habet se conser-
va7idi^ vim etiam habet se creandi ..... [Spin. II, S. 402f.].
— Si vivi habcrem me ipsiim. conseruandi [Spin. II,
S. 403].)
Nachdem also das Dasein Gottes bewiesen, was sind seine
Eigenschaften:
Cartesius schickt voraus: Wie können wir die Vollkom-
menheiten Gottes des Unendlichen, da unser Verstand
endlich ist, begreifen: Können wir aber auch das nicht,
so haben wir doch von den Vollkommenheiten selbst kla-
rere und deutlichere Ideen als von einem körperlichen
Dinge, weil sie unsere Denkkraft mehr erfüllen, einfacher
sind und durch keine Einschränkung verdunkelt werden.
{Princ. I ig)
Reflektieren wir nun auf die uns angeborene Idee von
Gott, so erkennen wir, daß Gott ewig, allwissend, all-
mächtig, die Quelle aller Güte und Wahrheit, der Schöpfer
266 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
aller Dinge ist and alles in sich vereinigt, was wir als
reine Vollkommenheit uns denken können — und daß wir
ihm folglich die körperliche Natur, weil sie mit der Aus-
dehnung Teilbarkeit in sich schließt, und die Empfindung,
die zwar in Beziehung auf uns eine Vollkommenheit,
aber, als ein Leiden und Abhängigkeit, für Gott eine Un-
vollkommenheit wäre, absprechen, dagegen das Denken
und Wollen beilegen, doch nicht, wie bei uns, als ge-
trennte Tätigkeiten, sondern so, daß er durch einen ein-
zigen, einfachen, immer identischen Akt alles zugleich
erkennet, will und wirket. — Omnia^ inquam, hoc est^ res
omiies: neque enini vult malitiam peccati, quia non est res.
(Princ. I. 22, 2J.)
Weiter läßt sich über Gott nichts bestimmen, denn da wir
endlich sind, so wäre es töricht, über das Unendliche
etwas bestimmen zu wollen, wodurch es endlich und be-
griffen würde.
Ebenso überflüssig wäre es, wollte man bei der Unter-
suchung der Dinge von den Zwecken ausgehen, die Gott
sich bei ihrer Erschaffung vorgesetzt; denn vermessen
wäre es, in seine Ratschläge eindringen zu wollen. Da
aber Gott die wirkende Ursache aller Dinge ist, so werden
wir sehen, was wir aus seinen Eigenschaften, von denen
er einige Kenntnis uns erlaubt hat, in Ansehung der Wir-
kungen, die in die Sinne fallen, nach dem natürlichen
Lichte schließen können. Derjenige philosophische Weg
ist der beste, welcher aus der Erkenntnis Gottes die Er-
klärung der von ihm erschaffnen Dinge abzuleiten und
so die vollkommenste Wissenschaft, d. i. die Erkenntnis
der Wirkungen durch die Ursachen, zu erwerben sucht.
[Princ. L 24, 25, 26, 28)
Die erste Eigenschaft Gottes, welche nun in Betracht
kommt, ist die: daß er höchst wahrhaft und der Geber
alles Lichtes ist. (P^inc. I. 2g.) Daraus folgt, daß das
Licht der Natur oder das von Gott uns gegebne Erkennt-
nisvermögen nie einen Gegenstand ergreifen kann, der
nicht wahr sei, insofern er nämlich wirklich von ihm er-
griffen, d. h. klar und deutlich erkannt wird. Denn mit
Recht müßte Gott ein Betrüger genannt werden, hätte er
CARTESIUS 267
uns ein verkehrtes Erkenntnisvermögen gegeben, welches
das Falsche für das Wahre nähme. Damit fällt auch der
höchste Zweifel weg, welcher daher rührte, daß wir nicht
wußten, ob vielleicht unsere Natur von der Art sei, daß
wir auch in dem Evidentesten betrogen würden. Ebenso
lassen sich auf diesem Grund alle übrigen früher ange-
führten Zweifelsgründe heben. Jetzt können uns die ma-
thematischen Wahrheiten nicht länger verdächtig sein,
weil sie die deutlichsten sind. Achten wir nui" auf das,
was imsern Sinnen, was uns im Wachen wie im Traum
klar und deutlich ist, und trennen wir es von allem Ver-
wirrten und Dunkeln, so finden wir leicht, was in jedem
Ding für wahr zu halten sei. [Princ. 1. JO.)
De methodo drückt Cartesius dies noch schärfer aus, wo
er den an dem Dasein Gottes Zweifelnden einwirft, daß
alles das, woran sie bisher nie gezweifelt, wie Himmel
und Erde etc., noch viel problematischer sei als das Da-
sein Gottes, und sie fragt, woher sie denn wüßten, daß
die Bilder des Traumics eher falsch seien als die des
Wachens, da sie ja oft nicht minder deutlich und lebhaft
erschienen?
Er sagt dann, es sei unmöglich, einen andern, diesen
Zweifel hebenden Grund zu finden, als das Dasein Gottes.
Denn daß alles, was wir klar und deutlich erkennen, wahr
sei, wird nur dadurch gewiß, daß Gott existiert und höchst
vollkommen ist, so daß alles, was in uns ist, von ihm not-
wendigerweise herrührt, woraus folgt, daß imsere Ideen in
allem dem, was ihnen klar und deutlich ist, gewisse Wesen
sind und von Gott herrühren und somit wahr sein müssen.
Fem er Medit. V.\ Sed praeterea etiam atiimadvci'to cetera-
rum 7-eriim certitudinei?i a Deo ita pe^idere^ ut absque eo
nihil innquam perfecte sci?'i possit. Denn ob ich gleich von
der Art bin, daß ich, sobald ich etwas klar und deutlich
kenne, auch an die Wahrheit desselben glauben muß, so
könnte ich doch, wenn ich nichts von Gott wüßte, auf
Gründe stoßen, welche mir diese Überzeugung leicht
nehmen könnten, so daß ich nie eine wahre und be-
stimmte Erkenntnis, sondern nur unbestimmte und ver-
änderliche Meinungen hätte.
2 68 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
Wenn ich z. B. über die Natur eines Dreiecks nachdenke,
so ist es mir evident, daß seine drei Winkel = 2 R, und
ich muß glauben, daß es wahr sei, solange ich nur meine
Aufmerksamkeit auf die Demonstration dieses Satzes
richte; sobald ich mich aber wegwende, so kann es mir
leicht geschehen, daß ich an seiner Wahrheit, obgleich
ich mir erinnere ihn klar erkannt zu haben, [zweifle,] so-
bald ich von Gott nichts weiß: denn ich kann mir ein-
bilden, ich sei meiner Natur nach so beschaffen, daß ich
mich auch in dem, was ich aufs deutlichste zu begreifen
glaube, noch täusche. Postquam vero percepi Deum esse . . .
ut de Gecmietricis et swiilibiis \Medit. V., vorletzter Ab-
satz].
Dies enthält auch die Antwort auf den Einwurf, daß ein
Atheist so gut als ein Theist von einem mathematischen
Satz überzeugt sein könne; daß also der Glaube an das
Dasein Gottes nicht nötig sei, um uns von der Wahrheit
einer Sache zu überzeugen; denn der Atheist kann ja nicht
wissen, ob er nicht von Natur zum Irren bestimmt ist,
während der Theist aus der Vollkommenheit Gottes das
Gegenteil beweisen kann. (J^esJ>. ad II. obj., 3.)
Also Gottes Vollkommenheit beweist, daß unser Erkennt-
nisvermögen nicht verwirrt, nur zum Erfassen des Un-
wahren bestimmt, also die subjektive Möglichkeit der Er-
kenntnis, ferner daß alles wahr ist, was wir klar und
deutlich, d. h. vernunftgemäß erkennen, also die Objek-
tivität des Gedachten. 1 Gott ist es, der den Abgrund
zwischen Denken und Erkennen, zwischen Subjekt und
Objekt ausfüllt, er ist die Brücke zwischen dem cogito^ ergo
siwi, zwischen dem einsamen, irren, nur einem, dem
Selbstbewußtsein, gewissen Denken und der Außenwelt.
Der Versuch ist etwas naiv ausgefallen, aber man sieht
doch, wie instinktartig [?] scharf schon Cartesius das Grab
der Philosophie abmaß; sonderbar ist es freilich, wie er
den heben Gott als Leiter gebrauchte, um herauszukrie-
1 a. R.: Et primoj quo?tiam scio omnia, quae clare et distincte intelligo,
talia a Dco fieri posse^ qualia illa intelligo, satis est, quod possu/n
tmam rem absque altera clare et disti?icte intelligere, ut certus siin
unain ab altera esse diversatn. [Mcdit. VI.)
CARTESIUS 269
eben. Doch schon seine Zeitgenossen ließen ihn nicht
über den Rand, man fragte: Kann man von keiner Sache
gewiß sein, noch irgendetwas klar und deutlich erkennen,
ehe das Dasein Gottes mit Gewißheit erkannt worden ist,
wie steht es dann mit den dem Beweis vom Dasein Gottes
vorgehenden Sätzen, wie mit dem cogito, ergo sum, wie
mit dem Beweis seibst:
Sehr unbefriedigend antwortet Cartesius, Resp. ad II. obj.
[3.]: iibi dixi, nihil nos certo posse scire, nisi pitts Dei
existentiam cognoscamus^ expressis verbis testatus sunt {Me-
dit. V?-'. Etsi enim ejus sim naturac . . . sed vagas tantuin
et viutabiles opiniones habe?'e??i [a. a. O., drittletzter Abs.])
f/ie no7i loqui nisi de scientia earum conclusiomim^ quaruni
7nemoria potest recurrere^ cum non amplius attendimus ad
ratio?ies, ex quibus ipsas deduximus (nur allein die apodik-
tische Gewißheit der Schlußsätze, welche wiederkehren
können, ohne daß man auf ihre Gründe noch die gehörige
Aufmerksamkeit wendet, werde durch die gewisse Er-
kenntnis von Gottes Dasein bedingt. — Ein Zusatz, der
übrigens sonst nirgends mehr vorkommt^). Cum autem
ani7nadverti7nus nos esse res cogitantes ut generales
propositiones ex particularium cognitione ejformet. [Resp.
ad II. obj. 3., Forts.]
Übrigens scheint Cartesius den Widerspruch, worin er
sich hier verwickelt, wohl geahnt [zu] haben. Er scheint
so halb einen andern Weg zur mathematischen Begrün-
dung seines Systems einschlagen zu wollen. Cogito, ergo
sum ist der erste uniunstößliche Satz; jeder Satz, den wir
nun ebenso begreifen wie diesen, der uns ebenso unum-
stößlich ist, der den gleichen Grad von Gewißheit hat,
muß ebenso unbedingt angenommen werden. Dies ist
der schärfere Ausdruck und eine striktere Zusammen-
drängung von dem, was wir an manchen Stellen finden
und was uns ohne die erwähnte Annahme unerklärlich
sein würde. So z. B. Medit. III.\ E quidcm non aliani ob
1 a. R.: Geht vorher: Sed praeter ea etiam animadverto . . [vgl. S. 267,
Z. 10 V. u.\ — 2 a. R : ausgenommen Resp. ad IL obj. 4. und nur an-
gedeutet in der Resp. ad IV. obj.
2 70 NATUR WISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
causam de iis du bi tan dum esse postea judicavi . . . repugnan-
tiam agnosco manifestam.
Man sieht deutlich, wie hier Cartesius die Möglichkeit
einer Erkenntnis, nicht nur hinsichtlich des cogifo^ ergo
sum^ trotz der Annahme einer täuschenden prima causa,
behauptet.
Charakteristisch ist es noch, daß er in der Abhandlung
De methodo die Untersuchung über das, was wir als wahr
annehmen müßten, dem Beweis von dem Dasein und der
Wahrhaftigkeit Gottes und somit der Möglichkeit einer
Erkenntnis vorausschickt und sie gleich auf das cogifo, ergo
sum folgen läßt.
Warum Cartesius nicht auf diesem Wege geblieben, läßt
sich wohl aus der Natur des cogito, ergo sum erklären;
denn bei näherer Untersuchung desselben sah er wohl
ein, daß es nur der Ausdruck für das mit jeder Tätigkeit
notwendig verbundene Selbstbewußtsein sei, daß als sol-
chem ihm ein höherer Grad der Gewißheit als allen übri-
gen Erkenntnissen zukommen müsse und daß es demnach
verlorne Mühe sein würde, einen zweiten Satz von glei-
cher Gewißheit zu suchen. Denn obgleich alle auf die
drei Denkgesetze gegründeten Sätze uns ebenso wahr
scheinen, so steht uns, nach Cartesius, doch niemand da-
für, daß unsere Denkkraft selbst nicht so eingerichtet sei,
daß wir irren müßten. Ein Umstand, der nur an der Ge-
wißheit des cogito, c?gosu?ji nichts schmälern kann. {Hotho
und Hegel mögen doch recht haben.) Es blieb ihm also,
um sich aus dem Abgrund seines Zweifels zu retten, nur
ein Strick, an den er sein ganzes System hängte und
hakte \j\\ Gott. Denn es wäre ihm eigentlich, wie schon
gesagt, bei der Art seines Zweifels ganz unmöglich, den-
selben zu beweisen.
Kehren wir nun wieder zur weiteren Entwicklung der ge-
fundenen Sätze zurück. Das vollkommenste Wesen ist
also bewiesen, ebenso unser Ursprung aus demselben,
ferner die Möglichkeit einer Erkenntnis aus der Wahr-
haftigkeit Gottes. Denn, wenn Gott kein Lügner und Be-
trüger sein soll, so muß unsere Vernunft nicht zum Irren,
sondern zum Erkennen des Wahren eingerichtet sein, und
CARTESIUS 271
alles ist wahr, was wir nach den Gesetzen der Vernunft
denken, d. h. klar und deutlich vorstellen (erkennen).^
Was ist nun aber das Kriterium einer klaren und deut-
lichen Vorstellung?
Im 45. § [von] Princ. 1. sagt er sehr unbestimmt: Clarain
voco illani \perceptione7f{\ in se cont'meat.
Bestimmter drückt er sich in der schon erwähnten Stelle
in der Abhandlung De inethodo aus, wo er eine der des
cogito^ ergo sum gleiche Gewißheit zum Kriterium der
Wahrheit zu machen scheint. — Post haec inquisivi
omne id, quod valde dilucide et distincte cojidpiebam, verum
esse [a. a, O., 3. Abs. von IV.].
Für die Wahrheit unsrer Begriffe von körperlichen Dingen
führt übrigens noch Cartesius eigene Beweisgründe an,
die wir weiter unten geben werden. Denn mit dem Satz:
alles ist wahr, was ich nach den Gesetzen der Vernunft
denke — , lassen sich die Körper nur, insofern sie Gegen-
stände der reinen Anschauung der Mathematik, beweisen.
— Reliquum est . . . {Medit. IP. [erster Satz]).
Jetzt stellt sich Cartesius noch eine Schwierigkeit ent-
gegen. Denn: N'ec ullum de hac re dtibium supperesset^ nisi
mde sequi videretur^ me igitur errai'e numquam posse\ nam
si, quodcumque in me est, a Deo habeo nee uUam ille inihi
dederit errandi facultatem, non videor posse iimquam errare.
(Medit. IV. De vero et f also.)
Solange ich nun nur an Gott denke und mich ganz zu ihm
wende, so finde ich keine Ursache des Irrtums; kehre ich
aber zu mir zurück, so finde ich mich in unzähliche Irr-
tümer verwickelt, und suche ich nach ihrer Ursache, so
finde ich in mir nicht nur die reale und positive Idee von
einem höchst voUkommnen Wesen, sondern auch sozu-
sagen eine negative Idee des Nichts oder dessen, was von
aller Vollkommenheit am weitesten entfernt ist, und sehe
zugleich, daß ich als ein Mittelding zwischen Gott und
^ a. R.: Demgemäß warf man in der Obj.I. ein, daß man nach diesem
Grundsatz Gott nicht erkennen könne, weil eine klare und deutliche
Erkenntnis des Unendlichen unmöglich sei. — Cartesius [Resp. ad
I. obj.y. Itaqtie iniprimis hie dicain, infinittim, qua infijiitiun est, nullo
quidem modo comprehendi, sed nihilominus tarnen intelligl . . ,
2 72 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
Nichts so beschaffen bin, daß, insofern ich von Gott bin,
nichts in mir ist, wodurch ich zu einem Irrtum verleitet
würde, daß aber, insofern ich quodammodo de nihilo^ sive
de non ente participio^ d. h. insofern ich nicht selbst das
höchste Wesen bin, mir sehr vieles fehlt, so daß ich mich
über meine Irrtümer nicht zu wundern brauche. So sehe
ich also deutlich ein, daß der Irrtum, insofern er Irrtum
ist, nicht etwas Reales, von Gott Abhängendes, sondern
nur ein Mangel sei, und daß ich also nicht von Gott eine
besonders zum Irren bestimmte Anlage (falcultatem) er-
halten haben müsse, sondern daß mein Irrtum nur daher
rühre, daß die mir von Gott zum Erkennen der Wahrheit
verliehene Gabe nicht unendlich sei. Doch genügt dies
noch nicht vollkommen, denn der Irrtum ist nicht eine
bloße Verneinung, sondern die Beraubung, der Mangel
einer Erkenntnis (non est pira 7tegatio, sed privatio sive
carentia cujusdam cognitionis) ^ die sich in mir finden sollte;
und betrachte ich das Wesen Gottes näher, so scheint es
mir unmöglich, daß er mir eine Gabe verliehen habe, die
nicht in ihrer Art vollkommen oder einer ihr zukommen-
den Vollkommenheit beraubt sei. Denn je vollkommner
der Künstler, desto vollkommner die Werke, welche er
schafft; was sollte da aus dem höchsten Schöpfer aller
Dinge hervorgehen können, was nicht in jeder Hinsicht
vollkommen sei? Da ohne Zweifel Gott mich hätte so er-
schaffen können, daß ich nie jitl-, und da er ohne Zweifel
stets das Beste will, so wäre es ja besser, ich irrte mich,
als ich irrte mich nicht Cartesius versucht nun ver-
schiedne Wege, um diese Widersprüche zu heben. Na-
mentlich stützt er sich auf den Satz, daß nur in dem
Willen der Grund der Irrtümer enthalten wäre, und zwar
nicht [in dem] Wille[n] selbst oder der von Gott uns
verliehnen Fähigkeit des Wollens, sondern in der Art,
wie wir von derselben Gebrauch machen (m ipsa opera-
tione quatenus a me procedit). Doch muß er sich zuletzt
auf die Unbegreiflichkeit der göttlichen Absichten be-
rufen und zugeben, daß es freilich Gott leicht möglich
gewesen wäre, alle Möglichkeit des Irrtums aus uns zu
entfernen. Er setzt aber in seiner Hartnäckigkeit hinzu,
CARTESIUS 273
man könne nicht leugnen, daß das Universum gewisser-
maßen (quodammodo) vollkommen sei, wenn manche Teile
dem Irrtum unterworfen wären und manche nicht, als
wenn alle vollkommen ähnlich wären. Dann sagt er noch,
wir seien Gott für das Gute, das er uns nach seiner ab-
soluten imd freien Gewalt gegeben hat, den größten Dank
schuldig, könnten uns aber nicht beschweren, daß er uns
nicht alles geschenkt hat, was er uns nach unserer Vor-
stellung hätte schenken können. {Nee quodammodo inter
nos Iiomiiies est quam maxime absoluta et lihera.
Princ. I. 38.)
Der Irrtum ist übrigens nichts, zu dessen Hervorbringung
eine reale Handlung Gottes nötig gewesen wäre: sondern
auf ihn bezogen ist er nur eine Negation, auf uns eine
Beraubung. [Nee errores sunt res, ad quarum produc-
tionefn realis Dei eoneursus requiratur . . . Princ. 1.31^
Spinvza erläutert dies folgendermaßen: [Spinoza II, S.4o8f.]
Propos. XV.'. Error non est quid posithnmi. — Demo7istr.: Si
error quid positivum esset ScJiolimn: Cum error non
sit quid positivum in homine, nihil aliud poterit esse, quam
privatio recti usus libertatis . . .
Der Irrtum liegt also nur im unrechten Gebrauch eines
unserer geistigen Organe. In welchem nun:
Alle modi des Denkens lassen sich unter zwei Abteilungen,
die Vernunft und den Willen, bringen. Erstere umfaßt
das Gefühl, das Einbildungs- und das Erkenntnisvermö-
gen (sentire, i7?iaginari et pure intelligere) , letzterer das
Begehren, Verabscheuen, Bejahen, Verneinen und Zwei-
feln (cuper e, aversari, affirmare, negare).
Solange nun der Geist die Dinge klar und deutlich er-
kennt und ihnen beistimmt, sie bejaht (assentitur), kann
er nicht getäuscht werden, und auch so lange nicht, als
er die Dinge sich nur vorstellt, ohne etwas von ihnen
auszusagen, sie zu bejahen (iis assentiri).^ Denn wenn
ich mir auch ein geflügeltes Pferd vorstelle, so ist es doch
gewiß, daß diese Vorstellung nichts Falsches enthält, so-
* a. ^r. per solum intelkctum percipio tantum idcas, de quibus Judicium
ferre possum, nee tillus error propric dictus in eo praecise reperitur
[Medit. IV.).
BÜCHNER 18.
2 74 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
lange ich nicht behaupte (bejahe), es gäbe ein geflügeltes
Pferd, oder es bezweifle. Und da nun das Bejahen oder
Verneinen nichts anders als eine Bestimmung des Willens
ist, so folgt daraus, daß der Irrtum nur von dem Gebrauch
des Willens abhängt.
Nun haben wir aber nicht nur das Vermögen, demjenigen
unseren Beifall zu geben, was wir klar und deutlich er-
kennen, sondern auch dem, was wir uns auf irgendeine
andre Art vorstellen. Denn unser Wille ist unbegrenzt.
Man sieht dies leicht ein, wenn man nur bedenkt, daß,
wenn Gott uns ein unendliches Erkenntnisvermögen hätte
geben wollen, er deswegen nicht nötig gehabt hätte, uns
zugleich eine weitere assentiendi facidtatem zu geben, da
dieselbe von der Art ist, daß sie für die unendlichsten
Dinge genügte. Und wir überzeugen uns selbst davon,
indem wir vielem unsern Beifall geben, was wir nicht aus
sichren und gewissen Prinzipien erkannt haben. (Nee vero
etiam queri possum ut milla vi externa nos ad id de-
terminari sentiamtis. Medit. IV.)
Daraus geht ferner hervor, daß, wenn das Erkenntnis-
vermögen sich ebenso weit erstreckte als der Wille, oder
der Wille sich nicht weiter als das Erkenntnisvermögen,
oder wenn wir endlich den Willen in den Grenzen der
Erkenntnis halten könnten, wir niemals irren würden. (Ex
Ms autempercipio . . . atque itafallor et pecco. Medit. IV.)
Die beiden ersteren nun liegen außer unserer Macht. Es
bleibt uns also nur das dritte übrig: nämlich ob wir un-
seren Willen in den Schranken der Erkenntnis zu halten
vermögen. Da aber der Wille seiner Freiheit gemäß sich
selbst bestimmt, so folgt daraus, daß wir den Willen in
den Schranken der Erkenntnis zu halten und dadurch den
Irrtum zu vermeiden vermögen, so daß es offenbar nur
von dem Gebrauch unseres Willens abhängt, daß wir uns
nie irren. Daß aber unser Wille frei sei, wird im 39. §
Princ. I. bewiesen. (Daß wir einen freien Willen haben
und mit Willkür vielem beistimmen oder nicht beistimmen
können, ist so evident, daß wir es unter die ersten ange-
bornen Grundsätze zählen müssen. Dieses machte sich
kurz vorher einleuchtend, da wir in dem Bestreben, alles
CARTESIUS 275
zu bezweifeln, so weit gingen, daß wir uns einbildeten,
ein allmächtiger Urheber unsres Ursprungs suche uns auf
alle mögliche Weise zu betrügen, und wir gleichwohl die
Freiheit in uns wahrnahmen, unseren Beifall allem dem-
jenigen zu. versagen, was nicht durchaus gewiß und aus-
gemacht war. I. 39. — Carlesius setzt dann noch hinzu, es
sei uns freilich unbegreiflich, wie die aus Gottes Allmacht
sich notwendig ergebende Vorbestimmung mit der Frei-
heit unsres Willens sich vereinigen ließe. Da jedoch
beides ganz evident sei, so müßten wir uns mit dem Ge-
danken bescheiden, daß wir als endliche Wesen das Un-
endliche nicht begreifen könnten.)
Und obgleich wir, wenn wir eine Sache klar und deut-
lich erkennen, wir gezwungen sind, sie zu bejahen, so
rührt dieser notwendige Beifall nicht von der Schwäche,
sondern von der Vollkommenheit und Freiheit unseres
Willens her. Denn assentiii ist notwendig eine Voll-
kommenheit, wie sich von selbst ergibt, und der Willen
ist nie vollkommner und freier, als wenn er sich prorsus
deter??wiat. Wenn es nun geschieht, daß der Geist etwas
klar und deutlich erkennt, so wird er sich sogleich not-
wendigerweise diese Vollkommenheit geben. Weit gefehlt
also, daß wir dadurch, daß wir nichts weniger als gleich-
gültig gegen das Erfassen der Wahrheit sind, weniger frei
wären: man muß im Gegenteil annehmen, je gleichgül-
tiger, je unfreier. (Medit. IV. Neque enini opus est nie in
utramque partcm fe?y'i posse^ ut s'mi Über numquam
tarnen indifferens esse possem.)
Der Irrtum liegt also in dem unrechten Gebrauch unsres
Willens. Übrigens darf man nicht einwerfen, daß wir dann
nie irren würden, weil gewiß niemand den Willen hat zu
irren. Denn [es] ist ein großer Unterschied zwischen
einem absichthchen Irrtum und dem Beifall, den man
einer Sache gibt, worin sich zufällig ein Irrtum findet.
Und ob es gleich niemand gibt, der absichtlich irren will,
so gibt es auch niemand, der nicht oft dem seinen Beifall
schenkt, worin sich ohne sein Wissen ein Irrtum findet.
Denn selbst das Streben nach Wahrheit macht oft, daß
die, welche nicht gehörig ihre Vernunft zu brauchen wissen.
276 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
über Dinge urteilen, die sie nicht erkannt haben, und so-
mit irren. (§ 42 Princ. I.)
Wir können übrigens Gott nicht vorwerfen, daß er unsern
Willen unbeschränkter gemacht habe als unser Erkenntnis-
vermögen; denn da der Wille in una tantum re et taf?i-
quam in indivisibili consistit^ so scheint es, daß man von
seiner Natur nichts wegnehmen könne. Und wahrhaftig,
je unbegrenzter er ist, desto größeren Dank sind wir dem
Schöpfer schuldig (Medit. IF.). Außerdem ist es immerhin
besser, selbst unklare Begriffe zu bejahen und somit von
seiner Freiheit Gebrauch zu machen, als immer gleich-
gültig zu bleiben.
Quare rebus confusis assentirl quatefvus a Deo de-
pendet^ sitam esse?- (Spiiioza ad [Princ] /., propos. XV.
[Spinoza II, S. 411]. — Ich habe besonders den von Spifioza
in dieser Proposition bezeichneten Weg verfolgt, weil
das, was Cartesius in den Prinzipien über diesen Gegen-
stand sagt, fast nicht zusammenhängt, und seine Ausein-
andersetzung in der IV. Meditation zu weitläuftig und in
sich selbst nicht ganz klar ist.)
Nicht in dem Erkenntnisvermögen, weil dasselbe ja, da
es weder verneint noch bejaht, gar nicht irren kann, nicht
in dem Willen, weil seine Unendlichkeit zu seiner Voll-
kommenheit gehört, also nur [in] der Art, wie wir von ihm
im Verhältnis zu unsern Erkenntnissen Gebrauch machen.^
So viel ist aber gewiß, daß wir nie Falsches für Wahres
annehmen werden, wenn wir nur demjenigen beistimmen,
was wir klar und deutlich vorgestellt haben. Es ist gewiß,
weil Gott kein Betrüger ist, und daher das Vorstellungs-
vermögen, das er uns gegeben hat, so wenig als das Ver-
mögen des Fürwahrhaltens, solange es sich nur über das,
was wir uns klar vorstellen, erstreckt [, auf das Falsche
gerichtet ist]. Und wenn auch dieses nicht durch Gründe
bewiesen wäre, so ist es doch allen Gemütern von Natur
so eingeprägt, daß wir jederzeit, wenn wir uns etwas klar
1 a. 'K.: pj'ivatio autet/i, in qua sola ratio forvialis falsitatis et culpae
cofisistit . . . sed tanttwunodo fiegatio dici debet. [Medit. IV) — ^ zu
ergänzen ist wohl: liegt die Möglichkeit des Irrtums. Allerdings
steht in der Handschrift: von der Art.
CARTESIUS 277
vorstellen, demselben Beifall geben werden und nie an
der Wahrheit desselben zweifeln können. (I. § 43.)
Hiermit wären wir denn jetzt zur Höhe des Cartesiauis-
mus gelangt. Die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit einer
Erkenntnis ist bewiesen, und daraus der Grundsatz des
Dogmatismus: was im Begriflf einer Sache liegt, ist wahr.
Die Quelle des Irrtums ist entdeckt, das Kriterium der
Wahrheit ist bewiesen. Wie geht nun Cartesius weiter?
AUes, was unser Bewußtsein begreift, stellen wir uns ent-
weder als Substanzen oder ihre Bestimmungen (affectio7ies)
oder als ewige Wahrheiten [vor], welche keine Existenz
außer unseren Gedanken haben.
Von den ewigen Wahrheiten gibt er folgende Erklärung
(§ 49): Wenn wir erkennen, daß aus Nichts Nichts werde,
so wird das Urteil aus Nichts wird Nichts nicht als eine
existierende Sache oder als eine Bestimmung derselben,
sondern als eine ewige Wahrheit vorgestellt, welche ihren
Sitz in dem Verstände hat, und ein Gemeinbegriff oder
ein axioma genannt. Hierher gehören die Sätze: Es ist
unmöglich, daß dasselbe zugleich sei und nicht sei; wer
denkt, existiert notwendig, indem er denkt — und unzählige
andre, welche nicht leicht aufgezählt werden können.
In den Resp. ad II. objectio?i. werden zehn dergleichen
Axiomen angeführt, wovon mehrere in dem Beweis des
Dasein Gottes aus der Idee von Gott angeführt sind.
Charakteristisch für die Erklärung des Cogito^ ergo sum ist
diese Klassifikation. (Hotho^ Hegel.)
Die Untersuchungen über die Substanzen sind etwas ver-
wirrt. Ich gebe sie in folgender Ordnung:
Resp. ad IL obj., Defin. V.: Omnis res attributitm. —
Im 5 1 . § Frinc. I. schränkt er dagegen den Begriff von
Substanz mehr ein, indem er sagt: Per snbstantiam 7iihil
aliud intelUgere possumus quam rem^ quae ita existit, ut
nulla alia re i?idigeat. Damit wird denn der Begriff nur
auf Gott bezogen. Doch gebraucht er das Wort Substanz
immer in der zuerst angeführten Bedeutung.
An der Substanz unterscheidet man nun die attributa^
Eigenschaften, und die Bestimmungen, inodi.
Der Siibstanz kommt im allgemeinen nur Sein zu, sie ist
278 NATUR WISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
das, woran etwas ist. Sie kann also an sich, als existie-
rend, nicht wahrgenommen werden, sondern nur durch
ihre Attribute und Modi. Denn daraus, daß wir irgend-
eine Eigenschaft wahrnehmen, schließen wir, daß ein
seiendes Ding (rem existentem) oder eine Substanz, woran
oder worin jene Eigenschaft sei, notwendig vorhanden
sein müsse. Die Substanz ist also der einfache Begriff des
Seins.
Attribut ist dasjenige, was an und in der Substanz^ ist^,
was also nicht weggenommen werden kann, ohne daß der
klare und deutliche Begriff der Substanz zerstört wird.
(§62.) Das Attribut ist also unveränderlich, daher ist an
den geschaffnen Dingen alles Attribut, was an ihnen sich
immer auf die nämliche Weise verhält. Da in Gott keine
Veränderung möglich ist, so können ihm nur Attribute
beigelegt werden. (§ 61.)
Modus ist dasjenige, wodurch eine Substanz affiziert oder
verändert wird.
Die Substanz kann nun zwar aus jedem Attribut erkannt
werden: allein jede Substanz hat doch nur eine Eigen-
schaft, welche ihre Natur und ihr Wesen ausmacht und
auf welche sich alle übrige Eigenschaften beziehen. So
macht die Ausdehnung in die Länge, Breite und Dicke
das Wesen des Körpers, das Denken das Wesen der den-
kenden Substanz aus. Alles übrige, was dem Körper
zukommt, setzt die Ausdehnung voraus, und ist nur ein
Modus des ausgedehnten Dinges, so wie alles, was wir in
der denkenden Seele finden, verschiedne Weisen des
Denkens sind. (§53.)
(Hat jede Substanz nur ein Attribut, worauf sich alle übrige
Eigenschaften beziehen, was sollte dann der Satz, das die
Substanz aus jedem Attribut erkannt werde? Überhaupt
ist es nicht leicht, hier etwas ganz Deutliches herauszu-
bekommen, denn Cartesius spricht zu wenig im Zusam-
menhang, zu schwankend und unbestimmt. So sagt er
1 a. R.: Substanz wird hier und im Folgenden nicht in der reinen
Bedeutung, sondern überhaupt als Ding genommen. — 2 a. R.: was
also nicht für sich gedacht werden kann, ohne daß man es selbst
zur Substanz mache.
CARTESIÜS 279
sogar § 56: Et ctiam in 7-cbtis creatis ea, qiiae numquam
in iis diver so modo se habent^ tit existe^itia et duratio, in rc
existente et durante, non niodi, sed attributa dici debent^
Den drei Stufen nun, Substanz, Attribut und Modus, ent-
spricht eine dreifache Unterscheidung, eine reale, modale
und rationale (distinctio 7-ealis, modalis^ rationis^.
Die erste findet zwischen zweien und mehreren Sub-
stanzen statt. Daraus, daß wir zwei Substanzen klar und
deutlich denken können, erkennen wir, daß sie auf reelle
Weise verschieden sind. Denn indem wir Gott erkennen,
wissen wir, daß Gott dasjenige bewirkt, was wir deut-
lich erkennen. (§ 60.)
Die modale Unterscheidung ist von doppelter Art, in-
dem der modus bald von der Substanz, der er angehört,
bald zwei modi t'mtx und derselben Substanz voneinander
unterschieden werden. Die erste wird daraus erkannt,
daß die Substanz ohne Modus deutlich gedacht werden
kann, aber nicht der Modus ohne Substanz. Die zweite dar-
aus, daß der eine Modus ohne den andern, und umgekehrt,
aber beide nicht ohne die Substanz, der sie angehören,
gedacht werden können; z. B. wenn ein viereckiger Stein
sich bewegt, so kann ich zwar seine viereckige Gestalt
ohne die Bewegung denken und umgekehrt seine Bewe-
gung ohne die viereckige Gestalt, aber weder Bewegung
noch Gestalt kann ich ohne die ausgedehnte Substanz
des Steines selbst denken.
Die Unterscheidung aber zwischen dem Modus einer
Substanz und einer andern Substanz, oder dem Modus
einer andern Substanz, ist eher real als modal; weil diese
modi nicht ohne die real verschiednen Substanzen, in de-
nen sie sind, gedacht werden können. (§ 62.)
Die rationale Unterscheidung findet statt zwischen einer
Substanz und einem Attribut derselben, ohne welches sie
selbst nicht gedacht werden kann; oder zwischen mehreren
solchen Attributen einer und derselben Substanz. Sie
wird daraus erkannt, daß eine deutliche Vorstellung der
Substanz unmögHch ist, wenn man von ihr jenes Attri-
but ausschließt, oder daraus, daß man eines von jenen
Attributen nicht deutlich denken kann, wenn man es von
2 8o NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
dem andern trennt. So kann die Substanz und die Dauer
(duratio) nur auf eine rationale Weise unterschieden wer-
den; denn wenn die Substanz aufhört fortzudauern, so
hört sie auch auf zu sein. (§ 62.)
Es gibt nun nur zwei höchste Geschlechter der Dinge
oder Substanzen, nämlich geistige oder denkende und
materielle, oder solche Dinge, welche zu der denken-
den, wie das Denken, Wollen, oder der ausgedehnten Sub-
stanz, wie die Ausdehnung in die Länge, Breite und Höhe,
Gestalt, Bewegung, Lage, Teilbarkeit etc., gehören. Doch
erfahren wir in uns noch manches, was sich weder auf
den Körper noch die denkende; Substanz allein bezieht
und aus der innigen Vereinigung von beiden entspringt,
als Appetit, Hunger, Durst, Gemütsbewegungen, die nicht
bloß im Denken bestehen, als die Bewegung zur Freude,
Traurigkeit, Liebe, endlich alle Empfindungen, als des
Schmerzes, Kitzels, des Lichts, der Farben, Töne, Ge-
rüche etc. (§48.)
Die denkende Substanz ist aus dem Denken selbst, die
ausgedehnte aus der mathematischen Erkenntnis, als in
der reinen Anschauung des Raumes und der Zeit bedingt,
bereits bewiesen. Der Empfindungen werden wir uns
unmittelbar bewußt.
Attribute und Eigenschaften sind nur teils in den Dingen
selbst, denen sie beigelegt werden, teils in dem Denken.
Will man also die Dinge erkennen, so muß man wohl
zwischen beiden unterscheiden.
Dauer, Ordnung und Zahl sind von den dauernden, ge-
ordneten und gezählten Dingen nicht verschieden, sie
sind nur die modi., unter welchen wir uns dieselben vor-
stellen, ([§ 55] Et similiter ncc ordinem nee numcrum
esse . . . consideramiis. — Dui-atio^ ordo et numerus a nobis
etiam distinctissime intelligefttur, si nulluni üs suhstantiac
conceptum affingamus^ sed putemus durationem rei cujusque^
esse tantum modum, sub quo conciphfius rem istam, qua-
tc7vus esse perseverat: das soll doch wohl heißen, wir müs-
sen Dauer, Ordnung und Zahl als einen objektiven
Modus in den Dingen selbst betrachten und ihnen keine
substanzielle Bedeutung beilegen.)
CARTESIUS 281
Die Zeit hingegen, insofern sie von der Dauer im allge-
meinen unterschieden und als die Zahl der Bewegung
betrachtet wird (iiumerus motiis), ist nur eine Denkweise.
Denn wir denken uns keine andere Dauer in der Bewe-
gung als in den nichtbewegten Dingen, wie sich daraus
ergibt, daß, wenn sich zwei Körper in einer Stunde mit
verschiedener Schnelligkeit [bewegen], wir doch nicht
mehr Zeit für den [einen] als für den andern rechnen,
obgleich bei dem einen viel mehr Bewegung ist als bei
dem andern.
Um aber die Dauer aller Dinge zu messen, vergleichen
wir sie mit der Dauer der größten und gleichförmigsten
Bewegungen, von welchen Jahre und Tage entspringen,
und nennen diese Dauer die Zeit, welche folglich der
Dauer im allgemeinen nichts weiter hinzu tut als unsere
Denkweise. (§ 57.)
Ebenso verhält es sich auch mit der Zahl in abstracto und
allen Universalien. Denn die Universalien entstehen da-
durch, daß man eine und dieselbe Idee gebraucht, um alle
Individuen, welche einander ähnlich sind, zu denken.
Daher die Gattungs- und Artbegriffe, ferner die Differenz
oder das Merkmal, welche die Gattung oder Art von einer
andern unterscheidet, ferner die Eigentümlichkeit (pro-
prium), welche aus dem Wesen einer Gattung sich ergibt,
und endlich der zufällige Unterschied (accidens universale)
zwischen den Individuen einer Art oder Gattung. {Ac de-
7Üque, si supponamus aliquos ejusmodi triangulos moveri . . ,
accide?is universale [§ 59, vorletzter Satz].)
1 Also fünf Uni Versalien: genus, species^ differentia^ proprium.
\ accidens.
\ Was nun die Denkweisen anbelangt, welche aus der Ver-
I einigung der denkenden und ausgedehnten Substanz ent-
I springen, wie Empfindungen der Sinne, das Gefühl der
Lust und Unlust etc., so haben wir von ihnen auch eine
klare und deutliche Vorstellung, si accurate caveatnus, ne
quid amplius de iis judicemus, quam id praecise^ quod in
pcrceptione nostra co?itifietur et cujus iiitime conscii sumus.
[§ dd?^ Schmerz z. B. und Farben werden zwar deutlich
wahrgenommen, solange wir sie nur als Denkweisen be-
282 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
trachten; sobald wir aber annehmen, sie existierten außer-
halb unseres Geistes, so können wir auf keine Weise be-
greifen, was für Dinge sie eigentlich sind; wenn einer
sagt, er sehe an einem Körper eine Farbe, oder fühle
einen Schmerz in einem Gliede, so wäre es gerad, als ob
er sagte, er sehe oder fühle etwas, qiiod, quidnam sit^ plane
ignorat, d. h. er wisse nicht, was er sehe und fühle.
Zwischen diesen Vorstellungen, sowie überhaupt allen
Begriffen, w^elche nur in unserm Verstände und nicht in
den Objekten sich finden [modi cogitandi^ quos tamquain
in objectis consideramus [§ 62]), ist nur eine distinctio ra-
tio nis möglich.
Ganz etwas andres ist es mit der Erkenntnis dessen, w^as
in einem gesehenen Körper die Größe, die Gestalt, die
Bewegung, die Lage, die Dauer, die Zahl u. dgl., was
man sich an den Körpern deutlich vorstellt. Denn wenn
wir auch gewiß sind, daß ein Körper so gut existiert, in-
sofern er gefärbt, als insofern er gestaltet ist, so erkennen
wir doch viel deutlicher das Gestaltsein als das Gefärbt-
sein. (Princ, I. 66— /O.)
Cartesius geht nun zur Physik über.
Er fängt mit dem Beweis für das Dasein der ausgedehnten
Substanz an. Insofern die materiellen Dinge Gegenstände
der reinen Mathematik sind und somit klar und deutlich
erkannt werden, ist ihr Dasein eigentlich bereits bewiesen
(Med. FI.).
Was wir empfinden, rührt ohne Zweifel von einer Sache
her, welche von unsrer Seele verschieden ist. Denn es
steht nicht in unsrer Macht, eher das eine als das andere
zu empfinden, sondern dies hängt ganz von der Sache ab,
welche unsere Sinne affiziert. Diese Sache ist nun ent-
weder Gott oder etwas von Gott Verschiednes. Da wir
nun durch die Sinne oder vielmehr durch den Impuls der
Sinne eine in die Länge, Breite und Höhe ausgedehnte
Materie w^ahrnehmen, deren Teile verschiedene Gestalten
haben und verschiedentlich bewegt werden und bewirken,
daß wir die verschiedenen Empfindungen der Farbe, des
Schalls, des Schmerzes haben, so wäre Gott notwendig
CARTESIUS 283
ein Betrüger, wenn er die Idee einer ausgedehnten Ma-
terie entweder unmittelbar unserem Geiste beibrächte
oder verursachte, daß sie von einem Dinge, in welchem
weder Ausdehnung noch Gestalt noch Bewegung ist, uns
gegeben würde. Wir müssen also daraus schließen, daß
eine ausgedehnte Substanz, welche wir Materie oder
Körper nennen, wirklich existiere, und daß ihr alle die-
jenigen Eigenschaften zukommen, welche wir in dem Be-
griffe eines ausgedehnten Dinges deutlich denken. (Princ.
11. § I. Vgl. Med. VI.)
(In den Resp. ad IL objectiones findet sich noch folgender
Beweis für die Realität der körperlichen Dinge: \Corolla-
riu??i.'\ Creavit deus coeliim et terram . . . De77ionstratio:
Deum existere ex eo probatum est . . . ergo simul cum Dei
existejitia Jiaec etiam oinnia de eo probata sunt?)
Jedoch sind die körperlichen Dinge nicht ganz so be-
schaffen, wie wir sie uns durch die Sinne vorstellen; denn
diese Vorstellungen sind, wie schon gesagt, verwirrt und
dunkel. Doch findet sich wenigstens das in den Körpern,
was wir uns klar und deutlich vorstellen, d. h. alles, was
im allgemeinen an einem Objekt der reinen Mathematik
begrifi"en wird (omnia, qiiae in purae Matheseos objecto
comprehendiintu7-. Medit, VI.). Das Wesen der Körper be-
steht also nicht darin, daß sie hart, schwer, gefärbt sind,
oder auf andere Weise die Sinne affizieren, sondern nur
darin, daß sie in die Länge, Breite und Dicke ausgedehnt
sind. Denn die Härte erfahren wir nur dadurch, daß die
harten Körper der Bewegung unserer Hände gegen sie
widerstehen. Wichen nun diese Körper in der Richtung,
in welcher wir gegen sie die Hände bewegen, mit gleicher
Geschwindigkeit immer zurück, so würden wir keine Härte
empfinden, ohne daß sie darum die Natur eines Körpers,
die Ausdehnung, verlieren würden. Ebenso kann gezeigt
werden, daß die Schwere, die Farbe und alle sinnlichen
Eigenschaften in den Körpern aufhören können, ohne
daß sie selbst aufhören zu sein, woraus folgt, daß das
Wesen der Körper von ihnen nicht abhängt. {Princ. II. 4.)
Übrigens muß man doch schließen, daß in den Körpern
sich etwas finde, wo die verschiednen Eindrücke der
2 84 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
Sinne herrühren und das denselben entspricht, wenn es
ihnen auch vielleicht nicht ähnlich ist (Med. V7.)^ Durch
die Sinne erfahren wir also nur, daß ein Körper ist. und
daß etwas an ihm ist, was den oder den Eindruck auf uns
macht (den der Farbe, des Schalls etc.), aber keineswegs,
was dies eigentlich ist. Gänzlich irren wir daher, wenn
wir die subjektive Empfindung, die ein Körper uns ver-
ursacht, auf denselben selbst übertragen und ihn zu einer
Eigenschaft desselben machen; z. B. wenn wir einen ge-
färbten Körper sehen und nun behaupten, der Körper
selbst sei gefärbt. (Cartesius beschränkt sich hier nicht
auf die fünf Sinne, sondern zählt auch die Gefühle der
Lust und Unlust etc. hinzu.)
Das Wesen des Körpers wird also nur in einer reinen An-
schauung erkannt. Die Sinne [sind] uns nur gegeben, nicht
um die Körper an sich, sondern um das Verhältnis der-
selben zu uns erkennbar zu machen; sie sagen uns eigent-
lich nur, was uns schädlich oder nützHch, angenehm oder
unangenehm ist, und insofern kommt ihnen eine klare und
deutliche Erkenntnis zu, nur aus dem Mißkennen ihrer
Bedeutung entspringt der Irrtum. (Med. VI.)
Doch macht man auch den wahren Gebrauch von ihnen
und beschränkt sich auf das, was sie uns als schädlich
oder nützlich bezeichnen, so läßt sich doch nicht leugnen,
daß wir öfters irren, und wir können dann niemanden
anders als Gott die Schuld davon beimessen. Cartesius
weiß nach mehreren weitläufigen Explikationen keine an-
dere Antwort als: £x quibus omnino manifestum est, non
abstaute immensa Dei bonitate: naturam hominis ut ex mente
et corpore compositi non posse non aliquando esse fallacem.
(Med. VI. [vorletzter Abs.])
Da zwischen der Substanz und ihrem Attribut nur eine
distinctio rationis möglich ist, so gilt dies auch von der
ausgedehnten Substanz: man kann also die Ausdehnung
1 a. R.: Vgl. Pr ine. philo s. IV. § 197: Mentcm esse talis fiahirae, ut
a solo corporis 7notn varii sensus in ea possint excitari und § 198:
Nihil a nobis in objcctis externis sensu dcprehendi . . .: Et optime
comprehenditmis movere possint. — Vgl. Dioptrices IV. § 6:
Ideas, quas senstis externi in phantasiafn mittunt . . . und § "j.
CARTESIUS 285
von der ausgedehnten Substanz nur dann trennen, wenn
man entweder unter dem Namen der Substanz nichts ver-
steht oder eine verwirrte Idee von der unkörperlichen
Substanz der körperlichen unterschiebt und die körper-
liche Substanz selbst Ausdehnung nennt und sie als acci-
dens betrachtet. [Prijtc. II. 9.)
Quantität, Raum und Ort sind nur ratione von der aus-
gedehnten Substanz verschieden, realiter ist es aber un-
möglich, sie zu trennen. Denn:
1. Was die Quantität anbelangt, so kann man nicht das
Geringste von ihr wegnehmen, ohne die ausgedehnte Sub-
stanz um ebensoviel zu vermindern, und umgekehrt kann
man der Substanz nichts entziehen, ohne ebensoviel von
der Quantität zu nehmen. (IL § 8, 9.)
2. Was ist der Raum (oder der innere Ort)? Eine Aus-
dehnung in die Länge, Breite "und Dicke. Nehmen wir
nun alles Zufällige aus der Idee der Materie weg, so
bleibt uns ebenfalls nichts weiter als Ausdehnung in die
Länge, Breite und Dicke; also sind die Begriffe Raum und
Materie identisch, also sind Raum und Materie identisch.
Nur in unserer Denkweise machen wir einen Unterschied.
Denn nimmt man z. B. einen Stein von dem Ort weg, wo
er lag, so denken wir natürlich, seine Ausdehnung sei
weggenommen worden, da dieselbe mit ihm eins und
unzertrennbar ist: zugleich nehmen wir aber auch an, die
Ausdehnung des Ortes, wo der Stein lag, bleibe übrig,
imd sie sei dieselbe, ob jener Ort des Steins von Holz,
Wasser oder sonst einem Körper eingenommen werde
oder leer sei, (II. § 10, 11, 12.) Ein leerer Raum ist un-
denkbar, weil ja das Wesen des Raums das nämliche ist
wie das der Materie, nämlich die Ausdehnung, welche
das Leere absolut ausschließt. Also die Bezeichnung
leerer Raum enthält in sich selbst einen Widerspruch.
Daraus geht auch hervor, wie falsch die Ansicht derjenigen
ist, welche annehmen, die Körper verdichte[te]n und ver-
dünnten sich so, daß das Verdünnte mehr Ausdehnung
habe oder einen größern Raum einnehme als das Ver-
dichtete. Denn Raum und Ausdehnung sind identisch, es
ist also undenkbar, wie die nämliche Ausdehnung mehr
286 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
Raum einnehmen könne als zu einer andern Zeit, Ebenso
kann die Ausdehnung nicht zunehmen, ohne daß zugleich
die Quantität vermehrt würde, es müßte also ein neuer
Körper entstehen. (II. § 7, 1 9.) Die Verdünnung und Ver-
dichtung ist nichts anders als eine Veränderung der Ge-
stalt, so daß verdünnte Körper nichts anders sind als
solche, zwischen deren Teilen viele mit andern Körpern
angefüllte Zwischenräume sind, und dadurch verdichtet
werden, daß jene Teile sich nähern und jene Zwischen-
räume vermindern oder ganz aufheben, welches dann der
Zustand der absoluten Dichtheit sein würde. Die Aus-
dehnung bleibt dieselbe, wie ein Schwamm nicht weniger
Ausdehnung hat, wenn er zusammengedrückt, als wenn
er vom Wasser auseinandergetrieben ist. (II. § 6.)^
3. Der Ort oder der äußere Ort ist nur der Ausdruck für
die Lage eines Körpers zwischen andern Körpern, die als
unbewegt betrachtet werden. Man kann ihn auch für die
Oberfläche nehmen, welche das an einem Ort Befindliche
zunächst umgibt. Unter Oberfläche wird hier nicht ein
Teil des umgebenden Körpers, sondern nur die Grenze
zwischen ihm und dem umgebenen Körper verstanden
(die nichts anders ist als ein modus), und zwar die ge-
meinschaftliche Oberfläche, welche in gleichem Maße
dem einen wie dem andern Körper zukommt und als
unverändert betrachtet wird, solange sie die nämliche
Größe und Figur behält. (IL § 13, 14, 15.)
Die Materie ist unendlich teilbar. Cognoscimns etiam fieri
non posse Judicium nostrum a cognitione dissentiret.
(Vgl. Princ. IL § 20.)
Die Welt oder die Gesamtheit der körperHchen Substanzen
ist unbegrenzt. Denn sobald wir Grenzen setzen, setzen
wir auch jenseits derselben unendlich ausgedehnte Räume.
Da nun Raum und körperhche Substanz eins sind, so
müssen wir auch eine unendliche Ausdehnung annehmen.
(II. § 21.)
1 a. R.: Ferner gleichem Raum entspricht gleiche Ausdehnung; füllt
man nun nacheinander das nämliche Gefäß mit Wasser, Blei oder
Luft, so enthält es im einen Fall wie im andern immer gleichviel
Materie. (II. § 19.)
CARTESIUS 287
Die Materie als ausgedehnte Substanz ist überall eine und
dieselbe.
Omnes propietates, qiias in materia clare pe7-cipimius ^ aa
hoc imuni rediiciintiir pendet a motu. (II. §23.)
Motus nihil aliud est quam actio, qua corpus aliquod ex uno
loco in alium migrat. (II. § 24.)
Näher bestimmt heißt es dann § 25: dicere possumus esse
translationem unius partis materiae . . . in viciniaiti alio-
rum.
Bei jeder Bewegung muß man wohl unterscheiden zwi-
schen dem Bewegenden und dem Bewegten, oder der
Kraft, welche die Bewegung bewirkt, und der Bewegung
selbst.
Quo7iiam una tantum co7pora eodem tonporis momento
ejusdem mobilis contigua esse possunt^ non posstmius istimo-
bili plures motus eodem tempore tribuere^ sed unum tantum.
(II. § 28.J
Doch ist hierbei zu merken, daß ein Körper, insofern er
einen Teil eines andern ausmacht, mit demselben zugleich
unendlich viele Bewegungen haben könne, z. B. jemand,
der auf ein[em] Schiff sitzt, hat nur eine Grundbewegung [r]
zwischen den ihn umgebenden Teilen, nimmt aber zu-
gleich an derBev/egung des Schiffes teil. (IL § 31.)
Ruhe ist = tra^islationis absentia. Ruhe und Bewegung
sind nur verschiedene modi eines Körpers, denn die Be-
wegung selbst kann nicht außerhalb des bewegten Kör-
pers sein, und dieser Körper verhält sich anders, wenn
er bewegt, als wenn er nicht bewegt wird. (§ 27.)
Es ist ebensoviel Kraft (actionis) zur Bewegung als zur
Ruhe erforderlich, d. h. es erfordert ebensoviel Anstren-
gung dazu, einen im Wasser ruhenden Nachen vorwärts
zu treiben, als denselben in seiner Bewegung plötzlich
aufzuhalten. (IL § 26.)
Man drückt sich nicht strikt aus, wenn man sagt, die Be-
wegung eines Körpers bestände in seiner Entfernung von
andern Körpern, die als ruhend betrachtet würden. Denn
die Entfernung ist eigentlich wechselseitig. Man kann
nicht annehmen, der Körper AB entferne sich von CD,
ohne auch zu setzen, CD entferne sich von AB. Man
2 88 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
müßte also eigentlich sagen, in dem einen sei so viel Be-
wegung als in dem andern. (II. § 29.)
Die Ursache, daß wir den einen Körper im Verhältnis
zum andern als ruhend betrachten, liegt in entgegenge-
setzten Bewegungen, die sich dadurch einander scheinbar
aufheben. EFGH sei die Erde, und zu gleicher Zeit be-
wegen sich a von E nach F und b von H nach G; ob-
gleich nun eigentlich dadurch auch die dem Körper a
zunächst liegenden Teile der Erde von F nach E bewegt
werden und nicht weniger Bewegung in ihnen sein muß
als im Körper a, so nehmen wir deswegen doch nicht an,
die Erde bewege sich von F nach E, weil wir sonst auch
annehmen müßten, die Teile um den Körper b bewegten
sich von G nach H und die Erde also auch von G nach
H, was sich gegenseitig hebt. (§ 30.)
Da alle Örter mit Körpern erfüllt sind und immer die-
selben Materienteile im Verhältnis der Gleichheit mit
gleichen Örtern stehen, so kann kein Körper anders als
im Kreise bewegt werden, so daß er einen andern Körper
aus dem Orte treibt, in welchen er eindringt, dieser einen
andern, bis auf den letzten, der in dem Augenblicke in
die Stelle des ersten tritt, wo dieselbe verlassen wird.
(§33-)
Die Ursache der Bewegung ist eine doppelte, nämlich
eine erste und allgemeine, welche die allgemeine Ursache
aller Bewegungen in der Welt ist, nämlich Gott, und dann
eine besondere, welche macht, daß die einzelnen Teile
der Materie eine Bewegung erhalten, welche sie früher
nicht hatten.
Gott hat die Materie zugleich mit Ruhe und Bewegung
in priticipio erschaffen und erhält in ihr dieselbe Quantität
von Ruhe und Bewegung, welche er damals setzte, wenn
sich dieselben gleich in den einzelnen Teilen verändern.
Denn nimmt die Bewegung in einem Teile ab, so nimmt
sie in einem andern in gleichem Maße zu. (§ 36.)
Aus dieser Unveränderlichkeit Gottes können nun die
Gesetze der Natur erkannt werden, welche die abgelei-
teten und besonderen Ursachen der Bewegungen sind,
wie sie in den einzelnen Körpern wahrgenommen werden.
CARTESIUS 289
Das erste dieser Gesetze lautet:
Jedes Ding, insofern es einfach und ungeteilt ist, bleibt
an sich immer in demselben Zustande und erleidet nur
durch äußere Ursachen darin eine Veränderung. (§37.)
Das zweite: Jeder Teil der Materie strebt nur in grader,
nie in schiefer Linie sich zu bewegen, wenn nicht das
Einwirken andrer Körper ihn zum Abweichen zwingt.
Causa hiijus regulae eadcni est qui forte fi/it panlo
ante. [§ 39.]— Empirisch wird dieser Satz durch die Tan-
gente bewiesen, in welcher ein Stein von dem Kreise der
Schleuder fliegt. (II. § 39; III. § 57-59-)
Spinoza gibt (Frinc. Cart.II.^ prop. XV. [Spin. II, S. 433])
von diesem Satz folgenden sonderbaren Beweis: Motiis^
quia Deiim taiitiiin pro causa habet tendere^ ut moveri
pergat^ secundum Imeani [rectam].
Das dritte: Wenn ein Körper, der bewegt wird, auf einen
andern trifft und die Kraft, welche ihn zur Fortsetzung
seines Weges in gerader Richtung treibt, geringer ist als
die, mittelst der ihm der andere widersteht, so weicht er
von seinem Wege ab, indem er seine Bewegung behält
und nur die Richtung derselben ändert; ist seine Kraft
aber größer, so bewegt er den andern Körper mit sich
fort und verliert ebensoviel an seiner Bewegung, als er
dem andern mitteilt. (II, § 40.)
Cartesius gibt darauf sieben Gesetze, die allgemein in der
Physik angenommen sind, über die Bewegung aufeinander
stoßender Körper, und schließt dann den zweiten Teil der
Prinzipien mit einigen Untersuchungen über die Bewe-
gung der flüssigen Körper. — Corpora divisa i?i multas
exiguas particulas . . . esse dura. [II. § 54.]
Der dritte und vierte Teil enthält dann eine abenteuer-
liche Kosmogonie und astronomische und physikalische
Untersuchungen. Er läßt sich jedoch weislich in folgen-
den Worten die Tür offen: Veru/ntanien ne etiam niuiis
arrogantes esse videamur . . . cum experimentis consmtiant,
\Princ. III. § 44-] Qitinimo etiam descriheremus.
(§ 45.)
Ursprünglich bestand die Materie aus sowohl der Größe
BÜCHNER 19.
2 90 NATUR WISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
als der Bewegung nach gleichen Teilen; welche sich teils
jede für sich um ihre eignen ce7itra bewegten und so einen
flüssigen Körper, den Himmel, bildeten; teils mehrere zu-
gleich, um einige gleich weit voneinander entfernte Punkte,
welche jetzt den centris der Fixsterne entsprechen, und
um einige andre in noch größerer Anzahl, welche der
Zahl der Planeten gleichkommen. (III. § 46, 47.)
Diese ursprünglichen Materienteile konnten nicht rund
sein, weil sie sonst den Raum nicht vollständig hätten
erfüllen können. Eine weitere Bestimmung über ihre Ge-
stalt gibt Cartesius nicht.
Durch die Bewegung nun rieben sich die Ecken dieser
Ur-Teile aneinander ab, so daß dieselben zuletzt eine
sphärische Gestalt erhielten, während die abgeriebenen
und dadurch feineren Teile die Zwischenräume zwischen
den Kugeln ausfüllten.
So haben wir denn bis jetzt zwei Elemente, ein feineres,
welches sich seine Gestalt nach den von ihm auszufüllen-
den Zwischenräumen anpaßt und mit solcher Gewalt sich
bewegt, daß es durch sein Zusammenstoßen mit andern
Körpern in unendlich kleine Teile zerteilt wird, und ein
gröberes aus sphärischen Teilen bestehend. Dazu kommt
noch ein drittes constans partibus vel magis crassis, vel
figuras minus ad motuni aptas habentibus. [III. §52.] Aus
diesen drei Elementen bestehen alle Körper: nämlich die
Sonne und die Fixsterne aus dem ersten, die Himmel aus
dem zweiten und die Erde nebst den Planeten und den
Kometen aus dem dritten. Ihnen entsprechen drei ver-
schiedne Himmelsräume.
Eine centrifugale Bewegung ist nun das erste, was sich
bei den Teilen des zweiten Elementes zeigt. Jeder Teil
strebt weg von dem Centrum, um das er sich bewegt.
(Non putandum est idcirco . . . si a nulla alia causa impe-
diantur. § 56.) — Durch diese Bewegung bildet sich um
jedes Centrum ein runder Raum.
Der ganze Raum ist nun von solchen, mehr oder weniger
großen Wirbeln des zweiten Elementes angefüllt, die je-
doch so eingerichtet sind, daß ihre Pole sich wechselseitig
nicht berühren, weil sie sonst einander hemmen würden.
CARTESIUS 291
Die sphärischen Teile können nicht leicht und nur zum
Teil von einem Wirbel in den andern übergehen, und
können trotz ihrer Centrifugalkraft einen gewissen Kreis
nicht überschreiten. Denn da verschiedne centra vor-
handen sind, so wirkt die Centrifugalkraft auch in ver-
schiednen Richtungen.
Die Teile des ersten Elementes dagegen, welche alle
Zwischenräume zwischen denen des zweiten und also
auch den Raum um das Centrum ausfüllen, strömen zwar
auch der Centrifugalkraft gemäß von dem Centrum aus,
aber so, daß sie ihrer größern Bewegungskraft gemäß von
einem Centrum in das andre übergehen.
Vom Wesen des Lichtes sagt Cartesius: Ac praeterea 7to-
tanduni est vim luminis . . . motusipse nonsequatur. (III. %(i2>
[Schlußsatz].) Und (§ 64): Ex qiiibus clare percipitur . . .
eductas.
Die Fixsterne sind nun die von Teilen des ersten Ele-
mentes angefüllten centra der Wirbel. Die Himmel sind
die in diesen Wirbel[n] sich bewegen[den] sphärischen
Teile des zweiten Elementes. Was sind nun die aus dem
dritten Elemente gebildeten Kometen und Planeten, wie
sind sie entstanden? Was ist das dritte Element.^
Unter den Teilen des ersten Elementes haben einige
noch die ihnen als abgefallne Ecken zukommende eckige
Gestalt; sie sind größer als die übrigen mehr zerteilten
mid dadurch weniger zur Bewegung geschickt, so daß
sie in den centris selbst, wo sie durch keine Teile vom
zweiten Element mehr getrennt werden, leicht zusam-
menhängen und große Massen bilden, welche bei der
Sonne z. B. unter dem Namen der Sonnenflecken be-
kannt sind. Diese Flecken können entweder wieder auf-
gelöst werden, oder auch endlich die Oberfläche des
Gestirns ganz überziehen, es dadurch verdunkeln und in
einen Körper des dritten Elementes, einen Kometen oder
Planeten, verwandeln. Das dritte Element besteht also
aus einer verdichteten Masse der gröberen Teile des
ersten Elementes.
Da nun bei einer solchen Verdichtung eines Fixsternes
die particulae des Centrums nicht mehr auf die sphäri-
2 92 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
sehen Teile des zweiten Elementes wirken können und
dadurch die Wirbelbewegung schwächer wird, so kann
ein solcher Wirbel nach und nach von den angrenzenden
Wirbeln verschlungen werden, und das verdichtete Ge-
stirn fällt einem andern Wirbel anheim, von dem es dann
um das entsprechende Centrum getrieben wird. Die Pla-
neten haben also keine selbstbewegende Kraft, sie be-
wegen sich wie Strohhalme in einem Wirbel. Geht ein
Weltkörper von einem Wirbel in den andern über, so ist
er ein Komet, bleibt er aber in einem und demselben, ein
Planet.
Dies die Hauptzüge der im dritten Buch der Principien
abgehandelten Kosmogonie. Im vierten Buch De te?'ra
werden die physischen Eigenschaften der unorganischen
Erdkörper, die Schwere, die Wärme, das Licht etc. ent-
wickelt, ihre Zusammensetzung, ihre Grundform, beson-
ders die Lehre vom Magnet etc. Die drei Elemente spie-
len die Hauptrolle, alles wird aus ihrem gegenseitigen
Verhalten durch die willkürlichsten und abenteuerlich-
sten Hypothesen hergeleitet. An dies Buch schließen sich
dann die Abhandlung De meteoribus^ die Dioptrik^ De Jio-
mine und De fo7'maüone foetus. Cartesius' Absicht war
eigentlich, die ganze Schöpfung aus seinen Principien
herzuleiten, die Harmonie zwischen der Erfahrung und
seinem System nachzuweisen; doch der Tod überraschte
ihn, und so haben wir in den erwähnten Abhandlungen nur
Bruchstücke aus einem unvollendeten Ganzen. Den ma-
thematischen Teil dieser Abhandlungen abgerechnet, sieht
es in ihnen sonderbar aus. Großes Verdienst dagegen ha-
ben seine Untersuchungen über die Brechung des Lichtes;
interessant sind auch Versuche, die er zu einer Lehre von
den Sinnen macht.
In der Abhandlung De Jiomine macht er den Versuch zur
Begründung einer Physiologie aus mathematischen und
physikalischen Principien, der hovime inachine wird voll-
ständig zusammengeschraubt. Ein Centralfeuer im Herzen,
die verflüchtigten zum Hirn aufsteigenden Spiritus aninm-
les, die in einem Dunst von Nervengeist schwebende, nach
CARTESIUS 293
verschiednen Richtungen sich neigende Zirbeldrüse als
Residenz der Seele, Nerven mit Klappen, Muskeln welche
durch das Einpumpen des Nervengeistes mittelst der Ner-
ven anschwellen, die Lunge als Kühlapparat und Vor-
lage zum Niederschlagen des im Herzen verflüchtigten
Blutes, Milz, Leber, Nieren als künstliche Siebe, sind
die Schrauben, Stifte und Walzen. Der echte Typus des
Jalermechanismus [:] .
Besonders schlug die Lehre von der Zirbeldrüse als Sitz
der Seele tiefe Wurzeln, denn Descartes hatte ja so schön
deutlich nachgewiesen, wie die Nerven am Hirn gleich
Strängen an einer Schelle ziehen, wie dadurch eine Pore
auf der innern Oberfläche des Gehirns sich öffnet und wie
dann die Spiritus animales aus einer entsprechenden Pore
der Zirbel heraus und in die oftne Pore des Nerven fah-
ren. — Interessant ist es^ wie in den neuesten Zeiten diese
Ansicht von der wichtigen Bedeutung der Zirbel von Carus
in dem Werke über die Ur-Teile des Knochen- und Schalen-
gerüstes, wenn auch aus himmelweit verschiednen Grün-
den, verteidigt wird. Carus findet sogar in dem Hirnsand
eine Hinweisung auf die das Hirn im allgemeinen um-
schließende Knochenschale; ihre Lage zwischen den sechs
Hauptmassen des Gehirns: 3, Zirbel, 3, ist ihm das Be-
deutendste; er stützt sich auf Zahlenverhältnisse.
Die Psychologie des Cartesius ist sehr unvollständig, sei
es, daß die vorhergehenden Arbeiten ihm die Zeit dazu
raubten, oder sei es, daß er zu großen Schwierigkeiten,
das Verhältnis zwischen Körper imd Geist, zwischen Sein
und Denken mit seinem System in Einklang zu bringen
[, begegnete]. Was dieselbe ungefähr enthalten sollte, sagt
er in der Abhandlung De methodo: Postea descripseravi
animam ratio?iaIem natura ferimur ad judicandtun
ipsavi esse immortalem [letzter Absatz von V.].
Die Tiere sind nichts als seelenlose Maschinen, Automaten;
der Hauptgrund, warum sich ihnen eine Seele absprechen
läßt, liegt in dem Mangel der Sprache. Die Tiere würden
Zeichen für ihre Gedanken finden und sie verbinden, wenn
sie eine Seele hätten. Cartesius beschließt diese Betrach-
2 94 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIBTEN
tung, indem er sagt: Singulari etiam animadversione dignum
est horas numerare et tempora metiri\pe methodo V.,
Ende des vorletzten Abs.].
Alles, was wir in uns wahrnehmen und wovon wir sehen,
daß es auch ganz leblosen Körpern zukommen könne,
muß dem Körper allein beigelegt werden; dagegen muß
man der Seele alles das zuschreiben, was wir in uns wahr-
nehmen und was auf keine Weise einem Körper zukom-
men kann. (De passio7iibus^ art, 3?)
Der Seele kommt nur das Denken zu; wie weit jedoch
der cartesianische Begrifif vom Denken sich ausdehnt, ist
schon angegeben worden.
Die Funktionen unserer Seele (cogit(Hiones) sind von zweier-
lei Art: die einen sind actiones der Seele, die andern da-
gegen passiones sivc affectus. Zu den actiones gehören alle
Äußerungen unsres Willens, weil wir erfahren, daß sie
gradezu von unserer Seele herrühren und von ihr allein ab-
zuhängen scheinen; zu den passiones alle Vorstellungen
(perceptiones) und Erkenntnisse (cognitiones) ^ welche wir
in uns finden; denn es geschieht oft, daß unsere Seele
sie nicht so bildet, wie sie sind, und außerdem erhält
sie dieselben immer durch die von ihnen vorgestellten
Gegenstände.
Die actiones selbst sind wieder von zweierlei Art: die einen
sind Handlungen der Seele, welche sich auf die Seele
selbst beschränken, wie z. B., wenn wir Gott lieben oder
unser Denken auf ein nicht materielles Objekt richten
wollen; die andern dagegen beziehen sich nur auf unse-
ren Körper, z. B. wir wollen gehen, wodurch unsre Füße
sich bewegen.
Ebenso zerfallen 6.\t perceptionß- in zwei genera^ je nach-
dem sie die Seele oder den E orper zur Ursache haben.
Die ersteren sind die Vorstellungen unsrer Willensakte
und aller andern Bilder und Gedanken, welche von der
Seele herrühren. Denn gewiß, wir können nichts wollen,
ohne zugleich inne zu werden, daß wir es wollen. Und so
wie in bezug auf unsre Seele es eine Handlung ist, etwas
zu wollen, so ist es auch ein Leiden, in ihr diesen Willen
wahrzunehmen. Da jedoch im Grund genommen dieser
CARTESIUS 295
Willen und dieses Wahrnehmen eins und dasselbe sind,
so kann doch beides nach dem edleren Bestandteil eine
Tätigkeit genannt werden. (Das reine Denken scheint
also Cartesius unter die Willensakte zu setzen.) De pas-
sion.^ art. ig.
Cuni aniffia 7wstra sese applicat ad imaginaiidum aliqidd^
quod non est . . . quam ut passiones. (De passion.^ art. 20.)
Die perceptiones^ welche vom Körper herrühren, zerfallen
selbst wieder in zwei Klassen. Die einen hängen von den
Lebensgeistern, die andern von den Nerven ab.
Erstere bestehen in den Träumen der Schlafenden und
den Phantasien der Wachenden, wenn unsre Gedanken
unstet umherschweifen, ohne sich auf einen bestimmten
Gegenstand zu richten. Sie rühren daher, daß die auf ver-
schiedene Art bewegten Lebensgeister die Spuren ver-
schiedener, im Gehirn vorhergegangener Eindrücke finden
und zufällig dahin durch gewisse Poren eher als durch
andere ihren Lauf richten, Sie sind fast nur die umbra
et pictura der von den Nerven heniihienden pereeptmies.
Letztere werden teils auf die äußern Objekte, welche un-
sere Sinne berühren, teils auf unsern Körper und seine
Teile, teils endlich auf unsere Seele bezogen.
Perceptiones^ quas reperimus ad res extra nos positas . . .
ut anima illa sentiat. (De passion.^ art. 23^
Perceptiones^ quas reperi7?ms ad corpus nostrum . . . mm ut
in objectis, quae sunt extra nos. (De pass., art. 24. — Im
Tract. de homine klassifiziert er dolor imd calor anders.)
Ferceptiones, quae sohmimodo ad animam referuntur
ad animamipsam. [De pass., art. 2ß.'\ Diese letztren oder
eigentlichen passio?tes im engeren Sinne definiert nun
Cartesius noch besonders als perceptiones aut sensus aut
commotiones aniviae . . . corroborantur per aliquem motum
spirituum. (art. 2y.)
Er zählt dzx3Mi(Depass. 11.^ art. 6g) sechs primitive Lei-
denschaften auf, primitivae passimies, nämlich: admiratio,
amor, oditwi, cupiditas, laetitia^ moeror.
Eine species der admiratio ist d. Stupor; species d. amor
sind: complacentia^ benevolentia^ amicitia^ devotio; species d.
odium: horror^ aversio) species cupiditatis tot, quot sunt amo-
296 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
ris ai/f odii[vg\. 11., art. 88] — ex horrore nascitur cupiditas^
quae viilgo appellatiir fi/ga [II., art. 89]; ex henevolentia=^
cupiditas amoris etc.
An diese in der Abhandlung De passionibus entwickelte
Psychologie knüpft sich natürlich die Untersuchung über
das Verhältnis zwischen Seele und Körper: Ita, qiiia non
concipimus soliiis esse corporis. {Depass. /., art. 4)
Weil man die Leichen ohne Bewegung und ohne Wärme
sah, so glaubte man, das Scheiden der Seele sei die Ur-
sache jenes Mangels, und so glaubte man irrigerweise,
die Bewegung und die Wärme des Körpers hingen von
der Seele ab, während man hätte annehmen sollen, die
Seele verlasse den Körper nur, weil die Wärme fehle und
somit die zur Bewegung dienenden Organe des Körpers
sich auflösten. Der lebende Körper unterscheidet sich von
dem toten nicht anders wie eine ihr körperliches Prin-
cip noch enthaltende, gut gehende Maschine von einer
andern gebrochnen. (De passion. /., art. 6".)
In dem lebenden Körper nun ist das latente Centralfeuer
im Herzen das körperliche Princip aller Bewegung. {De
pass.I., art. 8,) Ja die Glieder des lebenden Körpers kön-
nen durch die Gegenstände der Sinne, ohne Vermittlung
der Seele, bewegt werden. [De pass. /., art. 16:) Ita iit
omnes motus . . . figtira suarmn rotiilariim.
'Ftxntv Depass. /., art. 13: Et praeterquam quod hi diversi
motus cerebri . . . et sie moveant niembra nostra. (Z.B. wenn
jemand im Scherz mit der Hand uns nach dem Auge i
fährt und wir das Auge dennoch schHeßen, obgleich wir
wissen, daß er keineswegs die Absicht hat, uns zu ver-
wunden.)
Äniina omnibiis corporis partibus iinita est conjunctim, nee
potest proprie dici eam esse in qua dam parte ejus . . . sed
solummodo ad tot am compagem organorum ipsius. (De pass. ^
art. 30.)
Nichtsdestoweniger gibt es doch einen Teil des Körpers,
worin die Seele ihre Funktionen mehr ausübt als in den
übrigen: /laec pars est certa quaedam glandula admodunv
parva . . . mutandis motibus Jiujus glandulae. [De pass. /,[
art. 31.]
CARTESIUS 297
Der Beweis für diese Hypothese liegt darin, daß alle Teile
unsres Gehirns und alle Organe der äußern Sinne doppelt
sind, während wir doch nur eine Vorstellung von jeder
Sache in dem nämlichen Augenblick haben. Es muß da-
her notwendigerweise einen Ort geben, in welchem z. B.
zwei Bilder des nämlichen Objekts, welche wir durch die
Augen erhalten, in eins verschmelzen können, ehe sie zur
Seele gelangen, weil sie in derselben sonst auch zwei Vor-
stellungen von zwei Objekten verursachen würden. Nun
ist endlich die Zirbeldrüse der einzige Punkt im mensch-
lichen Körper, worin eine solche Verschmelzung vor sich
gehen könnte. {De pass., art. 31, 32.)
Worin besteht aber eigentlich die Vereinigung der Seele
mit dem Körper, wie ist eine Reaktion zwischen beiden
möglich?
Cartesius hat sich nie deuthch darüber erklärt; er gibt
zwar, wie ich im folgenden zeigen werde, Hypothesen
über die Art und Weise, wie körperliche Eindrücke sich
zur Zirbeldrüse fortpflanzen, und wie [von der] Zirbeldrüse
aus wieder Reaktionen erfolgen, aber worin die Reaktion
zwischen Zirbeldrüse und Seele bestehe, darüber sagt er
nichts. Bei dem scharfen Unterschied, den er in den er-
sten Grundsätzen seines Systems zwischen Denken mid
Ausdehnung macht, mußte er sich hier in keiner geringen
Verlegenheit befinden; er mußte schon in dem, was er
über die Wechselwirkung zwischen Körper und Seele sagte,
fühlen, daß er aus der Konsequenz seines Systems sei.
Seine Schule faßte jedoch diese Frage schärfer im Sinne
seines Systems, und so entwickelte sich aus ihr notwen-
digerweise die Lehre von den gelegenheitlichen Ur-
sachen, nach welcher Seele und Leib zwar keinen un-
mittelbaren Einfluß aufeinander haben, sondern allein Gott
durch seinen Einfluß auf beide die Ursache davon ist, daß
die dem Willen der Seele angemeßnen [?] Bewegungen
im Körper und die den Bewegungen im Körper angemeß-
nen Empfindungen, Begierden und Leidenschaften in der
Seele entstehen.
{Tenneman/i^ Geschichte d. Phil., B. X. p. 259 sagt dar-
über: Diese Verbindung der Seele und des Körpers ver-
298 NATURWISSEN SCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
mittelst der Zirbeldrüse hatte Cartesius jedoch nur flüch-
tig hingestellt. In einigen seiner Briefe, vorzüglich dem
29. und 30., verbreitet er sich etwas ausführlicher dar-
über, jedoch auf eine Art, die uns die Verlegenheit dieses
Denkers, die Verbindung eines einfachen Wesens mit ei-
nem Körper zu erklären, deutlich genug offenbart. Der
Begriff der Schwere, meint er, sei eigentlich der einfache
Begriff, durch welchen die Seele ihre Vereinigung mit
dem Körper denke, und mit Unrecht werde sie als eine
Eigenschaft der Körper betrachtet. Oder der Gedanke sei
mit dem Körper vereinigt, wie die Schwere mit dem Kör-
per. Man müsse der Seele allerdings, um sie mit dem
Körper vereinigt zu denken, eine Materie und Ausdeh-
nung beilegen, die sich aber dadurch von der körperlichen
unterscheide, daß diese auf einen Ort eingeschränkt ist
und daher jede andre Ausdehnung eines Körpers aus-
schließt, jene aber nicht.)
Die Seele erhält körperliche Eindrücke oder sie fühlt 77011
quatenus est in singidis meinbris ^ sed tantum qiiatenus est in
eerehro \Princ. phil. IV. § 1^6], Denn verschiedene
Krankheiten, welche nur das Gehirn angreifen, heben alle
Sinnesempfindungen auf oder stören sie wenigstens; ja der
Schlaf, dessen Sitz doch nur im Gehirn ist, beraubt uns
täglich größtenteils der Fähigkeit zu empfinden, welche
wir dann dmxh das Wachen wieder erhalten. Ferner,
wenn das Gehirn verletzt ist und der Weg, auf welchem
die Nerven von den Teilen des Körpers die Eindrücke
zum Gehirn leiten, unterbrochen ist, so verliert sich auch
die Empfindung in diesen Teilen. Endlich gibt es Kranke,
welche noch Schmerzen in Teilen empfinden, welche gar
nicht mehr vorhanden sind, wie z. B. nach Amputationen.
{Frine. IV. § ig6)
Die Nerven nun sind die Leiter, welche die Eindrücke
des Körpers zum Gehirn leiten; die Verschiedenheit der
Empfindungen hängt teils von der Verschiedenheit der
Nerven selbst, teils von der Verschiedenheit der Be-
wegungen in den einzelnen Nerven selbst ab. [Princ. IV.
§ 190,)
Jeder Nerv besteht aus unendlich kleinen, aus Mark be-
CARTESIUS 299
stehenden Röhrchen, deren jedes einzelne mit seinem einen
Ende im Gehirn und seinem andern in dem Teil des Kör-
pers, dem es bestimmt ist, sich endigt, so daß jedes ein-
zelne eigentlich ein besonderer Nerv ist (Theorie der Pri-
mitivfasern!). Diese Röhrchen sind, mehrere zusammen,
von häutigen Scheiden umschlossen, so daß daraus große
Bündel entstehen, und diese Bündel selbst liegen dann
wieder in eine^- andern gemeinschaftlichen Scheide. Beide
Arten von Scheiden sind Fortsetzungen der Hirnhäute.
(Tract. de homine XVI.)
Werden nun diese Primitivfasern durch eine äußere Ur-
sache bewegt, so ziehen sie an dem Gehirn, wie eine
Schnur an einer Schelle, und öffnen dadurch auf der in-
nern Oberfläche des Gehirns eine ihrer Insertion ent-
sprechende Pore, so daß sie z. B. bei dem Sehen auf der
innern Oberfläche des Hirnes ein dem äußern Objekt ent-
sprechendes Bild hervorbringen. Dieses Bild selbst nun
wird durch die Bewegung der Lebensgeister so auf die
Zirbeldrüse übergetragen, indem /// motus, qiil qiwdlibet
punctum componit tmius hujus imagi?iis . . . ostendit ipsi
figurani hujus objecti. (De. pass. /., art. J5, De homine
LXVIII)
Dies Bild ist aber kein Bild im wörtlichen Sinn, es ist nur
der Eindruck, welchen die Lebensgeister in der Drüse
erhalten. {De hom. LXIX)
Inter has autem figuras non illae . . . sentiet objectum aliquod,
(De hom. LXX)
Diejenigen Eindrücke nun, welche sich auf äußre Gegen-
stände beziehen, erhalten wir durch die Organe der fünf
äußren Sinne, desTastens, Schmeckens, Riechens, Hörens
und Sehens.
Das Tasten gibt uns nicht nur die Empfindung des Glei-
chen und Ungleichen, des Glatten und Rauhen, sondern
auch die der Wärme und Kälte, des Trocknen und des
Feuchten, der Schwere etc.
Der Geschmack zerfällt in vier Hauptempfindungen, wel-
che der Wirkung der Salze, der Säuren, des süßen Wassers
und des Weingeistes entsprechen.
Was den Geruch anbelangt, so verursachen diejenigen
300 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
Teilchen, welche auf gleichförmige Weise wirken, eine
angenehme, diejenigen dagegen, welche zu schwer oder
zu stark wirken, eine unangenehme Empfindung.
Was seine Theorie vom Sehen anbelangt, so sind die
Untersuchungen über die Brechung der Lichtsirahlen im
Auge sehr verdienstvoll. i^De honi. XXVII.— LI.)
Eindrücke, welche sich auf den Körper selbst beziehen,
rühren von dem innern Sinn, dem appetitus naturalis her.
Siebestehen in dem Appetit insbesondere, Hunger, Durst,
und dem innerlichen Gemeingefühl.
Zu den Eindrücken des innern Sinnes rechnet Cartesius
dann noch in De homine und im IV. Buch der Principien
seine eigentlichen passiones. Princ. IV. § igO: Septem
tantiim praecipuas differentias in sensihtis notare licet
omnes animi commotiones^ sive pathemata^ et affectus^ t/t
laetitiae^ tristitiae, amoris^ odii et similium.
Hier ein interessantes Beispiel, wie Cartesius sich das
Verhältnis des Körpers und der Seele zu den passiones
dachte; es folgt im nämlichen Paragraph: Nam, exempli
causa^ sanguis rite temperatiis qui mentem afficit lae-
titiae aninialis sensu.
Atque alii inotus istorum nei'Viiloriim efficiunt alias effectus
idcirco dicuntiir appetitus [a. a. O.]. Vergleiche De
Jiomine LIV. — LV^I.\ Was die Lebensgeister anbelangt,
so können dieselben reichlicher oder spärlicher vorhanden
sein, aus feineren oder gröberen Teilen bestehen, mehr
oder weniger bewegt, und endlich mehr oder weniger
gleichartig sein, et per lias quattor differentias ea oinnis
ingeniorum et moruni diversitas, quae in nobis est^ sive omnes
inclinationes natui-ales . . . in hac machina repraesentantur.
Sind die Lebensgeister reichlicher als gewöhnhch vor-
handen, so verursachen sie die Bewegungen, welche sich
in uns als bonitas^ liberalitas et amor äußern. Sind" ihre
Bestandteile gröber und stärker, so folgt daraus confiden-
tia et audacia\ sind sie dagegen ihrer Gestalt, Größe und
Kraft nach gleichartig, so bewirken sie die constantia.
Aus dem Gegenteil dieser Eigenschaften folgen malignitas,
timiditas^ inconstantia, tarditas et inquietudo.
Vergleiche endlich: De passionihus II ^ art. g6—ll2.
CARTESIUS 301
Übrigens sieht Caitesius die einzelnen Äußerungen der
passiones als Reaktionen auf die von den äußern Sinnen
herrührenden Eindrücke an, wie das aus \De pass?^ I.,
art. 2>^ und II., art. 102 hervorgeht, so daß er in den
vorher angeführten Sätzen mehr von den allgemeinen
Stimmungen des Charakters spricht.
[ Schmerz (dolor) und körperliches Wohlbehagen (titiUatio)
rechnet Cartesius zuweilen zum Innern Sinn, in dem
Tract. de homine XXIX. dagegen betrachtet er sie als zwei
' Empfindungen, welche im allgemeinen den körperlichen
i Eindruck begleiten. Schmerz entsteht, wenn die Nerven-
fäden tanta vi trahantur^ ut rumpantiw vel a parte, cui
adhacrent, separentiir, ita ut structiira tothis niachinae aliquo
modo impei-fecta inde reddatur [a. a. O.]; titiUatio dagegen
wird erregt, wenn die Nervenfäden gezogen werden, ohne
daß sie reißen oder sich von den benachbarten Teilen
trennen.
So viel über die Verhältnisse, worin der Organismus sich
leidend verhält; nun zu den Reaktionen desselben, wo-
durch die Bewegungen des Körpers bedingt werden.
Jede Bewegung entsteht dadurch, daß in dem Augenblick,
wo durch die Reizung eines Nervenfadens auf der Innern
Oberfläche des Gehirns eine Pore sich öffnet, die Spiritus
animales aus einer entsprechenden Pore der Zirbeldrüse
heraus und in die Nerven fahren, wodurch dann die Mus-
keln aufgeblasen und die Bewegungen bewirkt werden.
[Frevost und Dumas ^ Zusammenziehung der Nerven!!)
Dioptrices IV. § 5-, De homine XIX. — XXVI. , ferner
XC, XCI.
Cartesius behauptet zugleich [r] ausdrücklich, gegen die
Meinungen mancher gleichzeitigen Ärzte, daß jeder Ner-
venfaden zugleich zur Bewegung und zur Empfindung
diene. (Dioptr. IV. § 4: Quum emm videreiit, non tan-
tum sensui . . . movendi vim in substantia interiore.)
Diese Reaktion geht nun teils so vor sich, daß sie ein
rein körperlicher Akt ist, wobei die Seele nur den Zu-
schauer abgibt (De pass. /., a?-t. 38: Ceterum eodem modo
. . . ahsque ulla ope animae)^ teils so, daß sie durch einen
Akt des Willens vermittelt wird, denn: actio ammae in
302 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
hoc co7isistit . . . eßectum^ qui huic voluntati respondeat
[a. a. O. art. 41, Schlußsatz].
So kann die Seele den Körper bewegen^ und die Auf-
merksamkeit der Sinne auf einen beliebigen Gegenstand
richten. Selbst die Einbildungskraft und das Gedächtnis
beruhen in einem Willensakt, indem derselbe die Lebens-
geister in den verschiednen Teilen des Gehirns umher-
treibt, bis sie Spuren, welche der gesuchte Gegenstand
darin zurückgelassen ^ wiedergefunden. De J?ass. /., arL
Den Beschluß dieser Untersuchung bildet eine allgemeine
Betrachtung über das Verhältnis der Seele, dem reinen
Denken und Wollen, zu dtnpassiones. De pass. /., art. 4'/:
Nobis non ?iisi una irrest anima ut fortior impediat
effectum alterius.
Die Seele kann zwar die Leidenschaften selbst nicht zer-
stören, denn dieselben beruhen in körperlichen Ursachen,
aber sie kann durch ihren Willen die Wirkungen der-
selben verhindern und so absolut Herr über sie werden.
(art. 45—47)
Um zu dieser Herrschaft zu gelangen, ist die Erkenntnis
der Wahrheit notwendig, damit sie den Willen auf den
rechten Weg leite, denn der Wille kann sonst auf das
Falsche verfallen, und Schmerz und Reue sind dann die
Folge, sobald der Irrtum entdeckt ist. [De pass. /.,
art, 49)
Die Betrachtungen über den Körper beschließt Cartesius
im Tractatu de hom. mit folgenden Worten: Deinde con-
siderari velini omnes alii ig?tes in cofporibus inanimatis.
[a. a. O. CVi:\
1 a. R.: Übrigens bringt die Seele in ihrem Körper keine neue Be-
wegung hervor, sondern sie verändert nur die Richtung der vor-
handnen, weil ja sonst die Quantität der Bewegung im allgemeinen
verändert würde, was nach Cartesius unmöglich ist.
CARTESIUS 303
[OBJECTIONES ET RESPONSIONES]
SCHON mit seinem ersten Auftreten war [das System
des Cartesius] halb vernichtet durch die ohjectio7ies\ es
ist sonderbar, daß ein so scharfer Denker wie Cartesius
sein System lieber nicht änderte, als es so gab, schon in
seinen Fetzen mit den Messern, die es zerschnitten hatten.
Die ersten Einwürfe rühren von einem Löwenschen Dok-
tor namens Caters her, die zweiten und sechsten von
verschiednen Theologen und Philosophen, die dritten von
Hobbes^ die vierten von Arnatdd, die fünften von Gasscfidi,
die siebenten vom Pater Dinet.
CATERS
bestreitet erst den Beweis für das Dasein Gottes, indem er
sagt, daß der objektive Inhalt einer Idee keine Ursache nötig
habe, daß er ganz außerhalb des Begriffes der Kausahtät liege,
welche sich nur auf Dinge beziehe, welche actu existierten.
Einen zweiten Einwurfs. S. 264, Anmerkung.
Dann fragt Caters, wie Cartesius den unendlichen Gott
klar und deutlich erkennen könne, wie es denn möglich
sei, eine Vorstellung vom Unendlichen zu haben.- — Car-
tesius antwortet: Itaque i7nprimis hie dicatn infinltum^ qua
infi7iitum est, nidlo modo eomprehendi, sed nihilo7tiinus tarnen
intelligi, quatenus seilicet elare et distincte intelligere ali-
quam rem talem esse, ut niilli plane in ea limites possint re-
periri, est cla7'e i?it elligere illam esse inß7iitam.
Der Beweis für das Dasein Gottes aus der ein notwendiges
Sein involvierenden Idee von Gott sei schon von St.
Thojuas geführt, und von ihm selbst widerlegt worden.
Voraus[gesetzt], daß die Idee von Gott Dasein involviere,
so folge daraus doch nicht, daß das Dasein Gottes in
rerum 7iatura actu etwas sei, sondern nur, daß der Begriff
des höchsten Wesens mit dem Begriff der Existenz un-
trennbar verbunden sei. — Cartesius antwortet: Es ist
bewiesen, daß alles, was wir klar unddeutlich als zum Wesen
einer Sache gehörig erkennen, von derselben auch mit
Wahrheit ausgesagt werden könne; nun haben wir klar
und deuthch erkannt, daß dem wahren und unveränder-
lichen Wesen Gottes Sein zukomme, also können wir mit
Wahrheit behaupten, daß Gott existiere.
304 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
Endlich behauptet Caters, der Beweis, daß wir nicht
durch uns selbst, sondern nur durch Gott sein müßten,
weil wir im ersteren Fall uns alle Vollkommenheiten ge-
geben hätten, sei schon von Sf. Thomas und Aristoteles
geführt worden . . .
Folgende sind die wesentlichsten Einwürfe, welche die
IL OBJECTIONES,
von Mersenna gesammelt, enthalten:
1. Wie will Cartesius aus dem Umstand, daß er denke,
das geistige Wesen der Seele beweisen? Woraus geht
hervor, daß der Körper nicht denken könne und daß das
Denken nicht ein Produkt einer körperlichen Bewegung
im Gehirn sei? — Cartesius beruft sich in seiner Antwort
auf das, was er in der sechsten Meditation über diesen
Gegenstand gesagt habe, s. S. 258, Anmerkung i.
2. Der Beweis für das Dasein Gottes aus der Idee, die
wir von ihm haben, ist [ungeführt], denn diese Idee findet
einen zureichenden Grund in uns selbst, weil wir sie
durch Steigerung der Idee irgendeines Wesens mittelst
Verbindung mehrerer Grade erzeugen können, so wie wir
auch eine Zahl durch Zählen ins Unendliche fortführen
können. Auch könne Cartesius nicht antworten, jede
Ursache müsse ebensoviel Vollkommenheit oder Realität
enthalten als ihre Wirkung, denn dies sei ja gerade mit
dieser Idee der Fall, sie sei ein bloßes ejis rationis und
als solches nicht edler als die Vernunft oder die Seele
selbst. — Die Antwort des Cartesius ist in der Darstellung
des Systems selbst bereits enthalten.
3. Wie will Cartesius zur klaren Erkenntnis des Daseins
und der atttibiita Gottes gelangen, da ja nach ihm die
Wahrheit aller Erkenntnis erst von dem Dasein Gottes
abhängt. Macht er hier nicht offenbar einen Zirkel?
Außerdem hängt die Überzeugung [?] von der Wahrheit
unsrer Erkenntnisse keines weges von dem Glauben an
Gott ab, denn der Atheist glaubt ebensogut als der Theist
an die Wahrheit der mathematischen Sätze. — Die Ant-
wort s. S. 268 und S. 269.
4. Was ist das Kriterium für eine wahre Erkenntnis? Was
beweist, daß wir nicht immer getäuscht werden etc. —
CARTESIUS 305
Antwort: Was so klar erkannt wird als das cogito, ergo
sinn, ist wahr usw.
5. Wird der Vernunftschluß angegriffen, welchen Carte-
sius dem Caters auf seinen Einwurf gegen den Beweis
für das Dasein Gottes aus der das Dasein involvierenden
Idee Gottes entgegenstellt. Zum Schluß wird dem Car-
tesius geraten, sein System in geometrischer Demonstra-
tion (synthetischer Methode), in Definitionen, Postulaten
und Axiomen zu geben, damit der Leser es so mit einem
Bhck überschauen könnte. — In der Resp. ad IL obj. er-
klärt sich Cartesius, warum er nicht die synthetische
Methode gewählt habe. Die analytische Methode, sagt
er, weise den Weg nach, wie ein System methodisch und
a pj'iori entstanden sei, so daß der Leser, wenn er nur
mit Aufmerksamkeit folgen wolle, das System sich so zu
eigen mache, als hätte er es selbst erfunden. Dagegen
habe sie freilich nichts, wodurch sie einen unaufmerk-
samen oder störrigen Leser zum Glauben zu zwingen
vermöchte. Die synthetische Methode dagegen schlage
den entgegengesetzten Weg ein und zeige die Entwick-
lung des Systems gleichsam a posteriori, obgleich in ihr
das System viel eigentlicher a priori begründet werde als
in der vorhergehenden; durch die lange Kette ihrer De-
finitionen, Postulate, Axiome, Iheorien und Probleme
gebe sie nichts, was nicht schon im Vorhergehenden
bewiesen sei und nicht als ein Schluß desselben er-
schiene, und so zwinge sie auch den hartnäckigsten
Leser zum Beifall. Dagegen sei sie nicht so passend
für die Philosophie, wo die ersten Grundbegriffe mehr
Schwierigkeit haben und mit sinnlichen Vorstellungen
und Vorurteilen zu streiten scheinen, als für die Ma-
thematik, wo die Grundbegriffe Evidenz haben; dann
sei sie auch nachteilig, weil sie nicht den Weg nach-
weise, wie man zu seinem System gelangt sei. Nichts-
destoweniger fügt Cartesius diesen Repliken noch die
Grundzüge seines Systems in synthetischer Ordnung,
unter dem Titel Rationes Dei existentiam et miimac a
corpore distinctioiicni prohantes, viore Geornetrico dispositae
hinzu.
BÜCHNER 20.
3o6 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
m. OBJECTIOXES. HOBBES.
Die Richtigkeit des cogito, a-go suvi wird zugegeben, aber
nur insofern, als es keinen Akt gibt ohne Subjekt oder
Bewußtsein; daraus folge aber noch nicht ego simi cogitaiis^
ergo sum cogitatio. Ebensogut könnte man sagen sum
ambulans, ergo sum ambulatio. Cartesius hätte hier offen-
bar das Subjekt nicht von seinen facultatibus et actibus
getrennt. Ferner könne ja die res cogitans etwas Körper-
liches sein, denn (ohne alle Logik im grellsten Sinn sei-
nes Systems!) i'//<^/i?^/'^ enim omniuinactuuni videiiturintelUgi
solu??i?nodo sab i'atione corporea sive sub ratio ne materiac.
— Cartesius weist ihn in seiner Antwort ganz gut zu-
recht.
Worin besteht der Unterschied zwischen Imaginm-i et
mente concipere": Wie, wenn nun Denken nichts andres
ist als das Verknüpfen zweier Worte durch das Wörtchen
est} Wir erführen dann durch die Vernunft nichts über
die Natur der Dinge, sondern nur über die Benennungen
derselben, je nachdem wir diese Benennungen willkürlich
auf die eine oder die andre Weise verknüpfen. Ferner
hängt dann das Denken von Namen ab, die Namen von
der Einbildungskraft und die Einbildmigskraft von der
Bewegung der körperlichen Organe, et sie mens nihil aliud
erit praeter quam motus in partibus quibusdam eorporis or-
ganiei. (Charakteristisch für das System von Hobbes!)
— Cartesius antwortet, den Unterschied zwischen Ein-
bilden und reinem Denken hätte er bereits gegeben; daß
aber das Denken in einer bloßen Verknüpfung von Namen
bestehen sollte, begriffe er kaum, wie das jemand einfallen
könnte. Denn ein Deutscher und ein Franzose könnten
über die nämlichen Dinge räsonieren, ob sie sich gleich
ganz verschiedner Namen derselben bedienten.
Die Idee von Gott, welche wir [in] uns finden, beweist
keineswegs das Dasein Gottes, denn sie kann leicht durch
die Beobachtung teils unserer selbst, teils der äußren
Gegenstände entstanden sein. So kann die Unendlich-
keit Gottes aus dem Innewerden unserer eignen Schran-
ken entstanden sein, denn sagen ''Gott ist unendlich"
heißt nichts anders [als]: Gott ist eins von den Dingen,
CARTESIUS 307
deren Grenzen wir nicht begreifen. Der Begriff" der In-
dependenz Gottes kann aus den Erinnerungen an meine,
zu verschiednen Zeiten entstehenden und somit ab-
hängigen Ideen gebildet worden sein. Sagen, Gott sei in-
dependent, heißt nichts andres als: Gott sei eins von den
Dingen, deren Ursprung wir nicht begreifen.
Ebenso kann die Idee der Allmacht aus der Erinnerung
an geschehne Handlungen herrühren, indem wir schließen:
sie fecit^ ergo sie potuit faeere: ergo existens idem sie poterit
iterum faeere: Iioe est, habet potentiam faeiciidi. Außerdem,
was soll der Begriff" Macht in der Idee von Gott, da der-
selbe sich ja auf zukünftige, noch nicht vorhandne Dinge
bezieht.- Der Begriff" des Schöpfers und der Schöpfung
läßt [sich] auch aus allen Dingen herleiten, die wir haben
entstehen sehen. Außerdem, wenn man auch bewiesen
hätte, daß es ein unendliches, independentes, allmäch-
tiges Wesen gebe, so folgt doch nicht daraus, daß das-
selbe auch der Schöpfer sei . . .
Will man nun endhch behaupten, die Idee Gottes sei uns
angeboren, so mag man auch erklären, ob die Seelen
im tiefen Schlaf denken: wo nicht, so haben sie zu der
Zeit keine Ideen; deshalb gibt es keine angebornen Ideen,
denn was uns angeboren ist, ist immer vorhanden.
Cartesius antwortet: Nihil eoriim^ quae Deo tribtu?nus . . .
[Resp. zur Obj. X. des Hobbes, erster Abs.]. Aus dem
Begriff der Allmacht folgt unmittelbar, daß auch die Welt
von Gott geschaffen sein müsse; denn es widerspreche
ihr, wenn außer Gott noch etwas existierte, das nicht von
ihm geschaffen sei. — Denique, eum dicimus ideam aliquani
nobis esse innatam . . . [a.a.O., letzter xA-bsatz],
Gegen den Irrtum als nichts Positives, sondern als einen
bloßen Mangel wirft Hobbes ein: Die Unwissenheit frei-
lich ist ein bloßer Mangel, und wir haben keine positive
faeultas für dieselbe nötig; aber mit dem Irrtum verhält
es sich nicht ebenso; denn die Steine und des Unbeseelte
überhaupt können nicht irren, weil sie keine Denkkraft
und keine Einbildungskraft besitzen: daraus folgt, daß
zu dem Irren Denkkraft oder wenigstens Einbildungs-
kraft nötig sei, welche beide zwei positive Fähigkeiten
3o8 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
sind. — Die Antwort lautet: Um irren zu können, ist frei-
lich die Denkkraft notwendig, aber der Irrtum selbst ist
nur ein Mangel derselben, und dieser Mangel ist nichts
Reelles, so wenig als die Blindheit.
Gott kann uns auch zu unserm Besten täuschen, wie ein
Arzt seinen Kranken, wie ein Vater seinen Sohn.— Car-
tesius antwortet nichts Neues.
Im ganzen hat Hobbes in seinen Einwürfen, [deren] i6
an der Zahl sind, wenig Scharfsinn gezeigt; ich habe die
unbedeutenden übergangen, in denen er von Cartesius
meist gut abgefertigt ist worden.
IV. OBJECTIONES. ARNAULD.
De natura mentis humanae.
Der Unterschied zwischen Körper und Seele wird eben-
falls angegriffen; denn daß die Seele nur geistig sei, wird
nicht dadurch bewiesen, daß sie nicht ausgedehnt, beweg-
lich, ohne Gestalt sei etc. Denn niemand wird behaupten,
daß jeder Körper eine Seele sei. Könnte der Körper
sich nicht zur Seele verhalten wie eine species zu ihrem
geniiS'. denn ein gemis kann ohne seine species begriffen
werden, indem man bei ihm alles wegdenkt, was der
species besonders eigen ist — , und so kann auch wohl die
Seele ohne Körper begriffen werden, obgleich sie ein
materielles Ding ist. Vielleicht geht man bei dieser
Trennung nicht anders zu Werk als die Mathematiker,
welche eine nur in die Länge ausgedehnte Linie ohne
Breite und eine Fläche als Ausdehnung in die Länge
und Breite ohne Tiefe annehmen, ob es gleich in der
Wirklichkeit keine Länge ohne Breite und keine Breite
ohne Tiefe gibt — ; so daß die Seele ein materielles Ding
sei, welches jedoch eine eigentümliche Denkkraft enthält,
die man dann durch Abstraktion von ihm trennen kann.
Auch spricht für die Materialität der Seele der Umstand,
daß sie an körperliche Organe geknüpft ist, daß sie in
den Kindern zu schlafen und in den Wahnsinnigen ver-
nichtet zu sein scheint. Endlich sprechen gegen die Un-
sterblichkeit der Seele die Seelen der Tiere, welche die
meisten Philosophen von den Körpern unterschieden und
doch ihre Vernichtung annähmen. Cartesius spräche
CARTESIUS 309
freilich den Tieren keine Seele zu, doch möge er erklären,
wie es käme, daß z. B, ein Lamm, in dessen Auge das
Bild des Wolfes fiele, denselben flöhe.
Dann wird auch der Vorwurf wiederholt, daß Cartesius
die reelle Gewißheit aller Erkenntnis aus der Eigenschaft
Gottes herleite, während er doch, noch ehe er zu diesem
Beweise gelangt sei, eine klare Erkenntnis der Seele haben
wollte.
Außer seinen gewöhnlichen Antworten auf diese Einwürfe
sagt Cartesius noch, daß, wenn das ge/n/s auch ohne sj>c-
cies gedacht werden könnte, man die species dagegen nicht
denken könne, ohne zugleich die Merkmale des genus zu
denken. Nun kann aber der Körper ganz ohne die Merk-
male der Seele gedacht werden.
Was den Einwurf mit den Kindern und Wahnsinnigen
anbelangt, so beweise er bloß, daß die Seele durch die
körperhchen Organe gestört, aber keineswegs, daß sie
durch dieselben hervorgebracht werde.
Die letzte Frage beantwortet er sehr unbefriedigend: es
gäbe in uns Akte, welche ohne Hülfe der Seele vor sich
gingen, warum sollte nun das nämliche nicht immer in
den Tieren der Fall sein. Wenn wir von einer Höhe
herabfallen, so strecken wir, ohne ein Räsonnement der
Vernunft, unwillkürhch die Hände aus, um unser Haupt
zu decken; warum sollte nun nicht etwas Ähnliches bei
dem Lamm vor sich gehen, wenn es den Wolf flieht?
De Dco.
Das positive a se Sein Gottes, wie von einer Ursache,
wird abermals und ausführlicher angegriffen. Et sane^
cum effectus omnis a causa dcpcndcat si autemjam
habet, ut quid sibi illud daret? [a. a. O., 17. — 21. Abs.].
Dann wird dem Cartesius abermals der Zirkel vorgeworfen,
den er macht, indem er die Gewißheit aller Erkenntnis
von dem Dasein Gottes ableitet und doch zuvor dieses
Dasein selbst beweisen muß.
Endlich behaupte Cartesius, daß es in der Seele, quateinis
est res cogitans, nichts geben könne, dessen wir uns nicht
bewußt würden. Dies sei aber offenbar falsch, unter
tausend Beispielen nur eins: die Seele des Kindes habe
3IO NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
schon im Mutterleib die Fähigkeit zu denken^ ohne sich
jedoch derselben bewußt zu werden.
Cartesius wiederholt in seiner iVntwort teils das früher
Gesagte, teils weicht er aus und sagt endlich, die causa
efficiens in dem a se sei mehr bildlich zu nehmen
Unter der causa efficiens sei hier eigentlich die causa for-
malis Aristotelis zu verstehen
Der letzte Einwiurf wird dagegen direkt beantwortet:
Quod auteni nihil in mente, quatenus est res cogitans, esse
possit si ejus conscii fieri nequeamus \Resp. ad par-
tem '■^De Deo^\ vorl. und letzter Abs.],
VI. OBJECTIONES.
1 . Weil wir denken, so ist es doch nicht so gewiß, daß
wir sind. Denn um gewiß zu sein, daß man denke, muß
man erst wissen, was Denken und Dasein ist; und da du
noch nicht weißt, was diese beiden sind, wie willst du
dein Denken und dein Dasein erkennen? Wenn du also
sagst ich denke^ so weißt du nicht, was du sagst, und wenn
du hinzufügst also bin ich^ so weißt du wieder nicht, was
du sagst, denn du weißt ja nicht einmal, daß du etwas
sagst oder etwas denkst . . .
Cartesius antwortet: Non ad hoc requi/'itur scientia reflexa
. . . nonpossimus lamen revera non habere \Resp. ad VI, obj.,
im I. Abs.].
2. und 3. werden die Einwürfe gegen die Immaterialität
der Seele wiederholt und das Argument mit den Tier-
seelen wieder vorgebracht. Denn in den Tieren ist alles
Materie: nun zeigen aber die Tiere eine gewisse Denk-
und Urteilskraft, so daß ihre Seele von der des Menschen
nur dem Grade, aber nicht dem Wesen nach verschieden
zu sein scheint, also muß die Seele des Menschen eben-
falls materiell sein. Auch nehmen viele an, die Seele
entstände bei der Zeugung (ex traduce), sie müsse also
materiell sein.
Die Antwort auf das erstere enthält nichts Neues, in der
auf letzteres wird behauptet, daß die Seele aus der Seele
der Eltern ebensogut entstehen könnte als der Körper
aus dem Körper.
4. und 5. Die Gewißheit des mathematischen Wissens
CARTESIUS 311
der Atheisten wird behauptet und aus der Bibel und den
Kirchenvätern zu beweisen gesucht, daß Gott uns täuschen
könne.
Antwort nichts Neues.
6. Indem Cartesius leugnet, daß die Freiheit des Willens
in der absoluten Indifierenz bestehe, hebt er die Freiheit
des göttlichen Willens auf . . . Denn was dem mensch-
lichen Willen nicht zukommt, kann auch dem göttlichen
nicht zukommen, da das Wesen der Dinge in allem sich
gleich sein muß.
Cartesius antwortet, in Gott freilich sei die absolute In-
differenz der Beweis der Allmacht, und Gott habe alles
nicht so und nicht anders gemacht, weil er es so für gut
gehalten, sondern es sei alles gut, weil Gott es so ge-
macht habe. Bei dem Menschen aber verhalte es sich
anders; denn da seine Natur durch Gott zum Guten und
Wahren schon bestimmt sei, so sei auch sein Wille um
so freier, je mehr er das Gute und Wahre umfasse, und
er sei nur dann indifferent, wenn er das Gute und Böse
nicht zu unterscheiden vermöchte. Außerdem könne das
Wesen keines Dinges Gott und der Kreatur zugleich zu-
kommen.
7. Wird eine deutHche Erklärung dessen, was Cartesius
unter der Oberfläche verstehe, verlangt, da nach ihm sie
weder ein Teil des umgebenden noch des umgebenen
Körpers sein solle.
Cartesius antwortet: Et idcirco ad vitandam amhigiiitaton
vcl tur?'is [in der Resp. ad y\
Dann leugne auch Cartesius die accidentia realia^ die, wie
die Theologie lehre, doch w altaris Sacrame7!fo worhsinden
seien.
Cartesius antwortet: oinnino rcpngnat dari accidentia rcalia
substautia est diccndum [a. a. O.].
8. Nach Cartesius sei den Sinnen zu mißtrauen, und die
Gewißheit der Vernunft sei weit sichrer als die der Sinne;
wie aber, wenn keine Gewißheit der Erkenntnis ohne gut
organisierte Sinne möglich ist, und wenn der Irrtum eines
Sinnes nur durch einen andern Sinn gehoben werden
kann, wie z. B., wenn wir einen Stock im Wasser schein-
312 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
bar gebrochen sehen, uns aber durch das Tasten über-
zeugen, daß derselbe grad sei.
Cartesius gibt in seiner Antwort eine Theorie, wie die
äußern Gegenstände zum Denken vermittelt werden. Er
nimmt drei Grade an: im ersten wird das körperliche
Organ unmittelbar durch die äußeren Gegenstände affiziert;
im zweiten teilt sich die körperliche Affektion der Seele
[mit], und im dritten endlich urteilt die Seele über diese
Affektion und die dieselbe veranlassenden äußeren Gegen-
stände; und so wird uns die Größe, die Entfernung, die
Figur derselben erst durch ein Urteil klar. Doch schließt
er diese Betrachtung sehr unbefriedigend, indem er sagt:
Ex quibiis patet^ cum dicimiis intellectus certitudinem sen-
suum certitiidine lange esse majorem . . . qiiod absqiie dubio
est verum [in der Resp. g\. In dem Beispiel mit dem Stock
werde aber keineswegs ein Sinn durch den andern be-
lehrt, sondern dies gehe durch einen Akt unsrer Urteils-
kraft vor, der sich darin äußert, daß wir grade dem einen
Sinn eher glauben als dem andern.
V. OBJECTIONES. GASSENDI.
Gassendi wirft dem Cartesius erst vor, daß er Unmög-
liches fordre, indem er das Ablegen aller Irrtümer ver-
lange; die Methode, an allem zu zweifeln, könne dem
Auffinden der Wahrheit nicht nützlich sein, sie könne nur
dazu dienen, daß man neue und schädlichere Vorurteile
annähme als die abgelegten.
/;/ meditatiouem IL:
1 . Es war nicht nötig, mit dem cogito^ ergo sunt anzufangen,
jeder andre mit Bewußtsein verbundne Akt wäre ebenso
tauglich dazu gewesen.
Cartesius antwortet, man sei keines andern körperlichen
Aktes als des Denkens mit metaphysischer Sicherheit ge-
wiß. Man kann nur insofern sagen ego ambulo, ergo sum^
als das Bewußtsein des ambulandi ein Akt des Denkens
sei, so daß man daraus wohl [auf] eine Seele schließen
könne, die glaubt, ich ginge spazieren, aber nicht auf
einen Körper, der wirklich spazieren ginge.
2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. werden ausführlich die bisher
erwähnten Einwürfe gegen den Beweis für die Immate-
CARTESIUS 313
rialität der Seele vorgebracht, besonders ist die Frage
hinsichtlich der Tierseelen, von denen Gassendi nach-
weist, daß in ihnen, nur in einem geringren Grade, das
Nämliche vorginge als im Menschen, in § 7 sehr scharf-
sinnig abgehandelt; Cartesius beweise wohl, daß er denke,
das leugne aber niemand; daß es ein denkendes Wesen
gebe, das leugne man ebensowenig; aber was dies Wesen
eigentlich sei, darüber habe er nicht den geringsten Auf-
schluß gegeben. Die Angaben von Eigenschaften und Attri-
buten geben uns noch keinen Aufschluß über das Grund -
wesen einer Sache selbst oder über die Substanz; wir finden
nur, daß ein Etwas, das wir nicht kennen, den wahrgenom-
menen Accidenzien und Veränderungen zugrunde liege.
Dieses Etwas sei uns aber immer verborgen, und nur fast
durch eine Hypothese nehmen wir an, daß etwas übrig [?]
sein müsse, an dem die Eigenschaften sich befänden.
Cartesius ist grob in seiner Antwort, die sehr unbefriedi-
gend ausgefallen ist.
/;/ nieditationem III.:
1. Der Grundsatz alles ^ was wir klar und deutlich er-
kennen^ ist luaJir^ indem er von der Gewißheit des cogito^
ergo sunt hergeleitet wird, ist nicht so bestimmt und zu-
verlässig. Denn wie vieles glaubte ich nicht schon klar
und deutlich zu erkennen und mußte mich später von
meiner Täuschung überzeugen, und wie viel Entgegenge-
setztes nehmen nicht verschiedne Menschen an, von de-
nen jeder von der Klarheit und der Gewißheit seiner Er-
kenntnis überzeugt ist.^ Wir haben bis jetzt kein Kriterium,
welches uns einen Aufschluß über die Dinge gäbe, wie
sie an und für sich sind.
2 . Was die von Cartesius aufgestellte Einteilung der Ideen
in adventitias^ factltias und innatas (erworbne, gemachte
und angeborne) anbelangt, so ist erstens der Unterschied
zwischen den erworbnen und gemachten nichtig. Denn
die Seele hat nicht nur das Vermögen, Ideen von den
durch die Sinne wahrgenommenen Dingen aufzunehmen,
sondern sie auch auf mannigfaltige Weise zu verbinden,
zu trennen, zu verengern, zu erweitern und zu vergleichen;
also sind beide Arten von Ideen nicht verschieden.
314 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
Was aber die angebornen Ideen anbelangt, so scheinen
dieselben keineswegs solche, sondern erworbne Ideen zu
sein. Cartesius sage: habeo a mea natwa,, quod mtelligam^
quid Sit res. Damit werde wohl nicht die Idee einer ein-
zelnen Sache verstanden, denn die Sonne, ein Stein und
überhaupt alles Besondre seien Dinge, deren Ideen Car-
tesius gewiß nicht als angebome betrachte. Es handle
sich daher um die Idee einer Sache (des Dinges) über-
haupt . . . Wie ist aber diese Idee in dem Verstände mög-
lich, ohne die Vorstellung von einzelnen Dingen und Ge-
schlechtern, aus welchen die Idee durch Abstraktion einen
Begriff zustande bringt, der keinem Dinge besonders, son-
dern allen zugleich zukommt? Wahrhaftig, ist die Idee
des Dinges überhaupt angeboren, so ist es auch die eines
Tiers, einer Pflanze, eines Steins und überhaupt aller ein-
zelnen Dinge.
Ferner sage Cartesius: se habcir a sua natiira^ ut intelligat^
quid sit veritas. Was ist aber die Wahrheit anders als die
Übereinstimmung des Urteils mit dem Objekt des Urteils;
die Wahrheit ist also ein Verhältnis und nichts Ver-
schiednes von der Idee der Sache, insofern sie mit der
Sache übereinstimmt oder dieselbe vorstellt, wie sie ist,
so daß, wenn die Idee der Sache nicht angeboren, son-
dern erworben ist, auch die Wahrheit nicht angeboren
sein kann, sondern erworben sein muß. Und da dies nun
von jeder Wahrheit im besondern gilt, so muß es auch
von der Wahrheit im allgemeinen gelten, deren allgemeine
Idee aus den besondern gebildet wird.
Cartesius antwortet: wolle Gassendi den Unterschied zwi-
schen erworbnen und gemachten Ideen aufheben, so müsse
er auch leugnen, daß die Statuen des Praxiteles das Werk
desselben gewesen seien, weil der Marmor, woraus er sie
bildete, nicht von ihm herrührte; das Wesen der ge-
machten Ideen bestehe ja grade in der Verknüpfung von
verschiednen Stoffen, Auf den zweiten Einwurf in betreff
der angebornen Ideen ist die Antwort dagegen erbarm -
hch.
3. Unbedeutend.
4. Die Behauptung wird bestritten, daß die Idee einer
CARTESIUS 315
Substanz mehr objektive Realität als die eines Accidenz
und die der Gottheit als unendlicher Substanz mehr Re-
alität als die einer endlichen Substanz in sich enthalte.
Denn es gibt nur eine sehr verwirrte Idee von einer Sub-
stanz, da alle Realität, die sie hat, sie nur von den Acci-
denzien erhält, welche wir an ihr bemerken. Ferner, wenn
wir Gott Vollkommenheit zuschreiben, so nehmen wir
dieselbe gewöhnlich von Dingen her, welche wir an uns
selbst bewundern, wie z. B. Weisheit, Macht, Güte etc.,
und die wir, so weit als möglich erweitert, auf Gott über-
tragen. Deshalb hat die Idee Gottes nicht mehr objektive
Realität als die endlichen Dinge, durch deren Erweite-
rung sie zustande gekommen ist. Außerdem kann der
menschliche Geist das Unendliche nicht fassen und hat
daher eigentlich gar keine das Unendliche vorstellende
Idee, die nur eine Negation des Endlichen ist. Wer da-
her von einem Unendlichen spricht, sagt von einem We-
sen, das er nicht begreift, etwas aus, das er nicht ver-
steht. Daher ist es sinnreicher, wenn wir nach der Ana-
logie der Dinge eine zu unserm Gebrauch dienliche, den
Verstand nicht übersteigende Idee uns bilden, welche
keine andre Realität enthält als solche, die wir in andern
Dingen und auf Veranlassung andrer Dinge wahrgenom-
men haben.
Die Antwort des Cartesius enthält nichts Neues, als viel-
leicht die Äußenmg, daß das Unendliche keineswegs die
Negation des Endlichen sei, sondern umgekehrt das End-
liche sei die Negation des Unendlichen. Man könne wis-
sen, daß Gott unendlich sei, ohne deshalb das Unendliche
zu begreifen, so wie man einen Berg berühren könne,
ohne daß man deswegen imstande sei, ihn mit dem Arme
zu umspannen.
5. Wird geleugnet, daß in der Ursache der Idee ebenso-
viel formale Realität enthalten sein müsse, als sich ob-
jektive Realität in der Idee finde, denn es sei keinesweges
gegründet, daß in der Wirkung nichts sein könne, was
sich nicht in der Ursache finde. So z. B. könne mein Bild
eine objektive Idee von mir ebensogut zu Weg bringen
als ich selbst, während in mir doch offenbar mehr formale
31 6 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
Realität sei als in dem Bild, so daß in dem ersten Fall
die Idee mehr objektive Realität enthält als das Bild for-
male.
Cartesius läßt sich diesmal auf keine Widerlegung ein.
6. Wie will Cartesius sich selbst erkennen, da ja nichts
auf sich selbst wirkt: da die Hand sich nicht selbst schlägt,
der Fuß sich nicht selbst tritt, das Auge sich nicht selbst
sieht? Wie will man sich selbst zum Spiegel werden und
so zugleich Spiegel sein und sich zugleich besehen?
Cartesius antwortet: non est oculus, qiii se videt in sc ipso,
sed mens est, qiiae sola et speciduvi et oculiim et sc ipsam
qiioque aguoscit.
Ferner behauptet Cartesius, er fände in seiner Natur einen
hinreichenden Grund, um davon die Idee von den körper-
lichen Dingen herzuleiten. Da er sich aber ja ursprüng-
lich nur als etwas Geistiges erkenne und nicht wisse, ob
es außer ihm etwas gäbe, wie verfiele er auf den Begriff
des Körperlichen?
Die Antwort des Cartesius s. S. 261 f.
7. und 8. Werden die Einwürfe gegen den aus der Idee
von Gott hergeleiteten Beweis wiederholt; sie suchen dar-
zutun, daß keinesweges Gott uns diese Idee gegeben haben
müsse und daß wir sie ganz leicht anderswoher haben
könnten, ohne jedoch etwas Bedeutendes oder Neues zu
enthalten.
9. und IG. Werden diese Einwürfe fortgesetzt. Es sei
keineswegs nötig, daß wir jeden Augenblick neu geschaffen
und so erhalten würden, denn es gibt Wirkungen, welche
fortwirken, wenn auch die Ursachen, deren Resultat sie
sind, längst zerstört und vernichtet sind. Um fortzube-
stehen, handle es sich nur, daß es keine Ursache gibt,
welche uns zerstören kann; aber es sei keine nötig, welche
uns beständig neu erschaffe. Wir könnten auch von unsern
Eltern herrühren, diese von den ihrigen und so fort, und
ein solcher progfrssiis in infinitum sei keineswegs unge-
reimt etc.
Rührte die Idee Gottes wirklich von Gott her, so würden
alle Menschen Gott auf die nämliche Weise denken, wäh-
rend doch das Gegenteil stattfindet.
CARTESIUS 317
Cartesius fertigt ihn ganz gut ab; auf den letzten Einwurf
antwortet er: idem est ac si mirareris^ qtiod, cum omnes
iiorint idcam triangidi^ 11011 tarnen omnes aeqiie multa in ipsa
animadvertant . . .
In mcditationem IV.:
Indem Cartesius zugesteht, daß Gott uns so hätte schaffen
können, daß wir nie irren, gesteht er auch eine gewisse
Unvollkommenheit in Gott zu; denn entweder wußte er
uns nicht vollkommner zu machen, oder er konnte, oder
er wollte es nicht; in den beiden ersten Fällen ist er
ohnehin unvollkommen, und im letzten ist er es, weil er
das Unvollkommne dem Vollkommnen vorzog.
Dann wird Cartesius getadelt, daß er in der Philosophie
den Gebrauch der Endursachen verwerfe, und er gefragt:
was für eine Idee von Gott er dann haben würde, wenn
er blind und taub zur Welt gekommen wärer
Auf das erste antwortet Cartesius kurz und ausweichend,
auf das letzte entgegnet er: er zweifle nicht, daß er in
diesem Zustande viel hellere und reinere Ideen von Gott
haben würde als so; denn die Sinne störten ihn nur und
förderten ihn nicht.
2. Die Sophistik, womit Cartesius den Irrtum im Ver-
hältnis zu Gott, sowie das Böse überhaupt, zu erklären
sucht, wird aufgedeckt. Cartesius sage: die unvollkommne
Kreatur erscheine als vollkommen, wenn sie als ein Teil
des Universums, und nur dann als unvollkommen, wenn
sie als ein Ganzes für sich betrachtet würde. Gassendi
antwortet, das beweise deswegen nicht, daß das Univer-
sum nicht vollkommen wäre, wenn alle einzelne Teile
Vollkommenheit hätten. Wenn Cartesius aber antworte:
es sei grade vollkommner, wenn einige Teile unvollkom-
men, als wenn alle durch ihre Vollkommenheit sich ähn-
lich wären, so heiße [r] das: ein Staat sei besser, wenn
einige Bürger schlecht, als wenn alle gut wären, denn
ersteres biete mehr Abwechslung dar.
Wenn Cartesius behaupte, der Irrtum sei nur ein Mangel,
so gestehe er damit auch einen Mangel in dem von Gott
uns verliehnen Denkvermögen zu etc.
Die Antwort des Cartesius ist erbärmlich.
3i8 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
3, Die Annahme, daß die Ursache des Irrtums nur in dem
Willen liege, der mehr umfasse als das Denken und gleich-
sam unendlich sei, ist falsch. Denn das Denken erstreckt
sich wenigstens ebensoweit und wohl noch weiter als der
Wille. Denn der Wille urteilt über nichts als Gegenstände,
welche das Denken selbst wahrnimmt, und außerdem stel-
len wir uns vieles dunkel vor, bei dem wir schwankend
bleiben und kein Urteil darüber fällen, so daß der Wille
gar nichts damit zu tun hat. Voluntas et intellectus aeque
late patent^ si intellectus aliquid per cipit non bene^ voluntas
judicat non bene. Der Irrtum liegt also nicht in dem un-
rechten Gebrauch des Willens, also nicht in der dissonantia
judicii a re judicata^ sondern darin, daß der intellectus ein
Ding sich anders vorstellt, als es wirklich ist.
Cartesius wiederholt in seiner Antwort das in der Medi-
tation Gesagte.
In meditationem V.:
Der Unterschied, den Cartesius zwischen der essentia und
existentia eines Dinges macht, wird angegriffen. Cartesius
sagt nämlich, er fände in sich die Ideen von Dingen,
welche von ihm nicht willkürlich gemacht, sondern hin-
sichtlich ihrer Natur nach einem unabänderlichen Gesetz
gedacht würden, und deren Essenz nicht geleugnet werden
könne, obgleich sie keine Existenz hätten; wenn man sich
z. B. ein Dreieck denke, so existiere vielleicht eine solche
Figur nirgends als in unserm Denken, dennoch habe sie
eine bestimmte, unveränderliche, ewige Essenz, die von
unserer nicht abhänge und von der man doch wahrhaftig
nicht behaupten könne, daß sie nichts sei. Gassendi wirft
nun [ein], behaupten, ein Ding habe eine ev/ige Essenz,
zu der nur die Existenz hinzukomme, hieße behaupten,
Gott verhalte sich zu den Dingen, wie ein Schuster zu
einem Menschen, dem er Schuhe mache.
Die Essenz der Dinge selbst haben sei nichts als das durch
Abstraktion erhaltene wiiversale^ und zu dieser Abstrak-
tion gelangten wir nur auf dem Wege der Erfahrung.
Cartesius antwortet auf das erste, er hätte nie behauptet,
daß die Essenzen der Dinge von Gott unabhängig seien,
sondern daß grade Gott sie so bestimmt habe, daß sie
CARTESIUS 319
unveränderlich und ewig seien. - Dem zweiten Einwurf
gegenüber behauptet [er] nur, daß die Essenzen von den Uni -
Versalien verschieden seien. (Vergleiche die Ideen Piatos.)
[2.] Es ist falsch, daß die Existenz Gottes von der Essenz
Gottes nicht getrennt werden könne und daß somit Gott
als seiend gedacht werden müsse. Man kann die Essenz
nur mit der Essenz und die Existenz nur mit der Existenz
vergleichen. Man kann daher sagen, die Allmacht Gottes
könne von der Essenz Gottes so wenig getrennt werden,
als man von der Natur des Dreieckes die Eigenschaft
trennen könne, daß seine Winkel 2 R gleich seien; dafür
aber kann man die Existenz von der Essenz bei Gott so
gut trennen als bei dem Dreieck. Außerdem ist die Exi-
stenz keine Vollkommenheit, sondern sie ist nur das, ohne
welches es keine Vollkommenheit geben kann. Denn das,
was nicht ist, ist weder vollkommen noch unvollkommen.
(Was nicht ist, ist weder vollkommen noch unvollkommen.
Nichtsein ist also keine Unvollkommenheit. Also ist Sein
keine Vollkommenheit.)
Cartesius antwortet höchst unbefriedigend.
3. Wie kann man behaupten, daß die Gewißheit der ma-
thematischen Sätze von der Erkenntnis Gottes abhinge,
da ja diese Sätze, die von niemand angegriffen würden,
weit gewisser seien als alle diese Beweise für das Dasein
Gottes, die so vielen Widerspruch fänden?
Cartesius antwortet, es hätte Skeptiker gegeben, die selbst
an den mathematischen Wahrheiten gezweifelt hätten, und
der Beifall oder der Widerspruch, den eine Sache fände,
beweise nichts für noch gegen sie.
In 7neditationem VI.:
I. Der Unterschied, den Cartesius zwischen ifnagi?iatio,
als auf etwas Körperliches sich beziehend, und intellectio,
als nur auf das Geistige gehend, macht, wird weitläufig,
doch ohne bedeutende Gründe angegriffen. Gassendi be-
hauptet, mtellegere und imagmari seien nur dem Grade
nach verschieden.
Cartesius antwortet: sunt duo modi operandi plane diversi,
Quippe in intellectione mens se sola utitur^ in imaginatione
vero fo7'mam corpoream contemplatur . . .
320 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
2. Unbedeutende Bemerkungen über die Gewißheit oder
Ungewißheit der Erkenntnis durch die Sinne.
3. 4. 5. werden die Einwürfe gegen die Immaterialität
der Seele wiederholt, und besonders gesagt, wie eine
Wechselwirkung zwischen der Seele und dem Körper,
zwischen Geist und Materie möglich und wie die Ver-
bindung derselben zu denken sei.
Wolle man annehmen, die Seele sei mit dem ganzen
Körper vereinigt, so müsse man ihr auch Ausdehnung
zuschreiben; behaupte man aber, sie fände sich nur an
einem mathematischen Punkt, so fragt es sich doch immer,
wie sie auf den Körper reagieren und ihn bewegen könne,
wenn sie nicht selbst Materie ist: denn Cartesius behaupte,
der Körper werde durch die Seele bewegt, wie kann aber
nun eine körperliche Bewegung vor sich gehen ohne die
gegenseitige Berührung des Bewegenden und des Be-
wegten? Außerdem, wie soll die Seele sich körperlicher
Bewegungen als Eindrücke bewußt werden; denn Cartesius
sage ja selbst, daß, wenn er sich zum Körper als eine reine
InteUigenz verhielte, so würde [er] wohl einsehen, daß dem
Körper z. B. Trank und Speise fehlen, aber nicht das Be-
dürfnis derselben empfinden, so würde [er] eine körper-
liche Verletzung wahrnehmen, aber keinen Schmerz fühlen
etc.
Die Antwort ist erbärmlich.
VII. [OBJECTIONES]. DINET.
Interessant sind noch die Einwürfe, welche der Engländer
Heinrich More in mehreren Briefen machte, die er an den
Cartesius schrieb. Diese Briefe nebst den Antworten des
Cartesius wurden nach dem Tode dieses letztern unter
den Briefen des Cartesius abgedruckt.
SPINOZA
BÜCHNER 21
) 323 (
ZUR ETHIK
Propositio F. Es kann nicht mehrere Substanzen, -von.
gleicher Natur oder gleiche?! Attributen geben.
Beweis. Wenn es mehrere verschiedene Substanzen gäbe^
so mußte man sie voneinander entioeder dui'ch die Verschie-
denheit ihrer Attribute oder ih?'er Affektionen unterscheiden.
Wollte 7nan sie nun durch die Verschiedefiheit der Attribute
unte7'scheiden, so müßte man zugeben^ daß es mir eine Sub-
stanz von einem und demselben Attribute gäbe. Will man
aber die Substanzen nach ihren Affektionen unterscheiden^ so
muß man dieselben^ da die Substanz ihrer Natur nach eher
da ist als ihre Affektionen^ ohne ihre Affektionen, d. h. an
und für sich betrachten, und es ist alsdann undenkbar,
durch was sie voneinander unterschieden werden kö7mten.
Es kann daher nicht mehrere Substanzen^ sondern nur eine
Substanz von derselben Natur geben.
Anmerkung. Der Satz beweist nur, daß wir zwei Dinge
von gleichen Eigenschaften, wenn wir sie successive
betrachten (um die Sache von der sinnlichen Seite zu
nehmen), nicht voneinander unterscheiden können; wir
können aber dennoch wissen, daß es zwei sind, wenn wir
beide zugleich sehen. -^
Da bis jetzt über das Wesen der Substanz nichts weiter
gesagt ist, als daß eine Substanz durch sich selbst be-
griffen werde, so sehe ich nicht ein, warum der Umstand,
daß zwei Substanzen von gleicher Natur nicht unterschie-
den werden können, zu dem Schlüsse berechtigt, daß über-
haupt das Dasein derselben unmöglich sei.
Spinoza verwechselt das tmterscheiden und das sich denken
können. Nach den vorhergehenden Sätzen können wir uns
noch immer zwei Substanzen von gleicher Natur, und
deren jedes durch sich selbst begriffen wird, als neben-
einander existierend denken.
1 a. R.: Diese Anmerkung würde passen, wenn von Dingen als
AfFektionen der Substanz die Rede wäre; es bezieht sich hier aber
alles auf die Substanz allein. Immerhin beweist jedoch Spinozas
Satz nur, daß wir zwei Substanzen von gleichen Attributen nicht
voneinander unterscheiden, aber keineswegs, daß sie nicht neben-
einander bestehen können. Diese Unmöglichkeit ist durch nichts
erwiesen.
324 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
Propositio VII. Dasein gehört zum Wesen der Substanz.
Beweis. Eine Substanz kann von etwas ander m nicht her-
vorgebracht werde7i^, d. h. ihr Wesen involviert notwendig
das Daseift.
Anmerkung. Mit andern Worten: Da, der Definition
nach, die Substanz den Grund ihres Seins enthält, so kann
ich mir den Grund nicht denken ohne die Folge, d. h.
ohne das Sein.^
Propositio VIII. Jede Substanz ist notwendige riücise un-
endlich.
Beza eis. Es gibt nur eine Substanz von einem und dem-
selben Attribute (j^), und Dasein gehört zu ihrem Wesen.
Ihrer Natur gemäß kann sie nun eiidlich oder unendlich sein.
Sie ist aber unendlich^ denn sie müßte alsdann^ von einer
andern Substanz von gleicher Natur ^ deren Wesen ebenfalls
Dasein involvierte., begrenzt werden., und somit gäbe es zwei
Substanzen von gleichen Attributen., was widersinnig ist
(Prop. V.). Sie ist daher unendlich.
Anmerkung. Dieser Satz fällt mit der fünften Propo-
sition. Er kann sich übrigens nur auf ein räumliches Ver-
hältnis beziehen, denn aus der siebenten Proposition allein
folgt schon die Unendlichkeit in der Zeit oder die Ewig-
keit; es ist ihr gemäß unmöglich, daß eine Substanz eine
andere in der Zeit begrenzen kann. Die Begrenzung im
Raum ist aber möglich, wenn man die fünfte Proposition
nicht zugibt.
Scholium II. Ich zweifle nicht ^ daß es allen denjenigen,
die ein verwirrtes Urteil haben und nicht gewohnt sind, die
Dinge nach ihren ersten Ursachen zu erke?men, schwerfallen
wird, die VII. Proposition zu begreifen-, namentlich weil sie
die Substanzen von ihren Modifikationen Glicht unterscheiden
1 a. R.: sie wird daher die Ursache ihrer selbst sein. — - Obiges a. R.,
für die gestrichne Anmerkung: Aus den vorhergehenden Sätzen
ergibt sich bis jetzt noch keineswegs die Notwendigkeit, ein Ding,
was durch sich selbst begriffen wird, auch als seiend zu denken;
die erste Definition ist bis jetzt noch willkürlich. — ^ Richtiger wäre:
sonsf, "alsdann" paßte nur, wenn Büchner wörtlich "nicht endlich"
übersetzt hätte.
SPINOZA 325
können und weil sie nicht luisse/i, auf welche Weise die
Dinge hervorgebracht werden. Daher kommt es auch, daß
sie de?i Ursprung, welchen die naturlichen Dinge zu haben
scheinen, den Substanzen andichten] denn wer die wahren
Ursachen der Dinge nicht kennt ^ verwirrt alles, läßt Bäume
7üie Menschen reden und bildet sich ein, Menschen könnten
scm'ohl aus Steinen als aus Samen entstehen und die eine
Form könne sich in die andere verwandeln. So schreiben
auch die, welche die itiefischliche Natur mit der göttlichen
veiivcchseln, Gott leicht menschliche Leidenschaßen zu, na-
me?itlich solange sie nicht wissen, aufiaelche Weise die Lei-
denschaften in der menschlichen Seele entstehen. Wenn man
aber das Wcse7i der Substanz erkannt hätte, so wib'de man
nicht im cjitferntestoi an der Wahrheit der VII. Propositio7i
zweifeln, 7md diese Proposition iviirde für alle ein Axiom
sein und unter die allgemein angenommenen Sätze gehör e7i.
Denn unter Substanz würde man das verstehen, welches
durch sich selbst begiiffen wird, d. h. dessen Erkenntnis von
der Erkenntnis eines andern Dinges nicht abhängig ist; unter
Modifikationen hiiigegen dasjenige, welches in etwas anderem
ist und dessen Begriff aus dem Begriff dessen, tvorin es ist,
gebildet luird, lueshalb wir auch wahre Voi'stelhmgen von
nicht existierenden Modifikatio7ie?i haben können, insofern
das Wesefi derselben, obgleich sie in der Tat nur im Begriff
vorha7ide7i sind, so von etwas andei'em umfaßt wi?'d, daß
sie durch dasselbe begriffen werden können. Die Wahrheit
der Substanzen hingegen ist nur in sich selbst, weil dieselben
durch sich selbst begriffen werden. Wenn daher jemand
sagte, er habe eine deutliche und bestinunte, d. h. wahre Vor-
stellung von der Substanz, zweifle aber doch, ob ei7te solche
Substanz existie^-e, so würde das ivahrhaftig heißen, er habe
einen wahre7i Begriff, zweifle aber de7moch, ob er 7iicht falsch
sei; 7üen7i aber jeiiiand behauptet, ei7ie Substanz icwde e7~
schaffen, so behauptet er zugleich, ei7i falscher Begriff sei
zu ei}ie7n zuahren geworden, gewiß das Wider sin7iigste, was
7/ia7i sich denken ka7i7i. Man muß daher notwendigerweise
zugestehe7i, daß das Dasei7i und das Wese7i der Substa7iz
eine ewige Wahrheit sei.
Da7'aus kö7me7i wir auch 710 ch auf a7idere Weise schließ e7i.
326 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
daß es nur eine Substanz von der nämlichen Natur gibt.
Zuvor m^Lßman sich folgendes merken: I . Die ivahre Defi-
nition einer Sache drückt nichts weiter ans als das Wesen
der definierten Sache. 2. Eine Definitio7i^ welche nichts
weiter als das Wesen der definierten Sache ausdrückt, schließt
keine bestimmte Zahl von Individuen ein. Die Definition
eines Dreiecks z. B. drückt nichts weiter aus als die Defi-
nition eines Dreiecks^ aber keineswegs eine gewisse Anzahl
von Dreiecken. 3. Jede Sache hat eine bestimmte Ursache,
durch die sie existiert. 4. Diese Ursache muß entweder in
dem Wesen und der Definition der Sache oder außerhalb
derselben enthalten sein. — Aus dem allen folgt nun, daß,
wenn eine gewisse Anzahl von Individuen existiet't^ notiven-
dig eine U7'sache voj'handen sein müsse, warmn grade so
viel Individuen, weder mehr noch weniger, vorhanden sind.
Wenn z. B. zwanzig Menschen existierten, so würde es nicht
genügen, die Ursache der menschlichen Natur im allgemei-
nen zu zeigen, sonder?i man müßte auch nachiv eisen, zoaf'um
weder mehr noch iveniger als z^vanzig existieren^ indem es
für die Existenz eines jeden derselben eine bestimmte Ursache
geben ?nuß. Diese Ursache aber kann nicht in der mensch-
lichen Natur selbst liegen, weil die wahre Definition des
Menschen eine besti??tmte Zahl nicht involviert; die Ursache
also, wodurch diese zwanzig Menschen vor handelt sind, und
folglich auch, wodurch ein jeder von ihnen existiert, muß
notwendig außerhalb eines jede?i liegen. Dasein gehört nun
zum Wesen der Substanz, ihre Definition muß daher ein
notwendiges Dasein einschließen. Aus ih'er Definition nun
kann man nicht das Dasein mehre?'er Substanzen folgern,
es kann daher nur eine Substanz von der nämlichen Natur
geben.
Anmerkung. Das heißt wohl, die Definition einer Sub-
stanz postuliert nicht eine bestimmte Anzahl solcher Sub-
stanzen; wenn es also mehrere Substanzen von gleicher
Natur gäbe, so müßte der Grund ihres Daseins nicht in
jeder Substanz selbst, sondern außerhalb derselben liegen,
was dem Begriff der Substanz zuwider ist. Da aber nach
Spinoza jede Substanz den Grund ihres Seins in sich ent-
hält, so liegt auch der Grund für das Dasein einer jeden
SPINOZA 327
in der Definition, ohne daß dieselbe eine bestimmte Zahl
einschließen müßte. Die Beispiele, wodurch Spinoza sei-
nen Satz dartun will, können hier gar nicht in Betracht
kommen, weil die Dinge, wovon in ihnen die Rede ist,
ihrem Wesen nach als Modifikationen völlig von der Sub-
stanz verschieden sind; das Charakteristische der Substanz
ist ja grade das, daß sie selbst der Grund ihres Seins ist:
gibt es also mehrere Substanzen, so kann der Grund da-
für nicht außer ihnen liegen, muß aber auch nicht in der
Definition im allgemeinen gesucht werden. Denn die De-
finition, ob sie gleich für alle Substanzen von gleicher
Natur gleich ist, ist doch, da ja jede selbst nur durch sich
ist, die Definition einer jeden insbesondere, und kann
keine bestimmte Zahl einschließen, weil dadurch grade
das eigentliche Wesen der Substanz das durch sich selbst
sein verloren gehn und die Definition im allgemeinen über
jeder Substanz insbesondere stehen und somit ihre abso-
lute Freiheit aufheben würde. Die Definition, obgleich
für mehrere gültig, definiert doch nur jede Substanz ins-
besondere und drückt für jede den Grund ihres Seins ins-
besondere aus. Enthielte die Definition eine Zahl, so läge
alsdann der Grund des Seins für jede Substanz nicht in
ihr selbst, sondern in einem Kollektivwesen, in dessen
Wesen es sei, drei- oder vierfach zu existieren, ohne daß
diese Glieder jedoch den Grund ihres Seins in sich ent-
hielten.
Wenn zwanzig Menschen existieren, so paßt die Defi-
nition der menschlichen Natur im allgemeinen für jeden
derselben, ohne daß sie den Grund seines Daseins ent-
hielte, den man also anderwärts suchen muß; für zwanzig
Substanzen gleicher Natur aber paßt die Definition für
jede Substanz, und schließt zugleich für jede den Grund
ihres Seins ein, ohne daß sie nötig hätte, die Zahl zwanzig
einzuschließen, denn da ja keine Substanz die Ursache der
andern sein kann, also auch durch die Definition der einen
nicht das Dasein der andern bestimmt werden kann, so liegt
die Zahl zwanzig aus der Definition der Substanz draußen,
und der Grund dafür müßte dann in etwas anderm gesucht
werden, was das Wesen der Substanz aufheben würde.
328 NATUR WISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
Propositio X. Jedes Attribut einer Substanz muß durch
sich selbst begriffen werden.
Beweis. Ein Attribut ist das, luas der Ve7'stand an der
Substanz als ihr Wesen ausmachend erkennt; es muß daher
durch sich selbst begriffen werden.
Anmerkung. Der Definition nach ist die Substanz das-
jenige, was durch sich selbst begriffen wird; in der vor-
hergehenden Proposition wird von dem Attribut das näm-
liche gesagt: ist also nicht Substanz und Attribut einerlei:
Spinoza sagt, um dies zu entkräften, im Scholium: nichts
ist einfacher, als daß jedes Seiende unter irgendeinem
Attribut begriffen wird etc. Wenn ein Ding unter einem
Attribut begriffen wird und dies Attribut sein Wesen aus-
drückt, so sind dies Attribut und das Ding eins, wie aber
dies Attribut oder Ding nun noch mehrere Attribute, deren
jedes durch sich selbst begriffen wird, enthalten könne,
ist unbegreiflich.
Da jedes Attribut durch sich selbst begriffen wird, was
bleibt noch der Substanz übrig: ist sie nicht da ein leeres
Wort? Spinoza scheint ihr die Unendlichkeit und Ewig-
keit erhalten zu wollen, aber diese beiden Begriffe kommen
ja der Substanz nur dadurch zu, daß sie durch sich selbst
begriffen wird (im Grund nur die Ewigkeit; die Unendlich-
keit ist, da die Beweise für das Nichtvorhandensein zweier
Substanzen von gleicher Natur falsch sind, noch nicht be-
wiesen) und gehören somit ebensogut den Attributen.
Propositio XL Gott oder die aus unendlichen Attributen,
deren jedes eine ewige und unendliche Wesenheit ausdrückt,
besteheiide Substanz existie?'t notiaendigertveise .
I . Beweis. Wer es leugnet, begreife, wenn es möglich ist,
wie Gott nicht existiei-en kann. Sein Wesen involviert als-
dann nicht Dasein, was wide?'si?inig ist.
Anmerkung. Dieser Beweis läuft ziemlich auf den hin-
aus, daß Gott nicht anders als seiend gedacht werden
könnte. Was zwingt uns aber, ein Wesen zu denken, was
nicht anders als seiend gedacht werden kann:^
* a. R.: Wir sind durch die Lehre von dem, was in sich oder in
etwas andenn ist, freilich gezwungen, auf etwas zu kommen, was
SPINOZA 329
Wenn man auf die Definition von Gott eingeht, so muß
man auch das Dasein Gottes zugeben; was berechtigt uns
aber, diese Definition zu machen? Der Verstand? Er kennt
das Vollkommne. Das Gefühl? Es kennt den Schmerz.
2. Bcii'cis. Das Vorhandensein oder Nichtiwrhandensem
jedes Dinges muß eine Ursache oder einen Grund haben.
Z. B. wenn ein Dreieck existiert^ so muß es für seine Exi-
stenz einen Grund gebeji; wenn es aber nicht existiert, so
muß es einen Gnmd geben, der seine Existenz aufhebt.
Dieser Grund aber muß entweder in der Natur des Dinges
selbst oder außerhalb desselben enthalten sei?t. Z. B. die
Ursache, warum es keineii vie^'eckigen Kreis gibt, liegt in
der Natur des Kreises selbst. Die Existenz der Substanz
aber liegt nur in ihrer Natur, welche Dasein involviert.
Der Grund aber, luarum es einen Kreis oder ein Dreieck
gibt oder flicht gibt, liegt nicht in der Natur derselben, son-
dern in den allgemeinen Gesetzen der körperlichen Dinge]
daraus folgt, daß ein Dreieck entweder existieren müsse
oder daß seine Existenz unmöglich sei. Daraus folgt ferner,
daß dasjenige notiv endigerweise existiere, was durch keine
besondre Ursache an einem Dasein verhindert wird. Wenn
es daher keinen Gnmd oder keine Ui'sache geben kann,
welche die Existenz Gottes aufheben, so muß man schließen,
daß derselbe notwendigenüeise existie?'e. Wenn es aber einen
solchen Grund oder eine solche Ursache gäbe, so müßte sie
entweder in dem Wesen Gottes selbst oder außerhalb des-
selben in einer Substanz von anderm Wesen liegen. Läge sie
nun im Wesen Gottes, so ginge gerade daraus hervor, daß
es keinen Gott gäbe] läge sie aber in eifier Substanz von an-
derem Wesen, so imirde dieselbe fiichts mit Gott gemein
haben und könnte daher sein Dasein weder setzen noch auf-
heben {Prop. II. y Da es nun einen Grund oder eine Ur-
sache, welche das Dasein Gottes aufhöben, außerhalb des
göttlichen Wesens nicht geben kann, so müßte sie, im Fall
Gott nicht existie^-te, in seinem Wesen selbst liegen, was ein
nicht anders als seiend gedacht werden kann; was berechtigt uns
aber, deswegen aus diesem Wesen das absolut Vollkommne, Gott,
zu machen?
330 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
Widerspruch ist. Das nun von dem absolut unendlichen
und vollkonimncn Wesen behaupten zu wollen^ ist absurd;
es kann also weder außerhalb Gottes ?ioch in Gott selbst
einen Grund geben., welcher das Dasein Gottes aufhöbe.
Gott existiert also notwendigeriveise .
Anmerkung. Es ist falsch, daß es für das Nichtvorhan-
densein eines Dinges einen besondern Grund geben
müßte; da aus Etwas unmöglich Nichts werden kann, so
ist es auch unmöglich, daß ein Ding durch irgendetwas
anderes an seinem Dasein absolut verhindert werden
könnte. Für ein absolutes Nichts ist kein Grund oder
keine Ursache möghch; denn wäre dies der Fall, so müß-
ten Grund oder Ursache die Vernichtung eines Dinges
bewirken, was unmöglich ist.
Das Nichts kann keine Wirkung sein, weil es, als der ab-
solute Gegensatz des Seins, etwas Seiendes nicht zur Ur-
sache haben kann. Wenn es Gründe gegen das Dasein
Gottes gibt, so beweisen sie nicht, daß das als Gott de-
finierte Wesen nicht existieren könne, sondern sie be-
weisen, daß wir durch nichts berechtigt sind, eine solche
Definition zu machen. Der Beweis übrigens, welcher aus
dem Wesen Gottes sein Dasein demonstriert, stützt sich
nur auf eine logische Notwendigkeit, er sagt: wenn ich
mir Gott denke, muß ich ihn mir als seiend denken — ,
aber was berechtigt mich denn, Gott zu denken?
3. Beiueis. Die Unmöglichkeit der Existenz ist ein Un-
verfnögen^ die Möglichkeit ein Vermögen. Wenn daher all
das, was notwendigej-U'eise existiert ., nur endlich ist, so muß
das E^idliche mächtiger sein als das absolut Unendliche, was
widersinnig ist; es existiert daher entweder nichts, oder das
absolut Unendliche existiert 7iotwe7idigei-weise. Wir sind
aber entweder in uns oder i7i etwas anderem, was notwen-
digerweise ist. Das absolut unendliche Wesen, d. h. Gott,
existiert also notwendigerweise.
Anmerkung. Dieser Satz zeigt, daß das Vollkommne
absolut dasein müsse, weil sein Nichtdasein gegen seinen
Begriff streitet, während das UnvoUkommne oder Endliche
sehr [wohl] als nicht existierend gedacht werden könne.
SPINOZA 331
Wolle man also behaupten, das Endliche existiert not-
wendigerweise, so müßte man dies von dem Unendlichen
noch viel eher zugeben.
Dieser Beweis hat mit dem ersten große Ähnlichkeit;
charakteristisch ist es, daß hier Spinoza das Unendliche
und das Vollkommne in einer Bedeutung nimmt. Was
das Vollkommne anbelangt, so können wir wieder fragen,
was zwingt uns denn, etwas Vollkommnes zu denken:
Was das Unendliche dagegen anlfelangt, so läßt sich aus
spinozistischen Grundsätzen sein Dasein sehr leicht be-
weisen; im dritten Beweis hat Spinoza selbst einige An-
deutungen dazu gegeben. Alles, was ist, ist entweder in
sich oder in etwas anderm. Das, was in sich ist, kann
nur durch sich selbst begrififen werden; es ist der Grund
seiner selbst, sein Wesen involviert Dasein. Es ist ewig,
weil es den Grund seines Daseins in sich trägt; es ist un-
endlich, weil es nicht zwei Substanzen von gleicher Natur
geben kann und weil nur Gleiches durch Gleiches ein-
geschränkt wird.
Alles, was nur durch sich selbst begrifien werden kann,
faßt er in dem Begriff der einen, aus unendlichen Attri-
buten, deren jedes eine ewige und unendliche Wesenheit
ausdrückt, bestehenden Substanz zusammen. Sie ist für
ihn die Weltursache, worin alles ist; sie ist ewig und un-
endlich—aber sie ist nicht Gott, sie ist nicht das absolut
vollkommne, moralische Wesen des Deismus, — sie ist
nichts anders, als was jeder Atheist selbst, wenn er einiger-
maßen konsequent verfahren will, anerkennen muß.
Erst in dem Scholium zum dritten Beweis weist auch
Spinoza auf Gott hin. Hier hört der Philosoph auf, und
er vergöttert willkürlich das, was in sich und worin alles
ist.^
Pi'opositio XII. Es ist kein Ath'ibut der Substanz denk-
bar^ ivoraus hervorginge, daß die Substanz teilbar sei.^
Beiueis. Die Teile nämlich, in zvelche die so begfiffene
Substanz geteilt werden 7i>ü?'de, zverden e?itii'eder die Natur
1 Letzter Satz a. R. nachgetragen. — - a. R.: § 12 und 13 können
sich nur auf ein räumliches Verhältnis beziehen.
332 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
de?- Substanz behalten ade?- nicht. Im erstej'cn Fall mußte
jeder Teil unendlicJi sein, die Natur seiner selbst enthalten
und nach Prop. V. aus einem verschiede?ien Attribut be-
stehe?i, so daß aus einer Substanz mehrere gebildet werden
könnte?i, was nach Prop. VI. absurd ist. We?in man noch
hinzunimmt, daß die Teile mit ihrem Ganzen 7iichts gemein
haben würden tmd das Ganze ohne seine Teile sein und be-
griffen werden könnte, so luird an dieser Absurdität niemand
zweißen. — /;// letzteren Pttll müßte die ganze Substanz, nach-
dem sie in gleiche Teile geteilt worden, ihr Wesen als Sub-
stanz außgeben und ablegen.'^
Anmerkung. Da Proposition V. falsch ist, kann ich auch
den aus ihr abgeleiteten Grund nicht anerkennen; ich sehe
nicht ein, warum nicht bei einer Teilung der Substanz die
einzelnen Teile die Natur der Substanz behalten könnten.
1. Da das Ganze ewig ist, müssen auch die einzelnen
Teile ewig sein, da ja das Ganze aus ihnen besteht.
2. Die Unendlichkeit der Substanz wird von Spinoza nur
daraus hergeleitet, daß nur Gleiches Gleiches einschränkt
und daß die Substanz unendHch sein müsse,' weil es nicht
mehrere Substanzen von gleicher Natur geben könne; da
aber letzteres keineswegs erwiesen ist, so kann auch aus
dem Umstände, daß durch die Teilung des unendlichen
Ganzen die einzelnen Teile sich gegenseitig einschränken
[und] endlich werden^, nicht geschlossen werden, daß sie
somit von dem Wesen der Substanz etwas verlieren wür-
den.
3. ist es keineswegs nötig, daß die einzelnen Teile ein
verschiednes Attribut, d.h. ein verschiednes Wesen haben
müßten, weil ja, wie schon gesagt, Spinoza keineswegs
erwiesen hat, daß es nicht mehrere Substanzen von glei-
cher Natur geben könne.
4. würden aus einer Substanz keineswegs mehrere Sub-
stanzen gebildet werden, was freilich dem Wesen der
Substanz widersprechen würde, sondern die Substanz
wäre nur ein aus einzelnen gleichartigen Substanzen be-
stehendes Kollektivwesen, was wieder in seine natür-
^ a. R.: Beides ist also ungereimt. — - Hinter Tci/e folgt im Manuskr.
dadurch und gestrichen daß sie, was keinen Sinn gibt.
SPINOZA 333
liehen Teile zerfiele, ohne sich zu ändern, ein Phänomen,
das sich eben nur bei der Substanz, aber sonst nirgends
bei einem Ganzen und seinen Teilen zeigen kann.-^
Propositio XIII. Die absolut unendliche Substanz ist un-
teilbar.
Beweis. Wen7i sie nämlich teilbar wä7-e, würden die Teile ^
worin sie geteilt werden würde^ die Natur der absolut un-
endlichen Substanz behalten oder nicht. Wäre crsteres^ so
gäbe es mehrere Substanzen von gleicher Natur ^ was absurd
ist. Wäre letzteres^ so könnte die absolut unendliche Sub-
stanz zu sein aufhörefi, laas ebenfalls absind ist.
Anmerkung. Der Beweis ist fast der nämliche, wie der
vorhergehende; das in voriger Anmerkung gegen jenen
Vorgebrachte gilt auch gegen diesen.
Corollarium. Daraus folgt ^ daß keine Substanz und so-
mit auch keine körperliche Substanz^ ifisofern sie Substanz
ist^ teilbar sei.
Anmerkung. Von der körperlichen Substanz kann eigent-
lich allein in diesem Paragraphen hier die Rede sein, bei
einer geistigen Substanz fällt der BegriffTcv/ ganz weg.
Scholium. Die Unteilbarkeit der Substanz kann noch ein-
facher daraus bewiesen 7verden^ daß die Substanz nicJit
anders als unendlich gedacht und unter einem Teil der Sub-
stanz nichts anders als eine endliche Substanz verstanden.
werden kann^ laas offenbar einen Widerspruch enthält.
Anmerkung. Die Unendlichkeit der Substanz bezieht
sich oftenbar hier auf ein räumliches Verhältnis, denn das
zeitliche Verhältnis kann durch das Zerlegen eines Gan-
zen in seine Teile nicht verändert werden; nur bei einer
körperlichen Substanz können bei ihrer Zerlegung die
einzelnen Teile räumlich endlich, d. h. begrenzt wer-
den, während das Ganze unbegrenzt war.
Übrigens steht und fällt dieser Satz mit der fünften Pro-
position. Die räumliche Unendlichkeit der Substanz folgert
Spinoza nur daraus, daß nur Gleiches von Gleichem be-
grenzt werden könne und daß es nicht mehrere Sub-
1 3. und 4. am Rande nachgetragen.
334 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
stanzen von gleicher Natur gäbe und somit die Einschrän-
kung einer Substanz unmöglich sei. Da aber die Unmög-
lichkeit mehrerer gleicher Substanzen nicht erwiesen ist,
so fällt auch der aus ihr gefolgerte Schluß.
Propos itio XIV. Außer Gott kann es keine Substanz
geben oder begriffen iverden.
[Be7c>eis.] Gott ist das absolut unendliche Sein, dem kein
Attribut, welches das JVesen der Substanz ausdii'ickt, ab-
gespvchen werden kann (Prop. F/.), und existiert notwen-
digerimise (Prop. XI.)} Wenn es eiiie Substanz außer Gott
gäbe, so müßte durch irgendein Attribut Gottes ausgedrückt
7verden, daß es zwei Substanzen von gleichen Attributen
geben würde, was nach Prop. V. absurd ist; folglich kann
es au/der Gott keine Substanz geben oder gedacht lüei'den.
Denn wenn sie gedacht ivei-den könnte, so müßte sie not-
wendig als seiend gedacht wet'den, was nach dem eisten Teil
dieser Demo7istration absurd ist. Es kann also außer Gott
keine Substanz geben noch gedacht werden. Qu. e. d.
Anmerkung. Der Beweis lautet mit andern Worten so:
Da Gott die aus unendlichen Attributen bestehende Sub-
stanz ist, so müßte eine Substanz, die neben Gott existiert,
durch ein Attribut Gottes ausgedrückt werden, was un-
möglich ist, weil es nach Prop. V. nicht mehrere Sub-
stanzen von gleichem Wesen, d. h. von gleichen Attri-
buten geben kann. Was aber bereits gegen die fünfte
Proposition ist eingewendet worden, findet hier wieder
seinen Platz.
Überhaupt ist, wie schon in der Anmerkung ziu- zehnten
Proposition gesagt wurde, Substanz und Attribut eins,
und im Fall die Substanz mehrere Attribute habe, nur ein
Kollektivwesen, das aber für sich, als was Besonderes
genommen, keinen Inhalt oder Bedeutung hat.
Gott ist der Kollektivbegriff der (der Zahl nach) unend-
lichen Attribute und wird mit dem Namen Substanz um-
faßt. Der von Spinoza vorgebrachte Beweis ist eigentlich
ganz überflüssig, denn mit dem Worte die aus unendlichen
Attributen bestehende Substanz ist schon alles gesagt, es
1 a. R.: Vgl. Cogitat. met., P. II. '
SPINOZA 335
kann ihm gemäß keine Substanz außer Gott geben. Denn
eine Substanz besteht ja aus Attributen; da nun Gott aus
unendlichen Attributen besteht, so muß ja jedes Attribut
mit Gott vereinigt sein, und es ist dann undenkbar, wie
es noch eine Substanz außer Gott sollte geben können.
Übrigens ist mir nicht klar, warum, weil Gott die aus un-
endlichen Attributen bestehende Substanz ist, deswegen
auch jedes Attribut in ihm enthalten sein müsse. Hätte
Spinoza gesagt: alles, was durch sich ist, ist die göttliche
Substanz — , so wäre die einzige Substanz bewiesen, da es
dann keine Substanz oder vielmehr kein Attribut geben
könne, die dann nicht zu dem Kollektivbegriff Gott ge-
hörte.
Propositio XV. Älles^ was ist, ist in Gott, mii nichts
kann ohne Gott sein noch gedacht werden.
Beweis. Außer Gott kann es keine Substanz geben oder
gedacht werden (Prop, XIV?), d. h. per def. III.: ein Ding,
was in sich ist und durch sich selbst begriffen wird. Die
tnodi aber können ohne Substanz iveder seift noch begriffen
werde7i [Def. V.); deswegen können sie auch nur in der
göttlichen Natur sein und du?'ch dieselbe begriffen werden.
Es gibt aber nichts als Substanzen U7id modi (Axiom III.).
Es kann also nicJits ohne Gott sein noch begriffen iverden.
Qu. e. d.
Anmerkung. Gegen den Satz, daß alles in Gott sei,
führt man an, die Materie müsse dann auch in Gott sein,
und sucht dann zu beweisen, die Materie müsse endlich
sein, was gegen das Wesen Gottes streite.
Spinoza widerlegt die dafür angeführten Gründe, indem
er sagt, wenn man einmal die Materie als eine Substanz
und somit als unendlich annähme, so könne man auf sie
den Begriff des Teils nicht mehr anwenden, und alles,
was man über ihre Teilung gesagt, sei somit gar nicht zu
berücksichtigen. Sein Weg dabei ist folgender:
1. Gleiches kann nur durch Gleiches begrenzt werden.
2. Nun gibt es aber keine zwei gleichen Substanzen nach
Prop. V.; die ausgedehnte Substanz ist also unendlich.
3. Wollte man die unendliche Substanz teilen, so behielten
336 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
die Teile entweder die Naliir der Substanz oder nicht.
Im ersten Fall müßte es mehrere gleiche Substanzen
geben, was nach dem vorigen Satze unmöglich ist; im
letzten Fall müßte die Substanz ihr Wesen als Substanz
aufgeben, was ebenso unmöglich ist. Also: die unendliche
Substanz ist unteilbar, und alles, was man gegen die Un-
endlichkeit der Substanz aus der Teilung der un ndlichen
Substanz vorbringt, ist Unsinn.
Gibt man einmal Spinoza die Unendlichkeit der Substanz
zu, so muß man auch das übrige zugestehen. Diese Un-
endlichkeit beruht aber auf der fünften Proposition, näm-
lich darauf, daß es keine zwei gleichen Substanzen gäbe,
weil man sie nicht voneinander unterscheiden könne, weil
sie dann, indem sie sich gegenseitig begrenzen, in eins
zusammenfließen würden. Dies nicht unterscheiden können
berechtigt aber doch nicht zu dem Schluß, daß es nicht
in der Wirklichkeit so sein und daß wir es uns nicht
denken könnten. Dies Unterscheiden bezieht sich bloß
auf einen körperlichen, aber nicht auf einen geistigen Akt;
der Geist kann ja noch immer die Trennung machen,
wenn es auch das körperliche Auge nicht imstande ist.
Auf dem transzendenten Standpunkte fragt es sich bloß:
können wir uns zwei oder mehrere gleiche Substanzen
nebeneinander denken, und Spinoza gibt keinen Grund
an, der diese Möglichkeit unmöglich machte. Er hat also
von seinem eignen System aus noch keineswegs die Un-
endlichkeit der ausgedehnten Substanz bewiesen.
Übrigens ist mir noch nicht klar, ob nicht ein Ganzes
unendlich sein und dennoch aus endlichen Teilen be-
stehen kann, indem es eine unendliche Anzahl solcher
endlichen Teile einschließt. ^ Da wir bis jetzt noch immer
mehrere gleiche Substanzen annehmen müssen, so könnte
die ganze Ausdehnung als aus einer unendlichen Anzahl
körperlicher Substanzen bestehen, [deren] Ganzes un-
endlich ist, indem, da das eine, ihrer Gleichheit wegen,
das andere ebenso begrenzt, als es von ihm begrenzt wird
1 a. R.: Es ist hier nur von Substanzen oder Attributen, d. h. von
Dingen, die durch sich sind, die Rede; denn bei inodis wäre ein
unendliches Ganze aus endlichen Teilen bestehend Unsinn.
SPINOZA 337
und somit keines das andere abschließt, sie sich wieder
ins Unendliche begrenzen.
Deshalb braucht aber nichts Leeres zwischen ihnen zu
sein, denn ihrer Natur gemäß müssen sie sich ja so weit
ausdehnen, bis sie einander begrenzen, so daß also kein
leerer Raum bleiben kann. Auch paßt hier die Frage
nicht mehr, warum nicht eins vernichtet werden könne,
da ja jedes für sich bestehe, i. aus Etwas wird nicht
Nichts und umgekehrt, und 2. ist jedes Substanz.
Wir hätten somit ein unendliches Ganze aus sich gegen-
seitig begrenzenden und insofern endlichen Teilen, die
aber Substanzen sein müßten, denn sonst wäre diese Be-
hauptung so absurd, als die Gegner Spinozas sagten.
Denn alsdann, ich wiederhole es, müssen sie sich ins
Unendliche begrenzen, weil keines das andere abschließen
; kann.
, Wir hätten dann nur eine x^usdehnung mit Spinoza, aber
i aus unendlichen (Zahl) Substanzen, oder vielmehr Attri-
buten, ein räumlich unendliches Meer aus der Zahl nach
unendlichen Quellen. Doch paßt dies nur insofern, als
überhaupt ein Bild in philosophische Deduktion paßt.
Wir können diese Ausdehnung so wenig als die Spinozas
körperhch teilen, weil ja eins das andere ins Unendliche
begrenzt, eigentlich, um mich bildlich auszudrücken, eins
dem andern parallel ist — , aber wir können sie geistig in
ihre unendlichen Attribute zerlegen.
JUCHNER 22.
338 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFfEN
WAS war Spinozas Ziel: Er sagt es deutlich im T7'ac-
tatiis de emendatione inteUectiis. Er sagt, wie er erst
sich um Irdisches bemüht und dann gesehen habe, daß
die Glückseligkeit nur im Besitz des Ewigen zu finden sei.
Videbantiir ponv ex hoc orta esse mala totisque viri-
bus quaerendum [VL I, S. 5].
Ferner heißt es: Ich will hier nur kurz sagen, was ich un-
ter dem wahren Guten und dem höchsten Gut verstehe.
Vorerst merke man sich, bös und gut kann nur relativ
gesagt werden; jedes Ding kann in verschiednen Bezie-
hungen gut oder bös, vollkommen oder unvollkommen
heißen. Denn nichts ist an und für sich gut oder bös,
vollkommen oder unvollkommen, weil alles nach einer
ewigen Ordnung und ewigen Gesetzen geschieht. Da aber
die menschliche Schwäche diese Ordnung in ihrem Den-
ken nicht umfassen kann und der Mensch indes sich die
Idee von einer der seinigen weit überlegnen menschlichen
Natur bildet und zugleich kein Hindernis sieht, warum er
einer solchen Natur nicht teilhaftig werden könne, so sucht
er nach Mitteln, um zu solcher Vollkommenheit zu ge-
langen, und alles, was als Mittel dazu dienen kann, heißt
bei ihm das wahre Gute; das höchste Gut für ihn ist aber
utille cum aliis individuis, sißeripofest, tali natura fruatur.
ad hunc sunt dirige?idae ßne??i [VL I, S. 6 f.].
Diese Stelle enthält ein bedeutendes Geständnis, ganz im
Sinne seines Systems, und doch zugleich einen Wider-
spruch. Nur die menschliche Schwäche, nur der Mangel
an Erkenntnis macht, daß wir nach etwas Vollkommnem
streben, denn in der Natur gibt es kein Werden, nur Sein,
kein Streben, sondern schon Besitzen, überall eine Voll-
kommenheit, wie sie aus der ewigen Ordnung der Dinge
folgt. Und doch, wie kann er von menschlicher Schwäche
reden.^ Ebenso, wie er in seiner Metaphysik das Endliche
aus dem Unendlichen, wie er das Böse aus unsern Vor-
stellungen herleitet. Der ewige Widerspruch zwischen
dem, was ist in der Endlichkeit, und dem Ewigen, an das
wir dasselbe zu knüpfen suchen.
Einige hierher gehörige Stellen finden sich im Tractatiis
theologico-politicus ^ so Gap. III. : Omnia, quae honeste cupi-
SPINOZA 339
jniis^ ailhaectriaj)otissiinuiiircfcnmtur, nempe^ 7-es per pri-
mas siias causas intelligere^ passiones doniare sive virtutis
halntwn acquircrc, et denique seciire et sano cotpore vivere
[VL I, S. 409].— Ferner, wo das Ziel alles Strebens noch
näher bezeichnet wird, Cap. IV. [VL I, S. 42 2 f.]:
Da die Vernunft {intellectus) unser höchstes Gut ist, so ist
es gewiß, daß wir streben müssen, sie so vollkommen als
möglich zu machen, wenn wir auf unser wahrhaftes Glück
bedacht sind; denn nur in ihrer Vollkommenheit soll un-
ser höchstes Gut bestehu. Ferner, weil unsre Erkenntnis
und die Gewißheit, welche wahrhaft jeden Zweifel hebt,
von Gottes Erkenntnis allein abhängt (da ja ohne Gott
nichts sein noch begriffen werden kann und wir an allem
zweifeln können, solange wir von Gott keine klare und
deutliche Idee habenj, so folgt, daß unser höchstes Gut
und unsre höchste Vollkommenheit von der Erkenntnis
Gottes abhängen etc. Ferner, da nichts ohne Gott weder
sein noch begriffen werden kann, so ist es gewiß, daß
alles, was in der Natur ist, den Begriff Gottes hinsichtlich
seiner Essenz und seiner Vollkommenheit involviere und
ausdrücke, und daß wir also, je mehr wir die natürlichen
Dinge erkennen, auch eine um so vollkommnere Erkennt-
nis Gottes erlangen, oder (weil die Erkenntnis der Wir-
kung durch die Ursache nichts andres ist als eine Eigen-
schaft der Ursache erkennen) je mehr wir die natürlichen
Dinge erkennen, um so vollkommner erkennen wir die
Essenz Gottes (der ja die Ursache aller Dinge ist); und
30 hängt unsere ganze Erkenntnis, d. h. unser höchstes
Gut, nicht nur von der Erkenntnis Gottes ab, sondern
liegt sogar einzig in ihr. Dies ergibt sich auch aus folgen-
iem: je besser und vollkommner die Sache, welche der
Mensch vor allem liebt, um so besser und vollkommner
st er selbst; der ist also notwendigerweise der Vollkom-
nenste und der höchsten Seligkeit teilhaftig, welcher die
ntellektuale Erkenntnis des vollkommensten Wesens, d. i.
jottes, über alles liebt. -^
30 liegt also schon über den ersten Rissen des Spinozismus
Mit andrer Schrift zugefügt: S. d. Fortsetzung [im Tract.theol.-pol.^
3ap. IV.\ Ferner Cap. V., p. 209, 210.
340 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
eine unendliche Ruhe. Alle Glückseligkeit ist allein im
Anschauen des Ewigen, Unveränderlichen; nicht von dem
Endlichen soll zum Unendlichen, nicht von den Dingen
soll zu Gott fortgeschritten, sondern aus Gott heraus soll
alles erkannt werden. Aber jetzt kommt die eigentümliche
Wendung des Spinozismus: diese Erkenntnis soll nicht
das absolute Anschauen des Mystikers, es soll eine in-
tellektuale Erkenntnis sein. Hier ist die große Kluft zwi-
schen Maleb7'anche und Spinoza. Beide haben nur unter
Voraussetzung des Cartesius eine v/issenschaftliche Be-
deutung, beide setzen das Fundament des Cartesianismus
voraus; aber Malebranche wird seinem Lehrer untreu, er
wendet sich zur Anschauung, er sieht alle Dinge in Gott,
aber unmittelbar ohne Räsonnement, ohne Schluß; Spinoza
dagegen bleibt treu, die Demonstration ist ihm das einzige
Band zwischen dem Absoluten und der Vernunft, ja er ist
kühner als Cartesius, er dehnt das Recht der Demon-
stration weiter aus, der demonstrierende Verstand ist alles
und ist allem gewachsen, wie dies sich aus der Vorrede
Meyej'S zu den Principiis philosophiae Cartes. ergibt: Prac-
tereundum ctiain hie nequaquam est mtellectum 7iostriim
eupimus ev eitere [VL II, S. 3 78 f.].
Hierher gehören noch folgende Stellen: Traet. t/ieol.-poL,
Cap.III. "Der \vahrlich spricht Unsinn, welcher behaupten
wollte, es sei nicht nötig, die Attribute Gottes zu be-
greifen {in teiligere), sondern es genüge, sie ganz einfach
ohne Demonstration zu glauben, denn die unsichtbaren
Dinge, welche nur Objekte der Seele sind, können durch
keine andern Augen gesehen werden als durch die Demon-
stration; wer nicht im Besitz dieser letzteren ist, der sieht
von jenen Dingen nichts, und was er über dieselben nach
dem Hörensagen urteilt, hat nicht mehr Wert als die
Worte eines Papagei oder eines Automaten."
Ferner zieht Spinoza in dem Traetatus tJieol.-pol. eine
scharfe GrenzHnie zwischen dem Glauben (der Religion)
und der Philosophie; den ersteren beschränkt er rein
auf das praktische Gebiet, der letzten allein spricht er das
Recht und die Fähigkeit zu, die theoretischen Fragen zu
lösen. So Kap. XV.: Die Vernunft ist das Reich der
SPINOZA 341
Wahrheit und der Weisheit, die Theologie das Reich der
Frömmigkeit und des Gehorsams.
Auffallend ist das Zugeständnis, welches Spinoza in dem
Tractatiis theol.-pol. hinsichtlich der praktischen (ethischen)
Fragen dem Glauben und der Theologie macht.
Vgl. Kap. XV. [VL I, S. 548f.]: ^'Wir schließen daher ab-
solut, daß man weder die Vernunft der Heiligen Schrift
noch die Schrift der Vernunft anzupassen suchen muß.
Man könnte uns einwerfen: Können wir mittelst der Ver-
imnft nicht demonstrieren, ob die Grundlehre der Theo-
logie hinsichtlich des Gehorsams wahr oder falsch sei,
warum glauben wir denn an dieselbe? Nehmen wir sie
bhndhngs und ohne Vernunftgründe an, so handeln wir ja
töricht und ohne Urteil. Nähmen wir dagegen an, diese
'Grundlehre könne durch Vernunftgründe demonstriert
; werden, so machten wir die Theologie zu einem inte-
igrierenden Teil der Philosophie. Ich antworte dagegen
lauf das bestimmteste: die Grundlehre der Theologie könne
;auf natürlichem Weg nicht nachgewiesen werden, oder
ies habe wenigstens bisher niemand getan, mid deswegen
isei die Oftenbarung höchst notwendig gewesen. Nichts-
idestoweniger können wir uns unserer Urteilskraft be-
dienen, um dem Geoffenbarten wenigstens moralische
Gewißheit zu geben."
An einer andern Stelle scheint er diese Behauptung wie-
der einzuschränken, indem er sagt, daß es einige, wenn
auch sehr wenige gäbe, welche bloß durch den Gebrauch
der Vernunft zur Tugend gelangt seien, während dagegen
alle übrigen die Offenbarung absolut notwendig hätten.
Diese Widersprüche lassen sich leicht erklären, wenn man
bedenkt, daß der Tractatiis theol.-poL zu einer Zeit er-
schien, wo Spinoza wohl die Grundlinien seines Systems
gezogen haben mochte, aber wahrscheinlich noch nicht
alle seine Konsequenzen entwickelt hatte. Außerdem ist
es wohl möglich, daß er seine Gedanken noch nicht ganz
unverhohlen auszusprechen wagte und dem Glauben noch
Konzessionen machte, die er später zurücknahm.
Der Spinozismus ist der Enthusiasmus der Ma-
thematik. In ihm vollendet und schließt sich die car-
342 NATURWISSENSCH. U. PHILOS, SCHRIFTEN
tesianische Methode der Demonstration, erst in ihm ge-
langt sie zu ihrer völligen Konsequenz. Erst unter Voraus-
setzung des Cartesianismiis erhält, wie ich schon gesagt
habe, der Spinozismus sein wissenschaftliches Fundament.
Den deutlichsten Übergang zwischen beiden Systemen
hat man in den den Principiis philosophiac Cartesianac
angehängten Cogitatis metaphysicis. Am besten aber sieht
man, wie Spinoza durch Cai'tesins ergänzt werden müsse,
in der Wissenschaftslehre des Spinoza; dieselbe ist
größtenteils in dem Tractatus de e7?iendatione intellectiis
enthalten. Wir entwickeln sie hier, denn erst durch sie
erhält die Metaphysik ihre wissenschaftliche Bedeutung.
Doch muß ich bemerken, daß die erwähnte Abhandlung
imvollendet geblieben und, wie die Vorrede beweist, noch
nicht gehörig ausgearbeitet und geordnet ist.
Es gibt vier Arten von Erkenntnis:
1. Erkenntnis durch das Hören und willkürliche Zeichen.
2. Erkenntnis aus unbestimmter Erfahrung, d. h. aus einer
Erfahrung, welche nicht determinatiir ab Intellectu^ sondern
uns zufällig aufstößt und uns für etwas Gewisses gilt, weil
wir keine andre ihr widersprechende Tatsache kennen.
3 . Erkenntnis des Wesens einer Sache, welche durch einen,
jedoch nicht adäquaten, Schluß aus dem Wesen einer
andern Sache erlangt wird; wie dies geschieht, wenn man
von einer Wirkung auf die Ursache oder von dem Allge-
meinen, das ja doch immer irgendeine Eigenschaft ent-
hält, auf das Besondre schließt.
4. Erkenntnis einer Sache aus ihrer bloßen Essenz, oder
aus ihren nächsten Ursachen; wenn ich z. B. daraus, daß
ich etwas erkannt habe, weiß, quid Jioc sit aliqidd nasse
(was es heißt, etwas erkannt haben, oder worin das Wesen
der Erkenntnis besteht), oder wenn ich aus dem Wesen
der Seele erkenne, sie sei mit dem Körper vereinigt.
Nur diese vierte Art der Erkenntnis kann zum Erforschen
der Wahrheit dienen, denn nur sohis qiiartus modus co?n-
prehendit (begreift) essentiam 7-ei adaequatam et ahsque
erro7'is periculo; ideoque maxime e}it usurpandus. [Tract. de
intellect. VLI, S. 10]. ^1
SPINOZA 343
Da wir nun wissen, welche Kenntnis uns notwendig ist
(nämlich die des Ewigen, Gottes), so müssen wir den Weg
und die Methode suchen, mittelst der wir die unbekann-
ten Dinge durch die vierte Erkenntnisweise begreifen
können. Diese Untersuchung setzt jedoch nicht voraus,
daß wir von der Methode wieder die Methode aufsuchen
müßten imd so fort ins Unendliche, denn so könnten wir
jnie zu einer Erkenntnis gelangen, sed inteUectus vi siia
7uitivafacit sibi instrumenta iiitellectuaUa . . . [VL I, S. 1 1].
Daran schheßt sich nun die Untersuchung über die Wahr-
heit und Falschheit der Ideen. Unter Wahrheit der Ideen
versteht Spinoza zweierlei: i. die logische Richtigkeit
einer Idee, ob sie nichts Widersprechendes, einander
Aufhebendes enthalte, und 2. die objektive Realität oder
die Frage, ob der Idee in der WirkUchkeit etwas entspreche.
Er unterscheidet also zwischen formaler und materia-
ler Wahrheit. Er sagt: denn was die Form des Wahren
anbelangt, so ist es gewiß, daß der wahre Gedanke sich
von dem falschen nicht nur durch ein äußeres, sondern
zumeist durch ein inneres Verhältnis unterscheide. Denn
sinnt ein Künstler eine Maschine aus, die weder je exi-
stiert hat noch je existieren wird, so ist sein Gedanke
doch wahr und der nämliche, diese Maschine mag nun
existieren oder nicht, und umgekehrt, wenn jemand sagt:
Peter existiert, ohne zu wissen, ob Peter wirklich existiert,
so ist dieser Gedanke hinsichtlich seines Wissens falsch
oder vielmehr nicht wahr, obgleich Peter in der Wirklich-
keit existiert. Der Ausspruch: Peter existiert, ist also nur
hinsichtlich desjenigen (für den) wahr, welcher wirklich
weiß, daß Peter existiert. Es folgt daraus, daß es in den
Ideen selbst etwas Reales gibt, wodurch die wahren sich
von den falschen unterscheiden; dieses Reale muß nun
gesucht werden, damit wir die beste Norm der Wahrheit
haben und die Eigenschaften unseres Verstandes erkennen.
Man sage nicht, dieser Unterschied rühre daher, daß bei
einem wahren Gedanken die Sache durch ihre nächste
Ursache erkannt wird, denn auch der Gedanke ist wahr,
welcher das Wesen eines Prinzips involviert, das keine
Ursache hat und durch sich und in sich erkannt wird. Es
344 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
muß daher die Form des wahren Gedankens in dem Ge-
danken selbst ohne alle Beziehung auf andere liegen,
nicht das Objekt zur Ursache haben, sondern allein von
dem Vermögen und Wesen des Verstandes abhängen.
Denn wenn wir annehmen, ein Verstand denke sich ein
neues Objekt, was niemals existiert hat (so wie manche
sich den Verstand Gottes vorstellen, eh er die Dinge
schuf), und leite aus diesem Gedanken andere Gedanken
richtig ab, so wären alle diese Gedanken wahr und hingen
nur von dem Vermögen und Wesen des Verstandes ab,
ohne durch irgendein äußeres Objekt bedingt zu werden.
Deshalb muß dasjenige, was die Form des wahren Ge-
dankens ausmacht, in dem Gedanken selbst gesucht und
von dem Wesen des Verstandes hergeleitet werden: und
die Falschheit besteht also nur darin, daß etwas von einer
Sache ausgesagt wird, was in dem Begriff, den wir uns
von ihr gebildet haben, nicht enthalten ist. Es folgt dar-
aus, daß alle einfachen Gedanken wahr sein müssen, wie
z. B. die Idee der Bewegung, der Quantität etc.; denn
die Bejahungen, welche sie enthalten, erstrecken sich
nicht über ihren Begriff hinaus und entsprechen dem-
selben. Folglich können wir ohne Besorgnis eines Irr-
tums einfache Ideen nach Belieben bilden.
Nun zur materialen Wahrheit. Diese Untersuchung führt
uns zur Identitätslehre und so zur Höhe des Spinozismus.
Idea ve7'a {Jiabcmus cnim idcam ve?'am) est diversum quid a
siio idcato Porro cum ratio, quae est inter duas ideas,
sit eadem cum ratioiie idearum [VL I, S.ii — 14].
Resümieren wir also dieses Räsonnement. Wir haben
wahre Ideen. Eine matcrialiter wahre Idee ist eine solche,
deren objektives (subjektives) Wesen mit dem formalen
(objektiven) ihres Objekts übereinkommt, mit ihm eins
ist. Die materiale Wahrheit beruht also in der Identität
des Gedankens mit dem Gedachten (d. h. seinem Objekt).
W^as aber eine wahre Idee sei, erkennt man erst aus
dem Besitz einer wahren Idee. Die beste Methode ist also
diejenige, welche nicht erst nach einer wahren Idee
sucht, denn das kann sie nicht, sondern die, welche,
nachdem eine wahre Idee gegeben, nach der Norm der-
SPINOZA 345
selben die übrigen wahren Ideen sucht, und die aller-
beste diejenige, welche aus der Idee des höchsten Wesens
alle übrigen Ideen ableitet. Denn so wie die Idee des
höchsten Wesens eine notwendige, objektive Realität in-
volviert, so werden auch alle diejenigen Ideen, welche
richtig aus ihr abgeleitet werden, die nämliche Notwen-
digkeit involvieren, und werden dann aus der Idee Gottes
die Ideen von den Dingen ebenso entwickeln, wie die
Dinge aus Gott in der Wirklichkeit hervorgegangen sind.
Der Satz Malebi-anchcs von dem Schauen aller Dinge in
Gott, mathematisch demonstriert!!
Vielleicht ließe sich nach diesem Gedankengang die ganze
Identitätslehre Spinozas an den Satz knüpfen: Wenn Gott
ist, weil wir ihn denken, so muß offenbar Denken und
Sein eins sein.
Kulm sagt dagegen: "Mir kommt es vor, als drücke man
das Prinzip des Spinozismus, die absolute Erkenntnisart,
nicht in seiner höchsten Form aus, wenn man sagt, es sei
in dem Satze enthalten, daß Denken und Sein eins sei.
Dieser Satz scheint mir ein abgeleiteter zu sein und die
absolute Erkenntnisart des Spinoza in der intuitiven Er-
kenntnis des absoluten Seins, außer welchem kein anderes
Sein ist, zu liegen. In dieser Erkenntnisart, als der allein
wahren, liegt auch der vollendetste Widerspruch gegen
den Reflexionsstandpunkt, den Spinoza beabsichtigte und
auf den er durch Cartesms geleitet wurde. Auf dem Re-
flexionsstandpunkte gibt es wahrhaft Verschiedenes, Aus-
einanderliegendes, Aufeinanderfolgendes: auf dem Stand-
punkte der absoluten Erkenntnisart ist überall nur eines,
lauter Licht, kein Schatten, keine Farbe etc."
Ich glaube, Kuhn irrt sich; ich habe es schon einmal ge-
sagt, der Spinozismus ist der Enthusiasmus der Mathe-
matik. Nur mathematisch gewisse Erkenntnis konnte ihn
befriedigen, von intuitiver Erkenntnis kann bei ihm nicht
die Rede sein! Zeigt ihm einen falschen Schluß, und er
läßt sein ganzes System fallen. Alles, Wissenschaftslehre
und Metaphysik, hängt an dem einen Satz: wir können
uns das vollkommne Wesen nicht anders als seiend den-
ken, es existiert also notwendigerweise. Die Wissenschafts-
346 NATURVVISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
lehre, denn aus ihr gibt sich die Identität des Denkens
und Seins; die Metaphysik, denn es ist die einzige Mög-
lichkeit, die Realität eines Objekts zu beweisen—, und
so ist das ganze metaphysische System eine konsequente
Entwicklung dessen, was sich aus dem Begriff des höchsten
Wesens herleiten läßt^. Bei diesem Satze wird jedoch
immer die ganze Schlußreihe, die demselben im carte-
sianischen System vorhergeht, vorausgesetzt, und daß
Spinoza ihn nur unter dieser Voraussetzung annahm, läßt
sich nachweisen; in seinem Standpunkte ist also nichts
Neues im Verhältnis zu Cartesius. So sagt er in den Cogi-
tatis metaphysicis: incipiamus igitur ab ente, per quod i?i-
telligo id o?/me, quod, cum clare et distincte percipitur, ne-
cessario cxistere vel minime existere passe reperhnus [VL II,
S. 462].
Dies clare et distincte sagt genug; er fängt da an, wo
Ca?'tesius bewiesen hat, daß wir nicht irren können, wenn
wir etwas klar und deutlich erkannt haben.
Hierher gehört eine Stelle im Tractatus de emendatione,
welche den direktesten Beweis liefert: Unde sequitur, nos
no7i posse veras ideas in dubium vocare, quod forte aliquis
Deus deceptor existat . . . ; hoc est, si . . . nihil i^iveniamus,
quod 710S doceat, eum^ esse deceptorem et, modo eam
habeamus, sufficiet ad tollendam, uti dixi, omnem duhitati-
onem, quam de ideis claris et distinctis habe?'e possumus
[VL I, S. 27]. So wiederholt also Spinoza nicht nur den
Cartesius, sondern ergänzt ihn auch noch, indem er durch
das modo eam habenms den bekannten Zirkel, den Cartesius
in seiner Schlußreihe macht, zu umgehen sucht.
Ich sehe also keinen neuen, keinen absoluten Stand-
punkt, in der Art, wie Spinoza die Identitätslehre an die
Spitze seines Systems stellt (Ethic. /, Def. L— Axiom.
VI., VII.).
Er fängt da an, wo Cartesius die Identität des Gedankens
mit seinem Objekt aus der Wahrhaftigkeit Gottes schließt.
Cartesius war so gut als Spinoza Identitätsphilosoph, wie
^ a. R.: So sagt Spinoza De enie.nd. intell.'. Quod autein attinet od
cognitionem origmis naturae praeter quod nullum datur esse
[VLI, S. 25 f.]. — 2 a. R.: [non, wahrscheinlich Druckfehler.)
SPINOZA 347
es überhaupt jeder dogmatische Philosoph sein muß.
Spinoza setzt beständig die Schlußreihe des Cartesius,
, vom cogito^ ergo siim an, voraus, die er nicht wiederholte,
]: weil er sie als erwiesen ansah—, und er kann es nicht
' anders, wenn er die mathematische Evidenz, auf die er
beständig Anspruch macht, behaupten will.
Außer dem Erfordernis der Klarheit und Deutlichkeit gibt
übrigens Spinoza kein Kriterium der material wahren
Ideen; er sagt nur, was eine wahre Idee sei, lerne man
erst aus dem Besitz derselben kennen. {Unde itenimpatet^
quod ad certitiidinevi veritatis niillo alio signo sit opus, quam
vcrani habe?'e ideam est certitudo et essentia objec-
tiva [VLI, S. 12].)
Doch zieht er eine scharfe Linie zwischen dem ens reale
und dem ens rationis und ens fietuin, und gibt die Unter-
schiede zwischen den wahren und den erdichteten, fal-
schen oder zweifelhaften Ideen an. Die Untersuchung
über das erstere findet sich in den Cogitatis vietaphys. I.
Cap. I.: Chimaet'a, ens fictum et ens rationis nullo 7nodo ad
Liitia revoeari possunt inservit ad res hitellectas faci-
liiis 7'etinendas, explieandas atque imaginandas [VL II,
S. 462].
Zu den Denkweisen, welche ad res retinendas dienen, ge-
hören die Art- und Gattungsbegriffe, ad res explieandas
die Begriffe von Zeit, Zahl, Maß etc.
Diese Begriffe selbst aber dienen wieder zur Erklärung
von anderen (Jiorum auteni tempus inservit durationi ex-
pUcandae, numerus quantitati diseretae, niensura quantitati
cojitinuae [VL II, S. 462].
Causa autem, ob quam hi niodi eogitandi pro ideis rerum
habcntur dividunt enim Ens in Ens et Non-ens,
auf in Ens et niodum eogitandi [VL II, S. 463].
Man muß sich wohl hüten, die entia rationis mit dem eiis
reale zu verwechseln, denn: aliud est inqiärere in rerum
naturam, aliud in modos, quibus res a nobis pereipiuntur
[VL II, S. 464].
Das übrige wird in dem Tract. de intell. emendatioiie ab-
gehandelt.
Die eingebildete Idee unterscheidet sich von der falschen,
348 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
wie aus den Cogitatis metaphys. hervorgeht, dadurch, daß
die erste durch einen Akt der Willkür und mit Bewußt-
sein des Irrigen oder wenigstens des Ungewissen (indem
ich z. B. sage: Peter ist zu Haus, ohne daß ich weiß, ob
er wirklich zu Haus ist, oder wenn ich gar das Gegenteil
weiß — letztes ist eigentlich die Lüge) hervorgebracht wird.
{Ens fictiim nihil aliud est quam duo tennini connexi ex
sola mera voluntate^ sine ullo ductu rationis. Cog. met. I
I. [VL II, S. 464]. Ferner De intell. eniend.-. Nain inter
ideam falsam et ficta77i nulla alia datur differentia . . .
[VLI, S. 22].)
Da jede Sache entweder unter dem Begriff ihrer Existenz
oder ihrer Essenz vorgestellt wird, so beziehen sich auch
alle Erdichtungen und Irrtümer auf diese beiden Begriffe.
Hinsichthch des ersteren, des Begriffs der Existenz, können
Dichtungen und Irrtümer nur bei dem Möglichen, nicht
bei dem Notwendigen und Unmöglichen stattfinden. Denn:
rem impossibilcm voco, cujus natui'a implicat contradicti-
onem, ut ea existat; necessariam^ cujus natura i^tiplicat
contradictioncm, ut ea non existat; possibilem, cujus qui-
dem existentia . . . non implicat contradictioncm . . . [De
intell. emcnd.^ VIv I, S. 17].
Absichtliche Erdichtungen (d. h. Lügen) bestehen darin,
daß ich mitteist des Gedächtnisses mich an Irrtümer er-
innere, die ich früher hatte oder haben konnte.
Erdichtungen und Irrtümer hinsichtlich des Unmöglichen
sind eigentlich nicht als solche zu betrachten, sondern
sie sind eigentlich durch Abstraktion hervorgebrachte
vei-ae ac merae asscrtiones.
Was die Dichtungen und Irrtümer hinsichtlich der Essenz
der Dinge anbelangt, so ist es klar, daß die Ideen der
Dinge entweder einfach oder aus einfachen Ideen zu-
sammengesetzt sein müssen. Eine einfache Idee nun kann
nicht falsch sein, also kann der Irrtum auch nicht in eineri
einfachen Idee bestehen, sed fit ex compositione diversaruim
idearum confusarum^ quae sunt diversaruni rcrum atque^
actionum in natura existentitun, vel melius ex attentione si-
mul sine assensu ad tales diversas ideas [a. a. O., VL I,
S. 21]. Die Verwirrung entsteht daraus, daß die Vernunft
SPINOZA 349
ein Ganzes und Zusammengesetztes nur teilweise er-
kennt, das Bekannte von dem Unbekannten nicht unter-
scheidet und auf das Mannigfaltige, was in jeder Sache
enthalten ist, auf einmal ohne alle Unterscheidung reflek-
tiert. Wenn nur die erste Idee nicht falsch oder erdichtet
ist und aus ihr die übrigen richtig hergeleitet werden, so
wird aller Intum vermieden. — Es ist daher nicht zu be-
sorgen, daß man etwas erdichte, solange man eine Sache
klar und deutlich vorstellt.
Was nun die zweifelhaften Ideen anbelangt, so findet kein
Zweifel an und für sich in der Seele statt: Jioc est, si tan-
tum unica sit idea in anima, sive ea sit Vera sive falsa, niiUa
dalntiir dubitatio, neqiie etiam certitudo, sed tantm?i talis
saisatio [VL I, S. 26]. Der Zweifel entsteht erst durch
eine andere Idee, welche nicht so klar und deutlich ist,
daß wir aus ihr etwas Gewisses hinsichtlich der bezwei-
felten Sache schließen können, d.h. die Idee, welche uns
zum Zweifel brachte, ist nicht klar und deutlich. Daraus
folgt, daß wir wahre Ideen nicht in Zweifel ziehen können,
ij II od forte aUqiiis Dens deceptor existat (s. S. 346).
Diibitatio nihil aliud est quam suspensio animi [VL I,
S. 27].
Die erdichteten, falschen und zweifelhaften Ideen haben
ihren Grund in der Einbildungskraft, d. h. sie entstehen
durch gewisse zufällige und losgerißne Eindrücke, welche
nicht aus dem Vermögen der Seele selbst hervorgehen,
sondern durch äußere Ursachen bedingt werden, je nach-
dem der Körper im Schlaf oder im Wachen verschiedne
Eindrücke empfängt. Vel si placet, Mc per imagifiationem,
quicquid velis, cape, modo sit quid diversum ab intellectu, et
Hilde anima habeat rationem patientis [VL I, S. 28 f.].
Deinde cum verba sint pars imaginationis et nomina
positiva usurparunt [VL I, S. 29 f.].
Alles bisher Gesagte gehört zum ersten Teil der Methode —
was soll im zweiten behandelt werden.^: Scopus est ciaras
et distinctas habere ideas . . . Z>einde, omnes ideae ad unam
ut rcdigantur . . , [VL I, S. 30].
Zu dem ersten gehört nun, daß man die Dinge entweder
bloß aus ihrem Wesen (Essenz) oder ihrer nächsten Ur-
350 NATUR WISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
Sache begreift. Ist das Ding in sich oder, wie man ge-
wöhnhch sagt, Ursache seiner selbst, so muß es aus seinem
Wesen begrifien werden; ist es aber nicht in sich, son-
dern erfordert es eine Ursache, so muß es aus dieser
nächsten Ursache begriffen werden. Daraus geht hervor,
daß wir nie etwas aus Abstrakten schließen dürfen und
daß wir uns sehr hüten müssen, das, was nur in dem
Verstand ist, mit dem, was in den Dingen ist, zu ver-
wechseln. Sed optima conclusio erit depromenda ab essentia
aliqua particulari afßnnativa, sive a vera et kgitima dc-
finitione [VL I, S. 31]. Denn von den allgemeinen Axio-
men kann der Verstand nicht bis zu dem Einzelnen dringen,
da die Axiome sich auf das Unendliche beziehen und den
Geist nicht mehr zum Betrachten eines Besondern, als
eines Andern, bestimmen. Daher besteht der rechte Weg
darin, aus einer gegebnen Definition Gedanken bilden,
und dies wird um so glücklicher und leichter von statten
gehn, je besser wir eine Sache definiert haben.
Eine vollkommne Definition muß das innerste Wesen einer
Sache erklären, aber nicht statt desselben nur einige be-
sondere Eigentümlichkeiten angeben. Zu einer guten De-
finition ist also folgendes erforderlich:
Ist der Gegenstand ein erschafifnes Ding, so muß i. in
der Definition seine nächste Ursache enthalten sein;
2. die Definition muß von der Art sein, daß man von ihr
auf alle Eigenschaften des Dinges schließen kann.
Ist der Gegenstand ein unerschaffnes Ding, so muß i. die
Definition jede Ursache ausschließen, d. h. das Objekt
hat zu seiner Erklärung nichts andres als sein eignes Sein
nötig; 2. es muß durch die Definition die Möglichkeit der
Frage, ob das Ding sei, aufgehoben sein; 3. sie darf, dem
Sinn nach, keine Substantive gebrauchen, welche adjek-
tivisch genommen werden können, d. h. sie darf durch;
keine ahstracta erklären; 4. endlich müssen alle Eigen-
schaften des Dinges aus der Definition folgen.
Was das zweite, nämlich die Ordnung und Verknüpfung
unsrer Erkenntnisse anbelangt, so müssen wir so bald als
möglich suchen, ob es ein Wesen gibt und welches, das
die Ursache aller Dinge und dessen objektives Wesen
SPINOZA 351
auch die Ursache aller unsrer Ideen sei; denn alsdann
wird unser Geist so weit als möglich die Natur wieder-
geben, denn sie wird ihr Wesen, ihre Ordnung und Ver-
bindung objektiv besitzen. Dazu ist es nötig, daß wir alle
i unsre Ideen von physischen, d. i. realen Dingen ableiten,
indem wir so weit als möglich nach der Reihe der Ur-
sachen von einem Realen zum andern fortschreiten. Unter
der Reihe der Ursachen und realen Wesen verstehe ich
aber hier nicht die Reihe der einzelnen, veränderlichen
Dinge, sondern nur die der ewigen und unveränderHchen.
Denn der menschlichen Schwäche ist es nicht vergönnt,
die Reihe der veränderlichen Dinge zu verfolgen, wegen
ihrer jede Zahl übersteigenden Menge und wegen der un-
zählichen Umstände, die machen können, daß eine Sache
sei oder nicht, da ja die Existenz derselben nicht zu ihrem.
Wesen gehört. Auch ist dies nicht nötig, da ja das Wesen
der veränderlichen Dinge nicht von dieser Reihe, die uns
nichts anders darbietet als äußere Benennungen, Verhält-
nisse und Umstände, sondern von den unveränderlichen
und ewigen Dingen herzuleiten ist, nach deren Gesetzen
alle einzelnen Dinge entstehen und geordnet werden, und
so wesentlich von ihnen abhängen, daß sie ohne dieselben
weder sein noch begriffen werden können. Utide haec fixa
et aeterna . . . [VL I, S. 33].
Die Reihe der einzelnen Dinge nun zu finden, ist höchst
schwierig; denn alle zugleich zu umfassen, übersteigt, wie
schon gesagt, die menschlichen Kräfte, und auf der an-
dern Seite kann man sie auch wieder nicht von den
ewigen Dingen herleiten. 31 em?n omnia haec sunt simul
natura [VL I, S. 34]. Wir müssen uns daher nach andern
Hülfsmitteln umsehen und womöglich durch richtigen Ge-
brauch der Sinne, durch die Erfahrung auf den rechten
Weg zu kommen suchen.
Was dagegen die Erkenntnis der ewigen Dinge anbelangt,
so haben wir, um zu ihr zu gelangen, nichts nötig, als
daß, wenn wir unsre Aufmerksamkeit auf einen Gedanken
richten, wir denselben durchdenken und alle Folgen ent-
wickeln, welche sich aus ihm ergeben. Ist er falsch, so
wird sich die Falschheit alsdann ergeben, ist er richtig.
35 2 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
so wird man ohne Unterbrechung fortfahren, die wahren
Ideen daraus herzuleiten.
Wollen wir nun das erste aller Dinge untersuchen, so
haben wir dazu ein Fundament nötig. Da aber die Me-
thode die reflexive Erkenntnis ist, so kann dies Funda-
ment nichts anders sein als die Erkenntnis dessen, was
die Form der Wahrheit ausmacht und die Erkenntnis des
Verstandes {intellectus\ seiner Eigenschaften und seiner
Kräfte.
Die Form der Wahrheit ist bereits abgehandelt; was da-
gegen letzte anbelangt, so merke man sich: intellectus
prop7'ietates haec sunt: . . . [folgt, z. T. gekürzt, die Auf-
zählung I — VIII aus dem letzten Teil des Tracf. de intell.
emend.: VL I, S. 35 f.]-
Ideae fictae et falsac nihil positivum Jiahcrtt [VE I,
8.36]-
Hinsichtlich der Frage, wie falsche Ideen in uns über-
haupt entstehen können, tut Spinoza eine Äußerung,
welche mir für sein System von Bedeutung erscheint:
Quod si de natura entis cogitantis sit^ cogitationes veras sive
adaequutas formare, certum esty ideas inadaequatas ex eo
tantum in nobis oriri^ quod pars sumus alicujus entis cogi-
tantis^ cujus quaedani cogitationes ex toto, quacdam ex parte
tantum nosti'am 7nentem constituunt [VL I, S, 25].
Sollen also die wahren und deutlichen Ideen diejenigen
sein, welche ex toto die Seele bilden, und die undeut-
lichen und falschen die ex parte^ Dagegen sagt er an
einem andern Ort, die unklaren Ideen entstünden ohne
unsern Willen; also durch etwas in uns, über das wir
nicht Herr sind. Ist das nicht ein Widerspruch?
Überhaupt ist die ganze in dem Tractatus de einend, an-
gestellte Untersuchung höchst mangelhaft und zum Teil
verworren; nur das, was am deutlichsten hervortritt, ist
die Wissenschaftslehre und die Angabe der Methode, wo-
nach er sein System einrichtete.
ÜBER SCHÄDELNERVEN
PROBEVORLESUNG IN ZÜRICH
bÜCHMER
) 355 c
Hochgeachtete Zuhörer!
ES treten uns auf dem Gebiete der physiologischen
und anatomischen Wissenschaften zwei sich gegen-
überstehende Grundansichten entgegen, die sogar ein na-
tionelles Gepräge tragen, indem die eine in England und
Frankreich, die andere in Deutschland überwiegt. Die
erste betrachtet alle Erscheinungen des organischen Le-
bens vom teleologischen Standpunkt aus; sie findet
die Lösung des Rätsels in dem Zweck, der Wirkimg, in
dem Nutzen der Verrichtung eines Organs. Sie kennt das
Individuum nur als etwas, das einen Zweck außer sich
erreichen soll, und nur in seiner Bestrebung, sich der
Außenwelt gegenüber teils als Individuum, teils als Art
zu behaupten. Jeder Organismus ist für sie eine ver-
wickelte Maschine, mit den künstlichen Mitteln ver-
sehen, sich bis auf einen gewissen Punkt zu erhalten.
Das Enthüllen der schönsten und reinsten Formen im
Menschen, die Vollkommenheit der edelsten Organe, in
denen die Psyche fast den Stoff zu durchbrechen und sich
hinter den leichtesten Schleiern zu bewegen scheint, ist
für sie nur das Maximum einer solchen Maschine. Sie
macht den Schädel zu einem künstlichen Gewölbe mit
Strebepfeilern, bestimmt, seinen Bewohner, das Gehirn,
zu schützen,— Wangen und Lippen zu einem Kau- und
Respirationsapparat, — das Auge zu einem komplizierten
Glase,— die Augenlider und Wimpern zu dessen Vor-
hängen;— ja die Träne ist nur der Wassertropfen, welcher
es feucht erhält. Man sieht, es ist ein weiter Sprung von
da bis zu dem Enthusiasmus, mit dem Lavater sich glück-
lich preist, daß er von so was Göttlichem wie den Lippen
reden dürfe.
Die teleologische Methode bewegt sich in einem ewigen
Zirkel, indem sie die Wirkungen der Organe als Zwecke
voraussetzt. Sie sagt zum Beispiel: Soll das Auge seine
Funktion versehen, so muß die Hornhaut feucht erhalten
werden, und somit ist eine Tränendrüse nötig. Diese ist
also vorhanden, damit das Auge feucht erhalten werde,
und somit ist das Auftreten dieses Organs erklärt; es gibt
nichts weiter zu fragen. Die entgegengesetzte Ansicht
3S6 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
sagt dagegen: die Tränendrüse ist nicht da, damit das
Auge feucht werde, sondern das Auge wird feucht, weil
eine Tränendrüse da ist, oder, um ein anderes Beispiel
zu geben, wir haben nicht Hände, damit wir greifen kön-
nen, sondern wir greifen, weil wir Hände haben. Die
größtmöglichste Zweckmäßigkeit ist das einzige Gesetz
der teleologischen Methode; nun fragt man aber natürlich
nach dem Zwecke dieses Zweckes, und so macht sie auch
ebenso natürlich bei jeder Frage einen progressus in in-
finitum.
Die Natur handelt nicht nach Zwecken, sie reibt sich
nicht in einer unendlichen Reihe von Zwecken auf, von
denen der eine den anderen bedingt; sondern sie ist in
allen ihren Äußerungen sich unmittelbar selbst genug.
Alles, was ist, ist um seiner selbst willen da. Das Gesetz
dieses Seins zu suchen, ist das Ziel der, der teleologi-
schen gegenüberstehenden Ansicht, die ich die philo-
sophische nennen will. Alles, was für jene Zweck ist,
wird für diese Wirkung. Wo die teleologische Schule
mit ihrer Antwort fertig ist, fängt die Frage für die philo-
sophische an. Diese Frage, die uns auf allen Punkten an-
redet, kann ihre Antwort nur in einem Grundgesetze für
die gesamte Organisation finden, und so wird für die
philosophische Methode das ganze körperliche Dasein
des Individuums nicht zu seiner eigenen Erhaltung auf-
gebracht, sondern es wird die Manifestation eines Ur-
gesetzes, eines Gesetzes der Schönheit, das nach den ein-
fachsten Rissen und Linien die höchsten und reinsten
Formen hervorbringt. Alles, Form und Stoff, ist für sie
an dies Gesetz gebunden. Alle Funktionen sind Wir-
kungen desselben; sie werden durch keine äußeren Zwecke
bestimmt, und ihr sogenanntes zweckmäßiges Aufein-
ander- und Zusammenwirken ist nichts weiter als die
notwendige Harmonie in den Äußerungen eines und des-
selben Gesetzes, dessen Wirkungen sich natürlich nicht
gegenseitig zerstören.
Die Frage nach einem solchen Gesetze führte von selbst
zu den zwei Quellen der Erkenntnis, aus denen der En-
thusiasmus des absoluten Wissens sich von je berauscht
ÜBER SCHÄDELNERVEN 357
hat, der Anschauung des Mystikers und dem Dogmatismus
des Vernunftphilosophen. Daß es bis jetzt gelungen sei,
zwischen letzterem und dem Naturleben, das wir un-
mittelbar wahrnehmen, eine Brücke zu schlagen, muß die
Kritik verneinen. Die Philosophie a priori sitzt noch in
einer trostlosen Wüste; sie hat einen weiten Weg zwi-
schen sich und dem frischen grünen Leben, und es ist
1 eine große Frage, ob sie ihn je zurücklegen wird. Bei
I den geistreichen Versuchen, die sie gemacht hat, weiter
\ zu kommen, muß sie sich mit der Resignation begnügen,
j bei dem Streben handle es sich nicht um die Erreichung
] des Ziels, sondern um das Streben selbst.
j War nun auch nichts absolut Befriedigendes erreicht, so
I genügte doch der Sinn dieser Bestrebungen, dem Natur-
studium eine andere Gestalt zu geben; und hatte man
f auch die Quelle nicht gefunden, so hörte man doch an
I vielen Stellen den Strom in der Tiefe rauschen, und an
I manchen Orten sprang das Wasser frisch und hell auf.
j Namentlich erfreuten sich die Botanik und Zoologie, die
Physiologie und vergleichende Anatomie eines bedeuten-
den Fortschritts. In einem ungeheuren, durch den Fleiß
von Jahrhunderten zusammengeschleppten Material, das
kaum unter die Ordnung eines Kataloges gebracht war,
bildeten sich einfache, natürliche Gruppen; ein Gewirr
seltsamer Formen unter den abenteuerlichsten Namen
löste sich im schönsten Ebenmaß auf; eine Masse Dinge,
die sonst nur als getrennte, weit auseinander liegende
Facta das Gedächtnis beschwerten, rückten zusammen,
entwickelten sich auseinander oder stellten sich in Gegen-
sätzen gegenüber. Hat man auch nichts Ganzes erreicht,
so kamen doch zusammenhängende Strecken zum Vor-
schein, und das Auge, das an einer Unzahl von Tatsachen
ermüdet, ruht mit Wohlgefallen auf so schönen Stellen
wie die Metamorphose der Pflanze aus dem Blatt, die
Ableitung des Skeletts aus der Wirbelform, die Meta-
morphose, ja die Metempsychose des Fötus während des
Fruchtlebens, die Repräsentationsidee O^ens in der Klassi-
fikation des Tierreichs u. dgl. m. In der vergleichenden
Anatomie strebte alles nach einer gewissen Einheit, nach
358 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
dem Zurückführen aller Formen auf den einfachsten pri-
mitiven Typus. [Klar war man sich über die Bejdeutung
der Gebilde des vegetativen [Nervensystems für die Aus-
bildung] des Skeletts; nur für das [Gehirn ließ sich bis]
jetzt kein so glückliches Resultat zeigen. [Wenn Okeii] ge-
sagt hatte: der Schädel ist eine Wirbelsäule, so mußte
man auch sagen: das Hirn ist ein metamorphosiertes
Rückenmark, und die Hirnnerven sind Spinalnerven. Wie
aber dies im einzelnen nachzuweisen sei, bleibt bis jetzt
ein schweres Rätsel. Wie können die Massen des Ge-
hirns auf die einfache Form des Rückenmarks zurückge-
führt werden? Wie kann man die in ihrem Ursprung und
Verlauf so verwickelten Nerven des Gehirns mit den so
gleichmäßig mit ihrer doppelten Wurzelreihe längs des
Rückenmarks entspringenden und im ganzen so einfach
und regelmäßig verlaufenden Spinalnerven vergleichen,
und wie endlich ihr Verhältnis zu den Schädelwirbeln
dartun? Mancherlei Antworten wurden auf diese Fragen
versucht. Eine besondere Mühe verwendete Carus dar-
auf. Hier die Art, wie er die Hirnnerven in seinem Werke
,,Von den Urteilen des Knochen- und Schalengerüstes-
ordnet. Das Gehirn hat nach ihm drei Hauptanschwele
lungen: die Hemisphären, die Vierhügel und das klein"
Gehirn. Diesen entsprechen drei Paar Schädelnerven.
Jeder Schädelnerv entspringt gleich den Spinalnerven mit
zwei Wurzeln, einer hinteren und einer vorderen, die
sich aber nicht zu einem gemeinschaftlichen Stamm ver-
einigen, sondern jede für sich einen eigentümlichen Ner-
ven bilden. Die drei hinteren Wurzeln sind nun der
Riech-, Seh- und Hörnerv, die vorderen dagegen das
fünfte Paar, entsprechend dem Sehnerven, und das zehnte
Paar, entsprechend dem Hörnerven, während die vordere
Wurzel des [Riechnerven durch das Infundibulum] nur
rudimentär angedeutet ist. [Die übrigen Hirnnerven er-
weisen] sich als Unterabteilungen dieser [Hauptstämme.
So zerfällt die hintere] Wurzel des zweiten Schädelnerven
[in den opticus und patheticus] und die vordere in den
facialis, oculomotorius [abducens und den] eigentlichen
trigeminus, und so zerfällt die vordere Wurzel des dritten
ÜBER SCHÄDELNERVEN 359
Schädelnerven in den glossopharyngeus, hypoglossus, ac-
cessorius Willis und eigentlichen vagus. Man braucht nur
aufmerksam zu machen, wie unpassend es sei, zwei so
deutliche Empfindungsnerven wie den vagus und trige-
minus zu isolierten motorischen Wurzeln zu machen, um
das Ungenügende dieser Anordnung nachzuweisen. Der
bedeutendsteVersuch ist wohl der, welchen ^r/z^/^ machte.
Er zählt zwei Schädelwirbel; daraus ergeben sich zwei
Intervertebrallöcher und somit zwei Paar Schädelnerven.
Die vordere oder die motorische Wurzel des ersten Schädel-
nerven bildet die drei Muskelnerven des Auges und die
kleine Portion des trigeminus; die hintere dagegen die
große Portion dieses Nerven. Was den zweiten Schädel-
nerven betrifft, so geht seine vordere Wurzel in den hypo-
glossus und den Beinerven und seine hintere in den vagus
über. Die Knoten des vagus und trigeminus entsprechen
den Spinalknoten. Der facialis wird zum vorderen, der
glossopharyngeus zum hinteren Schädelnerven gerechnet,
ohne daß sie jedoch einer von beiden Wurzeln beigezählt
würden; sondern sie werden als gemischte, aus Bewegungs-
und Empfindungsfäden zusammengesetzte Nerven betrach-
tet. Die obere Augenhöhlenspalte und das zerrissene Loch
bilden die zwei Intervertebrallöcher; das ovale und runde
Loch werden als zu der ersteren, das Gelenkhügelloch als
zu dem letzteren gehörig [betrachtet. Die Nerven des Ge-
sichts], Geruchs und Gehörs machen [eine besondere
Gruppe aus; sie] werden nicht als eigentliche [Hirnnerven,
sondern als Ausstülpungen des Gehirns betrachtet, [eine
Anschauung, die] auf ihre Entwicklung beim Fötus, ihren
Mangel an Knoten, die den Spinalknoten entsprächen, und
auf ihr Unvermögen, eine andere Empfindung als die ihres
eigentümlichen Sinnes zur Erkenntnis zu bringen, basiert
wird. Gegen diese Einteilung, welche sich, wie man auf
den ersten Blick sieht, im höchsten Grade durch ihre
Einfachheit empfiehlt, erheben sich jedoch mehrere be-
deutende Gründe, namentlich macht das Absondern der
drei höheren Sinnesnerven Schwierigkeiten. Die passive
Seite des Nervenlebens erscheint unter der allgemeinen
Form der Sensibilität; die sogenannten einzelnen Sinne
36o NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
sind nichts als Modifikationen dieses allgemeinen Sinnes,
Sehen, Hören, Riechen, Schmecken sind nur die feineren
Blüten desselben. So ergibt es sich aus der stufenweisen
Betrachtung der Organismen. Man kann Schritt für Schritt
verfolgen, wie von dem einfachsten Organismus an, wo
alle Nerventätigkeit in einem dumpfen Gemeingefühl be-
steht, nach und nach besondere Sinnesorgane sich ab-
gliedern und ausbilden. Ihre Sinne sind nichts neu Hin-
zugefügtes, sie sind nur Modifikationen in einer höheren
Potenz. Das nämliche gilt natürlich von den Nerven,
welche ihre Funktionen vermitteln; sie erscheinen unter
einer vollkommneren Form als die übrigen Empfindungs-
nerven, ohne deswegen ihren ursprünglichen Typus zu
verlieren. Jeder Empfindungsnerv charakterisiert sich aber
bei den Wirbeltieren als ein aus den hinteren Mark-
strängen entspringendes Wurzelbündel, und somit sind
die drei höheren Sinnesnerven nichts weiter als isoliert
gebliebne sensible Wurzeln. Bei den Fischen wird dies
Verhalten ziemlich deutlich, und bei den Cyprinen glaube
ich ihren Ursprung von den hinteren Marksträngen oder
den oberen Pyramiden gleich den übrigen Empfindungs-
nerven nachgewiesen zu haben. Übrigens würde mich die
weitere Diskussion dieser Frage, über die noch vieles zu
sagen wäre, zu weit führen.
... Es dürfte wohl immer verg[eblich sein, die Lösung
des Problems in der] verwickeltsten Form, nämlich bei
dem [Menschen zu versuchen.] Die einfachsten Formen
leiten immer am sichersten, [weil in] ihnen sich nur das
Ursprüngliche, absolut Notwendige zeigt. Diese einfache
Form bietet uns nun die Natur für dieses Problem ent-
weder vorübergehend im Fötus oder stehen geblieben,
selbständig geworden, in den niedern Wirbeltieren dar.
Die Formen wechseln jedoch beim Fötus so rasch und
sind oft nur so flüchtig angedeutet, daß man nur mit der
größten Schwierigkeit zu einigermaßen genügenden Re-
sultaten gelangen kann, während sie bei den niedrigen
Wirbeltieren zu einer vollständigen Ausbildung gelangen
und uns so die Zeit lassen, sie in ihrem einfachsten und
LTBER SCHADELNERVEN 361
bestimmtesten Typus zu studieren. Es fragt sich also in
imserem Falle: Welche Schädelnerven treten bei den
niedrigsten Wirbeltieren zuerst auf? wie verhalten sie sich
zu den Himmassen und den Schädel wirbeln? und nach
welchen Gesetzen wird, die Reihe der Wirbeltiere durch
bis zum Menschen, ihre Zahl vermehrt oder vermindert,
ihr Verlauf einfacher oder verwickelter? Faßt man nun
die Tatsachen, welche die Wissenschaft uns bis jetzt an
die Hand gibt, zusammen, so findet man neun Paar Schä-
delnerven, nämlich den olfactivus, opticus, die drei Mus-
kelnerven des Auges, den trigeminus, acusticus, vagus
und hypoglossus bei allen Klassen der Wirbeltiere, wäh-
rend die drei [übrigen Schädelnerven, nämlich der facialis,
glossopharyngeus] und accessorius Willisii, bald [als selb-
ständige Nerven ausgebildet sind, bald] nur als Äste des
vagus [oder des trigeminus auftreten,] oder gänzlich ver-
schwinden. [So tr]itt bei den Fischen der facialis als
der Deckelast des 5 . Paares auf, verschwindet dann bei
der Mehrzahl der Reptilien und Vögel, und zeigt sich
wieder bei den Säugetieren in dem Maße, als die Phy-
siognomie mehr Ausdruck bekommt und die Nasenrespi-
ration bedeutender wird. So tritt der glossopharyngeus
bei den Fischen zwar als ein selbständiger Stamm auf,
verhält sich jedoch durch seine Verteilung an die erste
Kieme ganz wie ein Ast des vagus, verschmilzt dann bei
den Batrachiern und Ophidiem mit dem vagus, dessen
ramus lingualis er bildet, isoliert sich wieder bei den
Cheloniern und bleibt endlich bei den Vögeln und Säuge-
tieren ein selbständiger Nerv. So zeigt sich bei den
Fischen und Batrachiern keine Spur von einem Beinerven,
indem der vagus selbst die motorischen Fäden abgibt;
erst bei den Sauriern, Cheloniern und Vögeln fängt er an
sich zu isolieren, und selbst bei den Säugetieren ist er
im allgemeinen eigentlich nicht von dem vagus getrennt.
Ich nenne diese drei Nervenpaare abgeleitete Nerven
und betrachte sie, wo sie selbständig auftreten, als iso-
lierte Zweige des vagus und trigeminus, deren Isolation
von der mehr oder weniger gesteigerten Funktion ihres
Primitivnervenstammes abhängt. Damit wird das Problem
362 NATURWISSENSCH. U. PHTLOS. SCHRIFTEN
viel einfacher und [es erhebt sich nun die Frage: wie lassen]
sich die übrigen Paare auf den [Typus der Spinalnerven]
zurückführen? — Jeder Spinalnerv entspringt, [wenn er den
Rückenmarkkanal verläßt,] zwei Wurzelbündeln, einem
vorderen die Bewegung, [und einem] hinteren die Emp-
findung vermittelnden. Beide Wurzeln vereinigen sich in
einer gewissen Distanz vom Mark zu einem gemeinschaft-
lichen Nervenstamm. Je zwei Spinalnerven bilden durch
ihre Insertion einen Markabschnitt, dem ein Wirbel ent-
spricht. Dies das einfachste Verhältnis, Auf welche Weise
kann nun dasselbe modifiziert werden.^
1. Beide Wurzeln vereinigen sich nicht mehr zu einem
gemeinschaftlichen Stamm, sondern jede bleibt isoliert
und bildet einen eignen, rein motorischen oder rein sen-
sibeln Nerven.
2. Beide Wurzeln vereinigen sich zwar, doch tritt eine
partielle Trennung in ihren Fäden ein, so daß in den
Ästen, welche der von ihnen zusammengesetzte Nerv ab-
gibt, die motorischen und sensibeln Fäden nicht mehr
gleichmäßig verteilt sind. Dies Verhalten bildet den Über-
gang zu dem vorhergehenden.
3. Eine von den Wurzeln avortiert, so daß sich nur die
andere entwickelt.
4. So wie von den zwei Wurzeln jede einen besondern
Nerven bilden kann, so kann dieser Nerv selbst wieder
in mehrere isolierte Stämme zerfallen.
Auf diese vier Modifikationen nun lassen sich, wie ich
sogleich nachweisen werde, die Unterschiede zwischen
den Schädel- [und Spinalnerven zurückführen. Mit ihrer]
Hülfe lassen sich sechs [Hirnnervenpaare unterscheiden,]
denen entsprechend ich sechs Schädel wirbel [annehme,
wie ich sie speziell bei den Fischen] gefunden zu haben
glaube. [Die sechs] Paar Schädelnerven sind: der Zungen-
fleischnerv, der vagus, der Hörnerv, das 5. Paar, der Seh-
nerv mit dem Muskelnerv des Auges imd der Riechnerv.
Nichts ist leichter, als nachzuweisen, daß der hypoglossus
ursprünglich mit einer hintern Wurzel und einem Spinal-
knoten versehen sei, und somit so gut als jeder andre
Spinalnerv als ein selbständiger Nervenstamm betrachtet
ÜBER SCHÄDELNERVEN 363
werden müsse. Bei den Fischen entspringt der letzte
Schädelnerv mit einer vorderen breiten und einer hin-
teren feinen mit einem Knoten versehenen Wurzel. Er
tritt durch ein eigenes Loch aus der Schädelhöhle und
teilt sich darauf in zwei Äste, einen vorderen und einen
hinteren. Der vordere läuft, indem er einen Bogen bildet,
nach vorn zu den Muskeln des Zimgenbeins, der hintere
vereinigt sich mit dem ersten Spinalnerven und geht zur
vorderen Extremität. Die Bedeutung dieses Nerven als
hypoglossus ergibt sich fast auf den ersten Blick, indem
der vordere Ast dem Bogen, der hintere der ansa ent-
spricht. Der Frosch liefert übrigens den direkten Beweis.
Zwischen dem vagus und dem ersten Spinalnerven ent-
springt ein Nerv mit zwei Wurzeln, gerade wie bei den
Fischen; er teilt sich ebenfalls in zwei Äste, einen [vor-
deren, der sich an die Muskulatur der] Zunge verteilt und
[einen hinteren, der bei den Fischen und den höheren
Wirbeltieren] zur vorderen Extremität geht. [Es ist ohne
weiteres klar, daß dieser] Nerv dem hypoglossus der höhe-
ren Tiere entspricht, und [eben]so evident, daß er mit
dem fraglichen Nerven der Fische identisch ist. Bei den
Fischen und Fröschen erscheint also der hypoglossus als
ein selbständiger Nerv [und zeigt] auf das deutlichste
den Typus eines Spinalnerven. [Ja, noch] mehr, bei dem
Frosch ist er eigentlich der erste Spinalnerv, indem der
ihm entsprechende Schädelwirbel [sich] wieder in einen
Rückenwirbel verwandelt hat und somit der vagus der
letzte Gehirnnerv ist. Außerdem hat Maier selbst bei ver-
schiednen Säugetieren und einmal sogar bei dem Men-
schen, eine feinere, hintere, mit einem Knötchen ver-
sehene Wurzel des hypoglossus gefunden.— Bei dem hypo-
glossus des Menschen tritt also die dritte der erwähnten
Modifikationen ein: die Empfindungswurzel ist avortiert
und nur die motorische hat sich entwickelt, ein Verhält-
nis, das übrigens schon bei dem Fisch und Frosch dui-ch
das Überwiegen der vorderen Wurzel über die hintere
angedeutet ist.
Was den trigeminus anbelangt, so ist selbst bei dem
Menschen, aus dem eigentümlichen Verhältnisse seiner
364 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
portio major und minor, seine Analogie mit dem Spinal-
nerven unverkennbar und längst anerkannt.
[Ähnlich liegen die Verhältnisse bei den] Fischen, wo
außerdem [eine enge Beziehung zwischen dem trigeminus
und dem facialis besteht, und wo die eigenjartigen Gebilde
des [ramus opercularis vorhanden sind, der als hauptsäch-
lich motorischer Ast der vordem Wurzel der] Spinalnerven
entspricht.
[Mit dem] vagus hat die Sache bei den höheren Tieren
mehr Schwier[igkeit], doch helfen auch hier die niederen
Formen. So entspringt bei dem Hecht z. B. der vagus
aufs deutlichste mit zwei Wurzeln, einer vorderen und
hinteren, die sich erst nach ziemhch langem Verlauf bei
ihrem Austritt aus der Schädelhöhle [vereinigen] und
daselbst einen Knoten zeigen. Dieser Spinalknoten [des]
vagus ist bei vielen Fischen von enormer Größe und
findet sich, wie bekannt, noch bei dem Menschen. Vagus
und trige[minus] bieten die zweite Modifikation dar, näm-
lich die partielle Trennung der motorischen und sensibeln
Fäden in den Stämmen, in welche diese Nerven sich
teilen, nämlich den facialis, giossopharyngeus und acces-
sorius Willisii, wie ich bereits gezeigt habe. Im vagus
wird diese Trennung vollständiger als beim trigeminus,
wenigstens scheint dies aus dem Verhältnis des Beinerven
zum vagus hervorzugehen, indem letzterer wirklich ohne
alle motorische Fäden zu sein scheint. — Das 10. mid
5. Paar zeigen in der ganzen Reihe der Wirbeltiere eine
auffallende Symmetrie. Der vagus verhält sich zur Brust-
und Bauchhöhle wie der trigeminus zur Wiederholung
dieser Höhlen am Kopf, nämlich der Mund- und Nasen-
höhle. Kurz, der trigeminus ist ein vagus in einer höheren
Potenz. Dies Verhältnis wird bei den Säugetieren beson-
ders deutlich. Das 10. Paar teilt sich in drei Nerven-
stämme, den accessorius Willisii, den eigentlichen vagus
und den giossopharyngeus; das 5. Paar ebenfalls in drei,
den facialis, den [eigentlichen trigeminus und den Zungen-
ast des trigeminus, den] man ebensogut als [vollständig
selbständigen Nerven auffassen kann.] Wie der acces-
sorius Willisii Atemnerv [des Halses und eines Teiles der
ÜBER SCHÄDELNERVEN 365
Brusthöhle ist, so ist] der facialis Respirationsnerv des
Kopfes; wie der [Vagusstamm der Empfindungsnerv des]
Darmkanals ist, so ist der Zungenast des trigeminus [der
sensible Nerv der Zunge,] diesem vollkommensten Teile
des Darmkanals, diesem Organe [des Eingeweidesinnes,]
wie Oken so sinnreich den Geschmack nennt. Endlich
wie [der vagus den] glossopharyngeus als [Geschmacks] -
nerven zur Zunge, so schickt der trigeminus den [getrennt
verlaufenden ophthalmicus] als Hülfsnerven [zur Nase]
und dem Auge.
Es bleibt mir jetzt noch die Analogie der drei höheren
Sinnesnerven mit den Spinalnerven nachzuweisen. Der
acusticus und olfactivus sind als hintere Wurzeln zu be-
trachten, deren vordere avortiert ist. Die Analogie, wor-
aus ich dies schließe, liefert der hypoglossus, dessen
hintere bei den Fischen, Fröschen und manchen Säuge-
tieren vorkommende Wurzel bei dem Menschen avortiert,
während nur die vordere sich entwickelte. Das Umge-
kehrte ist bei dem acusticus und olfactivus der Fall; nur
die hintere Wurzel entwickelt sich und die vordere avor-
tiert. Für beide wird die motorische Wurzel durch den
facialis ersetzt. Für den acusticus erklärt sich dies leicht,
wenn man bedenkt, in welchem Verhältnis der dem fa-
cialis entsprechende Deckelast der Fische zu der Kiemen-
höhle steht. Okcn hat nämlich nachgewiesen, das Ohr
mit Ausnahme des Labyrinths sei nur eine metamorpho-
sierte Kiemenhöhle, und so sieht man leicht, daß die
Fäden, welche der facialis bei Vögeln und Säugetieren
dem äußeren imd inneren Ohr gibt, das Verhältnis des
Deckelastes zur Kiemenhöhle wiederholen.
In dem Sehnerven und den Muskelnerven des Auges
treten endlich beide Wurzeln als isolierte Nerven auf, die
hintere als 2., die vordere als 3., 4. und 6. Paar, indem
diese letzteren der vierten Modifikation, [wo eine Wurzel
wieder in besondere isolierte Nervenstämme zerfällt, ent-
spricht.] Das 3. und 6. Paar [entspringen ganz nahe bei-
einander und ungefähr auf gleicher Höhe,] das eine vor
dem [andern, und bilden so zwei Fäden einer gemein-
samen Wurzel,] von denen der eine [etwas früher als der
366 NATURWISSENSCH. U. PHILOS. SCHRIFTEN
andere aus dem] Mark tritt. Das 4. Paar macht dagegen
[größere Schwierigkeiten,] doch sein Verhalten bei man-
chen Fischen hebt sie größtenteils. [Es entspringt bei] den
Cyprinen und dem Hecht vom äußeren Rand der vorderen
Pyrami[denstränge, folglich vom nämlichen Markstrang
wie das 3. und 6.
In dem [Augen]muskelnerv erreicht der Nerv als solcher
seine höchste Entfaltung; [er verhält] sich, um ein Beispiel
zu geben, zu den übrigen Nerven wie der Huf [des Pferdes]
zu der Hand des Menschen. Was in dem ersteren noch
verbunden liegt, glie[dert] sich in der letzteren im schön-
sten Verhältnis ab. Diese Entwicklung fällt mit der Be-
deutung des Auges zusammen, von dem Oken wahrhaftig
mit Recht [sagt,] es sei das höchste Organ, die Blüte oder
vielmehr die Frucht aller organischen Reiche.
So wären denn sechs Paar Schädelnerven gefmiden: i. der
Riechnerv, 2. der Sehnerv, mit dem 3., 4« und 6. Paar,
3. der trigeminus, 4. der acusticus, 5. der vagus, 6. der
hypoglossus.
Ihre rechte Begründung kann übrigens diese Einteilung
der Schädelnerven erst durch ihre Vergleichung mit den
Schädelknochen erhalten. Diese jedoch auszuführen und
nachzuweisen, wie ich diesen sechs Paaren sechs Schädel-
wirbel entsprechend gefunden zu haben glaube, erlaubt
die Zeit nicht.
Vergleicht man endlich die Schädelnerven untereinander,
so findet man, daß sie sich in zwei Gruppen teilen. Die
eine, gebildet vom acusticus und opticus, diesen Nerven
des Schalls und des Lichts, ist der reinste Ausdruck des
animalen Lebens; die andere, bestehend aus dem hypo-
glossus, vagus, trigeminus und olfactivus, erhöht das vege-
tative zum animalen Leben. So werden wir uns des Aktes
der Verdauung und der Respi[ration durch den vagus be-
wußt, so wird die Zunge als] ein wesent[licher Bestandteil
des Verdauungskanals durch den Einfluß] des hypoglossus
dem Willen [unterworfen und dadurch ein] wahres Glied
des Kopfes; so entwickeln sich [Geschmack und Geruch]
als die Sinne des Darm- und des Atemsystems [unter dem]
Einflüsse des trigeminus und des olfac[tivus. Die Nerven]
ÜBER SCHÄDELNERVEN 367
dieser letzteren Gruppe unterscheiden sich jedoch dadurch
[nicht] wesentlicher von den übrigen Spinalnerven als die
Lendennerven, welche zu den Organen der Zeugung gehn.
Die ersteren verhalten sich zur Verdauung und Respiration
wie die letzteren zu den Geschlechtsverrichtungen. Außer-
dem sind ja alle Spinalnerven durch ihren Einfluß auf die
Respirationsbewegungen ebenfalls an das vegetative Leben
geknüpft . . .
ÜBERSETZUNGEN
BÜCHNER 24.
LUCRETIA BORGIA
EIN DRAMA VON VICTOR HUGO
PERSONEN
DONNA I.UCRETIA BORGIA
DON ALPHONS VON ESTE
GENNARO
GUBETTA
MAFFIO ORSINI
JEPPO LIVERETTO
DON APOSTOLO G AZELT, A
ASCANIO PETRUCCI
OLOFERNO VITELL0Z7.O
RUSTIGHEEEO
ASTOLFO
DIE FÜRSTIN NEGRONI
EIN TÜRSTEHER
Mönche, Edelleute, Pagen, Wachen
Venedig, Ferrara
> 373 C
ERSTE HANDLUNG
SCHANDE ÜBER SCHANDE
Personen
DONNA LUCRETIA BORGIA ASCANIO PETRUCCI
GENNARO OLOFERNO VITELLOZZO
GUBETTA DON ALPHONS VON ESTE
MAFFIO ORSINI RÜSTIGHELLO
JEPPO LIVERETTO ASTOLFO
DON APOSTOLO GAZELLA
Ei7ie Terrasse des Palastes Barbarigo zu Venedig. Ein
nächtliches Fest. Masken gehen zuweilen über die Bühne.
Zu beide?! Seiten der Terrasse ist der Palast prächtig er-
leuchtet. Man hört den Ton vo7i Fanfaren. Dunkel und
Gesträuch decken die Terrasse. Man nimmt an^ daß im
Hintergrund unterhalb der Terrasse der Ka^ial de la Zucca
fließe; man sieht auf ihm zuweilen mit Masken und Mu-
sikern besetzte und halb erleuchtete Gondeln vorüberfahren.
Jede dieser Go?ideln fährt über den Hifttergrund der Bühne
unter einer bald gefälligen, bald traurigen Musik, die nach
und nach in der Ferfie verhallt. Im Hintergründe Venedig
vo?n Mondlicht beleuchtet.
ERSTE SZENE
Junge He?'re?i, glänzend gekleidet, die Masken in den Hän-
den, pl-audern auf der Terrasse. Gubetta. Gennaro, als
Hauptmanfi gekleidet. Don Apostolo Gazella. Maffio Or-
sini. Asca7iio Petrucci. Oloferno Vitellozzo. Jeppo Liveretto.
OLOFERNO. Wir leben in einer Zeit, worin so viel
Schreckliches geschieht, daß man von diesem da nicht
mehr spricht; aber gewiß, nie trug sich etwas Unheim-
licheres und Geheimnisvolleres zu.
ASCANIO. Ein schwarzes Werk von schwarzen Händen
vollbracht.
JEPPO. Ich kenne die Tatsachen, meine Herren. Ich
habe sie von meinem sehr ehrwürdigen Vetter, dem Kar-
dinal Carriola, der besser unterrichtet war als sonst je-
mand. Ihr wißt ja, der Kardinal Carriola, der sich so
heftig mit dem Kardinal Riario über den Krieg gegen
Karl Vni. von Frankreich zankte:
374 ÜBERSETZUNGEN
GENNARO {gähnend). Ah! jetzt wird uns Jeppo Ge-
schichten erzählen. Ich für meinen Teil höre nichts. Ich
bin müde genug ohne das.
MAFFIO. Du kümmerst dich um diese Sache nicht,
Gennaro, und das ist ganz natürlich. Du bist ein tapferer
Soldat, ein Abenteuerer. Du führst einen Phantasienamen.
Du kennst weder Vater noch Mutter. An der Art, wie
du deinen Degen führst, sollte man nicht zweifeln, daß
du ein Edelmann bist, und doch weiß man nichts von
deinem Adel, als daß du dich wie ein Löwe schlägst.
Bei meiner Seele, wir sind Waffenbrüder, und ich sage
dir das nicht, um dich zu kränken. Du hast mir das Leben
zu Rimini gerettet, ich rettete dir es auf der Brücke von
Vicenzia. Wir schwuren einander, uns in Gefahren, wie
in der Liebe zu helfen, uns gegenseitig zu rächen, wenn
es nötig sei, mit niemanden zu streiten, als ich mit deinen
und du mit meinen Feinden. Ein Astrologe hat uns ge-
weissagt, daß wir am nämlichen Tage sterben würden,
und wir haben ihm sechs Goldzechinen für die Prophe-
zeiung gegeben. Wir sind nicht Freunde, wir sind Brüder.
Doch endlich, du hast das Glück, ganz einfach Gennaro
zu heißen, niemanden anzugehören, nichts von dem oft
erblichen Fatalismus, der sich an den Namen der Ge-
schlechter knüpft, mit dir zu schleppen. Du bist glücklich!
Was liegt dir an dem, was geschieht und was geschah,
solange es nur Männer für den Krieg und Weiber für
den Genuß gibt? Was kümmert dich, Kind der Fahne,
das weder Stadt noch Familie hat, was kümmert dich die
Geschichte der Städte und Famihen? Mit uns, Gennaro,
siehst du, ist's anders. Wir sind berechtigt, an den Er-
eignissen unserer Zeit teilzunehmen. Unsere Väter und
Mütter spielten in diesen Tragödien mit, und fast alle un-
sere Familien bluten noch. Erzähle uns, Jeppo, was du
weißt.
GENNARO [wirft sich in einen Sessel, als wolle er sich
de7n Schlaf überlasse??). Ihr werdet mich aufwecken, wenn
Jeppo fertig ist.
JEPPO. Seht, es war 1404 ....
GUBETTA (/;/ einem Winkel der Buhne). 97 ... .
LUCRETIA BORGIA. ERSTE HANDLUNG 375
JEPPO. Ja recht so, 1497. In einer gewissen Nacht vom
Mittwoch zum Donnerstag.
GUBETTA. Nein, vom Dienstag zum Mittwoch.
JEPPO. Ihr habt recht. In dieser Nacht also sah ein
Tiberschiffer, der in seinem Fahrzeug am Ufer lag, um
seine Waren zu bewachen, etwas Entsetzliches. Es war
ein wenig unterhalb der Kirche des heiligen Hieronymus.
Es mochten fünf Stunden nach Mitternacht sein, als der
Schiffer im Finstem auf dem Wege links der Kirche zwei
Männer sah, die ängstlich da- und dorthin gingen. Dann
kamen noch zwei andere und endlich drei; sieben in allem.
Einer davon war zu Pferde. Die Nacht war ziemlich
finster. In den Häusern, die auf die Tiber gehen, war
kein Licht mehr hell. Die sieben Männer näherten sich
dem Ufer. Der zu Pferde wandte das Hinterteil seines
Tieres nach der Tiber, und der Schiffer sah dann deut-
lich Beine, die auf der einen, Kopf und Arme, die auf der
andern Seite herunterhingen; es war die Leiche eines
Mannes. Während nun ihre Kameraden die Gassenecken
bewachten, nahmen zwei von denen, die zu Fuß waren,
den toten Körper, schwangen ihn mit Macht zwei- oder
dreimal und schleuderten ihn dann mitten in die Tiber.
Im Augenblick, wo die Leiche auf das Wasser schlug, tat
der zu Pferde eine Frage, worauf die beiden andern ant-
worteten: Ja, mein Herr! Alsdann wandte der Reiter sich
wieder nach der Tiber und sah was Schwarzes, das auf
dem Wasser schwamm. Er frug, was das sei. Man ant-
wortete: Mein Herr, das ist der Mantel des toten Herrn.
Und einer von dem Haufen warf Steine nach dem Mantel,
so daß er untersank. Darauf gingen sie alle zusammen
hinweg und schlugen den Weg nach St. Jakob ein. Das
ist das, was der Schiffer gesehen.
MAFFIO. Ein schauerliches Abenteuer! War es jemand
von Bedeutung, den diese Männer so ins Wasser warfen.-
Dies Pferd macht einen seltsamen Eindruck auf mich; der
Mord auf dem Sattel und der Tod auf dem Kreuz.
GUBETTA. Auf dem Pferde waren die zwei Brüder.
JEPPO. Wie Ihr sagt, Herr von Belverana. Die Leiche
war Johann Borgia, der Reiter war Cäsar Borgia.
376 ÜBERSETZUNGEN
MAFFIO. Eine Familie von Teufeln diese Borgia! Und
sage mir, Jeppo, warum schlug der Bruder so den Bruder?
JEPPO. Das werde ich Euch nicht sagen. Die Ursache
des Mordes ist so abscheulich, daß es eine Todsünde sein
muß, nm- davon zu sprechen.
GUBETTA. Ich will es Euch sagen. Cäsar, Kardinal von
Valenzia, hat Johann, Herzog von Gandia, erschlagen,
weil die bösen Brüder das nämliche Weib liebten.
MAFFIO. Und wer war dies Weib?
GUBETTA {immer in dem. Hintergrund der Bühne). Ihre
Schwester.
JEPPO. Genug, Herr von Belverana. Sprecht nicht vor
uns den Namen dieses Ungeheuers aus. Es ist niemand
unter uns, dessen Hause es nicht eine tiefe Wunde ge-
schlagen hätte.
MAFFIO. War nicht von einem Kinde dabei die Rede?
JEPPO. Ja, von einem Kinde, wovon ich nur den Vater
zu nennen wage; er hieß Johann Borgia.
MAFFIO. Das Kind könnte jetzt ein Mann sein.
OLOFERNO. Es ist verschwunden.
JEPPO. Gelang es Cäsar Borgia, es der Mutter zu ent-
ziehen: Gelang es der Mutter, es Cäsar Borgia zu ent-
reißen? Man weiß nicht.
DON APOSTOLO. Wenn die Mutter ihren Sohn ver-
steckt, so tut sie wohl daran. Seit Cäsar Borgia, Kardinal
von Valenzia, Herzog von Valentinois geworden ist, hat
er, wie ihr wißt, ohne seinen Bruder Johann zu zählen,
seine beiden Neffen, die Söhne des Guifry Borgia, Fürsten
von Squillazzi, und seinen Vetter, den Kardinal Franz
Borgia, getötet. Dieser Mensch hat die Wut, seine Ver-
wandten zu morden.
JEPPO. Wahrhaftig, er will der einzige Borgia sein, um
alle Schätze des Papstes zu erben.
ASCANIO. Machte nicht die Schwester, welche du nicht
nennen willst, Jeppo, zur nämlichen Zeit insgeheim eine
Reise zum Kloster des heiligen Sixtus, um sich daselbst
einzuschließen, ohne daß man wußte, warum?
JEPPO. Ich glaube, ja! Das war, um sich von Herrn
Sforza, ihrem zweiten Gemahl, zu trennen.
LUCRETIA BORGIA. ERSTE HANDLUNG 377
MAFFIO. Und wie hieß der Schififer, der alles gesehen
hat?
JEPPO. Ich weiß nicht.
GUBETTA. Er hieß Giorgio Schiavone, und sein Ge-
werbe war, Holz auf der Tiber nach Ripetta zu führen.
MAFFIO {leise zu Ascanio). Der Spanier da weiß mehr
von unsren Geschichten, als wir andern Römer.
ASCANIO {leise). Ich traue so wenig als du diesem Herrn
von Belverana. Aber gehen wir nicht tiefer darauf ein;
es steckt vielleicht etwas Gefährliches darunter.
JEPPO. Ach, meine Herren, in welchen Zeiten leben wir!
Kennt ihr in diesem armen Italien, mit seinen Kriegen,
seiner Pest und seinen Borgia, eine menschliche Kreatur,
die sicher sei, ihr Übermorgen zu erleben.-
APOSTOLO. Übrigens, meine Herren! ich glaube, daß
wir alle an der Gesandtschaft teilnehmen sollen, welche
die Republik von Venedig an den Herzog von Ferrara
schickt, um ihm Glück zu wünschen, daß er den Malatesta
Rimini wieder abgenommen. Wann reisen wir nach Ferrara
ab.'
OLOFERNO. Bestimmt übermorgen. Ihr wißt, daß die
beiden Gesandten ernannt sind. Die Wahl ist auf die Se-
natoren Tivpolo und Grimani, den General der Galeeren,
gefallen.
APOSTOLO. Wird der Hauptmann Gennaro mit uns
gehen:
MAFFIO. Ohne Zweifel! Gennaro und ich trennen uns
niemals.
ASCANIO. Meine Herren, ich habe eine wichtige Be-
merkung zu machen. Der spanische Wein wird ohne uns
getrunken.
MAFFIO. Gehen wir in den Palast zurück. He! Gennaro!
{Zu Jeppo:) Er ist in der Tat über deine Geschichten
leingeschlafen.
JEPPO. So mag er schlafen.
[Alk gehen weg^ Gubettu ausgenommen.)
378 ÜBERSETZUNGEN
ZWEITE SZENE
Gubetta. Donna Lucretia. Gennaro (schlafend).
GUBETTA {allein). Ja, ich weiß mehr davon als sie; sie
sagten das ganz leise zueinander. Ich weiß mehr davon
als sie; aber Donna Lucretia weiß mehr als ich; Herr von
Valentinois weiß mehr als Donna Lucretia; der Teufel
weiß mehr als Herr von Valentinois, und der Papst
Alexander VI. weiß mehr als der Teufel. {Indem er
Gennaro betrachtet:) Wie das schläft, die jungen Leute!
DONNA LUCRETIA {tritt ein, sie ist maskiert. Sie be-
merkt den schlaf e^iden Gennaro und betrachtet ihn ??iit einer \
Art von Entzücken und Ehrfurcht). Er schläft! Das Fest
hat ihn gewiß ermüdet! Wie schön er ist! {Sie kehrt sich
um:) Gubetta!
GUBETTA. Sprecht nicht so laut, Donna. Ich heiße hier
nicht Gubetta, sondern Graf von Belverana, spanischer
Edelmann; Ihr, Donna, seid die Mai-quise von Ponte -
quadrato, eine neapolitanische Dame. Es darf nicht aus-
sehen, als kennten wir uns. Hat es Eure Hoheit nicht so be-
fohlen? Ihr seid hier nicht zu Hause, Ihr seid zu Venedig.
LUCRETIA. Das ist wahr, Gubetta. Aber es ist niemand
auf dieser Terrasse, als der junge Mann da, und der
schläft; wir können einen Augenblick plaudern.
GUBETTA. Wie es Eurer Hoheit beliebt. Ich habe Euch
noch einen Rat zu geben: nehmt die Maske nicht ab, man
könnte Euch erkennen.
LUCRETIA. Und was läge daran: Wenn sie nicht wissen,
wer ich bin, so habe ich nichts zu fürchten, und wenn sie
es wissen, so mögen sie sich fürchten.
GUBETTA. Wir sind zu Venedig, Donna. Ihr habt hier
Feinde genug, und diese Feinde haben die Hände frei.
Die Republik von Venedig würde freilich keinen Angi-iflf
auf die Person Eurer Hoheit dulden; aber man könnte
Euch beleidigen.
LUCRETIA. Ah! du hast recht, mein Name macht schau-
dern in der Tat.
GUBETTA. Es befinden sich hier nicht nur Veuetianer,
es sind auch Römer da, Neapolitaner, Lombarden, Italiener
aus yanz Italien.
LUCRETIA BORGIA. ERSTE HANDLUNG 379
LUCRETIA. Und ganz Italien haßt mich! Du hast recht!
Das muß gleichwohl anders werden. Ich war nicht ge-
schaffen, Böses zu tun, ich fühle es jetzt deutlicher als
je. Das Beispiel meiner Familie hat mich fortgerissen.
Gubetta!
GUBETTA. Donna!
LUCRETIA. Überbringe der Herrschaft Spoleto sogleich
die Befehle, die ich dir geben werde.
GUBETTA. Gebietet, Donna. Ich habe immer vier Maul-
tiere und vier Renner gesattelt und gezäumt.
LUCRETIA. Was hat man mit Galeas Accajoli gemacht.^
GUBETTA. Er wartet im Gefängnis, bis Eure Hoheit ihn
hängen läßt.
LUCRETIA. Und Guifry Buondelmonter
GUBETTA. Ist im Kerker. Ihr habt noch nicht befohlen,
ihn zu erdrosseln.
LUCRETIA. Und Manfredi von Curzola.^
GUBETTA. Ist ebenfalls noch nicht erdrosselt.
LUCRETIA. Und Spadacappar
GUBETTA. Nach Eiu:em Befehl soll ihm erst auf Ostern
in der Hostie Gift gegeben werden. Das wird in sechs
Wochen geschehen, wir sind eben im Karneval.
LUCRETIA. Und Peter Capror
GUBETTA. Zur Stunde ist er noch Bischof von Pesaro
und Erzkanzler, aber ehe ein Monat vergeht, wird er
nichts sein als ein wenig Staub; denn unser Heiliger
Vater, der Papst, hat ihn auf Eure Klagen verhaften lassen
und hält ihn unter guter Aufsicht in den tiefen Kellern
des Vatikans.
LUCRETIA. Schnell! schreibe dem Heiligen Vater, daß
ich die Begnadigung des Peter Capro verlange! Gubetta,
laß den Accajoli in Freiheit setzen! In Freiheit den Man-
fredi von Ciurzola! in Freiheit den Buondelmonte! in Frei-
heit den Spadacappa!
GUBETTA. Wartet! haltet! Donna! Laßt mich Atem
schöpfen! Was sind das für Befehle! O du mein Gott!
Es regnet Milde, es hagelt Gnade! Ich gehe in der Barm-
herzigkeit unter! Ich werde mich nie aus dieser schreck-
lichen Sündflut von guten Handlungen retten!
38o ÜBERSETZUNGEN
LUCRETIA. Gut oder schlecht, was geht es dich an,
wenn ich dir sie nur bezahle.
GUBETTA. Ach! Eine gute Handlung fällt einem viel
schwerer als eine schlechte. Ach, ich armer Gubetta!
jetzt, da es Euch einfällt, barmherzig zu sein, was soll da
aus mir werden.^
LUCRETIA. Höre. Gubetta, du bist mein ältester und
treuster Vertrauter.
GUBETTA. Es sind waiurhaftig jetzt grade fünfzehn fahre,
daß ich die Ehre habe, Euer Mitarbeiter zu sein.
LUCRETIA. Wohlan denn! Sprich, Gubetta! mein alter
Freund, mein alter Mitschuldiger, fängst du nicht an, das
Bedürfnis eines neuen Lebens zu fühlen: Dürstest du
nicht nach so vielem Segen für dich und mich, als wir
Fluch auf uns geladen haben: Bist du noch nicht satt ge-
worden am Verbrechen :
GUBETTA. Ich merke, Ihr seid auf dem Wege, die
tugendhafteste Hoheit unter der Sonne zu werden.
LUCRETIA. Liegt nicht unser Ruf, deiner und meiner,
unser Ruf voll Schande, unser Ruf voll Mord und Gift,
liegt er nicht schwer auf dir, Gubetta,^
GUBETTA. Nicht im geringsten.— Wenn ich durch die
Straßen von Spoleto gehe, höre ich als wohl das Gesindel
um mich summen: Hem, das ist Gubetta, Gubetta Gift,
Gubetta Dolch, Gubetta Galgen! Denn sie haben meinem
Namen einen ganz glänzenden Schwanz von Beiwörtern
angehängt. Man sagt das aUes, und wenn es die Lippen
nicht sagen, so sagen's die Augen. Aber was liegt daran:
Ich bin an meinen schlechten Ruf gewöhnt, wie ein Soldat
des Papstes an das Messelesen.
LUCRETIA. Aber fühlst du nicht, daß die Last von ver-
haßten Namen, die man auf dich und auf mich wirft, Haß
und Verachtung in einem Herzen wecken könnten, von
dem du geliebt sein möchtest: Du liebst also niemand
auf der Welt.-
GUBETTA. Ich möchte wohl wissen, wen Ihr liebt,
Donna.
LUCRETIA. Was weißt du.^ Ich bin ofifen gegen dich;
ich spreche dir jetzt weder von meinem Vater, noch von
LUCRETIA BORGIA. ERSTE HANDLUNG 381
meinem Bruder, noch von meinem. Gemahl, noch von
meinen Liebhabern.
GUBETTA. Ich sehe aber auch weiter nichts als das,
was man lieben könnte.
LUCRETL\. Es gibt noch sonst etwas, Gubetta!
GÜBETTA. .Aha! Ihr macht Euch Eiu-e Tugend aus Liebe
für den lieben Gott zurecht:
LUCRETIA. Gubetta, Gubetta! Wenn es heute in die-
sem Italien, in diesem unseligen, schuldbelasteten Italien
ein edles und reines Herz gäbe, ein Herz voll hoher und
männlicher Tugenden, das Herz eines Engels unter dem
Panzer eines Soldaten; wenn mir nichts bliebe, mir armem,,
verhaßtem, verachtetem, verabscheutem, von den Men-
schen verfluchtem, von dem Himmel verdammtem Weibe,
mir Elenden, so allmächtig ich bin: wenn mir in dem
Jammer, worin meine Seele im Todeskampfe zuckt, nichts
bliebe als ein Gedanke, eine Hofihung, ein Rettimgs-
strahl, nichts als der Wunsch, vor meinem Tode einen
kleinen Platz, Gubetta, ein wenig Zärtlichkeit, ein wenig
Achtung in diesem so stolzen und reinen Herzen zu ver-
dienen und zu erhalten; wenn ich keinen andern Gedanken
hätte als den Ehrgeiz, dies Herz frei und fröhlich auf
dem meinigen schlagen zu fühlen: begriffest du dann wohl,
Gubetta, warum ich mich eile, das Geschehene aufzu-
wiegen, meinen Ruf zu reinigen, alle Flecken, die an mir
kleben, abzuwaschen und den Gedanken an Schande und
Blut, den Italien mit meinem Namen verknüpft, in einen
Gedanken an Ehre, Treue und Tugend zu verwandeln.-
GUBETTA. Mein Gott, Donna, welchem Pfaffen habt Ihr
heute auf die Füße getreten:
LUCRETLA.. Lache nicht. Es ist lange her. daß ich diese
Gedanken hege, oline sie dir zu sagen. Man kann nicht
nach Belieben stehen bleiben, wenn man durch einen
Strom von Verbrechen fortgerissen wird. Die beiden Dä-
monen streiten in mir, der gute und der böse: aber ich
glaube, daß der gute endlich siegen wird.
GUBETTA. L'nd dann Te Deum laudamus, magnificat
anima mea dominum! — Wißt Ilir auch, Donna, daß ich
Euch nicht mehr begreife und daß Ihr seit einiger Zeit
3 8 2 ÜBERSETZUNGEN
eine Hieroglyphe für mich geworden seid: Es ist jetzt ein
Monat, daß Eure Hoheit mir ankündigt, sie wolle nach
Spoleto reisen, und Abschied von Monsignore Don Alphons
von Este, ihrem Gemahl, nimmt, der, beiläufig gesagt,
gutmütig genug ist, um verliebt zu sein wie eine Turtel-
taube und eifersüchtig wie ein Tiger. Eure Hoheit ver-
läßt also Ferrara und geht heimlich nach Venedig, fast
ohne Gefolge, unter einem falschen neapolitanischen Na-
men, ich unter einem falschen spanischen; Eure Hoheit
kommt nach Venedig, trennt sich von mir und befiehlt
mir, sie nicht mehr zu kennen, und dann fangt Ihr an,
unter dem Schutze des Karnevals, maskiert, verkleidet,
allen verborgen, auf den Festen, den Tänzen, den Ter-
tullias herumzulaufen; sprecht mit mir jeden Abend kaum
zwischen Tür und Angel und beschließt die ganze Mas-
kerade mit einer Predigt, die Ihr mir haltet! Eine Predigt
von Euch, Donna, ist das nicht seltsam und unerhört?
Ihr habt Eiuren Namen gewechselt. Euer Kleid gewechselt,
und jetzt wechselt Ihr Eure Seele! Bei meiner Ehre, das
heiße ich den Karneval verzweifelt weit treiben, mir
schwindelt. Und was ist die Ursache dieses Benehmens:
LUCRETIA (faßt ihn lebhaft beim Arm und fiihrt ihn vor
den schlafenden Gennaro). Siehst du diesen Jüngling?
GUBETTA. Der junge Mann ist nichts Neues für mich,
ich weiß, daß Ihr ihm unter Eurer Maske nachlauft, seil
Ihr zu Venedig seid.
LUCRETIA. Was sagst du dazu?
GUBETTA. Ich sage, daß es ein junger Mensch ist, der
auf einer Bank schläft und der stehend schlafen würde,
wenn er nur ein Drittel von dem moralischen und er-:
bauenden Gespräch gehört hätte, das ich eben mit Eurer
Hoheit führte.
LUCRETIA. Findest du ihn nicht sehr schön?
GUBETTA. Er würde schöner sein, wenn er die Augen
nicht geschlossen hätte. Ein Gesicht ohne Augen ist ein
Palast ohne Fenster.
LUCRETIA. Wenn du wüßtest, wie ich ihn liebe!
GUBETTA. Das geht den Don Alphons, Euren könig-
lichen Gemahl, an. Ich muß Eure Hoheit gleichwohl be-
LUCRETIA BORGIA. ERSTE HANDLUNG 383
nachrichtigen, daß sie sich umsonst bemüht. Dieser junge
Mann liebt, wie man mir sagt, ein junges hübsches Mäd-
chen namens Fiametta.
LUCRETIA. Und das junge Mädchen liebt ihn?
GUBETTA. Ja, wie man sagt.
LUCRETIA. Desto besser, ich wünsche so sehr, ihn
glücklich zu wissen.
GUBETTA. Das ist sonderbar und nicht in Eurer Art.
Ich hielt Euch für eifersüchtiger.
LUCRETIA (indefn sie Ge?inaro betrachtet). Welch edle
Gestalt!
GUBETTA. Ich finde, daß er jemand gleicht . . .
LUCRETIA. Nenne mir den nicht, dem du ihn ähnlich
findest! — Laß mich!
{Gul)etta geht ah. Donna Lucretia bleil)t einige Augenblicke
ivic entzückt vor Gen?ia?'o stehen; sie bemerkt ziuei maskierte
Männer nicht, welche in den Hintergrund der Bühne treten
und sie beobachten.)
LUCRETIA. Das ist er also! Endlich ist es mir vergönnt,
ihn einen Augenblick ohne Gefahr zu sehen! Nein, ich
hatte ihn nicht schöner geträumt. O Gott, spare mir die
Qual, je von ihm gehaßt oder verachtet zu werden, du
weißt, er ist alles, was ich unter dem Himmel liebe! Ich
wage die Maske nicht abzunehmen, und doch muß ich
meine Tränen trocknen.
(Sie nimmt die Maske ab, um sich die Augen zu trocknen.
Die beiden f?iaskierten Männer sprechen leise tniteinander,
zuährend sie die Hand des schlafenden Gennaro küßt.)
ERSTE MASKE. Das ist genug, ich kann nach Ferrara
zurückkehren. Ich war nur nach Venedig gekonomen, um
mich von ihrer Untreue zu überzeugen, ich habe genug
gesehen; ich kann nicht länger von Ferrara abwesend
bleiben. Dieser junge Mann ist ihr Geliebter. Wie nennt
man ihn, Rustighello.^
: ZWEITE MASKE. Er heißt Gennaro. Ein Hauptmann,
ein tapfrer Abenteurer, der weder Vater noch Mutter hat,
ein Mensch, von dessen Herkommen man nichts weiß.
Er steht im Augenblick im Dienste der Rejmblik Venedig.
384 ÜBERSETZUNGEN
ERSTE MASKE. Sorge, daß er nach Ferrara kommt.
ZWEITE MASKE. Das macht sich von selbst, Monsignor.
Er reist übermorgen mit einigen seiner Freunde, die zur
Gesandtschaft der Senatoren Tivpolo und Grimani ge-
hören, nach Ferrara.
ERSTE MASKE. Gut. Die Berichte waren genau. Ich
habe genug gesehen, sage ich dir, wir können wieder ab-
reisen. (^Sie gehen ab.)
LUCRETIA {^faltet die Hände und kniet vor Gennaro fast
nieder). O mein Gott, möge er so glücklich sein, als ich
unglücklich war! [Sie küßt Gennaro auf die Stirne^ er er-
wacht und sprifigt auf.)
GENNARO. Ein Kuß! Ein Weib!— Auf Ehre, Donna,
wäret Ihr Königin, und wäre ich Dichter, so wäre das
wahrhaftig das Abenteuer des Herrn Alain Chartier, des
französischen Poeten. Aber ich weiß nicht, wer Ihr seid,
und ich bin nichts als ein Soldat.
LUCRETIA. Laßt mich, Signor Gennaro.
GENNARO. Nicht doch, Donna.
r.üCRETIA. Man kommt! (Sie entflieht, Gennaro folgt ihr. )
DRITTE SZENE
Jeppo, dann Maffio.
JEPPO {tritt auf der entgegengesetzten Seite herein). Was
ist das für ein Gesicht: Sie ist es! Dies Weib zu Venedig!
He! Maffio!
MAFFIO {tritt ein). Was gibt's.^
JEPPO. Ich will dir was Unerhörtes sagen. {Er spricht
leise mit Mafflo.)
MAFFIO. Und weißt du das sicher.^
JEPPO. So sicher, als wir hier im Palast Barbarigo und
nicht im Palast Labbia sind.
MAFFIO. Sie hatte ein verliebtes Gespräch mit Gennaro?
JEPPO. Mit Gennaro.
MAFFIO. Ich muß meinen Bruder aus diesem Spinnen-
netz ziehen.
LUCRETIA BORGIA. ERSTE HANDLUNG 385
JEIPPO. Komm, wir wollen unsre Freunde davon unter-
richten.
[Sie gehen ab. Die Bühne bleibt während einiger Augen-
blicke leer. Man sieht nur von Zeit zu Zeit im Hintergrunde
des Theaters Gondehi unter Musikbegleitung vorüberfahren.
Gennaro kommt mit Lucretia zurück^ sie ist maskiert.)
VIERTE SZENE
Gennaro. Donfta Lucretia.
LUCRETIA. Die Terrasse ist finster und verlassen. Ich
kann die Maske hier abnehmen. Ihr sollt mein Gesicht
sehen, Geimaro. {Sie nimmt die Maske ab.)
GENN.\RO. Ihr seid sehr schön!
LUCRETIA. Sieh mich scharf an, Gennaro, und sage
mir, ob ich dich nicht schaudern mache!
GENNARO. Ihr mich schaudern machen! Und warum?
O, im Gegenteil, im Tiefsten meines Herzens ist etwas,
das mich zu Euch zieht.
LUCRETIA. Und glaubst du wohl, daß du mich lieben
könntest, Gennaro:
GENNx\RO. Warum nicht: Dennoch, Donna, ich bin auf-
richtig, es wird doch immer ein Weib geben, das ich mehr
liebe als Euch.
LUCRETIA (lächelnd). Ich weiß, die kleine Fiametta!
GENNARO. Nein.
LUCRETIA. Wer denn:
GENNARO. Meine Mutter.
LUCRETIA. Deine Mutter! Deine Mutter! O mein Gen-
naro! Du liebst also deine Mutter, ist es nicht so.-
GENNARO. Und doch habe ich sie niemals gesehen.
Kommt dies Euch nicht sehr sonderbar vor: Seht, ich
weiß nicht, was mich treibt. Euch zu meiner Vertrauten
zu machen. Ich will Euch ein Geheimnis sagen, das ich
noch niemand sagte, nicht einmal meinem Waffenbruder,
nicht einmal Maffio Orsini. Das ist seltsam, sich dem
ersten besten so zu überlassen, aber es ist mir, als hätten
wir uns nicht zum ersten Male getroffen.— Ich bin Haupt-
mann, weiß nichts von meiner Familie und wurde in
BÜCHNtR i5.
386 ÜBERSETZUNGEN
Kalabrien von einem Fischer erzogen, für dessen Sohn
ich mich hielt. Am Tage, wo ich sechzehn Jahre alt war,
sagte mir der Fischer, daß er mein Vater nicht sei. Einige
Zeit danach kam ein Herr, der mir die Rüstung eines
Ritters anlegte und wegging, ohne das Visier seines Hel-
mes aufgeschlagen zu haben. Darauf brachte mir ein
schwarz gekleideter Mann einen Brief; ich öffnete ihn.
Meine Mutter war es, die mir schrieb, meine Mutter, die
ich nicht kannte, meine Mutter, von der ich träumte, wie
sie gut sei, sanft, zärtlich, schön wie du, meine Mutter,
die ich mit ganzer Seele anbetete! Aus diesem Briefe
erfuhr ich jedoch, ohne daß man mir einen Namen an-
gab, daß ich adelig und aus einem großen Geschlechte
sei und daß meine Mutter sehr unglücklich wäre. Arme
Mutter!
LUCRETIA. Guter Gennaro!
GENNARO. Seit dem Tage lief ich nach Abenteuern,
weil ich durch meinen Degen so gut etwas werden wollte,
als durch meine Geburt. Ich durchstrich ganz Italien.
Aber den ersten Tag jedes Monats, wo ich auch sei, sehe
ich immer den nämlichen Boten kommen. Er bringt mir
einen Brief von meiner Mutter, nimmt meine Antwort und
geht. Er sagt mir nichts, und ich sage ihm nichts, denn
er ist taub und stumm.
LUCRETIA. So weißt du also nichts von deiner Familie?
GENNARO. Ich weiß, daß ich eine Mutter habe, und
daß sie unglücklich ist, und daß ich mein Leben in dieser
Welt darum geben würde, sie einmal weinen, und mein
Leben in der anderen, sie einmal lächeln zu sehen. Das
ist alles.
LUCRETIA. Was machst du mit ihren Briefen?
GENNARO. Ich habe sie alle da auf meinem Herzen.
Wir Kriegsleute wagen unsre Brust oft gegen eine Degen -
spitze. Die Briefe einer Mutter sind ein guter Harnisch.
LUCRETIA. Edle Natur!
GENNARO. Seht, wollt Ihr auch ihre Schriftzüge sehen?
Da ist einer von ihren Briefen. {Er zieht ein Papier aus
dem Busen, küßt es und gibt es der Donna Lucretia.)
LUCRETIA {liest). ''Mein Gennaro, suche nicht mich
LUCRETIA BORGIA. ERSTE HANDLUNG 387
kennen zu lernen vor dem Tage, den ich dir bestimmen
werde. Ich bin sehr zu beklagen. Ich bin von erbarmungs-
losen Verwandten umgeben, die dich töten würden, wie
sie deinen Vater getötet haben. Ich, mein Kind, will
allein um das Geheimnis deiner Geburt wissen. Wenn du
es wüßtesti Doch das ist zugleich so traurig und so glän-
zend, daß du nicht schweigen könntest. Die Jugend ist
zutraulich, die Gefahren, die dich umgeben, kennst du
nicht, so wie ich sie kenne. Wer weiß.^ du würdest ihnen
aus jugendlichem Übermute trotzen wollen. Du würdest
sprechen oder dich erraten lassen, und dann keine zwei
Tage mehr leben. O nein! Begnüge dich mit der Gewiß-
heit, daß du eine Mutter hast, die dich anbetet und Tag
und Nacht über dein Leben wacht. Mein Gennaro, mein
Sohn, du bist alles, was ich auf Erden liebe, mein Herz
schmilzt, wenn ich an dich denke." {Sie hält ein ^ um eine
T7'ä7ie zu verschlucken.)
GENNARO. Wie gefühlvoll Ihr das lest! Man sollte mei-
nen, Ihr läset nicht, sondern Ihr sprächet. Ach! Ihr weint!
Ihr seid gut, Donna, und ich liebe Euch, weil Ihr um das
weint, was meine Mutter geschrieben. (Er nimmt den Briefe
kiißt ihn und steckt ihn wieder in den. Busen.) Ja, Ihr seht,
es gab Verbrechen genug um meine Wiege. Meine arme
Mutter! Nicht wahr, jetzt begreift Ihr, warum ich mich
wenig um Galanterien und Liebeshändel kümmere.- wie
ich nur einen Gedanken im Herzen habe, meine Mutter!
Ach, meine Mutter befreien, ihr dienen, sie rächen, sie
trösten! W>lch Glück! Dann will ich an Liebe denken!
Alles, was ich tue, tue ich, um meiner Mutter würdig zu
werden. Es gibt Abenteurer genug, die nicht gewissenhaft
sind und die sich für den Teufel schlagen würden, nach-
dem sie für den heiligen Michael gefochten. Ich unter-
stütze nur die gerechte Sache, ich will eines Tages einen
Degen so rein, wie den eines Königs, zu den Füßen meiner
Mutter legen können. Seht, Donna, man hat mir einen
vorteilhaften Platz im Dienste dieser ehrlosen Donna
Lucretia angeboten, ich habe ihn ausgeschlagen.
LUCRETIA. Gennaro! Gennaro! erbarmt Euch der Bösen!
Ihr wißt nicht, was in ihrem Herzen vorgeht.
388 ÜBERSETZUNGEN
GENNARO. Ich habe kein Erbarmen für das, was ohne
Erbarmen ist. Aber lassen wir das, Donna, und jetzt, da
ich Euch gesagt habe, wer ich bin, tut mir das nämliche
und sagt mir, wer Ihr seid:
LUCRETIA. Ein Weib, das dich liebt, Gennaro.
GENNARO. Aber Euer Name:
LUCRETIA. Fraget mich nicht weiter.
(Fackeln. Jeppo und Maffio treten mit Geräusch herein.
Donna Lucretia nimmt eilig die Maske vor.)
FÜNFTE SZENE
Die Nämlichen. Maffio Orsini^ f^ppo Liveretto, Ascanio
Fetrucci, Oloferno Vitellozzo. Don Apostolo Gazella.
(Herrn ^ Dajnen, Fagen mit Fackeln)
MAFFIO (eine Fackel in der Hand). Gennaro, willst du
wissen, wer das Weib ist, dem du von Liebe sprichst:
LUCRETIA (beiseite). Gerechter Himmel!
GENNARO. Ihr alle seid meine Freunde, aber der ist
ein toller Bursche, der die Maske dieser Dame berührt.
Die Maske eines Weibes ist so heilig, wie das Gesicht
eines Mannes.
MAFFIO. Das Weib muß vorerst ein Weib sein, Gennaro!
Wir wollen dieses da übrigens nicht beleidigen, wir wollen
ihm nur unsere Namen sagen. (Er nähert sich der Donna
Lucretia:) Donna, ich bin Maffio Orsini, Bruder des Her-
zogs von Gravina, welchen Eure Sbirren des Nachts, als
er schlief, erdi-osselt haben.
JEPPO. Donna, ich bin Jeppo Liveretto, Neffe desLiveretto
Vitelli, den Ihr in den Kellern des Vatikan erdolchen
ließt.
ASCANIO. Donna, ich bin Ascanio Petrucci, Vetter des
Pandolfo Petrucci, Herrn von Siena, den Ihr ermordet
habt, um ihm desto leichter seine Stadt zu stehlen.
OLOFERNO. Donna, ich heiße Oloferno Vitellozzo und
bin ein Neffe des Jago Appiani, den Ihr bei einem Gast-
mahl vergiftet habt, nachdem Ilir ihm durch Verrat seine
gute Feste Piombino weggenommen.
APOSTOLO. Donna, Ihr habt auf dem Schafotte den
LUCRETIA BORGJA. ERSTE HANDLUNG 389
Don Francisco Gazella töten lassen, den Onkel Eures
dritten Gemahls, des Don Alphons von Aragonien, den
Ihr auf der Treppe der Peterskirche mit Spießen erstechen
ließt. Ich bin Don Apostolo Gazella, Vetter des einen
und Solin des andern.
LUCRETIA. O Gott!
GENNARO. Wer ist dies Weib:
MAFFIO. Und wollt Ihr jetzt, Donna, nachdem wir Eucji
unsre Namen genannt, daß wir Euch auch den Eurigen
nennen:
LUCRETIA. Nein, nein. Habt Mitleid, meine Herrn!
Nicht vor ihm!
MAPT'IO {klimmt ihr die Maske ab). Nehmt Eure Maske
ab, Domia, damit wir sehen, ob Ilir noch erröten könnt.
APOSTOLO. Gennaro, dies Weib, dem. du von Liebe
sprachst, misclit Gift und treibt Ehebruch.
JEPPO. Treibt Blutschande in allen Graden. Blutschande
mit ihren beiden Brüdern, von denen der eine den andern
aus Liebe für sie erschlagen hat.
],ÜCRETIA. Gnade!
.APOSTOLO. Blutschande mit ihrem Vater, der Papst ist.
LUCRETIA. Erbarmen!
OLOFERNO. Blutschande mit ihreii Kindern, wenn sie
deren hätte, aber der Himmel versagt sie dem Ungeheuer.
LUCRETIA. Genug, genug!
MAFFIO. Willst du ihren Namen wissen, Gennaro.'
LUCRETIA {schleppt sich zu den Knien Gennaros). Höre
nicht, mein Gennaro!
MAFFIO {streckt die Arme aus). Das ist Lucretia Borgia.
GENNARO {stößt sie ziiritck). Oh!
{Sie sinkt ohnmächtig zu seinen Fußen nieder.)
ZWEITE ABTEILUNG
Ein Platz zu Ferrara\ zur Rechten ein Palast mit einer
niedrigen Türe und mit einem Balkon^ der mit Jalousie7i ver-
sehe?! ist. U?iter dem Balkon ein großes Steinschild mit
einem Wappen] der Najne Borgia steht in großen erhabenen
390 ÜBERSETZUNGEN
Lettern von vergoldetem Kupfer darunter. Zur Lmken ein
kleines Haus, dessen Türe auf den Platz geht. Im Hinter-
grund Häuser, Türme.
ERSTE SZENE
Donna Lucretia. Gubetta.
LUCRETIA. Ist alles für diesen Abend bereit, Gubetta:
GUBETTA. Ja, Donna.
LUCRETIA. Werden sie alle fünf dort sein?
GUBETTA. Alle fünf.
LUCRETIA. Sie haben mich aufs grausamste beleidigt,
Gubetta.
GUBETTA. Ich war nicht da, ich.
LUCRETIA. Sie waren ohne Erbarmen.
GUBETTx\. Sie haben Euch so ganz laut Euern Namen
gesagt?
LUCRETIA. Sie haben mir ihn nicht gesagt, Gubetta,
sie haben mir ihn ins Gesicht gespien.
GUBETTA. Mitten auf dem Ball!
LUCRETIA. Vor Gennaro!
GUBETTA. Das sind zuversichtliche Toren, Venedig zu
verlassen und nach Ferrara zu kommen! Es ist wahr, sie
konnten nicht anders, sie waren vom Senate beauftragt,
teil an der Gesandtschaft zu nehmen, welche die vorige
Woche angekommen ist.
LUCRETIA. Oh! er haßt und verachtet mich jetzt, und
das ist ihre Schuld. — Ha, Gubetta, ich werde mich rächen!
GUBETTA. Zur guten Stunde! Das ist ein Wort! Gott
sei gelobt. Eure Barmherzigkeitslaunen haben Euch also
verlassen! Es ist mir viel behaglicher bei Eurer Hoheit,
wenn sie so natürlich ist, wie eben! Ich finde mich we-
nigstens wieder darin. Seht, Donna, ein See ist das Gegen-
teil von einer Insel, ein Turm ist das Gegenteil von einem
Brunnen, eine Wasserleitung ist das Gegenteil von einer
Brücke, und ich, ich habe die Ehre das Gegenteil von
einer tugendhaften Person zu sein.
LUCRETIA. Gennaro ist bei ihnen. Gib acht, daß ihm
nichts zustößt.
LUCRETIA BORGIA. ERSTE HANDLUNG 391
GUBETTA. Wenn Ihr ein gutes Weib würdet, und ich
würde ein guter Mann, das wäre was Ungeheures.
LUCRETIA. Gib acht, daß Gennaro nichts zustößt, sage
ich dir.
GUBETTA. Seid ruhig.
LUCRETIA. Ich möchte ihn gleichwohl noch einmal
sehen.
GUBETTA. Bei Gott, Donna, Eure Hoheit sieht ihn alle
Tage. Ihr habt seinen Knecht bestochen, damit er seinen
Herrn bestimme, seine Wohnung da zu nehmen, in diesem
Nest, Eurem Balkon gegenüber, und von Eurem Gitter-
fenster aus habt Ihr nun alle Tage das unaussprechliche
Glück, den genannten Edelmann ein und aus gehen zu
sehen.
LUCRETIA. Ich sage dir, daß ich ihn sprechen will,
Gubetta.
GUBETTA. Nichts einfacher. Laßt ihm durch Astolfo
sagen, daß Eure Hoheit ihn heute zu der und der Stunde
im Palast erwartet.
LUCRETIA. Das will ich tun, Gubetta. Abends wird er
kommen. -
GUBETTA. Tretet ziurück, Donna, ich glaube, daß er so-
gleich mit den bewußten Vögeln hier vorbeikommen wird.
LUCRETIA. Halten sie dich immer für den Grafen Bel-
verana:
GUBETTA. Sie halten mich für einen Spanier vom Wir-
bel bis zur Sohle. Ich bin einer ihrer besten Freunde.
Ich borge Geld bei ihnen.
LUCRETIA. Geld! Zu was:
GUBETTA. Wahrhaftig, imi es zu haben. Übrigens ist
nichts spanischer, als wie ein Bettler auszusehen, und den
Teufel beim Schwanz zu ziehen.
LUCRETIA {beiseite). O mein Gott, schütze Gennaro!
GUBETTA. Und darüber, Donna, kommt mir was ein.
LUCRETIA. Nun.-
GUBETTA. Daß dem Teufel der Schwanz sehr solid an
das Kreuz geleimt, genagelt und geschraubt sein muß,
weil er die unendliche Zahl von Leuten trägt, die bestän-
dig daran ziehen.
392 ÜBERSETZUNGEN
LUCRETIA. Du lachst über alles, Gubetta.
GUBETTA. Eine Art, so gut wie eine andre.
LUCRETIA. Ich glaube, da sind sie. Denke an alles.
{Sie geht durch die kleine Türe iinte?- dem Balkon in den
Palast zurück^
*
ZWEITE SZENE
Gubetta^ dann Gennaro, Maffio, Jeppo^ Ascanio^ Don
Apostolo, Olofer?io.
GUBETTA (allein). Was ist das mit dem Gennaro: Und
was zum Teufel hat sie mit ihm vor.^ Ich kenne nicht
alle Geheimnisse der Donna, o noch lange nicht, aber
dies da stachelt meine Neugierde. Meiner Treu, sie hat
mir diesmal nicht getraut, sie braucht sich nicht einzu-
bilden, daß ich ihr bei der Sache behilflich sein werde,
sie mag sich aus der Geschichte mit dem Gennaro ziehen,
so gut sie kann. Aber was ein sonderbarer Einfall, einen
Menschen zu lieben, wenn man die Tochter des Borgia
und der Vanozza, wenn man ein Weib ist, in dessen Adern
das Blut einer Hure und das Blut eines Papstes fließt.
Donna Lucretia wird platonisch. Ich wundre mich jetzt
über nichts mehr, selbst wenn man mir sagte, daß der
Papst Alexander VII. an Gott glaube! Fort! Da kommen
die jungen Toren vom Karneval von Venedig. Ein schö-
ner Einfall, ein sicheres Land zu verlassen und nach
Ferrara zu kommen, nachdem man die Herzogin von
Ferrara tödlich beleidigt! An ihrer Stelle hätte ich mich
gehütet, an der Reise der venetianischen Gesandten teil-
zunelimen. Aber so sind einmal die jungen Leute. Der
Rachen des Wolfes ist unter allen Dingen unter dem
Monde das, worein sie sich am liebsten stürzen.
Die jungen Herren treten auf, ohne anfangs Gubetta zu
bemerken, der sich, um sie zu beobachten, hinter einen der
Pfeiler, die den Balkon tragen, zurückgezogen hat. Sie sehen
unruhig aus und sprechen leise miteina?ider.
MAFFIO {leise). Ihr mögt sagen, was ihr wollt, meine
Herren, man kann sich die Mühe sparen nach Ferrara zu
I.UCRETIA BORGIA. ERSTE HANDLUNG 393
gehen, wenn man Donna Lucretia aufs tiefste verwun-
det hat.
APOSTOLO. Was können wir tun? Der Senat schickt
uns hierher. Ist es möglich, sich über die Befehle des
hohen Senates von Venedig wegzusetzen.- Einmal be-
zeichnet, mußten wir fort. Gleichwohl, Maffio, verhehle
ich mir nicht, daß Lucretia Borgia eine furchtbare Feindin
ist. Sie ist hier Herrin.
JEPPO. Was könnte sie uns antun, Apostolo? Sind wir
nicht im Dienste der Republik Venedig? Gehören wir
nicht zu ihrer Gesandtschaft? Uns ein Haar auf dem Haupte
krümmen hieße dem Dogen den Krieg erklären, und Fer-
rara reibt sich nicht gern an Venedig.
GENNARO {träitmt in eine?- Ecke der Bühne ^ ohne sich in
das Gespräch zu mischen). O meine Mutter^ meine Mutter!
Wer wird mir sagen, was ich für meine arme Mutter tun
kann!
MAFFIO. Man kann dich, so lang du bist, Jeppo, in den
Sarg legen, ohne ein Haar auf deinem Haupt zu krümmen.
Es gibt Gifte, welche ohne Aufsehen und Lärm die Ge-
schäfte der Borgia abtun und das viel sicherer als Beil
und Dolch. Denke, auf welche Weise Alexander VI. den
Sultan Zizimi, Bajazets Bruder, aus der Welt gehen machte.
OLOFERNO. Und so viele andere.
APOSTOLO. Das ist eine sonderbare und unheimliche
Geschichte mit dem Bruder des Bajazet. Der Papst machte
ihn glauben, Karl von Frankreich habe ihn an dem Tage,
wo sie zusammen speisten, vergiftet; Zizimi glaubte aUes
und erhielt aus den schönen Händen der Lucretia Borgia
ein sogenanntes Gegengift, was innerhalb zwei Stunden
seinen Bruder Bajazet von ihm befreite.
JEPPO. Der ehrliche Türke scheint sich wenig auf Politik
verstanden zu haben.
MAFFIO. Ja, die Borgia haben Gifte, die nach einem
Tage töten, nach einem Monate, nach einem Jahre, wie
sie wollen. Das sind schändliche Gifte, die den Wein
süßer machen und einem die Flasche mit mehr Vergnügen
leeren lassen. Man hält sich für berauscht, man ist tot.
Oder man fängt plötzlich an siech zu werden, die Haut
394 ÜBERSETZUNGEN
bekommt Runzeln, die Augen werden hohl, die Haare |
grau, die Zähne brechen wie Glas; man geht nicht mehr,
man schleppt sich; man atmet nicht, man röchelt; man
lacht nicht, man schläft nicht, man fröstelt in der Sonne
am hellen Mittag; ein Jüngling bekömmt das Aussehen
eines Greises; so kämpft er eine Zeitlang mit dem Tode; i
er stirbt, und dann erinnert man sich, daß er ein halbes |
Jahr oder ein Jahr zuvor ein Glas Zyperwein bei einem !
Borgia getrunken. (Er kehrt sich um:) Seht, meine Herrn,
da kommt grade Montefeltro, ihr kennt ihn vielleicht, er ,
ist aus dieser Stadt, und dem geht es grade so. Er geht
da im Hintergrunde des Platzes vorbei. Betrachtet ihn.
{^Man sieht im Hintergrunde der Bühne einen ^nageren^
wafikenden und hinkenden Mann mit graue7i Haaren vor-
übergehen^ er stützt sich auf einen Stock und ist in einen
Mantel gehüllt.)
ASCANIO. Armer Montefeltro!
APOSTOLO. Wie alt ist er:
MAFFIO. So alt wie ich, neunundzwanzig Jahre.
OLOFERNO. Ich sah ihn voriges Jahr so frisch und ge- J
sund, wie einer von euch. 1
MAFFIO. Es sind jetzt drei Monate, daß er bei unserm
Heiligen Vater, dem Papst, in der Vigne des Belvedere
zu Nacht gespeist hat. Oh! Man erzählt sich seltsame
Dinge von den Gastmählern der Borgia.
ASCANIO. Das sind zügellose, mit Gift gewürzte Orgien.
MAFFIO. Seht, meine Herrn, wie der Platz da verlassen
ist. Das Volk wagt sich dem fürstlichen Palast nicht so
nahe, es scheut das Gift, welches Tag und Nacht darin
bereitet wird und von den Mauern ausdünstet.
ASCANIO. Meine Herrn, mit einem Wort, die Gesandten
hatten gestern ihre Audienz beim Herzog, unser Dienst
ist zu Ende. Das Gefolge der Gesandtschaft besteht aus
fünfzig Reutern. Man würde unsere Entfernung nicht be-
merken. Ich glaube, daß wir wohl daran täten, wenn wir
Ferrara verließen.
MAFFIO. Heute noch.
JEPPO. Meine Herren, dazu ist auch morgen Zeit. Ich
bin zum Abendessen bei der Fürstin Negroni eingeladen.
LUCRETIA BORGIA. ERSTE HANDLUNG 395
ich bin zum Tollwerden in sie verliebt und möchte nicht
aussehen, als liefe ich vor den schönsten Damen von
Ferrara fort.
OLOFERNO. Du bist zum Abendessen bei der Fürstin
Negroni eingeladen :
JEPPO. Ja.
OLOFERNO. Und ich auch.
ASCANIO. Und ich.
APOSTOLO. Und ich.
MAFFIO. Und ich.
GUBETTA. Und ich, meine Herren!
JEPPO. Ach! Herr von Belverana. Nun, wir gehen alle
hin, das gibt einen fröhlichen Abend. Guten Tag, Herr
von Belverana.
GUBETTA. Möge Gott Euch viele Jahre schenken, Herr
Jeppo.
MAFFIO {leise zu Jeppo). Du wirst mich abermals sehr
ängstlich finden. Wir gingen nicht zu diesem Essen, wenn
du mir glaubtest. Der Palast Negroni stößt an den Palast
Borgia, und ich setze kein großes Zutrauen in die freund-
schaftlichen Gesichter des Herrn Belverana.
JEPPO {leise). Du bist närrisch, Maffio. Die Negroni ist
eine liebenswürdige Dame, ich sage dir, ich bin in sie
verliebt, und Belverana ist ein braver Mann. Ich habe
über ihn und seine Familie Erkundigungen eingezogen.
Mein Vater war 1480 und soundso viel mit dem sei-
nigen bei der Belagerung von Granada.
MAFFIO. Das beweist nicht, daß der Mann der Sohn des
Vaters ist, welcher bei deinem Vater war.
JEPPO. Es zwingt dich niemand, zu dem Gastmahl zu
kommen, Maffio.
MAFFIO. Ich gehe, wie du hingehst, Jeppo.
JEPPO. Dann Te Deum laudamus. Und du, Gennaro,
; wirst du heute abend nicht unter uns sein:
ASCANIO. Hat dich die Negroni nicht eingeladen?
GENNARO. Nein. Der Fürstin bin ich wohl nicht adelig
genug.
' MAFFIO {lächelnd). Dann, mein Bruder, wirst du irgend-
: ein verliebtes Stelldichein haben, nicht wahr?
396 ÜBERSETZUNGEN
JEPPO. Aha, erzähle uns doch ein wenig, was die Donna
Lucretia jenen Abend sagte. Sie scheint ganz toll in dich
vernarrt zu sein. Sie wird dir viel davon vorgeschwätzt
haben. Die Ballfreiheit kam ihr sehr dabei zustatten. Die
Weiber verkleiden nur iliren Leib, um ihre Seele bequemer
zu entkleiden. Maskierte Gesichter und nackte Herzen!
[Lucretia befindet sich seit einigen Augenhlicken auf dem
Balkon, tvo sie die Jalousie?i halb öffnet^ sie horcht?^
MAFFIO. Du mietest dich grade ihrem Balkon gegenüber
ein, Gennaro! Gennaro!
APOSTOLO. Das ist nicht so ohne Gefahr, mein Junge,
man sagt, dieser würdige Herzog von Ferrara sei sehr
eifersüchtig auf seine Frau Donna.
OLOFERNO. Rasch, Gennaro! sage uns, wie weit du mit
deiner Liebschaft mit der Lucretia bist.
GENNARO. Meine Herren! einige Degen werden in der
Sonne blitzen, wenn ilir fortfahrt, mir von diesem ab-
scheulichen Weibe zu sprechen.
LUCRETIA (auf dem Balkon, beiseite). Ach!
MAFFIO. Nichts als Scherz, Gennaro. Aber ich dächte,
man dürfte mit dir von dieser Dame wohl sprechen; du
trägst ihre Farbe.
GENNARO. Was soll das heißen:
MAFFIO [deutet auf seine Schärpe). Diese Schärper
JEPPO. Das sind in der Tat die Farben der Lucretia
Borgia.
GENNARO. Fiametta hat mir sie geschickt.
MAFFIO. Das meinst du. Lucretia ließ dir das sagen.
Aber Lucretia ist es, welche die Schärpe dir mit eignen
Händen gestickt hat.
GENNARO. Bist du dessen gewiß, Maffio? Woher weißt
du es.''
MAFFIO. Von deinem Knecht, welcher dir die Schärpe
gebracht und den sie bestochen hat.
GENNARO. Verdammt! (Er 7'eißt die Schärpe ab., zerreißt
sie und tritt sie 7?iit Füßen)
LUCRETIA (beiseite). Ach! (Sie schließt die Jalousien u?id
entfernt sich.)
LUCRETIA BORGIA. ERSTE HANDLUNG 397
MAFFIO. Und doch ist dies Weib schön.
JEPPO. Ja, aber es ist etwas Unheimliches in ihrer Schön-
heit.
MAFFIO. Sie ist ein Golddukaten mit dem Gepräge des
Satans.
GENNARO. Oh! verflucht sei diese LucretiaBorgia! Dies
Weib liebt mich, wie ihr sagt! Nun, desto besser! das soll
ihre Strafe sein. Sie macht mich schaudern! Ja, sie macht
mich schaudern. Du weißt, Maffio, das ist immer so; es
ist unmöglich, gleichgültig gegen ein Weib zu sein, von
dem man geliebt wird. Man muß es lieben oder hassen.
Wie sollte man diese da lieben: Es geschieht auch, daß
man diese Art von Weibern um so mehr haßt, je mehr
man von ihnen verfolgt wird. Dies Weib verfolgt mich,
quält mich, belagert mich. Wodurch konnte ich die Liebe
einer Lucretia Borgia verdienen: Ist das nicht Schande
und Schmach? Ihr könnt kaum glauben, wie mir der
Gedanke an dies verbrecherische Weib verhaßt ist seit
der Nacht, wo ihr mir so laut ihren Namen gesagt habt.
Sonst sah ich Lucretia Borgia nur von fern, zwischen
tausend Gegenständen durch, wie ein schreckliches Ge-
spenst aufrecht über Italien, wie das Gespenst einer
ganzen Welt. Jetzt ist dies Gespenst mein Gespenst;
es setzt sich an mein Lager, es liebt mich, es will sich
in mein Bett legen! Bei meiner Mutter, das ist ent-
setzlich! Ach, Maffio! sie hat den Herrn von Gravina
getötet, sie hat deinen Bruder getötet! Ha! deinen Bru-
der! Dir will ich ihn ersetzen, an ihr will ich ihn rächen!
— Hier ist also ihr abscheulicher Palast! Palast der Wol-
lust, Palast des Verrat, Palast des Mordes, Palast des Ehe-
bruchs, Palast der Blutschande, Palast jeglicher Sünde,
Palast der Lucretia Borgia! Daß ich diesem Weibe das
Henkerszeichen nicht auf die Stirn drücken kann! So will
ich wenigstens die Stirne ihres Palastes brandmarken!
{E7- steigt auf eine unter dem Balkon befindliche Steinbank
imd macht mit seine?n Dolche den ersten Buchstaben des auf
die Mauer gehefteten Namens Borgia los, so daß nur das
Wort orgia bleibt^
MAFFIO. Was Teufel madit er:
398 ÜBERSETZUNGEN
JEPPO. Der Name der Donna Lucretia ohne diesen Buch-
staben macht dich zu einem Manne ohne Kopf.
GUBETTA. Herr Gennaro, das ist ein Wortspiel, was
morgen die halbe Stadt auf die Folter bringt.
GENNARO. Ich werde mich stellen, wenn man den
Schuldigen sucht.
GUBETTA {beiseite). Das wäre mir recht, das würde
Donna Lucretia in Verlegenheit bringen.
Seit ei?iigen Augenblicken gehen zwei schwarz gekleidete
Mminer beobachtend auf dem Platze auf und ab.
MAFFIO. Meine Herren, das sind Leute mit verdächtigen
Gesichtern, sie betrachten uns etwas neugierig. Es wäre
klug, wenn wir uns trennten. Mache keine neuen Toll-
heiten, mein Bruder Gennaro.
GENNARO. Sei ruhig, Maffio. Deine Hand! Meine
Herren, viel Vergnügen diese Nacht!
(Er geht in sein Haus^ die andern zerstreuen sich.)
*
DRITTE SZENE
Die beiden schwarz gekleideten Männer,
ERSTER MANN. Was Teufel machst du da, Rustighello?
ZWEITER MANN. Ich warte, bis du weggehst, Astolfo.
ERSTER MANN. In der Tat?
ZWEITER MANN. Und du, was machst du da, Astolfo?
ERSTER MANN. Ich warte, bis du weggehst, Rustighello.
ZWEITER MANN. Mit wem hast du es zu tun, Astolfo?
ERSTER MANN. Mit dem Manne, der eben da hinein-
ging. Und du, an wen willst du?
ZWEITER MANN. An den nämlichen.
ERSTER MANN. Teufel!
ZWEITER MANN. Was willst du mit ihm machen?
ERSTER MANN. Ihn zur Herzogin führen. Und du?
ZWEITER MANN. Ihn zum Herzog führen.
ERSTER MANN. Teufel!
ZWEITER MANN. Was erwartet ihn bei der Herzogin?
ERSTER MANN. Die Liebe, ohne Zweifel. Und bei dem
Herzog?
LüCRETIA BORGIA. ZWEITE HANDLUNG 399
ZWEITER MANN. Der Galgen, wahrscheinlich.
ERSTER MANN. Was tun.^ Er kann nicht zugleich bei
dem Herzog und bei der Herzogin sein, zugleich Weiber -
arme und den Strick am Hals haben.
ZWEITER MANN. Da ist ein Dukaten, spielen wir Münz
oder Kopf, wer von uns den Mann haben soll.
ERSTER MANN. Das ist ein Wort.
ZWEITER MANN. Meiner Treu! wenn ich verliere, so
sage ich dem Herzog, der Vogel wäre ausgeflogen ge-
wesen. Die Geschäfte des Herzogs kümmern mich wenig.
(El' ivirft den Dukaten in die Luft.)
ERSTERMANN. Münze!
ZWEITER MANN, 's ist Kopf!
ERSTERMANN. Der Mann wird gehenkt werden. Nimm
ihn. Adieu!
ZWEITER MANN. Guten Abend.
[Nachdem der andere weggegangen ist^ öffnet er die niedrige
Tiire unter dem Balkon^ geht hinein und kommt einen Augen-
blick darauf in der Begleitung von vier Sbirren zurück^ mit
denen er an der Tür des Hauses pocht ^ in welches Gennaro
gegangen)
{Der Vorhang fällt)
ZWEITE HANDLUNG
DAS PAAR
Personen
DONNA LÜCRETIA MAFFIO
DON ALPHONS VON ESTE RUSTIGHELLO
GENNARO EIN TÜRSTEHER
Ein Saal des herzoglichen Palastes zu Ferrara, Tapeten
von migarischcfn Leder mit goldnen Arabesken. Prächtige
Möbel in dem zu E?ide des IS- Jahrhunderts in Italien herr-
sche7iden Geschmack. Der Stuhl des Herzogs mit ?-otem
Samt überzogen^ in welchen das Wappen des Hauses Este
gestickt ist. Zur Seite ein mit dergleichen Samt bedeckter
Tisch. Im Hintergrund eine große Türe. Zur Rechten eine
kleifte^ zur Linken ei?ie andere kleine verborgene Türe. Hinter
400 ÜBERSETZUNGEN
der kleinen versteckten Türe sieht man in einem auf der
Bii}me angebrachten Kahiiiett den Anfang einer Wendel-
treppe^ die sich unter den Fußboden senkt und durch ein
langes und schinales Gitterfenster erleuchtet wird.
ERSTE SZENE
Don Alphons von Este. Rustighello.
RUSTIGHELLO. Herr Herzog, Eure Befehle sind voll-
zogen, und ich erwarte die übrigen.
ALPHONS. Nimm diesen Schlüssel. Geh in die Galerie
des Numa. Zähle alle Fächer des Getäfels von der großen
Figur bei der Türe an; sie stellt den Herkules, Sohn des
Jupiters, einen meiner Vorfahren, vor. Im dreiundzwan-
zigsten Feld wirst du eine kleine, im Rachen einer gol-
denen Natter versteckte Öffnung finden. Ludwig der Mauer
hat dieses Feld machen lassen. Stecke den Schlüssel in
diese Öffnung. Das Feld wird sich, wie eine Türe, auf
seinen Angeln bewegen. In dem verborgenen Schrank,
den es versteckt, findest du auf einer Kristallplatte zwei
Flaschen, eine von Gold und eine von Silber, mit zwei
Bechern. In der silbernen Flasche ist reines Wasser. In
der goldenen ist zubereiteter Wein. Du trägst die Platte,
ohne etwas zu verrücken, in das anstoßende Zimmer,
Rustighello, und wirst dich hüten, die goldene Flasche
anzurühren, wenn du je die Leute mit Zähneklappern von
dem Gifte der Borgia hast reden hören, einem Gifte, das
als Pulver weiß und funkelnd ist, wie der Staub von kar-
rarischem Marmor, und das, in den Wein gemengt, Ro-
morantiner in Syrakusaner verwandelt.
RUSTIGHELLO. Ist das alles, mein Herr:
ALPHONS. Nein. Du nimmst deinen besten Degen und
bleibst aufrecht in dem Kabinett hinter der Türe stehen,
so daß du alles, was hier vorgeht, hören und auf das erste
Zeichen, das ich dir mit dieser silbernen Schelle gebe,
hereintreten kannst. Wenn ich einfach: Rustighello! rufe,
so kommst du mit der Platte herein. Wenn ich mit der
Schelle klingle, so kommst du mit dem Degen.
RUSTIGHELLO. Gut, mein Herr.
LUCRETIA BORGIA. ZWEITE HANDLUNG 401
ALPHONS. Du hältst den bloßen Degen in der Hand,
um dir die Mühe des Ziehens zu sparen.
RUSTIGHELLO. Jawohl.
ALPHONS. Rustighello, nimm zwei Degen, es könnte
einer brechen. Fort!
{Rustighello geht dnrc/i die kleine Tirre a/>.)
TÜR STEHER (triU durch die Tihr im Hintergrund ein).
Unsere Donna, die Herzogin, wünscht den Herrn Herzog
zu sprechen.
ALPHONS. Laßt unsre Dame herein.
ZWEITE SZENE
Don Alphons. Donna Lucrctia.
LUCRETIA {tritt ungestüm herehi). Herr! Herr! das ist
unverschämt, das ist schmachvoll, das ist abscheulich!
Einer aus Eurem Volke, wißt Ihr das, Don Alphons? Einer
aus Eurem Volke hat den Namen Eures Weibes unter
dem Wappen ihrer Familie auf der Fronte Eures Palastes
verstümmelt. Es geschah am hellen Tage, öffentlich, durch
wen? — ich weiß es nicht; aber es ist sehr schmählich und
sehr frech. Man hat aus meinem Namen ein Aushänge-
schild fiir die Schande gemacht, und Euer Pöbel aus
Ferrara, der niederträchtigste in ganz Italien, Herr, steht
da und grinst vor meinem Wappen wie vor einem Pranger.
Bildet Ihr Euch etwa ein, Don Alphons, daß ich das so
hinnehmen würde, und daß ich nicht lieber auf einmal
durch einen Dolchstoß sterben möchte, als tausendmal
durch den giftigen Biß des Spottes und des Pasquills?
Bei Gott, Herr! man behandelt mich seltsam in Eurer
Herrschaft Ferrara! Ich fange an, das müde zu werden;
ich finde Euer Aussehen zu gefällig und ruhig, während
man in den Gassen Eurer Stadt den Ruf Eures von Schande
und Verleumdung mit den Zähnen zerri.ssenen Weibes
herumzerrt. Ich muß dafür eine glänzende Genugtuung
haben, Herr Herzog! Ich sage es Euch voraus. Bereitet
Euch, mir Recht zu verschaffen. Das ist ein ernsthaftes
Ereignis, seht Ihr? Glaubt Ihr vielleicht, daß mir die Ach-
BÜCHNER 26.
40 2 ÜBERSETZUNGEN
tung eines jeden unter der Sonne gleichgültig ist und daß
mein Gemahl aufhören kann, mein Ritter zu sein? Nein,
nein, mein Herr! wer sich vermählt, der schirmt, wer die
Hand gibt, der gibt den Arm. Ich zähle darauf. Alle Tage
neue Beleidigungen, und immer sehe ich Euch gefühllos
dafür. Spritzt der Kot, womit man mich bewirft, nicht
auch auf Euch, Don Alphons: Ha, bei meiner Seele, wer-
det doch ein wenig zornig, Herr, damit ich Euch doch
einmal in meinem Leben im Zorn um mich sehe. Ihr
liebt mich, wie Ihr manchmal sagt: So liebt doch meine
Ehre! Ihr seid eifersüchtig? So seid es doch auf meinen
Ruf! Wenn ich durch meine Mitgift Eure Erbgüter ver-
doppelt; wenn ich Euch zum Hochzeitgeschenk nicht nur
die goldene Rose und den Segen des Heiligen Vaters,
sondern auch noch etwas mitgebracht habe, das mehr
Platz einnimmt auf dieser Erde: Siena, Rimini, Cesena,
Spoleto und Piombino und mehr Städte, als Ihr Schlösser,
und mehr Herzogtümer, als Ihr Baronien hattet; wenn ich
Euch zum mächtigsten Edelmann Italiens gemacht habe,
so ist das wohl ein Grund, Herr, mich dem Gespötte, dem
Geschrei und den Beleidigungen Eures Pöbels preiszu-
geben; ein Grund, Euer Ferrara vor ganz Europa mit den
Fingern auf Euer verachtetes und unter der Magd Eurer
Stallknechte stehendes Weib deuten zu lassen; so ist das
wohl ein Grund, sage ich, daß Eure Untertanen mich nicht
durch ihre Mitte können gehen sehen, ohne zu sagen: Ha,
dies Weib! . . . Ich erkläre es Euch, Herr, das heutige
Verbrechen muß untersucht und strenge bestraft werden,
wenn ich nicht bei dem Papst oder dem Valentinois, der
zuForli mit fünfzehntausend Kriegsleuten steht, Klage füh-
ren soll, und dann mögt Ihr zusehen, ob es wohl der Mühe
wert ist, sich darum aus Eurem Sessel zu rütteln.
DON ALPHONSO. Donna, ich bin von dem Verbrechen
unterrichtet, worüber Ihr klagt.
LUCRETIA. Wie, Herr! Ihr wißt von dem Verbrechen,
und der Verbrecher ist nicht entdeckt?
ALPHONS. Der Verbrecher ist entdeckt.
LUCRETIA. Bei Gott! wie kömmt es, daß er alsdann
noch nicht verhaftet ist?
LUCRETIA BORGIA. ZWEITE HANDLUNG 403
ALPHONS. Er ist verhaftet, Donna.
LUCRETIA. Bei meiner Seele! wie kommt es, daß er
seine Strafe noch nicht erhalten hat:
ALPHONS. Er wird sie erhalten. Ich wollte erst Eure
Meinung über die Strafe hören.
LUCRETIA. Ihr habt wohl daran getan, Herr! Wo ist er?
ALPHONS. Hier.
LUCRETIA. Ha, hier! Man muß ein Beispiel geben, hört
Ihr, Herr: Das ist ein Majestätsverbrechen. Solche Ver-
brechen machen immer den Kopf fallen, welcher sie aus-
sinnt, und die Hand, welche sie ausführt. — Ha, er ist hier!
Ich will ihn sehen.
ALPHONS. Das ist leicht. {Erruf ti) Bautista! (Der Tür-
Steher tritt ein.)
LUCRETIA. Noch ein Wort, Herr, ehe der Verbrecher
hereingeführt wird. Gebt mir Euer Wort als gekrönter
Herzog, Don Alphons, daß er, wer er auch sei, aus Eurer
Stadt oder Eurem Hause nicht lebend von hier weg soll.
ALPHONS. Ihr habt es.— Ich gebe es Euch, Donna, ver-
steht Ihr wohl.-
LUCRETIA. Gut. Ha, ich verstehe! Führt ihn her, damit
ich ihn selbst vernehme. Mein Gott! was habe ich doch
diesen Leuten zu Ferrara getan, daß sie mich so verfolgen?
ALPHONS (zum Türsteher). Führt den Gefangenen herein.
(Die Türe im Hi?itergrund öffnet sich. Man sieht Gennaro
entwaffnet zwischen zwei Hellebardieren hereintreten. In
de?n nämlichen Augenblick sieht man Rustighello die Treppe
in dem kleinen Zimmer zur Linken hinter der verborgenen
Türe heraufsteigen. In der Harid hält er eine Platte^ worauf
eine goldene und eine silberne Flasche nebst zwei Bechern
stehen. Er stellt die Platte auf den Fenstervorsprung ^ zieht
seinen Degen und stellt sich Jmiter die Türe.)
DRITTE SZENE
Die Nämlichen. Gennaro.
LUCRETIA. Gennaro!
ALPHONS (nähert sich ihr. Leise und läcJicliid). Kennt
Ihr den Mann:
404 ÜBERSETZUNGEN
LUCRETIA. Es ist Gennaro. Welche Schickung, mein
Gott! {Sie betrachtet ihn ängstlich^ er wendet die Augen ah.)
GENNARO. Herr Herzog, ich bin nichts als ein Haupt-
mann und spreche zu Euch mit der Achtung, die Euch
gebührt. Em-e Hoheit hat mich heute morgen in meinem
Hause verhaften lassen; was will sie mit mir.'
ALPHONS. Herr Hauptmann, ein Majestätsverbrechen
wurde heute morgen dem von Euch bewohnten Hause
gegenüber verübt. Der Name unserer vielgeliebten Gattin
und Base, Donna Lucretia Borgia, ist auf eine unver-
schämte \Veise auf der Fronte unseres Palastes verstüm-
melt worden. Wir suchen den Schuldigen.
LUCRETIA. Er ist es nicht! Das ist eine Verwechslung,
Don Alphons. Der junge Mann da ist es nicht.
ALPHONS. Woher wißt Ihr das:
LUCRETIA. Ich bin dessen gewiß. Der junge Mann ist
von Venedig und nicht von Ferrara. Also ...
ALPHONS. Was beweist das.^
LUCRETIA. Die Sache geschah heute morgen, und ich
weiß, daß er den Morgen bei einer gewissen Fiametta
zugebracht hat.
GENNARO. Nein, Donna.
ALPHONS. Em-e Hoheit sieht wohl, daß sie schlecht
unterrichtet ist. Laßt mich ihn fragen. — Hauptmann Gen-
naro, habt Ihr das Verbrechen begangen?
LUCRETIA (verwirrt). Man erstickt hier! Luft! Luft!
Ich muß ein wenig Atem schöpfen! (Sie tritt an ein Fenster]
während sie an Gennaro vorbeigeht^ sagt sie ihm rasch und
leise:) Sage: nein!
ALPHONS (beiseite). Sie hat leise mit ihm gesprochen.
GENNARO. Herzog Alphons, die Fischer von Kalabrien,
die mich erzogen und die mich, wie ich noch ganz jung
war, in das Meer getaucht haben, um mich stark und kühn
zu machen, haben mich einen Grundsatz gelehrt, bei dem
man wohl oft sein Leben, aber nie seine Ehre wagt: ''Tue,
was du sagst, sage, was du tust." Herzog Alphons, ich
bin der Mann, den Ihr sucht.
ALPHONS (sich zu Lucretia wendend). Ilir habt mein
fürstliches Wort, Donna.
LUCRETIA BORGIA. ZWEITE HANDLUNG 405
LUCRETIA. Ich habe Euch einige Worte insgeheim zu
sagen, mein Herr.
(Der Herzog hefieJdt durcJi ein ZeicJien de?n llirsteher und
den WacJien^ sich mit dem Gefangenen in den anstoßenden
Saal zurückzuziehen^
VIERTE SZENE
Lucretia. Don Alphons.
ALPHONS. Was wollt Ihr von mir, Donna:
LUCRETIA. Was ich will, Don Alphons: Ich will, daß
dieser Jüngling nicht sterbe.
ALPHONS. Es ist kaum ein Augenblick verflossen, seit
Ihr zu mir kamt wie ein Sturm, zürnend und weinend,
seit Ihr über eine Euch zugefügte Beleidigung klagtet, seit
Ihr unter Drohen mid Schreien den Kopf des Schuldigen
gefordert, seit Ihr mein fürstliches Wort begehrt habt, daß
er nicht lebend von hier weg solle; ich verpfändete es
Euch, und jetzt fordert Ilir sein Leben! Bei Gott, Donna,
das ist unerhört!
LUCRETIA. Ich will, daß dieser Jüngling nicht sterbe,
Herr Herzog.
ALPHONS. Donna, so erprobte Edelleute wie ich sind
nicht gewohnt, ihr Wort in Versatz zu lassen. Ihr habt
das meinige, ich muß es lösen. Ich habe den Tod des
Schuldigen beschworen, er muß sterben. Bei meiner Seele!
Ihr dürft seine Todesart wählen.
LUCRETIA [lächelnd u?id sanft). Don Alphons, Don Al-
phons, wahrhaftig, wir schwätzen da tolles Zeug, Ihr und
ich. Es ist wahr, ich bin ein unsinniges Weib. Mein Vater
hat mich verdorben; was wollt Ihr: Seit meiner Kindheit
hat man all meinen Launen gehorcht. Was ich vor einer
Viertelstunde wollte, will ich jetzt nicht mehr. Kommt,
setzt Euch zu mir; — so — plaudern wir ein wenig, zärtlich,
herzlich, wie Mann und Frau, wie zwei gute Freunde.
ALPHONS [ebenfalls niit einem A?istrich von Galaiiterie).
Donna Lucretia, Ihr seid meine Dame, und ich bin sehr
glücklich, daß Ihr mich einen Augenblick zu Euren Füßen
liaben wollt. [Er setzt sich neben sie.)
4o6 ÜBERSETZUNGEN
LUCRETIA. Wie hübsch ist es, wenn man sich versteht!
Wißt Ihr auch, Don Alphons, daß ich Euch noch liebe,
wie am ersten Tage unserer Ehe, wo Ihr einen so glän-
zenden Einzug in Rom hieltet zwischen Herrn von Valen-
tinois, meinem Bruder, und dem Herrn Kardinal Hippolyt
von Este, dem Eurigenr Ich war auf dem Balkon der
Peterstreppe. Ich denke noch an Euren schönen, mit gold-
nen Zieraten bedeckten Schimmel und an das königliche
Aussehen, was Ihr auf ihm hattet.
ALPHONS. Ihr, Donna, wart sehr schön und glänzend
unter Eurem Baldachin von Silberbrokat.
LUCRETIA. O sprecht nicht von mir, Herr, wenn ich
von Euch spreche. Es ist gewiß, daß mich alle Fürstinnen
Europas um meine Ehe mit dem besten Ritter der Christen-
heit beneiden, und ich liebe Euch wahrhaftig, als hätte
ich achtzehn Jahre. Ihr wißt, daß ich Euch liebe, nicht
wahr, Alphons? Ihr zweifelt wenigstens nie daran. Ich
bin manchmal kalt und zerstreut; daran ist mein Charakter,
nicht mein Herz schuld. Hört, Alphonso, wenn Eure Ho-
heit mich ein wenig darum zankte, wollte ich bald anders
werden. Wie schön, sich so zu lieben wie wir! Gebt mir
Eiure Hand, — umarmt mich, Don Alphons! In Wahrheit,
das fällt mir jetzt ein, es ist recht lächerlich, daß ein Fürst
und eine Fürstin, wie Ihr und ich, die nebeneinander auf
dem schönsten Herzogstuhle unter der Sonne sitzen und
die sich lieben, auf dem Punkte waren, sich um einen
armseligen italienischen Landstreicher zu zanken! Man
muß den Menschen fortjagen und nicht weiter davon reden.
Er mag gehen, wohin er will, nicht wahr, Alphons? Der
Löwe und die Löwin werden über eine Mücke nicht zornig
werden. — Wißt Ihr auch, mein Herr, daß Ihr die Her-
zogskrone zum zweitenmal erhalten würdet, wenn man
sie dem schönsten Ritter von Ferrara als Preis aussetzte?
—Wartet, ich will Bautista in Eurem Namen sagen, daß
er so schnell als möglich diesen Gennaro aus Ferrara
jagen soll.
ALPHONS. Das hat keine Eile.
LUCRP2TIA. Ich möchte nicht mehr daran zu denken
haben. — Laßt mich die Sache auf meine Art abtun.
LüCRETIA BORGIA. ZWEITE HANDLUNG 407
ALPHONS. Diesmal muß sie wohl aiif die meinige ab-
getan werden.
LÜCRETIA. Aber endlich, mein Alphons,— Ilir habt kei-
nen Grund, den Tod dieses Menschen zu wollen.
ALPHONS. Und das Wort, was ich Euch gegeben? Der
Eid eines Fürsten ist heilig.
LÜCRETIA. Dergleichen muß man dem Volk sagen.
Aber Ihr und ich, Don Alphons, wissen, was daran ist.
Der Heilige Vater hatte Karl VIII. von Frankreich das
Leben desZizimi versprochen; Seine Heiligkeit ließ nichts-
destoweniger den Zizimi sterben. Herr von Valentinois
hatte sich auf sein Wort dem nämlichen Kinde Karl als
Geisel gestellt; Herr von Valentinois ist aus dem fran-
zösischen Lager entwischt, sobald er konnte. Ihr selbst
hattet den Petrucci versprochen, ihnen Siena zurückzu-
geben. Ihr habt es weder getan, noch hättet Ihr es tun
sollen. He! die Geschichte ist voll von dergleichen.
AVeder Könige noch Völker könnten bei streng gehaltenen
Eiden einen Augenblick bestehen. Für uns, Alphons, ist
ein beschwornes Wort nur dann eine Notwendigkeit, wenn
es keine andere gibt.
ALPHONS. Dennoch, Donna Lucretia, ein Eid . . .
LÜCRETIA. Gebt mir doch nicht so erbärmliche Gründe
an. Ich bin nicht einfältig. Sagt mir lieber, mein teurer
Alphons, ob Ihr irgendetwas gegen diesen Gennaro habt.
Nein? Nun gut! schenkt mir sein Leben. Was macht das
Euch, wenn es mir einfällt, ihm zu verzeihen? Ich bin die
Beleidigte.
ALPHONS. Grade, weil er Euch beleidigt hat, m.eine
Liebe, kann ich ihn nicht begnadigen.
LUCRETIA. Ilir werdet mir es nicht länger verweigern,
wenn Ihr mich liebt. Wenn es mir nun beliebt, den Weg
der Milde zu versuchen? Ich will von Eurem ^^olke ge-
liebt sein. Die Gnade, Alphons, macht einen König Jesus
Christus ähnlich. Laßt uns gnädige Herrn sein. Das arme
Italien hat ohne uns Tyrannen genug, von den baroni-
sierten Stellvertretern des Papstes an bis zu dem päpst-
lichen Stellvertreter des Himmels. Machen wir ein Ende
damit, teiurer Alphons. Setzt diesen Gennaro in Freiheit.
4oS ÜBERSETZUNGEN
Es ist eine Laune, wenn Ihr wollt; aber es ist etwas Hei-
liges und Göttliches in der Laune eines Weibes, wenn
sie einem Menschen den Kopf rettet.
ALPHONS. Ich kann nicht, teure Lucretia.
LUCRETIA. Ihr könnt nicht? Aber warum endlich könnt
Ihr mir etwas so Unbedeutendes, wie das Leben eines
Soldaten, nicht schenken?
ALPHONS. Ihr fragt warum, meine Liebe?
LUCRETIA. Ja, warum?
ALPHONS. Weil dieser Soldat Euer Geliebter ist, Donna.
LUCRETIA. Himmel!
ALPHONS. Weil Ihr in Venedig wart, ihn zu suchen!
Weil Ihr in die Hölle gehen würdet, ihn zu suchen! Weil
ich Euch verfolgt habe, während Ihr ihn verfolgtet! Weil
ich Euch sah, als Ihi- ihm unter Eurer Maske nachlieft,
keuchend, wie die Wölfin hinter ihrer Beute! Weil Ihr
ihn noch im Augenblick mit einem Blick voll Tränen und
Feuer verschlangt! Weil Ihr Euch ihm ohne Zweifel über-
lassen habt, Donna! Weil es jetzt genug ist mit Schande
und Ehebruch! W^eil es Zeit ist, daß ich meine Ehre räche
und um mein Bett einen Strom von Blut fließen mache!
Versteht Ihr, Donna?
LUCRETIA. Don Alphons . . .
ALPHONS. Schweigt.— Wacht über Eure Liebhaber in
Zukunft, Lucretia! Stellt, wen Ihr wollt, als Pförtner an
die Türe, durch die man zu Eurer Schlafkammer gelangt;
aber an der Türe, durch die man herausgeht, wird jetzt
ein Pförtner nach meiner Wahl stehen — der Henker!
LUCRETIA. Herr! ich schwöre Euch . . .
ALPHONS. Schwört nicht.— Eide, das ist gut für den
Pöbel. Gebt mir doch keine so erbärmlichen Gründe an.
Seht, Donna, ich hasse Euer ganzes abscheuliches Ge-
schlecht Borgia und Euch vor allen, Euch, die ich so
toll liebte! Ich muß Euch das ein wenig vollständig sagen.
Es ist eine schändliche, unerhörte und seltsame Sache,
in uns beiden das Haus Este, welches edler ist als das
Geschlecht der Valois und der Tudor, das Haus Este,
sage ich, und das Haus Borgia vereinigt zu sehen, das
Haus Borgia, das nicht einmal so, sondern Lenzuoli, oder
LUCRETIA BORGIA. ZWEITE HANDLUNG 409
Lenzolio, oder, ich weiß nicht wie, heißt! Ich verabscheue
Euren Bruder Cäsar, der natürliche Blutflecken im Gesicht
hat! Euren Bruder Cäsar, der Eui-en Bruder Johann er-
schlagen hat! Ich verabscheue Eure Mutter Rosa Vanozza,
das alte spanische Freudenmädchen, das in Rom ^Ärgernis
erregt, nachdem es das nämliche in Valenzia getan! Und
was Eure sogenannten Neffen anbelangt, die Herzoge von
Sermoneto-Nepi, — schöne Herzoge, wahrhaftig! Herzoge
von gestern! Herzoge von gestohlenen Herzogtümern!
Laßt mich zu Ende kommen. Ich verabscheue Emren
Vater, der Papst ist und der ein Weiber- Serail hält, wie
der Türkensultan Bajazet; Euren Vater, welcher der Anti-
christ ist; Euren Vater, der die Galeeren mit berühmten
Männern und das heilige Kollegium mit Banditen besetzt,
so daß man fragen sollte, wenn man sie in ihren roten
Kleidern sieht (Galeerensklaven und Kardinäle), ob die
Galeerensklaven Kardinäle und ob die Kardinäle Galeeren-
sklaven sind! — Geht jetzt!
LUCRETIA. Herr! Herr! ich flehe zu Euch auf den
Knien und mit gefaltenen Händen, um Jesus und Maria
wiUen, lun Eures Vaters und Eurer Mutter willen, Herr,
ich flehe zu Euch um das Leben dieses Mannes!
ALPHONS. Das heiße ich lieben!— Ihr dürft mit seiner
Leiche machen, was Ihr wollt, und ich denke, daß Ihr es
könnt, ehe eine Stmide vergeht.
LUCRETIA. Gnade für Gennaro!
ALPHONS. Wenn Ihr den festen Entschluß in meiner
Seele lesen könntet, so würdet Ihr so wenig davon reden,
als wenn er schon tot wäre.
LUCRETIA (sich erhebend). Ha! hütet Euch, Don Alphons
von Ferrara, mein vierter Gemahl.
ALPHONS. O, spielt nicht die schreckliche Donna! Bei
meiner Seele, ich fürchte Euch nicht! Ich kenne Eure
Kniffe. Ich werde mich nicht vergiften lassen, wie Euer
erster Gemahl, der arme spanische Edelmann, dessen
Namen ich so wenig mehr weiß, als Ihr. Ich werde mich
nicht fortjagen lassen, wie Euer zweiter Gemahl, der
Schwachkopf Johann Sforza, Herr von Pesaro. Ich werde
mich nicht mit Spießen auf irgendeiner Treppe erstechen
41 o ÜBERSETZUNGEN
lassen, wie der dritte, Don Alphons von Aragonien, das
schwache Kind, dessen Blut den Boden so wenig färbte
als reines Wasser. Ich bin ein Mann, Donna, Der Name
Herkules ist unsrem Hause gewöhnlich. Beim Himmel,
meine Stadt und meine Herrschaft sind voll von Soldaten,
und ich bin selbst einer und habe noch nicht, wie der
arme König von Neapel, meine guten Kanonen dem
Papste, Eurem Heiligen Vater, verkauft!
LUCRETIA. Ihr werdet diese Worte bereuen, mein Herr.
Ihr vergeßt, wer ich bin . . .
ALPHONS. Ich weiß sehr gut, wer Ihr seid, und weiß
sehr gut, wo Ihr seid. Ihr seid die Tochter des Papstes,
aber Ihr seid nicht zu Rom; Ihr seid die Herrin von Spo-
leto, aber Ihr seid nicht zu Spoleto; Ihr seid das Weib,
die Dienerin und Magd des Alphons, Herzogs vonFerrara,
und Ihr seid zu Ferrara. (Donna Lucretia, ganz bleich vor
Schrecken und Zo?'n^ sieht den He^-zog starr a?i und weicht
langsam vor ihm zurück bis zu einem Sessel^ in den sie wie
gebroche7i hi?tsinkt.) Aha! das wundert Euch; Ihr fürchtet
Euch vor mir, Donna; bisher war ich es, der Fmxht vor
Euch hatte. Es soll von nun an immer so sein, und um
damit anzufangen, fasse ich einen von Euren Liebhabern;
er stirbt.
LUCRETIA [mit schivacher Stimme). Überlegen wir ein
wenig, Don Alphons. Wenn dieser Mann der nämliche
ist, der gegen mich das Verbrechen der beleidigten Maje-
stät begangen hat, so kann er nicht zugleich mein Ge-
liebter sein . . .
ALPHONS. Warum nicht? In einem Anfall von Zorn,
Ärger, Eifersucht! Denn er ist vielleicht auch eifersüchtig,
er. Übrigens, was weiß ich: Ich will, daß er sterbe. Es
beliebt mir nun einmal so. Dieser Palast ist voll Sol-
daten, die mir ergeben sind und nur mich kennen; er kann
nicht entwischen. Ihr werdet nichts hindern. Ich habe
Eurer Hoheit die Wahl seines Todes überlassen; ent-
schließt Euch.
LUCRETIA {die Hände ringend). O mein Gott! mein Gott!
mein Gott!
ALPHONS. Ihr antwortet nicht? So will ich ihn im Vor-
T.UCRETIA BORGIA. ZWEITE HANDLUNG 411
zimmer mit Degenstichen töten lassen. (Er will gehen.,
sie faßt Um beim Arm.)
LUCRETIA. Halt!
ALPHONS. Wollt Ihr ihm lieber ein Glas Syrakusaner
einschenken:
LUCRETIA. Gennaro!
ALPHONS. Er muß sterben.
LUCRETIA. Nicht durch Degenstiche!
ALPHONS. An der Art liegt wenig. Was wählt Ihr:
LUCRETIA. Das andere.
ALPHONS. Ihr werdet achtgeben, daß Ihr Euch nicht
vergreift, und ihm ein Glas aus der goldenen Flasche ein-
schenken. Ihr kennt sie ja: Ich werde übrigens dabei sein;
bildet Euch nicht ein, daß ich Euch verlassen werde.
LUCRETIA. Ich werde tun, was Ihr wollt.
ALPHONS. Bautista! [Der Titrsteher tritt ein) Führt
den Gefangenen herein.
LUCRETIA. Ihr seid ein abscheulicher Mensch, Herr!
FÜNFTE SZENE
Die Nämlichen. Gennaro. Die Wache.
ALPHONS. Was ich höre, Herr Gennaro.^ Was Ihr heute
morgen getan, geschah aus Leichtsinn und Prahlerei und
ohne böse Absicht, die Herzogin verzeiht Euch; Ihr sollt
ein tapferer Mann sein. Bei meiner Mutter! wenn es sich
so verhält, so könnt Ihr frei und unversehrt nach Venedig
ziurückkehren. Ich möchte um keinen Preis die hohe Re-
publik Venedig um einen guten Diener und die Christen-
heit um einen treuen Arm bringen, der ein treues Schwert
führt, wenn sich in den Gewässern von Zypern oder Kandia
die Heiden oder die Sarazenen zeigen.
GENNARO. Zur guten Stunde, Herr! Ich rechnete nicht,
ich gestehe es, auf einen solchen Schluß. Ich danke Eurer
Hoheit. Die Milde ist eine königliche Tugend, und Gott
wird da oben dem gnädig sein, der hier unten gnädig ist.
ALPHONS. Hauptmann, ist der Dienst der Republik gut,
und wieviel gewinnt Ihr dabei Jahr für Jahr:
GENNARO. Ich habe einen Haufen von fünfzig Lanzen,
4 1 2 ÜBERSETZUNGEN
die ich kleide und freihalte. Die hohe Republik gibt mir
zweitausend Goldzechinen jährlich, ohne die Nebengefälle
zu rechnen.
ALPHONS. Und wenn ich Euch viertausend anböte,
würdet Ihr Dienste bei mir nehmen. -
GENNARO. Unmöglich. Ich bin noch für fünf Jahre der
Republik verpflichtet. Ich bin gebunden.
ALPHONS. Wie: gebunden!
GENNARO. Durch einen Eid.
ALPHONS {leise zu Lucretid). Diese Leute scheinen ihre
Eide zu halten. (Lauti) Sprechen wir nicht mehr davon,
Herr Gennaro.
GENNARO. Ich habe keine Niederträchtigkeit begangen,
um mein Leben zu retten; aber weil Eure Hoheit mir es
schenkt, so kann ich ihr jetzt folgendes sagen. Eure Ho-
heit erinnert sich wohl an den Sturm auf Faenza, es sind
jetzt zwei Jahre her. Der Herzog Herkules von Este, Euer
Vater, geriet dabei in große Gefahr durch zwei Armbrust-
schützen des Valentinois, die im Begriö' waren, ihn zu
töten. Ein Soldat rettete ihm das Leben.
ALPHONS. Ja, und man konnte diesen Soldaten nie
wiederfinden.
GENNARO. Das war ich.
ALPHONS. Bei Gott, mein Hauptmann, das verdient
eine Belohnung. — Würdet Ihr wohl diese Börse mit Gold-
zechinen annehmen?
GENNARO. Als wir in den Dienst der Republik Venedig
traten, schwuren wir, kein Geld von fremden Souveränen
anzunehmen. Indes, wenn Eure Hoheit es erlaubt, nehme
ich das Geld und verteile es in meinem Namen unter die
braven Soldaten da. {Er deutet auf die Wache))
ALPHONS. Tut es. {Gennaro nimmt die Börse.) Aber
dann werdet Ilir wenigstens nach dem alten Gebrauch
unserer Voreltern als guter Freund ein Glas von meinem
Syrakusaner mit mir trinken.
GENNARO. Recht gern, Herr!
ALPHONS. Und ich will, daß die Herzogin selbst es Euch
einschenke, um Euch als den Retter meines Vaters zu ehren.
{Gennaro neigt sich und geht in den Hintergrund der Bühne ^ ,
LUCRETIA BORGIA. ZWEITE HANDLUNG 413
///;/ das Gold den Soldaten auszuteikn. Der Herzog ruft:
Rustighellol Rustighello tritt mit der Platte herein^
ALPHONS. Stelle die Platte auf diesen Tisch.— Gut. [Er
nimmt Donna Lucretia hei der Hand.) Donna, hört, was
ich diesem Manne sagen werde. — Rustighello, gehe zurück
und stelle dich hinter diese Türe, den bloßen Degen in der
Hand. Du kommst herein, wenn du diese Schelle hörst.
Geh! [Rustighello geht^ und man sieht ihn sich wieder hinter
die Türe stellen^ Donna, Ihr werdet diesem jungen Manne
einschenken und achtgeben, daß Ihr die goldene Flasche
da nehmt.
LUCRETIA [bleich mit schwacher Stimme). Ja. — Wenn Ihr
wüßtet, was Ihr in diesem Augenblicke tut, und wie ent-
setzlich es ist, Ihr würdet schaudern, so entmenscht Ihr
auch seid, Herr!
ALPHONS. Gebt acht, daß Ihr die Flaschen niclit ver-
wechselt.— He, Kapitän!
[Genna7'o, der mit seiner Verteilung zu Ende ist, kovwit
auf den V ordergrund der Bühne zurück. Der Herzog schenkt
sich aus der silbernen Flasche in einen von den Bechern
ein und setzt ihn an die Lippen?^
GENNARO. Ich bin beschämt durch so viel Güte, Herr.
ALPHONS. Donna, schenkt dem Herrn Gennaro ein.
Wie alt seid Ihr, Hauptmann?
GENNARO {nimmt den andern Becher und hält ihn der
Herzogin hin). Zwanzig Jahre.
ALPHONS [leise zur Hei'zogin^ welche die silberne Flasche
zu ergreifen sucht). Die goldene Flasche, Donna! [Sieninwit
zitternd die goldene Flasche.) Ah! Ihr seid wohl verliebt:
GENNARO. Wer ist es nicht ein wenig, mein Herr:
ALPHONS. Wißt Ihr auch, Donna, daß es grausam wäre,
diesen Hauptmann dem Leben, der Liebe, der Sonne
Italiens, dem schönen Alter von zwanzig Jahren, seinem
glorreichen Kriegs- und Abenteurerhandwerk, womit alle
königlichen Geschlechter angefangen haben, den Festen,
den Maskenbällen, dem lustigen Fasching von Venedig,
wo so viele Ehemänner betrogen werden, und den schö-
nen Damen, die er noch lieben kann und die ihn lieben
werden, zu entreißen: Nicht wahr, Donna: — Schenkt doch
4 T 4 ÜBERSETZUNGEN
dem Hauptmann ein. (Leise:) Wenn Ihr zaudert, so lasse
ich Rustighello hereinkommen. [Sie schenkt Gen7iaro ei?i,
ohne ei7i Wort zu sagen ^
GENNARO. Ich danke Euch, Herr, daß Ihr mich für
meine arme Mutter leben laßt.
LUCRETIA [beiseite). O entsetzlich!
ALPHONS (trinkt). Auf Eure Gesundheit, Hauptmann
Gennaro! Ich wünsche Euch viele Jahre.
GENNARO. Herr, Gott vergelte es Euch! [Er trinkt:)
LUCRETIA (beiseite). Himmel!
ALPHONS ((^m^//^). Es ist geschehen! (Laut:) Ich ver-
lasse Euch jetzt, mein Hauptmann. Ihr könnt nach Ve-
nedig abreisen, wenn Ihr wollt. (Leise zu Lucretia:) Dankt
mir, Donna, ich lasse Euch allein mit ihm. Ihr habt ihm
noch Lebewohl zu sagen. Verlebt mit ihm, wenn Ihr Lust
habt, seine letzte Viertelstunde. (Er geht, die Wachen
folgen ihm?)
*
SECHSTE SZENE
Donna Lucretia. Gennaro.
(Man sieht noch immer Rustighello unbeweglich hinter der
verborgene7i Türe im Nebenzimmer})
LUCRETIA. Gennaro!— Ihr seid vergiftet!
GENNARO. Vergiftet, Donna?
LUCRETIA. Vergiftet!
GENNARO. Das hätte ich denken sollen,— Ihr habt den
Wein eingeschenkt.
LUCRETIA. O, macht mir keine Vorwürfe, Gennaro!
Entreißt mir nicht den Rest von Kraft, der mir noch
bleibt und den ich noch für einige Augenblicke nötig
habe. — Hört mich! Der Herzog ist eifersüchtig auf Euch,
er hält Euch für meinen Liebhaber. Der Herzog ließ mir
keine Wahl, als Euch von Rustighello erdolchen zu sehen,
oder Euch selbst das Gift zu geben. Ein furchtbares Gift,
Gennaro, ein Gift, woran der Gedanke allein jeden Ita-
liener, der die Geschichte der letzten zwanzig Jahre kennt,
erbleichen macht . . .
GENNARO. Ja, das Gift der Borgia!
LUCRETIA BORGIA. ZWEITE HANDLUNG 415
LÜCRETIA. Ihr habt davon getrunken. Niemand unter
der Sonne kennt ein Gegengift für diese schreckliche
Mischung, niemand als der Papst, Herr von Valentinois
und ich. Seht, dies Fläschchen, das ich immer in meinem
Gürtel trage, dies Fläschchen, Gennaro, ist Leben, Ge-
sundheit, Rettung. Nur ein Tropfen auf Eure Lippen, und
Ihr seid gerettet. (Sie will das Fläschchen an die Lippen
Geimaros bringen^ er weicht zurück?)
GENNARO {indem er sie scharf ansieht). Donna, was be-
weist mir, daß dies nicht das Gift ist.-
LUCRETIA {sinkt vernichtet in einen Sessel). O mein Gott,
mein Gott!
GENNARO. Heißt Ihr nicht Lucretia Borgia: — Meint
Ihr, ich erinnerte mich nicht an den Bruder des Bajazet?
Ja, ich verstehe ein wenig Geschichte! Man machte ihn
auch glauben, er sei von Karl VIII. vergiftet worden, und
gab ihm ein Gegengift, woran er starb, und die Hand, die
ihm das Gift reichte, da ist sie, sie hält noch das Fläsch-
chen, und der Mund, der ihm sagte: trinke! da ist er und
spricht zu mir!
LUCRETIA. O ich elendes Weib!
GENNARO. Hört, Donna, ich lasse mich durch Euren
Anstrich von Liebe nicht täuschen. Ihr habt eine unheil-
volle Absicht mit mir. Das ist klar. Ihr müßt wissen, wer
ich bin. Seht, in dem Augenblick lese ich in Eurem Ge-
sicht, daß Ihr es wißt, und es ist leicht einzusehen, daß
ein unüberwindlicher Grund Euch bestimmt, mir es nie-
mals zu sagen. Eure Familie muß die meinige kennen,
und zu dieser Stunde würdet Ihr Euch vielleicht durch
meine Vergiftung nicht allein an mir rächen, sondern
auch, wer weiß: an meiner Mutter.
LUCRETIA. Eiue Mutter, Gennaro! Ihr stellt sie Euch
vielleicht anders vor, als sie wirklich ist. Was würdet Ihr
sagen, wenn sie, wie ich, nichts als ein verbrecherisches
Weib wäre:
GENNARO. Lästert sie nicht!— O nein! meine Mutter
ist nicht ein Weib wie Ihr, Donna Lucretia. O, mein
Herz fühlt sie, meine Seele träumt sie, wie sie ist; ich
habe ihr Bild, da, es wurde mit mir ^eboren; ich würde
4 1 6 ÜBERSETZUNGEN
sie nicht lieben, wie ich sie liebe, wenn sie meiner nicht
würdig wäre. Das Herz eines Sohnes täuscht sich nicht
in seiner Mutter. Ich würde sie hassen, wenn sie Euch
gleichen könnte. Aber nein, nein! Es ist etwas in mir,
was mir laut sagt, daß meine Mutter kein blutschände-
rischer, üppiger, giftmischender Teufel ist, wie ihr an-
dern schönen Damen von jetzt. O Gott! ich weiß sicher,
daß meine Mutter es ist, wenn es unter dem Himmel ein
unschuldiges, tugendhaftes, heiliges Weib gibt. O, sie ist
so, und nicht anders! Ihr kennt sie ohne Zweifel, Donna
Lucretia, und werdet mich nicht Lügen strafen!
LUCRETIA. Nein, dies Weib, Gennaro, diese Mutter
kenne ich nicht.
GENNARO. Aber vor wem spreche ich so? Was kümmern
Euch, Lucretia Borgia, die Freuden und Schmerzen einer
Mutter! Ihr habt niemals Kinder gehabt, wie man sagt.
Ihr seid sehr glücklich; denn wißt Ihr auch, Donna, daß
Eure Kinder, wenn Ihr welche hättet, Euch verleugnen
würden? Welcher Unglückliche wäre so vom Himmel ver-
lassen, daß er eine solche Mutter sich wünschte? Der
Sohn der Lucretia Borgia zu sein! "Meine Mutter!" zu
Lucretia Borgia zu sagen! Oh!
LUCRETIA. Gennaro, Ihr seid vergiftet; der Herzog, der
Euch tot glaubt, kann jeden Augenblick zurückkommen;
ich sollte nur an Euer Heil und an Eure Flucht denken;
aber Ihr sagt mir da so schreckliche Dinge, daß ich nichts
vermag, als sie wie versteinert anzuhören.
GENNARO. Donna . . .
LUCRETIA. Seht! wir müssen damit zu Ende kommen.
Erdrückt mich, begrabt mich unter der Last Eurer Ver-
achtung! Aber Ihr seid vergiftet, trinkt das auf der Stelle!
GENNARO. Wem soll ich glauben? Der Herzog ist edel,
und ich habe seinem Vater das Leben gerettet. Euch habe
ich beleidigt, Ihr habt Euch an mir zu rächen.
LUCRETIA. Mich an dir rächen, Gennaro!— Ich würde
mein Leben geben, um das deinige um eine Stunde zu
verlängern; ich würde all mein Blut vergießen, um dir
eine Träne zu sparen; ich würde mich an den Pranger
stellen, um dich auf einen Thron zu setzen; ich würde
LUCRETIA BORGIA. ZWEITE HANDLUNG 417
mit Höllenqualen jede deiner geringsten Freuden erkaufen;
ich würde nicht zaudern, nicht murren, ich wäre glück-
lich, ich würde deine Füße küssen, mein Gennaro! O,
du sollst nie etwas von meinem armen unseligen Herzen
erfahren, als daß es voll von dir ist! — Gennaro, die Zeit
drängt, das Gift wirkt, du wirst es gleich fühlen, noch
ein wenig, und es ist nicht mehr Zeit. Das Leben öffnet
in diesem Augenblick zwei dunkle Räume vor dir, aber
der eine hat nicht so viel Minuten, als der andere Jahre.
Du mußt einen von beiden wählen. Die Wahl ist schreck-
lich. Laß dich von mir leiten. Habe Erbarmen mit dir
und mir. Gennaro! Trinke schnell, im Namen des Him-
mels!
GENNARO. Meinetwegen. Ist ein Verbrechen darunter,
so mag es auf Euer Haupt fallen. Sei, was Ihr sagt, wahr
oder falsch, es verlohnt sich nicht der Mühe, so viel
Worte um ein Leben zu machen. Gebt! {Er nimuit das
Fl äschchen und trinkt.)
LUCRETIA. Gerettet!— Jetzt nach Venedig, so schnell
dich dein Pferd trägt. Du hast Geld:
GENNARO. Ja.
LUCRETIA. Der Herzog hält dich für tot, man kann ihm
leicht deine Flucht verbergen. Warte! Behalte das Fläsch-
ichen und trage es immer mit dir. In der Zeit, worin wir
lieben, ist Gift in jeder Mahlzeit; du besonders bist aus-
Igesetzt. Jetzt schnell fort! (Sie zeigt ihm die verborgene
.Ti/re, die sie halb öffnet.) Steige diese Treppe hinab. Sie
führt in einen Hof des Palastes Negroni. Du kannst leicht
auf dem Wege entkommen. Warte nicht bis zum Morgen
des nächsten Tages, warte nicht bis Sonnenuntergang,
warte keine Stunde, keine halbe Stunde! Verlasse Ferrara
sogleich, verlasse Ferrara, als wäre es ein brennendes
Sodom, und blicke nicht hinter dich! — Lebe wohl! W^arte
noch einen Augenblick. Ich habe dir mein letztes Wort
zu sagen, mein Gennaro.
GENNARO. Sprecht, Donna.
LUCRETIA. Ich sage dir in diesem Augenblick Lebe-
wohl, Gennaro, um dich nie wieder zu sehen. Ich darf
nicht mehr daran denken, dich noch manchmal auf mei-
BÜCHNER 27.
4 1 8 ÜBERSETZUNGEN
nem Wege zu treffen. Es war das einzige Glück, was ich
auf Erden hatte. Aber das hieße dein Leben wagen.
Jetzt sind wir also für immer in diesem Leben getrennt.
Ach! ich weiß allzu gut, daß wir es auch in dem andern
sein werden. Gennaro! wirst du mir nicht ein freundliches
Wort sagen, ehe du mich so für die Ewigkeit verläßt?
GENNARO (schlägt die Augen 7iieder). Donna . . .
LUCRETIA. Endlich, ich habe dir das Leben gerettet!
GENNARO. So sagt Ihr. Das alles ist voll Dunkel; ich
weiß nicht, was ich denken soll. Seht, Donna, ich kann
Euch alles verzeihen, eins ausgenommen.
LUCRETIA. Und was.-
GENNARO. Schwört mir bei allem, was Euch teuer ist,
bei meinem Haupt, weil Ihr mich liebt, bei dem ewigen
Heil meiner Seele, schwört mir, daß Eure Verbrechen
nichts mit dem Unglück meiner Mutter zu schaffen haben.
LUCRETIA. Jedes Wort zu dir, Gennaro, ist mir heilig.
Ich kann dir das nicht beschwören,
GENNARO. O meine Mutter, meine Mutter! Da ist also
das entsetzliche Weib, welches dein Unglück war!
LUCRETIA. Gennaro!
GENNARO. Ihr habt bekannt, Donna! Seid verflucht!
LUCRETIA. Und du, Gennaro, sei gesegnet! (Ei' geht,
sie sinkt ohnmächtig in den Sessel.)
ZWEITE ABTEILUNG
Die zweite Dekoration. Der Platz von Fci-rara mit dem
herzoglichen Balkon auf der einen und dem Hause des Gen-
naro auf der andern Seite. Nacht.
ERSTE SZENE
Don Alfhons, Rustighello {in Mäntel gehüllt).
RUSTIGHELLO. Ja, Herr, das ging so zu. Sie gab ihn,
ich weiß nicht durch welchen Trank, dem Leben zurück
und ließ ihn durch den Hof des Palastes Negroni ent-
wischen.
.i;
LUCRETIA BORGIA. ZWEITE HANDLUNG 419
ALPHONS. Und du hast es gelitten r
RUSTIGHELLO. Wie es hindern? Sie hatte die Türe
verriegelt; ich war eingeschlossen.
ALPHONS. Du hättest die Türe einbrechen sollen.
RUSTIGHELLO. Eine Türe von Eichenholz, ein Riegel
von Eisen. Eine Kleinigkeit!
ALPHONS. Was macht das! Du mußtest den Riegel
sprengen, sage ich dir, du mußtest einbrechen und ihn töten.
RUSTIGHELLO. Erstens, gesetzt auch, ich hätte die
Türe einbrechen können, so würde ihn Doima Lucretia
mit ihrem Körper gedeckt haben. Ich hätte auch Donna
Lucretia töten müssen.
ALPHONS. Und? nun?
RUSTIGHELLO. Dazu hatte ich keinen Befehl.
ALPHONS. Rustighello! Gute Diener begreifen die Für-
sten, indem sie ihnen die Mühe sparen, alles zu sagen.
RUSTIGHELLO. Und dann hätte ich Eure Hoheit mit
dem Papste zu entzweien gefürchtet.
ALPHONS. Dummkopf!
RUSTIGHELLO. Das war eine kitzliche Sache, Herr,
die Tochter des Heiligen Vaters zu töten!
ALPHONS. Nun, konntest du nicht, ohne sie zu töten,
schreien, rufen, mich benachrichtigen, ihren Liebhaber
an der Flucht verhindern?
RUSTIGHELLO, Ja, und morgen würde Eure Hoheit
sich mit Donna Lucretia versöhnt haben, und übermorgen
würde Donna Lucretia mich haben hängen lassen.
ALPHONS. Genug. Du sagtest mir, es sei noch nichts
verloren.
RUSTIGHELLO. Nein. Ihr seht ein Licht an diesem
Fenster. Der Gennaro ist noch nicht abgereist. Sein
Knecht, den die Herzogin bestochen hatte, ist jetzt von
j mir bestochen und hat mir alles gesagt. In diesem Augen-
! blick wartet er auf seinen Herrn hinter der Zitadelle mit
zwei gesattelten Pferden. Der Gennaro wird sogleich aus-
gehen, um ihn aufzusuchen.
I ALPHONS. In dem Fall stellen wir uns hinter die Ecke
I seines Hauses. Es ist finstere Nacht. Wir töten ihn, wenn
. er vorbeigeht.
420 ÜBERSETZUNGEN
RUSTIGHELLO. Wie es Euch beliebt.
ALPHONS. Dein Degen ist gut?
RUSTIGHELLO. Ja.
ALPHONS. Du hast einen Dolchr
RUSTIGHELLO. Ein Italiener ohne Dolch und eine
Italienerin ohne einen Geliebten sind zwei Dinge, die man
nicht leicht unter der Sonne findet.
ALPHONS. Gut, du wirst mit beiden Händen zustoßen.
RUSTIGHELLO. Herr Herzog, warum laßt Ihr ihn nicht
ganz einfach verhaften und nach einem Ausspruch des
Fiskals hängen:
ALPHONS. Er ist ein Untertan von Venedig; das hieße
der Republik den Krieg erklären. Nein. Ein Dolchstich
kommt, man weiß nicht woher, und bringt niemand in
Verlegenheit. Gift taugt noch mehr, aber es hat nicht
gewirkt.
RUSTIGHELLO. Wollt Ilir dann, Herr, daß ich vier
Sbirren hole, um ihn abzutun, ohne daß Eure Hoheit die
Mühe hat, sich hineinzumengen:
ALPHONS. Mein Lieber, der Herr Machiavell hat mir
oft gesagt, daß in solchen Fällen die Fürsten am besten
selbst ihre Geschäfte besorgen.
RUSTIGHELLO. Herr, ich höre jemand kommen.
ALPHONS. Stellen wir uns da an die Mauer. (Sic ver-
bergen sich im Schatten unter dem Balkon}^
[Maffio, festlich gekleidet, tritt auf; er kommt singend und
klopft an die Türe von Gctinaro.)
ZWEITE SZENE
Don Alphon s und Rustighello {versteckt). Maffio. Gennaro.
MAPFIO. Gennaro! (Die Tür öffnet sich, Gennaro tritt
auf)
GENNARO. Bist du es, Maffio: Willst du hereinkommen:
MAFFIO. Nein. Ich habe dir nur zwei Worte zu sagen.
Kommst du bestimmt nicht diesen Abend mit uns zu der
Fürstin Negroni:
GENNARO. Ich bin nicht eingeladen.
MAFFIO. Ich werde dich vorstellen.
LUCRETIA BORGIA. ZWEITE HANDLUNG 421
GENNARO. Ich habe noch einen andern Grund; ich muß
dir es sagen. Ich reise ab.
MAFFIO. Wie, du gehst?
GENNARO. In einer Viertelstunde.
MAFFIO. Warum:
GENNARO. Ich werde dir es zu Venedig sagen.
MAFFIO. Liebeshändelr
GENNARO. Ja, Liebeshändel.
MAFFIO. Du handelst nicht recht gegen mich, Gennaro.
Wir haben uns geschworen, uns nie zu verlassen, uns nie
zu trennen, Brüder zu sein, und nun reisest du ohne mich
ab!
GENNARO. Komm mit mir!
MAFFIO. Komm lieber mit mir! Es ist viel angenehmer,
die Nacht bei Tische mit schönen Weibern und fröhlichen
Gästen hinzubringen, als auf der Landstraße zwischen
Banditen und Abstürzen.
GENNARO. Du trautest diesen Morgen deiner Fürstin
Negroni nicht viel.
MAFFIO. Ich habe mich erkundigt. Tep[)0 hatte recht.
Sie ist eine liebenswürdige, gut gelaunte Dame, welche
Verse und Musik liebt, das ist alles. Fort, komm mit mir!
GENNARO. Ich kann nicht.
MAFFIO. In tiefer Nacht abzureisen I Willst du dich er-
morden lassen :
GENNARO. Sei ruhig. Lebe wohl. Viel Vergnügen.
MAFFIO. Bruder Gennaro, mir ahnt nichts Gutes von
deiner Reise.
GENNARO. Bruder Maftio, mir ahnt nichts Gutes von
deinem Gastmahl.
MAFFIO. Wenn dir irgendwas zustieße, ohne daß ich
zugegen wäre!
GENNARO. Wer weiß, ob ich mir morgen nicht vor-
werfe, dich diesen Abend verlassen zu haben.^
MAFFIO. Bestimmt! trennen wir uns nicht, ein jeder gibt
dem andern ein wenig nach. Komm diesen Abend mit
mir zur Negroni, und morgen bei Tagesanbruch reisen
wir zusammen ab. Soll das ein Wort sein.-
42 2 ÜBERSETZUNGEN
GENNARO. Ich muß dir den Grund meiner plötzlichen
Abreise erzählen, Maffio. Du magst dann beurteilen, ob
ich recht habe. (Er fiimmt Maffio beiseite und spricht iJwi
ins Ohr.)
RUSTIGHELLO {unter dem JBalkofi leise zu Alphans),
Greifen wir an, Herr!
ALPHONS {leise), Warten wir das Ende davon ab.
MAFFIO {bricht nach Ge^maros Erzählung i?t Lachen aus),
Gennaro, soll ich dir sagen: du bist angeführt! Bei der
ganzen Geschichte gab es weder Gift noch Gegengift,
Reines Possenspiel. Die Lucretia ist toll in dich verliebt,
sie wollte dich glauben machen, daß sie dir das Leben
gerettet, um dich ganz sacht aus der Dankbarkeit in die
Liebe schlüpfen zu lassen. Der Herzog ist ein guter Mann,
unfähig, irgend jemand zu vergiften oder zu ermorden.
Du hast außerdem seinem Vater das Leben gerettet, und
er weiß es. Die Herzogin verlangt deine Abreise, das ist
ganz einfach. Ihr Liebeshandel v/ürde zu Venedig sich
leichter fortspinnen, als zu Ferrara. Der Gemahl hindert
sie doch immer ein wenig. Was das Gastmahl der Negroni
anbelangt, so sage ich d^r, es wird kösthch sein. Du
kommst hin! Was Teufel, man muß ein wenig überlegen
und nichts übertreiben. Du weißt, ich bin vorsichtig und
ein guter Ratgeber. Weil es zwei oder drei berüchtigte
Abendessen gab, wobei die Borgia mit sehr gutem Wein
einige ihrer guten Freunde vergiftet haben, so ist dies
doch kein Grund, gar nicht mehr zu Abend zu essen. Das
ist kein Grund, in dem köstHchen Syrakusaner immer
Gift und hinter allen schönen Fürstinnen Italiens immer
Lucretia Borgia zu sehen. Gespenster und Ammenmärchen
all das! Wenn man so schließen wollte, könnten nur die
Kinder an der Brust unbesorgt trinken und ruhig ihre Nah-
rung zu sich nehmen. Beim Herkules, Gennaro, sei ein
Kind oder ein Mann. Lege dich wieder an deine Amme,
oder komm zum Gastmahl.
GENNARO. In der Tat, es ist etwas sonderbar, sich so
des Nachts fortzumachen; es sieht aus, als fürchtete ich
mich. Außerdem, wenn das Bleiben gefährlich ist, darf
ich Maffio nicht allein lassen. Es mag daraus werden, was
LUCRETIA BORGIA. DRITTE HANDLUNG 423
da will. Das eine ist so gut wie das andere. So sei es.
Du wirst mich der Fürstin Negroni vorstellen. Ich gehe
mit dir.
MAFFIO {niinmt iJui bei der Hand). Bei Gott! das ist ein
Freund! {Sic gehen ab. Man sieht sie nach dein Hinter-
gründe des Platzes zugehen. Don Alphon s und Rustighello
trete?! aus ihrem Versteck hervor?)
RUSTIGHELLO {init entblößtem Degen). Ha! was wartet
Ihr, Herr? Es sind nur zwei, sucht Euem Mann aus, ich
nehme den andern auf mich.
ALPHONS. Nein, Rustighello. Sie werden bei der Fürstin
Negroni zu Nacht speisen, wenn ich gut unterrichtet bin . . .
{Er unterbricht sich und scheint einen Augeiiblick nachzu-
de7iken^ dami bricht er in Lache??, aus.) Wahrhaftig! Das
würde meine Sache noch besser abtun, es wäre eine
drollige Geschichte. Warten wir bis morgen. (Sie gehen
in de?i Palast zurück?)
DRITTE HANDLUNG
BETRUNKEN- TOT
Persone??
DONNA LUCRETIA BORGIA DON AFOSTOLO GAZELLA
GENNARO OLOFERNO \aTELLOZZO
GUBETTA DIE RÜRSTIN NEGRONI
JEPPO LIVERETTO DAMEN
ASCANIO PETRUCCI PAGEN
MAFFIO ORSINI MÖNCHE
Ei?i prächtiger Saal des Palastes Negroni. Zur Rechte?i ei?ie
blinde Türe. I?n Hinteigrund eine große und sehr breite
Flügeltüre. In der Mitte ei?ie im Geschfiiack des Iß./ahr-
hunderts prächtig besetzte Tafel. Klei?ie, schwarze^ in Gold-
brokat gekleidete Sklaven warten auf. — Ini Augenblick^ wo
der Vorha?ig aufgeht^ sitzen vierzehn Gäste an der Tafel^
Jeppo, Maffio, Asca?iio^ Oloferiio^ Apostolo, Gennaro^ Gu-
betta und siebe?i hiirbsche, sehr elega?it gekleidete Da?nen.
424 ÜBERSETZUNGEN
Allc^ Geimaro ausgenommen^ der nachdenkend und scJnueigcnd
aussie/if, essen und frinkefi, oder laclien aus vollem Halse
mit ihren N^achbarinnen.
ERSTE SZENE
Jeppo^ Maffio^ Ascanio, Oloferno, Don Apostolo^ Gubetfa,
Gennaro^ Damen, Pagen.
OLOFERNO {sein Ghis in der Hand). Es lebe der Wein
von Xeres! Xeres de la Frontera ist eine Stadt des Para-
dieses.
MAFFIO (sein Glas in der Hand). Der Wein, den wir
trinken, ist mehr wert, als die Geschichten, welche du
uns erzählst, Jeppo.
ASCANIO. Jeppo hat die Krankheit, Geschichten zu er-
zählen, wenn er getrunken hat.
APOSTOLO. Ein andermal war es zu Venedig bei dem
hohen Dogen Barbarigo; heute ist es zu Ferrara bei der
göttlichen Fürstin Negroni.
JEPPO. Ein andermal war es eine schauerliche, heute ist
es eine lustige Geschichte.
MAFFIO. Eine lustige Geschichte, Jeppo! Wie es kam,
daß Don Siliceo, ein schöner Kavalier von dreißig Jah-
ren, der sein Erbteil im Spiel verloren hatte, die reiche
Marquise Calpurnia heiratete, die achtundvierzig Frühlinge
zählte. Bei dem Leibe des Bacchus, du findest das lustig!
GUBETTA. Das ist traurig und gewöhnlich. Ein ruinierter
Mann heiratet eine Ruine von einem Weibe. Das sieht
man alle Tage. {Er fängt an zu essen. Von Zeit zu Zeit
stehen einige von der Tafel auf und plaudern auf dem Vor-
dergrund der Bühfie^ ivährend das Gelag fo?'tdauert?)
NEGRONI {zu iMafßo^ indem sie auf Gennaro deutet). Herr
Graf Orsini, Ihr habt da einen Freund, der sehr traurig
aussieht.
MAFFIO. Er ist immer so, Donna. Ihr müßt mir ver-
zeihen, daß ich ihn hierher brachte, obgleich Ihr ihm die
Gnade einer Einladung nicht erwiesen hattet. Er ist mein
Waffenbruder. Er hat mir das Leben bei dem Sturm von
Rimini gerettet. Ich habe bei dem Angriff auf die Brücke
LUCRETIA BORGIA. DRITTE HANDLUNG 425
von Vizenzia einen Degenstich erhalten, der ihm galt.
Wir trennen uns nie; wir leben zusammen. Ein Zigeuner
hat uns vorausgesagt, daß wir am nämlichen Tage sterben
würden.
NEGRONI {lac/if). Hat er Euch auch gesagt, ob das am
Morgen oder am Abend geschehen wiirde?
MAFFIO. Er sagte uns, es würde am Morgen geschehen.
NEGRONI {lacht stärker). Euer Zigeuner wußte nicht,
was er sagte.— Und liebt Ihr den jungen Menschen sehr.^
MAFFIO. So sehr, als ein Mann den andern lieben kann.
NEGRONI. Nun! Ihr genügt euch einander. Ihr seid
glücklich.
MAFFIO. Die Freundschaft füllt nicht allein das Herz
aus, Donna.
NEGRONI. Mein Gott, was denn.-
MAFFIO. Die Liebe.
NEGRONI. Ihr habt immer die Liebe auf den Lippen.
MAFFIO. Und Ihr die Liebe in den Augen.
NEGRONI. Ihr seid sehr sonderbar!
MAFFIO. Und Ihr sehr schön! (Erfaßt sie um die Hiifte)
NEGRONI. Herr Graf Orsini, laßt mich!
MAFFIO. Einen Kuß auf Eure Hand.-
NEGRONI. Nein! {Sie entwischt ihm)
GUBETTA {iiähert sich Mafßo). Eure Sachen stehen gut
bei der Fürstin.
MAFFIO. Sie sagt immer Nein zu mir.
GUBETTA. In dem Munde eines Weibes ist das Nein
der ältere Bruder des Ja.
JEPPO [gesellt sich zu ihnen, zu Maffio). Wie findest du
die Fürstin Negroni?
MAFFIO. Anbetungswürdig. Unter uns, sie fängt an, mir
ganz verzweifelt am Herzen zu nagen.
JEPPO. Und ihr Gastmahl:
MAFFIO. Eine vollständige Orgie.
JEPPO. Die Fürstin ist Witwe.
MAFFIO. Man sieht es an ihrer Munterkeit.
JEPPO. Ich hoffe, du hast keinen Argwohn mehr gegen
ihr Gastmahl?
IvIAFFIO. Ich! Wie sollt ich! Ich war ein Narr.
426 ÜBERSETZUNGEN
JEPPO {zu Gubcttd). Herr von Belveraiia, Ihr würdet nicht
glauben, daß Maffio sich scheute, zum Essen der Fürstin
zu kommen?
GUBETTA. Scheute? Warum?
JEPPO. Weil der Palast Negroni an den Palast Rorgia
stößt.
GUBETTA. Zum Teufel mit der Borgia!— Trinken wir!
JEPPO {leise zu Maffio). Was mir an dem Belverana ge-
fällt, ist, daß er die Borgia nicht leiden kann.
MAFFIO {leise). In der Tat, er läßt keine Gelegenheit
vorbei, ohne sie mit einer ganz besondern Grazie zum
Teufel zu schicken. Dennoch, mein lieber Jeppo . . .
JEPPO. Nun!
MAFFIO. Ich beobachte seit dem Anfang des Gastmahls
diesen sogenannten Spanier. Er hat bis jetzt nichts als
Wasser getrunken.
JEPPO. Da kommt ja dein Verdacht wieder, mein guter
Freund Maffio! Der Wein macht dich sonderbar monoton.
MAFFIO. Vielleicht hast du recht. Ich bin ein Narr.
GUBETTA {kojnmt zurück und betrachtet Maffio von Kopf
bis zu Füßen). Wißt Ihr auch, Herr Maffio, daß Ihr für
ein Leben von neunzig Jahren gebaut seid und daß Ihr
meinem Großvater gleicht, der dies Alter erlebte und
wie ich Gil — Basilio — Fernan—Frenco— Felipe — Frasco—
Fiasquito Graf von Belverana hieß?
JEPPO {leise zu Maffio). Ich hoffe, du zweifelst jetzt nicht
mehr an seiner spanischen Rasse. Er hat wenigstens zwan-
zig Taufnamen.— Welche Litanei, Herr Belverana!
GUBETTA. Ach, unsre Eltern sind gewöhnt, uns mehr
Namen bei der Taufe als Taler bei der Hochzeit zu geben.
Aber was haben sie denn da unten zu lachen? {Beiseite:)
Die Weiber müssen doch einen Vorwand zum Weggehen
haben. Was tun? {Er geht zurück und setzt sich an die
Tafel)
OLOFERNO {trinkt). Beim Herkules, meine Herren, ich
habe nie einen herrhchern Abend verlebt! Meine Damen,
versucht diesen Wein. Er ist süßer als Lacrimae Christi
und glühender als der Wein von Zypern! Das ist Syra-
kusaner, meine Herren!
LUCRETIA BORGIA. DRITTE HANDLUNG 427
GUBETTA {ißt). Oloferno ist betrunken, wie es scheint.
OLOFERNO. Meine Damen, ich muß euch einige Verse
hersagen, die ich eben gemacht habe. Ich möchte ein
besserer Dichter sein, als ich bin, um so bewunderns-
würdige Frauen zu feiern.
GUBETTA. Und ich möchte reicher sein, als ich bin, um
meinen Freunden solche Weiber zu geben.
OLOFERNO. Nichts ist süßer, als eine schöne Dame
und ein gutes Essen zu besingen.
GUBETTA. Als, die eine zu umarmen und das andre zu
essen.
OLOFERNO. Ja, ich möchte Dichter sein. Ich möchte
mich in den Himmel stürzen können. Ich wollte, ich hätte
zwei Flügel . . .
GUBETTA. Von einem Fasan auf meinem Teller.
OLOFERNO. Ich will euch aber doch mein Sonett her-
sagen.
GUBETl^A. Beim Teufel, Herr Marquis Oloferno Vitel-
lozzo! Ich erlaube Euch, uns Euer Sonett nicht herzu-
sagen. Wir wollen trinken!
OLOFERNO. Ihr erlaubt mir, mein Sonett nicht herzu-
sagen:
GUBETTA. Wie ich den Hunden erlaube, mich nicht zu
beißen, dem Papst, mich nicht zu segnen, und den Vor-
übergehenden, mir keine Steine in die Rippen zu werfen.
OLOFERNO. Teufel! Ihr beleidigt mich! Ihr Männlein
von einem Spanier.
GUBETTA. Ich beleidige Euch nicht, großer Koloß von
einem Italiener. Ich entziehe Eurem Sonett meine Auf-
merksamkeit; nichts weiter. Mein Gaumen dürstet mehr
nach Zypernwein, als meine Ohren nach Poesie.
OLOFERNO. Ich will Euch Eure Ohren an die Fersen
nageln, mein schäbiger Herr Kastilier!
GUBETTA. Ihr seid ein abgeschmackter Schlingel! Pfui!
Sah man jemals so einen Tölpel: Sich mit Syrakusaner
zu berauschen und auszusehen, als hätte man sich an Bier
besoffen!
OLOFERNO. Wißt Ihr auch, daß ich Euch in vier Stücke
hauen werde, beim Teufel!
428 ÜBERSETZUNGEN
GUBETTA {u'ährend er einen Fasanen zerlegt). Das sage ich
nicht von Euch, ich zerlege nicht so gemeines Geflügel. —
Meine Damen, darf ich euch von diesem Fasan anbieten?
OLOFERNO {lüirft sich auf ein Messer). Bei Gott, ich
will dem Buben die Gedärme herausreißen, und wäre er
ein besserer Edelmann als der Kaiser!
DIE DAMEN {crhcheti sich). Himmel! sie werden sich
schlagen!
DIE MÄNNER. Ruhig, Oloferno! (Sie entwaffnen Oloferno,
der sich auf Gubetta 7veifen laill, unterdessen entfernen sich
die Damen durch die Seiten tih'e.)
OLOFERNO {sich wehrend). Beim Teufel!
GUBETTA. Ihr reimt so reichHch auf Teufel, mein lieber
Dichter, daß Ihr diese Damen in die Flucht gejagt habt.
Ihr seid sehr empfindlich und sehr ungeschickt.
JEPPO. Das ist wahr. Wo zum Henker sind sie hinge-
kommen.^
MAFFIO. Sie hatten Furcht. Beim Messerziehen die
Weiber fliehen.
ASCANIO. Doch sie werden wiederkommen.
OLOFERNO (indem er Gubetta droht). Ich werde dich
morgen finden, mein kleiner Teufel Belverana.
GUBETTA. Morgen, sobald es Euch beliebt!
OLOFERNO (setzt sich wankend und verdrießlich nieder).
GUBETTA (bricht in Lachen aus). Der Schwachkopf! Die
schönsten Weiber aus Ferrara mit einer Messerklinge im
Stiel eines Sonetts in die Flucht zu jagen! Sich über Verse
zu ärgern! Ich glaube wohl, daß er Flügel hat. Das ist
kein Mensch, das ist ein Vogel. Das setzt sich auf die
Stange, das muß auf einer Klaue schlafen. Das Oloferno da!
JEPPO. Macht Friede, ihr Herren! Morgen, morgen könnt
ihr euch in aller Höflichkeit die Kehlen abschneiden.
Beim Jupiter, ihr werdet euch wenigstens wie Edelleute
mit dem Degen und nicht mit Messern schlagen.
ASCANIO. Da fällt mir bei, was haben wir mit unsern
Degen gemacht:
APOSTOLO. Ihr vergeßt, daß man sie uns im Vorzimmer
ablegen ließ.
GUBETTA. Und die Vorsicht war nötig, sonst hätten wir
LUCRETIA BORGIA. DRITTE HANDLUNG 429
uns vor den Damen geschlagen. Ein von Tabak berauschter
Flamländer würde davor errötet sein.
GENNARO. Eine gute Vorsicht, in der Tat.
MAFFIO. Bei Gott, mein Bruder Gennaro, das ist das
erste Wort, was du seit dem Anfang des Gastmahls sprichst;
auch trinkst du nicht. Träumst du von Lucretia Borgiar
Gennaro! Du hast offenbar so was von einer Liebschaft
mit ihr! Sage nicht nein!
GENNARO. Gib mir zu trinken, Maffio! Ich lasse meine
Freunde so wenig bei Tische als im Feuer im Stich.
EIN SCHWARZER PAGE [zwei Flaschen in der Harnt).
Meine Herren, Wein von Zypern oder von Syrakus.^
MAFFIO. Syrakusaner, der ist besser. [Da- Page füllt
alle Gläser.)
JEPPO. Hole die Pest den Oloferno! Werden die Damen
nicht zurückkommen.^ (Er geht nacheinander an die beiden
Türen.) Die Türen sind von außen verschlossen, meine
Herren!
MAFFIO. Fange jetzt nicht an, deinerseits Furcht zu
haben, Jeppo! Sie wollen, daß wir sie nicht verfolgen.
Das ist ganz einfach.
GENNARO. Trinken wir, meine Herren! {Sie stoßen 7nit
ihren Gläsern an.)
MAFFIO. Auf deine Gesundheit, Gennaro! Mögest du
deine Mutter bald wiederfinden!
GENNARO. Möge Gott dich erhören! {Alle trinken, Gubetta
ausgenommen, der seinen Jl^ein ither die Schulter schüttet.)
MAFFIO {leise zu Jeppo). Jetzt, Jeppo, hab ich es deutlich
gesehen.
JEPPO [leise). Was:
MAFFIO. Der Spanier hat nicht getrunken.
JEPPO. Nun?
MAFFIO. Er hat seinen Wein über die Schulter geschüttet.
JEPPO. Er ist betrunken, wie du.
MAFFIO. Das ist möglich.
GUBETTA. Ein Trinklied, meine Herrn! Ich will euch
ein Trinklied singen, was so viel wert ist, als das Sonett
des Marquis Oloferno. Bei dem guten alten Schädel mei-
nes Vaters schwöre ich, daß ich das Lied nicht gemacht
43 o ÜBERSETZUNGEN
habe, sintemal ich kein Dichter bin und nicht Geist ge-
nug habe, um sich zwei Reime am Ende eines Gedankens
schnäbeln zu lassen. Da ist mein Lied. Es ist an den
heiligen Peter, den Pförtner des Paradieses, gerichtet und
hat den feinen Gedanken zugrunde liegen, daß der Him-
mel des lieben Herrgott dem Trinker gehört.
JEPPO (leise zu Maffio). Er ist mehr als betrunken, er
ist besoffen.
ALLE {Gennaro ausgcnommeii). Das Lied! das Lied!
GUBETTA. Kommt ein Trinker hinaufgestiegen,
Laß ihn nicht vor der Türe liegen,
Ist seine Stimme hell und klar,
Zu singen in der himmlischen Schar:
domino!
ALLE (Gennaro ausgenom7nen). Gloria domino!
(Sie stoßen mit den Gläsern an^ indem sie laut lachen\ plötz-
lich hört man Stimmen in der Ferne in schauerlichen Tönen
singend.)
STIMMEN VON AUSSEN. Sanctum et terribile nomen
ejus. Initium sapientiae timor domini.
JEPPO (lacht aus vollem Halse). Hört, meine Herren!
Corpo di baco! während wir TrinkHeder singen, singt das
Echo die Vesper.
ALLE. Hört!
STIMMEN VON AUSSEN (etwas ?nehr in der Nähe).
Nisi dominus custodierit civitatem, frustra vigilat, qui
custodit eam. (Alle brechen in Lacheii aus.)
JEPPO. Ganz reiner Kirchengesang.
MAFFIO. Eine Prozession, die vorübergeht.
GENNARO. Um Mitternacht! Das ist etwas spät.
JEPPO. Bah! Fahrt fort, Herr von Belverana.
STIMMEN VON AUSSEN (i7idem sie näher und näher
kommen). Oculos habent, et non videbunt. Nares habent,
et non odorabunt. Aures habent, et non andient. (Alle
lachen stärker.)
JEPPO. Wie die Mönche plärren!
MAFFIO. Sieh doch, Gennaro, die Lampen erlöschen.
Wir werden gleich im Finstem sitzen.
(Die Lampenhrcnnen düster ^alswcfm sie kein Öl mehr hätte??.)
LUCRETIA BORGIA. DRITTE HANDLUiNG 431
STIMMEN VON AUSSEN {iioch fiä/ier). Manus habent,
et non palpabunt; pedes habent, et non arabulabunt; non
clamabimt in gutture suo.
GENNARO. Die Stimmen scheinen sich zu nähern.
JEPPO. Es ist mir, als ob die Prozession in diesem Augen-
blick unter unsem Fenstern wäre.
MAFFIO. Es sind Totengebete.
ASCANIO. Das ist ein Leichenbegängnis.
JEPPO. Trinken wir auf die Gesundheit dessen, den sie
begraben.
GUBETTA. Wißt Ihr denn, ob es nicht mehrere sind?
JEPPO. Nun denn, auf die Gesundheit von allen!
APOSTOLO {zic Guhettd). Bravo! Fahren wir fort mit
unserm Gebet zum heiligen Peter.
GUBETTA. Sprecht doch höflicher. Man sagt zu dem
Herrn: Sankt Peter, sehr ehrbarem Türsteher und wohl-
bestalltem Kerkermeister des Paradieses. (Er singt:^
Kommt ein Trinker heraufgestiegen,
Laß ihn nicht vor der Türe liegen,
Ist seine Stimme hell und klar,
Zu singen in der himmlischen Schar:
domino!
ALLE. Gloria domino!
GUBETTA. Sperr auf das Tor, so weit du kannst,
Dem Trinker mit dem dicken Wanst,
Daß man im Himmel schwören sollt.
Es kam ein Faß hereingerollt.
ALLE {stoßen unter Gelächter mit den Gläsern ajt), Gloria
domino!
{Die große Türe im Hintergrund öffnet sich ohne Geräusch
in ihrer ganzen Breite. Man erblickt einen weiten^ schwarz
oAis geschlagenen^ durch einige Fackeln erleuchteten Saal mit
einem gro/ien silbernen Kreuz im Hintergrund. Schwarze
und weiße Büßende^ von deneii man nichts als die Augen
durch die Löcher ihrer Kapuzen sieht, treten in einer langen
Reihe, Fackeln in den Händen, durch die große Türe ein,
wäh?'end sie laut und i?t unheimlichem To?i si?igen: ''^De
profundis clamavi ad te, do7tiinel''' — Dann stellen sie sich
schweigend zu beiden Seiten des Saales auf und bleiben da-
432 ÜBERSETZUNGEN
selbst unbcivc glich ^ wie Statuen^ stehen^ während die jungen
Edelleute sie ei-staunt betrachten.)
MAFFIO. Was soll das heißen?
JEPPO {init gezwungenem Lachen). Das ist ein Scherz; ich
wette mein Pferd gegen ein Ferkel und meinen Namen
Liveretto gegen den Namen Borgia, daß dies unsre aller-
liebsten Damen sind, die sich verkleidet haben, um uns
auf die Probe zu stellen, und daß, wenn wir zufällig eine
von diesen Kapuzen aufschlagen, wir darunter das frische
und boshafte Gesicht eines schönen Weibes finden werden.
Seht nur! (Er hebt lachend eine der Kapuzen auf und bleibt
wie versteinert stehen^ indem er darunter das gelbe Gesicht
eines Mönches ei'blickt^ der unbeweglich., die Fackel in der
Hand, mit niedergeschlagenen Augen stehen bleibt. Er läßt
die Kapuze falle?? und fährt zurück.) Das fängt an, seltsam
zu werden!
MAFFIO. Ich weiß nicht, warum mir das Blut in den
Adern stockt . {Die Mönche singen mit heller Stimme: Con-
quassabit capita in. terra multorumt)
JEPPO. Welch abscheuliche Falle! Unsre Degen! unsre
Degen! Ha, meine Herren, wir sind bei dem Teufel!
ZWEITE SZENE
Die Nämlichen. Donna Lucretia.
LUCRETIA (schwarz gekleidet^ erscheint plötzlich auf der
Schiaelle der Türe). Ihr seid bei mir!
ALLE (Gemiaro ausgeiiomfnen, der in einem, Winkel der
Bühne zusieht, so daß ihn Lucretia nicht bemerkt). Lucretia
Borgia!
LUCRETIA. Es sind einige Tage her, seit ihr alle, wie
ihr hier seid, triumphierend diesen Namen nanntet. Heute
nennt ihr ihn mit Schauder. Ja, betrachtet mich nur mit
euren schreckenstarren Augen; ich bin es, meine Herrn.
Ich komme, um euch was Neues zu sagen, nämlich, daß
ihr alle vergiftet seid und daß keiner von euch eine Stunde
mehr zu leben hat. Rührt euch nicht! der anstoßende
Saal ist voll Piken. Jetzt ist die Reihe an mir, jetzt ist's
an mir, laut zu sprechen und euch den Kopf mit der Ferse
LUCRETIA BÜRGIA. DRITTE HANDLUNG 433
einzutreten! Jeppo Liveretto, gehe zu deinem Onkel Vi-
telli, den ich in den Kellern des Vatikan erdolchen ließ!
Ascanio Petrucci, besuche deinen Vetter Pandolfo, den
ich ermordet habe, um ihm seine Stadt zu stehlen! Olo-
ferno Vitellozzo, dein Onkel erwartet dich, du weißt, der
Jago von Appiani, den ich bei einem Gastmahl vergiftet
habe! Maffio Orsini, unterhalte dich von mir in der an-
dern Welt mit deinem Bruder Gravina, den ich erdrosseln
ließ, während er schlief! Apostolo Gazella, ich habe dei-
nen Vater Francisco Gazella enthaupten und deinen Vetter
Alphons von Aragonien ermorden lassen, wie du sagst;
gehe hin zu ihnen! Bei meiner Seele! ihr habt mir einen
Ball zu Venedig gegeben, ich gebe euch ein Abendessen
zu Ferrara. Fest mn Fest, meine Herren!
JEPPO. Das ist ein hartes Erwachen, Maffio!
MAFFIO. Wenden wir uns zu Gott!
LUCRETIA. Ach, meine jungen Freunde vom letzten
Karneval! daran dachtet ihr nicht.^ Wahrhaftig, ich räche
mich, wie mir deucht. Was sagt ihr dazu, meine Herren:
Wer versteht sich hier auf Racher Das ist so übel nicht,
meine ich! He: was haltet ihr davon: Für ein Weib! (Zu
den Möfichcn:) Meine Väter, führt diese Edelleute in den
anstoßenden Saal, laßt sie beichten und benutzt die we-
nigen Augenblicke, die sie noch übrig haben, um so viel
zu retten, als noch bei jedem von ihnen gerettet werden
kann. — Meine Herren, die unter euch, welche eine Seele
haben, mögen sich darnach richten. Seid unbesorgt, sie
sind in guten Händen. Diese würdigen Väter sind die
Mönche des heiligen Sixtus, denen unser Heiliger Vater,
der Papst, erlaubt hat, mich bei dergleichen Gelegenheiten
zu unterstützen. — Und wie für eure Seelensorge, so sorgte
ich auch für eure Leiber, seht! [Zu den Mönc/ic/i, die vor
der Türe im Hintergrund ste/ien:) Tretet ein wenig zurück,
damit diese Herren sehen. [Die Mönche weichen ausein-
ander^ so daß man fimf mit schwärzest Tüchern bedeckte
Särge vor der Tür erblickt.) Grade die Zahl. Es sind doch
wohl fünf.^— Ach, ihr jungen Leute! ihr zerfleischt die Ein-
geweide eines unglücklichen Weibes, und ihr glaubt, daß
sie sich nicht rächen würde. Hier ist der deinige, Jeppo;
BÜCHNER 28.
434 ÜBERSETZUNGEN
hier der deinige, Maffio; Oloferno, Apostolo, Ascanio, hier
sind die eurigen!
GENNARO {^den sie bisher nicht sah, tut ei7ien Schritt vor-
wärts}) Ihr habt noch einen sechsten nötig, Donna!
LUCRETIA. Himmel, Gennaro!
GENNARO. Er selbst.
LUCRETIA. Geht alle sogleich hinaus. — Laßt uns allein.
— Gubetta, laßt niemand herein, was auch geschehen, was
man auch von dem, was hier vorgeht, hören mag.
GUBETTA. Gut.
(Die Mönche ziehe?i in Prozession hinaus, währe7id sie in
ihrer Reihe die ß'inf nuinkenden und besti'irzteii Herren fort-
fiihren^
DRITTE SZENE
Gennaro. Donna Lucretia.
(Einige erlöschende Lampen brennen im Zi?mncr. Die l^üren
sind geschlossen. Domia Lucretia und Genna?v, die allein
zurückgeblieben sind, betrachten sich schweigend einige Augen-
blicke, als müßten sie nicht, womit anfangen^
LUCRETIA (spricht zu sich selbst). Es ist Gennaro! (Ge-
sang der Mönche von außen: Nisi dominus aedificaverit do-
nium, in vanum laborant, qui aedificant eam.) Immer Ihr,
Gennaro, immer Ihr unter all meinen Streichen! Gott im
Himmel! wie seid Ihr dahinein gekommen?
GENNARO. Ich ahnte alles.
LUCRETIA. Ihr seid abermals vergiftet, Ihr müßt sterben!
GENNARO. Wenn ich will; ich habe das Gegengift.
LUCRETIA. Ach ja! Gott sei gelobt!
GENNARO. Ein Wort, Donna. Ihr seid erfahren in der-
gleichen. Ist Elixier genug in diesem Fläschchen, um all'
die Edelleute zu retten, die Eure Mönche in die Särge
schleppen?
LUCRETIA (untersucht das Fläschchen). Kaum genug für
Euch, Gennaro.
GENNARO. Ihr könnt kein anderes auf der Stelle haben?
LUCRETIA. Ich gab Euch alles, was ich hatte.
GENNARO. Gut.
LUCRETIA BORGIA. DRITTE HANDLUNG 435
LUCRETIA. Was macht Ihr, Gennaro? Eilt Euch doch!
Spielt nicht mit so entsetzlichen Dingen, man kann ein
Gegengift nicht schnell genug nehmen. Trinkt, im Namen
des Himmels! Mein Gott, welche Unklugheit begeht Ihr
da! Bringt Euer Leben in Sicherheit, ich werde Euch zum
Palast durch eine verborgene Türe, die ich kenne, hinaus-
lassen. Alles kann noch gut werden. Es ist Nacht. Die
Pferde sind gleich gesattelt. Morgen, morgen seid Ihr weit
von Ferrara. Nicht wahr, es geschehen da schaudervolle
Dinge? Trinkt, imd dann fort! Ihr müßt leben! Ihr müßt
Euch retten!
GENNx^RO [nimmt ein Messer vom Tisch). Das heißt: Ihr
werdet sterben, Donna!
LUCRETIA. Wie! was sagt Ihr?
GENNARO. Ich sage Euch, daß Ihr verräterischerweise
fünf Edelleute vergiftet habt, fünf meiner Freunde, meiner
besten Freunde, und unter ihnen Maffio Orsini, meinen
Waffenbruder, der mir das Leben zu Vizenzia gerettet hat
und mit dem ich jede Beleidigung und jede Rache teile.
Ich sage Euch, daß Ihr eine niederträchtige Handlung
begangen habt, daß ich Maffio und die andern rächen
muß, und daß Ihr sterben werdet.
LUCRETIA. Himmel und Erde!
GENNARO. Sprecht Euer Gebet, Donna, und macht es
kurz. Ich bin vergiftet, ich habe nicht Zeit zum Warten.
LUCRETIA. Bah, das ist unm.öglich! Gennaro, mich töten!
Wäre das möglich?
GENNARO. Das ist die reine Wahrheit, Donna, und ich
schwöre Euch bei Gott, daß ich an Eurer Stelle mich
schweigend zum Gebet wenden würde, mit gefaltenen
Händen und auf beiden Knien. — Seht, da ist ein Sessel,
der ist gut dafür.
LUCRETIA. Nein! Ich sage Euch, daß das unmöglich
ist. Nein! unter den schrecklichsten Gedanken, die mir
durch die Seele gehen, wäre mir dieser niemals gekom-
men.—Ach! ach! Ihr habt das Messer, Wartet, Gennaro,
ich habe Euch etwas zu sagen.
GENNARO. Schnell!
LUCRETIA. Wirfdein Messer weg, Unglücklicher! Wirf
436 ÜBERSETZUNGEN
es wegl sage ich dir! Wenn du wüßtest . . . Gennaro!
weißt du, wer du bist? Du weißt nicht, wie nahe ich dir
stehe. Muß ich dir alles sagen? Das nämliche Blut fließt
in unsern Adern, Gennaro! Johann Borgia, Herzog von
Gandia, ist dein Vater.
GENNARO. Euer Bruder? Ha, Ihr seid meine Tante!
Ach, Donna!
LUCRETIA (deisafc). Seine Tante!
GENNARO. Ha! ich bin Euer Neffe! Ach! meine Mutter
ist also diese unglückliche Herzogin von Gandia, die alle
Borgia so unglücklich gemacht haben! Donna Lucretia,
meine Mutter spricht mir von Euch in ihren Briefen; Ihr
gehört unter die Zahl ihrer unnatürlichen Verwandten,
von denen sie mir mit Schauder spricht, die meinen Vater
getötet, die ihr Leben in Tränen und Blut ertränkt haben.
Ha! ich habe jetzt auch noch meinen Vater zu rächen und
meine Mutter vor Euch zu retten! Ha! Ihr seid meine
Tante! Ich bin ein Borgia! O, das macht mich toll! —
Hört mich, Donna Lucretia Borgia. Ihr habt lang genug
gelebt und tragt eine solche Last von Schandtaten, daß
Ihr Euch selbst verhaßt und zum Abscheu sein müßt. Ihr
habt das Leben satt, ohne Zweifel, nicht wahr? Nun gut,
es muß damit ein Ende werden. In Geschlechtern, wie
das unsrige, wo das Verbrechen erblich ist und sich vom
Vater auf den Sohn mit dem Namen fortpflanzt, geschieht
es immer, daß dies Geschicksich mit einem Morde schließt,
der gewöhnlich ein Verwandtenmord ist, als das letzte
Verbrechen, das alle übrigen sühnt. Ein Edelmann ist nie
getadelt worden, wenn er einen schlechten Ast von dem
Stamme seines Hauses abschnitt. Der Spanier Mudarra
hat seinen Onkel Rodrigo von Lara um weniger getötet,
als Ihr begangen habt. Alle lobten diesen Spanier um
den Mord seines Onkels. Versteht Ihr, Donna? Fort! ich
habe genug gesagt! Befehlt Gott Eure Seele, wenn Ihr
an Gott und Eure Seele glaubt.
LUCRETIA. Gennaro! Aus Erbarmen für dich! Du bist
noch unschuldig, begehe nicht dies Verbrechen!
GENNARO. Ein Verbrechen! O, mein Hirn verwirrt sich!
Wäre das ein Verl)rechen? Und wenn ich ein Verbrechen
LUCRETIA BORGIA. DRITTE HANDLUNG 437
beginger Bei Gott, ich bin ein Borgia! Auf die Knieel
sage ich, meine Tante, auf die Kniee!
LUCRETIA. Sagst du wirkHch, was du denkst, mein
Gennaro: Vergiltst du mir so meine Liebe:
GENNARO. Liebe! . . .
LUCRETIA. Das ist unmöglich. Ich will dich vor dir
selbst retten. Ich werde rufen, ich werde schreien.
GENNARO. Ihr werdet diese Türe nicht öffnen. Keinen
Schritt! Euer Schreien kann Euch nicht retten. Habt Ihr
nicht selbst befohlen, daß niemand herein solle, man möge
außen von dem, was hier vorginge, hören, was man wolle:
LUCRETIA. Aber es ist feig, was du tust, Gennaro. Ein
Weib töten, ein wehrloses Weib! O, du trägst einen ed-
leren Sinn in deiner Seele! Höre mich, töte mich dann,
wenn du willst; ich hänge nicht am Leben, aber die Brust
zerspringt mir, sie ist voll Qualen über die Art, womit du
mich bisher behandelt hast. Du bist jung, bist ein Kind,
und die Jugend ist immer zu streng. Oh! wenn ich sterben
soll, so will ich doch nicht von deiner Hand sterben. Es
ist unmöglich, siehst du: daß ich durch deine Hand sterbe.
Du weißt nicht, wie entsetzlich das wäre. Übrigens, Gen-
naro, meine Stunde ist noch nicht gekommen. Es ist wahr,
ich habe viele Verbrechen auf mich geladen, ich bin eine
große Sünderin, und weil ich eine große Sünderin bin, muß
man mir Zeit lassen, mich zu bereiten und zu bereuen.
Das ist schlechterdings notwendig, verstehst du, Gennaro:
GENNARO. Ihr seid meine Tante, Ihr seid die Schwester
meines Vaters. Was habt Ihr mit meiner Mutter gemacht,
Donna Lucretia Borgia:
LUCRETIA. Warte! warte! Mein Gott! ich kann nicht
alles sagen. Und dann, wenn ich alles sagte, das würde
deinen Abscheu und deine Verachtung nur verdoppeln.
Höre mich noch einen Augenblick. O, ich wollte, du
sähest mich büßend zu deinen Füßen! Du würdest mir das
Leben schenken, nicht wahr: Willst du, daß ich den Schleier
nehme: Willst du, daß ich mich in ein Kloster einschließe:
Sieh, wenn man dir sagte: dies elende Weib hat sich das
Haupt geschoren, sie schläft in der Asche, sie gräbt ihre
Grube mit eigenen Händen, sie betet zu Gott Nacht und
438 ÜBERSETZUNGEN
Tag, nicht für sich, die es wohl nötig hätte, sondern für
dich, der du es nicht nötig hast; sie tut all das, dies Weib,
damit du eines Tages auf ihr Haupt einen mitleidigen Blick
senkst, damit du eine Träne auf die offnen Wunden ihrer
Seele fallen läßt, damit du ihr nicht mehr mit einer Stimme
so streng, als wäre sie die des letzten Gerichtes, sagst: Du
bist Lucretia Borgia! Wenn man dir das sagte, Gennaro,
würdest du es wagen, sie zurückzustoßen? O, Gnade! Töte
mich nicht, mein Gennaro! Leben wir beide, du, um mir
zu vergelten, ich, um zu bereuen! Habe etwas Mitleid mit
mir! Endlich, was hilft es, ein armes, elendes Weib, das
nichts als ein wenig Erbarmen will, ohne Erbarmen zu be-
liandelnr — Ein wenig Erbarmen! Gnade! — Und dann, siehst
du, mein Gennaro, ich sage dir das für dich, es wäre wahr-
haftig feige, was du da tun würdest, es wäre ein abscheu-
liches Verbrechen, es wäre ein Mord! Ein Mann, der ein
Weib tötet! ein Mann, welcher der Stärkere ist! O, du
willst das nicht! du willst das nicht!
GENNARO {erschüttert). Donna . . .
LUCRETIA. O, ich sehe wohl, ich habe Gnade gefun-
den! Ich lese es in deinen Augen. O, laß mich zu dei-
nen Füßen weinen!
EINE STIMME (von außen). Gennaro!
GENNARO. Wer ruft mir?
DIE STIMME. Mein Bruder Gennaro!
GENNARO. Das ist Maffio!
DIE STIMME. Gennaro! Ich sterbe! räche mich!
GENNARO {hebt das Messer). Genug. Ich höre nichts
mehr. Versteht Ihr, Donna? Ihr müßt sterben!
LUCRETIA (sträubt sich und hält ihm den Arm). Gnade!
Gnade! Noch ein Wort!
GENNARO. Nein!
LUCRETIA. Erbarmen! Höre mich!
GENNARO. Nein!
LUCRETIA. Im Namen des Himmels!
GENNARO. Nein! {Er ersticht sie)
LUCRETIA. Ach! ... du tötest mich!— Gennaro, ich bin
deine Mutter!
MARIA TUDOR
EIN DRAMA VON VICTOR HUGO
PERSONEN
MARIA, Königin
JANE
GILBERT
FABIANO FABIANI
SIMON RENARD
JOSHUA FARNABI
EIN JUDE
LORD CLINTON
LORD CHANDOS
LORD MONTAGU
MEISTER ÄNEAS DULVERTON
LORD GARDINER
EIN KERKERMEISTER
Herren, Pagen. Wachen. Der Henker
London i553
1
) 441 (
ERSTE HANDLUNG
DER MANN AUS DEM VOLKE
Personen
:;iLBERT LORD MONTAGU
FABIANO FABIAXI JOSPIUA FARNAP.Y
5IM0N RENARD JANE
LORD CHANDOS EIN JUDE
L.ORD CLINTON
Das Ufer der Themse, Ei7ie öde SandfläcJie. Ein altes
verfallenes Geländer verbirgt den Rand des Wassers. Zur
Rechten ein Haus von ärmlichem Aussehen. An seiner Ecke
'in kleines Madonnahild^ zu dessen Fuß eine Lampe in einem
'.isernen Gitter brennt. Im Hintergrunde ^jenseits der Themse,
London. Man unterscheidet zwei hohe Gebäude^ den Toiver
und JVestminster. — Der Tag geht zu Ende.
ERSTE SZENE
Mehrere Männer stehen in verschiedenen Gruppen auf dem
Ufer, unter ihnen Simon Renard, John Bridges, Baron
Chandos, Robert Clinton, Baron Clinton, Anthony Brown,
Vicojnte von Montagu.
:.ORD CHANDOS. Ihr habt recht, Mylord. Dieser ver-
iammte Italiener muß die Königin behext haben. Die
Königin kann nicht mehr ohne ihn sein. Sie lebt nur in
hm, all ihre Freude ist in ihm, sie hört nur ihn. Wenn
nn Tag vergeht, ohne daß sie ihn sieht, so werden ihre
\ugen so schmachtend wie zur Zeit, wo sie den Kardinal
Polus liebte, wißt Ihr noch:
SIMON RENARD. Sehr verliebt, das ist wahr, und folg-
ich sehr eifersüchtig.
LORD CHANDOS. Der ItaUener hat sie behext!
LORD MONTAGU. In der Tat, man sagt, in seinem
Lande verstünde man sich auf Tränke für dergleichen.
LORD CLINTON. Die Spanier verstehen sich auf Gifte,
Jie einen sterben, imd die Italiener auf Gifte, die einen
verliebt machen.
LORD CHANDOS. Dann ist der Fabiani zugleich Spanier
442 ÜBERSETZUNGEN
und Italiener. Die Königin ist krank und verliebt. Er hat
ihr von beiden zu trinken gegeben.
LORD MONTAGU. Aha! in der Tat, ist er Spanier oder
Italiener.^
LORD CHANDOS. Es scheint ausgemacht, daß er in
Italien im Capitanat geboren und in Spanien erzogen
worden ist. Er behauptet, er sei mit einem großen spa-
nischen Geschlechte verwandt. Lord Clinton kann das an
den Fingern herzählen.
LORD CLINTON. Ein Abenteurer. Weder ein Spanier,
noch weniger ein Engländer, Gott sei Dank. Leute, die
keinem Lande angehören, haben kein Erbarmen mit einem
Lande, wenn sie mächtig sind!
LORD MONTAGU. Sagtet Ihr nicht, die Königin sei
krank, Chandos? Das hindert sie nicht, mit ihrem Günst-
ling guter Dinge zu sein.
LORD CLINTON. Guter Dinge! Guter Dinge! Während
die Königin lacht, weint das Volk und mästet sich der
Günstling. Der Mensch säuft Silber und frißt Gold! Die
Königin hat ihm die Güter des Lord Talbot, des großen
Lord Talbot, gegeben! Die Königin hat ihn zum Grafen
von Clanbrassil und Baron von Dinasmonddy gemacht,
den Fabiano Fabiani, den Lügner, der sagt, er stamme
aus dem spanischen Geschlechte der Penalver. Er ist
Pair von England, wie Ihr, Montagu, wie Ihr, Chandos,
wie Stanley, wie Norfolk, wie ich, wie der König! Er
trägt das Hosenband, wie der Infant von Portugal, wie
der König von Dänemark, wie Thomas Percy, der siebente
Graf von Northumberland! Und was für ein Tyrann das
ist, der uns von seinem Bette aus Gesetze macht! Nie
lag es schwerer über England. Und doch habe ich viel
gesehen, ich bin alt! Siebenzig neue Galgen zu Tyburn,
die Scheiterhaufen immer Glut und nie Asche, die Axt
des Henkers wird jeden Morgen geschliffen und ist schartig
jeden Abend. Jeden Tag fällt man einen großen Edlen.
Vorgestern Blantyre, gestern Northcurry, heute Sacth-
Reppo, morgen Tyrconnel. Die nächste Woche kommt
die Reihe an Euch, Chandos, und den nächsten Monat an
mich! Mylords! es ist schmachvoll und ruchlos, daß all
MARIA TUDOR. ERSTE HANDLUNG 443
diese guten englischen Köpfe so zum Zeitvertreibe eines
elenden Abenteurers fallen, der nicht einmal aus diesem
Lande ist. Es ist ein abscheulicher und unerträglicher
Gedanke, daß ein neapolitanischer Günstling so viel
Henkerblöcke, als er Lust hat, unter dem Bette dieser
Königin hervorziehen kann. Sie sind guter Dinge, sagt
Ihr. Bei dem Himmel, das ist schändlich! Ha! sie sind
guter Dinge, die Verliebten, während der Kopfabhacker
vor ihrer Türe Witwen und Waisen macht. Oh! in das
Klimpern Eurer italienischen Gitarre tönt zu viel Ketten-
gerassel, Frau Königin! Ihr laßt Sänger von der Kapelle
zu Avignon kommen, Ihr habt in Eurem Palaste alle Tage
Komödien, Schauspiele, Musikanten. Bei Gott, Madame,
etwas weniger Lachen bei Euch, wenn's beliebt, und et-
was weniger Weinen bei uns. Weniger Gaukler dort, und
weniger Henker hier. Weniger Bühnen zu Westminster
und weniger Schafotte zu Tyburn.
LORD MONTAGU. Habt acht! Wir sind getreue Unter-
tanen, Mylord Clinton. Nichts auf die Königin, alles auf
Fabiani.
SIMON REN ARD (legt die Hand auf die Schulter des Lord
Clinton). Geduld!
LORD CLINTON. Geduld! das könnt Ihr ganz leicht
sagen, Herr Simon Renard. Ihr seid Vogt von Amont in
der Franche-Comtd, Untertan des Kaisers und sein Ge-
sandter zu London. Ihr vertretet hier den Prinzen von
Spanien, den zukünftigen Gemahl der Königin. Eure Person
ist heilig für den Günstling. Aber wir, das ist was anders. —
Seht, für Euch ist Fabiani der Schäfer, für uns der Metzger.
[Die Nacht ist völlig hereingebroche?i.)
SIMON RENARD. Dieser Mensch ist mir eben so lästig
als Euch. Ihr fürchtet nur für Euer Leben, ich fürchte für
mein Ansehen, das ist weit mehr. Ich spreche nicht, ich
handle. Ich habe weniger Zorn als Ihr, Mylord, ich habe
mehr Haß. Ich werde den Günstling vernichten.
LORD MONTAGU. Oh! was tun.> Ich brüte alle Tage
darüber.
SIMON RENARD. Die Günstlinge der Königinnen steigen
und fallen nicht am Tage, sondern des Nachts.
444 ÜBERSETZUNGEN
LORD CHANDOS. Diese Nacht ist wenigstens sehr finster
und häßlich!
SIMON RENARD. Ich finde sie schön für das, was ich
tun will.
LORD CHANDOS. Was habt Ihr vor?
SIMON RENARD. Ihr werdet sehen. -Mylord Chandos,
die Laune herrscht, wenn ein Weib herrscht. Die Politik
ist dann nicht mehr das Werk der Berechnung, sondern
des Zufalls. Man kann auf nichts mehr zählen. Das Heute
führt nicht logisch das Morgen herbei. Man spielt nicht
mehr Schach, man spielt Karten.
LORD CLINTON. Das ist ganz gut, aber zur Sache. Herr
Vogt, wann werdet Ihr uns von dem Günstling befreit
haben? Es eilt. Morgen wird Tyrconnel enthauptet.
SIMON RENARD. Tyrconnel wird morgen abend mit
Euch speisen, wenn ich diese Nacht den Mann finde,
welchen ich suche.
LORD CLINTON. Was wollt Ihr damit sagen? Was wird
dann aus Fabiani geworden sein?
SIMON REN ARD. Habt Ihr gute Augen, Mylord?
LORD CLINTON. Ja, obgleich ich alt bin und die Nacht
finster ist.
SIMON RENARD. Seht Ihr London auf der andern Seite
des Wassers?
LORD CLINTON. Ja, warum?
SIMON RENARD. Seht scharf hin. Man sieht von hier
aus den Wirbel und die Sohle der Fortuna jedes Günst-
lings, Westminster und den Turm von London.
LORD CLINTON. Und nun?
SIMON RENARD. Wenn Gott mir beisteht, wird ein
Mann, der im Augenblicke, wo wir sprechen, noch dort
ist (er deutet auf Westminster)^ morgen zur nämlichen
Stunde da sein (er deutet auf den Tower).
LORD CLINTON. Möge Gott Euch helfen!
LORD MONTAGU. Das Volk haßt ihn ebensosehr als
wir. Welch Fest wird für London der Tag seines Falles
sein.
LORD CHANDOS. Wir sind in Euren Händen, Herr
Vogt, verfügt über uns. Was sollen wir tun?
MARIA TUDOR. ERSTE HANDLUNG 445
SIMON RENARD (deutet auf das Haus am Wasser). Ihr
seht doch alle dies Haus da: Es gehört dem Gilbert, einem
Arbeiter. Verliert es nicht aus dem Gesicht. Zerstreut
euch mit euren Leuten, ohne euch jedoch zu sehr zu
entfernen. Vor allem tut nichts ohne mich.
LORD CHANDOS. Gut.
(Alle gehen nach verschiedenen Seiten ab?)
SIMON RENARD (allein). Ein Mann wie der, den ich
; nötig habe, findet sich nicht leicht. (Er geht ab.)
i (Jajic und Gilbei't treten auf, sie halten sich umschlu)igen
U7id gehen nach dem Hanse zu. Joshua Farnaby begleitet
^' sie, er ist i7i einen Mantel gehüllt^
ZWEITE SZENE
Jane. Gilbert Joshua Farnaby.
JOSHUA. Ich verlasse euch hier, meine guten Freunde.
Es ist Nacht, ich muß meinen Dienst als Schließer des
Londoner Turms tun. Ach, ich bin nicht so frei wie ihr!
! Seht, ein Kerkermeister ist nur eine andere Art von einem
Gefangenen. Lebe wohl, Jane. Lebe wohl, Gilbert. Du
mein Gott, meine Freunde, wie froh bin ich, euch glück-
, lieh zu sehen! Aha, Gilbert, wann ist die Hochzeit.^
GILBERT. In acht Tagen, nicht wahr, Jane?
JOSHUA. Meiner Treu, übermorgen haben wir Weih-
nachten; das ist der Tag für Wünschen und Schenken,
aber ich weiß nicht, was ich euch wünschen soll. Man
kann von der Braut nicht mehr Schönheit und von dem
Bräutigam nicht mehr Liebe verlangen. Ihr seid glück-
i lieh!
I GILBERT. Guter Joshua! und du, bist du nicht glücklich.^
JOSHUA. Weder glücklich, noch unglücklich. Ich habe
auf alles verzichtet. Siehst du, Gilbert.^ (Er schlägt seinen
Mantel halb auseinander und zeigt einen Bund Schlüssel,
der an seinem Giirtel hängt:) Gefängnisschlüssel, die einem
beständig am Gürtel rasseln, das spricht, das macht einem
alle möglichen philosophischen Gedanken. Wie ich jung
war, war ich wie ein anderer, verliebt einen ganzen Tag,
446 ÜBERSETZUNGEN
ehrgeizig einen ganzen Monat und ein Narr das ganze
Jahr. Meine jungen Jahre fielen so unter König Heinrich
den Achten. Ein sonderbarer Mann der König Heinrich.
Ein Mann, der seine Weiber wechselte, wie ein Weib seine
Röcke. Die erste verstieß er, der zweiten ließ er den Kopf
abschlagen, der dritten den Leib aufschneiden, die vierte
begnadigte er und jagte sie fort, aber dafür ließ er dann
der fünften wieder den Kopf abschneiden. Das ist nicht
das Märchen vom Blaubart, was ich Euch da erzähle,
schöne Jane, das ist die Geschichte König Heinrichs des
Achten. Ich gab mich in der Zeit mit den Religions-
händeln ab, ich schlug mich für die eine und für die an-
dere Partei. Es war damals das beste, was man tia. konnte.
Es war übrigens eine kitzliche Sache. Es frug sich, ob
man für oder wider den Papst sei. Die Leute des Königs
hingen die, welche dafür, und verbrannten die, welche
dagegen waren. Die Gleichgültigen, das heißt die, welche
weder dafür noch dagegen waren, hing oder verbrannte
man, wie's gerade kam. Der Teufel mochte sich da her-
ausziehen. Ja, der Strick — nein, der Scheiterhaufen —
weder ja, noch nein, der Strick und der Scheiterhaufen. Ich,
der ich mit euch spreche, habe oft genug nach Braten
gerochen und weiß nicht genau, ob ich zwei- oder drei-
mal bin wieder abgeschnitten worden. Das war eine schöne
Zeit. Ohngefähr wie jetzt. Ja, ich schlug mich für alles.
Hole mich der Teufel, wenn ich noch weiß, für wen und
für was ich mich geschlagen habe. Wenn man mir wieder
vom Meister Luther und vom Papst Paul dem Dritten
spricht, so zucke ich die Achseln. Siehst du, Gilbert,
wenn man graue Haare hat, muß man nicht mehr nach
den Meinungen sehen, für die man sich geschlagen, und
nach den Weibern, denen man den Hof im zwanzigsten
Jahre gemacht hat. Weiber und Meinungen sehen dann
gar häßlich, gar alt, gar hinfällig, gar zahnlückig, gar
runzlig, gar dumm aus. Das ist meine Geschichte! Jetzt
habe ich mich von den Geschäften zurückgezogen. Ich
bin weder Soldat des Königs, noch Soldat des Papstes,
ich bin Schließer des Turmes von London. Ich schlage
mich für niemand mehr und schließe hinter jedermann
MARIA TUDOR. ERSTE HANDLUNG 447
zu. Ich bin Schließer und bin alt; ich stehe mit dem einen
Fuße im Kerker und mit dem andern in der Grube. Ich
p lese die Scherben alter Minister und alter GünstHnge auf,
die bei der Königin zerbrochen werden. Das ist sehr
unterhaltend. Und dann habe ich ein kleines Kind, das
ich liebe, und dann euch beide, die ich auch liebe, und
bin glücklich, wenn ihr glücklich seid.
GILBERT. Dann sei glücklich, Joshua! Nicht wahr, Jane?
JOSHUA. Ich, ich kann nichts für dein Glück tun, aber
Jane alles; du liebst sie! Ich werde dir nie in meinem
Leben einen Dienst tun. Du bist glücklicherweise kein
so vornehmer Herr, daß du jemals den Schlüsselträger
des hOi, ^oner Turms nötig haben solltest. Jane wird meine
Schuld mit der ihrigen abtragen; denn sie und ich ver-
danken dir alles. Jane war ein armes Kind, eine ver-
lassene Waise; du hast sie aufgenommen und erzogen.
Ich, ich war nahe daran, an einem schönen Abend in der
Themse zu ertrinken: du hast mich ans dem Wasser ge-
zogen.
GILBERT, Zu was immer davon sprechen, Joshua:
JOSHUA. Nur um dir zu sagen, daß es unsere Pflicht ist,
dich zu lieben; ich, wie ein Bnider, Jane .... nicht wie
eine Schwester.
JANE. Nein, wie ein Weib. Ich verstehe Euch, Joshua.
(Sü verfällt wieder in ihr Träumen^
GILBERT {leise zu Joshua). Betrachte sie, Joshua! Ist sie
nicht schön und reizend? wäre sie nicht eines Königs
würdig? Wenn du wüßtest! Du kannst dir nicht vor-
stellen, wie ich sie liebe!
JOSHUA. Nimm dich in acht, das ist unklug; ein Weib,
das liebt sich nicht so; ein Kind, meinetwegen!
GILBERT. Was willst du sagen?
JOSHUA. Nichts. — Ich werde in acht Tagen bei eurer
Hochzeit sein. Ich hoffe, daß mir dann die Staatsgeschäfte
ein wenig Ruhe lassen und daß alles vorbei sein wird.
GILBERT. Wie? Was soll vorbei sein?
JOSHUA. Ah, du kümmerst dich um diese Sachen nicht,
Gilbert. Du bist verliebt. Du bist aus dem Volke. Was
kümmern dich die Ränke da oben, dich, der du unten
448 ÜBERSETZUNGEN
glücklich bist? Doch, weil du mich fragst, will ich dir
sagen, daß man hofft, in acht Tagen von heute an, in
vierundzwanzig Stunden vielleicht, werde Fabiane Fabiani
bei der Königin durch einen andern ersetzt sein.
GILBERT. Wer ist der Fabiano Fabiani:
JOSHUA. Er ist der Geliebte der Königin, ein sehr
mächtiger und sehr liebenswürdiger GünstHng, ein Günst-
ling, der einem Menschen, welcher ihm mißfällt, den Kopf
in weniger Zeit abschlagen läßt, als ein holländischer Bür-
germeister braucht, um einen Löffel Suppe zu essen; der
beste Günstling, den der Henker des Londoner Turms
seit zehn Jahren hatte. Denn du weißt, daß der Henker
für den Kopf eines großen Herrn zehn Silberguldx:'n und
zuweilen das Doppelte erhält, wenn der Kopf recht "wichtig
ist. Man wünscht sehr den Sturz dieses Fabiani.— Es ist
wahr, bei meinem Dienste im Turm höre ich nur Leute
von sehr übler Laune, Unzufriedene, denen man in einem
Monat den Kopf abschlagen wird, auf seine Kosten An-
merkimgen machen.
GILBERT. Mögen die Wölfe sich untereinander zer-
reißen! Was kümmert uns die Königin und der GünstHng
der Königin? Nicht wahr. Janer
JOSHUA. O, es gibt eine gewaltige Verschwörung gegen
Fabiani! Er hat von Glück zu sagen, wenn er sich heraus-
zieht. Es sollte mich nicht wundern, wenn heute nacht
irgendein Schlag geschähe. Ich sah den Meister Simon
Renard ganz in Gedanken da herumschleichen.
GILBERT. Wer ist der Meister Simon Renard?
JOSHUA. Wie, das weißt du nicht? Er ist der rechte
Arm des Kaisers zu London. Die Königin soll den Prin-
zen von Spanien, dessen Gesandter Simon Renard ist,
heiraten. Die Königin haßt diesen Simon Renard; aber
sie fürchtet ihn und vermag nichts gegen ihn. Er hat
schon zwei bis drei Günstlinge vernichtet. Das ist so sein
Instinkt. Er säubert den Palast von Zeit zu Zeit. Ein
feiner und sehr boshafter Mann, der alles weiß, was vor-
geht, und immer zwei oder drei Stockwerke tief unter
alle Ereignisse gräbt. Was den Lord Paget betrifft— hast
du mich nicht auch gefragt, wer der Lord Paget sei?— das
MARIA TUDOR. ERSTE HANDLUNG 449
ist ein pfiffiger Edelmann, der unter Heinrich dem Achten
zu tun hatte. Er ist Mitglied des geheimen Rats. Er hat
ein Ansehen, daß die andern Minister vor ihm den Atem
verlieren, den Kanzler "Mylord Gardiner" ausgenommen,
der hat einen Abscheu vor ihm. Ein heftiger Mann, der
Gardiner, und von sehr gutem Herkommen. Paget ist
nichts. Der Sohn eines Seifensieders. Er soll zum Baron
Paget von Beaudesert in Stafiford ernannt werden.
GILBERT. Wie er das alles so geläufig herzählt, der
Joshua!
JOSHUA. Bei Gott, wenn man so die Staatsgefangenen
schwätzen hört. [Siffwn Renard erscheint im Hintergrund
der Bühfie.) Siehst du, Gilbert, der Mann, welcher am
besten die Geschichte dieser Zeit kennt, ist der Kerker-
meister vom Londoner Turm.
SDION RENARD {uielcher die letzten Worte gehört hat,
aus dem Hintergrund der Bühne). Ihr irrt Euch, mein
Freund, es ist der Henker.
JOSHUA {leise zu Gilbert und Jane). Treten wir ein wenig
zurück. [Simon Renard cfitfernt sich la7igsam. — Nachdem
Si7fwn Renard verschu'unden ist:) Das ist gerade Meister
Simon Renard.
GILBERT. Alle diese Leute, welche um mein Haus her-
umschleichen, mißfallen mir.
JOSHUA. Zum Teufel, was will er hier.- Ich will schnell
zurück; ich glaube, er sorgt mir für Arbeit. Lebe wohl,
Gilbert. Lebt wohl, schöne Jane. — Und doch kannte ich
Euch, wie Ihr nicht größer wäret, als so!
GILBERT. Lebe wohl, Joshua. — Doch sprich, was ver-
birgst du da unter deinem Mantel:
JOSHUA. Ach! Ich habe auch meinen Anschlag.
GILBERT. Welchen Anschlag:
JOSHUA. Wie ihr Verliebten alles vergeßt! Ich sagte
euch eben, daß wir übermorgen den Tag der Angebinde
und Geschenke haben. Die Herrn denken auf eine Über-
raschung für Fabiani, ich, ich denke ebenfalls auf eine.
Die Königin wird sich vielleicht einen ganz neuen Günst-
ling anschaffen. Ich, ich schaffe meinem Kinde eine Puppe
an. (Er zieht eine Puppe unter seinem Mantel hervor:) Auch
BÜCHNER 29.
450 ÜBERSETZUNGEN
ganz neu. Wir wollen sehen, wer von beiden sein Spiel-
zeug am schnellsten zerbricht.— Gott behüte euch, meine
Kinder!
GILBERT. Auf Wiedersehen, Joshua! (^Joshua entfernt
sich. Gilbert niimnt die Hand vo?i/ane und küßt sie leiden-
schaftlich^
JOSHUA (im Hi7itergrund der Bühne). Oh! wie groß die
Vorsehung ist! Sie gibt jedem sein Spielzeug, die Puppe
dem Kind, das Kind dem Mann, den Mann dem Weib
und das Weib dem Teufel! (Er geht ab.)
DRITTE SZENE
Gilbert. Jane.
GILBERT. Ich muß dich jetzt auch verlassen. Lebe wohl,
Jane, gute Nacht!
JANE. Ihr geht heute abend nicht mit mir heim, Gilbert?
GILBERT. Ich kann nicht. Du weißt, ich habe dir es
schon gesagt, Jane, ich habe in meiner Werkstatt heute
nacht eine Arbeit fertig zu machen. Ich muß einen Dolch-
grifF, ich weiß nicht für was für einen Lord Clanbrassil
ziselieren; ich kenne ihn nicht, er hat es heute morgen
bei mir bestellen lassen.
JANE. Gute Nacht dann, Gilbert. Auf Morgen.
GILBERT. Nein, Jane, noch einen Augenblick. O mein
Gott! wie schwer es mir fällt, mich nur wenige Stunden
von dir zu trennen! Es ist wohl wahr, daß du mein Le-
ben und meine Freude bist; und doch muß ich arbeiten,
wir sind so arm! Ich mag nicht hineingehen, denn ich
würde bleiben, und doch kann ich nicht weg; wie schwach
ich bin! Komm, wir wollen uns ein wenig vor die Türe
setzen, da, auf die Bank; ich meine, es müßte mir so
leichter fallen wieder wegzugehen, als wenn ich erst in
das Haus oder gar in dein Zimmer ginge. Gib mir deine
Hand. (Er setzt sich und ?ti7n??it ihre beiden Hä7ide in die
seinigen^ sie bleibt vor ihm stehen^ Jane, liebst du mich.^
JANE. O, ich verdanke Euch alles! Ich weiß es, obgleich
Ihr mir es lange verborgen habt. Ganz klein, fast noch in
der Wiege, wurde ich von meinen Eltern verlassen; Ihr
MARIA TUDOR. ERSTE HANDLUNG 451
habt mich aufgenommen, seit sechzehn Jahren hat Euer
Arm wie der eines Vaters für mich gearbeitet. Eure Angea
, haben wie die einer Mutter über mich gewacht. Mein Gott,
was wäre ich ohne Euch.^ Ihr habt mir alles gegeben, was
ich habe; Ihr habt mich zu allem gemacht, was ich bin.
GILBERT. Jane, liebst du mich.^
JANE. Wie Ihr Euch aufopfert, Gilbert! Ihr arbeitet Tag
und Nacht für mich, Ihr versengt Euch die Augen, Ihr
tötet Euch. Seht, heute bringt Ihr wieder die Nacht so
hin. Und nie ein Vorwurf, nie ein hartes Wort. Ihr seid
so arm, und doch — selbst meine geringsten Launen schont
und befriedigt Ihr. Gilbert, ich denke nur an Euch, die
Tränen in den Augen. Ihr hattet manchmal kein Brot,
und mir fehlte es nie an Bändern.
GILBERT. Jane, liebst du mich?
JANE. Gilbert, ich möchte Eure Füße küssen.
GILBERT. Liebst du mich? Liebst du mich? Oh! all das
sagt mir nicht, daß du mich liebst; dies Wort da habe ich
nötig! Dankbarkeit, immer Dankbarkeit! Oh! ich trete die
Dankbarkeit mit Füßen! Ich will Liebe, oder nichts!—
Sterben!— Jane, seit sechzehn Jahren bist du meine Toch-
ter, du wirst jetzt mein Weib werden. Ich hatte dich an-
genommen, ich will dich heiraten. In acht Tagen! Du
weißt, du hast es mir versprochen, du hast es eingewilligt,
du bist meine Braut. Oh! du liebtest mich, als du mir das
versprachst. O Jane! es gab eine Zeit, denkst du des noch?
wo du deine schönen Augen zum Himmel aufschlugst und
zu mir sagtest: ich liebe dich! So möchte ich dich immer
haben. Seit einigen Monaten ist es mir, als wäre etwas
in dir anders geworden, seit drei Wochen besonders, wo
meine Arbeit mich zvv^ingt, manchmal des Nachts abwesend
zu sein. O Jane! ich will, daß du mich liebst. Ich bin
daran gewöhnt. Du warst sonst so froh, und jetzt bist du
immer traurig und zerstreut, nicht kalt, armes Kind, du
tust dein möglichstes, um es nicht zu sein; aber ich fühle
wohl, daß die Worte der Liebe dir nicht mehr so frei und
von selbst kommen, wie sonst. Was hast du? Liebst du
mich nicht mehr? Gewiß, ich bin ein braver Mann, ein
guter Arbeiter, ja, ja, aber ich möchte ein Dieb und
452 ÜBERSETZUNGEN
ein Mörder sein und von dir geliebt werden! — Jane, wenn
du wüßtest, wie ich dich liebe!
JANE. Ich weiß es, Gilbert, und weine—
GILBERT. Vor Freude! Nicht wahr? Sage mir, daß du
vor Freude weinst. Oh! ich muß es glauben. Es gibt ja
sonst nichts auf der Welt, als geliebt zu werden. Ich bin
nichts als ein armer Handwerksmann, aber meine Jane
muß mich lieben. Was sprichst du mir immer von dem,
was ich getan habe? Nur ein Wort der Liebe von dir, Jane,
und ich bin dein Schuldner. Ich will verdammt sein und ein
Verbrechen begehen, wenn du es wolltest. Du wirst mein
Weib, nicht wahr, und du liebst mich? Siehst du, Jane, für
einen Blick von dir gäbe ich all meine Arbeit und Mühe,
für ein Lächeln mein Leben, für einen Kuß meine Seele!
JANE. Was Ihr ein edles Herz habt, Gilbert!
GILBERT. Höre, Jane! Lache, wenn du willst, ich bin
ein Narr, ich bin eifersüchtig! Das ist einmal so. Kränke
dich nicht darum. Seit einiger Zeit kommt es mir vor, als
sähe ich die jungen Herren da herumstreichen. Weißt du
auch, Jane, daß ich vierunddreißig Jahre habe? Welch
Unglück für einen armseligen, linkischen und schlecht
gekleideten Arbeiter wie ich, ein schönes, reizendes
Kind von siebzehn Jahren zu lieben, das die jungen,
schönen, vergoldeten und verbrämten Edelleute anzieht,
wie ein Licht die Schmetterlinge! O, ich leide! Ich be-
leidige dich nie in meinen Gedanken, dich, die du so gut,
so rein bist, deren Stirne nie, als von meinen Lippen,
berührt worden ist! Ich finde nur, daß es dir zu viel
Freude macht, die Aufzüge und das Gefolge der Königin
vorbeiziehen und alle die schönen Kleider von Seide und
Sammet zu sehen, worunter es so wenig Herzen und so
wenig Seelen gibt! Verzeihe mir! — Mein Gott! warum
kommen doch so viele junge Edelleute hierher? warum
bin ich nicht jung, schön, edel und reich? Gilbert, Ar-
beiter, das ist alles. Sie, Lord Chandos, Lord Gerard,
Fitz- Gerard, der Graf von Arundel, der Herzog von Nor-
folk, o wie ich sie hasse! Ich bringe mein Leben hin, in-
dem ich ihnen Degengrifife meißele, deren Klingen ich
ihnen durch den Leib rennen möchte.
MARIA TUDOR. ERSTE HANDLUNG 453
JANE. Gilbert! . . .
GILBERT. Vergib, Jane. Nicht wahr, die Liebe macht
einen sehr böse.
JANE. Nein, sehr gut.— Ihr seid gut, Gilbert.
GILBERT. O wie ich dich liebe! Jeden Tag mehr. Ich
möchte für dich sterben. Liebe mich, oder liebe mich
nicht, es ist in deiner Hand. Ich bin ein Narr. Verzeihe
mir, was ich gesagt habe. Es ist spät, ich muß dich ver-
lassen. Lebe wohl. Mein Gott, wie traurig es ist, dich zu
verlassen! Gehe hinein. Hast du deinen Schlüssel nicht.^
JANE. Nein, ich weiß seit einigen Tagen nicht, wo er
hingekommen ist.
GILBERT. Da ist der meinige.— Auf morgen, morgen.—
Jane, vergiß nicht: noch heute dein Vater, in acht Tagen
dein Gemahl. (Er küßt sie auf die Stirne und geht.)
JANE {allein). Mein Gemahl! O nein, ich werde dies
Verbrechen nicht begehen. Armer Gilbert, er liebt mich
— und der andere! . . . wenn mich nur die Eitelkeit nicht
um die Liebe betrogen hat! Ich Arme, in wessen Händen
bin ich jetzt? O, ich bin sehr undankbar und schuld-
beladen! Ich höre Tritte; schnell zurück. (Sie tritt i?i das
Haus.)
*
VIERTE SZENE
Gilbert. Ein Mann (der in einen Mantel gehüllt ist und
eine gelbe Mütze trägt. Der Mann hält Gilbert bei der
Hand).
GILBERT. Ja, ich erkenne dich, du bist der Betteljude,
welcher seit einigen Tagen um dies Haus schleicht. Was
willst du von mir: Warum hast du mich bei der Hand
gefaßt und hierher geführt:
DER MANN. Was ich Euch zu sagen habe, kann ich nur
hier sagen.
I GILBERT. Nun! was ist denn.^ Sprich, rasch.
I DER MANN. Hört, junger Mann.— Es sind jetzt sechzehn
I Jahre seit der Nacht, wo Lord Talbot, Graf von Water-
I ford, wegen Papismus und Hochverrates bei Fackelschein
I enthauptet wurde, und die Soldaten des Königs Heinrich
!
\
I
454 ÜBERSETZUNGEN
des Achten seine Anhänger in London in Stücke hieben.
Man schoß die ganze Nacht in den Straßen aufeinander.
In dieser Nacht nun arbeitete in seiner Bude ein junger
Arbeiter, der weit mehr mit seiner Arbeit, als mit dem
Kampfe beschäftigt war. Es war die erste Bude am An-
fang der Londoner Brücke. Eine niedrige Türe zur Rech-
ten, Spuren von alter, roter Malerei auf der Mauer. Es
mochte zwei Uhr des Morgens sein. Man schlug sich in
der Nähe. Die Kugeln flogen pfeifend über die Themse.
Plötzlich wurde an die Türe der Bude geklopft, durch
welche die Lampe des Arbeiters einen schwachen Licht-
schimmer warf. Der Arbeiter öffnete. Ein Mann, den er
nicht kannte, trat ein. Dieser Mann trug in seinen Armen
ein Kind, noch in den Windeln, das sehr erschrocken war
und weinte. Der Mann legte das Kind auf den Tisch und
sagte: da ist ein Geschöpf, das weder Vater noch Mutter
mehr hat. Dann ging er langsam weg und schlug die
Türe hinter sich zu. Gilbert, der Arbeiter, hatte selbst
weder Vater noch Mutter. Der Aibeiter nahm das Kind,
die Waise adoptierte die Waise. Er nahm es, er wachte
über es, er kleidete, er ernährte, er hütete, er erzog, er
liebte es. Er widmete sich ganz diesem armen kleinen
Geschöpf, das der Bürgerkrieg in seine Bude geworfen
hatte. Er vergaß alles für es, seine Jugend, seine Liebes-
händel, sein Vergnügen; er machte aus diesem Kinde den
einzigen Gegenstand seiner Arbeit, seiner Neigung, seines
Lebens, und jetzt sind es sechzehn Jahre, daß das so fort-
geht. Gilbert, der Arbeiter wart Ihr; das Kind
GILBERT. War Jane. Alles, was du da sagst, ist wahr;
aber was willst du damit?
DER MANN. Ich vergaß dir zu sagen, daß an die Win-
deln des Kindes ein Papier mit einer Nadel geheftet war,
worauf die Worte standen: Habt Erbarmen mit Jane.
GILBERT. Das war mit Blut geschrieben. Ich habe das
Papier aufgehoben und trage es immer bei mir. Aber du
spannst mich auf die Folter. Was willst du damit? Sprich!
DER MANN. Das.— Ihr seht, ich kenne Eure Geschichten.
Gilbert! Wacht diese Nacht über Euer Haus.
GILBERT. Was willst du?
MARIA TUDOR. ERSTE HANDLUNG 455
DER MANN. Kein Wort mehr. Geht nicht an Eure Ar-
beit. Bleibt in der Nähe dieses Hauses. Wacht. Ich bin
weder Euer Freund, noch Euer Feind, es ist ein Rat, den
ich Euch gebe. Für jetzt verlaßt mich, um Euch nicht
selbst zu schaden. Geht nach der Seite da und kommt,
wenn Ihr mich um Hilfe rufen hört.
GILBERT. Was bedeutet das? (Er geht langsam ab)
*
FÜNFTE SZENE
Der Mann, allein.
Die Sache ist so gut angelegt. Ich hatte was Junges
und Kräftiges nötig, das mir helfen kann, wenn es not-
tut. Den Gilbert kann ich gerade brauchen.— Es ist mir,
als hörte ich das Geräusch von Rudern und eine Gitarre
auf dem Wasser.— Ja.
{Er geht nach dem Geländer, Man hört eine Gitarre und
eifie Stimme in der Ferne)
— Das ist mein Mann. — Er landet. Gut. Er schickt den
Fischer weg. Vortrefiflich! (Er konunt auf den Vorder-
grund der Büh?i€ zurück) Da kommt er.
(Fabiano Fabiani tritt auf, in seinen Mantel gehüllt. Er
geht auf die Türe des Hauses zu)
SECHSTE SZENE
Der Mann. Fabiano Fabiani.
DER MANN (hält Fabiani auf). Ein Wort, wenn es Euch
beliebt.
FABIANI. Man spricht mit mir, glaub ich. Wer ist der
Spitzbube.^ Wer bist du?
DER MANN. Alles, wofür es Euch beliebt, mich zu
halten.
FABIANI. Diese Laterne leuchtet schlecht. Aber du hast
eine gelbe Mütze auf, wie mir deucht, eine Judenmütze!
Bist du ein Jude?
DER MANN. Ja, ein Jude. Ich habe Euch etwas zu sagen.
FABIANI. Wie heißt du?
DER MANN. Ich weiß Euren Namen, und Ihr wißt meinen
456 ÜBERSETZUNGEN
nicht. Ich habe einen Vorteil über Euch; erlaubt mir, ihn
zu behalten.
FABIANI. Du weißt meinen Namen, du? Das ist nicht
wahr.
DER MANN. Ich weiß Euren Namen. Zu Neapel hießt
Ihr Signor Fabiani, zu Madrid Don Faviano; zu London
heißt Ihr Fabiano Fabiani, Graf von Clanbrassil.
FABIANI. Hole dich der Teufel!
DER MANN. Behüte Euch Gott!
FABIANI. Ich werde dir Stockschläge geben lassen. Ich
will nicht, daß man meinen Namen weiß, wenn ich so des
Nachts vor mich hin gehe.
DER MANN. Besonders wenn Ihr dahin geht, wohin Ihr
geht.
FABIANI. Was soll das heißen:
DER MANN. Wenn die Königin es wüßte!
FABIANI. Ich gehe nirgends hin.
DER MANN. Doch, Mylord! Ihr geht zu der schönen
Jane, der Braut von Gilbert, dem Arbeiter.
FABIANI (/^m^zVt'). Teufel! das ist ein gefährlicher Mensch.
DER MANN. Wollt Ihr, daß ich Euch noch mehr sage?
Ihr habt das Mädchen verführt, und seit einem Monat hat
sie Euch zweimal des Nachts zu sich gelassen, heute ist
es das drittemal. Die Schöne wartet auf Euch.
FABIANI. Still, still! Soll ich dir das Maul mit Silber
stopfen? Wieviel willst du?
DER MANN. Das werden wir gleich sehen. Soll ich Euch
jetzt auch sagen, Mylord, warum Ihr das Mädchen ver-
führt habt?
FABIANI. Wahrhaftig, weil ich in sie verliebt war.
DER MANN. Nein. Das wart Ihr nicht.
FABIANI. Ich hätte Jane nicht geliebt?
DER MANN. So wenig, als Ihr die Königin liebt. Liebe,
nein; Berechnung, ja.
FABIANI. Kerl, du bist kein Mensch, du bist mein Ge-
wissen, als Jude verkleidet.
DER MANN. Ich will mit Euch reden, wie Euer Gewissen,
Mylord. Die ganze Geschichte verhält sich so. Ihr seid
der Günstling der Königin. Die Königin hat Euch das
MARIA TUDOR. ERSTE HANDLUNG 457
Hosenband gegeben, den Grafen- und den Herrentitel.
Taube Nüsse das alles. Das Hosenband ist ein Lumpen,
die Grafschaft ein Wort, der Herrentitel verhilft einem
zu dem Recht, den Kopf abgeschnitten zu kriegen. Ihr
hattet was Besseres nötig. Ihr brauchtet, Mylord, gute
Acker, gute Vogteien, gute Schlösser und gute Einkünfte
in guten Pfunden. Heinrich der Achte nun hatte die Güter
des vor sechzehn Jahren enthaupteten Lord Talbot kon-
fisziert. Ihr habt Euch von der Königin die Güter des
Lord Talbot schenken lassen. Aber um die Schenkung
gültig zu machen, hätte Lord Talbot ohne Nachkommen
sterben müssen. Wenn es einen Erben oder eine Erbin
des Lord Talbot gäbe, so unterläge es keinem Zweifel,
daß, da Lord Talbot für die Königin Marie und ihre Mutter
Catharina von Aragonien gestorben ist, da Lord Talbot
ein Papiste war, und da die Königin Maria eine Papistin
ist, daß die Königin Euch, Ihr mögt noch so sehr ihr
Günstling sein, Mylord, die Güter abnehmen und sie aus
Pflichtgefühl, Dankbarkeit und Religiosität dem Erben
oder der Erbin zurückgeben würde. Ihr fühltet Euch von
der Seite ziemlich sicher. Lord Talbot hatte nichts als
eine kleine Tochter, die zur Zeit, wo ihr Vater enthauptet
wurde, aus der Wiege verschwand und von ganz England
für tot gehalten wurde. Aber Eure Spione haben neulich
entdeckt, daß in der Nacht, wo Lord Talbot und seine
Partei durch Heinrich den Achten vernichtet wurde, ein
Kind ganz geheimnisvoll bei einem Arbeiter an der Lon-
doner Brücke untergebracht worden wäre, daß es unter
dem Namen Jane aufgewachsen und wahrscheinlich Jane
Talbot, das kleine verschwundene Mädchen sei. Die
schriftlichen Beweise für ihre Geburt fehlten, das ist wahr;
aber sie konnten sich alle Tage wiederfinden. Der Zu-
fall war verdrießlich. Sich vielleicht eines Tages genötigt
zu sehen, Shrewsbury, Wexford, das eine schöne Stadt
ist, und die prächtige Grafschaft Waterford abzutreten,
das ist hart. Was tun.- Ihr sannt auf ein Mittel, das Mäd-
chen zu vernichten. Ein braver Mann hätte sie vergiften
oder ermorden lassen; Ihr, Mylord, habt es besser ange-
fangen, Ihr habt es entehrt.
4 5 8 ÜBERSETZUNGEN
FABIANI. Unverschämter!
DER MANN. Euer Gewissen spricht mit Euch, Mylord.
Ein anderer hätte dem Mädchen das Leben genommen,
Ihr habt ihm die Ehre und somit die Zukunft gestohlen.
Die Königin Marie ist prüde, trotz ihrer Liebschaften.
FABIANL Der Mann geht allem auf den Grund.
DER MANN. Die Königin hat keine gute Gesundheit;
die Königin kann sterben, und dann würde der Günstling
über ihrem Grabe stolpern. Die materiellen Beweise für
den Rang des Mädchens können sich wiederfinden, und
dann, wenn die Königin tot ist, wird Jane, trotz ihrer Ent-
ehrung, als Erbin von Talbot anerkannt werden. Nun,
Ihr habt auch den Fall vorausgesehen, Ihr seid ein junger
Herr von gutem Aussehen, Ihr habt sie in Euch verhebt
gemacht, sie hat sich Euch überlassen; im schlimmsten
Falle würdet Ihr sie heiraten. Sträubt Euch nicht gegen
diesen Plan, Mylord, ich finde ihn herrlich. Ich möchte
Ihr sein, wenn ich nicht Ich wäre.
FABIANI. Danke!
DER MANN. Ihr habt die Sache mit Geschick betrieben.
Ihr habt Euren Namen verborgen. Vor der Königin seid
Ihr gedeckt. Das arme Ding meint, ein Ritter aus dem
Lande Somerset, namens Amyas Pawlet, habe sie ver-
führt.
FABIANI. Alles! Er weiß alles! Zur Sache jetzt. Was
willst du von mir?
DER MANN. Mylord, wenn jemand die Papiere in seinen
Händen hätte, welche über die Geburt, das Dasein und
die Rechte der Erbin Talbots Auskunft geben, so würde
Euch das arm machen wie meinen Vorahnen Job, und
würde Euch keine andern Schlösser übriglassen, Don
Fabiano, als Schlösser in Spanien, was Euch recht unan-
genehm sein würde.
FABIANI. Ja, aber niemand hat diese Papiere.
DER MAMN. Doch.
FABIANI. Wer?
DER MANN. Ich.
FABIANI. Bah! du Elender! das ist nicht wahr. Jude, der
spricht, Zunge, die lügt.
MARIA TUDOR. ERSTE HANDLUNG 459
DER MANN. Ich habe diese Papiere.
FABIANL Du lügst. Wo hast du sie?
DER MANN. In meiner Tasche.
FABIANI. Ich glaube dir nicht. Gut in Ordnung.^ Es
fehlt nichts daran?
DER MANN. Es fehlt nichts.
FABIANI. Dann muß ich sie haben.
DER MANN. Sachte!
FABIANI. Jude, gib mir diese Papiere.
DER MANN. Sehr gut. -Jude, elender Bettler, der in
den Straßen herumstreicht, gib mir die Stadt Shrewsbury,
gib mir die Stadt Wexford, gib mir die Grafschaft Water-
ford!— Ein Almosen, wenn es Euch beliebt!
FABIANI. Diese Papiere sind alles für mich, nichts für
dich.
DER MANN. Simon Renard und Lord Chandos würden
sie mir gut bezahlen.
FABIANI. Simon Renard und Lord Chandos sind die
zwei Hunde, zwischen welche ich dich werde hängen
lassen.
DER MANN. Ihr habt mir sonst nichts vorzuschlagen?
Lebt wohl.
FABIANI. Steh, Jude!— Was soll ich dir für diese Papiere
geben?
DER MANN. Etwas, das Ihr bei Euch habt.
FABIANI. Meinen Beutel?
DER MANN. Pfui! Wollt Ihr den meinigen?
FABIANI. Was denn?
DER MANN. Ihr habt ein Pergament, das Euch nie ver-
läßt. Es ist ein Freibrief, den die Königin Euch gegeben
hat, indem sie auf ihre katholische Krone schwur, dem,
welcher ihr ihn überreichen wird, jede Gnade, die er ver-
langt, zu erweisen. Gebt mir diesen, und Ihr sollt die Ur-
kunden der Jane Talbot erhalten. Papier um Papier.
FABIANI. Was willst du mit diesem Freibrief anfangen?
DER MANN. Seht die Karten aufgelegt, Mylord. Ich
habe Euch Eure Geschichte gesagt; ich will Euch jetzt
die meinige erzählen. Ich bin einer der ersten Wechsel-
Juden in der Cantersten- Straße zu Brüssel. Ich leihe mein
46o ÜBERSETZUNGEN
Geld aus. Das ist mein Geschäft. Ich leihe zehn, und man
gibt mir fünfzehn wieder. Ich leihe der ganzen Welt, ich
würde dem Teufel leihen, ich würde dem Papste leihen.
Es sind jetzt zwei Monate, daß einer meiner Schuldner
starb, ohne mich bezahlt zu haben. Er war ein alter ver-
bannter Diener der Familie Talbot. Der arme Teufel
hinterließ nichts als einige Lumpen. Ich ließ sie in Be-
schlag nehmen. In diesen Lumpen fand sich ein Kästchen,
und in diesem Kästchen Papiere, die Papiere von Jane
Talbot, Mylord, mit ihrer aufs genauste erzählten und für
bessere Zeiten mit Beweisen versehenen Geschichte. Die
Königin von England gab Euch gerade damals die Güter
von Jane Talbot. Nun hatte ich gerade die Königin von
England für ein Darlehen von zehntausend Mark Gold nötig.
Ich sah ein, daß sich mit Euch etwas würde machen lassen.
Ich kam verkleidet nach England, ich spürte Euren
Schritten nach, ich spähte Jane Talbot aus, ich selbst, ich
tue alles selbst. Auf diese Weise erfuhr ich alles, und da
bin ich. Ihr werdet die Papiere von Jane Talbot erhalten,
wenn Ihr mir den Freibrief der Königin gebt. Ich werde
daraufschreiben, die Königin möge mir zehntausend Mark
Gold geben. Man ist mir hier auf der Kanzlei was schul-
dig; aber ich werde billig sein. Zehntausend Mark Gold,
und nichts weiter. Ich fordere die Summe nicht von Euch,
weil sie nur ein gekröntes Haupt bezahlen kann. Das
heiße ich deutlich sprechen, hoffe ich. Seht, Mylord, zwei
so gewandte Leute, wie Ihr und ich, gewinnen nichts da-
bei, wenn sie einander betrügen. Wenn der Erde die Ehr-
lichkeit verloren gegangen wäre, so müßte sie sich zwischen
zwei Spitzbuben wiederfinden.
FABIANI. Unmöglich. Ich kann dir dies Pergament nicht
geben. Zehntausend Mark Gold! Was wird die Königin
sagen? Und dann, morgen kann ich in Ungnade fallen;
dies Pergament ist mein Asyl, dies Pergament ist mein
Kopf.
DER MANN. Was geht mich das an:
FABIANI. Fordere was anderes.
DER MANN. Ich will einmal das.
FABIANI. Jude, gib mir die Papiere von Jane Talbot.
MARIA TUDOR. ERSTE HANDLUNG 461
DER MANN. Mylord, gebt mir den Freibrief der Kö-
nigin.
FABIANI. Nun denn, verfluchter Jude, ich muß dir nach-
geben. (Er zieht ein Papier aus der Tasche}^
DER MANN. Zeigt mir den Freibrief der Königin.
FABIANI. Zeige mir die Papiere Talbots.
DER MANN. Hernach. (Sie nähern sich der Laterne.
Fabiani steht hinter dem Juden und hält ihfn mit der linken
Hand das Papier unter die Augen. Der Jude untersucht es.)
DER MANN (liest). "Wir, Marie, Königin . . ."— Gut.—
Ihr seht, ich bin wie Ihr, Mylord. Ich habe alles berechnet.
Ich habe alles vorhergesehen.
FABIANI (zieht init der Rechten seinen Dolch und stößt
ihn ihm in die Kehle). Das ausgenommen.
DER MANN. Oh! Verräter! —Hilfe! (Er fällt. Im
Falle wirft er, ohne daß Fabiani es bemerkt^ ein versiegeltes
Paket hifiter sich in den Schatten?)
FABIANI (bückt sich iiber den Körper). Er ist tot, meiner
Treu! — Schnell diese Papiere! (Er durchsucht den Juden.)
Aber was! er hat nichts, nichts bei sich! kein Papier, der
alte Hundl Er hat gelogen; er hat mich betrogen! Er hat
mich bestohlen. Seht das, verdammter Jude! Oh! er hat
nichts, es ist aus. Ich habe ihn umsonst getötet! Sie sind
alle so, die Juden. Lügen und Stehlen, das ist der ganze
Jude. Weg mit der Leiche, ich kann sie nicht vor dieser
Türe lassen. (Er geht auf de7i Hintergrund der Pühne.)
Vielleicht ist der Schiffer noch da, er mag mir helfen ihn
in die Themse werfen. [Er steigt hi?iunter und verschiuindet
hinter dem Gelä7ider.)
GILBERT (tritt auf der entgegengesetzten Seite auf). Es
ist mir, als hätte ich einen Schrei gehört. (Er erblickt unter
der Laterne den auf der Erde ausgestreckten Körper^ Je-
mand ermordet!— Der Bettler!
DER MANN (erhebt sich halb). Ahl . . . Ihr kommt zu
spät, Gilbert. (Er deutet mit def?i Finger auf den Platz,
wohin er das Paket geworfen?) Nehmt das; es sind Papiere,
welche beweisen, daß Jane, Eure Braut, die Tochter und
Erbin des letzten Lord Talbot ist. Mein Mörder ist Clan-
462 ÜBERSETZUNGEN
brassil, der Günstling der Königin. — Ach, ich ersticke! —
Gilbert, räche mich und räche dich! . . . — {Er stirbt^
GILBERT. Tot! — Ich soll mich rächen? Was will er sagen?
Jane, Tochter des Lord Talbot? Lord Clanbrassil? der
Günstling der Königin? O, mir schwindelt! {Er schüttelt
die Leiche^ Sprich noch ein Wort! — Er ist tot.
SIEBENTE SZENE
Gilbert. Fabiani,
FABIANI {kommt zurück). Wer da?
GILBERT. Man hat einen Menschen ermordet.
FABIANI. Nein, einen Juden.
GILBERT. Wer hat diesen Mann getötet?
FABIANI. Wahrhaftig, Ihr oder ich!
GILBERT. Herr! . . .
FABIANI. Kein Zeuge. Eine Leiche am Boden, zwei
Männer daneben. Wer ist der Mörder? Nichts beweist,
daß der eine es eher sei als der andere, ich eher als Ihr.
GILBERT. Elender! Ihr seid der Mörder.
FABIANI. Nun ja, in der Tat, ich bin es!— Und nun?
GILBERT. Ich werde die Wache rufen.
FABIANI. Ihr werdet mir helfen, den Körper ins Wasser
werfen.
GILBERT. Ich werde Euch verhaften und bestrafen lassen.
FABIANI. Ihr werdet mir helfen, den Körper ins Wasser
werfen.
GILBERT. Ihr seid unverschämt!
FABIANI. Glaubt mir, verwischen wir jede Spur, es geht
Euch mehr an als mich.
GILBERT. Das ist stark.
FABIANI. Einer von uns beiden hat den Streich geführt.
Ich, ich bin ein großer Herr, ein edler Herr; Ihr, Ihr seid
ein Landstreicher, ein Bettler, ein Mann aus dem Volke.
Ein Edelmann, der einen Juden tötet, zahlt vier Sous
Strafgeld. Ein Mann aus dem Volke, der einen tötet, wird
gehenkt.
GILBERT. Ihr würdet wagen?
FABIANI. Ich zeige Euch an, wenn Ihr mich anzeigt.
MARIA TUDOR. ERSTE HANDLUNG 463
Man wird mir eher glauben als Euch. Jedenfalls ist die
Wette ungleich. Vier Sous Strafe für mich, der Galgen
für Euch.
GILBERT. Keine Zeugen! keine Beweise! Oh! mein
Kopf wird wirr. Der Schurke hat mich, er hat recht.
FABIANL Soll ich Euch helfen, den Körper ins Wasser
werfen?
GILBERT. Ihr seid der Teufel!
FABIANL {Gilbert faßt die Leiche am Kopf, Fahiani an
den Füßen; sie tragen sie bis zum Geländer?^ Ja. — Meiner
Treu! mein Teurer, ich weiß nicht mehr recht, wer von
uns beiden den Mann getötet hat.
(Sic stcigc7i hinter dem Geländer hinu?iter.)
FABIANI {kommt zurück). Es ist geschehen.— Gute Nacht,
mein Freund, geht Eurer Wege. {Er geht auf das Haus
zu und wendet sich tun, i7idem er bemerkt, daß Gilbert ihm
folgt.) Nun, was wollt Ihr? Etwas Geld für Eure Mühe?
Eigentlich bin ich Euch nichts schuldig; doch nehmt. {Er
gibt Gilbert seilte Börse ^ der eine zwückwdicJiende Bewe-
gung macht und sie dann mit der Miene eines Mamies^ der
sich anders besi?int^ annim??it.) Jetzt fort! Nun, auf was
wartet Ihr noch?
GILBERT. Auf nichts.
FABIANI. Meiner Treu! bleibt da, wenn es Euch gefällt.
Die schönen Sterne für Euch, das schöne Mädchen für
mich. Gott behüte Euch! {Ergeht auf die Türe des Hauses
zu und bereitet sich, sie zu öffne7i.)
GILBERT. Wo geht Ihr hin?
FABIANI. Wahrhaftig! nach Hause.
GILBERT. Wie, nach Hause?
FABIANI. Ja.
GILBERT. Wer von uns beiden träumt dann? Ihr sagtet
mir eben, ich wäre der Mörder des Juden; Ihr sagt mir
jetzt, dieses Haus da wäre Euer.
FABIANI. Oder meiner Geliebten, das kommt auf eins
heraus.
GILBERT. Wiederholt mir, was Ihr eben gesagt.
FABIANI. Ich sage Euch, Freund, weil Ihr es wissen
464 ÜBERSETZUNGEN '
wollt, daß in diesem Haus ein schönes Mädchen, namens
Jane, wohnt, das meine Geliebte ist.
GILBERT. Und ich, Mylord, sage dir, daß du lügst! Ich
sage dir, daß du ein Lügner und ein Mörder bist, ich sage
dir, daß deine Mutter auf offnem Markt von dem Henker
ist ausgepeitscht worden, und daß ich deinen Kopf mit
meinen Händen packen und dir deine Zunge mit deinen
Zähnen abbeißen werde.
FABIANI. Nun! nun! Was ist das für ein Teufelskerl.^
GILBERT. Ich bin Gilbert, der Arbeiter. Jane ist meine
Braut.
FABIANI. Und ich, ich bin der Ritter Amyas Pawlet.
Jane ist meine Geliebte.
GILBERT. Du lügst! sage ich dir, du bist Lord Clan-
brassil, der Günstling der Königin. Schwachkopf! der
glaubte, ich wüßte das nicht.
FABIANI (beiseite). Alle Welt kennt mich doch diese
Nacht. Noch ein gefährlicher Mensch, den ich weg-
schaffen muß.
GILBERT. Sag sogleich, daß du gelogen hast, wie ein
Schurke, und daß Jane deine Geliebte nicht ist.
FABIANI. Kennst du ihre Schrift? {Er zieht ein Billett
aus seiner Tasche:) Lies das! {Beiseite^ während Gilbert
konvulsivisch das Papier entfaltet:) Er muß hinein und mit
Jane Händel anfangen; das gibt meinen Leuten Zeit, her-
beizukommen.
GILBERT {liest). 'Tch bin heute nacht allein, Ihr könnt
kommen." Verdammt! Mylor >uu hast meine Braut ent-
ehrt, du bist ein Schurke! Gib mir Rechenschaft.
FABIANI {iiiniint seinen Degen in die Hand). Ich will wohl,
wo ist dein Degen:
GILBERT. O Wut! Aus dem Volke sein! Nichts bei sich
haben, weder Degen noch Dolch! Geh, ich werde des
Nachts an einer Gassenecke auf dich lauern und dir meine
Nägel in den Hals drücken und dich erwürgen. Elender!
FABIANI. Nun! nun! Ihr seid heftig, mein Freund.
GILBERT. O, Mylord! ich werde mich an dir rächen.
FABIANI. Du dich an mir rächen! Du so niedrig, ich so
hoch! Du bist toll! Ich lache dich aus.
MARIA TUDOR. ERSTE HANDLUNG 465
GILBERT. Du lachst mich aus?
FABIANI. Ja.
GILBERT. D.u sollst sehen!
FABIANI (beiseite). Die Sonne darf morgen diesen Mann
nicht bescheinen. (Laut:) Freund, glaube mir, gehe heim.
Ich bin ärgerlich, daß du das entdeckt hast; aber ich über-
lasse dir die Schöne. Es war ohnehin meine Absicht nicht,
die Liebschaft weiter zu treiben. Geht heim. (Er wirft
ei?ien Schlüssel zu den Füßen Gilberts^ Wenn du keinen
Schlüssel hast, da ist einer. Oder, wenn du willst, brauchst
du nur viermal an den Laden zu klopfen. Jane wird glauben,
ich sei es, und dir öffnen. Gute Nacht. (Er geht.)
ACHTE SZENE
Gilbert, allein.
Er ist fort! Er ist nicht mehr da! Ich habe ihn nicht mit
den Füßen zerstampfti Ich mußte ihn gehen lassen! keine
Waffen bei mir! (Er erblickt auf dem Boden den Dolch,
7üomit Lo}'d Clanbrassil den Juden getötet hat; er rafft ihn
mit rasender Eile auf) Ah! du kommst zu spät! du kannst
wahrscheinlich nur mich noch töten! aber das ist gleich,
magst du vom Himmel gefallen oder von der Hölle aus-
gespien sein, ich segne dich! Oh! Jane hat mich verraten!
Jane hat sich diesem Schurken überlassen! Jane ist die
Erbin des Lord Talbot! Jane ist für mich verloren! O
Gott! das sind in einer Stunde mehr schreckliche Dinge,
als ein Kopf tragen kann. (Simon Renard crschei/it ifn
Dunkeln im Hintergrunde der Bühne.)
Oh! mich an diesem Menschen rächen! mich an diesem
Lord Clanbrassil rächen! Wenn ich zum Palaste der Königin
gehe, werden mich die Knechte mit Fußtritten wegstoßen,
wie einen Hund. Oh! ich bin ein Narr; mein Kopf hält's
nicht aus. Oh! was liegt mir am Tod, aber ich will ge-
rächt sein! Ich würde mein Blut für die Rache geben!
Gibt es niemand unter der Sonne, der diesen Handel mit
mir eingehen möchter Wer will mich an Lord Clanbrassil
rächen und mein Leben als Lohn nehmen.-
BÜCHNER 30.
466 ÜBERSETZUNGEN
NEUNTE SZENE
Gilbert. Simon Renard.
SIMON RENARD. Ich.
GILBERT. Du! Wer bist du?
SIMON RENARD. Ich bin der Mann, den du forderst.
GILBERT. Weißt du, wer ich bin?
SIMON RENARD. Du bist der Mann, den ich brauche.
GILBERT. Ich habe nur noch einen Gedanken, weißt du
das? An IvOrd Clanbrassil mich rächen und sterben.
SIMON RENARD. Du wirst dich an Lord Clanbrassil
rächen und sterben.
GILBERT. Ich danke dir, wer du auch seist!
SIMON RENARD. Ja, du sollst die Rache haben, die du
forderst; aber vergiß nicht, unter welcher Bedingung. Ich
muß dein Leben haben.
GILBERT. Nimm es.
SIMON RENARD. Sind wir einig?
GILBERT. Ja.
SIMON RENARD. Folge mir.
GILBERT. Wohin?
SIMON RENARD. Du wirst es erfahren.
GILBERT. Denke, daß du mir versprachst, mich zu
rächen!
SIMON RENARD. Denke, daß du mir versprachst, zu
sterben!
ZWEITE HANDLUNG
DIE KÖNIGIN
Personen
DTE KÖNIGIN SIMON RENARD
GILBERT JANE
FABIANO FABIANI EDELLEUTE. DER HENKER
ZWEITER TAG
Eins von den Zimmern der Königin. Ein Evangelium auf^
geschlagen auf einem Betpult. Die königliche Krone auf
MARIA TUDOR. ZWEITE HANDLUNG 467
einem Schemel. Seitentüren. Eine breite Türe im Hinter-
grund.— Ein Teil des Hintergrundes wird durch eine große
gewirkte Tapete verdeckt.
ERSTE SZENE
Die Königin reich gekleidet auf einem Ruhebette. Fabiano
Fabiani sitzt auf einem Schemel zur Seite ^ prächtiges Kostüm^
das Hosenband.
FABIANI {eine Gitarre in der Hand, singt).
Träumst du, o holde Traute,
Sanft unter meinem Aug,
So lispelt Liedeslaute
Mir deiner Lippen Hauch.
Entknospt aus Prunk und Schleier
Blüht mir dein süßer Leib.
Mir ewig teuer,
Schlaf süß, hold Weib!
Hör ich aus deinem Munde:
"Du liebst mich", — dann schon hier
Schließt sich in sel'ger Stunde
Der Himmel auf über mir.
Vom heil'gen, ew'gen Feuer
Der Liebe strahlt dein Blick!
Weib, mir so teuer,
Sei stets mein Glück!
Vier Zauberworte heben,
In Klarheit, ungetrübt.
Empor das ganze Leben,
Beneidet und geliebt.
Das ist des Lebens Sonne,
Mein ewig junges Glück:
"Gesang, Traum, Wonne
Und— Liebesblick!"
{Er stellt die Gitarre weg.) Oh! ich liebe Euch mehr, als
ich sagen kann, Madame! Aber dieser Simon Renard!
dieser Simon Renard! mächtiger hier, als Ihr selbst, ich
hasse ihn.
468 ÜBERSETZUNGEN
DIE KÖNIGIN. Ihr wißt wohl, daß ich nichts dafür kann,
Mylord. Er ist hier der Gesandte des Prinzen von Spa-
nien, meines zukünftigen Gemahls.
FABIANI. Eures zukünftigen Gemahls!
DIE KÖNIGIN. Still, Mylord, sprechen wir nicht mehr
davon. Ich liebe Euch, was braucht Ihr mehr? Und dann,
es ist jetzt Zeit, daß Ihr geht.
FABIANI. Marie, noch einen Augenblick!
DIE KÖNIGIN. Aber es ist die Stunde, wo der geheime
Rat sich versammelt. Bisher war nur das Weib hier, die
Königin muß jetzt hereintreten.
FABIANI. Ich will, daß das Weib die Königin vor der
Türe warten läßt.
DIE KÖNIGIN. Ihr wollt! Ihr wollt! Ihr! Seht mich an,
Mylord. Du hast einen jungen und reizenden Kopf, Fa-
biano.
FABIANI. O, Ihr seid schön! Ihr würdet nichts nötig
haben, als Eure Schönheit, um allmächtig zu sein. Auf
Eijrem Haupte ist etwas, das sagt, daß Ihr die Königin
seid; es steht aber noch viel deutlicher auf Eurer Stirn,
als auf Eurer Krone.
DIE KÖNIGIN. Ihr schmeichelt.
FABIANI. Ich liebe dich.
DIE KÖNIGIN. Du liebst mich, nicht wahr? Du liebst
nur mich? Sage mir das noch einmal so, mit diesen Augen.
Ach! wir armen Weiber, wir wissen niemals genau, was
in dem Herzen eines Mannes vorgeht; wir müssen Euren
Augen glauben, und die schönsten, Fabiano, lügen zu-
weilen am häßlichsten. Aber deine, Mylord, sind so treu
und rein, daß sie nicht lügen können, nicht wahr? Ja,
dein Blick ist offen und ehrlich, mein schöner Page. Oh!
Himmelsaugen nehmen und damit betrügen, das wäre
höllisch. Du hast deine Augen einem Engel oder dem
Teufel gestohlen.
FABIANI. Weder Engel noch Teufel. Ein Mann, der
Euch liebt.
DIE KÖNIGIN. Der die Königin liebt?
FABIANI. Der Marie liebt.
DIE KÖNIGIN. Höre, Fabiano, ich liebe dich auch. Du
I
MARIA TUDOR. ZWEITE HANDLUNG 469
bist jung, es gibt viel schöne Weiber, die dich gar zärt-
lich ansehen, ich weiß es. Endlich, man wird eine Kö-
nigin müde, so gut wie eine andere. Unterbrich mich
nicht. Ich will, daß du mir es sagst, wenn du je ein an-
deres Weib lieben solltest. Ich werde dir vielleicht ver-
zeihen, wenn du mir es sagst. Unterbrich mich doch nicht.
Du weißt nicht, wie weit meine Liebe geht, ich weiß es
selbst nicht. Es ist wahr, ich habe Augenblicke, wo ich
dich lieber tot, als mit einer andern glücklich wissen
möchte; aber es kommen mir auch andere, wo ich dich
lieber glücklich sähe. Mein Gott! ich weiß nicht, warum
man mich in den Ruf eines schlechten Weibes bringen
will.
FABIANI. Ich kann nur mit dir glücklich sein, Marie.
Ich liebe nur dich.
DIE KÖNIGIN. Gewiß? Sieh mich an. Gewiß.- Oh! ich
bin manchmal eifersüchtig; ich bilde mir ein,— welches
Weib hat nicht solche Gedanken:— ich bilde mir manch-
mal ein, du täuschtest mich. Ich möchte unsichtbar sein
und dir folgen können und immer wissen, was du tust,
was du sagst und wo du bist. In den Feenmärchen gibt
es einen Ring, der einen unsichtbar macht; ich würde
meine Krone für diesen Ring geben. Ich bilde mir immer
ein, du gingest zu den schönen Mädchen in der Stadt.
Oh! du solltest mich nicht täuschen, siehst du!
FABIANI. Aber verbannt doch diese Gedanken, Madame.
Ich Euch täuschen, meine gute Königin, meine gute Herrin!
Ich müßte der undankbarste und erbäi-mlichste Mensch
sein! Aber ich gab Euch keine Veranlassung, mich für
den undankbarsten und erbärmlichsten Menschen zu hal-
ten. Aber ich liebe dich, Marie! aber ich bete dich an!
aber ich könnte ein anderes Weib nicht einmal ansehen!
Ich liebe dich, sage ich dir; aber siehst du das nicht in
meinen Augen: O mein Gott! die Wahrheit hat einen
Ton, der dich überzeugen sollte. Sieh, betrachte mich
genau, sehe ich aus wie ein Mensch, der dich verrät.^
Wenn ein Mann ein Weib verrät, so sieht man es gleich.
Die Weiber täuschen sich gewöhnlich nicht in dergleichen.
Und welchen Augenblick wählest du, mir solche Dinge zu
470 ÜBERSETZUNGEN
sagen, Marie? den Augenblick meines Lebens, worin ich
dich vielleicht am meisten liebe. Es ist wahr, es ist mir,
als hätte ich dich nie so geliebt wie heute. Ich spreche
jetzt nicht mit der Königin. Wahrhaftig, ich lache über
die Königin. Was kann mir die Königin tun.^ Sie kann
mir den Kopf abschlagen lassen, was macht das? Du,
Marie, kannst mir das Herz brechen! Nicht Eure Maje-
stät, nein, Marie, dich liebe ich. Deine schöne weiße und
zarte Hand küsse und bete ich an, nicht Euer Zepter,
Madame.
DIE KÖNIGIN. Danke, mein Fabiano. Lebe wohl.—
Mein Gott, Mylord, wie jung Ihr seid! Die schönen
schwarzen Haare und der reizende Kopf da!— Kommt in
einer Stunde wieder.
FABIANO. Was Ihr eine Stunde nennt, heiße ich eine
Ewigkeit!
{Er geht. Sobald er weg ist, erhebt die Königin sich rasch^
tritt zu eiiier verborgenen Türe, öffnet sie und führt Simon
Renard herein^
ZWEITE SZENE
Die Königin. Simon Kenard.
DIE KÖNIGIN. Kommt herein, Herr Vogt. Nun, seid
Ihr da geblieben? Habt Ihr ihn gehört?
SIMON RENARD. Ja, Madame.
DIE KÖNIGIN. Was sagt Ihr dazu? O, er ist der größte
Schurke und Heuchler unter der Sonne! Was sagt Ihr
dazu?
SIMON RENARD. Ich sage, Madame, man sieht wohl,
daß dieser Mensch einen Namen auf i führt.
DIE KÖNIGIN. Und seid Ihr sicher, daß er zu diesem
Weibe des Nachts geht? Ihr habt ihn gesehen?
SIMON RENARD. Ich, Chandos, Clinton, Montagu, zehn
Zeugen.
DIE KÖNIGIN. Das ist abscheulich!
SIMON RENARD. Außerdem soll die Sache der Königin
sogleich noch deutlicher erwiesen werden. Das Mädchen
MARIA TUDOR. ZWEITE HANDLUNG 471
ist hier, wie ich Eurer Majestät gesagt habe. Ich habe es
in seinem Hause heute nacht ergreifen lassen.
DIE KÖNIGIN. Aber, reicht dieses Verbrechen nicht
hin, diesem Menschen den Kopf abschlagen zu lassen,
mein Herr?
SIMON RENARD. Bei einem hübschen Mädchen des
Nachts gewesen zu sein: Nein, Madame. Eure Majestät
hat Trogmorton für ein ähnliches Vergehen vor Gericht
stellen lassen. Trogmorton wurde freigesprochen.
DIE KÖNIGIN. Ich habe die Richter des Trogmorton
gestraft.
SIMON RENARD. Seht zu, daß Ihr die Richter des
Fabiani nicht ebenfalls zu bestrafen habt.
DIE KÖNIGIN. Oh! wie mich an diesem Verräter rächen.^
SIMON RENARD. Will Eure Majestät die Rache nur
auf eine gewisse Weise.^
DIE KÖNIGIN. Auf die einzige, welche meiner würdig
ist.
SIMON REN ARD. Trogmorton wurde freigesprochen.
Es gibt nur ein Mittel, ich habe es Eurer Majestät gesagt.
Der Mann, welcher da ist ... .
DIE KÖNIGIN. Wird er alles tun, was ich will?
SIMON RENARD. Ja, wenn Ihr alles tut, was er will.
DIE KÖNIGIN. Wird er sein Leben einsetzen.=^
SIMON RENARD. Er wird seine Bedingungen machen,
aber er wird sein Leben einsetzen.
DIE KÖNIGIN. W^as will er? Wißt Ihr es?
SIMON REN ARD. Das, was Ihr selbst wollt, sich rächen.
DIE KÖNIGIN. Laßt ihn herein und bleibt in der Nähe,
so weit Ihr meine Stimme hören könnt. — Herr Vogt!
SIMON RENARD (kommt zuriick). Madame!
DIE KÖNIGIN. Sagt dem Mylord Chandos, er möge
sich im anstoßenden Zimmer mit sechs meiner Leute be-
reit halten, herein zu treten. Und das Weib auch, daß sie
gleich herein kann.— Geht!
[Simon Renard geht ab.)
DIE KÖNIGIN {allein). Oh! das wird schrecklich werden!
(Eine der Seite?itüren öffnet sich. Sitnon Renard und Gilbert
treten herein?)
472 ÜBERSETZUNGEN
DRITTE SZENE
Die Königin. Gilbert. Simon Renard.
GILBERT. Vor wem bin ich?
SIMON RENARD. Vor der Königin.
GILBERT. Der Königin!
DIE KÖNIGIN. Ja, der Königin. Ich bin die Königin.
Wir haben nicht Zeit, uns zu verwundern. Ihr, Herr, seid
Gilbert, ein x\rbeiter. Ihr wohnt irgendwo da herum am
Ufer des Flusses, mit einer gewissen Jane, mit der Ihr
verlobt seid, und die Euch betrügt und zum Liebhaber
einen gewissen Fabiano hat, der mich betrügt, mich. Ihr
wollt Euch rächen, und ich mich. Dazu muß ich über
Euer Leben nach Belieben verfügen können. Ihr müßt
sagen, was ich Euch zu sagen befehle, was es auch sei.
Es darf für Euch weder Wahrheit noch Lüge, weder Gut
noch Bös, weder Recht noch Unrecht mehr geben, nichts
als meine Rache und mein Wille. Ihr müßt mich machen
und mit Euch machen lassen, was ich will. Willigt Ihr
ein?
GILBERT. Madame
DIE KÖNIGIN. Rache, du sollst sie haben. Aber ich
sage dir zum voraus, du mußt sterben. Das ist alles.
Mache deine Bedingungen. Hast du eine alte Mutter:
soll ich ihren Tisch mit Goldstücken bedecken.^ Sprich,
ich tue es. Verkaufe mir dein Leben so teuer, als du
willst.
GILBERT. Ich bin nicht mehr zum Sterben entschlossen,
Madame.
KÖNIGIN. Wie!
GILBERT. Seht! Majestät, ich habe die ganze Nacht
darüber nachgedacht; es ist mir in dieser Sache noch gar
nichts erwiesen. Ich habe einen Mann gesehen, der sich
rühmte, der Gehebte von Jane zu sein. Wer beweist mir,
daß er nicht gelogen hat? Ich sah einen Schlüssel. Wer
beweist mir, daß er nicht gestohlen war? Ich sah einen
Brief. Wer beweist mir, daß man sie nicht mit Gewalt
ihn hat schreiben machen? Übrigens weiß ich nicht ein-
mal mehr, ob es ihre Hand war. Es war finster. Ich war
verwirrt. Ich sah nichts. Ich kann ein Leben nicht weg-
MARIA TUDOR. ZWEITE HANDLUNG 473
werfen, das so gut wie ihr ist. Ich glaube nichts, ich weiß
nichts gewiß, ich habe Jane nicht gesehen.
KÖNIGIN. Man sieht wohl, daß du liebst! Du bist wie
ich, du trotzest allen Beweisen. Und wenn du nun diese
Jane siehst, wenn du sie ihr Verbrechen gestehen hörst,
wirst du dann tun, was ich will.-
GILBERT. Ja, doch eine Bedingung.
KÖNIGIN. Du wirst sie mir später sagen. (Zu Sif?ion
Renard:) Sogleich das Weib hierher. {Simon Renard geht.
Die h'öftigin stellt Gilbert hinter eine7i Vorhangs der den
Hintergrund des Zimmers zum Teil verdeckt:) Stelle dich
dahin. (Jane tritt bleich und zitternd herein.)
VIERTE SZENE
Die Königin. Jane. Gilbert [hinter dem Vorhang).
KÖNIGIN. Näher, junges Mädchen! Du weißt, wer wir
sindr
JANE. Ja, Madame.
KÖNIGIN. Du weißt, wer der Mann ist, welcher dich
verführt hat:
JANE. Ja, Madame.
KÖNIGIN. Er hat dich betrogen! Er hat sich für einen
Edelmann, namens Amyas Pawlet, ausgegeben?
JANE. Ja, Madame.
KÖNIGIN. Du weißt jetzt, daß er Fabiano Fabiani, Graf
von Clanbrassil, ist?
JANE. Ja, Madame.
KÖNIGIN. Diese Nacht, als man dich in deinem Hause
ergriff, hattest du ihm eine Zusammenkunft versprochen,
du erwartetest ihn:
JANE {che Häiidc ringend). Mein Gott, Madame!
KÖNIGIN. Antworte.
JANE (init schwacher Stimme). Ja.
KÖNIGIN. Du weißt, daß ihr nichts mehr zu hoffen habt,
weder du noch er.^
JANE. Als den Tod! Das ist eine Hoffnung.
KÖNIGIN. Erzähle mir die ganze Geschichte. Wo hast
du diesen Mann zum ersten Male gesprochen.^
474 ÜBERSETZUNGEN
JANE. Das erste Mal, daß ich ihn sah, es war . . . aber
wozu das alles? Ein elendes Mädchen aus dem Volke,
arm und eitel, töricht und gefallsüchtig, vernarrt in Putz
und ein schönes Äußere, das sich durch den Glanz eines
großen Herrn blenden läßt: das ist alles. Ich bin verführt,
ich bin entehrt, ich bin verloren. Ich habe nichts mehr
zu sagen. Mein Gott, Madame, seht Ihr denn nicht, daß
jedes Wort, das ich spreche, mich sterben macht.
KÖNIGIN. Es ist gut.
JANE. O, Euer Zorn ist schrecklich, ich weiß es, Madame.
Mein Haupt beugt sich zum voraus unter der Strafe, die
Ihr mir bereitet.
KÖNIGIN. Ich eine Strafe für dich! Was kümmere ich
mich denn um dich, Närrin! Wer bist du, elendes Ge-
schöpf, daß die Königin sich mit dir beschäftigen sollte?
Nein, Fabiano, das ist meine Rache. Was dich betrifft,
Weib, so übernimmt es ein anderer als ich, dich zu be-
strafen.
JANE. Gut denn, Madame, übertragt es, wem Ihr wollt,
straft mich, wie Ihr wollt, ich werde alles dulden, ohne
zu klagen, ich werde Euch selbst danken, nur erbarmt
Euch meiner Bitte. Es gibt einen Mann, der mich als Waise
in der Wiege erhielt, der mich aufnahm, der mich erzog,
mich nährte, mich liebte und mich noch liebt; einen Mann,
dessen ich sehr unwürdig bin, gegen den ich mich schwer
vergangen habe und dessen Bild dennoch angebetet, gött-
lich und heilig wie das Gottes in der Tiefe meines Her-
zens ruht; einen Mann, der ohne Zweifel in der Stunde, wo
ich mit Euch rede, sein Haus leer, verlassen und wüst
findet und nichts davon begreift und sich die Haare aus
Verzweiflung ausreißt. Und so bitte ich denn Eure Maje-
stät, möge er nie etwas davon begreifen; möge ich ver-
schwinden, ohne daß er je weiß, was aus mir geworden
ist, weder was ich getan habe, noch was Ihr mit mir ge-
macht habt. Ach mein Gott! ich weiß nicht, ob ich mich
deutlich mache; aber Ihr müßt fühlen, daß ich einen Freund
habe, einen edlen und großmütigen Freund, — armer Gil-
bert! o ja, es ist wohl wahr — der mich achtet, mich für
rein hält, und von dem ich nicht gehaßt und verachtet
MARIA TUDOR. ZWEITE HANDLUNG 475
sein will. — Ihr versteht mich, Madame. Seht, die Achtung
dieses Mannes ist für mich weit mehr als das Leben! Und
dann, das würde ihm schrecklichen Kummer machen! Ein
solcher Schlag! Er würde es anfangs nicht glauben! Nein,
er würde es nicht glauben! Mein Gott! armer Gilbert! O
Madame! habt Mitleid mit ihm und mir. Er hat Euch
nichts getan. Daß er nichts davon erfährt, im Namen des
Himmels! im Namen des Himmels! Daß er nicht erfährt,
daß ich schuldig bin; er würde sich töten. Daß er nicht
erfährt, daß ich tot bin; er würde sterben.
KÖNIGIN. Der Mann, von dem Ihr sprecht, ist hier; er
hört Euch, er richtet Euch und wird Euch strafen. {Gilbert
zei^t sich.)
JANE. Himmel! Gilbert!
GILBERT {zur Königin). Mein Leben gehört Euch, Ma-
dame.
KÖNIGIN. Gut. Habt Ihr einige Bedingungen zu machen?
GILBERT. Ja, Madame.
KÖNIGIN. Welche.^ Wir geben Euch unser königliches
Wort, daß wir sie zum voraus genehmj'gen.
GILBERT. Seht, Madame.— Es ist sehr einfach. Es ist
eine Schuld der Dankbarkeit, deren ich mich gegen einen
Herrn Eures Hofes erledige, welcher mir viel Arbeit ver-
schafift hat.
KÖNIGIN. Sprecht.
GILBERT. Dieser Herr hat ein geheimes Verhältnis mit
einem Weibe, das er nicht heiraten kann, weil es aus
einem geächteten Hause stammt. Dieses Weib, das bis
jetzt verborgen gelebt hat, ist die einzige Tochter und
Erbin des letzten Lord Talbot, der unter Heinrich dem
Achten enthauptet wurde.
KÖNIGIN. Was! Bist du dessen gewiß, was du da sagst?
Johann Talbot, der gute katholische Lord, der loyale
Verteidiger meiner Mutter von Aragonien, er hat eine
Tochter hinterlassen, sagst du? Bei meiner Krone, wenn
das wahr ist, so ist das Kind mein Kind; und was Johann
Talbot für die Mutter der Marie von England getan hat,
wird Marie von England für die Tochter von Johann
Talbot tun.
476 ÜBERSETZUNGEN
GILBERT. Dann wird es ohne Zweifel Eure Majestät
glücklich machen, der Tochter des Lord Talbot die Güter
ihres Vaters zurückzugeben: . . .
KÖNIGIN. Ja gewiß, und sie Fabiano wieder zu nehmen!
Aber hat man Beweise für das Dasein dieser Erbin:
GILBERT. Man hat sie.
KÖNIGIN. Übrigens, wenn wir keine Beweise haben, so
machen wir welche. Wir sind nicht umsonst Königin.
GILBERT. Eure Majestät wird der Tochter des Lord
Talbot die Güter, die Titel, den Rang, den Namen, das
Wappen und den Wahlspruch ihres Vaters zurückgeben.
Eure Majestät wird sie von jeder Ächtung freisprechen
und ihr das Leben zusichern. Eure Majestät wird sie mit
diesem Herrn vermählen, welcher der einzige Mann ist,
den sie heiraten kann. Unter diesen Bedingungen, Ma-
dame, könnt Ihr über mich verfügen, über meine Freiheit,
mein Leben und meinen Willen, wie Euch beliebt.
KÖNIGIN. Gut. Ich werde tun, was Ihr gesagt habt.
GILBERT. Eure Majestät wird tun, was ich gesagt habe.
Die Königin von England schwört es mir, Gilbert, dem
Arbeiter, auf ihre Krone hier und auf das offene Evan-
gelienbuch da.
KÖNIGIN. Ich schwöre es dir auf die königliche Krone
hier und auf das heilige Evangelium da.
GILBERT. Der Vertrag ist geschlossen, Madame. Laßt
ein Grab für mich und ein Hochzeitbett für die Gatten
bereiten. Der Herr, von dem ich sprach, ist Fabiani, Graf
von Clanbrassil. Die Erbin Talbots, — hier ist sie.
JANE. Was sagt er:
KÖNIGIN. Habe ich mit einem Wahnsinnigen zu tun.^
Was bedeutet das? Meister, gebt acht, Ihr seid sehr toll-
kühn, die Königin von England zu necken! — Die könig-
lichen Zimmer sind Orte, wo man die Worte wägen muß,
die man spricht; es gibt Fälle, wo der Mund den Kopf
fallen macht!
GILBERT. Meinen Kopf, Ihr habt ihn, Madame. Ich, ich
habe Euern Eid.
KÖNIGIN. Ihr sprecht nicht im Ernst. Dieser Fabiani!
Diese Jane! . . .—Geht doch!
MARIA TUDOR. ZWEITE HANDLUNG 477
GILBERT. Diese Jane ist die Tochter und Erbin des Lord
Talbot.
KÖNIGIN. Bah! Gesichter! Fixe Ideen! Narrheit! Die
Beweise, habt Ihr sie:
GILBERT. Vollständig. {Erzieht ein Paket aus dem Busen:)
Lest diese Papiere.
KÖNIGIN. Habe ich Zeit, Eure Papiere zu lesen: Habe
ich Eure Papiere verlangt: Was geht mich das an.- Eure
Papiere, bei meiner Seele, ich werfe sie ins Feuer, wenn
sie etwas beweisen, so daß nichts übrig bleibt.
GILBERT. Als Euer Eid, Madame.
KÖNIGIN. Mein Eid! Mein Eid!
GILBERT. Auf die Krone und auf das Evangelium,
Madame! Das heißt auf Euer Haupt und auf Eure Seele,
auf Euer Leben in dieser und auf Euer Leben in der an-
deren Welt.
KÖNIGIN. Aber was willst du denn: Bei meinem Eide,
du bist wahnwitzig!
GILBERT. Was ich will: Jane hat ihren Rang verloren;
gebt ihr ihn wieder! Jane hat ihre Ehre verloren; gebt ihr
sie wieder! Erklärt sie für die Tochter des Lord Talbot
und die Gemahlin des Lord Clanbrassil,— und dann nehmt
mein Leben!
KÖNIGIN. Dein Leben! Was soll ich dann mit deinem
Leben anfangen: Ich wollte es nur, um mich an diesem
Menschen, an Fabiano, zu rächen! Du begreifst also nichts:
Ich begreife dich ebensowenig. So also rächst du dich:
O, diese Leute aus dem Volke sind dumm! Und dann,
glaube ich denn an deine lächerliche Geschichte mit deiner
Erbin Talbots: Die Papiere: Du zeigst mir die Papiere!
Ich will sie nicht ansehen. Ha! ein Weib verrät dich, und
du spielst den Großmütigen! Wie du willst. Ich bin nicht
großmütig, ich! Ich habe Wut und Haß im Herzen. Ich
werde mich rächen, und du wirst mir helfen. Aber dieser
Mensch ist ein Narr! "Ein Narr! Ein Narr!" Mein Gott!
Warum habe ich ihn nötig: Es ist zum Verzweifeln, wenn
man mit solchen Leuten bei ernsthaften Dingen zu tun hat!
GILBERT. Ich habe Euer Wort als katholische Königin.
Lord Clanbrassil hat Jane verführt, er soll sie heiraten.
478 ÜBERSETZUNGEN
KÖNIGIN. Und wenn er sich weigert?
GILBERT. So werdet Ihr ihn zwingen.
JANE. O nein! Habt Erbarmen, Gilbert!
GILBERT. Nun denn! Wenn er sich weigert, der Schurke,
so mag Eure Majestät mit mir imd ihm machen, was be-
liebt.
KÖNIGIN (freudig). Ha! das ist alles, was ich will!
GILBERT. Wenn das geschieht, so werde ich alles tun,
was die Königin mir aufträgt, im Falle die Krone der
Gräfin von Waterford feierlich auf das heilige und unver-
letzliche Haupt der Jane Talbot hier gesetzt wird.
KÖNIGIN. Alles?
GILBERT. Alles.
KÖNIGIN. Du wirst sagen, was du sagen sollst? Du wirst
des Todes sterben, den man will?
GILBERT. Des Todes, den man will.
JANE. O Gott!
KÖNIGIN. Du schwörst es?
GILBERT. Ich schwöre es.
KÖNIGIN. Die Sache kann so gehen. Das genügt. Ich
habe dein Wort, du hast das meinige. So sei es. {Sie
scheint einen Aiige?iblick nachzudenken, zu Jane:) Ihr seid
hier überflüssig, geht. Man wird Euch wieder rufen.
JANE. O Gilbert, was habt Ihr getan? O Gilbert! ich bin
eine Elende, ich wage die Augen nicht vor Euch aufzu-
schlagen! O Gilbert! Ihr seid mehr als ein Engel; denn
Ihr habt zugleich die Tugenden eines Engels und die Lei-
denschaften eines Menschen. {Sie geht)
FÜNFTE SZENE
Die Königifi, Gilbert; dan?t Simon Renard, Lord Chandos
und die Wachen.
KÖNIGIN {zu Gilbert). Hast du eine Waffe bei dir? Ein
Messer? Einen Dolch? Sonst etwas?
GILBERT {zieht aus seinem Busen den Dolch des Lord
Clanbrassil). Einen Dolch? Ja, Madame.
KÖNIGIN. Gut. Nimm ihn in die Hand. {Sie faßt ihn
lebhaft beim Arm:) Herr von Amont! Lord Chandos!
MARIA TUDOR. ZWEITE HANDLUNG 479
[Simon Renard ^ Lord Chandos u?id die Wachen treten eini)
Versichert Euch dieses Menschen! Er hat den Dolch auf
mich gezückt. Ich faßte ihn beim Arm im AugenbHck, wo
er mich durchbohren wollte. Er ist ein Mörder.
GILBERT. Madame!
KÖNIGIN {leise zu Gilbert). Vergißt du schon jetzt unsere
Bedingungen? Läßt du dich so gehen? [Laut:) Ihr alle seid
Zeugen, daß er den Dolch noch in der Hand hatte! Herr
Vogt, wie heißt der Henker des Londoner Turmes?
SIMON RENARD. Er ist ein Irländer, namens Mac-
Dermoti.
KÖNIGIN. Man lasse ihn kommen, ich habe mit ihm zu
sprechen.
SIMON RENARD. Ihr selbst?
KÖNIGIN. Ich selbst.
SIMON RENARD. Die Königin wird mit dem Henker
sprechen!
KÖNIGIN. Ja, die Königin wird mit dem Henker, der
Kopf wird mit der Hand sprechen. — Geht doch! {Einer
von der Wache geht ab.) Mylord Chandos und ihr, meine
Herrn, steht mir für diesen Mann. Nehmt ihn in eure
Mitte, da hinter euch. Es werden hier Dinge vorgehen,
die er sehen muß. — Herr Leutnant von Amont, ist Lord
Clanbrassil in dem Palast?
SIMON RENARD. Er ist da, in dem gemalten Zimmer,
und wartet, bis es der Königin beliebt, ihn zu sehen.
KÖNIGIN. Er ahnt nichts?
SIMON RENARD. Nichts.
KÖNIGIN {zu Lord Chandos), Er mag hereinkommen.
SIMON RENARD. Der ganze Hof wartet ebenfalls. Soll
niemand vor Lord Clanbrassil hereinkommen?
KÖNIGIN. Wer von unsern Herrn haßt Fabiani?
SIMON RENARD. Sie hassen ihn alle.
KÖNIGIN. Wer haßt ihn am meisten?
SIMON REN ARD. Clinton, Montagu, Somerset, der Grat
von Derby, Gerard, Fitz- Gerald, Lord Paget und der
Lord-Kanzler.
KÖNIGIN {zu Lord Chandos). Führt sie alle herein, den
Lord-Kanzler ausgenommen. Geht. {Chandos geht. Zu
48o ÜBERSETZUNGEN
Simon Renardi) Der würdige Bischof liebt den Fabiani so
wenig als die andern; aber der Mann ist etwas genau.
(Sie bemerkt die Papiere^ welche Gilbert auf den Tisch ge-
legt hat:) Ach! ich muß doch einen Blick in diese Papiere
werfen! (^Während sie dieselben untersucht^ öffnet sich die
Türe im Hintergrund. Die von der Königin bezeichneten
Herrn treten unter tiefen Verbeugungen herein?)
SECHSTE SZENE
Die nämlichen^ Lord Cli?iton tmd die übrigen Herrn.
KÖNIGIN. Guten Tag, meine Herrn. Gott behüte euch,
Mylords. {Zu Lord Mo7itagu:) Anthony Browe, ich ver-
gesse nie, daß Ihr dem Johann von Montmorency und
dem Herrn von Toulouse bei meinen Unterhandlungen
mit dem Kaiser, meinem Oheim, würdig standgehalten
habt.— -Lord Paget, Ihr werdet heute Eure Titel als Baron
Paget von Beaudesert in Stafford erhalten. — Seht doch!
da ist ja unser alter Freund Lord CHnton! Wir sind immer
Eure gute Freundin, Mylord. Ihr habt Thomas Wyatt in
der Ebene von St. James vernichtet. Gedenken wir alle
daran. An diesem Tage wurde die Krone von England
durch eine Brücke gerettet, die meinen Truppen mögHch
machte, bis zu den Rebellen zu dringen, und durch eine
Mauer, welche die Rebellen verhinderte, bis zu mir zu
dringen. Diese Brücke war die Brücke von London. Die
Mauer war Lord Clinton.
LORD CLINTON {leise zu Simon Renard). Es sind jetzt
sechs Monate, seit die Königin nicht mehr mit mir ge-
sprochen hat. Wie gut sie heute ist!
SIMON RENARD {leise zu Lord Clinton). Geduld, Mylord.
Ihr werdet sie gleich noch besser finden.
KÖNIGIN {zu Lord Chandos). Mylord Clanbrassil kann
hereinkommen. {Zti Simon Renard:) Wenn er einige Augen-
blicke hier ist . . . {Sie spricht ihm leise ins Ohr und deutet
auf die Türc^ durch welche Jane hinausgegangen ist.)
SIMON RENARD. Genug, Madame. {Fabiani tritt her-
ein.)
*
MARIA TUDOR. ZWEITE HANDLUNG 481
SIEBENTE SZENE
Die nämlicheti. Fabiani.
KÖNIGIN. Ah! da ist er! . . . [Sic spricht wieder leise 7nit
Sii?i07i Renard.)
FABIANI (beiseite^ indein er von allen gegrüßt wird und
uni sich blickt). Was soll das heißen: Niemand hier diesen
Morgen als meine Feinde. Die Königin spricht leise mit
Simon Renard. Teufel! sie lacht! böses Zeichen!
KÖNIGIN {mit Grazie zu Fabia?ii). Gott behüte Euch,
Mylord!
FABIANI {ergreift ihre Ha?id und küßt sie). Madame . . .
(beiseite:) Sie hat gelächelt. Die Gefahr droht nicht mir.
KÖNIGIN (immer mit Grazie). Ich habe mit Euch zu
sprechen. (Sie geht 7?iit ihm auf den Vordergrund der
Bühfie. )
FABIANI. Und ich habe auch mit Euch zu sprechen,
Madame. Ich habe Euch Vorwürfe zu machen. Mich auf
so lange Zeit zu entfernen, zu verbannen! Ach! es wäre
nicht so, wenn Ihr in der Stunde der Trennung so an mich
dächtet, wie ich an Euch denke.
KÖNIGIN. Ihr seid ungerecht; seit Ihr mich verlassen
habt, beschäftige ich mich nur mit Euch.
FABIANI. Ist das auch wahr: Wäre ich so glücklich? Sagt
mir es noch einmal.
KÖNIGIN (immer lächelnd). Ich schwöre es Euch.
FABIANI. Ihr liebt mich also, wie ich Euch liebe?
KÖNIGIN. Ja, Mylord.— Gewiß, ich dachte nur an Euch,
und das so, daß ich auf eine angenehme Überraschung für
Euch sann, wenn Ihr wiederkämet.
FABIANI. Wie! Welche Überraschung?
KÖNIGIN. Eine Zusammenkunft, die Euch Freude machen
wird.
FABIANI. Zusammenkunft, mit wem?
KÖNIGIN. Ratet.— Ihr ratet es nicht?
FABIANI. Nein, Madame.
KÖNIGIN. Kehrt Euch um. (Indem er sich umkehrt, er-
blickt er Jane auf der Schwelle der kleinen Türe, die halb
offen ist.)
FABIANI (beiseite). Jane!
BÜCHNER 3r.
482 ÜBERSETZUNGEN
JANE {beiseite). Er ist's!
KÖNIGIN (immer lächelnd). Mylord, kennt Ihr dies junge
Mädchen?
FABIAN!. Nein, Madame!
KÖNIGIN. Junges Mädchen, kennt Ihr Mylord?
JANE. Die Wahrheit über das Leben. Ja, Madame.
KÖNIGIN. Mylord, Ihr kennt also dieses Weib nicht?
FABIANI. Madame! man will mich verderben. Ich bin
von Feinden umgeben. Dieses Weib ist ohne Zweifel mit
ihnen im Bunde. Ich kenne sie nicht, Madame! Ich weiß
nicht, wer sie ist, Madame!
KÖNIGIN {ej'hebt sich und schlägt ihm mit ihrem Hand-
schuh ins Gesicht). Ah! du bist eine Memme! — Ah! du
verrätst die eine und verleugnest die andere! Ha! du
weißt nicht, wer sie ist. Soll ich dir es sagen? Dieses
Weib ist Jane Talbot, Tochter des Johann Talbot, des
guten katholischen Herrn, der auf dem Schafott für meine
Mutter starb. Dieses Weib ist Jane Talbot, meine Base;
Jane Talbot, Gräfin von Shrewsbury, Gräfin von Wexford,
Gräfin von Waterford, Pairesse von England. Das ist dies
Weib! — Lord Paget, Ihr seid Siegelbewahrer, Ihr werdet
Euch nach meinem Worte richten. Die Königin von Eng-
land erkennt feierlich das junge Mädchen hier als Jane,
Tochter und einzige Erbin des letzten Grafen von Water-
ford an. (Auf die Papiere zeigend:) Da sind die Papiere
und Beweise, Ihr werdet sie mit dem großen Siegel ver-
siegeln. Das ist unser Wille. (Zu Fabiani:) Ja, Gräfin von
Waterford! und das ist erwiesen! und du wirst die Güter
herausgeben, Schurke!— Ha! du kennst dies Weib nicht!
Ha! du weißt nicht, wer dies Weib ist. Nun, ich will dir
es sagen, ich! Sie ist Jane Talbot! und soll ich dir noch
mehr sagen? (Sie sieht ih?i an, leise, zwischen den Zähnen:)
Schurke! sie ist deine Geliebte!
FABIANI. Madame . . .
KÖNIGIN. Das ist sie, jetzt will ich dir sagen, was du
bist. — Du bist ein Mensch ohne Seele, ein Mensch ohne
Herz, ein Mensch ohne Geist! Du bist ein Schurke und
eine Memme! Du bist . . . Bei Gott, meine Herrn, Ihr
habt nicht nötig, Euch zu entfernen. Es ist mir sehr gleich-
MARIA TUDOR. ZWEITE HANDLUNG 483
gültig, ob Ihr hört, was ich diesem Menschen zu sagen
habe! Ich dämpfe meine Stimme nicht, wie mir deucht.
— Fabiano! du bist ein Schurke, ein Verräter an mir, eine
Memme gegen sie, ein heuchlerischer Knecht, der er-
bärmlichste und letzte unter den Menschen! Und doch
ist es wahr, daß ich dich zum Grafen von Clanbrassil, zum
Baron von Dynasmonddy und dann noch: zum Baron von
Darmouth in Devonshire gemacht habe. Nun, ich war
nicht bei Sinnen! Ich bitte euch um Verzeihung, Mylords,
daß ich euch den Ellenbogenstößen dieses Menschen aus-
setzte. Du Ritter! du Edelmann! du Herr! messe dich doch
mit denen, die da stehen. Elender! Sieh doch um dich.
Das sind Edelleute, da ist Bridges, Baron Chandos. Da
Seymour, Herzog von Somerset. Da die Stanleys, die
Grafen von Derby sind seit dem Jahre 1485! Hier die
Clinton, die Barone von Clinton sind seit dem Jahre 1298!
Bildest du dir ein, du gleichest diesen Leuten, du! Du
sagst, du seist mit dem spanischen Hause von Penalver
verwandt; aber es ist nicht wahr, du bist ein elender
Italiener, nichts! weniger als nichts! Sohn eines Schusters
vomDorfeLarino! — ^Ja, meine Herrn, Sohn eines Schusters!
Ich wußte es, und ich sagte es nicht, und verbarg es; ich
tat, als glaubte ich diesem Menschen, wenn er von seinem
Adel sprach. Denn so sind wir einmal, wir Weiber. O
mein Goti! ich wollte, es wären Weiber hier, es wäre eine
Lehre für alle, dieser Schurke! dieser Schurke! er betrügt
ein Weib und verleugnet das andere! der Elende! Gewiß,
du bist sehr erbärmlich! Wie! seit ich spreche, liegt er
noch nicht auf den Knien! Auf die Knie, Fabiani! Mylords,
bringt diesen Menschen mit Gewalt auf die Knie!
FABIANI. Eure Majestät! . . .
KÖNIGIN. Dieser Elende, den ich mit Wohltaten über-
häuft, dieser neapolitanische Lagnai, den ich zum goldnen
Ritter und freien Grafen von England gemacht habe! Ha,
ich hätte mich darauf gefaßt machen sollen! Man hatte
mir wohl gesagt, daß es so ausgehen würde. Aber ich bin
immer so, ich bin eigensinnig, und sehe dann, daß ich unrecht
hatte. Es ist meine Schuld. Italiener, das heißt Schurke!
Neapolitaner, das heißt Menmie. Jedesmal hat es meinen
484 ÜBERSETZUNGEN
Vater gereut, wenn er sich eines Italieners bediente. Dieser
Fabiani! Du siehst, Lady Jane, welchem Menschen du
dich überlassen hast, unglückliches Kind! — Ich werde dich
rächen! — Oh! ich hätte es zum voraus wissen sollen, man
kann in der Tasche eines Italieners nichts finden als einen
Dolch, und in der Seele eines Italieners nichts als Verrat.
FABIANI. Madame, ich schwöre Euch . . .
KÖNIGIN. Er wird gleich einen Meineid schwören! Er
wird niederträchtig bis ans Ende sein; er wird uns ganz
erröten machen vor diesen Männern, uns schwache Weiber,
die wir ihn geliebt haben! Er wird nicht einmal das Haupt
erheben!
FABIANI. Doch, Madame, ich werde es erheben. Ich bin
verloren, ich sehe es wohl. Mein Tod ist beschlossen.
Ihr werdet alle Mittel anwenden, den Dolch, das Gift ....
KÖNIGIN [faßt ihn hei dm Händeji und zieht ihn lebhaft
auf den Vordergrund der Bühne\ Das Gift, den Dolch!
Was sagst du da, Italiener? Die verräterische Rache, die
schmähliche Rache, die Rache von hinten, die Rache,
wie in deinem Lande! Nein, Signor Fabiano, weder Dolch
noch Gift. Habe ich nötg, mich zu verbergen, mich in
die Gassenecken des Nachts zu drücken und mich klein
zu machen, wenn ich mich räche? Nein, wahrhaftig, ich
will den hellen Tag, verstehst du, Mylord? den hellen
Tag, die Sonne, den freien Platz, das Beil, den Block,
das Volk in den Gassen, das Volk an den Fenstern, das
Volk auf den Dächern, hunderttausend Zeugen! Ich will,
daß man Furcht habe, hörst du, Mylord? daß man das
prächtig, furchtbar und großartig finde und daß man sage:
ein Weib ist beleidigt worden, aber eine Königin rächt
sich! Dieser so beneidete Günstling, dieser schöne, stolze
junge Mann, den ich mit Seide und Sammet bedeckte, ich
will ihn gebrochen, wirr und zitternd auf den Knien, auf
einem schwarzen Tuche sehen, die Füße nackt, die Hände
gebunden, unter dem Hohn des Volkes, unter den Fäusten
des Henkers. Um diesen weißen Hals, um den ich eine
goldne Kette hing, will ich einen Strick legen. Ich sah,
wie dieser Fabiano sich auf einem Thron ausnahm; ich
will sehen, wie er sich auf dem Schafott ausnimmt!
MARIA TUD(3R. ZWEITE HANDLUNG 485
1- ABIANI. Madame
KÖNIGIN. Kein Wort mehr! Ha, kein Wort mehr! Du
bist wahrhaftig verloren, siehst du, du wirst das Schafott
besteigen, wie Suffolk und Xorthumberland. Das ist ein
Fest, so gut wie ein anderes, welches ich meiner guten
Stadt London gebe. Du weißt, wie sie dich haßt, meine
gute Stadt. Bei Gott! es ist eine schöne Sache, wenn man
sich rächen muß, Marie, Dame und Königin von England,
Tochter Heinrich des Achten und Herrin von vier Meeren
zu sein. Und wann du auf dem Schafott stehst, Fabiani,
kannst du nach deinem Belieben eine lange Rede an das
Volk halten, wie Northumberland, oder ein langes Gebet
zu Gott schicken, wie Sufiblk, um die Gnade nicht zu spät
kommen zu lassen. Der Himmel ist mein Zeuge, daß
du ein Verräter bist und daß die Gnade nicht kommen
wird. Dieser elende Schurke, der mir von Liebe sprach
und diesen Morgen Du! zu mir sagte! Mein Gott, meine
Herren! Ihr scheint zu staunen, daß ich so vor Euch
spreche; aber ich wiederhole es, was liegt mir daran.- (Zu
Lord Somerseti) Mylord Herzog, Ihr seid der Befehlshaber
des Turms, nehmt diesem Menschen seinen Degen ab.
FABIANI. Hier ist er; aber ich protestiere. Gesetzt auch,
es sei bewiesen, daß ich ein Weib hintergangen oder ver-
führt habe . . .
DIE KÖNIGIN. O, was liegt mir daran, ob du ein Weib
verführt hast! — Kümmere ich mich denn darum? Diese
Herren sind Zeugen, daß mir dies sehr gleichgültig ist.
FABIANI. Ein Weib verführen ist keine Todsünde. Eure
Majestät hat Trogmorton auf eine solche Anklage hin nicht
können verurteilen lassen.
DIE KÖNIGIN. Er trotzt uns noch, glaube ich, der Wurm
wird zur Schlange. Und wer sagt dir denn, daß man dich
deswegen anklagt:
FABIANI. Wegen was klagt man mich denn an? Ich bin
kein Engländer, ich bin kein Untertan Eurer Majestät.
Ich bin Untertan des Königs von Neapel und Vasall des
Heihgen Vaters. Ich werde seinen Legaten, den Kardinal
Polus, auffordern, mich zurück zu verlangen. Ich bin ein
Fremder. Ich kann einer Untersuchung nur dann unter-
486 ÜBERSETZUNGEN
worfen werden, wenn ich ein Verbrechen begangen habe,
ein wahres Verbrechen. — Worin besteht mein Verbrechen?
DIE KÖNIGIN. Du fragst, worin dein Verbrechen besteht?
FABIANI. Ja, Madame.
DIE KÖNIGIN. Mylords, Ihr hört alle die Frage, die an
mich gerichtet wird; Ihr sollt die Antwort hören. Gebt
acht und hütet Euch alle, so viel Ihr seid; denn Ihr sollt
sehen, daß ich nur mit dem Fuße zu stampfen brauche, um
aus dem Boden ein Schafott steigen zu lassen. — Chandos!
Chandos! öfifnet diese Flügeltüre. Der ganze Hof! Alle!
Laßt alle herein!
{Die Türe im Hintergrund wird geöffnet^ der ganze Hof
tritt herein^
ACHTE SZENE
Die nämlichen. Der Lord- Kanzler. Der ganze Hof.
DIE KÖNIGIN. Herein, herein, Mylords! Ich bin wahr-
haftig erfreut, euch alle heute bei mir zu sehen. — Gut, gut!
die Männer der Gerechtigkeit, hierher! näher!— Wo sind
dieGerichtsdienerderLordkammer,HarriotundClanerillo?
Ah, hier! MeineHerrn, seid willkommen! Zieht eure Degen,
stellt euch zur Rechten und Linken dieses Menschen, er
ist euer Gefangener.
FABIANI. Madame, worin besteht mein Verbrechen?
DIE KÖNIGIN. Mylord Gardiner, mein gelehrter Freund,
Ihr seid Kanzler von England, wir lassen Euch wissen,
daß Ihr schnell die zwölf Lords der Sternkammer zu ver-
sammeln habt. Wir bedauern, sie nicht hier zu sehen.
Es geschehen seltsame Dinge in diesem Palast. Hört,
Mylords, Madame Elisabeth hat unsrer Krone schon mehr
als einen Feind erregt. Wir hatten das Komplott des
Pietro Caro, der die Bewegung von Exeter veranlaßte
und heimlich mit Madame Ehsabeth mittelst einer auf
eine Gitarre eingegrabenen Chiffre korrespondierte. Wir
hatten den Verrat des Thomas Wyatt, der die Grafschaft
Kent in Aufruhr brachte. Wir hatten den Aufstand des
Herzogs von Sufifolk, der nach der Niederlage der Sei-
nigen in einem hohlen Baume ergriffen wurde. Wir haben
[ MARIA TUDOR. ZWEITE HANDLUNG 487
'heute einen neuen Versuch. Heute, diesen Morgen, ver-
langte ein Mann Gehör bei mir. Nach einigen Worten
zückte er den Dolch auf mich. Ich fiel ihm zur rechten Zeit
in den Arm. Lord Chandos und der Herr Vogt von Amont
haben den Mann ergriffen. Er hat erklärt, er sei durch
Lord Clanbrassil zu diesem Verbrechen getrieben worden.
FABIANI, Durch mich.- Das ist nicht wahr! O, doch das
ist eine schändliche Geschichte! Dieser Mann ist nicht
vorhanden. Man wird diesen Mann nicht finden. Wer ist
er: Wo ist er?
DIE KÖNIGIN. Er ist hier.
GILBERT (tritt mitten aus den Soldatefi hervor^ hinter wel-
che7i er verborgen stand). Ich bin es!
DIE KÖNIGIN. Infolge der Erklärungen dieses Menschen
klagen wir, Marie, Königin, vor der Sternkammer diesen
Menschen, Fabiano Fabiani, Grafen von Clanbrassil, des
Hochverrats und eines königsmörderischen Versuches auf
unsere königliche und geheiligte Person an.
FABIANI. Königsmörder ich! Das ist ungeheuer! O, mir
schwindelt! meine Augen flimmern! Was ist das für eine
Falle: Wer du auch seist, Elender, wagst du zu behaupten,
daß das, was die Königin gesagt hat, wahr sei,^
GILBERT. Ja.
FABIANI. Ich habe dich zum Königsmord getrieben, ich?
GILBERT. Ja.
FABIANI. Ja! immer ja! Verdammnis! Ihr könnt nicht
wissen, meine Herren, wie falsch das ist. Dieser Mensch
kommt aus der Hölle. Unglücklicher! du willst mich ver-
nichten, aber du weißt nicht, daß du dich zugleich ver-
nichtest. Das Verbrechen, was du auf mich häufst, fällt
auch auf dich. Du tötest mich, aber du stirbst. Mit einem
Wort, Unsinniger, machst du zwei Köpfe fallen, meinen
und deinen. Weißt du das?
GILBERT. Ich weiß es.
FABIANI. Mylords, dieser Mensch ist bezahlt.
GILBERT. Durch Euch! Hier ist die mit Gold gefüllte
Börse, die Ihr mir für das Verbrechen gegeben. Euer
Wappen ist darauf gestickt.
FABIANI. Gerechter Himmel!— Aber man zeigt den Dolch
488 ÜBERSETZUNGEN
nicht vor, womit dieser Mensch, wie man sagt, die Kö-
nigin töten wollte. Wo ist der Dolch:
LORD CHANDOS. Hier.
GILBERT {zu Fahiani). Es ist der Eurige. — Ihr habt mir
ihn dazu gegeben. Man wird die Scheide bei Euch finden.
LORD-KANZLER. Graf von Clanbrassil, was habt Ihr
zu antworten: Erkennt Ihr diesen Menschen?
FABIANI. Nein.
GILBERT. In der Tat, er hat mich nur des Nachts ge-
sehen.—Laßt mich ihm ein paar Worte ins Ohr sagen, das
wird seinem Gedächtnis nachhelfen. (Ernahet sich Fahiani.
Leise:) Du erkennst also heute niemand, Mylordr den ent-
ehrten Mann so wenig als das verführte Weib. Hai die
Königin rächt sich, aber der Mann aus dem Volke rächt
sich auch. Du lachtest mich aus, glaube ich. Die Rache
packt dich jetzt doppelt. Mylord, was sagst du dazu:—
Ich bin Gilbert, der Arbeiter.
FABIANI. Ja, ich erkenne Euch. — Ich erkenne diesen
Menschen, Mylords. Seit dem Augenblick, wo ich mit
ihm zu tun habe, weiß ich nichts mehr zu sagen.
DIE KÖNIGIN. Er bekennt.
LORD-KANZLER (zu Gilbert). Nach dem normannischen
Gesetze und dem 25. Artikel Heinrich des Achten rettet
in Fällen des Majestätsverbrechens ersten Grades das
Geständnis den Mitschuldigen nicht. Vergeßt nicht, daß
in einem solchen Falle die Königin das Begnadigungs-
recht nicht hat, und daß Ihr auf dem Schafott sterben
werdet, wie der, den Ihr anklagt. Besinnt Euch. Beharrt
Ihr auf allem, was Ihr gesagt habt?
GILBERT. Ich weiß, daß ich sterben werde, und beharre
dabei.
JANE [beiseite). O Gott! das ist entsetzlich geträumt,
wenn es ein Traum ist.
LORD-KANZLER (zu Gilbert). Wollt Ihr Eure Erklä-
rungen, die Hand auf dem Evangelium, wiederholen: (Er
hält Gilbert das Evangelieiibuch hin, luelcher die Ha7id
darauf legt?)
GILBERT. Ich schwöre, die Hand auf dem Evangelium
und meinen nahen Tod vor Augen, daß dieser Mensch
MARIA TÜDOR. ZWEITE HANDLUNG 489
ein Mörder ist; daß dieser Dolch, welcher ihm gehört, zu
dem Verbrechen gedient hat; daß diese Börse, welche sein
ist, mir von ihm für das Verbrechen gegeben wurde. So
soll mir Gott helfen! das ist die Wahrheit.
LORD-KANZLER (zi^ Fa/'iam). Mylord, was habt Ihr zu
sagen:
FABIANI. Nichts. — Ich bin verloren!
SIMON RENARD (/eise zur Königin). Eure Majestät hat
nach dem Henker geschickt; er ist da.
DIE KÖNIGIN. Gut. Laßt ihn herein.
{Die Reihen der Edelleute öffnen sich^ und der Henker tritt
ein. Er ist in Schwarz und Rot gekleidet und trägt auf der
Schulter ein langes Schwert in seiner Scheide^
NEUNTE SZENE
Die nämlichen. Der Henker.
DIE KÖNIGIN. Mylord, Herzog von Somerset, diese
beiden Männer in den Turml — Mylord Gardiner, unser
Kanzler, ihr Prozeß mag morgen vor den zwölf Pairs der
Sternkammer beginnen, und möge Gott das alte England
schützen! Wir wollen, daß diese beiden Menschen ver-
urteilt sind, ehe wir nach Oxford abreisen und nach Wind-
sor, wo wir Ostern halten werden. (Zum Henkeri) Tritt
näher! Ich bin erfreut, dich zu sehen. Du bist ein guter
Diener. Du bist alt. Du hast schon drei Herren gesehen.
Es ist Herkommen, daß die Herren dieses Reiches bei
ihrer Thronbesteigung dir ein Geschenk machen, so kost-
bar als möglich. Mein Vater, Heinrich der Achte, gab
dir die Diamantenspange seines Mantels. Mein Bruder
Eduard gab dir einen Humpen von getriebenem Golde.
Jetzt ist die Reihe an mir. Ich habe dir noch nichts ge-
geben, ich muß dir ein Geschenk machen. Komm näher.
(Indem sie auf Fabiani zeigt:) Du siehst doch diesen Kopf?
diesen jungen und reizenden Kopf? diesen Kopf, welcher
diesen Morgen noch das Schönste, Teuerste und Köst-
lichste war, was ich auf der Welt hatte. Nun? diesen Kopf
—du siehst ihn doch? sprich! Ich schenke ihn dir!
490 ÜBERSETZUNGEN
DRITTE HANDLUNG
WER VON BEIDEN
Personen
DIE KÖNIGIN JOSHUA FARNABY
GILBERT MEISTER Ä. DULVERTON
JANE LORD CLINTON
SIMON RENARD EIN KERKERMEISTER
ERSTE ABTEILUNG
Ein Saal im Tower. Ein Spitzbogengewölbe^ das von dicken
Pfeilern getragen wird. Zur Rechten und Linken die nie-
drigen Türen von zwei Kerkern. Auf der rechten Seite eine
Luke^ die auf die Themse^ zur Linken eine andere^ die auf
die Straße geht. Auf jeder Seite eine verborgene Türe in
der Mauer. L7n Hintergrunde eine Galerie mit einem Erker ^
der mit Glasscheiben geschlossen ist mid auf die äußern Höfe
des Towers geht.
ERSTE SZENE
Gilbert. Joshua.
GILBERT. Nun:
JOSHUA. Ach!
GILBERT. Keine Hoffnung?
JOSHUA. Keine Hoffnung!
GILBERT {geht an das Fenster).
JOSHUA. O, du kannst von dem Fenster aus nichts sehen.
GILBERT. Du hast dich erkundigt, nicht wahr?
JOSHUA. Ich weiß es nur zu sicher!
GILBERT. Es ist für Fabiani!
JOSHUA. Es ist für Fabiani.
GILBERT. Wie glückHch der Mensch ist! Fluch über
mich!
JOSHUA. Armer Gilbert! deine Reihe wird kommen.
Heute er, morgen du.
GILBERT. Was willst du sagen? Wir verstehen uns nicht.
Wovon sprichst du?
JOSHUA. Von dem Schafott, das man eben aufschlägt.
GILBERT. Und ich, ich spreche von Jane!
MARIA TUDOR. DRITTE HANDLUNG 491
JOSHUA. Von Jane!
GILBERT. Ja, von Jane! Nur von Jane! Was liegt mir
am übrigen: Du hast also alles vergessen? Du weißt also
nicht mehr, daß ich, seit einem Monat an die Gitter meines
Kerkers geklammert, sie bleich und in Trauer ohne Unter-
laß um den Fuß dieses Turmes wanken sehe, der zwei
Menschen einschließt, Fabiani und mich? Du weißt also
nichts von meiner Qual, meinen Zweifeln, meiner Unge-
wißheit? Für wen von beiden kommt sie? Ich frage mich
das Tag und Nacht, armer Elender! Ich frug dich selbst,
Joshua, und du versprachst mir gestern abend, du wolltest
versuchen, sie zu sehen und mit ihr zu sprechen. O, sprich!
weißt du etwas? Kommt sie für mich oder für Fabiani?
JOSHUA. Ich erfuhr, daß Fabiani bestimmt heute ent-
hauptet werden sollte, und du morgen; und ich gestehe,
daß ich seit dem Augenblicke wie verrückt bin, Gilbert.
Das Schafott hat mich Jane vergessen machen .... dein
Tod
GILBERT. Mein Tod! Was meinst du mit dem Wort?
Mein Tod! Jane liebt mich nicht mehr, das ist er. Ich
war tot seit dem Tag, wo ich nicht mehr geliebt wurde.
Oh! wahrlich tot, Joshua. Das, was von mir noch lebt,
verlohnt sich nicht der Mühe, die man sich morgen mit
mir macht. O sieh! du machst dir keinen Begriff von
dem, was ein Mann ist, welcher liebt! Wenn man mir
vor zwei Monaten gesagt hätte: Jane, deine fleckenlose,
deine reine Jane, dein Stolz, deine Lilie, dein Kleinod,
Jane wird sich einem andern überlassen: wollt Ihr sie
dann noch? — Ich hätte gesagt: Nein! ich möchte sie dann
nicht mehr. Lieber tausendmal den Tod für mich und sie!
Und ich hätte den mit Füßen getreten, der so zu mir ge-
sprochen hätte. Nun denn, ja, ich will sie! — Du siehst
wohl, heute ist Jane nicht mehr die makellose Jane, die
ich anbetete, die Jane, über deren Stirne ich kaum mit
meinen Lippen zu hauchen wagte, Jane hat sich einem
andern überlassen, einem Elenden, ich weiß es, und doch
—was liegt daran? ich liebe sie. Ich würde den Saum
ihres Kleides küssen und sie um Vergebung bitten, wenn
sie es wollte. Und wenn sie mit dem andern in den
492 ÜBERSETZUNGEN
Gossen der Straße läge, ich würde sie aufrafifen und an
mein Herz drücken, Joshua!— Joshua, ich würde nicht
hundert Jahre meines Lebens, denn ich habe nur noch
einen Tag, aber ich würde die Ewigkeit geben, die ich
morgen haben werde, um sie noch einmal lächeln zu
sehen, ein einziges Mal vor meinem Tod, und sie das
angebetete Wort sagen zu hören, das sie sonst zu mir
sagte: Ich liebe dichl^oshua! Joshua! so ist das Herz
eines Mannes, der liebt. Ihr glaubt, Ihr würdet das Weib
töten, das Euch betrügt? Nein, Ihr würdet sie nicht töten,
Ihr werdet Euch zu Ihren Füßen setzen nach wie vor,
nur werdet Ihr traurig sein. — Du findest mich schwach!
Was hätte es mir geholfen, wenn ich Jane getötet hätte?
Oh! ich habe das Herz voll unerträglicher Gedanken. O,
wenn sie mich noch liebte! was liegt mir an all dem, was
sie mii getan hat. Aber sie liebt Fabiani! Aber sie liebt
Fabiani! Für Fabiani kommt sie! Nur das ist gewiß, daß
ich sterben möchte. Habe Mitleid mit mir, Joshua!
JOSHUA. Fabiani wird heute hingerichtet.
GILBERT. Und ich morgen.
JOSHUA. Gott ist am Ende aller Dinge.
GILBERT. Heute werde ich an ihm, morgen wird er an
mir gerächt.
JOSHUA. Mein Bruder, da kommt Äneas Dulverton, der
zweite Konstabier des Turmes. Du mußt wieder hinein.
Mein Bruder, ich werde dich diesen Abend wiedersehen.
GILBERT. Oh! sterben, ohne geliebt, sterben, ohne be-
weint zu werden! Jane! . . . Jane! . . . Jane! . . . (Er geht
in den Kerker zuriick.)
JOSHUA. Armer Gilbert! Mein Gott! wer hätte mir je
gesagt, daß geschehen würde, was geschieht?
{Er geht ab, Simon Renard und Meister Äneas treten auf)
ZWEITE SZENE
Simon Renard. Meister Aneas Dulverton.
SIMON RENARD. Das ist sehr seltsam, wie Ihr sagt;
aber was wollt Ihr? Die Königin ist toll, sie weiß nicht,
was sie will. Man kann auf nichts rechnen, sie ist ein
MARIA TUDOR. DRITTE HANDLUNG 493
Weib. Ich möchte ein wenig wissen, was sie hier tut. Seht,
das Herz eines Weibes ist ein Rätsel, dessen Auflösung
Franz der Erste auf die Scheiben von Chambord schrieb:
Ein Weib sich ändert jeden Tag,
Ein Narr ist, wer ihm trauen mag.
Hört, Meister Äneas, wir sind alte Freunde. Es muß heute
damit ein Ende werden. Alles hängt hier von Euch ab.
)Venn man Euch aufträgt . . . {er spricht leise mit Meister
. lucasi) zieht die Sache in die Länge, laßt sie auf eine ge-
schickte Weise mißglücken. Wenn ich nur zwei Stunden vor
mir habe, so geschieht diesen Abend, was ich will, und mor-
gen kein Günstling mehr, ich bin allmächtig, und übermor-
gen seid Ihr Baronet und Leutnant des Towers. Begriffen.-
MEISTER ÄNEAS. Begriffen.
SIMON RENARD. Gut. Ich höre kommen. Man darf uns
nicht mehr beisammen sehen. Geht da hinaus. Ich gehe
der Königin entgegen. {Sie trennen sich})
DRITTE SZENE
Ein Schließer tritt vorsichtig ein^ dann fuhrt er Lady Jane
herein.
SCHLIESSER. Ihr seid da, wohin Ihr wolltet, Mylady.
Hier sind die Türen der beiden Kerker. Jetzt meine Be-
lohnung, wenn es Euch beliebt.
[Jane macht ihr diamantnes Armhand los und gibt es ihm^
JANE. Hier ist sie.
SCHLIESSER. Danke. Macht mich nicht verdächtig. {Er
geht.)
JANE (allein). Mein Gott! was tun: Ich war sein Ver-
derben, ich muß ihn retten. O, nie! ich kann nicht. Ein
Weib, das vermag nichts. Das Schafott! das ist entsetz-
lich! Weg! keine Tränen mehr. Taten! — Aber ich kann
nicht! ich kann nicht! O mein Gott, erbarme dich meiner!
Man kommt. Wer spricht dar Ich kenne diese Stimme.
Die Stimme der Königin. Ach, alles ist verloren!
(Sie verbirgt sich hinter einem Pfeiler. — Die Königin und
Si7no7i Renard treten ein.)
*
494 ÜBERSETZUNGEN
VIERTE SZENE
Die Königin. Simon Renard. Jane (versteckt).
KÖNIGIN. Ah! diese Veränderung wundert Euch? Ah!
ich gleiche mir nicht mehr. Nun, was geht das Euch
an: Das ist einmal so. Jetzt will ich seinen Tod nicht
mehr.
SIMON RENARD. Eure Majestät hatte gleichwohl gestern
befohlen, daß die Hinrichtung heute abend stattfinden
sollte.
KÖxVIGIN. So wie ich vorgestern befohlen hatte, daß
die Hinrichtung gestern stattfinden sollte. Heute befehle
ich, daß die Hinrichtung morgen stattfinden wird.
SIMON RENARD. In der Tat, seit dem zweiten Advent-
sonntage, wo die Sternkammer ihr Urteil fällte und die
beiden Verurteilten zum Turme zurückkamen, den Henker
voran, die Axt nach ihrem Gesichte gekehrt, es sind jetzt
drei Wochen her, verschiebt Eure Majestät die Sache
jeden Tag auf den folgenden.
KÖNIGIN. Nun, begreift Ihr denn nicht, was das be-
deutet, mein Herr? Muß ich Euch alles sagen, und muß
ein Weib ihr Herz Euch nackt hinlegen, weil sie Königin
ist, die Unselige, und weil Ihr hier den Prinzen von
Spanien, meinen zukünftigen Gemahl, vertretet? Mein
Gott! Ihr wißt das nicht, ihr andern, das Herz eines
Weibes ist so gut schamhaft als ihr Leib. Ja denn, weil
Ihr es wissen wollt, weil Ihr Euch stellt, als begrififet Ihr
nichts, ja, ich verschiebe jeden Tag die Hinrichtung
Fabianis auf den folgenden, weil jeden Morgen, seht Ihr,
mich die Kraft bei dem Gedanken verläßt, daß die Glocke
des Londoner Turms diesen Menschen zu Grabe läuten
wird, weil ich ohnmächtig werde bei dem Gedanken, daß
man eine Axt für diesen Menschen schleift, weil ich sterbe,
wenn ich denke, daß man eine Bahre für diesen Menschen
zusammenschlägt, weil ich ein Weib bin, weil ich schwach,
weil ich toll bin, weil ich diesen Menschen liebe, wahr-
haftig!—Habt Ihr genug? Seid Ihr befriedigt? Begreift Ihr?
Oh! ich werde mich schon eines Tages an Euch rächen für
alles, was Ihr mich da sagen macht. Geht!
SIMON RENARD. Es wäre aber doch Zeit, mit Fabiani
MARIA TUDOR. DRITTE HANDLUNG 495
ein Ende zu machen. Ihr werdet meinen königlichen
Herrn, den Prinzen von Spanien, heiraten.
KÖNIGIN. Wenn der Prinz von Spanien nicht zufrieden
ist, so mag er es sagen; wir heiraten einen andern. Es
fehlt uns nicht an Freiern. Der Sohn des römischen Kö-
nigs, der Fürst von Piemont, der Infant von Portugal, der
Kardinal Polus, der König von Dänemark und Lord Curt-
nay sind ebenso gute Edelleute als er.
SIMON RENARD. Lord Curtnay! Lord Curtnay!
KÖNIGIN. Ein englischer Baron, Herr, wiegt einen Prin-
zen auf. Außerdem stammt Lord Curtnay von den Kaisern
des Orients ab. Und dann, ärgert Euch, wenn Ihr wollt.
SIMON RENARD. Fabiani ist in London von allem ge-
haßt, was ein Herz hat.
KÖNIGIN. Mich ausgenommen.
SIMON RENARD. Die Bürger sind mit den Herren einig.
Wenn er heute nicht hingerichtet wird, wie Eure Maje-
stät versprochen hat ....
KÖNIGIN. Nun?
SIMON RENARD. So wird das Gesindel einen Auflauf
machen.
KÖNIGIN. Ich habe meine Lanzknechte.
SIMON RENARD. Es wird eine Verschwörung unter den
Herren geben.
KÖNIGIN. Ich habe den Henker.
SIMON RENARD. Eure Majestät hat auf das Gebet-
buch Ihrer Mutter geschworen, daß sie ihn nicht begna-
digen würde.
KÖNIGIN. Hier ist ein Freibrief, den er mir überschickt,
und worin ich ihm auf meine königliche Krone schwöre,
daß ich es tun werde. Die Krone meines Vaters ist so viel
wert als das Gebetbuch meiner Mutter. Ein Eid hebt den
andern. Übrigens, wer sagt Euch denn, daß ich ihn be-
gnadigen werde?
SIMON RENARD. Er hat Euch sehr frech betrogen,
Madame.
KÖNIGIN. Was geht das mich an? Alle Männer machen
es ebenso. Ich will nicht, daß er stirbt. Seht, Mylord —
Herr Vogt, wollte ich sagen— mein Gott! Ihr macht mir
496 ÜBERSETZUNGEN
den Kopf so wirr, daß ich in Wahrheit nicht mehr weiß,
mit wem ich spreche, — seht, ich weiß alles, was Ihr mir
sagen werdet. Daß er ein erbärmlicher Mensch, eine
Memme, ein Schurke ist: ich weiß es so gut als Ihr, und
ich erröte darüber; aber ich liebe ihn. Was soll ich machen ?
Einen wackeren Mann würde ich vielleicht weniger lieben.
Außerdem, wer seid ihr alle denn, soviel ihr seid? Seid
Ihr mehr wert als er.^ Ihr werdet mir sagen, daß er ein
Günstling ist und daß das englische Volk die Günstlinge
nicht liebt. Weiß ich denn nicht, daß ihr ihn nur stürzen
wollt, um an seinen Platz den Grafen von Kilbare, diesen
Geck, diesen Irländer, zu bringen: Und wenn er zwanzig
Köpfe täglich fallen macht, was geht das Euch an? Und
sprecht mir nur nicht von dem Prinzen von Spanien. Ihr
lacht selbst darüber. Sprecht mir nicht von dem Mißver-
gnügen des Herrn von Noailles, des französischen Ge-
sandten. Herr von Noailles ist ein Dummkopf, und ich
werde es ihm selbst sagen. Endlich, ich bin ein Weib,
ich will und will nicht, ich bin nicht aus einem Stücke.
Das Leben dieses Menschen ist meinem Leben notwendig.
Schneidet doch nicht ein so jungfräuliches und aufrich-
tiges Gesicht, ich bitte Euch. Ich kenne alle Eure Schliche.
Unter uns, Ihr wißt so gut als ich, daß er das Verbrechen
nicht begangen hat, wofür er verdammt wurde. Das ist
abgekartet. Ich will nicht, daß Fabiani stirbt. Bin ich
Herrin, oder nicht? Seht, Herr Vogt, sprechen wir von
etwas anderem, wollt Ihr?
SIMON RENARD. Ich ziehe mich zurück, Madame.
Euer ganzer Adel hat durch meinen Mund gesprochen.
KÖNIGIN. Was kümmert mich der Adel!
SIMON RENARD {beiseite). So versuchen wir es mit
dem Volke. {Er geht mit ehicr tiefefi Verheiigung ab.)
KÖNIGIN (allein). Er ist mit einer sonderbaren Miene
hinausgegangen. Der Mensch ist imstande, etwas in Be-
wegung zu bringen. Ich muß schnell nach dem Stadthause.
— He, jemand!
[Meister Ätieas und Joshua treten auf)
*
MARIA TUDOR. DRITTE HANDLUNG 497
FÜNFTE SZENE
Die Königin. Meister Äiieas. [oshua.
KÖNIGIN. Seid Ihr es, Meister Äneasr Dieser Mann und
Ihr müßt sogleich für die Flucht des Grafen Clanbrassil
sorgen.
MEISTER ÄNEAS. Madame ....
KÖNIGIN. Halt, ich vertraue mich Euch nicht an. Ich
erinnere mich, daß Ihr zu seinen Feinden gehört. Mein
Gott! ich bin also nur von Feinden des Mannes umgeben,
den ich liebe. Ich wette, der Schließer da, den ich nicht
kenne, haßt ihn auch.
JOSHUA. So ist es, Madame.
KÖNIGIN. Mein Gott! mein Gott! dieser Simon Renard
ist mehr König, als ich Königin. Wie! Niemand hier,
dem ich mich anvertrauen, niemand, dem ich Vollmacht
geben könnte, um Fabiani entwischen zu lassen!
JANE {tritt hinter dem Pfeiler Iiervor). Doch, Madame!
Ich!
JOSHUA {beiseite). Jane!
KÖNIGIN. Du? wer du? Ihr seid es, Jane Talbot? Wie
kommt Ihr hierher? Ah! das ist gleichgültig, Ihr seid da.
Ihr kommt, Fabiani zu retten. Danke. Ich sollte Euch
hassen, Jane, ich sollte eifersüchtig auf Euch sein, ich habe
tausend Gründe. Aber nein, ich liebe Euch aus Liebe zu
ihm. Dem Schafott gegenüber keine Eifersucht mehr,
nichts als Liebe. Ihr seid wie ich. Ihr verzeiht ihm, ich
sehe es wohl. Die Männer, sie begreifen das nicht. Lady
Jane, verständigen wir uns. Wir sind beide sehr unglück-
lich, nicht wahr? Man muß Fabiani entwischen lassen.
Ich habe nur Euch, ich muß Euch wohl dazu brauchen.
Ich bin wenigstens sicher, daß Euer Herz dabei sein wird.
Übernehmt es. Meine Herrn, ihr beide gehorcht Lady
Jane in allem, was sie Euch vorschreiben wird, und haftet
mir mit eurem Kopfe für die Befolgung ihrer Befehle.
Umarme mich, mein Kind.
JANE. Die Themse bespült den Fuß des Turmes auf dieser
Seite. Es ist da ein geheimer Ausgang, den ich bemerkt
habe. Ein Schiff davor, und die Flucht macht sich auf
der Themse. Das ist das sicherste.
BÜCHNER 32.
498 ÜBERSETZUNGEN
MEISTER ÄNEAS. Unmöglich, einen Nachen vor einer
guten Stunde zu haben.
JANE. Das ist sehr lang.
MEISTER ÄNEAS. Es ist bald vorbei. Außerdem ist es
in einer Stunde finster. Es ist besser so, wenn Eure Maje-
stät wünscht, daß die Flucht insgeheim vor sich gehe.
KÖNIGIN. Ihr habt vielleicht recht. Nun, in einer Stunde
sei es! Ich verlasse Euch, Lady Jane, ich muß auf das
Stadthaus. Rettet Fabiani!
JANE. Seid ruhig, Madame. {Die Königin geht ab. Jane
folgt ihr mit den An gen.)
JOSHXJA (auf dem Vordergrund der Bühne). Gilbert hatte
recht, ganz für Fabiani.
SECHSTE SZENE
Die nä?ntichen, die Königin aiisge^iommefi.
JANE {zu Meister Äneas). Ihr habt den Willen der Köni-
gin gehört. Einen Nachen an den Fuß des Turms, die
Schlüssel zu den geheimen Gängen, einen Hut und einen
Mantel.
MEISTER ÄNEAS. Unmöglich, das alles vor Nacht zu
haben. In einer Stunde, Mylady.
JANE. Gut. Geht. Laßt mich mit diesem Manne allein.
(Meister Äneas geht] Jane folgt ihm mit den Augen.)
JOSHUA {beiseite auf dem Vordergrund der Bühne).
Diesem Manne! Das ist ganz einfach. Wer Gilbert ver-
gessen hat, erkennt Joshua nicht mehr. {Er geht nach der
Türe von Fabianis Kerker und schickt sich an., sie zu öffnen^
JANE. Was macht Ihr da?
JOSHUA. Ich komme Euren Wünschen zuvor, Mylady.
Ich öffne diese Türe. .^
JANE. Was ist das für eine Türe? '^
JOSHUA. Die Türe des Kerkers von Mylord Fabiani.
JANE. Und diese da?
JOSHUA. Ist die Kerkertüre eines andern.
JANE. Wessen? Dieser andere?
I MARIA TUDOR. DRITTE HANDLUNG 499
JOSHUA. Ein anderer zum Tode Verurteilter, jemand,
den Ihr nicht kennt. Ein Arbeiter, namens Gilbert.
JANE. Öfifnet diese Türe!
jJOSHUA {nachdem er die Türe geöffnet). Gilbert!
SIEBENTE SZENE
Jane. Gilbert. Joshua.
GILBERT (ruft aus dem Kerker). Wer ruft mir.- [Er tritt
auf die Schwelle, erblickt Jane und hält sich wa7ikend a?t
\der Mauer.) Jane! — Lady Jane Talbot!
JANE {auf den Kniefi^ ohne die Au ge7i aufzuschlagen). Gil-
bert, ich komme Euch zu retten.
GILBERT. Mich retten!
JANE. Hört! Habt Erbarmen, zermalmt mich nicht. Ich
weiß alles, was Ihr mir sagen werdet. Es ist gerecht;
aber sagt es mir nicht. Ich muß Euch retten. Alles ist
bereit. Die Flucht ist sicher. Laßt Euch von mir retten,
so gut wie von einem andern. Ich verlange sonst nichts.
Ihr werdet mich dann nicht mehr kennen. Ihr werdet nicht
wissen, wer ich bin. Verzeiht mir nicht, aber laßt mich
Euch retten. Wollt Ihrr
GILBERT. Ich danke; es ist unnütz. Zu was mich retten
wollen, Lady Jane, wenn Ihr mich nicht mehr liebt?
JANE {freudig). O Gilbert! ist es das in Wahrheit, was
Ihr verlangt? Gilbert! würdigt Ihr mich noch, Euch mit
dem zu beschäftigen, was in dem Herzen des armen Mäd-
chens vorgeht? Gilbert! liegt Euch noch etwas an der
Liebe, die ich für irgend jemand haben könnte, und dünkt
es Euch der Mühe wert, darnach zu fragen? Oh! ich dachte,
daß Euch das sehr gleichgültig wäre, und daß Ihr mich zu
sehr verachtetet, um Euch um das zu kümmern, was ich
mit meinem Herzen machte. Gilbert! wenn Ihr wüßtet,
was mich die Worte fühlen machen, die Ihr mir sagtetf
Das ist ein sehr unerwarteter Sonnenstrahl in meiner Nacht.
Oh! hört mich doch dann. Wenn ich es noch wagte, mich
Euch zu nähern, wenn ich es wagte. Eure Kleider zu be-
rühren, wenn ich es wagte, Eure Hände in die meinigen
zu nehmen, wenn ich es noch wagte, die Augen zu Euch
500 ÜBERSETZUNGEN
und dem Himmel aufzuschlagen, wie sonst: wißt Ihr, was
ich sagen würde, kniend, niedergeworfen, weinend zu
Euren Füßen, Seufzer auf den Lippen und die Freude der
Engel im Herzen: Ich würde Euch sagen: Gilbert, ich
liebe dich!
GILBERT [faßt sie heftig in seine Arme). Du liebst mich?
JANE. Ja, ich liebe dich!
GILBERT. Du liebst mich!— Sie hebt mich, mein Gott!
Es ist wahr, sie ist es, die mir es sagt, ihr Mund ist es,
der sprach, Gott im Himmel!
JANE. Mein Gilbert!
GILBERT. Du hast alles für meine Flucht vorbereitet,
sagst du: Schnell! schnell! Das Leben! Ich will leben,
Jane liebt mich! Dieses Gewölbe senkt sich auf meinen
Kopf und zerdrückt ihn. Ich brauche Luft. Fliehen wir
schnell! Fort, Jane! Ich will leben— ich werde geliebt!
JANE. Noch nicht. Wir haben einen Nachen nötig. Wir
müssen die Nacht abwarten. Aber sei ruhig, du bist ge-
rettet. Ehe eine Stunde vergeht, sind wir draußen. Die
Königin ist auf dem Stadthaus und kommt nicht sobald
zurück. Ich bin hier Herrin; ich werde dir alles erklären.
GILBERT. Eine Stunde warten, das ist sehr lang. O, ich
bin ungeduldig, Leben und Freude wieder zu fassen! Jane!
Jane! du bist da! Ich werde leben, du liebst mich! Ich
komme aus der Hölle, halte mich, ich könnte tolles Zeug
machen, siehst du. Ich möchte lachen, möchte singen.
Du liebst mich also.^
JANE. Ja!— Ich Hebe dich! Ja, ich Hebe dich! Und sieh,
Gilbert, glaube mir, ich spreche die Wahrheit, wie auf
dem Todesbette, — ich habe immer nur dich geliebt! Selbst
in meiner Sünde, selbst in der Tiefe meines Verbrechens
liebte ich dich! Kaum war ich in die Arme des Teufels
gefallen, der mich verführte, als ich meinen Engel be-
weinte.
GILBERT. Vergessen! verziehen! Sprich nicht davon,
Jane. O, was liegt mir an dem Vergangenen! Wer könnte
deiner Stimme widerstehen! Wer würde anders handeln,
als ich! O ja! ich verzeihe dir alles, mein geliebtes Kind!
Das Wesen der Liebe ist Nachsicht, ist Verzeihung. Jane,
MARIA TUDOR. DRITTE HANDLUNG 501
die Eifersucht und die Verzweiflung haben die Tränen in
meinen Augen getrocknet. Aber ich verzeihe dir, aber
ich danke dir, aber du bist für mich der einzige Licht-
strahl in dieser Welt, aber bei jedem Worte, das du sprichst,
fühle ich einen Schmerz in meiner Seele sterben und eine
Freude darin geboren werdenl Jane! erhebt Euer Haupt,
steht gerade so hin und seht mich an. — Ich sage dir, daß
du mein Kind bist.
JANE. Immer großmütig! Immer! mein geliebter Gilbert!
GILBERT. Oh! ich möchte schon draußen sein auf der
Flucht, weit, weit, frei mit dir! Oh! diese Nacht, die nicht
kommen will!— Der Nachen ist nicht da. — ^Jane! wir ver-
lassen London sogleich, noch diese Nacht. Wir verlassen
England. Wir gehen nach Venedig. Mit meinem Hand-
werk verdient man viel Geld da. Du wirst mir gehören.
—Oh! mein Gott! ich bin unsinnig, ich vergaß, welchen
Namen du führst! Er ist zu schön, Jane!
JANE. Was willst du sagen.-
GILBERT. Tochter des Lord Talbot.
JANE. Ich weiß einen schöneren.
GILBERT. Welchen?
JANE. Weib des Arbeiters Gilbert.
GILBERT. Jane! . . .
JANE. O nein! glaube nicht, daß ich das verlange. Oh!
ich weiß wohl, daß ich unwürdig bin. Ich werde meine
' Augen so hoch nicht erheben; ich werde nicht so weit
i die Verzeihung mißbrauchen. Der arme Arbeiter Gilbert
j wird sich nicht zu der Gräfin von Waterford herablassen.
' Nein, ich werde dir folgen, dich lieben, ich werde dich
nie verlassen. Ich will mich des Tags zu deinen Füßen,
des Nachts vor deine Türe legen. Ich werde dir zusehen
( arbeiten, ich werde dir helfen, ich werde dir reichen,
: was du brauchst. Ich werde dir etwas weniger als eine
. Schwester und etwas mehr als ein Hund sein. Und wenn
du dich verheiratest, Gilbert,— denn es wird Gott gefallen,
daß du endlich ein fleckenloses Weib findest, das deiner
würdig ist, — wenn du dich verheiratest und wenn dein
Weib gut ist, und wenn sie es wohl will, werde ich die
Magd deines Weibes sein. Wenn sie mich nicht will, werde
502 ÜBERSETZUNGEN
ich gehen und sterben, wo ich kann. Ich werde dich nur
in dem Falle verlassen. Wenn du dich nicht verheiratest,
werde ich bei dir bleiben, ich will still und ruhig sein, du
sollst sehen, und wenn man Böses denkt, mich so bei dir zu
sehen, so mag man denken, was man will. Ich brauche nicht
mehr rot zu werden, siehst du? Ich bin ein armes Mädchen.
GILBERT {fällt ihr zu Füßen). Du bist ein Engel! Du
bist mein Weib!
JANE. Dein Weib! Du verzeihest also nur, wie Gott, in-
dem du heiligst.^ Ah! sei gesegnet, Gilbert, daß du mir
diese Krone auf die Stirn e drückst. {Gilbert erhebt sich
und preßt sie in die Ar?jie. Während sie sich eng um-
schlossen halten, ninmit Joshua die Hand von Jane.)
JOSHUA Es ist Joshua, Lady Jane.
GILBERT. Guter Joshua!
JOSHUA. Es ist kaum ein Augenblick, daß Ihr mich nicht
kanntet.
JANE. Ah! denn ich mußte mit ihm den Anfang machen.
{Joshua küßt ihr die Häfide^
GILBERT {preßt sie in seine Arme). Aber welch Glück!
Aber ist denn all dies Glück auch wirklich.^ {Seit einigen
Augenblicken hört man außen ein entferntes Getös ^ verwirrte
Stimmen, eineti Außauf. Der Tag geht zu Eftde.)
JOSHUA. Was ist das für ein Lärm.^ {Er tritt an das
Fenster, welches auf die Straße geht^
JANE. O mein Gott, wenn nur nichts vorfällt!
JOSHUA. Ein großer Haufe da unten; Hacken, Piken,
Fackeln. Die Soldaten der Königin zu Pferd und in
Schlachtordnung. Alles kommt hierher. Welch Geschrei!
Teufel! Man sollte meinen, es sei ein Volksauflauf.
JANE. Wenn es nur nicht Gilbert gilt!
ENTFERNTE STIMMEN. Fabiani! Tod dem Fabiani!
JANE. Hört Ihr?
JOSHUA. Ja.
JANE. Was riefen sie?
JOSHUA. Ich unterscheide nichts.
JANE. O mein Gott, mein Gott! {Meister Äneas und ein
Schiffer treten eilig durch die verborgene Türe herein^
*
MARIA TUDOR. DRITTE HANDLUNG 503
ACHTE SZENE
Die iiäfjilichen. Meister Äneas^ ein Schiffer.
l^IEISTER ÄNEAS. Mylord Fabiani! Mylord! Ihr habt
keinen Augenblick zu verlieren. Man hat erfahren, daß
die Königin Euch retten wollte. Das Volk ist in London
im Aufruhr. In einer Viertelstunde seid Ihr zerrissen.
Mylord, rettet Euch! Hier ist ein Mantel, ein Hut. Hier
die Schlüssel. Hier der Schiffer. Vergeßt nicht, daß Ihr
mir das alles verdankt. Mylord, eilt Euch! (Leise zum
Schifferi) Du eilst dich nicht.
JANE [bedeckt Gilbert eilig mit dem Mantel und dem Hut.
Leise zu Joshua:) Himmel, wenn dieser Mann nur nicht ....
MEISTER ÄNEAS {sieht Gilbert ins Gesicht). Aber wie!
das ist nicht Lord Clanbrassil. Ihr befolgt die Befehle
der Königin nicht, Mylady! Ihr laßt einen andern ent-
wischen!
JANE. Alles ist verloren! . . . Ich hätte das voraus-
sehen sollen! O Gott! mein Herr, es ist wahr, habt Er-
barmen . . .
MEISTER ÄNEAS {leise zu Jane). Still! Fort! ich habe
nichts gesagt, ich habe nichts gesehen. {Er zieht sich mit
einem Anstrich von Gleichgidtigkeit auf den LLintergrund
der Bühne zurück?)
JANE. Was sagt er: — Ah! die Vorsehung ist für uns! Ah!
Alles will also Gilbert retten!
JOSHUA. Nein, Lady Jane. Alles will Fabiani verderben.
{Während dieser ganzen Szene ni^nmt das Getöse zu.)
JANE. Eilen wir uns, Gilbert! Komm schnell!
JOSHUA. Laßt ihn allein gehn.
JANE. Ihn verlassen!
JOSHUA. Für einen Augenblick. Kein Weib in dem
Nachen, wenn er glücklich landen soll. Es ist noch zu
hell. Ihr seid weiß gekleidet. Ihr werdet Euch wieder-
finden, wenn die Gefahr vorüber ist. Kommt mit mir hier-
her, und er da hinaus.
JANE. Joshua hat recht. Wo werde ich dich wiederfinden,
mein Gilbert.^
GILBERT. Unter dem ersten Bogen der Londoner Brücke.
504 ÜBERSETZUNGEN
JANE. Gut. Schnell fort! Das Getöse verdoppelt sich.
Ich wollte, du wärest weit weg!
JOSHUA. Hier sind die Schlüssel. Ihr habt zwölf Türen
von hier bis zum Rande des Wassers zu öffnen und zu
schließen. Ihr habt eine gute Viertelstunde damit zu tun.
JANE. Eine Viertelstunde! Zwölf Türen! Das ist ent-
setzlich!
GILBERT [tiiiiarmt sie). Lebe wohl, Jane. Noch für we-
nige Augenblicke getrennt, und dann wieder eins für das
Leben.
JANE. Für die Ewigkeit. (Zum Schiffer:) Ich empfehle
ihn Euch.
MEISTER ÄNEAS {leise zum Schiffer). Du eilst dich
nicht, es könnte was vorfallen. [Gilbert geht mit dem
Schiffer ab.)
JOSHUA. Er ist gerettet! Jetzt zu mir! Man muß den
Kerker schließen. [Er schließt Gilberts Kerker) Es ist
geschehen. Kommt schnell hierher! (Er geht 7nit Jane
durch die verborgene Türe ab.)
MEISTER ÄNEAS (allein). Der Fabiani ist in der Falle
geblieben! Das ist ein sehr geschicktes Weibchen, was
Meister Simon Renard sehr gut bezahlt haben würde.
Aber wie wird die Königin die Sache aufnehmen? So-
lange es nicht auf mich fällt! (Simon Renard und die Köni-
gin treten mit großen Schritten durch die Galerie herein.
Der Tumult hat fortwährend zugenommen. Die Nacht ist
fast völlig hereingebrochen. Geschrei, Fackeln, Lärm der
Volkshaufen; Waffengeklirr, Schüsse, Pferdegetrappel. Meh-
rere Edelleute, das Schiucrt in der Faust, begleiten die Koni'
gin. Unter i/mefi Clarence, der Herold von England, das
königliche Banner tragend, und /arretiere, der Herold des
Hosenbandordens, mit der Orden sfahfie.)
NEUNTE SZENE
Königin, Simon Renard, Meister Äneas, Lord Clinton, die
beiden Herolde, Herrn, Pagen usw. usw.
KÖNIGIN (leise zu Meister Äneas). Ist Fabiani entwischt?
MEISTER ÄNEAS. Noch nicht!
MARIA TUDOR. DRITTE HANDLUNG 505
KÖNIGIN. Noch nicht: {Sie sieht ihn mit eiiie?n furcht-
baren Blick an.)
MEISTER ÄNEAS {beiseife). Teufel!
GESCHREI DES VOLKES {von außen). Tod dem Fabiani!
SIMON RENARD. Eure Majestät muß sogleich ihren
Entschluß fassen. Das Volk will den Tod dieses Mannes.
London steht in Flammen. Der Turm ist berannt. Der
Aufstand ist furchtbar. Die Edlen sind an der Londoner
Brücke in Stücke gehauen worden. Die Soldaten Eurer
Majestät halten sich noch; aber Eure Majestät ist von
Straße zu Straße getrieben worden, von dem Stadthause
bis zum Tower. Die Anhänger Elisabeths haben sich unter
das Volk gemischt. Man sieht es an der Bösartigkeit des
Aufstandes. Das alles ist sehr drohend. Was befiehlt
Eure Majestät?
GESCHREI DES VOLKES. Fabiani! Tod dem Fabiani!
(Es wird stärker tmd ?iähert sich mehr nnd mehr.)
KÖNIGIN. Tod dem Fabiani! Mylords, hört Ihr, wie das
Volk heult: Man muß ihm einen Menschen vorwerfen.
Das Volk will zu essen.
SIMON RENARD. Was befiehlt Eure Majestät:
KÖNIGIN. Bei Gott, Mylords, mir däucht, ihr zittert alle
um mich herum. Bei meiner Seele, muß euch ein \Veib
euer ritterliches Handwerk lehren! Zu Pferde, Mylords,
zu Pferde! Schüchtert das Gesindel euch ein: Fürchten
die Degen sich vor den Stöcken:
SIMON RENARD. Laßt die Sache nicht weiter kommen.
Gebt nach, Madame, so lange es noch Zeit ist. Ihr könnt
jetzt noch sagen ''das Gesindel", in einer Stunde könntet
Ihr sagen müssen "das Volk". {Das Geschrei wird stärker^
das Getöse nähert sich?)
KÖNIGIN. In einer Stunde!
SIMON REN ARD (geht auf die Galerie^ indem er zurück-
koftwit). In einer Viertelstunde, Madame. Die erste Ring-
mauer des Turmes ist genommen. Noch ein Schritt, und
das Volk ist hier.
DAS VOLK. Zu dem Turm! Zu dem Turm! Fabiani!
Tod dem Fabiani!
5o6 ÜBERSETZUNGEN
KÖNIGIN. Man hat wohl recht, daß es ein furchtbares
Ding sei, das Volk! Fabiano!
SIMON RENARD. Wollt Ihr ihn in einem Augenblick
vor Euren Augen zerrissen sehen?
KÖNIGIN. Aber wißt ihr auch, daß es schändlich ist,
daß keiner von euch sich rührt, meine Herrn! Im Namen
des Himmels, verteidigt mich doch!
LORD CLINTON. Euch ja, Madame; Fabiani, nein.
KÖNIGIN. O Himmel! Nun ja denn! Ich sage es ganz
laut! Desto schlimmer! Fabiani ist unschuldig! Fabiani
hat das Verbrechen nicht begangen, weshalb er verdammt
wurde. Ich, und der da und der Arbeiter Gilbert, wir
haben alles getan, alles erfunden, alles angelegt. Reine
Komödie. Wagt es, mich Lügen zu strafen, Herr Vogt!
Jetzt, meine Herrn, werdet ihr ihn jetzt verteidigen? Er
ist unschuldig, sage ich Euch! Bei meinem Haupte, bei
meiner Krone, bei meinem Gott, bei der Seele meiner
Mutter, er ist unschuldig! Das ist so wahr, als es wahr
ist, daß ihr hier seid, Lord Clinton! Verteidigt ihn! Ver-
nichtet sie, wie ihr Thomas Wyatt vernichtet habt, mein
alter Freund, mein guter Robert! Ich beschwöre euch,
es ist falsch, daß Fabiani die Königin wollte ermorden
lassen.
LORD CLINTON. Es gibt noch eine Königin, die er er-
morden wollte, sie heißt England. [Das Geschrei währt
außefi fort)
KÖNIGIN. Den Balkon! öffnet den Balkon! Ich will selbst
dem Volke beweisen, daß er nicht schuldig ist!
SIMON RENARD. Beweist ihm, daß er kein Italiener ist.
KÖNIGIN. Wenn ich denke, daß es ein Simon Renard
ist, eine Kreatur des Kardinals Granvella, der es wagt,
so mit mir zu sprechen! Nun denn, öffnet diese Türe!
öffnet diesen Kerker! Fabiani ist darin, ich will mit ihm
sprechen.
SIMON RENARD {kise). Was macht Ihr? Um seines
eigenen Besten willen ist es überflüssig, alle Welt wissen
zu lassen, wo er sich befindet.
DAS VOLK. Tod dem Fabiani! Es lebe Elisabeth!
KÖNIGIN. Mein Gott! mein Gott!
MARIA TUDOR. DRITTE HANDLUNG 507
SIMON RENARD. Wählt, Madame! {Er deutet mit der
einen Hand auf die Türe des Kerkers:) Entweder diesen
Kopf dem Volke, {er deutet mit der afidern Haiid auf die
K?-one^ welche die Königin trägt:) oder diese Krone der
Dame Elisabeth.
DAS VOLK. Tod! Tod Fabiani! Elisabeth!
{Ein Stein zerschlägt die Fensterscheibe neben der Königin.)
SIMOxN RENARD. Eure Majestät richtet sich zugrunde,
ohne ihn zu retten. Der zweite Hof ist genommen. Was
will die Königin?
KÖNIGIN. Ihr alle seid Memmen, und Clinton die größte!
Ach! Clinton, ich werde daran denken, mein Freund!
SIMON RENARD. Was will die Königin.^
KÖNIGIN. O, von allen verlassen zu sein! Alles gesagt
zu haben, ohne etwas zu erhalten! Was sind denn doch
diese Edelleute da? Dieses Volk ist schändlich. Ich möchte
es unter meinen Füßen zermalmen. Es gibt also Lagen,
wo eine Königin nichts ist als ein Weib! Ihr sollt mir es
alle teuer bezahlen, meine Herrn!
SIMON RENARD. Was will die Königin?
KÖNIGIN {niedergebeugt). Was Ihr wollt! Tut, was Ihr
wollt! Ihr seid ein Mörder! {Beiseite:) O Fabiano!
SIMON RENARD. Clarence! Jarretiere! Her zu mir!
Meister Äneas, öffnet den großen Balkon auf der Galerie!
{Der Balkon im Hintergrunde öffnet sich. Simon Renard
geht hi?i^ Clarence zur Rechten^ Jarretiere zur Linken. Un-
ermeßliches Getöse von außen))
DAS VOLK. Fabiani! Fabiani!
SIMON RENARD. {Auf dem Balkon, nach dem Volke ge-
wendet.) Im Namen der Königin!
DIE HEROLDE. Im Namen der Königin. {Tiefe Stille
außen.)
SIMON RENARD. Ihr Männer! Die Königin läßt euch
wissen: Heute, diese Nacht noch, eine Stunde nach dem
Nachtläuten soll Fabiano Fabiani, Graf von Clanbrassil,
mit einem schwarzen Schleier, von Kopf bis zu Füßen
bedeckt, mit einem eisernen Knebel geknebelt, eine
Kerze von gelbem Wachs, drei Pfund schwer, in der
Hand, unter Fackelschein vom Londoner Turm durch
5 o 8 ÜBERSETZUNGEN
Charing-Croß auf den alten Stadtmarkt geführt, daselbst
öffentlich gestäupt und enthauptet werden, zur Strafe für
das Verbrechen des Hochverrats im ersten Grade und des
königsmörderischen Angriffes auf die geheiligte Person
Ihrer Majestät. [Ein imenneßliches Händeklatschen erhebt
sich a-ußen.)
DAS VOLK. Es lebe die Königin! Tod dem Fabiani!
SIMON REN ARD {fährt fort). Und damit es jedermann
in der Stadt London wisse, befiehlt die Königin, wie folgt:
Solange der Verurteilte den Weg vom Londoner Turm
bis zum alten Markt zurücklegt, wird mit der großen
Glocke des Turmes geläutet. Im Augenblicke der Hin-
richtung werden drei Kanonenschüsse abgefeuert: der
erste, wenn er auf das Schafott steigt; der zweite, wenn
er sich auf das schwarze Tuch legt; der dritte, wenn sein
Kopf fällt. {Beifall)
DAS VOLK. Lichter! Lichter!
SIMON RENARD, Diese Nacht werden der Turm und
die Stadt London zum Zeichen der Freude mit Lichtern
und Fackeln erleuchtet. Ich habe es gesagt. {Beifall)
Gott schütze die alte Charte von England.
DIE HEROLDE. Gott schütze die alte Charte von Eng-
land!
DAS VOLK. Tod dem Fabiani! Es lebe Marie! Es lebe
die Königin! {Der Balkon wird geschlossen. Simon Renard
kommt zur Königin zurück)
SIMON RENARD. Was ich eben getan habe, wird mir
nie von der Prinzessin Elisabeth verziehen werden.
KÖNIGIN. Noch von der Königin Marie.— Laßt mich,
mein Herr. {Sie verabschiedet mit einer Bewegung alle
Anwesende)
SIMON RENARD {leise zu Meister Aneas). Meister Äneas,
wacht über die Hinrichtung!
MEISTER ÄNEAS. Verlaßt Euch auf mich. {Simon Re-
nard geht ab. Im Augenblick^ wo Meister Aneas hinaus-
gehen will, läuft die Königin auf ihn zu, ergreift ihn am
Arm und führt ihn heftig atif den Vordergrund der Bühne
zurück)
*
MARIA TUDOR. DRITTE HANDLUNG 509
ZEHNTE SZENE
Die K'ö7ngin. Meister Äneas.
STIMMEN VON AUSSEN. Tod dem Fabiani! Fabiani!
Fabiani!
KÖNIGIN. Welcher Kopf deucht dir in diesem Augen-
blicke mehr wert zu sein, der von Fabiani oder der deinige?
MEISTER ÄNEAS. Madame
j KÖNIGIN. Du bist ein Verräter!
MEISTER ÄNEAS. Madame! {Beiseite:) Teufel!
\ KÖNIGIN. Keine Erklärungen. Ich schwöre es bei meiner
jMutter: Fabiano tot, du tot.
MEISTER ÄNEAS. Aber Madame
KÖNIGIN. Rette Fabiano, und du rettest dich. Nichts
anders.
GESCHREI. Tod dem Fabiani! Fabiani!
MEISTER ÄNEAS. Lord Clanbrassil retten! Aber das
Volk ist da, das ist unmöglich. Welches Mittel: . . .
KÖNIGIN. Suche.
MEISTER ÄNEAS. Was tun, mein Gott!
KÖNIGIN. Tue, als wäre es für dich.
MEISTER ÄNEAS. Aber das Volk bleibt unter den
Waffen bis nach der Hinrichtung. Man muß jemand
köpfen, um es zu beruhigen.
KÖNIGIN. Wie du willst.
MEISTER ÄNEAS. Wie ich will? Wartet, Madame! . . .
Die Hinrichtung findet des Nachts statt, bei Fackelschein,
der Verdammte, mit einem schwarzen Schleier bedeckt,
geknebelt, das Volk wie immer durch die Lanzenknechte
weit vom Schafott gehalten, es genügt, wenn es einen
Kopf fallen sieht. Die Sache ist möglich. — Wenn der
Schiffer noch da ist; ich sagte ihm, er solle sich nicht
eilen. (^Er geht an das Fenster, von dem maft die Themse
sieht:) Er ist noch da; aber es war Zeit. [Er hängt sich
zum Fenster hinaus, eine Fackel in der Hand, u?td schwenkt
sein Schmipftuch, da7in sich zur Königin wendend^ — Es ist
gut. — Ich stehe Euch für das Leben des Mylord Fabiani.
KÖNIGIN. Mit deinem Kopfe:
MEISTER ÄNEAS. Mit meinem Kopfe!
5IO ÜBERSETZUNGEN
ZWEITE ABTEILUNG
Ein Saal, auf welchen zwei Treppen gehen^ wovon die eine
auf-^ und die aridere abwärts führt. Der Ausgang auf jede
dieser beiden Treppen nimmt einen Teil des Hintergrundes
ein. Die aufwärts fuhrende Treppe verliert sich in den
Friesen, die abwärts führende verliert sich nach unten.
Man sieht weder ^ woher diese Treppen kommen., noch wo-
hin sie gehen. —
Der Saal ist auf eine eigene Art ausgeschlagen; die Mauer
zur Rechten, die Mauer zur Linken und die Decke sind
mit einem schwarzen Tuche bedeckt, das von einem großen
weißen Kreuze durchschnitten wird; der Hintergrund, dem
Zuschauer gege?iüb er, ist dagegen mit einem weißen Tuche
behäfigt, ivorauf sich ein großes schwarzes Kreuz befindet.
Dieser schwarze und weiße Überzug erstreckt sich jeder auf
seiner Seite bis unter die beiden Treppen. Zur Recht e7i und
zur Linken ein schwarz und weiß gedeckter und für ein
Leichenbegängnis geschjiückter Altar. Große Wachskerzen.,
keine Priester. Billige Totenlampen, die hie und da an den
Gewölben aufgehängt si?id, erleuchten schwach den Saal
und die Treppen. Eigentlich wird der Saal durch das große
weiße 7uch im Hintergrunde erleuchtet, durch welches ein
rötliches Licht fällt, als wäre eine ungeheure, glühende Esse
dahinter. Der Saal ist mit Grabsteinen geplattet. Bei dem
Aufziehen des Vorhangs sieht man auf dem durchsichtigen
Tuch sich den schwarzen und unbeweglichen Schattenriß
der Königin zeichnen.
ERSTE SZENE
Jane. Joshua.
[Sie treten vorsichtig durch eine besondere Türe herein, in-
dem sie eine7i der schwarzen Ujnhäftge aufheben.)
JANE. Wo sind wir, Joshua?
JOSHUA. Auf dem großen Absatz der Treppe, welche
die Verurteilten hinuntersteigen, wenn sie zum Tode ge-
führt werden. Das ist unter Heinrich dem Achten so aus-
geschlagen worden.
JANE. Kein Weg, um aus dem Turm zu kommen?
MARIA TUDOR. DRITTE HANDLUNG 511
JOSHUA. Das Volk bewacht alle Ausgänge. Es will dies-
mal seines Verdammten gewiß sein. Niemand kann vor
der Hinrichtung hinaus.
TAXE. Die Verkündigung von diesem Balkon herunter
tönt mir noch in den Ohren. Habt Ihr es gehört, als wir
unten waren? Das alles ist entsetzlich, Joshua.
JOSHUA. Ah, da habe ich schon ganz andere Dinge
gesehen!
JANE. Wenn es nur Gilbert zu entkommen gelang! Glaubt
Ihr, daß er gerettet ist, Joshua.^
JOSHUA. Gerettet.^ Gewiß!
JANE. Gewiß, guter Joshua?
JOSHUA. Der Turm ist vom Wasser her nicht beunruhigt
worden. Und dann war der Aufruhr, als er abfuhr, nicht
das, was er seitdem geworden ist. Das war ein schöner
Aufruhr!
JANE. Ihr seid gewiß, daß er gerettet ist?
JOSHUA. Und daß er Euch zu dieser Stunde unter dem
ersten Bogen der Londoner Brücke erwartet, wo Ihr ihn
vor Mitternacht trefifen werdet.
JANE. Mein Golt! er wird unruhig sein. [Ijidem sie den
Schatten der Königin be??ierkt-^ Himmel, was ist das,
Joshua?
JOSHUA {leise, indefn er sie hei der Hand faßt). Still! —
Es ist die Löwin, die lauert. [Während Jane mit Schrecken
den schwarzen Schattenriß betrachtet, hört man eine ent^
fernte Stimme, die von obe?i herunter zu kommen scheint^
langsam und deutlich folgende Worte sprechen:) Der, wel-
cher hinter mir geht, mit diesem schwarzen Schleier be-
deckt, ist der sehr hohe und sehr mächtige Herr Fabiano
Fabiani, Graf von Clanbrassil, Baron von Dynasmonddy,
Baron von Darmouth in Devonshire, welcher auf dem
Markt von London als Königsmörder rmd Hochverräter
enthauptet werden wird. — Gott erbarme sich seiner Seele!
EINE ANDERE STIMME. Betet für ihn!
JANE {zitternd). Joshua, hört Ihr?
JOSHUA. Ja. Ich höre dergleichen alle Tage.
(Ein Leichenzug erscheint oben auf der Treppe, auf deren
Stufen er sich langsam im Herabsteigen entwickelt. An der
5 1 2 ÜBERSETZUNGEN
Spitze ein schwarzgekleideter Mann^ der ein weißes Banner
mit einem schwarzen. Kreuz trägt. Dann Meister Äneas
Didverton im großen schwarzen Mantel., den iveißen Kon-
stahlerstab in der Hand; dann ein Haufe rotgekleideter
H ellebar diere. Dann der Henker.^ seine Axt auf der Schulter.,
das Eisen auf den., der ihm folgte gerichtet. Dann einMaiin
ganz in eifien großen schwarzen Schleier gehüllt^ der ihm
nachschleppt. Man sieht vofi diesem Manne nichts als seinen
nackten Arm, der durch eine in das Leiche^ituch gemachte
Öffnung gellt und eine brennende Kerze von gelbem Wachse
trägt. Zur Seite dieses Mannes ein Priester im Totenkleide.
Dann eine Truppe rotgekleideter Hellebardiere. Dann ein
iveißgekleideter Mann., der ein schwarzes Banner mit einem
weißen Kreuze trägt. Zur Rechten und zur Linken zwei
Reihen von Hellebar dieren., die Fackeln tragen)^
JANE. Joshua, seht Ihr?
JOSHUA. Ja. Ich sehe dergleichen alle Tage.
(Der Zug hält im Augenblick^ wo er auf die Bühne tritt.)
MEISTER ÄNEAS. Der, welcher hinter mir geht, mit
diesem schwarzen Schleier bedeckt, ist der sehr hohe und
sehr mächtige Herr Fabiano Fabiani, Graf von Clanbrassil,
Baron von Dynasmonddy, Baron von Darmouth in Devon-
shire, welcher auf dem Markte von London als Königs-
mörder und Hochverräter enthauptet werden wird. — Gott
erbarme sich seiner Seele!
DIE BEIDEN BANNERTRÄGER. Betet für ihn!
{per Zug geht langsam über den Hintergrund der Bü/me)
JANE. Entsetzlich, was wir da sehen, Joshua. Es macht
mir das Blut stocken.
JOSHUA. Dieser elende Fabiani!
JANE. Friede, Joshua! Sehr elend, aber sehr unglücklich!
[Der Zug gelangt zur andern Treppe. Simon Renard., der
seit einigen Augenblicken am Eingange dieser Treppe er-
schienen ist und alles beobachtet hat^ tritt auf die Seite ^ um
ihfi vorbeizulassen. Der Zug senkt sich unter das Treppen-
gewölbe., wo er nach und nach verschwindet. Jane sieht ihm
voll Schrecken nach.)
SIMON REN ARD {nachdem der Zug verschwunden ist).
Was bedeutet das? Ist das auch Fabiani? Ich hielt ihn für
MARIA TUDOR. DRITTE HANDLUNG 513
weniger groß. Sollte Meister Äneas . . .? Es ist mir, als
hätte die Königin ihn einen Augenblick bei sich behalten.
Ich will doch sehen! {Er eilt die Treppe hinunter dem
Zuge nach.)
EINE STIMME {die sich mehr und mehr e?itfernt). Der,
welcher hinter mir geht, mit diesem schwarzen Schleier
bedeckt, ist der sehr hohe und sehr mächtige Herr Fabiano
Fabiani, Graf von Clanbrassil, Baron von Dynasmonddy,
Baron von Darmouth in Devonshire, welcher auf dem
Markte von London als Königsmörder und Hochverräter
enthauptet werden wird. — Gott erbarme sich seiner Seele!
EINE ANDERE STIMME {fast unvernehmbar). Betet für
ihn!
JOSHUA. Die große Glocke wird sogleich seinen Aus-
tritt aus dem Turme verkündigen. Es wird Euch jetzt
vielleicht möglich sein, hinauszukommen. Ich muß sehen,
wie es gehen kann. Erwartet mich hier; ich komme gleich
wieder.
JANE. Ihr verlaßt mich, Joshua.^ Ich werde mich fürchten.
Allein hier, mein Gott!
JOSHUA. Ihr könntet nicht ohne Gefahr den ganzen
Turm mit mir durchlaufen. Ich muß Euch zum Turme
hinausschaffen. Bedenkt, daß Gilbert Euch erwartet.
JANE. Gilbert! Alles für Gilbert! Geht! {Joshua ab)
JANE (allein). O welch schreckliches Schauspiel! Wenn
ich denke, daß das so für Gilbert gewesen wäre! {Sie
kniet auf den Stufen des einen Altares nieder?^ O, Dank!
du bist ja wahrlich der rettende Gott, du hast Gilbert ge-
rettet! {Das Tuch im Hinte?-grund öffnet sich halb, die
Königin erscheint^ sie geht mit längs ameft Schritten auf den
Vordergrund der Bühne, ohne Jane zu sehen)
JANE {sich wegwendend). Gott! die Königin.
ZWEITE SZENE
Jane. Die Königin.
JANE {klammert sich vor Schrecken an den Altar und heftet
auf die Königin einen starren^ erschrockenen Blick),
BÜCHNER 33.
514 ÜBERSETZUNGEN
KÖNIGIN. [Sie blickt einige Augenblicke auf den Vorder-
grund der Bühne, das Auge starr ^ bleich, zvie in düsteres
Ti'äunien verloren. Endlich stößt sie einen tiefen Seufzer
aus) O, das Volk! [Sie sieht unruhig um sich und erblickt
Jane:) Jemand da? — Du bist es, junges Mädchen? Ihr seid
es, Lady Jane? Ich erschrecke Euch. Geht doch, fürchtet
nichts. Ihr wißt, der Kerkermeister Äneas hat uns ver-
raten. Fürchtet doch nichts, Kind, ich habe dir es schon
gesagt, du hast nichts von mir zu fürchten. Was vor
einem Monat dein Verderben war, ist heute dein Heil.
Du liebst Fabiano. Nur du und ich hatten unter dem
Himmel so ein Herz, du und ich liebten ihn. Wir sind
Schwestern.
JANE. Madame ....
KÖNIGIN. Ja, ja! du und ich, zwei Weiber, das ist alles,
was er für sich hat; gegen sich — alles übrige, eine ganze
Stadt, ein ganzes Volk, eine ganze Welt! Ungleicher
Kampf der Liebe gegen den Haß! Die Liebe für Fabiani
ist traurig, zitternd, sinnlos; sie hat deine bleiche Stirne,
sie hat meine Augen voll Tränen, sie verbirgt sich bei
einem Totenaltar; sie betet durch deinen Mund, sie flucht
durch den meinigen. Der Haß gegen Fabiani ist stolz,
freudig, triumphierend, ist bewaffnet und siegreich, hat
den Hof, hat das Volk, hat Straßen voll Menschenhaufen,
brüllt nach Mord und jauchzt vor Freude, er ist stolz und
gewaltig und allmächtig; er erleuchtet eine ganze Stadt
um ein Schafott. Die Liebe, hier ist sie, zwei Weiber in
Trauer in einem Grabe; der Haß, da ist er! [Sie reißt
heftig das Tuch i^n Hintergrunde weg^ so daß man einen
Balkon erblickt und weiter hinaus in schwarzer Nacht die
Stadt London glänzend erleuchtet. Was man vom Tower
sieht, ist ebenfalls erleuchtet. Jane richtet ihre Augen er-
staunt auf dies blendende Schauspiel, dessen Widerschein die
Bühne erhellt) O schändliche Stadt! rebellische Stadt!
verfluchte Stadt! Ungeheuer, das sein Festkleid in Blut
taucht und dem Henker die Fackel hält! Du entsetzest
dich davor, Jane, nicht wahr? Ist es dir nicht wie mir, als
ob sie uns feig höhnte und uns mit ihren hunderttausend
glühenden Augensternen anstierte, uns schwache, ver-
MARIA TUDOR. DRITTE HANDLUNG 5 1 5
lassene Weiber, verloren und allein in diesem Grab: Jane,
hörst du die entsetzliche Stadt, wie sie lacht und heult?
O, England, England dem, der London vernichtet! O,
wie möchte ich diese Fackeln in Brände, diese Lichter
in FJammen und diese strahlende Stadt in einen Glut-
haufen verwandeln können!
[Ein ungeheures Getöse erhebt sich außen. Beifall. Ver-
wirrtes Geschrei: ''''Da ist er! da ist er! Tod dem fabiani!'^
— Man hört die große Glocke des Londoner Turms läuten;
bei diesem Geräusch bricht die Königin in ei?i schreckliches
Lachen atis.)
JANE. Großer Gott! jetzt geht der Elende hinaus.— Ihr
lacht, Madame!
KÖNIGIN. Ja, ich lache! {Sie lacht.) Ja, und du mußt
auch lachen! Aber zuvor muß ich diesen Vorhang schlie-
ßen; es ist mir immer, als wären wir nicht allein und als
hörte und sähe uns diese entsetzliche Stadt. (Sie schließt
de?i weißen Vorhang und kommt zu Ja7ie zurück.) Jetzt, da
er hinaus, jetzt, da keine Gefahr mehr ist, kann ich dir
es sagen. Aber lache doch; wir wollen über dieses ab-
scheuliche Volk lachen, das Blut säuft. O, das ist ent-
zückend! Jane! du zitterst für Fabiano; sei ruhi^ und
lache mit mir. Jane! der Mann, den sie haben, der Mann,
welcher sterben wird, der Mann, den sie für Fabiano
halten, der ist nicht Fabiano. {Sie lacht.)
JANE. Ist nicht Fabiano?
KÖNIGIN. Nein!
JANE. Werdann:
KÖNIGIN. Der andere.
JANE. Wer?
KÖNIGIN. Du weißt ja, du kennst ihn, dieser Arbeiter,
dieser Mensch . . . — Übrigens was liegt daran:
lANE {bebt am ganzen Leibe). Gilbert:
KÖNIGIN. Ja, Gilbert, das ist der Name.
JANE. Madame! o nein, Madame! O, sagt, daß es nicht
so ist, Madame! Gilbert— das wäre zu entsetzlich! Er ist
entwischt.
KÖNIGIN. Er entwischte in der Tat, als man ihn ergriff.
Man hat ihn statt Fabianis unter den schwarzen Schleier
5i6 ÜBERSETZUNGEN
gesteckt. Die Hinrichtung, sie ist nachts, das Volk kann
nichts sehen. Sei ruhig.
JANE {init emej?i entsetzlichen Schrei). Ah, Madame, Gil-
bert ist der, den ich liebe!
KÖNIGIN. Wie? Was sagst du? Kommst du um deine
Sinne? Täuschtest du mich auch, du? Ah, diesen Gilbert
liebst du! Nun denn, was liegt mir daran?
JANE {gebrochen^ zu den Füßen der Königin^ schluchzend^
sich auf den Knien schleppe7id^ die Hände ringend. Die
große Glocke läutet während dieser ganzen Szene). Madame,
Erbarmen! Madame, im Namen des Himmels! Madame,
bei Eurer Krone, bei Eurer Mutter, bei den Engeln!
Gilbert! Gilbert! Das macht mich toll. Madame, rettet
Gilbert! Dieser Mann ist mein Leben, dieser Mann ist
mein Gemahl, dieser Mann .... ich sage Euch, er hat
alles für mich getan, er hat mich erzogen, mich ange-
nommen, er hat an meiner Wiege meinen Vater ersetzt,
der für Eure Mutter gestorben ist. Madame, Ihr seht
wohl, daß ich ein armes, elendes Geschöpf bin, und daß
man nicht streng gegen mich sein darf. Was Ihr eben
gesagt, war ein so schrecklicher Schlag, daß ich wahr-
haftig nicht weiß, wie ich die Kraft habe, mit Euch zu
reden. Seht, ich sage, was ich kann. Aber Ihr müßt die
Hinrichtung aufschieben lassen. Sogleich die Hinrichtung
aufschieben. Die Sache auf morgen verlegen. Zeit sich
zu finden, das ist alles. Dies Volk kann wohl bis morgen
warten. Wir wollen sehen, was zu machen ist. Nein,
schüttelt den Kopf nicht. Keine Gefahr für Euern Fabiani.
Ihr könnt mich statt seiner nehmen. Unter dem schwarzen
Schleier, die Nacht,— wer sollte was merken? Aber rettet
Gilbert! Was macht Euch das, ich oder er? Endlich, ich
will ja sterben, ich!— O mein Gott, diese Glocke, diese
entsetzliche Glocke! Jeder dieser Glockenschläge ist ein
Schritt zum Schafott, jeder dieser Glockenschläge trifft
mein Herz.— Tut das, Madame, habt Erbarmen! Keine
Gefahr für Euren Fabiano. Laßt mich Eure Hände küssen.
Ich liebe Euch, Madame, ich habe es Euch noch nicht
gesagt; aber ich liebe Euch sehr. Ihr seid eine große
Königin. Seht, wie ich Eure schönen Hände küsse. O,
MARIA TUDOR. DRITTE HANDLUNG 517
ein Befehl zum Aufschub der Hinrichtung! Es ist noch
Zeit. Ich versichere Euch, es ist sehr leicht. Sie gehen
langsam. Es ist weit vom Turm bis zum alten Markt.
Der Mann auf dem Balkon hat gesagt, man würde durch
Charing-Croß gehen. Es gibt einen nähern Weg. Ein
Mann zu Pferde würde noch beizeit ankommen. Im Na-
men des Himmels, Madame, habt Erbarmen! Endlich,
stellt Euch an meinen Platz, nehmt an, ich sei die Kö-
nigin und Ihr das arme Mädchen, Ihr würdet weinen, wie
ich, und ich würde barmherzig sein. Gnade, Madame!
Oh! das fürchtete ich, die Tränen möchten mich am Reden
hindern. Oh! sogleich die Hinrichtung aufschieben, das ist
nicht schwer, Madame; keine Gefahr für Fabiano, ich
schwöre es Euch! Findet Ihr denn wirklich nicht, daß
man tun muß, was ich da sage, Madame?
KÖNIGIN (erweicht^ indem sie Jane aufhebt). Ich möchte
es, Unglückliche. Ach! du weinst ja, wie ich weinte; was
du empfindest, ich habe es empfunden. Meine Qual läßt
mich Mitleid mit der deinigen haben. Sieh, ich weine
auch. Das ist sehr unglücklich, armes Kind! Ohne Zweifel,
man hätte wohl einen andern nehmen können, Tyrconnel
zum Beispiel; aber er ist zu bekannt, man brauchte einen
Unbekannten. Man hatte nur den da zur Hand. Ich er-
kläre dir das, damit du begreifst, siehst du. O, mein Gott!
es gibt so Zufälle. Man ist gefangen. Man kann nichts
dazu.
JANE. Ja, ich verstehe Euch wohl, Madame. Das ist wie
bei mir, ich hätte Euch noch manches zu sagen; aber ich
wollte, der Befehl zum Aufschub wäre unterschrieben,
und der Mann fortgeschickt. Seht, die Sache ist dann
abgetan. Wir sprechen besser darnach. O, diese Glocke!
immer diese Glocke!
KÖNIGIN. Unmöglich, Lady Jane.
JANE. Doch, es ist möglich. Ein Mann zu Pferde. Es
gibt einen sehr kurzen Weg an dem Staden hin. Ich will
gehen, ich. Es ist möglich. Es ist leicht. Ihr seht, ich
spreche ganz ruhig.
KÖNIGIN. Aber das Volk würde es nicht leiden, es
würde zurückkommen, alles im Turme ermorden, und
5i8 ÜBERSETZUNGEN
Fabiani ist noch da. Begreife denn doch. Du zitterst,
armes Kind; ich bin wie du, ich zittere auch. Stelle dich
einmal an meinen Platz. Endlich, ich hätte wohl nicht
nötig, mir die Mühe zu nehmen, dir das zu erklären. Du
siehst, ich tue, was ich kann. Denke nicht mehr an diesen
Gilbert, Jane, das ist aus. Fasse dichl
JANE. Aus! Nein, es ist nicht aus! Solange diese schreck-
liche Glocke läutet, ist es nicht aus! Mich fassen bei dem
Tod von Gilbert! Glaubt Ihr, ich würde Gilbert so sterben
lassen.- Nein, Madame! Ha, ich verliere meine Mühe!
Ha, Ihr hört mich nicht! Nun denn, das Volk wird mich
hören, wenn die Königin mich nicht hört! Ha, sie sind
gut, die Leute vom Volk! Das Volk ist noch in diesem
Hofe. Ihr mögt dann mit mir machen, was Ihr wollt.
Ich werde ihnen zuschreien, daß man sie betrügt und
daß es Gilbert ist, ein Arbeiter, wie sie, und daß es nicht
Fabiani ist.
KÖNIGIN. Halt, elendes Kind! (Sie ergreift sie am Arme
und betrachtet sie mit einem furchtbaren Blick?) Ha! du
nimmst es so? Ha! ich bin gut und sanft, und ich weine
mit dir, und jetzt wirst du toll und rasend. Ha! meine
Liebe ist so groß wie deine, und meine Hand ist stärker
als deine. Du rührst dich nicht! Ah, dein Geliebter! Was
geht mich dein Geliebter an? Sollen denn alle Mädchen
Englands kommen und Rechenschaft von mir wegen ihrer
Geliebten fordern? Bei Gott! ich rette den meinigen, so
gut ich kann, und auf Unkosten dessen, der mir in den
Weg kommt. Wacht ihr über die eurigen?
JANE. Laßt mich!— 0, ich fluche Euch, abscheuliches
Weib!
KÖNIGIN. Still!
JANE. Nein, ich will nicht schweigen. Und soll ich Euch
auch einen Gedanken sagen, der mir eben kommt? Ich
glaube nicht, daß der, welcher sterben wird, Gilbert ist.
KÖNIGIN. Was sagst du?
JANE. Ich weiß nicht. Aber ich sah ihn unter dem
schwarzen Schleier vorbeigehen. Es ist mir, als müßte
sich etwas in mir geregt, sich etwas empört, sich etwas
in meinem Herzen erhoben und mir zugerufen haben:
MARIA TUDOR. DRITTE HANDLUNG 519
''Gilbert! es ist Gilbert!", wenn es Gilbert gewesen wäre.
Ich habe nichts gefühlt, es ist nicht Gilbert!
KÖNIGIN. Was sagst du da? Ah, mein Gott! du bist
wahnwitzig; was du sagst, ist toll, und doch erschreckt es
mich. Ah! du regst eine der geheimsten Qualen meines
Herzens auf. Warum hat mich dieser Aufstand verhindert,
selbst über alles zu wachen! Warum habe ich anderen,
als mir selbst, Fabianos Rettung anvertraut? Äneas Dul-
verton ist ein Verräter. Simon Renard war vielleicht da.
Wenn ich nicht zum zweitenmal von den Feinden Fa-
bianos verraten worden bin! Wenn es in der Tat Fabiano
wäre! . . . Jemand! he! jemand! jemand! [Zwei Schließer
treten auf. Zum crsteui) Ihr lauft! Hier ist mein könig-
licher Ring. Sagt, daß man die Hinrichtung aufschiebe.
Auf den Alten Markt! den Alten Markt! Es gibt einen
kürzeren Weg, sagtest du, Jane?
JANE. An dem Staden hin.
KÖNIGIN {zum Schließer). An dem Staden hin. Ein
Pferd! schnell! {Der Schließer ab. Zum zweiten Schließer:)
Ihr lauft sogleich zu dem Turme von Eduard. Es sind
dort zwei Kerker für die zum Tode Verdammten. In
einem dieser Kerker ist ein Mann. Bringt ihn sogleich
her. {Der Schließer ab.) Ach, ich zittere! meine Knie
brechen; ich hätte nicht Kraft genug, selbst zu gehen.
Ach, du machst mich toll, wie du! Ach, elende Dirne,
du machst mich unglücklich, wie du! Ich fluche dir, wie
du mir fluchst. Mein Gott! wird der Mann noch beizeit
ankommen? Welche entsetzliche Angst! Ich sehe nichts
mehr. Alles ist wirr in meinem Geist. Diese Glocke, für
wen tönt sie? Ist es für Gilbert? ist es für Fabiani?
JANE. Die Glocke schweigt.
KÖNIGIN. Dann ist der Zug auf dem Richtplatz. Der
Mann kann nicht mehr ankommen. {Man hört einen Ka-
7tone?ischuß.)
JANE. Himmel!
KÖNIGIN. Er steigt auf das Schafott. {Zweiter Kanoneip-
schuß.) Er kniet nieder.
JANE. Das ist entsetzlich! {Dritter Kanonenschuß)
BEIDE. Ach! . . .
520 ÜBERSETZUNGEN
KÖNIGIN. Es lebt nur noch einer. In einem Augenblick
wissen wir, welcher. Mein Gott! gib, daß es Fabiani ist,
der hereintritt.
JANE. Mein Gott! gib, daß es Gilbert ist.
(Der Vorhang im Hintergrunde Öffnet sich. Simon Renard
tritt ein^ Gilbert an der Hand^
JANE. Gilbert! {Sie fliegen einander in die Arme.)
KONIGIN. Und Fabiano?
SIMON RENARD. Tot.
KONIGIN. Tot: . . . Tot! Wer wagte . . .:
SIMON RENARD. Ich. Ich habe England und die Kö-
nigin gerettet.
'
BRIEFE
) 5 23 C
STRASSBURG 1831-1833
AX DIE FAMILIE Straßburg, im Oktober 1831.
Als sich das Gerücht verbreitete, daß Romarhw durch
Straßburg reisen würde, eröfifneten die Studenten sogleich
eine Subskription und beschlossen, ihm mit einer schwar-
zen Fahne entgegenzuziehen. Endlich traf die Nachricht
hier ein, daß Romarino den Nachmittag mit den Gene-
rälen Schneider und Lmigermann ankommen würde. Wir
versammelten uns sogleich in der Akademie; als wir aber
durch das Tor ziehen wollten, ließ der Offizier, der von
der Regierung Befehl erhalten hatte, uns mit der Fahne
nicht passieren zu lassen, die Wache unter das Gewehr
treten, um uns den Durchgang zu wehren. Doch wir
brachen mit Gewalt durch und stellten uns drei- bis vier-
hundert Mann stark an der großen Rheinbrücke auf. An
uns schloß sich die Nationalgarde an. Endlich erschien
Romarino, begleitet von einer Menge Reiter. Ein Stu-
dent hält eine Anrede, die er beantwortet, ebenso ein
Xationalgardist. Die Nationalgarden umgeben den Wagen
und ziehen ihn; wir stellen uns mit der Fahne an die
Spitze des Zugs, dem ein großes Musikkorps vormarschiert.
So ziehen wir in die Stadt, begleitet von einer ungeheuren
Volksmenge unter Absingung der Marseillaise und der
Carmagnole; überall erschallt der Ruf: Vive la lihertil
vive Romarinol a bas les ministres! ä bas le juste milieul
Die Stadt selbst illuminiert, an den Fenstern schwenken
die Damen ihre Tücher, und Romarino wird im Triumph
bis zum Gasthof gezogen, wo ihm unser Fahnenträger die
Fahne mit dem Wunsch überreicht, daß diese Trauer-
fahne sich bald in Polens Freiheitsfahne verwandeln möge.
Darauf erscheint Romarino auf dem Balkon, dankt, man
ruft Vivat— und die Komödie ist fertig.
AN DIE FAMILIE Straßburg, im Dezember 1831.
Es sieht verzweifelt kriegerisch aus; kommt es zum Kriege,
dann gibt es in Deutschland vornehmlich eine babylonische
Verwirrung, und der Himmel weiß, was das Ende vom
Liede sein wird. Es kann alles gewonnen und alles ver-
524 BRIEFE
loren werden; wenn aber die Russen über die Oder gehn,
dann nehme ich den Schießprügel, und sollte ich's in
Frankreich tun. Gott mag den allerdurchlauchtigsten und
gesalbten Schafsköpfen gnädig sein; auf der Erde werden
sie hoffentlich keine Gnade mehr finden.
AN DIE FAMILIE Straßburg, im Februar 1832.
Das einzige Interessante in politischer Beziehung ist, daß
die hiesigen republikanischen Zierbengel mit roten Hüten
herumlaufen, und daß Herr Pirier die Cholera hatte, die
Cholera aber leider nicht ihn.
AN DIE FAMILIE Straßburg, im Dezember 1832.
Ich hätte beinahe vergessen zu erzählen, daß der Platz
in Belagerungsstand gesetzt wird (wegen der holländischen
Wirren). Unter meinem Fenster rasseln beständig die
Kanonen vorbei, auf den öffentlichen Plätzen exerzieren
die Truppen, und das Geschütz wird auf den Wällen auf-
gefahren. Für eine politische Abhandlung habe ich keine
Zeit mehr, es wäre auch nicht der Mühe wert, das Ganze
ist doch nur eine Komödie. Der König und die Kammern
regieren, und das Volk klatscht und bezahlt.
AN DIE FAMILIE Straßburg, im Januar 1833.
Auf Weihnachten ging ich morgens um vier Uhr in die
Frühmette ins Minister. Das düstere Gewölbe mit seinen
Säulen, die Rose und die farbigen Scheiben und die
kniende Menge waren nur halb vom Lampenschein er-
leuchtet. Der Gesang des unsichtbaren Chores schien
über dem Chor und dem Altare zu schweben und den
vollen Tönen der gewaltigen Orgel zu antworten. Ich bin
kein Katholik und kümmerte mich wenig um das Schellen
und Knien der buntscheckigen Pfaffen, aber der Gesang
allein machte mehr Eindruck auf mich als die faden, ewig
wiederkehrenden Phrasen unserer meisten Geistlichen,
die jahraus, jahrein an jedem Weihnachtstag meist nichts
Gescheiteres zu sagen wissen als: der liebe Herrgott sei
doch ein gescheiter Mann gewesen, daß er Christus grade
um diese Zeit auf die Welt habe kommen lassen
STRASSBURG 1833 525
AN DIE FAMILIE Straßburg, den 5. April 1833.
Heute erhielt ich Euren Brief mit den Erzählungen aus
Frankfurt. Meine Meinung ist die: Wenn in unserer Zeit
etwas helfen soll, so ist es Gewalt. Wir wissen, was wir
von unseren Fürsten zu erwarten haben. Alles, was sie
bewilligten, wurde ihnen durch die Notwendigkeit abge-
zwungen. Und selbst das Bewilligte wurde uns hinge-
worfen wie eine erbettelte Gnade und ein elendes Kinder-
spielzeug, um dem. ewigen Maulaffen Volk seine zu eng
geschnürte Wickelschnur vergessen zu machen. Es ist
eine blecherne Flinte und ein hölzerner Säbel, womit nur
ein Deutscher die Abgeschmacktheit begehen konnte Sol-
datchens zu spielen. Unsere Landstände sind eine Sa-
tire auf die gesunde Vernunft, wir können noch ein Sä-
kulum damit herumziehen, und wenn wir die Resultate
dann zusammennehmen, so hat das Volk die schönen
Reden seiner Vertreter noch immer teurer bezahlt als
der römische Kaiser, der seinem Hofpoeten für zwei ge-
brochene Verse 20000 Gulden geben ließ. Man wirft
den jungen Leuten den Gebrauch der Gewalt vor. Sind
wir denn aber nicht in einem ewigen Gewaltzustand? Weil
wir im Kerker geboren und großgezogen sind, merken
wir nicht mehr, daß wir im Loch stecken mit angeschmie-
deten Händen und Füßen und einem Knebel im Munde.
Was nennt Ihr denn gesetzlichen Zustand? Ein Gesetz,
das die große Masse der Staatsbürger zum fronenden
Vieh macht, um die unnatürlichen Bedürfnisse einer un-
bedeutenden und verdorbenen Minderzahl zu befriedigen?
Und dies Gesetz, unterstützt durch eine rohe Militärgewalt
und durch die dumme Pfiffigkeit seiner Agenten, dies Ge-
setz ist eine ewige, rohe Gewalt, angetan dem Recht und
der gesunden Vernunft, und ich werde mit Mund und
Hand dagegen kämpfen, wo ich kann. Wenn ich an dem,
was geschehen, keinen Teil genommen und an dem, was
vielleicht geschieht, keinen Teil nehmen werde, so ge-
schieht es weder aus Mißbilligung noch aus Furcht, son-
dern nur weil ich im gegenwärtigen Zeitpunkt jede revo-
lutionäre Bewegung als eine vergebliche Unternehmung
betrachte und nicht die Verblendung derer teile, welche
526 BRIEFE
in den Deutschen ein zum Kampf für sein Recht bereites
Volk sehen. Diese tolle Meinung führte die Frankfurter
Vorfälle herbei, und der Irrtum büßte sich schwer. Irren
ist übrigens keine Sünde, und die deutsche Indififerenz ist
wirklich von der Art, daß sie alle Berechnung zuschanden
macht. Ich bedaure die Unglücklichen von Herzen. Sollte
keiner von meinen Freunden in die Sache verwickelt sein:
AN DIE FAMILIE Straßburg, im Mai 1833.
Soeben erhalten wir die Nachricht, daß in Netistadt die
Soldateska über eine friedliche und unbewaffnete Ver-
sammlung hergefallen sei und ohne Unterschied mehrere
Personen niedergemacht habe. Ähnliche Dinge sollen sich
im übrigen Rheinbayern zugetragen haben. Die liberale
Partei kann sich darüber grade nicht beklagen; man ver-
gilt Gleiches mit Gleichem, Gewalt mit Gewalt. Es wird
sich finden, wer der Stärkere ist.
Wenn Ihr neulich bei hellem Wetter bis auf das Münster
hättet sehen können, so hättet Ihr mich bei einem lang-
haarigen, bärtigen jungen Mann sitzend gefunden. Be-
sagter hatte ein rotes Barett auf dem Kopf, um den Hals
einen Kaschmir-Schal, um den Kadaver einen kurzen
deutschen Rock, auf die Weste war der Name "Rousseau"
gestickt, an den Beinen enge Hosen mit Stegen, in der
Hand ein modisches Stöckchen. Ihr seht, die Karikatur
ist aus mehreren Jahrhunderten und Weltteilen zusammen-
gesetzt: Asien um den Hals, Deutschland um den Leib,
Frankreich an den Beinen, 1400 auf dem Kopf und 1833
in der Hand. Er ist ein Kosmopolit— nein, er ist mehr,
er ist St. Simonistl Ihr denkt nun, ich hätte mit einem
Narren gesprochen, und Ihr int. Es ist ein liebenswür-
diger junger Mann, viel gereist. — Ohne sein fatales Kostüm
hätte ich nie den St. Simonisten verspürt, wenn er nicht
von ^er femme in Deutschland gesprochen hätte. Bei den
Simonisten sind Mann und Frau gleich, sie haben gleiche
politische Rechte. Sie haben nun ihren pere, der ist St.
Simon^ ihr Stifter; aber billigerweise müßten sie auch eine
mere haben. Die ist aber noch zu suchen, und da haben
sie sich denn auf den Weg gemacht, wie Saul nach seines
STR ASSBURG 1833 527
Vaters Eseln, mit dem Unterschied, daß— denn im neun-
zehnten Jahrhundert ist die Welt gar weit vorangeschrit-
ten—daß die Esel diesmal den Saul suchen. Rousseau
mit noch einem Gefährten (beide verstehen kein Wort
deutsch) wollten 6\t fef?ime in Deutschland suchen; man
beging aber die intolerante Dummheit, sie zurückzuweisen.
Ich sagte ihm, er hätte nicht viel an den Weibern, die
Weiber aber viel an ihm verloren; bei den einen hätte er
sich ennuyiert und über die anderen gelacht. Er bleibt
jetzt in Straßburg, steckt die Hände in die Taschen und
predigt dem Volke die Arbeit, wird für seine Kapazität
gut bezahlt und niarche vers les fenwies, wie er sich aus-
drückt. Er ist übrigens beneidenswert, führt das bequemste
Leben unter der Sonne, und ich möchte aus purer Faul-
heit St. Simonist werden, denn man müßte mir meine
Kapazität gehörig honorieren.
AN DTE FAMILIE Straßburg, Ende Mai 1833.
Wegen mir könnt Ihr ganz ruhig sein; ich werde nicht
nach Freiburg gehen und ebensowenig wie im vorigen
Jahre an einer Versammlung teilnehmen.
AN DIE FAMILIE Straßburg, im Juni 1833.
Ich werde zwar immer meinen Grundsätzen gemäß han-
deln, habe aber in neuerer Zeit gelernt, daß nur das not-
wendige Bedürfnis der großen Masse Umänderungen her-
beiführen kann, daß alles Bewegen und Schreien der ein-
zelnen vergebliches Torenwerk ist. Sie schreiben— man
liest sie nicht; sie schreien— man hört sie nicht; sie han-
deln—man hilft ihnen nicht. ... Ihr könnt voraussehen,
daß ich mich in die Gießener Winkelpolitik und revolutio-
nären Kinderstreiche nicht einlassen werde.
AN DIE FAMILIE Straßburg, den 8. Juli 1833.
\}Va7iderung durch die Vogesen.]
Bald im Tal, bald auf den Höhen zogen wir durch das
liebliche Land. Am zweiten Tage gelangten wir auf einer
über 3000 Fuß hohen Fläche zum sogenannten weißen
und schwarzen See. Es sind zwei finstere Lachen in tiefer
528 BRIEFE
Schlucht, unter etwa 500 Fuß hohen Felswänden. Der
weiße See liegt auf dem Gipfel der Höhe. Zu unseren
Füßen lag still das dunkle Wasser. Über die nächsten
Höhen hinaus sahen wir im Osten die Rheinebene und
den Schwarzwald, nach West und Nordwest das Lothringer
Hochland; im Süden hingen düstere Wetterwolken, die
Luft war still. Plötzlich trieb der Sturm das Gewölke die
Rheinebene herauf; zu unserer Linken zuckten die Blitze,
und unter dem zerrissenen Gewölk über dem dunklen
Jura glänzten die Alpengletscher in der Abendsonne. Der
dritte Tag gewährte uns den nämlichen herrlichen An-
blick; wir bestiegen nämlich den höchsten Punkt der Vo-
gesen, den an 5000 Fuß hohen Böigen. Man übersieht
den Rhein von Basel bis Straßburg, die Fläche hinter
Lothringen bis zu den Bergen der Champagne, den An-
fang der ehemaligen Franche Comtd, den Jura und die
Schweizergebirge vom Rigi bis zu den entferntesten Sa-
voyischen Alpen. Es war gegen Sonnenuntergang, die
Alpen wie blasses Abendrot über der dunkel gewordenen
Erde. Die Nacht brachten wir in einer geringen Entfer-
nung vom Gipfel in einer Sennerhütte zu. Die Hirten
haben hundert Kühe und bei neunzig Farren und Stiere
auf der Höhe. Bis Sonnenaufgang war der Himmel etwas
dunstig, die Sonne warf einen roten Schein über die
Landschaft. Über den Schwarzwald und den Jura schien
das Gewölk wie ein schäumender Wasserfall zu stürzen,
nur die Alpen standen hell darüber, wie eine bHtzende
Milchstraße. Denkt Euch über der dunklen Kette des Jura
und über dem Gewölk im Süden, so weit der Bhck reicht,
eine ungeheure, schimmernde Eiswand, nur noch oben
durch die Zacken und Spitzen der einzelnen Berge unter-
brochen.— Vom Böigen stiegen wir rechts herab in das so-
genannte Amarinental, das letzte Haupttal der Vogesen.
Wir gingen talaufwärts. Das Tal schließt sich mit einem
schönen Wiesengrund im wilden Gebirg. Über die Berge
führte uns eine gut erhaltene Bergstraße nach Lothringen
zu den Quellen der Mosel. Wir folgten eine Zeitlang dem
Laufe des Wassers, wandten uns dann nördlich und kehrten
über mehrere interessante Punkte nach Straßburg zurück.
GIESSEN 1833 529
Hier ging es seit einigen Tagen etwas unruhig zu. Ein
ministerieller Deputierter, Herr Saglio, kam vor einigen
Tagen aus Paris zurück. Es kümmerte sich niemand um
ihn. Eine bankerotte Ehrlichkeit ist heutzutage etwas zu
Gemeines, als daß ein Volksvertreter, der seinen Frack
wie einen Schandpfahl auf dem Rücken trägt, noch jemand
interessieren könnte. Die Polizei war aber entgegenge-
setzter Meinung und stellte deshalb eine bedeutende An-
zahl Soldaten auf dem Paradeplatz und vor dem Hause
des Herrn Saglio auf. Dies lockte denn endlich am zwei-
ten oder dritten Tage die Menge herbei, gestern und vor-
gestern abend wurde etwas vor dem Hause gelärmt. Präfekt
undMaire hielten es für die beste Gelegenheit, einen Orden
zu erwischen: sie ließen die Truppen ausrücken, die Straßen
räumen, Bajonette und Kolbenstöße austeilen, Verhaf-
tungen vornehmen, Proklamationen anschlagen usw.
GIESSENUND DARMSTADT\%i,'^''\^']'^
AN DIE FAMILIE Gießen, den i. November 1833.
Gestern wurden wieder zwei Studenten verhaftet, der
kleine Stamm und Groß.
AN DIE FAMILIE Gießen, den 19. November 1833.
Gestern war ich bei dem Bankett zu Ehren der zurück^
gekehrten Depitierten. An zweihundert Personen, unter
ihnen Baiser und Vogt. Einige loyale Toaste, bis man
sich Courage getrunken und dann das Polenlied, die Mar-
seillaise gesungen und den in Friedberg Verhafteten ein
Vivat gebracht! Die Leute gehen ins Feuer, wenn's von
einer brennenden Punschbowle kommt!
AN DIE BRAUT [Gießen, Frühjahr 1834?]
Hier ist kein Berg, wo die Aussicht frei sei. Hügel hinter
Hügel und breite Täler, eine hohle Mittelmäßigkeit in
allem; ich kann mich nicht an diese Natur gewöhnen, und
die Stadt ist abscheulich. — Bei uns ist Frühling, ich kann
Deinen Veilchenstrauß immer ersetzen, er ist unsterblich
BÜCHNER 34.
530 BRIEFE
wie der Lama. Lieb Kind, was macht denn die gute Stadt
Straßburg? Es geht dort allerlei vor, und Du sagst kein
Wort davon. Je baise les petites mams, en goiäant les soii^
venirs doux de Strasbourg. —
^^Frouve-moi que tu m'aimes enco7-e beaucoup en nie don^
nant bientöt des nouvellesT Und ich ließ Dich warten!
Schon seit einigen Tagen nehme ich jeden Augenblick
die Feder in die Hand, aber es war mir unmöglich,
nur ein Wort zu schreiben. Ich studierte die Geschichte
der Revohition. Ich fühlte mich wie zernichtet unter
dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in
der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den
menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt,
allen und keinem verliehen. Der einzelne nur Schaum
auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft
des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen
ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu
beherrschen unmöglich. Es fällt mir nicht mehr ein, vor
den Paradegäulen und Eckstehern der Geschichte mich
zu bücken. Ich gewöhnte mein Auge ans Blut. Aber ich
bin kein Guillotinenmesser. Das Muß ist eins von den
Verdammungsworten, womit der Mensch getauft worden.
Der Ausspruch: es muß ja Ärgernis kommen, aber wehe
dem, durch den es kommt — ist schauderhaft. Was ist das,
was in uns lügt, mordet, stiehlt: Ich mag dem Gedanken
nicht weiter nachgehen. Könnte ich aber dies kalte und
gemarterte Herz an Deine Brust legen!
B[öckel] wird Dich über mein Befinden beruhigt haben, ich
schrieb ihm. Ich verwünsche meine Gesundheit. Ich glüh-
te, das Fieber bedeckte mich mit Küssen und umschlang
mich wie der Arm der Geliebten. Die Finsternis wogte
über mir, mein Herz schwoll in unendlicher Sehnsucht; es
drangen Sterne durch das Dunkel, und Hände und Lippen
bückten sich nieder. Und jetzt? Und sonst? Ich habe nicht
einmal die Wollust des Schmerzes und des Sehnens. Seit
ich über die Rheinbrücke ging, bin ich wie in mir ver-
nichtet, ein einzelnes Gefühl taucht nicht in mir auf. Ich
bin ein Automat; die Seele ist mir genommen. Ostern ist
noch mein einziger Trost; ich habe Verwandte bei Landau,
GIESSEN 1834 531
ihre Einladung und die Erlaubnis, sie zu besuchen. Ich
habe die Reise schon tausendmal gemacht und werde nicht
müde.— Du fragst mich: sehnst Du Dich nach mir: Nennst
Du"s Sehnen, wenn man nur in einem Punkt leben kann,
und wenn man davon gerissen ist und dann nur noch das
Gefühl seines Elendes hat: Gib mir doch Antwort. Sind
meine Lippen so kalt? . . . Dieser Brief ist ein Charivari:
ich tröste Dich mit einem andern.
AN DIE FAMILIE Gießen, im Februar 1834.
Ich verachte niemanden, am wenigsten wegen seines Ver-
standes oder seiner Bildung, weil es in niemands Gewalt
liegt, kein Dummkopf oder kein Verbrecher zu werden —
weil wir durch gleiche Umstände wohl alle gleich würden
und weil die Umstände außer uns liegen. Der Verstand
nun gar ist nur eine sehr geringe Seile unsers geistigen
Wesens und die Bildung nur eine sehr zufällige Form
desselben. Wer mir eine solche Verac/itufig worw'ixii^ be-
hauptet, daß ich einen Menschen mit Füßen träte, weil
er einen schlechten Rock anhätte. Es heißt dies, eine
Roheit, die man einem im Körperlichen nimmer zu-
trauen würde, ins Geistige übertragen, wo sie noch ge-
meiner ist. Ich kann jemanden einen Dummkopf nennen,
ohne ihn deshalb zu verachten; die Dummheit gehört zu
den allgemeinen Eigenschaften der menschlichen Dinge;
für ihre Existenz kann ich nichts, es kann mir aber nie-
mand wehren, alles, was existiert, bei seinem Namen zu
nennen und dem, was mir unangenehm ist, aus dem Wege
zu gehn. Jemanden kränken, ist eine Grausamkeit; ihn
aber zu suchen oder zu meiden, bleibt meinem Gutdünken
überlassen. Daher erklärt sich mein Betragen gegen alte
Bekannte: ich kränkte keinen und sparte mir viel Lange-
weile; halten sie mich für hochmütig, wenn ich an ihren
Vergnügungen oder Beschäftigungen keinen Geschmack
finde, so ist es eine Ungerechtigkeit; mir würde es nie
einfallen, einem andern aus dem nämlichen Grunde einen
ähnlichen Vorwurf zu machen. Man nennt mich einen
Spötter. Es ist wahr, ich lache oft; aber ich lache nicht
darüber, wie jemand ein Mensch, sondern nur darüber,
53 i BRIEFE
daß er ein Mensch ist, wofür er ohnehin nichts kann,
und lache dabei über mich selbst, der ich sein Schicksal
teile. Die Leute nennen das Spott^ sie vertragen es nicht,
daß man sich als Narr produziert und sie duzt; sie sind
Verächter, Spötterund Hochmütige, weil sie die Narrheit
nur außer sich suchen. Ich habe freilich noch eine Art
von Spott, es ist aber nicht der der Verachtung, sondern
der des Hasses. Der Haß ist so gut erlaubt als die Liebe,
und ich hege ihn im vollsten Maße gegen die, welche
verachten. Es ist deren eine große Zahl, die, im Besitze
einer lächerlichen Äußerlichkeit, die man Bildung, oder
eines toten Krams, den man Gelehrsamkeit heißt, die
große Masse ihrer Brüder ihrem verachtenden Egoismus
opfern. Der Aristokratismus ist die schändlichste Ver-
achtung des heiligen Geistes im Menschen; gegen ihn
kehre ich seine eigenen Waffen: Hochmut gegen Hoch-
mut, Spott gegen Spott. — Ihr würdet Euch besser bei mei-
nem Stiefelputzer nach mir umsehn; mein Hochmut und
Verachtung Geistesarmer und Ungelehrter fände dort wohl
ihr bestes Objekt. Ich bitte, fragt ihn einmal . . . Die
Lächerlichkeit des Herablassens werdet Ihr mir doch wohl
nicht zutrauen. Ich hoffe noch immer, daß ich leidenden,
gedrückten Gestalten mehr mitleidige Blicke zugeworfen,
als kalten, vornehmen Herzen bittere Worte gesagt habe.
AN DIE BRAUT [Gießen, Februar 1834.]
Ich dürste nach einem Briefe. Ich bin allein, wie im
Grabe; wann erweckt mich Deine Hand.^ Meine Freunde
verlassen mich, wir schreien uns wie Taube einander in
die Ohren; ich wollte, wir wären stumm, dann könnten
wir uns doch nur ansehen, und in neuen Zeiten kann ich
kaum jemand starr anblicken, ohne daß mir die Tränen
kämen. Es ist dies eine Augenwassersucht, die auch beim
Starrsehen oft vorkommt. Sie sagen, ich sei verrückt, weil
ich gesagt habe, in sechs Wochen würde ich aufeistehen^
zuerst aber Hinmielfahrt halten, in der Diligence nämlich.
Lebe wohl, liebe Seele, und verlaß mich nicht. Der Gram
macht mich Dir streitig, ich lieg ihm den ganzen Tag im
Schoß; armes Herz, ich glaube, du vergiltst mit Gleichem.
GIESSEN 1834 533
AN DIE BRAUT [Gießen, März 1834.]
Der erste helle Augenblick seit acht Tagen. Unaufhör-
liches Kopfweh und Fieber, die Nacht kaum einige Stun-
den dürftiger Ruhe. Vor zwei Uhr komme ich in kein
Bett, und dann ein beständiges Auffahren aus dem Schlaf
und ein Meer von Gedanken, in denen mir die Sinne
vergehen. Mein Schweigen quält Dich wie mich, doch
vermochte ich nichts über mich. Liebe, liebe Seele, ver-
gibst Dur — Eben komme ich von draußen herein. Ein ein-
ziger, forthallender Ton aus tausend Lerchen kehlen schlägt
durch die brütende Sommerluft, ein schweres Gewölk
wandelt über die Erde, der tiefbrausende Wind klingt wie
sein melodischer Schritt. Die Frühlingsluft löste mich aus
meinem Starrkrampf. Ich erschrak vor mir selbst. Das
Gefühl des Gestorbenseins war immer über mir. Alle
Tvlenschen machten mir das hippokratische Gesicht, die
Augen verglast, die Wangen wie von Wachs, und wenn
dann die ganze Maschinerie zu leiern anfing, die Gelenke
zuckten, die Stimme herausknarrte und ich das ewige
Orgellied herumtrillern hörte und die Wälzchen und Stift-
chen im Orgelkasten hüpfen und drehen sah— ich ver-
ßuchte das Konzert, den Kasten, die Melodie und— ach,
wir armen schreienden Musikanten! das Stöhnen auf uns-
rer Folter, wäre es nur da, damit es durch die Wolken-
ritzen dringend und weiter, weiter klingend wie ein me-
lodischer Hauch in himmlischen Ohren stirbt? Wären wir
das Opfer im glühenden Bauch des Perryllasstiers, dessen
Todesschrei wie das Aufjauchzen des in den Flammen sich
aufzehrenden Gottstiers klingt: Ich lästre nicht. Aber die
Menschen lästern. Und doch bin ich gestraft, ich fürchte
mich vor meiner Stimme und— vor meinem Spiegel. Ich
hätte Herrn Callot- Hoffmann sitzen können, nicht wahr,
meine Liebe: Für das Modellieren hätte ich Reisegeld be-
kommen. Ich spüre, ich fange an, interessant zu werden. —
Die Ferien fangen morgen in vierzehn Tagen an; ver-
weigert man die Erlaubnis, so gehe ich heimlich, ich bin
mir selbst schuldig, einem unerträglichen Zustande ein
Ende zu machen. Meine geistigen Kräfte sind gänzlich
zerrüttet. Arbeiten ist mir unmöglich; ein dumpfes Brüten
534 BRIEFE
hat sich meiner bemeistert, in dem mir kaum ein Gedanke
noch hell wird. Alles verzehrt sich in mir selbst; hätte
ich einen Weg für mein Inneres — , aber ich habe keinen
Schrei für den Schmerz, kein Jauchzen für die Freude,
keine Harmonie für die Seligkeit. Dies Stummsein ist
meine Verdammnis. Ich habe Dir's schon tausendmal ge-
sagt: Lies meine Briefe nicht — kalte, träge Worte! Könnte
ich nur über Dich einen vollen Ton ausgießen — so schleppe
ich Dich in meine wüsten Irrgänge. Du sitzest jetzt im
dunkeln Zimmer in Deinen Tränen allein, bald trete ich
zu Dir. Seit vierzehn Tagen steht Dein Bild beständig
vor mir, ich sehe Dich in jedem Traum. Dein Schatten
schwebt immer vor mir, wie das Lichtzittern, wenn man
in die Sonne gesehen. Ich lechze nach einer sehgen Emp-
findung; die wird mir bald, bald, bei Dir.
AN DIE FAMILIE Gießen, den 19. März 1834.
Wichtiger ist die Untersuchung wegen der Verbindungen;
die Relegation steht wenigstens dreißig Studenten bevor.
Ich wollte die Unschädlichkeit dieser Verschwörer eidlich
bekräftigen. Die Regierung muß aber doch etwas zu tun
haben! Sie dankt ihrem Himmel, wenn ein paar Kinder
schleifen oder Ketten schaukeln!— Z^^"^ in Friedberg Ver-
hafteten sind frei, mit Ausnahme von vieren . . .
AN DIE BRAUT Gießen, März 1834.
Ich wäre untröstlich, mein armes Kind, wüßte ich nicht,
was Dich heilte. Ich schreibe jetzt täglich, schon gestern
hatte ich einen Brief angefangen. Fast hätte ich Lust,
statt nach Darmstadt gleich nach Straßburg zu gehen.
Nimmt Dein Unwohlsein eine ernste Wendung — ich bin
dann im Augenblick da. Doch was sollen dergleichen
Gedanken? Sie sind mir Unbegreiflichkeiten. — Mein Ge-
sicht ist wie ein Osterei, über das die Freude rote Flecken
laufen läßt. Doch ich schreibe abscheulich; es greift Deine
Augen an, das vermehrt das Fieber. Aber nein, ich glaube
nichts, es sind nur die Nachwehen des alten nagenden
Schmerzes; die linde Frühlingsluft küßt alte Leute und
hektische tot; Dein Schmerz ist alt und abgezehrt, er stirbt,
GIESSEN 1834 535
das ist alles, und Du meinst, Dein Leben ginge mit. Siehst
Du denn nicht den neuen lichten Tag: Hörst Du meine
Tritte nicht, die sich wieder rückwärts zu Dir wenden?
Sieh, ich schicke Dir Küsse, Schneeglöckchen, Schlüssel-
blumen, Veilchen, der Erde erste schüchterne Blicke ins
flammende Auge des Sonnenjünglings. Den halben Tag
sitze ich eingeschlossen mit Deinem Bild und spreche
mit Dir. Gestern morgen versprach ich Dir Blumen; da
sind sie. Was gibst Du mir dafür? Wie gefällt Dir mein
Bedlam? Will ich etwas Ernstes tun, so komme ich mir
vor, wie Larifari in der Komödie: will er das Schwert
ziehen, so ist's ein Hasenschwanz . . .
Ich wollte, ich hätte geschwiegen. Es überfällt mich eine
unsägliche Angst. Du schreibst gleich; doch um 's Him-
mels willen nicht, wenn es Dich Anstrengung kostet. Du
sprachst mir von einem Heilmittel; lieb Herz, schon lange
schwebt es mir auf der Zunge, ich liebte aber so unser
stilles Geheimnis — . Doch sage Deinem Vater alles— , doch
zwei Bedingungen: Schweigen, selbst bei den nächsten
Verwandten; ich mag nicht hinter jedem Kusse die Koch-
töpfe rasseln hören und bei den verschiedenen Tanten
das Familienvatersgesicht ziehen. Dann: nicht eher an
meine Eltern zu schreiben, als bis ich selbst geschrieben.
Ich überlasse Dir alles, tue, was Dich beruhigen kann.
Was kann ich sagen, als daß ich Dich liebe; was ver-
sprechen, als was in dem Worte Liebe schon liegt, Treue?
Aber die sogenannte Versorgung: Student noch zwei
Jahre; die gewisse Aussicht auf ein stürmisches Leben,
vielleicht bald auf fremdem Boden!
Zum Schlüsse trete ich zu Dir und singe Dir einen alten
Wiegengesang:
War nicht umsonst so still und schwach,
Verlaßne Liebe trug sie nach.
In ihrer kleinen Kammer hoch
Sie stets an der Erinnerung sog;
An ihrem Brotschrank an der Wand
Er immer, immer vor ihr stand.
Und wenn ein Schlaf sie übernahm,
Er immer, immer wiederkam.
536 BRIEFE
Und dann:
Denn immer, immer, immer doch
Schwebt ihr das Bild an Wänden noch
Von einem Menschen, welcher kam
Und ihr als Kind das Herze nahm.
Fast ausgelöscht ist sein Gesicht,
Doch seiner Worte Kraft noch nicht,
Und jener Stunden Seligkeit,
Ach jener Träume Wirklichkeit,
Die, angeboren jedermann.
Kein Mensch sich wirklich machen kann.
AN DIE BRAUT Gießen, März 1834.
Ich werde gleich von hier nach Straßburg gehen, ohne
Darmstadt zu berühren; ich hätte dort auf Schwierigkeiten
gestoßen, und meine Reise wäre vielleicht bis zu Ende
der Vakanzen verschoben worden. Ich schreibe Dir je-
doch vorher noch einmal, sonst ertrag ich's nicht vor Un-
geduld; dieser Brief ist ohnedies so langweilig wie ein
Anmelden in einem vornehmen Hause: Herr Studiosus
Büchner. Das ist alles! Wie ich hier zusammenschrumpfe,
ich erliege fast unter diesem Bewußtsein. Ja sonst wäre
es ziemlich gleichgültig, wie man nun einen Betäubten
oder Blödsinnigen beklagen mag: aber Du, was sagst Du
zu dem Invaliden? Ich wenigstens kann die Leute auf
halbem Sold nicht ausstehen. Nous ferons un peu de ro^
mantique, pour nous tenir a la hauteur du siecle\ et puis me
faudra-t-il du/er ä chevl pour faire de Impression ä un
Coeur de femme^ Aujourd' hui on a le sysÜnie nerveux un peu
robuste. Adieu.
AN DIE FAMILIE Straßburg, im April 1834.
Ich war [in Gießen] im Äußeren ruhig, doch war ich in
tiefe Schwermut verfallen; dabei engten mich die poli-
tischen Verhältnisse ein, ich schämte mich, ein Knecht mit
Knechten zu sein, einem vermoderten Fürstengeschlecht
und einem kriechenden Staatsdiener- Aristokratismus zu
Gefallen. Ich kam nach Gießen in die widrigsten Ver-
hältnisse, Kummer und Widerwillen machten mich krank.
GIESSEN 1834 537
AN DIE FAMILIE Gießen, den 25. Mai 1834.
Das Treiben des "Burschen" kümmert mich wenig. Ge-
stern abend hat er von dem Philister Schläge bekommen.
Man schrie: ''Bursch heraus!" Es kam aber niemand als
die Mitglieder zweier Verbindimge^i^ die aber den Uni-
versitätsrichter rufen mußten, um sich vor den Schuster-
und Schneiderbuben zu retten. Der UniversitätsHchter
war betrunken und schimpfte die Bürger; es wundert
mich, daß er keine Schläge bekam. Das possierlichste ist,
daß die Buben liberal sind und sich daher an die loyal
gesinnten Verbindungen machten. Die Sache soll sich
heute abend wiederholen, man munkelt sogar von einem
Auszug; ich hoffe, daß der Bursche wieder Schläge be-
kommt; wir halten zu den Bürgern und bleiben in der
Stadt.
AN DIE FAMILIE Gießen, den 2. Juli 1834.
Was sagt man zu der Verurteilung von Schulz: — Mich
wundert es nicht, es riecht nach Kommißbrot. — Apro-
pos, wißt ihr die hübsche Geschichte vom Herrn Kom-
missär usw. . . .? Der gute Kolumbus sollte in Darmstadt
bei einem Schreiner eine geheime Presse entdecken. Er
besetzt das Haus, dringt ein. "Guter Mann, es ist alles
aus, führ Er mich nur an die Presse!" — Der Mann führt
ihn an die Kelter.— "Nein, Mann! Die Presse! Die
Presse!"— Der Mann versteht ihn nicht, und der Kom-
missär wagt sich in den Keller. Es ist dunkel. "Ein Licht,
Mann!"— "Das müssen Sie kaufen, wenn Sie eins haben
wollen." — Aber der Herr Kommissär spart dem Lande
überflüssige Ausgaben. Er rennt, wie Münchhausen, an
einen Balken, er schlägt Feuer aus seinem Nasenbein,
das Blut fließt, er achtet nichts und findet nichts. Unser
lieber Großherzog wird ihm aus einem Zivilverdienst-
orden ein Nasenfutteral machen.
AN DIE FAMILIE Frankfurt, den 3. August 1834.
Ich benutze jeden Vorwand, um mich von meiner Kette
loszumachen. Freitag abends ging ich von Gießen weg;
ich wählte die Nacht der gewaltigen Hitze wegen, und
538 BRIEFE
so wanderte ich in der lieblichsten Kühle unter hellem
Sternenhimmel, an dessen fernstem Horizonte ein bestän-
diges Blitzen leuchtete. Teils zu Fuß, teils fahrend mit
Postillonen und sonstigem Gesindel, legte ich während
der Nacht den größten Teil des Wegs zurück. Ich ruhte
mehrmals unterwegs. Gegen Mittag war ich in Offaibach.
Den kleinen Umweg machte ich, weil es von dieser Seite
leichter ist, in die Stadt zu kommen, ohne angehalten zu
werden. Die Zeit erlaubte mir nicht, mich mit den nö-
tigen Papieren zu versehen.
AN DIE FAMILIE Gießen, den 5. August 1834.
Ich meine, ich hätte Euch erzählt, daß Minnigerode eine
halbe Stunde vor meiner Abreise arretiert wurde; man
hat ihn nach Friedberg abgeführt. Ich begreife den Grund
seiner Verhaftung nicht. Unserem scharfsinnigen Uni-
versitätrichter fiel es ein, in meiner Reise, wie es scheint,
einen Zusammenhang mit der Verhaftung Minnigerodes
zu finden. Als ich hier ankam, fand ich meinen Schrank
versiegelt, und man sagte mir, meine Papiere seien di/rc/i-
sucht worden. Auf mein Verlangen wurden die Siegel
sogleich abgenommen, auch gab man mir meine Papiere
(nichts als Briefe von Euch und meinen Freunden) zurück;
nur einige französische Briefe von VV[ilhelminerJ, Muston,
L[ucius?] undB[öckel] wurden zurückbehalten, wahrschein-
lich weil die Leute sich erst einen Sprachlehrer müssen
kommen lassen, um sie zu lesen. Ich bin empört über
ein solches Benehmen; es wird mir übel, wenn ich meine
heiligsten Geheimnisse in den Händen dieser schmutzigen
Menschen denke. Und das alles— wißt Ihr auch warum?
Weil ich an dem nämlichen Tag abgereist, an dem Min-
nigerode verhaftet wurde. Auf einen vagen Verdacht hin
verletzte man die heiligsten Rechte und verlangte dann
weiter nichts, als daß ich mich über meine Reise aus-
weisen sollte! ! ! Das konnte ich natürlich mit der größ-
ten Leichtigkeit; ich habe Briefe von B[öckel], die jedes
Wort bestätigen, das ich gesprochen, und unter meinen
Papieren befindet sich keine Zeile, die mich kompromit-
tieren könnte. Ihr könnt über die Sache ganz unbesorgt
GIESSEN 1834 539
sein. Ich bin auf freiem Fuß, und es ist unmöglich, daß
man einen Grund zur Verhaftung finde. Nur im tiefsten
bin ich über das Verfahren der Gerichte empört, auf den
Verdacht eines mögh'chen Verdachts in die heiligsten Fa-
miliengeheimnisse einzubrechen. Man hat mich auf dem
Universitätsgericht bloß gefragt, wo ich mich während
der drei letzten Tage aufgehalten, und um sich darüber
Aufschluß zu verschaffen, erbricht man schon am zweiten
Tag in meiner Abwesenheit meinen Pult und bemächtigt
sich meiner Papiere! Ich werde mit einigen Rechtskun-
digen sprechen und sehen, ob die Gesetze für eine solche
Verletzung Genugtuung schaöen!
AN DIE FAMILIE Gießen, den 8. August 1834.
Ich gehe meinen Beschäftigungen wie gewöhnlich nach,
vernommen bin ich nicht weiter geworden. Verdächtiges
hat man nicht gefunden, nur die französischen Briefe
scheinen noch nicht entziffert zu sein; der Herr Univer-
sitätsrichter muß sich wohl erst Unterricht im Französi-
schen nehmen. Man hat mir sie noch nicht zurückgegeben . . .
Übrigens habe ich mich bereits an das Disziplinargericht
gewendet und es um Schutz gegen die Willkür des Uni-
versität S7'ic hier s gebeten. Ich bin auf die Antwort be-
j gierig. Ich kann mich nicht entschließen, auf die mir ge-
i bührende Genugtuung zu verzichten. Das Verletzen meiner
i heiligsten Rechte und das Einbrechen in alle meine Ge-
jheimnisse, das Berühren von Papieren, die mir Heilig-
, tümer sind, empörten mich zu tief, als daß ich nicht jedes
Mittel ergreifen sollte, um mich an dem Urheber dieser
, Gewalttat zu rächen. Den Universitätsrichter habe ich
I mittelst des höflichsten Spottes fast ums Leben gebracht.
! Wie ich zurückkam, mein Zimmer mir verboten und mein
; Pult versiegelt fand, lief ich zu ihm und sagte ihm ganz
i kaltblütig mit der größten Höflichkeit, in Gegenwart
mehrerer Personen: wie ich vernommen, habe er in meiner
Abwesenheit mein Zimmer mit seinem Besuche beehrt,
I ich komme, um ihn um den Grund seines gütigen Besu-
' ches zu fragen usw. — Es ist schade, daß ich nicht nach
dem Mittagessen gekommen, aber auch so barst er fast
540 BRIEFE
und mußte diese beißende Ironie mit der größten Höf-
lichkeit beantworten. Das Gesetz sagt, nur in Fällen sehr
dringenden Verdachts, ja nur eines Verdachtes, der statt
halben Beweises gelten könne, dürfe eine Haussuchung
vorgenommen werden. Ihr seht, wie man das Gesetz aus-
legt. Verdacht, am wenigsten ein dringender, kann nicht
gegen mich vorliegen, sonst müßte ich verhaftet sein; in
der Zeit, wo ich hier bin, könnte ich ja jede Untersu-
chung durch Verabreden gleichlautender Aussagen und
dergleichen unmöglich machen. Es geht hieraus hervor,
daß ich durch nichts kompromittiert bin und daß die
Haussuchung nur vorgenommen worden, weil ich nicht
liederlich und nicht sklavisch genug aussehe, um für keinen
Demagogen gehalten zu werden. Eine solche Gewalttat
stillschweigend ertragen, hieße die Regierung zur Mit-
schuldigen machen; hieße aussprechen, daß es keine ge-
setzliche Garantie mehr gäbe; hieße erklären, daß das
verletzte Recht keine Genugtuung mehr erhalte. Ich
will imserer Regierung diese grobe Beleidigung nicht
antun.
Wir wissen nichts von Min7ii^erode\ das Gerücht mit
Ofifenbach ist jedenfalls reine Erfindung; daß ich auch
schon dagewesen, kann mich nicht mehr kompromittie-
ren als jeden anderen Reisenden . . . Sollte man, so wie
man ohne die gesetzlich notwendige Ursache meine Pa-
piere durchsuchte, mich auch ohne dieselbe festnehmen,
in Gottes Namen! ich kann so wenig darüberhinaus, und
es ist dies so wenig meine Schuld, als wenn eine Herde
Banditen mich anhielte, plünderte oder mordete. Es ist
Gewalt, der man sich fügen muß, wenn man nicht stark
genug ist, ihr zu widerstehen; aus der Schwäche kann
einem kein Vorwurf gemacht werden.
AN DIE FAMILIE Gießen, Ende August 1834.
Es sind jetzt fast drei Wochen seit der Haussuchung ver-
flossen, und man hat mir in bezug darauf noch nicht die
mindeste Eröffnung gemacht. Die Vernehmung bei dem
Universitätsrichter am ersten Tage kann nicht in An-
schlag gebracht werden, sie steht damit in keinem gesetz-
\
GIESSEN 1834 541
liehen Zusammenhang; der Herr Georgi verlangt nur als
Universitätsrichter von mir als Studenten: ich
solle mich wegen meiner Reise ausweisen, während er
die Haussuchung als Regierungskommissär vor-
nahm. Ihr sehet also, wie weit man es in der ge-
setzlichen Anarchie gebracht hat. Ich vergaß, wenn
ich nicht irre, den wichtigen Umstand anzuführen, daß
die Haussuchung sogar ohne die drei, durch das Ge-
setz vorgeschriebenen Urkundspersonen vorgenommen
wurde und so um so mehr den Charakter eines Ein-
bruchs an sich trägt. Das Verletzen unserer Familien-
geheimnisse ist ohnehin ein bedeutenderer Diebstahl
als das Wegnehmen einiger Geldstücke. Das Einbrechen
in meiner Abwesenheit ist ebenfalls ungesetzlich; man
war nur berechtigt, meine Türe zu versiegeln, und
erst dann in meiner Abwesenheit zur Haussuchung zu
schreiten, wenn ich mich auf erfolgte Vorladung nicht
gestellt hätte. Es sind also drei Verletzungen des Ge-
setzes vorgefallen: Haussuchung ohne dringenden Ver-
dacht (ich bin, wie gesagt, noch nicht vernommen wor-
den, und es sind drei Wochen verflossen), Haussuchung
ohne Urkundspersonen, und endlich Haussuchung am
dritten Tage meiner Abwesenheit ohne vorher erfolgte
Vorladung.
Die Vorstellung an das Disziplinargericht war im Grund
I genommen überflüssig, weil der Universitätsrichter als
■ Regierungskommissär nicht unter ihm steht. Ich tat diesen
Schritt nur vorerst, um nicht mit der Türe ins Haus zu
fallen; ich stellte mich unter seinen Schutz, ich überließ
ihm meine Klage. Seiner Stellung gemäß mußte es
1 meine Sache zu der seinigen machen, aber die Leute sind
I etwas furchtsamer Natur; ich bin überzeugt, daß sie mich
; an eine andere Behörde verweisen. Ich erwarte ihre Re-
. Solution . . . Der Vorfall ist so einfach und liegt so klar
■■ am Tage, daß man mir entweder volle Genugtuung schaff"en
■ oder öffentlich erklären muß, das Gesetz sei aufgehoben
und eine Gewalt an seine Stelle getreten, gegen die es
keine Appellation als Sturmglocken und Pflastersteine
gebe.
542 BRIEFE
AN SAUERLÄNDER
Darmstadt, den 21. Februar 1835.
Geehrtester Hen-! Ich gebe mir die Ehre, Ihnen mit die-
sen Zeilen ein Manuskript zu überschicken. Es ist ein
di'amatischer Ve?'such und behandelt einen Stoff der neue-
ren Geschichte. Sollten Sie geneigt sein, das Verlag des-
selben zu übernehmen, so ersuche ich Sie mich so bald
als möglich davon zu benachrichtigen, im entgegenge-
setzten Falle aber das Manuskript an die Heyerische
Buchhandlung dahier zurückgehn zu lassen.
Sie würden mich sehr verbinden, wenn Sie dem Herrn
Carl Gutzkow den beigeschlossenen Brief überschicken
und ihm das Drama zur Einsicht mitteilen wollten.
Haben Sie die Güte eine etwaige Antwort in einer Cou-
verte mit der Adresse: an Frau Regierungsrat Reuß zu
Darmstadt, an mich gelangen zu lassen. Verschiedene
Umstände lassen mich dringend wünschen, daß dies in
möglichster Kürze der Fall sei.
Hochachtungsvoll verbleibe ich
Ihr ergebenster Diener
G, Büchner.
AN GUTZKOW Darmstadt, den 21. Februari835.
Mein Herr! Vielleicht hat es Ihnen die Beobachtung, viel-
leicht, im unglücklicheren Fall, die eigene Erfahrung schon
gesagt, daß es einen Grad von Elend gibt, welcher jede
Rücksicht vergessen und jedes Gefühl verstummen macht.
Es gibt zwar Leute, welche behaupten, man solle sich in
einem solchen Falle lieber zur Welt hinaushungern, aber
ich könnte die Widerlegung in einem seit kurzem er-
blindeten Hauptmanne von der Gasse aufgreifen, welcher
erklärt, er würde sich totschießen, wenn er nicht ge-
zwungen sei, seiner Familie durch sein Leben seine Be-
soldung zu erhalten. Das ist entsetzlich. Sie werden wohl
einsehen, daß es ähnliche Verhältnisse geben kann, die
einen verhindern, seinen Leib zum Notanker zu machen,
um ihn von dem Wracke dieser Welt in das Wasser zu
werfen, und werden sich also nicht wundern, wie ich Ihre
Türe aufreiße, in Ihr Zimmer trete, Ihnen ein Manuskript
DARMSTADT 1835 543
auf die Brust setze und ein Almosen abfordere. Ich bitte
Sie nämlich, das Manuskript so schnell wie möglich zu
durchlesen, es, im Fall Ihnen Ihr Gewissen als Kritiker
dies erlauben sollte, dem Herrn Sauerländer zu empfehlen,
und sogleich zu antworten.
Über das Werk selbst kann ich Ihnen nichts weiter sagen,
als daß unglückliche Verhältnisse mich zwangen, es in
höchstens fünf Wochen zu schreiben. Ich sage dies, um
Ihr Urteil über den Verfasser, nicht über das Drama an
und für sich zu motivieren. Was ich daraus machen soll,
weiß ich selbst nicht, nur das weiß ich, daß ich alle Ur-
I Sache habe, der Geschichte gegenüber rot zu werden; doch
tröste ich mich mit dem Gedanken, daß, Shakespeare aus-
'' genommen, alle Dichter vor ihr und der Natur wie Schul-
knaben dastehen.
Ich wiederhole meine Bitte um schnelle Antwort; im Falle
eines günstigen Erfolges können einige Zeilen von Ihrer
Hand, wenn sie noch vor nächstem Mittwoch hier ein-
treffen, einen Unglücklichen vor einer sehr traurigen Lage
bewahren.
Sollte Sie vielleicht der Ton dieses Briefes befremden, so
bedenken Sie, daß es mir leichter fällt, in Lumpen zu
betteln, als im Frack eine Supplik zu überreichen, und
fast leichter, die Pistole in der Hand: la bmirse ou la viel
zu sagen, als mit bebenden Lippen ein: Gott lohn es! zu
flüstern.
STRASSBURG 1835^1836
AN DIE FAMILIE Weißenburg, den 9. März 1835.
Eben lange ich wohlbehalten hier an. Die Reise ging
schnell und bequem vor sich. Ihr könnt, was meine per-
sönliche Sicherheit anlangt, völlig ruhig sein. Sicheren
Nachrichten gemäß bezweifle ich auch nicht, daß mir der
Aufenthalt i7i Straßburg gestattet werden wird . . . Nur die
dringendsten Gründe konnten mich zwingen, Vaterland
und Vaterhaus in der Art zu verlassen . . . Ich konnte
mich unserer politischen Inquisition stellen; von dem
544 BRIEFE
Resultat einer Untersuchung hatte ich nichts zu befürchten,
aber alles von der Untersuchung selbst . . . Ich bin über-
zeugt, daß nach einem Verlaute von zwei bis drei Jahren
meiner Rückkehr nichts mehr im Wege stehen wird. Diese
Zeit hätte ich im Falle des Bleibens in einem Kerker zu
Friedberg versessen; körperlich und geistig zerrüttet wäre
ich dann entlassen worden. Dies stand mir so deutlich
vor Augen, dessen war ich so gewiß, daß ich das große
Übel einer freiwilligen Verbannung wählte. Jetzt habe
ich Hände und Kopf frei ... Es liegt jetzt alles in meiner
Hand. Ich werde das Studiu?n der medizinisch-philoso-
phischen Wissenschaften mit der größten Anstrengung be-
treiben, und auf dem Felde ist noch Raum genug, um
etwas Tüchtiges zu leisten, und unsere Zeit ist grade dazu
gemacht, dergleichen anzuerkennen. Seit ich über der
Grenze bin, habe ich frischen Lebensmut; ich stehe jetzt
ganz allein, aber gerade das steigert meine Kräfte. Der
beständigen geheimen Angst vor Verhaftung und sonstigen
Verfolgungen, die mich in Darmstadt beständig peinigte,
enthoben zu sein, ist eine große Wohltat.
AN GUTZKOW Straßburg, März 1835.
Verehrtester! Vielleicht haben Sie durch einen SteckbrieJ
im "Frankfurter Journal" meine Abreise von Darmstadt
erfahren. Seit einigen Tagen bin ich hier; ob ich bleiben
werde, weiß ich nicht, das hängt von verschiedenen Um-
ständen ab. Mein Manuskript wird unter der Hand seinen
Kurs gemacht haben.
Meine Zukunft ist so problematisch, daß sie mich selbst
zu interessieren anfängt, was viel heißen will. Zu dem
subtilen Selbstmord durch Arbeit kann ich mich nicht
leicht entschließen; ich hoffe, meine Faulheit wenigstens
ein Vierteljahr lang fristen zu können und nehme dann
Handgeld entweder von den Jesuiten für den Dienst der
Maria oder von den St. Simonisten für die femme libre
oder sterbe mit meiner Geliebten. Wir werden sehen.
Vielleicht bin ich auch dabei, wenn noch einmal der
Münster eine Jakobinermütze aufsetzen sollte. Was sagen
Sie dazu? Es ist nur mein Spaß. Aber Sie sollen noch
STRASSBURG 1835 545
erleben, zu was ein Deutscher nicht fähig ist, wenn er
Hunger hat. Ich wollte, es ginge der ganzen Nation wie
mir. Wenn es einmal ein Mißjahr gibt, worin nur der
Hanf gerät! Das sollte lustig gehen, wir wollten schon
eine Boa Constrictor zusammen flechten. Mein Danton
ist vorläufig ein seidenes Schnürchen und meine Muse
ein verkleideter Samson.
AN DIE FAMILIE Straßburg, den 27. März 1835.
Ich fürchte sehr, daß das Resultat der Untersuchung den
Schritt, welchen ich getan, hinlänglich rechtfertigen wird;
es sind wieder Verhaftungen erfolgt, und man erwartet
nächstens deren noch mehr. Minnigerode ist in flag7'anti
crimine ertappt worden. Man betrachtet ihn als den Weg,
der zur Entdeckung aller bisherigen revolutionären Um-
triebe führen soll: man sucht ihm um jeden Preis sein
Geheimnis zu entreißen; wie sollte seine schwache Kon-
stitution der langsamen Folter, auf die man ihn spannt,
widerstehen können? .... Ist in den deutschen Zeitungen
die Hinrichtung des Leutnant Koseritz auf dem Hohen-
asperg in Württemberg bekanntgemacht worden: Er war
Mitwisser um das Frankfurter Komplott und wurde vor
einiger Zeit erschossen. Der Buchhändler Frankh aus
Stuttgart ist mit noch mehreren anderen aus der näm-
lichen Ursache zum Tode verurteilt worden, und man
glaubt, daß das Urteil vollstreckt wird.
AN DIE FAMILIE Straßburg, den 20. April 1835.
Heute morgen erhielt ich eine traurige Nachricht. — Ein
Flüchtling aus der Gegend von Gießen ist hier ange-
kommen; er erzählte mir, in der Gegend von Marburg
seien mehrere Personen verhaftet und bei einem von
ihnen eine Presse gefunden worden, außerdem sind meine
Freunde A. Becker und Klemm eingezogen worden, und
Rektor Weidig von Butzbach wird verfolgt. Ich begreife
unter solchen Umständen die Freilassung von P
nicht.
Jetzt erst bin ich froh, daß ich weg bin, man würde mich
auf keinen Fall verschont haben . . . Ich sehe meiner
BÜCHNER 35.
546 BRIEFE
Zukunft sehr ruhig entgegen. Jedenfalls könnte ich von
meinen schriftstellerischen Arbeiten leben . . . Man hat
mich auch aufgefordert, Kritiken über die neu erscheinen-
den französischen Werke in das Litefaturblatt zu schicken;
sie werden gut bezahlt. Ich würde mir noch weit mehr
verdienen können, wenn ich mehr Zeit darauf verwenden
wollte; aber ich bin entschlossen, meinen Studienplan
nicht aufzugeben.
AN DIE FAMILIE Straßburg, den 5. Mai 1835.
Schulz und seine Frau gefallen mir sehr gut; ich habe
schon seit längerer Zeit Bekanntschaft mit ihnen gemacht
und besuche sie öfters. Schulz namentlich ist nichts we-
niger als die unruhige Kanzleibürste, die ich mir unter
ihm vorstellte; er ist ein ziemlich ruhiger und sehr an-
spruchsloser Mann. Er beabsichtigt, in aller Nähe mit
seiner Frau nach Nancy und in Zeit von einem Jahr un-
gefähr nach Zürich zu gehen, um dort zu dozieren . . .
Die Verhältnisse der politischen Flüchtlinge sind in der
Schweiz keineswegs so schlecht, als man sich einbildet;
die strengen Maßregeln erstrecken sich nur auf diejenigen,
welche durch ihre fortgesetzten Tollheiten die Schweiz in
die unangenehmsten Verhältnisse mit dem Auslande ge-
bracht und schon beinahe in einen Krieg mit demselben
verwickelt haben . . .
Böckel und Bau77i sind fortwährend meine intimsten
Freunde; letzterer will seine Abhandlung über die Metho-
disten, wofür er einen Preis von 3000 Francs erhalten
hat und öffentlich gekrönt worden ist, drucken lassen.
Ich habe mich in seinem Namen an Gutzkow gewendet,
mit dem ich fortwährend in Korrespondenz stehe. Er ist
im Augenblick in Berlin, muß aber bald wieder zurück-
kommen. Er scheint viel auf mich zu halten; ich bin froh
darüber, sein Literaturblatt steht in großem Ansehn . . .
Im Juni wird er hierher kommen, wie er mir schreibt.
Daß mehreres aus meinem Z^r^wö; im "Phönix" erschienen
ist, hatte ich durch ihn erfahren; er versicherte mich auch,
daß das Blatt viel Ehre damit eingelegt habe. Das Ganze
muß bald erscheinen. Im Fall es Euch zu Gesicht kommt,
STR ASSBURG 1835 547
bitte ich Euch, bei Eurer Beurteilung vorerst zu bedenken,
daß ich der Geschichte treu bleiben und die Männer der
Revolution geben mußte, wie sie waren: blutig, lieder-
lich, energisch und zynisch. Ich betrachte mein Drama
wie ein geschichtliches Gemälde, das seinem Original
gleichen muß . . . Gutzkow hat mich um Kritiken wie um
eine besondere Gefälligkeit gebeten; ich konnte es nicht
abschlagen, ich gebe mich ja doch in meinen freien Stun-
den mit Lektüre ab, und wenn ich dann manchmal die
Feder in die Hand nehme und schreibe über das Gelesene
etwas nieder, so ist dies keine so große Mühe und nimmt
wenig Zeit weg . . .
Der Geburtstag des Königs ging sehr still vorüber. Nie-
mand fragt nach dergleichen, selbst die Republikaner
sind ruhig; sie w^ollen keine Emeuten mehr, aber ihre
Grundsätze finden von Tag zu Tag, namentlich bei der
jungen Generation, mehr Anhang, und so wird wohl die
Regierung nach und nach, ohne gewaltsame Umwälzung,
von selbst zusammenfallen ...
Sartorius ist verhaftet, sowie auch Becker. Heute habe
ich auch die Verhaftung des Herrn IVeidig und des Pfarrers
F/ick zu Petterweil erfahren.
AN DIE FAMILIE
Straßburg, Mittwoch nach Pfingsten 1835.
Was Ihr mir von dem in Darmstadt verbreiteten Gerüchte
hinsichtlich einer in Straßburg bestehenden Verbindung
sagt, beunruhigt mich sehr. Es sind höchstens acht bis
neun deutsche Flüchtlinge hier; ich komme fast in keine
Berührung mit ihnen, und an eine politische Verbindung
ist nicht zu denken. Sie sehen so gut wie ich ein, daß
unter den jetzigen Umständen dergleichen im ganzen un-
nütz und dem, der daran teilnimmt, höchst verderblich
ist. Sie haben nur einen Zweck, nämlich durch Arbeiten,
Fleiß und gute Sitten das sehr gesunkene Ansehn der
deutschen Flüchtlinge wieder zu heben, und ich finde das
sehr lobenswert. Straßburg schien übrigens unserer Re-
gierung höchst verdächtig und sehr gefährlich; es wundern
mich daher die umgehenden Gerüchte nicht im geringsten,
548 BRIEFE
nur macht es mich besorgt, daß unsere Regierung die
Ausweisung der Schuldigen verlangen will. Wir stehen
hier unter keinem gesetzlichen Schutz, halten uns eigent-
lich gegen das Gesetz hier auf, sind nur geduldet und
somit ganz der Willkür des Präfekten überlassen. Sollte
ein derartiges Verlangen von unserer Regierung gestellt
werden, so würde man nicht fragen: existiert eine solche
Verbindung oder nicht: sondern man würde ausweisen,
was da ist. Ich kann zwar auf Protektion genug zählen,
um mich hier halten zu können; aber das geht nur so
lange, als die hessische Regierung nicht besonders
meine Ausweisung verlangt, denn in diesem Falle spricht
das Gesetz zu deutlich, als daß die Behörde ihm nicht
nachkommen müßte. Doch hoffe ich, das alles ist über-
trieben. Uns berührt auch folgende Tatsache: Dr. Schulz
hat nämlich vor einigen Tagen den Befehl erhalten,
Straßburg zu verlassen; er hatte hier ganz zurückgezogen
gelebt, sich ganz ruhig verhalten— und dennoch! Ich hoffe,
daß unsere Regierung mich für zu unbedeutend hält, um
auch gegen mich ähnliche Maßregeln zu ergreifen, und
daß ich somit ungestört bleiben werde. Sagt, ich sei in
die Schweiz gegangen. —
Heumann sprach ich gestern. — Auch sind in der letzten
Zeit wieder fünf Flüchtlinge aus Darmstadt und Gießen
hier eingetroffen und bereits in die Schweiz weiter ge-
reist. Rosenstiel^ Wiener und Stamm sind unter ihnen.
AN WILHELM BÜCHNER Straßburg, im Juli 1835.
Ich würde Dir das nicht sagen, wenn ich im entfernte-
sten jetzt an die Möglichkeit tmtx politischen Umwälzung
glauben könnte. Ich habe mich seit einem halben Jahre
vollkommen überzeugt, daß nichts zu tun ist und daß
jeder, der im Augenblicke sich aufopfert, seine Haut wie
ein Narr zu Markte trägt. Ich kann Dir nichts NäJieres
sagen, aber ich kenne die Verhältnisse; ich weiß, wie
schwach, wie unbedeutend, wie zerstückelt die liberale
Partei ist, ich weiß, daß ein zweckmäßiges, übereinstim-
mendes Handeln unmöglich ist und daß jeder Versuch
auch nicht zum geringsten Resultate führt . . . Eine ge-
STRASSBURG 1835 549
naue Bekanntschaft mit dem Treiben der deutschen Re-
volutionärs im Auslande hat mich überzeugt, daß auch
von dieser Seite nicht das geringste zu hofifen ist. Es
herrscht unter ihnen eine babylonische Verwirrung, die
nie gelöst werden wird. Hoffen wir auf die Zeit!
AN GUTZKOW Straßburg, 1835.
Die ganze Revolution hat sich schon in Liberale und
Absolutisten geteilt und muß von der ungebildeten und
armen Klasse aufgefressen werden; das Verhältnis zivischen
Armen und Reichen ist das einzige revolutionäre Ele-
ment in der Welt; der Hunger allein kann die Freiheits-
göttin, und nur ein Moses, der uns die sieben ägyptischen
Plagen auf den Hals schickte, könnte ein Messias werden.
Mästen Sie die Bauern, und die Revolution bekommt die
Apoplexie. Ein Huhn im Topfe jedes Bauern macht den
gallischen Hahn verenden.
AN DIE FAMILIE Straßburg, im Juli 1835.
Ich habe hier noch mündlich viel Unangenehmes aus
Darmstadt erfahren. Koch^ Walloth^ Geilfuß und einer
meiner Gießener Freunde, mit Namen Becker, sind vor
kurzem hier angekommen, auch ist der junge Stamm hier.
Es sind sonst noch mehrere angekommen, sie gehen aber
sämtlich weiter in die Schweiz oder in das Innere von
Frankreich. Ich habe von Glück zu sagen und fühle mich
manchmal recht frei und leicht, wenn ich den weiten,
freien Raum um mich überblicke und mich dann in das
Darmstädter Arresthaus zurückversetze. Die Unglück-
lichen! Minnigerode sitzt jetzt fast ein Jahr; er soll kör-
perlich fast aufgerieben sein, aber zeigt er nicht eine
heroische Standhaftigkeit.- Es heißt, er sei schon mehr-
mals geschlagen worden— ich kann und mag es nicht
glauben. A, Becker wird wohl von Gott und der Welt
verlassen sein: seine Mutter starb, während er in Gießen
im Gefängnis saß; vierzehn Tage darnach eröffnete man
es ihm!!! Klemm ist ein Verräter, das ist gewiß, aber es
ist mir doch immer, als ob ich träumte, wenn ich daran
denke. Wißt Ihr denn, daß seine Schwester und seine
550 BRIEFE
Schwägerin ebenfalls verhaftet und nach Darmstadt ge-
bracht worden sind, und zwar höchstwahrscheinlich auf
seine eigne Aussage hin: Übrigens gräbt er sich sein
eignes Grab; seinen Zweck, die Heirat mit Fräulein v. . .
in Gießen, wird er doch nicht erreichen, und die öffent-
liche Verachtung, die ihn unfehlbar trifft, wird ihn töten.
Ich fürchte nur sehr, daß die bisherigen Verhaftungen
nur das Vorspiel sind; es wird noch bunt hergehen. Die
Regierung weiß sich nicht zu mäßigen; die Vorteile,
welche ihr die Zeitumstände in die Hand geben, wird sie
aufs äußerste mißbrauchen, und das ist sehr unklug und
für uns sehr vorteilhaft. Auch der junge v. Biegeleben,
Weidenbusch, Floret sind in eine Untersuchung verwickelt;
das wird noch ins Unendliche gehen. Drei Pfarrer, Flick,
Weidig und Thudichum, sind unter den Verhafteten. Ich
fürchte nur sehr, daß unsere Regierung uns hier nicht in
Ruhe läßt; doch bin ich der Verwendung der Professoren
Lauth, Duvernoy und des Doktor Böckeis gewiß, die sämt-
lich mit dem Präfekten gut stehen. —
Mit meiner Übersetzung bin ich längst fertig; wie es mit
meinem Drama geht, weiß ich nicht; es mögen wohl fünf
bis sechs Wochen sein, daß mir Gutzkow schrieb, es
werde daran gedruckt, seit der Zeit habe ich nichts mehr
darüber gehört. Ich denke, es muß erschienen sein, und
man schickt es mir erst, wenn die Rezensionen erschienen
sind, zugleich mit diesen zu; anders weiß ich mir die Ver-
zögerung nicht zu erklären. Nur fürchte ich zuweilen für
Gutzkoiü\ er ist ein Preuße und hat sich neuerdings durch
eine Vorrede zu einem in Berlin erschienenen Werke
das Mißfallen seiner Regierung zugezogen. Die Preußen
machen kurzen Prozeß; er sitzt vielleicht jetzt auf einer
preußischen Festung; doch wir wollen das Beste hoffen.
AN DIE FAMILIE Straßburg, i6. Juli 1835.
Ich lebe hier ganz unangefochten; es ist zwar vor einiger
Zeit ein Reskript von Gießen gekommen, die Polizei
scheint aber keine Notiz davon genommen zu haben . . .
Es liegt schwer auf mir, wenn ich mir Darmstadt vor-
stelle: ich sehe unser Haus und den Garten und dann
STRASSBURG 1835 551
unwillkürlich das abscheuliche Arresthaus. Die Unglück-
lichen! Wie wird das enden? Wohl wie in Frankfurt, wo
einer nach dem andern stirbt und in der Stille begraben
wird. Ein Todesurteil, ein Schafott, was ist das.' Man
stirbt für seine Sache. Aber so im Gefängnis auf eine
langsame Weise aufgerieben zu werden! Das ist entsetz-
hch! Könntet Ihr mir nicht sagen, wer in Darmstadt sitzt.'
Ich habe hier vieles untereinander gehört, werde aber
nicht klug daraus. Klemm scheint eine schändliche Rolle
zu spielen. Ich hatte den Jungen sehr gern, er war grenzen-
los leidenschafthch, aber oöen, lebhaft, mutig und auf-
geweckt. Hört man nichts von Minnigerode} Sollte er
wirklich Schläge erhalten.- Es ist mir undenkbar. Seine
heroische Standhaftigkeit sollte auch dem verstocktesten
Aristokraten Ehrfurcht einflößen.
AN DIE FAMILIE Straßburg, 28. JuH 1835.
Über mein Drama muß ich einige Worte sagen. Erst muß
ich bemerken, daß die Erlaubnis, einige Änderungen
machen zu dürfen, allzusehr benutzt worden ist. Fast auf
jeder Seite weggelassen, zugesetzt, und fast immer auf
die dem Ganzen nachteiligste Weise. Manchmal ist der
Sinn ganz entstellt oder ganz und gar weg, und fast platter
Unsinn steht an der Stelle. Außerdem wimmelt das Buch
von den abscheulichsten Druckfehlern. Man hat mir kei-
nen Korrekturbogen zugeschickt. Der Titel ist abge-
schmackt, und mein Name steht darauf, was ich ausdrück-
Hch verboten hatte; er steht außerdem nicht auf dem
Titel meines Manuskripts. Außerdem hat mir der Kor-
rektor einige Gemeinheiten in den Mund gelegt, die ich
in meinem Leben nicht gesagt haben würde. Gutzkows
glänzende Kritiken habe ich gelesen und zu meiner Freude
dabei bemerkt, daß ich keine Anlagen zur Eitelkeit habe.
Was übrigens die sogenannte Unsittlichkeit meines Buchs
angeht, so habe ich folgendes zu antworten: der dra-
77iatische Dichter ist in meinen Augen nichts als ein Ge-
schichtschreiber, steht aber über letzterem dadurch, daß
er uns die Geschichte zum zweitenmal erschafft und uns
gleich unmittelbar, statt eine trockne Erzählung zu geben,
552 BRIEFE
in das Leben einer Zeit hinein versetzt, uns statt Charak-
teristiken Charaktere und statt Beschreibungen Gestalten
gibt. Seine höchste Aufgabe ist, der Geschichte, wie sie
sich wirklich begeben, so nahe als möglich zu kommen.
Sein Buch darf weder sittlicher noch unsittlicher sein als
die Geschichte selbst-, aber die Geschichte ist vom lieben
Herrgott nicht zu einer Lektüre für junge Frauenzimmer
geschaffen worden, und da ist es mir auch nicht übel zu
nehmen, wenn mein Drama ebensowenig dazu geeignet
ist. Ich kann doch aus einem Danton und den Banditen
der Revolution nicht Tugendhelden machen! Wenn ich
ihre Liederlichkeit schildern wollte, so mußte ich sie eben
liederlich sein, wenn ich ihre Gottlosigkeit zeigen wollte,
so mußte ich sie eben wie Atheisten sprechen lassen.
Wenn einige unanständige Ausdrücke vorkommen, so
denke man an die wellbekannte, obszöne Sprache der
damaligen Zeit, wovon das, was ich meine Leute sagen
lasse, nur ein schwacher Abriß ist. Man könnte mir nun
noch vorwerfen, daß ich einen solchen Stoff gewählt hätte.
Aber der Einwurf ist längst widerlegt. Wollte man ihn
gelten lassen, so müßten die größten Meisterwerke der
Poesie verworfen werden. Der Dichter ist kein Lehrer
der Moral, er erfindet und schafft Gestalten, er macht
vergangene Zeiten wieder aufleben, und die Leute mögen
dann daraus lernen, so gut wie aus dem Studium der
Geschichte und der Beobachtung dessen, was im mensch-
lichen Leben um sie herum vorgeht. Wenn man so wollte,
dürfte man keine Geschichte studieren, weil sehr viele
unmoralische Dinge darin erzählt werden, müßte mit ver-
bundenen Augen über die Gasse gehen, weil man sonst
Unanständigkeiten sehen könnte, und müßte über einen
Gott Zeter schreien, der eine Welt erschaffen, worauf so
viele Liederlichkeiten vorfallen. Wenn man mir übrigens
noch sagen wollte, der Dichter müsse die Welt nicht
zeigen, wie sie ist, sondern wie sie sein solle, so ant-
worte ich, daß ich es nicht besser machen will als der
liebe Gott, der die Welt gewiß gemacht hat, wie sie sein
soll. Was noch die sogenannten Idealdichter anbetrifift,
so finde ich, daß sie fast nichts als Marionetten mit him-
STRASSBURG 1835 553
melblauen Nasen und afifektiertem Pathos, aber nicht
Menschen von Fleisch und Blut gegeben haben, deren
Leid und Freude mich mitempfinden macht und deren
Tun und Handeln mir Abscheu oder Bewunderung ein-
flößt. Mit einem Wort, ich halte viel auf Goethe oder
Shakespeare^ aber sehr wenig auf Schiller. Daß übrigens
noch die ungünstigsten Kritiken erscheinen werden, ver-
steht sich von selbst; denn die Regierungen müssen doch
durch ihre bezahlten Schreiber beweisen lassen, daß ihre
Gegner Dummköpfe oder unsittliche Menschen sind. Ich
halte übrigens mein Werk keineswegs für vollkommen
und werde jede wahrhaft ästhetische Kritik mit Dank an-
nehmen.—
Habt Ihr von dem gewaltigen Blitzstrahl gehört, der vor
einigen Tagen das Mihister getroffen hat? Nie habe ich
einen solchen Feuerglanz gesehen und einen solchen
Schlag gehört; ich war einige Augenblicke wie betäubt.
Der Schade ist der größte seit Wächtersgedenken. Die
Steine wurden mit ungeheurer Gewalt zerschmettert und
weit weg geschleudert; auf hundert Schritt im Umkreis
wurden die Dächer der benachbarten Häuser von den
herabfallenden Steinen durchgeschlagen. —
Es sind wieder drei Flüchtlinge hier eingetroffen, Nie-
vergelder ist darunter; es sind in Gießen neuerdings zwei
Studenten verhaftet worden. Ich bin äußerst vorsichtig.
Wir wissen hier von niemand, der auf der Grenze verhaftet
worden sei. Die Geschichte muß ein Märchen sein.
AN DIE FAMILIE Straßburg, Anfangs August 1835.
Vor allem muß ich Euch sagen, daß man mir auf beson-
dere Verwendung eine Sicherheitskarte versprochen hat,
im Fall ich einen Geburts - (nicht Heimats-)schein vor-
weisen könnte. Es ist dies nur als eine vom Gesetze vor-
geschriebene Förmlichkeit zu betrachten; ich muß ein
Papier vorweisen können, so unbedeutend es auch sei. . .
Doch lebe ich ganz unangefochten; es ist nur eine prophy-
laktische Maßregel, die ich für die Zukunft nehme. Sprengt
übrigens immerhin aus, ich sei nach Zürich gegangen; da
Ihr seit längerer Zeit keine Briefe von mir durch die Post
554 BRIEFE
erhalten habt, so kann die Polizei unmöglich mit Be-
stimmtheit wissen, wo ich mich aufhalte, zumal da ich
meinen Freunden geschrieben, ich sei nach Zürich ge-
gegangen.
Es sind wieder einige Flüchtlinge hier angekommen, ein
Sohn des Professor Vogt ist darunter. Sie bringen die
Nachricht von neuen Verhaftungen dreier Familienväter!
Der eine in Rödelheim, der andere in Frankfurt, der
dritte in Offenbach. Auch ist eine Schwester des unglück-
lichen Neuhof, ein schönes und liebenswürdiges Mädchen,
wie man sagt, verhaftet worden. Daß ein Frauenzimmer
aus Gießen in das Darmstädter Arresthaus gebracht w^urde,
ist gewiß; man behauptet, sie sei die . . . Die Regierung
muß die Sache sehr geheim halten, denn Ihr scheint in
Darmstadt sehr schlecht unterrichtet zu sein. Wir erfahren
alles durch die Flüchtlinge, welche es am besten wissen,
da sie meistens zuvor in die Untersuchung verwickelt
waren. Daß Mimtigerode in Friedberg eine Zeitlang
Ketten an den Händen hatte, weiß ich gewiß; ich weiß
es von einem, der mit ihm saß. Er soll tödlich krank sein;
wolle der Himmel, daß seine Leiden ein Ende hätten!
Daß die Gefangenen die Gefängniskost bekommen und
weder Licht noch Bücher erhalten, ist ausgemacht. Ich
danke dem Himmel, daß ich voraussah, was kommen
würde; ich wäre in so einem Loch verrückt geworden. . .
In der Politik fängt es hier wieder an, lebendig zu wer-
den. Die Höllenmaschine in Paris und die der Kammer
vorgelegten Gesetzentwürfe über die Presse machen viel
Aufsehn. Die Regierung zeigt sich sehr unmoralisch, denn
obgleich es gerichtlich erwiesen ist, daß der Täter ein
verschmitzter Schurke ist, der schon allen Parteien ge-
dient hat und wahrscheinlich durch Geld zu der Tat ge-
trieben wurde, so sucht sie doch das Verbrechen den
Republikanern und Carlisten auf den Hals zu laden und
durch den momentanen Eindruck die unleidlichsten Be-
schränkungen der Presse zu erlangen. Man glaubt, daß
das Gesetz in der Kammer durchgehen und vielleicht
noch geschärft werden wird. Die Regierung ist sehr un-
klug: in sechs Wochen hat man die Höllenmaschine ver-
STRASSBURG 1835 555
gessen, und dann befindet sie sich mit ihrem Gesetz einem
Volke gegenüber, das seit mehreren Jahren gewohnt ist,
alles, was ihm durch den Kopf kommt, öfifentlich zu sagen.
Die feinsten Politiker reimen die Höllenmaschine mit der
Revue in Kaiisch zusammen. Ich kann ihnen nicht ganz
unrecht geben: die Höllenmaschine unter Bonaparte! der
Rastadter Gesandtenmord!! . . . Wenn man sieht, wie die
absoluten Mächte alles wieder in die alte Unordnung zu
bringen suchen, Polen, Italien, Deutschland wieder unter
den Füßen— es fehlt nur noch Frankreich; es hängt ihnen
immer wie ein Schwert über dem Kopf. So zum Zeit-
vertreib wirft man doch die Millionen in Kaiisch nicht
zum Fenster hinaus. Man hätte die auf den Tod des
Königs folgende Verwirrung benutzt und hätte gerade
nicht sehr viele Schritte gebraucht, um an den Rhein zu
kommen. Ich kann mir das Attentat auf keine andere
Weise erklären. Die Republikaner haben erstens kein
Geld und sind zweitens in einer so elenden Lage, daß sie
nichts hätten versuchen können, selbst wenn der König
gefallen wäre. Höchstens könnten einige Legitim isten
hinein verwickelt sein. Ich glaube nicht, daß die Justiz
die Sache aufklären wird.
AN DIE FAMILIE Straßburg, den 17. August 1835.
Von Umtrieben weiß ich nichts. Ich und meine Freunde
sind sämtlich der Meinung, daß man für jetzt alles der
Zeit überlassen muß; übrigens kann der Mißbrauch, wel-
chen die Fürsten mit ihrer wiedererlangten Gewalt treiben,
nur zu unserem Vorteil gereichen. Ihr müßt Euch durch
die verschiedenen Gerüchte nicht irremachen lassen; so
soll sogar ein Mensch Euch besucht haben, der sich für
einen meiner Freunde ausgab. Ich erinnere mich gar nicht,
den Menschen je gesehen zu haben; wie mir die anderen
jedoch erzählten, ist er ein ausgemachter Schurke, der
wahrscheinlich auch das Gerücht von einer hier bestehen-
den Verbindung ausgesprengt hat. Die Gegenwart des
Priiizen Ej?iil, der eben hier ist, könnte vielleicht nach-
teilige Folgen für uns haben, im Fall er von dem Piäfekten
unsere Ausweisung begehrte; doch halten wir uns für zu
556 BRIEFE
unbedeutend, als daß Seine Hoheit sich mit uns beschäf-
tigen sollte. Übrigens sind fast sämtliche Flüchtlinge in
die Schweiz und in das Innere abgereist, und in wenigen
Tagen gehen noch mehrere, so daß höchstens fünf bis
sechs hier bleiben werden.
AN GUTZKOW Straßburg, Herbst 1835.
Was Sie mir über die Zusendung aus der Schiveiz sagen,
macht mich lachen. Ich sehe schon, wo es herkommt.
Ein Mensch, der mir einmal, es ist schon lange her, sehr
lieb war, mir später zur unerträglichen Last geworden ist,
den ich schon seit Jahren schleppe und der sich, ich weiß
nicht aus welcher verdammten Notwendigkeit, ohne Zu-
neigung, ohne Liebe, ohne Zutrauen an mich anklammert
und quält und den ich wie ein notwendiges Übel getragen
habe! Es war mir wie einem Lahmen oder Krüppel zu-
mut, und ich hatte mich so ziemlich in mein Leiden ge-
funden. Aber jetzt bin ich froh, es ist mir, als wäre ich
von einer Todsünde absolviert. Ich kann ihn endlich mit
guter Manier vor die Türe werfen. Ich war bisher un-
vernünftig gutmütig; es wäre mir leichter gefallen, ihn
tot zu schlagen als zu sagen: Pack dich! Aber jetzt bin
ich ihn los! Gott sei Dank! Nichts kommt einem doch in
der Welt teurer zu stehen als die Humanität.
AN DIE FAMILIE Straßburg, den 20. September 1835.
Mir hat sich eine Quelle geöffnet; es handelt sich um ein
großes Literaturblatt, ''Deutsche Revue" betitelt, das mit
Anfang des neuen Jahres in W^ochenheften erscheinen soll.
Gutzkow und Wienbarg werden das Unternehmen leiten;
man hat mich zu monatlichen Beiträgen aufgefordert. Ob
das gleich eine Gelegenheit gewesen wäre, mir vielleicht
ein regelmäßiges Einkommen zu sichern, so habe ich doch
meiner Studien halber die Verpflichtung zu regelmäßigen
Beiträgen abgelehnt. Vielleicht, daß Ende des Jahres noch
etwas von mir erscheint. —
Klemm also frei? Er ist mehr ein Unglücklicher als ein
Verbrecher, ich bemitleide ihn eher, als ich ihn verachte;
man muß doch gar pfiffig die tolle Leidenschaft des armen
STR ASSBURG 1835 557
Teufels benützt haben. Er hatte sonst Ehrgefühl; ich glaube
nicht, daß er seine Schande wird ertragen können. Seine
Familie verleugnet ihn, seinen älteren Bruder ausgenom-
men, der eine Hauptrolle in der Sache gespielt zu haben
scheint. Es sind viel Leute dadurch unglücklich gewor-
den. Mit Minnigerode soll es besser gehen. Hat denn
Gladbach noch kein Urteil.' Das heiße ich einen doch
lebendig begraben. Mich schaudert, wenn ich denke, was
vielleicht mein Schicksal gewesen wäre!
AN DIE FAMILIE Straßburg, im Oktober 1835.
Ich habe mir hier allerhand interessante Notizen über
einen Freund Goethes, einen unglücklichen Poeten namens
Loiz^ verschafft, der sich gleichzeitig mit Goethe hier auf-
hielt und halb verrückt wurde. Ich denke darüber einen
Aufsatz in der deutschen Revue erscheinen zu lassen.
Auch sehe ich mich eben nach Stoff zu ^m^x Abhandlung
über eine7i philosophischen oder naturhistorischen Gegen-
stafid um. Jetzt noch eine Zeitlang anhaltendes Studium,
und der Weg ist gebrochen. Es gibt hier Leute, die mir
eine glänzende Zukunft prophezeien. Ich habe nichts da-
wider.
AN DIE FAMILIE Straßburg, den 2. November 1835.
Ich weiß bestimmt, daß man mir in Darmstadt die aben-
teuerlichsten Dinge nachsagt; man hat mich bereits drei-
mal an der Grenze verhaften lassen. Ich finde es natür-
lich; die außerordentliche Anzahl von Verhaftungen und
Steckbriefen muß Aufsehen machen, und da das Publikum
jedenfalls nicht weiß, um was es sich eigentlich handelt,
so macht es wunderliche Hypothesen.
Aus der Schweiz habe ich die besten Nachrichten. Es
wäre möglich, daß ich noch vor Neujahr von der Züricher
Fakultät den Doktorhut erhielte, in welchem Fall ich als-
dann nächste Ostern anfangen würde, dort zu dozieren.
In einem Alter von zweiundzwanzig Jahren wäre das alles,
was man fordern kann. . ,
Neulich hat mein Name in der ''Allgemeinen Zeitung"
paradiert. Es handelte sich um eine große literarische
558 BRIEFE
Zeitschrift, Deutsche Revue, für die ich Artikel zu liefern
versprochen habe. Dies Blatt ist schon vor seinem Er-
scheinen angegriffen worden, worauf es denn hieß, daß
man nur die Herren Heine, Börne, Mundt, Schulz, Büch-
ner usw. zu nennen brauche, um einen Begriff von dem
Erfolge zu haben, den diese Zeitschrift haben würde. . .
Über die Art, wie Mhuiigerode mißhandelt wird, ist im
^'Temps" ein Artikel erschienen. Er scheint mir von
Darmstadt aus geschrieben; man muß wahrhaftig weit
gehen, um einmal klagen zu dürfen. Meine unglücklichen
Freunde!
AN GUTZKOW Straßburg [1835].
Sie erhalten hierbei ein Bändchen Gedichte von meinen
Freunden Stöber. Die Sagen sind schön, aber ich bin kein
Verehrer der Manier ä la Schwab und Uhland und der
Partei, die immer rückwärts ins Mittelalter greift, weil sie
in der Gegenwart keinen Platz ausfüllen kann. Doch ist
mir das Büchlein lieb; sollten Sie nichts Günstiges dar-
über zu sagen wissen, so bitte ich Sie, lieber zu schweigen.
Ich habe mich ganz hier in das Land hineingelebt; die
Vogesen sind ein Gebirg, das ich liebe wie eine Mutter,
ich kenne jede Bergspitze und jedes Tal, und die alten
Sagen sind so originell und heimlich, und die beiden
Stöber sind alte Freunde, mit denen ich zum erstenmal
das Gebirg durchstrich. Adolph hat unstreitig Talent,
auch wird Ihnen sein Name durch den Musenalmanach
bekannt sein. August steht ihm nach, doch ist er gewandt
in der Sprache.
Die Sache ist nicht ohne Bedeutung für das Elsaß, sie ist
einer von den seltenen Versuchen, die noch manche El-
sässer machen, um die deutsche Nationalität Frankreich
gegenüber zu wahren und wenigstens das geistige Band
zwischen ihnen und dem Vaterlande nicht reißen zu lassen.
Es wäre traurig, wenn das Münster einmal ganz auf frem-
dem Boden stände. Die Absicht, welche zum Teil das
Büchlein erstehen ließ, würde sehr gefördert werden, wenn
das Unternehmen in Deutschland Anerkennung fände, und
von der Seite empfehle ich es Ihnen besonders.
STRASSBURG 1836 559
Ich werde ganz dumm in dem Studium der Philosophie;
ich lerne die Armseligkeit des menschlichen Geistes wie-
der von einer neuen Seite kennen. Meinetwegen! Wenn
man sich nur einbilden könnte, die Löcher in unseren
Hosen seien Palastfenster, so könnte man schon wie ein
Könier leben! So aber friert man erbärmlich.
'ö
AN DIE FAMILIE Straßburg, den i. Januar 1836.
Das Verbot der Deutschest Revue schadet mir nichts.
Einige Artikel, die für sie bereit lagen, kann ich an den
"Phönix" schicken. Ich muß lachen, wie fromm und mo-
ralisch plötzlich unsere Regierungen werden. Der König
vofi Baye?'n läßt unsittliche Bücher verbieten! da darf er
seine Biographie nicht erscheinen lassen, denn die wäre
das Schmutzigste, was je geschrieben worden! Der Groß-
herzog von Badeny erster Ritter vom doppelten Mops-
orden, macht sich zum Ritter vom heiligen Geist und
läßt Gutzkow arretieren, und der liebe deutsche Michel
glaubt, es geschähe alles aus Religion und Christentum
und klatscht in die Hände. Ich kenne die Bücher nicht,
von denen überall die Rede ist; sie sind nicht in den
Leihbibliotheken und zu teuer, als daß ich Geld daran
wenden sollte. Sollte auch alles sein, wie man sagt, so
könnte ich darin nur die Verirrungen eines durch philo-
sophische Sophismen falsch geleiteten Geistes sehen. Es
ist der gewöhnlichste Kunstgriff, den großen Haufen auf
seine Seite zu bekommen, wenn man mit recht vollen
Backen "Unmoralisch!" schreit. Übrigens gehört sehr viel
Mut dazu, einen Schriftsteller anzugreifen, der von einem
deutschen Gefängnis aus antworten soll. Gutzkow hat
bisher einen edlen, kräftigen Charakter gezeigt, er hat
Proben von großem Talent abgelegt; woher denn plötzlich
das Geschrei? Es kommt mir vor, als stritte man sehr um
das Reich von dieser Welt, während man sich stellt, als
müsse man der heiligen Dreifaltigkeit das Leben retten.
Gutzkow hat in seiner Sphäre mutig für die Freiheit ge-
kämpft; man muß doch die wenigen, welche noch auf-
recht stehn und zu sprechen wagen, verstummen machen!
Übrigens gehöre ich für meine Person keineswegs zu dem
56o BRIEFE
sogenannten Jungen Deutschland^ der literarischen Par-
tei Gutzkows und Heines. Nur ein völliges Mißkennen
unserer gesellschaftlichen Verhältnisse konnte die Leute
glauben machen, daß durch die Tagesliteratur eine völlige
Umgestaltung unserer religiösen und gesellschaftlichen
Ideen möglich sei. Auch teile ich keineswegs ihre Mei-
nung über die Ehe und das Christentum; aber ich ärgere
mich doch, wenn Leute, die in der Praxis tausendfältig
mehr gesündigt als diese in der Theorie, gleich moralische
Gesichter ziehn und den Stein auf ein jugendliches, tüch-
tiges Talent werfen. Ich gehe meinen Weg für mich und
bleibe auf dem Felde des Dramas^ das mit all diesen
Streitfragen nichts zu tun hat; ich zeichne meine Charak-
tere, wie ich sie der Natur und der Geschichte angemessen
halte, und lache über die Leute, welche mich für die Mo-
ralität oder Immoralität derselben verantwortlich machen
wollen. Ich habe darüber meine eignen Gedanken. . .
Ich komme vom Christkindeismarkt: überall Haufen zer-
lumpter, frierender Kinder, die mit aufgerissenen Augen
und traurigen Gesichtern vor den Herrlichkeiten aus
Wasser und Mehl, Dreck und Goldpapier standen. Der
Gedanke, daß für die meisten Menschen auch die arm-
seligsten Genüsse und Freuden unerreichbare Kostbar-
keiten sind, machte mich sehr bitter.
AN DIE FAMILIE Straßburg, den 15. März 1836.
Ich begreife nicht, daß man gegen Küchler etwas in Hän-
den haben soll; ich dachte, er sei mit nichts beschäftigt,
als seine Praxis und Kenntnisse zu erweitern. Wenn er
auch nur kurze Zeit sitzt, so ist doch wohl seine ganze
Zukunft zerstört: man setzt ihn vorläufig in Freiheit, spricht
ihn von der Instanz los, läßt ihn versprechen, das Land
nicht zu verlassen, und verbietet ihm seine Praxis, was
man nach den neusten Verfügungen kaim. — Als sicher
und gewiß kann ich Euch sagen, daß man vor kurzem in
Bayern zwei junge Leute, nachdem sie seit fast vier Jahren
in strenger Haft gesessen, als unschuldig in Freiheit
gesetzt hat! Außer Küchler und Groß sind noch drei
Bürger aus Gießen verhaftet worden. Zwei von ihnen
STRASSBURG 1836 561
haben ihr Geschäft, und der eine ist obendrein Familien-
vater. Auch hörten wir, Max v. Biegelebcn sei verhaftet,
aber gleich darauf wieder gegen Kaution in Freiheit ge-
setzt worden. Gladbach soll vor einiger Zeit zu acht Jah-
ren Zuchthaus veriurteilt worden sein; das Urteil sei aber
wieder umgestoßen, und die Untersuchung fange von
neuem an. Ihr würdet mir einen Gefallen tun, wenn ihr
mir über beides Auskunft gäbet.
Ich will Euch dafür sogleich eine sonderbare Geschichte
erzählen, die Herr J. in den englischen Blättern gelesen
und die, wie dazu bemerkt, in den deutschen Blättern
nicht mitgeteilt werden durfte. Der Direktor des Theaters
zu Braunschweig ist der bekannte Komponist Methfessel.
Er hat eine hübsche Frau, die dem Herzog gefällt, und
ein Paar Augen, die er gern zudrückt, und ein Paar Hände,
die er gern aufmacht. Der Herzog hat die sonderbare
Manie, Madame Methfessel im Kostüm zu bewundern.
Er befindet sich daher gewöhnlich vor Anfang des Schau-
spiels mit ihr allein auf der Bühne. Nun intrigiert Meth-
fessel gegen einen bekannten Schauspieler, dessen Name
mir entfallen ist. Der Schauspieler will sich rächen, er
gewinnt den Maschinisten; der Maschinist zieht an einem
schönen Abend den Vorhang ein Viertelstündchen früher
auf, und der Herzog spielt mit Madame Methfessel die
erste Szene. Er gerät außer sich, zieht den Degen und
ersticht den Maschinisten; der Schauspieler hat sich ge-
flüchtet.—
Ich kann Euch versichern, daß nicht das geringste po-
litische Treiben unter den Flüchtlingen hier herrscht; die
vielen und guten Examina, die hier gemacht werden, be-
weisen hinlänglich das Gegenteil. Übrigens sind wir Flüch-
tigen und Verhafteten gerade nicht die Unwissendsten,
Einfältigsten oder Liederlichsten! Ich sage nicht zuviel,
daß bis jetzt die besten Schüler des Gymnasiums und die
fleißigsten und unterrichtetsten Studenten dies Schicksal
getroffen hat, die mitgerechnet, welche von Examen und
Staatsdienst zurückgewiesen sind. Es ist doch im ganzen
ein armseliges junges Geschlecht, was eben in Darmstadt
herumläuft und sich ein Ämtchen zu erkriechen sucht!
BÜCHNER 36.
562 BRIEFE
AN GUTZKOW Straßburg [1836].
Lieber Freund! War ich lange genug stumm: Was soll
ich Ihnen sagen? Ich saß auch im Gefängnis und im
langweiligsten unter der Sonne, ich habe eine Ahhandlmig
geschrieben in die Länge, Breite und Tiefe, Tag und
Nacht über der ekelhaften Geschichte, ich begreife nicht,
wo ich die Geduld hergenommen. Ich habe nämlich die
fixe Idee, im nächsten Semester zu Zürich einen Kurs über
die Eiitwickelimg der deutschen Philosophie seit Cartesius
zu lesen; dazu muß ich mein Diplom haben, und die Leute
scheinen gar nicht geneigt, meinem lieben Sohne Danton
den Doktorhut aufzusetzen. Was war da zu machen:
Sie sind in Frankfurt und unangefochten! — Es ist mir leid
und doch wieder lieb, daß Sie noch nicht im Rebstöckel
angeklopft haben. Über den Stand der modernen Literatur
in Deutschland weiß ich so gut als nichts; nur einige ver-
sprengte Broschüren, die, ich weiß nicht wie, über den
Rhein gekommen, fielen mir in die Hände.
Es zeigt sich in dem Kampfe gegen Sie eine gründliche
Niederträchtigkeit, eine recht gesunde Niederträchtigkeit,
ich begreife gar nicht, wie wir noch so natürlich sein
können! Und Menzels Hohn über die politischen Narren
in den deutschen Festungen . . . und das von Leuten —
mein Gott, ich könnte Ihnen übrigens erbauliche Ge-
schichten erzählen!
Es hat mich im tiefsten empört; meine armen Freunde!
Glauben Sie nicht, daß Menzel nächstens eine Professur
in München erhält:
Übrigens, um aufrichtig zu sein, Sie und Ihre Freunde
scheinen mir nicht grade den klügsten Weg gegangen
zu sein. Die Gesellschaft mittelst der Idee, von der ge-
bildeten Klasse aus reformieren.- Unmöglich! Unsere Zeit
ist rein materiell; wären Sie je direkter politisch zu Werke
gegangen, so wären Sie bald auf den Punkt gekommen,
wo die Reform von selbst aufgehört halte. Sie werden
nie über den Riß zw-ischen der gebildeten und ungebil-
deten Gesellschaft hinauskommen.
Ich habe mich überzeugt, die gebildete und wohlhabende
Minorität, so viel Konzessionen sie auch von der Gewalt
STRASSBURG 1836 563
für sich begehrt, wird nie ihr spitzes Verhältnis zur großen
Klasse aufgeben wollen. Und die große Klasse selbst?
Für sie gibt es nur zwei Hebel: materielles Elend und
religiöser Fanatismus. Jede Partei, welche diese Hebel
anzusetzen versteht, wird siegen. Unsere Zeit braucht
Eisen und Brot— und dann ein Kreuz oder sonst so was.
Ich glaube, man muß in sozialen Dingen von einem ab-
soluten Rechtsgrundsatz ausgehen, die Bildung eines neuen
geistigen Lebens im Volke suchen und die abgelebte mo-
derne Gesellschaft zum Teufel gehen lassen. Zu was soll
ein Ding, wie diese, zwischen Himmel und Erde herum-
laufen? Das ganze Leben derselben besteht nur in Ver-
suchen, sich die entsetzlichste Langeweile zu vertreiben.
Sie mag aussterben, das ist das einzig Neue, was sie noch
erleben kann.
AN DIE FAMILIE Straßburg, im Mai 1836.
Ich bin fest entschlossen, bis zum nächsten Herbste hier
zu bleiben. Die letzten Vorfälle in Z,ürich geben mir einen
Hauptgrund dazu. Ihr wißt vielleicht, daß man unter dem
Vorwande, die deutschen Flüchtlinge beabsichtigten einen
Einfall in Deutschland, Verhaftungen unter denselben
vorgenommen hat. Das nämliche geschah an anderen
Punkten der Schweiz. Selbst hier äußerte die einfältige
Geschichte ihre Wirkung, und es war ziemlich ungewiß,
ob wir hier bleiben dürften, weil man wissen wollte, daß
wir (höchstens noch sieben bis acht an der Zahl) mit be-
waffneter Hand über den Rhein gehen sollten! Doch hat
sich alles in Güte gemacht, und wir haben keine weiteren
Schwierigkeiten zu besorgen. Unsere hessische Regierung
scheint unserer zuweilen mit Liebe zu gedenken.
Was an der ganzen Sache eigentlich ist, weiß ich nicht;
da ich jedoch weiß, daß die Mehrzahl der Flüchtlinge
jeden direkten revolutionären Versuch unter den jetzigen
Verhältnissen für Unsinn hält, so konnte höchstens eine
ganz unbedeutende, durch keine Erfahrung belehrte Min-
derzahl an dergleichen gedacht haben. Die Hauptrolle
unter den Verschworenen soll ein gewisser Herr v. Eib
gespielt haben. Daß dieses Individuum ein Agent des
564 BRIEFE
Bundestags sei, ist mehr als wahrscheinlich; die Pässe,
welche die Züricher Polizei bei ihm fand, und der Um-
stand, daß er starke Summen von einem Frankfurter
Handelshause bezog, sprechen auf das direkteste dafür.
Der Kerl soll ein ehemaliger Schuster sein, und dabei
zieht er mit einer liederlichen Person aus Mannheim her-
um, die er für eine ungarische Gräfin ausgibt. Er scheint
wirklich einige Esel unter den Flüchtlingen übertölpelt
zu haben. Die ganze Geschichte hatte keinen andern
Zweck, als, im Falle die Flüchtlinge sich zu einem öffent-
lichen Schritt hätten verleiten lassen, dem Bundestag
einen gegründeten Vorwand zu geben, um auf die Aus-
weisung aller Refugies aus der Schweiz zu dringen. Üb-
rigens war dieser v. Eib schon früher verdächtig, und
man war schon mehrmals vor ihm gewarnt w^orden. Jeden-
falls ist der Plan vereitelt, und die Sache wird für die
Mehrzahl der Flüchtlinge ohne Folgen bleiben. Nichts-
destoweniger fände ich es nicht rätlich, im Augenblick
nach Zürich zu gehen; unter solchen Umständen hält man
sich besser fern. Die Züricher Regierung ist natürlich
eben etwas ängstlich und mißtrauisch, und so könnte man
wohl unter den jetzigen Verhältnissen meinem Aufent-
halte Schwierigkeiten machen. In Zeit von zwei bis drei
Monaten ist dagegen die ganze Geschichte vergessen.
AN DIE FAMILIE Straßburg, im Juni 1836.
Es ist nicht im entferntesten daran zu denken, daß im
Augenblick ein Staat das Asyb'echt aufgibt, weil ein sol-
ches Aufgeben ihn den Staaten gegenüber, auf deren
Verlangen es geschieht, politisch annullieren würde. Die
Schweiz würde durch einen solchen Schritt sich von den
liberalen Staaten, zu denen sie ihrer Verfassung nach
natürlich gehört, lossagen und sich an die absoluten an-
schließen, ein Verhältnis, woran unter den jetzigen po-
litischen Konstellationen nicht zu denken ist. Daß man
aber Flüchtlinge, welche die Sicherheit des Staates, der
sie aufgenommen, und das Verhältnis desselben zu den
Nachbarstaaten kompromittieren, ausweist, ist ganz natür-
hch und hebt das Asylrecht nicht auf. Auch hat die Tag-
STRASSBURG 1836 565
Satzung bereits ihren Beschluß erlassen. Es werden nur
diejenigen Flüchtlinge ausgewiesen, welche als Teilnehmer
an dem Savoyer Zuge schon früher waren ausgewiesen
worden, und diejenigen, welche an den letzten Vorfällen
teilgenommen haben. Dies ist authentisch. Die Mehrzahl
der Flüchtlinge bleibt also ungefährdet, und es bleibt
jedem unbenommen, sich in die Schweiz zu begeben.
Niu: ist man in vielen Kantonen gezwungen, eine Kaution
zu stellen, was sich aber schon seit längerer Zeit so ver-
hält. Meiner Reise nach Zürich steht also kein Hindernis
im Weg. — Ihr wißt, daß unsere Regierung uns hier schika-
niert und daß die Rede davon war, uns auszuweisen, weil
wir mit den Narren in der Schweiz in Verbindung ständen.
Der Präfekt wollte genaue Auskunft, wie wir uns hier
beschäftigten. Ich gab dem Polizeikommissär mein Diplom
als Mitglied der Sociiti d'histoire naturelle nebst einem
von den Professoren mir ausgestellten Zeugnisse. Der
Präfekt war damit außerordentlich zufrieden, und man
sagte mir, daß ich namentlich ganz ruhig sein könne.
AN WILHELM BÜCHNER [r]
Straßburg, den 2. September 1836.
Ich bin ganz vergnügt in mir selbst, ausgenommen, wenn
wir Landregen oder Nordwestwind haben, wo ich freilich
einer von denjenigen werde, die abends vor dem Bett-
gehn, wenn sie den einen Strumpf vom Fuß haben, im-
stande sind, sich an ihre Stubentür zu hängen, weil es
ihnen der Mühe zuviel ist, den andern ebenfalls auszu-
ziehen Ich habe mich jetzt ganz auf das Studium
der Naturwissenschaften und der Philosophie gelegt, und
werde in kurzem nach Zürich gehen, um in meiner Eigen-
schaft als überflüssiges Mitglied der Gesellschaft meinen
Mitmenschen Vorlesungen über etwas ebenfalls höchst
Überflüssiges, nämlich über die philosophischen Systeme
der Deutschen seit Cartesius und Spinoza, zu halten. —
Dabei bin ich gerade daran, sich einige Menschen auf
dem Papier totschlagen oder verheiraten zu lassen, und
bitte den lieben Gott um einen einfältigen Buchhändler
und ein groß Publikum mit so wenig Geschmack als
566 BRIEFE
möglich. Man braucht einmal zu vielerlei Dingen unter der
Sonne Mut, sogar, um Privatdozent der Philosophie zu sein.
AN DIE FAMILIE Straßburg, im September 1836.
Ich habe meine zwei Dramen noch nicht aus den Händen
gegeben; ich bin noch mit manchem unzufrieden und will
nicht, daß es mir geht, wie das erstemal. Das sind Ar-
beiten, mit denen man nicht zu einer bestimmten Zeit
fertig werden kann, wie der Schneider mit seinem Kleid.
Zrä/C//i83Ö-i837
AN DIE FAMILIE Zürich, den 26. Oktober 1836.
Wie es mit dem Streite der Schweiz mit Frankreich gehen
wird, weiß der Himmel. Doch hörte ich neulich jemand
sagen: "Die Schweiz wird einen kleinen Knicks machen,
und Frankreich wird sagen, es sei ein großer gewesen."
Ich glaube, daß er recht hat.
AN DIE FAMILIE Zürich, den 20. November 1836.
Was das politische Treiben anlangt, so könnt Ihr ganz
ruhig sein. Laßt Euch nur nicht durch die Ammenmärchen
in unseren Zeitungen stören. Die Schweiz ist eine Re-
publik, und weil die Leute sich gewöhnlich nicht anders
zu helfen wissen, als daß sie sagen, jede Republik sei
unmöglich, so erzählen sie den guten Deutschen jeden
Tag von Anarchie, Mord und Totschlag. Ihr werdet über-
rascht sein, wenn Ihr mich besucht; schon unterwegs über-
all freundliche Dörfer mit schönen Häusern, und dann,
je mehr Ihr Euch Zürich nähert und gar am See hin, ein
durchgreifender Wohlstand; Dörfer und Städtchen haben
ein Aussehen, wovon man bei uns keinen Begriff hat. Die
Straßen laufen hier nicht voll Soldaten, Akzessisten und
faulen Staatsdienern, man riskiert nicht, von einer adligen
Kutsche überfahren zu werden; dafür überall ein gesundes,
kräftiges Volk und um wenig Geld eine einfache, gute,
rein republikanische Regierung, die sich durch eine Ver-
ZÜRICH 1836/37 567
mögenssteuer erhält, eine Art Steuer, die man bei uns
überall als den Gipfel der Anarchie ausschreien würde . . .
Mi?inigerode ist tot, wie man mir schreibt, das heißt, er
ist drei Jahre lang totgequält worden. Drei Jahre! Die
französischen Blutmänner brachten einen doch in ein paar
Stunden um, das Urteil und dann die Guillotine! Aber
drei Jahre! Wir haben eine gar menschliche Regierung,
sie kann kein Blut sehen. Und so sitzen noch an vierzig
Menschen, und das ist keine Anarchie, das ist Ordnung
und Recht, und die Herren fühlen sich empört, wenn sie
an die anarchische Schweiz denken! Bei Gott, die Leute
nehmen ein großes Kapital auf, das ihnen einmal mit
schweren Zinsen kann abgetragen werden, mit sehr
schweren — .
AN WILHELM BÜCHNER
Zürich, Ende November 1836.
Ich sitze am Tage mit dem Skalpell und die Nacht mit
den Büchern.
AN DIE BRAUT Zürich, Anfang Januar 1837.
[Ich werde] in längstens acht Tagen ^'■Leojice und Lena' ^
mit noch zwei anderen Dramen erscheinen lassen.
AN DIE BRAUT Zürich, den 13. Januar 1837.
Mein lieb Kind! . . . Ich zähle die Wochen bis zu Ostern
an den Fingern. Es wird immer öder. So im Anfange
ging's: neue Umgebungen, Menschen, Verhältnisse, Be-
schäftigungen— aber jetzt, da ich an alles gewöhnt bin,
alles mit Regelmäßigkeit vor sich geht, man vergißt sich
nicht mehr. Das beste ist, meine Phantasie ist tätig, und
die mechanische Beschäftigung des Präparierens läßt ihr
Raum. Ich sehe Dich immer so halbdurch zwischen
Fischschwänzen, Froschzehen etc. Ist das nicht rühren-
der als die Geschichte von Abälard, wie sich ihm Heloi'se
immer zwischen die Lippen und das Gebet drängt? O,
ich werde jeden Tag poetischer, alle meine Gedanken
schwimmen in Spiritus. Gott sei Dank, ich träume wieder
viel nachts, mein Schlaf ist nicht mehr so schwer.
568 BRIEFE
AN DIE BRAUT Zürich, den 20. Januar 1837.
Ich habe mich verkältet und im Bett gelegen. Aber jetzt
ist's besser. Wenn man so ein wenig unwohl ist, hat man
ein so groß Gelüsten nach Faulheit; aber das Mühlrad
dreht sich als fort ohne Rast und Ruh . . . Heute und
gestern gönne ich mir jedoch ein wenig Ruhe und lese
nicht; morgen geht's wieder im alten Trab, Du glaubst
nicht, wie regelmäßig und ordentlich. Ich gehe fast so
richtig wie eine Schwarzwälder Uhr. Doch ist's gut: auf
all das aufgeregte, geistige Leben Ruhe, und dabei die
Freude am Schaffen memtx poetischen Produkte. Der arme
Shakespeare war Schreiber den Tag über und mußte nachts
dichten, und ich, der ich nicht wert bin, ihm die Schuh-
riemen zu lösen, hab's weit besser . . .
Lernst Du bis Ostern die Volkslieder singen, wenn's Dich
nicht angreift? Man hört hier keine Stimme; das Volk
singt nicht, und Du weißt, wie ich die Frauenzimmer lieb-
habe, die in einer Soiree oder einem Konzerte einige
Töne totschreien oder winseln. Ich komme dem Volk und
dem Mittelalter immer näher, jeden Tag wird mir's heller
— und gelt, Du singst die Lieder? Ich bekomme halb das
Heimweh, wenn ich mir eine Melodie summe . . .
Jeden Abend sitz ich eine oder zwei Stunden im Kasino;
Du kennst meine Vorliebe für schöne Säle, Ijchter imd
Menschen um mich.
AN DIE BRAUT Zürich, den 27. Januar 1837.
Mein lieb Kind, Du bist voll zärtlicher Besorgnis und
willst krank werden vor Angst; ich glaube gar. Du stirbst
— aber ich habe keine Lust zum Sterben und bin gesund
wie je. Ich glaube, die Furcht vor der Pflege hier hat
mich gesund gemacht; in Straßburg wäre es ganz an-
genehm gewesen, und ich hätte mich mit dem größten
Behagen ins Bett gelegt, vierzehn Tage lang, Rue St. Guil-
laume Nr. 66^ links eine Treppe hoch, in einem etwas
Überzwergen Zimmer, mit grüner Tapete! Hätt ich dort
umsonst geklingelt? Es ist mir heut einigermaßen inner-
lich wohl, ich zehre noch von gestern, die Sonne war
groß und warm im reinsten Himmel— und dazu hab ich
ZÜRICH 1837 569
meine Laterne gelöscht und einen edlen Menschen an
die Brust gedrückt, nämlich einen kleinen Wirt, der aus-
sieht wie ein betrunkenes Kaninchen und mir in seinem
prächtigen Hause vor der Stadt ein großes elegantes Zim-
mer vermietet hat. Edler Mensch! Das Haus steht nicht
weit vom See, vor meinen Fenstern die Wasserfläche
und von allen Seiten die Alpen wie sonnenglänzendes
Gewölk. —
Du kommst bald: Mit dem Jugendmut ist's fort, ich be-
komme sonst graue Haare; ich muß mich bald wieder an
Deiner inneren Glückseligkeit stärken und Deiner gött-
lichen Unbefangenheit und Deinem lieben Leichtsinn und
all Deinen bösen Eigenschaften, böses Mädchen. Adio
piccola mial —
MISZELLEN
) 573 c
POETISCHE ANSÄTZE
[DEM VATER ZUGEDACHT]
. . . Augen von der Brandung verschlungen. Der Kapitän
ließ nun die Jolle aussetzen, welche er mit 3 Passagieren,
4 Offizieren, 6 Matrosen und mir bestieg. Trotz der
furchtbaren Wogen und der Brandung gelang es uns vom
Schifife zu stoßen, welches, da wir uns kaum eine halbe
Seemeile davon entfernt hatten, von einer ungeheuren
Welle zertrümmert wuide, und unter einem gräßlichen
Schrei, der mir jetzt noch in den Ohren gellt, versanken
fast 400 Menschen in den furchtbaren Abgrund. Trotz
des wütenden Sturmes erreichten wir glücklich das Ufer.
Auf den Knien und mit Freudentränen in den Augen
dankten wir Gott für unsre wunderbare Rettung und ver-
fielen hierauf in einen sanften Schlaf, aus dem wir erst
spät am Tage erwachten. Beim Erwachen fanden wir uns
von einem Trupp neugieriger Chinesen umgeben, welche,
gerührt über unser trauriges Schicksal, das wir ihnen er-
zählten, uns zu unterstützen und nach Kanton zu schaffen
versprachen. Wir folgten ihnen hierauf in ein nahgelegnes
Dorf, wo sie uns trefllicb bewirteten, und traten am fol-
genden Tage mit zweien von ihnen unsre Reise nach
Kanton an, wo wir auch nach einigen Tagen wohlbehalten
ankamen. Wir wurden von den Faktoren der Handels-
kompagnie sehr gut aufgenommen und aufs beste unter-
stützt. Die Matrosen nahmen auf andern Schiften Dienste,
und der Kapitän, die Offiziere und ich mieteten uns auf
einem andern Schiffe ein, um nach England zurückzu-
kehren und der Handelskompagnie Bericht über das trau-
rige Schicksal des Schißs
abzustatten.
Nimm, o bester der Väter, mit willigem Geist dies Ge-
schenk an.
Zwar ist es klein und gering; doch beweis' dir's die dank-
bare Liebe,
Welche mein Herz für dich hegt, geliebtester Vater.
574 MISZELLEN
Möge Gott noch lang dein teures Leben erhalten
Und dich mit schützender Hand vor allem Unglück be-
hüten.
Mög' er noch lange dich im Kreise der Kinder mid
Freunde
Feiern lassen den Tag, an dem die Welt du erblicktest,
Und durch die sorgende Hand der treuen Gattin und
Kinder
Dir das Leben versüßen, für dessen Erhaltung ich flehe.
[DER MUTTER]
GEBADET in des Meeres blauer Flut
Erhebt aus purpurrotem Osten sich
Das prächtig-strahlende Gestirn des Tags,
Erweckt, gleich einem mächt'gen Zauberwort,
Das Leben der entschlafenen Natur,
Von der der Nebel wie ein Opferrauch
Empor zum unermeßnen Äther steigt.
Der Berge Zinnen brennen in dem ersten Strahl,
Von welchem, wie vom flammenden Altar,
Der Rauch des finstren Waldgebirges wallt —
Und fernhin in des Ozeans Fluten weicht
Die Nacht. So stieg auch uns ein schöner Tag
Vom Äther, der noch oft mit frohem Strahl
Im leichten Tanz der Hören grüßen mag
Den frohen Kreis, der den Allmächt'gen heut
Mit lautem Danke preist, da gnädig er
Uns wieder feiern läßt den schönen Tag,
Der uns die beste aller Mütter gab.
Auch heute wieder in der üppigsten
Gesundheit, Jugendfülle steht sie froh
Im frohen Kreis der Kinder, denen sie
Voll zarter Mutterlieb ihr Leben weiht.
O! stieg' noch oft ihr holder Genius
An diesem schönen Tag zu uns herab,
Ihn schmückend mit dem holden Blumenpaar
Der Kindesliebe und Zufriedenheit!—
POETISCHE ANSÄTZE 575
Ein kleines Weihnachtsgeschenk von G. Büchner
für seine guten Eltern. 18 28
DIE NACHT
NIEDERSINECT des Tages goldner Wagen,
Und die stille Nacht schwebt leis' herauf,
Stillt mit sanfter Hand des Herzens Klagen,
Bringt uns Ruh im schweren Lebenslauf.
Ruhe gießt sie in das Herz des INIüden,
Der ermattet auf der Pilgerbahn,
Bringt ihm wieder seinen stillen Frieden,
Den des Schicksals rauhe Hand ihm nahm.
Ruhig schlummernd liegen alle Wesen,
Feiernd schließet sich das Heiligtum,
Tiefe Stille herrscht im weiten Reiche,
Alles schweigt im öden Kreis herum.
Und der Mond schwebt hoch am klaren Äther,
Geußt sein sanftes Silberlicht herab;
Und die Sternlein funkeln in der Ferne,
Schau'nd herab auf Leben und auf Grab.
Willkommen Mond, willkommen sanfter Bote
Der Ruhe in dem rauhen Erdental,
Verkündiger von Gottes Lieb und Gnade,
Des Schirmers in Gefahr und Mühesal.
Willkommen Sterne, seid gegrüßt ihr Zeugen
Der Allmacht Gottes, der die Welten lenkt,
Der unter allen Myriaden Wesen
Auch meiner voll von Lieb und Gnade denkt.
Ja, heil'gei Gott, du bist der Herr der Welten,
Du hast den Sonnenball emporgetürmt.
Hast den Planeten ihre Bahn bezeichnet.
Du bist es, der das All mit Allmacht schirmt.
Unendlicher, den keine Räume fassen.
Erhabener, den keines Geist begreift,
Allgütiger, den alle Welten preisen.
Erbarmender, der Sündern Gnade beut!
576 MISZELLEN
Erlöse gnädig uns von allem Übel,
Vergib uns liebend jede Missetat,
Laß wandeln uns auf deines Sohnes Wege,
Und siegen über Tod und über Grab.
LEISE hinter düstrem Nachtgewölke
Tritt des Mondes Silberbild hervor,
Aus des Wiesentales feuchtem Grunde
Steigt der Abendnebel leicht empor.
Ruhig schlummernd liegen alle Wesen,
Feiernd schweigt des Waldes Sängerchor,
Nur aus stillem Haine, einsam klagend,
Tönet Philomeles Lied hervor.
Schweigend steht des Waldes düstre Fichte,
Süß entströmt der Nachtviole Duft,
Um die Blumen spielt des Westwinds Flügel,
Leis hinstreichend durch die Abendluft.
Doch was dämmert durch der Tannen Dunkel,
Blinkend in Selenens Silberschein.^
Hoch auf hebt sich zwischen schrofien Felsen
Einsam ein verwittertes Gestein;
An der alten Mauer dunklen Zinnen
Rankt der Efeu üppig sich empor,
Aus des weiten Burghofs öder Mitte
Ragt ein rings bemoster Turm hervor.
Fest noch trotzen alte Strebepfeiler;
Aufgetürmet wie zur Ewigkeit,
Stehen sie und schaun wie ernste Geister
Nieder auf der Welt Vergänglichkeit.
Still und ruhig ist's im öden Räume,
Wie ein weites Grab streckt er sich hin;
Wo einst kräftige Geschlechter blühten.
Nagt die Zeit jetzt, die Zerstörerin.
Durch der alten Säle düstre Hallen
Flattert jetzt die scheue Fledermaus,
POETISCHE ANSÄTZE 5 7 7
Durch die rings zerfalinen Bogenfenster
Streicht der Nachtwind pfeifend ein und aus.
Auf dem hohen Söller, wo die Laute
Schlagend einst die edle Jungfrau stand,
Krächzt der Uhu seine Totenlieder,
Klebt sein Nest der Rabe an die Wand.
Alles, alles hat die Zeit verändert,
Überall nagt ihr gefräßger Zahn,
Über alles schwingt sie ihre Sense,
Nichts ist, was die schnelle hemmen kann.
BUCHKER 37.
) 578 c
SCHULAUFSÄTZE UND SCHUU
REDEN
ÜBER DIE FREUNDSCHAFT
DIE Fähigkeit zur Freundschaft gehört zu den edel-
sten, welche unsere Seele überhaupt besitzt; die
Freundschaft selbst ist zugleich eine der reinsten und ge-
nußreichsten unserer Gemütsstimmungen, und vielleicht
die einzige Leidenschaft, deren Übermaß nichts Tadelns-
wertes hat. Das Gefühl der Freundschaft erwacht vor-
nehmlich in dem Lebensalter, in welchem der Mensch
mit seiner Ausbildung und Erziehung beschäftigt ist, in
die Welt zu treten beginnt, sich zu Unternehmungen an-
schickt und überhaupt einen gewissen Lebensplan für seine
Zukunft sich ansetzt. Zugleich findet sich in dieser Epoche
noch ein anderes Motiv, welches das Aufkeimen der Freund-
schaft befördert und ihr alle Energie verleiht, deren sie
fähig ist. Jene Zeit ist nämlich auch die Zeit des Ver-
trauens, und des unwillkürlichen Triebes, der unsere Seele
anregt, mit einer andern Seele in Eins sich zu verschmel-
zen und derselben alle Gefühle und Empfindungen mit-
zuteilen. Um sich zu verstärken und mehr Lebendigkeit
zu gewinnen, muß die Freundschaft Hindernisse zu über-
winden. Gefahren zu bestehen und durch Erprobungen
sich zu bewähren suchen; es muß den Freunden alles ge-
meinschaftlich sein. Glück und Unglück, sowie aller Wech-
sel des Schicksals im menschlichen Leben. Man kennt
nichts Rührenderes und zugleich nichts, was mehr das wahre
Wesen der Freundschaft bezeichnete, als die Worte des
sterbenden Doktors Eubreuil. Dieser ebenso kenntnisreiche
als mitleidige Arzt war ein wohltätiger Gott für alle die-
jenigen gewesen, welche sich seiner Sorge anvertraut hat-
ten, und der Anteil, den man allgemein an ihm nahm,
hatte eine große Menge Personen jegliches Standes in
sein Zimmer geführt, während die Armen in seinem Vor-
saale den bevorstehenden Verlust ihres Wohltäters be-
weinten. ''Mein Freund," sagte er zu Techmeja, den er
mit der größten Zärtlichkeit liebte, ''man muß jedermann
SCHUL AUFSATZE UND SCHULREDEN 579
von hier entfernen; meine Krankheit ist ansteckend, und
nur du sollst bei mir bleiben." Die wahre Freundschaft
ist nur diejenige, welche nichts in ihren großmütigen Er-
güssen aufhält, welche den Menschen in allen Lagen und
Zuständen, worin ihn ein Schicksal versetzt, begleitet,
welche sich durch keine Rücksicht erschüttern läßt und
sich unveränderlich auch im Unglücke ausspricht und be-
währt.
HELDENTOD DER VIERHUNDERT PFORZHEIMER
Für Tuo^end, Mensclieiirecht und Menschen-Freiheit sterben
Ist höchsterhabner Mut, ist Welterlöser-Tod,
Denn nur die Göttlichsten der Helden-Menschen färben
Dafür den Panzerrock mit ihrem Herzblut rot. Bürger
ERHABEN ist es, den Menschen im Kampfe mit der
Natur zu sehen, wenn er mit gewaltiger Kraft sich
stemmt gegen die Wut der entfesselten Elemente und,
vertrauend der Kraft seines Geistes, nach seinem Willen
die Kräfte der Natur zügelt.
Aber noch erhabner ist es, den Menschen zu sehen im
Kampfe mit seinem Schicksale, wenn er es wagt mit küh-
ner Hand in die Speichen des Zeitrades zu greifen, wenn
er an die Erreichung seines Zweckes sein Höchstes und
sein Alles setzt. W^er nur einen Zweck und kein Ziel bei
der Verfolgung desselben sich gesetzt hat, sondern das
Höchste, das Leben daran wagt, gibt den Widerstand nie
auf, er siegt oder stirbt. Solche Männer waren es, die,
wenn die ganze Welt feige ihren Nacken dem mächtig
über sie hinrollenden Zeitrade beugte, kühn in die Spei-
chen desselben griffen und es entweder in seinem Um-
schwünge mit gewaltiger Hand zurückschnellten oder von
seinem Gewichte zermalmt einen ähnlichen Tod fanden,
d. h. mit dem kleinen Reste des Lebens sich Unsterb-
lichkeit erkauften. Solche Männer waren es, die ganze
Nationen in ihrem Fluge mit sich fortrissen und aus ihrem
Schlafe rüttelten, zu deren Füßen die Welt zitterte, vor
welchen die Tyrannen bebten. Solche Männer, welche
unter den Millionen, die gleich Würm.ern aus dem Schoß
der Erde kriechen, ewig am Staube kleben und wie Staub
58o MISZELLEN
vergehn und vergessen werden, sich zu erheben, sich Un-
vergänglichkeit zu erkämpfen wagten, solche Männer sind
es, die wie Meteore in der Geschichte aus dem Dunkel
des menschlichen Elends und Verderbens hervorstrahlen.
Solche Männer zeugte Sparta, solche Rom. Doch wir
haben nicht nötig, die Vorwelt um sie zu beneiden, wir
haben nicht nötig, sie wie die Wunder einer längstver-
gangnen Heldenzeit zu betrachten, nein, auch unsre Zeit
kann mit der Vorwelt in die Schranken treten, auch sie
zeugte Männer, die mit einem Leonidas, Codes, Scävola
und Brutus um den Lorbeer ringen können. Ich habe
nicht nötig, um solche Männer anzuführen, auf die Zeiten
Karls des Großen, oder der Hohenstaufen, oder der Frei-
heitskämpfe der Schweizer zurückzugehen, ich brauche
mein Augenmerk nur auf den Kampf zu richten, der noch
vor wenig Jahren die Welt erschütterte, der die [Mensch-
heit] in ihrer Entwickelung um mehr denn ein Jahrhundert
in gewaltigem Schwünge vorwärtsbrachte, der in blutigem
aber gerechtem. Vertilgmigskampfe die Greuel rächte, die
Jahrhunderte hindurch schändliche Despoten an der lei-
denden Menschheit verübte, der mit dem Sonnenblicke
der Freiheit den Nebel erhellte, der schwer über Jugend-
völkern lag und ihnen zeigte, daß die Vorsehung sie nicht
zum Spiel der Willkür von Despoten bestimmt habe. Ich
meine den Freiheitskampf der Franken; Tugenden ent-
wickelten sich in ihm, wie sie Rom und Sparta kaum aufzu-
weißen haben, und Taten geschahen, die nach Jahrhunder-
ten noch Tausende zur Nachahmung begeistern können.
Tausende solcher Helden könnte ich nennen, doch es ge-
nügt allein der Name eines L'Atourd'Auvergne, der wie ein
Riesenbild in unsrer Zeit dasteht; Hunderte solcher Taten
könnte ich anführen, doch nur eine und die Thermopylen
hören auf die einzigen Zeugen einer großen Tat zu sein.
Als die Franken unter Dumouriez den größten Teil von
Holland mit der Republik vereinigt hatten, lief die ver-
einigte Flotte der Holländer und Franzosen gegen die
Engländer aus, die mit einer bedeutenden Seemacht die
Küsten Hollands blockierten. An der Küste von Nord-
holland treffen die feindlichen Flotten aufeinander, ein
SCHULAUFSÄTZE UND SCHULREDBIN 581
verzweifelter Kampf beginnt, die Franken und die Hol-
länder kämpfen wie Helden, endlich unterliegen sie der
Übermacht und der Geschicklichkeit ihrer Feinde. In die-
ßem Augenblick wird der Vainqueur, eins der holländi-
dischen Schiffe, von drei feindlichen zugleich angegriffen
imd zur Übergabe aufgefordert . Stolz weißt die kühne Mann -
Schaft, obgleich das Schiff schon sehr beschädigt ist, den
Antrag ab und rüstet sich zum Kampf auf Leben und Tod.
Mit erneuter Wut beginnt das Gefecht, das Feuer der
Engländer bringt bald das der Franken zum Schweigen.
Noch einmal wird der Vainqueur zur Übergabe aufgefor-
dert, doch den Franken ist ein freier Tod Heber als ein
sklavisches Leben: sie wollen nicht Leben, sie wollen Un-
sterblichkeit. Mit letztem Ruck feuern sie auf die Feinde,
schwenken noch einmal die Banner der Republik und ver-
senken sich mit dem Ruf: es lebe die Freiheit! in den un-
vermeßlichen Abgrund des Meeres. Kein Denkmal be-
zeichnet den Ort, wo sie starben, ihre Gebeine modern
auf dem Grunde des Meeres, sie hat kein Dichter be-
sungen, kein Redner gefeiert; doch der Genius der Frei-
heit v^eint über ihrem Grabe, und die Nachwelt staunt
ob ihrer Größe.
Doch warum greife ich denn nach außen, um solche Män-
ner zu suchen, warum brachte ich denn nur das Entfernte,
warum nicht das, was mir am nächsten liegt? Sollte denji
mein Vaterland, sollte denn Teutschland allein nicht Hel-
den zeugen: Nein, mein Vaterland, ich habe nicht nötig,
mich deiner zu schämen, mit Stolz kann ich rufen: ich
bin Teutscher! ich kann mit dem Franken, dem Römer
und Sparter in die Schranken treten, mit freudigem Selbst-
bewußtsein kann ich die Reihe meiner Ahnen überblicken
und ihnen zujauchzen: seht, wer ist größer denn sie? Die
Griechen kämpften ihren Heldenkampf gegen die Ge-
samtmacht Asiens, die Römer triumphierten über den
Trümmern Karthagos, die Franken erkämpften Europas
politische Freiheit; aber die Teutschen kämpften den
schönsten Kampf, sie kämpften für Glaubensfreiheit, sie
kämpften für das Licht Aufklärung, sie kämpften für das,
was dem Menschen das Höchste und Heiligste ist. Dießer
582 MISZELLEN
Kampf war der erste Akt des großen Kampfes, den die
Menschheit gegen ihre Unterdrücker kämpft, so wie die
französische Revohition der zweite war; sowie einmal der
Gedanke in keine Fesseln mehr geschlagen war, erkannte
die Menschheit ihre Rechte und ihren Wert, und alle
Verbesserungen, die wir jetzt genießen, sind die Folgen
der Reformation, ohne welche die Welt eine ganz andre
Gestalt würde erhalten haben, ohne welche, wo jetzt das
Licht der Aufklärung strahlt, ewiges Dunkel herrschen
würde, ohne welche das Menschengeschlecht, das sich jetzt
zu immer freieren, zu immer erhabneren Gedanken erhebt,
dem gleich seiner Menschenwürde verlustig sein würde.
Auf dießen Kampf kann ich mit Stolz blicken, von Teutsch-
land ging durch ihn das Heil der Menschheit aus, er zeugte
Helden, von deren Taten eine allein alle Taten des Alter-
tums aufwiegt und der nur ein tausendjähriges Alter fehlt,
um von allen Zungen geprießen zu werden.
In den ersten Jahren des Dreißigjährigen Krieges, als nach
der Schlacht am Weißen Berge bei Prag alle mächtigen
teutschen Fürsten, besorgt für ihre Existenz, treulos die
Sache der Protestanten verließen, waren es nur noch die
kleineren Fürsten Teutschlands, die von einem höheren
Gefühle geleitet ihr Leben und ihre Länder opferten, um
für Glauben und Freiheit ihr Blut zu versprützen. Unter
ihnen ragt als das Muster eines Fürsten Markgraf Fried-
rich von Baden hervor; gehorsam dem Rufe der Ehre
und Pflicht riß er sich aus den Armen der Ruhe, übergab
die Regierung seines Landes seinem Sohne und vereinigte
sich an der Spitze von 20000 Badensern mit dem Heer-
haufen des Grafen von Mansfeld. Ohne zu zaudern rückte
das vereinigte Heer den Liguistischen entgegen, die un-
ter Tilly in der Oberpfalz standen. Bei Wimpfen treffen
sich die feindlichen Heere, die Badenser werfen sich, ob-
gleich sie in wiederholten Gefechten einige Tage zuvor
schon bedeutenden Verlust erlitten haben, mutig auf den
ihnen weit überlegnen Feind. Ein blutiges Treffen be-
ginnt; hier kämpft Fanatismus, dort die geläuterte
Begeistrung für die heiligsten Rechte der Menschheit,
Wut ringt mit Tapferkeit, Taktik mit Heldenmut. Doch
SCHUL AUFSÄTZE UND SCHULREDEN 583
was vermag die Übermacht, was Feldherrnkunst, was ver-
mögen feile Söldner und wahnsinnige Fanatiker gegen
Männer, die mit ihren Leibern ihr Vaterland decken, die
entschlossen sind zu siegen oder zu sterben? An einem
solchen Bollwerk brechen sich Tillys mordgewohnte Ban-
den, ihre Schlachtreihn wanken und sinken unter dem
Schwerte ihrer erbitterten Gegner. Schon lächelt der Sieg
den kühnen Helden des Glaubens und der Freiheit, schon
wähnt sich Friedrich die Heldenschläfe mit dem blutigen
dem Sieger von mehr denn zwanzig Schlachten entrisse-
nen Lorbeer schmücken zu können. Doch einem Größeren
war dießer Lorbeer aufbehalten, ein Größerer sollte
Teutschland befreien, sollte die Menscheit rächen; noch
sollte die Furie des Fanatismus Teutschlands blühende
Gauen verwüsten, noch einmal sollte Tillys finstrer Dämon
siegen. Ein furchtbarer Donnerschlag vernichtet mit ein-
mal die schönsten Hoffnungen, verfinstert wieder den ro-
sigen Schimmer von Freiheit, der über Teutschlands Ge-
filden aufzublühen schien, und zersplittert in den Händen
der Sieger das blutige Rachschwert. Wie vom Blitzstrahl
getroffen entzünden sich Friedrichs Pulverwagen, der
Himmel verfinstert sich, die Erde bebt, und von der
furchtbaren Kraft des entfesselten Elementes zerschmet-
tert brechen sich die Schlachtreihn der Badenser. In die
Lücken stürzt sich der ermutigte Feind, er glaubt, der
Himmel streite für ihn, er glaubt, ein Strafgericht Gottes
zu sehen, und würgt in fanatischer Wut die zerstreuten
und fliehenden Haufen der Feinde. Vergebens sucht
Friedrich die Seinigen wieder zu sammeln, vergebens er-
füllt er zu gleicher Zeit die Pflichten des Feldherren und
des Soldaten, vergebens stürzt er sich selbst dem an-
dringenden Feinde entgegen. Von der Übermacht ge-
drängt, muß er endlich weichen und das blutige Schlacht-
feld seinem glückhchen Gegner überlassen. Doch wohin
soll er sich wenden: Schon ist er von allen Seiten um-
ringt, schon überwältigt der Feind den letzten schwachen
Widerstand, den ihm die Überreste des fliehenden Heeres
entgegenstellen, und sein Untergang scheint unvermeid-
lich. Da werfen sich vierhundert Pforzheim er, an der
584 MISZELLEN
Spitze ihren Bürgermeister Deimling^ dem Feinde ent-
gegen; mit ihren Leibern decken sie, ein unerschütter-
liches Bollwerk, ihren Fürsten und ihre Landsleute. Ver-
gebens bietet ihnen Tilly, betroffen von solcher Kühnheit
und Seelengröße, eine ehrenvolle Kapitulation an. Tau-
sende, stürmt der erbitterte Feind gegen das heldenkühne
Häuflein, doch Tausende brechen sich an der ehernen
Mauer. Unerschütterlich stehen die Pforzheimer; keine
Wut, keine Verzweiflung, nur hohe Begeisterung und To-
desverachtung malt sich in ihren Zügen. Unablässig stürmt
der Feind seine Schlachthaufen heran: doch das Vater-
land steht auf dem Spiele, Freiheit oder Knechtschaft ist
die große Wahl, keiner weicht, keiner wankt, wie Löwen
streiten sie von ihren Leichenhügeln herab, Mauern sind
ihre Reihen, ein Turm jeder Mann, ein Bollwerk von
Leichen umgibt sie. Endlich von allen Seiten angegriffen,
erdrückt von der Übermacht, sinken sie Mann an Mann
unter Hügeln erschlagner Feinde nieder und winden sich
sterbend die unvergängliche Lorbeerkrone des Siegers
und die unsterbliche Palme des Märtyrers um die Hel-
denschläfe.
Wollen wir eine solche Tat beurteilen, wollen wir sie ge-
hörig würdigen und auffassen, so dürfen wir nicht die Wir-
kung allein, nicht die bloße Tat berücksichtigen, sondern
wir müssen hauptsächlich unser Augenmerk auf die Motive
und die Umstände richten, welche eine solche Tat be-
wirkten, begleiteten und bestimmten. Sie sind die ein-
zige Richtschnur, nach der man die Handlungen der Men-
schen messen und wägen kann. Nach der Wirkung aber
und nach den Folgen kann man nichts beurteilen, denn
jene ist oft die nämliche, dieße sind oft zufällig. Wenn
man nun von dießem Gesichtspunkte aus die Aufopferung
der Pforzheimer betrachtet, so wird man finden, daß es
sehr wenige, vielleicht auch gar keine Tat gibt, welche
sich mit der der Pforzheimer messen könnte. Tausende
bluteten freilich schon für ihr Vaterland, Tausende opfer-
ten schon freudig das Leben für Rechte und Menschen -
freiheit, aber keinen wird man unter dießen Tausenden
finden, dessen Aufopferung an und für sich selbst so groß.
SCHULAUFSÄTZE UND SCHULREDEN 585
so erhaben sei als die der Pforzheimer. Sie trieb nicht
Wut, nicht Verzweiflung zum Kampf auf Leben [und] Tod
(dies sind zwei Motive, die den Menschen, statt ihn zu
erheben, zum Tiere erniedrigen); sie wußten, was sie taten,
sie kannten das Los, dem sie entgegengingen, und sie
nahmen es hin wie Männer nnd starben kalt und ruhig
den Heldentod. Doch dieß ist das geringste, was ihre Tat
so sehr von allen übrigen hervorhebt; die vierhundert
Römer, die dreihundert Sparter opferten sich ebenso kalt
und ruhig. Aber die Römer, die Sparter waren von Helden
gezeugt, waren zu Helden erzogen, kannten nur einen
Zweck, nur ein Ziel— ihr Vaterland, ihre ganze Erziehung
war nur die Vorbereitung zu einer solchen Tat. Doch wer
waren die Pforzheimer r
Einfache ruhige Bürger, eilten sie aus den Armen der Ruhe
auf das blutige Schlachtfeld, nicht gewohnt, dem Tod in
das Auge zu sehen, noch nicht vertraut mit dem hohen
Gedanken der Aufopferung für das Vaterland. Ihre Tapfer-
keit war nicht Gewohnheit, ihre Aufopferung war nicht
die Frucht des Gehorsams, sie war die Frucht der höchsten
Begeisterung für das, was sie als wahr und heilig erkannt
hatten. Ihnen drohte nicht Schmach nicht Schande, wenn
sie sich dem Tode entzogen, ihnen traten nicht die strafen-
den Gesetze des Vaterlandes entgegen. Sie hatten freie
Wahl, und sie wählten den Tod.
Dieß ist das Große, dieß das Erhabene an ihrer Tat; dieß
zeugt von einem Adel der Gesinnung, der v/eit erhaben
ist über die niedrige Sphäre des Alltagsmenschen, dem
sein Selbst das Höchste ist, sein Wohlsein der einzige
Zweck; der, jedes höheren Gefühls unfähig und verlustig
der wahren Menschenwürde, [seine] Vernunft nur ge-
braucht, um tierischer als das Tier zusein. Dießer schänd-
liche Egoismus ist eins der charakteristischen Kennzeichen
der damaligen Zeit. Um so viel mehr sind daher die Pforz-
heimer zu bewundern, denn sie erhoben sich, indem der
Gedanke und die Idee einer solchen Tat ganz eigentüm-
lich aus ihnen selbst entsprang, zugleich über ihre Nation
und über ihr Zeitalter, Wie groß, wie erhaben sind aber
noch überdieß die Zwecke, für welche sie starben; sie
586 MISZELLEN
allein könnten schon, auch ohne die angeführten Umstände,
dießerTat das Siegel der Unsterblichkeit aufdrücken. Dem
Vaterland gaben sie den Vater wieder, mit ihrem Blute
erkauften sie sein Leben: dieße Tat war groß, doch nicht
beispiellos; sie warfen sich gleich einer ehernen Mauer
zwischen den Feind und ihre Landsleute und deckten mit
ihren Leibern ihren Rückzug: dieße Tat zeugt von hohem
Seelenadel, aber schon Tausende taten dasselbe; sie opfer-
ten sich für Glaubensfreiheit, das heiligste Recht der
Menschheit, der Himmel war es und, nach ihrer Meinung,
die ewige Glückseligkeit, für welche sie willig starben:
aber welche irdische Gewalt hätte denn auch in das innere
Heiligtum ihres Gemütes eindringen und den Glauben,
der ihnen ja einmal aufgegangen war und auf den allein
sie ihrer Seligkeit Hoffnung gründeten, darin austilgen
können? Also auch ihre Seligkeit war es nicht, für die sie
kämpften, dießer waren sie schon versichert. Die Selig-
keit ihrer Kinder, ihrer noch ungebornen Enkel und Nach-
kommen war es: auch dieße sollten auferzogen werden in
derselben Lehre, die ihnen als allein heilbringend er-
schienen war; auch dieße sollten teilhaftig werden des
Heils, das für sie angebrochen war. Dieße Hoffnung allein
war es, welche durch den Feind bedroht wurde; für sie,
für eine Ordnung der Dinge, die lange nach ihrem Tode
über ihren Gräbern blühen sollte, versprützten sie mit
Freudigkeit ihr Blut. Bekennen wir auch gerne, daß ihr
Glaubensbekenntnis nicht das einzige und ausschließliche
Mittel war, des Himmels jenseits des Grabes teilhaftig zu
werden, so ist doch dieß ewig wahr, daß mehr Himmel
diesseits des Grabes, ein mutigeres und fröhlicheres Empor-
blicken von der Erde und eine freiere Regung des Geistes
durch ihre Aufopferung in alles Leben der Folgezeit ge-
kommen ist und die Nachkommen ihrer Gegner sowohl
als wir selbst, ihre Nachkommen, die Früchte ihrer Mühen
bis auf dießen Tag genießen. So also starben sie nicht
einmal für ihren eignen Glauben, nicht für sich selbst,
sondern sie bluteten für die Nachwelt. Dieß ist der er-
habenste Gedanke, für den man sich opfern kann, dieß
ist Welterlöser "Tod. Ja ihr Deimling^ ihr May er ^ ihr
SCHULAUFSÄTZE UND SCHULREDEN 587
Schober^ ihr Helden, ein unvergängliches Denkmal habt
ihr euch im Herzen aller Edlen erbaut, ein Denkmal, das
über Tod und Verwesung triumphiert, das unbewegt steht
im flutenden Strome der Ewigkeit. Eure Gebeine deckt
nicht Marmor, nicht Erz, kein Denkmal bezeichnet den
Ort, wo ihr starbt, vergessen hat euch euer undankbares
Vaterland, die Gegenwart kennt euch nicht, aber die Be-
wundrung der Nachwelt wird euch rächen. Zu eurem
Grabe rufe ich alle Völker des Erdbodens, rufe ich Vor-
welt und Gegenwart, herzutreten und [zu] zeigen eine Tat,
die größer, die erhabner ist, und sie müssen verstummen,
und Teutschland wird es allein sein, das solche Männer
zeugte, und einzig, unerreicht prangt eiure Tat mit unaus-
löschlichen Zügen in den Büchern der Weltgeschichte. —
Doch nicht dießer freudige Stolz auf meine Ahnen allein
bewegt mich an ihrem Grabe, auch ein tiefer Schmerz
erfaßt mich bei ihrem Andenken. Nicht ihnen gilt dießer
Schmerz— es wäre ja Torheit, über solchen Tod zu klagen;
nur glückhch sind die zu preißen. welchen ein solches
Los zuteil ward, denn sie haben sich das Höchste, haben
sich Unsterblichkeit erkämpft. Ich kann nicht weinen an
ihrem Grabe, ich kann sie nur beneiden. Nicht ihnen gilt
mein Schmerz, mein Schmerz gilt meinem Vaterlande.
O über euch Teutsche! In euren Gauen geschah die
schönste, die herrhchste Tat, eine Tat, welche die ganze
Nation adelt, eine Tat, deren Früchte ihr noch genießt,
und vergessen habt ihr die Helden, die solches ausführten,
die sich für euch dem Tode weihten. Das Fremde staunt
ihr an in kalter Bewundrung, während ihr aus dem Busen
eures Vaterlandes glühende Begeisterung für alles Edle
saugen könntet. Am toten Buchstaben der Fremden klebt
ihr, doch ihr Geist ist ferne von euch; denn sonst würdet
ihr wissen, was ihr eurem Vaterlande schuldig seid. Eine
Nation seid ihr, an der sich noch Jahrhunderte die Völker
bilden könnten, und ihr werft eure Nationalbildung, d. h.
eure geistige Selbständigkeit hin, um kindisch zu werden.
O Teutschland, Teutschland, den Stab wirfst du von dir,
der dich stützen und leiten könnte, für fremden Tand, an
den Brüsten der fremden Buhlerin nährst du dich und
588 MISZELLEN
ziehst schleichendes Gift in deine Adern, während du
frische, kräftige Lebensmilch saugen könntest aus deinem
Busen. Du hast nicht mehr gegen außen zu streiten, deine
Freiheit ist gegen alle Anforderungen gesichert. Keines
von jenen reißenden Raubtieren, die brüllend in der Welt
umherirren, um die anerschafifnen Rechtsame eines freien
Volkes zu verschlingen, droht dir. Aber, Teutschland,
darum bist du doch nicht frei; dein Geist liegt in Fesseln,
du verlierst deine Nationalität, und so wie du jetzt Sklavin
des Frem-den bist, so wirst du auch bald Sklavin der Frem-
den werden.
Doch ich höre schon antworten: Wie? sieh doch hin, in
einer schönen Ordnung stehn alle Staaten, gleichmäßig
sind alle Rechte abgewogen, Friede und Wohlstand blüht
in unsren Gefilden; sind wir nicht glücklich? O ihr Toren,
trägen Herzens den Ruf von vierthalbtausend Jahren zu
fassen! Blickt doch in das große Buch der Weltgeschichte,
das offen vor euch liegt, blickt doch hin und antwortet
noch einmal: sind wir nicht glücklich. Was ist denn das,
was die Staaten vom Gipfel ihrer Größe herabwirft? Der
Verlust ihrer geistigen Selbständigkeit ist es. Denn so
wie ein Volk sich einmal über dem Fremden vergißt, so
wie es seinen Nationalcharakter, das Band, das es knüpft
und zusammenhält, [aufgibt,] so wie es einmal in geistiger
Bildung der Sklav eines andern wird, so geht auch leicht
die politische Freiheit unter, auf die ihr stolz jetzt pocht,
so trägt es den Keim des Verderbens in sich und wird,
ein leeres Schattenbild, die Beute jedes feindlichen Zu-
falls; versunken und vergessen geht es unter und steht mit
Verachtung gebrandmarkt vor den Augen der strengrich-
tenden Nachwelt. Dieß, Teutsche, dieß wird euer Los
sein; wenn ihr euch jetzt [nicht] zu neuem kräftigen Leben
wieder erhebt, wenn ihr nicht bald wieder anfangt, Teutsche
zu werden, wenn ihr euch [nicht] eure Nationalität, rein
und geläutert von allem Fremden, wieder erwerbt, werden
eure Nachkommen sich eures gebrandmarkten Namens
schämen, und untergehen werdet ihr, ein Spott der Nach-
welt und der Gegenwart. —
Denket, daß in meine Stimme sich mischen die Stimmen
SCHULAUFSÄTZE UND SCHULREDEN 589
eurer Ahnen aus der grauen Vorwelt, die mit ihren Leibern
sich entgegengestemmt haben der heranströmenden rö-
mischen Weltherrschaft, die mit ihrem Blute erkauft haben
die Unabhängigkeit der Berge, Ebenen und Ströme. Sie
rufen euch zu: Vertretet und überliefert unser Andenken
ebenso ehrenvoll und unbescholten der Nachwelt, wie es
auf euch gekommen und wie ihr euch dessen und der Ab-
stammung von uns gerühmt habt. Auch mischen sich in
ihre Stimmen die Geister eurer spätem Vorfahren, die
da fielen im heiligen Kampfe für Religions- und Glaubens-
freiheit. Rettet auch unsre Ehre, rufen sie euch zu, laßt
unsre Kämpfe nicht zu eitlen vorüberrauschenden Possen -
spielen werden, zeigt, daß das Blut, was wir für euch ver-
sprützten, in euern Adern wallt. Es mischen sich in dieße
Stimmen die Stimmen eurer noch ungebornen Nach-
kommen. Wollt ihr die Kette zerreißen lassen, rufen sie
euch zu, die euch an eure Ahnen bindet, wollt ihr das
Andenken eurer Vorfahren, das ihr rein und makellos er-
halten habt, besudelt und befleckt ims überliefern, wollt
ihr uns, die Nachkommen freier Männer, zu Sklaven wer-
den lassen: Teutsche! Die Wage hängt, in jener Schale
liegt, was eure Vorfahren an dem Römer verachtet und
an seinen Cäsaren gehaßt, in dießer das ehrwürdige
Kleinod eurer biedern Voreltern, die durch so mancher
Helden Blut im Laufe achtzehn stürmischer Jahrhunderte
gegründete, behauptete, befestigte Nationalität und Selb-
ständigkeit. Dort liegt Gold neben Fesseln, hier der seltne
Ruhm, zugleich die stärkste und beste Nation zu sein.
Wählet.—
ÜBER DEN TRAUM EINES ARKADIERS
DURCH die ganze Geschichte finden wir im Leben
jedes Volkes die deutlichsten Spuren von einem
Wunderglauben, der, noch jetzt nicht erloschen, den ge-
bildeten Europäer und den rohen Wilden befängt. Wollten
wir dießes innere Gefühl uns als Aberglauben darstellen,
wollten wir es nur als ein leeres Spiel der Phantasie ab-
schütteln, so würden wir frech ein geistiges Band zer-
590 MISZELLEN
reißen, das uns gemeinsam mit allen Erdbewohnern um-
schlingt, ein Gefühl, das uns alle an die Mutterbrust der
Natur drückt.
Der rohe Mensch sieht Wunder in den ewigen Phäno-
men[en] der Natur, er sieht aber auch Wunder in außer-
gewöhnlichen Fällen des Alltaglebens; für beide schafft
er sich seine Götter. Der Gebildete sieht in den Wundern
erstrer Art nur die Wirkungen der unerforschten, unbe-
griöhen Naturkräfte; aber auch sie sind ihm Wunder, so-
lange das blöde Auge des Sterblichen nicht hinter den
Vorhang blicken kann, der das Geistige vom Körperlichen
scheidet, auch sie weisen ihn zurück auf ein Urprinzip,
ein[en] Inbegriff alles Bestehenden, auf die Natur. — Von
diesem Standpunkte aus will ich jetzt, so weit es in meinen
Kräften steht, eine Tatsache zu beurteilen suchen, die
vom grauen Altertum an bis jetzt noch niemand ganz er-
klärt, ganz aufgehellt hat und niemand vielleicht ganz
aufhellen wird.
Zwei durch wechselseitige Liebe aufs innigste verbundene
Arkadier, so erzählt man, machten eine Reise. Bei ihrer
Ankunft [in] Megara kehrte der eine bei einer Herberge,
der andre bei einem Gastfreunde ein. Im Traum nun er-
schien dem letzteren sein Freund, der ihn um Hülfe flehte,
weil sein Wirt ihn ermorden wolle. Erschreckt sprang er
auf, sammelte sich aber, und da er das Ganze für eine
Täuschung des Traumes hielt, schlief er wieder ein. Da
erschien ihm sein Freund zum zweiten Male, mit Blut be-
deckt machte er ihm Vorwürfe und erzählte ihm, sein Wirt
habe ihn ermordet, auf einen mit Mist beladnen Wagen
geworfen, um die Leiche auf diese Art aus der Stadt zu
schaffen. . . .
[KRITIK AN EINEM AUFSATZ ÜBER DEN SELBST-
MORD]
OHNE gleich im Anfange ein entscheidendes Urteil
über den Wert und den Inhalt vorliegender Arbeit
fällen zu wollen, werde ich mich anfangs darauf ein-
schränken, einige von den in dießer Arbeit ausgesprochnen
Gedanken und Meinungen in der von dem Verfasser be-
SCHULAUFSÄTZE UND SCHULREDEN 5 9 1
folgten Reihenfolge zu beleuchten und sie entweder zu
verteidigen oder zu widerlegen versuchen. Dießen, viel-
leicht etwas sonderbar scheinenden, Weg einzuschlagen
zwingt mich die eigentümliche Beschaffenheit des Themas
selbst, bei welchem von einem allgemein durchgrei-
fenden Grundsatz die Rede nicht sein kann, sondern
nur von einer sachgemäßen Zusammenstellung einzelner
Gedanken und Ansichten.
Dießer Verfahrungsart gemäß möchte ich behaupten, daß
der gleich im Anfang (p. i) ausgesprochne Grundsatz,
daß von einem durchgängig anwendbaren Urteil
die Rede nicht sein könne, so richtig er auch an und
für sich selbst ist, uns zuerst am Schlüsse, als ein
Hauptresultat dießer Arbeit, hätte entgegenkommen
dürfen.
Im Weitergehen bemerkte ich, daß der Verfasser bei An-
führung der Behauptung, der Selbstmörder handle un-
klug (p. 3), den so oft angeführten Grund, weil derselbe
einen sichren Zustand mit einem unsichren vertausche,
ganz überging, ich werde deshalb hier einige Worte hier-
über anführen. Es kommt mir immer sonderbar vor, wenn
man dem Selbstmörder aus dem schon angeführten Grunde
den Vorwurf der Unklugheit machen will. Es liegt ganz
in der Natur des Menschen, daß er einen ihm unerträg-
lich gewordnen Zustand mit einem andern, wenn auch
noch so unsichern, zu vertauschen sucht, es ereignet sich
dieß täglich, und niemand nimmt einen iVnstoß daran.
Wer will nun den, welchem sein irdischer Zustand un-
erträglich geworden ist, unklug nennen, weil er eine
hoffnungslose Sicherheit aufopfert, um zu einem Zu-
stand, von dem er noch hoffen darf und der auf keinen
Fall schlechter sein kann als der verlaßne, zu gelangen.-
Es wäre ja eher Unklugheit, in einer rettungslosen
Lage zu verharren, wenn man noch ein, wenn auch un-
sichres, Mittel übrig hat, sich zu retten. Ich behaupte
also, daß man in dieß er Hinsicht keineswegs den Selbst-
mörder unklug nennen könne.
Bei der (p. 6) aufgestellten sehr richtigen Behauptung,
daß der Selbstmord gegen unsre Bestimmung handle,
592 MISZELLEN
erlaube man mir eine kleine auf den (p. 2) angeführten
Einwurf, daß der Selbstmord unnatürlich sei, weil
er einen natürlichen Trieb unterdrücke, bezügliche Be-
merkung. Ich möchte nämlich eigentlich behaupten, der
Selbstmord handle gegen unsre Natur, denn in ihr liegt
unsre Bestimmung. Man könnte also in dießer Hin-
sicht den Selbstmord eine der Natur widerstrebende
oder unnatürliche Handlung nennen, jedoch in einem
von dem schon angeführten, sehr schwachen Einwurf ganz
verschiedenen Sinne.
Die Behauptung, der Selbstmord sei in allen Fällen
irreligiös, klingt gar eigen. Das irreligiös bedeutet
in unserm Sinn so viel als unchristlich. Dießes un-
christlich wird aber als Einwurf gegen den Selbstmord
oft gar sehr gemißbraucht, indem man gewöhnlich damit
angezogen kommt, wenn man keinen andern mehr machen
kann, wie bei Kato und Lukreiia. Ich will mich, um dieß
zu beweisen, an vorliegendes Beispiel halten. Kato ist,
vom wahren Standpunkte aus betrachtet, in jeder Hin-
sicht zu rechtfertigen; dieß gibt man zu, kommt aber mit
dem schalen Anhängsel hinten nach, subjektiv ist dieß
wohl wahr, objektiv aber unrichtig. Dießes Subjektive
ist aber das einzig Richtige, widerspricht dießem das
Objektive, so ist dasselbe falsch. Nun ist, wie schon
i^esasft, Kato nach allen Gesetzen menschlicher Ein-
sieht zu rechtfertigen; widerspricht dießem alsdann wirk-
lich das Christentum, so müssen die Lehren desselben
in dieser Hinsicht unrichtig sein, denn unsre Religion
kann uns nie verbieten, irgendeine Wahrheit, Größe,
Güte und Schönheit anzuerkennen und zu verehren
außer ihr und uns nie erlauben, eine anerkannt sitt-
liche Handlung zu mißbilligen, weil sie mit einer ihrer
Lehren nicht übereinstimmt. Was sittlich ist, muß von
jedem Standpunkte, von jeder Lehre aus betrachtet
sittlich bleiben. Ob man aber w i rkl i ch beweisen könne,
daß ein Selbstmord wie der des Kato dem Christentum
widerstrebe, ist eine andre Frage. Denn es wäre doch
sonderbar, ja es wäre unmöglich, daß eine Religion,
welche ganz auf das Prinzip der Sittlichkeit ge-
SCHULAUFSÄTZE UND SCHULREDEN 593
gründet ist, einer sittHchen Handlung widerstreben
sollte. Es trifft also dieser Vorwurf keineswegs das
Christentum selbst, sondern nur diejenigen, welche den
Sinn desselben falsch auffassen.
Mit dem Seite 10 ausgesprochnen Gedanken kann ich nicht
recht übereinstimmen; denn ich glaube, daß der echte
Sensualist nie in den beschriebnen Zustand geraten wird.
Über Roland (p, 11) ist zu hart geurteilt; ihn brachte nicht
die Furcht vor dem Blutgerüst zu dem Entschluß, sich
selbst zu ermorden, sondern der Schmerz, welcher ihn
bei der Nachricht von der Hinrichtung seiner Gattin über-
mannte. Überhaupt weiß ich nicht, was die letzte Phrase
hier bedeuten soll, denn wer sich selbst ermordet, wagt
es doch wahrlich, dem Tod in das Auge zu sehen.
Nicht mit Unrecht hat der Verfasser bei seinem Urteile
über die Tat des Kato (p. 15) Osiande?'n erwähnt. Aber
wahrlich, die Vergleichung mit dem Schwan und den
Krähen ist noch zu erhaben für einen solchen Menschen,
welcher den Kato einen Monolog halten läßt, worin der-
selbe ungefähr sagt, daß Cäsar doch bös mit ihm umgehen
würde, es sei also geratner, sich bei Zeit auf dem kür-
zesten Wege davon zu machen, zumal da die Narren der
Nachwelt wahrscheinlich ein großes Mirakel aus dießer
Tat machen würden. Es fehlt nur wenig, daß der Herr
Professorin seinem heiligen Eifer über die blinden Heiden
eine Sektion des Kato vornähme und bewieße, daß der-
selbe einige Lot Gehirn zu wenig gehabt hätte. Wahr-
haftig, wenn ich ein solches Buch in die Hände bekomme,
möchte ich mit Göthe über unser tintenklecksendes Säku-
lum ausrufen: Römerpatriotismus! Davor bewahre
uns der Himmel, wie vor einer Riesengestalt.
Wir würden keinen Stuhl finden, darauf zu sitzen,
und kein Bett, drinnen zu liegen.
In der wahrhaft vortrefflichen Stelle, wo von dem letzten
und erhabensten Motiv zum Selbstmord gesprochen wird
(p. 1 6), fand ich einen Ausdruck, dessen Erläuterung zwar
nicht hierher zu gehören scheint, der aber doch bei
näherer Beachtung einigen Bezug auf dießes Thema hat.
Die Erde wird nämlich hier ein Prüfungsland genannt;
BÜCHNER 38.
594 MISZELLEN
dießer Gedanke war mir immer sehr anstößig, denn ihm
gemäß wird das Leben nur als Mittel betrachtet; ich
glaube aber, daß das Leben selbst Zweck sei, denn:
Entwicklung ist der Zweck des Lebens, das Leben
selbst ist Entwicklung, also ist das Leben selbst Zweck.
Von dießem Gesichtspunkte aus kann man auch den ein-
zigen, fast allgemein gültigen Vorwurf dem Selbst-
mord machen, weil derselbe unserm Zwecke und somit
der Natur widerspricht, indem er die von der Natur uns
gegebene, unserm Zweck angemeßne Form des Lebens
vor der Zeit zerstört.
Bei der aus Göthes Faust entnommenen Stelle vermißte
ich die Worte des verschwindenden Erdgeistes: Du
gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir;
sie sind es, welche Faust von seiner Höhe in den Ab-
grund der Verzweiflung hinabstürzen.
Ich kann nicht umhin, den am Schluß ausgesprochnen Ge-
danken über den Selbstmord aus Patriotismus oder aus
physischen und psychischen Leiden einige Worte
hinzuzufügen, ob ich gleich wohl sehe, daß dieß eigent-
lich in die Form einer Rezension nicht paßt. Die Be-
hauptung, daß der, welcher dem Vorteile seines Vater-
landes das Leben aufopfert, kein eigentlicher Selbstmörder
sei, ist klar und bestimmt ausgesprochen und deutlich be-
wiesen, das übrige jedoch ist etwas dunkler ohne be-
stimmtes Resultat: ich will also das, was ich für das eigent-
liche Resultat halte, hier zufügen. Der Selbstmörder
aus physischen und psychischen Leiden ist kein
Selbstmörder, er ist nur ein an Krankheit Ge-
storbner.
Ich verstehe nämlich darunter einen solchen, welcher
durch geistiges oder körperliches unheilbares Leiden all-
mählig in jene Seelenstimmung verfällt, die man mit dem
Namen derMelancholie bezeichnet, und so zum Selbst-
mord getrieben wird, keineswegs aber den, welcher, um
einem Leiden zu entgehen, sich bei freiem Sinn mid
Verstand selbst tötet. Der erster e ist krank, der andre
schwach. Der erstere ist an seiner Krankheit gestorben,
denn ob dießes Leiden ihm allmählig das Leben raubt
SCHUL AUFS ÄTZE UND SCHULREDEN 595
oder ihn durch den störenden Einfluß auf sein Gemüt zum
Selbstmord bringt, ist gleichgültig. Die Form ist nur
verschieden, die Wirkung ist die nämliche: sie ist der
Tod, seine Ursache lag in einer Krankheit, die eine
Neigung zum Selbstmorde zm- Folge hatte, was ich aus
Beispielen zur Genüge beweisen könnte. So wenig man
nun von einem an der Auszehrung Gestorbnen sagen kann:
der Narr oder der Sünder, warum ist er gestorben: ebenso-
wenig darf man einem Selbstmörder aus dieß er Ursache
wegen seiner Tat einen Vorwurf machen wollen; er ist,
wie schon gesagt, nicht als Selbstmörder zu betrachten.
Dasselbe läßt sich nun, tmd zwar in noch viel höherem
Grade, auf den anwenden, welcher sich aus psychischen
Leiden den Tod gibt. Psychische Leiden sind, so wie
physische Krankheit des Körpers, Krankheit des Geistes;
letztere kann, wenn sie einmal feste Wurzeln geschlagen
hat, noch viel weniger gehoben werden als erstere. Wen
also eine solche geistige Krankheit zum Tode treibt,
der ist ebensowenig ein Selbstmörder, er ist nur ein an
geistiger Krankheit Gestorbner. Das geistige Leiden
selbst vermag den Körper nicht unmittelbar zu töten,
es tut dieß also mittelbar; dieß ist der ganze Unter-
schied zwischen dem, welcher am hitzigen Fieber oder in
einem Anfall von Wahnsinn stirbt.
Fasse ich hier nun ein allgemeines und bestimmtes Urteil
über die ganze Arbeit zusammen.
Die Frage ist trotz der schwierigen Aufgabe zur
Genüge gelöst.
Der Verfasser umfaßt in seiner Arbeit bis auf weniges alle
Einwürfe und alle Motive, dargestellt in einer bestimmten
und sachgemäßen Ordnung; ohne es jedoch bei einer
bloßen Zusammenstellung bewenden zu lassen, gibt er uns
über jeden Gegenstand eine Menge schätzenswerter, vor-
urteilsfreier Gedanken, die, wenn sie auch nicht alle gleich
richtig sind, doch zeigen, daß der Verfasser sich fern ge-
halten von aller Einseitigkeit, daß er alles nicht von einem
fremden, sondern von einem eignen, selbständigen Stand-
punkte aus betrachtet und beurteilt und durch eignes Nach-
denken schon einen tiefern BHck in die Li- und Außen-
596 MISZELLEN
weit des Menschen getan habe. Noch anziehender werden
dieße Gedanken durch eine klare, schöne und kräftige
Sprache. Überdieß wird das Ganze durch ein schönes und
edles Gefühl wie durch einen warmen Frühlingshauch be-
lebt und erwärmt; es erhebt uns über den gewöhnlichen
Standpunkt durch eine reine, glühende Begeisterung für
das Edle und Große, es gibt uns, nicht in abgedroschnen
Redensarten von Bruderhebe u. dgl. m., den Begriff echter
und wahrer Menschenliebe, indem es uns überall, dem
schönen Gedanken gemäß, daß der Selbstmörder nur
Verirrter, nicht Verbrecher sei, die Gebrechen und
Mängel des armen Sterblichen in der mildesten Form
sehen läßt.
Einen würdigen Schluß zu der ganzen Arbeit bildet über-
dieß der letzte erhabne Gedanke; er ist es, welcher dem
Menschen allein im Schlamme des Lebens die wahre
Würde bewahren kann.
[KATO VON UTIKA]
GROSS und erhaben ist es, den Menschen im Kampfe
mit der Natur zu sehen, wenn er gewaltig sich stemmt
gegen die Wut der entfesselten Elemente und, vertrauend
derjKraft seines Geistes, nach seinem Willen die rohen
Kräfte der Natur zügelt. Aber noch erhabner ist es, den
Menschen zu sehen im Kampfe mit seinem Schicksale,
wenn er es wagt einzugreifen in den Gang der Weltge-
schichte, wenn er an die Erreichung seines Zwecks sein
Höchstes, sein Alles setzt. Wer nur einen Zweck und
kein Ziel bei der Verfolgung desselben sich vorgesteckt,
gibt den Widerstand nie auf, er siegt — oder stirbt. Solche
Männer waren es, welche, wenn die ganze Welt feige
ihren Nacken dem mächtig über sie hinrollenden Zeit-
rade beugte, kühn in die Speichen desselben griffen, und
es entweder in seinem Um^schwunge mit gewaltiger Hand
zurückschnellten oder von seinem Gewichte zermalmt
einen rühmlichen Tod fanden, d. h. sich mit dem Reste
des Lebens Unsterblichkeit erkauften. Solche Männer,
die unter den Millionen, welche auch aus dem Schoß
SCHULAUFSÄTZE UND SCHULREDEN 5 9 7
der Erde kriechen, ewig am Staube kleben und wie Staub
vergehn und vergessen werden, sich zu erheben, sich Un-
vergänglichkeit zu erkämpfen wagten, solche Männer sind
es, die gleich Meteoren aus dem Dunkel des menschlichen
Elends imd Verderbens hervorstrahlen. Sie durchkreuzen
wie Kometen die Bahn der Jahrhunderte; so wenig die
Sternkunde den Einfluß der einen, ebensowenig kann die
Politik den der andern berechnen. In ihrem exzentrischen
Laufe scheinen sie nur Irrbahnen zu beschreiben, bis die
großen Wirkungen dießer Phänomene beweisen, daß ihre
Erscheinung lange vorher durch jene Vorsehung angeord-
net war, deren Gesetze ebenso unerforschlich als unab-
änderhch sind. —
Jedes Zeitalter kann uns Beispiele solcher Männer auf-
weisen, doch alle waren von jeher der verschiedenartig-
sten Beurteilung unterv/orfen. Die Ursache hiervon ist,
daß jede Zeit ihren Maßstab an die Helden der Gegen-
wart oder Vergangenheit legt, daß sie nicht richtet nach
dem eigentlichen Werte dieser Männer, sondern daß ihre
Auffassung und Beurteilung derselben stets bestimmt und
unterschieden ist durch die Stufe, auf der sie selbst
steht. Wie fehlerhaft eine solche Beurteilung sei, wird
niemanden entgehen: für einen Riesen paßt nicht das
Maß eines Zwergs; eine kleine Zeit darf nicht einen Mann
beurteilen wollen, von dem sie nicht einen Gedanken
fassen und ertragen könnte. Wer will dem x\dler die Bahn
vorschreiben, wenn er die Schwingen entfaltet und stür-
mischen Flugs sich zu den Sternen erhebt.' Wer will die
zerknickten Blumen zählen, wenn der Sturm über die
Erde braust und die Nebel zerreißt, die dumpfbrütend
über dem Leben liegen: Wer will nach den Meinungen
und Motiven eines Kindes wägen und verdammen, wenn
Ungeheures geschieht, wo es sich um Ungeheures han-
delt.- Die Lehre dieser Beobachtung ist: man darf die Er-
eignisse und ihre Wirkungen nicht beiurteilen, wie sie
äußerlich sich darstellen, sondern man muß ihren in-
neren tiefen Sinn zu ergründen suchen, und dann wird
man das Wahre finden, —
Ich glaube erst dießes vorausschicken zu müssen, um bei
598 MISZELLEN
der Behandlung eines so schwierigen Themas zu zeigen,
von welchem Standpunkte man bei der Beurteilung eines
Mannes, man bei der Beurteilung eines alten Römers
ausgehen müsse, um zu beweisen, daß man an einem
Kato nicht den Maßstab unsrer Zeit anlegen, daß man
seine Tat nicht nach neueren Gnmdsätzen und Ansichten
beurteilen könne.
Man hört nämlich so oft behaupten: subjektiv ist Kato
zu rechtfertigen, objektiv zu verdammen, d. h. von un-
serm, vom christlichen Standpunkte aus ist Kato ein Ver-
brecher, von seinem eigenen aus ein Held. Wie man
aber diesen christlichen Standpunkt hier anwenden könne,
ist mir immer ein Rätsel geblieben. Es ist ja doch ein
ganz eigner Gedanke, einen alten Römer nach dem Ka-
techismus kritisieren zu wollen! Denn da man die Hand-
lungen eines Mannes nur dann zu beurteilen vermag, wenn
man sie mit seinem Charakter, seinen Grundsätzen und
seiner Zeit zusammenstellt, so ist nur ein Standpunkt,
und zwar der subjektive, zu billigen und jeder andre,
zumal in diesem Falle der christliche, gänzlich zu ver-
werfen. So wenig als Kato Christ war, ebensowenig
kann man die christlichen Grundsätze auf ihn anwenden
wollen; er ist nur als Römer und Stoiker zu betrachten.
Dießem Grundsatze gemäß werde ich alle Einwürfe, wie
z. B. "Es ist nicht erlaubt, sich das Leben zu nehmen,
das man sich nicht selbst gegeben" oder "Der Selbstmord
ist ein Eingriff in die Rechte Gottes" ganz und gar nicht
berücksichtigen und nur die zu widerlegen suchen, welche
man Kato vom Standpunkte des Römers aus machen
könnte, wobei es unumgänglich notwendig ist, vorerst
eine kurze, aber getreue Schilderung seines Charakters
und seiner Grundsätze zu entwerfen. —
Kato war einer der untadelhaftesten Männer, den die Ge-
schichte uns zeigt. Er war streng, aber nicht grausam;
er war bereit, andern viel größere Fehler zu verzeihen als
sich selbst. Sein Stolz und seine Härte waren mehr die
Wirkung seiner Grundsätze als seines Temperaments. Voll
unerschütterlicher Tugend, wollte er lieber tugendhaft
sein als scheinen. Gerecht gegen Fremde, begeistert
SCHULAUFSÄTZE UND SCHULREDEN 599
für sein Vaterland, nur das Wohl seiner Mitbürger, nicht
ihre Gunst beachtend, erwarb er sich um so größeren
Ruhm, je weniger er ihn begehrte. Seine große Seele
faßte ganz die großen Gedanken: Vaterland, Ehre und
Freiheit. Sein verzweifelter Kampf gegen Cäsar war die
Folge seiner reinsten Überzeugung, sein Leben und sein
Tod den Grundsätzen der Stoiker gemäß, die da behaup-
teten: "Die Tugend sei die wahre, von Lohn und Strafe
ganz unabhängige Harmonie des Menschen mit sich selbst,
die durch die Herrschaft über die Leidenschaften er-
langt werde; diese Tugend setze die höchste innre Ruhe
und Erhabenheit über die Affektionen sinnlicher Lust und
Unlust voraus; sie mache den Weisen nicht gefühllos, aber
unverwundbar und gebe ihm eine HeiTschaft über sein
Leben, die auch den Selbstmord erlaube."
Solche Gefühle und Grundsätze in der Brust, stand Kato
da, wie ein Gigant unter Pygmäen, wie der Heros einer
untergegangnen Heldenzeit, wie ein ungeheurer, unbe-
greiflicher Riesenbau, erhaben über seine Zeit, erhaben
selbst über menschliche Größe. Nur ein Mann stand ihm
gegenüber. Er war Julius Cäsar. Beide waren gleich an
Geisteskräften, gleich an Macht und Ansehn, aber beide
ganz verschiednen Charakters. Kato der letzte Römer,
Cäsar nichts mehr als ein glücklicher Katilina; Kato groß
durch sich selbst, Cäsar groß durch sein Glück, mit dem
größten Verbrechen geadelt durch den Preis seines Ver-
brechens. Für zwei solcher Männer war der Erdkreis zu
eng. Einer mußte fallen, und Kato fiel, nicht als ein
Opfer der Überlegenheit Cäsars, sondern seiner ver-
dorbnen Zeit. Anderthalbe hundert Jahre zuvor hätte
kein Cäsar gesiegt. —
Nach Cäsars Siege bei TJiapsus hatte Kato die Hoffnung
seines Lebens verloren; nur von wenigen Freunden be-
gleitet, begab er sich nach Utika, wo er noch die letzten
Anstrengungen machte, die Bürger für die Sache der Frei-
heit zu gewinnen. Doch als er sah, daß in ihnen nur
Sklavenseelen wohnten, als Rom von seinem Herzen sich
losriß, als er nirgends mehr ein Asyl fand für die Göttin
seines Lebens, da hielt er es für das einzig Würdige, durch
6oo MISZELLEN
einen besonnenen Tod seine freie Seele zu retten. Voll
der zärtlichsten Liebe sorgte er für seine Freunde, kalt
und ruhig überlegte er seinen Entschluß, und als alle
Bande zerrissen, die ihn an das Leben fesselten, gab er
sich mit sichrer Hand den Todesstoß und starb, durch
seinen Tod einen würdigen Schlußstein auf den Riesen-
bau seines Lebens setzend. Solch ein Ende konnte allein
einer so großen Tugend in einer so heillosen Zeit ge-
ziemen!
So verschieden nun die Beurteilungen dieser Handlung
sind, ebenso verschieden sind auch die Motive, die man
ihr zum Grunde legt. Doch ich denke, ich habe nicht nö-
tig, hier die zurückzuweisen, welche von Eitelkeit, Ruhm-
sucht, Halsstarrigkeit und dergleichen kleinlichen Grün-
den mehr reden (solche Gefühle hatten keinen Raum in
der Brust eines Kato!) oder gar die zurückzuweisen, welche
mit dem Gemeinplatz der Feigheit angezogen kommen.
Ihre Widerlegung liegt schon in der bloßen Schilderung
seines Charakters, der nach dem einstimmigen Zeugnis
aller alten Schriftsteller so groß war, daß selbst Vellejus
Patercidus von ihm sagt: homo virtuti simillimus et per
omiiia ingenio diis, quam hoininibiis ^ propior.
Andre, die der Wahrheit schon etwas näher kamen und
auch [die] meisten Anhänger fanden, behaupteten, der
Beweggrund zum Selbstmord sei ein unbeugsamer Stolz
gewesen, der nur vom Tode sich habe wollen besiegen
lassen. Wahrlich, wäre dieß das wahre Motiv, so liegt
schon etwas Großes und Erhabnes in dem Gedanken, mit
dem Tode die Gerechtigkeit der Sache, für die man streitet,
besiegeln zu wollen. Es gehört ein großer Charakter dazu,
sich zu einem solchen Entschluß erheben zu können. Aber
auch nicht einmal dieser Beweggrund war es — es war ein
höherer. Katos große Seele war ganz erfüllt von einem
unendlichen Gefühle für Vaterland und Freiheit, das
sein ganzes Leben durchglühte. Diese beiden Gedanken
waren die Zentralsonne, um die sich alle seine Gedanken
und Handlungen drehten. Den Fall seines Vaterlandes
hätte Kato überleben können, wenn er ein Asyl für die
andre Göttin seines Lebens, für die Freiheit, gefunden
SCHULAUFSÄTZE UND SCHULREDEN 60 1
hätte. Er fand es nicht. Der Weltball lag in Roms Ban-
den, alle Völker waren Sklaven, frei allein der Römer.
Doch als auch dieser endlich seinem Geschicke erlag, als
das Heiligtum der Gesetze zerrissen, als der Altar der
Freiheit zerstört war, da war Kato der einzige unter
Millionen, der einzige unter den Bewohnern einer Welt,
der sich das Schwert in die Brust stieß, um unter Skla-
ven nicht leben zu müssen; denn Sklaven waren die Rö-
mer, sie mochten in goldnen oder ehernen Fesseln liegen
— sie waren gefesselt. Der Römer kannte nur e i n e Frei-
heit, sie war das Gesetz, dem er sich aus freier Über-
zeugung als notwendig fügte; diese Freiheit hatte Cäsar
zerstört, Kato war Sklave, wenn er sich dem Gesetz der
Willkür beugte. Und war auch Rom der Freiheit
nicht wert, so war doch die Freiheit selb st wert,
daß Kato für sie lebte und starb. Nimmt man diesen
Beweggrund an, so ist Kato gerechtfertigt; ich sehe nicht
ein, warum man sich so sehr bemüht, einen niedrigem
hervorzuheben; ich kann nicht begreifen, warumman einem
Manne, dessen Leben und Charakter makellos sind, das
Ende seines Lebens schänden will. Der Beweggrund, den
ich seiner Handlung zugrunde lege, stimmt mit seinem
ganzen Charakter überein, ist seines ganzen Lebens wür-
dig, und also der wahre. —
Diese Tat läßt sich jedoch noch von einem andern Stand-
punkte aus beurteilen, nämlich von dem der Klugheit
und der Pflicht. Man kann nämlich sagen: Handelte
Kato auch klug: hätte er nicht versuchen können, die
Freiheit, deren Verlust ihn tötete, seinem Volke wieder
zu erkämpfen? Und hätte er, wenn auch dieses nicht der
Fall gewesen wäre, sich nicht dennoch seinen Mitbürgern,
seinen Freunden, seiner Familie erhalten müssen.^
Der erste Einwurf läßt sich widerlegen durch die Ge-
schichte. Kato mußte bei einigem Blick in sie wissen
und wußte es, daß Rom sich nicht mehr erheben könne,
daß es einen Tyrannen nötig habe, imd daß für einen des-
potisch beherrschten Staat nur Rettung in dem Untergang
sei. Wäre es ihm auch gelungen, selbst Cäsarn zu besie-
gen, Rom blieb dennoch Sklavin; aus dem Rumpfe der
6o2" MISZELLEN
Hyder wären nur neue Rachen hervorgewachsen. Die
Geschichte bestätigt diese Behauptung. Die Tat eines
Brutus war nur ein leeres Schattenbild einer unter-
gegangnen Zeit. Was hätte es also Kato genützt, wenn
er noch länger die Flamme des Bürgerkrieges entzündet,
wenn er auch Roms Schicksal noch um einige Jahre auf-
gehalten hätte? Er sah, Rom und mit ihm die Frei -
heit war nicht mehr zu retten. —
Noch leichter läßt sich [der] andre Einwurf, als hätte Kato
sich seinem, wenn auch unterjochten Vaterlande den-
noch erhalten müssen, beseitigen. Es gibt Menschen, die
ihrem größeren Charakter gemäß mehr zu allgemeinen
großen Diensten für das Vaterland als zu besondern Hülfs-
leistungen gegen einzelne Notleidende verpflichtet sind.
Ein solcher war Kato. Sein großer Wirkungskreis war
ihm genommen, seinen Grundsätzen gemäß konnte er
nicht mehr handeln. Kato war zu groß, als daß er die
freie Stirne dem Sklavenjoche des Usurpators hätte beu-
gen, als daß er, um seinen Mitbürgern eine Gnade zu er-
betteln, vor einem Cäsar hätte kriechen können. Klei-
neren Seelen überließ er dieß; doch wie wenig durch
Nachgeben und Fügsamkeit erreicht wurde, kann Ciceros
Beispiel lehren. Kato hatte einen andern Weg einge-
schlagen, noch den letzten großen Dienst seinem Vater-
lande zu erweisen; ja sein Selbstmord war eine Aufopfe-
rung für dasselbe! Wäre Kato leben geblieben, hätte er
sich mit Verleugnung aller seiner Grundsätze dem Usur-
pator unterworfen, so hätte dieses Leben die Billigung
Cäsars enthalten; hätte er dieß nicht gewollt, so hätte er
in offnem Kampf auftreten und unnützes Blut vergießen
müssen. Hier gab es nur einen Ausweg, er war der
Selbstmord. Er war die Apologie des Kato, war die
furchtbarste Anklage des Cäsar. Kato hätte nichts Größ-
res für sein Vaterland tun können denn diese Tat, dieses
Beispiel hätte alle Lebensgeister der entschlafnen Roma
wecken müssen. Daß sie ihren Zweck verfehlte, daran
ist nur Rom, nicht Kato schuld. —
Dasselbe läßt sich auch auf den Einwurf erwidern, als
hätte Kato sich seiner Familie erhalten müssen. Kato war
SCHULAUFSÄTZE UND SCHULREDEN 603
der Mann nicht, der sich im engen Kreise des Familien-
lebens hätte bewegen können; auch sehe ich nicht ein,
warum er es hätte tun sollen: seinen Freunden nützte sein
Tod mehr als sein Leben, seine Porcia hatte einen Bru-
tus gefunden, sein Sohn war erzogen; der Schluß dieser
Erziehung war der Selbstmord des Vaters, er war die letzte
große Lehre für den Sohn. Daß derselbe sie verstand,
lehrte die Schlacht bei Philippi. —
Das Resultat dieser Untersuchung Hegt in Zz^^/^/w Worten:
'^ Wer fragen kann, ob Kato durch seine Tugend nicht Rom
mehr geschadet habe als genützt, der hat weder Roms Art
erkannt noch Katos Seele noch den Sinn des menschlichen
Lebens y
Nimmt man nun alle diese angeführten Gründe und Um-
stände zusammen, so wird man leicht einsehen, daß Kato
seinem Charakter und seinen Grundsätzen gemäß so hand-
ien konnte und mußte, daß nur dieser eine Ausweg
der Würde seines Lebens geziemte und daß jede andre
Handlungsart sein era ganzen Leben widersprochen [haben]
würde. —
Obgleich hierdurch nun Kato nicht allein entschuldigt,
sondern auch gerechtfertigt wird, so hat man doch noch
einen andern, keineswegs leicht zu beseitigenden Ein-
wurf gemacht; er heißt nämlich: "Eine Handlung läßt
sich nicht dadurch rechtfertigen, daß sie dem besondern
Charakter eines Menschen gemäß gewesen ist. Wenn der
Charakter selbst fehlerhaft war, so ist es die Hand-
lung auch. Dieß ist bei Kato der Fall. Er hatte nämlich
nur eine sehr einseitige Entwicklung der Natur. Die Ur-
sache, warum mit seinem Charakter die Handlung des
Selbstmords übereinstimmte, lag nicht in seiner Voll-
kommenheit, sondern in seinen Fehlern. Es war nicht
seine Stärke und sein Mut, sondern sein Unvermögen,
sich in einer ungewohnten Lebensweise schicklich zu
bewegen, welches ihm das Schwert in die Hand gab." —
So wahr auch diese Behauptung klingt, so hört [sie] bei
näherer Betrachtung doch ganz auf, einen Flecken auf
Katos Handlung zu werfen. Diesem Einwurf gemäß wird
gefordert, daß Kato sich nicht allein in die Rolle des
6o4 MISZELLEN
Republikaners, sondern auch in die des Dieners hätte
fügen sollen. Daß er dieß nicht konnte und wollte,
schreibt man derUnvollkommenheit seines Charakters zu.
Daß aber dieses Schicken in alle Umstände eine Voll-
kommenheit sei, kann ich nicht einsehen, denn ich glaube,
daß das große Erbteil des Mannes sei, nur eine Rolle
spielen, nur in einer Gestalt sich zeigen, nur in das, was
er als wahr und recht erkannt hat, sich fügen zu können.
Ich behaupte also im Gegenteil, daß grade dieses Unver-
mögen, sich in eine seinen heiligsten Rechten, seinen
heiligsten Grundsätzen widersprechende Lage zu finden,
von der Größe, nicht von der Einseitigkeit und Un-
vollkommenheit des Kato zeugt.
Wie groß aber seine Beharrlichkeit bei dem war, was er
als wahr und recht erkannt hatte, kann uns sein Tod
selbst lehren. Wenig Menschen werden je gefunden
worden sein, die den Entschluß zu sterben mit so viel
Ruhe haben fassen, mit so viel Beharrlichkeit haben aus-
führen können. Sagt auch ZT*?/-^^/' verächtlich: ^^ jener Rö-
mer, der im Zorne sich die Wtmdcn aufrißV\ so ist doch
dieß ewig und sicher wahr, daß grade der Umstand, daß
Kato leben blieb und doch nicht zurückzog, daß grade
der Umstand die Tat nur noch großartiger macht.
So handelte, so lebte, so starb Kato. Er selbst der Re-
präsentant römischer Größe, der Letzte eines unterge-
sunknen Heldenstamms, der Größte seiner Zeit! Sein Tod
der Schlußstein für den ersten Gedanken seines Lebens,
seine Tat ein Denkmal im Herzen aller Edlen, das über
Tod und Verwesung triumphiert, das unbewegt steht im
flutenden Strome der Ewigkeit! Rom, die Riesin, stürzte,
Jahrhunderte gingen an seinem Grabe vorüber, die Welt-
geschichte schüttelte über ihm ihre Lose, und noch steht
Katos Namen neben der Tugend und wird neben ihr
stehn, solange das große Urgefühl für Vaterland und
Freiheit in der Brust des Menschen glüht! —
) 6o5 <
MÜNDLICHE ÄUSSERUNGEN
IM Sommer 1831 begegnete ich Georg Büchner einmal
in der Dämmerung am Jägertor. Ej: sah sehr ermüdet aus,
aber seine Augen glänzten. Auf meine Frage, wo er ge-
wesen, flüsterte er mir ins Ohr: "Ich wilPs dir verraten:
den ganzen Tag am Herzen der Geliebten!"— "Unmög-
lich!" rief ich.— "Doch," lachte er, "vom Morgen bis zum
Abend in Einsiedel und dann in der Fasanerie!"
Erinnerung eines Jugendfreundes (nach Franzos S. XXXV).
Wie fühle ich mich glücklich! Ich darf werden, wozu ich
einzig tauge. Ich bin nie, auch nur eine Sekunde lang im
Zweifel über meinen Beruf gewesen.
Ztc demselben Freiende, der Theologe werden sollte (a. a. 0. S. XXXVI).
Ich habe Anlagen zur Schwermut. Nachgel. Schriften S. 4.
Einmal apostrophierte er mich lakonisch: "Link, wieviel
Götter glaubst du?" — Antwort: "Nur einen." — "Wieviel
Staaten müßten wir da in Deutschland haben und wieviel
Fürsten?" — Pause des Schweigens von beiden Seiten.
L. JV. Link an Franzos, ii. Sept. 18^8.
Die Versuche, welche man bis jetzt gemacht hat, um die
Verhältnisse Deutschlands umzustoßen, berulien auf einer
durchaus knabenhaften Berechnung, indem man, wenn es
wirklich zu einem Kampf, auf den man sich doch gefaßt
machen müßte, gekommen wäre, den deutschen Regie-
rungen und ihren zahlreichen Armeen nichts hätte ent-
gegenstellen können als eine Handvoll undisziplinierte
Liberale. Soll jemals die Revolution auf eine durch-
greifende Art ausgeführt werden, so kann und darf das
bloß durch die große Masse des Volkes geschehen, durch
deren Überzahl und Gewicht die Soldaten gleichsam er-
drückt werden müssen. Es handelt sich also darum, diese
große Masse zu gewinnen, was vorderhand nur durch
Flugschriften geschehen kann.
Die früheren Flugschriften, welche zu diesem Zweck etwa
6o6 MISZELLEN
erschienen sind, entsprachen demselben nicht. Es war
darin die Rede vom Wiener Kongreß, Preßfreiheit, Bun-
destagsordonnanzen u. dgl., lauter Dinge, um welche sich
die Bauern nicht kümmern, solange sie noch mit ihrer
m.ateriellen Not beschäftigt sind. Denn diese Leute haben
aus sehr nahe liegenden Ursachen durchaus keinen Sinn
für die Ehre und Freiheit ihrer Nation, keinen Begriff
von den Rechten des Menschen, sie sind gegen all das
gleichgültig, und in dieser Gleichgültigkeit allein beruht
ihre angebliche Treue gegen die Fürsten und ihre Teil-
nahmlosigkeit an dem Hberalen Treiben der Zeit. Gleich-
wohl scheinen sie unzufrieden zu sein, und sie haben Ur-
sache dazu, weil man den dürftigen Gewinn, welchen sie
aus ihrer sauren Arbeit ziehen und der ihnen zur Ver-
besserung ihrer Lage so notwendig wäre, als Steuer von
ihnen in Anspruch nimmt. So ist es gekommen, daß man
bei aller parteiischen Vorliebe für sie doch sagen muß,
daß sie eine ziemlich niederträchtige Gesinnung ange-
nommen haben, und daß sie, es ist traurig genug, fast an
keiner Seite mehr zugänglich sind als gerade am Geld-
sack. Dies muß man benutzen, wenn man sie aus ihrer
Erniedrigung hervorziehen will; man muß ihnen zeigen
und vorrechnen, daß sie einem Staate angehören, dessen
Lasten sie größtenteils tragen müssen, während andere
den Vorteil davon beziehen; daß man von ihrem Grund-
eigentum, das ihnen ohnedem so sauer wird, noch den
größten Teil der Steuern erhebt, während die Kapitalisten
leer ausgehen; daß die Gesetze, welche über ihr Leben
und Eigentum verfügen, in den Händen des Adels, der
Reichen und der Staatsdiener sich befinden usw. Dieses
Mittel, die Masse des Volkes zu gewinnen, muß man be-
nutzen, solange es noch Zeit ist. Sollte es den Fürsten
einfallen, den materiellen Zustand des Volkes zu ver-
bessern, sollten sie ihren Hofstaat, der ihnen fast ohne-
dem unbequem sein muß, sollten sie die kostspieligen,
stehenden Heere, die ihnen unter Umständen entbehrlich
sein können, vermindern, sollten sie den künstlichen Or-
ganismus der Staatsmaschine, deren Unterhaltung so große
Summen kostet, auf einfachere Prinzipien zurückführen,
MÜNDLICHE ÄUSSERUNGEN 607
dann ist die Sache der Revolution, wenn sich der Himmel
nicht erbarmt, in Deutschland auf immer verloren. Seht
die Östreicher, sie sind wohlgenährt und zufrieden! Fürst
Metternich, der geschickteste unter allen, hat allen re-
volutionären Geist, der jemals imter ihnen aufkommen
könnte, für immer in ihrem eigenen Fett erstickt.
Nach August Beckers gerichtlichen Angaben (Nöllner S. 420 ff.}.
Es ist keine Kunst, ein ehrlicher Mann zu sein, wenn man
täglich Suppe, Gemüse und Fleisch zu essen hat.
Nach demselben (Nöllner S. 42J).
Der materielle Druck, unter welchem ein großer Teil
Deutschlands liegt, ist ebenso traurig und schimpflich als
der geistige; und es ist in meinen Augen bei weitem nicht
so betrübend, daß dieser oder jener Liberale seine Ge-
danken nicht drucken lassen darf, als daß viele tausend
Familien nicht imstande sind, ihre Kartofiel zu schmälzen.
Ä^ach demselben (Nölhier S. 422).
Von den Konstitutionellen sagte er oft: Sollte es diesen
Leuten gelingen, die deutschen Regierungen zu stürzen
und eine allgemeine Monarchie oder auch Republik ein-
zuführen, so bekommen wir hier einen Geldaristokratismus
wie in Frankreich, und lieber soll es bleiben, wie es jetzt ist.
Nach demselben (Nöllner S. 42 j).
Büchner meinte, in einer gerechten Republik, wie in den
meisten nordamerikanischen Staaten, müsse jeder ohne
Rücksicht auf Vermögensverhältnisse eine Stimme haben,
und behauptete, daß Weidig, welcher glaubte, daß dann
eine Pöbelherrschaft wie in Frankreich entstehen werde,
die Verhältnisse des deutschen Volks und unserer Zeit
verkenne. JSfach demselben (Nöllner S. 42^).
Ich schreibe im Fieber, aber das schadet dem Werke nicht
—im Gegenteil! Übrigens habe ich keine Wahl, ich kann
mir keine Ruhe gönnen, bis ich nicht den Danton unter
der Guillotine habe, und obendrein brauche ich Geld, Geld!
Zum Bruder Wilhelm (nach Franzos S. CL Vlll).
6o8 MISZELLEN
Mit gräßlich entstellten Zügen trat er in das Stübchen
Wilhelms, der eben seinen Koffer packte, weil er am
Nachmittage nach Butzbach abreisen sollte, um als Prak-
tikant in die dortige Apotheke einzutreten. ''Sieh her,"
sagte er, "das ist mein Todesurteil!" Nach'Franzos S. CLX.
So schieden beide am Nachmittag des 27. Februar in
düsterster Stimmung. "Wir sehen uns nie wieder," sagte
Georg, und die traurige Ahnung hat sich erfüllt.
Nach Franz OS S. CLXL
Seine Mutter und Schwester, die ihn Sommer 1836 in
seinem Exil besuchten, fanden ihn zwar gesund, aber doch
in einer großen nervösen Aufgeregtheit und ermattet von
den anhaltenden geistigen Anstrengungen. Er äußerte
damals oft: "Ich werde nicht alt werden."
Nachgelassene Schriften S. ^j.
Auch hatte er niemals die Absicht, seine materielle Exi-
stenz durch literarische Tätigkeit zu begründen. "Ruhm
will ich davon haben, nicht Brot", pflegte er später zu sagen.
Nach Franzos S. CLX//.
ANHANG
BÜCHNER 39.
) 6ii (
BRIEFE AN BÜCHNER
VOM ONKEL REUSS NACH GIESSEN
Darmstadt, den 24. März 1834.
Lieber Georg! Ich war wirklich nicht wenig erstaunt heute
morgen, einen Brief von Dir zu erhalten, worin Du noch
um Geld bittest. Im größten Regen ging ich sogleich in
die Heyrische Buchhandlung und ließ mir eine Anweisung
von 17 fl. 30 kr. an die dortige Buchhandlung geben;
diese nebst einem Briefe folgt anbei, wogegen Du sogleich
das Geld in Empfang nehmen kannst. Wenn Du Dich nun
beeilst, so mußt Du bis den Mittwoch abend mit dem
Gieser Briefkurier hier eintreffen; dies verlang ich vor
allem von Dir: denn der Zustand, worin sich Dein Vater^
insbesondere Deine leidende Mutter befindet über Dein
Ausbleiben, ist der Raum zu kurz, es hier zu beschreiben;
ich weiß nicht, wie Du Dich hierüber genügend verant-
worten willst. Dein Vater ist so aufgeregt sowie auch
Deine Mutter, daß ich ihnen von Deinem Verlangen nach
Geld ohnmöglich etwas sagen konnte; sinne nun auf Dei-
ner Reise darnach, wie wir es dem Vater beibringen wol-
len und wie Du Dein Ausbleiben entschuldigen kannst.
Wärest Du wie andere Menschen, das heißt gäbst Du Dir
Mühe, etwas Lebensklugheit Dir anzueignen, so hättest
Du in Deinem ersten Brief an mich nur geschrieben, ich
habe den Vater um 2 2 fl. gebeten, ich brauche aber außer-
dem noch 20 fl., so wärest Du nun schon hier; es ist recht
schlimm, wenn man mit viel Kenntnissen als ein Schussel
auf der Welt herumgehet. Mündlich ein mehreres. Dein
Onkel George Reuß.
VON GUTZKOW NACH DARMSTADT
Frankfurt, den 25. Februar 1835.
Verehrtester Herr! In aller Eile einige Worte! Ihr Drama
gefällt mir sehr, und ich werde es Sauer [länder] emp-
fehlen: nur sind theatralische Sachen für Verleger keine
lockende Artikel. Deshalb müßten Sie bescheidene Hono-
rarforderungen machen.
6i2 ANHANG
Wenn diese vorläufige Anzeige dazu dienen könnte, Ihren
Mut wieder etwas aufzurichten, so würde es mich freuen.
In einigen Tagen mehr! Ihr ergebenster K. Gutzkow.
VON GUTZKOW NACH DARMSTADT
Frankfurt, den 28. Februar 1835.
Verehrtester; Sie hätten mir schreiben sollen, was Ihre
Forderung in betreff Dantons ist. Viel (am wenigsten aber
das, was Ihre Dichtung wert ist) kann Sauerländer nicht
geben. Es ist für ihn ein harter Entschluß, das Manuskript
zu drucken; denn wie günstig die Kritik urteilen mag, so
ist doch mit dem Absatz dramatischer Sachen bei dem
gegenwärtigen PubHkum die größte Not. Kaum, daß sich
das Papier herausschlägt. Ich weiß das. Es sind keine
Redensarten.
Rechnen Sie das Notdürftigste, was Sie im Augenblick
brauchen, zusammen, resignieren Sie auf jede glänzende
Erwartung und suchen Sie sich durch weitere Arbeiten,
etwa für den PJmiix^ zu dem ich Sie einlade, sich einige
wiederkehrende Einkünfte zu verschaffen.
Ihrer Angabe seh ich also demnächst entgegen. Ihr er-
gebenster K. Gutzkow.
VON GUTZKOW NACH DARMSTADT
Frankfurt, den 3. März 1835.
Verehrtester! 10 Friedrichsdor will Ihnen Sauerländer
geben unter der Bedingung, daß er mehres aus deffi Drama
für den Phönix brauchen darf, und daß Sie sich bereit-
willig finden lassen, die Quecksilberblumen Ihrer Phan-
tasie, und alles, was zu offenbar in die Frankfurter Bnm-
nengasse und die Berlinische Königsmauer ablenkt, halb
und halb zu kastrieren. Mir freilich ist das so ganz recht,
wie Sie es gegeben haben; aber Sauerländer ist ein Fa-
milienvater, der 7 rechtmäßige Kinder im Ehebett gezeugt
hat und dem ich schon mit meinen Zweideutigkeiten ein
Alp bin: wieviel mehr Sie mit Ihren ganz grellen und nur
auf Eines bezüglichen Eindeutigkeiten! Also dies ist sehr
>otwendig.
n schreibt er aber, als hätten Sie große Eile. Wo wol-
BRIEFE AN BÜCHNER 6 1 3
len Sie hin: brennt es Ihnen wirklich an den Sohlen: Ich
kann alles hören, nur nicht, daß Sie nach Amerika gehen.
Sie müßten sich in der Nähe halten (Schweiz, Frankreich),
wo Sie Ihre poetischen Gaben in die deutsche Literatur
hineinflechten können; denn Ihr Danton verrät einen tie-
fen Fond, in den viel hineingeht, und viel heraus, und
das sollten Sie ernstlich bedenken. Solche versteckte
Genies wie Sie wären mir gerade recht; denn ich möchte,
daß meine Prophezeiung für die Zukunft nicht ohne Be-
lege bliebe, und Sie haben ganz das Zeug dazu, mitzu-
machen. Ich hoöe, daß Sie mir hierauf keine Antwort
schuldig bleiben.
Wollen Sie Folgendes: Ich komme zu Ihnen hinüber nach
Darmstadt, bring Ihnen das Geld und fange mit Ihnen
gemeinschaftlich an, aus Ihrem Danton den Venerin her-
auszutreiben, nicht durch Metall, sondern linde, durch
Vegetabilien und etwas sentimentale Tisane. Es ist ver-
flucht, aber es geht nicht anders, und ich vergebe Ihnen
nicht, daß Sie mich bei dieser Dolmetscherei und Ver-
mittlerschaft zwingen, die Partie der Prüderie zu führen.
Können Sie sich aber noch halten in Darmstadt, so be-
kommen Sie das Geld und Manuskript durch Heger, wor-
auf Sie aber letzteres unfehlbar einen Tag später wieder
abliefern müssen. Ihr Gutzkow.
VON GUTZKOW NACH DARMSTADT
Frankfurt, den 5. März 1835.
Liebster! Sauerländer widerrät mir, nach Darmstadt zu
gehen, weil ihm freilich daran gelegen sein muß, daß ich
mich so kauscher als möglich erhalte. Doch möcht ich Sie
gern sprechen; und ich erwarte deshalb bestimmt von
Ihnen (Sie können direkt an mich adressieren: Wolfseck)
genauere Angabe Ihrer Lage, ob Sie nicht ausgehen dür-
fen und es dann nicht möglich wäre, daß wir uns in ir-
gendeinem Gasthofe ein Rendezvous gäben. Um 10 Uhr
morgens geht hier ein Postwagen ab: da war ich zu Mittag
drüben, spräche einige Stunden mit Ihnen und wäre abends
wieder in meiner Behausung. Was dabei so Gefährliches
ist, seh ich nicht: es sei denn, daß Sie als Pech in Darm-
6i4 ANHANG
Stadt herumwandeln und jeden wieder ins Pech brächten,
der einige Worte mit Ihnen spricht. Oder gehen Sie gar
nicht aus; dann such ich Sie in Ihrem Versteck. Vor allen
Dingen vertilgen Sie meine Briefe!
Daß Sie nach Frankreich gehen^ ist gut. So bleiben Sie
doch in der Nähe und können für Deutschland etwas tun.
Arbeiten Sie ja für den Phönix: wenn Sie keine Quellen
in Frankreich haben, müssen Sie solche Verbindungen
nicht abweisen. — Wenn Sie mir über Ihre Lage einige
Aufklärungen geben, komm ich sogleich: ich bin so einer
Erholung bedürftig, da ich in einigen Tagen meine Tra-
gödie ''Nero" fertig habe. Ihr Gutzkow.
VON GUTZKOW NACH STRASSBURG
Lieber, ich habe vor länger als acht Tagen, beinahe vier-
zehn Tagen schon lo fr. an die Darmstädter Adresse ge-
sandt und von Ihrem Vater darauf die Anzeige erhalten,
Sie wären nach Friedberg, und das Geld würde Ihnen ein-
gehändigt werden. Ihr Vater schien von der Herkunft
dieses Geldes nichts zu wissen.
Werden Sie in Straßburg bleiben? Ich halte es für ratsam,
da Sie wohl keine Aufhebung durch Dragoner zu fürchten
haben. Sie sollten meine Ermunterung, in der Teilnahme
an deutscher Literatur fortzufahren, nicht in den fran-
zösischen Wind schlagen. Was Sie leisten können, zeigt
Ihr Danton, den ich heute zu säubern angefangen habe,
und der des Vortrefflichsten so viel enthält. Glauben Sie
denn, daß sich irgend etwas Positives für Deutschlands
Politik tun läßt? Ich glaube, Sie taugen zu mehr als zu
einer Erbse, welche die offne Wunde der deutschen Re-
volution in der Eiterung hält. Treiben Sie wie ich den
Schmuggelhandel der Freiheit: V/ein verhüllt in Novellen-
Stroh, nicht in seinem natürlichen Gewände: ich glaube,
man nützt so mehr, als wenn man blind in Gewehre läuft,
die keineswegs blindgeladen sind. War es nicht, so hätt
ich mich in der Rechnung meines Lebens betrogen und
müßte dann selbst meinen Untergang beschleunigen.
Noch drückt Sie Mangel. Hoffentlich haben Sie jetzt das,
was Sie zehnmal verdient haben. Das beste Mittel der
BRIEFE AN BÜCHNER 6 1 5
Existenz bleibt die Autorschaft, d. h. nicht die geächtete,
sondern die noch etwas geachtete, wenigstens honorierte
bei den PhiHstern, welche das Geld haben. Spekulieren
Sie auf Ideen, Poesie, was Ihnen der Genius bringt. Ich
will Kanal sein, oder Trödler, der Ihnen klingend ant-
wortet. Bessern Rat weiß ich nicht, und ich möchte Ihnen
doch welchen geben, und recht altklug Ihnen zurufen:
Gehen Sie in sich, werden Sie praktisch, und regeln Sie
Ihr Leben. Aber ich tu es zagend, denn unsre Zeit hat
eine besondre Art Scham erfunden, nämlich die, nicht
unglücklich zu sein.
Vergessen Sie nicht, von sich hören zu lassen. Ihr G.
VON GUTZKOW NACH STRASSBURG
Frankfurt, den 7. April 1835.
Mein nach Darmstadt geschickter Brief enthält nichts
Wesentliches. Ich freue mich, daß Sie sich zu arrondieren
anfangen und sich wohl fühlen. Vo?n Danton hat der Phö-
nix sein Teil schon abgedruckt und damit viel Ehre ein-
gelegt. Was ich Ihnen über Ihre Fähigkeit schon sagte,
muß ich wiederholen. Es ist mir, als hätten Sie eine lite-
rarische Prädestination. Ich warte nur den Druck imd die
Ausgabe Ihres Buches ab, um Sie beim Publikum einzu-
führen. Aber warten Sie das nicht ab (denn Sauerländers
Pressen schwitzen Tag und Nacht, und für Danton könnte
sich der Termin auch etwas hinausschieben). Reißen Sie
selbst die Flügeltüren auf und stürzen Sie aufs Parkett.
Man wird erst spröde sein, dann horchen und zuletzt sich
hingeben. Das Selbstgefühl wird schon kommen. Meine
Muse bäumte sich auch erst wie ein scheues Pferd vor
der Autorschaft; ich hatte sogar schon ein Buch geschrie-
ben, als ich noch immer daran zweifelte, ob ich's könnte;
als ich aber Hunger bekam und mir in meiner Heimat, in
Preußen, der Brotkorb hochgehangen wurde, da schrieb
ich aus Desperation und freue mich nun, daß das Ding
flott geht.
Die (7bersetzung lassen Sie unterwegs, an Originale machen
Sie sich. Sie haben selbst viel Ähnlichkeit mit Ihrem
Danton: genial und träge. Mich feuerte vor vier Jahren
6i6 ANHANG
ein Brief Menzels zur Schriftstell erei an; wenn ich auch
nicht so viel auf Sie vermag, wie der auf mich, so ist doch
meine Aufforderung gewiß aus reiner Freude über Sie
entstanden. Ich wiege mich in dem Gedanken, Sie ent-
deckt zu haben und Sie recht als ein schlagendes Beispiel,
als AriQidaschild der Menge, mit der ich mich zu balgen
habe, gegenüberstellen zu können. Soll ich noch mehr
loben? Nein, Sie sollen sich Ihren eignen Weg machen.
Ich weiß nicht, ob Sie den Phönix gelesen haben, d. h.
mein Literaturblatt, und noch lesen. Bei Levrault, der
ihn für die Revue germa?tique bezieht, können Sie ihn ein-
sehen. Mir wär's willkommen, wenn Sie einige Aufmerk-
samkeit auf das, was an mir ist und was ich will, ver-
wendeten. Sind Sie überhaupt wegen unsrer laufenden
literarischen Verhältnisse au fait: Sie brauchen es nicht
zu sein: Sie scheinen ganz positiver Natur. Schreiben Sie
mir, was Sie arbeiten wollen. Ich bringe alles unter; aber
bald; denn in vierzehn Tagen reis ich auf kurze Zeit nach
Berlin; daß ich Sie sehe, könnte sich im Juni ereignen.
Ich freue mich sehr darauf: ich stelle mir in Ihnen einen
nicht über 5 Fuß hohen Kerl oder Menschen oder Mann,
wie Sie wollen, vor, und zwar fröhlicher Laune; doch
haben Sie dunkles Haar . . . Ihr G.
Apropos! Wollen Sie mir Kritiken über neuste franz, Lite-
ratur schicken für mein Blatt, so sind mir die willkommen;
aber schneller Entschluß! Eine Zusage, um mir Freude
zu machen!
VON GUTZKOW NACH STRASSBURG
Mannheim, den 12. Mai 1835.
Mein Lieber! Statt daß Sie mich um tausend Parasangen
weiter von sich denken, bin ich Ihnen um hundert näher
gerückt. Meine Paßverhältnisse sind etwas in Unordnung,
sonst kam ich schon zu Ihnen. Ich spare das auf. Die
Berliner Reise ist mit Gefahren verknüpft. Durch eine
Vorrede zu Schleiermachers Briefen über Schlegels ''Lu-
zinde" hab ich die Geistlichkeit und den Hof gegen mich
empört: ich fürchte ein Autodafe und halte mich am Rhein-
geländer, das bald übersprungen ist. Adressieren Sie recht
BRIEFE AN BÜCHNER 617
bald eine Nachricht hieher: an mich, wohnhaft bei Herrn
Reitz. Ihre Äußerungen iiber neure Literatur vermag ich
nicht aufzunehmen, weil mir jetzt die Muße fehlt. Nur
glauben Sie nicht, daß ich z. B. durch meine Besorgung
einer Übersetzung Victor Hugos eine große Verehrung vor
der romantischen Konfusion in Paris an den Tag legen
will: dies ist nur eine Gefälligkeit für einen Buchhändler,
der auf mein Anraten auch Sie ins Interesse gezogen hat.
Danton wird nun gedruckt.
Ihre Novelle Lenz soll jedenfalls, weil Straßburg dazu an-
regt, den gestrandeten Poeten zum Vorwurf haben? Ich
freue mich, wenn Sie schaffen. Einen Verleger geb ich
Ihnen sogleich . . .
Vergelten Sie mir diese Abbreviatur von einem Briefe
nicht, sondern seien Sie mitteilsam und vollständig!
Ihr Gutzkow.
VON GUTZKOW NACH STRASSBURG
Wiesbaden, den 23. Juli 1835.
Mein lieber Freund; ich habe länger geschwiegen, als ver-
ziehen werden kann. Heidelberg und Mannheim nahmen
mich sehr in Anspruch, dann eine Rheinreise, Frankfurt
mit all seinen Verbindungen, die wieder aufgefrischt wer-
den mußten, nun gar Wiesbaden, wohin ich gegangen bin
um zu schwitzen— das alles hat mich in ewige Unruhe
gebracht. Zuletzt noch hab ich in der Hast von drei
Wochen (schnelle Arbeiten sind die besten) einen Roman
geschrieben: "Wally, die Zweiflerin". Auch jetzt bin ich
nur erst in der Stimmung, ein Billett statt eines Briefes
zu schreiben, und Ihnen in der Eile zu sagen, daß ich
viel und herzlich an Sie denke. Sie haben mehr Zeit als
ich. Regen Sie mich durch einen langen Brief zu einem
längern auf!
Sauerländer trödelte lange mit dem Druck Ihres Danton.
Für den Schreckenstitel kann ich nicht: das ist eine der
buchhändlerischen Dreistigkeiten, die man sich bei seinem
zweiten Buche nicht mehr gefallen läßt. Sie werden jetzt
Exemplare haben, und meine von der Zensur verstümmelte
Anzeige. Ich trug Sauerländer auf, Ihnen den Korrektur-
6i8 ANHANG
abzug zu schicken; denn ich habe ein böses Gewissen.
Ich fürchte, daß ich mich nicht erschöpfend genug über
Sie ausgedrückt habe, wenigstens viel zu allgemein; und
da ist mir jeder verlorne Buchstabe wichtig, wenn Sie ihn
nicht sehen sollten.— Geben Sie bald ein zweites Buch:
Ihren Lenz (für den ich schon einen bessern Verleger
habe), dann will ich das Versäumte einholen.
Schreiben Sie nach Frankfurt: der Brief trifft mich sicher.
Mit bestem Gruß Ihr Gutzkow.
VON GUTZKOW NACH STRASSBURG
Stuttgart, den 28. August 1835.
Jetzt werd ich klagen, mein lieber Freund, daß Sie sich
in ein nebelhaftes Schweigen hüllen. Wie leben Sie? Ich
bin in Ihrer Nähe; aber leider werd ich die Muße nicht
haben, Straßburg besuchen zu können. Zwar bin ich jetzt
ungebundener als je, weil ich mein Literaturblatt dem
'Thönix" preisgegeben habe: aber es drücken mich doch
mancherlei Geschäfte, weil ich gesonnen bin, noch vor
dem neuen Jahre selbst ein Journal mit meinem Freunde
Z. Wienbarg zu edieren. Der Titel wird sein: Deutsche
Revue\ die Form: wöchentlich ein Heft. Ich gestehe auf-
richtig, daß ich mich bei diesem Unternehmen ernstlich
auf Sie verlassen möchte. Schreiben Sie mir, sobald Sie
können, nach Frankfurt im Wolfseck, ob ich monatlich
wenigstens einen Artikel (spekulativ, poetisch, kritisch,
guidquid fert anitnus) von Ihnen erwarten darf? Mit den
buchhändlerischen Bedingungen werden Sie zufrieden
sein . . .
Über Ihren Danto?i hör ich sonst noch nichts. Wienbarg
hat ihn mit Vergnügen gelesen. Von Grabbe sind zwei
Dramen erschienen. Wenn man diese aufgesteifte, forcierte,
knöcherne Manier betrachtet, so muß man Ihrer frischen,
sprudelnden Naturkraft das günstigste Horoskop stellen.
Haben Sie Freunde in der Schweiz? nämlich Freunde,
die Sie dafür halten? Man hat mir von dort anonyme Ein-
sendungen gemacht, um Ihr Talent zu verdächtigen und
namentlich mich von der Hingebung, die ich öffentlich
gegen Sie gezeigt habe, zurückzubringen. Mehr mag ich
BRIEFE AN BÜCHNER 6 1 9
nicht sagen. Es scheinen Knaben zu sein, die mit Ihnen
auf der Schulbank saßen, und sich ärgerten, wenn Sie
[treffende] Antworten gaben.
Schreiben Sie nach Frankfurt. Ihr Gutzkow.
VON GUTZKOW NACH STRASSBURG
Poststempeh Frankfurt, 28. Sept. 35.
Mein lieber Freund, Sie erbauen weder mich noch meinen
Plan durch Ihren jüngsten, doch so willkommnen Brief.
Ich hatte sicher auf Sie gerechnet, ich spekulierte auf lau-
ter Jungfernerzeugnisse, Gedankenblitze aus erster Hand,
Lenziana^ subjektiv und objektiv: Sie können auch Ihre
abschlägige Antwort nicht so rund gemeint haben und
werden schon darauf eingehen, folgenden Kalkül mit sich
anzustellen: Du hast ein Buch mit deinem Namen ge-
schrieben. Ein Enthusiast hat es unbedingt gelobt. Ja,
du hast dich sogar herabgelassen, zwei wahrscheinlich sehr
elende Dramen von Victor Hugo zu übersetzen; du stehst
nun mitten drinnen und mußt dich entweder behaupten
oder avancieren. Die Deutsche Revue wird großartig ver-
breitet, sie zahlt für den 8°bogen 2 Friedrichsdor. Sie
hat einige glänzende Aushängeschilde von Namen, welche
sogar das alte und besorgliche Publikum ... In der Tat,
lieber Büchner, häuten Sie sich zum zweiten Male: geben
Sie uns, wenn weiter nichts im Anfang, Eri?inerunge?i an
Lenz: da scheinen Sie Tatsachen zu haben, die leicht auf-
gezeichnet sind. Ihr Name ist einmal heraus, jetzt fangen
Sie an, geniale Beweise für denselben zu führen.
Das Brockhaussche Repertorium kanzelt Sie mit zwei Wor-
ten ab. Die Abendzeitung, wie ich aus einem Briefe von
Th. Hell an einen Dritten sehe, wird desgleichen tun.
Basenhaft genug schreibt dieser . . . genannt Winckler:
Wer ist dieser Büchner,- Antworten Sie ihm darauf!
W. Schulz hat an mich geschrieben. Er scheint recht ge-
drückt zu sein; was ich für ihn ausrichten kann, will ich
sehen. Er solle sich noch einige Tage gedulden.
Von Menzels elendem Angriffe auf meine Person werden
Sie gehört haben. Ich mußte ihn für seine Schamlosigkeit
fordern; er schlug diesen Weg aus und zwingt mich nun,
620 ANHANG
ihm öfifentlich zu dienen. Menzeln war es eine Freude
gewesen, wenn ich bei ihm noch immer die zweite Vio-
line gespielt hätte und einmal Exekutor seines Testaments
geworden wäre. Prinzipien hat er für keine größere Fehde
mehr, seine letzten Patronen hat er gegen Göthe ver-
schossen: nun muß die Religion, die Moral und mein
Leben herhalten, um mich zu stürzen. In einigen Tagen
erscheinen von mir und Wienbarg Broschüren. Ich kann
nichts Besseres tun, als aus seiner Infamie eine literarische
Streitfrage machen. Zeit ist's, endHch einmal die Men-
zelsche Stellung zu revidieren und die kritischen Annalen
zu kontrollieren, welche er seit beinahe zehn Jahren ge-
schrieben hat.
Am I. Dezember erscheint das erste Heft der Revue.
Benimmt sich Menzel nicht, als woll er sagen: "O Herr
Zebaoth, siehe, sie wollen herausgeben ein Blatt, das da
heißet: Deutsche Revue und soll erscheinen wöchentlich
einmal! spricht der Herr: Sela." Ihr Gutzkow.
VON GUTZKOW NACH STRASSBURG
Mannheim, den 4. Dezember 1835.
Mein Lieber! Ich sitz im Gefängnis — wie imd wodurch
das kam, ein andermal — wenn ich [mich] in mein Schick-
sal zu finden weiß. Zunächst dies, daß ich des Angriffs
auf die Religion beschuldigt bin.
Erst wollt ich fliehen und schrieb an Mr. Boulet in Paris,
für mich zu sorgen. Wahrscheinlich ist unter Ihrer Adresse
von da ein Brief an mich gekommen. Schicken Sie ihn
mir hieher mit besonderm Kuvert an den Dr. Löwenthal.
Wie glücklich sind Sie in der Freiheit! Ich sehe voraus,
daß ich lange werde geplagt werden. Menzel hat mich
so weit gebracht. Ich bin zusammenhängender Ideen nicht
fähig. Ein andermal mehr, wenn es sich aus den Eisen-
stäben schmuggeln läßt. Ihr G.
VON GUTZKOW NACH STRASSBURG
Mannheim, den 6. Februar 1836.
Mein lieber Freund! In kurzer Zeit drei Briefe von Ihnen-.
zwei, die ziemlich gleich lauteten, und einen, der den
BRIEFE AN BÜCHNER 6 2 1
Alsabildem beilag. Ihre Ratschläge sind entschieden; aber
ich möchte sie noch nicht befolgen. Eine Entfernung aus
Deutschland brächte mich um die Voraussetzung eines
guten Gewissens, auf das ich mich dreist berufe. Wenn
auch von Menzel als strikter Republikaner denunziert, so
tritt doch die politische Seite meiner Anschuldigungen
ziemlich in den Hintergrund, und sogar in Preußen scheint
man ein andres und milderes Benehmen einleiten zu wol-
len. Meine Taktik muß die sein, Preußen (ich bin aus
Berlin gebürtig) so lange zu vermeiden, bis ich das ent-
schiedene Wort des Ministeriums hab, daß meiner Frei-
heit nichts in den Weg tritt. Da Laube und Miiudt frei
passieren, würde man vielleicht auch Anstand nehmen,
gegen mich persönlich einzuschreiten. Solange ich kann,
halt ich mich um Frankfurt herum; denn ich bin daselbst
verlobt; aber die elenden Krämer werden mich unsanft
empfangen, und das "binnen vierundzwanzig Stunden"
hör ich schon, wie natürlich. Diese Menschen wissen nun
alle, daß mich nichts nach Frankfurt zieht als meine Braut;
und doch sind sie spitzbübisch genug, mir andre Zwecke
unterzuschieben. Kurz, ich sehe Not und Plage voraus
und werde so viel gehänselt werden, daß ich zuletzt doch
im Rebstöckel nachfragen könnte. Aber die Freude, Sie
zu sehen, müßt ich dann teuer erkaufen, da mir schwer-
lich der Rückweg dann offen bhebe.
Die gegen mich bereits erhobene Appellation ist zurück-
genommen durch die Minister in Karlsruhe. Ich danke
Gott, von dieser Ungewißheit befreit zu sein. Am 10. Fe-
bruar bin ich nun frei: mit der Weisung, Baden zu ver-
lassen. Ich saß dann 2 Vg Monate, und zwar, wie Sie rich-
tig annahmen, im Amthause oder Kaufhause, wie der
ganze Arkadenwürfel heißt. Behandlung war erst massiv;
dann milderte sie sich und endete zuletzt in entschiedene
Höflichkeit. Erst wollte man mich steinigen, und jetzt bin
ich ziemlich populär. Die Deutschen sind wenigstens gut-
mütig und können niemanden lange leiden sehen.
Können Sie denn in Straßburg vollkommen die deutschen
Affären seit einem halben Jahre übersehen? Eine Kette
von Nichtswürdigkeiten und Dummheiten: die gänzliche
62 2 ANHANG
innre Auflösung Deutschlands charakterisierend. Ich will
mich nicht in Schutz nehmen, ich weiß, daß ich outriert
habe; aber was erlaubte man sich nicht dagegen! Vieles
ist sehr versteckt, und Sie erfahren es noch einmal münd-
lich.
Ich höre gern von Ihren Beschäftigungen. Eine Novelle
Lenz war einmal beabsichtigt. Schrieben Sie mir nicht,
daß Lenz Göthes Stelle bei Friederiken vertrat? Was
Göthe von ihm in Straßburg erzählt, die Art, wie er eine
ihm in Kommission gegebene Geliebte zu schützen suchte,
ist auch schon ein sehr geeigneter Stofif.
Sie studieren Medizin und sind, wie ich höre, an eine
junge Dame in Straßburg gefesselt, von früher her, wo
Ihnen die Flucht dorthin sehr willkommen war. So sagte
man mir wenigstens in Rödelheim.
Wenn Sie mir schreiben, so adressieren Sie: General-
konsul Freinsheim in Frankfurt a. M., Wolfseck. Freund-
lich grüßend Ihr Gutzkow,
VON GUTZKOW NACH STRASSBURG
Frankfurt, den lo.Juni 1836.
Mein lieber Freund! Sie geben mir ein Lebenszeichen
und wollen eines haben. AllmähHch kehr ich auch wieder
unter die Menschen zurück und lerne vor erträglicher
Gegenwart die Vergangenheit vergessen. Es geht mir gut,
und es würde noch besser gehen, wenn mir in meiner
Resignation nicht die Zeit lang würde.
Sie scheinen die Arzneikunst verlassen zu wollen^ womit Sie,
wie ich höre, Ihrem Vater keine Freude machen. Seien
Sie nicht ungerecht gegen dies Studium; denn diesem
scheinen Sie mir Ihre hauptsächliche Force zu verdanken,
ich meine, Ihre seltene Unbefangenheit, fast möcht ich
sagen, Ihre Autopsie, die aus allem spricht, was Sie
schreiben. Wenn Sie mit dieser Ungeniertheit unter die
deutschen PhilosopJien treten, muß es einen neuen Effekt
geben. Wa7i7i werden Sie nach Zürich abgehen?
Die Flüchtigen in der Schweiz spielen nun auch mit dem
jungen Deutschland Komödie. Dadurch wird der Name,
hoff ich, von mir und meinen Freunden mit der Zeit ab-
BRIEFE AN BUCHNER 623
gewälzt, wie fatal es mir auch im Augenblick ist, daß der
wunderliche Titel auf diese neue Weise adoptiert wurde.
Mit der Zeit wird es ein pappener Begriff werden und
sich abnützen, was immer gut ist unter Umständen, wie
die heutigen, wo die Massen schwach sind und das Tüch-
tige nur aus runden und vollkommenen Individualitäten
geboren werden kann. So werden auch Sie gewiß die
Berührungen vermeiden, welche sich in der Schweiz ge-
nug darbieten, und meinem Ihnen schon früher oft genug
gegebenen Zurufe folgen, daß Sie Ihre ungeschwächte
Kritik der Literatur opfern.
Von Ihren ^'■Ferkeld7'amerC^ erwarte ich mehr als Ferkel-
haftes. Ihr Da7iton zog nicht: vielleicht wissen Sie den
Grund nicht? Weil Sie die Geschichte nicht betrogen
haben: weil einige der bekannten heroice Dicta in Ihre
Komödie liefen und von den Leuten drin gesprochen
wurden, als käme der Witz von Ihnen. Darüber vergaß
man, daß in der Tat doch mehr von Ihnen gekommen ist
als von der Geschichte, und machte aus dem Ganzen ein
dramatisiertes Kapitel des Thiers. Schicken Sie mir, was
Sie haben; ich will sehen, was sich tun läßt . . .
Ihr Gutzkow.
VON DER MUTTER NACH ZÜRICH
Darmstadt, den 30. Oktober [1836].
Lieber Georg! Welche Freude, als Dein Brief vom 2 8 . Ok-
tober, das Postzeichen Zürich darauf, ankam. Ich jubelte
laut; denn obgleich wir uns gegenseitig nichts sagten, so
hatten wir alle große Angst, und wir glaubten kaum, daß
Du glücklich über die Grenze kommen würdest. Die Sache
hat mir vielen heimlichen Kummer gemacht — nun gott-
lob, auch dies ging glücklich vorüber. —
Wir waren die Zeit sehr beschäftiget. Mittwochs legte ich
große Wäsche ein, und Montags zuvor kamen Beckers aus
Frankfurt und blieben bis Donnerstag; sie erkundigten sich
sehr nach Dir und freuten sich recht über Deine guten
Aussichten — wir hatten einige sehr vergnügte Tage. Auf
Deinen Geburtstag tranken wir alle zusammen Deine Ge-
sundheit.—
624 ANHANG
Wie Dein Brief ankam den 27., biegelte ich gerade das
letzte Stück, Vater war im Theater; ich kann Dir gar nicht
sagen, wie sehr er sich freute, als er nach Hauße kam.
Er stimmt ganz mit Becker überein und ermahnt Dich
dringend, ja über vergleichende Anatomie Vorlesungen
zu halten; er glaubt sicher, daß Du darin am ersten einen
festen Fuß fassen und Dich am ehrenvollsten emporhelfen
könntest. —
Willhelm war ohngefähr 1 4 Tage hier, und nun ist er seit
Mittwoch nach Heidelberg mit Schenk abgereist. Mit
Giesen war es für diesen Winter nichts. Ich kann Dir gar
nicht sagen, wie ich mich über diesen Jungen beunruhige;
es ist noch ein gar zu großer Kindskopf, hat gar keinen
Begrief vom Schaden, hat einen falschen Ehrgeiz, und ist
hinter seinem Receptiertisch gar zu schro[r] geworden.
Wie wir Briefe von ihm erhalten, werde ich ihm schreiben,
ihm Deine Adresse schicken, damit er auch an Dich
schreiben kann. Antworte ihm nur gleich und ermahne
ihn recht. Mathilde wird Selbsten an Dich schreiben.
Sonsten ist alles bei uns beim alten. Den 25. Okt. war
Alexanders Geburtstag, er wurde 9 Jahre alt; heute wird
er solenn gefeiert, er hat sich zehn Jungens gebeten, der
Chokolade ist bereits gekocht— könnte ich Dir doch auch
eine Tasse einschenken. Onkel Georg ist bei seinem Leut-
nant auch noch so ein Stück Stallmeister geworden. Der
bekannte Stall- Schenk, zeither Stallmeister bei Prinz Louis,
ist am Nervenfieber gestorben, und nun reitet Onkel die
Pferde vom Prinzen; er hofft auch die vom Prinzen Karl
zu bekommen, und dann trägt es ihm rund 200 fl. ein.
Das Reiten ist seine Liebhaberei, er ist sehr vergnügt
darüber. —
Wenn Du hörst, daß hier das Nervenfieber grasierte, so
ängstige Dich nicht: es ist nicht so arg, als es die Leute
machen; es sind zwar schon viele Menschen daran ge-
storben. Kürzlich starben aus einer Familie drei jungen
Leute, zwei Söhne und eine Tochter; sie wurden an einem
Tage begraben, und gestern soll auch die Mutter gestorben
sein. — Der Vater ist Hoboist. Leider wurde kürzlich ein
Mörder hingerichtet. Die Kinder sahen ihm auf dem Markt
BRIEFE AN BÜCHNER 625
den Stab brechen, und Louis ging mit Vater auf die
Richtstätte; er hatte vor zwei Jahren einen Förster er-
schlagen.—
Wie es hier mit den Gefangenen geht, weiß Gott; es ist
alles still.—
Der junge Baron von Bechtold ist Leutnant geworden und
wurde nach Butzbach versetzt, und heute hörten wir, daß
Herr Regierungs[rat] von Bechtold Ministerialrat geworden
sei. Dies unsere Neuigkeiten. —
Ich kann nun gar nicht erwarten, bis Dein nächster Brief
kommt, lasse uns nur nicht lange warten; gehe nur recht
unter Menschen und suche Dich zu zerstreuen. Doch
hofife ich, daß ich Dich nicht mehr zu ermahnen brauche,
Dich von allem politischen Treiben entfernt zu halten;
Du bist nun mitten darin. Du wirst Dich, denke ich, nicht
anstecken lassen; es wird mir doch manchmal himmel-
angst.—Morgen schreiben ich und Mathilde an Mina^ sie
dauert mich gar zu sehr; ich kann das Früjahr kaum er-
warten, dann hoffe ich fest, sie bei uns zusehen. Mathilde
läßt Dich tausendmal grüßen; wie sie endlich anfing zu
schreiben, bekam sie Besuch; sie will es also aufsparen,
bis ich wieder schreibe. —
Vater schickt Dir hier ein Rezept für Deine Nase; er bittet
Dich sehr, es einmal recht ernstlich und anhaltend zu ge-
brauchen und ihm über den Erfolg zu berichten. Wie
hast Du die Straßburger nacheinander verlassen? Hast
Du die Tante Rcuß noch gesprochen, warst Du bis Himm-
lies? Wenn Du wieder schreibst, so gib mir Nachricht.
Deine Kost und Logie finden wir sehr billig; freilich eine
Kost wie bei Fraulein Jäkele wirst Du nicht leicht wieder
finden — nun man muß sich an alles gewöhnen. Schreibe
uns nur immer recht ausführlich; ich meine, seit Du von
Straßburg weg bist, nun seist Du erst in der Fremde, in
Straßburg glaubte ich Dich immer in meiner Nähe. Wirst
Du denn mein Geschmier lesen können? Ich schreibe aber
in einem solchen Tumult, daß ich gar nicht weiß, wo mir
der Kopf steht. Groß?nuttcr grüßt Dich vielmals; schreibe
ihr bald, weil es ihr Freude macht. Sie ist immer sehr
niedergeschlagen, denn sie sieht fast gar nichts mehr; es
BÜCHNER 40.
626 ANHANG
ist sehr betrübt, und für uns alle traurige Aussichten.
Alles grüßt Dich, jung und alt, auch Ema^ die eben da ist,
auch die träge Mathilde. Nun lebe wohl und schreibe bald
wieder Deiner treuen Mutter L. Büchner.
VOM VATER NACH ZÜRICH
Darmstadt, den i8. Dezember 1836.
Lieber Georg! Es ist schon lange her, daß ich nicht per-
sönlich an Dich geschrieben habe. Um Dich einigermaßen
dafür zu entschädigen, soll Dir das Christkindlein diese
Zeilen bescheren, und ich zweifele nicht daran, daß sie
Dir eine angenehme Erscheinung sein werden. Meine Be-
sorgnis um Dein künftiges Wohl war bisher noch zu groß,
und mein Gemüt war noch zu tief erschüttert durch die
Unannehmlichkeiten alle, welche Du uns durch Dein un-
vorsichtiges Verhalten bereitet und gar viele trübe Stimden
verursacht hast, als daß ich mich hätte entschließen können,
in herzliche Relation mit Dir zu treten; wobei ich jedoch
nicht ermangelt habe, Dir pünktlich die nötigen Geld-
mittel, bis zu der Dir bekannten Siunme, welche ich zu
Deiner Ausbildung für hinreichend erachtete, zufließen zu
lassen. —
Nachdem Du nun aber mir den Beweis geliefert, daß Du
diese Mittel nicht mutwillig oder leichtsinnig vergeudet,
sondern wirklich zu Deinem wahren Besten angewendet
und ein gewisses Ziel erreicht hast, von welchem Stand-
punkte aus Du weiter vorwärtsschreiten wirst, und ich mit
Dir über Dein ferneres Gedeihen der Zukunft beruhigt
entgegensehen darf, sollst Du auch sogleich wieder den
gütigen und besorgten Vater um das Glück seiner Kinder
in mir erkennen.
Um Dir hiervon sogleich einen Beweis zu geben, habe
ich Deinem Wunsche, "z'. Frorieps Notizen^^ von mir zu
erhalten, alsbald entsprochen, welche längstens bis zum
21. d. M. per Kiste und ganz franco bei Dir eintreffen
werden. Dieselben sind als eine kleine BibHothek zu be-
trachten und werden Dir vielen Nutzen gewähren. Bis
jetzt ist der 5oste Band im Erscheinen. Ich besaß nur
26 Bände, welche mich, ohne Einband, 93 fl. 36 kr.
BRIEFE AN BÜCHNER 627
kosteten, und diese mache ich Dir zum Weihnachtsgeschenk.
Die Bände 29 — 46, welche Du ebenfalls jetzt erhältst,
habe ich für Deine dereinstige Rechnung mit Deinen Ge-
schwistern um 20 fl. 52 kr. erkauft, und um diesen 3 teil
Preis sollst Du durch mich die Fortsetzung und ebenso
die fehlenden Bände 27 und 28 erhalten. Sollten Dir
meine anatomischen Tafeln von Weber, welche Dir schon
genau bekannt sind und die ich jetzt vollständig habe,
nötig sein, so will ich Dir auch diese schicken, oder wenn
Du sonst Bücher nötig hast, so mache mir solche namhaft
und bemerke mir genau den Ladenpreis, um welchen Du
solche in Zürich würdest erhalten können. Auch findest
Du in der Kiste unter anderem zwei Exemplare meiner
Nadelgeschichte, die mir beim Packen als altes Papier
in die Hände fielen. Vielleicht kannst Du Deinen Schülern
gelegentlich eine Erzählung davon machen. Sodann legte
ich auch eine Beilage zu unsrer Zeitung in die Kiste, worin
eine Konkurrenzeröffnung von Zürich aus bekannt gemacht
wird. Hättest Du früher meinen so wohlgemeinten Rat
befolgt und Dich mehr mit jMathematik beschäftigt, so
könntest Du vielleicht jetzt mit konkurrieren. Doch dies
sei bloß nebenher bemerkt. Deine Abhandlung hat mir
recht viel Freude gemacht, und nicht weniger war ich er-
freut über Deine Kreierung zum Doktor der Philosophie,
sowie überhaupt über Deine gute Aufnahme in Zürich.
Sei nur recht [vorsichtig] in Deinem Benehmen und in
Deinen Äußerungen gegen und über jederman. Bedenke
stets, daß man Freunde nötig hat und daß auch der ge-
ringste Feind schaden kann. Ich bin recht begierig zu
hören, wie es Dir bisher mit Deinen Vorlesunge?i ergangen
und worauf besonders Dein weiterer Plan gerichtet ist.
Zoologie und vergleichende Anatomie sind Felder, worin
noch viel zu lernen ist, und wer Fleiß darauf verwendet,
dem kann es nirgends fehlen, merk 's tibi. Auch Kaups
systematische Beschreibung des Tierreichs, wovon das
10. Heft erschienen ist, könnte ich Dir schicken.
Bei uns ist alles wohl, und es werden die nötigen Vor-
bereitungen zu Weihnachten gemacht. Deine weitere Be-
scherung findest Du ebenfalls in der Kiste. In Reinheim
628 ANHANG
ist kürzlich Oheims jüngstes Kind, ein schöner Knabe von
1V2 Jahren, gestorben. Deine Mutter wollte meinem Brief
noch einige Zeilen beilegen, bei dem teuren Porto aber
wollen wir es unterlassen, zumal Du per Kiste Briefe er-
hältst. Mutter und Tante Helene sitzen oben bei der Groß-
mutter^ welche jetzt beinahe völlig blind ist. Im Frühling
soll das eine Auge operiert werden. Mathilde und Louise
sind in der Oper "Die Stumme". Louis ist wahrscheinlich
mit Anfertigung von Weihnachtsgeschenken beschäftigt,
und Alexander liest wie gewöhnlich sehr emsig die Ge-
schichte. Dieser wird ein ruhiger Gelehrter werden in
allem Ernste. Endlich ich sitze am Schreibtische und
schreibe in diesem Augenblicke am Ende meines Briefes
meinen Namen. F. Büchner.
) 629 c
PERSÖNLICHE ERINNERUNGEN
UND DOKUMENTE
GEBURTS- UND TAUFPROTOKOLL DER PFARREI
GODDELAU
Im Jahre Christi 1813, am 17. Oktober früh um halb
6 Uhr, wurde dem Herrn Ernst Karl Büchner, Doctor und
Amtschirurgus dahier zu Goddelau, und seiner Ehefrau
Louise Caroline geh. Reuß das erste Kind, der erste Sohn
geboren und am 28. Oktober getauft, wobei er den Namen
Karl Georg erhielt.
Pate war i) Johann Georg Reiiß^ Hofrat und Hospital-
meisler zu Hofheim, des Kindes Großvater mütterlicher-
seits,
2) Jakob Karl Büchner, Doctor und Amtschirurgus zu
Reinheim, des Kindes Großvater väterlicherseits,
3) Wilhelm Geo?g Reuß, der Mutter lediger Bruder. Stell-
vertreter der Taufpaten zu No 2) und 3) Johann Heinrich
Schober, Pfarrer zu
Der taufende Pfarrer, Jakob Wiener zu Goddelau.
L. W. LINKS MITTEILUNGEN AUS DER SCHUL-
UND UNIVERSITÄTSZEIT
In der untersten Abteilung der Prima des Gymnasiums in
Dan?istadt kam im Frühjahr 1828 eine zu schönen Hoff-
nungen berechtigende Zahl von Schülern aus Stadt und
Land von sehr verschiedenartiger Vorbildung und unleug-
baren Kontrasten zusammen, die gerade dadurch zu desto
interessanterem und anregenderem Geistesverkehr führ-
ten . . .
In meiner Ordnung fand ich zwei nur wenig jüngere Zwil-
lingsbrüder {Friedrich und Georg Zim7nerman'n\ von tüch-
tigen Schulkenntnissen und relativ umfassender und ein-
gehender ästhetischer Vorbildung und großer Empfäng-
lichkeit für alles höhere geistige Leben. Sie wurden meine
intimen Freunde. Sie machten mich mit Shakespeare be-
kannt, in welchem sie in jugendlicher Überschwenglich-
630 ANHANG
keit eine neue und mehr als bloß poetische Offenbarung
begrüßten. Natürlich waren sie nicht frei von Einseitig-
keit, aber ihr Streben war ein ernstliches, ganzes und
warmes. Ich fing an zu glauben, daß nur in unserm Meister
Shakespeare eine neue, wahre und tiefere Weltoffenbarung
vor uns trete und den Schlüssel zu den wichtigsten Rätseln
des Menschenlebens biete.
Aber der nach seiner ganzen Beanlagung, namentlich hin-
sichtlich des Charakters vielleicht bedeutendste, selb-
ständigste und tatkräftigste in unserm Kreise war der mir
gleichaltrige Georg Büchner. Es war jedoch nicht seine
Art, sich andern ungeprüft und voreilig hinzugeben, er
war vielmehr ein ruhiger, gründlicher, mehr zurückhalten-
der Beobachter. Wo er aber fand, daß jemand wirklich
wahres Leben suchte, da konnte er auch warm, ja enthusi-
astisch werden. — Ich glaube, daß die erwähnten beiden
Brüder ihm sympathischer waren als ich. Sie waren in
den ihnen früher als mir entgegentretenden modernen
Geistesströmungen mehr au fait und hatten überdies den
residenzlichen Kulturboden mit ihm gemeinsam, der ihnen
ergötzlichen Stoff zu allerlei kritischem und humoristischem
Wetteifer in Beurteilung der Zustände bot, für den ich zu
ernst und zu schwer war.
Auch ein junger, geschichtlich wohl begründeter und poe-
tisch beanlagter Altersgenosse, der hernach eine juristisch
schriftstellerische Zelebrität geworden [Karl Neuner], eben-
so ein sehr radikaler, enthusiastischer Freund Büchners,
welcher sich sehr an politischen Angelegenheiten beteiligt
und noch radikaler erschien als Georg Büchner — er ist
frühe gt?,\.OTbQn[Karl Minnigerode'] — gehörten auch diesem
Kreise an. Auch Exoteriker wurden von dem darin
herrschenden Geiste angeweht und bis zu einem gewissen
Grade angezogen. Unter uns allen bestand jedoch — und
das war gut— ein solches Verhältnis, wodurch zwar der
Kontakt erhalten, jedem aber nach seinem Bedürfnis die
Freiheit seiner Richtung gelassen wurde.
Ich glaube, es ist von den erwähnten beiden Brüdern, die
uns andern mit ihrer Begeisterung für Shakespeare an-
steckten, ausgegangen, daß wir uns verabredeten, in dem
PERSONL. ERINNERUNGEN U. DOKUMENTE 631
schönen Buchwald bei Darmstadt an Sonntagnachmittagen
im Sommer die Dramen des großen Briten zu lesen, die
uns die anregendsten und teuersten waren, als den "Kauf-
mann von Venedig'', "Othello", "Romeo und Julia",
"Hamlet", "König Richard III. "usw. Wir hatten Momente
innigster und wahrster Hingerissenheit und Erhebung, z. B.
beim Lesen der Stelle: "Wie süß das Mondlicht auf dem
Hügel schläft . . ." und "Der Mann, der nicht Musik hat
in sich selbst — trau keinem solchen". Diese gemeinsamen
wahren Geistesgenüsse bei jugendlicher Empfänglichkeit
bewahrten uns allerdings vor Trivialität und Roheit und
brachten uns tiefere Offenbarungen und Aufschlüsse über
unsere Jahre. Es erstarkte das Bedürfnis, in das Wesen
der Dinge einzudringen, uns demgemäß auszubilden und
zu handeln. Allerdings, für die Gewissenhaftigkeit der
Gymnasiasten war dergleichen nicht förderlich und den
Lehrern nichts weniger als angenehm . . .
Georg Büchner ging schon frühe und allezeit gradaus auf
das los, was er als das Wesen und den Kern der Dinge
erkannte, auch in der Wissenschaft, besonders der Philo-
sophie, sowie hinsichtlich der poHtischen Volksbedürf-
nisse, wie er sie ansah, und in allem war sein Prinzip die
Freiheit, die er meinte. Er war nicht gewillt, daß die
Unwissenheit des Volks benützt werde, es zu betrügen
oder zum Werkzeug zumachen, oder gar mit seinem Talent
lukrative Spekulationen zu machen. — Es wurde damals
schon erzählt, daß er und jener in Exzentrizität mit ihm
wetteifernde \^Minnigerode\ dessen ich oben gedacht, sich
in der letzten Gymnasialzeit nur mit den Worten zu grüßen
pflegten: Bon jour^ citoye7i . . .
In seinem Denken und Tun durch das Streben nach Wesen-
haftigkeit und Wahrhaftigkeit frühe durchaus selbständig,
vermochte ihm keine äußerliche Autorität noch nichtiger
Schein zu imponieren. Das Bewußtsein des erworbenen
geistigen Fonds drängte ihn fortwährend zu einer uner-
bittlichen Kritik dessen, was in der menschlichen Gesell-
schaft oder Philosophie und Kunst Alleinberechtigung be-
anspruchte oder erlistete. — Daher sein vernichtender,
manchmal übermütiger Hohn über Taschenspielerkünste
632 ANHANG
Hegelischer Dialektik und Begrififsformulationen, z. B.:
'^ Alles, was wirklich, ist auch vernünftig, und was ver-
nünftig, auch wirklich". Aufs tiefste verachtete er, die
sich und andere mit wesenlosen Formeln abspeisten, an-
statt für sich selbst das Lebensbrot der Wahrheit zu er-
werben und es andern zu geben . . . Man sah ihm an,
an Stirn e, Augen und Lippen, daß er auch, wenn er
schwieg, diese Kritik in seinem in sich verschloßnen
Denken übte. Ich weiß nicht, ob ein gutes Bild von ihm
existiert. Aber ich sehe im Geist sein Angesicht, ähnlich
einem alten Bilde Shakespeares, von bürgerlich gediegnem,
tatkräftigem, aber auch liebenswürdig übermütigem Aus-
druck. Es lag darin Zurückhaltung, Entschlossenheit, skep-
tische Verachtung alles Nichtigen und Niederträchtigen.
Die zuckenden Lippen verrieten, wie oft er mit der Welt
im Widerspruch und Streit lag . . .
Nachdem Büchner seine zwei ersten akademischen Jahre
in Straßburg zugebracht, kehrte er im Herbst 1833 auf
die Landesuniversität Gießen zurück, um den bestehenden
Gesetzen zu genügen. Auch meine beiden Freunde waren,
soviel ich weiß, schon früher und ich im Herbst 1833 von
Heidelberg dahin zurückgekehrt.
Mein Verkehr mit Georg Büchner war da nur ein gelegent-
licher. Er lebte zurückgezogen. Ich glaubte wahrzunehmen,
daß sich seiner eine leidenschaftliche Unruhe bemächtigt
habe und daß er vieles verschlossen in sich herumwälze.
Er klagte über seinen ganzen körperlichen und geistigen
Zustand, daß er die Nächte zu Tagen und die Tage zu
Nächten mache, und schien mit der Philosophie, mit sich
und der Welt zerfallen. Einmal im Zimmer des Freundes
[Friedrich Zimmermann] apostrophierte er mich lakonisch:
"Link, wieviel Götter glaubst du?" Antwort: "Nur einen."
— "Wieviel Staaten müßten wir da in Deutschland haben
und wieviel Fürsten?" — Pause des Schweigens von beiden
Seiten . . .
Ein Gläubiger im kirchlichem Sinn ist Georg Büchner
nicht gewesen. Aber selbständig und objektiv in seinem
Denken, ist er später, als Reiferer, auch gerechter gegen
die geschichtlichen Mächte der Kirche geworden sowie
PERSÖNL. ERINNERUNGEN U. DOKUMENTE 633
gegtn den Glauben des einzelnen, der auf einem andern
Standpunkt stand als er. Namentlich war er von aller Auf-
dringlichkeit und Propaganda seiner Anschauung, von An-
sichts- und Parteifabrikationskünsten für die zu dirigierende
Menge weit entfernt. — Das betätigte er schon in früheren
Jahren. Trotz des jugendlichen Übermuts, womit er mit
andern während des Gymnasialgottesdienstes statt des
jedesmal zu singenden Liederverses halblaut die Worte
des Totengräbers im Hamlet sang: ''Und o eine Grube
gar tief und hohl für solchen Gast muß sein", indem er
damit gegen den ihm ungenügenden Vortrag des Predigers
als Hohlheit demonstrierte — , sagte er über mich zu andern,
die mich Mucker oder Mystiker nannten: ''Laßt mir den
Link gehn, der meint es ernst und ehrhch!" Er hat lebens-
lang aus wirkhchem Durst nach Wahrheit gesucht und ge-
rungen und deshalb, wie ich glaube, nie mit sich abge-
schlossen . . .
KARL VOGTS EINDRUCK VON DEM GIESSENER
STUDENTEN BÜCHNER
Offen gestanden, dieser Georg Büchner war uns nicht sym-
pathisch. Er trug einen hohen Zylinderhut, der ihm immer
tief unten im Nacken saß, machte beständig ein Gesicht
wie eine Katze, wenn's donnert, hielt sich gänzlich ab-
seits, verkehrte nur mit einem etwas verlotterten und ver-
lumpten Genie, August Becker^ gewöhnlich nur der "rote
August" genannt. Seine Zurückgezogenheit wurde für
Hochmut ausgelegt, und da er offenbar mit politischen
Umtrieben zu tun hatte, ein- oder zweimal auch revolu-
tionäre Äußerimgen hatte fallen lassen, so geschah es nicht
selten, daß man abends, von der Kneipe kommend, vor
seiner Wohnung still hielt und ihm ein ironisches Vivat
brachte: "Der Erhalter des europäischen Gleichgewichtes,
der Abschaffer des Sklavenhandels, Georg Büchner, er
lebe hoch!"— Er tat, als höre er das Gejohle nicht, ob-
gleich seine Lampe brannte und zeigte, daß er zu Hause
sei. In Wernekmcks Privatissimum war er sehr eifrig, und
seine Diskussionen mit dem Professor zeigten uns beiden
634 ANHANG
andern bald, daß er gründliche Kenntnisse besitze, welche
uns Respekt einflößten. Zu einer Annäherung kam es aber
nicht; sein schroffes, in sich abgeschlossenes Wesen stieß
uns immer wieder ab.
AUS AUGUST BECKERS GERICHTLICHEN
ANGABEN
Ob ich mich hier [S. 605 ff.] gleich meistens der Worte
Büchners bedient habe, so dürfte es doch schwer sein, sich
einen Begriff von der Lebhaftigkeit, mit welcher er seine
Meinungen vortrug, zu machen.
Man braucht nur vier Jahre (und halb so viel im Gefäng-
nis) älter zu sein, als ich damals war, da Büchner solche
Reden führte, um die Sophisterei, die sie enthalten, ein-
zusehen; damals war ich fast blind dagegen, sowie andere,
z. B. Klemm^ Lotus Becker^ Schütz^ denen allen Büchner
imponierte, ohne daß sie es vielleicht selber gestehen
mochten, sowohl durch die Neuheit seiner Ideen als durch
den Scharfsinn, mit welchem er sie vortrug. Wären solche
Meinungen das Rühmlichste von Büchner gewesen, dann
würde der Abscheu, den sie vielleicht in den Augen des Ge -
richts erregen, mit Recht auf diejenigen, welche genaueren
Umgang mit ihm gepflogen, zurückfallen; allein er hatte bei
all dem. das edelste Herz und war für diejenigen, die ihn
genau kannten, der liebenswürdigste Mensch . . .
Die Mitglieder unserer Gesellschaft stimmten darin mit
Weidig überein, daß man gemeinschaftlich handeln müsse,
wenn unser politisches Wirken einigen Erfolg haben solle.
Büchner meinte, daß man Gesellschaften errichten müsse,
Weidig glaubte, daß es schon genüge, wenn man die ver-
schiedenen Patrioten der verschiedenen Gegenden mitein-
ander bekannt mache und durch sie Flugschriften verbreiten
lasse. Über diesen Punkt wollte man sich auf der Baden-
burger Versammkwg hesiprechen. Büchner hoffte, auf der-
selben seine Ansichten bei den Marburgern durchzusetzen.
Ich weiß nicht, wie weit ihm dies gelungen ist. Als ich ihn
nach meiner Rückkehr aus dem Hinterland über die Sache
PERSÖNL. ERINNERUNGEN U. DOKUMENTE 635
sprach, sagte er mir, daß auch die Marburger l.t\\tt seien,
welche sich durch die französische Revolution, wie Kinder
durch ein Ammenmärchen, hätten erschrecken lassen, daß
sie in jedem Dorf ein Paris mit einer Guillotine zu sehen
fürchteten usw. Es muß demnach auf dieser Versammlung
die Rede davon gewesen sein, in welchem Geist die Flug-
schriften abgefaßt werden müßten, und Büchner, welcher
glaubte, daß man sich an die niederen Volksklassen wen-
den müsse, und der auf die öfifentliche Tugend der soge-
nannten ehrbaren Bürgernicht viel hielt, muß auf der Baden-
burg seine Ansichten nicht gebilligt gesehen haben, weil
er über die Marburger sich so ungehalten äußerte.
Dieser Büchner war mein Freund, der mich lange Zeit zum
einzigen Vertrauten seiner teuersten Angelegenheiten
machte, von welchen er weder seiner Familie noch einem
seiner andern Freunde etwas gesagt hatte. Ein solches
Vertrauen mußte ihm mein Herz gewinnen; seine liebens-
würdige Persönlichkeit, seine ausgezeichneten Fähigkeiten,
von welchen ich hier freilich keinen Begriff geben kann,
mußten mich unbedingt für ihn einnehmen bis zur Ver-
blendung. Die Grundlage seines Patriotismus war wirk-
lich das reinste Mitleid und ein edler Sinn für alles Schöne
und Große. Wenn er sprach und seine Stimme sich erhob,
dann glänzte sein Auge— ich glaubte es sonst nicht an-
ders—wie die Wahrheit. Ich habe die von ihm verfaßte
Flugschrift abgeschrieben. Was hätte ich nicht für ihn
getan, wovon hätte er mich nicht überzeugt:! —
Büchner, der bei seinem mehrjährigen Aufenthalte in
Frankreich das deutsche Volk wenig kannte, wollte, wie
er mir oft gesagt hat, sich durch diese Flugschrift über-
zeugen, inwiev/eit das deutsche Volk geneigt sei, an einer
Revolution Anteil zu nehmen. Er sah indessen ein, daß
das gemeine Volk eine Auseinandersetzung seiner Ver-
hältnisse zum Deutschen Bund nicht verstehen und einem
Aufruf, seine angeborenen Rechte zu erkämpfen, kein Ge-
hör geben werde; im Gegenteil glaubte er, daß es nur
dann bewogen werden könne, seine gegenwärtige Lage
636 ANHANG
zu verändern, wenn man ihm seine naheliegenden Inter-
essen vor Augen lege. Dies hat Büchner in der Flugschrift
getan. Er hatte dabei durchaus keinen ausschließlichen
Haß gegen die Großherzoglich Hessische Regierung; er
meinte im Gegenteil, daß sie eine der besten sei. Er haßte
weder die Fürsten noch die Staatsdiener, sondern nur das
monarchische Prinzip, welches er für die Ursache alles
Elends hielt.— Mit der von ihm geschriebenen Flugschrift
wollte er vorderhand nur die Stimmung des Volks und der
deutschen Revolutionärs erforschen. Als er später hörte,
daß die Bauern die meisten gefundenen Flugschriften auf
die Polizei abgeliefert hätten, als er vernahm, daß sich
auch die Patrioten gegen seine Flugschrift ausgesprochen,
gab er alle seine politischen Hoffnungen in bezug auf ein
Anderswerden auf.
WILHELM BÜCHNER AN FRANZOS
Scheveningen, den 9. September 1878.
Allerdings brachte ich die letzte Zeit vor der Flucht meines
Bruders Georg mit demselben im väterlichen Hause zu,
und war ich wohl der, welcher in seine politischen Ver-
wicklungen der damaligen Zeit wie seine Pläne zu flüchten
am tiefsten eingeweiht war.
Daß er flüchten müsse, sprach er mir gegenüber wieder-
holt aus, und alle Einreden halfen nicht; zog ihn doch zu-
gleich sein Verhältnis zu seiner Braut mächtig nach Straß -
bürg. Aber verschiedene Gründe hielten ihn noch immer
zurück. Vor allen Dingen das daraus entspringende
Zerwürfnis mit dem Vater, die Sorge um die in der Ge-
fangenschaft befindlichen Freunde, denen zur Flucht zu
helfen seine stete Sorge war, der Glaube, man könne nicht
an ihn heran, und der Mangel an Geld. Was sollte er
in Straßburg beginnen, wenn ihm nicht einige Mittel zu
Gebot gestellt würden: Letzter Grund war auch vorzugs-
weise das Motiv, das schon lange im Kopf herumgetragene
Drama ^^ Dantons Tod" mit kurzen und raschen Zügen zu
entwerfen, um sich Geld zu machen. Und was war das
für ein kleines, schwer verdientes Geld. Einhundert Gul-
den!—Die letzten Tage meiner Anwesenheit in Darmstadt
PERSÖNL. ERINNERUNGEN U. DOKUMENTE 637
vergingen in furchtbarer Aufregung. Ich hatte das Manu-
skript für ihn zur Post gebracht, und nun kamen die Au-
genblicke der Abspannung wie der Erwartung. Damals
war es, als er mich um die zwei Geldstücke bat, die hin-
reichen würden, ihn über die Grenze zu bringen.
Vorladungen nach Offenbach vor den Untersuchungsrich-
ter wich er aus; eine Voi'ladiingin das Ar resthaus in Darm-
stadt zur Vernehmung umging er damit, daß er mich an
seiner Statt hinschickte; ich war dahin instruiert, mich
nicht früher zu erkennen zu geben, als bis das Protokoll
angefangen würde, und möge ich beobachten, ob man die
Absicht zeige, mich (für ihn) in Haft zu nehmen. Wir
hatten schon tagelang eine Leiter in dem Garten an die
Mauer gelehnt, mit deren Hülfe er in andere Gärten flüch-
ten wollte, wenn die Häscher kämen. — Meinen Vorstel-
lungen gegenüber, welchen Kummer er den Eltern be-
reiten würde, wenn er flüchte, erklärte er, es sei sein Tod,
wenn er in Gefangenschaft geriete. Da ließ ich ab, ihn zu
bitten, und mein Abschied war ein schmerzlicher.
Die Beratungen mit seinen politischen Freunden drehten
sich in dieser Zeit nur um die Mittel, wie man die Ge-
fangenen befreien könne. So wurde namentlich bezüglich
der Befreiung von Minnigerode vieles besprochen, wobei ich
die Umsicht meines Bruders wiederholt bewunderte. Sie
mißglückte an der körperlichen Schwäche Minnigerodes.
Eine einzige politische Unterhaltung dürfte von allgemei-
nem Interesse sein. Es wurde darüber debattiert, ob es
wünschenswerter sei und erfolgversprechender, gleich eine
t\v^€\\X\Q}!\tRepiiblik zu proklamieren, oder ob man nicht zu-
erst dahin streben müsse, zugunsten derKrone Preußens die
anderen Dynastien zu beseitigen. Mein Bruder meinte da-
mals, "das gäbe doppelte Arbeit", und wollte von dem sta-
tionsweisen Vorgehen nichts wissen. — Er würde niemals Na-
tionalliberaler geworden sein, so wenig wie ich es heute bin.
Pfungstadt, den 23. Dezember 1878.
Inwieweit ich Ihren Wünschen nachkommen kann, will ich
versuchen, fürchte aber, Sie nicht in allem befriedigen zu
können; liegt doch eine so lange Zeit dazwischen und habe
638 ANHANG
ich auch mit den Schwierigkeiten des Lebens zu kämpfen
gehabt, die wohl dazu beigetragen haben mögen, daß mir
jene so ernste Zeit nicht mehr ganz vor Augen steht.
Zu Ihren Fragen mich wendend, lege ich das gewünschte
Gedicht bei.
Ad 2. Mein Vater ^ eine strenge Natur, die alles sich selbst
verdankte, was sie erreichte, war im höchsten Grad spar-
sam für sich, aber gab mit vollen Händen, was zur Aus-
bildung seiner Kinder nötig war; er selbst, ein Zeitgenosse
der großen französischen Revolution, der als Arzt einige
Feldzüge bei den holländischen Truppen mitmachte, die
damals unter französischem Kommando waren, hatte die
größte Sympathie für die Bewegung der Geister, und ge-
hörte es zu seiner liebsten Lektüre, die erlebten Ereig-
nisse in der später erscheinenden Zeitschrift "t/>w^r^ Zeif^
zu repetieren und zu ergänzen. Vielfach wurden diese
abends vorgelesen, und nahmen wir alle den lebhaftesten
Anteil daran. Wohl möglich, daß bei dem ohnehin freien
Geist der Familie die Wirkung dieser Lektüre von beson-
derm Einfluß insbesondere auf Georg war, und ist wohl
diese Lektüre der Entstehungsmoment von ' ^Dafitons Tod^\
Bei aller Freisinnigkeit meines Vaters war derselbe aber
sehr vorsichtig, und bei seiner großen Lebenserfahrung
erkannte er ganz gewiß schon frühe die Gefahr einer po-
litischen Richtung für seine Söhne. Von den Verbindun-
gen und Beziehungen Georgs wußte er absolut nicht früher
etwas, bevor die eingeleiteten Untersuchungen Tagesge-
spräch geworden waren. Ebenso war ihm die Arbeit über
Danton völlig unbekannt. Hätte er gewußt, in welcher
politischen Situation sich Georg befand, er würde mit
äußerster Strenge gegen ihn verfahren sein. — Das persön-
liche Verhältnis zum Vater war ein sehr gutes im allge-
meinen, und war Papa stolz auf die Talente seines Sohnes,
von dessen Zukunft er sich viel versprach, weil er von
den politischen Verbindungen nichts wußte. — Als nun gar
Georg nach Straßburg flüchtete, war derselbe im höch-
sten Grad erbittert und hat jede pekuniäre Unterstützung
positiv abgelehnt. Nur durch die Mutter und die Groß-
mutter wurden Georg einige Mittel von Zeit zu Zeit zu-
PERSÖNL. ERINNERUNGEN U. DOKUMENTE 639
gewiesen, vielleicht nicht ganz ohne Wissen des Vaters,
aber nicht mit seiner offiziellen Bewilligung.
Ad 3 glaube ich, daß vorzugsweise die Lektüre ^^ Unsere
Zeif^ Anlaß zur Arbeit über Danton gegeben hat; ob ein
weiterer Anstoß durch Bareres Memoiren gegeben wurde,
weiß ich nicht. Sicherlich hat ihn am meisten zur beschleu-
nigten Herausgabe und zur scharfen, markierten Sprache
darin seine bedrohte Situation, sein Zorn gegen den Po-
lizeistaat und sein Wunsch, nur einiges Geld in [die] Hand
zu bekommen, bewogen. Bei ruhigerer Überlegung würde
er das Werk mehr ausgefeilt haben — vielleicht zum Scha-
den des Entwurfs: grade das Unfertige, die ungeschwächte
Sprache, macht den tiefen Eindruck, dem jeder Leser
sich nicht entziehen kann.
Ad 4. Allerdings hat Georg die Gesellschaft der Menschen-
rechte in Darmstadt, ich glaube, auch in Gießen, begrün-
det. Ich selbst habe diesen Versammlungen nie beigewohnt,
indem Georg nicht auch mich in diese Gefahren hinein-
ziehen wollte, ich auch in dieser Zeit wenig zu Hause war.
Die Persönlichkeiten waren Koch^ Mhinigeroae — die an-
deren Namen sind mir entfallen. In Butzbach, wo eine
geheime Gesellschaft bestand, und wohin ich wenige Zeit
vor Georgs Flucht mich in Kondition als Apotheker be-
gab, wurde ich als Bruder Georgs mit offnen Armen emp-
fangen. Nachdem man mich kennen gelernt, sollte ich nun
auch in den geheimen Bund aufgenommen werden; ich
war mehr neugierig als erregt darüber. An einem bestimm-
ten Abend wurde ich abgeholt, an einem Haus wurde vor-
sichtig Stellung genommen, beobachtet, ob man keinen
Lichtschimmer an einem bestimmten Fenster sähe; darauf
ging einer der "Verschworenen" ins Haus und kam mit der
Nachricht "Alles in Ordnung". Im Dunklen ging's nun eine
steile Treppe vorsichtig hinauf; es brannte im Zimmer ein
dampfendes Talglicht. — Nun wurde im Flüsterton ge-
sprochen, Bier gebracht. Pfeifen angezündet und — über
Mädchen, aber in anständiger Weise, gesprochen. Als das
einige Zeit gedauert hatte, gingen die Verschworenen
wieder einzeln mit größter Vorsicht fort, und aus war die
ganze Geschichte. Hatte ich nun früher über die verwege-
640 ANHANG
nen Butzbacher so viel gehört, so hatte ich wohl das Recht,
etwas Besonderes zu erwarten. Ich fand gute Kameraden,
derb und bieder; aber um die Welt zu verbessern, dazu
konnten sie kein Material abgeben — ,und von dem Augen-
blick an war ich von dem Wahn befreit, als wenn durch
Geheimbündelei etwas Gutes zu erzielen sei. Nur als
Handlanger konnten die Leute gebraucht werden.
Ad 7. Bei der Vernehmung wußte ich, daß die Fragen
nach Vor- und Zunamen, Alter usw. zuerst gestellt würden,
um zu Protokoll genommen zu werden. Bei dem Fragen
nach dem Vornamen mußte ich, wollte ich nicht als ab-
sichtlicher Lügner dastehen, meinen Namen angeben. Bei
Nennung meines Namen "Wilhelm" hatte die Sache ein
Ende, indem ich erklärte, ich sei nur gekommen, um mei-
nen Bruder zu entschuldigen.
Hier muß ich bemerken, daß der Richter meine Familie
genau kannte, indem mein Papa Arzt bei demselben war.
Seiner Humanität war es wahrscheinlich ohnehin zu dan-
ken, daß Georg nicht gleich arretiert und nur sehr vorsichtig
gegen ihn vorgegangen wurde, vielleicht in der Absicht,
ihm Zeit zur Flucht zu lassen; denn die Verfolgungssucht
eines Georgi\i2X\.^ nicht bei allen Richtern Platz gegriffen,
und viele legten den Verirrungen der Jugend die Bedeu-
tung nicht bei, um ganze Familien deshalb ins Unglück
zu bringen. —
DER STECKBRIEF
Der hierunter signalisierte Georg Büchner, Student der
Medizin aus Darmstadt, hat sich der gerichtlichen Un-
tersuchung seiner indizierten Teilnahme an staatsverräte-
rischen Handlungen durch die Entfernung aus dem Va-
terlande entzogen. Man ersucht deshalb die öffentlichen
Behörden des In- und Auslandes, denselben im Betre-
tungsfalle festzunehmen und wohlverwahrt an die unter-
zeichnete Stelle abliefern zu lassen.
Darmstadt, den 13. Juni 1835.
Der von Großh. Hess. Hofgericht der Provinz
Oberhessen bestellte Untersuchungsrichter, Hof-
gerichtsrat Georgi.
PERSÖNL. ERINNERUNGEN U. DOKUMENTE 641
Personal-Beschreibung
Alter: 21 Jahre,
Größe: 6 Schuh, 9 Zoll neuen Hessischen Maßes,
Haare: blond,
Stirne: sehr gewölbt,
Augenbraunen: blond,
Augen: grau,
Nase: stark,
Mund: klein,
Bart: blond,
Kinn: rund,
Angesicht: oval,
Gesichtsfarbe: frisch,
Statur: kräftig, schlank,
Besondere Kennzeichen: Kurzsichtigkeit.
ZÜRICHER UNIVERSITÄTSPROTOKOLLE
Protokoll der philosophischen Fakultät, Sitzung vom Sep-
tember 1836.
Da das Gutachten der Herren Professoren Oken^ Sc/ilnz^
Löwig und Heer durchaus günstig lautet für die von Herrn
G. Büchner in Straßburg zur Erlangung der philosophi-
schen Doktorwürde eingereichte Schrift: Sur le Systeme
nerveux du barbeaii par G. Büc/iner, Straßbourg 1836,
wird beschlossen, Herrn Büchner auf diese Schrift hin die
philosophische Doktonvürde zu erteilen.
Protokoll der philosophischen Fakultät, Sitzung vom No-
vember 1836.
Da die am heutigen Tage gemäß der Auffordenmg des
Hohen Erziehungsrates angestellte Probevorlesung des
Herrn Dr. Büchner nach Form und Inhalt des Vorgetra-
genen den Forderungen der Fakultät vollkommen ent-
sprochen, wird beschlossen, denselben dem Hohen Er-
ziehungsrate zur AufnaJime unter die Privatdozenteii der
Hochschule zu empfehlen.
BÜCHNER
642 ANHANG
DES KANTONALSTABSARZTES DR. LÜNING ER-
INNERUNGEN AN DEN DOZENTEN BÜCHNER
Meine erste Begegnung mit Büchner fand im Herbst 1836
statt, und zwar auf der Burgruine Manegg im Sihltale bei
Zürich, wohin er mit dem politischen Schriftsteller Dr.
W. Schulz und dessen geistvoller Gemahlin Caroline (der
Herwegh später seine Gedichte dedizierte) gekommen
war. Vor allem fiel er mir auf durch die breite, mächtige
Dichter- imd Denkerstirn, wie ich sie imposanter nie wie-
der gesehen habe, und durch eine gewisse, äußerst dezi-
dierte Bestimmtheit in Aufstellung von Behauptungen, die
zwar von hoher Selbständigkeit des Urteils zeugte, zu-
weilen aber doch ein wenig über das Ziel hinausschoß.
So erinnere ich mich, daß er an demselben Tage den be-
kannten Revolutionsmann Eulogius Schneider mit dem
Philologen Schneider identifizieren wollte und mit der
größten Hartnäckigkeit, ja fast Heftigkeit, auf seinem
Satze bestand, als Herrmann Saiippe (damals Professor in
Zürich, jetzt in Göttingen) ganz maßvoll widersprach. Daß
er — an demselben Tage — kühn genug die landschaftlichen
Schönheiten des eben erst verlassenen Elsaß als der
Schweiz vollkommen ebenbürtig darstellte, daran moch-
ten wohl zum Teil ein Paar lieber Augen mit beitragen,
die das Land, dem sie angehörten, in verklärendem Schim-
mer erscheinen ließen.
Büchner lebte in Zürich sehr zurückgezogen; sein Um-
gang beschränkte sich auf das Schulzsche Ehepaar, mit
dem auch ich näher befreundet war, und auf einige von
früher her bekannte hessische Familien. Wir erfuhren unter
anderm von ihm, daß er bis vor kurzem, noch ungewiß
gewesen war, ob er sich der spekulativen Philosophie (über
Spinoza hatte er eingehende Studien gemacht) oder der
beobachtenden Naturivissenschaft zuwenden solle; nun
habe er sich aber definitiv der letzteren gewidmet.— Da-
mit übereinstimmend kündigte er mit Beginn des Winter-
semesters 1836/37, nachdem er die venia legendi erhalten,
an der Universität zu Zürich Vorlesungen über vergleichende
Aiiatomie der Fische und Amphibien an, die denn auch
von mir besucht wurden.
PERSÖNL. ERINNERUNGEN U. DOKUMENTE 643
Unter den zirka 20 Zuhörern, von denen die mir be-
kannten sämtlich gestorben sind, befand sich auch der
später als Reisender in Neuseeland berühmt gewordene
Dr. Ernst Diefenbac/i, wenn ich mich recht erinnere. Der
Vortrag Büchners war nicht geradezu glänzend, aber
fließend, klar und bündig, rhetorischen Schmuck schien
er fast ängstlich, als nicht zur Sache gehörig, zu vermeiden;
was aber diesen Vorlesungen vor allem ihren Wert ver-
lieh und was dieselben für die Zuhörer so fesselnd machte,
das waren die fortwährenden Beziehungen auf die Be-
deutung der einzelnen Teile der Organe und auf die Ver-
gleichung derselben mit denen der höheren Tierklassen,
wobei sich Büchner aber von den damaligen Übertreibungen
der sogenannten naturphilosophischen Schule (6>/r;/, Carus
usw.) weislich fernzuhalten wußte; das waren ferner die
ungemein sachlichen, anschaulichen Demonstrationen an
frischen Präparaten, die Büchner, bei dem völligen Mangel
daran an der noch so jungen Universität, sich größten-
teils selbst beschaffen mußte. So präparierte er z. B. das
gesamte Kopfnervensystem der Fische und der Batrachier
auf das sorgfältigste an frischen Exemplaren, um diese
Präparate jedesmal zu den Vorlesungen verwenden zu
können. DiesebeidenMomente, diebeständige Hinweisung
auf die Bedeutung der Teile und die anschaulichen Demon-
strationen an den frischen Präparaten, hatten denn auch
wirklich das lebendigste Interesse bei allen Zuhörern zur
Folge. Ich habe während meines achtjährigen (juristischen
und medizinischen) Studiums manches Kollegium gehört,
aber ich wüßte keines, von dem mir eine so lebendige
Erinnerung geblieben wäre als von diesem Torso von
Büchners Vorlesungen über vergleichende Anatomie der
Fische und Amphibien. Es sind nun 41 Jahre, seit ich
diese Vorlesungen besuchte, ich habe während meiner
praktischen Laufbahn als Militär- und Gerichtsarzt seit-
dem wenig Gelegenheit gehabt, mich speziell mit der
feineren vergleichenden Anatomie zu beschäftigen; aber
das weiß ich doch noch so deutlich, als wenn es heute
wäre, daß Büchner bei den Fischen (gegenüber den zwölf
Kopfnervenpaaren der höheren Tiere) nur sechs Kopf-
644 ANHANG
nervenpaare (und demnach auch sechs Kopfwirbel) an-
nahm und die den Fischen fehlenden als bloße Zweige
der ihnen eigentümlichen Kopfnerven demonstrierte, so
namentlich einen Ast des Nervus vagus als Repräsen-
tanten des Nervus glossopharyngeus und den Ramus oper-
cularis des Nervus trigeminus als Repräsentanten des
Nervus facialis der höhern Tiere; die Augenmuskelnerven
dagegen ließ er aus der bei den Fischen vorhandenen
vorderen Wurzel des Nervus opticus entspringen. Bei den
Batrachiern nahm er nur fünf Kopfnervenpaare an, weil
das sechste (beim Menschen das zwölfte), der Nervus
hypoglossus, bei denselben zwischen dem ersten und
zweiten Rückenwirbel seinen Ursprung nehme. Wir sehen
daraus, daß er kein naturphilosophischer Pedant und Fana-
tiker war, bei dem alles in das System hineingezwängt
werden mußte. So gestand er auch offen, daß ihm bei den
Batrachiern der Ursprung der Augenmuskelnerven nicht
ganz klar sei; er habe bei seinen Präparationen einigemal
geglaubt, dieselben aus dem Nervus trigeminus hervor-
kommen zu sehen. Ein Naturphilosoph vom reinsten
Wasser hätte natürlich die Möglichkeit der Verschieden-
heit des Ursprungs dieser Nerven bei Fischen und bei
Batrachiern um keinen Preis zugegeben! —
Diese Vorlesungen, deren wissenschaftlicher Wert end-
lich noch durch die eingehendste Berücksichtigung der
in- und ausländischen Literatur erhöht wurde, sollten
leider nicht beendigt werden. Nach Beendigung der Vor-
lesungen über die Anatomie der Fische ging der geniale
junge Dozent über zur Anatomie der Amphibien; aber hier
sprach leider das unerbittliche Geschick: bis hieher und
nicht weiter! Es war dem Vortragenden nur noch ver-
gönnt, über Knochen- und Nervensystem der Batrachier
zu lesen; dann warf ihn der damals in Zürich grassierende
Typhus auf das Krankenlager, von dem er nicht wieder
erstehen sollte, und nach einigen Wochen schon war das
junge, vielversprechende Leben für immer entflohen, und
jenes Kolleg über die vergleichende Anatomie der Fische
und Amphibien blieb das erste und einzige, das Büchner
gehalten hat.—
PERSÖNL. ERINNERUNGEN U. DOKUMENTE 645
Georg Büchner wohnte im Hause des kürzlich verstorbenen
Bürgermeisters Dr. Zehnder von Zürich, der ihn in Ge-
meinschaft mit Schölllein behandelte; verpflegt wurde er
aufs liebevollste von ^^x Familie Schuh und andern deut-
schen Familien, und wir deutschen Studenten ließen es
uns nicht nehmen, einen förmlichen VVachtdienst für Tag
und Nacht zu organisieren. — Da war ich denn oft genug
Zeuge von jenen Phantasien, wie sie das arme Gehirn des
Gemarterten durchtobten und wie sie HenvegJi 1841 in
seinen drei Gedichten auf Büchners Andenken so er-
greifend schilderte; denn als ich 1839 i^^ Emmishofen bei
Konstanz die Bekanntschaft des damals noch unbekannten
"Lebendigen" machte, ließ er nicht nach, mich über alles
und jedes, was Büchner betraf, zu befragen, und aus diesen
Erzählungen sind großenteils die Schilderungen jener
Phantasien des kranken Dichters entstanden. —
Das ist ungefähr alles, was ich von Büchner zu erzählen
wüßte; vergessen habe ich ihn nicht: wer mit dieser Feuer-
seele einmal in Berührung kam, dem schwand sie nicht
wieder aus der Erinnerung.
CAROLINE SCHULZ' TAGEBUCHAUFZEICH-
NUNGEN ÜBER BÜCHNERS LETZTE TAGE
Februar [183^].
2ten fragten wir Büchner, ob er einen weiten Spaziergang
mit uns machen wollte; er antwortete, daß er mit seinem
Freunde Schjuid nur einen kurzen Gang machen würde,
weil er sich nicht ganz wohl fühle. Als wir gegen Abend
nach Hause kamen, klagte er, daß es ihm fieberisch zü-
rn, ute sei. Da er sich aber nicht zu Bette legen wollte,
aus Furcht nicht einschlafen zu können, setzte er sich zu
uns aufs Sofa. Ich bot ihm Tee an, den er ausschlug;
bald bemerkte ich, daß er einschlief, und als er erwachte,
bat ich ihn dringend, sich zu Bett zu legen, was er auch
endlich tat, nachdem er ein Senffußbad genommen hatte.
Wir sagten ihm, daß er an der Wand klopfen solle, die an
unsere Schlafstube stieß, wenn er des Nachts etwas be-
dürfe, und ließen seine Lampe brennen.
646 ANHANG
3ten hatte Büchner nicht gut geschlafen, klagte aberkemer-
lei Schmerzen. Da es sehr hell im Zimmer war, gab ich
ihm grüne Vorhänge, auch ein Pferdehaarkissen unter den
Kopf, was ihm wohl tat. Ich hatte gehofft, daß er den
Abend wieder bei uns zubringen könnte, und deswegen
unser gewöhnliches Lesekränzchen nicht abgesagt; da er
aber nicht dabei sein konnte, ließ er sich von uns er-
zählen, womit wir uns unterhalten hatten.
4ten war das Fieber etwas stärker, doch gab es zu keiner
Besorgnis Raum; er aß etwas Suppe imd Obst und ver-
sicherte, daß es ihm ganz wohl in seinem Bette sei. Wir
erhielten Briefe von den Unsrigen, die ich ihm vorlas und
denen er mit Interesse zuhörte.
5ten klagte er über Schlaflosigkeit; ich suchte ihn damit
zu trösten, daß ich in meiner kürzlichen Krankheit viele
Nächte nicht geschlafen habe und dabei noch Schmerzen
habe leiden müssen. Er war sehr geduldig und ruhig;
da wir genötigt waren, einige Besuche zu machen, so blieb
sein liebster Freund Schniid bei ihm; als wir wieder nach
Hause kamen, ließ er sich von uns erzählen, doch hatte
er es nicht gerne, wenn man laut sprach.
6ten, da ich keine häuslichen Geschäfte hatte, konnte ich
mich ganz seiner Pflege widmen, was ich von Herzen
gerne tat. Es zeigte sich nach und nach eine große P^mp-
findlichkeit bei ihm; man konnte ihm nicht leicht etwas
recht machen, was seine Freunde oft nicht begreifen
konnten. Ich, die ich aber aus Erfahrung wußte, wie es
einem ist, wenn man an den Nerven leidet, ich tat ihm
alles, was er nur haben wollte, worüber ich jetzt doppelt
froh bin.
7ten schickte Frau Seil Suppe für Büchner, die ihm sehr
gut schmeckte; auch die vorgeschriebene Arzenei nahm
er gerne, worüber ich ihn oft lobte. Da wir den Fast-
nachtsabend bei Seils zubringen sollten, so blieb Büchners
Yxt\m(\Brauhach bei ihm, den er auch sehr gerne hatte.
PERSONL. ERINNERUNGEN U. DOKUMENTE 647
8ten zeigte sich nur sehr wenig Fieber, und er wollte, da
Briefe von seiner Braut angekommen waren, an dieselbe
schreiben; ich bat ihn, dieses zu verschieben, bis er sich
wieder ganz wohl fühlte; auch erbot ich mich, statt seiner
zu schreiben, was er aber ablehnte. Da die Briefe Minnas
sehr fein geschrieben waren, legte er sie weg, um sie später
fertig zu lesen.
9ten hatte der Kranke fast gar kein Fieber, doch klagte
er fortwährend über Schlaflosigkeit; mein Mann war des
Nachts lange bei ihm und bemerkte doch, daß er zuweilen
geschlafen hatte. Er war kleinmütig, und wir sprachen ihm
alle Mut ein; auch riet man ihm, ein wenig aufzustehen, um
dann vielleicht besser schlafen zu können . Es wurde ihm Man-
delmilch verordnet, die ich ihmbereitete und die ihn sehr er-
quickte. Jeden Abend legte man ihm Senf auf die Waden.
loten stand er nachmittags auf und wollte schreiben; ich
holte ihm alles Nötige herbei, da ich sah, daß ersieh durch-
aus nicht wollte abhalten lassen, und da er sagte, daß er
sich auf dem Sofa wohler wie im Bett fühle, so freute ich
mich sehr und nahm es für ein Zeichen der Besserung.
Er ergrifif die Feder, erklärte aber sogleich, nicht schreiben
zu können; ich bot ihm abermals an, in seinem Namen
zu schreiben, was er jetzt geschehen Heß. Damit er seinen
Geist nicht anstrengen sollte, schrieb ich den Brief nach
meiner Idee, und er sagte mir alsdann, was ich daran
ändern solle. Endlich war das Schreiben nach seinem
Wunsch ausgefallen; er nahm es mir hastig weg und setzte
die Worte: ^^ Adieu i?iein Ki?id'^ darunter, ließ mich eine
seiner Locken hineinlegen und eilte schnell zu Bett, nach
welchem er sehr verlangte. Nachdem der Brief weg war,
fiel es mir schwer aufs Herz, daß die gute Minna viel-
leicht diese Worte für Abschiedsworte nehmen könnte,
da doch die Krankheit damals nicht im geringsten ge-
fährlich schien. Dies beunruhigte mich sehr, und ich hatte
einen traurigen Abend. Mein Mann und seine anderen
Freunde schliefen diese wie die folgenden Nächte ab-
wechselnd in seinem Zimmer, was ihm lieb war.
648 ANHANG
Uten. Büchner hatte viel Schleim im Halse und mußte
oft auswerfen. Der schwache Tee, den er morgens genoß,
und die Suppen, die ich ihm selbst kochte, schmeckten
ihm recht gut: doch fiel uns eine Art Unempfindlichkeit
(x^pathie) an ihm auf. Ich fragte ihn an diesem Morgen,
ob es ihm angenehm wäre, wenn ich mit meiner Arbeit
mich zu ihm setzte, was er gerne zu haben schien. Da
er viel Schleim im Munde hatte, fiel ihm das Sprechen
schwer und er drückte sich oft durch Gebärden aus, die
mich zu Tränen rührten, auch weil sie mich lebhaft an
meinen verstorbenen Vater erinnerten, mit dem ich sogar
in der hohen freien Stirne einige Ähnlichkeit bei Büchner
zu entdecken glaubte. — An einigen Äußerungen, die er
an diesem Tage tat, bemerkte ich, daß sein Geist nicht
ganz helle war. Wir beschlossen, noch einen Arzt kommen
zu lassen, und zwar Sch'ö?ilein\ der Kranke wollte aber
nichts davon hören, da er sich nicht so krank fühlte. Es
wurde indessen jetzt jede Nacht gewacht, was seine Freunde
gerne übernahmen.
i2ten, Sonntag, erklärte endlich Büchner, daß trSchönlein
zu sprechen wünsche; dieser war aber verreist; sein Assi-
stent hatte indessen Büchner schon besucht und sich mit
den von Dr. Zehnder verordneten Mitteln ganz einver-
standen erklärt.
i3ten. Die Betäubung dauerte fort; am Tage vorher war
es, wo er zum ersten Male sagte, der Kopf sei ihm schwer,
und dies war das einzige Mal in seiner ganzen Krankheit,
daß er den Kopf klagte. Er war ganz bei sich, sprach
aber zuweilen im Schlaf. Wir schrieben an diesem Tage
an unsre Geschwister nach Darmstadt.
i4ten. Morgens frühe kam Schö?ilein und billigte ganz
das bisherige Verfahren des Dr. Zehnder^ auch behielt er
dieselben Arzeneien bei. Büchner sprach sehr vernünftig
mit ihm, bekam aber schon während der Anwesenheit der
Ärzte starke Hitze. Ich blieb bei ihm, und ernannte mich
manchmal Schmid; wenn ich dann sagte, ich sei Frau
PERSÖNL. ERINNERUNGEN U. DOKUMENTE 649
Schulz, lächelte er mir zu; auch glaubte er zuweilen, es
stände jemand in der Ecke u. dgl. Ich las für mich im
Morgenblatt, das er für einen Brief hielt; ich legte es da-
her weg. Gegen Abend bekam er einen heftigen Anfall
von Zittern (Zittern der Hände hatte man schon früher
bemerkt), wobei er ganz irre sprach. Ich wurde sehr un-
ruhig und sorgte von nun an dafür, daß außer mir auch
immer noch einer seiner Freunde bei ihm war. Er wurde
nach und nach wieder ruhiger. Gegen 8 Uhr kam das
Delirieren wieder, und sonderbar war es, daß er oft über
seine Phantasien sprach, sie selbst beurteilte, wenn man
sie ihm ausgeredet hatte. Eine Phantasie, die oft wieder-
kehrte, war die, daß er wähnte, ausgeliefert zu werden.
Die Nacht war unruhig; er sprach viel Französisch und
redete mehrere Male seine Braut an.
i5ten fand ich ihn morgens früh sehr verändert; doch
kannte er mich, verlangte zu seinem Tee, weil die Tasse
groß war, auch einen großen Löffel und spülte sich den
Mund aus. Er sprach, wenn er bei sich war, etwas schwer,
sobald er aber delirierte, sprach er ganz geläufig. Er er-
zählte mir eine lange zusammenhängende Geschichte: wie
man ihn gestern schon vor die Stadt gebracht habe, wie
er zuvor eine Rede auf dem Markte gehalten usw. Ich
sagte ihm, er sei ja hier in seinem Bette und habe das
alles geträumt; da erwiderte er, ich wisse ja, daß Pro-
fessor Escher (einer seiner Schüler) sich für ihn verbürgt
habe, und deshalb sei er wieder zurückgebracht worden.
Es hatte sich nämlich die Idee bei ihm gebildet, er habe
Schulden, was aber in der Wirklichkeit nicht der Fall war.
Solche Phantasien ließ er sich leicht ausreden, verfiel abei
alsdann in andere. Um 1 2 Uhr kam Schönlein^ den Büchner
nicht erkannte, und da ich um jeden Preis wissen wollte,
wie es um den Kranken stehe, blieb ich im Zimmer, ob
es schicklich war oder nicht. Schon als Schönlein eintrat,
sagte er: "Welch ein Geruch!", ließ sich den Stuhlgang
zeigen, der ganz schwarz war und aus dickem Blut be-
stand, betrachtete den Kranken und sagte zu mir: "Alles
paßt zusammen, es ist das Faulfieber, und die Gefahr ist
650 ANHANG
sehr groß." Ich erschrak heftig, und da meine Nerven
sehr angegriffen waren, empfahl mir der Arzt dringend,
das Krankenzimmer zu meiden; auch war männliche Pflege
jetzt dringender. Ich konnte jetzt nichts mehr für ihn tun
als beten. — Es wurde ein braver Wärter angenommen;
doch war bei diesem immer noch einer von Büchners
Freunden, besonders Wilhelm und ScJimid. Ich war sehr
traurig und schrieb sogleich nach Straßburg.
1 6ten. Die Nacht war unruhig; der Kranke wollte mehrere
Male fort, weil er wähnte, in Gefangenschaft zu geraten,
oder schon darin zu sein glaubte und sich ihr entziehen
wollte. Den Nachmittag vibrierte der Puls nur, und das
Herz schlug löomal in der Minute; die Ärzte gaben die
Hoffnung auf. Mein sonst frommes Gemüte fragte bitter
die Vorsehung: ''Warum?" Da trat Wilhelm ins Zimmer,
und da ich ihm meine verzweiflungsvollen Gedanken mit-
teilte, sagte er: "Unser Freund gibt dir selbst Antwort,
er hat soeben, nachdem ein heftiger Sturm von Phantasien
vorüber war, mit ruhiger, erhobener, feierlicher Stimme
die Worte gesprochen: ' Wir haben der Schmerzen nicht zil
viel^ wir haben ihrer zu wenige denn durch den Schmerz
gehen wir zu Gott einP — ' Wir sind Tod^ Staub ^ Asche ^ wie
dm-ften wir klagen?^ ^^ Mein Jammer löste sich in Weh-
mut auf, aber ich war sehr traurig und werde es noch
lange sein.
i7ten. In der Nacht phantasierte der Kranke von seinen
Eltern und Geschwistern in den rührendsten Ausdrücken.
Er sprach fast immerwährend. Schönlein, wunderte sich,
ihn am Morgen noch lebend zu finden; er kam täglich
zweimal und nahm den größten Anteil, so wie alle, die
Büchner auch nur entfernt kannten. Jeden Morgen ließ
man sich von verschiedenen Seiten nach seinem Befinden
erkundigen. Gegen 10 Uhr kam Frau Pfarrer Schmid
von Straßburg und benachrichtigte uns, daß Minna an-
gekommen sei; ich erschrak sehr, denn ich fürchtete für
sie, wenn sie den Kranken in so verändertem Zustande
sehen würde. Ich eilte zu ihr ins Wirtshaus und bereitete
PERSÖNL. ERINNERUNGEN U. DOKUMENTE 651
sie nach und nach auf die große Gefahr vor, in der ihr
Teuerstes schwebte. Ich machte mich recht stark bei ihr.
Ich holte sie nach Tisch mit ihrer Begleiterin zu uns; die
Ärzte hatten ihr erlaubt, den Kranken zu sehen. Er er-
kannte sie, was eine schmerzliche Freude für sie war;
unsere Tränen flössen vereint an diesem Tage, und mein
Herz litt viel, denn es verstand das ihrige. Sie und Frau
Schmid blieben von nun an bei uns. Die Nacht war für
uns alle traurig. Der Kranke delirierte fortwährend.
i8ten besuchte Minna frühe den Kranken, der sie deut-
licher wie am vorigen Tage erkannte; er sprach zu ihr,
auch von ihrem Vater, doch konnte man nicht alles ver-
stehen, denn seine Stimme war jetzt schwächer. Er ließ
sich den Mund reinigen, nahm aus Minnas Händen ein
wenig Wein und Konfitür, aß mittags etwas Suppe, nannte
mehrere seiner Freunde mit Namen, auch der Puls hob
sich ein wenig; alles dieses war ein Hofifnungsstrahl für
uns, trotz den Ärzten, die nichts darauf gaben, aber nur
ein Hoffnungsstrahl, denn am Abend traten von neuem
üble Symptome ein. Die Nacht war ruhig, da die Schwäche
zunahm; doch sprach der Kranke immerfort.
ipten, Sonntag. Der Atem wurde schwerer, die Schwäche
größer, der Tod mußte nahe sein. Das starke Mädchen
bat meinen Mann, sie zu rufen, wenn der verhängnisvolle
Augenblick käme, denn lange konnte und durfte sie nicht
im Krankenzimmer verweilen. Es war Sonntag; der Him-
mel war blau, und die Sonne schien. Die Kinder hatte
man weggeschickt, es war stille im Hause und stille auf
der Straße. Die Glocken läuteten. Minna und ich saßen
allein in meinem traulichen Stübchen, Wir wußten, daß
wenige Schritte von uns ein Sterbender lag und welcher!
Wir hatten uns aber in den Willen der Vorsehung er-
geben, denn was ja in der Menschen Macht lag, den Teuren
zu retten, war geschehen. Ich erinnere mich in meinem
Leben wenig so feierlicher Stunden, wie diese; eine heilige
Ruhe goß sich über uns. Wir lasen einige Gedichte, wir
sprachen von ihm, bis Wilhelm eintrat, Minna zu rufen,
652 ANHANG
damit sie dem Geliebten den letzten Liebesdienst erzeige.
Sie tat es mit starker Ruhe, aber dann brach ihr Schmerz
laut aus. Ich nahm sie in meine Arme und weinte mit
ihr. Sie wurde ruhiger und endigte einen angefangenen
Brief. Der Abend verging uns in Gesprächen über den
Hingeschiedenen; oft gedachten wir mit Schmerz der
armen Eltern und Geschwister des Verewigten. Minna
brachte die Nacht bei mir zu, und da wir lange nicht ge-
schlafen hatten, behauptete die Natur ihr Recht, und ein
sanfter Schlummer stärkte uns. Am Abend war ein Brief
aus Darmstadt gekommen, der uns tief bewegte; ich be-
antwortete ihn am
2oten. Auch Minna schrieb an ihren Vater. Wir lasen in
einer Aft Tagebuch, das sich unter Büchners Papieren ge-
funden hatte und reiche Geistesschätze enthält. Die Freunde
des Verewigten brachten den Abend bei uns zu, und er
war wie immer der Gegenstand unsrer Unterhaltung. Da
er sich über alles, was uns interessierte, so oft mit uns
besprochen hatte, so wußten wir viel von ihm zu erzählen.
Fast jeder Gegenstand, der uns umgab, erinnerte uns an
diese oder jene geistreiche Bemerkung, die er darüber
gemacht. Bald flössen unsre Tränen, und bald mußten
wir lachen, wenn wir uns seine treffende Satire, seine
witzigen Einfälle und launigen Scherze ins Gedächtnis
zurückriefen.
2 iten. Der Himmel war helle, und die Sonne schien dem
Tage, an dem seine irdische Hülle der Erde wiedergegeben
werden sollte. Wir wanden am Morgen einen großen
Kranz von lebendigem Grün, Lorbeer und Myrten und
weißen Blüten, der nach hiesiger Sitte den ganzen Sarg
umgeben sollte. Auch ließ Minna dem Dichter und Bräu-
tigam durch Wilhelm einen Lorbeer- und Myrtenkranz
auf die hohe blasse Stirne drücken. Ein Strauß von leben-
digen Blumen, den einige Freundinnen schickten, ruhte
in seinen Händen. Um 4 Uhr sollte das Begräbnis statt-
finden; ich verließ daher gleich nach Tisch mit Minna das
Haus, denn einem zerrissenen Herzen können die An-
PERSÖNL. ERINNERUNGEN U. DOKUMENTE 653
stalten dazu keinen Trost gewähren. Wir besuchten zu-
erst den Lieblingsspaziergang unsers Freundes, einen
kleinen Platz am See, und dann begaben wir uns zu einer
teilnehmenden Freundin, wo wir bis zum Abend blieben.
Wilhelm holte uns dort ab und erzählte uns, daß mehrere
hundert Personen, die beiden Bürgermeister und andere
der angesehensten Einwohner der Stadt an der Spitze,
den Verewigten zur Ruhestätte begleitet hatten. Die Teil-
nahme der ganzen Stadt war groß. Bekannte und Unbe-
kannte waren tief erschüttert durch den Tod eines so geist-
und talentvollen jungen Mannes.
Am Abend schickte eine Freundin einen Blumentopf, ge-
füllt mit der Erde, in der der Vollendete ruht. Das Immer-
grün, das darin stand und das auch auf seinem Grabe
sproßt, sei uns ein Symbol der Plofifnung, der Hoffnung
des Wiedersehens. Mit den herzlichsten, teilnehmendsten
Worten an Minna war dieses sinnige Geschenk begleitet.
WILHELM SCHULZ' NACHRUF
Im Verlaufe weniger Tage hat der Tod zwei ausgezeichnete
deutsche Männer den Reihen ihrer trauernden Landsleute
und der Genossen ihres Schicksals entrissen. Am 15. Fe-
bruar wurde Ludivig Börne zu Paris, am 21. Februar Georg
Büc/mer zViZmich. beerdigt. Beide ruhen in fremdem Lande,
denn beiden hatte sich das Vaterland verschlossen. Wenn
Börne im heiligen Kampfe für Licht imd Recht ein lang
erprobter Streiter war, dermitsteter Ausdauer die scharfen
Geisteswafifen gegen Unterdrückung und Knechtschaft,
gegen Heuchelei und Lüge gerichtet hatte, so begrüßten
alle, welche Georg Büchner näher kannten, in diesem die
frische Jugendkraft, der eine weite Bahn des Ruhms und
der Ehre offen lag. Große Hoffnungen ruhten auf ihm,
und so reich war er mit Gaben ausgestattet, daß er selbst
die kühnsten Erwartimgen übertrofifen haben würde.
Georg Büchner^ der Sohn eines angesehenen Arztes zu
Darmstadt, wurde am 17. Oktober 1813 zu Goddelau bei
Darmstadt geboren. Nachdem er das Gymnasium dieser
Stadt besucht, widmete er sich zu Straßburg vom Herbste
654 ANHANG
1831 bis zum August 1832, sodann vom Oktober dieses
Jahres bis zur Mitte des Jahres 1833 dem Studium der
Naturwissenschaften, besonders der Zoologie und ver-
gleichenden Anatomie. In dieser Zeit von einer Unpäß-
lichkeit befallen, fand er sorgsame Pflege im Hause des
Pfarrers Jägk zu Straßburg. Während dieser Krankheit
verlobte er sich mit der Tochter dieses würdigen Geist-
lichen, welche durch Geist und Herz in jeder Beziehung
seiner würdig war. Die Gesetze seines Heimatlandes
riefen ihn im Herbst 1833 auf die Universität Gießen,
wo er sein Studium der Naturwissenschaften fortsetzte
und zugleich, nach dem Wunsche seines Vaters, mit der
praktischen Medizin sich befaßte. Durch eine Hirnent-
zündung im Frühjahr 1834 erlitten diese Studien einige
Unterbrechung; doch kehrte er nach kurzem Aufenthalte
in Darmstadt nach Gießen zurück, wo er bis zum Herbst
1834 verweilte. Von da begab er sich abermals in sein
elterliches Haus zu Darmstadt, wo er fortwährend mit
Naturwissenschaften sowie mit Philosophie sich beschäf-
tigte und zugleich, im Auftrage seines Vaters, anatomische
Vorlesungen hielt.
In der letzten Zeit seines Aufenthalts in Gießen wurde
Büchner, mit vielen andern Jünglingen seines Sinnes und
Alters, in die politischen Bewegungen jener Zeit verwickelt.
Der gegen ihn eingeleiteten Untersuchung entzog er sich
im März 1835 durch seine Abreise nach Straßburg. Hier
gab er entschieden die praktische Medizin auf und wid-
mete sich mit rastlosem Eifer dem Studium der neueren
Philosophie. Besonders tief drang er in die Lehren von
Cartesius und Spinoza ein. Eine gleiche Tätigkeit, die ihn
häufig seine Arbeiten bis tief in die Nacht fortsetzen ließ,
wendete er auf die Naturwissenschaften. Im Dezember
1835 begann er die Vorarbeiten für seine Abhandlung
Sur le Systeme 7ierveux du barbeau, welcher er die Ernen-
nung zum korrespondierenden Mitgliede der naturforschen-
den Gesellschaft zu Straßburg verdankte. Durch Ein-
sendung derselben Abhandlung an die philosophische
Fakultät zu Zürich erwarb er sich die philosophische
Doktorwürde. Von den ausgezeichnetsten Kennern der
PERSÖNL. ERINNERUNGEN U. DOKUMENTE 655
Naturwissenschaften ist diese Schrift für eine meisterhafte
Arbeit erklärt worden, die zu den höchsten Erwartungen
berechtige. Gleichbedeutend kündigte er sich durch seine
Probevorlesung und seine akademischen Vorträge über ver-
gleichende Anatomie an der Hochschule zu Zürich an,
wohin er sich am 18. Oktober vorigen Jahres zu bleiben-
dem Aufenthalte begeben hatte.
Aber nicht bloß die Natur, auch das reiche innere Leben
der Menschen, ihre Leidenschaften und Neigungen, ihre
Schwächen und Tugenden zogen ihn mächtig an, und was
er mit scharfem Blicke aufgefaßt, gestaltete sich seinem
produktiven Geiste zu poetischen Schöpfungen. Besonders
hatte ihn das große Drama der neueren Zeit, die franzö-
sische Revolution, lebhaft ergriffen. Er studierte gründ-
lich die Geschichte derselben und bemächtigte sich eines
ihrer bedeutendsten Stoffe. In politische Untersuchungen
verwickelt, unter mannigfachen Störungen und Beschäf-
tigungen verschiedener Art, vollendete er in wenigen
Wochen, während seines letzten Aufenthalts zu Darm-
stadt, sein dramatisches Werk: ^'-Dantons Tod\ dramatische
Bilder aus der Zeit der Schreckensherrschaft". Einer der
strengsten und geistvollsten Kritiker Deutschlands be-
zeichnete dieses Drama als das Werk des Genies, und
pries sich glücklich, der Erste zu sein, welcher das deut-
sche Publikum auf den so hervorragenden Geist aufmerk-
sam mache. In Straßburg gab sodann Büchner sehr ge-
lungene Übersetzungen der beiden Dramen Viktor Hugos,
Liicretia Borgia und Maria Tiidor, heraus. In derselben
Zeit und später zu Zürich vollendete er ein im Manu-
skript vorliegendes Lustspiel, Lconce und Lena^ voll Geist,
Witz und kecker Laune. Außerdem findet sich unter seinen
hinterlassenen Schriften ein beinahe vollendetes Drama^ so-
wie das Fragment einer Novelle, welche die letzten Lebens-
tage des so bedeutenden als unglücklichen Dichters Lenz
zum Gegenstande hat. Diese Schriften werden demnächst
im Druck erscheinen.
Der so reich begabte junge Mann war mit zu viel Tat-
kraft ausgerüstet, als daß er bei der jüngsten Bewegung
im Völkerleben, die eine bessere Zukunft zu verheißen
656 ANHANG
schien, in selbstsüchtiger Ruhe hätte verharren sollen.
Durch seinen frühe gereiften Geist auf eine heitere Höhe
gestellt, blieb er indessen in seinen politischen Ansichten
von manchen Täuschungen frei, welchen sich die Jugend
willig hinzugeben pflegt. Ein Feind jeder töricht unbe-
sonnenen Handlung, die zu keinem günstigen Erfolge
führen konnte, haßte er doch jenen tatenlosen Liberalis-
mus, der sich mit seinem Gewissen und seinem Volke
durch leere Phrasen abzufinden sucht, und war zu jedem
Schritte bereit, den ihm die Rücksicht auf das Wohl seines
Volkes zu gebieten schien. So haben denn in gleicher
Weise die Wissenschaft, die Kunst und das Vaterland seinen
frühzeitigen Verlust zu beklagen. Dieses Vaterland hatte
er verlassen müssen, aber der Genius ist überall zu Hause.
In Zürich hätte er eine zweite Heimat gefunden; dafür
bürgt die Anerkennung, die ihm seine Talente erwarben,
dafür die Teilnahme, die von so vielen der ausgezeich-
netsten Bewohner dieser Stadt seinem Andenken am Tage
der Beerdigung bezeigt wurde.
Keiner seiner Freunde hatte diesen Tag noch vor wenigen
Wochen nahe geglaubt. Außer einigen leichten Unpäß-
lichkeiten war Büchner während seines Aufenthalts in
Zürich stets gesund geblieben. Sein Äußeres schien mit
seinem Innern in Harmonie zu stehen, und die breit ge-
wölbte Stirne schien noch lange seinem umfassenden Geiste
eine sichere Stätte zu sein. Doch mochte er selbst ein
Vorgefühl seines frühen Endes haben. W^enigstens ver-
gleicht er in einem hintcrlassenen Tagebuche den Zustand
seiner Seele mit einem Herbstabende, und schließt seine
Bemerkung mit den Worten: ^^ Ich fühle keinen Ekel, keinen
Überdruß; aber ich bin müde^ sehr mitde. Der Herr schenke
mir RiiheP^
Am 2. Februar mußte er sich zu Bette legen, das er von
jetzt an nur für wenige Augenblicke verließ. Trotz der
Sorgfalt der Ärzte und der Pflege seiner Freunde machte
die Krankheit unaufhaltbare Fortschritte und bildete sich
bald zum heftigen Nervenfieber aus. Am 12. Tage fingen
die Delirien an. Der Gegenstand seiner Phantasien waren
seine Braut, seine Eltern und Geschwister, deren er mit
PERSÖNL. ERINNERUNGEN U. DOKUMENTE 657
der rührendsten Anhänglichkeit gedachte, und das Schick-
sal seiner politischen Jugendgenossen, die seit Jahren in
den Kerkern seiner Heimat schmachten. Wie vor seiner
Krankheit, so sprach er auch jetzt in bitteren, aber wahren
Worten, die im Munde eines Sterbenden ein doppeltes
Gewicht haben, über jene Schmach unserer Tage sich aus,
über die verwerfliche Behandlung der politischen Schlacht-
opfer, die nach gesetzlichen Formen und mit dem An-
schein der Milde in jahrelanger Untersuchungshaft ge-
halten werden, bis ihr Geist zum Wahnsinne getrieben imd
ihr Körper zu Tode gequält ist. "/;/. jener Französischen
Revolution^''' so rief er aus, ^^die wegen ihrer G?'ausamkeit
so verrufen ist, war man milder als jetzt. Man schlug seinen
Gegnern die Köpfe ab. Gut! Aber man ließ sie nicht jahre-
lang hinschmachten und hinsterben.^'' Später jedoch, als
ihm der Tod näher gerückt war, schien er sich bereits von
allen irdischen Banden losgerissen zu haben, und mit ge-
hobener Sprache, deren Worte die erhabensten Stellen
der Bibel ins Gedächtnis riefen, ergoß sich seine Seele in
religiöse Phantasien.
Auf die erste Nachricht von seiner Krankheit eilte seine
Verlobte an das Krankenbett ihres Bräutigams. Die Nähe
der Geliebten leuchtete freundlich in seine Träume hin-
ein, und seine sichtbar freudige Bewegung weckte einen
letzten Schimmer der Hoffnung bei denen, die ihm nahe-
standen. Aber es war nur ein kurzes Aufflackern des ver-
glimmenden Lebens! Von Landsleuten und Freunden um-
geben starb er am 1 9. Februar, nachmittags gegen vier Uhr,
und seine treue Braut schloß ihm das gebrochne Auge.
Sein Verscheiden war schmerzlos tmd sanft, denn der
Segen der Liebe ruhte auf ihm!
BUCHNER 42
LESARTEN
) 66i C
VORBEMERKUNG
DAS folgendeVerzeichnis enthält nur diejenigen Varian-
ten, die auf Büchner selbst zurückgehen oder in dieser
Hinsicht fraglich sind. Vor allem sind also die abweichenden
Lesartendes handschriftlichen Nachlasses wiedergegeben,
bei den Dichtungen auch die gestrichenen Stellen, da-
mit sich der Leser die Arbeitsweise des Dichters möglichst
vergegenwärtigen kann. Von der Wiedergabe auch der
Orthographie und der Literpunktion der Plandschriften
wurde, mit Ausnahme besonderer Fälle, abgesehen, um
das Verzeichnis nicht durch die Aufnahme bloßer Äußer-
lichkeiten zu stark zu belasten. Keine Äußerlichkeit, son-
dern eine dialektische EigentümHchkeit ist es freilich,
wenn Büchner ständig bieder schreibt; trotzdem wurde
aus ästhetischen Gründen auch hier die Normalisierung
vorgenommen und nur in seinen Entwürfen und Jugend-
arbeiten die anfangs noch schwankende originale Schreib-
weise beibehalten. Die Beschreibung der einzelnen Hand-
schriften erfolgt jeweils unten am betreffenden Orte; zu
Büchners Hand im allgemeinen aber sei kurz bemerkt,
was für die Erkenntnis mancher Lesefehler seiner Her-
ausgeber wichtig ist, daß er, von Fremdworten und Ei-
gennamen abgesehen, Fraktur schrieb, und zwar eine
ziemlich kleine und gern fast stenographisch abgekürzte
Fraktur, bei der namentlich m, \l, e, a, r, S sowie Q, 3, p
und f[, ft, ^ oft schwer zu unterscheiden sind. — Die ge-
druckte Überlieferung ist, wie schon angedeutet, nur in-
soweit herangezogen, als sie zur Herstellung des echten
Textes etwas beitragen kann; die absichtlichen oder irr-
tümhchen Abweichungen Gutzkows, Dullers, Ludwig
Büchners und auch Franzos' sind also nicht berücksich-
tigt. Wo freilich die gesamte Überlieferung im Stich
läßt und der echte Wortlaut erst erschlossen werden
mußte, sind auch die textverderbten Stellen zur Begrün-
dung der Konjekturen mitgeteilt worden. Im übrigen ward
der Rahmen eines bloßen Variantenapparates nicht eng-
herzig innegehalten, um gelegentlich auch Fragen höherer
Textkritik Raum zu gewähren oder die Ergänzung lücken-
662 LESARTEN
hafter Stellen in der Überlieferung aus den Quellen mög-
lich zu machen.
Für den Text Büchners ist im Verzeichnis der Lesarten
die Antiqua- und Kursivschrift beibehalten, während die
editorischen Bemerkungen in Fraktur gesetzt sind. Die
Klammer { } bedeutet, daß die betreffende Stelle der
Handschrift von Büchner gestrichen ist; was in eckigen
Klammern steht, ist Zusatz des Herausgebers. Für nicht
entzifferbare Wörter sind ebensoviele Punkte in Mitte der
Zeilenhöhe eingesetzt. Die ständig wiederkehrenden Sig-
len bedeuten:
H = Handschrift Büchners; hs = handschriftlicher Ent-
wurf oder Torso.
N = Nachgelassene Schriften von Georg Büchner. [Her-
ausgegeben von Ludwig Büchner.] Frankfurt a. M.,
J. D. Sauerländers Verlag. 1850. [302 S.]
F = Georg Büchners Sämmtliche Werke und handschrift-
licher Nachlaß. Erste kritische Gesammt- Ausgabe.
Eingeleitet und herausgegeben von Karl Emil Fran-
zos. Mit Portrait des Dichters und Ansicht des Zü-
richer Grabsteins. Frankfurt am Main, J. D. Sauer-
länders Verlag. 1879. [CLXXX u. 472 S.]
Die übrigen Siglen werden an Ort und Stelle erklärt.
Sonst häufiger gebrauchte Abkürzungen:
a. R. = am Rande ursprgl. = ursprünglich
durchstr. = durchstrichen verb. = verbessert
eingef. = eingefügt wiederhergest. = wiederher-
gestr. = gestrichen gestellt
nachgetr. = nachgetragen zugef. = zugefügt
) 663 ^
DICHTUNGEN (S. 5-161).
DIE zeitliche Folge der poetischen Werke Büchners steht
im allgemeinen fest, nur die Einordnung des 'Lenz'
vor das Lustspiel mag kurz begründet werden.
Büchners Interesse für den Dichter Lenz spricht schon aus
dem Zitat Lenzischer Verse in dem Brief an die Braut vom
März 1833 (S. 535 f-)- Von der Absicht des Dichters, eine
Lenz-Novelle zu schreiben, hören wir zum ersten Mal durch
Gutzkows Brief vom Mai 35 (S. 617), und Gutzkow baut
auch noch fest auf dies zweite Werk Büchners im Juli 35
(S. 618). Wenn Büchner der Familie gegenüber seinen Plan
erst im Oktober 35 erwähnt (S. 557), so wohl deshalb, weil
er von selten der Eltern eine Mahnung, sich nicht wieder
von der wissenschaftlichen Laufbahn abbringen zu lassen,
zu befürchten hatte. Immerhin mag die Beschränkung des
ursprünglichen Planes auf einen bloßen "Aufsatz" keine
Verschleierung der Familie gegenüber sein, sondern eine
tatsächliche Folge der Inanspruchnahme durch die wissen-
schaftliche Arbeit, die in jenem Brief an die Angehörigen
gleich darauf erwähnt wird. Auch Gutzkow bescheidet
sich im September 35 bereits und wünscht, fürs erste wenig-
stens, nur noch "Erinnerungen an Lenz" (S. 619), und bei
der nächsten Erwähnung des Lenz-Planes hat er über-
haupt jede Hoffnung auf dessen Ausführung aufgegeben:
"Eine Novelle Lenz war einmal beabsichtigt", schreibt er
im Februar 36 (S. 622). Danach wird der 'Lenz' in Büch-
ners Briefwechsel überhaupt nicht mehr genannt. Ge-
meint ist er wohl noch mit den "Artikeln", die Büchner
laut Brief an die Familie vom Januar 2>^ (S. 559) für die
verbotene Deutsche Revue bereit hatte und nun an den
Phönix schicken will; denn für die Revue hatte ja Gutz-
kow die "Lenziana" haben wollen (S. 619), und für andere,
im Phönix wirklich erschienene Artikel kommt Büchners
Verfasserschaft nicht in Frage. Aber in jenem Brief an die
Angehörigen vom Januar 36 äußerte derDichter auch schon
kategorisch: "Ich gehe meinen Weg für mich und bleibe
auf dem Felde des Dramas" (S. 560). Die Arbeit am 'Lenz',
durch Stöber einst angeregt, ist offenbar eingestellt, der
Gedanke an eine Novelle ganz aufgegeben.
Hingegen kündet sich nun erst die neue dramatische Be-
tätigung Büchners an. Gutzkow kann erst zwischen Fe-
bruar und Juni T)6 davon erfahren haben, da er sonst schon
664 LESARTEN
in seinem Februarbrief auf solche Mitteilung mit freudiger
Anteilnahme eingegangen wäre; in der Antwort vom Juni
spricht er dann freilich gleich von mehreren "Ferkel-
dramen" (S.623). Doch vor dem Februar ^^ kann 'Leonce
und Lena' auch gar nicht geschrieben sem, da dies Stück be-
kanntlich durch Cottas Preisausschreiben auf das beste
Lustspiel veranlaßt worden ist. "Die Cottasche Buchhand-
lung", heißt es in Ludwig Büchners Einleitung (N, S. $y),
"hatte bis zum i. Juli 1836 einen Preis auf das beste Lust-
spiel ausgesetzt, und Büchner wollte mit seiner Arbeit
konkurrieren. Seine Trägheit im Abschreiben des Kon-
zepts ließ ihn leider die Zeit versäumen; er schickte das
Manuskript zwei Tage zu spät und erhielt es uneröffnet zu-
rück." Da Cottas "Preisaufgabe" am 3. Februar 36 im
,Intelligenzblatt' (Nr. 3) veröffentlicht wurde, ist damit die
zeitliche Entstehungsmöglichkeit des Lustspiels ziemlich
genau umschrieben.
Endlich ist hier noch des verlorenen Dramas PIETRO ARE-
TINO Erwähnung zu tun. Daß außer dem Lustspiel
'Leonce und Lena' und dem Trauerspiel 'Woyzeck' noch
ein drittes Drama in der letzten Lebenszeit Büchners ent-
standen sein muß, geht aus den beiden Briefzeilen an die
Braut vom Januar t,"/ (S. 567) klar hervor. An dies dritte
Stück müssen wir aber auch schon bei den "Ferkeldramen"
denken, von denen Gutzkows Junibrief ■^6 spricht; denn
als solch Ferkeldrama ist wohl noch 'Leonce und Lena',
besonders in der Fassung des Telegraf, anzusehen, nicht
aber der 'Woyzeck'. Auch Büchners Mitteilung vom
2. Sept. 36, er sei "gerade daran, sich einige Menschen auf
dem Papier totschlagen oder verheiraten zu lassen"
(S. 565), zielt wohl mit auf dies dritte Drama, da ja 'Leonce
und Lena' bereits vollendet war und im 'Woyzeck' nie-
mand verheiratet wird. Merkwürdigerweise wird nun dies
dritte Werk des Dramatikers in Schulz' Nachruf (S. 655)
überhaupt nicht erwähnt: wünschte die Braut seine Be-
kanntgabe vielleicht schon damals nicht? Erst in Ludwig
Büchners Einleitung zu N erfahren wir etwas Näheres von
seinem Inhalt: "Es handelte, wie aus mündlichen Mittei-
lungen des Dichters an seine Braut hervorzugehen scheint,
von dem Florentiner Pietro Aretino." Ein halb Jahr-
hundert später hören wir dann von Franzos (Deutsche
Dichtung, XXIX. Bd., 1901, "Über Georg Büchner"), daß
dieses Drama für die Ausgabe von 1850 sogar noch er-
DICHTUNGEN 665
reichbar gewesen wäre: „seine [Büchners] Braut, die das
Manuskript besaß, war damals bereit, es veröffentlichen
zu lassen. Als ich mich fast vierzig Jahre später an sie
wandte, lehnte sie die Auslieferung des Manuskriptes ab.
Aus zwei Gründen. Die geistvolle und tatkräftige Dame,
die ihrem Verlobten zeitlebens die Treue hielt, hatte Trost
in innigem Gottvertrauen gefunden; es ging ihr nun gegen
das Gewissen, ein Werk veröffentlichen zu lassen, das
atheistische Stellen enthielt. Dieses Hindernis hätte
ich vielleicht ... mit Hilfe ihrer Umgebung hinwegräumen
können; ein anderes war unbesiegbar. Das war ihre töd-
liche Verfeindung mit der Familie Büchner ..." Als Fran-
zos das materielle Interesse der Famihe Büchner an der
neuen Ausgabe Fräulein Jägle gegenüber vorbrachte, um
sie zur Auslieferung des kostbaren Manuskriptes zu be-
wegen, erreichte er das gerade Gegenteil: sie schlug es ihm
ab. "Nach ihrem Tode hat auf meine Bitte mein ... Freund
Hubert Janitschek, der Kunsthistoriker, damals noch in
Straßburg, über ihren Nachlaß sorgliche Erkundigungen
eingezogen; er enthielt auch nicht ein Blättchen von Georg
Büchners Hand. Die alte Dame muß seine Manuskripte
wie seine Briefe verbrannt haben, als sie ihren Tod heran-
nahen fühlte, denn kurz vorher scheint sie sie noch be-
sessen zu haben." Dies die letzte positive Mitteilung über
ein Werk Georgs, "von dem in der Familie Büchner die
Sage geht, daß es sein bestes gewesen sei" (Franzos).
) 666 c
DANTONS TOD (S. 7—80).
H: vollständige Niederschrift von des Dichters Hand, mit
dem Titel auf der ersten Seite "Danton's Tod. Ein Drama".
Die Handschrift umfaßt 21 Doppelbogen von je 8 Seiten
in Quartformat, die aber nicht paginiert, sondern lagen-
weis gezählt sind; hinter dem ersten Doppelbogen noch
eine vierseitige Einlage (vgl. Lesarten S. 669), während die
letzte, 21. Lage nur noch auf vier Seiten Text enthält.
Zweifaches Papier wechselt auffallend ab: Lage i — 4,
15 — 18, 20 — 21 besteht aus grauem mittelstarkem Papier
mit dem Wasserzeichen JJ, Lage 5 — 14 und 19 aus gelbem,
leichtgeripptem, stärkerem Papier mit einem Wappen und
C. JLLIG als Wasserzeichen. Es handelt sich ganz offen-
bar um die erste vollständige Niederschrift, nicht um die
Reinschrift des Dramas; denn das Manuskript enthält, wie
die Lesarten zeigen, noch viele Streichungen und Ände-
rungen einzelner Ausdrücke und ganzer Sätze infolge neuer,
beim Schreiben erst auftauchender Einfälle sowie zahl-
reiche Einschübe über den Zeilen und am Rande von oft
beträchtUchem Umfang. Demzufolge ist H nicht, wie Fran-
zos a. a. O., S. 100 will, als endgültige Druckvorlage oder
sogenannte Reinschrift zu werten, der in allem der Vor-
zug gegenüber den Erstdrucken zu geben wäre; grund-
legende Änderungen freilich, z. B. die Akteinteilung be-
treffend, wird Büchner später nicht mehr vorgenommen
haben.
R: die nicht erhaltene unmittelbare Druckvorlage. Wo die
Erstdrucke gegenüber H unleugbare Besserungen aufwei-
sen, wird man sie nicht ohne weiteres ablehnen dürfen,
sondern in ihnen Korrekturen, die der Dichter selbst noch
in R vornahm, zu vermuten haben. Wie weit man freihch
mit R operieren soll, bleibt dem Stilgefühl vorbehalten;
die nicht allzu häufigen Abweichungen unseres Textes von
H zugunsten der Erstdrucke lassen sich aber ohne Not auf
R zurückführen.
P: die erste bruchstückartige Veröffentlichung durch Gutz-
kow unter dem Titel "Dantons Tod. Von Georg Büchner", in
der Zeitschrift "Phönix" 1835, und zwar dort in den Num-
mern 73 (26. März) bis jy und 79 bis 83 (7. April), die fol-
gende Szenen brachten: S. 9 — 12, 27—32, 32—35, 49—53»
53—57, 57 — 61, 64—6627, 6630 — 72,72— 77 n, 7712—80. Die
Lücken füllte Gutzkow mit schwungvollen Inhaltsangaben
DANTONS TOD 667
aus, die aber für die Textfrage keine Bedeutung haben
und deshalb unten nicht wiedergegeben sind.
D: der durch Duller übel zugerichtete vollständige Erst-
druck "Dantons Tod. Dramatische Bilder aus Frankreichs
Schreckensherrschaft von Georg Büchner. Frankfurt a. M.
Druck und Verlag von J. D. Sauerländer. 1835". Trotz der
Textverschandehmg verdient Dullers Ausgabe insofern
ernstliche Beachtung, als ihr neben dem lückenhaften P
die vollständige Reinschrift R zugrunde gelegen hat.
N und F (siehe Vorbemerkung) sind mehr historische Vor-
läufer dieser Ausgabe als von textkritischer Bedeutung,
da sie über mehr authentisches Material, als noch heute
benutzt werden kann, nicht verfügt zu haben scheinen.
Franzos erwähnt zwar a. a. O., S. 100 "einige Blättchen des
ersten Entwurfs" (etwa die unter H erwähnte Einlage?),
fügt aber hinzu, daß ihm nur das vollständige Manuskript
maßgebend war. R kann auch Ludwig Büchner nicht mehr
verwertet haben.
8. 8. X)as ganse ^erfonenüersetc^nis feJ^It P | 2 GEORG naä)'
getr. H | 13 BARR^RE H, unb stoar [tets [0 mit rr; bo^ f^rteb
ft(^ ber 5?eDoIuttonär [elbft nur mit r, roas bic Snfonfequcnj ber
Sd^reibuno im Zixi entf^ulbtgen mag | I6 hinter CHAUMETTE
eingef. u. tuieber geftr. {genannt Anaxagoras,} H | 21 PARIS,
{Greffier des Revolutionstribunals,! H | 24 Gattin oerb. aus
Frau H.
S. 9. 3 Julie, seine Gattin P— F; OJO^I 3^^\^^ ^on P, bas fein
^cr[oncnDer3ei(^nis ^at | 4 Füßen Juhe's P Juliens D— F | 6
Karten {hält, w[endet]} dreht H | 9 das carreau hin. {Sie
hat ungeschickte Beine und fällt leicht, ihr Mann trägt die
Beulen dafür auf der Stirn, er hält sie für Witzhöcker und
lacht dazu.} Ihr könntet einem H | 19 lieb Georg H [ 23,
30, 38 (5eban!en[tri^ fe^It H I 24 {zu HeraiiU) fe^It H | 34f. Wenn
das {so} ist, {so ruh'} lieg' ich H.
6. 10. 6 verstanden. {Aber in Wahrheit,! IchH | 10 bekam
über {erwischte} H | 19 Platz dabei bekommen P — F | 26
klassischen a. 5i. gugef. | 26f. Nimm bis dagegen! nadjgetr. H j
32 gegeben hätte über {gäbe} H | 34 fürchtete aus fürchte H.
34—1139 urfprgl., aber quer burd)[tr.:
{CAINIILLE. Wir müssen vorwärts, morgen greif ich sie
geradezu an, dann einen entschloßnen Angriff im Konvent!
Der Gnadenausschuß muß durchgesetzt, die ausgestoßnen
Deputierten müssen wieder aufgenommen werden. Die
668 LESARTEN
Revolution ist in das Stadium der Reorganisation gelangt.
Die Revolution muß aufhören und die Republik muß an-
fangen^. In unseren Staatsgrundsätzen muß das Recht an
die Stelle der Pflicht, das Wohlbefinden an die der Tugend
und die Notwehr an die der Strafe treten. J (£s folgen [ed)S
burd^ QänQS' \mh Qucrftric^c unleferltc^ getoorbene 3^^^^") bann:
^ Jeder muß sich geltend machen und seine Natur durch-
setzen können^. Er mag nun vernünftig oder unvernünftig,
gut oder böse sein, das geht den Staat^ nichts an, solang
er keinen andern damit* stört. Wir sind alle Narren, es
hat keiner das Recht, dem andern seine eigentümlicheNarr-
heit aufzudringen. Die Individualität der JNIehrzahl muß^
in der Physiognomie des Staates offenbaren. Die Staats-
form muß ein durchsichtiges Gewand sein, das sich dicht
an den Leib des Volkes schmiegt. Jedes Schwellen der
Adern, jedes Spannen der Muskeln muß sich darin ab-
drücken. Die Gestalt mag nun schön oder häßlich sein,
sie hat ein[ma]l das Recht zu sein, wie sie ist, wir sind
nicht berechtigt^ ihr ein Röcklein nach Belieben zuzu-
schneidern. Wir w^erden den Leuten, welche über die nack-
ten Schultern der allerliebsten Sünderin Frankreich den
Nonnenschleier werfen wollen, auf die Finger schlagen.
Danton, Du mußt den Angriff im Konvent machen.}
iBeDor Sü(i)ner bie[e 5^ebe Kamtllcs bur(^[ln(^en, [e^te er a. 5?.
üon H no(^ i^in3u, unb jtoar oor (Tamtlles 5Ißortc [tellenb:
{HERAULT. Sie möchten uns'zu Antedeluvianern machen.
St. Just sah es nicht ungern, wenn wir wieder auf allen
Vieren kröchen, damit uns^ der Advokat von Arras nach
der Mechanik^ des Genfer Uhrmachers Fallhütchen, Schul-
bänke und einen Herrgott erfände^".}
9ta(^bem (Mamille bie obige lange 5?ebe bereits entgegen ujar, mu^
Sü(^ner baran gebatikt ^ahm, if;m bie Dorfte^enben SBorte §e'raults
in bcn 93Zunb ju legen, benn in H tft HERAULT no^ befonbers
burd)[tr. unb CAMILLE überge[d)rteben. Xo^ bie gange 9?anb=
ein[(^altung lourbe bann au^ bur^ einen !räftigen Querftric^ ner^
1 anfangen ge[tr. u. tDiebcr^crge)t. für {beginnen}.—- T)k beiben
folgenben Sä^c a. 9^. nat^getragen.—^ den Staat für urfprgl.
uns.—* damit über 'in seinen Rechten}.— = muß über {wird
sich dann}, fo ha^ sich gu ergangen ift.^ *■' sind nicht berech-
tigt für {haben nicht das Recht}. ^ folgt {wieder}.—" folgt
{Rohespierre nach}. — ^ der Mechanik oerb. aus {den Grund-
sätzen,'.— -'^ erfände aus {erfinde}.
DANTONS TOD 669
rourfen. — X)en enbgülltgen Zui IO35— II39 f^rieb 23ücf)ner auf
ben mit 5^reu3 bejetc^netcn (Stnlegebogcn, luorans ^etüorge^t, ha\^
S. 12ff. [d^on gefc^neben war, beuor er bie[e XcxlreDifton Dornar)m.
S. 11. 4 Särge zur Wiege aus {in Särgen statt in Wiegen} H
die Guillotine zur Wiege P — N [ 5 hinter spielen? am Einfang
neuer 3etIe{HERAULT. Die Revolution ist in das {H | 8{Ja}
Die H I 13 f. seinen Naturtrieb durchsetzen P- N | 16-21
Wir alle bis stören darf. a. 5^ für {Wir alle sind Narren, es
hat keiner das Recht, dem andern seine eigentümliche
Narrheit aufzudringen. Die Individualität der Mehrzahl
muß sich in der Physiognomie des Staates offenbaren} H |
I6f. und keiner hat das Recht P — F | 18 aufzudringen und
ihm ein Gesetz daraus zu machen. P— N | 19 daß keiner
{den andern} H | 20 in seinem eigentümlichen Genuß für
{in seiner Art} H | 32 Bachantinnen {und-, olympische
Spiele { , Rosen in den Locken, funkelnden Wein und wal-
lende Busen} und melodische Lippen H | 36 göttliche über
{heilige} H [ 37 müssen über {sollen} H ] 38 Türsteher geftr.
u. toieber^ergeft. für {Schildhalter} H.
(5. 12. 7 O, es versteht sich alles von selbst a. 5R. für {Ich
wollte, es verstünde sich alles so von selbst, was du eben
gesagt hast } H | 8 denn aber alle die P— F | ins Werk setzen
geftr. u. loieberl^ergeft. für {ausführen} H 13 auch! bis {mit} den
H I 14 man kann nad)getr. H | 24 euch [noch} prophezeien
H I 25allena(^getr.H \ 28f. er könne die Finger davon lassen
a. 9?. für {sein Ehrgeiz ließe ihn ruhen} H.
32— 27 21 feiert P.
S. 13. 13-15 ZWEITER BÜRGER bis SIMON, a. ^. mä)--
getr. H | 15 kahl H [ 20 mit über lauf} H | 22 {Erst} Richtig
erst H I mit über {auf} H ! 27 so über {jetzt} H.
S. 14. 24 uns über {euch} ausgesaugt H | 30f. laufen wie zu-
vor auf nackten Beinen aus {haben wie zuvor nackte
Beine} H.
S. 15. 2 EINIGE STIMjMEN a. % für isie schreien} H ]
12 de{n} Wurm H ] I8f. durch Arbeit, {der Tod} wir H | 25
tritt auf über {in Begleitung} H.
S. 16. 3 gibt's über {ist} H | 19 führen über {leiten} H.
S. 17. 2 Die {Lyoner} Brüder von Lyon H | 3 bittren a. "D?.
für .'tiefen} H.
S. 18. 11 von allen {Teilen der Republik} Seiten H | 19 tot
über {verloren} H | 35 Verbrecher über I Verräter} H.
S. 19. 3 nackt und na^getr. H | 6 ist die Tugend j. Ist die
Triebfeder der Volksregierung im Frieden die Tugend} H
670 LESARTEN
12 gleiche D — F \ 14 Satellit der Tyrannen H: wo\)\ [^on in
R bte Beffere (£in5a^I | 15 Beherrsche der Despot D — F: 5tDar
fräftrger als Regiere, hßä) i[t baoor unb banad) von Regierung
bte 9^ebe 22 bas britte Erbarmen über { Gnade] H j 31 ff. hinter
fliegen, folgt in H: {Erbarmen können nur Leute rufen,}
welche nur auf Ausplünderung des Volkes bedacht waren
[ügl. 20 21] uftö. bis seid nicht grausam!" [2031]; nac^bem ber
^Tnfang geftrt^en, ifl bas übrige burd) 3SertDei[ungs5ei(^en ben
SBorlen Keinen Vertrag, keinen Waffenstillstand mit den
Menschen [2020] auf ber brittnäd)ften 9Jianu|!nplfeite angepngt
tDorben | 34 Angriff auf die Freiheit. {Nur der höllischste
Macchiavellismus, doch nein! — ich will nicht sagen, daß
ein solcher Plan in dem Gehirn eines Menschen hätte aus-
gebrütet werden können. Es mag unwillkürlich geschehen,
doch die Absicht tut nichts zur Sache, die Wirkung bleibt
die nämliche, die Gefahr ist gleich groß.} H | 3-4 f. Das
Laster bis Aristokratismus a. % nai^gelr. H | 36 es über {das
Laster} H.
S. 20. 4 {Das Laster ist das Kainszeichen} Ihr werdet H
6 mit {civedant} ehemaligen H | 7 fragen: {sind} ist H | 16
vor kurzem über {neulich} H | 20-31: ügl. fiesartju 1931 ff. | 29
unsrer über {meiner} H.
5. 2L 11 Was macht das? {Es war, als ob eine Cham-
pagnerflasche spränge,} er war wieder betrunken. H | 26 die
Dezemvirn a. 5?. für {sie} H | 27 ihnen aus {ihr} H | 36 zer-
stückelt H: bie befferc gemeine fiesart wo\)l [(^on in R.
6. 22. 2, 3 ufro.: Der 9Zame MARION überall erft [päter in bte
bur(^ je einen Stricf) be3ei^neten QMm eingefefet H { 6 laß mich
einmal so. {Ich bin aus guter Familie.} Meine Mutter H
7 kluge Frau {, sie gab mir eine sorgfältige Erziehung;} sie
sagte H I 11 gewollt hatten, so sagte sie, ich D — F | 14 Be-
lieben, {das w} da war H ] 15 ich nicht {gan[z]} begriff H |
20 verschmölze über {versänke} H | 21 eins. {Da kam} H i
kam zu der Zeit eingefügt H | 22 oft {an[es] Mögliche} tolles
Zeug H I 24 recht. {Das ging so fort.} H | 26 beieinander
über {nebeneinander} H | 27 dürften D — F j 35 merkt H.
6. 23. 20 Sehnen über {Verlangen} H | Fassen über {Genie-
ßen} H I 23 hinaus über {heraus} H j 24 hinter Christusbildern
a. 9^. {Weingläsern} H j 25 es ist über 's ist H | 27 kann ich
{nicht} H I nicht eingef. H | 3i deines aus deiner H | 32
Leibes über {Glieder} H.
S. 24. 4 {Nun} Das H | 7 einmal {auf} in H | 34 bekommt
{keine Wun[de]}H.
DANTONS TOD 671
S. 25. 3f. a. 9?. na(^getr. H | 15 bliebe aus bleibe H | 18 schrie
[tatt rief H; loa^rfd^einl. [(^on in R ucrb., töeil schrie als Slei=
gerung 27 für ben (Gegner doWot gebraust toirb | 23 LACROIX
über {CHALIER} H | ssf. Miene zu machen a. % für {Miene
zu ziehen} H | 36 Rücksicht{en} H.
(s. 26. 11 Doch a. % jugef. H ] 23 wenn {Danton} H | 24 {ist}
war H I 28f. lasterhaft {d. h. wiej wie H | 31 macht über {ge-
macht hat} H I 35 DAXTON a. 5?. nac^getr., [o ha^ bie fol»
genben SBorle urfprgl. £?acroti ^ugeba^t roaren.
S. 27. 4 ohne {hin} mich H | 21 i7iit Paris fel)lt H {Ab mit
Paris.) feljlt D— F.
22 ZWEITER AKT über EIN ZIMMER PD: neuer mt auf
©runb üon 27i4f. Morgen geh ich zu Robespierre; aber nad^
biefer^usfpra^e mit^Robespierre i[t f^on roieber ein 3:ag 3U i^nhe,
unb bie barauf folgenbe Säene S. 32 fängt ebenfalls morgens an.
C£ntf(^e!benb i[t, ha)ß PD 5ugun[ten i^rer ^Hteinteilung [inutoibrig
324 u. u. kleidet sich an geänbert f)aben in kleidet sich um,
benn 32 sf. d. u. seigt, 'txn!^ es [i(^ um ein üollflänbiges ^nsie^en
^anbelt | 24 mir fe^It H.
S. 28. 23 geht es aus geht's H | 26 du es aus du's H | 34 ihm
{weh} wohl H.
S. 29. 8 DANTON {{zu Paris)) H j 15 schleifen über {schlep-
pen} H I 37 {Nach einer Pause) a. 5?. gugef. H.
S. 30. 1 Fenster {, 7iach einer Pause) H | 2 {Die leisesten}
Gedanken H | Wünsche na^lrägl. eingef. H | s geahnt{e
Wünsche } H | wirr und gestaltlos a. 5?. nac^getr. H | scheu
na^trägl. jugef. H | 7 strecken a. 5^. für {regen} H | 12-14 In
einer Stunde bis vermag, a. 9i. nad)gelr. H | 38 zerstücken für
verstümmeln HF; bie [lili[ttf(^e ^Befferung roo^l aus R uonPD
übernommen.
S. 31. 6 Generalleutnant über {Generalfeldmarschall} H
12 ausgewischt a. 5R. für {ausgestrichen} H [ 14 Das dacht
ich a. 5i. 5ugef. H | I6 {Der alte} Aha H | 18 hier, hier! über
da, da! H 19 (liest) nac^trägl. 5Ugef . H Glutmessias: lies Blut-
messias 22 Maria aus Maria's H | 23 Magdalena aus Magda-
lenen H | ^inler unten unleferlic^es äBort geftr. H j 24 und über
er H I 25 er über und H | 29 {liest ii'eiier) a. 5t. nadf)getr. H |
35 schon {vier Mä[nner]} H | 36 und sie alle P und die sie [!]
D— F I {Doch} Wer H | 38 Gesicht {schon} an H.
S. 32. 16-18 Er hatte bis Henkers a. 5?. na^getr. H j 20f.
des Menschensohn H des Menschen Sohn P — F.
26 ZWEITER AKT fe^lt PD; Dgl. Lesart 2722 | 32 {Ach Ca-
mille,} Das ist H.
672 LESARTEN
Q. 33. 1 Absehens H; nurf) R? | 7 kindlichen H, aber 8 kin-
disch; tuol}! in R üerln | 12 versammlen H, aber 15 sammeln
25 du es über {du's} H | 30 Das ist P — F | 31 mir's geftr. 11.
ioieber^erge[t. für {mir es} H.
S. 34. 4 nicht {verloren gehn} ausgestrichen werden H j 9
Es {ist| wurde H | 11 dafür, {aber} wir H; Dielleli-^t in R ah
unentbe^rl. it)ieberf)erge[t. I werden es au5 werden 's H ] leim
ewigen H, aber I8 in unlöschbarem; u)o^l in R r>erb. ] 25 {Du
sollt[est] I Desto H | 37 im Ernst a. 9i s'ugef. H.
S. 85. 2 für ein nerb. aus zu einem H | I6 ein Adieu a. 9i
nadjgelr.
18—4916 fet)It P, bas ben Snl^alt ber fe^Ienben Svenen totebcr furj
5U[ammenfa^t.
5. 36. 2 {singt) fe^lt H ] 2if. und ein wenig Moos a. 5R. na^-
getr. H | 27 Mein Herr nad)getr. H | 29 geben, {ich} H | 37 hebt
{sich gegen}einander H.
(5. 37. 2f. und ein wenig Moos a. 5t. nac^getr. H 1 7 {SOLDAT}
BETTLER H | 22-27 Danton und bis {Gehn vorbei.) a. 51.
nacbgetr. H | 35 Sie aus sie H | 36 a. 5t. nac^getr. H.
(5. 38. 14 {Geht das nicht lustig?} Mute H; ogl. Lesart 3722
bis 27 I 19 {Gehn ab.) fe^It H.
6. 39. 7 sie gezerrt über {das Ding gezogen} H ] 18 Gasse:
ach, die H; tDo!)I in R als nic^t ^inpa[[enb ge[tr. | 28 bekom-
men. {Der Unterschied zw[ischen]} H j 29-33 DANTON. Und
die bis Bösewichtern. a. 5t. na(^getr. H.
S. 40. 4 {Sie wollen meinen Kopf.} Der {Sicherheits} Wohl-
fahrtsausschuß H 1 15 mich, {{er geht.)} H | 23 Narrheit [ftalt
Unsinn] DN [ 34 finster und (allein} einsam. {Ich machte}
{Nur} Ich allein H.
S. 41. 5 g{e}rad H | in den Kopf D — F | 7 könnte aus könnt'
H I 9f. als {lä[ge]} hätte ... gelegen H [ 13-16 Ich mag bis
nach einer Pause:) a. 5t. na(!)gelr. H | 19 kommt mir {'s}
manchmal {vor, als ob er noch kräftiger} die Hoffnung H I
24 für mich; {wir sind zwei} mir {ist das} gibt das Grab H |
30 aus der Entfernung H; tDol^I in R \6)m\ Ferne ] 32 {Ja in
Wahrheit} Eigentlich H [ 33ff. sagt: morgen und übermor-
gen und weiter hinaus D — F.
S. 42. 3 Wird aus Will H ! 14 ich sprach nicht {JULIE.
Du zitterst, Danton} das dacht ich H [ 30 und Europa
hat H I 32 vier. {Du} Ich H ) 33 siehst du. {Du sagtest}
Schrie's H.
S. 43. 6 Unter mir {stöhnte} keuchte H j 9 preßt' aus preßte
H I 9f. abwärts gebückt HF; gewandt tool^I 5^orre!tur Don
DANTONS TOD 673
R, um bie !IautoIogie 5U befeitigen | 11 f. und ich erwachte über
{das weckte mich} H j I6 stumpf a. 9?. für {schwach} H.
(5. 44. 1 nur ^ugef. H | 14 {auf} unter den Bett{en}deckenH.
S. 45. 3 sollen D — F | 13 wer aus welche H | so aus ich H |
20 könnten H; möchten als Defiöetatiü ftärfer unb mol)\ aus
R üon D— F übernoinmen.
S. 46. 5 daß es sich {heute} H | 8 Grundsätze {so} weit ge-
nug H I 16 habe aus hat H | 36 einflößen etngef. H | 37 Ge-
walt {einflö[ßen]i H.
5. 47. 1 nicht {ihr} eine H | 2 {sei} wäre H | 6 mich schrek-
ken aus mir Schrecken {einflö[ßen]} H | 9f. die Erinnerung
über der Gedanke H | 15 alle haben aus haben alle H | 17
keine Schar aus kein {Haufe} H | 20 Versammlung {auch}
H I 21 groß, {nur wenige Arme gewann das Verbrechen} H |
28 nicht {mehr} wohl H | 29 allgemeine geftr., a. 9?. n)ieber=
^oltH I Betrachtungen {über die allgemeinen Verhältnisse
der Natur und Geschichte} H | 31 Natur {selbst} und H
33 Veränderung H; too^I [c^on in R huxä) Änderung erfe^t, roeti
Veränderung 39 töieberfe^rt \ 39 bemerkbare {Modifikation}
Veränderung H.
6. 48. 3 die moralische Natur HF; ber roettere Segriff geistige
an biefer ©teile unb in unmittelbarem ©egenfa^ 5U physische tft
Stoeifellos beffer unb getotfe [(^on üon R eingefe^t | 12 an {der
Revolution} einer Seuche H i9wo {ihr] der Gang H der Ge-
schichte a. 9^. H 23 Verhältnissen {von der Natur} geschaffen
H I 33 wäre etngef. H 36 neuen { We[ndung]} Krümmung H.
S. 49. 1 verdorbne a. 9?. nad^getr. H ! 3 Gesetzgeber! a. 9?.
na^getr. H | 9 mit urkräftigen Gliedern aus urkräftig H |
sich erheben a. 9i. H [ 12 Feinde a. 9?. für {Freunde} H.
17 DRITTER AKT fe^It NF; cgi. ßesart 68 10 ff.
S. 50. 3 das Wesen oerb. aus den Begriff H ] 6 daß sie {dem-
nach auch} dem H j 7 sich {haben} oder H | 10 bas 3U)eite
danke a. 9?. nac^getr. H [ iif. Schöpfung nun ewig PD | I6
Philosophen P — F | 17 aber Sie müssen mir zugestehen a.
9?. na^getr. H ] 20 {oder} lebendig H | werden {kann} oder
H I 29 ebensowenig über weder H | 30 er es a. 9i. für er's H.
(5. 51. 6f. rühren und schütteln P — F | 10 versenkt aus zu
versenken strebt H | 11 sie müsse {über} H | 18 dann allein
könnt ihr aus und ihr könnt H | 22 Das über Dies H | 29 aus
Gott. {Ein schöner Cirkelsch[l]uß, der sich selbst im
Hintern leckt. {-H | 3i doch 3Ugef. H ; 35 und {wehre} ver-
teidige H I 36 so äUgef. H | 38 verachten {oder hassen} zu
müssen H.
BÜCHNER 43.
674 LESARTEN
6. 52. 1 a. 9?. 3ugef. H | 5 freilich über {aberj- H | 16 werden
hereingeführt a. 9?. na^geti*. H j 17 und umarmt ihn na^gelr.
H I 18 sollte aus sollt' H | 29 LACROIX bis gesagt? a. ^.
na(i)getr. H | 37 hübschen über { allerliebsten } H.
S. 53. 3 kannst über {wirst} H | 4 lecken über {wischen} H |
32 halten über {fallen} H.
(5. 54. 6 {Prächtig!} Das muß gehen H | 9 Das ist [für Es
ist] P— F I 12 daher a. 9?. für {er} H | 28 DAS LUXEMBURG
H — F; geänbert in DIE CONCIERGERIE, loeti bie Sjene nad^
bem benu^ten Stiers f)ier fpielt unb au(^ nur [o bes ßactoti (£r=
[taunen über so viel Unglückliche in einem so elenden Zu-
stande (5431 f.) erflärbor ift, benn im i!uiemburg ift ßacrotje [d)on
S. 52 f. getoefen^ | 34 Schlachtbank ist P— F.
5. 55, 7 ihre aus die H 14 jetzt flati grade H; mo\)\ |cI)OU in R
geänbert, röeil bereits 13 jetzt oorfommt | 17 die Unschuldigen
aus Unschuldige H Unschuldige P — F (Jlüdforreftur oon R?)
27 mein Namen H | 31 Ludwigs XVII. P— F.
(5. 56. 7 Verbrecher: lies Verbrechen | 10 mit welcher aus
mittelst der H | ii oft {die Frei} für die Freiheit H I 19 Stirne
aus Stirn H | 22f. gesessen zu haben P~F | 39f. {{Zeiche\n\\
Wiederholte Zeichen von Beifall) a. 5K. H.
6. 57. 10 hervorkriechen aus hervorgehn H | 20 {Lauter Bei-
fall) a. 5i. H i 35 Zeigt über {scheint} H.
6. 58. 4 {Sie zi} Nein, sie zieht H | 7 Da aus Das H | 9
schwanken H; roo^I [c^on in R üetb. S(i)reibfe^ler | 13 von Zeit
zu Zeit a. 5^. für {zuweilen) H | 17 lägen aus liegen H liegen
P— F I 35 \heiseite\ fe^It H— D.
S. 59. 1, 8, 19 \beiseite\ fe^lt H— D | 9 Schufterei H; bie [tariere
allg. £esart roo^l nac^ R | 10 versuchen über {probieren} H
16 es über {eine Sache} H.
S. 60. 1 appellieren P — F | 12 die feine Aristokratie H; bie
belfere allg. £esart löo^I R entnommen | 26 ihre über {unsere}
H I 26 f. aber {lassen wir sie} {bleiben die Angeklagten}
bleibt Danton am Leben, {wird Danton} so wird er H
28 die Freiheit {sogar} H | 29 Just fe^lt H.
S. 61. 8 sterben über {stirbt} H j 9 oder am Krebs fe^It
P_N I 10 f. Tarquinius a. 5?. für {König} H | 13 hegt P— D !
14 Sargdeckel. {Die Antwort ist leicht,} Sie sitzt H | I6f.
[Schließer ab.] fe^it H— F | I8 gesagt {, Collot}. Aber Collot
H I 20 sich etngef. H j 21 macheu hinter { sein j H j 26 Zimmer
^ 5Ö9I. 3o&eI 0. 3ö^ßI^^Ö- ®- ^-Büi^ner. Sein ü^bun unb fein
Sd)affen. 23onner gorjc^ungen, JBb.VIlI, S. 51.
DANTONS TOD 675
über {Gefängnis! H | 34 habe aus hab H j 35f, die Bestür-
zung über das Benehmen H.
3. 62. 21 {mit Pathos) na(^getr. H | 3i kämpfen {mit} nicht
mit H I 34 {Bis} Robespierre H.
6. 63. 11-19 Strahlen bis Collot ah.) q. 9^. nad)gclr. H ^ | 13
Nächstens J kann er es aus seinem Futterale ziehen und es
als Zöpfchen über den Rücken hängen lassen | werden die
niedhchen Finger der H | 22 Zunge über { Lippen }H j 29 setze
l^tnter {dränge} H 30f. nur {etwas} mit etwas H 35 f. Komm
bis Futter! a. %. nac^getr. H ; 36 bi, bi, bi fe^It P — N | 38 ge-
wiß. {Komm, mein Gewissen, wir vertragen uns noch ganz
gut} H.
S. 64. 8 einem H | 10 so {ganz} in allen H [ 12 gesagt '{wird}
und wie {er} dann H | 20 CAMILLE. Da liegen H; Und
dann tDO^I !^vi\a^ Don R, um bie "ikrbtnbung mit bem Sorl^er*
(je^enben ^er3U[lenen I 22 Fibern a. 5?. für {Gliedern} H.
S. 65. 6 {Es lau} Das lautet H | es ist aus 's ist H | 17 or-
ganisiertere über {kompliziertere} H 21 einsam über {allein}
H I 25 sterben. 1 Wir sind noch nicht geschlagen,} H | 27
f)tnter reißen, mit neuer ^t\U {LACROIX. Wir müssen auf
unserer Forderung bestehn, unsere Ankläger und die Aus-
schüsse müssen vor dem Tribunal erscheinen. DANTON}
H 2 j 31 fordern über (verlangen} H | 36 Nun rasch P — F.
©. 66. 10 Fouquier i tritt ein}, Amar, Voidand treten ein H j
I9f. versucht haben, {befiehlt der Ko} wird das Tribunal
{berechtigt} ermächtigt H | 22 Gesetze über {Tribunal} H.
5. 67. 1 welchen über {denen} H | 17 und Samson ein
schlechter Bäckerknecht a. 5^. nad^gclr. H | 20 wieder fef)It
P— F ! 24 die ihn P— F.
6. 68. 2 es geftr. u. toieberf)erge[t. für 's H | 3, 4f. hat es aus
hat's H.
loff. [VIERTER] AKT: 5n H (Sg. 18, 6. 1) [te^t III Akt,
offenbar ein glü(^ltg!eil5fel)ler, 'ba es fc^on Sg. 12, S. 4 (S. 49
btefer ?Iusg.) III. Act Reifet. 9Iuf neuer 5?etf)e folgt bann in
H bte Ssene EINE STRASSE, barauf erft ber auftritt Julie,
ein Knabe, bem bie Ortsbejcic^nung EIN ZIMMER fe^Il; aber
a. 9^. [te_{)t re^ts untert)aib ber 3eile EINE STRASSE: —2, auf
ber näc^jten 6ette a. 5?. linfs unterhalb ber 3eile Julie, ein Knabe:
1 Diefer inmitten eines Sa^es beginnenbe 5?anbna(^trag oerrät,
halß Süc^ner ni^t fortlaufenb gcfd)rieben, [onbern ein5elne Partien
3unä(^[t ausgelaffen unb für fie nad) ©utbünfen ^la^ gelaffcn ^at. —
2 Die geftr. 2Borte finb entbe^rlirf), ha t^r 3n^alt 65 31 unb 66 5f.
roteberfc^rt.
676 LESARTEN
1.— 5um 3^^^Tt, ha^ bte beibcn Svenen umgelc^rt folgen [ollcn.
— Die R am nädiftcn [le^enben PD ^aben teilte neue ^Übejeid)^
nung unb bringen bie beiben Sjenen in ber urfprüngl. 5^ei^enfoIge:
erjt EINE STRASSE [GASSE bei D] unb bann ben 3ulie=mf^
tritt, nur in D mit ber Ortsbejcic^nung EIN ZIMMER oerfe^en.
2Bie 2722, refp. 3226 [cEjeint :^ier bie ^fteintetlung tDilüürlii^ üon
PD geänbert 5U [ein, ujo^I roeil [i(^ ber Einfang bes oietten 5l!tes
unmittelbar an bie üor^ergef)enben Sjenen an[d)Iiefet; unb toeil bie
Slra^en= ober (5a[[en[3ene oom bramaturgifd^en Stanbpunft au?
[i(^ bem 5tuftritt cor bem ^uftijpalaft am leic^teften anreihen lä^t,
toirb [ie (Su^totö oorangeftellt ^aben, [o inftinttio auf bie urfpr.
Ssenenfolge oonH gurüdfommenb. — NF enblirf) ^aben ben SdE)reib'
fe^^Ier III Act in H ernft genommen unb too^I barauf^in ben 5tft=
ein[(f)nitt S. 49 befeitigt; im übrigen polten \\ä) NF an bie enb=
gültige gaffung oon H, nur ba^ [ie bie Ortsbegeid^nung EIN ZIM-
MER Don D übernef)men j 12 Julie, ein Knabe unter \Lucile,
ein K\ H | 14 ^inter Geh! groei geftr. unlesbare 2Borte, oielleit^t
^mein Junge: H ] habe aus |hab'; H | 29 ist es aus ist's H.
6. 69. 4 DUMAS lints a. ^.H j 6 Vaterlande aus Vaterland H ,
15 sich {ordentlich} wirklich H | 17 nießen D— F ) 26 es ist
aus 's ist H I 35 — 70 1 die Hände nicht bis unlöschbar {, ist
das Vestafeuer in der Natur} a. 9?. für {das nicht.} Unmög-
Hch! H.
S. 70. 3-6 würde wie Tau bis murmeln a. 5?. nad^getr. H^ i
3 funkeln über {hängen} H [ 4f. Quellen {würden} H | 7 so
eingef. H | 8 elend über > erbärmlich} H | 18 schiebt über
{drängt} H | 19 so eine P — F | 27 uns {ja} sonst H | 37 ist's
geftr. u. tDieberf)erge[t. für es ist H | 39 — 71i Freihch, wir bis
zur Windel a. 5R. für {Freilich, die Mutter {putzt uns den
Hintern und gibt uns einen Schluzzer [Schlupper?] mit
Sand} {nimmt uns in ihren} legt uns an ihre Brust und
deckt uns zu} H.
(5. 71. 1 wird es aus wird's H | 4-7 Camille! bis streifen a.
$R. na^getr. H | 6 ihm nicht aus nicht ihm H | 9 gehn, {das
ist ein Trost,} ich danke H | hätte ich aus hätt' ich H | 12
Lichtstrahl aus Strahl H | 15 Aug aus Auge H | 16 sie {alle}
abträufelten H | 23 Ach du {?}, du, so o halt mich, {schrei}
sprich, du! H.
e. 72. 9 mich eingef. H | 31 | Narr, ; Wer ist H.
(5. 73. 5 {Dasj Ja, das H | 11 Karren über Wagen H | 24 an-
dre aus andere H | 25 {Aber} Leise H | 26 Der Mond bis
^ Sßieber ein Seroeis, baß S. nid^t fortlaufenb ge[(^rieben f)at
DANTONS TOD 677
warten am '\^ü^ ber Seite nac^gctr. H [ 28 Das ist zu arg für
den Spaß aus Für den Spaß ist's zu arg H | 34 mir's aus
mir es H mir es P— F | 37 (le^tc 3eile) a. 9^. nac^getr. H.
(5, 74. 14 lasse aus verlasse H | 19 wäre es aus war' es H |
die Dor gesunde Vernunft a. 5R. 5ugef. H | 37f. für {sie findet}
unsere Kinnbacken findet H.
S. 75. 5 Ist es aus Ist's H | 6f. [Für siciq fehlt H— D | 15
nichts an. {Du sitzest nicht • am Fenster,' H | 23 den {ural}
einen uralten H | 25 alle sind aus sind alle H \ 32 schneiden
über {ziehen} H | 34 Tische aus Tisch H | 35 vor das aus
vor's H I 36 wie es aus wie's H.
<3. 76, 1 uns {zus} beieinander H j 2 nichts {Dummres}
dummer H | 3 {wenn's} w^enn H | was nad^trägl. jugef. H |
8-10 Es ist nicht so übel bis Schatten wirft a, 9?. nac^getr. H |
10 Was {brauchen} sollen wir uns zerren über {Da braucht
man sich untereinander zu zerren?} Dann folgt: {Die Toga,
worin ich mich wickle, ist kein so übles Pflaster. 'S ist
wenigstens ebensogut, als wenn ich sie von mir würfe
und die nackten Wunden zeigte.} H ] 10-13 Ob wir uns nun
bis lecken lassen a. 9?. für üor^erge^enbe geftr. ©teile nac^trägl.
eingefe^t H | 14 Meine Freunde nac^trögl. 5Ugef. H | I6f. das
Augen H | 17 [nur} von einigen H ] 17-20 Linien erfüllt bis
Harmonien sind a. 5?. H | I8 haben. {Glaubt mir,} Es gibt
H I für {das} welches das H | 19 Strom über Quell H | 22
denn fe^It H; tDof)I [(f)Dn in R 3ugef. 1 23 welche über {die} H |
nur da nac^trägl. 5Ugef. H | 36 f. ewig {über} am H.
S. 77. 4 {legen} ziehen wir H legen wir P— F; legen offenbar
f^on inR loiebereingefe^t | 5 unter welcher? — F | 14 möchte
ich aus möcht' ich H möcht ich P — F j 17 Es ist aus 's ist
H I 20 scharf über { grell ; H 31 {Die Guillotine) Die Wagen H.
(5. 78. 9 auf euch {gefallen} oder ihr H | 13 gibt über \zu)
H I Geld 3ugef. H | 30 bittrer über {härter} H.
S. 79. 7 Ernst daran P—F 11 , der Vogel 5ugef. H | iif. nicht?
{Ich meine} Der Strom H | 16 so so, aI[o jroeimal, am (£nbe
u. am 5Infang je einer l^tWt H [ I8 mich auf den Boden setzen
und a. 9?. nad)getr. H j I9f. mehr regt a. 9?. H ] 22 hilft {alles}
nichts H | da ist aus das ist H das ist P — F | 23 geht {noch}
H I ziehen aus ziehn H.
S. 80. 20 {gesungen hast} sangst H 25 EIN a. 9?. H 26f. {sin-
nend bis plötzlich) fe^ItH; roo^I in R [(^on jugef., febenfalls jur
9J^otiDierung unentbehrlich.
) 678 c
LENZ (S. 81—108).
Die Originalhandschrift existiert nicht mehr; vgl.
Franzos a. a. O., S. 240.
T: erste Veröffentlichung durch Gutzkow, der das Manu-
skript aus Büchners Nachlaß durch Minna Jägle erhalten
hatte,! in dem "Telegraph für Deutschland" 1839, und zwar
in den Januar-Nummern 5, 7 — 11, 13, 14; Gutzkow wählte
den Titel "Lenz. Eine Reliquie von Georg Büchner" und
gab ein kurzes Geleit- und Schlußwort dazu.
N: nur ein Nachdruck von T, unter dem neuen Titel "Lenz.
Ein Novellenfragment". Sinnlose Lese- und Druckfehler
von T druckt N getreulich nach, bringt auch noch neue
hinzu, korrigiert aber auch wiederholt solche Fehler und
füllt vor allem mehrere Lücken aus, die, mögen sie nun
schon in Büchners Entwurf gestanden haben oder erst
durch T verursacht sein, durchaus nicht vom Stil der Er-
zählung bedingt, mithin vom Dichter gewollt sind, son-
dern sinnstörend wirken und also beseitigt werden muß-
ten. In diesen Besserungsfällen folgt der Text unserer Aus-
gabe N, lehnt aber seine Versuche, auch sonst den Stil zu
glätten und zu modernisieren (verhochdeutschen), ab.
Auch im Gebrauch der Elision und Apokopierung des e
verfährt N, wie eine Vergleichung seines Danton-Textes
mit der zugrundegelegten Danton-Handschrift erhärten
würde, durchaus willkürlich, so daß seine Varianten in
dieser Beziehung weder hier noch anderswo berücksichtigt
zu werden brauchten; wo hingegen unser Text bezüghch
der Elision und Apokopierung vom Erstdruck abweicht,
ist dies durch Angabe seiner betreffenden Variante ver-
merkt worden.
O: ein tagebuchartiger Bericht des Pfarrers Oberlin über
Lenzens Besuch in Waldbach, von August Stöber zuerst
in der "Erwinia" 1839, dann nochmals in seiner Monogra-
phie "Der Dichter Lenz und Friedericke von Sesenheim",
Basel 1842 (S. n— 31) veröffentlicht. Zu diesem zweiten
Abdruck merkt Stöber in einer Fußnote an (S. 11): "Dieser
. . . Aufsatz bildet die Grundlage der leider Fragment ge-
bhebenen Novelle 'Lenz' meines verstorbenen Freundes
Georg Büchner. Er trug sich schon in Straßburg lange
1 Vgl. Gutzkows Briefe an Minna Jaegle, Euphorion 1897,
Ergänzungsheft 3, S. 191.
LENZ 679
Zeit mit dem Gedanken, Lenz zum Helden einer Novelle
zu machen, und ich gab ihm zu seinem Stoffe alles, was
ich an Handschriften besaß." O ist dem Dichter also hand-
schriftlich durch August Stöber benutzbar gewesen und
hat ihm in der Tat die stoffliche Grundlage für seine Er-
zählung geliefert; und da Büchner dieser Quelle in der
Wiedergabe direkter Reden und auch sonst oft wortgetreu
folgt, so konnte sie an mehreren Stellen, wo der über-
lieferte Text verderbt ist, zur Revision mit Erlolg her-
angezogen werden.
Was die Interpunktion und Absatzteilung betrifft, so ist
auch hier auf die Wiedergabe der Überlieferung verzichtet
worden. Am 'Lenz' ist wohl öfters gerühmt worden, daß
selbst die Diktion dem Charakter des Gegenstandes natu-
ralistisch angepaßt sei, aber die abstruse Satzteilung, die
der Übersichtlichkeit entbehrt und die logische Gliederung
oft vermissen läßt, kann damit nicht erklärt werden.
Wenn z. B. die Überlieferung des 'Lenz' bis 8614 über-
haupt keinen Absatz bringt, so ist das nicht kunstgewollt,
sondern eine Folge der Gewohnheit des Dichters, seine
Entwürfe mit kleiner Schrift auf wenigem Papier nieder-
zuschreiben und deshalb möglichst an Raum zu sparen.
Ebenso ist die überlieferte Interpunktion nur das flüch-
tige Hilfsmittel einer ersten Skizze und nicht als sakro-
sankt anzusehen.
S. 83. 1 Härtung fe^lt TN: bte Eingabe bes 9Jionat5 ift, mag
aucf) ber genie^enbe £e[er auf bic ^tftonf(^e ^J'^^ietung bes Saures
feinen 2Bert legen, 5um a5cr[tänbm5 ber l'anbfc^nftsfttmmung faft
unentbehrlich; au^erbem [eljt bic gjionateangabe 99 11, i3 ooraus,
hü^ ber £e[er mit ber Sa^resseit, in ber bas 23or^erge[)enbe fpielt,
befannt gemacht ift. O beginnt [einen 3:agebu(^berid)t oon fienj
alfo: "Den 20. Januar 1778 fam er f)ierf)er."
S. 85. 6 Freund von ... TN; O ^at Freund K.s | 13 f. ruhig
durch das N.
S. 86. 9 stand vor ihm fe^lt T.
8. 87. 39 unaufhaltsame: Diellei(^t ein £e[efe^Iet (öu^toios; man
ertoailet unsichtbare.
e. 88. 6 dies Sein T.
S. 89. 1 oben, als N 4 Gesangbuche T [ 27 schloß, da TN |
36 bückten sich über ihm aus TN: [innlos; S^onfeftur nieder
auf C^runb oon 530 33 f., wa^rfc^cinlid) [tanb "nieb" im 9Jknuffrlpt.
S. 90. 4 xMitleid in sich T , 13 Kleide T | 33 fühlte und
lebte N.
68o LESARTEN
S. 91. 16 und l^tnter Träume fe^Il N | 27 Auch war es Alles
notwendig T.
S. 92. 4 daß Was geschaffen sei TN | lo wolle T | 24 bie bet=
ben und cor das unb ein fehlen N.
S. 93. 36 verändert : anä) unverändert gäbe Sinn unb pa^te
beffer in ben 5l^i)i^mus I 37 zerstreut N.
S. 94. 6 sprach Lenz N | 7 über den Reden TN: fiefefe^let
22 bas 3ioette weg fef)It TN: wegen bes folgenben mit den zwei
Worten zugefügt | 24 rufen T | 30 Kann er mir geben? TN:
Die ^nltDort Unmöglich! mad)t \o\ä)e grage [tnnlos, r)tellet(^t
"mir" [tatt "me^r" gelefen.
S. 95. 10 dessen Abreise N | 14 sich ^tnter Täler fe^It N
27 finster Abend TN.
S. 97. 8 Rufe T I 19 er spürte fe^It T.
S. 98. 13 Sehen TN j 14 gehn T | 25f. als war ihr T.
S. 99. 3 drängte es in ihn T | ii f . sei gestorben, das Frie-
derike hieß I)at O, unb biefer 3u[a^ ^[* 3ur CSrüärung ber "fixen
3bee" faft unentbe^rlt(^.
S. 100. 11 lagen fel^ItT | 2i Zustande T [ 24 f. die Sünde und
der heilige Geist TN: [innlos; bie §anb[(i)rift ^atte offenbai
"iDtb", nic^l "unb" | 25 standen N.
S. 101. 10 f. ach sie ist tot! TN: neben ber folgb. <^rage [tnn=
los; bie ^tet abgef^rtebene Quelle O f)at "51^! i[t [ie tot? £ebt
[te noc^?" 1 11 Du Engel TN: aus Süc^ners §anb[d)rift erflär=
batet £e[efe^let; au(^ O ^at "Det (Engel, [ic Hebte m\ä) —" | 12 o
du Engel TN ("0, ber ©ngel" O) | 15 ich bin ein Mörder TN:
ßefefe^Iet {an6) O l^at "euer").
S. 102. 8 wußten TN | 17 alle Figuren TN: [innlos | auf die
Wand N [ 38 Tür T.
6. 103. 5 wollte T (O "möc^t i^'s" — aI[o : wolle er) | 8 Seba-
stian Scheidecker fe^It TN; bie aus O ^errü^tenbe Krgänjung
nottoenbtg, roeil ^ernai^ bet 9}otname als bc!annt ootausgefe^t
tDttb I in Bellefosse T von Bellesosse [!] N (O: "Sebafttan
S(f)etbedfet, Sd)ulle^tet oon ©ellefoffe") | I8 der auf dem Grabe
stehenden Blume T den auf dem Grabe stehenden Blu-
men N; 5lDnie!tur nai^ O : "ber auf bem ©tabe fte^enben Ätone" |
26 Mittel fel)It am 6eitenenbe N | 28 seine Brüder T (O "feinen
23tubet SRaitin") | 30 weiter ftatt wacker TN: £efcfe^ler; O
^at "toadet" | 31 an dem Dorfe T | 32f. Die Männer setzten
ihm nach, fe^lt N | 36 der fe^It T | 38 Drängen N.
S. 104. 21 dann [tatt sodann N | setzen. Siehe die Briefe.*)
mit ber tjufenote *) Büchner scheint hier echte, nicht gedich-
tete, zu verstehen. TN: Sü(^net toirb jenen ^inroeis auf fien=
l.ENZ 68 1
Sens Briefe nur fic^ jelbfi gema(^t ^aben, um üiclletc^t nod) Stellen
baraus ctnjufügen,^ [o ba^ alfo biefer 9?egieDermer! aus ber Ccr^
3ä^Iung toegbleiben mu^ | 28 nicht fe^It TX, roobur^ ber Sinn
ins ®egcnteil oerte^rt roirb.
S. 105. 8 verwirrte sich selbst N | lo Geist T | 15 das er ge-
rade im Sinn hatte fe^It T | 20 hinunter N | 28 zuvor die
noch schreckUche T 1 37 rief T.
S. 109. 4 bestände N i 8 etwas N | 15 denn \taii dann T |
25 ihm fe^It N | 28 wäre, und ich T | 30 Ruhe und schlafen
können T | 36 im Tod T | 39 AugenbHcke, wenn T.
S. 107. 6 versetzte T | 9 bewegt fef)It T j 12 empfände T
17 Bellesosse X | 20 nicht zurück zu gehen TX^: [innlos; emen=
biert auf ©runb oon O "5(^ hat \\)n, md)t roeit ju ge^en" | 21 Weg-
gehenT 22nahT 27SeitdemX 32hinauf X(0 ^at auc^ "^er=
auf") 35 Falle TX (O "gall") 36 zitternd, barunter S^Iu^ftri^
unb neuer 5lb[a^ T zitternd ... mit glcid^em S^Iu^ftri^ u. ^b»
[a^ X'. Ob bie [0 bejei^nete Qüäi [c^on im Original oorlag ober
crft bur(^ 25erluft eines SO^anuffriptteils entflanben i[t, lö^t fid) ntd^t
me^r entfc^eiben; bo^ fprt^t für bie gtüeite aiZögli^feit ber Hm=
ftanb, ha)^ bie (Srjäfilung mitten im Sa^e abbricht. — Um bem
£e[er bte £üde roenigftens in^altlid) ausjufüllen, fei f)fer ber be=
treffenbe Sßortlaut aus $Bü(^ners Quelle roiebergegeben:
Die Kindsmagd kam todblaß und am ganzen Leibe zitternd zu
meiner Frau: Herr L. hätte sich zum Fenster hinausgestürzt.
Meine Frau rief mir mit verwirrter Stimme — ich sprang her-
aus, und da war Herr L. schon wieder in seinem Zimtner.
Ich hatte nur einen Augenblick Gelegenheit, einer Magd zu
sagen: "Vite, chez l'homme jure, qu'il me dornte deux hommes",
und hierauf zu Herrn Lenz.
Ich führte ihn mit freundlichen Worten auf mein Zimmer; er
zitterte vor Frost am ganzen Leibe. Am Oberleib hatte er nichts
an als das Hemd, welches zerrissen und samt der Unter-
kleidung über und über kotig war. Wir wärmten ihm ein Hemd
und Schlafrock und trockneten die seinigen. Wir fanden, daß
er in der kurzen Zeit, die er ausgegangen war, wieder mußte
1 ^u(^ O überliefert: "(£r fc^rieb einige 23riefc, gab mir fie fobann
5U, mit Sitte, i(i) möchte no^ felbft einige 3eilen barunter fe^en...
3n bem einen an eine abelige Dame in SB. LS^au d. Stein?] [d)ien
er \\6) mit ^bbabona 5U Dergleichen; er rebete uon 5lbfd)ieb... 3n
bem anbern, an bie 9J?utter feiner ©elicbten, fagt er, er fönnc i^r
bicsmal nid^t me^r fagen, als baß i^re ^^rteberife nun ein (£ngel
fei, unb fie würbe Satisfaltion befommen." (Erhalten f)at fic^ nur ein
Srief £en3ens aus 2Balbersba(^ an fiaoater, Dom 22.3enner 1778.
682 ]. ES ARTEN
versucht haben sich zu ertränken, aber Gott hatte auch da wieder
gesorgt. Seine Kleidung war durch und durch naß.
Nun, dachte ich, hast du mich genug betrogen, nun mußt du be-
trogen, nun ist's aus, nun mußt du bewacht sein. Ich wartete
mit großer Ungeduld auf die zwei begehrten Mann. Ich schrieb
indessen an meiner Predigt fort und hatte Herrn L. am Ofen,
einen Schritt weit von mir, sitzen. Keinen Augenblick traute ich
[mich] von ihm, ich mußte harren. Meine Frau, die um mich
besorgt war, blieb auch. Ich hätte so gerne wieder nach den be-
gehrten Männern geschickt, konnte aber durchaus nicht mit
meiner Frau oder sonst jemand davon reden: laut, hätte er's
verstanden; heimlich, das wollten wir nicht, weil die geringste
Gelegenheit zu Argwohn auf solche Personen allzu heftig Ein-
druck macht. Um halb neun gingen zvir zum Essen; es wurde,
wie natürlich, wenig geredet; meine Frau zitterte vor Schrecken
und Herr L. vor Frost und Verwirrung.
Nach kaum viertelstündigem Beisammensitzen fragte er mich,
ob er nicht hinauf in mein Zimmer dürfte? — "Was wollen Sie
machen, mein Lieber?'' ■ — "Etwas lesen.'" — "Gehen Sie in
Gottes Namen;'' — er ging, und ich, mich stellend, als ob ich
genug gegessen, folgte ihm.
Wir saßen; ich schrieb, er durchblätterte meine französische
Bibel mit furchtbarer Schnelle und ward endlich stille. Ich ging
einen Augenblick in die Stubenkammer, ohne im allergeringsten
mich aufzuhalten, nur etwas zu nehmen, was in dem Pult
lag. Meine Frau stand inwendig in der Kammer an der
Tür und beobachtete Herrn L.; ich faßte den Schritt wieder
herauszugehen, da schrie meine Frau mit gräßlicher, hohler
Stimme: "Herr Jesus, er will sich erstechen!" In meinem
Leben habe ich keinen solchen Ausdruck eines tödlichen,
verzweifelten Schreckens gesehen, als in dem Augenblick in
den verwilderten, gräßlich verzogenen Gesichtszügen meiner
Frau.
Ich war haußen. — "Was wollen Sie doch immer machen,
mein Lieber ?" — Er legte die Schere hin. — Er hatte mit scheuß-
lich starren Blicken umhergeschaut, und da er niemand in der
Verwirrung erblickte, die Schere still an sich gezogen, mit fest
zusammengezogener Faust sie gegen das Herz gesetzt, alles dies
so schnell, daß nur Gott den Stoß so lange aufhalten konnte,
bis das Geschrei meiner Frau ihn erschreclie und etwas zu sich
selber brachte. Nach einigen Augenblicken nahm ich die Schere,
gleichsam als in Gedanken tmd wie ohne Absicht auf ihn, hin-
weg; denn, da er mich feierlich rersichern wollte, daß er sich
LENZ 683
nicht damit umzubringen gedacht hätte, wollte ich nicht tun,
als wenn ich ihm garnicht glaubte.
Weil alle vorherigen Vorstellungen wider seine Entleibungs-
ver suche nichts bei ihm gefruchtet hatten, versuchte ich's auf
eine andere Art. Ich sagte ihm: ''Sie waren bei uns durchaus
ganz fremd, wir kannten Sie ganz und gar nicht; Ihren Namen
haben wir ein einzig Mal aussprechen hören, ehe wir Sie ge-
kannt; wir nahmen Sie mit Liebe auf, mtine Frau pflegte Ihren
kranken Fuß mit so großer Geduld, und Sie erzeigen uns so-
viel Böses, stürzen uns aus einem Schrecken in den andern."
Er war gerührt, sprang auf, wollte meiyie Frau um Verzeihung
bitten; sie aber fürchtete sich nun noch so viel vor ihm, sprang
zur Tür hinaus; er wollte nach, sie aber hielt die Türe zii. —
Nun jammerte er, er hätte meine Frau umgebracht, das Kind
umgebracht, so sie trage; alles, alles bring' er um, wo er hin-
käme.—"Nein, mein Freund, meine Frau lebt noch, ^md Gott
kann die schädlichen Folgen des Schreckens wohl hemmen,
auch würde ihr Kind nicht davon sterben noch Schaden leiden.''''
Er wurde wieder ruhiger. Es schlug bald zehn Uhr. Indessen
hatte meine Frau m die Nachbarschaft um schleunige Hilfe
geschickt. Man war in den Betten; doch kam der Schulmeister,
tat, als ob er mich etwas zu fragen hätte, erzählte mir etwas
aus dem Kalender, und Herr L., der indessen wieder munter
wurde, nahm auch teil am Diskurs, wie wenn durchaus nichts
vorgefallen wäre.
Endlich winkte man mir, daß die zwei begehrten Männer an-
gekommen— o wie war ich so froh! Es war Zeit. Eben begehrte
Herr L. zu Bette zu gehen. Ich sagte zu ihm: ''Wir lieben Sie,
Sie sind davon überzeugt, und Sie lieben uns, das wissen wir
ebenso gewiß. Durch Ihre Entleibung würden Sie Ihren Zu-
stand verschlimmern, nicht verbessern, es muß uns also an Ihrer
Erhaltung gelegen sein. Nun aber sind Sie, wenn Sie die Me-
lancholie überfällt, Ihrer nicht Meister; ich habe daher zwei
Männer gebeten, in ihrem Zimmer zu schlafen (wachen dachte
ich), damit Sie Gesellschaft und, wo es nötig, Hilfe hätten." Er
ließ sichs gefallen.
Der eine seiner Wächter durchschaute ihn mit starren, erschrok-
kenen Augen. Um diesen etwas zu beruhigen, sagte ich dem
HerrnL. nun vor den zwei Wächtern auf Französisch, was ich ihm
schon auf meinem Zimmer gesagt hatte, nämlich, daß ich ihn
liebte, so wie er mich; daß ich seine Erhaltung wünschte und
wünschen müßte, da er selbst sähe, daß ihm die Anfälle seiner
Melancholie fast keine Macht mehr über ihn ließen; ich hätte
684 LESARTEN
daher diese zwei Bürger gebeten, hei ihm zu schlafen, damit er
Gesellschaft und, im Fall der Not, Hülfe hätte. Ich beschloß dies
mit einigen Küssen, die ich dem unglücklichen Jüngling von
ganzem Herzen auf den Mund drückte, und ging mit zer-
schlagenen zitternden Gliedern zur Ruhe.
Da er im Bett war, sagte er unter anderm zu seinen Wächtern:
"Ecoutez, nous ne voulons point faire de hruit, si vous avez un
couteau, donnez-le moi tranquillement et sans rien craindre."
Nachdem er oft deswegen in sie gesetzt und nichts zu erhalten
war, so fing er an, sich den Kopf an die Wand zu stoßen.
Während dem Schlaf hörten wir ein öfteres Poltern, das uns
bald zu- bald abzunehmen schien und wovon wir endlich er-
wachten. Wir glaubten, es wäre auf der Bühne, konnten aber
keine Ursache davon erraten. — Es schlug drei, und das Poltern
währte fort; wir schellten, um ein Licht zu bekommen; unsere
Leute waren alle in fürchterlichen Träumen versenkt und hatten
Mühe, sich zu ermuntern. Endlich erfuhren wir, daß das Pol-
tern von Herrn L. käme und zum Teil von den Wächtern, die,
weil sie ihn nicht aus den Händen lassen durften, durch Stamp-
fen auf den Boden Hilfe begehrten. Ich eilte auf sein Zimmer.
Sobald er mich sah, hörte er auf, sich den Wärtern aus den
Händen ringen zu wollen. Die Wärter ließen dann auch nach,
ihn festzuhalten. Ich winkte ihnen, ihn freizulassen, redete mit
ihm, und auf sein Begehren, für ihn zu beten, betete ich mit
ihm. Er bewegte sich ein wenig, und einmal schmiß er seinen
Kopf mit großer Gewalt an die Wand; die Wächter sprangen
zu und hielten ihn wieder.
Ich ging und ließ einen dritten Wächter rufen. Da Herr L. den
dritten sah, spottete er ihrer, sie würden alle drei nicht stark
genug für ihn sein.
Ich befahl nun insgeheim, mein Wäglein einzurichten, zu dek-
ken, noch zicei Pferde zu suchen zu den meinigen, beschickte
Seb. Scheidecker, Schullehrer von Bellefosse, und Johann David
Bohy, Schullehrer von Solb, zween verständige entschlossene
Männer und beide von Herrn L. geliebt. Johann Georg Claude,
Kirchenpfleger von Waldersbach, kam auch; es wurde lebendig
im Haus, ob es schon nicht Tag war. Herr L. merkte was, tmd
so sehr er bald List, bald Gewalt angewendet hatte, loszukom-
men, den Kopf zu zerschmettern, ein Messer zu bekommen, so
ruhig schien er auf einmal.
Nachdem ich alles bestellt hatte, ging ich zu Herrn L., sagte
ihm, damit er bessere Verpflegung nach seinen Umständen
haben könnte, hätte ich einige Männer gebeten, ihn nach Straß-
LENZ 685
bürg zu hegleiten, und mein Wäglein stände ihm dabei zu
Diensten.
Er lag ruhig, hatte nur einen einzigen Wächter bei sich sitzen.
Auf meinen Vortrag jammerte er, bat mich, nur noch acht Tage
mit ihm Geduld zu haben (man mußte weinen, wenn man ihn
sah). — Doch sprach er, er wolle es überlegen. Eine Viertelstunde
darauf ließ er mir sagen : "Ja, er wolle verreisen, stand auf,
kleidete sich an, war ganz vernünftig, packte zusammen, dankte
jedem insbesondere auf das Zärtlichste, auch seinen Wächtern,
suchte meine Frau und Mägde auf, die sich vor ihm versteckt
und stille hielten, weil kurz vorher noch, sobald er nur eine
Weiberstimme hörte oder zu hören glaubte, er in größere Wut
geriet. Nun fragte er nach allen, dankte allen, bat alle um Ver-
gehung, kurz, nahm von jedem so rührenden Abschied, daß aller
Augen in Tränen gebadet stunden.
Und so reiste dieser bedauernswürdige Jüngling von uns ab,
mit drei Begleitern und zwei Fuhrleuten. [Set Oberltn f^lie^t
ber 23en^t bann:] Auf der Reise wandte er nirgends Gewalt
an, da er sich übermannt sah; aber wohl List, besonders zu
Ensisheim, wo sie über Nacht blieben. Aber die Schulmeister
erwiderten seine listige Höflichkeit mit der ihrigen, und alles
ging vortrefflich wohl aus.
S. 108. 7 Abends X | 9 Gebirges T | u Monds T | I8 mehre T
25 f. Last. So o^ne %h\a^ TN | 26 hin. T hin ... N. Cb ber
le^te Sa^ Don iBüc^ner felber ftamml? 5n T folgt mit neuem
^b[ü^ nac^ brei Sternen bas Sc^Iußroort, be||en erfter £a^ lautet:
"5Bi6 ^ief)er reid)t Sücfjners I)ar[tellun9". 3II|o ^at fd)Dn ®utj=
foro fein Sefrf)Iu6 Dorgelegen.
) 686 c
LEONCE UND LENA (S. 109-142).
hs : Vom handschriftlichen Original haben sich nur einige
Stücke des Entwurfs erhalten, deren Text unten im Zu-
sammenhang wiedergegeben wird. Es sind zwei Bogen
von je vier Seiten (hs^) und ein einzelnes Blatt (hs^). Das
Papier ist hier wie dort gleich: dünn, glatt, vergilbt, ohne
Wasserzeichen; Schreibheftformat. Auch ist hs^ wie hs^
mit derselben blassen Tinte beschrieben. Dennoch ist das
Schriftbild verschieden: hs\ wohl von Büchner selbst von
der zweiten Seite ab mit den arabischen Zahlen 1-7 pa-
giniert, ist trotz einer großen Einschaltung am Rande der
ersten Seite des zweiten Bogens eine sorgfältige Nieder-
schrift, mit breitem Rand von der dritten Seite ab; das ein-
zelne Blatt hs^ dagegen enthält, unpaginiert und ohne
Rand, in eihger, zuweilen unlesbar abgekürzter Schrift
Szenenfetzen, wie sie dem Dichter gerade eingefallen sind.
Man ist versucht, hs^ für älter als hs^ zu halten; dagegen
spricht aber, daß der Name für den Prinzen erst dort auf-
tritt, in hs^ offenbar noch nicht gewählt war.
T: Die erste, für den ersten Akt leider fragmentarische Ver-
öffentlichung durch Gutzkow, der das Manuskript von
der Braut des Dichters erhalten hatte,^ im "Telegraph für
Deutschland", 1838, und zwar unter dem Titel "Leonce und
Lena. Ein Lustspiel von Georg Büchner", in den Mai-
Nummern 76 80. Gutzkow leitet, ähnlich wie für den
'Danton', die Publikation mit ein paar Worten ein und
aus und gibt desgleichen den Inhalt des aus dem ersten
Akt nicht Mitgeteilten mit eigenen Worten ausführlich
wieder; auf den Abdruck dieser Referate konnte, da T
von N stark abweicht und jene Inhaltsangaben solche
Abweichungen auch für die ausgelassenen Stücke er-
kennen lassen, nicht verzichtet werden. Die Fassung
von T ist zweifellos die burleskere und daher wohl ältere
(s. u.); daß ihr Herausgeber, Gutzkow, für romantische
Ironie und Laune selbst nur geringes Verständnis be-
saß, geht nicht nur aus seiner lässigen Redaktion und
den Streichungen, sondern auch aus dem Schlußwort
hervor, worin er Büchners "bescheidenes Talent allen-
falls mit untergeordneten Kräften, etwa mit Achim v. Ar-
^ Vgl. Gutzkows Briefe an Minna Jaegle, Euphorion 1897,
Ergänzungsheft 3, S. 192.
LKONCE UND LENA 687
nim und mit Clemens Brentano" vergleicht, aber nicht
"die klassische Höhe eines Angely, eines Nestroy, einer
Birchpfeifer" erreichen läßt!
N: vermuthch eine zweite, den burlesken Ton etwas dämp-
fende Fassung, die aber unter Ludwig Büchners Hand
manche Änderung und Verstümmelung hat erfahren
müssen.
Die Verschiedenheit der beiden Fassungen T und N erklärt
sich wohl so, daß der einen die an Cotta anläßlich seines
Preisausschreibens für das beste Lustspiel gesandte und
wegen Verspätung unveröffentlicht zurückerhaltene Rein-
schrift zugrunde liegt, der andern hingegen die Revision,
die Büchner für den 1837 beabsichtigten Druck noch ein-
malvorgenommen zu haben scheint (vgl. S. 566 f.). Ein voll-
kommen einwandfreier Text läßt sich auf Grund so frag-
licher Überlieferung kaum geben. Für unsere Ausgabe ist
N zugrundegelegt und T nur herangezogen, wo Ludwig
Büchner aus Prüderie oder Unachtsamkeit gefehlt haben
könnte: hs kam für die endgültige Textherstellung nur ge-
legentlich in Betracht, seine Polizeidiener-Szene, die schon
T nicht mehr kennt und Franzos nur künstlich mit dem
Text von N vernieten konnte,^ mußte in die Lesarten ver-
wiesen werden.
[L Seile, 9JJ{tte:]
[2. S.:]
hsi
Vorrede.
Alfieri: e la fama.^
G o z z i : e la f ame ?
Personen,
[freier 9^aum;
mUU b. 2. S.:1
LAct.
O war' ich doch ein Narr!
Mein Ehrgeiz geht auf eine bunte Jacke.
Wie es Euch gefällt.
1 Was außerdem zur Wiederholung desselben Motivs (drei-
mahge Wiederkehr des Ideals von Rindfleisch im Munde
Valerios!) und zu der mit Recht beanstandeten Überlange
des ersten Aktes führte.
688 LESARTEN
I. Szene.
Ein Garten.
DerPrinz, {halb ruhend auf einer Bank) derHofmeister.
Prinz. Mein Herr, was wollen Sie von mir? Mich auf mei-
nen Beruf vorbereiten? Ich habe alle Hände voll zu tun,
ich weiß mir vor Arbeit nicht zu helfen. — Sehen Sie, erst
habe ich auf den Stein hier dreihundert fünf und sechzig
mal hintereinander zu spucken. Haben Sie das noch [3. S.:]
nicht probiert? Tun Sie es, es gewährt eine ganz eigne
Unterhaltung. Dann — sehen Sie dieße Hand voll Sand? —
{er nimmt Sand auf, wirft ihn in die Höhe und fängt ihn mit
dem Rücken der Hand wieder auf) — jezt werf ich sie in die
Höhe. Wollen wir wetten? Wieviel Körnchen hab' ich jetzt
auf dem Handrücken? Grad oderungrad? — Wie? Sie wollen
nicht wetten? Sind Sie ein Heide? Glauben Sie an Gott?
Ich wette gewöhnlich mit mir selbst und kann es tagelang
so treiben. Wenn Sie einen Menschen aufzutreiben wissen,
der Lust hätte als mit mir zu wetten, so werden^ Sie mich
sehr verbinden. Dann — habe ich nachzudenken, wie es
wohl angehn mag, daß ich mir auf den Kopfsehe. — O wer
sich einmal auf den Kopf sehen könnte! Das ist eins von
meinen Idealen. Mir wäre geholfen! Und dann — und dann
noch unendlich viel der Art. — Bin ich ein Müßiggänger?
Habe ich jezt keine Beschäftigung? — Ja es ist traurig...
Hofmeister. Sehr traurig, Euer Hoheit.
Prinz. Daß dieWolken schon seit dreiWochen von Westen
nach Osten ziehen. Es macht mich ganz melancholisch.
Hofmeister. Eine sehr gegründete Melancholie.
Prinz. Mensch, warum widersprechen Sie mir nicht? Sie
sind pressiert, nicht wahr? Es ist mir leid, daß ich Sie so
lange aufgehalten habe. {Der Hofmeister entfernt sich mit
einer tiefen Verbeugung.) [4. S.;] Mein Herr, ich gratuliere
Ihnen zu der schönen Parenthese, die ihre Beine machen,
wenn Sie sich verbeugen.
Prinz {allein, streckt sich auf der Bank aus). Die Bienen
sitzen so trag an den Blumen, und der Sonnenschein liegt
so faul auf dem Boden. Es krassiert ein entsetzlicher Mü-
ßiggang.— Müßiggang ist aller Laster Anfang. — Was die
Leute nicht alles aus Langeweile treiben; sie studieren aus
Langeweile, sie beten aus Langeweile, sie verlieben, ver-
heuraten und vermehren sich aus Langeweile und ster-
^ forrigtert aus würden.
LEONCE UND LENA 689
ben endlich an der Langeweile und — und das ist der. Hu-
mor davon — alles mit den ernsthaftesten Gesichtern, ohne
zu merken warum und meinen Gott weiß was dabei. Alle
dieße Helden, dieße Genies, dieße Dummköpfe, dieße Sün-
der, dieße Heiligen, dieße Familienväter sind im Grunde
nichts als raffinierte jNIüßiggänger. — Warum muß ich es
grade wissen? Ich bin ein elender Spaßmacher. Warum
kann ich meinen Spaß nicht auch mit einem ernsthaften
Gesicht vorbringen?— Der Mann, der eben von mir ging,
ich beneidete ihn, ich hätte ihn aus Neid prügeln mögen.
O, wer einmal jemand anders sein könnte! Nur 'ne Mi-
Valerio, halb trunken, kommt gelaiifen.
Prinz {faßt ihn am Arm.) Kerl, du kannst laufen? Mein
Gott, wenn ich nur etwas unter der Sonne wüßte, was mich
noch könnte laufend machen. [5. S.:]
Valerio {legt den Finger an die Nase und sieht ihn starr
an). Ja!
Prinz {eben so). Richtig!
Valerio. Haben Sie mich begriffen?
Prinz. Vollkommen.
Valerio. Nun so wollen wir von etwas anderm redend —
Ich werde mich indessen in das Gras legen und meine
Nase oben zwischen den Halmen herausblühen lassen und
romantische Empfindungen beziehen, wenn die Bienen
und Schmetterlinge sich daraufwiegen, wie auf einer Rose.
Prinz. Aber Bester, schnaufen Sie nicht so stark, oder die
Bienen und Schmetterlinge müssen verhungern über den
ungeheuren Prisen, die sie aus den Blumen ziehen.
Valerio. Ach, Herr, was ich ein Gefühl für die Natur habe.
Das Gras steht so schön, daß man ein Ochs sein möchte,
um es fressen zu können, und dann wieder ein Mensch, um
den Ochsen zu fressen, der solches Gras gefressen.
Prinz. Unglücklicher, Sie scheinen auch an Idealen zu
laborieren.
Valerio. O Gott! ich laufe schon seit acht Tagen einem
Ideal von Rindfleisch nach, ohne es irgendwo in der Reali-
tät anzutreffen.
1 X)as golgenbe bis in der Realität anzutreffen ift am 5?Qnbc
na^getragen; ba^er crflärt fid^, \>a^ bie [jenar. ^emerfung Er setzt
sich auf den Boden erft oiel [päter !ommt.
BÜCHNER 44.
690 LESARTEN
(er singt:) Frau Wirtin hat 'ne brave Magd,
Sie sitzt im Garten Tag und Nacht.
Sie sitzt in ihrem Garten
Bis daß das Glöcklein zwölfe schlägt
Und paßt auf die Solda-a-ten.
{Er setzt sich auf den Boden.) Seht dieße Ameisen, liebe
Kinder, es ist bewundernswürdig welcher Instinkt in
dießen kleinen Geschöpfen, Ordnung, Fleiß — Herr, es gibt
nur drei Arten, sein Geld auf menschliche Weise zu ver-
dienen: es finden, in der Lotterie gewinnen, erben oder in
Gottes Namen stehlen, wenn man die Geschicklichkeit
hat, keine Gewissensbisse zu bekommen.
Prinz. Du bist mit dießen Prinzipien ziemlich alt gewor-
den, ohne vor Hunger oder am Galgen zu sterben.
Valerio {ihn immer starr ansehend). Ja Herr, und das be-
haupte ich: wer sein Geld auf eine andere Art erwirbt, ist
ein Schuft.
Prinz. Denn wer arbeitet, ist ein subtiler Selbstmörder,
und ein Selbstmörder ist ein Verbrecher, und ein Ver-
brecher ist ein Schuft, also, wer arbeitet ist ein Schuft.
Valerio. Ja. — Aber dennoch sind die Ameisen ein sehr
[6. S.:] nützliches Ungeziefer; und doch sind sie wieder
nicht so nützlich, als wenn sie gar keinen Schaden
täten. Nichts destoweniger, wertestes Ungeziefer, kann
ich mir nicht das Vergnügen versagen, einigen von Ihnen
mit der Ferse auf den Hintern zu schlagen, die Nase zu
putzen und die Nägel zu schneiden.
Zwei Polizeidiener treten auf.
1. Poliz. Halt, wo ist der Kerl?
2. Po 1. Da sind zwei.
1. P. Sieh einmal, ob keiner davon läuft.
2. P. Ich glaube, es läuft keiner.
1. P. So müssen wir sie beide inquirieren.— Meine Herren,
wir suchen Jemand, ein Subjekt, ein Individuum, eine
Person, einen Delinquenten, einen Inquisiten, einen Kerl.
{Zu dem andern Pol.) Sieh einmal, wird keiner rot?
2. P. Es ist keiner rot geworden.
I . P. So müssen wir es anders probieren. —Wo ist der Steck-
brief, das Signalement, das Certificat? (2. Pol. zieht ein Pa-
pier aus der Tasche und überreicht es ihm.) Visiere die Sub-
jekte, ich will lesen: ein Mensch —
LEONCE UND LENA 691
2. P. Paßt nicht, es sind zwei.
1. P. Dummkopf! geht auf zwei Füßen, hat zwei Arme,
femer einen IMund, eine Nase, zwei Augen, zwei Ohren.
Besondere Kennzeichen: ein höchst gefährhches Indivi-
duum.
2. P. Das paßt auf beide. Soll ich sie beide arretieren? [7.S.:]
1 . P. Zwei, das ist gefährlich, wir sind auch nur zwei. Aber
ich will einen Rapport machen. Es ist ein Fall von sehr
krirain alischer Verwicklung oder sehr verwickelter Krimi-
nalität. Denn wenn ich mich betrinke und mich in mein
Bett lege, so ist das meine Sache und geht niemand was
an. Wenn ich aber mein Bett vertrinke, so ist das die Sache
von wem, Schlingel?
2. P. Ja, ich weiß nicht.
I. P. Ja, ich auch nicht, aber das ist der Punkt. (Sie gehen
ab.)
Valerio. Da leugne einer die Vorsehung. Seht, was man
nicht mit einem Floh ausrichten kann! Denn wenn es mich
nicht heute Nacht überlaufen hätte, so hätte ich nicht den
Morgen mein Bett an die Sonne getragen, und hätte ich
es nicht an die Sonne getragen, so wäre ich nicht damit
neben das Wirtshaus zum Mond geraten, und wenn
Sonne und Mond es nicht beschienen hätten, so hätte ich
aus meinem Strohsack keinen Wein keltern und mich dar-
an betrinken können, und wenn das alles nicht geschehen
wäre, so wäre ich jetzt nicht in Ihrer Gesellschaft, werteste
Ameisen, und würde von Ihnen skelettiert und von der
Sonne aufgetrocknet, sondern würde ein Stück Fleisch
tranchieren und eine Bouteille Wein austrocknen — im
Spital nämlich.
Prinz. Ein erbaulicher Lebenslauf.
Valerio. Ich habe einen läufigen Lebenslauf. Denn nur
mein Laufen hat im Lauf dießes [8. S.:] Krieges mein
Leben vor einem Lauf gerettet, der ein Loch in dasselbe
machen wollte. Ich bekam infolge dießer Rettung eines
Menschenlebens einen trocknen Husten, welcher den Dok-
tor annehmen ließ, daß mein Laufen ein Galoppieren ge-
worden sei und ich die galoppierende Auszehrung hätte.
Da ich nun zugleich fand, daß ich ohne Zehrung sei, so
verfiel ich in oder vielmehr auf ein zehrendes Fieber, worin
ich täglich, um dem Vaterland einen Verteidiger zu er-
halten, gute Suppe, gutes Rindfleisch, gutes Brot essen
692 LESARTEN
Prinz. Nun Edelster, dein Handwerk, dein metier, deine
Profession, dein Gewerbe, dein Stand, deine Kunst?
Valerio. Herr, ich habe die große Beschäftigung müßig
zu gehen, ich habe eine ungemeine Fertigkeit {nichts} im
Nichtstun, ich besitze eine ungeheure Ausdauer in der
Faulheit,
[(Ein T)nttel biefer legten 6ette t[t unbefc^neben.]
hs2
[23orber[ette; ogl. 125i3ff.:]
Gouvernante (weint). Lieber Engel, du bist ein wahres
Opferlamm.
Lena. Ja wohl, und der Priester hebt schon das Messer. —
O Gott, ist es denn wahr, daß wir uns selbst erlösen müssen
mit unserm Schmerz? Ist es denn wahr, die Welt sei ein
gekreuzigter Heiland, die Sonne seine Dornenkrone und
die Sterne die Nägel und Speere in seinen Füßen und
Lenden?
Gouvernante. Mein Kind, mein Kind! ich kann dich
nicht so sehen.— Vielleicht, wer weiß. Ich habe so etwas
im Kopf. Wir wollen sehen. Komm! {sie führt die Prin-
zessin weg.)
IL Act.
Wie ist mir eine Stimme erklungen im tiefsten Innern,
Und hat
Steh auf in deinem weißen Kleid und fwandl sch| schwebe
durch die Nacht und sprich zur Leiche, steh auf und wandle.
Lena. Die heiligen Lippen, {so} die so sprachen, sind
längst Staub.
Leone. O nein, {von 2}
[%o.\\ bie §älfle biefer Seite ift unbe[(^rieben.]
[5Rüd[ette; ogl. S. 133 soff.:]
Val. Heiraten?
Prinz. Das heißt Leben und Liebe eins sein lassen, daß die
Liebe das Leben ist, und das Leben die Liebe. Weißt du
auch, Valerio, daß auch der Geringste so groß ist, daß das
menschliche Leben viel zu kurz ist, um ihn lieben zu können?*^
^ 3m 93lanu[frtpt ein Slreuj, gum 3^^^"» ^0^ bie ujeiter unten
ebenfo maxfierte (£tn[cf)altung angefügt roerben [oll.
LEONCE UND LENA 693
Valerio. Ja, nur [?] ich denke, daß der Wein noch lange
kein Mensch ist und daß man ihn doch sein ganzes Leben
lieben kann. Aber weiß sie auch, wer Sie sind.
Leo nee. Sie weiß nur, daß sie micht hebt.
Val. Und wissen Sie auch, wer sie ist?
* Und dann kann ich doch den Leuten das Ver-
gnügen gönnen, die meinen [?], daß [?] nichts so
schön und heilig sei, daß sie es nicht noch schöner
und heiliger machen müßten. Es liegt ein gewisser
Genuß in d. Meinung [?], warum sollt' ich ihn ihnen
nicht gönnen.
Leonne^ Dummkopf! Sie ist so Blume [?], daß sie kaum
getauft sein kann, eine geschlossne Knospe, noch ganz •
von Morgentau u. d. Traum d. Nachtzeder [Nachtnebels?].
Val. Gut, meinetwegen [?]. Wie soll das gehn? Prinz, bin
ich Minister, wenn {Euer H} Sie heute vor Ihrem Vater mit
d. Unaussprechlichen, Namenlosen kopuliert werden?
Leonne. Wie ist das möglich?
Val. Das wird sich finden, bin ich's?
Leonne. Mein Wort.
Val. Danke. Kommen Sie.
Die Überlieferung oonTN
S. 110. -2 Po-Po T I 4 vom Reiche Pipi fe^It T.
S. 1111—11416 gibt T aI[o toieber: Die erste Szene des ersten
Aktes stellt einen Garten vor, auf dessen Bänken sich der Kron-
prinz Leonce mit seinem Hofmeister entsetzlich ennuyiert. Er
sagt ihm, daß er alle Hände voll mit seinem Müßiggang zu tun
hätte, nachzählen müsse, wie oft er täglich ausspeie, und wie
viel Sandkörner er mit zwei Fingern fassen könne^. Auch
forsche er darüber nach, wie er ohne Spiegel sich selber ins Gesicht
sehen könne. Der Hofmeister bemitleidet ihn seijies Müßig-
gangs wegen. Der Prinz verabschiedet ihn und setzt in einem
Monolog, der folgendermaßen anfängt: Die Bienen sitzen
so trag auf den Blumen und der Sonnenschein hegt so faul
auf dem -Boden, die Leiden der Langeweile auseinander, und
wünscht nichts sehnlicher, als ein anderer Mensch zu werden.
^ Der lateinif^ gef^riebene 9iame ift nii^t glei(^mä^ig gef^rieben,
fie^t an ben f olgenben Stellen rote Leonne au5. — ^ (Sine S3er=
glei(^ung mit hs^ unb N geigt, 'üa^ (öu^forn ^ter toie fpäter nic^t
genau referiert.
694 LESARTEN
Wenn er den Hofmeister prügeln ließe, so müßte er ihn beneiden:
der Mann hätte doch eine A bwechlung davon! ^ Nun tritt der
Narr Valerie auf. Er ist betrunken und singt:
Frau Wirtin hat 'ne brave Magd,
Sie sitzt im Garten Tag und Nacht,
Sie sitzt in ihrem Garten,
Bis daß das Glöcklein zwölfe schlägt
Und paßt auf die Solda-a-ten.
Darauf philosophiert er über die Ameisen imd sagt: Die Amei-
sen sind ein nützliches Ungeziefer, und doch sind sie wieder
nicht so nützlich, als wenn sie gar keinen Schaden täten.
Er bewundert die schöne Natur ringsherum und schlürft so viel
Blumenduft ein, daß der Prinz fürchtet, seine Bienen könnten
verhungern, weil er ihnen die duftige Nahrung entzieht. Valerio
meint auch, das schöne Gras würde andre ^ begeistern, daß sie
darauf weiden möchten; er aber'^ möchte bloß ein Mensch bleiben,
um Tiere zu verzehren, die von so herrlichem Grase gemästet
wären. Als ihm der Prinz darauf antwortet, er scheine auch
an Idealen zu leiden, sagt Valerio: Was man in einer Welt
solle, wo es rein unmöglich wäre, von einem Kirchturm zu-
springen, ohne sich den Hals zu brechen. Valerio spricht mit den
Bhtmen und sagt unter anderm: Ach lieber Herr Medikus
Kantharide, ich bin um einen Erbprinzen verlegen!— m^
Witz, den zu verstehen man Arzt sein muß, was Büchner war.
Genug, Valerio und der Kronprinz lieben sich, weil sie beide
müßig gehen und schließen ewige Freundschaft.
3lbtoei(i)ungen unfres ^^exfes oon N in btefer Sjene, auf ©runb
uon hs^:
(5. 111. 24f. daß ich mir einmal auf den Kopf sehe N | 26
eines N | 26f. Mir wäre geholfen. fef)It N | 28 jetzt fe^It N |
36 Eure Hoheit N.— S. 112. 22-25 lang. Wie der Mensch läuft!
Wenn ich nur etwas unter der Sonne wüßte, was mich noch
könnte laufen machen. [Valerio, etwasbetrunken, tritt auf. Y^.
S. 114. 23 fast nackt fe^It N | 26 wo sind meine Schuhe,
meine Hosen? N | pfui fe^It N | 27 davorn fel^It N.
(5. 115. 6f. Taschentuch T j 7 knöpfen N.
S. 116i — 12038 referiert T alfo: Wir lernen eine Freundin
des Prinzen kennen, Rosette. Der Prinz ordnet ihren Empfang
mit folgenden Befehlen an:
Sind alle Läden geschlossen? Zündet die Kerzen an! Weg
mit dem Tag! Ich will Nacht, tiefe ambrosische Nacht.
1 "ögl. ^nmerfung % 6. 693.
i.eoncp: und lena 695
stellt die Lampen unter Kristallglocken zwischen die Ole-
ander, daß sie wie Mädchenaugen unter den Wimpern der
Blätter hervorträumen. Rückt die Rosen näher, daß der
Wein wie Tautropfen auf die Kelche sprudle. Musik. Wo
sind die VioHnen? Wo ist dieRosetta? Fort! Alle hinaus!
Es entspinnt sich ein zartes Gespräch, in welchem Leonce hin-
länglich offenhart, daß er nur mit Rosetten spielt, und Rosette,
daß sie darüber sehr unglücklich ist. Sie singt ihm folgende
zarte Verse:
O meine müden Füße, ihr müßt tanzen
In bunten Schuhen,
Und möchtet lieber tief, tief
im Boden ruhen.
O meine heißen Wangen, ihr müßt glühen
Im wilden Kosen,
Und möchtet lieber blühen
Zwei weiße Rosen.
O meine armen Augen, ihr müßt blitzen
Im Strahl der Kerzen,
Und lieber schlieft ihr aus im Dunkeln
Von euren Schmerzen.
Leonce fühlt, daß er ein Römer ist, der sich zum Dessert an
dem Farbenspiel gequälter Fische ergötzt. Daß Rosetta weint,
beneidet er ihr, als einen feinen Epikuräismus. Stelle dich in
die Sonne, sagt er, daß die köstlichen Tropfen kristalli-
sieren, es muß prächtige Diamanten geben. Du kannst dir
ein Halsband daraus machen lassen. Rosetta, von ihm zu
sehr gequält, geht; Leonce verfällt in partielle Geistesabwesen-
heit, in welche der unter einem Tisch hervorkriechende Valerio
einstimmt. So trifft sie der Staatsrat.
^btDCtc^urtgen unfres XnUs Don N in btefer brtlten Sjene, auf
©runb uon T:
6. 116. 11 Wo ist Rosetta? N.— 6. 117. 25 Im milden Kosen
N.— S. 118. 4 daraus fe^It N 22 Meinst du? X: [innlos, bur^
T ni^t überliefert.
<5. 121. 9 einmal [lall einst? T ] 10 niemand etwas ein, als
dem T | 11-24 PRÄSIDENT {verlegen bis Rede zurüclrtritt.
fef)Il T I 30 von Pipi fe^It T | 31 Ihre N 1 38 war kein Grüb-
chen T i 38f. Abzugsgruben T.
S. 122. 5f. an dem ein Braten an der königlichen Tafel ver-
brennt T ! 7 Apropos fef)It T | 17-20 so groß, daß ich sie ja
mit den Beinen doch nicht ausmessen kann. Valerio, T | 23f.
696 LESARTEN
Soll ich sie füliren bis gingCD? fe^lt T | 26f. Du hast weder
Vater bis erzeugt, fefjlt T | 39 und Valerio fef)It T.
e. 123. 1-6 LEONCE. Valerio, hast du es gehört? T.
6. 12317 — 1245 referiert T nur: Leonce findet diese Aussicht,
König zu werden, jedoch zu entsetzlich und entschließt sich,
namentlich auch, um der beabsichtigten Heirat zu entgehen, zur
Flucht nach Italien. Valerio verspricht, ihn zu begleiten. Der
Prinz ruft aus: Fühlst du nicht...
S. 12415— 125 24. gibt T !ur3 [0 toieber: In der vierten Szene
lernen wir die Prinzessin Lena kennen, die mit ihrer Gouver-
nante in einem Garten auftritt. Ihr ist der Gedanke des Hei-
ratens so schrecklich wie ihrem ihr unbekannten Verlobten.
Sie ist über und über mit Steinen besäet und singt doch:
Auf dem Kirchhof will ich liegen
Wie ein Kindlein in der Wiegen, —
Ihr Unglück ist nicht grade das Heiratenmüssen, sondern daß
man einen Nagel durch zwei Hände schlägt, die sich gar nicht
gesucht haben. Bin ich denn, klagt sie, wie die Quelle, die
jedes Bild, das sich in ihr spiegelt, zurückstrahlen muß? 1
Ihre Gouvernante sinnt etwas aus, was wir im zweiten Akt er-
fahren werden.
8. 125. 35 weitläufiges N.
5. 126. 3 stände N | 7 wenigstens ftatt nächstens T { 12 grö-
bere materielle T | l4f. wenn man Ihnen denselben scheren
und sie Tropfen für Tropfen darauf fallen ließ. T | 15 Ein
köstlicher Einfall! fe^ItT | 19 Tage T | 28 schön, aber dumm.
T I 29 hilflos N I 32 geistigen [tott geistlosen TX; toofil [inn=
los, roeil bei "Rontraft" fe^It (S3erlefen ber i^raftur^anbfd^rift
5Bü^ners).
6. 127. 5 Stirne X | 7-15 Hätte ich nun nicht bis inwendig
anziehen. fel^It T i I6 Gott ftatt Pack T | 17 Ei ihr lieben ver-
kauften Hosen (denn verkaufen will ich sie) T; biefe fiesatt
oerbrai^ ©u^toro, nacEjbem er 7-15 geftri(^en unb I6 uerlefen \^oM^^
um einen 3ufammen^ang fierjuftellen | 19 ins Maul T | 21 {)iom-
mßn)fef)ItT | 29|f. keine Eremiten, keine Schäfer T | 38f. Was
ein roter Schein über den Wiesen spielt von den Kukuks-
blumen T.
S. 128. 15 liefern Ihnen die zur Bezahlung gegebenen Hosen
T I 20 großen [tatt greisen X [ 30 über dich T | 3of. über den
^ X)iefe in ^Infü^rungsjeii^en oon (5u^!oiü loiebergegebene Stelle
roei^t Don 125 7 ff. (xh unb roäre 5töeifeIIo5 Dor3U3ie|en, toenn fie
Dom X)i^ter ^errü^rte; es mu^ aber besraetfelt roerben, ^o^^j^ Sü^=
ner fpäter bie f^Ied)tere Raffung loä^lte. i?gl. 5lnm. 2, 8. 693.
LEONCE UND LENA 697
Kelch N I 36 nur auf drei Beinen N | und nicht auf zwei,
daß man sich die Nase mit Hülfe der Hände putzt und
nicht wie die Fliegen mit den Füßen. T.
3. 129. 1 irgend unb fürstlichen fehlen N | 3 f., die mir erst
bis an der Decke zupfe fe^It T j 10 sie macht keine Geburts-
schmerzen fc^It T I 30 goldnen T | 33 Langerweile T | 34 der
Kartenkönig T.
S. 130. 3f. daß man Ihre Füße T | 4 respektabeln fef)lt T |
6 das Maul T | 9 Ihre Nase T | 10 Damaskus T | I8 Und für
müde T | 19 müde Lippen T | 20 müde Ohren T | 11 ins
Haus T ! 31 ich hab T | 39 dorthin fe^It N.
S. 131. 10 Wangen, den Winter T | 11 ein Schlafkissen T |
21 Harmonie N | 29 f. sie ist aber doch nicht so schön, als
wenn T ; 3:5, 34 da außen N | 3:« {Er legt sich auf den Rasen
nieder.) fe^It N.
(5. 132. 1-3 LEONCE tritt auf, bemerkt die Prinzessin und
nähert sich ihr leise. N j 9 dunkeln TN | 10 f. Armes Kind,
kommen die schwarzen Männer bald dich holen? Wo ist
deine Mutter? Will sie dich nicht noch einmal küssen?
Ach, es ist traurig, tot und so allein. T [ 12 Kleide T j
14 Totenlied T | 31 mir fe^It T | 32 dunkelm T | 34 Sterne.
Meine Lippen saugen sich daran: dieser eine Tropfen T.
S. 133. 9 heute N [ 12 Betten zu gehn. T | 13 von dem
Ungeziefer N | I8 so üor vortrefflich fc^It N ( 24 heute
N I 25 f. warmhalten. Wohl bekomm's, Valerie. N | 35 doch
fe^UT.
S. 134. 10 Dummkopf! fe^lt T [aber w\6)i hs"!] | 32 an sich [tatt
in sich TN.
<5. 135. 4 stehet T | 7 kaum mehr T | 13 nicht mit den Fin-
gern T I 27-29 Wir geben aber auch bis Kokarden an die
Köpfe. fef)It T.
S. 136. 3-4 Die zwölf Unschuldigen sehen in T | 8 Haltung.
{Zu einem Diener:) Sage doch dem Herrn Kandidaten, er
möge seine Buben einmal das Wasser abschlagen lassen. —
Der arme Herr Hofprediger! Sein Frack läßt den Schweif
ganz melancholisch hängen. Ich glaube, er hat Ideale und
verwandelt alle Kammerherrn in Kammerstühle. Er ist
müde vom Stehen. ZWEITER BEDIENTE. Alles Fleisch
verdirbt vom Stehen. Auch der Hofprediger ist ganz ab-
gestanden, seit er heut ^Morgen aufgestanden. CEREMO-
NIENMEISTER. Die Hofdamen stehen da T | 8f. Gradier-
bäume T I 10 BEDIENTE TN ] machens T i 12 tragen T
auch fcf)It T j 15 die Dardanellen und fe^lt T 17 kommt T
698 LESARTEN
19 Also fe^ll N I 26, 29 BEDIENTE T | 33 DIENER T [
36 noch weniger T | 38 Tag T.
S, 137. 17 Kammernherrn T | ?8 allerdings ftalt eben T
31 Tröste sich Eure Majestät mit T \ 32 f. ist ein Ding, ein
Ding,dasnichts— T| 35DIEfe^ItT j 37 zwölf ^inter Glocken-
schlag fe^Il N I 39 ganz fe^It T.
e. 138. if. Anstands halber T | 6, 12 BEDIENTE T 6 sehe
etwas N | 9 noch oor zwei fe^It N . 21 dann [tatt denn N |
24 dann [talt alsdann T -7 wer [tatt was T 32 hiemit T.
S. 139. 6f. einen Herr T | 11 fünfzig T | 17 stehen T i 19 gehen
T 1 i::o eine fef)It T ] 21-25 Sie haben ein bis hinunterzugehen.
fe^It T I 34 einzige [tatt winzige T j 35 legend fe^It N.
S. 140. 4 Leonce und LenaT | 4f. Das ist der Prinz, das ist
die Prinzessin T | 10 fatalen [tatt vermaledeiten T j 21 vom
Reiche Popo fe{)It T | 22 vom Reiche Pipi [et)It T | 23 haben
fe^It T I 24 sagen T | 27 wäre T | dann N | 28 das Fräulein
T I 28f. Tiere im Paradies N | 34 ungiltig N.
5. 141. 3 das Paradies. Ich bin betrogen. T | 5 fcl^lt T i
6 LEONCE. O Zufall! T | 7 LENA. O Vorsehung! T | 8, ich
muß lachen fe^It T ] 12 endlich fef)It T | 16 f. mich vor Rüh-
rung kaum zu lassen T | I8 sogleich ungestört jetzt bloß
nur noch T | 23f. Der Mensch hat mich vorhin bis heraus-
helfen. fe^It T I 32 von vorn T.
6. 142. 5 milchweiße ästhetische T | 12 und die uns T
13 hinauf destillieren, und wir das T | 14 Lorbeern T | 24f.
klassische Gestalten und eine, wo möglich bequeme Reli-
gion. T.
) 0 99 ^
WOYZECK (S. 143—161).
Nach Wilhelm Schulz' Nachruf, S. 655, scheint dies Drama
"beinahe vollendet" gewesen zu sein, als der Dichter starb.
Ein fast fertiges Manuskript ist aber nicht auf uns gekom-
men; vielmehr enthält der Nachlaß Büchners nur folgende
handschriftlichen Fragmente:
h: fünf Foliobogen ursprünglich grauen Konzeptpapiers
mittlerer Stärke, das aber durch chemischen Eingriff stark
gelitten hat (ungleiche Vergilbung). Beschrieben, und zwar
ohne Rand, sind sämtliche Bogen bis auf einen, von dem
nur die erste Seite zu einem Drittel noch Text enthält
und der also als der letzte Bogen angesehen werden darf.
Die stark geblaßte Tinte ist auf allen Bogen dieselbe; par-
tienweis sehr ungleich hingegen sind die Schriftzüge, die
dadurch ein häufiges Unterbrechen und Wiederaufnehmen
der Arbeit erkennen lassen. Daß es sich um Entwürfe han-
delt, geht schon aus der flüchtigen, oft bis zur Unleserlich-
keit abgekürzten, anderwärts zum bloßen Gekritzel sich
verkleinernden Schrift hervor; spielerische Zeichnungen
mit der Feder begleiten zuweilen den Text, zwei kleine
Rechnungen machen ihm auch einmal den Platz streitig. —
Leider sind die Bogen nicht paginiert, und aus dem In-
halt kann nicht ohne weiteres auf die Folge bei dichte-
rischen Entwürfen Büchners geschlossen werden, da er
nicht immer der Reihe nach konzipiert. Indessen gibt es
doch einige Kriterien, die aushelfen: i. Da bei vier Bogen
eine Szene von der zweiten auf die dritte Seite überläuft,
steht fest, daß diese Foliobogen nicht paarig oder mehr-
fach ineinandergelegt waren, sondern einzeln nacheinan-
der beschrieben wurden. 2. Von einem Bogen zum andern
läuft nur einmal eine Szene über, und zwar läuft diese zu dem
letzten, nur auf der ersten Seite noch beschriebenen Bogen
über, so daß der den Anfang dieser Szene enthaltende
Bogen als der vorletzte anzusehen ist. 3. Auf zwei Bogen
heißt der Held und seine Geliebte Louis und Margreth,
auf den anderen Franz und Louise: trennen wir dement-
sprechend die Bogen in zwei Gruppen h^ und h^, so ergibt
sich innerhalb jeder Gruppe von Szenen ein gewisser Zu-
sammenhang fortlaufender Entwicklung, was die Ver-
mutung rechtfertigt, daß wir es mit zwei verschiedenen
Entwurfstücken zu tun haben; da die endgültige Fassung
den Namen Franz^beibehält, wird als h^ der Entwurf mit
700 LESARTEN
den Namen Louis-Margreth zu gelten haben, obwohl er
überwiegend den Schlußteil des Dramas enthält, während
h^ der Entwurf mit den Namen Franz-Louise wäre, der
den ersten Teil des Stückes behandelt.^
hH: ein Quartblatt ursprünglich weißen, fast glatten Pa-
piers von ziemlicher Stärke, das ebenfalls infolge chemi-
scher Einwirkung unregelmäßig vergilbt ist. Das Blatt ist
auf beiden Seiten voll beschrieben, und zwar ohne Rand,
die Tinte wie bei h verblaßt, die Schrift etwas sorgfältiger.
Keine Paginierung deutet eine Zugehörigkeit zu einem an-
deren Manuskript an; es mag von vornherein ein einzelnes
Entwurfblatt gewesen sein, wie etwa h^ bei 'Leonce und
Lena' (S. 686). Von H unterscheidet es sich schon durch die
Papierbeschaffenheit und das etwas größere Format; auch
ist die Folge der beiden auf dem Blatt enthaltenen Szenen
nur eine zufällige, nicht, wde bei H, der Entwicklung der
Handlung entsprechende.
H: sechs Quartbogen ursprünglich weißen Papiers ohne
Wasserzeichen, glätter und dünner als h und hH, aber
gleichfalls durch chemischen Eingriff stark in Mitleiden-
schaft gezogen. Beschrieben sind sämtliche Bogen, doch
so, daß sie, mit Ausnahme von fünf Seiten^, einen breiten
freien Rand behalten haben und inmitten eines Bogens
anderthalb Seiten für die Ausführung einer nur durch
Überschrift bezeichneten Szene (BUDEN; LICHTER) leer-
geblieben sind; auch wo eine Szene unter der Mitte einer
Seite endet, ist der, restliche Teil dieser Seite frei gelassen,
auf einer Seite sogar mehr als die Hälfte derselben, doch
ist es fraglich, ob die davor stehende Szene {Haupt-
mann. Doktor.) als abgeschlossen zu gelten hat. Neben
den überwiegenden Strecken mit blasser Tinte finden
sich auch solche frischerer Farbe, was aber nicht auf
eine verschiedene Abfassungszeit, sondern auf die un-
gleiche Wirkung des chemischen Eingriffs zurückzufüh-
1 Wenn am Anfang von h^ ausnahmsweise gerade die letzte
uns erhaltene Szene, nämlich die Gerichtsszene, steht, so
läßt sich dies zwiefach erklären: entweder gehört sie noch
zu h\ was nur ein Beweis dafür wäre, daß h^ tatsächlich
nach h^ geschrieben wurde, oder diese Szenenskizze ist
nur als letztes programmatisches Ziel des Dichters auf-
zufassen, und dazu würde die folgende ebenfalls program-
matische Charakteristik des Helden passen.— ^I6 — Il6 nach
unserer Zählung (s. Lesarten unter H) sind ohne Rand.
WOYZECK 701
ren sein wird, denn der Wechsel findet sogar inmitten
einzelner Sätze, ja Wörter statt. Indessen fällt auch in dem
Duktus der Schrift wiederholt ein Wechsel auf, so daß
man mit einem Abbrechen und Wiederaufnehmen der
Arbeit auch bei diesen Blättern rechnen muß. Im übrigen
sind wohl die Schriftzüge sorgfältiger als in h, aber noch
weit entfernt davon, für einen Setzer lesbar zu sein; um
ein Druckmanuskript kann es sich jedenfalls auch bei H
nicht handeln. — Die Reihenfolge der Szenen ist nicht leicht
erkennbar, da auch diese Quartblätter nicht paginiert sind
und aus dem Inhalt allein nichts Sicheres geschlossen werden
kann. Dadurch aber, daß zweimal eine Szene von der zwei-
ten Seite eines Bogens auf die erste Seite eines andern
Bogens überläuft und von der vierten Seite dieses andern
Bogens wiederum eine Szene auf der dritten Seite jenes
ersten Bogens endigt, liegen zwei Lagen von je zwei Bogen
fest: sie umfassen denTextS.145 1—15039 und S. 155 12—15937.
Die Frage ist nun, wie sich die beiden anderen Bogen ein-
ordnen. Der eine davon enthält auf seiner ersten Seite
die Fortsetzung von S. 15039, schließt sich also unmittel-
bar jener ersten Bogenlage an und ist mit seinem ersten
Blatt an sie gebunden. Da auf der Rückseite dieses Blattes
eine ganze Szene (S. 151) steht, kann man vielleicht im
Zweifel sein, was auf dies erste Blatt zu folgen hat. Nun
gibt aber das Äußere einen Fingerzeig: am oberen Rande
jenes Blattes ist eine schlecht beschnittene Stelle, steht
nämlich nach innen gefalzt ein unregelmäßiger schmaler
Streifen Papier über, der von einem schlecht abgetrennten
Blatte herrühren muß. Dieses abgetrennte Blatt ist das
erste Blatt des noch übrigen Bogens, dessen oberer Rand
an der entsprechenden Stelle allein eine Ausbuchtung hat,
in die jener überstehende Streifen genau hineinpaßt; die
beiden Bogen haben also ursprünglich, wie alle Doppel-
bogenlagen in Büchners Handschriften, einen Foliobogen
gebildet, der erst von dem Dichter halbiert und dann zu
Quartblättern zusammengelegt worden ist. Und so ergibt
sich denn auch für die beiden letzten Bogen eine Doppel-
lage, deren innerer Bogen die beiden Szenen S. 152 ff. ent-
hält, während das hintere Außenblatt die Szene S. 154 f.
folgen läßt. Die Einordnung dieser Doppellage zwischen
den beiden anderen ist durch den bereits erwähnten un-
mittelbaren Anschluß ihrer ersten Seite an die letzte jener
ersten Doppellage bedingt.
70 2 LESARTEN
So äußerlich diese Bestimmuugsweise auch erscheinen
mag, so gibt sie doch den einzig sicheren Ausgangspunkt,
von dem aus man die ursprüngUche Anordnung der Hand-
schrift entdecken kann. Nun bringt jedoch Witkowski in
seiner Woyzeck- Ausgabe, Leipzig 1920 (W), eine andere
Szenenfolge nach H.^ Man erhält sie, indem man die mitt-
lere Doppelbogenlage auseinandernimmt, das zweite Blatt
jenes Bogens, der mit seinem ersten Blatt bereits inhalt-
lich an die erste Doppellage gebunden ist, um diese her-
umschlägt, so daß eine Lage von drei Bogen entsteht, und
dann den noch übrigen Bogen, dessen innere Seiten nicht
getrennt werden dürfen, weil sie eine gemeinsame Szene
haben, in die Mitte der anderen Doppellage legt, so daß
auch diese zu einer Lage von drei Bogen wird. Man hat
also nunmehr bloß zwei Lagen von je drei Bogen^ vor sich
und in dieser Gruppierung nachstehende Szenenfolge:
Hauptmann. Doktor (S. i54f.), anschließend die Szenen
S. 145— 151 BT, dann DIE WACHTSTUBE bis zu der Szene
Nacht. Andres und Woyzeck in einem Bett (S. 155 — 157), nun-
mehr Marie. Woyzeck und Woyzeck. Der Doktor (S. 152 — 154),
zum Schluß w^ieder gleichlaufend die Szenen WIRTSHAUS
bis KASERNE (S. 157 ff.). Gewiß hat diese Anordnung
etwas Bestechendes: Die mitten im Stücke den Ablauf der
Handlung störende Szene Hauptmann. Doktor steht jetzt
am Anfang, wo sie nichts verderben kann, und die Eifer-
suchtsszene Marie. Woyzeck mit dem entscheidenden Aus-
1 Die Entwürfe von h sind nach Witkowski "ohne jede
Absicht geregelter Folge" geschrieben; sie stehen daher in
W in zufälliger Anordnung: als I der zweite Foliobogen,
als II der dritte, dann als III der erste, endlich als IV und V
die beiden letzten. hH steht am Schluß, also hinter H in
W; doch wird im Nachwort bemerkt, daß diese beiden
Szenen ihrem Charakter nach zwischen den "Entwürfen"
und der "Ausführung" stehen. — ^ Eine an sich schon für
Büchner ganz ungewöhnliche Lagenart. In dem gesamten
handschriftlichen Nachlaß kommt nicht eine einzige Lage
von drei Bogen vor; die vier umfangreichsten Handschrif-
ten, der Danton und die drei philosophischen Schriften,
zählen zusammen 100 Quartlagen: diese enthalten sämtlich
je zwei Bogen, und bei rund 60 Bogen (vom Danton 13)
ist noch jetzt durch ähnliche Schnittverhältnisse am obern
Rand zu erkennen, daß auch ihre Lagen ursprünglich
einen Foliobogen gebildet, also von jeher zusammen-
gehört haben.
WOYZECK 703
ruf "Mußt sterben!" rückt mehr dem Ausgang des Dramas,
der Katastrophe zu. Die Lesart "Mußt sterben" ist nun
aber schon graphisch, als Entzifferung des überheferten
Schriftbildes, außerordentlich zweifelhaft, inhaltlich an-
gesichts der kecken Antwort Mariens geradezu unmöglich
und wohl aus beiden Gründen auch in W mit einem Frage-
zeichen versehen. Zieht man die ursprüngliche Fassung
dieser Szene in h^ (S. 727) zu Rate, so findet man dort nichts
von jener Drohung, im Gegenteil wird Woyzeck durch
Mariens Keckheit von neuem schwankend, und in H ist
kein neues Motiv hinzugekommen, das die alte Fassung in
so grundlegender Weise hätte ändern müssen. Gegen die
Verlegung der Szene zum Schluß hin sprechen aber
auch Mariens Worte "Der Franz ist nit gekommen,
gestern nit, heut nit" (S. 159101'.); denn eine solche Zeit-
spanne ist zwischen der letzten Begegnung des Paares,
eben jener Eifersuchtsszene, und Mariens Bibellektüre nach
der Anordnung von W nicht anzunehmen. Muß nun aus
diesem Grunde die Eifersuchtsszene früher angesetzt wer-
den, so kann sie dem Handschriltengefüge nach nur un-
mittelbar hinter der Szene Marie. Tambourmajor (S. 1 5 1 f.) zu
stehen kommen. Und inhaltlich ist diese Einordnung sehr
wohlzu begründen: i. Die vorhergehende Szene Mane. Tam-
bourmajor steht erst in H und ist wohl eigens für die Eifer-
suchtsszene geschaffen; Woyzeck begegnete seinem Neben-
buhler offenbar in der Nähe von Mariens Wohnung, und
der schon früher durch die Ohrringe erregte Verdacht
gegen sie steigert sich nunmehr bei ihm zur Eifersucht,
ohne daß er jedoch schon Gewißheit erlangte. 2. erklärt
sich nur so die Verstümmelung der Szene Hauptmann.
Doktor (S. I54f.)- War nämlich für die Erregung der Eifer-
sucht in jener Begegnung Woyzecks mit dem Tambour-
major auf der Straße ein neues Motiv gefunden, so be-
durfte der Dichter jener Szene von h^ nun nicht mehr, in der
der Hauptmann mit dem Doktor auf der Straße Woyzeck
trifft und durch seine Andeutungen in ihm den Verdacht
gegen Marie erweckt oder bestärkt (S. 724 ff.); darum hat
Büchner diesen an sich sehr wirkungsvollen Auftritt in H
nicht mehr mit aufgenommen; unterm Einfluß von h* je-
doch, wo auch auf die Szene Woy2eck. Doktor die Begeg-
nung zwischen Hauptmann. Doktor auf der Straße folgt,
hat Büchner auf die Gegenüberstellung der beiden Quäl-
geister Woyzecks im Anschluß an die Szene Woyzeck. Dok-
704 LESARTEN
tor nicht ganz verzichten mögen und so den ersten Teil
jenes Straßenauftritts in etwas veränderter Form bei-
behalten, sehr zum Schaden der dramatischen Entwick-
lung freilich, da die Szene ohne das Eifersuchtsmotiv an
dieser Stelle in der Luft schwebt. ^ — Mit einem Indizien-
beweis sei diese Erörterung abgeschlossen. In Büchners
Nachlaß befindet sich eine lückenhafte Abschrift von H,
die offenbar den ersten Versuch einer Entzifferung dieser
Handschrift darstellt. Sie ist paginiert und enthält auf
S. 1—8 (Oktavblätter) die Szenen DIE WACHTSTUBE bis
KASERNE (S. 155—159), sodann auf S. 9— 23 (Quartblätter)
die Szenen FREIES FELD bis Hauptmann. Doktor (S. 145
bis 155). In dieser Szenenfolge kann die Abschrift nur me-
chanisch, d.h. ohne Kenntnis des Verlaufs der Handlung, ge-
macht sein; um so wertvoller ist dann aber dieTatsache, daß
der betreffende Abschreiber die Bogenlagen so vorgefun-
den hat, wie oben erhärtet worden: denn hat er auch die
dritte Doppellage beim Abschreiben vorweggenommen,
so ist doch die Szenenfolge der einzelnen drei Lagen un-
verändert geblieben.
Das Verhältnis von H zu h und hH ist klar: es ist nicht nur
die letzte, sondern auch die ausgeführteste der uns er-
haltenen Handschriften. Inhaltlich baut es sich zum großen
Teil auf der Grundlage von h auf. Nicht weniger als elf
Auftritte sind daraus verwertet worden, nämhch aus h^:
S.708 DER KASERNENHOF (S.155 DIE WACHTSTUBE),
S. 708 WIRTSHAUS (S. 156, Mittelstück vom WIRTS-
HAUS), S. 709 FREIES FELD (S. 157), S.709 EIN ZIMMER
(S. 157, wo z. T. auch die Szene NACHT von h^ S. 712 ver-
wandt ist), S.7iof.EIN WIRTSHAUS (z.T. S. i57f. WIRTS-
HAUS); sodann aus h^: S. 7i6f. FREIES FELD (S. 145),
S.7i7ff. DIE STADT (S. 145 f.), S.72of. HAND WERKSBUR-
SCHEN (z.T. S. i56f. WIRTSHAUS), S. 722f. WOYZECK.
DOKTOR (S.i52ff.),S.723ff. STRASSE (S. 154 f. il/awp/wafm.
DoA^o;'),S. 726 f. WOYZECK. LOUISEL (S. 152 Mam. Woy-
zeck). Alle diese Szenen sind, offenbar als abgetan mit der
Verwertung in H, durchstrichen. Daß nicht noch mehr,
für den weiteren Verlauf des Dramas sehr brauchbare
Szenen in h durchstrichen sind, muß wohl dahin gedeutet
^ Es ist allerdings nicht ganz sicher, ob die Szene so bleiben
sollte: zwei Drittel der Seite, auf der sie endigt, hat Büch-
ner leer gelassen.
WOYZECK 705
werden, daß H noch nicht bis zu Ende gediehen ist.^ Aber
H ist nicht vollkommen abhängig von den früheren Ent-
würfen. Es enthält sechs Szenen, die durchaus neu und
z.T. sehr wichtige Träger der Handlung sind: [Mariens
Kammer] 8.148! bis Marie. Tambourmajor S. 151 und
Woy^eck. Der Jude S. 158 bis KASERNE S. 150.2 Durch
diese Bereicherung stellt H einen bedeutenden Fortschritt
den früheren Entwürfen gegenüber dar, der \'erlauf der
Handlung wird nunmehr erst deutlich. Ob die drama-
tische Entwicklung in der endgültigen Fassung noch
einschneidende Veränderungen durch den Dichter er-
fahren hätte, muß dahingestellt bleiben. H ist jedenfalls
der einzige uns erhaltene Versuch des Dichters, seine
ersten skizzenhaften Entv.oirfe zu einer dramatischen
Handlung auszugestalten, und dementsprechend ist H
dem Text dieser Ausgabe zugrunde gelegt worden,
während die früheren Entwürfe als Varianten abgedruckt
sind.
Leider ist auch H nur ein Fragment, dem vor allem der
Schlußteil mangelt. Wie sich der Dichter den Fortgang
dachte, geben die Entwürfe an. Aber da Büchner in der
Ausführung manches verworfen, manches von Grund auf
geändert hat, wäre es zu gewagt für eine kritische Ausgabe,
von h^ und hH die ursprünghch geplanten Szenen der wei-
teren Entwicklung als Ersatzstücke in den Text von H
herüberzunehmen. Wenn trotz dieser Erkenntnis zweimal
von der rein kritischen Methode abgewichen wurde, so
gab doch für die eine Stelle der Dichter selbst den Anlaß
mit seiner Überschrift BUDEX. LICHTER (S. 147!); für
die Schlußpartie (S. i6of.) aber sei ins Feld geführt, daß
es sich hier nur um die Wiedergabe der Katastrophe han-
delt, die auch in der endgültigen Fassung unbedingt hätte
wiederkehren müssen. ^ Zum Unterschiede von dem durch
H überlieferten Text sind jedoch diese apokr^-phen Er-
satzstücke in Fraktur gesetzt worden.
1 Allerdings ist auch eine in H benutzte Szene nicht durch-
strichen, nämlich die STRASSE S.723ff.) von h-; doch ist
das vielleicht ein Zeichen dafür, daß der Dichter mit der
Ausführung Hauptmann. Doktor nicht zufrieden war. Vgl.
S. 700. — ^ Der Keim für Mariens Monologszene S. 158 f. war
allerdings schon durch den Schluß von h^ (S. 727) gegeben.—
3 Freilich wohl mit anderem Ausklang, wie im Nachwort
erörtert wird.
BÜCH!sER 45.
7o6 LESARTEN
Zu der Textgestaltung ist außer den Handschriften nur
Witkowskis Woyzeck-Ausgabe (W) herangezogen worden.
F, das auch nur auf den uns erhaltenen handschriftlichen
Fragmenten beruht, brauchte um so weniger berücksich-
tigt zu werden, als es weder methodisch noch kritisch her-
gestellt ist. Diese Aufgabe ist erst durch W gelöst worden.
Und mußte auch die Richtigkeit der Szenenanordnung von
W bestritten werden, so war doch für die Entzifferung des
Textes selbst die Hauptarbeit durch W getan. Immerhin
blieb auch hier die erneute Vergleichung mit den Hand-
schriften nicht ganz erfolglos: manche Lücken ließen sich
noch ausfüllen, manche irrigen Lesungen richtigstellen.^
Solcherlei Abweichungen von W sind in den Lesarten nicht
vermerkt worden; wohl aber sind diejenigen Lesungen,
die zweifelhaft bleiben, als Varianten aufgeführt. Die
abweichende Szenenfolge von W ist bereits oben an-
gegeben worden.
Im übrigen bedeuten: i. die römischen Zahlen in eckigen
Klammern die Bogen oder Bogenlagen, die arabischen die
Seiten des betreffenden Bogens oder der betreffenden Bo-
genlage vom Manuskript; 2. ein Stern hinter der Szenen-
angabe, daß die Szene im Manuskript durchstrichen ist;
3. Fraktur im Text vorn, wie bereits erwähnt, Ergänzung
aus den Entwürfen; 4. eckige Klammern im Text, daß die
eingeklammerte Stelle zugefügt oder interpoliert ist; bei
den so eingeklammerten szenarischen Ortsangaben rührt
der Antiquatext aus den Entwürfen des Dichters her, wäh-
rend Angaben in Fraktur Zusätze des Herausgebers sind;
5. für jedes unlesbare Wort ist auch hier je ein Punkt ein-
gesetzt.
h^
[1,1] BUDEN. VOLK
Marktschreier vor einer Bude
Meine Herren! Meine Herren! Sehn Sie die Kreatur, wie sie
Gott gemacht, nix, gar nix. Sehn Sie jetzt die Kunst, geht
1 Einige Textverbesserungen fand Walter Hoyer, ein Schü-
ler Witkowskis, bei seiner Arbeit über Stoff und Gestalt
bei Georg Büchner; ihm zu danken sind die Besserungen:
71322 Neuntöter, 16012, 7145 Friert's dich, 7i42r,,2u, 71520
Uu!, 724 5 Pressiert.
WOYZECK 707
aufrecht, hat Rock und Hosen, hat ein Säbel! Ho! Mach
KompHment! So, bist Baron. Gib Kuß! {Er trompetet:)
Wicht ist musikalisch. Meine Herren, hier ist zu sehen das
astronomische Pferd und die kleine Canaillevögele. Ist
{Liebling} favor[it] von alle gekrönte Häupter. Die raprä-
sentation anfangen! {Pst!} Man mackt Anfang von Anfang.^
Es wird sogleich sein das commenc[em]ent von commen-
c[em]ent.
WOYZECK.- Willst du?
MARGRETH. Meinetwegen. Das muß schön Dings
sein. Was der Mensch Quasten hat und die Frau hat
Hosen!
Das Innere der Bude
— ^ Zeig dein Talent! zeig deine viehische Vernünftigkeit!
Beschäme die menschHche Societät! Meine Herren, dieß
Tier, das Sie da sehn, Schwanz am Leib auf seine 4 Hufe,
ist Mitglied von alle gelehrte Societät, ist Professor an
unsre Universität, wo die Studente bei ihm reiten {oder}
und schlagen lernen. Das war einfacher Verstand. Denk
jetzt mit der doppelten ,'Ver} raison. W^as machst du, wann
du mit der doppelten Raison denkst? Ist unter der gelehr-
ten Societe da ein Esel? (Der Gaul schüttelt den Kopf.) Sehn
Sie jetzt die doppelte Raison? Das ist Viehsionomik. Ja,
das ist kein viehdummes Individuum, das ist ein Person.
Ein Mensch, ein tierischer Mensch, und doch ein Vieh, ein
bete {das Pferd führt sich ungebührlich auf). So, beschäme
die Societe. Sehn Sie, das Vieh ist noch Xatur, unideale
Natur! Lernen [?] Sie bei ihm^ Fragen Sie den Arzt, es ist
[sonst] höchst schädUch! Das hat geheißen: Mensch, sei
natürhch! Du bist geschaffen Staub, Sand, Dreck. Willst
du mehr sein als Staub, Sand, Dreck? Sehn Sie, was Ver-
nunft: es kann rechnen und kann doch nit an den Fingern
herzählen. Warum? Kann sich nur nit ausdrücken, nur nit
explizieren, ist ein verwandelter Mensch! Sag den Herren,
wieviel Uhr es ist. Wer von den Herren und Damen hat
ein Uhr, ein Uhr?
^ fieptet Sa^ unter bcn beibett »ortgen tntcritnear nacfigelr.,
q1[o Dtellei^t nur als 33ariante gemeint. — - 9(ame nur oermut*
bat; bafteljt oielleic^t Wck mit e^nörfel. W ^at LOUIS.—
'■' 9^{^t entsifferbare, abgefürste ^erfonalbejeic^nung. - ' Thun
Sie gleich ihm W.
7o8 LESARTEN
UNTEROFFIZIER.! Eine Uhr! {Zieht großartig und ge-
messen eine Uhr aus der Tasche.) Da, mein Herr.^
jVIARGRETH. Das muß ich sehn {sie klettert auf den ersten
Platz. Unteroffizier hilft ihr).
UNTEROFFIZIER. {Beste.}
[I, 2] MARGRETH {allein).
Der andre hat ihm befohlen, und er hat gehen müssen.
Ha! ein Mann vor einem Andern!
DER KASERNENHOF*
Andres. Louis
ANDRES {singt) Frau Wirtin hat 'ne brave Magd,
Sie sitzt im Garten Tag und Nacht,
Sie sitzt in ihrem Garten,
Bis daß das Glöcklein zwölfe schlägt.
Und paßt auf die Soldaten.
LOUIS. Hör Andres, ich hab kei Ruh!
ANDRES. Narre!
LOUIS. Was meinst du?^ So red doch
ANDRES. Nu?
LOUIS. Was glaubst du wohl, daß ich hier* bin?
ANDR. Weil's schön Wetter ist und sie heut tanzen.
LOUIS. Ich muß fort, muß sehen
ANDR. Was willst Du?
LOUIS. Hinaus!
ANDR. Du Unfried [?], wegen des Menschs.
LOUIS. Ich muß fort.
WIRTSHAUS*
Die Fenster sind offen. Man tanzt.
Auf der Bank vor dem Haus
LOUIS {lauscht am Fenster). Er— Sie! Teufel! {Er setzt sich
zitternd nieder.)
{Er späht von \da'\ ans Fenster.^) Wie das geht! Ja,*^ wälzt
Euch übereinander! Und Sie: immer zu— immer zu.
1 W ^at ANLASTIN, besioetfelt aber [elbft biefe £e[ung im ^a&i'
töort. Der mehrmals u)teber!ef)renbe 9Iame i[t lateimf^ gefc^rieben,
unb an einer Stelle i[t Un, an anberer officier ju eifennen.- ^ a.
^J?., tDO^I 5Um golgenben gef^ijrig: (Das ist ein Weibsbild. Guckt
sieben Paar lederne Hosen durch.).— ^ Was weißt du? W.—
* hinaus W. — ^ ^xao^X. Stelle; W Heft Er späht wieder hinaus.
Dann. — ^ Ha W.
WOYZECK 709
DER NARR. Puh! Das riecht.
LOUIS. Ja, das riecht! Sie hat rote, rote Backen {und
riecht doch schon}, und warum riecht sie schon? Karl, was
witterst du so?
DER NARR. Ich riech, ich riech Blut.
LOUIS. Blut? Warum wird es mir so rot vor den Augen?
Es ist mir, als wälzten sie sich in einem Meer von Blut,
all miteinander! Ha, rotes Meer.
[I, 3] FREIES FELD*
LOUIS. Immerzu! — Immerzu! — Hisch! hasch! so gehn die
Geigen und die Pfeifen. — Immer zu! immer zu! Was spricht
da? Da unten aus dem Boden hervor [?], ganz leise — was,
was? {Er bückt sich nieder.) Stich, stich die Woyzecke tot,
stich, stich die Woyzecke tot {und immer lauter, und jetzt
brüllt es, als war der Himmel ein Rachen, stich, stich die
Woyzecke tot! stich die Woyzecke tot.} Immer zu! Immer
Woyzecke! das zischt und wimmert [?J und donnert
EIN ZIMMER*
Louis und Andres
ANDRES. {Laß mich} He! {Was}
LOUIS. Andres!
ANDRES {murmelt im Schlaf).
LOUIS. He! Andres!
ANDRES. Na, was is?
LOUIS. Ich hab kei Ruh, ich hör's immer, wieV geigt und
springt, immer zu! immer zu! Und dann, wann ich dieAugcn
zumach, da blitzt mir es immer, es ist ein großes breites
Messer, und {liegt} das liegt auf einem Tisch am Fenster
und ist in einer engen [?] dunkeln Gaß und ein alter Mann
sitzt dahinter. Und das Messer ist mir immer zwischen
den Augen.
ANDRES. Schlaf, Narr!
KASERNENHOF
LOUIS. Hast nix gehört.
ANDRES. Er ist da noch mit einem Kameraden.
LOUIS. Er hat was gesagt.
ANDRES. Woher weißt du 's? Was soll ich 's sagen? Nu,
er lachte, und dann sagt' er: ein köstlich Weibsbild! die
hat Schenkel und alles so heiß!
^ hör immer, was W.
7IO LESARTEN
LOUIS {ganz kalt). So, hat er das gesagt? Von was hat mir
doch heut Nacht geträumt? War's nicht von einem Messer?
Was man doch närrische Träume hat.
ANDRES. Wohin, Kamerad?
LOUIS. Meinem Offizier Wein holen. Aber, Andres, sie
war doch ein einzig Mädel.
ANDRES. Wer war?
LOUIS. Nix. Adies.
[I, 4] DER OFFIZIER. LOUIS
LOUIS {allein). Was hat er gesagt? So? — Ja, es ist noch
nicht aller Tag Abend.
EIN WIRTSHAUS*
Barbier. Unteroffizier
BARBIER. Ach Tochter, Hebe Tochter,
Was hast du gedenkt,
Daß du dich an die Landkutscher
Und die Fuhrleut hast gehenkt. — Was kann
der liebe Gott nicht, was? Das Geschehene ungeschehn
machen. Hä, hä, hä. — Aber es ist einmal so, und es ist gut,
daß es so ist. Aber besser ist besser.^ Und ein ordenthcher
INIensch hat sein Leben lieb, und {der} ein Mensch, der sein
Leben lieb hat, hat keine Courage, und ein tugendhafter
Mensch hat keine Courage. Wer Courage hat, ist ein
Hundsfott.
UNTEROFFIZIER {mit Würde). {Spricht Er mit Beziehun-
gen?} Sie vergessen sich, in Gegenwart eines Tapfern.
BARBIER. Ich spreche ohne Beziehungen, ich spreche
nicht mit Rücksicht, wie die Franzose sprechen, und es
war schön von Euch. — Aber wer Courage hat, ist ein
Hundsfott.
UNTEROFFIZIER. Teufel! du {schartiges Bart[messer]!
zerbrochne Bartschüssel, du abgestandene Seifbrüh, du
sollst mir dein Urin trinken^, dusollst mirdeinRasiermesser
verschlucken!
BARBIER. Herr, Er tut sich Unrecht^! hab ich Ihn denn
gemeint, hab ich gesagt, Er hätt Courage? Herr, laß Er
mich in Ruh! Ich bin die Wissenschaft. Ich bekomme für
^ 3:eil5 a. *}i., teils interlinear nad^gctr.: {singt) Branntwein, das
ist mein Leben, Branntwein gib[t] Courage. — ^ in die Knie
knicken W. — ^ thut sich leicht W.
WOYZECK 711
meine Wissenscliaftlichkeit alle Wochen einen halben
Gulden. Schlag Er mich nicht entzwei, oder ich muß ver-
hungern. Ich bin eine Spinosa pericyclica; ich hab einen
lateinischen Rücken, Ich bin ein lebendiges Skelett. Die
ganze Menschheit studiert an mir. — Was ist der Mensch?
Knochen! Staub, Sand, Dreck. Was ist die Xatur? Staub,
Sand, Dreck. Aber die dummen Menschen, die dummen
Menschen! Wir müssen Freunde sein. Wenn Ihr keine
Courage hättet, gab es keine Wissenschaft. Nur Natur,
keine amputation, keine [?] articulation. Was ist das? Louis'
Arm, Fleisch, Knochen, Adern. Was ist das? Dreck. Was
steckt's im Dreck? {Also haut mir a d} Müßte ich den Arm
also abschneiden? Nein, der Mensch ist egoistisch, aber
haut, schießt, sticht seinsgleichen. (Er schluchzt.Y Wir
müssen Freunde [sein], ich bin gerührt. Seht, ich wollte,
unsere Nasen wären zwei Bouteillen und wir könnten sie
uns einander in den Hals gießen. Ach, was die Welt schön
ist! Freund! mein Freund! Die Welt! {gerührt) seht! wie [?]
die Sonne kommt zwischen den Wolken hervor 2, als würd'
ein potchambre ausgeschüttet {er weint).
[II, i] DAS WIRTSHAUS
(Louis sitzt vor dem Wirtshaus.) Leute gehn hinaus
ANDRES. Was machst» du da?
LOUIS. {Nix} Wieviel Uhr ist's?
ANDRES. -
LOUIS. So, noch nicht mehr? Ich meine, es müßte schneller
gehn, und ich will es mir überlegen [vor] Abend*.
ANDRES. Warum?
LOUIS. Dann wär's vorbei.
ANDRES. Was?
LOUIS. Jeh, das Vergn[ügen].'^
[ANDRES.] Was sitzt du da vor der Tür?
LOUIS. Ich sitze gut da, {aber es} und ich weiß [es] — aber
es sitzen manche Leut vor der Tür, und sie wissen es
nicht: Es wird mancher mit den Füßen voran zur Tür 'naus-
getragen.
[ANDRES.] Komm mit!
[LOUIS.] Ich sitz gut so und lag noch besser gut so •••
1 Die ganjc Stelle t[t me^r enaten als entsiffcrt.— - herein [?] W.
^ Ober willst. — * will es nur üben W.— ^ Die Stelle bleibt
Scoeifel^aft. Darauf folgt neue gaffung berfelben S^ene.
712 LESARTEN
[ANDRES.] {Louis, du hast Blut am Kopf}
[LOUIS.] Im Kopf {Es ist nur}
Wenn alle Leut wüßten, wieviel Uhr es ist, sie würden
sich ausziehn, und ein seidnes Hemd antun und sich ihr
Bett [zum vom Schrei[ner] ihr Bett machen lassen. Schläft
man gut auf Hobelspan} aus Hobelspan schütteln lassen.}
[ANDRES.] Er ist besoffen. [Geht mit den andern ab.]
LOUIS. Was Hegt denn da drüben? Es glänzt nur so. Es
zieht mir immer so zwischen den Augen herum. Wie es
ghtzert. {Teufel} Ich muß das Ding haben. ^
FREIES FELD
LOUIS {er legt das Messer in eine Höhle). Du sollst nicht
töten. Lieg da! Fort! {Er entfernt sich eilig.)
NACHT. MONDSCHEIN
Andres und Louis in einem Bett
LOUIS {leise). Andres!
ANDRES {er träumt [?]). Da. Halt!— ja.
LOUIS. He, Andres!
ANDRES. Wie?
LOUIS. Ich hab kein Ruhe! Andres
ANDRES. Drückt dich der Alp?
LOUIS. Draußen liegt was. Im Boden. Sie deuten immer
drauf hin, und hörst du's jetzt, und jetzt, wie sie in den
Wänden klopfen? eben hat einer zum Fenster hin[ein]-
geguckt. Hörst du's nicht, ich hör's den ganzen Tag. Im-
mer zu. Stich! stich die ♦
ANDRES. Leg dich, Louis. Du mußt ins Lazarett. Jlch
we} Du mußt Schnaps trinken und Pulver drin, das schneidt
das Fieber.
[II, 2] Margreth mit Mädchen vor der Haustür
MÄDCHEN. Wie scheint die Sonn am [?] Lichtmeßtag^
Und steht das Korn im Blühn.
Sie gingen wohl [?] die Wieße hin,
Sie gingen zu zwei und zwei^.
Die Pfeifer gingen vorn",
Die Geiger hinterdrein,
Sie hatte rote Sock[en an?]
1 Unter btefer Sjene ift eine bli^enbe Sc^neibe als (5^luMtti(^ 9e=
3ei(^net. — ^ scheint die Sonn über Jbiüht das Korn}. — ^ 33tel»
lei^t au^ zwein.— ^ Ober voran.
I
WOYZECK 713
1. KIND. Das ist nit schön [?].
2. KIND. Was willst du auch immer! [?]
Was hast zuerst •••[?]
Warum?
Ich kan nit
Darum?
Es muß seini
Aber warum darum?
Margrethche, sing du uns
MARGRETH. Kommt, ihr kleinen Krabben.
Ringle, ringel Rosenkranz. König Herodes.^
Großmutter, erzähl.
GROSSMUTTER. Es war einmal ein arm Kind und hat
kein Vater und keine Mutter, war alles tot und war niemand
mehr auf der Welt. Alles tot, und es ist hingegangen und hat
gesucht Tag und Nacht. Und weil auf der Erde niemand
mehr war, wollt's in Himmel gehn, und der Mond guckt
es so freundlich an; und wie es endlich zum Mond kam,
war's ein Stück faul Holz. Und da ist es zur Sonn gangen,
und wie es zur Sonn kam, war's ein verwelkt Sonneblum.
Und wie's zu den Sternen kam, waren's kleine goldne
Mücken, die waren angesteckt wie der Neuntöter sie auf die
Schlehen steckt. Und wie's wieder auf die Erde wollt,
war die Erde ein umgestürzter Hafen. Und [es] war ganz
allein, und da hat sich's hingesetzt und geweint, und da
sitzt es noch und ist ganz allein.
{I.Kind} LOUIS. Margreth!
MARGRETH [erschreckt). Was ist?^
LOUIS. Margreth, wir wollen gehn. 's ist Zeit.
MARGRETH. Wohinaus*?
LOUIS. Weiß ich's?
MARGRETH UND LOUIS
MARGRETH. Also dort hinaus ist die Stadt, 's ist finster
LOUIS. Du sollst noch bleiben. Komm, setz dich.
MARGRETH. Aber ich muß fort.
LOUIS. Du wirst^ dir die Fuß nicht wund laufen.
MARGRETH. Wie bist du nur [?] auch!
1 Ober singen. — 2 3c()Ia(iit3Drtc, btc ber Dtd)tcr [id^ nur felber für
eine cüentuellc *Jtusfül)runn notiert. — ^ 5m SDJonuffripl [inb bte
Sßorte was ist iüol)l nur oerfe^entlid) mit ctngcflammert. — ^ Wo-
hin W.— ^ Ober würdest?
714 LESARTEN
LOUIS. Weißt du auch, wie lang es just [?] ist, Margreth?
MARGRETH. Am [?] Pfingsten 2 Jahr.
[II, 3] LOUIS. Weißt du auch, wie lang es noch sein wird?
MARGRETH. Ich muß fort das Nachtessen richten [?].
LOUIS. Friert's dich, Margreth? und doch bist du warm.
Was du heiße Lippen hast! (heiß, heißen Hurenatem) und
doch möcht ich den Himmel geben, sie noch einmal zu
küssen.)^ und wenn man kalt ist, so friert man nicht
mehr. Du wirst vom Morgentau nicht frieren.
MARGRETH. Was sagst du?
LOUIS. Nix. {Schweigen.)
MARGRETH. Was der Mond rot aufgeht.
LOUIS. Wie ein blutig Eisen.
MARGRETH. Was hast du vor? Louis, du bist so blaß.
Louis, halt ein! Um des Himmels willen. Hülfe, Hülfe !
LOUIS. Nimm das und das! Kannst du nicht sterben? So!
so! Ha, sie zuckt noch; noch nicht, noch nicht? Immer^
noch (stößt zu) {er läßt das Me^
Bist du tot? Tot! {Alles aus} Tot! {Es kommen Leute, läuft weg.)
Es kommen Leute
i.P. Halt!
2. P. Hörst du? Still! Dort!
1 . Uu! Da! Was ein Ton!
2. Es ist das Wasser, es ruft, schon ist lang niemand er-
trunken. Fort, es ist nicht gut, es zu hören.
1. Uu! jetzt wieder wie ein Mensch, der stirbt.
2. Es ist unheimlich, so dunstig^ — allenthalb [?] Nebel,
grau — und das Summen der Käfer wie gesprungene Glok-
ken.* Fort!
I. Nein, zu deutlich, zu laut. Da hinauf. Komm mit!
DAS WIRTSHAUS
LOUIS. Tanzt alle, {als} immer zu, schwitzt und stinkt, er
holt Euch doch einmal alle.
{singt) {Ach Tochter, liebe Tochter, was hast du gedenkt}
Frau Wirtin hat 'ne brave Magd,
Sie sitzt im Garten Tag und Nacht,
Sie sitzt in ihrem Garten,
Bis daß das Glöcklein zwölfe schlägt,
Und paßt auf die Soldaten
1 Die i^Iammcrn bebcuten iDof)I, \>al^ bcr T)id)ter bic bartn ent=
^altenen SLIIotioc nur in (£rtoägung 30g.— ^ Frierst [?] W. -^ 3n
bem 2ßort [te^t f reilt(^ nic^t st, el^er f t.— * wie Gespenster Spuk W.
WOYZECK 715
{er tanzt) {hat den Rock} So, Käthe! setz dich! Ich hab heiß,
heiß {er zieht den Rock atis) es ist einmal so, der Teufel holt
die eine und läßt die andre laufen. Käthe, du bist heiß!
Warum denn? Käthe, du wirst auch noch kalt werden.
Sei vernünftig.— Kannst du nicht singen?
[KÄTHE.] Ins Schwabenland, das mag ich nicht.
Und lange Kleider trag ich nicht.
Denn lange Kleider, spitze Schuh,
Die kommen keiner Dienstmagd zu.
[11, 4] [LOUIS.] Nein, keine Schuh, man kann auch ohne
Schuh in die Höll gehn.
KÄTHE {dannY O pfui, mein Schatz, das war nicht fein.
Behalt dein Taler und schlaf allein.
[LOUIS.] Ja, wahrhaftig, ich möchte mich nicht blutig
machen.
KÄTHE. Aber was hast du an deiner Hand?
LOUIS. Ich? ich?
KÄTHE. Rot! Blut! [Es stellen sich Leute um sie.)
LOUIS. Blut? Blut?
WIRT. Uu— Blut!
LOUIS. Ich glaub, ich hab' mich geschnitten, da an der
rechten Hand.
WIRT. Wie kommt's aber an den Ellenbogen?
LOUIS. Ich hab's abgewischt.
WIRT. Was, mit der rechten Hand an den rechten Ellen-
bogen? Ihr seid geschickt.
NARR. Und da hat der Ries gesagt: ich riech, ich riech
Menschenfleisch. Puh, das stinkt schon!
LOUIS. Teufel, was wollt ihr? Was geht's euch an? Platz,
oder der erste — Teufel! Meint ihr, ich hätt jemand umge-
bracht? Bin ich [ein] Mörder? Was gafft ihr? Guckt euch
selbst an! Platz da! {Er läuft hinaus.)
KINDER
1. KIND. Fort [zu] Margrethin!
2. KIND. Was is?
1. KIND. Weißt du's nit? Sie sind schon alle hinaus. Drauß
liegt eine!
2. KIND. Wo?
I. KIND. Links über die Loch[schlucht] in das Wäldchen [?],
am roten Kreuz.
^ gragltc^e Stelle; uiellei^t 5lon3eptbemerfung bes Dieters, nur
[i$ felbjt gema(^t.
7i6 LESARTEN
2. KIND. Kommt schnell [?], daß wir noch was sehen. Sie
tragen's sonst hinein.
LOUIS {allein)
Das Messer? Wo ist das Messer? Ich hab' es da gelassen.
{Näher} Es verrät mich! Näher, noch näher! Was ist das
für ein Platz? Was hör ich? ;Sie rührt} Es rührt sich was.
Still. Da in der Nähe. Margreth? Ha! Margreth! Still!
Alles still! (Was bist du so bleich, Margreth? Was
hast du eine rote Schnur um den Hals? Bei Jdem} wem
hast du das Halsband verdient, mit deinen Sünden? Du
warst schwarz davon, schwarz! Hab ich dich gebleicht?
Was hängen deine schwarzen Haare so wild? Hast du
deine Zöpfe heut nicht geflochten?)^ Da liegt was! Kalt,
naß, still! Weg von dem Platz. Das Messer, das Messer!
Hab ich's? So! Leute— dort! {Er lauf t weg.)
LOUIS an einem Teich
So, da hinunter! (Er wirft das Messer hinein.) Es taucht in
das dunkle Wasser wie ein Stein. Der Mond ist wie ein
blutig Eisen! Will denn die ganze Welt es ausplaudern?
{Hab i} Nein, es liegt zu weit vorn, wenn sie sich baden {er
geht in den Teich und wirft weit) so, jetzt — aber im Sommer^
wenn sie tauchen nach Muscheln — bah, es wird rostig.
{Und ich.} Wer kann's erkennen — hätt' ich es zerbrochen.
Bin ich noch blutig? Ich muß mich waschen. Da ein Fleck
und da noch einer.
h^
[III, i] GERICHTSDIENER. BARBIER. ARZT. RICHTER
POL. Ein guter Mord, ein ächter Mord, ein schöner Mord,
so schön als man ihn nur verlangen tun kann; wir haben
schon lange so keinen gehabt.
BARBIER. Dogmatischer Atheist. Lang, hager, feig, gut-
mütig [?], Wissenschaf tl. [?]
FREIES FELD. DIE STADT IN DER FERNE.
WOYZECK. ANDRES
Andres {pfeift) und Woyzeck schneiden Stöcke im Gebüsch
ANDRES {pfeift und singt).
1 Die5^Iammer geigt, 'iia^ \\^ ber Dichter über bie ^lufna^mc biejer
5i^etori! no(^ m^l [d)lü[[tg toar.— ^ Sanbe W.
WOYZECK 717
Da ist die schöne Jägerei,
Schießen steht jedem frei;
Da möcht ich Jäger sein,
Da möcht ich sein.
Läuft dort ein Has vorbei,
Fragt mich, ob ich Jäger sei:
Jäger bin ich auch schon gewesen,
Schießen kann ich aber nit.
WOYZECK. Ja, Andres, das ist er, der Platz ist verflucht.
Siehst du den {schwer} lichten Streif [?] da über das Gras
hin, wo die Schwämme so nachwachsen? da rollt abends
der Kopf; es hob ihn einmal einer auf, er meint, es sei ein
Igel; drei Tage und drei Xächte • • • , und er war tot^. (Leise)
Das waren die Freimaurer, ich hab' es heraus.
ANDRES. {Faßt} Es wird finster, fast macht Ihr mir Angst.
(Er singt.)
WOYZECK {faßt ihn an). Hörst du's. Andres? Hörst du's?
Es geht neben uns, unter uns. Fort, die Erde {bebt}
schwankt unter unsern Sohlen. Die Freimaurer! \Vie sie
wühlen! {Er reißt ihn mit sich.)
ANDRES. Laßt mich! Seid Ihr toll? Teufel!
WOYZECK (hastig). ]\Iensch, bist du ein ^Maulwurf, sind
deine Ohren voll Sand? Hörst du das fürchterliche Getös
am Himmel? über der Stadt [ist] alles [in] Glut! {Wie}
Sieh nicht hinter dich. Wie es heraufschießt und alles dar-
unter [?] stürzt {zu Boden, zu Boden (er wirft sich mit ihm
ins Gebüsch)}
ANDRES. Du machst mir Angst.
WOYZECK. Sieh nicht hinter dich! (Sie verstecken sich im
Gebüsch.)
ANDRES. Woyzeck, ich hör nichts mehr.
WOYZECK. Still, ganz still, wie der Tod.
[III, 2] ANDRES. Sie trommeln drin. Wir müssen fort.
{WOYZECK.}
DIE STADT*
Louise. Margreth (am Fenster). Der Zapfenstreich geht vor-
bei. Tambourmajor voraus
LOUISE. He, Bub! • •
MARGRETH. Ein schöner Mann.
1 Nächte und er wurde siech und er war todt W.
7i8 LESARTEN
LOUISE. Wie e Baum.
{Tambourmajor grüßt)
MARGRETH. Ei, was freundliche Auge, Frau Nachbar,
so was is man nit an ihr gewöhnt.
LOUISE. {Als ob man • • } Soldaten, das sind schmucke
Bursch
MARGRETH. Ihre Auge glänze ja noch.
LOUISE- Was geht sie's an! Trag sie ihre Auge zum Jud
und laß sie sich putze, vielleicht glänze sie auch noch, daß
man sie als zwei Knöpf verkaufe könnt.
]\L\RGRETH. Sie! Sie! Frau Jungfer, {es weiß} ich bin e
honette Person, aber Sie, es weiß jeder, sie guckt sieben
Paar lederne Hose durch.
LOUISE. Luder {schlägt das Fenster zu).
Komm, mei Bu, soll ich dir singe? Was die Leut wollen!
Bist du auch nur e Hurenkind und machst der Mutter
Freud mit dein unehrliche Gesicht!^
Hansel, spann deine sechs Schimmel aus.
Gib sie zu fresse aufs neu;
Kein Haber fresse sie.
Kein Wasser saufe sie.
Lauter kühle Wein muß es sein, juchhe!
Lauter kühle Wein muß es sein.
Mädel, was fängst du jetzt an?
Hast ein klein Kind und kein Mann.
Ei, was frag ich danach;
Sing ich den ganzen Tag
Heio popeio, mei Bu, juchhe!
Gibt mir kein Mensch nix dazu,
{Es klopft am Fenster) Bist du's, Franz? Komm herein!
WOYZECK. Ich kann nit. Muß zum Verles.
LOUISE. Hast du Stecken geschnitten für den Major?
WOYZECK. Ja, Louisel.
[III, 3] LOUISE. Was hast du, Franz? du siehst so verstört.
WOYZECK. Pst! still! Ich hab's aus! Die Freimaurer! Es
war ein fürchterliches Getös am Himmel und alles in Glut!
Ich bin viel auf der Spur, sehr viel.
LOUISE. Mann!
WOYZECK. Meinst? Sieh um dich! Alles starr, fest, fin-
ster; was regt sich dahinten? {Gott weg, alles [?] weg, •} Et-
^ I)te teibeii legten Sä^e of[enI)ar nac^gelr., bn ber le^tc 3:cil
interlinear [te^t.
WOYZECK 719
was, was wir nicht fassen, begreifen — still, was uns von
Sinnen bringt, aber ich hab's aus. Ich muß fort! {Heut}
LOUISE. Das Kind?
WOYZECK. Ach, Junge! Heut Abend auf die Mess. Ich
hab wieder was gespart (ab).
LOUISE. Der Mann schnappt noch über, er hat mir Angst
gemacht. Wie unheimlich! ich mag, wenn es finster wird,
gar nicht bleiben; ich glaub', ich bin blind, er steckt mich
an. {Ich will vor die Tür.} {Sie singt:)
Und macht die Wiege knick knack,
Schlaf wohl, mein lieber Dicksack.i (Sie geht ab.)
ÖFFENTLICHER PLATZ. BUDEN. LICHTER
Alter Mann. Kind, das tanzt: Auf der Welt ist kein Bestand,
Wir müssen alle sterben, das ist uns wohlbekannt.
[WOYZECK.] Hei! Hopsa's! Armer Mann, alter Mann!
Armes Kind! Junges Kind! Sorgen und Fest [?]! Ha [?]^
Louisel, soll ich • -^p
LOUISEL [?]. Mensch, [s]ind noch die Narrn von Ver-
stände, dann ist man selbst Narr.' Komische [?] Welt!
schöne Welt!
x\USRUFER (vor einer Bude). Meine Herren, meine Damen,
hier sind zu sehn das astronomische Pferd und die kleine [?]
Canaillenvogel, sind Liebling von alle Potentate Europas
und Mitglied von alle gelehrte Societät, {sagen} verkündi-
gen den Leuten alles, wie alt, wie viel Kinder, was für
Krankheit. Schießt Pistol los, stellt sich auf ein Bein. Alles
Erziehung, haben nur eine viehische Vernunft, oder viel-
mehr eine ganz vernünftige Viehigkeit, ist kein viehdum-
mes Individuum, wie viel Personen, das verehrliche Pu-
bhkum abgerechnet. {Keine Lügen} Es wird gleich^ [sein]
die rapraesentation, das commencement vom commence-
ment wird sogleich nehmen sein Anfang.
Sehen Sie die Fortschritte der Civilisation. Alles schreitet
fort: ein Pferd, ein Alf, ein Canaillenvogel! der Äff ist schon
ein Soldat, 's ist noch nit viel, unterste Stuf von mensch-
liche Geschlecht!
1 3m freien 5^aum na(^gctr., 3U ich bin bhnd geijörig: Sonst
scheint doch als dieLatern herein. Ach, wir armen Leute. —
2 He W, beibes gleich fraglt(^.— ^ dich tanzen lassen W; es
[tef)n aber nur jtDet 2Börter ba.— *Dte ganje !leinge!rt^elte Stelle
t[t äufeerft fraglti^; W Iie[t: Ei! . nicht— nach den Herren [aber
SBüd^nersH ift ganjanbers] von Stande ... — 5fein,W.
7 20 LESARTEN
{FRANZ.i Das will ich dir sagen, ich hatt' ein Hundele,
{und} das schnüffelte an einem großen Hut und könnt nicht
drauf, und da hab ich's ihm aus Gutmütigkeit erleichtert
und hab ihn drauf gesetzt. Und da standen die Leute her-
um und die klatschten [?]}
HERR.2 Grotesk! Sehr grotesk!
[WOYZECK].^ Sind Sie auch ein Atheist? ich bin ein dog-
matischer Atheist
— * {Ich bin ein Freund} Ist's grotesk? Ich bin ein Freund
vom Grotesken. Sehen Sie dort? was ein grotesker Effekt.
FRANZ.ö Ich bin ein dogmatischer Atheist.
Grotesk
[III, 4] HANDWERKSBURSCHEN*
Bruder! Vergißmeinnicht! Freundschaft! Ich könnt ein
Regenfaß voll greinen vor Wehmut, wenn ich noch Rum[?]
hätt. Es stinkt [?] nur, es riecht [?] nur. Warum ist dieße
Welt so schön? Wenn ich's eine Aug zumach und über mei
Nas hingucke, so is alles rosenrot. Brandwein, das ist
mein Leben.
EIN ANDRER. Er sieht alles rosenrot, wann ihm's
Kreuz über sei Nas guckt.
FRANZ [?]. Es is kei Ordnung! Was hat der Laternputzer
vergessen mir die Augen zu fegen, 's is alles finster. Hol
der Teufel den lieben Herrgott. Ich lieg mir selbst im Weg:
meine Fuß über mich springen. Wo ist mein Schatten hin-
gekommen? Keine Sicherheit mehr im Stall^. Leucht mir
einmal mit dem Mond zwischen die Beine, ob ich mein
Schatten noch hab.
Fraßen ab das grüne, grüne Gras,
Fraßen ab das grüne, grüne Gras
Bis auf den Ra-a-sen.
Sternschnuppe, ich muß dem Stern die Nas schneuzen.
Gesellen, ••,•••,•,••,•,•• sandige, Mauer • und emp-
fiehlt sich mit • • Kindern.
1 LOUIS W.— 2 Das SBort bleibt fraglt(^. Später gebraust bet
Hauptmann bte[elben SBorte.— ^ W ent5tffert STUD., überfielt
aber, i>a)^ Süc^ner mit S \ä)on bas nä(^[tc 213ort begann, als t^m
einfiel, ha)^ er bie ^et[onenbc5ci(t)nung uergeffen; es fann naä)
ben folgenben 2ßorten nur 21Joi)5ed gemeint [ein (ogl. 716 3 1).—
* (£tnc unlesbare ^Ibfürjung von ein ober stoei 5Bu(^ftaben [oII
tüobi bic ^erfon be5eid)ncn. — ^ Ober ettwa LOUIS? — » »er*
[^rieben für Staat?
WOYZECK 721
Mach kein Loch in die Natur.
Warum hat Gott die ISIenschen geschaffen? Das hat auch
sein Nutzen. Was würde der Landmann, der Schuhmacher,
der Schneider anfangen, wenn er für die Menschen keine
Schuhe, keine Hosen machte? Warum hat Gott den Men-
schen das Gefühl der Schamhaftigkeit eingeflößt? damit
der Schneider leben kann. Ja! Ja! Also — darum! auf daß!
damit! Oder aber, wenn eres nicht getan hätte— aber dar-
in sehen wir seine Weisheit, daß er den ISIenschen noch
die {Pflege und Geruch erschaffen} daß auch[?] die viehische
Schöpfung das menschliche Ansehen hätte, weil die Mensch-
lichkeit sonst dasViehische aufgefressen hätte. Dießer Säug-
ling, dießes schwache, hülflose Geschöpf, jener [?] Säug-
ling,— Laßt uns jetzt über das Kreuz pissen, damit ein Jud
stirbt.^ Branntwein, das ist mein Leben, Branntwein gibt
Courage.
{LOUISEL. WOYZECK}
{Heißa, IMusik. Was Licht, meine Augen}
UNTEROFFIZIER. TAMBOURMAJOR
[TA:\IB0URMAJ0R.]- Halt, jetzt! Siehst du sie? Was ein
Weibsbild!
UNTEROFFIZIER.^ Teufel, zum Fortpflanzen von Küras-
sierregimentern. ^
[T.\^IBOURMAJOR.]^ Und zur Zucht von Tambour-
majors.
UNTEROFFIZIER.^ Wie sie den Kopf trägt! man meint,
das schwarze Haar müßt sie abwärts ziehn, wie ein Ge-
wicht. Und Augen, schw
TAMBOUR]\L\JOR. Als ob man in ein Ziehbrunnen {guck}
oder zu einem Schornstein hinunter guckt. Fort, hinter
drein!
1 X)cr Dorfte^cnbe Sa^ i[t interlinear zugefügt.- - 3Ber fprid)t,
gel)t aus bem ^^olgenben f^eroor.— ^ Die ^erfoncnbejeit^nung ift
nt^t glei(^ crlennbar, toeti Süc^ner oerfe^entlic^ Tambourmajor
[(^reiben roollle nnb ein T latfäc^Iic^ ^ingefe^t \)at~^ Fortpflan-
zen von Kunst- W.— ^ ^m 9Jknu[fript t[t fein ^erfonenroec^fel,
üielme^r ge^t bcr folgcnbe Sa^ mit und zur Zucht von Tam-
bourmajors in ber[clbcn 5?ei]^e fort, roä^rcnb cr[t ber näc^ftc Sa^
ur[prünglt(^ bem ^^ambourmajor in ben 9[Runb gelegt tüurbe;
ba bies aber nacbträgl. geänbert u)urbc (ugl. näd)[te gufenotc),
mufete bcr 5llsed)[cl geregelt werben, roas im (Sintlang mit 151 :<i f. ge=
l^af).— « 9Iarf)trägI. über iTAMBOURMAJOR; gc[d)ricbcn.
BÜCHNER 46.
722 LESARTEN
LOUISEL. Was Licht, m
FRANZ. Ja, • • • • schwarze Katzen mit feurige Augen. Hei,
was ein Abend!
[IV, I] WOYZECK. DOKTOR*
DOKTOR. Was erleb ich, Woyzeck? Ein Mann von Wort?
Er! Er! Er!
WOYZECK. Was denn, Herr Doktor?
DOKTOR. Ich es gesehn hab. Er auf die Straß gepißt hat,
wie ein Hund. {Beko} Geb' ich Ihm dafür alle Tag drei
Groschen und Kost? Die Welt wird schlecht, sehr schlecht,
schlecht, sag' ich. O! Wo37zeck, das ist schlecht.
WOYZECK. Aber Herr Doktor, wenn man nit anders
kann?
DOKTOR. Xit anders kann, {ab} nit anders kann. Aber-
glaube, abscheulicher Aberglaube. Hab ich nit nachgewie-
sen, daß der musculus constrictor vesicae dem Willen
unterworfen ist? Wo3^zeck, der Mensch ist frei! im Men-
schen verklärt sich die Individualität zur Freiheit. [Er]
seinen Harn nicht halten können! Es ist Betrug, Woyzeck. —
Hat Er schon seine Erbsen gegessen? nichts als Erbsen,
nichts als Hülsenfrüchte, cruciferae, merk Er sich's. — Die
nächste Woche fangen wir dann mit Hammelfleisch an.
Muß Er nicht aufs Secret[?]? Mach Er! Ich sag's Ihm. Es
gibt eine Revolution in der Wissenschaft, eine Revolution!
Nach gestrigem Bericht o, lo Harnstoff, • salzsaures Ammo-
niak, • •
Aber ich hab's gesehen, daß Er an die Wand pißte; ich
steckt grad meinen Kopf hinaus, zwischen {zwei Blattläuse,
die sich begatteten} meiner [?] Valnessia und • • Hat Er mir
Frosch gefangen? Hat Er Laich? Keinen Süßwasserpolyp?
keine Hydra? Vestillen? Cristatellen? Stoß Er mir nicht ans
Mikroskop, ich hab eben den dicken Backzahn von einem
Infusionstier darunter. Ich sprenge sie in die Luft, alle
miteinander. Woyzeck, keine Spinneneier, keine Kröten-
eier? Aber an die Wand gepißt! Ich hab's gesehen {tritt
auf ihn los). Nein, Wo^-zeck, ich ärgere mich nicht, ärgern
ist ungesund, ist unwissenschaftlich. Ich bin ruhig, ganz
ruhig, und ich sag's Ihm mit der größten Kaltblütigkeit.
Behüte! wer wird sich über einen Menschen ärgern, einen
Menschen! Wenn es noch ein Proteus wäre, der einem
krepiert! Aber Er hätte doch nicht an die Wand pissen
sollen.
WOYZECK 723
WOYZECK. Ja die Natur, Herr Doktor {wenn dan} wenn
die Natur aus ist.
DOKTOR. Was ist das, wenn die Natur [aus] ist?
WOYZECK. Wenn die Natur aus ist, das ist, wenn die
Natur [aus] ist. Wenn die Welt so finster wird, daß man
mit den Händen an ihr herumtappen muß, daß man meint,
sie verrinnt wie Spinnew^eb. Das ist so, wenn etwas ist
und doch nicht ist, {wenn duj w'enn alles dunkel ist und
nur noch ein {glühen droterj- roter Schein im Westen, wie
von einer Esse. Wenn {schreitet im Ziimiier mif und ah)
DOKTOR. Kerl, Er tastet mit seinen Füßen herum wie
mit Spinnfüßen.
[IV,2 WOYZECK (steht ganz starr). Haben Sie schon dieRinge
von den Schw^ämmen auf dem Boden gesehen, lange Linien,
krumme [?] Kreise, Figuren— da steckt's! da! W^er das lesen
könnte! Wenn die Sonn im hellen IVIittage steht und es
ist, als müsse die Welt auflodern,— hören Sie nichts? • • • •
als die Welt spricht^ sehen Sie die langen Linien, und ist,
als ob es einem mit fürchterlicher Stimme anredete.
DOKTOR. Woyzeck! Er kommt ins Narrenhaus; Er hat
eine schöne fixe Idee, eine köstliche alienatio mentis. Seh
Ermich an! Was soll Er tun? Erbsen essen, dann Hammel-
fleisch essen, sein Gewehr putzen, das weiß Er alles, und
dazwischen die fixen Ideen, die • . Das ist brav, Woyzeck,
Er bekommt ein Groschen Zulage die Woche. ^Meine Theo-
rie, meine neue Theorie ^ kühn, ewig, jugendlich [?]! Woy-
zeck, ich werde unsterblich. Zeig Er seinen Puls! ich muß
Ihm morgens und abends den Puls fühlen.
STRASSE
HAÜPTMAN^^. DOKTOR
Hauptmann keucht die Straße herunter, hält an, keucht, sieht
sich um^
HAUPTMANN. Wohin so eilig, geehrtester Herr Sargnagel?
DOKTOR. Wohin so langsam, geehrtester Herr Exerzier-
zagel?
HAUPTMANN. Nehmen Sie sich Zeit, verehrtester Grab-
stein.
DOKTOR. Ich stehle meine Zeit nicht, wie Sie, wertester*
^nichts? Dann, wieder, wenn als im Zirkel geht W. — ^ y^[Q ein
Thurm W.— ^ SU. 5?. ^Ibbilbung ber beiben (öeftalten. bcr Do!tor
mit bem §ut in ber ^anh in ganser g-igur.— * 2Bot)I ^ier abgebro»
(^en unb neu begonnen.
724 LESARTEN
HAUPTÄIANN. Laufen Sie nicht so, Herr Doktor! ein
guter Mensch geht nicht so schnell, Geehrtester [?], ein
guter Mensch {schnauft), ein guter Mensch— Sie hetzen sich
ja hinter dem Tod drein, Sie machen mir ganz x\ngst.
DOKTOR. Pressiert, Herr Hauptmann, pressiert.
HAUPTMANN. Herr Sargnagel, Sie schleifen sich ja so
ihre kleinen Beine ganz auf dem Pflaster ab. Reiten Sie
doch nicht auf ihrem Rock^ in der Luft.
DOKTOR. {Gute Frau} Sie ist in vier Wochen tot, ein • -^
im siebenten Monat; ich hab schon zwanzig solcher Patien-
ten gehabt, in vier Wochen, rieht sie sich danach {und daß
ich}
HAUPTMANN. Herr Doktor, erschrecken Sie mich nicht,
es sind schon Leute am Schreck gestorben, am puren
hellen Schreck
DOKTOR. In vier Wochen, dummes Tier, sie gibt ein in-
teressantes Präparat [?]. Ich sag ihr, [in] vier
[IV, 3] HAUPTMANN. Daß dich das Wetter, ich halt Sie
beim FlügeP, ich lasse Sie nicht! Teufel, vier Wochen? Herr
Doktor, Sargnagel, Totenhemd! ich, so lang ich da bin,
vier Wochen, und die Leute Citron in den Händen — aber
sie werden sagen, er war ein guter Mensch, ein guter
Mensch.*
DOKTOR. Ei guten Morgen, Herr Hauptmann {fast hätt
ich Sie nicht bemerkt} [den Hut und Stock schwingend) Kike-
riki! Freut mich! Freut mich! {Hält ihm den Hut hin:)
was ist das, Herr Hauptmann? Das ist Hohlkopf. {Ist das
scharf} Hä?
HAUPTMANN {macht eine Falte:) Was ist das, Herr Dok-
tor? Das ist ne Einfalt! Hähähä! Aber nichts für ungut.
Ich bin ein guter Mensch — aber ich kann auch, wenn ich
wüll, Herr Doktor, hähähä, wenn ich will. — He, Woyzeck,
was hetzt Er sich so an uns vorbei. Bleib Er doch, Woy-
zeck! Er läuft ja wie ein offnes Rasiermesser durch die
Welt, man schneidt sich an Ihm; Er läuft, als hätt Er ein
Regiment Kastrierte zu rasieren und würde gehenkt über [?]
dem letzten Haar noch vorm Verschwinden [?]. Aber, über
1 Stock [Rock?] W; btc 5l55tlbung jetgt feinen Stodf, aber lange
üiodf^ö^e. — 2 collaps congestaticus W.— ^ halt sie Herr Fle-
gel [?] W; mit Flügel [inb toieber bie 5?Dd[d^ö^e gemeint. — * 50^9^
barauf wo^I neue Raffung.
WOYZECK 725
die langen Barte, was wollt ich doch sagen? Woyzeck — die
langen Barte
DOKTOR. Ein langer Bart unter dem Kinn, schon Pli-
nius spricht davon, man müßt es den Soldaten abgewöh-
nen, du, du,
HAUPTMANN (fährt fort). Ha! über die langen Barte? Wie
is, Wo^'zeck, hat Er noch nicht ein Haar aus einem Bart
He, Er versteht mich doch?
Haar von einem Menschen, vom Bart eines
Sapeurs, eines Unteroffiziers, eines — eines Tambourmajors?
He, Woyzeck? Aber Er hat eine brave Frau. Geht Ihm
nicht wie andern.
WOYZECK. Ja wohl! Was wollen Sie sagen, Herr Haupt-
mann?
HAUPTMANN. Was der Kerl ein Gesicht macht! Er steckt
Alch^^misten- in den Himmel nein. Vielleicht nun [?] auch
nicht in der Suppe, aber wenn Er sich eilt und um die Eck
geht, so kann Er vielleicht noch auf [ein] Paar Lippen eins
finden, ein Paar Lippen, Woyzeck — ich habe auch das
Lieben gefühlt, Wo3'zeck. Kerl, Er ist ja kreideweiß.
WOYZECK. Herr Hauptmann, ich bin ein armer Teufel —
und hab sonst nichts auf der Welt. Herr Hauptmann,
wenn Sie Spaß machen —
HAUPT.AL\NN. Spaß ich, daß dich Spaß, Kerl!
DOKTOR. Den Puls, Woyzeck, den Puls.^ klein, hart, hüp-
fend, unregelmäßig!.
WOYZECK. Herr Hauptmann, {die Höll ist so •} die Erd
ist höllenheiß, mir eiskalt, eiskalt^ — die Hölle ist kalt,
wollen wir wetten. Unmöglich! jMensch! Mensch! un-
möglich!
[IV, 4] HAUPTMANN. Kerl, wiUEr[Rech]enschaft[?], will
ein Paar Kugeln vor den Kopf haben [?]? Er ersticht mich
mit seinen Augen, und ich mein es gut [mit] Ihm, weil Er
ein guter Mensch ist, Wo^-zeck, ein guter Mensch.
DOKTOR. Gesichtsmuskeln starr, gespannt, zuweilen
hüpfend. Haltung aufgeregt [?], gespannt.
WOYZECK. Ich geh. Es ist viel möghch. Der Alensch! es
ist viel möglich. — Wir haben schön Wetter, Herr Haupt-
mann. Sehn Sie, so ein schöner, fester, grauer HimmeP; man
könnte Lust bekommen, ein Kloben hineinzuschlagen und
! ungeregelt W. — - mir is es eiskalt W. — ^ so ein schön
heißer • Himmel W.
726 LESARTEN
sich daran zu hängen, nur wegen des Gedankenstricheis
zwischen ja und wieder [?] ja— und nein. Herr Hauptmann,
ja und nein? Ist das Nein am Ja oder das Ja am Nein
schuld? Ich will drüber nachdenken {geht mit hreiten [?]
Schritten ah, erst langsam dann immer schneller).
DOKTOR {schießt ihm nach). Phänomen! Woyzeck, Zulage!
HAUPTMANN. Mir wird ganz schwindlich vor dem^ Men-
schen. Wie schnell! der lange Schlingel greift aus, als läuft
}• • •} der Schatten von einem Spinnbein, und der Kurze, das
zuckelt. Der Lange ist der Blitz und der Kleine der Don-
ner. Haha, hinterdrein [?]. Das hab' ich nicht gerne! ein
guter Mensch ist • und hat sein Leben lieb, ein guter
Mensch hat keine courage nicht! ein Hundsfott hat
courage! Ich bin bloß in Krieg gegangen, um mich in
meiner Liebe zum Leben zu befestigen. Von d. • zu •, von
da zur • , von da zur •, wie man zu • • • Grotesk! grotesk!^
WOYZECK. LOUISEL*
LOUISEL. Guten Tag, Franz.
FRANZ {sie betrachtend). Ach, bist du's noch! Ei^ wahr-
haftig! nein, man sieht nichts, man müßt's doch sehen!
Louisel, du bist schön!
LOUISEL. Was siehst du so sonderbar, Franz, ich furcht
mich.
FRANZ. Was eine schöne Straße, man läuft sich Leich-
dorn! es ist gut auf der Gasse stehn, und in Gesellschaft
auch gut.
LOUISEL. {Es} Gesellschaft?
FRANZ. Es gehn viel Leut durch die Gasse, nicht wahr?
und du tust reden, mit wem du willst, was geht das mich! —
Hat er da gestanden? da? da? Und'^ so bei dir? so? Ich wollt,
ich war er gewesen.
LOUISEL. . Er? Ich kann die Leute {nicht} die Straße nicht
verbieten und wehren, daß sie ihr Maul {nicht} mitnehmen,
wenn sie durchgehn.
FRANZ. Und die Lippen nicht zu Haus lassen, es war
schade, sie sind so schön. Aber die Wespen setzen sich
gern drauf.
LOUISEL. Und was ne Wesp hat dich gestochen, du siehst
so verrückt wie eine Kuh, die die Hornisse jagt [?].
1 den h^.— 2 2)te legten Sä^e laufen f^on in bie nä^fte ©jene
hinein, |inb al[o nai^trägl. angefügt.— ^ Ha W. -^ Stand [?] W.
WOYZECK 727
[V, i] FRANZ. Mensch! {Geht auf sie los.)
LOUISEL. Rühr mich an, Franz! Ich hätt lieber ein Mes-
ser in den Leib, als deine Hand auf meiner. Mein Vater
hat mich nicht anzugreifen gewagt, wie ich zehn Jahr alt
war, wenn ich ihn ansah.
WOYZECK. Weib! — Nein, es müßte was an dir sein! Jeder
Mensch ist ein Abgrund; es schwindelt einem, wenn man
hinabsieht. Es wäre! Sie geht wie die Unschuld. Nun, Un-
schuld, du hast ein Zeichen an dir. Weiß ich's? Weiß ich's?
Wer weiß es?
LOUISEL {allein). Gehet
{La corruption du siecle est parvenue ä ce point, que pour
maintenir la morale
Und ist kein Betrug in seinem Munde erfunden. Herr Gott!}
hH
[i] DER HOF DES PROFESSORS^
Studenten unten, der Professor am Dachfenster
Meine Herren, ich bin auf dem Dach wie David, als er die
Bathseba sah; aber ich sehe nichts als die culs de Paris
der Mädchenpension im Garten trocknen. Meine Herren,
wir sind an der wichtigen Frage über das Verhältnis
des {Individuums} Subjects zum Object. Wenn wir nur eins
von den Dingen nehmen, worin [sich] die organische Selbst-
affirmation des Göttlichen, auf einem so hohen Stand-
punkte, manifestiert, und ihre Verhältnisse zum Raum,
zur Erde, zum Planetarischen untersuchen, meine Herren,
wenn ich dieße Katze zum Fenster hinauswerfe, wie wird
dieße Wesenheit sich zum centrum gravitationis gemäß [?]
ihrem^ eigenen Instinct verhalten. He, Woyzeck, {brüllt)
Woyzeck!
WOYZECK. Herr Professor, sie beißt.
PROFESSOR. Kerl, Er greift die Bestie so zärtlich an, als
wär's seine Großmutter.
WOYZECK. Herr Doktor, ich hab 's Zittern.
DOKTOR. {Ei} {ganz erfreut). Ei, ei! schön, Woyzeck {reibt
sich die Hände. Er nimmt die Katze.) Was seh ich, meine
Herren, die neue Species Hühnerlaus', eine schöne Spezies,
^ Der ^rofeffor unb ber Xioftor finb biefelbe ^crfon, 3. %. offen^
bar eine Rarifatur bcs Uniuerntätsprofcjfors 2ßilbrnnb, bcr 3U«
gleid^ prafttf(^er ^15! toar. — ^ und dem W. — ^ Hasenlaus W.
728 LESARTEN
wesentlich verschieden • , die^ Herr Doktor {er zieht eine
Loupe heraus) Ricinus, meine Herren [P]^ — [die Katze läuft
fort) meine Herren, das Tier hat keinen wissenschafthchen
Instinkt — Ricinus ^ die schönsten Exemplare, bringen
Sie ihre Pelzkragen. Meine Herren, Sie können dafür was
anders sehen. Sehen Sie: der Mensch, seit einem Viertel-
jahr ißt er nichts als Erbsen; bemerken Sie die Wirkung,
fühlen Sie einmal: was ein ungleicher Puls! der* und die
Augen.
WOYZECK. Herr Doktor, es wird mir dunkel! {Er setzt
sich.)
[2] DOKTOR. Courage, Woyzeck, noch ein paar Tage, und
dann ist's fertig. Fühlen Sie, meine Herren, fühlen Sie!
{Sie betasten ihm Schläfe, Puls und Busen.) A propos, Woy-
zeck, beweg den Herren doch einmal die Ohren! ich hab
{dies} es Ihnen schon zeigen wollen, zwei Muskeln sind bei
ihm tätig. Allons, frisch!
WOYZECK. Ach, Herr Doktor!
DOKTOR. Bestie, soll ich dir die Ohren bewegen, willst
du's machen wie die Katze? So, meine Herren, das sind so
Übergänge zum Esel, häufig auch die^ Folge weiblicher
Erziehung und® die Muttersprache. Wieviel Haare hat dir
die Mutter zum Andenken schon ausgerissen aus Zärtlich-
keit? Sie sind dir ja ganz dünn geworden, seit ein paar
Tagen. Ja, die Erbsen, meine Herren!
DER IDIOT. DAS KIND. WOYZECK
KARL {hält das Kind vor sich auf dem Schoß). Der is ins
Wasser gefallen, der is ins Wasser gefallen, mir, der is ins
Wasser gefallen.
WOYZECK. Bub, Christian!
KARL {sieht ihn starr an). Der is ins Wasser gefallen.
WOYZECK {will das Kind liehkosen, es wendet sich weg und
schreit). Herrgott!
KARL. Der is ins Wasser gefallen.
WOYZECK. Christianchen, du bekommst en Reuter, sa
sa {das Kind wehrt sich; zu Karl:) da{s}, kauf dem Bub en
Reuter!
1 enfonce, der W.— ^ Der Doftor luolltc Dielleti^t [mjcn: wesent-
lich verschieden von der, die Doktor Ricinus . . fand ober
beschrieben.— 3 3^ bem ftrtcilic^cn JiCort, bas W als herauf
entstffert, [tecft oielleid)! bas 'l\txh 3Um 6ubie!t "iRtcinus. * daW.
^ in W. — ® wie W.
WOYZECK 729
KARL {sieht ihn starr an).
WOYZECK. Hop! hop! Roß.
KARL {jauchzend). Hop! hop! Roß! Roß! {läuft mit dem
Kind weg.)
H
(5. 145. 10 was! über {Hohl da unten, alles hohl; H | -'4 be=
ginnt [I, 2] H 1 ANDRES über ;WOYZECK| H , Woyzeck über
{Andres} H [ 25 WOYZECK über {ANDRES; H | -6 cor
Hörst unlesbares geftr. 2BortH | 27 Ortsangabe na(^ h^: ügl.Tl? ■..: :
29 voran na(^getr. H.
e. 146. 2 {Was g[eht][ Und wenn! H ; 8 beginnt [I, 3] H 9 arm
na^getr. H | 10 deiner {Frau[lein]} Mutter H | 18 lies Schim-
mel aus I 29 l^tnter viel unlesbare geftr. Stelle H | 32 {her}ggan-
gen H I 34 beginnt [I, 4] H.
S. 147. 2 herein. {Ich muß fort} H | 4f. [te^t als fsenar. Über«
ft^rtft in einer ^tWt, bann bie 3U)eite §älfte ber 4. unb bic 5. Seite
leer inH | 6-17 ^erübergenommen aus h\ mit ^nberung ber ^er«
[onennamen:ügl.706f. | i8-27einge[^altetau5h2: DgI.S.721i9ff.;
bie[es3roi[(^enfpieIinbie3ct^rmar!tf5eneein3ufügen,berecf)tigtroDf)I
bie ^ntoefen^eit bes Hnter offi5iers im Snnern ber 5Bube bei h^ (S.708)
[oroie bie geroiditigen 2Borte 93largret^en5, bie [i^ in h^ an bie
^a^rmarftfjene anfc^lie^en (708 6 ff.) unb toonac^ bort ber er[te3u=
[ammenfto^ SBopsedfs mit [einem 9]ebenbu^Ier erfolgt [ein mu^ |
29 — 14818 l^erübergenommen aus h^: ogl. S. 707 f.
S. 148. 19 5ugefügt auf ©runb ber 5\anbbemerfung 5um ä^orfier«
gef)enben in h^: ogl S. 708, gufen. 2; t^a bie 2Borte guckt sieben
Paar lederne Hosen durch [(f)on 146 6 f. oerroertet roorben, mußten
[ie ^ier loegfallen; bem ^^ambourmajor fonnten bie 2Borte in tizn
5ö^unb gelegt toerben auf ©runb üon 147 18 f. (re[p. 721 20 f. in h^)
unb 70938 (in h^) \ 20 beginnt [I, 6] H ; 31 Gold! {Wie wird mir's
beim Tanz stehen?} H | 33 einen jugef. H | Mund über {Lip-
pen} H I 37 Schlafengelchen! {siehst} H.
S. 149. 2 wirst. {Zum Mittag w} H | 11 {Was willst du?} Bin
ich ein ]\Iensch? H | 13 drückt ihn. {Über so glatte Backen
läuft} H I 15 hinter Leut! beginnt [I, 7] H ] Das is H | 20 hinter
andern! unlesbare geftr. Stelle.
S. 150. 9 hinter Ein guter Mensch beginnt [1, 8] H | 18 Gerührt
na(f)getr. H | 34 auf die Moral über {auf die moralische Art}
H I 39 hinter Mensch beginnt [II, 1] H.
S. 151. 3f. Ich hab bis Blut na^getr. H j 11 ein {vornehmer}
Herr H | und eine Uhr nad)getr. H | 12 und könnt bis reden
730 LESARTEN
na^getr. H | 13 tugendhaft sein {und hätt mich kopulieren
lassen in der Kirch mit Chaise und Pferd}. H | 19 j^inter hin-
unter! ber 9?e[t bcr Seile (V4) frei H 1 20 beginnt [II, 2] H; bofe bie
Sjene^ävor SJlariens 5lammei" [pielt, [(i)etnt aus ber folgenben
Ssene ^etuorjugeljen, auc^ ijt 9[JIarien5 33cr[limmt^eit ob ber 3"=
bringli^feit bes 3:ambonrmaiois auf ber Strafe boppelt oerftänb^
li^. I 29 spötiisch nai^getr. H | 33 verstimmt nad^gelr. H bc-
stimmt W | a: I)inter alles eins, ber 9\e[t ber Seite (Vd) frei H.
S. 152. 1 beginnt [II, 3] H [ 3f. Hm! {Man müßt's sehn, wahr-
haftig, man} Ich seh nichts H | 6 hirn gugef. H | 10-12 Wie,
Marie bis schön sein? nai^trägl. jugef., 3. Z. a. 5R. H | 13 du
{tust} redst H | i9f. zwei Augen hat und na(|getr. H | 21-26
WOYZECK. • • • MARIE {keck-^). Und wenn auch. H; bie un-
lesbare Stelle, bie aber brei SBörter gu entl^alten f^eint, entziffert
als Mußt sterben [?] W. 3SgI. bagu bas oben S. 703 ©efagte.
Hm im 3:eit feine Sücfe an [0 geinid^tiger Stelle gu laffen, tft (£r=
[ü^ aus h2 ge[d)affen roorben: ogl. 727 1 ff. §inter Und wenn
auch i[t ber 5^e[t ber Seite (V5) frei in H | 26 beginnt [II, 4] H.
S. 153. 11 Aber an die Wand H | 12 hinter in der Hand,
beginnt [II, 5] H ] 15 beobachten {,denn die Sonne schien
grade zufällig einmal wieder} H | 21 einem [btaleftif^er
DatiD] H I krepiert [toas in h^ (722 ii) [te^t] W | 3i hat {sie's}
schon H I Stimme {zu ihnen geredet} H | 35 hinter in was
beginnt [II, 6] H | 37 {WOYZECK} DOKTOR H | 37f. men-
tahs partialis a. 5R. für 3U)et geftr. Sßorte H | 3S ausgezeich-
net w^
S. 154. 9 Subjekt na^getr. H ] 11 l^inter Ja. ber 5Re[t ber Seite
(1/4) frei H 12 beginnt [II, 7] H; Ortsangabe nac^ h^: ogl. S. 723 |
14 f. ebenfalls nac^ h^ \ 16 HAUPTMANN nac^getr. H 23 em a. 5?.
nac^getr. H j Menschen über {das} H j hinter schießen no^ {un-
aufhör[?]} H | 24 ich bin so schwermütig na^getr. H.
S. 155. 3 hinter sagen beginnt [11,8] H [ 11 l^inter Sargnagel,
bas Übrige ber Seite (gut Vs) frei H | 12 beginnt [in, 1] H | 2if.
Vorhin sind über Die {Mensche} Weibsbilder H | 22 hinaus
über {dampfen} H hin W | 26 Meintwege. {Ich hab} H | 33
Tanz, Tanz. {Ich • tanz} wird H ] 38 beginnt [HI, 2] H | hinter
dahie. freier 5Raum uor neuer Sjene H.
S. 156. 6 ^erfonenbeäei^nung a. 5R. na^getr. H | dir nad^getr.
H I 7 Vorwärts [?] nac^getr. H | 9f. ich will ihm bis totschla-
gen nac^getr., 5. 3:. a. 5R. H | 14 muß über könnt H | 14-16 Ich
wollt bis Hals gießen a. 5?. nac^getr. H | 17-22 ANDRES bis
1 9la(^getr. H.
WOYZECK 731
ist mei Freud, a. 5\. H, hinter 9Boi)5ed5 SC^ortcn, qIIo ^iutcr 06
[te^enb, W: aber 2rsDi)3ed5 SBorte [leiten 3. X. fc^on auf bcr nQd)=
[ten 9.1lanu)!ript[eite (f. u.), fo ha^ Sü(i)ner aurf) it--2-2 an bereu
^anh ge[(^rtcben l^ätte, rocnn er |ie bort etngefc^altet f)ätte luiiicn
roDÜen ] :^7 erstickt über J/äV/r/j- H | so f)inter Warum bcninnt
[III, 3] H I 35 wie ich [?] W.
S. 157. 2 Euch jugef. H ] 7 der Soldat n. 9?. für {der; Wirt
H 1 8 sich totzuschlagen über {der Unmäßigkeit}H 9nicht[?]
jugef. H I 13 beginnt [III, 4] H | 14 ey legt für reckt W | 15 ihr?
{So! Lauter H | I6 die {Hauer- Ji Zickwolfin H | 17 Zick-
wolfin über ein nid^t mel^r lesbares Sßort gefcfiricben H | 17 f.
Hör ich's da auch, sagt's der Wind auch? a. 0^. na^gctr. H |
20 EIN ZDDIER ^ei^fs in h^ (S. 709), bie toeitere Ortsbeftim-
mung jugef. 24 zu. {Hörst} und H 25 aus der Wand 3Ugef. H
üG Ja — {sie • [ laß sie H | Einer ist bis dann ift fraglirf),
[tc^t U)ie geftr. aus H | 27 Amen, {schläft wieder ein.) HW;
bie f3enari|(f)e 58emer!ung tjt u)o^I nur üerfe^entli^ [tc^en gc=
blieben, benn Rubres antwortet ja noc^ einmal | 28 Es redt
bis stich! stich! fie^t roic geftr. aus H | 32 beginnt [III,
5]H.
(5. 158. 3 ich wollt bis Schnaps a. 9?. H [ 4 muß saufen, {ich
wollt, die Welt war ein Faß Bordeaux.} H | 7 sie {dreimal}
umH I -:\.{eY{sieYingenY{\ler{sieringe}iW \ i2oorBrannde-
wein röof)! norf) Ha H | i7 beginnt [III, 6] H | 25 nicht umsonst
W I 25 f. Er soll bis haben na^getr., benn Tod haben intcr^
linear 3ugef. H ] 31 Du Hund H; Ijinter Hund! ber 9\eft ber
Seite (Vs) fi-ei H | 32 beginnt [III, 7] H.
e. 159. 5 Fort [tatt Karl W | Das {liegt in der} brüst' H
sf. Blutwurst {und Leberwurst} sagt H | ig Heiland! Hei-
land! bis salben! a. -R. beim (£nbe ber Seite H | 17 beginnt [IIIs]
H I 24 f. Herr! wie dein Leib bis aller Stund a. 5R., offenbar
als SSariante ausuferen neben ben im 3:e3tt fte^enben 33erfen Lei-
den sei all mein Gewinnst, Leiden sei mein Gottesdienst
H; "ha biefe SSerfe [c^on im '£en3', O. 89 oortommcn, finb t)ier
bie anbern getoäljlt ujorben 24 war über {gewesen; H 2'j Fried-
rich über hervor H heimlich hervor W | 30 Wehrmann 3Ugef.
H 1 31 geb.— d.— H | Maria bis Juli a. 9^. 3ur 5lusfüllung oor-
r^erge^enber SüdEe H.
6. 160. 1-26 r;erübergeiu">mmou aus h\ niii 'Itnbcrung ber ^cvfoucn=
namen: ugl. S. 7i;3f. | 27— IBLs "1)05 ^Jieffei" bis "uub ba nod)
einer •••" ebenfalls ^erübergenommcn auc> h^ luo freiließ biefe 9?ucf*
1 ein nid)t gan3 lesbarer geftr. 9iame.
732 LESARTEN
fe^r 2ßDi)3cd5 jur SOlorbftelle erft [päter folgt, motiöiert burcf) bte
2Btrt5^aus[3ene: r»gl. S. 716 iinb (5(^Iufebert(^t.
e. 1611. 5 '<eanbe" lies: "Sommer" | 6 ''2ßer fann es— bann":
lies: "2Ber !ann's ericnnen" | i'-is toieber aus h^ (S. 714) herüber*
genommen, bo(^ lä^t [t^ bte Anfügung an btefer Stelle ntd)t
galten, roenn au6) für h^ eine fortlaufenbe (gnttoidlung angenom*
men ujtrb; na^ ber Sjenenfolge oon h^ nämlt(^ [(^liefet [xä) btefer
5Iuf tritt frember ^er[onen an 16026 an, bie £eute vertreiben aI[o
2Boi)5ed non ber 93lorbfteIIe unb finben bie i^ei^e, ^ören i^n aber
ni(^t ertrtnfen (ogl. S^Iufeberi^t) j u "StillÜDa!" lies: "Still!
Dort!" I 12 "Da! toieber ein 2on" lies: "Uu! Da! toas ein Üon"
13 "2Bai[er, bas" lies: "2ßa[[er, es" | is "Unb je^t toieber— [toie]"
lies: "Hu! je^t roieber. 2Bte" | i: "toie ©efpenfterfpu!" lies:
"toie gefprungne ©loden".
1 Die Seite toar [(^on na^ W gebrudt, beoor eine erneute Ser=
gleidjung au(^ ber Sßotjjed^^anbf^riftcn oorgenommen tourbe.
) 733 <■
DER HESSISCHE LANDBOTE (S. 163-177).
DIE ursprüngliche, ausschließlich von Büchner herrüh-
rende Fassung existiert nicht mehr, auch nicht in den
Büchnerschen Prozeßakten, die, nach eingeholter Auskunft,
gleich den Weidigschen Prozeßakten weder im Hessischen
Justizministerium noch im Hessischen Staatsarchiv vor-
handen sind und allem Anschein nach vernichtet wurden.^
A:Erstdruck desFlugblatts; zwei ineinanderliegende Bogen
von schlechtem, grauem Papier in hohem Oktavformat,
paginiert mit 1-8; nach der gerichtlichen Ermittlung in
Offenb ach hergestellt,vonDruck-undSatzfehlern strotzend.
Einzig bekanntes, von ]\Iäusen angefressenes Exemplar
im Nachlaß Büchners. — Inhaltlich eine von Weidig vor-
genommene Bearbeitung des Büchnerschen Entwurfes;
über den Umfang der Änderungen Weidigs geben die in
Nöllners "Aktenmäßiger Darlegung des wegen Hochver-
rates eingeleiteten gerichtlichen Verfahrens gegen den
Pfarrer Dr. Friedr. Ludw. Weidig" mitgeteilten Aussagen
Beckers Auskunft:
"In dem oben [S. 605 ff.] angegebenen Sinn schrieb Büchner die
Flugschrift, welche 7'on IVeidig ^Landhotc genawit worden ist. Noch
muß ich erwähnen, daß Büchner während meiner Abwesenheit ein-
mal bei Weidig gewesen sein muß, um bei demselben eine Stati-
stik vom Großherzogtum, die er bei seiner Arbeit benutzt hat, zu
entlehnen ... Diese Schrift wurde durch Clemm und mich an Wei-
dig überbracht. Er machte ... Einwendungen ... und sagte, daß bei
solchen Grundsätzen kein ehrlicher Mann mehr bei uns aushalten
werde (er meinte damit die Liberalen] ... Indessen konnte Weidig
der Flugschrift einen gewissen Grad von Beifall nicht versagen und
meinte, sie müsse vortreffliche Dienste tun, wenn sie verändert
werde. Dies zu tun, behielt er sie zurück und gab ihr die Gestalt,
in welcher sie später im Druck erschienen ist. Sie unterscheidet
sich vom Originale dadurch, daß an die Stelle der Reichen die Vor-
nehmen gesetzt sind, und daß das, was gegen die sogetiantite liberale
Partei gesagt 7var, weggelassen nnd viit anderem, was sich bloß anf
die Wirksamkeit der konstitutionellen Verfassung bezieht, ersetzt wov-
den ist, wodurch denn der Charakter der Schrift noch gehässiger
geworden ist. Das ursprüngliche Manuskript hätte man allenfalls
als eine schwärmerische, mit Beispielen belegte Predigt gegen deu
Mammon, wo er sich auch finde, betrachten können, nicht so das
1 Die Akten sind auch nicht abschriftlich im Geheimen
Staatsarchiv zu Berlin erhalten.
734 LESARTEN
letzte. Die biblischen Stellen sowie überhaupt der Schluß sind von
Weidig ..."
Ferner noch, bei einem anderen Verhör:
"Das Manuskript dieser F"lugsclirift habe ich bei Büchner ins Reine
geschrieben, weil seine eigene Hand durchaus unleserlich war ...
Ich habe indessen nur das ursprüngliche Manuskript, wie es Büch-
ner geliefert hat, abgeschrieben. Ich kann auch hier noch anführen,
daß der Vorbericht ebenfalls von Weidig verfaßt worden ist. Büch-
ner war über die Veränderung, welche Weidig mit der Schrift vor-
genommen hatte, außerordentlich aufgebracht; er wollte sie nicht
mehr als die seinige anerkennen und sagte, daß er ihm gerade das,
worauf er das meiste Gewicht gelegt habe, und wodurch alles an-
dere gleichsam legitimiert werde, durchgestrichen habe."
Um Büchners Unwillen über Weidigs Eigenmächtigkeiten
gerecht zu werden, mußte, wenn auch nicht die ursprüng-
liche Fassung wiederhergestellt werden konnte, doch
wenigstens versucht werden, die Weidigschen Änderungen
von dem echt Büchnerischen Texte abzuheben. Das ist
auf Grund der gerichtlichen Angaben Beckers sowie auf
Grund stilistischer Momente geschehen, indem die von
Büchner allem Anschein nach nicht herrührenden Stellen
kursiv gesetzt wurden; die nähere Begründung für die
Unterscheidung im einzelnen bringen die Lesarten.
B: neue, durch Weidig nochmals veränderte Auflage, dies-
mal in Marburg gedruckt. Ein Exemplar dieses Zweitdruk-
kes existiert offenbar nicht mehr, obwohl er dem Gericht
seinerzeit vorgelegen hat. Aus Nöllners "Aktenmäßiger
Darlegung" ist nur eine, von dem früheren Wortlaut ziem-
lich abweichende Fassung aus dem Anfang der Flugschrift
bekannt (Lesarten 165 26-36); der vollkommen geänderte
Schluß wird aus h entnommen werden können,
h: Quartbogen (4 Seiten) vergilbten glatten Papiers, voll-
beschrieben, doch mit Rand, nicht paginiert. Die Schrift
ist weder die Hand Georg Büchners noch die Ludwig
Weidigs^ und gewiß auch nicht die August Beckers; auch
Ludwig Büchner schreibt in Briefen etwas anders^ und
doch wird das Schriftstück mit den Vorbereitungen zu der
Ausgabe N in Verbindung zu bringen sein. Denn h stellt
^ Festgestellt an Hand einer von Weidig ausgestellten
Quittung, die sich in Butzbacher Privatbesitz befindet. —
"■ Wie die in der Staatsbibliothek zu Berlin aufbewahrten
Briefe Ludwig Büchners dartun; noch weniger kann
Luise Büchners Hand in Frage kommen.
DER HESSISCHE LANDBOTE 735
nur, wie seine ursprüngliche Überschrift besagt, Bruch-
stücke einer Flugschrift aus 1834 dar, und zu welch an-
derem Zweck könnte dieser Auszug gemacht worden
sein als zur Wiedergabe in N? Tatsächlich wagt ja Ludwig
Büchner nur einen fragmentarischen Abdruck des 'Land-
boten' in seiner Ausgabe, aber freilich fällt dieser dann
wesentlich umfangreicher aus. Und doch sind Beziehun-
gen da zwischen h und N, die erklärt werden müssen:
i.ist die ursprüngliche Überschrift von h durchstrichen und
mit anderer Tinte dafür die von N eingesetzt: "Der sehe
Landbote. Erste Botschaft , im Juli 1834"; 2. stimmt
N in einigen Lesarten im Gegensatz zu A mit h überein;
3. sind diese Abweichungen, soweit man aus dem bekannten
Wortlaut von B urteilen kann, mit B identisch. Die Sache
wird also wohl so liegen, daß der Auszug h aus B statt
aus A vorgenommen worden ist und mit dieser mehr Wei-
digschen Fassung für eine Ausgabe Georg Büchners wenig
geeignet war; es wird deshalb ein neuer Auszug nach A
gemacht worden sein, und dieser ist zugleich bedeutend
umfangreicher ausgefallen, weil man wohl einsah, daß ein
so kärglicher Auszug wie h kein Bild von der Flugschrift
Büchners geben konnte. Wie dem aber auch sein mag, so
viel darf als feststehend angenommen werden, daß der
gänzlich anders lautende Schluß von h (deutsche Reichs-
idee! vgl. Lesart zu 17711-39) der Weidigschen Fassung von
B entstammt.
N: der von Ludwig Büchner für seine Ausgabe endgültig
gewählte Auszug aus A, in den sich jedoch einige Lesarten
aus B verirrt haben; auch von den Milderungen der A-Fas-
sung mögen nicht alle eigenmächtig von Ludwdg Büchner
aus Furcht vor der Zensur vorgenommen worden sein,
sondern manche auf B zurückgehen.
F: schon Franzos hat in seiner "Anmerkung zum 'Land-
boten'" versucht, die von Weidig herrührenden Stellen
als solche festzustellen (S. 285 f.); wo seine Auffassung von
unserer abweicht, ist dies unter den Lesarten vermerkt
worden.
D: Eduard Davids Ausgabe des 'Landboten' in der "Samm-
lung gesellschaftswissenschaftlicher Aufsätze, 10. Heft,
München 1896". David unternimmt es bereits, die Weidig-
schen Stellen im Text durch Anwendung verschiedener
Druckt^^pen von Büchners Fassung zu unterscheiden. Er
736 LESARTEN
alles Erreichbare. Auch seine Abweichungen von unserer
Auffassung sind unten verzeichnet worden.
Für die Textherstellung kam nur A, mit Benutzung von
F und D, in Betracht; doch wird man auch die Lesarten
der noch unbekannten Handschrift h kennen lernen wollen,
und so werden diese im folgenden mitverzeichnet, wobei
auch B und N, soweit letzteres mit h übereinstimmt, be-
rücksichtigt sind. Hingegen sind die bloßen Druck- und
Satzfehler von A weder hier verzeichnet noch in den Text
übernommen worden.
S. 165. 1-18 3:{tel unb 33orbend^t üou 2Beib{g na6) ^Seders 5In<
gaben (S.733f.); ber 3;itel lautet Bruchstücke einer Flugschrift
aus 1834 in h, i[t aber [päter mit anberer Xtnte geftri^en unb
buri^ ben ZiUl von X erfe^t roorben: Der sehe Landbote.
Erste Botschaft , im JuH 1834; ber 93orben(^t fe^Il hN
19 bas 9JZDtlo [(^reiben FD SBeibtg gu, getot^ mit Hnrc^t; ber
3?uf entstammt ber fran5. Jieoolutton^ unb rotrb aI[o com I)id)tcr
bes 'Danton' als urfprünglic^e Öberf^rift getoä^li loorben [ein
20-25 Don SBeibig, benn bei 91öIIner a. a. D., 6. 106 als Se»
laftungsftelle gegen i^n angeführt | 22 Fürsten und Großen h |
20 ff. SBü^neri[(^, bes^alb in B von 2Betbtg geönbert; ogl. au^
14 10 ff. unb bie Sauern in '£eonce' (S. 134 f.) ! 26 Vornehmen üon
Sßeibig an Stelle ber S^etd^en f)ier roie [onft naä) Sedfer (8. 733)
eingefe^t; Fürsten Bh j 26-28 sie wohnen bis eine eigne
Sprache f e^It B h | so der Beamte des Fürsten [tatt der Vor-
nehme Bh I 31 hinter dem Bauer BhN | dem Ochsen B |
32 der Fürst nimmt Bh | läßt dem Volke B läßt dem Volk
h 1 35 f. auf dem Tische des Zv/ingherrn BhN j 37 ff. alles
Stattftif^e :^ter töte fpäter t)on 58ü(^ner, naä) Scdfer (S. 733) |
37 — 166 12 Im Großherzogtum bis im Staat zu erhalten.
fel^It h 1 38 6, 363, 364 Gulden A: Drud- ober 9?ed^enfe]^Ier.
(5. 166. 7 6, 363, 363 fl. A: ogl. 16538 | 13 nun fef)It h | für ein
gewaltiges hN | 20—171 33 Seht nun bis 16000 Gulden. fe^Ith.
S. 168. 10-14 Und will endlich bis selber geschunden, offenbar
ein abf^töädienber !^n]ci^ oon Sßeibig, {ebod^ oon FD nt(^t als
[ol^er anerfannt.
S. 169. 21-26 In Deutschland bis teuer bezahlen; denn abfc^toa^
d)enber 3u[<^^ SBeibigs, oon bem bie Stbelftellen na^ Seder
(S. 734) ftammen; mit ber Statifti! [e^t toteber Süi^ner ein.
^ Der 1794 in ber 5teüoIution umgefommene Scf)rift[teIIer (£^am=
fort [oll i^n in umgete^rter Sa^folge geprägt ^aben: Krieg den
Palästen, Friede den Hütten!
DER HESSISCHE LANDBOTE 737
S. 170. i^J-i'J Wehe über euch bis eure Kinder, offenbar ein
nltteftamcntlirfjes Silb üon iBelbip, bas fcl)Icc^t 511 bem folfleubeii
58ilbe bes 9JU'bi3tner5 23üci)ner pafjt; FD ertennen nur in lyf.
SBeibigs Eigentum.
S. 171. Ö-32 Das alles duldet ihr bis Das Teil von Judas! 5Iod)
ber unmittelbar oor^erge^enbc 9alj ift 5a)eifelIo5 uon 33iuf)ner
(ogl. bie Sauernfjene in 'l'eonce'!); 'bamx aber fe^t, faft unocrtenn-
bar, 'iüeibigs poftörlic^cr %m\ <t\\\ {Vater der Lügen, unser liebes
Vaterland n\w.), unb auc^ bie Propagierung ber beut|d)en 9?ei(^ss
ibee ftimmt nieF)r ju 2Beibig als 3U Sü^ner. FD fe^en nur in ben
brei legten 3eilcn Die Heilige Schrift sagt ufco. ÜBorte iüeibigs.
(5. 172. 3 Keiner erbt mit der Geburt vor dem Andern h
Keiner erbt durch die Geburt vor dem Anderen N | 5 ff.
ed)t Süi^nerifc^: ogl. 668 12 f. 15 am Volk h ly über der Voll-
ziehung h I 22 Gesetzgebung h | 23 Volke h | 26 über der
ersten Königsleiche den Hals brechen: Dantonftil! | 27 Frei-
heitsrufe h I 30 f. im Lande schlug sich h | -.v-i die Söldlinge
h I 34 im Blute h X.
S. 173. 2 dickwanstigen: ec^t SücQnerifd) (ogl. 431 20) | 3 f. vom
erblichen Götzendienst der Königslierrschaft h 3 den Men-
schen h 14 richteten sich zum A rüsteten sich zum hX; folglirf)
in A nur ein Drndfe^Ier, fo ha^ ber 3:ejEt oorn nac^ hX berichtigt
roerben mu^ 24 — 17437 Detm was sind diese Verfassungen bis
euch ergeben hattet. fef)It h ] 30 ff. über bie Wahlgesetze f)at ]\ä)
SBü^ner au^ fonft geäußert: ogl. 607 21 ff. :j7— 175 38 Denkt an die
Verfassung bis Aber ihr Maß ist voll! ^ad)bem oon ben ^yerfaffun«
gen fdjon 24 ff. bie 5^ebe gecoefen unb bann fpejiell oom 2Baf;I=
gefe^ gefproi^en roorben, bebeutet es einen 5^üd|c^ritt, roenn nun
nochmals au5füF)rli(^ auf bie Ü^erfaffung $effens eingegangen wirb;
roar bo^ au^ fc^on oon ber UnoerIet5lid)feit bes (öroB^er3og5
169 f. bie 5?ebe, unb au^ bie Grroä^nung oon ber ^orioeigerung
ber 3tDei ^Jlillionen COuIben 174 20 ff. bebeutet eine iBicber=
^oliing oon 17336. Überhaupt ift bie Darftellung ber gan3en
Stelle bis 17538 auBerorbenllic^ breit unb matt gegenüber bor
prägnanten Äür3e ^ßü^ners; ber paftörlid)e Son flingt auc^ aufeer-
^alb ber ^ßibelftellen öfters burc^. Die beträd}tlid)e i^ängc biefes
2ßeibtgfc^en CSrfa^ftüdes aber ertlätt fic^ baraus, ^icii^ roir ^ier an ber
Stelle fte^en, roo fid) 33üd)ncr, im ^rnfc^luß a\\ bie Grmä^nung (örol--
manns unb jenes fianbtagsfampfes, gegen bie fogenannten liberalen
Qusgelaffen \)a\, loas SBeibig na^ Seders ^usfage (S. 733) burc^
anberes blo^ auf bie ^irffamfeit ber fonftitutionellen ^erfaffung
33e3uglic^e5 erfe^t t)at. F erfennt 2Beibigfd)en Stil nur in 1743s-
17527 {Der Herr bis schunden) unb 175 3!- js {Er hat eine Zeit-
BÜCHNER 47.
738 LESARTEN
bis Knechtschaft.), D {ebod) in 174;!.' — 176:^9 {^md von der
Furcht des Herrn bis ist eitel Schinderei. [[. u.]) | :i!>f. unserer
einheimischen Tyrannen fcf)It h.
S. 175. 1 Volkes h | 2 diese Gewalthaber h | 4— 176:iß Gott
ivird bis ein seJir groß Heer." ]i\)\i h | 3« — 1768 Sehet an bis
zum Segen verordnet?" [(i)reibt D 5ü3cibin 311; bagegen [prid)t
33üc^ners briefliche '^^(uf^erung über fiubiuig Don 23ai)ern 559 1 1 ff.
(5. 176. 9-12 bie ^erfe finb SBü^netifd)es ^^xiai ^Bürgers (ogl.
5?eg.), finb alfo 3U Unrecbt in S^urfiofc^rift gefetzt | i3-:J9 Idi
sage euch bis ist eitel Schinderei. fd)on bur^ bie üielen 23ibel=
5itote als ^>Qftorengut gefennselcbnet; erft mit ber Slatiftif fäi^rt
93iic^jner fort | Vo Ich sage euch bis Maß ist voll, oon F, ent-
fprecl)enb 175 38, ^ü(^ner sugef^ricben | 37 Wie der Prophet
schreibet feljlt hN | 37 f. Also stehet es in Deutschland; eure h
Also stand es bisher in Deutschland; eure N | 38 — 1778 denn die
Ordnung bis Land und Volk, fel^lt h | 38 — 177 4 sind ''verdor-
ret", wie der Prophet schreibt. Ihr seid nichts N.
(3. 177. 6-11 So weit ein Tyrann bis großes Heer sein. (Segen
bie 3:t)rannen tämpft SBeibig, 93ütE)ner gegen ben 9[)lammon; qu^
nimmt verdorret Land und Volk bas ^xopfietenßitat uon 176 w f.
töiebcr anf. Xro^bem laffen FD cr[t uon 8 an {Aber wie der
Prophet) äBeibigfcben Xeit beginnen | 8f. Aber der Tag
der Auferstelmngh. \ 11-39 Heer sein. Dann wird der Hesse
dem Thüringer, der Rheinländer dem Schwaben, der Westphale
dem Sachsen, der Tyroler dem Baier die Bruderhand reichen.
Die besten Männer aller Stämme des großen deutschen Vater-
lands werden, berufen durch die freie Wahl ihrer Mitbürger,
im Herzen von Deutschland zu einem großen Reichs- und
Volkstage sich versammeln, um christlich über Brüder zu
regieren, h | 12-27 Hebt die Augen bis mit euch aufstehen
\)ä\i F für 2Borte SBeibigs, aber bas ftatiftifc^e ^Irgument rül;rt
bücf) töD^I lieber Don Sü^ner I^er, unb uor allem fommt natur=
lid) bem aUebisiner bas ©ilb von ber Scheinleiche 5U, bie zu
zucken anfängt; letjteres gilt aud) gegen D, bas SBeibig mit 17
Wohl drohen sie beginnen läf^t | 2S-39 Ihr bücktet euch bis
Amen. paftörlid)er Sc^Inf^, ber and) nad) 5Beder (S. 734) von
SBeibig Ijerrüfjrt.
> 739 ^
NATURWISSENSCHAFTLICHE UNI) PHILOSOPHI-
SCHE SCHRIFTEN (S. 179—367).
DIE chronologische Aiioydiiniig der wissenschaftlichen
Schriften bereitet insofern Schwierigkeiten, als Büch-
ners naturwissenschaftliches und philosophisches Interesse
lange Zeit gleich stark gewesen zu sein scheint und selbst
schwer zu entscheiden ist, welche seiner ersten wissenschaft-
lichen Arbeiten auch nur zeitlich den Vorrang hat. Nach
einer mündlichen Äußerung Büchners (S. 605) ist er sich
über seinen Beruf nie im Zweifel gewesen, aber nach einer
persönlichen Erinnerung des Kantonalstabsarztes Dr. Lü-
ning wäreBüchner noch kurz vor Antritt seinerVo riesungen
in Zürich schwankend gewesen, ob er sich "der spekulati-
venPhilosophie oder der beobachtendenXaturwissenschaft
zuwenden solle" (S. 642).^ Die Briefe der Zeit geben keine
ganz klare Auskunft darüber. In dem ersten Brief nach
derFlucht ausDeutschland wird programmatisch geäußert:
"Ich werde das Studium der medizinisch-philosophischen
Wissenschaften mit der größten Anstrengung betreiben,
und auf dem Felde ist noch Raum genug, um etwas Tüch-
tiges zu leisten" (S. 544). Hier wird also nur an das natur-
wissenschaftliche Studium gedacht. Im Oktober 35 sieht
sich aber Büchner, offenbar um das Züricher Doktordiplom
zu erlangen, "nach Stoff zu einer Abhandlung über einen
philosophischen oder naturhistorischen Gegenstand um"
(S. 557)- Das erste Schwanken zeigt sich demnach bei der
Anstellungsfrage. In dem Brief an Gutzkow, der wahr-
scheinlich vom Ende 35 stammt, schreibt Büchner dann
zum erstenmal vom "Studium der Philosophie" (S. 559),
und der nächste Brief an Gutzkow gibt eine nähere Aus-
kunft darüber: er gedenkt Herbst 36 in Zürich "einen Kurs
über die Entwicklung der deutschen Philosophie seit Car-
tesius" (S. 562) zu lesen. Während er sich dazu offenbar
noch vorbereitet, ist jedoch die "Abhandlung", die ihm
1 Dazu stimmt X, S. ^>,7: "Am 18. Okt. iS;^6 reiste Büchner
nach Zürich, vorbereitet auf zwei Lehrkurse, einen über
vergleichende Anatomie, den anderen über Philosophie.
Dem letzteren gab seine eigene Neigung den Vorzug; doch
da Professor Bobrik bereits philosophische Vorlesungen
angekündigt hatte, so sparte er, um CoUisionen zu ver-
me'iden, diesen Plan für das folgende Sommersemester auf
und entschloß sich zur vergleichenden Anatomie."
740 LESARTEN
den Doktorhut verschaffen soll, längst fertig; denn das ist
die Schrift "sur le Systeme nerveux du barbeau" (S. 641),
die er bereits im April und Mai in der Naturwissenschaft-
lichen Gesellschaft zu Straßburg vorgelesen und danach
an die Züricher Fakultät gesandt hat. Demnach wird man
die Entstehung der naturwissenschaftlichen Abhandlung
früher anzusetzen haben als die Abfassung der philosophi-
schen Vorlesungen, von denen die Spinoza-Arbeit sogar
erst im Brief vom 2. Sept. ^6 namentlich erwähnt wird. —
Von den beiden philosophischen Vorlesungen stellt Fran-
zos den Spinoza voran, und er beruft sich dabei auf eine
Bemerkung Büchners, die er aber nicht näher angibt (F,
S. 319). In Büchners Briefen w^ird zuerst Cartesius er-
wähnt (s. o.) und erst im Brief vom 2. Sept. s^ auch Spi-
noza genannt. Da auch inhaltlich ein Teil der Spinoza-
Arbeit eine eingehende Beschäftigung mit Cartesius vor-
aussetzt (vgl. S. 747), ist hier im Gegensatz zu F die natür-
liche Folge auch für die chronologische angesehen worden.
Nicht aufgenommen ist die GESCHICHTE DER GRIECHI-
SCHEN PHILOSOPHIE. Sie steht auf einem Manuskript
von 34 Doppelbogenlagen (je 8 Seiten, lagenweis gezählt
sogenannten Büttenpapiers (verschiedener Qualität: Lage
12-14, ^7' 25 f. mit Wasserzeichen), umfaßt also, die vier
letzten leergebliebenen Seiten abgerechnet, 268 Seiten, bei
freigelassenem breitem Rande freilich. Doch nicht der
Umfang des Manuskripts schloß es von dieser Ausgabe
aus, sondern die Tatsache, daß sein Inhalt keine selb-
ständige Arbeit Büchners darstellt. Auch nicht einmal in
dem von Franzos, a.a.O. S. 3i8f. geäußerten Sinne, das
Ganze wäre "eine mit staunenswertem Fleiße zusammen-
getragene, überaus gewissenhafte Arbeit, welche durch-
weg aus den Quellen schöpft und mit größter Objek-
tivität referiert". Das ganze Manuskript ist nämhch, wie
sich bei näherem Zusehen herausstellt, nichts weiter als ein
kurzer Abriß von den drei ersten Bänden der "Geschichte
der Philosophie" Wilhelm Gottlieb Tennemanns (1798,
1799, 1801), mit oft wörtlicher Wiedergabe und derart ab-
hängig, daß Büchner eine gelegentliche eigene Äußerung
a]s nicht zur Abschrift gehörig in Klammern dazusetzt!
Zum Beweis dafür vergleiche man die in F, S. 303ff. mit-
geteilten, übrigens nicht ganz wörtHch aus dem Manu-
skript wiedergegebejien Proben über Thaies und Epikur
mit Tennemann 1, S. 55-63 und III, S. 358-366; dort stehn
NATURWISS. UND PHILOS. SCHRIFTEN 741
auch alle die Quellen verzeichnet, deren Angabe Büchner,
was Franzos zu seinem Irrtum offenbar verleitete, eben-
falls übernommen hat. Eine sorgfältige Vergleichung des
ganzen Manuskripts mit Tennemanns genannten drei Bän-
den ergab, daß so gut wie nichts übrigbleibt, was man für
Büchnerisch gelten lassen könnte. Nur hier und da wird
die Tennemannsche Anordnung im Detail etwas geändert,
wohl auch, wie schon erwähnt, eine eigene Bemerkung
gelegentlich eingeschaltet (z. B. Hinweis auf Spinoza bei
Xenophanes) oder, was ja immerhin bezeichnend ist, eiber
doch nur ein paarmal vorkommt, die Tennemannsche
Charakterisierung eines Lüstlings gemildert^; all das aber
hebt die Arbeit kaum über das Niveau einer bloßen Ab-
schrift und hätte ihren Abdruck gewiß nicht gerechtfertigt.
Diese Abschrift kann nur den Zweck gehabt haben, die
Anschaffung des Tennemann selbst zu ersparen; eine eigene
Vorarbeit für Vorlesungen über die Geschichte der griechi-
schen Philosophie war damit auch nicht entfernt geleistet.
MEMOIRE SUR LE SYSTEME NERVEUX DU
BARBEAU (S. 181—250).
Dem Text ist, da sich handschriftliches Material zu dieser
Vorlesung nicht erhalten hat, die allein erschienene Aus-
gabe in den "Memoires de la Societe d'histoire naturelle
de Straßbourg" (Exemplar in der Staatsbibliothek zu Ber-
lin) zugrundegelegt; nur die Verweise auf die Abbildungen
sind nicht mit aufgenommen, da die jenem Erstdruck bei-
gegebene Tafel mit achtzehn, von Büchner selbst ge-
zeichneten Figuren nicht berücksichtigt werden konnte.
In deutscher Übertragung, der diese Schrift mit Rücksicht
auf ihren Verfasser wohl wert wäre, ist nur ein winziger
Bruchteil aus Ludwig Büchners Feder in F (S. 2961.) er-
schienen.
1 Prodicus war nach Tennemann I, -})y6, ''sehr gewinnsüch-
tig und ein großer Wollüstling", Büchnern liingegen ist er
"ein behaglicher Epikuräer"; desgleichen nennt er Aristipp
einen "behaglichen Genießer", an dem Sokrates nach Jen-
nemann II, S. 103 "einen zu großen Hang zur Weichlich-
keii, zum Vergnügen und Wohlleben" bemerkte.
) 742 c
CARTESIUS (S. 251-320).
Der Abdruck erfolgte nach der in Büchners Nachlaß be-
findlichen Handschrift
H: 23 Doppelbogen (Lagen von je 8 Seiten) von nicht
ganz gleichmäßigem Quartformat, lagenweis gezählt; das
verwandte Büttenpapier ist verschiedenartig, überwiegend
grauweiß, gelb jedoch bei den inliegenden Bogen der
Lagen 7, 8 sowie bei den Lagen 10-12; nur diese Lagen
(außer 7) haben Wasserzeichen, und zwar der gelbe
Bogen von 8 das Wappen der gelben Danton -Bogen,
die inliegenden Bogen der Lagen 10-12 hingegen die
Buchstaben MAB. Bei breitem freiem Rande, der aber
nicht selten zu mehr oder minder ausführlichen Nach-
trägen benutzt worden ist, ist das Manuskript von der
ersten Seite bis zur fünften der letzten Lage beschrieben
(Schrift sehr ungleichmäßig) und offenbar vollständig; der
Titel "Cartesius" steht nicht auf besonderem Blatte, son-
dern über dem Text der i. Seite, der außerdem noch den
Untertitel "Principia Philosophiae" trägt.
Der Abdruck ist bis S. 302 vollständig, nur daß die aus-
führlichen lateinischen Zitate aus Descartes' Schriften nicht
in extenso wiedergegeben sind: hier genügte die Umschrei-
bung des betreffenden Zitats durch seinen Anfang und sein
Ende, nötigenfalls mit genauer Angabe der Descartes-
Stelle in eckigen Klammern. Zum Unterschied von Büch-
ners Text sind diese lateinischen Zitate in Kursivschrift
gesetzt worden; desgleichen aber auch alle die Stellen, die
I3üchner in H unterstrichen hat, also im Vortrag hervor-
gehoben wissen wollte. Was Büchner am Rande anmerkt
oder nachträgt, steht mit dem Vermerk a. R. am Fuß des
Textes dieser Ausgabe. Hingegen sind alle handschrift-
lichen Korrekturen hier ebensowenig wie bei der Spinoza-
Arbeit wiedergegeben, weil solche Ai^ribic den philosophi-
schen Arbeiten Büchners eine Bedeutung beilegen würde,
die ihnen denn doch nicht zukommt.
Büchner ist nämlich auch in diesen Vorlesungen— daß es
sich um solche handelt, erweist der persönliche Vortrags-
ton— durchaus nicht selbständig. Wenigstens für den Car-
tesius hat er wiederum Tennemann, und zwar hauptsäch-
lich Bd. X, S. 228-263, zugrunde gelegt, und wenn man
darüber im Anfang seiner Vorlesung leiclit getäuscht wird,
so nur deshalb, weil er hier auch den S. 257 zitierten Ju-
CARTESIUS 743
hannes Kuhn (Jacobi u. die Philosophie seiner Zeit. Mainz
1834) herangezogen hat.'^ Aber die Art der Verarbeitung
und die persönUche Note des Vortrags, die allerdings durch
die schöngeistige Art des Lehrvortrags eines Kuhn an-
geregt sein mag, sind doch Büchners Eigentum, und so
konnte dem 'Cartesius' die Aufnahme in unsere Ausgabe
nicht verweigert werden. Auch macht sich Büchner zeit-
weilig vollkommen frei von Tennemann, so wenn er, im
Gegensatz zu diesem und seinem eigenen Interesse fol-
gend, sich eingehend mit Descartes' Lehre von der Funk-
tion der Nerven beschäftigt (S. 298-302) oder auch das
geistige Ringen Descartes' mit seinen Gegnern in den"Ob-
jectiones et Responsiones" (S. 303-20) ausführlich wieder-
gibt.
Nicht aufgenommen wurde jedoch der kurze Lebensabriß
von Descartes, der auf sechs Manuskriptseiten steht (XV,
4-9) und sich an S. 302 dieser Ausgabe anschließt: er ist
weiter nichts als ein Auszug von Tennemann X, S. 200-215.
Und vollkommen abhängig von Tennemann (X, S. 285-
374) ist endlich auch die Darstellung von Descartes' Nach-
folgern (Geulinx, Bekker und namenthch Malebranche),
die in H 28 Seiten einnimmt (XX, 4 — XXIII, 5) und hier auf
S. 320 folgen würde; auch dieser Schlußteil des Manu-
skriptes ist wertlos für die Erkenntnis Büchnerischer Denk-
weise und deshalb weggeblieben.
Berichtigungen
(3. 256 Reifet ber unleferli^e ^tusbrud 5Bü(^ner5, für ben ^icr [Vor-
dersatz] eingefe^t t[t, Obersatz.
<5. 315. V.) lies hinreichend für sinnreicher, benn [o [te^t bei
3:ennemann X, 275.
1 Man vergleiche S. 253-257 mit Kuhn, a. a. O., S. 78ff.; auch
die erste Randbemerkung vom Neid des Philosophen auf
den Mathematiker, die man öfters als Bonmot Büchners
angeführt hat, ist Kuhns Eigentum (a. a. O., S. 65), und vor
allem stammt auch die Stelle gegen Hegel und Hotho, die
Büchner selbst vielleicht gar nicht gelesen, \on Kuhn
(a. a. O., S.70).
> 744 C
SPINOZA (S. 321— 352J.
Folgende Handschriften über Spinoza haben sich in Büch-
ners Nachlaß erhalten:
H: 20 Doppelbogen (Lagen von je 8 Seiten) von nicht ganz
gleichmäßigem Quartformat,^ lagenweis gezählt (jedoch
mit dem Zählfehler, daß die 15. Lage noch einmal als XIV
gezählt ist, wodurch auch die folgenden Lagen falsch be-
ziffert sind"); äußerlich wie inhaltlich teilen sich diese
20 Lagen in zwei Gruppen:
H^: dieLagen 1-14 und XIV (d. i. 15!) umfassend; dieBogen
bestehen aus Büttenpapier, das mit Ausnahme der dün-
nern 7. Lage an Stärke und Farbe den weißgrauen Car-
tesius-Bogen gleicht; die einzelnen Lagen sind geheftet
und haben nicht nur auf jeder Seite einen freien breiten
Rand, sondern auch innen zwischen je zwei Seiten den
sogenannten Bundsteg; die Handschrift ist fast auffal-
lend groß für Büchner und überwiegend sauber, wenn
auch zuweilen der freie Rand zu Nachträgen herhalten
muß; der Text geht bis auf die dritte Seite der letzten
Lage, von der also noch fünf Seiten leer geblieben sind,
so daß H^ als abgeschlossen gelten kann. Das erste Blatt
trägt nur den Titel "Spinoza"^, auf der dritten Seite
1 Die Lagen 1-5 sind offenbar beschnitten. — ^ dj^ gg.
zifferuug ist bis zur 13. Lage arabisch, und zwar steht
die Zahl rechts oben auf dem freien Rande, nur bei
der 13. Lage links oben am sogenannten Bundsteg; die
14. Zahl hat wieder rechts die arabische Zahl, aber außer-
dem links die römische, die 15. umgekehrt rechts die rö-
mische Zahl XIV, links die arabische 14; die übrigen Lagen
haben nur noch rechts die römische Zahl. Daß etwa die
Zählung mit römischen Zahlen nicht von Büchner her-
rührt, eine für die zeitliche Fixierung von H^ nicht un-
wichtige Frage, erscheint danach ausgeschlossen; Büchner
beziffert zwar gewöhnlich arabisch, aber in der Hand-
schrift "Geschichte der griech. Philosophie" gelegentlich
auch einmal (Lage IV) römisch. Zur Unterscheidung der
beiden hier in H^ gleich numerierten i^agen wird die wirk-
liche 14. Lage mit der arabischen Ziffer, die eigentlich 15.
hingegen als XIV angegeben. — ^ Auf derselben ersten Seite
steht unten rechts von fremder Hand mit Bleistift ge-
schrieben, noch jetzt erkennbar: "ä Louis. Le 4 Decembre
1844"; diese nachträgliche (wohl auf Ludwig Büchner be-
zügliche) Aufschrift kann nicht daran irremachen, daß die
Handschrift selbst von Georg geschrieben ist.
SPINOZA 745
folgt der Untertitel "Ethik. I. Teil",^ und dementspre-
chend enthält H^ die Definitionen, Axiomen und Pro-
positionen des ersten Teils derEthica, aber in deutscher,
und zwar eigener Übertragung und mit Anmerkungen
zu den nach Meinung des Übersetzers anfechtbaren oder
erklärungsbedürftigen einzelnen Stücken. Daß es sich
bei dieser mit Anmerkungen begleiteten Übertragung
um ein Manuskript für Lehrzwecke handelt, ist ange-
sichts des persönlichen Vortragstons {vgl.^^y u) durchaus
wahrscheinlich, und demnach wird H^ in die Vorberei-
tungszeit für einen Züricher philosophischen Lehrkursus
zu setzen sein; doch steht es inhaltlich unter den philo-
sophischen Vorlesungen vollkommen isoliert da und mag
vielleicht eher als Grundlage für eine Seminarübung über
Spinozas Ethik denn als eigentliche Vorlesung zu gelten
haben. — Für die Aufnahme in unsere Ausgabe kamen von
dieser Arbeit nur diejenigen Stücke in Betracht, in denen
Büchner selber kritisch oder wenigstens glossatorisch
Stellung nimmt; infolgedessen sind die bloßen Über-
setzungen der Definitionen und Axiome und auch der-
jenigen Propositionen, zu denen Büchner keine Anmer-
kungen beigesteuert hat, weggeblieben; bei den aufge-
nommenen glossierten Propositionen aber ist die Über-
setzung der lateinischen Vorlage in Kursivdruck gesetzt,
um sie von dem eigenen Texte Büchners deutlicher ab-
zuheben. Daß im übrigen Büchner für seine Anmerkun-
gen wiederum Tennemann zu Rate gezogen haben wird,
darf als ausgemacht gelten, wenn er auch angesichts
der rein darstellerischen Anlage des Tennemannschcn
Werkes bei seinem Kommentar zu einer Übersetzung
der Ethik zu größerer Selbständigkeit von vornherein
gezwungen war.
H^: die Lagen XV (d. i. 16) bis XIX (20) umfassend; die
Bogen bestehen aus demselben grauen Konzeptpapier
wie die Foliobogen der Woyzeck-Entwürfe, sind nicht
geheftet und haben nur einen breiten Rand, aber keinen
Bundsteg; auch die viel kleinere, feinere Schrift erinnert
mehr an die Woyzeck-Handschrift als an H^ (was aber
durch das Papier mit verursacht sein kann); sämtliche
Seiten sind voll beschrieben, außer der letzten, ganz
leer gebliebenen, so daß auch dies Manuskript schein-
^ Hier S. 323 geändert in "Zur Ethik", da nicht die ganze
Übersetzung des ersten Teils wiedergegeben wird (s. o.).
746 LESARTEN
bar zum Abschluß gebracht ist. Die erste Seite enthält
keine Überschrift, sondern beginnt gleich mit dem Text
S. 338 dieser Ausgabe, als ob sie sich an H^ anschlösse.
Daß dies, trotz der fortlaufenden Zählung der Lagen,
nicht der Fall ist, lehrt der Inhalt des abgedruckten
Teils von H^: er handelt nur von den Prinzipien der
Erkenntnislehre Spinozas, wie sie hauptsächlich in der
Abhandlung Dß emendatione intellectus niedergelegt sind.
Viel weiter führt auch der Rest von H^ (s. u.) nicht, der
nur noch 3^4 Manuskriptseiten einnimmt und zur Meta-
physik übergeht, sich dort noch einmal mit den wich-
tigsten Axiomen und Propositionen Spinozas zu beschäf-
tigen anschickt, aber sehr bald mit einem Zitate aus
Tennemann abbricht. Diese Arbeit ist also nicht zu
Ende geführt worden. Beabsichtigt war offenbar eine
vollständige Darstellung der Lehre Spinozas, und zwar,
wie die mehrfachen Verweisungen auf Cartesius und
Malebranche dartun, im Anschluß an die Vorlesung über
Cartesius und dessen Nachfolger, von denen gerade
Malebranche eingehend, wenn auch vollkommen ab-
hängig von Tennemann in der Cartesius-Arbeit behan-
delt ist.^ Der Gang der geheferten Darstellung steht
vollkommen im Einklang mit Tennemann X, S. 398-419;
doch geht Büchner im einzelnen zuweilen selbständig
vor, so wenn er sich S. 345 f. in die Polemik mit Kuhn,
dessen Buch über Jacobi erst nach Tennemann erschie-
nen war, einläßt oder noch andere Schriften Spinozas
als die von Tennemann zugrunde gelegte Abhandlung
über die Verbesserung des Verstandes für die Darlegung
der Erkenntnisprinzipien heranzieht. — Der Abdruck im
Text beschränkt sich auf den in sich abgeschlossenen
Teil dieser Vorlesung, der nach allgemeiner Einleitung
die Prinzipien der Erkenntnislehre (Methodenlehre)
Spinozas behandelt; immerhin gibt der Rest des Manu-
skripts noch eine gute Vorstellung von der Art, wie
Büchner fortfahren wollte, und so mag dies Bruchstück
von der Metaphysik Spinozas noch als Lesart unten ge-
geben werden. Im übrigen erfolgte der Abdruck in der
schon für den Cartesius angegebenen Weise; für die aus-
führlichen lateinischen Zitate, die wiederum nur durch
Anfang und Ende umschrieben wurden, sind diesmal
1 Mindestens H^ kann also auf keinen Fall vor der Car-
tesius-Vorlesung geschrieben sein.
SPINOZA 747
die betreffenden Stellen der zweibändigen Spinoza- Aus-
gabe von Vloten und Land, Haag 1882-83 in eckigen
Klammern [V'L] zugefügt worden.
Hh: 2 Doppelbogenlagen in Quartformat, von dünnem
glattem Papier ohne Wasserzeichen, das bis auf die besser
erhaltene weißliche Farbe den vergilbten Blättern des
Leonce-Entwurfes ähnlich ist;^ ohne Seiten- oder Lagen-
zählung; bis auf das letzte Drittel der letzten Seite unter
Freilassung eines breiten Randes voll beschrieben, mit
sauberer ziemlich deutlicher Handschrift, ohneBetitelung.
Leider stellt sich jedoch der Inhalt nur als eine Abschrift
heraus: zunächst von Tennemann X, S. 472 ("Nach dem
Spinoza sind die endlichen Dinge ...") bis S. 478 ("... ohne
welche kein Selbstbewußtsein gedenkbar ist."), worauf aus
X, S. 451 f. das Stück "Vielleicht könnte durch ein allmäli-
ges Abnehmen und Schwinden der göttlichen Kraft ..." bis
"... sind nur Scheinbegriffe" folgt; daran schheßt sich mit
der Überschrift "Jacobi über die Lehre des Spinoza" das
bei Tennemann X, S. 452 in einer Fußnote gegebene Zitat,
und nun folgt endlich mit der neuen Überschrift "Herbart ",
die größere Hälfte von Hh ausmachend, abschriftlich ein
Auszug aus Herbarts "Allgemeiner Metapltysik nebst den
Anfängen der philosophischen Naturlehre. Erster histor.-
kritischer Teil. 1828", wo in der zweiten Abteilung "Die
Lehre des Spinoza" behandelt ist: daraus sind hier § 40-43
und § 45-48 ("Ontologie des Spinoza") sowie § 49, 51 und
54 ("Kosmologie des Spinoza") meist wörtlich ausgezogen.
Damit ist der Inhalt von Hh erschöpft. Dieses steht also
auf derselben Stufe wie die "Geschichte der griechischen
Philosophie", seine Aufnahme in unsere Ausgabe kam
nicht in Betracht; und es wäre auch hier, in der zeitlichen
Fixierung der Handschriften, als bloße -Alaterialiensamm-
lung zu eigener Arbeit den beiden Teilen von II voran-
gestellt worden, wenn nicht das gänzliche Verschweigen
Herbartscher Kritik an Spinozas Lehre in H^ wie H^ zu
der Annahme drängte, daß Büchner zu Herbart erst nach
Abfassung von H gekommen ist.-
^ Allerdings sind auch die Leoncc-Blättcr ein wenig größer,
was aber an der Beschneidung der andern liegen kann. —
2 Dazu will stimmen, daß sich inhaltlich der Anfang von
Hh (Tennemann X, 472) an das fragmentarische Ende von
H^ (Zitat aus Tennemann X, 467) so ziemlich anschließt.
748 LESARTEN
Der Ausgang von H^
S. 052. '^In] bie le^te ^nk bort folgt nod) luic^ einem S(l)Iuf3*
[trid):
Einen eigentlichen Übergang von der Wissenschaftslehre zur Meta-
physik findet sich nicht bei Spinoza, doch könnte man ihn viel-
leicht in dem finden, veas er in dem ersten Teil des Tractattts de
emendatione inteUectiis über die Art sagt, wie ein metaphysisches
System aus der alles umfassenden Idee des höchsten Wesens her-
geleitet werden müsse. Auch kann man fortwährend das Räsonne-
ment des Cartesius von dem cogifo, ergo stau an bis zum Beweis für
das Dasein Gottes aus seiner Idee, die Dasein involviere, voraus-
setzen.
Zum Verständnis! der INIetaphysik muß man übrigens sich bestän-
dig die Identitätslehre zurückrufen! So steht eigentlich vor dem
ganzen System das 6. Axiom: idea vera debet cum suo ideato con-
venire'^
Der erste Teil der Ethik enthält die Grundlage des Systems. Die
synthetische Methode ist in ihm verfolgt, es wird alles in Axiomen,
Definitionen, Propositionen und Demonstrationen vorgetragen. Ich
folge nicht genau dem Gang des Spinoza, weil dies zu großen Weit-
läufigkeiten führen würde; doch hoffe ich, den Grundgedanken
richtig zu entwickeln.
Das ganze System fängt eigentlich mit dem auf den Satz des aus-
schließenden Dritten gegründeten i. Axiom an: Of/inia, qjiae sunt,
vel in se vel iti alio sunt. Ferner 2. Axiom: Id, quo d per aliud non
potest concipi, per se debet concipi.
I. Was ist nun das, was in se est und per se debet concipi? Die Sub-
stanz (def. 3; und ihr Attribut (def. 5 und prop. 10 .
^Was ist aber der Unterschied zwischen Substanz und Attribut? In
der Definition der Substanz heißt es, die Substanz muß dtirch sich
selbst begriffeti werden', in der Definition des Attributs heißt es, das
Attribut ist das, was das Wesen der Substanz ausmacht: zum Wesen
der Substanz gehört aber, durch sich selbst begriffen zu werden,
dies ist das einzige, was wir von ihr wissen, und aus der 10. Prop.
geht endlich die nämliche Definition für die Substanz und das At-
tribut hervor. Also sind die Begriffe von Substanz und Attribut iden-
tisch, eins von beiden ist ein leeres, inhaltloses Wort. Das Attribut
ist also eigentlich selbst Substanz. Tennemann sagt darüber [X,
471 f.]: "zwei real verschiedene Attribute, von denen keines die
Folge des andern ist, welche von Ewigkeit immer in der Substanz
beisammen gewesen, bringen eine ewige und wesentliche Trennung
(kr Substanz hervor, welche mit der Einheit der Substanz streitet.
1 Dbcr Zur Vervollständigung.— ^ T)ie[er Sa^ a. 9?. nac^getr.
ÜBER SCHÄDELNERVEN 749
Denn diückt das Attribut das Sein der Substanz aus, so hat die Sub-
stanz ein doppeltes, real-verschiedenes Sein, wenn es zwei real ver-
M-hiedene Attribute der Substanzen gibt, welches notwendig auf
zwei Substanzen hinführt." — Selbst Spinoza scheint dies gefühlt zu
haben, indem er Attribut mit Sub
Definition von Gott hervorgeht.)
2. Was ist zweitens das, was in alio esf^ Der Modus {affectus)y
def. 5.
3. Was [ist] nun das Wesen dessen, was m se est, oder der Substanz?
a) Ditae snbstantiae diversa attrikita habentes nihil inter se com-
imine habent 'prop. 2, axiom. 5, prop. 3).
b) In rernm fuitura nonpossnnt dari diiae aut phires substantiae ejtis-
dem jtaturae (prop. 5.
Der Beweis dieses Satzes ist sehr unphilosophisch, er gründet sich
auf das Nichtunterscheidenkönnen, was aber nicht einmal in der
Identitätslehre Gültigkeit hat, da dieselbe nur von einem Nicht-
denkenkönnen sprechen kann. Spinoza tritt hier aus seinem eige-
nen System heraus. Tennemann sagt darüber X, 467 i.]: "Außerdem
liegt auch noch in dem fünften Satze ein anderer Fehlschluß ver-
boro^en ... entscheidet aber nichts über die Anzahl der Individuen.'
ÜBER SCHÄDELNERVEN (S. 353— 367).
H: vier Bogen in Großoktav (fast Folioformat), drei von
glattem dünnem Papier und unter Freilassung eines Ran-
des, voilbeschrieben, der vierte von wesentlich stärkerem
Papier und nur auf der ersten Seite noch zur Hälfte be-
schrieben, danach mit einem Schlußstrich versehen;^ alle
Bogen sind an der oberen rechten (resp. Unken) Seite der-
art von Mäusen angefressen, daß durchschnittlich die
Hälfte von vier Zeilen jeder Seite vernichtet ist, und auch
in der Mitte des Falzrandes sind zwei Bogen angenagt,
was ebenfalls den Text in Mitleidenschaft gezogen hat;
von Seiten- oder Lagenzählung ist nichts erhalten, doch
läuft der Text von der zweiten auf die dritte Seite der drei
vollbeschriebenen Bogen fort, so daß die getrennte Lage
der einzelnen Bogen feststeht; die Reihenfolge läßt sich
^ Auf der zweiten Seite dieses Schlußbogens steht von frem-
der Hand ^tobe="!8orle[ung.
750 LESARTEN
daraus erschließen,
bestimmt ist und die zwei vorhergehenden Bogen wieder-
um durch das Überlaufen des Textes von Bogen zu Bogen
trotz der Beschädigung des ^Manuskripts zu ermitteln
sind;- der noch übrigbleibende Bogen,^ der textlich ab-
geschlossen für sich steht, muß demnach vorangehen; daß
aber auch er nicht den Anfang der Vorlesung enthält, lehrt
ein Blick auf seine ersten Zeilen, und bei näherem Zusehen
ergibt sich auch zwischen ihm und dem folgenden Bogen
inhaltlich eine Lücke: H ist uns nur unvollständig erhalten,^
erfährt aber für den fehlenden Anfang durch N eine sehr
willkommene Ergänzung. — Die Entzifferung des erhalte-
nen Textes bereitete keine großen Schwierigkeiten; hin-
gegen konnte die Ausfüllung der durch den Mäusefraß ent-
standenen Lücken bei einer so schwierigen, nicht nur ana-
tomische Fachkenntnisse, sondern auch Vertrautheit mit
der historischen Seite dieser Wissenschaft voraussetzenden
Materie nur einem Spezialisten gelingen, und so kann hier
Herrn Dr. Hans Fischer, Arzt am Gerichtlich-Medizinischen
Institut der Universität Zürich, nicht genug dafür gedankt
werden, daß er sich aus Liebe zur Sache mit besonderem
Interesse für Georg Büchner dieser Mühe unterzogen und
die störenden I^ücken restlos beseitigt hat. Diese Ersatz-
stücke sind so glücklich ausgefallen, daß sie uns an den
meisten Stellen den ursprünglichen Wortlaut wiedergefun-
den zu haben scheinen, nichtsdestoweniger sind sie aber
von Büchners überliefertem Text durch eckige Klammern
unterschieden worden.
N: Teilabdruck der Probevorlesung in Ludwig Büchners
Ausgabe, der glücklicherweise dazu den in H zum Teil
fehlenden Anfang gewählt hat.
F: Wiederabdruck von N, mit einem geringfügigen neuen
Stück aus H.
^Er beginnt mit 36633 "der Respi[ration".— ^ Bogen II be-
ginnt mit 36025 "Es dürfte wohl", Bogen III mit ^6^ i5 "in
zwei Aste"; Näheres im Lesartenverzeichnis. Zu der aus
dem Inhalt erschlossenen Reihenfolge der Bogen stimmt
übrigens äußerlich, daß die beiden ersten Bogen einen brei-
ten Rand haben, der dritte ihn aber von der dritten Seite
an aufgibt und auch der Schlußbogen ihn nicht mehrhat.—
^ Er beginnt mit357 i". "War nun auch".—"* H scheint aber,
was wenigstens den Ausgang angeht, niemals die Probe-
vorlesung ganz abgeschlossen enthalten zu haben.
ÜBER SCHÄDELNERVEN 751
3. 353. 3)er 2;itcl t[t nid)t überliefert; Aus der Probevorlesung
in Zürich. Oktober 1836 ^ei^t es X Aus der Vorlesung:
Über Schädelnerven F.
<B. 355. 1 — 35719 Hocligcaclitctc Zuhörer bis frisch und hell
auf. Namenthch etc. etc. überliefert burc^ NF^ | -i
Es treten uns XF: toa^rfc^einlitf) ^at l^ubroig 33ü(^ncr eine all=
gemeine, me^r perjönlic^e (Einleitung ber ^Intrittsüorlcfung wcg=
gelaffen; mi3gli^ i[t aber aud), ba^ bicfe fd)on im 50Zanu[fri|)t ge=
nau [0 töte ber Sc^Iu^ (f. w.) gefehlt ^ot.
S. 357. i:; mit War nun auch beginnt 1, 1- öon H; bic i'ürfcn
btefer er[ten Seite Don H füllt XF aus.
(5. 358. -1 mit [Klar war man sich] beginnt L 2 -vi mit während
die vordere beginnt I, 3.
5. 359. 25 mit [betrachtet. Die X'erven beginnt I, 4.
6. 360. 25 mit Es dürfte wohl beginnt II, 1 | 25—361 u» ... Es
dürfte wohl bis Schädelnerven, nämlich mit attge^ängtem
usw. usw. bringt au(^ F; gransos fanb bereits bie iJücfen in H
üor unb füllt fic auf [eine ^ei[e aus ] 25 ff. Lösung eines ana-
tomischen Problems zu erhalten, wenn man sein Erschei-
nen in der verwickeltesten Form, nämlich bei dem Men-
schen ins Auge faßt. F: bies C^rfa^ftüd i[t 5U grofe für bie IMicfe;
2>< weil sich in ihnen F: tDillfürlid) | :i<» für dieses Problem
fe^It F.
S. 361. s Tatsachen zusammen F | '• zusammen fel^It F |
lo mit [übrigen Schädelnerven beginnt II, 2 | oU mit Problem
beginnt II, 3.
S. 362. 2.S mit [und Spinalnerven beginnt II, 4.
S. 363. 15 mit in zwei Äste beginnt III, 1.
S. 364. :! mit [ÄhnHch liegen beginnt III, 2 [ :;n mit den facia-
lis, den beginnt III, 3.
S. 365. :J4 mit [wo eine Wurzel beginnt III, 4.
S. 366. :>^ mit der Respi[ration beginnt IV.
S. 367. s geknüpft, barunter £d)luB[iri(^ H: [^tocrlid) roirb aber
[o flanglos bic ^Intrittsoorlefung geenbet f)abcn; es tüirb nn3u=
nefimcn [ein, 'ba''^ SBüc^ncr bie [(^riftlic^e gi.\:icrung eines all*
gemeinen Sd^Iu^paffus nid)t für notiucnbig crad)tct l)at, i^re gor=
mulicrung uiclleid)! (\\\^ ber (Eingebung bcs ^lugcnblids übcrlaffcn
tuolltc.
^ X)D(^ läßt F bie 5lnrebc lueg unb brid)t c(b mit hell auf
- I)ie romifc^e ^cCi)\ bebeutet [tcts bcn 23ogcn, bic arabijc^e bic Seite
bes bctrcffcnben Sogcns üon H.
) 752 (
ÜBERSETZUNGEN (369-520).
ABGESEHEN von den Arbeiten des Schülers und von
der zu wissenschaftlichen Zwecken vorgenommenen
Übersetzung aus Spinozas Ethik, von der Proben auf S. 323
bis 335 enthalten sind, hat sich Büchner in der Kunst der
Übertragung nur an Victor Hugo versucht. Die von ihm
übersetzten Dramen erschienen als "Viktor Hugo's sämt-
liche Werke. Sechster Band. Lucretia Borgia. Maria Tudor.
Frankfurt am Main, 1835. Druckund Verlag von J.D. Sauer-
länder." Der einzelne Bandtitel gab auch den Namen
des Übersetzers bekannt: "Lucretia Borgia. Maria Tudor.
Deutsch von Georg Büchner." Ebenso wurde auf dem
Schmutztitel jedes Dramas noch einmal "Übersetzt von
Georg Büchner" hervorgehoben.
Da eine handschriftliche Vorlage nicht mehr existiert,
mußte der Erstdruck dem Text zugrundegelegt werden.
Doch wurde, außer Interpunktion und Orthographie, ge-
ändert: 45126 "denkst du des noch", wo im Erstdruck auf
Grund gedankenloser Falschlesung der schlechten Hand-
schrift Büchners "denk' dir es noch" steht (franz. "te rap-
pelles-tu"); auch lies 43810 trotz Erstdrucks "vergeben"
statt "vergelten", da es im französischen Original "par-
donner" heißt.
753 c
BRIEFE (S. 521-569).
\/'ON Büchners Briefen sind zuerst veröffentlicht wor-
den:
G: die Stücke an Gutzkow, fünf ^ schon in Gutzkows Nach-
ruf im 'Telegraph' 1837 (G\), alle sechs ein Jahr später in
dem Essay-Bande 'Götter, Helden, Don Ouixote. Abstim-
mungen zur Beurteilung der literarischen Epoche' {G-)^
Mehr von den an ihn gerichteten Briefen hatte sich Gutz-
kow leider nicht aufbewahrt, und auch die erhaltenen
sechs teilte er überwiegend nur bruchstückweise mit, zwei
sogar nicht einmal in ihrer ursprünglichen Gestalt, sondern
aus essayistischen Zweckmäßigkeitsgründen verschweißt
zu einem Brief, dazu noch in veränderter Folge, doch ohne
genauere Angabe, wo der ältere Briefteil beginne. Auch
sonst bereitet die zeitliche Einordnung dieser Briefstücke
Schwierigkeiten, da nur ein paar Stücke ein genaueres
Datum tragen.
N: Ludwig Büchner brachte in seiner Ausgabe neu den
Auszug "Aus den Briefen an die Familie" (S. 237-280) und
"Briefe an die Braut, aus Gießen, 1833 und 1834" (S. 281
bis 287)^. Dazu kommen noch gelegentliche Briefzitate in
der biographischen Einleitung, besonders die drei letzten
Briefe an die Braut, wie auch drei der schon veröffent-
lichten Briefe an Gutzkow in die biographische Darstel-
lung verflochten werden. Bedauerlicherweise werden auch
in N die meisten Briefe nur in stark beschnittener Form,
oft sogar bloß noch fetzenweise wiedergegeben; auch wird
die Ausschreibung der Namen nicht selten vermieden.
F: Das von N gelieferte Briefmaterial hat Franzos nur in-
sofern vermehren können, als er sämtliche von Gutzkow
1 Das Briefstück S. 549 war noch nicht dabei. — 2 Später
gingen die Essays jenes Bandes, mithin auch der Büchner-
Artikel, in die erweiterte Sammlung der "öffentlichen
Charaktere" über. — ^ Wie Ludwig Büchner zu Georgs Brie-
fen an die Braut gekommen, berichtet Luise Büchner auf
einem im Nachlaß Georgs befindlichen Blatt dem Heraus-
geber Franzos: es waren ursprünglich für die von Gutzkow
geplante Büchner-Ausgabe von Wilhelmine hergestellte
Auszüge, die Gutzkow später der Luise Büchner übergab;
sie legte sie zu dem übrigen Nachlaß, wo sie Ludwig fand
und für N benutzte. Diese Veröffentlichung wider ihr Wis-
sen vsoll Wilhelminc besonders übel genommen haben.
i:ÜCHNEK .,s.
754 LESARTEN
veröffentlichten Stücke in seine Ausgabe aufnimmt und
auch die bei N in der Einleitung zerstreuten Briefzitate in
seine Abteilung "Briefe" (S. ;^2^-28S) eingliedert. Da er
die Gruppierung nach den Adressaten beibehält, hat er
also nunmehr drei Gruppen: I. An die Familie, IL An die
Braut, IIL An Karl Gutzkow. Die in N nur durch Punkte
oder einzelne Buchstaben angedeuteten Namen hat Fran-
zos, wohl gestützt auf mündliche oder briefliche Angaben
Ludwig Büchners, in vielen Fällen ausschreiben können;
im übrigen aber beschränkt er sich, von einigen bestimm-
teren Datierungen abgesehen auf einen bloßen Abdruck
des von N gelieferten Materials.
Das Briefmaterial wesentlich zu vermehren, ist schon Fran-
zos, der sich an Büchners Verwandte und Freunde noch
persönlich wenden konnte, nicht gelungen: die Original-
briefe an die Angehörigen sind in den fünfziger Jahren bei
einem Brande des Familienhauses in Darmstadt zugrunde
gegangen; die Braut des Verstorbenen, die sich mit der
Familie Büchner entzweit hatte, verweigerte die Verwer-
tung der in ihrem Besitz befindlichen, an sie geschriebenen
Briefe Georgs für die zum Nutzen der Familie Büchner
geplante Ausgabe Franzos' und muß sie ebenso wie den
'Pietro Aretino' kurz vor ihrem Tode vernichtet haben;
von den übrigen Korrespondenten Büchners endlich hatte
sich niemand seine Briefe noch so lange Zeit nach des
Dichters Tode aufbewahrt. So kann es nicht überraschen,
daß auch der anläßlich unserer Ausgabe neuerdings er-
gangene öffentliche Aufruf kein erfreulicheres Ergebnis
gezeitigt hat. Originalbriefe Georg Büchners scheinen tat-
sächlich nicht mehr vorhanden zu sein, bis auf den einen
an Sauerländer, den Heinrich Hubert Houben entdeckt
hat (vgl. Lesart zu 542 i ff.). Das ist also der einzige Brief
Georgs, um den unsere Ausgabe gegenüber der früheren
vermehrt erscheint^. Nur textkritisch konnte sie im übri-
gen fortzuschreiten anstreben. So wurde vor allem ver-
sucht, den künstlich zusammengeschweißten Brief an Gutz-
1 Die schon in G^ gebrachte Erwähnung einer brieflichen
Äußerung Büchners über Musset und Hugo sei wenigstens
hier noch wiedergegeben; "Alfred de Musset", erzählt
Gutzkow, "zog ihn an, während er nicht wußte, 'wie er
sich durch V. Hugo durchnagen' solle; Hugo gäbe nur 'auf-
spannende Situationen', Musset aber doch 'Charaktere,
BRIEFE 755
low in seine ursprünglichen Teile zu zerlegen; im zweiten
Briefe an Gutzkow ist das in den früheren Ausgaben noch
fehlende übermütige Schlußstück aus G- hinzugefügt und
vor allem bei den Briefen an die Braut die chronologische
Reihenfolge revidiert worden. Die Gruppierung der Briefe
nach Adressaten ist zugunsten der rein chronologischen
Anordnung aufgegeben worden, wobei nun allerdings bei
der mangelhaften Datierung vieler Brieffetzen die neue
Schwierigkeit entstand, diese richtig einzuordnen; da hat
zuweilen die geistige Nachbarschaft zweier Stücke die zeit-
liche bestimmen müssen. — Sämtliche Sperrungen früherer
Ausgaben zu wiederholen, erwies sich als unnötig schon
aus dem Grunde, weil sie schwerlich alle auf eigenhändige
UnterstreichungenBüchners zurückgehen werden; so wurde
denn vorgezogen, durcliKursivdruck nur dieNamen und die
wichtigsten Sachworte hervorzuheben. Auch die das Frag-
mentarische bezeichnenden Punkte am Anfang und Ende
der einzelnen Briefe sind von den früheren Ausgaben nicht
übernommen worden, da der Leser die wenig vollständig
wiedergegebenen Briefe von selbst als solche erkennen
wird; wo jedoch innerhalb eines mitgeteilten Stückes
Lücken vorhanden sind, ist dies durch Punkte schon im
Text bezeichnet worden. Die Ausschreibung der in N nur
angedeuteten Namen konnte gelegentlich über F hinaus
fortgeführt werden.
S. 527. 17 Ende Mai i833:Datierung uonF; Der folgenbe Sa^
wirb Don N, 8. 3 in ber Gtnicitg. nad) (£nüäl)nung bes Svtefftüds
uom 5. ^Tpril 1833 Df)ne 3eitangabe, nur mit bcr iBemerfung gc
geben: "(£r [treibt ferner einmal" ^nff. Ihr könnt voraussehen
bis einlassen werde: fc^It N, S. 243; bo(f) luirb ber Sn^ in ber
(£tnleitg., S. 3 mit ber Semetfung sittcrt, bai5 er "im 5ln[cl)lufe an
bas 35rieffragment uom 3uni 1833''' gefc^iiebcn [et.
S. 529. 10 usw.: üielleic^t nur ebitoti[d)er 5lbbru(^5uermerf uon
N I 21 den 19. November: fo aud) N, S. 245; in ber (Sinleitg. N,
S. 5 aI[o falfrf) "uom 1. 9ioüember" batiert | -'» [Gießen, Früh-
jahr 1834?]: X)ie Datierung biefeserften^Briefes AN DIE BRAUT
bleibt nac^ toie uor 3tüeifelf)aft. dXaä) ber Übcrf^rift N, S. 281
"95riefe an bie Sraut, aus (Sieben, 1833 unb 1834" müijte wenig»
[tens biefcr erfte 23ricf vom 5af)re 1833 ftammen, unb jioar üom
^erbft, ba Süd)ner eift in biefer 3eit bie Hniüerjität Strapurg
mit bev uon (öie^en ueitaufd)te. X>a3U [timmt aud), ha']] ^Bücbner
[eit feiner ^breife nod) nid)t an bie 33raut gefd)rieben 3U l)ahen
[(^eint; bagegen fptidjt bo^ wo\)\ abor bie (frroä^nung bes ^xüf)'
756 LESARTEN
lin.qs unb ber frif^cn iseilc^en, ble has, ^tnbenieu aus Strasburg
"immer eiferen" fönnen. (53gl. 3o&cIti^, ®- Süc^ncr, S. 125f.,
^2tnm.) N ^at fein Datum für bie einseinen S3riefc an bie Sraut,
F Gießen 1833.
S. 530. 28 B[öckei]: um btefen Slrapurger 5'teunb (ober Baum?)
tnirb es [xä) too^I ^anbeln; XF f)ahtn nur B.
S. 532. 25 [Gießen, Februar 1834.]: ha auf bas in [e(^5 213o^en
fällige ©[terfeft angefpielt totrb, wo Sü(^ner in bcr Dtligence bie
"Himmelfahrt" 5U [einer Sraut antreten töill, fann es \\^ nur um
bas 3a^r 1834 ^anbeln, unb ha Cjtein 1834 auf hm 30. ?JMr3
fiel, mu^ ber Srief im ^^e^ruar gef(f)rieben [ein; bie Datierung üon
F Gießen 1833 i[t bemnac^ fal[^. ("iigl. 3abelti^, a. a. £.)
S. 533. 1 [Gießen, März 1834.]: im 5U3eitenSriefab[a^ i[t lieber
Don ber £[terrei[e gur Sraut bie 9iebe, bie biesmal in oierse^n
Sagen beöDr[tel^t: aI[o fann ber ©rief nur im 9JMr5 ge[tf)riebcn
[ein; F t)at tüieber fäl[(i)li(^ Gießen 1833. (33gl. 3abelti^, a. a.D.)
S. 534. 24 ff. NF [teilen bie[en Srief AN DIE BRAUT hinter
ben folgenben S. 536; aber 27 f. ^etßt es Fast hätte ich Lust,
statt nach Darmstadt gleich nach Straßburg zu gehen,
VDä^renb 5Bü(^ner 536 13 f. bereits fe[t basu ent[(^Io[[en i[t; beibe
SBriefe fallen natürlicf) in ben 9}? arg 1834 (F batiert nur Gießen
1834).
S. 535. 10 mein Beälam: töo^l ein fie[efe^ler üon N; irgenbeine
pDeti[^e ^Betätigung tonnte baf)inter [teden.
S. 536. 12 ff. AN DIE BRAUT über bie Ginorbnung bie[es
^Briefes ogl. bas 3U 53424ff. ®e[agte 22 wie man nur NF: offene
barer i]e[efef)Ier so bas Datum gibtN(S.8)ni(^t;bD(^baSü(i^ner
aud^ na^ N er[t "am (£nbe bes ^Jlonats 93tär5" na^ Strasburg
ret[te, ^at F geroif^ rec^t mit bcr Datierung im April 3i [in Gießen]
fe^It N unb i[t nur 3uge[e^t, um htn 3u[ammen^ang !Iar3u[teIlen; F
änbert 3U bie[em 3tüe(!: In Gießen war ich im Äußern ruhig
37 Ich komme nach Gießen NF: bas ^rä[en5 T^a'^^i ni^t 5um
Sßorangegangenen; offenbar ))aiit $Bü(^ner nt^t ausge[(^rieben
unb N ji(J) üerle[en [ in die niedrigsten N (£e[efe]^Ier) j 37 ma-
chen mich krank NF: iDot)I buri^ ben £?e[efe^Ier komme mx=
anlaste 5tnberung ber !^t\i bur^ N.
S. 537. 20 usw. i[t 3U [treic^en, ha es [id) I)ier nur um einen 5Ib=
fürsungsüermerf uon N, bas übrigens mit F etc. {)ai, Ijanbelu
fann | sollte in X.... N Darmstadt F; lies aber Butzbach.
S. 538. 23f. Briefe von W..., Muston, L... und B...NF; m\U
Ijelmine ^ägle [^rieb nac^ bem3itat 5305f. fran3ö[i[(^ anöeorg;
par Adresse ä Mr. ]Mr. Lucius, ä Strassbourg— Rue Guil-
laume No. 66 [d)rieb ©u^foai ben ^rief Dom 12. 5. 1835 an
BRIEFE 757
'-i^üd)ner; bie 5krinutung, baß es [ic^ bei bcm B. wieber um Söcfel
I)aubclt, finbet biesmal eine Stü^e in ber 2:atiad)c, ha'^ Süd)ner
mit Södel ing-rantfurt 3U|ammeiigctroffcn ruar (luil. X, £. 18, ioü=
naä) übrigens auä) Söcfel ''bei [einer ^2l>eiterreife in ^Jtainj nnge=
galten unb Derf)ört, aber fogleid) tuicbcr entlaffen" würbe).
S. 539. 37 [latt usw. lies etc.
S. 542. iff. Va 53rief AX SAUERLÄXDER 3um erftcnmal
burd) §ouben in ber 5ran!f. 3citg. uom 7. 7. 1918 (9ir. 18G) üer=
öffentlic^t; üorfle^enber 5lbbrud nod)mal5 mit bem Original, bas
in ^Dubens Sefi^ roar, uerglid^en 1 c das Verlag ftel)t im Origi=
nal I 22 den 21. Februar: bies ^atum ift aus bem üDrf)crge^en=
ben Srief 5U erfc^lie^en; G^ fpri^t oon den letzten Tagen des
Februar; F^at auf (örunb biefer Eingabe Ende Februar | "o Hes
Hauptmann na^ G^ | 36 lies Wrack nac^ G^.
S. 543. T)er Srief an (öu^foto trägt noc^ bie Unterf(^rift G.Büch-
ner.
S. 544. 21 Straßburg, März 1835: 9Ia^ G^ roare ber ©rief im
Sommer 1835 geschrieben, X' bringt i^n ni^t, unb F f)at be=
ftimmter Juni 1835, rool^l auf ©runb bes crwäfinten Stedbriefs,
ber juerft am 18. 5uni im ^i^anffurter ^i-'urnal erfc^eint (ugl.
S. 640 f.). (Ss ift allerbings rotfelljaft, u)ie ber 3tedbrief erft am
13. ^ii^^i erlaffen [ein fann, rocnn ^üdiner [c^on am 9. Wäx^ nad)
SBeifeenburg geflüd)tet i[t (Srief S. 543 f.);^ aber ein frül^ercr
Stedbrief lä'ßt [ic^ ni^t auffinben. 3)Dd^ bestöcgen ben 53rie[ an
05u^forD auc^ er[t in ben ^uni nerlegen, ge^t nid)t an, ha 23üd)ncr
er[t seit einigen Tagen in Strasburg i[t unb Cöu^foro if^m auf
bie[e 9]a(^ri(^t [c^on cor Einfang ^Tpril (S. 614 f.) antiuortet
üT Kurs gemacht: lies Kurs durchgemacht 35—545 7 Wir wer-
den sehen bis verkleideter Samson fe^ltG^F, aber nid)t G^.
S. 548. 27 ff. AX WILHELM BÜCHXER: ber «rief |tef)t in
X', S. 28 of)ne Datum unb na^ bem folgenben Srief [tüd üw 03utj=
foro; im Juli 'i)ai F, freiließ Df)ne Segrünbung 38 ff. Eine genaue
Bekanntschaft ufco.: bem 23Drigen mit ben ÜBorten "^In einer
anbcrn Stelle [[c^reibt Südjner]:" von X zugefügt unb bes^alb
^ier U)ie oon F als 3um [elben 33rief gehörig betrad)tet, üiellcid)t
mit Hnre^t.
e. 549. 6ff. Die[er Srief AX GUTZKOW fe^lt G^ i[t batum*
los G-, roä^renb F o^ne alle iöegrünbung Juli 1835 barüber[e^t;
^ Grflären läßt es [ic^ nod) mit iBilf)elm 53ü(^ners Semertung
640 10 ff., aber ^ranjos' '3d)ilberung F, S. CLX, roona^ bas (f)e=
ri^t nur nod) brei ^age nac^ ber letzten "i^orlabung warten wollte,
läßt [id) faum galten.
758 LESARTEN
Dtellcic^t ift er einer bor drei Briefe, bereit (Smpfang ©u^foiu erft
6. 2. 1836 beftätigt (S. 620), unb tuäre bann Diel [päter em3U=
orbnen; \>a aber jeber ^-ingerjeig für bie seitliche t^i^'^vung fe^It,
tourbe er feines uertuanbten Sn^alts tuegen bem $8rief an 2BiI^elni
Sü^ner angereif)t | ^n Kl... N^; bie erläuternbc (^n^note uerriet
aber, ujas bie ^lamensabfürjiing ucrfd^tocigen follte.
6. 552. isf. nur noch NF: £efefe^ler m\\ N.
S. 554. 22 lies die Gefangenkost nad) N die Gefängniskost
mobernifiert F; ügl. 57 29.
S. 556. () Herbst 1835: ^tntujort auf (ön^foius 93rtef uom
28. mguft(S.618f.).
S. 557. 29 lies Hypothesen • • •
S. 558. i2ff. AN GUTZKOW. Straßburg [1835]: Der 23rief
ift an 563 13 o^ne Überfc^rift, alfo unmittelbar angefd)Ioffen in G^
G^NF; bod) bemerft ©uijioio fi^on in G^ ba5u: "Dies ©anje ift
bie 3iiffl"^niß"fc^itng jrüeicr ©riefe, ber le^te !Xeil ift älter als
ber crfte." 9^un fe^It aber in G^ bem gufammengefe^ten Stüd nod)
ber 2^eil 562i9— 563i5 (Es zeigt sich bis erleben kann), unb
in bem übrigbleibenben Stüd finb, 'ha fonft alles in^altlic^ eng 3U=
fammenl)ängt, nur brci 9JJöglid^feiten für eine Trennung in bie ur=
fprünglid)en Xeile: 562 i3 (Sie sind in Frankfurt • • •), 558 1"- (Sie
erhalten hierbei • • •) , 559 1 (Ich werde ganz dumm • • •); bauon
fällt bie Xrcnnftelle 559 1 ujo^I f(^on aus bem ©runbe u)eg,
tueil bie ^Inl^ängung ber leijten fe(^s 3ctlcn bie ?JZü^e ber reba!=
tionellen ä^erfc^iebung getoi^ ni(^t gelohnt l^ätte; mutatis mutan-
dis gilt bies au^ für bie Stelle 562 1-, ber nur elf !^t\\tx{ uoran^
gelten. 5\ann fc^on fo bie (£ntfd)eibung für 5581", u)o ein gan3
anberer 3^on für eine ganj anbere Sad)e angefd)Iagen roirb, n}d)t
[(^u)er fallen, fo fommt als ausfd)laggebenb not^ folgenbes I^inßu:
®u^!otös 58ricf üom 6. 2. 1836 (S. 620f.) beftätigt ben Empfang
ber Stöberf^en Alsahilder unb fprid^t röeiterl^in t)om Rebsiöckel,
roorauf \\6) ©üd)ners Sriefjeilen 562i3ff. be^ie^en; bemna(^ mu^
ber (gmpfcl^lungsbrief für bie Stöber mit beren "Snfa^Silbern"
fd)Dn abgegangen [ein, rDäI)renb bie Sriefftelle 562 1" ff. noc^ nic^t
gefd)rieben ift.— 3uglei^ ift mit (5u^!ort)S ^Briefen ein ^intoeis für
bie Datierung gegeben: ber ©rief 558 i2ff. roirb nod) ins 3(^^^1835
fallen, ba ©ü^ner bie 9la(^ri(^t ©utjfotos uon feiner (5efangen=
fd)aft (©rief S. 620 uom 4. 12. 35) nod) nic^t erhalten l)ai | i^f.
von meinem Freunde Stöber G^G^NF: £efefe^ler ©u^fotDs,
ba bie Alsa-Bilder "üon 't^^w ©rübern ^luguft unb ^^tbolpf)
^ Desglei(^en 551", 556 .''.
BRIEFE 7 59
Stöber" herausgegeben finb,^ ja aucl) im Sricf uieiterr^in uon
beiben btc 5?ebc ift 1 -v^ lies Vaterland nad) G^
S. 559. -t lies iinsern wai^ G' | 1 1 f. König von X..... X | 1 1 f .
Großhevzog von Y.... N | löf. vom doppelten M N.
S. 560. 20 gegen K r N.
S. 561. 10 Herr J.: offenbar Jägle | i2f. Theaters zu X N|
:s8f, in herumläuft X".
S. 562. i ff. AX GUTZKOW: ugl. bic ^iriisfüfjrungcn 511 558 1 j ff.;
baraus ergibt \\6) au^, ba{3 bcr ^ricf nad^ ©utjfoius uom (5. 2. 06
gefi^rieben [ein muß 1 11 lies Sohn na(^ G^ 1 1; lies unangefoch-
ten? I 19—563 1.3 Es zeigt sich bis erleben kann. fel)It G\ aus
3cnfurrüd[tc^ten.
S. 563. \-i Leben desselben X | 1:. folgt 558!:;ff. (ogl. bas
ba5U ©efagte).
S. 565. 120 AN WILHELM BÜCHNER [.^]: Der 33rief ftcljt
in N unter ben "23riefcn an bic (^ömilie", luas ja aber nid)t au5=
f(^Iie^t, ba^ einige bauon an ein einseines ^amilicnmitglicb gerid)tet
fein tonnten, unb biefe ^rnnafjme legte fjicr ber für bie 'JJhitter gc=
roi^ ni^t berechnete Qcingang nal)e.
S. 567. IC' Ende Xo\-ember 1S36: fo batierl F, lieber obnc
^egrünbung; ber Salj rnirb üon X' in ber (Sinicitg. (S. 38) oljne
Datum 3itiert i i;> Anfang Januar 1837: toieber nad) F, bod) mit
mel)r S^ec^t, bcnn bie 9Borte finb na^ X (S. 39) "turj oor 23eginn
ber töbIi(^enÄranff)eit" ge|d)ricbcn ; :i<' [Ich werde] in längstens
acht Tagen: N ^itiert "er roürbe »in längstens acht Tagen«"
In längstens acht Tagen will ich F.
1 "Strasburg 1836" fte^t auf bem 2itel; bod) fpric^t bics offi.volle
C£rf(^einungsia^r nid)t gegen bie ^^lnnal)me, baf3 33üd)ncr [d)ün
(Snbe 1835 bas fertige Sdnbd)en ocrfdjiden tonnte.
) 76o (
MISZELLEN (S. 571-608).
DIESE Abteilung bringt zunächst ausBüchners Nachlaß
das, was aus seinen Schul- und Entwicklungsjahren
noch irgendwie mitteilenswert erscheint; die Gruppierung
in Poesie und Prosa ergab sich aus dem Stoff von selbst. Ein
anderer als biographischer Wert kommt diesen beiden
Gruppen natürlich nicht zu; daher erschien es auch un-
nötig, jede handschriftliche Korrektur für diese "Miszellen"
als Lesart anzugeben. Mehr Bedeutung haben die "Münd-
lichen Äußerungen"; aber ihr Umfang ist zu gering, als
daß sie eine besondere Abteilung für sich hätten in An-
spruch nehmen können.
Was selbst für das Miszellenformat nicht ausreicht und
doch vielleicht vermißt werden würde, sind die charak-
teristischen Glossen und poetischen Notizen in den Schul-
heften Büchners. Diese Schulhefte, denen auch die S.578ff.
mitgeteilten Aufsätze und Reden entnommen sind, haben
sich in des Dichters handschriftlichem Nachlaß miterhalten,
ja sie machen sogar den größten Teil davon aus.^ Für die
Geschichte des Schulunterrichts in Deutschland mögen
diese Hefte, in denen fast alle Lehrstufen und Fächer ver-
treten sind,^ von größererBedeutung sein, für die Erkennt-
nis der geistigen Entwicklung Büchners hingegen ist die
Ausbeute gering. Verhältnismäßig noch die stärksten An-
^ Einiges andere von Büchners Schularbeiten befindet sich
in dem Archiv des Ludwig-Georg-Gymnasiums zu Darm-
stadt, das Büchner bekanntlich nach kurzer Vorbereitung
in einem Privatinstitut besucht hat, sowie in dem Besitz
von Dr. Georg Büchner, einem Neffen des Dichters, eben-
falls in Darmstadt; von beiden Seiten kam der Bescheid,
daß darunter Wesentliches nicht mehr enthalten ist, auch
nicht die 1831 beim Verlassen des Gymnasiums gehaltene
Abgangsrede.— 2 Es sind vorhanden, in Heften oder in-
einandergelegten Bogen, meist nach Diktat geschrieben:
a) kurz klassifizierende Beschreibungen aus der Botanik;
b) "Fragen u. Antworten aus der ebnen Geotnetrie als Ein-
leitg. in dieselbe"; c) Elementares aus der Sittenlehre; d) ein
geographischer Kursus, Italien, die Schweiz u. Asien behan-
delnd; e) Geschichtliches: einfache Skizzen aus d. röm. Kaiser-
zeit und eine umfangreichere Geschichte Roms; f) aus dem
lateinischen Unterricht: zwei Hefte Übungen zur lat. Syntax,
l"'n:)ersetzungen aus Ciccros Reden gegen Catilina und für
Maicellus, "Lateinische Aufsätze. Sommersemester 1829,
MISZELLEN 761
regungen gab dem jungen Büchner der deutsche Unter-
richt: ihm entstammen auch sämthche S. 578 If. wieder-
gegebenen Arbeiten, in denen wir wenigstens einen Hauch
vom Geiste Büchners spüren können. Die Übersetzungen
aus Ciceros Reden, die Prosaübertragungen aus dem
Homer oder Sophokles erheben sich nicht über das Niveau
von besseren Schülerleistungen. Und sonst zeigt sich eine
persönliche Note tatsächlich nur noch in den GLOSSEN
UND NOTIZEN, mit denen der ältere Schüler aus Wider-
spruch gegen den toten Schulkram, aus Langeweile und
Übermut den Rand oder freie Textstellen in einigen Heften
beschrieben hat. Hierzu könnte einfach auf F, S. XXff.
verwiesen werden, wenn nicht Franzos' Darstellung be-
richtigt und ergänzt werden müßte: Die S. XXI zitierte
Bemerkung zu dem Memorialvers aus der lateinischen
Syntax ist nicht vorhanden, obwohl sich das Heft mit dem
Memorialvers selbst erhalten hat und auch bestimmt von
Georg Büchner herrührt;^ das gleiche gilt von der ebendort
mitgeteilten Glosse zu einer Stelle der Rede Ciceros für
Marcellus: das Manuskript ist erhalten, hat aber an der be-
treffenden Stelle nicht das F, S. XXI zitierte übermütige
"Einschiebsel"; die dritte auf derselben Seite von F mit-
geteilte Bemerkung zu dem Paragraphen "Von dem Nutzen
der Münzkunde" lautet wörtlich, mehr als die letzte Seite
des betreffenden Heftes einnehmend:
Ich bin so fest von ihrem Nutzen überzeugt, daß ich es für höchst
überflüssig halte, auch nur einen Grund hier aufzuschreiben, die
Symptome, die ich zufolge dießes Studiums an mir selbst bemerkt,
sind unleugbar, und die Langeweile und Abspannung, die
Prima"; g)aus demGriechischen: Präparixtionen zur Od3^ssee,
"Version[en in Prosa] aus [dem Ajax u.] der Ilias"; h) ''Von
der lyrischen Poesie [der Griechen]. Vorgetragen von H. Pro-
fessor Weber. Winter-Semester. Selecta. 1829-30"; i) Kunst-
geschichtliches, vier Hefte: "über die Geschichte der Bild-
hauerkunst"; Hermen, Reliefs, Gemmen und Münzen; Holz-
schnitt, Mosaik, Archäologie und Paläographie; Malerei u.
Farbenlehre; k) aus dem deutschen Unterricht: ein Heft von
1825, enthaltend Satzlehre, Gedichte u. Aufsätze (vgl. S.770,
Anm.); ein Heft mit den Stücken S. 579ff. u. 589!; ferner
die Rede über Kato und die Kritik (S. 590 ff.).
^ Auf der diesem Memorialvers vorhergehenden Seite steht
ein stenographischesZeichen für das Wort "nicht" (ein Kreis
mit Punkt darin), das noch in den Handschriften der
philosophischen Vorlesungen wiederkehrt.
762 LESARTEN
eine Folge dießer höchst zu • Wissenschaft waren, genügen schon
hinlänglich in den Augen jedes tiefer in den Geist der Philologie
eingedrungenen Philologen als der schlagendste l^eweis für den
Nutzen dießes Studiums. Ich muß daher wirklich den H. Dr. er-
suchen, mich mit allen fernem Erläuterungen zu verschonen.
Scharfsinn, Verstand, gesunde Vernunft! lauter leere
Namen; eine Dung-Kaktee [?j von Gelehrsamkeit das allein würdige
Ziel alles menschlichen Strebensü! Es ist vollbracht!
Der Trödel, der mit tausendfachem Tand
In dießer Mottenwelt mich dränaet !
Endresultat dießes geprießen Studiums!
G. Büchner
Die Worte also, die Franzos dem Hefte als Motto vor-
gesetzt wissen will, stehen in Wirklichkeit am Schluß des-
selben. Die zollhohen Buchstaben "Lebendiges! was nützt
der tote Kram!", die F, S. XXII aus dem Hefte, das im
letzten Teil die Paläographie behandelt, zitiert, lassen sich
wiederum dort nicht finden;^ wohl aber starrt uns aus den
letzten Seiten dieses Heftes ein Gekritzel persönHcher
Notizen und Glossen in solcher Fülle entgegen, wie sie uns
F nicht ahnen läßt. Auf der viertletzten Seite des Heftes,
deren Text sich mit semitischen Schriftarten beschäftigt, ist
der Rand und auch der Schlußteil der Seite mit ganz an-
deren Ergüssen vollgekritzelt; viel ist durchstrichen, ande-
res kaum lesbar, doch läßt sich entziffern:
[Am Rande:] [Am Schluß der Seite:]
In jungen Tagen ich lieben tat, Doch [?] es singen die Zungen
Das däuchte mir so süß, Frisch, fröhlich und frei [?J,
Vom Morgen bis zum Abend spät Die mutigen Söhne der Turner • •
Behagte mir nichts wie dieß. Sternaugen [?J funkeln, dieSchwer-
ter sind bloß.
Und oh eine Grube gar tief und Laut schallet der Freiheit Trom-
bohl petenstoß.
Für solchen Gast muß sein.2 ^^f^ ^jg posaunen erklingen,
[Folgen fünf gestrichne Zei- Gräber und Särge zerspringen,
len, dann:] Freiheit steht auf.
Er ist lange tot und hin,
Tot und hin, Fräulein— [Folgen zwei gestrichne Zei-
Ihm zu Raupten ein Rasen grün, len, dann:]
1 Allerdings fehlt ein Blatt; aber "§ 11: Pelasgische Buch-
staben" und "§ 1 2: Hieroglyphen" kann dem Zusammenhang
nach nicht darauf gestanden haben.— ^ Vgl. 633 9 f.
MISZELLEN 763
Ihm zu Füßen ein Stein. {Wenn die in meinem Yrxterland
Wie erkenn ich dein Treulieb verkümm.ert ?
Vor den andern nun? So sei mein Blut doch deine letzte
An dem Muschelhut und Stab Ölung,
und den Sandelschuhn.i Dann greif ich freudig in den
Kranz der Dornen,
{Und Freiheit, Freiheit Hell klingen mir die ewigen Sic-
sci mein • • } geshürner.}
[Folgen noch zwei gestri-
chene und zwei unlesbare
Zeilen.]
Das nächste Blatt des Heftes fehlt; die dann folgende
Seite trägt den Titel "Geschichte der Entzifferung der
Hieroglyphen" und ist mit zugehörigem Text bis auf das
letzte Drittel beschrieben; dann folgen hingekritzelte Stoß-
seufzer Büchners, von denen diese zu entziffern sind:
o 's ist grausig wichtig, wenn's nur nicht so • langweilig war. Philo-
log. Schandvolk • • • 's tut mir leid • • • Donner u. Doria Hilf
Teufel mir die Zeit d. Angst [V] verkürzen! — Vier Uhr! Gottheit —
o mon dieu! will denn die Zeit nicht verrinnen? — , die \\'elt ist
stehn geblieben • • •
Darunter malt Büchner seinen Namen, ermanntsich dann
zur neuen Kapitelüberschrift "Von der griechischen Paläo-
graphie", bricht aber sogleich danach in erneute Klagen
aus:
Gelehrte Dungkaktee 1?^, wie ich mir all das Zeug in den Hirn-
kasten jagen wollt I )unnerwetterkicl nochmal. rdasgischc
l'.uchslabeu!
Die nächste Seite bringt ein wahnsinniges Gekritzel, daß
man an den irren Lenz erinnert wird, der "Hieroglyphen!
Hieroglyphen!" an die Wand schreibt;- aus dem wirren Ge-
kritzel heben sich nur einzelne Worte hier und da lesbar
ab, wieder aus Ophelias Wahnsinnssang z. B.; im übrigen
ist auf dieser Seite nur am Rand entzifferbar:
Zu Lauterbach hast du dein Strumpf verlorn,
Ohne Strumpf du kommst heim,
Drum geh nur wieder nach Lauterbach,
Kauf dir zu dem ein' noch ein'.
Die letzte beschriebene Seite bringt nur noch Büchncrisclie
1 Der geistesgestörten Ophelia Sang in "Hamlet" IV 5.
2 Vgl. 1021111. und 10117.
764 LESARTEN
O du gelehrte Bestie, lambc me in podice.
's ist scheußlich, horribile dictu.
O schaudervoll! höchst schaudervoll!
Gott sei oreiobt, es ist das letztemal.
Hier ruht ein junges Öchselein,
Dem Schreiner Ochs sein Söhnelein,
Der liebe Gott hat nicht gewollt,
Daß es ein Ochse werden sollt.
Drnm nahm er es aus dießer Welt
Zu sich ins schöne Plimmelszelt;
Der Vater hat mit Vorbedacht
Kind, Sarg und Grabschrift selbst gemacht.
Den ganzen Schülernachlaß gäbe man gern hin für zwei
Manuskripte, die leider als verloren bezeichnet werden müs-
sen: eine politische Satire und ein Tagebuch des Dichters.
Das satirische Gedicht "HEER DU THIL MIT DER
EISENSTIRN und Schreinermeister Kraus von Butzbach"
ist nach Nöllners aktenmäßiger Darlegung (S. 105) "durch
eine bei Schreiner Kraus zu Butzbach auf eine falsche ano-
nyme Anzeige hin vorgenommene Haussuchung nach einer
Druckerpresse veranlaßt worden und auf Verhöhnung der
Behörden, auf deren Anordnung diese Haussuchung voll-
zogen wurde, berechnet". "Spott und Hohn", heißt es fer-
ner S. 196, "sprach sich schon am Tage jenes Aktes aus;
ein gedrucktes Gedicht voll heftiger Schmähungen und
Hindeutung auf die Anwendung der 'Laterne' wurde bald
darauf insgeheim verbreitet." Daß Büchnern der Vorfall
bekannt war und ihn köstlich amüsierte, zeigt der Brief
vom 2. 7. 34; daß er aber der Verfasser jenes Gedichtes ist,
verrät uns erst Wilhelm Schulz in seinem Buche "Geheime
Inquisition, Zensur- und Cabinetsjustiz im verderblichen
Bunde" (S. 13): "Auch dieses Spottgedicht kam vom ver-
storbenen Georg Büchner, wie ich von diesem selbst ge-
hört habe. Es läßt sich also voraussetzen, daß es voll des
schlagendsten Witzes ist. t)berdies ist es nach der be-
kannten Volksweise verfaßt: 'Ich bin der Doktor Eisen-
bart' und pflanzte sich leicht von Mund zu Mund fort."
Auf diese "Probe politisch-satirischer Lj-rik Büchners" hat
neuerdings Arthur Plocli im Feuilleton der Frankf. Ztg.
vom 7. 6. 1905 nachdrücklich hingewiesen. Seine Bemü-
hungen, das Gedicht in Butzbach ausfindig zu machen,
sind leider erfolglos geblieben, wenn auch, wie er schreibt.
POETISCHE AN SATZE 765
zwei Personen sich noch erinnerten, es gehört zu haben.
Daß es von Mund zu Munde ging, besagen auch die gericht-
lichen Strafen, die für seine Verbreitung erteilt wurden.
Gewiß wird das Gedicht den Prozeßakten gegen Weidig
und Genossen beigelegen haben; aber diese Akten sind,
wie schon zum "Hessischen Landbolcn" bemerkt wurde
{S.733), vernichtet worden. Die Hoffnung, uusreAusgabe um
dies Kabinettstück politisch-satirischer Laune des Dichters
bereichern zu können, mußte daher aufgegeben werden.
Und verloren ist auch des Dichters TAGEBUCH, dessen
Caroline und Wilhelm Schulz Erwähnung tun (S.652, 656).
Die Stelle, die Wilhelm Schulz in seinem Nachruf daraus
mitteilt, ist die einzig erhaltene. ^ Über den Verbleib des
Tagebuchs erfährt man nur zufäUig et\vas aus eineniFeuille-
ton-Artikel von Franzos in der Voss. Zeitg. vom 4. i, 1902:
danach besaß Minna Jägle auch dies Manuskript, "das
nach der Ansicht aller, die es gelesen, von größtem Werte
war". Das Tagebuch ist folglich mit dem Tietro Aretino'
und den Briefen Büchners an seine Braut von dieser vor
ihrem Tode vernichtet worden.
POETISCHE ANSÄTZE (S. 573-577).
Die Anordnung mußte, soweit keine Zeitangabe vorliegt,
auf Grund rein graphischer Entwicklungsmerkmale er-
folgen, für die die Schulhefte genug Material boten.
6. 573. 2ff. [DEM VATER ZUGEDACHT]: [teljt auf einem
Sogen üon [larfem, faft glattem kopier in S^relb^eftformat, mit
9?anb unb 23unbfteg: für bic einseinen 3ctlen l)ai fid) ber S^reiber
Stnien mit 5Blet[ti[t gcßcgen; bef^ricben ftnb bic erften beiben
Seiten doII, üon ber brittcn bie gtöfeere ^nlfle; töQ^r[(f)einIi(^ f)at
bas nur fragmentarifc^ erhaltene üeine Sc^rtftiiüc! ur[prünglt(^
aus einem Doppelbogen beftanben, oon bem bie erjte Seite tüof)I
1 Doch mag hier noch eine andere Äußerung Büchners ver-
zeichnet werden, durch deren bittere Ironie ja auch ein
gewisser Bekenntniswert hindurchblitzt; auf einer im
Nachlaß befindhchen unausgefüllten deutschen Enskrip-
tionslistc, offenbar der Gießener Universität, stehen quer-
gekritzelt die Worte: ''Boire sans soif et faire ramour en tout
femps, ü 11' y a qiie ce qui noiis distingue des aittres hetes.
G. Büchner."
766 LESARTEN
nur ben 2:itel ober bie äBibniung trug; S^itft luie ge[to(^en (Iro^
gtueier 5\orrc!turen), nidjt üor 1825; rei^ts unter ber legten !^dk
fte^t in beuti(^cr S^rtft [tolj ber 9lame "®corg Sürf)ner".
6. 574. inff. [DER MUTTER]: nur erljaltcn burd) eine ^fc^rift,
bie i?ui[e Sü^ner roof)! für 5-ran30s niac^te^ unb mit folgenben
SBorten einleitete: "(Sin ^ugenbgebii^t von ©eorg, bas er 5U einem
(f)clnirt5tag ber SJhitter nerfagt. (£5 trägt leiber fein X^dum, aber
fi^ujerlid) roar er bamals über [ed)5e^n ^f*^^^-"
(B. 575. 1 ff. Ein kleines Weilinachtsgeschenk ...: erljnlten auf
einem Doppelbogen [tarten Rapiers mit 2Baffer3ei(^en (2Bappen
unb JL), in Quartformat, mit breitem Sunbfteg; für bie i^txkw
finb toieber Linien mit SBIeiftift ge5ogen, bie Schrift i[t eltoas toei*
&)n unb Iä[figer als bei bem erftcn Stüd; bie erfte Seite trägt nur
bie 5\uriiüüber[(^rift, bie ^toeite unb [ec^fle bis ai^te Seite [inb
frei, bc^ fte^t auf biefer legten Seite mit ©leiftift, luo^I oon bem
Did^ter in [päterer ^^\i geftfirieben, no(^ folgenbe 2}ariante:
Nacht
Wieder eine Nacht herabgestiegen
Auf das alte, ew'ge Erdenrund,
Wieder eine Finsternis geworden
In dem qualmerfüllten Kerkerschlund.
9?e(^tsbauonunb in gleicher §öf)c mit ber Öberfdirift Xacht fte^t
nod) eine ^<i\\<^, toouon nur ertennbar ... stehen alle Wunden;
f)ingegen i[t oon ber 3a^rc53a^I 1835, bie F 3ufe^t, ni(^ts 3U fel;en.
S. 576. "'ff. LEISE hinter düstrem Nachtgewölke: erhalten
auf einem Doppelbogen ftorten Rapiers in Quartformat, toouon
nur bie erfte bis oierte Seite, letjtcrc noc^ mit einer Stropf)e, be=
fd)vieben finb; bie cin3clnen ^ixkw ftcben luicbcr auf 231eiftiftltnicn,
bie Sdjrifl iit etwas ausgeprägter; bcn 3wed biefer 9iieber|d)rift auf
bem oicl 3U rcidjiid) bcmcffenen Doppelbogen oerrät loeber %\id
110^ aUibmung, bod) erwähnt l'uife Süifiuer im 5lnf(^hi^ an bie
^bfc^iift bes 3weiten 3ugcubgebid;'tes (ogl. 3U 574 J off.) aud) biefes
mit bcn 51Borten: "(£in anbcrcs (<3cbi(^t im 9Jiatt!^if)onfd^en Stil,
an eine oerfallne S^urgruine, wobei (^>eorg, fooicl id) wcij^, bas
£)cibclbergcr Sd)lDB im Sinne tjatte, tonnte id) fcincrseit, ba es
mir fcl;r gut gefiel, ausiuenbig, erinnere mid) aber jetjt nur nod)
ciußelner "ilerfe. i?eiber ift es au^ nid)t me^r uor^anben," roie ein
brittes (5cbid)t,3 auf bcffen Sn^alt id) mid) aber nid)t enifinne."
^ (!!:r[)alten in ^üd^ners 9iad)Ia^ auf einem 2>riefbogen.— -Offcn=
bar ift es f)interber bod) nod) aufgefunben.— ^ iliieneid)t bas britte
bicfcr 'ifusgabe.
) 767 c
SCHULAUFSÄTZE UND SCHULRKDEN(S. 578-604).
Von der chronologischen Anordnung gilt das zu den "Poe-
tischen Ansätzen" Bemerkte. Die Aufnahme der schwäbi-
schen Übertragung von Schillers Gedicht "Graf Ebcrliard
der Greiner", die F, S. XXIII zum Teil anführt, wurde nicht
in Betracht gezogen, da sie gewiß keine selbständige Lei-
stung Büchners ist, sondern von dem Subkonrektor Baur
genau so wie die übrigen Gedichte diktiert sein wird^—
Von Büchners Schulreden hat sich die ABGANGSREDE
nicltl erhalte)}; denn dies ist nicht die Kato-Rede, wie F,
S. XXX irrtümlich angibt: Büchner ist nach den Feststel-
lungen Zobels von Zabeltitz Ostern 1831 abgegangen, und
worüber der Abiturient gesprochen, überliefert uns das
Gymnasialprogramm von 1831, das für den 30. März ver-
kündigt: "Karl Georg Büchner ward im Namen des Mene-
nius Agrippa das auf dem heiligen Berg gelagerte Volk
zur Rückkehr nach Rom in lateinischer Sprache mahnen."
Diese lateinische Rede ist nirgends aufbewahrt. (Vgl. zu
596i.^ff.)
S. 578. iff. ÜBER DIE FREUNDSCHAFT: aus bcni beut=
[c^eii Unlertic^tsf)cit uom ^sc^^xe 1825 entnomnien, luo es. auf
S. 50-52 [ler;t.
S.579. off.HELDENTOD DER VIERHUNDERT PFORZ-
HEBIER: erhalten in einem §eft, bas [onft nur no(^ ba5 5Bru(^=
[lud S. 589f. enthält, ^uf beni [c^iuorscn I)e(!el fte^t oon frember,
offenbar fpäler regiftrierenber §anb mit 9?otftift: "1828. X)eut[(^";
F gefeilt es S. XXVIII ben "^3Iuf[ä^en von 18:J0 unb 18:51" 3U,
bod) ^anbelt es \\ö) bem Stil nac^ um eine 5?ebe, feinen ^uffalj.
1 Diese "Gedichte für G. Büchner. 1825. Bei Herrn Sub-
konrektor Baur"' stehen in dem deutschen Unterrichts-
heft hinter der Satzlehre; es sind folgende: "Der Graf von
Habsburg'", ein Stück aus Strickers "Karl dem Großen" in
Hexametern, Schillers "Berglied", "Graf Eberhard der
Greiner" in schwäbischer Mundart, "Das Eleusische Fest^'
mit Glossar, "Der Antritt des neuen Jahrhunderts". Mit
S. 43 hebt dann die letzte Abteilung "Aufsätze" an; sie
enthält folgende Stücke: "Lebensbeschreibung Ulrichs von
Hütten", "Lebensbeschreibung des Epaminondas"', "Über
die Freundschaft", "Geschichte des Messenischen Krieges".
Das Heft schließt mit des Lehrers \'ermcrk: "Die Hand-
schrift ist sehr schlecht: denn sie ist sehr undeutlich."
768 LESARTEN
S. 589. ^u]. ÜBER DEN TRAUM EINES ARKADIERS:
r)inter bem Doriöeu ^tuffa^ tm [elben $efte jte^ent) unh bort mitten
auf einer Seite abbrerf)enb, obtöof)! bas $eft nod) uiele leere (Seiten
entl^ält; bie uielen i^orrefturen laffen bas Srui^ftüd als einen Gnt^
iDurf erfc^etnen.
S. 590. Süff. [KRITIK AN EINEM AUFSATZ ÜBER DEN
SELBSTMORD]: erhalten in einem befonberen .^eft, auf beffen
iüei(^em Dedel nur G. Büchner [tefit; uon fpäterer §anb ift mit
5\Dift}ft hinzugefügt "Kritik. 1S31": ift bie 3e^^ö"9«&^ nrfjtig,
müfete bie ^(rbeit ]^ tut er ber 5latO'5iebe fielen. Xie gefperrten
2BDrte [inb Don Sü^ner unterftrirfjen toorben.
S. 596. i8ff. [KATO VON ÜTIKA]: erhalten auf breiineinanberge-
legten unb gel^efteten Sogen in (Sro^quarlformat; bie le^te Seite ift
freigeblieben, bie erfte beginnt glei(^ mit bem Xtxi, hoä) ift öon anbe=
rer^anb mit anberer 2inte fiinsugefügt Rede zurV^erteidigung
desKato von Utika, gehalten auf dem Gymnasial-Rede-
aktus in Darmstadt, im Herbst 1831. Die i\ato*9^ebe uer«
funbigt febo^ bas ©i^mnafialprogramm bereits für hcn 29. Sept.
1830 mit ben 2Borten: "ilarl ©eorg Sü^ner wirb in einer beut»
f^en 5iebe ben ilato von lltifa 3U re^tfertigen fuc^en." Die Sper=
rungen entfpred)en röieber ben Unterftrei^ungen ^Büc^ners. 'i^xan=
30s' IJlbtoeid^ungen ge^en auf Äorrefturen surüd, bie oon anberer
§anb unb mit anberer Sinte in bem 9Jtanuf!tipt vorgenommen
ujorben finb, um ben Stil 5U glätten.
MÜNDLICHE ÄUSSERUNGEN (S. 605-608).
Diese Zusammenstellung mündlicher Äußerungen Büch-
ners darf nicht mit allzu kritischen Augen angesehn wer-
den. Selbst diejenigen Mitteilungen, die unmittelbar auf
Ohrenzeugen zurückgehn, von der mittelbaren Überliefe-
rung Franzos' ganz zu schweigen, beruhen nur auf Erinne-
rungen, die zum Teil weit zurückliegen, und sind dement-
sprechend einzuschätzen. Insofern jedoch wenigstens in-
haltlich die wiedergegebenen Berichte ein wirkliches Echo
geäußerter Ansichten und Empfindungen Büchners dar-
stellen können, verdienten sie, in dieser Ausgabe berück-
sichtigt zu werden.
Nicht aufgenommen sind die Worte des Fieberkranken, die
65O20ff. verzeichnet sind— obwohl sie nicht im Delirium,
sondern "nachdem ein heftiger Sturm von Phantasien vor-
über war", gesprochen zu sein scheinen. Franzos hat sie
MÜNDLICHE ÄUSSERUNGEN 769
trotzdem nicht ernst genommen und diesen Standpunkt
gegen einen Jugendfreund Büchners, den Pfarrer Luck,
vertreten, wie aus dessen Antwortbriefen, die sich in Büch-
ners Nachlaß befinden, zu ersehen ist. ^Merkwürdig ist nur
dabei, daß sich Franzos für seinen Standpunkt auch auf
des Dichters Tagebücher beruft, die er doch selbst nie ge-
sehen hat.^ Nachzutragen wäre endlich noch die Mitteilung
eines Jugendfreundes, den F S. XXXI zitiert:
Ich bin überzeugt, daß Büchner bereits in der Prima des Gymna-
siums ein radikaler Atheist war. Mit der Kirche war er schon früh
fertig. So sagte er mir einmal, noch in unserer Knabenzeit: "Das
Christentum gefällt mir nicht — es ist mir zu sanft, es macht lamm-
fromm." Die Äußerung ist mir in Erinnerung geblieben, weil ich
mich damals so sehr darüber entsetzte.
Wenn Franzos fortfährt: "Es stimmt dazu, wenn wir in des
Knaben Religionshefte neben dem Diktat 'Mit der Ehr-
furcht vor Gott ist die Demut unzertrennhch verbunden'
eine Garnitur— von Fragezeichen finden", so kann dies
nicht bestätigt werden: die zitierte Stelle findet sich zwar
auf der Doppelbogenlage, die Elementares aus der Sitten-
oder Religionslehre enthält, aber ohne jene "Garnitur von
Fragezeichen".^ Wer jener Jugendfreund Büchners ist, sagt
Franzos nicht; der weiterhin von ihm zitierte zweite Ge-
währsmann hingegen, nach dessen Überzeugung Büchner
"damals zwar ein kühner Skeptiker, aber nicht Atheist war",
istausseineminBüchnersNachlaßerhaltenenBrief anFran-
zos festzustellen: es ist der Gymnasialprofessor Friedrich
^ Luck schreibt antwortend am 20. 9. 78 an Franzos:
"Was Büchners pohtische und religiöse Ansichten und
Strebungen anlangt, müssen allerdings die Ihnen vor-
liegenden Akten über und Tagebücher von ihm maß-
gebend für Sie sein", und auf der nächsten Briefseite noch-
mals über Büchners Stellung zum Christentum: "Auch
hierin sind seine Tagebücher entscheidend." Von den
Tagebüchern muß also Franzos geschrieben haben, ob-
wohl er sie selbst nicht kannte: vgl. S. 765; auch Ludwig
oder Wilhelm Büchner kannten das hinterlassene Tage-
buch schwerlich, wenn es in Minna Jägles Besitz kam, und
Wilhelm Schulz, der es kannte, lebte nicht mehr, um Fran-
zos darüber Auskunft zu geben. — ^ Franzos müßte denn
ein schwaches Bleistiftzeichen am Rande, das man als
Fragezeichen deuten könnte, für eine Äußerung des Dich-
ters gehalten haben; Büchner hat aber sonst alle Glossen
in seinen Schulheften mit Tinte geschrieben.
BÜCHNER 49.
770 LESARTEN
Zimmermann, dessen Meinung übrigens auch der Pfarrer
Luck teilt.
S. 605. 9 Erinnerung eines Jugendfreundes: £ud \\i es ntd[)t,
t^a [eine im 9Iacf)Ia^ Sudaners befinbltc^en fe^r ausführlichen 5D?lt=
teilungen an ^i^an^os bie beiben er[tcn (Erinnerungen üon 6. 605
m(^t enthalten; man fönnte an (Seorg 3i"^"ißi^"^cinn benfen, ber bie
t^eologifc^e i^aufbal^n einfc^lug, oon bem [i(^ aber feine HJlitteilung
im 9la(t)Iafe 5Büd)ners bcfinbet, tDäl)renb |ic^ bod) bie beiben 23riefe
[eines 5Brubers an gransos bort erljalten f)aben | i4 Ich habe An-
lagen zur Schwermut: üielleid)t bo^ nur eine brieflid^e ?iufec=
rung, benn es Reifet N, S. 4: "Die i^m beinahe uncrträglid) [(^ei«
nenbe 3^tennung oon [einer 33raut erseugte in i^m toäl^renb [eines
©iefeener ^ufentijalis eine trübe unb 3erri[[ene (5emüts[timmung,
bie [ic^ in [einen 33riefen ^äufig aus[pric^t unb ben [on[t [o lebcns«
frol)cn jungen SJlann [agen läfet ..." | i5ff. Einmal apostro-
phierte er mich . . .: entnommen aus Lucks aUitteilungen (ogl.
S. 632 30 ff.) I i^y 19 Link: lies Luck | 20ff. Die Versuche
Seder bemüht \\ä) groar, toie er cor (5eri(i)t au5[agt, "Sü(^ner in
[einen eigenen SBorten, beren i<^ mi(| no(^ jiemlid) genau erinnere,
reben ju Ia[[en" (^Röllners "5lftenmäfeige Darlegung" S. 420, F
(5. 409), aber ange[i^ts ber ^usfu^rli(^feit [einer SBiebergaben
toerben [te als ^ufeerungen Sü^ners tool^I nur cum grano salis
auf5ufa[[en [ein.
S. 607. 32-36 Ich schreibe im Fieber • • • Zum Bruder Wilhelm:
Die SBorlc flingen SBü(^neri[^, bo^ [te^cn [ie ni(^t in ben bricf-^
Ii(^en SÖlitteilungen SBil^elm 58ü^ners an giansos, bie \\^ eben-«
falls in bes Dieters 9la^la^ befinben; oiellei^t oon gransos !on«
[truiertnad)636 33ff.
S. 608. i-ö Mit gräßlich entstellten Zügen bis mein Todes-
urteil!": au(^ für bie[e, epifd^ [i(^erli(^ oufgepu^te Dar[teIIung
eJfransos' geben SBil^elm 23ü(f)ners ^Briefe feinen $BeIcg i 6-8 So
schieden beide bis Ahnung hat sich erfüllt: oiellei^t oon
gransos !on[truiert na^ ben im 5Rad^Ia^ (Seorgs befinblic^en C£r=
innerungsDcrfen SBil^elms: "Do(^ bu leb roo^I, bcroa^re bi(!) ben
(gltem.— C£in Äufe, ein ^änbebrud unb— nie [a^ \6) i^n roiebct!" '
16-18 Auch hatte er bis pflegte er später zu sagen: eine Quelle
ffi^rt F ni^t an, oicUeic^t wa^ münbli^cr Überlieferung.
) 771 (
ANHANG (S. 609-65 7 j.
DER Anhang soll bis zu einem gewissen Grade die Lük-
kenhaftigkeit derüberlieferung unmittelbarer Lebens-
zeugnisse Büchners ergänzen. Die erhaltenen Briefe an
Büchner sind schon inbiographischerHinsicht außerordent-
lich wertvoll; auch bilden sie einen kleinen Ersatz für ver-
lorene Briefe des Dichters selbst an die Absender. Die
zeitgenössischen Berichte aber ergänzen uns das Bild vom
Werden und Wirken Büchners aus dokumentarischen
Quellen und persönlichen Eindrücken. Mit dem Nachruf
von Wilhelm Schulz, der noch einmal das Lebensbild des
Dichters kurz skizziert, v/ar eine natürliche Begrenzung
dieses Anhangs gegeben; das nur zum geringsten Teil eigene
Eindrücke vermittelnde biographische Vorwort Ludwig
Büchners wird hier niemand vermissen, und ebensowenig
gehören hierher die zufällig noch zu des Dichters Lebens-
zeit erschienenen ersten Kritiken über den 'Danton', die
rein literarische, nicht persönliche Zeugnisse darstellen.
BRIEFE AN BÜCHNER (S. 611-628).
— -~^ —
Mehr Briefe an Büchner als die hier mitgeteilten sind, so-
weit bekannt, nicht vorhanden. Von den mitgeteilten ist
der des Onkels Reuß noch ungedruckt; die beiden Briefe
der Eltern Büchner sind zum erstenmal im Insel- Almanach
auf das Jahr 1923 veröffentlicht worden; die Gutzkow-
Briefe brachte Charles Andler ( = A) im Euphorion, Er-
gänzungsheft 4 mit drei weiteren Briefen Gutzkows an des
verstorbenen Dichters Braut zur Kenntnis, aber nicht in
der richtigen Zeitfolge noch überhaupt mit der gehörigen
Sorgfalt.
S. 611. 2 ff. VOM ONKEL REUSS: in SBü(f)ners dlad)la^ be-
finbltci^ei 5Brtef, mit ^o[t[tempeI oom gleiten 3:age; bie 5lbrc[[e
lautet:
Herrn
George Büchner
Student der Medicin
in
pressant Gießen
772 LESARTEN
6. 613. 22 durch Heger: [o A, lies aber Heyer.
6. 614. 5 Daß Sie nach Frankreich gehen: offenbar non Sü^=
ner in einem verlorenen 5B riefe mitgeteilt | i3ff. Lieber, ich
habe ...: ®u^!otös 3lnttDort auf SBüc^ners SBrief oon Einfang
$DZar5 (S. 544 f.), benn er tueife i^n ie^t in Straßburg.
S. 615. 13 ff. Mein nach Darmstadt geschickter Brief...:
^nttoort auf einen verlorenen Srief ^Büdiners, ber anfragte, roas
©u^fotD na^ Darmftabt gefd^rieben, ido^I aud^ ben (Empfang bes
nac^gefanbten Honorars beftätigte unb bie Sereitroilligfeit aus=
brüdte, an Sauerlänbers beutf^er 5Iusgabe 23i!tor §ugos mit=
5uarbeiten.
S. 616. 29 Mannheim, den 12. Mai: ber gi^nsofe lieft März für
May unb f)at infolgebeffen btefen Srief ©u^totDS fäl[(^li(^ als
fünften eingeftellt; abref jiert ift ber 58rief p. A. ä Mr. Mr. Lucius,
a Strassbourg, Rue Guillaume No 6ß \ 10 Ihre Novelle Lenz:
toieber ift ein verlorener Srief Sü(^ners DDrausjufe^en, in bem
er erftens ©u^totos $D^af)nung Die Übersetzung lassen Sie
unterwegs (61536) mit bem ^intoeis parierte, ba^ ©u^fotö ja
[eiber am 3Si!tor §ugD mit überfe^e, unb bann bie mistige $0lit«
teilung Don bem ^lan einer Novelle Lenz ma^te.
S. 619. 8 Ihren jüngsten, doch so willkommnen Brief: in
bem Sü^ner ni(f)t nur über die Zusendung aus der Schweiz
( 556 7 ff.) f(^rieb, f onbern au^ die Verpflichtung zu regelmäßigen
Beiträgen (558 32 f.) ablehnte.
S. 620. 36 In kurzer Zeit drei Briefe von Ihnen: barunter ben
(Empfehlungsbrief für bie Alsa-Bilder ber trüber Stöber unb
DieIIei(f)t549 6ff.
S. 622. 21 Sie geben mir ein Lebenszeichen: nämlid^ 'btn
Srief 5621 ff., als 5lntroort auf (5u^!otöS Doriges Schreiben;
bod^ mufe in biefem au(^ etroas oon ben Ferkeldramen geftanben
^aben, ujorauf [i^ (Bu^foto 623 12 bejie^t.
S. 623. 23 ff. VON DER MUTTER: ber in ȟc^ners 9Zac^Ia^
befinblii^c Srief ^at ^ojtftempel oom glei(^en 3^age unb folgenbe
neue 5Ibre[fe SBü(i)ners:
An
Herrn Doctor G. Büchner
Wohlgeboren
Abzugeben bei Herrn in
Regierungsrat Zehnder Zürich,
in der Steinstraße. In der Schweiz.
S. 626. 5 ff. VOM VATER: ebenfalls in Süc^ners ?la^Iafe bc=
finbli(^er Srief mit gleicher ^brc[[c toie ber oortge.
S. 628. 14 lies E. Büchner.
^ 773 c
PERSÖNLICHE ERINNERUNGEN UND DOKU-
MENTE (S. 629-657).
e. 629. 3ff. GEBURTS- UND TAUFPROTOKOLL: m\U
geteilt oon ^faner 2ud an i^xan^os im ^n[(^Iufe an [eine foIgcn=
hin (Erinnerungen {[. b.) | 20ff. L.W. LUCKS [[0!] MITTEI-
LUNGEN: 2}Dn Surf befinben [i^ in SBüc^ners 9k(^Iafe brei
Briefe an '^xan^os oom September unb Oftober 1878, unb bem
cr[ten Dom IL Sept. batierten [inb auf brei engbef^riebenen Srief--
bogen bie Don ^ransos für [eine biDgrap^i[d)e Ginleitung erbete*
nen "(Erinnerungen an ©eorg Süc^ner, oon einem gleic^alterigen
;3ugenbgeno[ien" beigelegt, oon benen bie 9JiitteiIungen 6292üff.
einen Slusjug bilben. ^\6)t mitteilensroert er[(^ienen nömli^ Suds
5Iu5la[[ungen gan5 allgemeiner ober blo^ ^i)pot^eti[^er 5trt, 5. $B.
über bie angebli^e 2ßirfung ber paulini[rf)en Sriefe auf Sudaner,
[oiDie bie ^eut überholte Dar)teIIung oon Süi^ners Sßer^ältnis 5um
(5ran!furter ^tttentat unb 5um §e[[i[^en £anbboten.^ Der gegebene
3lu53ug i[t in[ofern noc^ retu[d)iert, als bie etroas fonfufe unb
[prung^afte (£r3ä!)Iermanier bes ^Pfarrers bur^ 23er[c^iebung ber
5?ei^enfoIge einzelner ^b[(f)nitte bem i?e[er 5uliebe be[eitigt lüorben
i[t. Die 9^amen ber ertDöfjnten ^er[Dnen [inb auf (Srunb bes naä)--
tragenben jroeiten fiudf^en ^Briefes oom 20. 9. in 5^Iammern ^in=
5ugefügt, au^ i[t bie 9^irf)tig[tellung ^in[ic^tlid) äJiinnigerobes, ben
Sud er[t für einen SJIebisiner t)ielt, berüd[id)tigt roorben. (2on[t
gelegentlli^ aus [tili[ti[d)en (Srünben Dorgenommene geringfügige
Rorretturen brausen t)ier töo^I nid)t nod) öerseic^net 3U loerben.
S. 630. 28 beteiligt: lies beteiligte | 38 uns andern: lies uns
andere.
S. 632. 32 Link: lies Luck; bcsgl. 633 14 | 36 im kirchlichem:
lies im kirchlichen.
3ugefiiQt [et3ubem^U53ug]^ierno^,u)a5£ud inbenfelben "(£rinne*
rungen" con besDid)ters9JJutter [agt: Sie war eine ehren-
i3rran305[eIb[t[c^eintrDeberbie "(Erinnerungen" noc^ bie Sriefeiiuds
für [eine (Einleitung benu^t 3U ^aben, obroo^I it)m bie[erfrei[telltc,
baraus 3U entnehmen, roas i^m 3rDedent[pre(^enb unb uerlä^Iid)
er[^ien. 93ieIIeid)t wax i^m 2uä als un3UDerIä[[ig bc5^alb Der=
bäc^tig, roeil er Hebbel gegenüber, roie aus (Emil 5vuh5 §ebbcIbio=
grap^ie II, S. 610 fieroorging, irrtümlich Don einer Ü^erroidlung
Süd)ners in bas ^rantfurter Komplott 1833 ge[prod)en l)aik unb
an bes Dieters SBiebcrannä^erung an bas (Ei)ri[tcntum au^ nod)
gran30s gegenüber glauben mochte; mit llnre_d)t Derioirft aber gran^
3DS bestoegen ben gan3en 5Beri(^t iluds, be[[en 3uoerIä[[igfeit tüir
an einer Stelle [ogar nad)prüfen tonnen: ogl. 633yf. mit 76231 f.
774 LESARTEN
werte, charaJrterf este deutscheHausfrau.Des Gegensatzes zu
ihrem Gatten vollbewußt— dies versichert meine Frau, die
sie als Mädchen kannte — , war sie ohne alle Prätension auf
außergewöhnliche Bildung und gehörte nicht zu den fühli-
gen Frauen, die sich selbst genießen und geltend machen.
Diesen Eindruck haben mir die wenigen anfänglichen Be-
suche in Georg Büchners Elternhaus hinterlassen. — 5lu^
eine 5iufeerung über ©üd^ners Staut, btc [i^ in ßuös SBrtef
Dom 16. Oft. ftnbet, ift bei bem roentgen, xoas totr über [ie rot[|en,
iDtebergebensroert: Was den Einfluß der im allgemeinen gläu-
bigen Braut Georg Büchners auf ihn betrifft, so versichert
mich Georg Zimmermann, sie — Minnna Egle — als eine reli-
giöse, stilltiefe Natur persönlich kennen gelernt zu haben,^
die jedoch nur auf dem Boden der ihr mitgeteilten ratio-
nalistischen Auffassung gestanden habe. Es sei ihm sehr
wahrscheinlich und natürlich, daß sie eine beruhigende,
mildernde Einwirkung auf ihn ausgeübt und religiöser ge-
stimmt habe.
^Is 23artante getötjfernmfeen gu fiudfs (Erinnerungen tonnen enbltd)
i5fttebrl(f) 3^"^Tnermanns brtefH(^e 50ltttetlungcn an
granjos oom 13. unb 16. Ottober 1877 gelten^ bie ftc^ ebenfalls
in Sudaners 9lac^Ia^ erhalten ^aben, bru^ftüdfroeife freiließ f^on
in F, S. XXXI f. oerroertet [inb. 3i"^"^ßi'^iö"Tt [c^reibt:
Darmstadt, 13. Oct. 1877.
Die Bekanntschaft mit Georg Büchner, diesem hochsinnigen, ge-
nialen und kraftvollen Menschen machte ich imLauf des Jahres 1829,
und wir schlössen herzliche Freundschaft. Wir verkehrten sehr
häufig zusammen bis Herbst 1831-, wo er nach Straßburg, ich nach
Heidelberg Studiens halber abgingen (ohne Maturitätszeugnis, der-
gleichen damals nur in Ausnahmefällen erfordert ward). Wir arbei-
teten gemeinsam an unserer Geistesbildung, besonders in philoso-
phierenden Gesprächen auf Spaziergängen (Wirtshäuser besuchten
wir nicht). Wir vertieften uns in die Lektüre großer Dichterwerke.
Büchner liebte vorzüglich Shakespeare, Homer, Goethe, alle Volks-
poesie, die wir auftreiben konnten, Äschylos und Sophokles; Jean
Paul und die Hauptromantiker wurden fleißig gelesen. Bei der Ver-
ehrung Schillers hatte Büchner doch vieles gegen das Rhetorische
1 9Jlinna war na6) N, S. 18 im September 1834 in Darmfiabt,
auc^ na^ bem 2obe (Seorgs noc^ einmal.— ^ Dcmnaif) müfete ]\df,
toenn 3abem^ re^t behalten [oll (ogl. S. 767), ȟdiner no(^
ein I)albes ^a^r na^ Sc^ulabgang in Darmftabt aufgehalten
^aben.
ERINNERUNGEN UND DOKUMENTE 775
in seinem Dichten einzuwenden. Übrigens erstreckte sich der
Bereich des Schönliterarischen, das er las, sehr weit; auch Calderon
war dabei. Für Unterhaltungslektüre hatte er keinen Sinn; er mußte
beim Lesen zu denken haben. Sein Geschmack war elastisch. Wäh-
rend er Herders 'Stimmen der Völker" und 'Des Knaben Wunder-
horn' verschlang, schätzte er auch Werke der französischen Lite-
ratur. Er warf sich frühzeitig auf religiöse Fragen, auf metaphy-
sische und ethische Probleme, in einem inneren Zusammenhang
mit Angelegenheiten der Naturwissenschaften, für deren Studium
er sich frühe entschied. Gedichtet hat er, meines Wissens, damals
nichts; aber für echte Poesie war seine Liebe groß, sein Verständ-
nis fein und sicher. Für die Antike und für das Seelenbezwingende
in der Dichtung neuerer Zeiten hatte er gleiche Empfänglichkeit,
übrigens so, daß er sich dem einfach Menschlichen mit Vorliebe
zuwandte. Sein mächtig strebender Geist suchte sich eigne Wege;
in der Schvde befriedigte er durch recht mäßige Anstrengung. Sein
sittlicher Wandel war durchaus unbescholten; nur für edlere Ge-
nüsse des Geistes und Gemütes hatte er Sinn, das Gemeine stieß
er unwillig von sich. Die Natur liebte er mit Schwärmerei, die oft
in Andacht gesammelt war. Kein Werk der deutschenPoesie machte
darum auf ihn einen so mächtigen Eindruck, wie der Faust. — Den
ehemaligen Lehrern des hiesigen Obergymnasiums muß ich viel
Gutes nachrühmen; unter den Schülern befand sich eine erhebliche
Zahl von Talenten und Emporstrebenden. Die Grundfärbung des
Unterrichts war Griechisch-Lateinisch; in den exakten Wissen-
schaften verlangte man vom Schüler sehr wenig, der Besuch des
Französischen, Englischen, Italienischen war fakultativ. Der Ordi-
narius der ehemaligen Prima, Karl Weber, der Herausgeber des
Lucan, später Gymnasialdirektor zu Kassel, gestorben als Univer-
sitätsprofessor der klassischen Philologie in Marburg, war ein sehr
gelehrter Kenner des Griechischen, ein redlich bemühter, energi-
scher, charaktervoller Lehrer; der Führer der Selekta war Gymna-
sialdirektor Karl Dilthey (gestorben 1857;, ein geistreicher, Lust
und Liebe zum interpretierten Autor erweckender Lehrer, von
humanem und feinem Benehmen bei einer gewissen Zugeknöpftheit.
Ein Hauptgegenstand der Pflege war ihm der lateinische Aufsatz;
die ungeduldig vorwärtsstrebende Seele Büchners hatte kein Herz
für Grammatik und Stillehre, auch nicht für die lateinischen Vers-
übungen und das lateinische Nachinterpretieren, was doch alles von
Nutzen gewesen ist. Im Deutschen verdanken die beiden jungen
Freunde sehr viele Anregung und Förderung dem noch lebenden,
fast neunzigjährigen Professor Karl Baur. — Ich bin überzeugt, daß
mein unvergeßlicher Jugendfreund und commilito in literis mehr
zum Philosophen als zum Dichter geboren war; auch den Beruf zum
776 LESARTEN
bedeutenden Naturforscher scheint er mir schon damals entschieden
angekündigt zu haben.
Professor Dr. F. Zimmermann, Gymnasiallehrer i. R.
3m ätoetten ©rief oom 16. £)!t. 1867 läfet ]\ä) 3tmmermann nod^
über Suc^ners reltgtijfen StanbpunÜ folgenbermafecn aus:
Als Mitschüler hatte ich mit Georg Büchner viele Unterredungen,
welche die Religion betrafen. Davon habe ich natürlich nur all-
gemeineErinnerung. Ihr folgend, bin ich fest überzeugt, daß er damals
zwar ein kühner Skeptiker, aber nicht Atheist war.— Das frommeWort,
auf dem Todesbett gesprochen (aus dem Tagebuch der Frau Schulz
gedruckt), halte ich äußerlich und innerlich für sicher beglaubigt.
(S. 633. 17 ff. KARL VOGTS EINDRUCK: aus i^arl 93ogt,
^usmemcmfieben. (£rtnnetungenunb3^ücf5Iide. Stuttgart 1896.—
!r)er SdE)tIberung SSogts t)on 58üc^ners ^tu^erem [eten f)ter aus bem
(Erinnerungsgebi(i)t SBil^elm Sürfiners auf [einen trüber (ogl.
2tsaxi 3U 638 i f.) folgenbe 3}ei[e gegenübergefteilt:
Das blaue Aug, sein lockig Haar,
Die kühne Stirn mit den Apollo-Bogen,
Ein schlanker, großer junger Mann,
Geziert mit roter Jakobiner-Mütze,
Im Polen-Rock, schritt stolz er durch die Straßen
Der Residenz, die Augenweide seiner Freunde!
S. 634. 5ff. AUS AUGUST BECKERS GERICHTLICHEN
ANGABEN: roie fie 91öIIners "5l!tenmä^ige Darlegung" S. 420 ff.
überliefert ^at; toas baoon S. 605 ff. unb 733 f. töiebergegeben
i[t, i[t nid^t loieber^olt roorben; aber mas $Beder an ©u^tou)
über SBü^ners 33er^ältnis gu SBeibig unb be[[en grau [d)reibt,i
mag ^ier nod) ^insugefügt toerben:
Ich habe den Büchner bei Weidig eingeführt. Er vertrug sich nicht
gut mit ihm in politicis. Desto mehr enchantiert war er von seiner
Frau, einem überaus herrlichen Geschöpf. Er verlor sein natür-
liches Ungestüm, wenn sie dazu kam, und ward zahm, wie ein Hirsch,
wenn er Musik hört.
S. 636. I6ff. WILHELM BÜCHNER AN FRANZOS: beibe
SBriefe, je ein blauer (5rofeo!tat)bogen mit ber ^\xma "SBill^elm
93ü(^ner. Hltramarinfabrü. ^fungftabt beiDarm[tabt", im ^aä)--
la^ bes X)i(^ters erhalten; nur roas loefentli^ unb nid^t überholt
ift, i[t baraus roiebergegeben | 36 lies Geld zu "machen".
1 erhalten in ber [päteren ^faffung oon ©u^fotos 25üd^ner«^uf[a^.
ERINNERUNGEN UND DOKUMENTE 777
S. 638. 4 f. das gewünschte Gedicht: im 9la(^Iafe auf ben ^w-
nenfetten eines toeifeen OftaoBogens gebrudt erf)altcn; ber Xitel
lautet Erinnerung an meinen Bruder Georg! bas ®cbi^t ift
Pfungstadt, Juni 1875 batiert unb entl^ölt aufeer ben [rf)on oben
3ttterten 33et[en nichts 9JZittetIenstDertes.
S. 640. 8 Ad 7: unter ad 5 unb ad 6 [teilen teils unüate, teils
irrige eingaben über (öeorgs 9JZitteI jur gluckt unb beren 3eit^
punft I 26ff. DER STECKBRIEF: ügl. bas 5U 54421 ©efagte.
S. 641. I6ff. ZÜRICHER UNIVERSITÄTSPROTOKOLLE:
in einer oom^^eüorat ber Hniüerjität ßüxiä) offenbar für gran30s
Deranla^ten ^b[^rift im 9lad)Ia^ SBü(f)ners erljalten.
S. 642 ff. DES KANTONALSTABS ARZTES DR. LÜNING
ERINNERUNGEN: aus einem 5U)ciein^alb Sogen umfaffen*
ben Srief, ben 3}r.fiüning aus 9?ü[c^li!on b. 3ürid^ am 9. 9ioü. 1877
an gfran^os ge[(^rieben f)at unb ber ebenfalls in bes Didfjters 9la(^=
la^ aufbetoal^rt ift.
S. 645 ff. CAROLINE SCHULZ' TAGEBUCHAUFZEICH-
NUNGEN: ber in F, e. 420 ff. gegebene 5lbbrud i[t ungenau
unb lüden^aft (aus ^rüberte); unferm Zixt liegen bie in Sü^ners
9la(^Ia^ befinbli^cn l^anbi^riftli^en ^ufjeic^nungen ber grau
Sc^ul5 5ugrunbe.
S. 653 ff. WILHELM SCHULZ' NACHRUF: aus ber 3üri*
^er3eitung oom 23. ^februar 1837.
SCHLUSSBERICHT
REGISTER
) 78i C
ES gehört sonst zum Wesen der Klassikerausgaben
des Insel -Verlags, in deren Rahmen dieser Büchner
erscheint, daß sie alles biographische und philologische
Beiwerk fernhalten und allein den Autor zu Worte kom-
men lassen. Dieser Grundsatz hat jedoch zur Vorausset-
zung, daß die textliche Überlieferung des betreffenden
Schriftstellers bereits geklärt ist und also ein wissenschaft-
lich bewährter Text zugrunde gelegt werden kann. Das
ist aber bei Georg Büchner nicht der Fall.
Franzos' Büchner-Werk nennt sich freilich eine "Erste
kritische Gesamt-Ausgabe"; aber bei allen Verdiensten,
die dieser Herausgeber um die allmählich wachsende
Kenntnis und Anerkennung Büchners sowie um die Er-
haltung seines literarischen Nachlasses sich erworben hat,
kritisch verfuhr er bei seiner Ausgabe nicht. Schon die
wesentlichste Vorbedingung für einen kritischen Heraus-
geber, der Überlieferung bis auf den Grund zu gehen und
sich über die Entstehung verschiedener Lesarten klar zu
werden, um sich danach für die demWillen des Dichters ge-
mäße entscheiden zu können, hat Franzos nicht erfüllt. Bei
denjenigen Werken Büchners, für deren Textherstellung
der handschriftliche Nachlaß nichts oder zu wenig hergab,
dachte er nicht daran, auf die Erstdrucke zurückzugehen; er
übernahm vielmehr den Text der unzuverlässigen Ausgabe
Ludwig Büchners und brachte sich so um die Früchte
selbständiger Textvergleichung. Aber auch die Handschrif-
ten verwertete Franzos, wie bereits Witkowski am "Woy-
zeck" nachgewiesen, in unkritischer Weise; er setzte sogar
Stellen in den Text wieder ein, die Büchner schon in der
Handschrift durchgestrichen, und nahm Fassungen erster
Entwürfe auf, obwohl sie sich nur durch eigenmächtige
Änderungen in die vom Dichter endgültig gewählte Form
zwängen ließen. Wird man auch angesichts der sachlichen
Schwierigkeiten und der persönlichen Widerstände, mit
denen Franzos nach seiner eigenen Schilderung ("Über
Georg Büchner", Deutsche Dichtung, XXDC.Bd.) zu kämp-
fen hatte, über solch Verfahren milde urteilen, so ändert
das doch nichts an der Tatsache, daß Franzos' Ausgabe
heutzutage nur noch historische Bedeutung hat.
Da alle späteren Büchner- Ausgaben auf der von Franzos
fußen und höchstens gelegentlich kritischen Zweifeln an
der Echtheit des Textes durch Konjekturen praktische
Folge geben, so hatte sich die neue Insel- Ausgabe von der
782 SCHLUSSBERICHT
bisherigen Text-Überlieferung möglichst freizumachen und
auf die Erstdrucke und Handschriften selbst zurückzu-
gehen. Dazu kam noch, daß die bisherigen Büchner-Aus-
gaben sich in der Hauptsache auf den Dichter beschränk-
ten, die poetischen Arbeiten Büchners jedoch nur einen
Teil seines Lebenswerks ausmachen. Dieses in seiner er-
staunlichen Vielseitigkeit einmal vollständig vorzulegen,
war angesichts des frühen Endes, mit dem der Tod Büch-
ners Entwicklung abbrach, eine doppelte Notwendigkeit.
Der Insel- Verlag konnte dieser Aufgabe um so eher gerecht
werden, als es ihm gelungen war, den literarischen Nach-
laß Büchners in seinen Besitz zu bringen. Eine vollständige
Ausnutzung dieses Nachlasses aber, in dem auch wertvolles
biographisches Material steckte, brachte die völlig neue
Gestaltung der vorliegenden Ausgabe mit sich.
Es sei hier erlaubt, den Ertrag dieser Neugestaltung mit
einem kurzen Rückblick auf den Inhalt der Ausgabe zu-
sammenzufassen; für alle Einzelheiten der textlichen Wie-
dergabe muß auf die Lesarten verwiesen werden.
Die Teilung und sachliche Gliederung des Stoffes bedarf
keiner Erläuterung. Eine rein chronologische Anordnung
verbot die Verschiedenheit der Materie; daß aber inner-
halb der einzelnen Abteilungen die zeitliche Folge ange-
strebt wurde, ist selbstverständlich.
Die DICHTUNGEN stehen gebührend voran. Ihr Text
zeigt fast auf jeder Seite Abweichungen von der früheren
Überlieferung. Das kommt bei Dantons Tod nicht mehr
überraschend, nachdem schon die Insel- Bücherei Nr. 88
in der Neuauflage eine nach der Handschrift des Dichters
revidierte Ausgabe hat erscheinen lassen. Schon diese
brachte die veränderte Akteinteilung und die früher unter-
drückten Stellen des Dramas, wie sie auch sonst den stark
verderbten Text auf Grund der Handschrift in seiner Ur-
sprünglichkeit wiederherstellen konnte. Darin jedoch un-
terscheidet sich von ihr die hier nun vorliegende Gesamt-
ausgabe, daß die in der Handschrift gestrichenen Stellen,
deren Streichungen tatsächlich auf den Dichter zurück-
gehen, die aber trotzdem von Franzos wiederhergestellt
wurden, aus dem Text entfernt und in die Lesarten auf-
genommen worden sind. — Von der fragmentarischen Lenz-
Novelle hat sich leider keine Handschrift in Büchners Nach-
laß erhalten. Doch l^onnte auch hier durch Heranziehung
der Quelle des Dichters, des Oberlinschen Tagebuchbe-
SCHLUSSBERICHT 783
richtes, der von Gutzkow schlecht redigierte Erstdruck
von seinen in allen späteren Ausgaben wiederkehrenden
Entstellungen des ursprünglichen Wortlauts gereinigt
werden. Die Vergleichung des "Lenz" mit der Quelle Ober-
lin drängt übrigens zu der Erkenntnis, daß nur dem ersten
Teil von Büchners Fragment der Wert eines dichterischen
Originales beigemessen werden kann, im weiteren Verlauf
hingegen die Erzählung sich immer mehr in einen den
Oberlinschen Bericht referierenden Ton verliert, ja zuwei-
len sogar diese Quelle geradezu ausschreibt: offenbar han-
delt es sich nur um einen ersten Entwurf des Dichters, und
sein persönliches Interesse am Stoff erlahm.te nach der
grandiosen Landschaftsschilderung und der naturalistisch-
zergliedernden Wiedergabe des mehr psychischen Krank-
heitsprozesses in Lenzen s Zustande. Die Lücke freilich
mitten im Text S. 107 wird auch so kaum erklärt werden
können, sondern auf Verlust eines Handschriftenteils zu-
rückzuführen sein; um dem für den Stoff einmal eingenom-
menen Leser darüber hinwegzuhelfen, ist durch Aufnahme
des betreffenden Stücks aus der Quelle Oberlin in die Les-
arten ein notdürftiger Ersatz geschaffen worden. —
Auch für das Lustspiel Leonce und Lena fehlt leider die
grundlegende Handschrift. Jenes handschriftliche Frag-
ment, aus dem Franzos seinen Text um ein paar Auftritte
bereichert hat, ist zwar noch vorhanden, stellt sich jedoch
als ein bloßer Entwurf heraus, den der Dichter für die
endgültige Fassung zwar benutzt, aber stark verändert,
vor allem erheblich gekürzt hat. Was Valerio z. B. in dem
Entwurf zum besten gibt, ist teilweise, jedoch viel kürzer,
auch in der endgültigen Fassung verwertet, so daß die
scheinbare Bereicherung durch Franzos in Wirklichkeit
zum Teil eine matte Wiederholung ist; und die Beibehal-
tung der Polizeidienerszene, so witzig sie an sich sein mag,
würde eine starke Belastimg des ersten, sowieso schon
längsten Aktes und eine Verschleppung der dramatischen
Entwicklung bedeutet haben. Tatsächlich ist die durch
Franzos' Einfügung der Entwurfszenen entstandene Über-
länge des ersten Aktes wiederholt gerügt worden; sie hat
den Anlaß zu der Vermutung gegeben, daß auch die übrigen
Akte ursprünglich länger gewesen und wohl aus Zensur-
rücksichten gekürzt worden wären. In Wahrheit verhält
es sich also umgekehrt, wie auch daraus hervorgeht, daß
Franzos, um die Entwurfszenen überhaupt einfügen zu
784 SCHLUSSBERICHT
können, den überlieferten Text an den Verbindungsstellen
zu ändern gezwungen war. Die Aufdeckung dieser Sach-
lage hatte natürlich zur Folge, daß die zu Unrecht mit der
Ausführung verquickten Entwurfszenen aus dem Text
wieder entfernt und mit den Entwurfsbrocken eines zwei-
ten Manuskriptblattes bei den Varianten untergebracht
wurden (S. 687 ff.). Noch ein anderes Problem aber tauchte
bei der Vergleichung des fragmentarischen Erstdrucks in
Gutzkows "Telegraph" mit der ersten vollständigen Ver-
öffentlichung in Ludwig Büchners Ausgabe auf: beide Fas-
sungen unterscheiden sich derart voneinander, daß man
zwar die im "Telegraph" für die burleskere halten wird,
aber weder der einen noch der anderen Büchnerische
Originalität absprechen kann. Wie in den Lesarten näher
ausgeführt worden, wird die eine Fassung mit der an
Cotta gesandten Preisschrift identisch, die andere erst für
den 1837 beabsichtigten Druck hergestellt sein; welche
Fassung aber die ältere ist, steht dahin, wenn man nicht
gar bezweifeln möchte, daß Büchner von einem strengen
Preisrichterkollegium Verständnis für die burleskere Fas-
sung erwartet haben wird. — Zeitlich, und wohl auch seiner
inneren Verwandtschaft nach, würde sich dem Lustspiel
der Pietro Aretino anzuschließen haben, der aber für immer
verloren gegeben werden muß (vgl. S.664f.). Bleibt noch der
Woyzeck, das Schmerzenskind kritischer Forschung. Nach-
dem Witkowski die Bahn für die wissenschaftliche Be-
trachtung dieses Torsos gebrochen und mit seiner Woy-
zeck-Ausgabe den Grund für die endgültige Entzifferung
der erhaltenen Handschriften gelegt hat, konnte auf die-
sem Wege erfolgreich fortgeschritten werden. Nur in der
Frage der Szenenfolge führte die eigne Untersuchung der
Handschriften zu einer anderen Auffassung, die in dem
Les arten apparat ausführlich begründet worden ist (S.70 iff.).
Die Textgestaltung bereitet insofern noch Schwierigkeiten,
als auch die letzte erhaltene Fassung des Dramas nur
fragmentarisch ist und sogar der entscheidenden Kata-
strophe ermangelt, die in den Entwürfen doch vorliegt.
Um nun dem Stück auch im Text einen gewissen Abschluß
zu geben, wurde, während die Entwürfe selbst ihren Platz
bei den Lesarten fanden, wenigstens die Ermordung der
Marie auch vorn wiedergegeben, wenn auch zur Unterschei-
dung vom Text des Dichters in anderer Druckschrift. Der
Ausklang freihch, den im Anschluß an die Mordszene nun-
SCHLUSSBERICHT 785
mehr das Drama erhalten hat, läßtsich aus derhandschrift-
hchen Überheferung nicht begründen. Die noch von Fran-
zos' Textgestaltung herrührende Auffassung, daß der Mör-
der Wo5^zeck ertrinkt (die szenarische Bemerkung "ertrinkt"
hat Franzos von sich aus zugesetzt), kann sich nur auf den
Auftritt jener beiden Personen nach der Ermordung stüt-
zen, die vom Wasser her Töne hören wie von einem Men-
schen, der stirbt. Wie aber die Lesarten zeigen (S. 714),
treten diese beiden Personen unmittelbar nach Mariens
Erstechung auf, während Woyzeck später noch einmal
am Teich erscheint (S. 716); und, was noch wichtiger
ist: in der nur angedeuteten Gerichtsszene (S. 716) er-
scheint ebenfalls Wo3^zeck wieder; denn mit der Bezeich-
nung "Barbier" ist kein anderer als er gemeint (vgl. 710 13 ff.,
71631 f.), so daß er also nach den Entwürfen, und nur aus
ihnen haben wir ja überhaupt Kenntnis über den Ausgang
des Dramas, nicht ertrinken sollte. Der Auftritt jener
beiden Personen am Teich müßte dann freilich einen
andern Zweck haben, vielleicht den, daß sie Mariens Leiche
aufspüren und der Polizei davon Mitteilung machen soll-
ten, während Woyzecks nochmaliges Erscheinen an der
Mordstelle möglicherweise zu seiner Verhaftung führen
sollte. Jedenfalls aber war der Ausgang des Dramas ur-
sprünglich wohl so gedacht: vor Gericht sollte der von
der menschlichen Gesellschaft Ausgenützte, Betrogene,
bis zur Wahnsinnstat des Mordes Gebrachte, dann von ihr
blind Verurteilte selber moralisch den Stab brechen über
die Gesellschaft und ihre staatlichen Einrichtungen.
Noch vor dem Dichter hat sich der Politiker Büchner be-
tätigt, der vorübergehend schon 1832 in Straßburg an "eine
politische Abhandlung" gedacht zu haben scheint (vgl.
S. 524). Doch ist von den politischen Schriften Büchners
nur DER HESSISCHE LANDBOTE auf uns gekommen,
und auch dieser nur in einer Fassung, die Büchner selbst
nicht mehr als die seinige anerkennen wollte. Es ist ver-
sucht worden, den echt Büchnerischen Text von Weidigs
Änderungen und Zutaten durch Anwendung zwiefacher
Typen zu unterscheiden; die Begründung für das so als
echt oder unecht Erklärte findet man in den Lesarten,
desgleichen eine handschriftliche Variante zu dem Schluß
des Flugblattes, die vermutlich von Weidig herrührt (vgl.
S. 738). Eine andere politische Arbeit Büchners ist leider
vernichtet worden; wie Ludwig Büchner im Vorwort zu
BÜCHNER so.
7 8 6 SCHLUSSBERICHT
seiner Ausgabe mitteilt, verfaßte Georg für die Gießener
und wohl auch für die Darmstädter Gesellschaft der Men-
schenrechte "nach dem Muster der französischen eine Er-
klärung der Menschenrechte, die mit ihren Ausführungen
damals als Programm der vorgeschrittensten Fraktion
der revolutionären Partei gelten konnte. Diese Schrift-
stücke wurden während der Periode der Untersuchungen
mit anderen Papieren verbrannt". Auch die Briefe, die
Büchner nach einer Anmerkung seines Bruders in den
Nachgelassenen Schriften (S. 250) mit dem in Darmstadt
weilenden französischen Flüchtling Muston wechselte,
werden überwiegend politischen Inhalts gewesen sein.
Viel ergiebiger ist der handschriftliche Nachlaß des spä-
teren Gelehrten Büchner. Von seinen Arbeiten sind die
NATURWISSENSCHAFTLICHEN SCHRIFTENzumgrö-
ßern Teil schon bekannt. Aber gerade die naturwissen-
schaftliche Betätigung Büchners erscheint so wichtig, daß
nichts unversucht bleiben durfte, sie so vollständig als
möglich wiederzugeben. Deshalb wurde nicht nur die
Straßburger Vorlesung über das Nervensystem der Fische aus
den selten gewordenen "Memoires de la societe d'histoire
naturelle" ganz, und natürlich im Urtext, aufgenommen,
sondern auch die Züricher Probevorlesung über Schädelner-
ven, von der bisher nur Probestücke veröffentlicht waren,
ist so vollständig, wie es die fragmentarisch erhaltene
Handschrift zuließ, zum Abdruck gebracht. Eine sehr will-
kommene Ergänzung zu diesen Vorlesungen enthalten
außerdem die Erinnerungen Dr. Lünings an des Züricher
Privatdozenten Büchner erstes und einziges Kolleg über
vergleichende Anatomie der Fische, die im Anhang S. 642 ff.
aufgenommen sind. — Mit dem Maßstab, den man an die
naturwissenschaftlichen Arbeiten Büchners legen kann,
dürfen die PHILOSOPHISCHEN SCHRIFTEN nicht ge-
messen werden. Die Erwartungen, die Franzos' Mitteilun-
gen über den philosophischen Nachlaß Büchners erweckt
haben mögen, erfüllen sich kaum. Die umfangreiche Ge-
schichte der griechischen Philosophie kam für diese Ausgabe
überhaupt nicht in Betracht, da sie sich nur als ein ausführ-
licher Auszug aus den ersten drei Bänden von Tennemanns
"Geschichte der Philosophie" herausstellte, als ein Erzeug-
nis Büchnerischen Geistes also nicht anzusprechen war;
wie wenig Originalwert dieses Exzerpt besitzt, ist S. 740 f.
auseinandergesetzt worden. Mit den Vorlesungen über
SCHLUSSBERICHI^ 787
Cartesius verhält es sich wenigstens insofern anders, als
Büchner für sie zwar auch den betreffenden Band von
Tennemann zugrunde legte, aber im einzelnen doch auch
selbständig vorging, so wenn er gelegentlich die erst nach
Tennemann erschienene Literatur berücksichtigt oder die-
jenigen Gebiete von Descartes' Philosophie, die ihn beson-
ders interessierten (Nervenlehre usw.), eingehender als
seine Vorlage behandelt. Freihch muß man sich hüten,
nun alles, was nicht im Tennemann steht, für Eigentum
Büchners zu halten. Den Hinweis auf Hegel und Hotho
z. B., die beide wiederholt in der Vorlesung erwähnt wer-
den, hat Büchner, wie schon S. 743 erwähnt, in dem Buch
von Johannes Kuhn über "Jacobi und die Philosophie
einer Zeit" gefunden, einem Buch übrigens, das er nichi
nur für die Cartesius-Darstellung, sondern auch für die
über Spinoza benutzt hat und dessen Kenntnis höchstwahr-
scheinlich auf ein persönliches Verhältnis des Gießener
Studenten Büchner zu dem Professor der Theologie und
Doktor der Philosophie an der Universität Gießen zurück-
geht. Da aber auch Stil und Vortrag dieser V^orlesung
durchaus persönUcher Natur sind, so konnte ihr die Auf-
nahme in eine Gesamtausgabe Büchners nicht versagt
werden, mit Ausnahme freihch derjenigen Abschnitte, die
sich nicht über das Niveau eines bloßen Exzerpts er-
heben. Was sich endlich über Spinoza in Büchners
Nachlaß erhalten hat, ist nach den Ausführungen S. 744 ff.
von dreierlei Art. Für sich steht die Übersetzung des
ersten Teils der Ethik mit den teils kommentierenden,
teils kritischen Anmerkungen Büchners, die man sich zwar
nicht für gut geeignet zu einer Vorlesung denken kann,
aber angesichts ihres Vortragstones (vgl. 33714) vielleicht
als Seminarübung vorzustellen hat; soweit diese Übertra-
gung von Büchnerischen Anmerkungen begleitet ist, ist
sie auf S. 323 — 2>Z7 wiedergegeben. Der S. 338 — 352 folgende
Abschnitt ist der erste Teil einer Vorlesung über Spinoza,
die mit der vorhergehenden Seminarübung nicht in un-
mittelbarem Zusammenhang steht. Denn sie geht nicht
von der Ethik, sondern von dem Traktat über die Ver-
besserung des Verstandes aus und kommt über die Dar-
stellung der Erkenntnislehre Spinozas nur wenig hinaus.
Nur diese ist deshalb vorn aufgenommen worden, wäh-
rend der noch verbleibende Rest, der zur Metaphysik
Spinozas überleitet, aber in Zitaten aus Tennemann ver-
788 SCHLUSSBERICHT
sandet, in die Lesarten verwiesen wurde (S. 748 f.). Im
übrigen ist das Verhältnis zu Tennemann bei dieser Vor-
lesung so, daß Büchner dem Gang der Tennemannschen
Darstellung zwar zum Teil folgt, ja auch zuweilen ihm
wörtlich sich anschließt, andererseits aber doch auch
selbständig die außer jenem von Tennemann zugrunde-
gelegten Traktat noch für die Darlegung in Betracht kom-
menden Schriften Spinozas heranzieht und sich gelegent-
lich auch ausführlich mit der neuesten Auffassung eines
Johannes Kuhn auseinandersetzt (S. 345 f.)- Auch Herbarts
hätte hier wohl gedacht werden können, aber dessen
gänzliche Ablehnung des Spinozismus in der "Allgemeinen
Metaphysik" scheint Büchner erst nach der Abfassung
seiner Vorlesung kennen gelernt zu haben; ein wörtlicher
Auszug aus Herbarts Polemik gegen Spinoza findet sich
nämlich, mit anderen Abschriften aus Tennemann, in
einer dritten Handschrift, die aber weiter nichts als diese
Exzerpte über Spinoza enthält und deshalb eine Aufnahme
in die Büchner-Ausgabe nicht beanspruchen konnte.
Die ÜBERSETZUNGEN der beiden Dramen Victor Hugos
durften nicht wegbleiben, wenn die Ausgabe den Anspruch
auf Vollständigkeit erheben wollte. Gewiß hat Büchner
einer Überschätzung dieser Arbeit durch sein eigenes Urteil
über jenen französischen Dichter vorgebeugt (vgl. S. 754);
auch hat Paul Landau in der vortrefflichen Einleitung zu
seiner Büchner-Ausgabe hervorgehoben, wie leicht sich
der Dichter das Übersetzen gemacht hat. Um so eher aber
konnte er schöpferisch vorgehen und auch in seine Mittler-
rolle eigenen Ausdruck, Ton und Farbe legen. Besonders
die übertragenen Verse S. 431 und 467 haben echt Büch-
nerische Prägung erhalten.
Die BRIEFE Büchners können schon ihres Bekenntnis-
gehalts wegen nicht hoch genug eingeschätzt werden. Und
sie gehören in eine Gesamtausgabe seiner Werke um so
mehr hinein, als sie mit dem Niederschlag poetischer, poli-
tischer und wissenschaftlicher Strebungen Büchners auch
die lückenhafte Überlieferung seiner Schriften wertvoll er-
gänzen können. Freilich, stark lückenhaft sind auch die
Briefe selbst nur erhalten, ja es dürfte kaum einen andern
bedeutenden SchriftstellerneuererZeit geben, dessen Briefe
in ähnlich abgerissenen Fetzen uns überkommen wären
wie so viele von Büchner. Leider war an diesem Zustand
nichts mehr zu ändern, da sich die Originalbriefe nicht er-
SCHLUSSBERICHT 789
halten haben. Auch die gelegentHch von Ludwig Büchner
en^'^ähnte Korrespondenz mit dem französischen Flücht-
ling Muston wird wohl schon von den Korrespondenten
selbst aus politischer Vorsicht vernichtet worden sein, und
sonstige Spuren, denen man noch nachgehen könnte, sind
überhaupt nicht vorhanden. So muß man sich denn mit
dem Material zufrieden geben, das bereits Franzos heraus-
gab, zuzüglich des einen Briefes an den Verleger Sauerlän-
der, denHouben 1918 in der Frankfurter Zeitung veröffent-
licht hat. Daß es aber textkritisch auch an derüberlieferung
der Briefe, besonders der Briefe an die Braut und an Gutz-
kow, viel zu bessern gab, lehrt ein Blick in die Lesarten;
auch ist, dem Prinzip dieser Ausgabe entsprechend, eine
rein chronologische Anordnung des gesamten Briefmate-
rials durchgeführt worden.
W^as sonst noch an direkten Äußerungen der Büchnerischen
Individualität auf uns gekommen ist, wurde in der Abtei-
lungMISZELLEN zusammengestellt. Der chronologischen
Ordnung entsprechend stehen die Zeugnisse aus der Schul-
zeit voran. Sie namentlich sind nichts weiter als bloße
Miszellen, die keinen Eigenwert besitzen, wohl aber zum
Verständnis der Entwicklung Büchners das Ihrige beitra-
gen. Nur zum Teil hatte sie bereits Franzos veröffentlicht,
und auch nicht mit der kritischen Sorgfalt, die gerade diese
Keime einer erwachenden Originalität erfordern. Diese
zeigt sich weniger in den Versen als in den Schulaufsätzen
und Schulreden, deren Prosa mehr Bewegungsfreiheit zur
Äußerung eigner Gedanken verstattete. In dem Eintreten
für die nationale, für die religiöse, für die persönliche Frei-
heit, in der Polemik gegen die hergebrachten Anschauungen
von Religiosität und Moral und auch in dem Interesse an
psychischen Problemen zeigt sich bereits der Büchnerische
Geist mit kraftvollem Flügelschlag. Auch in jenen Glossen
mtd Notizen zu den Schulheften ist er zu finden, von denen
Franzos in der Einleitung seiner Ausgabe einiges mitge-
teilt hat. Sie üeßen sich hier in dem Text nicht gut unter-
bringen, sind aber, soweit entzifferbar, S. 761 ff. wiedergege-
ben: Auflehnung gegen die langweilige Lehrmethode,
daneben Volksliedfreude und Shakespeare-Begeisterung
und vor allem schon politisch gefärbter Freiheitsdrang
sprechen aus ihnen. Was die sehr zahlreich im Nachlaß
aufbewahrten Schulhefte Büchners sonst noch enthalten,
erschien nicht mitteilenswert, ist aber S. 760 f. kurz registriert
790 SCHLUSSBERICHT
worden. — Ein größeres Interesse als die übrigen Miszellen
dürfen die Mündlichen Äußerungen beanspruchen. Freilich
ist die Überlieferung bei manchen von ihnen so wenig
zuverlässig, daß ihre Wiedergabe nur mit Vorsicht aufzu-
nehmen ist. Immerhin wird man nicht nur Büchners Ge-
sinnung und Ansicht, sondern auch seinen Ton und seine
Ausdrucksweise überall heraushören. — Nicht mehr auf-
zutreiben war leider die Satire im Volksliedton Herr du
Thil mit der Eisenstirn, auf die Arthur Ploch in der Frank-
furter Zeitung 1905 nachdrückhch hingewiesen hat; und
auch das Tagebuch des Dichters, in dessen Lektüre die
Freunde und die Braut des Verstorbenen ihren ersten
Trost fanden, mußte bereits S. 765 als verloren bezeichnet
werden.
Aber noch einige andere Schätze enthielt der literarische
Nachlaß Büchners, die zwar nicht unmittelbar zu seinen
Werken und Briefen gehören, aber so wertvolles biographi-
sches Material enthalten, daß sie längst hätten ans Licht ge-
zogen werden sollen. Ihnen verdankt der ANHANG seine
Entstehung. Die Abteilung Briefe an Büchner enthält frei-
lich nur drei Briefe, die vor kurzem noch gänzlich unbe-
kannt waren, nämlich den Brief des Patenonkels Reuß
und die beiden Schreiben der Eltern Büchners; aber man
wird zugeben, daß sich schon ihretwegen ein Anhang
lohnte. Die Eltern des Dichters lernt man aus ihren Brie-
fen, man möchte sagen leibhaft kennen; auch wird durch
den Brief des Vaters die bisherige ÜberHeferung widerlegt,
daß eine Versöhnung zwischen ihm und seinem Altesten
niemals stattgefunden hätte; und ob nicht erst der Mutter
Mitteilung von der öffentlichen Hinrichtung eines Mörders
in Darmstadt den Dichter an jene Leipziger Exekution,
die in seiner Schulzeit den aufsehenerregenden KriminaLfall
Woyzeck abschloß, erinnert und damit die erste Anregung
zu seinem letzten Drama gegeben hat? An den Onkel Reuß
hat sich offenbar der Gießener Student, der vomVater knapp
gehalten wurde, gewandt, um genügendGeld zur Reise nach
Straßburg zu haben; erst von dort aus schrieb er dann
den beunruhig-cen Eltern den Grund seines Ausbleibens.
Wurden schon einmal Briefe an Büchner in diese Ausgabe
aufgenommen, so lag es nahe, auch die schon bekannten
von Gutzkow beizufügen, die als Antworten auf zum Teil
verlorene Briefe Büchners einen ganz besonderen Wert
haben. — Auch die Persönlichen Erinnerungen und Dokumente
SCHLUSSBERICHT 7 9 1
setzen sich aus Altem und Neuem zusammen. Die Mittei-
lungen des Pfarrers Luck, Wilhelm Büchners und Dr. Lü-
nings vor allem waren bisher noch unbekannt und sind
doch unschätzbare Beiträge zu der Entwicklung Büchners.
Durch Luck lernen wir Büchner und seinen Freundeskreis
in der Schul- und Studentenzeit näher kennen, und die
daher quellenden Anregungen. Die Mitteilung, daß schon
der Gymnasiast Büchner Schlagworte aus der französi-
schen Revolution aufgriff, läßt auch seinen Freiheitsäuße-
rungen in den Schulheften erhöhte Bedeutung zukommen.
Im übrigen wird Lucks Darstellung durch die Nachträge
S. 773 ff. sowie durch Vogts Eindrücke von dem Kommili-
tonen Büchner noch wesentlich ergänzt und vervollstän-
digt. Wilhelm Büchners Berichte über die letzte Darm-
städter Zeit sind zum Teil wohl schon von Franzos in
seiner Einleitung verwertet worden, aber den sehr wich-
tigen Hinweis auf die erste Anregung zum Danton-Dram.a,
die gemeinsame Familienlektüre der Zeitschrift "Unsere
Zeit", hat er nicht beachtet: diese Zeitschrift hat der Dich-
ter nachweislich noch für die Abfassung des Dramas heran-
gezogen, während Bareres Memoiren, die seit Ludwig
Büchners und Franzos' Einleitungen als eine seiner Quellen
gelten, schon wegen ihres späten Erscheinens nicht in Be-
tracht kommen können (vgl. Reg.). Wie wertvoll endhch
Dr. Lünings Erinnerungen an den Züricher Privatdozenten
Büchner sind, bedarf kaum der Hervorhebung; auch ist
schon bei den naturwissenschaftlichen Schriften jener
Schilderung des einzigen Anatomiekollegs, das Büchner
gehalten, gedacht worden. Mit diesen ausführlichen Be-
richten aus drei verschiedenen Lebensepochen Büchners
war bereits der Kern zu einer biographischen Umschau
nach zeitgenössischen Quellen gegeben, und so wurden zur
Abrundung dieses Umrisses auch noch die übrigen per-
sönlichen Erinnerungen und Dokumente teils aus dem
Nachlaß, teils aus entlegenen Druckwerken hinzugefügt.
Auf die Abteilung LESARTEN mußte bereits wiederholt
verwiesen werden. Sollte dem Leser nicht zugemutet wer-
den, die oft einschneidenden Veränderungen der Textre-
vision gegenüber den bisherigen Ausgaben leichtgläubig
hinzunehmen, so ließ sich eine methodische Darlegung
der handschriftlichen wie der gedruckten Überlieferung
nicht gut umgehen. Doch wurde das Verzeichnis nicht
mit der Wiedergabe sämtlicher Lesarten beschwert, son-
7 9 2 SCHLUSSBERICHT
dern nur auf diejenigen beschränkt, die von Büchner her-
rühren oder in dieser Beziehung zweifelhaft sind. Und auch
hierbei wurde noch zwischen den Werken des Dichters
und den übrigen Schriften Büchners insofern ein Unter-
schied gemacht, als nur bei poetischen Werken auch die
Streichungen der Handschriften, die einen intimen Ein-
blick in die Arbeitsweise des Dichters gewähren, berück-
sichtigt wurden. Folgerichtig wurden nun auch die aus-
führlichen Skizzen und ersten Formungen, die später
anderen Fassungen weichen mußten, bei den Lesarten
untergebracht, und so stehen denn hier auch so bedeutende
Stücke, wie die ursprünglichen Szenen aus "Leonce und
Lena" (S. 687 ff.) und vor allem die Woyzeck-Entwürfe
(S. 706 ff.). Daß endlich der Lesartenapparat dazu verwandt
wurde, Lücken des Textes gelegentlich durch Anführung
der Quelle auszufüllen oder durch Nachtrag von Parallel-
stellen ihn zu bereichern, wird hoffentlich ebensowenig
verargt werden wie etwa das Hereinziehen der Quellen-
kritik bei den philosophischen Schriften Büchners.
Vom REGISTER endhch erwarte man nicht die Vollstän-
digkeit eines Sach- und Schlagwortverzeichnisses. Gewiß,
in der Fülle und Mannigfaltigkeit des Stoffes versinken
leicht auch die wesenhaften Züge, aus denen sich die schrift-
stellerische Persönlichkeit Büchners zusammensetzt, und
die Versuchung war groß, sie durch Verzeichnis der wieder-
kehrenden Motive und wichtigsten Belange auffinden zu
helfen. Das hätte jedoch viele Bogen Papier gekostet und
das Register bis zur Unübersichtlichkeit aufschwellen las-
sen. Auch konnte einigermaßen derselbe Zweck dadurch
erreicht werden, daß unter dem Namen Georg Büchner
die wesentlichsten Züge seiner Persönlichkeit zusammen-
gestellt wurden. Im übrigen ist das Register vor allem ein
Personenverzeichnis; ein Sachregister nur insofern, als es
zugleich die sonst notwendigen Anmerkungen ersetzen
will und also außer den Namen auch die erklärungsbedürf-
tigen Textstellen schlagwortartig aufführt und erklärt.
Doch konnte bei Lesern einer Ausgabe wie der vorliegen-
den ein entsprechendes Maß von Wissen vorausgesetzt
werden, und so durfte namentlich die Erklärung aller der
Dinge, deren Kenntnis auch ein neueres Konversations-
lexikon vermittelt, ausgeschaltet bleiben. Daß es auch so
noch für Personen und Sachen genug zu vermerken gab,
lehrt ein Blick ins Register. Wenn dieses für den "Danton"
BENUTZTE LITERATUR 793
noch ein übriges tut und die Quellen zur Vergleichung
heranzieht, so gab den ersten Anstoß dazu die im Text
aufgeworfene Frage, ob neben Thiers und Mignet auch
"Unsere Zeit" vom Dichter benutzt worden ist. Eine be-
sonders wichtige Aufgabe für das Register war die Her-
leitung der vielen Zitate, besonders der Liedzitate, die
zwar der Vorliebe des Dichters für lebendiges Volkstum
ein glänzendes Zeugnis ausstellen, aber bei dem heutigen
Leser eine nicht vorhandene Sachkenntnis voraussetzen;
für manches Zitat mußte leider auch im Register die Frage
nach seiner Herkunft offen bleiben. Auch sonst blieb noch
manches unaufgeklärt; aber viele dunkle Bezüge konnten
doch aufgehellt, manch irrige Vorstellungen berichtigt
werden. Außer der zu Rate gezogenen Fachliteratur,
die unten verzeichnet ist, wurde gelegentlich auch per-
sönliche Auskunft eingeholt und mit Dank verwertet.
Besonders verdient gemacht haben sich in dieser Be-
ziehung der Neffe des Dichters, Georg Büchner in
Darmstadt, durch die Beisteuerung der Daten für die
Verwandten des Dichters, und Herman Haupt, der Her-
ausgeber Hessischer Biographien, der im Verein mit Karl
Esselborn und H. Lehnert an der Feststellung vieler
Landsleute Büchners mitgearbeitet hat.
BENUTZTE LITERATUR
Nur gelegentlich herangezogene Schriftwerke sind hier nicht berücksichtigt,
sondern am Ort ihrer Verwendung (Lesarten, Register) genauer angegeben;
ebensowenig werden die unter den Lesarten verzeichneten Erstdrucke der
Schriften Büchners hier nochmals aufgezählt.
Ausgaben
Außer N und F (vgl. S. 662), deren Einleitungen noch
heute Quellenwert haben:
Georg Büchners Gesammelte Schriften. In zwei Bänden.
Herausgegeben von Paul Landau. P. Cassirer, Berlin,
1909. (Biogr. Einleitung in I, S. 7—177.)
Georg Büchner: Dramatische Werke. Mit Erklärungen
herausgegeben von Rudolf Franz. München, bei Birk
& Co. [1912]. (Erklärungen S. 193 — 227, Versuch text-
kritischer Besserungen S. 228!)
Der hessische Landbote. Von Georg Büchner. Sowie des
Verfassers Leben und politisches Wirken von Eduard
David. (Vgl. S. 735f0
794 SCHLUSSBERICHT
Georg Büchner. Woyzeck. Nach den Handschriften des
Dichters herausgegeben von Georg Witkowski. Leipzig,
im Insel- Verlag. MCMXX. (Vgl. S. yozii.)
Monographien
Hans Landsberg, Georg Büchners Drama "Dantons Tod".
Berliner Dissertation, 1900.
Rudolf Majut, Farbe und Licht im Kunstgefühl Georg
Büchners. Greifswald, 1912.
Max Zobel von Zabeltitz, Georg Büchner, sein Leben
und sein Schaffen. Bonner Forschungen, Bd. VIII. Grote-
sche Verlagsbuchhandlung. Berlin, 191 5.
V^alther Kupsch, Wozzeck. Ein Beitrag zum Schaffen
Georg Büchners. Germanische Studien, Heft 4. Berhn,
1920.
Kurt Voß, Georg Büchners *'Lenz". Eine Untersuchung
nach Gehalt und Formgebung. Bonner Dissertation, un-
gedruckt [1922].
Walter Hoyer, Stoff und Gestalt bei Georg Büchner.
Leipziger Dissertation, ungedruckt [1922].
Aufsätze
Außer den Nachrufen von Karl Gutzkow (vgl. S. 753)
und Wilhelm Schulz (S. 653ff.);
Karl Buchner, Georg Büchner. Literarische und kritische
Blätter der Börsenhalle. Hamburg, 22. und 24. Mai 1837.
Artikel "Büchner" im Biographisch-literarischen Lexikon
der Schriftsteller des Großherzogtums Hessen im 19. Jahr-
hundert. Bearbeitet und herausgegeben von H. E. Scriba.
Zweite Abteilung. Darmstadt, 1843.
Artikel "Georg Büchner" in der Allgemeinen Deutschen
Biographie. Leipzig, 1876. [Verfasser: Rochus von Lilien-
cron.]
Karl Emil Franzos, Über Georg Büchner. Deutsche Dich-
tung, Bd. XXIX, S. 195—203, 289—300. Berlin, 1901.
Karl Emil Franzos, Georg Büchners "Dantons Tod".
Vossische Zeitung, 4. Januar 1802.
Arthur Ploch, Aus Georg Büchners Brausejahren. Frank-
furter Zeitung, 7. Juni 1905.
Hugo Bieber, Wozzeck und Woyzeck. Literarisches Echo.
XVLBd. (S. iiSSff.), I.Juni 1914.
Joseph Colün, Georg Büchner. Biographischer Artikel
in Herman Haupts Hessischen Biographien, I. Bd. Darm-
stadt, 1918.
BENUTZTE LITERATUR 795
Wilhelm Diehl, Minnigerodes Verhaftung und Georg Büch-
ners Flucht. Hessische Chronik, 9. Jg. (S. 5ff.), 1920.
Georg Witkowski, Büchners Woyzeck. Das Inselschiff,
I. Jg. (S. 2off.), 1920.
Fritz Bergemann, Der Fall Woyzeck in Wahrheit und
Dichtung. Das Inselschiff, i. Jg. (S. 242ff.), 1920.
Armin Renker, Büchner und Musset. Das Inselschiff, 3. Jg.
(S. 284f.), 1922.
Ouellenwerke
a) Mignet, Histoire de la Revolution fran9aise, Tome II.
Leipsic, Geoffr. Basse, 1827.
Thiers, Histoire de la Revolution fran9aise, Tome VI*.
Paris, 1834.
Unsere Zeit oder geschichtliche Übersicht der merk-
würdigsten Ereignisse von 1789 bis 1830, nach den
vorzüglichsten französischen, englischen und deutschen
Werken bearbeitet von einem ehemaligen Offizier
der kaiserlich -französischen Armee [Konrad Fried-
rich, Pseudonym Carl Strahlheim]. Stuttgart, gedruckt
bei E. F. Wolters. 1826— 1830 heftweise erschienen,
120 Duodezbände.
b) August Stöber, Der Dichter Lenz und Friedericke
von Sesenheim. Aus Briefen und gleichzeitigen
Quellen.... Basel, Schweighausersche Buchhandlung,
1842. (Darin S. II — 31 Oberlins Tagebuchdarstellung,
abgedruckt aus der "Erwinia" 1839; neuerer Nach-
druck in Landaus Büchner- Ausgabe II, S. 117— 130.)
c) Über die Woyzeck-Quellen vgl. die Aufsätze von Bieber
und Bergemann a. a. O.
d) Zu den philosophischen Vorlesungen, außer Descartes'
und Spinozas Schriften:
Wilhelm Gottlieb Tennemann, Geschichte der Philo-
sophie. Bd. I— XI. Leipzig, 1798— 1819. (Bd. I— lU Ge-
schichte der griechischen Philosophie; Bd. X, S. 228ff.
über Cartesius, S. 398ff. über Spinoza.)
Johannes Kuhn, Jacobi und die Philosophie seiner
Zeit. Ein Versuch, das wissenschaftliche Fundament
der Philosophie historisch zu erörtern. Mainz, Kupfer-
berg, 1834.
Wilhelm Hegel, Enzyklopädie der philosophischen
Wissenschaften. Heidelberg, 1827.
796 SCHLUSSBERICHT
e) Zum Anhang usw.:
Briefe Gutzkows an Georg Büchner und dessen Braut.
Mitgeteilt von Charles Andler in Paris. Euphorion,
Ergänzungsheft. 3 (S. 181— 193), 1807.
Karl Gutzkow, Götter, Helden, Don Quixote. Abstim-
mungen zur Beurteilung der literarischen Epoche.
Carl Vogt, Aus meinem Leben. Erinnerungen und
Rückblicke. Stuttgart, E. Nägele, 1896.
Friedrich Nöllner, Aktenmäßige Darlegung des wegen
Hochverrats eingeleiteten gerichtlichen Verfahrens
gegen Pfarrer D. Friedrich Ludwig Weidig, mit be-
sonderer Rücksicht auf die rechtlichen Grundsätze
über Staatsverbrechen und deutsches Strafverfahren,
sowie auf die öffentlichen Verhandlungen über die
politischen Prozesse im Großherzogtum Hessen über-
haupt und die späteren Untersuchungen gegen die
Brüder des D. Weidig. Darmstadt, Leske, 1844. (S. 98ff.
Büchner u. die Gesellschaft der Menschenrechte, der
Hessische Landbote, "Herr du Thil mit der Eisen-
stirn"; S. 42off. Beckers Aussagen über Büchner.)
Wilhelm Schulz und Carl Welcker, Geheime Inqui-
sition, Zensur und Kabinettsjustiz im verderblichen
Bunde.... Carlsruhe, G. Braun, 1845. (S. 12t Büchner
und der Hessische Landbote sowie das Spottlied
"Herr du Thil mit der Eisenstirn"; S. 83 Büchner
über Clemm.)
Nachschlagewerke
a) . Allgemeine deutsche Biographie.
Biographie des Hommes vivants.... Tome I — V. Paris,
Michaud, 18 16 — 18 19.
Nouvelle Biographie generale.... Paris, Didot Freres.
i858ff.
The Encyclopaedia Britannica. Cambridge, i9iof.
b) August Hirsch, Biographisches Lexikon der hervor-
ragenden Ärzte aller Zeiten und Völker. Bd. I — VI.
Wien und Leipzig, 1884 — 1888.
Julius Pagel, Biographisches Lexikon hervorragender
Arzte des 19. Jahrhunderts. Wien, i90of.
c) Otto Wiltberger, Die deutschen politischen Flücht-
linge in Straßburg von 1830— 1849. Abhandlungen
zur mittleren und neueren Geschichte, Heft 17. Berlin
und Leipzig, 1910.
BENUTZTE LITERATUR 7 9 7
L. Fr. Ilse, Geschichte der politischen Untersuchungen,
welche durch die neben der Bundesversammlung
errichteten Commissionen der Centraluntersuchungs-
Commission zu Mainz und der Bundes-Centralbehörde
zu Frankfurt in den Jahren 1819— 1827 und 1837 —
1842 geführt sind. Frankfurt a. M., Meidinger Sohn
& Co., 1860. (Im Anhang ausführliches tabellarisches
Verzeichnis sämtlicher pohtischen Flucht- und Häft-
linge.)
Frh. V. Wagemann, Darlegung der Hauptresultate aus
den wegen der revolutionären Complotte der neueren
Zeit in Deutschland geführten Untersuchungen... Frank-
furt a. M., 1839.
d) Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder, ge-
sammelt von L. A. V. Arnim und Clemens Brentano.
Franz Ludwig Mittler, Deutsche Volkslieder. Samm-
lung von ... Frankfurt a. M., K. Th. Völcker, 1865.
Ludwig Erk und Franz Böhme, Deutscher Liederhort.
Auswahl der vorzüglicheren deutschen Volkslieder,
nach Wort und Weise aus der Vorzeit und Gegen-
wart.... Bd. I — III. Leipzig, Breitkopf & Härtel,
i893f.-
Dr. Otto Böckel, Deutsche VolksHeder aus Ober-
hessen. Gesammelt und mit kulturhistorisch-ethno-
graphischer Einleitung ... Marburg, Elwert, 1885.
Johann Lewalter, Deutsche Volkslieder. In Nieder-
hessen aus dem Munde des Volkes gesammelt, mit ein-
facher Klavierbegleitung, geschichtlichen und verglei-
chenden Anmerkungen ... Heft 1-5. Kassel, 18962. —
August Stöber, Elsässisches Volksbüchlein. Kinderwelt
und Volksleben, in Liedern, Sprüchen, Rätseln, Spie-
len etc. mit Erläuterungen und Zusammenstellungen,
einem Sachregister und einem Wörterbuche ...2 Mül-
hausen, 1859.
Carl Köhler und John Meier, Volkslieder von der
Mosel und Saar. Mit ihren Melodien aus dem Volks-
munde gesammelt ... Mit vergleichenden Anmerkun-
gen und einer Abhandlung ... Halle, Niemeyer, 1896.
Ernst Meier, Schwäbische Volkslieder mit ausgewählten
Melodien. Aus mündhcher Überlieferung gesammelt ...
Berlin, G. Reimer, 1855.
798 SCHLUSSBERICHT
NACHTRAG
In der Hessischen Chronik, S. 3iif. des vierten Jahrgangs
(1915), teilt Wilhelm Diehl, der Herausgeber dieser Monats-
schrift, folgendes politische Gedicht auf den Minister
du Thil mit:
HERR DU-THIL MIT DER EISENSTIRN
und Schreinermeister Kraus in Butzbach.
Mel: Ich bin der Doktor Eisenbart.
Ein Leuchter leuchtet durch das Land,
Der Hessen Notwehr auch genannt;
Was der Minister lügt und trügt,
Wird durch den Leuchter streng gerügt.
Herr Du-Thil macht es viel Verdruß,
Daß er den Leuchter dulden muß;
Es kränkt ihn, daß die Welt erfährt,
Wie frech er sich den Sold vermehrt.
Herr Du-Thil hat ein' Eisenstirn,
Herr Du-Thil hat ein kluges Hirn;
Wohl läßt er seine Unken schrein:
Den Pabst, den Schacht, den Breidenstein.
Wohl bot er tausend Gulden Lohn,
Zeigt ihm den Leuchter ein Spion.
Da kommt ein Brief: in Butzbach sei
Des schlimmen Leuchters Druckerei.
Wie schnell er zu Herrn Knapp da lief!
Frohlockend zeigt er ihm den Brief.
Herr Bechtold ward gesandt zur Stund
Gen Friedberg als ihr Schnüffelhund.
Herr Camesasca sollt ihn dort
Geleiten an den schlimmen Ort,
Der lange Peter: löwenkühn;
Allein der Kriegsrat warnte ihn.
"Ach Peter, Peter, bleib davon!
Nur Schimpf und Schande sind dein Lohn!
Denk, wie nach Steinfurt du gerückt
Und dich der Ärg^er fast erstickt.
NACHTRAG 799
Denk an die schwarzrotgoldne Fahn,
Nach der du rittst in deinem Wahn;
Auf stolzem Rosse rittst du aus.
Ein Esel trug dich naß nach Haus."
Herr Camesasca hörte nicht,
Er schnitt ein superklug Gesicht;
Er nahm noch zwei Stück Federvieh^
Den Kopp und Fink; fort fuhren sie.
Es öffnet sich ein Kutschenschlag
In Butzbach selben Nachmittag,
Heraus springt Bechtold und die drei
Und fragen nach der Polizei.
Zu Krausens Hause ging's nun flink,
Die Tür bewachte Kopp und Fink;
Die andern schnüffelten ins Haus,
Des Leuchters Licht zu blasen aus.
"Herr Kraus, es ward uns offenbart,
Hier sei die Presse aufbewahrt,
Auf welcher man den Leuchter druckt".
Sprach Bechtold, der scharf um sich guckt.
"Ihr Herrn, man treibt mit Euch sein Spiel,
Ich habe zwar Holzpressen viel,
Allein die Presse, die Ihr sucht.
Die steht in Nebel-Siegfrieds Schlucht.
Herr Siegfried druckt in tiefem Schacht
Den Leuchter, der Euch Ängste macht;
Sein Zwerg trägt ihn zur Welt hinein
Und streut ihn aus im Mondenschein."
Sie suchten scharf nun überall,
In Haus und Keller, Stub und Stall;
Schrank, Kasten, Bett und Hobelspan'
Ward alles emsig durchgesehn.
Herr Bechtold suchte stets voran,
Drum stieß er sich die Nase an;
Als er sich schund die Nas und Stirn,
Da ward's ihm hell in seinem Hirn. —
Herr Knapp, Herr Du-Thil, tröstet Euch:
So bleibt's nicht stehn im Deutschen Reich.
Kommt, statt des Leuchters, die Latern,
Dann heißt's: Lebt hoch, Ihr werten Herrn!!
8oo SCHLUSSBERICHT
Der Leser dieser Büchner-Ausgabe wird auf Grund der
S. 764! gegebenen Hinweise in diesem Spottlied, dessen
Verfasser nach Wilhelm Diehl unbekannt blieb, sofort
das verloren geglaubte satirische Gedicht auf den Minister
du Thil erkennen. Aber die Entdeckerfreude wird ge-
dämpft durch eine gewisse Enttäuschung, die die Lektüre
dieses Liedes zurückläßt. Schon technisch läßt es sehr
zu wünschen übrig, und Wilhelm Schulz' Voraussetzung,
"daß es voll des schlagendsten Witzes ist", trifft auch
kaum zu. Man lese Büchners Brief vom 2. Juli 1834
(S. 537), der zweifellos denselben Vorgang behandelt (und
worin demnach Franzos' Konjektur "Darmstadt" in "Butz-
bach" zu ändern ist), und man wird zugeben, daß unser
Dichter den Vorfall in Prosa viel witziger geschildert
hat. Die Klaue des Löwen Keße sich nur in den Schluß-
versen wiederfinden; nur dieser Hinweis auf die Laterne
erinnert an den Danton-Dichter. Wie matt ist aber, im
Gegensatz zu der brieflichen Schilderung, die Auseinander-
setzung zwischen dem Kommissar und dem Schreiner;
die Doppelbedeutung des Wortes "Presse" bleibt fast
unausgenutzt, und auch aus der Verletzung des Kom-
missars wird kein Kapital für den satirisch-politischen
Zweck geschlagen, obwohl es doch ungemünzt in der
Prosa des Briefes schon reichlich vorhanden ist. Aber
ist an Büchners Verfasserschaft überhaupt zu zweifeln,
wenn Wilhelm Schulz versichert "Auch dieses Spottgedicht
kam vom verstorbenen Georg Büchner, wie ich von
diesem selbst gehört habe"? Man würde sich wohl oder
übel damit abfinden müssen, wenn nicht von gericht-
licher Seite eine Gegenbehauptung vorläge. In Ilses "Ge-
schichte der politischen Untersuchungen" heißt es S. 352
von jener Haussuchung und dem darauf gedichteten
Spottlied: "Zum Hohn der Regierung veranlaßte Ge-
meinderat Kühl den Carl Flach, eine anonyme Anzeige
zu machen, die gesuchte geheime Presse sei bei dem
Tischler Kraus in Butzbach. Bei der Haussuchung fand
man nichts. Diesen Vorgang benutzte Carl Flach zu
einem Spottliede auf das Ministerium und die Beamten,
welches von Weidig verbessert und von diesem selbst
zum Druck nach Offenbach zu Preller und in den ge-
druckten Exemplaren zurückgetragen wurde. Das Lied,
das sonach dem Pfarrer Weidig zuzuschreiben ist und
das, überall ausgestreut, allgemein in Butzbach gesungen
NACHTRAG 80 1
wurde, endet mit der Drohung an hochgestellte Beamte
des Großherzogtums: 'wenn erst statt des Leuchters
die Laterne kommen werde, dann würden sie hoch
leben!'" Diese Darstellung beruht nicht etwa auf einer
persönlichen Auffassung Ilses, sondern ist die Wieder-
gabe eines Kommissionsberichtes der Bundeszentral-
behörde zu Frankfurt am Main, also eine gerichtliche
Feststellung. Leider vermißt man die Angabe, worauf
sich diese Feststellung stützt, und der Eifer, mit dem
gleich Weidig, dem Herausgeber der Zeitschrift "Leuchter
und Beleuchter für Hessen", die Hauptschuld an dem
Liede zugesclirieben wird, ist nicht geeignet, über diesen
Mangel hinwegsehen zu lassen. Und selbst wenn auch
die gerichtliche Annahme auf ein Geständnis, etwa Flachs,
zurückginge, so stände noch immer Behauptung gegen
Behauptung, und es bliebe nach wie vor die Frage, auf
welcher Seite eine falsche Angabe oder ein Mißverständ-
nis vorliege. Zur Klarheit führt also auch die gericht-
liche Darstellung nicht, doch muß sie den schon
vorhandenen Zweifel an der Verfasserschaft Büchners
bestärken. Und wäre jene an den Danton-Dichter er-
innernde Schlußpointe des Liedes nicht, so könnte man
allerdings glauben, Wilhelm Schulz hätte irgendeine
Äußerung seines Freundes Büchner falsch gedeutet und
sich durch solch Mißverständnis zu jener Behauptung
in seinem mit Welcker geschriebenem Buch über "Ge-
heime Inquisition" verleiten lassen.
BÜCHNER 51.
REGISTER
Die Abkürzungen bedeuten: E.-B. = Erk und Böhme, F = FranzoSj Mign.
= Mignet, N = Nachgelassene Schriften, NöUn. = Nöllner, Oberl. = Oberlin,
Sch.-W. = Schulz und Welcker, Tennem. = Tennemann, Th. = Thiers, U. Z.
= Unsere Zeit. Die genaueren Titel und Auflagen der also zitierten Bücher
sowie die der Werke und Aufsätze von Böckel, Collin, Diehl, Franzos, Köhler,
Kuhn, Lewalter, Majut, Vogt suche man in dem Verzeichnis der benutzten
Literatur S. 793 ff.
"Ach Scheiden, ach Scheiden,
ach Scheiden . . .": mit d. Ant-
wort "Es hat sich e. frisch-
junges Mädchen D. Seh. mit
Thränen erdacht", Schlußstro-
phe d. hess. Liedes "Dort dro-
ben auf hohem Berge ..." (vgl.
auch E.-B., 419b— e). 41.
"Ach Tochter, liebe Tochter":
mitd. Antw. "Ach Mutter, liebe
M., So sei doch gescheit, Die
Landk. u. die Fuhrl. Das sind
kreuzbrave Leut", hess. Volks-
lied (vgl.Vogt, S. 77). 710,714.
Alcibiades: s. Sokrates.
Alfieri, Vittorio, Graf: ob es
sich um e. wirkl. Zitat d. ital.
Dram.atikers handelt, ließ sich
nicht ermitteln; doch ist bei
d. Worten wohl eher an d. er-
habne Pathos d. Tragödien als
an e. iron, Äußerg. d. politisch
gefärbten Lustspiele A.s zu
denken. 109, 687.
Alsabilder: s. Stöber, Adolph.
Amar. gefügiges Mitgld. d. Si-
cherheitsausschusses, das spä-
ter d. Schwenkg. geg. Robes-
pierre mitmachte. 65, 66.
Archimedes: den Ausspruch d.
griech. Physikers wandte H.
More (s. d.) auf d. Philosophie
an, was Büchner bei Tennem.
X, 283 erwähnt fand. 253.
Amauld, Antoine 303, 308 ff.
Arnold, Friedr. 234, 236, 359.
Arsaky: Verfasser e. "Commen-
tatio de piscium cerebro et
medulla spinali", die unter
Meckels Leitg. entstanden u.
1836 von Gust. Wilh. Minter
neu herausgegeben war. 184,
194, 196.
"Auf dem Kirchhof will ich lie-
gen": mit d. letzten Vers "Das
die Lieb tut wiegen ein",
Schluß d. Volkslieds "So viel
Stern am Himmel stehen'" (vgl.
Wunderhorn). 124.
"Auf dieser Welt hab ich kein
Freud": bekanntes Volkslied,
das aber im 2. Vers sonst "m/
Schatz" hat. 98.
August: 10. 8. 92 wurden d.Tui-
lerien gestürmt u. d. Schweizer-
garde niedergemacht. 15, 17,
48, 56, 57, 67.
Baden, Großherzog von: s. Leo-
pold.
Badenburger Versammlung: 3.
Juli 34 von Weidig veranst.
Zusammenkunft bei d. Ruine
B. zwischen Marburgern (Dr.
Eichelberg, Dr. Heß, Stud.
Breidenbach), Gießenem (Ad-
vokaten Briel u. Rosenberg,
Buchhändl. Ricker, Büchner,
Klemm) u. Weidig selbst, der
V. e. Reise durch Süddeutschi,
d. Anregung mitbrachte, durch
geh. Flugschriften d. Revolut.
vorzubereiten. 634 f.
Baiser, Georg Friedr. Wilh.
(1780 — 1846': Medizinalrat u.
Universitätsprofessorin Gießen
(vgl.Vogt, S. 5 2 f.). 529.^
Bankiers: d. Brüder Junius u.
Immanuel Frey, Chabots jüd.-
österr. Schwäger u. mit ihm
verhaftet. 54.
Barere de Vieuzac: s. wechsel-
vollen Schicksale hat B. in
ACH SCHEIDEN - BOJANUS
80-
s. **M6moires" selbst geschil-
dert, da diese aber erst 1841
ersch., kann sie Büchner nicht ,
benutzt haben; dessen Auf- !
fassg. von B.s V/etterfa!.nen- !
Charakter ist die \^n Thiers u. ■
JNIign., doch waren dem hist. i
B. Gewissensbisse fremd. 8, 31 1
C'd. alt. Sack": Wortspiel mit \
B.s'' Beinamen, vgl. Th. 125,
59ff., 639, 667.
Baum, Joh. Wilh. (1809—78/
Straßb. Freund Büchners, der
sich spät, als Kirchenhistoriker
um d. Lebensgesch. hess. u. a.
Reformatoren verdient machte;
s. preisgekr. Schrift "Der Me-
thodismus"'ersch. 38. 546,756.
Baur, Karl: Darmstädter Gym-
nasialprofessor. 767, 775.
Bechtold. Baron v.: wohl ver-
wandt mit Friedr. Georg v. B.
(s. u.) sowie mit d. Hause Carl
Theod. Bechtolds, der Karo- ■
line Luise Reuß, e. Nichte von
Büchners Großvater, geheiratet j
hatte. 625. i
Bechtold, Friedr. Georg v. ( 1 800
bis 72): hess. Ministerialrat, !
später Minister d. Innern. 625. i
i^^ecker, August (geb. 18 14):
hess. Pfarrerssohn, der als
Stud. d.Theol., dann als Haus-
lehrer u. zuletzt beschäfti-
gungslos in Gießen e. küm-
merl. Dasein fristete, bis er
weg. s. Teilnahme an d. Baden-
burg. Versammig. (s. d.) u. an
d. "Gesellschaft d. Menschen-
rechte" verhaftet wurde; nach
langer Untersuchungshaft zu
9 J. Gefängn. verurteilt, wurde
er 39 durch d. hess. Amnestierg.
frei, worauf er als Kommunist
in d. Schweiz, später als Feld-
prediger inNordamerika lebte.
Für d. Dichter, den er auch
in die "Gieß. Winkelpolitik" '
eingeweiht zu haben scheint,
war der Umgang mit diesem ,
verkommenen Genie außer-
ordentl. anregd.; äußerl. do-
kumentiert sich das in der
gleichen Vorliebe für d. Schin-
derhanneslied (vgl. ''Die da
liegen...", aber auch noch
im 'Woyzeck' fühlt man sich
zuweilen an d. '"roten August'',
der nur 6 — 7 kr. für Mittags-
kost hatte, erinnert.Vgl. F CLI,
Nölln. S. 243 fif. u. Vogt S. 83.
545-547,549,607, 633, 634ff.,
733 f., 770. — ^«Gutzkow 776.
Becker, Ludwig: Cand. theol.
in Gieß., Mitgl. von Büchners
•'Gesellsch. der Menschenr.".
549, 634.
Beckers aus Frankfurt: den
Büchners befreundete Pfarrers-
familie, bei der Georg 2. 8. 34
auf s. "Ausflug" nach Offen-
bach weilte vgl. W. Diehl,
Hess. Chronik IX, S. 5]. 623 f.
Bekker, Balthasar 743.
Bell, Charles 187, 228.
Biegeleben, Maximilian Frhr. v.
550, 561.
Billaud-\ arennes: Th. 191 gab
d. Charakteristik, U.Z. Details.
8, 59 fr. :d. Worte 6034 f. "so
viel Mühe . . :' aus U. Z. XIT.
S. 14).
ßischoflf, Theod. Ludw. Wilh.:
s. "Nervi access. Will, ana-
tomia et physiologia" ersch.
1832 inDarmst. 183, 202, 206.
208, 2i9f., 231, 233 f., 236.
Bobrik, Zürcher Philosophie-
professor 739.
Böckel, Eugen: Mediz.; Straßb.
Studienfreund Büchners. 530,
538, 546, 550, 756 f. (außer N
S. 18 vgl. noch Diehl;.
Bojanus: lit. Tierarzt u. Anatom,
Entdecker d. Niere bei d.
Muscheln ("Parergon ad ana-
tomen testudinis; cranii ver-
tebr. animalium sc. piscium. . ."
1821 . 193, 203. 233, 237,
242—45, 247.
8o4
REGISTER
Börne, Ludwig 558, 653.
"Branndewein, das ist mein Le-
ben'': Volksliedzitat? 158.
Braubach: offenb.derweg.Teiln.
am revol. Komplott 1833 seit
Sommer 35 flüchtige Wilh. B.
aus Butzb., vormals Student iu
Gießen. 646.
Braunschweig, Herzog von: s.
Wilhelm.
Brentano, Clemens: s. Lustspiel
'Ponce de Leon' gab bekanntl.
manche Anregungen f. 'Leonce
u. Lena' (bes. d, Hauptmotiv
mit d. Maskenspiel u. d. An-
wendg, d. Wortspiels). 687.
Breschet, Gilbert (1784— 1845):
franz. Anatomieprofess. , der
sich u. a. um d. Anatomie d.
Ohres verdient gemacht. 2 10 f.
Brion, Friederike 98 u. loi (bei
Oberlin wird d. Frage nach
"d. Frauenz."nur an ihn selbst
gerichtet; d. "gebrochn. Wor-
te" auch bei Oberl.), 104, 622,
678, 681.
Brissot 46.
Brockhaus' Repertorium d. ge-
samten deutschen Literatur:
brachte 35 e. kurze Besprechg.
des 'Danton', die nur d. gute
Charakterisierg. d. undramat.
Helden anerkennt. 619.
Brutus, Luc. Jun. 25, 69, 580.
— , Marc. Jun. 33, 49, 602 f.
*
Büchner, Georg [x^i'^^ — 37):
I. Biographisches.
Lebenslauf 653 — 57; Geburt,
Taufe 629, Schulzeit 629 if.,
653,76off.,767f.,774ff-, Be-
rufsfrage 535, 544, 605, 622,
642, 654, 739, 775 ^M Uni- I
versitätsjahre 523 ff., 632 bis |
634,Flucht543f.,6o8,636f.. ;
640, 757, Straßb. Exil 544 ff., j
Doktorwürde 557, 562, 627,
641, 654, 739 f., Zürich
566 ff., 641 ff., Tod 644,
651 ff., 657.
Persönlichkeit 63o{f., 634 f.
Äußere3632f., 64if.,647f.,
656,776; Gesundh.,Krankh.
530. 533^-, 536, 567ff-, 608,
645—53, 656 f.
CharaKterbildung:
i) Angebl. Hochmut 531,
633f.,Ehrgeiz6o8(vgl.55i),
Gutmütgkt. 5 56, Mitleid 532,
560, 635, Schwermut 532.
536, 605, 608, geniale Träg-
heit 527, 544, 615 (Danton,
Leonce!).
2) Familiensinn 535, 543,
656 f., Freundschft. 556 (vgl.
Trapp), 5 78 f., 630, 633,
635,637, 657, Liebe U.Ehe
531, 535, 560, 642, 647,
654, 656 (vgl. 133 f., 765
Anm.), Nationalgefühl 558,
587 f., Naturgef. 527 f., 529,
533, 565, 605, 775, Vater-
landsliebe 543, 604, 763.
3) Politische Gesinng.:
a) Eigne Freiheitsliebe 559,
579, 599, 601, 604, 631,
762 f.;
b) Staat u. Gesellschaft:
Arm u. Reich 165 ff. (733),
549, 606 f. (vgl.i48,i5of.),
Bildungsunterschiede 531,
562, Gesellsch.-Moral 139,
5 59 f., Kleinstaaterei 605
(vgl. 126, 136, 138), Kon-
stitutionswesen 173 f., 525,
555, Liberale Partei 526,
548 f., 605,607, 656. 733,
Regierungen (dtsche.:) 553,
559, (franz.:) 547, 554f.,
(hess.:)i66f.,534,55o,636,
(prß.:) 550;
c) Umsturzversuche 165 bis
177. 525^-1 548 f-, 605 ff.,
634ff.; e. Magenfrage 527,
545, 549. 562 f., 607 (vgl.
14, 135, i7of.); soziale
Reform 563 (vgl. 27);
d) Staatsideal: Staatsbegriff
166, Monarch. od.Republ.
607, 636 f., Mehrheitswille
BÖRNE — BÜCHNER
805
172, 668, Idealstaaten 11,
566 f., 607.
4) Religiosität 632 f., 769,
776; vgl. noch: Glaube u.
Wissen 3 56 f., Gott 575,
650, 656, Gottesbeweis 49 ff.,
268 f., 331, Christus 28, 32.
43, 524, Christentum 560,
592, Atheism. 5i.64f.,(ioo,)
331, 665, (716, 720,) Fata-
Hsm. 43, 47 f., 530, Thomme
machine 292 f., 530, 533
(43 f., 138 f.), Moralbegriffe
28, 75' 139, 151, 33S, 551^
559f., Epikuräism., Genuß-
religion 28. 76, 142, (698,;
741.
5) Kunstempfinden:
a) Sensibilität überhpt. 530,
533 f., 608; üb. Lichtein-
drücke vgl. Rudolf Majut;
Schallemptindlichkt. 532
(vgl. 42, 107 usw.); Musik-
freude 568, 776 (vgl. 39.
1 16 usw.), Phantasietätigkt.
567;
b) Idealism. u. Realism. 39,
91 ff., 552 f. (vgl. noch 113^
126, 147, ferner:) Roman tk.
112, 123, 133, 536, 774;
c) Volkskunst: Märchen
159,713, Sagen558, Volks-
lieder 92, 568, 775 (vgl.
15, 36 f., 41, 73, 80, 98,
124, 145 f., 148, 155 f., 708.
7io.7i2?7i3— 7i5,7i7ff.;.;
d) Drama 551 ff., 560.
IL Werke.
Dichtungen 5 ff., 663 ff.; Dan-
tons Tod 7 — 80, 542—47,
550—52, 562, 607, 6iif., I
617.619,623,636—39,655, I
666ff., 771; Lenz 8i — loS, '
557, 6i7ff, 622, 655. 663, '
678 ff., 772; Leonce 109 bis
142,566? 567,623.655,664. '
686ff. (Entwürfe 687 — 93 ;
Woyzeck 143— 61.5669567^ i
655, 664, 699 ff. (Entwürfe j
706— 29), 784 f. Vgl. Mis-
zellen, Verlorenes.
PoHt.Schriften 785 f.; D.Hess.
Landbote 163—77, 635 f,
733 ff-
Wissensch. Arbeiten 179 ff.,
557, 559, 739 ff-; Sur le Sy-
steme nerveux du barbeau
181 — 250, 562, 627, 641,
654, 739 ff-; Gesch. d. griech.
Philosophie 740 f.; Cartesius
251—320, 562, 565, 654,
739 f-, 742 f.; Spinoza 321
bis 52, 565, 642, 654, 740,
744 ff., 748 f.; Über Schädel-
nerven 353—67, 641, 655,
749 ff. Vgl. Verlorenes.
Übersetzungen 369 ff.. 550,
615,745,752, 761, 772; Lucr.
Borgia 371—438, 619, 655,
752; Mar. Tudor 439—520,
619. 655, 752.
Briefe 521-69, 753 ff
Miszellen 571 ff., 760 ff.; Poet.
Ansätze 573-77, 765 f.,
Schulaufsätze, -reden 578
bis 604, 76of., 76 7f., Schüler-
glossen, Schulheftnotizen
761 — 64, Müudl. Äußerun-
gen 605-08. 633, 635, 637.
642,650. 657, 768 ff, 776.
Verlorenes: Aretino 664f.,
LTerr du Thil m. d. Eisen-
stirn 764 f.. 798 ff., Tagebuch
765, 769, Briefe 772, 789,
Abgangsrede 760, 767, Bed-
lam? 535, 756, Jouraal-
artikel? 559, 663. Polit. Ab-
handlungen 785 f., Zürcher
Vorlesg.üb. vergl. Anatomie
642 ff., 655.
*
Büchner, Familie 5 23 ff., 635
638, 652, 656f., 753 f. ^
Büchner,Jak.Karl(i753 — 1835):
Großvater d. Dichters; Amts-
chirurg in Reinheim. 629.
Büchner, Em.st (1786— 1861):
Vater d. Dichteis; nachmilitär-
ärztl. Laufbahn Arzt in God-
8o6
REGISTER
delau, dann in Darinst., zu-
letzt als Medizinalrat; Mitarb.
v.ärztl. Zeitschriften. 573,575.
611, 614, 622, 624f., 629,
636 — 40, 653 f. — An Georg
626 fF. ("Nadelgeschichte": in
Henkes Zeitschrift f. Staats-
arzneikunde, 26. Bd. "Versucht.
Selbstmord durch Verschluk-
ken V. Stecknadeln").
Büchner, Carol. geb . Reuß ( 1 79 1
bis 1858): Mutter d. Dichters;
Tochter d. hess. SpitalschafF-
ners u. Regierungsrats Reuß,
seit 18 12 Gattin Dr. Büchners.
574, 575, 608, 611, 628f.,
637 f-) irJ-—^4n Georg 623 ff.,
772.
— Mathilde (1815—88): älteste
Schwester d. Dichters. 608,
624ff., 628.
— Wilhelm (1817—92): Bruder
Georgs , Pharmazeut; später
Besitzer d. ersten Ultramarin-
fabrik in Pfungstadt, auch
politisch als Abgeordneter im
hess. Landtg. u. Reichst^, wir-
kend. 607 f., 624, 757, 759,
769 f. — Gedicht "Erinnerg.
an m. Bruder Georg!" 638,
775 f. — An Franzos 636 — 40;
von Georg 548 f., 565 f?, 567.
— Luise (1821 — 78): Schwester
d. Dichters, Schriftstellerin u.
Frauenrechtlerin. 628, 734,
753, 766.
— Ludwig (1824 — 99): Bruder
d. Dichters, später Arzt in
Darmst. u. Verf. d. Buches
'•Kraft U.Stoff"; erster Heraus-
geber d. Schriften Georgs.
625,628, 661 f., 664, 678, 687,
734f., 741, 744, 750, 753,
769, 771-
— Alexander (1827 — 1904):
Bruder d. Dichters, später Lite-
raturprof. in Caen. 624, 628.
Büchner, Joh. Karl (1791 bis
1858): Bruder v.BüchnersVater;
Kreisarzt in Reinheim. 628.
Bürger, Gottfr.Aug. 176 (Zitat),
579, 738-
Burschenschaft: verboten, aber
im Korps Palatia wiederauf-
erstanden (vgl. Vogt, S. 1 1 5 fF.);
der zitierte Ruf soll wohl das
Burschenschaftslied "Burschen
heraus" parodieren. 537.
Calderon 775.
Callot-Hoffmann: s. Hoffmann.
Camper, Peter: die "Kleinen
Schriften, die Arzneikunde u.
Naturgesch. betr." ersch.Ende
d. 18. Jh. in dtsch. Übers. 213.
Carlisten: Anhänger des Don
Carlos von Spanien, der seit
1834 d. weibliche Thronfolge
d. Königin-Regentin Christine
im Bürgerkrieg bestritt; Louis
Philipp, Mai 35 von d. span.
Regierung um Hilfe ersucht,
lehnte e. Intervention ab. 554.
Carmagnole 27, 77, 523.
Cartesius, Renatus 253—320,
340, 342, 345 ff., 748.
Cartesius' Gegner u. Nachfolger
269, 297, 303, 320, 743; vgl.
Malebranche, Meyer, Spinoza.
Carus, Carl Gust.: "Versuch e.
Darstellg. d. Nervensystems"
18 14; "Lehrbuch d.Zootomie"
18 18; "Von d. Urteilen d.
Knochen- u. Schalengerüstes"
u. "Grundzüge d. vergl. Anat.
u. Physiologie" 1828. 183 f.,
194fr., 213, 219, 235, 237f.,
243fiF., 293, 358, 643.
Caters, holländ. Gelehrter 303 ff.
Chabot 46.
Chalier: Anhänger Marats; Ja-
kobiner-Stadtrat in Lyon, dort
vom reaktion. Mittelstand 7. 2.
93 hingerichtet. II, 17, 25.
Chamisso, Adelbert v. 125
(Zitat aus "Die Blinde").
Chaumette: drei Tage nach
Hebert verhaftet, doch erst
nach den Dantonisten hinge-
richtet. 8, 49 ff. (s. schwächl.
BÜCHNER — DANTON
807
Haltg. i. d. Haft histor., d.
spekulat. Ausführg. d. Dichters
Werk^
•'Christinleiii, lieb Christinlein
mein': Volksliedverse? 37.
Christus u. d. Jünger in Em-
maus: s. Holland. Maler.
Cicero 62, 602, 761.
Clemm (Klemm^ Gustav: Studt.
d. Theol.. dann d. Pharmakol.
in Gießen. Mitgl. d. Verbindg.
Hassia; schon einmal weg. Ver-
dachts der Teiln. am Frankf.
Attent. in Haft Jul. 33 bis März
34), wurde er weg.Beteilgg. an
d. neuen durch d. Hess. Ldb.
dokum. Machenschftn. (er war
Mitgl. d. "Gesellsch. d. Men-
schenr." u. hatte an d.Badenb.
Zusammenkunft teilgen.) 8. 5.
35 wieder verhaftet, aber Aug.
geg. Kaution freigelassen, weg.
s. geschwächt. Gesundh.u. weil
er sich, z. Schaden s. beteiligt.
Kameraden, geständig gezeigt;
die Dez. 38 erhalt, zehnj. Zucht-
hausstrafe erledigte sich mit d.
hess. Amnestie 39, verdarb ihm
aber d. forstw. Karriere, die er
durch Beziehungen zum Geh.
Staatsr. Knapp erstrebt hatte:
er lebte später nach N, S. 262,
überall zurückgestoßen an ver-
schied. Orten. iVgl. auch Seh.-
W.,S.82ff.] 545, 549fr., 536f.,
634, 733.
Clichy63(vgl.U.Z.XII,233f.}.
Collot d'Herbois 8, 17 f, 21,
25 :fing. Zitat), 59ff. (C.s Ant-
wort an d. Bürgerin geht auf
U. Z. XII, 14 zurück, wo sie
aber Couthon gibt!).
Conciergerie 64f., ögff., 74ff.,
674.
Cottas Preisausschreiben für d.
beste Lustspiel 664, 6S7, 784.
Couthon 31 (fing. Zitat), 74 (den
bei Th. 204 schamhaft ver-
schwiegenen Ausspruch Dan-
tons überlieferte U . Z. XII, 124:
"Könnte ich Robesp. meine
H . . . n u. Couthon m. Waden
hinterlassen, so würde sich d.
Wohlfahrtsausschuß noch eine
Zeitlang halten'").
Cuvier, Georges 1S4, 192 f., 194
bis 97, 199—205, 208fr., 213.
216, 218—21, 226, 229, 231,
242—45, 247 f.
"Da ist die schöne Jägerei":
kürzere Variante d.hess.\ olks-
lieds "Drüben im Odenwald,
da wächst ein schönes Holz'"
(vgl.E.-B., 1461). 717.
Danton, Georges Jacques: die
histor. Gestalt D.s mag schon
U. Z. III, 297 f. Büchner ein-
geprägt haben, der ihn frei-
lich nur am Ende s. Laufbahn
darstellt: v. d. Heimat wieder-
verheiratet zurückgekehrt, al-
les Terrors müde, nach dem
Kampf geg. d. soeben erledig-
ten Hebertisten nur noch über-
drüssiger d. Politik u. lechzen-
der nach Erholung im Genuß
geworden; die Verwertg. dieser
Stimmungsmomente zu d.mehr
lyrisch geart. Szenen mit Julie.
Marion usw. ist des Dichters
eigenstes Werk, der jedoch
geg. d. bist. Wahrht. verstößt,
wenn er den in s. zweite Frau
Verliebten noch zur Zeit dieser
Ehe zu Grisetten gehn läßt;
Büchnerisch ist ferner d. Ver-
innerlicbg. des Atheisten durch
moral. u. religiöse Einschläge
I (vgl.4331 ff. mit 53021fr., 7621^.
! mit 53323 fr. ; im übrigen ist
d. bist. Material, wie es Mign..
I Th., U. Z. überlieferten, bis
j ins Detail direkter Reden u.
Äußerungen benutzt worden.
8, 9fr., 21, 22fr, 27fr. (Zu-
sammenkunftmit Robesp. nach
Mign. 32 f.), 29, 30. 32 fr. (auch
bei Mign. 34f., Th. 192 ff. drän-
gen die Freunde Danton (zum
8o8
REGISTER
Handeln; zu 3334 vgl. Mign.
34; 34 6 f. u. 35t2ff. wörtl. nach
Mign. 35, resp. Tb. 193), 37,
38, 39 f. (zu 3929 flf. s. u. Da-
vid; 407ff. wörtl. nach U. Z.
Xn, 123), 41 (vom Flucht-
versuch weiß nur U. Z. XII, 92),
42 ff., 45 ("rettete Frankr.":
Sept. 92, als Verdun gefallen
war, durch seine energ. Auf-
forderg, zum Widerstd,), 46,
47, 52 f. fz. T. wörtl. nach Th.
201 ff.), 53, 54f. (55i4ff. nach
Th. 204, 5 5 19 f. nur bei Mign.
35)» 55 ff- (I- Verhör am
2. April; nach Th. 208 ff. , Mign.
37, U. Z. XII, III Anm.), 58,
60 (Wagt!: "II nous faut de
l'audace et encore de l'audace
. . ." hatte D. nach d. Verlust
Verduns gerufen), 62,64f.,66f.
(3. Verhör am 4. April; vgl.Th.
2i7,U.Z.XII,ii5f.i,67f.,69ff,
74 ff. (7414! nach Th. 204, d.
folgd. obzöne Stelle bringt nur
U. Z. XII, 124: vgl. Couthon;
7424 nach Mign. 37 "J'entraine
Robesp."; 75 "Kainsbrüder"
nach Th.204),78f, (D.s letzte
Worte zum Henker nach Th.
220), 552, 562, 6x5.
Danton, Julie: D.szweite Gattin,
die er 93 heiratete u. die in
Wirklichkt. Louise, geb. G61y
hieß; sie war 93 erst sechzehn-
jährig, doch ihre jugendl. Reize
fesselten D. so, daß er sogar
auf d. Bedingg. einer priesterl.
Trauung einging; übrigens ist
Louise dem Gatten nicht in d.
Tod gefolgt, sondern sie hei-
ratete drei Jahre darauf d. spä-
tem Präfekten u. Baron Dupin
und überlebte auch Büchner
noch. (Vgl. Louis Madelin,
Danton. Paris 19 14.) 8, 9 ff.,
42 ff., 58 (bei Th. 214 spricht
Dillon nur von "la femme de
Camille"), 65, 66 (bei Th. 216
heißts wieder nur "la femme
de Camille"), 67, 68 (mit dem
Knaben ist wohl keiner d. bei-
den Söhne D.s aus i. Ehe, die
Louise übernahm, gemeint], 7 1
[d. histor. D. ruft nach Mign.
38 noch auf d. Weg zum Scha-
fott "O ma bien-aim^e! 6 ma
femme! je ne te verrai donc
plus!"', 77.
Darmstädter Arresthaus: Provin-
zialarresthaus, 35 provisor. für
polit. Gefangne eingerichtet.
=^49 ff., 554,637.
■'Das war schon einmal da": s.
"Ihr tötet uns . . .".
David, Jacques Louis: vgl. U. Z.
xn, 121 zu Dantons Hinrichtg.:
"David, s.ehemaliger. .Freund,
sah ihn hinrichten, mit eben d.
Ruhe, womit er am 3. Sept. die
aus d. Mordhöhle La Force
geworf. Sterbenden zeichnete
u. d. Deputierten Reboul, wel-
cher ihm Vorwürfe machte,
zur Antwort gab: Ich erhasche
d. letzten Bewegungen d. Na-
tur in dies. Bösewichtern!" 39.
Deen, Izaak van (1804 — 69):
promovierte 34 in Leyden mit
d. zit. Dissert. u. ließ sich üb.
d. Nervus vagus nochmals 34
in d. "Tijdskr. voor natuurl.
geschied, en physiol." aus;
später Prof. d. Pbysiol. in Gro-
ningen, Spezialist in d. Nerven-
physiologie. 218, 230.
Deimling, Berthold: Sagenge-
stalt; vgl. Pforzheimer. 584,
586.
Dekret, Ein: wonach d. Immu-
nität d. Deputierten aufgehoben
war; auch war vom Revolutions-
tribunal keine Appellat. mög-
lich. 45.
Delaunai d' Angers: Konvents-
mitgld., mit Chabot u. a. weg.
Fälsch g. zwecks Bereicherg.
bereits 17. 11. 93 verhaftet u.
mit d. Dantonis ten zusammen
hingerichtet. 46.
DANTON — DILTHEY
809
Demaly: wohl fing. Gelieble
Bareres. 63.
Deputierten, Die ausgestoßenen:
die verhafteten girondist. Kon-
ventsmitglieder, von denen nur
e. Teil hingerichtet war. 11.
Deputierten, Die zuiiickgek ehr-
ten: von Damast, nach Auf lösg.
d. hess. Kammern, die d. Re-
gierg. nicht gefügig waren. 529.
"Der is ins Wasser gefallen'':
erster Vers e.Fünffingerabzähl-
liedchens 'vgl. A. Stöber, EI-
säss.Volksbüchl. I^. S. 43); doch
wird Woyzeck d. Worte nicht
auf den Daumen, sondern auf
sich bezogen haben. 728.
"DerMann.dernicht Musik hat":
vgl. Shakespeare, D. Kaufmann
von Venedig.
Descartes: s. Cartesius.
Desmoulins, Camille: dem bist.
D.hat Büchner weichere Züge
u.e. stärkeres künstler. Interesse
verliehen. 8, lofF. (die Parod.
auf Sokr. m. d.Bemerkg. dazu
ausTh. i6if.), 26. 31 (d. Zitat
aus d. schon eingegang. ,Cor-
delier' fingiert bis auf d. Worte
üb. Just, die mit dess. Antwort
aus Mign. 30 stammen), 3 2 ff.,
37, 38, 39ff. C'freundl." war
Robesp. zu D. bis zur Kennt-
nisnahme seiner Ausfälle S. 31;
"auf e. Schulbank" saßen sie
im Pariser College de Louis le
Grand), 52 f. (5326fF. nach Th.
203), 64f.,66f.. 69 ft".. 73, 74ff..
78 (bezahlte Individuen, nicht
d. Volk bezeigte inWirklichkt.
Schadenfreude; vgl. Th. 220),
79-
— Lucile geb. Duplessis: die
in Wirklkt. auf Laflottes De-
nunziation hin verhaftete Gat-
tin Camilles läßt der Dichter
nach berühmtem Muster erst
wahnsinnig werden u. sich dann
durch d. Ruf "Es lebe d. Kö-
nig!" freiwillig d. Verhaftg. zu-
ziehen, wie es d. Gattin d. ver-
urteilt.Kommand. von Longwy
Delavergne oder d Buchhändl.
Gattey vorm Tribunal selbst
tatfvgl.U.Z.XII, I55ff.). 39fr.,
53, 58, 61, 66, 6gf., 73, 79f.
Desmoulins, Louis-Ant. (1794
bis 1S28): französ. Mediziner,
Anatom, Zoolog; im'*Joum. de
physiol. experimentelle" erseb.
22 s. "'Recherches anat. et phy-
siol. sur le Systeme nerveux des
poissons", während er d. "Ana-
tom, des systemes nerveux des
animaux a vertebres" 25 zwei-
bändig zus. mit der Physiol.
Frangois Magendie herausgab.
iS3.i85,i92,i94f., 197—203,
205f., 208 fF., 213, 2i8f., 221,
223, 227, 229f., 233, 237.
Des vers: heißt sowohl "Verse"
als auch "Würmer"', also franz.
Wortspiel. 74.
DeutscheRevue 556— 59,618 ff.,
663.
Dezemvirn: zehn Mitglieder d.
Wohlfahrtsausschusses (s. d.),
von denen die einflußreichsten
Robesp., Just, Couthon, Collot,
Billaud, Barere waren. 10, 21,
33, 58, 66, 67.
"Die da liegen in der Erden":
Ende d. Schinderhannesliedes,
das nach K. Vogt, S. 83 Büch-
ners Freund Becker mit Vor-
liebe gesungen; d. Lied beginnt:
"Kann es eiw. Schoners geben
Auf der ganzen weiten Welt,
Als e. lustig Räuberleben, Mor-
den um d. liebe Geld!" Jene
Schlußverse liebte auch Büch-
ner so, daß er sie e. Freunde
ins Stammbuch schrieb (vgl.
Collin). 15.
Dillon. Arthur: geb. Engländer,
Divisionsgeneral d. Ardennen-
armee; als Girondist hingerich-
tet. 8, 57 ff., 61, 66.
Dilthey, Karl: Darmstädt. Gym-
nasialdirektor. 775.
<Sio
REGISTER
Dinet, Jesuitenpater 303, 320.
Diszipfin geben: Ausdruck der
Klostersprache für: d. Geißel,
d. Rute geben. 24.
Duller, Eduard 661, 667.
Dumas: Präsident des Revolu-
tionstribunals; früher Mönch
gewesen u. aus achtbarer Fa-
milie stammend, machte er als
Anhänger Robespierres s. eig-
nen Angehörigen vor s. Grau-
samkeit flüchten, mußte selber
jedoch Robesp. aufs Schafott
begleiten. 8, 68 f. (vgl. U. Z.
XII, 233: "S. Frau, die nicht
entfliehen wollte, ließ er in den
Luxemburg einsperren, um sie
den 10. Thermidor umbringen
zu lassen; glücklicherw. rettete
ihr der 9. [Robespierres Sturz]
d. Leben".).
Dumas: offenbar d. Chemiker
Jean Bapt. Andr6 D. (1800 bis
84), der 1823 Experimente üb.
d.Muskelkontraktion veröffent-
lichte. 301.
Dumouriez, Charles Francois 46,
. 55, 56, 580. ,
Duvernoy, George Louis 550,
565.
Eib, Herr V. 563f.
''Ein Jäger aus der Pfalz'": Va-
riante d. Volkslieds "E. J. a.
Kurpfalz" (vgl. E.-B., I454)-
156.
"Eine Handvoll Erde u. em we-
nigMoos": Volksliedzitat? 36!
EUervater: Dialektform für Äl-
tervater, Großvater. 80.
Emil, Prinz von Hessen (1790
bis 1876): reaktionär gesinnter
Bruder d. Großherzogs Lud-
wig H. 555 f.
Emma: s. Gerlach.
Escher, Züricher Prof.: entweder
d. Regierungsratsmitgl. Heinr.
E. (1789 — 1870), außerordentl.
Prof. d. Staatswissensch., oder
der Gymnasialprof. u. Histor.
Heinr. E.;i78i— 1860]; "Schü-
ler", insofern erBüchuers ana-
tom. Vorlesg. besucht haben
wird. 649.
Eschricht, Daniel Friedrich: s.
Dissert. über die Gesichts- u.
Riechnerven ersch. 1825. 234.
I "Es ist ein Schnitter . . .": alt-
j kathol. Kirchenlied, hier in d.
Fassg. d. 'Wunderhorn'. 80.
"Es stehn zwei Stemlein an d.
Himmel": vielfach variierende
Volksliedstrophe (vgl. beson-
ders Schlußstr. d. hess. Liedes
"O wie wohl ist's jedem Men-
schen", E.-B., 660). 73.
Eubreuil: berühmter Arzt? 5 78 f.
Ewiger Kalender: insofern d.
Hochzeitstag e. immer wieder-
kehrender Festtag in Leonces
Kalender wäre. 133.
Fahre d'Eglantine: war wegen
j Fälschg. "in Bezug auf Gelder
d. Ind. Compagnie" 12. i. 94
I verhaftet u. schmachtete im
I Luxemb. bis zur Festnahme
Dantons, mit dessen Prozeß
der gegen die Fälscher (s. d.)
verbunden wurde; wie er am
2. 4. d. Überführg. in d. Con-
ciergerie mitmacht, muß er
Danton am 5. auch aufs Scha-
fott begleiten. 46, 74 ("Am
Sterben": vgl. Th. 203 "F. etait
malade et presque mourant"),
78 ("Ich sterbe doppelt": als
Kranker u. durch d. Guillotine).
Fabricius: s. Paris.
Faktion Ludwigs XVII: die nach
Ludwigs XVI. Tode s. Sohn
anhängenden Royalisten. 55.
Fälscher: Chabot, Delaunai,
Fahre u.Bazire, letzter freilich
nur aus Solidarität, hatten ein
d. Indische Gesellschft. betr.
Dekret gefälscht, um sich zu
bereichern; schon vor d. Dan-
tonisten verhaftet, wurde ihnen
DINET — FRIEDRICH VON BADEN
8ii
nun mit diesen zus. d. Prozeß
gemacht. 39, 54.
Fälscher geben d.Ei u. d. Frem-
den d. Apfel ab: vgl. Fälscher,
Fremde; die wohl aus d. franz.
Rechtsbrauch stammende Re-
densart selbst muß unerklärt
bleiben. 32.
Flick, Hemr. Christian (geb.
1790): Pfarrer zu Petterweil;
nicht nur Studien-, auch polit.
Gesinnungsgenosse Weidigs,
37 zu 8 J. Zuchthaus verurt.,
aber durch d. hess.Begnadigg.
39 wieder frei. 547, 550.
Floret: vermutl.Theod. Engelb.
Joseph Bemh. Fl. fiSii — 46),
Sohn d.hess. Oberappellations-
gerichtsrats Joseph FL, später
selbst Hofgerichtsrat. 550.
Force, La: Pariser Gefängn. 39.
Fötus: s. Entwickig. während
d. PYuchtlebens ward vielfach
untersucht, z. B. von Tiede-
mann mit Hinblick auf d. Ge-
hirn, von Oken mit Rücksicht
auf d. Darmkanal. 310, 357,
359, 360.
Fouquier-Tinville, Antoine 8,
53f., 59(vgl.Th.2i5"F. ecri-
vit sur-le-champ nach d. 2. Ver-
hör] une lettre au comite . . ."),
65 f. (bei d. 3. Verhör, vgl. Th!
217).
Franckh, Gottlob 545.
Frankfurt: Büchners Ausflug n.
Fr. u. Offenbach geschah un-
mittelbar nach Miniügerodes
Verhaftung, um alle am Hess.
Ldb. Beteiligten zu warnen (vgl.
Diehl). 5 37 f.
Frankfurter Attentat 525 f., 545,
773.
Franziskaner, Der alte: Le vieux
Cordelier, ein von Desmoulins
im Gegensatz zu d. radikalen
neuern Franziskanern (Hebert
usw.) Anfg. Dez,93 gegr. Blatt,
das aber schon Jan. 94 (also
vor Beginn d. Dramas) einge-
gangen war; da es den Terror
mit Stellen aus Tacitus' Dar-
stellg. d. röm. Kaisererrschaft
parodierte woraufhRobesp.
20i5ff. anspielt) u. für e. Co-
I mite de clemence eintrat, hatte
I es bald auch Robesp. gegen
! sich. 31 (d. Zitate sind erfun-
1 den, vgl. aber Saint- Just).
"Fraßen ab das grüne Gras"':
aus d. Volkslied "Zwischen
Berg u. tiefem Tal". 720.
"Frau Wirtin hat ne brave
Magd": sonst nicht bekannte
Variante zur 4. (3.) Strophe d.
Liedes ''Es steht e. Wirtshaus
and.Lahn"(vgl. E.-B.,Nr.858;
Mittlers. 64). 155, 708, 714.
Freiburg: d. bad. Universität war
Sept. 32 wegen kleiner, durch
d. Widerrufung d. Preßfreiheit
veranlaßter Unruhen vorüber-
gehend geschlossen worden.
527-
Fremde: auswärtige Feinde d.
! Republik 18, 55, 67, 68 (Pitt);
\ — : verhaftete Ausländer 32,
j 54 (nach Th. 205 wurde dem
I Spanier Gusman u. dem Dänen
! Diederichs zus. mit d. Danto-
i nisten d. Prozeß gemacht).
Friedberg: da nach Nöllner.
S. 190 d. Arresthaus in Gießen
1 für polit. Gefangne unbrauch-
■ bar war, wurden diese seit Okt.
33 in der Friedberger Kloster-
kaserne, 35 in dem neuen Pro-
vinzialgefängn. untergebracht;
; die weg. Teilnahme am Frankf.
i Attentat Verhafteten wurden
i größtenteils März 34 aus Man-
■ gel an Beweisen freigelassen,
: drauf in Butzbach u. Gießen mit
I Festmahl u. Lorbeerkränz, ge-
\ feiert. 529, 534, 538, 544, 554,
j 614.
I "Friede den Hütten! Krieg den
I Palästen!" 165, 736.
j Friedrich von Baden: Markgraf
I Georg Friedrich. 582 ff.
8l2
REGISTER
Froriep, Ludw. Friedr. v. 626 f.
''Für Tugend, Menschenrecht u.
Menschenfreiheit sterben": Zi-
tat aus Bürgers Gedicht "Die
Tode". 579-
Gaedeschens, Physiolog 234.
Gaillard: Schauspieler, der als
Hebertist durch Selbstmoid
endigte. 17.
Gassendi, Pierre 303, 312 — 20.
Geilfus, Georg: nach beendetem
Baufachstudium im Minist, der
öffentl. Arbeiten zu DaiTnstadt
tätig, weg. s. Zugehöiigkt. zur
burschenschaftl. Palatia flüch-
tig; später Gymuasialleiter^vgl.
Vogt, S. 142). 549-
Gemeinderat von Paris: "tut
Buße", nachd. s. Führer Chau-
mette verhaftet worden. 33.
Genfer Uhrmacher: der aus Genf
gtibürt. Ühnnacherssohu Rous-
seau, dessen Erziehungs und
Staatslehren Leitsterne für
Robespierre waren. 10.
Geoffroy de Saint -Hilaire,Etien-
ne 243 ff.
Georg, Onkel: s. Reuß.
Georgi, Konrad \um 1801 — 57]:
erst hess. Landricht. , dann Hof-
gerichtsrat und Gießener Uni-
versitätsrichter, bald auch in
d. polit. Affären Untersuchungs-
richter, obwohl er nach ge-
richtsärztl. Zeugnis an Deli-
rium tremens litt; zum Unter-
suchungsrichter war G. jeden-
falls wenig geeignet, und vor
allem an Weidigs Selbstmord
war er nicht ohne Schuld. 537,
538—41, 640.
Gerlach, Emma: Base d. Dich-
ters; Tochter d. Kriegskanzlei-
Protokollisten G. u. s. ersten
Gattin Johannette Marie (gest.
1820), e. Schwester von Büch-
ners Vater. 626.
Geschwome 53 f. ^s. d. Namen',
60 (nach e, schon gegen die Gi-
rondisten eingebrachten Ge-
setz konnten d. Debatten vor
Gericht nach drei Verhand-
lungstagen geschlossen wer-
den, wenn sich die Geschw.
'*für hinlänglich unten-lchtet"
erklärten;, 61.
Gesellschaft d. Menschenrechte:
polit. Verbindg. von Studenten
u. Bürgern, die Büchner in
Gießen vorfand, aber nach
franz. Muster zuschnitt; ihr ge-
hörten außer Büchn. u. a. an
die Studenten Aug. u. Ludw.
Becker, Clemm, Minnigerode,
Schütz, Trapp sowie d. Küfer-
meister Faber und Schneider;
e. Zweiggesellschaft griindete
Büchner 34 in Darmst., der u.
a Kahlert. Koch, Nievergelter
beitraten. 634, 639.
Gesetzgebungsausschuß: was ge-^
meint, ist unklar, da d. Gesetz-
gebende Nationalversammlung
längst durch d. Nationalkonv.
abgelöst war; auch tritt kein
G, im Drama in Tätigkeit. 30.
Geulinx. Arnold 743.
Gießener Winkelpolitik: Gieße-
ner Studenten, darunter Glad-
bach, Schüler, Stamm, Groß,
hatten sich am Frankf. Atten-
tat beteiligt, 527.
Giltay, Karl Mar.: holländ. Neu-
rolog. 224!
Girard: Geschworner, selbst mit
den Geschwornen Leroi, Re-
naudin, Vilatte, dem Ankläger
Fouquier u. a. 7. 5. 95 hinge-
richtet. 54.
Gladbach. Georg (181 1—83,:
Vetter Karl Vogts u. Darmst.
Mitschüler Büchners; dann
Student d. Rechte, seit 32 in
Gießen, wo er als Burschen-
schafter an d. revolut. Plänen
teilnahm u. deshalb 33 ver-
haftet wurde; erst Nov. 38 er-
hielt er s. Urteil, achteinhalb-
jährige Zuchthausstrafe, die
FRORIEP — GUTZKOW
ihm aber durch d. hess. Amne-
stie Jan, 39 erlassen wurde; in
der Schweiz fand G. als Er-
zieher u. Lehrer e. neue Wir-
kungsstätte. 557, 561.
Gnadenausschuß: beantragt von
Desmoulins in s. "Franziska-
ner", um d. Schreckenswirt-
schaft e. Ende zu machen. 1 1.
Goethe 92, 357 (Metam. d. Pfl.\
553,557,593 (Zitat a. Schillers
Räubern!;, 594 u. 775 (Faust;,
620, 622 (üb. Lenz in ''Dichtg.
u. Wahrh.", XIV. Buch), 774.
Gottsche, C. M.: Anatom und
Physiolog, Mitarbeiter an Mül-
lers Arch. 184, 187— 92, 194 fF.,
198, 200, 241.
Gozzi, Carlo Graf; auch hier
(vgl, Altieri] bleibt fra;Tl., ob
es sich um e. wirkl. Zitat aus
d. Werken d, ital. Lustspiel-
dichters handelt; näher als der
durch G. erneuerten Commedia
deir arte steht 'Leonce' jeden-
falls d. Lustsp. d. dtsch. Ro-
mantik, vor allem Brentanos
'Ponce de Leon' (s, d.), aber
auch Tiecks 'Prinz Zerbino'
d. polit.-satir. Moment) usw.
Vgl. auch Musset. 199, 687.
Grabbe, Christian Dietr.: 35
ersch, d. Trag. 'Hannibal' u.
d. dram. Mäicheu 'Aschen-
brödel'; auch Hebbel verglich
"Gr, u. Büchner: d. eine hat d.
Riß zur Schöpfg., d. andere d,
Kraft". 618.
Gradierbäue: Schichten Strauch-
werks zum Auffangen d. Salz
gehalts solehaltig. Wasser. 136.
Grolmann: da d, hess, Minister
Karl Ludw. Wilh. Gr., der auch
im Gegensatz zu s. Nachfolger
du Tbil von ruhigem, mildem
Wesen war, schon vor d.Thron-
besteigg. d, verschuldeten Lud-
wigs IT. gestorben war (1829),
ist nicht er gemeint, sondern
wahrscheinlich ein hess,Laud-
tagsabgeordneter gleichen Na-
mens, 173, 737.
Gros, August ; 1810—93;: aus
Groß-Steinheim. Student der
Rechte, später Ökonom; weg.
Mitwisserschft. am Frankf. At-
tentat verhaftet u. erst nach
19 Mon. weg. Beweismangels
freigespr.; später Gutspächter,
529, 560.
Großherzog von Hessen: s. Lud-
wig II.
Großmutter: s.Reuß, Luise Phil.
Gutzkow, Karl: weniger der
selbst noch in d, Anfängen
steckende Dichter als der jun-
gen Kräften mit Verständn,
begegnende Kritiker, der sich
von Menzels Diktatur losge-
sagt u. d, wöchentl. Literatur-
blatt zu Sauerländers Früh-
lingszeitg. "Phönix'" übernom-
men hatte, gewann Büchners
Vertrauen; briefl. kamen sie
sich schnell näher, zumal als
Gesinnungsgenossen im Kampf
geg. alles Philisterium, wie ihn
G, 35 in s, Vorrede zu Schleier-
machers 'Briefen üb. Schlegels
Lucinde' (vgl. 616; sowie in s.
Roman 'Wally die Zweiflerin'
(vgl. 61 7) führte; Menzel brand-
markte diesen als "Unmoral,
Literatur" und rief die Staats-
gewalt an, die mit e. Bundes-
tagsbeschluß die jungdeutsche
Literatur überhaupt verbot,
auch die von G. mit Wienbarg
geplante "Deutsche Revue"
und schließlich G, selbst, der
sich nach seiner Ausweisg. in
Frankf d. bad. Gericht stellte,
auf e. Monat weg. Verächtlich-
machg. des christl. Gl.-.ubens
hinter Schloß u. Riegel setzte
(620 ft".,; nach wie vor aber
S;)omte G.Büchaer zum Dich-
ten an u. bezeigte auch nach
dessen Tode noch in d. Be-
mühen um s, literar. Nachlaß
8i4
REGISTER
verdienstl. Interesse an ihm.
542, 546, 547, 550, 551, 556,
559f.. 614 (d. 'Nero' ersch. 35).
655, 661, 666, 676,678,686f.,
693, 753 f. —An Büchner
61 1 — 623; von Büchner 542 f.,
544f., 549, 556, 558f-, 562f.
"Ha! du wärst Obrigkeit von
Gott?": Zitat aus Bürgers Ge-
dicht 'Der Bauer. An s. durch-
lauchtigen Tyrannen'. 176.
Haller, Albrecht v. 184, 189,
192, 194 f., 197-
"Hansel, spann deine sechs
Schimmel aus" [nicht "an"!]:
letzte Strophe d. hess. Fuhr-
mannsliedes "Hat mir mein Va-
ter vierzig Gulden geb'n" (vgl.
E.-B.. Nr. 1575). 146, 718-
Hebert, Jacques Rene 18, 33
("erniedrigt'": H. hatte sich bei
d. Verhören feige benommen}.
Hebertisten: Hebert u. s. Anhän-
ger Vincent, Momoro, Ron-
sin, Cloots usw., die als Ultra-
revolutionäre u. Atheisten d.
Revolution in Mißkredit ge-
bracht, auch mit d. äußern Fein-
den konspiriert hätten u. des-
halb 24.3.94 größtenteils hin-
gerichtet waren. 10, 21 (Athe-
isten u. Ultrarevolutionäre), 26
("die H. sind noch nicht tot":
viele Anhängerleben noch), 33
(Mitschuldige Heberts).
Heckefeuer: vgl. U. Z. XII, 20
"Waren mehrere Angeklagte
auf einmal zu verdammen, so
sagten d. Geschwornen 'Hek-
kefeuer!' (feu de filej''; ähnlich
XII, 232, wo aber d. Form
"Heckenfeuer" steht. 54.
Heer, Oswald 641.
Hegel, Wilh.: in d. 'Enzykl. d.
Wissensch. 'hatte H.zum ersten-
mal vollständig s. philos. Sy-
stem entwickelt, in dem er von
Fichtes subj. u. Schellings obj.
Idealism. zum absol. Idealism.
fortschritt. d.h. zum Standpunkt
d. absol. Wissens, für den alles
aus d. Denken deduz. Sein des-
halb auch obj. Realität hat, weil
beides innerl. eins u. identisch
ist; in diesem Sinne war das
cogito, ergo stwi allerdings e.
unmittelbare, keines Beweises
bedürftige Wahrheit u. letzten
Endes, wenn alles Wirkl. Ver-
nunft, u. alles Vernunft, wirkl.
ist, auch H.s. Entwicklungs-
idee, wonach es im Geschehen
wed. Zufall noch Willkür gibt,
sondern nur kontinuierl. Ent-
wickig. zu immer größerer Voll-
kommenheit (Hegeische Dia-
lektik), gesetzl. begründet. 256,
270, 277, 632, 743, 787.
"Hei, da sitzt e Fleig an der
Wand": Liedzitat? 113, 114.
Heine, Heinrich 558, 560.
Helene, Tante: entw. Magdalene
Reuß (s. d.) oder Helene v.
Becbtold geb. Klees, seit 1817
Gattin d. Hauptmanns Carl v.
Bechtold, e. Großneffen von
Büchners Großvater Reuß. 628.
Hell, Theod.: Pseudonym für
Hofrat Th. Winkler. 619.
Herault de Sechelles: in Wirk-
lichkeit schon 17. 3. verhaftet,
weil er e. verfolgte Emigrierte
verborgen gehalten. 8, 9 ff..
26, 3 1 ("d. schöngem. Anfangs-
buchst."; H. galtais e. d. schön-
sten Männer i. Frankr., u. d.
Konstitutionsakte wird er, als
ihr eigentl. Schöpfer, zuerst v.
d. Konstitutionsmitgliedern un-
terschrieben haben), 49 ff., 52 f.
(d. Begrüßung, nach Th. 202,
nur verständl. unt. d. tatsächl.
Voraussetzg., daß H. schon voj-
Danton verhaftet gewesen; die
53 12 f. zu H. gespr. Worte paro-
dieren eine Äußerg., die H.
nach d. erst. Verhaftg. Heberts
Mai 93 als Konventspräsid. zu
protest. Bürgern getan: vgl. U.
HA! DU WÄRST — VICTOR HUGO
«^15
Z. IX, 444), 69 ff., 74 ff., 78 f.
(vgl. Th. 220', 79 (beim Kon-
stitutionsfest 10. 8. 93).
Herbart, Job. Friedr. 747, 788.
Herder 604 (Zitat nicht aus d.
'Ideen zur Philos. d. Gesch. d.
Menschht.', die Luden iSii
herausg.). 774.
Herdweg: Herdenweg (hess.Dia-
lektforra'. 24.
Herman: Präsidt. d. Revolutions-
tribunals, teilte Robespierres
Schicksal. 8, 53 f., 55!.
"Herr! wie dein Leib war rotu.
wund'^ Gesangbuchverse? 159.
Herwegh, Georg: s. 'Gedichte
eines Lebendigen" (1841} ent-
hielten auch d. drei Gedichte
'"Zum Andenken an G. Büch-
ner . . ,"; sie tragen das Datum
"Zürich, im Februar 1 841", wo
H. in Zürich weilte u. gewiß
auch durch d. Wiederkehr von
Büchners Todestag u. Frau
Schulz zu d. Gedichten ange-
regt wurde. 642, 645.
Heumann, Adolf ^ 1 8 1 1 — 52':
Darmst, Arzt, schon 33 wegen
revol. Umtriebe in Gießen ge-
flohen. 548.
Heyerische Buchhandlg. 542,
611, 613 (-'Heyer" statt "He-
ger"!], 772. _
"Hier ruht ein junges Öchse-
lein"; altes Marterl. 764.
Hobbes.Thom.: Büchners schar-
fe Kritik an H. erklärt sich wohl
z. T. aus s. Abneigg. geg. d. Ver-
treter d. staatl. Absolutismus.
303, 306—308.
Hoffmann, Ernst Theod. Amad.:
mit dem nach s. '"Phantasie-
Stücken in Callots Manier"
auch Call.-Hoffm. genannt. Ro-
mantiker begegnete sich Büch-
ner in d. Interesse an krank-
haften Gemütserscheinungen
^Wahnsinn, Mesmerismususw.)
u. Problemen d. Geisteslebens
("Die Automate"j; auch die
Kühnheit, beid. Namengebung
verpönte Worte zu gebrauchen,
hatte schon H. (Freundin "Pi-
pi" des Affen Milo, Fantasie-
stück 2. IV, 2). 553.
Holländische Maler: Christus u.
d. Jünger in Emmaus hatRem-
brandt verschiedentlichgemalt;
vielleicht ist nicht d. Meister-
bild imLouvre(i648], sondern
das ganz auf d. trüben Ton d.
Abends gestimmte Bild von
1629, vielleicht aber auch d.
Radierung (1654 gemeint. 93 f.
Holländische Wirren: der nach
d. Julirevolution erfolgte Abfall
Belgiens v. Holl. hatte zwar d.
Einverständnis d. europ. Groß-
mächte Lond. Konf. 31), aber
nicht Hollands, so dab Engld.
mit Frankr. 32 feindselig geg.
Holld. vorging; doch blieben d.
Kämpfe auf Holld. beschränkt,
da Zar Nikolaus infolge des
poln. Aufstands behindert war,
für d. Legitimitätsprinzip PIol-
lands einzuschreiten. 523 f.
Höllenmaschine: Art Maschi-
nengewehr, womit Fieschi 28.
7. 35 sein Attentat auf Louis
Philipp verübte. 554 f.
Homer 761, 774.
Hotho,Heinr. Gu3t:Berl. Kunst-
historiker, dess. 26 ersch. Dis-
sert. üb. d. Cartesische Philo-
sophie Hegel i. d. spätem Auf-
lagen s. Enzyklopädie zitiert.
236, 270, 277, 743, 787.
Huet, Daniel 256 (Zitat aus Ten-
nem. X, 229).
Hugo, Victor: hatte bereits in d.
30er Jahren als Dramatiker wie
als Erzähler d. dichter. Physio-
gnomie, die ihn als Haupt d.
romant. Bewegg. in d. franz.
Liter, erscheinen ließ, so daß
Sauerländer schon damals an
d. Übertragg. s. Sämtl. Werke
denken konnte; mit Recht hebt
aber Büchner auch schon als
i6
REGISTER
Schattenseite H.s das Quälen-
de seiner künstl. gespannten
Situationen hervor, das sich
auch in den 35 ersch, Stücken
'Lucrece Borgia' u. 'Marie Tu
dor' geltend macht; e. nachhal-
tigeren Eindruck mag Büchner
von H.s Drama 'Marion de
Lorme' (29) bekommen haben,
dessen Heldin der Marion im
'Danton' Name u. Züge verlie-
hen hat. 371—520, 617,619,
655. 752. 754- 772.
Jiumboldt, Alexander v.: in s.
'Versuch üb d. elektr. Fische'
(1808) sowie d. frühern 'Ver-
suchen über d. gereizten Mus-
kel- u. Nervenfasern oder Gal-
vanismus' berührte H die
Büchner interessierenden Fra-
gen. 231.
"Ich bin eine arme Waise"';
Verse Büchners? 118.
"Ich hab ein Hemdlein an . . .":
Volksliedzitat? 156.
"Ihr tötet uns . . .": ähnlich
hatte "schon einmal" d. Giron-
dist Lasource bei s. u. s. Ge-
nossen Verurteilung 30. 10. 93
d Richtern zugerufen: 'Ich
sterbe an d.Tage, an dem d.
Volk d. Verstand verloren hat;
ihr werdet sterben, wenn es
ihn wieder erlangt" (vgl. U. Z.
X,42o). 178.
"In jungen Tagen ich lieben
tat": vgl. Shakespeare, Hamlet.
"Ins Schwabenland, das mag
ich nicht": auch mit dem Wort-
laut "Ins Niederland, da mag
ich nicht", letzte Strophe d.
Volkslieds "Auf dieser Welt . ."
(s. d.). 715-
Jacobi, Frledr. Heinr. 746 f.
Jägle (franz. Jaegle'j: Straßb.
Pfarrer, bei dem Büchner Woh-
nung u. Kost hatte. 535. 56 r
(Herr J.), 651, 654, 759.
Jägle, Louise Wilhelmine (Min-
na): Tochter d. vor.; d. Dich-
ters Verhältn. zu ihr (vgl. 654)
wurde s. Eltern bekannt, als
e. Erkrankg. d. Braut ihn März
34 von Gießen nach Straßburg
zog, von wo er d. Eltern, die ihn
inDarmst. erwarteten, briefl.e.
Bekenntn. ablegte (vgl. N, S. 8;
Bruchstück d. Briefs 53630 ff.);
Spätherbst 34 hat sich dann
Minna in Darmst. vorgestellt;
d. Grund für ihre spätre Ver-
feindg. mit d. Familie Büchn.
ist hauptsächlich in d. Vorge-
schichte d. Nach gel. Schriften
zu suchen (vgl. Franzos 'Über
G. B.'): während offenbar Min-
na mit Wilhelm Schulz diese
Ausg. schon 37 ins Auge faßte
(655 35f.), zögerte sie d. Fam.
Büchn. bis 50 hinaus u. benutzte
dannd. Auszüge, die Minna von
Georgs Briefen an sie für Gutz-
kow gefertigt, ohne sie sonst
an d. Sache zu beteiligen ("Da
sich Minna schon damals sehr
sonderbar benahm." schreibt
Luise Büchn. an Franzos auf e.
im Nachl. befindl. Blatt o. O.
u. D., "widersetzte ich mich
der mir [von Gutzk.] gegebenen
Auszüge, jedoch vergebens . . .
Diese Veröflfentlichg. aber hat
sie uns am übelsten genom-
men"); unvermählt muß M. J.
ziemlich betagt gestorben sein,
da Franzos noch in d. 70er
Jahren mit ihr korrespondiert
"hat, 538, 622, 625, 636, 642,
647,649—53,654, 656f.,664f.,
678, 686, 753 ff., 756, 765-
769 f., 774. — An sie 529 ff.,
532 ff., 534ff., 567ff.
Jalermechanismus: ? 293.
Januar, £i: Tag der Hinrichtg.
Ludwigs XVI. (1793)- 56-
Jean Paul Friedr. Richter 774.
Juli. 14.: Tag der Erstürmg. d.
Bastille (1789'. 48.
HUMBOLDT - K0SP:RITZ
Juli-Revolution 173.
Jung, Job. Heinr., gen. Stilling:
der pietist.-myst. Neigungen
hingegebene Volksschriftstel-
ler hatte außer e. 'Theorie d.
Geisterkunde' auch e. 'Gemein-
nützige Erklärg. d. Offenbarg.
Johannis' veröffentlicht. 91.
Junges Deutschland (liter.) 560.
Junges Deutschland (polit.): wie
d. flüchtigen Republikaner aus
Italien u. Polen hatten auch d.
deutschen Flüchtlinge e. Verein
Junges Deutschi, gebildet, der
34 in Bern mit d. Jg. Italien u.
Jg. Polen zu d. Jg. Europa zu-
sammengetreten war; geg. des-
sen Mitglieder richteten sich
die 36 von d. Schweiz (s. d.i
verfügt. Ausweisungen, u.wenn
sich auch d. J. D. in London
niederließ, so verlor es doch
immer mehr an Bedeutg. 622 f.
Just: s. Saint-Just.
J ustizpalast: Sitz d. Revolutions-
tribunals. 58 ("'bis zu d. Brük-
ken": d. Palais de Justice be-
findet sich auf der Seine-Insel
de la Cit^), 67.
Kalischer Revue: I.ustlager d.
absolutist. Fürsten von Rußl.,
Prß., Österr. Sommer 35 zur
Feier d. Siegs üb. Polen. 555.
KarljPrinzv. Hessen: 1809 geb.
Sohn Ludwigs IL 624.
Karl X. von Frankreich: "mein-
eidig" durch s. Staatsstreich,
der d. Julirevol.veranlaßte. 1 73.
Katilina 20 (wie Tacit. über d.
Kaiserzeit, hatte Sallust "Üb.
d. Verschwörg. K.s" geschr.),
21, 62 (weg. Hinrichtg. d. Ge-
nossen K.s war Cicero auf Be-
treiben d. Triumvim verklagt
worden), 599.
Kato von ütika 17, 592 f., 596
bis 604.
Kaufmann. Christoph: denWin-
terthurer Kraftapostel hatte
BÜCHNER 52-
817
Lenz 76 in Weimar kennen ge-
lernt; als Weltverbesserer war
dann K. nach Basedows Phi-
lanthropin u. weiter nach Rußl
gezogen, wo er auch Lenzens
Angehörige besuch t hatte; Nov
77 wurdeerinWintherth v d
gemütskranken Lenz besucht
^^"/^•^-^Oberlin schickte, um
bald darauf mit s. Braut ins
btemthal nachzufolgen — K s
Auftreten in Waldersbach ent-
halt bereits Büchners Quelle
Oberl., d.Kenntn. S.Beziehun-
gen zu Lenzens Vater jedoch
hat Buchn. anderswoher- die
kunsttbeoret. Ansicht K.s im
'Lenz ist insofern wahrheits-
widng, als K. gerade für Natur
im Gegens. zur Kunst war 8;
91, 93, 94-
^aup, Joh. Jak. 627.
lemm: s. Cleram.
och Adam: aus Darmstadt.
Vlitgl. d. "Gesellsch. d. Men-
chenrechte"; endete nach F
^VIII.,als Opfer d. Reaktion i'
)armst. Gefängn." (vgl. Ilse"
.427flr.u.Sch.-W.,S.58j.639.
'ch, Jakob: älterer Bruder d
)r., stud. med.; flüchtig weg.
Teilnahme an Büchners Ver-
ödung (vgl. II.se, S. 42S und
AI). 549.
Istitutionsakte: die von Fie-
lt (s. d.; 93 entworfene, 10.
roklam. Verfassg.. die je-
^ 10. 10. d. Diktatur Platz
hte. 31.
Kitutionsfest: vom lo. S.93,
N. Annahme der von H^-'
r entworfenen neuen Ver-
f' gefeiert wurde. 79.
Kc:z: württemb. Leutnant.
"itd.Buchhdlr. Franck in
^Svnhg. d. Verschwörg. an-
g''lt; er wurde jedoch be-
g^ u. nach Amerika ent-
1^^545.
REGISTER
8i8
Kriegerisches Aussehn Europas
i8^r s. Holland. Wirren.
Küchler,Heinr. (1811^73): Arzt
in Darmstdt; wurde zu b J •
Zuchthaus verurteilt, aber 39
auch begnadigt. 560.
Kuhn, Joh.: Prof. d.kath. Theo-
logie in Gießen, wo er auch
als Doktor d. Philosophie do-
zerteu.vielleichtvonBücnner
Gehört wurde; s. von Büchner
benutztes Buch 'Jacobi u. die
Philosophie s.zelt' ersch 34
zu Mainz. 257 (vgl- K.^-^- O-
S. 7if-), 345, 743-746, 787 1-
Lacroix: früher Advokat, dann
Takobiner u. Parteimann Dan-
tons, mit dem ervom Konvent
92zumHeernachd.Niederlc
Lschicktwar;daßersichdot
Veruntreuungen hatte zuschul^
den kommen lassen war Ihm
schon von d. Girondisten vor.
geworfenworden 8, 2i,23tt.:
5i {"Generalleutn."iron.),32tt-
46 52, 54 (Frage u. Antwor-
nach Th. 205), 64,69, 74f., 7^
(vgl. "Ibr tötet uns ).
Lafayette, Marquis de: spielt
noch zu Büchners Lebzeiten <
nolit. Rolle in Frankr.,u.zwf
in d. Dichters Sinne, wenn er c
aeaen das Ministerium Pen
FrSnt machten. 33 den Vere
d.Menschenrechte begründe
46, 67- . ,
Laflotte: junger Mitgefang:
Dillons im Luxemburg; übe
feige Denunziation fand Buc
bei Th. 2 1 3 f. ausführl. Ben
57fr., 61.
Langermann, General 523.
"Laß in mir die heiigen Seh
zen": wohl e. echte, doch :
nicht nachgewiesene Kirc
liedstiophe. 89 (vgl. 73 1
Laube, Heinr.: stand bereit
34 unter Anklage u. wuiy
zu anderthalbjäh r. Haft verur-
teilt. 621.
Laurencet, franz. Anatom. 185,
191.
Lauth, Ernst Alex. (1803—37):
Sohn d. berühmten Anatomen
Thomas L. (gest. 1826), Prof.
d. Physiologie u. Verf. e. 'Ma-
nuel de ranatomie'. 550, 565.
Lavater, Job. Kasp. 94, 355.
Legendre, Louis (1752— 97): d.
frühere Schlächter war Mitgld.
d. Jakobin.-wie d.Franziskaner-
klubs und hatte als Konvents-
mitgld. für den Tod d. Königs
gestimmt,um dann freilich nach
d. Beseitigg. d. Girondisten mit
Danton e. mildere Tonart an-
zuschlagen; so suchte er auch
für Danton einzutreten, zog sich
aber vor d.Zorn d. Robespier-
risten vorsichtig zurück, bis
auch deren Sturz gekommen
war. 8, I7f., 21, 24, 25, 26,
44 f. (fast wörtl. nach Th. 196],
46, 47.
Lenz, Jak. Reinh.: Nov. 77 be-
kam L. bei Kaufmann (s. d.) in
Winterthur e. ernsten Anfall,
u. Kaufm. wies ihn an Oberlin,
bei dem er Jan. 78 wahnsinnig
eintraf; von dort wurde er nach
Straßbg. und weiter nach Em-
mendingen gebracht, wo sich
Schlosser seiner annahm, bis
d. Kranke endlich 79 von e.
Bruder in die Heimat geholt
wurde. Über Büchners Quelle
vgl. Oberlin und Aug. Stöber.
83—108, 557, 617, 622, 678,
681—85. —Briefe 680 f., Dra-
men 85, 92, Gedicht "D. Liebe
auf d. Lande" 535 f.
Leopold, Großherzog von Ba-
den: in Wirklichkeit d. libe-
ralste unter d. deutsch. HeiT-
schern damals. 559.
Leroi: Geschworn. (s.Girard). 54.
Literaturblatt: z. 'Phönix'. 546.
Louis, Prinz: ältester Sohn Lud-
KRIEGERISCHES AUSSEHN — MARSEILLAISE 8 1 9
wigs IL V. Hessen-Darmst, d.
spätre Großherzog Ludwig ni.
624.
Louis Philipp 173 ("Heuchler",
weil er's weder mit d. Legiti-
misten noch mit den Liberalen
verderben wollte), 524, 547.
555 (Attentat Fieschis).
Lüwig. Karl Jak.: Chemiker,
seit 33 Prof. in Zürich. 641.
Lucius, Ferdinand: evang.-pro-
test. Theolog in Straßburg,
vielleicht ident. mit dem, der
die in Darmstadt 1827 fif. ersch.
'Hand-Concordanz' M. Luthers
mitherausgab. 538, 756.
Luck ;so statt "Link"!\ Ludw.
Wilh.(i8i3 — 81): Jugendfreund
Büchners, später Pfarrer in
Wolfskehlen b.Darmst.; wie 78
geg. Franzos bricfl., hatte sich
L. schon 59 geg. Hebbel mündl.
üb. Büchner ausgelassen, doch
damals d. Freund noch irrtüml.
m. d. Fraukf. Attentat in Ver-
bindg. gebracht. 605, 629 — 33,
769 f, 773f.
Luden, Heinr. 603 (vgl. Herder).
Ludwig I. V. Bayern (Sohn e.
hess. Prinzessin) i75f.,559.73S-
Ludwig II. V.Hessen 166, i7of,
1 73 f. (Schulden, die L. als Erb-
prinz gemacht), 537.
Ludwig XVI. von Frankreich 56,
73, 171 f.
Ludwig XVIL, Sohn d. vor. 55.
Lukretia 14, 35, 61, 592.
Lumiere: Geschworner. 54.
Lüning, August (geb. um 181 8):
ausWestfalen; weg. s.burschen-
schaftl. Gesinnung 1834 von
Greifs w., wo er Jura studiert,
nach Zürich geflohen, begann
L. hier unter vSchönlein, Oken,
Arnold, Löwig u. a. s. medizin.
Laufbahn, auf der er es bis zum
Zürcher Kantonalstabsarzt und
Oberstleutnant brachte. 642(1.,
777, 786; 791.
Luxemburg. Das: ursprüngi. e.
I Schloß auf d. frühem Grund u.
I Boden d. Herzogs von Luxem-
i burg-Piney. während d. Revo-
' lution Staatsgefängnis. 49 ft".,
57, 674.
, Lyon: Stadt d. royalist.-giron-
dist. Gegenrevolution, die d.
Jakobiner Chalier hingerichtet
! hatte; nach Beseitigg. d. radi-
' kalen Hebertisten, zu denen
auch Ronsin gehörte, fürchte-
ten d. Lyonerjakobiner e. neues
Aufkommen ihrer reaktionären
Mitbürger. 17, 20.
Lyoner, Ein 17 (d. Rede stammt
aus Th. 188 f., wird dort aber
auf Grund briefl. Mitteilungen
aus Lyon von Robesp. gehal-
ten'.
i ''Mädel, mach'sLadel zu": viel-
leicht e. altes Kinderlied. 148.
"Mädel, was fängst du jetzt an":
Ausgangsstrophe des Liedes
''Sitzt e. schöns Vogel im Tan-
nenwald", in d. benutzten Lie-
dersammlgen. nicht enthalten
I (vgl.E.-B., Nr. 15751. 146,718.
] Mai, 31.: Tag des Jahrs 1793, ^^
dem d. Bergpartei im Konvent
offen geg. d. Girondisten Front
machte. 17, 34 (auch d. Giron-
disten hatten gewalts. Opposi-
tion versucht), 48.
Malebranche, Nicolas 340, 345,
743. 746.
Marat 1 1 (,,Recbng.'": i. s. 'Volks-
freund' 1790 aufgestellt, später
also verteidigt: "Wenn ich da-
zu geraten habe. 500 Verbre-
cherköpfe fallen zu lassen, so
geschah das nur. um 500000
Unschuldigen ihre Köpfe zu er-
halten"), 17 f., 25, 36, 56.
Marburg: Druckort d. 2. Aufl. d.
Hess. Ldb. 545, 734.
Marburger: s. Badenburg. Ver-
sammig.
Marion 8. 22 ff., 67o(vgl.Hugo\
Marseillaise 49, 77, 523, 529.
820
REGISTER
Marsfeld: 17. 7. 91 hatte dort e.
Volksversammlg., mit auf Dan-
ton» Anregg., für d. Monarchen
Eatthrong. petitioniert. 56.
Masonet: Ausdr. f. Freimaurer
(franz. Franc-magon^. 63.
Mayer. Karl (1787 — 1865): Bon-
ner Prof. d. Anatomie u. Phy-
siologie; in den 'Acta nova
Acad. Caes. Leop. Carol Na-
turalis Curiae Vol. XVI' lie-
ferte M. e. anat.-physiol. Un-
tersuchg. "Üb. d. Gehirn, d.
Rückenmark u. die Nerven"
(1833), e. besondre Arbeit üb.
d. Ganglien d. Nerv, hypogl.
ersch. später. 232, 246, 363.
Meckel, Joh. Friedr. der Jün-
gere, Herausgeb. d. 'Arch. f.
Anatomien. Physiologie'. 193,
203, 242 f, 244, 245, 247 ff.
Meckels Archiv 200, 214, 2 18 f.,
221, 223, 229, 240.
Menenius Aprippa 767.
Menzel, Wolfg. 562, 616, 6 19 ff.
Mercier, Sebastien 49 ff., 54 f.
Mersenne, Marin 304.
Methfessel, Alb. Gottl. 561.
Metternich 607.
Meyer, Ludw.: Freund Spino-
zas, der d. Philosophen zum
Druck von Cartesius' Prinzipien
mit s. „Cogit.ita" veranlaßteu.
d.Buch mit e. Vorrede heraus-
gab. 340.
Mignet, Frangois Auguste: s.
zweibändige, nicht ganz ten-
denzfreie 'Hist. de la Revol.
frang.' ersch. 1824 u. ist von
Büchner neben Thiers Js. d. u.
Unsere Zeit (s. d.l für s. Revo-
lutionsdrama benutzt worden;
vgl. Mign. unter Danton, Des-
moulins, Robespierre. Saint-
Denis.
Minniger o de, Karl (18 14 — 61):
Sohn eines pens, hess. Hofge-
richtspräsidenten, Studieafrd.
Büchners u. Mitgl. der "Ge-
sellsch. der Menschenrechte";
mit d. von Offenbach abgehol-
ten Hess. Ldb. wm^de er auf
Denunziation (Kuhls) hin am
Gießener Stadttor i. 8. 34 ver-
haftet (vgl. Diehl u., nachd.
ein von s. poiit= Gesinnungs-
genossen unternommener Ver-
such, ihn aus Friedberg zu be-
freien, mißglückt war, erst weg.
körperl.Zerrüttg.(Georgi!; nach
drei Jahren entlassen; er lebte
später, nach e. briefl. Mitteilg.
Lucks an Franzos, als Bischof
e. Sekte in Nordamerika. 538,
5+0, 545, 549, 551, 554, 557,
558, 567 (falsches Gerücht von
S.Tod), 630 f., 637, 639.
Mirabeau 5 5 f.
Momoro: Gattin d. Buchhänd-
lers M., der mit Hubert guillo-
tiniert war; s. schöne Gattin
hatte bei Chaumettes Fest der
Vernunft diese Göttin darge-
stellt, was zu d. Verdacht un-
erlaubter Beziehungen zw. ihr
u. Chaumette Anlaß gab. 5 2.
Monro, Alex.: wohl d. zweite
dieses Namens (1733 — 1817),
der d. Kenntn. d. cerebro-spi-
nalen Nervensystems beson-
ders gefördert u. auch e. "Phy-
siology of fishes" geschrieben
hat. 203.
More, Heinr.: s. Briefe an Gart,
hat Büchner in Tennem. X,
281 ff. erwähnt gefunden. 320.
Muck, Ferdin. (?): wohl Schüler
Tiedemanns, denn s. "Dissert.
de ganglio ophthalmico et ner-
vls ciliaribus animalium" er-
schien 1S15 in Landshut. 197.
Müller, Johannes 224 f., 230,232.
Müllers Archiv 212, 218, 224;
Handbuch 197.
Mundt, Theod. 558, 621.
Musset, Alfr. de: nicht d. tiefe
u. doch so graziöse Lyriker,
sondern d. launige, mit romant.
Selbstironie geistr. spielende,
auch weltschmerzlerisch ange-
MARSFELD - O PFUI, MEIN S'CHATZ 82
hauchte Dramatiker zog Büch-
ner an (vgl. Insel-Schifif, lll. Jg.,
S. 282f.). 754-
Muston: franz. Flüchtling, d. an
Ramorinos s. d.) Zug gag. Sa-
voyen teilgenommen. 538,756,
786, 789.
Nachtgedanken, Die: d. fromm-
eleg.Versbetrachtungend.engl.
Dichrers Edw. Young über Tod
u. Unsterblichkt., e. Lieblings-
lekt. d. empfinds. Zeitalters. 72.
Napoleon!. 123, I72f., 174,555.
Naturwissenschaftl. Gesellschaft
zu Straßb. iSi, 654, 74of.
Neuhof: wohl Schwester der seit
April 34 flüchtig. Brüder Georg
u. Wilhelm N. aus Bonames,
Gastwirtstochter, die revolut.
KoiTespondenzen vermittelte u.
steckbriefl. Verfolgten forthalf.
(Vgl. üse, S. 354.357-; 554-
Neuner, Karl (18 15 — 82]: Sohn
d. Darmst. Oberchirurg. Georg
Karl N., seit 32 stud. jur. in
Gießen; später Rechtslehrer,
zuletzt in Kiel. 630 f.
Neustadt a. d. Hardi: d. Jahres-
tag d.Hambacher Festes woll-
ten 1833 liberale Einwohner v.
N. in still er Nachfeier begehen,
als sie von Soldaten angefallen
u. selbst Kinder, Frauen, Greise
verwundet wurden. 526.
Nievergelter, Ludw.: Forstwis-
senschaftler in Darmst., Mitgl.
d. "Gesellsch. d. Menschenr.";
noch vor ßüchn. geflohen, hielt
er sich vorübergehend in Straß-
burg auf u. w^anderte dann nach
Amerika aus. 553.
Nöllner, Friedr.: hess. Hofge-
richtsrat in Gießen; Verf. d.
wiederholt herangezog. 'Ak-
tenmäß. Darlegung'. 607, 733 f,
764, 770.
Oberlin,Joh. Friedr.: s. Erlebn.
mit Lenz hat O. selbst tage-
buchartig zu Papier gebracht,
u. diese .Aufzeichnungen sind
Büchners hauptsächl. Quelle
für s. Erzählg. gewesen. 85 bis
91, 94f, 100 (O. kehrte am
5. 2. zurück, war aber nicht bis
in d. Schweiz gekommen , loi
bis 107, 678 f, 681 ff.
— Madame: Marie Salome geb.
Witter (1783 gest.;, seit 1768
Gattin d. vor. 85, 97 — 99, 102,
I04f, 681 ff.
Ödipus: als Gatte seiner Mutter
war Ö. "s. eign, Vater'' oder
"Vater u. Kind zugleich". 58.
OfTenbach 538 ivgl. Frankfurt),
540 (''Gerücht'": von der geh.
Fresse, auf der d. Hess. Ldb.
gedruckt worden). 554, 637.
"'O Gott! in deines Lichtes
Welle": nach K.Voß' Vermutg.
Verse Büchners. 102.
ÜKen, Lorenz: nach ihm ist
nicht nur d. Geschmacksorgan
e. Verfeinerg. d. Darmwerk-
zeuges, d. Ohr e. Umbildg. d.
Kiemenhöhle, sondern auch d.
Schädel e. Weiterbildung d.
Wirbelsäule u. das ganze
menschl, Skelett aus d. ein-
fachen Wirbelform herzuleiten;
auch in d. verschiedenen Art
sieht O., s. Lieblingsidee vom
Parallelismus im Naturreich
folgend, dieselben Er.schei-
nungen wiederkehren, indem
er d, höher entwickelten Tiere
z B. alle Stufen niederer Tiere
repräsentieren läßt u. dem-
entspr. d. Tierreich zu klassi-
fizieren sucht. 228, 236, 239,
357 f., 365 f-« 641, 643.
■'O meine müden Büße, ihr müßt
tanzen": wohl eigene Verse
Büchners. 117, 695
"O pfui, mein Schatz, d;is war
Avär?j nicht fein": aus d. Lied
■'Auf dieserWelt hab ich's keine
Freud" (vgl. Böckel Nr. lOjKöh-
lerNr. 32.Le\\alterINr.5;.7i5.
822
REGISTER
Orleans, Ludw. Phil. Jos. Her-
zoiT V, 55, 56, 68.
Oslander, Friedr.Benjam. (1759
bis 1822): Götting. Prof. d.
Geburtshilfe, hatte 1813 "Üb.
d. Selbstmord, seine Ursachen,
Arten'" eine medizin.-gerichtl.
Untersuchg. geschrieben. 593.
P : ? 545-
Palais-Royal: schon vor d. Re-
vol. von Philipp von Orleans
mit e. Vergnügungsetablisse-
ment versehen, das auch d.
Prostitution eine Schlupfstätte
bot. 21, 30.
Panizza, Barthol. (1785— 1867):
hen^orrag. Anatom u. Chirurg,
Prof. d. Anat. in Pavia. 236!
Paris 5 54 f. ; Attentat d. Korsen
Fieschi; d. darauf erlaßnen Ge-
setze geg. d. Preßfreiheit usw.
wurden Sept. angenommen).
Paris, mit d. Beinamen Fabri-
cius: Geschworner im Revolu-
tionstribuual, mit Danton be-
freundet; er war es auch, der
Dant. von d. bevorstehd. Ver-
haftg. Mitteilg. machte (4O5).
Der Name kommt in Büchners
sonstigen Quellen nicht vor,
wohl aber in d. 'Biogr. des mi-
nistres' (Brüss. 1826), die mit-
benutzt zu sein scheint. 8, 25,
2 7 ff. (vgl. Biogr. des ministres,
§ Danton), 3 2 ff.
Payne, Thomas: wenn Büchner
P. im Gefängn. d. Frage nach
dem Dasein Gottes behandeln
läßt, so liegt dem d. Tatsache
zugrunde, daß P. während s.
14 monatigen Gefangenschaft
d. Buch 'The age of reason'
geschrieben, das seit 94 auch
in dtsch. Übers, kursierte; aber
hierin spricht sich P. gegen d.
Atheism. aus, während ihn d.
Dichter bezeichnenderweise als
Atheist hinstellt: es handelt
sich im Drama also um e. per-
sönl. Bekenntn. Büchners! 8,
49ff.
Parier, Casimir: starb doch noch
an d. Cholera; Marschall Soult
trat an s. Stelle. 524.
Pfeffel, Gottl.Konr. 100 ("Land-
geistl,"' ist nicht auf Pf. zu be-
ziehen; Oberlin selbst schrieb
deutlicher: "Ich erzählte ihm,
daß Herr Hofrat Pf. die Land-
geistl. so glückl. schätzt. . ."l
Pforzheimer, Heldentod der
vierhundert: erst im 18. Jahrh.
aufgekommene Sage (vgl,
Coste, Die vierh. Pf., Sybels
Hist. Zeitschr. XXXIT, 23 ff.);
Büchners Quelle mögen die
1824 ersch. 'Erinnerungen an
d. Schlacht b. Wimpffen u. d.
Tod d. 400 Pf. von C. V. Som-
merlatt' gewesen sein. 5 79 ff.
Philippeau (Ph^lippeau): e. d.
wenigen gläubigen Moralisten
in Dantons Anhang, an dem
auch Robesp. nur s. Mäßigg.
aussetzen konnte. 8, loff., 26,
31, 32 ff., 52f., 64, 74ff-, 78.
Phönix: tägl. " Frühlingsztg. für
Deutschld.", redig. von Ed.
Duller u. Karl Gutzkow, der
d. wöchentl. Literaturbl. dazu
leitete. 546, 559, 612, 6i4ff..
618, 663, 666.
Pitt, William, der Jüngere: d.
engl. Ministerpräsident ließ 93
alle Häfen Frankreich s blo ekle-
ren, um es auszuhungern. 17.
Plato 69 (wohl nach neuplaton.
Dämonologie, die Büchn. aus
franz. Quelle übernahm).
Plinius 725.
Polen: d. poln. Aufstd. endigte
mir der Übergabe Warschaus
Sept. 31; auch durch Hessen
zogen danach flüchtige Polen-
scharen,u. manche hielten sich
: besonders" bei Weidig in Butz-
bach länger auf. 523, 555.
Polenlied: "Noch istPolennicht
verloren''. 529.
ORLEANS — ROBESPIERRE
823
Forcia 16, 603.
Präfekt in Straßbuig: Chopin
d'Arnvauille '^vgl.Vogt, i5oflF. .
548, 550j 555> 565-
Präsident d. Jakobinerklubs: Vi-
vier. 20.
— d. Konvents: Thuriot. 45.
Pucelle: s. Voltaire.
Ramorino (so statt "Romarino", :
aus Genua stammender poln.
General, der nach Warschaus
Fall 31 mit s. Heer auf österr.
Gebiet übertrat u. dann nach
Frankreich floh; 34 fiel er mit
Flüchtlingen verschiedner Na-
tionen in Savoyen ein, um d.
sardin. Thron zu stürzen u. d.
Junge Italien zu revolutionie-
ren, was aber auch mißlanr.
49 machte ein kriegsgerichtl.
Spruch in Piemont s. Aben-
teurerleben e. Ende. 523.
Rastadter Gesandtenmord, Der:
Büchner hält offenbar Bona-
parte, der d. Krieg gewollt
hätte, für d. Urheber d. Mor-
des an jenen franz. Gesandten,
die April 99 auf d. Rückkehr
V. d. fruchtlosenVerhandlungen
über die durch d. Frieden von
Campe Formio geschaffene
Lage von ungar. Husaren über-
fallen wurden. 555.
Rathke, Heinr. (1793—1860;:
hervorragender Anatom, seit
35 in Königsberg ( Anatom. -
physiolog. Untersuchungen üb.
d. Kiemenapparat u. d. Zungen-
bein d. Wirbeltiere, Dorpat
1832). 217.
Rebstöckel: Straßburger Gast-
hof. 562, 621, 75S.
Reil, Joh. Christian 19S.
Reinheim 627 f. (s, Joh. Karl
Büchner), 629.
Renaudin: Geschwomer (s. Gi-
rard). 54.
Repräsentationsidee: s. Oken.
Reuß, Joh. Georg (1757 -1815;:
Grobvater d. Dichters; Spital-
schaffner u. Regierungsrat in
Hofheim. 629.
— Luise Philippine geb. Her-
mani (1764 — 1846): Gattin d.
vor., als Witwe zuletzt bei
Büchners Eltern wohnend. 542.
625, 628, 638.
Reuß, Georg( 1795 1S49;: Sohn
d. vor., also Bruder d. Mutter
Büchners; Offizier. 624, 629,
771. — An Büchner 611.
— Magdalena geb. Meyer (geb.
1796;: Gattin d. vor. 628?
Reuß, Tante: Gattin d. Straßb.
Orientalisten und Theologen
Eduard Reuß (1804 — 91), des-
sen Vater e. Bruder von Büch-
ners Großvater R. war. 625.
Revolutionstribunal: bestand aus
d. Präsidenten (Herman, resp.
Dumas), d. öff. Ankläger (Fou-
quier , fünf Richtern und Ge-
schwomen, die eigentlich ge-
wählt, nicht bestimmt werden
sollten, u. konnte nur auf To-
desstrafe oder Freispruch er-
kennen. 55 ("daß ich d. R.
schuf'": so aus Th. 204, doch
ist d. Tribunal im März 93 gar
nicht auf Dantons Antrag ge-
schaffen worden], 61, 62, 66 ff.
Ringel, Ringel. Rosenkranz 713.
Robespierre: der Dichter hat R.
so dargestellt, wie ihn zuerst
U. Z. ihn kennen lehrte (vgl.
dort III, 291 f. u. XII, 292 ; alles
stoffl. Detail zu R.s Reden
lieferten außer U. Z. noch Th.
u. Mign. — 8, 10, 15 f. (auch d.
geschichtl. R.hatte d. Beinamen
'"D. Unbestechl." u. ist mit d.
Messias verglichen worden),
18 ff. (R.s Rede z. T. aus Mign.
31 f., U.Z.XII,34ff. u. Th.189,
wo auch d. Worte d. Lyoners
S. 17 als briefl. Äußerg. durch
R. wiedergegeben sind; die
Worte 2024ff. bringt U. Z. XII,
824 REGISTER
sie aberSt.ju^tsprichtl), Saint-Denis 31 ;vgl. Mign. 30).
21, 25 (Äußerg. zu Paris nach
Th. 192 ■; 26, 27 ff. (d. Unter-
redg.mitDanton in Gegenwart
e. Freundes dess. z. T. wörtl.
nach Mign. 321 ; R.s näheres
Verhältn. zu Cam, ist insofern
histor., als er e. Schulfreund
von ihm gewesen u. auch jüngst
noch seine Joumalistenstreiche
geg. d. Hebertisten entschul-
digt hatte;, 34, 36, 40 (s. u.
Desmoulins}, 46 f. füberwiegd.
nach Th. 197; 4628 ff. wörtl.
nach U. Z. XII, 96). 60, 62 f,
66, 67f., 74, 75(vgl.U. Z.XIL
113 Anm.. Avonach Cam. selbst
vor Gericht äußerte: "Dieser
Nero warniemalsfreundlich[erj
gegen mich als an d. Tage vor
m. Verhaftg.";.
Pvockenberg: Ort in derWetter-
au; s. Vogelsberger Mitbürger.
168.
Roland de la Piatiere 593.
Rolando, Luigi (1773— 1831 :
Anatomieprof. u. Hofmedikus
in Turin; s. 'Gehirn-Beobach-
tungeu* erschienen 1827. 231.
R-omarino: s. Ramorino.
Ronsin: General d. Revolutions-
armee, weg. angebl. Konspira-
tion mit d.äußemFeind gleich
d. andern Hebertisten hinge- I
richtet. 17. :
^osenstiel, Ludw. 11806 — 63 : [
cand. jur., kehrte später aus j
Frankr. nach Darmst. zurück, i
wo er als Rentner starb. 548. ;
xosenthal, Friedrich Christian ;
11779 — 182g : Anatom u. Phy- |
siolog, besonders um d. Ana-
tomie der Wale und »Seehunde
verdient. 198, 244.
^ue St. Guiliaume Nr.66: Straßb.
Wohng. Büchners beim Pfarrer
Jägle. 568.
äaglio: monarchist. Deputierter
Straßburgs. 529.
Sainte-P^lagie: Pariser Gefäng-
nis. 60.
Saint-Just. Antoine 8, 10. 27 ij.
war auch Romanschreiber im
Stil Voltaires), 30 ff. fd. Inti-
mität mit Robesp. hatte dem
schöngestalteten, langlockigen
Jünglg. d. Spitznamen d. Mes-
siasjüngers Johannes nicht nur
von Desmoulins eingetragen),
47 ff. (d. Rede ist schwerlich
ganz fingiert, ließ sich aber in
Büchners Quellen nicht auf-
finden; vielleicht ist Justs
Schrift 'Esprit de larevolution'
benutzt), 56, 59 ff. (das 2. Ver-
hör war am 3. April; vgl. Th.
215), 66.
Saint-Simon, Claude Henri Graf:
Begründer d. Sozialism. durch
d.'Cat^chisme des industriels'
(1823) u. d. 'Nouveau Christia-
nisme' (1825 ; durch eigne Not
auf d. Gedanken einer 'Reorga-
nisation de la societe europe-
enne'(i8i4) gekommen, suchte
er diese in jenen Hauptwerken
auf d. Wege e. Wirtschafts-
reform zugunsten d. Arbeiter
u. e. religiös-ethischen Reform
im Sinne werktätiger Bruder-
liebe zu erreichen; s. Verehrer
u. Schüler, d. Saint- Simonisten.
bildeten s. Lehre weiter aus
(polit. Gleichstellg. d. Frau) u.
warben tür sie. Büchners revol.
Gesinng. hat zweifellos durch
d. Saint- Simonismus e, stärkern
Sozialist. Einschlag fgegen d.
Mammon) erhalten. 526f.
Saint-Simonist: Anbänger der
Lehre Saint-Simons ;'s.d.). 526,
527. 544-
Sallust: s. Katilina.
Samson: Scharfrichter. 60, 67,
70.
Sartorius, Theodor: aus Lauter-
bach, Studt. d. Medizin; wurde
36 weg. s. Beteiligg. au d, re-
ROCKENBERG — SCHWAB
825
volut. Umtrieben zu I J. 6 M.
Getängn. verurteilt. 547.
Sauerländer: Frankf. Verleger.
542, 543, 6iiff., 615, 617, 754.
Sauppe, Herrn.: damals Zürcher
Gymnasiallehrer und Privat-
dozent, später Göttinger Uni-
versitätsprofessor. 642.
SavoyerZug: Einfall Ramorinos
(s. d.) 34 mit Italien., poln.,
deutsch. iRauschenblatt, Brü-
der Breidensrein u. a.) Flücht-
lingen. 565.
Scarpa, Antonio 193 f., 203,
209 f., 212 f., 236.
Schenk: Leopold Schenck (181 5
bis 65; : Pharmazeut vfie Wilh.
Büchn., 48 nach Texas ausge-
wandert. 624.
Schiller 125 (Don Carlos , 553,
593 (Zitat aus d. 'Räubern',
Goethe zugeschr.), 767, 774 f.
Schinz, Heinr. Rud. (1777 bis
1861): Schweizer Mediziner u.
Naturwissenschafder, Zürcher
Universitätsprofessor. 641.
Schlemm, Friedr. (1795 — 1^59 •
Berl. Anatomie-Professor; mit
d' Alton gab er 'Das Nerven-
system der Fische' heraus, auch
stellte er die Vereinigg. der
aus d. Ziliarmuskel d. Auges
tretenden kleinen Venen zu d.
Schlemmschen Kanal fest. 197.
Schmid: Pfarrersfrau aus Straß-
burg, ö^of.
Schmid: Zürcher Freund Büch-
ners (vermutl. d. weg. Teiln. a.
d. Würzb. Burschensch. flüch-
tige Ludw. Schmidt aus Augs-
burg). 645 f., 648, 650.
Schneider, Eulogius 642.
Schneider, Joh. Gottl. 642.
Schneider, General 523.
Schneider v. d. Sektion d, roten
Mütze: des Bildes wegen sind
wohl die Schneider aus jener
Sektion (s. d.), zu der an sich
auch andre Stände gehörten,
herausgegriffen. 26.
Schober, Joh. Hnr.: Pfarrer. 629.
Schober: Sagengest.; vgl.Pforz-
biemer. 587.
Schönlein, Joh. Lukas: Begrün-
der d. naturhistor., auf exakte
Forschg. gerichteten Schule
im Gegensatz zur naturphilos.
Richtg.; seit 3 3 Prof. d. Zürcher
Klinik. 645, 648 ff., 656.
Schulz, Dr. Wilh. Friedr. (1797
bis i86o)- ursprgl. hess. Offi-
zier, aber weg. s. liberal. Ge-
sinng. 20 pensioniert u. nun,
nach Erwerbg. d. philos. Dok-
torwürde u, vergebl. Versuch,
in den hessisch. Staatsdienst zu
kommen, Publizist, der d. li-
beral. Forderungen nach Preß-
u. Redefreiheit, Abschaffg. d.
stehd. Heeres u. 'Deutschlds.
Einheit durch Nationalreprä-
sentation' vertrat; diese letzte
Schrift zog ihm 34 fünfjährige
Festungshaft zu, aus der er aber
bald mit Hilfe s. Gattin entkam
und nach Straßburg flüchtete;
Sept. 36 begab er sich dann
nach Zürich, um dort Jurist.
1 Vorlesungen zu halten. Später-
j hin hat sich Seh. noch publi-
zist. durch s. Auftreten geg. d.
I 'Geh. Kabinettsjustiz' anläßlich
' d. Todes Weidigs u. imFrankt.
Pariamt. hervorgetan. 537,546,
1 548, 558, 619, 642, 645 f., 647,
65off., 664, 699, 764f., 769,777.
— Caroline geb. Sartorius igest.
1847), seit 28 Gattin d. vor.
546, 642, 645—53, 777.
, Schütz, Jak. Friedr. ;i8io — 77):
stud. jur., Mitglied der Gieße-
' ner "Ges. d. Menschenrechte";
seit Minnigerodes Verhaftung,
mit dem er d. Hess. Ldb. von
Offenbach abgeholt, flüchtig
als Erzieher und Sprachlehrer
im Ausland lebend, später im
Frankf. Parlam. auttretd. 634.
Schwab: "Gust. Schwab, dem
Dichter" waren d. Alsabilder
826
REGISTER
gewidm., auch. d. erste Gedicht
darin war ''An Gust. Schwab"
gerichtet. 558.
Schweiz 546 (''strenge Maßre-
geln", nachdem in Lausanne
10. 4. 36 Verbrüderungsvertrag
zw. Abgesandten d. "Jung. Eu-
ropa" u. franz. Republikanern
geschlossen war), 556 u. 618
("Zusendung": von Trapp, s.d.),
622 f. (vgl. Junges Deutschi.).
Schweizer Streit mit Frankreich:
wohl durch d. Aufnahme Louis
Napoleons hervorgerufen, der
bis Okt. 36 in d. Schw. geweilt
hatte. 566.
Sektionen: in 48 S., Verwal-
tungsbezirke mit bedeutenden
Machtbefugnissen, war Paris
durch die Gemeindeverfassung
vom Mai 1790 eingeteilt; eine
davon war die d. roten Mütze.
26, 33-
Seil: Wilhelm S. (1804— 46), seit
34 Prof. d. Rechte in Zürich,
später in Gießen, u. s. Gattin
Emilie geb. Stamm (1807 — 4^5
vgl. Hess. Chronik V, S. 134 u.
VII, S. 25). 646.
September: vom 2. bis 6. 9. 92
wurden d. royalist. u. klerika-
len Gefangnen durch den von
Marat u. Danton aufgereizten
Pöbel hingeschlachtet; Danton
war damals Justizminister u,
ließ ruhig gewähren. 15, 17,
26, 39, 42f., 55, 57, 67.
Septembriseurs: Mörderdes Sep-
tember (s. d.). 63.
Septembrisierte: im September
Ermordete. 60.
Serres,Etienne R^naud Augustin
(1787— 1868): franz. Arzt u.
Anatomieprof., der die vergl.
Anatomie d. Gehirns u. d. Zen-
tralnervensystems fördernd be-
handelt hat ('Anatomie com-
par^e' 1824 — 26). 184 f., 189,
192, i94flF., ipSff., 209, 219,
227, 233.
Shakespeare 87, 92, 543, 553,
568, 629fr., 774.
— Hamlet 16, 130 ^Zitat aus
III 2), 631, 633 (aus V I), 7621
("In jungen Tagen": Totengrä-
berlied aus V I. desgl. "Und
oh e. Grube"; Ophelias Sang
IV 5), 764 ("O schaudervoll"
aus I 5);
— Kaufmann 63 1 ("Wie süß d.
Mondlicht" u. "Der Mann, der
nicht Musik hat" aus Vi);
— Othello 631; Romeo 631;
Richard III. 631; Wie es euch
gefällt 1 1 1 (Zitat aus 11 7), 687.
Shandy: d. Vater d. Helden in
Sternes Roman 'Tristram Shan-
dy' führte in s. Alter e. solches
Gewohnheitsdasein, daß er
nicht nur d. Hausuhr regel-
mäßig am erst. Sonntg. im Mo-
nat aufzog, sondern sich nach
dieser Uhr auch in s. ehelichen
Pflicht richtete, sie also nur
einmal im Monat erfüllte. 123.
Shaw: entw d. junge Alexander
Sh., der 1839 'Narrative of the
discoveries of Gh. Bell in the
nervous system' publiziert, od.
John Sh., Verf. e. 'Account of
some experiments on the ner-
ves by Magendie' (1822). 228.
Sicherheitsausschuß: aus dem
Wohlfahrtsausschuß hervor-
gegangne u. ihm unterstehende
Verwaltungsbehörde, der Amar
u. Vouland angehörten. 30,45.
Skelett V. d. Wirbelform abge-
leitet: durch Oken (s. d.). 357.
Södel: hess. Dorf; s. Vogels-
berger Mitbürger. 169.
Sokrates 10 (Reminiszenz an d.
'zweiten Alkibiades', aus d.
'VievixCordelier' vonTh. 161 f.
zitiert; dort auch Camilles Be-
merkung "Quels republicains
aimables!"), 17 ("Je boirai la
cigue avec toi" rief später Da-
vid Robesp. zu).
''Soldaten, das sind schöne
SCHWEIZ — TENNEMANN
827
Bursch"': vgl. d.Volksl. ''S. das
sein lustge Brüder" (Lewalter
I, S. 68. 145.
'"Sollte nicht dies u.e. Wald von
Federbüschen": vgl. Shakesp.,
Hamlet.
Sophokles 761, 774.
Spinoza 50, 51, 256, 273, 276,
289, 321 — 52, 744ff-, 752.
Spinozismus 339 f-, 341, 344^-;
Gegner dess. 337.
St.-: s. Saint-.
Stall-Schenk: Friedr. Gg. Ferd.
Frh. V. Schenck zu Schweins-
berg (1805 — 36), Stallmeister.
624.
Stamm, Karl Theodor Friedr.:
aus Darmstadt, Stud. med. in
Gieß.; 33 weg. Mitwisserschft.
am Frankf. Attentat verhaftet,
doch aus Beweismangel freige-
geben, ward er nach Beschlag-
nahme d. Hess. Ldb. 35 von
neuem verdächtig, entkam aber
rechtzeitig. 529. 54S, 549.
Steifensand, Karl Aug. (1804
bis 49): Arzt in Krefeld; pro-
movierte auch mit e. Dissert.
'Üb. d. Entwicklungsgesch. d.
Gehörs'. 212.
Stilling: s. Jung.
Stöber, Adolph (181 1 — 92):
Sohn des erst Dez. 35 verst.
eis. Dichters Daniel Ehrenfr.
St., der selbst d. erste, auch
von Büchn. benutzte Biogr. d.
Pfarrers Oberlin (Parisi 83 1 ) lie-
ferte u. Lammenais' revolution.
'Parolesd'un croyant' übers.; s.
Sohn Ad., Theolog u.Pädagog,
dichtete auch im eh. Dialekt
u. erwarb sich um d. Erhaltg.
d. Deutschtums im Elsaß liter.
Verdienste; die 'Alsa-Bilder.
Vaterland. Sagen u. Geschich-
ten' (nebst Gedichten) ließ er
mit s. Bruder Aug. als erstes
Buch erscheinen. 558, 621,
758 f., 772.
Stöber, August (1808—84): Bru-
der d. vor., nach theol. Studium
Lehrer d. deutsch. Spr.u.Liter.,
später Oberstadtbibliothekar u.
Museumsdirektor, machte sich
um die Erhaltg. d. deutschen
Volkstums im Elsaß durch
Sammig. d. elsäss. Sagen, Mär-
chen, Kinder- u. Volkslieder
verdient, wie ihm auch Büch-
ner d. Mitteilg. mancher im
'Woyzeck' verwerteten Wie-
gen- u. Kinderlieder aus d. erst
42 ersch. 'Elsäss. Volksbüch-
lein' zu danken haben wird;
desgl. wies Aug. St. d. Dichter
auf Lenzhin, über deu er selbst
d. Monogr. 'Der Dichter Lenz
u. Friedericke v. Sesenheim'
vorbereitete; über d. 'Alsa-
Bilder' vgl. Adolph St.; auch in
Zeitschriften, darunter d. beile-
trist. Wochenschrift 'Erwinia'
(1838 f.), suchte Aug. für d.
Stärkg. deutsch. Sinnes im Eis.
zu wirken. 558, 663, 678 f.,
758 f., 772.
Stumme von Portici, Die: jene
Oper d. franz. Komponisten
Daniel Auber, die 1830 in
Brüssel d. Signal zur Revolu-
tion gab. 628.
Tacitus: parod. vonDesmoulins,
der im 'Alten Franziskaner'
s.d.)
;2. 93 Stellen ''aus
d. T. vom Reiche d. Tiberius"
mit unverkennbarer Beziehg.
auf d. eigne Schreckenszeit
übersetzt hatte. 20.
Tale, Die vom: die im Zentrum
d. Konvents, die weder zur
Bergpartei noch zu d. Giron-
disten gehörten. 33.
'Telegraph für Deutschland':
Frankf. Zeitschrift Gutzkows.
678, 686, 753.
Tennemann, Wilhelm Gottlieb
(1761 — 1819): Marburger Uni-
versitätsprofessor d.Philos., der
eine nicht ganz zu Ende ge-
82i
REGISTER
diehene 'Gesch. d. Philos.' in
elf Bänden geschrieben, die
Büchner seineu philos. Arbeiten
nachweislich zugrundegelegt
hat. 256, 297 f., 740 f., 742 f.,
746 — 49, 786 ff.
Thiers, Louis Adolphe: daß der
Geschichtsschreiber Th, die
Glanzzeit Napoleons I. nicht
minder verherrlichte als d. Frei-
heitsgedanken d. franz. RevoL,
erlebte Büchner nicht mehr: er
nahm Thiers' gewandte, wenn
auch nicht immer zuverlässige
Darstellg. d. Revolutionszeit zur
stoffl. Grundlage s, histor. Dra-
mas u. entlehnte von ihm auch
viele Einzelheiten; vgl. Th.
unter Barere, Billaud, Danton,
Desmoulins, Fahre, Fouquier,
H^rault, Lacroix, Laflotte, Le-
gendre. Lyoner, Revolutions-
trib., Robespierre, Sokrates.
623.
Thomas: Th. v. Aquino; doch
rührt d. (ontolog.) Beweis vom
Dasein Gottes aus d. Idee von
Gott von Anselm von Canter-
bury her, u. widerlegt ist dieser
Beweis schon von d. Mönch
Gaunilo, e. Zeitgenossen An-
selms. 303 f.
Thudichum, Georg (1794 bis
1873): Pfarrer u. Gymnasialdi-
rekt, in Büdingen, Übersetzer
d. Sophokles u. griech. Lyriker;
d. liberal. Partei angehörig u.
Anhänger d.nation. Einigungs-
gedankens, entging Th. mit
Mühe d. Gefahr, selber belangt
zu werden. 550.
Tiedemann, Friedr. 196 f., 240.
Tilly 582 ff.
Trapp, Herrn.: Schulkamerad u.
Gießener Kommilitone Büch-
ners, dessen Freundschaft er
sich aber durch e. anon., Büch-
ners erste Dichterleistg. ver-
kleinernden Brief an Gutzkow
verscherzte; doch söhnte er sich
' in d. Schweiz, wohin er wegen
seiner Teilnahme an d. "Ge-
j sellsch. d, Menschenrechte" u.
a. Machenschaften geflüchtet,
mit Büchner aus u. starb schon
drei Monate nach ihm. 556.
Treviranus, Gottfr.Reinh. (1776
bis 1837]: Bremer Physiologu.
Naturforscher, Bruder d. be-
rühmten Botanik. Ludolf Chri-
stian Tr., mit d. er zus. 'Verm.
I Schriften anatom. u. physiolog.
i Inhalts' herausgab; davon ent-
hielt Bd. III ''Untersuchungen
üb. d. Bau u. d. Funktionen d.
j Gehirns...". 209,213,219.
I Uhland, Ludw.: 558.
: ültrarevolutionärs: Hebertisten
: (s. d.). 21.
j "Und macht d. Wiege knick-
I knack": Schlußverse e. Wie-
i genliedchens (vgl. A. Stöbers
j Elsäss. Volksbüchl. 1, 19 "Geht
1 die Wagle kn., Schlof du klei-
' ner D."'j. 719.
■'Und oheineGrube":vgl.Shake-
speare, Hamlet
"Und wann ich harne geh": im
Text vielf. variierendes Volksl.
(vgl. Köhler-Meier I S. 124 f.;
E.-B., Nr. 524). 80.
Unsere Zeit: vgl. Literaturverz.;
daß Büchner diese Zeitschr. für
s. Revolutionsdrama benutzte,
beweisen vielfache Überein-
stimmungen: vgl. U. Z. unter
Clicby, Collot, Couthon, Dan-
ton, David, Lucile Desmoulins,
Dumas, Heckefeuer, Herault,
I Robespierre. 6381
I Vellejus Paterculus 600.
i Verbindungen in Gießen: d. ver-
botne Burschenschaft bestand
j als Korps Palatia fort, dessen
Mitglieder überwiegd. f. polit.
I Betätigung waren (vgl. Vogt,
S. il5f-, I33f); daneben gab
THIERS - WERNEKINCK
829
es noch e. Studentenverein u.
schon vor Büchners Ankunft
auch e. Verbindg., in der sich
Studenten mit Bürgern, na-
mentl. Handwerkern, zu poHt.
Zwecken zusammenfanden (vgl.
Darlegung d. Hauptresultate u.
NöUner). 534, 537-
Veto: Einspruchsrecht d. Kö-
nigsgegend. Beschlüsse d. Na-
tionalvers. 14 ("totgeschlag."
durch Ludwigs Hinrichtg.), 68.
"Viel Hunderttausend unge-
zählt": Anfg. d. 3. Strophe von
"Es ist ein Schnitter" (s.d.). 80.
Vilatte: Geschwomer(s. Girard).
54.
Vogelsberger Mitbürger: die d.
oberhess. Bauernaufstand Sept.
30 mitmachten, beim Dorfe
vSödel v. d. hess.Dragonem blu-
tig zusammengehauen u. in d.
Rockenberg. Landeszuchthaus
"Marienschloß" eingekerkert
wurden. 16S.
Vogt, Phil. Friedr. Wilh. (1787
bis iSöi): üniversitätsprof. d.
Med. in Gieß., spät.inBem. 529.
— , Karl: Sohn d. vor., studierte
seit 33 Medizin in Gießen u.
hörte dort auch e. Privatissi-
mum d. Prosektors Wernekinck
mit Büchn. zus.; weg. s. bur-
schenschaftl.-liberal. Gesinng.
mußte er flüchten u. ging.s. El-
tern folgd., über Straßbg. nach
d. Schweiz, wo er s. anatom. u.
physiolog. Studien abschloß u.
d. wissenschaftl. Laufbahn be-
gann; der auch polit. 48 als
parlam. Volksvertr. d. Linken
hervorgetretne Gelehrte hat s.
Erinnerungen 'Aus m. Leben'
(Stuttgart, 95) selbst noch ver-
öffentlicht. 554, 633 f.
Voltaire 50, 72 (La Pucelle).
Vouland: gleich Amar Mitgld,
d. Sicherheitsausschusses, spä-
ter aber sich zu Robespierres
Gegnern schlagend. 65, 66.
Walloth, Joh. Friedr. (1810 bis
1877): Darmstädter Mitschüler
Büchners, dann Studt. d. Rechte
u. Mitgl. d. verbotnen Gießener
Burschenschaft; desh. 35 flüch-
tig u. längere Zeit als Notars-
gehilfe im obereis. Reichen-
weierlebend; durch s.Beteiligg.
ambad. Aufstand49verscherzte
j er sich s. eis. Zufluchtsort u.
I ging nun in d. Schweiz, wo er
später e. Bankbeamtenstelle in
Genf bekleidete u. bei s. alten
; Bundesbruder Karl Vogt Woh-
j nung fand. 549.
I "War nicht umsonst so still u.
1 schwach'^ Verse aus Lenzens
' Gedicht 'Die Liebe auf d. Lan-
de', nach der in Schillers Mu-
senalmanach 98, S. 44 ff. ver-
öffentl. Fassg. 535 f., 663.
I '"Was doch ist, was doch ist. . .":
I anscheinend nach d. Melodie
"Morgenrot, Morgenrot , . .".
36.
Weber, Ernst Heinr. 183, 2 00 ff".,
[ 205, 207 — 10, 212 — 15, 218
I bis 21, 223, 225, 228 f., 231,
I 242, 627.
I Weber. Karl: Darmstädter Gym-
j nasialprofessor. 761, 775.
i Weidenbusch: wohl der Darm-
I städt. Phil.KarlNikol.W.(i8ii
I bis 93), Sohn d. hess. Hofge-
j richtsadvok. Karl W.. seit 42
I selbst Advokat, 45 — 48 Audi-
I teur. 550.
! Weidig, Friedr. Ludw.: Büchn.
ist mit W. durch A. Becker
spätestens Anfg. 34 bekanntge-
worden, da W. im Verhör aus-
sagt, Büchn. sei zur Zeit d.
Freilassg. der in Friedbg. Ver-
hafteten mit Clemm bei ihm in
Butzbach gewesen (NöUn., S.
435)- 545^ 547, 55^, 607, 634,
733ff., 776.
Wernekinck, Friedrich Christian
Gregor (1798 — 1835): Gießen.
Prosektor u. Üniversitätsprof.
830
REGISTER
d. Nervenlehre, Anatomie und
Mineralogie. 633 f. (vgl. Vogt,
S. 120 f.).
"Wie ist mir eine Stimme doch
erklungen": ungenauesZitataus
Chamissos Ged. 'Die Blinde',
das zuerst im Musenalman. 34,
dann im III. Bd. d. Werke (36,
erschien. 125.
"Wie scheint d. Sonn' am Licht-
meßtag": nach e. Kinderlied?
712.
"Wie süß d. Moudllcht": vgl.
Shakespeare, D. Kaufmann v.
Venedig.
Wienbarg, Ludolf 556, 618,620.
Wiener, Herrn. (18 13-97) :Darm-
städter Mitschüler Büchners,
dann Gießener Stud. d. Philol.
u.Theol.; weg. S.Teilnahme am
Frankf. Attentat
in Unter-
suchungshaft, erst in Darm-
stadt, dann in Friedberg; Frühj.
34 vom Gießener Hofgericht
freigelassen, entzog ersieh Mai
35 neuer Verhaftg. durch d.
Flucht über Straßburg nach
d. Schweiz, die ihn aber Au-
gust 36 weg. d. damaligen Um-
triebe d. polit. Flüchtlinge aus-
wies; nach längerm Aufenthalt
in Engld. kehrte W. 42 nach
Lausanne zurück, wo er Prof.
d. griech. Spr. u. Lit. wurde; 48
wurde er ins Frankf. Parlament
gewählt. 548.
Wiener, Jak.: Taufpfarrer des
Dichters. 629.
Wilbrand: Prof. d. Botanik, Zoo-
logie, Anatomie u. Physiologie
in Gießen, teilweise karikiert
im Doktor und Professor des
'Woyzeck'; bes. geht die De-
monstration der Ohrmuscheln
(S. 728) auf e. Liebhaberei W.s
zurück. (Vgl.Vogt, S.53if.). 727.
Wilhelm von Braunschweig: seit
31 Herzog statt des weg. s. ty-
rann. Willkür abgesetzt. Bru-
ders Karl; W. zeichnete sich
durch liberale Reformen aus,
auch war über d. blutige Inter-
mezzo, dasviell. noch auf Karls
Schuldkontokommt, nichtsNä-
heres zu ermittein. 561.
Wirbelformtheorie: s. Oken.
W^ohlfahrtsausschuß,Der8, I7f.,
21, 26, 30, 40, 45, 60, 66.
Woyzeck, Joh. Christian (1780
bis 1824): inLeipzig nach drei-
jähr. Untersuchungshaft hin-
gericht. Mörder, der d. 46jähr.
Witwe d. Chirurgen Wo ost mit
e. abgebroch. Degenklinge aus
Eifersuchterstochenhatte; ob-
wohl derschon während s. Sol-
datenlaufbahn d. Trunk nicht
abgeneigte Friseur bereits e.
Mädchen mit unehel. Kinde
hatte sitzenlassen, hatte d. Fall
doch allgem. Aufsehn erregt,
weil d. Verteidigg. mit d. Hin-
weis auf d. zerrütteten Geistes-
zustd. d. Angeklagten, der an
Geistererscheinungen u. Frei-
maurerzauber glaubte, d. Frage
der Zurechnungsfähigkeit auf-
geworf. hatte (vgl. InselschifF,
I 242ff.). 145 — 61, 707 — 29,
790.
Wunderhom, Des Knaben 775.
Zehnder, HansUlr.(i 798-1877):
um d. Medizinal- u. Armenwe-
sen Zürichs hochverdienter
Arzt, seit 34 Mitgl. d. Erzie-
hungs- u. Regierungrates, spät,
auch Bürgerm. u. Präsident d.
Regierg. 645, 648, 656, 772.
Zimmermann, Georg (1814-81):
Sohn e. hess. Kriegssekretärs,
Jugendfreund Büchners; stu-
dierte nach Jurist. Anfängen in
Heidelbg. Theologie in Gie-
ßen, wurde Lizentiat u. Dr.phil.,
39 Dozent für deutsche Lite-
ratur, später Gymnasiallehrer,
zuletzt Literaturprof.; s. Begei-
sterg. f. Shakespeare bewahrte
er bis ins Alter, auch zeichnete
WIE IST MIR — ZWEIUNDZWANZIG 83 1
Züricher Vorfälle: Ausweisung
politischer Flüchtlinge, die d.
Asylrecht miLbbraucht hatten
(vgl. Schweiz). 563.
Zweiundzwanzig, Blut der: Ge-
meint sind die 31. 10. 93 guil-
lot, Girondisten, in Wirklichk.
nur einundz\Y., von denen sich
einer (Valaz6 bereits bei d.
Urteilsverkündg. erdolchthatte
(vgl. U. Z. X, 253 ff.): Danton
hatte übrigens ihren Tod nicht
gewünscht, wie ihmderGiron-
dist Mercier zur Last legt. 53.
er sich als hinreißender Rezi-
tator aus. 629 ff., 632, 770.
Zimmermann, Friedr. (1814 bis
84): Zwillingsbruder des vor.,
auch mit Büchner befreundet;
später Dr. phil. u. Gymnasial-
prof. 629 ff., 63 2 f.. 769 f., 7 74 ff.
"Zu Lauterbach hast du dein
Strumpf verlorn' : Variante zu
d. hess. Volkslied "Z. L. h. ich
m. Str. V." (E.-B., 1009}. 763.
Zusendg. aus d. Schweiz: vgl.
618340".; d. Anonymus war
Trapp (s. d.\ 556, 772.
INHALTSVERZEICHNIS
DICHTUNGEN 5
DANTONS TOD 7
LENZ 81
LEONCE UND LENA 109
WOYZECK 143
DER HESSISCHE LANDBOTE 163
NATURWISSENSCHAFTLICHE UND PHILOSO-
PHISCHE SCHRIFTEN 179
MJ^MOIRE SUR LE SYSTEME NERVEUX DU BAR-
BEAU 181
CARTESIUS 251
SPmOZA 321
ÜBER SCHÄDELNERVEN. PROBEVORLESUNG .. .. 353
ÜBERSETZUNGEN 369
LUCRETIA BORGL^ 371
MARL\ TUDOR 439
BRIEFE 521
MISZELLEN 571
POETISCHE ANSÄTZE 573
[DEM VATER ZUGEDACHT] 573
[DER MUTTER] 574
DIE NACHT 575
LEISE HINTER DÜSTREM NACHTGEWÖLKE .. .. 576
SCHULAUFSÄTZE UND SCHULREDEN 578
ÜBER DIE FREUNDSCHAFT 578
HELDENTOD DER VIERHUNDERT PFORZHEI-
MER 579
ÜBER DEN TRAUM EINES ARKADIERS 589
[KRITIK AN EINEM AUFSATZ ÜBER DEN SELBST-
MORD] 590
[KATO VON UTIKA] 596
MÜNDLICHE ÄUSSERUNGEN 605
ANHANG 609
BRIEFE AN BÜCHNER 611
PERSÖNLICHE ERINNERUNGEN UND DOKUMENTE 629
BÜCHNER 53.
834 INHALTSVERZEICHNIS
LESARTEN 659
SCHLUSSBERICHT 781
BENUTZTE LITERATUR 793
NACHTRAG: HERR DU-THIL MIT DER EISEN-
STIRN 798
REGISTER 802
AUF GRUND DES HANDSCHRIFTLICHEN
NACHLASSES GEORG BÜCHNERS HERAUS-
GEGEBEN VON FRITZ BERGEMANN
GEDRUCKT VON BREITKOPF & HÄRTEL
IN LEIPZIG
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