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Full text of "Georg Büchners sämtliche Werke und Briefe"

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IrEORL.  BUCHNER 

S^^MTLICHE  WERKE 

UND  BRIEFE 


INSEl,- AUSGABE 


Presented  to  the 
LIBRARY  ofthe 

UNIVERSITY  OF  TORONTO 

by 

Peter  Kaye 


GEORG  BÜCHNERS 

SÄMTLICHE  WERKE 
UND  BRIEFE 


-ÄB^--».^„  -- 


LEIPZIG 

MDCCCCXXII 

IM  INSELVERLAG 


DICHTUNG    -vf 


DANTONS  TOD 
EIN  DRAMA 


PERSONEN 


Deputierte 


Mitglieder  des  Wohlfahrtsausschusses 


GEORG  DANTON 

LEGENDRE 

CAMILLE  DESMOULINS 

HERAÜLT-SECHELLES 

LACROIX 

PHILIPPEAU 

FABRE  D'EGLANTINE 

MERCIER 

THOMAS  PAYNE 

ROBESPIERRE 

ST.  JUST 

BARERE 

COLLOT  D'HERBOIS 

BILL  AUD  -  VARENNES 

CHAUMETTE,  Prokurator  des  Gemeinderats 

DILLON,  ein  General 

FOUQUIER-TINVILLE,  öffentlicher  Ankläger 

HERRMANN 

DUMAS 

PARIS,  ein  Freund  Dantons 

SIMON,  Souffleur 

LAFLOTTE 

JULIE,  Dantons  Gattin 

LUCILE,  Gattin  des  Camille  Desmoulins 

ROSALIE        ] 

ADELAIDE    l    Grisetten 

MARION 


Präsidenten  des  Revolutionstribunales 


Männer  und  Weiber  aus  dem  Volk,  Grisetten, 
Deputierte,  Henker  etc. 


)  9  c 
ERSTER  AKT 

H^rault-SühcUes^  einige  Damen  [am  Spieltisch). 
Danton^  Julie  (etwas  weiter  zaeg,  Danton  auf  einem  Schemel 

zu  den  Füßen  von  Julie). 
DANTON.  Sieh  die  hübsche  Dame,  wie  artig  sie  die 
Karten  dreht!  Ja  wahrhaftig,  sie  versteht's;  man  sagt,  sie 
halte  ihrem  Manne  immer  das  coeur  und  andern  Leuten 
das  carreau  hin. — Ihr  könntet  einen  noch  in  die  Lüge 
verliebt  machen. 
JULIE.   Glaubst  du  an  mich? 

DANTON.  Was  weiß  ich!  Wir  wissen  wenig  voneinander. 
Wir  sind  Dickhäuter,  wir  strecken  die  Hände  nachein- 
ander aus,  aber  es  ist  vergebliche  Mühe,  wir  reiben  nur 
das  grobe  Leder  aneinander  ab — wir  sind  sehr  einsam. 
JULIE.  Du  kennst  mich,  Danton. 

DANTON.  Ja,  was  man  so  kennen  heißt.  Du  hast  dunkle 
Augen  und  lockiges  Haar  und  einen  feinen  Teint  und  sagst 
immer  zu  mir:  lieber  Georg!  Aber  (er  deutet  ihr  auf 
Stirn  und  Augen)  da,  da,  was  liegt  hinter  dem:  Geh,  wir 
haben  grobe  Sinne.  Einander  kennen.^  Wir  müßten  uns 
die  Schädeldecken  aufbrechen  und  die  Gedanken  ein- 
ander „aus  den  Hirnfasern  zerren. — 

EINE  DAME  {zu  mrault).  Was  haben  Sie  nur  mit  Ihren 
Fingern  vor: 
HfiRAULT.  Nichts! 

DAME.  Schlagen  Sie  den  Daumen  nicht  so  ein,  es  ist 
nicht  zum  An  sehn! 

HßRAULT.  Sehn  Sie  nur,  das  Ding  hat  eine  ganz  eigne 
Physiognomie. — 

DANTON.  Nein,  Julie,  ich  liebe  dich  wie  das  Grab. 
JULIE  (sich  abwendend).  O! 

DANTON.  Nein,  höre!  Die  Leute  sagen,  im  Grab  sei 
Ruhe,  und  Grab  und  Ruhe  seien  eins.  Wenn  das  ist,  lieg 
ich  in  deinem  Schoß  schon  unter  der  Erde.  Du  süßes 
Grab,  deine  Lippen  sind  Totehglocken,  deine  Stimme  ist 
mein  Grabgeläute,  deine  Brust  mein  Grabhügel  und  dein 
Herz  mein  Sarg. — 
DAME.  Verloren! 


lo  DICHTUNGEN 

HfiRAULT.  Das  war  ein  verliebtes  Abenteuer,  es  kostet 
Geld  wie  alle  andern. 

DAME.  Dann  haben  Sie  Hire  Liebeserklärungen,  wie  ein 
Taubstummer,  mit  den  Fingern  gemacht. 
HßRAULT.  Ei,  warum  nicht.^  Man  will  sogar  behaupten, 
gerade  die  würden  am  leichtesten  verstanden. — Ich  zet- 
telte eine  Liebschaft  mit  einer  Kartenkönigin  an;  meine 
Finger  waren  in  Spinnen  verwandelte  Prinzen,  Sie,  Ma- 
dame, waren  die  Fee;  aber  es  ging  schlecht,  die  Dame 
lag  immer  in  den  Wochen,  jeden  Augenblick  bekam  sie 
einen  Buben.  Ich  würde  meine  Tochter  dergleichen  nicht 
spielen  lassen,  die  Hen-en  und  Damen  fallen  so  unanstän- 
dig übereinander  und  die  Buben  kommen  gleich  hintennach. 

Camille  Desmouli?ts  und  Philippe  au  treten  ein. 
HßRAULT.  Philippeau,  welch  trübe  Augen!  Hast  du  dir 
ein  Loch  in  die  rote  Mütze  gerissen?  Hat  der  heilige  Ja- 
kob ein  böses  Gesicht  gemacht?  Hat  es  während  des 
Guillotinierens  geregnet?  Oder  hast  du  einen  schlechten 
Platz  bekommen  und  nichts  sehen  können? 
CAMILLE.  Du  parodierst  den  Sokrates.  Weißt  du  auch, 
was  der  Göttliche  den  Alcibiades  fragte,  als  er  ihn  eines 
Tages  finster  und  niedergeschlagen  fand:  ''Hast  du r^' einen 
Schild  auf  dem  Schlachtfeld  verloren?  Bist  du  im  Wett- 
lauf  oder  im  Schwertkampf  besiegt  worden?  Hat  ein  and- 
rer besser  gesungen  oder  besser  die  Zither  geschlagen?" 
Welche  klassischen  Republikaner!  Nimm  einmal  unsere 
Guillotinenromantik  dagegen! 

PHILIPPEAU.  Heute  sind  wieder  zwanzig  Opfer  gefallen. 
Wir  waren  im  Irrtum,  man  hat  die  Hebertisten  nur  aufs 
Schafott  geschickt,  weil  sie  nicht  systematisch  genug  ver- 
fuhren, vielleicht  auch,  weil  die  Dezemvirn  sich  verloren 
glaubten,  wenn  es  nur  eine  Woche  Männer  gegeben  hätte, 
die  man  mehr  fürchtete  als  sie. 

HßRAULT.  Sie  möchten  uns  zu  Antediluvianern  machen. 
St.  Just  sah  es  nicht  ungern,  wenn  wir  wieder  auf  allen 
Vieren  kröchen,  damit  uns  der  Advokat  von  Arras  nach 
der  Mechanik  des  Genfer  Uhrmachers  Fallhütchen,  Schul- 
bänke und  einen  Herrgott  erfände. 


DANTONS  TOD.  ERSTER  AKT  ii 

PHILIPPEAU.  Sie  würden  sich  nicht  scheuen,  zu  dem 
Behuf  an  Marats  Rechnung  noch  einige  Nullen  zu  hängen. 
Wie  lange  sollen  wir  noch  schmutzig  und  blutig  sein  wie 
neugeborne  Kinder,  Särge  zur  Wiege  haben  und  mit  Köpfen 
spielen?  Wir  müssen  vorwärts:  der  Gnadenausschuß  muß 
durchgesetzt,  die  ausgestoßnen  Deputierten  müssen  wieder 
aufgenommen  werden! 

HERAULT.  Die  Revolution  ist  in  das  Stadium  der  Re- 
organisation gelangt. — Die  Revolution  muß  aufhören,  und 
die  Republik  muß  anfangen. — In  unsern  Staatsgrundsätzen 
muß  das  Recht  an  die  Stelle  der  Pflicht,  das  Wohlbefinden 
an  die  der  Tugend  und  die  Notwehr  an  die  der  Strafe 
treten.  Jeder  muß  sich  geltend  machen  und  seine  Natur 
durchsetzen  können.  Er  mag  nun  vernünftig  oder  unver- 
nünftig, gebildet  oder  ungebildet,  gut  oder  böse  sein,  das 
geht  den  Staat  nichts  an.  Wir  alle  sind  Narren,  es  hat 
keiner  das  Recht,  einem  andern  seine  eigentümliche  Narr- 
heit aufzudringen. — Jeder  muß  in  seiner  Art  genießen 
können,  jedoch  so,  daß  keiner  auf  Unkosten  eines  andern 
genießen  oder  ihn  in  seinem  eigentümlichen  Genuß  stö- 
ren darf. 

CAMILLE.  Die  Staatsform  muß  ein  durchsichtiges  Ge- 
wand sein,  das  sich  dicht  an  den  Leib  des  Volkes  schmiegt. 
Jedes  Schwellen  der  Adern,  jedes  Spannen  der  Muskeln, 
jedes  Zucken  der  Sehnen  muß  sich  darin  abdrücken.  Die 
Gestalt  mag  nun  schön  oder  häßlich  sein,  sie  hat  einmal 
das  Recht,  zu  sein^  wie  sie  ist;  wir  sind  nicht  berechtigt, 
ihr  ein  Röcklein  nach  Beheben  zuzuschneiden. — Wir  wer- 
den den  Leuten,  welche  über  die  nackten  Schultern  der 
allerliebsten  Sünderin  Frankreich  den  Nonnenschleier 
werfen  wollen,  auf  dieFinger  schlagen. — Wir  wollen  nackte 
Götter,  Bachantinnen,  olympische  Spiele  und  melodische 
Lippen;  ach,  die  gliederlösende,  böse  Liebe! — Wir  wollen 
den  Römern  nicht  verwehren,  sich  in  die  Ecke  zu  setzen 
und  Rüben  zu  kochen,  aber  sie  sollen  uns  keine  Gladiator - 
spiele  mehr  geben  wollen. — Der  göttliche  Epikur  und  die 
Venus  mit  dem  schönen  Hintern  müssen  statt  der  Heiligen 
Marat  und  Chalier  die  Türsteher  der  Republik  werden. — 
Danton,  du  wirst  den  Angriff  im  Konvent  machen! 


12  DICHTUNGEN 

DANTON.  Ich  werde,  du  wirst,  er  wird.  Wenn  wir  bis 
dahin  noch  leben!  sagen  die  alten  Weiber.  Nach  einer 
Stunde  werden  sechzig  Minuten  verflossen  sein.  Nicht 
wahr,  mein  Junge .^ 

CAMILLE.  Was  soll  das  hier:  Das  versteht  sich  von 
selbst. 

DANTON.   O,  es  versteht  sich  alles  von  selbst.  Wer  soll 
denn  all  die  schönen  Dinge  ins  Werk  setzen: 
PHILIPPEAU.   Wir  und  die  ehrlichen  Leute. 
DANTON.  Das  ''und"  dazwischen  ist  ein  langes  Wort, 
es  hält  uns  ein  wenig  weit  auseinander;  die  Strecke  ist 
lang,  die  Ehrlichkeit  verliert  den  Atem,  eh  wir  zusammen- 
kommen. Und  wenn  auch! — den  ehrlichen  Leuten  kann 
man  Geld  leihen,  man  kann  bei  ihnen  Gevatter  stehn  und 
seine  Töchter  an  sie  verheiraten,  aber  das  ist  alles! 
CAMILLE.   Wenn  du  das  weißt,  warum  hast  du  den  Kampf 
begonnen: 

DANTON.  Die  Leute  waren  mir  zuwider.  Ich  konnte  der- 
gleichen gespreizte  Katonen  nie  ansehn,  ohne  ihnen  einen 
Tritt  zu  geben.  Mein Natiu-ell ist  einmal  so.  [Er  erheb fsic/i.) 
JULIE.   Du  gehst: 

DANTON  [ZU  Julie).  Ich  muß  fort,  sie  reiben  mich  mit 
ihrer  Politik  noch  auf. — (/w  Hinausgehn-)  Zwischen  Tür 
und  Angel  will  ich  euch  prophezeien:  die  Statue  der  Frei- 
heit ist  noch  nicht  gegossen,  der  Ofen  glüht,  wir  alle 
können  uns  noch  die  Finger  dabei  verbrennen.  [Ab^ 
CAMILLE.  Laßt  ihn!  Glaubt  ihr,  er  könne  die  Finger 
davon  lassen,  wenn  es  zum  Handeln  kömmt: 
H^RAULT.  Ja,  aber  bloß  zum  Zeitvertreib,  wie  man 
Schach  spielt. 

EINE  GASSE 
Siinon\  sein  Weib. 
SIMON  (schlagt  das  JVeib).  Du  Kuppelpelz,  du  runzliche 
Sublimatpille,  du  wurmstichischer  Sündenapfel! 
WEIB.  He,  Hülfe!  Hülfe! 

Es  kommen  LEUTE  gelaufen:  Reißt  sie  auseinander,  reißt 
sie  auseinander! 


DANTONS  TOD.  ERSTER  AKT  1 3 

SIMON.  Nein,  laßt  mich,  Römer!  Zerschellen  will  ich 
dies  Geripp!   Du  Vestalin! 

WEIB.  Ich  eine  Vestalin:  Das  will  ich  sehen,  ich. 
SIMON.   So  reiß  ich  von  den  Schultern  dein  Gewand. 

Nackt  in  die  Sonne  schleudr'  ich  dann  dein  Aas. 
DuHurenbett,  in  jeder  Runzel  deines  Leibes  nistet  Unzucht. 
[Sie  werde?i  getrennt.) 
ERSTER  BÜRGER.  Was  gibt's? 

SIMON.  Wo  ist  die  Jungfrau?  Sprich!  Nein,  so  kann  ich 
nicht  sagen.  Das  Mädchen!  Nein,  auch  das  nicht.  Die 
Frau,  das  Weib!  Auch  das,  auch  das  nicht!  Niu:  noch  ein 
Name;  o,  der  erstickt  mich!  Ich  habe  keinen  Atem  dafür. 
ZWEITER  BÜRGER.  Das  ist  gut,  sonst  würde  der  Name 
nach  Schnaps  riechen. 

SIMON.  Alter  Virginius,  verhülle  dein  kahl[es]  Haupt— 
der  Rabe  Schande  sitzt  darauf  und  hackt  nach  deinen 
Augen.  Gebt  mir  ein  Messer,  Römer!  [Er  sinkt  inn.) 
WEIB.  Ach,  er  ist  sonst  ein  braver  Mann,  er  kann  nur 
nicht  viel  vertragen;  der  Schnaps  stellt  ihm  gleich  ein  Bein. 
ZWEITER  BÜRGER.  Dann  geht  er  mit  dreien. 
WEIB.   Nein,  er  fällt. 

ZWEITER  BÜRGER.  Richtig,  erst  geht  er  mit  dreien, 
und  dann  fällt  er  auf  das  dritte,  bis  das  dritte  selbst  wieder 
fällt. 

SIMON.  Du  bist  die  Vampirzunge,  die  mein  wärmstes 
Herzblut  trinkt. 

WEIB.  Laßt  ihn  nur,  das  ist  so  die  Zeit,  worin  er  immer 
gerührt  wird;  es  wird  sich  schon  geben. 
ERSTER  BÜRGER.  Was  gibt's  denn? 
WEIB.   Seht  ihr:  ich  saß  da  so  auf  dem  Stein  in  der  Sonne 
und  wärmte  mich,  seht  ihr — denn  wir  haben  kein  Holz, 
seht  ihr— 

ZWEITER  BÜRGER.   So  nimm  deines  Mannes  Nase. 
WEIB.  Und  meine  Tochter  war  da  hinuntergegangen  um 
die  Ecke — sie  ist  ein  braves  Mädchen  und  ernährt  ihre 
Eltern. 

SIMON.  Ha,  sie  bekennt! 

WEIB.  Du  Judas!  hättest  du  nur  ein  paar  Hosen  hinauf- 
zuziehen, wenn  die  jungen  Herren  die  Hosen  nicht  bei  ihr 


14  DICHTUNGEN 

herunterließen?  Du  Branntweinfaß,  willst  du  verdursten, 
wenn  das  Brünnlein  zu  laufen  aufhört,  he: — Wir  arbeiten 
mit  allen  Gliedern,  warum  denn  nicht  auch  damit;  ihre 
Mutter  hat  damit  geschafft,  wie  sie  zur  Welt  kam,  und  es 
hat  ihr  weh  getan;  kann  sie  für  ihre  Mutter  nicht  auch 
damit  schaffen,  he?  und  tut's  ihr  auch  weh  dabei,  he?  Du 
Dummkopf! 

SIMON.  Ha,  Lukretia!  ein  Messer,  gebt  mir  ein  Messer, 
Römer!  Ha,  Appius  Claudius! 

ERSTER  BÜRGER.  Ja,  ein  Messer,  aber  nicht  für  die 
arme  Hure!  Was  tat  sie?  Nichts!  Ihr  Hunger  hurt  und 
bettelt.  Ein  Messer  für  die  Leute,  die  das  Fleisch  unserer 
Weiber  und  Töchter  kaufen!  Weh  über  die,  so  mit  den 
Töchtern  des  Volkes  hm-en!  H-ir  habt  Kollern  im  Leib, 
und  sie  haben  Magendrücken;  ihr  habt  Löcher  in  den 
Jacken,  und  sie  haben  warme  Röcke;  ihr  habt  Schwielen 
in  den  Fäusten,  und  sie  haben  Samthände.  Ergo  ihr  ar- 
beitet, und  sie  tun  nichts;  ergo  ihr  habt's  erworben,  und 
sie  haben's  gestohlen;  ergo  wenn  ihr  von  eurem  gestohlnen 
Eigentum  ein  paar  Heller  wiederhaben  wollt,  müßt  ihr 
huren  und  bettlen;  ergo  sie  sind  Spitzbuben,  und  man  muß 
sie  totschlagen! 

DRITTER  BÜRGER.  Sie  haben  kein  Blut  in  den  Adern, 
als  was  sie  uns  ausgesaugt  haben.  Sie  haben  uns  gesagt: 
schlagt  die  Aristokraten  tot,  das  sind  Wölfe!  Wir  haben 
die  Aristokraten  an  die  Laternen  gehängt.  Sie  haben  ge- 
sagt: das  Veto  frißt  euer  Brot;  wir  haben  das  Veto  tot- 
geschlagen. Sie  haben  gesagt:  die  Girondisten  hungern 
euch  aus;  wir  haben  die  Girondisten  guillotiniert.  Aber 
sie  haben  die  Toten  ausgezogen,  und  wir  laufen  wie  zuvor 
auf  nackten  Beinen  und  frieren.  Wir  wollen  ihnen  die 
Haut  von  den  Schenkeln  ziehen  und  uns  Hosen  daraus 
machen,  wir  wollen  ihnen  das  Fett  auslassen  und  unsere 
Suppen  mit  schmelzen.  Fort!  Totgeschlagen,  wer  kein 
Loch  im  Rock  hat! 

ERSTER  BÜRGER.  Totgeschlagen,  wer  lesen  und  schrei- 
ben kann! 

ZWEITER  BÜRGER.  1  otgeschlagen,  wer  auswärts  geht! 
ALLE  (schreieii).  Totgeschlagen!  Totgeschlagen! 


DANTONS  TOD.   ERSTER  AKT  15 

Einige  schleppen  einen  jungen  Menschen  herbei. 
EINIGE  STIMMEN.  Er  hat  ein  Schnupftuch!  ein  Aristo- 
krat! an  die  Laterne!  an  die  Laterne! 
ZWEITER  BÜRGER.    Wasr  er  schneuzt  sich  die  Nase 
nicht  mit  den  Fingern?   An  die  Laterne!    {Eine  Laterne 
wird  heruntergelassen?^ 
JUNGER  MENSCH.  Ach,  meine  Herren! 
ZWEITER  BÜRGER.  Es  gibt  hier  keine  Herren!   An  die 
Laterne! 
EINIGE  singen-. 

Die  da  liegen  in  der  Erden, 

Von  de  Wurm  gefresse  werden; 

Besser  hangen  in  der  Luft, 

Als  verfaulen  in  der  Gruft! 
JUNGER  MENSCH.  Erbarmen! 

DRITTER  BÜRGER.  Nur  ein  Spielen  mit  einer  Hanf- 
locke um  den  Hals!  's  ist  nur  ein  Augenblick,  wir  sind 
barmherziger  als  ihr.  Unser  Leben  ist  der  Mord  diurch  Ar- 
beit; wir  hängen  sechzig  Jahre  lang  am  Strick  und  zapplen, 
aber  wir  werden  uns  losschneiden. — An  die  Laterne! 
JUNGER  MENSCH.  Meinetwegen,  ihr  werdet  deswegen 
nicht  heller  sehen. 

DIE  UMSTEHENDEN.  Bravo!  Bravo! 
EINIGE  STIMMEN.   Laßt  ihn  laufen!   (Er  entwischt) 

Robespierre  tritt  auf^  begleitet  von  Weibern  und  Ohnehosen. 
ROBESPIERRE.  Was  gibt's  da,  Bürger? 
DRITTER  BÜRGER.  Was  wird's  geben?  Die  paar  Tropfen 
Bluts  vom  August  und  September  haben  dem  Volk  die 
Backen  nicht  rot  gemacht.  Die  Guillotine  ist  zu  langsam. 
Wir  brauchen  einen  Platzregen! 

ERSTER  BÜRGER.  Unsere  Weiber  und  Kinder  schreien 
nach  Brot,  wir  wollen  sie  mit  Aristokratenfleisch  füttern. 
He!  totgeschlagen,  wer  kein  Loch  im  Rock  hat! 
ALLE.   Totgeschlagen!  Totgeschlagen! 
ROBESPIERRE.  Im  Namen  des  Gesetzes! 
ERSTER  BÜRGER.  Was  ist  das  Gesetz? 
ROBESPIERRE.   Der  Wille  des  Volks. 


i6  DICHTUNGEN 

ERSl'ER  BÜRGER.  Wir  sind  das  Volk,  und  wir  wollen, 
daß  kein  Gesetz  sei;  ergo  ist  dieser  Wille  das  Gesetz,  ergo 
im  Namen  des  Gesetzes  gibt's  kein  Gesetz  mehr,  ergo 
totgeschlagen! 

EINIGE  STIMMEN.  Hört  den  Aristides!  hört  den  Un- 
bestechlichen! 

EIN  WEIB.  Hört  den  Messias,  der  gesandt  ist,  zu  wählen 
und  zu  richten;  er  wird  die  Bösen  mit  der  Schärfe  des 
Schwertes  schlagen.  Seine  Augen  sind  die  Augen  der 
Wahl,  und  seine  Hände  sind  die  Hände  des  Gerichts! 
ROBESPIERRE.  Armes,  tugendhaftes  Volk!  Du  tust  deine 
Pflicht,  du  opferst  deine  Feinde.  Volk,  du  bist  groß!  Du 
offenbarst  dich  unter  Blitzstrahlen  und  Donnerschlägen. 
Aber,  Volk,  deine  Streiche  dürfen  deinen  eignen  Leib 
nicht  verwunden;  du  mordest  dich  selbst  in  deinem  Grimm. 
Du  kannst  nur  durch  deine  eigne  Kraft  fallen,  das  wissen 
deine  Feinde.  Deine  Gesetzgeber  wachen,  sie  werden  deine 
Hände  führen;  ihre  Augen  sind  untrügbar,  deine  Hände 
sind  unentrinnbar.  Kommt  mit  zu  den  Jakobinern!  Eure 
Brüder  werden  euch  ihre  Arme  öffnen,  wir  werden  ein 
Blutgericht  über  unsere  Feinde  halten. 
VIELE  STIMMEN.  Zu  den  Jakobinern!  Es  lebe  Robes- 
pierre! [Alle  ab.) 

SIMON.  Weh  mir,  verlassen!  [Er  versucht  sich  aufzic- 
richte7i.) 

WEIB.  Da!  {Sie  unterstützt  ihn.) 

SIMON.  Ach  meine  Baucis,  du  sammelst  Kohlen  auf  mein 
Haupt. 

WEIB.    Da  steh! 

SIMON.  Du  wendest  dich  ab:  Ha,  kannst  du  mir  ver- 
geben, Portiar  Schlug  ich  dich?  Das  war  nicht  meine 
Hand,  war  nicht  mein  Arm,  mein  Wahnsinn  tat  es. 

Sein  Wahnsinn  ist  des  ir,rmen  Hamlet  Feind. 

Hamlet  tat's  nicht,  Hamlet  verleugnet's. 
Wo  ist  unsre  Tochter,  wo  ist  mein  Sannchen? 
WEIB.   Dort  um  das  Eck  herum. 

SIMON.  Fort  zu  ihr!  Komm,  mein  tugendreich  Gemahl. 
[Beide  ab.) 


DANTONS  TOD.   ERSTER  AKT  1 7 

DER  JAKOBINERKLUB 
EIN  LYONER.  Die  Brüder  von  Lyon  senden  uns,  um  in 
eure  Brust  ihren  bittren  Unmut  auszuschütten.  Wir  wissen 
nicht,  ob  der  Karren,  auf  dem  Ronsin  zur  Guillotine  fulir, 
der  Totenwagen  der  Freiheit  war,  aber  wir  wissen,  daß 
seit  jenem  Tage  die  Mörder  Chaliers  wieder  so  fest  auf 
den  Boden  treten,  als  ob  es  kein  Grab  für  sie  gäbe.  Habt 
ihr  vergessen,  daß  Lyon  ein  Flecken  auf  dem  Boden  Frank- 
reichs ist,  den  man  mit  den  Gebeinen  der  Verräter  zu- 
decken muß?  Habt  ihr  vergessen,  daß  diese  Hure  der 
Könige  ihren  Aussatz  nur  in  dem  Wasser  der  Rhone  ab- 
waschen kann.-  Habt  ihr  vergessen,  daß  dieser  revolutio- 
näre Strom  die  Flotten  Pitts  im  Mittelmeere  auf  den  Lei- 
chen der  Aristokraten  muß  stranden  machen:  Eure  Barm- 
herzigkeit mordet  die  Revolution.  Der  Atemzug  eines 
Aristokraten  ist  das  Röcheln  der  Freiheit.  Nur  ein  Feig- 
ling stirbt  für  die  Republik,  ein  Jakobiner  tötet  für  sie. 
Wißt:  finden  wir  in  euch  nicht  mehr  die  Spannkraft  der 
^Männer  des  10.  August,  des  September  und  des  31.  Mai, 
so  bleibt  uns,  wie  dem  Patrioten  Gaillard,  nur  der  Dolch 
des  Kato.  [Beifall  und  verwirrtes  Geschrei.) 
EIN  JAKOBINER.  Wir  werden  den  Becher  des  Sokrates 
mit  euch  trinkenl 

LEGENDRE  [schwijigt  sich  auf  die  Tribüne).  Wir  haben 
nicht  nötig,  unsere  Blicke  auf  Lyon  zu  werfen.  Die  Leute, 
die  seidne  Kleider  tragen,  die  in  Kutschen  fahren,  die  in 
den  Logen  im  Theater  sitzen  und  nach  dem  Diktionär  der 
Akademie  sprechen,  tragen  seit  einigen  Tagen  die  Köpfe 
fest  auf  den  Schultern.  Sie  sind  witzig  und  sagen,  man 
müsse  Marat  und  Chalier  zu  einem  doppelten  Märt}Tertum 
verhelfen  und  sie  in  effigie  guillotinieren.  [Heftige  Be- 
wegung in  der  V^ersam7nlung.) 

EINIGE  STIMMEN.  Das  sind  tote  Leute,  ihre  Zunge 
guillotiniert  sie. 

LEGENDRE.   Das  Blut  dieser  Heiligen  komme  über  sie! 
Ich  firage  die  anwesenden  Mitglieder  des  Wohlfahrtsaus- 
schusses, seit  wann  ihre  Ohren  so  taub  geworden  sind — 
COLLOT  D"HERBOIS  [unterbricht  ihn).  Und  ich  fi-age 
dich,  Legendre.  wessen  Stimme  solchen  Gedanken  Atem 

EÜCHKER  2. 


i8  DICHTUNGEN 

gibt,  daß  sie  lebendig  werden  und  zu  sprechen  wagen? 
Es  ist  Zeit,  die  Masken  abzureißen.  Hört!  Die  Ursache 
verklagt  ihre  Wirkung,  der  Ruf  sein  Echo,  der  Grund  seine 
Folge.  Der  Wohlfahrtsausschuß  versteht  mehr  Logik, 
Legendre.  Sei  ruhig!  Die  Büsten  der  Heiligen  werden 
unberührt  bleiben,  sie  werden  wie  Medusenhäupter  die 
Verräter  in  Stein  verwandlen. 
ROBESPIERRE.  Ich  verlange  das  Wort. 
DIE  JAKOBINER.  Hört,  hört  den  Unbestechlichen! 
ROBESPIERRE.  Wir  warteten  nur  auf  den  Schrei  des 
Unwillens,  der  von  allen  Seiten  ertönt,  um  zu  sprechen. 
Unsere  Augen  waren  offen,  wir  sahen  den  Feind  sich  rüsten 
und  sich  erheben,  aber  wir  haben  das  Lärmzeichen  nicht 
gegeben;  wir  ließen  das  Volk  sich  selbst  bewachen,  es  hat 
nicht  geschlafen,  es  hat  an  die  Waffen  geschlagen.  Wir 
ließen  den  Feind  aus  seinem  Hinterhalt  hervorbrechen, 
wir  ließen  ihn  anrücken;  jetzt  steht  er  frei  und  ungedeckt 
in  der  Helle  des  Tages,  jeder  Streich  wird  ihn  treffen,  er 
ist  tot,  sobald  ihr  ihn  erblickt  habt. 
Ich  habe  es  euch  schon  einmal  gesagt:  in  zwei  Abteilungen, 
wie  in  zwei  Heereshaufen,  sind  die  inneren  Feinde  der 
Republik  zerfallen.  Unter  Bannern  von  verschiedener 
Farbe  und  auf  den  verschiedensten  Wegen  eilen  sie  alle 
dem  nämlichen  Ziele  zu.  Die  eine  dieser  Faktionen  ist 
nicht  mehr.  In  ihrem  affektierten  Wahnsinn  suchte  sie  die 
erprobtesten  Patrioten  als  abgenutzte  Schwächlinge  bei- 
seite zu  werfen,  um  die  Republik  ihrer  kräftigsten  Arme 
zu  berauben.  Sie  erklärte  der  Gottheit  und  dem  Eigentum 
den  Krieg,  um  eine  Diversion  zugunsten  der  Könige  zu 
machen.  Sie  parodierte  das  erhabne  Drama  der  Revolu- 
tion, um  dieselbe  durch  studierte  Ausschweifungen  bloß- 
zustellen. Heberts  Triumph  hätte  die  Republik  in  ein  Chaos 
verwandelt,  und  der  Despotismus  war  befriedigt.  Das 
Schwert  des  Gesetzes  hat  den  Verräter  getroffen.  Aber 
was  liegt  den  Fremden  daran,  wenn  ihnen  Verbrecher  einer 
anderen  Gattung  zur  Erreichung  des  nämlichen  Zwecks 
bleiben?  Wir  haben  nichts  getan,  wenn  wir  noch  eine  an- 
dere Faktion  zu  vernichten  haben. 
Sie  ist  das  Gegenteil  der  vorhergehenden.   Sie  treibt  uns 


DANTONS  TOD.  ERSTER  AKT  19 

zur  Schwäche,  ihr  Feldgeschrei  heißt:  Erbarmen!  Sie  will 
dem  Volk  seine  Waffen  mid  die  Kraft,  welche  die  Waffen 
führt,  entreißen,  um  es  nackt  und  entnervt  den  Königen 
zu  überantworten. 

Die  Waffe  der  Republik  ist  der  Schrecken,  die  Kraft  der 
Republik  ist  die  Tugend — die  Tugend,  weil  ohne  sie  der 
Schrecken  verderblich,  der  Schrecken,  weil  ohne  ihn  die 
Tugend  ohnmächtig  ist.  Der  Schrecken  ist  ein  Ausfluß 
der  Tugend,  er  ist  nichts  anders  als  die  schnelle,  strenge 
und  unbeugsame  Gerechtigkeit.  Sie  sagen,  der  Schrecken 
sei  die  Waffe  einer  despotischen  Regierung,  die  unsrige 
gliche  also  dem  Despotismus.  Freilich!  aber  so,  wie  das 
Schwert  in  den  Händen  eines  Freiheitshelden  dem  Säbel 
gleicht,  womit  der  Satellit  des  Tyrannen  bewaffnet  ist. 
Regiere  der  Despot  seine  tierähnlichen  Untertanen  durch 
den  Schrecken,  er  hat  recht  als  Despot;  zerschmettert 
durch  den  Schrecken  die  Feinde  der  Freiheit,  und  ihr  habt 
als  Stifter  der  Republik  nicht  minder  recht.  Die  Revo- 
lutionsregierung ist  der  Despotismus  der  Freiheit  gegen 
die  T}Tannei. 

Erbarmen  mit  den  Royalisten!  rufen  gewisse  Leute.  Er- 
barmen mit  Bösewichtern:  Nein!  Erbarmen  für  die  Un- 
schuld, Erbarmen  für  die  Schwäche,  Erbarmen  für  die  Un- 
glücklichen, Erbarmen  für  die  Menschheit!  Nur  dem  fried- 
lichen Bürger  gebührt  von  Seiten  der  Gesellschaft  Schutz. 
In  einer  Republik  sind  nur  Republikaner  Bürger,  Royalisten 
und  Fremde  sind  Feinde.  Die  Unterdrücker  der  Mensch- 
heit bestrafen,  ist  Gnade;  ihnen  verzeihen,  ist  Barbarei. 
Alle  Zeichen  einer  falschen  Empfindsamkeit  scheinen  mir 
Seufzer,  welche  nach  England  oder  nach  Ostreich  fliegen. 
Aber  nicht  zufrieden,  den  Arm  des  Volkes  zu  entwaffnen, 
sucht  man  noch  die  heiligsten  Quellen  seiner  Kraft  durch 
das  Laster  zu  vergiften.  Dies  ist  der  feinste,  gefährlichste 
und  abscheulichste  Angriff  auf  die  Freiheit.  Das  Laster  ist 
das  Kainszeichen  des  Aristokratismus.  In  einer  Republik 
ist  es  nicht  nur  ein  moralisches,  sondern  auch  ein  politi- 
sches Verbrechen;  der  Lasterhafte  ist  der  poHtische  Feind 
der  Freiheit,  er  ist  ihr  um  so  gefährlicher,  je  größer  die 
Dienste  sind,  die  er  ihr  scheinbar  erwiesen.   Der  gefähr- 


2  0  DICHTUNGEN 

lichste  Bürger  ist  derjenige,  welcher  leichter  ein  Dutzend 
rote  Mützen  verbraucht,  als  eine  gute  Handlung  voll- 
bringt. 

Ihr  werdet  mich  leicht  verstehen,  wenn  ihr  an  Leute  denkt, 
welche  sonst  in  Dachstuben  lebten  und  jetzt  in  Karossen 
fahren  und  mit  ehemaligen  Marquisinnen  und  Baronessen 
Unzucht  treiben.  Wir  dürfen  wohl  fragen:  ist  das  Volk 
geplündert, ,  oder  sind  die  Goldhände  der  Könige  gedrückt 
worden,  wenn  wir  Gesetzgeber  des  Volks  mit  allen  Lastern 
und  allem  Luxus  der  ehemaligen  Höfhnge  Parade  machen, 
wenn  wir  diese  Marquis  und  Grafen  der  Revolution  reiche 
Weiberheiraten,  üppige  Gastmähler  geben,  spielen,  Diener 
halten  und  kostbare  Kleider  tragen  sehen?  Wir  dürfen 
wohl  staunen,  wenn  wir  sie  Einfälle  haben,  Schöngeistern 
und  so  etwas  vom  guten  Ton  bekommen  hören.  Man  hat 
vor  kurzem  auf  eine  unverschämte  Weise  den  Tacitus  par- 
odiert, ich  könnte  mit  dem  Sallust  antworten  und  den 
Katilina  travestieren;  doch  ich  denke,  ich  habe  keine 
Striche  mehr  nötig,  die  Porträts  sind  fertig. 
Keinen  Vertrag,  keinen  Waffenstillstand  mit  den  Menschen, 
welche  niu:  auf  Ausplünderung  des  Volkes  bedacht  waren, 
welche  diese  Ausplünderung  ungestraft  zu  vollbringen  hoff- 
ten, für  welche  die  Republik  eine  Spekulation  und  die 
Revolution  ein  Handwerk  war!  In  Schrecken  gesetzt  durch 
den  reißenden  Strom  der  Beispiele,  suchen  sie  ganz  leise 
die  Gerechtigkeit  abzukühlen.  Man  sollte  glauben,  jeder 
sage  zu  sich  selbst:  '^Wir  sind  nicht  tugendhaft  genug, 
um  so  schrecklich  zu  sein.  Philosophische  Gesetzgeber, 
erbarmt  euch  unsrer  Schwäche!  Ich  wage  euch  nicht  zu 
sagen,  daß  ich  lasterhaft  bin;  ich  sage  euch  also  lieber: 
seid  nicht  grausam!" 

Beruhige  dich,  tugendhaftes  Volk,  beruliigt  euch,  ihr  Pa- 
trioten! sagt  euren  Brüdern  zu  Lyon:  das  Schwert  des 
Gesetzes  roste  nicht  in  den  Händen,  denen  ihr  es  an- 
vertraut habt! — Wir  werden  der  Republik  ein  großes  Bei- 
spiel geben.   [Allge?fieiner  Beifall.) 

VIELE  STIMMEN.  Es  lebe  die  Republik!  Es  lebe  Robes- 
pierre! 
PRÄSIDENT.   Die  Sitzung  ist  aufgehoben. 


DANTONS  TOD.   ERSTER  AKT  2 1 

EINE  GASSE 
Lacroix.  Legendre, 
LACROIX.   Was  hast  du  gemacht,  Legendre!   Weißt  du 
auch,  wem  du  mit  deinen  Büsten  den  Kopf  herimterwirfstr 
LEGENDRE.   Einigen  Stutzern  und  eleganten  Weibern, 
das  ist  alles. 

LACROIX.   Du  bist  ein  Selbstmörder,  ein  Schatten,  der 
sein  Original  und  somit  sich  selbst  ermordet, 
LEGENDRE.  Ich  begreife  nicht. 

LACROIX.  Ich  dächte,  Collot  hätte  deutlich  gesprochen. 
LEGENDRE.  Was  macht  das.'  Er  war  wieder  betrunken. 
LACROIX.  Narren,  Kinder  und — nun.' — Betrunkne  sagen 
die  Wahrheit.  Wen  glaubst  du  denn,  daß  Robespierre  mit 
dem  Katilina  gemeint  habe.' 
LEGENDRE.  Nun.- 

LACROIX.  Die  Sache  ist  einfach.  Man  hat  die  Atheisten 
und  Ultrarevolutionärs  aufs  Schafott  geschickt;  aber  dem 
Volk  ist  nicht  geholfen,  es  läuft  noch  barfuß  in  den  Gassen 
und  will  sich  aus  Aristokratenleder  Schuhe  machen.  Der 
Guillotinenthermometer  darf  nicht  fallen;  noch  einige 
Grade,  und  der  Wohlfahrtsausschuß  kann  sich  sein  Bett 
auf  dem  Revolutionsplatz  suchen. 

LEGENDRE.  Was  haben  damit  meine  Büsten  zu  schaf- 
fen: 

LACROIX.  Siehst  du's  noch  nicht:  Du  hast  die  Contre- 
revolution  offiziell  bekannt  gemacht,  du  hast  die  Dezemvirn 
zur  Energie  gezwmigen,  du  hast  ihnen  die  Hand  geführt. 
Das  Volk  ist  ein  Minotaurus,  der  wöchentlich  seine  Lei- 
chen haben  muß,  wenn  er  sie  nicht  auffressen  soll. 
LEGENDRE.   Wo  ist  Danton: 

LACROIX.  Was  weiß  ich!  Er  sucht  eben  die  mediceische 
Venus  stückweise  bei  allen  Grisetten  des  Palais -Royal 
zusammen;  er  macht  Mosaik,  wie  er  sagt.  Der  Himmel 
weiß,  bei  welchem  Glied  er  gerade  ist.  Es  ist  ein  Jam- 
mer, daß  die  Natur  die  Schönheit,  wie  Medea  ihren  Bru- 
der, zerstückt  und  sie  so  in  Fragmenten  in  die  Körper 
gesenkt  hat.— Gehn  wir  ins  Palais-Royal! 
[Beide  ab.) 


2  2  DICHTUNGEN 

EIN  ZIMMER 
Danton.  Marion. 
MARION.  Nein,  laß  mich!   So  zu  deinen  P'üßen.  Ich  will 
dir  erzählen. 

DANTON.  Du  könntest  deine  Lippen  besser  gebrauchen. 
MARION.  Nein,  laß  mich  einmal  so.  Meine  Mutter  war 
eine  kluge  Frau;  sie  sagte  mir  immer,  die  Keuschheit 
sei  eine  schöne  Tugend.  Wenn  Leute  ins  Haus  kamen 
und  von  manchen  Dingen  zu  sprechen  anfingen,  hieß 
sie  mich  aus  dem  Zimmer  gehn;  frug  ich,  was  die  Leute 
gewollt  hätten,  so  sagte  sie  mir,  ich  solle  mich  schämen; 
gab  sie  mir  ein  Buch  zu  lesen,  so  mußt  ich  fast  immer 
einige  Seiten  überschlagen.  Aber  die  Bibel  las  ich  nach 
Belieben,  da  war  alles  heilig;  aber  es  war  etwas  darin, 
was  ich  nicht  begriff.  Ich  mochte  auch  niemand  fragen, 
ich  brütete  über  mir  selbst.  Da  kam  der  Früliling;  es  ging 
überall  etwas  um  mich  vor,  woran  ich  keinen  Teil  hatte. 
Ich  geriet  in  eine  eigne  Atmosphäre,  sie  erstickte  mich 
fast.  Ich  betrachtete  meine  Glieder;  es  war  mir  manchmal, 
als  wäre  ich  doppelt  und  verschmölze  dann  wieder  in 
eins.  Ein  junger  Mensch  kam  zu  der  Zeit  ins  Haus;  er 
war  hübsch  und  sprach  oft  tolles  Zeug;  ich  wußte  nicht 
recht,  was  er  wollte,  aber  ich  mußte  lachen.  Meine  Mutter 
hieß  ihn  öfters  kommen,  das  war  uns  beiden  recht.  End- 
lich sahen  wir  nicht  ein,  warum  wir  nicht  ebensogut  zwi- 
schen zwei  Bettüchern  beieinander  liegen,  als  auf  zwei 
Stühlen  nebeneinander  sitzen  durften.  Ich  fand  dabei  mehr 
Vergnügen  als  bei  seiner  Unterhaltung  und  sah  nicht  ab, 
warum  man  mir  das  geringere  gewähren  und  das  größere 
entziehen  wollte.  Wir  taten's  heimlich.  Das  ging  so  fort. 
Aber  ich  wurde  wie  ein  Meer,  was  alles  verschlang  und 
sich  tiefer  und  tiefer  wühlte.  Es  war  für  mich  nur  ein 
Gegensatz  da,  alle  Männer  verschmolzen  in  einen  Leib. 
Meine  Natur  war  einmal  so,  wer  kann  da  drüber  hinaus? 
Endlich  merkt'  er's.  Er  kam  eines  Morgens  und  küßte  mich, 
als  wollte  er  mich  ersticken;  seine  Arme  schnürten  sich 
um  meinen  Hals,  ich  war  in  unsäglicher  Angst.  Da  ließ 
er  mich  los  und   lachte   und  sagte:   er  hätte  fast  einen 


DANTONS  TOI).   ERSTER  AKT  23 

dummen  Streich  gemacht;  ich  solle  mein  Kleid  nur  be- 
halten und  es  brauchen,  es  würde  sich  schon  von  selbst 
abtragen,  er  wolle  mir  den  Spaß  nicht  vor  der  Zeit  ver- 
derben, es  wäre  doch  das  einzige,  was  ich  hätte.  Dann 
ging  er;  kh  wußte  wieder  nicht,  was  er  wollte.  Den  Abend 
saß  ich  am  Fenster;  ich  bin  sehr  reizbar  und  hänge  mit 
allem  um  mich  nur  durch  eine  Empfindung  zusammen; 
ich  versank  in  die  Wellen  der  Abendröte.  Da  kam  ein 
Haufe  die  Straße  herab,  die  Kinder  liefen  voraus,  die 
Weiber  sahen  aus  den  Fenstern.  Ich  sah  hinunter:  sie 
trugen  ihn  in  einem  Korb  vorbei,  der  Mond  schien  auf 
seine  bleiche  Stirn,  seine  Locken  waren  feucht,  er  hatte 
sich  ersäuft.  Ich  mußte  weinen. — Das  war  der  einzige 
Bruch  in  meinem  Wesen.  Die  andern  Leute  haben  Sonn- 
und  Werktage,  sie  arbeiten  sechs  Tage  und  beten  am 
siebenten,  sie  sind  jedes  Jahr  auf  ihren  Geburtstag  ein- 
mal gerührt  und  denken  jedes  Jahr  auf  Neujahr  ein- 
mal nach.  Ich  begreife  nichts  davon:  ich  kenne  keinen 
Absatz,  keine  Veränderung.  Ich  bin  immer  nur  eins; 
ein  ununter brochn es  Sehnen  und  Fassen,  eine  Glut,  ein 
Strom.  Meine  Mutter  ist  vor  Gram  gestorben;  die  Leute 
weisen  mit  Fingern  auf  mich.  Das  ist  dumm.  Es  läuft 
auf  eins  hinaus,  an  was  man  seine  Freude  hat,  an  Lei- 
bern, Christusbildern,  Blumen  oder  Kinderspielsachen; 
es  ist  das  nämliche  Gefühl;  wer  am  meisten  genießt,  betet 
am  meisten. 

DANTON.  Warum  kann  ich  deine  Schönheit  nicht  ganz 
in  mich  fassen,  sie  nicht  ganz  umschließen? 
MARION.   Danton,  deine  Lippen  haben  Augen. 
DANTON.   Ich  möchte  ein  Teil  des  Äther  sein,  um  dich 
in  meiner  Flut  zu  baden,  um  mich  auf  jeder  W^lle  deines 
schönen  Leibes  zu  brechen. 

Lacroix^  Adelaide^  Rosalie  treten  ein. 
LACROIX  {hleiht  in  der  Tiir  stehn).  Ich  muß  lachen,  ich 
muß  lachen. 

DANTON  {unwillig).   Nun? 
LACROIX.   Die  Gasse  fällt  mir  ein. 
DANTON.   Und? 


2  4  DICHTUNGEN 

LACROIX.   Auf  der  Gasse  waren  Hunde,  eine  Dogge  und 
ein  Bologneser  Schoßhündlein,  die  quälten  sich. 
DANTON.  Was  soll  das? 

LACROIX.  Das  fiel  mir  nun  grade  so  ein,  und  da  mußt 
ich  lachen.  Es  sah  erbaulich  aus!  Die  Mädel  guckten  aus 
den  Fenstern;  man  sollte  vorsichtig  sein  und  sie  nicht 
einmal  in  der  Sonne  sitzen  lassen.  Die  Mücken  treiben's 
ihnen  sonst  auf  den  Händen;  das  macht  Gedanken. — Le- 
gendre  und  ich  sind  fast  durch  alle  Zellen  gelaufen,  die 
Nönnlein  von  der  Offenbarung  durch  das  Fleisch  hingen 
uns  an  den  Rockschößen  und  wollten  den  Segen.  Legendre 
gibt  einer  die  Disziplin,  aber  er  wird  einen  Monat  dafür 
zu  fasten  bekommen.  Da  bringe  ich  zwei  von  den  Prieste- 
rinnen mit  dem  Leib. 

MARION.  Guten  Tag,  Demoiselle  Adelaide!  guten  Tag, 
Demoiselle  Rosalie! 

ROSALIE.  Wir  hatten  schon  lange  nicht  das  Vergnügen. 
MARION.   Es  war  mir  recht  leid. 

ADELAIDE.  Ach  Gott,  wir  sind  Tag  und  Nacht  beschäftigt. 
DANTON  (zu  Rosalie).  Ei,  Kleine,  du  hast  ja  geschmei- 
dige Hüften  bekommen. 

ROSALIE.  Ach  ja,  man  vervollkommnet  sich  täglich. 
LACROIX.  Was  ist  der  Unterschied  zwischen  dem  an- 
tiken und  einem  modernen  Adonisr 
DANTON.  Und  Adelaide  ist  sittsam -interessant  gewor- 
den; eine  pikante  Abwechslung.  Ihr  Gesicht  sieht  aus  wie 
ein  Feigenblatt,  das  sie  sich  vor  den  ganzen  Leib  hält. 
So  ein  Feigenbaum  an  einer  so  gangbaren  Straße  gibt 
einen  erquicklichen  Schatten. 

ADELAIDE.  Ich  wäre  ein  Herdweg,  wenn  Monsieur . .  . 
DANTON.  Ich  verstehe;  nur  nicht  böse,  mein  Fräulein! 
LACROIX.  So  höre  doch!  Ein  moderner  Adonis  wird 
nicht  von  einem  Eber,  sondern  von  Säuen  zerrissen;  er 
bekommt  seine  Wunde  nicht  am  Schenkel,  sondern  in  den 
Leisten,  und  aus  seinem  Blut  sprießen  nicht  Rosen  her- 
vor, sondern  schießen  Quecksilberblüten  an. 
DANTON.  Fräulein  Rosalie  ist  ein  restaurierter  Torso, 
woran  niu:  die  Hüften  und  Füße  antik  sind.  Sie  ist  eine 
Magnetnadel:  was  der  Pol  Kopf  abstößt,  zieht  der  Pol  Fuß 


DANTONS  TOD.  ERSTER  AKT  25 

an;  die  Mitte  ist  ein  Äquator,  wo  jeder  eine  Sublimattaufe 
nötig  hat,  der  zum  erstenmal  die  Linie  passiert. 
LACROIX.  Zwei  barmherzige  Schwestern;  jede  dient  in 
einem  Spital,  d.  h.  in  ihrem  eignen  Körper, 
ROSALIE.  Schämen  Sie  sich,  unsere  Ohren  rot  zu  machen! 
ADELAIDE.   Sie  sollten  mehr  Lebensart  haben! 
(Adelaide  imd  Rosalie  ab.) 
DANTON.   Gute  Nacht,  ihr  hübschen  Kinder! 
LACROIX.   Gute  Nacht,  ihr  Quecksilbergruben! 
DANTON.   Sie  dauern  mich,  sie  kommen  um  ihr  Nacht- 
essen. 

LACROIX.  Höre,  Danton,  ich  komme  von  den  Jakobinern. 
DANTON.   Nichts  weiter: 

LACROIX.  Die  Lyoner  verlasen  eine  Proklamation;  sie 
meinten,  es  bliebe  ihnen  nichts  übrig,  als  sich  in  die  Toga 
zu  wickeln.  Jeder  machte  ein  Gesicht,  als  wollte  er  zu  sei- 
nem Nachbar  sagen:  Paetus,  es  schmerzt  nicht! — Legendre 
rief,  man  wolle  Chaliers  und  Marats  Büsten  zerschlagen. 
Ich  glaube,  er  will  sich  das  Gesicht  wieder  rot  machen; 
er  ist  ganz  aus  der  Terreur  herausgekommen,  die  Kinder 
zupfen  ihn  auf  der  Gasse  am  Rock. 
DANTON.  Und  Robespierre? 

LACROIX.  Fingerte  auf  der  Tribüne  und  sagte:  die  Tu- 
gend muß  durch  den  Schrecken  herrschen.  Die  Phrase 
machte  mir  Halsweh. 

DANTON.   Sie  hobelt  Bretter  für  die  Guillotine. 
LACROIX.  Und  Collot  schrie  wie  besessen,  man  müsse 
die  Masken  abreißen. 
DANTON.   Da  werden  die  Gesichter  mitgehen. 

o 

Paris  tritt  ein. 
LACROIX.  Was  gibt's,  Fabricius: 

PARIS.  Von  den  Jakobinern  weg  ging  ich  zu  Robespierre; 
ich  verlangte  eine  Erklärung.  Er  suchte  eine  Miene  zu 
machen  wie  Brutus,  der  seine  Söhne  opfert.  Er  sprach  im 
allgemeinen  von  den  Pflichten,  sagte:  der  Freiheit  gegen- 
über kenne  er  keine  Rücksicht,  er  würde  alles  opfern,  sich, 
seinen  Bruder,  seine  Freunde. 
DANTON.   Das  war  deutlich;  man  braucht  nur  die  Skala 


2  6  DICHTUNGEN 

herumzukehren,  so  steht  er  unten  und  hält  seinen  Freun- 
den die  Leiter.  Wir  sind  Legendre  Dank  schuldig,  er  hat 
sie  sprechen  gemacht. 

LACROIX.  Die  Hebertisten  sind  noch  nicht  tot,  das  Volk 
ist  materiell  elend,  das  ist  ein  furchtbarer  Hebel.  Die 
Schale  des  Blutes  darf  nicht  steigen,  wenn  sie  dem  Wohl- 
fahrtsausschuß nicht  zur  Laterne  werden  soll;  er  hat  Ballast 
nötig,  er  braucht  einen  schweren  Kopf. 
DANTON.  Ich  weiß  wohl— die  Revolution  ist  wie  Saturn, 
sie  frißt  ihre  eignen  Kinder.  [Nach  einige?n  Besmneni) 
Doch,  sie  werden's  nicht  wagen. 

LACROIX.  Danton,  du  bist  ein  toter  Heiliger;  aber  die 
Revolution  kennt  keine  Reliquien,  sie  hat  die  Gebeine 
aller  Könige  auf  die  Gasse  und  alle  Bildsäulen  von  den 
Kirchen  geworfen.  Glaubst  du,  man  würde  dich  als  Mo- 
nument stehen  lassen? 
DANTON.  Mein  Name!  das  Volk! 

LACROIX.  Dein  Name!  Du  bist  ein  Gemäßigter,  ich  bin 
einer,  Camille,  Philippeau,  H^rault.  Für  das  Volk  sind 
Schwäche  und  Mäßigung  eins;  es  schlägt  die  Nachzügler 
tot.  Die  Schneider  von  der  Sektion  der  roten  Mütze  wer- 
den die  ganze  römische  Geschichte  in  ihrer  Nadel  fühlen, 
wenn  der  Mann  des  September  ihnen  gegenüber  ein  Ge- 
mäßigter war. 

DANTON.  Sehr  wahr,  und  außerdem — das  Volk  ist  wie 
ein  Kind,  es  muß  alles  zerbrechen,  um  zu  sehen,  was  dar- 
in steckt. 

LACROIX.  Und  außerdem,  Danton,  sind  wir  lasterhaft, 
wie  Robespierre  sagt,  d.  h.  wir  genießen;  und  das  Volk 
ist  tugendhaft,  d.  h.  es  genießt  nicht,  weil  ihm  die  Arbeit 
die  Genußorgane  stumpf  macht,  es  besäuft  sich  nicht,  weil 
es  kein  Geld  hat,  und  es  geht  nicht  ins  Bordell,  weil  es 
nach  Käs  und  Hering  aus  dem  Hals  stinkt  und  die  Mädel 
davor  einen  Ekel  haben. 

DANTON.  Es  haßt  die  Genießenden  wie  ein  Eunuch  die 
Männer. 

LACROIX.  Man  nennt  uns  Spitzbuben,  und  (sich  zu  den 
Ohren  Dantons  neigend)  es  ist,  unter  uns  gesagt,  so  halb- 
wegs was  Wahres  dran.   Robespierre  und  das  Volk  werden 


DANTONS  TOD.   ERSTER  AKT  27 

tugendhaft  sein,  St.  Just  wird  einen  Roman  schreiben,  und 
Barere  wird  eine  Carmagnole  schneidern  und  dem  Kon- 
vent das  Blutmäntelchen  umhängen  und — ich  sehe  alles. 
DANTON.   Du  träumst.   Sie  hatten  nie  Mut  ohne  mich, 
sie  werden  keinen  gegen  mich  haben;  die  Revolution  ist 
noch  nicht  fertig,  sie  könnten  mich  noch  nötig  haben,  sie 
werden  mich  im  Arsenal  aufheben. 
LACROIX.   Wir  müssen  handeln. 
DANTON.   Das  wird  sich  finden. 

LACROIX.  Es  wird  sich  finden,  wenn  wir  verloren  sind. 
MARION  (zu  Danton).  Deine  Lippen  sind  kalt  geworden, 
deine  Worte  haben  deine  Küsse  erstickt. 
DANTON  (zu  Marion).  So  viel  Zeit  zu  verlieren!  Das 
war  der  Mühe  wert! — (Zu  Lacroix-.)  Morgen  geh  ich  zu 
Robespierre;  ich  werde  ihn  ärgern,  da  kann  er  nicht 
schweigen.  Morgen  also!  Gute  Nacht,  meine  Freunde, 
gute  Nacht!  ich  danke  euch! 

LACROIX.  Packt  euch,  meine  guten  Freunde,  packt  euch! 
Gute  Nacht,  Danton!  Die  Schenkel  der  Demoiselle  guillo- 
tinieren dich,  der  Mons  Veneris  wird  dein  tarpejischer 
Fels.  [Ab  [mit  Paris].) 

EIN  ZIMMER 

Robespierre.  Danton.  Paris. 
ROBESPIERRE.  Ich  sage  dir,  wer  mir  in  den  Arm  fällt, 
wenn  ich  das  Schwert  ziehe,  ist  mein  Feind— seine  Ab- 
sicht tut  nichts  zur  Sache;  wer  mich  verhindert,  mich  zu 
verteidigen,  tötet  mich  so  gut,  als  wenn  er  mich  angriffe. 
DANTON.  Wo  die  Notwehr  aufhört,  fängt  der  Mord  an; 
ich  sehe  keinen  Grund,  der  uns  länger  zum  Töten  zwänge. 
ROBESPIERRE.  Die  soziale  Revolution  ist  noch  nicht 
fertig;  wer  eine  Revolution  zur  Hälfte  vollendet,  gräbt 
sich  selbst  sein  Grab.  Die  gute  Gesellschaft  ist  noch  nicht 
tot,  die  gesunde  Volkskraft  muß  sich  an  die  Stelle  dieser 
nach  allen  Richtungen  abgekitzelten  Klasse  setzen.  Das 
Laster  muß  bestraft  werden,  die  Tugend  muß  durch  den 
Schrecken  herrschen. 
DANTON.  Ich  verstehe  das  Wort  Strafe  nicht.— Mit  deiner 


2  8  DICHTUNGEN 

Tugend,  Robespierre!  Du  hast  kein  Geld  genommen,  du 
hast  keine  Schulden  gemacht,  du  hast  bei  keinem  Weibe 
geschlafen,  du  hast  immer  einen  anständigen  Rock  ge- 
tragen und  dich  nie  betrunken.  Robespierre,  du  bist 
empörend  rechtschaffen.  Ich  würde  mich  schämen,  dreißig 
Jahre  lang  mit  der  nämlichen  Moralphysiognomie  zwischen 
Himmel  und  Erde  herumzulaufen  bloß  um  des  elenden  Ver- 
gnügens willen,  andre  schlechter  zu  finden  als  mich. — Ist 
denn  nichts  in  dir,  was  dir  nicht  manchmal  ganz  leise,  heim- 
lich sagte:  du  lügst,  du  lügst!? 
ROBESPIERRE.  Mein  Gewissen  ist  rein. 
DANTON.  Das  Gewissen  ist  ein  Spiegel,  vor  dem  ein 
Affe  sich  quält;  jeder  putzt  sich,  wie  er  kann,  und  geht 
auf  seine  eigne  Art  auf  seinen  Spaß  dabei  aus.  Das  ist 
der  Mühe  wert,  sich  darüber  in  den  Haaren  zu  liegen! 
Jeder  mag  sich  wehren,  wenn  ein  andrer  ihm  den  Spaß 
verdirbt.  Hast  du  das  Recht,  aus  der  Guillotine  einen 
Waschzuber  für  die  unreine  Wäsche  anderer  Leute  und  aus 
ihren  abgeschlagnen KöpfenFleckkugeln  für  ihre  schmutzi- 
gen Kleider  zu  machen,  weil  du  immer  einen  sauber  ge- 
bürsteten Rock  trägst?  Ja,  du  kannst  dich  wehren,  wenn 
sie  dir  drauf  spucken  oder  Löcher  hineinreißen;  aber  was 
geht  es  dich  an,  solang  sie  dich  in  Ruhe  lassen?  Wenn 
sie  sich  nicht  genieren,  so  herumzugehn,  hast  du  des- 
wegen das  Recht,  sie  ins  Grabloch  zu  sperren?  Bist  du 
der  Polizeisoldat  des  Himmels?  Und  kannst  du  es  nicht 
ebensogut  mitansehn  als  dein  lieber  Herrgott,  so  halte  dir 
dein  Schnupftuch  vor  die  Augen. 
ROBESPIERRE.  Du  leugnest  die  Tugend? 
DANTON.  Und  das  Laster.  Es  gibt  nur  Epikureer,  und 
zwar  grobe  und  feine,  Christus  war  der  feinste;  das  ist 
der  einzige  Unterschied,  den  ich  zwischen  den  Menschen 
herausbringen  kann.  Jeder  handelt  seiner  Natur  gemäß, 
d.  h.  er  tut,  was  ihm  wohl  tut. — Nicht  wahr.  Unbestech- 
licher, es  ist  grausam,  dir  die  Absätze  so  von  den  Schuhen 
zu  treten? 

ROBESPIERRE.    Danton,    das   Laster    ist   zu   gewissen 
Zeiten  Hochverrat. 
DANTON.  Du  darfst  es  nicht  proskribieren,  ums  Him- 


DANTONS  TOD.   ERSTER  AKT  29 

mels  willen  nicht,  das  wäre  undankbar;  du  bist  ihm  zu 
viel  schuldig,  durch  den  Kontrast  nämlich. — Übrigens,  um 
bei  deinen  Begriffen  zu  bleiben,  unsere  Streiche  müssen 
der  Republik  nützlich  sein,  man  darf  die  Unschuldigen 
nicht  mit  den  Schuldigen  treffen. 

ROBESPIERRE.  Wer  sagt  dir  denn,  daß  ein  Unschul- 
diger getroffen  worden  sei? 

DANTON.  Hörst  du,  Fabricius.^  Es  starb  kein  Unschul- 
diger! (Er  geht;  im  HinausgeJm  zu  Paris:)  Wir  dürfen 
keinen  Augenblick  verlieren,  wir  müssen  uns  zeigen! 
[Danton  und  Paris  ab.) 

ROBESPIERRE  {allein).  Geh  nur!  Er  will  die  Rosse  der 
Revolution  am  Bordell  halten  machen,  wie  ein  Kutscher 
seine  dressierten  Gäule;  sie  werden  Kraft  genug  haben, 
ihn  zum  Revolutionsplatz  zu  schleifen. 
Mir  die  Absätze  von  den  Schuhen  treten!  Um  bei  deinen 
Begriffen  zu  bleiben!— Halt!  Halt!  Ist's  das  eigentlich?— 
Sie  werden  sagen,  seine  gigantische  Gestalt  hätte  zu  viel 
Schatten  auf  mich  geworfen,  ich  hätte  ihn  deswegen  aus 
der  Sonne  gehen  heißen. — Und  wenn  sie  recht  hätten? — 
Ist's  denn  so  notwendig?  Ja,  ja!  dieRepublik!  Ermußweg. 
Es  ist  lächerlich,  wie  meine  Gedanken  einander  beauf- 
sichtigen.—Er  muß  weg.  Wer  in  einer  Masse,  die  vor- 
wärts drängt,  stehen  bleibt,  leistet  so  gut  Widerstand,  als 
trat  er  ihr  entgegen:  er  wird  zertreten. 
Wir  werden  das  Schiff  der  Revolution  nicht  auf  den  seich- 
ten Berechnungen  und  den  Schlammbänken  dieser  Leute 
stranden  lassen;  wir  müssen  die  Hand  abhauen,  die  es  zu 
halten  wagt— und  wenn  er  es  mit  den  Zähnen  packte! 
Weg  mit  einer  Gesellschaft,  die  der  toten  Aristokratie  die 
Kleider  ausgezogen  und  ihren  Aussatz  geerbt  hat! 
Keine  Tugend!  die  Tugend  ein  Absatz  meiner  Schuhe! 
Bei  meinen  Begriffen!— Wie  das  immer  wiederkommt.— 
Warum  kann  ich  den  Gedanken  nicht  loswerden?  Er  deutet 
mit  blutigem  Finger  immer  da,  da  hin!  Ich  mag  so  viel 
Lappen  darum  wickeln,  als  ich  will,  das  Blut  schlägt  immer 
6.mch..— [Nach  einer  Pause:)  Ich  weiß  nicht,  was  in  mir 
das  andere  belügt. 


30  DICHTUNGEN 

{Er  tritt  ans  Fenster^  Die  Nacht  schnarcht  über  der  Erde 
und  wälzt  sich  im  wüsten  Traum.  Gedanken,  Wünsche, 
kaum  geahnt,  wirr  und  gestaltlos,  die  scheu  sich  vor  des 
Tages  Licht  verkrochen,  empfangen  jetzt  Form  und  Ge- 
wand und  stehlen  sich  in  das  stille  Haus  des  Traums.  Sie 
öflfnen  die  Türen,  sie  sehen  aus  den  Fenstern,  sie  werden 
halbwegs  Fleisch,  die  Glieder  strecken  sich  im  Schlaf, 
die  Lippen  murmeln. — Und  ist  nicht  unser  Wachen  ein 
hellerer  Traum?  sind  wir  nicht  Nachtwandler.^  ist  nicht 
unser  Handeln  wie  das  im  Traum,  nur  deutlicher,  be- 
stimmter, durchgeführter?  Wer  will  uns  darum  schelten? 
In  einer  Stunde  verrichtet  der  Geist  mehr  Taten  des  Ge- 
dankens, als  der  träge  Organismus  unsres  Leibes  in  Jahren 
nachzutun  vermag.  Die  Sünde  ist  im  Gedanken.  Ob  der 
Gedanke  Tat  wird,  ob  ihn  der  Körper  nachspielt,  das  ist 
Zufall. 

St.  Just  tritt  ein. 
ROBESPIERRE.  He,werdaimFinstern?  He,  Licht,  Licht! 
ST.  JUST.   Kennst  du  meine  Stimme? 
ROBESPIERRE.   Ah  du,  St.  Just! 
(Eine  Dienerin  hingt  Licht.) 
ST.  JUST.   Warst  du  allein? 
ROBESPIERRE.   Eben  ging  Danton  weg. 
ST.  JUST.   Ich  traf  ihn  unterweges  im  Palais-Royal.   Er 
machte   seine   revolutionäre  Stirn   und   sprach  in  Epi- 
grammen; er  duzte  sich  mit  den  Ohnehosen,  die  Grisetten 
liefen  hinter  seinen  Waden  drein,  und  die  Leute  blieben 
stehn  und  zischelten  sich  in  die  Ohren,   was  er  gesagt 
hatte. — Wir  werden  den  Vorteil  des  Angriffs  verlieren. 
Willst  du  noch  länger  zaudern?    Wir  werden  ohne  dich 
handeln.    Wir  sind  entschlossen. 
ROBESPIERRE.  Was  wollt  ihr  tun? 
ST.  JUST.  Wir  berufen  den  Gesetzgebungs-,  den  Sicher - 
heits-  und  den  Wohlfahrtsauschuß  zu  feierlicher  Sitzung. 
ROBESPIERRE.  Viel  Umstände. 

ST.  JUST.  Wir  müssen  die  große  Leiche  mit  Anstand  be- 
graben, wie  Priester,  nicht  wie  Mörder;  wir  dürfen  sie  nicht 
verstümmeln,  all  ihre  Glieder  müssen  mit  hinunter. 


DANTONS  TOD.  ERSTER  AKT  31 

ROBESPIERRE.   Sprich  deutlicher! 
ST.  JUST.  Wir  müssen  ihn  in  seiner  vollen  Waffenrüstung 
beisetzen  und  seine  Pferde  und  Sklaven  auf  seinem  Grab- 
hügel schlachten:  Lacroix — 

ROBESPIERRE.  Ein  ausgemachter  Spitzbube,  gewesener 
Advokatenschreiber,    gegenwärtig    Generalleutnant    von 
Frankreich.  Weiter! 
ST.  JUST.  Herault-Sdchelles. 
ROBESPIERRE.   Ein  schöner  Kopf! 
Sl\  JUST.   Er  war  der  schöngemalte  Anfangsbuchstaben 
der  Konstitutionsakte;  wir  haben  dergleichen  Zierat  nicht 
mehr  nötig,   er  wird  ausgewischt. — Philippeau. — Camille. 
ROBESPIERRE.   Auch  der? 

ST.  JUST  {überreicht  ihm  ein  Papier).  Das  dacht  ich. 
Da  lies! 

ROBESPIERRE.  Aha,  "Der  alte  Franziskaner"!  Sonst 
nichts?  Er  ist  ein  Kind,  er  hat  über  euch  gelacht. 
ST.  JUST.  Lies  hier,  hier!  {Er  zeigt  ihm  eifie  Stelle.) 
ROBESPIERRE  {liest).  "Dieser  Glutmessias  Robespierre 
auf  seinem  Kalvarienberge  zwischen  den  beiden  Schachern 
Couthon  und  Collot,  auf  dem  er  opfert  und  nicht  geopfert 
wird.  Die  Guillotinen-Betschwestern.stehen  wie  Maria 
und  Magdalena  unten.  St.  Just  liegt  ihm  wie  Johannes  am 
Herzen  und  macht  den  Konvent  mit  den  apokalyptischen 
Offenbarungen  des  Meisters  bekannt;  er  trägt  seinen  Kopf 
wie  eine  Monstranz." 

ST.  JUST.  Ich  will  ihn  den  seinigen  wie  St.  Denis  tragen 
machen. 

ROBESPIERRE  {liest  weiter).  "Sollte  man  glauben,  daß 
der  saubre  Frack  des  Messias  das  Leichenhemd  Frank- 
reichs ist,  und  daß  seine  dünnen,  auf  der  Tribüne  herum - 
zuckenden  Finger  Guillotinenmesser  sind.^ — Und  du.  Ba- 
rere, der  du  gesagt  hast,  auf  dem  Revolutionsplatz  werde 
Münze  geschlagen!  Doch — ich  will  den  alten  Sack  nicht 
aufwühlen.  Er  ist  eine  Witwe,  die  schon  ein  halb  Dutzend 
Männer  hatte  und  sie  begraben  half.  Wer  kann  was  da- 
für? Das  ist  so  seine  Gabe,  er  sieht  den  Leuten  ein  halbes 
Jahr  vor  dem  Tode  das  hippokratische  Gesicht  an.  Wer  mag 
sich  auch  zu  Leichen  setzen  und  den  Gestank  riechen?" 


32  DICHTUNGEN 

Also  auch  du,  Camiller— Weg  mit  ihnen!  Rasch!  Nur  die 
Toten  kommen  nicht  wieder. 
Hast  du  die  Anklage  bereit? 

ST.  JUST.    Es   macht  sich  leicht.    Du  hast  die  Andeu- 
tungen bei  den  Jakobinern  gemacht. 
ROBESPIERRE.   Ich  wollte  sie  schrecken. 
ST.  JUST.   Ich  brauche  nur  diurchzuführen;   die  Fälscher 
geben  das  Ei  und  die  Fremden  den  Apfel  ab. — Sie  sterben 
an  der  Mahlzeit,  ich  gebe  dir  mein  Wort. 
ROBESPIERRE.    Dann  rasch,   morgen!    Keinen  langen 
Todeskampf!    Ich  bin  empfindlich  seit  einigen  Tagen. — 
Niu:  rasch!  [St.  Just  ab.) 

ROBESPIERRE  {allein).  Jawohl,  Blutmessias,  der  opfert 
und  nicht  geopfert  wird. — Er  hat  sie  mit  seinem  Blut  er- 
löst, und  ich  erlöse  sie  mit  ihrem  eignen.  Er  hat  sie  sün- 
digen gemacht,  und  ich  nehme  die  Sünde  auf  mich.  Er 
hatte  die  Wollust  des  Schmerzes,  und  ich  habe  die  Qual 
des  Henkers.  Wer  hat  sich  mehr  verleugnet,  ich  oder  er? — 
Und  doch  ist  was  von  Narrheit  in  dem  Gedanken. — Was 
sehen  wir  nur  immer  nach  dem  Einen?  Wahrlich,  der 
Menschensohn  wird  in  uns  allen  gekreuzigt,  wir  ringen 
alle  im  Gethsemanegarten  im  blutigen  Schweiß,  aber  es 
erlöst  keiner  den  andern  mit  seinen  Wunden. 
Mein  Camille! — Sie  gehen  alle  von  mir — es  ist  alles  wüst 
und  leer — ich  bin  allein. 


ZWEITER  AKT 

EIN  ZIMMER 
Danton^  Lacroix^  Philippeau^  Paris,  Cafnille  Desmouli?is. 
CAMILLE.   Rasch,  Danton,  wir  haben  keine  Zeit  zu  ver- 
lieren! 

DKHTON  (er  kleidet  sich  aii).  Aber  die  Zeit  verliert  uns. 
Das  ist  sehr  langweilig,  immer  das  Hemd  zuerst  und  dann 
die  Hosen  drüber  zu  ziehen  und  des  Abends  ins  Bett  und 
morgens  wieder  heraus  zu  kriechen  und  einen  Fuß  immer 


DANTONS  TOD.  ZWEITER  AKT  33 

so  vor  den  andern  zu  setzen;  da  ist  gar  kein  Absehen, 
wie  es  anders  werden  soll.  Das  ist  sehr  traurig,  und  daß 
Millionen  es  schon  so  gemacht  haben,  und  daß  Millionen 
es  wieder  so  machen  werden,  und  daß  wir  noch  oben- 
drein aus  zwei  Hälften  bestehen,  die  beide  das  nämliche 
tun,  so  daß  alles  doppelt  geschieht — das  ist  sehr  traurig. 
C AMILLE.  Du  sprichst  in  einem  ganz  kindischen  Ton. 
DANTON.  Sterbende  werden  oft  kindisch. 
LACROIX.  Du  stürzest  dich  durch  dein  Zögern  ins  Ver- 
derben, du  reißest  alle  deine  Freunde  mit  dir.  Benach- 
richtige die  Feiglinge,  daß  es  Zeit  ist,  sich  um  dich  zu 
versammeln,  fordere  sowohl  die  vom  Tale  als  die  vom 
Berge  auf!  Schreie  über  die  Tyrannei  der  Dezemvirn, 
sprich  von  Dolchen,  rufe  Brutus  an,  dann  wirst  du  die 
Tribünen  erschrecken  und  selbst  die  um  dich  sammeln, 
die  man  als  Mitschuldige  Heberts  bedroht!  Du  mußt  dich 
deinem  Zorn  überlassen.  Laßt  uns  wenigstens  nicht  ent- 
waffnet und  erniedrigt  wie  der  schändliche  Hebert  sterben! 
DANTON.  Du  hast  ein  schlechtes  Gedächtnis,  du  nann- 
test mich  einen  toten  Heiligen.  Du  hattest  mehr  Recht, 
als  du  selbst  glaubtest.  Ich  war  bei  den  Sektionen;  sie 
waren  ehrfurchtsvoll,  aber  wie  Leichenbitter.  Ich  bin 
eine  Reliquie,  und  Reliquien  wirft  man  auf  die  Gasse,  du 
hattest  recht. 

LACROIX.  Warum  hast  du  es  dazu  kommen  lassen? 
DANTON.  Dazu:  Ja  wahrhaftig,  es  war  mir  zuletzt  lang- 
weilig. Immer  im  nämlichen  Rock  herumzulaufen  und  die 
nämlichen  Falten  zu  ziehen!  Das  ist  erbärmlich.  So  ein 
armseliges  Instrument  zu  sein,  auf  dem  eine  Saite  immer 
nur  einen  Ton  angibt! — 's  ist  nicht  zum  Aushalten.  Ich 
wollte  mir's  bequem  machen.  Ich  hab  es  erreicht;  die 
Revolution  setzt  mich  in  Ruhe,  aber  auf  andere  Weise, 
als  ich  dachte. 

Übrigens,  auf  was  sich  stützen:  Unsere  Huren  könnten  es 
noch  mit  den  Guillotinen-Betschwestern  aufnehmen;  sonst 
weiß  ich  nichts.  Es  läßt  sich  an  den  Fingern  herzählen: 
die  Jakobiner  haben  erklärt,  daß  die  Tugend  an  der  Tages- 
ordnung sei,  die  Cordeliers  nennen  mich  Heberts  Henker, 
der  Gemeinderat  tut  Buße,  der  Konvent— das  wäre  noch 

BÜCHNER  3. 


34  DICHTUNGEN 

ein  Mittel!  aber  es  gäbe  einen  31.  Mai,  sie  würden  nicht 
gutwillig  weichen.  Robespierre  ist  das  Dogma  der  Revo- 
lution, es  darf  nicht  ausgestrichen  werden.  Es  ginge  auch 
nicht.  Wir  haben  nicht  die  Revolution,  sondern  die  Re- 
volution hat  uns  gemacht. 

Und  wenn  es  ginge — ich  will  lieber  guillotiniert  werden 
als  guillotinieren  lassen.  Ich  hab  es  satt;  wozu  sollen  wir 
Menschen  miteinander  kämpfen:  Wir  sollten  uns  neben- 
einander setzen  und  Ruhe  haben.  Es  wurde  ein  Fehler 
gemacht,  wie  wir  geschaffen  wurden;  es  fehlt  uns  was,  ich 
habe  keinen  Namen  dafür — aber  wir  werden  es  uns  ein- 
ander nicht  aus  den  Eingeweiden  herauswühlen,  was  sollen 
wir  uns  drum  die  Leiber  aufbrechen?  Geht,  wir  sind 
elende  Alchymisten! 

CAMILLE.  Pathetischer  gesagt  würde  es  heißen:  wie  lange 
soll  die  Menschheit  in  ewigem  Hunger  ihre  eignen  Glie- 
der fressen?  oder:  wie  lange  sollen  wir  Schiffbrüchige 
auf  einem  Wrack  in  unlöschbarem  Durst  einander  das 
Blut  aus  den  Adern  saugen?  oder:  wie  lange  sollen  wir 
Algebraisten  im  Fleisch  beim  Suchen  nach  dem  unbe- 
kannten, ewig  verweigerten  X  unsere  Rechnungen  mit 
zerfetzten  Gliedern  schreiben? 
DANTON.  Du  bist  ein  starkes  Echo. 
CAMILLE.  Nicht  wahr,  ein  Pistolenschuß  schallt  gleich 
wie  ein  Donnerschlag.  Desto  besser  für  dich,  du  solltest 
mich  immer  bei  dir  haben. 

PHILIPPEAU.  Und  Frankreich  bleibt  seinen  Henkern? 
DANTON.  Was  liegt  daran?  Die  Leute  befinden  sich  ganz 
wohl  dabei.  Sie  haben  Unglück;  kann  man  mehr  verlangen, 
um  gerührt,  edel,  tugendhaft  oder  witzig  zu  sein,  oder  um 
überhaupt  keine  Langeweile  zu  haben? — Ob  sie  nun  an 
der  Guillotine  oder  am  Fieber  oder  am  Alter  sterben!  Es 
ist  noch  vorzuziehen,  sie  treten  mit  gelenken  Gliedern 
hinter  die  Kulissen  und  können  im  Abgehen  noch  hübsch 
gestikulieren  und  die  Zuschauer  klatschen  hören.  Das  ist 
ganz  artig  und  paßt  für  uns;  wir  stehen  immer  auf  dem 
Theater,  wenn  wir  auch  zuletzt  im  Ernst  erstochen  werden. 
Es  ist  recht  gut,  daß  die  Lebenszeit  ein  wenig  reduziert 
wird;  der  Rock  war  zu  lang,  unsere  Glieder  konnten  ihn 


DANTONS  TOD.  ZWEITER  AKT  35 

nicht  ausfüllen.  Das  Leben  wird  ein  Epigramm,  das  geht 
an;  wer  hat  auch  Atem  und  Geist  genug  für  ein  Epos  in 
fünfzig  oder  sechzig  Gesängen?  's  ist  Zeit,  daß  man  das 
bißchen  Essenz  nicht  mehr  aus  Zubern,  sondern  aus  Likör- 
gläschen trinkt;  so  bekommt  man  doch  das  Maul  voll,  sonst 
konnte  man  kaum  einige  Tropfen  in  dem  plumpen  Gefäß 
zusammenrinnen  machen. 

Endlich — ich  müßte  schreien;   das  ist  mir  der  Mühe  zu 
viel,  das  Leben  ist  nicht  die  Arbeit  wert,  die  man  sich 
macht,  es  zu  erhalten. 
PARIS.   So  flieh,  Danton! 

DANTON.  Nimmt  man  das  Vaterland  an  den  Schuh- 
sohlen mit? 

Und  endlich — und  das  ist  die  Hauptsache:,  sie  werden's 
nicht  wagen.  (Zu  Camilie:)  Komm,  mein  Junge;  ich  sage 
dir,  sie  werden's  nicht  wagen.  Adieu,  adieu! 
(Danton  und  Cmnille  ab.) 

PHILIPPEAU.   Da  geht  er  hin. 

LACROIX.   Und  glaubt  kein  Wort  von  dem,  was  er  ge- 
sagt hat.    Nichts  als  Faulheit!    Er  will  sich  lieber  guillo- 
tinieren lassen  als  eine  Rede  halten. 
PARIS.   Was  tun? 

LACROIX.  Heimgehn  und  als  Lukretia  auf  einen  an- 
ständigen Fall  studieren. 


EINE  PROMENADE 

Spaziergänger. 
EIN  BÜRGER.  Meine  gute  Jacqueline— ich  wollte  sagen 
Korn  .  .  .  wollt  ich:  Kor  .  .  . 
SIMON.  Kornelia,  Bürger,  Kornelia. 
BÜRGER.     Meine  gute  Kornelia   hat  mich  mit  einem 
Knäblein  erfreut. 

SIMON.  Hat  der  Republik  einen  Sohn  geboren. 
BÜRGER.    Der  Republik,  das  lautet  zu  allgemein;  man 
könnte  sagen  .  .  . 

SIMON.  Das  ist's   gerade,   das  Einzelne  muß  sich  dem 
Allgemeinen  .  .  . 


S6  DICHTUNGEN 

BÜRGER.  Ach  ja,  das  sagt  meine  Erau  auch. 
BÄNKELSÄNGER  (smg^). 

Was  doch  ist,  was  doch  ist 
Aller  Männer  Freud  und  Lust: 
BÜRGER.   Ach,  mit  den  Namen,  da  komm  ich  gar  nicht 
ins  reine. 

SIMON.   Tauf  ihn  Pike,  Marat! 
BÄNKELSÄNGER. 

Unter  Kummer,  unter  Sorgen 
Sich  bemühn  vom  frühen  Morgen, 
Bis  der  Tag  vorüber  ist. 
BÜRGER.  Ich  hätte  gern  drei — es  ist  doch  was  mit  der 
Zahl  Drei — und  dann  was  Nützliches  und  was  Rechtliches; 
jetzt  hab  ich's:  Pflug,  Robespierre.   Und  dann  das  dritter 
SIMON.  Pike. 

BÜRGER.  Ich  dank  Euch,  Nachbar;  Pike,  Pflug,  Robes- 
pierre, das  sind  hübsche  Namen,  das  macht  sich  schön. 
SIMON.  Ich  sage  dir,  die  Brust  deiner  Kornelia  wird 
wie  das  Euter  der  römischen  Wölfin — nein,  das  geht  nicht: 
Romulus  war  ein  Tyrann,  das  geht  nicht.   (Gehn  vorbei^ 

EIN  BETTLER  (singt).    ''Eine  Handvoll  Erde  und  ein 
wenig  Moos  ..."   Liebe  Herren,  schöne  Damen! 
ERSTER  HERR.    Kerl,   arbeite,  du  siehst  ganz  wohl- 
genährt aus! 

ZWEITER  HERR.   Da!   (Er  gibt  ihm  Geld)  Er  hat  eine 
Hand  wie  Sammet.  Das  ist  unverschämt. 
BETTLER.  Mein  Herr,  wo  habt  Ihr  Euren  Rock  herr 
ZWEITER  HERR.  Arbeit,  Arbeit!  Du  könntest  den  näm- 
lichen haben;  ich  will  dir  Arbeit  geben,   komm  zu  mir, 
ich  wohne  .  .  . 

BETTLER.   Herr,  warum  habt  Ihr  gearbeitet? 
ZWEITER  HERR.   Narr,  um  den  Rock  zu  haben. 
BETTLER.    Ihr  habt  Euch  gequält,  um  einen  Genuß  zu 
haben;  denn  so  ein  Rock  ist  ein  Genuß,  ein  Lumpen  tut's 
auch. 

ZWEITER  HERR.  Freilich,  sonst  geht's  nicht. 
BETTLER.  Daß  ich  ein  Narr  wäre.    Das  hebt  einander. 


DANTONS  TOD.   ZWEITER  AKT  37 

Die  Sonne  scheint  warm  an  das  Eck,  und  das  geht  ganz 
leicht.  (Singf:)  '^Eine  Handvoll  Erde  und  ein  wenig 
Moos  .  .  ." 

ROSALIE  (zi/.  Adelaiden).  Mach  fort,  da  kommen  Sol- 
daten! Wir  haben  seit  gestern  nichts  Warmes  in  den  Leib 
gekriegt. 

BETTLER.  ''Ist  auf  dieser  Erde  einst  mein  letztes  Los!'' 
Meine  Herren,  meine  Damen! 


SOLDAT.  Halt!  Wo  hinaus,  meine  Kinder.^  (Zu  Rosalie:) 

Wie  alt  bist  du: 

ROSALIE.   So  alt  wie  mein  kleiner  Finger. 

SOLDAT.   Du  bist  sehr  spitz. 

ROSALIE.   Und  du  sehr  stumpf. 

SOLDAT.   So  will  ich  mich  an  dir  wetzen. 

[Er  singt:)  Christinlein,  lieb  Christinlein  mein, 

Tut  dir  der  Schaden  weh,  Schaden  weh, 

Schaden  weh,  Schaden  weh: 
ROSALIE  {singt). 

Ach  nein,  ihr  Herrn  Soldaten, 

Ich  hätt  es  gerne  meh,  gerne  meh. 

Gerne  meh,  gerne  meh! 

Danton  und^Cafnilk  treten  auf. 
DANTON.  Geht  das  nicht  lustig.-— Ich  wittre  was  in  der 
Atmosphäre;  es  ist,  als  brüte  die  Sonne  Unzucht  aus.— 
Möchte  man  nicht  drunter  springen,  sich  die  Hosen  vom 
Leibe  reißen  und  sich  über  den  Hintern  begatten  wie  die 
Hunde  auf  der  Gasse?   {Gehn  vorbei.) 

JUNGER  HERR.  Ach,  Madame,  der  Ton  einer  Glocke, 
das  Abendlicht  an  den  Bäumen,  das  Blinken  eines 
Sterns  .  .  . 

MADAME.    Der  Duft  einer  Blume!    Diese   natürlichen 
Freuden,  dieser  reine  Genuß  der  Natur!  (Zu  ihrer  Toch- 
ter-}^ Sieh,  Eugenie,  nur  die  Tugend  hat  Augen  dafür. 
EUGENIE  (küßt  ihrer  Mutter  die  Hand).    Ach,  Mama, 
ich  sehe  niu*  Sie. 
MADAME.   Gutes  Kind! 


38  DICHTUNGEN 

JUNGER  HERR  (zischelt  Eugenien  ins  Ohr),    Sehen  Sie 
dort  die  hübsche  Dame  mit  dem  alten  Herrn? 
EUGENIE.  Ich  kenne  sie. 

JUNGER  HERR.  Man  sagt,  ihr  Friseur  habe  sie  ä  l'en- 
fant  frisiert. 

EUGENIE  (lacht).  Böse  Zunge! 

JUNGER  HERR.  Der  alte  Herr  geht  nebenbei;  er  sieht 
das  Knöspchen  schwellen  und  führt  es  in  die  Sonne  spa- 
zieren und  meint,  er  sei  der  Gewitterregen,  der  es  habe 
wachsen  machen. 

EUGENIE.    Wie   unanständig!    Ich  hätte   Lust,   rot   zu 
werden. 
JUNGER  HERR.  Das  könnte  mich  blaß  machen.  \Gehnab?^ 

DANTON  (zu  Camille).  Mute  mir  nur  nichts  Ernsthaftes 
zu!  Ich  begreife  nicht,  warum  die  Leute  nicht  auf  der 
Gasse  stehen  bleiben  und  einander  ins  Gesicht  lachen. 
Ich  meine,  sie  müßten  zu  den  Fenstern  und  zu  den  Gräbern 
herauslachen,  und  der  Himmel  müsse  bersten,  und  die 
Erde  müsse  sich  wälzen  vor  Lachen.   (Gehn  ab.) 

ERSTER  HERR.    Ich  versichre  Sie,  eine  außerordent- 
liche Entdeckung!    Alle  technischen  Künste  bekommen 
dadurch  eine  andere  Physiognomie.    Die  Menschheit  eilt 
mit  Riesenschritten  ihrer  hohen  Bestimmung  entgegen. 
ZWEITER  HERR.  Haben  Sie  das  neue  Stück  gesehen: 
Ein   babylonischer   Tium!    Ein   Gewirr  von  Gewölben, 
Treppchen,  Gängen,  und  das  alles  so  leicht  und  kühn  in 
die  Luft  gesprengt.  Man  schwindelt  bei  jedem  Tritt.   Ein 
bizarrer  Kopfl  (Er  bleibt  verlege?!  steh?i.) 
ERSTER  HERR.   Was  haben  Sie  denn? 
ZWEITER  HERR.    Ach,  nichts!    Ihre  Hand,   Herr!  die 
Pfütze — so!   Ich  danke  Ihnen.   Kaum  kam  ich  vorbei;  das 
konnte  gefährlich  werden! 
ERSTER  HERR.    Sie  fürchteten  doch  nicht? 
ZWEITER  HERR.   Ja,  die  Erde  ist  eine  dünne  Kruste; 
ich  meine  immer,  ich  könnte  durchfallen,  wo  so  ein  Loch 
ist. — Man  muß  mit  Vorsicht  auftreten,  man  könnte  durch- 
brechen.  Aber  gehn  Sie  ins  Theater,  ich  rat  es  Ihnen! 


DANTONS  TOD.  ZWEITER  AKT  39 

EIN  ZIMMER 

D mit 071.  Caviille.  Lucile, 
CAMILLE.  Ich  sage  Euch,  wenn  sie  nicht  alles  in  höl- 
zernen Kopien  bekommen,  verzettelt  in  Theatern,  Kon- 
zerten und  Kunstausstellungen,  so  haben  sie  weder  Augen 
noch  Ohren  dafür.  Schnitzt  einer  eine  Marionette,  wo  man 
den  Strick  hereinhängen  sieht,  an  dem  sie  gezerrt  wird 
und  deren  Gelenke  bei  jedem  Schritt  in  fünffüßigen  Jamben 
krachen — welch  ein  Charakter,  welche  Konsequenz!  Nimmt 
einer  ein  Gefühlchen,  eine  Sentenz,  einen  Begriff,  und  zieht 
ihm  Rock  und  Hosen  an,  macht  ihm  Hände  und  Füße, 
färbt  ihm  das  Gesicht  und  läßt  das  Ding  sich  drei  Akte 
hindurch  herumquälen,  bis  es  sich  zuletzt  verheiratet  oder 
sich  totschießt — ein  Ideal!  Fiedelt  einer  eine  Oper,  welche 
das  Schweben  und  Senken  im  menschlichen  Gemüt  wieder- 
gibt wie  eine  Tonpfeife  mit  Wasser  die  Nachtigall — ach, 
die  Kunst! 

Setzt  die  Leute  aus  dem  Theater  auf  die  Gasse:  die  er- 
bärmliche Wirklichkeit!  —  Sie  vergessen  ihren  Herrgott 
über  seinen  schlechten  Kopisten.  Von  der  Schöpfung,  die 
glühend,  brausend  und  leuchtend,  um  und  in  ihnen,  sich 
jeden  Augenblick  neu  gebiert,  hören  und  sehen  sie  nichts. 
Sie  gehen  ins  Theater,  lesen  Gedichte  und  Romane, 
schneiden  den  Fratzen  darin  die  Gesichter  nach  und  sagen 
zu  Gottes  Geschöpfen:  wie  gewöhnlich! — Die  Griechen 
wußten,  was  sie  sagten,  wenn  sie  erzählten,  Pygmalions 
Statue  sei  wohl  lebendig  geworden,  habe  aber  keine  Kin- 
der bekommen. 

DANTON.   Und  die  Künstler  gehn  mit  der  Natur  um  wie 
David,  der  im  September  die  Gemordeten,  wie  sie  aus  der 
Force  auf  die  Gasse  geworfen  wurden,  kaltblütig  zeichnete 
und  sagte:  ich  erhasche  die  letzten  Zuckungen  des  Lebens 
in  diesen  Bösewichtern.   (Danton  wird  hinaus ge ruf e?!.) 
CAMILLE.  Was  sagst  du,  Lucile: 
LUCILE.   Nichts,  ich  seh  dich  so  gern  sprechen. 
CAMILLE.  Hörst  mich  auch: 
LUCILE.   Ei  freilich! 

CAMILLE.  Hab  ich  recht:  Weißt  du  auch,  was  ich  ge- 
sagt habe: 


40  DICHTUNGEN 

LUCILE.  Nein,  wahrhaftig  nicht.  (Danton  kömmt  zu- 
7ikk.) 

CAMILLE.  Was  hast  du? 

DANTON.  Der  Wohlfahrtsausschuß  hat  meine  Verhaf- 
tung beschlossen.  Man  hat  mich  gewarnt  und  mir  einen 
Zufluchtsort  angeboten. 

Sie  wollen  meinen  Kopf;  meinetwegen.  Ich  bin  der  Hude- 
leien überdrüssig.  Mögen  sie  ihn  nehmen.  Was  liegt  daran? 
Ich  werde  mit  Mut  zu  sterben  wissen;  das  ist  leichter,  als 
zu  leben. 

CAMILLE.   Danton,  noch  ist's  Zeit! 
DANTON.   Unmöglich — aber  ich  hätte  nicht  gedacht  .  .  . 
CAMILLE.   Deine  Trägheit! 

DANTON.  Ich  bin  nicht  trag,  aber  müde;  meine  Sohlen 
brennen  mich. 

CAMILLE.  Wo  gehst  du  hin? 
DANTON.  Ja,  wer  das  wüßte! 
CAMILLE.  Im  Ernst,  wohin? 

DANTON.   Spazieren,  mein  Junge,  spazieren,   {ßr  gelit.) 
LUCILE.   Ach,  Camille! 
CAMILLE.   Sei  ruhig,  lieb  Kind! 

LUCILE.  Wenn  ich  denke,  daß  sie  dies  Haupt — !  Mein 
Camille!  das  ist  Unsinn,  gelt,  ich  bin  wahnsinnig? 
CAMILLE.   Sei  ruhig,  Danton  und  ich  sind  nicht  eins. 
LUCILE.   Die  Erde  ist  weit,  und  es  sind  viel  Dinge  drauf 
— warum  denn  gerade  das  eine?  Wer  sollte  mir's  nehmen? 
Das  wäre  arg.   Was  wollten  sie  auch  damit  anfangen? 
CAMILLE.    Ich  wiederhole  dir:  du  kannst  ruhig  sein. 
Gestern  sprach  ich  mit  Robespierre:  er  war  freundlich. 
Wir  sind  ein  wenig  gespannt,  das  ist  wahr;  verschiedne 
Ansichten,  sonst  nichts! 
LUCILE.   Such  ihn  auf! 

CAMILLE.  Wir  saßen  auf  einer  Schulbank.  Er  war 
immer  finster  und  einsam.  Ich  allein  suchte  ihn  auf  und 
machte  ihn  zuweilen  lachen.  Er  hat  mir  immer  große  An- 
hänglichkeit gezeigt.  Ich  gehe. 

LUCILE.  So  schnell,  mein  Freund?  Geh!  Komm!  Nur 
das  (sie  küßt  ihr)  und  das!   Geh!   Geh!  (Cmni/le  ab.) 


DANTONS  TOD.  ZWEITER  AKT  41 

Das  ist  eine  böse  Zeit.   Es  geht  einmal  so.   Wer  kann  da 

drüber  hinaus?  Man  muß  sich  fassen. 

(Swgt-?j  Ach  Scheiden,  ach  Scheiden,  ach  Scheiden, 

Wer  hat  sich  das  Scheiden  erdacht? 
Wie  kommt  mir  grad  das  in  Kopf?  Das  ist  nicht  gut,  daß 
es  den  Weg  so  von  selbst  findet. — Wie  er  hinaus  ist,  war 
mir's,  als  könnte  er  nicht  mehr  umkehren  und  müsse 
immer  weiter  weg  von  mir,  immer  weiter. 
Wie  das  Zimmer  so  leer  ist;  die  Fenster  stehn  offen,  als 
hätte  ein  Toter  drin  gelegen.  Ich  halt  es  da  oben  nicht 
aus.  [Sie  geht.) 


FREIES  FELD 

DANTON.  Ich  mag  nicht  weiter.  Ich  mag  in  dieser  Stille 
mit  dem  Geplauder  meiner  Tritte  und  dem  Keuchen  meines 
Atems  nicht  Lärmen  machen. 
[Er  setzt  sich  nieder;  nach  einer  Pause:) 
Man  hat  mir  von  einer  Krankh-eit  erzählt,  die  einem  das 
Gedächtnis  verlieren  mache.  Der  Tod  soll  etwas  davon 
haben.  Dann  kommt  mir  manchmal  die  Hoffnung,  daß  er 
vielleicht  noch  kräftiger  wirke  und  einem  alles  verlieren 
mache.  Wenn  das  wäre! — Dann  lief  ich  wie  ein  Christ, 
um  einen  Feind,  d.  h.  mein  Gedächtnis,  zu  retten. 
Der  Ort  soll  sicher  sein,  ja  für  mein  Gedächtnis,  aber  nicht 
für  mich;  mir  gibt  das  Grab  mehr  Sicherheit,  es  schafft 
mir  wenigstens  Vergessen.  Es  tötet  mein  Gedächtnis. 
Dort  aber  lebt  mein  Gedächtnis  und  tötet  mich.  Ich 
oder  es?  Die  Antwort  ist  leicht.  [Er  erhebt  sich  und 
kehrt  um.) 

Ich  kokettiere  mit  dem  Tod;  es  ist  ganz  angenehm,  so 
aus  der  Ferne  mit  dem  Lorgnon  mit  ihm  zu  lieb- 
äugeln. 

Eigentlich  muß  ich  über  die  ganze  Geschichte  lachen.  Es 
ist  ein  Gefühl  des  Bleibens  in  mir,  was  mir  sagt:  es  wird 
morgen  sein  wie  heute,  und  übermorgen  und  weiter  hin- 
aus ist  alles  wie  eben.  Das  ist  leerer  Lärm,  man  will  mich 
schrecken;  sie  werden's  nicht  wagen!   [Ab.) 


42  DICHTUNGEN 

EIN  ZIMMER 

Es  ist  Nacht. 
DANTON  (am  Fenster).  Will  denn  das  nie  aufhören?  Wird 
das  Licht  nie  ausglühn  und  der  Schall  nie  modern?  Will's 
denn  nie  still  und  dunkel  werden,  daß  wir  uns  die  gar- 
stigen Sünden  einander  nicht  mehr  anhören  und  ansehen? 
— September! — 

JULIE  [ruft  V071  imiefi).  Danton!   Danton! 
DANTON.  He? 

JULIE  {tritt  ein).   Was  rufst  du? 
DANTON.  Rief  ich? 

JULIE.  Du  sprachst  von  garstigen  Sünden,  imd  dann 
stöhntest  du:  September! 

DANTON.  Ich,  ich?  Nein,  ich  sprach  nicht;  das  dacht 
ich  kaum,  das  waren  nur  ganz  leise,  heimliche  Gedanken. 
JULIE.  Du  zitterst,  Danton! 

DANTON.  Und  soll  ich  nicht  zittern,  wenn  so  die  Wände 
plaudern?  Wenn  mein  Leib  so  zerschellt  ist,  daß  meine 
Gedanken  unstet,  umirrend  mit  den  Lippen  der  Steine 
reden?  Das  ist  seltsam. 
JULIE.   Georg,  mein  Georg! 

DANTON.  Ja,  Julie,  das  ist  sehr  seltsam.  Ich  möchte 
nicht  mehr  denken,  wenn  das  gleich  so  spricht.  Es  gibt 
Gedanken,  Julie,  für  die  es  keine  Ohren  geben  sollte. 
Das  ist  nicht  gut,  daß  sie  bei  der  Geburt  gleich  schreien 
wie  Kinder;  das  ist  nicht  gut. 

JULIE.  Gott  erhalte  dir  deine  Sinne — Georg,  Georg,  er- 
kennst du  mich? 

DANTON.  Ei  warum  nicht!  Du  bist  ein  Mensch  und 
dann  eine  Frau  und  endlich  meine  Frau,  und  die  Erde  hat 
fünf  Weltteile,  Europa,  Asien,  Afrika,  Amerika,  Austra- 
lien, und  zweimal  zwei  macht  vier.  Ich  bin  bei  Sinnen, 
siehst  du. — Schrie's  nicht  September?  Sagtest  du  nicht 
so  was? 

JULIE.  Ja,  Danton,  diurch  alle  Zimmer  hört  ich's. 
DANTON.  Wie  ich  ans  Fenster  kam — {er  sieht  hinaus:) 
die  Stadt  ist  ruhig,  alle  Lichter  aus  .  .  . 
JULIE.   Ein  Kind  schreit  in  der  Nähe. 


DANTONS  TOD.  ZWEITER  AKT  43 

DANTON.   Wie  ich  ans  Fenster  kam — durch  alle  Gassen 
schrie  und  zetert'  es:  September! 
JULIE.   Du  träumtest,  Danton.   Faß  dich! 
DANTON.  Träiuntestr  Ja,  ich  träumte;  doch  das  war  an- 
ders, ich  will  dir  es  gleich  sagen— mein  armer  Kopf  ist 
schwach — gleich!   So,  jetzt  hab  ich's:  Unter  mir  keuchte 
die  Erdkugel  in  ihrem  Schwung;  ich  hatte   sie  wie  ein 
wildes  Roß  gepackt,  mit  riesigen  Gliedern  wühlt  ich  in 
ihren  Mähnen  und  preßt  ich  ihre  Rippen,  das  Haupt  ab- 
wärts gewandt,  die  Flaare  flatternd  über  dem  Abgrund;  so 
ward  ich  geschleift.   Da  schrie  ich  in  der  Angst,  und  ich 
erwachte.  Ich  trat  ans  Fenster — und  da  hört  ich's,  Julie. 
Was  das  Wort  nur  will?  Warum  gerade  das.^  Was  hab  ich 
damit  zu  schaffen:  Was  streckt  es  nach  mir  die  blutigen 
Hände?  Ich  hab  es  nicht  geschlagen. — O  hilf  mir,  Julie, 
mein  Sinn  ist  stumpf!   War's  nicht  im  September,  Julie? 
JULIE.    Die  Könige    waren  noch  vierzig  Stunden   von 
Paris.  .  . 

DANTON.  Die  Festungen  gefallen,  die  Aristokraten  in 
der  Stadt.  .  . 

JULIE.   Die  Republik  war  verloren. 
DANTON.  Ja,  verloren.   Wir  konnten  den  Feind  nicht  im 
Rücken  lassen,  wir  wären  Narren  gewesen:  zwei  Feinde 
auf  einem  Brett;   wir  oder  sie,  der  Stärkere  .stößt  den 
Schwächeren  hinunter — ist  das  nicht  billig? 
JULIE.  Ja,  ja. 

DANTON.   Wir  schlugen  sie — ,  das  war  kein  Mord,  das 
war  Krieg  nach  innen. 
JULIE.   Du  hast  das  Vaterland  gerettet. 
DANTON.  Ja,  das  hab  ich;  das  war  Notwehr,  wir  mußten. 
Der  Mann  am  Kreuze  hat  sich's  bequem  gemacht:  es  muß 
ja  Ärgernis  kommen,   doch   wehe   dem,   durch   welchen 
Ärgernis  kommt!— Es  muß;  das  war  dies  Muß.   Wer  will 
der  Hand  fluchen,  auf  die  der  Fluch  des  Muß  gefallen? 
Wer  hat  das  Muß  gesprochen,  wer?  Was  ist  das,  was  in 
uns  hurt,  lügt,  stiehlt  und  mordet? 

Puppen  sind  wir,  von  unbekannten  Gewalten  am  Draht 
gezogen;    nichts,    nichts   wir   selbst!    die   Schwerter,   mit 


44  DICHTUNGEN 

denen  Geister  kämpfen — man  sieht  mir  die  Hände  nicht, 
wie  im  Märchen.— Jetzt  bin  ich  ruhig. 
JULIE.   Ganz  ruhig,  lieb  Herz? 
DANTON.  Ja,  Julie;  komm,  zu  Bette! 

STRASSE  VOR  DANTONS  HAUS 
Simon.  Biirgersoldafen. 
SIMON.   Wie  weit  ist's  in  der  Nacht? 
ERSTER  BÜRGER.  Was  in  der  Nachtr 
SIMON.  Wie  weit  ist  die  Nacht? 

ERSTER  BÜRGER.   So  weit  als  zwisclien  Sonnenunter- 
gang und  Sonnenaufgang. 
SIMON.   Schuft,  wieviel  Uhr? 

ERSTER  BÜRGER.  Sieh  auf  dein  Zifferblatt;  es  ist  die 
Zeit,  wo  die  Perpendikel  unter  den  Bettdecken  ausschlagen. 
SIMON.  Wir  müssen  hinauf!  Fort,  Bürger!  Wir  haften 
mit  unseren  Köpfen  dafür.  Tot  oder  lebendig!  Er  hat  ge- 
waltige Glieder.  Ich  werde  vorangehn,  Bürger.  Der  Frei- 
heit eine  Gasse! — Sorgt  für  mein  Weib!  Eine  Eichenkrone 
werd  ich  ihr  hinterlassen. 

ERSTER  BÜRGER.    Eine  Eichelkrone?    Es   sollen   ihr 
ohnehin  jeden  lag  Eicheln  genug  in  den  Schoß  fallen. 
SIMON.  Vorwärts,  Bürger,  ihr  werdet  euch  um  das  Vater- 
land verdient  machen! 

ZWEITER  BÜRGER.  Ich  wollte,  das  Vaterland  machte 
sich  um  uns  verdient;  über  all  den  Löchern,  die  wir  in 
andrer  Leute  Körper  machen,  ist  noch  kein  einziges  in 
unsern  Hosen  zugegangen. 

ERSTER  BÜRGER.   Willst  du,  daß  dir  dein  Hosenlatz 
zuginge?  Hä,  hä,  hä! 
DIE  ANDERN.  Hä,  hä,  hä! 
SIMON.  Fort,  fort!  (^Sie  dringen  in  Dantons  Haus.) 

DER  NATIONALKONVENT 

Eine  Gruppe  von  Deputierten. 

LEGENDRE.   Soll  denn  das  Schlachten  der  Deputierten 

nicht  aufhören.^ — Wer  ist  noch  sicher,  wenn  Danton  fällt? 

EIN  DEPUTIERTER.   Was  tun? 


DANTONS  TOD.   ZWEITER  AKT  45 

EIN  ANDERER.   Er  muß  vor  den  Schranken  des  Kon- 
vents gehört  werden. — Der  Erfolg  dieses  Mittels  ist  sicher; 
was  sollten  sie  seiner  Stimme  entgegensetzen: 
EIN  ANDERER.  Unmöglich,  ein  Dekret  verhindert  uns. 
LEGENDRE.   Es  muß  zurückgenommen  oder  eine  Aus- 
nahme gestattet  werden. — Ich  werde  den  Antrag  machen; 
ich  rechne  auf  eiure  Unterstützung. 
DER  PRÄSIDENT.   Die  Sitzung  ist  eröffnet. 
LEGENDRE  [besteigt  die  Tribüne).   Vier  Mitglieder  des 
Nationalkonvents  sind  verflossene  Nacht  verhaftet  wor- 
den.  Ich  weiß,  daß  Danton  einer  von  ihnen  ist,  die  Na- 
men der  übrigen  kenne  ich  nicht.    Mögen  sie  übrigens 
sein,  wer  sie  wollen,  so  verlange  ich,  daß  sie  vor  den 
Schranken  gehört  werden. 

Bürger,  ich  erkläre  es:  ich  halte  Danton  für  ebenso  rein 
wie  mich  selbst,  und  ich  glaube  nicht,  daß  mir  irgendein 
Vorwiurf  gemacht  werden  kann.  Ich  will  kein  Mitglied  des 
Wohlfahrts-  oder  des  Sicherheitsausschusses  angTeifen, 
aber  gegTündete  Ursachen  lassen  mich  fürchten,  Privat- 
haß und  Privatleidenschaften  möchten  der  Freiheit  Männer 
entreißen,  die  ihr  die  größten  Dienste  erwiesen  haben. 
Der  Mann,  welcher  im  Jahre  1792  Frankreich  durch  seine 
Energie  rettete,  verdient  gehört  zu  werden;  er  muß  sich 
erklären  dürfen,  wenn  man  ihn  des  Hochverrats  anklagt. 
[Heftige  Bewegung.) 

EINIGE  STIMMEN.  Wir  unterstützen  Legendres  Vor- 
schlag. 

EIN  DEPUTIERTER.  Wir  sind  hier  im  Namen  des  Vol- 
kes; man  kann  uns  ohne  den  Willen  unserer  Wähler  nicht 
von  unseren  Plätzen  reißen. 

EIN  ANDERER.  Eure  Worte  riechen  nach  Leichen;  ihr 
habt  sie  den  Girondisten  aus  dem  Munde  genommen.  Wollt 
ihr  Privilegien?  Das  Beil  des  Gesetzes  schwebt  über  allen 
Häuptern. 

EIN  ANDERER.  Wir  können  unsern  Ausschüssen  nicht 
erlauben,  die  Gesetzgeber  aus  dem  Asyl  des  Gesetzes  auf 
die  Guillotine  zu  schicken. 

EIN  ANDERER.  Das  Verbrechen  hat  kein  Asyl,  nur  ge- 
krönte Verbrecher  finden  eins  auf  dem  Thron. 


46  DICHTUNGEN 

EIN  ANDERER.  Nur  Spitzbuben  appellieren  an  das  Asyl- 
recht. 

EIN  ANDERER.  Nur  Mörder  erkennen  es  nicht  an. 
ROBESPIERRE.  Die  seit  langer  Zeit  in  dieser  Versamm- 
lung unbekannte  Verwirrung  beweist,  daß  es  sich  um  große 
Dinge  handelt.  Heute  entscheidet  sich's,  ob  einige  Män- 
ner den  Sieg  über  das  Vaterland  davontragen  werden. — 
Wie  könnt  ihr  eure  Grundsätze  weit  genug  verleugnen, 
um  heute  einigen  Individuen  das  zu  bewilligen,  was  ihr 
gestern  Chabot,  Delaunai  und  Fahre  verweigert  habt? 
Was  soll  dieser  Unterschied  zugunsten  einiger  Männer? 
Was  kümmern  mich  die  Lobsprüche,  die  man  sich  selbst 
und  seinen  Freunden  spendet?  Nur  zu  viele  Erfahrungen 
haben  uns  gezeigt,  was  davon  zu  halten  sei.  Wir  fragen 
nicht,  ob  ein  Mann  diese  oder  jene  patriotische  Handlung 
vollbracht  habe;  wir  fragen  nach  seiner  ganzen  politischen 
Laufbahn. — Legendre  scheint  die  Namen  der  Verhafteten 
nicht  zu  wissen;  der  ganze  Konvent  kennt  sie.  Sein  Freund 
Lacroix  ist  darunter.  Warum  scheint  Legendre  das  nicht 
zu  wissen?  Weil  er  wohl  weiß,  daß  nur  die  Schamlosig- 
keit Lacroix  verteidigen  kann.  Er  nannte  nur  Danton, 
weil  er  glaubt,  an  diesen  Namen  knüpfe  sich  ein  Privi- 
legium. Nein,  wir  wollen  keine  Privilegien,  wir  wollen 
keine  Götzen!  (Beifall}^ 

Was  hat  Danton  vor  Lafayette,  vor  Dumouriez,  vor  Brissot, 
Fahre,  Chabot,  Hebert  voraus?  Was  sagt  man  von  diesen, 
was  man  nicht  auch  von  ihm  sagen  könnte?  Habt  ihr  sie 
gleichwohl  geschont?  Wodurch  verdient  er  einen  Vorzug 
vor  seinen  Mitbürgern?  Etwa,  weil  einige  betrogne  In- 
dividuen und  andere,  die  sich  nicht  betrügen  ließen,  sich 
um  ihn  reihten,  um  in  seinem  Gefolge  dem  Glück  und 
der  Macht  in  die  Arme  zu  laufen? — ^Je  mehr  er  die  Pa- 
trioten betrogen  hat,  welche  Vertrauen  in  ihn  setzten, 
desto  nachdrücklicher  muß  er  die  Strenge  der  Freiheits- 
freunde  empfinden. 

Man  will  euchP'urcht  einflößen  vor  dem  Mißbrauche  einer 
Gewalt,  die  ihr  selbst  ausgeübt  habt.  Man  schreit  über 
den  Despotismus  der  Ausschüsse,  als  ob  das  Vertrauen, 
welches  das  Volk  euch  geschenkt  und  das  ihr  diesen  Aus- 


DANTONS  TOD.  ZWEITER  AKT  47 

Schüssen  übertragen  habt,  nicht  eine  sichre  Garantie  ihres 
Patriotismus  wäre.  Man  stellt  sich,  als  zittre  man.  Aber 
ich  sage  euch,  wer  in  diesem  Augenblicke  zittert,  ist  schul- 
dig; denn  nie  zittert  die  Unschuld  vor  der  öfifentlichen 
Wachsamkeit.  (Allgemeiner  Beifall^ 
Man  hat  auch  mich  schrecken  wollen;  man  gab  mir  zu 
verstehen,  daß  die  Gefahr,  indem  sie  sich  Danton  nähere, 
auch  bis  zu  mir  dringen  könne.  Man  schrieb  mir,  Dantons 
Freunde  hielten  mich  umlagert,  in  der  Meinung,  die  Er- 
innerung an  eine  alte  Verbindung,  der  blinde  Glauben  an 
erheuchelte  Tugenden  könnten  mich  bestimmen,  meinen 
Eifer  und  meine  Leidenschaft  für  die  Freiheit  zu  mäßi- 
gen.— So  erkläre  ich  denn:  nichts  soll  mich  aufhalten, 
und  sollte  auch  Dantons  Gefahr  die  meinige  werden.  Wir 
alle  haben  etwas  Mut  und  etwas  Seelengröße  nötig.  Nur 
Verbrecher  und  gemeine  Seelen  fürchten,  ihresgleichen 
an  ihrer  Seite  fallen  zu  sehen,  weil  sie,  wenn  keine  Schar 
von  Mitschuldigen  sie  m.ehr  versteckt,  sich  dem  Licht  der 
Wahrheit  ausgesetzt  sehen.  Aber  wenn  es  dergleichen 
Seelen  in  dieser  Versammlung  gibt,  so  gibt  es  in  ihr  auch 
heroische.  Die  Zahl  der  Schurken  ist  nicht  groß;  wir 
haben  nur  wenige  Köpfe  zu  treffen,  und  das  Vaterland  ist 
gerettet.  (Beifall^ 

Ich  verlange,  daß  Legendres  Vorschlag  zurückgewiesen 
werde.  [Die  Deputierten  erheben  sich  sämtlich  zum  Zeichen 
allgemeiner  Beistimmung. ) 

ST.  JUST.  Es  scheint  in  dieser  Versammlung  einige  emp- 
findliche Ohren  zu  geben,  die  das  Wort  ''Blut"  nicht  wohl 
vertragen  können.  Einige  allgemeine  Betrachtungen  mö- 
gen sie  überzeugen,  daß  wir  nicht  grausamer  sind  als  die 
Natur  und  als  die  Zeit.  Die  Natur  folgt  ruhig  und  un- 
widerstehlich ihren  Gesetzen;  der  Mensch  wird  vernichtet, 
wo  er  mit  ihnen  in  Konflikt  kommt.  Eine  Änderung  in 
den  Bestandteilen  der  Luft,  ein  Auflodern  des  telluri- 
schen Feuers,  ein  Schwanken  in  dem  Gleichgewicht  einer 
Wassermasse  und  eine  Seuche,  ein  vulkanischer  Ausbruch, 
eine  Überschwemmung  begraben  Tausende,  Was  ist  das 
Resultat?  Eine  unbedeutende,  im  großen  Ganzen  kaum 
bemerkbare  Veränderung  der  physischen  Natur,  die  fast 


48  DICHTUNGEN 

spurlos  vorübergegangen  sein  würde,  wenn  nicht  I.eichen 
auf  ihrem  Wege  lägen. 

Ich  frage  nun:  soll  die  geistige  Natur  in  ihren  Revo- 
lutionen mehr  Rücksicht  nehmen  als  die  physische?  Soll 
eine  Idee  nicht  ebensogut  wie  ein  Gesetz  der  Physik  ver- 
nichten dürfen,  was  sich  ihr  widersetzt?  Soll  überhaupt 
ein  Ereignis,  was  die  ganze  Gestaltung  der  moralischen 
Natur,  das  heißt  der  Menschheit,  umändert,  nicht  durch 
Blut  gehen  dürfen?  Der  Weltgeist  bedient  sich  in  der 
geistigen  Sphäre  unserer  Arme  ebenso,  wie  er  in  der  phy- 
sischen Vulkane  und  Wasserfluten  gebraucht.  Was  liegt 
daran,  ob  sie  nun  an  einer  Seuche  oder  an  der  Revolu- 
tion sterben? 

Die  Schritte  der  Menschheit  sind  langsam,  man  kann  sie 
niu:  nach  Jahrhunderten  zählen;  hinter  jedem  erheben  sich 
die  Gräber  von  Generationen.  Das  Gelangen  zu  den  ein- 
fachsten Erfindungen  und  Grundsätzen  hat  Millionen  das 
Leben  gekostet,  die  auf  dem  Wege  starben.  Ist  es  denn 
nicht  einfach,  daß  zu  einer  Zeit,  wo  der  Gang  der  Ge- 
schichte rascher  ist,  auch  mehr  Menschen  außer  Atem 
kommen? 

Wir  schließen  schnell  und  einfach:  da  alle  unter  gleichen 
Verhältnissen  geschaffen  werden,  so  sind  alle  gleich,  die 
Unterschiede  abgerechnet,  welche  die  Natiu:  selbst  ge- 
macht hat.  Es  darf  daher  jeder  Vorzüge  und  darf  daher 
keiner  Vorrechte  haben,  weder  ein  einzelner  noch  eine 
geringere  oder  größere  Klasse  von  Individuen. — ^Jedes 
Glied  dieses  in  der  Wirklichkeit  angewandten  Satzes  hat 
seine  Menschen  getötet.  Der  14.  Juli,  der  10.  August, 
der  31.  Mai  sind  seine  Interpunktionszeichen.  Er  hatte 
vier  Jahre  Zeit  nötig,  um  in  der  Körperwelt  durchgeführt 
zu  werden,  und  unter  gewöhnlichen  Umständen  hätte  er 
ein  Jahrhundert  dazu  gebraucht  und  wäre  mit  Genera- 
tionen interpunktiert  worden.  Ist  es  da  so  zu  verwundern, 
daß  der  Strom  der  Revolution  bei  jedem  Absatz,  bei  jeder 
neuen  Krümmung  seine  Leichen  ausstößt? 
Wir  werden  unserm  Satze  noch  einige  Schlüsse  hinzuzu- 
fügen haben;  sollen  einige  hundert  Leichen  uns  verhin- 
dern, sie  zu  machen? — Moses  führte  sein  Volk  durch  das 


DANTONS  TOD.   DRITTER  AKT  49 

Rote  Meer  und  in  die  Wüste,  bis  die  alte  verdorbne  Ge- 
neration sich  aufgerieben  hatte,  eh  er  den  neuen  Staat 
gründete.  Gesetzgeber!  Wir  haben  weder  das  Rote  Meer 
noch  die  Wüste,  aber  wir  haben  den  Krieg  und  die  Guil- 
lotine. 

Die  Revolution  ist  wie  die  Töchter  des  Pelias:  sie  zer- 
stückt die  Menschheit,  um  sie  zu  verjüngen.  Die  Mensch- 
heit wird  aus  dem  Blutkessel  wie  die  Erde  aus  den  Wellen 
der  Sündflut  mit  lukräftigen  Gliedern  sich  erheben,  als 
wäre  sie  zum  ersten  Male  geschaffen.  {Langer^  anhalteiidtr 
Beifall.  Einige  Mitglieder  erhebe7i  sich  im  Enthusiasmus.) 
Alle  geheimen  Feinde  der  Tyrannei,  welche  in  Europa 
und  auf  dem  ganzen  Erdkreise  den  Dolch  des  Brutus  unter 
ihren  Gewändern  tragen,  fordern  wir  auf,  diesen  erhabnen 
Augenblick  mit  uns  zu  teilen.  (Die  Zuhörer  und  die  De- 
putierten stimmen  die  Marseillaise  an.) 


DRITTER  AKT 

DAS  LUXEMBURG.   EIN  SAAL  MIT  GEFANGNEN 
Chaumette,  Fayne,  Mercier,  Hirault  de  Sichelles  und  andre 

Gefangne. 
CHAUMETTE  {zupft Payne  am  Ärmel).  Hören  Sie,  Payne, 
es  könnte  doch  so  sein,  vorhin  überkam  es  mich  sa;  ich 
habe  heute  Kopfweh,  helfen  Sie  mir  ein  wenig  mit  Ihren 
Schlüssen,  es  ist  mir  ganz  unheimlich  zumut. 
PAYNE.  So  komm,  Philosoph  Anaxagoras,  ich  will  dich 
katechisieren. — Es  gibt  keinen  Gott,  denn:  Entweder 
hat  Gott  die  Welt  geschaffen  oder  nicht.  Hat  er  sie  nicht 
geschaffen,  so  hat  die  Welt  ihren  Grund  in  sich,  und  es 
gibt  keinen  Gott,  da  Gott  nur  dadiurch  Gott  wird,  daß  er 
den  Grund  alles  Seins  enthält.  Nun  kann  aber  Gott  die 
Welt  nicht  geschaffen  haben;  denn  entweder  ist  die  Schöp- 
fung ewig  wie  Gott,  oder  sie  hat  einen  Anfang.  Ist  letz- 
teres der  Fall,  so  muß  Gott  sie  zu  einem  bestimmten 
Zeitpunkt  geschaffen  haben,  Gott  muß  also,  nachdem  er 
eine  Ewigkeit  geruht,  einmal  tätig  geworden  sein,  muß 

BÜCHKER  i. 


so  DICHTUNGEN 

also  einmal  eine  Veränderung  in  sich  erlitten  haben,  die 
den  BegTifif  Zeit  auf  ihn  anwenden  läßt,  was  beides  gegen 
das  Wesen  Gottes  streitet.  Gott  kann  also  die  Welt  nicht 
geschaffen  haben.  Da  wir  nun  aber  sehr  deutlich  wissen,  daß 
die  AVeit  oder  daß  unser  Ich  wenigstens  vorhanden  ist,  und 
daß  sie  dem  Vorhergehenden  nach  also  auch  ihren  Grund  in 
sich  oder  in  etwas  haben  muß,  das  nicht  Gott  ist,  so  kann 
es  keinen  Gott  geben.  Quod  erat  demonstrandum. 
CHAUMETTE.  Ei  wahrhaftig,  das  gibt  mir  wieder  Licht, 
ich  danke,  danke! 

MERCIER.  Halten  Sie,  Payne!   Wenn  aber  die  Schöp- 
fung ewig  ist? 

PAYNE.  Dann  ist  sie  schon  keine  Schöpfung  mehr,  dann 
ist  sie  eins  mit  Gott  oder  ein  Attribut  desselben,  wie  Spi- 
noza sagt;  dann  ist  Gott  in  allem,  in  Ihnen,  Wertester,  im 
Philosoph  Anaxagoras  und  in  mir.  Das  wäre  so  übel  nicht, 
aber  Sie  müssen  mir  zugestehen,  daß  es  gerade  nicht  viel 
um  die  himmlische  Majestät  ist,  wenn  der  liebe  Herrgott 
in  jedem  von  uns  Zahnweh  kriegen,  den  Tripper  haben, 
lebendig  begraben  werden  oder  wenigstens  die  sehr  un- 
angenehmen Vorstellungen  davon  haben  kann. 
MERCIER.  Aber  eine  Ursache  muß  doch  da  sein. 
PAYNE.  Wer  leugnet  dies?  Aber  wer  sagt  Ihnen  denn,  daß 
diese  Ursache  das  sei,  was  wir  uns  als  Gott,  d.  h.  als  das 
Vollkommne  denken?  Halten  Sie  die  Welt  für  vollkom- 
men? 

MERCIER.   Nein. 

PAYNE.  Wie  wollen  Sie  denn  aus  einer  unvollkommnen 
Wirkung  auf  eine  vollkommne  Ursache  schließen? — Vol- 
taire wagte  es  ebensowenig  mit  Gott  als  mit  den  Königen 
zu  verderben,  deswegen  tat  er  es.  Wer  einmal  nichts  hat 
als  Verstand  und  ihn  nicht  einmal  konsequent  zu  ge- 
brauchen weiß  oder  wagt,  ist  ein  Stümper. 
MERCIER.  Ich  frage  dagegen:  kann  eine  vollkommne 
Ursache  eine  vollkommne  Wirkung  haben,  d.  h.  kann  et- 
was Vollkommenes  was  Vollkommnes  schaffen?  Ist  das 
nicht  unmöglich,  weil  das  Geschaffne  doch  nie  seinen 
Grund  in  sich  haben  kann,  was  doch,  wie  Sie  sagten,  zur 
Vollkommenheit  gehört? 


DANTONS  TOD.  DRITTER  AKT  5 1 

CHAUMETTE.  Schweigen  Sie!  Schweigen  Sie! 
PAYNE.  Beruhige  dich,  Philosoph! — Sie  haben  recht;  aber 
muß  denn  Gott  einmal  schaffen,  kann  er  nur  was  Unvoll - 
kommnes  schaffen,  so  läßt  er  es  gescheuter  ganz  bleiben. 
Ist's  nicht  sehr  menschlich,  uns  Gott  nur  als  schaffend 
denken  zu  können:  Weil  wir  ims  immer  regen  und  schüt- 
teln müssen,  um  uns  niu:  immer  sagen  zu  können:  wir  sind! 
müssen  wir  Gott  auch  dies  elende  Bedürfnis  andichten? — 
Müssen  wir,  wenn  sich  unser  Geist  in  das  Wesen  einer 
harmonisch  in  sich  ruhenden,  ewigen  Seligkeit  versenkt, 
gleich  annehmen,  sie  müsse  die  Finger  ausstrecken  und 
über  Tisch  Brotmännchen  kneten:  aus  überschwenglichem 
Liebesbedürfnis,  wie  wir  uns  ganz  geheimnisvoll  in  die 
Ohren  sagen.  Müssen  wir  das  alles,  bloß  um  uns  zu  Götter- 
söhnen zu  machen:  Ich  nehme  mit  einem  geringern  Vater 
vorlieb;  wenigstens  werd  ich  ihm  nicht  nachsagen  können, 
daß  er  mich  unter  seinem  Stande  in  Schweinställen  oder 
auf  den  Galeeren  habe  erziehen  lassen. 
Schafft  das  Unvollkommne  weg,  dann  allein  könnt  ihr 
Gott  demonstrieren;  Spinoza  hat  es  versucht.  Man  kann 
das  Böse  leugnen,  aber  nicht  den  Schmerz;  nur  der  Ver- 
stand kann  Gott  beweisen,  das  Gefühl  empört  sich  da- 
gegen. Merke  dir  es,  Anaxagoras:  warum  leide  ich?  Das 
ist  der  Fels  des  Atheismus.  Das  leiseste  Zucken  des 
Schmerzes,  und  rege  es  sich  nur  in  einem  Atom,  macht 
einen  Riß  in  der  Schöpfimg  von  oben  bis  unten. 
MERCIER.  Und  die  Moral? 

PAYNE.  Erst  beweist  ihr  Gott  aus  der  Moral  und  dann 
die  Moral  aus  Gott! — Was  wollt  ihr  denn  mit  eiurer  Moral: 
Ich  weiß  nicht,  ob  es  an  und  für  sich  was  Böses  oder  was 
Gutes  gibt,  und  habe  deswegen  doch  nicht  nötig,  meine 
Handlungsweise  zu  ändern.  Ich  handle  meiner  Natur  ge- 
mäß; was  ihr  angemessen,  ist  für  mich  gut  und  ich  tue 
es,  und  was  ihr  zuwider,  ist  für  mich  bös  und  ich  tue  es 
nicht  und  verteidige  mich  dagegen,  wenn  es  mir  in  den 
Weg  kommt.  Sie  können,  wie  man  so  sagt,  tugendhaft 
bleiben  und  sich  gegen  das  sogenannte  Laster  wehren, 
ohne  deswegen  ihre  Gegner  verachten  zu  müssen,  was 
ein  gar  trauriges  Gefühl  ist. 


52  DICHTUNGEN 

CHAUMETTE.   Wahr,  sehr  wahr! 

HERAULT.  O  Philosoph  Anaxagoras,  man  könnte  aber 
auch  sagen:  damit  Gott  alles  sei,  müsse  er  auch  sein  eignes 
Gegenteil  sein,  d.  h,  vollkommen  und  unvollkommen,  bös 
und  gut,  selig  und  leidend;  das  Resultat  freilich  würde 
gleich  Null  sein,  es  würde  sich  gegenseitig  heben,  wir 
kämen  zum  Nichts. — Freue  dich,  du  kömmst  glücklich 
durch;  du  kannst  ganz  ruhig  in  Madame  Momoro  das 
Meisterstück  der  Natur  anbeten,  wenigstens  hat  sie  dir 
die  Rosenkränze  dazu  in  den  Leisten  gelassen. 
CHAUMETTE.  Ich  danke  Ihnen  verbindlichst,  meine 
Herren!   (AI;.) 

PAYNE.  Er  traut  noch  nicht,  er  wird  sich  zu  guter  Letzt 
noch  die  Ölung  geben,  die  Füße  nach  Mekka  zu  legen  und 
sich  beschneiden  lassen,  um  ja  keinen  Weg  zu  verfehlen. 

Danto?!.,  Lacroix^  Camille^  Philippeau  werden  Jiereingefiikrt. 

HßRAULT  {läuft  auf  Danton  zu  und  wnarnit  ihn).   Guten 

Morgen!    Gute  Nacht  sollte  ich  sagen.   Ich   kann  nicht 

fragen,  wie  hast  du  geschlafen — :  wie  wirst  du  schlafen: 

DANTON.   Nun  gut,  man  muß  lachend  zu  Bett  gehn. 

MERCIER  {zu  Paync).  Diese  Dogge  mit  Taubenflügeln! 

Er  ist  der  böse  Genius  der  Revolution;  er  wagte  sich  an 

seine  Mutter,  aber  sie  war  stärker  als  er. 

PAYNE.    Sein  Leben  und  sein  Tod  sind  ein  gleich  großes 

Unglück. 

LACROIX  {zu  Danton).    Ich   dachte  nicht,   daß   sie   so 

schnell  kommen  würden. 

DANTON.  Ich  wüßt  es,  man  hatte  mich  gewarnt. 

LACROIX.   Und  du  hast  nichts  gesagt.^ 

DANTON.    Zu  was.^  Ein  Schlagfluß  ist  der  beste  Tod; 

wolltest  du  zuvor  krank  sein.^  Und — ich  dachte  nicht,  daß 

sie  es  wagen  würden. 

{Zu  Hirault\)  Es  ist  besser,  sich  in  die  Erde  legen  als 

sich  Leichdörner  auf  ihr  laufen;  ich  habe  sie  lieber  zum 

Kissen  als  zum  Schemel. 

HfiRAULT.   Wir  werden  wenigstens  nicht  mit  Schwielen 

an  denFingern  der  hübschen  Dame  Verwesung  die  Wangen 

streicheln. 


DANTONS  TOD.   DRITTER  AKT  53 

C AMILLE  {zu  Danto?i).  Gib  dir  nur  keine  Mühe!  du 
magst  die  Zunge  noch  so  weit  zum  Hals  heraushängen, 
du  kannst  dir  damit  doch  nicht  den  Todesschweiß  von  der 
Stirne  lecken. — O  Lucile!  Das  ist  ein  großer  Jammer! 
{Die  Gefangnen  dränge^i  sich  um  die  neu  Angekojnnmen.) 
DANTON  (zu  Payne).  Was  Sie  für  das  Wohl  Ihres  Landes 
getan,  habe  ich  für  das  meinige  versucht.  Ich  war  we- 
niger glücklich,  man  schickt  mich  aufs  Schafott;  meinet- 
wegen, ich  werde  nicht  stolpern. 

MERCIER  (zu  Dantoti).  Das  Blut  der  zweiundzwanzig 
ersäuft  dich. 

EIN  GEFANGENER  (zu  H^rault).   Die  Macht  des  Volkes 
und  die  Macht  der  Vernunft  sind  eins. 
EIN  ANDRER  (zu  Caniille).   Nun,  Generalprokurator  der 
Laterne,  deine  Verbesserung  der  Straßenbeleuchtung  hat 
in  Frankreich  nicht  heller  gemacht. 

EIN  ANDRER.  Laßt  ihn!  Das  sind  die  Lippen,  welche 
das  Wort  ''Erbarmen''  gesprochen.  (Er  u mannt  Camille^ 
mehrere  Gefangne  folgen  seinem  Beispiel^ 
PHILIPPEAU.  Wir  sind  Priester,  die  mit  Sterbenden  ge- 
betet haben;  wir  sind  angesteckt  worden  und  sterben  an 
der  nämlichen  Seuche. 

EINIGE  STIMMEN.  Der  Streich,  der  euch  trifft,  tötet 
uns  alle. 

CAMILLE.  Meine  Herren,  ich  beklage  sehr,  daß  unsere 
Anstrengungen  so  fruchtlos  waren;  ich  gehe  aufs  Schafott, 
weil  mir  die  Augen  über  das  Los  einiger  Unglücklichen 
naß  geworden. 


EIN  ZIMMER 

Fouquier-  Tinville.  Herrmann. 
FOUQUIER.   Alles  bereit? 

HERRMANN.  Es  wird  schwer  halten;  wäre  Danton  nicht 
darunter,  so  ginge  es  leicht. 
FOUQUIER.  Er  muß  vortanzen. 

HERRMANN.   Er  wird  die  Geschwornen  erschrecken,  er 
ist  die  Vogelscheuche  der  Revolution. 
FOUQUIER.   Die  Geschwornen  müssen  wollen. 


54  DICHTUNGEN 

HERRMANN.  Ein  Mittel  wüßt  ich,  aber  es  wird  die  ge- 
setzliche Form  verletzen. 
FOUQUIER.  Nur  zu! 

HERRMANN.  Wir  losen  nicht,  sondern  suchen  die  Hand- 
festen aus. 

FOUQUIER.  Das  muß  gehen. — Das  wird  ein  gutes  Hecke - 
feuer  geben.  Es  sind  ihrer  neunzehn.  Sie  sind  geschickt 
zusammenge worfelt.  Die  vier  Fälscher,  dann  einige  Ban- 
kiers und  Fremde.  Es  ist  ein  pikantes  Gericht.  Das  Volk 
braucht  dergleichen. — Also  zuverlässige  Leute!  Wer  zum 
Beispiel.^ 

HERRMANN.  Leroi.   Er  ist  taub  und  hört  daher  nichts 
von  all  dem,  was  die  Angeklagten  vorbringen;  Danton 
mag  sich  den  Hals  bei  ihm  rauh  schreien. 
FOUQUIER.   Sehr  gut;  weiter! 

HERRMANN.  Vilatte  und  Lumiere.  Der  eine  sitzt  immer 
in  der  Trinkstube,  und  der  andere  schläft  immer;  beide 
öffnen  den  Mund  nur,  um  das  Wort  ''Schuldig"  zu  sagen. — 
Girard  hat  den  Grundsatz,  es  dürfe  keiner  entwischen, 
der  einmal  vor  das  Tribunal  gestellt  sei.   Renaudin  .  .  . 
FOUQUIER.  Auchder.^  Er  half  einmal  einigen  Pfaffen  durch. 
HERRMANN.   Sei  ruhig!  vor  einigen  Tagen  kommt  er 
zu  mir  und  verlangt,  man  solle  allen  Verurteilten  vor  der 
Hinrichtung  zur  Ader  lassen,  um  sie  ein  wenig  matt  zu 
machen;  ihre  meist  trotzige  Haltung  ärgere  ihn. 
FOUQUIER.  Ach,  sehr  gut.  Also  ich  verlasse  mich! 
HERRMANN.  Laß  mich  nur  machen! 


[DIE  CONCIERGERIE.]  EIN  KORRIDOR 

Lacroix,  Danton,  Mercier  und  andre  Gefangne  auf  und  ab 
gehend, 

LACROIX  (zu  ehmn  Gefangnen).  Wie,  so  viel  Unglück- 
liche, und  in  einem  so  elenden  Zustande.^ 
DER  GEFANGNE.  Haben  Ihnen  die  Guillotinenkarren 
nie  gesagt,  daß  Paris  eine  Schlachtbank  sei.'' 
MERCIER.  Nicht  wahr,  Lacroix,  die  Gleichheit  schwingt 
ihre  Sichel  über  allen  Häuptern,  die  Lava  der  Revolution 


DANTONS  TOD.   DRITTER  AKT  55 

fließt,  die  Guillotine  republikanisiert!  Da  klatschen  die 
Galerien,  und  die  Römer  reiben  sich  die  Hände;  aber  sie 
hören  nicht,  daß  jedes  dieser  Worte  das  Röcheln  eines 
Opfers  ist.  Geht  einmal  euren  Phrasen  nach  bis  zu  dem 
Punkt,  wo  sie  verkörpert  werden. — Blickt  um  euch,  das 
alles  habt  ihr  gesprochen;  es  ist  eine  mimische  Über- 
setzung eurer  Worte.  Diese  Elenden,  ihre  Henker  und 
die  Guillotine  sind  eure  lebendig  gewordnen  Reden.  Ihr 
bautet  eure  Systeme,  wie  Bajazet  seine  P}Tamiden,  aus 
Menschenköpfen. 

DANTON.  Du  hast  recht — man  arbeitet  heutzutag  alles 
in  Menschenfleisch,  Das  ist  der  Fluch  unserer  Zeit.  Mein 
Leib  wird  jetzt  auch  verbraucht. 

Es  ist  grade  ein  Jahr,  daß  ich  das  Revolutionstribunal  schuf. 
Ich  bitte  Gott  und  Menschen  dafür  um  Verzeihung;  ich 
wollte  neuen  Septembermorden  zuvorkommen,  ich  hoffte 
die  Unschuldigen  zu  retten,  aber  dies  langsame  Morden 
mit  seinen  Formalitäten  ist  gräßlicher  und  ebenso  unver- 
meidlich. Meine  Herren,  ich  hoffte,  Sie  alle  diesen  Ort 
verlassen  zu  machen. 
MERCIER.  O,  herausgehen  werden  wir. 
DANTON.  Ich  bin  jetzt  bei  Ihnen;  der  Himmel  weiß, 
wie  das  enden  soll. 


DAS  REVOLUTIONSTRIBUNAL 

HERRMANN  {zu  Danton).  Ihr  Name,  Bürger. 
DANTON.   Die  Revolution  nennt  meinen  Namen.  Meine 
Wohnung  ist  bald  im  Nichts  und  mein  Name  im  Pantheon 
der  Geschichte. 

HERRMANN.  Danton,  der  Konvent  beschuldigt  Sie,  mit 
Mirabeau,  mit  Dumoiu:iez,  mit  Orleans,  mit  den  Giron- 
disten, den  Fremden  und  der  Faktion  Ludwig  des  XVII. 
konspiriert  zu  haben. 

DANTON.  Meine  Stimme,  die  ich  so  oft  für  die  Sache 
des  Volkes  ertönen  ließ,  wird  ohne  Mühe  die  Verleumdung 
zurückweisen.  Die  Elenden,  welche  mich  anklagen,  mögen 
hier  erscheinen,  und  ich  werde  sie  mit  Schande  bedecken. 
Die  Ausschüsse  mögen  sich  hierher  begeben,  ich  werde 


56  DICHTUNGEN 

nur  vor  ihnen  antworten.  Ich  habe  sie  als  Kläger  und  als 
Zeugen  nötig.  Sie  mögen  sich  zeigen. 
Übrigens,  was  liegt  mir  an  euch  und  eurem  Urteil.^  Ich 
hab  es  euch  schon  gesagt:  das  Nichts  wird  bald  mein 
Asyl  sein; — das  Leben  ist  mir  zur  Last,  man  mag  mir  es 
entreißen,  ich  sehne  mich  danach,  es  abzuschütteln. 
HERRMANN.  Danton,  die  Kühnheit  ist  dem  Verbrecher, 
die  Ruhe  der  Unschuld  eigen. 

DANTON.  Privatkühnheit  ist  ohne  Zweifel  zu  tadeln,  aber 
jene  Nationalkühnheit,  die  ich  so  oft  gezeigt,  mit  welcher 
ich  so  oft  für  die  Freiheit  gekämpft  habe,  ist  die  verdienst- 
vollste aller  Tugenden. — Sie  ist  meine  Kühnheit,  sie  ist 
es,  der  ich  mich  hier  zum  Besten  der  Republik  gegen 
meine  erbärmlichen  Ankläger  bediene.  Kann  ich  mich 
fassen,  wenn  ich  mich  auf  eine  so  niedrige  Weise  ver- 
leumdet sehe: — Von  einem  Revolutionär  wie  ich  darf 
man  keine  kalte  Verteidigung  erwarten.  Männer  meines 
Schlages  sind  in  Revolutionen  unschätzbar,  auf  ihrer 
Stirne  schwebt  das  Genie  der  Freiheit.  [Zeichen  von  Bei- 
fall unter  den  Zi/hörern.) 

Mich  klagt  man  an,  mit  Mirabeau,  mit  Dumouriez,  mit 
Orleans  konspiriert,  zu  den  Füßen  elender  Despoten  ge- 
krochen zu  haben;  mich  fordert  man  auf,  vor  der  unent- 
rinnbaren, unbeugsamen  Gerechtigkeit  zu  antworten. — 
Du  elender  St.  Just  wirst  der  Nachwelt  für  diese  Läste- 
rung verantwortlich  sein! 

HERRMANN.  Ich  fordere  Sie  auf,  mit  Ruhe  zu  ant- 
worten; gedeiK  en  Sie  Marats,  er  trat  mit  Ehrfurcht  vor 
seine  Richter. 

DANTON.  Sie  haben  die  Hände  an  mein  ganzes  Leben 
gelegt,  so  mag  es  sich  denn  aufrichten  und  ihnen  ent- 
gegentreten; unter  dem  Gewichte  jeder  meiner  Hand- 
lungen werde  ich  sie  begraben. — Ich  bin  nicht  stolz  dar- 
auf. Das  Schicksal  führt  uns  die  Arme,  aber  nur  gewal- 
tige Naturen  sind  seine  Organe. 

Ich  habe  auf  dem  Marsfelde  dem  Königtume  den  Krieg 
erklärt,  ich  habe  es  am  lo.  August  geschlagen,  ich  habe 
es  am  21.  Januar  getötet  und  den  Königen  einen  Königs- 
kopf als  Fehdehandschuh  hingeworfen.   ( IViedef/wIte  Zei- 


DANTONS  TOD.   DRITTER  AKT  57 

chen  von  Beifall. — Et'  ?imimt  die  Anklageakte?)  Wenn  ich 
einen  Blick  auf  diese  Schandschrift  werfe,  fühle  ich  mein 
ganzes  Wesen  beben.  Wer  sind  denn  die,  welche  Danton 
nötigen  mußten,  sich  an  jenem  denkwürdigen  Tage  (d. 
10.  August)  zu  zeigen.^  Wer  sind  denn  die  privilegierten 
Wesen,  von  denen  er  seine  Energie  borgte: — Meine  An- 
kläger mögen  erscheinen!  Ich  bin  ganz  bei  Sinnen,  wenn 
ich  es  verlange.  Ich  werde  die  platten  Schiurken  entlarven 
und  sie  in  das  Nichts  zurückschleudern,  aus  dem  sie  nie 
hätten  hervorkriechen  sollen. 

HERRMANN  {schellt).  Hören  Sie  die  Klingel  nichtr 
DANTON.  Die  Stimme  eines  Menschen,  welcher  seine 
Ehre  und  sein  Leben  verteidigt,  muß  deine  Schelle  über- 
schreien. 

Ich  habe  im  September  die  junge  Brut  der  Revolution 
mit  den  zerstückten  Leibern  der  Aristokraten  geätzt. 
Meine  Stimme  hat  aus  dem  Golde  der  Aristokraten  und 
Reichen  dem  Volke  Waffen  geschmiedet.  Meine  Stimme 
war  der  Orkan,  welcher  die  Satelliten  des  Despotismus 
unter  Wogen  von  Bajonetten  begrub.  {Lauter  Beifall.) 
HERRMANN.  Danton,  Ihre  Stimme  ist  erschöpft,  Sie 
sind  zu  heftig  bewegt.  Sie  werden  das  nächste  Mal  Ihre 
Verteidigung  beschließen,  Sie  haben  Ruhe  nötig.— Die 
Sitzung  ist  aufgehoben. 

DANTON.  Jetzt  kennt  Ihr  Danton—,  noch  wenige  Stun- 
den, und  er  wird  in  den  Armen  des  Ruhmes  entschlum- 
mern. 


DAS  LUXEMBURG.  EIN  KERKER 

Dillon,  Laflotte.,   ein  Gefangenwärter. 
DILLON.    Kerl,  leuchte  mir  mit  deiner  Nase  nicht  so 
ins  Gesicht.  Hä,  hä,  hä! 

L AFLOTTE.  Halte  den  Mund  zu,  deine  Mondsichel  hat 
einen  Hof.  -HH;ä,  hä,  hä! 

WÄRTER.    Hä,  hä,  hä!    Glaubt  Ihr,  Herr,  daß  Ihr  bei 
ihrem  Schein  lesen  könntet:  {Zeigt  auf  einen  Zettel^  den 
er  in  der  Hand  hält.) 
DILLON.   Gib  her! 


58  DICHTUNGEN 

WÄRTER.   Herr,  meine  Mondsichel  hat  Ebbe  bei  mir 
gemacht. 

LAFLOITE.  Deine  Hosen  sehen  aus,  als  ob  Flut  wäre. 
WÄRTER.  Nein,  sie  zieht  Wasser.  {Zu  Dillon:)  Sie  hat  sich 
vor  Eurer  Sonne  verkrochen,  Herr;  Ihr  müßt  mir  was  geben, 
das  sie  wieder  feiu"ig  macht,  wenn  Ihr  dabei  lesen  wollt. 
DILLON:  Da,  Kerl!  Pack  dich!  {Er  gibt  ihm  Geld.  Wärter 
ab. — Dillon  liest:)  Danton  hat  das  Tribunal  erschreckt,  die 
Geschwornen  schwankten,  die  Zuhörer  murrten.  Der  Zu- 
drang  war  außerordentlich.  Das  Volk  drängte  sich  um  den 
Justizpalast  und  stand  bis  zu  den  Brücken.  Eine  Hand- 
voll Geld,  ein  Arm  endlich — hm!  hm!  {Er  geht  auf  und 
ab  und  schenkt  sich  von  Zeit  zu  Zeit  aus  einer  Flasche  ein.) 
Hätt  ich  nur  den  Fuß  auf  der  Gasse!  Ich  werde  mich  nicht 
so  schlachten  lassen.  Ja,  nur  den  Fuß  auf  der  Gasse! 
LAFLOTTE.  Und  auf  dem  Karren,  das  ist  eins. 
DILLON.  Meinst  du:  Da  lägen  noch  ein  paar  Schritte 
dazwischen,  lang  genug,  um  sie  mit  den  Leichen  der  De- 
zemvirn  zu  messen. — Es  ist  endlich  Zeit,  daß  die  recht- 
schaffnen Leute  das  Haupt  erheben. 
LAFLOTTE  {für  sich).  Desto  besser,  um  so  leichter  ist 
es  zu  treffen.  Nur  zu,  Alter;  noch  einige  Gläser,  und  ich 
werde  Üott. 

DILLON.  Die  Schurken,  die  Narren,  sie  werden  sich  zu- 
letzt noch  selbst  guillotinieren.  {Er  läuft  auf  und  ab.) 
LAFLOTFE  {beiseite).  Man  könnte  das  Leben  ordentlich 
wieder  liebhaben,  wie  sein  Kind,  wenn  man  sich's  selbst 
gegeben.  Das  kommt  gerade  nicht  oft  vor,  daß  man  so 
mit  dem  Zufall  Blutschande  treiben  und  sein  eigner  Vater 
werden  kann.  Vater  und  Kind  zugleich.  Ein  behaglicher 
Ödipus! 

DILLON.  Man  füttert  das  Volk  nicht  mit  Leichen;  Dan- 
tons  und  Camilles  Weiber  mögen  Assignaten  unter  das 
Volk  werfen,  das  ist  besser  als  Köpfe. 
LAFLOITE  [beiseite'].  Ich  würde  mir  hinfeennach  die 
Augen  nicht  ausreißen;  ich  könnte  sie  nötig  haben,  um 
den  guten  General  zu  beweinen. 

DILLON.    Die  Hand  an  Danton!    Wer  ist  noch  sicher.- 
Die  Furcht  wird  sie  vereinigen. 


DANTONS  TOD.  DRITTER  AKT  59 

LAFLOTTE  \beiseite\  Er  ist  doch  verloren.  Was  ist's 
denn,  wenn  ich  auf  eine  Leiche  trete,  um  aus  dem  Grab 
zu  klettern? 

DILLON.  Niu-  den  Fuß  auf  der  Gasse!  Ich  werde  Leute 
genug  finden,  alte  Soldaten,  Girondisten,  Exadlige;  wir 
erbrechen  die  Gefängnisse,  wir  müssen  uns  mit  den  Ge- 
fangnen verständigen. 

LAFLOTTE  \beiseite\.  Nun  freilich,  es  riecht  ein  wenig 
nach  Schufterei.  Was  tut's?  Ich  hätte  Lust,  auch  das  zu 
versuchen;  ich  war  bisher  zu  einseitig.  Man  bekommt 
Gewissensbisse,  das  ist  doch  eine  Abwechslung;  es  ist 
nicht  so  unangenehm,  seinen  eignen  Gestank  zu  riechen. 
— Die  Aussicht  auf  die  Guillotine  ist  mir  langweilig  ge- 
worden; so  lang  auf  die  Sache  zu  warten!  Ich  habe  sie 
im  Geist  schon  zwanzigmal  durchprobiert.  Es  ist  auch  gar 
nichts  Pikantes  mehr  dran;  es  ist  ganz  gemein  geworden. 
DILLON.  Man  muß  Dantons  Frau  ein  Billett  zukommen 
lassen. 

LAFLOTTE  \beiseite\.  Und  dann— ich  fürchte  den  Tod 
nicht,  aber  den  Schmerz.  Es  könnte  wehe  tun,  wer  steht 
mir  dafür?  Man  sagt  zwar,  es  sei  nur  ein  Augenblick;  aber 
der  Schmerz  hat  ein  feineres  Zeitmaß,  er  zerlegt  eine  Tertie. 
Nein!  Der  Schmerz  ist  die  einzige  Sünde,  und  das  Leiden 
ist  das  einzige  Laster;  ich  werde  tugendhaft  bleiben. 
DILLON.  Höre,  Laflotte,  wo  ist  der  Kerl  hingekommen? 
Ich  habe  Geld,  das  muß  gehen.  Wir  müssen  das  Eisen 
schmieden;  mein  Plan  ist  fertig. 

LAFLOTTE.  Gleich,  gleich!  Ich  kenne  den  Schließer, 
ich  werde  mit  ihm  sprechen.  Du  kannst  auf  mich  zählen, 
General,  wir  werden  aus  dem  Loch  kommen — [für  sich 
im  Hinausgehn:)  um  in  ein  anderes  zu  gehen:  ich  in  das 
weiteste,  die  Welt,  er  in  das  engste,  das  Grab. 

DER  WOHLFAHRTSAUSSCHUSS 

St.  Just ^  Barrere^    Collot  d'Herbois,  Billaud-Varennes . 
BARRERE.   Was  schreibt  Fouquier? 
ST.  JUST.   Das  zweite  Verhör  ist  vorbei.   Die  Gefangnen 
verlangen  das  Erscheinen  mehrerer  Mitglieder  des  Kon- 


6o  DICHTUNGEN 

vents  lind  des  Wohlfahrtsausschusses;  sie  appellierten  an 
das  Volk,  wegen  Verweigerung  der  Zeugen.  Die  Bewe- 
gung der  Gemüter  soll  unbeschreiblich  sein. — Danton 
parodierte  den  Jupiter  und  schüttelte  die  Locken. 
COLLOT.  Um  so  leichter  wird  ihn  Samson  daran  packen. 
BARRERE.  Wir  dürfen  uns  nicht  zeigen,  die  Fischweiber 
und  die  Lumpensammler  könnten  uns  weniger  imposant 
finden. 

BILLAUD.  Das  Volk  hat  einen  Instinkt,  sich  treten  zu 
lassen,  und  wäre  es  nur  mit  Blicken;  dergleichen  insolente 
Physiognomien  gefallen  ihm.  Solche  Stirnen  sind  ärger 
als  ein  adliges  Wappen,  der  feine  Aristokratismus  der 
Menschenverachtung  sitzt  auf  ihnen.  Es  sollte  sie  jeder 
einschlagen  helfen,  den  es  verdrießt,  einen  Blick  von 
oben  herunter  zu  erhalten. 

BARRERE.  Er  ist  wie  der  hörnerne  Siegfried,  das  Blut 
der  Septembrisierten  hat  ihn  unverwundbar  gemacht. — 
Was  sagt  Robespierre? 

ST.  JUST.  Er  tut,  als  ob  er  etwas  zu  sagen  hätte. — Die 
Geschwornen  müssen  sich  für  hinlänglich  unterrichtet  er- 
klären und  die  Debatten  schließen. 
BARRERE.  Unmöglich,  das  geht  nicht. 
ST.  JUST.  Sie  müssen  weg,  um  jeden  Preis,  und  sollten 
wir  sie  mit  den  eignen  Händen  erwürgen.  Wagt!  Danton 
soll  uns  das  Wort  nicht  umsonst  gelehrt  haben.  Die  Revo- 
lution wird  über  ihre  Leichen  nicht  stolpern;  aber  bleibt 
Danton  am  Leben,  so  wird  er  sie  am  Gewand  fassen,  und 
er  hat  etwas  in  seiner  Gestalt,  als  ob  er  die  Freiheit  not- 
züchtigen könnte.   (St.  Just  ivird  /linausgeri/fen.) 

Ein  Schließer  tritt  ein. 
SCHLIESSER.   In  St.  Pelagie  liegen  Gefangne  am  Ster- 
ben, sie  verlangen  einen  Arzt. 

BILLAUD.  Das  ist  unnötig,  so  viel  Mühe  weniger  für 
den  Scharfrichter. 

SCHLIESSER.  Es  sind  schwangere  Weiber  dabei. 
BILLAUD.  Desto  besser,  da  brauchen  ihre  Kinder  keinen 
Sarg.    ^ 
BARRERE.   Die  Schwindsucht  eines  Aristokraten  spart 


DANTONS  TOD.   DRITTER  AKT  6i 

dem  Revolutionstribunal  eine  Sitzung.  Jede  Arznei  wäre 
contrerevolutionär. 

COLTOT  {iiimmt  ein  Papier).  Eine  Bittschrift,  ein  Weiber- 
name! 

BARRERE.  Wohl  eine  von  denen,  die  gezwungen  sein 
möchten,  zwischen  einem  Guillotinenbrett  und  dem  Bett 
eines  Jakobiners  zu  wählen.  Die  wie  Lukretia  nach  dem 
Verlust  ihrer  Ehre  sterben,  aber  etwas  später  als  die 
Römerin:  im  Kindbett  oder  am  Krebs  oder  aus  Alters- 
schwäche.— Es  mag  nicht  so  unangenehm  sein,  einen Tar- 
quinius  aus  der  Tugendrepublik  einer  Jungfrau  zu  treiben. 
COLLOT.  Sie  ist  zu  alt.  Madame  verlangt  den  Tod,  sie 
weiß  sich  auszudrücken:  das  Gefängnis  liege  auf  ihr  wie 
ein  Sargdeckel;  sie  sitzt  erst  seit  vier  Wochen.  Die  Ant- 
wort ist  leicht  [er  scJweibt  und  liest):  "Bürgerin,  es  ist  noch 
nicht  lange  genug,  daß  du  den  Tod  wünschest.''  [Se/iließer 

BARRERE.  Gut  gesagt!  Aber,  Collot,  es  ist  nicht  gut, 
daß  die  Guillotine  zu  lachen  anfängt;  die  Eeute  haben 
sonst  keine  Furcht  mehr  davor;  man  muß  sich  nicht  so 
familiär  machen. 

St.  Just  kommt  zurück. 
ST.  JUST.  Eben  erhalte  ich  eine  Denunziation.  Man  kon- 
spiriert in  den  Gefängnissen;  ein  junger  Mensch  namens 
Latlotte  hat  alles  entdeckt.   Er  saß  mit  Dillon  im  näm- 
lichen Zimmer,  Dillon  hat  getrunken  und  geplaudert. 
BxA.RRERE.    Er  schneidet  sich  mit  seiner  Bouteille  den 
Hals  ab;  das  ist  schon  mehr  vorgekommen. 
ST.  JUST.    Dantons  und  Camilles  Weiber  sollen  Geld 
unter  das  Volk  werfen,  Dillon  soll  ausbrechen,  man  will 
die  Gefangnen  befreien,  der  Konvent  soll  gesprengt  werden. 
BARRERE.  Das  sind  Märchen. 

ST.  JUST.  Wir  werden  sie  aber  mit  dem  Märchen  in 
Schlaf  erzählen.  Die  Anzeige  habe  ich  in  Händen;  dazu 
die  Keckheit  der  Angeklagten,  das  Murren  des  Volks,  die 
Bestürzung  der  Geschwornen — ich  werde  einen  Bericht 
machen. 
BARRERE.  Ja,  geh,  St.  Just,  und  spinne  deine  Perioden, 


62  DICHTUNGEN 

worin  jedes  Komma  ein  Säbelhieb  mid  jeder  Pmikt  ein 
abgeschlagner  Kopf  ist! 

ST.  JUST.  Der  Konvent  muß  dekretieren,  das  Tribunal 
solle  ohne  Unterbrechung  den  Prozeß  fortführen  und  dürfe 
jeden  Angeklagten,  welcher  die  dem  Gerichte  schuldige 
Achtung  verletzte  oder  störende  Auftritte  veranlaßte,  von 
den  Debatten  ausschließen. 

BARRERE.  Du  hast  einen  revolutionären  Instinkt;  das 
lautet  ganz  gemäßigt  und  wird  doch  seine  Wirkung  tun. 
Sie  können  nicht  schweigen,  Danton  muß  schreien. 
ST.  JUST.  Ich  zähle  auf  eure  Unterstützung.  Es  gibt 
Leute  im  Konvent,  die  ebenso  krank  sind  wie  Danton 
und  welche  die  nämliche  Kur  fürchten.  Sie  haben  wieder 
Mut  bekommen,  sie  werden  über  Verletzung  der  Formen 
sclireien  .  .  . 

BARRERE  {ihn  unterbrechend^.  Ich  werde  ihnen  sagen: 
Zu  Rom  wurde  der  Konsul,  welcher  die  Verschwörung 
des  Katilina  entdeckte  und  die  Verbrecher  auf  der  Stelle 
mit  dem  Tod  bestrafte,  der  verletzten  Förmlichkeit  an- 
geklagt. Wer  waren  seine  Ankläger? 
COLLOT  {niit  Pathos).  Geh,  St.  Just!  Die  Lava  der  Re- 
volution fließt.  Die  Freiheit  wird  die  Schwächlinge,  welche 
ihren  mächtigen  Schoß  befruchten  wollten,  in  ihren  Um- 
armimgen  ersticken;  die  Majestät  des  Volks  wird  ihnen 
wie  Jupiter  der  Semele  unter  Donner  und  Blitz  erscheinen 
und  sie  in  Asche  verwandeln.  Geh,  St.  Just,  wir  werden 
dir  helfen,  den  Donnerkeil  auf  die  Häupter  der  Feiglinge 
zu  schleudern!  (St.  Just  ab.) 

BARRERE.   Hast  du  das  Wort  Kur  gehört?  Sie  werden 
noch  aus  der  Guillotine  ein  Spezifikum  gegen  die  Lust- 
seuche machen.   Sie  kämpfen  nicht  mit  den  Moderierten, 
sie  kämpfen  mit  dem  Laster. 
BILLAUD.  Bis  jetzt  geht  unser  Weg  zusammen. 
BARRERE.   Robespierre  will  aus  der  Revolution  einen 
Hörsaal  für  Moral  machen  und  die  Guillotine  als  Katheder 
gebrauchen. 
BILLAUD.   Oder  als  Betschemel. 


DANTONS  TOD.  DRIITER  AKT  63 

COLLOT.  Auf  dem  er  aber  alsdann  nicht  stehen,  sondern 
liegen  soll. 

BARRERE.  Das  wii'd  leicht  gehen.  Die  Welt  müßte  auf 
dem  Kopf  stehen,  wenn  die  sogenannten  Spitzbuben  von 
den  sogenannten  rechtlichen  Leuten  gehängt  werden 
sollten. 

COLLOT  {zu  Bai'rert-).  AVann  kommst  du  wieder  nach 
Clichy.- 

BARRERE.   Wenn  der  Arzt  nicht  mehr  zu  mir  kommt. 
COLLOT.  Nicht  wahr,  über  dem  Ort  steht  ein  Haarstern, 
unter  dessen  versengenden  Strahlen  dein  Rückenmark  ganz 
ausgedörrt  wird.' 

BILLAUD.  Nächstens  werden  die  niedlichen  Finger  der 
reizenden  Demaly  es  ihm  aus  dem  Futterale  ziehen  und 
es  als  Zöpfchen  über  den  Rücken  hinunterhängen  machen. 
BARRERE  {zuckt  die  Achseln).  Pst!  davon  darf  der  1\i- 
gendhafte  nichts  wissen, 
BILLAUD.  Er  ist  ein  impotenter  Masonet. 
{Billaud  und  Collot  ab.) 

BARRERE  {allehi).  Die  Ungeheuer!— "Es  ist  noch  nicht 
lange  genug,  daß  du  den  Tod  wünschest!"  Diese  Worte 
hätten  die  Zunge  müssen  verdorren  machen,  die  sie  ge- 
sprochen. 

Und  ich: — Als  die  Septembriseurs  in  die  Gefängnisse 
drangen,  faßt  ein  Gefangner  sein  Messer,  er  drängt  sich 
unter  die  Mörder,  er  stößt  es  in  die  Brust  eines  Priesters, 
er  ist  gerettet!  Wer  kann  w^as  dawider  haben?  Ob  ich 
mich  nun  unter  die  Mörder  dränge  oder  mich  in  den  Wohl- 
fahrtsausschuß setze,  ob  ich  ein  Guillotinen-  oder  ein 
Taschenmesser  nehme.-  Es  ist  der  nämhche  Fall,  nur  mit 
etwas  verwickeiteren  Umständen;  die  Grundverhältnisse 
sind  sich  gleich. — Und  dürft  er  einen  morden,  dürft  er  auch 
zwei,  auch  drei,  auch  noch  mehr:  wo  hört  das  auf:  Da 
kommen  die  Gerstenkörner,  machen  zwei  einen  Haufen, 
drei,  vier,  wieviel  dann?  Komm  mein  Gewissen,  komm 
mein  Hühnchen,  komm  bi,  bi,  bi,  da  ist  Futter! 
Doch — war  ich  auch  Gefangner?  Verdächtig  war  ich,  das 
läuft  auf  eins  hinaus;  der  Tod  war  mir  gewiß.  {Ab?j 


64  DICHTUNGEN 

DIE  CONCIERGERIE 

Lacroix,  Danton^  Fhilippeau,  Cainille. 
LACROIX.  Du  hast  gut  geschrien,  Danton;  hättest  du 
dich  etwas  früher  so  um  dein  Leben  gequält,  es  wäre  jetzt 
anders.  Nicht  wahr,  wenn  der  Tod  einem  so  unverschämt 
nahekommt  und  so  aus  dem  Hals  stinkt  und  immer  zu- 
dringlicher wird: 

CAMILLE.  Wenn  er  einen  noch  notzüchtigte  und  seinen 
Raub  unter  Ringen  und  Kampf  aus  den  heißen  Gliedern 
riß!  Aber  so  in  allen  Formalitäten  wie  bei  der  Hochzeit 
mit  einem  alten  Weibe,  wie  die  Pakten  aufgesetzt,  wie 
die  Zeugen  gerufen,  wie  das  Amen  gesagt  und  wie  dann 
die  Bettdecke  gehoben  wird  und  es  langsam  hereinkriecht 
mit  seinen  kalten  Gliedernl 

DANTON.  War  es  ein  Kampf,  daß  die  Arme  und  Zähne 
einander  packten!  Aber  es  ist  mir,  als  wäre  ich  in  ein 
Mühlwerk  gefallen,  und  die  Glieder  würden  mir  langsam 
systematisch  von  der  kalten  physischen  Gewalt  abgedreht. 
So  mechanisch  getötet  zu  werden! 

CAMILLE.  Und  dann  daliegen  allein,  kalt,  steif  in  dem 
feuchten  Dunst  der  Fäulnis — vielleicht,  daß  einem  der  Tod 
das  Leben  langsam  aus  den  Fibern  martert — mit  Bewußt- 
sein vielleicht  sich  wegzufaulen! 

PHILIPPEAU.  Seid  ruhig,  meine  Freunde!  Wir  sind  wie 
die  Herbstzeitlose,  welche  erst  nach  dem  Winter  Samen 
trägt.  Von  Blumen,  die  versetzt  werden,  unterscheiden 
wir  uns  nur  dadurch,  daß  wir  über  dem  Versuch  ein  wenig 
stinken.  Ist  das  so  arg: 

DANTON.  Eine  erbauliche  Aussicht!  Von  einem  Mist- 
haufen auf  den  andern!  Nicht  wahr,  die  göttliche  Klassen- 
theorie r  Von  Prima  nach  Sekunda,  von  Sekunda  nach 
Tertia  und  so  weiter?  Ich  habe  die  Schulbänke  satt,  ich 
habe  mir  Gesäßschwielen  wie  ein  Affe  darauf  gesessen. 
PHILIPPEAU.  Was  willst  du  denn.- 
D ANTON.  Ruhe. 
PHILIPPEAU.   Die  ist  in  Gott. 

DANTON.  Im  Nichts.  Versenke  dich  in  was  Ruhigers 
als  das  Nichts,  und  wenn  die  höchste  Ruhe  Gott  ist,  ist 
nicht  das  Nichts  Gott?  Aber  ich  bin  ein  Atheist.   Der  ver- 


DAXTOXS  TOD.   DRITTER  AKT  65 

fluchte  Satz:  etwas  kann  nicht  zu  nichts  werden!  Und  ich 
bin  etwas,  das  ist  der  Jammer! — Die  Schöpfung  hat  sich 
so  breit  gemacht,  da  ist  nichts  leer,  alles  voll  Gewimmels. 
Das  Nichts  hat  sich  ermordet,  die  Schöpfung  ist  seine 
Wunde,  wir  sind  seine  Blutstropfen,  die  Welt  ist  das  Grab, 
worin  es  fault. — Das  lautet  verrückt,  es  ist  aber  doch  was 
Wahres  daran. 

CAMILLE.  Die  Welt  ist  der  ewige  Jude,  das  Nichts  ist 
der  Tod,  aber  er  ist  unmöglich.  O,  nicht  sterben  können, 
nicht  sterben  können!  wie  es  im  Lied  heißt. 
DANTON.  Wir  sind  alle  lebendig  begraben  und  wie 
Könige  in  drei-  oder  vierfachen  Särgen  beigesetzt,  unter 
dem  Himmel,  in  unsern  Häusern,  in  unsern  Röcken  und 
Hemden. — Wir  kratzen  fünfzig  Jahre  lang  am  Sargdeckel. 
Ja,  wer  an  A^ernichtung  glauben  könnte!  dem  wäre  ge- 
holfen.— Da  ist  keine  Hoffnung  im  Tod;  er  ist  nur  eine 
einfachere,  das  Leben  eine  verwickeitere,  organisiertere 
Fäulnis,  das  ist  der  ganze  Unterschied! — Aber  ich  bin 
gerad  einmal  an  diese  Art  des  Faulens  gewöhnt;  der 
Teufel  weiß,  wie  ich  mit  einer  andern  zurechtkomme. 
O  Julie!  Wenn  ich  allein  ginge!  Wenn  sie  mich  einsam 
ließe! — Und  wenn  ich  ganz  zerfiele,  mich  ganz  auflöste: 
ich  wäre  eine  Handvoll  gemarterten  Staubes,  jedes  meiner 
Atome  könnte  nur  Ruhe  finden  bei  ihr. — Ich  kann  nicht 
sterben,  nein,  ich  kann  nicht  sterben.  Wir  müssen  schreien; 
sie  müssen  mir  jeden  Lebenstropfen  aus  den  Gliedern 
reißen. 

EIN  ZIiMMER 
Foiiquiei'.   Amar.    Vouland. 
FOUQUTER.   Ich  weiß  nicht  mehr,   was  ich  antworten 
soll;  sie  fordern  eine  Kommission. 

AMAR.   Wir  haben  die   Schurken — da  hast  du,  was  du 
verlangst.   (Er  überreicht  Foitquier  ein  Papier.) 
VOULAND.   Das  wird  sie  zufriedenstellen. 
FOUQUIER.   Wahrhaftig,  das  hatten  wir  nötig. 
AMAR.   Nun  mache,  daß  wir  und  sie  die  Sache  vom  Hals 
bekommen. 

BÜCHNER  =;. 


66  DICHTUNGEN 

DAS  REVOLUTIONSTRIBUNAL 
DANTON.  Die  Republik  ist  in  Gefahr,  und  er  hat  keine 
Instruktion!  Wir  appellieren  an  das  Volk;  meine  Stimme 
ist  noch  stark  genug,  um  den  Dezemvirn  die  Leichenrede 
zu  halten.— Ich  wiederhole  es,  wir  verlangen  eine  Kom- 
mission; wir  haben  wichtige  Entdeckungen  zu  machen. 
Ich  werde  mich  in  die  Zitadelle  der  Vernunft  zurückziehen, 
ich  werde  mit  der  Kanone  der  Wahrheit  hervorbrechen 
und  meine  Feinde  zermalmen.   (Zeichen  des  Beifalls.) 

Fouquier^  Amar  und  Vouland  treten  ein. 
FOUQUIER.  Ruhe  im  Namen  der  Republik,  Achtung 
dem  Gesetz!  Der  Konvent  beschließt: 
In  Betracht,  daß  in  den  Gefängnissen  sich  Spuren  von 
Meutereien  zeigen,  in  Betracht,  daß  Dantons  und  Camilles 
Weiber  Geld  unter  das  Volk  werfen  und  daß  der  General 
Dillon  ausbrechen  und  sich  an  die  Spitze  der  Empörer 
stellen  soll,  um  die  Angeklagten  zu  befreien,  in  Betracht 
endlich,  daß  diese  selbst  unruhige  Auftritte  herbeizuführen 
sich  bemüht  und  das  Tribunal  zu  beleidigen  versucht  haben, 
wird  das  Tribunal  ermächtigt,  die  Untersuchung  ohne  Un- 
terbrechung fortzusetzen  und  jeden  Angeklagten,  der  die 
dem  Gesetze  schuldige  Ehrfurcht  außer  Augen  setzen 
sollte,  von  den  Debatten  auszuschließen. 
DANTON.  Ich  frage  die  Anwesenden,  ob  wir  dem  Tri- 
bunal, dem  Volke  oder  dem  Nationalkonvent  Hohn  ge- 
sprochen haben? 

VIELE  STIMMEN.   Nein!   Nein! 

CAMILLE.    Die  Elenden,  sie  wollen  meine  Lucile  mor- 
den! 

DANTON.  Eines  Tages  wird  man  die  Wahrheit  erkennen. 
Ich  sehe  großes  Unglück  über  Frankreich  hereinbrechen. 
Das  ist  die  Diktatur;  sie  hat  ihren  Schleier  zerrissen,  sie 
trägt  die  Stirne  hoch,  sie  schreitet  über  unsere  Leichen. 
(AiifAma?'  und  Vouland  deutend:)  Seht  da  die  feigen  Mör- 
der, seht  da  die  Raben  des  Wohlfahrtsausschusses! 
Ich  klage  Robespierre,  St.  Just  und  ihre  Henker  des  Hoch- 
verrats an.— Sie  wollen  die  Republik  im  Blut  ersticken. 
Die  Gleisen  der  Guillotinenkarren  sind  die  Heerstraßen, 


DANTONS  TOD.   DRITTER  AKT  67 

auf  welchen  die  Fremden  in  das  Herz  des  Vaterlandes 
dringen  sollen. 

Wie  lange  sollen  die  Fußstapfen  der  Freiheit  Gräber  sein? 
—Ihr  wollt  Brot,  und  sie  werfen  euch  Köpfe  hin!  Ihr 
durstet,  und  sie  machen  euch  das  Blut  von  den  Stufen 
der  Guillotine  lecken!  [Heftige  Bewegung  unter  den  Zu- 
hörern^ Geschrei  des  Beifalls^  viele  Stimm e7i:  Es  lebe 
Danton^  Glieder  mit  den  Dezemvirnl — Die  Gefangne7i  werden 
mit  Gewalt  hinausgefüh7't.) 


PLATZ  VOR  DEM  JUSTIZPALAST 

Eifi  Volkshaufe. 
EINIGE  STIMMEN.  Nieder  mit  den  Dezemvirn!  Es  lebe 
Danton! 

ERSTER  BÜRGER.  Ja,  das  ist  wahr.  Köpfe  statt  Brot, 
Blut  statt  Wein! 

EINIGE  WEIBER.  Die  Guillotine  ist  eine  schlechte  Mühle 
und  Samson  ein  schlechter  Bäckerknecht;  wir  wollen  Brot, 
Brot! 

ZWEITER  BÜRGER.  Euer  Brot,  das  hat  Danton  ge- 
fressen. Sein  Kopf  wird  euch  allen  wieder  Brot  geben, 
er  hatte  recht. 

ERSTER  BÜRGER.  Danton  war  unter  uns  am  10.  Au- 
gust, Danton  war  unter  uns  im  September.  Wo  waren  die 
Leute,  welche  ihn  angeklagt  haben? 
ZWEITER  BÜRGER.  Und  Lafayette  war  mit  euch  in 
Versailles  und  war  doch  ein  Verräter. 
ERSTER  BÜRGER.  Wer  sagt,  daß  Danton  ein  Ver- 
räter sei? 

ZWEITER  BÜRGER.   Robespierre. 
ERSTER  BÜRGER.    Und  Robespierre  ist  ein  Verräter! 
ZWEITER  BÜRGER.  Wer  sagt  das? 
ERSTER  BÜRGER.   Danton. 

ZW^EITER  BÜRGER.  Danton  hat  schöne  Kleider,  Dan- 
ton hat  ein  schönes  Haus,  Danton  hat  eine  schöne  Frau, 
er  badet  sich  in  Burgunder,  ißt  das  Wildbret  von  silbernen 
Tellern  und  schläft  bei  errren  Weibern  und  Töchtern,  wenn 


68  DICHTUNGEN 

er  betrunken  ist.— Danton  war  arm  wie  ihr.  Woher  hat 
er  das  alles:  Das  Veto  hat  es  ihm  gekauft,  damit  er  ihm 
die  Krone  rette.  Der  Herzog  von  Orleans  hat  es  ihm  ge- 
schenkt, damit  er  ihm  die  Krone  stehle.  Der  Fremde  hat 
es  ihm  gegeben,  damit  er  euch  alle  verrate. — Was  hat 
Robespierre.'  Der  tugendhafte  Robespierre!  Ihr  kennt 
ihn  alle. 

ALLE.  Es  lebe  Robespierre!  Nieder  mit  Danton!  Nieder 
mit  dem  Verräter! 


[VIERTER]  AKT 

[EIN  ZIMMER] 
Julie^  ein  Knabe. 

JULIE.  Es  ist  aus.  Sie  zitterten  vor  ihm.  Sie  töten  ihn 
aus  Fiu'cht.  Geh!  ich  habe  ihn  zum  letztenmal  gesehen; 
sag  ihm,  ich  könne  ihn  nicht  so  sehen,  {ßie  gibt  i/un  eine 
Locke.)  Da,  bring  ihm  das  und  sag  ihm,  er  würde  nicht 
allein  gehn — er  versteht  mich  schon.  Und  dann  schnell 
zurück,  ich  will  seine  Blicke  aus  deinen  Ausfen  lesen. 


EINE  STRASSE 
Dumas.   Ein  Bürger. 

BÜRGER.  Wie  kann  man  nach  einem  solchen  Verhör 
so  viel  Unschuldige  zum  Tod  verurteilen: 
DUMAS.  Das  ist  in  der  Tat  außerordentlich;  aber  die 
Revolutionsmänner  haben  einen  Sinn,  der  andern  Men- 
schen fehlt,  und  dieser  Sinn  trügt  sie  nie. 
BÜRGER.  Das  ist  der  Sinn  des  Tigers. — Du  hast  ein 
Weib. 

DUMAS.   Ich  werde  bald  eins  gehabt  haben. 
BÜRGER.    So  ist  es  denn  wahr.^ 

DUMAS.  Das  Revolutionstribunal  wird  unsere  Eheschei- 
dung aussprechen;  die  Guillotine  wird  uns  von  Tisch  und 
Bett  trennen. 


DANTOXS  TOD.   VIERTER  AKT  69 

BÜRGER.  Du  bist  ein  Ungeheuer! 

DUMAS.   Schwachkopf!   Du  bewunderst  Brutus? 

BÜRGER.  Von  ganzer  Seele. 

DUMAS.  Muß  man  denn  gerade  römischer  Konsul  sein 

und  sein  Haupt  mit  der  Toga  verhüllen  können,  um  sein 

Liebstes  dem  Vaterlande  zu  opfern.-    Ich  werde  mir  die 

Augen  mit  dem  Ärmel  meines  roten  Fracks  abwischen; 

das  ist  der  ganze  Unterschied. 

BÜRGER.    Das  ist  entsetzlich! 

DUMAS.   Geh,  du  begreifst  mich  nicht!   {Sie  gehen  ab.) 


DIE  CONCIERGERIE 

Lacroix^  Htrault  auf  einem  Bett^   Danton., 
Camille  auf  einem  andern. 
LACROIX.   Die  Haare  wachsen  einem  so  und  die  Nägel, 
man  muß  sich  wirklich  schämen. 

HERAULT.    Nehmen   Sie  sich  ein  wenig  in  acht,   Sie 
niesen  mir  das  ganze  Gesicht  voll  Sand! 
LACROIX.  Und  treten  Sie  mir  nicht  so  auf  die  Füße, 
Bester,  ich  habe  Hühneraugen! 
HßRAULT.   Sie  leiden  noch  an  Ungeziefer. 
LACROIX.  Ach,  wenn  ich  nur  einmal  die  Würmer  ganz 
los  wäre! 

HERAULT.  Nun,  schlafen  Sie  wohl!  wir  müssen  sehen, 
wie  wir  miteinander  ziu-echtkommen,  wir  haben  wenig 
Raum. — Kratzen  Sie  mich  nicht  mit  Ihren  Nägeln  im 
Schlaf! — So! — Zerren  Sie  nicht  so  am  Leichtuch,  es  ist 
kalt  da  unten! — 

DANTON.  Ja,  Camille,  morgen  sind  wir  durchgelaufne 
Schuhe,  die  man  der  Bettlerin  Erde  in  den  Schoß  wirft. 
CAMILLE.  Das  Rindsleder,  woraus  nach  Piaton  die  Engel 
sich  Pantoffeln  geschnitten  und  damit  auf  der  Erde  herum- 
tappen. Es  geht  aber  auch  danach. — Meine  Lucile! 
DANTON.    Sei  ruhig,  mein  Junge! 

CAMILLE.  Kann  ich's:  Glaubst  du,  Danton.-  Kann  ich's.- 
Sie  können  die  Hände  nicht  an  sie  legen!  Das  Licht  der 
Schönheit,  das  von  ihrem  süßen  Leib  sich  ausgießt,  ist 


DICHTUNGEN 

unlöschbar.  Sieh,  die  Erde  würde  nicht  wagen,  sie  zu  ver- 
schütten; sie  würde  sich  um  sie  wölben,  der  Grabdunst 
würde  wie  Tau  an  ihren  Wimpern  funkeln,  Kristalle  wür- 
den wie  Blumen  um  ihre  Glieder  sprießen  und  helle  Quel- 
len in  Schlaf  sie  murmeln. 
DANTON.   Schlafe,  mein  Junge,  schlafe! 
CAMILLE.    Höre,    Danton,    unter  uns  gesagt,  es  ist  so 
elend,  sterben  müssen.    Es  hilft  auch  zu  nichts.    Ich  will 
dem  Leben  noch  die  letzten  Blicke  aus  seinen  hübschen 
Augen  stehlen,  ich  will  die  Augen  offen  haben. 
DANTON.   Du  wirst  sie  ohnehin  offen  behalten,  Samson 
drückt  einem  die  Augen  nicht  zu.    Der  Schlaf  ist  barm- 
herziger.  Schlafe,  mein  Junge,  schlafe! 
CAMILLE.   Lucile,  deine  Küsse  phantasieren  auf  meinen 
Lippen;  jeder  Kuß  wird  ein  Traum,  meine  Augen  sinken 
und  schließen  ihn  fest  ein. — 

DANTON.  Will  denn  die  Uhr  nicht  ruhen.-  Mit  jedem 
Picken  schiebt  sie  die  Wände  enger  um  mich,  bis  sie  so 
eng  sind  wie  ein  Sarg. — Ich  las  einmal  als  Kind  so  'ne 
Geschichte,  die  Haare  standen  mir  zu  Berg. 
Ja,  als  Kind!  Das  war  der  Mühe  wert,  mich  so  groß  zu 
füttern  und  mich  warm  zu  halten.  Bloß  Arbeit  für  den 
Totengräber! 

Es  ist  mir,  als  roch  ich  schon.  Mein  lieber  Leib,  ich  will 
mir  die  Nase  zuhalten  und  mir  einbilden,  du  seist  ein 
Frauenzimmer,  was  vom  Tanzen  schwitzt  und  stinkt,  und 
dir  Artigkeiten  sagen.  Wir  haben  uns  sonst  schon  mehr 
miteinander  die  Zeit  vertrieben. 

Morgen  bist  du  eine  zerbrochne  Fiedel;  die  Melodie  dar- 
auf ist  ausgespielt.  Morgen  bist  du  eine  leere  Bouteille; 
der  Wein  ist  ausgetrunken,  aber  ich  habe  keinen  Rausch 
davon  und  gehe  nüchtern  zu  Bett — das  sind  glückliche 
Leute,  die  sich  noch  besaufen  können.  Morgen  bist  du 
eine  durchgerutschte  Hose;  du  wirst  in  die  Garderobe  ge- 
worfen, und  die  Motten  werden  dich  fressen,  du  magst 
stinken,  wie  du  willst. 

Ach,  das  hilft  nichts!  Jawohl  ist's  so  elend,  sterben  müssen. 
Der  Tod  äfft  die  Geburt;  beim  Sterben  sind  wir  so  hilf- 
los  und   nackt   wie   neugeborne   Kinder.    Freilich,    wir 


DANTONS  TOD.   VIERI  ER  AKl'  7 1 

bekommen  das  Leichentuch  zm-  Windel.  Was  wird  es 
helfen:  Wir  können  im  Grab  so  gut  wimmern  wie  in  der 
Wiege. 

Camille!  Er  schläft;  {indem  er  sich  über  ihn  bückt:)  ein 
Traum  spielt  zwischen  seinen  Wimpern.  Ich  will  den 
goldnen  Tau  des  Schlafes  ihm  nicht  von  den  Augen 
streifen. 

[Er  erhebt  sich  und  tritt  ans  Fenster.)  Ich  werde  nicht 
allein  gehn:  ich  danke  dir,  Julie!  Doch  hätte  ich  anders 
sterben  mögen,  so  ganz  mühelos,  so  wie  ein  Stern  fällt, 
wie  ein  Ton  sich  selbst  aushaucht,  sich  mit  den  eignen 
Lippen  totküßt,  wie  ein  Lichtstrahl  in  klaren  Fluten  sich 
begräbt. — 

Wie  schimmernde  Tränen  sind  die  Sterne  durch  die  Nacht 
gesprengt;  es  muß  ein  großer  Jammer  in  dem  Aug  sein, 
von  dem  sie  abträufelten. 

CAMILLE.  O!  (Er  hat  sich  aufgerichtet  und  tastet  ?iach 
der  Decke.) 

DANTON.  Was  hast  du,  Camille: 
CAMILLE.  O,  o! 

DANTON  {schiitte/t  ihn).  Willst  du  die  Decke  herunter- 
kratzen: 

CAMILLE.   Ach  du,  du— o  halt  mich!  sprich,  du! 
DANTON.    Du  bebst  an    allen  Gliedern,    der  Schweiß 
steht  dir  auf  der  Stirne. 

CAMILLE.  Das  bist  du,  das  ich — so!  Das  ist  meine 
Hand!  Ja,  jetzt  besinn  ich  mich.  O  Danton,  das  war  ent- 
setzlich! 

DANTON.  Was  denn: 

CAMIIXE.  Ich  lag  so  zwischen  Traum  und  Wachen. 
Da  schwand  die  Decke,  und  der  Mond  sank  herein,  ganz 
nahe,  ganz  dicht,  mein  Arm  erfaßt'  ihn.  Die  Himmels - 
decke  mit  ihren  Lichtern  hatte  sich  gesenkt,  ich  stieß 
daran,  ich  betastete  die  Sterne,  ich  taumelte  wie  ein 
Ertrinkender  unter  der  Eisdecke.  Das  war  entsetzlich, 
Danton! 

DANTON.  Die  Lampe  wirft  einen  runden  Schein  an  die 
Decke,  das  sahst  du. 


7  2  DICHTUNGEN 

CAMILLE.  Meinetwegen,  es  braucht  grade  nicht  viel, 
um  einem  das  bißchen  Verstand  verlieren  zu  machen.  Der 
Wahnsinn  faßte  mich  bei  den  Haaren.  [Er  erhebt  sic/i.) 
Ich  mag  nicht  mehr  schlafen,  ich  mag  nicht  verrückt 
werden.  [Er  greift  nach  einem  Buch.) 
DANTON.  Was  nimmst  du: 
CAMILLE.   Die  Nachtgedanken. 

DANTON.  Willst  du  zum  voraus  sterben:  Ich  nehme  die 
Pucelle.  Ich  will  mich  aus  dem  Leben  nicht  wie  aus  dem 
Betstuhl,  sondern  wie  aus  dem  Bett  einer  barmherzigen 
Schwester  wegschleichen.  Es  ist  eine  Hure;  es  treibt  mit 
der  ganzen  Welt  Unzucht. 


PLATZ  VOR  DER  CONCIERGERIE 

Ei7i  Schließer,  zwei  Fuh-leute  mit  Karren^  Weiher. 
SCHLIESSER.   Wer  hat  euch  herfahren  geheißen: 
ERSTER  FUHRMANN.   Ich  heiße  nicht  Herfahren,  das 
ist  ein  kurioser  Namen. 

SCHLIESSER.  Dummkopf,  wer  hat  dir  die  Bestallung 
dazu  gegeben: 

ERSTER  FUHRMANN.    Ich  habe  keine  Stallung  dazu 
kriegt,  nichts  als  zehn  Sous  für  den  Kopf. 
ZWEITER  FUHRMANN.  Der  Schuft  will  mich  ums  Brot 
bringen. 

ERSTER  FUHRMANN.  Was  nennst  du  dein  Brot?  [Auf 
die  Fehlster  der  Gefangnen  deutend-}^  Das  ist  Wurmfraß. 
ZWEITER  FUHRMANN.  Meine  Kinder  sind  auch  Wür- 
mer, und  die  wollen  auch  ihr  Teil  davon.  O,  es  geht 
schlecht  mit  unsrem  Metier,  und  doch  sind  wir  die  besten 
Fuhrleute. 

ERSTER  FUHRMANN.  Wie  das: 

ZWEITER  FUHRMANN.  Wer  ist  der  beste  Fuhrmann.- 
ERSTER  FUHRMANN.  Der  am  weitesten  und  am 
schnellsten  fährt. 

ZWEITER  FUHRMANN.  Nun,  Esel,  wer  fährt  weiter, 
als  der  aus  der  Welt  fährt,  und  wer  fährt  schneller,  als 
der  's  in  einer  Viertelstunde  tut:  Genau  gemessen  ist's 
eine  Viertelstunde  von  da  bis  zum  Revolutionsplatz, 


DANTONS  TOD.   VIERTER  AKT  73 

SCHLIESSER.    Rasch,   ihr   Schlingel!    Näher   ans  Tor; 

Platz  da,  ihr  Mädel! 

ERSTER  FUHR.MANN.   Halt'   euren  Platz  vor!  um  ein 

Mädel  fährt  man  nit  herum,  immer  in  die  Mitt  'nein. 

ZWEITER  FUHRMANN.  Ja,  das  glaub  ich:  du  kannst 

mit  Karren  und  Gäulen  hinein,  du  findst  gute  Gleise;  aber 

du  mußt  Quarantäne  halten,  wenn  du  herauskommst.  (Sie 

fahren  vor. ) 

ZWEITER  FUHRMANN  (zu  den  Weibern).  Was  gafft  ihr.- 

EIN  WEIB.  Wir  warten  auf  alte  Kunden. 

ZWEITER  FUHRMANN.   Meint  ihr,  mein  Karren  war 

ein  Bordell.-    Er  ist  ein  anständiger  Karren,  er  hat  den 

König  und  alle  vornehmen  Herren  aus  Paris  zur  Tafel 

gefahren. 

LUCILE  (tritt  auf.  Sie  setzt  sich  auf  einen  Steiji  unter  die 
Fenster  der  Gefangnen).  Camille,  Camille!  (Camille  er- 
scheint am  Fenster. )  Höre,  Camille,  du  machst  mich  lachen 
mit  dem  langen  Steinrock  imd  der  eisernen  Maske  vor 
dem  Gesicht;  kannst  du  dich  nicht  bücken:  Wo  sind  deine 
Arme: — Ich  will  dich  locken,  lieber  Vogel  (singt-.) 

Es  stehn  zwei  Sternlein  an  dem  Himmel, 

Scheinen  heller  als  der  Mond, 

Der  ein'  scheint  vor  Feinsliebchens  Fenster, 

Der  andre  vor  die  Kammertür. 
Komm,  komm,  mein  Freund!  Leise  die  Treppe  herauf, 
sie  schlafen  alle.  Der  Mond  hilft  mir  schon  lange  warten. 
Aber  du  kannst  ja  nicht  zum  Tor  herein,  das  ist  eine  un- 
leidliche Tracht.  Das  ist  zu  arg  für  den  Spaß,  mach  ein 
Ende!  Du  rührst  dich  auch  gar  nicht,  warum  sprichst  du 
nicht:  Du  machst  mir  Angst. 

Höre!  die  Leute  sagen,  du  müßtest  sterben,  und  machen 
dazu  so  ernsthafte  Gesichter.  Sterben!  ich  muß  lachen 
über  die  Gesichter.  Sterben!  Was  ist  das  für  ein  Wort: 
Sag  mir's,  Camille.  Sterben!  Ich  will  nachdenken.  Da, 
da  ist's.  Ich  will  ihm  nachlaufen;  komm,  süßer  Freund, 
hilf  mir  fangen,  komm!  komm!  [Sie  läuft  iveg.) 
CAMILLE  (7'uft).  Lucile!   Lucile! 


74  DICHTUNGEN 

DIE  CONCIERGERIE 

Danton  an  einem  Fenster^  ivas  in  das  nächste  Zimmer  geht. 

Camille^  Philippe  au  ^  Lacroix^  HJrault. 
DANTON.   Du  bist  jetzt  ruhig,  Fabre. 
EINE  STIMME  {von  innen).   Am  Sterben. 
DANTON.   Weißt  du  auch,  was  wir  jetzt  machen  werden? 
DIE  STIMME.   Nun? 

DANTON.  Was  du  dein  ganzes  Leben  hindurch  gemacht 
hast — des  vers. 

CAMILLE  {fih-  sich).  Der  Wahnsinn  saß  hinter  ihren 
Augen.  Es  sind  schon  mehr  Leute  wahnsinnig  geworden, 
das  ist  der  Lauf  der  Welt.  Was  können  wir  dazu?  Wir 
waschen  unsere  Hände — .  Es  ist  auch  besser  so. 
DANTON.  Ich  lasse  alles  in  einer  schrecklichen  Verwir- 
rung. Keiner  versteht  das  Regieren.  Es  könnte  vielleicht 
noch  gehn,  wenn  ich  Robespierre  meine  Huren  und  Couthon 
meine  Waden  hinterließe. 

LACROIX.  Wir  hätten  die  Freiheit  zur  Hure  gemacht! 
DANTON.  Was  wäre  es  auch!  Die  Freiheit  und  eine 
Hure  sind  die  kosmopolitischsten  Dinge  unter  der  Sonne. 
Sie  wird  sich  jetzt  anständig  im  Ehebett  des  Advokaten 
von  Arras  prostituieren.  Aber  ich  denke,  sie  wird  die 
Klytämnestra  gegen  ihn  spielen;  ich  lasse  ihm  keine  sechs 
Monate  Frist,  ich  ziehe  ihn  mit  mir. 
CAMILLE  [ßir  sich).  Der  Himmel  verhelf  ihr  zu  einer 
behaglichen  fixen  Idee.  Die  allgemeinen  fixen  Ideen,  wel- 
che man  die  gesunde  Vernunft  tauft,  sind  unerträglich 
langweilig.  Der  glücklichste  Mensch  war  der,  welcher 
sich  einbilden  konnte,  daß  er  Gott  Vater,  Sohn  und  Hei- 
liger Geist  sei. 

LACROIX.  Die  Esel  werden  schreien  ''Es  lebe  die  Re- 
publik", wenn  wir  vorbeigehen. 

DANTON.  Was  liegt  daran?  Die  Sündflut  der  Revolution 
mag  unsere  Leichen  absetzen,  wo  sie  will;  mit  unsern 
fossilen  Knochen  wird  man  noch  immer  allen  Königen 
die  Schädel  einschlagen  können. 

HfiRAULT.  Ja,  wenn  sich  gerade  ein  Simson  für  unsere 
Kinnbacken  findet. 


DANTONS  TOD.   VIERTER  AKT  75 

DANTON.   Sie  sind  Kainsbrüder. 

LACROIX.  Nichts  beweist  mehr,  daß  Robespierre  ein 
Nero  ist,  als  der  Umstand,  daß  er  gegen  Camille  nie 
freundlicher  war  als  zwei  Tage  vor  dessen  Verhaftung. 
Ist  es  nicht  so,  Camille? 

CAMILLE.  Meinetwegen,  was  geht  das  mich  an? — [Für 
sic/i:]  Was  sie  aus  dem  Wahnsinn  ein  reizendes  Ding  ge- 
macht hat!  Warum  muß  ich  jetzt  fort:  Wir  hätten  zusam- 
men mit  ihm  gelacht,  es  gewiegt  und  geküßt. 
DANTON,  Wenn  einmal  die  Geschichte  ihre  Grüfte  öff- 
net, kann  der  Despotismus  noch  immer  an  dem  Duft  unsrer 
Leichen  ersticken. 

HfiRAULT.  Wir  stanken  bei  Lebzeiten  schon  hinläng- 
lich.— Das  sind  Phrasen  für  die  Nachwelt,  nicht  wahr, 
Danton;  uns  gehn  sie  eigentlich  nichts  an. 
CAMILLE.  Er  zieht  ein  Gesicht,  als  solle  es  verstei- 
nern und  von  der  Nachwelt  als  Antike  ausgegraben  wer- 
den. 

Das  verlohnt  sich  auch  der  Mühe,  Mäulchen  zu  machen 
und  Rot  aufzulegen  und  mit  einem  guten  Akzent  zu  spre- 
chen; wir  sollten  einmal  die  Masken  abnehmen,  wir  sähen 
dann,  wie  in  einem  Zimmer  mit  Spiegeln,  überall  nur 
den  einen  luralten,  zahllosen,  unverwüstlichen  Schafskopf, 
nichts  mehr,  nichts  weniger.  Die  Unterschiede  sind  so 
groß  nicht,  wir  alle  sind  Schurken  und  Engel,  Dummköpfe 
und  Genies,  und  zwar  das  alles  in  einem;  die  vier  Dinge 
finden  Platz  genug  in  dem  nämlichen  Körper,  sie  sind 
nicht  so  breit,  als  man  sich  einbildet.  Schlafen,  Verdauen, 
Kinder  machen — das  treiben  alle;  die  übrigen  Dinge  sind 
nur  Variationen  aus  verschiedenen  Tonarten  über  das 
nämliche  Thema.  Da  braucht  man  sich  auf  die  Zehen  zu 
stellen  und  Gesichter  zu  schneiden,  da  braucht  man  sich 
voreinander  zu  genieren!  Wir  haben  uns  alle  am  näm- 
lichen Tische  krank  gegessen  und  haben  Leibgrimmen; 
was  haltet  ihr  euch  die  Servietten  vor  das  Gesicht?  Schreit 
nur  und  greint,  wie  es  euch  ankommt!  Schneidet  nur  keine 
so  tugendhafte  und  so  witzige  und  so  heroische  und  so 
geniale  Grimassen,  wir  kennen  uns  ja  einander,  spart  euch 
die  Mühe! 


76  DICHTUNGEN 

HßRAULT.  Ja,  Camille,  wir  wollen  uns  beieinander- 
setzen und  schreien;  nichts  dummer,  als  die  Lippen  zu- 
sammenzupressen, wenn  einem  was  weh  tut. — Griechen 
und  Götter  schrien,  Römer  und  Stoiker  machten  die  he- 
roische Fratze, 

DANTON.  Die  einen  waren  so  gut  Epikureer  wie  die 
andern.  Sie  machten  sich  ein  ganz  behagliches  Selbst- 
gefühl zurecht.  Es  ist  nicht  so  übel,  seine  Toga  zu  dra- 
pieren und  sich  umzusehen,  ob  man  einen  langen  Schatten 
wirft.  Was  sollen  wir  uns  zerren?  Ob  wir  uns  nun  Lor- 
beerblätter, Rosenkränze  oder  Weinlaub  vor  die  Scham 
binden  oder  das  häßliche  Ding  offen  tragen  und  es  uns 
von  den  Hunden  lecken  lassen.- 

PHILIPPEAU.  Meine  Freunde,  man  braucht  gerade  nicht 
hoch  über  der  Erde  zu  stehen,  um  von  all  dem  wirren 
Schwanken  und  Flimmern  nichts  mehr  zu  sehen  und  die 
Augen  von  einigen  großen,  göttlichen  Linien  erfüllt  zu 
haben.  Es  gibt  ein  Ohr,  für  welches  das  Ineinander - 
schreien  und  der  Zeter,  die  uns  betäuben,  ein  Strom  von 
Harmonien  sind. 

DANTON.  Aber  wir  sind  die  armen  Musikanten  und  un- 
sere Körper  die  Instrumente.  Sind  denn  die  häßlichen 
Töne,  welche  auf  ihnen  herausgepfuscht  werden,  nur  da,  um 
höher  und  höher  dringend  und  endlich  leise  verhallend  wie 
ein  wollüstiger  Hauch  in  himmlischen  Ohren  zu  sterben? 
H^RAULT.  Sind  wir  wie  Ferkel,  die  man  für  fürstliche 
Tafeln  mit  Ruten  totpeitscht,  damit  ihr  Fleisch  schmack- 
hafter werde? 

DANTON.  Sind  wir  Kinder,  die  in  den  glühenden  Mo- 
lochsarmen dieser  Welt  gebraten  und  mit  Lichtstrahlen 
gekitzelt  werden,  damit  die  Götter  sich  über  ihr  Lachen 
freuen? 

CAMILLE.  Ist  denn  der  Äther  mit  seinen  Goldaugen 
eine  Schüssel  mit  Goldkari)fen,  die  am  Tisch  der  seligen 
Götter  steht,  und  die  seligen  Götter  lachen  ewig,  und  die 
Fische  sterben  ewig,  und  die  Götter  erfreuen  sich  ewig 
am  Farbenspiel  des  Todeskampfes? 

DANTON.  Die  Welt  ist  das  Chaos.  Das  Nichts  ist  der 
zu  gebärende  Weltgott. 


DANTONS  TOD.   VIERTER  AKT  77 

Der  ScJiließc}'  tritt  ein. 
SCHLIESSER.   Meine  Herren,  Sie  können  abfahren,  die 
Wagen  halten  vor  der  Tür. 

PHILIPPEAU.  Gute  Nacht,  meine  Freunde!  legen  wir 
ruhig  die  große  Decke  über  uns,  worunter  alle  Herzen  aus- 
glühen und  alle  Augen  zufallen.  [Sie  umarnien  einander.) 
HERAULT  {nimmt  Caniilles  Arm).  Freue  dich,  Camille, 
wir  bekommen  eine  schöne  Nacht.  Die  Wolken  hängen 
am  stillen  Abendhimmel  wie  ein  ausglühender  Olymp 
mit  verbleichenden,  versinkenden  Göttergestalten.  {^Sie 
gehen  ab.) 

EIN  ZIMMER 
JULIE.   Das  Volk  lief  in  den  Gassen,  jetzt  ist  alles  still. 
Keinen  Augenblick  möchte  ich  ihn  warten  lassen.    [Sie 
zieht  eine  Phiole  hervor.)  Komm,  liebster  Priester,  dessen 
Amen  uns  zu  Bette  gehn  macht.   [Sie  tritt  ans  Fenster.) 
Es  ist  so  hübsch,  Abschied  zu  nehmen;  ich  habe  die  Türe 
nur  noch  hinter  mir  zuzuziehen.   [Sie  trinkt.) 
Man  möchte  immer  so  stehn. — Die  Sonne  ist  hinunter; 
der  Erde  Züge  waren  so  scharf  in  ihrem  Licht,  doch  jetzt 
ist  ihr  Gesicht  so  still  und  ernst  wie  einer  Sterbenden. — 
Wie   schön  das  Abendlicht  ihr  um   Stirn  und  Wangen 
spielt. — Stets  bleicher  und  bleicher  wird  sie,   wie   eine 
Leiche  treibt  sie  abwärts  in  der  Flut  des  Äthers.   Will 
denn  kein  Arm  sie  bei  den  goldnen  Locken  fassen  und 
aus  dem  Strom  sie  ziehen  und  sie  begraben: 
Ich  gehe  leise.   Ich  küsse  sie  nicht,  daß  kein  Hauch,  kein 
Seufzer  sie  aus  dem  Schlummer  wecke. — Schlafe,  schlafe! 
[Sie  stirbt.) 

DER  RE\^OLUTIONSPLATZ 

Die  Wagen  kommen  angefahren  und  halten  vor  der  Guil- 
lotine.   Man?ier  und  Weiber  singen  und  tanzen  die  Car- 

magnole.  Die  Gefa?ignen  stimmen  die  Marseillaise  an. 
EIN  WEIB  MIT  KINDERN.    Platz!    Platz!    Die  Kinder 
schreien,  sie  haben  Hunger.  Ich  muß  sie  zusehen  machen, 
daß  sie  still  sind.   Platz! 


78  DICHTUNGEN 

EIN  WEIB.  He,  Danton,  du  kannst  jetzt  mit  den  Wür- 
mern Unzucht  treiben. 

EINE  ANDERE.  Hdrault,  aus  deinen  hübschen  Haaren 
laß  ich  mir  eine  Perücke  machen. 

HERAULT.  Ich  habe  nicht  Waldung  genug  für  einen  so 
abgeholzten  Venusberg. 

CAMILLE.  Verfluchte  Hexen!  Ihr  werdet  noch  schreien: 
ihr  Berge  fallet  auf  uns! 

EIN  WEIB.  Der  Berg  ist  auf  euch,  oder  ihr  seid  ihn  viel- 
mehr hinunter  gefallen. 

DANTON  {zu  Camille).  Ruhig,  mein  Junge!  du  hast  dich 
heiser  geschrien. 

CAMILLE  (gibt  dem  Fuhrmann  Geld).  Da,  alter  Charon, 
dein  Karren  ist  ein  guter  Präsentierteller! — Meine  LIerren, 
ich  will  mich  zuerst  servieren.  Das  ist  ein  klassisches 
Gastmahl;  wir  liegen  auf  unsern  Plätzen  und  verschütten 
etwas  Blut  als  Libation.  Adieu,  Danton!  (Er  besteigt  das 
Blutgerüst,  die  Gefangnen  folgen  ihm,  einer  nach  dem  afi- 
dern.  Danton  steigt  zuletzt  hinauf }j 

LACROIX  [zu  dem  Volk).  Ihr  tötet  uns  an  dem  Tage,  wo 
ihr  den  Verstand  verloren  habt;  ihr  werdet  sie  an  dem 
töten,  wo  ihr  ihn  wiederbekommt. 

EINIGE  STIMMEN.  Das  war  schon  einmal  da;  wie  lang- 
weilig! 

LACROIX.  Die  Tyrannen  werden  über  unsern  Gräbern 
den  Hals  brechen. 

HfiRAULT  {zu  Danton).  Er  hält  seine  Leiche  für  ein 
Mistbeet  der  Freiheit. 

PHILIPPEAU  {auf  dem  Schafott).  Ich  vergebe  euch;  ich 
wünsche,  eure  Todesstunde  sei  nicht  bittrer  als  die  mei- 
nige. 

HfiRAULT.  Dacht  ich's  doch!  er  muß  sich  noch  einmal 
in  den  Busen  greifen  und  den  Leuten  da  unten  zeigen, 
daß  er  reine  Wäsche  hat. 

FABRE.  Lebe  wohl,  Danton!   Ich  sterbe  doppelt. 
DANTON.  Adieu,  mein  Freund!   Die  Guillotine  ist  der 
beste  Arzt. 
HfiRAULT  {will  Danton  umarjuen).    Ach,    Danton,   ich 


DANTONS  TOD.   VIERTER  AKT  79 

bringe  nicht  einmal  einen  Spaß  mehr  heraus.  Da  ist's  Zeit. 
[Ein  Henker  stößt  ihn  ziiriick.) 

DANTON  {zum  Henker).  Willst  du  grausamer  sein  als  der 
Tod:  Kannst  du  verhindern,  daß  unsere  Köpfe  sich  auf 
dem  Boden  des  Korbes  küssen: 


EINE  STRASSE 

LUCILE.  Es  ist  doch  was  wie  Ernst  darin.  Ich  will 
einmal  nachdenken.  Ich  fange  an,  so  was  zu  be- 
greifen. 

Sterben— Sterben — ! — Es  darf  ja  alles  leben,  alles,  die 
kleine  Mücke  da,  der  Vogel.  Warum  denn  er  nicht?  Der 
Strom  des  Lebens  müßte  stocken,  wenn  nur  der  eine 
Tropfen  verschüttet  würde.  Die  Erde  müßte  eine  Wunde 
bekommen  von  dem  Streich. 

Es  regt  sich  alles,  die  Uhren  gehen,  die  Glocken  schlagen, 
die  Leute  laufen,  das  Wasser  rinnt,  und  so  alles  weiter 
bis  da,  dahin — nein,  es  darf  nicht  geschehen,  nein,  ich 
will  mich  auf  den  Boden  setzen  und  schreien,  daß  er- 
schrocken alles  stehn  bleibt,  alles  stockt,  sich  nichts  mehr 
regt.  (Sie  setzt  sich  nieder^  verhüllt  sich  die  Auge?i  und 
stößt  einen  Schrei  aus.  Nach  einer  Pause  erhebt  sie  sich\) 
Das  hilft  nichts,  da  ist  noch  alles  wie  sonst:  die  Häuser, 
die  Gasse,  der  Wind  geht,  die  Wolken  ziehen.  —  Wir 
müssen's  wohl  leiden. 

Einige  Weiber  kommen  die  Gasse  herunter. 
ERSTES  WEIB.   Ein  hübscher  Mann,  der  Herault! 
ZWEITES  WEIB.   Wie  er  beim  Konstitutionsfest  so  am 
Triumphbogen  stand,  da  dacht  ich  so,  der  muß  sich  gut 
auf  der  Guillotine  ausnehmen,  dacht  ich.   Das  war  so  'ne 
Ahnung. 

DRITTES  WEIB.  Ja,  man  muß  die  Leute  in  allen  Ver- 
hältnissen sehen;  es  ist  recht  gut,  daß  das  Sterben  so 
öffentlich  wird.   {Sie  gehen  vorbei)) 

LUCILE.  Mein  Camille!  Wo  soll  ich  dich  jetzt  su- 
chen? 


8o  DICHTUNGEN 

DER  REVOLUTIONSPEATZ 

Ziaei  Henker  an  der  Guillotine  beschäftigt. 
ERSTER  HENKER  (steht  auf  der  Guillotine  und  singt). 

Und  wann  ich  harne  geh, 

Scheint  der  Mond  so  scheh  .  .  . 
ZWEITER  HENKER.   He,  holla!  Bist  bald  fertig: 
ERSTER  HENKER.    Gleich,  gleich!   {Singt:) 

Scheint  in  meines  Ellervaters  Fenster — 

Kerl,  wo  bleibst  so  lang  bei  de  Menscher? 
So!  die  Jacke  her!   [Sie  gehn  singend  ab\) 

Und  wann  ich  harne  geh, 

Scheint  der  Mond  so  scheh  .  .  . 

LUCILE  (tritt  auf  und  setzt  sich  auf  die  Stufen  der  Guil- 
lotine). Ich  setze  mich  auf  deinen  Schoß,  du  stiller  Todes- 
engel.  (Sie  singt:) 

Es  ist  ein  Schnitter,  der  heißt  Tod, 
Hat  Gewalt  vom  höchsten  Gott. 
Du  liebe  Wiege,  die  du  meinen  Camille  in  Schlaf  gelullt, 
ihn  unter  deinen  Rosen  erstickt  hast.    Du  Totenglocke, 
die  du  ihn  mit  deiner  süßen  Zunge  zu  Grabe  sangst.   (Sie 
singt-) 

Viel  Hunderttausend  ungezählt, 
Was  nur  unter  die  Sichel  fällt. 
(Eine  Patrouille  tritt  auf) 
EIN  BÜRGER.  He,  wer  da? 

LUCILE  (sinnend  und  wie  einen  Entschluß  fassend,  plötz- 
lich). Es  lebe  der  König! 
BÜRGER.  Im  Namen  der  Republik! 

(Sie  wird  von  der  Wache  umringt  und  weggeführt) 


LENZ 


BUCHNER  6. 


)  83   ( 

DEN  20.  [Härtung]  ging  Lenz  durchs  Gebirg.  Die  Gip- 
fel und  hohen  Bergflächen  im  Schnee,  die  Täler  hin- 
unter graues  Gestein,  grüne  Flächen,  Felsen  und  Tannen. 
Es  war  naßkalt;  das  Wasser  rieselte  die  Felsen  hinunter 
und  sprang  über  den  Weg.  Die  Äste  der  Tannen  hingen 
schwer  herab  in  die  feuchte  Luft.  Am  Himmel  zogen  graue 
Wolken,  aber  alles  so  dicht — und  dann  dampfte  der  Nebel 
herauf  und  strich  schwer  und  feucht  durch  das  Gesträuch, 
so  trag,  so  plump. 

Er  ging  gleichgültig  weiter,  es  lag  ihm  nichts  am  Weg, 
bald  auf-  bald  abwärts.  Müdigkeit  spürte  er  keine,  nur 
war  es  ihm  manchmal  unangenehm,  daß  er  nicht  auf  dem 
Kopf  gehn  konnte. 

Anfangs  drängte  es  ihm  in  der  Brust,  wenn  das  Gestein 
so  weg.sprang,  der  graue  Wald  sich  unter  ihm  schüttelte 
und  der  Nebel  die  Formen  bald  verschlang,  bald  die  ge- 
waltigen Glieder  halb  enthüllte;  es  drängte  in  ihm,  er 
suchte  nach  etwas,  wie  nach  verlornen  Träumen,  aber  er 
fand  nichts.  Es  war  ihm  alles  so  klein,  so  nahe,  so  naß; 
er  hätte  die  Erde  hinter  den  Ofen  setzen  mögen.  Er  be- 
grifl'  nicht,  daß  er  so  viel  Zeit  brauchte,  um  einen  Abhang 
hinunter  zu  klimmen,  einen  fernen  Punkt  zu  erreichen; 
er  meinte,  er  müsse  alles  mit  ein  paar  Schritten  ausmessen 
können.  Nur  manchmal,  wenn  der  Stiurm  das  Gewölk  in 
die  Täler  warf  und  es  den  Wald  herauf  dampfte,  und  die 
Stimmen  an  den  Felsen  wach  wurden,  bald  wie  fern  ver- 
hallende Donner  und  dann  gewaltig  heranbrausten,  in 
Tönen,  als  wollten  sie  in  ihrem  wilden  Jubel  die  Erde  be- 
singen, und  die  Wolken  wie  wilde,  wiehernde  Rosse  her- 
ansprengten, und  der  Sonnenschein  dazwischen  durchging 
und  kam  und  sein  blitzendes  Schwert  an  den  Schneeflächen 
zog,  so  daß  ein  helles,  blendendes  Licht  über  die  Gipfel 
in  die  Täler  schnitt;  oder  wenn  der  Sturm  das  Gewölk 
abwärts  trieb  und  einen  lichtblauen  See  hineinriß  und  dann 
der  Wind  verhallte  und  tief  unten  aus  den  Schluchten,  aus 
den  Wipfeln  der  Tannen  wie  ein  Wiegenlied  und  Glocken- 
geläute heraufsummte,  und  am  tiefen  Blau  ein  leises  Rot 
hinauf  klomm  und  kleine  Wölkchen  auf  silbernen  Flügeln 
durchzogen,  und  alle  Berggipfel,  scharf  und  fest,  weit  über 


84  DICHTUNGEN 

das  Land  hin  glänzten  und  blitzten — riß  es  ihm  in  der 
Brust,  er  stand,  keuchend,  den  Leib  vorwärts  gebogen, 
Augen  und  Mund  weit  offen,  er  meinte,  er  müsse  den 
Sturm  in  sich  ziehen,  alles  in  sich  fassen,  er  dehnte  sich 
aus  und  lag  über  der  Erde,  er  wühlte  sich  in  das  All  hin- 
ein, es  war  eine  Lust,  die  ihm  wehe  tat;  oder  er  stand 
still  und  legte  das  Haupt  ins  Moos  und  schloß  die  Augen 
halb,  und  dann  zog  es  weit  von  ihm,  die  Erde  wich  unter 
ihm,  sie  wurde  klein  wie  ein  wandelnder  Stern  und  tauchte 
sich  in  einen  brausenden  Strom,  der  seine  klare  Flut  unter 
ihm  zog.  Aber  es  waren  nur  Augenblicke;  und  dann  erhob 
er  sich  nüchtern,  fest,  ruhig,  als  wäre  ein  Schattenspiel 
vor  ihm  vorübergezogen — er  wußte  von  nichts  mehr. 
Gegen  Abend  kam  er  auf  die  Höhe  des  Gebirgs,  auf  das 
Schneefeld,  von  wo  man  wieder  hinabstieg  in  die  Ebene 
nach  Westen.  Er  setzte  sich  oben  nieder.  Es  war  gegen 
Abend  ruhiger  geworden;  das  Gewölk  lag  fest  und  un- 
beweglich am  Himmel;  soweit  der  Blick  reichte,  nichts 
als  Gipfel,  von  denen  sich  breite  Flächen  hinabzogen,  und 
alles  so  still,  grau,  dämmernd.  Es  wurde  ihm  entsetzlich 
einsam;  er  war  allein,  ganz  allein.  Er  wollte  mit  sich 
sprechen,  aber  er  konnte  nicht,  er  wagte  kaum  zu  atmen; 
das  Biegen  seines  Fußes  tönte  wie  Donner  unter  ihm,  er 
mußte  sich  niedersetzen.  Es  faßte  ihn  eine  namenlose 
Angst  in  diesem  Nichts:  er  war  im  Leeren!  Er  riß  sich 
auf  und  flog  den  Abhang  hinunter. 

Es  war  finster  geworden,  Himmel  und  Erde  verschmolzen 
in  eins.  Es  war,  als  ginge  ihm  was  nach  und  als  müsse 
ihn  was  Entsetzliches  erreichen,  etwas,  das  Menschen 
nicht  ertragen  können,  als  jage  der  Wahnsinn  auf  Rossen 
hinter  ihm. 

Endlich  hörte  er  Stimmen;  er  sah  Lichter,  es  wurde  ihm 
leichter.  Man  sagte  ihm,  er  hätte  noch  eine  halbe  Stunde 
nach  Waldbach. 

Er  ging  durch  das  Dorf.  Die  Lichter  schienen  durch  die 
Fenster,  er  sah  hinein  im  Vorbeigehen:  Kinder  am  Tische, 
alte  Weiber,  Mädchen,  alles  ruhige,  stille  Gesichter.  Es 
war  ihm,  als  müsse  das  Licht  von  ihnen  ausstrahlen;  es 
ward  ihm  leicht,  er  war  bald  in  Waldbach  im  Pfarrhause. 


LENZ  85 

Man  saß  am  Tische,  er  hinein;  die  blonden  Locken  hingen 
ihm  um  das  bleiche  Gesicht,  es  zuckte  ihm  in  den  Augen 
und  um  den  Mund,  seine  Kleider  waren  zerrissen. 
Oberlin  hieß  ihn  willkommen,  er  hielt  ihn  für  einen  Hand- 
werker: ''Sein  Sie  mir  willkommen,  obschon  Sie  mir  unbe- 
kannt."— ''Ich  bin  ein  Freund  von  [Kaufmann]  und  bringe 
Ihnen  Grüße  von  ihm." — "Der  Name,  wenn's  beliebt?" — 
"Lenz." — "Ha,  ha,  ha,  ist  er  nicht  gedruckt:  Habe  ich 
nicht  einige  Dramen  gelesen,  die  einem  Herrn  dieses  Na- 
mens zugeschrieben  werden?" — "Ja,  aber  belieben  Sie, 
mich  nicht  darnach  zu  beurteilen." 

Man  sprach  weiter,  er  suchte  nach  Worten  und  erzählte 
rasch,  aber  auf  der  Folter;  nach  und  nach  wurde  er  ruhig 
— das  heimliche  Zimmer  und  die  stillen  Gesichter,  die 
aus  dem  Schatten  hervortraten:  das  helle  Kindergesicht, 
auf  dem  alles  Licht  zu  ruhen  schien  und  das  neugierig,  ver- 
traulich aufschaute,  bis  zur  Mutter,  die  hinten  im  Schatten 
engelgieich  stille  saß.  Er  fing  an  zu  erzählen,  von  seiner 
Heimat;  er  zeichnete  allerhand  Trachten,  man  drängte 
sich  teilnehmend  um  ihn,  er  war  gleich  zu  Haus.  Sein 
blasses  Kindergesicht,  das  jetzt  lächelte,  sein  lebendiges 
Erzählen!  Er  wiu-de  ruhig;  es  war  ihm,  als  träten  alte  Ge- 
stalten, vergessene  Gesichter  wieder  aus  dem  Dunkeln, 
alte  Lieder  wachten  auf,  er  war  weg,  weit  weg. 
Endlich  war  es  Zeit  zum  Gehen.  Man  führte  ihn  über  die 
Straße:  das  Pfarrhaus  war  zu  eng,  man  gab  ihm  ein  Zim- 
mer im  Schulhause.  Er  ging  hinauf.  Es  war  kalt  oben, 
eine  weite  Stube,  leer,  ein  hohes  Bett  im  Hintergrund. 
Er  stellte  das  Licht  auf  den  Tisch  und  ging  auf  und  ab. 
Er  besann  sich  wieder  auf  den  Tag,  wie  er  hergekommen, 
wo  er  war.  Das  Zimmer  im  Pfarrhause  mit  seinen  Lichtern 
und  lieben  Gesichtern,  es  war  ihm  wie  ein  Schatten,  ein 
Traum,  und  es  wurde  ihm  leer,  wieder  wie  auf  dem  Berg; 
aber  er  konnte  es  mit  nichts  mehr  ausfüllen,  das  Licht  war 
erloschen,  die  Finsternis  verschlang  alles.  Eine  unnenn- 
bare Angst  erfaßte  ihn.  Er  sprang  auf,  er  lief  durchs  Zim- 
mer, die  Treppe  hinunter,  vors  Haus;  aber  umsonst,  alles 
finster,  nichts — er  war  sich  selbst  ein  Traum.  Einzelne 
Gedanken  huschten  auf,  er  hielt  sie  fest;  es  war  ihm,  als 


86  DICHTUNGEN 

müsse  er  immer  ''Vater  unser''  sagen.  Er  konnte  sich  nicht 
mehr  finden;  ein  dunkler  Instinkt  trieb  ihn,  sich  zu  retten. 
Er  stieß  an  die  Steine,  er  riß  sich  mit  den  Nägehi;  der 
Schmerz  fing  an,  ihm  das  Bewußtsein  wiederzugeben.  Er 
.stürzte  sich  in  den  Brunnenstein,  aber  das  Wasser  war 
nicht  tief,  er  patschte  darin. 

Da  kamen  Leute;  man  hatte  es  gehört,  man  rief  ihm  zu. 
Oberlin  kam  gelaufen.  Lenz  war  wieder  zu  sich  gekommen, 
das  ganze  Bewußtsein  seiner  Lage  stand  vor  ihm,  es  war 
ihm  wieder  leicht.  Jetzt  schämte  er  sich  und  war  betrübt, 
daß  er  den  guten  Leuten  Angst  gemacht;  er  sagte  ihnen, 
daß  er  gewohnt  sei,  kalt  zu  baden,  und  ging  wieder  hin- 
auf; die  Erschöpfung  ließ  ihn  endlich  ruhen. 
Den  andern  Tag  ging  es  gut.  Mit  Oberlin  zu  Pferde  durch 
das  Tal:  breite  Bergflächen,  die  aus  großer  Höhe  sich 
in  ein  schmales,  gewundnes  Tal  zusammenzogen,  das  in 
mannichfachen  Richtungen  sich  hoch  an  den  Bergen  hinauf- 
zog; gToße  Felsenmassen,  die  sich  nach  miten  ausbreiteten; 
wenig  Wald,  aber  alles  im  grauen,  ernsten  Anflug;  eine 
Aussicht  nach  Westen  in  das  Land  hinein  und  auf  die 
Bergkette,  die  sich  grad  hinunter  nach  Süden  und  Nor- 
den zog  und  deren  Gipfel  gewaltig,  ernsthaft  oder  schwei- 
gend still,  wie  ein  dämmernder  Traum,  standen.  Gewaltige 
Lichtmassen,  die  manchmal  aus  den  Tälern,  wie  ein  goldner 
Strom,  schwollen,  dann  wieder  Gewölk,  das  an  dem  höch- 
sten Gipfel  lag  mid  dann  langsam  den  Wald  herab  in  das 
Tal  klomm  oder  in  den  Sonnenblitzen  sich  wie  ein  fliegen- 
des, silbernes  Gespenst  herabsenkte  und  hob;  kein  Lärm, 
keine  Bewegung,  kein  Vogel,  nichts  als  das  bald  nahe,  bald 
ferne  Wehn  des  Windes.  Auch  erschienen  Punkte,  Ge- 
rippe von  Hütten,  Bretter  mit  Stroh  gedeckt,  von  schwarzer, 
ernster  Farbe.  Die  Leute,  schweigend  und  ernst,  als  wagten 
sie  die  Ruhe  ihres  Tales  nicht  zu  stören,  grüßten  ruhig, 
wie  sie  vorbeiritten. 

In  den  Hütten  war  es  lebendig:  man  drängte  sich  um  Ober- 
lin, er  wies  zurecht,  gab  Rat,  tröstete;  überall  Zutrauens - 
volle  Blicke,  Gebet.  Die  Leute  erzählten  Träume,  Ah- 
nungen. Dann  rasch  ins  praktische  Leben:  Wege  ange- 
legt, Kanäle  gegraben,  die  Schule  besucht. 


LENZ  87 

Oberlin  war  unermüdlich,  Lenz  fortwährend  sein  Begleiter, 
bald  in  Gespräch,  bald  tätig  am  Geschäft,  bald  in  die 
Natur  versunken.  Es  wirkte  alles  wohltätig  imd  beruhi- 
gend auf  ihn.  Er  mußte  Oberlin  oft  in  die  Augen  sehen, 
und  die  mächtige  Ruhe,  die  uns  über  der  ruhenden  Natur, 
im  tiefen  Wald,  in  mondhellen,  schmelzenden  Sommer- 
nächten überfällt,  schien  ihm  noch  näher  in  diesem  ruhigen 
Auge,  diesem  ehrwürdigen  ernsten  Gesicht.  Er  war  schüch- 
tern; aber  er  machte  Bemerkungen,  er  sprach.  Oberlin  war 
sein  Gespräch  sehr  angenehm,  und  das  anmutige  Kinder- 
gesicht Lenzens  machte  ihm  große  Freude. 
Aber  nur  solange  das  Licht  im  Tale  lag,  war  es  ihm  er- 
träglich; gegen  Abend  befiel  ihn  eine  sonderbare  Angst, 
er  hätte  der  Sonne  nachlaufen  mögen.  Wie  die  Gegen- 
stände nach  und  nach  schattiger  wurden,  kam  ihm  alles 
so  traumartig,  so  zuwider  vor:  es  kam  ihm  die  Angst  an 
wie  Kindern,  die  im  Dunkeln  schlafen;  es  war  ihm,  als 
sei  er  blind.  Jetzt  wuchs  sie,  der  Alp  des  Wahnsinns  setzte 
sich  zu  seinen  Füßen:  der  rettungslose  Gedanke,  als  sei 
alles  nur  sein  Traum,  öffnete  sich  vor  ihm;  er  klammerte 
sich  an  alle  Gegenstände.  Gestalten  zogen  rasch  an  ihm 
vorbei,  er  drängte  sich  an  sie;  es  waren  Schatten,  das 
Leben  wich  aus  ihm,  und  seine  Glieder  waren  ganz  starr. 
Er  sprach,  er  sang,  er  rezitierte  Stellen  aus  Shakespeare, 
er  griff  nach  allem,  was  sein  Blut  sonst  hatte  rascher 
fließen  machen,  er  versuchte  alles,  aber — kalt,  kalt!  Er 
mußte  dann  hinaus  ins  Freie.  Das  wenige,  durch  die  Nacht 
zerstreute  Licht,  wenn  seine  Augen  an  die  Dunkelheit  ge- 
wöhnt waren,  machte  ihm  besser;  er  stürzte  sich  in  den 
Brunnen,  die  grelle  Wirkung  des  W^assers  machte  ihm 
besser;  auch  hatte  er  eine  geheime  Hoffnung  auf  eine 
Krankheit — er  verrichtete  sein  Bad  jetzt  mit  weniger  Ge- 
räusch. 

Doch  je  mehr  er  sich  in  das  Leben  hineinlebte,  ward  er 
ruhiger.  Er  unterstützte  Oberlin,  zeichnete,  las  die  Bibel; 
alte,  vergangne  Hoffnungen  gingen  in  ihm  auf;  das  Neue 
Testament  trat  ihm  hier  so  entgegen — und  eines  Morgens 
ging  er  hinaus.  Wie  Oberlin  ihm  erzählte,  wie  ihn  eine 
unaufhaltsame  Hand  auf  der  Brücke  gehalten  hätte,  wie 


88  DICHTUNGEN 

auf  der  Höhe  ein  Glanz  seine  Augen  geblendet  hätte,  wie 
er  eine  Stimme  gehört  hätte,  wie  es  in  der  Nacht  mit  ihm 
gesprochen,  und  wie  Gott  so  ganz  bei  ihm  eingekehrt,  daß 
er  kindlich  seine  Lose  aus  der  Tasche  holte,  um  zu  wissen, 
was  er  tun  sollte:  dieser  Glaube,  dieser  ewige  Himmel  im 
Leben,  dieses  Sein  in  Gott— jetzt  erst  ging  ihm  die  Heilige 
Schrift  auf.  Wie  den  Leuten  die  Natur  so  nah  trat,  alles 
in  himmlischen  Mysterien;  aber  nicht  gewaltsam  maje- 
stätisch, sondern  noch  vertraut! 

Er  ging  des  Morgens  hinaus.  Die  Nacht  war  Schnee  ge- 
fallen; im  Tal  lag  heller  Sonnenschein,  aber  weiterhin 
die  Landschaft  halb  im  Nebel,  Er  kam  bald  vom  Weg  ab 
und  eine  sanfte  Höhe  hinauf,  keine  Spur  von  Fußtritten 
mehr,  neben  einem  Tannenwald  hin;  die  Sonne  schnitt 
Kristalle,  der  Schnee  war  leicht  und  flockig,  hie  und  da 
Spur  von  Wild  leicht  auf  dem  Schnee,  die  sich  ins  Gebirg 
hinzog.  Keine  Regung  in  der  Luft  als  ein  leises  Wehen, 
als  das  Rauschen  eines  Vogels,  der  die  Flocken  leicht 
vom  Schwänze  stäubte.  Alles  so  still,  und  die  Bäume 
weithin  mit  schwankenden  weißen  Federn  in  der  tief- 
blauen Luft.  Es  wurde  ihm  heimlich  nach  und  nach.  Die 
einförmigen,  gewaltigen  Flächen  und  Linien,  vor  denen 
es  ihm  manchmal  war,  als  ob  sie  ihn  mit  gewaltigen  Tönen 
anredeten,  waren  verhüllt;  ein  heimliches  Weihnachts- 
gefühl  beschlich  ihn:  er  meinte  manchmal,  seine  Mutter 
müsse  hinter  einem  Baume  hervortreten,  groß,  und  ihm 
sagen,  sie  hätte  ihm  dies  alles  beschert.  Wie  er  hin- 
unterging, sah  er,  daß  um  seinen  Schatten  sich  ein  Regen- 
bogen von  Strahlen  legte;  es  wurde  ihm,  als  hätte  ihn 
was  an  der  Stirn  berührt,  das  Wesen  sprach  ihn  an.  Er 
kam  hinunter.  Oberlin  war  im  Zimmer;  Lenz  kam  heiter 
auf  ihn  zu  und  sagte  ihm,  er  möge  wohl  einmal  predi- 
gen. ''Sind  Sie  Theologe?" — "J^!" — ''Gut,  nächsten  Sonn- 
tag." 

Lenz  ging  vergnügt  auf  sein  Zimmer.  Er  dachte  auf  einen 
Text  zum  Predigen  und  verfiel  in  Sinnen,  und  seine  Nächte 
wurden  ruhig.  Der  Sonntagmorgen  kam,  es  war  Tauwetter 
eingefallen.  Vorüberstreifende  Wolken,  Blau  dazwischen. 
Die  Kirche  lag  neben  am  Berg  hinauf,  auf  einem  Vor- 


LENZ  89 

Sprung;  der  Kirchhof  drumherum.  Lenz  stand  oben,  wie 
die  Glocke  läutete  und  die  Kirchengänger,  die  Weiber 
und  Mädchen  in  ihrer  ernsten  schwarzen  Tracht,  das 
weiße  gefaltete  Schnupftuch  auf  dem  Gesangbuch  und 
den  Rosmarinzweig,  von  den  verschiedenen  Seiten  die 
schmalen  Pfade  zwischen  den  Felsen  herauf-  und  herab- 
kamen. Ein  Sonnenblick  lag  manchmal  über  dem  Tal, 
die  laue  Luft  regte  sich  langsam,  die  Landschaft  schwamm 
im  Duft,  fernes  Geläute — es  war,  als  löste  sich  alles  in 
eine  harmonische  Welle  auf. 

Auf  dem  kleinen  Kirchhof  war  der  Schnee  weg,  dunkles 
Moos  unter  den  schwarzen  Kreuzen;  ein  verspäteter  Ro- 
senstrauch lehnte  an  der  Kirchhofmauer,  verspätete  Blumen 
dazu  unter  dem  Moos  hervor;  manchmal  Sonne,  dann 
wieder  dunkel.  Die  Kirche  fing  an,  die  Menschenstimmen 
begegneten  sich  im  reinen  hellen  Klang;  ein  Eindruck,  als 
schaue  man  in  reines,  durchsichtiges  Bergwasser.  Der  Ge- 
sang verhallte — Lenz  sprach.  Er  war  schüchtern;  unter 
den  Tönen  hatte  sein  Starrkrampf  sich  ganz  gelegt,  sein 
ganzer  Schmerz  wachte  jetzt  auf  und  legte  sich  in  sein 
Herz.  Ein  süßes  Gefühl  unendlichen  Wohls  beschlich  ihn. 
Er  sprach  einfach  mit  den  Leuten;  sie  litten  alle  mit  ihm, 
und  es  war  ihm  ein  Trost,  wenn  er  über  einige  müdge- 
weinte  Augen  Schlaf  und  gequälten  Herzen  Ruhe  bringen, 
wenn  er  über  dieses  von  materiellen  Bedürfnissen  gequälte 
Sein,  diese  dumpfen  Leiden  gen  Himmel  leiten  konnte. 
Er  war  fester  geworden,  wie  er  schloß — da  fingen  die  Stim- 
men wieder  an: 

Laß  in  mir  die  heiigen  Schmerzen, 

Tiefe  Bronnen  ganz  aufbrechen; 

Leiden  sei  all  mein  Gewinst, 

Leiden  sei  mein  Gottesdienst. 
Das  Drängen  in  ihm,  die  Musik,  der  Schmerz,  erschütterte 
ihn.  Das  All  war  für  ihn  in  Wunden;  er  fühlte  tiefen,  un- 
nennbaren Schmerz  davon.  Jetzt  ein  anderes  Sein:  gött- 
liche, zuckende  Lippen  bückten  sich  über  ihm  nieder  und 
sogen  sich  an  seine  Lippen;  er  ging  auf  sein  einsames 
Zimmer.  Er  war  allein,  allein!  Da  rauschte  die  Quelle, 
Ströme  brachen  aus  seinen  Augen,   er  krümmte  sich  in 


90  DICHTUNGEN 

sich,  es  zuckten  seine  Glieder,  es  war  ihm,  als  müsse  er 
sich  auflösen,  er  konnte  kein  Ende  finden  der  Wollust. 
Endlich  dämmerte  es  in  ihm:  er  empfand  ein  leises  tiefes 
Mitleid  mit  sich  selbst,  er  weinte  über  sich;  sein  Haupt 
sank  auf  die  Brust,  er  schlief  ein.  Der  Vollmond  stand  am 
Himmel;  die  Locken  fielen  ihm  über  die  Schläfe  und  das 
Gesicht,  die  Tränen  hingen  ihm  an  den  Wimpern  und 
trockneten  auf  den  Wangen — so  lag  er  nun  da  allein,  und 
alles  war  ruliig  und  still  und  kalt,  und  der  Mond  schien 
die  ganze  Nacht  und  stand  über  den  Bergen. 
Am  folgenden  Morgen  kam  er  herunter,  er  erzählte  Ober- 
lin  ganz  ruhig,  wie  ihm  die  Nacht  seine  Mutter  erschienen 
sei:  Sie  sei  in  einem  weißen  Kleid  aus  der  dunkeln  Kirch - 
hofmauer  hervorgetreten  und  habe  eine  weiße  und  eine 
rote  Rose  an  der  Brust  stecken  gehabt;  sie  sei  dann  in 
eine  Ecke  gesunken,  und  die  Rosen  seien  langsam  über  sie 
gewachsen,  sie  sei  gewiß  tot;  er  sei  ganz  ruhig  darüber. 
Oberlin  versetzte  ihm  nun,  wie  er  bei  dem  Tod  seines 
Vaters  allein  auf  dem  Felde  gewesen  sei  und  er  dann  eine 
Stimme  gehört  habe,  so  daß  er  wußte,  daß  sein  Vater  tot 
sei;  und  wie  er  heimgekommen,  sei  es  so  gewesen.  Das 
führte  sie  weiter:  Oberlin  sprach  noch  von  den  Leuten  im 
Gebirge,  von  Mädchen,  die  das  Wasser  und  Metall  unter 
der  Erde  fühlten,  von  Männern,  die  auf  manchen  Berg- 
höhen angefaßt  würden  und  mit  einem  Geiste  rängen;  er 
sagte  ihm  auch,  wie  er  einmal  im  Gebirg  durch  das 
Schauen  in  ein  leeres  tiefes  Bergwasser  in  eine  Art  von 
Somnambulismus  versetzt  worden  sei.  Lenz  sagte,  daß 
der  Geist  des  Wassers  über  ihn  gekommen  sei,  daß  er 
dann  etwas  von  seinem  eigentümlichen  Sein  empfunden 
hätte.  Er  fuhr  weiter  fort:  Die  einfachste,  reinste  Natur 
hinge  am  nächsten  mit  der  elementarischen  zusammen;  je 
feiner  der  Mensch  geistig  fühlt  und  lebt,  um  so  abge- 
stumpfter w^ürde  dieser  elementarische  Sinn;  er  halte  ihn 
nicht  für  einen  hohen  Zustand,  er  sei  nicht  selbständig 
genug,  aber  er  meine,  es  müsse  ein  unendliches  Wonne- 
gefühl sein,  so  von  dem  eigentümlichen  Leben  jeder  Form 
berührt  zu  werden,  für  Gesteine,  Metalle,  Wasser  und 
Pflanzen  eine  Seele  zu  haben,  so  traumartig  jedes  Wesen 


LENZ  91 

in  der  Natiir  in  sich  aufzunehmen,  wie  die  Bkimen  mit 
dem  Zu-  und  Abnehmen  des  Mondes  die  Luft. 
Er  sprach  sich  selbst  weiter  aus:  wie  in  allem  eine  un- 
aussprechliche Harmonie,  ein  Ton,  eine  Seligkeit  sei,  die 
in  den  höhern  Formen  mit  mehr  Organen  aus  sich  her- 
ausgriffe, tönte,  auffaßte  und  dafür  aber  auch  um  so  tiefer 
affiziert  würde;  wie  in  den  niedrigen  Formen  alles  zurück- 
gedrängter, beschränkter,  dafür  aber  auch  die  Ruhe  in 
sich  größer  sei.  Er  verfolgte  das  noch  weiter.  Oberlin 
brach  es  ab,  es  führte  ihn  zu  weit  von  seiner  einfachen 
Art  ab.  Ein  andermal  zeigte  ihm  Oberlin  Farben täf eichen, 
er  setzte  ihm  auseinander,  in  welcher  Beziehung  jede  Farbe 
mit  dem  Menschen  stände;  er  brachte  zwölf  Apostel  her- 
aus, deren  jeder  durch  eine  Farbe  repräsentiert  würde. 
Lenz  faßte  das  auf,  er  spann  die  Sache  weiter,  kam  in 
ängstliche  Träume,  und  fing  an,  wie  Stilling,  die  Apo- 
kalypse zu  lesen,  und  las  viel  in  der  Bibel. 
Um  diese  Zeit  kam  Kaufmann  mit  seiner  Braut  ins  Stein - 
tal.  Lenzen  war  anfangs  das  Zusammentreffen  unange- 
nehm; er  hatte  sich  so  ein  Plätzchen  zurechtgemacht,  das 
bißchen  Ruhe  war  ihm  so  kostbar — imd  jetzt  kam  ihm  je- 
mand entgegen,  der  ihn  an  so  vieles  erinnerte,  mit  dem 
er  sprechen,  reden  mußte,  der  seine  Verhältnisse  kannte. 
Oberlin  wußte  von  allem  nichts;  er  hatte  ihn  aufgenom- 
men, gepflegt;  er  sah  es  als  eine  Schickung  Gottes,  der 
den  Unglücklichen  ihm  zugesandt  hätte,  er  liebte  ihn  herz- 
lich. Auch  war  es  allen  notwendig,  daß  er  da  war;  er  ge- 
hörte zu  ihnen,  als  wäre  er  schon  längst  da,  und  niemand 
frug,  woher  er  gekommen  imd  wohin  er  gehen  werde. 
Über  Tisch  war  Lenz  wieder  in  guter  Stimmung:  man 
sprach  von  Literatur,  er  war  auf  seinem  Gebiete.  Die 
idealistische  Periode  fing  damals  an;  Kaufmann  war  ein 
Anhänger  davon,  Lenz  widersprach  heftig.  Er  sagte:  Die 
Dichter,  von  denen  man  sage,  sie  geben  die  Wirklichkeit, 
hätten  auch  keine  Ahnung  davon;  doch  seien  sie  immer 
noch  erträglicher  als  die,  welche  die  Wirklichkeit  ver- 
klären wollten.  Er  sagte:  Der  liebe  Gott  hat  die  Welt  wohl 
gemacht,  wie  sie  sein  soll,  und  wir  können  wohl  nicht 
was  Besseres  klecksen;  unser  einziges  Bestreben  soll  sein, 


92  DICHTUNGEN 

ihm  ein  wenig  nachzuschaffen.  Ich  verlange  in  allem — 
Leben,  Möglichkeit  des  Daseins,  und  dann  ist's  gut;  wir 
haben  dann  nicht  zu  fragen,  ob  es  schön,  ob  es  häßlich 
ist.  Das  Gefühl,  daß  was  geschaffen  sei,  Leben  habe,  stehe 
über  diesen  beiden  und  sei  das  einzige  Kriterium  in  Kunst- 
sachen. Übrigens  begegne  es  uns  nur  selten:  in  Shake- 
speare finden  wir  es,  und  in  den  Volksliedern  tönt  es 
einem  ganz,  in  Goethe  manchmal  entgegen;  alles  übrige 
kann  man  ins  Feuer  werfen.  Die  Leute  können  auch  keinen 
Hundsstall  zeichnen.  Da  wollte  man  idealistische  Gestal- 
ten, aber  alles,  was  ich  davon  gesehen,  sind  Holzpuppen. 
Dieser  Idealismus  ist  die  schmählichste  Verachtung  der 
menschlichen  Natur.  Man  versuche  es  einmal  und  senke 
sich  in  das  Leben  des  Geringsten  und  gebe  es  wieder  in 
den  Zuckimgen,  den  Andeutungen,  dem  ganzen  feinen, 
kaum  bemerkten  Mienenspiel;  er  hätte  dergleichen  ver- 
sucht im  ''Hofmeister"  und  den  ''Soldaten".  Es  sind  die 
prosaischsten  Menschen  unter  der  Sonne;  aber  die  Ge- 
fühlsader ist  in  fast  allen  Menschen  gleich,  nur  ist  die 
Hülle  mehr  oder  weniger  dicht,  durch  die  sie  brechen  muß. 
Man  muß  nur  Aug  und  Ohren  dafür  haben.  Wie  ich  gestern 
neben  am  Tal  hinaufging,  sah  ich  auf  einem  Steine  zwei 
Mädchen  sitzen:  die  eine  band  ihre  Haare  auf,  die  andre 
half  ihr;  und  das  goldne  Haar  hing  herab,  und  ein  ernstes 
bleiches  Gesicht,  und  doch  so  jung,  und  die  schwarze 
Tracht,  und  die  andre  so  sorgsam  bemüht.  Die  schönsten, 
innigsten  Bilder  der  altdeutschen  Schule  geben  kaum  eine 
Ahnung  davon.  Man  möchte  manchmal  ein  Medusen - 
haupt  sein,  um  so  eine  Gruppe  in  Stein  verwandeln  zu 
können,  und  den  Leuten  zurufen,  Sie  standen  auf,  die 
schöne  Gruppe  war  zerstört;  aber  wie  sie  so  hinabstiegen, 
zwischen  den  Felsen,  war  es  wieder  ein  anderes  Bild. 
Die  schönsten  Bilder,  die  schwellendsten  Töne  gruppie- 
ren, lösen  sich  auf. 

Nur  eins  bleibt:  eine  unendliche  Schönheit,  die  aus  einer 
Form  in  die  andre  tritt,  ewig  aufgeblättert,  verändert. 
Man  kann  sie  aber  freilich  nicht  immer  festhalten  und  in 
Museen  stellen  und  auf  Noten  ziehen,  und  dann  alt  und 
jung  herbeirufen,  und  die  Buben  und  Alten  darüber  rado- 


LENZ  93 

tieren  und  sich  entzücken  lassen.  Man  muß  die  Menschheit 
lieben,  um  in  das  eigentümliche  Wesen  jedes  einzudringen; 
es  darf  einem  keiner  zu  gering,  keiner  zu  häßlich  sein, 
erst  dann  kann  man  sie  verstehen;  das  unbedeutendste 
Gesicht  macht  einen  tiefern  Eindruck  als  die  bloße  Emp- 
findung des  Schönen,  und  man  kann  die  Gestalten  aus  sich 
heraustreten  lassen,  ohne  etwas  vom  Äußern  hinein  zu 
kopieren,  wo  einem  kein  Leben,  keine  Muskeln,  kein  Puls 
entgegenschwillt  und  pocht. 

Kaufmann  warf  ihm  vor,  daß  er  in  der  Wirklichkeit  doch 
keine  Typen  für  einen  Apoll  von  Belvedere  oder  eine  Raf- 
faelische  Madonna  finden  würde.  Was  liegt  daran,  ver- 
setzte er;  ich  muß  gestehen,  ich  fühle  mich  dabei  sehr  tot. 
Wenn  ich  in  mir  arbeite,  kann  ich  auch  wohl  was  dabei 
fühlen,  aber  ich  tue  das  Beste  daran.  Der  Dichter  und 
Bildende  ist  mir  der  liebste,  der  mir  die  Natur  am  wirk- 
lichsten gibt,  so  daß  ich  über  seinem  Gebild  fühle;  alles 
übrige  stört  mich.  Die  holländischen  Maler  sind  mir  lieber 
als  die  italienischen,  sie  sind  auch  die  einzigen  faßlichen. 
Ich  kenne  nur  zwei  Bilder,  und  zwar  von  Niederländern,  die 
mir  einen  Eindruck  gemacht  hätten,  wie  das  Neue  Testa- 
ment: das  eine  ist,  ich  weiß  nicht  von  wem,  Christus  und 
die  Jünger  von  Emmaus.  Wenn  man  so  liest,  wie  die  Jünger 
hinausgingen,  es  liegt  gleich  die  ganze  Natur  in  den  paar 
Worten.  Es  ist  ein  trüber,  dämmernder  Abend,  ein  ein- 
förmiger roter  Streifen  am  Horizont,  halbfinster  auf  der 
Straße;  da  kommt  ein  Unbekannter  zu  ihnen,  sie  sprechen, 
er  bricht  das  Brot;  da  erkennen  sie  ihn,  in  einfach-mensch- 
licher Art,  und  die  göttlich -leidenden  Züge  reden  ihnen 
deutlich,  und  sie  ersclirecken,  denn  es  ist  finster  geworden, 
und  es  tritt  sie  etwas  Unbegreifliches  an;  aber  es  ist  kein 
gespenstisches  Grauen,  es  ist,  wie  wenn  einem  ein  ge- 
liebter Toter  in  der  Dämmerung  in  der  alten  Art  entgegen  - 
träte:  so  ist  das  Bild  mit  dem  einförmigen,  bräunhchen 
Ton  darüber,  dem  trüben  stillen  Abend.  Dann  ein  anderes: 
Eine  Frau  sitzt  in  ihrer  Kammer,  das  Gebetbuch  in  der 
Hand.  Es  ist  sonntäglich  aufgeputzt,  der  Sand  gestreut, 
so  heimlich  rein  und  warm.  Die  Frau  hat  nicht  zur  Kirche 
gekonnt,  und  sie  verrichtet  die  Andacht  zu  Haus;  das 


94  DICHTUNGEN 

Fenster  ist  offen,  sie  sitzt  darnach  hingewandt,  und  es  ist, 
als  schwebten  zu  dem  Fenster  über  die  weite  ebne  Land- 
schaft die  Glockentöne  von  dem  Dorfe  herein  und  ver- 
hallet der  Sang  der  nahen  Gemeinde  aus  der  Kirche  her, 
und  die  Frau  liest  den  Text  nach. 

In  der  Art  sprach  er  weiter;  man  horchte  auf,  es  traf 
vieles.  Er  war  rot  geworden  über  dem  Reden,  und  bald 
lächelnd,  bald  ernst,  schüttelte  er  die  blonden  Locken.  Er 
hatte  sich  ganz  vergessen. 

Nach  dem  Essen  nahm  ihn  Kaufmann  beiseite.  Er  hatte 
Briefe  von  Lenzens  Vater  erhalten,  sein  Sohn  sollte  zu- 
rück, ihn  unterstützen.  Kaufmann  sagte  ihm,  wie  er  sein 
Leben  hier  verschleudre,  unnütz  verliere,  er  solle  sich  ein 
Ziel  stecken,  und  dergleichen  mehr.  Lenz  fuhr  ihn  an: 
''Hier  weg,  weg:  nach  Haus:  Toll  werden  dort:  Du  weißt, 
ich  kann  es  nirgends  aushalten,  als  da  herum,  in  der  Ge- 
gend. Wenn  ich  nicht  manchmal  auf  einen  Berg  könnte 
und  die  Gegend  sehen  könnte,  und  dann  wieder  herunter 
ins  Haus,  durch  den  Garten  gehn  und  zum  Fenster  hin- 
einsehn— ich  würde  toll!  toll!  Laßt  mich  doch  in  Ruhe! 
Nur  ein  bißchen  Ruhe  jetzt,  wo  es  mir  ein  wenig  wohl 
wird!  Weg,  weg:  Ich  verstehe  das  nicht,  mit  den  zwei 
Worten  ist  die  Welt  verhunzt.  Jeder  hat  was  nötig;  wenn 
er  ruhen  kann,  was  könnt  er  mehr  haben!  Immer  steigen, 
ringen  und  so  in  Ewigkeit  alles,  was  der  Augenblick  gibt, 
wegwerfen  und  immer  darben,  um  einmal  zu  genießen! 
Dürsten,  während  einem  helle  Quellen  über  den  Weg 
springen!  Es  ist  mir  jetzt  erträglich,  und  da  will  ich  blei- 
ben. Warum:  warum:  Eben  weil  es  mir  wohl  ist.  Was 
will  mein  Vater?  Kann  er  mehr  geben:  Unmöglich!  Laßt 
mich  in  Ruhe!" — Er  wurde  heftig;  Kaufmann  ging,  Lenz 
war  verstimmt. 

Am  folgenden  Tag  wollte  Kaufmann  weg.  Er  beredete 
Oberlin,  mit  ihm  in  die  Schweiz  zu  gehen.  Der  Wunsch, 
Lavater,  den  er  längst  diu-ch  Briefe  kannte,  auch  persön- 
lich kennen  zu  lernen,  bestimmte  ihn.  Er  sagte  es  zu. 
Man  mußte  einen  Tag  länger  wegen  der  Zurüstungen 
warten.  Lenz  fiel  das  aufs  Herz.  Er  hatte,  um  seiner  un- 
endlichen Qual  los  zu  werden,  sich  ängstlich  an  alles  ge- 


LENZ  95 

klammert;  er  fühlte  in  einzelnen  Augenblicken  tief,  wie 
er  sich  alles  nur  zurechtmache;  er  ging  mit  sich  um  wie 
mit  einem  kranken  Kinde.  Manche  Gedanken,  mächtige 
Gefühle  wurde  er  nur  mit  der  größten  x\ngstlos;  da  trieb 
es  ihn  wieder  mit  unendlicher  Gewalt  darauf,  er  zitterte, 
das  Haar  sträubte  ihm  fast,  bis  er  es  in  der  ungeheuersten 
Anspannung  erschöpfte.  Er  rettete  sich  in  eine  Gestalt, 
die  ihm  immer  vor  Augen  schwebte,  und  in  Oberlin;  seine 
Worte,  sein  Gesicht  taten  ihm  mi endlich  wohl.  So  sah  er 
mit  Angst  seiner  Abreise  entgegen. 

Es  war  Lenzen  unheimlich,  jetzt  allein  im  Hause  zu  blei- 
ben. Das  Wetter  war  milde  geworden:  er  beschloß,  Ober- 
lin zu  begleiten,  ins  Gebirg.  Auf  der  andern  Seite,  wo  die 
Täler  sich  in  die  Ebne  ausliefen,  trennten  sie  sich.  Er  ging 
allein  zurück.  Er  durchstrich  das  Gebirg  in  verschiedenen 
Richtungen.  Breite  Flächen  zogen  sich  in  die  Täler  her- 
ab, wenig  Wald,  nichts  als  gewaltige  Linien  und  weiter 
hinaus  die  weite,  rauchende  Ebne;  in  der  Luft  ein  ge- 
waltiges Wehen,  nirgends  eine  Spiu:  von  Menschen,  als 
hie  und  da  eine  verlassene  Hütte,  wo  die  Hirten  den 
Sommer  zubrachten,  an  den  Abhängen  gelehnt.  Er  wurde 
still,  vielleicht  fast  träumend:  es  verschmolz  ihm  alles  in 
eine  Linie,  wie  eine  steigende  und  sinkende  Welle,  zwi- 
schen Himmel  und  Erde;  es  war  ihm,  als  läge  er  an  einem 
unendlichen  Meer,  das  leise  auf  imd  ab  wogte.  Manchmal 
saß  er;  dann  ging  er  wieder,  aber  langsam  träumend.  Er 
suchte  keinen  Weg. 

Es  war  finstrer  Abend,  als  er  an  eine  bewohnte  Hütte 
kam,  im  Abhang  nach  dem  Steintal.  Die  Türe  war  ver- 
schlossen; er  ging  ans  Fenster,  durch  das  ein  Lichtschim- 
mer fiel.  Eine  Lampe  erhellte  fast  nur  einen  Punkt:  ihr 
Licht  fiel  auf  das  bleiche  Gesicht  eines  Mädchens,  das 
mit  halb  geöffneten  Augen,  leise  die  Lippen  bewegend, 
dahinter  ruhte.  Weiter  weg  im  Dimkel  saß  ein  altes  Weib, 
das  mit  schnarrender  Stimme  aus  einem  Gesangbuch 
sang.  Nach  langem  Klopfen  öffnete  sie;  sie  war  halb  taub. 
Sie  trug  Lenz  einiges  Essen  auf  und  wies  ihm  eine  Schlaf- 
stelle an,  wobei  sie  beständig  ihr  Lied  fortsang.  Das  Mäd- 
chen hatte  sich  nicht  gerührt.   Einige  Zeit  daraufkam  ein 


96  DICHTUNGEN 

Mann  herein;  er  war  lang  und  hager,  Spuren  von  grauen 
Haaren,  mit  unruhigem,  verwirrtem  Gesicht.  Er  trat  zum 
Mädchen,  sie  zuckte  auf  und  wurde  unruhig.  Er  nahm 
ein  getrocknetes  Kraut  von  der  Wand  und  legte  ihr  die 
Blätter  auf  die  Hand,  so  daß  sie  ruhiger  wiurde  und  ver- 
ständliche Worte  in  langsam  ziehenden,  durchschneiden- 
den Tönen  summte.  Er  erzählte,  wie  er  eine  Stimme  im 
Gebirge  gehört  und  dann  über  den  Tälern  ein  Wetter- 
leuchten gesehen  habe;  auch  habe  es  ihn  angefaßt,  und 
er  habe  damit  gerungen  wie  Jakob.  Er  warf  sich  nieder 
und  betete  leise  mit  Inbrunst,  während  die  Kranke  in 
einem  langsam  ziehenden,  leise  verhallenden  Ton  sang. 
Dann  gab  er  sich  zur  Ruhe. 

Lenz  schlummerte  träumend  ein,  und  dann  hörte  er  im 
Schlaf,  wie  die  Uhr  pickte.  Durch  das  leise  Singen  des 
Mädchens  und  die  Stimme  der  Alten  zugleich  tönte  das 
Sausen  des  Windes,  bald  näher,  bald  ferner,  und  der  bald 
helle,  bald  verhüllte  Mond  warf  sein  wechselndes  Licht 
traumartig  in  die  Stube.  Einmal  wurden  die  Töne  lauter, 
das  Mädchen  redete  deutlich  und  bestimmt:  sie  sagte, 
wie  auf  der  Klippe  gegenüber  eine  Kirche  stehe.  Lenz 
sah  auf,  und  sie  saß  mit  weitgeöffneten  Augen  aufrecht 
hinter  dem  Tisch,  und  der  Mond  warf  sein  stilles  Licht 
auf  ihre  Züge,  von  denen  ein  unheimlicher  Glanz  zu 
strahlen  schien;  zugleich  schnarrte  die  Alte,  und  über 
diesem  Wechseln  und  Sinken  des  Lichts,  den  Tönen  und 
Stimmen  schlief  endlich  Lenz  tief  ein. 
Er  erwachte  früh.  In  der  dämmernden  Stube  schlief  alles, 
auch  das  Mädchen  war  ruhig  geworden.  Sie  lag  zurück- 
gelehnt, die  Hände  gefaltet  unter  der  linken  Wange;  das 
Geisterhafte  aus  ihren  Zügen  war  verschwunden,  sie  hatte 
jetzt  einen  Ausdruck  unbeschreiblichen  Leidens.  Er  trat 
ans  Fenster  und  öffnete  es,  die  kalte  Morgenluft  schlug 
ihm  entgegen.  Das  Haus  lag  am  Ende  eines  schmalen, 
tiefen  Tales,  das  sich  nach  Osten  öffnete;  rote  Strahlen 
schössen  durch  den  grauen  Morgenhimmel  in  das  däm- 
mernde Tal,  das  im  weißen  Rauch  lag,  und  funkelten  am 
grauen  Gestein  und  trafen  in  die  Fenster  der  Hütten.  Der 
Mann  erwachte.   Seine  Augen  trafen  auf  ein  erleuchtet 


LENZ  97 

Bild  an  der  Wand,  sie  richteten  sich  fest  und  starr  darauf; 
nun  fing  er  an,  die  Lippen  zu  bewegen,  und  betete  leise, 
dann  laut  und  immer  lauter.  Indem  kamen  Leute  zur  Hütte 
herein,  sie  warfen  sich  schweigend  nieder.  Das  Mädchen 
lag  in  Zuckungen,  die  Alte  schnarrte  ihr  Lied  und  plau- 
derte mit  den  Nachbarn.  Die  Leute  erzählten  Lenzen,  der 
Mann  sei  vor  langer  Zeit  in  die  Gegend  gekommen,  man 
wisse  nicht  woher;  er  stehe  im  Ruf  eines  Heiligen,  er 
sehe  das  Wasser  unter  der  Erde  und  könne  Geister  be- 
schwören, und  man  wallfahre  zu  ihm.  Lenz  erfuhr  zu- 
gleich, daß  er  weiter  vom  Steintal  abgekommen;  er  ging 
weg  mit  einigen  Holzhauern,  die  in  die  Gegend  gingen. 
Es  tat  ihm  wohl,  Gesellschaft  zu  finden;  es  war  ihm  jetzt 
unheimlich  mit  dem  gewaltigen  Menschen,  von  dem  es 
ihm  manchmal  war,  als  rede  er  in  entsetzlichen  Tönen. 
Auch  fürchtete  er  sich  vor  sich  selbst  in  der  Einsamkeit. 
Er  kam  heim.  Doch  hatte  die  verflossene  Nacht  einen 
gewaltigen  Eindruck  auf  ihn  gemacht.  Die  Welt  war  ihm 
helle  gewesen,  und  er  spürte  an  sich  ein  Regen  und  Wim- 
meln nach  einem  Abgrund,  zu  dem  ihn  eine  unerbittliche 
Gewalt  hinriß.  Er  wühlte  jetzt  in  sich.  Er  aß  wenig;  halbe 
Nächte  im  Gebet  und  fieberhaften  Träumen.  Ein  gewalt- 
sames Drängen,  und  dann  erschöpft  ziurückgeschlagen;  er 
lag  in  den  heißesten  Tränen.  Und  dann  bekam  er  plötz- 
lich eine  Stärke  und  erhob  sich  kalt  und  gleichgültig;  seine 
Tränen  waren  ihm  dann  wie  Eis,  er  mußte  lachen.  Je 
höher  er  sich  aufriß,  desto  tiefer  stürzte  er  hinunter.  Alles 
strömte  wieder  zusammen.  Ahnungen  von  seinem  alten 
Zustande  durchzuckten  ihn  und  warfen  Streiflichter  in  das 
wüste  Chaos  seines  Geistes. 

Des  Tags  saß  er  gewöhnlich  unten  im  Zimmer.  Madame 
Oberlin  ging  ab  und  zu;  er  zeichnete,  malte,  las,  griff  nach 
jeder  Zerstreuung,  alles  hastig  von  einem  zum  andern. 
Doch  schloß  er  sich  jetzt  besonders  an  Madame  Oberlin 
an,  wenn  sie  so  dasaß,  das  schwarze  Gesangbuch  vor  sich, 
neben  eine  Pflanze,  im  Zimmer  gezogen,  das  jüngste  Kind 
zwischen  den  Knien;  auch  machte  er  sich  viel  mit  dem 
Kinde  zu  tun.  So  saß  er  einmal,  da  wurde  ihm  ängstlich, 
er  sprang  auf,  ging  auf  und  ab.   Die  Türe  halb  offen — da 

BÜCHNER  7. 


98  DICHTUNGEN 

hörte  er  die  Magd  singen,  erst  unverständlich,  dann  ka- 
men die  Worte: 

Auf  dieser  Welt  hab  ich  kein  Freud, 
Ich  hab  mein  Schatz  und  der  ist  weit. 
Das  fiel  auf  ihn,  er  verging  fast  unter  den  Tönen.  Ma- 
dame Oberlin  sah  ihn  an.  Er  faßte  sich  ein  Herz,  er 
konnte  nicht  mehr  schweigen,  er  mußte  davon  sprechen. 
"Beste  Madame  Oberlin,  können  Sie  mir  nicht  sagen, 
was  das  Frauenzimmer  macht,  dessen  Schicksal  mir  so 
zentnerschwer  auf  dem  Herzen  liegt?" — '-Aber  Herr  Lenz, 
ich  weiß  von  nichts." 

Er  schwieg  dann  wieder  und  ging  hastig  im  Zimmer  auf 
und  ab;  dann  fing  er  wieder  an:  ''Sehn  Sie,  ich  will 
gehen;  Gott,  Sie  sind  noch  die  einzigen  Menschen,  wo 
ich's  aushalten  könnte,  und  doch — doch,  ich  muß  weg, 
zu  ihr — aber  ich  kann  nicht,  ich  darf  nicht." — Er  war 
heftig  bewegt  und  ging  hinaus. 

Gegen  Abend  kam  Lenz  wieder,  es  dämmerte  in  der  Stube; 
er  setzte  sich  neben  Madame  Oberlin.  "Sehn  Sie,"  fing 
er  wieder  an,  "wenn  sie  so  durchs  Zimmer  ging  und  so 
halb  für  sich  allein  sang,  und  jeder  Tritt  war  eine  Musik, 
es  war  so  eine  Glückseligkeit  in  ihr,  und  das  strömte  in 
mich  über;  ich  war  immer  ruhig,  wenn  ich  sie  ansah  oder 
sie  so  den  Kopf  an  mich  lehnte,  und  Gott!  Gott — ich  war 
schon  lange  nicht  mehr  ruhig  .  .  .  Ganz  Kind;  es  war,  als 
war  ihr  die  Welt  zu  weit:  sie  zog  sich  so  in  sich  zurück, 
sie  suchte  das  engste  Plätzchen  im  ganzen  Haus,  und  da 
saß  sie,  als  wäre  ihre  ganze  Seligkeit  nur  in  einem  kleinen 
Punkt,  und  dann  war  mir's  auch  so;  wie  ein  Kind  hätte 
ich  dann  spielen  können.  Jetzt  ist  es  mir  so  eng,  so  eng! 
Sehn  Sie,  es  ist  mir  manchmal,  als  stieß'  ich  mit  den 
Händen  an  den  Himmel;  o  ich  ersticke!  Es  ist  mir  dabei 
oft,  als  fühlt  ich  physischen  Schmerz,  da  in  der  linken 
Seite,  im  Arm,  womit  ich  sie  sonst  faßte.  Doch  kann  ich  sie 
mir  nicht  mehr  vorstellen,  das  Bild  läuft  mir  fort,  und  dies 
martert  mich;  nur  wenn  es  mir  manchmal  ganz  hell  wird,  so 
ist  mir  wieder  recht  wohl." — Er  sprach  später  noch  oft 
mit  Madame  Oberlin  davon,  aber  meist  in  abgebrochenen 
Sätzen;  sie  wußte  wenig  zu  antworten ,  doch  tat  es  ihm  wohl. 


LENZ  99 

Unterdessen  ging  es  fort  mit  seinen  religiösen  Quälereien. 
Je  leerer,  je  kälter,  je  sterbender  er  sich  innerlich  fühlte, 
desto  mehr  drängte  es  ihn,  eine  Glut  in  sich  zu  wecken; 
es  kamen  ihm  Erinnerungen  an  die  Zeiten,  wo  alles  in 
ihm  sich  drängte,  wo  er  unter  all  seinen  Empfindungen 
keuchte.  Und  jetzt  so  tot!  Er  verzweifelte  an  sich  selbst; 
dann  warf  er  sich  nieder,  er  rang  die  Hände,  er  rührte 
alles  in  sich  auf — aber  tot!  tot!  Dann  flehte  er,  Gott  möge 
ein  Zeichen  an  ihm  tun;  dann  wühlte  er  in  sich,  fastete, 
lag  träumend  am  Boden. 

Am  3.  Hornung  hörte  er,  ein  Kind  in  Fouday  sei  ge- 
storben; er  faßte  es  auf  wie  eine  fixe  Idee.  Er  zog  sich  in 
sein  Zimmer  und  fastete  einen  Tag.  Am  4.  trat  er  plötz- 
hch  ins  Zimmer  zu  Madame  Oberlin;  er  hatte  sich  das 
Gesicht  mit  Asche  beschmiert  und  forderte  einen  alten 
Sack.  Sie  erschrak;  man  gab  ihm,  was  er  verlangte.  Er 
wickelte  den  Sack  um  sich,  wie  ein  Büßender^  und  schlug 
den  Weg  nach  Fouday  ein.  Die  Leute  im  Tale  waren  ihn 
schon  gewohnt;  man  erzählte  sich  allerlei  Seltsames  von 
ihm.  Er  kam  ins  Haus,  wo  das  Kind  lag.  Die  Leute  gingen 
gleichgültig  ihrem  Geschäfte  nach;  man  wies  ihm  eine 
Kammer:  das  Kind  lag  im  Hemde  auf  Stroh,  auf  einem 
Holztisch. 

Lenz  schauderte,  wie  er  die  kalten  Glieder  berührte  und 
die  halbgeöffneten  gläsernen  Augen  sah.  Das  Kind  kam 
ihm  so  verlassen  vor,  und  er  sich  so  allein  und  einsam. 
Er  warf  sich  über  die  Leiche  nieder.  Der  Tod  erschreckte 
ihn,  ein  heftiger  Schmerz  faßte  ihn  an:  diese  Züge,  dieses 
stille  Gesicht  sollte  verwesen — er  warf  sich  nieder;  er 
betete  mit  allem  Jammer  der  Verzweiflung,  daß  Gott  ein 
Zeichen  an  ihm  tue  und  das  Kind  beleben  möge,  wie  er 
schwach  und  unglücklich  sei;  dann  sank  er  ganz  in  sich 
und  wühlte  all  seinen  Willen  auf  einen  Punkt.  So  saß  er 
lange  starr.  Dann  erhob  er  sich  und  faßte  die  Hände  des 
Kindes  und  sprach  laut  und  fest:  ''Stehe  auf  und  wandle!" 
Aber  die  Wände  hallten  ihm  nüchtern  den  Ton  nach,  daß 
es  zu  spotten  schien,  und  die  Leiche  blieb  kalt.  Da  stürzte 
er  halb  wahnsinnig  nieder;  dann  jagte  es  ihn  auf,  hinaus 
ins  Gebirg. 


loo  DICHTUNGEN 

Wolken  zogen  rasch  über  den  Mond;  bald  alles  im  Finstern, 
bald  zeigten  sie  die  nebelhaft  verschwindende  Landschaft 
im  Mondschein,  Er  rannte  auf  und  ab.  In  seiner  Brust 
war  ein  Triiunphgesang  der  Hölle.  Der  Wind  klang  wie 
ein  Titanenlied.  Es  war  ihm,  als  könne  er  eine  ungeheure 
Faust  hinauf  in  den  Himmel  ballen  und  Gott  herbeireißen 
und  zwischen  seinen  Wolken  schleifen;  als  könnte  er  die 
Welt  mit  den  Zähnen  zermalmen  und  sie  dem  Schöpfer 
ins  Gesicht  speien;  er  schwur,  er  lästerte.  So  kam  er  auf 
die  Höhe  des  Gebirges,  und  das  ungewisse  Licht  dehnte 
sich  hinunter,  wo  die  weißen  Steinmassen  lagen,  und  der 
Himmel  war  ein  dummes  blaues  Aug,  und  der  Mond  stand 
ganz  lächerlich  drin,  einfältig.  Lenz  mußte  laut  lachen, 
und  mit  dem  Lachen  griff  der  Atheismus  in  ihn  und  faßte 
ihn  ganz  sicher  und  ruhig  und  fest.  Er  wußte  nicht  mehr, 
was  ihn  vorhin  so  bewegt  hatte,  es  fror  ihn;  er  dachte, 
er  wolle  jetzt  zu  Bette  gehn,  und  er  ging  kalt  und  uner- 
schütterhch  durch  das  unheimliche  Dunkel — es  war  ihm 
alles  leer  und  hohl,  er  mußte  laufen  und  ging  zu  Bette. 
Am  folgenden  Tag  befiel  ihn  ein  großes  Grauen  vor 
seinem  gestrigen  Zustand.  Er  stand  nun  am  Abgrund, 
wo  eine  wahnsinnige  Lust  ihn  trieb,  immer  wieder  hinein- 
zuschauen und  sich  diese  Qual  zu  wiederholen.  Dann 
steigerte  sich  seine  Angst,  die  Sünde  wider  den  Heiligen 
Geist  stand  vor  ihm. 

Einige  Tage  darauf  kam  Oberlin  aus  der  Schweiz  zurück, 
viel  früher,  als  man  es  erwartet  hatte.  Lenz  war  darüber 
betroffen.  Doch  wurde  er  heiter,  als  Oberlin  ihm  von 
seinen  Freunden  im  Elsaß  erzählte.  Oberlin  ging  dabei 
im  Zimmer  hin  und  her  und  packte  aus,  legte  hin.  Dabei 
erzählte  er  von  Pfeffel,  das  Leben  eines  Landgeistlichen 
glücklich  preisend.  Dabei  ermahnte  er  ihn,  sich  in  den 
Wunsch  seines  Vaters  zu  fügen,  seinem  Berufe  gemäß  zu 
leben,  heimzukehren.  Er  sagte  ihm:  ''Ehre  Vater  und 
Mutter!"  und  dergleichen  mehr.  Über  dem  Gespräch  ge- 
riet Lenz  in  heftige  Unruhe;  er  stieß  tiefe  Seufzer  aus, 
Tränen  drangen  ihm  aus  den  Augen,  er  sprach  abge- 
brochen. '7^,  ich  halt  es  aber  nicht  aus;  wollen  Sie  mich 
verstoßen.-  Nur  in  Ihnen  ist  der  Weg  zu  Gott.   Doch  mit 


LENZ  loi 

mir  ist's  aus!  Ich  bin  abgefallen,  verdammt  in  Ewigkeit, 
ich  bin  der  ewige  Jude."  Oberlin  sagte  ihm,  dafür  sei 
Jesus  gestorben;  er  möge  sich  brünstig  an  ihn  wenden, 
und  er  würde  teilhaben  an  seiner  Gnade, 
Lenz  erhob  das  Haupt,  rang  die  Hände  und  sagte:  '^\ch! 
ach!  göttlicher  Trost — ".  Dann  frug  er  plötzlich  freundlich, 
was  das  Frauenzimmer  mache,  Oberlin  sagte,  er  wisse 
von  nichts,  er  wolle  ihm  aber  in  allem  helfen  und  raten; 
er  müsse  ihm  aber  Ort,  Umstände  und  Person  angeben. 
Er  antwortete  nichts  wie  gebrochne  Worte:  ''Ach  ist  sie 
tot.-  Lebt  sie  noch.^  Der  Engel!  Sie  liebte  mich — ich  liebte 
sie,  sie  war's  würdig — o  der  Engel!  Verfluchte  Eifersucht, 
ich  habe  sie  aufgeopfert — sie  liebte  noch  einen  andern — 
ich  liebte  sie,  sie  war's  würdig — o  gute  Mutter,  auch  die 
liebte  mich — ich  bin  euer  Mörder!"  Oberlin  versetzte: 
vielleicht  lebten  alle  diese  Personen  noch,  vielleicht  ver- 
gnügt; es  möge  sein,  wie  es  wolle,  so  könne  und  werde 
Gott,  wenn  er  sich  zu  ihm  bekehrt  haben  \vürde,  diesen 
Personen  auf  sein  Gebet  und  Tränen  so  viel  Gutes  er- 
weisen, daß  der  Nutzen,  den  sie  alsdann  von  ihm  hätten, 
den  Schaden,  den  er  ihnen  zugefügt,  vielleicht  überwiegen 
würde.  Er  wiurde  darauf  nach  und  nach  ruhiger  und  ging 
wieder  an  sein  Malen, 

Den  Nachmittag  kam  er  wieder.  Auf  der  linken  Schulter 
hatte  er  ein  Stück  Pelz  und  in  der  Hand  ein  Bündel  Gerten, 
die  man  Oberlin  nebst  einem  Briefe  für  Lenz  mitgegeben 
hatte.  Er  reichte  Oberlin  die  Gerten  mit  dem  Begehren, 
er  sollte  ihn  damit  schlagen.  Oberlin  nahm  die  Gerten 
aus  seiner  Hand,  drückte  ihm_  einige  Küsse  auf  den  Mund 
und  sagte:  dies  wären  die  Streiche,  die  er  ihm  zu  geben 
hätte;  er  möchte  ruhig  sein,  seine  Sache  mit  Gott  allein 
ausmachen,  alle  möglichen  Schläge  würden  keine  einzige 
seiner  Sünden  tilgen;  dafür  hätte  Jesus  gesorgt,  zu  dem 
möchte  er  sich  wenden.   Er  ging. 

Beim  Nachtessen  war  er  wie  gewöhnlich  etwas  tiefsinnig. 
Doch  sprach  er  von  allerlei,  aber  mit  ängstlicher  Hast. 
Um  Mitternacht  wurde  Oberlin  durch  ein  Geräusch  ge- 
weckt, Lenz  rannte  durch  den  Hof,  rief  mit  hohler,  harter 
Stimme  den  Namen  Friederike,  mit  äußerster  Schnelle, 


I02  DICHTUNGEN 

Verwirrung  und  Verzweiflung  ausgesprochen;  er  stürzte 
sich  dann  in  den  Brunnentrog,  patschte  darin,  wieder 
heraus  und  herauf  in  sein  Zimmer,  wieder  herunter  in  den 
Trog,  und  so  einigemal — endlich  wurde  er  still.  Die  Mägde, 
die  in  der  Kinderstube  unter  ihm  schliefen,  sagten,  sie 
hätten  oft,  insonderheit  aber  in  selbiger  Nacht,  ein 
Brummen  gehört,  das  sie  mit  nichts  als  mit  dem  Tone 
einer  Haberpfeife  zu  vergleichen  wüßten.  Vielleicht  war 
es  sein  Winseln,  mit  hohler,  fürchterlicher,  verzweifelnder 
Stimme. 

Am  folgenden  Morgen  kam  Lenz  lange  nicht.    Endlich 
ging  Oberlin  hinauf  in  sein  Zimmer:  er  lag  im  Bett  ruhig 
und  unbeweglich.  Oberlin  mußte  lange  fragen,  ehe  er  Ant- 
wort bekam;  endlich  sagte  er:   "Ja,  Herr  Pfarrer,  sehen 
Sie,  die  Langeweile!  die  Langeweile!  o,  so  langweilig!  Ich 
weiß  gar  nicht  mehr,  was  ich  sagen  soll;   ich  habe  schon 
allerlei  Figuren  an  die  Wand  gezeichnet."  Oberlin  sagte 
ihm,  er  möge  sich  zu  Gott  wenden;  da  lachte  er  und  sagte: 
"Ja  wenn  ich  so  glücklich  wäre  wie  Sie,  einen  so  behag- 
lichen Zeitvertreib  aufzufinden,  ja  man  könnte  sich  die 
Zeit  schon  so  ausfüllen.   Alles  aus  Müßiggang.   Denn  die 
meisten  beten  aus  Langeweile,  die  andern  verlieben  sich 
aus  Langeweile,  die  dritten  sind  tugendhaft,  die  vierten 
lasterhaft,  und  ich  gar  nichts,  gar  nichts,  ich  mag  mich 
nicht  einmal  umbringen:  es  ist  zu  langweilig! 
O  Gott!  in  deines  Lichtes  Welle, 
In  deines  glühnden  Mittags  Helle, 
Sind  meine  Augen  wund  gewacht. 
Wird  es  denn  niemals  wieder  Nacht?" 
Oberlin  blickte  ihn  unwillig  an  und  wollte  gehen.    Lenz 
huschte  ihm  nach,  und  indem  er  ihn  mit  unheimlichen 
Augen  ansah:   "Sehn  Sie,  jetzt  kommt  mir  doch  was  ein, 
wenn  ich  niu:  unterscheiden  könnte,  ob  ich  träume  oder 
wache;  sehn  Sie,  das  ist  sehr  wichtig,  wir  wollen  es  unter- 
suchen"— er  huschte  dann  wieder  ins  Bett. 
Den  Nachmittag  wollte  Oberlin  in  der  Nähe  einen  Besuch 
machen;  seine  Frau  war  schon  fort.    Er  war  im  Begriff 
wegzugehen,  als  es  an  seine  Türe  klopfte  und  Lenz  herein- 
trat mit  vorwärts  gebogenem  Leib,  niederwärts  hängendem 


LENZ  103 

Haupt,  das  Gesicht  über  und  über  und  das  Kleid  hie  und  da 
mit  Asche  bestreut,  mit  der  rechten  Hand  den  linken  Arm 
haltend.  Er  bat  Oberlin,  ihm  den  Arm  zu  ziehen:  er  hätte 
ihn  verrenkt,  er  hätte  sich  zum  Fenster  heruntergestürzt; 
weil  es  aber  niemand  gesehen,  wolle  er  es  auch  niemand 
sagen.  Oberlin  erschrak  heftig,  doch  sagte  er  nichts;  er  tat, 
was  Lenz  begehrte.  Zugleich  schrieb  er  an  den  Schulmeister 
[Sebastian  Scheidecker]  von  Bellefosse,  er  möge  herunter- 
kommen, und  gab  ihm  Instruktionen.  Dann  ritt  er  weg. 
Der  Mann  kam.  Lenz  hatte  ihn  schon  oft  gesehen  und 
hatte  sich  an  ihn  attachiert.  Er  tat,  als  hätte  er  mit  Ober- 
lin etwas  reden  wollen,  wollte  dann  wieder  weg.  Lenz  bat 
ihn  zu  bleiben,  und  so  blieben  sie  beisammen.  Lenz  schlug 
noch  einen  Spaziergang  nach  Fouday  vor.  Er  besuchte 
das  Grab  des  Kindes,  das  er  hatte  erwecken  wollen,  kniete 
zu  verschiedenen  Malen  nieder,  küßte  die  Erde  des  Grabes, 
schien  betend,  doch  mit  großer  Verwirrung,  riß  etwas  von 
der  auf  dem  Grab  stehenden  Krone  ab,  als  ein  An- 
denken, ging  wieder  ziurück  nach  Waldbach,  kehrte  wieder 
um,  und  Sebastian  mit.  Bald  ging  er  langsam  und  klagte 
über  große  Schwäche  in  den  Gliedern,  dann  ging  er  mit 
verzweifelnder  Schnelligkeit;  die  Landschaft  beängstigte 
ihn,  sie  war  so  eng,  daß  er  an  alles  zu  stoßen  fürchtete. 
Ein  unbeschreibliches  Gefühl  des  Mißbehagens  befiel  ihn; 
sein  Begleiter  ward  ihm  endlich  lästig,  auch  mochte  er 
seine  Absicht  erraten  und  suchte  Mittel,  ihn  zu  entfernen. 
Sebastian  schien  ihm  nachzugeben,  fand  aber  heimlich 
Mittel,  seinen  Bruder  von  der  Gefahr  zu  benachrichtigen, 
und  nun  hatte  Lenz  zwei  Aufseher,  statt  einen.  Er  zog  sie 
wacker  herum;  endlich  ging  er  nach  Waldbach  zurück,  und 
da  sie  nahe  am  Dorfe  waren,  kehrte  er  wie  ein  Blitz  wieder 
um  und  sprang  wie  ein  Hirsch  gen  Fouday  zurück.  Die 
Männer  setzten  ihm  nach.  Indem  sie  ihn  in  Fouday  such- 
ten, kamen  zwei  Krämer  und  erzählten  ihnen,  man  hätte 
in  einem  Hause  einen  Fremden  gebunden,  der  sich  für  einen 
Mörder  ausgäbe,  der  aber  gewiß  kein  Mörder  sein  könne. 
Sie  liefen  in  dies  Haus  und  fanden  es  so.  Ein  junger 
Mensch  hatte  ihn,  auf  sein  ungestümes  Dringen,  in  der 
Angst  gebunden.    Sie  banden  ihn  los   und   brachten   ihn 


I04  DICHTUNGEN 

glücklich  nach  Waldbach,  wohin  Oberlin  indessen  mit  sei- 
ner Frau  zurückgekommen  war.  Er  sah  verwirrt  aus.  Da 
er  aber  merkte,  daß  er  liebreich  und  freundlich  empfangen 
wurde,  bekam  er  wieder  Mut;  sein  Gesicht  veränderte 
sich  vorteilhaft,  er  dankte  seinen  beiden  Begleitern  freund- 
lich und  zärtlich,  und  der  Abend  ging  ruhig  herum.  Oberlin 
bat  ihn  inständig,  nicht  mehr  zu  baden,  die  Nacht  ruhig 
im  Bette  zu  bleiben,  und  wenn  er  nicht  schlafen  könne, 
sich  mit  Gott  zu  unterhalten.  Er  versprach^ s  und  tat  es 
so  die  folgende  Nacht;  die  Mägde  hörten  ihn  fast  die 
ganze  Nacht  hindurch  beten. 

Den  folgenden  Morgen  kam  er  mit  vergnügter  Miene  auf 
Oberlins  Zimmer.  Nachdem  sie  verschiedenes  gesprochen 
hatten,  sagte  er  mit  ausnehmender  Freundlichkeit:  ^'Lieb- 
ster  Herr  Pfarrer,  das  Frauenzimmer,  wovon  ich  Ihnen 
sagte,  ist  gestorben,  ja  gestorben — der  Engel!" — 'Woher 
wissen  Sie  das.^" — ' 'Hieroglyphen,  Hieroglyphen!"  und 
dann  zum  Himmel  geschaut  und  wieder:  ''Ja  gestorben — 
Hieroglyphen!"  Es  war  dann  nichts  weiter  aus  ihm  zu 
bringen.  Er  setzte  sich  und  schrieb  einige  Briefe,  gab  sie 
sodann  Oberlin  mit  der  Bitte,  einige  Zeilen  dazu  zu  setzen. 
Sein  Zustand  war  indessen  immer  trostloser  geworden. 
Alles,  was  er  an  Ruhe  aus  der  Nähe  Oberlins  und  aus  der 
Stille  des  Tals  geschöpft  hatte,  war  weg;  die  Welt,  die 
er  hatte  nutzen  wollen,  hatte  einen  Ungeheuern  Riß;  er 
hatte  keinen  Haß,  keine  Liebe,  keine  Hoffnung — eine 
schreckliche  Leere,  und  doch  eine  folternde  Unruhe,  sie 
auszufüllen.  Er  hatte  nichts.  Was  er  tat,  tat  er  nicht  mit 
Bewußtsein,  und  doch  zwang  ihn  ein  innerlicher  Instinkt. 
Wenn  er  allein  war,  war  es  ihm  so  entsetzlich  einsam, 
daß  er  beständig  laut  mit  sich  redete,  rief,  und  dann  er- 
schrak er  wieder,  und  es  war  ihm,  als  hätte  eine  fremde 
Stimme  mit  ihm  gesprochen.  Im  Gespräch  stockte  er 
oft,  eine  unbeschreibliche  Angst  befiel  ihn,  er  hatte  das 
Ende  seines  Satzes  verloren;  dann  meinte  er,  er  müsse  das 
zuletzt  gesprochene  Wort  behalten  und  immer  sprechen, 
niu  mit  großer  Anstrengung  unterdrückte  er  diese  Gelüste. 
Es  bekümmerte  die  guten  Leute  tief,  wenn  er  manchmal 
in  ruhigen  Augenblicken  bei  ihnen  saß  und  unbefangen 


LENZ  105 

sprach,  und  er  dann  stockte  und  eine  unaussprechliche 
Angst  sich  in  seinen  Zügen  malte,  er  die  Personen,  die 
ihm  zunächst  saßen,  krampfhaft  am  Arm  faßte  und  erst 
nach  und  nach  wieder  zu  sich  kam.  War  er  allein  oder 
las  er,  war's  noch  ärger;  all  seine  geistige  Tätigkeit  blieb 
manchmal  in  einem  Gedanken  hängen.  Dachte  er  an  eine 
fremde  Person,  oder  stellte  er  sie  sich  lebhaft  vor,  so  war 
es  ihm,  als  würde  er  sie  selbst;  er  verwirrte  sich  ganz, 
und  dabei  hatte  er  einen  unendlichen  Trieb,  mit  allem 
um  ihn  im  Geiste  willkürlich  umzugehen — die  Natur,  Men- 
schen, nur  Oberhn  ausgenommen,  alles  traumartig,  kalt. 
Er  amüsierte  sich,  die  Häuser  auf  die  Dächer  zu  stellen, 
die  Menschen  an-  und  auszukleiden,  die  wahnwitzigsten 
Possen  auszusinnen.  Manchmal  fühlte  er  einen  unwider- 
stehlichen Drang,  das  Ding,  das  er  gerade  im  Sinne  hatte, 
auszuführen,  und  dann  schnitt  er  entsetzliche  Fratzen. 
Einst  saß  er  neben  Oberlin,  die  Katze  lag  gegenüber  auf 
einem  Stuhl.  Plötzlich  wurden  seine  Augen  starr,  er  hielt 
sie  unverrückt  auf  das  Tier  gerichtet;  dann  glitt  er  lang- 
sam den  Stuhl  herunter,  die  Katze  ebenfalls:  sie  war  wie 
bezaubert  von  seinem  Blick,  sie  geriet  in  ungeheure  Angst, 
sie  sträubte  sich  scheu;  Lenz  mit  den  nämlichen  Tönen, 
mit  fürchterlich  entstelltem  Gesicht;  wie  in  Verzweif- 
lung stürzten  beide  aufeinander  los — da  endlich  erhob 
sich  Madame  Oberlin,  imi  sie  zu  trennen.  Dann  war  er 
wieder  tief  beschämt.  Die  Zufälle  des  Nachts  steigerten 
sich  aufs  schrecklichste.  Nur  mit  der  größten  Mühe  schlief 
er  ein,  während  er  zuvor  noch  die  schreckliche  Leere  zu 
füllen  versucht  hatte.  Dann  geriet  er  zwischen  Schlaf  und 
Wachen  in  einen  entsetzlichen  Zustand:  er  stieß  an  etwas 
Grauenhaftes,  Entsetzliches,  der  Wahnsinn  packte  ihn;  er 
fuhr  mit  fürchterlichem  Schreien,  in  Schweiß  gebadet,  auf, 
und  erst  nach  und  nach  fand  er  sich  wieder.  Er  mußte 
dann  mit  den  einfachsten  Dingen  anfangen,  um  wieder  zu 
sich  zu  kommen.  Eigentlich  nicht  er  selbst  tat  es,  sondern 
ein  mächtiger  Erhaltungstrieb:  es  war,  als  sei  er  doppelt, 
und  der  eine  Teil  suche  den  andern  zu  retten  und  riefe 
sich  selbst  zu;  er  erzählte,  er  sagte  in  der  heftigsten  Angst 
Gedichte  her,  bis  er  wieder  zu  sich  kam. 


io6  DICHTUNGEN 

Auch  bei  Tage  bekam  er  diese  Zufälle,  sie  waren  dann 
noch  schrecklicher;  denn  sonst  hatte  ihn  die  Helle  davor 
bewahrt.  Es  war  ihm  dann,  als  existiere  er  allein,  als 
bestünde  die  Welt  nur  in  seiner  Einbildung,  als  sei  nichts 
als  er;  er  sei  das  ewig  Verdammte,  der  Satan,  allein  mit 
seinen  folternden  Vorstellungen.  Er  jagte  mit  rasender 
Schnelligkeit  sein  Leben  durch,  und  dann  sagte  er:  ''Kon- 
sequent, konsequent";  wenn  jemand  was  sprach:  "In- 
konsequent, inkonsequent"; — es  war  die  Kluft  unrettbaren 
Wahnsinns,  eines  Wahnsinns  durch  die  Ewigkeit. 
Der  Trieb  der  geistigen  Erhaltung  jagte  ihn  auf:  er  stürzte 
sich  in  Oberlins  Arme,  er  klammerte  sich  an  ihn,  als  wolle 
er  sich  in  ihn  drängen;  er  war  das  einzige  Wesen,  das  für 
ihn  lebte  und  durch  den  ihm  wieder  das  Leben  ofifenbart 
wurde.  Allmählig  brachten  ihn  Oberlins  Worte  dann  zu 
sich;  er  lag  auf  den  Knien  vor  Oberlin,  seine  Hände  in 
den  Händen  Oberlins,  sein  mit  kaltem  Schweiß  bedecktes 
Gesicht  auf  dessen  Schoß,  am  ganzen  Leibe  bebend  und 
zitternd.  Oberlin  empfand  unendliches  Mitleid,  die  Fa- 
milie lag  auf  den  Knien  und  betete  für  den  Unglücklichen, 
die  Mägde  flohen  und  hielten  ihn  für  einen  Besessenen. 
Und  wenn  er  ruhiger  wurde,  war  es  wie  der  Jammer  eines 
Kindes:  er  schluchzte,  er  empfand  ein  tiefes,  tiefes  Mitleid 
mit  sich  selbst;  das  waren  auch  seine  seligsten  Augenblicke. 
Oberlin  sprach  ihm  von  Gott.  Lenz  wand  sich  ruhig  los  und 
sah  ihn  mit  einem  Ausdruck  unendlichen  Leidens  an,  und 
sagte  endlich:  "Aber  ich,  war  ich  allmächtig,  sehen  Sie, 
wenn  ich  so  wäre,  ich  könnte  das  Leiden  nicht  ertragen, 
ich  würde  retten,  retten;  ich  will  ja  nichts  als  Ruhe,  Ruhe, 
nur  ein  wenig  Ruhe,  um  schlafen  zu  können."  Oberlin 
sagte,  dies  sei  eine  Profanation.  Lenz  schüttelte  trostlos 
mit  dem  Kopfe. 

Die  halben  Versuche  zum  Entleiben,  die  er  indes  fort- 
während machte,  waren  nicht  ganz  ernst.  Es  war  weniger 
der  Wunsch  des  Todes — für  ihn  war  ja  keine  Ruhe  und 
Hoffnung  im  Tode — ,  es  war  mehr  in  Augenblicken  der 
fürchterlichsten  Angst  oder  der  dumpfen,  ans  Nichtsein 
grenzenden  Ruhe  ein  Versuch,  sich  zu  sich  selbst  zu 
bringen  durch  physischen  Schmerz.   Augenblicke,  worin 


LENZ  107 

sein  Geist  sonst  auf  irgendeiner  wahnwitzigen  Idee  zu 
reiten  schien,  waren  noch  die  glücklichsten.  Es  war  doch 
ein  wenig  Ruhe,  und  sein  wirrer  Blick  war  nicht  so  ent- 
setzlich als  die  nach  Rettung  dürstende  Angst,  die  ewige 
Qual  der  Unruhe!  Oft  schlug  er  sich  den  Kopf  an  die 
Wand  oder  veriursachte  sich  sonst  einen  heftigen  physi- 
schen Schmerz, 

Den  8.  morgens  blieb  er  im  Bette,  Oberlin  ging  hinauf; 
er  lag  fast  nackt  auf  dem  Bette  und  war  heftig  bewegt. 
Oberlin  wollte  ihn  zudecken,  er  klagte  aber  sehr,  wie 
schwer  alles  sei,  so  schwer!  er  glaube  gar  nicht,  daß  er 
gehen  könne;  jetzt  endlich  empfinde  er  die  ungeheure 
Schwere  der  Luft.  Oberlin  sprach  ihm  Mut  zu.  Er  blieb 
aber  in  seiner  frühern  Lage  und  blieb  den  größten  Teil 
des  Tages  so,  auch  nahm  er  keine  Nahrung  zu  sich. 
Gegen  Abend  wurde  Oberlin  zu  einem  Kranken  nach 
Bellefosse  gerufen.  Es  war  gelindes  Wetter  und  Mond- 
schein. Auf  dem  Rückweg  begegnete  ihm  Lenz.  Er 
schien  ganz  vernünftig  und  sprach  ruhig  mid  freundlich 
mit  Oberlin.  Der  bat  ihn,  nicht  zu  weit  zu  gehen;  er  ver- 
sprach's. Im  Weggehn  wandte  er  sich  plötzlich  um  und 
trat  wieder  ganz  nahe  zu  Oberlin  und  sagte  rasch:  "Sehn 
Sie,  Herr  Pfarrer,  wenn  ich  das  nur  nicht  mehr  hören 
müßte,  mir  wäre  geholfen." — ''Was  denn,  mein  Lieber?" 
— ''Hören  Sie  denn  nichts.-  hören  Sie  denn  nicht  die  ent- 
setzliche Stimme,  die  um  den  ganzen  Horizont  schreit 
und  die  man  gewöhnlich  die  Stille  heißt:  Seit  ich  in 
dem  stillen  Tal  bin,  hör  ich's  immer,  es  läßt  mich  nicht 
schlafen;  ja  Herr  Pfarrer,  wenn  ich  wieder  einmal  schlafen 
könnte!"  Er  ging  dann  kopfschüttelnd  weiter. 
Oberlin  ging  zurück  nach  Waldbach  und  wollte  ihm  jemand 
nachschicken,  als  er  ihn  die  Stiege  herauf  in  sein  Zimmer 
gehen  hörte.  P2inen  Augenblick  darauf  platzte  etwas  im 
Hof  mit  so  starkem  Schall,  daß  es  Oberlin  unmöglich 
von  dem  FaU  eines  Menschen  herkommen  zu  können 
schien.  Die  Kindsmagd  kam  todblaß  und  ganz  zitternd . . . 

Er  saß  mit  kalter  Resignation  im  Wagen,  wie  sie  das  Tal 
hervor  nach  Westen  fuhren.    Es  war  ihm  einerlei,  wohin 


io8  DICHTUNGEN 

man  ihn  führte.  Mehrmals,  wo  der  Wagen  bei  dem 
schlechten  Wege  in  Gefahr  geriet,  blieb  er  ganz  ruhig 
sitzen;  er  war  vollkommen  gleichgültig.  In  diesem  Zu- 
stand legte  er  den  Weg  durchs  Gebirg  zurück.  Gegen 
Abend  waren  sie  im  Rheintale.  Sie  entfernten  sich  all- 
mählig  vom  Gebirg,  das  nun  wie  eine  tiefblaue  Kristall- 
welle sich  in  das  Abendrot  hob,  und  auf  deren  warmer 
Flut  die  roten  Strahlen  des  Abend  spielten;  über  die 
Ebene  hin  am  Fuße  des  Gebirgs  lag  ein  schimmerndes, 
bläuliches  Gespinst.  Es  wurde  finster,  je  mehr  sie  sich 
Straßburg  näherten;  hoher  Volhnond,  alle  fernen  Gegen- 
stände dunkel,  nur  der  Berg  neben  bildete  eine  scharfe 
Linie;  die  Erde  war  wie  ein  goldner  Pokal,  über  den 
schäumend  die  Goldwellen  des  Mondes  liefen.  Lenz  starrte 
ruhig  hinaus,  keine  Ahnung,  kein  Drang;  nur  wuchs  eine 
dumpfe  Angst  in  ihm,  je  mehr  die  Gegenstände  sich  in  der 
Finsternis  verloren.  Sie  mußten  einkehren.  Da  machte 
er  wieder  mehrere  Versuche,  Hand  an  sich  zu  legen,  war 
aber  zu  scharf  bewacht. 

Am  folgenden  Morgen,  bei  trübem,  regnerischem  Wetter, 
traf  er  in  Straßburg  ein.  Er  schien  ganz  vernünftig,  sprach 
mit  den  Leuten.  Er  tat  alles,  wie  es  die  andern  taten;  es 
war  aber  eine  entsetzliche  Leere  in  ihm,  er  fühlte  keine 
Angst  mehr,  kein  Verlangen,  sein  Dasein  war  ihm  eine 
notwendige  Last. — 
So  lebte  er  hin  .  .  . 


LEONCE  UND  LENA 
EIN  LUSTSPIEL 


VORREDE 
Alfieri:  ''E  la  Fama?' 

Gozzi:  ^'E  la  Farne?''' 


PERSONEN 


KÖNIG  PETER  vom  Reiche  Popo 

PRINZ  LEONCE,  sein  Sohn,  verlobt  mit 

PRINZESSIN  LENA  vom  Reiche  Pipi 

VALERIO 

DIE  GOUVERNANTE 

DER  HOFMEISTER 

DER  PRÄSIDENT  DES  STAATSRATS 

DER  HOFPREDIGER 

DER  LANDRAT 

DER  SCHULMEISTER 

ROSETTA 

Bediente.    Staatsräte.    Bauern  etc. 


)    11  I    c 

ERSTER  AKT 

"O  war  ich  doch  ein  Narr! 
Mein  Ehrgeiz  geht  auf  eine  bunte  Jacke." 
Wie  es  euch  gefällt. 

ERSTE  SZENE 
EIN  GARTEN 
Leonce  (halb  ruhend  auf  einer  Bank).  Der  Hofmeister. 
LEONCE.  Mein  Herr,  was  wollen  Sie  von  mir:  Mich 
auf  meinen  Beruf  vorbereiten?  Ich  habe  alle  Hände  voll 
zu  tun,  ich  weiß  mir  vor  Arbeit  nicht  zu  helfen. — Sehen 
Sie,  erst  habe  ich  auf  den  Stein  hier  dreihundertfünfund- 
sechzigmal  hintereinander  zu  spucken.  Haben  Sie  das  noch 
nicht  probiert?  Tun  Sie  es,  es  gewährt  eine  ganz  eigne 
Unterhaltung.  Dann — sehen  Sie  diese  Handvoll  Sand? 
{Er  ninwit  Sand  auf  wirft  ihn  in  die  Höhe  und  fängt  ihn 
mit  dem  Rücken  der  Hand  wieder  auf?) — ^Jetzt  werf  ich  sie 
in  die  Höhe.  Wollen  wir  wetten?  Wieviel  Körnchen  hab 
ich  jetzt  auf  dem  Handrücken?  Grad  oder  ungrad? — Wie? 
Sie  wollen  nicht  wetten?  Sind  Sie  ein  Heide?  Glauben 
Sie  an  Gott?  Ich  wette  gewöhnlich  mit  mir  selbst  und 
kann  es  tagelang  so  treiben.  Wenn  Sie  einen  Menschen 
aufzutreiben  wissen,  der  Lust  hätte,  manchmal  mit  mir  zu 
wetten,  so  werden  Sie  mich  sehr  verbinden.  Dann — habe 
ich  nachzudenken,  wie  es  wohl  angehn  mag,  daß  ich  mir 
auf  den  Kopf  sehe.  O  wer  sich  einmal  auf  den  Kopf  sehen 
könnte!  Das  ist  eins  von  meinen  Idealen.  Mir  wäre  ge- 
holfen. Und  dann — und  dann  noch  unendlich  viel  der 
Art. — Bin  ich  ein  Müßiggänger?  Habe  ich  jetzt  keine  Be- 
schäftigung.-— ^Ja,  es  ist  traurig  .  .  . 
HOFMEISTER.  Sehr  traurig.  Euer  Hoheit. 
LEONCE.  Daß  die  Wolken  schon  seit  drei  Wochen  von 
Westen  nach  Osten  ziehen.  Es  macht  mich  ganz  melan- 
cholisch. 

HOFMEISTER.   Eine  sehr  gegründete  Melancholie. 
LEONCE.   Mensch,  warum  widersprechen  Sie  mir  nicht? 
Sie  haben  dringende  Geschäfte,  nicht  wahr?    Es  ist  mir 
leid,  daß  ich  Sie  so  lange  aufgehalten  habe.    [Der  Hof- 
meister entfernt  sich  mit  einer  tiefen  Verbeugung.)    Mein 


112 


DICHTUNGEN 


Herr,  ich  gratuliere  Ihnen  zu  der  schönen  Parenthese, 
die  Ihre  Beine  machen,  wenn  Sie  sich  verbeugen. 
LEONCE  (allein^  streckt  sich  auf  der  Ba77k  aus).  Die  Bienen 
sitzen  so  trag  an  den  Bkimen,  und  der  Sonnenschein  hegt 
so  faul  auf  dem  Boden.  Es  krassiert  ein  entsetzlicher 
Müßiggang. — Müßiggang  ist  aller  Laster  Anfang. — Was  die 
Leute  nicht  alles  aus  Langeweile  treiben!  Sie  studieren 
aus  Langeweile,  sie  beten  aus  Langeweile,  sie  verlieben, 
verheiraten  und  vermehren  sich  aus  Langeweile  und 
sterben  endlich  aus  Langeweile,  und — und  das  ist  der 
Hiunor  davon — alles  mit  den  wichtigsten  Gesichtern, 
ohne  zu  merken,  warum,  und  meinen  Gott  weiß  was  dazu. 
Alle  diese  Helden,  diese  Genies,  diese  Dummköpfe,  diese 
Heiligen,  diese  Sünder,  diese  Familienväter  sind  im 
Grunde  nichts  als  raffinierte  Müßiggänger. — Warum  muß 
ich  es  grade  wissen?  Wanun  kann  ich  mir  nicht  wichtig 
werden  und  der  armen  Puppe  einen  Frack  anziehen  und 
einen  Regenschirm  in  die  Hand  geben,  daß  sie  sehr  recht- 
lich und  sehr  nützlich  und  sehr  moralisch  würde? — Der 
Mann,  der  eben  von  mir  ging,  ich  beneidete  ihn,  ich  hätte 
ihn  aus  Neid  prügeln  mögen.  O  wer  einmal  jemand  an- 
ders sein  könnte!  Nur  'ne  Minute  lang. — [Valerio,  etwas 
betrunken,  tritt  auf.)  Wie  der  Mensch  läuft!  Wenn  ich  nur 
etwas  unter  der  Sonne  wüßte,  was  mich  noch  könnte 
laufen  machen. 

VALERIO  (stellt  sich  dicht  vor  den  Prinzen,  legt  den  Finger 
an  die  Nase  und  sieht  ihn  starr  an).  Ja! 
LEONCE  {ebenso).  Richtig! 
VALERIO.  Haben  Sie  mich  begriffen? 
LEONCE.   Vollkommen. 

VALERIO.  Nun,  so  wollen  wir  von  etwas  anderm  reden. 
(Er  legt  sich  ins  Gras\)  Ich  werde  mich  indessen  in  das 
Gras  legen  und  meine  Nase  oben  zwischen  den  Halmen 
herausblühen  lassen  und  romantische  Empfindungen  be- 
ziehen, wenn  die  Bienen  und  Schmetterlinge  sich  darauf 
wiegen  wie  auf  einer  Rose. 

LEONCE.  Aber  Bester,  schnaufen  Sie  nicht  so  stark,  oder 
die  Bienen  und  Schmetterlinge  müssen  verhungern  über 
den  unsfeheuren  Prisen,  die  Sie  aus  den  Blumen  ziehen. 


LEONCE  UND  LENA.   ERSTER  AKT         113 

VALERIO.  Ach  Herr,  was  ich  ein  Gefühl  für  die  Natur 
habe!  Das  Gras  steht  so  schön,  daß  man  ein  Ochs  sein 
möchte,  um  es  fressen  zu  können,  und  dann  wieder  ein 
Mensch,  um  den  Ochsen  zu  essen,  der  solches  Gras  ge- 
fressen. 

LEONCE.  Unglücklicher,  Sie  scheinen  auch  an  Idealen 
zu  laborieren. 

VALERIO.  Es  ist  ein  Jammer!  Man  kann  keinen  Kirch- 
turm herunterspringen,  ohne  den  Hals  zu  brechen.  Man 
kann  keine  vier  Pfund  Kirschen  mit  den  Steinen  essen, 
ohne  Leibweh  zu  kriegen.  Seht,  Herr,  ich  könnte  mich 
in  eine  Ecke  setzen  und  singen  vom  Abend  bis  zimi 
Morgen:  "Kei,  da  sitzt  e  Fleig  an  der  Wand!  Fleig  an 
der  Wand!  Fleig  an  der  A^and!''  und  so  fort  bis  zum  Ende 
meines  Lebens. 

LEONCE.  Halt's  Maul  mit  deinem  Lied,  man  könnte 
darüber  ein  Narr  werden. 

VALERIO.  So  wäre  man  doch  etwas.  Ein  Narr!  Ein 
Narr!  Wer  will  mir  seine  Narrheit  gegen  meine  Vernunft 
verhandeln.- — Ha,  ich  bin  Alexander  der  Große!  Wie  mir 
die  Sonne  eine  goldne  Krone  in  die  Haare  scheint,  wie 
meine  Uniform  blitzt!  Herr  Generalissimus  Heupferd, 
lassen  Sie  die  Truppen  anrücken!  Herr  Finanzminister 
Kreuzspinne,  ich  brauche  Geld!  Liebe  Hofdame  Libelle, 
was  macht  meine  teiu:e  Gemahlin  Bohnenstange?  Ach 
bester  Herr  Leibmedicus  Kantharide,  ich  bin  um  einen 
Erbprinzen  verlegen.  Und  zu  diesen  köstlichen  Phan- 
tasien bekommt  man  gute  Suppe,  gutes  Fleisch,  gutes 
Brot,  ein  gutes  Bett  und  das  Haar  umsonst  geschoren — 
im  Narrenhaus  nämlich — ,  während  ich  mit  meiner  ge- 
sunden Vernunft  mich  höchstens  noch  zur  Beförderung 
der  Reife  auf  einen  Kirschbamn  verdingen  könnte,  um — 
nun: — um? 

LEONCE.  Um  die  Kirschen  diu-ch  die  Löcher  in  deinen 
Hosen  schamrot  zu  machen!  Aber,  Edelster,  dein  Hand- 
werk, deine  Profession,  dein  Gewerbe,  dein  Stand,  deine 
Kunst? 

VALERIO  {mit  Würde).  Herr,  ich  habe  die  große  Be- 
schäftigung, müßig  zu  gehen;  ich  habe  eine  ungemeine 

BÜCHNER  8. 


114  DICHTUNGEN 

Fertigkeit  im  Nichtstun;  ich  besitze  eine  ungeheure  Aus- 
dauer in  der  Faulheit,  Keine  Schwiele  schändet  meine 
Hände,  der  Boden  hat  noch  keinen  Tropfen  von  meiner 
Stirne  getrunken,  ich  bin  noch  Jungfrau  in  der  Arbeit; 
und  wenn  es  mir  nicht  der  Mühe  zu  viel  wäre,  würde  ich 
mir  die  Mühe  nehmen,  Ihnen  diese  Verdienste  weitläufiger 
auseinanderzusetzen. 

LEONCE  (mit  komischem  Enthusiasmus).  Komm  an  meine 
Brust!  Bist  du  einer  von  den  Göttlichen,  welche  mühelos 
mit  reiner  Stirne  durch  den  Schweiß  und  Staub  über  die 
Heerstraße  des  Lebens  wandeln,  und  mit  glänzenden 
Sohlen  und  blühenden  Leibern  gleich  seligen  Göttern  in 
den  Olympus  treten:  Komm!  Komm! 
VALERIO  [singt  i?7i  Abgehen).  Hei,  da  sitzt  e  Fleig  an 
der  Wand!  Fleig  an  der  Wand!  Fleig  an  der  Wand! 
(Beide  A^-m  in  Arm  ab.) 


ZWEITE  SZENE 

EIN  ZIMMER 

König  Feter  ivird  von  zwei  Kam?n  erdien  cm  angekleidet. 
PETER  (während  er  angekleidet  wird).  Der  Mensch  muß 
denken,  und  ich  muß  für  meine  Untertanen  denken;  denn 
sie  denken  nicht,  sie  denken  nicht. — Die  Substanz  ist  das 
An -sich,  das  bin  ich.  (Er  läuft  fast  nackt  im  Zimmer  her- 
um.) Begriffen:  An-sich  ist  an  sich,  versteht  ihr:  Jetzt 
kommen  meine  Attribute,  Modifikationen,  Affektionen  und 
Akzidenzien:  wo  ist  mein  Hemd,  meine  Hose: — Halt,  pfui! 
der  freie  Wille  steht  davorn  ganz  offen.  Wo  ist  die  Moral: 
wo  sind  die  Manschetten:  Die  Kategorien  sind  in  der 
schändlichsten  Verwirrung:  es  sind  zwei  Knöpfe  zuviel 
zugeknöpft,  die  Dose  steckt  in  der  rechten  Tasche;  mein 
ganzes  System  ist  ruiniert. — Ha,  was  bedeutet  der  KJiopf 
im  Schnupftuch.-  Kerl,  was  bedeutet  der  Knopf,  an  was 
wollte  ich  mich  erinnern: 

ERSTER  KAMMERDIENER.  Als  Eure  Majestät  diesen 
Knopf  in  Ihr  Schnupftuch  zu  knüpfen  geruhten,  so  wollten 
Sie— 


LEONCE  UND  LENA.  ERSTER  AKT         115 

KÖNIG.  Nimr 

ERSTER  KAMMERDIENER.  Sich  an  etwas  erinnern. 
PETER.  Eine  verwickelte  Antwort! — Ei!  Nun,  und  was 
meint  Er? 

ZWEITER  KAMMERDIENER.  Eure  Majestät  wollten 
sich  an  etwas  erinnern,  als  Sie  diesen  Knopf  in  Ihr  Schnupf- 
tuch zu  knüpfen  geruhten. 

PETER  {läuft  auf  mid  ab).  Was?  Was?  die  Menschen 
machen  mich  konfus,  ich  bin  in  der  größten  Verwirrung. 
Ich  weiß  mir  nicht  mehr  zu  helfen. 

[Ei?i  Diener  tritt  auf.) 
DIENER.  Eure  Majestät,  der  Staatsrat  ist  versammelt. 
PETER  (freudig).  Ja,  das  ist's,  das  ist's:  Ich  wollte  mich 
an  mein  Volk  erinnern. — Kommen  Sie,  meine  Herren! 
Gehen  Sie  symmetrisch.  Ist  es  nicht  sehr  heiß?  Nehmen 
Sie  doch  auch  Ihre  Schnupftücher  und  wischen  Sie  sich 
das  Gesicht.  Ich  bin  immer  so  in  Verlegenheit,  wenn 
ich  öffentlich  sprechen  soll.   (Alle  ab.) 

König  Peter.    Der  Staatsrat. 
PETER.  Meine  Lieben  und  Getreuen,  ich  wollte  euch 
hiermit  kund  und  zu  wissen  tun,  kund  und  zu  wissen  tun 
— denn,  entweder  verheiratet  sich  mein  Sohn,  oder  nicht 
(legt  den  Finger  an  die  N'ase)^  entweder,   oder — ihr  ver- 
steht mich  doch?  Ein  Drittes  gibt  es  nicht.    Der  Mensch 
muß  denken.   (Steht  eine  Zeitlang  si7tne7id.)  Wenn  ich  so 
laut  rede,  so  weiß  ich  nicht,  wer  es  eigentlich  ist,  ich  oder 
ein  anderer,  das  ängstigt  mich.    (Nach  langem  Besinnen-?) 
Ich  bin  ich. — Was  halten  Sie  davon,  Präsident? 
PRxÄ.SIDENT  (gravitätisch  langsam).  Eiure  Majestät,  viel- 
leicht ist  es  so,  vielleicht  ist  es  aber  auch  nicht  so. 
DER  GANZE  STAATSRAT  IM  CHOR.    Ja,  vielleicht 
ist  es  so,  vielleicht  ist  es  aber  auch  nicht  so. 
PETER  (77iit  Rührung).   O  meine  Weisen! — Also  von  was 
war  eigentlich  die  Rede?  Von  was  wollte  ich  sprechen? 
Präsident,  was  haben  Sie  ein  so  kurzes  Gedächtnis  bei  einer 
so  feierlichen  Gelegenheit?  Die  Sitzung  ist  aufgehoben. 
[Er  e7itfer7it  sich  feierlich,  der  ga7ize  Staatsrat  folgt  ihm.) 


ii6  DICHTUNGEN 

DRITTE  SZENE 

EIN  REICHGESCHMÜCKTER  SAAL.    KERZEN 

BRENNEN 

Leone e  mit  einigen  Dienern. 
LEONCE.  Sind  alle  Läden  geschlossen?  Zündet  die  Kerzen 
an!  Weg  mit  dem  Tag!  Ich  will  Nacht,  tiefe  ambrosische 
Nacht.  Stellt  die  Lampen  unter  Kristallglocken  zwischen 
die  Oleander,  daß  sie  wie  Mädchenaugen  unter  den  Wim- 
pern der  Blätter  hervorträumen.  Rückt  die  Rosen  näher, 
daß  der  Wein  wie  Tautropfen  auf  die  Kelche  sprudle. 
Musik!  Wo  sind  die  Violinen?  Wo  ist  die  Rosetta? — Fort! 
Alle  hinaus!  (Die  Diene?'  gehen  ah.  Lecmce  streckt  sich 
auf  ein  Ruhebett}^ 

Rosetta^  zierlich  gekleidet^   tritt  ein.    Man  hört  Musik  aus 

der  Ferne. 
ROSETTA  [nähert  sich  schmeichelnd).   Leonce! 
LEONCE.  Rosetta! 
ROSETTA.   Leonce! 
LEONCE.  Rosetta! 

ROSETTA.   Deine  Lippen  sind  trag.   Vom  Küssen? 
LEONCE.   Vom  Gähnen! 
ROSETTA.   Oh! 

LEONCE.   Ach  Rosetta,   ich  habe  die  entsetzliche  Ar- 
beit .  .  . 

ROSETTA.  Nun? 
LEONCE.  Nichts  zu  tun  .  .  . 
ROSETTA.  Als  zu  lieben? 
LEONCE.  Freilich  Arbeit! 
ROSETTA  [beleidigt).   Leonce! 
LEONCE.   Oder  Beschäftigung. 
ROSETTA.   Oder  Müßiggang. 

LEONCE.   Du  hast  recht  wie  immer.  Du  bist  ein  kluges 
Mädchen,  und  ich  halte  viel  auf  deinen  Scharfsinn. 
ROSEITA.   So  liebst  du  mich  aus  Langeweile? 
LEONCE.  Nein,  ich  habe  Langeweile,  weil  ich  dich  liebe. 
Aber  ich  liebe  meine  Langeweile  wie  dich.  Ihr  seid  eins. 
O  dolce  far  niente!  ich  träume  über  deinen  Augen  wie  an 


LEONCE  UND  LENA.  ERSTER  AKT    117 

wunderheimlichen  tiefen  Quellen,  das  Kosen  deiner  Lip- 
pen schläfert  mich  ein  wie  Wellenraiischen.  {^Er  umfaßt 
sie.)  Komm,  liebe  Langeweile,  deine  Küsse  sind  ein  wol- 
lüstiges Gähnen,  und  deine  Schritte  sind  ein  zierlicher 
Hiatus. 

ROSEITA.   Du  liebst  mich,  Leonce.' 
LEONCE.   Ei  warum  nicht.- 
ROSETTA.   Und  immer? 

LEONCE.  Das  ist  ein  langes  Wort:  immer!  Wenn  ich 
dich  nun  noch  fünftausend  Jahre  und  sieben  Monate  liebe, 
ist's  genug?  Es  ist  zwar  viel  weniger  als  immer,  ist  aber 
doch  eine  erkleckliche  Zeit,  und  wir  können  uns  Zeit 
nehmen,  uns  zu  lieben. 

ROSETTA.  Oder  die  Zeit  kann  uns  das  Lieben  nehmen. 
LEONCE.  Oder  das  Lieben  uns  die  Zeit.  Tanze,  Ro- 
setta,  tanze,  daß  die  Zeit  mit  dem  Takt  deiner  niedlichen 
Füße  geht. 

ROSETTA.  Meine  Füße  gingen  lieber  aus  der  Zeit. 
[Sie  tiwzt  imd  shigh) 

O  meine  müden  Füße,  ihr  müßt  tanzen 

In  bunten  Schuhen, 

Und  möchtet  lieber  tief 

Im  Boden  ruhen. 

O  meine  heißen  Wangen,  ihr  müßt  glühn 

Im  wilden  Kosen, 

Und  möchtet  lieber  blühn — 

Zwei  weiße  Rosen. 

O  meine  armen  Augen,  ihr  müßt  blitzen 

Im  Strahl  der  Kerzen, 

Und  schlieft  im  Dunkel  lieber  aus 

Von  euren  Schmerzen. 
LEONCE  (i?iäes  träumend  vor  sich  ki?i).  O,  eine  sterbende 
Liebe  ist  schöner  als  eine  werdende.  Ich  bin  ein  Römer; 
bei  dem  köstlichen  Mahle  spielen  zum  Dessert  die  goldnen 
Fische  in  ihren  Todesfarben.  Wie  ihr  das  Rot  von  den 
Wangen  stirbt,  wie  still  das  Auge  ausglüht,  wie  leis  das 
Wogen  ihrer  Glieder  steigt  und  fällt!  Adio,  adio,  meine 
Liebe,  ich  will  deine  Leiche  lieben.    i^Rosetta  nähert  sich 


ii8  DICHTUNGEN 

ihm  wieder^  Tränen,  Rosetta?  Ein  feiner  Epikiiräismus — 
weinen  zu  können.  Stelle  dich  in  die  Sonne,  damit  die 
köstlichen  Tropfen  kristallisieren,  es  muß  prächtige  Dia- 
manten geben.  Du  kannst  dir  ein  Halsband  daraus  machen 
lassen. 

ROSETTA.  Wohl  Diamanten,  sie  schneiden  mir  in  die 
Augen.  Ach  Leonce!  (Will  ihn  umfassen}^ 
LEONCE.  Gib  acht!  Mein  Kopf!  Ich  habe  unsere  Liebe 
darin  beigesetzt.  Sieh  zu  den  Fenstern  meiner  Augen  hin- 
ein. Siehst  du,  wie  schön  tot  das  arme  Ding  ist:  Siehst 
du  die  zwei  weißen  Rosen  auf  seinen  Wangen  und  die 
zwei  roten  auf  seiner  Brust?  Stoß  mich  nicht,  daß  ihm 
kein  Ärmchen  abbricht,  es  wäre  schade.  Ich  muß  meinen 
Kopf  gerade  auf  den  Schultern  tragen,  wie  die  Totenfrau 
einen  Kindersarg. 
ROSETTA  (scherzend).   Narr! 

LEONCE.  Rosetta!  [Rosetta  macht  ihm  eine  Fratze.)  Gott 
sei  Dank!  [Hält  sich  die  Augen  zu.) 
ROSETTA  {erschrocke7i).  Leonce,  sieh  mich  an! 
LEONCE.   Um  keinen  Preis! 
ROSETTA.   Nur  einen  Blick! 

LEONCE.  Keinen!  Was  meinst  du:  um  ein  klein  wenig, 
und  meine  liebe  Liebe  käme  wieder  auf  die  Welt.  Ich 
bin  froh,  daß  ich  sie  begraben  habe.  Ich  behalte  den 
Eindruck. 

ROSETTA  (entfernt  sich  traurig  und  langsam^  sie  singt  im 
Abgehn). 

Ich  bin  eine  arme  Waise, 

Ich  fürchte  mich  ganz  allein. 

Ach  lieber  Gram — 

Willst  du  nicht  kommen  mit  mir  heim: 

LEONCE  (allein).  Ein  sonderbares  Ding  um  die  Liebe. 
Man  liegt  ein  Jahr  lang  schlafwachend  zu  Bette,  und  an 
einem  schönen  Morgen  wacht  man  auf,  trinkt  ein  Glas 
Wasser,  zieht  seine  Kleider  an  und  fährt  sich  mit  der  Hand 
über  die  Stirn  und  besinnt  sich — und  besinnt  sich. — Mein 
Gott,  wieviel  Weiber  hat  man  nötig,  um  die  Skala  der 
Liebe  auf  und  ab  zu  singen?  Kaum,  daß  eine  einen  Ton 


LEONCE  UND  LENA.   ERSTER  AKT         119 

ausfüllt.  Warum  ist  der  Dunst  über  unsrer  Erde  ein  Prisma, 
das  den  weißen  Glutstrahl  der  Liebe  in  einen  Regenbogen 
bricht: — [Er  trinkt.)  In  welcher  Bouteille  steckt  denn  der 
Wein,  an  dem  ich'  mich  heute  betrinken  soll:  Bringe  ich 
es  nicht  einmal  mehr  so  weit:  Ich  sitze  wie  unter  einer 
Luftpumpe.  Die  Luft  so  scharf  und  dünn,  daß  mich  friert, 
als  sollte  ich  in  Nankinghosen  Schlittschuh  laufen. — Meine 
Herren,  meine  Herren,  wißt  ihr  auch,  was  Caligula  und 
Nero  waren.-  Ich  weiß  es. — Komm,  Leonce,  halte  mir 
einen  Monolog,  ich  will  zuhören.  Mein  Leben  gähnt  mich 
an  wie  ein  großer  weißer  Bogen  Papier,  den  ich  voll- 
schreiben soll,  aber  ich  bringe  keinen  Buchstaben  heraus. 
Mein  Kopf  ist  ein  leerer  Tanzsaal,  einige  verwelkte  Rosen 
und  zerknitterte  Bänder  auf  dem  Boden,  geborstene  Vio- 
linen in  der  Ecke,  die  letzten  Tänzer  haben  die  Masken 
abgenommen  und  sehen  mit  todmüden  Augen  einander 
an.  Ich  stülpe  mich  jeden  Tag  vierundzwanzigmal  herum 
wie  einen  Handschuh.  O  ich  kenne  mich,  ich  weiß,  was  ich 
in  einer  Viertelstunde,  was  ich  in  acht  Tagen,  was  ich  in 
einem  Jahre  denken  und  träumen  werde.  Gott,  was  habe 
ich  denn  verbrochen,  daß  du  mich  wie  einen  Schulbuben 
meine  Lektion  so  oft  hersagen  läßt: — 
Bravo,  Leonce!  Bravo!  [Er  klatscht.)  Es  tut  mir  ganz 
wohl,  wenn  ich  mir  so  rufe.  He!  Leonce!  Leonce! 
VALERIO  [unter  eine/n  Tisch  Jierzwr).  Eure  Hoheit  scheint 
mir  wirklich  auf  dem  besten  Weg,  ein  wahrhaftiger  Narr 
zu  werden. 

LEONCE.  Ja,  beim  Licht  besehen,  kommt  es  mir  eigent- 
lich ebenso  vor. 

VALERIO.  Warten  Sie,  wir  wollen  uns  darüber  sogleich 
ausführlicher  unterhalten.  Ich  habe  nur  noch  ein  Stück 
Braten  zu  verzehren,  das  ich  aus  der  Küche,  und  etwas 
Wein,  den  ich  von  Ihrem  Tische  gestohlen.  Ich  bin  gleich 
fertig. 

LEONCE.  Das  schmatzt.  -Der  Kerl  verursacht  mir  ganz 
idyllische  Empfindungen;  ich  könnte  wieder  mit  dem  Ein- 
fachsten anfangen,  ich  könnte  Käs  essen,  Bier  trinken, 
Tabak  rauchen.  Mach  fort,  grunze  nicht  so  mit  deinem 
Rüssel,  und  klappre  mit  deinen  Hauern  nicht  so. 


I20  DICHTUNGEN 

VALERIO.  Wertester  Adonis,  sind  Sie  in  Angst  um  ihre 
Schenkel?  Sein  Sie  unbesorgt,  ich  bin  weder  ein  Besen- 
binder noch  ein  Schulmeister;  ich  brauche  keine  Gerten 
zu  Ruten. 

LEONCE.  Du  bleibst  nichts  schuldig. 
VALERIO.  Ich  wollte,  es  ginge  meinem  Herrn  ebenso. 
LEONCE.  Meinst  du,  damit  du  zu  deinen  Prügeln  kämst.^ 
Bist  du  so  besorgt  um  deine  Erziehung? 
VALERIO.  O  Himmel,  man  kömmt  leichter  zu  seiner  Er- 
zeugung als  zu  seiner  Erziehung.  Es  ist  traurig,  in  welche 
Umstände  einen  andere  Umstände  versetzen  können!  Was 
für  Wochen  hab  ich  erlebt,  seit  meine  Mutter  in  die  Wochen 
kam!  Wie  viel  Gutes  hab  ich  empfangen,  das  ich  meiner 
Empfängnis  zu  danken  hätte? 

LEONCE.  Was  deine  Empfänglichkeit  betrifft,  so  könnte 
sie  es  nicht  besser  treffen,  um  getroffen  zu  werden.  Drück 
dich  besser  aus,  oder  du  sollst  den  unangenehmsten  Ein- 
druck von  meinem  Nachdruck  haben. . 
VALERIO.  Als  meine  Mutter  um  das  Vorgebirg  der  guten 
Hoffnung  schiffte  .  .  . 

LEONCE.  Und  dein  Vater  am  Kap  Hörn  Schiffbruch 
litt  ... 

VALERIO.  Richtig,  denn  er  war  Nachtwächter.  Doch 
setzte  er  das  Hörn  nicht  so  oft  an  die  Lippen,  als  die 
Väter  edler  Söhne  an  die  Stirn. 

LEONCE.  Mensch,  du  besitzest  eine  himmlische  Unver- 
schämtheit. Ich  fühle  ein  gewisses  Bedürfnis,  mich  in  nähere 
Berührung  mit  ihr  zu  setzen.  Ich  habe  eine  große  Passion, 
dich  zu  prügeln. 

VALERIO.  Das  ist  eine  schlagende  Antwort  und  ein  trif- 
tiger Beweis. 

LEONCE  (geht  auf  ihn  los).  Oder  du  bist  eine  geschlagene 
Antwort.  Denn  du  bekommst  Prügel  für  deine  Antwort. 
VALERIO  [läuft  weg,  Leone  e  stolpert  und  fällt).  Und  Sie 
sind  ein  Beweis,  der  noch  geführt  werden  muß;  denn  er 
fällt  über  seine  eigenen  Beine,  die  im  Grund  genommen 
selbst  noch  zu  beweisen  sind.  Es  sind  höchst  unwahr- 
scheinliche Waden  und  sehr  problematische  Schenkel. 


LEONCE  UND  LENA.  ERSTER  AKT         121 

De7'  Staatsrat  tritt  auf.  Leone  e  bleibt  auf  dem  Boden  sitzen. 

Valerio. 
PRÄSIDENT.   Eure  Hoheit  verzeihen  .  .  . 
LEONCE.   Wie  mir  selbst!  Wie  mir  selbst!   Ich  verzeihe 
mir  die  Gutmütigkeit,  Sie  anzuhören.  Meine  Herren,  wol- 
len Sie  nicht  Platz  nehmen? — Was  die  Leute  für  Gesichter 
machen,  wenn  sie  das  Wort  Platz  hören!   Setzen  Sie  sich 
nur  auf  den  Boden  und  genieren  Sie  sich  nicht!    Es  ist 
doch  der  letzte  Platz,  den  Sie  einst  erhalten,  aber  er  trägt 
niemanden  etwas  ein — außer  dem  Totengräber. 
PRÄSIDENT  {verlegen  mit  de7i  Fingern  schnipsend).    Ge- 
ruhen Eure  Hoheit  .  .  . 

LEONCE.   Aber  schnipsen  Sie  nicht  so  mit  den  Fingern, 
wenn  Sie  mich  nicht  zum  Mörder  machen  wollen. 
PRÄSIDENT  (im7ner  stärker  sc/wipsend).    Wollten  gnä- 
digst, in  Betracht  ... 

LEONCE.  Mein  Gott,  stecken  Sie  doch  die  Hände  in 
die  Hosen,  oder  setzen  Sie  sich  darauf.  Er  ist  ganz  aus 
der  Fassung.   Sammeln  Sie  sich. 

VALERIO.   Man  darf  Kinder  nicht  während  des  P 

unterbrechen,  sie  bekommen  sonst  eine  Verhaltung. 
LEONCE.   Mann,  fassen  Sie  sich.  Bedenken  Sie  Ihre  Fa- 
milie und  den  Staat.    Sie  riskieren  einen  Schlagfluß,  wenn 
Ihnen  Ihre  Rede  zurücktritt. 

PRÄSIDENT  {zieht  ein  Papier  aus  der  Tasche).  Erlauben 
Eure  Hoheit  .  .  . 

LEONCE.  Was.^  Sie  können  schon  lesen:  Nun  denn  . .  . 
PRÄSIDENT.  Daß  man  der  zu  erwartenden  Ankunft  von 
Eurer  Hoheit  Verlobter  Braut,  der  durchlauchtigsten  Prin- 
zessin Lena  von  Pipi,  auf  morgen  sich  zu  gewärtigen  habe, 
davon  läßt  Ihro  königliche  Majestät  Eure  Hoheit  benach- 
richtigen. 

LEONCE.  Wenn  meine  Braut  mich  erwartet,  so  werde 
ich  ihr  den  Willen  tun  und  sie  auf  mich  warten  lassen. 
Ich  habe  sie  gestern  nacht  im  Traum  gesehen,  sie  hatte 
ein  paar  Augen,  so  groß,  daß  die  Tanzschuhe  meiner  Ro- 
setta  zu  Augenbrauen  darüber  gepaßt  hätten,  mid  auf  den 
Wangen  waren  keine  Grübchen,  sondern  ein  paar  Ab- 


122  DICHTUNGEN 

zugsgräben  für  das  Lachen.  Ich  glaube  an  Träume.  Träu- 
men Sie  auch  zuweilen,  Herr  Präsident?  Haben  Sie  auch 
Ahnungen? 

VALERIO.  Versteht  sich.  Immer  die  Nacht  vor  dem 
Tag,  an  dem  ein  Braten  verbrennt,  ein  Kapaun  krepiert 
oder  Ihre  königliche  Majestät  Leib  weh  bekommt. 
LEONCE.  Apropos,  hatten  Sie  nicht  noch  etwas  auf  der 
Zunge?  Geben  Sie  nur  alles  von  sich. 
PRÄSIDENT.  An  dem  Tage  der  Vermählung  ist  ein 
höchster  Wille  gesonnen,  seine  allerhöchsten  Willens- 
äußerungen in  die  Hände  Eurer  Hoheit  niederzulegen. 
LEONCE.  Sagen  Sie  einem  höchsten  Willen,  daß  ich 
alles  tun  werde,  das  ausgenommen,  was  ich  werde  bleiben 
lassen,  was  aber  jedenfalls  nicht  so  viel  sein  wird,  als 
wenn  es  noch  einmal  so  viel  wäre. — Meine  Herren,  Sie 
entschuldigen,  daß  ich  Sie  nicht  begleite,  ich  habe  gerade 
die  Passion,  zu  sitzen,  aber  meine  Gnade  ist  so  groß,  daß 
ich  sie  mit  den  Beinen  kaum  ausmessen  kann.  {Er  spreizt 
die  Beine  auseinander }j  Herr  Präsident,  nehmen  Sie  doch 
das  Maß,  damit  Sie  mich  später  daran  erinnern.  Valerio, 
gib  den  Herren  das  Geleite. 

VALERIO.  Das  Geläute?  Soll  ich  dem  Herrn  Präsiden- 
ten eine  Schelle  anhängen?  Soll  ich  sie  führen,  als  ob 
sie  auf  allen  vieren  gingen: 

LEONCE.  Mensch,  du  bist  nichts  als  ein  schlechtes  Wort- 
spiel. Du  hast  weder  Vater  noch  Mutter,  sondern  die  fünf 
Vokale  haben  dich  miteinander  erzeugt. 
VALERIO.  Und  Sie,  Prinz,  sind  ein  Buch  ohne  Buch- 
staben, mit  nichts  als  Gedankenstrichen. — Kommen  Sie 
jetzt,  meine  Herren.  Es  ist  eine  traurige  Sache  um  das 
Wort  Kommen.  Will  man  ein  Einkommen,  so  muß  man 
stehlen;  an  ein  Aufkommen  ist  nicht  zu  denken,  als  wenn 
man  sich  hängen  läßt;  ein  Unterkommen  findet  man  erst, 
wenn  man  begraben  wird,  und  ein  Auskommen  hat  man 
jeden  Augenblick  mit  seinem  Witz,  wenn  man  nichts  mehr 
zu  sagen  weiß,  wie  ich  zum  Beispiel  eben,  und  Sie,  ehe 
Sie  noch  etwas  gesagt  haben.  Ihr  Abkommen  haben  Sie 
gefunden,  und  Ihr  Fortkommen  werden  Sie  jetzt  zu  suchen 
ersucht.  [Staatsrat  und  Valerio  ab.) 


LEONCE  UND  I.ENA.   ERSTER  AKT         123 

LEONCE  (allein).  Wie  gemein  ich  mich  zum  Ritter  an  den 
armen  Teufeln  gemacht  habe!  Es  steckt  nun  aber  doch  ein- 
mal ein  gewisser  Genuß  in  einer  gewissen  Gemeinheit. — 
Hm!  Heiraten!  Das  heißt  einen  Ziehbrunnen  leer  trinken. 
O  Shandy,  alter  Shandy,  wer  mir  deine  Uhr  schenkte! — 
[Valerio  kommt  zurück))  Ach  Valerio,  hast  du  es  gehört: 
VALERIO.  Nun,  Sie  sollen  König  werden.  Das  ist  eine 
lustige  Sache.  Man  kann  den  ganzen  Tag  spazieren  fah- 
ren und  den  Leuten  die  Hüte  verderben  durchs  viele  Ab- 
ziehen; man  kann  aus  ordentlichen  Menschen  ordentliche 
Soldaten  ausschneiden,  so  daß  alles  ganz  natürlich  wird; 
man  kann  schwarze  Fräcke  und  weiße  Halsbinden  zu 
Staatsdienern  machen;  und  wenn  man  stirbt,  so  laufen 
alle  blanken  Knöpfe  blau  an,  und  die  Glockenstricke 
reißen  wie  Zwirnsfäden  vom  vielen  Läuten.  Ist  das  nicht 
unterhaltend? 

LEONCE.  Valerio!  Valerio!  Wir  müssen  was  anderes 
treiben.  Rate! 

VALERIO.  Ach  die  Wissenschaft,  die  Wissenschaft!  Wir 
wollen  Gelehrte  werden!   A  priori:  oder  a  posteriori: 
LEONCE.    A  priori,   das  muß  man  bei  meinem  Herrn 
Vater  lernen;  und  a  posteriori  fängt  alles  an,  wie  ein  altes 
Märchen:  es  war  einmal! 

VALERIO.  So  wollen  wir  Helden  werden.  {Er  marschiert 
trompetend  und  trommelnd  auf  und  ab.)  Trom — trom — 
pläre — plem! 

LEONCE.  Aber  der  Heroismus  fuselt  abscheulich  und  be- 
kommt das  Lazarettfieber  und  kann  ohne  Leutnants  und 
Rekruten  nicht  bestehen.  Pack  dich  mit  deiner  Alexanders- 
und Napoleonsromantik! 
VALERIO.  So  wollen  wir  Genies  werden. 
LEONCE.  Die  Nachtigall  der  Poesie  schlägt  den  ganzen 
Tag  über  unserm  Haupt,  aber  das  Feinste  geht  zum  Teufel, 
bis  wir  ihr  die  Federn  ausreißen  und  in  die  Tinte  oder 
die  Farbe  tauchen. 

VALERIO.  So  wollen  wir  nützliche  Mitglieder  der  mensch- 
lichen Gesellschaft  werden. 

LEONCE.  Lieber  möchte  ich  meine  Demission  als  Mensch 
geben. 


124  DICHTUNGEN 

VALERIO.  So  wollen  wir  zum  Teufel  gehen. 
LEONCE.  Ach,  der  Teufel  ist  nur  des  Kontrastes  wegen 
da,  damit  wir  begreifen  sollen,  daß  am  Himmel  doch 
eigentlich  etwas  sei.  {Aufsprmgefid\)  Ah  Valerie,  Valerio, 
jetzt  hab  ich's!  Fühlst  du  nicht  das  Wehen  aus  Süden: 
Fühlst  du  nicht,  wie  der  tiefblaue,  glühende  Äther  auf  und 
ab  wogt,  wie  das  Licht  blitzt  von  dem  goldnen,  sonnigen 
Boden,  von  der  heiligen  Salzflut  und  von  den  Marmor- 
säulen und  -leibern?  Der  große  Pan  schläft,  und  die 
ehernen  Gestalten  träumen  im  Schatten  über  den  tief- 
rauschenden Wellen  von  dem  alten  Zaubrer  Virgil,  von 
Tarantella  und  Tambiu-in  und  tiefen,  tollen  Nächten  voll 
Masken,  Fackeln  und  Gitarren.  Ein  Lazzaroni!  Valerio, 
ein  Lazzaroni!   Wir  gehen  nach  Italien. 


VIERTE  SZENE 
EIN  GARTEN 

Prinzessin  Lena  im  Braiitschmuck.  Die  Gouvernante. 
LENA.  Ja,  jetzt!  Da  ist  es.  Ich  dachte  die  Zeit  an  nichts. 
Es  ging  so  hin,  und  auf  einmal  richtet  sich  der  Tag  vor 
mir  auf.  Ich  habe  den  Kranz  im  Haar — und  die  Glocken, 
die  Glocken!  [Sie  lehnt  sieh  zurikk  nmi  schließt  die  Augen.) 
Sieh,  ich  wollte,  der  Rasen  wüchse  so  über  mich,  und 
die  Bienen  summten  über  mir  hin;  sieh,  jetzt  bin  ich  ein- 
gekleidet und  habe  Rosmarin  im  Haar.  Gibt  es  nicht  ein 
altes  Lied: 

Auf  dem  Kirchhof  will  ich  liegen. 
Wie  ein  Kindlein  in  der  Wiegen. 
GOUVERNANTE.  Armes  Kind,  wie  Sie  bleich  sind  unter 
Ihren  blitzenden  Steinen! 

LENA.  O  Gott,  ich  könnte  lieben,  warmn  nicht:  Man 
geht  ja  so  einsam  und  tastet  nach  einer  Hand,  die  einen 
hielte,  bis  die  Leichenfrau  die  Hände  auseinandernähme 
und  sie  jedem  über  der  Brust  faltete.  Aber  warum  schlägt 
man  einen  Nagel  durch  zwei  Hände,  die  sich  nicht  such- 
ten? Was  hat  meine  arme  Hand  getan:  {Sie  zieht  einen 
Ring  vom  Finger^  Dieser  Ring  sticht  mich  wie  eine 
Natter. 


LEONCE  UND  LENA.  ZWEITER  AKT        125 

GOUVERNANTE.  Aber— er  soll  ja  ein  wahrer  Don  Carlos 

sein! 

LENA.  Aber — ein  Mann  .  .  . 

GOUVERNANTE.  Nun: 

LENA.   Den  man  nicht  liebt.  {Sie  erhebt  sich.)  Pfui!  Siehst 

du,  ich  schäme  mich. — Morgen  ist  aller  Duft  und  Glanz 

von  mir  gestreift.  Bin  ich  denn  wie  die  arme,  hülflose 

Quelle,  die  jedes  Bild,  das  sich  über  sie  bückt,  in  ihrem 

stillen  Grund  abspiegeln  muß:    Die  Blumen  öffnen  und 

schließen,  wie  sie  wollen,  ihre  Kelche  der  Morgensonne 

und  dem  Abendwind.   Ist  denn  die  Tochter  eines  Königs 

weniger  als  eine  Blume.^ 

GOUVERNANTE  [weinend).  Lieber  Engel,  du  bist  doch 

ein  wahres  Opferlamm. 

LENA.  Jawohl,  und  der  Priester  hebt  schon  das  Messer. — 

Mein  Gott,  mein  Gott,  ist  es  denn  wahr,  daß  wir  uns  selbst 

erlösen  müssen  mit  imserm  Schmerz:  Ist  es  denn  wahr, 

die  Welt  sei  ein  gekreuzigter  Heiland,  die  Sonne  seine 

Dornenkrone,  und  die  Sterne  die  Nägel  und  Speere  in 

seinen  Füßen  und  Lenden: 

GOUVERNANTE.   Mein  Kind,  mein  Kind!  ich  kann  dich 

nicht  so  sehen.  Es  kann  nicht  so  gehen,  es  tötet  dich. — 

Vielleicht,  wer  weiß!   Ich  habe  so  etwas  im  Kopf.  Wir 

wollen  sehen.   Komm!   [Sie  führt  die  Prinzessin  zaeg.) 


ZWEITER  AKT 

Wie  ist  mir  eine  Stimme  doch  erklungen 
Im  tiefsten  Innern, 

Und  hat  mit  einem  Male  mir  verschlungen 
All  mein  Erinnern. 

Adalbert  von  Chamisso. 

ERSTE  SZENE 
FREIES  FELD.  EIN  WIRTSHAUS  IM  HINTERGRUND 

Leonce  und  Valerio^  der  eine7i  Pack  trägt,  treten  auf. 
VALERIO  (keuche7id).  Auf  Ehre,  Prinz,  die  Welt  ist  doch 
ein  ungeheuer  weitläuftiges  Gebäude. 
LEONCE.   Nicht  doch!  Nicht  doch!  Ich  wage  kaum  die 
Hände  auszustrecken,  wie  in  einem  engen  Spiegelzimmer, 


126  DICHTUNGEN 

aus  Furcht,  überall  anzustoßen,  daß  die  schönen  Figuren 
in  Scherben  auf  dem  Boden  lägen  und  ich  vor  der  kahlen 
nackten  Wand  stünde. 
VALERIO.  Ich  bin  verloren. 

LEONCE.  Da  wird  niemand  einen  Verlust  dabei  haben, 
als  wer  dich  findet. 

VALERIO.  Ich  werde  mich  nächstens  in  den  Schatten 
meines  Schattens  stellen. 

LEONCE.  Du  verflüchtigst  dich  ganz  an  der  Sonne. 
Siehst  du  die  schöne  Wolke  da  oben?  Sie  ist  wenigstens 
ein  Viertel  von  dir.  Sie  sieht  ganz  wohlbehaglich  auf 
deine  gröberen  materiellen  Stoffe  herab. 
VALERIO.  Die  Wolke  könnte  Ihrem  Kopf  nichts  scha- 
den, wenn  man  sie  Ihnen  Tropfen  für  Tropfen  darauf 
fallen  ließe. — Ein  köstlicher  Einfall!  Wir  sind  schon  durch 
ein  Dutzend  Fürstentümer,  durch  ein  halbes  Dutzend 
Großherzogtümer  und  durch  ein  paar  Königreiche  ge- 
laufen, und  das  in  der  größten  Übereilung  in  einem  halben 
Tag — und  warum?  Weil  man  König  werden  und  eine 
schöne  Prinzessin  heiraten  soll!  Und  Sie  leben  noch  in 
einer  solchen  Lage?  Ich  begreife  Ihre  Resignation  nicht. 
Ich  begreife  nicht,  daß  Sie  nicht  Arsenik  genommen, 
sich  auf  das  Geländer  des  Kirchturms  gestellt  und  sich 
eine  Kugel  durch  den  Kopf  gejagt  haben,  um  es  ja  nicht 
zu  verfehlen. 

LEONCE.  Aber  Valerio,  die  Ideale!  Ich  habe  das  Ideal 
eines  Frauenzimmers  in  mir  und  muß  es  suchen.  Sie  ist 
unendlich  schön  und  unendlich  geistlos.  Die  Schönheit 
ist  da  so  hülflos,  so  rührend  wie  ein  neugebornes  Kind. 
Es  ist  ein  köstlicher  Kontrast:  diese  himmlisch  stupiden 
Augen,  dieser  göttHch  einfältige  Mund,  dieses  schafnasige 
griechische  Profil,  dieser  geistige  Tod  in  diesem  geistlosen 
Leib. 

VALERIO.  Teufel!  da  sind  wir  schon  wieder  auf  der 
Grenze.  Das  ist  ein  Land  wie  eine  Zwiebel:  nichts  als 
Schalen,  oder  wie  ineinandergesteckte  Schachteln:  in  der 
größten  sind  nichts  als  Schachteln  und  in  der  kleinsten 
ist  gar  nichts.  [Er  ivirft  seinen  Pack  zu  Boden?)  Soll  denn 
dieser  Pack  mein  Grabstein  werden?  Sehen  Sie,  Prinz — ich 


LEONCE  UND  LENA.  ZWEITER  AKT       127 

werde  philosophisch — ,  ein  Bild  des  menschlichen  Lebens: 
Ich  schleppe  diesen  Pack  mit  wunden  Füßen  durch  Frost 
und  Sonnenbrand,  weil  ich  abends  ein  reines  Hemd  an- 
ziehen will,  und  wenn  endlich  der  Abend  kommt,  so  ist 
meine  Stirn  gefurcht,  meine  Wange  hohl,  mein  Auge 
dunkel,  und  ich  habe  grade  noch  Zeit,  mein  Hemd  anzu- 
ziehen, als  Totenhemd.  Hätte  ich  nun  nicht  gescheiter 
getan,  ich  hätte  mein  Bündel  vom  Stecken  gehoben  und 
es  in  der  ersten  besten  Kneipe  verkauft,  und  hätte  mich 
dafür  betrunken  und  im  Schatten  geschlafen,  bis  es  Abend 
geworden  wäre,  und  hätte  nicht  geschwitzt  und  mir  keine 
Leichdörner  gelaufen?  Und,  Prinz,  jetzt  kommt  die  An- 
wendung und  die  Praxis:  aus  lauter  Schamhaftigkeit  wollen 
wir  jetzt  auch  den  inneren  Menschen  bekleiden  und  Rock 
und  Hosen  inwendig  anziehen.  [Beide  gehen  auf  das  Wij-ts- 
haus  los.)  Ei  du  lieber  Pack,  welch  ein  köstlicher  Duft, 
welche  Weindüfte  und  Bratengerüche!  Ei  ihr  lieben  Hosen, 
wie  wmrzelt  ihr  im  Boden  und  grünt  und  blüht,  und  die 
langen,  schweren  Trauben  hängen  mir  in  den  Mund,  und 
der  Most  gärt  unter  der  Kelter.  [Sie  gehe?i  ab.) 

Prinzessin  Lena.   Die  Gmiverna?ite  [kommen). 
GOUVERNANTE.   Es  muß  ein  bezauberter  Tag  sein,  die 
Sonne  geht  nicht  unter,  und  es  ist  so  unendlich  lang  seit 
unsrer  Flucht. 

LENA.  Nicht  doch,  meine  Liebe,  die  Blumen  sind  ja 
kaum  welk,  die  ich  zum  Abschied  brach,  als  wir  aus  dem 
Garten  gingen. 

GOUVERNANTE.  Und  wo  sollen  wir  ruhen?  Wir  sind 
noch  auf  gar  nichts  gestoßen.  Ich  sehe  kein  Kloster,  kei- 
nen Eremiten,  keinen  Schäfer. 

LENA.  Wir  haben  alles  wohl  anders  geträumt  mit  unser n 
Büchern  hinter  der  Mauer  unsers  Gartens,  zwischen  unsern 
Myrten  und  Oleandern. 

GOUVERNANTE.   O  die  Welt  ist  abscheulich!   An  einen 
irrenden  Königssohn  ist  gar  nicht  zu  denken. 
LENA.   O,  sie  ist  schön  und  so  weit,  so  unendlich  weit! 
Ich  möchte  immer  so  fort  gehen,  Tag  und  Nacht.    Es 
rührt  sich  nichts.   Ein  roter  Blumenschein  spielt  über  die 


128  DICHTUNGEN 

Wiesen,  und  die  fernen  Berge  liegen  auf  der  Erde  wie 
ruhende  Wolken. 

GOUVERNANTE.  Du  mein  Jesus,  was  wird  man  sagen? 
Und  doch  ist  es  so  zart  und  weiblich!  Es  ist  eine  Ent- 
sagung. Es  ist  wie  die  Flucht  der  heiligen  Ottilia.  Aber 
wir  müssen  ein  Obdach  suchen:  es  wird  Abend! 
LENA.  Ja,  die  Pflanzen  legen  ihre  Fiederblättchen  zum 
Schlaf  zusammen,  und  die  Sonnenstrahlen  wiegen  sich  an 
den  Grashalmen  wie  müde  Libellen. 


ZWEITE   SZENE 

DAS  WIRTSHAUS  AUF  EINER  ANHÖHE,  AN  EINEM 

FLUSS,  WEITE  AUSSICHT.   DER  GARTEN 

VOR  DEMSELBEN 

Valerie .  Leone e. 
VALERIO.  Nun,  Prinz,  liefern  Ilire  Hosen  nicht  ein  köst- 
liches Getränk:  Laufen  Ihnen  Ihre  Stiefel  nicht  mit  der 
größten  Leichtigkeit  die  Kehle  hinunter.^ 
LEONCE.  Siehst  du  die  alten  Bäume,  die  Hecken,  die 
Blumen,  das  alles  hat  seine  Geschichten,  seine  lieblichen, 
heimlichen  Geschichten.  Siehst  du  die  greisen  freund- 
lichen Gesichter  unter  den  Reben  an  der  Haustür?  Wie 
sie  sitzen  und  sich  bei  den  Händen  halten  und  Angst 
haben,  daß  sie  so  alt  sind  und  die  Welt  noch  so  jung  ist. 
O  Valerio,  und  ich  bin  so  jung,  und  die  Welt  ist  so  alt. 
Ich  bekomme  manchmal  eine  Angst  lun  mich  und  könnte 
mich  in  eine  Ecke  setzen  und  heiße  Tränen  weinen  aus 
Mitleid  mit  mir. 

VALERIO  [gibt  ihm  ein  Glas).  Nimm  diese  Glocke,  diese 
Taucherglocke,  und  senke  dich  in  das  Meer  des  Weines, 
daß  es  Perlen  über  dir  schlägt.  Sieh,  wie  die  Elfen  über 
dem  Kelch  der  Weinblumen  schweben,  goldbeschuht,  die 
Cymbeln  schlagend. 

LEONCE  (aufspringend).  Komm,  Valerio,  wir  müssen  was 
treiben,  was  treiben!  Wir  wollen  uns  mit  tiefen  Gedanken 
abgeben;  wir  wollen  imtersuchen,  wie  es  kommt,  daß 
der  Stuhl  auf  drei  Beinen  steht  imd  nicht  auf  zweien. 
Komm,  wir  wollen  Ameisen  zergliedern,  Staubfäden  zäh- 


LEONCE  UND  LENA.  ZWEITER  AKT       129 

len!  Ich  werde  es  doch  noch  zu  irgend  einer  fürstlichen 
Liebhaberei  bringen.  Ich  werde  doch  noch  eine  Kinder- 
rassel finden,  die  mir  erst  aus  der  Hand  fällt,  wenn  ich 
Flocken  lese  und  an  der  Decke  zupfe.  Ich  habe  noch  eine 
gewisse  Dosis  Enthusiasmus  zu  verbrauchen;  aber  wenn 
ich  alles  recht  warm  gekocht  habe,  so  brauche  ich  eine 
unendliche  Zeit,  um  einen  Löffel  zu  finden,  mit  dem  ich 
das  Gericht  esse,  und  darüber  steht  es  ab. 
VALERIO.  Ergo  bibamus!  Diese  Flasche  ist  keine  Ge- 
liebte, keine  Idee,  sie  macht  keine  Geburtsschmerzen,  sie 
wird  nicht  langweilig,  wird  nicht  treulos,  sie  bleibt  eins 
vom  ersten  Tropfen  bis  zum  letzten.  Du  brichst  das  Siegel, 
und  alle  Träume,  die  in  ihr  schlummern,  sprühen  dir  ent- 
gegen. 

LEONCE.  O  Gott!  Die  Hälfte  meines  Lebens  soll  ein 
Gebet  sein,  wenn  mir  nur  ein  Strohhalm  beschert  wird, 
auf  dem  ich  reite  wie  auf  einem  prächtigen  Roß,  bis  ich 
selbst  auf  dem  Stroh  liege. — Welch  unheimlicher  Abend! 
Da  unten  ist  alles  still,  und  da  oben  wechseln  und  ziehen 
die  Wolken,  und  der  Sonnenschein  geht  und  kommt  wie- 
der. Sieh,  was  seltsame  Gestalten  sich  dort  jagen!  sieh 
die  langen  weißen  Schatten  mit  den  entsetzlich  magern 
Beinen  und  Fledermausschwingen!  und  alles  so  rasch,  so 
wirr,  und  da  unten  rührt  sich  kein  Blatt,  kein  Halm.  Die 
Erde  hat  sich  ängstlich  zusammengeschmiegt  wie  ein  Kind, 
imd  über  ihre  Wiege  schreiten  die  Gespenster. 
VALERIO.  Ich  weiß  nicht,  was  Ihr  wollt,  mir  ist  ganz 
behaglich  zumut.  Die  Sonne  sieht  aus  wie  ein  Wirtshaus - 
Schild,  und  die  feurigen  Wolken  darüber  wie  die  Aufschrift: 
"Wirtshaus  zur  goldenen  Sonne".  Die  Erde  und  das  Was- 
ser da  unten  sind  wie  ein  Tisch,  auf  dem  Wein  verschüttet 
ist,  und  wir  liegen  darauf  wie  Spielkarten,  mit  denen  Gott 
und  der  Teufel  aus  Langeweile  eine  Partie  machen,  imd 
Ihr  seid  ein  Kartenkönig,  und  ich  bin  ein  Kartenbube, 
es  fehlt  nur  noch  eine  Dame,  eine  schöne  Dame,  mit 
einem  großen  Lebkuchenherz  auf  der  Brust  und  einer 
mächtigen  Tulpe,  worin  die  lange  Nase  sentimental  ver- 
sinkt {die  Gouvernante  und  die  Prinzessin  treten  auf)^  und 
—bei  Gott,  da  ist  sie!  Es  ist  aber  eigentlich  keine  Tulpe, 

BÜCHNER  9. 


I30  DICHTUNGEN 

sondern  eine  Prise  Tabak,  und  es  ist  eigentlich  keine 
Nase,  sondern  ein  Rüssel.  (Zur  Gouvernante\)  Warum 
schreiten  Sie,  Werteste,  so  eilig,  daß  man  Ihre  weiland 
Waden  bis  zu  Ihren  respektabeln  Strumpfbändern  sieht: 
GOUVERNANTE  [Jicftig  erzürnt,  bleibt  stehen).  Warum 
reißen  Sie,  Geehrtester,  den  Mund  so  weit  auf,  daß  Sie 
einem  ein  Loch  in  die  Aussicht  machen: 
VALERIO.  Damit  Sie,  Geehrteste,  sich  die  Nase  am  Ho- 
rizont nicht  blutig  stoßen.  Solch  eine  Nase  ist  wie  der 
Turm  auf  Libanon,  der  gen  Damaskum  steht. 
LENA  (zur  Gouvernante).  Meine  Liebe,  ist  denn  der  Weg 
so  lang? 

LEONCE  (träumend  vor  sieh  hin).  O,  jeder  Weg  ist  lang. 
Das  Picken  der  Totenuhr  in  unserer  Brust  ist  langsam, 
und  jeder  Tropfen  Blut  mißt  seine  Zeit,  und  unser  Leben 
ist  ein  schleichend  Fieber.  Für  müde  Füße  ist  jeder  Weg 
zu  lang  .  .  . 

LENA  (die  ihm  ängstlich  sinnend  zuhört).  Und  müden 
Augen  jedes  Licht  zu  scharf,  und  müden  Lippen  jeder 
Hauch  zu  schwer,  (lächelnd-.)  und  müden  Ohren  jedes  Wort 
zu  viel.  (Sie  tritt  7Jiit  der  Gouvernante  in  das  Haus.) 
LEONCE.  O  lieber  Valerio!  Könnte  ich  nicht  auch  sagen: 
''Sollte  nicht  dies  und  ein  Wald  von  Federbüschen  nebst 
ein  paar  gepufften  Rosen  auf  meinen  Schuhen — "r  Ich 
hab  es,  glaub  ich,  ganz  melancholisch  gesagt.  Gott  sei 
Dank,  daß  ich  anfange,  mit  der  Melancholie  niederzu- 
kommen. Die  Luft  ist  nicht  mehr  so  hell  und  kalt,  der 
Himmel  senkt  sich  glühend  dicht  um  mich,  und  schwere 
Tropfen  fallen.— O  diese  Stimme:  ist  denn  der  Weg  so 
lang:  Es  reden  viele  Stimmen  über  die  Erde,  und  man 
meint,  sie  sprächen  von  andern  Dingen,  aber  ich  habe 
sie  verstanden.  Sie  ruht  auf  mir  wie  der  Geist,  da  er 
über  den  Wassern  schwebte,  eh  das  Licht  ward.  Welch 
Gären  in  der  Tiefe,  welch  Werden  in  mir,  wie  sich  die 
Stimme  durch  den  Raum  gießt!— Ist  denn  der  Weg  so  lang? 
(Geht  ab.) 

VALERIO.  Nein,  der  Weg  zum  Narrenhaus  ist  nicht  so 
lang;  er  ist  leicht  zu  finden,  ich  kenne  alle  Fußpfade,  alle 
Vizinalwege  und  Chausseen  dorthin.  Ich  sehe  ihn  schon  auf 


LEONCE  UND  LENA.   ZWEITER  AKT       131 

einer  breiten  Allee  dahin,  an  einem  eiskalten  Wintertag, 
den  Hut  unter  dem  Arm,  wie  er  sich  in  die  langen  Schatten 
unter  die  kahlen  Bäume  stellt  und  mit  dem  Schnupftuch 
fächelt. — Er  ist  ein  Narr!  {Folgt  ihm.) 

* 

DRITTE  SZENE 
EIN  ZIMMER 

Lena.  Die  Gouvernante. 
GOUVERNxA.NTE.   Denken  Sie  nicht  an  den  Menschen! 
LENA.   Er  war  so  alt  unter  seinen  blonden  Locken.   Den 
Friililing  auf  den  A\'angen  und  den  Winter  im  Herzen! 
Das  ist  traurig.  Der  müde  Leib  findet  sein  Schlafkissen 
überall,  doch  wenn  der  Geist  müd  ist,  wo  soll  er  ruhen: 
Es  kommt  mir  ein  entsetzlicher  Gedanke:  ich  glaube,  es 
gibt  Menschen,  die  unglücklich  sind,  unheilbar,  bloß  weil 
sie  s i n d.   [Sie  erhebt  sich . ) 
GOUVERNANTE.   WohAn,  mein  Kind: 
LENA.   Ich  will  hinunter  in  den  Garten.. 
GOUVERNANTE.   Aber  .  .  . 

LENA.  Aber,  liebe  Mutter:  Du  weißt,  man  hätte  mich 
eigentlich  in  eine  Scherbe  setzen  sollen.  Ich  brauche  Tau 
und  Nachtluft,  wie  die  Bhmien. — Hörst  du  die  Harmonieen 
des  Abends:  Wie  die  Grillen  den  Tag  einsingen  und  die 
Nachtviolen  ihn  mit  ilirem  Duft  einschläfern!  Ich  kann 
nicht  im  Zimmer  bleiben.   Die  Wände  fallen  auf  mich. 


VIERTE  SZENE 
DER  GARTEN.  NACHT  UND  MONDSCHEIN 

Man  sieht  Lena  auf  dem  Rasen  sitzend. 
^^\LERIO  [in  einiger  Entfernung).  Es  ist  eine  schöne 
Sache  um  die  Natur,  sie  wäre  aber  doch  noch  schöner, 
wenn  es  keine  Schnaken  gäbe,  die  Wirtsbetten  etwas 
reinlicher  wären  und  die  Totenuhren  nicht  so  in  den 
AVänden  pickten.  Drin  schnarchen  die  Menschen,  und 
draußen  quaken  die  Frösche,  drin  pfeifen  die  Hausgrillen 
und  draußen  die  Feldgrillen.  Lieber  Rasen,  dies  ist  ein 
rasender  Entschluß!  {^Er  legt  sieh  auf  den  Käsen  nieder.)  _ 


132  DICHTUNGEN 

LEONCE  (tritt  auf).  O  Nacht,  balsamisch  wie  die  erste, 
die  auf  das  Paradies  herabsank!  {Er  bemerkt  die  Prin- 
zessin und  nähert  sich  ihr  leise?) 

LENA  {spricht  vor  sich  hi/i).  Die  Grasmücke  hat  im  Traum 
gezwitschert. — Die  Nacht  schläft  tiefer,  ihre  Wange  wird 
bleicher  und  ihr  Atem  stiller.  Der  Mond  ist  wie  ein 
schlafendes  Kind,  die  goldnen  Locken  sind  ihm  im  Schlaf 
über  das  liebe  Gesicht  heruntergefallen. — O,  sein  Schlaf 
ist  Tod.  Wie  der  tote  Engel  auf  seinem  dunklen  Kissen 
ruht  und  die  Sterne  gleich  Kerzen  um  ihn  brennen!  Armes 
Kind!  Es  ist  traurig,  tot  und  so  allein. 
LEONCE.  Steh  auf  in  deinem  weißen  Kleid  und  wandle 
hinter  der  Leiche  durch  die  Nacht  und  singe  ihr  das 
Sterbelied! 

LENA.   Wer  spricht  da? 
LEONCE.  Ein  Traum. 
LENA.  Träume  sind  selig. 

LEONCE.  So  träume  dich  selig  und  laß  mich  dein  seliger 
Traum  sein. 

LENA.  Der  Tod  ist  der  seligste  Traum. 
LEONCE.  So  laß  mich  dein  Todesengel  sein.  Laß  meine 
Lippen  sich  gleich  seinen  Schwingen  auf  deine  Augen 
senken.  {Er  kiißt  sie.)  Schöne  Leiche,  du  ruhst  so  lieb- 
lich auf  dem  schwarzen  Bahrtuch  der  Nacht,  daß  die 
Natur  das  Leben  haßt  und  sich  in  den  Tod  verliebt. 
LENA.  Nein,  laß  mich!  {Sie  springt  auf  und  entfernt  sich 
rasch.) 

LEONCE.  Zu  viel!  zu  viel!  Mein  ganzes  Sein  ist  in  dem 
einen  Augenblick.  Jetzt  stirb!  Mehr  ist  unmöglich.  Wie 
frischatmend,  schönheitglänzend  ringt  die  Schöpfung  sich 
aus  dem  Chaos  mir  entgegen!  Die  Erde  ist  eine  Schale 
von  dunklem  Gold:  wie  schäumt  das  Licht  in  ihr  und 
flutet  über  ihren  Rand,  und  hellauf  perlen  daraus  die 
Sterne.  Dieser  eine  Tropfen  Seligkeit  macht  mich  zu 
einem  köstlichen  Gefäß.  Hinab,  heiliger  Becher!  {Er  tvill 
sich  in  den  Fluß  stürzen.) 

YKIJEKIO  {springt  aufund  umfaßt  ihn).  Halt,  Serenissime! 
LEONCE.  Laß  mich! 


LEONCE  UND  LENA.   DRITTER  AKT        133 

VALERIO.    Ich  werde  Sie  lassen,  sobald  Sie  gelassen 
sind  imd  das  Wasser  zu  lassen  versprechen. 
LEONCE.   Dummkopf! 

VALERIO.  Ist  denn  Eure  Hoheit  noch  nicht  über  die 
Leutnantsromantik  hinaus:  das  Glas  zum  Fenster  hinaus- 
zuwerfen, womit  man  die  Gesundheit  seiner  Geliebten 
getrunken.- 

LEONCE.  Ich  glaube  halbwegs,  du  hast  recht. 
VALERIO.  Trösten  Sie  sich.  Wenn  Sie  auch  nicht  heut 
nacht  unter  dem  Rasen  schlafen,  so  schlafen  Sie  wenig- 
stens darauf.  Es  wäre  ein  ebenso  selbstmörderischer  Ver- 
such, in  eins  von  den  Betten  gehn  zu  wollen.  Man  liegt 
auf  dem  Stroh  wie  ein  Toter  und  wird  von  den  Elöhen 
gestochen  wie  ein  Lebendiger. 

LEONCE.  Meinetwegen.  {Er  legt  sich  i7is  Gras.)  Mensch, 
du  hast  mich  um  den  schönsten  Selbstmord  gebracht!  Ich 
werde  in  meinem  Leben  keinen  so  vorzüglichen  Augen- 
blick mehr  dazu  finden,  und  das  W^etter  ist  [0  vortrefflich. 
Jetzt  bin  ich  schon  aus  der  Stimmung.  Der  Kerl  hat  mir 
mit  seiner  gelben  Weste  und  seinen  himmelblauen  Hosen 
alles  verdorben.— Der  Himm.el  beschere  mir  einen  recht 
gesunden,  plumpen  Schlaf. 

VALERIO.    Amen. — Und  ich   habe  ein  Menschenleben 
gerettet  und  werde  mir  mit  meinem  guten  Gewissen  heut 
nacht  den  Leib  warm  halten. 
LEONCE.   Wohl  bekomm's,  Valerio! 


DRITTER  AKT 

ERSTE  SZENE 
Leo?ice.    Valerio. 
VALERIO.   Heiraten.-  Seit  wann  hat  es  Eure  Hoheit  zum 
ewigen  Kalender  gebracht.- 

LEONCE.  Weißt  du  auch,  Valerio,  daß  selbst  der  Ge- 
ringste unter  den  Menschen  so  groß  ist,  daß  das  Leben 
noch  viel  zu  kurz  ist,  um  ihn  lieben  zu  können.^  Und  dann 
kann  ich  doch  einer  gewissen  Art  von  Leuten,  die  sich 


134  DICHTUNGEN 

einbilden,  daß  nichts  so  schön  und  heilig  sei,  daß  sie  es 
nicht  noch  schöner  und  heiliger  machen  müßten,  die 
Freude  lassen.  Es  liegt  ein  gewisser  Genuß  in  dieser 
lieben  Arroganz.  Warum  soll  ich  ihnen  denselben  nicht 
gönnen? 

VALERIO.  Sehr  human  und  philobestialisch!  Aber  weiß 
sie  auch,  wer  Sie  sind.- 

LEONCE.   Sie  weiß  nur,  daß  sie  mich  liebt. 
VALERIO.   Und  weiß  Eure  Hoheit  auch,  wer  sie  ist.- 
LEONCE.  Dummkopf!  Frag  doch  die  Nelke  und  die  Tau- 
perle nach  ihrem  Namen. 

VALERIO.  Das  heißt,  sie  ist  überhaupt  etwas,  wenn  das 
nicht  schon  zu  unzart  ist  und  nach  dem  Signalement 
schmeckt. — Aber,  wie  soll  das  gehn?  Hm! — Prinz,  bin  ich 
Minister,  wenn  Sie  heute  vor  Ihrem  Vater  mit  der  Un- 
aussprechlichen, Namenlosen  mittelst  des  Ehesegens  zu- 
sammengesclmiiedet  werden:  Ihr  AVort: 
LEONCE.   Mein  Wort! 

VALERIO.  Der  arme  Teufel  Valerio  empfiehJt  sich  Seiner 
Exzellenz  dem  Herrn  Staatsminister  Valerio  von  Valerien- 
tal.— '^Was  will  der  Kerl?  Ich  kenne  ihn  nicht.  Fort, 
Schlingel!'*^  {Er  läuft  weg;  Leonce  folgt  ihm.) 

* 

ZWEITE  SZENE 

FREIER  PLATZ  VOR  DEM  SCHLOSSE  DES 

KÖNIGS  PETER 

Der  Landrat.   Der  Schulmeister,  Bauern  im  Sonntagsputz., 

Tannenzweige  haltend. 
LANDRAT.   Lieber  Herr  Schulmeister,  wie  halten  sich 
Eure  Leute? 

SCHULMEISTER.  Sie  halten  sich  so  gut  in  ihren  Leiden, 
daß  sie  sich  schon  seit  geraumer  Zeit  aneinander  halten. 
Sie  gießen  brav  Spiritus  in  sich,  sonst  könnten  sie  sich 
in  der  Hitze  unmöglich  so  lange  halten.  Courage,  ihr 
Leute!  Streckt  eure  Tannenzweige  grad  vor  euch  hin, 
damit  man  meint,  ihr  wärt  ein  Tannenwald,  und  eure 
Nasen  die  Erdbeeren,  und  eure  Dreim.aster  die  Hörner 
vom  Wildbret,  und  eure  hirschledernen  Hosen  der  Mond= 


LEONCE  UND  LENA.  DRITI^ER  AKT        135 

schein  darin.  Und  merkt's  euch:  der  hinterste  läuft  immer 
wieder  vor  den  vordersten,  damit  es  aussieht,  als  wärt 
ihr  ins  Quadrat  erhoben. 

LANDRAT.  Und,  Schulmeister,  Ihr  steht  vor  die  Nüch- 
ternheit. 

SCHULMEISTER.  Versteht  sich,  denn  ich  kann  vor 
Nüchternheit  kaum  noch  stehen. 

LANDRAT.  Gebt  acht,  Leute,  im  Programm  steht:  ''Sämt- 
liche Untertanen  werden  von  freien  Stücken  reinlich  ge- 
kleidet, wohlgenährt  und  mit  zufriedenen  Gesichtern  sich 
längs  der  Landstraße  aufstellen. ' '  Macht  uns  keine  Schande! 
SCHULMEISTER.    Seid  standhaft!    Kratzt   euch  nicht 
hinter  den  Ohren  und  schneuzt  euch  die  Nasen  nicht,  so- 
lang das  hohe  Paar  vorbeifährt,  mid  zeigt  die  gehörige 
Rührung,  oder  es  werden  rührende  Mittel  gebraucht  wer- 
den. Erkennt,  was  man  für  euch  tut:  man  hat  euch  grade 
so  gestellt,  daß  der  Wind  von  der  Küche  über  euch  geht 
und  ihr  auch  einmal  in  eiu^em  Leben  einen  Braten  riecht. 
Könnt  ihr  noch  eure  Lektion:  He:  Vi! 
DIE  BAUERN.   Vi! 
SCHULMEISTER.   Vat! 
DIE  BAUERN.   Vat! 
SCHULMEISTER.   Vivat! 
DIE  BAUERN.   Vivat! 

SCHULMEISTER.  So,  Herr  Landrat.  Sie  sehen,  wie  die 
Intelligenz  im  Steigen  ist.  Bedenken  Sie,  es  ist  Latein. 
Wir  geben  aber  auch  heut  abend  einen  transparenten  Ball 
mittelst  der  Löcher  in  unseren  Jacken  und  Hosen,  und 
schlagen  uns  mit  unseren  Fäusten  Kokarden  an  die  Köpfe. 


DRITTE  SZENE 

GROSSER  SAAL.    GEPUTZTE  HERREN  UND 

DAMEN,  SORGFÄLTIG  GRUPPIERT 

Der  Zeremomenmeister  mit  einigen  Bedie//ten  auf  dem 

Vordergrund. 

ZEREMONIENMEISTER.   Es  ist  ein  Jammer!  Alles  geht 

zugrund.    Die  Braten  schnm-ren  ein.    Alle  Glückwünsche 

stehen  ab.    Alle  Vatermörder  legen  sich  um,  wie  melan- 


136  DICHTUNGEN 

cholische  Schweinsohren.  Den  Bauern  wachsen  die  Nägel 
und  der  Bart  wieder.  Den  Soldaten  gehn  die  Locken  auf. 
Von  den  zwölf  Unschuldigen  ist  keine,  die  nicht  das  hori- 
zontale Verhalten  dem  senkrechten  vorzöge.  Sie  sehen  in 
ihren  weißen  Kleidchen  aus  wie  erschöpfte  Seidenhasen, 
und  der  Hofpoet  grunzt  um  sie  herum  wie  ein  bekümmertes 
Meerschweinchen.  Die  Herrn  Offiziere  kommen  um  all 
ihre  Haltung,  und  die  Hofdamen  stehen  da  wie  Gradier - 
baue;  das  Salz  kristallisiert  an  ihren  Halsketten. 
ZWEITER  BEDIENTER.  Sie  machen  es  sich  wenigstens 
bequem;  man  kann  ihnen  nicht  nachsagen,  daß  sie  auf 
den  Schultern  trügen.  Wenn  sie  auch  nicht  offenherzig 
sind,  so  sind  sie  doch  offen  bis  zum  Herzen. 
ZEREMONIENMEISTER.  Ja,  sie  sind  gute  Karten  vom 
türkischen  Reich:  man  sieht  die  Dardanellen  und  das 
Marmormeer.  Fort,  ihr  Schlingel!  An  die  Fenster!  Da 
kömmt  Ihro  Majestät! 

König  Peter  und  der  Staatsrat  treten  ein. 
PETER.  Also  auch  die  Prinzessin  ist  verschwunden.  Hat 
man  noch  keine  Spur  von  unserm  geliebten  Erbprinzen? 
Sind  meine  Befehle  befolgt?  Werden  die  Grenzen  beob- 
achtet? 

ZEREMONIENMEISTER.    Ja,   Majestät.    Die  Aussicht 
von  diesem  Saal  gestattet  uns  die  strengste  Aufsicht.  {Zu 
dem  ersten  Bedienten^)  Was  hast  du  gesehen? 
ERSTER  BEDIENTER.    Ein  Hund,   der  seinen  Herrn 
sucht,  ist  durch  das  Reich  gelaufen. 
ZEREMONIENMEISTER  {zu  einem  andern).   Und  du? 
ZWEITER  BEDIENTER.   Es  geht  jemand  auf  der  Nord- 
grenze spazieren,  aber  es  ist  nicht  der  Prinz,  ich  könnte 
ihn  erkennen. 

ZEREMONIENMEISTER.  Und  du? 
DRITTER  BEDIENTER.   Sie  verzeihen— nichts. 
ZEREMONIENMEISTER.   Das  ist  sehr  wenig.  Und  du? 
VIERTER  DIENER.  Auch  nichts. 
ZEREMONIENMEISTER.  Das  ist  ebensowenig. 
PETER.  Aber,  Staatsrat,  habe  ich  nicht  den  Beschluß  ge- 
faßt, daß  meine  königliche  Majestät  sich  an  diesem  Tage 


LEONCE  UND  LENA.  DRIITER  AKT        137 

freuen  und  daß  an  ihm  die  Hochzeit  gefeiert  werden  sollte? 
War  das  nicht  unser  festester  Entschluß: 
PRÄSIDENT.  Ja,  Eure  Majestät,  so  ist  es  protokolliert 
und  aufgezeichnet. 

PETER.   Und   würde   ich   mich    nicht  kompromittieren, 
wenn  ich  meinen  Beschluß  nicht  ausführte? 
PRÄSIDENT.  Wenn  es  anders  für  Eure  Majestät  möglich 
wäre,  sich  zu  kompromittieren,  so  wäre  dies  ein  Fall,  worin 
sie  sich  kompromittieren  könnte. 

PETER.  Habe  ich  nicht  mein  königliches  Wort  gegeben? 
—Ja,  ich  werde  meinen  Beschluß  sogleich  ins  Werk  setzen, 
ich  werde  mich  freuen.  {^Er  reibt  sich  die  Häjtde.)  O,  ich 
bin  außerordentlich  froh! 

PRÄSIDENT.  Wu-  teilen  sämtlich  die  Gefühle  Eurer  Ma- 
jestät, soweit  es  für  Untertanen  möglich  und  schicklich  ist. 
PETER.  O,  ich  weiß  mir  vor  Freude  nicht  zu  helfen.  Ich 
werde  meinen  Kammerherren  rote  Röcke  machen  lassen, 
ich  werde  einige  Kadetten  zu  Leutnants  machen,  ich  werde 
meinen- Untertanen  erlauben— aber,  aber,  die  Hochzeit? 
Lautet  die  andere  Hälfte  des  Beschlusses  nicht,  daß  die 
Hochzeit  gefeiert  werden  sollte? 
PRÄSIDENT.  Ja,  Eure  Majestät. 

PETER.  Ja,  wenn  aber  der  Prinz  nicht  kommt  und  die 
Prinzessin  auch  nicht? 

PRÄSIDENT.  Ja,   wenn  der  Prinz  nicht  kommt  und  die 
Prinzessin  auch  nicht — dann — dann — 
PETER.   Dann,  dann? 

PRÄSIDENT.   Dann  können  sie  sich  eben  nicht  heiraten. 
PETER.   Halt,  ist  der   Schluß  logisch?    Wenn— dann— . 
Richtig!  Aber  mein  Wort,  mein  königliches  Wort! 
PRÄSIDENT.    Tröste    Eure   Majestät    sich   mit  andern 
Majestäten.   Ein  königliches  Wort  ist  ein  Ding— ein  Ding 
— ein  Ding — ,  das  nichts  ist. 
PETER  {zu  defi  Diener ti).   Seht  ihr  noch  nichts? 
DIE  DIENER.   Eure  Majestät,  nichts,  gar  nichts. 
PETER.   Und  ich  hatte  beschlossen,  mich  so  zu  freuen! 
Grade  mit  dem  Glockenschlag  zwölf  wollte  ich  anfangen 
und  wollte  mich  freuen  volle  zwölf  Stunden — ich  werde 
ganz  melancholisch. 


138  DICHTUNGEN 

PRÄSIDENT.  Alle  Untertanen  werden  aufgefordert,  die 
Gefühle  Ihrer  Majestät  zu  teilen. 

ZEREMONIENMEISTER.  Denjenigen,  welche  kein 
Schnupftuch  bei  sich  haben,  ist  das  Weinen  jedoch  An- 
standes  halber  untersagt. 

ERSTER  BEDIENTER.  Halt!  Ich  sehe  was!  Es  ist 
etwas  wie  ein  Vorsprung,  wie  eine  Nase,  das  übrige  ist 
noch  nicht  über  der  Grenze;  und  dann  seh  ich  noch  einen 
Mann,  und  dann  noch  zwei  Personen  entgegengesetzten 
Geschlechts. 

ZEREMONIENMEISTER.  In  welcher  Richtung? 
ERSTER  BEDIENTER.  Sie  kommen  näher.  Sie  gehn  auf 
das  Schloß  zu.  Da  sind  sie. 

Valerie)^  Leonce,  die  Gouvernante  und  die  Prinzessin  treten 

maskiert  auf. 
PETER.   Wer  seid  Ihr? 

VALERIO.  Weiß  ich's?  {Er  ninunt  langsam  hintereinander 
mehrere  Masken  ab.)  Bin  ich  das:  oder  das?  oder  das? 
Wahrhaftig,  ich  bekomme  Angst,  ich  könnte  m_ich  so  ganz 
auseinanderschälen  und  blättern. 

PETER  (verlegen).  Aber— aber  etwas  müßt  Ilir  denn  doch 
sein: 

VALERIO.  Wenn  Eure  Majestät  es  so  befehlen.  Aber, 
meine  Herren,  hängen  Sie  alsdann  die  Spiegel  herum  und 
verstecken  Sie  Ihre  blanken  Knöpfe  etwas,  und  sehen  Sie 
mich  nicht  so  an,  daß  ich  mich  in  Ihren  Augen  spiegeln 
muß,  oder  ich  weiß  wahrhaftig  nicht  mehr,  was  ich  eigent- 
lich bin. 

PETER.  Der  Mensch  bringt  mich  in  Konfusion,  zur  De- 
speration. Ich  bin  in  der  größten  Verwirrung. 
VALERIO.  Aber  eigentlich  wollte  ich  einer  hohen  und 
geehrten  Gesellschaft  verkündigen,  daß  hiermit  die  zwei 
weltberühmten  Automaten  angekommen  sind,  und  daß  ich 
vielleicht  der  dritte  und  merkwürdigste  von  beiden  bin, 
wenn  ich  eigentlich  selbst  recht  wüßte,  wer  ich  wäre, 
worüber  man  übrigens  sich  nicht  wundern  dürfte,  da  ich 
selbst  gar  nichts  von  dem  weiß,  was  ich  rede,  ja  auch 


LEONCE  UND  LENA.  DRITTER  AKT       139 

nicht  einmal  weiß,  daß  ich  es  nicht  weiß,  so  daß  es  höchst 
wahrscheinlich  ist,  daß  man  mich  nur  so  reden  läßt,  und 
es  eigentlich  nichts  als  Walzen  und  Windschläuche  sind, 
die  das  alles  sagen.  (Mit  schnarre?idem  Toni)  Sehen  Sie 
hier,  meine  Herren  und  Damen,  zwei  Personen  beiderlei 
Geschlechts,  ein  Männchen  und  ein  Weibchen,  einen 
Herrn  und  eine  Dame.  Nichts  als  Kunst  und  Mechanis- 
mus, nichts  als  Pappendeckel  und  Uhrfedern!  Jede  hat 
eine  feine,  feine  Feder  von  Rubin  unter  dem  Nagel  der 
kleinen  Zehe  am  rechten  Fuß,  man  drückt  ein  klein  we- 
nig, und  die  Mechanik  läuft  volle  fünfzig  Jahre.  Diese 
Personen  sind  so  vollkommen  gearbeitet,  daß  man  sie 
von  andern  Menschen  gar  nicht  unterscheiden  könnte, 
wenn  man  nicht  wüßte,  daß  sie  bloße  Pappdeckel  sind; 
man  könnte  sie  eigentlich  zu  Mitgliedern  der  menschlichen 
Gesellschaft  machen.  Sie  sind  sehr  edel,  denn  sie  sprechen 
Hochdeutsch.  Sie  sind  sehr  moralisch,  denn  sie  stehn  auf 
den  Glockenschlag  auf,  essen  auf  den  Glockenschlag  zu 
Mittag  und  gehn  auf  den  Glockenschlag  zu  Bett;  auch 
haben  sie  eine  gute  Verdauung,  was  beweist,  daß  sie  ein 
gutes  Gewissen  haben.  Sie  haben  ein  feines  sittliches  Ge- 
fühl, denn  die  Dame  hat  gar  kein  Wort  für  den  Begriff 
Beinkleider,  und  dem  Herrn  ist  es  rein  unmöglich,  hinter 
einem  Frauenzimmer  eine  Treppe  hinauf-  oder  vor  ihm 
hinunterzugehen.  Sie  sind  sehr  gebildet,  denn  die  Dame 
singt  alle  neuen  Opern,  und  der  Herr  trägt  Manschetten. 
Geben  Sie  acht,  meine  Herren  und  Damen,  sie  sind  jetzt 
in  einem  interessanten  Stadium:  der  Mechanismus  der 
Liebe  fängt  an  sich  zu  äußern,  der  Herr  hat  der  Dame 
schon  einigemal  den  Schal  getragen,  die  Dame  hat  schon 
einigemal  die  Augen  verdreht  und  gen  Himmel  geblickt. 
Beide  haben  schon  mehrmals  geflüstert:  Glaube,  Liebe, 
Hoffnung!  Beide  sehen  bereits  ganz  akkordiert  aus,  es 
fehlt  nur  noch  das  winzige  Wörtchen:  Amen. 
PP^TER  {den  Finger  an  die  N'ase  legend).  In  effigie.-  in 
effigie.-  Präsident,  wenn  man  einen  Menschen  in  effigie 
hängen  läßt,  ist  das  nicht  ebensogut,  als  wenn  er  ordent- 
lich gehängt  würde  : 
PRÄSIDENT.  Verzeihen,  Eure  Majestät,  es  ist  noch  viel 


I40  DICHTUNGEN 

besser,  denn  es  geschieht  ihm  kein  Leid  dabei,  und  er 
wird  dennoch  gehängt. 

PETER.  Jetzt  hab  ich's.  Wir  feiern  die  Hochzeit  in  effigie! 
[Auf  Lena  und  Leo7ice  deutend-^  Das  ist  die  Prinzessin, 
das  ist  der  Prinz. — Ich  werde  meinen  Beschluß  durchsetzen, 
ich  werde  mich  freuen. — Laßt  die  Glocken  läuten!  macht 
Eure  Glückwünsche  zurecht!  hurtig,  Herr  Hofprediger! 

Der  Hofprediger  tritt  vor^  7'äuspert  sich,  blickt  einigemal 

gen  Himmel. 
VALERIO.  Fang  an!  Laß  deine  vermaledeiten  Gesichter 
und  fang  an!  Wohlauf! 

HOFPREDIGER  {in  der  größten  Verunrrimg.)  Wenn  wir 
— oder — aber — 

VALERIO.   Sintemal  und  alldieweil— 
HOFPREDIGER.   Denn— 
VALERIO.   Es  war  vor  Erschaffung  der  Welt— 
HOFPREDIGER.  Daß— 
VALERIO.   Gott  Langeweile  hatte— 
PETER.  Machen  Sie  es  nur  kurz.  Bester. 
HOFPREDIGER  [sich  fassend).    Geruhen  Eme  Hoheit, 
Prinz  Leonce  vom  Reiche  Popo,  und  geruhen  Eure  Ho- 
heit, Prinzessin  Lena  vom  Reiche  Pipi,  und  geruhen  Eure 
Hoheiten  gegenseitig,  sich  beiderseitig  einander  haben  zu 
wollen,  so  sprechen  Sie  ein  lautes  und  vernehmliches  Ja. 
LENA  und  LEONCE.  Ja! 
HOFPREDIGER.   So  sage  ich  Amen. 
VALERIO.  Gut  gemacht,  kurz  und  bündig;  so  wären  denn 
das  Männlein  und  Fräulein  erschaffen,  und  alle  Tiere  des 
Paradieses  stehen  um  sie. 

Leonce  nimmt  die  Maske  ab. 
ALLE.   Der  Prinz! 

PETER.   Der  Prinz!  Mein  Sohn!    Ich  bin  verloren,  ich 
bin  betrogen!  (Er  geht  auf  die  Prinzessin  los.)  Wer  ist  die 
Person?  Ich  lasse  alles  für  ungültig  erklären! 
GOUVERNANTE  (nimmt  der  Prinzessin  die  Maske  ab. 
triumphierc7id).   Die  Prinzessin! 
LEONCE.  Lena.? 


LEONCE  UND  LENA.  DRITTER  AKT       141 

LENA.  Leoncer 

LEONCE.  Ei  Lena,  ich  glaube,  das  war  die  Flucht  in 
das  Paradies. 
LENA.  Ich  bin  betrogen. 
LEONCE.  Ich  bin  betrogen. 
LENA.   O  Zufall! 
LEONCE.  O  Vorsehung! 

VALERIO.  Ich  muß  lachen,  ich  muß  lachen.  Eure  Ho- 
heiten sind  wahrhaftig  durch  den  Zufall  einander  zuge- 
fallen; ich  hoffe,  Sie  werden  dem  Zufall  zu  Gefallen— Ge- 
fallen aneinander  finden. 

GOUVERNANTE.  Daß  meine  alten  Augen  endlich  das 
sehen  konnten!  Ein  irrender  Königssohn!  Jetzt  sterb  ich 
ruhig. 

PETER.  Meine  Kinder,  ich  bin  gerührt,  ich  weiß  mir  vor 
Rührung  kaum  zu  helfen.  Ich  bin  der  glücklichste  Mann! 
Ich  lege  aber  auch  hiermit  feierlichst  die  Regierung  in 
deine  Hände,  mein  Sohn,  und  werde  sogleich  ungestört 
zu  denken  anfangen.  Mein  Sohn,  du  überlassest  mir  diese 
Weisen  (er  deutet  auf  de?i  Staatsrat)^  damit  sie  mich  in 
meinen  Bemühungen  unterstützen.  Kommen  Sie,  meine 
Herren,  wir  müssen  denken,  ungestört  denken!  [Er  ent- 
fernt sich  mit  dem  Staatsrat.)  Der  Mensch  hat  mich  vor- 
hin konfus  gemacht,  ich  muß  mir  wieder  heraushelfen. 
LEONCE  (zu  den  Anweseiideii).  Meine  Herren!  Meine 
Gemahlin  und  ich  bedauern  unendlich,  daß  Sie  uns  heute 
so  lange  zu  Diensten  gestanden  sind.  Ihre  Stellung  ist  so 
traurig,  daß  wir  um  keinen  Preis  Ihre  Standhaftigkeit 
länger  auf  die  Probe  stellen  möchten.  Gehn  Sie  jetzt 
nach  Hause,  aber  vergessen  Sie  Ihre  Reden,  Predigten 
und  Verse  nicht,  denn  morgen  fangen  wir  in  aller  Ruhe 
und  Gemütlichkeit  den  Spaß  noch  einmal  von  vorne  an. 
Auf  Wiedersehn! 

(Alle  entfernen  sich.,  Leonce,  Lena^  Valerio  und  die  Gou- 
vernante ausge7wm?nen.) 

LEONCE.  Nun,  Lena,  siehst  du  jetzt,  wie  wir  die  Taschen 
voll  haben,  voll  Puppen  und  Spielzeug:  Was  wollen  wir 
damit  anfangen.-   Wollen  wir  ihnen  Schnurrbarte  machen 


142  DICHTUNGEN 

und  ihnen  Säbel  anhängen?  Oder  wollen  wir  ihnen  Fräcke 
anziehen  und  sie  infusorische  Politik  und  Diplomatie  trei- 
ben lassen,  und  uns  mit  dem  Mikroskop  danebensetzen? 
Oder  hast  du  Verlangen  nach  einer  Drehorgel,  auf  der 
die  milchweißen  ästhetischen  Spitzmäuse  herumhuschen: 
Wollen  wir  ein  Theater  bauen?  (Lena  lehnt  sie/i  an  ihn 
und  Sihüttelt  den  Kopf.)  Aber  ich  weiß  besser,  was  du 
willst:  wir  lassen  alle  Uhren  zerschlagen,  alle  Kalender 
verbieten  und  zählen  Stunden  und  Monden  nur  nach  der 
Blumenuhr,  nur  nach  Blüte  und  Frucht.  Und  dann  um- 
stellen wir  das  Ländchen  mit  Brennspiegeln,  daß  es  kei- 
nen Winter  mehr  gibt  und  wir  uns  im  Sommer  bis  Ischia 
und  Capri  hinaufdestillieren,  und  das  ganze  Jahr  zwischen 
Rosen  und  Veilchen,  zwischen  Orangen  und  Lorbeer 
stecken. 

VALERIO.  Und  ich  werde  Staatsminister,  und  es  wird 
ein  Dekret  erlassen,  daß,  wer  sich  Schwielen  in  die  Hände 
schafft,  unter  Kuratel  gestellt  wird;  daß,  wer  sich  krank 
arbeitet,  kriminalistisch  strafbar  ist;  daß  jeder,  der  sich 
rühmt,  sein  Brot  im  Schweiße  seines  Angesichts  zu  essen, 
für  verrückt  und  der  menschlichen  Gesellschaft  gefährlich 
erklärt  wird;  und  dann  legen  wir  uns  in  den  Schatten  und 
bitten  Gott  um  Makkaroni,  Melonen  und  Feigen,  um  mu- 
sikalische Kehlen,  klassische  Leiber  und  eine  kommende 
Religion! 


WOyZECK 


)  145  c 
FREIES  FELD,  DIE  STADT  IN  DER  FERNE 
PVoyzeck  und  Andres  schfieiden  Stecken  im  Gebüsch. 
WOYZECK.  Ja,  Andres,  der  Streif  da  über  das  Gras  hin, 
da  rollt  abends  der  Kopf.  Es  hob  ihn  einmal  einer  auf, 
er  meint',  es  war  ein  Igel:  drei  Tag  und  drei  Nacht,  und 
er  lag  auf  den  Hobelspänen.  {Leise-.)  Andres,  das  waren 
die  Freimaiurer,  ich  hab's,  die  Freimaurer.   Still! 
ANDRES  {singt).   Saßen  dort  zwei  Hasen, 

Fraßen  ab  das  grüne,  grüne  Gras  .  .  . 
WOYZECK.   Still!  es  geht  was! 
ANDRES.  Fraßen  ab  das  grüne,  grüne  Gras 

Bis  auf  den  Rasen. 
WOYZECK.   Es  geht  hinter  mir,  unter  mir.  {Stampft  auf 
den  Bode?i:)   Hohl,  hörst  du.'  alles  hohl  da  unten.    Die 
Freimaurer! 

ANDRES.   Ich  furcht  mich. 

WOYZECK.   's  ist  so  kurios  still.  Man  möcht  den  Atem 
halten.  Andres! 
ANDRES.   Was.^ 

WOYZECK.  Red  was!  {Starrt  in  die  Gegend.)  Andres! 
wie  hell!  Ein  Feuer  fährt  um  den  Himmel  und  ein  Getös 
herunter  wie  Posaunen.  Wie's  heraufzieht! — Fort!  Sieh 
nicht  hinter  dich  {reißt  ihn  ins  Gebüsch)] 
ANDRES  {?iach  eiiter  Pause).  Woyzeck,  hörst  du's  noch: 
WOYZECK.  Still,  alles  still,  als  war  die  Welt  tot. 
ANDRES.  Hörst  du:  Sie  trommeln  drin.  Wir  müssen  fort! 

[DIE  STADT] 
Marie  {mit  iJire^n  Kind  am  Fenster),  Margret. 
Der  Zapfenstreich  geht  vorbei ,  der  Tambourmajor  voran. 
MARIE  {das  Kind  wippend  auf  dem  Arm.)  He,  Bub!   Sa 
ra  ra  ra!   Hörst:  Da  kommen  sie! 
MARGRET.  Was  ein  Mann,  wie  ein  Baum! 
MARIE.  Er  steht  auf  seinen  Füßen  wie  ein  Low.   {Tam- 
bourmajor grüßt. ) 

MARGRET.   Ei,  was  freundliche  Auge,  Frau  Nachbarin! 
So  was  is  man  an  ihr  nit  gewöhnt. 
MARIE  {singt).   Soldaten  das  sind  schöne  Bursch  .  .  . 

BÜCHNER  IC. 


146  DICHTUNGEN 

MARGRET.   Ihre  Auge  glänze  ja  noch — 
MARIE.   Und  wenn!  Trag  Sie  ihre  Auge  zum  Jud,  und 
laß  Sie  sie  putze;  vielleicht  glänze  sie  noch,  daß  man  sie 
für  zwei  Knöpf  verkaufe  könnt. 

MARGRET.  Was  Sie?  Sie.-  Frau  Jungfer,  ich  bin  eine 
honette  Person,  aber  Sie,  Sie  guckt  sieben  paar  lederne 
Hose  durch. 

MARIE.  Luder!  [Schlägt  das  Fenster  diirc/i.)Y^omm.^  mcm 
Bub!  Was  die  Leut  wollen.  Bist  doch  nur  ein  arm  Huren- 
kind und  machst  deiner  Mutter  Freud  mit  deim  unelirliche 
Gesicht!   Sa!  sa!   {Singt-) 

Mädel,  was  fängst  du  jetzt  an? 

Hast  ein  klein  Kind  und  kein'  J\Iann! 

Ei,  was  frag  ich  danach? 

Sing  ich  die  ganze  Nacht 

Heio,  popeio,  mein  Bu  juclilie! 

Gibt  mir  kein  Mensch  nix  dazu, 

Hansel,  spann  deine  sechs  Schimmel  an, 

Gib  ihn'  zu  fresse  aufs  neu! 

Kein  Haber  fresse  sie, 

Kein  Wasser  saufe  sie, 

Lauter  kühle  Wein  muß  es  sein,  juchhe! 

Lauter  kühle  Wein  muß  es  sein. 
(Es  klopft  am  Fenster) 
MARIE.   Wer  da?  Bist  du's,  Franz?  Komm  herein! 
WOYZECK.  Kann  nit.  Muß  zum  Verles. 
MARIE.   Was  hast  du,  Franz? 

WOYZECK  {geheimnisvoll).   Marie,   es  war  wieder  was, 
viel — steht   nicht   geschrieben:    Und    sieh,    da   ging  ein 
Rauch  vom  Land,  wie  der  Rauch  vom  Ofen? 
MARIE.  Mann! 

WOYZECK.    Es  ist  hinter  mir  hergangen   bis  vor   die 
Stadt.   Was  soll  das  werden? 
MARIE.  Franz! 

WOYZECK.  Ich  muß  fort.   {Ergeht.) 
MARIE.    Der  Mann!    So  vergeistert.    Er  hat  sein  Kind 
nicht  angesehn!    Er  schnappt  noch  über  mit  den  Ge- 
danken! Was  bist  so  still,  Bub?  Furchtst  dich?  Es  wird 


WOYZECK  147 

so  dunkel;  man  meint,  man  war  blind.  Sonst  scheint 
als  die  Latern  herein.  Ich  halt's  nicht  aus;  es  schauert 
mich!  [Geht  ab.) 

BUDEN;  LICHTER 

Volk. 
9Jiar!t[d)reier  i>ov  einer  iBube.  W{.<ix\\t  $erren,  meine  Ferren! 
(3el)n  Sie  bic  5\veatur,  mt  fie  ©oü  öeruadit:  nix,  gar  mx. 
(rel)n  Sie  jetjt  bie  .^unft:  gel)t  Qufred)t,  T)Qt  ^odE  imb  $ojen, 
I)Qt  ein  Säbel!  9)o\  9L)Mc^  .Kompliment!  80— biit  Saron. 
(5ib  .Ku^!  (ffr  trompetet:)  9Bid)t  i[t  mujüalifii).  9;)^einc  Ferren, 
I)ter  ift  3U  fet)en  bas  a[tronomtf(f)e  ^ferb  unb  bie  üeine  5^anatne= 
nögele.  3it  S^aöorit  r»on  alle  ge!rönte  Rauptet.  I)ie  ^apräfen* 
tation  anfangen!  9Jlan  madft  Einfang  üon  Einfang.  (£5  iDirb 
[ogleit^  [ein  bas  (lommencement  pon  dommencement. 
aBoi)3ed.  äBillft  bu? 

9J?arte.  lUZeinettoegen.  Das  mufe  f^ön  Dings  [ein.  äBas  ber 
9[I?en[d)  Qua[ten  t)at!  Unb  bie  ^-rau  I)at  -§o[en! 
^^ambourmajor.    $alt,    je^t!    Siel)[t    bu    [ie?    äBas    ein 
äBeibsbilb! 

H  n  t  e  r  0  f  f  i  3  i  e  V.  3:eufel!  3um  ^yortpflansen  üon  5lüra[[iev* 
regtntentern. 

[3:ambourmaior.]  Unb  3ur  3ii<i)t  üon  Xambourmajovs. 
Untei-offi3ier.   äl>ie  [ie  ben  5^opf  trägt!  man  meint,  'h(x^^ 
[d)CDar3e  §aar  müf^t  [ie  abwärts  3iel)n  ujie  ein  C6eir)id)t.  Unb 
fingen— 

3:ambour major,  ^tls  ob  man  in  ein  3iß^^runnen  ober  3n 
einem  S(^oni[tein  I)inunter  gudt.  O^ort,  ^interbrein!— 

Das  3nnere  ber  ^ube 

[93orfüf)rer.]  3^^9  ^^^^^  Xalent!  3eig  behie  üiel)i[d)e  33er= 
nünftigfeit!  $ße[d)äme  bie  men[cE)lid)eSo3ietät!  9[)ieine  Ferren, 
bies  3^ier,  coas  Sie  ha  [ef)n,  Sd)Doan3  am  £eib,  auf  [eine  oier 
$ufe,  i[t  9JiitgIieb  üon  alle  gelel)rte  So3ietät,  ift  ^rofeffor 
an  un[re  Uniüer[ität,  roo  bie  Stubente  bei  i!)m  reiten  unb 
[d)Iagen  lernen. — Das  coar  einfa^er  3]er[tanb.  Den!  je^t  mit 
ber  boppelten  9?ai[on!  äBas  mad)[t  bu,  toann  bu  mit  ber  bop^ 
pelten  9iai[on  benfft?  3it  unter  ber  gelet)rten  Societe  ha  ein 


148  DICHTUNGEN 

(£[el?  (Der  ©auifc^üttcitbcn  Ropf.)  Qt\)n  Sie  jc^t  bte  boppcitc 
9?ai[on?  X)a5  ift  93iet)[toitomt!.  ^a,  bas  i[t  !etn  utefibummes  3^1* 
bbibuum,  bas  t[t  ein  ^er[on,  ein  9J^en[c^,  ein  tierifd)er  SOZenfd) — , 

Unb  bod)  ein  93ief),  ein  ^ete  (bas  iPferb  fü^rt  ]id)  ungcbüFjrUd) 
auf).  So,  befd)äme  bie  Societe.  Set)n  Sie,  bas  33ief)  ift  noä) 
$Ratur,  unibeale  9ktur!  fiernen  Sie  bei  i^m!  (fragen  Sie 
ben  ^rgt,  es  ijt  [[onjt]  \)ö6)\i  fd)äbli(i)!  Das  l)at  get)eifeen: 
9J?en[d),  [ei  natürtid^ !  X)n  bift  ge[d)affen  Staub,  Sanb,  t)red. 
3Bin[t  bu  mel)r  [ein  als  Staub,  Sanb,  X)rec!?  Set)n  Sie,  iwas 
35ernunft:  es  !ann  rect)nen  unb  !ann  boci)  nit  an  ben  i^iTiÖ^i^" 
l)er5ät)len.  3Barum?  i^ann  fict)  nur  nit  ausbrücfen,  nur  nit 
eiplisieren— i[t  ein  oeriDanbelter  S[Ren[^!  Sag  t)m  Ferren, 
rDieuiel  Ut)r  es  ijt.  2ßer  t)on  htn  ^^xx^n  unb  I)amen  I)at  ein 
n\)x,  ein  Ut)r? 

Hnteroffijier.  (Eine  Ut)r?  Ote^t  großartig  imb  gemeHcn  eine  Kf)r 
aus  bcr  xojd)c:)    Da,  mein  §err! 

[äRarie.]    2)as  mufe  id)  [el^n.     (Sle  riettert  ouf  ben  erften  «piati; 
Hnterofftsier  l^ilft  xf)X.) 
[!tambour major.]   Das  i[t  ein  ilBeibsbilb! 

[SlRariens  5^ammer] 

MARIE  (sifzt,  ihr  Kmd  auf  dem  Schoß,  ein  Stückchen 
Spiegel  in  der  Hand-,  bespiegelt  sicH).  Was  die  Steine  glän- 
zen! Was  sind's  für?  was  hat  er  gesagt? Schlaf,  Bub! 

Drück  die  Auge  zu,  fest!  (Das  Kind  versteckt  die  Augen 
hiftter  den  Händen.)  Noch  fester!  Bleib  so— still  oder  er 
holt  dich!   (Singt:) 

Mädel,  mach's  Ladel  zu, 

's  kommt  e  Zigeunerbu, 

Führt  dich  an  deiner  Hand 

Fort  ins  Zigeunerland. 
(Spiegelt  sich  wieder.)  's  ist  gewiß  Gold!  Unsereins  hat 
nur  ein  Eckchen  in  der  Welt  und  ein  Stückchen  Spiegel, 
und  doch  hab  ich  einen  so  roten  Mund  als  die  großen 
Madamen  mit  ihren  Spiegeln  von  oben  bis  unten  und 
ihren  schönen  Herrn,  die  ihnen  die  Hand  küssen.  Ich  bin 
nur  ein  arm  Weibsbild — (das  Ki?id  richtet  sich  auf\)  Still, 
Bub,  die  Auge  zu!    Das  Schlafengelchen!   wie's  an  der 


WOYZECK  149 

Wand  läuft  (sie  blinkt  7nit  de7n  Glas)—iS\Q  Auge  zu,  oder 
es  sieht  dir  hinein,  daß  du  blind  wirst! 

Woyzeck  tritt  he^-ein^  hinter  sie.    Sie  führt  ai/f  mit  den 

Händen  nach  den  Ohren. 
WOYZECK.  Was  hast  du? 
MARIE.   Nix. 

WOYZECK.   Unter  deinen  Fingern  glänzt's  ja. 
MARIE.   Ein  Ohrringlein;  hab's  gefunden. 
WOYZECK.  Ich  hab  so  noch  nix  gefunden,  zwei  auf  ein- 
mal! 

MARIE.  Bin  ich  ein  Mensch: 

WOYZECK.  's  ist  gut,  Marie.— Was  der  Bub  schläft!  Greif 
ihm  unters  Ärmchen,  der  Stuhl  drückt  ihn.  Die  hellen 
Tropfen  stehn  ihm  auf  der  Stirn;  alles  Arbeit  unter  der 
Sonn,  sogar  Schweiß  im  Schlaf.  Wir  arme  Leut!  Da  is 
wieder  Geld,  Marie;  die  Löhnung  und  was  von  mein'm 
Hauptmann. 

MARIE.    Gott  vergelt's.  Franz. 

W^OYZECK.  Ich  muß  fort.  Heut  Abend,  Marie!  Adies! 
MARIE  (allein,  nach  einer  Pause).  Ich  bin  doch  ein  schlecht 
Mensch!  Ich  könnt  mich  erstechen.  —  Ach!  was  Welt! 
Geht  doch  alles  zum  Teufel,  Mann  und  Weib! 

[^eim  §auptmann] 

Hauptfnann  auf  einem  Stuhl;  Woyzeck  rasiert  ihn. 
HAUPTMANN.  Langsam,  Woyzeck,  langsam;  eins  nach 
dem  andern!  Er  macht  mir  ganz  schwindlich.  Was  soll 
ich  dann  mit  den  zehn  Minuten  anfangen,  die  Er  heut 
zu  früh  fertig  wird:  Woyzeck,  bedenk  Er,  Er  hat  noch 
seine  schöne  dreißig  Jahr  zu  leben,  dreißig  Jahr!  macht 
360  Monate,  und  Tage,  Stunden,  Minuten!  Was  will  Er 
denn  mit  der  ungeheiuren  Zeit  all  anfangen:  Teil  Er  sich 
ein,  Woyzeck! 

WOYZECK.  Jawohl,  Herr  Hauptmann, 
HAUPTMANN.   Es  wird  mir  ganz  angst  um  die  Welt, 
wenn  ich  an  die  Ewigkeit  denke.  Beschäftigung,  Woyzeck, 
Beschäftigimg!  ewig,  das  ist  ewig,  das  ist  ewig— das  siehst 


ISO  DICHTUNGEN 

du  ein;  nun  ist  es  aber  wieder  nicht  ewig,  und  das  ist  ein 
Augenblick,  ja,  ein  Augenblick — Woyzeck,  es  schaudert 
mich,  wenn  ich  denke,  daß  sich  die  Welt  in  einem  Tag 
herumdreht!  Was  'n  Zeitverschwendung!  Wo  soll  das  hin- 
aus? Woyzeck,  ich  kann  kein  Mühlrad  mehr  sehn,  oder 
ich  werd  melancholisch. 
WOYZECK.  Jawohl,  Herr  Hauptmann. 
HAUPTMANN.  Woyzeck,  Er  sieht  immer  so  verhetzt 
aus!  Ein  guter  Mensch  tut  das  nicht,  ein  guter  Mensch, 
der  sein  gutes  Gewissen  hat. — Red  Er  doch  was,  Woyzeck! 
Was  ist  heut  für  Wetter: 

WOYZECK.  Schlimm,  Herr  Hauptmann,  schlimm;  Wind! 
HAUPTMANN.  Ich  spür 's  schon,  's  ist  so  was  Geschwin- 
des draußen;  so  ein  Wind  macht  mir  den  Effekt  wie  eine 
Maus.  [Fßfßg:]  Ich  glaub,  wir  haben  so  was  aus  Süd-Nord, 
WOYZECK.  Jawohl,  Herr  Hauptmann. 
HAUPTMANN.  Ha!  ha!  ha!  Süd-Nord!  Ha!  ha!  ha!  O, 
Er  ist  dumm,  ganz  abscheulich  dumm!  [Gerührt-?)  Woy- 
zeck, Er  ist  ein  guter  Mensch — aber  {i}iit  Würde)  Woyzeck, 
Er  hat  keine  Moral!  Moral,  das  ist,  wenn  man  moralisch 
ist,  versteht  Er.  Es  ist  ein  gutes  Wort.  Er  hat  ein  Kind, 
ohne  den  Segen  der  Kirche,  wie  unser  hochehrwürdiger 
Herr  Garnisonsprediger  sagt,  ohne  den  Segen  der  Kirche, 
es  ist  nicht  von  mir. 

WOYZECK.  Herr  Hauptmann,  der  liebe  Gott  wird  den 
armen  Wurm  nicht  drum  ansehen,  ob  das  Amen  drüber 
gesagt  ist,  eh  er  gemacht  wurde.  Der  Herr  sprach:  Lasset 
die  Kleinen  zu  mir  kommen. 

HAUPTMANN.  Was  sagt  Er  da?  Was  ist  das  für  eine 
kuriose  Antwort?  Er  macht  mich  ganz  konfus  mit  seiner 
Antwort.  Wenn  ich  sag:  Er,  so  mein  ich  ihn,  ihn  .  .  . 
WOYZECK.  Wir  arme  Leut  .  .  .  Sehn  Sie,  Herr  Haupt- 
mann: Geld,  Geld!  Wer  kein  Geld  hat  .  .  .  Da  setz  ein- 
mal eines  seinesgleichen  auf  die  Moral  in  die  Welt.  Man 
hat  auch  sein  Fleisch  und  Blut.  Unseins  ist  doch  einmal 
unselig  in  der  und  der  andern  Welt.  Ich  glaub,  wenn  wir 
in  Himmel  kämen,  so  müßten  wir  donnern  helfen. 
HAUPTMANN.  Woyzeck,  Er  hat  keine  Tugend,  Er  ist 
kein  tugendhafter  Mensch.  Fleisch  und  Blut?  Wenn  ich 


WOYZECK  151 

am  Fenster  lieg,  wenn's  geregnet  hat,  und  den  weißen 
Strümpfen  so  nachseh,  wie  sie  über  die  Gassen  springen 
— verdammt,  Woyzeck — ,  da  kommt  mir  die  Liebe.  Ich 
hab  auch  Fleisch  und  Blut.  Aber,  Woyzeck,  die  Tugend, 
die  Tugend!  Wie  sollte  ich  dann  die  Zeit  herumbringen: 
Ich  sag  mir  immer:  du  bist  ein  tugendhafter  Mensch,  [ge- 
rührt) ein  guter  Mensch,  ein  guter  Mensch. 
WOYZECK.  Ja,  Herr  Hauptmann,  die  Tugend,  ich  hab's 
noch  nicht  so  aus.  Sehn  Sie,  wir  gemeine  Leut,  das  hat 
keine  Tugend,  es  kommt  einem  nur  so  die  Natiu:;  aber 
wenn  ich  ein  Herr  war  und  hätt  einen  Hut  und  eine  Uhr 
und  eine  Anglaise  und  könnt  vornehm  reden,  ich  wollt 
schon  tugendhaft  sein.  Es  muß  was  Schönes  sein  um  die 
Tugend,  Herr  Hauptmann.  Aber  ich  bin  ein  armer  Kerl. 
HAUPTMANN.  Gut,  Woyzeck.  Du  bist  ein  guter  Mensch, 
ein  guter  Mensch.  Aber  du  denkst  zu  viel,  das  zehrt;  du 
siehst  immer  so  verhetzt  aus. — Der  Diskurs  hat  mich  ganz 
angegriffen.  Geh  jetzt,  und  renn  nicht  so;  langsam,  hübsch 
langsam,  die  Straße  hinunter! 

L'Q3or  9Jlartens  i^ammerVJ 

Marie.   Tambourmajor. 

TAMBOURMAJOR.  Marie! 

MARIE  {ihn  ansehend^  mit  Ausdruck).    Geh  einmal  vor 
dich  hin!— Über  die  Brust  wie  ein  Rind  imd  ein  Bart  wie 
ein  Low.    So  ist  keiner! — Ich  bin  stolz  vor  allen  Weibern. 
TAMBOURMAJOR.    Wenn   ich   am    Sonntag   erst   den 
großen  Federbusch  hab  und  die  weiße  Handschuh,  Donner- 
wetter!  Der  Prinz  sagt  immer:  Mensch,  Er  ist  ein  Kerl! 
MARIE  (spöttisch).   Ach  was!  {Tritt  vor  ihn  hin-)  Mann! 
TAMBOURMAJOR.    Und  du  bist  auch  ein  Weibsbild. 
Sapperment,  wir  wollen  eine  Zucht  von  Tamboiurmajors 
anlegen.  Her  {Er  umfaßt  sie.) 
MARIE  {verstimmt).  Laß  mich! 
TAMBOURMAJOR.  Wild  Tier! 
MARIE  {heftig).  Rühr  mich  an! 

TAMBOURMAJOR.   Sieht  dir  der  Teufel  aus  den  Augen: 
MARIE.  Meinetwegen.  Es  ist  alles  eins. 


152  DICHTUNGEN 

[9Jlarlen$  i^ammer] 

Marie.  Woyzeck. 
FRANZ  (sieht  sie  starr  an  und  schüttelt  de^i  Kopf).   Hm! 
Ich  seh  nichts,  ich  seh  nichts.  O,  man  müßt's  sehen,  man 
müßt's  greifen  könne  mit  Fäusten. 

MARIE  (verschüchtert).  Was  hast  du,  Franz?  Du  bist  hirn- 
wütig, Franz. 

FRANZ.  Eine  Sünde,  so  dick  und  so  breit — es  stinkt,  daß 
man  die  Engelchen  zum  Himmel  hinaus  räuchern  könnt. 
Du  hast  ein  roten  Mund,  Marie.  Keine  Blase  drauf?  Wie, 
Marie,  du  bist  schön  wie  die  Sünde — kann  die  Todsünde 
so  schön  sein? 

MARIE.  Franz,  du  redst  im  Fieber. 
FRANZ.  Teufel! — Hat  er  da  gestanden,  so,  so? 
MARIE.   Dieweil  der  Tag  lang  und  die  Welt  alt  ist,  kön- 
nen viel  Menschen  an  einem  Platz  stehn,  einer  nach  dem 
andern. 

WOYZECK.  Ich  hab  ihn  gesehn. 

MARIE.  Man  kann  viel  sehn,  wenn  man  zwei  Augen  hat 
und  nicht  blind  ist  und  die  Sonn  scheint. 
WOYZECK.  'mtxxW  (®c^t  auf  |ic  los.) 
MARIE.  '^\\\-)X  mic^  an,  %xmi\  5d)  f)ätt  Heber  ein  SJlcffer  in 
ben  £etb  als  beinc  ^anb  auf  meiner. 
WOYZECK.  Sßcib!— 5iein,  es  mü^te  tüas  o^n  bir  fein!  Scber 
2Uen[d)  i[t  ein  ^(bgrunb;  es  [cf)o:)inbelt  einem,  roenn  man  f)in= 
ab|ief)t. 

[iBetm  DoÜor] 

Woyzeck.   Der  Doktor. 
DOKTOR.  Was  erleb  ich,  Woyzeck?  Ein  Mann  von  Wort! 
WOYZECK.  Was  denn,  Herr  Doktor? 
DOKTOR.   Ich  hab's  gesehn,  Woyzeck;   Er  hat  auf  die 
Straß  gepißt,  an  die  Wand  gepißt,  wie  ein  Hund— und 
doch  drei  Groschen  täglich!  Woyzeck,  das  ist  schlecht; 
die  Welt  wird  schlecht,  sehr  schlecht. 
WOYZECK.   Aber  Herr  Doktor,  wenn  einem  die  Natur 
kommt. 

DOKTOR.  Die  Natur  kommt,  die  Natur  kommt!  Die 
Natur!  Hab  ich  nicht  nachgewiesen,  daß  der  Musculus 


WOYZECK  153 

constrictor  vesicae  dem  Willen  unterworfen  ist?  Die  Na- 
tur! Woyzeck,  der  Mensch  ist  frei,  in  dem  Menschen 
verklärt  sich  die  Individualität  zur  Freiheit.  Den  Harn 
nicht  halten  können!  (schüttelt  den  Kopf^  legt  die  Hände 
auf  den  Ritcken  und  geht  auf  und  ab.)  Hat  Er  schon  seine 
Erbsen  gegessen,  Woyzeck:  Es  gibt  eine  Revolution  in  der 
Wissenschaft,  ich  sprenge  sie  in  die  Luft.  Harnstoff  0,10 
salzsaures  Ammonium,  Hyperoxydul — Woyzeck,  muß  Er 
nicht  wieder  pissen?  Geh  Er  einmal  hinein  und  probier  Er's! 
WOYZECK.  Ich  kann  nit,  Herr  Doktor. 
DOKTOR  {mit  Affekt).  Aber  an  die  Wand  pissen!  Ich 
hab's  schriftlich,  den  Akkord  in  der  Hand.  Ich  hab's  ge- 
sehn,  mit  diesen  Augen  gesehn — ich  steckt  grade  die  Nase 
zum  Fenster  hinaus  und  ließ  die  Sonnenstrahlen  hinein 
fallen,  um  das  Niesen  zu  beobachten.  ( Tritt  auf  ihn  los:) 
Nein,  Woyzeck,  ich  ärgre  mich  nicht;  Ärger  ist  ungesund, 
ist  unwissenschaftlich.  Ich  bin  ruhig,  ganz  ruhig;  mein 
Puls  hat  seine  gewöhnlichen  60,  und  ich  sag's  Ihm  mit 
der  größten  Kaltblütigkeit.  Behüte,  wer  wird  sich  über 
einen  Menschen  ärgern,  ein'  Menschen!  Wenn  es  noch 
ein  Proteus  wäre,  der  einen  betrügt!  Aber,  Woyzeck, 
Er  hätte  doch  nicht  an  die  W^and  pissen  sollen— 
WOYZECK.  Sehn  Sie,  Herr  Doktor,  manchmal  hat  einer 
so  'en  Charakter,  so  'ne  Struktur. — Aber  mit  der  Natur 
ist's  was  anders,  sehn  Sie;  mit  der  Natur  [er  kracht  mit 

denFingern),  das  ist  so  was,  wie  soll  ich  doch  sagen,  z.  B 

DOKTOR.   Woyzeck,  Er  philosophiert  wieder. 
WOYZECK  {vertraulich).   Herr  Doktor,  haben  Sie  schon 
was  von  der  doppelten  Natur  gesehn?  Wenn  die  Sonn  in 
Mittag  steht  und  es  ist,  als  ging'  die  W^elt  in  Feuer  auf, 
hat  schon  eine  fürchterliche  Stimme  zu  mir  geredt! 
DOKTOR.  Woyzeck,  Er  hat  eine  Aberratio. 
WOYZECK  {legt  den  Finger  an  die  Nase).   Die  Schwämme, 
Herr  Doktor,  da,  da  steckt's.   Haben  Sie  schon  gesehn, 
in  was  für  Figuren  die  Schwämme  auf  dem  Boden  wach- 
sen? Wer  das  lesen  könnt! 

DOKTOR.  Woyzeck,  Er  hat  die  schönste  Aberratio  men- 
talis partialis,  die  zweite  Spezies,  sehr  schön  ausgeprägt. 
Woyzeck,  Er  kriegt  Zulage.  Zweite  Spezies,  fixe  Idee  mit 


154  DICHTUNGEN 

allgemein  vernünftigem  Zustand.— Er  tut  noch  alles  wie 

sonst,  rasiert  seinen  Hauptmann? 

WOYZECK.  Jawohl. 

DOKTOR.  Ißt  seine  Erbsen: 

WOYZECK.  Immer  ordentlich,  Herr  Doktor.   Das  Geld 

für  die  Menage  kriegt  meine  Frau. 

DOKTOR.  Tut  seinen  Dienst.;^ 

WOYZECK.  Jawohl. 

DOKTOR.  Er  ist  ein  interessanter  Kasus. .  Subjekt  Woy- 

zeck,  Er  kriegt  Zulage,  halt  Er  sich  brav!   Zeig  Er  seinen 

Puls.  Ja. 

[STRASSE] 

Hauptmann.  Doktor. 

\Hauptmann  keucht  die  Straße  herunter^  hält  an]  keucht^ 

sieht  sich  um.] 

HAUPTMANN.  Herr  Doktor,  die  Pferde  machen  mir  ganz 
angst,  wenn  ich  denke,  daß  die  armen  Bestien  zu  Fuß 
gehen  müssen. — Rennen  Sie  nicht  so!  Rudern  Sie  mit 
Ihrem  Stock  nicht  so  in  der  Luft!  Sie  hetzen  sich  ja  hinter 
dem  Tod  drein.  Ein  guter  Mensch,  der  sein  gutes  Ge- 
wissen hat,  geht  nicht  so  schnell.  Ein  guter  Mensch  (^er 
erwischt  den  Doktor  am  Rock-.)  Herr  Doktor,  erlauben 
Sie,  daß  ich  ein  Menschenleben  rette;  Sie  schießen  .  .  . 
Herr  Doktor,  ich  bin  so  schwermütig,  ich  habe  so  was 
Schwärmerisches;  ich  muß  immer  weinen,  wenn  ich  mei- 
nen Rock  an  der  Wand  hängen  sehe — da  hängt  er. 
DOKTOR.  Hm!  aufgedunsen,  fett,  dicker  Hals,  apoplek- 
tische  Konstitution.  Ja,  Herr  Hauptmann,  Sie  können  eine 
Apoplexia  cerebri  kiüegen;  Sie  können  sie  aber  vielleicht 
auch  nur  auf  der  einen  Seite  bekommen  und  dann  auf  der 
einen  gelähmt  sein,  oder  aber  Sie  können  im  besten  Fall 
geistig  gelähmt  werden  und  nur  fort  vegetieren:  das  sind  so 
ohngefähr  Ihre  Aussichten  auf  die  nächsten  vier  Wochen! 
Übrigens  kann  ich  Sie  versichern,  daß  Sie  einen  von  den 
interessanten  Fällen  abgeben,  und  wenn  Gott  will,  daß 
Ihre  Zunge  zum  Teil  gelähmt  wird,  so  machen  wir  die  un- 
sterblichsten Experimente. 
HAUPTMANN.  Herr  Doktor,  erschrecken  Sie  mich  nicht; 


WOYZECK  155 

es  sind  schon  Leute  am  Schreck  gestorben,  am  bloßen 
hellen  Schreck.— Ich  sehe  schon  die  Leute  mit  den  Zi- 
tronen in  den  Händen:  aber  sie  werden  sagen,  er  war  ein 
guter  Mensch,  ein  guter  Mensch — Teufel  Sargnagel. 
DOKTOR.  Was  ist  das,  Herr  Hauptmann:— Das  ist  Hohl- 
kopf! 

HAUPTMANN  (macht  eine  Falte).    Was   ist  das,    Herr 
Doktor: — Das  ist  Einfalt. 

DOKTOR.  Ich  empfehle  mich,  geehrtester  Herr  Exerzier - 
zagel. 
HAUPTMANN.   Gleichfalls,  bester  Herr  Sargnagel. 

DIE  WACHTSTUBE 

Woyzeck,  Andres. 

ANDRES  [singt). 

Frau  AVirtin  hat  ne  brave  Magd, 
Sie  sitzt  im  Garten  Tag  und  Nacht, 
Sie  sitzt  in  ihrem  Garten  .  .  . 

WOYZECK.   Andres! 

ANDRES.    Nu: 

WOYZECK.   Schön  AVetter. 

ANDRES.  Sonntagsonnwetter— Musik  vorder  Stadt.  Vorhin 

sind  die  Weibsbilder  hinaus;  die  Mensche  dampfe,  das  geht! 

WOYZECK  {unruhig).  Tanz,  Andres,  sie  tanze! 

ANDRES.   Im  Rössel  und  in  Sternen. 

WOYZECK.  Tanz,  Tanz! 

ANDRES.  Meintwege. 

Sie  sitzt  in  ihrem  Garten, 

Bis  daß  das  Glöcklein  zwölfe  schlägt. 

Und  paßt  auf  die  Solda  — aten. 

WOYZECK.  Andres,  ich  hab  kein  Ruh. 

ANDRES.   Narr! 

WOYZECK.   Ich  muß  hinaus.   Es  dreht  sich  mir  vor  den 

Augen.    Tanz,  Tanz!   Wird  sie  heiße  Hand  habe!   Ver- 
dammt, Andres! 

ANDRES.   Was  willst  du: 

WOYZECK.   Ich  muß  fort,  muß  sehen. 

ANDRES.  Mit  dem  Mensch! 

WOYZECK.  Ich  muß  hinaus,  "s  ist  so  heiß  dahie. 


156  DICHTUNGEN 

WIRTSHAUS 
Die  Fenster  offen ^  Tanz.  Bänke  vor  dem  Haus.   Bursche. 

1.  HANDWERKSBURSCH. 

Ich  hab  ein  Hemdlein  an,  das  ist  nicht  mein; 
Meine  Seele  stinkt  nach  Branndewein — 

2.  HANDWERKSBURSCH.  Bruder,  soll  ich  dir  aus 
Freundschaft  ein  Loch  in  die  Natiu"  machen:  Vorwärts! 
Ich  will  ein  Loch  in  die  Natur  machen!  Ich  bin  auch 
ein  Kerl,  du  weißt— ich  will  ihm  alle  Flöh  am  Leib  tot- 
schlagen. 

I.  HANDWERKSBURSCH.  Meine  Seele,  meine  Seele 
stinkt  nach  Branndewein!— Selbst  das  Geld  geht  in  Ver- 
wesung über!  Vergißmeinnicht,  wie  ist  diese  Welt  so 
schön!  Bruder,  ich  muß  ein  Regenfaß  voll  greinen!  Ich 
wollt,  unsre  Nasen  wären  zwei  Bouteillen,  und  wir  könn- 
ten sie  uns  einander  in  den  Hals  gießen. 
ANDRE  (im  Chor). 

Ein  Jäger  aus  der  Pfalz 

Ritt  einst  diurch  einen  grünen  Wald. 

Halli,  hailoh,  ha  lustig  ist  die  Jägerei 

Allhier  auf  grüner  Heid. 

Das  Jagen  ist  mei  Freud. 
( Woyzeck  stellt  sich  ans  Fenster.  Marie  und  der  Tambour- 
major tanzen  vorbei^  ohne  ihn  zu  bemerken^ 
WOYZECK.  Er!   Sie!  Teufel! 
MARIE  (/;//  Vorbeitanzen).  Immer  zu,  immer  zu — 
WOYZECK  (erstickt).  Immer  zu — immer  zu!  (fährt  heftig 
auf  und  sinkt  zurück  auf  die  Bank-?)  immer  zu,  immer  zu! 
(Schlägt  die  Hände  ineinander.)  Dreht  euch,  wälzt  euch! 
Warum  bläst  Gott  nicht  die  Sonn  aus,  daß  alles  in  Un- 
zucht sich  übereinander  wälzt,  Mann  und  Weib,  Mensch 
und  Vieh.   Tut's  am  hellen  Tag,  tut's  einem  auf  den  Hän- 
den wie  die  Mücken! — Weib — das  Weib  ist  heiß,  heiß! — 
Immer  zu,  immer  zu!  (Fährt  auf:)  Der  Kerl,  wie  er  an 
ihr  herumgreift,  an  ihrem  Leib!  Er,  er  hat  sie  wie  ich  zu 
Anfang. 

I.  liK^D^NERK^mjK^CB.  (predigt  auf  dem  Tisch).  Je- 
doch, wenn  ein  Wandrer,  der  gelehnt  steht  an  dem  Strom 
der  Zeit  oder  aber  sich  die  göttliche  Weisheit  beantwortet 


WOYZECK  157 

und  sich  anredet:  Warum  ist  der  Mensch:  AVarum  ist 
der  Mensch:— Aber  wahrlich,  ich  sage  Euch,  von  was 
hätte  der  Landniann,  der  Weißbinder,  der  Schuster,  der 
Arzt  leben  sollen,  wenn  Gott  den  Menschen  nicht  ge- 
schaffen hätte:  Von  was  hätte  der  Schneider  leben  sollen, 
wenn  er  dem  Menschen  nicht  die  Empfindung  der  Scham 
eingepflanzt  hätte,  von  was  der  Soldat,  wenn  er  ihn  nicht 
mit  dem  Bedürfnis  sich  totzuschlagen  ausgerüstet  hätte : 
Darum  zweifelt  nicht — ja,  ja,  es  ist  lieblich  und  fein,  aber 
alles  Irdische  ist  übel,  selbst  das  Geld  geht  in  Verwesung 
über.— Zum  Beschluß,  meine  geliebten  Zuhörer,  laßt  uns 
noch  übers  Kreuz  pissen,  damit  ein  Jud  stirbt! 

FREIES  FELD 
WOYZECK.  Immer  zu!  immer  zu!  Still,  Musik!  {reckt 
sich  gegen  den  Boden-?)  Ha!  was,  was  sagt  ihr.^  Lauter! 
lauter!  Stich,  stich  die  Zickwölfin  tot.-— stich,  stich  die— 
Zickwölfin  tot! — Soll  ich:  muß  ich:  Hör  ich's  da  auch, 
sagt's  der  Wind  auch:  Hör  ich's  immer,  immer  zu:  stich 
tot,  tot! 

[EIN  ZIMMER  in  ber  i^aferne] 

Nacht.  Andres  und  Woyzeck  in  einem  Bett. 

WOYZECK  (schüttelt  Andres).  Andres!  Andres!  ich  kann 
nit  schlafen!  Wenn  ich  die  Aug  zumach,  dreht  sich's  im- 
mer, und  ich  hör  die  Geigen,  immer  zu,  immer  zu.  Und 
dann  spricht's  aus  der  Wand.  Hörst  du  nix: 
ANDRES.  Ja — laß  sie  tanzen!  Einer  ist  müd,  und  dann 
Gott  behüt  uns,  Amen. 

WOYZECK.   Es  redt  immer:  stich!  stich!  und  zieht  mir 
zwischen  den  Augen  wie  ein  Messer — 
ANDRES.   Du  mußt  Schnaps  trinken  und  Pulver  drin,  das 
schneidt  das  Fieber. 

WIRTSHAUS 

Tambourmajor.    Woyzeck.  Leute. 

TAMBOURMAJOR.   Ich  bin  ein  Mann!  (schlägt  sich  auf 

die  Brust-)  ein  Mann,  sag  ich.   AVer  will  was:  AVer  kein 


158  DICHTUNGEN 

besoffner  Herrgott  ist,  der  laß  sich  von  mir.   Ich  will  ihm 

die  Nas  ins  Arschloch  prügeln.    Ich  will— (0//  JVoyzeck:) 

Du  Kerl,  sauf!  Ich  wollt,  die  Welt  war  Schnaps,  Schnaps 

— der  Mann  muß  saufen! 

WOYZECK  {pfeift). 

TAMBOURMAJOR.   Kerl,  soll  ich  dir  die  Zung  aus  dem 

Hals  ziehn  und  sie   um   den  Leib   herumwickeln?    {Sie 

ringen,  IVoyzeck  verliert}^  Soll  ich  dir  noch  so  viel  Atem 

lassen  als  'en  Altweiberfurz,  soll  ich? 

WOYZECK  {setzt  sich  erschöpft  zitternd  auf  eine  Bank). 

TAMBOURMAJOR.  Der  Kerl  soll  dunkelblau  pfeifen. 

Branndewein,  das  ist  mein  Leben, 

Branndwein  gibt  Courage! 
EINE.   Der  hat  sein  Fett. 
ANDRE.  Erblut'. 
WOYZECK.   Eins  nach  dem  andern. 

[ilramlabenj 

Woyzeck.  Der  Jude. 
W'OYZECK.   Das  Pistolchen  ist  zu  teuer. 
JUDE.   Nu,  kauft's  oder  kauft's  nit,  Avas  is? 
WOYZECK.  Was  kost'  das  Messer? 
JUDE,   's  ist  ganz  grad.   Wollt  Ihr  Euch  den  Hals   mit 
abschneiden?   Nu,  was  is  es?    Ich  geb's  Euch  so  wohl- 
feil wie  ein  andrer.   Ihr  sollt  Euern  Tod  wohlfeil  haben, 
aber  doch  nit  umsonst.   Was  is  es?    Er  soll  einen  öko- 
nomischen [?]  Tod  haben, 

W^OYZECK.   Das  kann  mehr  als  Brot  schneiden — 
JUDE.  Zwee  Grosche. 
WOYZECK.   Da!  {Geht  ah.) 

JUDE.  Da!  Als  ob's  nichts  war!  Und  es  is  doch  Geld— 
der  Hund! 

[93Iarien5  i^ammer] 

MARIE  {allein,  blättert  in  der  Bibel).  ''Und  ist  kein  Be- 
trug in  seinem  Munde  erfunden"  .  .  .  Herrgott,  Herrgott! 
Sieh  mich  nicht  an!  {Blättert  weiter-^  ''Aber  die  Pharisäer 
brachten  ein  Weib  zu  ihm,  im  Ehebruch  begriffen,  und 
stelleten  sie  ins  Mittel  dar.  Jesus  aber  sprach:   So  ver- 


WOYZECK  159 

dämme  ich  dich  auch  nicht.  Geh  hin  und  sündige  hin- 
fort nicht  mehr!"  [Sc/ilägt  die  Hände  zusanwiew)  Herr- 
gott! Herrgott!  Ich  kann  nicht! — Herrgott,  gib  mir  nur 
so  viel,  daß  ich  beten  kann.  [Das  Kind  drängt  sich  an  sie.) 
Das  Kind  gibt  mir  einen  Stich  ins  Herz.  Karl!  Das  brüst' 
sich  in  der  Sonne!  (N'arr  liegt  und  ef'zählt  sich  Mäixhe?! 
an  den  Finge?!!:  Der  hat  die  goldne  Krön,  der  Herr  Kö- 
nig— Morgen  hol  ich  der  Frau  Königin  ihr  Kind — Blut- 
wurst sagt:  komm  Leberwurst. — Er  nimmt  das  Kind  und 
7üird  still.) — Der  Franz  ist  nit  gekommen,  gestern  nit,  heut 
nit.  Es  wird  heiß  hier!  [Sie  macht  das  Fenster  auf.) — ''Und 
trat  hinein  zu  seinen  Füßen  und  weinete,  und  fing  an  seine 
Füße  zu  netzen  mit  Tränen  und  mit  den  Haaren  ihres 
Hauptes  zu  trocknen,  und  küssete  seine  Füße  und  salbete 
sie  mit  Salben  .  .  .''  (Schlägt  sich  auf  die  Brust-?)  Alles  tot! 
Heiland!  Heiland!  ich  möchte  dir  die  Füße  salben!— 

KASERNE 
Andres.  Woyzeck  kramt  in  seinen  Sachen. 
WOYZECK.  Das  Kamisolchen,  Andres,  ist  nit  zur  Mon- 
tui":  du  kannst's  brauchen.  Andres.  Das  Kreuz  ist  meiner 
Schwester  und  das  Ringlein;  ich  hab  auch  noch  ein  Hei  - 
ligen,  zwei  Herze  und  schön  Gold — es  lag  in  meiner  Mutter 
Bibel,  und  da  steht: 

Herr!  wie  dein  Leib  war  rot  und  wund, 
So  laß  mein  Herz  sein  aller  Stund. 
Mein  Mutter  fühlt  nur  noch,  wenn  ihr  die  Sonn  auf  die 
Hand  scheint— das  tut  nix. 
ANDRES  (gajiz  stai-r^  sagt  zu  allem):  Jawohl. 
WOYZECK  {zieht  ein  Papier  hervor).    Friedrich  Johann 
Franz  Woyzeck,    Wehrmann,   Füsilier  im   2.   Regiment, 
2.  Bataillon,  4.  Kompagnie,  geb.  Maria  Verkündigung  d. 
20.  Juli— ich  bin  heut  alt  30  Jalu-,  7  Monat  und  i  2  Tage. 
ANDRES.  Franz,  du  kommst  ins  Lazarett.  Armer,  du  mußt 
Schnaps  trinken  und  Pulver  drin,  das  tot'  das  Fieber. 
WOYZECK.  Ja,  Andres,  wenn  der  Schreiner  die  Hobel- 
späne sammelt,  es  weiß  niemand,  wer  seinen  Kopf  drauf- 
legen wird. 


i6o  DICHTUNGEN 

[3Beg  3um  Xtid)] 

9Jiarie  unb  2Boi)3e(!. 
9J?arie.   ^I[o  bort  f)mau5  ift  bie  etabt.    's  ift  finfter. 
2ßo:)3etf.    I)u  [olljt  noc^  bleiben.    5^omm,  [e^  bid)! 
95?orie.   "Kber  id^  miife  fort. 

2Bor)3ec!.    t)u  iüxr[t  bir  bie  güf^  ni^t  roimb  laufen. 
ÜJlarie.   2Bie  bi[t  bu  mir  audf)? 

2Boi)3ed.   SBeifet  bu  auc^,  ü3ie  lang'  es  juft  i[t,  9JZaric? 
9[Rarie.   ^m  "ipfinglten  jroei  ^a\)x. 
2Boi)3e(i.   3Beifet  bu  aud),  roie  lang'  es  noc^  fein  rotrb? 
95iarie.    ^d)  mufe  fort,  bas  9Zad)teffen  richten. 
2Bor)3ec!.    ^yriert's  bid),  SÜkrie?     Unb  bod)  bi[t  bu  marnt — 
roas  bu  I)eifee  fiippen  I)aft!  I)eife  l)eifeen  §urenatem!  . . .  2Benn 
man  !alt  ift,  fo  friert  man  nid)t  mel)r;  bu  toirft  oom  9J?orgen= 
tau  nid)t  frieren. 
SJ^arie.    2Ba5  [agft  bu? 
2Boi)3ed.    9li3E. 

(S(i)H)  eigen.) 

SJtarie.   SBas  ber  9J?onb  rot  aufget)t! 

2Boi)3ed.   3Bie  ein  blutig  (£i[en. 

SlKarie.   2Bas  ))a]i  bu  cor?     (^rans»  i>u  bift  fo  btafe.— t^rang, 

\)a\t  ein!  Hm  bes  ^immels  töillen,  ^ülfe,  §ülfe! 

aBoi)3ed.   91imm  bas  unb  bas!— 5lannft  bu  nid)t  fterbcn? 

So!  fo!— §a,  fie  3udt  nod)— nod)  nid)t?  nod)  nid)t?  S^nmer 

nod)?  (itöfet  3u)— 5Bi|t  bu  tot?   Xot!  tot!    ((£r  läfet  bas  iWeafer  fallen.] 

(£s  fomnicn  £eute,  [er]  läuft  lueg.) — 

[2ßoi)3ed,  3urüd!e!)renb.]  t)as  9JZeffer?  äBo  ift  bas  DJkffer? 
3«^  I)ab  es  ba  gelaf[en.  (£5  oerrät  mid)!  9Zät)er,  nod)  nä^er! — 
2Bas  ift  bas  für  ein  ^^la^?  3Bas  \)öx  id^?  (£s  rül)rt  fid)  etu)a5. 
Still.— Da  in  ber  $Rät)e.  9Jiarie?  §a,  9Jlarie!  Still!  alles  ftill! 
— 3Bas  bift  bu  fo  bleid),  9Jtarie?  2Bas  \)a\i  bu  eine  rote  S^nur 
um  ben  ^als?  !:Bei  u)em  f)aft  bu  bas  .^alsbanb  oerbient  mit 
bcinen  Sünben?  X)u  ujarft  fd)U)ar3  baoon,  fd)U)ar3.  ^^^  i^) 
bid)  je^t  gebleicht.  2Bas  t)ängen  beine  fd)U)ar3en  §aare  fo  loilb? 

§aft  bu  beine  3öpfe  I)eut  nid)t  gefIod)ten? Da  liegt  toas! 

Aalt,  nafe,  ftill!  3Beg  oon  bem  Pa^!— Das  XReffer,  bas 
9Jieffer.   ^ab  id)'s?    So!  £eute— bort!    (Cr  läuft  tocg.) 


WOYZECK  i6i 

5In  bem  Itid) 

2B0I)3C(!.     So,    ba   I)inunter!     ((fr  ur.rft  bas  DJJeJfer  hinein.)     (£5 

tau(i)t  in  bas  bunüe  2BQ[fer  rote  ein  Stein.— 9Uin,  es  liegt  3U 

toeit  Dorn,  roenn  [ie  \xä)  baben  (er  gef)t  in  ben  leid)  unb  iDtrfttDett:) 

)o— i^^t  aber  im  Sanbe,  u)enn  [ie  tauchen  na^  9Jiuf(^eln?— 

bat),  es  üoirbroitig.  Jßerfann  es— bann— f)ättid)  es^erbrodfien.— 

Sin  ic^  nodE)  blutig?  ^d)  nniB  m\d)  voa\d)zn.  Da  ein  gletf— 

unb  ba  no(i)  einer  .  .  . 

Gs  lommen  Seutc. 

(£r[te  ^erfon.  §alt! 

3tDeite  ^|>erion.  §ör[t  bu?  Still!  Xa\ 

(rrfte  ^^erion.  Da!  toieber  ein  2^on! 

3rDeite  ^er|on.  (£5  ift  bas  'iBai[er,  bas  ruft;  [d)on  lang  ift 

niemanb  ertrunfen.  gort!  (£5  i[t  nid)t  gut,  es  3U  I)Dren. 

(£r[te  ^erfon.  Unb  je^t  loieber— [trie]  ein  9J?en|d^,  ber  [tirbt. 

3töeite  'iperfon.    (£5  i[t  unt)eiml{(i):  fo  bunftig,   anentt)alb 

9tebel,  grau — unb  bas  Summen  ber  i^dfer  tote  (5efpenfter[pu!. 

gortl 


BÜCHNER 


DER  HESSISCHE 
LANDBOTE 


)  i65   c 

DER  HESSISCHE  LANDBOTE 

ERSTE  BOTSCHAFT 

Darmstadt,  im  Juli  1^34. 

VORBERICHT 

Dieses  Blatt  soll  dem  hessischen  Lande  die  Wahrheit  melden,  aber 
wer  die  Wahrheit  sagt,  wird  gehenkt;  Ja  sogar  der,  welcher  die  Wahr- 
heit liest,  7i<ird  durch  meineidige  Richter  vielleicht  gestraft.  Darum 
haheyi  die,  welchen  dies  Blatt  zukoi7iint,  folgendes  zti  beobachten: 

1.  Sie  müssen  das  Blatt  sorgfältig  außerhalb  ihres  Hauses  vor  der 
Polizei  verwahren; 

2.  sie  dürfen  es  nur  an  treue  Freunde  mitteilen; 

j.  dejien,  7i<elchen  sie  nicht  trauen  wie  sich  selbst,  dürfen  sie  es  nur 

heiinlich  hinlegen; 
4,  würde  das  Blatt  dennoch  bei  cifieni  geftmdcji,  der  es  gelesen  hat, 

so   muß  er  gestehen,  daß  er  es  eben  dem  Kreisrat  habe  bringest 

wollen; 
^.  wer  das  Blatt  nicht  gelesen  hat,  wenn  man  es  bei  ihm  findet,  der 

ist  natürlich  ohne  Schuld. 

FRIEDE  DEN  HÜTTEN!   KRIEG  DEN  PALÄSTEN! 

/;;/  Jahr  1834  siehe t  es  aus^  als  würde  die  Bibel  Lügen  ge- 
straft. Es  sieht  aus,  als  hätte  Gott  die  Bauern  und  Hand- 
iverker  amfünfte7i  Tage  und  die  Fürsten  und  Vornehmen 
am  sechsten  gemacht,  und  als  hätte  der  Herr  zu  diesen  ge- 
sagt: ''Herrschet  über  alles  Getier,  das  auf  E7'den  h-iechf^ 
und  hätte  die  Bauern  und  Bürger  zum  Geioürm  gezählt. 
Das  Leben  der  Vornelwten  ist  ein  langer  Sonntag:  sie 
wohnen  in  schönen  Häusern,  sie  tragen  zierliche  Kleider, 
sie  haben  feiste  Gesichter  iind  reden  eine  eigne  Sprache; 
das  Volk  aber  liegt  vor  ihnen  wie  Dünger  auf  dem  Acker. 
Der  Bauer  geht  hinter  dem  Pflug,  der  Vornehme  aber  geht 
hinter  ihm  und  dem  Pflug  und  treibt  ihn  mit  den  Ochsen 
am  Pflug,  er  nimmt  das  Korn  und  läßt  ihm  die  Stoppeln. 
Das  Leben  des  Bauern  ist  ein  langer  Werktag;  Fremde 
verzehren  seine  Äcker  vor  seinen  Augen,  sein  Leib  ist 
eine  Schwiele,  sein  Schweiß  ist  das  Salz  auf  dem  Tische 
des  Vornehmen. 

Im  Großherzogtum  Hessen  sind  718373  Einwohner,  die 
geben  an  den  Staat  jährlich  an  6  363  436  Gulden,  als 


i66  DER  HESSISCHE  LANÜBOTE 


I.  Direkte  Steuern    .      . 

2  128  131  Fl. 

2.  Indirekte  Steuern  . 

2478264  „ 

3.  Domänen     .... 

1547394  „ 

4.  Regalien      .... 

46938   „ 

5.  Geldstrafen.      .      .      . 

98511     n 

6.  Verschiedene  Quellen 

64198    „ 

6363436  Fl. 

Dies  Geld  ist  der  Blutzehnte,  der  von  dem  Leib  des  Vol- 
kes genommen  wird.  An  700000  Menschen  schwitzen, 
stöhnen  und  hungern  dafür.  Im  Namen  des  Staates  wird 
es  erpreßt,  die  Presser  berufen  sich  auf  die  Regierung, 
und  die  Regierung  sagt,  das  sei  nötig,  die  Ordnung  im 
Staat  zu  erhalten.  Was  ist  denn  nun  das  für  gewaltiges 
Ding:  der  Staat?  Wohnt  eine  Anzahl  Menschen  in  einem 
Land  und  es  sind  Verordnungen  oder  Gesetze  vorhanden, 
nach  denen  jeder  sich  richten  muß,  so  sagt  man,  sie  bil- 
den einen  Staat.  Der  Staat  also  sind  alle;  die  Ordner 
im  Staate  sind  die  Gesetze,  dmxh  welche  das  Wohl  aller 
gesichert  wird  und  die  aus  dem  Wohl  aller  hervorgehen 
sollen. — Seht  nun,  was  man  in  dem  Großherzogtum  aus 
dem  Staat  gemacht  hat;  seht,  was  es  heißt:  die  Ordnung 
im  Staate  erhalten!  700000  Menschen  bezahlen  dafür 
6  Millionen,  d.  h.  sie  werden  zu  Ackergäulen  und  Pflug- 
stieren gemacht,  damit  sie  in  Ordnung  leben.  In  Ordnung 
leben  heißt  hungern  und  geschunden  werden. 
Wer  sind  denn  die,  welche  diese  Ordnung  gemacht  haben 
und  die  wachen,  diese  Ordnung  zu  erhalten.^  Das  ist  die 
Großherzogliche  Regierung.  Die  Regierung  wird  gebildet 
von  dem  Großherzog  und  seinen  obersten  Beamten.  Die 
andern  Beamten  sind  Männer,  die  von  der  Regierung  be- 
rufen werden,  um  jene  Ordnung  in  Kraft  zu  erhalten. 
Ihre  Anzahl  ist  Legion:  Staatsräte  und  Regierungsräte, 
Landräte  und  Kreisräte,  geistliche  Räte  und  Schulräte, 
Finanzräte  und  Forsträte  usw.  mit  allem  ihrem  Heer  von 
Sekretären  usw.  Das  Volk  ist  ihre  Herde,  sie  sind  seine 
Hirten,  Melker  und  Schinder;  sie  haben  die  Häute  der 
Bauern  an,  der  Raub  der  Armen  ist  in  ihrem  Hause;  die 
Tränen  der  Witwen  und  Waisen  sind  das  Schmalz  auf 


DER  HESSISCHE  LANDBOTE  1 6  7 

ihren  Gesichtern;  sie  herrschen  frei  und  ermahnen  das 
Volk  zur  Knechtschaft.  Ihnen  gebt  ihr  6  000  oco  Fl.  Ab- 
gaben; sie  haben  dafür  die  Mühe,  euch  zu  regieren;  d.  h. 
sich  von  euch  füttern  zu  lassen  und  euch  eure  Menschen - 
und  Bürgerrechte  zu  rauben.  Sehet,  was  die  Ernte  eures 
Schweißes  ist! 

Für  das  Ministerium  des  Innern  und  der  Gerechtigkeits- 
pflege  werden  bezahlt  i  1 10  607  Gulden.  Dafür  habt  ihr 
einen  Wust  von  Gesetzen,  zusammengehäuft  aus  willkür- 
lichen Verordnungen  aller  Jahrhunderte,  meist  geschrie- 
ben in  einer  fremden  Sprache.  Der  Unsinn  aller  vorigen 
Geschlechter  hat  sich  darin  auf  euch  vererbt,  der  Druck, 
unter  dem  sie  erlagen,  sich  auf  euch  fortgewälzt.  Das 
Gesetz  ist  das  Eigentum  einer  unbedeutenden  Klasse  von 
Vornehmen  und  Gelehrten,  die  sich  durch  ihr  eignes  Mach- 
werk die  Herrschaft  zuspricht.  Diese  Gerechtigkeit  ist  nur 
ein  Mittel,  euch  in  Ordnung  zu  halten,  damit  man  euch 
bequemer  schinde;  sie  spricht  nach  Gesetzen,  die  ihr  nicht 
versteht,  nach  Grundsätzen,  von  denen  ihr  nichts  wißt, 
Urteile,  von  denen  ihr  nichts  begreift.  Unbestechlich  ist 
sie,  weil  sie  sich  gerade  teuer  genug  bezahlen  läßt,  um 
keine  Bestechung  zu  brauchen.  Aber  die  meisten  ihrer 
Diener  sind  der  Regierung  mit  Haut  und  Haar  ver- 
kauft. Ihre  Ruhestühle  stehen  auf  einem  Geldhaufen  von 
461373  Gulden  (so  viel  betragen  die  Ausgaben  für  die 
Gerichtshöfe  und  die  Kriminalkosten).  Die  Fräcke,  Stöcke 
und  Säbel  ihrer  unverletzlichen  Diener  sind  mit  dem 
Silber  von  197502  Gulden  beschlagen  (so  viel  kostet  die 
Polizei  überhaupt,  die  Gendarmerie  usw.).  Die  Justiz  ist 
in  Deutschland  seit  Jahrhunderten  die  Hure  der  deutschen 
Fürsten.  Jeden  Schritt  zu  ihr  müßt  ihr  mit  Silber  pflastern, 
und  mit  Armut  und  Erniedrigung  erkauft  ihr  ihre  Sprüche. 
Denkt  an  das  Stempelpapier,  denkt  an  euer  Bücken  in 
den  Amtsstuben  und  euer  Wachestehen  vor  denselben. 
Denkt  an  die  Sportein  für  Schreiber  und  Gerichtsdiener. 
Ihr  dürft  euern  Nachbar  verklagen,  der  euch  eine  Kar- 
toffel stiehlt;  aber  klagt  einmal  über  den  Diebstahl,  der 
von  Staatswegen  unter  dem  Namen  von  Abgabe  und 
Steuern  jeden  Tag  an  eurem  Eigentum  begangen  wird, 


1 68  DER  HESSISCHE  LANDBOTE 

damit  eine  Legion  unnützer  Beamten  sich  von  eurem 
Schweiße  mästen;  klagt  einmal,  daß  ihr  der  Willkür  eini- 
ger Fettwänste  überlassen  seid  und  daß  diese  Willkür 
Gesetz  heißt,  klagt,  daß  ihr  die  Ackergäule  des  Staates 
seid,  klagt  über  eiure  verlorne  Menschenrechte:  wo  sind 
die  Gerichtshöfe,  die  eure  Klage  annehmen,  wo  die  Rich- 
ter, die  Recht  sprächen? — Die  Ketten  eurer  Vogelsberger 
Mitbürger,  die  man  nach  Rockenburg  schleppte,  werden 
euch  Antwort  geben. 

Uiid  will  endlich  ein  Richter  oder  ein  andrer  Beamte  von 
den  wefiige7i,  welchen  das  Recht  und  das  gemeine  Wohl 
lieber  ist  als  ihr  Bauch  und  der  Mammon^  ein  Volksrat 
und  kein  Volksschinder  sein,  so  wird  er  von  den  obersten 
Räten  des  Fürsten  selber  geschunden. 
Für  das  Ministerium  der  Finanzen  i  551  502  Fl, 
Damit  werden  die  Finanzräte,  Obereinnehmer,  Steuer- 
boten, die  Untererheber  besoldet.  Dafür  wird  der  Ertrag 
eurer  Äcker  berechnet  und  eure  Köpfe  gezählt.  Der  Bo- 
den unter  euren  Füßen,  der  Bissen  zwischen  euren  Zäh- 
nen ist  besteuert.  Dafür  sitzen  die  Herren  in  Fräcken 
beisammen,  und  das  Volk  steht  nackt  und  gebückt  vor 
ihnen;  sie  legen  die  Hände  an  seine  Lenden  und  Schul- 
tern und  rechnen  aus,  wie  viel  es  noch  tragen  kann,  und 
wenn  sie  barmherzig  sind,  so  geschieht  es  nur,  wie  man 
ein  Vieh  schont,  das  man  nicht  so  sehr  angreifen  will. 
Für  das  Militär  wird  bezahlt  914820  Gulden. 
Dafür  kriegen  eure  Söhne  einen  bunten  Rock  auf  den 
Leib,  ein  Gewehr  oder  eine  Trommel  auf  die  Schulter 
und  dürfen  jeden  Herbst  einmal  blind  schießen,  und  er- 
zählen, wie  die  Herren  vom  Hof  und  die  ungeratenen 
Buben  vom  Adel  allen  Kindern  ehrlicher  Leute  vorgehen 
und  mit  ihnen  in  den  breiten  Straßen  der  Städte  herum- 
ziehen mit  Trommlen  und  Trompeten.  Für  jene  900000 
Gulden  müssen  eure  Söhne  den  Tyrannen  schwören  und 
Wache  halten  an  ihren  Palästen.  Mit  ihren  Trommeln 
übertäuben  sie  eure  Seufzer,  mit  ihren  Kolben  zerschmet- 
tern sie  euch  den  Schädel,  wenn  ihr  zu  denken  wagt,  daß 
ihr  freie  Menschen  seid.  Sie  sind  die  gesetzlichen  Mör- 
der, welche  die  gesetzlichen  Räuber  schützen;  denkt  an 


DER  HESSISCHE  LANDBOTE  1 6  9 

Södel!  Eure  Brüder,  eure  Kinder  waren  dort  Brüder-  und 
Vatermörder. 

Für  die  Pensionen  480000  Gulden. 
Dafür  werden  die  Beamten  aufs  Polster  gelegt,  wenn  sie 
eine  gewisse  Zeit  dem  Staate  treu  gedient  haben,  d.  h. 
wenn  sie  eifrige  Handlanger  bei  der  regelmäßig  einge- 
richteten Schinderei  gewesen,  die  man  Ordnung  und  Ge- 
setz heißt. 

Für  das  Staatsministerium  und  den  Staatsrat  174600 
Gulden. 

Die  größten  Schurken  stehen  wohl  jetzt  allerwärts  in 
Deutschland  den  Fürsten  am  nächsten,  wenigstens  im 
Großherzogtum.  Kommt  ja  ein  ehrlicher  Mann  in  einen 
Staatsrat,  so  wird  er  ausgestoßen.  Könnte  aber  auch  ein 
ehrlicher  Mann  jetzo  Minister  sein  oder  bleiben,  so  wäre 
er,  wie  die  Sachen  stehn  in  Deutschland,  nur  eine  Draht- 
puppe, an  der  die  fürstliche  Puppe  zieht;  und  an  dem 
fürstlichen  Popanz  zieht  wieder  ein  Kammerdiener  oder 
ein  Kutscher  oder  seine  Frau  und  ihr  Günstling  oder  sein 
Halbbruder — oder  alle  zusammen. 

In  Deutschland  stehet  es  jetzt ^  wie  der  Pt'ophet  Micha 
schreibt,  Kap./^  V.  3  ufid  4:  '^Die  Gewaltigen  raten  nach 
ihrem  Mutiuillen^  Schaden  zu  tun,  und  drehen  es,  wie  sie 
es  wollen.  Der  Beste  unter  ihnen  ist  wie  ein  Dorn,  und  der 
Redlichste  wie  eine  HeckeT  Ihr  müßt  die  Dörner  und 
Hecken  teuer  bezahlen;  denn  ihr  müßt  ferner  für  das  groß- 
herzoghche  Haus  und  den  Hofstaat  827772  Gulden  be- 
zahlen. 

Die  Anstalten,  die  Eeute,  von  denen  ich  bis  jetzt  ge- 
sprochen, sind  nur  Werkzeuge,  sind  nur  Diener.  Sie  tun 
nichts  in  ihrem  Namen,  unter  der  Ernennung  zu  ihrem 
Amt  steht  ein  L.,  das  bedeutet  Ludwig  von  Gottes  Gna- 
den, und  sie  sprechen  mit  Ehrfurcht:  "Im  Namen  des 
Großherzogs."  Dies  ist  ihr  Feldgeschrei,  wenn  sie  euer 
Gerät  versteigern,  euer  Vieh  wegtreiben,  euch  in  den 
Kerker  werfen.  Im  Namen  des  Großherzogs  sagen  sie, 
und  der  Mensch,  den  sie  so  nennen,  heißt:  unverletzlich, 
heilig,  souverän,  königliche  Hoheit.  Aber  tretet  zu  dem 
Menschenkinde  und  blickt  durch  seinen  Fürstenmantel. 


1 70  DER  HESSISCHE  LANDBOTE 

Es  ißt,  wenn  es  hungert,  und  schläft,  wenn  sein  Auge 
dunkel  wird.  Sehet,  es  kroch  so  nackt  und  weich  in  die 
Welt  wie  ihr  und  wird  so  hart  und  steif  hinausgetragen 
wie  ihr,  und  doch  hat  es  seinen  Fuß  auf  eurem  Nacken, 
hat  700000  Menschen  an  seinem  Pflug,  hat  Minister,  die 
verantwortlich  sind  für  das,  was  es  tut,  hat  Gewalt  über 
euer  Eigentum  durch  die  Steuern,  die  es  ausschreibt,  über 
euer  Leben  durch  die  Gesetze,  die  es  macht,  es  hatadliche 
Herrn  und  Damen  um  sich,  die  man  Hofstaat  heißt,  und 
seine  göttliche  Gewalt  vererbt  sich  auf  seine  Kinder  mit 
Weibern,  welche  aus  ebenso  übermenschlichen  Geschlech- 
tern sind. 

Wehe  über  euch  Götzendienerl — Ihr  seid  wie  die  Heiden^ 
die  das  Krokodil  anbeten^  von  dejii  sie  zerrissen  werden. 
Ihr  setzt  ihm  eine  Krone  aiif^  aber  es  ist  eine  Dornenkrone^ 
die  ihr  euch  selbst  in  den  Kopf  drückt;  ihr  gebt  ihm  ein 
Zepter  in  die  Hand,  aber  es  ist  eine  Rute,  womit  ihr  ge- 
züchtigt werdet]  ihr  setzt  ihn  auf  cuern  Thron,  aber  es  ist 
ein  Marter  stuhl  für  euch  tmd  eure  Kinder.  Der  Fürst  ist 
der  Kopf  des  Blutigels,  der  über  euch  hinkriecht,  die  Mi- 
nister sind  seine  Zähne  und  die  Beamten  sein  Schwanz. 
Die  hungrigen  Mägen  aller  vornehmen  Herren,  denen  er 
die  hohen  Stellen  verteilt,  sind  Schröpfköpfe,  die  er  dem 
Lande  setzt.  Das  L.,  was  unter  seinen  Verordnungen 
steht,  ist  das  Malzeichen  des  Tieres,  das  die  Götzendiener 
unserer  Zeit  anbeten.  Der  Fürstenmantel  ist  der  Teppich, 
auf  dem  sich  die  Herren  und  Damen  vom  Adel  und  Hofe 
in  ihrer  Geilheit  übereinander  wälzen — mit  Orden  und 
Bändern  decken  sie  ihre  Geschwüre,  und  mit  kostbaren 
Gewändern  bekleiden  sie  ihre  aussätzigen  Leiber.  Die 
Töchter  des  Volks  sind  ihre  Mägde  und  Huren,  die 
Söhne  des  Volks  ihre  Lakaien  und  Soldaten.  Geht  ein- 
mal nach  Darmstadt  und  seht,  wie  die  Herren  sich  für 
euer  Geld  dort  lustig  machen,  und  erzählt  dann  euern 
hungernden  Weibern  und  Kindern,  daß  ihr  Brot  an  frem- 
den Bäuchen  herrlich  angeschlagen  sei,  erzählt  ihnen  von 
den  schönen  Kleidern,  die  in  ihrem  Schweiß  gefärbt,  und 
von  den  zierlichen  Bändern,  die  aus  den  Schwielen 
ihrer  Hände  geschnitten  sind,  erzählt  von  den  stattlichen 


DER  HESSISCHE  LANDBOTE  1 7 1 

Häusern,  die  aus  den  Knochen  des  Volks  gebaut  sind; 
und  dann  kriecht  in  eure  rauchigen  Hütten  und  bückt 
euch  auf  euren  steinichten  Äckern,  damit  eiu"e  Kinder  auch 
einmal  hingehen  können,  wenn  ein  Erbprinz  mit  einer 
Erbprinzessin  für  einen  andern  Erbprinzen  Rat  schaffen 
will,  und  durch  die  geöffneten  Glastüren  das  Tischtuch 
sehen,  wovon  die  Herren  speisen,  und  die  Lampen  rie- 
chen, aus  denen  man  mit  dem  Fett  der  Bauern  illuminiert. 
Das  alles  duldet  iJir^  weil  euch  Schurken  sagen:  diese  Re- 
gierung sei  V071  Gott.  Diese  Regierung  ist  nicht  zwn  Gott^ 
sondern  vom  Vater  der  Lüge7i.  Diese  deutschen  Fürsten 
sifid  keine  rechtmäßige  Obrigkeit,  sondern  die  rechtmäßige 
Obrigkeit^  den  deutschen  Kaiser,  der  vormals  vom  Volke 
frei  gewählt  wurde,  haben  sie  seit  Jahrhunderten  verachtet 
und  endlich  gar  verraten.  Aus  Verrat  und  Meineid,  und 
nicht  aus  der  Wahl  des  Volkes,  ist  die  Gewalt  der  deutschen 
Fürstefi  hervo7gegangen,  und  darum  ist  ihr  Wese^i  und  Tun 
von  Gott  verflucht;  ihre  IVeisheit  ist  Trug,  ihre  Gerechtig- 
keit ist  Schinderei.  Sie  zertreten  das  Land  und  zerschlagen 
die  Person  des  Elenden.  Ihr  lästert  Gott,  we?in  ihr  einen 
dieser  Fürsten  einen  Gesalbten  des  Herrn  nennt,  das  heißt: 
Gott  habe  die  Teußl  gesalbt  und  zu  Fürsteii  über  die  deut- 
sche Erde  gesetzt.  Deutschland,  unser  liebes  Vaterland, 
haben  diese  Fürsten  zerrissen,  den  Kaiser,  den  unsere  freien 
Voreltern  wählte7i,  haben  diese  Fürsten  verraten,  und  nun 
fordern  diese  Verräter  und  Menschenquäler  Treue  von  euch! 
— Doch  das  Reich  der  Finsternis  neiget  sich  zum  Ende. 
Über  ein  kleifies,  und  Deutschland,  das  jetzt  die  Fürsten 
schinden,  wird  als  ein  Freistaat  mit  einer  vom  Volk  ge- 
wählten Obrigkeit  wieder  auf  er s  lehn.  Die  Heilige  Schrift 
sagt:  ^^ Gebet  dem  Kaiser,  was  des  Kaisers  ist.^^  Was  ist 
aber  dieser  Fürsten,  der  Verräter? — Das  Teil  von  Judas  l 
Für  die  Landstände  16000  Gulden. 
Im  Jahr  1789  war  das  Volk  in  Frankreich  müde,  länger 
die  Schindmähre  seines  Königs  zu  sein.  Es  erhob  sich 
und  berief  Männer,  denen  es  vertraute,  und  die  Männer 
traten  zusammen  und  sagten,  ein  König  sei  ein  Mensch 
wie  ein  anderer  auch,  er  sei  nur  der  erste  Diener  im 
Staat,   er  müsse  sich  vor  dem  Volk  verantworten,   und 


1 7  2  DER  HESSISCHE  LANDBOTE 

wenn  er  sein  Amt  schlecht  verwalte,  könne  er  zur  Strafe 
gezogen  werden.  Dann  erklärten  sie  die  Rechte  des  Men- 
schen: "Keiner  erbt  vor  dem  andern  mit  der  Geburt  ein 
Recht  oder  einen  Titel,  keiner  erwirbt  mit  dem  Eigentum 
ein  Recht  vor  dem  andern.  Die  höchste  Gewalt  ist  in 
dem  Willen  aller  oder  der  Mehrzahl.  Dieser  Wille  ist  das 
Gesetz,  er  tut  sich  kund  durch  die  Landstände  oder  die 
Vertreter  des  Volks,  sie  werden  von  allen  gewählt,  und 
jeder  kann  gewählt  werden;  diese  Gewählten  sprechen 
den  Willen  ihrer  Wähler  aus,  und  so  entspricht  der  Wille 
der  Mehrzalil  unter  ihnen  dem  Willen  der  Mehrzahl  unter 
dem  Volke;  der  König  hat  nur  für  die  Ausübung  der  von 
ihnen  erlassenen  Gesetze  zu  sorgen."  Der  König  schwur, 
dieser  Verfassung  treu  zu  sein;  er  wurde  aber  meineidig 
an  dem  Volke,  und  das  Volk  richtete  ihn,  wie  es  einem 
Verräter  geziemt.  Dann  schafften  die  Franzosen  die  erb- 
liche Königswürde  ab  und  wählten  frei  eine  neue  Obrig- 
keit, wozu  jedes  Volk  nach  der  Vernunft  und  der  Heiligen 
Schrift  das  Recht  hat.  Die  Männer,  die  über  die  Voll- 
ziehung der  Gesetze  wachen  sollten,  wurden  von  der  Ver- 
sammlung der  Volksvertreter  ernannt,  sie  bildeten  die 
neue  Obrigkeit.  So  waren  Regierung  und  Gesetzgeber 
vom  Volk  gewählt,  und  Frankreich  war  ein  Freistaat. 
Die  übrigen  Könige  aber  entsetzten  sich  vor  der  Gewalt 
des  französischen  Volkes;  sie  dachten,  sie  könnten  alle 
über  der  ersten  Königsleiche  den  Hals  brechen,  und  ihre 
mißhandelten  Untertanen  möchten  bei  dem  Freiheitsruf 
der  Franken  erwachen.  Mit  gewaltigem  Kriegsgerät  und 
reisigem  Zeug  stürzten  sie  von  allen  Seiten  auf  Frank- 
reich, und  ein  großer  Teil  der  Adligen  und  Vornehmen  im 
Lande  stand  auf  und  schlug  sich  zu  dem  Feind.  Da  er- 
grimmte das  Volk  und  erhob  sich  in  seiner  Kraft.  Es  er- 
drückte die  Verräter  und  zerschmetterte  die  Söldner  der 
Könige.  Die  junge  Freiheit  wuchs  im  Blut  der  Tyrannen, 
und  vor  ihrer  Stimme  bebten  die  Tlirone  und  jauchzten 
die  Völker.  Aber  die  Franzosen  verkauften  selbst  ihre 
junge  Freiheit  für  den  Ruhm,  den  ihnen  Napoleon  darbot, 
und  erhoben  ihn  auf  den  Kaiserthron. — Da  ließ  der  All- 
mächtige das  Heer  des  Kaisers  in  Rußland  erfrieren  und 


DER  HESSISCHE  LANDBOTE  1 7 3 

züchtigte  Frankreich  durch  die  Knute  der  Kosaken  und 
gab  den  Franzosen  die  dickwanstigen  Bourbonen  wieder 
zu  Königen,  damit  Frankreich  sich  bekehre  vom  Götzen- 
dienst der  erblichen  Königsherrschaft  und  dem  Gotte 
diene,  der  die  Menschen  frei  und  gleich  geschaffen.  Aber 
als  die  Zeit  seiner  Strafe  verflossen  war  und  tapfere  Män- 
ner im  Julius  1830  den  meineidigen  König  Karl  den 
Zehnten  aus  dem  Lande  jagten,  da  wendete  dennoch  das 
befreite  Frankreich  sich  abermals  zur  halberblichen  Kö- 
nigsherrschaft und  band  sich  in  dem  Heuchler  Louis 
Philipp  eine  neue  Zuchtrute  auf.  In  Deutschland  und  ganz 
Europa  aber  war  große  Freude,  als  der  zehnte  Karl  vom 
Thron  gestürzt  ward,  und  die  unterdrückten  deutschen  Län- 
der richteten  sich  [auf]  zum  Kampf  für  die  Freiheit.  Da 
ratschlagten  die  Fürsten,  wie  sie  dem  Grimm  des  Volkes 
entgehen  sollten,  und  die  listigen  unter  ihnen  sagten:  Laßt 
uns  einen  Teil  unserer  Gewalt  abgeben,  daß  wir  das  üb- 
rige behalten.  Und  sie  traten  vor  das  Volk  und  sprachen: 
Wir  wollen  euch  die  Freiheit  schenken,  um  die  ihr  kämp- 
fen wollt.  Und  zitternd  vor  Furcht  warfen  sie  einige 
Brocken  hin  und  sprachen  von  ihrer  Gnade.  Das  Volk 
traute  ihnen  leider  und  legte  sich  zur  Ruhe. — Und  so  ward 
Deutschland  betrogen  wie  Frankreich. 
Denn  was  sind  diese  Verfassungen  in  Deutschland:  Nichts 
als  leeres  Stroh,  woraus  die  Fürsten  die  Körner  für  sich 
herausgeklopft  haben.  Was  sind  unsere  Landtage:  Nichts 
als  langsame  Fuhrwerke,  die  man  einmal  oder  zweimal 
wohl  der  Raubgier  der  Fürsten  und  ihrer  Minister  in 
den  Weg  schieben,  woraus  man  aber  nimmermehr  eine 
feste  Burg  für  deutsche  Freiheit  bauen  kann.  Was  sind 
unsere  Wahlgesetze:  Nichts  als  Verletzungen  der  Bürger- 
und Menschenrechte  der  meisten  Deutschen.  Denkt  ^n 
das  Wahlgesetz  im  Großherzogtum,  wornach  keiner  ge- 
wählt werden  kann,  der  nicht  hochbegütert  ist,  wie  recht- 
schaffen und  gutgesinnt  er  auch  sei,  wohl  aber  der  Grol- 
mann,  der  euch  um  die  zwei  Millionen  bestehlen  wollte. 
Denkt  an  die  Verfassung  des  Gi'oßherzogttuns. — Nach  den 
Artikeln  derselben  ist  der  Großherzog  unverletzlich,  heilig 
lind  unverantwortlich.   Seine   JVürde  ist  erblich  in  seiner 


174  DER  HESSISCHE  LANDBOTE 

Familie^  er  hat  das  Recht  ^  Krieg  zuführen^  und  ausschließ- 
liche Verfügung  über  das  Militär.  Er  beruft  die  Land- 
stände ^  vertagt  sie  oder  löst  sie  auf.  Die  Stände  dürfen  kei- 
nen Gesetzesvorschlag  machen^  sondern  sie  müssen  um  das 
Gesetz  bitte7i,  und  dem  Gutdünken  des  Fürsten  bleibt  es  un- 
bedingt überlassen^  es  zu  geben  oder  zu  verweigern.  Er  bleibt 
im  Besitz  einer  fast  unumschränkten  Gewalt^  mir  darf  er 
keine  neuen  Gesetze  machen  und  keine  neuen  Steuern  aus- 
schreiben ohne  Zustimmung  der  Stände.  Aber  teils  kehrt  er 
sich  nicht  an  diese  Zustimmung^  teils  genügen  ihm  die  alten 
Gesetze^  die  das  Werk  der  Fürstengewalt  si?id,  und  er  be- 
darf darum  keiner  neuen  Gesetze.  Eine  solche  Verfassung 
ist  ein  elend  jämmerlich  Ding.  Was  ist  von  Ständen  zu  er- 
7varten,  die  an  eine  solche  Verfassung  gebunden  sind?  Wenn 
unter  den  Gewählten  auch  keine  Volksvej-räter  und  feige 
Me7mnen  wären,  ivenn  sie  aus  lauter  entschlossenen  Volks- 
freunden bestünden.^!  Was  ist  von  St  ariden  zu  er-w  arten  ^  die 
kaum  die  elenden  Fetzen  einer  ai'mseligeii  Verfassu7ig  zu 
vei'teidigen  vernwgenl — Der  einzige  Widerstand^  den  sie  zu 
leisten  vermochten^  war  die  Venaeigenwg  der  zwei  Millionen 
Gulden,  die  sich  der  Großherzog  vo?i  dern  überschuldeten 
Volke  wollte  schenken  lassen  zur  Bezahlung  seiner  Schul- 
den.— Hätten  aber  auch  die  Landstände  des  Großherzogtums 
genügende  Rechte,  und  hätte  das  Großherzogtum,  aber  nur 
das  Großherzogtum  allein,  eine  wahrhafte  Verfassung,  so 
wiirde  die  Herrlichkeit  doch  bald  zu  Ende  sein.  Die  Raub- 
geier  in  Wien  und  Berlin  imh'den  ihre  Henkerskrallen  aus- 
strecken und  die  kleine  Freiheit  mit  Rumpf  und  Stumpf  aus - 
rottefi.  Das  ganze  deutsche  Volk  muß  sich  die  Freiheit  er- 
ringen. Und  diese  Zeit,  geliebte  Mitbürger,  ist  nicht  ferne. 
— Der  Herr  hat  das  schöne  deutsche  Land,  das  viele  Jahr- 
hunderte das  herrlichste  Reich  der  Erde  war,  i7i  die  Hä7ide 
der  fremden  und  ei7iheii7iische7i  Schiruier  gegeben,  weil  das 
He7'z  des  deutschen  Volkes  vo7i  der  Fr-eiheit  und  Gleichheit 
seiner  Voreltern  und  von  der  Furcht  des  He7'rn  abgefalle7i 
war,  tveil  ihr  de7n  Götzendienste  der  vielen  Herf'lein,  Klein- 
herzoge 7ind  Däumlings -Kö7iige  euch  ergeben  hattet. 
Der  Herr,  der  den  Stecken  des  fremde7i  Treibers  Napoleon 
zerbrochen  hat,  wird  auch  die   Götzetibilder  unserer  ein- 


DER  HESSISCHE  LANDBOTE  1 7  5 

heimischen  Tyrannen  zerbrechen  durch  die  Hände  des  Volks. 
Wohl  glänzen  diese  Götzenbilder  von  Gold  und  Edelsteinen^ 
von  Orden  und  Ehrenzeichen^  aber  in  ihre?n  Innerti  stirbt 
der  Wurm  nicht ^  und  ihre  Füße  sind  von  Lehm.— Gott  ivird 
euch  Kraft  geben,  ihre  Füße  zu  zerschmeißen,  sobald  ihr 
euch  bekehret  von  dem  Irrtum  eures  Wandels  und  die  Wahr- 
heit erkennet:  daß  nur  ein  Gott  ist  tmd  keine  Götter  neben 
ihm,  die  sich  Hoheiten  und  Allerhöchste,  heilig  und  unver- 
antwortlich nennen  lassen,  daß  Gott  alle  Menschen  frei  und 
gleich  i7i  ihren  Rechte?!  schuf,  und  daß  keine  Obrigkeit  von 
Gott  zum  Segen  verordnet  ist  als  die^  welche  auf  das  Ver- 
trauen des  Volkes  sich  gründet  und  vom  Volke  ausdrücklich 
oder  stillschweigend  erwählt  ist;  daß  dagegen  die  Obrigkeit, 
die  Gewalt,  aber  kein  Recht  über  ein  Volk  hat,  nur  also 
von  Gott  ist^  wie  der  Teufel  auch  von  Gott  ist,  und  daß  der 
Gehorsam  gegen  eine  solche  Teufelsobrigkeit  nur  so  lange 
gilt,  bis  ihre  Teufelsgewalt  gebrochen  werden  kann; — daß 
der  Gott,  der  ein  Volk  durch  eine  Sprache  zu  einem  Leibe 
verei?iigte,  die  Gewaltigen,  die  es  zerfleischen  und  vierteilen 
oder  gar  in  dreißig  Stücke  zerreißen,  als  Volksniörder  und 
Tyrannen  hier  zeitlich  und  do7't  ewiglich  strafen  wird,  denn 
die  Schrift  sagt:  was  Gott  vereinigt  hat,  soll  der  Mensch 
nicht  trennen;  und  daß  der  Allmächtige,  der  aus  der  Einöde 
ein  Paradies  schaffen  kann,  auch  ein  Land  des  Jammers 
und  des  Elends  wieder  in  ein  Paradies  um  schaffen  kanjz, 
wie  unser  teucT^vertes  Deutschland  war,  bis  seine  Fürsten 
es  zerfleischten  und  schunden. 

Weil  das  deutsche  Reich  morsch  und  faul  war  und  die 
Deutschen  von  Gott  und  von  der  FreUieit  abgefallen  waren, 
hat  Gott  das  Reich  zu  Trümmern  gehen  lassen,  um  es  zu 
einem.  Freistaat  zu  verjüngen.  Er  hat  eine  Zeitlang  den 
Satansengeln  Gewalt  gegeben,  daß  sie  Deutschland  mit 
Fäuste?!  schlüge??.,  er  hat  den  Gewaltigen  und  Fürsten,  die 
in  der  Fi?isternis  herrsche??,  de??  bösen  Geistern  ?i?iter  dem 
Him?nel  (Ephes.  6),  Gewalt  gegebe??,  daß  sie  Bürger  und 
Bauern  peinigten  ?md  ihr  Blut  aussaugte??  und  ihre??  Mut- 
willen trieben  mit  alle??,  die  Recht  und  Freiheit  mehr  lieben 
als  Unrecht  und  Knechtschaft.— Aber  ihr  Maß  ist  voll! 
Sehet  an  das  von  Gott  gezeichnete  Scheusal,  den  König 


1 7  6  DER  HESSISCHE  LANDBOTE 

Ludwig  von  Bayern,  den  Gotteslästerer,  der  redliche 
Männer  vor  seinem  Bilde  niederzuknien  zwingt  und  die, 
welche  die  Wahrheit  bezeugen,  durch  meineidige  Richter 
zum  Kerker  verurteilen  läßt;  das  Schwein,  das  sich  in  allen 
Lasterpfützen  von  Italien  wälzte,  den  Wolf,  der  sich  für  sei- 
nen Baals-Hofstaat  für  immer  jährlich  fünf  Millionen  durch 
meineidige  Landstände  verwilligen  läßt,  und  fragt  dann: 
''Ist  das  eine  Obrigkeit  von  Gott  zum  Segen  verordnet?" 

Hai  du  wärst  Obrigkeit  von  Gott? 
Gott  spendet  Segen  aus\ 

Du  raubst^  du  schindest,  kerkerst  ein, 
Du  nicht  von  Gott,  Tyrann! 
Ich  sage  euch:  sein  und  seiner  Mitfürsten  Maß  ist  voll. 
Gott,  der  Deutschland  um  seiner  Sünden  willen  geschlagen 
hat  durch  diese  Fürsten,  wird  es  wieder  heilen.  ^^Er  wird 
die  Hecken  und  Dorn  er  niederreiße7i  und  auf  eine  fn  Haufe??. 
verbre7men.'^  Jesaias  2/^,  4.  So  wenig  der  Höcker  noch 
wachset,  womit  Gott  diesen  Köfiig  Ludwig  gezeichnet  hat, 
so  wenig  werden  die  Schandtaten  dieser  Fürsten  noch  wach- 
sen können.  Ihr  Maß  ist  voll.  Der  Herr  wird  ihre  Körper 
zerschmeißen,  und  in  Deutschland  wird  dann  Leben  und 
Kraft  als  Segen  der  Freiheit  wieder  erblühen.  Zu  eineiti 
großeii  Leichenfelde  haben  die  Fürsten  die  deutsche  Erde 
gemacht,  wie  Ezechiel  im  sy.  Kapitel  beschreibt:  ^^Der  Herr 
führte  mich  auf  ein  weites  Feld,  das  voller  Gebeine  lag,  und 
siehe,  sie  tuaren  sehr  ver dorrt P  Aber  wie  lautet  des  Herrn 
Wort  zu  den  verdorrten  Gebeinen:  ^^  Siehe,  ich  ivill  euch 
Adern  geben  und  Fleisch  lassen  über  euch  wachsen,  und  euch 
mit  Haut  überziehen,  und  will  euch  Odem  geben,  daß  ihr 
wieder  lebendig  werdet,  und  sollt  erfahren,  daß  Ich  der 
Herr  bin.''  Und  des  Herrn  Wort  wird  auch  an  Deutsch- 
land sich  wahi'haftig  beweisen,  wie  der  Prophet  spricht: 
^^ Siehe,  es  rauschte  und  regte  sich,  und  die  Gebeine  kamen 
7vie der  zusammen,  ein  jegliches  zu  seinem  Gebein.— Da  kam 
Odem  in  sie,  und  sie  wurden  wieder  lebendig  und  richteten 
sich  auf  ihre  Füße,  und  ihrer  war  ein  sehr  groß  Heer.'"' 
Wie  der  Prophet  schreibet,  also  stand  es  bisher  in  Deutsch- 
la?id:  eure  Gebeine  sind  verdorrt,  den?!  die  Ordnung,  in  der 
ihr  lebt,  ist  eitel  Schinderei.   Sechs  Millionen  bezahlt  ihr 


DER  HESSISCHE  LANDBOTE  1 7  7 

im  Großherzogtum  einer  Handvoll  Leute,  deren  Willkür 
euer  Leben  und  Eigentum  überlassen  ist,  und  die  anderen 
in  dem  zerrissenen  Deutschland  gleich  also.  Ihr  seid 
nichts,  ihr  habt  nichts!  Ihr  seid  rechtlos.  Dir  müsset 
geben,  was  eure  unersättlichen  Presser  fordern,  und  tra- 
gen, was  sie  euch  aufbürden.  So  weit  ein  Tyrann  blicket 
—und  Deutschland  hat  dercfi  wohl  dreißig — ,  verdorret 
Laiul  und  Volk.  Aber  wie  der  F?'ophet  schreibet,  so  wird  es 
bald  stehen  in  Deutschland:  der  Tag  der  Auferstehung  wird 
nicht  säumen.  In  dem  Lcicheufelde  lüird sich's  regen  u?ul  wii-d 
rauschen,  und  der  Neubclebten  wit'd  ein  großes  Heer  sein. 
Hebt  die  Augen  auf  und  zählt  das  Häuflein  eurer  Presser, 
die  nur  stark  sind  durch  das  Blut,  das  sie  euch  aussaugen, 
und  durch  eure  Arme,  die  ihr  ihnen  willenlos  leihet.  Ihrer 
sind  vielleicht  10  000  im  Großherzogtum  und  eurer  sind 
es  700000,  und  also  verhält  sich  die  Zahl  des  Volkes  zu 
seinen  Pressern  auch  im  übrigen  Deutschland.  Wohl  dro- 
hen sie  mit  dem  Rüstzeug  und  den  Reisigen  der  Könige, 
aber  ich  sage  euch:  Wer  das  Schwert  erhebt  gegen  das 
Volk,  der  wird  durch  das  Schwert  des  Volkes  umkommen. 
Deutschland  ist  jetzt  ein  Leichenfeld,  bald  wird  es  ein 
Paradies  sein.  Das  deutsche  Volk  ist  ein  Leib,  ihr  seid 
ein  Glied  dieses  Leibes.  Es  ist  einerlei,  wo  die  Schein- 
leiche zu  zucken  anfängt.  Wann  der  Herr  euch  seine  Zei- 
chen gibt  durch  die  Männer,  durch  welche  er  die  Völker 
aus  der  Dienstbarkeit  zur  Freiheit  führt,  dann  erhebet 
euch,  und  der  ganze  Leib  wird  mit  euch  aufstehen. 
Ihr  blicktet  euch  lange  Jahre  i?i  den  Dornäckern  der  Knecht- 
schaft, dann  schwitzt  ihr  einen  Sommer  im  Weinberge  der 
Freiheit  und  werdet  frei  sein  bis  ins  tausendste  Glied. 
Ihr  wühltet  ein  langes  Leben  die  Ej'de  auf  dann  wiihlt  ihr 
euren  Tyrannen  ein  Grab.  Ihr  bautet  die  Zwingburgen, 
dann  stürzt  ihr  sie  und  bauet  der  Freiheit  Haus.  Dann 
könnt  ihr  eure  Kinder  frei  taufen  mit  dem  Wasser  des  Le- 
bens. Und  bis  der  Herr  euch  7'uft  durch  seine  Boten  und 
Zeichen,  wachet  und  rüstet  euch  im  Geiste  und  betet  ihr 
selbst  und  lehrt  eure  Kinder  beten:  ^Herr,  zerbrich  den 
Stecken  unserer  Treiber  und  laß  dein  Reich  zu  uns  kom- 
men—das Reich  der  Gerechtigkeit.   Atncn.'' 

BÜCHNER  12. 


NATURWISSENSCHAFT^ 

LICHE  UND  PHILOSO- 

PHISCHE  SCHRIFTEN 


MEMOIRE 

SUR  LH 

SySTEME  NERVEUX  DU  BARBEAU 

<CyPRINUS  BARBUS  L.) 

LU  A  LA  SOCIETE  D'HISTOIRE  NATURELLE  DE  STRASBOURG, 
DANS  LES  SEANCES  DU  13  AVRIL,  DU  20  AVRIL  ET  DU  4  MAI  1836 


)   1^3   ( 
PARTIE  DESCRIPTIVE 

QUEL  est  le  rapport  des  nerfs  cerebraux  avec  les  nerfs 
spinaux,  les  veit^bres  cräniennes  et  lesrenflements  du 
cerveaur  Quels  sont  ceux  d'entre  eiix  qui  se  trouvent  les 
Premiers  au  bas  de  l'e'chelle  des  animaux  vertebrds:  Quel- 
les sont  les  lois  d'apres  lesquelles  leur  nombre  est  aug- 
mente  ou  diminu^,  leur  distribution  plus  compliqude  ou 
plus  simple?— Questions  importantes,  qui  ne  pourront  etre 
resolues  que  par  la  methode  ghiHique^^  c'est-ä-dire  par 
une  comparaison  scrupuleuse  du  syst^m.e  nerveux  des 
vertdbres  en  partant  des  organisations  les  plus  simples  et 
en  s'elevant  peu  ä  peu  aux  plus  developpdes.  Mais  en 
commen^ant  ces  recherches  par  la  derni^re  classe  des 
vertdbres,  les  poissons,  on  est  embarrasse  aussitot  par  les 
donnees  les  plus  contradictoires.  Les  anatomistes  ne  peu- 
vent  s'entendre  sur  le  nombre,  la  signification  et  la  distri- 
bution des  nerfs.  Le  nombre  des  paires  cerebrales  qu'ils 
admettent  varie  de  huit  ä  onze.  Les  nerfs  facial,  glosso- 
pharyngien,  hypoglosse  et  accessoire  de  Willis,  sont  tantöt 
admis,  tantot  nies  dans  les  poissons.  Le  meme  nerf  est 
decrit  sous  les  noms  les  plus  differents;  les  descriptions 
de  l'origine  et  de  la  distribution  sont  souvent  diamdtrale- 
ment  opposees.  C'est  ä  la  nature  elle-meme  qu'il  faut 
s'adresser  pour  resoudre  le  probleme:  puisse  mon  travail 
contribuer  ä  cette  Solution!  J'ai  choisi  particuli^rement 
pour  objet  de  mes  recherches  les  Cyprins,  comme  offrant, 
d'apres  Ca?'us,  le  type  le  plus  pur  des  poissons  osseux. 
D'ailleurs  le  Systeme  nerveux  des  poissons  de  cette  famille 
ofifre  quelques  particularites  tr^s  remarquables,  ddcrites 
par  Weber,  Des?noulins  et  Bischoff.  Je  donne  ici  la  des- 
cription  des  nerfs  du  Barbeau,  ä  laquelle  j'ajouterai,  lä 
ou  je  le  jugerai  convenable,  les  particularites  que  m'ont 
Offertes  les  autres  poissons  que  j'ai  disseques. 
Je  crois  necessaire  de  faire  prece'der  cette  description  de 
quelques  de'tails  sur  les  fibres  du  cerveau,  details  ndces- 
saires  pour  comprendre  ce  que  je  dirai  sur  l'origine  des 
nerfs. 

^  Terme  emprunte  ä  Tecole  allemande:  Die  genetische  Methode. 


i84    NATURVVISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFl^EN 

Malgre  les  travaux  de  Malier^  et  de  Carus^,  il  n'y  a  rien 
de  bien  arrete  sur  la  maniere  dont  se  compoitent  les  cor- 
dons  de  la  moelle  dans  le  cerveau.  Ce  n'est  que  dans  ces 
derniers  temps  que  les  heiles  recherches  de  Gottsched  ont 
rempli  en  partie  cette  lacune.  Gotische  admet  quatre  cor- 
dons  de  chaque  cote  de  la  moelle,  deux  superieurs  et  deux 
inferieurs,  savoir:  i°.  Un  cordon  pyramidal  anterieur,  qui 
passe  sous  la  commissiira  ansulata  {Gottsche)  et  se  divise 
en  deux  faisceatix,  dont  rinterne  se  rend  aux  renflements 
anterieurs  du  cerveau,  compares  aux  hemispheres  par  la 
plupart  des  anatomistes,  et  dont  l'externe  passe  par  les 
renflements  anterieurs  de  la  cavite  des  lobes  optiques 
{^'■thalami  optici''  Gottsche^  "-tori  antirieurs^''  Se?'7'es,  ^'tori 
semicirculares'^  Haller),  d'oü  il  sort  en  rayonnant  pour 
former  la  paroi  interne  des  lobes  optiques,  2°.  Un  cordon 
exterieur  au  prece'dent,  qu'il  appelle  leinnisciis.  II  passe 
par  la  couwiissura  ansulata  et  se  perd,  en  melant  ses  fibres 
avec  Celles  du  cordon  precedent,  dans  le  bord  externe  des 
couches  optiques  [Gottsc/ie).  Ce  cordon  parait  fournir  la 
cinquieme  paire  et  l'acoustique.  3*^.  Un  cordon  restiforme. 
4^.  Un  cordon  pyramidal  posterieur.  II  ne  les  se'pare  pas 
dans  leur  description.  Ils  penetrent  dans  le  cervelet,  en- 
tourent  sa  cavite,  en  formant  une  anse,  et  se  rendent  en- 
suite  aux  renflements  posterieurs  de  la  cavite  des  lobes 
optiques  {^^^quadrijumeaux^^  de  Haller,  Cuvier,  Gottsche, 
^^tori  postdrietirs^^  de  Scrres),  dont  ils  constituent  la  paroi 
externe  sous  la  forme  d'une  bände  contournee  en  demi- 
cercle.  Chez  les  Cyprins,  d'ailleurs,  la  commissura  ansu- 
lata, comparee  par  Gottsche  au  pont  de  Varole,  emane  de 
ce  cordon. 
Serres^  parle  de  meme  de  huit  cordons  de  la  moelle;  il 

1  Opera  mimva,  tom.  IIT,  et  Ekm.  physioL,  tom.  IV. — -  Versuch 
einer  Darstellung  des  ATervensystenis. — Je  regrette  de  n'avoir  pu  me 
procurer  cet  ouvrage;  j'ai  ete  oblige  de  me  contenter  des  notions 
contenues  dans  l'ouvrage  de  Carus  sur  les  parties  primitives  du 
squelette  et  dans  son  traite  de  Zootomie,  et  des  citations  des  autres 
auteurs.  Je  n'ai  pu  non  plus  me  procurer  Timportante  dissertation 
^ Arsaky:  De  piscium  cerebro  et  vieduUa  spinali. — 3  Müllers  Archiv, 
1835. — 4  Anatomie  comparee  du  cerveau  dans  les  qtiatre  classes  des 
animaux  vertebres. 


MEMOIRE  SUR  LE  SYSTEME  NERVEUX     185 

les  designe  sous  les  noms  de  pyramides  anterieures,  cor- 
dons  olivaires,  cordons  restiformes  et  pyramides  poste- 
rieures.  D'apres  cet  auteur,  les  pyramides  anterieures  se 
rendent  aiix  hemispheres  et  forment  les  nerfs  olfactifs;  les 
cordons  olivaires,  places  au  cöte  externe  des  pre'cedents, 
aboutissent  aux  lobes  optiques. 

Desmoulins^  enumere  seulement  quatre  cordons  :  deux  su- 
perieurs  et  deux  inferieurs. 

Laurencef^^  enfin,  admet  six  cordons,  trois  de  chaque  cöte: 
1°.  Les  pyramides  anterieures,  qui  comprennent  aussi  les 
cordons  olivaires,  et  qui  se  dirigent  chacun  en  dehors  et 
en  haut  dans  l'interieur  du  renflement  que  l'on  trouve  au 
devant  du  cervelet  (c'est-ä-dire  dans  le  lobe  optique). 
2°.  Les  faisceaux  moyens,  ou  les  faisceaux  de  Vi?ifimdi- 
bulu?ji,  sont  places  entre  les  pyramides  anterieiures  et  les 
pyramides  posterieures.  Ces  faisceaux  passent  ä  la  hauteur 
du  collet  du  bulbe  rachidien,  comme  s'exprime  Laure^icet^ 
par-dessus  et  entre  les  deux  precedents,  pour  ressortir  ä 
la  face  anterieure;  puis  ils  se  dirigent,  en  augmentant 
toujours  de  volume,  dans  les  deux  lobes  qu'on  voit  de 
chaque  cote  de  Vinfundibulum,  et  s'y  epanouissent  visi- 
blement.  3°.  Les  pyramides  posterieures,  qui  montent  au 
cervelet. 

Mes  recherches  sur  le  cerveau  n'ont  pour  but  que  de  de- 
terminer  le  nombre  des  cordons  nerveux  et  leur  trajet  dans 
la  masse  ce'rebrale,  ainsi  que  le  rapport  qui  existe  entre 
eux  et  les  racines  des  nerfs;  je  n'entrerai  donc  dans  aucun 
autre  detail  sur  la  structure  du  cerveau. 
La  moelle  ne  presente  ä  sa  surface  que  les  deux  sillons 
inferieur  et  superieur,  qui  la  divisent  en  deux  moities 
Egales;  cependant  on  de'couvre  ä  son  extremite  superieure, 
mais  seulement  dans  une  etendue  peu  conside'rable,  un 
sillon  late'ral  produit  par  la  saillie  du  faisceau  inferieur  des 
pyramides  posterieures,  comme  nous  allons  bientöt  le  voir ; 
de  ce  sillon  resultent  de  chaque  cote  deux  cordons  la- 
teraux  ine'gaux,  dont  l'inferieur  surpasse  de  beaucoup  en 
voliune  le  superieur.  Pour  le  reste,  la  surface  de  la  moelle 

^  Anato?fiie  des  systemes  nerveux  des  animaux  a  vertebres. — 2  Ana- 
tomie  du  cerveau  dans  les  quatre  classes  d'' animaux  vertebres. 


i86    NATUR WISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

est  parfaitement  lisse;  eile  a  presque  la  forme  d'un  tri- 
angle  ä  cotes  curvilignes,  dont  la  base  est  forme'e  par  la 
surface  inferieure.  En  coupant  la  moelle  par  tranches  ver- 
ticales,  on  voit  les  sillons  superieur  et  inferieur  la  separer 
presque  entierement  en  deux  moitie's,  qui  ne  sont  reunies 
que  par  une  etroite  commissure  de  substance  grise^.  Le 
sillon  supe'rieur  descend  jusqu'au-delä  du  centre  de  la 
tranche,  et  s'elargit  en  formant  le  canal  central  de  la 
moelle.  Ce  canal  est  entoure  d'une  substance  jaunätre, 
presque  liquide,  disposee  en  triangle,  dont  le  sommet  re'- 
pond  au  sillon  superieur,  et  dont  les  deux  angles  infe- 
rieurs  se  prolongent  dans  les  parties  laterales  de  la  moelle. 
Sur  la  moelle  fraiche  ce  triangle  lui-meme  parait  etre  une 
dilatation  du  canal  central,  ä  cause  du  peu  de  consistance 
de  la  substance  dont  il  est  forme;  mais  par  l'action  de 
l'alcool  on  parvient  ä  la  coaguler.  Elle  pre'sente  alors  une 
couleur  grisätre,  et  dans  son  milieu  on  aper^oit  la  lumiere 
etroite  du  canal  central.  C'est  ä  l'aide  des  deux  prolon- 
gements  lateraux  de  la  substance  jaunätre  qu'on  parvient 
ä  distinguer  quatre  cordons,  deux  superieurs  et  deux  in- 
f^rieurs,  dont  les  premiers  surpassent  de  beaucoup  en  vo- 
lume  les  derniers;  circonstance  qui  contraste  fortement 
avec  le  contour  externe  des  cordons,  produit  sur  une  par- 
tie  de  la  surface  de  la  moelle  par  le  sillon  late'ral  dont  je 
viens  de  parier.  Une  section  faite  pr^s  du  quatrieme  ven- 
tricule,  presente  un  contour  presque  quadrilatere,  ä  cor- 
dons plus  nettement  dessines.  Sur  une  autre  section,  pra- 
tiquee  vers  l'extremite  posterieure  de  la  moelle,  le  sillon 
superieur  descend  moins  profondement,  et  les  cordons 
inferieurs  acquierent  par  la  plus  de  volume. 
La  moelle  des  poissons  serait  donc  composee  de  quatre 
cordons,  dont  les  superieurs  sont  beaucoup  plus  deve- 
loppes  que  les  inferieurs.  Je  n'ai  pu  apercevoir  de  cor- 
don  lateral :  la  presence  de  ce  cordon  parait  dependre  du 


1  Rigoureusement  parlant,  il  n'y  a  pas  de  substance  grise,  quant  ä 
la  couleur,  dans  le  Systeme  cerebro-spinal  des  poissons:  c'est  une 
substance  jaunätre  tirant  sur  le  rouge,  qui,  par  sa  couleur,  contraste 
beaucoup  moins  avec  la  substance  medullaire  que  ne  le  fait  la  sub- 
stance grise  des  animaux  superieurs. 


MEMOIRE  SUR  LE  SYSTEME  NERVEÜX    187 

developpement  de  la  substance  grise;  en  effet,  ce  n'est 
reellement  autre  chose  que  la  partie  medullaire  situee  entre 
les  deux  cornes  du  croissant  forme  par  la  substance  grise 
dans  chaque  moitie  de  la  moelle.  Or,  il  n'y  a  pas  de  cor- 
nes anterieures  dans  la  moelle  des  poissons;  la  partie 
qu'on  appelle  cordon  lateral  coincide  donc  avec  le  cor- 
don  superieur.  Cette  disposition  detruit  dejä  ä  eile  seule 
la  Classification  des  nerfs  faite  par  Charles  BeW^.  La  di- 
vision  par  laquelle  il  separe  ses  nerfs  respiratoires  des 
autres  nerfs  du  Systeme  cerebro- spinal  est  entierement 
basee  sur  le  cordon  lateral,  qui  doit  pre'sider  ä  leur  fonc- 
tion  particuliere.  Or,  chez  les  poissons  nous  trouvons 
quatre  des  nerfs  respiratoires  de  Bell,  savoir:  les  nerfs 
vague,  glosso-pharyngien,  facial  et  pathetique,  s'inserant 
aux  memes  cordons  que  les  autres  nerfs  cerebraux,  et 
ayant  chez  ces  animaux  une  fonction  aussi  bien  respira- 
toire  que  chez  Thomme.  II  faut  donc  que  cette  fonction 
ne  soit  pas  aussi  diffe'rente  de  celle  des  autres  nerfs  que 
Bell  le  pretend. 

Les  cordons  infe'rieurs,  que  je  compare  aux  pyramides 
anterieures,  se  dirigent  en  avant,  en  s'elargissant,  le  long 
de  la  face  infe'rieure  de  la  moelle,  passent  sous  la  com- 
missure  des  lobes  du  nerf  vague,  puis  sous  la  commissura 
ansulata,  et  se  divisent  en  deux  faisceaux.  L'interne  se 
continue  en  ligne  droite,  passe  du  cote'  interne  du  pedon- 
cule  des  lobes  inferieurs  (eminences  mamillaires),  auquel 
il  donne  des  filets,  et  forme  enfin  le  pe'doncule  des  he- 
mispheres,  dans  lesquels  il  s'e'panouit  en  rayonnant.  L'ex- 
terne  est  le  plus  volumineux;  il  se  reflechit  en  dehors  et 
passe  ä  travers  l'amas  de  substance  grise  qui  forme  les 
couches  optiques(6'^//^^>^^),  en  s'epanouissant  en  eventail 
ä  sa  sortie,  pour  former  le  feuillet  interne  des  lobes  op- 
tiques.  Les  fibres  de  ce  feuillet  sont  parfaitement  separees 
du  feuillet  exte'rieur  jusqu'au  delä  de  son  tiers  superieur; 
alors  elles  s'y  collent  en  formant  une  bände  rayonne'e  ver- 
ticalement,  qui  s'e'tend  jusqu'au  bord  superieur  de  ce 
feuillet  exterieur,  oü  elles  passent  dans  la  bände  etendue, 

^  Exposition  du  systhm  fiaturddes  nerfs. 


i88    NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

le  long  de  ce  bord,  sur  la  surface  du  cerveau,  et  comparee 
2.Vi  foriiix  par  Gotische.  Je  n'ai  pu  apercevoir  de  stries  sur 
cette  bände,  pas  meme  ä  l'aide  de  la  loupe ;  eile  parait 
formee  principalement  de  substance  grise,  au  moins  eile 
contraste  de  la  maniere  la  plus  apparente,  par  sa  couleur 
jaunätre,  avec  les  filets  blancs  medullaires  qui  s'y  rendent. 
C'est  du  bord  interne  6.uformx  que  rayonne  la  membrane 
qui  Unit  les  deux  lobes  optiques,  et  que  Gotische  compare 
au  Corps  calleux^;  eile  est  bien  evidemment  la  continua- 
tion  des  fibres  qui  se  sont  rendues  au  fornix^  et  qui  en 
rayonnent  de  nouveau  de  la  meme  maniere  qu'elles  le 
faisaient  pour  les  couches  optiques  (^Gotische).  Les  fibres 
les  plus  anterieures  de  ce  faisceau  externe  forment  la  com- 
missure  anterieure  des  lobes  optiques. 
La  face  inferieure  des  pyramides  anterieures  montre  de 
chaque  cote  du  sillon  median  deux  stries  plus  blanches, 
tr^s  fines,  et  qu'on  peut  suivre  pendant  un  trajet  assez 
long  sur  la  moelle,  oü  elles  sont  un  peu  plus  larges  qu'ä 
la  base  du  cerveau.  Je  ne  sais  si  l'on  pourrait  avec  raison 
en  faire  deux  cordons  particuliers.  Elles  me  parurent  for- 
mer, apr^s  s'etre  croisees,  les  cuisses  anterieures  de  la 
commissiira  ansiilata.  La  face  supe'rieure  des  pyramides 
anterieures  se  voit  sur  le  plancher  du  quatrieme  ventri- 
cule;  eile  donne  un  faisceau  au  tubercule  impair  de  ce 
ventricule  et  presente  beaucoup  de  stries  transversales. 
Les  pyramides  poste'rieures  se  divisent  pres  de  la  pointe 
du  quatrieme  ventricule  en  deux  faisceaux;  le  superieur 
passe  sous  la  commissure  posterieure  du  quatrieme  ven- 
tricule, forme  la  paroi  interne  de  cette  cavite  en  rayon- 
nant  dans  les  lobes  du  nerf  vague,  et  donne  un  faisceau 
de  fibres  qui  se  repandent,  comme  les  branches  d'un  arbre, 
sur  la  face  superieure  du  tubercule  impair  du  quatrieme 
ventricule ;  puis  il  passe  dans  les  pedoncules  du  cervelet, 
entoure,  en  forme  d'anse,  la  cavite  de  cet  organe,  en 
envoyant,  comme  l'arbre  de  vie  des  animaux  superieurs, 
des  fibres  medullaires  dans  la  substance  grise,  et  se  rend 

1  Je  conserve  les  noms  donnes  par  Gotische  ä  des  parties  qu'il  a  le 
premier  decrites  d'une  maniere  bien  exacte,  sans  toutefois  partager 
son  opinion  sur  leur  determination. 


MEMOIRE  SUR  LE  SYSTEME  NERVEUX    189 

enfin  ä  la  base  du  torus  posterieur  (Serres)  de  son  cote. 
Gotische  compare  cette  cuisse  medullaire  au  Processus  ce- 
rebelli  ad  emifientiam  quadrigenmiam.  En  sortant  de  cette 
base,  notre  faisceau  contourne  en  dehors  et  en  arriere  le 
bord  inferieur  et  externe  du  torus,  et  envoie  en  haut  des 
filets  qui  constituent  un  large  feuillet,  formant  la  face 
externe  de  ce  tubercule,  et  plie  en  dedans  au  bord  supe- 
rieur,  comme  on  le  voit  aise'ment  en  faisant  une  coupe 
verticale  sur  le  torus.  Gotische  a  tres  bien  represente  cette 
disposition  sur  la  Carpe;  cependant  je  n'ai  pas  vu  ce 
feuillet  seulement  forme  de  substance  medullaire,  comme 
le  pre'tend  Gotische,  il  y  a  beaucoup  de  substance  jau- 
nätre,  mais  assez  claire,  melee  entre  les  fibres  blanches. 
Le  faisceau  inferieur  passe  sous  le  lobe  du  nerf  vague  ä 
la  face  infe'rieure  et  externe  de  la  moelle,  dont  il  forme 
la  partie  late'rale,  sur  laquelle  s'inserent  le  pathetique,  le 
trijumeau,  Tacoustique  et  le  glosso-pharyngien.  Arrive'  ä 
la  base  du  cervelet,  il  fournit  en  bas  la  cuisse  posterieure 
de  la  C07ti7nissura  ansulata,  et  envoie  au  cervelet  un  fais- 
ceau, qui  monte  le  long  du  bord  anterieur  du  pedoncule, 
et  qui  s'epanouit  sur  la  surface  du  cervelet  et  entre  le 
bord  interne  des  tori  posterieurs,  et  le  tuberculum  cordi- 
forme  (HaUer\  le  point  central,  d'oü  se  contournent  en 
dehors  les  tori.  Le  tronc  de  ce  faisceau  se  m^le  avec  les 
fibres  du  faisceau  superieur  ä  la  base  des  tori  posterieurs, 
et  y  produit  un  veritable  centre  medullaire,  d'oü  nait  un 
faisceau  assez  considerable  qui  se  dirige  en  avant,  en 
passant  par  le  fond  de  la  cavite  des  lobes  optiques  pr^s 
de  la  ligne  me'diane,  concourt  ä  la  formation  de  la  com- 
missure  anterieure,  et  me  parait  se  rendre  aux  hdmi- 
spheres  en  formant  la  partie  superieure  de  leur  pedoncule. 
Un  autre  faisceau  descend  en  dehors  entre  les  fibres  des 
pyramides  inferieures  vers  le  pe'doncule  des  lobes  infe- 
rieurs,  qu'ilconstitueprincipalement^;  d'ailleursc'estdece 

1  Voici  ce  que  dit  Gotische  sur  cette  disposition:  «Dans  les  poissons 
qui  ont  les  tubercules  quadnjumeaux  tres  developpes,  on  peut  dire 
que  des  parties  laterales  du  cerv^elet  un  faisceau  considerable  de 
fibres  blanches  se  dirige  en  avant  de  chaque  cote;  pres  des  tuber- 
cules quadrijumeaux  il  donne  une  brauche  qui  va  a  la  face  externe 


I90     NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

centre  medullaire  cite  que  me  paraissent  naitre  les  fibres 
medullaires  du  fascia  lateralis  et  du  feuillet  externe  de  la 
paroi  des  lobes  optiques.  Ce  feuillet,  forme  de  substance 
grise,  est  traverse  par  des  stries  de  substance  medullaire. 
Ces  stries,  dirigees  horizontalement  d'arriere  en  avant  et 
tres  developpees,  principalement  le  long  des  bords  infe- 
rieur  et  superieiu:  qu'elles  entourent  comme  un  ruban, 
convergent  ä  la  partie  ante'rieure  des  lobes  optiques  pour 
former  le  nerf  optique.  Elles  coupent  ä  angle  droit  les 
fibres  du  feuillet  interne,  dirigees  dans  un  sens  vertical. 
En  examinant  le  bord  inferieur  du  feuillet  externe,  on 
trouve  qu'il  est  tout-ä-fait  separe  du  feuillet  interne,  et 
qu'il  est  facile  de  le  replier,  sans  produire  de  lesion,  pour 
voir  les  fibres  rayonnantes  des  couches  optiques.  En  in- 
sufflant  l'intervalle  compris  entre  les  deux  feuillets,  on 
parvient  facilement  ä  les  separer  jusqu'ä  la  ligne  dejä 
decrite,  oü  les  fibres  du  feuillet  interne  s'accolent  au 
feuillet  externe  avant  de  penetrer  dans  le  foniix.  II  est  donc 
impossible  que  ce  feuillet  externe  soit  aussi,  comme  le 
feuillet  interne,  une  emanation  des  pyramides  inferieures, 
comme  on  le  suppose  generalement.  La  direction  seule 
de  ses  fibres  medullaires  suffirait  dejä  poiu:  prouver  le 
contraire.  Quel  est  donc  son  point  d'originer  C'est  le 
centre  medullaire,  forme  ä  la  base  des  tori  posterieurs 
par  les  fibres  des  faisceaux  inferieur  et  superieur  des  pyra- 
mides posterieures.  Le  feuillet  externe  est  forme  par 
des  fibres  des  pyramides  posterieures,  qui  s'epanouissent 
horizontalement  en  passant  au-dessus  des  fibres  verti- 
cales  provenant  des  pyramides  inferieures;  cependant  je 
ne  suis  pas  encore  tout-ä-fait  sür  de  la  justesse  de  cette 
Observation,  et  j'appelle  l'attention  des  anatomistes  sur 
ce  point,  qui  me  parait  important  pour  la  physiologie  des 
cordons  medullaires.  Car,  comme  il  n'y  a  pas  de  trace 
d'un  entrecroisement  des  cordons  de  la  moelle  dans  le 
sens  antero-posterieur,  comme  la  continuation  du  nerf 
optique  avec  les  stries  medullaires  du  feuillet  externe  est 

de  ces  dminences.  Le  tronc  se  porte  en  avant,  passe  ä  cote  et  au- 
dessous  des  couches  optiques,  et  concourt  ä  la  formation  de  la 
commissure  ant^rieure. » 


MßMOIRE  SUR  LE  SYSTEME  NERVEUX    191 

evidente,  il  serait  bien  singulier  qiie  ce  feuillet,  comme 
on  Tadmet  generalement,  füt  forme  par  les  pyramides  in- 
ferieiires;  cordons  qiii,  apres  avoir  donne  le  long  de  la 
moelle  les  racines  motrices  des  nerfs,  entreraient  dans  le 
cerveau  en  rapport  avec  im  nerf  de  Sensation  aussi  pur 
que  l'optique. 

On  pourrait  separer  les  deux  faisceaux  des  pyramides 
posterieures  en  deux  cordons,  appeler  l'inferieur  cordon 
restiforme,  et  re'server  le  nom  de  pyramide  posterieure 
au  superieur;  et  en  separant  de  meme  les  pyramides  in- 
ferieures  en  deux  cordons,  on  aurait  huit  cordons  medul- 
laires.  Enfin,  j'ai  trouve  entre  le  cordon  restiforme  et  le 
bord  externe  de  la  pyramide  inferieure,  un  faisceau  de 
fibres  me'dullaires  d'un  blanc  moins  pur  que  ces  cordons, 
II  forme  avec  son  congenere  ä  la  base  des  lobes  du  nerf 
vague  une  commissure  assez  large.  Son  extremite  ante- 
rieure  se  confond  avec  le  bord  externe  des  pyramides 
inferieures,  lä  oü  celles-ci  entrent  dans  les  couches  op- 
tiques.  Son  extremite  posterieure  se  confond  avec  les 
pyramides  superieiures.  On  pourrait  le  nommer  cordon 
lateral,  pourvu  qu'on  n'attache  pas  ä  ce  nom  l'idee  d'une 
Separation  des  autres  cordons,  ä  laquelle  sa  disposition 
anatomique  est  contraire;  c'est  ce  cordon  et  le  faisceau 
inferieur  des  pyramides  posterieures  qui  me  paraissent 
repondre  au  lemniscus  de  Gotische^  et  au  faisceau  de  Vin- 
fmidibiilum  de  Laurencet.  Car  d'abord  Gotische  dit  que  le 
lemniscus  parait  donner  l'origine  de  l'acoustiqiie  et  du 
trijumeau,  et  c'est  ce  qui  a  lieu  pour  le  faisceau  inferieur 
des  pyramides  posterieures;  ensuite  il  pretend  qu'il  se 
confond  avec  les  fibres  des  pyramides  inferieures,  et  c'est 
ce  qui  arrive  pour  le  cordon  late'ral.  Je  n'ai  rien  vu  qui 
put  justifier  la  description  quefait  Laurencet  de  la  termi- 
naison  de  son  faisceau  de  l'infundibulum,  pourvu  qu'on 
ne  suppose  pas  qu'il  y  ait  de'crit  les  fibres  qui,  du  fais- 
ceau inferieur  des  pyramides  posterieures,  descendent  dans 
les  lobes  inferieurs. 

Je  le  re'pete  du  reste,  je  crois  que  la  moelle  epiniere  des 
poissons  est  composee  de  quatre  cordons,  deux  superieurs 
et  deux  inferieurs,  qui,  en  s'epanouissant  en  membranes, 


192    NATUR WISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

ou  en  rayonnant  dans  la  substance  grise,  forment  le  cer- 
veau. 

Le  long  de  la  moelle  naissent  cinquante-huit  paires  de 
nerfs,  dont  dix  paires  appartiennent  ä  la  partie  cerebrale. 
Par  des  raisons  que  je  donnerai  apr^s  la  partie  descrip- 
tive,  nous  verrons  que  les  paires  cerebrales  re'pondent 
aux  nerfs  olfactif,  optique,  ociüo-moteur,  pathetique,  ab- 
ducteur,  trijiimeau,  acoiistique,  glosso-pharyngien,  vagiie 
et  hypoglosse. 

1.  Nerf  olfactif . 
Les  racines  de  1' olfactif  passent,  d'apres  Cuvier'^,  Serres 
et  Desmoulins^  sous  la  face  inferieiire  des  he'misph^res,  et, 
apres  avoir  concouru  ä  la  formation  de  leur  commissure, 
elles  se  continuent  immediatement  avec  le  pedoncule  de 
ces  lobes,  forme  exclusivement  par  les  pyramides  inferi- 
eures^.  Mais  le  raisonnement  que  je  viens  de  faire  ä  l'oc- 
casion  de  l'origine  du  nerf  optique,  applique  egalement 
ä  ce  nerf,  suffit  pour  rendre  douteuse  une  pareille  dispo- 
sition.  Voici  ce  que  j'ai  observe  de  positif:  ä  peu  de  dis- 
tance  des  hemispMres  l'olfactif  se  separe  en  deux  racines; 
l'interne,  beaucoup  plus  considerable  que  l'externe,  passe 
du  cote  interne  des  hemispheres  et  de  leur  pedoncule,  et 
forme  la  commissure  des  hemispheres.  La  racine  externe 
contourne  en  dehors  le  pedoncule  des  he'misph^res,  de 
Sorte  que  celui-ci  est  embrasse  des  deux  cotes  par  les 
deux  racines.  J'ai  vu  la  racine  externe  se  continuer,  de 
la  maniere  la  plus  e'vidente,  avec  le  faisceau  qui  se  rend 
des  pyramides  poste'rieiu-es  au  pedoncule  des  hemispheres. 
Je  ne  doute  pas  que  la  meme  disposition  n'ait  lieu  aussi 
pour  l'autre  racine. 

Les  racines  s'unissent,  au  devant  des  hemispheres,  en  un 
large  ruban  plat,  mince,  et  forme  de  fibres  paralleles. 
L'olfactif  se  dirige  en  avant  dans  la  cavite  du  cräne,  entre 

1  Histoire  naturelle  des  poissons.  —  2  Haller,  Opera  ininora,  t.  III, 
indique  trois  points  d'origine  pour  le  nerf  olfactif:  "///  omnino 
h'iplex  ne^'vi  olfactorii  sit  origo,  a  glandtda  pituitaria,  a  tuberculo 
inferiori  {^trigomi/n  fissu7?i  Gotische,  lobule  optique  Serres)  et  a 
sjipcriori  (hemispheres)."  Quant  ä  la  racine  provenant  de  son  tuber- 
cule  inferieur,  Haller  parait  d^signer  par  eile  les  p^doncules  des 
hemispheres. 


MEMOIRE  SUR  LE  SYSTEME  NERVEUX    193 

Les  bases  des  petites  alles  Cuvier  et  Bojanus  (grandes  ailes 
de  Mecket),  et  des  sphenoides  anterieiirs  Cuvier  (petites 
vXt's>MeckeI^  ^^rostrum  sphenoidaW^  Bojanus)^  et  se  renfle, 
Jerriere  le  grand  trou,  dans  l'ethmoi'de  Meckel  (entre  le 
frontal  anterieiir  et  l'ethmoi'de  de  Cuvier),  en  iin  ganglion 
Dblong,  grisatre  et  d'une  consistance  molle.  De  la  partie 
Interieure  de  ce  renflement  partent  des  filets  raous  qiii 
iraversent,  comme  par  iine  lame  criblee,  la  membrane 
Eibreuse  qui  bouche  ce  trou,  pour  se  rendre  aux  feuillets  de 
ia  pituitaire.  Le  nerf  olfactif  et  son  ganglion  sont  revctus 
par  la  pie-m^re  de  la  meme  mani^re  que  le  cerveau;  eile 
forme  im  tuyaii  dans  lequel  est  place  le  nerf,  sans  que  ses 
filets  soient  pourvus  de  gaines  particuli^res  de  nevril^me. 
Dans  le  Brochet  le  nerf  olfactif  se  comporte  d'une  ma- 
iiiere  bien  dififerente.  Scarpa'^  dejä  a  fait  remarquer  cette 
disposition.  II  n'y  a  pas  de  renflement  au  bout  du  nerf; 
mais  il  y  en  a  im  ä  son  commencement  au  devant  des 
hemisph^res.  Ce  renflement  communique  avec  les  hemi- 
spheres  par  im  court  pedicule  dispose  de  la  meme  maniere 
que  le  nerf  olfactif  des  Cyprins.  De  sa  partie  anterieure  sort 
le  nerf  olfactif,  qui  devient  peu  ä  peu  plus  large  vers  sa 
terminaison,  ses  fibres  formant  entre  elles  une  esp^ce  de 
plexus,  avant  de  se  porter  dans  les  narines.  Sastnicture  est 
analogue  ä  celle  des  autres  nerfs  cerebraux;  il  est  rond  et 
compose  de  faisceaux  paralleles  de  fibres  medullaires. 
D'apres  les  anatomistes  on  rencontre  l'une  ou  l'autre  de 
ces  dispositions  chez  tous  les  poissons,  selon  que  leur 
bulbe  olfactif  est  place  au  commencement  ou  ä  la  fin  du 
nerf.  On  pourrait  bien  demander  si  ce  que  Ton  appelle 
ordinairement  le  nerf  olfactif,  chez  les  poissons  qui  ont  le 
bulbe  olfactif  derriere  les  narines,  ne  serait  pas  plutot  un 
pedicule  long  qui  unirait  ce  renflement  au  cerveau;  tan- 
dis  que  le  nerf  olfactif  proprement  dit  serait  forme  par  les 
filets  qui  sortent  de  sa  partie  anterieure.  En  efifet,  le  nerf 
olfactif  des  anatomistes  se  comporte,  pour  sa  stnicture  et 
son  Insertion,  absolument  comme  le  court  pedicule  qui 
imit  les  bulbes  olfactifs  aux  hemispheres  chez  le  brochet, 

^  De  auciitu  et  olfactu. 


194    NATURVVISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

seulement  il  est  plus  long.  L'objection  faite  par  Gotische^ 
qui  pretend  que,  d'apres  cette  maniere  de  voir,  ime  partie 
du  cerveau  serait  en  dehors  de  la  cavite  du  cräne,  n'est 
pas  fondee.  Les  renflements  des  nerfs  olfactifs  des  Cyprins 
sont  places,  comme  je  Tai  dit,  derriere  une  membrane 
fibreuse,  qui  bouche  le  trou  par  lequel  passent  les  filets 
du  nerf  olfactif.  Scarpa  dejä  compare  cette  membrane, 
ä  cause  de  la  maniere  dont  eile  est  percee  par  les  filets 
de  l'olfactif,  ä  la  lame  criblee;  les  renflements  en  question 
se  trouvent  donc  au  dedans  de  la  cavite  cränienne, 

2.  Nerf  optique. 
De  quelle  partie  de  la  masse  cerebrale  provient  ce  nerf: 
Des  lobes    optiques,    d'apr^s   tous   les   anatomistes;  et, 
d'apr^s  tous  aussi^,  des  deux  feuillets  de  ces  tubercules. 
Cuvier  seul  ne  parle   que   du  feuillet  externe^.    Arsaky, 

1  Haller,  apres  avoir  toutefois  d^signe  encore  d'autres  points  d'ori- 
gine,  admet  pour  origine  generale  du  nerf  optique  les  deux  couches 
du  lobe  optique;  il  sexprime  en  ces  termes:  ''''  Earum  fibrarum  quae 
interio7'es  eae  ex  seiuicirculari  toro  (tubercules  anterieurs  de  la  cavite 
des  lobes  optiques]  natae,  quem  dicimus,  07nnes  in  nervum  optiaim 
coeunt.  Exterius  cjus7nodi  fibrae  ex  convexo  dorso  optici  thalami  (lobe 
optique)  in  ner^'i  optici  postei'iorem  radicem  colliguntur.  Nej-vus  op- 
ticus et  anferioi'i  stia  radice  ex  hoc  thalamo  prodit,  quae  vei'vis  olfac- 
toriis  vicina  adjacet;  et  altei-a  postei'iori,  majori,  quae  inter  tuber culum 
inferius  majusque  aiürorsum  tendit.  Pi'ior  radix  interiores  et  cavas 
thalami  partes  tenet,  haec  exteriora  et  dorsum^"^  Opera  minora,  t.  III, 
il  dit  que  dans  le  Cyp7-inus  Capito  et  Tinea,  et  dans  le  Trutta  alpina 
et  lacustris  le  nerf  optique  regoit  en  outre  une  racine  de  son  tuber- 
culu7n  i7iferius. —  Ca7-us,  dans  son  Manuel  d^ a7iato77tie  co7nparee,  me 
parait  admettre  la  meme  chose;  il  dit:  "  Vo7i  der  Decke  dieser  Seh- 
hügel 7tä77ilich,  einer  innerlich  schön  gestreif  te77  Ma)-khaut,  e7ttsp7'ingen 
zu  beiden  Seite7i  77iit  breite7i  ba7tda7-tige7i  lVurzeh2  die  Seh7ie7'ven^'' — 
Desmouli77s  dit  que  les  lames  plissees  du  nerf  optique  s'unissent  en 
partie  au  feuillet  interne,  qu'il  decrit  comme  une  ou  plusieurs  lames 
contournees  en  une  seule  volute. — Se?-res  pretend  avoir  vu  dans  le 
nerf  optique  les  memes  couches  que  dans  le  lobe  optique.  —  Gottsche 
assure  que  le  nerf  optique  est  forme  par  deux  faisceaux  de  la  svu"- 
face  du  lobe  optique  et  par  des  fibres  de  sa  partie  interne.  Chez  le 
Pleuro7iectes  Platessa  il  decrit  et  represente  d'ailleurs  un  faisceau  du 
fascia  lateralis  se  rendant  dans  ce  nerf.  —  -  Histoire  natu7'elle  des 
poissons:  «Les  fibres  de  la  couche  externe  des  lobes  creux  se  ren- 
dent  pour  la  plupart  au  nerf  optique;  mais  elles  concourent  ä  sa 
fonnation  avec  d'autres  fibres,  venues  les  unes  du  lobe  inferieur,  les 
autres  de  la  moelle  allongee,  quelques-unes  meme,  comme  il  est 
facile  de  le  voir  dans  les  Raies,  du  lobe  anterieur.» 


MEMOIRE  SUR  LE  SYSTEME  NERVEUX    195 

Desmaulins^  et  Cuvier  assurent  que  le  nerf  optique  re^oit 
d'ailleurs  des  fibres  des  lobes  inferieurs  ou  mamillaires. 
D'apres  Scrres^,  il  y  a  meme  des  fibres  des  pyramides 
inferieiires  qui  s'y  rendent.  Haller^  Carus  et  Gotische  nient 
au  contraire  que  des  filets  des  lobes  mamillaires  parvien- 
nent  aux  nerfs  optiques. 

Voici  ce  que  j'ai  observe  relativement  ä  ce  sujet. 
Le  nerf  optique  nait  du  feuillet  externe  du  lobe  optique, 
et  principalement  des  deux  rubans  medullaires  qui  bor- 
dent  ce  tubercule.  Gotische  caracterise  tres  bien  la  ma- 
niere  dont  se  comportent  ses  racines,  en  disant:  «Pour 
donner  une  idee  de  la  disposition  des  fibres  de  ce  nerf, 
on  pourrait  dire  que  le  nerf  optique  est  creuse  ä  sa  partie 
posterieure,  et  qu'il  embrasse  de  ses  racines  les  lobes  op- 
tiques.» Le  nerf  optique  regoit  en  outre  un  faisceau  du 
fascia  lateralis  de  la  maniere  dont  Gottsche  l'a  represente 
chez  le  Pleuronectes  Platessa.  Je  n'ai  pas  trouve  un  seul 
filet  qui  justifie  l'opinion  de  ceux  qui  pretendent  que  le 
nerf  optique  regoit  aussi  des  racines  du  feuillet  interne 
ou  de  rinterieur  du  lobe  optique.  L'arrangement  des  deux 
couches  de  ce  lobe,  que  j'ai  de'crit,  suffirait  ä  lui  seul  pour 
prouver  l'impossibilite  d'une  pareille  disposition.  Le  nerf 
optique  me  parait  appartenir  exclusivement  aux  cordons 
superieurs  de  la  moelle;  opinion  dont  la  justesse  est  en 
raison  de  ce  que  j'ai  avance  plus  haut,  sur  le  point  de 
depart  des  fibres  medullaires  de  la  couche  externe  des 
lobes  optiques.  Apres  son  origine  le  nerf  optique  con- 
tourne  de  haut  en  bas  le  pedoncule  des  hemispheres,  pour 
se  croiser,  au  devant  du  trigonmn  fissum^  avec  celui  du 
cote'  oppose,  auquel  il  est  uni,  avant  son  croisement,  par 
la  commissura  transversa  (Hallcr).  C'est  cette  commissure 
qui  sugge'ra  ä  Haller  l'opinion  que,  pour  l'acte  de  la  Vi- 
sion, il  fallait  une  union  particuliere  des  deux  nerfs  op- 
tiques; eile  est  placee  immediatement  au  devant  du  tri- 

1  Ouvr.  cite,  t.  ler^  p.  334:  «Dans  les  oiseaux,  les  reptiles  et  les 
poissons  il  n'y  a  pas  une  seule  fibre  qui  s'insere  ailleurs  qu'au  lobe 
optique  et  ä  son  renflement  inferieur  ou  mamillairo  — 2  Ouvr.  cite, 
t.  jer^  p.  309:  <:Independamment  de  cette  origine,  quelques  fais- 
ceaux  des  pyramides  se  continuent  immediatement  dans  le  nerf 
optique.» 


196    NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

gonum  ßsswn.  Gotische  la  decrit  comme  formee  de  deux 
faisceaux,  places  l'iin  au  devant  de  l'autre,  et  dont  le 
posterieur  s'unit  2.Vi  fascia  latej-alis;  tandis  que  l'anterieur 
forme  la  commissure  des  nerfs  optiqiies.  Je  puis  confirmer 
la  justesse  de  cette  description,  et  y  ajouter  que  de  la 
bände  postdrieure  partent  deux  faisceaux  meduUaires  qui 
se  rendent  au  trigonumfissiun.  L'entrecroisement  des  nerfs 
optiques  est  complet.  Immediatement  apr^s  cet  entre- 
croisement  ils  re^oivent  une  gaine  fibreuse  du  pdrioste, 
qui  se  continue  avec  la  sclerotique;  ils  sont  formes  de 
faisceaux  assez  gros,  composes  de  fibres  medullaires  pa- 
ralldes. 

Le  nerf  optique  entre  dans  l'orbite  par  un  trou  de  la  base 
de  la  petite  aile  [Cuvier).  L'endroit  oü  il  penetre  dans  le 
globe  de  l'oeil  ne  repond  pas  ä  l'axe  de  cet  Organe;  mais 
il  est  place  plus  en  dehors.  II  penetre  par  un  trou  de  la 
sclerotique,  se  dirige  un  peu  vers  Taxe  de  l'cßil,  entre  les 
feuillets  de  la  membrane  choroi'de,  et,  apres  s'etre  aplati 
en  bände,  il  s'epanouit  pour  former  la  retine  qui  rayonne 
en  partant  d'une  ligne  dirige'e  dans  le  sens  de  Taxe  de 
l'oeil.  La  Carpe  presente  sous  ce  rapport  une  disposition 
dififerente  :  la  retine  rayonne  d'un  point,  au  lieu  d'une 
ligne,  le  nerf  optique  gaxdant  sa  forme  ronde.  II  est  fa- 
cile,  comme  le  dit  CaruSj  de  se'parer  la  retine  en  deux 
feuillets,  externe  et  interne;  ce  dernier  seulement  montre 
des  fibres  apparentes  rayonnant  vers  la  pe'ripherie.  La 
retine  n'est  pas  plisse'e. 

3.  Nerf  oculo-motcur. 
II  nait,  d' apres  tous  les  auteurs,  des  pyramides  anterieures, 
pres  de  la  ligne  mediane,  derriere  les  lobes  inferieurs. 
Carus  pretend  en  avoir  suivi  une  fois,  chez  le  Brochet,  la 
racine  jusque  dans  le  torus  anterieur.  J'ai  trouve  le  point 
d'insertion  de  l'oculo-moteur  entre  les  deux  cuisses  de  la 
commisswa  ansulaia.  Si  l'on  compare  le  renflement,  situe 
au  devant  des  lobes  optiques,  aux  he'misph^res,  comme 
le  fönt  Arsaky,  Carus^  Tiedemaim,  Serres,  les  pyramides 
anterieures  forment  les  pedoncules  du  cerveau,  et  alors 
l'oculo-moteur  nait  absolument  de  la  meme  maniere  que 
chez  l'homme.  L'oculo-moteiu:,  apres  son  origine,  cache' 


MEMOIRE  SUR  LE  SYSTEME  NERVEUX    197 

d'abord  par  le  bord  posterieur  des  lobes  mamillaires,  les 
contoiirne  d'arri^re  eii  avant;  ensuite  il  se  place  au  cote 
interne  du  ganglion  du  trijumeau,  et  traverse  la  petite  aile 
du  sphenoi'de  {Ciivier)^  en  passant  par  un  trou  particulier, 
creuse  pres  du  bord  posterieur  de  cet  os,  tout  pr^s  du 
canal  que  traverse  le  nerf  maxillaire  inferieur.  II  se  dis- 
tribue  exactement  aux  memes  muscles  de  l'cpil  (jue  chez 
rhomme. 

Le  globe  de  l'ceil  re^oit-il  des  tilets  de  la  troisieme  pairer 
Desmoidins  le  nie.  D'apres  lui  il  n'y  a  que  l'ceil  des  Raies 
et  des  Pleuronectes,  poissons  dont  l'iris  est  pourvu  d'une 
Sorte  de  palmette  mobile,  qui  re^oive  des  filets  de  la 
troisitoie  paire;  tandis  que  tous  les  yeux  pourvus  de  glan- 
des  choroi'diennes,  regoivent  un  ou  plusieurs  filets  de  la 
brauche  ophthalmique  de  la  cinquieme  paire,  en  propor- 
tion  du  volume  de  cet  appareil  vasculaire.  Cuvier  dit  au 
contraire:  «La  troisieme  paire  pen^tre  aussi  dans  l'inte- 
rieur  du  globe,  et  donne  les  filets  de  sa  membrane  cho- 
roide.»  Haller^  parle  de  nerfs  ciliaires  chez  le  Saumon  et 
chez  le  Brochet:  '•'Sahno:  Una  cum  hoc  vasculo  campanulam 
nervHS  ciliaris  adit,  qui  prope  i?tgressu7ti  nervi  optici  tuni- 
cam  scleroticam  perforat.  —  Esox :  Nervus  ciliaris^  comes 
nervi  optici  wucus.^''  Muck  et  Tiedemami  trouverent  chez 
le  Salmo  Hucho  des  nerfs  ciliaires  fournis  par  Toculo- 
moteur  et  l'ophthalmique,  et  qui  s'anastomosent  en  partie; 
chez  la  Car])e  ils  en  observerent  qui  venaient  de  l'oculo- 
moteur  seul.  D' apres  les  recherches  de  Schlemm^  les  pois- 
sons ne  se  distinguent  pas  des  autres  vertebres  sous  le 
rapport  des  nerfs  ciliaires.  II  trouva  en  ge'ne'ral  les  deux 
racines  ordinaires^.  Voici  ce  que  j'ai  observe: 
Apres  avoir  donne  les  filets  aux  muscles  droit  interne  et 
droit  infe'rieur,  l'oculo-moteur  s'anastomose  avec  un  filet 
de  l'ophthalmique;  apres  quoi  il  se  renfle  d'une  maniere 
presque  imperceptible,  et  envoie  au  globe  de  l'oeil  un  filet 
tres  fin,  qui  penetre  dans  cet  organe  pres  de  Tentree  du 
nerf  optique,  au  meme  endroit  que  les  vaisseaux  de  l'ceil. 
Ce  filet  contourne  en  partie  le  nerf  optique,  se  dirige  en 

1  Opera  minora,  t.  III,  Pisciwn  oculi.  —  2  Müller,  Handbuch  der 
Physiologie,  t.  Jer,  vol.  3,  p.  766. 


198    NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

avant  entre  les  deiix  feuillets  de  la  choroi'de,  et  se  divise 
en  deiix  filets  qiii  se  distribuent  dans  Piris,  en  divergeant. 
Chez  la  Carpe  la  distribution  de  la  troisieme  paire  est  ab- 
solument  la  meme.  Chez  le  Brochet  la  troisieme  paire 
traverse  la  membrane  fibreuse,  qui  remplace  en  grande 
partie  la  petite  aile;  du  reste  eile  se  comporte  de  la  meme 
maniere  que  chez  les  Cyprins,  seiüement  eile  est  plus  vo- 
lumineuse,  circonstance  qui  coincide  avec  la  nature  car- 
nassiere  de  ce  poisson.  Le  nerf  ciHaire  est  plus  facile  ä 
suivre  que  chez  les  Cyprins. 

Le  filet  fourni  ä  l'iris  par  la  troisieme  paire.  contredit  tout 
ce  qu'on  a  avance  sur  l'immobilite  de  cet  Organe  chez  les 
poissons;  en  efifet,  comment  supposer  qu'un  nerf  emi- 
nemment  moteur  dans  les  classes  precedentes,  moteur 
aussi  dans  celle-ci,  ait  change  de  nature  dans  ce  seul 
filet?  11  n'y  a  jusqu'ä  prdsent  que  RoseiithaP-^  que  je  sache, 
qui  ait  attribue  ä  l'iris  des  poissons  un  mouvement,  quoi- 
que  tres  faible.  Les  experiences  que  j'ai  faites  pour  m'e- 
clairer  sur  cette  question,  ne  m'ont  point  encore  donn^ 
de  resultats  suffisants;  cependant  je  puis  assurer  que  j'ai 
vu  le  diametre  de  la  pupille  change,  apres  avoir  remis 
dans  l'obscurite  le  poisson  dans  l'ceil  duquel  j'avais  fait 
tomber  une  vive  lumi^re  ä  l'aide  d'une  lentille. 

4.  N'erf  patMtique. 
Serres  pretend  que  le  nerf  pathetique  nait  de  la  face  su- 
pdrieure  du  cerveau,  entre  la  base  du  cervelet  et  le  bord 
posterieur  des  lobes  optiques,  ä  l'endroit  qui  re'pond  ä  la 
valvule  de  Vieussens.  Gotische  dit  la  meme  chose.  Serres 
fonde  en  grande  partie  sa  determination  des  lobes  opti- 
ques  sur  cette  origine;  et  Carus"^,  la  supposant  la  meme 
dans  les  poissons  que  dans  les  autres  classes,  en  deduit 
sa  loi  generale  de  la  formation  de  la  quatri^me  paire. 
Desmoulins,  au  contraire,  soutient  que  cette  disposition 
ne  se  rencontre  que  chez  les  Raies  et  les  Squales;  tan- 
dis  que  chez  tous  les  poissons  osseux,  y  compris  les  Cy- 
clopteres,  les  T^trodons,  les  Baudroies  et  les  Esturgeons, 
la  quatri^me  paire  s'ins^re  ä  l'autre  extremitd  du  meme 

^  Zergliederung  des  Fischauges,  Reih  Archiv^  T.  VII,  Heft  III. — 
^    Von  den  Urteilen  des  Knochen-  und  Schalengerüstes. 


MEMOIRE  SUR  LE  SYSTEME  NERVEUX    199 

(liametre  de  la  moelle,  c'est-ä-dire  ä  la  face  inferieiire 
du  Systeme,  toujours  sur  la  ligne  mediane,  de  maniere 
que  les  extremites  des  filets  d'insertion  du  nerf  d'un  cote, 
sont  contigues  ä  Celles  de  l'autre. 

Cuvier  se  ränge  de  Tavis  de  Scr?-es^  en  disant:  «Le  nerf 
de  la  quatrieme  paire  nait  en  arriere  des  lobes  creux  et 
des  tubercules  qu'il  renferme,  et  dans  le  sillon  qui  les 
separe  de  la  base  anterieure  du  cervelet,  quelquefois  un 
peu  sur  le  cote;  mais  non,  comme  on  Ta  dit,  tout-ä-fait 
en  dessous.» 

J'ai  trouve  {'Insertion  de  ce  nerf  sur  la  face  laterale  de  la 
moelle,  tout  pres  du  bord  externe  des  pyramides  antd- 
rieures,  un  peu  au-dessus  et  au  devant  de  la  racine  ante- 
rieure du  trijumeau.  Elle  est  plus  rapprochee  de  la  face 
infdrieure  du  cerveau  que  de  la  sup^rieure;  neanmoins,  a 
en  juger  d'apres  le  Barbeau  et  la  Carpe,  et  d'apres  le  Bro- 
chet,  Oll  eile  est  la  meme,  quoiqu'un  peu  plus  superieure 
encore,  je  ne  con^ois  pas  comva^nt  De s?nouIi?is  peut  parier 
d'une  contiguite  des  racines.  La  delicatesse  du  nerf  m'a 
empeche  de  suivre  sa  racine  dans  la  moelle;  mais  je  ne 
deute  pas  qu'elle  ne  vienne  des  pyramides  anterieures. 
Le  path^tique  est  place'  du  cöte  interne  du  ganglion  de 
la  cinquieme  paire;  il  sort  par  un  trou  de  la  petite  aile  du 
sphenoi'de;  presque  au  centre  de  cet  os.  Chez  le  Brechet 
il  traverse  la  membrane  fibreuse;  il  est  aussi  plus  volu- 
mineux  que  chez  les  Cyprins.  Comme  chez  Thomme,  le 
pathetique  se  rend  au  muscle  oblique  superieur,  et  avant 
d'y  entrer  il  se  divise  en  deux  filets. 
5.  Nerf  abducteur. 
Ce  nerf  nait  des  pyramides  anterieures,  entre  les  racines 
post^rieures  du  trijumeau,  dans  un  point  assez  rapproche 
de  la  Hgne  mediane;  je  lui  ai  vu  deux  filets  d'origine.  II 
se  dirige  aussitöt  en  dehors  pour  traverser,  avec  la  brauche 
maxillaire,  un  canal  propre  ä  ce  nerf,  entre  les  bases  de 
la  grande  et  de  la  petite  aile,  et  la  face  superieure  con- 
cave  du  corps  du  sphenoi'de.  II  se  rend  dans  la  partie 
posterieure  du  muscle  abducteur.  Cette  paire  est  tr^s  fine 
et  difficile  ä  suivre.  Je  crois  lui  avoir  trouve  une  anasto- 
mose  avec  le  grand  sympathique,  anastomose  qui  n'a  ete 


2  00     NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

constatee  pour  les  poissons,  jusqu'ä  present,  que  par  Cu- 
vier,  siir  la  Morue. 

6.  Le  trijumeau. 
Les  donnees  siir  Torigine  de  ce  nerf  sont  generalement 
vagiies.  On  se  contente  de  dire  qu'il  nait  du  cote  de  la 
moelle  allongee,  au  devant  ou  au-dessus  de  l'acoustique, 
au  devant  des  lobes  places  derri^re  le  cervelet,  au  devant 
des  cuisses  du  cervelet,  etc. 

Desmoulins  dit  en  outre  qu'il  nait  des  cordons  superieurs. 
Les  stries  medullaires  transverses,  que  Ton  voit  sur  le 
plancher  du  quatrieme  ventricule,  paraissent  ä  Cuvier  etre 
en  rapport  avec  les  racines  de  la  cinquieme  paire;  il  as- 
sure  d'ailleurs  qu'on  peut  suivre  les  racines  du  trijumeau 
dans  diverses  directions,  mais  sans  s'expliquer  davan- 
tage.  Serres  dit  que,  dans  toutes  les  classes,  le  trijumeau 
nait  par  deux  racines,  ä  la  maniere  des  nerfs  spinaux. 
Weber^  prononce  la  meme  opinion  ä  l'egard  des  poissons. 
Dans  un  me'moire^  qui  a  paru  plus  tard,  il  fait  provenir  le 
trijumeau  du  cervelet,  chez  la  Carpe,  mais  sans  y  parier 
de  deux  racines.  Gotische,  enfin,  dit  que  le  trijumeau  nait 
du  cordon  qu'il  appelle  lemnisciis,  et  qu'on  peut  en  suivre 
les  racines  dans  la  moelle  jusqu'au-delä  du  quatrieme 
ventricule. 

Le  trijumeau  nait  des  parties  laterales  de  la  moelle  par 
deux  racines,  une  anterieure  et  une  posterieiu^e.  L'ante- 
rieure  s'ins^re  tout  pr^s  du  bord  externe  des  pyramides 
ante'rieures,  ä  l'endroit  oü  celles-ci  se  contournent  en 
dehors  pour  se  rendre  aux  couches  optiques.  Dans  l'in- 
terieur  de  la  moelle  ses  filets  passent  derriere  le  faisceau 
inferieur  des  pyramides  posterieiures,  en  se  dirigeant  en 
bas  et  en  arriere,  et  se  rendent  aux  pyramides  anterieures. 
La  racine  posterieure  surpasse  de  beaucoup  en  volume 
l'ante'rieure;  eile  s'insere  plus  en  arriere  et  en  haut  que 
celle-ci,  vis-a-vis  la  base  du  cervelet.  Ses  fibres  se  di- 

1  De  aure  et  audiUi,  p.  87:  ''^ Nervi  cerebrales,  frigeminus  et  vagus 
pisciwn,  more  nervortwi  spinaliuvi  chiabus  radicibus  incipiunt,  in 
ganglia  intumesamt,  etc^"^ — -  Meckels  Archiv,  1827:  ''Über  das  Ge- 
schmacks-Organ des  Karpfen  und  den  Ursprtnig  seiner  Nerven,  von 
E.  H.  Weber. 


MEMOIRE  SUR  LE  SYSTEME  NERVEUX    201 

rigent  en  haut  vers  cette  base,  et  en  arriere  le  long  de  la 
paroi  du  quatrieme  ventricule,  et  se  rendent  dans  le  fais- 
ceau  superiem-  des  pyramides  posterieures.  Les  filets  de 
la  racine  poste'rieure,  disposes  parallelement  ä  leur  sortie 
de  la  moelle,  commencent  aussitot  ä  s'entrecroiser,  en 
formant  uii  plexus  qui  constitue  un  ganglion  tres  consi- 
derable  et  d'une  forme  irreguliere,  dans  lequel  une  aug- 
mentation  de  substance  a  evidemment  Heu,  vu  que  pres- 
que  chacune  des  branches  qui  en  partent  surpasse  en 
volume  la  racine  du  ganglion,  La  racine  anterieure  est 
placee  ä  la  face  interne  du  ganglion,  le  long  de  son  bord 
anteriem^,  et  passe,  sans  se  meler  ä  ses  fibres,  dans  le  tronc 
d'oü  naissent  les  deux  rameaux  qui,  des  branches  du  tri- 
jumeau,  donnent  probablement  seuls  des  filets  moteurs; 
ces  rameaux  sont  le  maxillaire  inferieur  et  l'operculaire, 
donnant  les  filets  des  muscles  de  la  respiration  et  de  la 
mastication.  II  est  clair  que  le  ganglion  du  trijumeau  re- 
pond  au  ganglion  Gasseri,  et  que  ses  deux  racines  repon- 
dent  ä  la  grande  et  ä  la  petite  racine  du  trijumeau  de 
rhomme.  D'ailleurs  il  est  evident  que  Torigine  de  ce  nerf 
est  la  meme  que  celle  des  nerfs  spinaux,  seulement  eile 
se  fait  dans  une  proportion  de  volume  infiniment  plus 
grande. 

Du  bord  superieur  de  ce  ganglion  partent  deux  ou  trois 
filets  assez  fins,  qui  se  collent  contre  la  paroi  interne  de 
la  cavite'  cränienne,  et  qui  y  montent,  en  se  ramifiant  dans 
les  parties  membraneuses  et  dans  le  tissu  graisseux.  Ils 
forment  une  espece  de  plexus  plus  ou  moins  prononce 
chez  les  dififerents  individus,  et  semblable,  quoique  infini- 
ment moins  developpe,  ä  un  plexus  pareil  de'crit  et  des- 
sine  par  Weber,  sur  le  Si/urus  Glanis,  dans  l'ouvrage: 
De  aure  et  auditu. 

Ciivicr  compte  en  general  six  branches,  dans  lesquelles 
se  divise  la  cinquieme  paire  des  poissons  osseux:  trois 
d'entre  elles  repondent,  d'apres  lui,  aux  branches  oph- 
thalmique,  maxillaire  superieure  et  maxillaire  inferieure; 
tandis  que  les  trois  autres  sont  ichthyologiques  ou  pro- 
pres aux  poissons  seuls.  II  les  designe  sous  les  noms  de 
branches  occipitale,  operculaire  et  pte'rygo-palatine.  Des- 


202     NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

moulins^  au  contraire,  en  compte  cinq,  savoir:  l'ophthal- 
mique  de  Willis,  les  nerfs  maxillaires  superieur  et  infe- 
rieur,  et  les  branches  operculaire  et  ptdrygo-palatine 
(Ctivier)^  qu'il  appelle  spheixO-palatine;  le  nerf  occipital 
de  Cuvier,  dont  il  change  le  nom  en  pt^rygo- dorsal,  ne 
se  trouvant,  d'apres  lui,  que  chez  les  Gades  et  les  Siliires. 
Enfin,  Webef'^  a  trouve  chez  la  Carpe  iine  branche  toute 
particuliere,  sans  analogue  dans  les  autres  poissons,  et 
qiii  a  6t€  decouverte  plus  tard  aussi  dans  d'autres  Cyprins, 
par  Desmoulins  (loc.  cit.)  et  Bise  hoff  ^. 
Dans  le  Barbeau  et  la  Carpe  j'ai  vu  le  ganglion  du  triju- 
meau  se  diviser  en  cinq  branches,  que  j' appelle:  Ophthal - 
mique,  maxillaire  superieure  (branche  pterygo-palatine 
Cuvier^  sphdno-palatine  Dcsnioulins\  maxillaire  inferieure 
(branche  maxillaire  superieure  et  inferieure  Cuviertt  Des- 
moulins), operculaire  et  re'ciurente  (branche  propre  aux 
Cyprins,  decouverte  par  Weber). 

a.  V ophthahnique  de  Willis. 
Cette  branche  nait  du  bord  supdrieur  du  ganglion  du  tri- 
jumeau,  ses  filets  d'origine  se  prolongent  du  cote  interne 
de  ce  ganglion  en  deux  cuisses  divergentes,  entre  les- 
quelles  passe  la  racine  anterieure  du  trijumeau.  Aussitöt 
apres  son  origine  il  se  detache  de  son  bord  inferieur  un 
filet  qui  passe  par  le  canal  du  nerf  maxillaire,  et  qui,  apr^s 
avoir  envoye  un  filet  de  communication  ä  la  troisieme 
paire,  se  dirige  en  avant  entre  les  muscles  droit  supe- 
rieur et  droit  externe,  et  pen^tre  dans  le  globe  de  l'oeil  ä 
quelques  lignes  au  devant  du  nerf  optique;  il  perce  la 
scldrotique,  se  dirige  vers  l'iris  entre  le  feuillet  externe 
de  la  choroi'de  et  la  sclerotique,  et  se  divise  en  deux 
filets,  qui  embrassent  en  grande  partie  le  contour  de  l'iris, 
en  se  ramifiant  le  long  du  bord  externe  de  cette  mem- 
brane.  Ce  fait  suffit  pour  prouver  c[\\e  Desmoulins  fait  de- 
pendre  ä  tort  les  filets  ciliaires  de  Pophthalmique  de 
l'existence  de  la  glande  choroi'dienne.  J'ai  trouve  la  meme 
disposition  sur  la  Carpe  et  sur  le  Brochet;  l'oeil  de  ces 
poissons  re^oit  donc  des  filets  des  memes  nerfs  que  celui 

1  De  aure  et  auditti.  —  2  Js^gy^i  accessorii  Willisii  anatomia  et phy- 
siologia. 


MEMOIRE  SUR  LE  SYSTEME  NERVEUX    203 

de  l'homme;  meme  l'anastomose  de  la  troisieme  paire 
avec  rophthalmique  nous  rappeile  le  ganglion  ciliaire. 
Du  bord  superieiir  de  rophthalmique,  aussitot  apr^s  son 
origine,  ou  meme  encore  du  bord  superieur  du  ganglion 
du  trijumeau,  nait  un  filet  qui  monte  en  formant  une  ar- 
cade,  de  la  convexite  de  laquelle  partent  des  filets  pour 
la  paroi  interne  du  cräne.  Ce  rameau  s'unit  de  nouveau 
ä  rophthalmique  au  moment  oi^i  ce  nerf  sort  du  cräne; 
quelquefois  cette  union  n'a  pas  lieu,  et  il  traverse  alors  la 
petite  alle  par  un  trou  particulier  et  donne  les  filets  or- 
bitaires.  L'ophthalmique  passe  par  la  petite  aile  du  sphe- 
noide,  ä  travers  un  trou  situd  pr^s  du  bord  superieur  et 
posterieur  de  cet  os,  et  traverse  l'orbite  le  long  de  sa 
paroi  superieure,  en  donnant  des  filets  au  tissu  graisseux 
et  aux  parties  membraneuses  qui  entourent  le  globe  de 
l'oeil;  puis  il  passe  par  un  canal  entre  la  face  inferieure  du 
frontal  et  la  face  superieure  du  frontal  anterieur  Cuvier 
(ethmoide  Meckel\  et  se  divise  en  deux  filets,  un  supe- 
rieur et  un  inferieur,  qui  contournent  la  narine  en  don- 
nant des  filets  ä  son  bord,  et  d'autres  qui  penetrent  dans 
l'organe  meme.  Je  me  trouve  donc  de  nouveau  en  Oppo- 
sition avec  Desnioulins^  qui  nie  ce  fait,  contrairement  ä 
Scarpa  et  ä  Monro.  Ces  deux  filets  se  dirigent  apr^s  vers 
le  museau,  oü  ils  se  perdent;  l'inferieur  s'anastomose 
avec  la  brauche  maxillaire  superieure.  Chez  la  Carpe,  les 
filets  de  rophthalmique,  qui  se  rendent  au  tissu  graisseux 
du  cräne  et  ä  l'orbite,  sont  plus  developp^s  que  chez  le 
Barbeau. 

b.  Le  maxillaire  supirieur. 
II  se  detache  du  bord  inferieur  et  interne  du  ganglion, 
passe  par  un  canal  forme  par  la  face  superieure  convexe 
du  Corps  du  sphenoide  et  les  bases  de  la  grande  et  de  la 
petite  aile,  se  dirige  le  long  de  la  paroi  interne  de  l'orbite, 
passe  entre  le  frontal  anteriem-  et  le  palatin  {'■'•os  supra- 
maxillare''^  Boja)ius\  longe  le  vomer,  et  forme  une  sorte 
de  plexus  avec  un  rameau  du  nerf  maxillaire  inferieur.  De 
ce  plexus  sortent  trois  branches  pour  les  deux  barbillons 
et  pour  la  levre  charnue,  le  long  de  Tos  intermaxillaire. 
Celle  du  barbillon  superieur  passe  par  un  trou  creuse  ä 


204    NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

Pextrt^mite  interne  de  l'os  maxillaire  siiperieur,  qui  parait 
repondre  au  troii  sous-orbitaire.  Apres  le  nerf  maxillaire 
inferieur,  la  branche  maxillaire  superieiire  est  la  plus  vo- 
lumineuse  de  celles  du  trijumeau. 

c.  Le  maxillaire  inßiieur. 

Ce  nerf  se  separe  du  ganglion,  de  son  bord  anterieur,  et 
traverse  le  cräne  par  un  canal  entre  le  bord  anterieur  de 
la  gi-ande  et  le  bord  posterieur  de  la  petite  aile.  Apr^s 
un  court  trajet  ä  travers  le  fond  de  l'orbite,  il  se  divise 
en  deux  branches;  la  superieure,  designee  ordinairement 
comme  nerf  maxillaire  superieur  par  les  anatomistes,  se  di- 
rige  en  haut  en  formant  une  arcade  le  long  des  appareils 
palatin  et  pterygoidien.  Apres  avoir  envoye  un  ou  deux 
filets  au  museau,  eile  forme,  avec  le  nerf  maxillaire  supe- 
rieur, le  plexus  ci-dessus  decrit. 

L'autre  branche  du  nerf  maxillaire,  comparee  par  les  ana- 
tomistes au  nerf  maxillaire  inferieur,  se  dirige  en  bas, 
donne  un  fort  rameau  au  muscle  crotaphyte  et  un  autre 
aux  environs  du  barbillon  inferieur,  et  se  place,  enfin,  du 
cote  interne  de  Fos  maxillaire  inferieur:  la  eile  se  divise 
en  deux  rameaux;  le  superieur  traverse  un  trou  dans  la 
moitie  anterieure  de  Tos  maxillaire  inferieur,  trou  qui  re- 
pond  au  trou  mentonnier,  et  se  distribue  dans  la  levre 
inferieure.  Le  rameau  inferieur  forme  un  petit  plexus  avec 
les  filets  les  plus  anterieurs  de  la  branche  operculaire,  et 
donne  des  filets  ä  la  membrane  buccale.  De  ce  plexus 
part  un  filet  pour  le  muscle  genio-hyoidien  (Cuvie?'). 

d.  La  branche  operculaire. 

Elle  nait  du  ganglion,  derriere  la  maxillaire  inferieure,  et 
sort  du  cräne  par  un  trou  de  la  grande  aile,  divise  en 
deux  par  une  petite  lame  osseuse;  division  qui  fait  que  le 
nerf  parait  naitre  du  ganglion  par  deux  racines;  aussitot 
ce  nerf  re^oit,  par  son  bord  poste'rieur,  la  branche  de 
communication  du  grand  sympathique,  et  envoie  en  ar- 
riere  un  long  filet  destine  aux  muscles  de  la  respiration, 
savoir  aux  muscles  de  l'opercule  et  de  Tappareil  tympa- 
nique.  Ce  filet  s'anastomose  ensuite  avec  un  filet  du  nerf 
vague,  pour  s'epanouir  sur  la  membrane  qui  revet  la  face 
interne  de  l'opercule.    Du  bord  anterieur  de  la  branche 


MEMOIRE  SUR  LE  SYSTEME  NERVEUX    205 

operculaire  se  detache  un  autre  filet  pour  le  grand  muscle 
dilatateur  de  l'appareil  pterygo-tympanique,  qui  est  par 
cela  un  des  plus  puissants  muscles  respirateurs.  Ensuite  le 
nerf  operculaire  s'engage  dans  un  canal  de  Vos  quad?'atum^ 
reparait  sur  la  joue,  donne  un  filet  qui  parait  se  perdre 
dans  le  crotaphyte,  mais  qu'on  peut  suivre  aisement  ä 
travers  les  fibres  de  ce  muscle,  dans  la  membrane  de  la 
joue,  et  se  divise  enfin  en  trois  branches;  l'anterieure 
forme,  avec  le  nerf  maxillaire  inferieur,  le  plexus  dejä 
decrit,  et  les  deux  pcsterieures  se  distribuent  aux  muscles 
de  la  membrane  branchiost^ge:  un  de  leurs  filets  parvient 
aussi  jusqu'au  plexus. 

e.  La  branche  rhwrente. 
D'apres  les  faits  connus  jusqu'ä  present,  la  branche  re- 
currente  parait  etre  propre  exclusivement  aux  Cyprins. 
C'est  Webei'  qui  l'a  decrite  le  premier,  dans  son  ouvrage 
De  mi7'e  et  auditu.  Voici  ce  qu'il  en  dit:  ''/?/  Cyprino  Car- 
pione  nervus  trigeminus  ramiim  a-assum  siib  nervo  acustico 
traiiseiintem  ret?vrsimi  ablegat,  qui  in  basi  cranii  in  ma- 
gnum  gangUon  ameduUa  ob  longa  ta  tectwn  intumesccns  quin- 
qtie  raniis  of'igi?ie?n  dat:  a  et  b,  diw  ra7jii  ad  sacciim^  basi 
ossis  occipitis  abditum^  alter  ad  anteriorem,  alter  ad  poste- 
riorem loculum  descendimt\  c,  tertius  in  ampt/llam  canalis 
posterioris  insiniiatur;  d,  quartus  ratniis  musculis  branc/iia- 
rum  desti7iatus,  denuo  finditur,  alter  eniin  ejus  7'amus  per 
propriu77i  cranii  forame7i,  juxta  ostium  7iervi  vagi  positmn^ 
alter  per  ide77i  ostium  cu77i  nervo  vago  e  cranio  editur;  e,  quin- 
tus  sub  nervo  vago  tra7isie7ts,  atque  adforamen  77iag7iU7n  la- 
terale ossis  occipitis  ve7iiens^  cu7n  7iervo  hypoglosso  a  7nedulla 
oblo7igata  incipiente^  duabus  7'adicibus  co/iju/igitur.^' 
Des)7iouHns  ajoute,  que  la  branche  recurrente  communi- 
que  avec  sa  congen^re  par  une  commissure  transversale, 
un  peu  plus  mince  qu'elle-meme,  et  qui  passe  sans  ad- 
herence  sous  la  moelle  en  arri^re  des  eminences  mamil- 
laires;  et  que,  chez  le  Barbeau,  eile  fournit  le  nerf  ante- 
rieur  de  la  premi^re  branchie  (le  glosso-pharyngien  C^ivier). 
II  donne  en  outre,  de  l'origine  du  nerf  recurrent,  qu'il 
regarde  comme  un  embranchement  de  la  branche  spheno- 
palatine,  une  description  un  peu  singuli^re.    La  voici: 


2o6    NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

«La  quatrieme  branche  (la  spheno-palatine)  est  la  plus 
infdrieure  de  toiites  pour  son  Insertion  et  son  trajet  dans 
le  cräne  ou  ä  travers  les  os  de  la  tete.  Dans  le  genre 
Cyprin  eile  offre  dans  le  cräne,  sous  Tencephale,  une  dis- 
position  Sans  exemple  dans  les  vingt-neuf  autres  genres 
de  poissons  que  j*ai  pu  examiner;  au  lieu  de  converger 
vers  l'encephale,  pour  y  terminer  leurs  fibres,  soit  par 
insertion,  soit  par  continuite,  les  deux  nerfs  de  cet  em- 
branchement  de  la  cinquieme  paire,  parvenus  au  contact 
de  la  base  du  quatrieme  ventricule,  oü  ils  sont  beaucoup 
renfles,  se  reflechissent  en  dehors,  redeviennent  paralleles 
sous  forme  d'un  fuseau  qui  va  toujours  en  diminuant,  et 
se  dirigent,  sans  y  adherer,  sous  l'insertion  meduUaire 
du  ganglion  pneumo-gastrique,  jusqu'ä  la  racine  infe- 
rieure  du  premier  nerf  spinal,  qui  n'en  est  que  la  conti- 
nuation.» 

Bischoff  (loc.  cit.)^  enfin,  ne  contredit  pas  ses  predeces- 
seurs;  mais  il  ajoute  quelques  details  ä  leurs  descriptions, 
en  disant  que  chez  la  Carpe  le  rameau  de  la  brauche  re- 
currente,  qui  s'unit  ä  Thypoglosse,  est  divise  en  deux,  et 
qu'il  donne  un  rameau  au  ganglion  du  nerf  vague. 
En  resumant  donc  les  faits  donnes  par  les  auteurs  cite's, 
nous  aurions  une  branche  de  la  cinquieme  paire  recur- 
rente  au  dedans  de  la  cavite  cränienne,  s'anastomosant 
avec  le  nerf  vague,  remplagant  enpartie  ce  nerf  etl'acous- 
tique,  donnant  une  des  racines  de  Thypoglosse  et  for- 
mant,  enfin,  une  com.missure  sous  la  moeile;  branche  qui 
ä  eile  seule  suffirait  pour  rendre  impossible  chaque  theorie 
rationnelle  du  Systeme  nerveux.  Mes  observations  ce- 
pendant  ne  sont  pas  d'accord  avec  celles  que  je  viens  de 
citer;  la  disposition  si  singuliere  de  cette  branche  devient, 
d'apres  ce  que  j'ai  vu,  beaucoup  plus  simple. 
Du  bord  posterieur  et  inferieur  du  ganglion  du  trijumeau 
nait  une  forte  branche  dirige'e  en  arriere  dans  1' Interieur 
de  la  cavite  cränienne  et  divisee,  aussitöt  apr^s  son  ori- 
gine,  en  deux  rameaux.  Le  supe'rieur  est  le  plus  volumi- 
neux,  il  passe  le  long  de  la  moeile  allongee  dont  il  couvre 
le  bord  inferieur,  monte  un  peu  en  haut  et  s'unit  au  gan- 
glion du  nerf  vague,  dont  il  forme  le  bord  superieur,  et 


MEMOIRE  SUR  LE  SYSTEME  NERVEUX    207 

(lont  il  parait  etre,  au  premier  aspect,  la  racine  supe- 
rieure.  Ses  fibres  entrent  en  partie  dans  le  plexus  de  ce 
ganglion,  et  se  rendent  pour  la  plupart  dans  la  grande 
branche  late'rale  du  nerf  vague.  Ces  demieres  se  distin- 
guent  facilement  par  leur  direction,  elles  forment  un  fais- 
ceau  compose  de  fibres  paralleles  et  bordant  le  ganglion 
d'un  ruban  assez  large,  sous  le  bord  infe'rieur  duquel  sor- 
tent  ä  angle  droit  les  filets  qui  forment  le  plexus  nerveux 
qui  constitue  le  ganglion.  Le  rameau  inferieur  marche  le 
long  de  la  face  inferieure  de  la  moelle,  s'unit  ä  son  con- 
ge'nere  par  une  commissure,  passe  sous  la  racine  infe'- 
rieure  du  nerf  vague,  et  s'unit  enfin  aux  deux  racines  dont 
nait  rhypoglosse  au  point  de  leur  reunion;  pendant  ce 
trajet,  il  donne  un  filet  ä  la  face  infdrieure  du  ganglion 
du  nerf  vague.  La  commissure  me  parait  sujette  ä  beau- 
coup  de  variations;  je  Tai  trouvee  dirige'e  tantot  dans  un 
sens  oblique,  tantot  transversalement,  quelquefois  meme 
eile  m'a  paru  manquer. 

Les  nerfs  du  sac  et  de  l'ampoule  posterieure,  et  le  nerf 
de  la  premiere  branchie,  naissent  de  la  moelle  absolu- 
ment  comme  tous  les  autres  nerfs;  ils  ne  fönt  que  passer 
entre  les  filets  de  la  branche  re'currente  qui  couvre,  comme 
je  viens  de  le  dire,  la  partie  laterale  et  inferieure  de  la 
moelle.  II  est  facile  de  s'en  convaincre  quand  on  sort 
soigneusement  du  cräne  le  cerveau  avec  ses  nerfs,  ou 
quand  on  fend  le  cräne  et  le  cerveau  exactement  le  long 
de  la  ligne  mediane,  et  qu'on  fait  la  preparation  de  de- 
dans  en  dehors;  mais  en  separant.  le  cerveau  seul,  et  en 
laissant  le  re'current  sur  la  base  du  cräne,  comme  Weber 
l'a  repre'sente'  pour  la  Carpe,  on  dechire  Torigine  des 
nerfs  en  question,  et  ils  paraissent  provenir  du  recurrent; 
cependant,  en  regardant  de  plus  pres,  on  peut  se  con- 
vaincre du  contraire  meme  dans  cet  etat,  les  deux  nerfs 
du  sac  etant  places  comme  deux  rubans  libres  entre  les 
filets  du  recurrent.  Quant  au  nerf  que  Weher  a  vu  naitre 
du  recurrent  et  se  distribuer  aux  muscles  des  branchies, 
je  n'ai  rien  trouve  de  semblable  ni  sur  le  Barbeau,  ni  sur 
la  Carpe,  Je  pense  que  Weber  n'a  de'crit  dans  ce  nerf 
que  le  nerf  de  la  premiere  branchie  (le  glosso-pharyn- 


2o8    NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

gien  Cimer);  car  il  dit  qir  il  traverse  le  cräne  par  un  trou 
situe  pr^s  de  celui  du  nerf  vague.  Or,  il  n'y  a  pas  d'autre 
trou  possible  que  celui  du  glosso-pharyngien,  nerf  qui 
sort  du  cräne  precisement  au  devant  du  nerf  vague.  Des- 
moulins  n'aurait  donc  rien  ajoute  de  nouveau  en  disant 
que  le  nerf  de  la  premiere  branchie  du  Barbeau  nait  du 
trijumeau.  Chez  la  Carpe  le  re'current  se  comporte  de  la 
raeme  maniere  que  chez  le  Barbeau,  seulement  il  est 
moins  volumineux,  et  le  rameau  inferieur  est  divise  en 
deux  faisceaux  paralleles.  Gelte  division  se  trouve  aussi 
parfois  sur  le  Barbeau,  oü  toutefois  eile  est  moins  pro- 
noncee. 

Les  singularites  observe'es  sur  la  brauche  recurrente  se 
reduisent  donc  ä  son  trajet  dans  la  cavite  cränienne,  sa 
commissure  et  sa  reunion  avec  l'hypoglosse  et  le  nerf 
vague;  cette  derni^re  me  parait  etre  la  plus  importante; 
cependant  ni  Weber ^  ni  DesmouUns  n'en  parlent,  et  Bi- 
sc/wff'^  n'en  fait  qu'ä  peine  mention. 
Chez  le  Brochet  le  trijumeau  nait  egalement  par  deux 
racines,  une  anterieure  et  une  posterieure;  mais  il  n'y  a 
presque  pas  de  renflement  au  point  de  leur  reunion.  Sauf 
la  brauche  re'currente,  le  trijumeau  du  Brochet  pre'sente 
les  memes  rameaux  que  celui  des  Cyprins,  savoir:  l'oph- 
thalmique,  le  raaxillaire  superieur,  le  maxillaire  inferieur 
et  l'operculaire;  l'ophthalmique  est  tres  faible,  il  traverse 
la  membrane  fibreuse  qui  remplace  presque  entierement 
la  petite  aile,  donne  des  filets  orbitaires  et  se  divise  en 
deux  rameaux;  le  superieur  passe  au-dessus  du  frontal 
anterieur;  l'inferieur  traverse  cet  os,  ou  plutot  ce  carti- 
lage.  Les  deux  passent  ensuite  au-dessus  des  narines  et 
se  perdent  vers  le  museau;  d'ailleurs  il  y  a,  pour  ainsi 
dire,  un  ophthalmique  accessoire:  ce  filet,  aussi  volumi- 
neux que  l'ophthalmique  meme,   se  detache  du  tronc  du 

1  Ouvr.  cite:  '•'Oritur  enimhic  nerviis  in  Cyprino  Carpione  non  solum 
tribtis  radicihiis,  sed  qicatiior,  quarum  prima  eademque  maxima  e 
ganglio  trigejuini  oritur.  Secunda  mit  ipsa  oritur  a  trigeinino  et  ra- 
vmm  mitüt  ad  vagum,  aut  ramus  est  radicis,  quam  frigeminus  ad 
vagitm  porrigit^  Voila  tout  ce  qii'il  dit  de  cette  disposition.  II  n'en 
fait  pas  mention  pour  le  Barbeau,  oü  cependant  eile  est  beaucoup 
plus  apparente  que  dans  la  Carpe. 


MEMOIRE  SUR  LE  SYSTEME  NERVEUX    209 

trijumeau,  apres  sa  sortie  du  cräne,  s'anastomose  avec  la 
troisieme  paire,  donne  le  filet  ciliaire  de  Tophthalrnique, 
et  s'unit  enfin  au  rameau  superieur  de  rophthalmique. 
Le  maxillaire  superieur  ne  traverse  pas  de  canal  parti- 
culier  pour  sortir  de  la  cavite  du  cräne;  mais  il  passe  avec 
le  maxillaire  inferieur  par  le  meme  trou,  pres  du  bord  an- 
terieur  de  la  grande  aile.  II  se  dirige  en  haut  apres  avoir 
traverse  le  fond  de  l'orbite,  s'anastomose  avec  un  rameau 
de  la  brauche  maxillaire,  en  rappelant  ainsi  le  plexus  qu'il 
forme  chez  les  Cyprins,  passe  sous  le  bord  infe'rieur  des 
narines,  et  se  divise  en  deux  rameaux.  Le  superieur  marche 
le  long  du  vomer,  entre  le  palatin  et  le  frontal,  vers  le 
museau;  l'infe'rieur,  destine  aux  os  maxillaire  et  inter- 
maxillaire,  se  sous-divise  en  deux  filets  qui  repondent  ä 
ces  OS.  Le  maxillaire  superieiu:  est  beaucoup  moins  deve- 
loppe  que  chez  les  Cyprins,  circonstance  qui  coincide 
avec  l'absence  des  barbillons.  Les  branches  maxillaire, 
inferieure  et  operculaire  sont  les  memes  que  chez  les  Cy- 
prins, seulement  le  rameau  de  la  premiere,  regarde  ordi- 
nairement  comme  nerf  maxillaire  superieur,  est  peu  deve- 
loppe;  il  forme  l'anastomose,  mentionne'e  ci-dessus,  avec 
le  nerf  maxillaire  superieur. 

7 .  N'crf  acoustiqiic. 
L'opinion  de  Scarpa'^,  qui  regarde  l'acoustique  des  pois- 
sons  comme  une  branche  de  la  cinquieme  paire,  adoptee 
par  Ciivicr^  dans  les  «Le§ons  d'anatomie  comparee»,  et 
par  Serres,  a  ete  refutee  par  Trcviranus^  et  par  Desmou- 
lins.  Ce  dernier,  cependant,  veut  avoir  trouve  sur  les 
Raies  le  rapport  entre  le  trijumeau  et  l'acoustique,  Si- 
gnale par  Sca7fa\  mais  Weber  nie  aussi  ce  fait,  et  etablit 
rindependance  de  l'acoustique  du  trijumeau,  tant  pour 
les  poissons  cartilagineux,  que  pour  les  osseux. 
L'acoustique  s'anastomose-t-il  avec  les  autres  nerfs  ccre- 
brauxr   Cuvier^  et  Weber"^  parlent  d'une  anastomose  qui 

1  De  azidihi  et  olfactu.  —  ~  G.  R.  und  L.  C.  Trcviramis,  "Vermischte 
Schriften  \  t.  III. —  3  Histoire  naturelle  des  poissons:  Le  nerf  acous- 
tique  contracte  aussi  des  unions  avec  la  derniere  branche  de  la 
cinquieme  paire,  et  en  a  surtout  une  constante  avec  la  premiere 
branche  du  nerf  vague  ou  glosso-pharyngien  — *  IJW'er  la  re- 
presente  chez  le  Sihirus  Glanis  [De  aiire  et  auditti^. 


2IO    NATUR WISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

alieii  quelquefois  entre  l'acoustique  et  la  cinqui^me  paire. 
Scarpa^  Cuvier  et  Weber  signalent  d'ailleurs  une  anasto- 
mose  qu'on  trouve  toujoiirs,  selon  les  premiers,  quelque- 
fois seulement,  selon  le  dernier,  entre  l'acoustique  et  un 
nerf,  naissant  tantot  de  la  paire  vague,  tantot  de  la  moelle 
entre  ce  nerf  et  l'acoustique,  et  ddsigne  par  Cuvier  comme 
glosso-pharyngien.  Scarpa'^  ajoute  encore  que,  chez  tous 
les  poissons,  l'ampoule  du  canal  vertical  poste'rieur  regoit 
constamment  un  filet  re'sultant  de  cette  anastomose.  Des- 
inoulins  au  contraire  la  nie  pour  tous  les  poissons  qu'il  a 
disseques,  et  ne  la  constate  que  pour  les  Raies. 
Weher  avance  que  1' Organe  de  l'oui'e  est  pourvu  de  deux 
nerfs,  l'acoustique  et  un  autre  nerf,  qu'il  designe  comme 
auditif  accessoire  (auditorius  accessorius).  L'acoustique,  Se- 
lon cet  auteur,  nait  du  cerveau,  et  fournit  les  nerfs  aux 
deux  ampoules  ant^rieures  et  au  vestibule;  l'auditif  acces- 
soire, au  contraire,  nait  tantot  du  cerveau,  comme  chez 
les  Raies,  la  Lotte,  le  Brochet,  tantot  de  la  racine  ante- 
rieiure  du  nerf  vague,  comme  dans  le  Spams  Salpa,  le 
Scorpoe7ia  Scropha^  l'Uranoscope,  tantot  du  nerf  recurrent 
du  trijumeau,  comme  chez  les  Cyprins.  II  manque  dans 
les  Squales  et  dans  la  Torpille,  poissons  chez  lesquels 
c'est  l'acoustique  seul  qui  donne  les  filets  du  labyrinthe. 
L'ampoule  posterieure  et  le  sac  re^oivent  leurs  filets  de 
l'auditif  accessoire.  En  comparant  cette  description  des 
nerfs  de  l'ouie  ä  celle  des  autres  anatomistes,  on  trouve 
que  ce  singulier  accessoire  est  tantot  une  brauche  de 
l'acoustique,  et  tantot  le  glosso-pharyngien  Cuvier  (la 
^^portio  dura^^  de  Scarpd).  Les  observations  de  Breschet^, 
sur  le  nerf  acoustique  en  gene'ral,  confinnent  en  partie  la 
division  que  Weber  fait  subir  ä  l'acoustique.  II  dit:  «Quand 
on  (Studie  les  nerfs  auditifs  sur  les  animaux  dont  l'oreille 

1  Ouvr.  cite,  p.  19,  §  6.  '''■Propterea  et  in  sqtiamosis pisdlms  Organum 
audittts  immediatum  ex  diiplici  fit  nervoj'^mi  ordine,  et,  qtiod  ad- 
notatione  dignissimum  arbitramur,  tum  in  cartilagineis,  quam  in 
squamosis  piscibus  ampulla  canalis  semicircularis  posterioris  nervum 
recipit compositum  ex  filamentis portionis  mollis^  et  durae^ — ^  Annales 
des  sciences  naturelles,  t.  XXIX,  p.  325.  Etudes  anatomiques  et 
physiologiques  sur  l'organe  de  l'audition  dans  l'homme  et  les 
animaux  vertebres. 


MEMOIRE  SUR  LE  SYSTEME  NERVEUX    211 

interne  est  considerablement  developpee,  comme  dans  les 
grands  poissons,  on  observe  c^ii'ü  y  a  pour  chaque  la- 
byrinthe  deux  cordons  nerveux,  qui  se  trouvent  a  une 
certaine  distance  l'un  de  l'autre,  et  qui  tous  deux  prennent 
naissance  sur  le  cöte  de  la  moelle  allongee,  mais  separe- 
ment;  ce  sont  les  nerfs  auditifs  anterieur  et  posterieur. 
L'anterieur  donne  des  filets  aux  deux  ampoules  ante- 
rieures  et  au  sinus  median,  dans  lequel  se  trouve  la  con- 
cretion  calcaire  (vestibule).  Le  posterieiu*  envoie  un  filet 
ä  l'ampoule  posterieure,  et  fournit  des  filets  au  sac.» 
Les  racines  de  l'acoustique  s'inserent  sur  la  moelle,  im- 
mediatement  derri^re  la  racine  posterieure  du  trijumeau, 
sur  une  ligne  placee  un  peu  plus  bas  que  cette  racine; 
dans  la  moelle,  ses  fibres  montent  en  haut  au-dessous 
des  fibres  posterieures  de  la  racine  posterieure  du  triju- 
meau. Je  suis  parvenu  ä  les  poursuivre  jusqu'au  contour 
externe  du  tubercule  impair  et  ä  la  commissure  ant^rieure 
du  quatri^me  ventricule;  elles  naissent  donc  du  faisceau 
superieui-  des  pyramides  posterieures.  Les  racines  de  l'a- 
coustique, apres  leur  sortie  de  la  moelle,  forment  deux 
rubans  plats  et  larges;  le  superieur  monte  en  haut,  passe 
au-dessus  de  la  brauche  superieure  du  rameau  recurrent, 
et  donne,  pour  les  deux  ampoules  anterieures,  deux  filets, 
Tun  de  son  bord  anterieur,  l'autre  de  son  bord  posterieur; 
la  partie  du  nerf  comprise  entre  les  deux  bords,  se  sous- 
divise  aussitöt  en  un  grand  nombre  de  filets,  passe  au- 
dessous  du  vestibule  et  se  retiechit  en  haut  sur  sa  face 
ant^rieure,  pour  s'y  epanouir  en  une  membrane  nerveuse. 
Le  filet  de  l'ampoule  du  canal  vertical  anterieur  marche 
le  long  du  bord  externe  du  vestibule;  le  filet  de  l'ampoule 
du  canal  horizontal  se  reflechit  comme  les  nerfs  du  vesti- 
bule en  dessous  de  cet  Organe,  et  monte  1-e  long  de  sa 
face  externe  vers  son  ampoule. 

Le  ruban  posterieur  de  l'acoustique,  destine  au  sac  et  ä 
l'ampoule  posterieure,  se  sous-divise  aussitöt  en  deux 
faisceaux,  qui  descendent  entre  les  fibres  de  la  branche 
recurrente  et  se  repandent  tous  les  deux  sur  la  face  pos- 
terieure du  sac.  L'anterieur  va  au  loculus  anterio?-^  en 
cheminant  le  long  de  la  face  convexe  de  la  pierre  longue. 


212    NATURWISSf:NSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

Le  post^rieur  donne  d'abord  le  filet  de  rampoule  du  canal 
vertical  posterieur;  puis  il  se  ramifie  en  rayonnant  sur  le 
loculiis  posterior.  II  a  dejä  ete  constate  qu'il  n'y  a  pas  de 
contact  entre  les  filets  nerveux  du  vestibule  et  la  pierre 
de  cet  Organe.  Je  n'ai  pu  me  convaincre  que  pour  le  sac 
la  chose  se  fasse  d'une  autre  mani^re.  Je  n'ai  rien  vu,  en 
preparant  sous  Peau  et  en  me  servant  d'une  forte  loupe, 
qui  puisse  justifier  l'opinion  que  les  filets  nerveux  em- 
brassent  immddiatement  les  pierres  du  sac,  et  qu'ils  les 
tiennent  ainsi  presque  suspendues.  Le  tronc  du  nerf  est 
place  sur  la  face  externe  du  sac;  tandis  que  j'ai  vu  ses 
filets  penetrer  par  la  membrane  ext eri eure,  et  s'epanouir 
entre  cette  membrane  et  une  autre  membrane  tres  fine 
qui  tapisse  la  face  interne  du  sac,  et  qu'on  pourrait  aussi 
bien  comparer  ä  l'hyaloide  ou  ä  la  capsule  du  cristallin, 
qu'on  a  compare  les  pierres  de  l'oreille  aux  liquides  de 
I'oeil.  II  y  a  dejä  quelque  chose  d'etonnant  de  voir  les 
filets  nerveux  d'un  sens  si  delicat  entrer  dans  un  contact 
si  immediat  avec  une  concretion  inorganique.  Quant  ä 
la  mani^re  dont  se  terminent  les  nerfs  des  ampoules,  je 
trouve  tr^s  bien  fonde  ce  que  le  docteur  Steifensand  i, 
dans  un  memoire  public  dans  les  Archives  de  Miiller^  dit 
de  leur  disposition  dans  la  Carpe  et  le  Brochet. 
Chaque  nerf  ampoulaire  se  sous-divise  pr^s  de  l'ampoule 
en  deux  filets,  qui  se  rendent  au  pli  plac^  ä  la  base  de 
chaque  ampoule,  pour  penetrer  de  lä  dans  l'interieur  de 
cette  cavite,  de  chaque  cöte  du  septum,  decrit  d'abord 
par  Scarpa^  et  apr^s  par  Weber.  C'est  sur  ce  septum  et 
autour  de  lui  que  ces  filets  s'e'panouissent  en  une  pulpe 
nerveuse,  tr^s  delicate,  que  Steifensand  compare  ä  la 
retine. 

Je  n'ai  vu  l'acoustique  s'anastomoser  ni  avec  le  trijumeau, 
ni  avec  le  glosso-pharyngien. 

Chez  le  Brochet  l'acoustique,  ä  son  origine,  est  uni  inti- 
mement  ä  la  racine  posterieure  du  trijumeau;  il  se  divise 
dgalement  en  deux  faisceaux.  L'anterieur  est  destine  aux 
deux  ampoules  anterieures  et  au  vestibule;  le  posterieur 

1  V)itersuchiingen  über  die  Anipiillen  des  Getiörorgans;  Müllers  Ar- 
chiv, 1835,  11/2. 


MEMOIRE  SUR  LE  SYSTEME  NERVEUX    213 

marche  sur  la  face  posterieure  du  sac,  le  long  de  la  grande 
pierre,  et  se  divise  en  deiix  filets,  dont  riin  monte  vers 
rampoule  posterieure,  et  dont  l'autre  descend  sur  le  lo- 
culus  posterior.  II  n'y  a  pas  d'anastomose  avec  le  glosso- 
pharyngien.  Je  n'ai  rien  trouve,  ni  chez  les  Cyprins,  ni 
chez  le  Brochet,  qui  permette  d'admettre  Tauditif  acces- 
soire  de  Weber. 

8.  Le  glosso-pharyngicn. 
II  nait  immediatement  au  devant  du  lobe  du  nerf  vague, 
et  est  presque  contigu  ä  la  racine  superieure  de  ce  nerf, 
de  Sorte  que  Desmoulms  le  decrit  comme  la  premiere 
branche  du  nerf  vague.  Scarpa  (loc.  cit?)^  Camper'^,  Cuvier 
et  Treviranus  [loc.  cit.),  le  regardent  au  contraire  comme 
un  nerf  particulier;  les  deux  premiers  l'appellent  facial, 
les  deux  derniers  le  comparent  au  glosso-pharyngien. 
IVeber^^  enfin,  me  parait  le  decrire  chez  les  Raies  et  le 
Silurus  Glanis ^  comme  auditif  accessoire.  Cm-iis  nie  l'exis- 
tence  du  glosso-pharyngien  dans  les  poissons. 
Aussitot  apres  son  origine,  le  tronc  du  glosso-pharyngien 
s'engage  entre  les  filets  du  rameau  recurrent  qu'il  traverse 
de  haut  en  bas;  il  ne  contracte  aucune  anastomose  ni  avec 
ce  nerf,  ni  avec  le  filet  de  l'ampoule  posterieure,  qui  se 
degage  tout  pres  de  lui  du  rameau  recurrent;  il  traverse 
le  cräne  par  un  trou  de  Toccipital  lateral  (Cuvier).  Chez 
la  Carpe  ce  nerf  se  comporte  absolument  de  la  meme 
maniere;  rien  ne  justifie  ce  que  Desmoulins  dit  de  l'ori- 
gine  diffe'rente  de  ce  nerf  dans  ces  deux  poissons,  quand 

1  Kleine  Schf'ifteti.  —  -  Ouvr.  cite:  Nejinis  auditorhis  accessoj-itis. — 
^^Inter  netfuni  auditorium  et  vagum  alius  nerviis,  plerwnque  cum 
faciali  comparatus,  origmon  habet,  qiii  pej-  canaleju  sibi  proprhini 
inter  ampnllain  canalis  cartilaginei  posterioris  et  vestibuhii/i  situni  e 
cranio  exit.  Postquain  fihim  temiissiinnin  a  nervo  anditorio  accepit, 
rainum  satis  niagmim  ampullae  canaJis  semicircularis  posterioris  sup- 
peditat^'' — 3  Ouvr.  cite.  II  dit  que  chez  le  Silurus  Glanis  l'auditif 
accessoire  envoie  par  un  trou  particulier  du  cräne  une  branche  aux 
muscles  des  branchies.  Cettedescriptioncoincideavec  celle  qu'il  fait 
d'une  branche  des  Cyprins,  qui  d'apres  lui  nait  du  rameau  recurrent, 
et  que  j'ai  supposee,  par  des  raisons  que  j'ai  donnees  plus  haut,  iden- 
tique  au  glosso-pharyngien.  Pour  augmenter  encore  la  confusion 
qui  existe  dans  la  description  de  ce  nerf,  Weber,  dans  les  explica- 
tions  de  la  7^  planche,  nomme  trou  du  facial  le  trou  par  lequel 
passe  le  glosso-pharyngien. 


214    NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

il  avance  qiie  chez  le  Barbeau  le  glosso-pharyngien  nait 
du  rameau  recurrent,  et  par  consequent  de  la  cinqui^me 
paire;  tandis  qiie  chez  la  Carpe  il  provient  du  ganglion 
du  nerf  vague.  Dans  plusieurs  endroits  de  son  ouvrage  il 
invoque  cette  difiference  pour  argumenter  contre  ceux  qui 
essaient  d'etablir  une  uniformite  de  plan  dans  l'organisa- 
tion  des  etres;  et  certes  un  tel  manque  de  lois  dans  l'ori- 
gine  des  nerfs  dans  deux  poissons  places  si  pr^s  Tun  de 
l'autre,  viendrait  bien  ä  l'appui  de  son  raisonnement. 
Heureusement  pour  la  science,  l'observation  sur  laquelle 
il  fonde  ses  objections  les  refute  elle-meme.  11  est  arrive 
aux  plus  grands  naturalistes  de  se  tromper  dans  leurs  ob- 
servations;  mais  se  fonder,  dans  de  si  graves  questions 
scientifiques,  sur  des  faits  observes  avec  tant  de  legerete, 
c'est  nuire  ä  la  science,  surtout  (juand  il  etait  si  facile  de 
s'assurer  de  la  veritable  disposition  des  parties. 
Apres  sa  sortie  du  cräne  le  glosso-pharyngien  se  dirige 
en  avant,  se  renfle  en  un  ganglion  considerable  et,  pr^s 
de  Textremite  superieure  de  la  premiere  branchie,  se  di- 
vise  en  deux  raraeaux:  le  posterieur  se  comporte  absolu- 
ment  comme  un  nerf  branchial;  il  ne  traverse  pas  seule- 
ment  la  goutti^re  de  la  premiere  branchie,  comme  Wcbe?-^ 
l'assiu-e,  mais  il  en  longe  le  bord  anterieur  en  donnant 
aux  feuillets  respiratoires,  de  la  meme  mani^re  que  les 
autres  nerfs  branchiaux,  des  filets  qui  accompagnent  les 
ramifications  des  vaisseaux.  D'ailleurs,  la  premiere  bran- 
chie ne  re^oit  pas  d'autre  nerf  branchial  que  le  filet  du 
bord  posterieur,  commun  ä  toutes  les  branchies;  de  sorte 
que  le  glosso-pharyngien  forme  le  nerf  branchial  ante- 
rieur, plus  volumineux  que  le  posterieur,  comme  dans  les 
autres  branchies. 

A  l'extremite  inferieure  de  la  branchie  attachee  ä  Tos 
hyoi'de,  le  glosso-pharyngien,  devenu  assez  grele,  sort 
de  sa  gouttiere,  et  se  repand  le  long  du  cote  externe  du 
mdiment  de  la  langue.  Cette  ramification  cependant  ne 
le  fait  pas  differer  des  autres  nerfs  branchiaux,  qui  se  ter- 
minent  de  la  meme  maniere,  seulement  leurs  filets  lin- 
guaux  sont  plus  delies. 
1  Meckcis  Archiv,  1S27. 


MEMOIRE  SUR  LE  SYSTEME  NERVEUX    2 1 5 

La  branche  anterieure  duglosso-pharyngien  se  sous-divise 
aussitot  en  quatre  ou  cinq  rameaux,  qui  se  repandent  sur 
la  membrane  buccale,  dont  la  partie  posterieure  est  pour- 
vue  de  fibres  musculaires,  ce  qui  la  fait  ressembler  ä  ini 
pharynx;  les  plus  anterieurs  de  ces  filets  parviennent  jus- 
qu'au  museau. 

Chez  le  Brochet  le  glosso-pharyngien  nait  en  commun 
avec  la  racine  anterieure  du  nerf  vague,  dont  il  se  se'pare 
aussitot  pour  traverser  la  partie  poste'rieure  de  la  cavite 
du  sac,  et  pour  sortir  du  cräne  par  un  trou  perce  imme- 
diatement  au  devant  de  celui  du  nerf  vague;  il  n'est  quc 
simplement  juxtapose  ä  la  paroi  du  sac,  et  il  m'a  ete'  im- 
possible  d'apercevoir  une  anastomose  avec  les  nerfs  de 
cette  partie.  Le  glosso-pharyngien  du  Brochet  estunique- 
ment  destine  ä  la  premi^re  branchie;  il  n'y  a  pas  de 
branche  anterieure. 

9.  Le  nerf  vague. 
Parmi  les  anatomistes  que  j'ai  etudies,  Weber  seul  parle 
de  deux  racines  par  lesquelles  nait  le  nerf  vague,  ä  la 
maniere  des  nerfs  spinaux.  Chez  le  Brochet  j'ai  trouve 
cette  assertion  fondee:  le  nerf  vague  nait  par  deux  ra- 
cines; l'anterieure  s'insere  sur  le  bord  du  quatrieme  ven- 
tricule,  ä  l'endroit  qui  repond  aux  lobes  du  nerf  vague. 
La  poste'rieure  nait,  plus  en  arriere  et  en  bas,  bien  evi- 
demment  des  cordons  inferieurs  de  la  moelle.  Ces  racines 
ne  se  re'unissent  que  dans  leurs  trous  de  sortie  en  un 
ganglion  peu  considerable. 

Je  n'ai  pu  encore  etablir  d'une  maniere  positive  quelle 
est  la  disposition  de  ces  racines  dans  les  Cyprins;  j'en  ai 
vu  deux;  rinferieure  est  de  beaucoup  la  plus  considerable, 
eile  sort  de  la  base  des  lobes  du  nerf  vague,  et  on  voit 
ses  filets  medullaires,  sur  la  substance  grise  de  ce  renfle- 
ment,  se  repandre  comme  les  branches  d'un  arbre.  La 
superieure  nait  plus  en  haut  et  en  avant,  au  devant  des  lobes 
du  vague,  de  la  paroi  externe  du  quatrieme  ventricule; 
eile  s'unit  au  rameau  supe'rieur  de  la  branche  recurrente. 
Ces  deux  racines  ne  paraissent  provenir  que  des  cordons 
superieurs  de  la  moelle,  et  cependant  le  nerf  vague  donne 
bien  evidemment  des  filets  musculaires.    La  racine  in- 


2i6     NATUR WISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

ferieure  constitue  iin  large  niban  medullaire,  tr^s  blanc, 
qui,  chez  la  Carpe  siirtout,  est  d'une  consistance  extre- 
mem ent  molle. 

Les  deux  racines  et  le  rameau  superieiir  du  recurrent 
sortent  du  cräne  par  un  trou  considerable  de  Toccipital 
lateral  {Cuvici^^  et  se  reunissent  en  formant  un  ganglion 
extremement  volumineux,  surtout  chez  la  Carpe.  Ce  gan- 
glion est  large,  aplati  et  presque  semi-lunaire;  son  bord 
superieur,  convexe,  est  engage  en  partie  dans  le  trou  de 
sortie;  son  bord  inferieur  est  decoupe  en  quatre  ou  cinq 
digitations,  dont  les  trois  premieres  donnent  naissance 
aux  nerfs  des  branchies  et  de  l'organe  particulier  aux  Cy- 
prins,  appele  langue  de  Carpe,  et  dont  les  posterieures 
se  continuent  avec  les  branches  laterale  et  intestinale,  et 
donnent  les  nerfs  des  dents  pharyngiennes.  Le  bord  su- 
perieur du  ganglion  est  forme,  comme  je  l'ai  dit,  par  le 
rameau  supe'rieur  de  la  brauche  re'currente;  le  ganglion 
lui-meme  est  forme  par  un  plexus  de  filets  nerveux  tres 
apparent,  dans  lequel  il  y  a  sans  doute  une  augmentation 
de  substance,  vu  la  disproportion  entre  ses  racines  et  les 
branches  qui  en  sortent.  Du  bord  superieur  du  ganglion 
naissent:  un  filet  qui  se  repand  le  long  de  la  paroi  interne 
du  cräne  dans  le  tissu  graisseux  de  la  cavite  cränienne^ 
et  deux  autres  filets  pour  les  muscles  des  branchies;  l'an- 
terieur  de  ces  derniers  forme  l'anastomose  dejä  decrite^ 
avec  un  filet  de  la  brauche  operculaire  du  trijumeau. 
Les  parties  auxquelles  se  distribue  le  nerf  vague  sont: 
l'organe  probablement  gustatif  des  Cyprins,  les  branchies, 
les  dents  pharyngiennes,  le  cceur,  le  canal  intestinal  et  la 
surface  externe  du  tronc. 

L'organe  gustatif  re^oit  quatre  ou  cinq  filets  qui,  pour  s'y 
rendre,  passent  en  dififerents  endroits  entre  les  branchies; 
le  posterieur  est  le  plus  volumineux,  il  passe  entre  les 
dents  pharyngiennes  et  la  derniere  branchie.  Ces  nerfs 
sont,  comme  leur  organe  meme,  beaucoup  plus  de've- 
loppes  chez  la  Carpe  que  chez  le  Barbeau. 
Chaque  branchie  regoit  trois  rameaux,  un  pour  sa  face 
interne  concave,  et  deux  pour  l'externe  creusee  en  gout- 
ti^re;  ces  derniers  sont  tres  considerables,   et  donnent 


MEMOIRE  SUR  LE  SYSTEME  NERVEUX    2 1 7 

aux  feuillets  des  branchies  des  filets  cpi  accompagnent 
les  ramifications  des  vaisseaux  branchiaiix.  L'iin,  et  c'est 
de  beaucoup  le  plus  fort,  longe  le  bord  anterieur  de  la 
branchie;  Paiitre  le  bord  posterieur.  Chacun  des  trois 
troncs,  d'oü  sortent  les  nerfs  des  branchies,  presente  en- 
core  im  renflement  particulier  considerable;  les  deux  ren- 
tlements  posterieurs  se  confondent  en  partie  avec  le  gan- 
glion  du  nerf  vague;  tandis  que  Tanterieur  en  est  separe 
assez  nettement. 

Les  nerfs  des  dents  pharyngiennes,  au  nombre  de  trois, 
se  distribuent  d'une  maniere  analogue  ä  celle  des  nerfs 
branchiaux  dans  la  membrane  epaisse  qui  revet  ces  par- 
ties,  et  prouvent  par  leur  distribution  combien  l'idee  de 
Rathke'^  est  ingenieuse,  lorsqu'il  regarde  les  dents  pha- 
ryngiennes comme  des  branchies  metamorphosees. 
La  brauche  intestinale  contourne  de  haut  en  bas  les  dents 
pharyngiennes;  pendant  ce  trajet  eile  fournit  un  ou  deux 
filets,  qui  se  ramifient  dans  les  muscles  de  ces  dents  et 
sur  le  pharynx,  et  un  filet  cardiaque  tres  fin,  que  je  suis 
parvenu  ä  poursuivre  jusque  dans  l'oreillette  du  coeur. 
Elle  traverse  ensuite  le  diaphragme  et  donne  quatre  ou 
cinq  filets  assez  fins  ä  Tcesophage,  que  je  n'ai  re'ussi  ä 
poursuivre  sur  la  paroi  du  canal  intestinal  que  pendant 
un  trajet  assez  court.  Le  tronc  de  la  brauche  intestinale 
du  cöte  droit  accompagne  l'artere  coeliaque,  et  se  reunit 
en  un  seul  tronc  avec  le  nerf  splanchnique  du  grand  sym- 
pathique.  Celle  du  cote  gauche  est  moins  volumineuse; 
apres  avoir  donne  des  filets  au  canal  intestinal,  et  un 
autre  au  canal  excreteur  de  la  vessie  natatoire,  ä  Pendroit 
Oll  il  S'insere  au  canal  intestinal,  eile  devient  tres  grele, 
et  accompagne  l'artere  mesenterique  qui  est  placee  au 
cote  gauche. 

La  plus  posterieure  et  la  plus  volumineuse  des  branches 
du  nerf  vague,  c'est  le  grand  nerf  lateral  qui  cotoie  le 
tronc  pendant  toute  sa  longueur,  depuis  la  tete  jusqu'ä 
la  nageoire  caudale:  place  assez  superficiellement  entre 
les  fibres  du  grand  muscle  late'ral  et  formant  beaucoup  de 

1  Untersuchungen  über  den  Kie»ien-Apparat  ttnd  das  Zicngenbein  der 
Wirbeltiere. 


2i8    NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

petites  intlexions,  il  marche  parallelement  ä  la  ligne  des 
pores,  ä  laquelle  il  est  supe'rieur  pour  la  majeure  partie; 
an-ive  pres  de  la  queue,  il  devient  peu  ä  peu  plus  super- 
ficiel,  se  place  sous  la  peau  et  se  divise,  enfin,  en  deux 
filets  assez  greles,  un  superieur  et  un  inferieur,  destines 
a  la  nageoire  caudale.  Ils  se  dirigent  en  haut  et  en  bas, 
le  long  de  la  base  des  rayons  de  la  nageoire,  s'y  anasto- 
mosent  avec  des  filets  des  nerfs  caudaux,  et  envoient  aux 
rayons  de  la  nageoire  d^autres  filets,  qui  me  parurent  se 
perdre  dans  la  peau  qui  revet  ces  parties  ^.  Aussitöt  apr^s 
son  origine,  le  nerf  lateral  donne  un  filet  qui  monte  vers 
la  crete  du  dos,  et  qu'on  peut  suivre  sous  la  peau  pen- 
dant  un  long  trajet.  Le  nerf  lateral  diminue  peu  ä  peu  de 
volume,  de  sorte  qu'il  est  assez  grele  pres  de  la  queue. 
Ce  nerf  s'anastomose-t-il  avec  les  nerfs  spinaux:  Cuvier 
le  pretend,  tandis  que  IVeber^  et  Van  Decn^  le  nient. 
Donne-t-il  des  filets  aux  muscles?  ^^^^z- Tassure,  tandis 
que  Cuvier  et  Van  Deen  n'ont  vu  aucun  filet  se  terminer 
dans  les  muscles,  mais  bien  dans  la  peau;  Des/nouli?is  dit 
qu'il  ne  donne  pas  de  filets  du  tout. 
Quant  ä  l'anastomose,  je  puis  confirmer  ce  que  Cuvier  en 
dit;  je  suis  parvenu  a  la  trouver  avec  quelques  nerfs  spi- 
naux, et  je  ne  doute  pas  qu'elle  n'ait  lieu  pour  tous.  Elle 
est  extremement  fine,  et  a  lieu  avec  la  brauche  superfi- 
cielle  des  nerfs  spinaux;  il  faut  faire  cette  preparation  ä 
l'aide  de  la  loupe  sur  des  sujets  tout-ä-fait  frais,  oü  la 
couleur  blanche  des  filets  nerveux  contraste  encore  for- 
tement  avec  celle  de  la  chair.  Sur  des  pieces  conservees 
dans  l'alcool  il  est  impossible  de  distingiier  ces  filets. — 
La  seconde  question  est  plus  facile  ä  resoudre:  le  nerf 
lateral  donne  pendant  son  trajet  des  filets  de  la  mani^re 
la  plus  apparente;  je  crois  qu'ils  sont  tous  destines  ä  la 
peau,  du  moins  ai-je  poursuivi  jusque-lä  les  filets  les  plus 

1  Desmoulins  dit  ä  ce  sujet:  «On  dit  que  le  nerf  lateral  s'^panouit 
en  rayonnant  sur  chaque  face  de  la  nageoire  caudale:  je  n'ai  pu  le 
constater  nulle  part;  l'extreme  petitesse  de  ce  nerf  pres  de  la  queue 
m'en  fait  douter.>  li  n'est  pourtant  pas  si  difficile  de  s'en  con- 
vaincre. —  2  Meckels  Archiv,  1827,  H.  2.-3  Dissertatio  inauguralis 
de  differentia  et  tiexit  inter  mrvos  vitac  animalis  et  vitae  organicae. 
Lugd.  Bat.;  Müllers  Archiv,  1834. 


MßMOIRE  SUR  LE  SYSTEME  NERVEÜX    2 1 9 

considerables.  Ceux-ci  dtaient  si  prononces,  tant  sur  la 
Carpe  que  sur  le  Barbeaii,  qiie  je  ne  con^ois  pas  com- 
ment  011  n'ait  pas  pii  les  apercevoir,  i)Our  peu  que  la  pre- 
paration  ait  ete  faite  avec  soin;  cependant  la  diminution 
de  volume  du  nerf  n'est  pas  en  proportion  des  filets  qu'il 
donne. 

Chez  le  Brochet  le  nerf  vague  se  comporte  ä  peu  pres 
comme  chez  les  Cyprins,  seulement  son  ganglion  et  ses 
rameaux  branchiaux  sont  infiniment  moins  developpes. 
La  brauche  intestinale  des  deux  cotes  donne  un  rameau 
tres  considdrable  ä  la  vessie  natatoire,  rameau  qui  s'epa- 
nouit  sur  la  membrane  interne  et  muqueuse  de  cet  organe, 
et  prouve  par  la  combien  il  est  juste  de  regarder  la  vessie 
ae'rienne  comme  le  premier  rudiment  d'un  poiunon.  Le 
nerf  lateral  est  place  plus  profondement  entre  les  muscles 
que  chez  les  Cyprins. 

10.  Vhypoglosse. 
Treviranus  et  Desmoulifis  nient  qu'il  y  ait  chez  les  pois- 
sons  un  nerf  repondant  ä  l'hypoglosse.  Carus  et  Scrres 
disent  le  contraire.  Cimiemt  se  prononce  pas;  en  decri- 
vant  le  nerf  que  nous  qualifions  d'hypoglosse,  il  le  de- 
signe  seulement  comme  le  dernier  des  nerfs  ce'rebraux, 
sans  lui  donner  une  determination  particuliere.  Weber, 
enfin,  donne  ä  ce  nerf  le  nom  d'hypoglosse  dans  l'ou- 
vrage  De  aure  et  auditu\  mais  il  change  plus  tard  d'avis, 
et  le  compare  ä  Taccessoire  de  Willis  1.  Bischoff  {Joe.  eit.), 
quoique  se  servant  de  ce  dernier  nom,  hesite  encore  sur 
la  determination  ä  lui  donner.  11  se  rangerait  du  cote  de 
Desniouäns,  qui  le  regarde  comme  le  premier  nerf  spinal, 
ai  son  origine  dans  la  cavite  cränienne  et  son  anastomose 
svec  le  trijumeau,  n'etaient  pas  contraires  ä  cette  opi- 
nion. 

L'hypoglosse  nait  de  la  moelle  par  deux  racines,  une  in- 
ferieure  et  une  superieure,  tout  comme  un  nerf  spinal. 
La  racine  inferieure  est  plus  considerable  que  la  supe- 
rieure, qui  ne  consiste  qu'en  un  filet  grele.  Au  point  de 
reunion  des  deux  racines,  la  supt^rieure  se  renfle  en  un 
petit  ganglion,  d'oü  part  un  filet,  qui  se  rend  en  haut 
*  Meckels  Archiv,  1827,  H.  2. 


2  20    NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

dans  les  miiscles  spinaux;  la  racine  inferieure  donne  un 
filet  semblable.  C'est  ä  ce  point  de  reunion  que  vient 
s'inserer  le  rameau  inferieiir  de  la  brauche  recurrente,  et 
par  cette  triple  reunion  il  se  forme  iin  renflement  oblong, 
qiii  se  continue  dans  le  tronc  du  nerf.  Ce  renflement  ne 
me  parait  pas  avoir  le  caractere  d'un  ganglion,  c'est-ä- 
dire  que  je  n'y  ai  pas  vu  de  plexus  de  filets  nerveux;  ce 
n'est  qu'une  simple  juxta-position  de  deux  troncs  ner- 
veux, Tun  forme  par  la  reunion  des  deux  racines  de  l'hy- 
poglosse,  l'autre  par  la  brauche  recurrente.  On  parvient 
facilement  ä  les  separer,  et  ce  n'est  qu'ä  une  distance 
assez  grande  de  leur  reunion  que  leurs  filets  commencent 
ä  s'entremeler.  Cette  troisieme  racine  de  l'hypoglosse  ne 
presente  donc  rien  d'etonnant,  ce  n'est  qu'un  tronc  ac- 
colle  ä  ce  nerf. 

L'hypoglosse  passe  par  le  grand  trou  ovale,  perce  dans 
la  face  posterieure  de  l'occipital  lateral,  se  dirige  en  bas 
et  se  divise  en  deux  branches.  L'anterieiu'e  marche  en 
avant  et  en  bas,  et  contourne  les  muscles  des  os  pharyn- 
giens,  auxquels  eile  donne  des  filets,  en  formant  une  ar- 
cade  dont  la  convexite  est  tournee  en  bas.  On  parvient 
ä  la  suivre  pendant  un  trajet  assez  long  dans  les  fibres  du 
muscle  sternohyoidien  {Cuvier)^  auquel  eile  est  destinee. 
La  brauche  posterieure,  plus  volumineuse  que  l'anterieure, 
descend  directement,  s'unit  au  premier  nerf  spinal,  et  se 
distribue  aux  muscles  de  la  nageoire  pectorale^. 
Bischoff  d\t  qu'il  n'a  trouve  ce  nerf  que  chez  les  Cyprins. 
Cuviey^  au  contraire,  l'a  decrit  et  repre'sente  chez  la  Per- 
che,  et,  d'apr^s  sa  description,  il  parait  le  regarder  comme 
commun  ä  tous  les  poissons.  Weber  l'a  trouve  en  outre 
sur  le  Siliurus,  et  moi,  je  l'ai  vu  egalement  dans  le  Krö- 
chet et  l'Alose.  Dans  tous  ces  poissons  l'hypoglosse  ne 
presente  pas  d'union  avec  une  brauche  du  trijumeau; 
mais  il  nait  de  la  moelle  par  deux  racines,  comme  tous 
les  nerfs  spinaux. 
Dans  le  Brochet  il  sort  de  la  cavite  cränienne  par  un  petit 

1  Je  n'ai  jamais  pu  decouvrir,  pas  plus  que  Weber  ni  Bischoff,  un 
filet  qui,  d' apres  Ctivier,  serait  foumi  par  ce  nerf  ä  la  vessie 
natatoire. 


MEMOIRE  SUR  LE  SYSTEME  NERVEUX    221 

troii,  situe  entre  le  bord  posterieiir  des  occipitaiix  late- 
raux  et  le  bord  anterieur  de  deiix  petites  lames  osseuses, 
qiii  entourent  le  commencement  de  la  moelle  cerebrale: 
ce  troii  repond  exactement  au  grand  trou  ovale  des  Cy- 
prins,  quoiqu'il  soit  infiniment  moins  grand;  diffe'rence 
qiii  s'explique  lorsqu'on  se  rapelle  que  chez  les  Cyprins 
ce  trou  sert  ä  la  communication  de  la  fossa  auditoria 
[Weber)  avec  la  cavite  cränienne.  Dans  la  Perche,  ce 
trou  ressemble  par  sa  grandeur  et  sa  Situation  ä  celui  dn 
Hrochet. 

J'ai  trouve  en  outre  le  trou  de  l'hypoglosse  sur  le  cräne 
du  Saumon;  je  me  crois  donc  autorise  ä  admettre  aussi 
rhypoglosse  dans  ce  genre.  En  general,  je  ne  crois  pas 
que  ce  nerf  manque  ä  aucun  poisson. 

Des  7icrfs  spinaux. 
Le  long  de  la  moelle  e'piniere  naissent  quarante-huit  pai- 
res  de  nerfs  chez  le  Barbeau;  trente-huit  chez  la  Carpe. 
Les  quatre  premieres  paires  appartiennent  ä  la  nageoire 
pectorale,  les  10^—16*^  paires  ä  l'abdominale,  et  les  cinq 
dernieres  ä  la  caudale. 

Chaque  nerf  spinal  provient,  par  deux  racines,  des  cor- 
dons  superieur  et  inferieur  de  la  moelle;  ces  racines  ne 
consistent  point  en  plusieurs  faisceaux,  comme  dans  les 
classes  supe'rieures,  mais  elles  sont  simples.  La  racine 
superieiu-e  est  tres  fine,  surtout  ä  son  point  d'insertion. 
Desmoulins  pretend  formellement  qu'il  ne  s'y  trouve  pas 
de  ganglion;  Weber '^  et  Cuvier^  assurent  le  contraire. 
Chez  les  Cyprins  les  ganglions  sont  tr^s  apparents,  sur- 
tout dans  les  quatre  ou  cinq  premieres  paires;  ils  ont 
presque  la  forme  d'un  triangie  et  sont  situes,  pour  la  plu- 
part,  au-dessus  de  la  moelle  epiniere  dans  le  canal  rachi- 
dien,  accolles  ä  la  bände  fibreuse  c^ui  parcoiut  la  partie 

*  De  nervo syinpathico.  Deaiireetaudiht.  Meckels  Archiv,  1827,  H.  2. — 
2  Histoire  tiaturelk  des  poissons:  «Les  nerfs  spinaux  des  racines 
superieures  se  renflent  ä  peine  d'une  maniere  sensible  en  ganglion 
dans  les  Chondropterygiens,  et  Ton  a  meme  nie  qu'ils  se  renflent 
aucunement  dans  les  poissons  osseux.  II  est  certain,  cependant, 
qu'ils  forment  des  ganglions  suffisamment  marques  dans  le  Bar,  la 
Perche,  etc.> 


2  22    NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

superieure  de  ce  canal.  Du  sommet  de  ces  ganglions  tri- 
angulaires  part  iin  filet  considerable  qiii  se  dirige  en  haut 
et  en  arriere  pour  se  rendre  dans  les  muscles  spinaux. 
A  l'angle  infe'rieur  et  interne  s'insere  laracine  superieure 
qui  vient  de  la  moelle,  et  cette  racine  sort  du  ganglion 
par  l'angle  inferieur  et  externe  pour  s'unir  ä  la  racine  in- 
ferieure,  de  sorte  que  la  racine  superieure  forme  une  ar- 
cade  dont  la  concavite  embrasse  la  moelle.  La  racine 
inferieure  est  un  peu  plus  considerable  ä  son  point  de 
depart,  et,  avant  de  se  reunir  ä  la  racine  superieure,  eile 
envoie  un  filet  en  haut,  destine  aux  muscles  spinaux;  de 
Sorte  que  nous  voyons  partir  des  deux  racines,  avant  leur 
reunion,  deux  filets/  diriges  dans  le  meme  sens,  et  qui 
portent  separement  la  motilite  et  la  sensibilite  aux  mus- 
cles spinaux.  Cette  distribution  est  constante  pour  tous 
les  nerfs  spinaux,  et  se  fait  avec  la  plus  grande  symetrie; 
eile  se  retrouve  meme  dans  les  deux  filets  que  fournissent 
les  racines  de  l'hypoglosse. 

Les  deux  racines  sortent  toujours  entre  deux  vertebres^, 
et  se  reunissent  ä  quelque  distance  de  leur  sortie  en  un 
nerf  assez  volumineux,  qui  se  divise  aussitot  en  deux 
branches,  une  profonde  et  une  superficielle.  La  brauche 
superficielle  est  tres  fine,  eile  se  perd  dans  la  couche 
superieure  du  grand  muscle  late'ral  et  s'anastomose  avec 
le  nerf  lateral  de  la  paire  vague.  La  brauche  profonde, 
beaucoup  plus  volumin euse,  descend  dans  les  muscles 
intercostaux  et  longe  le  bord  anterieur  de  la  cote  poste- 
rieure,  s'appliquant  tantot  ä  l'apondvrose  qui  couvre  la 
paroi  interne  du  ventre,  et  tantot  au  peritoine  lui-meme; 
eile  s'anastomose  avec  le  grand  sympathique. 
Les  nerfs  de  la  nageoire  pectorale,  de  Tabdominale,  de 
l'anale  et  de  la  caudale,  sont  plus  developpes  que  les 
autres;  les  ganglions  spinaux  des  premiers  sont  en  outre 
plus  ronds  que  les  autres,  et  situes  en  dehors  du  canal 
rachidien.  Je  n'ai  pu  apercevoir  de  renflement  de  la  moelle 
epini^re  correspondant  aux  nerfs  des  nageoires  pectorale 

1  Les  deux  premiers  nerfs  spinaux  sortent  par  l'espace  laisse  vide 
par  l'absence  de  l'arc  de  la  prämiere  vertebre  entre  Ic  bord  pos- 
terieur  de  l'occipital  lateral  et  l'arc  de  la  seconde  vertebre. 


MEMOIRE  SUR  LE  SYSTEME  NERVEUX    223 

et  abdominale;  qui  representent  les  nerfs  des  extrdmitt^s 
superieures  et  inferieures  des  autres  classes.^ 
II  n'y  a  pas  de  queue  de  cheval.  Les  racines  partent  de 
la  moelle  epiniere  ä  angle  droit.  Le  rapport  entre  le  vo- 
lume  des  racines  et  du  nerf  liii-meme  ne  parle  pas  en 
faveur  de  la  theorie  des  filets  primitifs.  La  racine  supe- 
rieure,  quoique  ayant  ä  peine  l'epaisseur  d'un  cheveu, 
forme  cependant  im  ganglion  consid^rable,  duquel  par- 
tent vers  le  haut  et  vers  le  bas  denx  filets  plus  volumi- 
neux  que  la  racine  elle-meme. 

Chez  le  Brochet  la  racine  superieure  est  excessivement 
grele  comparativement  k  l'inferieure:  eile  ne  prdsente  pas 
de  ganglion;  mais  le  point  de  re'union  des  deux  racines 
est  un  peu  renfle. 

Vii  nerf  sympathique. 
L'opinion  des  auteurs  qui  avaient  avance  que  le  grand 
sympathique  n'est  qu'ä  Petat  rudimentaire  chez  les  pois- 
sons,  a  ete  refutee  d'abord  par  Weber  (De  ne?'vo  sympa- 
thico)^  et  ensuite  par  DesmouUns.  Weber  assure  cepen- 
dant que,  dans  le  Brochet  et  la  Carpe,  ce  nerf  ne  presente 
pas  de  ganglions  distincts,  et  qu'il  ne  consiste  qu'en  un 
mince  filet  cotoyant  la  colonne  vertebrale.  Je  trouve  cette 
Observation  juste  pour  la  partie  abdominale  du  sympa- 
thique de  ces  poissons;  mais  eile  est  erronee  pour  les  par- 
ties  thoracique  et  cephahque,  qui  ont  un  developpement 
conside'rable,  tant  chez  le  Brochet  que  chez  la  Carpe. 
Chez  les  Cyprins  le  grand  sympathique  ne  consiste,  le 
long  de  la  partie  poste'rieure  de  la  colonne  vertebrale, 
qu'en  un  filet  tres  fin,  presque  imperceptible.  Vers  la 
partie  anterieure  il  est  plus  distinct,  et  presente  de  petits 
ganglions  qui  s'anastomosent  avec  la  brauche  profonde 
des  nerfs  spinaux.  Depuis  la  cinquieme  vertebre  environ, 
jusqu'ä  sa  terminaison  sur  la  brauche  operculaire  du  tri- 
jumeau,  on  y  compte  six  ganglions tr^s  apparents.  Lepre- 
mi er  de  ces  ganglions  est  tres  volumineux,  et  uni  intime - 

1  La  moelle  epiniere  duBarbeau,  comme  celle  de  la  Carpe,  presente 
ä  sa  terminaison  un  petit  renflement  arrondi,  d'oü  part  le  filet  par 
lequel  la  moelle  se  termine.  Weher  a  represent^  cette  disposition 
sur  la  Carpe,  dans  les  Archives  de  Meckel^  t.  VIT,  2«  cahier. 


2  24    NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

ment  au  bord  posterieur  de  la  brauche  operculaire,  pre- 
cisement  lä  oü  celle-ci  sort  du  cräne.  II  s'anastomose 
par  deux  filets  avec  le  ganglion  du  glosso-pharyngien  et 
avec  sa  branche  anterieure,  donne,  par  son  bord  ante- 
rieur,  un  filet  qui  m'a  paru  s'anastomoser  avec  la  branche 
maxillaire  inferieure  du  trijumeau,  et  envoie  enfin  un  filet 
considerable  ä  la  premiere  branchie.  Une  fois  je  crois 
avoir  poursuivi  un  filet  de  ce  ganghon  jusqu'ä  la  sixieme 
paire,  ä  laquelle  il  se  rendait  par  un  petit  trou  situd  pr^s 
du  bord  externe  du  corps  du  sphdnoi'de  anterieur. 
Le  second  ganglion  repond  ä  un  filet  qui  s'anastomose 
avec  le  renflement  du  premier  tronc  branchial.  De  la 
branche  de  communication  entre  ce  ganglion  et  le  pre- 
cedent,  nait  un  filet  considerable  destine  ä  la  seconde,  et 
quelquefois  ä  la  troisi^me  branchie. 
Le  troisi^me  ganglion  est  situe  au  devant  de  Tapophyse 
transverse  de  la  partie  basilaire  de  l'occipital  qui  forme 
le  canal  osseux  donnant  passage  ä  l'aorte.  II  s'anastomose 
avec  l'hypoglosse,  donne  des  filets  aux  deux  dernieres 
branchies,  et  communique  avec  le  quatri^me  ganglion 
par  un  ou  deux  filets  qui  traversent  le  canal  osseux  dont 
je  viens  de  parier.  Les  filets  branchiaux  mentionnes  jus- 
qu'ici  forment,  avec  les  nerfs  branchiaux  de  la  paire  vague, 
un  w<dv\t2h\t  plexus pulmonaire^  ou  plutot  branchial.  Aucun 
anatomiste  ne  semble  jusqu'ä  pre'sent  s'etre  apergu  de 
cette  disposition  importante;  ce  n'est  que  dans  ces  der- 
niers  temps  qu'on  parait  en  avoir  fait  mention  dans  une 
dissertation^  pubhee  ä  Leyde,  et  dont  Midie?'  fait  l'ana- 
lyse  dans  son  rapport  sur  les  travaux  anatomiques  et 
physiologiques  de  l'annee  1834.2  Je  regrette  vivement 
de  n'avoir  pu  me  procurer  cette  dissertation. 
Le  quatri^me  ganglion,  le  plus  volumineux  de  tous,  com- 
munique avec  les  deux  premiers  nerfs  spinaux,  et  four- 
nit  un  nerf  splanchnique  considerable.  Les  deux  nerfs 
splanchniques  des  deux  cote's  se  dirigent  ä  droite,  et  se 
reunissent  en  un  ganglion  considerable,  mou  et  grisätre; 
veritable  ganglion  semi-lunaire,  applique  ä  droite  contre 

1  Giliay,  De  nervo  synipathico,  Ljcgd.  Bat. — 2  Müllers  Archiv,  1835, 
H.  I.  ^£       - 


MEMOIRE  SUR  LE  SYSTEME  NERVEUX    225 

les  muscles  des  os  pharyngiens,  et  se  continuant  par  iin 
tronc  volumineux,  qui  s'unit,  sur  l'art^re  coeliaque,  avec 
la  brauche  intestinale  droite  du  nerf  vague.  Cette  union 
ne  consiste  pas  en  ime  simple  juxtaposition,  mais  les 
(leiix  troncs  se  confondent  d'une  maniere  tellement  intime 
qii'il  est  impossible  de  les  separer  sans  dechirer  leurs 
filets,  ce  dont  je  me  suis  convaincu  ä  Taide  de  la  loupe. 
Le  tronc  nerveux  qui  resulte  de  leur  reunion  presente 
l'aspect  d'un  nerf  de  la  vie  vegetative;  il  est  assez  mou, 
jaunätre,  et  le  ne'vrileme  du  nerf  vague  se  continue  sur 
sa  surface  en  stries  blanches,  fibreuses.i  II  est  destine 
aux  organes  renfermes  dans  la  cavite'  abdominale,  accom- 
pagne  Tartere  coeliaque,  et  se  sous-divise  en  trois  ou 
quatre  filets  qui  forment  un  plexus  ä  mailles  tres  larges, 
dont  partent  des  filets  peu  nombreux,  lesquels  se  rendent 
au  foie  et  au  canal  intestinal,  en  accompagnant  les  rami- 
fications  de  Tartere;  Tun  d'eux  parvient  ä  la  vessie  nata- 
toire.  Le  tronc  du  nerf  se  termine  en  formant  un  petit 
ganglion,  d'oü  partent  trois  ou  quatre  filets  pour  les  testi- 
cules  ou  les  ovaires  et  pour  la  rate.  Les  reins  regoivent, 
le  long  de  la  colonne  vertebrale,  des  filets  tres  delies 
provenant  du  tronc  du  grand  sympathique,  et  un  filet 
plus  considerable  du  nerf  splanchnique,  aussitot  apres  son 
origine. 

Le  sympathique  du  Brochet  ne  presente  que  quatre  ou 
cinq  ganglions  bien  developpes.  Le  premier  est  uni  ä  la 
brauche  operculaire,  quoique  moins  intimement  que  chez 
les  Cyprins.  Le  second  se  reunit  par  sa  partie  superieure 
au  ganglion  du  nerf  vague;  il  s'anastomose,  en  outre,  avec 
le  glosso-pharyngien.  Le  troisieme,  le  plus  volumineux, 
repond  au  coqos  de  la  troisieme  ou  de  la  quatrieme  ver- 
tebre.  II  fournit  un  filet  aux  reins,  et  forme  un  nerf  splanch- 
nique considerable,  qui  s'unit  ä  celui  du  cote  oppose,  au 
devant  de  la  colonne  vertebrale,  en  un  ganglion  semi- 

1  Cette  fusion  entre  deux  nerfs  de  la  vie  animale  et  de  la  vie  de 
nutritiou  me  parait  extremement  importante.  D'apres  Müller,  Giltay 
l'a  aussi  obsen^ee  sur  les  Squales;  je  ne  sais  s'il  domie  des  details 
ä  ce  sujet.  Weber  a  vu  dans  le  Sandre  [Ferra  Lucio  Perca),  la  branche 
intestinale  et  le  nerf  splanchnique  accompagner  l'artere  coeliaque, 
Sans  qu'une  union  cependant  ait  lieu  entre  eux. 


2  26    NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

lunaire,  volumineux,  d'oü  partent  deux  troncs  pom-  les 
intestins.  Les  filets  branchiaux,  et  les  anastomoses  avec 
rhypoglosse  et  les  nerfs  spinaux,  se  trouvent  comme  chez 
les  Cyprins,  si  ce  n'est  que  les  premiers  sont  moins  deve- 
loppes.  Le  grand  sympathique  de  l'Alose  est  tres  deve- 
loppe;  son  plexus  branchial  surtout  est  tres  apparent.  II  se 
termine  egalement  siir  la  branche  operculaire;  ses  gan- 
glions  sont  tres  volumineux.  J'ai  vu  le  troisieme  ou  le 
quatrieme  communiquer  avec  celui  du  cote  oppose  par 
un  filet  qui  passait  au  devant  de  l'aorte. 


PARTIE  PHILOSOPHIQUE 
II  s'agit  maintenant  de  ddterminer  ä  quelles  parties  du 
Systeme  nerveux  des  animaux  places  plus  haut  dans  l'e- 
chelle  on  peut  comparer  les  nerfs  dont  nous  venons  de 
donner  la  description.  Nous  saisissons  tres  bien,  au  pre- 
mier  abord,  la  signification  des  nerfs  olfactif,  oj^tique, 
oculo-moteiu-,  pathetique,  abducteur,  trijumeau,  acoustique 
et  vague;  il  n'y  a  que  les  branches  du  trijumeau  et  du 
nerf  vague  qui  offrent  des  difficultes. 
Le  trijumeau  se  divise,  comme  nous  l'avons  dit,  en  cinq 
branches,  dont  trois,  savoir  la  pterygo-palatine  [Cuvier)^ 
l'operculaire  et  la  recurrente,  sont  regardees  comme  pro- 
pres aux  poissons  seuls;  pour  les  deux  premieres  branches 
je  ne  partage  pas  cette  maniere  de  voir.  La  pterygo-pa- 
latine me  parait  repondre  au  nerf  maxillaire  superieur,  et 
surtout  ä  la  branche  spheno-palatine  de  ce  nerf,  comme 
je  l'ai  indique  dans  la  description  que  j'en  ai  donn^e.  Ce 
qui  me  porte  ä  emettre  cette  opinion,  c'est  que,  chez  les 
Cyprins,  ce  nerf  sort  du  cräne  par  un  canal  particulier, 
qu'il  se  dirige  le  long  du  vomer,  et  parcourt  les  paities 
dont  le  developpement  forme,  dans  les  classes  supe- 
rieures,la  cavite  nasale,  et  enfin,  parce  que  ce  sontprinci- 
palement  ses  filets  qui  traversent  un  trou  de  l'os  maxil- 
laire superieur,  quirepond  au  trou  sous-orbitaire.  D'apres 
cela,  il  faudrait  considerer  la  branche  maxillaire  des  ana- 
tomistes  essentiellement  comme  le  nerf  maxillaire  infe- 
rieur;  et  la  branche  qu'on  designe  ordinairement  comme 


MEMOIRE  SUR  LE  SYSTEME  xNERVEUX    227 

maxillaire  superieure,  devra  etre  envisagee  comme  une 
ramification  de  ce  nerf.  Une  preuve  assez  directe  de  la 
justesse  de  ces  rtfflexions  est  fournie  par  le  Brochet:  dans 
ce  poisson  il  n'y  a  qu'iine  seule  branche  qui  donne  les 
filets  de  la  mächoire  supe'rieure,  et  qui  par  lä  se  carac- 
terise  de  la  maniere  la  plus  e'vidente  comme  nerf  maxil- 
laire superieur;  or,  cette  branche  n'est  pas  une  sous-di- 
vision  de  la  branche  maxillaire  des  anatomistes,  eile  se 
comporte,  pour  sa  distribution,  presque  exactement  comme 
la  branche  pterygo-palatine  des  Cyprins;  tandis  que  la 
branche  qui  nait  de  la  branche  maxillaire  commune,  et 
qu'on  compare  ordinairement  au  nerf  maxillaire  supe- 
rieur, n'est  que  rudimentaire.  La  branche  pterygo-pala- 
tine ne  se  distingue  de  la  branche  maxillaire  superieure 
du  Brechet  que  par  son  passage  par  un  canal  particulier 
du  cräne,  canal  qui  cependant  n'est  separe  du  canal  de 
la  branche  maxillaire  que  par  une  lame  osseuse;  cette 
lame  manque  chez  le  Brochet,  et  les  deux  nerfs  maxil- 
laires  sortent  par  un  trou  commun. 

L'examen  de  la  branche  operculaire  est  d'une  plus  grande 
importance.  D'apres  Serres  eile  re'pond  au  nerf  facial; 
mais  cet  auteur  ne  donne  pour  preuve  de  ce  qu'il  avance, 
que  la  distribution  de  ce  nerf  dans  les  muscles  respira- 
teiu-s.  Je  partage  cette  opinion,  qui  est  presque  directe - 
ment  confirmee  par  la  maniere  dont  se  comporte  cette 
branche  chez  les  Raies  et  les  Squales;  car,  d'apres  la  des- 
cription  de  Serres  et  de  Dcsjuouliris^  la  branche  opercu- 
laire s'est  se'pare'e  du  nerf  de  la  cinquieme  paire,  et  nait 
isolement  tout  pres  de  l'acoustique,  comme  le  nerf  facial 
des  animaux  superieurs;  eile  est  identique  avec  la  branche 
en  question  des  poissons  osseux,  car  eile  donne  des  filets 
aux  muscles  de  la  soupape  de  l'event.  Une  seconde  rai- 
son nous  est  fournie  par  les  fonctions,  eminemment  respi- 
ratoires,  de  la  branche  operculaire,  comme  le  prouve  la 
distribution  de  ses  filets;  et  une  troisieme,  par  son  passage 
ä  travers  un  canal  de  Vos  quadratum,  que  presque  tous 
les  anatomistes  regardent  comme  appartenant  aux  tem- 
poraux.  On  m'objectera  peut-etre  que,  d'apres  mon  opi- 
nion,  le  nerf  facial  serait  presque  le  meme  dans  la  classe 


2  28    NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

la  plus  inferieure  des  vertebres  que  dans  la  classe  la  plus 
elevee;  tandis  qu'il  manqiie  ä  la  pliipart  des  reptiles  et  des 
oiseaux,  ou  qu'il  y  est  du  moins  tout-ä-fait  rudimentaire. 
Mais  le  facial  est  le  nerf  respiratoire  de  la  tete,  et  le  nerf  de 
Fexpression  physionomique,  comme  Charles  Bell  V 2,  ^yow- 
ve:  or,  dans  les  poissons  la  respiration  des  branchies  de- 
vient,  par  la  juxtaposition  de  la  tete  et  de  la  poitrine,  ou 
plutot  de  la  cavite  branchiale,  respiration  de  la  tete,  comme 
le  passage  de  Tair  ä  travers  le  nez  constitue  la  respira- 
tion de  la  tete  dans  les  animaux  superieurs.  Ceci  n'a  plus 
lieu  chez  les  oiseaux  et  les  reptiles;  la  tete  et  la  poitrine 
sont  Separees  par  un  cou  plus  ou  moins  developpe,  les 
narines  sont  immobiles,  du  moins  chez  les  oiseaux,  la 
physionomie  n'a  pas  encore  acquis  d'expression,  et  c'est 
ainsi  que  decroit  et  se  perd  le  nerf  facial;  nerf  qui  en 
general  augmente  ou  diminue  de  la  mani^re  laplus  frap- 
pante, Selon  le  developpement  de  ses  fonctions,  comme 
il  resulte  principalement  des  observations  de  Shaw.  Du 
reste,  les  filets  que  le  nerf  facial  donne  ä  Toreille  externe 
et  interne  des  classes  superieures,  rappellent  toujours  le 
rapport  primitif  qui  existe  entre  ce  nerf  et  les  branchies; 
car,  ainsi  que  l'a  demontre  Oke^i^  l'oreille,  ä  l'exception 
du  labyrinthe,  n'est  autre  chose  qu'une  transformation  de 
la  cavite  branchiale.  Ce  rapport  devient  tres  apparent 
chez  la  grenouille  oü,  ä  la  verite,  on  ne  trouve  point  de 
facial,  mais  oii  il  y  a  cependant  un  filet  de  la  cinquieme 
paire  qui  traverse  la  caisse  du  tympan,  passe  par  dessus 
Tosselet  de  l'oui'e  et  s'auastomose  avec  la  brauche  an- 
te'rieure  du  nerf  vague^.  Cette  brauche  est  probablement 
le  rudiment  des  nerfs  branchiaux  du  tetard,  et  rappelle 
Tanastomose  de  la  brauche  operculaire  des  poissons  avec 
le  nerf  vague.  Ainsi  la  meme  anastomose,  qui  chez  les 
poissons  a  lieu  dans  la  cavite  branchiale,  se  fait  chez  la 
grenouille  dans  la  cavite  tympanique. 

1  Weber,  dans  son  ouvrage  sur  le  grand  sympathique,  a  aussi  decrit 
le  filet  dont  nous  venons  de  parier.  II  le  regarde  comme  appartenant 
au  Systeme  du  grand  sympathique  et  comme  servant  de  communi- 
cation  entre  les  renflements  du  trijumeau  et  du  nerf  vague,  confondus 
avec  les  deux  premiers  ganglions  du  grand  sympathique.  II  dit  avoir 
trouve  le  meme  filet  dans  l'oie. 


MEMOIRE  SUR  LE  SYSTEME  NERVEUX    229 

La  distribution  des  filets  de  la  brauche  operculaire  prouve, 
qiroutre  les  filets  de  motilite,  eile  contient  aiissi  des  filets 
de  sensibilite. 

Je  crois  avoir  demontre.  par  ce  que  je  viens  de  dire,  qiie 
la  brauche  operculaire  des  poissons  est  identique  avec  le 
nerf  facial,  qui,  par  conseqiient,  ne  serait  primitivement 
qu'une  brauche  de  la  cinqiüeme  paire. 
Reste  encore  ä  expliquer  la  brauche  recurrente.  Elle  pre- 
sente  im  fait  isole  et  difficile  ä  eclaircir:  une  anastomose 
de  la  cinqiüeme  paire  avec  les  nerfs  vague  et  hypoglosse 
dans  rinterieur  de  la  cavite  du  cräne!  On  peut  arriver  ä 
une  hypothese  assez  satisfaisante  en  se  rappelant  que, 
d'apres  Ciivicr,  JVeber^  et  Des/noulins,  une  branche  volu- 
mineuse  de  la  cinquieme  paire  se  dirige,  chez  beaucoup 
de  poissons,  en  haut  et  en  arriere,  dans  Finterieur  du 
cräne,  s'anastomose  souvent  avec  le  nerf  vague,  passe  par 
iin  trou  paiticiüier  du  cräne,  et  se  porte  le  long  des  apo- 
physes  epineuses  jusqu'ä  la  nageoire  caudale.  La  branche 
recurrente  des  Cyprins  n'est  autre  chose  que  la  branche 
que  nous  venons  de  decrire;  mais  au  lieu  de  s'anasto- 
moser  avec  le  nerf  vague,  eile  se  jette  entierement  dans 
ce  nerf,  et  concourt  ä  former  avec  lui  le  nerf  late'ral,  ce 
que  de'montre  la  dissection.  Or,  Weber  a  trouve  de  plus, 
dans  la  Lotte,  un  nerf  provenant  du  nerf  lateral  de  la 
cinquieme  paire,  et  se  rendant  ä  la  nageoire  jugulaire: 
c'est  ä  ce  nerf  que  repond  la  branche  infe'rieure  du  recur- 
rent;  eile  s'imit  ä  l'hypoglosse  pour  se  rendre  ä  la  nageoire 
pectorale. 

Quant  au  nerf  vague,  il  semble  etre  non-seulement  nerf 
de  la  vie  animale,  mais  meme  remplir  en  partie  les  fonc- 
tions  du  grand  sympathique.  Weber  a  dejä  fait  cette  Ob- 
servation dans  son  ouvrage  sur  le  grand  sympathique,  et 
il  dit  meme  que  le  nerf  sympathique  diminue  au  für  et  ä 
mesiu-e  que  le  nerf  vague  acquiert  plus  de  de'veloppe- 
ment  dans  les  animaux  inferieurs;  de  sorte  que  chez  les 
cephalopodes  le  nerf  vague  remplace  entierement  le  sym- 
pathique^.  La  maniere  d'etre  de  la  branche  intestinale  du 

1  Meckds  Archiv,  1827,  H.  2.  —  2  Weber  admet  que  le  nerf  qui, 
dans  les  Cephalopodes.  nait  ä  cote  de  lacoustique,  s'unit  sous  le 


230    NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

nerf  vague,  se  confondant  en  im  seiil  tronc  avec  le  nerf 
splanchnique,  et  accompagnant  dans  sa  distribiition  les 
ramifications  des  vaisseaiix  sangiiins,  parle  en  faveur  de 
cette  opinion  qui,  d'ailleurs,  se  troiive  encore  confirmee 
par  le  d^veloppement  excessif  des  rameaiix  branchiaux 
du  nerf  vague,  relativement  aux  filets  branchiaux  du  sym- 
pathique,  par  lamaniere  dont  les  premiers  accompagnent, 
le  long  des  feuillets  des  branchies,  les  ramifications  des 
vaisseaux  sanguins,  et  par  la  diminution  et  Faugmentation 
de  leur  calibre,  selon  les  eaux  qu'habitent  les  poissons. 
Les  poissons  des  eaux  stagnantes  et  bourbeuses  ont  en 
general,  d'apres  les  observations  de  Desnioiilins^  le  vague 
beaucoup  plus  developpe  que  ceux  qui  habitent  les  eaux 
limpides  et  courantes:  cette  difierence  s'observe  facile- 
ment  dans  la  Carpe  et  le  Brochet.  Si  les  nerfs  bran- 
chiaux du  vague  sont  seulement  sensitifs,  on  ne  voit  pas 
poiurquoi  ils  seraient  plus  developpes  dans  les  eaux  bour- 
beuses que  dans  les  eaux  claires;  tandis  qu'il  est  plus 
facile  de  comprendre  que  ce  changement  de  volume  est 
en  rapport  avec  l'energie  nerveuse  plus  ou  moins  puis- 
sante,  necessaire  ä  l'hematose  dans  les  differentes  eaux. 
Le  long  nerf  lateral  du  nerf  vague  presente  de  grandes 
difficultes;  il  parait  n'appartenir  qu'aux  poissons  et  aux 
batraciens  ä  branchies,  d'apres  les  observations  de  Va7i 
Deen  {Joe.  cit.)^  qui  l'a  trouve  chez  les  tetards  et  le  Protee. 
Est-il  un  nerf  de  sensibilite,  ou  de  motilite,  ou  est-il  nerf 
respiratoire  de  la  peau?  Voilä  des  questions  auxquelles  on 
ne  saurait  encore  donner  une  re'ponse  satisfaisante.  Je  ne 
pus  produire  de  mouvements  ni  en  le  tiraillant,  ni  en  l'ir- 
ritant  avec  la  pointe  du  scalpel,  dans  le  meme  individu 
chez  lequel  le  frottement  des  branchies  produisit  ä  l'in- 
stant  les  plus  vifs  ebats.  Le  poisson  parut  absolument  in- 
sensible pendant  l'irritation  du  nerf,  qui,  du  reste,  n'etait 
pas  coupe.  Müller  w^  reussit  pas  mieux  ä  l'aide  d'une  pile 
galvanique  composee  de  quarante  plaques^.  Les  mouve- 
ments du  tronc  et  de  la  queue  ne  me  parurent  pas  afFaiblis, 
apres  que  j'eus  coupe  les  nerfs  des  deux  cote's.   Ces  ex- 

cceur  a  celui  du  cote  oppose  et  forme  le  plexus  intestinal,  est  le 
nerf  vague. — ^  Handbuch  der  Physiologie. 


MEMOIRE  SUR  LE  SYSTEME  NERVEUX    231 

periences  parient  autant  contre  la  sensibilite  que  contre 
la  motilite  de  ce  nerf,  et  par  conse'quent  contre  Topinion 
de  ceux  qiii,  comme  Rola?ido^\  le  comparent  ä  Taccessoire 
de  Willis,  nerf  eminenunent  moteur,  comme  l'a  prouve 
Bischoff.  Est-il  donc  nerf  respiratoire:  Les  experiences  de 
Humboldt,  qui  demontrent  la  grande  faciüte  respiratrice 
de  la  peau  des  poissons,  et  le  mucus  qui  est  secrete  le 
long  du  trajet  de  ce  nerf,  parient  en  faveiir  de  cette  opi- 
nion.  La  nageoire  caudale  ne  rapi^ellerait-elle  pas,  sous 
un  certain  rapport,  Torganisation  des  animaux  inferieurs, 
oü  les  branchies  sont  en  meme  temps  des  organes  de  lo- 
comotion? 

Reste  encore  ä  determiner  les  nerfs  glosso-pharyngien  et 
hypoglosse.  Le  premier  est  caracterise  comme  tel,  par  son 
origine  au  devant  du  nerf  vague,  dont  il  parait  etre  la 
premiere  brauche,  comme  chez  l'homme,  et  par  ses  filets 
distribnes  äla  membrane  musculeuse  du  pharynx.  En  don- 
nant  le  nerf  principal  de  la  premiere  branchie,  il  se  com- 
porte  en  meme  temps  tout  comme  une  brauche  de  la 
huitieme  paire.  A  en  juger  d'apres  la  distribution  de  ses 
filets,  le  nerf  glosso-pharyngien  parait  etre  en  meme  temps 
nerf  de  Sensation  et  de  motilite. 

Weher  donne  le  nom  d'hypoglosse  au  dernier  nerf  cere- 
bral, sans  en  dire  les  raisons;  dans  un  travail  posterieur, 
au  contraire,  il  le  compare  ä  Paccessoire  de  Willis,  ä  cause 
de  sa  blanche  destinee  ä  la  nageoire  pectorale.  II  est 
evident  que  Weber  n'a  point  considere  la  branche  antc- 
rieure  de  ce  nerf,  branche  qui  se  rend  au  muscle  rdtrac- 
teurde  l'os  hyoide,  compare  par  G/z^'/Vrau  muscle  sterno- 
hyoi'dien;  et  c'est  pour  cela  qu'elle  repond  ä  la  branche 
linguale  de  Thypoglosse.  La  branche  posterieure  n'est 
autre  chose  que  le  rameau  descendant  qui  s'anastomose, 
comme  chez  Thomme,  avec  les  nerfs  spinaux,  et  devient 
en  meme  temps  un  des  nerfs  moteurs  de  l'extremite  supe- 
rieure  attachee  ä  la  tete.  Le  simple  aspect  dejä  de  ce  nerf 
vient  ä  l'appui  de  cette  opinion;  car  l'arcade  de  l'hypo- 
glosse  et  le  rameau  descendant  montrent  lesmemes  formes 
que  chez  Thomme.  La  grenouille  en  fournit  d'ailleurs 
*  Osse>"'azio7n  del  cer^ieletfo. 


23  2    NAl'URWISSENSCH.  U.  PHIT.OS.  SCHRIFTEN 

la  preiive  directe.  Entre  le  nerf  vague  et  le  premier  nerf 
spinal  nait  im  nerf,  avec  ime  racine  supt^rieure  tr^s  fine, 
et  une  large  racine  inferieure  exactement  comme  chez  le 
Barbeau:  il  se  partage  en  deux  branches,  la  posterieure 
s'anastomose  avec  im  rameau  du  premier  nerf  spinal,  qui 
se  rend  ä  l'extremite  superieure;  Tanterieure,  et  de  beau- 
coup  la  plus  volumineuse,  forme  une  arcade  en  se  diri- 
geant  vers  les  muscles  de  la  langue,  auxquels  eile  se  distri- 
bue.  II  est  clair  que  ce  nerf  repond  ä  Thypoglosse  des 
autres  vertebres,  et  il  est  encore  evident  qu'il  est  iden- 
tique  avec  le  nerf  des  poissons  que  j'ai  designe  sous  le 
nom  d'hypoglosse.  Chez  la  grenouille,  l'hypoglosse  forme 
le  passage  des  nerfs  spinaux  aux  nerfs  cerebraux;  dans  ce 
batracien  il  se  trouve  meme  en  dehors  de  la  cavite  du 
cräne,  entre  les  deux  premieres  vertebres,  de  sorte  qu'il 
est  reellement  le  i)remier  nerf  spinal.  Les  observations  de 
Mayer^  ajoutent,  enfin,  une  nouvelle  preuve  ä  l'analogie 
entre  l'hypoglosse  des  mammiferes  et  celui  des  poissons. 
Cet  anatomiste  a  trouve  chez  le  chien,  le  boeuf,  le  cochon, 
et  une  fois  chez  l'homme,  une  racine  posterieure  de  l'hy- 
poglosse, tr^s  fine  et  pourvue  d'un  petit  ganglion. 
Je  crois  avoir  prouve,  par  ce  que  je  viens  de  dire,  que 
l'hypoglosse,  nie  jusqu'ici  dans  les  poissons  seuls,  parmi 
les  vert^bres^,  appartient  egalement  ä  cette  classe  et  y 
conserve,  de  la  maniere  la  plus  apparente,  son  type  pri- 
mitif  de  nerf  spinal. 

En  comparant  les  nerfs  cerebraux  des  poissons  ä  ceux  des 
autres  vertebres,  Ton  trouve  six  paires,  savoir:  l'olfactif, 
l'optique,  le  trijumeau,  l'acoustique,  le  vague  et  l'hypo- 
glosse, qui  se  rencontrent  dans  toutes  les  classes,  et  qui, 
dans  toutes,  se  pre'sentent  comme  des  nerfs  separes  et, 
pour  ainsi  dire,  comme  des  nerfs  spinaux  d'une  puissance 
superieure,  ainsi  que  je  vais  le  demontrer.  Je  donne  le 
nom  de  nerfs  pj-mitifs  ä  ces  nerfs,  comme  ä  tous  les  autres 
nerfs  qui  s'inserent  ä  la  moelle,  en  y  formant  un  segment 
auquel  repond  une  vert^bre.   Les  trois  autres  paires,  au 

1  Nov.  acL  nat  cur.  V,  XVI.  — 2  Müllers  ''Handlmch  der  Physiolo- 
gie'', p.  777. 


MEMOIRE  SUR  LE  SYSTEME  NERVEUX    233 

contraire,  le  facial,  le  glosso-pharyngien  et  l'accessoire 
de  Willis,  se  montrent  tantot,  et  tantot  disparaissent  dans 
les  differentes  classes  et  genres,  en  se  separant  tantot  des 
nerfs  vagiie  et  trijumeaii,  tantot  se  confondant  avec  eux; 
de  Sorte  qiie,  d'abord,  elles  apparaissent  comme  troncs 
particuliers,  et  ensuite  comme  branches  des  nerfs  vague 
et  trijumeau.  C'est  ainsi  qiie  l'accessoire  de  Willis  est  con- 
fondu  avec  le  vague  chez  les  poissons  et  les  batraciens, 
et  commence  ä  s'isoler  chez  les  sam-iens,  les  cheloniens 
et  les  oiseaux^;  c'est  ainsi  que  le  glosso-pharyngien,  isole 
chez  les  poissons,  devient  une  branche  du  nerf  vague 
chez  les  batraciens  et  les  ophidiens,  s'isole  de  nouveau 
dans  les  cheloniens,  et  se  montre  enfin  chez  les  oiseaux 
comme  un  tronc  particulier  tres  considerable^.  De  meme 
le  facial  se  trouve  chez  les  poissons  comme  une  brauche 
de  la  cinquieme  paire,  disparait  ensuite  chez  la  plupart 
des  reptiles  et  des  oiseaux,  et  se  montre,  enfin,  de  nou- 
veau chez  les  mammiferes  au  für  et  ä  mesure  que  la  face 
acquiert  plus  d'expression,  et  la  respiration  du  nez  plus 
de  developpement.    Par  cette  raison  je  nomme  ces  nerfs 

1  Bo/anus  [Atiafo/iie  fcshdünis  airopcac)  a  observe  l'accessoire  de 
Willis  sur  la  tortue;  Scrrcs  l'a  trouve  dans  les  oiseaux,  et  Bischoff 
dans  les  sauriens  et  les  oiseaux.  Ses  racines  naissent  sur  la  meme 
ligne  immediatement  ä  la  suite  de  Celles  du  nerf  vague,  et  se  con- 
fondent  avec  elles  dans  le  ganglion  de  ce  nerf.  C'est  le  tronc  du 
vague  qui  fournit,  apres,  l'accessoire  de  Willis  [ßischoff].  Meme 
pour  les  mammiferes  en  general  il  faut  avouer  que,  par  sa  disposi- 
tion  anatomique,  il  n'est  pas  reellement  distinct  du  nerf  vague. — 

2  II  n'y  a  pas  de  glosso-pharyngien,  d'apres  Dcsmoidiiis,  dans  les 
batraciens,  les  serpents  et  les  lezards?  mais  il  y  a  une  forte  brauche 
linguale  du  nerf  vagce,  brauche  que  je  regarde  comme  le  glosso- 
pharyngien  uni  ä  son  tronc  nerveux  priniitif.  Je  me  suis  convaincu 
d'une  pareille  disposition  sur  la  grenouille.  On  pourra  m'objecter 
i[u'on  a  tiouve  chez  les  sauriens  et  chez  les  oiseaux  en  meme  temps 
le  glosso-pharyngien  et  la  branche  linguale  du  nerf  vague.  Mais 
cette  branche  linguale  de  la  tortue  est,  d'apresÄyV?///^jr,  une  branche 
laryngienne,  et  la  meme  chose  pourrait  aussi  avoir  lieu  dans  les 
autres  cas.  Neanmoins,  en  supposant  exactes  les  observations  qu'on 
m'oppose,  je  n'y  vois  rien  d'embarrassant.  Pourquoi  dans  certaines 
circonstances  la  langue  ne  recevrait-t-elle  pas  deux  branches  du 
nerf  vague  au  lieu  dune,  le  glosso-pharyngien,  qu'on  trouve  ordi- 
nairement?  D'ailleurs,  chez  les  corneilles,  le  glosso-pharyngien  ne 
donne  aucun  filet  ä  la  langue,  d'apres  Desmouli>is\  mais  il  se  distribue 
entierement  dans  la  glotte;  il  serait  donc  plutot  le  rameau  larynge. 


234    NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTB:N 

nerfs  dirivis^  qiii  naissent  des  nerfs  vague  et  trijuineau,  et 
dont  Fexistence  isolee  depend  de  la  fonction  plus  deve- 
loppde  ä  laquelle  pre'sident  leurs  nerfs  primitifs.  Jamais 
on  ne  trouvera  pour  les  nerfs  derives,  m6me  quand  leur 
isolement  est  arriv^  ä  son  plus  haut  degre,  des  parties  os- 
seuses,  composant  une  vertebre  qui  re'ponde  au  segment 
de  la  moelle,  auquel  ils  s'inserent;  bien  plus,  deux  d'entre 
eux,  le  glosso-pharyngien  et  Taccessoire  de  Willis,  ne 
passent  pas  par  des  trous  particuliers,  mais  ils  accom- 
pagnent  leur  tronc  primitif  pour  sortir  du  cräne.  La  maniere 
dont  les  nerfs  derives  naissent  des  nerfs  vague  et  triju- 
meau,  parait  se  faire  par  une  Separation  des  filets  de  mo- 
tilite  et  de  sensibilite,  en  sorte  que  ce  sont  principalement 
des  filets  moteurs  qui  s'isolent  dans  les  nerfs  facial  et 
accessoire,  et  des  filets  de  sensibilite  qui  constituent  le 
glosso-pharyngien;  mais  sans  que  les  uns  excluent  tout-ä- 
fait  les  autres.  La  distribution  des  nerfs  facial  et  glosso- 
pharyngien  des  poissons  parle  en  faveur  de  cette  opinion, 
par  laquelle  on  evite  les  difficultes  qu'on  rencontre  quand 
on  regarde  le  facial  et  Paccessoire  de  Willis  comme  les 
racines  motrices  des  nerfs  vague  et  trijumeau,  restees  iso- 
lees;  car  la  sensibilite  du  facial  au  moins  est  prouvee  par 
les  experiences  de  Eschricht  (de  functionibus  nervorum  fa- 
ciei  et  olfactus  organt)  et  de  Gaedeschens^^  et  a  meme  de- 
termine  Arnold^  Bischoß'tt  Gaedescheiis  ä  compter  le  facial 
parmi  les  nerfs  primitifs,  naissant  par  deux  racines,  et 
pourvus  d'un  ganglion,  opinion  qui  ne  s'accorde  guere 
avec  les  observations  de  l'anatomie  comparee;  car  jamais 
un  nerf  primitif  ne  se  comportera  comme  une  branche 
d'un  autre  tronc  nerveux,  comme  cela  arrive  pour  le  facial 
des  poissons. 

Quant  aux  nerfs  cerebraux  primitifs  en  particulier,  je  tä- 
cherai  de  prouver  qu'il  ne  faut  pas  les  regarder  comme 
un  Systeme  nerveux  special;  mais  qu'on  peut  les  ramener 
au  type  des  nerfs  spinaux,  et  que  six  segments  de  la  moelle 
cerebrale  et  six  vertebres  cräniennes  leur  repondent. 
La  loi  qui  preside  au  developpement  des  nerfs  en  ge'neral 

1  Nervi  fociaUs  i)hysiologia  et  iyathologia.  V.  la  Physiologie  de 
Müller. 


MEMOIRE  SUR  LE  SYSTEME  NERVEUX    235 

est  enoncee  par  Carus^  en  ces  termes:  «De  meine  que  le 
degre  le  plus  bas  du  developpement  nerveux  est  constitue 
par  un  nerf  homogene,  ne  presentant  pas  de  racines  Se- 
parees de  sensibilite  et  de  motilite,  et  sortant  d'un  gan- 
glion  simple,  le  degre  le  plus  eleve  consiste  en  ce  que  les 
deux  racines,  restant  isolees,  se  comportent  comme  des 
nerfs  particuliers.  II  existe  un  troisieme  degre  interme- 
diaire,  dans  lequel  les  deux  racines  naissent  separement, 
mais  se  reunissent  bientot  en  un  tronc  commun.» 
Le  premier  degre  repond  aux  nerfs  des  insectes  et  des 
mollusques;  le  troisieme  repond  ä  tous  les  nerfs  primitifs 
des  vertebres,  excepte  l'optique,  l'acoustique  et  Tolfactif, 
qui  appartiennent  au  degre  le  plus  eleve.  Ce  dernier  de- 
gre est  indique  aussi  dans  les  nerfs  trijumeau  et  vague, 
par  l'isolemert  partiel  des  filets  motem-s  et  sensitifs  dans 
les  nerfs  derives  qu'ils  fournissent;  mais  il  n'est  pas  en- 
core  complet. 

L'hypoglosse  des  poissons  et  de  la  grenouille,  comme  je 
viens  de  le  prouver,  se  comporte  encore  tout-ä-fait  comme 
un  nerf  spinal;  la  seule  difference  reside  en  ce  que  la 
racine  inferieure,  ou  racine  de  motilite,  est  beaucoup  plus 
developpee  que  la  superieure  ou  racine  de  sensibilite, 
difference  qui  acquiert  son  maximum  chez  l'homme  oü, 
dans  rimmense  majorite  des  cas,  la  racine  superieure  dis- 
parait  entierement. 

Les  nerfs  vague  et  trijumeau  sont  caracterises  comme 
nerfs  spinaux  par  leurs  deux  racines,  par  le  renflement 
qui  se  trouve  ä  la  racine  posterieure,  et  par  leur  distribu- 
tion  le  long  des  branchies  et  des  mächoires,  qui  presentent 
encore  tout-ä-fait  le  type  des  cotes;  ces  deux  nerfs 
ofifrent  une  symetrie  frappante  dans  toute  Techelle  des 
vertebres.  Tous  deux  donnent  Torigine  des  nerfs  d^rives, 
et  ont  pour  fonction  de  Her  la  vie  vegetative  ä  la  vie  ani- 
male.  Le  nerf  vague  se  comporte  ä  Fegard  de  la  cavitt^ 
thoracique  et  abdominale,  comme  le  trijumeau  ä  Tegard 
j  de  la  cavite  nasale  et  buccale.  Le  premier  est  aux  organes 
de  la  respiration  et  de  la  digestion  materielle  ce  que  le 
second  est  aux  organes  d'une  digestion  et  d'une  respira- 
^    Von  den  l  ^rteilen  des  Knochen-  und  Sc Iia lenger iistes. 

I 


236    NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

tion  plus  subtile,  ideale  pour  ainsi  dire,  savoir  aux  Or- 
gan es  du  goüt  et  de  rodorat^.  Bref,  le  trijumeau  est  un  nerf 
vague  d'une  puissance  superieure;  ce  rapport  est  dejä 
prononce  dans  les  poissons.  A  une  grande  brauche  late- 
rale du  nerf  vague  repond  une  branche  laterale  du  triju- 
meau; aux  branches  intestinales  et  branchiales,  les  bran- 
ches  maxillaires;  ä  la  premiere  branche  du  nerf  vague,  au 
glosso-pharyngien,  la  premiere  branche  du  trijumeau, 
Tophthalrnique  de  Willis.  Dans  les  mammif^res,  le  nerf 
vague  est  divise  en  trois  troncs:  l'accessoire  de  Willis,  le 
nerf  vague  proprement  dit,  et  le  glosso-pharyngien;  le 
trijumeau  de  meme  en  trois:  le  facial,  le  trijumeau  pro- 
prement dit,  et  Fophthalmique  de  Willis,  qu'on  pourrait 
regarder  comme  un  nerf  particulier,  aussi  bien  que  le 
glosso-pharyngien.  De  meme  que  l'accessoire  de  Willis 
est  le  nerf  respirateur  du  cou  et  d'une  partie  du  tronc^, 
le  nerf  facial  est  le  nerf  respirateur  de  la  tete;  de  meme 
que  le  tronc  du  nerf  vague  est  le  nerf  de  Sensation  du 
canal  intestinal,  la  branche  linguale  du  trijumeau  est  le 
nerf  du  sens  propre  de  la  langue,  la  partie  la  plus  parfaite 
du  tube  digestif,  l'organe  du  sens  intestinal,  comme  Oken 
appelle  ingenieusement  le  goüt.  Enfin,  de  meme  que  le 
nerf  vague  fournit  le  glosso-pharyngien  comme  nerf  acces- 
soire  ä  l'organe  du  goüt,  le  trijumeau  donne  1' ophtha! - 
mique  de  Willis  comme  nerf  accessoire  ä  l'organe  de 
l'odorat^ 

1  De  meme  que  l'organisme  s'empare,  par  la  digestion  et  la  respi- 
ration,  de  la  matiere  elle-meme  des  corps  exterieurs,  il  saisit  par 
l'odorat  et  le  gout  leur  essence  materielle  la  plus  subtile,  en  sorte 
que  cette  respiration  et  cette  digestion  consistent  en  une  fonction 
purement  sensitive. —  2  Voici  un  fait  anatomique  qui  vient  ä  l'appui 
de  l'opinion  emise  -^zx  Arnold  [Der  Kopf  teil  des  vegetativen  Nerven- 
systems), Scarpa  [De  gangliis  nervoru?n  deque  essen tia  ner^'i  intercosta- 
Hs.  Ann.  univers.  di  mediana,  1831)  et  Bischoff  (ouvr.  cite),  sur  le 
rapport  de  l'accessoire  de  Willis  et  du  nerf  vague.  Chez  l'homme  j'al 
vu  la  brauche  anterieure  de  Taccessoire  de  Willis,  qui  s'accolle  au  nerf 
vague,  donner  non-seulement  le  rameau  pharyngien  du  nerf  vague, 
mais  former  aussi  presque  entierement  le  nerf  larynge  superieur. — 
^  Les  experiences  recentes  de  Panizza  [Ricerche  spe^-imentali  sopra 
i  nenn,  Pavia,  1834),  qui  ont  pour  but  d'etablir  que  le  nerf  glosso- 
pharyngien  est  le  veritable  nerf  du  goüt,  changeraient  en  partie  ces 
reflexions  sur  la  symetrie  des  nerfs  vague  et  trijumeau.  Cependant, 


MEMOIRE  SUR  LE  SYSTEME  NERVEUX    237 

Noiis  arrivons  maintenant  ä  l'optique,  ä  l'olfactif  et  ä 
l'acoustique,  comme  pre'sentant  le  degre  le  plus  eleve  du 
developpement  nerveux  signale  par  Carus,  qui  consiste 
dans  la  Separation  et  Tisolement  des  deux  racines.  Pour 
Tolfactif  et  racoustitjue  cet  isolement  est  accompagne  de 
Tavortement  de  la  racine  inferieure,  de  sorte  qu'il  n'y  a 
que  les  racines  superieures  qui  se  soient  developpees;  ces 
nerfs  presentent  donc,  sous  ce  rapport,  l'inverse  de  l'hy- 
poglosse  de  l'homme,  qui  ne  consiste  qu'en  une  racine 
inferieiu'e. 

Le  nerf  optique  et  les  nerfs  musculaires  de  Tail  ne  sont 
qu'un  seul  nerf  primitif,  dont  les  racines  superieures  et  in- 
ferieures  sont  restees  isolees,  et  dont  chacune  forme  un 
nerf  particulier,  un  nerf  de  sensibilite  etun  nerf  de  motilite; 
mais  voici  que,  pour  le  developpement  de  la  racine  in- 
ferieure, il  se  presente  une  nouvelle  loi,  que  Cartis  e'nonce 
e'galement:  «Dans  la  loi  precedente  nous  avons  vu  que 
les  deux  racines  peuvent  constituer  deux  nerfs  particu- 
liers;   chacune  de  ces  racines  peut  maintenant  se  sous- 

Cüinme  elles  sont  contraires  aux  resultats  obtenus  par  tous  les  autres 
anatcJmistes,  il  fandra  attendre  encore  qu'elles  soient  confirmees 
par  d'autres  experlmentateurs.  Au  moins  lanatomie  comparee  de- 
truit  le  principe  a priori  d'apres  lequel  Panizza  concluait  qu'il  devait 
y  avoir  un  nerf  particulier  pour  le  goüt  aussi  bien  que  pour  la  vision, 
l'odorat  et  l'audition,  puisqu'elle  prouve  que  le  glosso-pharyngien 
doit  etre  regarde  comme  la  premiere  brauche  du  nerf  vague.  Mais 
precisement  cette  derniere  opinion  parle  en  faveur  des  experiences 
de  Pauizza.  Le  nerf  vague  etant  le  nerf  du  canal  intestinal,  il  serait 
assez  naturel  qu'il  donndt  aussi  les  filets  nerveux  de  la  langue,  et 
qu'il  devint  le  nerf  du  sens  du  goüt,  comme  il  est  le  nerf  de  Sen- 
sation du  canal  intestinal.  Une  autre  preuve  en  faveur  de  Panizza 
parait  etre  fournie  par  la  circonstance  qu'il  y  a  beaucoup  d'animaux 
pourvus  d'une  langue  bien  evidente,  chez  lesquels  on  ne  trouve  pas 
de  brauche  linguale  de  la  cinquieme  paire.  Chez  la  grenouille  je  ne 
l'ai  pas  vue;  Bojaiiiis  ne  l'a  point  trouvee  sur  la  tortue,  et,  d' apres 
Desmoulins,  le  cameleon  meme  en  est  depourvu.  De  plus,  parmi 
les  oiseaux,  les  passereaux  et  les  gallinaces  en  manquent.  Reste  a 
savoir  cependant  si,  dans  ces  animaux,  la  langue  est  un  organe  de 
goüt,  et  si  eile  n'est  pas  seulement  un  Instrument  de  prehension  et 
de  deglutition.  Chez  les  Cyprins,  enfin,  l'organe  particulier,  pro- 
bablement  gustatif,  ne  recoit  que  des  filets  de  la  paire  vague;  cepen- 
dant le  rameau  superieur  de  la  brauche  recurrente  du  trijumeau,  se 
confondant  avec  le  ganglion  du  vague,  laisse  aussi  dans  ce  cas  la 
question  ind^cise. 


238    NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTP:N 

diviser  elle-meme  en  nerfs  particuliers.»^  C'est  precise- 
ment  ce  qui  a  Heu  pour  la  racine  infe'rieure  du  nerf 
optique:  eile  se  sous-divise  en  trois  branches,  qui  devien- 
nent  trois  nerfs  particuliers,  l'oculo-moteur,  l'abducteur 
et  le  pathetique.  L'oculo-moteur  et  Tabducteur  naissent 
du  meme  cordon  de  la  moelle,  presque  sur  la  meme  ligne, 
l'un  au  devant  de  l'autre,  et  chez  les  poissons  leurs  points 
d'origine  sont  assez  rapproches.  Ce  sont  deux  fiiets  de  la 
meme  racine,  dont  Tun  se  ddgage  plus  tot  de  la  moelle 
que  l'autre.  Le  pathetique  presente  plus  de  difficulte;  ce- 
pendant  sa  mani^re  d'etre,  chez  les  poissons,  les  ecarte 
en  grande  partie.  II  nait  du  bord  externe  des  pyramides 
antdrieures,  par  consequent  du  meme  cordon  que  les  autres; 
seulement  son  point  de  sortie  de  la  moelle  est  plus  e'leve. 
L'anastomose  de  la  sixieme  paire  avec  le  grand  sympa- 
thique  s'explique  des  lors  facilement,  quand  on  se  rap- 
pelle  que  tous  les  nerfs  primitifs  complets  s'anastomosent 
avec  le  grand  sympathique,  et  que  le  nerf  optique  ne  fera 

1  Carus  ne  me  parait  pas  faire  une  application  heureuse  de  ses 
propres  lois.  Aux  trois  renflements  du  cerveau,  savoir  aux  hemi- 
spheres,  aux  tubercules  quadrijumeaux  et  au  cervelet,  repondent, 
d'apres  lui,  trois  paires  cerebrales,  dont  les  racines  superieures 
isolees  sont  formees  par  l'olfactif,  l'optique  et  l'acoustique,  les 
racines  inf^rieures  par  les  nerfs  trijumeau  et  vague,  tandis  que  la 
troisieme  racine,  lepondant  ä  l'olfactif,  ne  s'est  pas  developpee 
et  est  remplacee  d'une  nianiere  rudimentaire  par  l'infundibulum. 
D'apres  la  seconde  loi,  maintenant,  les  racines  inferieures  se  sous- 
divisent  elles-memes,  de  sorte  que  le  vague  donne  les  nerfs  glosso- 
pharyngien,  hypoglosse  et  accessoire  de  Willis,  et  le  trijumeau  le 
facial,  l'abducteur  et  Toculo-moteur.  Une  sous-division  des  racines 
superieures  n'a  lieu  que  pour  l'optique,  et  le  nerf  pathetique  en 
resulte.  Voici  le  tableau  de  cette  Classification,  par  lequel  on  voit 
aisdment  combien  eile  est  contraire  ä  la  physiologie  et  a  Tanatomie 
comparee. 

I.  Trois  renflements  cerebraux: 
Hemispheres,  tubercules  quadrijumeaux,       cervelet. 

TT.  Trois  paires  de  nerfs  cerebraux: 
a.  Racines  superieures: 
L'olfactif,  l'optique,  le  pathetique,  l'acoustique. 

b.  Racines  inferieures: 
T.'infundibulum,  le  trijumeau:  le  vague: 

facial,  oculo-moteur,      glosso-pharyngien, 
abducteur.  hypoglosse,  accessoire. 


MEMOIRE  SUR  LE  SYSTEME  NERVEUX     239 

pas  exception;  c'est  par  sa  racine  inferieure  que  cette 
anastomose  a  lieu. 

Ce  developpement  de  la  paire  primitive  destinee  ä  Toeil 
coincide  avec  la  haute  perfection  de  cet  Organe,  le  plus 
animal  du  corps,  pour  ainsi  dire.  Toutes  les  parties  du 
cerveau  sont  repre'sentees  dans  le  globe  de  Toeil.  La  dure- 
m^re  par  la  sclerotique;  le  cräne  meme  par  les  lames  os- 
seuses,  qui  se  developpent  dans  cette  membrane  chez  les 
poissons,  les  reptiles  et  les  oiseaux;  la  pie-m^re  par  la 
choroide;  la  substance  medullaire  par  la  retine;  les  hu- 
meurs  aqueuses  des  ventricules  par  des  humeurs  solidi- 
fiees,  le  cristallin  et  le  corps  vitre.  Sur  ce  globe  s'ins^re 
un  Systeme  musculaire,  par  lequel  l'oeil  est  porte  autour 
de  son  axe  comme  une  main.  Oken  a  dit  metaphorique- 
ment:  Toeil  est  un  cerveau  mis  en  dehors,  qui  est  telle- 
ment  lie  au  Systeme  musculaire  qu'il  s'en  irait,  s'il  n'e'tait 
pas  retenu  par  son  amour  pour  la  mere  qui  le  nourrit.  II 
dit,  d'ailleurs,  que  meme  la  vie  vegetative  se  repete  dans 
l'ceil,  par  la  glande  lacrymale,  les  paupi^res  semblables 
ä  des  levres,  le  canal  lacrymal,  unissant  l'ceil  ä  la  cavite 
nasale  comme  la  trompe  d'Eustache  unit  l'oreille  ä  la 
cavite  buccale,  etc.  D'apres  lui,  l'oeil  est  en  petit  un  corps 
entier,  avec  une  grande  predominance  des  systemes  ner- 
veux  et  musculaire;  c'est  l'organe  le  plus  e'leve',  la  fleur, 
üu  plutot  le  fruit  de  l'organisation. 

En  comparant  entre  eux  les  nerfs  primitifs  du  cerveau, 
on  trouve  qu'ils  se  divisent  en  deux  groupes.  L'un,  formd 
par  l'acoustique  et  l'optique,  les  nerfs  du  son  et  de  la 
lumi^re,  est  l'expression  la  plus  pure  de  la  vie  animale; 
Tautre,  forme  par  l'hypoglosse,  le  vague,  le  trijumeau  et 
l'olfactif,  el^ve  la  vie  vegetative  ä  la  vie  animale.  C'est 
ainsi  que  nous  avons  la  conscience  de  l'acte  de  la  di- 
gestion  et  de  la  respiration  par  le  nerf  vague;  que  la  lan- 
gue,  partie  essentielle  du  canal  intestinal,  devient  un  Or- 
gane soumis  ä  la  volonte,  en  quelque  sorte  un  membre 
de  la  tete  sous  l'influence  de  l'hypoglosse,  et  que  le  goCit 
et  l'odorat,  comme  sens  de  la  digestion  et  de  la  respira- 
tion, se  de'veloppent  par  l'influence  du  trijumeau  et  de 
Tolfactif.   Les  nerfs  de  ce  groupe  ne  se  distinguent  ce- 


2  40    NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

pendant  pas  plus  des  autres  nerfs  primitifs,  que  ne  le  fönt 
les  nerfs  lombaires  qui  se  rendent  aux  organes  de  la  ge- 
neration.  Les  premiers  sont  ä  la  digestion  et  ä  la  respi- 
ration  ce  que  les  derniers  sont  ä  la  gene'ration.  D'ailleurs, 
tous  les  nerfs  spinaux  sont  en  quelque  sorte  lies  ä  la  vie 
vegetative,  puisque  laplupartdesmouvementsmusoilaires, 
necessaires  ä  la  respiration,  se  fönt  sous  leur  influenae. 
II  est  encore  interessant  de  voir  comment  les  masses  ce- 
rebrales se  developpent  en  raison  des  paires  primitives. 
A  cinq  des  paires  cerebrales  primitives  repondent  cinq 
renflements  pairs  ou  impairs,  places  sur  la  meme  ligne, 
les  uns  derriere  les  autres.  Au  nerf  olfactif  repondent  les 
hemispheres,  ä  Toptique  les  lobes  optiques,  au  trijumeau 
le  cervelet,  ä  Tacoustique  le  tubercule  impair  du  qua- 
trieme  ventricule,  au  vague  les  lobes  du  nerf  vague.  La 
moelle  se  comporte  ä  l'egard  de  l'hypoglosse  comme  ä 
l'egard  d'un  nerf  spinal.  Ce  rapport  entre  les  nerfs  et  les 
renflements  de  la  moelle  est  particulierement  prononce 
chez  les  Trigles,  dans  lesquels,  aux  six  premieres  paires 
spinales  tr^s  developpees,  re'pondent  six  paires  de  renfle- 
ments de  la  moelle  epiniere.  Ces  renflements  ofifrent  la 
transition  la  plus  apparente  de  la  moelle  epiniere  au  cer- 
veau.  En  les  decrivant,  Tiedemmin'^  indique  la  loi  d^apres 
laquelle  se  developpent  les  masses  cerebrales.  Voici  ses 
propres  paroles:  «Les  renflements  de  la  moelle  epiniere 
des  Trigles  me  paraissent  etre  tres  importants  pom-  la 
connaissance  de  la  structure  et  de  la  physiologie  du  Sys- 
teme ce'rebro- spinal.  La  moelle  epiniere  est  bien  evi- 
demment  formee  par  une  Serie  de  renflements,  d'oü  nais- 
sent  les  nerfs;  ces  renflements  se  developpent  dans  ce 
genre  en  m.eme  temps  que  les  nerfs  qui  en  emanent  aug- 
mentent  de  volume,  et  qu'il  y  a  des  organes  particuliers, 
dans  lesquels  ces  nerfs  se  distribuent.  Une  fonction  ner- 
veuse  plus  eleve'e  parait  etre  lie'e  ä  un  plus  grand  de've- 
loppement  de  la  moelle,  qui  fait  apparaitre  ces  renfle- 
ments. Pour  la  structure  du  cerveau  des  poissons,  je  crois 
])Ouvoir  etablir  la  loi  suivante:  au  developpement  plus 
considerable  d'organes  particuliers  est  liee  une  augmen- 
1  Mcckch  Archiv.  T.  11,  H.  2. 


MEMOIRE  SUR  LE  SYSTEME  NERVEUX    241 

tation  de  masse  de  la  moelle,  ä  Tendroit  oü  naissent  les 
nerfs  poiir  les  organes  plus  developpe's.» 
Je  pense  qu'on  peut  e'tendre  cette  loi  sur  la  formation  du 
cerveau  en  geiieral.  Les  masses  cerebrales  ne  sont  pri- 
mitivement  que  des  renflements,  qui  repondent  ä  Tinser- 
tion  des  nerfs  cerebraux,  et  qui  se  developpent  ä  l'extre- 
mite  anterieui-e  de  la  moelle,  en  raison  de  la  gradation 
des  fonctions  qui  s'opere  dans  cette  partie  anterieure- 
gradation  de  laquelle  depend  le  developpement  de  l'ex, 
tremite  anterieure  du  corps,  dont  le  resultat  est  la  forma- 
tion de  la  tete.  Dans  les  autres  classes,  le  developpement 
uniforme  des  renflements  cere'braux  le  long  de  la  moelle, 
disj^arait  peu  ä  peu;  il  se  porte  toujours  davantage  vers 
l'extre'mite  anterieure,  tandis  que  la  partie  posterieure 
redevient  semblable  au  reste  de  la  moelle.  C'est  ainsi 
que  les  lobes  du  nerf  vague  et  le  lobe  du  quatrieme  ven- 
tricule  disparaissent,  et  que  le  cervelet  et  les  lobes  op- 
tiques  changent  de  proportion;  tandis  que  les  hemispheres 
se  developpent  de  la  maniere  la  plus  distincte.  Ce  chan- 
gement  cependant  ne  suit  pas  une  marche  uniforme  ä 
mesure  qu'on  remonte  l'echelle  des  vertebre's;  mais  il  y  a 
beaucoup  d'oscillation  dans  les  differents  genres.  S'il  etait 
vrai,  comme  le  disent  cjuelques  anatomistes,  que  les  lobes 
optiques  des  poissons  repondissent  en  partie  ou  enticre- 
ment  aiLx  hemispheres,  cette  assertion  fournirait  une  ob- 
jection  fondee  ä  ce  raisonnement;  en  efifet,  le  lobe  op- 
tique  presente  bien  des  parties  qui  rapj^ellent  celles  qui  se 
developpent  dans  les  hemispheres,  savoir:  le  corps  cal- 
leux,  la  voüte,  les  tubercules  quadrijumeaux  et  les  couches 
optiques,  comme  Gotische  l'a  prouve. 
Une  re'union  des  deiix  hypotheses  ne  serait-elle  pas  pos- 
sible:  Le  cerveau  des  poissons  n'est  qu'un  assemblage 
de  tubercules,  dont  chacun  repond  ä  un  nerf.  II  faut  ce- 
])endant  qu'il  y  ait  un  centre  commun  qui  rassemble  les 
impressions,  et  qui  preside  ä  la  rcaction.  Ce  centre,  qui 
doit  se  trouver  chez  tous  les  animaux,  ne  serait-ii  pas 
construit  sur  un  plan  ge'neral,  et  son  siege  ne  suivrait-il 
pas  le  developpement  progressif  de  la  partie  anterieure 
de  la  moelle,  de  sorte  que,  chez  les  poissons,  il  serait 


242     NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

place  dans  les  lobes  optiques;  tandis  que  dans  les  autres 
animaux  il  se  trouverait  dans  les  hemispheres:  Et,  enfin, 
ce  centre  ne  se  presenterait-il  pas,  d'apres  son  type  pri- 
mitif,  sous  des  formes  analogues,  dans  les  lobes  optiques, 
comme  dans  les  hemispheres? 

J'arrive  maintenant  ä  la  determination  des  six  vertebres 
cräniennes  qui,  selon  nous,  repondent  aux  six  paires  de 
nerfs  cerebraux  primitifs. 

La  transition  la  plus  evidente  des  vertebres  proprement 
dites  aux  vertebres  cräniennes,  se  voit  dans  les  trois  pre- 
mieres  vertebres  des  Cyprins;  leur  nnion  plus  intime,  leurs 
arcs  et  leurs  apophyses  epineuses,  beaucoup  plus  de've- 
loppes  et  formant  des  os  particuliers,  qui  s'unissent  par 
sutures,  fönt  qu'elles  presentent  dejä  au  premier  aspect 
une  forme  tout-ä-fait  cränienne.  Elles  fönt  voir  de  quelle 
maniere  les  difierentes  parties  de  la  vertebre  s'isolent  en 
os  particuliers,  et  prouvent  par  lä  qu'il  faut  chercher  pour 
chaque  vertebre  cränienne  trois  parties,  un  corps,  deux  os 
lateraux  formant  Tarc  vertebral  qui  entoure  lamoelle,  et  une 
apophyse  epineuse.  D'apres  ce  fait,  et  en  se  rappelant  que 
chaque  nerf  doit  etre  en  rapport  avec  sa  vertebre,  il  est 
facile  de  trouver  les  six  vertebres  en  question. 
En  comptant  d'arriere  en  avant,  la  premiere  vertebre 
repond  ä  l'hypoglosse.  Le  corps  est  forme  par  la  partie 
posterieure  de  la  portion  basilaire  de  Toccipital,  l'arc  par 
les  parties  posterieures  des  os  occipitaux  late'raux  {Cu- 
vier)^  Separees  de  ces  os  par  le  grand  trou  ovale,  et  la 
partie  epineuse  par  Tos  inter-parietal  Cuvier  {^^crista  oc- 
cipitis^^  Bojanus^  ^^Hinterhauptschuppe^^  Meckel),  qui  porte 
Tapophyse  epineuse  de  l'occipital.  L'arc  de  cette  vertebre 
est  separe  de  celui  de  la  suivante  par  un  veritable  trou  de 
conjugaison,  trou  excessivement  grand  chez  les  Cyprins, 
par  lequel  passe  l'hypoglosse,  et  qui  fait  communiquer  la 
fossa  auditoria  ( Weder)  avec  la  cavite'  du  cräne.  Cette 
vertebre  porte  des  apophyses  transverses,  qui  sont  diri- 
gees  verticalement  en  bas,  et  s'unissent  en  circonscrivant 
une  Ouvertüre  par  laquelle  passe  l'aorte.  Quant  ä  la  com- 
position  de  cette  vertebre,  on  pourrait  m'objecter  que  la 
partie  que  je  regarde  comme  le  corps,  n'est  re'elleraent 


MEMOIRE  SUR  LE  SYSTEME  NERVEUX    243 

pas  Separee  de  la  portioo  basilaire  de  l'occipital,  avec 
laquelle  on  la  confond  ordinairemeDt,  et  que  la  meme 
chose  arrive  pour  l'arc  qui  est  confondu  avec  Foccipital 
lateral  {Cuvier).  Je  reponds  ä  la  premiere  objection,  en 
disant  que  j'use  du  meme  droit  dont  se  servent  ceux  qui 
regardent  le  sphe'noi'de  des  poissons  comme  divise  en 
deux  moities,  quoique  cette  division  n'existe  pas  reelle - 
ment.  La  disposition  des  autres  os  justifie,  dans  les  deux 
cas,  egalement  cette  Separation,  que  Geoffroy  Saint-Hilaif-e 
adopte  d'ailleurs;  il  de'signe  le  corj)s  de  ma  premiere  ver- 
tebre,  ou  la  partie  posterieure  du  basilaire,  sous  le  nom 
d'os  basisphenal.  La  seconde  objection  se  refute  facile- 
ment,  quand  on  compare  le  cräne  du  Brochet  ä  celui  des 
Cyprins.  Chez  le  premier,  l'arc  de  la  premiere  vertebre 
est  forme  bien  evidemment  par  deux  lames  osseuses  tout- 
ä-fait  Separees  des  occipitau^x  lateraux.  L'hypoglosse,  qui 
passe  entre  leur  bord  ante'rieur  et  le  bord  posterieur  de 
Toccipital  lateral,  l'anneau  qu'elles  forment  autour  de  la 
moelle,  leur  articulation  avec  Tarc  de  la  premiere  verte- 
bre spinale,  prouvent  qu'elles  sont  identiques  avec  les  os 
en  question  des  Cyprins.  Coj-us  regarde  aussi  ces  parties 
comme  deux  os  particuliers,  et  les  nomme  die  untern 
Deckplatten  des  ersteht  Zwischemuirbels.  Le  grand  trou 
ovale  repond  au  trou  condyloidien  anterieur.  J'appelle  os 
occipitaux  lateraux  poste'rieurs,  les  os  qui  forment  l'arc 
de  ma  premiere  vertebre. 

La  seconde  vertebre  est  celle  du  nerf  vague.  Le  corps 
est  forme  par  la  partie  anterieure  de  la  portion  basilaire 
(rotosph^nal  Geoffroy)\  l'arc,  par  les  occipitaux  lateraux 
Cuvier  (exoccipitaux  Geojfroy^  ^''seitliches  unteres  Hinter - 
hauptstück^^  Meckel),  et  Papophyse  dpineuse,  par  les  occi- 
pitaux externes  (3/zV^;- (suroccipitaux  Geoffroy^  '^ossa  inter- 
parietalia^^  Bojanus,  ^^seitlicJies  oberes  Hifiterhaiiptstück''' 
Meckel).  Cette  derniere  n'est  pas  simple,  mais  dedoublee 
par  le  developpement  de  l'apophyse  epineuse  de  la  ver- 
tebre precedente;  eile  a  ete  d^jete'e  sur  les  deux  cotds, 
comme  cela  arrive  aussi  ordinairement  pour  les  parietaux. 
II  n'y  a  pas  de  trou  intervertebral,  le  nerf  vague  et  le 
glosso-phar}'ngien  traversent  les  os  de  l'arc. 


244    NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

Chez  la  grenouille  les  deux  vertebres  cräniennes  que  je 
viens  de  decrire,  presentent  un  fait  un  peu  anomal.  La 
premiere  vertebre  s'est  separee  du  crfine,  et  est  redevenue 
une  vertebre  spinale,  en  formant  un  anneau  osseux  entre 
la  seconde  vertebre  cranienne  ou  vertebre  du  nerf  vague, 
et  la  premiere  vertebre  spinale.  Le  nerf  vague  passe  par 
un  trou  de  l'arc  de  sa  vertebre  (de  Toccipital  lateral  an- 
terieurj,  comme  chez  les  poissons.  On  supposerait  main- 
tenant  que  Thypoglosse  düt  passer  entre  la  seconde  ver- 
tebre cranienne  et  la  premiere  (redevenue  spinale);  mais 
cela  n'a  pas  lieu.  L'hypoglosse  sort  entre  la  premiere 
vertebre  cranienne  et  la  premiere  vertebre  spinale,  de 
Sorte  qu'il  parait  y  avoir  une  vertebre  ä  laquelle  ne  re'- 
pond  pas  de  nerf.  Chez  le  Protee,  d'apres  la  description 
de  Meckel'^^  non-seulement  la  premiere  vertebre  cranien- 
ne, mais  aussi  la  seconde,  se  sont  separe'es  du  crane, 
et  sont  redevenues  vertebres  spinales,  de  sorte  que  la 
seconde  s'articule  avec  le  corps  du  sphenoide  par  deux 
apophyses  articulaires. 

Les  deux  premieres  vertebres  cräniennes  sont  soudees  en 
une  seule  piece  osseuse  chez  les  mammiferes;  elles  y  for- 
ment  l'occipital,  dont  la  division  primitive  en  deux  ver- 
tebres est  encore  indiquee  par  les  trous  condyloi'diens 
anterieurs,  et  par  les  os  inter-parietaux  qu'on  distingue 
sur  de  jeunes  individus. 

La  troisieme  vertebre,  ou  la  vertebre  auditive,  est  com- 
posee  par  le  frontal  posterieur  Ciwier  (portion  ecailleuse 
du  temporal  Bojanus^  Meckel  et  Rosent/ial,  os  temporal 
Geoffroy^  ^h^ordcre  obere  Grundplatte  des  ersten  Zwisc/ien- 
wirbels'^  Carus)^  le  mastoidien  Cuvier  et  Meckel  (^^ hintere 
obere  Grundplatte  des  ersten  Zwischenwirb eW''  Carus,  ro- 
cher Bojanus,  os  prerupeal  Geoffroy),  et  Vos  qiiadratum. 
Je  compare  ces  trois  os  ä  la  portion  ecailleuse  du  tem- 
poral, a  l'apophyse  mastoi'de  et  ä  la  portion  tympanique, 
mais  Sans  pretendre  rechercher  ä  quelle  partie  d'une  ver- 
tebre ils  repondent.  Peut-etre  que  la  portion  tympanique 
represente  le  corps,  la  portion  ecailleuse  l'arc,  et  l'apo- 
physe mastoide  l'apophyse  epineuse.  La  maniere  d'etre 
^  Svsft'in  der  7'cr^Ieichendai  Anatomie,  tom.  TT. 


MEMOIRE  SUR  LE  SYSTEME  NERVEUX    245 

particiili^re  de  Torgane  de  Touie  et  du  nerf  acoustique, 
qui  reste  dans  ia  cavite  cranienne,  fait  c[ue  cette  vertebre 
perd  presque  entierement  son  type,  et  qu'elle  est  poiissee 
meme  en  partie  en  dehors  des  os  du  cräne,  comme  cela 
a  lieu  pour  Vos  quadi-atiDn  des  vertebres  inferieurs. 
La  quatrit-me  vertebre  repond  au  trijumeau.  Le  sphenoide 
posterieur,  les  grandes  ailes  Cnvicr,  Geoffroy  et  Bojamts 
(rocher  Meckel,  ''Grutidplatten  des  ztvciten  Schädelwirb ch'' 
Canis),  et  le  parietal,  en  forment  le  corps,  l'arc  et  l'apo- 
physe  t'pineuse.  Ces  os  rcpondent  aux  os  homonymes  des 
mammiferes.  La  brauche  operculaire  du  trijumeau  tra- 
verse  la  grande  aile;  les  branches  maxillaires  superieure 
et  inferieure  au  contraire  passent  par  un  veritable  trou 
intervertebral  entre  cette  vertebre  et  la  suivante.  Chez 
le  Brochet,  cependant,  ces  branches  passent  uniquement 
par  un  trou  de  la  grande  aile. 

La  cinquieme  vertebre,  ou  la  vertebre  oculaire,  est  com- 
posee  par  le  sphenoi'de  anterieiu-,  les  petites  ailes  Cuvier^ 
Bojanus,  Geoffroy  (grandes  ailes  Meckel,  ^^ Grundplatte?i 
des  dritte?i  Schädelwirbels- ■  Carus),  et  le  frontal,  os  re- 
presentant  le  coips,  l'arc  et  l'apophyse  epineuse.  Le  nerf 
optique,  l'oculo-moteur,  le  pathetique  et  Tophthalrnique 
de  IJ^illis,  traversent  la  petite  aile. 

La  sixieme  vertebre,  ou  la  vertebre  oliactive,  change  un 
peu  de  forme,  parce  qu'elle  termine  en  avant  la  cavite 
vertebrale.  Le  corps  de  cette  vertebre  est  forme  par  le 
vomer  (Cuvier,  Bojaims^  Mechet),  l'arc  par  Tethmoide  de 
Meckcl  (frontal  anterieur  et  ethmoi'de  Ciivie?-)^  et  l'apo- 
physe epineuse  par  le  nasal  (Cuvier  et  Meckel).  Le  nerf 
olfactif  passe  par  un  grand  trou  ovale  de  l'arc:  cet  arc 
est  divise  en  deux  parties  par  une  suture;  la  posterieure, 
le  frontal  anterieur  {Cuvic?'),  est  paire  et  embrasse  encore 
la  moelle;  l'anterieure,  Tethmoide  {Cuvier)^  doit  etre  re- 
gardee  comme  formee  par  la  partie  anterieure  des  lames 
osseuses  de  l'arc,  qui,  ne  trouvant  plus  de  moelle  ä  em- 
brasser,  s'unissent  en  un  seul  os  par  leur  surface  interne. 
Le  vomer  et  Tos  nasal  re'pondent  aux  parties  homonymes 
de  rhomme;  mais  ä  quoi  repondent  les  deux  parties  de 
l'arcr  ä  Tos  ethmoi'de  Sans  doute,  et  Tanterieure,  placee 


246     NATURW1SSF:NSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

perpendiculairement  entre  le  vomer  et  l'os  nasal,  ä  la 
lame  perpendiculaire  de  cet  os.  La  posterieure  est  plus 
difficile  ä  expliquer.  Mais  quelles  sont  les  parties  qui  con- 
stituent  l'ethmoide  le  plus  complet?  les  lames  criblee, 
perpendiculaire  et  papyracee,  et  le  labyrinthe.  L'analogue 
de  la  lame  criblee  est  la  membrane  fibreuse,  qui  bouche 
le  trou  par  lequel  passe  Tolfactif;  l'analogue  du  labyrinthe 
sont  les  feuillets  de  la  pituitaire.  Reste  donc  seulement 
la  lame  papyracee.  La  lame  papyracee  forme  le  bord  ex- 
terne du  trou  par  lequel  passe  le  nerf  olfactif,  et  qui  est 
ferme  par  la  lame  criblee  dans  les  vertebres  superieurs. 
La  meme  chose  arrive  chez  les  poissons,  pour  la  portion 
posterieure  de  l'ethmoide:  eile  forme  le  contour  de  ce 
trou  qui  est  place  verticalement,  au  lieu  de  Fetre  hori- 
zontalement.  Qu'on  s'imagine  que  le  developpement  de 
la  vertebre  precedente,  savoir  du  frontal  et  de  la  partie 
anterieure  du  sphenoide,  domine  la  derniere  vertebre,  de 
mani^re  ä  Texclure  de  la  formation  de  la  cavite  cränienne; 
qu'on  se  represente  le  trou  olfactif  place  horizontalement, 
et  l'on  verra  l'os  en  question  repondre  par  sa  Situation 
exactement  ä  la  lame  papyracee;  seulement  il  est  infini- 
ment  plus  developpe:  circonstance  qui  coi'ncide  avec  la 
formation  assez  uniforme  des  vertebres  cräniennes.  Le 
developpement  de  cette  partie  dans  les  vertebres  infe'- 
rieurs,  est  encore  indique  meme  dans  le  foetus  de  l'homme, 
en  ce  que  les  lames  papyrac^es  sont  les  parties  de  l'eth- 
moide qui  s'ossifient  les  premi^res.  Aussi  la  Separation 
de  l'ethmoide  des  poissons,  en  deux  parties,  est  encore 
prononcee  dans  le  foetus  et  les  jeunes  individus;  car, 
d' apres  Mayer^  ce  n'est  que  dans  la  seconde  ou  la  troi- 
sieme  annee  que  la  lame  perpendiculaire  va  se  souder, 
avec  les  lames  papyracdes  et  le  labyrinthe,  en  un  seul  os. 
L'ethmoide  de  la  grenouille,  quoique  presentant  encore 
le  type  de  celui  des  poissons,  montre  dejä  une  transition 
ä  une  forme  superieure,  et  me  parait  tr^s-propre  ä  justifier 
mon  hypotbese. 

Pour  trouver  ces  six  vertebres  je  ne  crois  pas  avoir  tor- 
ture  les  faits,  ni  altere  l'arrangement  naturel  des  parties; 
cependant  il  faut  que  je  signale  une  difficulte  que  je  n'ai 


MEMOIRE  SUR  LE  SYSTEME  NERVEUX    247 

pu  vaincre.  Entre  Tethmoide  et  la  petite  aile  du  sphenoide 
on  trouve  un  os  considerable,  fonnant  une  partie  de  la 
piiroi  laterale  du  cräne  et  constituant  par  cela  un  ve'ritable 
arc  de  vertebre,  sans  qu'il  soit  possible  de  trouver  ni  un 
nerf,  ni  un  corps  et  une  apophyse  epineuse  qui  lui  repon- 
dent.  Cuviei'  appelle  cet  os  sphenoide  anterieur;  Bojanus 
le  nomme  rostrimi  sphenoidale;  Meckel^  enfin,  lui  donne 
une  veritable  signification  en  le  comparant  aux  petites 
ailes.  Poiu"  etre  consequent  dans  son  hypothese,  il  a  fallu 
qu'il  comparät  la  petite  aile  des  autres  anatomistes  ä  la 
grande  aile;  il  lui  est  reste  alors  ä  determiner  le  grand  os 
regarde  ordinairement  comme  la  grande  aile,  il  le  ddsigne 
comme  rocher.  Pour  justifier  son  opinion,  il  se  fonde  sur 
le  passage  des  nerfs,  en  disant  que  le  nerf  maxillaire  in- 
ferieur  passe  en  ge'ne'ral  par  la  partie  posterieure  de  la 
grande  aile,  et  souvent  meme,  le  trou  ovale  n'etant  pas 
ferme  dans  sa  partie  posterieure,  entre  cet  os  et  le  rocher, 
et  que  justement  cela  a  Heu  chez  la  Carpe.  En  faveur  de 
son  opinion,  je  puis  meme  ajouter  que  la  brauche  de  la 
cinquieme  paire,  que  je  regarde  comme  le  facial,  passe 
uniquement  par  cet  os,  et  que  cela  parait  aussi  le  carac- 
teriser  comme  rocher.  Mais  le  Brochet  fournit  une  preuve 
importante  contre  l'opinion  de  Meckcl.  Le  nerf  maxillaire 
ne  passe  pas  entre  le  rocher  (Meckel)  et  l'os  prece'dent, 
ou  la  grande  aile  (M ecket),  mais  il  passe  par  le  rocher 
meme;  son  tronc  est  uniquement  entoure  par  un  anneau 
osseux  du  roch  er  [Meckel).  La  meme  chose  a  Heu  chez 
la  Perche,  d'apres  Qivier^  oü  les  branches  du  trijumeau 
passent  par  le  milieu  de  ce  pretendu  rocher.  Je  le  de- 
mande,  le  trijumeau  pourra-t-il  jamais  ctre  en  pareil 
rapport  avec  le  rocher:  Impossible.  Cette  seule  circon- 
stance  suffit  pour  refuter  Meckel]  cependant  j'ajouterai 
encore:  la  petite  aile  des  autres  anatomistes  est,  d'apres 
Meckel^  la  grande  aile;  or,  la  petite  aile  est  toujours  ca- 
ractdris^e  par  le  passage  des  nerfs  optique,  oculo-moteur, 
pathetique  et  ophthalmique  de  Willis.  Qu'on  regarde  de 
pres  le  cräne  des  Cyprins,  et  l'on  verra  que  tous  ces  nerfs 
passent  uniquement  par  la  grande  aile  { Meckel);  chose 
egalement  impossible.  Le  nerf  optique  ne  passe  nullement 


248     NATURWISSENSCH.  Ü.  THILOS.  SCHRIFTEN 

entre  cet  os  et  le  precedent,  ou  la  petite  aile  {Mecket)\ 
mais  il  va  seulement  par  im  trou  de  la  grande  aile  (Meckel). 
Pour  les  aiitres  nerfs  il  n'y  a  pas  de  contestation  possible 
soiis  ce  rapport,  comme  ils  passent  pres  du  bord  poste- 
rieur,  et  non  pas  pres  de  Tanterieur  de  la  grande  aile 
(Mcckel).  Je  ne  con^ois  pas  comment  Mcckel  ait  pu  dire 
que  le  nerf  maxillaire  superieur  passe  entre  sa  grande  et 
sa  petite  aile.  Dans  les  poissons  seulement,  oü  une  partie 
de  la  grande  aile  [Meckel,  petite  aile  Cuvicr)  est  rempla- 
cee  par  une  membrane,  de  sorte  qu'une  grande  Ouvertüre 
se  trouve  dans  la  paroi  laterale  du  cräne,  on  pourrait  dire 
que  les  nerfs  de  Toäü  passent  entre  la  grande  et  la  petite 
aile  {Meckcl).  Mais  cette  membrane  represente  l'os,  et 
ses  trous  pour  le  passage  des  nerfs  repondent  aux  trous 
de  l'os,  comme  le  prouvent  le  Brochet  et  les  Cyprins. 
D'ailleurs,  chez  le  premier,  les  nerfs  de  loeil  ne  passeraient 
pas  entre  la  grande  et  la  petite  aile  de  Meckel;  mais  ils 
passeraient  entre  la  petite  aile  et  le  rocher.  En  resume, 
qu'on  adopte  Topinion  de  Mcckel,  on  est  force  d'admettre 
que  chez  le  Brochet  et  la  Perche  le  trijumeau  passe  par 
le  rocher;  que,  chez  les  poissons  en  general,  les  nerfs  de 
Poeil  traversent  la  grande  aile  {Mcckel),  et  que  la  petite 
aile,  enfin,  ne  donne  passage  ä  aucun  nerf,  ni  par  un  trou, 
ni  par  une  echancrure  de  son  bord  anterieur  ou  posterieur. 
La  seule  objection  qu'on  pourrait  faire  en  faveur  de 
Mcckel,  c'est  que,  d'apres  ma  maniere  de  voir,  la  grande 
aile  touche  immediatement  ä  l'occipital;  tandis  qu'une 
partie  du  temporal  est  en  general  interposee  entre  ces 
deux  OS.  A  cela  je  reponds,  que  la  partie  interposee  dans 
les  autres  animaux,  repond  ä  Vos  quadratiim,  comme  la 
grenouille  le  prouve  de  la  maniere  la  plus  evidente,  et 
que  cet  os,  comme  je  Tai  dejä  dit,  est  pousse  en  dehors 
du  cräne  chez  les  poissons.  Qu'est-ce  enfin  que  le  rocher: 
Le  rocher  n'est  qu'une  concretion  osseuse,  (ßü  se  deve- 
loppe  en  raison  de  l'oreille  interne;  il  est  la  coquille 
osseuse  de  cette  partie,  tout  comme  l'anneau  osseux  qui 
se  developpe  dans  la  sclerotique  des  poissons,  des  reptiles 
et  des  oiseaux.  Je  ne  crois  pas  qu'il  entre  dans  le  plan 
du  squelette  des  nerfs;  mais  je  pense  qu'il  appartient  au 


MEMOIRE  SUR  LE  SYSIKME  NERVEUX    249 

squelette  intestinal.  Ce  n'est  que  la  Situation  particiüiere 
des  organes  de  roui'e  qui  fait  qu'il  entre  en  im  rapport 
si  intime  avec  les  os  du  cräne.  Or,  chez  les  poissons 
osseux  l'oreille  interne  est  encore  libre  dans  la  cavite  du 
crane;  eile  n'a  pas  encore  de  coc[uille  osseuse,  et  c'est 
pour  cela  qu'il  ne  faut  pas  leur  chercher  de  rocher. 
Le  rocher  de  Meckel  est  donc  la  grande  alle;  la  grande 
aile  de  Mcckel  est  la  petite  aile;  ä  quel  os  repond  donc 
enfin  la  petite  aile  de  M ecket:  Je  ne  saurais  le  dire  posi- 
tivement;  son  existence  parait  repondre  au  developpement 
d'une  paire  de  bulbes  au  devant  des  hemispheres.  Je  crois 
qu'il  appartient  ä  Tethmoide.  Le  cräne  de  la  grenouille 
parle  en  faveur  de  cette  hypothese.  Au  devant  de  la  petite 
aile,  caracterisee  par  le  passage  du  nerf  optique,  se  trouve 
ime  large  lame  osseuse,  formant  la  partie  anterieure  de 
la  paroi  laterale  du  cräne,  et  se  soudant  intimement  avec 
l'os  qui,  par  une  large  apophyse,  ressemble  ä  la  portion 
posterieure  de  l'ethmoide  des  poissons;  de  sorte  que  ces 
deux  os  reunis  constituent  la  majeure  partie  de  Tethmoide 
et  repondent  exactement  ä  la  lame  papyracee. 
Pour  resumer  mon  travail^  je  crois  avoir  prouve'  qu'il  y  a 
six  paires  de  nerfs  ce'rebraux  primitifs,  que  six  vertebres 
cräniennes  y  repondent,  et  que  le  developpement  des 
masses  cerebrales  se  fait  en  raison  de  leur  origine,  d'oü 
resulte  que  la  tete  n'est  que  le  produit  d'une  metamor- 
phose  de  la  moelle  et  des  vertebres,  et  que  les  organes 
de  la  vie  vegetative,  place's  au  devant  de  la  colonne 
vertebrale,  doivent  se  retrouver  au  devant  du  cräne, 
quoique  ä  un  degre  superieur.  Chaque  corps  de  vertebre 
porte  deuxanneaux  osseux:  l'un,  superieur,  forme  parl'arc 
et  l'apophyse  epineuse,  et  tourne  vers  la  lumiere,  entoure 
la  moelle,  Organe  central  de  la  vie  animale;  l'autre,  in- 
ferieui-,  tourne  en  bas  vers  le  sol,  entoure  les  organes  de 
la  vie  vege'tative;  il  est  forme  par  les  apophyses  trans- 
verses  et  les  cotes,  Si  l'on  doute  de  la  justesse  de  cette 
comparaison,  qu'on  observe  une  des  vertebres  caudales 
des  poissons;  on  trouvera  exactement  les  deux  anneaux 
dont  je  viens  de  parier.  Le  snperieur  entoure  l'organe 
central  de  la  vie  animale;  l'autre,  l'organe  central  de  la 


250    NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

vie  Vegetative,  l'aorte;  de  sorte  que  celle-ci  a  un  veri- 
table  canal  vertebral,  absoliiment  comme  la  moelle.  Siip- 
posez  maiiitenant  que  les  parties  qui  forment  cet  arc,  ne 
parviennent  plus  ä  se  reunir  sur  la  ligne  mediane,  et  vous 
aurez  les  cötes.  Chez  les  animaux  superieurs  cet  arc  re- 
devient  complet  par  l'interposition  du  sternum.  Les  or- 
ganes  principaux  de  la  vie  vegetative  places  au  devant 
de  la  colonne  vertebrale,  et  entoures  par  Parc  inferieur, 
sont  les  tubes  de  digestion  et  de  respiration;  or,  les  os  de 
la  face  forment  l'anneau  inferieur,  c'est-ä-dire  les  apo- 
physes  transverses  et  les  cotes  des  vert^bres  cräniennes; 
la  cavite  buccale,  avec  ses  organes  salivaires,  rep^te  le 
tube  digestif  avec  ses  conglomerations  glanduleuses;  le 
nez  rep^te  le  tube  respiratoire. 

Du  reste,  toutes  ces  comparaisons  ne  sont  qu'approxima- 
tives.  Je  ne  nie  pas  les  grandes  dififerences  entre  la  tete 
et  le  tronc,  entre  le  cerveau  et  la  moelle  epiniere,  entre 
les  nerfs  cerebraux  et  les  nerfs  spinaux;  je  ne  veux  que 
demontrer  le  type  primitif,  d'apr^s  lequel  ces  parties  se 
sont  developpees.  Ce  n'est  qu'en  cherchant  obstinement 
des  faits  difficiles  ä  expliquer,  arbitraires  ä  ce  qu'il  parait, 
qu'on  peut  meconnaitre  un  pareil  type.  La  nature  est 
gTande  et  riebe,  non  parce  qu'ä  chaque  instant  eile  cree 
arbitrairement  des  organes  nouveaux  pour  de  nouvelles 
fonctions;  mais  parce  qu'elle  produit,  d'apr^s  le  plan  le 
plus  simple,  les  formes  les  plus  elevees  et  les  plus  pures. 


CARTESIÜS 


I 


)  253  c 
PRINCIPIA  PHILOSOPHIAE 

WIE  Cartesius  die  Philosophie  als  Wissenschaft  sich 
dachte,  was  er  von  ihr  forderte,  findet  sich  in  der  Ab  - 
handlung  De  methodo.  Er  sagt  hier,  er  hätte  es  sich  zur  Regel 
gemacht,  bei  dem  Suchen  nach  Wahrheit  immer  in  einer 
gewissen  Ordnung  vorwärtszugehn,  indem  er  von  den  ein- 
fachsten und  faßlichsten  Grundsätzen  allmählich  und  fast 
stufenweise  zu  der  Erkenntnis  der  schwierigen  und  zu- 
sammengesetzten aufwärts  stiege.  Er  setzt  dann  gleich 
hinzu:  Die  langen  Reihen  ganz  einfacher  und  leichter 
Gründe,  mittelst  deren  die  Mathematiker  die  schwierigsten 
5 Dinge  zur  Evidenz  bringen,  lassen  mich  glauben:  alles, 
j  was  zur  menschlichen  Erkenntnis  gehört,  folge  in  dersel- 

Iben  Weise  eines  auf  das  andre,  dergestalt,  daß,  soferne 
wir  nur  dem  Irrtum  den  Zugang  verschließen  und  die 
rechte  Ordnung,  in  welcher  die  Erkenntnisse  auseinander 
hervorgehen,  festhalten,  keine  Erkenntnis  so  entfernt  ist, 
die  wir  nicht  erreichen,  keine  so  verborgen,  die  wir  nicht 
aufdecken  könnten.  Es  fiel  mir  auch  gar  nicht  schwer, 
einzusehen,  wovon  ich  in  der  Philosophie  auszugehen 
habe,  denn  ich  wußte  schon,  daß  das  Einfachste  und  was 
am  leichtesten  zu  erkennen  ist,  das  Erste  sei.  Außerdem 
habe  ich  auch  bemerkt,  daß  von  allen,  die  sich  bisher  in 
der  Weltweisheit  nach  Wahrheit  umgesehen  haben,  die 
Mathematiker  allein  es  zur  Demonstration,  d.  h.  zur 
Gewißheit  und  Evidenz  in  der  Erkenntnis  gebracht  haben 
und,  wie  ich  gleichfalls  einsah,  nur  deshalb,  weil  sie  vom 
Einfachsten  und  Leichtesten  ausgegangen  sind. 
Dies  der  esoterische  Gang  seiner  [Philosophie].  Also 
Demonstration,  Evidenz.  ^  Sehen  wir  nun,  wie  er  das 
Einfachste,  das  erste  Glied  seiner  Kette,  das  a  seiner 
Philosophie  zu  finden  strebt. ^  Das  Einfachste  kann  nur 
dasjenige  sein,  was  zurückbleibt,  wenn  alles  Zusammen- 
gesetzte auf  die  Seite  gelegt  wird.  Da  nun  beim  Eingange 
in  die  Philosophie  noch  kein  Prinzip  bekannt  ist,  nach 
welchem  das  Einfache  von  dem  Zusammengesetzten  mit 

..  R.:  Das  Beispiel  des  Mathematikers  hat  den  Neid  des  Philo- 
sophen erregt. — ~  a.  R.:  Wie  Archimedes  nur  einen  Punkt,  so  be- 
gehrt er  nur  das  erste  Gewisse. 


254    NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

Sicherheit  unterschieden  werden  könnte:  so  kommt  man 
auf  den  Zweifel  als  auf  das  Mittel  zurück,  das  Einfachste 
in  der  Erkenntnis  zu  finden. 

Der  erste  schlechthin  gewisse  Satz  soll  gefunden  werden. 
Wer  sich  diese  Aufgabe  stellt,  der  muß  offenbar  in  dem- 
selben Augenblick  eine  Person  spielen,  die  überall  noch 
nichts  Gewisses  weiß.  Er  muß  all  sein  bisheriges  Wissen 
in  Zweifel  ziehen,  es  selbst  für  falsch  und  ungereimt  halten. 
Was  bleibt  ihm  übrig  r  Die  Kraft  zu  denken.  Dieser  Kraft 
sich  zu  entledigen,  ist  immöglich ;  das  Subjekt  wird  sich 
derselben  stets  bewußt  bleiben.  Der  Philosoph,  welcher 
den  eben  genannten  Reinigungsprozeß  mit  sich  vorge- 
nommen, findet  sich  eben  in  diesem  Akte  als  denkend, 
so  daß  er,  auf  sich  selbst  reflektierend,  zu  sich  selbst  sagen 
muß:  ich  denke.  Jede  Tätigkeit  ist  aber  mit  einem  Be- 
wußtsein des  eignen  Seins  verbunden.  Daß  ich  bin,  finde 
ich  durch  jede  selbsttätige  oder  leidende  innere  Verän- 
derung. Nichts  liegt  also  dem  cogito  näher  als  das  sum. 
Ich  bemerke,  daß  ich  bin,  indem  ich  denke  —  cogito^  ergo 
sum.  Dies  der  Grundstein  des  cartesianischen  Gebäu- 
des, dies  der  esoterische  Gang  seiner  Philosophie:  vom 
Zweifel  zum  ersten  Gewissen.  Am  ausführlichsten  zeichnet 
er  diesen  Weg  in  der  ersten  Meditation.  Dann  findet  er 
sich  auch  einmal  zu  Anfang  des  4.  Kapitels  der  Abhand- 
lung De  inethodo.  In  den  ersten  Sätzen  der  Principia 
philosophiae  [Ii]  faßt  er  ihn  noch  einmal  zusammen:  Wir 
sind  als  Kinder  geboren  und  haben  über  die  Gegenstände 
der  Sinne  viele  Urteile  gefällt,  ehe  wir  zum  voUkommnen 
Gebrauch  unserer  Vernunft  gelangten;  daher  hindern  uns 
viele  Vorurteile  an  der  Erkenntnis  des  Wahren,  von  denen 
wir  uns  nicht  anders  befreien  können,  als  wenn  wir  ein- 
mal in  unserm  Leben  an  all  dem  zu  zweifeln  streben,  was 
nur  der  leiseste  Verdacht  der  Ungewißheit  trifft.  Selbst 
das  Zweifelhafte  müssen  wir  für  falsch  halten,  um  desto 
deutlicher  das  Erste,  Gewisse  zu  erfassen. 
Weil  wir  nun  wissen,  daß  die  Sinne  uns  bisweilen  täu- 
schen, und  daß  wir  folglich  [?]  in  den  Träumen  Bilder 
sehen,  deren  Objekte  sich  nirgends  finden,  so  müssen  wir 
vorerst  an  der  Realität  aller  Gegenstände  der  Sinne  oder 


CARTKSIUS  255 

der  Einbildungskraft  zweifeln.  Da  wir  ferner  wissen,  daß 
mehrere  selbst  in  der  Mathematik  geirrt  mid  Falsches  für 
absolute  Wahrheiten  genommen  haben,  so  müssen  wir 
sogar  an  der  mathematischen  Demonstration  zweifeln. 
Besonders  weil  wir  gehört  haben,  es  gebe  einen  Gott,  der 
alles  kann  und  von  dem  wir  erschaffen  sind.  Denn  wir 
wissen  nicht,  ob  er  uns  nicht  vielleicht  so  schuf,  daß  wir 
uns  immer  täuschen  müssen,  auch  in  demjenigen,  was  wir 
bisher  für  das  Gewisseste  gehalten,  weil  dies  ja  ebenso- 
wohl der  Fall  sein  kann,  als  daß  wir  bisweilen  getäuscht 
werden.  Nehm.en  wir  aber  an,  daß  wir  nicht  durch  den 
allmächtigen  Gott,  sondern  durch  uns  selbst  oder  durch 
irgend  etwas  andres  sind,  so  wird  es,  je  unvollkommner 
wir  die  Ursache  unsres  Daseins  annehmen,  desto  glaub- 
licher, wir  seien  von  Natur  zu  irren  bestimmt. 
Die  Ursache  unsres  Seins  sei  nun,  welche  sie  wolle,  sie 
sei  noch  so  mächtig  und  betrügerisch,  so  fühlen  wir  doch 
in  uns  die  Freiheit,  uns  des  Glaubens  an  das,  was  nicht 
ganz  gewiß  ist,  zu  enthalten  und  uns  so  vor  jedem  Irrtum 
zu  bewahren.  Wenn  wir  auch  alles,  was  zweifelhaft  ist, 
als  falsch  verwerfen  und  demzufolge  voraussetzen,  es 
gebe  keinen  Gott,  keinen  Himmel,  keine  Erde,  keinen 
Körper,  wir  hätten  weder  Hände  noch  Füße  noch  einen 
Körper,  so  können  wir  doch  nicht  denken,  daß  wir,  die  so 
denken,  nichts  seien.  Es  ist  ein  Widerspruch,  zu  denken, 
das,  was  denket,  existiert  zu  der  Zeit,  da  es  denket,  nicht. 
Daher  ist  die  Erkenntnis  icJi  denke^  also  b'm  ich  die  aller- 
erste und  gewisseste,  welche  einem  methodisch  Philoso- 
phierenden sich  darstellt. 

In  welcher  Eigenschaft  denkt  sich  nun  Cartesius  seinen 
ersten  Grundsatz  der  gewissen  Erkenntnis.^  Er  erklärt 
sich  nirgends  deutlich  darüber,  sondern  scheint  sich  selbst 
in  der  Beziehung  nicht  klar  gewesen  zu  sein.  Nach  einer 
Stelle  in  dem  io.§  des  I.  Buches //-/V/a/Z^r //;-'/ scheint  er 
ihn  als  den  Schlußsatz  eines  Vernunftschlusses  angesehen 
zu  haben,  indem  er  sagt:  Atque  ubidixihancpropositmiem . . . 
\idcirto  7io?i  censui  esse  numerandas.  \Frmc.  /  /O.]  Doch 
streitet  wieder  sein  ganzer  Weg  vom  Zweifel  zur  Gewiß- 
heit dagegen;    er  sagt  selbst,  er  wolle  mit  dem  Ersten, 


256     NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

Einfachsten  anfangen:  ist  also  cogito  der  [Vordersatz]  und 
ergo  siim  der  Schlußsatz  eines  Vernunftschlusses,  so  ist 
der  fehlende  [Vordersatz]  das  Erste:  ficri  non  potcst^  iit  id 
quod  cogitet  non  existat.  Dieser  [Vordersatz]  selbst  aber 
kann  erst  durch  den  Schlußsatz  bewiesen  werden,  es  wäre 
also  ein  Zirkelschluß.  Auch  sagt  Cartesius  selbst  in  der 
Responsio  ad  IL  objectiones,  das  cogito^  ergo  siim  sei  nach 
ihm  nicht  der  minor  und  die  conclnsio  der  major:  2 lind 
omne^  quod  cogitat^  est,  vielmehr  werde  dieser  [Vorder- 
satz] durch  das  cogito,  ergo  siim  erst  zur  Wahrheit.  Spi- 
noza bringt  hierüber  in  dem  Kommentar  zu  den  Prinzipien 
des  Cartesius  folgendes  vor:  hinc  appiime  notandum,  hanc 
orationem  ^^diihito,  cogito  ergo  sum'''  non  esse  syllogismum, 

in  quo  inajor propositio  est  amissa ideoque  ^^ cogito,  ergo 

suni'''  unica  est  propositio,  quae  /luic  ^'ego  sum  cogitaiis'" 
aequivalet.   [Spinoza  II,  S.  3^4-\ 

Gehört  nun  das  cogito,  ergo  sum  zu  den  unmittelbaren 
Wahrheiten:  Ebensowenig,  ^  ob  es  gleich  vielfach  ist  be- 
hauptet worden,  namentlich  noch  neuerdings  von  Hegel 
in  der  Enzyklopädie  der  philosophischen  Wissenschaften 
und  von  HotJio  in  seiner  Dissertation  über  die  Cartesia- 
nische  Philosophie.  ^  (Einige  Cartesianer  wollten  den 
Satz  als  unmittelbare  Anschauungen  angesehen  wissen, 
aber  Huet,  censu?'a  p/iil.  Cart.  p.  26'  hat  sie  gut  abge- 
fertigt.—  Tennemann ^  Der  Grundcharakter  aller  unmittel- 
baren Wahrheit  ist  das  Ponieren,  das  Affirmieren  schlecht- 
hin, durch  das  sekundäre  Geschäft  des  Denkens  gar  nicht 
vermittelt,  wesentlich  nicht  einmal  berührt.  Die  Existenz 
seiner  und  der  Dinge  außer  uns  wird  auf  rein  positive, 
immittelbare,  von  der  Funktion  des  Denkens  unabhängige 
Weise  erkannt.  Man  fragt:  ist  das  philosophierende  Subjekt? 
Nach  Cartesius  sagt  man:  es  kann  nicht  denken,  wenn  es 
nicht  ist,  also  ist  es;  nach  dem  unmittelbaren  Wissen  ist  es, 
bevor  es  philosophiert,  d.  h.  es  ist  positiv  dem  Bewußt- 

1  a.  R.:  Allenfalls  ließe  sich  noch  ein  hypothetischer  Vemunftschluß 
daraus  bilden:  Wenn  etwas  denkt,  so  ist  es.  Ich  denke,  also  bin  ich. 
— 2  Immerhin  könnte  sich  die  Hcgehc\\Q  Philosophie  noch  auf  eine 
Stelle  zu  Ende  der  dritten  Meditatio  berufen,  wo  Cartesius  von  der 
Idee  Gottes  sagt:  mihi  est  innata,  qucniadrnodnm  ctiam  mihi  est  in- 
nata  idea  mei  ipsiils. 


CARTESIUS  257 

sein  gegeben,  daß  das  Ich  ist,  und  dieses  Sein  ist  dem 
Denken  unzugänglich,  es  kann  gar  nicht  zu  der  positiven 
Bejahung  desselben  gelangen. 

Zu  welcher  Gattung  von  Wahrheiten,  sagt  Kuhn^  gehört 
nun  das  cartesianische  Feldgeschrei ?  Zu  der  Gattung  der 
mathematischen  Grundsätze,  welche  nichts  andres  dar- 
stellen als  eine  bestimmte  Anwendung  der  Gesetze  des 
Denkens  auf  das  allgemeine  Materiale  des  Mathematikers, 
auf  die  Begriffe  von  Ausdehnung  und  Zahl.  Cartesius  hat 
seinen  Achilles  sich  in  der  Art  gedacht,  indem  er  ihn  aus 
der  Anwendung  des  logischen  Gesetzes  des  Widerspruchs 
auf  das  Geschäft  seines  Zweifeins  von  selbst  sich  dar- 
stellte. Cartesius  wollte  zur  Gewißheit  in  den  Gegen- 
ständen der  Philosophie  kommen,  indem  er  alles  verwarf, 
was  bezweifelt  werden  kann.  Nun  fand  er,  daß  an  dem 
Satze  ich  denke,  also  bin  ich  selbst  die  Möglichkeit  des 
Zweifels  zuschanden  werde,  und  dieses  sei  bei  keinem 
andern  mehr  der  Fall,  also  sei  er  notwendig  gewiß  und 
der  erste  gewisse.  Daß  man  aber  an  diesem  Satze  nicht 
zweifeln  könne,  dafür  beruft  er  sich  auf  den  unausbleib- 
lichen Widerspruch,  in  den  man  dadurch  geraten  würde, 
ein  Widerspruch,  der  alles  Zweifeln  und  Denken  selbst 
zunichte  machen  würde  in  dem  Augenblicke,  da  man 
zweifelt  und  denkt.  Es  wird  nach  Cartesius  also  nur  er- 
kannt, daß  es  unmöghch  zu  denken  sei,  der  Denkende  sei 
nicht.  Dies  ist  etwas  bloß  Negatives,  und  der  Grundcha- 
rakter aller  unmittelbaren  Wahrheit  ist,  wie  schon  gesagt, 
das  Positive,  das  Ponieren,  das  Affirmieren  schlechthin. 
Sehen  wir  jetzt,  wie  die  übrigen  Sätze  der  cartesianischen 
Kette  sich  an  dies  Glied  fügen  und  aneinanderreihen. 
Jetzt  kommen  wir  auf  den  Weg,  den  ich  als  den  esote- 
rischen bezeichnete;  die  Demonstration  fängt  an,  der  erste 
Satz  ist  gefunden. 

Nachdem  Cartesius  sich  gesagt  cogito,  ergo  sum,  sich  sein 
Dasein  bejaht,  so  fragt  er:  da  ich  weiß,  daß  ich  bin,  so 
will  ich  wissen,  was  ich  bin.  Das  Denken  ist  das  Ein- 
fachste, was  sich  mit  meinem  Dasein  vereinigen  läßt, 
denn  niu:  durch  es  weiß  ich,  daß  ich  bin;  Denken  ist  also 
die  erste  Eigenschaft,  die  von  mir  erkannt  wird.   (Quid 

BÜCHNER  17. 


258    NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

vero  ex  iis,  quae  animae  tribuebam^   nutrirl  vel  incedere? 

siini  autem  res  vera^  et  vere  existens^  sed  qualis  res^ 

dixi^  cogitans.  Meditat.  II. — In  de  mtellexi7ne  esse  rem  qiian- 
dam  .  .  ,  .  .  qiiamvis  illiid  non  existeret.  De  methodo  IV.) 
Fragen  wir,  was  wir  sind,  so  können  wir  weder  Ausdeh- 
nung noch  Figur  noch  örtliche  Bewegung  noch  sonst  etwas, 
das  vom  Körper  ausgesagt  wird,  zu  unserem  Wesen  rech- 
nen, sondern  nur  allein  das  Denken,^  welches  folglich  früher 
und  gewisser  als  irgendetwas  Körperliches  erkannt  wird. 
Denn  das  Denken  ist  erkannt  worden,  alles  Übrige  aber 
ist  noch  zweifelhaft.  Ferner,  je  mehr  wir  Eigenschaften 
an  einer  Sache  finden,  desto  klärer  wird  sie  von  uns  er- 
kannt. Nun  finden  wir  in  unsrer  Vorstellungskraft  weit 
mehr  Eigenschaften  als  an  jeder  andern  Sache,  weil  wir 
nichts  erkennen  können,  ohne  zugleich  etwas  von  der 
Seele  zu  erkennen;  denn  wenn  wir  urteilen,  die  Erde  sei 
wirklich,  weil  wir  sie  berühren  oder  sehen,  so  werden  wir 
uns  der  Wirklichkeit  der  Denkkraft  noch  weit  mehr  bewußt, 
da  wir  ja  urteilen  könnten,  wir  berührten  die  Erde,  ohne 
daß  sie  vorhanden  ist,  wir  aber  nicht  urteilen  können, 
wenn  die  Denkkraft,  welche  urteilet,  nichts  ist.  Folglich 
erkennen  wir  die  Seele  als  das  Denkende  früher  und  ge- 
wisser als  jedes  andre  {Princ.  /7./,  §  8  u.  §  1 1).  Eine 
gute  Widerlegung  des  Materiahsmus. 
Was  ist  nun  das  Denken?  Alles,  was  den  Akt  des 
Selbstbewußtseins  in  mir  hervorbringt. ^  Also  auch  Wollen, 
Einbilden,  Fühlen.   Nam  si  dicam,  ego  video  vel  ego  ambulo^ 

ergo  sum est  plane  ce^'ta  [Princ.  [I.] ,  §9)' 

Indem  wir  uns  nun  weiter  umsehen,  um  unsere  Erkenntnis 
zu  erweitern,  wir  aber  noch  nichts  Gewisses  weiter  ge- 

1  a.  R.:  Daß  Denken  und  Ausdehnung  verschieden  seien,  wird  be- 
sonders in  der  Medit.  VI.  demonstriert:  satis  est,  quod possum  unam 
rem  absque  altera  clare  et  distincte  intelligere,  tU  certus  sim  unam  ab 
altera  esse  diversam.  Ferner:  quafiivis  habeam  corpus  . .  .  certum  est 
me  a  corpore  meo  revera  esse  distinctum  et  absque  illo  posse  existere. — 
Id,  quod  potest  cogitare.^  est  mens:  sed  cum  mens  et  corpus  realiter 
distinguantur ,  nullum  corpus  est  mens,  ergo  nullum  corpus  potest 
cogitare.  Dieser  Satz  paßt  aber  in  das  System  nicht  nach  dem  Be- 
weis von  Gott  und  der  daraus  folgenden  Identität  des  Wissens  und 
Seins;  wie  er  es  auch  in  der  VI.  Meditation  ausführte  [?].  Vgl. 
Resp.  ad  VI.  object.—-  a.  R.:  also  jede  Tätigkeit. 


CARTESIUS  259 

funden  haben  als  uns  selbst  und  das  Bewußtsein  unsrer 
Geistigkeit,  so  finden  wir  allgemeine  Begriffe,  wie  die 
mathematische  Demonstration,  und  Ideen  von  vielen 
Dingen,  in  denen  wir  nicht  irren,  solange  wir  ihre  abso- 
lute Wahrheit  oder  ihre  objektive  Realität  weder  bejahen 
noch  verneinen. 1  Unter  diesen  Ideen  ist  nun  eine,  welche 
die  Idee  der  Existenz  nicht  als  eine  mögliche  und  zufällige, 
sondern  als  eine  ewige  und  notwendige  in  sich  schließt. 
Es  ist  die  [eines]  höchst  vollkommnen  Wesens. 

Considerans  deinde  inter  diversas   ideas cns  summe 

perfectum  exisfere.   {Prhic.  [I.]^  §  14,  I^^  16.) 
Cartesius  führt  diesen  Beweis  in  der  V.  Meditation  weiter 
aus:  Cum  enim  assuetus  sim  in  omnibus  aliis  rebus  .  .  .  co- 
gitare  mentem  cui  desit  vallis  etc.  ^ 

Wollte  man  einwerfen,  aus  dem  Umstände,  daß  ich  keinen 
Begriff  ohne  Tat  denken  kann,  folgt  doch  nicht,  daß  ich 
Begriff  und  Tat  als  irgendwie  existierend  denken  müsse, 
so  antwortet  Cartesius:  freilich  folgt  nicht  daraus,  daß 
Begriff  oder  Tat  irgendwie  existieren  müßten,  sondern  nur, 
daß  der  Begriff  ohne  Tat  nicht  gedacht  werden  könne,  und 
umgekehrt;  und  weil  ich  Gott  nicht  anders  als  seiend  denken 
kann,  folgt,  daß  das  Dasein  von  Gott  nicht  getrennt  wer- 
den könne  und  daß  er  also  existiere,  non  quod  inea  cogi- 
tatio  hoc  efficiat  .  .  . ,  sed  contra^  quia  ipsius  rei,  nempe  exi- 
stentiae  Dei,  necessitas  7ne  determinat  ad  hoc  cogitandum, 
[Medit.  V.] 

Auf  den  Einwurf:  freiHch  muß  ich,  sobald  ich  Gott  setze, 
auch  das  Sein  desselben  setzen,  aber  was  zwingt  mich 
denn,  Gott  überhaupt  zu  setzen.^  antwortet  Cartesius:  es 
sei  freilich  nicht  notwendig,  je  auf  den  Gedanken  von  Gott 
zu  verfallen,  sobald  [man]  aber  über  das  erste  und  höchste 
Wesen  nachdenke,  müsse  man  ihm  auch  notwendig  alle 

1  a.  R.:  Ihres  Daseins  in  meiner  Seele  als  modi  des  Denkens  bin  ich 
mir  unmittelbar  bewußt,  indem  ich  denke,  empfinde,  träume  etc. — 

2  a.  R.:  2)  Beweis  aus  dem  Vorhandensein  der  Idee  Gottes.  3)  Wir 
sind  durch  Gott.  4)  Daher  Beweis  für  die  formale  und  materiale 
Wahrheit  der  Ideen.  Das  erste  beweist  die  Möglichkeit,  daß  wir 
überhaupt  richtig  schließen  können,  das  zweite  die  objektive  Reali- 
tät der  erkannten  Dinge.  (Der  Widerspruch  zwischen  einer  Stelle 
der  ///.  Medit.  und  Resp.  ad  II.  obj.) 


2  6o    NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

Vollkommenheiten  und  somit  das  Dasein  beilegen.  Er 
schließt  dann:  ac  proinde  magna  differentia  est  inter  ejus- 
modi  falsas  positio7ies  .  .  .  ac  denique  quodmulta  alia  in  Deo 
percipia77i^  quorum  nihil  a  me  detrahi  potest  nee  mutari 
[Medit.  V.J.  (Vgl.  J^esp.  ad  IL  obj.,propos.  /.)i 
A  posteriori  wird  dann  noch  das  Dasein  Gottes  aus  der 
Idee  von  Gott,  die  wir  in  uns  finden,  bewiesen:  Aus  Nichts 
wird  Nichts.  Jede  Wirkung  muß  eine  Ursache  haben. 
Außerdem  muß  jede  Ursache  wenigstens  ebensoviel  ent- 
halten als  ihre  Wirkung,  denn  woher  sollte  die  Wirkung 
ihr  Wesen  (Sein,  realitateni)  nehmen,  als  von  der  Ursache: 
Daraus  folgt,  daß  etwas,  das  voUkommner  ist,  d.  h.  mehr 
Realität  in  sich  enthält  (denn  wie  im  vorgehenden  Beweis 
gezeigt  ist  worden,  enthält  das  Vollkommne  die  meiste 
Realität,  d.  h.  es  existiert  notwendigerweise),  nicht  aus 
etwas  Unvollkommnerem  entstehen  kann,  und  dies  ver- 
hält sich  nicht  nur  so  bei  den  Wirkungen,  deren  Realität 
actiialis  oAtx  formalis  ist,  sondern  auch  bei  den  Ideen, 
insofern  man  nur  auf  ihre  objektive  ReaHtät  Rücksicht 
nimmt.  D.h.  es  kann  nicht  nur  ein  Stein,  der  früher  nicht 
war,  nicht  zu  sein  anfangen,  wenn  er  nicht  von  etwas 
hervorgebracht  wird,  worin  mchtformaliter  oder  eminenter 
alles  enthalten  ist,  was  in  dem  Stein  gesetzt  wird,  sondern 
es  kann  sich  auch  in  mir  nicht  die  Idee  eines  Steines 
bilden,  wenn  sie  in  mir  nicht  von  einer  Ursache  hervor- 
gebracht wird,  worin  nicht  wenigstens  ebensoviel  Rea- 
lität enthalten  ist,  als  ich  davon  in  dem  Steine  begreife. 
(///,  Defin.  [in  Resp.  ad  IL  ohj.\\  Per  realitatemobjectivam 
ideae  ...  —  IV,  Defin. '.  Eadem  dictmtur  esse  forjnaliter  in 
idearum  objectis . . .)  Denn  obgleich  jene  Ursache  nichts  von 
ihrer  actualen  oder  formalen  Realität  in  meine  Idee  übertrug, 
so  darf  man  doch  deswegen  nicht  glauben,  dieselbe  müsse 
auch  weniger  real  sein;  denn  die  Natur  der  Idee  ist  von  der 
Art,  daß  sie  keine  andere  formale  Realität  nötig  hat  als  die, 
welche  sie  von  meinem  Denken,  deren  modus  sie  ist,  erhält. 
Insofern^  nämlich  die  Ideen  nur  modi  des  Denkens  sind, 

1  a.  R.:  und  Resp.  ad  I.  obj. — 2  a.  R.:  /.  Defin.  Cogitationis  nomine 
complecfor  . . . — //.  Defin.  Ideae  nomine  intelligo  . . . — Resp.  ad  IL  ob- 
jectiones. 


CARTESIUS  261 

bemerke  ich  unter  ihnen  keinen  Unterschied  und  finde, 
om?ies  a  me  eodem  modo  procedere  videri\  daß  aber  eine  Idee 
diese  oder  jene  reale  Objektivität  eher  enthält  als  eine 
andere,  dies  muß  von  einer  Ursache  herrühren,  in  welcher 
wenigstens  ebensoviel  formale,  als  in  ihr  objektive  Rea- 
lität, enthalten  ist.  Auch  werfe  man  nicht  ein,  daß,  da  die 
Realität,  welche  ich  in  meinen  Ideen  betrachte,  nur  objek- 
tiv ist,  es  deswegen  nicht  nötig  wäre,  daß  dieselbe  Realität 
formaliter  in  den  Ursachen  dieser  Ideen  enthalten  sei, 
sondern  es  genüge,  wenn  sie  sich  in  ihnen  auch  nur  oh- 
jcctivc  fände;  denn  ebenso  wie  iste  modus  cssendi  objccti- 
vus  den  Ideen  aus  ihrer  eignen  Natur  zukommt,  ebenso 
kommt  der  modus  cssendi  formalis  den  Ursachen  der  Ideen 
zu,  wenigstens  den  ersten  und  vorzüglichsten:  und  obgleich 
vielleicht  eine  Idee  aus  einer  andern  entstehen  kann,  so 
gibt  es  deswegen  doch  '^^in^rs. progressus  in  infinitum^  son- 
dern man  muß  endHch  zu  einer  ersten  Idee  kommen, 
deren  Ursache  sit  instar  archetypi^  worin  alle  Realität, 
welche  sich  objective  in  der  Idee  findet,  formaliter  ent- 
halten ist.  Ist  nun  die  objektive  Realität  einer  meiner 
Ideen  so  groß,  daß  ich  gewiß  bin,  sie  sei  v^td^r  formaliter 
noch  e?ninenter  in  mir  enthalten  und  ich  könne  also  nicht 
die  Ursache  derselben  sein,  so  folgt  notwendig  daraus,  ich 
sei  nicht  allein  in  der  Welt,  sondern  es  existiere  noch  sonst 
etwas  als  Ursache  dieser  Idee;  findet  sich  aber  nicht  eine 
solche  Idee  in  mir,  so  habe  ich  kein  Argument,  was  mich  der 
Existenz  einer  von  mir  verschiednen  Sache  gewiß  mache. 
Ich  habe  nun  Ideen,  weiche  teils  Gott,  teils  körperliche 
Dinge,  teils  Engel,  teils  Tiere,  teils  Menschen  vorstellen. 
Was  die  Ideen  von  Menschen,  Tieren  und  Engeln  anbe- 
langt, so  sehe  ich  leicht  ein,  daß  dieselben  leicht  aus  den 
Ideen,  die  ich  von  mir  selbst,  von  Gott  und  den  körper- 
lichen Dingen  habe,  zusammengesetzt  werden  können, 
ob  es  gleich  weder  Menschen  noch  Tiere  noch  Engel  in 
der  Welt  gibt.  Von  dem  aber,  was  in  dem  Begriff  der 
körperlichen  Dinge  liegt,  konnte  einiges  aus  der  Idee  mei- 
ner selbst  geschöpft  werden,  nämlich  die  Begrifife  von 

Substanz,  Dauer  Zahl.  (Omnis  ?'es,  cui  igtest  immediate 

Defi7i,  V.  respons.  ad  II.  obj.)   Alles  übrige  aber,  woraus 


202     NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

die  Idee  eines  Körpers  konstruiert  wird,  nämlich  Ausdeh- 
nung, Gestalt,  Lage  und  Bewegung,  sind  zwar  in  mir,  da 
ich  nichts  bin  als  res  cogitans^  fo7'maliter  nicht  enthalten; 
da  sie  aber  nur  gewisse  modi  einer  Substanz  sind,  ich  aber 
eine  Substanz,  so  können  sie  eminenter  in  mir  enthalten 
sein.  (Der  Sinn  des  Beweises  mit  dem  eminenter  und  der 
Substanz  ergibt  sich  erst  eigentlich  aus  dem  Beweis  für 
unsern  Ursprung  aus  Gott.  Propos.  III.  respons.  ad  II.  obj. 
und  Axiom.  VIII.  u.  IX. \  Qiwdpotest  efficere  ...  —  Majus 
est  creai-e  .  .  .j  Es  bleibt  also  nur  die  Idee  Gottes,  und  wir 
wollen  sehen,  ob  in  ihr  etwas  ist,  was  von  mir  nicht  her- 
rühren kann.  Unter  dem  Namen  Gottes  verstehe  ich  eine 
unendliche,  unabhängige,  allererste  und  allmächtige  Sub- 
stanz, durch  die  ich  und  alles  Andere,  wenn  es  anders  noch 
ein  Andres  gibt,  entstanden  bin.  Dies  Alles  ist  wahrhaftig 
von  der  Art,  daß,  je  mehr  ich  Acht  gebe,  ich  desto  besser 
sehe,  daß  es  von  mir  nicht  herrühren  kann. 
Folglich  muß  man  aus  dem  Vorhergehenden  schließen, 
Gott  existiere  notwendigerweise;  denn  obgleich  die  Idee 
einer  Substanz,  dadurch  daß  ich  selbst  eine  Substanz  bin, 
in  mir  ist,  so  wäre  es  doch  nicht  die  Idee  einer  unend- 
lichen Substanz,  wenn  sie  nicht  von  einer  unendlichen 
Substanz  herrührte.  Auch  muß  man  nicht  glauben,  ich 
würde  mir  des  Unendlichen  nicht  durch  eine  wahre  Idee 
bewußt,  sondern  nur  durch  eine  Negation  des  EndHchen; 
denn  ich  sehe  im  Gegenteil,  daß  mehr  Realität  in  der 
unendlichen  Substanz  ist  als  in  der  endlichen  und  daß  also 
auch  der  Begriffdes  Unendlichen  gewissermaßen  eher  in  mir 
ist  als  der  des  EndHchen,  d.  h.  eher  der  Gottes  als  der  mei- 
ner selbst:  denn  aus  welchem  Grunde  würde  ich  einsehen, 
ich  zweifle,  ich  begehre,  d.  h.  es  fehle  mir  etwas  und  ich 
sei  nicht  ganz  vollkommen,  wenn  nicht  die  Idee  eines 
vollkommenen  Wesens  in  mir  wäre,  aus  dessen  Verglei- 
chung  ich  meine  Mängel  erkenne.  Auch  hindert  es  nicht, 
daß  ich  das  Unendliche  nicht  begreife  und  daß  es  noch 
UnzähHges  in  Gott  gibt,  was  ich  weder  begreifen  noch 
mit  meinem  Denken  nur  berühren  kann;  denn  es  liegt  im 
Wesen  des  Unendlichen,  daß  es  von  mir,  als  endlichem 
Wesen,  nicht  begriffen  werden  kann;  es  genügt  mir,  daß 


CARTESIUS  263 

ich  mir  seiner  bewußt  bin  und  daß  ich  urteile,  alles,  was 
ich  als  eine  Vollkommenheit  erkenne  und  vielleicht  noch 
unzähliches  Andere  sei  emlncfiter  odi^x formaliter  m  Gott. 
Aber  vielleicht  bin  ich  mehr,  als  ich  selbst  weiß,  und  alle 
Vollkommenheiten,  die  ich  Gott  beilege,  %mA  potentia  in 
mir  enthalten,  obgleich  sie  sich  noch  nicht  actu  äußern; 
denn  ich  fühle,  daß  mieine  Erkenntnis  allmählich  sich  er- 
weitert: warum  sollte  sie  nun  nicht  so  weiter  und  weiter 
ins  Unendliche  wachsen  und  warum  könnte  ich  nicht  end- 
lich mit  ihrer  Hülfe  aller  Vollkommenheiten  Gottes  teil- 
haftig werden  und  warum  sollte  nicht  das  Vermögen  zu 
solchen  Vollkommenheiten,  wenn  es  in  mir  ist,  nicht  zum 
Hervorbringen  jener  Idee  hinreichen?  Aber  wahrhaftig, 
von  dem  Allen  ist  nichts  möglich;  denn  wäre  es  auch  wahr, 
daß  meine  Erkenntnis  allmählich  zunähme  und  vieles  in 
mir  potentia  und  noch  nicht  actu  vorhanden  sei,  so  hat 
doch  nichts  davon  etwas  mit  der  Idee  Gottes  gemein, 
denn  in  ihr  ist  nichts  Mögliches  (poteiitiak)^  weil  eine 
stufenweise  Vervollkommnung  das  sicherste  Zeichen  der 
Unvollkommenheit  ist.  Auch  ist  noch  zu  bemerken,  daß 
das  objektive  Wesen  der  Idee  nicht  bloß  von  einem  esse 
potentiali^  waseigenthchzu  reden  nichts  ist,  sondern  nur  von 
einem  esse  actiiaIisivefo?inaIih.Q.xworgtbT2iQh.t  werden  kann . 
Außerdem:  woher  bin  ich:  Bin  ich  durch  mich  selbst,  so 
würde  ich  mir  all  das  gegeben  haben,  was  ich  als  voll- 
kommen erkenne  (siehe  den  Beweis  weiter  unten).  Bin 
ich  aber  durch  etwas  anderes,  das  nicht  Gott  ist  und  von 
dem  ich  sowohl  meine  Existenz  als  die  Idee  Gottes  habe, 
so  fragt  es  sich,  woher  hat  dies  selbst  die  Idee  Gottes, 
und  so  fort  in  infinitum. 

Wollte  man  aber  annehmen,  es  hätten  mehrere  Ursachen 
zugleich  zu  meinem  Entstehen  beigetragen,  und  ich  hätte 
von  einer  die  Idee  einer  Vollkommenheit  Gottes  und  von 
einer  andern  die  einer  andern  Vollkommenheit  erhalten,  so 
daß  zwar  alle  diese  Vollkommenheiten  sich  im  Universum 
befänden,  aber  nicht  in  Eins,  in  Gott  vereinigt,  so  bemerke 
ich,  daß  gerade  die  Einheit,  Einfachheit,  Unzertrennlich- 
keit alles  dessen,  was  in  Gott  ist,  eine  von  den  vorzüg- 
lichsten Vollkommenheiten  ist,  die  ich  in  Gott  bemerke; 


264    NATUR WISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFl^EN 

denn  gewiß  kann  ich  die  Idee  von  der  Einheit  aller  jener 
Vollkommenheiten  einer  Ursache  nicht  verdanken,  von 
der  ich  die  Idee  der  übrigen  Vollkommenheiten  nicht  habe; 
denn  sie  könnte  nicht  machen,  daß  ich  sie  zugleich  und 
unzertrennbar  denke,  wenn  sie  nicht  zugleich  die  Er- 
kenntnis derselben  bewirkte. 

Auf  welche  Weise  habe  ich  nun  diese  Idee  Gottes  erhal- 
ten? Denn  ich  habe  sie  weder  aus  den  Sinnen  geschöpft, 
noch  ist  sie  in  mir  entstanden,  wie  die  Ideen  von  den  sinn- 
lichen Dingen,  wenn  die  Außendinge  die  Sinnorgane  be- 
rühren; noch  ist  sie  von  mir  erfunden,  denn  ich  kann 
weder  etwas  weg-  noch  hinzutun—:  sie  kann  also  nur 
noch  angeboren  sein,  so  wie  mir  das  Bewußtsein  meiner 
selbst  angeboren  ist.  {Meditatio  III.) 
Cartesius  faßt  diesen  Beweis  in  der  //.  Propos.  der  Resp. 
ad.  II.  <?^_/'.  folgendermaßen  zusammen:  Realitas  objectiva . . . 
Weniger  strikt  und  verständlich  als  in  der  Medit.  III.  fin- 
det sich  der  nämliche  Beweis  in^^  //imd  18  deiFrinc.  I. 
Aus  der  Idee,  die  wir  von  der  Existenz  und  den  Vollkommen- 
heiten Gottes  haben,  folgt  aber  noch,  daß  wir  selbst  durch 
Gott  sind.  Denn:  der  Wille  des  denkenden  Dinges  strebt, 
zwar  freiwillig  und  frei  (denn  das  liegt  in  dem  Wesen  des 
Willen),  doch  unfehlbar  nach  dem  von  ihm  erkannten  Gu- 
ten, so  daß,  wenn  er  einige  Vollkommenheiten  kennt,  deren 
er  entbehrt,  ersieh  dieselben  sogleich  geben  wird,  wenn  sie 
in  seiner  Gewalt  sind  (Axio?n  VII.  resp.  ad  II  obj.). 
Ferner:  wer  das  Größere  oder  Schwierigere  bewirken  kann, 
kann  auch  das  Geringere.  Es  ist  außerdem  schwieriger, 
die  Substanz  zu  erschafifen  oder  zu  erhalten,  als  die  Attri- 
bute oder  Eigenschaften  derselben  (Axiom.  VII.  u.  /X). 
Hätte  ich  nun  die  Kraft,  mich  selbst  zu  schaffen  oder  zu 
erhalten,  so  hätte  ich  auch  um  so  mehr  die,  mir  alle  Voll- 
kommenheiten zu  geben,  welche  mir  fehlen^;  denn  diese 

1  a.  R.:  Si  a  du  essem^  o??mia  ffiiJii  dedissem  etc.  Darauf  warf  man 
ein  (/.  obj.y.  lam  ejtim  non  audio ^  si  dicas,  si  a  se  est,  sibi  facih  omnia 
dedisset;  nee  enim  a  se  est  ut  a  cansa,  nee  sibi  praevitwi  fiiit,  tit  ante 
deligei'et,  quod  esset posUnodum.  Cartesius  antwortet  darauf  (^^j*/,  ad 
I.  obj.):  lu?)ien  naturale  non  dietat  ad  rationein  effieictitis  requiri,  ut 
tempore  prior  sit  szio  effectu;  nam  eontra,  non  proprie  habet  rationein 
causae,  nisi  quamdiu  producit  effeetum^  nee  proinde  illo  est  prior. 


CARTESIUS  265 

sind  nur  Attribute  der  Substanz,  ich  bin  aber  Substanz  und 
habe  doch  nicht  die  Kraft,  mir  diese  Vollkommenheiten 
zu  verschaffen,  denn  sonst  würde  ich  sie  haben  (axioin. 
VII.).  Also  habe  ich  nicht  die  Kraft,  mich  zu  erhalten,  also 
werde  ich  von  etwas  anderm  erhalten,  was  ebensoviel 
heißen  will  als  geschaffen,  denn  jeder  Augenblick  ist  eine 
neue  Erschafiung.  Außerdem  hat  das,  von  dem  ich  er- 
halten werde,  alles,  was  in  mir  ist,  formaliter  oder  emi- 
iiejitcr  in  sich,  in  mir  aber  liegt  die  Erkenntnis  vieler  Voll- 
kommenheiten, die  mir  fehlen,  also  ist  auch  die  Erkennt- 
nis derselben  in  dem,  wodurch  ich  erhalten  werde.  Will 
ich  nun  keinen  progressus  in  iitfinitum  machen,  so  muß 
dies  Gott  sein.  {Frop.  III  resp.  ad.  [II]  obj.^  ferner 
Prmc.  [I]  §  20.) 

Es  ist  sonderbar,  welche  Umwege  Cartesius  macht,  um 
unsern  Ursprung  aus  Gott  zu  beweisen;  er  hätte  es  ganz 
im  Sinne  seines  Systems  schon  kurzweg  aus  der  in  uns 
enthaltnen  Idee  von  Gott  demonstrieren  können.  Spinoza 
widerlegt  ihn  und  i\:i^\\,^2Xixi\riAtxDemonstratio7i  der  Pro- 
pos. VII.  proleg.  das  aus,  was  Cartesius  in  seinen  Sätzen 
ahnend  und  verworren  aussprach:  Entweder  bin  ich  durch 
mich,  oder  durch  etwas  Anderes  und  dieses  Andere  ist  ent- 
weder Gott  oder  ist  nicht  Gott.  {Qitivim  habet  se  conser- 
va7idi^  vim  etiam  habet  se  creandi .....  [Spin.  II,  S.  402f.]. 

—  Si  vivi  habcrem  me  ipsiim.  conseruandi [Spin.  II, 

S.  403].) 

Nachdem  also  das  Dasein  Gottes  bewiesen,  was  sind  seine 
Eigenschaften: 

Cartesius  schickt  voraus:  Wie  können  wir  die  Vollkom- 
menheiten Gottes  des  Unendlichen,  da  unser  Verstand 
endlich  ist,  begreifen:  Können  wir  aber  auch  das  nicht, 
so  haben  wir  doch  von  den  Vollkommenheiten  selbst  kla- 
rere und  deutlichere  Ideen  als  von  einem  körperlichen 
Dinge,  weil  sie  unsere  Denkkraft  mehr  erfüllen,  einfacher 
sind  und  durch  keine  Einschränkung  verdunkelt  werden. 
{Princ.  I  ig) 

Reflektieren  wir  nun  auf  die  uns  angeborene  Idee  von 
Gott,  so  erkennen  wir,  daß  Gott  ewig,  allwissend,  all- 
mächtig, die  Quelle  aller  Güte  und  Wahrheit,  der  Schöpfer 


266     NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

aller  Dinge  ist  and  alles  in  sich  vereinigt,  was  wir  als 
reine  Vollkommenheit  uns  denken  können  —  und  daß  wir 
ihm  folglich  die  körperliche  Natur,  weil  sie  mit  der  Aus- 
dehnung Teilbarkeit  in  sich  schließt,  und  die  Empfindung, 
die  zwar  in  Beziehung  auf  uns  eine  Vollkommenheit, 
aber,  als  ein  Leiden  und  Abhängigkeit,  für  Gott  eine  Un- 
vollkommenheit  wäre,  absprechen,  dagegen  das  Denken 
und  Wollen  beilegen,  doch  nicht,  wie  bei  uns,  als  ge- 
trennte Tätigkeiten,  sondern  so,  daß  er  durch  einen  ein- 
zigen, einfachen,  immer  identischen  Akt  alles  zugleich 
erkennet,  will  und  wirket. — Omnia^  inquam,  hoc  est^  res 
omiies:  neque  enini  vult  malitiam  peccati,  quia  non  est  res. 
(Princ.  I.  22,  2J.) 

Weiter  läßt  sich  über  Gott  nichts  bestimmen,  denn  da  wir 
endlich  sind,  so  wäre  es  töricht,  über  das  Unendliche 
etwas  bestimmen  zu  wollen,  wodurch  es  endlich  und  be- 
griffen würde. 

Ebenso  überflüssig  wäre  es,  wollte  man  bei  der  Unter- 
suchung der  Dinge  von  den  Zwecken  ausgehen,  die  Gott 
sich  bei  ihrer  Erschaffung  vorgesetzt;  denn  vermessen 
wäre  es,  in  seine  Ratschläge  eindringen  zu  wollen.  Da 
aber  Gott  die  wirkende  Ursache  aller  Dinge  ist,  so  werden 
wir  sehen,  was  wir  aus  seinen  Eigenschaften,  von  denen 
er  einige  Kenntnis  uns  erlaubt  hat,  in  Ansehung  der  Wir- 
kungen, die  in  die  Sinne  fallen,  nach  dem  natürlichen 
Lichte  schließen  können.  Derjenige  philosophische  Weg 
ist  der  beste,  welcher  aus  der  Erkenntnis  Gottes  die  Er- 
klärung der  von  ihm  erschaffnen  Dinge  abzuleiten  und 
so  die  vollkommenste  Wissenschaft,  d.  i.  die  Erkenntnis 
der  Wirkungen  durch  die  Ursachen,  zu  erwerben  sucht. 
[Princ.  L  24,  25,  26,  28) 

Die  erste  Eigenschaft  Gottes,  welche  nun  in  Betracht 
kommt,  ist  die:  daß  er  höchst  wahrhaft  und  der  Geber 
alles  Lichtes  ist.  (P^inc.  I.  2g.)  Daraus  folgt,  daß  das 
Licht  der  Natur  oder  das  von  Gott  uns  gegebne  Erkennt- 
nisvermögen nie  einen  Gegenstand  ergreifen  kann,  der 
nicht  wahr  sei,  insofern  er  nämlich  wirklich  von  ihm  er- 
griffen, d.  h.  klar  und  deutlich  erkannt  wird.  Denn  mit 
Recht  müßte  Gott  ein  Betrüger  genannt  werden,  hätte  er 


CARTESIUS  267 

uns  ein  verkehrtes  Erkenntnisvermögen  gegeben,  welches 
das  Falsche  für  das  Wahre  nähme.  Damit  fällt  auch  der 
höchste  Zweifel  weg,  welcher  daher  rührte,  daß  wir  nicht 
wußten,  ob  vielleicht  unsere  Natur  von  der  Art  sei,  daß 
wir  auch  in  dem  Evidentesten  betrogen  würden.  Ebenso 
lassen  sich  auf  diesem  Grund  alle  übrigen  früher  ange- 
führten Zweifelsgründe  heben.  Jetzt  können  uns  die  ma- 
thematischen Wahrheiten  nicht  länger  verdächtig  sein, 
weil  sie  die  deutlichsten  sind.  Achten  wir  nui"  auf  das, 
was  imsern  Sinnen,  was  uns  im  Wachen  wie  im  Traum 
klar  und  deutlich  ist,  und  trennen  wir  es  von  allem  Ver- 
wirrten und  Dunkeln,  so  finden  wir  leicht,  was  in  jedem 
Ding  für  wahr  zu  halten  sei.  [Princ.  1.  JO.) 
De  methodo  drückt  Cartesius  dies  noch  schärfer  aus,  wo 
er  den  an  dem  Dasein  Gottes  Zweifelnden  einwirft,  daß 
alles  das,  woran  sie  bisher  nie  gezweifelt,  wie  Himmel 
und  Erde  etc.,  noch  viel  problematischer  sei  als  das  Da- 
sein Gottes,  und  sie  fragt,  woher  sie  denn  wüßten,  daß 
die  Bilder  des  Traumics  eher  falsch  seien  als  die  des 
Wachens,  da  sie  ja  oft  nicht  minder  deutlich  und  lebhaft 
erschienen? 

Er  sagt  dann,  es  sei  unmöglich,  einen  andern,  diesen 
Zweifel  hebenden  Grund  zu  finden,  als  das  Dasein  Gottes. 
Denn  daß  alles,  was  wir  klar  und  deutlich  erkennen,  wahr 
sei,  wird  nur  dadurch  gewiß,  daß  Gott  existiert  und  höchst 
vollkommen  ist,  so  daß  alles,  was  in  uns  ist,  von  ihm  not- 
wendigerweise herrührt,  woraus  folgt,  daß  imsere  Ideen  in 
allem  dem,  was  ihnen  klar  und  deutlich  ist,  gewisse  Wesen 
sind  und  von  Gott  herrühren  und  somit  wahr  sein  müssen. 
Fem  er  Medit.  V.\  Sed  praeterea  etiam  atiimadvci'to  cetera- 
rum  7-eriim  certitudinei?i  a  Deo  ita  pe^idere^  ut  absque  eo 
nihil  innquam  perfecte  sci?'i  possit.  Denn  ob  ich  gleich  von 
der  Art  bin,  daß  ich,  sobald  ich  etwas  klar  und  deutlich 
kenne,  auch  an  die  Wahrheit  desselben  glauben  muß,  so 
könnte  ich  doch,  wenn  ich  nichts  von  Gott  wüßte,  auf 
Gründe  stoßen,  welche  mir  diese  Überzeugung  leicht 
nehmen  könnten,  so  daß  ich  nie  eine  wahre  und  be- 
stimmte Erkenntnis,  sondern  nur  unbestimmte  und  ver- 
änderliche Meinungen  hätte. 


2  68     NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

Wenn  ich  z.  B.  über  die  Natur  eines  Dreiecks  nachdenke, 
so  ist  es  mir  evident,  daß  seine  drei  Winkel  =  2  R,  und 
ich  muß  glauben,  daß  es  wahr  sei,  solange  ich  nur  meine 
Aufmerksamkeit  auf  die  Demonstration  dieses  Satzes 
richte;  sobald  ich  mich  aber  wegwende,  so  kann  es  mir 
leicht  geschehen,  daß  ich  an  seiner  Wahrheit,  obgleich 
ich  mir  erinnere  ihn  klar  erkannt  zu  haben,  [zweifle,]  so- 
bald ich  von  Gott  nichts  weiß:  denn  ich  kann  mir  ein- 
bilden, ich  sei  meiner  Natur  nach  so  beschaffen,  daß  ich 
mich  auch  in  dem,  was  ich  aufs  deutlichste  zu  begreifen 
glaube,  noch  täusche.  Postquam  vero  percepi  Deum  esse . . . 
ut  de  Gecmietricis  et  swiilibiis  \Medit.  V.,  vorletzter  Ab- 
satz]. 

Dies  enthält  auch  die  Antwort  auf  den  Einwurf,  daß  ein 
Atheist  so  gut  als  ein  Theist  von  einem  mathematischen 
Satz  überzeugt  sein  könne;  daß  also  der  Glaube  an  das 
Dasein  Gottes  nicht  nötig  sei,  um  uns  von  der  Wahrheit 
einer  Sache  zu  überzeugen;  denn  der  Atheist  kann  ja  nicht 
wissen,  ob  er  nicht  von  Natur  zum  Irren  bestimmt  ist, 
während  der  Theist  aus  der  Vollkommenheit  Gottes  das 
Gegenteil  beweisen  kann.  (J^esJ>.  ad  II.  obj.,  3.) 
Also  Gottes  Vollkommenheit  beweist,  daß  unser  Erkennt- 
nisvermögen nicht  verwirrt,  nur  zum  Erfassen  des  Un- 
wahren bestimmt,  also  die  subjektive  Möglichkeit  der  Er- 
kenntnis, ferner  daß  alles  wahr  ist,  was  wir  klar  und 
deutlich,  d.  h.  vernunftgemäß  erkennen,  also  die  Objek- 
tivität des  Gedachten. 1  Gott  ist  es,  der  den  Abgrund 
zwischen  Denken  und  Erkennen,  zwischen  Subjekt  und 
Objekt  ausfüllt,  er  ist  die  Brücke  zwischen  dem  cogito^  ergo 
siwi,  zwischen  dem  einsamen,  irren,  nur  einem,  dem 
Selbstbewußtsein,  gewissen  Denken  und  der  Außenwelt. 
Der  Versuch  ist  etwas  naiv  ausgefallen,  aber  man  sieht 
doch,  wie  instinktartig  [?]  scharf  schon  Cartesius  das  Grab 
der  Philosophie  abmaß;  sonderbar  ist  es  freilich,  wie  er 
den  heben  Gott  als  Leiter  gebrauchte,  um  herauszukrie- 

1  a.  R.:  Et  primoj  quo?tiam  scio  omnia,  quae  clare  et  distincte  intelligo, 
talia  a  Dco  fieri  posse^  qualia  illa  intelligo,  satis  est,  quod  possu/n 
tmam  rem  absque  altera  clare  et  disti?icte  intelligere,  ut  certus  siin 
unain  ab  altera  esse  diversatn.   [Mcdit.  VI.) 


CARTESIUS  269 

eben.  Doch  schon  seine  Zeitgenossen  ließen  ihn  nicht 
über  den  Rand,  man  fragte:  Kann  man  von  keiner  Sache 
gewiß  sein,  noch  irgendetwas  klar  und  deutlich  erkennen, 
ehe  das  Dasein  Gottes  mit  Gewißheit  erkannt  worden  ist, 
wie  steht  es  dann  mit  den  dem  Beweis  vom  Dasein  Gottes 
vorgehenden  Sätzen,  wie  mit  dem  cogito,  ergo  sum,  wie 
mit  dem  Beweis  seibst: 

Sehr  unbefriedigend  antwortet  Cartesius,  Resp.  ad  II.  obj. 
[3.]:  iibi  dixi,  nihil  nos  certo  posse  scire,  nisi  pitts  Dei 
existentiam  cognoscamus^  expressis  verbis  testatus  sunt  {Me- 
dit.  V?-'.  Etsi  enim  ejus  sim  naturac  .  .  .  sed  vagas  tantuin 
et  viutabiles  opiniones  habe?'e??i  [a.  a.  O.,  drittletzter  Abs.]) 
f/ie  no7i  loqui  nisi  de  scientia  earum  conclusiomim^  quaruni 
7nemoria  potest  recurrere^  cum  non  amplius  attendimus  ad 
ratio?ies,  ex  quibus  ipsas  deduximus  (nur  allein  die  apodik- 
tische Gewißheit  der  Schlußsätze,  welche  wiederkehren 
können,  ohne  daß  man  auf  ihre  Gründe  noch  die  gehörige 
Aufmerksamkeit  wendet,  werde  durch  die  gewisse  Er- 
kenntnis von  Gottes  Dasein  bedingt.  —  Ein  Zusatz,  der 
übrigens  sonst  nirgends  mehr  vorkommt^).    Cum  autem 

ani7nadverti7nus  nos  esse  res  cogitantes ut  generales 

propositiones  ex  particularium  cognitione  ejformet.  [Resp. 
ad  II.  obj.  3.,  Forts.] 

Übrigens  scheint  Cartesius  den  Widerspruch,  worin  er 
sich  hier  verwickelt,  wohl  geahnt  [zu]  haben.  Er  scheint 
so  halb  einen  andern  Weg  zur  mathematischen  Begrün- 
dung seines  Systems  einschlagen  zu  wollen.  Cogito,  ergo 
sum  ist  der  erste  uniunstößliche  Satz;  jeder  Satz,  den  wir 
nun  ebenso  begreifen  wie  diesen,  der  uns  ebenso  unum- 
stößlich ist,  der  den  gleichen  Grad  von  Gewißheit  hat, 
muß  ebenso  unbedingt  angenommen  werden.  Dies  ist 
der  schärfere  Ausdruck  und  eine  striktere  Zusammen- 
drängung von  dem,  was  wir  an  manchen  Stellen  finden 
und  was  uns  ohne  die  erwähnte  Annahme  unerklärlich 
sein  würde.   So  z.  B.  Medit.  III.\  E  quidcm  non  aliani  ob 


1  a.  R.:  Geht  vorher:  Sed  praeter  ea  etiam  animadverto  .  .  [vgl.  S.  267, 
Z.  10  V.  u.\ — 2  a.  R  :  ausgenommen  Resp.  ad  IL  obj.  4.  und  nur  an- 
gedeutet in  der  Resp.  ad  IV.  obj. 


2  70    NATUR WISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

causam  de  iis  du  bi  tan  dum  esse  postea  judicavi .  . .  repugnan- 
tiam  agnosco  manifestam. 

Man  sieht  deutlich,  wie  hier  Cartesius  die  Möglichkeit 
einer  Erkenntnis,  nicht  nur  hinsichtlich  des  cogifo^  ergo 
sum^  trotz  der  Annahme  einer  täuschenden  prima  causa, 
behauptet. 

Charakteristisch  ist  es  noch,  daß  er  in  der  Abhandlung 
De  methodo  die  Untersuchung  über  das,  was  wir  als  wahr 
annehmen  müßten,  dem  Beweis  von  dem  Dasein  und  der 
Wahrhaftigkeit  Gottes  und  somit  der  Möglichkeit  einer 
Erkenntnis  vorausschickt  und  sie  gleich  auf  das  cogifo,  ergo 
sum  folgen  läßt. 

Warum  Cartesius  nicht  auf  diesem  Wege  geblieben,  läßt 
sich  wohl  aus  der  Natur  des  cogito,  ergo  sum  erklären; 
denn  bei  näherer  Untersuchung  desselben  sah  er  wohl 
ein,  daß  es  nur  der  Ausdruck  für  das  mit  jeder  Tätigkeit 
notwendig  verbundene  Selbstbewußtsein  sei,  daß  als  sol- 
chem ihm  ein  höherer  Grad  der  Gewißheit  als  allen  übri- 
gen Erkenntnissen  zukommen  müsse  und  daß  es  demnach 
verlorne  Mühe  sein  würde,  einen  zweiten  Satz  von  glei- 
cher Gewißheit  zu  suchen.  Denn  obgleich  alle  auf  die 
drei  Denkgesetze  gegründeten  Sätze  uns  ebenso  wahr 
scheinen,  so  steht  uns,  nach  Cartesius,  doch  niemand  da- 
für, daß  unsere  Denkkraft  selbst  nicht  so  eingerichtet  sei, 
daß  wir  irren  müßten.  Ein  Umstand,  der  nur  an  der  Ge- 
wißheit des  cogito,  c?gosu?ji  nichts  schmälern  kann.  {Hotho 
und  Hegel  mögen  doch  recht  haben.)  Es  blieb  ihm  also, 
um  sich  aus  dem  Abgrund  seines  Zweifels  zu  retten,  nur 
ein  Strick,  an  den  er  sein  ganzes  System  hängte  und 
hakte  \j\\  Gott.  Denn  es  wäre  ihm  eigentlich,  wie  schon 
gesagt,  bei  der  Art  seines  Zweifels  ganz  unmöglich,  den- 
selben zu  beweisen. 

Kehren  wir  nun  wieder  zur  weiteren  Entwicklung  der  ge- 
fundenen Sätze  zurück.  Das  vollkommenste  Wesen  ist 
also  bewiesen,  ebenso  unser  Ursprung  aus  demselben, 
ferner  die  Möglichkeit  einer  Erkenntnis  aus  der  Wahr- 
haftigkeit Gottes.  Denn,  wenn  Gott  kein  Lügner  und  Be- 
trüger sein  soll,  so  muß  unsere  Vernunft  nicht  zum  Irren, 
sondern  zum  Erkennen  des  Wahren  eingerichtet  sein,  und 


CARTESIUS  271 

alles  ist  wahr,  was  wir  nach  den  Gesetzen  der  Vernunft 
denken,  d.  h.  klar  und  deutlich  vorstellen  (erkennen).^ 
Was  ist  nun  aber  das  Kriterium  einer  klaren  und  deut- 
lichen Vorstellung? 
Im  45.  §  [von]  Princ.  1.  sagt  er  sehr  unbestimmt:  Clarain 

voco  illani  \perceptione7f{\ in  se  cont'meat. 

Bestimmter  drückt  er  sich  in  der  schon  erwähnten  Stelle 
in  der  Abhandlung  De  inethodo  aus,  wo  er  eine  der  des 
cogito^   ergo  sum  gleiche   Gewißheit  zum  Kriterium  der 

Wahrheit  zu  machen  scheint.  —  Post  haec  inquisivi 

omne  id,  quod  valde  dilucide  et  distincte  cojidpiebam,  verum 
esse  [a.  a,  O.,  3.  Abs.  von  IV.]. 

Für  die  Wahrheit  unsrer  Begriffe  von  körperlichen  Dingen 
führt  übrigens  noch  Cartesius  eigene  Beweisgründe  an, 
die  wir  weiter  unten  geben  werden.  Denn  mit  dem  Satz: 
alles  ist  wahr,  was  ich  nach  den  Gesetzen  der  Vernunft 
denke  — ,  lassen  sich  die  Körper  nur,  insofern  sie  Gegen- 
stände der  reinen  Anschauung  der  Mathematik,  beweisen. 
—  Reliquum  est  .  .  .  {Medit.  IP.  [erster  Satz]). 
Jetzt  stellt  sich  Cartesius  noch  eine  Schwierigkeit  ent- 
gegen. Denn:  N'ec  ullum  de  hac  re  dtibium  supperesset^  nisi 
mde  sequi  videretur^  me  igitur  errai'e  numquam  posse\  nam 
si,  quodcumque  in  me  est,  a  Deo  habeo  nee  uUam  ille  inihi 
dederit  errandi facultatem,  non  videor posse  iimquam  errare. 
(Medit.  IV.  De  vero  et  f also.) 

Solange  ich  nun  nur  an  Gott  denke  und  mich  ganz  zu  ihm 
wende,  so  finde  ich  keine  Ursache  des  Irrtums;  kehre  ich 
aber  zu  mir  zurück,  so  finde  ich  mich  in  unzähliche  Irr- 
tümer verwickelt,  und  suche  ich  nach  ihrer  Ursache,  so 
finde  ich  in  mir  nicht  nur  die  reale  und  positive  Idee  von 
einem  höchst  voUkommnen  Wesen,  sondern  auch  sozu- 
sagen eine  negative  Idee  des  Nichts  oder  dessen,  was  von 
aller  Vollkommenheit  am  weitesten  entfernt  ist,  und  sehe 
zugleich,  daß  ich  als  ein  Mittelding  zwischen  Gott  und 

^  a.  R.:  Demgemäß  warf  man  in  der  Obj.I.  ein,  daß  man  nach  diesem 
Grundsatz  Gott  nicht  erkennen  könne,  weil  eine  klare  und  deutliche 
Erkenntnis  des  Unendlichen  unmöglich  sei. — Cartesius  [Resp.  ad 
I.  obj.y.  Itaqtie  iniprimis  hie  dicain,  infinittim,  qua  infijiitiun  est,  nullo 
quidem  modo  comprehendi,  sed  nihilominus  tarnen  intelligl .  .  , 


2  72    NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

Nichts  so  beschaffen  bin,  daß,  insofern  ich  von  Gott  bin, 
nichts  in  mir  ist,  wodurch  ich  zu  einem  Irrtum  verleitet 
würde,  daß  aber,  insofern  ich  quodammodo  de  nihilo^  sive 
de  non  ente  participio^  d.  h.  insofern  ich  nicht  selbst  das 
höchste  Wesen  bin,  mir  sehr  vieles  fehlt,  so  daß  ich  mich 
über  meine  Irrtümer  nicht  zu  wundern  brauche.  So  sehe 
ich  also  deutlich  ein,  daß  der  Irrtum,  insofern  er  Irrtum 
ist,  nicht  etwas  Reales,  von  Gott  Abhängendes,  sondern 
nur  ein  Mangel  sei,  und  daß  ich  also  nicht  von  Gott  eine 
besonders  zum  Irren  bestimmte  Anlage  (falcultatem)  er- 
halten haben  müsse,  sondern  daß  mein  Irrtum  nur  daher 
rühre,  daß  die  mir  von  Gott  zum  Erkennen  der  Wahrheit 
verliehene  Gabe  nicht  unendlich  sei.  Doch  genügt  dies 
noch  nicht  vollkommen,  denn  der  Irrtum  ist  nicht  eine 
bloße  Verneinung,  sondern  die  Beraubung,  der  Mangel 
einer  Erkenntnis  (non  est  pira  7tegatio,  sed  privatio  sive 
carentia  cujusdam  cognitionis) ^  die  sich  in  mir  finden  sollte; 
und  betrachte  ich  das  Wesen  Gottes  näher,  so  scheint  es 
mir  unmöglich,  daß  er  mir  eine  Gabe  verliehen  habe,  die 
nicht  in  ihrer  Art  vollkommen  oder  einer  ihr  zukommen- 
den Vollkommenheit  beraubt  sei.  Denn  je  vollkommner 
der  Künstler,  desto  vollkommner  die  Werke,  welche  er 
schafft;  was  sollte  da  aus  dem  höchsten  Schöpfer  aller 
Dinge  hervorgehen  können,  was  nicht  in  jeder  Hinsicht 
vollkommen  sei?  Da  ohne  Zweifel  Gott  mich  hätte  so  er- 
schaffen können,  daß  ich  nie  jitl-,  und  da  er  ohne  Zweifel 
stets  das  Beste  will,  so  wäre  es  ja  besser,  ich  irrte  mich, 
als  ich  irrte  mich  nicht  Cartesius  versucht  nun  ver- 
schiedne  Wege,  um  diese  Widersprüche  zu  heben.  Na- 
mentlich stützt  er  sich  auf  den  Satz,  daß  nur  in  dem 
Willen  der  Grund  der  Irrtümer  enthalten  wäre,  und  zwar 
nicht  [in  dem]  Wille[n]  selbst  oder  der  von  Gott  uns 
verliehnen  Fähigkeit  des  Wollens,  sondern  in  der  Art, 
wie  wir  von  derselben  Gebrauch  machen  (m  ipsa  opera- 
tione  quatenus  a  me  procedit).  Doch  muß  er  sich  zuletzt 
auf  die  Unbegreiflichkeit  der  göttlichen  Absichten  be- 
rufen und  zugeben,  daß  es  freilich  Gott  leicht  möglich 
gewesen  wäre,  alle  Möglichkeit  des  Irrtums  aus  uns  zu 
entfernen.    Er  setzt  aber  in  seiner  Hartnäckigkeit  hinzu, 


CARTESIUS  273 

man  könne  nicht  leugnen,  daß  das  Universum  gewisser- 
maßen (quodammodo)  vollkommen  sei,  wenn  manche  Teile 
dem  Irrtum  unterworfen  wären  und  manche  nicht,  als 
wenn  alle  vollkommen  ähnlich  wären.  Dann  sagt  er  noch, 
wir  seien  Gott  für  das  Gute,  das  er  uns  nach  seiner  ab- 
soluten imd  freien  Gewalt  gegeben  hat,  den  größten  Dank 
schuldig,  könnten  uns  aber  nicht  beschweren,  daß  er  uns 
nicht  alles  geschenkt  hat,  was  er  uns  nach  unserer  Vor- 
stellung hätte  schenken  können.   {Nee  quodammodo  inter 

nos  Iiomiiies est  quam  maxime  absoluta  et  lihera. 

Princ.  I.  38.) 

Der  Irrtum  ist  übrigens  nichts,  zu  dessen  Hervorbringung 
eine  reale  Handlung  Gottes  nötig  gewesen  wäre:  sondern 
auf  ihn  bezogen  ist  er  nur  eine  Negation,  auf  uns  eine 
Beraubung.  [Nee  errores  sunt  res,  ad  quarum  produc- 
tionefn  realis  Dei  eoneursus  requiratur .  .  .  Princ.  1.31^ 
Spinvza  erläutert  dies  folgendermaßen:  [Spinoza II,  S.4o8f.] 
Propos.  XV.'.  Error  non  est  quid posithnmi. — Demo7istr.:  Si 

error  quid  positivum  esset ScJiolimn:  Cum  error  non 

sit  quid  positivum  in  homine,  nihil  aliud poterit  esse,  quam 
privatio  recti  usus  libertatis  .  .  . 

Der  Irrtum  liegt  also  nur  im  unrechten  Gebrauch  eines 
unserer  geistigen  Organe.  In  welchem  nun: 
Alle  modi  des  Denkens  lassen  sich  unter  zwei  Abteilungen, 
die  Vernunft  und  den  Willen,  bringen.  Erstere  umfaßt 
das  Gefühl,  das  Einbildungs-  und  das  Erkenntnisvermö- 
gen (sentire,  i7?iaginari  et  pure  intelligere) ,  letzterer  das 
Begehren,  Verabscheuen,  Bejahen,  Verneinen  und  Zwei- 
feln (cuper e,  aversari,  affirmare,  negare). 
Solange  nun  der  Geist  die  Dinge  klar  und  deutlich  er- 
kennt und  ihnen  beistimmt,  sie  bejaht  (assentitur),  kann 
er  nicht  getäuscht  werden,  und  auch  so  lange  nicht,  als 
er  die  Dinge  sich  nur  vorstellt,  ohne  etwas  von  ihnen 
auszusagen,  sie  zu  bejahen  (iis  assentiri).^  Denn  wenn 
ich  mir  auch  ein  geflügeltes  Pferd  vorstelle,  so  ist  es  doch 
gewiß,  daß  diese  Vorstellung  nichts  Falsches  enthält,  so- 

*  a.  ^r.  per  solum  intelkctum  percipio  tantum  idcas,  de  quibus  Judicium 
ferre  possum,  nee  tillus  error  propric  dictus  in  eo  praecise  reperitur 
[Medit.  IV.). 
BÜCHNER  18. 


2  74    NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

lange  ich  nicht  behaupte  (bejahe),  es  gäbe  ein  geflügeltes 
Pferd,  oder  es  bezweifle.  Und  da  nun  das  Bejahen  oder 
Verneinen  nichts  anders  als  eine  Bestimmung  des  Willens 
ist,  so  folgt  daraus,  daß  der  Irrtum  nur  von  dem  Gebrauch 
des  Willens  abhängt. 

Nun  haben  wir  aber  nicht  nur  das  Vermögen,  demjenigen 
unseren  Beifall  zu  geben,  was  wir  klar  und  deutlich  er- 
kennen, sondern  auch  dem,  was  wir  uns  auf  irgendeine 
andre  Art  vorstellen.  Denn  unser  Wille  ist  unbegrenzt. 
Man  sieht  dies  leicht  ein,  wenn  man  nur  bedenkt,  daß, 
wenn  Gott  uns  ein  unendliches  Erkenntnisvermögen  hätte 
geben  wollen,  er  deswegen  nicht  nötig  gehabt  hätte,  uns 
zugleich  eine  weitere  assentiendi  facidtatem  zu  geben,  da 
dieselbe  von  der  Art  ist,  daß  sie  für  die  unendlichsten 
Dinge  genügte.  Und  wir  überzeugen  uns  selbst  davon, 
indem  wir  vielem  unsern  Beifall  geben,  was  wir  nicht  aus 
sichren  und  gewissen  Prinzipien  erkannt  haben.  (Nee  vero 

etiam  queri  possum ut  milla  vi  externa  nos  ad  id  de- 

terminari  sentiamtis.  Medit.  IV.) 

Daraus  geht  ferner  hervor,  daß,  wenn  das  Erkenntnis- 
vermögen sich  ebenso  weit  erstreckte  als  der  Wille,  oder 
der  Wille  sich  nicht  weiter  als  das  Erkenntnisvermögen, 
oder  wenn  wir  endlich  den  Willen  in  den  Grenzen  der 
Erkenntnis  halten  könnten,  wir  niemals  irren  würden.  (Ex 
Ms  autempercipio  . . .  atque  itafallor  et pecco.  Medit.  IV.) 
Die  beiden  ersteren  nun  liegen  außer  unserer  Macht.  Es 
bleibt  uns  also  nur  das  dritte  übrig:  nämlich  ob  wir  un- 
seren Willen  in  den  Schranken  der  Erkenntnis  zu  halten 
vermögen.  Da  aber  der  Wille  seiner  Freiheit  gemäß  sich 
selbst  bestimmt,  so  folgt  daraus,  daß  wir  den  Willen  in 
den  Schranken  der  Erkenntnis  zu  halten  und  dadurch  den 
Irrtum  zu  vermeiden  vermögen,  so  daß  es  offenbar  nur 
von  dem  Gebrauch  unseres  Willens  abhängt,  daß  wir  uns 
nie  irren.  Daß  aber  unser  Wille  frei  sei,  wird  im  39.  § 
Princ.  I.  bewiesen.  (Daß  wir  einen  freien  Willen  haben 
und  mit  Willkür  vielem  beistimmen  oder  nicht  beistimmen 
können,  ist  so  evident,  daß  wir  es  unter  die  ersten  ange- 
bornen  Grundsätze  zählen  müssen.  Dieses  machte  sich 
kurz  vorher  einleuchtend,  da  wir  in  dem  Bestreben,  alles 


CARTESIUS  275 

zu  bezweifeln,  so  weit  gingen,  daß  wir  uns  einbildeten, 
ein  allmächtiger  Urheber  unsres  Ursprungs  suche  uns  auf 
alle  mögliche  Weise  zu  betrügen,  und  wir  gleichwohl  die 
Freiheit  in  uns  wahrnahmen,  unseren  Beifall  allem  dem- 
jenigen zu.  versagen,  was  nicht  durchaus  gewiß  und  aus- 
gemacht war.  I.  39. — Carlesius  setzt  dann  noch  hinzu,  es 
sei  uns  freilich  unbegreiflich,  wie  die  aus  Gottes  Allmacht 
sich  notwendig  ergebende  Vorbestimmung  mit  der  Frei- 
heit unsres  Willens  sich  vereinigen  ließe.  Da  jedoch 
beides  ganz  evident  sei,  so  müßten  wir  uns  mit  dem  Ge- 
danken bescheiden,  daß  wir  als  endliche  Wesen  das  Un- 
endliche nicht  begreifen  könnten.) 

Und  obgleich  wir,  wenn  wir  eine  Sache  klar  und  deut- 
lich erkennen,  wir  gezwungen  sind,  sie  zu  bejahen,  so 
rührt  dieser  notwendige  Beifall  nicht  von  der  Schwäche, 
sondern  von  der  Vollkommenheit  und  Freiheit  unseres 
Willens  her.  Denn  assentiii  ist  notwendig  eine  Voll- 
kommenheit, wie  sich  von  selbst  ergibt,  und  der  Willen 
ist  nie  vollkommner  und  freier,  als  wenn  er  sich  prorsus 
deter??wiat.  Wenn  es  nun  geschieht,  daß  der  Geist  etwas 
klar  und  deutlich  erkennt,  so  wird  er  sich  sogleich  not- 
wendigerweise diese  Vollkommenheit  geben.  Weit  gefehlt 
also,  daß  wir  dadurch,  daß  wir  nichts  weniger  als  gleich- 
gültig gegen  das  Erfassen  der  Wahrheit  sind,  weniger  frei 
wären:  man  muß  im  Gegenteil  annehmen,  je  gleichgül- 
tiger, je  unfreier.   (Medit.  IV.  Neque  enini  opus  est  nie  in 

utramque partcm  fe?y'i  posse^   ut  s'mi  Über numquam 

tarnen  indifferens  esse  possem.) 

Der  Irrtum  liegt  also  in  dem  unrechten  Gebrauch  unsres 
Willens.  Übrigens  darf  man  nicht  einwerfen,  daß  wir  dann 
nie  irren  würden,  weil  gewiß  niemand  den  Willen  hat  zu 
irren.  Denn  [es]  ist  ein  großer  Unterschied  zwischen 
einem  absichthchen  Irrtum  und  dem  Beifall,  den  man 
einer  Sache  gibt,  worin  sich  zufällig  ein  Irrtum  findet. 
Und  ob  es  gleich  niemand  gibt,  der  absichtlich  irren  will, 
so  gibt  es  auch  niemand,  der  nicht  oft  dem  seinen  Beifall 
schenkt,  worin  sich  ohne  sein  Wissen  ein  Irrtum  findet. 
Denn  selbst  das  Streben  nach  Wahrheit  macht  oft,  daß 
die,  welche  nicht  gehörig  ihre  Vernunft  zu  brauchen  wissen. 


276    NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

über  Dinge  urteilen,  die  sie  nicht  erkannt  haben,  und  so- 
mit irren.  (§  42  Princ.  I.) 

Wir  können  übrigens  Gott  nicht  vorwerfen,  daß  er  unsern 
Willen  unbeschränkter  gemacht  habe  als  unser  Erkenntnis- 
vermögen; denn  da  der  Wille  in  una  tantum  re  et  taf?i- 
quam  in  indivisibili  consistit^  so  scheint  es,  daß  man  von 
seiner  Natur  nichts  wegnehmen  könne.  Und  wahrhaftig, 
je  unbegrenzter  er  ist,  desto  größeren  Dank  sind  wir  dem 
Schöpfer  schuldig  (Medit.  IF.).  Außerdem  ist  es  immerhin 
besser,  selbst  unklare  Begriffe  zu  bejahen  und  somit  von 
seiner  Freiheit  Gebrauch  zu  machen,  als  immer  gleich- 
gültig zu  bleiben. 

Quare  rebus  confusis  assentirl quatefvus  a  Deo  de- 

pendet^  sitam  esse?-  (Spiiioza  ad  [Princ]  /.,  propos.  XV. 
[Spinoza  II,  S.  411]. — Ich  habe  besonders  den  von  Spifioza 
in  dieser  Proposition  bezeichneten  Weg  verfolgt,  weil 
das,  was  Cartesius  in  den  Prinzipien  über  diesen  Gegen- 
stand sagt,  fast  nicht  zusammenhängt,  und  seine  Ausein- 
andersetzung in  der  IV.  Meditation  zu  weitläuftig  und  in 
sich  selbst  nicht  ganz  klar  ist.) 

Nicht  in  dem  Erkenntnisvermögen,  weil  dasselbe  ja,  da 
es  weder  verneint  noch  bejaht,  gar  nicht  irren  kann,  nicht 
in  dem  Willen,  weil  seine  Unendlichkeit  zu  seiner  Voll- 
kommenheit gehört,  also  nur  [in]  der  Art,  wie  wir  von  ihm 
im  Verhältnis  zu  unsern  Erkenntnissen  Gebrauch  machen.^ 
So  viel  ist  aber  gewiß,  daß  wir  nie  Falsches  für  Wahres 
annehmen  werden,  wenn  wir  nur  demjenigen  beistimmen, 
was  wir  klar  und  deutlich  vorgestellt  haben.  Es  ist  gewiß, 
weil  Gott  kein  Betrüger  ist,  und  daher  das  Vorstellungs- 
vermögen, das  er  uns  gegeben  hat,  so  wenig  als  das  Ver- 
mögen des  Fürwahrhaltens,  solange  es  sich  nur  über  das, 
was  wir  uns  klar  vorstellen,  erstreckt  [,  auf  das  Falsche 
gerichtet  ist].  Und  wenn  auch  dieses  nicht  durch  Gründe 
bewiesen  wäre,  so  ist  es  doch  allen  Gemütern  von  Natur 
so  eingeprägt,  daß  wir  jederzeit,  wenn  wir  uns  etwas  klar 

1  a.  'K.:  pj'ivatio  autet/i,  in  qua  sola  ratio  forvialis  falsitatis  et  culpae 
cofisistit .  .  .  sed  tanttwunodo  fiegatio  dici  debet.  [Medit.  IV) — ^  zu 
ergänzen  ist  wohl:  liegt  die  Möglichkeit  des  Irrtums.  Allerdings 
steht  in  der  Handschrift:  von  der  Art. 


CARTESIUS  277 

vorstellen,  demselben  Beifall  geben  werden  und  nie  an 
der  Wahrheit  desselben  zweifeln  können.  (I.  §  43.) 
Hiermit  wären  wir  denn  jetzt  zur  Höhe  des  Cartesiauis- 
mus  gelangt.  Die  Möglichkeit,  ja  die  Notwendigkeit  einer 
Erkenntnis  ist  bewiesen,  und  daraus  der  Grundsatz  des 
Dogmatismus:  was  im  Begriflf  einer  Sache  liegt,  ist  wahr. 
Die  Quelle  des  Irrtums  ist  entdeckt,  das  Kriterium  der 
Wahrheit  ist  bewiesen.  Wie  geht  nun  Cartesius  weiter? 
AUes,  was  unser  Bewußtsein  begreift,  stellen  wir  uns  ent- 
weder als  Substanzen  oder  ihre  Bestimmungen  (affectio7ies) 
oder  als  ewige  Wahrheiten  [vor],  welche  keine  Existenz 
außer  unseren  Gedanken  haben. 

Von  den  ewigen  Wahrheiten  gibt  er  folgende  Erklärung 
(§  49):  Wenn  wir  erkennen,  daß  aus  Nichts  Nichts  werde, 
so  wird  das  Urteil  aus  Nichts  wird  Nichts  nicht  als  eine 
existierende  Sache  oder  als  eine  Bestimmung  derselben, 
sondern  als  eine  ewige  Wahrheit  vorgestellt,  welche  ihren 
Sitz  in  dem  Verstände  hat,  und  ein  Gemeinbegriff  oder 
ein  axioma  genannt.  Hierher  gehören  die  Sätze:  Es  ist 
unmöglich,  daß  dasselbe  zugleich  sei  und  nicht  sei;  wer 
denkt,  existiert  notwendig,  indem  er  denkt — und  unzählige 
andre,  welche  nicht  leicht  aufgezählt  werden  können. 
In  den  Resp.  ad  II.  objectio?i.  werden  zehn  dergleichen 
Axiomen  angeführt,  wovon  mehrere  in  dem  Beweis  des 
Dasein  Gottes  aus  der  Idee  von  Gott  angeführt  sind. 
Charakteristisch  für  die  Erklärung  des  Cogito^  ergo  sum  ist 
diese  Klassifikation.  (Hotho^  Hegel.) 
Die  Untersuchungen  über  die  Substanzen  sind  etwas  ver- 
wirrt. Ich  gebe  sie  in  folgender  Ordnung: 

Resp.  ad  IL  obj.,  Defin.  V.:  Omnis  res attributitm. — 

Im  5 1 .  §  Frinc.  I.  schränkt  er  dagegen  den  Begriff  von 

Substanz  mehr  ein,  indem  er  sagt:  Per  snbstantiam  7iihil 

aliud  intelUgere  possumus  quam  rem^    quae  ita  existit,  ut 

nulla  alia  re  i?idigeat.    Damit  wird  denn  der  Begriff  nur 

auf  Gott  bezogen.  Doch  gebraucht  er  das  Wort  Substanz 

immer  in  der  zuerst  angeführten  Bedeutung. 

An  der  Substanz  unterscheidet  man  nun  die  attributa^ 

Eigenschaften,  und  die  Bestimmungen,  inodi. 

Der  Siibstanz  kommt  im  allgemeinen  nur  Sein  zu,  sie  ist 


278     NATUR WISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

das,  woran  etwas  ist.  Sie  kann  also  an  sich,  als  existie- 
rend, nicht  wahrgenommen  werden,  sondern  nur  durch 
ihre  Attribute  und  Modi.  Denn  daraus,  daß  wir  irgend- 
eine Eigenschaft  wahrnehmen,  schließen  wir,  daß  ein 
seiendes  Ding  (rem  existentem)  oder  eine  Substanz,  woran 
oder  worin  jene  Eigenschaft  sei,  notwendig  vorhanden 
sein  müsse.  Die  Substanz  ist  also  der  einfache  Begriff  des 
Seins. 

Attribut  ist  dasjenige,  was  an  und  in  der  Substanz^  ist^, 
was  also  nicht  weggenommen  werden  kann,  ohne  daß  der 
klare  und  deutliche  Begriff  der  Substanz  zerstört  wird. 
(§62.)  Das  Attribut  ist  also  unveränderlich,  daher  ist  an 
den  geschaffnen  Dingen  alles  Attribut,  was  an  ihnen  sich 
immer  auf  die  nämliche  Weise  verhält.  Da  in  Gott  keine 
Veränderung  möglich  ist,  so  können  ihm  nur  Attribute 
beigelegt  werden.  (§  61.) 

Modus  ist  dasjenige,  wodurch  eine  Substanz  affiziert  oder 
verändert  wird. 

Die  Substanz  kann  nun  zwar  aus  jedem  Attribut  erkannt 
werden:  allein  jede  Substanz  hat  doch  nur  eine  Eigen- 
schaft, welche  ihre  Natur  und  ihr  Wesen  ausmacht  und 
auf  welche  sich  alle  übrige  Eigenschaften  beziehen.  So 
macht  die  Ausdehnung  in  die  Länge,  Breite  und  Dicke 
das  Wesen  des  Körpers,  das  Denken  das  Wesen  der  den- 
kenden Substanz  aus.  Alles  übrige,  was  dem  Körper 
zukommt,  setzt  die  Ausdehnung  voraus,  und  ist  nur  ein 
Modus  des  ausgedehnten  Dinges,  so  wie  alles,  was  wir  in 
der  denkenden  Seele  finden,  verschiedne  Weisen  des 
Denkens  sind.    (§53.) 

(Hat  jede  Substanz  nur  ein  Attribut,  worauf  sich  alle  übrige 
Eigenschaften  beziehen,  was  sollte  dann  der  Satz,  das  die 
Substanz  aus  jedem  Attribut  erkannt  werde?  Überhaupt 
ist  es  nicht  leicht,  hier  etwas  ganz  Deutliches  herauszu- 
bekommen, denn  Cartesius  spricht  zu  wenig  im  Zusam- 
menhang, zu  schwankend  und  unbestimmt.    So  sagt  er 

1  a.  R.:  Substanz  wird  hier  und  im  Folgenden  nicht  in  der  reinen 
Bedeutung,  sondern  überhaupt  als  Ding  genommen. — 2  a.  R.:  was 
also  nicht  für  sich  gedacht  werden  kann,  ohne  daß  man  es  selbst 
zur  Substanz  mache. 


CARTESIÜS  279 

sogar  §  56:  Et  ctiam  in  7-cbtis  creatis  ea,  qiiae  numquam 
in  iis  diver  so  modo  se  habent^  tit  existe^itia  et  duratio,  in  rc 
existente  et  durante,  non  niodi,  sed  attributa  dici  debent^ 
Den  drei  Stufen  nun,  Substanz,  Attribut  und  Modus,  ent- 
spricht eine  dreifache  Unterscheidung,  eine  reale,  modale 
und  rationale  (distinctio  7-ealis,  modalis^  rationis^. 
Die  erste  findet  zwischen  zweien  und  mehreren  Sub- 
stanzen statt.  Daraus,  daß  wir  zwei  Substanzen  klar  und 
deutlich  denken  können,  erkennen  wir,  daß  sie  auf  reelle 
Weise  verschieden  sind.  Denn  indem  wir  Gott  erkennen, 
wissen  wir,  daß  Gott  dasjenige  bewirkt,  was  wir  deut- 
lich erkennen.    (§  60.) 

Die  modale  Unterscheidung  ist  von  doppelter  Art,  in- 
dem der  modus  bald  von  der  Substanz,  der  er  angehört, 
bald  zwei  modi  t'mtx  und  derselben  Substanz  voneinander 
unterschieden  werden.  Die  erste  wird  daraus  erkannt, 
daß  die  Substanz  ohne  Modus  deutlich  gedacht  werden 
kann,  aber  nicht  der  Modus  ohne  Substanz.  Die  zweite  dar- 
aus, daß  der  eine  Modus  ohne  den  andern,  und  umgekehrt, 
aber  beide  nicht  ohne  die  Substanz,  der  sie  angehören, 
gedacht  werden  können;  z.  B.  wenn  ein  viereckiger  Stein 
sich  bewegt,  so  kann  ich  zwar  seine  viereckige  Gestalt 
ohne  die  Bewegung  denken  und  umgekehrt  seine  Bewe- 
gung ohne  die  viereckige  Gestalt,  aber  weder  Bewegung 
noch  Gestalt  kann  ich  ohne  die  ausgedehnte  Substanz 
des  Steines  selbst  denken. 

Die  Unterscheidung  aber  zwischen  dem  Modus  einer 
Substanz  und  einer  andern  Substanz,  oder  dem  Modus 
einer  andern  Substanz,  ist  eher  real  als  modal;  weil  diese 
modi  nicht  ohne  die  real  verschiednen  Substanzen,  in  de- 
nen sie  sind,  gedacht  werden  können.  (§  62.) 
Die  rationale  Unterscheidung  findet  statt  zwischen  einer 
Substanz  und  einem  Attribut  derselben,  ohne  welches  sie 
selbst  nicht  gedacht  werden  kann;  oder  zwischen  mehreren 
solchen  Attributen  einer  und  derselben  Substanz.  Sie 
wird  daraus  erkannt,  daß  eine  deutliche  Vorstellung  der 
Substanz  unmögHch  ist,  wenn  man  von  ihr  jenes  Attri- 
but ausschließt,  oder  daraus,  daß  man  eines  von  jenen 
Attributen  nicht  deutlich  denken  kann,  wenn  man  es  von 


2  8o     NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

dem  andern  trennt.  So  kann  die  Substanz  und  die  Dauer 
(duratio)  nur  auf  eine  rationale  Weise  unterschieden  wer- 
den; denn  wenn  die  Substanz  aufhört  fortzudauern,  so 
hört  sie  auch  auf  zu  sein.   (§  62.) 

Es  gibt  nun  nur  zwei  höchste  Geschlechter  der  Dinge 
oder  Substanzen,  nämlich  geistige  oder  denkende  und 
materielle,  oder  solche  Dinge,  welche  zu  der  denken- 
den, wie  das  Denken,  Wollen,  oder  der  ausgedehnten  Sub- 
stanz, wie  die  Ausdehnung  in  die  Länge,  Breite  und  Höhe, 
Gestalt,  Bewegung,  Lage,  Teilbarkeit  etc.,  gehören.  Doch 
erfahren  wir  in  uns  noch  manches,  was  sich  weder  auf 
den  Körper  noch  die  denkende;  Substanz  allein  bezieht 
und  aus  der  innigen  Vereinigung  von  beiden  entspringt, 
als  Appetit,  Hunger,  Durst,  Gemütsbewegungen,  die  nicht 
bloß  im  Denken  bestehen,  als  die  Bewegung  zur  Freude, 
Traurigkeit,  Liebe,  endlich  alle  Empfindungen,  als  des 
Schmerzes,  Kitzels,  des  Lichts,  der  Farben,  Töne,  Ge- 
rüche etc.    (§48.) 

Die  denkende  Substanz  ist  aus  dem  Denken  selbst,  die 
ausgedehnte  aus  der  mathematischen  Erkenntnis,  als  in 
der  reinen  Anschauung  des  Raumes  und  der  Zeit  bedingt, 
bereits  bewiesen.  Der  Empfindungen  werden  wir  uns 
unmittelbar  bewußt. 

Attribute  und  Eigenschaften  sind  nur  teils  in  den  Dingen 
selbst,  denen  sie  beigelegt  werden,  teils  in  dem  Denken. 
Will  man  also  die  Dinge  erkennen,  so  muß  man  wohl 
zwischen  beiden  unterscheiden. 

Dauer,  Ordnung  und  Zahl  sind  von  den  dauernden,  ge- 
ordneten und  gezählten  Dingen  nicht  verschieden,  sie 
sind  nur  die  modi.,  unter  welchen  wir  uns  dieselben  vor- 
stellen, ([§  55]  Et  similiter  ncc  ordinem  nee  numcrum 
esse  .  .  .  consideramiis.  —  Dui-atio^  ordo  et  numerus  a  nobis 
etiam  distinctissime  intelligefttur,  si  nulluni  üs  suhstantiac 
conceptum  affingamus^  sed  putemus  durationem  rei  cujusque^ 
esse  tantum  modum,  sub  quo  conciphfius  rem  istam,  qua- 
tc7vus  esse  perseverat:  das  soll  doch  wohl  heißen,  wir  müs- 
sen Dauer,  Ordnung  und  Zahl  als  einen  objektiven 
Modus  in  den  Dingen  selbst  betrachten  und  ihnen  keine 
substanzielle  Bedeutung  beilegen.) 


CARTESIUS  281 

Die  Zeit  hingegen,  insofern  sie  von  der  Dauer  im  allge- 
meinen unterschieden  und  als  die  Zahl  der  Bewegung 
betrachtet  wird  (iiumerus  motiis),  ist  nur  eine  Denkweise. 
Denn  wir  denken  uns  keine  andere  Dauer  in  der  Bewe- 
gung als  in  den  nichtbewegten  Dingen,  wie  sich  daraus 
ergibt,  daß,  wenn  sich  zwei  Körper  in  einer  Stunde  mit 
verschiedener  Schnelligkeit  [bewegen],  wir  doch  nicht 
mehr  Zeit  für  den  [einen]  als  für  den  andern  rechnen, 
obgleich  bei  dem  einen  viel  mehr  Bewegung  ist  als  bei 
dem  andern. 

Um  aber  die  Dauer  aller  Dinge  zu  messen,  vergleichen 
wir  sie  mit  der  Dauer  der  größten  und  gleichförmigsten 
Bewegungen,  von  welchen  Jahre  und  Tage  entspringen, 
und  nennen  diese  Dauer  die  Zeit,  welche  folglich  der 
Dauer  im  allgemeinen  nichts  weiter  hinzu  tut  als  unsere 
Denkweise.   (§  57.) 

Ebenso  verhält  es  sich  auch  mit  der  Zahl  in  abstracto  und 
allen  Universalien.   Denn  die  Universalien  entstehen  da- 
durch, daß  man  eine  und  dieselbe  Idee  gebraucht,  um  alle 
Individuen,   welche   einander  ähnlich  sind,    zu   denken. 
Daher  die  Gattungs-  und  Artbegriffe,  ferner  die  Differenz 
oder  das  Merkmal,  welche  die  Gattung  oder  Art  von  einer 
andern  unterscheidet,  ferner  die  Eigentümlichkeit  (pro- 
prium), welche  aus  dem  Wesen  einer  Gattung  sich  ergibt, 
und  endlich  der  zufällige  Unterschied  (accidens  universale) 
zwischen  den  Individuen  einer  Art  oder  Gattung.  {Ac  de- 
7Üque,  si  supponamus  aliquos  ejusmodi  triangulos  moveri  .  .  , 
accide?is  universale  [§  59,  vorletzter  Satz].) 
1  Also  fünf  Uni  Versalien:  genus,  species^  differentia^  proprium. 
\  accidens. 

\  Was  nun  die  Denkweisen  anbelangt,  welche  aus  der  Ver- 
I  einigung  der  denkenden  und  ausgedehnten  Substanz  ent- 
I  springen,  wie  Empfindungen  der  Sinne,  das  Gefühl  der 
Lust  und  Unlust  etc.,  so  haben  wir  von  ihnen  auch  eine 
klare  und  deutliche  Vorstellung,  si  accurate  caveatnus,  ne 
quid  amplius  de  iis  judicemus,  quam  id  praecise^  quod  in 
pcrceptione  nostra  co?itifietur  et  cujus  iiitime  conscii  sumus. 
[§  dd?^  Schmerz  z.  B.  und  Farben  werden  zwar  deutlich 
wahrgenommen,  solange  wir  sie  nur  als  Denkweisen  be- 


282     NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

trachten;  sobald  wir  aber  annehmen,  sie  existierten  außer- 
halb unseres  Geistes,  so  können  wir  auf  keine  Weise  be- 
greifen, was  für  Dinge  sie  eigentlich  sind;  wenn  einer 
sagt,  er  sehe  an  einem  Körper  eine  Farbe,  oder  fühle 
einen  Schmerz  in  einem  Gliede,  so  wäre  es  gerad,  als  ob 
er  sagte,  er  sehe  oder  fühle  etwas,  qiiod,  quidnam  sit^  plane 
ignorat,  d.  h.  er  wisse  nicht,  was  er  sehe  und  fühle. 
Zwischen  diesen  Vorstellungen,  sowie  überhaupt  allen 
Begriffen,  w^elche  nur  in  unserm  Verstände  und  nicht  in 
den  Objekten  sich  finden  [modi  cogitandi^  quos  tamquain 
in  objectis  consideramus  [§  62]),  ist  nur  eine  distinctio  ra- 
tio nis  möglich. 

Ganz  etwas  andres  ist  es  mit  der  Erkenntnis  dessen,  w^as 
in  einem  gesehenen  Körper  die  Größe,  die  Gestalt,  die 
Bewegung,  die  Lage,  die  Dauer,  die  Zahl  u.  dgl.,  was 
man  sich  an  den  Körpern  deutlich  vorstellt.  Denn  wenn 
wir  auch  gewiß  sind,  daß  ein  Körper  so  gut  existiert,  in- 
sofern er  gefärbt,  als  insofern  er  gestaltet  ist,  so  erkennen 
wir  doch  viel  deutlicher  das  Gestaltsein  als  das  Gefärbt- 
sein.  (Princ,  I.  66— /O.) 

Cartesius  geht  nun  zur  Physik  über. 

Er  fängt  mit  dem  Beweis  für  das  Dasein  der  ausgedehnten 
Substanz  an.  Insofern  die  materiellen  Dinge  Gegenstände 
der  reinen  Mathematik  sind  und  somit  klar  und  deutlich 
erkannt  werden,  ist  ihr  Dasein  eigentlich  bereits  bewiesen 
(Med.  FI.). 

Was  wir  empfinden,  rührt  ohne  Zweifel  von  einer  Sache 
her,  welche  von  unsrer  Seele  verschieden  ist.  Denn  es 
steht  nicht  in  unsrer  Macht,  eher  das  eine  als  das  andere 
zu  empfinden,  sondern  dies  hängt  ganz  von  der  Sache  ab, 
welche  unsere  Sinne  affiziert.  Diese  Sache  ist  nun  ent- 
weder Gott  oder  etwas  von  Gott  Verschiednes.  Da  wir 
nun  durch  die  Sinne  oder  vielmehr  durch  den  Impuls  der 
Sinne  eine  in  die  Länge,  Breite  und  Höhe  ausgedehnte 
Materie  w^ahrnehmen,  deren  Teile  verschiedene  Gestalten 
haben  und  verschiedentlich  bewegt  werden  und  bewirken, 
daß  wir  die  verschiedenen  Empfindungen  der  Farbe,  des 
Schalls,  des  Schmerzes  haben,  so  wäre  Gott  notwendig 


CARTESIUS  283 

ein  Betrüger,  wenn  er  die  Idee  einer  ausgedehnten  Ma- 
terie entweder  unmittelbar  unserem  Geiste  beibrächte 
oder  verursachte,  daß  sie  von  einem  Dinge,  in  welchem 
weder  Ausdehnung  noch  Gestalt  noch  Bewegung  ist,  uns 
gegeben  würde.  Wir  müssen  also  daraus  schließen,  daß 
eine  ausgedehnte  Substanz,  welche  wir  Materie  oder 
Körper  nennen,  wirklich  existiere,  und  daß  ihr  alle  die- 
jenigen Eigenschaften  zukommen,  welche  wir  in  dem  Be- 
griffe eines  ausgedehnten  Dinges  deutlich  denken.  (Princ. 
11.  §  I.  Vgl.  Med.  VI.) 

(In  den  Resp.  ad  IL  objectiones  findet  sich  noch  folgender 
Beweis  für  die  Realität  der  körperlichen  Dinge:  \Corolla- 
riu??i.'\  Creavit  deus  coeliim  et  terram  .  .  .  De77ionstratio: 
Deum  existere  ex  eo  probatum  est  .  .  .  ergo  simul  cum  Dei 
existejitia  Jiaec  etiam  oinnia  de  eo  probata  sunt?) 
Jedoch  sind  die  körperlichen  Dinge  nicht  ganz  so  be- 
schaffen, wie  wir  sie  uns  durch  die  Sinne  vorstellen;  denn 
diese  Vorstellungen  sind,  wie  schon  gesagt,  verwirrt  und 
dunkel.  Doch  findet  sich  wenigstens  das  in  den  Körpern, 
was  wir  uns  klar  und  deutlich  vorstellen,  d.  h.  alles,  was 
im  allgemeinen  an  einem  Objekt  der  reinen  Mathematik 
begrifi"en  wird  (omnia,  qiiae  in  purae  Matheseos  objecto 
comprehendiintu7-.  Medit,  VI.).  Das  Wesen  der  Körper  be- 
steht also  nicht  darin,  daß  sie  hart,  schwer,  gefärbt  sind, 
oder  auf  andere  Weise  die  Sinne  affizieren,  sondern  nur 
darin,  daß  sie  in  die  Länge,  Breite  und  Dicke  ausgedehnt 
sind.  Denn  die  Härte  erfahren  wir  nur  dadurch,  daß  die 
harten  Körper  der  Bewegung  unserer  Hände  gegen  sie 
widerstehen.  Wichen  nun  diese  Körper  in  der  Richtung, 
in  welcher  wir  gegen  sie  die  Hände  bewegen,  mit  gleicher 
Geschwindigkeit  immer  zurück,  so  würden  wir  keine  Härte 
empfinden,  ohne  daß  sie  darum  die  Natur  eines  Körpers, 
die  Ausdehnung,  verlieren  würden.  Ebenso  kann  gezeigt 
werden,  daß  die  Schwere,  die  Farbe  und  alle  sinnlichen 
Eigenschaften  in  den  Körpern  aufhören  können,  ohne 
daß  sie  selbst  aufhören  zu  sein,  woraus  folgt,  daß  das 
Wesen  der  Körper  von  ihnen  nicht  abhängt.  {Princ.  II.  4.) 
Übrigens  muß  man  doch  schließen,  daß  in  den  Körpern 
sich   etwas   finde,    wo   die   verschiednen   Eindrücke   der 


2  84    NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

Sinne  herrühren  und  das  denselben  entspricht,  wenn  es 
ihnen  auch  vielleicht  nicht  ähnlich  ist  (Med.  V7.)^  Durch 
die  Sinne  erfahren  wir  also  nur,  daß  ein  Körper  ist.  und 
daß  etwas  an  ihm  ist,  was  den  oder  den  Eindruck  auf  uns 
macht  (den  der  Farbe,  des  Schalls  etc.),  aber  keineswegs, 
was  dies  eigentlich  ist.  Gänzlich  irren  wir  daher,  wenn 
wir  die  subjektive  Empfindung,  die  ein  Körper  uns  ver- 
ursacht, auf  denselben  selbst  übertragen  und  ihn  zu  einer 
Eigenschaft  desselben  machen;  z.  B.  wenn  wir  einen  ge- 
färbten Körper  sehen  und  nun  behaupten,  der  Körper 
selbst  sei  gefärbt.  (Cartesius  beschränkt  sich  hier  nicht 
auf  die  fünf  Sinne,  sondern  zählt  auch  die  Gefühle  der 
Lust  und  Unlust  etc.  hinzu.) 

Das  Wesen  des  Körpers  wird  also  nur  in  einer  reinen  An- 
schauung erkannt.  Die  Sinne  [sind]  uns  nur  gegeben,  nicht 
um  die  Körper  an  sich,  sondern  um  das  Verhältnis  der- 
selben zu  uns  erkennbar  zu  machen;  sie  sagen  uns  eigent- 
lich nur,  was  uns  schädlich  oder  nützHch,  angenehm  oder 
unangenehm  ist,  und  insofern  kommt  ihnen  eine  klare  und 
deutliche  Erkenntnis  zu,  nur  aus  dem  Mißkennen  ihrer 
Bedeutung  entspringt  der  Irrtum.  (Med.  VI.) 
Doch  macht  man  auch  den  wahren  Gebrauch  von  ihnen 
und  beschränkt  sich  auf  das,  was  sie  uns  als  schädlich 
oder  nützlich  bezeichnen,  so  läßt  sich  doch  nicht  leugnen, 
daß  wir  öfters  irren,  und  wir  können  dann  niemanden 
anders  als  Gott  die  Schuld  davon  beimessen.  Cartesius 
weiß  nach  mehreren  weitläufigen  Explikationen  keine  an- 
dere Antwort  als:  £x  quibus  omnino  manifestum  est,  non 
abstaute  immensa  Dei  bonitate:  naturam  hominis  ut  ex  mente 
et  corpore  compositi  non  posse  non  aliquando  esse  fallacem. 
(Med.  VI.  [vorletzter  Abs.]) 

Da  zwischen  der  Substanz  und  ihrem  Attribut  nur  eine 
distinctio  rationis  möglich  ist,  so  gilt  dies  auch  von  der 
ausgedehnten  Substanz:  man  kann  also  die  Ausdehnung 

1  a.  R.:  Vgl.  Pr ine.  philo s.  IV.  §  197:  Mentcm  esse  talis  fiahirae,  ut 
a  solo  corporis  7notn  varii  sensus  in  ea  possint  excitari  und  §  198: 
Nihil  a  nobis  in  objcctis  externis  sensu  dcprehendi  .  .  .:   Et  optime 

comprehenditmis movere  possint. — Vgl.  Dioptrices  IV.  §  6: 

Ideas,  quas  senstis  externi  in  phantasiafn  mittunt .  .  .  und  §  "j. 


CARTESIUS  285 

von  der  ausgedehnten  Substanz  nur  dann  trennen,  wenn 
man  entweder  unter  dem  Namen  der  Substanz  nichts  ver- 
steht oder  eine  verwirrte  Idee  von  der  unkörperlichen 
Substanz  der  körperlichen  unterschiebt  und  die  körper- 
liche Substanz  selbst  Ausdehnung  nennt  und  sie  als  acci- 
dens  betrachtet.  [Prijtc.  II.  9.) 

Quantität,  Raum  und  Ort  sind  nur  ratione  von  der  aus- 
gedehnten Substanz  verschieden,  realiter  ist  es  aber  un- 
möglich, sie  zu  trennen.   Denn: 

1.  Was  die  Quantität  anbelangt,  so  kann  man  nicht  das 
Geringste  von  ihr  wegnehmen,  ohne  die  ausgedehnte  Sub- 
stanz um  ebensoviel  zu  vermindern,  und  umgekehrt  kann 
man  der  Substanz  nichts  entziehen,  ohne  ebensoviel  von 
der  Quantität  zu  nehmen.  (IL  §  8,  9.) 

2.  Was  ist  der  Raum  (oder  der  innere  Ort)?  Eine  Aus- 
dehnung in  die  Länge,  Breite  "und  Dicke.  Nehmen  wir 
nun  alles  Zufällige  aus  der  Idee  der  Materie  weg,  so 
bleibt  uns  ebenfalls  nichts  weiter  als  Ausdehnung  in  die 
Länge,  Breite  und  Dicke;  also  sind  die  Begriffe  Raum  und 
Materie  identisch,  also  sind  Raum  und  Materie  identisch. 
Nur  in  unserer  Denkweise  machen  wir  einen  Unterschied. 
Denn  nimmt  man  z.  B.  einen  Stein  von  dem  Ort  weg,  wo 
er  lag,  so  denken  wir  natürlich,  seine  Ausdehnung  sei 
weggenommen  worden,  da  dieselbe  mit  ihm  eins  und 
unzertrennbar  ist:  zugleich  nehmen  wir  aber  auch  an,  die 
Ausdehnung  des  Ortes,  wo  der  Stein  lag,  bleibe  übrig, 
imd  sie  sei  dieselbe,  ob  jener  Ort  des  Steins  von  Holz, 
Wasser  oder  sonst  einem  Körper  eingenommen  werde 
oder  leer  sei,  (II.  §  10,  11,  12.)  Ein  leerer  Raum  ist  un- 
denkbar, weil  ja  das  Wesen  des  Raums  das  nämliche  ist 
wie  das  der  Materie,  nämlich  die  Ausdehnung,  welche 
das  Leere  absolut  ausschließt.  Also  die  Bezeichnung 
leerer  Raum  enthält  in  sich  selbst  einen  Widerspruch. 
Daraus  geht  auch  hervor,  wie  falsch  die  Ansicht  derjenigen 
ist,  welche  annehmen,  die  Körper  verdichte[te]n  und  ver- 
dünnten sich  so,  daß  das  Verdünnte  mehr  Ausdehnung 
habe  oder  einen  größern  Raum  einnehme  als  das  Ver- 
dichtete. Denn  Raum  und  Ausdehnung  sind  identisch,  es 
ist  also  undenkbar,  wie  die  nämliche  Ausdehnung  mehr 


286     NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

Raum  einnehmen  könne  als  zu  einer  andern  Zeit,  Ebenso 
kann  die  Ausdehnung  nicht  zunehmen,  ohne  daß  zugleich 
die  Quantität  vermehrt  würde,  es  müßte  also  ein  neuer 
Körper  entstehen.  (II.  §  7, 1 9.)  Die  Verdünnung  und  Ver- 
dichtung ist  nichts  anders  als  eine  Veränderung  der  Ge- 
stalt, so  daß  verdünnte  Körper  nichts  anders  sind  als 
solche,  zwischen  deren  Teilen  viele  mit  andern  Körpern 
angefüllte  Zwischenräume  sind,  und  dadurch  verdichtet 
werden,  daß  jene  Teile  sich  nähern  und  jene  Zwischen- 
räume vermindern  oder  ganz  aufheben,  welches  dann  der 
Zustand  der  absoluten  Dichtheit  sein  würde.  Die  Aus- 
dehnung bleibt  dieselbe,  wie  ein  Schwamm  nicht  weniger 
Ausdehnung  hat,  wenn  er  zusammengedrückt,  als  wenn 
er  vom  Wasser  auseinandergetrieben  ist.  (II.  §  6.)^ 
3.  Der  Ort  oder  der  äußere  Ort  ist  nur  der  Ausdruck  für 
die  Lage  eines  Körpers  zwischen  andern  Körpern,  die  als 
unbewegt  betrachtet  werden.  Man  kann  ihn  auch  für  die 
Oberfläche  nehmen,  welche  das  an  einem  Ort  Befindliche 
zunächst  umgibt.  Unter  Oberfläche  wird  hier  nicht  ein 
Teil  des  umgebenden  Körpers,  sondern  nur  die  Grenze 
zwischen  ihm  und  dem  umgebenen  Körper  verstanden 
(die  nichts  anders  ist  als  ein  modus),  und  zwar  die  ge- 
meinschaftliche Oberfläche,  welche  in  gleichem  Maße 
dem  einen  wie  dem  andern  Körper  zukommt  und  als 
unverändert  betrachtet  wird,  solange  sie  die  nämliche 
Größe  und  Figur  behält.  (IL  §  13,  14,  15.) 
Die  Materie  ist  unendlich  teilbar.    Cognoscimns  etiam  fieri 

non  posse Judicium  nostrum  a  cognitione  dissentiret. 

(Vgl.  Princ.  IL  §  20.) 

Die  Welt  oder  die  Gesamtheit  der  körperHchen  Substanzen 
ist  unbegrenzt.  Denn  sobald  wir  Grenzen  setzen,  setzen 
wir  auch  jenseits  derselben  unendlich  ausgedehnte  Räume. 
Da  nun  Raum  und  körperhche  Substanz  eins  sind,  so 
müssen  wir  auch  eine  unendliche  Ausdehnung  annehmen. 

(II.  §  21.) 

1  a.  R.:  Ferner  gleichem  Raum  entspricht  gleiche  Ausdehnung;  füllt 
man  nun  nacheinander  das  nämliche  Gefäß  mit  Wasser,  Blei  oder 
Luft,  so  enthält  es  im  einen  Fall  wie  im  andern  immer  gleichviel 
Materie.    (II.  §  19.) 


CARTESIUS  287 

Die  Materie  als  ausgedehnte  Substanz  ist  überall  eine  und 

dieselbe. 

Omnes  propietates,  qiias  in  materia  clare  pe7-cipimius ^  aa 

hoc  imuni  rediiciintiir pendet  a  motu.   (II.  §23.) 

Motus  nihil  aliud  est  quam  actio,  qua  corpus  aliquod  ex  uno 
loco  in  alium  migrat.   (II.  §  24.) 

Näher  bestimmt  heißt  es  dann  §  25:  dicere  possumus  esse 
translationem  unius  partis  materiae  .  .  .  in  viciniaiti  alio- 
rum. 

Bei  jeder  Bewegung  muß  man  wohl  unterscheiden  zwi- 
schen dem  Bewegenden  und  dem  Bewegten,  oder  der 
Kraft,  welche  die  Bewegung  bewirkt,  und  der  Bewegung 
selbst. 

Quo7iiam  una  tantum  co7pora  eodem  tonporis  momento 
ejusdem  mobilis  contigua  esse  possunt^  non  posstmius  istimo- 
bili  plures  motus  eodem  tempore  tribuere^  sed  unum  tantum. 

(II.  §  28.J 

Doch  ist  hierbei  zu  merken,  daß  ein  Körper,  insofern  er 
einen  Teil  eines  andern  ausmacht,  mit  demselben  zugleich 
unendlich  viele  Bewegungen  haben  könne,  z.  B.  jemand, 
der  auf  ein[em]  Schiff  sitzt,  hat  nur  eine  Grundbewegung  [r] 
zwischen  den  ihn  umgebenden  Teilen,  nimmt  aber  zu- 
gleich an  derBev/egung  des  Schiffes  teil.  (IL  §  31.) 
Ruhe  ist  =  tra^islationis  absentia.  Ruhe  und  Bewegung 
sind  nur  verschiedene  modi  eines  Körpers,  denn  die  Be- 
wegung selbst  kann  nicht  außerhalb  des  bewegten  Kör- 
pers sein,  und  dieser  Körper  verhält  sich  anders,  wenn 
er  bewegt,  als  wenn  er  nicht  bewegt  wird.  (§  27.) 
Es  ist  ebensoviel  Kraft  (actionis)  zur  Bewegung  als  zur 
Ruhe  erforderlich,  d.  h.  es  erfordert  ebensoviel  Anstren- 
gung dazu,  einen  im  Wasser  ruhenden  Nachen  vorwärts 
zu  treiben,  als  denselben  in  seiner  Bewegung  plötzlich 
aufzuhalten.   (IL  §  26.) 

Man  drückt  sich  nicht  strikt  aus,  wenn  man  sagt,  die  Be- 
wegung eines  Körpers  bestände  in  seiner  Entfernung  von 
andern  Körpern,  die  als  ruhend  betrachtet  würden.  Denn 
die  Entfernung  ist  eigentlich  wechselseitig.  Man  kann 
nicht  annehmen,  der  Körper  AB  entferne  sich  von  CD, 
ohne  auch  zu  setzen,   CD  entferne  sich  von  AB.    Man 


2  88     NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

müßte  also  eigentlich  sagen,  in  dem  einen  sei  so  viel  Be- 
wegung als  in  dem  andern.  (II.  §  29.) 
Die  Ursache,  daß  wir  den  einen  Körper  im  Verhältnis 
zum  andern  als  ruhend  betrachten,  liegt  in  entgegenge- 
setzten Bewegungen,  die  sich  dadurch  einander  scheinbar 
aufheben.  EFGH  sei  die  Erde,  und  zu  gleicher  Zeit  be- 
wegen sich  a  von  E  nach  F  und  b  von  H  nach  G;  ob- 
gleich nun  eigentlich  dadurch  auch  die  dem  Körper  a 
zunächst  liegenden  Teile  der  Erde  von  F  nach  E  bewegt 
werden  und  nicht  weniger  Bewegung  in  ihnen  sein  muß 
als  im  Körper  a,  so  nehmen  wir  deswegen  doch  nicht  an, 
die  Erde  bewege  sich  von  F  nach  E,  weil  wir  sonst  auch 
annehmen  müßten,  die  Teile  um  den  Körper  b  bewegten 
sich  von  G  nach  H  und  die  Erde  also  auch  von  G  nach 
H,  was  sich  gegenseitig  hebt.  (§  30.) 
Da  alle  Örter  mit  Körpern  erfüllt  sind  und  immer  die- 
selben Materienteile  im  Verhältnis  der  Gleichheit  mit 
gleichen  Örtern  stehen,  so  kann  kein  Körper  anders  als 
im  Kreise  bewegt  werden,  so  daß  er  einen  andern  Körper 
aus  dem  Orte  treibt,  in  welchen  er  eindringt,  dieser  einen 
andern,  bis  auf  den  letzten,  der  in  dem  Augenblicke  in 
die  Stelle  des  ersten  tritt,  wo  dieselbe  verlassen  wird. 

(§33-) 

Die  Ursache  der  Bewegung  ist  eine  doppelte,  nämlich 

eine  erste  und  allgemeine,  welche  die  allgemeine  Ursache 
aller  Bewegungen  in  der  Welt  ist,  nämlich  Gott,  und  dann 
eine  besondere,  welche  macht,  daß  die  einzelnen  Teile 
der  Materie  eine  Bewegung  erhalten,  welche  sie  früher 
nicht  hatten. 

Gott  hat  die  Materie  zugleich  mit  Ruhe  und  Bewegung 
in  priticipio  erschaffen  und  erhält  in  ihr  dieselbe  Quantität 
von  Ruhe  und  Bewegung,  welche  er  damals  setzte,  wenn 
sich  dieselben  gleich  in  den  einzelnen  Teilen  verändern. 
Denn  nimmt  die  Bewegung  in  einem  Teile  ab,  so  nimmt 
sie  in  einem  andern  in  gleichem  Maße  zu.  (§  36.) 
Aus  dieser  Unveränderlichkeit  Gottes  können  nun  die 
Gesetze  der  Natur  erkannt  werden,  welche  die  abgelei- 
teten und  besonderen  Ursachen  der  Bewegungen  sind, 
wie  sie  in  den  einzelnen  Körpern  wahrgenommen  werden. 


CARTESIUS  289 

Das  erste  dieser  Gesetze  lautet: 

Jedes  Ding,  insofern  es  einfach  und  ungeteilt  ist,  bleibt 
an  sich  immer  in  demselben  Zustande  und  erleidet  nur 
durch  äußere  Ursachen  darin  eine  Veränderung.  (§37.) 
Das  zweite:  Jeder  Teil  der  Materie  strebt  nur  in  grader, 
nie  in  schiefer  Linie  sich  zu  bewegen,  wenn  nicht  das 
Einwirken  andrer  Körper   ihn   zum  Abweichen  zwingt. 

Causa  hiijus  regulae  eadcni  est qui  forte  fi/it  panlo 

ante.  [§  39.]— Empirisch  wird  dieser  Satz  durch  die  Tan- 
gente bewiesen,  in  welcher  ein  Stein  von  dem  Kreise  der 
Schleuder  fliegt.  (II.  §  39;  III.  §  57-59-) 
Spinoza  gibt  (Frinc.  Cart.II.^  prop.  XV.  [Spin.  II,  S.  433]) 
von  diesem  Satz  folgenden  sonderbaren  Beweis:  Motiis^ 

quia  Deiim  taiitiiin  pro  causa  habet tendere^  ut  moveri 

pergat^  secundum  Imeani  [rectam]. 

Das  dritte:  Wenn  ein  Körper,  der  bewegt  wird,  auf  einen 
andern  trifft  und  die  Kraft,  welche  ihn  zur  Fortsetzung 
seines  Weges  in  gerader  Richtung  treibt,  geringer  ist  als 
die,  mittelst  der  ihm  der  andere  widersteht,  so  weicht  er 
von  seinem  Wege  ab,  indem  er  seine  Bewegung  behält 
und  nur  die  Richtung  derselben  ändert;  ist  seine  Kraft 
aber  größer,  so  bewegt  er  den  andern  Körper  mit  sich 
fort  und  verliert  ebensoviel  an  seiner  Bewegung,  als  er 
dem  andern  mitteilt.  (II,  §  40.) 

Cartesius  gibt  darauf  sieben  Gesetze,  die  allgemein  in  der 
Physik  angenommen  sind,  über  die  Bewegung  aufeinander 
stoßender  Körper,  und  schließt  dann  den  zweiten  Teil  der 
Prinzipien  mit  einigen  Untersuchungen  über  die  Bewe- 
gung der  flüssigen  Körper.  —  Corpora  divisa  i?i  multas 
exiguas  particulas  .  .  .  esse  dura.  [II.  §  54.] 

Der  dritte  und  vierte  Teil  enthält  dann  eine  abenteuer- 
liche Kosmogonie  und  astronomische  und  physikalische 
Untersuchungen.  Er  läßt  sich  jedoch  weislich  in  folgen- 
den Worten  die  Tür  offen:  Veru/ntanien  ne  etiam  niuiis 
arrogantes  esse  videamur .  .  .  cum  experimentis  consmtiant, 
\Princ.  III.  §  44-]    Qitinimo  etiam descriheremus. 

(§  45.) 

Ursprünglich  bestand  die  Materie  aus  sowohl  der  Größe 

BÜCHNER  19. 


2  90    NATUR WISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

als  der  Bewegung  nach  gleichen  Teilen;  welche  sich  teils 
jede  für  sich  um  ihre  eignen  ce7itra  bewegten  und  so  einen 
flüssigen  Körper,  den  Himmel,  bildeten;  teils  mehrere  zu- 
gleich, um  einige  gleich  weit  voneinander  entfernte  Punkte, 
welche  jetzt  den  centris  der  Fixsterne  entsprechen,  und 
um  einige  andre  in  noch  größerer  Anzahl,  welche  der 
Zahl  der  Planeten  gleichkommen.  (III.  §  46,  47.) 
Diese  ursprünglichen  Materienteile  konnten  nicht  rund 
sein,  weil  sie  sonst  den  Raum  nicht  vollständig  hätten 
erfüllen  können.  Eine  weitere  Bestimmung  über  ihre  Ge- 
stalt gibt  Cartesius  nicht. 

Durch  die  Bewegung  nun  rieben  sich  die  Ecken  dieser 
Ur-Teile  aneinander  ab,  so  daß  dieselben  zuletzt  eine 
sphärische  Gestalt  erhielten,  während  die  abgeriebenen 
und  dadurch  feineren  Teile  die  Zwischenräume  zwischen 
den  Kugeln  ausfüllten. 

So  haben  wir  denn  bis  jetzt  zwei  Elemente,  ein  feineres, 
welches  sich  seine  Gestalt  nach  den  von  ihm  auszufüllen- 
den Zwischenräumen  anpaßt  und  mit  solcher  Gewalt  sich 
bewegt,  daß  es  durch  sein  Zusammenstoßen  mit  andern 
Körpern  in  unendlich  kleine  Teile  zerteilt  wird,  und  ein 
gröberes  aus  sphärischen  Teilen  bestehend.  Dazu  kommt 
noch  ein  drittes  constans  partibus  vel  magis  crassis,  vel 
figuras  minus  ad  motuni  aptas  habentibus.  [III.  §52.]  Aus 
diesen  drei  Elementen  bestehen  alle  Körper:  nämlich  die 
Sonne  und  die  Fixsterne  aus  dem  ersten,  die  Himmel  aus 
dem  zweiten  und  die  Erde  nebst  den  Planeten  und  den 
Kometen  aus  dem  dritten.  Ihnen  entsprechen  drei  ver- 
schiedne  Himmelsräume. 

Eine  centrifugale  Bewegung  ist  nun  das  erste,  was  sich 
bei  den  Teilen  des  zweiten  Elementes  zeigt.  Jeder  Teil 
strebt  weg  von  dem  Centrum,  um  das  er  sich  bewegt. 
(Non  putandum  est  idcirco  .  .  .  si  a  nulla  alia  causa  impe- 
diantur.  §  56.) — Durch  diese  Bewegung  bildet  sich  um 
jedes  Centrum  ein  runder  Raum. 

Der  ganze  Raum  ist  nun  von  solchen,  mehr  oder  weniger 
großen  Wirbeln  des  zweiten  Elementes  angefüllt,  die  je- 
doch so  eingerichtet  sind,  daß  ihre  Pole  sich  wechselseitig 
nicht  berühren,  weil  sie  sonst  einander  hemmen  würden. 


CARTESIUS  291 

Die  sphärischen  Teile  können  nicht  leicht  und  nur  zum 
Teil  von  einem  Wirbel  in  den  andern  übergehen,  und 
können  trotz  ihrer  Centrifugalkraft  einen  gewissen  Kreis 
nicht  überschreiten.  Denn  da  verschiedne  centra  vor- 
handen sind,  so  wirkt  die  Centrifugalkraft  auch  in  ver- 
schiednen  Richtungen. 

Die  Teile  des  ersten  Elementes  dagegen,  welche  alle 
Zwischenräume  zwischen  denen  des  zweiten  und  also 
auch  den  Raum  um  das  Centrum  ausfüllen,  strömen  zwar 
auch  der  Centrifugalkraft  gemäß  von  dem  Centrum  aus, 
aber  so,  daß  sie  ihrer  größern  Bewegungskraft  gemäß  von 
einem  Centrum  in  das  andre  übergehen. 
Vom  Wesen  des  Lichtes  sagt  Cartesius:  Ac  praeterea  7to- 
tanduni  est  vim  luminis  . . .  motusipse  nonsequatur.  (III.  %(i2> 
[Schlußsatz].)  Und  (§  64):  Ex  qiiibus  clare percipitur .  .  . 
eductas. 

Die  Fixsterne  sind  nun  die  von  Teilen  des  ersten  Ele- 
mentes angefüllten  centra  der  Wirbel.  Die  Himmel  sind 
die  in  diesen  Wirbel[n]  sich  bewegen[den]  sphärischen 
Teile  des  zweiten  Elementes.  Was  sind  nun  die  aus  dem 
dritten  Elemente  gebildeten  Kometen  und  Planeten,  wie 
sind  sie  entstanden?  Was  ist  das  dritte  Element.^ 
Unter  den  Teilen  des  ersten  Elementes  haben  einige 
noch  die  ihnen  als  abgefallne  Ecken  zukommende  eckige 
Gestalt;  sie  sind  größer  als  die  übrigen  mehr  zerteilten 
mid  dadurch  weniger  zur  Bewegung  geschickt,  so  daß 
sie  in  den  centris  selbst,  wo  sie  durch  keine  Teile  vom 
zweiten  Element  mehr  getrennt  werden,  leicht  zusam- 
menhängen und  große  Massen  bilden,  welche  bei  der 
Sonne  z.  B.  unter  dem  Namen  der  Sonnenflecken  be- 
kannt sind.  Diese  Flecken  können  entweder  wieder  auf- 
gelöst werden,  oder  auch  endlich  die  Oberfläche  des 
Gestirns  ganz  überziehen,  es  dadurch  verdunkeln  und  in 
einen  Körper  des  dritten  Elementes,  einen  Kometen  oder 
Planeten,  verwandeln.  Das  dritte  Element  besteht  also 
aus  einer  verdichteten  Masse  der  gröberen  Teile  des 
ersten  Elementes. 

Da  nun  bei  einer  solchen  Verdichtung  eines  Fixsternes 
die  particulae  des  Centrums  nicht  mehr  auf  die  sphäri- 


2  92     NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

sehen  Teile  des  zweiten  Elementes  wirken  können  und 
dadurch  die  Wirbelbewegung  schwächer  wird,  so  kann 
ein  solcher  Wirbel  nach  und  nach  von  den  angrenzenden 
Wirbeln  verschlungen  werden,  und  das  verdichtete  Ge- 
stirn fällt  einem  andern  Wirbel  anheim,  von  dem  es  dann 
um  das  entsprechende  Centrum  getrieben  wird.  Die  Pla- 
neten haben  also  keine  selbstbewegende  Kraft,  sie  be- 
wegen sich  wie  Strohhalme  in  einem  Wirbel.  Geht  ein 
Weltkörper  von  einem  Wirbel  in  den  andern  über,  so  ist 
er  ein  Komet,  bleibt  er  aber  in  einem  und  demselben,  ein 
Planet. 

Dies  die  Hauptzüge  der  im  dritten  Buch  der  Principien 
abgehandelten  Kosmogonie.  Im  vierten  Buch  De  te?'ra 
werden  die  physischen  Eigenschaften  der  unorganischen 
Erdkörper,  die  Schwere,  die  Wärme,  das  Licht  etc.  ent- 
wickelt, ihre  Zusammensetzung,  ihre  Grundform,  beson- 
ders die  Lehre  vom  Magnet  etc.  Die  drei  Elemente  spie- 
len die  Hauptrolle,  alles  wird  aus  ihrem  gegenseitigen 
Verhalten  durch  die  willkürlichsten  und  abenteuerlich- 
sten Hypothesen  hergeleitet.  An  dies  Buch  schließen  sich 
dann  die  Abhandlung  De  meteoribus^  die  Dioptrik^  De  Jio- 
mine  und  De  fo7'maüone  foetus.  Cartesius'  Absicht  war 
eigentlich,  die  ganze  Schöpfung  aus  seinen  Principien 
herzuleiten,  die  Harmonie  zwischen  der  Erfahrung  und 
seinem  System  nachzuweisen;  doch  der  Tod  überraschte 
ihn,  und  so  haben  wir  in  den  erwähnten  Abhandlungen  nur 
Bruchstücke  aus  einem  unvollendeten  Ganzen.  Den  ma- 
thematischen Teil  dieser  Abhandlungen  abgerechnet,  sieht 
es  in  ihnen  sonderbar  aus.  Großes  Verdienst  dagegen  ha- 
ben seine  Untersuchungen  über  die  Brechung  des  Lichtes; 
interessant  sind  auch  Versuche,  die  er  zu  einer  Lehre  von 
den  Sinnen  macht. 

In  der  Abhandlung  De  Jiomine  macht  er  den  Versuch  zur 
Begründung  einer  Physiologie  aus  mathematischen  und 
physikalischen  Principien,  der  hovime  inachine  wird  voll- 
ständig zusammengeschraubt.  Ein  Centralfeuer  im  Herzen, 
die  verflüchtigten  zum  Hirn  aufsteigenden  Spiritus  aninm- 
les,  die  in  einem  Dunst  von  Nervengeist  schwebende,  nach 


CARTESIUS  293 

verschiednen  Richtungen  sich  neigende  Zirbeldrüse  als 
Residenz  der  Seele,  Nerven  mit  Klappen,  Muskeln  welche 
durch  das  Einpumpen  des  Nervengeistes  mittelst  der  Ner- 
ven anschwellen,  die  Lunge  als  Kühlapparat  und  Vor- 
lage zum  Niederschlagen  des  im  Herzen  verflüchtigten 
Blutes,  Milz,  Leber,  Nieren  als  künstliche  Siebe,  sind 
die  Schrauben,  Stifte  und  Walzen.  Der  echte  Typus  des 
Jalermechanismus  [:] . 

Besonders  schlug  die  Lehre  von  der  Zirbeldrüse  als  Sitz 
der  Seele  tiefe  Wurzeln,  denn  Descartes  hatte  ja  so  schön 
deutlich  nachgewiesen,  wie  die  Nerven  am  Hirn  gleich 
Strängen  an  einer  Schelle  ziehen,  wie  dadurch  eine  Pore 
auf  der  innern  Oberfläche  des  Gehirns  sich  öffnet  und  wie 
dann  die  Spiritus  animales  aus  einer  entsprechenden  Pore 
der  Zirbel  heraus  und  in  die  oftne  Pore  des  Nerven  fah- 
ren. —  Interessant  ist  es^  wie  in  den  neuesten  Zeiten  diese 
Ansicht  von  der  wichtigen  Bedeutung  der  Zirbel  von  Carus 
in  dem  Werke  über  die  Ur-Teile  des  Knochen-  und  Schalen- 
gerüstes, wenn  auch  aus  himmelweit  verschiednen  Grün- 
den, verteidigt  wird.  Carus  findet  sogar  in  dem  Hirnsand 
eine  Hinweisung  auf  die  das  Hirn  im  allgemeinen  um- 
schließende Knochenschale;  ihre  Lage  zwischen  den  sechs 
Hauptmassen  des  Gehirns:  3,  Zirbel,  3,  ist  ihm  das  Be- 
deutendste; er  stützt  sich  auf  Zahlenverhältnisse. 

Die  Psychologie  des  Cartesius  ist  sehr  unvollständig,  sei 
es,  daß  die  vorhergehenden  Arbeiten  ihm  die  Zeit  dazu 
raubten,  oder  sei  es,  daß  er  zu  großen  Schwierigkeiten, 
das  Verhältnis  zwischen  Körper  imd  Geist,  zwischen  Sein 
und  Denken  mit  seinem  System  in  Einklang  zu  bringen 
[,  begegnete].  Was  dieselbe  ungefähr  enthalten  sollte,  sagt 
er  in   der  Abhandlung  De  methodo:  Postea  descripseravi 

animam  ratio?iaIem natura  ferimur  ad  judicandtun 

ipsavi  esse  immortalem  [letzter  Absatz  von  V.]. 
Die  Tiere  sind  nichts  als  seelenlose  Maschinen,  Automaten; 
der  Hauptgrund,  warum  sich  ihnen  eine  Seele  absprechen 
läßt,  liegt  in  dem  Mangel  der  Sprache.  Die  Tiere  würden 
Zeichen  für  ihre  Gedanken  finden  und  sie  verbinden,  wenn 
sie  eine  Seele  hätten.   Cartesius  beschließt  diese Betrach- 


2  94     NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIBTEN 

tung,  indem  er  sagt:  Singulari  etiam  animadversione  dignum 

est horas  numerare  et  tempora  metiri\pe  methodo  V., 

Ende  des  vorletzten  Abs.]. 

Alles,  was  wir  in  uns  wahrnehmen  und  wovon  wir  sehen, 
daß  es  auch  ganz  leblosen  Körpern  zukommen  könne, 
muß  dem  Körper  allein  beigelegt  werden;  dagegen  muß 
man  der  Seele  alles  das  zuschreiben,  was  wir  in  uns  wahr- 
nehmen und  was  auf  keine  Weise  einem  Körper  zukom- 
men kann.  (De  passio7iibus^  art,  3?) 
Der  Seele  kommt  nur  das  Denken  zu;  wie  weit  jedoch 
der  cartesianische  Begrifif  vom  Denken  sich  ausdehnt,  ist 
schon  angegeben  worden. 

Die  Funktionen  unserer  Seele  (cogit(Hiones)  sind  von  zweier- 
lei Art:  die  einen  sind  actiones  der  Seele,  die  andern  da- 
gegen passiones  sivc  affectus.  Zu  den  actiones  gehören  alle 
Äußerungen  unsres  Willens,  weil  wir  erfahren,  daß  sie 
gradezu  von  unserer  Seele  herrühren  und  von  ihr  allein  ab- 
zuhängen scheinen;  zu  den  passiones  alle  Vorstellungen 
(perceptiones)  und  Erkenntnisse  (cognitiones) ^  welche  wir 
in  uns  finden;  denn  es  geschieht  oft,  daß  unsere  Seele 
sie  nicht  so  bildet,  wie  sie  sind,  und  außerdem  erhält 
sie  dieselben  immer  durch  die  von  ihnen  vorgestellten 
Gegenstände. 

Die  actiones  selbst  sind  wieder  von  zweierlei  Art:  die  einen 
sind  Handlungen  der  Seele,  welche  sich  auf  die  Seele 
selbst  beschränken,  wie  z.  B.,  wenn  wir  Gott  lieben  oder 
unser  Denken  auf  ein  nicht  materielles  Objekt  richten 
wollen;  die  andern  dagegen  beziehen  sich  nur  auf  unse- 
ren Körper,  z.  B.  wir  wollen  gehen,  wodurch  unsre  Füße 
sich  bewegen. 

Ebenso  zerfallen  6.\t  perceptionß-  in  zwei  genera^  je  nach- 
dem sie  die  Seele  oder  den  E  orper  zur  Ursache  haben. 
Die  ersteren  sind  die  Vorstellungen  unsrer  Willensakte 
und  aller  andern  Bilder  und  Gedanken,  welche  von  der 
Seele  herrühren.  Denn  gewiß,  wir  können  nichts  wollen, 
ohne  zugleich  inne  zu  werden,  daß  wir  es  wollen.  Und  so 
wie  in  bezug  auf  unsre  Seele  es  eine  Handlung  ist,  etwas 
zu  wollen,  so  ist  es  auch  ein  Leiden,  in  ihr  diesen  Willen 
wahrzunehmen.   Da  jedoch  im  Grund  genommen  dieser 


CARTESIUS  295 

Willen  und  dieses  Wahrnehmen  eins  und  dasselbe  sind, 
so  kann  doch  beides  nach  dem  edleren  Bestandteil  eine 
Tätigkeit  genannt  werden.  (Das  reine  Denken  scheint 
also  Cartesius  unter  die  Willensakte  zu  setzen.)  De  pas- 
sion.^  art.  ig. 

Cuni  aniffia  7wstra  sese  applicat  ad  imaginaiidum  aliqidd^ 
quod  non  est . . .  quam  ut  passiones.  (De passion.^  art.  20.) 
Die  perceptiones^  welche  vom  Körper  herrühren,  zerfallen 
selbst  wieder  in  zwei  Klassen.  Die  einen  hängen  von  den 
Lebensgeistern,  die  andern  von  den  Nerven  ab. 
Erstere  bestehen  in  den  Träumen  der  Schlafenden  und 
den  Phantasien  der  Wachenden,  wenn  unsre  Gedanken 
unstet  umherschweifen,  ohne  sich  auf  einen  bestimmten 
Gegenstand  zu  richten.  Sie  rühren  daher,  daß  die  auf  ver- 
schiedene Art  bewegten  Lebensgeister  die  Spuren  ver- 
schiedener, im  Gehirn  vorhergegangener  Eindrücke  finden 
und  zufällig  dahin  durch  gewisse  Poren  eher  als  durch 
andere  ihren  Lauf  richten,  Sie  sind  fast  nur  die  umbra 
et  pictura  der  von  den  Nerven  heniihienden  pereeptmies. 
Letztere  werden  teils  auf  die  äußern  Objekte,  welche  un- 
sere Sinne  berühren,  teils  auf  unsern  Körper  und  seine 
Teile,  teils  endlich  auf  unsere  Seele  bezogen. 
Perceptiones^  quas  reperimus  ad  res  extra  nos  positas  .  .  . 
ut  anima  illa  sentiat.  (De  passion.^  art.  23^ 
Perceptiones^  quas  reperi7?ms  ad  corpus  nostrum  .  .  .  mm  ut 
in  objectis,  quae  sunt  extra  nos.  (De  pass.,  art.  24. — Im 
Tract.  de  homine  klassifiziert  er  dolor  imd  calor  anders.) 

Ferceptiones,  quae  sohmimodo  ad  animam  referuntur 

ad  animamipsam.  [De pass.,  art.  2ß.'\  Diese  letztren  oder 
eigentlichen  passio?tes  im  engeren  Sinne  definiert  nun 
Cartesius  noch  besonders  als  perceptiones  aut  sensus  aut 
commotiones  aniviae  .  .  .  corroborantur  per  aliquem  motum 
spirituum.  (art.  2y.) 

Er  zählt  dzx3Mi(Depass.  11.^  art.  6g)  sechs  primitive  Lei- 
denschaften auf,  primitivae  passimies,  nämlich:  admiratio, 
amor,  oditwi,  cupiditas,  laetitia^  moeror. 
Eine  species  der  admiratio  ist  d.  Stupor;  species  d.  amor 
sind:  complacentia^  benevolentia^  amicitia^  devotio;  species  d. 
odium:  horror^  aversio)  species  cupiditatis  tot,  quot  sunt  amo- 


296    NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

ris  ai/f  odii[vg\.  11.,  art.  88] — ex  horrore  nascitur  cupiditas^ 
quae  viilgo  appellatiir  fi/ga  [II.,  art.  89];  ex  henevolentia=^ 
cupiditas  amoris  etc. 

An  diese  in  der  Abhandlung  De  passionibus  entwickelte 
Psychologie  knüpft  sich  natürlich  die  Untersuchung  über 
das  Verhältnis  zwischen  Seele  und  Körper:  Ita,  qiiia  non 

concipimus soliiis  esse  corporis.  {Depass.  /.,  art. 4) 

Weil  man  die  Leichen  ohne  Bewegung  und  ohne  Wärme 
sah,  so  glaubte  man,  das  Scheiden  der  Seele  sei  die  Ur- 
sache jenes  Mangels,  und  so  glaubte  man  irrigerweise, 
die  Bewegung  und  die  Wärme  des  Körpers  hingen  von 
der  Seele  ab,  während  man  hätte  annehmen  sollen,  die 
Seele  verlasse  den  Körper  nur,  weil  die  Wärme  fehle  und 
somit  die  zur  Bewegung  dienenden  Organe  des  Körpers 
sich  auflösten.  Der  lebende  Körper  unterscheidet  sich  von 
dem  toten  nicht  anders  wie  eine  ihr  körperliches  Prin- 
cip  noch  enthaltende,  gut  gehende  Maschine  von  einer 
andern  gebrochnen.  (De  passion.  /.,  art.  6".) 
In  dem  lebenden  Körper  nun  ist  das  latente  Centralfeuer 
im  Herzen  das  körperliche  Princip  aller  Bewegung.  {De 
pass.I.,  art.  8,)  Ja  die  Glieder  des  lebenden  Körpers  kön- 
nen durch  die  Gegenstände  der  Sinne,  ohne  Vermittlung 
der  Seele,  bewegt  werden.  [De  pass.  /.,  art.  16:)  Ita  iit 
omnes  motus  .  .  .  figtira  suarmn  rotiilariim. 
'Ftxntv  Depass.  /.,  art.  13:  Et praeterquam  quod  hi  diversi 
motus  cerebri  .  .  .  et  sie  moveant  niembra  nostra.  (Z.B.  wenn 
jemand  im  Scherz  mit  der  Hand  uns  nach  dem  Auge  i 
fährt  und  wir  das  Auge  dennoch  schHeßen,  obgleich  wir 
wissen,  daß  er  keineswegs  die  Absicht  hat,  uns  zu  ver- 
wunden.) 

Äniina  omnibiis  corporis  partibus  iinita  est  conjunctim,  nee 
potest  proprie  dici  eam  esse  in  qua  dam  parte  ejus  .  .  .  sed 
solummodo  ad  tot  am  compagem  organorum  ipsius.  (De  pass. ^ 
art.  30.) 

Nichtsdestoweniger  gibt  es  doch  einen  Teil  des  Körpers, 
worin  die  Seele  ihre  Funktionen  mehr  ausübt  als  in  den 
übrigen:  /laec  pars  est  certa  quaedam  glandula  admodunv 
parva  .  .  .  mutandis  motibus  Jiujus  glandulae.  [De  pass.  /,[ 
art.  31.] 


CARTESIUS  297 

Der  Beweis  für  diese  Hypothese  liegt  darin,  daß  alle  Teile 
unsres  Gehirns  und  alle  Organe  der  äußern  Sinne  doppelt 
sind,  während  wir  doch  nur  eine  Vorstellung  von  jeder 
Sache  in  dem  nämlichen  Augenblick  haben.  Es  muß  da- 
her notwendigerweise  einen  Ort  geben,  in  welchem  z.  B. 
zwei  Bilder  des  nämlichen  Objekts,  welche  wir  durch  die 
Augen  erhalten,  in  eins  verschmelzen  können,  ehe  sie  zur 
Seele  gelangen,  weil  sie  in  derselben  sonst  auch  zwei  Vor- 
stellungen von  zwei  Objekten  verursachen  würden.  Nun 
ist  endlich  die  Zirbeldrüse  der  einzige  Punkt  im  mensch- 
lichen Körper,  worin  eine  solche  Verschmelzung  vor  sich 
gehen  könnte.  {De  pass.,  art.  31,  32.) 
Worin  besteht  aber  eigentlich  die  Vereinigung  der  Seele 
mit  dem  Körper,  wie  ist  eine  Reaktion  zwischen  beiden 
möglich? 

Cartesius  hat  sich  nie  deuthch  darüber  erklärt;  er  gibt 
zwar,  wie  ich  im  folgenden  zeigen  werde,  Hypothesen 
über  die  Art  und  Weise,  wie  körperliche  Eindrücke  sich 
zur  Zirbeldrüse  fortpflanzen,  und  wie  [von  der]  Zirbeldrüse 
aus  wieder  Reaktionen  erfolgen,  aber  worin  die  Reaktion 
zwischen  Zirbeldrüse  und  Seele  bestehe,  darüber  sagt  er 
nichts.  Bei  dem  scharfen  Unterschied,  den  er  in  den  er- 
sten Grundsätzen  seines  Systems  zwischen  Denken  mid 
Ausdehnung  macht,  mußte  er  sich  hier  in  keiner  geringen 
Verlegenheit  befinden;  er  mußte  schon  in  dem,  was  er 
über  die  Wechselwirkung  zwischen  Körper  und  Seele  sagte, 
fühlen,  daß  er  aus  der  Konsequenz  seines  Systems  sei. 
Seine  Schule  faßte  jedoch  diese  Frage  schärfer  im  Sinne 
seines  Systems,  und  so  entwickelte  sich  aus  ihr  notwen- 
digerweise die  Lehre  von  den  gelegenheitlichen  Ur- 
sachen, nach  welcher  Seele  und  Leib  zwar  keinen  un- 
mittelbaren Einfluß  aufeinander  haben,  sondern  allein  Gott 
durch  seinen  Einfluß  auf  beide  die  Ursache  davon  ist,  daß 
die  dem  Willen  der  Seele  angemeßnen  [?]  Bewegungen 
im  Körper  und  die  den  Bewegungen  im  Körper  angemeß- 
nen Empfindungen,  Begierden  und  Leidenschaften  in  der 
Seele  entstehen. 

{Tenneman/i^  Geschichte  d.  Phil.,  B.  X.  p.  259  sagt  dar- 
über:  Diese  Verbindung  der  Seele  und  des  Körpers  ver- 


298     NATURWISSEN SCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

mittelst  der  Zirbeldrüse  hatte  Cartesius  jedoch  nur  flüch- 
tig hingestellt.  In  einigen  seiner  Briefe,  vorzüglich  dem 
29.  und  30.,  verbreitet  er  sich  etwas  ausführlicher  dar- 
über, jedoch  auf  eine  Art,  die  uns  die  Verlegenheit  dieses 
Denkers,  die  Verbindung  eines  einfachen  Wesens  mit  ei- 
nem Körper  zu  erklären,  deutlich  genug  offenbart.  Der 
Begriff  der  Schwere,  meint  er,  sei  eigentlich  der  einfache 
Begriff,  durch  welchen  die  Seele  ihre  Vereinigung  mit 
dem  Körper  denke,  und  mit  Unrecht  werde  sie  als  eine 
Eigenschaft  der  Körper  betrachtet.  Oder  der  Gedanke  sei 
mit  dem  Körper  vereinigt,  wie  die  Schwere  mit  dem  Kör- 
per. Man  müsse  der  Seele  allerdings,  um  sie  mit  dem 
Körper  vereinigt  zu  denken,  eine  Materie  und  Ausdeh- 
nung beilegen,  die  sich  aber  dadurch  von  der  körperlichen 
unterscheide,  daß  diese  auf  einen  Ort  eingeschränkt  ist 
und  daher  jede  andre  Ausdehnung  eines  Körpers  aus- 
schließt, jene  aber  nicht.) 

Die  Seele  erhält  körperliche  Eindrücke  oder  sie  fühlt  77011 
quatenus  est  in  singidis  meinbris ^  sed  tantum  qiiatenus  est  in 
eerehro  \Princ.  phil.  IV.  §  1^6],  Denn  verschiedene 
Krankheiten,  welche  nur  das  Gehirn  angreifen,  heben  alle 
Sinnesempfindungen  auf  oder  stören  sie  wenigstens;  ja  der 
Schlaf,  dessen  Sitz  doch  nur  im  Gehirn  ist,  beraubt  uns 
täglich  größtenteils  der  Fähigkeit  zu  empfinden,  welche 
wir  dann  dmxh  das  Wachen  wieder  erhalten.  Ferner, 
wenn  das  Gehirn  verletzt  ist  und  der  Weg,  auf  welchem 
die  Nerven  von  den  Teilen  des  Körpers  die  Eindrücke 
zum  Gehirn  leiten,  unterbrochen  ist,  so  verliert  sich  auch 
die  Empfindung  in  diesen  Teilen.  Endlich  gibt  es  Kranke, 
welche  noch  Schmerzen  in  Teilen  empfinden,  welche  gar 
nicht  mehr  vorhanden  sind,  wie  z.  B.  nach  Amputationen. 
{Frine.  IV.  §  ig6) 

Die  Nerven  nun  sind  die  Leiter,  welche  die  Eindrücke 
des  Körpers  zum  Gehirn  leiten;  die  Verschiedenheit  der 
Empfindungen  hängt  teils  von  der  Verschiedenheit  der 
Nerven  selbst,  teils  von  der  Verschiedenheit  der  Be- 
wegungen in  den  einzelnen  Nerven  selbst  ab.  [Princ.  IV. 
§  190,) 
Jeder  Nerv  besteht  aus  unendlich  kleinen,  aus  Mark  be- 


CARTESIUS  299 

stehenden  Röhrchen,  deren  jedes  einzelne  mit  seinem  einen 
Ende  im  Gehirn  und  seinem  andern  in  dem  Teil  des  Kör- 
pers, dem  es  bestimmt  ist,  sich  endigt,  so  daß  jedes  ein- 
zelne eigentlich  ein  besonderer  Nerv  ist  (Theorie  der  Pri- 
mitivfasern!). Diese  Röhrchen  sind,  mehrere  zusammen, 
von  häutigen  Scheiden  umschlossen,  so  daß  daraus  große 
Bündel  entstehen,  und  diese  Bündel  selbst  liegen  dann 
wieder  in  eine^-  andern  gemeinschaftlichen  Scheide.  Beide 
Arten  von  Scheiden  sind  Fortsetzungen  der  Hirnhäute. 
(Tract.  de  homine  XVI.) 

Werden  nun  diese  Primitivfasern  durch  eine  äußere  Ur- 
sache bewegt,  so  ziehen  sie  an  dem  Gehirn,  wie  eine 
Schnur  an  einer  Schelle,  und  öffnen  dadurch  auf  der  in- 
nern  Oberfläche  des  Gehirns  eine  ihrer  Insertion  ent- 
sprechende Pore,  so  daß  sie  z.  B.  bei  dem  Sehen  auf  der 
innern  Oberfläche  des  Hirnes  ein  dem  äußern  Objekt  ent- 
sprechendes Bild  hervorbringen.  Dieses  Bild  selbst  nun 
wird  durch  die  Bewegung  der  Lebensgeister  so  auf  die 
Zirbeldrüse  übergetragen,  indem  ///  motus,  qiil  qiwdlibet 
punctum  componit  tmius  hujus  imagi?iis  .  .  .  ostendit  ipsi 
figurani  hujus  objecti.  (De.  pass.  /.,  art.  J5,  De  homine 
LXVIII) 

Dies  Bild  ist  aber  kein  Bild  im  wörtlichen  Sinn,  es  ist  nur 
der  Eindruck,  welchen  die  Lebensgeister  in  der  Drüse 
erhalten.  {De  hom.  LXIX) 

Inter  has  autem  figuras  non  illae  . . .  sentiet  objectum  aliquod, 
(De  hom.  LXX) 

Diejenigen  Eindrücke  nun,  welche  sich  auf  äußre  Gegen- 
stände beziehen,  erhalten  wir  durch  die  Organe  der  fünf 
äußren  Sinne,  desTastens,  Schmeckens,  Riechens,  Hörens 
und  Sehens. 

Das  Tasten  gibt  uns  nicht  nur  die  Empfindung  des  Glei- 
chen und  Ungleichen,  des  Glatten  und  Rauhen,  sondern 
auch  die  der  Wärme  und  Kälte,  des  Trocknen  und  des 
Feuchten,  der  Schwere  etc. 

Der  Geschmack  zerfällt  in  vier  Hauptempfindungen,  wel- 
che der  Wirkung  der  Salze,  der  Säuren,  des  süßen  Wassers 
und  des  Weingeistes  entsprechen. 
Was  den  Geruch  anbelangt,   so  verursachen   diejenigen 


300     NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

Teilchen,  welche  auf  gleichförmige  Weise  wirken,   eine 
angenehme,  diejenigen  dagegen,  welche  zu  schwer  oder 
zu  stark  wirken,  eine  unangenehme  Empfindung. 
Was  seine  Theorie  vom   Sehen  anbelangt,  so  sind  die 
Untersuchungen  über  die  Brechung  der  Lichtsirahlen  im 
Auge  sehr  verdienstvoll.  i^De  honi.  XXVII.— LI.) 
Eindrücke,  welche  sich  auf  den  Körper  selbst  beziehen, 
rühren  von  dem  innern  Sinn,  dem  appetitus  naturalis  her. 
Siebestehen  in  dem  Appetit  insbesondere,  Hunger,  Durst, 
und  dem  innerlichen  Gemeingefühl. 
Zu  den  Eindrücken  des  innern  Sinnes  rechnet  Cartesius 
dann  noch  in  De  homine  und  im  IV.  Buch  der  Principien 
seine  eigentlichen  passiones.  Princ.  IV.   §  igO:  Septem 

tantiim  praecipuas  differentias  in  sensihtis  notare  licet 

omnes  animi  commotiones^  sive  pathemata^   et  affectus^  t/t 
laetitiae^  tristitiae,  amoris^  odii  et  similium. 
Hier  ein  interessantes  Beispiel,  wie  Cartesius  sich  das 
Verhältnis  des  Körpers  und  der  Seele  zu  den  passiones 
dachte;  es  folgt  im  nämlichen  Paragraph:  Nam,  exempli 

causa^  sanguis  rite  temperatiis qui  mentem  afficit  lae- 

titiae  aninialis  sensu. 

Atque  alii  inotus  istorum  nei'Viiloriim  efficiunt  alias  effectus 

idcirco  dicuntiir  appetitus  [a.  a.  O.].   Vergleiche  De 

Jiomine  LIV. — LV^I.\  Was  die  Lebensgeister  anbelangt, 
so  können  dieselben  reichlicher  oder  spärlicher  vorhanden 
sein,  aus  feineren  oder  gröberen  Teilen  bestehen,  mehr 
oder  weniger  bewegt,  und  endlich  mehr  oder  weniger 
gleichartig  sein,  et  per  lias  quattor  differentias  ea  oinnis 
ingeniorum  et  moruni  diversitas,  quae  in  nobis  est^  sive  omnes 
inclinationes  natui-ales  .  .  .  in  hac  machina  repraesentantur. 
Sind  die  Lebensgeister  reichlicher  als  gewöhnhch  vor- 
handen, so  verursachen  sie  die  Bewegungen,  welche  sich 
in  uns  als  bonitas^  liberalitas  et  amor  äußern.  Sind"  ihre 
Bestandteile  gröber  und  stärker,  so  folgt  daraus  confiden- 
tia  et  audacia\  sind  sie  dagegen  ihrer  Gestalt,  Größe  und 
Kraft  nach  gleichartig,  so  bewirken  sie  die  constantia. 
Aus  dem  Gegenteil  dieser  Eigenschaften  folgen  malignitas, 
timiditas^  inconstantia,  tarditas  et  inquietudo. 
Vergleiche  endlich:  De passionihus  II  ^  art.  g6—ll2. 


CARTESIUS  301 

Übrigens  sieht  Caitesius  die  einzelnen  Äußerungen  der 
passiones  als  Reaktionen  auf  die  von  den  äußern  Sinnen 
herrührenden  Eindrücke  an,  wie  das  aus  \De  pass?^  I., 
art.  2>^  und  II.,  art.  102  hervorgeht,  so  daß  er  in  den 
vorher  angeführten  Sätzen  mehr  von  den  allgemeinen 
Stimmungen  des  Charakters  spricht. 
[  Schmerz  (dolor)  und  körperliches  Wohlbehagen  (titiUatio) 
rechnet  Cartesius  zuweilen  zum  Innern  Sinn,  in  dem 
Tract.  de  homine  XXIX.  dagegen  betrachtet  er  sie  als  zwei 
'  Empfindungen,  welche  im  allgemeinen  den  körperlichen 
i  Eindruck  begleiten.  Schmerz  entsteht,  wenn  die  Nerven- 
fäden tanta  vi  trahantur^  ut  rumpantiw  vel  a  parte,  cui 
adhacrent,  separentiir,  ita  ut  structiira  tothis  niachinae  aliquo 
modo  impei-fecta  inde  reddatur  [a.  a.  O.];  titiUatio  dagegen 
wird  erregt,  wenn  die  Nervenfäden  gezogen  werden,  ohne 
daß  sie  reißen  oder  sich  von  den  benachbarten  Teilen 
trennen. 

So  viel  über  die  Verhältnisse,  worin  der  Organismus  sich 
leidend  verhält;  nun  zu  den  Reaktionen  desselben,  wo- 
durch die  Bewegungen  des  Körpers  bedingt  werden. 
Jede  Bewegung  entsteht  dadurch,  daß  in  dem  Augenblick, 
wo  durch  die  Reizung  eines  Nervenfadens  auf  der  Innern 
Oberfläche  des  Gehirns  eine  Pore  sich  öffnet,  die  Spiritus 
animales  aus  einer  entsprechenden  Pore  der  Zirbeldrüse 
heraus  und  in  die  Nerven  fahren,  wodurch  dann  die  Mus- 
keln aufgeblasen  und  die  Bewegungen  bewirkt  werden. 
[Frevost  und  Dumas ^  Zusammenziehung  der  Nerven!!) 
Dioptrices  IV.  §  5-,  De  homine  XIX.  — XXVI. ,  ferner 
XC,  XCI. 

Cartesius  behauptet  zugleich  [r]  ausdrücklich,  gegen  die 
Meinungen  mancher  gleichzeitigen  Ärzte,  daß  jeder  Ner- 
venfaden zugleich  zur  Bewegung  und  zur  Empfindung 
diene.  (Dioptr.  IV.  §  4:  Quum  emm  videreiit,  non  tan- 
tum  sensui  .  .  .  movendi  vim  in  substantia  interiore.) 
Diese  Reaktion  geht  nun  teils  so  vor  sich,  daß  sie  ein 
rein  körperlicher  Akt  ist,  wobei  die  Seele  nur  den  Zu- 
schauer abgibt  (De  pass.  /.,  a?-t.  38:  Ceterum  eodem  modo 
.  .  .  ahsque  ulla  ope  animae)^  teils  so,  daß  sie  durch  einen 
Akt  des  Willens  vermittelt  wird,  denn:  actio  ammae  in 


302     NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

hoc  co7isistit  .  .  .  eßectum^  qui  huic  voluntati  respondeat 
[a.  a.  O.  art.  41,  Schlußsatz]. 

So  kann  die  Seele  den  Körper  bewegen^  und  die  Auf- 
merksamkeit der  Sinne  auf  einen  beliebigen  Gegenstand 
richten.  Selbst  die  Einbildungskraft  und  das  Gedächtnis 
beruhen  in  einem  Willensakt,  indem  derselbe  die  Lebens- 
geister in  den  verschiednen  Teilen  des  Gehirns  umher- 
treibt, bis  sie  Spuren,  welche  der  gesuchte  Gegenstand 
darin  zurückgelassen ^  wiedergefunden.    De  J?ass.  /.,  arL 

Den  Beschluß  dieser  Untersuchung  bildet  eine  allgemeine 
Betrachtung  über  das  Verhältnis  der  Seele,  dem  reinen 
Denken  und  Wollen,  zu  dtnpassiones.  De pass.  /.,  art.  4'/: 

Nobis  non  ?iisi  una  irrest  anima ut  fortior  impediat 

effectum  alterius. 

Die  Seele  kann  zwar  die  Leidenschaften  selbst  nicht  zer- 
stören, denn  dieselben  beruhen  in  körperlichen  Ursachen, 
aber  sie  kann  durch  ihren  Willen  die  Wirkungen  der- 
selben verhindern  und  so  absolut  Herr  über  sie  werden. 
(art.  45—47) 

Um  zu  dieser  Herrschaft  zu  gelangen,  ist  die  Erkenntnis 
der  Wahrheit  notwendig,  damit  sie  den  Willen  auf  den 
rechten  Weg  leite,  denn  der  Wille  kann  sonst  auf  das 
Falsche  verfallen,  und  Schmerz  und  Reue  sind  dann  die 
Folge,  sobald  der  Irrtum  entdeckt  ist.  [De  pass.  /., 
art,  49) 

Die  Betrachtungen  über  den  Körper  beschließt  Cartesius 
im  Tractatu  de  hom.  mit  folgenden  Worten:  Deinde  con- 

siderari  velini omnes  alii  ig?tes  in  cofporibus  inanimatis. 

[a.  a.  O.  CVi:\ 

1  a.  R.:  Übrigens  bringt  die  Seele  in  ihrem  Körper  keine  neue  Be- 
wegung hervor,  sondern  sie  verändert  nur  die  Richtung  der  vor- 
handnen,  weil  ja  sonst  die  Quantität  der  Bewegung  im  allgemeinen 
verändert  würde,  was  nach  Cartesius  unmöglich  ist. 


CARTESIUS  303 

[OBJECTIONES  ET  RESPONSIONES] 

SCHON  mit  seinem  ersten  Auftreten  war  [das  System 
des  Cartesius]  halb  vernichtet  durch  die  ohjectio7ies\  es 
ist  sonderbar,  daß  ein  so  scharfer  Denker  wie  Cartesius 
sein  System  lieber  nicht  änderte,  als  es  so  gab,  schon  in 
seinen  Fetzen  mit  den  Messern,  die  es  zerschnitten  hatten. 
Die  ersten  Einwürfe  rühren  von  einem  Löwenschen  Dok- 
tor namens  Caters  her,  die  zweiten  und  sechsten  von 
verschiednen  Theologen  und  Philosophen,  die  dritten  von 
Hobbes^  die  vierten  von  Arnatdd,  die  fünften  von  Gasscfidi, 
die  siebenten  vom  Pater  Dinet. 
CATERS 
bestreitet  erst  den  Beweis  für  das  Dasein  Gottes,  indem  er 
sagt,  daß  der  objektive  Inhalt  einer  Idee  keine  Ursache  nötig 
habe,  daß  er  ganz  außerhalb  des  Begriffes  der  Kausahtät  liege, 
welche  sich  nur  auf  Dinge  beziehe,  welche  actu  existierten. 
Einen  zweiten  Einwurfs.  S.  264,  Anmerkung. 
Dann  fragt  Caters,  wie  Cartesius  den  unendlichen  Gott 
klar  und  deutlich  erkennen  könne,  wie  es  denn  möglich 
sei,  eine  Vorstellung  vom  Unendlichen  zu  haben.-  —  Car- 
tesius antwortet:  Itaque  i7nprimis  hie  dicatn  infinltum^  qua 
infi7iitum  est,  nidlo  modo  eomprehendi,  sed  nihilo7tiinus  tarnen 
intelligi,  quatenus  seilicet  elare  et  distincte  intelligere  ali- 
quam  rem  talem  esse,  ut  niilli plane  in  ea  limites possint  re- 
periri,  est  cla7'e  i?it elligere  illam  esse  inß7iitam. 
Der  Beweis  für  das  Dasein  Gottes  aus  der  ein  notwendiges 
Sein  involvierenden  Idee  von  Gott  sei  schon  von  St. 
Thojuas  geführt,  und  von  ihm  selbst  widerlegt  worden. 
Voraus[gesetzt],  daß  die  Idee  von  Gott  Dasein  involviere, 
so  folge  daraus  doch  nicht,  daß  das  Dasein  Gottes  in 
rerum  7iatura  actu  etwas  sei,  sondern  nur,  daß  der  Begriff 
des  höchsten  Wesens  mit  dem  Begriff  der  Existenz  un- 
trennbar verbunden  sei.  —  Cartesius  antwortet:  Es  ist 
bewiesen,  daß  alles,  was  wir  klar  unddeutlich  als  zum  Wesen 
einer  Sache  gehörig  erkennen,  von  derselben  auch  mit 
Wahrheit  ausgesagt  werden  könne;  nun  haben  wir  klar 
und  deuthch  erkannt,  daß  dem  wahren  und  unveränder- 
lichen Wesen  Gottes  Sein  zukomme,  also  können  wir  mit 
Wahrheit  behaupten,  daß  Gott  existiere. 


304     NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

Endlich  behauptet  Caters,  der  Beweis,  daß  wir  nicht 
durch  uns  selbst,  sondern  nur  durch  Gott  sein  müßten, 
weil  wir  im  ersteren  Fall  uns  alle  Vollkommenheiten  ge- 
geben hätten,  sei  schon  von  Sf.  Thomas  und  Aristoteles 
geführt  worden  .  .  . 
Folgende  sind  die  wesentlichsten  Einwürfe,  welche  die 

IL  OBJECTIONES, 
von  Mersenna  gesammelt,  enthalten: 

1.  Wie  will  Cartesius  aus  dem  Umstand,  daß  er  denke, 
das  geistige  Wesen  der  Seele  beweisen?  Woraus  geht 
hervor,  daß  der  Körper  nicht  denken  könne  und  daß  das 
Denken  nicht  ein  Produkt  einer  körperlichen  Bewegung 
im  Gehirn  sei?  —  Cartesius  beruft  sich  in  seiner  Antwort 
auf  das,  was  er  in  der  sechsten  Meditation  über  diesen 
Gegenstand  gesagt  habe,  s.  S.  258,  Anmerkung  i. 

2.  Der  Beweis  für  das  Dasein  Gottes  aus  der  Idee,  die 
wir  von  ihm  haben,  ist  [ungeführt],  denn  diese  Idee  findet 
einen  zureichenden  Grund  in  uns  selbst,  weil  wir  sie 
durch  Steigerung  der  Idee  irgendeines  Wesens  mittelst 
Verbindung  mehrerer  Grade  erzeugen  können,  so  wie  wir 
auch  eine  Zahl  durch  Zählen  ins  Unendliche  fortführen 
können.  Auch  könne  Cartesius  nicht  antworten,  jede 
Ursache  müsse  ebensoviel  Vollkommenheit  oder  Realität 
enthalten  als  ihre  Wirkung,  denn  dies  sei  ja  gerade  mit 
dieser  Idee  der  Fall,  sie  sei  ein  bloßes  ejis  rationis  und 
als  solches  nicht  edler  als  die  Vernunft  oder  die  Seele 
selbst.  —  Die  Antwort  des  Cartesius  ist  in  der  Darstellung 
des  Systems  selbst  bereits  enthalten. 

3.  Wie  will  Cartesius  zur  klaren  Erkenntnis  des  Daseins 
und  der  atttibiita  Gottes  gelangen,  da  ja  nach  ihm  die 
Wahrheit  aller  Erkenntnis  erst  von  dem  Dasein  Gottes 
abhängt.  Macht  er  hier  nicht  offenbar  einen  Zirkel? 
Außerdem  hängt  die  Überzeugung  [?]  von  der  Wahrheit 
unsrer  Erkenntnisse  keines weges  von  dem  Glauben  an 
Gott  ab,  denn  der  Atheist  glaubt  ebensogut  als  der  Theist 
an  die  Wahrheit  der  mathematischen  Sätze.  —  Die  Ant- 
wort s.  S.  268  und  S.  269. 

4.  Was  ist  das  Kriterium  für  eine  wahre  Erkenntnis?  Was 
beweist,  daß  wir  nicht  immer  getäuscht  werden  etc. — 


CARTESIUS  305 

Antwort:  Was  so  klar  erkannt  wird  als  das  cogito,  ergo 
sinn,  ist  wahr  usw. 

5.  Wird  der  Vernunftschluß  angegriffen,  welchen  Carte- 
sius  dem  Caters  auf  seinen  Einwurf  gegen  den  Beweis 
für  das  Dasein  Gottes  aus  der  das  Dasein  involvierenden 
Idee  Gottes  entgegenstellt.  Zum  Schluß  wird  dem  Car- 
tesius  geraten,  sein  System  in  geometrischer  Demonstra- 
tion (synthetischer  Methode),  in  Definitionen,  Postulaten 
und  Axiomen  zu  geben,  damit  der  Leser  es  so  mit  einem 
Bhck  überschauen  könnte.  —  In  der  Resp.  ad  IL  obj.  er- 
klärt sich  Cartesius,  warum  er  nicht  die  synthetische 
Methode  gewählt  habe.  Die  analytische  Methode,  sagt 
er,  weise  den  Weg  nach,  wie  ein  System  methodisch  und 
a  pj'iori  entstanden  sei,  so  daß  der  Leser,  wenn  er  nur 
mit  Aufmerksamkeit  folgen  wolle,  das  System  sich  so  zu 
eigen  mache,  als  hätte  er  es  selbst  erfunden.  Dagegen 
habe  sie  freilich  nichts,  wodurch  sie  einen  unaufmerk- 
samen oder  störrigen  Leser  zum  Glauben  zu  zwingen 
vermöchte.  Die  synthetische  Methode  dagegen  schlage 
den  entgegengesetzten  Weg  ein  und  zeige  die  Entwick- 
lung des  Systems  gleichsam  a  posteriori,  obgleich  in  ihr 
das  System  viel  eigentlicher  a priori  begründet  werde  als 
in  der  vorhergehenden;  durch  die  lange  Kette  ihrer  De- 
finitionen, Postulate,  Axiome,  Iheorien  und  Probleme 
gebe  sie  nichts,  was  nicht  schon  im  Vorhergehenden 
bewiesen  sei  und  nicht  als  ein  Schluß  desselben  er- 
schiene, und  so  zwinge  sie  auch  den  hartnäckigsten 
Leser  zum  Beifall.  Dagegen  sei  sie  nicht  so  passend 
für  die  Philosophie,  wo  die  ersten  Grundbegriffe  mehr 
Schwierigkeit  haben  und  mit  sinnlichen  Vorstellungen 
und  Vorurteilen  zu  streiten  scheinen,  als  für  die  Ma- 
thematik, wo  die  Grundbegriffe  Evidenz  haben;  dann 
sei  sie  auch  nachteilig,  weil  sie  nicht  den  Weg  nach- 
weise, wie  man  zu  seinem  System  gelangt  sei.  Nichts- 
destoweniger fügt  Cartesius  diesen  Repliken  noch  die 
Grundzüge  seines  Systems  in  synthetischer  Ordnung, 
unter  dem  Titel  Rationes  Dei  existentiam  et  miimac  a 
corpore  distinctioiicni  prohantes,  viore  Geornetrico  dispositae 
hinzu. 

BÜCHNER  20. 


3o6     NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

m.  OBJECTIOXES.  HOBBES. 
Die  Richtigkeit  des  cogito,  a-go  suvi  wird  zugegeben,  aber 
nur  insofern,  als  es  keinen  Akt  gibt  ohne  Subjekt  oder 
Bewußtsein;  daraus  folge  aber  noch  nicht  ego  simi  cogitaiis^ 
ergo  sum  cogitatio.  Ebensogut  könnte  man  sagen  sum 
ambulans,  ergo  sum  ambulatio.  Cartesius  hätte  hier  offen- 
bar das  Subjekt  nicht  von  seinen  facultatibus  et  actibus 
getrennt.  Ferner  könne  ja  die  res  cogitans  etwas  Körper- 
liches sein,  denn  (ohne  alle  Logik  im  grellsten  Sinn  sei- 
nes Systems!)  i'//<^/i?^/'^  enim  omniuinactuuni  videiiturintelUgi 
solu??i?nodo  sab  i'atione  corporea  sive  sub  ratio ne  materiac. 
—  Cartesius  weist  ihn  in  seiner  Antwort  ganz  gut  zu- 
recht. 

Worin  besteht  der  Unterschied  zwischen  Imaginm-i  et 
mente  concipere":  Wie,  wenn  nun  Denken  nichts  andres 
ist  als  das  Verknüpfen  zweier  Worte  durch  das  Wörtchen 
est}  Wir  erführen  dann  durch  die  Vernunft  nichts  über 
die  Natur  der  Dinge,  sondern  nur  über  die  Benennungen 
derselben,  je  nachdem  wir  diese  Benennungen  willkürlich 
auf  die  eine  oder  die  andre  Weise  verknüpfen.  Ferner 
hängt  dann  das  Denken  von  Namen  ab,  die  Namen  von 
der  Einbildungskraft  und  die  Einbildmigskraft  von  der 
Bewegung  der  körperlichen  Organe,  et  sie  mens  nihil  aliud 
erit  praeter  quam  motus  in  partibus  quibusdam  eorporis  or- 
ganiei.  (Charakteristisch  für  das  System  von  Hobbes!) 
— Cartesius  antwortet,  den  Unterschied  zwischen  Ein- 
bilden und  reinem  Denken  hätte  er  bereits  gegeben;  daß 
aber  das  Denken  in  einer  bloßen  Verknüpfung  von  Namen 
bestehen  sollte,  begriffe  er  kaum,  wie  das  jemand  einfallen 
könnte.  Denn  ein  Deutscher  und  ein  Franzose  könnten 
über  die  nämlichen  Dinge  räsonieren,  ob  sie  sich  gleich 
ganz  verschiedner  Namen  derselben  bedienten. 
Die  Idee  von  Gott,  welche  wir  [in]  uns  finden,  beweist 
keineswegs  das  Dasein  Gottes,  denn  sie  kann  leicht  durch 
die  Beobachtung  teils  unserer  selbst,  teils  der  äußren 
Gegenstände  entstanden  sein.  So  kann  die  Unendlich- 
keit Gottes  aus  dem  Innewerden  unserer  eignen  Schran- 
ken entstanden  sein,  denn  sagen  ''Gott  ist  unendlich" 
heißt  nichts  anders  [als]:  Gott  ist  eins  von  den  Dingen, 


CARTESIUS  307 

deren  Grenzen  wir  nicht  begreifen.  Der  Begriff"  der  In- 
dependenz  Gottes  kann  aus  den  Erinnerungen  an  meine, 
zu  verschiednen  Zeiten  entstehenden  und  somit  ab- 
hängigen Ideen  gebildet  worden  sein.  Sagen,  Gott  sei  in- 
dependent,  heißt  nichts  andres  als:  Gott  sei  eins  von  den 
Dingen,  deren  Ursprung  wir  nicht  begreifen. 
Ebenso  kann  die  Idee  der  Allmacht  aus  der  Erinnerung 
an  geschehne  Handlungen  herrühren,  indem  wir  schließen: 
sie  fecit^  ergo  sie  potuit  faeere:  ergo  existens  idem  sie  poterit 
iterum  faeere:  Iioe  est,  habet potentiam  faeiciidi.  Außerdem, 
was  soll  der  Begriff" Macht  in  der  Idee  von  Gott,  da  der- 
selbe sich  ja  auf  zukünftige,  noch  nicht  vorhandne  Dinge 
bezieht.-  Der  Begriff"  des  Schöpfers  und  der  Schöpfung 
läßt  [sich]  auch  aus  allen  Dingen  herleiten,  die  wir  haben 
entstehen  sehen.  Außerdem,  wenn  man  auch  bewiesen 
hätte,  daß  es  ein  unendliches,  independentes,  allmäch- 
tiges Wesen  gebe,  so  folgt  doch  nicht  daraus,  daß  das- 
selbe auch  der  Schöpfer  sei  .  .  . 

Will  man  nun  endhch  behaupten,  die  Idee  Gottes  sei  uns 
angeboren,  so  mag  man  auch  erklären,  ob  die  Seelen 
im  tiefen  Schlaf  denken:  wo  nicht,  so  haben  sie  zu  der 
Zeit  keine  Ideen;  deshalb  gibt  es  keine  angebornen  Ideen, 
denn  was  uns  angeboren  ist,  ist  immer  vorhanden. 
Cartesius  antwortet:  Nihil  eoriim^  quae  Deo  tribtu?nus  .  .  . 
[Resp.  zur  Obj.  X.  des  Hobbes,  erster  Abs.].  Aus  dem 
Begriff  der  Allmacht  folgt  unmittelbar,  daß  auch  die  Welt 
von  Gott  geschaffen  sein  müsse;  denn  es  widerspreche 
ihr,  wenn  außer  Gott  noch  etwas  existierte,  das  nicht  von 
ihm  geschaffen  sei. — Denique,  eum  dicimus  ideam  aliquani 
nobis  esse  innatam  .  .  .  [a.a.O.,  letzter  xA-bsatz], 
Gegen  den  Irrtum  als  nichts  Positives,  sondern  als  einen 
bloßen  Mangel  wirft  Hobbes  ein:  Die  Unwissenheit  frei- 
lich ist  ein  bloßer  Mangel,  und  wir  haben  keine  positive 
faeultas  für  dieselbe  nötig;  aber  mit  dem  Irrtum  verhält 
es  sich  nicht  ebenso;  denn  die  Steine  und  des  Unbeseelte 
überhaupt  können  nicht  irren,  weil  sie  keine  Denkkraft 
und  keine  Einbildungskraft  besitzen:  daraus  folgt,  daß 
zu  dem  Irren  Denkkraft  oder  wenigstens  Einbildungs- 
kraft nötig  sei,  welche  beide  zwei  positive  Fähigkeiten 


3o8     NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

sind. — Die  Antwort  lautet:  Um  irren  zu  können,  ist  frei- 
lich die  Denkkraft  notwendig,  aber  der  Irrtum  selbst  ist 
nur  ein  Mangel  derselben,  und  dieser  Mangel  ist  nichts 
Reelles,  so  wenig  als  die  Blindheit. 
Gott  kann  uns  auch  zu  unserm  Besten  täuschen,  wie  ein 
Arzt  seinen  Kranken,  wie  ein  Vater  seinen  Sohn.— Car- 
tesius  antwortet  nichts  Neues. 

Im  ganzen  hat  Hobbes  in  seinen  Einwürfen,  [deren]  i6 
an  der  Zahl  sind,  wenig  Scharfsinn  gezeigt;  ich  habe  die 
unbedeutenden  übergangen,  in  denen  er  von  Cartesius 
meist  gut  abgefertigt  ist  worden. 

IV.  OBJECTIONES.  ARNAULD. 
De  natura  mentis  humanae. 
Der  Unterschied  zwischen  Körper  und  Seele  wird  eben- 
falls angegriffen;  denn  daß  die  Seele  nur  geistig  sei,  wird 
nicht  dadurch  bewiesen,  daß  sie  nicht  ausgedehnt,  beweg- 
lich, ohne  Gestalt  sei  etc.  Denn  niemand  wird  behaupten, 
daß  jeder  Körper  eine  Seele  sei.  Könnte  der  Körper 
sich  nicht  zur  Seele  verhalten  wie  eine  species  zu  ihrem 
geniiS'.  denn  ein  gemis  kann  ohne  seine  species  begriffen 
werden,  indem  man  bei  ihm  alles  wegdenkt,  was  der 
species  besonders  eigen  ist — ,  und  so  kann  auch  wohl  die 
Seele  ohne  Körper  begriffen  werden,  obgleich  sie  ein 
materielles  Ding  ist.  Vielleicht  geht  man  bei  dieser 
Trennung  nicht  anders  zu  Werk  als  die  Mathematiker, 
welche  eine  nur  in  die  Länge  ausgedehnte  Linie  ohne 
Breite  und  eine  Fläche  als  Ausdehnung  in  die  Länge 
und  Breite  ohne  Tiefe  annehmen,  ob  es  gleich  in  der 
Wirklichkeit  keine  Länge  ohne  Breite  und  keine  Breite 
ohne  Tiefe  gibt — ;  so  daß  die  Seele  ein  materielles  Ding 
sei,  welches  jedoch  eine  eigentümliche  Denkkraft  enthält, 
die  man  dann  durch  Abstraktion  von  ihm  trennen  kann. 
Auch  spricht  für  die  Materialität  der  Seele  der  Umstand, 
daß  sie  an  körperliche  Organe  geknüpft  ist,  daß  sie  in 
den  Kindern  zu  schlafen  und  in  den  Wahnsinnigen  ver- 
nichtet zu  sein  scheint.  Endlich  sprechen  gegen  die  Un- 
sterblichkeit der  Seele  die  Seelen  der  Tiere,  welche  die 
meisten  Philosophen  von  den  Körpern  unterschieden  und 
doch   ihre   Vernichtung   annähmen.     Cartesius    spräche 


CARTESIUS  309 

freilich  den  Tieren  keine  Seele  zu,  doch  möge  er  erklären, 
wie  es  käme,  daß  z.  B,  ein  Lamm,  in  dessen  Auge  das 
Bild  des  Wolfes  fiele,  denselben  flöhe. 
Dann  wird  auch  der  Vorwurf  wiederholt,  daß  Cartesius 
die  reelle  Gewißheit  aller  Erkenntnis  aus  der  Eigenschaft 
Gottes  herleite,  während  er  doch,  noch  ehe  er  zu  diesem 
Beweise  gelangt  sei,  eine  klare  Erkenntnis  der  Seele  haben 
wollte. 

Außer  seinen  gewöhnlichen  Antworten  auf  diese  Einwürfe 
sagt  Cartesius  noch,  daß,  wenn  das  ge/n/s  auch  ohne  sj>c- 
cies  gedacht  werden  könnte,  man  die  species  dagegen  nicht 
denken  könne,  ohne  zugleich  die  Merkmale  des  genus  zu 
denken.  Nun  kann  aber  der  Körper  ganz  ohne  die  Merk- 
male der  Seele  gedacht  werden. 

Was  den  Einwurf  mit  den  Kindern  und  Wahnsinnigen 
anbelangt,  so  beweise  er  bloß,  daß  die  Seele  durch  die 
körperhchen  Organe  gestört,  aber  keineswegs,  daß  sie 
durch  dieselben  hervorgebracht  werde. 
Die  letzte  Frage  beantwortet  er  sehr  unbefriedigend:  es 
gäbe  in  uns  Akte,  welche  ohne  Hülfe  der  Seele  vor  sich 
gingen,  warum  sollte  nun  das  nämliche  nicht  immer  in 
den  Tieren  der  Fall  sein.  Wenn  wir  von  einer  Höhe 
herabfallen,  so  strecken  wir,  ohne  ein  Räsonnement  der 
Vernunft,  unwillkürhch  die  Hände  aus,  um  unser  Haupt 
zu  decken;  warum  sollte  nun  nicht  etwas  Ähnliches  bei 
dem  Lamm  vor  sich  gehen,  wenn  es  den  Wolf  flieht? 

De  Dco. 
Das  positive  a  se  Sein  Gottes,   wie  von  einer  Ursache, 
wird   abermals   und  ausführlicher  angegriffen.    Et  sane^ 

cum  effectus  omnis  a  causa  dcpcndcat si  autemjam 

habet,  ut  quid  sibi  illud  daret?  [a.  a. O.,  17. — 21.  Abs.]. 
Dann  wird  dem  Cartesius  abermals  der  Zirkel  vorgeworfen, 
den  er  macht,  indem  er  die  Gewißheit  aller  Erkenntnis 
von  dem  Dasein  Gottes  ableitet  und  doch  zuvor  dieses 
Dasein  selbst  beweisen  muß. 

Endlich  behaupte  Cartesius,  daß  es  in  der  Seele,  quateinis 
est  res  cogitans,  nichts  geben  könne,  dessen  wir  uns  nicht 
bewußt  würden.  Dies  sei  aber  offenbar  falsch,  unter 
tausend  Beispielen  nur  eins:  die  Seele  des  Kindes  habe 


3IO     NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

schon  im  Mutterleib  die  Fähigkeit  zu  denken^  ohne  sich 
jedoch  derselben  bewußt  zu  werden. 
Cartesius  wiederholt  in  seiner  iVntwort  teils  das   früher 
Gesagte,  teils  weicht  er  aus  und  sagt  endlich,  die   causa 

efficiens  in  dem  a  se  sei  mehr  bildlich  zu  nehmen 

Unter  der  causa  efficiens  sei  hier  eigentlich  die  causa  for- 

malis  Aristotelis  zu  verstehen 

Der  letzte  Einwiurf  wird  dagegen  direkt  beantwortet: 
Quod  auteni  nihil  in  mente,  quatenus  est  res  cogitans,  esse 

possit si  ejus  conscii  fieri  nequeamus  \Resp.  ad  par- 

tem  '■^De  Deo^\  vorl.  und  letzter  Abs.], 
VI.  OBJECTIONES. 

1 .  Weil  wir  denken,  so  ist  es  doch  nicht  so  gewiß,  daß 
wir  sind.  Denn  um  gewiß  zu  sein,  daß  man  denke,  muß 
man  erst  wissen,  was  Denken  und  Dasein  ist;  und  da  du 
noch  nicht  weißt,  was  diese  beiden  sind,  wie  willst  du 
dein  Denken  und  dein  Dasein  erkennen?  Wenn  du  also 
sagst  ich  denke^  so  weißt  du  nicht,  was  du  sagst,  und  wenn 
du  hinzufügst  also  bin  ich^  so  weißt  du  wieder  nicht,  was 
du  sagst,  denn  du  weißt  ja  nicht  einmal,  daß  du  etwas 
sagst  oder  etwas  denkst .  .  . 

Cartesius  antwortet:  Non  ad  hoc  requi/'itur  scientia  reflexa 
. . .  nonpossimus  lamen  revera  non  habere  \Resp.  ad  VI,  obj., 
im  I.  Abs.]. 

2.  und  3.  werden  die  Einwürfe  gegen  die  Immaterialität 
der  Seele  wiederholt  und  das  Argument  mit  den  Tier- 
seelen wieder  vorgebracht.  Denn  in  den  Tieren  ist  alles 
Materie:  nun  zeigen  aber  die  Tiere  eine  gewisse  Denk- 
und  Urteilskraft,  so  daß  ihre  Seele  von  der  des  Menschen 
nur  dem  Grade,  aber  nicht  dem  Wesen  nach  verschieden 
zu  sein  scheint,  also  muß  die  Seele  des  Menschen  eben- 
falls materiell  sein.  Auch  nehmen  viele  an,  die  Seele 
entstände  bei  der  Zeugung  (ex  traduce),  sie  müsse  also 
materiell  sein. 

Die  Antwort  auf  das  erstere  enthält  nichts  Neues,  in  der 
auf  letzteres  wird  behauptet,  daß  die  Seele  aus  der  Seele 
der  Eltern  ebensogut  entstehen  könnte  als  der  Körper 
aus  dem  Körper. 
4.  und  5.    Die  Gewißheit  des  mathematischen  Wissens 


CARTESIUS  311 

der  Atheisten  wird  behauptet  und  aus  der  Bibel  und  den 

Kirchenvätern  zu  beweisen  gesucht,  daß  Gott  uns  täuschen 

könne. 

Antwort  nichts  Neues. 

6.  Indem  Cartesius  leugnet,  daß  die  Freiheit  des  Willens 
in  der  absoluten  Indifierenz  bestehe,  hebt  er  die  Freiheit 
des  göttlichen  Willens  auf  .  .  .  Denn  was  dem  mensch- 
lichen Willen  nicht  zukommt,  kann  auch  dem  göttlichen 
nicht  zukommen,  da  das  Wesen  der  Dinge  in  allem  sich 
gleich  sein  muß. 

Cartesius  antwortet,  in  Gott  freilich  sei  die  absolute  In- 
differenz der  Beweis  der  Allmacht,  und  Gott  habe  alles 
nicht  so  und  nicht  anders  gemacht,  weil  er  es  so  für  gut 
gehalten,  sondern  es  sei  alles  gut,  weil  Gott  es  so  ge- 
macht habe.  Bei  dem  Menschen  aber  verhalte  es  sich 
anders;  denn  da  seine  Natur  durch  Gott  zum  Guten  und 
Wahren  schon  bestimmt  sei,  so  sei  auch  sein  Wille  um 
so  freier,  je  mehr  er  das  Gute  und  Wahre  umfasse,  und 
er  sei  nur  dann  indifferent,  wenn  er  das  Gute  und  Böse 
nicht  zu  unterscheiden  vermöchte.  Außerdem  könne  das 
Wesen  keines  Dinges  Gott  und  der  Kreatur  zugleich  zu- 
kommen. 

7.  Wird  eine  deutHche  Erklärung  dessen,  was  Cartesius 
unter  der  Oberfläche  verstehe,  verlangt,  da  nach  ihm  sie 
weder  ein  Teil  des  umgebenden  noch  des  umgebenen 
Körpers  sein  solle. 

Cartesius  antwortet:  Et  idcirco  ad  vitandam  amhigiiitaton 

vcl  tur?'is  [in  der  Resp.  ad  y\ 

Dann  leugne  auch  Cartesius  die  accidentia  realia^  die,  wie 

die  Theologie  lehre,  doch  w  altaris  Sacrame7!fo  worhsinden 

seien. 

Cartesius  antwortet:  oinnino  rcpngnat  dari  accidentia  rcalia 

substautia  est  diccndum  [a.  a.  O.]. 

8.  Nach  Cartesius  sei  den  Sinnen  zu  mißtrauen,  und  die 
Gewißheit  der  Vernunft  sei  weit  sichrer  als  die  der  Sinne; 
wie  aber,  wenn  keine  Gewißheit  der  Erkenntnis  ohne  gut 
organisierte  Sinne  möglich  ist,  und  wenn  der  Irrtum  eines 
Sinnes  nur  durch  einen  andern  Sinn  gehoben  werden 
kann,  wie  z.  B.,  wenn  wir  einen  Stock  im  Wasser  schein- 


312     NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

bar  gebrochen  sehen,  uns  aber  durch  das  Tasten  über- 
zeugen, daß  derselbe  grad  sei. 

Cartesius  gibt  in  seiner  Antwort  eine  Theorie,  wie  die 
äußern  Gegenstände  zum  Denken  vermittelt  werden.  Er 
nimmt  drei  Grade  an:  im  ersten  wird  das  körperliche 
Organ  unmittelbar  durch  die  äußeren  Gegenstände  affiziert; 
im  zweiten  teilt  sich  die  körperliche  Affektion  der  Seele 
[mit],  und  im  dritten  endlich  urteilt  die  Seele  über  diese 
Affektion  und  die  dieselbe  veranlassenden  äußeren  Gegen- 
stände; und  so  wird  uns  die  Größe,  die  Entfernung,  die 
Figur  derselben  erst  durch  ein  Urteil  klar.  Doch  schließt 
er  diese  Betrachtung  sehr  unbefriedigend,  indem  er  sagt: 
Ex  quibiis  patet^  cum  dicimiis  intellectus  certitudinem  sen- 
suum  certitiidine  lange  esse  majorem  .  .  .  qiiod  absqiie  dubio 
est  verum  [in  der  Resp.  g\.  In  dem  Beispiel  mit  dem  Stock 
werde  aber  keineswegs  ein  Sinn  durch  den  andern  be- 
lehrt, sondern  dies  gehe  durch  einen  Akt  unsrer  Urteils- 
kraft vor,  der  sich  darin  äußert,  daß  wir  grade  dem  einen 
Sinn  eher  glauben  als  dem  andern. 

V.  OBJECTIONES.  GASSENDI. 
Gassendi  wirft  dem  Cartesius  erst  vor,  daß  er  Unmög- 
liches fordre,  indem  er  das  Ablegen  aller  Irrtümer  ver- 
lange; die  Methode,  an  allem  zu  zweifeln,  könne  dem 
Auffinden  der  Wahrheit  nicht  nützlich  sein,  sie  könne  nur 
dazu  dienen,  daß  man  neue  und  schädlichere  Vorurteile 
annähme  als  die  abgelegten. 

/;/  meditatiouem  IL: 

1 .  Es  war  nicht  nötig,  mit  dem  cogito^  ergo  sunt  anzufangen, 
jeder  andre  mit  Bewußtsein  verbundne  Akt  wäre  ebenso 
tauglich  dazu  gewesen. 

Cartesius  antwortet,  man  sei  keines  andern  körperlichen 
Aktes  als  des  Denkens  mit  metaphysischer  Sicherheit  ge- 
wiß. Man  kann  nur  insofern  sagen  ego  ambulo,  ergo  sum^ 
als  das  Bewußtsein  des  ambulandi  ein  Akt  des  Denkens 
sei,  so  daß  man  daraus  wohl  [auf]  eine  Seele  schließen 
könne,  die  glaubt,  ich  ginge  spazieren,  aber  nicht  auf 
einen  Körper,  der  wirklich  spazieren  ginge. 

2.  3.  4.  5.  6.  7.  8.  9.  werden  ausführlich  die  bisher 
erwähnten  Einwürfe  gegen  den  Beweis  für  die  Immate- 


CARTESIUS  313 

rialität  der  Seele  vorgebracht,  besonders  ist  die  Frage 
hinsichtlich  der  Tierseelen,  von  denen  Gassendi  nach- 
weist, daß  in  ihnen,  nur  in  einem  geringren  Grade,  das 
Nämliche  vorginge  als  im  Menschen,  in  §  7  sehr  scharf- 
sinnig abgehandelt;  Cartesius  beweise  wohl,  daß  er  denke, 
das  leugne  aber  niemand;  daß  es  ein  denkendes  Wesen 
gebe,  das  leugne  man  ebensowenig;  aber  was  dies  Wesen 
eigentlich  sei,  darüber  habe  er  nicht  den  geringsten  Auf- 
schluß gegeben.  Die  Angaben  von  Eigenschaften  und  Attri- 
buten geben  uns  noch  keinen  Aufschluß  über  das  Grund - 
wesen  einer  Sache  selbst  oder  über  die  Substanz;  wir  finden 
nur,  daß  ein  Etwas,  das  wir  nicht  kennen,  den  wahrgenom- 
menen Accidenzien  und  Veränderungen  zugrunde  liege. 
Dieses  Etwas  sei  uns  aber  immer  verborgen,  und  nur  fast 
durch  eine  Hypothese  nehmen  wir  an,  daß  etwas  übrig [?] 
sein  müsse,  an  dem  die  Eigenschaften  sich  befänden. 
Cartesius  ist  grob  in  seiner  Antwort,  die  sehr  unbefriedi- 
gend ausgefallen  ist. 

/;/  nieditationem  III.: 

1.  Der  Grundsatz  alles ^  was  wir  klar  und  deutlich  er- 
kennen^ ist  luaJir^  indem  er  von  der  Gewißheit  des  cogito^ 
ergo  sunt  hergeleitet  wird,  ist  nicht  so  bestimmt  und  zu- 
verlässig. Denn  wie  vieles  glaubte  ich  nicht  schon  klar 
und  deutlich  zu  erkennen  und  mußte  mich  später  von 
meiner  Täuschung  überzeugen,  und  wie  viel  Entgegenge- 
setztes nehmen  nicht  verschiedne  Menschen  an,  von  de- 
nen jeder  von  der  Klarheit  und  der  Gewißheit  seiner  Er- 
kenntnis überzeugt  ist.^  Wir  haben  bis  jetzt  kein  Kriterium, 
welches  uns  einen  Aufschluß  über  die  Dinge  gäbe,  wie 
sie  an  und  für  sich  sind. 

2 .  Was  die  von  Cartesius  aufgestellte  Einteilung  der  Ideen 
in  adventitias^  factltias  und  innatas  (erworbne,  gemachte 
und  angeborne)  anbelangt,  so  ist  erstens  der  Unterschied 
zwischen  den  erworbnen  und  gemachten  nichtig.  Denn 
die  Seele  hat  nicht  nur  das  Vermögen,  Ideen  von  den 
durch  die  Sinne  wahrgenommenen  Dingen  aufzunehmen, 
sondern  sie  auch  auf  mannigfaltige  Weise  zu  verbinden, 
zu  trennen,  zu  verengern,  zu  erweitern  und  zu  vergleichen; 
also  sind  beide  Arten  von  Ideen  nicht  verschieden. 


314    NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

Was  aber  die  angebornen  Ideen  anbelangt,  so  scheinen 
dieselben  keineswegs  solche,  sondern  erworbne  Ideen  zu 
sein.  Cartesius  sage:  habeo  a  mea  natwa,,  quod  mtelligam^ 
quid  Sit  res.  Damit  werde  wohl  nicht  die  Idee  einer  ein- 
zelnen Sache  verstanden,  denn  die  Sonne,  ein  Stein  und 
überhaupt  alles  Besondre  seien  Dinge,  deren  Ideen  Car- 
tesius gewiß  nicht  als  angebome  betrachte.  Es  handle 
sich  daher  um  die  Idee  einer  Sache  (des  Dinges)  über- 
haupt .  .  .  Wie  ist  aber  diese  Idee  in  dem  Verstände  mög- 
lich, ohne  die  Vorstellung  von  einzelnen  Dingen  und  Ge- 
schlechtern, aus  welchen  die  Idee  durch  Abstraktion  einen 
Begriff  zustande  bringt,  der  keinem  Dinge  besonders,  son- 
dern allen  zugleich  zukommt?  Wahrhaftig,  ist  die  Idee 
des  Dinges  überhaupt  angeboren,  so  ist  es  auch  die  eines 
Tiers,  einer  Pflanze,  eines  Steins  und  überhaupt  aller  ein- 
zelnen Dinge. 

Ferner  sage  Cartesius:  se  habcir  a  sua  natiira^  ut  intelligat^ 
quid  sit  veritas.  Was  ist  aber  die  Wahrheit  anders  als  die 
Übereinstimmung  des  Urteils  mit  dem  Objekt  des  Urteils; 
die  Wahrheit  ist  also  ein  Verhältnis  und  nichts  Ver- 
schiednes  von  der  Idee  der  Sache,  insofern  sie  mit  der 
Sache  übereinstimmt  oder  dieselbe  vorstellt,  wie  sie  ist, 
so  daß,  wenn  die  Idee  der  Sache  nicht  angeboren,  son- 
dern erworben  ist,  auch  die  Wahrheit  nicht  angeboren 
sein  kann,  sondern  erworben  sein  muß.  Und  da  dies  nun 
von  jeder  Wahrheit  im  besondern  gilt,  so  muß  es  auch 
von  der  Wahrheit  im  allgemeinen  gelten,  deren  allgemeine 
Idee  aus  den  besondern  gebildet  wird. 
Cartesius  antwortet:  wolle  Gassendi  den  Unterschied  zwi- 
schen erworbnen  und  gemachten  Ideen  aufheben,  so  müsse 
er  auch  leugnen,  daß  die  Statuen  des  Praxiteles  das  Werk 
desselben  gewesen  seien,  weil  der  Marmor,  woraus  er  sie 
bildete,  nicht  von  ihm  herrührte;  das  Wesen  der  ge- 
machten Ideen  bestehe  ja  grade  in  der  Verknüpfung  von 
verschiednen  Stoffen,  Auf  den  zweiten  Einwurf  in  betreff 
der  angebornen  Ideen  ist  die  Antwort  dagegen  erbarm - 
hch. 

3.  Unbedeutend. 

4.  Die  Behauptung  wird  bestritten,  daß  die  Idee  einer 


CARTESIUS  315 

Substanz  mehr  objektive  Realität  als  die  eines  Accidenz 
und  die  der  Gottheit  als  unendlicher  Substanz  mehr  Re- 
alität als  die  einer  endlichen  Substanz  in  sich  enthalte. 
Denn  es  gibt  nur  eine  sehr  verwirrte  Idee  von  einer  Sub- 
stanz, da  alle  Realität,  die  sie  hat,  sie  nur  von  den  Acci- 
denzien  erhält,  welche  wir  an  ihr  bemerken.  Ferner,  wenn 
wir  Gott  Vollkommenheit  zuschreiben,  so  nehmen  wir 
dieselbe  gewöhnlich  von  Dingen  her,  welche  wir  an  uns 
selbst  bewundern,  wie  z.  B.  Weisheit,  Macht,  Güte  etc., 
und  die  wir,  so  weit  als  möglich  erweitert,  auf  Gott  über- 
tragen. Deshalb  hat  die  Idee  Gottes  nicht  mehr  objektive 
Realität  als  die  endlichen  Dinge,  durch  deren  Erweite- 
rung sie  zustande  gekommen  ist.  Außerdem  kann  der 
menschliche  Geist  das  Unendliche  nicht  fassen  und  hat 
daher  eigentlich  gar  keine  das  Unendliche  vorstellende 
Idee,  die  nur  eine  Negation  des  Endlichen  ist.  Wer  da- 
her von  einem  Unendlichen  spricht,  sagt  von  einem  We- 
sen, das  er  nicht  begreift,  etwas  aus,  das  er  nicht  ver- 
steht. Daher  ist  es  sinnreicher,  wenn  wir  nach  der  Ana- 
logie der  Dinge  eine  zu  unserm  Gebrauch  dienliche,  den 
Verstand  nicht  übersteigende  Idee  uns  bilden,  welche 
keine  andre  Realität  enthält  als  solche,  die  wir  in  andern 
Dingen  und  auf  Veranlassung  andrer  Dinge  wahrgenom- 
men haben. 

Die  Antwort  des  Cartesius  enthält  nichts  Neues,  als  viel- 
leicht die  Äußenmg,  daß  das  Unendliche  keineswegs  die 
Negation  des  Endlichen  sei,  sondern  umgekehrt  das  End- 
liche sei  die  Negation  des  Unendlichen.  Man  könne  wis- 
sen, daß  Gott  unendlich  sei,  ohne  deshalb  das  Unendliche 
zu  begreifen,  so  wie  man  einen  Berg  berühren  könne, 
ohne  daß  man  deswegen  imstande  sei,  ihn  mit  dem  Arme 
zu  umspannen. 

5.  Wird  geleugnet,  daß  in  der  Ursache  der  Idee  ebenso- 
viel formale  Realität  enthalten  sein  müsse,  als  sich  ob- 
jektive Realität  in  der  Idee  finde,  denn  es  sei  keinesweges 
gegründet,  daß  in  der  Wirkung  nichts  sein  könne,  was 
sich  nicht  in  der  Ursache  finde.  So  z.  B.  könne  mein  Bild 
eine  objektive  Idee  von  mir  ebensogut  zu  Weg  bringen 
als  ich  selbst,  während  in  mir  doch  offenbar  mehr  formale 


31 6     NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

Realität  sei  als  in  dem  Bild,  so  daß  in  dem  ersten  Fall 
die  Idee  mehr  objektive  Realität  enthält  als  das  Bild  for- 
male. 
Cartesius  läßt  sich  diesmal  auf  keine  Widerlegung  ein. 

6.  Wie  will  Cartesius  sich  selbst  erkennen,  da  ja  nichts 
auf  sich  selbst  wirkt:  da  die  Hand  sich  nicht  selbst  schlägt, 
der  Fuß  sich  nicht  selbst  tritt,  das  Auge  sich  nicht  selbst 
sieht?  Wie  will  man  sich  selbst  zum  Spiegel  werden  und 
so  zugleich  Spiegel  sein  und  sich  zugleich  besehen? 
Cartesius  antwortet:  non  est  oculus,  qiii  se  videt  in  sc  ipso, 
sed  mens  est,  qiiae  sola  et  speciduvi  et  oculiim  et  sc  ipsam 
qiioque  aguoscit. 

Ferner  behauptet  Cartesius,  er  fände  in  seiner  Natur  einen 
hinreichenden  Grund,  um  davon  die  Idee  von  den  körper- 
lichen Dingen  herzuleiten.  Da  er  sich  aber  ja  ursprüng- 
lich nur  als  etwas  Geistiges  erkenne  und  nicht  wisse,  ob 
es  außer  ihm  etwas  gäbe,  wie  verfiele  er  auf  den  Begriff 
des  Körperlichen? 
Die  Antwort  des  Cartesius  s.  S.  261  f. 

7.  und  8.  Werden  die  Einwürfe  gegen  den  aus  der  Idee 
von  Gott  hergeleiteten  Beweis  wiederholt;  sie  suchen  dar- 
zutun, daß  keinesweges  Gott  uns  diese  Idee  gegeben  haben 
müsse  und  daß  wir  sie  ganz  leicht  anderswoher  haben 
könnten,  ohne  jedoch  etwas  Bedeutendes  oder  Neues  zu 
enthalten. 

9.  und  IG.  Werden  diese  Einwürfe  fortgesetzt.  Es  sei 
keineswegs  nötig,  daß  wir  jeden  Augenblick  neu  geschaffen 
und  so  erhalten  würden,  denn  es  gibt  Wirkungen,  welche 
fortwirken,  wenn  auch  die  Ursachen,  deren  Resultat  sie 
sind,  längst  zerstört  und  vernichtet  sind.  Um  fortzube- 
stehen, handle  es  sich  nur,  daß  es  keine  Ursache  gibt, 
welche  uns  zerstören  kann;  aber  es  sei  keine  nötig,  welche 
uns  beständig  neu  erschaffe.  Wir  könnten  auch  von  unsern 
Eltern  herrühren,  diese  von  den  ihrigen  und  so  fort,  und 
ein  solcher  progfrssiis  in  infinitum  sei  keineswegs  unge- 
reimt etc. 

Rührte  die  Idee  Gottes  wirklich  von  Gott  her,  so  würden 
alle  Menschen  Gott  auf  die  nämliche  Weise  denken,  wäh- 
rend doch  das  Gegenteil  stattfindet. 


CARTESIUS  317 

Cartesius  fertigt  ihn  ganz  gut  ab;  auf  den  letzten  Einwurf 
antwortet  er:  idem  est  ac  si  mirareris^  qtiod,  cum  omnes 
iiorint  idcam  triangidi^  11011  tarnen  omnes  aeqiie  multa  in  ipsa 
animadvertant  .  .  . 

In  mcditationem  IV.: 
Indem  Cartesius  zugesteht,  daß  Gott  uns  so  hätte  schaffen 
können,  daß  wir  nie  irren,  gesteht  er  auch  eine  gewisse 
Unvollkommenheit  in  Gott  zu;  denn  entweder  wußte  er 
uns  nicht  vollkommner  zu  machen,  oder  er  konnte,  oder 
er  wollte  es  nicht;  in  den  beiden  ersten  Fällen  ist  er 
ohnehin  unvollkommen,  und  im  letzten  ist  er  es,  weil  er 
das  Unvollkommne  dem  Vollkommnen  vorzog. 
Dann  wird  Cartesius  getadelt,  daß  er  in  der  Philosophie 
den  Gebrauch  der  Endursachen  verwerfe,  und  er  gefragt: 
was  für  eine  Idee  von  Gott  er  dann  haben  würde,  wenn 
er  blind  und  taub  zur  Welt  gekommen  wärer 
Auf  das  erste  antwortet  Cartesius  kurz  und  ausweichend, 
auf  das  letzte  entgegnet  er:  er  zweifle  nicht,  daß  er  in 
diesem  Zustande  viel  hellere  und  reinere  Ideen  von  Gott 
haben  würde  als  so;  denn  die  Sinne  störten  ihn  nur  und 
förderten  ihn  nicht. 

2.  Die  Sophistik,  womit  Cartesius  den  Irrtum  im  Ver- 
hältnis zu  Gott,  sowie  das  Böse  überhaupt,  zu  erklären 
sucht,  wird  aufgedeckt.  Cartesius  sage:  die  unvollkommne 
Kreatur  erscheine  als  vollkommen,  wenn  sie  als  ein  Teil 
des  Universums,  und  nur  dann  als  unvollkommen,  wenn 
sie  als  ein  Ganzes  für  sich  betrachtet  würde.  Gassendi 
antwortet,  das  beweise  deswegen  nicht,  daß  das  Univer- 
sum nicht  vollkommen  wäre,  wenn  alle  einzelne  Teile 
Vollkommenheit  hätten.  Wenn  Cartesius  aber  antworte: 
es  sei  grade  vollkommner,  wenn  einige  Teile  unvollkom- 
men, als  wenn  alle  durch  ihre  Vollkommenheit  sich  ähn- 
lich wären,  so  heiße  [r]  das:  ein  Staat  sei  besser,  wenn 
einige  Bürger  schlecht,  als  wenn  alle  gut  wären,  denn 
ersteres  biete  mehr  Abwechslung  dar. 
Wenn  Cartesius  behaupte,  der  Irrtum  sei  nur  ein  Mangel, 
so  gestehe  er  damit  auch  einen  Mangel  in  dem  von  Gott 
uns  verliehnen  Denkvermögen  zu  etc. 
Die  Antwort  des  Cartesius  ist  erbärmlich. 


3i8    NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

3,  Die  Annahme,  daß  die  Ursache  des  Irrtums  nur  in  dem 
Willen  liege,  der  mehr  umfasse  als  das  Denken  und  gleich- 
sam unendlich  sei,  ist  falsch.  Denn  das  Denken  erstreckt 
sich  wenigstens  ebensoweit  und  wohl  noch  weiter  als  der 
Wille.  Denn  der  Wille  urteilt  über  nichts  als  Gegenstände, 
welche  das  Denken  selbst  wahrnimmt,  und  außerdem  stel- 
len wir  uns  vieles  dunkel  vor,  bei  dem  wir  schwankend 
bleiben  und  kein  Urteil  darüber  fällen,  so  daß  der  Wille 
gar  nichts  damit  zu  tun  hat.  Voluntas  et  intellectus  aeque 
late  patent^  si  intellectus  aliquid  per cipit  non  bene^  voluntas 
judicat  non  bene.  Der  Irrtum  liegt  also  nicht  in  dem  un- 
rechten Gebrauch  des  Willens,  also  nicht  in  der  dissonantia 
judicii  a  re  judicata^  sondern  darin,  daß  der  intellectus  ein 
Ding  sich  anders  vorstellt,  als  es  wirklich  ist. 
Cartesius  wiederholt  in  seiner  Antwort  das  in  der  Medi- 
tation Gesagte. 

In  meditationem  V.: 
Der  Unterschied,  den  Cartesius  zwischen  der  essentia  und 
existentia  eines  Dinges  macht,  wird  angegriffen.  Cartesius 
sagt  nämlich,  er  fände  in  sich  die  Ideen  von  Dingen, 
welche  von  ihm  nicht  willkürlich  gemacht,  sondern  hin- 
sichtlich ihrer  Natur  nach  einem  unabänderlichen  Gesetz 
gedacht  würden,  und  deren  Essenz  nicht  geleugnet  werden 
könne,  obgleich  sie  keine  Existenz  hätten;  wenn  man  sich 
z.  B.  ein  Dreieck  denke,  so  existiere  vielleicht  eine  solche 
Figur  nirgends  als  in  unserm  Denken,  dennoch  habe  sie 
eine  bestimmte,  unveränderliche,  ewige  Essenz,  die  von 
unserer  nicht  abhänge  und  von  der  man  doch  wahrhaftig 
nicht  behaupten  könne,  daß  sie  nichts  sei.  Gassendi  wirft 
nun  [ein],  behaupten,  ein  Ding  habe  eine  ev/ige  Essenz, 
zu  der  nur  die  Existenz  hinzukomme,  hieße  behaupten, 
Gott  verhalte  sich  zu  den  Dingen,  wie  ein  Schuster  zu 
einem  Menschen,  dem  er  Schuhe  mache. 
Die  Essenz  der  Dinge  selbst  haben  sei  nichts  als  das  durch 
Abstraktion  erhaltene  wiiversale^  und  zu  dieser  Abstrak- 
tion gelangten  wir  nur  auf  dem  Wege  der  Erfahrung. 
Cartesius  antwortet  auf  das  erste,  er  hätte  nie  behauptet, 
daß  die  Essenzen  der  Dinge  von  Gott  unabhängig  seien, 
sondern  daß  grade  Gott  sie  so  bestimmt  habe,  daß  sie 


CARTESIUS  319 

unveränderlich  und  ewig  seien.  -  Dem  zweiten  Einwurf 
gegenüber  behauptet  [er]  nur,  daß  die  Essenzen  von  den  Uni  - 
Versalien  verschieden  seien.  (Vergleiche  die  Ideen  Piatos.) 
[2.]  Es  ist  falsch,  daß  die  Existenz  Gottes  von  der  Essenz 
Gottes  nicht  getrennt  werden  könne  und  daß  somit  Gott 
als  seiend  gedacht  werden  müsse.  Man  kann  die  Essenz 
nur  mit  der  Essenz  und  die  Existenz  nur  mit  der  Existenz 
vergleichen.  Man  kann  daher  sagen,  die  Allmacht  Gottes 
könne  von  der  Essenz  Gottes  so  wenig  getrennt  werden, 
als  man  von  der  Natur  des  Dreieckes  die  Eigenschaft 
trennen  könne,  daß  seine  Winkel  2  R  gleich  seien;  dafür 
aber  kann  man  die  Existenz  von  der  Essenz  bei  Gott  so 
gut  trennen  als  bei  dem  Dreieck.  Außerdem  ist  die  Exi- 
stenz keine  Vollkommenheit,  sondern  sie  ist  nur  das,  ohne 
welches  es  keine  Vollkommenheit  geben  kann.  Denn  das, 
was  nicht  ist,  ist  weder  vollkommen  noch  unvollkommen. 
(Was  nicht  ist,  ist  weder  vollkommen  noch  unvollkommen. 
Nichtsein  ist  also  keine  Unvollkommenheit.  Also  ist  Sein 
keine  Vollkommenheit.) 
Cartesius  antwortet  höchst  unbefriedigend. 
3.  Wie  kann  man  behaupten,  daß  die  Gewißheit  der  ma- 
thematischen Sätze  von  der  Erkenntnis  Gottes  abhinge, 
da  ja  diese  Sätze,  die  von  niemand  angegriffen  würden, 
weit  gewisser  seien  als  alle  diese  Beweise  für  das  Dasein 
Gottes,  die  so  vielen  Widerspruch  fänden? 
Cartesius  antwortet,  es  hätte  Skeptiker  gegeben,  die  selbst 
an  den  mathematischen  Wahrheiten  gezweifelt  hätten,  und 
der  Beifall  oder  der  Widerspruch,  den  eine  Sache  fände, 
beweise  nichts  für  noch  gegen  sie. 

In  7neditationem  VI.: 
I.  Der  Unterschied,  den  Cartesius  zwischen  ifnagi?iatio, 
als  auf  etwas  Körperliches  sich  beziehend,  und  intellectio, 
als  nur  auf  das  Geistige  gehend,  macht,  wird  weitläufig, 
doch  ohne  bedeutende  Gründe  angegriffen.  Gassendi  be- 
hauptet, mtellegere  und  imagmari  seien  nur  dem  Grade 
nach  verschieden. 

Cartesius  antwortet:  sunt  duo  modi  operandi  plane  diversi, 
Quippe  in  intellectione  mens  se  sola  utitur^  in  imaginatione 
vero  fo7'mam  corpoream  contemplatur .  .  . 


320     NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

2.  Unbedeutende  Bemerkungen  über  die  Gewißheit  oder 
Ungewißheit  der  Erkenntnis  durch  die  Sinne. 

3.  4.  5.  werden  die  Einwürfe  gegen  die  Immaterialität 
der  Seele  wiederholt,  und  besonders  gesagt,  wie  eine 
Wechselwirkung  zwischen  der  Seele  und  dem  Körper, 
zwischen  Geist  und  Materie  möglich  und  wie  die  Ver- 
bindung derselben  zu  denken  sei. 

Wolle  man  annehmen,  die  Seele  sei  mit  dem  ganzen 
Körper  vereinigt,  so  müsse  man  ihr  auch  Ausdehnung 
zuschreiben;  behaupte  man  aber,  sie  fände  sich  nur  an 
einem  mathematischen  Punkt,  so  fragt  es  sich  doch  immer, 
wie  sie  auf  den  Körper  reagieren  und  ihn  bewegen  könne, 
wenn  sie  nicht  selbst  Materie  ist:  denn  Cartesius  behaupte, 
der  Körper  werde  durch  die  Seele  bewegt,  wie  kann  aber 
nun  eine  körperliche  Bewegung  vor  sich  gehen  ohne  die 
gegenseitige  Berührung  des  Bewegenden  und  des  Be- 
wegten? Außerdem,  wie  soll  die  Seele  sich  körperlicher 
Bewegungen  als  Eindrücke  bewußt  werden;  denn  Cartesius 
sage  ja  selbst,  daß,  wenn  er  sich  zum  Körper  als  eine  reine 
InteUigenz  verhielte,  so  würde  [er]  wohl  einsehen,  daß  dem 
Körper  z.  B.  Trank  und  Speise  fehlen,  aber  nicht  das  Be- 
dürfnis derselben  empfinden,  so  würde  [er]  eine  körper- 
liche Verletzung  wahrnehmen,  aber  keinen  Schmerz  fühlen 
etc. 
Die  Antwort  ist  erbärmlich. 

VII.  [OBJECTIONES].    DINET. 

Interessant  sind  noch  die  Einwürfe,  welche  der  Engländer 
Heinrich  More  in  mehreren  Briefen  machte,  die  er  an  den 
Cartesius  schrieb.  Diese  Briefe  nebst  den  Antworten  des 
Cartesius  wurden  nach  dem  Tode  dieses  letztern  unter 
den  Briefen  des  Cartesius  abgedruckt. 


SPINOZA 


BÜCHNER  21 


)  323   ( 

ZUR  ETHIK 

Propositio  F.  Es  kann  nicht  mehrere  Substanzen,  -von. 
gleicher  Natur  oder  gleiche?!  Attributen  geben. 
Beweis.  Wenn  es  mehrere  verschiedene  Substanzen  gäbe^ 
so  mußte  man  sie  voneinander  entioeder  dui'ch  die  Verschie- 
denheit ihrer  Attribute  oder  ih?'er  Affektionen  unterscheiden. 
Wollte  7nan  sie  nun  durch  die  Verschiedefiheit  der  Attribute 
unte7'scheiden,  so  müßte  man  zugeben^  daß  es  mir  eine  Sub- 
stanz von  einem  und  demselben  Attribute  gäbe.  Will  man 
aber  die  Substanzen  nach  ihren  Affektionen  unterscheiden^  so 
muß  man  dieselben^  da  die  Substanz  ihrer  Natur  nach  eher 
da  ist  als  ihre  Affektionen^  ohne  ihre  Affektionen,  d.  h.  an 
und  für  sich  betrachten,  und  es  ist  alsdann  undenkbar, 
durch  was  sie  voneinander  unterschieden  werden  kö7mten. 
Es  kann  daher  nicht  mehrere  Substanzen^  sondern  nur  eine 
Substanz  von  derselben  Natur  geben. 

Anmerkung.  Der  Satz  beweist  nur,  daß  wir  zwei  Dinge 
von  gleichen  Eigenschaften,  wenn  wir  sie  successive 
betrachten  (um  die  Sache  von  der  sinnlichen  Seite  zu 
nehmen),  nicht  voneinander  unterscheiden  können;  wir 
können  aber  dennoch  wissen,  daß  es  zwei  sind,  wenn  wir 
beide  zugleich  sehen. -^ 

Da  bis  jetzt  über  das  Wesen  der  Substanz  nichts  weiter 
gesagt  ist,  als  daß  eine  Substanz  durch  sich  selbst  be- 
griffen werde,  so  sehe  ich  nicht  ein,  warum  der  Umstand, 
daß  zwei  Substanzen  von  gleicher  Natur  nicht  unterschie- 
den werden  können,  zu  dem  Schlüsse  berechtigt,  daß  über- 
haupt das  Dasein  derselben  unmöglich  sei. 
Spinoza  verwechselt  das  tmterscheiden  und  das  sich  denken 
können.  Nach  den  vorhergehenden  Sätzen  können  wir  uns 
noch  immer  zwei  Substanzen  von  gleicher  Natur,  und 
deren  jedes  durch  sich  selbst  begriffen  wird,  als  neben- 
einander existierend  denken. 

1  a.  R.:  Diese  Anmerkung  würde  passen,  wenn  von  Dingen  als 
AfFektionen  der  Substanz  die  Rede  wäre;  es  bezieht  sich  hier  aber 
alles  auf  die  Substanz  allein.  Immerhin  beweist  jedoch  Spinozas 
Satz  nur,  daß  wir  zwei  Substanzen  von  gleichen  Attributen  nicht 
voneinander  unterscheiden,  aber  keineswegs,  daß  sie  nicht  neben- 
einander bestehen  können.  Diese  Unmöglichkeit  ist  durch  nichts 
erwiesen. 


324    NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

Propositio  VII.  Dasein  gehört  zum  Wesen  der  Substanz. 
Beweis.  Eine  Substanz  kann  von  etwas  ander m  nicht  her- 
vorgebracht  werde7i^,  d.  h.  ihr  Wesen  involviert  notwendig 
das  Daseift. 

Anmerkung.  Mit  andern  Worten:  Da,  der  Definition 
nach,  die  Substanz  den  Grund  ihres  Seins  enthält,  so  kann 
ich  mir  den  Grund  nicht  denken  ohne  die  Folge,  d.  h. 
ohne  das  Sein.^ 

Propositio  VIII.  Jede  Substanz  ist  notwendige riücise  un- 
endlich. 

Beza  eis.  Es  gibt  nur  eine  Substanz  von  einem  und  dem- 
selben Attribute  (j^),  und  Dasein  gehört  zu  ihrem  Wesen. 
Ihrer  Natur  gemäß  kann  sie  nun  eiidlich  oder  unendlich  sein. 
Sie  ist  aber  unendlich^  denn  sie  müßte  alsdann^  von  einer 
andern  Substanz  von  gleicher  Natur ^  deren  Wesen  ebenfalls 
Dasein  involvierte.,  begrenzt  werden.,  und  somit  gäbe  es  zwei 
Substanzen  von  gleichen  Attributen.,  was  widersinnig  ist 
(Prop.  V.).   Sie  ist  daher  unendlich. 

Anmerkung.  Dieser  Satz  fällt  mit  der  fünften  Propo- 
sition. Er  kann  sich  übrigens  nur  auf  ein  räumliches  Ver- 
hältnis beziehen,  denn  aus  der  siebenten  Proposition  allein 
folgt  schon  die  Unendlichkeit  in  der  Zeit  oder  die  Ewig- 
keit; es  ist  ihr  gemäß  unmöglich,  daß  eine  Substanz  eine 
andere  in  der  Zeit  begrenzen  kann.  Die  Begrenzung  im 
Raum  ist  aber  möglich,  wenn  man  die  fünfte  Proposition 
nicht  zugibt. 

Scholium  II.  Ich  zweifle  nicht ^  daß  es  allen  denjenigen, 
die  ein  verwirrtes  Urteil  haben  und  nicht  gewohnt  sind,  die 
Dinge  nach  ihren  ersten  Ursachen  zu  erke?men,  schwerfallen 
wird,  die  VII.  Proposition  zu  begreifen-,  namentlich  weil  sie 
die  Substanzen  von  ihren  Modifikationen  Glicht  unterscheiden 

1  a.  R.:  sie  wird  daher  die  Ursache  ihrer  selbst  sein. — -  Obiges  a.  R., 
für  die  gestrichne  Anmerkung:  Aus  den  vorhergehenden  Sätzen 
ergibt  sich  bis  jetzt  noch  keineswegs  die  Notwendigkeit,  ein  Ding, 
was  durch  sich  selbst  begriffen  wird,  auch  als  seiend  zu  denken; 
die  erste  Definition  ist  bis  jetzt  noch  willkürlich. — ^  Richtiger  wäre: 
sonsf,  "alsdann"  paßte  nur,  wenn  Büchner  wörtlich  "nicht  endlich" 
übersetzt  hätte. 


SPINOZA  325 

können  und  weil  sie  nicht  luisse/i,  auf  welche  Weise  die 
Dinge  hervorgebracht  werden.  Daher  kommt  es  auch,  daß 
sie  de?i  Ursprung,  welchen  die  naturlichen  Dinge  zu  haben 
scheinen,  den  Substanzen  andichten]  denn  wer  die  wahren 
Ursachen  der  Dinge  nicht  kennt ^  verwirrt  alles,  läßt  Bäume 
7üie  Menschen  reden  und  bildet  sich  ein,  Menschen  könnten 
scm'ohl  aus  Steinen  als  aus  Samen  entstehen  und  die  eine 
Form  könne  sich  in  die  andere  verwandeln.  So  schreiben 
auch  die,  welche  die  itiefischliche  Natur  mit  der  göttlichen 
veiivcchseln,  Gott  leicht  menschliche  Leidenschaßen  zu,  na- 
me?itlich  solange  sie  nicht  wissen,  aufiaelche  Weise  die  Lei- 
denschaften in  der  menschlichen  Seele  entstehen.  Wenn  man 
aber  das  Wcse7i  der  Substanz  erkannt  hätte,  so  wib'de  man 
nicht  im  cjitferntestoi  an  der  Wahrheit  der  VII.  Propositio7i 
zweifeln,  7md  diese  Proposition  iviirde  für  alle  ein  Axiom 
sein  und  unter  die  allgemein  angenommenen  Sätze  gehör e7i. 
Denn  unter  Substanz  würde  man  das  verstehen,  welches 
durch  sich  selbst  begiiffen  wird,  d.  h.  dessen  Erkenntnis  von 
der  Erkenntnis  eines  andern  Dinges  nicht  abhängig  ist;  unter 
Modifikationen  hiiigegen  dasjenige,  welches  in  etwas  anderem 
ist  und  dessen  Begriff  aus  dem  Begriff  dessen,  tvorin  es  ist, 
gebildet  luird,  lueshalb  wir  auch  wahre  Voi'stelhmgen  von 
nicht  existierenden  Modifikatio7ie?i  haben  können,  insofern 
das  Wesefi  derselben,  obgleich  sie  in  der  Tat  nur  im  Begriff 
vorha7ide7i  sind,  so  von  etwas  andei'em  umfaßt  wi?'d,  daß 
sie  durch  dasselbe  begriffen  werden  können.  Die  Wahrheit 
der  Substanzen  hingegen  ist  nur  in  sich  selbst,  weil  dieselben 
durch  sich  selbst  begriffen  werden.  Wenn  daher  jemand 
sagte,  er  habe  eine  deutliche  und  bestinunte,  d.  h.  wahre  Vor- 
stellung von  der  Substanz,  zweifle  aber  doch,  ob  ei7te  solche 
Substanz  existie^-e,  so  würde  das  ivahrhaftig  heißen,  er  habe 
einen  wahre7i  Begriff,  zweifle  aber  de7moch,  ob  er  7iicht falsch 
sei;  7üen7i  aber  jeiiiand  behauptet,  ei7ie  Substanz  icwde  e7~ 
schaffen,  so  behauptet  er  zugleich,  ei7i  falscher  Begriff  sei 
zu  ei}ie7n  zuahren  geworden,  gewiß  das  Wider sin7iigste,  was 
7/ia7i  sich  denken  ka7i7i.  Man  muß  daher  notwendigerweise 
zugestehe7i,  daß  das  Dasei7i  und  das  Wese7i  der  Substa7iz 
eine  ewige  Wahrheit  sei. 
Da7'aus  kö7me7i  wir  auch  710 ch  auf  a7idere  Weise  schließ e7i. 


326     NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

daß  es  nur  eine  Substanz  von  der  nämlichen  Natur  gibt. 
Zuvor  m^Lßman  sich  folgendes  merken:  I .  Die  ivahre  Defi- 
nition einer  Sache  drückt  nichts  weiter  ans  als  das  Wesen 
der  definierten  Sache.  2.  Eine  Definitio7i^  welche  nichts 
weiter  als  das  Wesen  der  definierten  Sache  ausdrückt,  schließt 
keine  bestimmte  Zahl  von  Individuen  ein.  Die  Definition 
eines  Dreiecks  z.  B.  drückt  nichts  weiter  aus  als  die  Defi- 
nition eines  Dreiecks^  aber  keineswegs  eine  gewisse  Anzahl 
von  Dreiecken.  3.  Jede  Sache  hat  eine  bestimmte  Ursache, 
durch  die  sie  existiert.  4.  Diese  Ursache  muß  entweder  in 
dem  Wesen  und  der  Definition  der  Sache  oder  außerhalb 
derselben  enthalten  sein.  —  Aus  dem  allen  folgt  nun,  daß, 
wenn  eine  gewisse  Anzahl  von  Individuen  existiet't^  notiven- 
dig  eine  U7'sache  voj'handen  sein  müsse,  warmn  grade  so 
viel  Individuen,  weder  mehr  noch  weniger,  vorhanden  sind. 
Wenn  z.  B.  zwanzig  Menschen  existierten,  so  würde  es  nicht 
genügen,  die  Ursache  der  menschlichen  Natur  im  allgemei- 
nen zu  zeigen,  sonder?i  man  müßte  auch  nachiv eisen,  zoaf'um 
weder  mehr  noch  iveniger  als  z^vanzig  existieren^  indem  es 
für  die  Existenz  eines  jeden  derselben  eine  bestimmte  Ursache 
geben  ?nuß.  Diese  Ursache  aber  kann  nicht  in  der  mensch- 
lichen Natur  selbst  liegen,  weil  die  wahre  Definition  des 
Menschen  eine  besti??tmte  Zahl  nicht  involviert;  die  Ursache 
also,  wodurch  diese  zwanzig  Menschen  vor  handelt  sind,  und 
folglich  auch,  wodurch  ein  jeder  von  ihnen  existiert,  muß 
notwendig  außerhalb  eines  jede?i  liegen.  Dasein  gehört  nun 
zum  Wesen  der  Substanz,  ihre  Definition  muß  daher  ein 
notwendiges  Dasein  einschließen.  Aus  ih'er  Definition  nun 
kann  man  nicht  das  Dasein  mehre?'er  Substanzen  folgern, 
es  kann  daher  nur  eine  Substanz  von  der  nämlichen  Natur 
geben. 

Anmerkung.  Das  heißt  wohl,  die  Definition  einer  Sub- 
stanz postuliert  nicht  eine  bestimmte  Anzahl  solcher  Sub- 
stanzen; wenn  es  also  mehrere  Substanzen  von  gleicher 
Natur  gäbe,  so  müßte  der  Grund  ihres  Daseins  nicht  in 
jeder  Substanz  selbst,  sondern  außerhalb  derselben  liegen, 
was  dem  Begriff  der  Substanz  zuwider  ist.  Da  aber  nach 
Spinoza  jede  Substanz  den  Grund  ihres  Seins  in  sich  ent- 
hält, so  liegt  auch  der  Grund  für  das  Dasein  einer  jeden 


SPINOZA  327 

in  der  Definition,  ohne  daß  dieselbe  eine  bestimmte  Zahl 
einschließen  müßte.  Die  Beispiele,  wodurch  Spinoza  sei- 
nen Satz  dartun  will,  können  hier  gar  nicht  in  Betracht 
kommen,  weil  die  Dinge,  wovon  in  ihnen  die  Rede  ist, 
ihrem  Wesen  nach  als  Modifikationen  völlig  von  der  Sub- 
stanz verschieden  sind;  das  Charakteristische  der  Substanz 
ist  ja  grade  das,  daß  sie  selbst  der  Grund  ihres  Seins  ist: 
gibt  es  also  mehrere  Substanzen,  so  kann  der  Grund  da- 
für nicht  außer  ihnen  liegen,  muß  aber  auch  nicht  in  der 
Definition  im  allgemeinen  gesucht  werden.  Denn  die  De- 
finition, ob  sie  gleich  für  alle  Substanzen  von  gleicher 
Natur  gleich  ist,  ist  doch,  da  ja  jede  selbst  nur  durch  sich 
ist,  die  Definition  einer  jeden  insbesondere,  und  kann 
keine  bestimmte  Zahl  einschließen,  weil  dadurch  grade 
das  eigentliche  Wesen  der  Substanz  das  durch  sich  selbst 
sein  verloren  gehn  und  die  Definition  im  allgemeinen  über 
jeder  Substanz  insbesondere  stehen  und  somit  ihre  abso- 
lute Freiheit  aufheben  würde.  Die  Definition,  obgleich 
für  mehrere  gültig,  definiert  doch  nur  jede  Substanz  ins- 
besondere und  drückt  für  jede  den  Grund  ihres  Seins  ins- 
besondere aus.  Enthielte  die  Definition  eine  Zahl,  so  läge 
alsdann  der  Grund  des  Seins  für  jede  Substanz  nicht  in 
ihr  selbst,  sondern  in  einem  Kollektivwesen,  in  dessen 
Wesen  es  sei,  drei-  oder  vierfach  zu  existieren,  ohne  daß 
diese  Glieder  jedoch  den  Grund  ihres  Seins  in  sich  ent- 
hielten. 

Wenn  zwanzig  Menschen  existieren,  so  paßt  die  Defi- 
nition der  menschlichen  Natur  im  allgemeinen  für  jeden 
derselben,  ohne  daß  sie  den  Grund  seines  Daseins  ent- 
hielte, den  man  also  anderwärts  suchen  muß;  für  zwanzig 
Substanzen  gleicher  Natur  aber  paßt  die  Definition  für 
jede  Substanz,  und  schließt  zugleich  für  jede  den  Grund 
ihres  Seins  ein,  ohne  daß  sie  nötig  hätte,  die  Zahl  zwanzig 
einzuschließen,  denn  da  ja  keine  Substanz  die  Ursache  der 
andern  sein  kann,  also  auch  durch  die  Definition  der  einen 
nicht  das  Dasein  der  andern  bestimmt  werden  kann,  so  liegt 
die  Zahl  zwanzig  aus  der  Definition  der  Substanz  draußen, 
und  der  Grund  dafür  müßte  dann  in  etwas  anderm  gesucht 
werden,  was  das  Wesen  der  Substanz  aufheben  würde. 


328    NATUR WISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

Propositio  X.  Jedes  Attribut  einer  Substanz  muß  durch 
sich  selbst  begriffen  werden. 

Beweis.  Ein  Attribut  ist  das,  luas  der  Ve7'stand  an  der 
Substanz  als  ihr  Wesen  ausmachend  erkennt;  es  muß  daher 
durch  sich  selbst  begriffen  werden. 

Anmerkung.  Der  Definition  nach  ist  die  Substanz  das- 
jenige, was  durch  sich  selbst  begriffen  wird;  in  der  vor- 
hergehenden Proposition  wird  von  dem  Attribut  das  näm- 
liche gesagt:  ist  also  nicht  Substanz  und  Attribut  einerlei: 
Spinoza  sagt,  um  dies  zu  entkräften,  im  Scholium:  nichts 
ist  einfacher,  als  daß  jedes  Seiende  unter  irgendeinem 
Attribut  begriffen  wird  etc.  Wenn  ein  Ding  unter  einem 
Attribut  begriffen  wird  und  dies  Attribut  sein  Wesen  aus- 
drückt, so  sind  dies  Attribut  und  das  Ding  eins,  wie  aber 
dies  Attribut  oder  Ding  nun  noch  mehrere  Attribute,  deren 
jedes  durch  sich  selbst  begriffen  wird,  enthalten  könne, 
ist  unbegreiflich. 

Da  jedes  Attribut  durch  sich  selbst  begriffen  wird,  was 
bleibt  noch  der  Substanz  übrig:  ist  sie  nicht  da  ein  leeres 
Wort?  Spinoza  scheint  ihr  die  Unendlichkeit  und  Ewig- 
keit erhalten  zu  wollen,  aber  diese  beiden  Begriffe  kommen 
ja  der  Substanz  nur  dadurch  zu,  daß  sie  durch  sich  selbst 
begriffen  wird  (im  Grund  nur  die  Ewigkeit;  die  Unendlich- 
keit ist,  da  die  Beweise  für  das  Nichtvorhandensein  zweier 
Substanzen  von  gleicher  Natur  falsch  sind,  noch  nicht  be- 
wiesen) und  gehören  somit  ebensogut  den  Attributen. 

Propositio  XL  Gott  oder  die  aus  unendlichen  Attributen, 
deren  jedes  eine  ewige  und  unendliche  Wesenheit  ausdrückt, 
besteheiide  Substanz  existie?'t  notiaendigertveise . 
I .  Beweis.  Wer  es  leugnet,  begreife,  wenn  es  möglich  ist, 
wie  Gott  nicht  existiei-en  kann.  Sein  Wesen  involviert  als- 
dann nicht  Dasein,  was  wide?'si?inig  ist. 
Anmerkung.  Dieser  Beweis  läuft  ziemlich  auf  den  hin- 
aus, daß  Gott  nicht  anders  als  seiend  gedacht  werden 
könnte.  Was  zwingt  uns  aber,  ein  Wesen  zu  denken,  was 
nicht  anders  als  seiend  gedacht  werden  kann:^ 

*  a.  R.:  Wir  sind  durch  die  Lehre  von  dem,  was  in  sich  oder  in 
etwas  andenn  ist,  freilich  gezwungen,  auf  etwas  zu  kommen,  was 


SPINOZA  329 

Wenn  man  auf  die  Definition  von  Gott  eingeht,  so  muß 
man  auch  das  Dasein  Gottes  zugeben;  was  berechtigt  uns 
aber,  diese  Definition  zu  machen?  Der  Verstand?  Er  kennt 
das  Vollkommne.   Das  Gefühl?  Es  kennt  den  Schmerz. 

2.  Bcii'cis.  Das  Vorhandensein  oder  Nichtiwrhandensem 
jedes  Dinges  muß  eine  Ursache  oder  einen  Grund  haben. 
Z.  B.  wenn  ein  Dreieck  existiert^  so  muß  es  für  seine  Exi- 
stenz einen  Grund  gebeji;  wenn  es  aber  nicht  existiert,  so 
muß  es  einen  Gnmd  geben,  der  seine  Existenz  aufhebt. 
Dieser  Grund  aber  muß  entweder  in  der  Natur  des  Dinges 
selbst  oder  außerhalb  desselben  enthalten  sei?t.  Z.  B.  die 
Ursache,  warum  es  keineii  vie^'eckigen  Kreis  gibt,  liegt  in 
der  Natur  des  Kreises  selbst.  Die  Existenz  der  Substanz 
aber  liegt  nur  in  ihrer  Natur,  welche  Dasein  involviert. 
Der  Grund  aber,  luarum  es  einen  Kreis  oder  ein  Dreieck 
gibt  oder  flicht  gibt,  liegt  nicht  in  der  Natur  derselben,  son- 
dern in  den  allgemeinen  Gesetzen  der  körperlichen  Dinge] 
daraus  folgt,  daß  ein  Dreieck  entweder  existieren  müsse 
oder  daß  seine  Existenz  unmöglich  sei.  Daraus  folgt  ferner, 
daß  dasjenige  notiv endigerweise  existiere,  was  durch  keine 
besondre  Ursache  an  einem  Dasein  verhindert  wird.  Wenn 
es  daher  keinen  Gnmd  oder  keine  Ui'sache  geben  kann, 
welche  die  Existenz  Gottes  aufheben,  so  muß  man  schließen, 
daß  derselbe  notwendigenüeise  existie?'e.  Wenn  es  aber  einen 
solchen  Grund  oder  eine  solche  Ursache  gäbe,  so  müßte  sie 
entweder  in  dem  Wesen  Gottes  selbst  oder  außerhalb  des- 
selben in  einer  Substanz  von  anderm  Wesen  liegen.  Läge  sie 
nun  im  Wesen  Gottes,  so  ginge  gerade  daraus  hervor,  daß 
es  keinen  Gott  gäbe]  läge  sie  aber  in  eifier  Substanz  von  an- 
derem Wesen,  so  imirde  dieselbe  fiichts  mit  Gott  gemein 
haben  und  könnte  daher  sein  Dasein  weder  setzen  noch  auf- 
heben {Prop.  II. y  Da  es  nun  einen  Grund  oder  eine  Ur- 
sache, welche  das  Dasein  Gottes  aufhöben,  außerhalb  des 
göttlichen  Wesens  nicht  geben  kann,  so  müßte  sie,  im  Fall 
Gott  nicht  existie^-te,  in  seinem  Wesen  selbst  liegen,  was  ein 


nicht  anders  als  seiend  gedacht  werden  kann;  was  berechtigt  uns 
aber,  deswegen  aus  diesem  Wesen  das  absolut  Vollkommne,  Gott, 
zu  machen? 


330     NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

Widerspruch  ist.  Das  nun  von  dem  absolut  unendlichen 
und  vollkonimncn  Wesen  behaupten  zu  wollen^  ist  absurd; 
es  kann  also  weder  außerhalb  Gottes  ?ioch  in  Gott  selbst 
einen  Grund  geben.,  welcher  das  Dasein  Gottes  aufhöbe. 
Gott  existiert  also  notwendigeriveise . 

Anmerkung.  Es  ist  falsch,  daß  es  für  das  Nichtvorhan- 
densein eines  Dinges  einen  besondern  Grund  geben 
müßte;  da  aus  Etwas  unmöglich  Nichts  werden  kann,  so 
ist  es  auch  unmöglich,  daß  ein  Ding  durch  irgendetwas 
anderes  an  seinem  Dasein  absolut  verhindert  werden 
könnte.  Für  ein  absolutes  Nichts  ist  kein  Grund  oder 
keine  Ursache  möghch;  denn  wäre  dies  der  Fall,  so  müß- 
ten Grund  oder  Ursache  die  Vernichtung  eines  Dinges 
bewirken,  was  unmöglich  ist. 

Das  Nichts  kann  keine  Wirkung  sein,  weil  es,  als  der  ab- 
solute Gegensatz  des  Seins,  etwas  Seiendes  nicht  zur  Ur- 
sache haben  kann.  Wenn  es  Gründe  gegen  das  Dasein 
Gottes  gibt,  so  beweisen  sie  nicht,  daß  das  als  Gott  de- 
finierte Wesen  nicht  existieren  könne,  sondern  sie  be- 
weisen, daß  wir  durch  nichts  berechtigt  sind,  eine  solche 
Definition  zu  machen.  Der  Beweis  übrigens,  welcher  aus 
dem  Wesen  Gottes  sein  Dasein  demonstriert,  stützt  sich 
nur  auf  eine  logische  Notwendigkeit,  er  sagt:  wenn  ich 
mir  Gott  denke,  muß  ich  ihn  mir  als  seiend  denken — , 
aber  was  berechtigt  mich  denn,  Gott  zu  denken? 

3.  Beiueis.  Die  Unmöglichkeit  der  Existenz  ist  ein  Un- 
verfnögen^  die  Möglichkeit  ein  Vermögen.  Wenn  daher  all 
das,  was  notwendigej-U'eise  existiert .,  nur  endlich  ist,  so  muß 
das  E^idliche  mächtiger  sein  als  das  absolut  Unendliche,  was 
widersinnig  ist;  es  existiert  daher  entweder  nichts,  oder  das 
absolut  Unendliche  existiert  7iotwe7idigei-weise.  Wir  sind 
aber  entweder  in  uns  oder  i7i  etwas  anderem,  was  notwen- 
digerweise ist.  Das  absolut  unendliche  Wesen,  d.  h.  Gott, 
existiert  also  notwendigerweise. 

Anmerkung.  Dieser  Satz  zeigt,  daß  das  Vollkommne 
absolut  dasein  müsse,  weil  sein  Nichtdasein  gegen  seinen 
Begriff  streitet,  während  das  UnvoUkommne  oder  Endliche 
sehr  [wohl]  als  nicht  existierend  gedacht  werden  könne. 


SPINOZA  331 

Wolle  man  also  behaupten,  das  Endliche  existiert  not- 
wendigerweise, so  müßte  man  dies  von  dem  Unendlichen 
noch  viel  eher  zugeben. 

Dieser  Beweis  hat  mit  dem  ersten  große  Ähnlichkeit; 
charakteristisch  ist  es,  daß  hier  Spinoza  das  Unendliche 
und  das  Vollkommne  in  einer  Bedeutung  nimmt.  Was 
das  Vollkommne  anbelangt,  so  können  wir  wieder  fragen, 
was  zwingt  uns  denn,  etwas  Vollkommnes  zu  denken: 
Was  das  Unendliche  dagegen  anlfelangt,  so  läßt  sich  aus 
spinozistischen  Grundsätzen  sein  Dasein  sehr  leicht  be- 
weisen; im  dritten  Beweis  hat  Spinoza  selbst  einige  An- 
deutungen dazu  gegeben.  Alles,  was  ist,  ist  entweder  in 
sich  oder  in  etwas  anderm.  Das,  was  in  sich  ist,  kann 
nur  durch  sich  selbst  begrififen  werden;  es  ist  der  Grund 
seiner  selbst,  sein  Wesen  involviert  Dasein.  Es  ist  ewig, 
weil  es  den  Grund  seines  Daseins  in  sich  trägt;  es  ist  un- 
endlich, weil  es  nicht  zwei  Substanzen  von  gleicher  Natur 
geben  kann  und  weil  nur  Gleiches  durch  Gleiches  ein- 
geschränkt wird. 

Alles,  was  nur  durch  sich  selbst  begrifien  werden  kann, 
faßt  er  in  dem  Begriff  der  einen,  aus  unendlichen  Attri- 
buten, deren  jedes  eine  ewige  und  unendliche  Wesenheit 
ausdrückt,  bestehenden  Substanz  zusammen.  Sie  ist  für 
ihn  die  Weltursache,  worin  alles  ist;  sie  ist  ewig  und  un- 
endlich—aber sie  ist  nicht  Gott,  sie  ist  nicht  das  absolut 
vollkommne,  moralische  Wesen  des  Deismus,  —  sie  ist 
nichts  anders,  als  was  jeder  Atheist  selbst,  wenn  er  einiger- 
maßen konsequent  verfahren  will,  anerkennen  muß. 
Erst  in  dem  Scholium  zum  dritten  Beweis  weist  auch 
Spinoza  auf  Gott  hin.  Hier  hört  der  Philosoph  auf,  und 
er  vergöttert  willkürlich  das,  was  in  sich  und  worin  alles 
ist.^ 

Pi'opositio  XII.  Es  ist  kein  Ath'ibut  der  Substanz  denk- 
bar^ ivoraus  hervorginge,  daß  die  Substanz  teilbar  sei.^ 
Beiueis.    Die  Teile  nämlich,  in  zvelche  die  so  begfiffene 
Substanz  geteilt  werden  7i>ü?'de,  zverden  e?itii'eder  die  Natur 

1  Letzter  Satz  a.  R.  nachgetragen. —  -  a.  R.:  §  12  und  13  können 
sich  nur  auf  ein  räumliches  Verhältnis  beziehen. 


332     NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

de?-  Substanz  behalten  ade?-  nicht.  Im  erstej'cn  Fall  mußte 
jeder  Teil  unendlicJi  sein,  die  Natur  seiner  selbst  enthalten 
und  nach  Prop.  V.  aus  einem  verschiede?ien  Attribut  be- 
stehe?i,  so  daß  aus  einer  Substanz  mehrere  gebildet  werden 
könnte?i,  was  nach  Prop.  VI.  absurd  ist.  We?in  man  noch 
hinzunimmt,  daß  die  Teile  mit  ihrem  Ganzen  7iichts  gemein 
haben  würden  tmd  das  Ganze  ohne  seine  Teile  sein  und  be- 
griffen werden  könnte,  so  luird  an  dieser  Absurdität  niemand 
zweißen. — /;//  letzteren  Pttll  müßte  die  ganze  Substanz,  nach- 
dem sie  in  gleiche  Teile  geteilt  worden,  ihr  Wesen  als  Sub- 
stanz  außgeben  und  ablegen.'^ 

Anmerkung.  Da  Proposition  V.  falsch  ist,  kann  ich  auch 
den  aus  ihr  abgeleiteten  Grund  nicht  anerkennen;  ich  sehe 
nicht  ein,  warum  nicht  bei  einer  Teilung  der  Substanz  die 
einzelnen  Teile  die  Natur  der  Substanz  behalten  könnten. 

1.  Da  das  Ganze  ewig  ist,  müssen  auch  die  einzelnen 
Teile  ewig  sein,  da  ja  das  Ganze  aus  ihnen  besteht. 

2.  Die  Unendlichkeit  der  Substanz  wird  von  Spinoza  nur 
daraus  hergeleitet,  daß  nur  Gleiches  Gleiches  einschränkt 
und  daß  die  Substanz  unendHch  sein  müsse,'  weil  es  nicht 
mehrere  Substanzen  von  gleicher  Natur  geben  könne;  da 
aber  letzteres  keineswegs  erwiesen  ist,  so  kann  auch  aus 
dem  Umstände,  daß  durch  die  Teilung  des  unendlichen 
Ganzen  die  einzelnen  Teile  sich  gegenseitig  einschränken 
[und]  endlich  werden^,  nicht  geschlossen  werden,  daß  sie 
somit  von  dem  Wesen  der  Substanz  etwas  verlieren  wür- 
den. 

3.  ist  es  keineswegs  nötig,  daß  die  einzelnen  Teile  ein 
verschiednes  Attribut,  d.h.  ein  verschiednes  Wesen  haben 
müßten,  weil  ja,  wie  schon  gesagt,  Spinoza  keineswegs 
erwiesen  hat,  daß  es  nicht  mehrere  Substanzen  von  glei- 
cher Natur  geben  könne. 

4.  würden  aus  einer  Substanz  keineswegs  mehrere  Sub- 
stanzen gebildet  werden,  was  freilich  dem  Wesen  der 
Substanz  widersprechen  würde,  sondern  die  Substanz 
wäre  nur  ein  aus  einzelnen  gleichartigen  Substanzen  be- 
stehendes Kollektivwesen,   was  wieder  in  seine  natür- 

^  a.  R.:  Beides  ist  also  ungereimt. — -  Hinter  Tci/e  folgt  im  Manuskr. 
dadurch  und  gestrichen  daß  sie,  was  keinen  Sinn  gibt. 


SPINOZA  333 

liehen  Teile  zerfiele,  ohne  sich  zu  ändern,  ein  Phänomen, 
das  sich  eben  nur  bei  der  Substanz,  aber  sonst  nirgends 
bei  einem  Ganzen  und  seinen  Teilen  zeigen  kann.-^ 

Propositio  XIII.  Die  absolut  unendliche  Substanz  ist  un- 
teilbar. 

Beweis.  Wen7i  sie  nämlich  teilbar  wä7-e,  würden  die  Teile ^ 
worin  sie  geteilt  werden  würde^  die  Natur  der  absolut  un- 
endlichen Substanz  behalten  oder  nicht.  Wäre  crsteres^  so 
gäbe  es  mehrere  Substanzen  von  gleicher  Natur ^  was  absurd 
ist.  Wäre  letzteres^  so  könnte  die  absolut  unendliche  Sub- 
stanz zu  sein  aufhörefi,  laas  ebenfalls  absind  ist. 
Anmerkung.  Der  Beweis  ist  fast  der  nämliche,  wie  der 
vorhergehende;  das  in  voriger  Anmerkung  gegen  jenen 
Vorgebrachte  gilt  auch  gegen  diesen. 

Corollarium.  Daraus  folgt ^  daß  keine  Substanz  und  so- 
mit auch  keine  körperliche  Substanz^  ifisofern  sie  Substanz 
ist^  teilbar  sei. 

Anmerkung.  Von  der  körperlichen  Substanz  kann  eigent- 
lich allein  in  diesem  Paragraphen  hier  die  Rede  sein,  bei 
einer  geistigen  Substanz  fällt  der BegriffTcv/ ganz  weg. 

Scholium.  Die  Unteilbarkeit  der  Substanz  kann  noch  ein- 
facher daraus  bewiesen  7verden^  daß  die  Substanz  nicJit 
anders  als  unendlich  gedacht  und  unter  einem  Teil  der  Sub- 
stanz nichts  anders  als  eine  endliche  Substanz  verstanden. 
werden  kann^  laas  offenbar  einen  Widerspruch  enthält. 
Anmerkung.  Die  Unendlichkeit  der  Substanz  bezieht 
sich  oftenbar  hier  auf  ein  räumliches  Verhältnis,  denn  das 
zeitliche  Verhältnis  kann  durch  das  Zerlegen  eines  Gan- 
zen in  seine  Teile  nicht  verändert  werden;  nur  bei  einer 
körperlichen  Substanz  können  bei  ihrer  Zerlegung  die 
einzelnen  Teile  räumlich  endlich,  d.  h.  begrenzt  wer- 
den, während  das  Ganze  unbegrenzt  war. 
Übrigens  steht  und  fällt  dieser  Satz  mit  der  fünften  Pro- 
position. Die  räumliche  Unendlichkeit  der  Substanz  folgert 
Spinoza  nur  daraus,  daß  nur  Gleiches  von  Gleichem  be- 
grenzt werden  könne  und  daß  es  nicht  mehrere  Sub- 
1  3.  und  4.  am  Rande  nachgetragen. 


334    NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

stanzen  von  gleicher  Natur  gäbe  und  somit  die  Einschrän- 
kung einer  Substanz  unmöglich  sei.  Da  aber  die  Unmög- 
lichkeit mehrerer  gleicher  Substanzen  nicht  erwiesen  ist, 
so  fällt  auch  der  aus  ihr  gefolgerte  Schluß. 

Propos itio  XIV.  Außer  Gott  kann  es  keine  Substanz 
geben  oder  begriffen  iverden. 

[Be7c>eis.]  Gott  ist  das  absolut  unendliche  Sein,  dem  kein 
Attribut,  welches  das  JVesen  der  Substanz  ausdii'ickt,  ab- 
gespvchen  werden  kann  (Prop.  F/.),  und  existiert  notwen- 
digerimise  (Prop.  XI.)}  Wenn  es  eiiie  Substanz  außer  Gott 
gäbe,  so  müßte  durch  irgendein  Attribut  Gottes  ausgedrückt 
7verden,  daß  es  zwei  Substanzen  von  gleichen  Attributen 
geben  würde,  was  nach  Prop.  V.  absurd  ist;  folglich  kann 
es  au/der  Gott  keine  Substanz  geben  oder  gedacht  lüei'den. 
Denn  wenn  sie  gedacht  ivei-den  könnte,  so  müßte  sie  not- 
wendig als  seiend  gedacht  wet'den,  was  nach  dem  eisten  Teil 
dieser  Demo7istration  absurd  ist.  Es  kann  also  außer  Gott 
keine  Substanz  geben  noch  gedacht  werden.  Qu.  e.  d. 
Anmerkung.  Der  Beweis  lautet  mit  andern  Worten  so: 
Da  Gott  die  aus  unendlichen  Attributen  bestehende  Sub- 
stanz ist,  so  müßte  eine  Substanz,  die  neben  Gott  existiert, 
durch  ein  Attribut  Gottes  ausgedrückt  werden,  was  un- 
möglich ist,  weil  es  nach  Prop.  V.  nicht  mehrere  Sub- 
stanzen von  gleichem  Wesen,  d.  h.  von  gleichen  Attri- 
buten geben  kann.  Was  aber  bereits  gegen  die  fünfte 
Proposition  ist  eingewendet  worden,  findet  hier  wieder 
seinen  Platz. 

Überhaupt  ist,  wie  schon  in  der  Anmerkung  ziu-  zehnten 
Proposition  gesagt  wurde,  Substanz  und  Attribut  eins, 
und  im  Fall  die  Substanz  mehrere  Attribute  habe,  nur  ein 
Kollektivwesen,  das  aber  für  sich,  als  was  Besonderes 
genommen,  keinen  Inhalt  oder  Bedeutung  hat. 
Gott  ist  der  Kollektivbegriff  der  (der  Zahl  nach)  unend- 
lichen Attribute  und  wird  mit  dem  Namen  Substanz  um- 
faßt. Der  von  Spinoza  vorgebrachte  Beweis  ist  eigentlich 
ganz  überflüssig,  denn  mit  dem  Worte  die  aus  unendlichen 
Attributen  bestehende  Substanz  ist  schon  alles  gesagt,  es 
1  a.  R.:  Vgl.  Cogitat.  met.,  P.  II.  ' 


SPINOZA  335 

kann  ihm  gemäß  keine  Substanz  außer  Gott  geben.  Denn 
eine  Substanz  besteht  ja  aus  Attributen;  da  nun  Gott  aus 
unendlichen  Attributen  besteht,  so  muß  ja  jedes  Attribut 
mit  Gott  vereinigt  sein,  und  es  ist  dann  undenkbar,  wie 
es  noch  eine  Substanz  außer  Gott  sollte  geben  können. 
Übrigens  ist  mir  nicht  klar,  warum,  weil  Gott  die  aus  un- 
endlichen Attributen  bestehende  Substanz  ist,  deswegen 
auch  jedes  Attribut  in  ihm  enthalten  sein  müsse.  Hätte 
Spinoza  gesagt:  alles,  was  durch  sich  ist,  ist  die  göttliche 
Substanz — ,  so  wäre  die  einzige  Substanz  bewiesen,  da  es 
dann  keine  Substanz  oder  vielmehr  kein  Attribut  geben 
könne,  die  dann  nicht  zu  dem  Kollektivbegriff  Gott  ge- 
hörte. 

Propositio  XV.  Älles^  was  ist,  ist  in  Gott,  mii  nichts 
kann  ohne  Gott  sein  noch  gedacht  werden. 
Beweis.  Außer  Gott  kann  es  keine  Substanz  geben  oder 
gedacht  werden  (Prop,  XIV?),  d.  h.  per  def.  III.:  ein  Ding, 
was  in  sich  ist  und  durch  sich  selbst  begriffen  wird.  Die 
tnodi  aber  können  ohne  Substanz  iveder  seift  noch  begriffen 
werde7i  [Def.  V.);  deswegen  können  sie  auch  nur  in  der 
göttlichen  Natur  sein  und  du?'ch  dieselbe  begriffen  werden. 
Es  gibt  aber  nichts  als  Substanzen  U7id  modi  (Axiom  III.). 
Es  kann  also  nicJits  ohne  Gott  sein  noch  begriffen  iverden. 
Qu.  e.  d. 

Anmerkung.  Gegen  den  Satz,  daß  alles  in  Gott  sei, 
führt  man  an,  die  Materie  müsse  dann  auch  in  Gott  sein, 
und  sucht  dann  zu  beweisen,  die  Materie  müsse  endlich 
sein,  was  gegen  das  Wesen  Gottes  streite. 
Spinoza  widerlegt  die  dafür  angeführten  Gründe,  indem 
er  sagt,  wenn  man  einmal  die  Materie  als  eine  Substanz 
und  somit  als  unendlich  annähme,  so  könne  man  auf  sie 
den  Begriff  des  Teils  nicht  mehr  anwenden,  und  alles, 
was  man  über  ihre  Teilung  gesagt,  sei  somit  gar  nicht  zu 
berücksichtigen.   Sein  Weg  dabei  ist  folgender: 

1.  Gleiches  kann  nur  durch  Gleiches  begrenzt  werden. 

2.  Nun  gibt  es  aber  keine  zwei  gleichen  Substanzen  nach 
Prop.  V.;  die  ausgedehnte  Substanz  ist  also  unendlich. 

3.  Wollte  man  die  unendliche  Substanz  teilen,  so  behielten 


336     NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

die  Teile  entweder  die  Naliir  der  Substanz  oder  nicht. 
Im  ersten  Fall  müßte  es  mehrere  gleiche  Substanzen 
geben,  was  nach  dem  vorigen  Satze  unmöglich  ist;  im 
letzten  Fall  müßte  die  Substanz  ihr  Wesen  als  Substanz 
aufgeben,  was  ebenso  unmöglich  ist.  Also:  die  unendliche 
Substanz  ist  unteilbar,  und  alles,  was  man  gegen  die  Un- 
endlichkeit der  Substanz  aus  der  Teilung  der  un  ndlichen 
Substanz  vorbringt,  ist  Unsinn. 

Gibt  man  einmal  Spinoza  die  Unendlichkeit  der  Substanz 
zu,  so  muß  man  auch  das  übrige  zugestehen.  Diese  Un- 
endlichkeit beruht  aber  auf  der  fünften  Proposition,  näm- 
lich darauf,  daß  es  keine  zwei  gleichen  Substanzen  gäbe, 
weil  man  sie  nicht  voneinander  unterscheiden  könne,  weil 
sie  dann,  indem  sie  sich  gegenseitig  begrenzen,  in  eins 
zusammenfließen  würden.  Dies  nicht  unterscheiden  können 
berechtigt  aber  doch  nicht  zu  dem  Schluß,  daß  es  nicht 
in  der  Wirklichkeit  so  sein  und  daß  wir  es  uns  nicht 
denken  könnten.  Dies  Unterscheiden  bezieht  sich  bloß 
auf  einen  körperlichen,  aber  nicht  auf  einen  geistigen  Akt; 
der  Geist  kann  ja  noch  immer  die  Trennung  machen, 
wenn  es  auch  das  körperliche  Auge  nicht  imstande  ist. 
Auf  dem  transzendenten  Standpunkte  fragt  es  sich  bloß: 
können  wir  uns  zwei  oder  mehrere  gleiche  Substanzen 
nebeneinander  denken,  und  Spinoza  gibt  keinen  Grund 
an,  der  diese  Möglichkeit  unmöglich  machte.  Er  hat  also 
von  seinem  eignen  System  aus  noch  keineswegs  die  Un- 
endlichkeit der  ausgedehnten  Substanz  bewiesen. 
Übrigens  ist  mir  noch  nicht  klar,  ob  nicht  ein  Ganzes 
unendlich  sein  und  dennoch  aus  endlichen  Teilen  be- 
stehen kann,  indem  es  eine  unendliche  Anzahl  solcher 
endlichen  Teile  einschließt. ^  Da  wir  bis  jetzt  noch  immer 
mehrere  gleiche  Substanzen  annehmen  müssen,  so  könnte 
die  ganze  Ausdehnung  als  aus  einer  unendlichen  Anzahl 
körperlicher  Substanzen  bestehen,  [deren]  Ganzes  un- 
endlich ist,  indem,  da  das  eine,  ihrer  Gleichheit  wegen, 
das  andere  ebenso  begrenzt,  als  es  von  ihm  begrenzt  wird 

1  a.  R.:  Es  ist  hier  nur  von  Substanzen  oder  Attributen,  d.  h.  von 
Dingen,  die  durch  sich  sind,  die  Rede;  denn  bei  inodis  wäre  ein 
unendliches  Ganze  aus  endlichen  Teilen  bestehend  Unsinn. 


SPINOZA  337 

und  somit  keines  das  andere  abschließt,  sie  sich  wieder 
ins  Unendliche  begrenzen. 

Deshalb  braucht  aber  nichts  Leeres  zwischen  ihnen  zu 
sein,  denn  ihrer  Natur  gemäß  müssen  sie  sich  ja  so  weit 
ausdehnen,  bis  sie  einander  begrenzen,  so  daß  also  kein 
leerer  Raum  bleiben  kann.  Auch  paßt  hier  die  Frage 
nicht  mehr,  warum  nicht  eins  vernichtet  werden  könne, 
da  ja  jedes  für  sich  bestehe,  i.  aus  Etwas  wird  nicht 
Nichts  und  umgekehrt,  und  2.  ist  jedes  Substanz. 
Wir  hätten  somit  ein  unendliches  Ganze  aus  sich  gegen- 
seitig begrenzenden  und  insofern  endlichen  Teilen,  die 
aber  Substanzen  sein  müßten,  denn  sonst  wäre  diese  Be- 
hauptung so  absurd,  als  die  Gegner  Spinozas  sagten. 
Denn  alsdann,  ich  wiederhole  es,  müssen  sie  sich  ins 
Unendliche  begrenzen,  weil  keines  das  andere  abschließen 
;  kann. 

,  Wir  hätten  dann  nur  eine  x^usdehnung  mit  Spinoza,  aber 
i  aus  unendlichen  (Zahl)  Substanzen,  oder  vielmehr  Attri- 
buten, ein  räumlich  unendliches  Meer  aus  der  Zahl  nach 
unendlichen  Quellen.  Doch  paßt  dies  nur  insofern,  als 
überhaupt  ein  Bild  in  philosophische  Deduktion  paßt. 
Wir  können  diese  Ausdehnung  so  wenig  als  die  Spinozas 
körperhch  teilen,  weil  ja  eins  das  andere  ins  Unendliche 
begrenzt,  eigentlich,  um  mich  bildlich  auszudrücken,  eins 
dem  andern  parallel  ist — ,  aber  wir  können  sie  geistig  in 
ihre  unendlichen  Attribute  zerlegen. 


JUCHNER  22. 


338     NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFfEN 

WAS  war  Spinozas  Ziel:  Er  sagt  es  deutlich  im  T7'ac- 
tatiis  de  emendatione  inteUectiis.  Er  sagt,  wie  er  erst 
sich  um  Irdisches  bemüht  und  dann  gesehen  habe,  daß 
die  Glückseligkeit  nur  im  Besitz  des  Ewigen  zu  finden  sei. 
Videbantiir  ponv  ex  hoc  orta  esse  mala totisque  viri- 
bus quaerendum  [VL  I,  S.  5]. 

Ferner  heißt  es:  Ich  will  hier  nur  kurz  sagen,  was  ich  un- 
ter dem  wahren  Guten  und  dem  höchsten  Gut  verstehe. 
Vorerst  merke  man  sich,  bös  und  gut  kann  nur  relativ 
gesagt  werden;  jedes  Ding  kann  in  verschiednen  Bezie- 
hungen gut  oder  bös,  vollkommen  oder  unvollkommen 
heißen.  Denn  nichts  ist  an  und  für  sich  gut  oder  bös, 
vollkommen  oder  unvollkommen,  weil  alles  nach  einer 
ewigen  Ordnung  und  ewigen  Gesetzen  geschieht.  Da  aber 
die  menschliche  Schwäche  diese  Ordnung  in  ihrem  Den- 
ken nicht  umfassen  kann  und  der  Mensch  indes  sich  die 
Idee  von  einer  der  seinigen  weit  überlegnen  menschlichen 
Natur  bildet  und  zugleich  kein  Hindernis  sieht,  warum  er 
einer  solchen  Natur  nicht  teilhaftig  werden  könne,  so  sucht 
er  nach  Mitteln,  um  zu  solcher  Vollkommenheit  zu  ge- 
langen, und  alles,  was  als  Mittel  dazu  dienen  kann,  heißt 
bei  ihm  das  wahre  Gute;  das  höchste  Gut  für  ihn  ist  aber 
utille  cum  aliis  individuis,  sißeripofest,  tali  natura  fruatur. 

ad  hunc  sunt  dirige?idae  ßne??i  [VL  I,  S.  6 f.]. 

Diese  Stelle  enthält  ein  bedeutendes  Geständnis,  ganz  im 
Sinne  seines  Systems,  und  doch  zugleich  einen  Wider- 
spruch. Nur  die  menschliche  Schwäche,  nur  der  Mangel 
an  Erkenntnis  macht,  daß  wir  nach  etwas  Vollkommnem 
streben,  denn  in  der  Natur  gibt  es  kein  Werden,  nur  Sein, 
kein  Streben,  sondern  schon  Besitzen,  überall  eine  Voll- 
kommenheit, wie  sie  aus  der  ewigen  Ordnung  der  Dinge 
folgt.  Und  doch,  wie  kann  er  von  menschlicher  Schwäche 
reden.^  Ebenso,  wie  er  in  seiner  Metaphysik  das  Endliche 
aus  dem  Unendlichen,  wie  er  das  Böse  aus  unsern  Vor- 
stellungen herleitet.  Der  ewige  Widerspruch  zwischen 
dem,  was  ist  in  der  Endlichkeit,  und  dem  Ewigen,  an  das 
wir  dasselbe  zu  knüpfen  suchen. 

Einige  hierher  gehörige  Stellen  finden  sich  im  Tractatiis 
theologico-politicus ^  so  Gap.  III. :  Omnia,  quae  honeste  cupi- 


SPINOZA  339 

jniis^  ailhaectriaj)otissiinuiiircfcnmtur,  nempe^  7-es per pri- 
mas  siias  causas  intelligere^  passiones  doniare  sive  virtutis 
halntwn  acquircrc,  et  denique  seciire  et  sano  cotpore  vivere 
[VL  I,  S.  409].— Ferner,  wo  das  Ziel  alles  Strebens  noch 
näher  bezeichnet  wird,  Cap.  IV.  [VL  I,  S.  42 2  f.]: 
Da  die  Vernunft  {intellectus)  unser  höchstes  Gut  ist,  so  ist 
es  gewiß,  daß  wir  streben  müssen,  sie  so  vollkommen  als 
möglich  zu  machen,  wenn  wir  auf  unser  wahrhaftes  Glück 
bedacht  sind;  denn  nur  in  ihrer  Vollkommenheit  soll  un- 
ser höchstes  Gut  bestehu.  Ferner,  weil  unsre  Erkenntnis 
und  die  Gewißheit,  welche  wahrhaft  jeden  Zweifel  hebt, 
von  Gottes  Erkenntnis  allein  abhängt  (da  ja  ohne  Gott 
nichts  sein  noch  begriffen  werden  kann  und  wir  an  allem 
zweifeln  können,  solange  wir  von  Gott  keine  klare  und 
deutliche  Idee  habenj,  so  folgt,  daß  unser  höchstes  Gut 
und  unsre  höchste  Vollkommenheit  von  der  Erkenntnis 
Gottes  abhängen  etc.  Ferner,  da  nichts  ohne  Gott  weder 
sein  noch  begriffen  werden  kann,  so  ist  es  gewiß,  daß 
alles,  was  in  der  Natur  ist,  den  Begriff  Gottes  hinsichtlich 
seiner  Essenz  und  seiner  Vollkommenheit  involviere  und 
ausdrücke,  und  daß  wir  also,  je  mehr  wir  die  natürlichen 
Dinge  erkennen,  auch  eine  um  so  vollkommnere  Erkennt- 
nis Gottes  erlangen,  oder  (weil  die  Erkenntnis  der  Wir- 
kung durch  die  Ursache  nichts  andres  ist  als  eine  Eigen- 
schaft der  Ursache  erkennen)  je  mehr  wir  die  natürlichen 
Dinge  erkennen,  um  so  vollkommner  erkennen  wir  die 
Essenz  Gottes  (der  ja  die  Ursache  aller  Dinge  ist);  und 
30  hängt  unsere  ganze  Erkenntnis,  d.  h.  unser  höchstes 
Gut,  nicht  nur  von  der  Erkenntnis  Gottes  ab,  sondern 
liegt  sogar  einzig  in  ihr.  Dies  ergibt  sich  auch  aus  folgen- 
iem:  je  besser  und  vollkommner  die  Sache,  welche  der 
Mensch  vor  allem  liebt,  um  so  besser  und  vollkommner 
st  er  selbst;  der  ist  also  notwendigerweise  der  Vollkom- 
nenste  und  der  höchsten  Seligkeit  teilhaftig,  welcher  die 
ntellektuale  Erkenntnis  des  vollkommensten  Wesens,  d.  i. 
jottes,  über  alles  liebt. -^ 
30  liegt  also  schon  über  den  ersten  Rissen  des  Spinozismus 

Mit  andrer  Schrift  zugefügt:  S.  d.  Fortsetzung  [im  Tract.theol.-pol.^ 
3ap.  IV.\   Ferner  Cap.  V.,  p.  209,  210. 


340    NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

eine  unendliche  Ruhe.  Alle  Glückseligkeit  ist  allein  im 
Anschauen  des  Ewigen,  Unveränderlichen;  nicht  von  dem 
Endlichen  soll  zum  Unendlichen,  nicht  von  den  Dingen 
soll  zu  Gott  fortgeschritten,  sondern  aus  Gott  heraus  soll 
alles  erkannt  werden.  Aber  jetzt  kommt  die  eigentümliche 
Wendung  des  Spinozismus:  diese  Erkenntnis  soll  nicht 
das  absolute  Anschauen  des  Mystikers,  es  soll  eine  in- 
tellektuale  Erkenntnis  sein.  Hier  ist  die  große  Kluft  zwi- 
schen Maleb7'anche  und  Spinoza.  Beide  haben  nur  unter 
Voraussetzung  des  Cartesius  eine  v/issenschaftliche  Be- 
deutung, beide  setzen  das  Fundament  des  Cartesianismus 
voraus;  aber  Malebranche  wird  seinem  Lehrer  untreu,  er 
wendet  sich  zur  Anschauung,  er  sieht  alle  Dinge  in  Gott, 
aber  unmittelbar  ohne  Räsonnement,  ohne  Schluß;  Spinoza 
dagegen  bleibt  treu,  die  Demonstration  ist  ihm  das  einzige 
Band  zwischen  dem  Absoluten  und  der  Vernunft,  ja  er  ist 
kühner  als  Cartesius,  er  dehnt  das  Recht  der  Demon- 
stration weiter  aus,  der  demonstrierende  Verstand  ist  alles 
und  ist  allem  gewachsen,  wie  dies  sich  aus  der  Vorrede 
Meyej'S  zu  den  Principiis philosophiae  Cartes.  ergibt:  Prac- 

tereundum  ctiain  hie  nequaquam  est mtellectum  7iostriim 

eupimus  ev eitere  [VL  II,  S.  3 78 f.]. 

Hierher  gehören  noch  folgende  Stellen:  Traet.  t/ieol.-poL, 
Cap.III.  "Der  \vahrlich  spricht  Unsinn,  welcher  behaupten 
wollte,  es  sei  nicht  nötig,  die  Attribute  Gottes  zu  be- 
greifen {in teiligere),  sondern  es  genüge,  sie  ganz  einfach 
ohne  Demonstration  zu  glauben,  denn  die  unsichtbaren 
Dinge,  welche  nur  Objekte  der  Seele  sind,  können  durch 
keine  andern  Augen  gesehen  werden  als  durch  die  Demon- 
stration; wer  nicht  im  Besitz  dieser  letzteren  ist,  der  sieht 
von  jenen  Dingen  nichts,  und  was  er  über  dieselben  nach 
dem  Hörensagen  urteilt,  hat  nicht  mehr  Wert  als  die 
Worte  eines  Papagei  oder  eines  Automaten." 
Ferner  zieht  Spinoza  in  dem  Traetatus  tJieol.-pol.  eine 
scharfe  GrenzHnie  zwischen  dem  Glauben  (der  Religion) 
und  der  Philosophie;  den  ersteren  beschränkt  er  rein 
auf  das  praktische  Gebiet,  der  letzten  allein  spricht  er  das 
Recht  und  die  Fähigkeit  zu,  die  theoretischen  Fragen  zu 
lösen.    So  Kap.  XV.:   Die   Vernunft  ist  das  Reich  der 


SPINOZA  341 

Wahrheit  und  der  Weisheit,  die  Theologie  das  Reich  der 
Frömmigkeit  und  des  Gehorsams. 

Auffallend  ist  das  Zugeständnis,  welches  Spinoza  in  dem 
Tractatiis  theol.-pol.  hinsichtlich  der  praktischen  (ethischen) 
Fragen  dem  Glauben  und  der  Theologie  macht. 
Vgl.  Kap.  XV.  [VL  I,  S.  548f.]:  ^'Wir  schließen  daher  ab- 
solut, daß  man  weder  die  Vernunft  der  Heiligen  Schrift 
noch  die  Schrift  der  Vernunft  anzupassen  suchen  muß. 
Man  könnte  uns  einwerfen:  Können  wir  mittelst  der  Ver- 
imnft  nicht  demonstrieren,  ob  die  Grundlehre  der  Theo- 
logie hinsichtlich  des  Gehorsams  wahr  oder  falsch  sei, 
warum  glauben  wir  denn  an  dieselbe?  Nehmen  wir  sie 
bhndhngs  und  ohne  Vernunftgründe  an,  so  handeln  wir  ja 
töricht  und  ohne  Urteil.  Nähmen  wir  dagegen  an,  diese 
'Grundlehre  könne  durch  Vernunftgründe  demonstriert 
; werden,  so  machten  wir  die  Theologie  zu  einem  inte- 
igrierenden  Teil  der  Philosophie.  Ich  antworte  dagegen 
lauf  das  bestimmteste:  die  Grundlehre  der  Theologie  könne 
;auf  natürlichem  Weg  nicht  nachgewiesen  werden,  oder 
ies  habe  wenigstens  bisher  niemand  getan,  mid  deswegen 
isei  die  Oftenbarung  höchst  notwendig  gewesen.  Nichts- 
idestoweniger  können  wir  uns  unserer  Urteilskraft  be- 
dienen, um  dem  Geoffenbarten  wenigstens  moralische 
Gewißheit  zu  geben." 

An  einer  andern  Stelle  scheint  er  diese  Behauptung  wie- 
der einzuschränken,  indem  er  sagt,  daß  es  einige,  wenn 
auch  sehr  wenige  gäbe,  welche  bloß  durch  den  Gebrauch 
der  Vernunft  zur  Tugend  gelangt  seien,  während  dagegen 
alle  übrigen  die  Offenbarung  absolut  notwendig  hätten. 
Diese  Widersprüche  lassen  sich  leicht  erklären,  wenn  man 
bedenkt,  daß  der  Tractatiis  theol.-poL  zu  einer  Zeit  er- 
schien, wo  Spinoza  wohl  die  Grundlinien  seines  Systems 
gezogen  haben  mochte,  aber  wahrscheinlich  noch  nicht 
alle  seine  Konsequenzen  entwickelt  hatte.  Außerdem  ist 
es  wohl  möglich,  daß  er  seine  Gedanken  noch  nicht  ganz 
unverhohlen  auszusprechen  wagte  und  dem  Glauben  noch 
Konzessionen  machte,  die  er  später  zurücknahm. 
Der  Spinozismus  ist  der  Enthusiasmus  der  Ma- 
thematik.   In  ihm  vollendet  und  schließt  sich  die  car- 


342     NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS,  SCHRIFTEN 

tesianische  Methode  der  Demonstration,  erst  in  ihm  ge- 
langt sie  zu  ihrer  völligen  Konsequenz.  Erst  unter  Voraus- 
setzung des  Cartesianismiis  erhält,  wie  ich  schon  gesagt 
habe,  der  Spinozismus  sein  wissenschaftliches  Fundament. 

Den  deutlichsten  Übergang  zwischen  beiden  Systemen 
hat  man  in  den  den  Principiis  philosophiac  Cartesianac 
angehängten  Cogitatis  metaphysicis.  Am  besten  aber  sieht 
man,  wie  Spinoza  durch  Cai'tesins  ergänzt  werden  müsse, 
in  der  Wissenschaftslehre  des  Spinoza;  dieselbe  ist 
größtenteils  in  dem  Tractatus  de  e7?iendatione  intellectiis 
enthalten.  Wir  entwickeln  sie  hier,  denn  erst  durch  sie 
erhält  die  Metaphysik  ihre  wissenschaftliche  Bedeutung. 
Doch  muß  ich  bemerken,  daß  die  erwähnte  Abhandlung 
imvollendet  geblieben  und,  wie  die  Vorrede  beweist,  noch 
nicht  gehörig  ausgearbeitet  und  geordnet  ist. 
Es  gibt  vier  Arten  von  Erkenntnis: 

1.  Erkenntnis  durch  das  Hören  und  willkürliche  Zeichen. 

2.  Erkenntnis  aus  unbestimmter  Erfahrung,  d.  h.  aus  einer 
Erfahrung,  welche  nicht  determinatiir  ab  Intellectu^  sondern 
uns  zufällig  aufstößt  und  uns  für  etwas  Gewisses  gilt,  weil 
wir  keine  andre  ihr  widersprechende  Tatsache  kennen. 

3 .  Erkenntnis  des  Wesens  einer  Sache,  welche  durch  einen, 
jedoch  nicht  adäquaten,  Schluß  aus  dem  Wesen  einer 
andern  Sache  erlangt  wird;  wie  dies  geschieht,  wenn  man 
von  einer  Wirkung  auf  die  Ursache  oder  von  dem  Allge- 
meinen, das  ja  doch  immer  irgendeine  Eigenschaft  ent- 
hält, auf  das  Besondre  schließt. 

4.  Erkenntnis  einer  Sache  aus  ihrer  bloßen  Essenz,  oder 
aus  ihren  nächsten  Ursachen;  wenn  ich  z.  B.  daraus,  daß 
ich  etwas  erkannt  habe,  weiß,  quid  Jioc  sit  aliqidd  nasse 
(was  es  heißt,  etwas  erkannt  haben,  oder  worin  das  Wesen 
der  Erkenntnis  besteht),  oder  wenn  ich  aus  dem  Wesen 
der  Seele  erkenne,  sie  sei  mit  dem  Körper  vereinigt. 
Nur  diese  vierte  Art  der  Erkenntnis  kann  zum  Erforschen 
der  Wahrheit  dienen,  denn  nur  sohis  qiiartus  modus  co?n- 
prehendit  (begreift)  essentiam  7-ei  adaequatam  et  ahsque 
erro7'is periculo;  ideoque  maxime  e}it  usurpandus.  [Tract.  de 
intellect.  VLI,  S.  10].  ^1 


SPINOZA  343 

Da  wir  nun  wissen,  welche  Kenntnis  uns  notwendig  ist 
(nämlich  die  des  Ewigen,  Gottes),  so  müssen  wir  den  Weg 
und  die  Methode  suchen,  mittelst  der  wir  die  unbekann- 
ten Dinge  durch  die  vierte  Erkenntnisweise  begreifen 
können.  Diese  Untersuchung  setzt  jedoch  nicht  voraus, 
daß  wir  von  der  Methode  wieder  die  Methode  aufsuchen 
müßten  imd  so  fort  ins  Unendliche,  denn  so  könnten  wir 
jnie  zu  einer  Erkenntnis  gelangen,  sed  inteUectus  vi  siia 
7uitivafacit  sibi  instrumenta  iiitellectuaUa . . .  [VL I,  S.  1 1]. 
Daran  schheßt  sich  nun  die  Untersuchung  über  die  Wahr- 
heit und  Falschheit  der  Ideen.  Unter  Wahrheit  der  Ideen 
versteht  Spinoza  zweierlei:  i.  die  logische  Richtigkeit 
einer  Idee,  ob  sie  nichts  Widersprechendes,  einander 
Aufhebendes  enthalte,  und  2.  die  objektive  Realität  oder 
die  Frage,  ob  der  Idee  in  der  WirkUchkeit  etwas  entspreche. 
Er  unterscheidet  also  zwischen  formaler  und  materia- 
ler Wahrheit.  Er  sagt:  denn  was  die  Form  des  Wahren 
anbelangt,  so  ist  es  gewiß,  daß  der  wahre  Gedanke  sich 
von  dem  falschen  nicht  nur  durch  ein  äußeres,  sondern 
zumeist  durch  ein  inneres  Verhältnis  unterscheide.  Denn 
sinnt  ein  Künstler  eine  Maschine  aus,  die  weder  je  exi- 
stiert hat  noch  je  existieren  wird,  so  ist  sein  Gedanke 
doch  wahr  und  der  nämliche,  diese  Maschine  mag  nun 
existieren  oder  nicht,  und  umgekehrt,  wenn  jemand  sagt: 
Peter  existiert,  ohne  zu  wissen,  ob  Peter  wirklich  existiert, 
so  ist  dieser  Gedanke  hinsichtlich  seines  Wissens  falsch 
oder  vielmehr  nicht  wahr,  obgleich  Peter  in  der  Wirklich- 
keit existiert.  Der  Ausspruch:  Peter  existiert,  ist  also  nur 
hinsichtlich  desjenigen  (für  den)  wahr,  welcher  wirklich 
weiß,  daß  Peter  existiert.  Es  folgt  daraus,  daß  es  in  den 
Ideen  selbst  etwas  Reales  gibt,  wodurch  die  wahren  sich 
von  den  falschen  unterscheiden;  dieses  Reale  muß  nun 
gesucht  werden,  damit  wir  die  beste  Norm  der  Wahrheit 
haben  und  die  Eigenschaften  unseres  Verstandes  erkennen. 
Man  sage  nicht,  dieser  Unterschied  rühre  daher,  daß  bei 
einem  wahren  Gedanken  die  Sache  durch  ihre  nächste 
Ursache  erkannt  wird,  denn  auch  der  Gedanke  ist  wahr, 
welcher  das  Wesen  eines  Prinzips  involviert,  das  keine 
Ursache  hat  und  durch  sich  und  in  sich  erkannt  wird.   Es 


344    NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

muß  daher  die  Form  des  wahren  Gedankens  in  dem  Ge- 
danken selbst  ohne  alle  Beziehung  auf  andere  liegen, 
nicht  das  Objekt  zur  Ursache  haben,  sondern  allein  von 
dem  Vermögen  und  Wesen  des  Verstandes  abhängen. 
Denn  wenn  wir  annehmen,  ein  Verstand  denke  sich  ein 
neues  Objekt,  was  niemals  existiert  hat  (so  wie  manche 
sich  den  Verstand  Gottes  vorstellen,  eh  er  die  Dinge 
schuf),  und  leite  aus  diesem  Gedanken  andere  Gedanken 
richtig  ab,  so  wären  alle  diese  Gedanken  wahr  und  hingen 
nur  von  dem  Vermögen  und  Wesen  des  Verstandes  ab, 
ohne  durch  irgendein  äußeres  Objekt  bedingt  zu  werden. 
Deshalb  muß  dasjenige,  was  die  Form  des  wahren  Ge- 
dankens ausmacht,  in  dem  Gedanken  selbst  gesucht  und 
von  dem  Wesen  des  Verstandes  hergeleitet  werden:  und 
die  Falschheit  besteht  also  nur  darin,  daß  etwas  von  einer 
Sache  ausgesagt  wird,  was  in  dem  Begriff,  den  wir  uns 
von  ihr  gebildet  haben,  nicht  enthalten  ist.  Es  folgt  dar- 
aus, daß  alle  einfachen  Gedanken  wahr  sein  müssen,  wie 
z.  B.  die  Idee  der  Bewegung,  der  Quantität  etc.;  denn 
die  Bejahungen,  welche  sie  enthalten,  erstrecken  sich 
nicht  über  ihren  Begriff  hinaus  und  entsprechen  dem- 
selben. Folglich  können  wir  ohne  Besorgnis  eines  Irr- 
tums einfache  Ideen  nach  Belieben  bilden. 
Nun  zur  materialen  Wahrheit.  Diese  Untersuchung  führt 
uns  zur  Identitätslehre  und  so  zur  Höhe  des  Spinozismus. 
Idea  ve7'a  {Jiabcmus  cnim  idcam  ve?'am)  est  diversum  quid  a 

siio  idcato Porro  cum  ratio,  quae  est  inter  duas  ideas, 

sit  eadem  cum  ratioiie idearum  [VL  I,  S.ii  — 14]. 

Resümieren  wir  also  dieses  Räsonnement.  Wir  haben 
wahre  Ideen.  Eine  matcrialiter  wahre  Idee  ist  eine  solche, 
deren  objektives  (subjektives)  Wesen  mit  dem  formalen 
(objektiven)  ihres  Objekts  übereinkommt,  mit  ihm  eins 
ist.  Die  materiale  Wahrheit  beruht  also  in  der  Identität 
des  Gedankens  mit  dem  Gedachten  (d.  h.  seinem  Objekt). 
W^as  aber  eine  wahre  Idee  sei,  erkennt  man  erst  aus 
dem  Besitz  einer  wahren  Idee.  Die  beste  Methode  ist  also 
diejenige,  welche  nicht  erst  nach  einer  wahren  Idee 
sucht,  denn  das  kann  sie  nicht,  sondern  die,  welche, 
nachdem  eine  wahre  Idee  gegeben,  nach  der  Norm  der- 


SPINOZA  345 

selben  die  übrigen  wahren  Ideen  sucht,  und  die  aller- 
beste diejenige,  welche  aus  der  Idee  des  höchsten  Wesens 
alle  übrigen  Ideen  ableitet.  Denn  so  wie  die  Idee  des 
höchsten  Wesens  eine  notwendige,  objektive  Realität  in- 
volviert, so  werden  auch  alle  diejenigen  Ideen,  welche 
richtig  aus  ihr  abgeleitet  werden,  die  nämliche  Notwen- 
digkeit involvieren,  und  werden  dann  aus  der  Idee  Gottes 
die  Ideen  von  den  Dingen  ebenso  entwickeln,  wie  die 
Dinge  aus  Gott  in  der  Wirklichkeit  hervorgegangen  sind. 
Der  Satz  Malebi-anchcs  von  dem  Schauen  aller  Dinge  in 
Gott,  mathematisch  demonstriert!! 

Vielleicht  ließe  sich  nach  diesem  Gedankengang  die  ganze 
Identitätslehre  Spinozas  an  den  Satz  knüpfen:  Wenn  Gott 
ist,  weil  wir  ihn  denken,  so  muß  offenbar  Denken  und 
Sein  eins  sein. 

Kulm  sagt  dagegen:  "Mir  kommt  es  vor,  als  drücke  man 
das  Prinzip  des  Spinozismus,  die  absolute  Erkenntnisart, 
nicht  in  seiner  höchsten  Form  aus,  wenn  man  sagt,  es  sei 
in  dem  Satze  enthalten,  daß  Denken  und  Sein  eins  sei. 
Dieser  Satz  scheint  mir  ein  abgeleiteter  zu  sein  und  die 
absolute  Erkenntnisart  des  Spinoza  in  der  intuitiven  Er- 
kenntnis des  absoluten  Seins,  außer  welchem  kein  anderes 
Sein  ist,  zu  liegen.  In  dieser  Erkenntnisart,  als  der  allein 
wahren,  liegt  auch  der  vollendetste  Widerspruch  gegen 
den  Reflexionsstandpunkt,  den  Spinoza  beabsichtigte  und 
auf  den  er  durch  Cartesms  geleitet  wurde.  Auf  dem  Re- 
flexionsstandpunkte gibt  es  wahrhaft  Verschiedenes,  Aus- 
einanderliegendes, Aufeinanderfolgendes:  auf  dem  Stand- 
punkte der  absoluten  Erkenntnisart  ist  überall  nur  eines, 
lauter  Licht,  kein  Schatten,  keine  Farbe  etc." 
Ich  glaube,  Kuhn  irrt  sich;  ich  habe  es  schon  einmal  ge- 
sagt, der  Spinozismus  ist  der  Enthusiasmus  der  Mathe- 
matik. Nur  mathematisch  gewisse  Erkenntnis  konnte  ihn 
befriedigen,  von  intuitiver  Erkenntnis  kann  bei  ihm  nicht 
die  Rede  sein!  Zeigt  ihm  einen  falschen  Schluß,  und  er 
läßt  sein  ganzes  System  fallen.  Alles,  Wissenschaftslehre 
und  Metaphysik,  hängt  an  dem  einen  Satz:  wir  können 
uns  das  vollkommne  Wesen  nicht  anders  als  seiend  den- 
ken, es  existiert  also  notwendigerweise.  Die  Wissenschafts- 


346     NATURVVISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

lehre,  denn  aus  ihr  gibt  sich  die  Identität  des  Denkens 
und  Seins;  die  Metaphysik,  denn  es  ist  die  einzige  Mög- 
lichkeit, die  Realität  eines  Objekts  zu  beweisen—,  und 
so  ist  das  ganze  metaphysische  System  eine  konsequente 
Entwicklung  dessen,  was  sich  aus  dem  Begriff  des  höchsten 
Wesens  herleiten  läßt^.  Bei  diesem  Satze  wird  jedoch 
immer  die  ganze  Schlußreihe,  die  demselben  im  carte- 
sianischen  System  vorhergeht,  vorausgesetzt,  und  daß 
Spinoza  ihn  nur  unter  dieser  Voraussetzung  annahm,  läßt 
sich  nachweisen;  in  seinem  Standpunkte  ist  also  nichts 
Neues  im  Verhältnis  zu  Cartesius.  So  sagt  er  in  den  Cogi- 
tatis  metaphysicis:  incipiamus  igitur  ab  ente,  per  quod  i?i- 
telligo  id  o?/me,  quod,  cum  clare  et  distincte  percipitur,  ne- 
cessario  cxistere  vel  minime  existere  passe  reperhnus  [VL  II, 
S.  462]. 

Dies  clare  et  distincte  sagt  genug;  er  fängt  da  an,  wo 
Ca?'tesius  bewiesen  hat,  daß  wir  nicht  irren  können,  wenn 
wir  etwas  klar  und  deutlich  erkannt  haben. 
Hierher  gehört  eine  Stelle  im  Tractatus  de  emendatione, 
welche  den  direktesten  Beweis  liefert:  Unde  sequitur,  nos 
no7i  posse  veras  ideas  in  dubium  vocare,  quod  forte  aliquis 
Deus  deceptor  existat  .  .  . ;  hoc  est,  si  .  .  .  nihil  i^iveniamus, 

quod  710S  doceat,  eum^  esse  deceptorem et,  modo  eam 

habeamus,  sufficiet  ad  tollendam,  uti  dixi,  omnem  duhitati- 
onem,  quam  de  ideis  claris  et  distinctis  habe?'e  possumus 
[VL  I,  S.  27].  So  wiederholt  also  Spinoza  nicht  nur  den 
Cartesius,  sondern  ergänzt  ihn  auch  noch,  indem  er  durch 
das  modo  eam  habenms  den  bekannten  Zirkel,  den  Cartesius 
in  seiner  Schlußreihe  macht,  zu  umgehen  sucht. 
Ich  sehe  also  keinen  neuen,  keinen  absoluten  Stand- 
punkt, in  der  Art,  wie  Spinoza  die  Identitätslehre  an  die 
Spitze  seines  Systems  stellt  (Ethic.  /,  Def.  L— Axiom. 
VI.,  VII.). 

Er  fängt  da  an,  wo  Cartesius  die  Identität  des  Gedankens 
mit  seinem  Objekt  aus  der  Wahrhaftigkeit  Gottes  schließt. 
Cartesius  war  so  gut  als  Spinoza  Identitätsphilosoph,  wie 

^  a.  R.:  So  sagt  Spinoza  De  enie.nd.  intell.'.   Quod  autein  attinet  od 

cognitionem  origmis  naturae praeter  quod  nullum  datur  esse 

[VLI,  S.  25  f.]. — 2  a.  R.:  [non,  wahrscheinlich  Druckfehler.) 


SPINOZA  347 

es    überhaupt   jeder   dogmatische   Philosoph   sein   muß. 

Spinoza  setzt  beständig  die  Schlußreihe   des  Cartesius, 

,  vom  cogito^  ergo  siim  an,  voraus,  die  er  nicht  wiederholte, 

]:  weil  er  sie  als  erwiesen  ansah—,  und  er  kann  es  nicht 

'  anders,  wenn  er  die  mathematische  Evidenz,  auf  die  er 

beständig  Anspruch  macht,  behaupten  will. 

Außer  dem  Erfordernis  der  Klarheit  und  Deutlichkeit  gibt 

übrigens  Spinoza   kein  Kriterium  der   material   wahren 

Ideen;   er  sagt  nur,   was  eine  wahre  Idee  sei,  lerne  man 

erst  aus  dem  Besitz  derselben  kennen.  {Unde  itenimpatet^ 

quod  ad  certitiidinevi  veritatis  niillo  alio  signo  sit  opus,  quam 

vcrani  habe?'e  ideam est  certitudo  et  essentia  objec- 

tiva  [VLI,  S.  12].) 

Doch  zieht  er  eine  scharfe  Linie  zwischen  dem  ens  reale 
und  dem  ens  rationis  und  ens  fietuin,  und  gibt  die  Unter- 
schiede zwischen  den  wahren  und  den  erdichteten,  fal- 
schen oder  zweifelhaften  Ideen  an.  Die  Untersuchung 
über  das  erstere  findet  sich  in  den  Cogitatis  vietaphys.  I. 
Cap.  I.:  Chimaet'a,  ens  fictum  et  ens  rationis  nullo  7nodo  ad 

Liitia  revoeari  possunt inservit  ad  res  hitellectas  faci- 

liiis  7'etinendas,  explieandas  atque  imaginandas  [VL  II, 
S.  462]. 

Zu  den  Denkweisen,  welche  ad  res  retinendas  dienen,  ge- 
hören die  Art-  und  Gattungsbegriffe,  ad  res  explieandas 
die  Begriffe  von  Zeit,  Zahl,  Maß  etc. 
Diese  Begriffe  selbst  aber  dienen  wieder  zur  Erklärung 
von  anderen  (Jiorum  auteni  tempus  inservit  durationi  ex- 
pUcandae,  numerus  quantitati  diseretae,  niensura  quantitati 
cojitinuae  [VL  II,  S.  462]. 
Causa  autem,  ob  quam  hi  niodi  eogitandi  pro  ideis  rerum 

habcntur dividunt  enim  Ens  in  Ens  et  Non-ens, 

auf  in  Ens  et  niodum  eogitandi  [VL  II,  S.  463]. 
Man  muß  sich  wohl  hüten,  die  entia  rationis  mit  dem  eiis 
reale  zu  verwechseln,  denn:  aliud  est  inqiärere  in  rerum 
naturam,  aliud  in  modos,  quibus  res  a  nobis  pereipiuntur 
[VL  II,  S.  464]. 

Das  übrige  wird  in  dem  Tract.  de  intell.  emendatioiie  ab- 
gehandelt. 
Die  eingebildete  Idee  unterscheidet  sich  von  der  falschen, 


348     NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

wie  aus  den  Cogitatis  metaphys.  hervorgeht,  dadurch,  daß 
die  erste  durch  einen  Akt  der  Willkür  und  mit  Bewußt- 
sein des  Irrigen  oder  wenigstens  des  Ungewissen  (indem 
ich  z.  B.  sage:  Peter  ist  zu  Haus,  ohne  daß  ich  weiß,  ob 
er  wirklich  zu  Haus  ist,  oder  wenn  ich  gar  das  Gegenteil 
weiß — letztes  ist  eigentlich  die  Lüge)  hervorgebracht  wird. 
{Ens  fictiim  nihil  aliud  est  quam  duo  tennini  connexi  ex 
sola  mera  voluntate^  sine  ullo  ductu  rationis.  Cog.  met.  I 
I.  [VL  II,  S.  464].  Ferner  De  intell.  eniend.-.  Nain  inter 
ideam  falsam  et  ficta77i  nulla  alia  datur  differentia  .  .  . 
[VLI,  S.  22].) 

Da  jede  Sache  entweder  unter  dem  Begriff  ihrer  Existenz 
oder  ihrer  Essenz  vorgestellt  wird,  so  beziehen  sich  auch 
alle  Erdichtungen  und  Irrtümer  auf  diese  beiden  Begriffe. 
Hinsichthch  des  ersteren,  des  Begriffs  der  Existenz,  können 
Dichtungen  und  Irrtümer  nur  bei  dem  Möglichen,  nicht 
bei  dem  Notwendigen  und  Unmöglichen  stattfinden.  Denn: 
rem  impossibilcm  voco,  cujus  natui'a  implicat  contradicti- 
onem,  ut  ea  existat;  necessariam^  cujus  natura  i^tiplicat 
contradictioncm,  ut  ea  non  existat;  possibilem,  cujus  qui- 
dem  existentia  .  .  .  non  implicat  contradictioncm  .  .  .  [De 
intell.  emcnd.^  VIv  I,  S.  17]. 

Absichtliche  Erdichtungen  (d.  h.  Lügen)  bestehen  darin, 
daß  ich  mitteist  des  Gedächtnisses  mich  an  Irrtümer  er- 
innere, die  ich  früher  hatte  oder  haben  konnte. 
Erdichtungen  und  Irrtümer  hinsichtlich  des  Unmöglichen 
sind  eigentlich  nicht  als  solche  zu  betrachten,  sondern 
sie  sind  eigentlich  durch  Abstraktion  hervorgebrachte 
vei-ae  ac  merae  asscrtiones. 

Was  die  Dichtungen  und  Irrtümer  hinsichtlich  der  Essenz 
der  Dinge  anbelangt,  so  ist  es  klar,  daß  die  Ideen  der 
Dinge  entweder  einfach  oder  aus  einfachen  Ideen  zu- 
sammengesetzt sein  müssen.  Eine  einfache  Idee  nun  kann 
nicht  falsch  sein,  also  kann  der  Irrtum  auch  nicht  in  eineri 
einfachen  Idee  bestehen,  sed  fit  ex  compositione  diversaruim 
idearum  confusarum^   quae  sunt  diversaruni   rcrum  atque^ 
actionum  in  natura  existentitun,  vel  melius  ex  attentione  si- 
mul  sine  assensu  ad  tales  diversas  ideas  [a.  a.  O.,  VL  I, 
S.  21].  Die  Verwirrung  entsteht  daraus,  daß  die  Vernunft 


SPINOZA  349 

ein  Ganzes  und  Zusammengesetztes  nur  teilweise  er- 
kennt, das  Bekannte  von  dem  Unbekannten  nicht  unter- 
scheidet und  auf  das  Mannigfaltige,  was  in  jeder  Sache 
enthalten  ist,  auf  einmal  ohne  alle  Unterscheidung  reflek- 
tiert. Wenn  nur  die  erste  Idee  nicht  falsch  oder  erdichtet 
ist  und  aus  ihr  die  übrigen  richtig  hergeleitet  werden,  so 
wird  aller  Intum  vermieden. — Es  ist  daher  nicht  zu  be- 
sorgen, daß  man  etwas  erdichte,  solange  man  eine  Sache 
klar  und  deutlich  vorstellt. 

Was  nun  die  zweifelhaften  Ideen  anbelangt,  so  findet  kein 
Zweifel  an  und  für  sich  in  der  Seele  statt:  Jioc  est,  si  tan- 
tum  unica  sit  idea  in  anima,  sive  ea  sit  Vera  sive  falsa,  niiUa 
dalntiir  dubitatio,  neqiie  etiam  certitudo,  sed  tantm?i  talis 
saisatio  [VL  I,  S.  26].  Der  Zweifel  entsteht  erst  durch 
eine  andere  Idee,  welche  nicht  so  klar  und  deutlich  ist, 
daß  wir  aus  ihr  etwas  Gewisses  hinsichtlich  der  bezwei- 
felten Sache  schließen  können,  d.h.  die  Idee,  welche  uns 
zum  Zweifel  brachte,  ist  nicht  klar  und  deutlich.  Daraus 
folgt,  daß  wir  wahre  Ideen  nicht  in  Zweifel  ziehen  können, 
ij II od  forte  aUqiiis  Dens  deceptor  existat  (s.  S.  346). 

Diibitatio  nihil  aliud  est  quam  suspensio  animi [VL  I, 

S.  27]. 

Die  erdichteten,  falschen  und  zweifelhaften  Ideen  haben 
ihren  Grund  in  der  Einbildungskraft,  d.  h.  sie  entstehen 
durch  gewisse  zufällige  und  losgerißne  Eindrücke,  welche 
nicht  aus  dem  Vermögen  der  Seele  selbst  hervorgehen, 
sondern  durch  äußere  Ursachen  bedingt  werden,  je  nach- 
dem der  Körper  im  Schlaf  oder  im  Wachen  verschiedne 
Eindrücke  empfängt.  Vel  si placet,  Mc  per  imagifiationem, 
quicquid  velis,  cape,  modo  sit  quid  diversum  ab  intellectu,  et 
Hilde  anima  habeat  rationem  patientis  [VL  I,  S.  28  f.]. 

Deinde  cum  verba  sint  pars  imaginationis et  nomina 

positiva  usurparunt  [VL  I,  S.  29  f.]. 

Alles  bisher  Gesagte  gehört  zum  ersten  Teil  der  Methode — 

was  soll  im  zweiten  behandelt  werden.^:  Scopus  est  ciaras 

et  distinctas  habere  ideas  .  .  .  Z>einde,  omnes  ideae  ad  unam 

ut  rcdigantur  .  .  ,  [VL  I,  S.  30]. 

Zu  dem  ersten  gehört  nun,  daß  man  die  Dinge  entweder 

bloß  aus  ihrem  Wesen  (Essenz)  oder  ihrer  nächsten  Ur- 


350    NATUR WISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

Sache  begreift.  Ist  das  Ding  in  sich  oder,  wie  man  ge- 
wöhnhch  sagt,  Ursache  seiner  selbst,  so  muß  es  aus  seinem 
Wesen  begrifien  werden;  ist  es  aber  nicht  in  sich,  son- 
dern erfordert  es  eine  Ursache,  so  muß  es  aus  dieser 
nächsten  Ursache  begriffen  werden.  Daraus  geht  hervor, 
daß  wir  nie  etwas  aus  Abstrakten  schließen  dürfen  und 
daß  wir  uns  sehr  hüten  müssen,  das,  was  nur  in  dem 
Verstand  ist,  mit  dem,  was  in  den  Dingen  ist,  zu  ver- 
wechseln. Sed  optima  conclusio  erit  depromenda  ab  essentia 
aliqua  particulari  afßnnativa,  sive  a  vera  et  kgitima  dc- 
finitione  [VL  I,  S.  31].  Denn  von  den  allgemeinen  Axio- 
men kann  der  Verstand  nicht  bis  zu  dem  Einzelnen  dringen, 
da  die  Axiome  sich  auf  das  Unendliche  beziehen  und  den 
Geist  nicht  mehr  zum  Betrachten  eines  Besondern,  als 
eines  Andern,  bestimmen.  Daher  besteht  der  rechte  Weg 
darin,  aus  einer  gegebnen  Definition  Gedanken  bilden, 
und  dies  wird  um  so  glücklicher  und  leichter  von  statten 
gehn,  je  besser  wir  eine  Sache  definiert  haben. 
Eine  vollkommne  Definition  muß  das  innerste  Wesen  einer 
Sache  erklären,  aber  nicht  statt  desselben  nur  einige  be- 
sondere Eigentümlichkeiten  angeben.  Zu  einer  guten  De- 
finition ist  also  folgendes  erforderlich: 
Ist  der  Gegenstand  ein  erschafifnes  Ding,  so  muß  i.  in 
der  Definition  seine  nächste  Ursache  enthalten  sein; 
2.  die  Definition  muß  von  der  Art  sein,  daß  man  von  ihr 
auf  alle  Eigenschaften  des  Dinges  schließen  kann. 
Ist  der  Gegenstand  ein  unerschaffnes  Ding,  so  muß  i.  die 
Definition  jede  Ursache  ausschließen,  d.  h.  das  Objekt 
hat  zu  seiner  Erklärung  nichts  andres  als  sein  eignes  Sein 
nötig;  2.  es  muß  durch  die  Definition  die  Möglichkeit  der 
Frage,  ob  das  Ding  sei,  aufgehoben  sein;  3.  sie  darf,  dem 
Sinn  nach,  keine  Substantive  gebrauchen,  welche  adjek- 
tivisch genommen  werden  können,  d.  h.  sie  darf  durch; 
keine  ahstracta  erklären;  4.  endlich  müssen  alle  Eigen- 
schaften des  Dinges  aus  der  Definition  folgen. 
Was  das  zweite,  nämlich  die  Ordnung  und  Verknüpfung 
unsrer  Erkenntnisse  anbelangt,  so  müssen  wir  so  bald  als 
möglich  suchen,  ob  es  ein  Wesen  gibt  und  welches,  das 
die  Ursache  aller  Dinge  und  dessen  objektives  Wesen 


SPINOZA  351 

auch  die  Ursache  aller  unsrer  Ideen  sei;  denn  alsdann 
wird  unser  Geist  so  weit  als  möglich  die  Natur  wieder- 
geben, denn  sie  wird  ihr  Wesen,  ihre  Ordnung  und  Ver- 
bindung objektiv  besitzen.  Dazu  ist  es  nötig,  daß  wir  alle 
i  unsre  Ideen  von  physischen,  d.  i.  realen  Dingen  ableiten, 
indem  wir  so  weit  als  möglich  nach  der  Reihe  der  Ur- 
sachen von  einem  Realen  zum  andern  fortschreiten.  Unter 
der  Reihe  der  Ursachen  und  realen  Wesen  verstehe  ich 
aber  hier  nicht  die  Reihe  der  einzelnen,  veränderlichen 
Dinge,  sondern  nur  die  der  ewigen  und  unveränderHchen. 
Denn  der  menschlichen  Schwäche  ist  es  nicht  vergönnt, 
die  Reihe  der  veränderlichen  Dinge  zu  verfolgen,  wegen 
ihrer  jede  Zahl  übersteigenden  Menge  und  wegen  der  un- 
zählichen  Umstände,  die  machen  können,  daß  eine  Sache 
sei  oder  nicht,  da  ja  die  Existenz  derselben  nicht  zu  ihrem. 
Wesen  gehört.  Auch  ist  dies  nicht  nötig,  da  ja  das  Wesen 
der  veränderlichen  Dinge  nicht  von  dieser  Reihe,  die  uns 
nichts  anders  darbietet  als  äußere  Benennungen,  Verhält- 
nisse und  Umstände,  sondern  von  den  unveränderlichen 
und  ewigen  Dingen  herzuleiten  ist,  nach  deren  Gesetzen 
alle  einzelnen  Dinge  entstehen  und  geordnet  werden,  und 
so  wesentlich  von  ihnen  abhängen,  daß  sie  ohne  dieselben 
weder  sein  noch  begriffen  werden  können.  Utide  haec  fixa 
et  aeterna  .  .  .  [VL  I,  S.  33]. 

Die  Reihe  der  einzelnen  Dinge  nun  zu  finden,  ist  höchst 
schwierig;  denn  alle  zugleich  zu  umfassen,  übersteigt,  wie 
schon  gesagt,  die  menschlichen  Kräfte,  und  auf  der  an- 
dern Seite  kann  man  sie  auch  wieder  nicht  von  den 
ewigen  Dingen  herleiten.  31  em?n  omnia  haec  sunt  simul 
natura  [VL  I,  S.  34].  Wir  müssen  uns  daher  nach  andern 
Hülfsmitteln  umsehen  und  womöglich  durch  richtigen  Ge- 
brauch der  Sinne,  durch  die  Erfahrung  auf  den  rechten 
Weg  zu  kommen  suchen. 

Was  dagegen  die  Erkenntnis  der  ewigen  Dinge  anbelangt, 
so  haben  wir,  um  zu  ihr  zu  gelangen,  nichts  nötig,  als 
daß,  wenn  wir  unsre  Aufmerksamkeit  auf  einen  Gedanken 
richten,  wir  denselben  durchdenken  und  alle  Folgen  ent- 
wickeln, welche  sich  aus  ihm  ergeben.  Ist  er  falsch,  so 
wird  sich  die  Falschheit  alsdann  ergeben,  ist  er  richtig. 


35  2     NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

so  wird  man  ohne  Unterbrechung  fortfahren,  die  wahren 
Ideen  daraus  herzuleiten. 

Wollen  wir  nun  das  erste  aller  Dinge  untersuchen,  so 
haben  wir  dazu  ein  Fundament  nötig.  Da  aber  die  Me- 
thode die  reflexive  Erkenntnis  ist,  so  kann  dies  Funda- 
ment nichts  anders  sein  als  die  Erkenntnis  dessen,  was 
die  Form  der  Wahrheit  ausmacht  und  die  Erkenntnis  des 
Verstandes  {intellectus\  seiner  Eigenschaften  und  seiner 
Kräfte. 

Die  Form  der  Wahrheit  ist  bereits  abgehandelt;  was  da- 
gegen letzte  anbelangt,  so  merke  man  sich:  intellectus 
prop7'ietates  haec  sunt:  .  .  .  [folgt,  z.  T.  gekürzt,  die  Auf- 
zählung I — VIII  aus  dem  letzten  Teil  des  Tracf.  de  intell. 
emend.:  VL  I,  S.  35  f.]- 
Ideae  fictae  et  falsac  nihil positivum  Jiahcrtt [VE  I, 

8.36]- 

Hinsichtlich  der  Frage,  wie  falsche  Ideen  in  uns  über- 
haupt entstehen  können,  tut  Spinoza  eine  Äußerung, 
welche  mir  für  sein  System  von  Bedeutung  erscheint: 
Quod  si  de  natura  entis  cogitantis  sit^  cogitationes  veras  sive 
adaequutas  formare,  certum  esty  ideas  inadaequatas  ex  eo 
tantum  in  nobis  oriri^  quod  pars  sumus  alicujus  entis  cogi- 
tantis^ cujus  quaedani  cogitationes  ex  toto,  quacdam  ex  parte 
tantum  nosti'am  7nentem  constituunt  [VL  I,  S,  25]. 
Sollen  also  die  wahren  und  deutlichen  Ideen  diejenigen 
sein,  welche  ex  toto  die  Seele  bilden,  und  die  undeut- 
lichen und  falschen  die  ex  parte^  Dagegen  sagt  er  an 
einem  andern  Ort,  die  unklaren  Ideen  entstünden  ohne 
unsern  Willen;  also  durch  etwas  in  uns,  über  das  wir 
nicht  Herr  sind.  Ist  das  nicht  ein  Widerspruch? 
Überhaupt  ist  die  ganze  in  dem  Tractatus  de  einend,  an- 
gestellte Untersuchung  höchst  mangelhaft  und  zum  Teil 
verworren;  nur  das,  was  am  deutlichsten  hervortritt,  ist 
die  Wissenschaftslehre  und  die  Angabe  der  Methode,  wo- 
nach er  sein  System  einrichtete. 


ÜBER  SCHÄDELNERVEN 
PROBEVORLESUNG  IN  ZÜRICH 


bÜCHMER 


)  355  c 
Hochgeachtete  Zuhörer! 

ES  treten  uns  auf  dem  Gebiete  der  physiologischen 
und  anatomischen  Wissenschaften  zwei  sich  gegen- 
überstehende Grundansichten  entgegen,  die  sogar  ein  na- 
tionelles  Gepräge  tragen,  indem  die  eine  in  England  und 
Frankreich,  die  andere  in  Deutschland  überwiegt.  Die 
erste  betrachtet  alle  Erscheinungen  des  organischen  Le- 
bens vom  teleologischen  Standpunkt  aus;  sie  findet 
die  Lösung  des  Rätsels  in  dem  Zweck,  der  Wirkimg,  in 
dem  Nutzen  der  Verrichtung  eines  Organs.  Sie  kennt  das 
Individuum  nur  als  etwas,  das  einen  Zweck  außer  sich 
erreichen  soll,  und  nur  in  seiner  Bestrebung,  sich  der 
Außenwelt  gegenüber  teils  als  Individuum,  teils  als  Art 
zu  behaupten.  Jeder  Organismus  ist  für  sie  eine  ver- 
wickelte Maschine,  mit  den  künstlichen  Mitteln  ver- 
sehen, sich  bis  auf  einen  gewissen  Punkt  zu  erhalten. 
Das  Enthüllen  der  schönsten  und  reinsten  Formen  im 
Menschen,  die  Vollkommenheit  der  edelsten  Organe,  in 
denen  die  Psyche  fast  den  Stoff  zu  durchbrechen  und  sich 
hinter  den  leichtesten  Schleiern  zu  bewegen  scheint,  ist 
für  sie  nur  das  Maximum  einer  solchen  Maschine.  Sie 
macht  den  Schädel  zu  einem  künstlichen  Gewölbe  mit 
Strebepfeilern,  bestimmt,  seinen  Bewohner,  das  Gehirn, 
zu  schützen,— Wangen  und  Lippen  zu  einem  Kau-  und 
Respirationsapparat, — das  Auge  zu  einem  komplizierten 
Glase,— die  Augenlider  und  Wimpern  zu  dessen  Vor- 
hängen;— ja  die  Träne  ist  nur  der  Wassertropfen,  welcher 
es  feucht  erhält.  Man  sieht,  es  ist  ein  weiter  Sprung  von 
da  bis  zu  dem  Enthusiasmus,  mit  dem  Lavater  sich  glück- 
lich preist,  daß  er  von  so  was  Göttlichem  wie  den  Lippen 
reden  dürfe. 

Die  teleologische  Methode  bewegt  sich  in  einem  ewigen 
Zirkel,  indem  sie  die  Wirkungen  der  Organe  als  Zwecke 
voraussetzt.  Sie  sagt  zum  Beispiel:  Soll  das  Auge  seine 
Funktion  versehen,  so  muß  die  Hornhaut  feucht  erhalten 
werden,  und  somit  ist  eine  Tränendrüse  nötig.  Diese  ist 
also  vorhanden,  damit  das  Auge  feucht  erhalten  werde, 
und  somit  ist  das  Auftreten  dieses  Organs  erklärt;  es  gibt 
nichts  weiter  zu  fragen.   Die   entgegengesetzte  Ansicht 


3S6     NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

sagt  dagegen:  die  Tränendrüse  ist  nicht  da,  damit  das 
Auge  feucht  werde,  sondern  das  Auge  wird  feucht,  weil 
eine  Tränendrüse  da  ist,  oder,  um  ein  anderes  Beispiel 
zu  geben,  wir  haben  nicht  Hände,  damit  wir  greifen  kön- 
nen, sondern  wir  greifen,  weil  wir  Hände  haben.  Die 
größtmöglichste  Zweckmäßigkeit  ist  das  einzige  Gesetz 
der  teleologischen  Methode;  nun  fragt  man  aber  natürlich 
nach  dem  Zwecke  dieses  Zweckes,  und  so  macht  sie  auch 
ebenso  natürlich  bei  jeder  Frage  einen  progressus  in  in- 
finitum. 

Die  Natur  handelt  nicht  nach  Zwecken,  sie  reibt  sich 
nicht  in  einer  unendlichen  Reihe  von  Zwecken  auf,  von 
denen  der  eine  den  anderen  bedingt;  sondern  sie  ist  in 
allen  ihren  Äußerungen  sich  unmittelbar  selbst  genug. 
Alles,  was  ist,  ist  um  seiner  selbst  willen  da.  Das  Gesetz 
dieses  Seins  zu  suchen,  ist  das  Ziel  der,  der  teleologi- 
schen gegenüberstehenden  Ansicht,  die  ich  die  philo- 
sophische nennen  will.  Alles,  was  für  jene  Zweck  ist, 
wird  für  diese  Wirkung.  Wo  die  teleologische  Schule 
mit  ihrer  Antwort  fertig  ist,  fängt  die  Frage  für  die  philo- 
sophische an.  Diese  Frage,  die  uns  auf  allen  Punkten  an- 
redet, kann  ihre  Antwort  nur  in  einem  Grundgesetze  für 
die  gesamte  Organisation  finden,  und  so  wird  für  die 
philosophische  Methode  das  ganze  körperliche  Dasein 
des  Individuums  nicht  zu  seiner  eigenen  Erhaltung  auf- 
gebracht, sondern  es  wird  die  Manifestation  eines  Ur- 
gesetzes,  eines  Gesetzes  der  Schönheit,  das  nach  den  ein- 
fachsten Rissen  und  Linien  die  höchsten  und  reinsten 
Formen  hervorbringt.  Alles,  Form  und  Stoff,  ist  für  sie 
an  dies  Gesetz  gebunden.  Alle  Funktionen  sind  Wir- 
kungen desselben;  sie  werden  durch  keine  äußeren  Zwecke 
bestimmt,  und  ihr  sogenanntes  zweckmäßiges  Aufein- 
ander- und  Zusammenwirken  ist  nichts  weiter  als  die 
notwendige  Harmonie  in  den  Äußerungen  eines  und  des- 
selben Gesetzes,  dessen  Wirkungen  sich  natürlich  nicht 
gegenseitig  zerstören. 

Die  Frage  nach  einem  solchen  Gesetze  führte  von  selbst 
zu  den  zwei  Quellen  der  Erkenntnis,  aus  denen  der  En- 
thusiasmus des  absoluten  Wissens  sich  von  je  berauscht 


ÜBER  SCHÄDELNERVEN  357 

hat,  der  Anschauung  des  Mystikers  und  dem  Dogmatismus 
des  Vernunftphilosophen.  Daß  es  bis  jetzt  gelungen  sei, 
zwischen  letzterem  und  dem  Naturleben,   das   wir  un- 
mittelbar wahrnehmen,  eine  Brücke  zu  schlagen,  muß  die 
Kritik  verneinen.  Die  Philosophie  a  priori  sitzt  noch  in 
einer  trostlosen  Wüste;  sie  hat  einen  weiten  Weg  zwi- 
schen sich  und  dem  frischen  grünen  Leben,  und  es  ist 
1  eine  große  Frage,   ob  sie  ihn  je  zurücklegen  wird.  Bei 
I  den  geistreichen  Versuchen,  die  sie  gemacht  hat,  weiter 
\  zu  kommen,  muß  sie  sich  mit  der  Resignation  begnügen, 
j  bei  dem  Streben  handle  es  sich  nicht  um  die  Erreichung 
]  des  Ziels,  sondern  um  das  Streben  selbst. 
j  War  nun  auch  nichts  absolut  Befriedigendes  erreicht,  so 

I  genügte  doch  der  Sinn  dieser  Bestrebungen,  dem  Natur- 
studium eine  andere  Gestalt  zu  geben;  und  hatte  man 
f  auch  die  Quelle  nicht  gefunden,  so  hörte  man  doch  an 
I  vielen  Stellen  den  Strom  in  der  Tiefe  rauschen,  und  an 
I  manchen  Orten  sprang  das  Wasser  frisch  und  hell  auf. 
j  Namentlich  erfreuten  sich  die  Botanik  und  Zoologie,  die 
Physiologie  und  vergleichende  Anatomie  eines  bedeuten- 
den Fortschritts.  In  einem  ungeheuren,  durch  den  Fleiß 
von  Jahrhunderten  zusammengeschleppten  Material,  das 
kaum  unter  die  Ordnung  eines  Kataloges  gebracht  war, 
bildeten  sich  einfache,  natürliche  Gruppen;  ein  Gewirr 
seltsamer  Formen  unter  den  abenteuerlichsten  Namen 
löste  sich  im  schönsten  Ebenmaß  auf;  eine  Masse  Dinge, 
die  sonst  nur  als  getrennte,  weit  auseinander  liegende 
Facta  das  Gedächtnis  beschwerten,  rückten  zusammen, 
entwickelten  sich  auseinander  oder  stellten  sich  in  Gegen- 
sätzen gegenüber.  Hat  man  auch  nichts  Ganzes  erreicht, 
so  kamen  doch  zusammenhängende  Strecken  zum  Vor- 
schein, und  das  Auge,  das  an  einer  Unzahl  von  Tatsachen 
ermüdet,  ruht  mit  Wohlgefallen  auf  so  schönen  Stellen 
wie  die  Metamorphose  der  Pflanze  aus  dem  Blatt,  die 
Ableitung  des  Skeletts  aus  der  Wirbelform,  die  Meta- 
morphose, ja  die  Metempsychose  des  Fötus  während  des 
Fruchtlebens,  die  Repräsentationsidee  O^ens  in  der  Klassi- 
fikation des  Tierreichs  u.  dgl.  m.  In  der  vergleichenden 
Anatomie  strebte  alles  nach  einer  gewissen  Einheit,  nach 


358     NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

dem  Zurückführen  aller  Formen  auf  den  einfachsten  pri- 
mitiven Typus.  [Klar  war  man  sich  über  die  Bejdeutung 
der  Gebilde  des  vegetativen  [Nervensystems  für  die  Aus- 
bildung] des  Skeletts;  nur  für  das  [Gehirn  ließ  sich  bis] 
jetzt  kein  so  glückliches  Resultat  zeigen.  [Wenn  Okeii]  ge- 
sagt hatte:  der  Schädel  ist  eine  Wirbelsäule,  so  mußte 
man  auch  sagen:  das  Hirn  ist  ein  metamorphosiertes 
Rückenmark,  und  die  Hirnnerven  sind  Spinalnerven.  Wie 
aber  dies  im  einzelnen  nachzuweisen  sei,  bleibt  bis  jetzt 
ein  schweres  Rätsel.  Wie  können  die  Massen  des  Ge- 
hirns auf  die  einfache  Form  des  Rückenmarks  zurückge- 
führt werden?  Wie  kann  man  die  in  ihrem  Ursprung  und 
Verlauf  so  verwickelten  Nerven  des  Gehirns  mit  den  so 
gleichmäßig  mit  ihrer  doppelten  Wurzelreihe  längs  des 
Rückenmarks  entspringenden  und  im  ganzen  so  einfach 
und  regelmäßig  verlaufenden  Spinalnerven  vergleichen, 
und  wie  endlich  ihr  Verhältnis  zu  den  Schädelwirbeln 
dartun?  Mancherlei  Antworten  wurden  auf  diese  Fragen 
versucht.  Eine  besondere  Mühe  verwendete  Carus  dar- 
auf. Hier  die  Art,  wie  er  die  Hirnnerven  in  seinem  Werke 
,,Von  den  Urteilen  des  Knochen-  und  Schalengerüstes- 
ordnet.  Das  Gehirn  hat  nach  ihm  drei  Hauptanschwele 
lungen:  die  Hemisphären,  die  Vierhügel  und  das  klein" 
Gehirn.  Diesen  entsprechen  drei  Paar  Schädelnerven. 
Jeder  Schädelnerv  entspringt  gleich  den  Spinalnerven  mit 
zwei  Wurzeln,  einer  hinteren  und  einer  vorderen,  die 
sich  aber  nicht  zu  einem  gemeinschaftlichen  Stamm  ver- 
einigen, sondern  jede  für  sich  einen  eigentümlichen  Ner- 
ven bilden.  Die  drei  hinteren  Wurzeln  sind  nun  der 
Riech-,  Seh-  und  Hörnerv,  die  vorderen  dagegen  das 
fünfte  Paar,  entsprechend  dem  Sehnerven,  und  das  zehnte 
Paar,  entsprechend  dem  Hörnerven,  während  die  vordere 
Wurzel  des  [Riechnerven  durch  das  Infundibulum]  nur 
rudimentär  angedeutet  ist.  [Die  übrigen  Hirnnerven  er- 
weisen] sich  als  Unterabteilungen  dieser  [Hauptstämme. 
So  zerfällt  die  hintere]  Wurzel  des  zweiten  Schädelnerven 
[in  den  opticus  und  patheticus]  und  die  vordere  in  den 
facialis,  oculomotorius  [abducens  und  den]  eigentlichen 
trigeminus,  und  so  zerfällt  die  vordere  Wurzel  des  dritten 


ÜBER  SCHÄDELNERVEN  359 

Schädelnerven  in  den  glossopharyngeus,  hypoglossus,  ac- 
cessorius  Willis  und  eigentlichen  vagus.  Man  braucht  nur 
aufmerksam  zu  machen,  wie  unpassend  es  sei,  zwei  so 
deutliche  Empfindungsnerven  wie  den  vagus  und  trige- 
minus  zu  isolierten  motorischen  Wurzeln  zu  machen,  um 
das  Ungenügende  dieser  Anordnung  nachzuweisen.  Der 
bedeutendsteVersuch  ist  wohl  der,  welchen ^r/z^/^  machte. 
Er  zählt  zwei  Schädelwirbel;  daraus  ergeben  sich  zwei 
Intervertebrallöcher  und  somit  zwei  Paar  Schädelnerven. 
Die  vordere  oder  die  motorische  Wurzel  des  ersten  Schädel- 
nerven bildet  die  drei  Muskelnerven  des  Auges  und  die 
kleine  Portion  des  trigeminus;  die  hintere  dagegen  die 
große  Portion  dieses  Nerven.  Was  den  zweiten  Schädel- 
nerven betrifft,  so  geht  seine  vordere  Wurzel  in  den  hypo- 
glossus und  den  Beinerven  und  seine  hintere  in  den  vagus 
über.  Die  Knoten  des  vagus  und  trigeminus  entsprechen 
den  Spinalknoten.  Der  facialis  wird  zum  vorderen,  der 
glossopharyngeus  zum  hinteren  Schädelnerven  gerechnet, 
ohne  daß  sie  jedoch  einer  von  beiden  Wurzeln  beigezählt 
würden;  sondern  sie  werden  als  gemischte,  aus  Bewegungs- 
und Empfindungsfäden  zusammengesetzte  Nerven  betrach- 
tet. Die  obere  Augenhöhlenspalte  und  das  zerrissene  Loch 
bilden  die  zwei  Intervertebrallöcher;  das  ovale  und  runde 
Loch  werden  als  zu  der  ersteren,  das  Gelenkhügelloch  als 
zu  dem  letzteren  gehörig  [betrachtet.  Die  Nerven  des  Ge- 
sichts], Geruchs  und  Gehörs  machen  [eine  besondere 
Gruppe  aus;  sie]  werden  nicht  als  eigentliche  [Hirnnerven, 
sondern  als  Ausstülpungen  des  Gehirns  betrachtet,  [eine 
Anschauung,  die]  auf  ihre  Entwicklung  beim  Fötus,  ihren 
Mangel  an  Knoten,  die  den  Spinalknoten  entsprächen,  und 
auf  ihr  Unvermögen,  eine  andere  Empfindung  als  die  ihres 
eigentümlichen  Sinnes  zur  Erkenntnis  zu  bringen,  basiert 
wird.  Gegen  diese  Einteilung,  welche  sich,  wie  man  auf 
den  ersten  Blick  sieht,  im  höchsten  Grade  durch  ihre 
Einfachheit  empfiehlt,  erheben  sich  jedoch  mehrere  be- 
deutende Gründe,  namentlich  macht  das  Absondern  der 
drei  höheren  Sinnesnerven  Schwierigkeiten.  Die  passive 
Seite  des  Nervenlebens  erscheint  unter  der  allgemeinen 
Form  der  Sensibilität;  die  sogenannten  einzelnen  Sinne 


36o    NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

sind  nichts  als  Modifikationen  dieses  allgemeinen  Sinnes, 
Sehen,  Hören,  Riechen,  Schmecken  sind  nur  die  feineren 
Blüten  desselben.  So  ergibt  es  sich  aus  der  stufenweisen 
Betrachtung  der  Organismen.  Man  kann  Schritt  für  Schritt 
verfolgen,  wie  von  dem  einfachsten  Organismus  an,  wo 
alle  Nerventätigkeit  in  einem  dumpfen  Gemeingefühl  be- 
steht, nach  und  nach  besondere  Sinnesorgane  sich  ab- 
gliedern und  ausbilden.  Ihre  Sinne  sind  nichts  neu  Hin- 
zugefügtes, sie  sind  nur  Modifikationen  in  einer  höheren 
Potenz.  Das  nämliche  gilt  natürlich  von  den  Nerven, 
welche  ihre  Funktionen  vermitteln;  sie  erscheinen  unter 
einer  vollkommneren  Form  als  die  übrigen  Empfindungs- 
nerven,  ohne  deswegen  ihren  ursprünglichen  Typus  zu 
verlieren.  Jeder  Empfindungsnerv  charakterisiert  sich  aber 
bei  den  Wirbeltieren  als  ein  aus  den  hinteren  Mark- 
strängen entspringendes  Wurzelbündel,  und  somit  sind 
die  drei  höheren  Sinnesnerven  nichts  weiter  als  isoliert 
gebliebne  sensible  Wurzeln.  Bei  den  Fischen  wird  dies 
Verhalten  ziemlich  deutlich,  und  bei  den  Cyprinen  glaube 
ich  ihren  Ursprung  von  den  hinteren  Marksträngen  oder 
den  oberen  Pyramiden  gleich  den  übrigen  Empfindungs- 
nerven nachgewiesen  zu  haben.  Übrigens  würde  mich  die 
weitere  Diskussion  dieser  Frage,  über  die  noch  vieles  zu 
sagen  wäre,  zu  weit  führen. 

...  Es  dürfte  wohl  immer  verg[eblich  sein,  die  Lösung 
des  Problems  in  der]  verwickeltsten  Form,  nämlich  bei 
dem  [Menschen  zu  versuchen.]  Die  einfachsten  Formen 
leiten  immer  am  sichersten,  [weil  in]  ihnen  sich  nur  das 
Ursprüngliche,  absolut  Notwendige  zeigt.  Diese  einfache 
Form  bietet  uns  nun  die  Natur  für  dieses  Problem  ent- 
weder vorübergehend  im  Fötus  oder  stehen  geblieben, 
selbständig  geworden,  in  den  niedern  Wirbeltieren  dar. 
Die  Formen  wechseln  jedoch  beim  Fötus  so  rasch  und 
sind  oft  nur  so  flüchtig  angedeutet,  daß  man  nur  mit  der 
größten  Schwierigkeit  zu  einigermaßen  genügenden  Re- 
sultaten gelangen  kann,  während  sie  bei  den  niedrigen 
Wirbeltieren  zu  einer  vollständigen  Ausbildung  gelangen 
und  uns  so  die  Zeit  lassen,  sie  in  ihrem  einfachsten  und 


LTBER  SCHADELNERVEN  361 

bestimmtesten  Typus  zu  studieren.  Es  fragt  sich  also  in 
imserem  Falle:  Welche  Schädelnerven  treten  bei  den 
niedrigsten  Wirbeltieren  zuerst  auf?  wie  verhalten  sie  sich 
zu  den  Himmassen  und  den  Schädel  wirbeln?  und  nach 
welchen  Gesetzen  wird,  die  Reihe  der  Wirbeltiere  durch 
bis  zum  Menschen,  ihre  Zahl  vermehrt  oder  vermindert, 
ihr  Verlauf  einfacher  oder  verwickelter?  Faßt  man  nun 
die  Tatsachen,  welche  die  Wissenschaft  uns  bis  jetzt  an 
die  Hand  gibt,  zusammen,  so  findet  man  neun  Paar  Schä- 
delnerven, nämlich  den  olfactivus,  opticus,  die  drei  Mus- 
kelnerven des  Auges,  den  trigeminus,  acusticus,  vagus 
und  hypoglossus  bei  allen  Klassen  der  Wirbeltiere,  wäh- 
rend die  drei  [übrigen  Schädelnerven,  nämlich  der  facialis, 
glossopharyngeus]  und  accessorius  Willisii,  bald  [als  selb- 
ständige Nerven  ausgebildet  sind,  bald]  nur  als  Äste  des 
vagus  [oder  des  trigeminus  auftreten,]  oder  gänzlich  ver- 
schwinden. [So  tr]itt  bei  den  Fischen  der  facialis  als 
der  Deckelast  des  5 .  Paares  auf,  verschwindet  dann  bei 
der  Mehrzahl  der  Reptilien  und  Vögel,  und  zeigt  sich 
wieder  bei  den  Säugetieren  in  dem  Maße,  als  die  Phy- 
siognomie mehr  Ausdruck  bekommt  und  die  Nasenrespi- 
ration  bedeutender  wird.  So  tritt  der  glossopharyngeus 
bei  den  Fischen  zwar  als  ein  selbständiger  Stamm  auf, 
verhält  sich  jedoch  durch  seine  Verteilung  an  die  erste 
Kieme  ganz  wie  ein  Ast  des  vagus,  verschmilzt  dann  bei 
den  Batrachiern  und  Ophidiem  mit  dem  vagus,  dessen 
ramus  lingualis  er  bildet,  isoliert  sich  wieder  bei  den 
Cheloniern  und  bleibt  endlich  bei  den  Vögeln  und  Säuge- 
tieren ein  selbständiger  Nerv.  So  zeigt  sich  bei  den 
Fischen  und  Batrachiern  keine  Spur  von  einem  Beinerven, 
indem  der  vagus  selbst  die  motorischen  Fäden  abgibt; 
erst  bei  den  Sauriern,  Cheloniern  und  Vögeln  fängt  er  an 
sich  zu  isolieren,  und  selbst  bei  den  Säugetieren  ist  er 
im  allgemeinen  eigentlich  nicht  von  dem  vagus  getrennt. 
Ich  nenne  diese  drei  Nervenpaare  abgeleitete  Nerven 
und  betrachte  sie,  wo  sie  selbständig  auftreten,  als  iso- 
lierte Zweige  des  vagus  und  trigeminus,  deren  Isolation 
von  der  mehr  oder  weniger  gesteigerten  Funktion  ihres 
Primitivnervenstammes  abhängt.  Damit  wird  das  Problem 


362     NATURWISSENSCH.  U.  PHTLOS.  SCHRIFTEN 

viel  einfacher  und  [es  erhebt  sich  nun  die  Frage:  wie  lassen] 
sich  die  übrigen  Paare  auf  den  [Typus  der  Spinalnerven] 
zurückführen? — Jeder  Spinalnerv  entspringt,  [wenn  er  den 
Rückenmarkkanal  verläßt,]  zwei  Wurzelbündeln,  einem 
vorderen  die  Bewegung,  [und  einem]  hinteren  die  Emp- 
findung vermittelnden.  Beide  Wurzeln  vereinigen  sich  in 
einer  gewissen  Distanz  vom  Mark  zu  einem  gemeinschaft- 
lichen Nervenstamm.  Je  zwei  Spinalnerven  bilden  durch 
ihre  Insertion  einen  Markabschnitt,  dem  ein  Wirbel  ent- 
spricht. Dies  das  einfachste  Verhältnis,  Auf  welche  Weise 
kann  nun  dasselbe  modifiziert  werden.^ 

1.  Beide  Wurzeln  vereinigen  sich  nicht  mehr  zu  einem 
gemeinschaftlichen  Stamm,  sondern  jede  bleibt  isoliert 
und  bildet  einen  eignen,  rein  motorischen  oder  rein  sen- 
sibeln  Nerven. 

2.  Beide  Wurzeln  vereinigen  sich  zwar,  doch  tritt  eine 
partielle  Trennung  in  ihren  Fäden  ein,  so  daß  in  den 
Ästen,  welche  der  von  ihnen  zusammengesetzte  Nerv  ab- 
gibt, die  motorischen  und  sensibeln  Fäden  nicht  mehr 
gleichmäßig  verteilt  sind.  Dies  Verhalten  bildet  den  Über- 
gang zu  dem  vorhergehenden. 

3.  Eine  von  den  Wurzeln  avortiert,  so  daß  sich  nur  die 
andere  entwickelt. 

4.  So  wie  von  den  zwei  Wurzeln  jede  einen  besondern 
Nerven  bilden  kann,  so  kann  dieser  Nerv  selbst  wieder 
in  mehrere  isolierte  Stämme  zerfallen. 

Auf  diese  vier  Modifikationen  nun  lassen  sich,  wie  ich 
sogleich  nachweisen  werde,  die  Unterschiede  zwischen 
den  Schädel-  [und  Spinalnerven  zurückführen.  Mit  ihrer] 
Hülfe  lassen  sich  sechs  [Hirnnervenpaare  unterscheiden,] 
denen  entsprechend  ich  sechs  Schädel wirbel  [annehme, 
wie  ich  sie  speziell  bei  den  Fischen]  gefunden  zu  haben 
glaube.  [Die  sechs]  Paar  Schädelnerven  sind:  der  Zungen- 
fleischnerv,  der  vagus,  der  Hörnerv,  das  5.  Paar,  der  Seh- 
nerv mit  dem  Muskelnerv  des  Auges  imd  der  Riechnerv. 
Nichts  ist  leichter,  als  nachzuweisen,  daß  der  hypoglossus 
ursprünglich  mit  einer  hintern  Wurzel  und  einem  Spinal- 
knoten  versehen  sei,  und  somit  so  gut  als  jeder  andre 
Spinalnerv  als  ein  selbständiger  Nervenstamm  betrachtet 


ÜBER  SCHÄDELNERVEN  363 

werden  müsse.  Bei  den  Fischen  entspringt  der  letzte 
Schädelnerv  mit  einer  vorderen  breiten  und  einer  hin- 
teren feinen  mit  einem  Knoten  versehenen  Wurzel.  Er 
tritt  durch  ein  eigenes  Loch  aus  der  Schädelhöhle  und 
teilt  sich  darauf  in  zwei  Äste,  einen  vorderen  und  einen 
hinteren.  Der  vordere  läuft,  indem  er  einen  Bogen  bildet, 
nach  vorn  zu  den  Muskeln  des  Zimgenbeins,  der  hintere 
vereinigt  sich  mit  dem  ersten  Spinalnerven  und  geht  zur 
vorderen  Extremität.  Die  Bedeutung  dieses  Nerven  als 
hypoglossus  ergibt  sich  fast  auf  den  ersten  Blick,  indem 
der  vordere  Ast  dem  Bogen,  der  hintere  der  ansa  ent- 
spricht. Der  Frosch  liefert  übrigens  den  direkten  Beweis. 
Zwischen  dem  vagus  und  dem  ersten  Spinalnerven  ent- 
springt ein  Nerv  mit  zwei  Wurzeln,  gerade  wie  bei  den 
Fischen;  er  teilt  sich  ebenfalls  in  zwei  Äste,  einen  [vor- 
deren, der  sich  an  die  Muskulatur  der]  Zunge  verteilt  und 
[einen  hinteren,  der  bei  den  Fischen  und  den  höheren 
Wirbeltieren]  zur  vorderen  Extremität  geht.  [Es  ist  ohne 
weiteres  klar,  daß  dieser]  Nerv  dem  hypoglossus  der  höhe- 
ren Tiere  entspricht,  und  [eben]so  evident,  daß  er  mit 
dem  fraglichen  Nerven  der  Fische  identisch  ist.  Bei  den 
Fischen  und  Fröschen  erscheint  also  der  hypoglossus  als 
ein  selbständiger  Nerv  [und  zeigt]  auf  das  deutlichste 
den  Typus  eines  Spinalnerven.  [Ja,  noch]  mehr,  bei  dem 
Frosch  ist  er  eigentlich  der  erste  Spinalnerv,  indem  der 
ihm  entsprechende  Schädelwirbel  [sich]  wieder  in  einen 
Rückenwirbel  verwandelt  hat  und  somit  der  vagus  der 
letzte  Gehirnnerv  ist.  Außerdem  hat  Maier  selbst  bei  ver- 
schiednen  Säugetieren  und  einmal  sogar  bei  dem  Men- 
schen, eine  feinere,  hintere,  mit  einem  Knötchen  ver- 
sehene Wurzel  des  hypoglossus  gefunden.— Bei  dem  hypo- 
glossus des  Menschen  tritt  also  die  dritte  der  erwähnten 
Modifikationen  ein:  die  Empfindungswurzel  ist  avortiert 
und  nur  die  motorische  hat  sich  entwickelt,  ein  Verhält- 
nis, das  übrigens  schon  bei  dem  Fisch  und  Frosch  dui-ch 
das  Überwiegen  der  vorderen  Wurzel  über  die  hintere 
angedeutet  ist. 

Was  den  trigeminus  anbelangt,  so  ist  selbst  bei  dem 
Menschen,   aus  dem  eigentümlichen  Verhältnisse  seiner 


364    NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

portio  major  und  minor,  seine  Analogie  mit  dem  Spinal- 
nerven unverkennbar  und  längst  anerkannt. 
[Ähnlich  liegen  die  Verhältnisse  bei  den]  Fischen,  wo 
außerdem  [eine  enge  Beziehung  zwischen  dem  trigeminus 
und  dem  facialis  besteht,  und  wo  die  eigenjartigen  Gebilde 
des  [ramus  opercularis  vorhanden  sind,  der  als  hauptsäch- 
lich motorischer  Ast  der  vordem  Wurzel  der]  Spinalnerven 
entspricht. 

[Mit  dem]  vagus  hat  die  Sache  bei  den  höheren  Tieren 
mehr  Schwier[igkeit],  doch  helfen  auch  hier  die  niederen 
Formen.  So  entspringt  bei  dem  Hecht  z.  B.  der  vagus 
aufs  deutlichste  mit  zwei  Wurzeln,  einer  vorderen  und 
hinteren,  die  sich  erst  nach  ziemhch  langem  Verlauf  bei 
ihrem  Austritt  aus  der  Schädelhöhle  [vereinigen]  und 
daselbst  einen  Knoten  zeigen.  Dieser  Spinalknoten  [des] 
vagus  ist  bei  vielen  Fischen  von  enormer  Größe  und 
findet  sich,  wie  bekannt,  noch  bei  dem  Menschen.  Vagus 
und  trige[minus]  bieten  die  zweite  Modifikation  dar,  näm- 
lich die  partielle  Trennung  der  motorischen  und  sensibeln 
Fäden  in  den  Stämmen,  in  welche  diese  Nerven  sich 
teilen,  nämlich  den  facialis,  giossopharyngeus  und  acces- 
sorius  Willisii,  wie  ich  bereits  gezeigt  habe.  Im  vagus 
wird  diese  Trennung  vollständiger  als  beim  trigeminus, 
wenigstens  scheint  dies  aus  dem  Verhältnis  des  Beinerven 
zum  vagus  hervorzugehen,  indem  letzterer  wirklich  ohne 
alle  motorische  Fäden  zu  sein  scheint. — Das  10.  mid 
5.  Paar  zeigen  in  der  ganzen  Reihe  der  Wirbeltiere  eine 
auffallende  Symmetrie.  Der  vagus  verhält  sich  zur  Brust- 
und  Bauchhöhle  wie  der  trigeminus  zur  Wiederholung 
dieser  Höhlen  am  Kopf,  nämlich  der  Mund-  und  Nasen- 
höhle. Kurz,  der  trigeminus  ist  ein  vagus  in  einer  höheren 
Potenz.  Dies  Verhältnis  wird  bei  den  Säugetieren  beson- 
ders deutlich.  Das  10.  Paar  teilt  sich  in  drei  Nerven- 
stämme, den  accessorius  Willisii,  den  eigentlichen  vagus 
und  den  giossopharyngeus;  das  5.  Paar  ebenfalls  in  drei, 
den  facialis,  den  [eigentlichen  trigeminus  und  den  Zungen- 
ast des  trigeminus,  den]  man  ebensogut  als  [vollständig 
selbständigen  Nerven  auffassen  kann.]  Wie  der  acces- 
sorius Willisii  Atemnerv  [des  Halses  und  eines  Teiles  der 


ÜBER  SCHÄDELNERVEN  365 

Brusthöhle  ist,  so  ist]  der  facialis  Respirationsnerv  des 
Kopfes;  wie  der  [Vagusstamm  der  Empfindungsnerv  des] 
Darmkanals  ist,  so  ist  der  Zungenast  des  trigeminus  [der 
sensible  Nerv  der  Zunge,]  diesem  vollkommensten  Teile 
des  Darmkanals,  diesem  Organe  [des  Eingeweidesinnes,] 
wie  Oken  so  sinnreich  den  Geschmack  nennt.  Endlich 
wie  [der  vagus  den]  glossopharyngeus  als  [Geschmacks] - 
nerven  zur  Zunge,  so  schickt  der  trigeminus  den  [getrennt 
verlaufenden  ophthalmicus]  als  Hülfsnerven  [zur  Nase] 
und  dem  Auge. 

Es  bleibt  mir  jetzt  noch  die  Analogie  der  drei  höheren 
Sinnesnerven  mit  den  Spinalnerven  nachzuweisen.  Der 
acusticus  und  olfactivus  sind  als  hintere  Wurzeln  zu  be- 
trachten, deren  vordere  avortiert  ist.  Die  Analogie,  wor- 
aus ich  dies  schließe,  liefert  der  hypoglossus,  dessen 
hintere  bei  den  Fischen,  Fröschen  und  manchen  Säuge- 
tieren vorkommende  Wurzel  bei  dem  Menschen  avortiert, 
während  nur  die  vordere  sich  entwickelte.  Das  Umge- 
kehrte ist  bei  dem  acusticus  und  olfactivus  der  Fall;  nur 
die  hintere  Wurzel  entwickelt  sich  und  die  vordere  avor- 
tiert. Für  beide  wird  die  motorische  Wurzel  durch  den 
facialis  ersetzt.  Für  den  acusticus  erklärt  sich  dies  leicht, 
wenn  man  bedenkt,  in  welchem  Verhältnis  der  dem  fa- 
cialis entsprechende  Deckelast  der  Fische  zu  der  Kiemen- 
höhle steht.  Okcn  hat  nämlich  nachgewiesen,  das  Ohr 
mit  Ausnahme  des  Labyrinths  sei  nur  eine  metamorpho- 
sierte  Kiemenhöhle,  und  so  sieht  man  leicht,  daß  die 
Fäden,  welche  der  facialis  bei  Vögeln  und  Säugetieren 
dem  äußeren  imd  inneren  Ohr  gibt,  das  Verhältnis  des 
Deckelastes  zur  Kiemenhöhle  wiederholen. 
In  dem  Sehnerven  und  den  Muskelnerven  des  Auges 
treten  endlich  beide  Wurzeln  als  isolierte  Nerven  auf,  die 
hintere  als  2.,  die  vordere  als  3.,  4.  und  6.  Paar,  indem 
diese  letzteren  der  vierten  Modifikation,  [wo  eine  Wurzel 
wieder  in  besondere  isolierte  Nervenstämme  zerfällt,  ent- 
spricht.] Das  3.  und  6.  Paar  [entspringen  ganz  nahe  bei- 
einander und  ungefähr  auf  gleicher  Höhe,]  das  eine  vor 
dem  [andern,  und  bilden  so  zwei  Fäden  einer  gemein- 
samen Wurzel,]  von  denen  der  eine  [etwas  früher  als  der 


366    NATURWISSENSCH.  U.  PHILOS.  SCHRIFTEN 

andere  aus  dem]  Mark  tritt.  Das  4.  Paar  macht  dagegen 
[größere  Schwierigkeiten,]  doch  sein  Verhalten  bei  man- 
chen Fischen  hebt  sie  größtenteils.  [Es  entspringt  bei]  den 
Cyprinen  und  dem  Hecht  vom  äußeren  Rand  der  vorderen 
Pyrami[denstränge,  folglich  vom  nämlichen  Markstrang 
wie  das  3.  und  6. 

In  dem  [Augen]muskelnerv  erreicht  der  Nerv  als  solcher 
seine  höchste  Entfaltung;  [er  verhält]  sich,  um  ein  Beispiel 
zu  geben,  zu  den  übrigen  Nerven  wie  der  Huf  [des  Pferdes] 
zu  der  Hand  des  Menschen.  Was  in  dem  ersteren  noch 
verbunden  liegt,  glie[dert]  sich  in  der  letzteren  im  schön- 
sten Verhältnis  ab.  Diese  Entwicklung  fällt  mit  der  Be- 
deutung des  Auges  zusammen,  von  dem  Oken  wahrhaftig 
mit  Recht  [sagt,]  es  sei  das  höchste  Organ,  die  Blüte  oder 
vielmehr  die  Frucht  aller  organischen  Reiche. 
So  wären  denn  sechs  Paar  Schädelnerven  gefmiden:  i.  der 
Riechnerv,  2.  der  Sehnerv,  mit  dem  3.,  4«  und  6.  Paar, 
3.  der  trigeminus,  4.  der  acusticus,  5.  der  vagus,  6.  der 
hypoglossus. 

Ihre  rechte  Begründung  kann  übrigens  diese  Einteilung 
der  Schädelnerven  erst  durch  ihre  Vergleichung  mit  den 
Schädelknochen  erhalten.  Diese  jedoch  auszuführen  und 
nachzuweisen,  wie  ich  diesen  sechs  Paaren  sechs  Schädel- 
wirbel entsprechend  gefunden  zu  haben  glaube,  erlaubt 
die  Zeit  nicht. 

Vergleicht  man  endlich  die  Schädelnerven  untereinander, 
so  findet  man,  daß  sie  sich  in  zwei  Gruppen  teilen.  Die 
eine,  gebildet  vom  acusticus  und  opticus,  diesen  Nerven 
des  Schalls  und  des  Lichts,  ist  der  reinste  Ausdruck  des 
animalen  Lebens;  die  andere,  bestehend  aus  dem  hypo- 
glossus, vagus,  trigeminus  und  olfactivus,  erhöht  das  vege- 
tative zum  animalen  Leben.  So  werden  wir  uns  des  Aktes 
der  Verdauung  und  der  Respi[ration  durch  den  vagus  be- 
wußt, so  wird  die  Zunge  als]  ein  wesent[licher  Bestandteil 
des  Verdauungskanals  durch  den  Einfluß]  des  hypoglossus 
dem  Willen  [unterworfen  und  dadurch  ein]  wahres  Glied 
des  Kopfes;  so  entwickeln  sich  [Geschmack  und  Geruch] 
als  die  Sinne  des  Darm-  und  des  Atemsystems  [unter  dem] 
Einflüsse  des  trigeminus  und  des  olfac[tivus.  Die  Nerven] 


ÜBER  SCHÄDELNERVEN  367 

dieser  letzteren  Gruppe  unterscheiden  sich  jedoch  dadurch 
[nicht]  wesentlicher  von  den  übrigen  Spinalnerven  als  die 
Lendennerven,  welche  zu  den  Organen  der  Zeugung  gehn. 
Die  ersteren  verhalten  sich  zur  Verdauung  und  Respiration 
wie  die  letzteren  zu  den  Geschlechtsverrichtungen.  Außer- 
dem sind  ja  alle  Spinalnerven  durch  ihren  Einfluß  auf  die 
Respirationsbewegungen  ebenfalls  an  das  vegetative  Leben 
geknüpft  .  .  . 


ÜBERSETZUNGEN 


BÜCHNER  24. 


LUCRETIA  BORGIA 
EIN  DRAMA  VON  VICTOR  HUGO 


PERSONEN 


DONNA  I.UCRETIA  BORGIA 

DON  ALPHONS  VON  ESTE 

GENNARO 

GUBETTA 

MAFFIO  ORSINI 

JEPPO  LIVERETTO 

DON  APOSTOLO  G AZELT, A 

ASCANIO  PETRUCCI 

OLOFERNO  VITELL0Z7.O 

RUSTIGHEEEO 

ASTOLFO 

DIE  FÜRSTIN  NEGRONI 

EIN  TÜRSTEHER 

Mönche,  Edelleute,  Pagen,  Wachen 


Venedig,  Ferrara 


>  373  C 

ERSTE  HANDLUNG 

SCHANDE  ÜBER  SCHANDE 

Personen 
DONNA  LUCRETIA  BORGIA       ASCANIO  PETRUCCI 
GENNARO  OLOFERNO  VITELLOZZO 

GUBETTA  DON  ALPHONS  VON  ESTE 

MAFFIO  ORSINI  RÜSTIGHELLO 

JEPPO  LIVERETTO  ASTOLFO 

DON  APOSTOLO  GAZELLA 

Ei7ie  Terrasse  des  Palastes  Barbarigo  zu  Venedig.  Ein 
nächtliches  Fest.  Masken  gehen  zuweilen  über  die  Bühne. 
Zu  beide?!  Seiten  der  Terrasse  ist  der  Palast  prächtig  er- 
leuchtet. Man  hört  den  Ton  vo7i  Fanfaren.  Dunkel  und 
Gesträuch  decken  die  Terrasse.  Man  nimmt  an^  daß  im 
Hintergrund  unterhalb  der  Terrasse  der  Ka^ial  de  la  Zucca 
fließe;  man  sieht  auf  ihm  zuweilen  mit  Masken  und  Mu- 
sikern besetzte  und  halb  erleuchtete  Gondeln  vorüberfahren. 
Jede  dieser  Go?ideln  fährt  über  den  Hifttergrund  der  Bühne 
unter  einer  bald  gefälligen,  bald  traurigen  Musik,  die  nach 
und  nach  in  der  Ferfie  verhallt.  Im  Hintergründe  Venedig 
vo?n  Mondlicht  beleuchtet. 


ERSTE  SZENE 

Junge  He?'re?i,  glänzend  gekleidet,  die  Masken  in  den  Hän- 
den,  pl-audern  auf  der  Terrasse.  Gubetta.  Gennaro,  als 
Hauptmanfi  gekleidet.  Don  Apostolo  Gazella.  Maffio  Or- 
sini.  Asca7iio  Petrucci.  Oloferno  Vitellozzo.  Jeppo  Liveretto. 
OLOFERNO.  Wir  leben  in  einer  Zeit,  worin  so  viel 
Schreckliches  geschieht,  daß  man  von  diesem  da  nicht 
mehr  spricht;  aber  gewiß,  nie  trug  sich  etwas  Unheim- 
licheres und  Geheimnisvolleres  zu. 

ASCANIO.  Ein  schwarzes  Werk  von  schwarzen  Händen 
vollbracht. 

JEPPO.  Ich  kenne  die  Tatsachen,  meine  Herren.  Ich 
habe  sie  von  meinem  sehr  ehrwürdigen  Vetter,  dem  Kar- 
dinal Carriola,  der  besser  unterrichtet  war  als  sonst  je- 
mand. Ihr  wißt  ja,  der  Kardinal  Carriola,  der  sich  so 
heftig  mit  dem  Kardinal  Riario  über  den  Krieg  gegen 
Karl  Vni.  von  Frankreich  zankte: 


374  ÜBERSETZUNGEN 

GENNARO  {gähnend).  Ah!  jetzt  wird  uns  Jeppo  Ge- 
schichten erzählen.  Ich  für  meinen  Teil  höre  nichts.  Ich 
bin  müde  genug  ohne  das. 

MAFFIO.  Du  kümmerst  dich  um  diese  Sache  nicht, 
Gennaro,  und  das  ist  ganz  natürlich.  Du  bist  ein  tapferer 
Soldat,  ein  Abenteuerer.  Du  führst  einen  Phantasienamen. 
Du  kennst  weder  Vater  noch  Mutter.  An  der  Art,  wie 
du  deinen  Degen  führst,  sollte  man  nicht  zweifeln,  daß 
du  ein  Edelmann  bist,  und  doch  weiß  man  nichts  von 
deinem  Adel,  als  daß  du  dich  wie  ein  Löwe  schlägst. 
Bei  meiner  Seele,  wir  sind  Waffenbrüder,  und  ich  sage 
dir  das  nicht,  um  dich  zu  kränken.  Du  hast  mir  das  Leben 
zu  Rimini  gerettet,  ich  rettete  dir  es  auf  der  Brücke  von 
Vicenzia.  Wir  schwuren  einander,  uns  in  Gefahren,  wie 
in  der  Liebe  zu  helfen,  uns  gegenseitig  zu  rächen,  wenn 
es  nötig  sei,  mit  niemanden  zu  streiten,  als  ich  mit  deinen 
und  du  mit  meinen  Feinden.  Ein  Astrologe  hat  uns  ge- 
weissagt,  daß  wir  am  nämlichen  Tage  sterben  würden, 
und  wir  haben  ihm  sechs  Goldzechinen  für  die  Prophe- 
zeiung gegeben.  Wir  sind  nicht  Freunde,  wir  sind  Brüder. 
Doch  endlich,  du  hast  das  Glück,  ganz  einfach  Gennaro 
zu  heißen,  niemanden  anzugehören,  nichts  von  dem  oft 
erblichen  Fatalismus,  der  sich  an  den  Namen  der  Ge- 
schlechter knüpft,  mit  dir  zu  schleppen.  Du  bist  glücklich! 
Was  liegt  dir  an  dem,  was  geschieht  und  was  geschah, 
solange  es  nur  Männer  für  den  Krieg  und  Weiber  für 
den  Genuß  gibt?  Was  kümmert  dich,  Kind  der  Fahne, 
das  weder  Stadt  noch  Familie  hat,  was  kümmert  dich  die 
Geschichte  der  Städte  und  Famihen?  Mit  uns,  Gennaro, 
siehst  du,  ist's  anders.  Wir  sind  berechtigt,  an  den  Er- 
eignissen unserer  Zeit  teilzunehmen.  Unsere  Väter  und 
Mütter  spielten  in  diesen  Tragödien  mit,  und  fast  alle  un- 
sere Familien  bluten  noch.  Erzähle  uns,  Jeppo,  was  du 
weißt. 

GENNARO  [wirft  sich  in  einen  Sessel,  als  wolle  er  sich 
de7n  Schlaf  überlasse??).  Ihr  werdet  mich  aufwecken,  wenn 
Jeppo  fertig  ist. 

JEPPO.   Seht,  es  war  1404  .... 
GUBETTA  (/;/  einem  Winkel  der  Buhne).    97  ...  . 


LUCRETIA  BORGIA.  ERSTE  HANDLUNG   375 

JEPPO.  Ja  recht  so,  1497.  In  einer  gewissen  Nacht  vom 
Mittwoch  zum  Donnerstag. 
GUBETTA.  Nein,  vom  Dienstag  zum  Mittwoch. 
JEPPO.  Ihr  habt  recht.  In  dieser  Nacht  also  sah  ein 
Tiberschiffer,  der  in  seinem  Fahrzeug  am  Ufer  lag,  um 
seine  Waren  zu  bewachen,  etwas  Entsetzliches.  Es  war 
ein  wenig  unterhalb  der  Kirche  des  heiligen  Hieronymus. 
Es  mochten  fünf  Stunden  nach  Mitternacht  sein,  als  der 
Schiffer  im  Finstem  auf  dem  Wege  links  der  Kirche  zwei 
Männer  sah,  die  ängstlich  da-  und  dorthin  gingen.  Dann 
kamen  noch  zwei  andere  und  endlich  drei;  sieben  in  allem. 
Einer  davon  war  zu  Pferde.  Die  Nacht  war  ziemlich 
finster.  In  den  Häusern,  die  auf  die  Tiber  gehen,  war 
kein  Licht  mehr  hell.  Die  sieben  Männer  näherten  sich 
dem  Ufer.  Der  zu  Pferde  wandte  das  Hinterteil  seines 
Tieres  nach  der  Tiber,  und  der  Schiffer  sah  dann  deut- 
lich Beine,  die  auf  der  einen,  Kopf  und  Arme,  die  auf  der 
andern  Seite  herunterhingen;  es  war  die  Leiche  eines 
Mannes.  Während  nun  ihre  Kameraden  die  Gassenecken 
bewachten,  nahmen  zwei  von  denen,  die  zu  Fuß  waren, 
den  toten  Körper,  schwangen  ihn  mit  Macht  zwei-  oder 
dreimal  und  schleuderten  ihn  dann  mitten  in  die  Tiber. 
Im  Augenblick,  wo  die  Leiche  auf  das  Wasser  schlug,  tat 
der  zu  Pferde  eine  Frage,  worauf  die  beiden  andern  ant- 
worteten: Ja,  mein  Herr!  Alsdann  wandte  der  Reiter  sich 
wieder  nach  der  Tiber  und  sah  was  Schwarzes,  das  auf 
dem  Wasser  schwamm.  Er  frug,  was  das  sei.  Man  ant- 
wortete: Mein  Herr,  das  ist  der  Mantel  des  toten  Herrn. 
Und  einer  von  dem  Haufen  warf  Steine  nach  dem  Mantel, 
so  daß  er  untersank.  Darauf  gingen  sie  alle  zusammen 
hinweg  und  schlugen  den  Weg  nach  St.  Jakob  ein.  Das 
ist  das,  was  der  Schiffer  gesehen. 

MAFFIO.  Ein  schauerliches  Abenteuer!  War  es  jemand 
von  Bedeutung,  den  diese  Männer  so  ins  Wasser  warfen.- 
Dies  Pferd  macht  einen  seltsamen  Eindruck  auf  mich;  der 
Mord  auf  dem  Sattel  und  der  Tod  auf  dem  Kreuz. 
GUBETTA.  Auf  dem  Pferde  waren  die  zwei  Brüder. 
JEPPO.  Wie  Ihr  sagt,  Herr  von  Belverana.  Die  Leiche 
war  Johann  Borgia,  der  Reiter  war  Cäsar  Borgia. 


376  ÜBERSETZUNGEN 

MAFFIO.  Eine  Familie  von  Teufeln  diese  Borgia!  Und 
sage  mir,  Jeppo,  warum  schlug  der  Bruder  so  den  Bruder? 
JEPPO.  Das  werde  ich  Euch  nicht  sagen.  Die  Ursache 
des  Mordes  ist  so  abscheulich,  daß  es  eine  Todsünde  sein 
muß,  nm-  davon  zu  sprechen. 

GUBETTA.  Ich  will  es  Euch  sagen.   Cäsar,  Kardinal  von 
Valenzia,  hat  Johann,  Herzog  von  Gandia,   erschlagen, 
weil  die  bösen  Brüder  das  nämliche  Weib  liebten. 
MAFFIO.   Und  wer  war  dies  Weib? 

GUBETTA  {immer  in  dem.  Hintergrund  der  Bühne).  Ihre 
Schwester. 

JEPPO.  Genug,  Herr  von  Belverana.  Sprecht  nicht  vor 
uns  den  Namen  dieses  Ungeheuers  aus.  Es  ist  niemand 
unter  uns,  dessen  Hause  es  nicht  eine  tiefe  Wunde  ge- 
schlagen hätte. 

MAFFIO.  War  nicht  von  einem  Kinde  dabei  die  Rede? 
JEPPO.  Ja,  von  einem  Kinde,  wovon  ich  nur  den  Vater 
zu  nennen  wage;  er  hieß  Johann  Borgia. 
MAFFIO.   Das  Kind  könnte  jetzt  ein  Mann  sein. 
OLOFERNO.   Es  ist  verschwunden. 
JEPPO.   Gelang  es  Cäsar  Borgia,  es  der  Mutter  zu  ent- 
ziehen: Gelang  es  der  Mutter,  es  Cäsar  Borgia  zu  ent- 
reißen? Man  weiß  nicht. 

DON  APOSTOLO.  Wenn  die  Mutter  ihren  Sohn  ver- 
steckt, so  tut  sie  wohl  daran.  Seit  Cäsar  Borgia,  Kardinal 
von  Valenzia,  Herzog  von  Valentinois  geworden  ist,  hat 
er,  wie  ihr  wißt,  ohne  seinen  Bruder  Johann  zu  zählen, 
seine  beiden  Neffen,  die  Söhne  des  Guifry  Borgia,  Fürsten 
von  Squillazzi,  und  seinen  Vetter,  den  Kardinal  Franz 
Borgia,  getötet.  Dieser  Mensch  hat  die  Wut,  seine  Ver- 
wandten zu  morden. 

JEPPO.  Wahrhaftig,  er  will  der  einzige  Borgia  sein,  um 
alle  Schätze  des  Papstes  zu  erben. 

ASCANIO.  Machte  nicht  die  Schwester,  welche  du  nicht 
nennen  willst,  Jeppo,  zur  nämlichen  Zeit  insgeheim  eine 
Reise  zum  Kloster  des  heiligen  Sixtus,  um  sich  daselbst 
einzuschließen,  ohne  daß  man  wußte,  warum? 
JEPPO.  Ich  glaube,  ja!  Das  war,  um  sich  von  Herrn 
Sforza,  ihrem  zweiten  Gemahl,  zu  trennen. 


LUCRETIA  BORGIA.   ERSTE  HANDLUNG  377 

MAFFIO.  Und  wie  hieß  der  Schififer,  der  alles  gesehen 
hat? 

JEPPO.   Ich  weiß  nicht. 

GUBETTA.  Er  hieß  Giorgio  Schiavone,  und  sein  Ge- 
werbe war,  Holz  auf  der  Tiber  nach  Ripetta  zu  führen. 
MAFFIO  {leise  zu  Ascanio).  Der  Spanier  da  weiß  mehr 
von  unsren  Geschichten,  als  wir  andern  Römer. 
ASCANIO  {leise).  Ich  traue  so  wenig  als  du  diesem  Herrn 
von  Belverana.  Aber  gehen  wir  nicht  tiefer  darauf  ein; 
es  steckt  vielleicht  etwas  Gefährliches  darunter. 
JEPPO.  Ach,  meine  Herren,  in  welchen  Zeiten  leben  wir! 
Kennt  ihr  in  diesem  armen  Italien,  mit  seinen  Kriegen, 
seiner  Pest  und  seinen  Borgia,  eine  menschliche  Kreatur, 
die  sicher  sei,  ihr  Übermorgen  zu  erleben.- 
APOSTOLO.  Übrigens,  meine  Herren!  ich  glaube,  daß 
wir  alle  an  der  Gesandtschaft  teilnehmen  sollen,  welche 
die  Republik  von  Venedig  an  den  Herzog  von  Ferrara 
schickt,  um  ihm  Glück  zu  wünschen,  daß  er  den  Malatesta 
Rimini  wieder  abgenommen.  Wann  reisen  wir  nach  Ferrara 
ab.' 

OLOFERNO.  Bestimmt  übermorgen.  Ihr  wißt,  daß  die 
beiden  Gesandten  ernannt  sind.  Die  Wahl  ist  auf  die  Se- 
natoren Tivpolo  und  Grimani,  den  General  der  Galeeren, 
gefallen. 

APOSTOLO.  Wird  der  Hauptmann  Gennaro  mit  uns 
gehen: 

MAFFIO.  Ohne  Zweifel!  Gennaro  und  ich  trennen  uns 
niemals. 

ASCANIO.  Meine  Herren,  ich  habe  eine  wichtige  Be- 
merkung zu  machen.  Der  spanische  Wein  wird  ohne  uns 
getrunken. 

MAFFIO.   Gehen  wir  in  den  Palast  zurück.  He!  Gennaro! 
{Zu  Jeppo:)  Er  ist   in  der  Tat  über   deine   Geschichten 
leingeschlafen. 
JEPPO.    So  mag  er  schlafen. 

[Alk  gehen  weg^  Gubettu  ausgenommen.) 


378  ÜBERSETZUNGEN 

ZWEITE  SZENE 

Gubetta.  Donna  Lucretia.  Gennaro  (schlafend). 
GUBETTA  {allein).  Ja,  ich  weiß  mehr  davon  als  sie;  sie 
sagten  das  ganz  leise  zueinander.   Ich  weiß  mehr  davon 
als  sie;  aber  Donna  Lucretia  weiß  mehr  als  ich;  Herr  von 
Valentinois  weiß  mehr  als  Donna  Lucretia;  der  Teufel 
weiß    mehr   als   Herr   von  Valentinois,   und   der  Papst 
Alexander   VI.    weiß   mehr    als   der  Teufel.    {Indem  er 
Gennaro  betrachtet:)  Wie  das  schläft,  die  jungen  Leute! 
DONNA  LUCRETIA  {tritt  ein,  sie  ist  maskiert.  Sie  be- 
merkt den  schlaf e^iden  Gennaro  und  betrachtet  ihn  ??iit  einer  \ 
Art  von  Entzücken  und  Ehrfurcht).   Er  schläft!   Das  Fest 
hat  ihn  gewiß  ermüdet!  Wie  schön  er  ist!   {Sie  kehrt  sich 
um:)  Gubetta! 

GUBETTA.  Sprecht  nicht  so  laut,  Donna.  Ich  heiße  hier 
nicht  Gubetta,  sondern  Graf  von  Belverana,  spanischer 
Edelmann;  Ihr,  Donna,  seid  die  Mai-quise  von  Ponte - 
quadrato,  eine  neapolitanische  Dame.  Es  darf  nicht  aus- 
sehen, als  kennten  wir  uns.  Hat  es  Eure  Hoheit  nicht  so  be- 
fohlen? Ihr  seid  hier  nicht  zu  Hause,  Ihr  seid  zu  Venedig. 
LUCRETIA.  Das  ist  wahr,  Gubetta.  Aber  es  ist  niemand 
auf  dieser  Terrasse,  als  der  junge  Mann  da,  und  der 
schläft;  wir  können  einen  Augenblick  plaudern. 
GUBETTA.  Wie  es  Eurer  Hoheit  beliebt.  Ich  habe  Euch 
noch  einen  Rat  zu  geben:  nehmt  die  Maske  nicht  ab,  man 
könnte  Euch  erkennen. 

LUCRETIA.  Und  was  läge  daran:  Wenn  sie  nicht  wissen, 
wer  ich  bin,  so  habe  ich  nichts  zu  fürchten,  und  wenn  sie 
es  wissen,  so  mögen  sie  sich  fürchten. 
GUBETTA.  Wir  sind  zu  Venedig,  Donna.  Ihr  habt  hier 
Feinde  genug,  und  diese  Feinde  haben  die  Hände  frei. 
Die  Republik  von  Venedig  würde  freilich  keinen  Angi-iflf 
auf  die  Person  Eurer  Hoheit  dulden;  aber  man  könnte 
Euch  beleidigen. 

LUCRETIA.  Ah!  du  hast  recht,  mein  Name  macht  schau- 
dern in  der  Tat. 

GUBETTA.  Es  befinden  sich  hier  nicht  nur  Veuetianer, 
es  sind  auch  Römer  da,  Neapolitaner,  Lombarden,  Italiener 
aus  yanz  Italien. 


LUCRETIA  BORGIA.   ERSTE  HANDLUNG  379 

LUCRETIA.  Und  ganz  Italien  haßt  mich!  Du  hast  recht! 
Das  muß  gleichwohl  anders  werden.  Ich  war  nicht  ge- 
schaffen, Böses  zu  tun,  ich  fühle  es  jetzt  deutlicher  als 
je.  Das  Beispiel  meiner  Familie  hat  mich  fortgerissen. 
Gubetta! 

GUBETTA.   Donna! 

LUCRETIA.  Überbringe  der  Herrschaft  Spoleto  sogleich 
die  Befehle,  die  ich  dir  geben  werde. 
GUBETTA.  Gebietet,  Donna.  Ich  habe  immer  vier  Maul- 
tiere und  vier  Renner  gesattelt  und  gezäumt. 
LUCRETIA.  Was  hat  man  mit  Galeas  Accajoli  gemacht.^ 
GUBETTA.  Er  wartet  im  Gefängnis,  bis  Eure  Hoheit  ihn 
hängen  läßt. 

LUCRETIA.   Und  Guifry  Buondelmonter 
GUBETTA.   Ist  im  Kerker.    Ihr  habt  noch  nicht  befohlen, 
ihn  zu  erdrosseln. 

LUCRETIA.  Und  Manfredi  von  Curzola.^ 
GUBETTA.   Ist  ebenfalls  noch  nicht  erdrosselt. 
LUCRETIA.   Und  Spadacappar 

GUBETTA.   Nach  Eiu:em  Befehl  soll  ihm  erst  auf  Ostern 
in  der  Hostie  Gift  gegeben  werden.   Das  wird  in  sechs 
Wochen  geschehen,  wir  sind  eben  im  Karneval. 
LUCRETIA.  Und  Peter  Capror 

GUBETTA.  Zur  Stunde  ist  er  noch  Bischof  von  Pesaro 
und  Erzkanzler,  aber  ehe  ein  Monat  vergeht,  wird  er 
nichts  sein  als  ein  wenig  Staub;  denn  unser  Heiliger 
Vater,  der  Papst,  hat  ihn  auf  Eure  Klagen  verhaften  lassen 
und  hält  ihn  unter  guter  Aufsicht  in  den  tiefen  Kellern 
des  Vatikans. 

LUCRETIA.  Schnell!  schreibe  dem  Heiligen  Vater,  daß 
ich  die  Begnadigung  des  Peter  Capro  verlange!  Gubetta, 
laß  den  Accajoli  in  Freiheit  setzen!  In  Freiheit  den  Man- 
fredi von  Ciurzola!  in  Freiheit  den  Buondelmonte!  in  Frei- 
heit den  Spadacappa! 

GUBETTA.  Wartet!  haltet!  Donna!  Laßt  mich  Atem 
schöpfen!  Was  sind  das  für  Befehle!  O  du  mein  Gott! 
Es  regnet  Milde,  es  hagelt  Gnade!  Ich  gehe  in  der  Barm- 
herzigkeit unter!  Ich  werde  mich  nie  aus  dieser  schreck- 
lichen Sündflut  von  guten  Handlungen  retten! 


38o  ÜBERSETZUNGEN 

LUCRETIA.  Gut  oder  schlecht,  was  geht  es  dich  an, 
wenn  ich  dir  sie  nur  bezahle. 

GUBETTA.  Ach!  Eine  gute  Handlung  fällt  einem  viel 
schwerer  als  eine  schlechte.  Ach,  ich  armer  Gubetta! 
jetzt,  da  es  Euch  einfällt,  barmherzig  zu  sein,  was  soll  da 
aus  mir  werden.^ 

LUCRETIA.  Höre.  Gubetta,  du  bist  mein  ältester  und 
treuster  Vertrauter. 

GUBETTA.  Es  sind  waiurhaftig  jetzt  grade  fünfzehn  fahre, 
daß  ich  die  Ehre  habe,  Euer  Mitarbeiter  zu  sein. 
LUCRETIA.  Wohlan  denn!  Sprich,  Gubetta!  mein  alter 
Freund,  mein  alter  Mitschuldiger,  fängst  du  nicht  an,  das 
Bedürfnis  eines  neuen  Lebens  zu  fühlen:  Dürstest  du 
nicht  nach  so  vielem  Segen  für  dich  und  mich,  als  wir 
Fluch  auf  uns  geladen  haben:  Bist  du  noch  nicht  satt  ge- 
worden am  Verbrechen : 

GUBETTA.  Ich  merke,  Ihr  seid  auf  dem  Wege,  die 
tugendhafteste  Hoheit  unter  der  Sonne  zu  werden. 
LUCRETIA.  Liegt  nicht  unser  Ruf,  deiner  und  meiner, 
unser  Ruf  voll  Schande,  unser  Ruf  voll  Mord  und  Gift, 
liegt  er  nicht  schwer  auf  dir,  Gubetta,^ 
GUBETTA.  Nicht  im  geringsten.— Wenn  ich  durch  die 
Straßen  von  Spoleto  gehe,  höre  ich  als  wohl  das  Gesindel 
um  mich  summen:  Hem,  das  ist  Gubetta,  Gubetta  Gift, 
Gubetta  Dolch,  Gubetta  Galgen!  Denn  sie  haben  meinem 
Namen  einen  ganz  glänzenden  Schwanz  von  Beiwörtern 
angehängt.  Man  sagt  das  aUes,  und  wenn  es  die  Lippen 
nicht  sagen,  so  sagen's  die  Augen.  Aber  was  liegt  daran: 
Ich  bin  an  meinen  schlechten  Ruf  gewöhnt,  wie  ein  Soldat 
des  Papstes  an  das  Messelesen. 

LUCRETIA.  Aber  fühlst  du  nicht,  daß  die  Last  von  ver- 
haßten Namen,  die  man  auf  dich  und  auf  mich  wirft,  Haß 
und  Verachtung  in  einem  Herzen  wecken  könnten,  von 
dem  du  geliebt  sein  möchtest:  Du  liebst  also  niemand 
auf  der  Welt.- 

GUBETTA.  Ich  möchte  wohl  wissen,  wen  Ihr  liebt, 
Donna. 

LUCRETIA.  Was  weißt  du.^  Ich  bin  ofifen  gegen  dich; 
ich  spreche  dir  jetzt  weder  von  meinem  Vater,  noch  von 


LUCRETIA  BORGIA.   ERSTE  HANDLUNG  381 

meinem  Bruder,  noch   von  meinem.  Gemahl,   noch  von 
meinen  Liebhabern. 

GUBETTA.    Ich  sehe  aber  auch   weiter  nichts  als  das, 
was  man  lieben  könnte. 

LUCRETL\.   Es  gibt  noch  sonst  etwas,  Gubetta! 
GÜBETTA.  .Aha!  Ihr  macht  Euch  Eiu-e  Tugend  aus  Liebe 
für  den  lieben  Gott  zurecht: 

LUCRETIA.  Gubetta,  Gubetta!  Wenn  es  heute  in  die- 
sem Italien,  in  diesem  unseligen,  schuldbelasteten  Italien 
ein  edles  und  reines  Herz  gäbe,  ein  Herz  voll  hoher  und 
männlicher  Tugenden,  das  Herz  eines  Engels  unter  dem 
Panzer  eines  Soldaten;  wenn  mir  nichts  bliebe,  mir  armem,, 
verhaßtem,  verachtetem,  verabscheutem,  von  den  Men- 
schen verfluchtem,  von  dem  Himmel  verdammtem  Weibe, 
mir  Elenden,  so  allmächtig  ich  bin:  wenn  mir  in  dem 
Jammer,  worin  meine  Seele  im  Todeskampfe  zuckt,  nichts 
bliebe  als  ein  Gedanke,  eine  Hofihung,  ein  Rettimgs- 
strahl,  nichts  als  der  Wunsch,  vor  meinem  Tode  einen 
kleinen  Platz,  Gubetta,  ein  wenig  Zärtlichkeit,  ein  wenig 
Achtung  in  diesem  so  stolzen  und  reinen  Herzen  zu  ver- 
dienen und  zu  erhalten;  wenn  ich  keinen  andern  Gedanken 
hätte  als  den  Ehrgeiz,  dies  Herz  frei  und  fröhlich  auf 
dem  meinigen  schlagen  zu  fühlen:  begriffest  du  dann  wohl, 
Gubetta,  warum  ich  mich  eile,  das  Geschehene  aufzu- 
wiegen, meinen  Ruf  zu  reinigen,  alle  Flecken,  die  an  mir 
kleben,  abzuwaschen  und  den  Gedanken  an  Schande  und 
Blut,  den  Italien  mit  meinem  Namen  verknüpft,  in  einen 
Gedanken  an  Ehre,  Treue  und  Tugend  zu  verwandeln.- 
GUBETTA.  Mein  Gott,  Donna,  welchem  Pfaffen  habt  Ihr 
heute  auf  die  Füße  getreten: 

LUCRETLA..  Lache  nicht.  Es  ist  lange  her.  daß  ich  diese 
Gedanken  hege,  oline  sie  dir  zu  sagen.  Man  kann  nicht 
nach  Belieben  stehen  bleiben,  wenn  man  durch  einen 
Strom  von  Verbrechen  fortgerissen  wird.  Die  beiden  Dä- 
monen streiten  in  mir,  der  gute  und  der  böse:  aber  ich 
glaube,  daß  der  gute  endlich  siegen  wird. 
GUBETTA.  L'nd  dann  Te  Deum  laudamus,  magnificat 
anima  mea  dominum! — Wißt  Ilir  auch,  Donna,  daß  ich 
Euch  nicht  mehr  begreife  und  daß  Ihr  seit  einiger  Zeit 


3  8  2  ÜBERSETZUNGEN 

eine  Hieroglyphe  für  mich  geworden  seid:  Es  ist  jetzt  ein 
Monat,  daß  Eure  Hoheit  mir  ankündigt,  sie  wolle  nach 
Spoleto  reisen,  und  Abschied  von  Monsignore  Don  Alphons 
von  Este,  ihrem  Gemahl,  nimmt,  der,  beiläufig  gesagt, 
gutmütig  genug  ist,  um  verliebt  zu  sein  wie  eine  Turtel- 
taube und  eifersüchtig  wie  ein  Tiger.  Eure  Hoheit  ver- 
läßt also  Ferrara  und  geht  heimlich  nach  Venedig,  fast 
ohne  Gefolge,  unter  einem  falschen  neapolitanischen  Na- 
men, ich  unter  einem  falschen  spanischen;  Eure  Hoheit 
kommt  nach  Venedig,  trennt  sich  von  mir  und  befiehlt 
mir,  sie  nicht  mehr  zu  kennen,  und  dann  fangt  Ihr  an, 
unter  dem  Schutze  des  Karnevals,  maskiert,  verkleidet, 
allen  verborgen,  auf  den  Festen,  den  Tänzen,  den  Ter- 
tullias  herumzulaufen;  sprecht  mit  mir  jeden  Abend  kaum 
zwischen  Tür  und  Angel  und  beschließt  die  ganze  Mas- 
kerade mit  einer  Predigt,  die  Ihr  mir  haltet!  Eine  Predigt 
von  Euch,  Donna,  ist  das  nicht  seltsam  und  unerhört? 
Ihr  habt  Eiuren  Namen  gewechselt.  Euer  Kleid  gewechselt, 
und  jetzt  wechselt  Ihr  Eure  Seele!  Bei  meiner  Ehre,  das 
heiße  ich  den  Karneval  verzweifelt  weit  treiben,  mir 
schwindelt.  Und  was  ist  die  Ursache  dieses  Benehmens: 
LUCRETIA  (faßt  ihn  lebhaft  beim  Arm  und  fiihrt  ihn  vor 
den  schlafenden  Gennaro).  Siehst  du  diesen  Jüngling? 
GUBETTA.  Der  junge  Mann  ist  nichts  Neues  für  mich, 
ich  weiß,  daß  Ihr  ihm  unter  Eurer  Maske  nachlauft,  seil 
Ihr  zu  Venedig  seid. 
LUCRETIA.  Was  sagst  du  dazu? 

GUBETTA.  Ich  sage,  daß  es  ein  junger  Mensch  ist,  der 
auf  einer  Bank  schläft  und  der  stehend  schlafen  würde, 
wenn  er  nur  ein  Drittel  von  dem  moralischen  und  er-: 
bauenden  Gespräch  gehört  hätte,  das  ich  eben  mit  Eurer 
Hoheit  führte. 

LUCRETIA.  Findest  du  ihn  nicht  sehr  schön? 
GUBETTA.  Er  würde  schöner  sein,  wenn  er  die  Augen 
nicht  geschlossen  hätte.  Ein  Gesicht  ohne  Augen  ist  ein 
Palast  ohne  Fenster. 

LUCRETIA.   Wenn  du  wüßtest,  wie  ich  ihn  liebe! 
GUBETTA.  Das  geht  den  Don  Alphons,  Euren  könig- 
lichen Gemahl,  an.  Ich  muß  Eure  Hoheit  gleichwohl  be- 


LUCRETIA  BORGIA.  ERSTE  HANDLUNG  383 

nachrichtigen,  daß  sie  sich  umsonst  bemüht.  Dieser  junge 
Mann  liebt,  wie  man  mir  sagt,  ein  junges  hübsches  Mäd- 
chen namens  Fiametta. 

LUCRETIA.   Und  das  junge  Mädchen  liebt  ihn? 
GUBETTA.  Ja,  wie  man  sagt. 

LUCRETIA.  Desto  besser,  ich  wünsche  so  sehr,  ihn 
glücklich  zu  wissen. 

GUBETTA.  Das  ist  sonderbar  und  nicht  in  Eurer  Art. 
Ich  hielt  Euch  für  eifersüchtiger. 

LUCRETIA  (indefn  sie  Ge?inaro  betrachtet).  Welch  edle 
Gestalt! 

GUBETTA.  Ich  finde,  daß  er  jemand  gleicht  .  .  . 
LUCRETIA.   Nenne  mir  den  nicht,  dem  du  ihn  ähnlich 
findest! — Laß  mich! 

{Gul)etta  geht  ah.  Donna  Lucretia  bleil)t  einige  Augenblicke 

ivic  entzückt  vor  Gen?ia?'o  stehen;  sie  bemerkt  ziuei  maskierte 

Männer  nicht,  welche  in  den  Hintergrund  der  Bühne  treten 

und  sie  beobachten.) 

LUCRETIA.  Das  ist  er  also!  Endlich  ist  es  mir  vergönnt, 
ihn  einen  Augenblick  ohne  Gefahr  zu  sehen!  Nein,  ich 
hatte  ihn  nicht  schöner  geträumt.  O  Gott,  spare  mir  die 
Qual,  je  von  ihm  gehaßt  oder  verachtet  zu  werden,  du 
weißt,  er  ist  alles,  was  ich  unter  dem  Himmel  liebe!  Ich 
wage  die  Maske  nicht  abzunehmen,  und  doch  muß  ich 
meine  Tränen  trocknen. 

(Sie  nimmt  die  Maske  ab,  um  sich  die  Augen  zu  trocknen. 
Die  beiden  f?iaskierten  Männer  sprechen  leise  tniteinander, 

zuährend  sie  die  Hand  des  schlafenden  Gennaro  küßt.) 
ERSTE  MASKE.  Das  ist  genug,  ich  kann  nach  Ferrara 
zurückkehren.  Ich  war  nur  nach  Venedig  gekonomen,  um 
mich  von  ihrer  Untreue  zu  überzeugen,  ich  habe  genug 
gesehen;  ich  kann  nicht  länger  von  Ferrara  abwesend 
bleiben.  Dieser  junge  Mann  ist  ihr  Geliebter.  Wie  nennt 
man  ihn,  Rustighello.^ 

:  ZWEITE  MASKE.  Er  heißt  Gennaro.  Ein  Hauptmann, 
ein  tapfrer  Abenteurer,  der  weder  Vater  noch  Mutter  hat, 
ein  Mensch,  von  dessen  Herkommen  man  nichts  weiß. 
Er  steht  im  Augenblick  im  Dienste  der  Rejmblik  Venedig. 


384  ÜBERSETZUNGEN 

ERSTE  MASKE.   Sorge,  daß  er  nach  Ferrara  kommt. 
ZWEITE  MASKE.  Das  macht  sich  von  selbst,  Monsignor. 
Er  reist  übermorgen  mit  einigen  seiner  Freunde,  die  zur 
Gesandtschaft  der  Senatoren  Tivpolo  und  Grimani  ge- 
hören, nach  Ferrara. 

ERSTE  MASKE.  Gut.  Die  Berichte  waren  genau.  Ich 
habe  genug  gesehen,  sage  ich  dir,  wir  können  wieder  ab- 
reisen.  (^Sie  gehen  ab.) 

LUCRETIA  {^faltet  die  Hände  und  kniet  vor  Gennaro  fast 
nieder).  O  mein  Gott,  möge  er  so  glücklich  sein,  als  ich 
unglücklich  war!  [Sie  küßt  Gennaro  auf  die  Stirne^  er  er- 
wacht und  sprifigt  auf.) 

GENNARO.    Ein  Kuß!    Ein  Weib!— Auf  Ehre,  Donna, 
wäret  Ihr  Königin,  und  wäre  ich  Dichter,  so  wäre  das 
wahrhaftig  das  Abenteuer  des  Herrn  Alain  Chartier,  des 
französischen  Poeten.   Aber  ich  weiß  nicht,  wer  Ihr  seid, 
und  ich  bin  nichts  als  ein  Soldat. 
LUCRETIA.   Laßt  mich,  Signor  Gennaro. 
GENNARO.   Nicht  doch,  Donna. 
r.üCRETIA.  Man  kommt!  (Sie  entflieht,  Gennaro  folgt  ihr. ) 


DRITTE  SZENE 

Jeppo,  dann  Maffio. 

JEPPO  {tritt  auf  der  entgegengesetzten  Seite  herein).   Was 

ist  das  für  ein  Gesicht:  Sie  ist  es!   Dies  Weib  zu  Venedig! 

He!  Maffio! 

MAFFIO  {tritt  ein).   Was  gibt's.^ 

JEPPO.   Ich  will  dir  was  Unerhörtes  sagen.   {Er  spricht 
leise  mit  Mafflo.) 

MAFFIO.   Und  weißt  du  das  sicher.^ 
JEPPO.   So  sicher,  als  wir  hier  im  Palast  Barbarigo  und 
nicht  im  Palast  Labbia  sind. 

MAFFIO.  Sie  hatte  ein  verliebtes  Gespräch  mit  Gennaro? 
JEPPO.  Mit  Gennaro. 

MAFFIO.   Ich  muß  meinen  Bruder  aus  diesem  Spinnen- 
netz ziehen. 


LUCRETIA  BORGIA.  ERSTE  HANDLUNG  385 

JEIPPO.   Komm,  wir  wollen  unsre  Freunde  davon  unter- 
richten. 

[Sie  gehen  ab.  Die  Bühne  bleibt  während  einiger  Augen- 
blicke leer.  Man  sieht  nur  von  Zeit  zu  Zeit  im  Hintergrunde 
des  Theaters  Gondehi  unter  Musikbegleitung  vorüberfahren. 
Gennaro  kommt  mit  Lucretia  zurück^  sie  ist  maskiert.) 


VIERTE  SZENE 
Gennaro.  Donfta  Lucretia. 
LUCRETIA.   Die  Terrasse  ist  finster  und  verlassen.   Ich 
kann  die  Maske  hier  abnehmen.   Ihr  sollt  mein  Gesicht 
sehen,  Geimaro.   {Sie  nimmt  die  Maske  ab.) 
GENN.\RO.  Ihr  seid  sehr  schön! 

LUCRETIA.    Sieh  mich  scharf  an,   Gennaro,  und  sage 
mir,  ob  ich  dich  nicht  schaudern  mache! 
GENNARO.   Ihr  mich  schaudern  machen!   Und  warum? 
O,  im  Gegenteil,  im  Tiefsten  meines  Herzens  ist  etwas, 
das  mich  zu  Euch  zieht. 

LUCRETIA.  Und  glaubst  du  wohl,  daß  du  mich  lieben 
könntest,  Gennaro: 

GENNx\RO.  Warum  nicht:  Dennoch,  Donna,  ich  bin  auf- 
richtig, es  wird  doch  immer  ein  Weib  geben,  das  ich  mehr 
liebe  als  Euch. 

LUCRETIA  (lächelnd).  Ich  weiß,  die  kleine  Fiametta! 
GENNARO.   Nein. 
LUCRETIA.   Wer  denn: 
GENNARO.  Meine  Mutter. 

LUCRETIA.  Deine  Mutter!  Deine  Mutter!  O  mein  Gen- 
naro! Du  liebst  also  deine  Mutter,  ist  es  nicht  so.- 
GENNARO.  Und  doch  habe  ich  sie  niemals  gesehen. 
Kommt  dies  Euch  nicht  sehr  sonderbar  vor:  Seht,  ich 
weiß  nicht,  was  mich  treibt.  Euch  zu  meiner  Vertrauten 
zu  machen.  Ich  will  Euch  ein  Geheimnis  sagen,  das  ich 
noch  niemand  sagte,  nicht  einmal  meinem  Waffenbruder, 
nicht  einmal  Maffio  Orsini.  Das  ist  seltsam,  sich  dem 
ersten  besten  so  zu  überlassen,  aber  es  ist  mir,  als  hätten 
wir  uns  nicht  zum  ersten  Male  getroffen.— Ich  bin  Haupt- 
mann,   weiß   nichts   von   meiner   Familie   und   wurde  in 

BÜCHNtR  i5. 


386  ÜBERSETZUNGEN 

Kalabrien  von  einem  Fischer  erzogen,  für  dessen  Sohn 
ich  mich  hielt.  Am  Tage,  wo  ich  sechzehn  Jahre  alt  war, 
sagte  mir  der  Fischer,  daß  er  mein  Vater  nicht  sei.  Einige 
Zeit  danach  kam  ein  Herr,  der  mir  die  Rüstung  eines 
Ritters  anlegte  und  wegging,  ohne  das  Visier  seines  Hel- 
mes aufgeschlagen  zu  haben.  Darauf  brachte  mir  ein 
schwarz  gekleideter  Mann  einen  Brief;  ich  öffnete  ihn. 
Meine  Mutter  war  es,  die  mir  schrieb,  meine  Mutter,  die 
ich  nicht  kannte,  meine  Mutter,  von  der  ich  träumte,  wie 
sie  gut  sei,  sanft,  zärtlich,  schön  wie  du,  meine  Mutter, 
die  ich  mit  ganzer  Seele  anbetete!  Aus  diesem  Briefe 
erfuhr  ich  jedoch,  ohne  daß  man  mir  einen  Namen  an- 
gab, daß  ich  adelig  und  aus  einem  großen  Geschlechte 
sei  und  daß  meine  Mutter  sehr  unglücklich  wäre.  Arme 
Mutter! 

LUCRETIA.   Guter  Gennaro! 

GENNARO.  Seit  dem  Tage  lief  ich  nach  Abenteuern, 
weil  ich  durch  meinen  Degen  so  gut  etwas  werden  wollte, 
als  durch  meine  Geburt.  Ich  durchstrich  ganz  Italien. 
Aber  den  ersten  Tag  jedes  Monats,  wo  ich  auch  sei,  sehe 
ich  immer  den  nämlichen  Boten  kommen.  Er  bringt  mir 
einen  Brief  von  meiner  Mutter,  nimmt  meine  Antwort  und 
geht.  Er  sagt  mir  nichts,  und  ich  sage  ihm  nichts,  denn 
er  ist  taub  und  stumm. 

LUCRETIA.  So  weißt  du  also  nichts  von  deiner  Familie? 
GENNARO.  Ich  weiß,  daß  ich  eine  Mutter  habe,  und 
daß  sie  unglücklich  ist,  und  daß  ich  mein  Leben  in  dieser 
Welt  darum  geben  würde,  sie  einmal  weinen,  und  mein 
Leben  in  der  anderen,  sie  einmal  lächeln  zu  sehen.  Das 
ist  alles. 

LUCRETIA.  Was  machst  du  mit  ihren  Briefen? 
GENNARO.    Ich  habe  sie  alle  da  auf  meinem  Herzen. 
Wir  Kriegsleute  wagen  unsre  Brust  oft  gegen  eine  Degen - 
spitze.   Die  Briefe  einer  Mutter  sind  ein  guter  Harnisch. 
LUCRETIA.   Edle  Natur! 

GENNARO.   Seht,  wollt  Ihr  auch  ihre  Schriftzüge  sehen? 
Da  ist  einer  von  ihren  Briefen.   {Er  zieht  ein  Papier  aus 
dem  Busen,  küßt  es  und  gibt  es  der  Donna  Lucretia.) 
LUCRETIA  {liest).    ''Mein  Gennaro,   suche  nicht  mich 


LUCRETIA  BORGIA.   ERSTE  HANDLUNG  387 

kennen  zu  lernen  vor  dem  Tage,  den  ich  dir  bestimmen 
werde.  Ich  bin  sehr  zu  beklagen.  Ich  bin  von  erbarmungs- 
losen Verwandten  umgeben,  die  dich  töten  würden,  wie 
sie  deinen  Vater  getötet  haben.  Ich,  mein  Kind,  will 
allein  um  das  Geheimnis  deiner  Geburt  wissen.  Wenn  du 
es  wüßtesti  Doch  das  ist  zugleich  so  traurig  und  so  glän- 
zend, daß  du  nicht  schweigen  könntest.  Die  Jugend  ist 
zutraulich,  die  Gefahren,  die  dich  umgeben,  kennst  du 
nicht,  so  wie  ich  sie  kenne.  Wer  weiß.^  du  würdest  ihnen 
aus  jugendlichem  Übermute  trotzen  wollen.  Du  würdest 
sprechen  oder  dich  erraten  lassen,  und  dann  keine  zwei 
Tage  mehr  leben.  O  nein!  Begnüge  dich  mit  der  Gewiß- 
heit, daß  du  eine  Mutter  hast,  die  dich  anbetet  und  Tag 
und  Nacht  über  dein  Leben  wacht.  Mein  Gennaro,  mein 
Sohn,  du  bist  alles,  was  ich  auf  Erden  liebe,  mein  Herz 
schmilzt,  wenn  ich  an  dich  denke."  {Sie  hält  ein ^  um  eine 
T7'ä7ie  zu  verschlucken.) 

GENNARO.  Wie  gefühlvoll  Ihr  das  lest!  Man  sollte  mei- 
nen, Ihr  läset  nicht,  sondern  Ihr  sprächet.  Ach!  Ihr  weint! 
Ihr  seid  gut,  Donna,  und  ich  liebe  Euch,  weil  Ihr  um  das 
weint,  was  meine  Mutter  geschrieben.  (Er  nimmt den  Briefe 
kiißt  ihn  und  steckt  ihn  wieder  in  den.  Busen.)  Ja,  Ihr  seht, 
es  gab  Verbrechen  genug  um  meine  Wiege.  Meine  arme 
Mutter!  Nicht  wahr,  jetzt  begreift  Ihr,  warum  ich  mich 
wenig  um  Galanterien  und  Liebeshändel  kümmere.-  wie 
ich  nur  einen  Gedanken  im  Herzen  habe,  meine  Mutter! 
Ach,  meine  Mutter  befreien,  ihr  dienen,  sie  rächen,  sie 
trösten!  W>lch  Glück!  Dann  will  ich  an  Liebe  denken! 
Alles,  was  ich  tue,  tue  ich,  um  meiner  Mutter  würdig  zu 
werden.  Es  gibt  Abenteurer  genug,  die  nicht  gewissenhaft 
sind  und  die  sich  für  den  Teufel  schlagen  würden,  nach- 
dem sie  für  den  heiligen  Michael  gefochten.  Ich  unter- 
stütze nur  die  gerechte  Sache,  ich  will  eines  Tages  einen 
Degen  so  rein,  wie  den  eines  Königs,  zu  den  Füßen  meiner 
Mutter  legen  können.  Seht,  Donna,  man  hat  mir  einen 
vorteilhaften  Platz  im  Dienste  dieser  ehrlosen  Donna 
Lucretia  angeboten,  ich  habe  ihn  ausgeschlagen. 
LUCRETIA.  Gennaro!  Gennaro!  erbarmt  Euch  der  Bösen! 
Ihr  wißt  nicht,  was  in  ihrem  Herzen  vorgeht. 


388  ÜBERSETZUNGEN 

GENNARO.  Ich  habe  kein  Erbarmen  für  das,  was  ohne 
Erbarmen  ist.  Aber  lassen  wir  das,  Donna,  und  jetzt,  da 
ich  Euch  gesagt  habe,  wer  ich  bin,  tut  mir  das  nämliche 
und  sagt  mir,  wer  Ihr  seid: 

LUCRETIA.   Ein  Weib,  das  dich  liebt,  Gennaro. 
GENNARO.   Aber  Euer  Name: 
LUCRETIA.  Fraget  mich  nicht  weiter. 
(Fackeln.  Jeppo  und  Maffio  treten  mit  Geräusch  herein. 
Donna  Lucretia  nimmt  eilig  die  Maske  vor.) 


FÜNFTE  SZENE 

Die  Nämlichen.   Maffio  Orsini^  f^ppo  Liveretto,  Ascanio 
Fetrucci,  Oloferno  Vitellozzo.  Don  Apostolo  Gazella. 
(Herrn ^  Dajnen,  Fagen  mit  Fackeln) 
MAFFIO  (eine  Fackel  in  der  Hand).   Gennaro,  willst  du 
wissen,  wer  das  Weib  ist,  dem  du  von  Liebe  sprichst: 
LUCRETIA  (beiseite).   Gerechter  Himmel! 
GENNARO.   Ihr  alle  seid  meine  Freunde,  aber  der  ist 
ein  toller  Bursche,  der  die  Maske  dieser  Dame  berührt. 
Die  Maske  eines  Weibes  ist  so  heilig,  wie  das  Gesicht 
eines  Mannes. 

MAFFIO.  Das  Weib  muß  vorerst  ein  Weib  sein,  Gennaro! 
Wir  wollen  dieses  da  übrigens  nicht  beleidigen,  wir  wollen 
ihm  nur  unsere  Namen  sagen.  (Er  nähert  sich  der  Donna 
Lucretia:)  Donna,  ich  bin  Maffio  Orsini,  Bruder  des  Her- 
zogs von  Gravina,  welchen  Eure  Sbirren  des  Nachts,  als 
er  schlief,  erdi-osselt  haben. 

JEPPO.  Donna,  ich  bin  Jeppo  Liveretto,  Neffe  desLiveretto 
Vitelli,  den  Ihr  in  den  Kellern  des  Vatikan  erdolchen 
ließt. 

ASCANIO.  Donna,  ich  bin  Ascanio  Petrucci,  Vetter  des 
Pandolfo  Petrucci,  Herrn  von  Siena,  den  Ihr  ermordet 
habt,  um  ihm  desto  leichter  seine  Stadt  zu  stehlen. 
OLOFERNO.  Donna,  ich  heiße  Oloferno  Vitellozzo  und 
bin  ein  Neffe  des  Jago  Appiani,  den  Ihr  bei  einem  Gast- 
mahl vergiftet  habt,  nachdem  Ilir  ihm  durch  Verrat  seine 
gute  Feste  Piombino  weggenommen. 
APOSTOLO.    Donna,   Ihr  habt  auf  dem  Schafotte  den 


LUCRETIA  BORGJA.   ERSTE  HANDLUNG  389 

Don  Francisco  Gazella  töten   lassen,   den  Onkel   Eures 

dritten  Gemahls,  des  Don  Alphons  von  Aragonien,  den 

Ihr  auf  der  Treppe  der  Peterskirche  mit  Spießen  erstechen 

ließt.    Ich  bin  Don  Apostolo  Gazella,  Vetter  des  einen 

und  Solin  des  andern. 

LUCRETIA.   O  Gott! 

GENNARO.   Wer  ist  dies  Weib: 

MAFFIO.   Und  wollt  Ihr  jetzt,  Donna,  nachdem  wir  Eucji 

unsre  Namen  genannt,  daß  wir  Euch  auch  den  Eurigen 

nennen: 

LUCRETIA.    Nein,   nein.    Habt  Mitleid,   meine    Herrn! 

Nicht  vor  ihm! 

MAPT'IO  {klimmt  ihr  die  Maske  ab).   Nehmt  Eure  Maske 

ab,  Domia,  damit  wir  sehen,  ob  Ilir  noch  erröten  könnt. 

APOSTOLO.    Gennaro,  dies  Weib,  dem.  du  von  Liebe 

sprachst,  misclit  Gift  und  treibt  Ehebruch. 

JEPPO.   Treibt  Blutschande  in  allen  Graden.  Blutschande 

mit  ihren  beiden  Brüdern,  von  denen  der  eine  den  andern 

aus  Liebe  für  sie  erschlagen  hat. 

],ÜCRETIA.  Gnade! 

.APOSTOLO.   Blutschande  mit  ihrem  Vater,  der  Papst  ist. 

LUCRETIA.   Erbarmen! 

OLOFERNO.   Blutschande  mit  ihreii  Kindern,  wenn  sie 

deren  hätte,  aber  der  Himmel  versagt  sie  dem  Ungeheuer. 

LUCRETIA.   Genug,  genug! 

MAFFIO.  Willst  du  ihren  Namen  wissen,  Gennaro.' 

LUCRETIA  {schleppt  sich  zu  den  Knien  Gennaros).   Höre 

nicht,  mein  Gennaro! 

MAFFIO  {streckt  die  Arme  aus).   Das  ist  Lucretia  Borgia. 

GENNARO  {stößt  sie  ziiritck).   Oh! 

{Sie  sinkt  ohnmächtig  zu  seinen  Fußen  nieder.) 


ZWEITE  ABTEILUNG 

Ein  Platz  zu  Ferrara\  zur  Rechten  ein  Palast  mit  einer 
niedrigen  Türe  und  mit  einem  Balkon^  der  mit  Jalousie7i  ver- 
sehe?! ist.  U?iter  dem  Balkon  ein  großes  Steinschild  mit 
einem  Wappen]  der  Najne  Borgia  steht  in  großen  erhabenen 


390  ÜBERSETZUNGEN 

Lettern  von  vergoldetem  Kupfer  darunter.  Zur  Lmken  ein 
kleines  Haus,  dessen  Türe  auf  den  Platz  geht.  Im  Hinter- 
grund Häuser,  Türme. 


ERSTE  SZENE 

Donna  Lucretia.  Gubetta. 
LUCRETIA.  Ist  alles  für  diesen  Abend  bereit,  Gubetta: 
GUBETTA.  Ja,  Donna. 
LUCRETIA.   Werden  sie  alle  fünf  dort  sein? 
GUBETTA.   Alle  fünf. 

LUCRETIA.  Sie  haben  mich  aufs  grausamste  beleidigt, 
Gubetta. 

GUBETTA.   Ich  war  nicht  da,  ich. 
LUCRETIA.   Sie  waren  ohne  Erbarmen. 
GUBETTx\.   Sie  haben  Euch  so  ganz  laut  Euern  Namen 
gesagt? 

LUCRETIA.   Sie  haben  mir  ihn  nicht  gesagt,   Gubetta, 
sie  haben  mir  ihn  ins  Gesicht  gespien. 
GUBETTA.   Mitten  auf  dem  Ball! 
LUCRETIA.   Vor  Gennaro! 

GUBETTA.  Das  sind  zuversichtliche  Toren,  Venedig  zu 
verlassen  und  nach  Ferrara  zu  kommen!  Es  ist  wahr,  sie 
konnten  nicht  anders,  sie  waren  vom  Senate  beauftragt, 
teil  an  der  Gesandtschaft  zu  nehmen,  welche  die  vorige 
Woche  angekommen  ist. 

LUCRETIA.  Oh!  er  haßt  und  verachtet  mich  jetzt,  und 
das  ist  ihre  Schuld. — Ha,  Gubetta,  ich  werde  mich  rächen! 
GUBETTA.  Zur  guten  Stunde!  Das  ist  ein  Wort!  Gott 
sei  gelobt.  Eure  Barmherzigkeitslaunen  haben  Euch  also 
verlassen!  Es  ist  mir  viel  behaglicher  bei  Eurer  Hoheit, 
wenn  sie  so  natürlich  ist,  wie  eben!  Ich  finde  mich  we- 
nigstens wieder  darin.  Seht,  Donna,  ein  See  ist  das  Gegen- 
teil von  einer  Insel,  ein  Turm  ist  das  Gegenteil  von  einem 
Brunnen,  eine  Wasserleitung  ist  das  Gegenteil  von  einer 
Brücke,  und  ich,  ich  habe  die  Ehre  das  Gegenteil  von 
einer  tugendhaften  Person  zu  sein. 

LUCRETIA.  Gennaro  ist  bei  ihnen.  Gib  acht,  daß  ihm 
nichts  zustößt. 


LUCRETIA  BORGIA.   ERSTE  HANDLUNG  391 

GUBETTA.   Wenn  Ihr  ein  gutes  Weib  würdet,  und  ich 
würde  ein  guter  Mann,  das  wäre  was  Ungeheures. 
LUCRETIA.   Gib  acht,  daß  Gennaro  nichts  zustößt,  sage 
ich  dir. 

GUBETTA.   Seid  ruhig. 

LUCRETIA.  Ich  möchte  ihn  gleichwohl  noch  einmal 
sehen. 

GUBETTA.  Bei  Gott,  Donna,  Eure  Hoheit  sieht  ihn  alle 
Tage.  Ihr  habt  seinen  Knecht  bestochen,  damit  er  seinen 
Herrn  bestimme,  seine  Wohnung  da  zu  nehmen,  in  diesem 
Nest,  Eurem  Balkon  gegenüber,  und  von  Eurem  Gitter- 
fenster aus  habt  Ihr  nun  alle  Tage  das  unaussprechliche 
Glück,  den  genannten  Edelmann  ein  und  aus  gehen  zu 
sehen. 

LUCRETIA.  Ich  sage  dir,  daß  ich  ihn  sprechen  will, 
Gubetta. 

GUBETTA.  Nichts  einfacher.  Laßt  ihm  durch  Astolfo 
sagen,  daß  Eure  Hoheit  ihn  heute  zu  der  und  der  Stunde 
im  Palast  erwartet. 

LUCRETIA.  Das  will  ich  tun,  Gubetta.  Abends  wird  er 
kommen. - 

GUBETTA.  Tretet  ziurück,  Donna,  ich  glaube,  daß  er  so- 
gleich mit  den  bewußten  Vögeln  hier  vorbeikommen  wird. 
LUCRETIA.  Halten  sie  dich  immer  für  den  Grafen  Bel- 
verana: 

GUBETTA.    Sie  halten  mich  für  einen  Spanier  vom  Wir- 
bel bis  zur  Sohle.   Ich  bin  einer  ihrer  besten  Freunde. 
Ich  borge  Geld  bei  ihnen. 
LUCRETIA.   Geld!   Zu  was: 

GUBETTA.  Wahrhaftig,  imi  es  zu  haben.  Übrigens  ist 
nichts  spanischer,  als  wie  ein  Bettler  auszusehen,  und  den 
Teufel  beim  Schwanz  zu  ziehen. 

LUCRETIA  {beiseite).  O  mein  Gott,  schütze  Gennaro! 
GUBETTA.  Und  darüber,  Donna,  kommt  mir  was  ein. 
LUCRETIA.   Nun.- 

GUBETTA.  Daß  dem  Teufel  der  Schwanz  sehr  solid  an 
das  Kreuz  geleimt,  genagelt  und  geschraubt  sein  muß, 
weil  er  die  unendliche  Zahl  von  Leuten  trägt,  die  bestän- 
dig daran  ziehen. 


392  ÜBERSETZUNGEN 

LUCRETIA.   Du  lachst  über  alles,  Gubetta. 
GUBETTA.  Eine  Art,  so  gut  wie  eine  andre. 
LUCRETIA.    Ich  glaube,  da  sind  sie.    Denke  an  alles. 
{Sie  geht  durch  die  kleine  Türe  iinte?-  dem  Balkon  in  den 
Palast  zurück^ 

* 

ZWEITE  SZENE 

Gubetta^    dann    Gennaro,   Maffio,  Jeppo^   Ascanio^   Don 

Apostolo,  Olofer?io. 
GUBETTA  (allein).  Was  ist  das  mit  dem  Gennaro:  Und 
was  zum  Teufel  hat  sie  mit  ihm  vor.^  Ich  kenne  nicht 
alle  Geheimnisse  der  Donna,  o  noch  lange  nicht,  aber 
dies  da  stachelt  meine  Neugierde.  Meiner  Treu,  sie  hat 
mir  diesmal  nicht  getraut,  sie  braucht  sich  nicht  einzu- 
bilden, daß  ich  ihr  bei  der  Sache  behilflich  sein  werde, 
sie  mag  sich  aus  der  Geschichte  mit  dem  Gennaro  ziehen, 
so  gut  sie  kann.  Aber  was  ein  sonderbarer  Einfall,  einen 
Menschen  zu  lieben,  wenn  man  die  Tochter  des  Borgia 
und  der  Vanozza,  wenn  man  ein  Weib  ist,  in  dessen  Adern 
das  Blut  einer  Hure  und  das  Blut  eines  Papstes  fließt. 
Donna  Lucretia  wird  platonisch.  Ich  wundre  mich  jetzt 
über  nichts  mehr,  selbst  wenn  man  mir  sagte,  daß  der 
Papst  Alexander  VII.  an  Gott  glaube!  Fort!  Da  kommen 
die  jungen  Toren  vom  Karneval  von  Venedig.  Ein  schö- 
ner Einfall,  ein  sicheres  Land  zu  verlassen  und  nach 
Ferrara  zu  kommen,  nachdem  man  die  Herzogin  von 
Ferrara  tödlich  beleidigt!  An  ihrer  Stelle  hätte  ich  mich 
gehütet,  an  der  Reise  der  venetianischen  Gesandten  teil- 
zunelimen.  Aber  so  sind  einmal  die  jungen  Leute.  Der 
Rachen  des  Wolfes  ist  unter  allen  Dingen  unter  dem 
Monde  das,  worein  sie  sich  am  liebsten  stürzen. 

Die  jungen  Herren  treten  auf,  ohne  anfangs  Gubetta  zu 
bemerken,  der  sich,  um  sie  zu  beobachten,  hinter  einen  der 
Pfeiler,  die  den  Balkon  tragen,  zurückgezogen  hat.  Sie  sehen 

unruhig  aus  und  sprechen  leise  miteina?ider. 
MAFFIO  {leise).    Ihr  mögt  sagen,   was  ihr  wollt,  meine 
Herren,  man  kann  sich  die  Mühe  sparen  nach  Ferrara  zu 


I.UCRETIA  BORGIA.   ERSTE  HANDLUNG  393 

gehen,  wenn  man  Donna  Lucretia  aufs  tiefste  verwun- 
det hat. 

APOSTOLO.  Was  können  wir  tun?  Der  Senat  schickt 
uns  hierher.  Ist  es  möglich,  sich  über  die  Befehle  des 
hohen  Senates  von  Venedig  wegzusetzen.-  Einmal  be- 
zeichnet, mußten  wir  fort.  Gleichwohl,  Maffio,  verhehle 
ich  mir  nicht,  daß  Lucretia  Borgia  eine  furchtbare  Feindin 
ist.   Sie  ist  hier  Herrin. 

JEPPO.  Was  könnte  sie  uns  antun,  Apostolo?  Sind  wir 
nicht  im  Dienste  der  Republik  Venedig?  Gehören  wir 
nicht  zu  ihrer  Gesandtschaft?  Uns  ein  Haar  auf  dem  Haupte 
krümmen  hieße  dem  Dogen  den  Krieg  erklären,  und  Fer- 
rara  reibt  sich  nicht  gern  an  Venedig. 
GENNARO  {träitmt  in  eine?-  Ecke  der  Bühne ^  ohne  sich  in 
das  Gespräch  zu  mischen).  O  meine  Mutter^  meine  Mutter! 
Wer  wird  mir  sagen,  was  ich  für  meine  arme  Mutter  tun 
kann! 

MAFFIO.  Man  kann  dich,  so  lang  du  bist,  Jeppo,  in  den 
Sarg  legen,  ohne  ein  Haar  auf  deinem  Haupt  zu  krümmen. 
Es  gibt  Gifte,  welche  ohne  Aufsehen  und  Lärm  die  Ge- 
schäfte der  Borgia  abtun  und  das  viel  sicherer  als  Beil 
und  Dolch.  Denke,  auf  welche  Weise  Alexander  VI.  den 
Sultan  Zizimi,  Bajazets  Bruder,  aus  der  Welt  gehen  machte. 
OLOFERNO.  Und  so  viele  andere. 
APOSTOLO.  Das  ist  eine  sonderbare  und  unheimliche 
Geschichte  mit  dem  Bruder  des  Bajazet.  Der  Papst  machte 
ihn  glauben,  Karl  von  Frankreich  habe  ihn  an  dem  Tage, 
wo  sie  zusammen  speisten,  vergiftet;  Zizimi  glaubte  aUes 
und  erhielt  aus  den  schönen  Händen  der  Lucretia  Borgia 
ein  sogenanntes  Gegengift,  was  innerhalb  zwei  Stunden 
seinen  Bruder  Bajazet  von  ihm  befreite. 
JEPPO.  Der  ehrliche  Türke  scheint  sich  wenig  auf  Politik 
verstanden  zu  haben. 

MAFFIO.  Ja,  die  Borgia  haben  Gifte,  die  nach  einem 
Tage  töten,  nach  einem  Monate,  nach  einem  Jahre,  wie 
sie  wollen.  Das  sind  schändliche  Gifte,  die  den  Wein 
süßer  machen  und  einem  die  Flasche  mit  mehr  Vergnügen 
leeren  lassen.  Man  hält  sich  für  berauscht,  man  ist  tot. 
Oder  man  fängt  plötzlich  an  siech  zu  werden,  die  Haut 


394  ÜBERSETZUNGEN 

bekommt  Runzeln,  die  Augen  werden  hohl,  die  Haare    | 
grau,  die  Zähne  brechen  wie  Glas;  man  geht  nicht  mehr, 
man  schleppt  sich;  man  atmet  nicht,  man  röchelt;  man 
lacht  nicht,  man  schläft  nicht,  man  fröstelt  in  der  Sonne 
am  hellen  Mittag;   ein  Jüngling  bekömmt  das  Aussehen 
eines  Greises;  so  kämpft  er  eine  Zeitlang  mit  dem  Tode;    i 
er  stirbt,  und  dann  erinnert  man  sich,  daß  er  ein  halbes    | 
Jahr  oder  ein  Jahr  zuvor  ein  Glas  Zyperwein  bei  einem    ! 
Borgia  getrunken.   (Er  kehrt  sich  um:)  Seht,  meine  Herrn, 
da  kommt  grade  Montefeltro,  ihr  kennt  ihn  vielleicht,  er    , 
ist  aus  dieser  Stadt,  und  dem  geht  es  grade  so.   Er  geht 
da  im  Hintergrunde  des  Platzes  vorbei.   Betrachtet  ihn. 
{^Man  sieht  im  Hintergrunde  der  Bühne  einen  ^nageren^ 
wafikenden  und  hinkenden  Mann  mit  graue7i  Haaren  vor- 
übergehen^ er  stützt  sich  auf  einen  Stock  und  ist  in  einen 

Mantel  gehüllt.) 
ASCANIO.  Armer  Montefeltro! 
APOSTOLO.  Wie  alt  ist  er: 
MAFFIO.   So  alt  wie  ich,  neunundzwanzig  Jahre. 
OLOFERNO.   Ich  sah  ihn  voriges  Jahr  so  frisch  und  ge-  J 
sund,  wie  einer  von  euch.  1 

MAFFIO.  Es  sind  jetzt  drei  Monate,  daß  er  bei  unserm 
Heiligen  Vater,  dem  Papst,  in  der  Vigne  des  Belvedere 
zu  Nacht  gespeist  hat.  Oh!  Man  erzählt  sich  seltsame 
Dinge  von  den  Gastmählern  der  Borgia. 
ASCANIO.  Das  sind  zügellose,  mit  Gift  gewürzte  Orgien. 
MAFFIO.  Seht,  meine  Herrn,  wie  der  Platz  da  verlassen 
ist.  Das  Volk  wagt  sich  dem  fürstlichen  Palast  nicht  so 
nahe,  es  scheut  das  Gift,  welches  Tag  und  Nacht  darin 
bereitet  wird  und  von  den  Mauern  ausdünstet. 
ASCANIO.  Meine  Herrn,  mit  einem  Wort,  die  Gesandten 
hatten  gestern  ihre  Audienz  beim  Herzog,  unser  Dienst 
ist  zu  Ende.  Das  Gefolge  der  Gesandtschaft  besteht  aus 
fünfzig  Reutern.  Man  würde  unsere  Entfernung  nicht  be- 
merken. Ich  glaube,  daß  wir  wohl  daran  täten,  wenn  wir 
Ferrara  verließen. 
MAFFIO.  Heute  noch. 

JEPPO.   Meine  Herren,  dazu  ist  auch  morgen  Zeit.   Ich 
bin  zum  Abendessen  bei  der  Fürstin  Negroni  eingeladen. 


LUCRETIA  BORGIA.  ERSTE  HANDLUNG   395 

ich  bin  zum  Tollwerden  in  sie  verliebt  und  möchte  nicht 
aussehen,  als  liefe  ich  vor  den  schönsten  Damen  von 
Ferrara  fort. 

OLOFERNO.   Du  bist  zum  Abendessen  bei  der  Fürstin 
Negroni  eingeladen : 
JEPPO.  Ja. 

OLOFERNO.  Und  ich  auch. 
ASCANIO.  Und  ich. 
APOSTOLO.  Und  ich. 
MAFFIO.  Und  ich. 
GUBETTA.   Und  ich,  meine  Herren! 
JEPPO.   Ach!  Herr  von  Belverana.   Nun,  wir  gehen  alle 
hin,  das  gibt  einen  fröhlichen  Abend.   Guten  Tag,  Herr 
von  Belverana. 

GUBETTA.  Möge  Gott  Euch  viele  Jahre  schenken,  Herr 
Jeppo. 

MAFFIO  {leise  zu  Jeppo).   Du  wirst  mich  abermals  sehr 
ängstlich  finden.   Wir  gingen  nicht  zu  diesem  Essen,  wenn 
du  mir  glaubtest.   Der  Palast  Negroni  stößt  an  den  Palast 
Borgia,  und  ich  setze  kein  großes  Zutrauen  in  die  freund- 
schaftlichen Gesichter  des  Herrn  Belverana. 
JEPPO  {leise).   Du  bist  närrisch,  Maffio.   Die  Negroni  ist 
eine  liebenswürdige  Dame,  ich  sage  dir,  ich  bin  in  sie 
verliebt,  und  Belverana  ist  ein  braver  Mann.  Ich  habe 
über  ihn  und  seine  Familie  Erkundigungen  eingezogen. 
Mein  Vater  war   1480  und  soundso  viel  mit  dem  sei- 
nigen bei  der  Belagerung  von  Granada. 
MAFFIO.   Das  beweist  nicht,  daß  der  Mann  der  Sohn  des 
Vaters  ist,  welcher  bei  deinem  Vater  war. 
JEPPO.    Es  zwingt  dich  niemand,  zu  dem  Gastmahl  zu 
kommen,  Maffio. 

MAFFIO.   Ich  gehe,  wie  du  hingehst,  Jeppo. 
JEPPO.  Dann  Te  Deum  laudamus.    Und  du,   Gennaro, 
;  wirst  du  heute  abend  nicht  unter  uns  sein: 
ASCANIO.  Hat  dich  die  Negroni  nicht  eingeladen? 
GENNARO.   Nein.   Der  Fürstin  bin  ich  wohl  nicht  adelig 
genug. 
'  MAFFIO  {lächelnd).  Dann,  mein  Bruder,  wirst  du  irgend- 
:  ein  verliebtes  Stelldichein  haben,  nicht  wahr? 


396  ÜBERSETZUNGEN 

JEPPO.  Aha,  erzähle  uns  doch  ein  wenig,  was  die  Donna 
Lucretia  jenen  Abend  sagte.  Sie  scheint  ganz  toll  in  dich 
vernarrt  zu  sein.  Sie  wird  dir  viel  davon  vorgeschwätzt 
haben.  Die  Ballfreiheit  kam  ihr  sehr  dabei  zustatten.  Die 
Weiber  verkleiden  nur  iliren  Leib,  um  ihre  Seele  bequemer 
zu  entkleiden.  Maskierte  Gesichter  und  nackte  Herzen! 
[Lucretia  befindet  sich  seit  einigen  Augenhlicken  auf  dem 
Balkon,  tvo  sie  die  Jalousie?i  halb  öffnet^  sie  horcht?^ 
MAFFIO.  Du  mietest  dich  grade  ihrem  Balkon  gegenüber 
ein,  Gennaro!   Gennaro! 

APOSTOLO.  Das  ist  nicht  so  ohne  Gefahr,  mein  Junge, 
man  sagt,  dieser  würdige  Herzog  von  Ferrara  sei  sehr 
eifersüchtig  auf  seine  Frau  Donna. 

OLOFERNO.  Rasch,  Gennaro!  sage  uns,  wie  weit  du  mit 
deiner  Liebschaft  mit  der  Lucretia  bist. 
GENNARO.  Meine  Herren!  einige  Degen  werden  in  der 
Sonne  blitzen,  wenn  ilir  fortfahrt,  mir  von  diesem  ab- 
scheulichen Weibe  zu  sprechen. 
LUCRETIA  (auf  dem  Balkon,  beiseite).   Ach! 
MAFFIO.   Nichts  als  Scherz,  Gennaro.   Aber  ich  dächte, 
man  dürfte  mit  dir  von  dieser  Dame  wohl  sprechen;  du 
trägst  ihre  Farbe. 

GENNARO.  Was  soll  das  heißen: 
MAFFIO  [deutet  auf  seine  Schärpe).   Diese  Schärper 
JEPPO.    Das   sind  in  der  Tat  die  Farben  der  Lucretia 
Borgia. 

GENNARO.   Fiametta  hat  mir  sie  geschickt. 
MAFFIO.    Das  meinst  du.    Lucretia  ließ  dir  das  sagen. 
Aber  Lucretia  ist  es,  welche  die  Schärpe  dir  mit  eignen 
Händen  gestickt  hat. 

GENNARO.  Bist  du  dessen  gewiß,  Maffio?  Woher  weißt 
du  es.'' 

MAFFIO.  Von  deinem  Knecht,  welcher  dir  die  Schärpe 
gebracht  und  den  sie  bestochen  hat. 
GENNARO.  Verdammt!  (Er  7'eißt  die  Schärpe  ab.,  zerreißt 
sie  und  tritt  sie  7?iit  Füßen) 

LUCRETIA  (beiseite).  Ach!  (Sie  schließt  die  Jalousien  u?id 
entfernt  sich.) 


LUCRETIA  BORGIA.  ERSTE  HANDLUNG  397 

MAFFIO.   Und  doch  ist  dies  Weib  schön. 
JEPPO.  Ja,  aber  es  ist  etwas  Unheimliches  in  ihrer  Schön- 
heit. 

MAFFIO.   Sie  ist  ein  Golddukaten  mit  dem  Gepräge  des 
Satans. 

GENNARO.  Oh!  verflucht  sei  diese  LucretiaBorgia!  Dies 
Weib  liebt  mich,  wie  ihr  sagt!  Nun,  desto  besser!  das  soll 
ihre  Strafe  sein.  Sie  macht  mich  schaudern!  Ja,  sie  macht 
mich  schaudern.  Du  weißt,  Maffio,  das  ist  immer  so;  es 
ist  unmöglich,  gleichgültig  gegen  ein  Weib  zu  sein,  von 
dem  man  geliebt  wird.  Man  muß  es  lieben  oder  hassen. 
Wie  sollte  man  diese  da  lieben:  Es  geschieht  auch,  daß 
man  diese  Art  von  Weibern  um  so  mehr  haßt,  je  mehr 
man  von  ihnen  verfolgt  wird.  Dies  Weib  verfolgt  mich, 
quält  mich,  belagert  mich.  Wodurch  konnte  ich  die  Liebe 
einer  Lucretia  Borgia  verdienen:  Ist  das  nicht  Schande 
und  Schmach?  Ihr  könnt  kaum  glauben,  wie  mir  der 
Gedanke  an  dies  verbrecherische  Weib  verhaßt  ist  seit 
der  Nacht,  wo  ihr  mir  so  laut  ihren  Namen  gesagt  habt. 
Sonst  sah  ich  Lucretia  Borgia  nur  von  fern,  zwischen 
tausend  Gegenständen  durch,  wie  ein  schreckliches  Ge- 
spenst aufrecht  über  Italien,  wie  das  Gespenst  einer 
ganzen  Welt.  Jetzt  ist  dies  Gespenst  mein  Gespenst; 
es  setzt  sich  an  mein  Lager,  es  liebt  mich,  es  will  sich 
in  mein  Bett  legen!  Bei  meiner  Mutter,  das  ist  ent- 
setzlich! Ach,  Maffio!  sie  hat  den  Herrn  von  Gravina 
getötet,  sie  hat  deinen  Bruder  getötet!  Ha!  deinen  Bru- 
der! Dir  will  ich  ihn  ersetzen,  an  ihr  will  ich  ihn  rächen! 
— Hier  ist  also  ihr  abscheulicher  Palast!  Palast  der  Wol- 
lust, Palast  des  Verrat,  Palast  des  Mordes,  Palast  des  Ehe- 
bruchs, Palast  der  Blutschande,  Palast  jeglicher  Sünde, 
Palast  der  Lucretia  Borgia!  Daß  ich  diesem  Weibe  das 
Henkerszeichen  nicht  auf  die  Stirn  drücken  kann!  So  will 
ich  wenigstens  die  Stirne  ihres  Palastes  brandmarken! 
{E7-  steigt  auf  eine  unter  dem  Balkon  befindliche  Steinbank 
imd  macht  mit  seine?n  Dolche  den  ersten  Buchstaben  des  auf 
die  Mauer  gehefteten  Namens  Borgia  los,  so  daß  nur  das 
Wort  orgia  bleibt^ 
MAFFIO.   Was  Teufel  madit  er: 


398  ÜBERSETZUNGEN 

JEPPO.  Der  Name  der  Donna  Lucretia  ohne  diesen  Buch- 
staben macht  dich  zu  einem  Manne  ohne  Kopf. 
GUBETTA.  Herr  Gennaro,  das  ist  ein  Wortspiel,   was 
morgen  die  halbe  Stadt  auf  die  Folter  bringt. 
GENNARO.    Ich   werde   mich   stellen,    wenn   man   den 
Schuldigen  sucht. 

GUBETTA  {beiseite).  Das  wäre  mir  recht,  das  würde 
Donna  Lucretia  in  Verlegenheit  bringen. 

Seit  ei?iigen  Augenblicken  gehen  zwei  schwarz  gekleidete 

Mminer  beobachtend  auf  dem  Platze  auf  und  ab. 
MAFFIO.  Meine  Herren,  das  sind  Leute  mit  verdächtigen 
Gesichtern,  sie  betrachten  uns  etwas  neugierig.  Es  wäre 
klug,  wenn  wir  uns  trennten.   Mache  keine  neuen  Toll- 
heiten, mein  Bruder  Gennaro. 

GENNARO.  Sei  ruhig,  Maffio.  Deine  Hand!  Meine 
Herren,  viel  Vergnügen  diese  Nacht! 

(Er  geht  in  sein  Haus^  die  andern  zerstreuen  sich.) 

* 

DRITTE  SZENE 

Die  beiden  schwarz  gekleideten  Männer, 
ERSTER  MANN.  Was  Teufel  machst  du  da,  Rustighello? 
ZWEITER  MANN.   Ich  warte,  bis  du  weggehst,  Astolfo. 
ERSTER  MANN.   In  der  Tat? 

ZWEITER  MANN.  Und  du,  was  machst  du  da,  Astolfo? 
ERSTER  MANN.  Ich  warte,  bis  du  weggehst,  Rustighello. 
ZWEITER  MANN.  Mit  wem  hast  du  es  zu  tun,  Astolfo? 
ERSTER  MANN.  Mit  dem  Manne,  der  eben  da  hinein- 
ging. Und  du,  an  wen  willst  du? 
ZWEITER  MANN.  An  den  nämlichen. 
ERSTER  MANN.  Teufel! 

ZWEITER  MANN.   Was  willst  du  mit  ihm  machen? 
ERSTER  MANN.  Ihn  zur  Herzogin  führen.   Und  du? 
ZWEITER  MANN.  Ihn  zum  Herzog  führen. 
ERSTER  MANN.  Teufel! 

ZWEITER  MANN.  Was  erwartet  ihn  bei  der  Herzogin? 
ERSTER  MANN.  Die  Liebe,  ohne  Zweifel.  Und  bei  dem 
Herzog? 


LüCRETIA  BORGIA.  ZWEITE  HANDLUNG  399 

ZWEITER  MANN.   Der  Galgen,  wahrscheinlich. 
ERSTER  MANN.  Was  tun.^  Er  kann  nicht  zugleich  bei 
dem  Herzog  und  bei  der  Herzogin  sein,  zugleich  Weiber - 
arme  und  den  Strick  am  Hals  haben. 
ZWEITER  MANN.   Da  ist  ein  Dukaten,  spielen  wir  Münz 
oder  Kopf,  wer  von  uns  den  Mann  haben  soll. 
ERSTER  MANN.   Das  ist  ein  Wort. 
ZWEITER  MANN.  Meiner  Treu!  wenn  ich  verliere,  so 
sage  ich  dem  Herzog,  der  Vogel  wäre  ausgeflogen  ge- 
wesen.  Die  Geschäfte  des  Herzogs  kümmern  mich  wenig. 
(El'  ivirft  den  Dukaten  in  die  Luft.) 
ERSTERMANN.   Münze! 
ZWEITER  MANN,   's  ist  Kopf! 

ERSTERMANN.  Der  Mann  wird  gehenkt  werden.  Nimm 
ihn.   Adieu! 

ZWEITER  MANN.   Guten  Abend. 

[Nachdem  der  andere  weggegangen  ist^  öffnet  er  die  niedrige 
Tiire  unter  dem  Balkon^  geht  hinein  und  kommt  einen  Augen- 
blick darauf  in  der  Begleitung  von  vier  Sbirren  zurück^  mit 
denen  er  an  der  Tür  des  Hauses  pocht ^  in  welches  Gennaro 
gegangen) 
{Der  Vorhang  fällt) 


ZWEITE  HANDLUNG 

DAS  PAAR 

Personen 
DONNA  LÜCRETIA  MAFFIO 

DON  ALPHONS  VON  ESTE       RUSTIGHELLO 
GENNARO  EIN  TÜRSTEHER 

Ein  Saal  des  herzoglichen  Palastes  zu  Ferrara,  Tapeten 
von  migarischcfn  Leder  mit  goldnen  Arabesken.  Prächtige 
Möbel  in  dem  zu  E?ide  des  IS-  Jahrhunderts  in  Italien  herr- 
sche7iden  Geschmack.  Der  Stuhl  des  Herzogs  mit  ?-otem 
Samt  überzogen^  in  welchen  das  Wappen  des  Hauses  Este 
gestickt  ist.  Zur  Seite  ein  mit  dergleichen  Samt  bedeckter 
Tisch.  Im  Hintergrund  eine  große  Türe.  Zur  Rechten  eine 
kleifte^  zur  Linken  ei?ie  andere  kleine  verborgene  Türe.  Hinter 


400  ÜBERSETZUNGEN 

der  kleinen  versteckten  Türe  sieht  man  in  einem  auf  der 
Bii}me  angebrachten  Kahiiiett  den  Anfang  einer  Wendel- 
treppe^ die  sich  unter  den  Fußboden  senkt  und  durch  ein 
langes  und  schinales  Gitterfenster  erleuchtet  wird. 


ERSTE  SZENE 

Don  Alphons  von  Este.  Rustighello. 
RUSTIGHELLO.  Herr  Herzog,  Eure  Befehle  sind  voll- 
zogen, und  ich  erwarte  die  übrigen. 
ALPHONS.  Nimm  diesen  Schlüssel.  Geh  in  die  Galerie 
des  Numa.  Zähle  alle  Fächer  des  Getäfels  von  der  großen 
Figur  bei  der  Türe  an;  sie  stellt  den  Herkules,  Sohn  des 
Jupiters,  einen  meiner  Vorfahren,  vor.  Im  dreiundzwan- 
zigsten Feld  wirst  du  eine  kleine,  im  Rachen  einer  gol- 
denen Natter  versteckte  Öffnung  finden.  Ludwig  der  Mauer 
hat  dieses  Feld  machen  lassen.  Stecke  den  Schlüssel  in 
diese  Öffnung.  Das  Feld  wird  sich,  wie  eine  Türe,  auf 
seinen  Angeln  bewegen.  In  dem  verborgenen  Schrank, 
den  es  versteckt,  findest  du  auf  einer  Kristallplatte  zwei 
Flaschen,  eine  von  Gold  und  eine  von  Silber,  mit  zwei 
Bechern.  In  der  silbernen  Flasche  ist  reines  Wasser.  In 
der  goldenen  ist  zubereiteter  Wein.  Du  trägst  die  Platte, 
ohne  etwas  zu  verrücken,  in  das  anstoßende  Zimmer, 
Rustighello,  und  wirst  dich  hüten,  die  goldene  Flasche 
anzurühren,  wenn  du  je  die  Leute  mit  Zähneklappern  von 
dem  Gifte  der  Borgia  hast  reden  hören,  einem  Gifte,  das 
als  Pulver  weiß  und  funkelnd  ist,  wie  der  Staub  von  kar- 
rarischem Marmor,  und  das,  in  den  Wein  gemengt,  Ro- 
morantiner  in  Syrakusaner  verwandelt. 
RUSTIGHELLO.  Ist  das  alles,  mein  Herr: 
ALPHONS.  Nein.  Du  nimmst  deinen  besten  Degen  und 
bleibst  aufrecht  in  dem  Kabinett  hinter  der  Türe  stehen, 
so  daß  du  alles,  was  hier  vorgeht,  hören  und  auf  das  erste 
Zeichen,  das  ich  dir  mit  dieser  silbernen  Schelle  gebe, 
hereintreten  kannst.  Wenn  ich  einfach:  Rustighello!  rufe, 
so  kommst  du  mit  der  Platte  herein.  Wenn  ich  mit  der 
Schelle  klingle,  so  kommst  du  mit  dem  Degen. 
RUSTIGHELLO.   Gut,  mein  Herr. 


LUCRETIA  BORGIA.  ZWEITE  HANDLUNG  401 

ALPHONS.  Du  hältst  den  bloßen  Degen  in  der  Hand, 
um  dir  die  Mühe  des  Ziehens  zu  sparen. 
RUSTIGHELLO.  Jawohl. 

ALPHONS.    Rustighello,  nimm  zwei  Degen,  es  könnte 
einer  brechen.   Fort! 

{Rustighello  geht  dnrc/i  die  kleine  Tirre  a/>.) 

TÜR  STEHER  (triU  durch  die  Tihr  im  Hintergrund  ein). 
Unsere  Donna,  die  Herzogin,  wünscht  den  Herrn  Herzog 
zu  sprechen. 
ALPHONS.   Laßt  unsre  Dame  herein. 


ZWEITE  SZENE 

Don  Alphons.  Donna  Lucrctia. 
LUCRETIA  {tritt  ungestüm  herehi).  Herr!  Herr!  das  ist 
unverschämt,  das  ist  schmachvoll,  das  ist  abscheulich! 
Einer  aus  Eurem  Volke,  wißt  Ihr  das,  Don  Alphons?  Einer 
aus  Eurem  Volke  hat  den  Namen  Eures  Weibes  unter 
dem  Wappen  ihrer  Familie  auf  der  Fronte  Eures  Palastes 
verstümmelt.  Es  geschah  am  hellen  Tage,  öffentlich,  durch 
wen? — ich  weiß  es  nicht;  aber  es  ist  sehr  schmählich  und 
sehr  frech.  Man  hat  aus  meinem  Namen  ein  Aushänge- 
schild fiir  die  Schande  gemacht,  und  Euer  Pöbel  aus 
Ferrara,  der  niederträchtigste  in  ganz  Italien,  Herr,  steht 
da  und  grinst  vor  meinem  Wappen  wie  vor  einem  Pranger. 
Bildet  Ihr  Euch  etwa  ein,  Don  Alphons,  daß  ich  das  so 
hinnehmen  würde,  und  daß  ich  nicht  lieber  auf  einmal 
durch  einen  Dolchstoß  sterben  möchte,  als  tausendmal 
durch  den  giftigen  Biß  des  Spottes  und  des  Pasquills? 
Bei  Gott,  Herr!  man  behandelt  mich  seltsam  in  Eurer 
Herrschaft  Ferrara!  Ich  fange  an,  das  müde  zu  werden; 
ich  finde  Euer  Aussehen  zu  gefällig  und  ruhig,  während 
man  in  den  Gassen  Eurer  Stadt  den  Ruf  Eures  von  Schande 
und  Verleumdung  mit  den  Zähnen  zerri.ssenen  Weibes 
herumzerrt.  Ich  muß  dafür  eine  glänzende  Genugtuung 
haben,  Herr  Herzog!  Ich  sage  es  Euch  voraus.  Bereitet 
Euch,  mir  Recht  zu  verschaffen.  Das  ist  ein  ernsthaftes 
Ereignis,  seht  Ihr?  Glaubt  Ihr  vielleicht,  daß  mir  die  Ach- 

BÜCHNER  26. 


40  2  ÜBERSETZUNGEN 

tung  eines  jeden  unter  der  Sonne  gleichgültig  ist  und  daß 
mein  Gemahl  aufhören  kann,  mein  Ritter  zu  sein?  Nein, 
nein,  mein  Herr!  wer  sich  vermählt,  der  schirmt,  wer  die 
Hand  gibt,  der  gibt  den  Arm.  Ich  zähle  darauf.  Alle  Tage 
neue  Beleidigungen,  und  immer  sehe  ich  Euch  gefühllos 
dafür.  Spritzt  der  Kot,  womit  man  mich  bewirft,  nicht 
auch  auf  Euch,  Don  Alphons:  Ha,  bei  meiner  Seele,  wer- 
det doch  ein  wenig  zornig,  Herr,  damit  ich  Euch  doch 
einmal  in  meinem  Leben  im  Zorn  um  mich  sehe.  Ihr 
liebt  mich,  wie  Ihr  manchmal  sagt:  So  liebt  doch  meine 
Ehre!  Ihr  seid  eifersüchtig?  So  seid  es  doch  auf  meinen 
Ruf!  Wenn  ich  durch  meine  Mitgift  Eure  Erbgüter  ver- 
doppelt; wenn  ich  Euch  zum  Hochzeitgeschenk  nicht  nur 
die  goldene  Rose  und  den  Segen  des  Heiligen  Vaters, 
sondern  auch  noch  etwas  mitgebracht  habe,  das  mehr 
Platz  einnimmt  auf  dieser  Erde:  Siena,  Rimini,  Cesena, 
Spoleto  und  Piombino  und  mehr  Städte,  als  Ihr  Schlösser, 
und  mehr  Herzogtümer,  als  Ihr  Baronien  hattet;  wenn  ich 
Euch  zum  mächtigsten  Edelmann  Italiens  gemacht  habe, 
so  ist  das  wohl  ein  Grund,  Herr,  mich  dem  Gespötte,  dem 
Geschrei  und  den  Beleidigungen  Eures  Pöbels  preiszu- 
geben; ein  Grund,  Euer  Ferrara  vor  ganz  Europa  mit  den 
Fingern  auf  Euer  verachtetes  und  unter  der  Magd  Eurer 
Stallknechte  stehendes  Weib  deuten  zu  lassen;  so  ist  das 
wohl  ein  Grund,  sage  ich,  daß  Eure  Untertanen  mich  nicht 
durch  ihre  Mitte  können  gehen  sehen,  ohne  zu  sagen:  Ha, 
dies  Weib!  .  .  .  Ich  erkläre  es  Euch,  Herr,  das  heutige 
Verbrechen  muß  untersucht  und  strenge  bestraft  werden, 
wenn  ich  nicht  bei  dem  Papst  oder  dem  Valentinois,  der 
zuForli  mit  fünfzehntausend  Kriegsleuten  steht,  Klage  füh- 
ren soll,  und  dann  mögt  Ihr  zusehen,  ob  es  wohl  der  Mühe 
wert  ist,  sich  darum  aus  Eurem  Sessel  zu  rütteln. 
DON  ALPHONSO.  Donna,  ich  bin  von  dem  Verbrechen 
unterrichtet,  worüber  Ihr  klagt. 

LUCRETIA.   Wie,  Herr!   Ihr  wißt  von  dem  Verbrechen, 
und  der  Verbrecher  ist  nicht  entdeckt? 
ALPHONS.   Der  Verbrecher  ist  entdeckt. 
LUCRETIA.    Bei  Gott!  wie  kömmt  es,  daß  er  alsdann 
noch  nicht  verhaftet  ist? 


LUCRETIA  BORGIA.  ZWEITE  HANDLUNG  403 

ALPHONS.   Er  ist  verhaftet,  Donna. 
LUCRETIA.  Bei  meiner  Seele!   wie  kommt  es,  daß  er 
seine  Strafe  noch  nicht  erhalten  hat: 
ALPHONS.  Er  wird  sie  erhalten.    Ich  wollte  erst  Eure 
Meinung  über  die  Strafe  hören. 

LUCRETIA.  Ihr  habt  wohl  daran  getan,  Herr!  Wo  ist  er? 
ALPHONS.  Hier. 

LUCRETIA.  Ha,  hier!  Man  muß  ein  Beispiel  geben,  hört 
Ihr,  Herr:  Das  ist  ein  Majestätsverbrechen.  Solche  Ver- 
brechen machen  immer  den  Kopf  fallen,  welcher  sie  aus- 
sinnt, und  die  Hand,  welche  sie  ausführt. — Ha,  er  ist  hier! 
Ich  will  ihn  sehen. 

ALPHONS.  Das  ist  leicht.  {Erruf ti)  Bautista!  (Der  Tür- 
Steher  tritt  ein.) 

LUCRETIA.  Noch  ein  Wort,  Herr,  ehe  der  Verbrecher 
hereingeführt  wird.  Gebt  mir  Euer  Wort  als  gekrönter 
Herzog,  Don  Alphons,  daß  er,  wer  er  auch  sei,  aus  Eurer 
Stadt  oder  Eurem  Hause  nicht  lebend  von  hier  weg  soll. 
ALPHONS.  Ihr  habt  es.— Ich  gebe  es  Euch,  Donna,  ver- 
steht Ihr  wohl.- 

LUCRETIA.  Gut.  Ha,  ich  verstehe!  Führt  ihn  her,  damit 
ich  ihn  selbst  vernehme.  Mein  Gott!  was  habe  ich  doch 
diesen  Leuten  zu  Ferrara  getan,  daß  sie  mich  so  verfolgen? 
ALPHONS  (zum  Türsteher).  Führt  den  Gefangenen  herein. 
(Die  Türe  im  Hi?itergrund  öffnet  sich.  Man  sieht  Gennaro 
entwaffnet  zwischen  zwei  Hellebardieren  hereintreten.  In 
de?n  nämlichen  Augenblick  sieht  man  Rustighello  die  Treppe 
in  dem  kleinen  Zimmer  zur  Linken  hinter  der  verborgenen 
Türe  heraufsteigen.  In  der  Harid  hält  er  eine  Platte^  worauf 
eine  goldene  und  eine  silberne  Flasche  nebst  zwei  Bechern 
stehen.  Er  stellt  die  Platte  auf  den  Fenstervorsprung ^  zieht 
seinen  Degen  und  stellt  sich  Jmiter  die  Türe.) 


DRITTE  SZENE 

Die  Nämlichen.    Gennaro. 
LUCRETIA.   Gennaro! 

ALPHONS  (nähert  sich  ihr.  Leise  und  läcJicliid).   Kennt 
Ihr  den  Mann: 


404  ÜBERSETZUNGEN 

LUCRETIA.    Es  ist  Gennaro.  Welche  Schickung,  mein 
Gott!  {Sie  betrachtet  ihn  ängstlich^  er  wendet  die  Augen  ah.) 
GENNARO.  Herr  Herzog,  ich  bin  nichts  als  ein  Haupt- 
mann und  spreche  zu  Euch  mit  der  Achtung,   die  Euch 
gebührt.   Em-e  Hoheit  hat  mich  heute  morgen  in  meinem 
Hause  verhaften  lassen;  was  will  sie  mit  mir.' 
ALPHONS.   Herr  Hauptmann,  ein  Majestätsverbrechen 
wurde  heute  morgen  dem  von  Euch  bewohnten  Hause 
gegenüber  verübt.   Der  Name  unserer  vielgeliebten  Gattin 
und  Base,   Donna  Lucretia  Borgia,   ist  auf  eine  unver- 
schämte \Veise  auf  der  Fronte  unseres  Palastes  verstüm- 
melt worden.   Wir  suchen  den  Schuldigen. 
LUCRETIA.  Er  ist  es  nicht!  Das  ist  eine  Verwechslung, 
Don  Alphons.   Der  junge  Mann  da  ist  es  nicht. 
ALPHONS.  Woher  wißt  Ihr  das: 

LUCRETIA.  Ich  bin  dessen  gewiß.   Der  junge  Mann  ist 
von  Venedig  und  nicht  von  Ferrara.   Also  ... 
ALPHONS.  Was  beweist  das.^ 

LUCRETIA.   Die  Sache  geschah  heute  morgen,  und  ich 
weiß,  daß  er  den  Morgen  bei  einer  gewissen  Fiametta 
zugebracht  hat. 
GENNARO.  Nein,  Donna. 

ALPHONS.  Em-e  Hoheit  sieht  wohl,  daß  sie  schlecht 
unterrichtet  ist.  Laßt  mich  ihn  fragen. — Hauptmann  Gen- 
naro, habt  Ihr  das  Verbrechen  begangen? 
LUCRETIA  (verwirrt).  Man  erstickt  hier!  Luft!  Luft! 
Ich  muß  ein  wenig  Atem  schöpfen!  (Sie  tritt  an  ein  Fenster] 
während  sie  an  Gennaro  vorbeigeht^  sagt  sie  ihm  rasch  und 
leise:)  Sage:  nein! 

ALPHONS  (beiseite).  Sie  hat  leise  mit  ihm  gesprochen. 
GENNARO.  Herzog  Alphons,  die  Fischer  von  Kalabrien, 
die  mich  erzogen  und  die  mich,  wie  ich  noch  ganz  jung 
war,  in  das  Meer  getaucht  haben,  um  mich  stark  und  kühn 
zu  machen,  haben  mich  einen  Grundsatz  gelehrt,  bei  dem 
man  wohl  oft  sein  Leben,  aber  nie  seine  Ehre  wagt:  ''Tue, 
was  du  sagst,  sage,  was  du  tust."  Herzog  Alphons,  ich 
bin  der  Mann,  den  Ihr  sucht. 

ALPHONS   (sich  zu  Lucretia  wendend).    Ilir  habt  mein 
fürstliches  Wort,  Donna. 


LUCRETIA  BORGIA.   ZWEITE  HANDLUNG  405 

LUCRETIA.  Ich  habe  Euch  einige  Worte  insgeheim  zu 
sagen,  mein  Herr. 

(Der  Herzog  hefieJdt  durcJi  ein  ZeicJien  de?n  llirsteher  und 

den  WacJien^  sich  mit  dem  Gefangenen  in  den  anstoßenden 

Saal  zurückzuziehen^ 


VIERTE  SZENE 

Lucretia.  Don  Alphons. 
ALPHONS.   Was  wollt  Ihr  von  mir,  Donna: 
LUCRETIA.   Was  ich  will,  Don  Alphons:  Ich  will,  daß 
dieser  Jüngling  nicht  sterbe. 

ALPHONS.  Es  ist  kaum  ein  Augenblick  verflossen,  seit 
Ihr  zu  mir  kamt  wie  ein  Sturm,  zürnend  und  weinend, 
seit  Ihr  über  eine  Euch  zugefügte  Beleidigung  klagtet,  seit 
Ihr  unter  Drohen  mid  Schreien  den  Kopf  des  Schuldigen 
gefordert,  seit  Ihr  mein  fürstliches  Wort  begehrt  habt,  daß 
er  nicht  lebend  von  hier  weg  solle;  ich  verpfändete  es 
Euch,  und  jetzt  fordert  Ilir  sein  Leben!  Bei  Gott,  Donna, 
das  ist  unerhört! 

LUCRETIA.  Ich  will,  daß  dieser  Jüngling  nicht  sterbe, 
Herr  Herzog. 

ALPHONS.  Donna,  so  erprobte  Edelleute  wie  ich  sind 
nicht  gewohnt,  ihr  Wort  in  Versatz  zu  lassen.  Ihr  habt 
das  meinige,  ich  muß  es  lösen.  Ich  habe  den  Tod  des 
Schuldigen  beschworen,  er  muß  sterben.  Bei  meiner  Seele! 
Ihr  dürft  seine  Todesart  wählen. 

LUCRETIA  [lächelnd  u?id  sanft).  Don  Alphons,  Don  Al- 
phons, wahrhaftig,  wir  schwätzen  da  tolles  Zeug,  Ihr  und 
ich.  Es  ist  wahr,  ich  bin  ein  unsinniges  Weib.  Mein  Vater 
hat  mich  verdorben;  was  wollt  Ihr:  Seit  meiner  Kindheit 
hat  man  all  meinen  Launen  gehorcht.  Was  ich  vor  einer 
Viertelstunde  wollte,  will  ich  jetzt  nicht  mehr.  Kommt, 
setzt  Euch  zu  mir; — so — plaudern  wir  ein  wenig,  zärtlich, 
herzlich,  wie  Mann  und  Frau,  wie  zwei  gute  Freunde. 
ALPHONS  [ebenfalls  niit  einem  A?istrich  von  Galaiiterie). 
Donna  Lucretia,  Ihr  seid  meine  Dame,  und  ich  bin  sehr 
glücklich,  daß  Ihr  mich  einen  Augenblick  zu  Euren  Füßen 
liaben  wollt.   [Er  setzt  sich  neben  sie.) 


4o6  ÜBERSETZUNGEN 

LUCRETIA.  Wie  hübsch  ist  es,  wenn  man  sich  versteht! 
Wißt  Ihr  auch,  Don  Alphons,  daß  ich  Euch  noch  liebe, 
wie  am  ersten  Tage  unserer  Ehe,  wo  Ihr  einen  so  glän- 
zenden Einzug  in  Rom  hieltet  zwischen  Herrn  von  Valen- 
tinois,  meinem  Bruder,  und  dem  Herrn  Kardinal  Hippolyt 
von  Este,  dem  Eurigenr  Ich  war  auf  dem  Balkon  der 
Peterstreppe.  Ich  denke  noch  an  Euren  schönen,  mit  gold- 
nen  Zieraten  bedeckten  Schimmel  und  an  das  königliche 
Aussehen,  was  Ihr  auf  ihm  hattet. 

ALPHONS.  Ihr,  Donna,  wart  sehr  schön  und  glänzend 
unter  Eurem  Baldachin  von  Silberbrokat. 
LUCRETIA.  O  sprecht  nicht  von  mir,  Herr,  wenn  ich 
von  Euch  spreche.  Es  ist  gewiß,  daß  mich  alle  Fürstinnen 
Europas  um  meine  Ehe  mit  dem  besten  Ritter  der  Christen- 
heit beneiden,  und  ich  liebe  Euch  wahrhaftig,  als  hätte 
ich  achtzehn  Jahre.  Ihr  wißt,  daß  ich  Euch  liebe,  nicht 
wahr,  Alphons?  Ihr  zweifelt  wenigstens  nie  daran.  Ich 
bin  manchmal  kalt  und  zerstreut;  daran  ist  mein  Charakter, 
nicht  mein  Herz  schuld.  Hört,  Alphonso,  wenn  Eure  Ho- 
heit mich  ein  wenig  darum  zankte,  wollte  ich  bald  anders 
werden.  Wie  schön,  sich  so  zu  lieben  wie  wir!  Gebt  mir 
Eiure  Hand, — umarmt  mich,  Don  Alphons!  In  Wahrheit, 
das  fällt  mir  jetzt  ein,  es  ist  recht  lächerlich,  daß  ein  Fürst 
und  eine  Fürstin,  wie  Ihr  und  ich,  die  nebeneinander  auf 
dem  schönsten  Herzogstuhle  unter  der  Sonne  sitzen  und 
die  sich  lieben,  auf  dem  Punkte  waren,  sich  um  einen 
armseligen  italienischen  Landstreicher  zu  zanken!  Man 
muß  den  Menschen  fortjagen  und  nicht  weiter  davon  reden. 
Er  mag  gehen,  wohin  er  will,  nicht  wahr,  Alphons?  Der 
Löwe  und  die  Löwin  werden  über  eine  Mücke  nicht  zornig 
werden. — Wißt  Ihr  auch,  mein  Herr,  daß  Ihr  die  Her- 
zogskrone zum  zweitenmal  erhalten  würdet,  wenn  man 
sie  dem  schönsten  Ritter  von  Ferrara  als  Preis  aussetzte? 
—Wartet,  ich  will  Bautista  in  Eurem  Namen  sagen,  daß 
er  so  schnell  als  möglich  diesen  Gennaro  aus  Ferrara 
jagen  soll. 

ALPHONS.   Das  hat  keine  Eile. 

LUCRP2TIA.  Ich  möchte  nicht  mehr  daran  zu  denken 
haben. — Laßt  mich  die  Sache  auf  meine  Art  abtun. 


LüCRETIA  BORGIA.  ZWEITE  HANDLUNG  407 

ALPHONS.  Diesmal  muß  sie  wohl  aiif  die  meinige  ab- 
getan werden. 

LÜCRETIA.  Aber  endlich,  mein  Alphons,— Ilir  habt  kei- 
nen Grund,  den  Tod  dieses  Menschen  zu  wollen. 
ALPHONS.   Und  das  Wort,  was  ich  Euch  gegeben?  Der 
Eid  eines  Fürsten  ist  heilig. 

LÜCRETIA.  Dergleichen  muß  man  dem  Volk  sagen. 
Aber  Ihr  und  ich,  Don  Alphons,  wissen,  was  daran  ist. 
Der  Heilige  Vater  hatte  Karl  VIII.  von  Frankreich  das 
Leben  desZizimi  versprochen;  Seine  Heiligkeit  ließ  nichts- 
destoweniger den  Zizimi  sterben.  Herr  von  Valentinois 
hatte  sich  auf  sein  Wort  dem  nämlichen  Kinde  Karl  als 
Geisel  gestellt;  Herr  von  Valentinois  ist  aus  dem  fran- 
zösischen Lager  entwischt,  sobald  er  konnte.  Ihr  selbst 
hattet  den  Petrucci  versprochen,  ihnen  Siena  zurückzu- 
geben. Ihr  habt  es  weder  getan,  noch  hättet  Ihr  es  tun 
sollen.  He!  die  Geschichte  ist  voll  von  dergleichen. 
AVeder  Könige  noch  Völker  könnten  bei  streng  gehaltenen 
Eiden  einen  Augenblick  bestehen.  Für  uns,  Alphons,  ist 
ein  beschwornes  Wort  nur  dann  eine  Notwendigkeit,  wenn 
es  keine  andere  gibt. 

ALPHONS.  Dennoch,  Donna  Lucretia,  ein  Eid  .  .  . 
LÜCRETIA.  Gebt  mir  doch  nicht  so  erbärmliche  Gründe 
an.  Ich  bin  nicht  einfältig.  Sagt  mir  lieber,  mein  teurer 
Alphons,  ob  Ihr  irgendetwas  gegen  diesen  Gennaro  habt. 
Nein?  Nun  gut!  schenkt  mir  sein  Leben.  Was  macht  das 
Euch,  wenn  es  mir  einfällt,  ihm  zu  verzeihen?  Ich  bin  die 
Beleidigte. 

ALPHONS.  Grade,  weil  er  Euch  beleidigt  hat,  m.eine 
Liebe,  kann  ich  ihn  nicht  begnadigen. 
LUCRETIA.  Ilir  werdet  mir  es  nicht  länger  verweigern, 
wenn  Ihr  mich  liebt.  Wenn  es  mir  nun  beliebt,  den  Weg 
der  Milde  zu  versuchen?  Ich  will  von  Eurem  ^^olke  ge- 
liebt sein.  Die  Gnade,  Alphons,  macht  einen  König  Jesus 
Christus  ähnlich.  Laßt  uns  gnädige  Herrn  sein.  Das  arme 
Italien  hat  ohne  uns  Tyrannen  genug,  von  den  baroni- 
sierten  Stellvertretern  des  Papstes  an  bis  zu  dem  päpst- 
lichen Stellvertreter  des  Himmels.  Machen  wir  ein  Ende 
damit,  teiurer  Alphons.   Setzt  diesen  Gennaro  in  Freiheit. 


4oS  ÜBERSETZUNGEN 

Es  ist  eine  Laune,  wenn  Ihr  wollt;  aber  es  ist  etwas  Hei- 
liges und  Göttliches  in  der  Laune  eines  Weibes,  wenn 
sie  einem  Menschen  den  Kopf  rettet. 
ALPHONS.   Ich  kann  nicht,  teure  Lucretia. 
LUCRETIA.  Ihr  könnt  nicht?  Aber  warum  endlich  könnt 
Ihr  mir  etwas  so  Unbedeutendes,  wie  das  Leben  eines 
Soldaten,  nicht  schenken? 
ALPHONS.  Ihr  fragt  warum,  meine  Liebe? 
LUCRETIA.  Ja,  warum? 

ALPHONS.  Weil  dieser  Soldat  Euer  Geliebter  ist,  Donna. 
LUCRETIA.  Himmel! 

ALPHONS.  Weil  Ihr  in  Venedig  wart,  ihn  zu  suchen! 
Weil  Ihr  in  die  Hölle  gehen  würdet,  ihn  zu  suchen!  Weil 
ich  Euch  verfolgt  habe,  während  Ihr  ihn  verfolgtet!  Weil 
ich  Euch  sah,  als  Ihi-  ihm  unter  Eurer  Maske  nachlieft, 
keuchend,  wie  die  Wölfin  hinter  ihrer  Beute!  Weil  Ihr 
ihn  noch  im  Augenblick  mit  einem  Blick  voll  Tränen  und 
Feuer  verschlangt!  Weil  Ihr  Euch  ihm  ohne  Zweifel  über- 
lassen habt,  Donna!  Weil  es  jetzt  genug  ist  mit  Schande 
und  Ehebruch!  W^eil  es  Zeit  ist,  daß  ich  meine  Ehre  räche 
und  um  mein  Bett  einen  Strom  von  Blut  fließen  mache! 
Versteht  Ihr,  Donna? 
LUCRETIA.   Don  Alphons  .  .  . 

ALPHONS.  Schweigt.— Wacht  über  Eure  Liebhaber  in 
Zukunft,  Lucretia!  Stellt,  wen  Ihr  wollt,  als  Pförtner  an 
die  Türe,  durch  die  man  zu  Eurer  Schlafkammer  gelangt; 
aber  an  der  Türe,  durch  die  man  herausgeht,  wird  jetzt 
ein  Pförtner  nach  meiner  Wahl  stehen — der  Henker! 
LUCRETIA.  Herr!  ich  schwöre  Euch  .  .  . 
ALPHONS.  Schwört  nicht.— Eide,  das  ist  gut  für  den 
Pöbel.  Gebt  mir  doch  keine  so  erbärmlichen  Gründe  an. 
Seht,  Donna,  ich  hasse  Euer  ganzes  abscheuliches  Ge- 
schlecht Borgia  und  Euch  vor  allen,  Euch,  die  ich  so 
toll  liebte!  Ich  muß  Euch  das  ein  wenig  vollständig  sagen. 
Es  ist  eine  schändliche,  unerhörte  und  seltsame  Sache, 
in  uns  beiden  das  Haus  Este,  welches  edler  ist  als  das 
Geschlecht  der  Valois  und  der  Tudor,  das  Haus  Este, 
sage  ich,  und  das  Haus  Borgia  vereinigt  zu  sehen,  das 
Haus  Borgia,  das  nicht  einmal  so,  sondern  Lenzuoli,  oder 


LUCRETIA  BORGIA.  ZWEITE  HANDLUNG  409 

Lenzolio,  oder,  ich  weiß  nicht  wie,  heißt!  Ich  verabscheue 
Euren  Bruder  Cäsar,  der  natürliche  Blutflecken  im  Gesicht 
hat!  Euren  Bruder  Cäsar,  der  Eui-en  Bruder  Johann  er- 
schlagen hat!  Ich  verabscheue  Eure  Mutter  Rosa  Vanozza, 
das  alte  spanische  Freudenmädchen,  das  in  Rom  ^Ärgernis 
erregt,  nachdem  es  das  nämliche  in  Valenzia  getan!  Und 
was  Eure  sogenannten  Neffen  anbelangt,  die  Herzoge  von 
Sermoneto-Nepi, — schöne  Herzoge,  wahrhaftig!  Herzoge 
von  gestern!  Herzoge  von  gestohlenen  Herzogtümern! 
Laßt  mich  zu  Ende  kommen.  Ich  verabscheue  Emren 
Vater,  der  Papst  ist  und  der  ein  Weiber- Serail  hält,  wie 
der  Türkensultan  Bajazet;  Euren  Vater,  welcher  der  Anti- 
christ ist;  Euren  Vater,  der  die  Galeeren  mit  berühmten 
Männern  und  das  heilige  Kollegium  mit  Banditen  besetzt, 
so  daß  man  fragen  sollte,  wenn  man  sie  in  ihren  roten 
Kleidern  sieht  (Galeerensklaven  und  Kardinäle),  ob  die 
Galeerensklaven  Kardinäle  und  ob  die  Kardinäle  Galeeren- 
sklaven sind! — Geht  jetzt! 

LUCRETIA.  Herr!  Herr!  ich  flehe  zu  Euch  auf  den 
Knien  und  mit  gefaltenen  Händen,  um  Jesus  und  Maria 
wiUen,  lun  Eures  Vaters  und  Eurer  Mutter  willen,  Herr, 
ich  flehe  zu  Euch  um  das  Leben  dieses  Mannes! 
ALPHONS.  Das  heiße  ich  lieben!— Ihr  dürft  mit  seiner 
Leiche  machen,  was  Ihr  wollt,  und  ich  denke,  daß  Ihr  es 
könnt,  ehe  eine  Stmide  vergeht. 
LUCRETIA.   Gnade  für  Gennaro! 

ALPHONS.  Wenn  Ihr  den  festen  Entschluß  in  meiner 
Seele  lesen  könntet,  so  würdet  Ihr  so  wenig  davon  reden, 
als  wenn  er  schon  tot  wäre. 

LUCRETIA  (sich  erhebend).  Ha!  hütet  Euch,  Don  Alphons 
von  Ferrara,  mein  vierter  Gemahl. 

ALPHONS.  O,  spielt  nicht  die  schreckliche  Donna!  Bei 
meiner  Seele,  ich  fürchte  Euch  nicht!  Ich  kenne  Eure 
Kniffe.  Ich  werde  mich  nicht  vergiften  lassen,  wie  Euer 
erster  Gemahl,  der  arme  spanische  Edelmann,  dessen 
Namen  ich  so  wenig  mehr  weiß,  als  Ihr.  Ich  werde  mich 
nicht  fortjagen  lassen,  wie  Euer  zweiter  Gemahl,  der 
Schwachkopf  Johann  Sforza,  Herr  von  Pesaro.  Ich  werde 
mich  nicht  mit  Spießen  auf  irgendeiner  Treppe  erstechen 


41  o  ÜBERSETZUNGEN 

lassen,  wie  der  dritte,  Don  Alphons  von  Aragonien,  das 
schwache  Kind,  dessen  Blut  den  Boden  so  wenig  färbte 
als  reines  Wasser.  Ich  bin  ein  Mann,  Donna,  Der  Name 
Herkules  ist  unsrem  Hause  gewöhnlich.  Beim  Himmel, 
meine  Stadt  und  meine  Herrschaft  sind  voll  von  Soldaten, 
und  ich  bin  selbst  einer  und  habe  noch  nicht,  wie  der 
arme  König  von  Neapel,  meine  guten  Kanonen  dem 
Papste,  Eurem  Heiligen  Vater,  verkauft! 
LUCRETIA.  Ihr  werdet  diese  Worte  bereuen,  mein  Herr. 
Ihr  vergeßt,  wer  ich  bin  .  .  . 

ALPHONS.  Ich  weiß  sehr  gut,  wer  Ihr  seid,  und  weiß 
sehr  gut,  wo  Ihr  seid.  Ihr  seid  die  Tochter  des  Papstes, 
aber  Ihr  seid  nicht  zu  Rom;  Ihr  seid  die  Herrin  von  Spo- 
leto,  aber  Ihr  seid  nicht  zu  Spoleto;  Ihr  seid  das  Weib, 
die  Dienerin  und  Magd  des  Alphons,  Herzogs  vonFerrara, 
und  Ihr  seid  zu  Ferrara.  (Donna  Lucretia,  ganz  bleich  vor 
Schrecken  und  Zo?'n^  sieht  den  He^-zog  starr  a?i  und  weicht 
langsam  vor  ihm  zurück  bis  zu  einem  Sessel^  in  den  sie  wie 
gebroche7i  hi?tsinkt.)  Aha!  das  wundert  Euch;  Ihr  fürchtet 
Euch  vor  mir,  Donna;  bisher  war  ich  es,  der  Fmxht  vor 
Euch  hatte.  Es  soll  von  nun  an  immer  so  sein,  und  um 
damit  anzufangen,  fasse  ich  einen  von  Euren  Liebhabern; 
er  stirbt. 

LUCRETIA  [mit  schivacher  Stimme).  Überlegen  wir  ein 
wenig,  Don  Alphons.  Wenn  dieser  Mann  der  nämliche 
ist,  der  gegen  mich  das  Verbrechen  der  beleidigten  Maje- 
stät begangen  hat,  so  kann  er  nicht  zugleich  mein  Ge- 
liebter sein  .  .  . 

ALPHONS.  Warum  nicht?  In  einem  Anfall  von  Zorn, 
Ärger,  Eifersucht!  Denn  er  ist  vielleicht  auch  eifersüchtig, 
er.  Übrigens,  was  weiß  ich:  Ich  will,  daß  er  sterbe.  Es 
beliebt  mir  nun  einmal  so.  Dieser  Palast  ist  voll  Sol- 
daten, die  mir  ergeben  sind  und  nur  mich  kennen;  er  kann 
nicht  entwischen.  Ihr  werdet  nichts  hindern.  Ich  habe 
Eurer  Hoheit  die  Wahl  seines  Todes  überlassen;  ent- 
schließt Euch. 

LUCRETIA  {die  Hände  ringend).  O  mein  Gott!  mein  Gott! 
mein  Gott! 
ALPHONS.  Ihr  antwortet  nicht?   So  will  ich  ihn  im  Vor- 


T.UCRETIA  BORGIA.  ZWEITE  HANDLUNG  411 

zimmer  mit  Degenstichen  töten  lassen.    (Er  will  gehen., 
sie  faßt  Um  beim  Arm.) 
LUCRETIA.  Halt! 

ALPHONS.   Wollt  Ihr  ihm  lieber  ein  Glas  Syrakusaner 
einschenken: 
LUCRETIA.    Gennaro! 
ALPHONS.   Er  muß  sterben. 
LUCRETIA.   Nicht  durch  Degenstiche! 
ALPHONS.   An  der  Art  liegt  wenig.   Was  wählt  Ihr: 
LUCRETIA.   Das  andere. 

ALPHONS.  Ihr  werdet  achtgeben,  daß  Ihr  Euch  nicht 
vergreift,  und  ihm  ein  Glas  aus  der  goldenen  Flasche  ein- 
schenken. Ihr  kennt  sie  ja:  Ich  werde  übrigens  dabei  sein; 
bildet  Euch  nicht  ein,  daß  ich  Euch  verlassen  werde. 
LUCRETIA.   Ich  werde  tun,  was  Ihr  wollt. 
ALPHONS.    Bautista!    [Der  Titrsteher  tritt  ein)    Führt 
den  Gefangenen  herein. 
LUCRETIA.   Ihr  seid  ein  abscheulicher  Mensch,  Herr! 


FÜNFTE  SZENE 

Die  Nämlichen.  Gennaro.  Die  Wache. 
ALPHONS.  Was  ich  höre,  Herr  Gennaro.^  Was  Ihr  heute 
morgen  getan,  geschah  aus  Leichtsinn  und  Prahlerei  und 
ohne  böse  Absicht,  die  Herzogin  verzeiht  Euch;  Ihr  sollt 
ein  tapferer  Mann  sein.  Bei  meiner  Mutter!  wenn  es  sich 
so  verhält,  so  könnt  Ihr  frei  und  unversehrt  nach  Venedig 
ziurückkehren.  Ich  möchte  um  keinen  Preis  die  hohe  Re- 
publik Venedig  um  einen  guten  Diener  und  die  Christen- 
heit um  einen  treuen  Arm  bringen,  der  ein  treues  Schwert 
führt,  wenn  sich  in  den  Gewässern  von  Zypern  oder  Kandia 
die  Heiden  oder  die  Sarazenen  zeigen. 
GENNARO.  Zur  guten  Stunde,  Herr!  Ich  rechnete  nicht, 
ich  gestehe  es,  auf  einen  solchen  Schluß.  Ich  danke  Eurer 
Hoheit.  Die  Milde  ist  eine  königliche  Tugend,  und  Gott 
wird  da  oben  dem  gnädig  sein,  der  hier  unten  gnädig  ist. 
ALPHONS.  Hauptmann,  ist  der  Dienst  der  Republik  gut, 
und  wieviel  gewinnt  Ihr  dabei  Jahr  für  Jahr: 
GENNARO.   Ich  habe  einen  Haufen  von  fünfzig  Lanzen, 


4 1  2  ÜBERSETZUNGEN 

die  ich  kleide  und  freihalte.  Die  hohe  Republik  gibt  mir 
zweitausend  Goldzechinen  jährlich,  ohne  die  Nebengefälle 
zu  rechnen. 

ALPHONS.    Und  wenn    ich  Euch   viertausend   anböte, 
würdet  Ihr  Dienste  bei  mir  nehmen. - 
GENNARO.  Unmöglich.  Ich  bin  noch  für  fünf  Jahre  der 
Republik  verpflichtet.   Ich  bin  gebunden. 
ALPHONS.   Wie:  gebunden! 
GENNARO.   Durch  einen  Eid. 

ALPHONS  {leise  zu  Lucretid).  Diese  Leute  scheinen  ihre 
Eide  zu  halten.  (Lauti)  Sprechen  wir  nicht  mehr  davon, 
Herr  Gennaro. 

GENNARO.  Ich  habe  keine  Niederträchtigkeit  begangen, 
um  mein  Leben  zu  retten;  aber  weil  Eure  Hoheit  mir  es 
schenkt,  so  kann  ich  ihr  jetzt  folgendes  sagen.  Eure  Ho- 
heit erinnert  sich  wohl  an  den  Sturm  auf  Faenza,  es  sind 
jetzt  zwei  Jahre  her.  Der  Herzog  Herkules  von  Este,  Euer 
Vater,  geriet  dabei  in  große  Gefahr  durch  zwei  Armbrust- 
schützen des  Valentinois,  die  im  Begriö'  waren,  ihn  zu 
töten.  Ein  Soldat  rettete  ihm  das  Leben. 
ALPHONS.  Ja,  und  man  konnte  diesen  Soldaten  nie 
wiederfinden. 
GENNARO.   Das  war  ich. 

ALPHONS.  Bei  Gott,  mein  Hauptmann,  das  verdient 
eine  Belohnung. — Würdet  Ihr  wohl  diese  Börse  mit  Gold- 
zechinen  annehmen? 

GENNARO.  Als  wir  in  den  Dienst  der  Republik  Venedig 
traten,  schwuren  wir,  kein  Geld  von  fremden  Souveränen 
anzunehmen.  Indes,  wenn  Eure  Hoheit  es  erlaubt,  nehme 
ich  das  Geld  und  verteile  es  in  meinem  Namen  unter  die 
braven  Soldaten  da.  {Er  deutet  auf  die  Wache)) 
ALPHONS.  Tut  es.  {Gennaro  nimmt  die  Börse.)  Aber 
dann  werdet  Ilir  wenigstens  nach  dem  alten  Gebrauch 
unserer  Voreltern  als  guter  Freund  ein  Glas  von  meinem 
Syrakusaner  mit  mir  trinken. 
GENNARO.   Recht  gern,  Herr! 

ALPHONS.  Und  ich  will,  daß  die  Herzogin  selbst  es  Euch 
einschenke,  um  Euch  als  den  Retter  meines  Vaters  zu  ehren. 
{Gennaro  neigt  sich  und  geht  in  den  Hintergrund  der  Bühne  ^ , 


LUCRETIA  BORGIA.   ZWEITE  HANDLUNG  413 

///;/  das  Gold  den  Soldaten  auszuteikn.   Der  Herzog  ruft: 

Rustighellol  Rustighello  tritt  mit  der  Platte  herein^ 
ALPHONS.  Stelle  die  Platte  auf  diesen  Tisch.— Gut.  [Er 
nimmt  Donna  Lucretia  hei  der  Hand.)  Donna,  hört,  was 
ich  diesem  Manne  sagen  werde. — Rustighello,  gehe  zurück 
und  stelle  dich  hinter  diese  Türe,  den  bloßen  Degen  in  der 
Hand.  Du  kommst  herein,  wenn  du  diese  Schelle  hörst. 
Geh!  [Rustighello  geht^  und  man  sieht  ihn  sich  wieder  hinter 
die  Türe  stellen^  Donna,  Ihr  werdet  diesem  jungen  Manne 
einschenken  und  achtgeben,  daß  Ihr  die  goldene  Flasche 
da  nehmt. 

LUCRETIA  [bleich  mit  schwacher  Stimme).  Ja. — Wenn  Ihr 
wüßtet,  was  Ihr  in  diesem  Augenblicke  tut,  und  wie  ent- 
setzlich es  ist,  Ihr  würdet  schaudern,  so  entmenscht  Ihr 
auch  seid,  Herr! 

ALPHONS.  Gebt  acht,  daß  Ihr  die  Flaschen  niclit  ver- 
wechselt.— He,  Kapitän! 

[Genna7'o,  der  mit  seiner  Verteilung  zu  Ende  ist,  kovwit 
auf  den  V ordergrund  der  Bühne  zurück.  Der  Herzog  schenkt 
sich  aus   der  silbernen  Flasche  in  einen  von  den  Bechern 

ein  und  setzt  ihn  an  die  Lippen?^ 
GENNARO.   Ich  bin  beschämt  durch  so  viel  Güte,  Herr. 
ALPHONS.    Donna,   schenkt  dem  Herrn   Gennaro  ein. 
Wie  alt  seid  Ihr,  Hauptmann? 

GENNARO  {nimmt  den  andern  Becher  und  hält  ihn  der 
Herzogin  hin).   Zwanzig  Jahre. 

ALPHONS  [leise  zur  Hei'zogin^  welche  die  silberne  Flasche 
zu  ergreifen  sucht).  Die  goldene  Flasche,  Donna!  [Sieninwit 
zitternd  die  goldene  Flasche.)  Ah!  Ihr  seid  wohl  verliebt: 
GENNARO.  Wer  ist  es  nicht  ein  wenig,  mein  Herr: 
ALPHONS.  Wißt  Ihr  auch,  Donna,  daß  es  grausam  wäre, 
diesen  Hauptmann  dem  Leben,  der  Liebe,  der  Sonne 
Italiens,  dem  schönen  Alter  von  zwanzig  Jahren,  seinem 
glorreichen  Kriegs-  und  Abenteurerhandwerk,  womit  alle 
königlichen  Geschlechter  angefangen  haben,  den  Festen, 
den  Maskenbällen,  dem  lustigen  Fasching  von  Venedig, 
wo  so  viele  Ehemänner  betrogen  werden,  und  den  schö- 
nen Damen,  die  er  noch  lieben  kann  und  die  ihn  lieben 
werden,  zu  entreißen:  Nicht  wahr,  Donna: — Schenkt  doch 


4  T  4  ÜBERSETZUNGEN 

dem  Hauptmann  ein.  (Leise:)  Wenn  Ihr  zaudert,  so  lasse 
ich  Rustighello  hereinkommen.  [Sie  schenkt  Gen7iaro  ei?i, 
ohne  ei7i  Wort  zu  sagen  ^ 

GENNARO.    Ich  danke  Euch,  Herr,  daß  Ihr  mich  für 
meine  arme  Mutter  leben  laßt. 
LUCRETIA  [beiseite).   O  entsetzlich! 
ALPHONS  (trinkt).   Auf  Eure   Gesundheit,  Hauptmann 
Gennaro!  Ich  wünsche  Euch  viele  Jahre. 
GENNARO.   Herr,  Gott  vergelte  es  Euch!   [Er  trinkt:) 
LUCRETIA  (beiseite).  Himmel! 

ALPHONS  ((^m^//^).  Es  ist  geschehen!  (Laut:)  Ich  ver- 
lasse Euch  jetzt,  mein  Hauptmann.  Ihr  könnt  nach  Ve- 
nedig abreisen,  wenn  Ihr  wollt.  (Leise  zu  Lucretia:)  Dankt 
mir,  Donna,  ich  lasse  Euch  allein  mit  ihm.  Ihr  habt  ihm 
noch  Lebewohl  zu  sagen.  Verlebt  mit  ihm,  wenn  Ihr  Lust 
habt,  seine  letzte  Viertelstunde.  (Er  geht,  die  Wachen 
folgen  ihm?) 

* 

SECHSTE  SZENE 

Donna  Lucretia.   Gennaro. 
(Man  sieht  noch  immer  Rustighello  unbeweglich  hinter  der 

verborgene7i  Türe  im  Nebenzimmer}) 
LUCRETIA.   Gennaro!— Ihr  seid  vergiftet! 
GENNARO.  Vergiftet,  Donna? 
LUCRETIA.   Vergiftet! 

GENNARO.  Das  hätte  ich  denken  sollen,— Ihr  habt  den 
Wein  eingeschenkt. 

LUCRETIA.  O,  macht  mir  keine  Vorwürfe,  Gennaro! 
Entreißt  mir  nicht  den  Rest  von  Kraft,  der  mir  noch 
bleibt  und  den  ich  noch  für  einige  Augenblicke  nötig 
habe. — Hört  mich!  Der  Herzog  ist  eifersüchtig  auf  Euch, 
er  hält  Euch  für  meinen  Liebhaber.  Der  Herzog  ließ  mir 
keine  Wahl,  als  Euch  von  Rustighello  erdolchen  zu  sehen, 
oder  Euch  selbst  das  Gift  zu  geben.  Ein  furchtbares  Gift, 
Gennaro,  ein  Gift,  woran  der  Gedanke  allein  jeden  Ita- 
liener, der  die  Geschichte  der  letzten  zwanzig  Jahre  kennt, 
erbleichen  macht  .  .  . 
GENNARO.  Ja,  das  Gift  der  Borgia! 


LUCRETIA  BORGIA.  ZWEITE  HANDLUNG  415 

LÜCRETIA.  Ihr  habt  davon  getrunken.  Niemand  unter 
der  Sonne  kennt  ein  Gegengift  für  diese  schreckliche 
Mischung,  niemand  als  der  Papst,  Herr  von  Valentinois 
und  ich.  Seht,  dies  Fläschchen,  das  ich  immer  in  meinem 
Gürtel  trage,  dies  Fläschchen,  Gennaro,  ist  Leben,  Ge- 
sundheit, Rettung.  Nur  ein  Tropfen  auf  Eure  Lippen,  und 
Ihr  seid  gerettet.  (Sie  will  das  Fläschchen  an  die  Lippen 
Geimaros  bringen^  er  weicht  zurück?) 
GENNARO  {indem  er  sie  scharf  ansieht).  Donna,  was  be- 
weist mir,  daß  dies  nicht  das  Gift  ist.- 
LUCRETIA  {sinkt  vernichtet  in  einen  Sessel).  O  mein  Gott, 
mein  Gott! 

GENNARO.  Heißt  Ihr  nicht  Lucretia  Borgia:  — Meint 
Ihr,  ich  erinnerte  mich  nicht  an  den  Bruder  des  Bajazet? 
Ja,  ich  verstehe  ein  wenig  Geschichte!  Man  machte  ihn 
auch  glauben,  er  sei  von  Karl  VIII.  vergiftet  worden,  und 
gab  ihm  ein  Gegengift,  woran  er  starb,  und  die  Hand,  die 
ihm  das  Gift  reichte,  da  ist  sie,  sie  hält  noch  das  Fläsch- 
chen, und  der  Mund,  der  ihm  sagte:  trinke!  da  ist  er  und 
spricht  zu  mir! 

LUCRETIA.   O  ich  elendes  Weib! 

GENNARO.  Hört,  Donna,  ich  lasse  mich  durch  Euren 
Anstrich  von  Liebe  nicht  täuschen.  Ihr  habt  eine  unheil- 
volle Absicht  mit  mir.  Das  ist  klar.  Ihr  müßt  wissen,  wer 
ich  bin.  Seht,  in  dem  Augenblick  lese  ich  in  Eurem  Ge- 
sicht, daß  Ihr  es  wißt,  und  es  ist  leicht  einzusehen,  daß 
ein  unüberwindlicher  Grund  Euch  bestimmt,  mir  es  nie- 
mals zu  sagen.  Eure  Familie  muß  die  meinige  kennen, 
und  zu  dieser  Stunde  würdet  Ihr  Euch  vielleicht  durch 
meine  Vergiftung  nicht  allein  an  mir  rächen,  sondern 
auch,  wer  weiß:  an  meiner  Mutter. 

LUCRETIA.  Eiue  Mutter,  Gennaro!  Ihr  stellt  sie  Euch 
vielleicht  anders  vor,  als  sie  wirklich  ist.  Was  würdet  Ihr 
sagen,  wenn  sie,  wie  ich,  nichts  als  ein  verbrecherisches 
Weib  wäre: 

GENNARO.  Lästert  sie  nicht!— O  nein!  meine  Mutter 
ist  nicht  ein  Weib  wie  Ihr,  Donna  Lucretia.  O,  mein 
Herz  fühlt  sie,  meine  Seele  träumt  sie,  wie  sie  ist;  ich 
habe  ihr  Bild,  da,  es  wurde  mit  mir  ^eboren;  ich  würde 


4 1 6  ÜBERSETZUNGEN 

sie  nicht  lieben,  wie  ich  sie  liebe,  wenn  sie  meiner  nicht 
würdig  wäre.  Das  Herz  eines  Sohnes  täuscht  sich  nicht 
in  seiner  Mutter.  Ich  würde  sie  hassen,  wenn  sie  Euch 
gleichen  könnte.  Aber  nein,  nein!  Es  ist  etwas  in  mir, 
was  mir  laut  sagt,  daß  meine  Mutter  kein  blutschände- 
rischer, üppiger,  giftmischender  Teufel  ist,  wie  ihr  an- 
dern schönen  Damen  von  jetzt.  O  Gott!  ich  weiß  sicher, 
daß  meine  Mutter  es  ist,  wenn  es  unter  dem  Himmel  ein 
unschuldiges,  tugendhaftes,  heiliges  Weib  gibt.  O,  sie  ist 
so,  und  nicht  anders!  Ihr  kennt  sie  ohne  Zweifel,  Donna 
Lucretia,  und  werdet  mich  nicht  Lügen  strafen! 
LUCRETIA.  Nein,  dies  Weib,  Gennaro,  diese  Mutter 
kenne  ich  nicht. 

GENNARO.  Aber  vor  wem  spreche  ich  so?  Was  kümmern 
Euch,  Lucretia  Borgia,  die  Freuden  und  Schmerzen  einer 
Mutter!  Ihr  habt  niemals  Kinder  gehabt,  wie  man  sagt. 
Ihr  seid  sehr  glücklich;  denn  wißt  Ihr  auch,  Donna,  daß 
Eure  Kinder,  wenn  Ihr  welche  hättet,  Euch  verleugnen 
würden?  Welcher  Unglückliche  wäre  so  vom  Himmel  ver- 
lassen, daß  er  eine  solche  Mutter  sich  wünschte?  Der 
Sohn  der  Lucretia  Borgia  zu  sein!  "Meine  Mutter!"  zu 
Lucretia  Borgia  zu  sagen!   Oh! 

LUCRETIA.  Gennaro,  Ihr  seid  vergiftet;  der  Herzog,  der 
Euch  tot  glaubt,  kann  jeden  Augenblick  zurückkommen; 
ich  sollte  nur  an  Euer  Heil  und  an  Eure  Flucht  denken; 
aber  Ihr  sagt  mir  da  so  schreckliche  Dinge,  daß  ich  nichts 
vermag,  als  sie  wie  versteinert  anzuhören. 
GENNARO.   Donna  .  .  . 

LUCRETIA.  Seht!  wir  müssen  damit  zu  Ende  kommen. 
Erdrückt  mich,  begrabt  mich  unter  der  Last  Eurer  Ver- 
achtung! Aber  Ihr  seid  vergiftet,  trinkt  das  auf  der  Stelle! 
GENNARO.  Wem  soll  ich  glauben?  Der  Herzog  ist  edel, 
und  ich  habe  seinem  Vater  das  Leben  gerettet.  Euch  habe 
ich  beleidigt,  Ihr  habt  Euch  an  mir  zu  rächen. 
LUCRETIA.  Mich  an  dir  rächen,  Gennaro!— Ich  würde 
mein  Leben  geben,  um  das  deinige  um  eine  Stunde  zu 
verlängern;  ich  würde  all  mein  Blut  vergießen,  um  dir 
eine  Träne  zu  sparen;  ich  würde  mich  an  den  Pranger 
stellen,  um  dich  auf  einen  Thron  zu  setzen;  ich  würde 


LUCRETIA  BORGIA.  ZWEITE  HANDLUNG  417 

mit  Höllenqualen  jede  deiner  geringsten  Freuden  erkaufen; 
ich  würde  nicht  zaudern,  nicht  murren,  ich  wäre  glück- 
lich, ich  würde  deine  Füße  küssen,  mein  Gennaro!  O, 
du  sollst  nie  etwas  von  meinem  armen  unseligen  Herzen 
erfahren,  als  daß  es  voll  von  dir  ist! — Gennaro,  die  Zeit 
drängt,  das  Gift  wirkt,  du  wirst  es  gleich  fühlen,  noch 
ein  wenig,  und  es  ist  nicht  mehr  Zeit.  Das  Leben  öffnet 
in  diesem  Augenblick  zwei  dunkle  Räume  vor  dir,  aber 
der  eine  hat  nicht  so  viel  Minuten,  als  der  andere  Jahre. 
Du  mußt  einen  von  beiden  wählen.  Die  Wahl  ist  schreck- 
lich. Laß  dich  von  mir  leiten.  Habe  Erbarmen  mit  dir 
und  mir.  Gennaro!  Trinke  schnell,  im  Namen  des  Him- 
mels! 

GENNARO.  Meinetwegen.  Ist  ein  Verbrechen  darunter, 
so  mag  es  auf  Euer  Haupt  fallen.  Sei,  was  Ihr  sagt,  wahr 
oder  falsch,  es  verlohnt  sich  nicht  der  Mühe,  so  viel 
Worte  um  ein  Leben  zu  machen.  Gebt!  {Er  nimuit  das 
Fl  äschchen  und  trinkt.) 

LUCRETIA.    Gerettet!— Jetzt  nach  Venedig,   so  schnell 
dich  dein  Pferd  trägt.  Du  hast  Geld: 
GENNARO.  Ja. 

LUCRETIA.  Der  Herzog  hält  dich  für  tot,  man  kann  ihm 
leicht  deine  Flucht  verbergen.  Warte!  Behalte  das  Fläsch- 
ichen  und  trage  es  immer  mit  dir.  In  der  Zeit,  worin  wir 
lieben,  ist  Gift  in  jeder  Mahlzeit;  du  besonders  bist  aus- 
Igesetzt.  Jetzt  schnell  fort!  (Sie  zeigt  ihm  die  verborgene 
.Ti/re,  die  sie  halb  öffnet.)  Steige  diese  Treppe  hinab.  Sie 
führt  in  einen  Hof  des  Palastes  Negroni.  Du  kannst  leicht 
auf  dem  Wege  entkommen.  Warte  nicht  bis  zum  Morgen 
des  nächsten  Tages,  warte  nicht  bis  Sonnenuntergang, 
warte  keine  Stunde,  keine  halbe  Stunde!  Verlasse  Ferrara 
sogleich,  verlasse  Ferrara,  als  wäre  es  ein  brennendes 
Sodom,  und  blicke  nicht  hinter  dich! — Lebe  wohl!  W^arte 
noch  einen  Augenblick.  Ich  habe  dir  mein  letztes  Wort 
zu  sagen,  mein  Gennaro. 
GENNARO.    Sprecht,  Donna. 

LUCRETIA.  Ich  sage  dir  in  diesem  Augenblick  Lebe- 
wohl, Gennaro,  um  dich  nie  wieder  zu  sehen.  Ich  darf 
nicht  mehr  daran  denken,  dich  noch  manchmal  auf  mei- 

BÜCHNER  27. 


4 1 8  ÜBERSETZUNGEN 

nem  Wege  zu  treffen.   Es  war  das  einzige  Glück,  was  ich 
auf  Erden  hatte.    Aber   das  hieße  dein  Leben   wagen. 
Jetzt  sind  wir  also  für  immer  in  diesem  Leben  getrennt. 
Ach!  ich  weiß  allzu  gut,  daß  wir  es  auch  in  dem  andern 
sein  werden.  Gennaro!  wirst  du  mir  nicht  ein  freundliches 
Wort  sagen,  ehe  du  mich  so  für  die  Ewigkeit  verläßt? 
GENNARO  (schlägt  die  Augen  7iieder).  Donna  .  .  . 
LUCRETIA.   Endlich,  ich  habe  dir  das  Leben  gerettet! 
GENNARO.   So  sagt  Ihr.   Das  alles  ist  voll  Dunkel;  ich 
weiß  nicht,  was  ich  denken  soll.   Seht,  Donna,  ich  kann 
Euch  alles  verzeihen,  eins  ausgenommen. 
LUCRETIA.  Und  was.- 

GENNARO.  Schwört  mir  bei  allem,  was  Euch  teuer  ist, 
bei  meinem  Haupt,  weil  Ihr  mich  liebt,  bei  dem  ewigen 
Heil  meiner  Seele,  schwört  mir,  daß  Eure  Verbrechen 
nichts  mit  dem  Unglück  meiner  Mutter  zu  schaffen  haben. 
LUCRETIA.  Jedes  Wort  zu  dir,  Gennaro,  ist  mir  heilig. 
Ich  kann  dir  das  nicht  beschwören, 

GENNARO.   O  meine  Mutter,  meine  Mutter!   Da  ist  also 
das  entsetzliche  Weib,  welches  dein  Unglück  war! 
LUCRETIA.    Gennaro! 

GENNARO.   Ihr  habt  bekannt,  Donna!   Seid  verflucht! 
LUCRETIA.  Und  du,  Gennaro,  sei  gesegnet!    (Ei'  geht, 
sie  sinkt  ohnmächtig  in  den  Sessel.) 


ZWEITE  ABTEILUNG 

Die  zweite  Dekoration.   Der  Platz  von  Fci-rara  mit  dem 
herzoglichen  Balkon  auf  der  einen  und  dem  Hause  des  Gen- 
naro auf  der  andern  Seite.  Nacht. 


ERSTE  SZENE 
Don  Alfhons,  Rustighello  {in  Mäntel  gehüllt). 
RUSTIGHELLO.  Ja,  Herr,  das  ging  so  zu.   Sie  gab  ihn, 
ich  weiß  nicht  durch  welchen  Trank,  dem  Leben  zurück 
und  ließ  ihn  durch  den  Hof  des  Palastes  Negroni  ent- 
wischen. 

.i; 


LUCRETIA  BORGIA.  ZWEITE  HANDLUNG  419 

ALPHONS.  Und  du  hast  es  gelitten r 
RUSTIGHELLO.  Wie  es  hindern?   Sie  hatte  die  Türe 
verriegelt;  ich  war  eingeschlossen. 
ALPHONS.   Du  hättest  die  Türe  einbrechen  sollen. 
RUSTIGHELLO.   Eine  Türe  von  Eichenholz,  ein  Riegel 
von  Eisen.   Eine  Kleinigkeit! 

ALPHONS.  Was  macht  das!  Du  mußtest  den  Riegel 
sprengen,  sage  ich  dir,  du  mußtest  einbrechen  und  ihn  töten. 
RUSTIGHELLO.  Erstens,  gesetzt  auch,  ich  hätte  die 
Türe  einbrechen  können,  so  würde  ihn  Doima  Lucretia 
mit  ihrem  Körper  gedeckt  haben.  Ich  hätte  auch  Donna 
Lucretia  töten  müssen. 
ALPHONS.   Und?  nun? 

RUSTIGHELLO.  Dazu  hatte  ich  keinen  Befehl. 
ALPHONS.  Rustighello!  Gute  Diener  begreifen  die  Für- 
sten, indem  sie  ihnen  die  Mühe  sparen,  alles  zu  sagen. 
RUSTIGHELLO.  Und  dann  hätte  ich  Eure  Hoheit  mit 
dem  Papste  zu  entzweien  gefürchtet. 
ALPHONS.  Dummkopf! 

RUSTIGHELLO.    Das  war  eine  kitzliche  Sache,  Herr, 
die  Tochter  des  Heiligen  Vaters  zu  töten! 
ALPHONS.  Nun,  konntest  du  nicht,  ohne  sie  zu  töten, 
schreien,  rufen,  mich  benachrichtigen,  ihren  Liebhaber 
an  der  Flucht  verhindern? 

RUSTIGHELLO,   Ja,  und  morgen  würde  Eure  Hoheit 
sich  mit  Donna  Lucretia  versöhnt  haben,  und  übermorgen 
würde  Donna  Lucretia  mich  haben  hängen  lassen. 
ALPHONS.   Genug.  Du  sagtest  mir,  es  sei  noch  nichts 
verloren. 

RUSTIGHELLO.  Nein.  Ihr  seht  ein  Licht  an  diesem 
Fenster.  Der  Gennaro  ist  noch  nicht  abgereist.  Sein 
Knecht,  den  die  Herzogin  bestochen  hatte,  ist  jetzt  von 
j  mir  bestochen  und  hat  mir  alles  gesagt.  In  diesem  Augen- 
!  blick  wartet  er  auf  seinen  Herrn  hinter  der  Zitadelle  mit 
zwei  gesattelten  Pferden.  Der  Gennaro  wird  sogleich  aus- 
gehen, um  ihn  aufzusuchen. 

I  ALPHONS.  In  dem  Fall  stellen  wir  uns  hinter  die  Ecke 
I  seines  Hauses.  Es  ist  finstere  Nacht.  Wir  töten  ihn,  wenn 
.  er  vorbeigeht. 


420  ÜBERSETZUNGEN 

RUSTIGHELLO.   Wie  es  Euch  beliebt. 
ALPHONS.   Dein  Degen  ist  gut? 
RUSTIGHELLO.  Ja. 
ALPHONS.  Du  hast  einen  Dolchr 

RUSTIGHELLO.  Ein  Italiener  ohne  Dolch  und  eine 
Italienerin  ohne  einen  Geliebten  sind  zwei  Dinge,  die  man 
nicht  leicht  unter  der  Sonne  findet. 

ALPHONS.  Gut,  du  wirst  mit  beiden  Händen  zustoßen. 
RUSTIGHELLO.  Herr  Herzog,  warum  laßt  Ihr  ihn  nicht 
ganz  einfach  verhaften  und  nach  einem  Ausspruch  des 
Fiskals  hängen: 

ALPHONS.  Er  ist  ein  Untertan  von  Venedig;  das  hieße 
der  Republik  den  Krieg  erklären.  Nein.  Ein  Dolchstich 
kommt,  man  weiß  nicht  woher,  und  bringt  niemand  in 
Verlegenheit.  Gift  taugt  noch  mehr,  aber  es  hat  nicht 
gewirkt. 

RUSTIGHELLO.  Wollt  Ilir  dann,  Herr,  daß  ich  vier 
Sbirren  hole,  um  ihn  abzutun,  ohne  daß  Eure  Hoheit  die 
Mühe  hat,  sich  hineinzumengen: 

ALPHONS.   Mein  Lieber,  der  Herr  Machiavell  hat  mir 
oft  gesagt,  daß  in  solchen  Fällen  die  Fürsten  am  besten 
selbst  ihre  Geschäfte  besorgen. 
RUSTIGHELLO.   Herr,  ich  höre  jemand  kommen. 
ALPHONS.   Stellen  wir  uns  da  an  die  Mauer.   (Sic  ver- 
bergen sich  im  Schatten  unter  dem  Balkon}^ 
[Maffio,  festlich  gekleidet,  tritt  auf;  er  kommt  singend  und 
klopft  an  die  Türe  von  Gctinaro.) 


ZWEITE  SZENE 

Don  Alphon s  und  Rustighello  {versteckt).   Maffio.  Gennaro. 

MAPFIO.   Gennaro!    (Die  Tür  öffnet  sich,   Gennaro  tritt 

auf) 

GENNARO.  Bist  du  es,  Maffio:  Willst  du  hereinkommen: 

MAFFIO.   Nein.   Ich  habe  dir  nur  zwei  Worte  zu  sagen. 

Kommst  du  bestimmt  nicht  diesen  Abend  mit  uns  zu  der 

Fürstin  Negroni: 

GENNARO.  Ich  bin  nicht  eingeladen. 

MAFFIO.   Ich  werde  dich  vorstellen. 


LUCRETIA  BORGIA.  ZWEITE  HANDLUNG  421 

GENNARO.  Ich  habe  noch  einen  andern  Grund;  ich  muß 

dir  es  sagen.  Ich  reise  ab. 
MAFFIO.  Wie,  du  gehst? 
GENNARO.  In  einer  Viertelstunde. 
MAFFIO.   Warum: 

GENNARO.  Ich  werde  dir  es  zu  Venedig  sagen. 
MAFFIO.  Liebeshändelr 
GENNARO.  Ja,  Liebeshändel. 

MAFFIO.  Du  handelst  nicht  recht  gegen  mich,  Gennaro. 
Wir  haben  uns  geschworen,  uns  nie  zu  verlassen,  uns  nie 
zu  trennen,  Brüder  zu  sein,  und  nun  reisest  du  ohne  mich 
ab! 

GENNARO.  Komm  mit  mir! 

MAFFIO.  Komm  lieber  mit  mir!  Es  ist  viel  angenehmer, 
die  Nacht  bei  Tische  mit  schönen  Weibern  und  fröhlichen 
Gästen  hinzubringen,  als  auf  der  Landstraße  zwischen 
Banditen  und  Abstürzen. 

GENNARO.  Du  trautest  diesen  Morgen  deiner  Fürstin 
Negroni  nicht  viel. 

MAFFIO.  Ich  habe  mich  erkundigt.  Tep[)0  hatte  recht. 
Sie  ist  eine  liebenswürdige,  gut  gelaunte  Dame,  welche 
Verse  und  Musik  liebt,  das  ist  alles.  Fort,  komm  mit  mir! 
GENNARO.  Ich  kann  nicht. 

MAFFIO.  In  tiefer  Nacht  abzureisen I  Willst  du  dich  er- 
morden lassen  : 

GENNARO.  Sei  ruhig.  Lebe  wohl.  Viel  Vergnügen. 
MAFFIO.    Bruder  Gennaro,   mir  ahnt  nichts  Gutes  von 
deiner  Reise. 

GENNARO.  Bruder  Maftio,  mir  ahnt  nichts  Gutes  von 
deinem  Gastmahl. 

MAFFIO.  Wenn  dir  irgendwas  zustieße,  ohne  daß  ich 
zugegen  wäre! 

GENNARO.  Wer  weiß,  ob  ich  mir  morgen  nicht  vor- 
werfe, dich  diesen  Abend  verlassen  zu  haben.^ 
MAFFIO.  Bestimmt!  trennen  wir  uns  nicht,  ein  jeder  gibt 
dem  andern  ein  wenig  nach.  Komm  diesen  Abend  mit 
mir  zur  Negroni,  und  morgen  bei  Tagesanbruch  reisen 
wir  zusammen  ab.   Soll  das  ein  Wort  sein.- 


42  2  ÜBERSETZUNGEN 

GENNARO.  Ich  muß  dir  den  Grund  meiner  plötzlichen 
Abreise  erzählen,  Maffio.  Du  magst  dann  beurteilen,  ob 
ich  recht  habe.  (Er  fiimmt  Maffio  beiseite  und  spricht  iJwi 
ins  Ohr.) 

RUSTIGHELLO  {unter  dem  JBalkofi  leise  zu  Alphans), 
Greifen  wir  an,  Herr! 

ALPHONS  {leise),  Warten  wir  das  Ende  davon  ab. 
MAFFIO  {bricht  nach  Ge^maros  Erzählung  i?t  Lachen  aus), 
Gennaro,  soll  ich  dir  sagen:  du  bist  angeführt!  Bei  der 
ganzen  Geschichte  gab  es  weder  Gift  noch  Gegengift, 
Reines  Possenspiel.  Die  Lucretia  ist  toll  in  dich  verliebt, 
sie  wollte  dich  glauben  machen,  daß  sie  dir  das  Leben 
gerettet,  um  dich  ganz  sacht  aus  der  Dankbarkeit  in  die 
Liebe  schlüpfen  zu  lassen.  Der  Herzog  ist  ein  guter  Mann, 
unfähig,  irgend  jemand  zu  vergiften  oder  zu  ermorden. 
Du  hast  außerdem  seinem  Vater  das  Leben  gerettet,  und 
er  weiß  es.  Die  Herzogin  verlangt  deine  Abreise,  das  ist 
ganz  einfach.  Ihr  Liebeshandel  v/ürde  zu  Venedig  sich 
leichter  fortspinnen,  als  zu  Ferrara.  Der  Gemahl  hindert 
sie  doch  immer  ein  wenig.  Was  das  Gastmahl  der  Negroni 
anbelangt,  so  sage  ich  d^r,  es  wird  kösthch  sein.  Du 
kommst  hin!  Was  Teufel,  man  muß  ein  wenig  überlegen 
und  nichts  übertreiben.  Du  weißt,  ich  bin  vorsichtig  und 
ein  guter  Ratgeber.  Weil  es  zwei  oder  drei  berüchtigte 
Abendessen  gab,  wobei  die  Borgia  mit  sehr  gutem  Wein 
einige  ihrer  guten  Freunde  vergiftet  haben,  so  ist  dies 
doch  kein  Grund,  gar  nicht  mehr  zu  Abend  zu  essen.  Das 
ist  kein  Grund,  in  dem  köstHchen  Syrakusaner  immer 
Gift  und  hinter  allen  schönen  Fürstinnen  Italiens  immer 
Lucretia  Borgia  zu  sehen.  Gespenster  und  Ammenmärchen 
all  das!  Wenn  man  so  schließen  wollte,  könnten  nur  die 
Kinder  an  der  Brust  unbesorgt  trinken  und  ruhig  ihre  Nah- 
rung zu  sich  nehmen.  Beim  Herkules,  Gennaro,  sei  ein 
Kind  oder  ein  Mann.  Lege  dich  wieder  an  deine  Amme, 
oder  komm  zum  Gastmahl. 

GENNARO.  In  der  Tat,  es  ist  etwas  sonderbar,  sich  so 
des  Nachts  fortzumachen;  es  sieht  aus,  als  fürchtete  ich 
mich.  Außerdem,  wenn  das  Bleiben  gefährlich  ist,  darf 
ich  Maffio  nicht  allein  lassen.   Es  mag  daraus  werden,  was 


LUCRETIA  BORGIA.   DRITTE  HANDLUNG   423 

da  will.  Das  eine  ist  so  gut  wie  das  andere.  So  sei  es. 
Du  wirst  mich  der  Fürstin  Negroni  vorstellen.  Ich  gehe 
mit  dir. 

MAFFIO  {niinmt  iJui  bei  der  Hand).  Bei  Gott!  das  ist  ein 
Freund!  {Sic  gehen  ab.  Man  sieht  sie  nach  dein  Hinter- 
gründe  des  Platzes  zugehen.  Don  Alphon s  und  Rustighello 
trete?!  aus  ihrem  Versteck  hervor?) 

RUSTIGHELLO  {init  entblößtem  Degen).  Ha!  was  wartet 
Ihr,  Herr?  Es  sind  nur  zwei,  sucht  Euem  Mann  aus,  ich 
nehme  den  andern  auf  mich. 

ALPHONS.  Nein,  Rustighello.  Sie  werden  bei  der  Fürstin 
Negroni  zu  Nacht  speisen,  wenn  ich  gut  unterrichtet  bin  . . . 
{Er  unterbricht  sich  und  scheint  einen  Augeiiblick  nachzu- 
de7iken^  dami  bricht  er  in  Lache??,  aus.)  Wahrhaftig!  Das 
würde  meine  Sache  noch  besser  abtun,  es  wäre  eine 
drollige  Geschichte.  Warten  wir  bis  morgen.  (Sie  gehen 
in  de?i  Palast  zurück?) 


DRITTE  HANDLUNG 

BETRUNKEN- TOT 

Persone?? 

DONNA  LUCRETIA  BORGIA  DON  AFOSTOLO  GAZELLA 

GENNARO  OLOFERNO  \aTELLOZZO 

GUBETTA  DIE  RÜRSTIN  NEGRONI 

JEPPO  LIVERETTO  DAMEN 

ASCANIO  PETRUCCI  PAGEN 

MAFFIO  ORSINI  MÖNCHE 

Ei?i prächtiger  Saal  des  Palastes  Negroni.  Zur  Rechte?i  ei?ie 
blinde  Türe.  I?n  Hinteigrund  eine  große  und  sehr  breite 
Flügeltüre.  In  der  Mitte  ei?ie  im  Geschfiiack  des  Iß./ahr- 
hunderts prächtig  besetzte  Tafel.  Klei?ie,  schwarze^  in  Gold- 
brokat gekleidete  Sklaven  warten  auf. — Ini  Augenblick^  wo 
der  Vorha?ig  aufgeht^  sitzen  vierzehn  Gäste  an  der  Tafel^ 
Jeppo,  Maffio,  Asca?iio^  Oloferiio^  Apostolo,  Gennaro^  Gu- 
betta  und  siebe?i  hiirbsche,  sehr  elega?it  gekleidete  Da?nen. 


424  ÜBERSETZUNGEN 

Allc^  Geimaro  ausgenommen^  der  nachdenkend  und scJnueigcnd 

aussie/if,  essen  und  frinkefi,  oder  laclien  aus  vollem  Halse 

mit  ihren  N^achbarinnen. 


ERSTE  SZENE 

Jeppo^  Maffio^  Ascanio,  Oloferno,  Don  Apostolo^  Gubetfa, 

Gennaro^  Damen,  Pagen. 
OLOFERNO  {sein  Ghis  in  der  Hand).   Es  lebe  der  Wein 
von  Xeres!  Xeres  de  la  Frontera  ist  eine  Stadt  des  Para- 
dieses. 

MAFFIO  (sein  Glas  in  der  Hand).  Der  Wein,  den  wir 
trinken,  ist  mehr  wert,  als  die  Geschichten,  welche  du 
uns  erzählst,  Jeppo. 

ASCANIO.  Jeppo  hat  die  Krankheit,  Geschichten  zu  er- 
zählen, wenn  er  getrunken  hat. 

APOSTOLO.  Ein  andermal  war  es  zu  Venedig  bei  dem 
hohen  Dogen  Barbarigo;  heute  ist  es  zu  Ferrara  bei  der 
göttlichen  Fürstin  Negroni. 

JEPPO.  Ein  andermal  war  es  eine  schauerliche,  heute  ist 
es  eine  lustige  Geschichte. 

MAFFIO.  Eine  lustige  Geschichte,  Jeppo!  Wie  es  kam, 
daß  Don  Siliceo,  ein  schöner  Kavalier  von  dreißig  Jah- 
ren, der  sein  Erbteil  im  Spiel  verloren  hatte,  die  reiche 
Marquise  Calpurnia  heiratete,  die  achtundvierzig  Frühlinge 
zählte.  Bei  dem  Leibe  des  Bacchus,  du  findest  das  lustig! 
GUBETTA.  Das  ist  traurig  und  gewöhnlich.  Ein  ruinierter 
Mann  heiratet  eine  Ruine  von  einem  Weibe.  Das  sieht 
man  alle  Tage.  {Er  fängt  an  zu  essen.  Von  Zeit  zu  Zeit 
stehen  einige  von  der  Tafel  auf  und  plaudern  auf  dem  Vor- 
dergrund der  Bühfie^  ivährend  das  Gelag  fo?'tdauert?) 
NEGRONI  {zu  iMafßo^  indem  sie  auf  Gennaro  deutet).  Herr 
Graf  Orsini,  Ihr  habt  da  einen  Freund,  der  sehr  traurig 
aussieht. 

MAFFIO.  Er  ist  immer  so,  Donna.  Ihr  müßt  mir  ver- 
zeihen, daß  ich  ihn  hierher  brachte,  obgleich  Ihr  ihm  die 
Gnade  einer  Einladung  nicht  erwiesen  hattet.  Er  ist  mein 
Waffenbruder.  Er  hat  mir  das  Leben  bei  dem  Sturm  von 
Rimini  gerettet.  Ich  habe  bei  dem  Angriff  auf  die  Brücke 


LUCRETIA  BORGIA.  DRITTE  HANDLUNG  425 

von  Vizenzia  einen  Degenstich  erhalten,  der  ihm  galt. 

Wir  trennen  uns  nie;  wir  leben  zusammen.  Ein  Zigeuner 

hat  uns  vorausgesagt,  daß  wir  am  nämlichen  Tage  sterben 

würden. 

NEGRONI  {lac/if).  Hat  er  Euch  auch  gesagt,  ob  das  am 

Morgen  oder  am  Abend  geschehen  wiirde? 

MAFFIO.  Er  sagte  uns,  es  würde  am  Morgen  geschehen. 

NEGRONI  {lacht  stärker).    Euer  Zigeuner  wußte  nicht, 

was  er  sagte.— Und  liebt  Ihr  den  jungen  Menschen  sehr.^ 

MAFFIO.   So  sehr,  als  ein  Mann  den  andern  lieben  kann. 

NEGRONI.    Nun!    Ihr  genügt  euch   einander.    Ihr  seid 

glücklich. 

MAFFIO.  Die  Freundschaft  füllt  nicht  allein  das  Herz 

aus,  Donna. 

NEGRONI.  Mein  Gott,  was  denn.- 

MAFFIO.  Die  Liebe. 

NEGRONI.  Ihr  habt  immer  die  Liebe  auf  den  Lippen. 

MAFFIO.  Und  Ihr  die  Liebe  in  den  Augen. 

NEGRONI.  Ihr  seid  sehr  sonderbar! 

MAFFIO.  Und  Ihr  sehr  schön!  (Erfaßt  sie  um  die  Hiifte) 

NEGRONI.  Herr  Graf  Orsini,  laßt  mich! 

MAFFIO.  Einen  Kuß  auf  Eure  Hand.- 

NEGRONI.   Nein!   {Sie  entwischt  ihm) 

GUBETTA  {iiähert  sich  Mafßo).   Eure  Sachen  stehen  gut 

bei  der  Fürstin. 

MAFFIO.   Sie  sagt  immer  Nein  zu  mir. 

GUBETTA.    In  dem  Munde  eines  Weibes  ist  das  Nein 

der  ältere  Bruder  des  Ja. 

JEPPO  [gesellt  sich  zu  ihnen,  zu  Maffio).  Wie  findest  du 

die  Fürstin  Negroni? 

MAFFIO.  Anbetungswürdig.   Unter  uns,  sie  fängt  an,  mir 

ganz  verzweifelt  am  Herzen  zu  nagen. 

JEPPO.   Und  ihr  Gastmahl: 

MAFFIO.  Eine  vollständige  Orgie. 

JEPPO.  Die  Fürstin  ist  Witwe. 

MAFFIO.  Man  sieht  es  an  ihrer  Munterkeit. 

JEPPO.  Ich  hoffe,  du  hast  keinen  Argwohn  mehr  gegen 

ihr  Gastmahl? 

IvIAFFIO.   Ich!   Wie  sollt  ich!   Ich  war  ein  Narr. 


426  ÜBERSETZUNGEN 

JEPPO  {zu  Gubcttd).  Herr  von  Belveraiia,  Ihr  würdet  nicht 
glauben,  daß  Maffio  sich  scheute,  zum  Essen  der  Fürstin 
zu  kommen? 

GUBETTA.  Scheute?  Warum? 

JEPPO.  Weil  der  Palast  Negroni  an  den  Palast  Rorgia 
stößt. 

GUBETTA.  Zum  Teufel  mit  der  Borgia!— Trinken  wir! 
JEPPO  {leise  zu  Maffio).  Was  mir  an  dem  Belverana  ge- 
fällt, ist,  daß  er  die  Borgia  nicht  leiden  kann. 
MAFFIO  {leise).  In  der  Tat,  er  läßt  keine  Gelegenheit 
vorbei,  ohne  sie  mit  einer  ganz  besondern  Grazie  zum 
Teufel  zu  schicken.   Dennoch,  mein  lieber  Jeppo  .  .  . 
JEPPO.  Nun! 

MAFFIO.  Ich  beobachte  seit  dem  Anfang  des  Gastmahls 
diesen  sogenannten  Spanier.  Er  hat  bis  jetzt  nichts  als 
Wasser  getrunken. 

JEPPO.  Da  kommt  ja  dein  Verdacht  wieder,  mein  guter 
Freund  Maffio!  Der  Wein  macht  dich  sonderbar  monoton. 
MAFFIO.  Vielleicht  hast  du  recht.  Ich  bin  ein  Narr. 
GUBETTA  {kojnmt  zurück  und  betrachtet  Maffio  von  Kopf 
bis  zu  Füßen).  Wißt  Ihr  auch,  Herr  Maffio,  daß  Ihr  für 
ein  Leben  von  neunzig  Jahren  gebaut  seid  und  daß  Ihr 
meinem  Großvater  gleicht,  der  dies  Alter  erlebte  und 
wie  ich  Gil — Basilio — Fernan—Frenco— Felipe — Frasco— 
Fiasquito  Graf  von  Belverana  hieß? 

JEPPO  {leise  zu  Maffio).  Ich  hoffe,  du  zweifelst  jetzt  nicht 
mehr  an  seiner  spanischen  Rasse.  Er  hat  wenigstens  zwan- 
zig Taufnamen.— Welche  Litanei,  Herr  Belverana! 
GUBETTA.  Ach,  unsre  Eltern  sind  gewöhnt,  uns  mehr 
Namen  bei  der  Taufe  als  Taler  bei  der  Hochzeit  zu  geben. 
Aber  was  haben  sie  denn  da  unten  zu  lachen?  {Beiseite:) 
Die  Weiber  müssen  doch  einen  Vorwand  zum  Weggehen 
haben.  Was  tun?  {Er  geht  zurück  und  setzt  sich  an  die 
Tafel) 

OLOFERNO  {trinkt).  Beim  Herkules,  meine  Herren,  ich 
habe  nie  einen  herrhchern  Abend  verlebt!  Meine  Damen, 
versucht  diesen  Wein.  Er  ist  süßer  als  Lacrimae  Christi 
und  glühender  als  der  Wein  von  Zypern!  Das  ist  Syra- 
kusaner,  meine  Herren! 


LUCRETIA  BORGIA.   DRITTE  HANDLUNG  427 

GUBETTA  {ißt).  Oloferno  ist  betrunken,  wie  es  scheint. 
OLOFERNO.  Meine  Damen,  ich  muß  euch  einige  Verse 
hersagen,  die  ich  eben  gemacht  habe.  Ich  möchte  ein 
besserer  Dichter  sein,  als  ich  bin,  um  so  bewunderns- 
würdige Frauen  zu  feiern. 

GUBETTA.  Und  ich  möchte  reicher  sein,  als  ich  bin,  um 
meinen  Freunden  solche  Weiber  zu  geben. 
OLOFERNO.    Nichts  ist  süßer,  als  eine  schöne  Dame 
und  ein  gutes  Essen  zu  besingen. 

GUBETTA.  Als,  die  eine  zu  umarmen  und  das  andre  zu 
essen. 

OLOFERNO.  Ja,  ich  möchte  Dichter  sein.  Ich  möchte 
mich  in  den  Himmel  stürzen  können.  Ich  wollte,  ich  hätte 
zwei  Flügel  .  .  . 

GUBETTA.  Von  einem  Fasan  auf  meinem  Teller. 
OLOFERNO.  Ich  will  euch  aber  doch  mein  Sonett  her- 
sagen. 

GUBETl^A.  Beim  Teufel,  Herr  Marquis  Oloferno  Vitel- 
lozzo!  Ich  erlaube  Euch,  uns  Euer  Sonett  nicht  herzu- 
sagen.  Wir  wollen  trinken! 

OLOFERNO.  Ihr  erlaubt  mir,  mein  Sonett  nicht  herzu- 
sagen: 

GUBETTA.  Wie  ich  den  Hunden  erlaube,  mich  nicht  zu 
beißen,  dem  Papst,  mich  nicht  zu  segnen,  und  den  Vor- 
übergehenden, mir  keine  Steine  in  die  Rippen  zu  werfen. 
OLOFERNO.  Teufel!  Ihr  beleidigt  mich!  Ihr  Männlein 
von  einem  Spanier. 

GUBETTA.  Ich  beleidige  Euch  nicht,  großer  Koloß  von 
einem  Italiener.  Ich  entziehe  Eurem  Sonett  meine  Auf- 
merksamkeit; nichts  weiter.  Mein  Gaumen  dürstet  mehr 
nach  Zypernwein,  als  meine  Ohren  nach  Poesie. 
OLOFERNO.  Ich  will  Euch  Eure  Ohren  an  die  Fersen 
nageln,  mein  schäbiger  Herr  Kastilier! 
GUBETTA.  Ihr  seid  ein  abgeschmackter  Schlingel!  Pfui! 
Sah  man  jemals  so  einen  Tölpel:  Sich  mit  Syrakusaner 
zu  berauschen  und  auszusehen,  als  hätte  man  sich  an  Bier 
besoffen! 

OLOFERNO.  Wißt  Ihr  auch,  daß  ich  Euch  in  vier  Stücke 
hauen  werde,  beim  Teufel! 


428  ÜBERSETZUNGEN 

GUBETTA  {u'ährend  er  einen  Fasanen  zerlegt).  Das  sage  ich 
nicht  von  Euch,  ich  zerlege  nicht  so  gemeines  Geflügel. — 
Meine  Damen,  darf  ich  euch  von  diesem  Fasan  anbieten? 
OLOFERNO  {lüirft  sich  auf  ein  Messer).  Bei  Gott,  ich 
will  dem  Buben  die  Gedärme  herausreißen,  und  wäre  er 
ein  besserer  Edelmann  als  der  Kaiser! 
DIE  DAMEN  {crhcheti  sich).  Himmel!  sie  werden  sich 
schlagen! 

DIE  MÄNNER.  Ruhig,  Oloferno!  (Sie  entwaffnen  Oloferno, 
der  sich  auf  Gubetta  7veifen  laill,  unterdessen  entfernen  sich 
die  Damen  durch  die  Seiten tih'e.) 
OLOFERNO  {sich  wehrend).  Beim  Teufel! 
GUBETTA.  Ihr  reimt  so  reichHch  auf  Teufel,  mein  lieber 
Dichter,  daß  Ihr  diese  Damen  in  die  Flucht  gejagt  habt. 
Ihr  seid  sehr  empfindlich  und  sehr  ungeschickt. 
JEPPO.  Das  ist  wahr.  Wo  zum  Henker  sind  sie  hinge- 
kommen.^ 

MAFFIO.    Sie   hatten  Furcht.    Beim  Messerziehen  die 
Weiber  fliehen. 

ASCANIO.  Doch  sie  werden  wiederkommen. 
OLOFERNO  (indem  er  Gubetta  droht).  Ich  werde  dich 
morgen  finden,  mein  kleiner  Teufel  Belverana. 
GUBETTA.  Morgen,  sobald  es  Euch  beliebt! 
OLOFERNO  (setzt  sich  wankend  und  verdrießlich  nieder). 
GUBETTA  (bricht  in  Lachen  aus).  Der  Schwachkopf!   Die 
schönsten  Weiber  aus  Ferrara  mit  einer  Messerklinge  im 
Stiel  eines  Sonetts  in  die  Flucht  zu  jagen!  Sich  über  Verse 
zu  ärgern!   Ich  glaube  wohl,  daß  er  Flügel  hat.  Das  ist 
kein  Mensch,  das  ist  ein  Vogel.  Das  setzt  sich  auf  die 
Stange,  das  muß  auf  einer  Klaue  schlafen.  Das  Oloferno  da! 
JEPPO.  Macht  Friede,  ihr  Herren!  Morgen,  morgen  könnt 
ihr  euch  in  aller  Höflichkeit  die  Kehlen   abschneiden. 
Beim  Jupiter,  ihr  werdet  euch  wenigstens  wie  Edelleute 
mit  dem  Degen  und  nicht  mit  Messern  schlagen. 
ASCANIO.   Da  fällt  mir  bei,  was  haben  wir  mit  unsern 
Degen  gemacht: 

APOSTOLO.  Ihr  vergeßt,  daß  man  sie  uns  im  Vorzimmer 
ablegen  ließ. 
GUBETTA.   Und  die  Vorsicht  war  nötig,  sonst  hätten  wir 


LUCRETIA  BORGIA.  DRITTE  HANDLUNG  429 

uns  vor  den  Damen  geschlagen.  Ein  von  Tabak  berauschter 
Flamländer  würde  davor  errötet  sein. 
GENNARO.  Eine  gute  Vorsicht,  in  der  Tat. 
MAFFIO.  Bei  Gott,  mein  Bruder  Gennaro,  das  ist  das 
erste  Wort,  was  du  seit  dem  Anfang  des  Gastmahls  sprichst; 
auch  trinkst  du  nicht.  Träumst  du  von  Lucretia  Borgiar 
Gennaro!  Du  hast  offenbar  so  was  von  einer  Liebschaft 
mit  ihr!   Sage  nicht  nein! 

GENNARO.  Gib  mir  zu  trinken,  Maffio!  Ich  lasse  meine 
Freunde  so  wenig  bei  Tische  als  im  Feuer  im  Stich. 
EIN  SCHWARZER  PAGE  [zwei  Flaschen  in  der  Harnt). 
Meine  Herren,  Wein  von  Zypern  oder  von  Syrakus.^ 
MAFFIO.  Syrakusaner,   der  ist  besser.  [Da-  Page  füllt 
alle  Gläser.) 

JEPPO.  Hole  die  Pest  den  Oloferno!  Werden  die  Damen 
nicht  zurückkommen.^  (Er  geht  nacheinander  an  die  beiden 
Türen.)  Die  Türen  sind  von  außen  verschlossen,  meine 
Herren! 

MAFFIO.  Fange  jetzt  nicht  an,  deinerseits  Furcht  zu 
haben,  Jeppo!  Sie  wollen,  daß  wir  sie  nicht  verfolgen. 
Das  ist  ganz  einfach. 

GENNARO.  Trinken  wir,  meine  Herren!  {Sie  stoßen  7nit 
ihren  Gläsern  an.) 

MAFFIO.  Auf  deine  Gesundheit,  Gennaro!  Mögest  du 
deine  Mutter  bald  wiederfinden! 

GENNARO.  Möge  Gott  dich  erhören!  {Alle  trinken,  Gubetta 
ausgenommen,  der  seinen  Jl^ein  ither  die  Schulter  schüttet.) 
MAFFIO  {leise  zu  Jeppo).  Jetzt,  Jeppo,  hab  ich  es  deutlich 
gesehen. 

JEPPO  [leise).  Was: 

MAFFIO.  Der  Spanier  hat  nicht  getrunken. 
JEPPO.  Nun? 

MAFFIO.  Er  hat  seinen  Wein  über  die  Schulter  geschüttet. 
JEPPO.  Er  ist  betrunken,  wie  du. 
MAFFIO.  Das  ist  möglich. 

GUBETTA.  Ein  Trinklied,  meine  Herrn!  Ich  will  euch 
ein  Trinklied  singen,  was  so  viel  wert  ist,  als  das  Sonett 
des  Marquis  Oloferno.  Bei  dem  guten  alten  Schädel  mei- 
nes Vaters  schwöre  ich,  daß  ich  das  Lied  nicht  gemacht 


43  o  ÜBERSETZUNGEN 

habe,  sintemal  ich  kein  Dichter  bin  und  nicht  Geist  ge- 
nug habe,  um  sich  zwei  Reime  am  Ende  eines  Gedankens 
schnäbeln  zu  lassen.  Da  ist  mein  Lied.  Es  ist  an  den 
heiligen  Peter,  den  Pförtner  des  Paradieses,  gerichtet  und 
hat  den  feinen  Gedanken  zugrunde  liegen,  daß  der  Him- 
mel des  lieben  Herrgott  dem  Trinker  gehört. 
JEPPO  (leise  zu  Maffio).  Er  ist  mehr  als  betrunken,  er 
ist  besoffen. 

ALLE  {Gennaro  ausgcnommeii).  Das  Lied!  das  Lied! 
GUBETTA.  Kommt  ein  Trinker  hinaufgestiegen, 
Laß  ihn  nicht  vor  der  Türe  liegen, 
Ist  seine  Stimme  hell  und  klar, 
Zu  singen  in  der  himmlischen  Schar: 
domino! 
ALLE  (Gennaro  ausgenom7nen).   Gloria  domino! 
(Sie  stoßen  mit  den  Gläsern  an^  indem  sie  laut  lachen\  plötz- 
lich hört  man  Stimmen  in  der  Ferne  in  schauerlichen  Tönen 
singend.) 

STIMMEN  VON  AUSSEN.  Sanctum  et  terribile  nomen 
ejus.  Initium  sapientiae  timor  domini. 
JEPPO  (lacht  aus  vollem  Halse).    Hört,  meine   Herren! 
Corpo  di  baco!  während  wir  TrinkHeder  singen,  singt  das 
Echo  die  Vesper. 
ALLE.  Hört! 

STIMMEN  VON  AUSSEN  (etwas  ?nehr  in  der  Nähe). 
Nisi  dominus  custodierit  civitatem,  frustra  vigilat,   qui 
custodit  eam.  (Alle  brechen  in  Lacheii  aus.) 
JEPPO.   Ganz  reiner  Kirchengesang. 
MAFFIO.  Eine  Prozession,  die  vorübergeht. 
GENNARO.  Um  Mitternacht!   Das  ist  etwas  spät. 
JEPPO.  Bah!  Fahrt  fort,  Herr  von  Belverana. 
STIMMEN  VON  AUSSEN  (i7idem  sie  näher  und  näher 
kommen).  Oculos  habent,  et  non  videbunt.  Nares  habent, 
et  non  odorabunt.  Aures  habent,  et  non  andient.  (Alle 
lachen  stärker.) 

JEPPO.   Wie  die  Mönche  plärren! 

MAFFIO.  Sieh  doch,  Gennaro,  die  Lampen  erlöschen. 
Wir  werden  gleich  im  Finstem  sitzen. 
(Die  Lampenhrcnnen  düster  ^alswcfm  sie  kein  Öl  mehr  hätte??.) 


LUCRETIA  BORGIA.  DRITTE  HANDLUiNG  431 

STIMMEN  VON  AUSSEN  {iioch  fiä/ier).  Manus  habent, 
et  non  palpabunt;  pedes  habent,  et  non  arabulabunt;  non 
clamabimt  in  gutture  suo. 

GENNARO.   Die  Stimmen  scheinen  sich  zu  nähern. 
JEPPO.  Es  ist  mir,  als  ob  die  Prozession  in  diesem  Augen- 
blick unter  unsem  Fenstern  wäre. 
MAFFIO.  Es  sind  Totengebete. 
ASCANIO.  Das  ist  ein  Leichenbegängnis. 
JEPPO.  Trinken  wir  auf  die  Gesundheit  dessen,  den  sie 
begraben. 

GUBETTA.  Wißt  Ihr  denn,  ob  es  nicht  mehrere  sind? 
JEPPO.   Nun  denn,  auf  die  Gesundheit  von  allen! 
APOSTOLO  {zic   Guhettd).   Bravo!    Fahren  wir  fort  mit 
unserm  Gebet  zum  heiligen  Peter. 

GUBETTA.  Sprecht  doch  höflicher.   Man  sagt  zu  dem 
Herrn:  Sankt  Peter,  sehr  ehrbarem  Türsteher  und  wohl- 
bestalltem Kerkermeister  des  Paradieses.  (Er  singt:^ 
Kommt  ein  Trinker  heraufgestiegen, 
Laß  ihn  nicht  vor  der  Türe  liegen, 
Ist  seine  Stimme  hell  und  klar, 
Zu  singen  in  der  himmlischen  Schar: 
domino! 
ALLE.   Gloria  domino! 

GUBETTA.   Sperr  auf  das  Tor,  so  weit  du  kannst, 
Dem  Trinker  mit  dem  dicken  Wanst, 
Daß  man  im  Himmel  schwören  sollt. 
Es  kam  ein  Faß  hereingerollt. 
ALLE  {stoßen  unter  Gelächter  mit  den  Gläsern  ajt),   Gloria 
domino! 

{Die  große  Türe  im  Hintergrund  öffnet  sich  ohne  Geräusch 
in  ihrer  ganzen  Breite.  Man  erblickt  einen  weiten^  schwarz 
oAis geschlagenen^  durch  einige  Fackeln  erleuchteten  Saal  mit 
einem  gro/ien  silbernen  Kreuz  im  Hintergrund.  Schwarze 
und  weiße  Büßende^  von  deneii  man  nichts  als  die  Augen 
durch  die  Löcher  ihrer  Kapuzen  sieht,  treten  in  einer  langen 
Reihe,  Fackeln  in  den  Händen,  durch  die  große  Türe  ein, 
wäh?'end  sie  laut  und  i?t  unheimlichem  To?i  si?igen:  ''^De 
profundis  clamavi  ad  te,  do7tiinel''' — Dann  stellen  sie  sich 
schweigend  zu  beiden  Seiten  des  Saales  auf  und  bleiben  da- 


432  ÜBERSETZUNGEN 

selbst  unbcivc glich ^  wie  Statuen^  stehen^  während  die  jungen 

Edelleute  sie  ei-staunt  betrachten.) 
MAFFIO.  Was  soll  das  heißen? 

JEPPO  {init gezwungenem  Lachen).  Das  ist  ein  Scherz;  ich 
wette  mein  Pferd  gegen  ein  Ferkel  und  meinen  Namen 
Liveretto  gegen  den  Namen  Borgia,  daß  dies  unsre  aller- 
liebsten Damen  sind,  die  sich  verkleidet  haben,  um  uns 
auf  die  Probe  zu  stellen,  und  daß,  wenn  wir  zufällig  eine 
von  diesen  Kapuzen  aufschlagen,  wir  darunter  das  frische 
und  boshafte  Gesicht  eines  schönen  Weibes  finden  werden. 
Seht  nur!  (Er  hebt  lachend  eine  der  Kapuzen  auf  und  bleibt 
wie  versteinert  stehen^  indem  er  darunter  das  gelbe  Gesicht 
eines  Mönches  ei'blickt^  der  unbeweglich.,  die  Fackel  in  der 
Hand,  mit  niedergeschlagenen  Augen  stehen  bleibt.  Er  läßt 
die  Kapuze  falle??  und  fährt  zurück.)  Das  fängt  an,  seltsam 
zu  werden! 

MAFFIO.  Ich  weiß  nicht,  warum  mir  das  Blut  in  den 
Adern  stockt .  {Die  Mönche  singen  mit  heller  Stimme:  Con- 
quassabit  capita  in.  terra  multorumt) 

JEPPO.  Welch  abscheuliche  Falle!  Unsre  Degen!  unsre 
Degen!  Ha,  meine  Herren,  wir  sind  bei  dem  Teufel! 


ZWEITE  SZENE 

Die  Nämlichen.  Donna  Lucretia. 
LUCRETIA  (schwarz  gekleidet^  erscheint  plötzlich  auf  der 
Schiaelle  der  Türe).  Ihr  seid  bei  mir! 
ALLE  (Gemiaro  ausgeiiomfnen,  der  in  einem,  Winkel  der 
Bühne  zusieht,  so  daß  ihn  Lucretia  nicht  bemerkt).  Lucretia 
Borgia! 

LUCRETIA.  Es  sind  einige  Tage  her,  seit  ihr  alle,  wie 
ihr  hier  seid,  triumphierend  diesen  Namen  nanntet.  Heute 
nennt  ihr  ihn  mit  Schauder.  Ja,  betrachtet  mich  nur  mit 
euren  schreckenstarren  Augen;  ich  bin  es,  meine  Herrn. 
Ich  komme,  um  euch  was  Neues  zu  sagen,  nämlich,  daß 
ihr  alle  vergiftet  seid  und  daß  keiner  von  euch  eine  Stunde 
mehr  zu  leben  hat.  Rührt  euch  nicht!  der  anstoßende 
Saal  ist  voll  Piken.  Jetzt  ist  die  Reihe  an  mir,  jetzt  ist's 
an  mir,  laut  zu  sprechen  und  euch  den  Kopf  mit  der  Ferse 


LUCRETIA  BÜRGIA.  DRITTE  HANDLUNG  433 

einzutreten!  Jeppo  Liveretto,  gehe  zu  deinem  Onkel  Vi- 
telli,  den  ich  in  den  Kellern  des  Vatikan  erdolchen  ließ! 
Ascanio  Petrucci,  besuche  deinen  Vetter  Pandolfo,  den 
ich  ermordet  habe,  um  ihm  seine  Stadt  zu  stehlen!  Olo- 
ferno  Vitellozzo,  dein  Onkel  erwartet  dich,  du  weißt,  der 
Jago  von  Appiani,  den  ich  bei  einem  Gastmahl  vergiftet 
habe!  Maffio  Orsini,  unterhalte  dich  von  mir  in  der  an- 
dern Welt  mit  deinem  Bruder  Gravina,  den  ich  erdrosseln 
ließ,  während  er  schlief!  Apostolo  Gazella,  ich  habe  dei- 
nen Vater  Francisco  Gazella  enthaupten  und  deinen  Vetter 
Alphons  von  Aragonien  ermorden  lassen,  wie  du  sagst; 
gehe  hin  zu  ihnen!  Bei  meiner  Seele!  ihr  habt  mir  einen 
Ball  zu  Venedig  gegeben,  ich  gebe  euch  ein  Abendessen 
zu  Ferrara.  Fest  mn  Fest,  meine  Herren! 
JEPPO.  Das  ist  ein  hartes  Erwachen,  Maffio! 
MAFFIO.  Wenden  wir  uns  zu  Gott! 
LUCRETIA.  Ach,  meine  jungen  Freunde  vom  letzten 
Karneval!  daran  dachtet  ihr  nicht.^  Wahrhaftig,  ich  räche 
mich,  wie  mir  deucht.  Was  sagt  ihr  dazu,  meine  Herren: 
Wer  versteht  sich  hier  auf  Racher  Das  ist  so  übel  nicht, 
meine  ich!  He:  was  haltet  ihr  davon:  Für  ein  Weib!  (Zu 
den  Möfichcn:)  Meine  Väter,  führt  diese  Edelleute  in  den 
anstoßenden  Saal,  laßt  sie  beichten  und  benutzt  die  we- 
nigen Augenblicke,  die  sie  noch  übrig  haben,  um  so  viel 
zu  retten,  als  noch  bei  jedem  von  ihnen  gerettet  werden 
kann. — Meine  Herren,  die  unter  euch,  welche  eine  Seele 
haben,  mögen  sich  darnach  richten.  Seid  unbesorgt,  sie 
sind  in  guten  Händen.  Diese  würdigen  Väter  sind  die 
Mönche  des  heiligen  Sixtus,  denen  unser  Heiliger  Vater, 
der  Papst,  erlaubt  hat,  mich  bei  dergleichen  Gelegenheiten 
zu  unterstützen. — Und  wie  für  eure  Seelensorge,  so  sorgte 
ich  auch  für  eure  Leiber,  seht!  [Zu  den  Mönc/ic/i,  die  vor 
der  Türe  im  Hintergrund  ste/ien:)  Tretet  ein  wenig  zurück, 
damit  diese  Herren  sehen.  [Die  Mönche  weichen  ausein- 
ander^ so  daß  man  fimf  mit  schwärzest  Tüchern  bedeckte 
Särge  vor  der  Tür  erblickt.)  Grade  die  Zahl.  Es  sind  doch 
wohl  fünf.^— Ach,  ihr  jungen  Leute!  ihr  zerfleischt  die  Ein- 
geweide eines  unglücklichen  Weibes,  und  ihr  glaubt,  daß 
sie  sich  nicht  rächen  würde.   Hier  ist  der  deinige,  Jeppo; 

BÜCHNER  28. 


434  ÜBERSETZUNGEN 

hier  der  deinige,  Maffio;  Oloferno,  Apostolo,  Ascanio,  hier 
sind  die  eurigen! 

GENNARO  {^den  sie  bisher  nicht  sah,  tut  ei7ien  Schritt  vor- 
wärts}) Ihr  habt  noch  einen  sechsten  nötig,  Donna! 
LUCRETIA.  Himmel,  Gennaro! 
GENNARO.  Er  selbst. 

LUCRETIA.  Geht  alle  sogleich  hinaus. — Laßt  uns  allein. 
— Gubetta,  laßt  niemand  herein,  was  auch  geschehen,  was 
man  auch  von  dem,  was  hier  vorgeht,  hören  mag. 
GUBETTA.   Gut. 

(Die  Mönche  ziehe?i  in  Prozession  hinaus,  währe7id  sie  in 

ihrer  Reihe  die  ß'inf  nuinkenden  und  besti'irzteii  Herren  fort- 

fiihren^ 


DRITTE  SZENE 
Gennaro.  Donna  Lucretia. 
(Einige  erlöschende  Lampen  brennen  im  Zi?mncr.  Die  l^üren 
sind  geschlossen.  Domia  Lucretia  und  Genna?v,  die  allein 
zurückgeblieben  sind,  betrachten  sich  schweigend  einige  Augen- 
blicke, als  müßten  sie  nicht,  womit  anfangen^ 
LUCRETIA  (spricht  zu  sich  selbst).  Es  ist  Gennaro!  (Ge- 
sang der  Mönche  von  außen:  Nisi  dominus  aedificaverit  do- 
nium,  in  vanum  laborant,  qui  aedificant  eam.)  Immer  Ihr, 
Gennaro,  immer  Ihr  unter  all  meinen  Streichen!   Gott  im 
Himmel!  wie  seid  Ihr  dahinein  gekommen? 
GENNARO.  Ich  ahnte  alles. 

LUCRETIA.  Ihr  seid  abermals  vergiftet,  Ihr  müßt  sterben! 
GENNARO.  Wenn  ich  will;  ich  habe  das  Gegengift. 
LUCRETIA.  Ach  ja!  Gott  sei  gelobt! 
GENNARO.  Ein  Wort,  Donna.  Ihr  seid  erfahren  in  der- 
gleichen. Ist  Elixier  genug  in  diesem  Fläschchen,  um  all' 
die  Edelleute  zu  retten,  die  Eure  Mönche  in  die  Särge 
schleppen? 

LUCRETIA  (untersucht  das  Fläschchen).  Kaum  genug  für 
Euch,  Gennaro. 
GENNARO.  Ihr  könnt  kein  anderes  auf  der  Stelle  haben? 
LUCRETIA.  Ich  gab  Euch  alles,  was  ich  hatte. 
GENNARO.  Gut. 


LUCRETIA  BORGIA.   DRITTE  HANDLUNG  435 

LUCRETIA.  Was  macht  Ihr,  Gennaro?  Eilt  Euch  doch! 
Spielt  nicht  mit  so  entsetzlichen  Dingen,  man  kann  ein 
Gegengift  nicht  schnell  genug  nehmen.  Trinkt,  im  Namen 
des  Himmels!  Mein  Gott,  welche  Unklugheit  begeht  Ihr 
da!  Bringt  Euer  Leben  in  Sicherheit,  ich  werde  Euch  zum 
Palast  durch  eine  verborgene  Türe,  die  ich  kenne,  hinaus- 
lassen. Alles  kann  noch  gut  werden.  Es  ist  Nacht.  Die 
Pferde  sind  gleich  gesattelt.  Morgen,  morgen  seid  Ihr  weit 
von  Ferrara.  Nicht  wahr,  es  geschehen  da  schaudervolle 
Dinge?  Trinkt,  imd  dann  fort!  Ihr  müßt  leben!  Ihr  müßt 
Euch  retten! 

GENNx^RO  [nimmt  ein  Messer  vom  Tisch).  Das  heißt:  Ihr 
werdet  sterben,  Donna! 
LUCRETIA.  Wie!  was  sagt  Ihr? 

GENNARO.  Ich  sage  Euch,  daß  Ihr  verräterischerweise 
fünf  Edelleute  vergiftet  habt,  fünf  meiner  Freunde,  meiner 
besten  Freunde,  und  unter  ihnen  Maffio  Orsini,  meinen 
Waffenbruder,  der  mir  das  Leben  zu  Vizenzia  gerettet  hat 
und  mit  dem  ich  jede  Beleidigung  und  jede  Rache  teile. 
Ich  sage  Euch,  daß  Ihr  eine  niederträchtige  Handlung 
begangen  habt,  daß  ich  Maffio  und  die  andern  rächen 
muß,  und  daß  Ihr  sterben  werdet. 
LUCRETIA.   Himmel  und  Erde! 

GENNARO.  Sprecht  Euer  Gebet,  Donna,  und  macht  es 
kurz.  Ich  bin  vergiftet,  ich  habe  nicht  Zeit  zum  Warten. 
LUCRETIA.  Bah,  das  ist  unm.öglich!  Gennaro,  mich  töten! 
Wäre  das  möglich? 

GENNARO.  Das  ist  die  reine  Wahrheit,  Donna,  und  ich 
schwöre  Euch  bei  Gott,  daß  ich  an  Eurer  Stelle  mich 
schweigend  zum  Gebet  wenden  würde,  mit  gefaltenen 
Händen  und  auf  beiden  Knien. — Seht,  da  ist  ein  Sessel, 
der  ist  gut  dafür. 

LUCRETIA.  Nein!  Ich  sage  Euch,  daß  das  unmöglich 
ist.  Nein!  unter  den  schrecklichsten  Gedanken,  die  mir 
durch  die  Seele  gehen,  wäre  mir  dieser  niemals  gekom- 
men.—Ach!  ach!  Ihr  habt  das  Messer,  Wartet,  Gennaro, 
ich  habe  Euch  etwas  zu  sagen. 
GENNARO.  Schnell! 
LUCRETIA.  Wirfdein  Messer  weg,  Unglücklicher!  Wirf 


436  ÜBERSETZUNGEN 

es  wegl  sage  ich  dir!  Wenn  du  wüßtest  .  .  .  Gennaro! 
weißt  du,  wer  du  bist?  Du  weißt  nicht,  wie  nahe  ich  dir 
stehe.  Muß  ich  dir  alles  sagen?  Das  nämliche  Blut  fließt 
in  unsern  Adern,  Gennaro!  Johann  Borgia,  Herzog  von 
Gandia,  ist  dein  Vater. 

GENNARO.  Euer  Bruder?  Ha,  Ihr  seid  meine  Tante! 
Ach,  Donna! 

LUCRETIA  (deisafc).  Seine  Tante! 
GENNARO.  Ha!  ich  bin  Euer  Neffe!  Ach!  meine  Mutter 
ist  also  diese  unglückliche  Herzogin  von  Gandia,  die  alle 
Borgia  so  unglücklich  gemacht  haben!  Donna  Lucretia, 
meine  Mutter  spricht  mir  von  Euch  in  ihren  Briefen;  Ihr 
gehört  unter  die  Zahl  ihrer  unnatürlichen  Verwandten, 
von  denen  sie  mir  mit  Schauder  spricht,  die  meinen  Vater 
getötet,  die  ihr  Leben  in  Tränen  und  Blut  ertränkt  haben. 
Ha!  ich  habe  jetzt  auch  noch  meinen  Vater  zu  rächen  und 
meine  Mutter  vor  Euch  zu  retten!  Ha!  Ihr  seid  meine 
Tante!  Ich  bin  ein  Borgia!  O,  das  macht  mich  toll! — 
Hört  mich,  Donna  Lucretia  Borgia.  Ihr  habt  lang  genug 
gelebt  und  tragt  eine  solche  Last  von  Schandtaten,  daß 
Ihr  Euch  selbst  verhaßt  und  zum  Abscheu  sein  müßt.  Ihr 
habt  das  Leben  satt,  ohne  Zweifel,  nicht  wahr?  Nun  gut, 
es  muß  damit  ein  Ende  werden.  In  Geschlechtern,  wie 
das  unsrige,  wo  das  Verbrechen  erblich  ist  und  sich  vom 
Vater  auf  den  Sohn  mit  dem  Namen  fortpflanzt,  geschieht 
es  immer,  daß  dies  Geschicksich  mit  einem  Morde  schließt, 
der  gewöhnlich  ein  Verwandtenmord  ist,  als  das  letzte 
Verbrechen,  das  alle  übrigen  sühnt.  Ein  Edelmann  ist  nie 
getadelt  worden,  wenn  er  einen  schlechten  Ast  von  dem 
Stamme  seines  Hauses  abschnitt.  Der  Spanier  Mudarra 
hat  seinen  Onkel  Rodrigo  von  Lara  um  weniger  getötet, 
als  Ihr  begangen  habt.  Alle  lobten  diesen  Spanier  um 
den  Mord  seines  Onkels.  Versteht  Ihr,  Donna?  Fort!  ich 
habe  genug  gesagt!  Befehlt  Gott  Eure  Seele,  wenn  Ihr 
an  Gott  und  Eure  Seele  glaubt. 

LUCRETIA.   Gennaro!   Aus  Erbarmen  für  dich!   Du  bist 
noch  unschuldig,  begehe  nicht  dies  Verbrechen! 
GENNARO.  Ein  Verbrechen!  O,  mein  Hirn  verwirrt  sich! 
Wäre  das  ein  Verl)rechen?  Und  wenn  ich  ein  Verbrechen 


LUCRETIA  BORGIA.  DRITTE  HANDLUNG  437 

beginger  Bei  Gott,   ich  bin  ein  Borgia!   Auf  die  Knieel 
sage  ich,  meine  Tante,  auf  die  Kniee! 
LUCRETIA.    Sagst  du  wirkHch,   was   du   denkst,  mein 
Gennaro:  Vergiltst  du  mir  so  meine  Liebe: 
GENNARO.  Liebe!  .  .  . 

LUCRETIA.  Das  ist  unmöglich.  Ich  will  dich  vor  dir 
selbst  retten.  Ich  werde  rufen,  ich  werde  schreien. 
GENNARO.  Ihr  werdet  diese  Türe  nicht  öffnen.  Keinen 
Schritt!  Euer  Schreien  kann  Euch  nicht  retten.  Habt  Ihr 
nicht  selbst  befohlen,  daß  niemand  herein  solle,  man  möge 
außen  von  dem,  was  hier  vorginge,  hören,  was  man  wolle: 
LUCRETIA.  Aber  es  ist  feig,  was  du  tust,  Gennaro.  Ein 
Weib  töten,  ein  wehrloses  Weib!  O,  du  trägst  einen  ed- 
leren Sinn  in  deiner  Seele!  Höre  mich,  töte  mich  dann, 
wenn  du  willst;  ich  hänge  nicht  am  Leben,  aber  die  Brust 
zerspringt  mir,  sie  ist  voll  Qualen  über  die  Art,  womit  du 
mich  bisher  behandelt  hast.  Du  bist  jung,  bist  ein  Kind, 
und  die  Jugend  ist  immer  zu  streng.  Oh!  wenn  ich  sterben 
soll,  so  will  ich  doch  nicht  von  deiner  Hand  sterben.  Es 
ist  unmöglich,  siehst  du:  daß  ich  durch  deine  Hand  sterbe. 
Du  weißt  nicht,  wie  entsetzlich  das  wäre.  Übrigens,  Gen- 
naro, meine  Stunde  ist  noch  nicht  gekommen.  Es  ist  wahr, 
ich  habe  viele  Verbrechen  auf  mich  geladen,  ich  bin  eine 
große  Sünderin,  und  weil  ich  eine  große  Sünderin  bin,  muß 
man  mir  Zeit  lassen,  mich  zu  bereiten  und  zu  bereuen. 
Das  ist  schlechterdings  notwendig,  verstehst  du,  Gennaro: 
GENNARO.  Ihr  seid  meine  Tante,  Ihr  seid  die  Schwester 
meines  Vaters.  Was  habt  Ihr  mit  meiner  Mutter  gemacht, 
Donna  Lucretia  Borgia: 

LUCRETIA.  Warte!  warte!  Mein  Gott!  ich  kann  nicht 
alles  sagen.  Und  dann,  wenn  ich  alles  sagte,  das  würde 
deinen  Abscheu  und  deine  Verachtung  nur  verdoppeln. 
Höre  mich  noch  einen  Augenblick.  O,  ich  wollte,  du 
sähest  mich  büßend  zu  deinen  Füßen!  Du  würdest  mir  das 
Leben  schenken,  nicht  wahr:  Willst  du,  daß  ich  den  Schleier 
nehme:  Willst  du,  daß  ich  mich  in  ein  Kloster  einschließe: 
Sieh,  wenn  man  dir  sagte:  dies  elende  Weib  hat  sich  das 
Haupt  geschoren,  sie  schläft  in  der  Asche,  sie  gräbt  ihre 
Grube  mit  eigenen  Händen,  sie  betet  zu  Gott  Nacht  und 


438  ÜBERSETZUNGEN 

Tag,  nicht  für  sich,  die  es  wohl  nötig  hätte,  sondern  für 
dich,  der  du  es  nicht  nötig  hast;  sie  tut  all  das,  dies  Weib, 
damit  du  eines  Tages  auf  ihr  Haupt  einen  mitleidigen  Blick 
senkst,  damit  du  eine  Träne  auf  die  offnen  Wunden  ihrer 
Seele  fallen  läßt,  damit  du  ihr  nicht  mehr  mit  einer  Stimme 
so  streng,  als  wäre  sie  die  des  letzten  Gerichtes,  sagst:  Du 
bist  Lucretia  Borgia!  Wenn  man  dir  das  sagte,  Gennaro, 
würdest  du  es  wagen,  sie  zurückzustoßen?  O,  Gnade!  Töte 
mich  nicht,  mein  Gennaro!  Leben  wir  beide,  du,  um  mir 
zu  vergelten,  ich,  um  zu  bereuen!  Habe  etwas  Mitleid  mit 
mir!  Endlich,  was  hilft  es,  ein  armes,  elendes  Weib,  das 
nichts  als  ein  wenig  Erbarmen  will,  ohne  Erbarmen  zu  be- 
liandelnr — Ein  wenig  Erbarmen!  Gnade! — Und  dann,  siehst 
du,  mein  Gennaro,  ich  sage  dir  das  für  dich,  es  wäre  wahr- 
haftig feige,  was  du  da  tun  würdest,  es  wäre  ein  abscheu- 
liches Verbrechen,  es  wäre  ein  Mord!  Ein  Mann,  der  ein 
Weib  tötet!  ein  Mann,  welcher  der  Stärkere  ist!  O,  du 
willst  das  nicht!  du  willst  das  nicht! 
GENNARO  {erschüttert).  Donna  .  .  . 
LUCRETIA.  O,  ich  sehe  wohl,  ich  habe  Gnade  gefun- 
den! Ich  lese  es  in  deinen  Augen.  O,  laß  mich  zu  dei- 
nen Füßen  weinen! 

EINE  STIMME  (von  außen).   Gennaro! 
GENNARO.  Wer  ruft  mir? 
DIE  STIMME.  Mein  Bruder  Gennaro! 
GENNARO.  Das  ist  Maffio! 
DIE  STIMME.  Gennaro!  Ich  sterbe!  räche  mich! 
GENNARO  {hebt  das  Messer).    Genug.   Ich  höre  nichts 
mehr.  Versteht  Ihr,  Donna?  Ihr  müßt  sterben! 
LUCRETIA  (sträubt  sich  und  hält  ihm  den  Arm).   Gnade! 
Gnade!   Noch  ein  Wort! 
GENNARO.  Nein! 
LUCRETIA.  Erbarmen!   Höre  mich! 
GENNARO.  Nein! 

LUCRETIA.  Im  Namen  des  Himmels! 
GENNARO.  Nein!  {Er  ersticht  sie) 
LUCRETIA.   Ach!  ...  du  tötest  mich!— Gennaro,  ich  bin 
deine  Mutter! 


MARIA  TUDOR 
EIN  DRAMA  VON  VICTOR  HUGO 


PERSONEN 


MARIA,  Königin 

JANE 

GILBERT 

FABIANO  FABIANI 

SIMON  RENARD 

JOSHUA  FARNABI 

EIN  JUDE 

LORD  CLINTON 

LORD  CHANDOS 

LORD  MONTAGU 

MEISTER  ÄNEAS  DULVERTON 

LORD  GARDINER 

EIN  KERKERMEISTER 

Herren,  Pagen.  Wachen.  Der  Henker 


London  i553 


1 


)  441    ( 

ERSTE  HANDLUNG 

DER  MANN  AUS  DEM  VOLKE 

Personen 
:;iLBERT  LORD  MONTAGU 

FABIANO  FABIAXI  JOSPIUA  FARNAP.Y 

5IM0N  RENARD  JANE 

LORD  CHANDOS  EIN  JUDE 

L.ORD  CLINTON 

Das  Ufer  der  Themse,  Ei7ie  öde  SandfläcJie.  Ein  altes 
verfallenes  Geländer  verbirgt  den  Rand  des  Wassers.  Zur 
Rechten  ein  Haus  von  ärmlichem  Aussehen.  An  seiner  Ecke 
'in  kleines  Madonnahild^  zu  dessen  Fuß  eine  Lampe  in  einem 
'.isernen  Gitter  brennt.  Im  Hintergrunde  ^jenseits  der  Themse, 
London.  Man  unterscheidet  zwei  hohe  Gebäude^  den  Toiver 
und  JVestminster. — Der  Tag  geht  zu  Ende. 


ERSTE  SZENE 
Mehrere  Männer  stehen  in  verschiedenen  Gruppen  auf  dem 
Ufer,   unter  ihnen  Simon  Renard,  John  Bridges,   Baron 
Chandos,  Robert  Clinton,  Baron  Clinton,  Anthony  Brown, 

Vicojnte  von  Montagu. 
:.ORD  CHANDOS.  Ihr  habt  recht,  Mylord.  Dieser  ver- 
iammte  Italiener  muß  die  Königin  behext  haben.  Die 
Königin  kann  nicht  mehr  ohne  ihn  sein.  Sie  lebt  nur  in 
hm,  all  ihre  Freude  ist  in  ihm,  sie  hört  nur  ihn.  Wenn 
nn  Tag  vergeht,  ohne  daß  sie  ihn  sieht,  so  werden  ihre 
\ugen  so  schmachtend  wie  zur  Zeit,  wo  sie  den  Kardinal 
Polus  liebte,  wißt  Ihr  noch: 

SIMON  RENARD.  Sehr  verliebt,  das  ist  wahr,  und  folg- 
ich  sehr  eifersüchtig. 

LORD  CHANDOS.  Der  ItaUener  hat  sie  behext! 
LORD  MONTAGU.    In  der  Tat,  man  sagt,  in  seinem 
Lande  verstünde  man  sich  auf  Tränke  für  dergleichen. 
LORD  CLINTON.  Die  Spanier  verstehen  sich  auf  Gifte, 
Jie  einen  sterben,  imd  die  Italiener  auf  Gifte,  die  einen 
verliebt  machen. 
LORD  CHANDOS.  Dann  ist  der  Fabiani  zugleich  Spanier 


442  ÜBERSETZUNGEN 

und  Italiener.  Die  Königin  ist  krank  und  verliebt.  Er  hat 
ihr  von  beiden  zu  trinken  gegeben. 

LORD  MONTAGU.  Aha!  in  der  Tat,  ist  er  Spanier  oder 
Italiener.^ 

LORD  CHANDOS.  Es  scheint  ausgemacht,  daß  er  in 
Italien  im  Capitanat  geboren  und  in  Spanien  erzogen 
worden  ist.  Er  behauptet,  er  sei  mit  einem  großen  spa- 
nischen Geschlechte  verwandt.  Lord  Clinton  kann  das  an 
den  Fingern  herzählen. 

LORD  CLINTON.  Ein  Abenteurer.  Weder  ein  Spanier, 
noch  weniger  ein  Engländer,  Gott  sei  Dank.  Leute,  die 
keinem  Lande  angehören,  haben  kein  Erbarmen  mit  einem 
Lande,  wenn  sie  mächtig  sind! 

LORD  MONTAGU.  Sagtet  Ihr  nicht,  die  Königin  sei 
krank,  Chandos?  Das  hindert  sie  nicht,  mit  ihrem  Günst- 
ling guter  Dinge  zu  sein. 

LORD  CLINTON.  Guter  Dinge!  Guter  Dinge!  Während 
die  Königin  lacht,  weint  das  Volk  und  mästet  sich  der 
Günstling.  Der  Mensch  säuft  Silber  und  frißt  Gold!  Die 
Königin  hat  ihm  die  Güter  des  Lord  Talbot,  des  großen 
Lord  Talbot,  gegeben!  Die  Königin  hat  ihn  zum  Grafen 
von  Clanbrassil  und  Baron  von  Dinasmonddy  gemacht, 
den  Fabiano  Fabiani,  den  Lügner,  der  sagt,  er  stamme 
aus  dem  spanischen  Geschlechte  der  Penalver.  Er  ist 
Pair  von  England,  wie  Ihr,  Montagu,  wie  Ihr,  Chandos, 
wie  Stanley,  wie  Norfolk,  wie  ich,  wie  der  König!  Er 
trägt  das  Hosenband,  wie  der  Infant  von  Portugal,  wie 
der  König  von  Dänemark,  wie  Thomas  Percy,  der  siebente 
Graf  von  Northumberland!  Und  was  für  ein  Tyrann  das 
ist,  der  uns  von  seinem  Bette  aus  Gesetze  macht!  Nie 
lag  es  schwerer  über  England.  Und  doch  habe  ich  viel 
gesehen,  ich  bin  alt!  Siebenzig  neue  Galgen  zu  Tyburn, 
die  Scheiterhaufen  immer  Glut  und  nie  Asche,  die  Axt 
des  Henkers  wird  jeden  Morgen  geschliffen  und  ist  schartig 
jeden  Abend.  Jeden  Tag  fällt  man  einen  großen  Edlen. 
Vorgestern  Blantyre,  gestern  Northcurry,  heute  Sacth- 
Reppo,  morgen  Tyrconnel.  Die  nächste  Woche  kommt 
die  Reihe  an  Euch,  Chandos,  und  den  nächsten  Monat  an 
mich!  Mylords!  es  ist  schmachvoll  und  ruchlos,  daß  all 


MARIA  TUDOR.  ERSTE  HANDLUNG       443 

diese  guten  englischen  Köpfe  so  zum  Zeitvertreibe  eines 
elenden  Abenteurers  fallen,  der  nicht  einmal  aus  diesem 
Lande  ist.  Es  ist  ein  abscheulicher  und  unerträglicher 
Gedanke,  daß  ein  neapolitanischer  Günstling  so  viel 
Henkerblöcke,  als  er  Lust  hat,  unter  dem  Bette  dieser 
Königin  hervorziehen  kann.  Sie  sind  guter  Dinge,  sagt 
Ihr.  Bei  dem  Himmel,  das  ist  schändlich!  Ha!  sie  sind 
guter  Dinge,  die  Verliebten,  während  der  Kopfabhacker 
vor  ihrer  Türe  Witwen  und  Waisen  macht.  Oh!  in  das 
Klimpern  Eurer  italienischen  Gitarre  tönt  zu  viel  Ketten- 
gerassel, Frau  Königin!  Ihr  laßt  Sänger  von  der  Kapelle 
zu  Avignon  kommen,  Ihr  habt  in  Eurem  Palaste  alle  Tage 
Komödien,  Schauspiele,  Musikanten.  Bei  Gott,  Madame, 
etwas  weniger  Lachen  bei  Euch,  wenn's  beliebt,  und  et- 
was weniger  Weinen  bei  uns.  Weniger  Gaukler  dort,  und 
weniger  Henker  hier.  Weniger  Bühnen  zu  Westminster 
und  weniger  Schafotte  zu  Tyburn. 

LORD  MONTAGU.  Habt  acht!  Wir  sind  getreue  Unter- 
tanen, Mylord  Clinton.  Nichts  auf  die  Königin,  alles  auf 
Fabiani. 

SIMON  REN  ARD  (legt  die  Hand  auf  die  Schulter  des  Lord 
Clinton).   Geduld! 

LORD  CLINTON.  Geduld!  das  könnt  Ihr  ganz  leicht 
sagen,  Herr  Simon  Renard.  Ihr  seid  Vogt  von  Amont  in 
der  Franche-Comtd,  Untertan  des  Kaisers  und  sein  Ge- 
sandter zu  London.  Ihr  vertretet  hier  den  Prinzen  von 
Spanien,  den  zukünftigen  Gemahl  der  Königin.  Eure  Person 
ist  heilig  für  den  Günstling.  Aber  wir,  das  ist  was  anders. — 
Seht,  für  Euch  ist  Fabiani  der  Schäfer,  für  uns  der  Metzger. 

[Die  Nacht  ist  völlig  hereingebroche?i.) 
SIMON  RENARD.  Dieser  Mensch  ist  mir  eben  so  lästig 
als  Euch.  Ihr  fürchtet  nur  für  Euer  Leben,  ich  fürchte  für 
mein  Ansehen,  das  ist  weit  mehr.  Ich  spreche  nicht,  ich 
handle.  Ich  habe  weniger  Zorn  als  Ihr,  Mylord,  ich  habe 
mehr  Haß.  Ich  werde  den  Günstling  vernichten. 
LORD  MONTAGU.  Oh!  was  tun.>  Ich  brüte  alle  Tage 
darüber. 

SIMON  RENARD.  Die  Günstlinge  der  Königinnen  steigen 
und  fallen  nicht  am  Tage,  sondern  des  Nachts. 


444  ÜBERSETZUNGEN 

LORD  CHANDOS.  Diese  Nacht  ist  wenigstens  sehr  finster 

und  häßlich! 

SIMON  RENARD.   Ich  finde  sie  schön  für  das,  was  ich 

tun  will. 

LORD  CHANDOS.  Was  habt  Ihr  vor? 

SIMON  RENARD.  Ihr  werdet  sehen. -Mylord  Chandos, 

die  Laune  herrscht,  wenn  ein  Weib  herrscht.  Die  Politik 

ist  dann  nicht  mehr  das  Werk  der  Berechnung,  sondern 

des  Zufalls.  Man  kann  auf  nichts  mehr  zählen.  Das  Heute 

führt  nicht  logisch  das  Morgen  herbei.    Man  spielt  nicht 

mehr  Schach,  man  spielt  Karten. 

LORD  CLINTON.  Das  ist  ganz  gut,  aber  zur  Sache.  Herr 

Vogt,  wann  werdet  Ihr  uns  von  dem  Günstling  befreit 

haben?  Es  eilt.  Morgen  wird  Tyrconnel  enthauptet. 

SIMON  RENARD.   Tyrconnel  wird  morgen  abend  mit 

Euch  speisen,  wenn  ich  diese  Nacht  den  Mann  finde, 

welchen  ich  suche. 

LORD  CLINTON.  Was  wollt  Ihr  damit  sagen?  Was  wird 

dann  aus  Fabiani  geworden  sein? 

SIMON  REN  ARD.  Habt  Ihr  gute  Augen,  Mylord? 

LORD  CLINTON.  Ja,  obgleich  ich  alt  bin  und  die  Nacht 

finster  ist. 

SIMON  RENARD.  Seht  Ihr  London  auf  der  andern  Seite 

des  Wassers? 

LORD  CLINTON.  Ja,  warum? 

SIMON  RENARD.    Seht  scharf  hin.  Man  sieht  von  hier 

aus  den  Wirbel  und  die  Sohle  der  Fortuna  jedes  Günst- 

lings,  Westminster  und  den  Turm  von  London. 

LORD  CLINTON.  Und  nun? 

SIMON  RENARD.    Wenn  Gott  mir  beisteht,  wird  ein 

Mann,  der  im  Augenblicke,  wo  wir  sprechen,  noch  dort 

ist  (er  deutet  auf  Westminster)^   morgen  zur  nämlichen 

Stunde  da  sein  (er  deutet  auf  den  Tower). 

LORD  CLINTON.  Möge  Gott  Euch  helfen! 

LORD  MONTAGU.    Das  Volk  haßt  ihn  ebensosehr  als 

wir.  Welch  Fest  wird  für  London  der  Tag  seines  Falles 

sein. 

LORD  CHANDOS.    Wir  sind  in  Euren  Händen,  Herr 

Vogt,  verfügt  über  uns.  Was  sollen  wir  tun? 


MARIA  TUDOR.  ERSTE  HANDLUNG       445 

SIMON  RENARD  (deutet  auf  das  Haus  am  Wasser).  Ihr 
seht  doch  alle  dies  Haus  da:  Es  gehört  dem  Gilbert,  einem 
Arbeiter.  Verliert  es  nicht  aus  dem  Gesicht.  Zerstreut 
euch  mit  euren  Leuten,  ohne  euch  jedoch  zu  sehr  zu 
entfernen.  Vor  allem  tut  nichts  ohne  mich. 
LORD  CHANDOS.   Gut. 

(Alle  gehen  nach  verschiedenen  Seiten  ab?) 

SIMON  RENARD  (allein).  Ein  Mann  wie  der,  den  ich 
;  nötig  habe,  findet  sich  nicht  leicht.  (Er  geht  ab.) 
i  (Jajic  und  Gilbei't  treten  auf,  sie  halten  sich  umschlu)igen 

U7id  gehen  nach  dem  Hanse  zu.  Joshua  Farnaby  begleitet 
^'    sie,  er  ist  i7i  einen  Mantel  gehüllt^ 


ZWEITE  SZENE 

Jane.   Gilbert  Joshua  Farnaby. 

JOSHUA.  Ich  verlasse  euch  hier,  meine  guten  Freunde. 

Es  ist  Nacht,  ich  muß  meinen  Dienst  als  Schließer  des 

Londoner  Turms  tun.   Ach,  ich  bin  nicht  so  frei  wie  ihr! 

!  Seht,  ein  Kerkermeister  ist  nur  eine  andere  Art  von  einem 
Gefangenen.  Lebe  wohl,  Jane.  Lebe  wohl,  Gilbert.  Du 
mein  Gott,  meine  Freunde,  wie  froh  bin  ich,  euch  glück- 

,  lieh  zu  sehen!  Aha,  Gilbert,  wann  ist  die  Hochzeit.^ 
GILBERT.  In  acht  Tagen,  nicht  wahr,  Jane? 
JOSHUA.  Meiner  Treu,  übermorgen  haben  wir  Weih- 
nachten; das  ist  der  Tag  für  Wünschen  und  Schenken, 
aber  ich  weiß  nicht,  was  ich  euch  wünschen  soll.  Man 
kann  von  der  Braut  nicht  mehr  Schönheit  und  von  dem 
Bräutigam  nicht  mehr  Liebe  verlangen.    Ihr  seid  glück- 

i  lieh! 

I  GILBERT.  Guter  Joshua!  und  du,  bist  du  nicht  glücklich.^ 
JOSHUA.  Weder  glücklich,  noch  unglücklich.  Ich  habe 
auf  alles  verzichtet.  Siehst  du,  Gilbert.^  (Er  schlägt  seinen 
Mantel  halb  auseinander  und  zeigt  einen  Bund  Schlüssel, 
der  an  seinem  Giirtel hängt:)  Gefängnisschlüssel,  die  einem 
beständig  am  Gürtel  rasseln,  das  spricht,  das  macht  einem 
alle  möglichen  philosophischen  Gedanken.  Wie  ich  jung 
war,  war  ich  wie  ein  anderer,  verliebt  einen  ganzen  Tag, 


446  ÜBERSETZUNGEN 

ehrgeizig  einen  ganzen  Monat  und  ein  Narr  das  ganze 
Jahr.  Meine  jungen  Jahre  fielen  so  unter  König  Heinrich 
den  Achten.  Ein  sonderbarer  Mann  der  König  Heinrich. 
Ein  Mann,  der  seine  Weiber  wechselte,  wie  ein  Weib  seine 
Röcke.  Die  erste  verstieß  er,  der  zweiten  ließ  er  den  Kopf 
abschlagen,  der  dritten  den  Leib  aufschneiden,  die  vierte 
begnadigte  er  und  jagte  sie  fort,  aber  dafür  ließ  er  dann 
der  fünften  wieder  den  Kopf  abschneiden.  Das  ist  nicht 
das  Märchen  vom  Blaubart,  was  ich  Euch  da  erzähle, 
schöne  Jane,  das  ist  die  Geschichte  König  Heinrichs  des 
Achten.  Ich  gab  mich  in  der  Zeit  mit  den  Religions- 
händeln  ab,  ich  schlug  mich  für  die  eine  und  für  die  an- 
dere Partei.  Es  war  damals  das  beste,  was  man  tia.  konnte. 
Es  war  übrigens  eine  kitzliche  Sache.  Es  frug  sich,  ob 
man  für  oder  wider  den  Papst  sei.  Die  Leute  des  Königs 
hingen  die,  welche  dafür,  und  verbrannten  die,  welche 
dagegen  waren.  Die  Gleichgültigen,  das  heißt  die,  welche 
weder  dafür  noch  dagegen  waren,  hing  oder  verbrannte 
man,  wie's  gerade  kam.  Der  Teufel  mochte  sich  da  her- 
ausziehen. Ja,  der  Strick — nein,  der  Scheiterhaufen — 
weder  ja,  noch  nein,  der  Strick  und  der  Scheiterhaufen.  Ich, 
der  ich  mit  euch  spreche,  habe  oft  genug  nach  Braten 
gerochen  und  weiß  nicht  genau,  ob  ich  zwei-  oder  drei- 
mal bin  wieder  abgeschnitten  worden.  Das  war  eine  schöne 
Zeit.  Ohngefähr  wie  jetzt.  Ja,  ich  schlug  mich  für  alles. 
Hole  mich  der  Teufel,  wenn  ich  noch  weiß,  für  wen  und 
für  was  ich  mich  geschlagen  habe.  Wenn  man  mir  wieder 
vom  Meister  Luther  und  vom  Papst  Paul  dem  Dritten 
spricht,  so  zucke  ich  die  Achseln.  Siehst  du,  Gilbert, 
wenn  man  graue  Haare  hat,  muß  man  nicht  mehr  nach 
den  Meinungen  sehen,  für  die  man  sich  geschlagen,  und 
nach  den  Weibern,  denen  man  den  Hof  im  zwanzigsten 
Jahre  gemacht  hat.  Weiber  und  Meinungen  sehen  dann 
gar  häßlich,  gar  alt,  gar  hinfällig,  gar  zahnlückig,  gar 
runzlig,  gar  dumm  aus.  Das  ist  meine  Geschichte!  Jetzt 
habe  ich  mich  von  den  Geschäften  zurückgezogen.  Ich 
bin  weder  Soldat  des  Königs,  noch  Soldat  des  Papstes, 
ich  bin  Schließer  des  Turmes  von  London.  Ich  schlage 
mich  für  niemand  mehr  und  schließe  hinter  jedermann 


MARIA  TUDOR.  ERSTE  HANDLUNG       447 

zu.  Ich  bin  Schließer  und  bin  alt;  ich  stehe  mit  dem  einen 
Fuße  im  Kerker  und  mit  dem  andern  in  der  Grube.  Ich 
p  lese  die  Scherben  alter  Minister  und  alter  GünstHnge  auf, 
die  bei  der  Königin  zerbrochen  werden.  Das  ist  sehr 
unterhaltend.  Und  dann  habe  ich  ein  kleines  Kind,  das 
ich  liebe,  und  dann  euch  beide,  die  ich  auch  liebe,  und 
bin  glücklich,  wenn  ihr  glücklich  seid. 
GILBERT.  Dann  sei  glücklich,  Joshua!  Nicht  wahr,  Jane? 
JOSHUA.  Ich,  ich  kann  nichts  für  dein  Glück  tun,  aber 
Jane  alles;  du  liebst  sie!  Ich  werde  dir  nie  in  meinem 
Leben  einen  Dienst  tun.  Du  bist  glücklicherweise  kein 
so  vornehmer  Herr,  daß  du  jemals  den  Schlüsselträger 
des  hOi,  ^oner  Turms  nötig  haben  solltest.  Jane  wird  meine 
Schuld  mit  der  ihrigen  abtragen;  denn  sie  und  ich  ver- 
danken dir  alles.  Jane  war  ein  armes  Kind,  eine  ver- 
lassene Waise;  du  hast  sie  aufgenommen  und  erzogen. 
Ich,  ich  war  nahe  daran,  an  einem  schönen  Abend  in  der 
Themse  zu  ertrinken:  du  hast  mich  ans  dem  Wasser  ge- 
zogen. 

GILBERT,  Zu  was  immer  davon  sprechen,  Joshua: 
JOSHUA.  Nur  um  dir  zu  sagen,  daß  es  unsere  Pflicht  ist, 
dich  zu  lieben;  ich,  wie  ein  Bnider,  Jane  ....  nicht  wie 
eine  Schwester. 

JANE.  Nein,  wie  ein  Weib.  Ich  verstehe  Euch,  Joshua. 
(Sü  verfällt  wieder  in  ihr  Träumen^ 
GILBERT  {leise  zu  Joshua).  Betrachte  sie,  Joshua!  Ist  sie 
nicht  schön  und  reizend?  wäre  sie  nicht  eines  Königs 
würdig?  Wenn  du  wüßtest!  Du  kannst  dir  nicht  vor- 
stellen, wie  ich  sie  liebe! 

JOSHUA.  Nimm  dich  in  acht,  das  ist  unklug;  ein  Weib, 
das  liebt  sich  nicht  so;  ein  Kind,  meinetwegen! 
GILBERT.   Was  willst  du  sagen? 

JOSHUA.  Nichts. — Ich  werde  in  acht  Tagen  bei  eurer 
Hochzeit  sein.  Ich  hoffe,  daß  mir  dann  die  Staatsgeschäfte 
ein  wenig  Ruhe  lassen  und  daß  alles  vorbei  sein  wird. 
GILBERT.  Wie?  Was  soll  vorbei  sein? 
JOSHUA.  Ah,  du  kümmerst  dich  um  diese  Sachen  nicht, 
Gilbert.  Du  bist  verliebt.  Du  bist  aus  dem  Volke.  Was 
kümmern  dich  die  Ränke  da  oben,  dich,  der  du  unten 


448  ÜBERSETZUNGEN 

glücklich  bist?  Doch,  weil  du  mich  fragst,  will  ich  dir 
sagen,  daß  man  hofft,  in  acht  Tagen  von  heute  an,  in 
vierundzwanzig  Stunden  vielleicht,  werde  Fabiane  Fabiani 
bei  der  Königin  durch  einen  andern  ersetzt  sein. 
GILBERT.  Wer  ist  der  Fabiano  Fabiani: 
JOSHUA.  Er  ist  der  Geliebte  der  Königin,  ein  sehr 
mächtiger  und  sehr  liebenswürdiger  GünstHng,  ein  Günst- 
ling, der  einem  Menschen,  welcher  ihm  mißfällt,  den  Kopf 
in  weniger  Zeit  abschlagen  läßt,  als  ein  holländischer  Bür- 
germeister braucht,  um  einen  Löffel  Suppe  zu  essen;  der 
beste  Günstling,  den  der  Henker  des  Londoner  Turms 
seit  zehn  Jahren  hatte.  Denn  du  weißt,  daß  der  Henker 
für  den  Kopf  eines  großen  Herrn  zehn  Silberguldx:'n  und 
zuweilen  das  Doppelte  erhält,  wenn  der  Kopf  recht  "wichtig 
ist.  Man  wünscht  sehr  den  Sturz  dieses  Fabiani.— Es  ist 
wahr,  bei  meinem  Dienste  im  Turm  höre  ich  nur  Leute 
von  sehr  übler  Laune,  Unzufriedene,  denen  man  in  einem 
Monat  den  Kopf  abschlagen  wird,  auf  seine  Kosten  An- 
merkimgen  machen. 

GILBERT.  Mögen  die  Wölfe  sich  untereinander  zer- 
reißen! Was  kümmert  uns  die  Königin  und  der  GünstHng 
der  Königin?  Nicht  wahr.  Janer 

JOSHUA.  O,  es  gibt  eine  gewaltige  Verschwörung  gegen 
Fabiani!  Er  hat  von  Glück  zu  sagen,  wenn  er  sich  heraus- 
zieht. Es  sollte  mich  nicht  wundern,  wenn  heute  nacht 
irgendein  Schlag  geschähe.  Ich  sah  den  Meister  Simon 
Renard  ganz  in  Gedanken  da  herumschleichen. 
GILBERT.  Wer  ist  der  Meister  Simon  Renard? 
JOSHUA.  Wie,  das  weißt  du  nicht?  Er  ist  der  rechte 
Arm  des  Kaisers  zu  London.  Die  Königin  soll  den  Prin- 
zen von  Spanien,  dessen  Gesandter  Simon  Renard  ist, 
heiraten.  Die  Königin  haßt  diesen  Simon  Renard;  aber 
sie  fürchtet  ihn  und  vermag  nichts  gegen  ihn.  Er  hat 
schon  zwei  bis  drei  Günstlinge  vernichtet.  Das  ist  so  sein 
Instinkt.  Er  säubert  den  Palast  von  Zeit  zu  Zeit.  Ein 
feiner  und  sehr  boshafter  Mann,  der  alles  weiß,  was  vor- 
geht, und  immer  zwei  oder  drei  Stockwerke  tief  unter 
alle  Ereignisse  gräbt.  Was  den  Lord  Paget  betrifft— hast 
du  mich  nicht  auch  gefragt,  wer  der  Lord  Paget  sei?— das 


MARIA  TUDOR.  ERSTE  HANDLUNG       449 

ist  ein  pfiffiger  Edelmann,  der  unter  Heinrich  dem  Achten 
zu  tun  hatte.  Er  ist  Mitglied  des  geheimen  Rats.  Er  hat 
ein  Ansehen,  daß  die  andern  Minister  vor  ihm  den  Atem 
verlieren,  den  Kanzler  "Mylord  Gardiner"  ausgenommen, 
der  hat  einen  Abscheu  vor  ihm.  Ein  heftiger  Mann,  der 
Gardiner,  und  von  sehr  gutem  Herkommen.  Paget  ist 
nichts.  Der  Sohn  eines  Seifensieders.  Er  soll  zum  Baron 
Paget  von  Beaudesert  in  Stafiford  ernannt  werden. 
GILBERT.  Wie  er  das  alles  so  geläufig  herzählt,  der 
Joshua! 

JOSHUA.  Bei  Gott,  wenn  man  so  die  Staatsgefangenen 
schwätzen  hört.  [Siffwn  Renard  erscheint  im  Hintergrund 
der  Bühfie.)  Siehst  du,  Gilbert,  der  Mann,  welcher  am 
besten  die  Geschichte  dieser  Zeit  kennt,  ist  der  Kerker- 
meister vom  Londoner  Turm. 

SDION  RENARD  {uielcher  die  letzten  Worte  gehört  hat, 
aus  dem  Hintergrund  der  Bühne).  Ihr  irrt  Euch,  mein 
Freund,  es  ist  der  Henker. 

JOSHUA  {leise  zu  Gilbert  und  Jane).  Treten  wir  ein  wenig 
zurück.  [Simon  Renard  cfitfernt  sich  la7igsam. — Nachdem 
Si7fwn  Renard  verschu'unden  ist:)  Das  ist  gerade  Meister 
Simon  Renard. 

GILBERT.  Alle  diese  Leute,  welche  um  mein  Haus  her- 
umschleichen, mißfallen  mir. 

JOSHUA.  Zum  Teufel,  was  will  er  hier.-  Ich  will  schnell 
zurück;  ich  glaube,  er  sorgt  mir  für  Arbeit.    Lebe  wohl, 
Gilbert.    Lebt  wohl,  schöne  Jane. — Und  doch  kannte  ich 
Euch,  wie  Ihr  nicht  größer  wäret,  als  so! 
GILBERT.   Lebe  wohl,  Joshua. — Doch  sprich,  was  ver- 
birgst du  da  unter  deinem  Mantel: 
JOSHUA.  Ach!  Ich  habe  auch  meinen  Anschlag. 
GILBERT.  Welchen  Anschlag: 

JOSHUA.  Wie  ihr  Verliebten  alles  vergeßt!  Ich  sagte 
euch  eben,  daß  wir  übermorgen  den  Tag  der  Angebinde 
und  Geschenke  haben.  Die  Herrn  denken  auf  eine  Über- 
raschung für  Fabiani,  ich,  ich  denke  ebenfalls  auf  eine. 
Die  Königin  wird  sich  vielleicht  einen  ganz  neuen  Günst- 
ling anschaffen.  Ich,  ich  schaffe  meinem  Kinde  eine  Puppe 
an.  (Er  zieht  eine  Puppe  unter  seinem  Mantel  hervor:)  Auch 

BÜCHNER  29. 


450  ÜBERSETZUNGEN 

ganz  neu.  Wir  wollen  sehen,  wer  von  beiden  sein  Spiel- 
zeug am  schnellsten  zerbricht.— Gott  behüte  euch,  meine 
Kinder! 

GILBERT.  Auf  Wiedersehen,  Joshua!  (^Joshua  entfernt 
sich.  Gilbert  niimnt  die  Hand  vo?i/ane  und  küßt  sie  leiden- 
schaftlich^ 

JOSHUA  (im  Hi7itergrund  der  Bühne).  Oh!  wie  groß  die 
Vorsehung  ist!  Sie  gibt  jedem  sein  Spielzeug,  die  Puppe 
dem  Kind,  das  Kind  dem  Mann,  den  Mann  dem  Weib 
und  das  Weib  dem  Teufel!  (Er  geht  ab.) 


DRITTE  SZENE 
Gilbert.  Jane. 
GILBERT.  Ich  muß  dich  jetzt  auch  verlassen.  Lebe  wohl, 
Jane,  gute  Nacht! 

JANE.  Ihr  geht  heute  abend  nicht  mit  mir  heim,  Gilbert? 
GILBERT.  Ich  kann  nicht.  Du  weißt,  ich  habe  dir  es 
schon  gesagt,  Jane,  ich  habe  in  meiner  Werkstatt  heute 
nacht  eine  Arbeit  fertig  zu  machen.  Ich  muß  einen  Dolch- 
grifF,  ich  weiß  nicht  für  was  für  einen  Lord  Clanbrassil 
ziselieren;  ich  kenne  ihn  nicht,  er  hat  es  heute  morgen 
bei  mir  bestellen  lassen. 

JANE.  Gute  Nacht  dann,  Gilbert.  Auf  Morgen. 
GILBERT.  Nein,  Jane,  noch  einen  Augenblick.  O  mein 
Gott!  wie  schwer  es  mir  fällt,  mich  nur  wenige  Stunden 
von  dir  zu  trennen!  Es  ist  wohl  wahr,  daß  du  mein  Le- 
ben und  meine  Freude  bist;  und  doch  muß  ich  arbeiten, 
wir  sind  so  arm!  Ich  mag  nicht  hineingehen,  denn  ich 
würde  bleiben,  und  doch  kann  ich  nicht  weg;  wie  schwach 
ich  bin!  Komm,  wir  wollen  uns  ein  wenig  vor  die  Türe 
setzen,  da,  auf  die  Bank;  ich  meine,  es  müßte  mir  so 
leichter  fallen  wieder  wegzugehen,  als  wenn  ich  erst  in 
das  Haus  oder  gar  in  dein  Zimmer  ginge.  Gib  mir  deine 
Hand.  (Er  setzt  sich  und  ?ti7n??it  ihre  beiden  Hä7ide  in  die 
seinigen^  sie  bleibt  vor  ihm  stehen^  Jane,  liebst  du  mich.^ 
JANE.  O,  ich  verdanke  Euch  alles!  Ich  weiß  es,  obgleich 
Ihr  mir  es  lange  verborgen  habt.  Ganz  klein,  fast  noch  in 
der  Wiege,  wurde  ich  von  meinen  Eltern  verlassen;  Ihr 


MARIA  TUDOR.  ERSTE  HANDLUNG       451 

habt  mich  aufgenommen,  seit  sechzehn  Jahren  hat  Euer 
Arm  wie  der  eines  Vaters  für  mich  gearbeitet.  Eure  Angea 
,  haben  wie  die  einer  Mutter  über  mich  gewacht.  Mein  Gott, 
was  wäre  ich  ohne  Euch.^  Ihr  habt  mir  alles  gegeben,  was 
ich  habe;  Ihr  habt  mich  zu  allem  gemacht,  was  ich  bin. 
GILBERT.  Jane,  liebst  du  mich.^ 

JANE.  Wie  Ihr  Euch  aufopfert,  Gilbert!  Ihr  arbeitet  Tag 
und  Nacht  für  mich,  Ihr  versengt  Euch  die  Augen,  Ihr 
tötet  Euch.  Seht,  heute  bringt  Ihr  wieder  die  Nacht  so 
hin.  Und  nie  ein  Vorwurf,  nie  ein  hartes  Wort.  Ihr  seid 
so  arm,  und  doch — selbst  meine  geringsten  Launen  schont 
und  befriedigt  Ihr.  Gilbert,  ich  denke  nur  an  Euch,  die 
Tränen  in  den  Augen.  Ihr  hattet  manchmal  kein  Brot, 
und  mir  fehlte  es  nie  an  Bändern. 
GILBERT.  Jane,  liebst  du  mich? 
JANE.  Gilbert,  ich  möchte  Eure  Füße  küssen. 
GILBERT.  Liebst  du  mich?  Liebst  du  mich?  Oh!  all  das 
sagt  mir  nicht,  daß  du  mich  liebst;  dies  Wort  da  habe  ich 
nötig!  Dankbarkeit,  immer  Dankbarkeit!  Oh!  ich  trete  die 
Dankbarkeit  mit  Füßen!  Ich  will  Liebe,  oder  nichts!— 
Sterben!— Jane,  seit  sechzehn  Jahren  bist  du  meine  Toch- 
ter, du  wirst  jetzt  mein  Weib  werden.  Ich  hatte  dich  an- 
genommen, ich  will  dich  heiraten.  In  acht  Tagen!  Du 
weißt,  du  hast  es  mir  versprochen,  du  hast  es  eingewilligt, 
du  bist  meine  Braut.  Oh!  du  liebtest  mich,  als  du  mir  das 
versprachst.  O  Jane!  es  gab  eine  Zeit,  denkst  du  des  noch? 
wo  du  deine  schönen  Augen  zum  Himmel  aufschlugst  und 
zu  mir  sagtest:  ich  liebe  dich!  So  möchte  ich  dich  immer 
haben.  Seit  einigen  Monaten  ist  es  mir,  als  wäre  etwas 
in  dir  anders  geworden,  seit  drei  Wochen  besonders,  wo 
meine  Arbeit  mich  zvv^ingt,  manchmal  des  Nachts  abwesend 
zu  sein.  O  Jane!  ich  will,  daß  du  mich  liebst.  Ich  bin 
daran  gewöhnt.  Du  warst  sonst  so  froh,  und  jetzt  bist  du 
immer  traurig  und  zerstreut,  nicht  kalt,  armes  Kind,  du 
tust  dein  möglichstes,  um  es  nicht  zu  sein;  aber  ich  fühle 
wohl,  daß  die  Worte  der  Liebe  dir  nicht  mehr  so  frei  und 
von  selbst  kommen,  wie  sonst.  Was  hast  du?  Liebst  du 
mich  nicht  mehr?  Gewiß,  ich  bin  ein  braver  Mann,  ein 
guter  Arbeiter,  ja,  ja,   aber  ich  möchte  ein  Dieb  und 


452  ÜBERSETZUNGEN 

ein  Mörder  sein  und  von  dir  geliebt  werden! — Jane,  wenn 
du  wüßtest,  wie  ich  dich  liebe! 
JANE.  Ich  weiß  es,  Gilbert,  und  weine— 
GILBERT.  Vor  Freude!  Nicht  wahr?  Sage  mir,  daß  du 
vor  Freude  weinst.  Oh!  ich  muß  es  glauben.  Es  gibt  ja 
sonst  nichts  auf  der  Welt,  als  geliebt  zu  werden.  Ich  bin 
nichts  als  ein  armer  Handwerksmann,  aber  meine  Jane 
muß  mich  lieben.  Was  sprichst  du  mir  immer  von  dem, 
was  ich  getan  habe?  Nur  ein  Wort  der  Liebe  von  dir,  Jane, 
und  ich  bin  dein  Schuldner.  Ich  will  verdammt  sein  und  ein 
Verbrechen  begehen,  wenn  du  es  wolltest.  Du  wirst  mein 
Weib,  nicht  wahr,  und  du  liebst  mich?  Siehst  du,  Jane,  für 
einen  Blick  von  dir  gäbe  ich  all  meine  Arbeit  und  Mühe, 
für  ein  Lächeln  mein  Leben,  für  einen  Kuß  meine  Seele! 
JANE.  Was  Ihr  ein  edles  Herz  habt,  Gilbert! 
GILBERT.  Höre,  Jane!  Lache,  wenn  du  willst,  ich  bin 
ein  Narr,  ich  bin  eifersüchtig!  Das  ist  einmal  so.  Kränke 
dich  nicht  darum.  Seit  einiger  Zeit  kommt  es  mir  vor,  als 
sähe  ich  die  jungen  Herren  da  herumstreichen.  Weißt  du 
auch,  Jane,  daß  ich  vierunddreißig  Jahre  habe?  Welch 
Unglück  für  einen  armseligen,  linkischen  und  schlecht 
gekleideten  Arbeiter  wie  ich,  ein  schönes,  reizendes 
Kind  von  siebzehn  Jahren  zu  lieben,  das  die  jungen, 
schönen,  vergoldeten  und  verbrämten  Edelleute  anzieht, 
wie  ein  Licht  die  Schmetterlinge!  O,  ich  leide!  Ich  be- 
leidige dich  nie  in  meinen  Gedanken,  dich,  die  du  so  gut, 
so  rein  bist,  deren  Stirne  nie,  als  von  meinen  Lippen, 
berührt  worden  ist!  Ich  finde  nur,  daß  es  dir  zu  viel 
Freude  macht,  die  Aufzüge  und  das  Gefolge  der  Königin 
vorbeiziehen  und  alle  die  schönen  Kleider  von  Seide  und 
Sammet  zu  sehen,  worunter  es  so  wenig  Herzen  und  so 
wenig  Seelen  gibt!  Verzeihe  mir! — Mein  Gott!  warum 
kommen  doch  so  viele  junge  Edelleute  hierher?  warum 
bin  ich  nicht  jung,  schön,  edel  und  reich?  Gilbert,  Ar- 
beiter, das  ist  alles.  Sie,  Lord  Chandos,  Lord  Gerard, 
Fitz- Gerard,  der  Graf  von  Arundel,  der  Herzog  von  Nor- 
folk, o  wie  ich  sie  hasse!  Ich  bringe  mein  Leben  hin,  in- 
dem ich  ihnen  Degengrifife  meißele,  deren  Klingen  ich 
ihnen  durch  den  Leib  rennen  möchte. 


MARIA  TUDOR.  ERSTE  HANDLUNG       453 

JANE.   Gilbert!  .  .  . 

GILBERT.  Vergib,  Jane.    Nicht  wahr,  die  Liebe  macht 
einen  sehr  böse. 

JANE.  Nein,  sehr  gut.— Ihr  seid  gut,  Gilbert. 
GILBERT.  O  wie  ich  dich  liebe!  Jeden  Tag  mehr.  Ich 
möchte  für  dich  sterben.  Liebe  mich,  oder  liebe  mich 
nicht,  es  ist  in  deiner  Hand.  Ich  bin  ein  Narr.  Verzeihe 
mir,  was  ich  gesagt  habe.  Es  ist  spät,  ich  muß  dich  ver- 
lassen. Lebe  wohl.  Mein  Gott,  wie  traurig  es  ist,  dich  zu 
verlassen!  Gehe  hinein.  Hast  du  deinen  Schlüssel  nicht.^ 
JANE.  Nein,  ich  weiß  seit  einigen  Tagen  nicht,  wo  er 
hingekommen  ist. 

GILBERT.  Da  ist  der  meinige.— Auf  morgen,  morgen.— 
Jane,  vergiß  nicht:  noch  heute  dein  Vater,  in  acht  Tagen 
dein  Gemahl.  (Er  küßt  sie  auf  die  Stirne  und  geht.) 
JANE  {allein).  Mein  Gemahl!  O  nein,  ich  werde  dies 
Verbrechen  nicht  begehen.  Armer  Gilbert,  er  liebt  mich 
— und  der  andere!  .  .  .  wenn  mich  nur  die  Eitelkeit  nicht 
um  die  Liebe  betrogen  hat!  Ich  Arme,  in  wessen  Händen 
bin  ich  jetzt?  O,  ich  bin  sehr  undankbar  und  schuld- 
beladen! Ich  höre  Tritte;  schnell  zurück.  (Sie  tritt  i?i  das 
Haus.) 

* 

VIERTE  SZENE 

Gilbert.   Ein  Mann  (der  in  einen  Mantel  gehüllt  ist  und 
eine  gelbe  Mütze  trägt.    Der  Mann  hält  Gilbert  bei  der 

Hand). 
GILBERT.  Ja,  ich  erkenne  dich,  du  bist  der  Betteljude, 
welcher  seit  einigen  Tagen  um  dies  Haus  schleicht.  Was 
willst  du  von  mir:   Warum  hast  du  mich  bei  der  Hand 
gefaßt  und  hierher  geführt: 

DER  MANN.  Was  ich  Euch  zu  sagen  habe,  kann  ich  nur 
hier  sagen. 

I  GILBERT.  Nun!  was  ist  denn.^  Sprich,  rasch. 
I  DER  MANN.  Hört,  junger  Mann.— Es  sind  jetzt  sechzehn 
I  Jahre  seit  der  Nacht,  wo  Lord  Talbot,  Graf  von  Water- 
I  ford,  wegen  Papismus  und  Hochverrates  bei  Fackelschein 
I  enthauptet  wurde,  und  die  Soldaten  des  Königs  Heinrich 

! 
\ 
I 


454  ÜBERSETZUNGEN 

des  Achten  seine  Anhänger  in  London  in  Stücke  hieben. 
Man  schoß  die  ganze  Nacht  in  den  Straßen  aufeinander. 
In  dieser  Nacht  nun  arbeitete  in  seiner  Bude  ein  junger 
Arbeiter,  der  weit  mehr  mit  seiner  Arbeit,  als  mit  dem 
Kampfe  beschäftigt  war.  Es  war  die  erste  Bude  am  An- 
fang der  Londoner  Brücke.  Eine  niedrige  Türe  zur  Rech- 
ten, Spuren  von  alter,  roter  Malerei  auf  der  Mauer.  Es 
mochte  zwei  Uhr  des  Morgens  sein.  Man  schlug  sich  in 
der  Nähe.  Die  Kugeln  flogen  pfeifend  über  die  Themse. 
Plötzlich  wurde  an  die  Türe  der  Bude  geklopft,  durch 
welche  die  Lampe  des  Arbeiters  einen  schwachen  Licht- 
schimmer warf.  Der  Arbeiter  öffnete.  Ein  Mann,  den  er 
nicht  kannte,  trat  ein.  Dieser  Mann  trug  in  seinen  Armen 
ein  Kind,  noch  in  den  Windeln,  das  sehr  erschrocken  war 
und  weinte.  Der  Mann  legte  das  Kind  auf  den  Tisch  und 
sagte:  da  ist  ein  Geschöpf,  das  weder  Vater  noch  Mutter 
mehr  hat.  Dann  ging  er  langsam  weg  und  schlug  die 
Türe  hinter  sich  zu.  Gilbert,  der  Arbeiter,  hatte  selbst 
weder  Vater  noch  Mutter.  Der  Aibeiter  nahm  das  Kind, 
die  Waise  adoptierte  die  Waise.  Er  nahm  es,  er  wachte 
über  es,  er  kleidete,  er  ernährte,  er  hütete,  er  erzog,  er 
liebte  es.  Er  widmete  sich  ganz  diesem  armen  kleinen 
Geschöpf,  das  der  Bürgerkrieg  in  seine  Bude  geworfen 
hatte.  Er  vergaß  alles  für  es,  seine  Jugend,  seine  Liebes- 
händel, sein  Vergnügen;  er  machte  aus  diesem  Kinde  den 
einzigen  Gegenstand  seiner  Arbeit,  seiner  Neigung,  seines 
Lebens,  und  jetzt  sind  es  sechzehn  Jahre,  daß  das  so  fort- 
geht.  Gilbert,  der  Arbeiter  wart  Ihr;  das  Kind 

GILBERT.  War  Jane.  Alles,  was  du  da  sagst,  ist  wahr; 
aber  was  willst  du  damit? 

DER  MANN.  Ich  vergaß  dir  zu  sagen,  daß  an  die  Win- 
deln des  Kindes  ein  Papier  mit  einer  Nadel  geheftet  war, 
worauf  die  Worte  standen:  Habt  Erbarmen  mit  Jane. 
GILBERT.  Das  war  mit  Blut  geschrieben.  Ich  habe  das 
Papier  aufgehoben  und  trage  es  immer  bei  mir.  Aber  du 
spannst  mich  auf  die  Folter.  Was  willst  du  damit?  Sprich! 
DER  MANN.  Das.— Ihr  seht,  ich  kenne  Eure  Geschichten. 
Gilbert!  Wacht  diese  Nacht  über  Euer  Haus. 
GILBERT.  Was  willst  du? 


MARIA  TUDOR.  ERSTE  HANDLUNG       455 

DER  MANN.  Kein  Wort  mehr.  Geht  nicht  an  Eure  Ar- 
beit. Bleibt  in  der  Nähe  dieses  Hauses.  Wacht.  Ich  bin 
weder  Euer  Freund,  noch  Euer  Feind,  es  ist  ein  Rat,  den 
ich  Euch  gebe.  Für  jetzt  verlaßt  mich,  um  Euch  nicht 
selbst  zu  schaden.  Geht  nach  der  Seite  da  und  kommt, 
wenn  Ihr  mich  um  Hilfe  rufen  hört. 
GILBERT.   Was  bedeutet  das?  (Er  geht  langsam  ab) 

* 

FÜNFTE  SZENE 

Der  Mann,  allein. 

Die  Sache  ist  so  gut  angelegt.  Ich  hatte  was  Junges 

und  Kräftiges  nötig,  das  mir  helfen  kann,  wenn  es  not- 
tut.  Den  Gilbert  kann  ich  gerade  brauchen.— Es  ist  mir, 
als  hörte  ich  das  Geräusch  von  Rudern  und  eine  Gitarre 
auf  dem  Wasser.— Ja. 
{Er  geht  nach  dem  Geländer,  Man  hört  eine  Gitarre  und 

eifie  Stimme  in  der  Ferne) 
— Das  ist  mein  Mann. — Er  landet.    Gut.    Er  schickt  den 
Fischer  weg.    Vortrefiflich!    (Er  konunt  auf  den  Vorder- 
grund der  Büh?i€  zurück)  Da  kommt  er. 
(Fabiano  Fabiani  tritt  auf,  in  seinen  Mantel  gehüllt.   Er 
geht  auf  die  Türe  des  Hauses  zu) 


SECHSTE  SZENE 
Der  Mann.  Fabiano  Fabiani. 
DER  MANN  (hält  Fabiani  auf).  Ein  Wort,  wenn  es  Euch 
beliebt. 

FABIANI.  Man  spricht  mit  mir,  glaub  ich.  Wer  ist  der 
Spitzbube.^  Wer  bist  du? 

DER  MANN.  Alles,  wofür  es  Euch  beliebt,  mich  zu 
halten. 

FABIANI.  Diese  Laterne  leuchtet  schlecht.  Aber  du  hast 
eine  gelbe  Mütze  auf,  wie  mir  deucht,  eine  Judenmütze! 
Bist  du  ein  Jude? 

DER  MANN.  Ja,  ein  Jude.  Ich  habe  Euch  etwas  zu  sagen. 
FABIANI.  Wie  heißt  du? 
DER  MANN.  Ich  weiß  Euren  Namen,  und  Ihr  wißt  meinen 


456  ÜBERSETZUNGEN 

nicht.  Ich  habe  einen  Vorteil  über  Euch;  erlaubt  mir,  ihn 
zu  behalten. 

FABIANI.  Du  weißt  meinen  Namen,  du?  Das  ist  nicht 
wahr. 

DER  MANN.   Ich  weiß  Euren  Namen.  Zu  Neapel  hießt 
Ihr  Signor  Fabiani,  zu  Madrid  Don  Faviano;  zu  London 
heißt  Ihr  Fabiano  Fabiani,  Graf  von  Clanbrassil. 
FABIANI.  Hole  dich  der  Teufel! 
DER  MANN.  Behüte  Euch  Gott! 

FABIANI.  Ich  werde  dir  Stockschläge  geben  lassen.  Ich 
will  nicht,  daß  man  meinen  Namen  weiß,  wenn  ich  so  des 
Nachts  vor  mich  hin  gehe. 

DER  MANN.  Besonders  wenn  Ihr  dahin  geht,  wohin  Ihr 
geht. 

FABIANI.  Was  soll  das  heißen: 
DER  MANN.  Wenn  die  Königin  es  wüßte! 
FABIANI.  Ich  gehe  nirgends  hin. 

DER  MANN.  Doch,  Mylord!  Ihr  geht  zu  der  schönen 
Jane,  der  Braut  von  Gilbert,  dem  Arbeiter. 
FABIANI  (/^m^zVt').  Teufel!  das  ist  ein  gefährlicher  Mensch. 
DER  MANN.  Wollt  Ihr,  daß  ich  Euch  noch  mehr  sage? 
Ihr  habt  das  Mädchen  verführt,  und  seit  einem  Monat  hat 
sie  Euch  zweimal  des  Nachts  zu  sich  gelassen,  heute  ist 
es  das  drittemal.  Die  Schöne  wartet  auf  Euch. 
FABIANI.  Still,  still!  Soll  ich  dir  das  Maul  mit  Silber 
stopfen?  Wieviel  willst  du? 

DER  MANN.  Das  werden  wir  gleich  sehen.  Soll  ich  Euch 
jetzt  auch  sagen,  Mylord,  warum  Ihr  das  Mädchen  ver- 
führt habt? 

FABIANI.  Wahrhaftig,  weil  ich  in  sie  verliebt  war. 
DER  MANN.  Nein.  Das  wart  Ihr  nicht. 
FABIANI.  Ich  hätte  Jane  nicht  geliebt? 
DER  MANN.  So  wenig,  als  Ihr  die  Königin  liebt.  Liebe, 
nein;  Berechnung,  ja. 

FABIANI.  Kerl,  du  bist  kein  Mensch,  du  bist  mein  Ge- 
wissen, als  Jude  verkleidet. 

DER  MANN.  Ich  will  mit  Euch  reden,  wie  Euer  Gewissen, 
Mylord.  Die  ganze  Geschichte  verhält  sich  so.  Ihr  seid 
der  Günstling  der  Königin.    Die  Königin  hat  Euch  das 


MARIA  TUDOR.  ERSTE  HANDLUNG       457 

Hosenband  gegeben,  den  Grafen-  und  den  Herrentitel. 
Taube  Nüsse  das  alles.  Das  Hosenband  ist  ein  Lumpen, 
die  Grafschaft  ein  Wort,  der  Herrentitel  verhilft  einem 
zu  dem  Recht,  den  Kopf  abgeschnitten  zu  kriegen.  Ihr 
hattet  was  Besseres  nötig.  Ihr  brauchtet,  Mylord,  gute 
Acker,  gute  Vogteien,  gute  Schlösser  und  gute  Einkünfte 
in  guten  Pfunden.  Heinrich  der  Achte  nun  hatte  die  Güter 
des  vor  sechzehn  Jahren  enthaupteten  Lord  Talbot  kon- 
fisziert. Ihr  habt  Euch  von  der  Königin  die  Güter  des 
Lord  Talbot  schenken  lassen.  Aber  um  die  Schenkung 
gültig  zu  machen,  hätte  Lord  Talbot  ohne  Nachkommen 
sterben  müssen.  Wenn  es  einen  Erben  oder  eine  Erbin 
des  Lord  Talbot  gäbe,  so  unterläge  es  keinem  Zweifel, 
daß,  da  Lord  Talbot  für  die  Königin  Marie  und  ihre  Mutter 
Catharina  von  Aragonien  gestorben  ist,  da  Lord  Talbot 
ein  Papiste  war,  und  da  die  Königin  Maria  eine  Papistin 
ist,  daß  die  Königin  Euch,  Ihr  mögt  noch  so  sehr  ihr 
Günstling  sein,  Mylord,  die  Güter  abnehmen  und  sie  aus 
Pflichtgefühl,  Dankbarkeit  und  Religiosität  dem  Erben 
oder  der  Erbin  zurückgeben  würde.  Ihr  fühltet  Euch  von 
der  Seite  ziemlich  sicher.  Lord  Talbot  hatte  nichts  als 
eine  kleine  Tochter,  die  zur  Zeit,  wo  ihr  Vater  enthauptet 
wurde,  aus  der  Wiege  verschwand  und  von  ganz  England 
für  tot  gehalten  wurde.  Aber  Eure  Spione  haben  neulich 
entdeckt,  daß  in  der  Nacht,  wo  Lord  Talbot  und  seine 
Partei  durch  Heinrich  den  Achten  vernichtet  wurde,  ein 
Kind  ganz  geheimnisvoll  bei  einem  Arbeiter  an  der  Lon- 
doner Brücke  untergebracht  worden  wäre,  daß  es  unter 
dem  Namen  Jane  aufgewachsen  und  wahrscheinlich  Jane 
Talbot,  das  kleine  verschwundene  Mädchen  sei.  Die 
schriftlichen  Beweise  für  ihre  Geburt  fehlten,  das  ist  wahr; 
aber  sie  konnten  sich  alle  Tage  wiederfinden.  Der  Zu- 
fall war  verdrießlich.  Sich  vielleicht  eines  Tages  genötigt 
zu  sehen,  Shrewsbury,  Wexford,  das  eine  schöne  Stadt 
ist,  und  die  prächtige  Grafschaft  Waterford  abzutreten, 
das  ist  hart.  Was  tun.-  Ihr  sannt  auf  ein  Mittel,  das  Mäd- 
chen zu  vernichten.  Ein  braver  Mann  hätte  sie  vergiften 
oder  ermorden  lassen;  Ihr,  Mylord,  habt  es  besser  ange- 
fangen, Ihr  habt  es  entehrt. 


4  5  8  ÜBERSETZUNGEN 

FABIANI.  Unverschämter! 

DER  MANN.  Euer  Gewissen  spricht  mit  Euch,  Mylord. 
Ein  anderer  hätte  dem  Mädchen  das  Leben  genommen, 
Ihr  habt  ihm  die  Ehre  und  somit  die  Zukunft  gestohlen. 
Die  Königin  Marie  ist  prüde,  trotz  ihrer  Liebschaften. 
FABIANL  Der  Mann  geht  allem  auf  den  Grund. 
DER  MANN.  Die  Königin  hat  keine  gute  Gesundheit; 
die  Königin  kann  sterben,  und  dann  würde  der  Günstling 
über  ihrem  Grabe  stolpern.  Die  materiellen  Beweise  für 
den  Rang  des  Mädchens  können  sich  wiederfinden,  und 
dann,  wenn  die  Königin  tot  ist,  wird  Jane,  trotz  ihrer  Ent- 
ehrung, als  Erbin  von  Talbot  anerkannt  werden.  Nun, 
Ihr  habt  auch  den  Fall  vorausgesehen,  Ihr  seid  ein  junger 
Herr  von  gutem  Aussehen,  Ihr  habt  sie  in  Euch  verhebt 
gemacht,  sie  hat  sich  Euch  überlassen;  im  schlimmsten 
Falle  würdet  Ihr  sie  heiraten.  Sträubt  Euch  nicht  gegen 
diesen  Plan,  Mylord,  ich  finde  ihn  herrlich.  Ich  möchte 
Ihr  sein,  wenn  ich  nicht  Ich  wäre. 
FABIANI.  Danke! 

DER  MANN.  Ihr  habt  die  Sache  mit  Geschick  betrieben. 
Ihr  habt  Euren  Namen  verborgen.  Vor  der  Königin  seid 
Ihr  gedeckt.  Das  arme  Ding  meint,  ein  Ritter  aus  dem 
Lande  Somerset,  namens  Amyas  Pawlet,  habe  sie  ver- 
führt. 

FABIANI.  Alles!  Er  weiß  alles!  Zur  Sache  jetzt.  Was 
willst  du  von  mir? 

DER  MANN.  Mylord,  wenn  jemand  die  Papiere  in  seinen 
Händen  hätte,  welche  über  die  Geburt,  das  Dasein  und 
die  Rechte  der  Erbin  Talbots  Auskunft  geben,  so  würde 
Euch  das  arm  machen  wie  meinen  Vorahnen  Job,  und 
würde  Euch  keine  andern  Schlösser  übriglassen,  Don 
Fabiano,  als  Schlösser  in  Spanien,  was  Euch  recht  unan- 
genehm sein  würde. 

FABIANI.  Ja,  aber  niemand  hat  diese  Papiere. 
DER  MAMN.  Doch. 
FABIANI.  Wer? 
DER  MANN.  Ich. 

FABIANI.  Bah!  du  Elender!  das  ist  nicht  wahr.  Jude,  der 
spricht,  Zunge,  die  lügt. 


MARIA  TUDOR.   ERSTE  HANDLUNG       459 

DER  MANN.  Ich  habe  diese  Papiere. 
FABIANL  Du  lügst.  Wo  hast  du  sie? 
DER  MANN.  In  meiner  Tasche. 

FABIANI.    Ich  glaube  dir  nicht.    Gut  in  Ordnung.^   Es 
fehlt  nichts  daran? 
DER  MANN.  Es  fehlt  nichts. 
FABIANI.  Dann  muß  ich  sie  haben. 
DER  MANN.  Sachte! 
FABIANI.  Jude,  gib  mir  diese  Papiere. 
DER  MANN.    Sehr  gut. -Jude,  elender  Bettler,  der  in 
den  Straßen  herumstreicht,  gib  mir  die  Stadt  Shrewsbury, 
gib  mir  die  Stadt  Wexford,  gib  mir  die  Grafschaft  Water- 
ford!— Ein  Almosen,  wenn  es  Euch  beliebt! 
FABIANI.   Diese  Papiere  sind  alles  für  mich,  nichts  für 
dich. 

DER  MANN.  Simon  Renard  und  Lord  Chandos  würden 
sie  mir  gut  bezahlen. 

FABIANI.  Simon  Renard  und  Lord  Chandos  sind  die 
zwei  Hunde,  zwischen  welche  ich  dich  werde  hängen 
lassen. 

DER  MANN.  Ihr  habt  mir  sonst  nichts  vorzuschlagen? 
Lebt  wohl. 

FABIANI.  Steh,  Jude!— Was  soll  ich  dir  für  diese  Papiere 
geben? 

DER  MANN.  Etwas,  das  Ihr  bei  Euch  habt. 
FABIANI.  Meinen  Beutel? 
DER  MANN.  Pfui!   Wollt  Ihr  den  meinigen? 
FABIANI.  Was  denn? 

DER  MANN.  Ihr  habt  ein  Pergament,  das  Euch  nie  ver- 
läßt. Es  ist  ein  Freibrief,  den  die  Königin  Euch  gegeben 
hat,  indem  sie  auf  ihre  katholische  Krone  schwur,  dem, 
welcher  ihr  ihn  überreichen  wird,  jede  Gnade,  die  er  ver- 
langt, zu  erweisen.  Gebt  mir  diesen,  und  Ihr  sollt  die  Ur- 
kunden der  Jane  Talbot  erhalten.  Papier  um  Papier. 
FABIANI.  Was  willst  du  mit  diesem  Freibrief  anfangen? 
DER  MANN.  Seht  die  Karten  aufgelegt,  Mylord.  Ich 
habe  Euch  Eure  Geschichte  gesagt;  ich  will  Euch  jetzt 
die  meinige  erzählen.  Ich  bin  einer  der  ersten  Wechsel- 
Juden  in  der  Cantersten- Straße  zu  Brüssel.  Ich  leihe  mein 


46o  ÜBERSETZUNGEN 

Geld  aus.  Das  ist  mein  Geschäft.  Ich  leihe  zehn,  und  man 
gibt  mir  fünfzehn  wieder.  Ich  leihe  der  ganzen  Welt,  ich 
würde  dem  Teufel  leihen,  ich  würde  dem  Papste  leihen. 
Es  sind  jetzt  zwei  Monate,  daß  einer  meiner  Schuldner 
starb,  ohne  mich  bezahlt  zu  haben.  Er  war  ein  alter  ver- 
bannter Diener  der  Familie  Talbot.  Der  arme  Teufel 
hinterließ  nichts  als  einige  Lumpen.  Ich  ließ  sie  in  Be- 
schlag nehmen.  In  diesen  Lumpen  fand  sich  ein  Kästchen, 
und  in  diesem  Kästchen  Papiere,  die  Papiere  von  Jane 
Talbot,  Mylord,  mit  ihrer  aufs  genauste  erzählten  und  für 
bessere  Zeiten  mit  Beweisen  versehenen  Geschichte.  Die 
Königin  von  England  gab  Euch  gerade  damals  die  Güter 
von  Jane  Talbot.  Nun  hatte  ich  gerade  die  Königin  von 
England  für  ein  Darlehen  von  zehntausend  Mark  Gold  nötig. 
Ich  sah  ein,  daß  sich  mit  Euch  etwas  würde  machen  lassen. 
Ich  kam  verkleidet  nach  England,  ich  spürte  Euren 
Schritten  nach,  ich  spähte  Jane  Talbot  aus,  ich  selbst,  ich 
tue  alles  selbst.  Auf  diese  Weise  erfuhr  ich  alles,  und  da 
bin  ich.  Ihr  werdet  die  Papiere  von  Jane  Talbot  erhalten, 
wenn  Ihr  mir  den  Freibrief  der  Königin  gebt.  Ich  werde 
daraufschreiben,  die  Königin  möge  mir  zehntausend  Mark 
Gold  geben.  Man  ist  mir  hier  auf  der  Kanzlei  was  schul- 
dig; aber  ich  werde  billig  sein.  Zehntausend  Mark  Gold, 
und  nichts  weiter.  Ich  fordere  die  Summe  nicht  von  Euch, 
weil  sie  nur  ein  gekröntes  Haupt  bezahlen  kann.  Das 
heiße  ich  deutlich  sprechen,  hoffe  ich.  Seht,  Mylord,  zwei 
so  gewandte  Leute,  wie  Ihr  und  ich,  gewinnen  nichts  da- 
bei, wenn  sie  einander  betrügen.  Wenn  der  Erde  die  Ehr- 
lichkeit verloren  gegangen  wäre,  so  müßte  sie  sich  zwischen 
zwei  Spitzbuben  wiederfinden. 

FABIANI.  Unmöglich.  Ich  kann  dir  dies  Pergament  nicht 
geben.  Zehntausend  Mark  Gold!  Was  wird  die  Königin 
sagen?  Und  dann,  morgen  kann  ich  in  Ungnade  fallen; 
dies  Pergament  ist  mein  Asyl,  dies  Pergament  ist  mein 
Kopf. 

DER  MANN.  Was  geht  mich  das  an: 
FABIANI.  Fordere  was  anderes. 
DER  MANN.  Ich  will  einmal  das. 
FABIANI.  Jude,  gib  mir  die  Papiere  von  Jane  Talbot. 


MARIA  TUDOR.  ERSTE  HANDLUNG       461 

DER  MANN.  Mylord,  gebt  mir  den  Freibrief  der  Kö- 
nigin. 

FABIANI.  Nun  denn,  verfluchter  Jude,  ich  muß  dir  nach- 
geben.  (Er  zieht  ein  Papier  aus  der  Tasche}^ 
DER  MANN.  Zeigt  mir  den  Freibrief  der  Königin. 
FABIANI.  Zeige  mir  die  Papiere  Talbots. 
DER  MANN.    Hernach.    (Sie  nähern  sich  der  Laterne. 
Fabiani  steht  hinter  dem  Juden  und  hält  ihfn  mit  der  linken 
Hand  das  Papier  unter  die  Augen.  Der  Jude  untersucht  es.) 
DER  MANN  (liest).   "Wir,  Marie,  Königin  .  .  ."— Gut.— 
Ihr  seht,  ich  bin  wie  Ihr,  Mylord.  Ich  habe  alles  berechnet. 
Ich  habe  alles  vorhergesehen. 

FABIANI  (zieht  init  der  Rechten  seinen  Dolch  und  stößt 
ihn  ihm  in  die  Kehle).  Das  ausgenommen. 

DER  MANN.  Oh!   Verräter! —Hilfe!   (Er  fällt.  Im 

Falle  wirft  er,  ohne  daß  Fabiani  es  bemerkt^  ein  versiegeltes 
Paket  hifiter  sich  in  den  Schatten?) 

FABIANI  (bückt  sich  iiber  den  Körper).  Er  ist  tot,  meiner 
Treu! — Schnell  diese  Papiere!  (Er  durchsucht  den  Juden.) 
Aber  was!  er  hat  nichts,  nichts  bei  sich!  kein  Papier,  der 
alte  Hundl  Er  hat  gelogen;  er  hat  mich  betrogen!  Er  hat 
mich  bestohlen.  Seht  das,  verdammter  Jude!  Oh!  er  hat 
nichts,  es  ist  aus.  Ich  habe  ihn  umsonst  getötet!  Sie  sind 
alle  so,  die  Juden.  Lügen  und  Stehlen,  das  ist  der  ganze 
Jude.  Weg  mit  der  Leiche,  ich  kann  sie  nicht  vor  dieser 
Türe  lassen.  (Er  geht  auf  de7i  Hintergrund  der  Pühne.) 
Vielleicht  ist  der  Schiffer  noch  da,  er  mag  mir  helfen  ihn 
in  die  Themse  werfen.  [Er  steigt hi?iunter  und verschiuindet 
hinter  dem  Gelä7ider.) 

GILBERT  (tritt  auf  der  entgegengesetzten  Seite  auf).  Es 
ist  mir,  als  hätte  ich  einen  Schrei  gehört.  (Er  erblickt  unter 
der  Laterne  den  auf  der  Erde  ausgestreckten  Körper^  Je- 
mand ermordet!— Der  Bettler! 

DER  MANN  (erhebt  sich  halb).  Ahl  .  .  .  Ihr  kommt  zu 
spät,  Gilbert.  (Er  deutet  mit  def?i  Finger  auf  den  Platz, 
wohin  er  das  Paket  geworfen?)  Nehmt  das;  es  sind  Papiere, 
welche  beweisen,  daß  Jane,  Eure  Braut,  die  Tochter  und 
Erbin  des  letzten  Lord  Talbot  ist.  Mein  Mörder  ist  Clan- 


462  ÜBERSETZUNGEN 

brassil,  der  Günstling  der  Königin. — Ach,  ich  ersticke! — 
Gilbert,  räche  mich  und  räche  dich!  .  .  . —  {Er  stirbt^ 
GILBERT.  Tot! — Ich  soll  mich  rächen?  Was  will  er  sagen? 
Jane,  Tochter  des  Lord  Talbot?  Lord  Clanbrassil?  der 
Günstling  der  Königin?  O,  mir  schwindelt!  {Er  schüttelt 
die  Leiche^  Sprich  noch  ein  Wort! — Er  ist  tot. 


SIEBENTE  SZENE 
Gilbert.  Fabiani, 
FABIANI  {kommt  zurück).  Wer  da? 
GILBERT.  Man  hat  einen  Menschen  ermordet. 
FABIANI.  Nein,  einen  Juden. 
GILBERT.   Wer  hat  diesen  Mann  getötet? 
FABIANI.  Wahrhaftig,  Ihr  oder  ich! 
GILBERT.   Herr!  .  .  . 

FABIANI.    Kein  Zeuge.    Eine  Leiche  am  Boden,  zwei 
Männer  daneben.   Wer  ist  der  Mörder?   Nichts  beweist, 
daß  der  eine  es  eher  sei  als  der  andere,  ich  eher  als  Ihr. 
GILBERT.   Elender!  Ihr  seid  der  Mörder. 
FABIANI.  Nun  ja,  in  der  Tat,  ich  bin  es!— Und  nun? 
GILBERT.  Ich  werde  die  Wache  rufen. 
FABIANI.  Ihr  werdet  mir  helfen,  den  Körper  ins  Wasser 
werfen. 

GILBERT.  Ich  werde  Euch  verhaften  und  bestrafen  lassen. 
FABIANI.  Ihr  werdet  mir  helfen,  den  Körper  ins  Wasser 
werfen. 

GILBERT.  Ihr  seid  unverschämt! 

FABIANI.  Glaubt  mir,  verwischen  wir  jede  Spur,  es  geht 
Euch  mehr  an  als  mich. 
GILBERT.   Das  ist  stark. 

FABIANI.  Einer  von  uns  beiden  hat  den  Streich  geführt. 
Ich,  ich  bin  ein  großer  Herr,  ein  edler  Herr;  Ihr,  Ihr  seid 
ein  Landstreicher,  ein  Bettler,  ein  Mann  aus  dem  Volke. 
Ein  Edelmann,  der  einen  Juden  tötet,  zahlt  vier  Sous 
Strafgeld.  Ein  Mann  aus  dem  Volke,  der  einen  tötet,  wird 
gehenkt. 

GILBERT.  Ihr  würdet  wagen? 
FABIANI.   Ich  zeige  Euch  an,   wenn  Ihr  mich  anzeigt. 


MARIA  TUDOR.  ERSTE  HANDLUNG       463 

Man  wird  mir  eher  glauben  als  Euch.  Jedenfalls  ist  die 

Wette  ungleich.    Vier  Sous  Strafe  für  mich,  der  Galgen 

für  Euch. 

GILBERT.    Keine   Zeugen!    keine  Beweise!    Oh!    mein 

Kopf  wird  wirr.  Der  Schurke  hat  mich,  er  hat  recht. 

FABIANL  Soll  ich  Euch  helfen,  den  Körper  ins  Wasser 

werfen? 

GILBERT.  Ihr  seid  der  Teufel! 

FABIANL    {Gilbert  faßt  die  Leiche  am  Kopf,  Fahiani  an 

den  Füßen;  sie  tragen  sie  bis  zum  Geländer?^  Ja. — Meiner 

Treu!  mein  Teurer,  ich  weiß  nicht  mehr  recht,  wer  von 

uns  beiden  den  Mann  getötet  hat. 

(Sic  stcigc7i  hinter  dem  Geländer  hinu?iter.) 

FABIANI  {kommt  zurück).  Es  ist  geschehen.— Gute  Nacht, 
mein  Freund,  geht  Eurer  Wege.  {Er  geht  auf  das  Haus 
zu  und  wendet  sich  tun,  i7idem  er  bemerkt,  daß  Gilbert  ihm 
folgt.)  Nun,  was  wollt  Ihr?  Etwas  Geld  für  Eure  Mühe? 
Eigentlich  bin  ich  Euch  nichts  schuldig;  doch  nehmt.  {Er 
gibt  Gilbert  seilte  Börse ^  der  eine  zwückwdicJiende  Bewe- 
gung macht  und  sie  dann  mit  der  Miene  eines  Mamies^  der 
sich  anders  besi?int^  annim??it.)  Jetzt  fort!  Nun,  auf  was 
wartet  Ihr  noch? 
GILBERT.  Auf  nichts. 

FABIANI.  Meiner  Treu!  bleibt  da,  wenn  es  Euch  gefällt. 
Die  schönen  Sterne  für  Euch,  das  schöne  Mädchen  für 
mich.  Gott  behüte  Euch!  {Ergeht  auf  die  Türe  des  Hauses 
zu  und  bereitet  sich,  sie  zu  öffne7i.) 
GILBERT.  Wo  geht  Ihr  hin? 
FABIANI.  Wahrhaftig!  nach  Hause. 
GILBERT.  Wie,  nach  Hause? 
FABIANI.  Ja. 

GILBERT.  Wer  von  uns  beiden  träumt  dann?  Ihr  sagtet 
mir  eben,  ich  wäre  der  Mörder  des  Juden;  Ihr  sagt  mir 
jetzt,  dieses  Haus  da  wäre  Euer. 

FABIANI.  Oder  meiner  Geliebten,  das  kommt  auf  eins 
heraus. 

GILBERT.  Wiederholt  mir,  was  Ihr  eben  gesagt. 
FABIANI.    Ich  sage  Euch,  Freund,  weil  Ihr  es  wissen 


464  ÜBERSETZUNGEN  ' 

wollt,  daß  in  diesem  Haus  ein  schönes  Mädchen,  namens 
Jane,  wohnt,  das  meine  Geliebte  ist. 
GILBERT.  Und  ich,  Mylord,  sage  dir,  daß  du  lügst!  Ich 
sage  dir,  daß  du  ein  Lügner  und  ein  Mörder  bist,  ich  sage 
dir,  daß  deine  Mutter  auf  offnem  Markt  von  dem  Henker 
ist  ausgepeitscht  worden,  und  daß  ich  deinen  Kopf  mit 
meinen  Händen  packen  und  dir  deine  Zunge  mit  deinen 
Zähnen  abbeißen  werde. 

FABIANI.  Nun!  nun!  Was  ist  das  für  ein  Teufelskerl.^ 
GILBERT.   Ich  bin  Gilbert,  der  Arbeiter.  Jane  ist  meine 
Braut. 

FABIANI.  Und  ich,  ich  bin  der  Ritter  Amyas  Pawlet. 
Jane  ist  meine  Geliebte. 

GILBERT.  Du  lügst!  sage  ich  dir,  du  bist  Lord  Clan- 
brassil,  der  Günstling  der  Königin.  Schwachkopf!  der 
glaubte,  ich  wüßte  das  nicht. 

FABIANI  (beiseite).  Alle  Welt  kennt  mich  doch  diese 
Nacht.  Noch  ein  gefährlicher  Mensch,  den  ich  weg- 
schaffen muß. 

GILBERT.  Sag  sogleich,  daß  du  gelogen  hast,  wie  ein 
Schurke,  und  daß  Jane  deine  Geliebte  nicht  ist. 
FABIANI.  Kennst  du  ihre  Schrift?  {Er  zieht  ein  Billett 
aus  seiner  Tasche:)  Lies  das!  {Beiseite^  während  Gilbert 
konvulsivisch  das  Papier  entfaltet:)  Er  muß  hinein  und  mit 
Jane  Händel  anfangen;  das  gibt  meinen  Leuten  Zeit,  her- 
beizukommen. 

GILBERT  {liest).  'Tch  bin  heute  nacht  allein,  Ihr  könnt 
kommen."  Verdammt!  Mylor  >uu  hast  meine  Braut  ent- 
ehrt, du  bist  ein  Schurke!   Gib  mir  Rechenschaft. 
FABIANI  {iiiniint  seinen  Degen  in  die  Hand).  Ich  will  wohl, 
wo  ist  dein  Degen: 

GILBERT.  O  Wut!  Aus  dem  Volke  sein!  Nichts  bei  sich 
haben,  weder  Degen  noch  Dolch!  Geh,  ich  werde  des 
Nachts  an  einer  Gassenecke  auf  dich  lauern  und  dir  meine 
Nägel  in  den  Hals  drücken  und  dich  erwürgen.  Elender! 
FABIANI.  Nun!  nun!  Ihr  seid  heftig,  mein  Freund. 
GILBERT.  O,  Mylord!  ich  werde  mich  an  dir  rächen. 
FABIANI.  Du  dich  an  mir  rächen!  Du  so  niedrig,  ich  so 
hoch!   Du  bist  toll!  Ich  lache  dich  aus. 


MARIA  TUDOR.  ERSTE  HANDLUNG       465 

GILBERT.  Du  lachst  mich  aus? 
FABIANI.  Ja. 

GILBERT.  D.u  sollst  sehen! 

FABIANI  (beiseite).  Die  Sonne  darf  morgen  diesen  Mann 
nicht  bescheinen.  (Laut:)  Freund,  glaube  mir,  gehe  heim. 
Ich  bin  ärgerlich,  daß  du  das  entdeckt  hast;  aber  ich  über- 
lasse dir  die  Schöne.  Es  war  ohnehin  meine  Absicht  nicht, 
die  Liebschaft  weiter  zu  treiben.  Geht  heim.  (Er  wirft 
ei?ien  Schlüssel  zu  den  Füßen  Gilberts^  Wenn  du  keinen 
Schlüssel  hast,  da  ist  einer.  Oder,  wenn  du  willst,  brauchst 
du  nur  viermal  an  den  Laden  zu  klopfen.  Jane  wird  glauben, 
ich  sei  es,  und  dir  öffnen.   Gute  Nacht.  (Er  geht.) 


ACHTE  SZENE 

Gilbert,  allein. 
Er  ist  fort!  Er  ist  nicht  mehr  da!  Ich  habe  ihn  nicht  mit 
den  Füßen  zerstampfti  Ich  mußte  ihn  gehen  lassen!  keine 
Waffen  bei  mir!  (Er  erblickt  auf  dem  Boden  den  Dolch, 
7üomit  Lo}'d  Clanbrassil  den  Juden  getötet  hat;  er  rafft  ihn 
mit  rasender  Eile  auf)  Ah!  du  kommst  zu  spät!  du  kannst 
wahrscheinlich  nur  mich  noch  töten!  aber  das  ist  gleich, 
magst  du  vom  Himmel  gefallen  oder  von  der  Hölle  aus- 
gespien sein,  ich  segne  dich!  Oh!  Jane  hat  mich  verraten! 
Jane  hat  sich  diesem  Schurken  überlassen!  Jane  ist  die 
Erbin  des  Lord  Talbot!  Jane  ist  für  mich  verloren!  O 
Gott!  das  sind  in  einer  Stunde  mehr  schreckliche  Dinge, 
als  ein  Kopf  tragen  kann.  (Simon  Renard  crschei/it  ifn 
Dunkeln  im  Hintergrunde  der  Bühne.) 
Oh!  mich  an  diesem  Menschen  rächen!  mich  an  diesem 
Lord  Clanbrassil  rächen!  Wenn  ich  zum  Palaste  der  Königin 
gehe,  werden  mich  die  Knechte  mit  Fußtritten  wegstoßen, 
wie  einen  Hund.  Oh!  ich  bin  ein  Narr;  mein  Kopf  hält's 
nicht  aus.  Oh!  was  liegt  mir  am  Tod,  aber  ich  will  ge- 
rächt sein!  Ich  würde  mein  Blut  für  die  Rache  geben! 
Gibt  es  niemand  unter  der  Sonne,  der  diesen  Handel  mit 
mir  eingehen  möchter  Wer  will  mich  an  Lord  Clanbrassil 
rächen  und  mein    Leben  als  Lohn  nehmen.- 

BÜCHNER  30. 


466  ÜBERSETZUNGEN 

NEUNTE  SZENE 
Gilbert.  Simon  Renard. 
SIMON  RENARD.  Ich. 
GILBERT.  Du!  Wer  bist  du? 

SIMON  RENARD.  Ich  bin  der  Mann,  den  du  forderst. 
GILBERT.  Weißt  du,  wer  ich  bin? 
SIMON  RENARD.   Du  bist  der  Mann,  den  ich  brauche. 
GILBERT.  Ich  habe  nur  noch  einen  Gedanken,  weißt  du 
das?  An  IvOrd  Clanbrassil  mich  rächen  und  sterben. 
SIMON  RENARD.    Du  wirst  dich  an  Lord  Clanbrassil 
rächen  und  sterben. 

GILBERT.  Ich  danke  dir,  wer  du  auch  seist! 
SIMON  RENARD.  Ja,  du  sollst  die  Rache  haben,  die  du 
forderst;  aber  vergiß  nicht,  unter  welcher  Bedingung.  Ich 
muß  dein  Leben  haben. 
GILBERT.  Nimm  es. 
SIMON  RENARD.  Sind  wir  einig? 
GILBERT.  Ja. 

SIMON  RENARD.  Folge  mir. 
GILBERT.   Wohin? 

SIMON  RENARD.  Du  wirst  es  erfahren. 
GILBERT.    Denke,   daß   du  mir  versprachst,   mich  zu 
rächen! 

SIMON  RENARD.    Denke,  daß  du  mir  versprachst,  zu 
sterben! 


ZWEITE  HANDLUNG 

DIE  KÖNIGIN 

Personen 
DTE  KÖNIGIN  SIMON  RENARD 

GILBERT  JANE 

FABIANO  FABIANI  EDELLEUTE.  DER  HENKER 

ZWEITER  TAG 

Eins  von  den  Zimmern  der  Königin.  Ein  Evangelium  auf^ 
geschlagen  auf  einem  Betpult.    Die  königliche  Krone  auf 


MARIA  TUDOR.  ZWEITE  HANDLUNG      467 

einem  Schemel.  Seitentüren.  Eine  breite  Türe  im  Hinter- 
grund.— Ein  Teil  des  Hintergrundes  wird  durch  eine  große 
gewirkte  Tapete  verdeckt. 


ERSTE  SZENE 

Die  Königin  reich  gekleidet  auf  einem  Ruhebette.  Fabiano 
Fabiani  sitzt  auf  einem  Schemel  zur  Seite  ^  prächtiges  Kostüm^ 

das  Hosenband. 
FABIANI  {eine  Gitarre  in  der  Hand,  singt). 
Träumst  du,  o  holde  Traute, 
Sanft  unter  meinem  Aug, 
So  lispelt  Liedeslaute 
Mir  deiner  Lippen  Hauch. 
Entknospt  aus  Prunk  und  Schleier 
Blüht  mir  dein  süßer  Leib. 
Mir  ewig  teuer, 
Schlaf  süß,  hold  Weib! 

Hör  ich  aus  deinem  Munde: 
"Du  liebst  mich", — dann  schon  hier 
Schließt  sich  in  sel'ger  Stunde 
Der  Himmel  auf  über  mir. 
Vom  heil'gen,  ew'gen  Feuer 
Der  Liebe  strahlt  dein  Blick! 

Weib,  mir  so  teuer, 

Sei  stets  mein  Glück! 

Vier  Zauberworte  heben, 

In  Klarheit,  ungetrübt. 

Empor  das  ganze  Leben, 

Beneidet  und  geliebt. 

Das  ist  des  Lebens  Sonne, 

Mein  ewig  junges  Glück: 
"Gesang,  Traum,  Wonne 
Und— Liebesblick!" 
{Er  stellt  die  Gitarre  weg.)  Oh!  ich  liebe  Euch  mehr,  als 
ich  sagen  kann,  Madame!    Aber  dieser  Simon  Renard! 
dieser  Simon  Renard!  mächtiger  hier,  als  Ihr  selbst,  ich 
hasse  ihn. 


468  ÜBERSETZUNGEN 

DIE  KÖNIGIN.  Ihr  wißt  wohl,  daß  ich  nichts  dafür  kann, 
Mylord.   Er  ist  hier  der  Gesandte  des  Prinzen  von  Spa- 
nien, meines  zukünftigen  Gemahls. 
FABIANI.  Eures  zukünftigen  Gemahls! 
DIE  KÖNIGIN.    Still,  Mylord,  sprechen  wir  nicht  mehr 
davon.  Ich  liebe  Euch,  was  braucht  Ihr  mehr?  Und  dann, 
es  ist  jetzt  Zeit,  daß  Ihr  geht. 
FABIANI.  Marie,  noch  einen  Augenblick! 
DIE  KÖNIGIN.  Aber  es  ist  die  Stunde,  wo  der  geheime 
Rat  sich  versammelt.  Bisher  war  nur  das  Weib  hier,  die 
Königin  muß  jetzt  hereintreten. 

FABIANI.  Ich  will,  daß  das  Weib  die  Königin  vor  der 
Türe  warten  läßt. 

DIE  KÖNIGIN.  Ihr  wollt!  Ihr  wollt!  Ihr!  Seht  mich  an, 
Mylord.  Du  hast  einen  jungen  und  reizenden  Kopf,  Fa- 
biano. 

FABIANI.  O,  Ihr  seid  schön!  Ihr  würdet  nichts  nötig 
haben,  als  Eure  Schönheit,  um  allmächtig  zu  sein.  Auf 
Eijrem  Haupte  ist  etwas,  das  sagt,  daß  Ihr  die  Königin 
seid;  es  steht  aber  noch  viel  deutlicher  auf  Eurer  Stirn, 
als  auf  Eurer  Krone. 
DIE  KÖNIGIN.  Ihr  schmeichelt. 
FABIANI.  Ich  liebe  dich. 

DIE  KÖNIGIN.  Du  liebst  mich,  nicht  wahr?  Du  liebst 
nur  mich?  Sage  mir  das  noch  einmal  so,  mit  diesen  Augen. 
Ach!  wir  armen  Weiber,  wir  wissen  niemals  genau,  was 
in  dem  Herzen  eines  Mannes  vorgeht;  wir  müssen  Euren 
Augen  glauben,  und  die  schönsten,  Fabiano,  lügen  zu- 
weilen am  häßlichsten.  Aber  deine,  Mylord,  sind  so  treu 
und  rein,  daß  sie  nicht  lügen  können,  nicht  wahr?  Ja, 
dein  Blick  ist  offen  und  ehrlich,  mein  schöner  Page.  Oh! 
Himmelsaugen  nehmen  und  damit  betrügen,  das  wäre 
höllisch.  Du  hast  deine  Augen  einem  Engel  oder  dem 
Teufel  gestohlen. 

FABIANI.  Weder  Engel  noch  Teufel.  Ein  Mann,  der 
Euch  liebt. 

DIE  KÖNIGIN.  Der  die  Königin  liebt? 
FABIANI.  Der  Marie  liebt. 
DIE  KÖNIGIN.  Höre,  Fabiano,  ich  liebe  dich  auch.  Du 


I 


MARIA  TUDOR.  ZWEITE  HANDLUNG      469 

bist  jung,  es  gibt  viel  schöne  Weiber,  die  dich  gar  zärt- 
lich ansehen,  ich  weiß  es.  Endlich,  man  wird  eine  Kö- 
nigin müde,  so  gut  wie  eine  andere.  Unterbrich  mich 
nicht.  Ich  will,  daß  du  mir  es  sagst,  wenn  du  je  ein  an- 
deres Weib  lieben  solltest.  Ich  werde  dir  vielleicht  ver- 
zeihen, wenn  du  mir  es  sagst.  Unterbrich  mich  doch  nicht. 
Du  weißt  nicht,  wie  weit  meine  Liebe  geht,  ich  weiß  es 
selbst  nicht.  Es  ist  wahr,  ich  habe  Augenblicke,  wo  ich 
dich  lieber  tot,  als  mit  einer  andern  glücklich  wissen 
möchte;  aber  es  kommen  mir  auch  andere,  wo  ich  dich 
lieber  glücklich  sähe.  Mein  Gott!  ich  weiß  nicht,  warum 
man  mich  in  den  Ruf  eines  schlechten  Weibes  bringen 
will. 

FABIANI.  Ich  kann  nur  mit  dir  glücklich  sein,  Marie. 
Ich  liebe  nur  dich. 

DIE  KÖNIGIN.  Gewiß?  Sieh  mich  an.  Gewiß.-  Oh!  ich 
bin  manchmal  eifersüchtig;  ich  bilde  mir  ein,— welches 
Weib  hat  nicht  solche  Gedanken:— ich  bilde  mir  manch- 
mal ein,  du  täuschtest  mich.  Ich  möchte  unsichtbar  sein 
und  dir  folgen  können  und  immer  wissen,  was  du  tust, 
was  du  sagst  und  wo  du  bist.  In  den  Feenmärchen  gibt 
es  einen  Ring,  der  einen  unsichtbar  macht;  ich  würde 
meine  Krone  für  diesen  Ring  geben.  Ich  bilde  mir  immer 
ein,  du  gingest  zu  den  schönen  Mädchen  in  der  Stadt. 
Oh!  du  solltest  mich  nicht  täuschen,  siehst  du! 
FABIANI.  Aber  verbannt  doch  diese  Gedanken,  Madame. 
Ich  Euch  täuschen,  meine  gute  Königin,  meine  gute  Herrin! 
Ich  müßte  der  undankbarste  und  erbäi-mlichste  Mensch 
sein!  Aber  ich  gab  Euch  keine  Veranlassung,  mich  für 
den  undankbarsten  und  erbärmlichsten  Menschen  zu  hal- 
ten. Aber  ich  liebe  dich,  Marie!  aber  ich  bete  dich  an! 
aber  ich  könnte  ein  anderes  Weib  nicht  einmal  ansehen! 
Ich  liebe  dich,  sage  ich  dir;  aber  siehst  du  das  nicht  in 
meinen  Augen:  O  mein  Gott!  die  Wahrheit  hat  einen 
Ton,  der  dich  überzeugen  sollte.  Sieh,  betrachte  mich 
genau,  sehe  ich  aus  wie  ein  Mensch,  der  dich  verrät.^ 
Wenn  ein  Mann  ein  Weib  verrät,  so  sieht  man  es  gleich. 
Die  Weiber  täuschen  sich  gewöhnlich  nicht  in  dergleichen. 
Und  welchen  Augenblick  wählest  du,  mir  solche  Dinge  zu 


470  ÜBERSETZUNGEN 

sagen,  Marie?  den  Augenblick  meines  Lebens,  worin  ich 
dich  vielleicht  am  meisten  liebe.  Es  ist  wahr,  es  ist  mir, 
als  hätte  ich  dich  nie  so  geliebt  wie  heute.  Ich  spreche 
jetzt  nicht  mit  der  Königin.  Wahrhaftig,  ich  lache  über 
die  Königin.  Was  kann  mir  die  Königin  tun.^  Sie  kann 
mir  den  Kopf  abschlagen  lassen,  was  macht  das?  Du, 
Marie,  kannst  mir  das  Herz  brechen!  Nicht  Eure  Maje- 
stät, nein,  Marie,  dich  liebe  ich.  Deine  schöne  weiße  und 
zarte  Hand  küsse  und  bete  ich  an,  nicht  Euer  Zepter, 
Madame. 

DIE  KÖNIGIN.  Danke,  mein  Fabiano.  Lebe  wohl.— 
Mein  Gott,  Mylord,  wie  jung  Ihr  seid!  Die  schönen 
schwarzen  Haare  und  der  reizende  Kopf  da!— Kommt  in 
einer  Stunde  wieder. 

FABIANO.  Was  Ihr  eine  Stunde  nennt,  heiße  ich  eine 
Ewigkeit! 

{Er  geht.   Sobald  er  weg  ist,  erhebt  die  Königin  sich  rasch^ 

tritt  zu  eiiier  verborgenen  Türe,  öffnet  sie  und  führt  Simon 

Renard  herein^ 


ZWEITE  SZENE 
Die  Königin.  Simon  Kenard. 
DIE  KÖNIGIN.   Kommt  herein,  Herr  Vogt.    Nun,  seid 
Ihr  da  geblieben?  Habt  Ihr  ihn  gehört? 
SIMON  RENARD.  Ja,  Madame. 

DIE  KÖNIGIN.  Was  sagt  Ihr  dazu?  O,  er  ist  der  größte 
Schurke  und  Heuchler  unter  der  Sonne!  Was  sagt  Ihr 
dazu? 

SIMON  RENARD.   Ich  sage,  Madame,  man  sieht  wohl, 
daß  dieser  Mensch  einen  Namen  auf  i  führt. 
DIE  KÖNIGIN.   Und  seid  Ihr  sicher,  daß  er  zu  diesem 
Weibe  des  Nachts  geht?  Ihr  habt  ihn  gesehen? 
SIMON  RENARD.  Ich,  Chandos,  Clinton,  Montagu,  zehn 
Zeugen. 

DIE  KÖNIGIN.  Das  ist  abscheulich! 
SIMON  RENARD.  Außerdem  soll  die  Sache  der  Königin 
sogleich  noch  deutlicher  erwiesen  werden.  Das  Mädchen 


MARIA  TUDOR.  ZWEITE  HANDLUNG      471 

ist  hier,  wie  ich  Eurer  Majestät  gesagt  habe.  Ich  habe  es 
in  seinem  Hause  heute  nacht  ergreifen  lassen. 
DIE  KÖNIGIN.    Aber,   reicht  dieses  Verbrechen  nicht 
hin,  diesem  Menschen  den  Kopf  abschlagen  zu  lassen, 
mein  Herr? 

SIMON  RENARD.  Bei  einem  hübschen  Mädchen  des 
Nachts  gewesen  zu  sein:  Nein,  Madame.  Eure  Majestät 
hat  Trogmorton  für  ein  ähnliches  Vergehen  vor  Gericht 
stellen  lassen.  Trogmorton  wurde  freigesprochen. 
DIE  KÖNIGIN.  Ich  habe  die  Richter  des  Trogmorton 
gestraft. 

SIMON  RENARD.    Seht  zu,   daß  Ihr  die  Richter  des 
Fabiani  nicht  ebenfalls  zu  bestrafen  habt. 
DIE  KÖNIGIN.  Oh!  wie  mich  an  diesem  Verräter  rächen.^ 
SIMON  RENARD.    Will  Eure  Majestät  die  Rache  nur 
auf  eine  gewisse  Weise.^ 

DIE  KÖNIGIN.  Auf  die  einzige,  welche  meiner  würdig 
ist. 

SIMON  REN  ARD.    Trogmorton  wurde  freigesprochen. 
Es  gibt  nur  ein  Mittel,  ich  habe  es  Eurer  Majestät  gesagt. 
Der  Mann,  welcher  da  ist ...  . 
DIE  KÖNIGIN.   Wird  er  alles  tun,  was  ich  will? 
SIMON  RENARD.  Ja,  wenn  Ihr  alles  tut,  was  er  will. 
DIE  KÖNIGIN.  Wird  er  sein  Leben  einsetzen.=^ 
SIMON  RENARD.   Er  wird  seine  Bedingungen  machen, 
aber  er  wird  sein  Leben  einsetzen. 
DIE  KÖNIGIN.  W^as  will  er?  Wißt  Ihr  es? 
SIMON  REN  ARD.  Das,  was  Ihr  selbst  wollt,  sich  rächen. 
DIE  KÖNIGIN.  Laßt  ihn  herein  und  bleibt  in  der  Nähe, 
so  weit  Ihr  meine  Stimme  hören  könnt. — Herr  Vogt! 
SIMON  RENARD  (kommt  zuriick).  Madame! 
DIE  KÖNIGIN.    Sagt  dem  Mylord  Chandos,    er  möge 
sich  im  anstoßenden  Zimmer  mit  sechs  meiner  Leute  be- 
reit halten,  herein  zu  treten.   Und  das  Weib  auch,  daß  sie 
gleich  herein  kann.— Geht! 

[Simon  Renard  geht  ab.) 

DIE  KÖNIGIN  {allein).  Oh!  das  wird  schrecklich  werden! 

(Eine  der  Seite?itüren  öffnet  sich.  Sitnon  Renard  und  Gilbert 

treten  herein?) 


472  ÜBERSETZUNGEN 

DRITTE  SZENE 

Die  Königin.   Gilbert.   Simon  Renard. 
GILBERT.  Vor  wem  bin  ich? 
SIMON  RENARD.  Vor  der  Königin. 
GILBERT.  Der  Königin! 

DIE  KÖNIGIN.  Ja,  der  Königin.  Ich  bin  die  Königin. 
Wir  haben  nicht  Zeit,  uns  zu  verwundern.  Ihr,  Herr,  seid 
Gilbert,  ein  x\rbeiter.  Ihr  wohnt  irgendwo  da  herum  am 
Ufer  des  Flusses,  mit  einer  gewissen  Jane,  mit  der  Ihr 
verlobt  seid,  und  die  Euch  betrügt  und  zum  Liebhaber 
einen  gewissen  Fabiano  hat,  der  mich  betrügt,  mich.  Ihr 
wollt  Euch  rächen,  und  ich  mich.  Dazu  muß  ich  über 
Euer  Leben  nach  Belieben  verfügen  können.  Ihr  müßt 
sagen,  was  ich  Euch  zu  sagen  befehle,  was  es  auch  sei. 
Es  darf  für  Euch  weder  Wahrheit  noch  Lüge,  weder  Gut 
noch  Bös,  weder  Recht  noch  Unrecht  mehr  geben,  nichts 
als  meine  Rache  und  mein  Wille.  Ihr  müßt  mich  machen 
und  mit  Euch  machen  lassen,  was  ich  will.  Willigt  Ihr 
ein? 

GILBERT.  Madame 

DIE  KÖNIGIN.  Rache,  du  sollst  sie  haben.  Aber  ich 
sage  dir  zum  voraus,  du  mußt  sterben.  Das  ist  alles. 
Mache  deine  Bedingungen.  Hast  du  eine  alte  Mutter: 
soll  ich  ihren  Tisch  mit  Goldstücken  bedecken.^  Sprich, 
ich  tue  es.  Verkaufe  mir  dein  Leben  so  teuer,  als  du 
willst. 

GILBERT.  Ich  bin  nicht  mehr  zum  Sterben  entschlossen, 
Madame. 
KÖNIGIN.  Wie! 

GILBERT.  Seht!  Majestät,  ich  habe  die  ganze  Nacht 
darüber  nachgedacht;  es  ist  mir  in  dieser  Sache  noch  gar 
nichts  erwiesen.  Ich  habe  einen  Mann  gesehen,  der  sich 
rühmte,  der  Gehebte  von  Jane  zu  sein.  Wer  beweist  mir, 
daß  er  nicht  gelogen  hat?  Ich  sah  einen  Schlüssel.  Wer 
beweist  mir,  daß  er  nicht  gestohlen  war?  Ich  sah  einen 
Brief.  Wer  beweist  mir,  daß  man  sie  nicht  mit  Gewalt 
ihn  hat  schreiben  machen?  Übrigens  weiß  ich  nicht  ein- 
mal mehr,  ob  es  ihre  Hand  war.  Es  war  finster.  Ich  war 
verwirrt.  Ich  sah  nichts.  Ich  kann  ein  Leben  nicht  weg- 


MARIA  TUDOR.  ZWEITE  HANDLUNG      473 

werfen,  das  so  gut  wie  ihr  ist.  Ich  glaube  nichts,  ich  weiß 
nichts  gewiß,  ich  habe  Jane  nicht  gesehen. 
KÖNIGIN.   Man  sieht  wohl,  daß  du  liebst!    Du  bist  wie 
ich,  du  trotzest  allen  Beweisen.  Und  wenn  du  nun  diese 
Jane  siehst,  wenn  du  sie  ihr  Verbrechen  gestehen  hörst, 
wirst  du  dann  tun,  was  ich  will.- 
GILBERT.  Ja,  doch  eine  Bedingung. 
KÖNIGIN.    Du  wirst  sie  mir  später  sagen.    (Zu  Sif?ion 
Renard:)  Sogleich  das  Weib  hierher.  {Simon  Renard  geht. 
Die  h'öftigin  stellt  Gilbert  hinter  eine7i  Vorhangs  der  den 
Hintergrund  des  Zimmers  zum  Teil  verdeckt:)  Stelle  dich 
dahin.  (Jane  tritt  bleich  und  zitternd  herein.) 


VIERTE  SZENE 

Die  Königin.  Jane.  Gilbert  [hinter  dem  Vorhang). 
KÖNIGIN.   Näher,  junges  Mädchen!  Du  weißt,  wer  wir 
sindr 

JANE.  Ja,  Madame. 

KÖNIGIN.   Du  weißt,  wer  der  Mann  ist,  welcher  dich 
verführt  hat: 
JANE.  Ja,  Madame. 

KÖNIGIN.   Er  hat  dich  betrogen!  Er  hat  sich  für  einen 
Edelmann,  namens  Amyas  Pawlet,  ausgegeben? 
JANE.  Ja,  Madame. 

KÖNIGIN.  Du  weißt  jetzt,  daß  er  Fabiano  Fabiani,  Graf 
von  Clanbrassil,  ist? 
JANE.  Ja,  Madame. 

KÖNIGIN.  Diese  Nacht,  als  man  dich  in  deinem  Hause 
ergriff,  hattest  du  ihm  eine  Zusammenkunft  versprochen, 
du  erwartetest  ihn: 

JANE  {che  Häiidc  ringend).   Mein  Gott,  Madame! 
KÖNIGIN.  Antworte. 
JANE  (init  schwacher  Stimme).  Ja. 

KÖNIGIN.  Du  weißt,  daß  ihr  nichts  mehr  zu  hoffen  habt, 
weder  du  noch  er.^ 

JANE.  Als  den  Tod!  Das  ist  eine  Hoffnung. 
KÖNIGIN.  Erzähle  mir  die  ganze  Geschichte.  Wo  hast 
du  diesen  Mann  zum  ersten  Male  gesprochen.^ 


474  ÜBERSETZUNGEN 

JANE.  Das  erste  Mal,  daß  ich  ihn  sah,  es  war  .  .  .  aber 
wozu  das  alles?  Ein  elendes  Mädchen  aus  dem  Volke, 
arm  und  eitel,  töricht  und  gefallsüchtig,  vernarrt  in  Putz 
und  ein  schönes  Äußere,  das  sich  durch  den  Glanz  eines 
großen  Herrn  blenden  läßt:  das  ist  alles.  Ich  bin  verführt, 
ich  bin  entehrt,  ich  bin  verloren.  Ich  habe  nichts  mehr 
zu  sagen.  Mein  Gott,  Madame,  seht  Ihr  denn  nicht,  daß 
jedes  Wort,  das  ich  spreche,  mich  sterben  macht. 
KÖNIGIN.  Es  ist  gut. 

JANE.  O,  Euer  Zorn  ist  schrecklich,  ich  weiß  es,  Madame. 
Mein  Haupt  beugt  sich  zum  voraus  unter  der  Strafe,  die 
Ihr  mir  bereitet. 

KÖNIGIN.  Ich  eine  Strafe  für  dich!  Was  kümmere  ich 
mich  denn  um  dich,  Närrin!  Wer  bist  du,  elendes  Ge- 
schöpf, daß  die  Königin  sich  mit  dir  beschäftigen  sollte? 
Nein,  Fabiano,  das  ist  meine  Rache.  Was  dich  betrifft, 
Weib,  so  übernimmt  es  ein  anderer  als  ich,  dich  zu  be- 
strafen. 

JANE.  Gut  denn,  Madame,  übertragt  es,  wem  Ihr  wollt, 
straft  mich,  wie  Ihr  wollt,  ich  werde  alles  dulden,  ohne 
zu  klagen,  ich  werde  Euch  selbst  danken,  nur  erbarmt 
Euch  meiner  Bitte.  Es  gibt  einen  Mann,  der  mich  als  Waise 
in  der  Wiege  erhielt,  der  mich  aufnahm,  der  mich  erzog, 
mich  nährte,  mich  liebte  und  mich  noch  liebt;  einen  Mann, 
dessen  ich  sehr  unwürdig  bin,  gegen  den  ich  mich  schwer 
vergangen  habe  und  dessen  Bild  dennoch  angebetet,  gött- 
lich und  heilig  wie  das  Gottes  in  der  Tiefe  meines  Her- 
zens ruht;  einen  Mann,  der  ohne  Zweifel  in  der  Stunde,  wo 
ich  mit  Euch  rede,  sein  Haus  leer,  verlassen  und  wüst 
findet  und  nichts  davon  begreift  und  sich  die  Haare  aus 
Verzweiflung  ausreißt.  Und  so  bitte  ich  denn  Eure  Maje- 
stät, möge  er  nie  etwas  davon  begreifen;  möge  ich  ver- 
schwinden, ohne  daß  er  je  weiß,  was  aus  mir  geworden 
ist,  weder  was  ich  getan  habe,  noch  was  Ihr  mit  mir  ge- 
macht habt.  Ach  mein  Gott!  ich  weiß  nicht,  ob  ich  mich 
deutlich  mache;  aber  Ihr  müßt  fühlen,  daß  ich  einen  Freund 
habe,  einen  edlen  und  großmütigen  Freund, — armer  Gil- 
bert! o  ja,  es  ist  wohl  wahr — der  mich  achtet,  mich  für 
rein  hält,  und  von  dem  ich  nicht  gehaßt  und  verachtet 


MARIA  TUDOR.  ZWEITE  HANDLUNG      475 

sein  will. — Ihr  versteht  mich,  Madame.  Seht,  die  Achtung 
dieses  Mannes  ist  für  mich  weit  mehr  als  das  Leben!  Und 
dann,  das  würde  ihm  schrecklichen  Kummer  machen!  Ein 
solcher  Schlag!  Er  würde  es  anfangs  nicht  glauben!  Nein, 
er  würde  es  nicht  glauben!  Mein  Gott!  armer  Gilbert!  O 
Madame!  habt  Mitleid  mit  ihm  und  mir.  Er  hat  Euch 
nichts  getan.  Daß  er  nichts  davon  erfährt,  im  Namen  des 
Himmels!  im  Namen  des  Himmels!  Daß  er  nicht  erfährt, 
daß  ich  schuldig  bin;  er  würde  sich  töten.  Daß  er  nicht 
erfährt,  daß  ich  tot  bin;  er  würde  sterben. 
KÖNIGIN.  Der  Mann,  von  dem  Ihr  sprecht,  ist  hier;  er 
hört  Euch,  er  richtet  Euch  und  wird  Euch  strafen.  {Gilbert 
zei^t  sich.) 

JANE.   Himmel!  Gilbert! 

GILBERT  {zur  Königin).  Mein  Leben  gehört  Euch,  Ma- 
dame. 

KÖNIGIN.  Gut.  Habt  Ihr  einige  Bedingungen  zu  machen? 
GILBERT.  Ja,  Madame. 

KÖNIGIN.  Welche.^  Wir  geben  Euch  unser  königliches 
Wort,  daß  wir  sie  zum  voraus  genehmj'gen. 
GILBERT.  Seht,  Madame.— Es  ist  sehr  einfach.  Es  ist 
eine  Schuld  der  Dankbarkeit,  deren  ich  mich  gegen  einen 
Herrn  Eures  Hofes  erledige,  welcher  mir  viel  Arbeit  ver- 
schafift  hat. 
KÖNIGIN.  Sprecht. 

GILBERT.  Dieser  Herr  hat  ein  geheimes  Verhältnis  mit 
einem  Weibe,  das  er  nicht  heiraten  kann,  weil  es  aus 
einem  geächteten  Hause  stammt.  Dieses  Weib,  das  bis 
jetzt  verborgen  gelebt  hat,  ist  die  einzige  Tochter  und 
Erbin  des  letzten  Lord  Talbot,  der  unter  Heinrich  dem 
Achten  enthauptet  wurde. 

KÖNIGIN.  Was!  Bist  du  dessen  gewiß,  was  du  da  sagst? 
Johann  Talbot,  der  gute  katholische  Lord,  der  loyale 
Verteidiger  meiner  Mutter  von  Aragonien,  er  hat  eine 
Tochter  hinterlassen,  sagst  du?  Bei  meiner  Krone,  wenn 
das  wahr  ist,  so  ist  das  Kind  mein  Kind;  und  was  Johann 
Talbot  für  die  Mutter  der  Marie  von  England  getan  hat, 
wird  Marie  von  England  für  die  Tochter  von  Johann 
Talbot  tun. 


476  ÜBERSETZUNGEN 

GILBERT.  Dann  wird  es  ohne  Zweifel  Eure  Majestät 
glücklich  machen,  der  Tochter  des  Lord  Talbot  die  Güter 
ihres  Vaters  zurückzugeben:  .  .  . 

KÖNIGIN.  Ja  gewiß,  und  sie  Fabiano  wieder  zu  nehmen! 
Aber  hat  man  Beweise  für  das  Dasein  dieser  Erbin: 
GILBERT.  Man  hat  sie. 

KÖNIGIN.  Übrigens,  wenn  wir  keine  Beweise  haben,  so 
machen  wir  welche.  Wir  sind  nicht  umsonst  Königin. 
GILBERT.  Eure  Majestät  wird  der  Tochter  des  Lord 
Talbot  die  Güter,  die  Titel,  den  Rang,  den  Namen,  das 
Wappen  und  den  Wahlspruch  ihres  Vaters  zurückgeben. 
Eure  Majestät  wird  sie  von  jeder  Ächtung  freisprechen 
und  ihr  das  Leben  zusichern.  Eure  Majestät  wird  sie  mit 
diesem  Herrn  vermählen,  welcher  der  einzige  Mann  ist, 
den  sie  heiraten  kann.  Unter  diesen  Bedingungen,  Ma- 
dame, könnt  Ihr  über  mich  verfügen,  über  meine  Freiheit, 
mein  Leben  und  meinen  Willen,  wie  Euch  beliebt. 
KÖNIGIN.  Gut.  Ich  werde  tun,  was  Ihr  gesagt  habt. 
GILBERT.  Eure  Majestät  wird  tun,  was  ich  gesagt  habe. 
Die  Königin  von  England  schwört  es  mir,  Gilbert,  dem 
Arbeiter,  auf  ihre  Krone  hier  und  auf  das  offene  Evan- 
gelienbuch da. 

KÖNIGIN.  Ich  schwöre  es  dir  auf  die  königliche  Krone 
hier  und  auf  das  heilige  Evangelium  da. 
GILBERT.  Der  Vertrag  ist  geschlossen,  Madame.  Laßt 
ein  Grab  für  mich  und  ein  Hochzeitbett  für  die  Gatten 
bereiten.  Der  Herr,  von  dem  ich  sprach,  ist  Fabiani,  Graf 
von  Clanbrassil.  Die  Erbin  Talbots, — hier  ist  sie. 
JANE.  Was  sagt  er: 

KÖNIGIN.  Habe  ich  mit  einem  Wahnsinnigen  zu  tun.^ 
Was  bedeutet  das?  Meister,  gebt  acht,  Ihr  seid  sehr  toll- 
kühn, die  Königin  von  England  zu  necken! — Die  könig- 
lichen Zimmer  sind  Orte,  wo  man  die  Worte  wägen  muß, 
die  man  spricht;  es  gibt  Fälle,  wo  der  Mund  den  Kopf 
fallen  macht! 

GILBERT.  Meinen  Kopf,  Ihr  habt  ihn,  Madame.  Ich,  ich 
habe  Euern  Eid. 

KÖNIGIN.  Ihr  sprecht  nicht  im  Ernst.  Dieser  Fabiani! 
Diese  Jane!  .  .  .—Geht  doch! 


MARIA  TUDOR.  ZWEITE  HANDLUNG      477 

GILBERT.  Diese  Jane  ist  die  Tochter  und  Erbin  des  Lord 
Talbot. 

KÖNIGIN.  Bah!  Gesichter!  Fixe  Ideen!  Narrheit!  Die 
Beweise,  habt  Ihr  sie: 

GILBERT.  Vollständig.  {Erzieht  ein  Paket  aus  dem  Busen:) 
Lest  diese  Papiere. 

KÖNIGIN.  Habe  ich  Zeit,  Eure  Papiere  zu  lesen:  Habe 
ich  Eure  Papiere  verlangt:  Was  geht  mich  das  an.-  Eure 
Papiere,  bei  meiner  Seele,  ich  werfe  sie  ins  Feuer,  wenn 
sie  etwas  beweisen,  so  daß  nichts  übrig  bleibt. 
GILBERT.  Als  Euer  Eid,  Madame. 
KÖNIGIN.  Mein  Eid!  Mein  Eid! 

GILBERT.  Auf  die  Krone  und  auf  das  Evangelium, 
Madame!  Das  heißt  auf  Euer  Haupt  und  auf  Eure  Seele, 
auf  Euer  Leben  in  dieser  und  auf  Euer  Leben  in  der  an- 
deren Welt. 

KÖNIGIN.  Aber  was  willst  du  denn:  Bei  meinem  Eide, 
du  bist  wahnwitzig! 

GILBERT.  Was  ich  will:  Jane  hat  ihren  Rang  verloren; 
gebt  ihr  ihn  wieder!  Jane  hat  ihre  Ehre  verloren;  gebt  ihr 
sie  wieder!  Erklärt  sie  für  die  Tochter  des  Lord  Talbot 
und  die  Gemahlin  des  Lord  Clanbrassil,— und  dann  nehmt 
mein  Leben! 

KÖNIGIN.  Dein  Leben!  Was  soll  ich  dann  mit  deinem 
Leben  anfangen:  Ich  wollte  es  nur,  um  mich  an  diesem 
Menschen,  an  Fabiano,  zu  rächen!  Du  begreifst  also  nichts: 
Ich  begreife  dich  ebensowenig.  So  also  rächst  du  dich: 
O,  diese  Leute  aus  dem  Volke  sind  dumm!  Und  dann, 
glaube  ich  denn  an  deine  lächerliche  Geschichte  mit  deiner 
Erbin  Talbots:  Die  Papiere:  Du  zeigst  mir  die  Papiere! 
Ich  will  sie  nicht  ansehen.  Ha!  ein  Weib  verrät  dich,  und 
du  spielst  den  Großmütigen!  Wie  du  willst.  Ich  bin  nicht 
großmütig,  ich!  Ich  habe  Wut  und  Haß  im  Herzen.  Ich 
werde  mich  rächen,  und  du  wirst  mir  helfen.  Aber  dieser 
Mensch  ist  ein  Narr!  "Ein  Narr!  Ein  Narr!"  Mein  Gott! 
Warum  habe  ich  ihn  nötig:  Es  ist  zum  Verzweifeln,  wenn 
man  mit  solchen  Leuten  bei  ernsthaften  Dingen  zu  tun  hat! 
GILBERT.  Ich  habe  Euer  Wort  als  katholische  Königin. 
Lord  Clanbrassil  hat  Jane  verführt,  er  soll  sie  heiraten. 


478  ÜBERSETZUNGEN 

KÖNIGIN.  Und  wenn  er  sich  weigert? 
GILBERT.   So  werdet  Ihr  ihn  zwingen. 
JANE.   O  nein!   Habt  Erbarmen,  Gilbert! 
GILBERT.  Nun  denn!  Wenn  er  sich  weigert,  der  Schurke, 
so  mag  Eure  Majestät  mit  mir  imd  ihm  machen,  was  be- 
liebt. 

KÖNIGIN  (freudig).  Ha!  das  ist  alles,  was  ich  will! 
GILBERT.  Wenn  das  geschieht,  so  werde  ich  alles  tun, 
was  die  Königin  mir  aufträgt,  im  Falle  die  Krone  der 
Gräfin  von  Waterford  feierlich  auf  das  heilige  und  unver- 
letzliche Haupt  der  Jane  Talbot  hier  gesetzt  wird. 
KÖNIGIN.  Alles? 
GILBERT.  Alles. 

KÖNIGIN.  Du  wirst  sagen,  was  du  sagen  sollst?  Du  wirst 
des  Todes  sterben,  den  man  will? 
GILBERT.  Des  Todes,  den  man  will. 
JANE.  O  Gott! 
KÖNIGIN.  Du  schwörst  es? 
GILBERT.  Ich  schwöre  es. 

KÖNIGIN.  Die  Sache  kann  so  gehen.  Das  genügt.  Ich 
habe  dein  Wort,  du  hast  das  meinige.  So  sei  es.  {Sie 
scheint  einen  Aiige?iblick  nachzudenken,  zu  Jane:)  Ihr  seid 
hier  überflüssig,  geht.  Man  wird  Euch  wieder  rufen. 
JANE.  O  Gilbert,  was  habt  Ihr  getan?  O  Gilbert!  ich  bin 
eine  Elende,  ich  wage  die  Augen  nicht  vor  Euch  aufzu- 
schlagen! O  Gilbert!  Ihr  seid  mehr  als  ein  Engel;  denn 
Ihr  habt  zugleich  die  Tugenden  eines  Engels  und  die  Lei- 
denschaften eines  Menschen.  {Sie  geht) 


FÜNFTE  SZENE 
Die  Königifi,  Gilbert;  dan?t  Simon  Renard,  Lord  Chandos 

und  die  Wachen. 
KÖNIGIN  {zu  Gilbert).  Hast  du  eine  Waffe  bei  dir?  Ein 
Messer?  Einen  Dolch?  Sonst  etwas? 
GILBERT  {zieht  aus  seinem  Busen  den  Dolch  des  Lord 
Clanbrassil).  Einen  Dolch?  Ja,  Madame. 
KÖNIGIN.    Gut.    Nimm  ihn  in  die  Hand.  {Sie  faßt  ihn 
lebhaft  beim  Arm:)    Herr   von  Amont!    Lord  Chandos! 


MARIA  TUDOR.  ZWEITE  HANDLUNG      479 

[Simon  Renard ^  Lord  Chandos  u?id  die  Wachen  treten  eini) 

Versichert  Euch  dieses  Menschen!  Er  hat  den  Dolch  auf 

mich  gezückt.  Ich  faßte  ihn  beim  Arm  im  AugenbHck,  wo 

er  mich  durchbohren  wollte.   Er  ist  ein  Mörder. 

GILBERT.   Madame! 

KÖNIGIN  {leise  zu  Gilbert).  Vergißt  du  schon  jetzt  unsere 

Bedingungen?  Läßt  du  dich  so  gehen?  [Laut:)  Ihr  alle  seid 

Zeugen,  daß  er  den  Dolch  noch  in  der  Hand  hatte!    Herr 

Vogt,  wie  heißt  der  Henker  des  Londoner  Turmes? 

SIMON  RENARD.    Er  ist  ein  Irländer,  namens  Mac- 

Dermoti. 

KÖNIGIN.  Man  lasse  ihn  kommen,  ich  habe  mit  ihm  zu 

sprechen. 

SIMON  RENARD.  Ihr  selbst? 

KÖNIGIN.  Ich  selbst. 

SIMON  RENARD.    Die  Königin  wird  mit  dem  Henker 

sprechen! 

KÖNIGIN.  Ja,  die  Königin  wird  mit  dem  Henker,  der 

Kopf  wird  mit  der  Hand  sprechen. — Geht  doch!   {Einer 

von  der  Wache  geht  ab.)  Mylord  Chandos  und  ihr,  meine 

Herrn,  steht  mir  für  diesen  Mann.    Nehmt  ihn   in   eure 

Mitte,  da  hinter  euch.    Es  werden  hier  Dinge  vorgehen, 

die  er  sehen  muß. — Herr  Leutnant  von  Amont,  ist  Lord 

Clanbrassil  in  dem  Palast? 

SIMON  RENARD.  Er  ist  da,  in  dem  gemalten  Zimmer, 

und  wartet,  bis  es  der  Königin  beliebt,  ihn  zu  sehen. 

KÖNIGIN.  Er  ahnt  nichts? 

SIMON  RENARD.  Nichts. 

KÖNIGIN  {zu  Lord  Chandos),  Er  mag  hereinkommen. 

SIMON  RENARD.  Der  ganze  Hof  wartet  ebenfalls.  Soll 

niemand  vor  Lord  Clanbrassil  hereinkommen? 

KÖNIGIN.  Wer  von  unsern  Herrn  haßt  Fabiani? 

SIMON  RENARD.   Sie  hassen  ihn  alle. 

KÖNIGIN.  Wer  haßt  ihn  am  meisten? 

SIMON  REN  ARD.  Clinton,  Montagu,  Somerset,  der  Grat 

von  Derby,  Gerard,   Fitz- Gerald,    Lord  Paget  und  der 

Lord-Kanzler. 

KÖNIGIN  {zu  Lord  Chandos).  Führt  sie  alle  herein,  den 

Lord-Kanzler  ausgenommen.    Geht.    {Chandos  geht.    Zu 


48o  ÜBERSETZUNGEN 

Simon  Renardi)  Der  würdige  Bischof  liebt  den  Fabiani  so 
wenig  als  die  andern;  aber  der  Mann  ist  etwas  genau. 
(Sie  bemerkt  die  Papiere^  welche  Gilbert  auf  den  Tisch  ge- 
legt hat:)  Ach!  ich  muß  doch  einen  Blick  in  diese  Papiere 
werfen!  (^Während  sie  dieselben  untersucht^  öffnet  sich  die 
Türe  im  Hintergrund.  Die  von  der  Königin  bezeichneten 
Herrn  treten  unter  tiefen  Verbeugungen  herein?) 


SECHSTE  SZENE 
Die  nämlichen^  Lord  Cli?iton  tmd  die  übrigen  Herrn. 
KÖNIGIN.  Guten  Tag,  meine  Herrn.  Gott  behüte  euch, 
Mylords.  {Zu  Lord  Mo7itagu:)  Anthony  Browe,  ich  ver- 
gesse nie,  daß  Ihr  dem  Johann  von  Montmorency  und 
dem  Herrn  von  Toulouse  bei  meinen  Unterhandlungen 
mit  dem  Kaiser,  meinem  Oheim,  würdig  standgehalten 
habt.— -Lord  Paget,  Ihr  werdet  heute  Eure  Titel  als  Baron 
Paget  von  Beaudesert  in  Stafford  erhalten. — Seht  doch! 
da  ist  ja  unser  alter  Freund  Lord  CHnton!  Wir  sind  immer 
Eure  gute  Freundin,  Mylord.  Ihr  habt  Thomas  Wyatt  in 
der  Ebene  von  St.  James  vernichtet.  Gedenken  wir  alle 
daran.  An  diesem  Tage  wurde  die  Krone  von  England 
durch  eine  Brücke  gerettet,  die  meinen  Truppen  mögHch 
machte,  bis  zu  den  Rebellen  zu  dringen,  und  durch  eine 
Mauer,  welche  die  Rebellen  verhinderte,  bis  zu  mir  zu 
dringen.  Diese  Brücke  war  die  Brücke  von  London.  Die 
Mauer  war  Lord  Clinton. 

LORD  CLINTON  {leise  zu  Simon  Renard).  Es  sind  jetzt 
sechs  Monate,  seit  die  Königin  nicht  mehr  mit  mir  ge- 
sprochen hat.  Wie  gut  sie  heute  ist! 
SIMON  RENARD  {leise  zu  Lord  Clinton).  Geduld,  Mylord. 
Ihr  werdet  sie  gleich  noch  besser  finden. 
KÖNIGIN  {zu  Lord  Chandos).  Mylord  Clanbrassil  kann 
hereinkommen.  {Zti  Simon  Renard:)  Wenn  er  einige  Augen- 
blicke hier  ist  .  .  .  {Sie  spricht  ihm  leise  ins  Ohr  und  deutet 
auf  die  Türc^  durch  welche  Jane  hinausgegangen  ist.) 
SIMON  RENARD.  Genug,  Madame.  {Fabiani  tritt  her- 
ein.) 

* 


MARIA  TUDOR.  ZWEITE  HANDLUNG      481 

SIEBENTE  SZENE 
Die  nämlicheti.  Fabiani. 
KÖNIGIN.   Ah!  da  ist  er!  .  .  .  [Sic  spricht  wieder  leise  7nit 
Sii?i07i  Renard.) 

FABIANI  (beiseite^  indein  er  von  allen  gegrüßt  wird  und 
uni  sich  blickt).  Was  soll  das  heißen:  Niemand  hier  diesen 
Morgen  als  meine  Feinde.  Die  Königin  spricht  leise  mit 
Simon  Renard.  Teufel!  sie  lacht!  böses  Zeichen! 
KÖNIGIN  {mit  Grazie  zu  Fabia?ii).  Gott  behüte  Euch, 
Mylord! 

FABIANI  {ergreift  ihre  Ha?id und  küßt  sie).  Madame  .  .  . 
(beiseite:)  Sie  hat  gelächelt.  Die  Gefahr  droht  nicht  mir. 
KÖNIGIN  (immer  mit  Grazie).  Ich  habe  mit  Euch  zu 
sprechen.  (Sie  geht  7?iit  ihm  auf  den  Vordergrund  der 
Bühfie. ) 

FABIANI.  Und  ich  habe  auch  mit  Euch  zu  sprechen, 
Madame.  Ich  habe  Euch  Vorwürfe  zu  machen.  Mich  auf 
so  lange  Zeit  zu  entfernen,  zu  verbannen!  Ach!  es  wäre 
nicht  so,  wenn  Ihr  in  der  Stunde  der  Trennung  so  an  mich 
dächtet,  wie  ich  an  Euch  denke. 

KÖNIGIN.  Ihr  seid  ungerecht;  seit  Ihr  mich  verlassen 
habt,  beschäftige  ich  mich  nur  mit  Euch. 
FABIANI.  Ist  das  auch  wahr:  Wäre  ich  so  glücklich?  Sagt 
mir  es  noch  einmal. 

KÖNIGIN  (immer  lächelnd).  Ich  schwöre  es  Euch. 
FABIANI.  Ihr  liebt  mich  also,  wie  ich  Euch  liebe? 
KÖNIGIN.  Ja,  Mylord.— Gewiß,  ich  dachte  nur  an  Euch, 
und  das  so,  daß  ich  auf  eine  angenehme  Überraschung  für 
Euch  sann,  wenn  Ihr  wiederkämet. 
FABIANI.  Wie!  Welche  Überraschung? 
KÖNIGIN.  Eine  Zusammenkunft,  die  Euch  Freude  machen 
wird. 

FABIANI.  Zusammenkunft,  mit  wem? 
KÖNIGIN.  Ratet.— Ihr  ratet  es  nicht? 
FABIANI.  Nein,  Madame. 

KÖNIGIN.  Kehrt  Euch  um.   (Indem  er  sich  umkehrt,  er- 
blickt er  Jane  auf  der  Schwelle  der  kleinen  Türe,  die  halb 
offen  ist.) 
FABIANI  (beiseite).  Jane! 

BÜCHNER  3r. 


482  ÜBERSETZUNGEN 

JANE  {beiseite).  Er  ist's! 

KÖNIGIN  (immer  lächelnd).  Mylord,  kennt  Ihr  dies  junge 
Mädchen? 

FABIAN!.  Nein,  Madame! 

KÖNIGIN.  Junges  Mädchen,  kennt  Ihr  Mylord? 
JANE.   Die  Wahrheit  über  das  Leben.  Ja,  Madame. 
KÖNIGIN.  Mylord,  Ihr  kennt  also  dieses  Weib  nicht? 
FABIANI.   Madame!   man  will  mich  verderben.  Ich  bin 
von  Feinden  umgeben.   Dieses  Weib  ist  ohne  Zweifel  mit 
ihnen  im  Bunde.  Ich  kenne  sie  nicht,  Madame!  Ich  weiß 
nicht,  wer  sie  ist,  Madame! 

KÖNIGIN  {ej'hebt  sich  und  schlägt  ihm  mit  ihrem  Hand- 
schuh ins  Gesicht).  Ah!  du  bist  eine  Memme! — Ah!  du 
verrätst  die  eine  und  verleugnest  die  andere!  Ha!  du 
weißt  nicht,  wer  sie  ist.  Soll  ich  dir  es  sagen?  Dieses 
Weib  ist  Jane  Talbot,  Tochter  des  Johann  Talbot,  des 
guten  katholischen  Herrn,  der  auf  dem  Schafott  für  meine 
Mutter  starb.  Dieses  Weib  ist  Jane  Talbot,  meine  Base; 
Jane  Talbot,  Gräfin  von  Shrewsbury,  Gräfin  von  Wexford, 
Gräfin  von  Waterford,  Pairesse  von  England.  Das  ist  dies 
Weib! — Lord  Paget,  Ihr  seid  Siegelbewahrer,  Ihr  werdet 
Euch  nach  meinem  Worte  richten.  Die  Königin  von  Eng- 
land erkennt  feierlich  das  junge  Mädchen  hier  als  Jane, 
Tochter  und  einzige  Erbin  des  letzten  Grafen  von  Water- 
ford an.  (Auf  die  Papiere  zeigend:)  Da  sind  die  Papiere 
und  Beweise,  Ihr  werdet  sie  mit  dem  großen  Siegel  ver- 
siegeln. Das  ist  unser  Wille.  (Zu  Fabiani:)  Ja,  Gräfin  von 
Waterford!  und  das  ist  erwiesen!  und  du  wirst  die  Güter 
herausgeben,  Schurke!— Ha!  du  kennst  dies  Weib  nicht! 
Ha!  du  weißt  nicht,  wer  dies  Weib  ist.  Nun,  ich  will  dir 
es  sagen,  ich!  Sie  ist  Jane  Talbot!  und  soll  ich  dir  noch 
mehr  sagen?  (Sie  sieht  ih?i  an,  leise,  zwischen  den  Zähnen:) 
Schurke!  sie  ist  deine  Geliebte! 
FABIANI.  Madame  .  .  . 

KÖNIGIN.  Das  ist  sie,  jetzt  will  ich  dir  sagen,  was  du 
bist. — Du  bist  ein  Mensch  ohne  Seele,  ein  Mensch  ohne 
Herz,  ein  Mensch  ohne  Geist!  Du  bist  ein  Schurke  und 
eine  Memme!  Du  bist  .  .  .  Bei  Gott,  meine  Herrn,  Ihr 
habt  nicht  nötig,  Euch  zu  entfernen.  Es  ist  mir  sehr  gleich- 


MARIA  TUDOR.  ZWEITE  HANDLUNG      483 

gültig,  ob  Ihr  hört,  was  ich  diesem  Menschen  zu  sagen 
habe!  Ich  dämpfe  meine  Stimme  nicht,  wie  mir  deucht. 
— Fabiano!  du  bist  ein  Schurke,  ein  Verräter  an  mir,  eine 
Memme  gegen  sie,  ein  heuchlerischer  Knecht,  der  er- 
bärmlichste und  letzte  unter  den  Menschen!  Und  doch 
ist  es  wahr,  daß  ich  dich  zum  Grafen  von  Clanbrassil,  zum 
Baron  von  Dynasmonddy  und  dann  noch:  zum  Baron  von 
Darmouth  in  Devonshire  gemacht  habe.  Nun,  ich  war 
nicht  bei  Sinnen!  Ich  bitte  euch  um  Verzeihung,  Mylords, 
daß  ich  euch  den  Ellenbogenstößen  dieses  Menschen  aus- 
setzte. Du  Ritter!  du  Edelmann!  du  Herr!  messe  dich  doch 
mit  denen,  die  da  stehen.  Elender!  Sieh  doch  um  dich. 
Das  sind  Edelleute,  da  ist  Bridges,  Baron  Chandos.  Da 
Seymour,  Herzog  von  Somerset.  Da  die  Stanleys,  die 
Grafen  von  Derby  sind  seit  dem  Jahre  1485!  Hier  die 
Clinton,  die  Barone  von  Clinton  sind  seit  dem  Jahre  1298! 
Bildest  du  dir  ein,  du  gleichest  diesen  Leuten,  du!  Du 
sagst,  du  seist  mit  dem  spanischen  Hause  von  Penalver 
verwandt;  aber  es  ist  nicht  wahr,  du  bist  ein  elender 
Italiener,  nichts!  weniger  als  nichts!  Sohn  eines  Schusters 
vomDorfeLarino! — ^Ja,  meine  Herrn,  Sohn  eines  Schusters! 
Ich  wußte  es,  und  ich  sagte  es  nicht,  und  verbarg  es;  ich 
tat,  als  glaubte  ich  diesem  Menschen,  wenn  er  von  seinem 
Adel  sprach.  Denn  so  sind  wir  einmal,  wir  Weiber.  O 
mein  Goti!  ich  wollte,  es  wären  Weiber  hier,  es  wäre  eine 
Lehre  für  alle,  dieser  Schurke!  dieser  Schurke!  er  betrügt 
ein  Weib  und  verleugnet  das  andere!  der  Elende!  Gewiß, 
du  bist  sehr  erbärmlich!  Wie!  seit  ich  spreche,  liegt  er 
noch  nicht  auf  den  Knien!  Auf  die  Knie,  Fabiani!  Mylords, 
bringt  diesen  Menschen  mit  Gewalt  auf  die  Knie! 
FABIANI.   Eure  Majestät!  .  .  . 

KÖNIGIN.  Dieser  Elende,  den  ich  mit  Wohltaten  über- 
häuft, dieser  neapolitanische  Lagnai,  den  ich  zum  goldnen 
Ritter  und  freien  Grafen  von  England  gemacht  habe!  Ha, 
ich  hätte  mich  darauf  gefaßt  machen  sollen!  Man  hatte 
mir  wohl  gesagt,  daß  es  so  ausgehen  würde.  Aber  ich  bin 
immer  so,  ich  bin  eigensinnig,  und  sehe  dann, daß  ich  unrecht 
hatte.  Es  ist  meine  Schuld.  Italiener,  das  heißt  Schurke! 
Neapolitaner,  das  heißt  Menmie.  Jedesmal  hat  es  meinen 


484  ÜBERSETZUNGEN 

Vater  gereut,  wenn  er  sich  eines  Italieners  bediente.  Dieser 
Fabiani!  Du  siehst,  Lady  Jane,  welchem  Menschen  du 
dich  überlassen  hast,  unglückliches  Kind! — Ich  werde  dich 
rächen! — Oh!  ich  hätte  es  zum  voraus  wissen  sollen,  man 
kann  in  der  Tasche  eines  Italieners  nichts  finden  als  einen 
Dolch,  und  in  der  Seele  eines  Italieners  nichts  als  Verrat. 
FABIANI.  Madame,  ich  schwöre  Euch  .  .  . 
KÖNIGIN.  Er  wird  gleich  einen  Meineid  schwören!  Er 
wird  niederträchtig  bis  ans  Ende  sein;  er  wird  uns  ganz 
erröten  machen  vor  diesen  Männern,  uns  schwache  Weiber, 
die  wir  ihn  geliebt  haben!  Er  wird  nicht  einmal  das  Haupt 
erheben! 

FABIANI.  Doch,  Madame,  ich  werde  es  erheben.  Ich  bin 
verloren,  ich  sehe  es  wohl.  Mein  Tod  ist  beschlossen. 
Ihr  werdet  alle  Mittel  anwenden,  den  Dolch,  das  Gift  .... 
KÖNIGIN  [faßt  ihn  hei  dm  Händeji  und  zieht  ihn  lebhaft 
auf  den  Vordergrund  der  Bühne\  Das  Gift,  den  Dolch! 
Was  sagst  du  da,  Italiener?  Die  verräterische  Rache,  die 
schmähliche  Rache,  die  Rache  von  hinten,  die  Rache, 
wie  in  deinem  Lande!  Nein,  Signor  Fabiano,  weder  Dolch 
noch  Gift.  Habe  ich  nötg,  mich  zu  verbergen,  mich  in 
die  Gassenecken  des  Nachts  zu  drücken  und  mich  klein 
zu  machen,  wenn  ich  mich  räche?  Nein,  wahrhaftig,  ich 
will  den  hellen  Tag,  verstehst  du,  Mylord?  den  hellen 
Tag,  die  Sonne,  den  freien  Platz,  das  Beil,  den  Block, 
das  Volk  in  den  Gassen,  das  Volk  an  den  Fenstern,  das 
Volk  auf  den  Dächern,  hunderttausend  Zeugen!  Ich  will, 
daß  man  Furcht  habe,  hörst  du,  Mylord?  daß  man  das 
prächtig,  furchtbar  und  großartig  finde  und  daß  man  sage: 
ein  Weib  ist  beleidigt  worden,  aber  eine  Königin  rächt 
sich!  Dieser  so  beneidete  Günstling,  dieser  schöne,  stolze 
junge  Mann,  den  ich  mit  Seide  und  Sammet  bedeckte,  ich 
will  ihn  gebrochen,  wirr  und  zitternd  auf  den  Knien,  auf 
einem  schwarzen  Tuche  sehen,  die  Füße  nackt,  die  Hände 
gebunden,  unter  dem  Hohn  des  Volkes,  unter  den  Fäusten 
des  Henkers.  Um  diesen  weißen  Hals,  um  den  ich  eine 
goldne  Kette  hing,  will  ich  einen  Strick  legen.  Ich  sah, 
wie  dieser  Fabiano  sich  auf  einem  Thron  ausnahm;  ich 
will  sehen,  wie  er  sich  auf  dem  Schafott  ausnimmt! 


MARIA  TUD(3R.  ZWEITE  HANDLUNG      485 

1- ABIANI.  Madame 

KÖNIGIN.  Kein  Wort  mehr!  Ha,  kein  Wort  mehr!  Du 
bist  wahrhaftig  verloren,  siehst  du,  du  wirst  das  Schafott 
besteigen,  wie  Suffolk  und  Xorthumberland.  Das  ist  ein 
Fest,  so  gut  wie  ein  anderes,  welches  ich  meiner  guten 
Stadt  London  gebe.  Du  weißt,  wie  sie  dich  haßt,  meine 
gute  Stadt.  Bei  Gott!  es  ist  eine  schöne  Sache,  wenn  man 
sich  rächen  muß,  Marie,  Dame  und  Königin  von  England, 
Tochter  Heinrich  des  Achten  und  Herrin  von  vier  Meeren 
zu  sein.  Und  wann  du  auf  dem  Schafott  stehst,  Fabiani, 
kannst  du  nach  deinem  Belieben  eine  lange  Rede  an  das 
Volk  halten,  wie  Northumberland,  oder  ein  langes  Gebet 
zu  Gott  schicken,  wie  Sufiblk,  um  die  Gnade  nicht  zu  spät 
kommen  zu  lassen.  Der  Himmel  ist  mein  Zeuge,  daß 
du  ein  Verräter  bist  und  daß  die  Gnade  nicht  kommen 
wird.  Dieser  elende  Schurke,  der  mir  von  Liebe  sprach 
und  diesen  Morgen  Du!  zu  mir  sagte!  Mein  Gott,  meine 
Herren!  Ihr  scheint  zu  staunen,  daß  ich  so  vor  Euch 
spreche;  aber  ich  wiederhole  es,  was  liegt  mir  daran.-  (Zu 
Lord  Somerseti)  Mylord  Herzog,  Ihr  seid  der  Befehlshaber 
des  Turms,  nehmt  diesem  Menschen  seinen  Degen  ab. 
FABIANI.  Hier  ist  er;  aber  ich  protestiere.  Gesetzt  auch, 
es  sei  bewiesen,  daß  ich  ein  Weib  hintergangen  oder  ver- 
führt habe  .  .  . 

DIE  KÖNIGIN.  O,  was  liegt  mir  daran,  ob  du  ein  Weib 
verführt  hast! — Kümmere  ich  mich  denn  darum?  Diese 
Herren  sind  Zeugen,  daß  mir  dies  sehr  gleichgültig  ist. 
FABIANI.  Ein  Weib  verführen  ist  keine  Todsünde.  Eure 
Majestät  hat  Trogmorton  auf  eine  solche  Anklage  hin  nicht 
können  verurteilen  lassen. 

DIE  KÖNIGIN.  Er  trotzt  uns  noch,  glaube  ich,  der  Wurm 
wird  zur  Schlange.  Und  wer  sagt  dir  denn,  daß  man  dich 
deswegen  anklagt: 

FABIANI.  Wegen  was  klagt  man  mich  denn  an?  Ich  bin 
kein  Engländer,  ich  bin  kein  Untertan  Eurer  Majestät. 
Ich  bin  Untertan  des  Königs  von  Neapel  und  Vasall  des 
Heihgen  Vaters.  Ich  werde  seinen  Legaten,  den  Kardinal 
Polus,  auffordern,  mich  zurück  zu  verlangen.  Ich  bin  ein 
Fremder.   Ich  kann  einer  Untersuchung  nur  dann  unter- 


486  ÜBERSETZUNGEN 

worfen  werden,  wenn  ich  ein  Verbrechen  begangen  habe, 
ein  wahres  Verbrechen. — Worin  besteht  mein  Verbrechen? 
DIE  KÖNIGIN.  Du  fragst,  worin  dein  Verbrechen  besteht? 
FABIANI.  Ja,  Madame. 

DIE  KÖNIGIN.  Mylords,  Ihr  hört  alle  die  Frage,  die  an 
mich  gerichtet  wird;  Ihr  sollt  die  Antwort  hören.  Gebt 
acht  und  hütet  Euch  alle,  so  viel  Ihr  seid;  denn  Ihr  sollt 
sehen,  daß  ich  nur  mit  dem  Fuße  zu  stampfen  brauche,  um 
aus  dem  Boden  ein  Schafott  steigen  zu  lassen. — Chandos! 
Chandos!  öfifnet  diese  Flügeltüre.  Der  ganze  Hof!  Alle! 
Laßt  alle  herein! 

{Die  Türe  im  Hintergrund  wird  geöffnet^  der  ganze  Hof 
tritt  herein^ 


ACHTE  SZENE 

Die  nämlichen.  Der  Lord- Kanzler.  Der  ganze  Hof. 
DIE  KÖNIGIN.  Herein,  herein,  Mylords!  Ich  bin  wahr- 
haftig erfreut,  euch  alle  heute  bei  mir  zu  sehen. — Gut,  gut! 
die  Männer  der  Gerechtigkeit,  hierher!  näher!— Wo  sind 
dieGerichtsdienerderLordkammer,HarriotundClanerillo? 
Ah,  hier!  MeineHerrn,  seid  willkommen!  Zieht  eure  Degen, 
stellt  euch  zur  Rechten  und  Linken  dieses  Menschen,  er 
ist  euer  Gefangener. 

FABIANI.  Madame,  worin  besteht  mein  Verbrechen? 
DIE  KÖNIGIN.  Mylord  Gardiner,  mein  gelehrter  Freund, 
Ihr  seid  Kanzler  von  England,  wir  lassen  Euch  wissen, 
daß  Ihr  schnell  die  zwölf  Lords  der  Sternkammer  zu  ver- 
sammeln habt.  Wir  bedauern,  sie  nicht  hier  zu  sehen. 
Es  geschehen  seltsame  Dinge  in  diesem  Palast.  Hört, 
Mylords,  Madame  Elisabeth  hat  unsrer  Krone  schon  mehr 
als  einen  Feind  erregt.  Wir  hatten  das  Komplott  des 
Pietro  Caro,  der  die  Bewegung  von  Exeter  veranlaßte 
und  heimlich  mit  Madame  Ehsabeth  mittelst  einer  auf 
eine  Gitarre  eingegrabenen  Chiffre  korrespondierte.  Wir 
hatten  den  Verrat  des  Thomas  Wyatt,  der  die  Grafschaft 
Kent  in  Aufruhr  brachte.  Wir  hatten  den  Aufstand  des 
Herzogs  von  Sufifolk,  der  nach  der  Niederlage  der  Sei- 
nigen in  einem  hohlen  Baume  ergriffen  wurde.  Wir  haben 


[  MARIA  TUDOR.  ZWEITE  HANDLUNG      487 

'heute  einen  neuen  Versuch.  Heute,  diesen  Morgen,  ver- 
langte ein  Mann  Gehör  bei  mir.  Nach  einigen  Worten 
zückte  er  den  Dolch  auf  mich.  Ich  fiel  ihm  zur  rechten  Zeit 
in  den  Arm.  Lord  Chandos  und  der  Herr  Vogt  von  Amont 
haben  den  Mann  ergriffen.  Er  hat  erklärt,  er  sei  durch 
Lord  Clanbrassil  zu  diesem  Verbrechen  getrieben  worden. 
FABIANI,  Durch  mich.-  Das  ist  nicht  wahr!  O,  doch  das 
ist  eine  schändliche  Geschichte!  Dieser  Mann  ist  nicht 
vorhanden.  Man  wird  diesen  Mann  nicht  finden.  Wer  ist 
er:  Wo  ist  er? 
DIE  KÖNIGIN.  Er  ist  hier. 

GILBERT  (tritt  mitten  aus  den  Soldatefi  hervor^  hinter  wel- 
che7i  er  verborgen  stand).  Ich  bin  es! 
DIE  KÖNIGIN.  Infolge  der  Erklärungen  dieses  Menschen 
klagen  wir,  Marie,  Königin,  vor  der  Sternkammer  diesen 
Menschen,  Fabiano  Fabiani,  Grafen  von  Clanbrassil,  des 
Hochverrats  und  eines  königsmörderischen  Versuches  auf 
unsere  königliche  und  geheiligte  Person  an. 
FABIANI.  Königsmörder  ich!  Das  ist  ungeheuer!  O,  mir 
schwindelt!  meine  Augen  flimmern!   Was  ist  das  für  eine 
Falle:  Wer  du  auch  seist,  Elender,  wagst  du  zu  behaupten, 
daß  das,  was  die  Königin  gesagt  hat,  wahr  sei,^ 
GILBERT.  Ja. 

FABIANI.  Ich  habe  dich  zum  Königsmord  getrieben,  ich? 
GILBERT.  Ja. 

FABIANI.  Ja!  immer  ja!  Verdammnis!  Ihr  könnt  nicht 
wissen,  meine  Herren,  wie  falsch  das  ist.  Dieser  Mensch 
kommt  aus  der  Hölle.  Unglücklicher!  du  willst  mich  ver- 
nichten, aber  du  weißt  nicht,  daß  du  dich  zugleich  ver- 
nichtest. Das  Verbrechen,  was  du  auf  mich  häufst,  fällt 
auch  auf  dich.  Du  tötest  mich,  aber  du  stirbst.  Mit  einem 
Wort,  Unsinniger,  machst  du  zwei  Köpfe  fallen,  meinen 
und  deinen.  Weißt  du  das? 
GILBERT.  Ich  weiß  es. 

FABIANI.  Mylords,  dieser  Mensch  ist  bezahlt. 
GILBERT.   Durch  Euch!    Hier  ist  die  mit  Gold  gefüllte 
Börse,   die  Ihr  mir  für  das  Verbrechen  gegeben.    Euer 
Wappen  ist  darauf  gestickt. 
FABIANI.  Gerechter  Himmel!— Aber  man  zeigt  den  Dolch 


488  ÜBERSETZUNGEN 

nicht  vor,  womit  dieser  Mensch,  wie  man  sagt,  die  Kö- 
nigin töten  wollte.  Wo  ist  der  Dolch: 
LORD  CHANDOS.  Hier. 

GILBERT  {zu  Fahiani).  Es  ist  der  Eurige. — Ihr  habt  mir 
ihn  dazu  gegeben.  Man  wird  die  Scheide  bei  Euch  finden. 
LORD-KANZLER.   Graf  von  Clanbrassil,  was  habt  Ihr 
zu  antworten:  Erkennt  Ihr  diesen  Menschen? 
FABIANI.  Nein. 

GILBERT.  In  der  Tat,  er  hat  mich  nur  des  Nachts  ge- 
sehen.—Laßt  mich  ihm  ein  paar  Worte  ins  Ohr  sagen,  das 
wird  seinem  Gedächtnis  nachhelfen.  (Ernahet  sich  Fahiani. 
Leise:)  Du  erkennst  also  heute  niemand,  Mylordr  den  ent- 
ehrten Mann  so  wenig  als  das  verführte  Weib.  Hai  die 
Königin  rächt  sich,  aber  der  Mann  aus  dem  Volke  rächt 
sich  auch.  Du  lachtest  mich  aus,  glaube  ich.  Die  Rache 
packt  dich  jetzt  doppelt.  Mylord,  was  sagst  du  dazu:— 
Ich  bin  Gilbert,  der  Arbeiter. 

FABIANI.    Ja,  ich  erkenne  Euch. — Ich  erkenne  diesen 
Menschen,  Mylords.    Seit  dem  Augenblick,  wo  ich  mit 
ihm  zu  tun  habe,  weiß  ich  nichts  mehr  zu  sagen. 
DIE  KÖNIGIN.  Er  bekennt. 

LORD-KANZLER  (zu  Gilbert).  Nach  dem  normannischen 
Gesetze  und  dem  25.  Artikel  Heinrich  des  Achten  rettet 
in  Fällen  des  Majestätsverbrechens  ersten  Grades  das 
Geständnis  den  Mitschuldigen  nicht.  Vergeßt  nicht,  daß 
in  einem  solchen  Falle  die  Königin  das  Begnadigungs- 
recht nicht  hat,  und  daß  Ihr  auf  dem  Schafott  sterben 
werdet,  wie  der,  den  Ihr  anklagt.  Besinnt  Euch.  Beharrt 
Ihr  auf  allem,  was  Ihr  gesagt  habt? 
GILBERT.  Ich  weiß,  daß  ich  sterben  werde,  und  beharre 
dabei. 

JANE  [beiseite).  O  Gott!  das  ist  entsetzlich  geträumt, 
wenn  es  ein  Traum  ist. 

LORD-KANZLER  (zu  Gilbert).  Wollt  Ihr  Eure  Erklä- 
rungen, die  Hand  auf  dem  Evangelium,  wiederholen:  (Er 
hält  Gilbert  das  Evangelieiibuch  hin,  luelcher  die  Ha7id 
darauf  legt?) 

GILBERT.  Ich  schwöre,  die  Hand  auf  dem  Evangelium 
und  meinen  nahen  Tod  vor  Augen,  daß  dieser  Mensch 


MARIA  TÜDOR.  ZWEITE  HANDLUNG      489 

ein  Mörder  ist;  daß  dieser  Dolch,  welcher  ihm  gehört,  zu 
dem  Verbrechen  gedient  hat;  daß  diese  Börse,  welche  sein 
ist,  mir  von  ihm  für  das  Verbrechen  gegeben  wurde.  So 
soll  mir  Gott  helfen!  das  ist  die  Wahrheit. 
LORD-KANZLER  (zi^  Fa/'iam).  Mylord,  was  habt  Ihr  zu 
sagen: 

FABIANI.   Nichts. — Ich  bin  verloren! 
SIMON  RENARD  (/eise  zur  Königin).  Eure  Majestät  hat 
nach  dem  Henker  geschickt;  er  ist  da. 
DIE  KÖNIGIN.   Gut.   Laßt  ihn  herein. 
{Die  Reihen  der  Edelleute  öffnen  sich^  und  der  Henker  tritt 
ein.  Er  ist  in  Schwarz  und  Rot  gekleidet  und  trägt  auf  der 
Schulter  ein  langes  Schwert  in  seiner  Scheide^ 


NEUNTE  SZENE 
Die  nämlichen.  Der  Henker. 
DIE  KÖNIGIN.  Mylord,  Herzog  von  Somerset,  diese 
beiden  Männer  in  den  Turml — Mylord  Gardiner,  unser 
Kanzler,  ihr  Prozeß  mag  morgen  vor  den  zwölf  Pairs  der 
Sternkammer  beginnen,  und  möge  Gott  das  alte  England 
schützen!  Wir  wollen,  daß  diese  beiden  Menschen  ver- 
urteilt sind,  ehe  wir  nach  Oxford  abreisen  und  nach  Wind- 
sor,  wo  wir  Ostern  halten  werden.  (Zum  Henkeri)  Tritt 
näher!  Ich  bin  erfreut,  dich  zu  sehen.  Du  bist  ein  guter 
Diener.  Du  bist  alt.  Du  hast  schon  drei  Herren  gesehen. 
Es  ist  Herkommen,  daß  die  Herren  dieses  Reiches  bei 
ihrer  Thronbesteigung  dir  ein  Geschenk  machen,  so  kost- 
bar als  möglich.  Mein  Vater,  Heinrich  der  Achte,  gab 
dir  die  Diamantenspange  seines  Mantels.  Mein  Bruder 
Eduard  gab  dir  einen  Humpen  von  getriebenem  Golde. 
Jetzt  ist  die  Reihe  an  mir.  Ich  habe  dir  noch  nichts  ge- 
geben, ich  muß  dir  ein  Geschenk  machen.  Komm  näher. 
(Indem  sie  auf  Fabiani  zeigt:)  Du  siehst  doch  diesen  Kopf? 
diesen  jungen  und  reizenden  Kopf?  diesen  Kopf,  welcher 
diesen  Morgen  noch  das  Schönste,  Teuerste  und  Köst- 
lichste war,  was  ich  auf  der  Welt  hatte.  Nun?  diesen  Kopf 
—du  siehst  ihn  doch?  sprich!  Ich  schenke  ihn  dir! 


490  ÜBERSETZUNGEN 

DRITTE  HANDLUNG 
WER  VON  BEIDEN 

Personen 
DIE  KÖNIGIN  JOSHUA  FARNABY 

GILBERT  MEISTER  Ä.  DULVERTON 

JANE  LORD  CLINTON 

SIMON  RENARD  EIN  KERKERMEISTER 

ERSTE  ABTEILUNG 
Ein  Saal  im  Tower.  Ein  Spitzbogengewölbe^  das  von  dicken 
Pfeilern  getragen  wird.  Zur  Rechten  und  Linken  die  nie- 
drigen Türen  von  zwei  Kerkern.  Auf  der  rechten  Seite  eine 
Luke^  die  auf  die  Themse^  zur  Linken  eine  andere^  die  auf 
die  Straße  geht.  Auf  jeder  Seite  eine  verborgene  Türe  in 
der  Mauer.  L7n  Hintergrunde  eine  Galerie  mit  einem  Erker ^ 
der  mit  Glasscheiben  geschlossen  ist  mid  auf  die  äußern  Höfe 
des  Towers  geht. 


ERSTE  SZENE 

Gilbert.  Joshua. 
GILBERT.  Nun: 
JOSHUA.  Ach! 
GILBERT.  Keine  Hoffnung? 
JOSHUA.  Keine  Hoffnung! 
GILBERT  {geht  an  das  Fenster). 

JOSHUA.  O,  du  kannst  von  dem  Fenster  aus  nichts  sehen. 
GILBERT.  Du  hast  dich  erkundigt,  nicht  wahr? 
JOSHUA.  Ich  weiß  es  nur  zu  sicher! 
GILBERT.  Es  ist  für  Fabiani! 
JOSHUA.  Es  ist  für  Fabiani. 

GILBERT.   Wie  glückHch  der  Mensch  ist!    Fluch  über 
mich! 

JOSHUA.    Armer  Gilbert!   deine  Reihe  wird  kommen. 
Heute  er,  morgen  du. 

GILBERT.  Was  willst  du  sagen?  Wir  verstehen  uns  nicht. 
Wovon  sprichst  du? 

JOSHUA.  Von  dem  Schafott,  das  man  eben  aufschlägt. 
GILBERT.  Und  ich,  ich  spreche  von  Jane! 


MARIA  TUDOR.  DRITTE  HANDLUNG      491 

JOSHUA.  Von  Jane! 

GILBERT.  Ja,  von  Jane!  Nur  von  Jane!  Was  liegt  mir 
am  übrigen:  Du  hast  also  alles  vergessen?  Du  weißt  also 
nicht  mehr,  daß  ich,  seit  einem  Monat  an  die  Gitter  meines 
Kerkers  geklammert,  sie  bleich  und  in  Trauer  ohne  Unter- 
laß um  den  Fuß  dieses  Turmes  wanken  sehe,  der  zwei 
Menschen  einschließt,  Fabiani  und  mich?  Du  weißt  also 
nichts  von  meiner  Qual,  meinen  Zweifeln,  meiner  Unge- 
wißheit? Für  wen  von  beiden  kommt  sie?  Ich  frage  mich 
das  Tag  und  Nacht,  armer  Elender!  Ich  frug  dich  selbst, 
Joshua,  und  du  versprachst  mir  gestern  abend,  du  wolltest 
versuchen,  sie  zu  sehen  und  mit  ihr  zu  sprechen.  O,  sprich! 
weißt  du  etwas?  Kommt  sie  für  mich  oder  für  Fabiani? 
JOSHUA.  Ich  erfuhr,  daß  Fabiani  bestimmt  heute  ent- 
hauptet werden  sollte,  und  du  morgen;  und  ich  gestehe, 
daß  ich  seit  dem  Augenblicke  wie  verrückt  bin,  Gilbert. 
Das  Schafott  hat  mich  Jane  vergessen  machen  ....  dein 

Tod 

GILBERT.  Mein  Tod!  Was  meinst  du  mit  dem  Wort? 
Mein  Tod!  Jane  liebt  mich  nicht  mehr,  das  ist  er.  Ich 
war  tot  seit  dem  Tag,  wo  ich  nicht  mehr  geliebt  wurde. 
Oh!  wahrlich  tot,  Joshua.  Das,  was  von  mir  noch  lebt, 
verlohnt  sich  nicht  der  Mühe,  die  man  sich  morgen  mit 
mir  macht.  O  sieh!  du  machst  dir  keinen  Begriff  von 
dem,  was  ein  Mann  ist,  welcher  liebt!  Wenn  man  mir 
vor  zwei  Monaten  gesagt  hätte:  Jane,  deine  fleckenlose, 
deine  reine  Jane,  dein  Stolz,  deine  Lilie,  dein  Kleinod, 
Jane  wird  sich  einem  andern  überlassen:  wollt  Ihr  sie 
dann  noch? — Ich  hätte  gesagt:  Nein!  ich  möchte  sie  dann 
nicht  mehr.  Lieber  tausendmal  den  Tod  für  mich  und  sie! 
Und  ich  hätte  den  mit  Füßen  getreten,  der  so  zu  mir  ge- 
sprochen hätte.  Nun  denn,  ja,  ich  will  sie! — Du  siehst 
wohl,  heute  ist  Jane  nicht  mehr  die  makellose  Jane,  die 
ich  anbetete,  die  Jane,  über  deren  Stirne  ich  kaum  mit 
meinen  Lippen  zu  hauchen  wagte,  Jane  hat  sich  einem 
andern  überlassen,  einem  Elenden,  ich  weiß  es,  und  doch 
—was  liegt  daran?  ich  liebe  sie.  Ich  würde  den  Saum 
ihres  Kleides  küssen  und  sie  um  Vergebung  bitten,  wenn 
sie  es  wollte.    Und  wenn  sie  mit  dem  andern  in  den 


492  ÜBERSETZUNGEN 

Gossen  der  Straße  läge,  ich  würde  sie  aufrafifen  und  an 
mein  Herz  drücken,  Joshua!— Joshua,  ich  würde  nicht 
hundert  Jahre  meines  Lebens,  denn  ich  habe  nur  noch 
einen  Tag,  aber  ich  würde  die  Ewigkeit  geben,  die  ich 
morgen  haben  werde,  um  sie  noch  einmal  lächeln  zu 
sehen,  ein  einziges  Mal  vor  meinem  Tod,  und  sie  das 
angebetete  Wort  sagen  zu  hören,  das  sie  sonst  zu  mir 
sagte:  Ich  liebe  dichl^oshua!  Joshua!  so  ist  das  Herz 
eines  Mannes,  der  liebt.  Ihr  glaubt,  Ihr  würdet  das  Weib 
töten,  das  Euch  betrügt?  Nein,  Ihr  würdet  sie  nicht  töten, 
Ihr  werdet  Euch  zu  Ihren  Füßen  setzen  nach  wie  vor, 
nur  werdet  Ihr  traurig  sein. — Du  findest  mich  schwach! 
Was  hätte  es  mir  geholfen,  wenn  ich  Jane  getötet  hätte? 
Oh!  ich  habe  das  Herz  voll  unerträglicher  Gedanken.  O, 
wenn  sie  mich  noch  liebte!  was  liegt  mir  an  all  dem,  was 
sie  mii  getan  hat.  Aber  sie  liebt  Fabiani!  Aber  sie  liebt 
Fabiani!  Für  Fabiani  kommt  sie!  Nur  das  ist  gewiß,  daß 
ich  sterben  möchte.  Habe  Mitleid  mit  mir,  Joshua! 
JOSHUA.  Fabiani  wird  heute  hingerichtet. 
GILBERT.  Und  ich  morgen. 
JOSHUA.  Gott  ist  am  Ende  aller  Dinge. 
GILBERT.  Heute  werde  ich  an  ihm,  morgen  wird  er  an 
mir  gerächt. 

JOSHUA.  Mein  Bruder,  da  kommt  Äneas  Dulverton,  der 
zweite  Konstabier  des  Turmes.  Du  mußt  wieder  hinein. 
Mein  Bruder,  ich  werde  dich  diesen  Abend  wiedersehen. 
GILBERT.  Oh!  sterben,  ohne  geliebt,  sterben,  ohne  be- 
weint zu  werden!  Jane!  .  .  .  Jane!  .  .  .  Jane!  .  .  .  (Er  geht 
in  den  Kerker  zuriick.) 

JOSHUA.  Armer  Gilbert!    Mein  Gott!  wer  hätte  mir  je 
gesagt,  daß  geschehen  würde,  was  geschieht? 
{Er  geht  ab,  Simon  Renard  und  Meister  Äneas  treten  auf) 


ZWEITE  SZENE 

Simon  Renard.  Meister  Aneas  Dulverton. 
SIMON  RENARD.    Das  ist  sehr  seltsam,  wie  Ihr  sagt; 
aber  was  wollt  Ihr?  Die  Königin  ist  toll,  sie  weiß  nicht, 
was  sie  will.   Man  kann  auf  nichts  rechnen,  sie  ist  ein 


MARIA  TUDOR.  DRITTE  HANDLUNG      493 

Weib.  Ich  möchte  ein  wenig  wissen,  was  sie  hier  tut.  Seht, 
das  Herz  eines  Weibes  ist  ein  Rätsel,  dessen  Auflösung 
Franz  der  Erste  auf  die  Scheiben  von  Chambord  schrieb: 
Ein  Weib  sich  ändert  jeden  Tag, 
Ein  Narr  ist,  wer  ihm  trauen  mag. 
Hört,  Meister  Äneas,  wir  sind  alte  Freunde.  Es  muß  heute 
damit  ein  Ende  werden.  Alles  hängt  hier  von  Euch  ab. 
)Venn  man  Euch  aufträgt .  .  .  {er  spricht  leise  mit  Meister 
.  lucasi)  zieht  die  Sache  in  die  Länge,  laßt  sie  auf  eine  ge- 
schickte Weise  mißglücken.  Wenn  ich  nur  zwei  Stunden  vor 
mir  habe,  so  geschieht  diesen  Abend,  was  ich  will,  und  mor- 
gen kein  Günstling  mehr,  ich  bin  allmächtig,  und  übermor- 
gen seid  Ihr  Baronet  und  Leutnant  des  Towers.  Begriffen.- 
MEISTER  ÄNEAS.  Begriffen. 

SIMON  RENARD.  Gut.  Ich  höre  kommen.  Man  darf  uns 
nicht  mehr  beisammen  sehen.  Geht  da  hinaus.  Ich  gehe 
der  Königin  entgegen.   {Sie  trennen  sich}) 


DRITTE  SZENE 

Ein  Schließer  tritt  vorsichtig  ein^  dann  fuhrt  er  Lady  Jane 

herein. 
SCHLIESSER.    Ihr  seid  da,  wohin  Ihr  wolltet,  Mylady. 
Hier  sind  die  Türen  der  beiden  Kerker.  Jetzt  meine  Be- 
lohnung, wenn  es  Euch  beliebt. 

[Jane  macht  ihr  diamantnes  Armhand  los  und  gibt  es  ihm^ 
JANE.  Hier  ist  sie. 

SCHLIESSER.  Danke.  Macht  mich  nicht  verdächtig.  {Er 
geht.) 

JANE  (allein).  Mein  Gott!  was  tun:  Ich  war  sein  Ver- 
derben, ich  muß  ihn  retten.  O,  nie!  ich  kann  nicht.  Ein 
Weib,  das  vermag  nichts.  Das  Schafott!  das  ist  entsetz- 
lich! Weg!  keine  Tränen  mehr.  Taten! — Aber  ich  kann 
nicht!  ich  kann  nicht!  O  mein  Gott,  erbarme  dich  meiner! 
Man  kommt.  Wer  spricht  dar  Ich  kenne  diese  Stimme. 
Die  Stimme  der  Königin.  Ach,  alles  ist  verloren! 
(Sie  verbirgt  sich  hinter  einem  Pfeiler. — Die  Königin  und 
Si7no7i  Renard  treten  ein.) 
* 


494  ÜBERSETZUNGEN 

VIERTE  SZENE 
Die  Königin.  Simon  Renard.  Jane  (versteckt). 
KÖNIGIN.    Ah!  diese  Veränderung  wundert  Euch?   Ah! 
ich  gleiche  mir  nicht  mehr.    Nun,  was  geht  das  Euch 
an:  Das  ist  einmal  so.  Jetzt  will  ich  seinen  Tod  nicht 
mehr. 

SIMON  RENARD.  Eure  Majestät  hatte  gleichwohl  gestern 
befohlen,  daß  die  Hinrichtung  heute  abend  stattfinden 
sollte. 

KÖxVIGIN.  So  wie  ich  vorgestern  befohlen  hatte,  daß 
die  Hinrichtung  gestern  stattfinden  sollte.  Heute  befehle 
ich,  daß  die  Hinrichtung  morgen  stattfinden  wird. 
SIMON  RENARD.  In  der  Tat,  seit  dem  zweiten  Advent- 
sonntage, wo  die  Sternkammer  ihr  Urteil  fällte  und  die 
beiden  Verurteilten  zum  Turme  zurückkamen,  den  Henker 
voran,  die  Axt  nach  ihrem  Gesichte  gekehrt,  es  sind  jetzt 
drei  Wochen  her,  verschiebt  Eure  Majestät  die  Sache 
jeden  Tag  auf  den  folgenden. 

KÖNIGIN.  Nun,  begreift  Ihr  denn  nicht,  was  das  be- 
deutet, mein  Herr?  Muß  ich  Euch  alles  sagen,  und  muß 
ein  Weib  ihr  Herz  Euch  nackt  hinlegen,  weil  sie  Königin 
ist,  die  Unselige,  und  weil  Ihr  hier  den  Prinzen  von 
Spanien,  meinen  zukünftigen  Gemahl,  vertretet?  Mein 
Gott!  Ihr  wißt  das  nicht,  ihr  andern,  das  Herz  eines 
Weibes  ist  so  gut  schamhaft  als  ihr  Leib.  Ja  denn,  weil 
Ihr  es  wissen  wollt,  weil  Ihr  Euch  stellt,  als  begrififet  Ihr 
nichts,  ja,  ich  verschiebe  jeden  Tag  die  Hinrichtung 
Fabianis  auf  den  folgenden,  weil  jeden  Morgen,  seht  Ihr, 
mich  die  Kraft  bei  dem  Gedanken  verläßt,  daß  die  Glocke 
des  Londoner  Turms  diesen  Menschen  zu  Grabe  läuten 
wird,  weil  ich  ohnmächtig  werde  bei  dem  Gedanken,  daß 
man  eine  Axt  für  diesen  Menschen  schleift,  weil  ich  sterbe, 
wenn  ich  denke,  daß  man  eine  Bahre  für  diesen  Menschen 
zusammenschlägt,  weil  ich  ein  Weib  bin,  weil  ich  schwach, 
weil  ich  toll  bin,  weil  ich  diesen  Menschen  liebe,  wahr- 
haftig!—Habt  Ihr  genug?  Seid  Ihr  befriedigt?  Begreift  Ihr? 
Oh!  ich  werde  mich  schon  eines  Tages  an  Euch  rächen  für 
alles,  was  Ihr  mich  da  sagen  macht.  Geht! 
SIMON  RENARD.  Es  wäre  aber  doch  Zeit,  mit  Fabiani 


MARIA  TUDOR.  DRITTE  HANDLUNG      495 

ein  Ende  zu  machen.    Ihr  werdet  meinen  königlichen 
Herrn,  den  Prinzen  von  Spanien,  heiraten. 
KÖNIGIN.  Wenn  der  Prinz  von  Spanien  nicht  zufrieden 
ist,  so  mag  er  es  sagen;  wir  heiraten  einen  andern.  Es 
fehlt  uns  nicht  an  Freiern.  Der  Sohn  des  römischen  Kö- 
nigs, der  Fürst  von  Piemont,  der  Infant  von  Portugal,  der 
Kardinal  Polus,  der  König  von  Dänemark  und  Lord  Curt- 
nay  sind  ebenso  gute  Edelleute  als  er. 
SIMON  RENARD.  Lord  Curtnay!  Lord  Curtnay! 
KÖNIGIN.  Ein  englischer  Baron,  Herr,  wiegt  einen  Prin- 
zen auf.  Außerdem  stammt  Lord  Curtnay  von  den  Kaisern 
des  Orients  ab.  Und  dann,  ärgert  Euch,  wenn  Ihr  wollt. 
SIMON  RENARD.  Fabiani  ist  in  London  von  allem  ge- 
haßt, was  ein  Herz  hat. 
KÖNIGIN.  Mich  ausgenommen. 

SIMON  RENARD.  Die  Bürger  sind  mit  den  Herren  einig. 
Wenn  er  heute  nicht  hingerichtet  wird,  wie  Eure  Maje- 
stät versprochen  hat  .... 
KÖNIGIN.  Nun? 

SIMON  RENARD.  So  wird  das  Gesindel  einen  Auflauf 
machen. 

KÖNIGIN.  Ich  habe  meine  Lanzknechte. 
SIMON  RENARD.  Es  wird  eine  Verschwörung  unter  den 
Herren  geben. 

KÖNIGIN.  Ich  habe  den  Henker. 

SIMON  RENARD.  Eure  Majestät  hat  auf  das  Gebet- 
buch Ihrer  Mutter  geschworen,  daß  sie  ihn  nicht  begna- 
digen würde. 

KÖNIGIN.  Hier  ist  ein  Freibrief,  den  er  mir  überschickt, 
und  worin  ich  ihm  auf  meine  königliche  Krone  schwöre, 
daß  ich  es  tun  werde.  Die  Krone  meines  Vaters  ist  so  viel 
wert  als  das  Gebetbuch  meiner  Mutter.  Ein  Eid  hebt  den 
andern.  Übrigens,  wer  sagt  Euch  denn,  daß  ich  ihn  be- 
gnadigen werde? 

SIMON  RENARD.  Er  hat  Euch  sehr  frech  betrogen, 
Madame. 

KÖNIGIN.  Was  geht  das  mich  an?  Alle  Männer  machen 
es  ebenso.  Ich  will  nicht,  daß  er  stirbt.  Seht,  Mylord — 
Herr  Vogt,  wollte  ich  sagen— mein  Gott!   Ihr  macht  mir 


496  ÜBERSETZUNGEN 

den  Kopf  so  wirr,  daß  ich  in  Wahrheit  nicht  mehr  weiß, 
mit  wem  ich  spreche, — seht,  ich  weiß  alles,  was  Ihr  mir 
sagen  werdet.  Daß  er  ein  erbärmlicher  Mensch,  eine 
Memme,  ein  Schurke  ist:  ich  weiß  es  so  gut  als  Ihr,  und 
ich  erröte  darüber;  aber  ich  liebe  ihn.  Was  soll  ich  machen ? 
Einen  wackeren  Mann  würde  ich  vielleicht  weniger  lieben. 
Außerdem,  wer  seid  ihr  alle  denn,  soviel  ihr  seid?  Seid 
Ihr  mehr  wert  als  er.^  Ihr  werdet  mir  sagen,  daß  er  ein 
Günstling  ist  und  daß  das  englische  Volk  die  Günstlinge 
nicht  liebt.  Weiß  ich  denn  nicht,  daß  ihr  ihn  nur  stürzen 
wollt,  um  an  seinen  Platz  den  Grafen  von  Kilbare,  diesen 
Geck,  diesen  Irländer,  zu  bringen:  Und  wenn  er  zwanzig 
Köpfe  täglich  fallen  macht,  was  geht  das  Euch  an?  Und 
sprecht  mir  nur  nicht  von  dem  Prinzen  von  Spanien.  Ihr 
lacht  selbst  darüber.  Sprecht  mir  nicht  von  dem  Mißver- 
gnügen des  Herrn  von  Noailles,  des  französischen  Ge- 
sandten. Herr  von  Noailles  ist  ein  Dummkopf,  und  ich 
werde  es  ihm  selbst  sagen.  Endlich,  ich  bin  ein  Weib, 
ich  will  und  will  nicht,  ich  bin  nicht  aus  einem  Stücke. 
Das  Leben  dieses  Menschen  ist  meinem  Leben  notwendig. 
Schneidet  doch  nicht  ein  so  jungfräuliches  und  aufrich- 
tiges Gesicht,  ich  bitte  Euch.  Ich  kenne  alle  Eure  Schliche. 
Unter  uns,  Ihr  wißt  so  gut  als  ich,  daß  er  das  Verbrechen 
nicht  begangen  hat,  wofür  er  verdammt  wurde.  Das  ist 
abgekartet.  Ich  will  nicht,  daß  Fabiani  stirbt.  Bin  ich 
Herrin,  oder  nicht?  Seht,  Herr  Vogt,  sprechen  wir  von 
etwas  anderem,  wollt  Ihr? 

SIMON  RENARD.    Ich  ziehe  mich  zurück,    Madame. 
Euer  ganzer  Adel  hat  durch  meinen  Mund  gesprochen. 
KÖNIGIN.  Was  kümmert  mich  der  Adel! 
SIMON   RENARD   {beiseite).     So  versuchen  wir  es  mit 
dem  Volke.   {Er  geht  mit  ehicr  tiefefi  Verheiigung  ab.) 

KÖNIGIN  (allein).  Er  ist  mit  einer  sonderbaren  Miene 
hinausgegangen.  Der  Mensch  ist  imstande,  etwas  in  Be- 
wegung zu  bringen.  Ich  muß  schnell  nach  dem  Stadthause. 
— He,  jemand! 

[Meister  Ätieas  und  Joshua  treten  auf) 

* 


MARIA  TUDOR.  DRITTE  HANDLUNG      497 

FÜNFTE  SZENE 

Die  Königin.   Meister  Äiieas.    [oshua. 

KÖNIGIN.  Seid  Ihr  es,  Meister  Äneasr  Dieser  Mann  und 

Ihr  müßt  sogleich  für  die  Flucht  des  Grafen  Clanbrassil 

sorgen. 

MEISTER  ÄNEAS.  Madame  .... 
KÖNIGIN.  Halt,  ich  vertraue  mich  Euch  nicht  an.  Ich 
erinnere  mich,  daß  Ihr  zu  seinen  Feinden  gehört.  Mein 
Gott!  ich  bin  also  nur  von  Feinden  des  Mannes  umgeben, 
den  ich  liebe.  Ich  wette,  der  Schließer  da,  den  ich  nicht 
kenne,  haßt  ihn  auch. 
JOSHUA.   So  ist  es,  Madame. 

KÖNIGIN.  Mein  Gott!  mein  Gott!  dieser  Simon  Renard 
ist  mehr  König,  als  ich  Königin.  Wie!  Niemand  hier, 
dem  ich  mich  anvertrauen,  niemand,  dem  ich  Vollmacht 
geben  könnte,  um  Fabiani  entwischen  zu  lassen! 
JANE  {tritt  hinter  dem  Pfeiler  Iiervor).  Doch,  Madame! 
Ich! 

JOSHUA  {beiseite).  Jane! 

KÖNIGIN.  Du?  wer  du?  Ihr  seid  es,  Jane  Talbot?  Wie 
kommt  Ihr  hierher?  Ah!  das  ist  gleichgültig,  Ihr  seid  da. 
Ihr  kommt,  Fabiani  zu  retten.  Danke.  Ich  sollte  Euch 
hassen,  Jane,  ich  sollte  eifersüchtig  auf  Euch  sein,  ich  habe 
tausend  Gründe.  Aber  nein,  ich  liebe  Euch  aus  Liebe  zu 
ihm.  Dem  Schafott  gegenüber  keine  Eifersucht  mehr, 
nichts  als  Liebe.  Ihr  seid  wie  ich.  Ihr  verzeiht  ihm,  ich 
sehe  es  wohl.  Die  Männer,  sie  begreifen  das  nicht.  Lady 
Jane,  verständigen  wir  uns.  Wir  sind  beide  sehr  unglück- 
lich, nicht  wahr?  Man  muß  Fabiani  entwischen  lassen. 
Ich  habe  nur  Euch,  ich  muß  Euch  wohl  dazu  brauchen. 
Ich  bin  wenigstens  sicher,  daß  Euer  Herz  dabei  sein  wird. 
Übernehmt  es.  Meine  Herrn,  ihr  beide  gehorcht  Lady 
Jane  in  allem,  was  sie  Euch  vorschreiben  wird,  und  haftet 
mir  mit  eurem  Kopfe  für  die  Befolgung  ihrer  Befehle. 
Umarme  mich,  mein  Kind. 

JANE.  Die  Themse  bespült  den  Fuß  des  Turmes  auf  dieser 
Seite.  Es  ist  da  ein  geheimer  Ausgang,  den  ich  bemerkt 
habe.  Ein  Schiff  davor,  und  die  Flucht  macht  sich  auf 
der  Themse.   Das  ist  das  sicherste. 

BÜCHNER  32. 


498  ÜBERSETZUNGEN 

MEISTER  ÄNEAS.  Unmöglich,  einen  Nachen  vor  einer 
guten  Stunde  zu  haben. 
JANE.   Das  ist  sehr  lang. 

MEISTER  ÄNEAS.  Es  ist  bald  vorbei.  Außerdem  ist  es 
in  einer  Stunde  finster.  Es  ist  besser  so,  wenn  Eure  Maje- 
stät wünscht,  daß  die  Flucht  insgeheim  vor  sich  gehe. 
KÖNIGIN.  Ihr  habt  vielleicht  recht.  Nun,  in  einer  Stunde 
sei  es!  Ich  verlasse  Euch,  Lady  Jane,  ich  muß  auf  das 
Stadthaus.  Rettet  Fabiani! 

JANE.  Seid  ruhig,  Madame.  {Die  Königin  geht  ab.  Jane 
folgt  ihr  mit  den  An  gen.) 

JOSHXJA  (auf  dem  Vordergrund  der  Bühne).  Gilbert  hatte 
recht,  ganz  für  Fabiani. 


SECHSTE  SZENE 

Die  nä?ntichen,  die  Königin  aiisge^iommefi. 
JANE  {zu  Meister  Äneas).  Ihr  habt  den  Willen  der  Köni- 
gin gehört.    Einen  Nachen  an  den  Fuß  des  Turms,  die 
Schlüssel  zu  den  geheimen  Gängen,  einen  Hut  und  einen 
Mantel. 

MEISTER  ÄNEAS.  Unmöglich,  das  alles  vor  Nacht  zu 
haben.  In  einer  Stunde,  Mylady. 

JANE.  Gut.  Geht.  Laßt  mich  mit  diesem  Manne  allein. 
(Meister  Äneas  geht]  Jane  folgt  ihm  mit  den  Augen.) 

JOSHUA  {beiseite  auf  dem  Vordergrund  der  Bühne). 
Diesem  Manne!  Das  ist  ganz  einfach.  Wer  Gilbert  ver- 
gessen hat,  erkennt  Joshua  nicht  mehr.  {Er  geht  nach  der 
Türe  von  Fabianis  Kerker  und  schickt  sich  an.,  sie  zu  öffnen^ 
JANE.   Was  macht  Ihr  da? 

JOSHUA.  Ich  komme  Euren  Wünschen  zuvor,  Mylady. 
Ich  öffne  diese  Türe.  .^ 

JANE.   Was  ist  das  für  eine  Türe?  '^ 

JOSHUA.  Die  Türe  des  Kerkers  von  Mylord  Fabiani. 
JANE.  Und  diese  da? 
JOSHUA.  Ist  die  Kerkertüre  eines  andern. 
JANE.  Wessen?  Dieser  andere? 


I  MARIA  TUDOR.  DRITTE  HANDLUNG      499 

JOSHUA.    Ein  anderer  zum  Tode  Verurteilter,  jemand, 
den  Ihr  nicht  kennt.  Ein  Arbeiter,  namens  Gilbert. 
JANE.   Öfifnet  diese  Türe! 
jJOSHUA  {nachdem  er  die  Türe  geöffnet).  Gilbert! 


SIEBENTE  SZENE 

Jane.    Gilbert.  Joshua. 
GILBERT  (ruft  aus  dem  Kerker).   Wer  ruft  mir.-  [Er  tritt 
auf  die  Schwelle,  erblickt  Jane  und  hält  sich  wa7ikend  a?t 
\der  Mauer.)  Jane! — Lady  Jane  Talbot! 
JANE  {auf  den  Kniefi^  ohne  die  Au ge7i  aufzuschlagen).  Gil- 
bert, ich  komme  Euch  zu  retten. 
GILBERT.   Mich  retten! 

JANE.  Hört!  Habt  Erbarmen,  zermalmt  mich  nicht.  Ich 
weiß  alles,  was  Ihr  mir  sagen  werdet.  Es  ist  gerecht; 
aber  sagt  es  mir  nicht.  Ich  muß  Euch  retten.  Alles  ist 
bereit.  Die  Flucht  ist  sicher.  Laßt  Euch  von  mir  retten, 
so  gut  wie  von  einem  andern.  Ich  verlange  sonst  nichts. 
Ihr  werdet  mich  dann  nicht  mehr  kennen.  Ihr  werdet  nicht 
wissen,  wer  ich  bin.  Verzeiht  mir  nicht,  aber  laßt  mich 
Euch  retten.   Wollt  Ihrr 

GILBERT.  Ich  danke;  es  ist  unnütz.  Zu  was  mich  retten 
wollen,  Lady  Jane,  wenn  Ihr  mich  nicht  mehr  liebt? 
JANE  {freudig).  O  Gilbert!  ist  es  das  in  Wahrheit,  was 
Ihr  verlangt?  Gilbert!  würdigt  Ihr  mich  noch,  Euch  mit 
dem  zu  beschäftigen,  was  in  dem  Herzen  des  armen  Mäd- 
chens vorgeht?  Gilbert!  liegt  Euch  noch  etwas  an  der 
Liebe,  die  ich  für  irgend  jemand  haben  könnte,  und  dünkt 
es  Euch  der  Mühe  wert,  darnach  zu  fragen?  Oh!  ich  dachte, 
daß  Euch  das  sehr  gleichgültig  wäre,  und  daß  Ihr  mich  zu 
sehr  verachtetet,  um  Euch  um  das  zu  kümmern,  was  ich 
mit  meinem  Herzen  machte.  Gilbert!  wenn  Ihr  wüßtet, 
was  mich  die  Worte  fühlen  machen,  die  Ihr  mir  sagtetf 
Das  ist  ein  sehr  unerwarteter  Sonnenstrahl  in  meiner  Nacht. 
Oh!  hört  mich  doch  dann.  Wenn  ich  es  noch  wagte,  mich 
Euch  zu  nähern,  wenn  ich  es  wagte.  Eure  Kleider  zu  be- 
rühren, wenn  ich  es  wagte,  Eure  Hände  in  die  meinigen 
zu  nehmen,  wenn  ich  es  noch  wagte,  die  Augen  zu  Euch 


500  ÜBERSETZUNGEN 

und  dem  Himmel  aufzuschlagen,  wie  sonst:  wißt  Ihr,  was 
ich  sagen  würde,  kniend,  niedergeworfen,  weinend  zu 
Euren  Füßen,  Seufzer  auf  den  Lippen  und  die  Freude  der 
Engel  im  Herzen:  Ich  würde  Euch  sagen:  Gilbert,  ich 
liebe  dich! 

GILBERT  [faßt  sie  heftig  in  seine  Arme).  Du  liebst  mich? 
JANE.  Ja,  ich  liebe  dich! 

GILBERT.    Du  liebst  mich!— Sie  hebt  mich,  mein  Gott! 
Es  ist  wahr,  sie  ist  es,  die  mir  es  sagt,  ihr  Mund  ist  es, 
der  sprach,  Gott  im  Himmel! 
JANE.  Mein  Gilbert! 

GILBERT.  Du  hast  alles  für  meine  Flucht  vorbereitet, 
sagst  du:  Schnell!  schnell!  Das  Leben!  Ich  will  leben, 
Jane  liebt  mich!  Dieses  Gewölbe  senkt  sich  auf  meinen 
Kopf  und  zerdrückt  ihn.  Ich  brauche  Luft.  Fliehen  wir 
schnell!  Fort,  Jane!  Ich  will  leben— ich  werde  geliebt! 
JANE.  Noch  nicht.  Wir  haben  einen  Nachen  nötig.  Wir 
müssen  die  Nacht  abwarten.  Aber  sei  ruhig,  du  bist  ge- 
rettet. Ehe  eine  Stunde  vergeht,  sind  wir  draußen.  Die 
Königin  ist  auf  dem  Stadthaus  und  kommt  nicht  sobald 
zurück.  Ich  bin  hier  Herrin;  ich  werde  dir  alles  erklären. 
GILBERT.  Eine  Stunde  warten,  das  ist  sehr  lang.  O,  ich 
bin  ungeduldig,  Leben  und  Freude  wieder  zu  fassen!  Jane! 
Jane!  du  bist  da!  Ich  werde  leben,  du  liebst  mich!  Ich 
komme  aus  der  Hölle,  halte  mich,  ich  könnte  tolles  Zeug 
machen,  siehst  du.  Ich  möchte  lachen,  möchte  singen. 
Du  liebst  mich  also.^ 

JANE.  Ja!— Ich  Hebe  dich!  Ja,  ich  Hebe  dich!  Und  sieh, 
Gilbert,  glaube  mir,  ich  spreche  die  Wahrheit,  wie  auf 
dem  Todesbette, — ich  habe  immer  nur  dich  geliebt!  Selbst 
in  meiner  Sünde,  selbst  in  der  Tiefe  meines  Verbrechens 
liebte  ich  dich!  Kaum  war  ich  in  die  Arme  des  Teufels 
gefallen,  der  mich  verführte,  als  ich  meinen  Engel  be- 
weinte. 

GILBERT.  Vergessen!  verziehen!  Sprich  nicht  davon, 
Jane.  O,  was  liegt  mir  an  dem  Vergangenen!  Wer  könnte 
deiner  Stimme  widerstehen!  Wer  würde  anders  handeln, 
als  ich!  O  ja!  ich  verzeihe  dir  alles,  mein  geliebtes  Kind! 
Das  Wesen  der  Liebe  ist  Nachsicht,  ist  Verzeihung.  Jane, 


MARIA  TUDOR.  DRITTE  HANDLUNG      501 

die  Eifersucht  und  die  Verzweiflung  haben  die  Tränen  in 
meinen  Augen  getrocknet.  Aber  ich  verzeihe  dir,  aber 
ich  danke  dir,  aber  du  bist  für  mich  der  einzige  Licht- 
strahl in  dieser  Welt,  aber  bei  jedem  Worte,  das  du  sprichst, 
fühle  ich  einen  Schmerz  in  meiner  Seele  sterben  und  eine 
Freude  darin  geboren  werdenl  Jane!  erhebt  Euer  Haupt, 
steht  gerade  so  hin  und  seht  mich  an. — Ich  sage  dir,  daß 
du  mein  Kind  bist. 

JANE.  Immer  großmütig!  Immer!  mein  geliebter  Gilbert! 
GILBERT.   Oh!  ich  möchte  schon  draußen  sein  auf  der 
Flucht,  weit,  weit,  frei  mit  dir!   Oh!  diese  Nacht,  die  nicht 
kommen  will!— Der  Nachen  ist  nicht  da. — ^Jane!  wir  ver- 
lassen London  sogleich,  noch  diese  Nacht.  Wir  verlassen 
England.    Wir  gehen  nach  Venedig.    Mit  meinem  Hand- 
werk verdient  man  viel  Geld  da.   Du  wirst  mir  gehören. 
—Oh!  mein  Gott!  ich  bin  unsinnig,  ich  vergaß,  welchen 
Namen  du  führst!   Er  ist  zu  schön,  Jane! 
JANE.   Was  willst  du  sagen.- 
GILBERT.  Tochter  des  Lord  Talbot. 
JANE.  Ich  weiß  einen  schöneren. 
GILBERT.  Welchen? 
JANE.  Weib  des  Arbeiters  Gilbert. 
GILBERT.  Jane!  .  .  . 

JANE.  O  nein!  glaube  nicht,  daß  ich  das  verlange.    Oh! 

ich  weiß  wohl,  daß  ich  unwürdig  bin.   Ich  werde  meine 

'  Augen  so  hoch  nicht  erheben;  ich  werde  nicht  so  weit 

i  die  Verzeihung  mißbrauchen.    Der  arme  Arbeiter  Gilbert 

j  wird  sich  nicht  zu  der  Gräfin  von  Waterford  herablassen. 

'  Nein,  ich  werde  dir  folgen,  dich  lieben,  ich  werde  dich 

nie  verlassen.   Ich  will  mich  des  Tags  zu  deinen  Füßen, 

des  Nachts  vor  deine  Türe  legen.  Ich  werde  dir  zusehen 

(  arbeiten,   ich   werde  dir  helfen,   ich  werde  dir  reichen, 

:  was  du  brauchst.  Ich  werde  dir  etwas  weniger  als  eine 

.  Schwester  und  etwas  mehr  als  ein  Hund  sein.  Und  wenn 

du  dich  verheiratest,  Gilbert,— denn  es  wird  Gott  gefallen, 

daß  du  endlich  ein  fleckenloses  Weib  findest,  das  deiner 

würdig  ist, — wenn  du  dich  verheiratest  und  wenn  dein 

Weib  gut  ist,  und  wenn  sie  es  wohl  will,  werde  ich  die 

Magd  deines  Weibes  sein.  Wenn  sie  mich  nicht  will,  werde 


502  ÜBERSETZUNGEN 

ich  gehen  und  sterben,  wo  ich  kann.  Ich  werde  dich  nur 
in  dem  Falle  verlassen.  Wenn  du  dich  nicht  verheiratest, 
werde  ich  bei  dir  bleiben,  ich  will  still  und  ruhig  sein,  du 
sollst  sehen,  und  wenn  man  Böses  denkt,  mich  so  bei  dir  zu 
sehen,  so  mag  man  denken,  was  man  will.  Ich  brauche  nicht 
mehr  rot  zu  werden,  siehst  du?  Ich  bin  ein  armes  Mädchen. 
GILBERT  {fällt  ihr  zu  Füßen).  Du  bist  ein  Engel!  Du 
bist  mein  Weib! 

JANE.  Dein  Weib!  Du  verzeihest  also  nur,  wie  Gott,  in- 
dem du  heiligst.^  Ah!  sei  gesegnet,  Gilbert,  daß  du  mir 
diese  Krone  auf  die  Stirn e  drückst.  {Gilbert  erhebt  sich 
und  preßt  sie  in  die  Ar?jie.  Während  sie  sich  eng  um- 
schlossen halten,  ninmit  Joshua  die  Hand  von  Jane.) 
JOSHUA  Es  ist  Joshua,  Lady  Jane. 
GILBERT.   Guter  Joshua! 

JOSHUA.  Es  ist  kaum  ein  Augenblick,  daß  Ihr  mich  nicht 
kanntet. 

JANE.  Ah!  denn  ich  mußte  mit  ihm  den  Anfang  machen. 
{Joshua  küßt  ihr  die  Häfide^ 

GILBERT  {preßt  sie  in  seine  Arme).    Aber  welch  Glück! 
Aber  ist  denn  all  dies  Glück  auch  wirklich.^  {Seit  einigen 
Augenblicken  hört  man  außen  ein  entferntes  Getös ^  verwirrte 
Stimmen,  eineti  Außauf.  Der  Tag  geht  zu  Eftde.) 
JOSHUA.    Was  ist  das  für  ein  Lärm.^    {Er  tritt  an  das 
Fenster,  welches  auf  die  Straße  geht^ 
JANE.  O  mein  Gott,  wenn  nur  nichts  vorfällt! 
JOSHUA.    Ein  großer  Haufe  da  unten;  Hacken,  Piken, 
Fackeln.     Die    Soldaten   der  Königin  zu  Pferd  und  in 
Schlachtordnung.  Alles  kommt  hierher.   Welch  Geschrei! 
Teufel!   Man  sollte  meinen,  es  sei  ein  Volksauflauf. 
JANE.   Wenn  es  nur  nicht  Gilbert  gilt! 
ENTFERNTE  STIMMEN.  Fabiani!  Tod  dem  Fabiani! 
JANE.  Hört  Ihr? 
JOSHUA.  Ja. 
JANE.   Was  riefen  sie? 
JOSHUA.  Ich  unterscheide  nichts. 
JANE.  O  mein  Gott,  mein  Gott!  {Meister  Äneas  und  ein 
Schiffer  treten  eilig  durch  die  verborgene  Türe  herein^ 

* 


MARIA  TUDOR.  DRITTE  HANDLUNG      503 

ACHTE  SZENE 
Die  iiäfjilichen.  Meister  Äneas^  ein  Schiffer. 
l^IEISTER  ÄNEAS.  Mylord  Fabiani!  Mylord!  Ihr  habt 
keinen  Augenblick  zu  verlieren.  Man  hat  erfahren,  daß 
die  Königin  Euch  retten  wollte.  Das  Volk  ist  in  London 
im  Aufruhr.  In  einer  Viertelstunde  seid  Ihr  zerrissen. 
Mylord,  rettet  Euch!  Hier  ist  ein  Mantel,  ein  Hut.  Hier 
die  Schlüssel.  Hier  der  Schiffer.  Vergeßt  nicht,  daß  Ihr 
mir  das  alles  verdankt.  Mylord,  eilt  Euch!  (Leise  zum 
Schifferi)  Du  eilst  dich  nicht. 

JANE  [bedeckt  Gilbert  eilig  mit  dem  Mantel  und  dem  Hut. 
Leise  zu  Joshua:)  Himmel,  wenn  dieser  Mann  nur  nicht .... 
MEISTER  ÄNEAS  {sieht  Gilbert  ins  Gesicht).  Aber  wie! 
das  ist  nicht  Lord  Clanbrassil.  Ihr  befolgt  die  Befehle 
der  Königin  nicht,  Mylady!  Ihr  laßt  einen  andern  ent- 
wischen! 

JANE.  Alles  ist  verloren!  .  .  .  Ich  hätte  das  voraus- 
sehen sollen!  O  Gott!  mein  Herr,  es  ist  wahr,  habt  Er- 
barmen .  .  . 

MEISTER  ÄNEAS  {leise  zu  Jane).  Still!  Fort!  ich  habe 
nichts  gesagt,  ich  habe  nichts  gesehen.  {Er  zieht  sich  mit 
einem  Anstrich  von  Gleichgidtigkeit  auf  den  LLintergrund 
der  Bühne  zurück?) 

JANE.  Was  sagt  er: — Ah!  die  Vorsehung  ist  für  uns!  Ah! 
Alles  will  also  Gilbert  retten! 

JOSHUA.  Nein,  Lady  Jane.  Alles  will  Fabiani  verderben. 
{Während  dieser  ganzen  Szene  ni^nmt  das  Getöse  zu.) 
JANE.  Eilen  wir  uns,  Gilbert!  Komm  schnell! 
JOSHUA.   Laßt  ihn  allein  gehn. 
JANE.  Ihn  verlassen! 

JOSHUA.  Für  einen  Augenblick.  Kein  Weib  in  dem 
Nachen,  wenn  er  glücklich  landen  soll.  Es  ist  noch  zu 
hell.  Ihr  seid  weiß  gekleidet.  Ihr  werdet  Euch  wieder- 
finden, wenn  die  Gefahr  vorüber  ist.  Kommt  mit  mir  hier- 
her, und  er  da  hinaus. 

JANE.  Joshua  hat  recht.  Wo  werde  ich  dich  wiederfinden, 
mein  Gilbert.^ 
GILBERT.  Unter  dem  ersten  Bogen  der  Londoner  Brücke. 


504  ÜBERSETZUNGEN 

JANE.  Gut.  Schnell  fort!  Das  Getöse  verdoppelt  sich. 
Ich  wollte,  du  wärest  weit  weg! 

JOSHUA.  Hier  sind  die  Schlüssel.  Ihr  habt  zwölf  Türen 
von  hier  bis  zum  Rande  des  Wassers  zu  öffnen  und  zu 
schließen.  Ihr  habt  eine  gute  Viertelstunde  damit  zu  tun. 
JANE.  Eine  Viertelstunde!  Zwölf  Türen!  Das  ist  ent- 
setzlich! 

GILBERT  [tiiiiarmt  sie).  Lebe  wohl,  Jane.  Noch  für  we- 
nige Augenblicke  getrennt,  und  dann  wieder  eins  für  das 
Leben. 

JANE.  Für  die  Ewigkeit.  (Zum  Schiffer:)  Ich  empfehle 
ihn  Euch. 

MEISTER  ÄNEAS  {leise  zum  Schiffer).  Du  eilst  dich 
nicht,  es  könnte  was  vorfallen.  [Gilbert  geht  mit  dem 
Schiffer  ab.) 

JOSHUA.  Er  ist  gerettet!  Jetzt  zu  mir!  Man  muß  den 
Kerker  schließen.  [Er  schließt  Gilberts  Kerker)  Es  ist 
geschehen.  Kommt  schnell  hierher!  (Er  geht  7nit  Jane 
durch  die  verborgene  Türe  ab.) 

MEISTER  ÄNEAS  (allein).  Der  Fabiani  ist  in  der  Falle 
geblieben!  Das  ist  ein  sehr  geschicktes  Weibchen,  was 
Meister  Simon  Renard  sehr  gut  bezahlt  haben  würde. 
Aber  wie  wird  die  Königin  die  Sache  aufnehmen?  So- 
lange es  nicht  auf  mich  fällt!  (Simon  Renard  und  die  Köni- 
gin treten  mit  großen  Schritten  durch  die  Galerie  herein. 
Der  Tumult  hat  fortwährend  zugenommen.  Die  Nacht  ist 
fast  völlig  hereingebrochen.  Geschrei,  Fackeln,  Lärm  der 
Volkshaufen;  Waffengeklirr,  Schüsse,  Pferdegetrappel.  Meh- 
rere Edelleute,  das  Schiucrt  in  der  Faust,  begleiten  die  Koni' 
gin.  Unter  i/mefi  Clarence,  der  Herold  von  England,  das 
königliche  Banner  tragend,  und  /arretiere,  der  Herold  des 
Hosenbandordens,  mit  der  Orden sfahfie.) 


NEUNTE  SZENE 

Königin,  Simon  Renard,  Meister  Äneas,  Lord  Clinton,  die 

beiden  Herolde,  Herrn,  Pagen  usw.  usw. 
KÖNIGIN  (leise  zu  Meister  Äneas).  Ist  Fabiani  entwischt? 
MEISTER  ÄNEAS.  Noch  nicht! 


MARIA  TUDOR.  DRITTE  HANDLUNG      505 

KÖNIGIN.  Noch  nicht:  {Sie  sieht  ihn  mit  eiiie?n  furcht- 
baren  Blick  an.) 

MEISTER  ÄNEAS  {beiseife).  Teufel! 
GESCHREI  DES  VOLKES  {von  außen).  Tod  dem  Fabiani! 
SIMON  RENARD.  Eure  Majestät  muß  sogleich  ihren 
Entschluß  fassen.  Das  Volk  will  den  Tod  dieses  Mannes. 
London  steht  in  Flammen.  Der  Turm  ist  berannt.  Der 
Aufstand  ist  furchtbar.  Die  Edlen  sind  an  der  Londoner 
Brücke  in  Stücke  gehauen  worden.  Die  Soldaten  Eurer 
Majestät  halten  sich  noch;  aber  Eure  Majestät  ist  von 
Straße  zu  Straße  getrieben  worden,  von  dem  Stadthause 
bis  zum  Tower.  Die  Anhänger  Elisabeths  haben  sich  unter 
das  Volk  gemischt.  Man  sieht  es  an  der  Bösartigkeit  des 
Aufstandes.  Das  alles  ist  sehr  drohend.  Was  befiehlt 
Eure  Majestät? 

GESCHREI  DES  VOLKES.  Fabiani!  Tod  dem  Fabiani! 
(Es  wird  stärker  tmd  ?iähert  sich  mehr  nnd  mehr.) 
KÖNIGIN.  Tod  dem  Fabiani!  Mylords,  hört  Ihr,  wie  das 
Volk  heult:    Man  muß  ihm  einen  Menschen  vorwerfen. 
Das  Volk  will  zu  essen. 

SIMON  RENARD.  Was  befiehlt  Eure  Majestät: 
KÖNIGIN.  Bei  Gott,  Mylords,  mir  däucht,  ihr  zittert  alle 
um  mich  herum.  Bei  meiner  Seele,  muß  euch  ein  \Veib 
euer  ritterliches  Handwerk  lehren!  Zu  Pferde,  Mylords, 
zu  Pferde!  Schüchtert  das  Gesindel  euch  ein:  Fürchten 
die  Degen  sich  vor  den  Stöcken: 

SIMON  RENARD.  Laßt  die  Sache  nicht  weiter  kommen. 
Gebt  nach,  Madame,  so  lange  es  noch  Zeit  ist.  Ihr  könnt 
jetzt  noch  sagen  ''das  Gesindel",  in  einer  Stunde  könntet 
Ihr  sagen  müssen  "das  Volk".  {Das  Geschrei  wird  stärker^ 
das  Getöse  nähert  sich?) 
KÖNIGIN.  In  einer  Stunde! 

SIMON  REN  ARD  (geht  auf  die  Galerie^  indem  er  zurück- 
koftwit).  In  einer  Viertelstunde,  Madame.  Die  erste  Ring- 
mauer des  Turmes  ist  genommen.  Noch  ein  Schritt,  und 
das  Volk  ist  hier. 

DAS  VOLK.  Zu  dem  Turm!  Zu  dem  Turm!  Fabiani! 
Tod  dem  Fabiani! 


5o6  ÜBERSETZUNGEN 

KÖNIGIN.  Man  hat  wohl  recht,  daß  es  ein  furchtbares 
Ding  sei,  das  Volk!  Fabiano! 

SIMON  RENARD.  Wollt  Ihr  ihn  in  einem  Augenblick 
vor  Euren  Augen  zerrissen  sehen? 

KÖNIGIN.  Aber  wißt  ihr  auch,  daß  es  schändlich  ist, 
daß  keiner  von  euch  sich  rührt,  meine  Herrn!  Im  Namen 
des  Himmels,  verteidigt  mich  doch! 
LORD  CLINTON.  Euch  ja,  Madame;  Fabiani,  nein. 
KÖNIGIN.  O  Himmel!  Nun  ja  denn!  Ich  sage  es  ganz 
laut!  Desto  schlimmer!  Fabiani  ist  unschuldig!  Fabiani 
hat  das  Verbrechen  nicht  begangen,  weshalb  er  verdammt 
wurde.  Ich,  und  der  da  und  der  Arbeiter  Gilbert,  wir 
haben  alles  getan,  alles  erfunden,  alles  angelegt.  Reine 
Komödie.  Wagt  es,  mich  Lügen  zu  strafen,  Herr  Vogt! 
Jetzt,  meine  Herrn,  werdet  ihr  ihn  jetzt  verteidigen?  Er 
ist  unschuldig,  sage  ich  Euch!  Bei  meinem  Haupte,  bei 
meiner  Krone,  bei  meinem  Gott,  bei  der  Seele  meiner 
Mutter,  er  ist  unschuldig!  Das  ist  so  wahr,  als  es  wahr 
ist,  daß  ihr  hier  seid,  Lord  Clinton!  Verteidigt  ihn!  Ver- 
nichtet sie,  wie  ihr  Thomas  Wyatt  vernichtet  habt,  mein 
alter  Freund,  mein  guter  Robert!  Ich  beschwöre  euch, 
es  ist  falsch,  daß  Fabiani  die  Königin  wollte  ermorden 
lassen. 

LORD  CLINTON.  Es  gibt  noch  eine  Königin,  die  er  er- 
morden wollte,  sie  heißt  England.  [Das  Geschrei  währt 
außefi  fort) 

KÖNIGIN.  Den  Balkon!  öffnet  den  Balkon!  Ich  will  selbst 
dem  Volke  beweisen,  daß  er  nicht  schuldig  ist! 
SIMON  RENARD.  Beweist  ihm,  daß  er  kein  Italiener  ist. 
KÖNIGIN.  Wenn  ich  denke,  daß  es  ein  Simon  Renard 
ist,  eine  Kreatur  des  Kardinals  Granvella,  der  es  wagt, 
so  mit  mir  zu  sprechen!  Nun  denn,  öffnet  diese  Türe! 
öffnet  diesen  Kerker!  Fabiani  ist  darin,  ich  will  mit  ihm 
sprechen. 

SIMON  RENARD  {kise).    Was  macht  Ihr?    Um  seines 
eigenen  Besten  willen  ist  es  überflüssig,  alle  Welt  wissen 
zu  lassen,  wo  er  sich  befindet. 
DAS  VOLK.  Tod  dem  Fabiani!  Es  lebe  Elisabeth! 
KÖNIGIN.  Mein  Gott!  mein  Gott! 


MARIA  TUDOR.  DRITTE  HANDLUNG      507 

SIMON  RENARD.  Wählt,  Madame!  {Er  deutet  mit  der 
einen  Hand  auf  die  Türe  des  Kerkers:)  Entweder  diesen 
Kopf  dem  Volke,  {er  deutet  mit  der  afidern  Haiid  auf  die 
K?-one^  welche  die  Königin  trägt:)  oder  diese  Krone  der 
Dame  Elisabeth. 

DAS  VOLK.  Tod!  Tod  Fabiani!  Elisabeth! 
{Ein  Stein  zerschlägt  die  Fensterscheibe  neben  der  Königin.) 
SIMOxN  RENARD.  Eure  Majestät  richtet  sich  zugrunde, 
ohne  ihn  zu  retten.   Der  zweite  Hof  ist  genommen.  Was 
will  die  Königin? 

KÖNIGIN.  Ihr  alle  seid  Memmen,  und  Clinton  die  größte! 
Ach!  Clinton,  ich  werde  daran  denken,  mein  Freund! 
SIMON  RENARD.  Was  will  die  Königin.^ 
KÖNIGIN.  O,  von  allen  verlassen  zu  sein!  Alles  gesagt 
zu  haben,  ohne  etwas  zu  erhalten!   Was  sind  denn  doch 
diese  Edelleute  da?  Dieses  Volk  ist  schändlich.  Ich  möchte 
es  unter  meinen  Füßen  zermalmen.  Es  gibt  also  Lagen, 
wo  eine  Königin  nichts  ist  als  ein  Weib!  Ihr  sollt  mir  es 
alle  teuer  bezahlen,  meine  Herrn! 
SIMON  RENARD.  Was  will  die  Königin? 
KÖNIGIN  {niedergebeugt).   Was  Ihr  wollt!    Tut,  was  Ihr 
wollt!  Ihr  seid  ein  Mörder!  {Beiseite:)  O  Fabiano! 
SIMON  RENARD.    Clarence!    Jarretiere!    Her  zu  mir! 
Meister  Äneas,  öffnet  den  großen  Balkon  auf  der  Galerie! 
{Der  Balkon  im  Hintergrunde  öffnet  sich.    Simon  Renard 
geht  hi?i^  Clarence  zur  Rechten^  Jarretiere  zur  Linken.  Un- 
ermeßliches Getöse  von  außen)) 
DAS  VOLK.    Fabiani!  Fabiani! 

SIMON  RENARD.  {Auf  dem  Balkon,  nach  dem  Volke  ge- 
wendet.) Im  Namen  der  Königin! 

DIE  HEROLDE.  Im  Namen  der  Königin.  {Tiefe  Stille 
außen.) 

SIMON  RENARD.  Ihr  Männer!  Die  Königin  läßt  euch 
wissen:  Heute,  diese  Nacht  noch,  eine  Stunde  nach  dem 
Nachtläuten  soll  Fabiano  Fabiani,  Graf  von  Clanbrassil, 
mit  einem  schwarzen  Schleier,  von  Kopf  bis  zu  Füßen 
bedeckt,  mit  einem  eisernen  Knebel  geknebelt,  eine 
Kerze  von  gelbem  Wachs,  drei  Pfund  schwer,  in  der 
Hand,  unter  Fackelschein  vom  Londoner  Turm  durch 


5  o  8  ÜBERSETZUNGEN 

Charing-Croß  auf  den  alten  Stadtmarkt  geführt,  daselbst 
öffentlich  gestäupt  und  enthauptet  werden,  zur  Strafe  für 
das  Verbrechen  des  Hochverrats  im  ersten  Grade  und  des 
königsmörderischen  Angriffes  auf  die  geheiligte  Person 
Ihrer  Majestät.  [Ein  imenneßliches  Händeklatschen  erhebt 
sich  a-ußen.) 

DAS  VOLK.  Es  lebe  die  Königin!  Tod  dem  Fabiani! 
SIMON  REN  ARD  {fährt  fort).  Und  damit  es  jedermann 
in  der  Stadt  London  wisse,  befiehlt  die  Königin,  wie  folgt: 
Solange  der  Verurteilte  den  Weg  vom  Londoner  Turm 
bis  zum  alten  Markt  zurücklegt,  wird  mit  der  großen 
Glocke  des  Turmes  geläutet.  Im  Augenblicke  der  Hin- 
richtung werden  drei  Kanonenschüsse  abgefeuert:  der 
erste,  wenn  er  auf  das  Schafott  steigt;  der  zweite,  wenn 
er  sich  auf  das  schwarze  Tuch  legt;  der  dritte,  wenn  sein 
Kopf  fällt.  {Beifall) 
DAS  VOLK.   Lichter!   Lichter! 

SIMON  RENARD,  Diese  Nacht  werden  der  Turm  und 
die  Stadt  London  zum  Zeichen  der  Freude  mit  Lichtern 
und  Fackeln  erleuchtet.  Ich  habe  es  gesagt.  {Beifall) 
Gott  schütze  die  alte  Charte  von  England. 
DIE  HEROLDE.  Gott  schütze  die  alte  Charte  von  Eng- 
land! 

DAS  VOLK.  Tod  dem  Fabiani!  Es  lebe  Marie!  Es  lebe 
die  Königin!  {Der  Balkon  wird  geschlossen.  Simon  Renard 
kommt  zur  Königin  zurück) 

SIMON  RENARD.  Was  ich  eben  getan  habe,  wird  mir 
nie  von  der  Prinzessin  Elisabeth  verziehen  werden. 
KÖNIGIN.    Noch  von  der  Königin  Marie.— Laßt  mich, 
mein  Herr.    {Sie  verabschiedet  mit  einer  Bewegung  alle 
Anwesende) 

SIMON  RENARD  {leise  zu  Meister  Aneas).  Meister  Äneas, 
wacht  über  die  Hinrichtung! 

MEISTER  ÄNEAS.  Verlaßt  Euch  auf  mich.  {Simon  Re- 
nard geht  ab.  Im  Augenblick^  wo  Meister  Aneas  hinaus- 
gehen will,  läuft  die  Königin  auf  ihn  zu,  ergreift  ihn  am 
Arm  und  führt  ihn  heftig  atif  den  Vordergrund  der  Bühne 
zurück) 

* 


MARIA  TUDOR.  DRITTE  HANDLUNG      509 

ZEHNTE  SZENE 
Die  K'ö7ngin.  Meister  Äneas. 
STIMMEN  VON  AUSSEN.  Tod  dem  Fabiani!   Fabiani! 
Fabiani! 

KÖNIGIN.  Welcher  Kopf  deucht  dir  in  diesem  Augen- 
blicke mehr  wert  zu  sein,  der  von  Fabiani  oder  der  deinige? 

MEISTER  ÄNEAS.  Madame 

j  KÖNIGIN.   Du  bist  ein  Verräter! 
MEISTER  ÄNEAS.  Madame!  {Beiseite:)  Teufel! 
\  KÖNIGIN.  Keine  Erklärungen.  Ich  schwöre  es  bei  meiner 
jMutter:  Fabiano  tot,  du  tot. 

MEISTER  ÄNEAS.  Aber  Madame 

KÖNIGIN.  Rette  Fabiano,  und  du  rettest  dich.  Nichts 

anders. 

GESCHREI.  Tod  dem  Fabiani!  Fabiani! 

MEISTER  ÄNEAS.    Lord  Clanbrassil  retten!    Aber  das 

Volk  ist  da,  das  ist  unmöglich.  Welches  Mittel:  .  .  . 

KÖNIGIN.  Suche. 

MEISTER  ÄNEAS.  Was  tun,  mein  Gott! 

KÖNIGIN.  Tue,  als  wäre  es  für  dich. 

MEISTER  ÄNEAS.    Aber   das  Volk  bleibt  unter   den 

Waffen  bis   nach   der   Hinrichtung.    Man   muß  jemand 

köpfen,  um  es  zu  beruhigen. 

KÖNIGIN.  Wie  du  willst. 

MEISTER  ÄNEAS.  Wie  ich  will?  Wartet,  Madame!  . .  . 

Die  Hinrichtung  findet  des  Nachts  statt,  bei  Fackelschein, 

der  Verdammte,  mit  einem  schwarzen  Schleier  bedeckt, 

geknebelt,  das  Volk  wie  immer  durch  die  Lanzenknechte 

weit  vom  Schafott  gehalten,  es  genügt,  wenn  es  einen 

Kopf  fallen  sieht.    Die  Sache  ist  möglich. — Wenn   der 

Schiffer  noch  da  ist;   ich  sagte  ihm,   er  solle  sich  nicht 

eilen.    (^Er  geht  an  das  Fenster,  von  dem  maft  die  Themse 

sieht:)  Er  ist  noch  da;  aber  es  war  Zeit.  [Er  hängt  sich 

zum  Fenster  hinaus,  eine  Fackel  in  der  Hand,  u?td  schwenkt 

sein  Schmipftuch,  da7in  sich  zur  Königin  wendend^ — Es  ist 

gut. — Ich  stehe  Euch  für  das  Leben  des  Mylord  Fabiani. 

KÖNIGIN.  Mit  deinem  Kopfe: 

MEISTER  ÄNEAS.  Mit  meinem  Kopfe! 


5IO  ÜBERSETZUNGEN 

ZWEITE  ABTEILUNG 

Ein  Saal,  auf  welchen  zwei  Treppen  gehen^  wovon  die  eine 
auf-^  und  die  aridere  abwärts  führt.  Der  Ausgang  auf  jede 
dieser  beiden  Treppen  nimmt  einen  Teil  des  Hintergrundes 
ein.  Die  aufwärts  fuhrende  Treppe  verliert  sich  in  den 
Friesen,  die  abwärts  führende  verliert  sich  nach  unten. 
Man  sieht  weder ^  woher  diese  Treppen  kommen.,  noch  wo- 
hin sie  gehen. — 

Der  Saal  ist  auf  eine  eigene  Art  ausgeschlagen;  die  Mauer 
zur  Rechten,  die  Mauer  zur  Linken  und  die  Decke  sind 
mit  einem  schwarzen  Tuche  bedeckt,  das  von  einem  großen 
weißen  Kreuze  durchschnitten  wird;  der  Hintergrund,  dem 
Zuschauer  gege?iüb er,  ist  dagegen  mit  einem  weißen  Tuche 
behäfigt,  ivorauf  sich  ein  großes  schwarzes  Kreuz  befindet. 
Dieser  schwarze  und  weiße  Überzug  erstreckt  sich  jeder  auf 
seiner  Seite  bis  unter  die  beiden  Treppen.  Zur  Recht e7i  und 
zur  Linken  ein  schwarz  und  weiß  gedeckter  und  für  ein 
Leichenbegängnis  geschjiückter  Altar.  Große  Wachskerzen., 
keine  Priester.  Billige  Totenlampen,  die  hie  und  da  an  den 
Gewölben  aufgehängt  si?id,  erleuchten  schwach  den  Saal 
und  die  Treppen.  Eigentlich  wird  der  Saal  durch  das  große 
weiße  7uch  im  Hintergrunde  erleuchtet,  durch  welches  ein 
rötliches  Licht  fällt,  als  wäre  eine  ungeheure,  glühende  Esse 
dahinter.  Der  Saal  ist  mit  Grabsteinen  geplattet.  Bei  dem 
Aufziehen  des  Vorhangs  sieht  man  auf  dem  durchsichtigen 
Tuch  sich  den  schwarzen  und  unbeweglichen  Schattenriß 
der  Königin  zeichnen. 


ERSTE  SZENE 

Jane.  Joshua. 
[Sie  treten  vorsichtig  durch  eine  besondere  Türe  herein,  in- 
dem sie  eine7i  der  schwarzen  Ujnhäftge  aufheben.) 
JANE.   Wo  sind  wir,  Joshua? 

JOSHUA.   Auf  dem  großen  Absatz  der  Treppe,  welche 
die  Verurteilten  hinuntersteigen,  wenn  sie  zum  Tode  ge- 
führt werden.  Das  ist  unter  Heinrich  dem  Achten  so  aus- 
geschlagen worden. 
JANE.  Kein  Weg,  um  aus  dem  Turm  zu  kommen? 


MARIA  TUDOR.  DRITTE  HANDLUNG      511 

JOSHUA.  Das  Volk  bewacht  alle  Ausgänge.  Es  will  dies- 
mal seines  Verdammten  gewiß  sein.  Niemand  kann  vor 
der  Hinrichtung  hinaus. 

TAXE.    Die  Verkündigung  von  diesem  Balkon  herunter 
tönt  mir  noch  in  den  Ohren.  Habt  Ihr  es  gehört,  als  wir 
unten  waren?  Das  alles  ist  entsetzlich,  Joshua. 
JOSHUA.    Ah,    da   habe   ich  schon  ganz  andere  Dinge 
gesehen! 

JANE.  Wenn  es  nur  Gilbert  zu  entkommen  gelang!  Glaubt 
Ihr,  daß  er  gerettet  ist,  Joshua.^ 
JOSHUA.   Gerettet.^  Gewiß! 
JANE.   Gewiß,  guter  Joshua? 

JOSHUA.  Der  Turm  ist  vom  Wasser  her  nicht  beunruhigt 
worden.  Und  dann  war  der  Aufruhr,  als  er  abfuhr,  nicht 
das,  was  er  seitdem  geworden  ist.  Das  war  ein  schöner 
Aufruhr! 

JANE.  Ihr  seid  gewiß,  daß  er  gerettet  ist? 
JOSHUA.   Und  daß  er  Euch  zu  dieser  Stunde  unter  dem 
ersten  Bogen  der  Londoner  Brücke  erwartet,  wo  Ihr  ihn 
vor  Mitternacht  trefifen  werdet. 

JANE.  Mein  Golt!  er  wird  unruhig  sein.  [Ijidem  sie  den 
Schatten  der  Königin  be??ierkt-^  Himmel,  was  ist  das, 
Joshua? 

JOSHUA  {leise,  indefn  er  sie  hei  der  Hand  faßt).  Still! — 
Es  ist  die  Löwin,  die  lauert.  [Während  Jane  mit  Schrecken 
den  schwarzen  Schattenriß  betrachtet,  hört  man  eine  ent^ 
fernte  Stimme,  die  von  obe?i  herunter  zu  kommen  scheint^ 
langsam  und  deutlich  folgende  Worte  sprechen:)  Der,  wel- 
cher hinter  mir  geht,  mit  diesem  schwarzen  Schleier  be- 
deckt, ist  der  sehr  hohe  und  sehr  mächtige  Herr  Fabiano 
Fabiani,  Graf  von  Clanbrassil,  Baron  von  Dynasmonddy, 
Baron  von  Darmouth  in  Devonshire,  welcher  auf  dem 
Markt  von  London  als  Königsmörder  rmd  Hochverräter 
enthauptet  werden  wird. — Gott  erbarme  sich  seiner  Seele! 
EINE  ANDERE  STIMME.  Betet  für  ihn! 
JANE  {zitternd).  Joshua,  hört  Ihr? 
JOSHUA.  Ja.  Ich  höre  dergleichen  alle  Tage. 
(Ein  Leichenzug  erscheint  oben  auf  der  Treppe,  auf  deren 
Stufen  er  sich  langsam  im  Herabsteigen  entwickelt.  An  der 


5 1 2  ÜBERSETZUNGEN 

Spitze  ein  schwarzgekleideter  Mann^  der  ein  weißes  Banner 
mit  einem  schwarzen.  Kreuz  trägt.  Dann  Meister  Äneas 
Didverton  im  großen  schwarzen  Mantel.,  den  iveißen  Kon- 
stahlerstab  in  der  Hand;  dann  ein  Haufe  rotgekleideter 
H ellebar diere.  Dann  der  Henker.^  seine  Axt  auf  der  Schulter., 
das  Eisen  auf  den.,  der  ihm  folgte  gerichtet.  Dann  einMaiin 
ganz  in  eifien  großen  schwarzen  Schleier  gehüllt^  der  ihm 
nachschleppt.  Man  sieht  vofi  diesem  Manne  nichts  als  seinen 
nackten  Arm,  der  durch  eine  in  das  Leiche^ituch  gemachte 
Öffnung  gellt  und  eine  brennende  Kerze  von  gelbem  Wachse 
trägt.  Zur  Seite  dieses  Mannes  ein  Priester  im  Totenkleide. 
Dann  eine  Truppe  rotgekleideter  Hellebardiere.  Dann  ein 
iveißgekleideter  Mann.,  der  ein  schwarzes  Banner  mit  einem 
weißen  Kreuze  trägt.  Zur  Rechten  und  zur  Linken  zwei 

Reihen  von  Hellebar dieren.,  die  Fackeln  tragen)^ 
JANE.  Joshua,  seht  Ihr? 

JOSHUA.  Ja.  Ich  sehe  dergleichen  alle  Tage. 
(Der  Zug  hält  im  Augenblick^  wo  er  auf  die  Bühne  tritt.) 
MEISTER  ÄNEAS.  Der,  welcher  hinter  mir  geht,  mit 
diesem  schwarzen  Schleier  bedeckt,  ist  der  sehr  hohe  und 
sehr  mächtige  Herr  Fabiano  Fabiani,  Graf  von  Clanbrassil, 
Baron  von  Dynasmonddy,  Baron  von  Darmouth  in  Devon- 
shire,  welcher  auf  dem  Markte  von  London  als  Königs- 
mörder und  Hochverräter  enthauptet  werden  wird. — Gott 
erbarme  sich  seiner  Seele! 

DIE  BEIDEN  BANNERTRÄGER.  Betet  für  ihn! 
{per  Zug  geht  langsam  über  den  Hintergrund  der  Bü/me) 
JANE.  Entsetzlich,  was  wir  da  sehen,  Joshua.  Es  macht 
mir  das  Blut  stocken. 
JOSHUA.  Dieser  elende  Fabiani! 

JANE.  Friede,  Joshua!  Sehr  elend,  aber  sehr  unglücklich! 
[Der  Zug  gelangt  zur  andern  Treppe.  Simon  Renard.,  der 
seit  einigen  Augenblicken  am  Eingange  dieser  Treppe  er- 
schienen ist  und  alles  beobachtet  hat^  tritt  auf  die  Seite ^  um 
ihfi  vorbeizulassen.  Der  Zug  senkt  sich  unter  das  Treppen- 
gewölbe., wo  er  nach  und  nach  verschwindet.  Jane  sieht  ihm 

voll  Schrecken  nach.) 
SIMON  REN  ARD  {nachdem  der  Zug  verschwunden  ist). 
Was  bedeutet  das?  Ist  das  auch  Fabiani?  Ich  hielt  ihn  für 


MARIA  TUDOR.  DRITTE  HANDLUNG      513 

weniger  groß.  Sollte  Meister  Äneas  .  .  .?  Es  ist  mir,  als 
hätte  die  Königin  ihn  einen  Augenblick  bei  sich  behalten. 
Ich  will  doch  sehen!  {Er  eilt  die  Treppe  hinunter  dem 
Zuge  nach.) 

EINE  STIMME  {die  sich  mehr  und  mehr  e?itfernt).  Der, 
welcher  hinter  mir  geht,  mit  diesem  schwarzen  Schleier 
bedeckt,  ist  der  sehr  hohe  und  sehr  mächtige  Herr  Fabiano 
Fabiani,  Graf  von  Clanbrassil,  Baron  von  Dynasmonddy, 
Baron  von  Darmouth  in  Devonshire,  welcher  auf  dem 
Markte  von  London  als  Königsmörder  und  Hochverräter 
enthauptet  werden  wird. — Gott  erbarme  sich  seiner  Seele! 
EINE  ANDERE  STIMME  {fast  unvernehmbar).  Betet  für 
ihn! 

JOSHUA.  Die  große  Glocke  wird  sogleich  seinen  Aus- 
tritt aus  dem  Turme  verkündigen.  Es  wird  Euch  jetzt 
vielleicht  möglich  sein,  hinauszukommen.  Ich  muß  sehen, 
wie  es  gehen  kann.  Erwartet  mich  hier;  ich  komme  gleich 
wieder. 

JANE.  Ihr  verlaßt  mich,  Joshua.^  Ich  werde  mich  fürchten. 
Allein  hier,  mein  Gott! 

JOSHUA.    Ihr  könntet  nicht  ohne  Gefahr  den  ganzen 
Turm  mit  mir  durchlaufen.    Ich  muß  Euch  zum  Turme 
hinausschaffen.  Bedenkt,  daß  Gilbert  Euch  erwartet. 
JANE.  Gilbert!  Alles  für  Gilbert!  Geht!    {Joshua  ab) 

JANE  (allein).  O  welch  schreckliches  Schauspiel!  Wenn 
ich  denke,  daß  das  so  für  Gilbert  gewesen  wäre!  {Sie 
kniet  auf  den  Stufen  des  einen  Altares  nieder?^  O,  Dank! 
du  bist  ja  wahrlich  der  rettende  Gott,  du  hast  Gilbert  ge- 
rettet! {Das  Tuch  im  Hinte?-grund  öffnet  sich  halb,  die 
Königin  erscheint^  sie  geht  mit  längs ameft  Schritten  auf  den 
Vordergrund  der  Bühne,  ohne  Jane  zu  sehen) 
JANE  {sich  wegwendend).  Gott!  die  Königin. 


ZWEITE  SZENE 

Jane.  Die  Königin. 
JANE  {klammert  sich  vor  Schrecken  an  den  Altar  und  heftet 
auf  die  Königin  einen  starren^  erschrockenen  Blick), 

BÜCHNER  33. 


514  ÜBERSETZUNGEN 

KÖNIGIN.  [Sie  blickt  einige  Augenblicke  auf  den  Vorder- 
grund der  Bühne,  das  Auge  starr ^  bleich,  zvie  in  düsteres 
Ti'äunien  verloren.  Endlich  stößt  sie  einen  tiefen  Seufzer 
aus)  O,  das  Volk!  [Sie  sieht  unruhig  um  sich  und  erblickt 
Jane:)  Jemand  da? — Du  bist  es,  junges  Mädchen?  Ihr  seid 
es,  Lady  Jane?  Ich  erschrecke  Euch.  Geht  doch,  fürchtet 
nichts.  Ihr  wißt,  der  Kerkermeister  Äneas  hat  uns  ver- 
raten. Fürchtet  doch  nichts,  Kind,  ich  habe  dir  es  schon 
gesagt,  du  hast  nichts  von  mir  zu  fürchten.  Was  vor 
einem  Monat  dein  Verderben  war,  ist  heute  dein  Heil. 
Du  liebst  Fabiano.  Nur  du  und  ich  hatten  unter  dem 
Himmel  so  ein  Herz,  du  und  ich  liebten  ihn.  Wir  sind 
Schwestern. 
JANE.  Madame  .... 

KÖNIGIN.  Ja,  ja!  du  und  ich,  zwei  Weiber,  das  ist  alles, 
was  er  für  sich  hat;  gegen  sich — alles  übrige,  eine  ganze 
Stadt,  ein  ganzes  Volk,  eine  ganze  Welt!  Ungleicher 
Kampf  der  Liebe  gegen  den  Haß!  Die  Liebe  für  Fabiani 
ist  traurig,  zitternd,  sinnlos;  sie  hat  deine  bleiche  Stirne, 
sie  hat  meine  Augen  voll  Tränen,  sie  verbirgt  sich  bei 
einem  Totenaltar;  sie  betet  durch  deinen  Mund,  sie  flucht 
durch  den  meinigen.  Der  Haß  gegen  Fabiani  ist  stolz, 
freudig,  triumphierend,  ist  bewaffnet  und  siegreich,  hat 
den  Hof,  hat  das  Volk,  hat  Straßen  voll  Menschenhaufen, 
brüllt  nach  Mord  und  jauchzt  vor  Freude,  er  ist  stolz  und 
gewaltig  und  allmächtig;  er  erleuchtet  eine  ganze  Stadt 
um  ein  Schafott.  Die  Liebe,  hier  ist  sie,  zwei  Weiber  in 
Trauer  in  einem  Grabe;  der  Haß,  da  ist  er!  [Sie  reißt 
heftig  das  Tuch  i^n  Hintergrunde  weg^  so  daß  man  einen 
Balkon  erblickt  und  weiter  hinaus  in  schwarzer  Nacht  die 
Stadt  London  glänzend  erleuchtet.  Was  man  vom  Tower 
sieht,  ist  ebenfalls  erleuchtet.  Jane  richtet  ihre  Augen  er- 
staunt auf  dies  blendende  Schauspiel,  dessen  Widerschein  die 
Bühne  erhellt)  O  schändliche  Stadt!  rebellische  Stadt! 
verfluchte  Stadt!  Ungeheuer,  das  sein  Festkleid  in  Blut 
taucht  und  dem  Henker  die  Fackel  hält!  Du  entsetzest 
dich  davor,  Jane,  nicht  wahr?  Ist  es  dir  nicht  wie  mir,  als 
ob  sie  uns  feig  höhnte  und  uns  mit  ihren  hunderttausend 
glühenden  Augensternen  anstierte,  uns  schwache,  ver- 


MARIA  TUDOR.  DRITTE  HANDLUNG      5 1 5 

lassene  Weiber,  verloren  und  allein  in  diesem  Grab:  Jane, 
hörst  du  die  entsetzliche  Stadt,  wie  sie  lacht  und  heult? 
O,  England,  England  dem,  der  London  vernichtet!  O, 
wie  möchte  ich  diese  Fackeln  in  Brände,  diese  Lichter 
in  FJammen  und  diese  strahlende  Stadt  in  einen  Glut- 
haufen verwandeln  können! 

[Ein  ungeheures  Getöse  erhebt  sich  außen.  Beifall.  Ver- 
wirrtes Geschrei:  ''''Da  ist  er!  da  ist  er!  Tod  dem  fabiani!'^ 
— Man  hört  die  große  Glocke  des  Londoner  Turms  läuten; 
bei  diesem  Geräusch  bricht  die  Königin  in  ei?i  schreckliches 

Lachen  atis.) 
JANE.    Großer  Gott!  jetzt  geht  der  Elende  hinaus.— Ihr 
lacht,  Madame! 

KÖNIGIN.  Ja,  ich  lache!  {Sie  lacht.)  Ja,  und  du  mußt 
auch  lachen!  Aber  zuvor  muß  ich  diesen  Vorhang  schlie- 
ßen; es  ist  mir  immer,  als  wären  wir  nicht  allein  und  als 
hörte  und  sähe  uns  diese  entsetzliche  Stadt.  (Sie  schließt 
de?i  weißen  Vorhang  und  kommt  zu  Ja7ie  zurück.)  Jetzt,  da 
er  hinaus,  jetzt,  da  keine  Gefahr  mehr  ist,  kann  ich  dir 
es  sagen.    Aber  lache  doch;  wir  wollen  über  dieses  ab- 
scheuliche Volk  lachen,  das  Blut  säuft.  O,  das  ist  ent- 
zückend!   Jane!   du  zitterst   für  Fabiano;    sei   ruhi^  und 
lache  mit  mir.  Jane!  der  Mann,  den  sie  haben,  der  Mann, 
welcher  sterben  wird,   der  Mann,   den   sie  für  Fabiano 
halten,  der  ist  nicht  Fabiano.   {Sie  lacht.) 
JANE.  Ist  nicht  Fabiano? 
KÖNIGIN.  Nein! 
JANE.  Werdann: 
KÖNIGIN.  Der  andere. 
JANE.   Wer? 

KÖNIGIN.  Du  weißt  ja,  du  kennst  ihn,  dieser  Arbeiter, 
dieser  Mensch  .  .  . — Übrigens  was  liegt  daran: 
lANE  {bebt  am  ganzen  Leibe).   Gilbert: 
KÖNIGIN.  Ja,  Gilbert,  das  ist  der  Name. 
JANE.  Madame!  o  nein,  Madame!   O,  sagt,  daß  es  nicht 
so  ist,  Madame!   Gilbert— das  wäre  zu  entsetzlich!   Er  ist 
entwischt. 

KÖNIGIN.  Er  entwischte  in  der  Tat,  als  man  ihn  ergriff. 
Man  hat  ihn  statt  Fabianis  unter  den  schwarzen  Schleier 


5i6  ÜBERSETZUNGEN 

gesteckt.  Die  Hinrichtung,  sie  ist  nachts,  das  Volk  kann 
nichts  sehen.   Sei  ruhig. 

JANE  {init  emej?i  entsetzlichen  Schrei).  Ah,  Madame,  Gil- 
bert ist  der,  den  ich  liebe! 

KÖNIGIN.  Wie?  Was  sagst  du?  Kommst  du  um  deine 
Sinne?  Täuschtest  du  mich  auch,  du?  Ah,  diesen  Gilbert 
liebst  du!  Nun  denn,  was  liegt  mir  daran? 
JANE  {gebrochen^  zu  den  Füßen  der  Königin^  schluchzend^ 
sich  auf  den  Knien  schleppe7id^  die  Hände  ringend.  Die 
große  Glocke  läutet  während  dieser  ganzen  Szene).  Madame, 
Erbarmen!  Madame,  im  Namen  des  Himmels!  Madame, 
bei  Eurer  Krone,  bei  Eurer  Mutter,  bei  den  Engeln! 
Gilbert!  Gilbert!  Das  macht  mich  toll.  Madame,  rettet 
Gilbert!  Dieser  Mann  ist  mein  Leben,  dieser  Mann  ist 
mein  Gemahl,  dieser  Mann  ....  ich  sage  Euch,  er  hat 
alles  für  mich  getan,  er  hat  mich  erzogen,  mich  ange- 
nommen, er  hat  an  meiner  Wiege  meinen  Vater  ersetzt, 
der  für  Eure  Mutter  gestorben  ist.  Madame,  Ihr  seht 
wohl,  daß  ich  ein  armes,  elendes  Geschöpf  bin,  und  daß 
man  nicht  streng  gegen  mich  sein  darf.  Was  Ihr  eben 
gesagt,  war  ein  so  schrecklicher  Schlag,  daß  ich  wahr- 
haftig nicht  weiß,  wie  ich  die  Kraft  habe,  mit  Euch  zu 
reden.  Seht,  ich  sage,  was  ich  kann.  Aber  Ihr  müßt  die 
Hinrichtung  aufschieben  lassen.  Sogleich  die  Hinrichtung 
aufschieben.  Die  Sache  auf  morgen  verlegen.  Zeit  sich 
zu  finden,  das  ist  alles.  Dies  Volk  kann  wohl  bis  morgen 
warten.  Wir  wollen  sehen,  was  zu  machen  ist.  Nein, 
schüttelt  den  Kopf  nicht.  Keine  Gefahr  für  Euern  Fabiani. 
Ihr  könnt  mich  statt  seiner  nehmen.  Unter  dem  schwarzen 
Schleier,  die  Nacht,— wer  sollte  was  merken?  Aber  rettet 
Gilbert!  Was  macht  Euch  das,  ich  oder  er?  Endlich,  ich 
will  ja  sterben,  ich!— O  mein  Gott,  diese  Glocke,  diese 
entsetzliche  Glocke!  Jeder  dieser  Glockenschläge  ist  ein 
Schritt  zum  Schafott,  jeder  dieser  Glockenschläge  trifft 
mein  Herz.— Tut  das,  Madame,  habt  Erbarmen!  Keine 
Gefahr  für  Euren  Fabiano.  Laßt  mich  Eure  Hände  küssen. 
Ich  liebe  Euch,  Madame,  ich  habe  es  Euch  noch  nicht 
gesagt;  aber  ich  liebe  Euch  sehr.  Ihr  seid  eine  große 
Königin.    Seht,  wie  ich  Eure  schönen  Hände  küsse.  O, 


MARIA  TUDOR.  DRITTE  HANDLUNG      517 

ein  Befehl  zum  Aufschub  der  Hinrichtung!  Es  ist  noch 
Zeit.  Ich  versichere  Euch,  es  ist  sehr  leicht.  Sie  gehen 
langsam.  Es  ist  weit  vom  Turm  bis  zum  alten  Markt. 
Der  Mann  auf  dem  Balkon  hat  gesagt,  man  würde  durch 
Charing-Croß  gehen.  Es  gibt  einen  nähern  Weg.  Ein 
Mann  zu  Pferde  würde  noch  beizeit  ankommen.  Im  Na- 
men des  Himmels,  Madame,  habt  Erbarmen!  Endlich, 
stellt  Euch  an  meinen  Platz,  nehmt  an,  ich  sei  die  Kö- 
nigin und  Ihr  das  arme  Mädchen,  Ihr  würdet  weinen,  wie 
ich,  und  ich  würde  barmherzig  sein.  Gnade,  Madame! 
Oh!  das  fürchtete  ich,  die  Tränen  möchten  mich  am  Reden 
hindern.  Oh!  sogleich  die  Hinrichtung  aufschieben,  das  ist 
nicht  schwer,  Madame;  keine  Gefahr  für  Fabiano,  ich 
schwöre  es  Euch!  Findet  Ihr  denn  wirklich  nicht,  daß 
man  tun  muß,  was  ich  da  sage,  Madame? 
KÖNIGIN  (erweicht^  indem  sie  Jane  aufhebt).  Ich  möchte 
es,  Unglückliche.  Ach!  du  weinst  ja,  wie  ich  weinte;  was 
du  empfindest,  ich  habe  es  empfunden.  Meine  Qual  läßt 
mich  Mitleid  mit  der  deinigen  haben.  Sieh,  ich  weine 
auch.  Das  ist  sehr  unglücklich,  armes  Kind!  Ohne  Zweifel, 
man  hätte  wohl  einen  andern  nehmen  können,  Tyrconnel 
zum  Beispiel;  aber  er  ist  zu  bekannt,  man  brauchte  einen 
Unbekannten.  Man  hatte  nur  den  da  zur  Hand.  Ich  er- 
kläre dir  das,  damit  du  begreifst,  siehst  du.  O,  mein  Gott! 
es  gibt  so  Zufälle.  Man  ist  gefangen.  Man  kann  nichts 
dazu. 

JANE.  Ja,  ich  verstehe  Euch  wohl,  Madame.  Das  ist  wie 
bei  mir,  ich  hätte  Euch  noch  manches  zu  sagen;  aber  ich 
wollte,  der  Befehl  zum  Aufschub  wäre  unterschrieben, 
und  der  Mann  fortgeschickt.  Seht,  die  Sache  ist  dann 
abgetan.  Wir  sprechen  besser  darnach.  O,  diese  Glocke! 
immer  diese  Glocke! 
KÖNIGIN.  Unmöglich,  Lady  Jane. 
JANE.  Doch,  es  ist  möglich.  Ein  Mann  zu  Pferde.  Es 
gibt  einen  sehr  kurzen  Weg  an  dem  Staden  hin.  Ich  will 
gehen,  ich.  Es  ist  möglich.  Es  ist  leicht.  Ihr  seht,  ich 
spreche  ganz  ruhig. 

KÖNIGIN.    Aber  das  Volk  würde  es  nicht  leiden,   es 
würde  zurückkommen,   alles  im  Turme  ermorden,  und 


5i8  ÜBERSETZUNGEN 

Fabiani  ist  noch  da.  Begreife  denn  doch.  Du  zitterst, 
armes  Kind;  ich  bin  wie  du,  ich  zittere  auch.  Stelle  dich 
einmal  an  meinen  Platz.  Endlich,  ich  hätte  wohl  nicht 
nötig,  mir  die  Mühe  zu  nehmen,  dir  das  zu  erklären.  Du 
siehst,  ich  tue,  was  ich  kann.  Denke  nicht  mehr  an  diesen 
Gilbert,  Jane,  das  ist  aus.  Fasse  dichl 
JANE.  Aus!  Nein,  es  ist  nicht  aus!  Solange  diese  schreck- 
liche Glocke  läutet,  ist  es  nicht  aus!  Mich  fassen  bei  dem 
Tod  von  Gilbert!  Glaubt  Ihr,  ich  würde  Gilbert  so  sterben 
lassen.-  Nein,  Madame!  Ha,  ich  verliere  meine  Mühe! 
Ha,  Ihr  hört  mich  nicht!  Nun  denn,  das  Volk  wird  mich 
hören,  wenn  die  Königin  mich  nicht  hört!  Ha,  sie  sind 
gut,  die  Leute  vom  Volk!  Das  Volk  ist  noch  in  diesem 
Hofe.  Ihr  mögt  dann  mit  mir  machen,  was  Ihr  wollt. 
Ich  werde  ihnen  zuschreien,  daß  man  sie  betrügt  und 
daß  es  Gilbert  ist,  ein  Arbeiter,  wie  sie,  und  daß  es  nicht 
Fabiani  ist. 

KÖNIGIN.  Halt,  elendes  Kind!  (Sie  ergreift  sie  am  Arme 
und  betrachtet  sie  mit  einem  furchtbaren  Blick?)  Ha!  du 
nimmst  es  so?  Ha!  ich  bin  gut  und  sanft,  und  ich  weine 
mit  dir,  und  jetzt  wirst  du  toll  und  rasend.  Ha!  meine 
Liebe  ist  so  groß  wie  deine,  und  meine  Hand  ist  stärker 
als  deine.  Du  rührst  dich  nicht!  Ah,  dein  Geliebter!  Was 
geht  mich  dein  Geliebter  an?  Sollen  denn  alle  Mädchen 
Englands  kommen  und  Rechenschaft  von  mir  wegen  ihrer 
Geliebten  fordern?  Bei  Gott!  ich  rette  den  meinigen,  so 
gut  ich  kann,  und  auf  Unkosten  dessen,  der  mir  in  den 
Weg  kommt.  Wacht  ihr  über  die  eurigen? 
JANE.  Laßt  mich!— 0,  ich  fluche  Euch,  abscheuliches 
Weib! 

KÖNIGIN.  Still! 

JANE.  Nein,  ich  will  nicht  schweigen.  Und  soll  ich  Euch 
auch  einen  Gedanken  sagen,  der  mir  eben  kommt?  Ich 
glaube  nicht,  daß  der,  welcher  sterben  wird,  Gilbert  ist. 
KÖNIGIN.  Was  sagst  du? 

JANE.  Ich  weiß  nicht.  Aber  ich  sah  ihn  unter  dem 
schwarzen  Schleier  vorbeigehen.  Es  ist  mir,  als  müßte 
sich  etwas  in  mir  geregt,  sich  etwas  empört,  sich  etwas 
in  meinem  Herzen  erhoben  und  mir  zugerufen  haben: 


MARIA  TUDOR.  DRITTE  HANDLUNG      519 

''Gilbert!  es  ist  Gilbert!",  wenn  es  Gilbert  gewesen  wäre. 
Ich  habe  nichts  gefühlt,  es  ist  nicht  Gilbert! 
KÖNIGIN.  Was  sagst  du  da?  Ah,  mein  Gott!  du  bist 
wahnwitzig;  was  du  sagst,  ist  toll,  und  doch  erschreckt  es 
mich.  Ah!  du  regst  eine  der  geheimsten  Qualen  meines 
Herzens  auf.  Warum  hat  mich  dieser  Aufstand  verhindert, 
selbst  über  alles  zu  wachen!  Warum  habe  ich  anderen, 
als  mir  selbst,  Fabianos  Rettung  anvertraut?  Äneas  Dul- 
verton  ist  ein  Verräter.  Simon  Renard  war  vielleicht  da. 
Wenn  ich  nicht  zum  zweitenmal  von  den  Feinden  Fa- 
bianos verraten  worden  bin!  Wenn  es  in  der  Tat  Fabiano 
wäre!  .  .  .  Jemand!  he!  jemand!  jemand!  [Zwei  Schließer 
treten  auf.  Zum  crsteui)  Ihr  lauft!  Hier  ist  mein  könig- 
licher Ring.  Sagt,  daß  man  die  Hinrichtung  aufschiebe. 
Auf  den  Alten  Markt!  den  Alten  Markt!  Es  gibt  einen 
kürzeren  Weg,  sagtest  du,  Jane? 
JANE.  An  dem  Staden  hin. 

KÖNIGIN  {zum  Schließer).  An  dem  Staden  hin.  Ein 
Pferd!  schnell!  {Der  Schließer  ab.  Zum  zweiten  Schließer:) 
Ihr  lauft  sogleich  zu  dem  Turme  von  Eduard.  Es  sind 
dort  zwei  Kerker  für  die  zum  Tode  Verdammten.  In 
einem  dieser  Kerker  ist  ein  Mann.  Bringt  ihn  sogleich 
her.  {Der  Schließer  ab.)  Ach,  ich  zittere!  meine  Knie 
brechen;  ich  hätte  nicht  Kraft  genug,  selbst  zu  gehen. 
Ach,  du  machst  mich  toll,  wie  du!  Ach,  elende  Dirne, 
du  machst  mich  unglücklich,  wie  du!  Ich  fluche  dir,  wie 
du  mir  fluchst.  Mein  Gott!  wird  der  Mann  noch  beizeit 
ankommen?  Welche  entsetzliche  Angst!  Ich  sehe  nichts 
mehr.  Alles  ist  wirr  in  meinem  Geist.  Diese  Glocke,  für 
wen  tönt  sie?  Ist  es  für  Gilbert?  ist  es  für  Fabiani? 
JANE.   Die  Glocke  schweigt. 

KÖNIGIN.    Dann  ist  der  Zug  auf  dem  Richtplatz.    Der 
Mann  kann  nicht  mehr  ankommen.  {Man  hört  einen  Ka- 
7tone?ischuß.) 
JANE.  Himmel! 

KÖNIGIN.  Er  steigt  auf  das  Schafott.  {Zweiter  Kanoneip- 
schuß.)  Er  kniet  nieder. 

JANE.  Das  ist  entsetzlich!  {Dritter  Kanonenschuß) 
BEIDE.  Ach!  .  .  . 


520  ÜBERSETZUNGEN 

KÖNIGIN.  Es  lebt  nur  noch  einer.  In  einem  Augenblick 
wissen  wir,  welcher.  Mein  Gott!  gib,  daß  es  Fabiani  ist, 
der  hereintritt. 
JANE.  Mein  Gott!  gib,  daß  es  Gilbert  ist. 

(Der  Vorhang  im  Hintergrunde  Öffnet  sich.  Simon  Renard 

tritt  ein^  Gilbert  an  der  Hand^ 
JANE.  Gilbert!  {Sie  fliegen  einander  in  die  Arme.) 
KONIGIN.  Und  Fabiano? 
SIMON  RENARD.  Tot. 
KONIGIN.  Tot:  .  .  .  Tot!  Wer  wagte  .  .  .: 
SIMON  RENARD.  Ich.  Ich  habe  England  und  die  Kö- 
nigin gerettet. 


' 


BRIEFE 


)   5  23  C 

STRASSBURG  1831-1833 

AX  DIE  FAMILIE  Straßburg,  im  Oktober  1831. 

Als  sich  das  Gerücht  verbreitete,  daß  Romarhw  durch 
Straßburg  reisen  würde,  eröfifneten  die  Studenten  sogleich 
eine  Subskription  und  beschlossen,  ihm  mit  einer  schwar- 
zen Fahne  entgegenzuziehen.  Endlich  traf  die  Nachricht 
hier  ein,  daß  Romarino  den  Nachmittag  mit  den  Gene- 
rälen Schneider  und  Lmigermann  ankommen  würde.  Wir 
versammelten  uns  sogleich  in  der  Akademie;  als  wir  aber 
durch  das  Tor  ziehen  wollten,  ließ  der  Offizier,  der  von 
der  Regierung  Befehl  erhalten  hatte,  uns  mit  der  Fahne 
nicht  passieren  zu  lassen,  die  Wache  unter  das  Gewehr 
treten,  um  uns  den  Durchgang  zu  wehren.  Doch  wir 
brachen  mit  Gewalt  durch  und  stellten  uns  drei-  bis  vier- 
hundert Mann  stark  an  der  großen  Rheinbrücke  auf.  An 
uns  schloß  sich  die  Nationalgarde  an.  Endlich  erschien 
Romarino,  begleitet  von  einer  Menge  Reiter.  Ein  Stu- 
dent hält  eine  Anrede,  die  er  beantwortet,  ebenso  ein 
Xationalgardist.  Die  Nationalgarden  umgeben  den  Wagen 
und  ziehen  ihn;  wir  stellen  uns  mit  der  Fahne  an  die 
Spitze  des  Zugs,  dem  ein  großes  Musikkorps  vormarschiert. 
So  ziehen  wir  in  die  Stadt,  begleitet  von  einer  ungeheuren 
Volksmenge  unter  Absingung  der  Marseillaise  und  der 
Carmagnole;  überall  erschallt  der  Ruf:  Vive  la  lihertil 
vive  Romarinol  a  bas  les  ministres!  ä  bas  le  juste  milieul 
Die  Stadt  selbst  illuminiert,  an  den  Fenstern  schwenken 
die  Damen  ihre  Tücher,  und  Romarino  wird  im  Triumph 
bis  zum  Gasthof  gezogen,  wo  ihm  unser  Fahnenträger  die 
Fahne  mit  dem  Wunsch  überreicht,  daß  diese  Trauer- 
fahne sich  bald  in  Polens  Freiheitsfahne  verwandeln  möge. 
Darauf  erscheint  Romarino  auf  dem  Balkon,  dankt,  man 
ruft  Vivat— und  die  Komödie  ist  fertig. 

AN  DIE  FAMILIE  Straßburg,  im  Dezember  1831. 

Es  sieht  verzweifelt  kriegerisch  aus;  kommt  es  zum  Kriege, 
dann  gibt  es  in  Deutschland  vornehmlich  eine  babylonische 
Verwirrung,  und  der  Himmel  weiß,  was  das  Ende  vom 
Liede  sein  wird.  Es  kann  alles  gewonnen  und  alles  ver- 


524  BRIEFE 

loren  werden;  wenn  aber  die  Russen  über  die  Oder  gehn, 
dann  nehme  ich  den  Schießprügel,  und  sollte  ich's  in 
Frankreich  tun.  Gott  mag  den  allerdurchlauchtigsten  und 
gesalbten  Schafsköpfen  gnädig  sein;  auf  der  Erde  werden 
sie  hoffentlich  keine  Gnade  mehr  finden. 

AN  DIE  FAMILIE  Straßburg,  im  Februar  1832. 

Das  einzige  Interessante  in  politischer  Beziehung  ist,  daß 
die  hiesigen  republikanischen  Zierbengel  mit  roten  Hüten 
herumlaufen,  und  daß  Herr  Pirier  die  Cholera  hatte,  die 
Cholera  aber  leider  nicht  ihn. 

AN  DIE  FAMILIE  Straßburg,  im  Dezember  1832. 

Ich  hätte  beinahe  vergessen  zu  erzählen,  daß  der  Platz 
in  Belagerungsstand  gesetzt  wird  (wegen  der  holländischen 
Wirren).  Unter  meinem  Fenster  rasseln  beständig  die 
Kanonen  vorbei,  auf  den  öffentlichen  Plätzen  exerzieren 
die  Truppen,  und  das  Geschütz  wird  auf  den  Wällen  auf- 
gefahren. Für  eine  politische  Abhandlung  habe  ich  keine 
Zeit  mehr,  es  wäre  auch  nicht  der  Mühe  wert,  das  Ganze 
ist  doch  nur  eine  Komödie.  Der  König  und  die  Kammern 
regieren,  und  das  Volk  klatscht  und  bezahlt. 

AN  DIE  FAMILIE  Straßburg,  im  Januar  1833. 

Auf  Weihnachten  ging  ich  morgens  um  vier  Uhr  in  die 
Frühmette  ins  Minister.  Das  düstere  Gewölbe  mit  seinen 
Säulen,  die  Rose  und  die  farbigen  Scheiben  und  die 
kniende  Menge  waren  nur  halb  vom  Lampenschein  er- 
leuchtet. Der  Gesang  des  unsichtbaren  Chores  schien 
über  dem  Chor  und  dem  Altare  zu  schweben  und  den 
vollen  Tönen  der  gewaltigen  Orgel  zu  antworten.  Ich  bin 
kein  Katholik  und  kümmerte  mich  wenig  um  das  Schellen 
und  Knien  der  buntscheckigen  Pfaffen,  aber  der  Gesang 
allein  machte  mehr  Eindruck  auf  mich  als  die  faden,  ewig 
wiederkehrenden  Phrasen  unserer  meisten  Geistlichen, 
die  jahraus,  jahrein  an  jedem  Weihnachtstag  meist  nichts 
Gescheiteres  zu  sagen  wissen  als:  der  liebe  Herrgott  sei 
doch  ein  gescheiter  Mann  gewesen,  daß  er  Christus  grade 
um  diese  Zeit  auf  die  Welt  habe  kommen  lassen 


STRASSBURG  1833  525 

AN  DIE  FAMILIE  Straßburg,  den  5.  April  1833. 

Heute  erhielt  ich  Euren  Brief  mit  den  Erzählungen  aus 
Frankfurt.  Meine  Meinung  ist  die:  Wenn  in  unserer  Zeit 
etwas  helfen  soll,  so  ist  es  Gewalt.  Wir  wissen,  was  wir 
von  unseren  Fürsten  zu  erwarten  haben.  Alles,  was  sie 
bewilligten,  wurde  ihnen  durch  die  Notwendigkeit  abge- 
zwungen. Und  selbst  das  Bewilligte  wurde  uns  hinge- 
worfen wie  eine  erbettelte  Gnade  und  ein  elendes  Kinder- 
spielzeug, um  dem.  ewigen  Maulaffen  Volk  seine  zu  eng 
geschnürte  Wickelschnur  vergessen  zu  machen.  Es  ist 
eine  blecherne  Flinte  und  ein  hölzerner  Säbel,  womit  nur 
ein  Deutscher  die  Abgeschmacktheit  begehen  konnte  Sol- 
datchens zu  spielen.  Unsere  Landstände  sind  eine  Sa- 
tire auf  die  gesunde  Vernunft,  wir  können  noch  ein  Sä- 
kulum  damit  herumziehen,  und  wenn  wir  die  Resultate 
dann  zusammennehmen,  so  hat  das  Volk  die  schönen 
Reden  seiner  Vertreter  noch  immer  teurer  bezahlt  als 
der  römische  Kaiser,  der  seinem  Hofpoeten  für  zwei  ge- 
brochene Verse  20000  Gulden  geben  ließ.  Man  wirft 
den  jungen  Leuten  den  Gebrauch  der  Gewalt  vor.  Sind 
wir  denn  aber  nicht  in  einem  ewigen  Gewaltzustand?  Weil 
wir  im  Kerker  geboren  und  großgezogen  sind,  merken 
wir  nicht  mehr,  daß  wir  im  Loch  stecken  mit  angeschmie- 
deten Händen  und  Füßen  und  einem  Knebel  im  Munde. 
Was  nennt  Ihr  denn  gesetzlichen  Zustand?  Ein  Gesetz, 
das  die  große  Masse  der  Staatsbürger  zum  fronenden 
Vieh  macht,  um  die  unnatürlichen  Bedürfnisse  einer  un- 
bedeutenden und  verdorbenen  Minderzahl  zu  befriedigen? 
Und  dies  Gesetz,  unterstützt  durch  eine  rohe  Militärgewalt 
und  durch  die  dumme  Pfiffigkeit  seiner  Agenten,  dies  Ge- 
setz ist  eine  ewige,  rohe  Gewalt,  angetan  dem  Recht  und 
der  gesunden  Vernunft,  und  ich  werde  mit  Mund  und 
Hand  dagegen  kämpfen,  wo  ich  kann.  Wenn  ich  an  dem, 
was  geschehen,  keinen  Teil  genommen  und  an  dem,  was 
vielleicht  geschieht,  keinen  Teil  nehmen  werde,  so  ge- 
schieht es  weder  aus  Mißbilligung  noch  aus  Furcht,  son- 
dern nur  weil  ich  im  gegenwärtigen  Zeitpunkt  jede  revo- 
lutionäre Bewegung  als  eine  vergebliche  Unternehmung 
betrachte  und  nicht  die  Verblendung  derer  teile,  welche 


526  BRIEFE 

in  den  Deutschen  ein  zum  Kampf  für  sein  Recht  bereites 
Volk  sehen.  Diese  tolle  Meinung  führte  die  Frankfurter 
Vorfälle  herbei,  und  der  Irrtum  büßte  sich  schwer.  Irren 
ist  übrigens  keine  Sünde,  und  die  deutsche  Indififerenz  ist 
wirklich  von  der  Art,  daß  sie  alle  Berechnung  zuschanden 
macht.  Ich  bedaure  die  Unglücklichen  von  Herzen.  Sollte 
keiner  von  meinen  Freunden  in  die  Sache  verwickelt  sein: 

AN  DIE  FAMILIE  Straßburg,  im  Mai  1833. 

Soeben  erhalten  wir  die  Nachricht,  daß  in  Netistadt  die 
Soldateska  über  eine  friedliche  und  unbewaffnete  Ver- 
sammlung hergefallen  sei  und  ohne  Unterschied  mehrere 
Personen  niedergemacht  habe.  Ähnliche  Dinge  sollen  sich 
im  übrigen  Rheinbayern  zugetragen  haben.  Die  liberale 
Partei  kann  sich  darüber  grade  nicht  beklagen;  man  ver- 
gilt Gleiches  mit  Gleichem,  Gewalt  mit  Gewalt.  Es  wird 
sich  finden,  wer  der  Stärkere  ist. 

Wenn  Ihr  neulich  bei  hellem  Wetter  bis  auf  das  Münster 
hättet  sehen  können,  so  hättet  Ihr  mich  bei  einem  lang- 
haarigen, bärtigen  jungen  Mann  sitzend  gefunden.  Be- 
sagter hatte  ein  rotes  Barett  auf  dem  Kopf,  um  den  Hals 
einen  Kaschmir-Schal,  um  den  Kadaver  einen  kurzen 
deutschen  Rock,  auf  die  Weste  war  der  Name  "Rousseau" 
gestickt,  an  den  Beinen  enge  Hosen  mit  Stegen,  in  der 
Hand  ein  modisches  Stöckchen.  Ihr  seht,  die  Karikatur 
ist  aus  mehreren  Jahrhunderten  und  Weltteilen  zusammen- 
gesetzt: Asien  um  den  Hals,  Deutschland  um  den  Leib, 
Frankreich  an  den  Beinen,  1400  auf  dem  Kopf  und  1833 
in  der  Hand.  Er  ist  ein  Kosmopolit— nein,  er  ist  mehr, 
er  ist  St.  Simonistl  Ihr  denkt  nun,  ich  hätte  mit  einem 
Narren  gesprochen,  und  Ihr  int.  Es  ist  ein  liebenswür- 
diger junger  Mann,  viel  gereist. — Ohne  sein  fatales  Kostüm 
hätte  ich  nie  den  St.  Simonisten  verspürt,  wenn  er  nicht 
von  ^er  femme  in  Deutschland  gesprochen  hätte.  Bei  den 
Simonisten  sind  Mann  und  Frau  gleich,  sie  haben  gleiche 
politische  Rechte.  Sie  haben  nun  ihren  pere,  der  ist  St. 
Simon^  ihr  Stifter;  aber  billigerweise  müßten  sie  auch  eine 
mere  haben.  Die  ist  aber  noch  zu  suchen,  und  da  haben 
sie  sich  denn  auf  den  Weg  gemacht,  wie  Saul  nach  seines 


STR  ASSBURG  1833  527 

Vaters  Eseln,  mit  dem  Unterschied,  daß— denn  im  neun- 
zehnten Jahrhundert  ist  die  Welt  gar  weit  vorangeschrit- 
ten—daß die  Esel  diesmal  den  Saul  suchen.  Rousseau 
mit  noch  einem  Gefährten  (beide  verstehen  kein  Wort 
deutsch)  wollten  6\t  fef?ime  in  Deutschland  suchen;  man 
beging  aber  die  intolerante  Dummheit,  sie  zurückzuweisen. 
Ich  sagte  ihm,  er  hätte  nicht  viel  an  den  Weibern,  die 
Weiber  aber  viel  an  ihm  verloren;  bei  den  einen  hätte  er 
sich  ennuyiert  und  über  die  anderen  gelacht.  Er  bleibt 
jetzt  in  Straßburg,  steckt  die  Hände  in  die  Taschen  und 
predigt  dem  Volke  die  Arbeit,  wird  für  seine  Kapazität 
gut  bezahlt  und  niarche  vers  les  fenwies,  wie  er  sich  aus- 
drückt. Er  ist  übrigens  beneidenswert,  führt  das  bequemste 
Leben  unter  der  Sonne,  und  ich  möchte  aus  purer  Faul- 
heit St.  Simonist  werden,  denn  man  müßte  mir  meine 
Kapazität  gehörig  honorieren. 

AN  DTE  FAMILIE  Straßburg,  Ende  Mai  1833. 

Wegen  mir  könnt  Ihr  ganz  ruhig  sein;  ich  werde  nicht 
nach  Freiburg  gehen  und  ebensowenig  wie  im  vorigen 
Jahre  an  einer  Versammlung  teilnehmen. 

AN  DIE  FAMILIE  Straßburg,  im  Juni  1833. 

Ich  werde  zwar  immer  meinen  Grundsätzen  gemäß  han- 
deln, habe  aber  in  neuerer  Zeit  gelernt,  daß  nur  das  not- 
wendige Bedürfnis  der  großen  Masse  Umänderungen  her- 
beiführen kann,  daß  alles  Bewegen  und  Schreien  der  ein- 
zelnen vergebliches  Torenwerk  ist.  Sie  schreiben— man 
liest  sie  nicht;  sie  schreien— man  hört  sie  nicht;  sie  han- 
deln—man hilft  ihnen  nicht.  ...  Ihr  könnt  voraussehen, 
daß  ich  mich  in  die  Gießener  Winkelpolitik  und  revolutio- 
nären Kinderstreiche  nicht  einlassen  werde. 

AN  DIE  FAMILIE  Straßburg,  den  8.  Juli  1833. 

\}Va7iderung  durch  die  Vogesen.] 
Bald  im  Tal,  bald  auf  den  Höhen  zogen  wir  durch  das 
liebliche  Land.   Am  zweiten  Tage  gelangten  wir  auf  einer 
über  3000  Fuß  hohen  Fläche  zum  sogenannten  weißen 
und  schwarzen  See.  Es  sind  zwei  finstere  Lachen  in  tiefer 


528  BRIEFE 

Schlucht,  unter  etwa  500  Fuß  hohen  Felswänden.  Der 
weiße  See  liegt  auf  dem  Gipfel  der  Höhe.  Zu  unseren 
Füßen  lag  still  das  dunkle  Wasser.  Über  die  nächsten 
Höhen  hinaus  sahen  wir  im  Osten  die  Rheinebene  und 
den  Schwarzwald,  nach  West  und  Nordwest  das  Lothringer 
Hochland;  im  Süden  hingen  düstere  Wetterwolken,  die 
Luft  war  still.  Plötzlich  trieb  der  Sturm  das  Gewölke  die 
Rheinebene  herauf;  zu  unserer  Linken  zuckten  die  Blitze, 
und  unter  dem  zerrissenen  Gewölk  über  dem  dunklen 
Jura  glänzten  die  Alpengletscher  in  der  Abendsonne.  Der 
dritte  Tag  gewährte  uns  den  nämlichen  herrlichen  An- 
blick; wir  bestiegen  nämlich  den  höchsten  Punkt  der  Vo- 
gesen,  den  an  5000  Fuß  hohen  Böigen.  Man  übersieht 
den  Rhein  von  Basel  bis  Straßburg,  die  Fläche  hinter 
Lothringen  bis  zu  den  Bergen  der  Champagne,  den  An- 
fang der  ehemaligen  Franche  Comtd,  den  Jura  und  die 
Schweizergebirge  vom  Rigi  bis  zu  den  entferntesten  Sa- 
voyischen  Alpen.  Es  war  gegen  Sonnenuntergang,  die 
Alpen  wie  blasses  Abendrot  über  der  dunkel  gewordenen 
Erde.  Die  Nacht  brachten  wir  in  einer  geringen  Entfer- 
nung vom  Gipfel  in  einer  Sennerhütte  zu.  Die  Hirten 
haben  hundert  Kühe  und  bei  neunzig  Farren  und  Stiere 
auf  der  Höhe.  Bis  Sonnenaufgang  war  der  Himmel  etwas 
dunstig,  die  Sonne  warf  einen  roten  Schein  über  die 
Landschaft.  Über  den  Schwarzwald  und  den  Jura  schien 
das  Gewölk  wie  ein  schäumender  Wasserfall  zu  stürzen, 
nur  die  Alpen  standen  hell  darüber,  wie  eine  bHtzende 
Milchstraße.  Denkt  Euch  über  der  dunklen  Kette  des  Jura 
und  über  dem  Gewölk  im  Süden,  so  weit  der  Bhck  reicht, 
eine  ungeheure,  schimmernde  Eiswand,  nur  noch  oben 
durch  die  Zacken  und  Spitzen  der  einzelnen  Berge  unter- 
brochen.— Vom  Böigen  stiegen  wir  rechts  herab  in  das  so- 
genannte Amarinental,  das  letzte  Haupttal  der  Vogesen. 
Wir  gingen  talaufwärts.  Das  Tal  schließt  sich  mit  einem 
schönen  Wiesengrund  im  wilden  Gebirg.  Über  die  Berge 
führte  uns  eine  gut  erhaltene  Bergstraße  nach  Lothringen 
zu  den  Quellen  der  Mosel.  Wir  folgten  eine  Zeitlang  dem 
Laufe  des  Wassers,  wandten  uns  dann  nördlich  und  kehrten 
über  mehrere  interessante  Punkte  nach  Straßburg  zurück. 


GIESSEN  1833  529 

Hier  ging  es  seit  einigen  Tagen  etwas  unruhig  zu.  Ein 
ministerieller  Deputierter,  Herr  Saglio,  kam  vor  einigen 
Tagen  aus  Paris  zurück.  Es  kümmerte  sich  niemand  um 
ihn.  Eine  bankerotte  Ehrlichkeit  ist  heutzutage  etwas  zu 
Gemeines,  als  daß  ein  Volksvertreter,  der  seinen  Frack 
wie  einen  Schandpfahl  auf  dem  Rücken  trägt,  noch  jemand 
interessieren  könnte.  Die  Polizei  war  aber  entgegenge- 
setzter Meinung  und  stellte  deshalb  eine  bedeutende  An- 
zahl Soldaten  auf  dem  Paradeplatz  und  vor  dem  Hause 
des  Herrn  Saglio  auf.  Dies  lockte  denn  endlich  am  zwei- 
ten oder  dritten  Tage  die  Menge  herbei,  gestern  und  vor- 
gestern abend  wurde  etwas  vor  dem  Hause  gelärmt.  Präfekt 
undMaire  hielten  es  für  die  beste  Gelegenheit,  einen  Orden 
zu  erwischen:  sie  ließen  die  Truppen  ausrücken,  die  Straßen 
räumen,  Bajonette  und  Kolbenstöße  austeilen,  Verhaf- 
tungen vornehmen,  Proklamationen  anschlagen  usw. 


GIESSENUND  DARMSTADT\%i,'^''\^']'^ 

AN  DIE  FAMILIE  Gießen,  den  i.  November  1833. 

Gestern  wurden  wieder  zwei  Studenten  verhaftet,  der 
kleine  Stamm  und  Groß. 

AN  DIE  FAMILIE  Gießen,  den  19.  November  1833. 
Gestern  war  ich  bei  dem  Bankett  zu  Ehren  der  zurück^ 
gekehrten  Depitierten.  An  zweihundert  Personen,  unter 
ihnen  Baiser  und  Vogt.  Einige  loyale  Toaste,  bis  man 
sich  Courage  getrunken  und  dann  das  Polenlied,  die  Mar- 
seillaise gesungen  und  den  in  Friedberg  Verhafteten  ein 
Vivat  gebracht!  Die  Leute  gehen  ins  Feuer,  wenn's  von 
einer  brennenden  Punschbowle  kommt! 

AN  DIE  BRAUT  [Gießen,  Frühjahr  1834?] 

Hier  ist  kein  Berg,  wo  die  Aussicht  frei  sei.  Hügel  hinter 
Hügel  und  breite  Täler,  eine  hohle  Mittelmäßigkeit  in 
allem;  ich  kann  mich  nicht  an  diese  Natur  gewöhnen,  und 
die  Stadt  ist  abscheulich. — Bei  uns  ist  Frühling,  ich  kann 
Deinen  Veilchenstrauß  immer  ersetzen,  er  ist  unsterblich 

BÜCHNER  34. 


530  BRIEFE 

wie  der  Lama.  Lieb  Kind,  was  macht  denn  die  gute  Stadt 
Straßburg?  Es  geht  dort  allerlei  vor,  und  Du  sagst  kein 
Wort  davon.  Je  baise  les  petites  mams,  en  goiäant  les  soii^ 
venirs  doux  de  Strasbourg. — 

^^Frouve-moi  que  tu  m'aimes  enco7-e  beaucoup  en  nie  don^ 
nant  bientöt  des  nouvellesT  Und  ich  ließ  Dich  warten! 
Schon  seit  einigen  Tagen  nehme  ich  jeden  Augenblick 
die  Feder  in  die  Hand,  aber  es  war  mir  unmöglich, 
nur  ein  Wort  zu  schreiben.  Ich  studierte  die  Geschichte 
der  Revohition.  Ich  fühlte  mich  wie  zernichtet  unter 
dem  gräßlichen  Fatalismus  der  Geschichte.  Ich  finde  in 
der  Menschennatur  eine  entsetzliche  Gleichheit,  in  den 
menschlichen  Verhältnissen  eine  unabwendbare  Gewalt, 
allen  und  keinem  verliehen.  Der  einzelne  nur  Schaum 
auf  der  Welle,  die  Größe  ein  bloßer  Zufall,  die  Herrschaft 
des  Genies  ein  Puppenspiel,  ein  lächerliches  Ringen  gegen 
ein  ehernes  Gesetz,  es  zu  erkennen  das  Höchste,  es  zu 
beherrschen  unmöglich.  Es  fällt  mir  nicht  mehr  ein,  vor 
den  Paradegäulen  und  Eckstehern  der  Geschichte  mich 
zu  bücken.  Ich  gewöhnte  mein  Auge  ans  Blut.  Aber  ich 
bin  kein  Guillotinenmesser.  Das  Muß  ist  eins  von  den 
Verdammungsworten,  womit  der  Mensch  getauft  worden. 
Der  Ausspruch:  es  muß  ja  Ärgernis  kommen,  aber  wehe 
dem,  durch  den  es  kommt — ist  schauderhaft.  Was  ist  das, 
was  in  uns  lügt,  mordet,  stiehlt:  Ich  mag  dem  Gedanken 
nicht  weiter  nachgehen.  Könnte  ich  aber  dies  kalte  und 
gemarterte  Herz  an  Deine  Brust  legen! 
B[öckel]  wird  Dich  über  mein  Befinden  beruhigt  haben,  ich 
schrieb  ihm.  Ich  verwünsche  meine  Gesundheit.  Ich  glüh- 
te, das  Fieber  bedeckte  mich  mit  Küssen  und  umschlang 
mich  wie  der  Arm  der  Geliebten.  Die  Finsternis  wogte 
über  mir,  mein  Herz  schwoll  in  unendlicher  Sehnsucht;  es 
drangen  Sterne  durch  das  Dunkel,  und  Hände  und  Lippen 
bückten  sich  nieder.  Und  jetzt?  Und  sonst?  Ich  habe  nicht 
einmal  die  Wollust  des  Schmerzes  und  des  Sehnens.  Seit 
ich  über  die  Rheinbrücke  ging,  bin  ich  wie  in  mir  ver- 
nichtet, ein  einzelnes  Gefühl  taucht  nicht  in  mir  auf.  Ich 
bin  ein  Automat;  die  Seele  ist  mir  genommen.  Ostern  ist 
noch  mein  einziger  Trost;  ich  habe  Verwandte  bei  Landau, 


GIESSEN  1834  531 

ihre  Einladung  und  die  Erlaubnis,  sie  zu  besuchen.  Ich 
habe  die  Reise  schon  tausendmal  gemacht  und  werde  nicht 
müde.— Du  fragst  mich:  sehnst  Du  Dich  nach  mir:  Nennst 
Du"s  Sehnen,  wenn  man  nur  in  einem  Punkt  leben  kann, 
und  wenn  man  davon  gerissen  ist  und  dann  nur  noch  das 
Gefühl  seines  Elendes  hat:  Gib  mir  doch  Antwort.  Sind 
meine  Lippen  so  kalt?  .  .  .  Dieser  Brief  ist  ein  Charivari: 
ich  tröste  Dich  mit  einem  andern. 

AN  DIE  FAMILIE  Gießen,  im  Februar  1834. 

Ich  verachte  niemanden,  am  wenigsten  wegen  seines  Ver- 
standes oder  seiner  Bildung,  weil  es  in  niemands  Gewalt 
liegt,  kein  Dummkopf  oder  kein  Verbrecher  zu  werden — 
weil  wir  durch  gleiche  Umstände  wohl  alle  gleich  würden 
und  weil  die  Umstände  außer  uns  liegen.  Der  Verstand 
nun  gar  ist  nur  eine  sehr  geringe  Seile  unsers  geistigen 
Wesens  und  die  Bildung  nur  eine  sehr  zufällige  Form 
desselben.  Wer  mir  eine  solche  Verac/itufig  worw'ixii^  be- 
hauptet, daß  ich  einen  Menschen  mit  Füßen  träte,  weil 
er  einen  schlechten  Rock  anhätte.  Es  heißt  dies,  eine 
Roheit,  die  man  einem  im  Körperlichen  nimmer  zu- 
trauen würde,  ins  Geistige  übertragen,  wo  sie  noch  ge- 
meiner ist.  Ich  kann  jemanden  einen  Dummkopf  nennen, 
ohne  ihn  deshalb  zu  verachten;  die  Dummheit  gehört  zu 
den  allgemeinen  Eigenschaften  der  menschlichen  Dinge; 
für  ihre  Existenz  kann  ich  nichts,  es  kann  mir  aber  nie- 
mand wehren,  alles,  was  existiert,  bei  seinem  Namen  zu 
nennen  und  dem,  was  mir  unangenehm  ist,  aus  dem  Wege 
zu  gehn.  Jemanden  kränken,  ist  eine  Grausamkeit;  ihn 
aber  zu  suchen  oder  zu  meiden,  bleibt  meinem  Gutdünken 
überlassen.  Daher  erklärt  sich  mein  Betragen  gegen  alte 
Bekannte:  ich  kränkte  keinen  und  sparte  mir  viel  Lange- 
weile; halten  sie  mich  für  hochmütig,  wenn  ich  an  ihren 
Vergnügungen  oder  Beschäftigungen  keinen  Geschmack 
finde,  so  ist  es  eine  Ungerechtigkeit;  mir  würde  es  nie 
einfallen,  einem  andern  aus  dem  nämlichen  Grunde  einen 
ähnlichen  Vorwurf  zu  machen.  Man  nennt  mich  einen 
Spötter.  Es  ist  wahr,  ich  lache  oft;  aber  ich  lache  nicht 
darüber,  wie  jemand  ein  Mensch,  sondern  nur  darüber, 


53  i  BRIEFE 

daß  er  ein  Mensch  ist,  wofür  er  ohnehin  nichts  kann, 
und  lache  dabei  über  mich  selbst,  der  ich  sein  Schicksal 
teile.  Die  Leute  nennen  das  Spott^  sie  vertragen  es  nicht, 
daß  man  sich  als  Narr  produziert  und  sie  duzt;  sie  sind 
Verächter,  Spötterund  Hochmütige,  weil  sie  die  Narrheit 
nur  außer  sich  suchen.  Ich  habe  freilich  noch  eine  Art 
von  Spott,  es  ist  aber  nicht  der  der  Verachtung,  sondern 
der  des  Hasses.  Der  Haß  ist  so  gut  erlaubt  als  die  Liebe, 
und  ich  hege  ihn  im  vollsten  Maße  gegen  die,  welche 
verachten.  Es  ist  deren  eine  große  Zahl,  die,  im  Besitze 
einer  lächerlichen  Äußerlichkeit,  die  man  Bildung,  oder 
eines  toten  Krams,  den  man  Gelehrsamkeit  heißt,  die 
große  Masse  ihrer  Brüder  ihrem  verachtenden  Egoismus 
opfern.  Der  Aristokratismus  ist  die  schändlichste  Ver- 
achtung des  heiligen  Geistes  im  Menschen;  gegen  ihn 
kehre  ich  seine  eigenen  Waffen:  Hochmut  gegen  Hoch- 
mut, Spott  gegen  Spott. — Ihr  würdet  Euch  besser  bei  mei- 
nem Stiefelputzer  nach  mir  umsehn;  mein  Hochmut  und 
Verachtung  Geistesarmer  und  Ungelehrter  fände  dort  wohl 
ihr  bestes  Objekt.  Ich  bitte,  fragt  ihn  einmal  .  .  .  Die 
Lächerlichkeit  des  Herablassens  werdet  Ihr  mir  doch  wohl 
nicht  zutrauen.  Ich  hoffe  noch  immer,  daß  ich  leidenden, 
gedrückten  Gestalten  mehr  mitleidige  Blicke  zugeworfen, 
als  kalten,  vornehmen  Herzen  bittere  Worte  gesagt  habe. 

AN  DIE  BRAUT  [Gießen,  Februar  1834.] 

Ich  dürste  nach  einem  Briefe.  Ich  bin  allein,  wie  im 
Grabe;  wann  erweckt  mich  Deine  Hand.^  Meine  Freunde 
verlassen  mich,  wir  schreien  uns  wie  Taube  einander  in 
die  Ohren;  ich  wollte,  wir  wären  stumm,  dann  könnten 
wir  uns  doch  nur  ansehen,  und  in  neuen  Zeiten  kann  ich 
kaum  jemand  starr  anblicken,  ohne  daß  mir  die  Tränen 
kämen.  Es  ist  dies  eine  Augenwassersucht,  die  auch  beim 
Starrsehen  oft  vorkommt.  Sie  sagen,  ich  sei  verrückt,  weil 
ich  gesagt  habe,  in  sechs  Wochen  würde  ich  aufeistehen^ 
zuerst  aber  Hinmielfahrt  halten,  in  der  Diligence  nämlich. 
Lebe  wohl,  liebe  Seele,  und  verlaß  mich  nicht.  Der  Gram 
macht  mich  Dir  streitig,  ich  lieg  ihm  den  ganzen  Tag  im 
Schoß;  armes  Herz,  ich  glaube,  du  vergiltst  mit  Gleichem. 


GIESSEN  1834  533 

AN  DIE  BRAUT  [Gießen,  März  1834.] 

Der  erste  helle  Augenblick  seit  acht  Tagen.  Unaufhör- 
liches Kopfweh  und  Fieber,  die  Nacht  kaum  einige  Stun- 
den dürftiger  Ruhe.  Vor  zwei  Uhr  komme  ich  in  kein 
Bett,  und  dann  ein  beständiges  Auffahren  aus  dem  Schlaf 
und  ein  Meer  von  Gedanken,  in  denen  mir  die  Sinne 
vergehen.  Mein  Schweigen  quält  Dich  wie  mich,  doch 
vermochte  ich  nichts  über  mich.  Liebe,  liebe  Seele,  ver- 
gibst Dur — Eben  komme  ich  von  draußen  herein.  Ein  ein- 
ziger, forthallender  Ton  aus  tausend  Lerchen  kehlen  schlägt 
durch  die  brütende  Sommerluft,  ein  schweres  Gewölk 
wandelt  über  die  Erde,  der  tiefbrausende  Wind  klingt  wie 
sein  melodischer  Schritt.  Die  Frühlingsluft  löste  mich  aus 
meinem  Starrkrampf.  Ich  erschrak  vor  mir  selbst.  Das 
Gefühl  des  Gestorbenseins  war  immer  über  mir.  Alle 
Tvlenschen  machten  mir  das  hippokratische  Gesicht,  die 
Augen  verglast,  die  Wangen  wie  von  Wachs,  und  wenn 
dann  die  ganze  Maschinerie  zu  leiern  anfing,  die  Gelenke 
zuckten,  die  Stimme  herausknarrte  und  ich  das  ewige 
Orgellied  herumtrillern  hörte  und  die  Wälzchen  und  Stift- 
chen im  Orgelkasten  hüpfen  und  drehen  sah— ich  ver- 
ßuchte  das  Konzert,  den  Kasten,  die  Melodie  und— ach, 
wir  armen  schreienden  Musikanten!  das  Stöhnen  auf  uns- 
rer  Folter,  wäre  es  nur  da,  damit  es  durch  die  Wolken- 
ritzen dringend  und  weiter,  weiter  klingend  wie  ein  me- 
lodischer Hauch  in  himmlischen  Ohren  stirbt?  Wären  wir 
das  Opfer  im  glühenden  Bauch  des  Perryllasstiers,  dessen 
Todesschrei  wie  das  Aufjauchzen  des  in  den  Flammen  sich 
aufzehrenden  Gottstiers  klingt:  Ich  lästre  nicht.  Aber  die 
Menschen  lästern.  Und  doch  bin  ich  gestraft,  ich  fürchte 
mich  vor  meiner  Stimme  und— vor  meinem  Spiegel.  Ich 
hätte  Herrn  Callot- Hoffmann  sitzen  können,  nicht  wahr, 
meine  Liebe:  Für  das  Modellieren  hätte  ich  Reisegeld  be- 
kommen. Ich  spüre,  ich  fange  an,  interessant  zu  werden. — 
Die  Ferien  fangen  morgen  in  vierzehn  Tagen  an;  ver- 
weigert man  die  Erlaubnis,  so  gehe  ich  heimlich,  ich  bin 
mir  selbst  schuldig,  einem  unerträglichen  Zustande  ein 
Ende  zu  machen.  Meine  geistigen  Kräfte  sind  gänzlich 
zerrüttet.  Arbeiten  ist  mir  unmöglich;  ein  dumpfes  Brüten 


534  BRIEFE 

hat  sich  meiner  bemeistert,  in  dem  mir  kaum  ein  Gedanke 
noch  hell  wird.  Alles  verzehrt  sich  in  mir  selbst;  hätte 
ich  einen  Weg  für  mein  Inneres — ,  aber  ich  habe  keinen 
Schrei  für  den  Schmerz,  kein  Jauchzen  für  die  Freude, 
keine  Harmonie  für  die  Seligkeit.  Dies  Stummsein  ist 
meine  Verdammnis.  Ich  habe  Dir's  schon  tausendmal  ge- 
sagt: Lies  meine  Briefe  nicht — kalte,  träge  Worte!  Könnte 
ich  nur  über  Dich  einen  vollen  Ton  ausgießen — so  schleppe 
ich  Dich  in  meine  wüsten  Irrgänge.  Du  sitzest  jetzt  im 
dunkeln  Zimmer  in  Deinen  Tränen  allein,  bald  trete  ich 
zu  Dir.  Seit  vierzehn  Tagen  steht  Dein  Bild  beständig 
vor  mir,  ich  sehe  Dich  in  jedem  Traum.  Dein  Schatten 
schwebt  immer  vor  mir,  wie  das  Lichtzittern,  wenn  man 
in  die  Sonne  gesehen.  Ich  lechze  nach  einer  sehgen  Emp- 
findung; die  wird  mir  bald,  bald,  bei  Dir. 

AN  DIE  FAMILIE  Gießen,  den  19.  März  1834. 

Wichtiger  ist  die  Untersuchung  wegen  der  Verbindungen; 
die  Relegation  steht  wenigstens  dreißig  Studenten  bevor. 
Ich  wollte  die  Unschädlichkeit  dieser  Verschwörer  eidlich 
bekräftigen.  Die  Regierung  muß  aber  doch  etwas  zu  tun 
haben!  Sie  dankt  ihrem  Himmel,  wenn  ein  paar  Kinder 
schleifen  oder  Ketten  schaukeln!— Z^^"^  in  Friedberg  Ver- 
hafteten  sind  frei,  mit  Ausnahme  von  vieren  .  .  . 

AN  DIE  BRAUT  Gießen,  März  1834. 

Ich  wäre  untröstlich,  mein  armes  Kind,  wüßte  ich  nicht, 
was  Dich  heilte.  Ich  schreibe  jetzt  täglich,  schon  gestern 
hatte  ich  einen  Brief  angefangen.  Fast  hätte  ich  Lust, 
statt  nach  Darmstadt  gleich  nach  Straßburg  zu  gehen. 
Nimmt  Dein  Unwohlsein  eine  ernste  Wendung — ich  bin 
dann  im  Augenblick  da.  Doch  was  sollen  dergleichen 
Gedanken?  Sie  sind  mir  Unbegreiflichkeiten. — Mein  Ge- 
sicht ist  wie  ein  Osterei,  über  das  die  Freude  rote  Flecken 
laufen  läßt.  Doch  ich  schreibe  abscheulich;  es  greift  Deine 
Augen  an,  das  vermehrt  das  Fieber.  Aber  nein,  ich  glaube 
nichts,  es  sind  nur  die  Nachwehen  des  alten  nagenden 
Schmerzes;  die  linde  Frühlingsluft  küßt  alte  Leute  und 
hektische  tot;  Dein  Schmerz  ist  alt  und  abgezehrt,  er  stirbt, 


GIESSEN  1834  535 

das  ist  alles,  und  Du  meinst,  Dein  Leben  ginge  mit.  Siehst 
Du  denn  nicht  den  neuen  lichten  Tag:  Hörst  Du  meine 
Tritte  nicht,  die  sich  wieder  rückwärts  zu  Dir  wenden? 
Sieh,  ich  schicke  Dir  Küsse,  Schneeglöckchen,  Schlüssel- 
blumen, Veilchen,  der  Erde  erste  schüchterne  Blicke  ins 
flammende  Auge  des  Sonnenjünglings.  Den  halben  Tag 
sitze  ich  eingeschlossen  mit  Deinem  Bild  und  spreche 
mit  Dir.  Gestern  morgen  versprach  ich  Dir  Blumen;  da 
sind  sie.  Was  gibst  Du  mir  dafür?  Wie  gefällt  Dir  mein 
Bedlam?  Will  ich  etwas  Ernstes  tun,  so  komme  ich  mir 
vor,  wie  Larifari  in  der  Komödie:  will  er  das  Schwert 
ziehen,  so  ist's  ein  Hasenschwanz  .  .  . 
Ich  wollte,  ich  hätte  geschwiegen.  Es  überfällt  mich  eine 
unsägliche  Angst.  Du  schreibst  gleich;  doch  um  's  Him- 
mels willen  nicht,  wenn  es  Dich  Anstrengung  kostet.  Du 
sprachst  mir  von  einem  Heilmittel;  lieb  Herz,  schon  lange 
schwebt  es  mir  auf  der  Zunge,  ich  liebte  aber  so  unser 
stilles  Geheimnis — .  Doch  sage  Deinem  Vater  alles— ,  doch 
zwei  Bedingungen:  Schweigen,  selbst  bei  den  nächsten 
Verwandten;  ich  mag  nicht  hinter  jedem  Kusse  die  Koch- 
töpfe rasseln  hören  und  bei  den  verschiedenen  Tanten 
das  Familienvatersgesicht  ziehen.  Dann:  nicht  eher  an 
meine  Eltern  zu  schreiben,  als  bis  ich  selbst  geschrieben. 
Ich  überlasse  Dir  alles,  tue,  was  Dich  beruhigen  kann. 
Was  kann  ich  sagen,  als  daß  ich  Dich  liebe;  was  ver- 
sprechen, als  was  in  dem  Worte  Liebe  schon  liegt,  Treue? 
Aber  die  sogenannte  Versorgung:  Student  noch  zwei 
Jahre;  die  gewisse  Aussicht  auf  ein  stürmisches  Leben, 
vielleicht  bald  auf  fremdem  Boden! 
Zum  Schlüsse  trete  ich  zu  Dir  und  singe  Dir  einen  alten 
Wiegengesang: 

War  nicht  umsonst  so  still  und  schwach, 

Verlaßne  Liebe  trug  sie  nach. 

In  ihrer  kleinen  Kammer  hoch 

Sie  stets  an  der  Erinnerung  sog; 

An  ihrem  Brotschrank  an  der  Wand 

Er  immer,  immer  vor  ihr  stand. 

Und  wenn  ein  Schlaf  sie  übernahm, 

Er  immer,  immer  wiederkam. 


536  BRIEFE 

Und  dann: 

Denn  immer,  immer,  immer  doch 
Schwebt  ihr  das  Bild  an  Wänden  noch 
Von  einem  Menschen,  welcher  kam 
Und  ihr  als  Kind  das  Herze  nahm. 
Fast  ausgelöscht  ist  sein  Gesicht, 
Doch  seiner  Worte  Kraft  noch  nicht, 
Und  jener  Stunden  Seligkeit, 
Ach  jener  Träume  Wirklichkeit, 
Die,  angeboren  jedermann. 
Kein  Mensch  sich  wirklich  machen  kann. 

AN  DIE  BRAUT  Gießen,  März  1834. 

Ich  werde  gleich  von  hier  nach  Straßburg  gehen,  ohne 
Darmstadt  zu  berühren;  ich  hätte  dort  auf  Schwierigkeiten 
gestoßen,  und  meine  Reise  wäre  vielleicht  bis  zu  Ende 
der  Vakanzen  verschoben  worden.  Ich  schreibe  Dir  je- 
doch vorher  noch  einmal,  sonst  ertrag  ich's  nicht  vor  Un- 
geduld; dieser  Brief  ist  ohnedies  so  langweilig  wie  ein 
Anmelden  in  einem  vornehmen  Hause:  Herr  Studiosus 
Büchner.  Das  ist  alles!  Wie  ich  hier  zusammenschrumpfe, 
ich  erliege  fast  unter  diesem  Bewußtsein.  Ja  sonst  wäre 
es  ziemlich  gleichgültig,  wie  man  nun  einen  Betäubten 
oder  Blödsinnigen  beklagen  mag:  aber  Du,  was  sagst  Du 
zu  dem  Invaliden?  Ich  wenigstens  kann  die  Leute  auf 
halbem  Sold  nicht  ausstehen.  Nous  ferons  un  peu  de  ro^ 
mantique,  pour  nous  tenir  a  la  hauteur  du  siecle\  et  puis  me 
faudra-t-il  du/er  ä  chevl  pour  faire  de  Impression  ä  un 
Coeur  de  femme^  Aujourd' hui  on  a  le  sysÜnie  nerveux  un  peu 
robuste.  Adieu. 

AN  DIE  FAMILIE  Straßburg,  im  April  1834. 

Ich  war  [in  Gießen]  im  Äußeren  ruhig,  doch  war  ich  in 
tiefe  Schwermut  verfallen;  dabei  engten  mich  die  poli- 
tischen Verhältnisse  ein,  ich  schämte  mich,  ein  Knecht  mit 
Knechten  zu  sein,  einem  vermoderten  Fürstengeschlecht 
und  einem  kriechenden  Staatsdiener- Aristokratismus  zu 
Gefallen.  Ich  kam  nach  Gießen  in  die  widrigsten  Ver- 
hältnisse, Kummer  und  Widerwillen  machten  mich  krank. 


GIESSEN  1834  537 

AN  DIE  FAMILIE  Gießen,  den  25.  Mai  1834. 

Das  Treiben  des  "Burschen"  kümmert  mich  wenig.  Ge- 
stern abend  hat  er  von  dem  Philister  Schläge  bekommen. 
Man  schrie:  ''Bursch  heraus!"  Es  kam  aber  niemand  als 
die  Mitglieder  zweier  Verbindimge^i^  die  aber  den  Uni- 
versitätsrichter rufen  mußten,  um  sich  vor  den  Schuster- 
und  Schneiderbuben  zu  retten.  Der  UniversitätsHchter 
war  betrunken  und  schimpfte  die  Bürger;  es  wundert 
mich,  daß  er  keine  Schläge  bekam.  Das  possierlichste  ist, 
daß  die  Buben  liberal  sind  und  sich  daher  an  die  loyal 
gesinnten  Verbindungen  machten.  Die  Sache  soll  sich 
heute  abend  wiederholen,  man  munkelt  sogar  von  einem 
Auszug;  ich  hoffe,  daß  der  Bursche  wieder  Schläge  be- 
kommt; wir  halten  zu  den  Bürgern  und  bleiben  in  der 
Stadt. 

AN  DIE  FAMILIE  Gießen,  den  2.  Juli  1834. 

Was  sagt  man  zu  der  Verurteilung  von  Schulz: — Mich 
wundert  es  nicht,  es  riecht  nach  Kommißbrot. — Apro- 
pos, wißt  ihr  die  hübsche  Geschichte  vom  Herrn  Kom- 
missär usw.  .  .  .?  Der  gute  Kolumbus  sollte  in  Darmstadt 
bei  einem  Schreiner  eine  geheime  Presse  entdecken.  Er 
besetzt  das  Haus,  dringt  ein.  "Guter  Mann,  es  ist  alles 
aus,  führ  Er  mich  nur  an  die  Presse!" — Der  Mann  führt 
ihn  an  die  Kelter.— "Nein,  Mann!  Die  Presse!  Die 
Presse!"— Der  Mann  versteht  ihn  nicht,  und  der  Kom- 
missär wagt  sich  in  den  Keller.  Es  ist  dunkel.  "Ein  Licht, 
Mann!"— "Das  müssen  Sie  kaufen,  wenn  Sie  eins  haben 
wollen." — Aber  der  Herr  Kommissär  spart  dem  Lande 
überflüssige  Ausgaben.  Er  rennt,  wie  Münchhausen,  an 
einen  Balken,  er  schlägt  Feuer  aus  seinem  Nasenbein, 
das  Blut  fließt,  er  achtet  nichts  und  findet  nichts.  Unser 
lieber  Großherzog  wird  ihm  aus  einem  Zivilverdienst- 
orden ein  Nasenfutteral  machen. 

AN  DIE  FAMILIE  Frankfurt,  den  3.  August  1834. 

Ich  benutze  jeden  Vorwand,  um  mich  von  meiner  Kette 
loszumachen.  Freitag  abends  ging  ich  von  Gießen  weg; 
ich  wählte  die  Nacht  der  gewaltigen  Hitze  wegen,  und 


538  BRIEFE 

so  wanderte  ich  in  der  lieblichsten  Kühle  unter  hellem 
Sternenhimmel,  an  dessen  fernstem  Horizonte  ein  bestän- 
diges Blitzen  leuchtete.  Teils  zu  Fuß,  teils  fahrend  mit 
Postillonen  und  sonstigem  Gesindel,  legte  ich  während 
der  Nacht  den  größten  Teil  des  Wegs  zurück.  Ich  ruhte 
mehrmals  unterwegs.  Gegen  Mittag  war  ich  in  Offaibach. 
Den  kleinen  Umweg  machte  ich,  weil  es  von  dieser  Seite 
leichter  ist,  in  die  Stadt  zu  kommen,  ohne  angehalten  zu 
werden.  Die  Zeit  erlaubte  mir  nicht,  mich  mit  den  nö- 
tigen Papieren  zu  versehen. 

AN  DIE  FAMILIE  Gießen,  den  5.  August  1834. 

Ich  meine,  ich  hätte  Euch  erzählt,  daß  Minnigerode  eine 
halbe  Stunde  vor  meiner  Abreise  arretiert  wurde;  man 
hat  ihn  nach  Friedberg  abgeführt.  Ich  begreife  den  Grund 
seiner  Verhaftung  nicht.  Unserem  scharfsinnigen  Uni- 
versitätrichter fiel  es  ein,  in  meiner  Reise,  wie  es  scheint, 
einen  Zusammenhang  mit  der  Verhaftung  Minnigerodes 
zu  finden.  Als  ich  hier  ankam,  fand  ich  meinen  Schrank 
versiegelt,  und  man  sagte  mir,  meine  Papiere  seien  di/rc/i- 
sucht  worden.  Auf  mein  Verlangen  wurden  die  Siegel 
sogleich  abgenommen,  auch  gab  man  mir  meine  Papiere 
(nichts  als  Briefe  von  Euch  und  meinen  Freunden)  zurück; 
nur  einige  französische  Briefe  von  VV[ilhelminerJ,  Muston, 
L[ucius?]  undB[öckel]  wurden  zurückbehalten,  wahrschein- 
lich weil  die  Leute  sich  erst  einen  Sprachlehrer  müssen 
kommen  lassen,  um  sie  zu  lesen.  Ich  bin  empört  über 
ein  solches  Benehmen;  es  wird  mir  übel,  wenn  ich  meine 
heiligsten  Geheimnisse  in  den  Händen  dieser  schmutzigen 
Menschen  denke.  Und  das  alles— wißt  Ihr  auch  warum? 
Weil  ich  an  dem  nämlichen  Tag  abgereist,  an  dem  Min- 
nigerode verhaftet  wurde.  Auf  einen  vagen  Verdacht  hin 
verletzte  man  die  heiligsten  Rechte  und  verlangte  dann 
weiter  nichts,  als  daß  ich  mich  über  meine  Reise  aus- 
weisen sollte! ! !  Das  konnte  ich  natürlich  mit  der  größ- 
ten Leichtigkeit;  ich  habe  Briefe  von  B[öckel],  die  jedes 
Wort  bestätigen,  das  ich  gesprochen,  und  unter  meinen 
Papieren  befindet  sich  keine  Zeile,  die  mich  kompromit- 
tieren könnte.  Ihr  könnt  über  die  Sache  ganz  unbesorgt 


GIESSEN  1834  539 

sein.  Ich  bin  auf  freiem  Fuß,  und  es  ist  unmöglich,  daß 
man  einen  Grund  zur  Verhaftung  finde.  Nur  im  tiefsten 
bin  ich  über  das  Verfahren  der  Gerichte  empört,  auf  den 
Verdacht  eines  mögh'chen  Verdachts  in  die  heiligsten  Fa- 
miliengeheimnisse einzubrechen.  Man  hat  mich  auf  dem 
Universitätsgericht  bloß  gefragt,  wo  ich  mich  während 
der  drei  letzten  Tage  aufgehalten,  und  um  sich  darüber 
Aufschluß  zu  verschaffen,  erbricht  man  schon  am  zweiten 
Tag  in  meiner  Abwesenheit  meinen  Pult  und  bemächtigt 
sich  meiner  Papiere!  Ich  werde  mit  einigen  Rechtskun- 
digen sprechen  und  sehen,  ob  die  Gesetze  für  eine  solche 
Verletzung  Genugtuung  schaöen! 

AN  DIE  FAMILIE  Gießen,  den  8.  August  1834. 

Ich  gehe  meinen  Beschäftigungen  wie  gewöhnlich  nach, 
vernommen  bin  ich  nicht  weiter  geworden.   Verdächtiges 
hat  man  nicht  gefunden,    nur   die   französischen   Briefe 
scheinen  noch  nicht  entziffert  zu  sein;  der  Herr  Univer- 
sitätsrichter muß  sich  wohl  erst  Unterricht  im  Französi- 
schen nehmen.  Man  hat  mir  sie  noch  nicht  zurückgegeben . . . 
Übrigens  habe  ich  mich  bereits  an  das  Disziplinargericht 
gewendet  und  es  um  Schutz  gegen  die  Willkür  des  Uni- 
versität S7'ic  hier  s  gebeten.    Ich   bin  auf  die  Antwort  be- 
j  gierig.   Ich  kann  mich  nicht  entschließen,  auf  die  mir  ge- 
i  bührende  Genugtuung  zu  verzichten.  Das  Verletzen  meiner 
i  heiligsten  Rechte  und  das  Einbrechen  in  alle  meine  Ge- 
jheimnisse,  das  Berühren  von  Papieren,  die  mir  Heilig- 
,  tümer  sind,  empörten  mich  zu  tief,  als  daß  ich  nicht  jedes 
Mittel  ergreifen  sollte,  um  mich  an  dem  Urheber  dieser 
,  Gewalttat    zu  rächen.    Den  Universitätsrichter  habe  ich 
I  mittelst  des  höflichsten  Spottes  fast  ums  Leben  gebracht. 
!  Wie  ich  zurückkam,  mein  Zimmer  mir  verboten  und  mein 
;  Pult  versiegelt  fand,  lief  ich  zu  ihm  und  sagte  ihm  ganz 
i  kaltblütig   mit   der   größten   Höflichkeit,   in    Gegenwart 
mehrerer  Personen:  wie  ich  vernommen,  habe  er  in  meiner 
Abwesenheit  mein  Zimmer  mit  seinem  Besuche  beehrt, 
I  ich  komme,  um  ihn  um  den  Grund  seines  gütigen  Besu- 
'  ches  zu  fragen  usw. — Es  ist  schade,  daß  ich  nicht  nach 
dem  Mittagessen  gekommen,  aber  auch  so  barst  er  fast 


540  BRIEFE 

und  mußte  diese  beißende  Ironie  mit  der  größten  Höf- 
lichkeit beantworten.  Das  Gesetz  sagt,  nur  in  Fällen  sehr 
dringenden  Verdachts,  ja  nur  eines  Verdachtes,  der  statt 
halben  Beweises  gelten  könne,  dürfe  eine  Haussuchung 
vorgenommen  werden.  Ihr  seht,  wie  man  das  Gesetz  aus- 
legt. Verdacht,  am  wenigsten  ein  dringender,  kann  nicht 
gegen  mich  vorliegen,  sonst  müßte  ich  verhaftet  sein;  in 
der  Zeit,  wo  ich  hier  bin,  könnte  ich  ja  jede  Untersu- 
chung durch  Verabreden  gleichlautender  Aussagen  und 
dergleichen  unmöglich  machen.  Es  geht  hieraus  hervor, 
daß  ich  durch  nichts  kompromittiert  bin  und  daß  die 
Haussuchung  nur  vorgenommen  worden,  weil  ich  nicht 
liederlich  und  nicht  sklavisch  genug  aussehe,  um  für  keinen 
Demagogen  gehalten  zu  werden.  Eine  solche  Gewalttat 
stillschweigend  ertragen,  hieße  die  Regierung  zur  Mit- 
schuldigen machen;  hieße  aussprechen,  daß  es  keine  ge- 
setzliche Garantie  mehr  gäbe;  hieße  erklären,  daß  das 
verletzte  Recht  keine  Genugtuung  mehr  erhalte.  Ich 
will  imserer  Regierung  diese  grobe  Beleidigung  nicht 
antun. 

Wir  wissen  nichts  von  Min7ii^erode\  das  Gerücht  mit 
Ofifenbach  ist  jedenfalls  reine  Erfindung;  daß  ich  auch 
schon  dagewesen,  kann  mich  nicht  mehr  kompromittie- 
ren als  jeden  anderen  Reisenden  .  .  .  Sollte  man,  so  wie 
man  ohne  die  gesetzlich  notwendige  Ursache  meine  Pa- 
piere durchsuchte,  mich  auch  ohne  dieselbe  festnehmen, 
in  Gottes  Namen!  ich  kann  so  wenig  darüberhinaus,  und 
es  ist  dies  so  wenig  meine  Schuld,  als  wenn  eine  Herde 
Banditen  mich  anhielte,  plünderte  oder  mordete.  Es  ist 
Gewalt,  der  man  sich  fügen  muß,  wenn  man  nicht  stark 
genug  ist,  ihr  zu  widerstehen;  aus  der  Schwäche  kann 
einem  kein  Vorwurf  gemacht  werden. 

AN  DIE  FAMILIE  Gießen,  Ende  August  1834. 

Es  sind  jetzt  fast  drei  Wochen  seit  der  Haussuchung  ver- 
flossen, und  man  hat  mir  in  bezug  darauf  noch  nicht  die 
mindeste  Eröffnung  gemacht.  Die  Vernehmung  bei  dem 
Universitätsrichter  am  ersten  Tage  kann  nicht  in  An- 
schlag gebracht  werden,  sie  steht  damit  in  keinem  gesetz- 


\ 


GIESSEN  1834  541 

liehen  Zusammenhang;  der  Herr  Georgi  verlangt  nur  als 
Universitätsrichter  von  mir  als  Studenten:  ich 
solle  mich  wegen  meiner  Reise  ausweisen,  während  er 
die  Haussuchung  als  Regierungskommissär  vor- 
nahm. Ihr  sehet  also,  wie  weit  man  es  in  der  ge- 
setzlichen Anarchie  gebracht  hat.  Ich  vergaß,  wenn 
ich  nicht  irre,  den  wichtigen  Umstand  anzuführen,  daß 
die  Haussuchung  sogar  ohne  die  drei,  durch  das  Ge- 
setz vorgeschriebenen  Urkundspersonen  vorgenommen 
wurde  und  so  um  so  mehr  den  Charakter  eines  Ein- 
bruchs an  sich  trägt.  Das  Verletzen  unserer  Familien- 
geheimnisse ist  ohnehin  ein  bedeutenderer  Diebstahl 
als  das  Wegnehmen  einiger  Geldstücke.  Das  Einbrechen 
in  meiner  Abwesenheit  ist  ebenfalls  ungesetzlich;  man 
war  nur  berechtigt,  meine  Türe  zu  versiegeln,  und 
erst  dann  in  meiner  Abwesenheit  zur  Haussuchung  zu 
schreiten,  wenn  ich  mich  auf  erfolgte  Vorladung  nicht 
gestellt  hätte.  Es  sind  also  drei  Verletzungen  des  Ge- 
setzes vorgefallen:  Haussuchung  ohne  dringenden  Ver- 
dacht (ich  bin,  wie  gesagt,  noch  nicht  vernommen  wor- 
den, und  es  sind  drei  Wochen  verflossen),  Haussuchung 
ohne  Urkundspersonen,  und  endlich  Haussuchung  am 
dritten  Tage  meiner  Abwesenheit  ohne  vorher  erfolgte 
Vorladung. 

Die  Vorstellung  an  das  Disziplinargericht  war  im  Grund 
I  genommen  überflüssig,    weil  der  Universitätsrichter  als 

■  Regierungskommissär  nicht  unter  ihm  steht.  Ich  tat  diesen 
Schritt  nur  vorerst,  um  nicht  mit  der  Türe  ins  Haus  zu 
fallen;  ich  stellte  mich  unter  seinen  Schutz,  ich  überließ 
ihm    meine   Klage.    Seiner   Stellung  gemäß   mußte   es 

1  meine  Sache  zu  der  seinigen  machen,  aber  die  Leute  sind 
I  etwas  furchtsamer  Natur;  ich  bin  überzeugt,  daß  sie  mich 
;  an  eine  andere  Behörde  verweisen.  Ich  erwarte  ihre  Re- 
.  Solution  .  .  .  Der  Vorfall  ist  so  einfach  und  liegt  so  klar 
■■  am  Tage,  daß  man  mir  entweder  volle  Genugtuung  schaff"en 

■  oder  öffentlich  erklären  muß,  das  Gesetz  sei  aufgehoben 
und  eine  Gewalt  an  seine  Stelle  getreten,  gegen  die  es 
keine  Appellation  als  Sturmglocken  und  Pflastersteine 
gebe. 


542  BRIEFE 

AN  SAUERLÄNDER 

Darmstadt,  den  21.  Februar  1835. 
Geehrtester  Hen-!  Ich  gebe  mir  die  Ehre,  Ihnen  mit  die- 
sen Zeilen  ein  Manuskript  zu  überschicken.  Es  ist  ein 
di'amatischer  Ve?'such  und  behandelt  einen  Stoff  der  neue- 
ren Geschichte.  Sollten  Sie  geneigt  sein,  das  Verlag  des- 
selben zu  übernehmen,  so  ersuche  ich  Sie  mich  so  bald 
als  möglich  davon  zu  benachrichtigen,  im  entgegenge- 
setzten Falle  aber  das  Manuskript  an  die  Heyerische 
Buchhandlung  dahier  zurückgehn  zu  lassen. 
Sie  würden  mich  sehr  verbinden,  wenn  Sie  dem  Herrn 
Carl  Gutzkow  den  beigeschlossenen  Brief  überschicken 
und  ihm  das  Drama  zur  Einsicht  mitteilen  wollten. 
Haben  Sie  die  Güte  eine  etwaige  Antwort  in  einer  Cou- 
verte  mit  der  Adresse:  an  Frau  Regierungsrat  Reuß  zu 
Darmstadt,  an  mich  gelangen  zu  lassen.  Verschiedene 
Umstände  lassen  mich  dringend  wünschen,  daß  dies  in 
möglichster  Kürze  der  Fall  sei. 

Hochachtungsvoll  verbleibe  ich 

Ihr  ergebenster  Diener 

G,  Büchner. 

AN  GUTZKOW  Darmstadt,  den  21.  Februari835. 

Mein  Herr!  Vielleicht  hat  es  Ihnen  die  Beobachtung,  viel- 
leicht, im  unglücklicheren  Fall,  die  eigene  Erfahrung  schon 
gesagt,  daß  es  einen  Grad  von  Elend  gibt,  welcher  jede 
Rücksicht  vergessen  und  jedes  Gefühl  verstummen  macht. 
Es  gibt  zwar  Leute,  welche  behaupten,  man  solle  sich  in 
einem  solchen  Falle  lieber  zur  Welt  hinaushungern,  aber 
ich  könnte  die  Widerlegung  in  einem  seit  kurzem  er- 
blindeten Hauptmanne  von  der  Gasse  aufgreifen,  welcher 
erklärt,  er  würde  sich  totschießen,  wenn  er  nicht  ge- 
zwungen sei,  seiner  Familie  durch  sein  Leben  seine  Be- 
soldung zu  erhalten.  Das  ist  entsetzlich.  Sie  werden  wohl 
einsehen,  daß  es  ähnliche  Verhältnisse  geben  kann,  die 
einen  verhindern,  seinen  Leib  zum  Notanker  zu  machen, 
um  ihn  von  dem  Wracke  dieser  Welt  in  das  Wasser  zu 
werfen,  und  werden  sich  also  nicht  wundern,  wie  ich  Ihre 
Türe  aufreiße,  in  Ihr  Zimmer  trete,  Ihnen  ein  Manuskript 


DARMSTADT  1835  543 

auf  die  Brust  setze  und  ein  Almosen  abfordere.  Ich  bitte 
Sie  nämlich,  das  Manuskript  so  schnell  wie  möglich  zu 
durchlesen,  es,  im  Fall  Ihnen  Ihr  Gewissen  als  Kritiker 
dies  erlauben  sollte,  dem  Herrn  Sauerländer  zu  empfehlen, 
und  sogleich  zu  antworten. 

Über  das  Werk  selbst  kann  ich  Ihnen  nichts  weiter  sagen, 
als  daß  unglückliche  Verhältnisse  mich  zwangen,  es  in 
höchstens  fünf  Wochen  zu  schreiben.  Ich  sage  dies,  um 
Ihr  Urteil  über  den  Verfasser,  nicht  über  das  Drama  an 
und  für  sich  zu  motivieren.  Was  ich  daraus  machen  soll, 
weiß  ich  selbst  nicht,  nur  das  weiß  ich,  daß  ich  alle  Ur- 

I  Sache  habe,  der  Geschichte  gegenüber  rot  zu  werden;  doch 
tröste  ich  mich  mit  dem  Gedanken,  daß,  Shakespeare  aus- 
''  genommen,  alle  Dichter  vor  ihr  und  der  Natur  wie  Schul- 
knaben dastehen. 

Ich  wiederhole  meine  Bitte  um  schnelle  Antwort;  im  Falle 
eines  günstigen  Erfolges  können  einige  Zeilen  von  Ihrer 
Hand,  wenn  sie  noch  vor  nächstem  Mittwoch  hier  ein- 
treffen, einen  Unglücklichen  vor  einer  sehr  traurigen  Lage 
bewahren. 

Sollte  Sie  vielleicht  der  Ton  dieses  Briefes  befremden,  so 
bedenken  Sie,  daß  es  mir  leichter  fällt,  in  Lumpen  zu 
betteln,  als  im  Frack  eine  Supplik  zu  überreichen,  und 
fast  leichter,  die  Pistole  in  der  Hand:  la  bmirse  ou  la  viel 
zu  sagen,  als  mit  bebenden  Lippen  ein:  Gott  lohn  es!  zu 
flüstern. 


STRASSBURG  1835^1836 

AN  DIE  FAMILIE  Weißenburg,  den  9.  März  1835. 

Eben  lange  ich  wohlbehalten  hier  an.  Die  Reise  ging 
schnell  und  bequem  vor  sich.  Ihr  könnt,  was  meine  per- 
sönliche Sicherheit  anlangt,  völlig  ruhig  sein.  Sicheren 
Nachrichten  gemäß  bezweifle  ich  auch  nicht,  daß  mir  der 
Aufenthalt  i7i  Straßburg  gestattet  werden  wird  .  .  .  Nur  die 
dringendsten  Gründe  konnten  mich  zwingen,  Vaterland 
und  Vaterhaus  in  der  Art  zu  verlassen  .  .  .  Ich  konnte 
mich  unserer  politischen  Inquisition   stellen;   von   dem 


544  BRIEFE 

Resultat  einer  Untersuchung  hatte  ich  nichts  zu  befürchten, 
aber  alles  von  der  Untersuchung  selbst .  .  .  Ich  bin  über- 
zeugt, daß  nach  einem  Verlaute  von  zwei  bis  drei  Jahren 
meiner  Rückkehr  nichts  mehr  im  Wege  stehen  wird.  Diese 
Zeit  hätte  ich  im  Falle  des  Bleibens  in  einem  Kerker  zu 
Friedberg  versessen;  körperlich  und  geistig  zerrüttet  wäre 
ich  dann  entlassen  worden.  Dies  stand  mir  so  deutlich 
vor  Augen,  dessen  war  ich  so  gewiß,  daß  ich  das  große 
Übel  einer  freiwilligen  Verbannung  wählte.  Jetzt  habe 
ich  Hände  und  Kopf  frei ...  Es  liegt  jetzt  alles  in  meiner 
Hand.  Ich  werde  das  Studiu?n  der  medizinisch-philoso- 
phischen Wissenschaften  mit  der  größten  Anstrengung  be- 
treiben, und  auf  dem  Felde  ist  noch  Raum  genug,  um 
etwas  Tüchtiges  zu  leisten,  und  unsere  Zeit  ist  grade  dazu 
gemacht,  dergleichen  anzuerkennen.  Seit  ich  über  der 
Grenze  bin,  habe  ich  frischen  Lebensmut;  ich  stehe  jetzt 
ganz  allein,  aber  gerade  das  steigert  meine  Kräfte.  Der 
beständigen  geheimen  Angst  vor  Verhaftung  und  sonstigen 
Verfolgungen,  die  mich  in  Darmstadt  beständig  peinigte, 
enthoben  zu  sein,  ist  eine  große  Wohltat. 

AN  GUTZKOW  Straßburg,  März  1835. 

Verehrtester!  Vielleicht  haben  Sie  durch  einen  SteckbrieJ 
im  "Frankfurter  Journal"  meine  Abreise  von  Darmstadt 
erfahren.  Seit  einigen  Tagen  bin  ich  hier;  ob  ich  bleiben 
werde,  weiß  ich  nicht,  das  hängt  von  verschiedenen  Um- 
ständen ab.  Mein  Manuskript  wird  unter  der  Hand  seinen 
Kurs  gemacht  haben. 

Meine  Zukunft  ist  so  problematisch,  daß  sie  mich  selbst 
zu  interessieren  anfängt,  was  viel  heißen  will.  Zu  dem 
subtilen  Selbstmord  durch  Arbeit  kann  ich  mich  nicht 
leicht  entschließen;  ich  hoffe,  meine  Faulheit  wenigstens 
ein  Vierteljahr  lang  fristen  zu  können  und  nehme  dann 
Handgeld  entweder  von  den  Jesuiten  für  den  Dienst  der 
Maria  oder  von  den  St.  Simonisten  für  die  femme  libre 
oder  sterbe  mit  meiner  Geliebten.  Wir  werden  sehen. 
Vielleicht  bin  ich  auch  dabei,  wenn  noch  einmal  der 
Münster  eine  Jakobinermütze  aufsetzen  sollte.  Was  sagen 
Sie  dazu?  Es  ist  nur  mein  Spaß.  Aber  Sie  sollen  noch 


STRASSBURG  1835  545 

erleben,  zu  was  ein  Deutscher  nicht  fähig  ist,  wenn  er 
Hunger  hat.  Ich  wollte,  es  ginge  der  ganzen  Nation  wie 
mir.  Wenn  es  einmal  ein  Mißjahr  gibt,  worin  nur  der 
Hanf  gerät!  Das  sollte  lustig  gehen,  wir  wollten  schon 
eine  Boa  Constrictor  zusammen  flechten.  Mein  Danton 
ist  vorläufig  ein  seidenes  Schnürchen  und  meine  Muse 
ein  verkleideter  Samson. 

AN  DIE  FAMILIE  Straßburg,  den  27.  März  1835. 

Ich  fürchte  sehr,  daß  das  Resultat  der  Untersuchung  den 
Schritt,  welchen  ich  getan,  hinlänglich  rechtfertigen  wird; 
es  sind  wieder  Verhaftungen  erfolgt,  und  man  erwartet 
nächstens  deren  noch  mehr.  Minnigerode  ist  in  flag7'anti 
crimine  ertappt  worden.  Man  betrachtet  ihn  als  den  Weg, 
der  zur  Entdeckung  aller  bisherigen  revolutionären  Um- 
triebe führen  soll:  man  sucht  ihm  um  jeden  Preis  sein 
Geheimnis  zu  entreißen;  wie  sollte  seine  schwache  Kon- 
stitution der  langsamen  Folter,  auf  die  man  ihn  spannt, 
widerstehen  können?  ....  Ist  in  den  deutschen  Zeitungen 
die  Hinrichtung  des  Leutnant  Koseritz  auf  dem  Hohen- 
asperg  in  Württemberg  bekanntgemacht  worden:  Er  war 
Mitwisser  um  das  Frankfurter  Komplott  und  wurde  vor 
einiger  Zeit  erschossen.  Der  Buchhändler  Frankh  aus 
Stuttgart  ist  mit  noch  mehreren  anderen  aus  der  näm- 
lichen Ursache  zum  Tode  verurteilt  worden,  und  man 
glaubt,  daß  das  Urteil  vollstreckt  wird. 

AN  DIE  FAMILIE  Straßburg,  den  20.  April  1835. 

Heute  morgen  erhielt  ich  eine  traurige  Nachricht. — Ein 
Flüchtling  aus  der  Gegend  von  Gießen  ist  hier  ange- 
kommen; er  erzählte  mir,  in  der  Gegend  von  Marburg 
seien  mehrere  Personen  verhaftet  und  bei  einem  von 
ihnen  eine  Presse  gefunden  worden,  außerdem  sind  meine 
Freunde  A.  Becker  und  Klemm  eingezogen  worden,  und 
Rektor  Weidig  von  Butzbach  wird  verfolgt.  Ich  begreife 

unter  solchen  Umständen  die  Freilassung  von  P 

nicht. 

Jetzt  erst  bin  ich  froh,  daß  ich  weg  bin,  man  würde  mich 

auf  keinen  Fall  verschont  haben   .  .  .  Ich  sehe  meiner 

BÜCHNER  35. 


546  BRIEFE 

Zukunft  sehr  ruhig  entgegen.  Jedenfalls  könnte  ich  von 
meinen  schriftstellerischen  Arbeiten  leben  .  .  .  Man  hat 
mich  auch  aufgefordert,  Kritiken  über  die  neu  erscheinen- 
den französischen  Werke  in  das  Litefaturblatt  zu  schicken; 
sie  werden  gut  bezahlt.  Ich  würde  mir  noch  weit  mehr 
verdienen  können,  wenn  ich  mehr  Zeit  darauf  verwenden 
wollte;  aber  ich  bin  entschlossen,  meinen  Studienplan 
nicht  aufzugeben. 

AN  DIE  FAMILIE  Straßburg,  den  5.  Mai  1835. 

Schulz  und  seine  Frau  gefallen  mir  sehr  gut;  ich  habe 
schon  seit  längerer  Zeit  Bekanntschaft  mit  ihnen  gemacht 
und  besuche  sie  öfters.  Schulz  namentlich  ist  nichts  we- 
niger als  die  unruhige  Kanzleibürste,  die  ich  mir  unter 
ihm  vorstellte;  er  ist  ein  ziemlich  ruhiger  und  sehr  an- 
spruchsloser Mann.  Er  beabsichtigt,  in  aller  Nähe  mit 
seiner  Frau  nach  Nancy  und  in  Zeit  von  einem  Jahr  un- 
gefähr nach  Zürich  zu  gehen,  um  dort  zu  dozieren  .  .  . 
Die  Verhältnisse  der  politischen  Flüchtlinge  sind  in  der 
Schweiz  keineswegs  so  schlecht,  als  man  sich  einbildet; 
die  strengen  Maßregeln  erstrecken  sich  nur  auf  diejenigen, 
welche  durch  ihre  fortgesetzten  Tollheiten  die  Schweiz  in 
die  unangenehmsten  Verhältnisse  mit  dem  Auslande  ge- 
bracht und  schon  beinahe  in  einen  Krieg  mit  demselben 
verwickelt  haben  .  .  . 

Böckel  und  Bau77i  sind  fortwährend  meine  intimsten 
Freunde;  letzterer  will  seine  Abhandlung  über  die  Metho- 
disten, wofür  er  einen  Preis  von  3000  Francs  erhalten 
hat  und  öffentlich  gekrönt  worden  ist,  drucken  lassen. 
Ich  habe  mich  in  seinem  Namen  an  Gutzkow  gewendet, 
mit  dem  ich  fortwährend  in  Korrespondenz  stehe.  Er  ist 
im  Augenblick  in  Berlin,  muß  aber  bald  wieder  zurück- 
kommen. Er  scheint  viel  auf  mich  zu  halten;  ich  bin  froh 
darüber,  sein  Literaturblatt  steht  in  großem  Ansehn  .  .  . 
Im  Juni  wird  er  hierher  kommen,  wie  er  mir  schreibt. 
Daß  mehreres  aus  meinem  Z^r^wö;  im  "Phönix"  erschienen 
ist,  hatte  ich  durch  ihn  erfahren;  er  versicherte  mich  auch, 
daß  das  Blatt  viel  Ehre  damit  eingelegt  habe.  Das  Ganze 
muß  bald  erscheinen.  Im  Fall  es  Euch  zu  Gesicht  kommt, 


STR  ASSBURG  1835  547 

bitte  ich  Euch,  bei  Eurer  Beurteilung  vorerst  zu  bedenken, 
daß  ich  der  Geschichte  treu  bleiben  und  die  Männer  der 
Revolution  geben  mußte,  wie  sie  waren:  blutig,  lieder- 
lich, energisch  und  zynisch.  Ich  betrachte  mein  Drama 
wie  ein  geschichtliches  Gemälde,  das  seinem  Original 
gleichen  muß  .  .  .  Gutzkow  hat  mich  um  Kritiken  wie  um 
eine  besondere  Gefälligkeit  gebeten;  ich  konnte  es  nicht 
abschlagen,  ich  gebe  mich  ja  doch  in  meinen  freien  Stun- 
den mit  Lektüre  ab,  und  wenn  ich  dann  manchmal  die 
Feder  in  die  Hand  nehme  und  schreibe  über  das  Gelesene 
etwas  nieder,  so  ist  dies  keine  so  große  Mühe  und  nimmt 
wenig  Zeit  weg  .  .  . 

Der  Geburtstag  des  Königs  ging  sehr  still  vorüber.  Nie- 
mand fragt  nach  dergleichen,  selbst  die  Republikaner 
sind  ruhig;  sie  w^ollen  keine  Emeuten  mehr,  aber  ihre 
Grundsätze  finden  von  Tag  zu  Tag,  namentlich  bei  der 
jungen  Generation,  mehr  Anhang,  und  so  wird  wohl  die 
Regierung  nach  und  nach,  ohne  gewaltsame  Umwälzung, 
von  selbst  zusammenfallen  ... 

Sartorius  ist  verhaftet,  sowie  auch  Becker.  Heute  habe 
ich  auch  die  Verhaftung  des  Herrn  IVeidig  und  des  Pfarrers 
F/ick  zu  Petterweil  erfahren. 

AN  DIE  FAMILIE 

Straßburg,  Mittwoch  nach  Pfingsten  1835. 
Was  Ihr  mir  von  dem  in  Darmstadt  verbreiteten  Gerüchte 
hinsichtlich  einer  in  Straßburg  bestehenden  Verbindung 
sagt,  beunruhigt  mich  sehr.  Es  sind  höchstens  acht  bis 
neun  deutsche  Flüchtlinge  hier;  ich  komme  fast  in  keine 
Berührung  mit  ihnen,  und  an  eine  politische  Verbindung 
ist  nicht  zu  denken.  Sie  sehen  so  gut  wie  ich  ein,  daß 
unter  den  jetzigen  Umständen  dergleichen  im  ganzen  un- 
nütz und  dem,  der  daran  teilnimmt,  höchst  verderblich 
ist.  Sie  haben  nur  einen  Zweck,  nämlich  durch  Arbeiten, 
Fleiß  und  gute  Sitten  das  sehr  gesunkene  Ansehn  der 
deutschen  Flüchtlinge  wieder  zu  heben,  und  ich  finde  das 
sehr  lobenswert.  Straßburg  schien  übrigens  unserer  Re- 
gierung höchst  verdächtig  und  sehr  gefährlich;  es  wundern 
mich  daher  die  umgehenden  Gerüchte  nicht  im  geringsten, 


548  BRIEFE 

nur  macht  es  mich  besorgt,  daß  unsere  Regierung  die 
Ausweisung  der  Schuldigen  verlangen  will.  Wir  stehen 
hier  unter  keinem  gesetzlichen  Schutz,  halten  uns  eigent- 
lich gegen  das  Gesetz  hier  auf,  sind  nur  geduldet  und 
somit  ganz  der  Willkür  des  Präfekten  überlassen.  Sollte 
ein  derartiges  Verlangen  von  unserer  Regierung  gestellt 
werden,  so  würde  man  nicht  fragen:  existiert  eine  solche 
Verbindung  oder  nicht:  sondern  man  würde  ausweisen, 
was  da  ist.  Ich  kann  zwar  auf  Protektion  genug  zählen, 
um  mich  hier  halten  zu  können;  aber  das  geht  nur  so 
lange,  als  die  hessische  Regierung  nicht  besonders 
meine  Ausweisung  verlangt,  denn  in  diesem  Falle  spricht 
das  Gesetz  zu  deutlich,  als  daß  die  Behörde  ihm  nicht 
nachkommen  müßte.  Doch  hoffe  ich,  das  alles  ist  über- 
trieben. Uns  berührt  auch  folgende  Tatsache:  Dr.  Schulz 
hat  nämlich  vor  einigen  Tagen  den  Befehl  erhalten, 
Straßburg  zu  verlassen;  er  hatte  hier  ganz  zurückgezogen 
gelebt,  sich  ganz  ruhig  verhalten— und  dennoch!  Ich  hoffe, 
daß  unsere  Regierung  mich  für  zu  unbedeutend  hält,  um 
auch  gegen  mich  ähnliche  Maßregeln  zu  ergreifen,  und 
daß  ich  somit  ungestört  bleiben  werde.  Sagt,  ich  sei  in 
die  Schweiz  gegangen. — 

Heumann  sprach  ich  gestern. — Auch  sind  in  der  letzten 
Zeit  wieder  fünf  Flüchtlinge  aus  Darmstadt  und  Gießen 
hier  eingetroffen  und  bereits  in  die  Schweiz  weiter  ge- 
reist. Rosenstiel^  Wiener  und  Stamm  sind  unter  ihnen. 

AN  WILHELM  BÜCHNER  Straßburg,  im  Juli  1835. 
Ich  würde  Dir  das  nicht  sagen,  wenn  ich  im  entfernte- 
sten jetzt  an  die  Möglichkeit  tmtx politischen  Umwälzung 
glauben  könnte.  Ich  habe  mich  seit  einem  halben  Jahre 
vollkommen  überzeugt,  daß  nichts  zu  tun  ist  und  daß 
jeder,  der  im  Augenblicke  sich  aufopfert,  seine  Haut  wie 
ein  Narr  zu  Markte  trägt.  Ich  kann  Dir  nichts  NäJieres 
sagen,  aber  ich  kenne  die  Verhältnisse;  ich  weiß,  wie 
schwach,  wie  unbedeutend,  wie  zerstückelt  die  liberale 
Partei  ist,  ich  weiß,  daß  ein  zweckmäßiges,  übereinstim- 
mendes Handeln  unmöglich  ist  und  daß  jeder  Versuch 
auch  nicht  zum  geringsten  Resultate  führt  .  .  .  Eine  ge- 


STRASSBURG  1835  549 

naue  Bekanntschaft  mit  dem  Treiben  der  deutschen  Re- 
volutionärs im  Auslande  hat  mich  überzeugt,  daß  auch 
von  dieser  Seite  nicht  das  geringste  zu  hofifen  ist.  Es 
herrscht  unter  ihnen  eine  babylonische  Verwirrung,  die 
nie  gelöst  werden  wird.  Hoffen  wir  auf  die  Zeit! 

AN  GUTZKOW  Straßburg,  1835. 

Die  ganze  Revolution  hat  sich  schon  in  Liberale  und 
Absolutisten  geteilt  und  muß  von  der  ungebildeten  und 
armen  Klasse  aufgefressen  werden;  das  Verhältnis  zivischen 
Armen  und  Reichen  ist  das  einzige  revolutionäre  Ele- 
ment in  der  Welt;  der  Hunger  allein  kann  die  Freiheits- 
göttin,  und  nur  ein  Moses,  der  uns  die  sieben  ägyptischen 
Plagen  auf  den  Hals  schickte,  könnte  ein  Messias  werden. 
Mästen  Sie  die  Bauern,  und  die  Revolution  bekommt  die 
Apoplexie.  Ein  Huhn  im  Topfe  jedes  Bauern  macht  den 
gallischen  Hahn  verenden. 

AN  DIE  FAMILIE  Straßburg,  im  Juli  1835. 

Ich  habe  hier  noch  mündlich  viel  Unangenehmes  aus 
Darmstadt  erfahren.  Koch^  Walloth^  Geilfuß  und  einer 
meiner  Gießener  Freunde,  mit  Namen  Becker,  sind  vor 
kurzem  hier  angekommen,  auch  ist  der  junge  Stamm  hier. 
Es  sind  sonst  noch  mehrere  angekommen,  sie  gehen  aber 
sämtlich  weiter  in  die  Schweiz  oder  in  das  Innere  von 
Frankreich.  Ich  habe  von  Glück  zu  sagen  und  fühle  mich 
manchmal  recht  frei  und  leicht,  wenn  ich  den  weiten, 
freien  Raum  um  mich  überblicke  und  mich  dann  in  das 
Darmstädter  Arresthaus  zurückversetze.  Die  Unglück- 
lichen! Minnigerode  sitzt  jetzt  fast  ein  Jahr;  er  soll  kör- 
perlich fast  aufgerieben  sein,  aber  zeigt  er  nicht  eine 
heroische  Standhaftigkeit.-  Es  heißt,  er  sei  schon  mehr- 
mals geschlagen  worden— ich  kann  und  mag  es  nicht 
glauben.  A,  Becker  wird  wohl  von  Gott  und  der  Welt 
verlassen  sein:  seine  Mutter  starb,  während  er  in  Gießen 
im  Gefängnis  saß;  vierzehn  Tage  darnach  eröffnete  man 
es  ihm!!!  Klemm  ist  ein  Verräter,  das  ist  gewiß,  aber  es 
ist  mir  doch  immer,  als  ob  ich  träumte,  wenn  ich  daran 
denke.    Wißt  Ihr  denn,  daß  seine  Schwester  und  seine 


550  BRIEFE 

Schwägerin  ebenfalls  verhaftet  und  nach  Darmstadt  ge- 
bracht worden  sind,  und  zwar  höchstwahrscheinlich  auf 
seine  eigne  Aussage  hin:  Übrigens  gräbt  er  sich  sein 
eignes  Grab;  seinen  Zweck,  die  Heirat  mit  Fräulein  v.  .  . 
in  Gießen,  wird  er  doch  nicht  erreichen,  und  die  öffent- 
liche Verachtung,  die  ihn  unfehlbar  trifft,  wird  ihn  töten. 
Ich  fürchte  nur  sehr,  daß  die  bisherigen  Verhaftungen 
nur  das  Vorspiel  sind;  es  wird  noch  bunt  hergehen.  Die 
Regierung  weiß  sich  nicht  zu  mäßigen;  die  Vorteile, 
welche  ihr  die  Zeitumstände  in  die  Hand  geben,  wird  sie 
aufs  äußerste  mißbrauchen,  und  das  ist  sehr  unklug  und 
für  uns  sehr  vorteilhaft.  Auch  der  junge  v.  Biegeleben, 
Weidenbusch,  Floret  sind  in  eine  Untersuchung  verwickelt; 
das  wird  noch  ins  Unendliche  gehen.  Drei  Pfarrer,  Flick, 
Weidig  und  Thudichum,  sind  unter  den  Verhafteten.  Ich 
fürchte  nur  sehr,  daß  unsere  Regierung  uns  hier  nicht  in 
Ruhe  läßt;  doch  bin  ich  der  Verwendung  der  Professoren 
Lauth,  Duvernoy  und  des  Doktor  Böckeis  gewiß,  die  sämt- 
lich mit  dem  Präfekten  gut  stehen. — 
Mit  meiner  Übersetzung  bin  ich  längst  fertig;  wie  es  mit 
meinem  Drama  geht,  weiß  ich  nicht;  es  mögen  wohl  fünf 
bis  sechs  Wochen  sein,  daß  mir  Gutzkow  schrieb,  es 
werde  daran  gedruckt,  seit  der  Zeit  habe  ich  nichts  mehr 
darüber  gehört.  Ich  denke,  es  muß  erschienen  sein,  und 
man  schickt  es  mir  erst,  wenn  die  Rezensionen  erschienen 
sind,  zugleich  mit  diesen  zu;  anders  weiß  ich  mir  die  Ver- 
zögerung nicht  zu  erklären.  Nur  fürchte  ich  zuweilen  für 
Gutzkoiü\  er  ist  ein  Preuße  und  hat  sich  neuerdings  durch 
eine  Vorrede  zu  einem  in  Berlin  erschienenen  Werke 
das  Mißfallen  seiner  Regierung  zugezogen.  Die  Preußen 
machen  kurzen  Prozeß;  er  sitzt  vielleicht  jetzt  auf  einer 
preußischen  Festung;  doch  wir  wollen  das  Beste  hoffen. 

AN  DIE  FAMILIE  Straßburg,  i6.  Juli  1835. 

Ich  lebe  hier  ganz  unangefochten;  es  ist  zwar  vor  einiger 
Zeit  ein  Reskript  von  Gießen  gekommen,  die  Polizei 
scheint  aber  keine  Notiz  davon  genommen  zu  haben  .  .  . 
Es  liegt  schwer  auf  mir,  wenn  ich  mir  Darmstadt  vor- 
stelle:  ich  sehe  unser  Haus  und  den  Garten  und  dann 


STRASSBURG  1835  551 

unwillkürlich  das  abscheuliche  Arresthaus.  Die  Unglück- 
lichen! Wie  wird  das  enden?  Wohl  wie  in  Frankfurt,  wo 
einer  nach  dem  andern  stirbt  und  in  der  Stille  begraben 
wird.  Ein  Todesurteil,  ein  Schafott,  was  ist  das.'  Man 
stirbt  für  seine  Sache.  Aber  so  im  Gefängnis  auf  eine 
langsame  Weise  aufgerieben  zu  werden!  Das  ist  entsetz- 
hch!  Könntet  Ihr  mir  nicht  sagen,  wer  in  Darmstadt  sitzt.' 
Ich  habe  hier  vieles  untereinander  gehört,  werde  aber 
nicht  klug  daraus.  Klemm  scheint  eine  schändliche  Rolle 
zu  spielen.  Ich  hatte  den  Jungen  sehr  gern,  er  war  grenzen- 
los leidenschafthch,  aber  oöen,  lebhaft,  mutig  und  auf- 
geweckt. Hört  man  nichts  von  Minnigerode}  Sollte  er 
wirklich  Schläge  erhalten.-  Es  ist  mir  undenkbar.  Seine 
heroische  Standhaftigkeit  sollte  auch  dem  verstocktesten 
Aristokraten  Ehrfurcht  einflößen. 

AN  DIE  FAMILIE  Straßburg,  28.  JuH  1835. 

Über  mein  Drama  muß  ich  einige  Worte  sagen.  Erst  muß 
ich  bemerken,  daß  die  Erlaubnis,  einige  Änderungen 
machen  zu  dürfen,  allzusehr  benutzt  worden  ist.  Fast  auf 
jeder  Seite  weggelassen,  zugesetzt,  und  fast  immer  auf 
die  dem  Ganzen  nachteiligste  Weise.  Manchmal  ist  der 
Sinn  ganz  entstellt  oder  ganz  und  gar  weg,  und  fast  platter 
Unsinn  steht  an  der  Stelle.  Außerdem  wimmelt  das  Buch 
von  den  abscheulichsten  Druckfehlern.  Man  hat  mir  kei- 
nen Korrekturbogen  zugeschickt.  Der  Titel  ist  abge- 
schmackt, und  mein  Name  steht  darauf,  was  ich  ausdrück- 
Hch  verboten  hatte;  er  steht  außerdem  nicht  auf  dem 
Titel  meines  Manuskripts.  Außerdem  hat  mir  der  Kor- 
rektor einige  Gemeinheiten  in  den  Mund  gelegt,  die  ich 
in  meinem  Leben  nicht  gesagt  haben  würde.  Gutzkows 
glänzende  Kritiken  habe  ich  gelesen  und  zu  meiner  Freude 
dabei  bemerkt,  daß  ich  keine  Anlagen  zur  Eitelkeit  habe. 
Was  übrigens  die  sogenannte  Unsittlichkeit  meines  Buchs 
angeht,  so  habe  ich  folgendes  zu  antworten:  der  dra- 
77iatische  Dichter  ist  in  meinen  Augen  nichts  als  ein  Ge- 
schichtschreiber, steht  aber  über  letzterem  dadurch,  daß 
er  uns  die  Geschichte  zum  zweitenmal  erschafft  und  uns 
gleich  unmittelbar,  statt  eine  trockne  Erzählung  zu  geben, 


552  BRIEFE 

in  das  Leben  einer  Zeit  hinein  versetzt,  uns  statt  Charak- 
teristiken Charaktere  und  statt  Beschreibungen  Gestalten 
gibt.  Seine  höchste  Aufgabe  ist,  der  Geschichte,  wie  sie 
sich  wirklich  begeben,  so  nahe  als  möglich  zu  kommen. 
Sein  Buch  darf  weder  sittlicher  noch  unsittlicher  sein  als 
die  Geschichte  selbst-,  aber  die  Geschichte  ist  vom  lieben 
Herrgott  nicht  zu  einer  Lektüre  für  junge  Frauenzimmer 
geschaffen  worden,  und  da  ist  es  mir  auch  nicht  übel  zu 
nehmen,  wenn  mein  Drama  ebensowenig  dazu  geeignet 
ist.  Ich  kann  doch  aus  einem  Danton  und  den  Banditen 
der  Revolution  nicht  Tugendhelden  machen!  Wenn  ich 
ihre  Liederlichkeit  schildern  wollte,  so  mußte  ich  sie  eben 
liederlich  sein,  wenn  ich  ihre  Gottlosigkeit  zeigen  wollte, 
so  mußte  ich  sie  eben  wie  Atheisten  sprechen  lassen. 
Wenn  einige  unanständige  Ausdrücke  vorkommen,  so 
denke  man  an  die  wellbekannte,  obszöne  Sprache  der 
damaligen  Zeit,  wovon  das,  was  ich  meine  Leute  sagen 
lasse,  nur  ein  schwacher  Abriß  ist.  Man  könnte  mir  nun 
noch  vorwerfen,  daß  ich  einen  solchen  Stoff  gewählt  hätte. 
Aber  der  Einwurf  ist  längst  widerlegt.  Wollte  man  ihn 
gelten  lassen,  so  müßten  die  größten  Meisterwerke  der 
Poesie  verworfen  werden.  Der  Dichter  ist  kein  Lehrer 
der  Moral,  er  erfindet  und  schafft  Gestalten,  er  macht 
vergangene  Zeiten  wieder  aufleben,  und  die  Leute  mögen 
dann  daraus  lernen,  so  gut  wie  aus  dem  Studium  der 
Geschichte  und  der  Beobachtung  dessen,  was  im  mensch- 
lichen Leben  um  sie  herum  vorgeht.  Wenn  man  so  wollte, 
dürfte  man  keine  Geschichte  studieren,  weil  sehr  viele 
unmoralische  Dinge  darin  erzählt  werden,  müßte  mit  ver- 
bundenen Augen  über  die  Gasse  gehen,  weil  man  sonst 
Unanständigkeiten  sehen  könnte,  und  müßte  über  einen 
Gott  Zeter  schreien,  der  eine  Welt  erschaffen,  worauf  so 
viele  Liederlichkeiten  vorfallen.  Wenn  man  mir  übrigens 
noch  sagen  wollte,  der  Dichter  müsse  die  Welt  nicht 
zeigen,  wie  sie  ist,  sondern  wie  sie  sein  solle,  so  ant- 
worte ich,  daß  ich  es  nicht  besser  machen  will  als  der 
liebe  Gott,  der  die  Welt  gewiß  gemacht  hat,  wie  sie  sein 
soll.  Was  noch  die  sogenannten  Idealdichter  anbetrifift, 
so  finde  ich,  daß  sie  fast  nichts  als  Marionetten  mit  him- 


STRASSBURG  1835  553 

melblauen  Nasen  und  afifektiertem  Pathos,  aber  nicht 
Menschen  von  Fleisch  und  Blut  gegeben  haben,  deren 
Leid  und  Freude  mich  mitempfinden  macht  und  deren 
Tun  und  Handeln  mir  Abscheu  oder  Bewunderung  ein- 
flößt. Mit  einem  Wort,  ich  halte  viel  auf  Goethe  oder 
Shakespeare^  aber  sehr  wenig  auf  Schiller.  Daß  übrigens 
noch  die  ungünstigsten  Kritiken  erscheinen  werden,  ver- 
steht sich  von  selbst;  denn  die  Regierungen  müssen  doch 
durch  ihre  bezahlten  Schreiber  beweisen  lassen,  daß  ihre 
Gegner  Dummköpfe  oder  unsittliche  Menschen  sind.  Ich 
halte  übrigens  mein  Werk  keineswegs  für  vollkommen 
und  werde  jede  wahrhaft  ästhetische  Kritik  mit  Dank  an- 
nehmen.— 

Habt  Ihr  von  dem  gewaltigen  Blitzstrahl  gehört,  der  vor 
einigen  Tagen  das  Mihister  getroffen  hat?  Nie  habe  ich 
einen  solchen  Feuerglanz  gesehen  und  einen  solchen 
Schlag  gehört;  ich  war  einige  Augenblicke  wie  betäubt. 
Der  Schade  ist  der  größte  seit  Wächtersgedenken.  Die 
Steine  wurden  mit  ungeheurer  Gewalt  zerschmettert  und 
weit  weg  geschleudert;  auf  hundert  Schritt  im  Umkreis 
wurden  die  Dächer  der  benachbarten  Häuser  von  den 
herabfallenden  Steinen  durchgeschlagen. — 
Es  sind  wieder  drei  Flüchtlinge  hier  eingetroffen,  Nie- 
vergelder  ist  darunter;  es  sind  in  Gießen  neuerdings  zwei 
Studenten  verhaftet  worden.  Ich  bin  äußerst  vorsichtig. 
Wir  wissen  hier  von  niemand,  der  auf  der  Grenze  verhaftet 
worden  sei.  Die  Geschichte  muß  ein  Märchen  sein. 

AN  DIE  FAMILIE  Straßburg,  Anfangs  August  1835. 
Vor  allem  muß  ich  Euch  sagen,  daß  man  mir  auf  beson- 
dere Verwendung  eine  Sicherheitskarte  versprochen  hat, 
im  Fall  ich  einen  Geburts  -  (nicht  Heimats-)schein  vor- 
weisen könnte.  Es  ist  dies  nur  als  eine  vom  Gesetze  vor- 
geschriebene Förmlichkeit  zu  betrachten;  ich  muß  ein 
Papier  vorweisen  können,  so  unbedeutend  es  auch  sei.  .  . 
Doch  lebe  ich  ganz  unangefochten;  es  ist  nur  eine  prophy- 
laktische Maßregel,  die  ich  für  die  Zukunft  nehme.  Sprengt 
übrigens  immerhin  aus,  ich  sei  nach  Zürich  gegangen;  da 
Ihr  seit  längerer  Zeit  keine  Briefe  von  mir  durch  die  Post 


554  BRIEFE 

erhalten  habt,  so  kann  die  Polizei  unmöglich  mit  Be- 
stimmtheit wissen,  wo  ich  mich  aufhalte,  zumal  da  ich 
meinen  Freunden  geschrieben,  ich  sei  nach  Zürich  ge- 
gegangen. 

Es  sind  wieder  einige  Flüchtlinge  hier  angekommen,  ein 
Sohn  des  Professor  Vogt  ist  darunter.  Sie  bringen  die 
Nachricht  von  neuen  Verhaftungen  dreier  Familienväter! 
Der  eine  in  Rödelheim,  der  andere  in  Frankfurt,  der 
dritte  in  Offenbach.  Auch  ist  eine  Schwester  des  unglück- 
lichen Neuhof,  ein  schönes  und  liebenswürdiges  Mädchen, 
wie  man  sagt,  verhaftet  worden.  Daß  ein  Frauenzimmer 
aus  Gießen  in  das  Darmstädter  Arresthaus  gebracht  w^urde, 
ist  gewiß;  man  behauptet,  sie  sei  die  .  .  .  Die  Regierung 
muß  die  Sache  sehr  geheim  halten,  denn  Ihr  scheint  in 
Darmstadt  sehr  schlecht  unterrichtet  zu  sein.  Wir  erfahren 
alles  durch  die  Flüchtlinge,  welche  es  am  besten  wissen, 
da  sie  meistens  zuvor  in  die  Untersuchung  verwickelt 
waren.  Daß  Mimtigerode  in  Friedberg  eine  Zeitlang 
Ketten  an  den  Händen  hatte,  weiß  ich  gewiß;  ich  weiß 
es  von  einem,  der  mit  ihm  saß.  Er  soll  tödlich  krank  sein; 
wolle  der  Himmel,  daß  seine  Leiden  ein  Ende  hätten! 
Daß  die  Gefangenen  die  Gefängniskost  bekommen  und 
weder  Licht  noch  Bücher  erhalten,  ist  ausgemacht.  Ich 
danke  dem  Himmel,  daß  ich  voraussah,  was  kommen 
würde;  ich  wäre  in  so  einem  Loch  verrückt  geworden.  . . 
In  der  Politik  fängt  es  hier  wieder  an,  lebendig  zu  wer- 
den. Die  Höllenmaschine  in  Paris  und  die  der  Kammer 
vorgelegten  Gesetzentwürfe  über  die  Presse  machen  viel 
Aufsehn.  Die  Regierung  zeigt  sich  sehr  unmoralisch,  denn 
obgleich  es  gerichtlich  erwiesen  ist,  daß  der  Täter  ein 
verschmitzter  Schurke  ist,  der  schon  allen  Parteien  ge- 
dient hat  und  wahrscheinlich  durch  Geld  zu  der  Tat  ge- 
trieben wurde,  so  sucht  sie  doch  das  Verbrechen  den 
Republikanern  und  Carlisten  auf  den  Hals  zu  laden  und 
durch  den  momentanen  Eindruck  die  unleidlichsten  Be- 
schränkungen der  Presse  zu  erlangen.  Man  glaubt,  daß 
das  Gesetz  in  der  Kammer  durchgehen  und  vielleicht 
noch  geschärft  werden  wird.  Die  Regierung  ist  sehr  un- 
klug: in  sechs  Wochen  hat  man  die  Höllenmaschine  ver- 


STRASSBURG  1835  555 

gessen,  und  dann  befindet  sie  sich  mit  ihrem  Gesetz  einem 
Volke  gegenüber,  das  seit  mehreren  Jahren  gewohnt  ist, 
alles,  was  ihm  durch  den  Kopf  kommt,  öfifentlich  zu  sagen. 
Die  feinsten  Politiker  reimen  die  Höllenmaschine  mit  der 
Revue  in  Kaiisch  zusammen.  Ich  kann  ihnen  nicht  ganz 
unrecht  geben:  die  Höllenmaschine  unter  Bonaparte!  der 
Rastadter  Gesandtenmord!!  .  .  .  Wenn  man  sieht,  wie  die 
absoluten  Mächte  alles  wieder  in  die  alte  Unordnung  zu 
bringen  suchen,  Polen,  Italien,  Deutschland  wieder  unter 
den  Füßen— es  fehlt  nur  noch  Frankreich;  es  hängt  ihnen 
immer  wie  ein  Schwert  über  dem  Kopf.  So  zum  Zeit- 
vertreib wirft  man  doch  die  Millionen  in  Kaiisch  nicht 
zum  Fenster  hinaus.  Man  hätte  die  auf  den  Tod  des 
Königs  folgende  Verwirrung  benutzt  und  hätte  gerade 
nicht  sehr  viele  Schritte  gebraucht,  um  an  den  Rhein  zu 
kommen.  Ich  kann  mir  das  Attentat  auf  keine  andere 
Weise  erklären.  Die  Republikaner  haben  erstens  kein 
Geld  und  sind  zweitens  in  einer  so  elenden  Lage,  daß  sie 
nichts  hätten  versuchen  können,  selbst  wenn  der  König 
gefallen  wäre.  Höchstens  könnten  einige  Legitim isten 
hinein  verwickelt  sein.  Ich  glaube  nicht,  daß  die  Justiz 
die  Sache  aufklären  wird. 

AN  DIE  FAMILIE  Straßburg,  den  17.  August  1835. 
Von  Umtrieben  weiß  ich  nichts.  Ich  und  meine  Freunde 
sind  sämtlich  der  Meinung,  daß  man  für  jetzt  alles  der 
Zeit  überlassen  muß;  übrigens  kann  der  Mißbrauch,  wel- 
chen die  Fürsten  mit  ihrer  wiedererlangten  Gewalt  treiben, 
nur  zu  unserem  Vorteil  gereichen.  Ihr  müßt  Euch  durch 
die  verschiedenen  Gerüchte  nicht  irremachen  lassen;  so 
soll  sogar  ein  Mensch  Euch  besucht  haben,  der  sich  für 
einen  meiner  Freunde  ausgab.  Ich  erinnere  mich  gar  nicht, 
den  Menschen  je  gesehen  zu  haben;  wie  mir  die  anderen 
jedoch  erzählten,  ist  er  ein  ausgemachter  Schurke,  der 
wahrscheinlich  auch  das  Gerücht  von  einer  hier  bestehen- 
den Verbindung  ausgesprengt  hat.  Die  Gegenwart  des 
Priiizen  Ej?iil,  der  eben  hier  ist,  könnte  vielleicht  nach- 
teilige Folgen  für  uns  haben,  im  Fall  er  von  dem  Piäfekten 
unsere  Ausweisung  begehrte;  doch  halten  wir  uns  für  zu 


556  BRIEFE 

unbedeutend,  als  daß  Seine  Hoheit  sich  mit  uns  beschäf- 
tigen sollte.  Übrigens  sind  fast  sämtliche  Flüchtlinge  in 
die  Schweiz  und  in  das  Innere  abgereist,  und  in  wenigen 
Tagen  gehen  noch  mehrere,  so  daß  höchstens  fünf  bis 
sechs  hier  bleiben  werden. 

AN  GUTZKOW  Straßburg,  Herbst  1835. 

Was  Sie  mir  über  die  Zusendung  aus  der  Schiveiz  sagen, 
macht  mich  lachen.  Ich  sehe  schon,  wo  es  herkommt. 
Ein  Mensch,  der  mir  einmal,  es  ist  schon  lange  her,  sehr 
lieb  war,  mir  später  zur  unerträglichen  Last  geworden  ist, 
den  ich  schon  seit  Jahren  schleppe  und  der  sich,  ich  weiß 
nicht  aus  welcher  verdammten  Notwendigkeit,  ohne  Zu- 
neigung, ohne  Liebe,  ohne  Zutrauen  an  mich  anklammert 
und  quält  und  den  ich  wie  ein  notwendiges  Übel  getragen 
habe!  Es  war  mir  wie  einem  Lahmen  oder  Krüppel  zu- 
mut,  und  ich  hatte  mich  so  ziemlich  in  mein  Leiden  ge- 
funden. Aber  jetzt  bin  ich  froh,  es  ist  mir,  als  wäre  ich 
von  einer  Todsünde  absolviert.  Ich  kann  ihn  endlich  mit 
guter  Manier  vor  die  Türe  werfen.  Ich  war  bisher  un- 
vernünftig gutmütig;  es  wäre  mir  leichter  gefallen,  ihn 
tot  zu  schlagen  als  zu  sagen:  Pack  dich!  Aber  jetzt  bin 
ich  ihn  los!  Gott  sei  Dank!  Nichts  kommt  einem  doch  in 
der  Welt  teurer  zu  stehen  als  die  Humanität. 

AN  DIE  FAMILIE  Straßburg,  den  20.  September  1835. 
Mir  hat  sich  eine  Quelle  geöffnet;  es  handelt  sich  um  ein 
großes  Literaturblatt,  ''Deutsche  Revue"  betitelt,  das  mit 
Anfang  des  neuen  Jahres  in  W^ochenheften  erscheinen  soll. 
Gutzkow  und  Wienbarg  werden  das  Unternehmen  leiten; 
man  hat  mich  zu  monatlichen  Beiträgen  aufgefordert.  Ob 
das  gleich  eine  Gelegenheit  gewesen  wäre,  mir  vielleicht 
ein  regelmäßiges  Einkommen  zu  sichern,  so  habe  ich  doch 
meiner  Studien  halber  die  Verpflichtung  zu  regelmäßigen 
Beiträgen  abgelehnt.  Vielleicht,  daß  Ende  des  Jahres  noch 
etwas  von  mir  erscheint. — 

Klemm  also  frei?  Er  ist  mehr  ein  Unglücklicher  als  ein 
Verbrecher,  ich  bemitleide  ihn  eher,  als  ich  ihn  verachte; 
man  muß  doch  gar  pfiffig  die  tolle  Leidenschaft  des  armen 


STR  ASSBURG  1835  557 

Teufels  benützt  haben.  Er  hatte  sonst  Ehrgefühl;  ich  glaube 
nicht,  daß  er  seine  Schande  wird  ertragen  können.  Seine 
Familie  verleugnet  ihn,  seinen  älteren  Bruder  ausgenom- 
men, der  eine  Hauptrolle  in  der  Sache  gespielt  zu  haben 
scheint.  Es  sind  viel  Leute  dadurch  unglücklich  gewor- 
den. Mit  Minnigerode  soll  es  besser  gehen.  Hat  denn 
Gladbach  noch  kein  Urteil.'  Das  heiße  ich  einen  doch 
lebendig  begraben.  Mich  schaudert,  wenn  ich  denke,  was 
vielleicht  mein  Schicksal  gewesen  wäre! 

AN  DIE  FAMILIE  Straßburg,  im  Oktober  1835. 

Ich  habe  mir  hier  allerhand  interessante  Notizen  über 
einen  Freund  Goethes,  einen  unglücklichen  Poeten  namens 
Loiz^  verschafft,  der  sich  gleichzeitig  mit  Goethe  hier  auf- 
hielt und  halb  verrückt  wurde.  Ich  denke  darüber  einen 
Aufsatz  in  der  deutschen  Revue  erscheinen  zu  lassen. 
Auch  sehe  ich  mich  eben  nach  Stoff  zu  ^m^x  Abhandlung 
über  eine7i  philosophischen  oder  naturhistorischen  Gegen- 
stafid  um.  Jetzt  noch  eine  Zeitlang  anhaltendes  Studium, 
und  der  Weg  ist  gebrochen.  Es  gibt  hier  Leute,  die  mir 
eine  glänzende  Zukunft  prophezeien.  Ich  habe  nichts  da- 
wider. 

AN  DIE  FAMILIE  Straßburg,  den  2.  November  1835. 
Ich  weiß  bestimmt,  daß  man  mir  in  Darmstadt  die  aben- 
teuerlichsten Dinge  nachsagt;  man  hat  mich  bereits  drei- 
mal an  der  Grenze  verhaften  lassen.  Ich  finde  es  natür- 
lich; die  außerordentliche  Anzahl  von  Verhaftungen  und 
Steckbriefen  muß  Aufsehen  machen,  und  da  das  Publikum 
jedenfalls  nicht  weiß,  um  was  es  sich  eigentlich  handelt, 
so  macht  es  wunderliche  Hypothesen. 
Aus  der  Schweiz  habe  ich  die  besten  Nachrichten.  Es 
wäre  möglich,  daß  ich  noch  vor  Neujahr  von  der  Züricher 
Fakultät  den  Doktorhut  erhielte,  in  welchem  Fall  ich  als- 
dann nächste  Ostern  anfangen  würde,  dort  zu  dozieren. 
In  einem  Alter  von  zweiundzwanzig  Jahren  wäre  das  alles, 
was  man  fordern  kann.  .  , 

Neulich  hat  mein  Name  in  der  ''Allgemeinen  Zeitung" 
paradiert.    Es  handelte  sich  um  eine  große  literarische 


558  BRIEFE 

Zeitschrift,  Deutsche  Revue,  für  die  ich  Artikel  zu  liefern 
versprochen  habe.  Dies  Blatt  ist  schon  vor  seinem  Er- 
scheinen angegriffen  worden,  worauf  es  denn  hieß,  daß 
man  nur  die  Herren  Heine,  Börne,  Mundt,  Schulz,  Büch- 
ner usw.  zu  nennen  brauche,  um  einen  Begriff  von  dem 
Erfolge  zu  haben,  den  diese  Zeitschrift  haben  würde.  .  . 
Über  die  Art,  wie  Mhuiigerode  mißhandelt  wird,  ist  im 
^'Temps"  ein  Artikel  erschienen.  Er  scheint  mir  von 
Darmstadt  aus  geschrieben;  man  muß  wahrhaftig  weit 
gehen,  um  einmal  klagen  zu  dürfen.  Meine  unglücklichen 
Freunde! 

AN  GUTZKOW  Straßburg  [1835]. 

Sie  erhalten  hierbei  ein  Bändchen  Gedichte  von  meinen 
Freunden  Stöber.  Die  Sagen  sind  schön,  aber  ich  bin  kein 
Verehrer  der  Manier  ä  la  Schwab  und  Uhland  und  der 
Partei,  die  immer  rückwärts  ins  Mittelalter  greift,  weil  sie 
in  der  Gegenwart  keinen  Platz  ausfüllen  kann.  Doch  ist 
mir  das  Büchlein  lieb;  sollten  Sie  nichts  Günstiges  dar- 
über zu  sagen  wissen,  so  bitte  ich  Sie,  lieber  zu  schweigen. 
Ich  habe  mich  ganz  hier  in  das  Land  hineingelebt;  die 
Vogesen  sind  ein  Gebirg,  das  ich  liebe  wie  eine  Mutter, 
ich  kenne  jede  Bergspitze  und  jedes  Tal,  und  die  alten 
Sagen  sind  so  originell  und  heimlich,  und  die  beiden 
Stöber  sind  alte  Freunde,  mit  denen  ich  zum  erstenmal 
das  Gebirg  durchstrich.  Adolph  hat  unstreitig  Talent, 
auch  wird  Ihnen  sein  Name  durch  den  Musenalmanach 
bekannt  sein.  August  steht  ihm  nach,  doch  ist  er  gewandt 
in  der  Sprache. 

Die  Sache  ist  nicht  ohne  Bedeutung  für  das  Elsaß,  sie  ist 
einer  von  den  seltenen  Versuchen,  die  noch  manche  El- 
sässer  machen,  um  die  deutsche  Nationalität  Frankreich 
gegenüber  zu  wahren  und  wenigstens  das  geistige  Band 
zwischen  ihnen  und  dem  Vaterlande  nicht  reißen  zu  lassen. 
Es  wäre  traurig,  wenn  das  Münster  einmal  ganz  auf  frem- 
dem Boden  stände.  Die  Absicht,  welche  zum  Teil  das 
Büchlein  erstehen  ließ,  würde  sehr  gefördert  werden,  wenn 
das  Unternehmen  in  Deutschland  Anerkennung  fände,  und 
von  der  Seite  empfehle  ich  es  Ihnen  besonders. 


STRASSBURG  1836  559 

Ich  werde  ganz  dumm  in  dem  Studium  der  Philosophie; 
ich  lerne  die  Armseligkeit  des  menschlichen  Geistes  wie- 
der von  einer  neuen  Seite  kennen.  Meinetwegen!  Wenn 
man  sich  nur  einbilden  könnte,  die  Löcher  in  unseren 
Hosen  seien  Palastfenster,  so  könnte  man  schon  wie  ein 
Könier  leben!   So  aber  friert  man  erbärmlich. 


'ö 


AN  DIE  FAMILIE  Straßburg,  den  i.  Januar  1836. 

Das  Verbot  der  Deutschest  Revue  schadet  mir  nichts. 
Einige  Artikel,  die  für  sie  bereit  lagen,  kann  ich  an  den 
"Phönix"  schicken.  Ich  muß  lachen,  wie  fromm  und  mo- 
ralisch plötzlich  unsere  Regierungen  werden.  Der  König 
vofi  Baye?'n  läßt  unsittliche  Bücher  verbieten!  da  darf  er 
seine  Biographie  nicht  erscheinen  lassen,  denn  die  wäre 
das  Schmutzigste,  was  je  geschrieben  worden!  Der  Groß- 
herzog von  Badeny  erster  Ritter  vom  doppelten  Mops- 
orden, macht  sich  zum  Ritter  vom  heiligen  Geist  und 
läßt  Gutzkow  arretieren,  und  der  liebe  deutsche  Michel 
glaubt,  es  geschähe  alles  aus  Religion  und  Christentum 
und  klatscht  in  die  Hände.  Ich  kenne  die  Bücher  nicht, 
von  denen  überall  die  Rede  ist;  sie  sind  nicht  in  den 
Leihbibliotheken  und  zu  teuer,  als  daß  ich  Geld  daran 
wenden  sollte.  Sollte  auch  alles  sein,  wie  man  sagt,  so 
könnte  ich  darin  nur  die  Verirrungen  eines  durch  philo- 
sophische Sophismen  falsch  geleiteten  Geistes  sehen.  Es 
ist  der  gewöhnlichste  Kunstgriff,  den  großen  Haufen  auf 
seine  Seite  zu  bekommen,  wenn  man  mit  recht  vollen 
Backen  "Unmoralisch!"  schreit.  Übrigens  gehört  sehr  viel 
Mut  dazu,  einen  Schriftsteller  anzugreifen,  der  von  einem 
deutschen  Gefängnis  aus  antworten  soll.  Gutzkow  hat 
bisher  einen  edlen,  kräftigen  Charakter  gezeigt,  er  hat 
Proben  von  großem  Talent  abgelegt;  woher  denn  plötzlich 
das  Geschrei?  Es  kommt  mir  vor,  als  stritte  man  sehr  um 
das  Reich  von  dieser  Welt,  während  man  sich  stellt,  als 
müsse  man  der  heiligen  Dreifaltigkeit  das  Leben  retten. 
Gutzkow  hat  in  seiner  Sphäre  mutig  für  die  Freiheit  ge- 
kämpft; man  muß  doch  die  wenigen,  welche  noch  auf- 
recht stehn  und  zu  sprechen  wagen,  verstummen  machen! 
Übrigens  gehöre  ich  für  meine  Person  keineswegs  zu  dem 


56o  BRIEFE 

sogenannten  Jungen  Deutschland^  der  literarischen  Par- 
tei Gutzkows  und  Heines.  Nur  ein  völliges  Mißkennen 
unserer  gesellschaftlichen  Verhältnisse  konnte  die  Leute 
glauben  machen,  daß  durch  die  Tagesliteratur  eine  völlige 
Umgestaltung  unserer  religiösen  und  gesellschaftlichen 
Ideen  möglich  sei.  Auch  teile  ich  keineswegs  ihre  Mei- 
nung über  die  Ehe  und  das  Christentum;  aber  ich  ärgere 
mich  doch,  wenn  Leute,  die  in  der  Praxis  tausendfältig 
mehr  gesündigt  als  diese  in  der  Theorie,  gleich  moralische 
Gesichter  ziehn  und  den  Stein  auf  ein  jugendliches,  tüch- 
tiges Talent  werfen.  Ich  gehe  meinen  Weg  für  mich  und 
bleibe  auf  dem  Felde  des  Dramas^  das  mit  all  diesen 
Streitfragen  nichts  zu  tun  hat;  ich  zeichne  meine  Charak- 
tere, wie  ich  sie  der  Natur  und  der  Geschichte  angemessen 
halte,  und  lache  über  die  Leute,  welche  mich  für  die  Mo- 
ralität  oder  Immoralität  derselben  verantwortlich  machen 
wollen.  Ich  habe  darüber  meine  eignen  Gedanken.  .  . 
Ich  komme  vom  Christkindeismarkt:  überall  Haufen  zer- 
lumpter, frierender  Kinder,  die  mit  aufgerissenen  Augen 
und  traurigen  Gesichtern  vor  den  Herrlichkeiten  aus 
Wasser  und  Mehl,  Dreck  und  Goldpapier  standen.  Der 
Gedanke,  daß  für  die  meisten  Menschen  auch  die  arm- 
seligsten Genüsse  und  Freuden  unerreichbare  Kostbar- 
keiten sind,  machte  mich  sehr  bitter. 

AN  DIE  FAMILIE  Straßburg,  den  15.  März  1836. 

Ich  begreife  nicht,  daß  man  gegen  Küchler  etwas  in  Hän- 
den haben  soll;  ich  dachte,  er  sei  mit  nichts  beschäftigt, 
als  seine  Praxis  und  Kenntnisse  zu  erweitern.  Wenn  er 
auch  nur  kurze  Zeit  sitzt,  so  ist  doch  wohl  seine  ganze 
Zukunft  zerstört:  man  setzt  ihn  vorläufig  in  Freiheit,  spricht 
ihn  von  der  Instanz  los,  läßt  ihn  versprechen,  das  Land 
nicht  zu  verlassen,  und  verbietet  ihm  seine  Praxis,  was 
man  nach  den  neusten  Verfügungen  kaim. — Als  sicher 
und  gewiß  kann  ich  Euch  sagen,  daß  man  vor  kurzem  in 
Bayern  zwei  junge  Leute,  nachdem  sie  seit  fast  vier  Jahren 
in  strenger  Haft  gesessen,  als  unschuldig  in  Freiheit 
gesetzt  hat!  Außer  Küchler  und  Groß  sind  noch  drei 
Bürger  aus  Gießen  verhaftet  worden.    Zwei  von  ihnen 


STRASSBURG  1836  561 

haben  ihr  Geschäft,  und  der  eine  ist  obendrein  Familien- 
vater. Auch  hörten  wir,  Max  v.  Biegelebcn  sei  verhaftet, 
aber  gleich  darauf  wieder  gegen  Kaution  in  Freiheit  ge- 
setzt worden.  Gladbach  soll  vor  einiger  Zeit  zu  acht  Jah- 
ren Zuchthaus  veriurteilt  worden  sein;  das  Urteil  sei  aber 
wieder  umgestoßen,  und  die  Untersuchung  fange  von 
neuem  an.  Ihr  würdet  mir  einen  Gefallen  tun,  wenn  ihr 
mir  über  beides  Auskunft  gäbet. 

Ich  will  Euch  dafür  sogleich  eine  sonderbare  Geschichte 
erzählen,  die  Herr  J.  in  den  englischen  Blättern  gelesen 
und  die,  wie  dazu  bemerkt,  in  den  deutschen  Blättern 
nicht  mitgeteilt  werden  durfte.  Der  Direktor  des  Theaters 
zu  Braunschweig  ist  der  bekannte  Komponist  Methfessel. 
Er  hat  eine  hübsche  Frau,  die  dem  Herzog  gefällt,  und 
ein  Paar  Augen,  die  er  gern  zudrückt,  und  ein  Paar  Hände, 
die  er  gern  aufmacht.  Der  Herzog  hat  die  sonderbare 
Manie,  Madame  Methfessel  im  Kostüm  zu  bewundern. 
Er  befindet  sich  daher  gewöhnlich  vor  Anfang  des  Schau- 
spiels mit  ihr  allein  auf  der  Bühne.  Nun  intrigiert  Meth- 
fessel gegen  einen  bekannten  Schauspieler,  dessen  Name 
mir  entfallen  ist.  Der  Schauspieler  will  sich  rächen,  er 
gewinnt  den  Maschinisten;  der  Maschinist  zieht  an  einem 
schönen  Abend  den  Vorhang  ein  Viertelstündchen  früher 
auf,  und  der  Herzog  spielt  mit  Madame  Methfessel  die 
erste  Szene.  Er  gerät  außer  sich,  zieht  den  Degen  und 
ersticht  den  Maschinisten;  der  Schauspieler  hat  sich  ge- 
flüchtet.— 

Ich  kann  Euch  versichern,  daß  nicht  das  geringste  po- 
litische Treiben  unter  den  Flüchtlingen  hier  herrscht;  die 
vielen  und  guten  Examina,  die  hier  gemacht  werden,  be- 
weisen hinlänglich  das  Gegenteil.  Übrigens  sind  wir  Flüch- 
tigen und  Verhafteten  gerade  nicht  die  Unwissendsten, 
Einfältigsten  oder  Liederlichsten!  Ich  sage  nicht  zuviel, 
daß  bis  jetzt  die  besten  Schüler  des  Gymnasiums  und  die 
fleißigsten  und  unterrichtetsten  Studenten  dies  Schicksal 
getroffen  hat,  die  mitgerechnet,  welche  von  Examen  und 
Staatsdienst  zurückgewiesen  sind.  Es  ist  doch  im  ganzen 
ein  armseliges  junges  Geschlecht,  was  eben  in  Darmstadt 
herumläuft  und  sich  ein  Ämtchen  zu  erkriechen  sucht! 

BÜCHNER  36. 


562  BRIEFE 

AN  GUTZKOW  Straßburg  [1836]. 

Lieber  Freund!  War  ich  lange  genug  stumm:  Was  soll 
ich  Ihnen  sagen?  Ich  saß  auch  im  Gefängnis  und  im 
langweiligsten  unter  der  Sonne,  ich  habe  eine  Ahhandlmig 
geschrieben  in  die  Länge,  Breite  und  Tiefe,  Tag  und 
Nacht  über  der  ekelhaften  Geschichte,  ich  begreife  nicht, 
wo  ich  die  Geduld  hergenommen.  Ich  habe  nämlich  die 
fixe  Idee,  im  nächsten  Semester  zu  Zürich  einen  Kurs  über 
die  Eiitwickelimg  der  deutschen  Philosophie  seit  Cartesius 
zu  lesen;  dazu  muß  ich  mein  Diplom  haben,  und  die  Leute 
scheinen  gar  nicht  geneigt,  meinem  lieben  Sohne  Danton 
den  Doktorhut  aufzusetzen.  Was  war  da  zu  machen: 
Sie  sind  in  Frankfurt  und  unangefochten! — Es  ist  mir  leid 
und  doch  wieder  lieb,  daß  Sie  noch  nicht  im  Rebstöckel 
angeklopft  haben.  Über  den  Stand  der  modernen  Literatur 
in  Deutschland  weiß  ich  so  gut  als  nichts;  nur  einige  ver- 
sprengte Broschüren,  die,  ich  weiß  nicht  wie,  über  den 
Rhein  gekommen,  fielen  mir  in  die  Hände. 
Es  zeigt  sich  in  dem  Kampfe  gegen  Sie  eine  gründliche 
Niederträchtigkeit,  eine  recht  gesunde  Niederträchtigkeit, 
ich  begreife  gar  nicht,  wie  wir  noch  so  natürlich  sein 
können!  Und  Menzels  Hohn  über  die  politischen  Narren 
in  den  deutschen  Festungen  .  .  .  und  das  von  Leuten — 
mein  Gott,  ich  könnte  Ihnen  übrigens  erbauliche  Ge- 
schichten erzählen! 

Es  hat  mich  im  tiefsten  empört;  meine  armen  Freunde! 
Glauben  Sie  nicht,  daß  Menzel  nächstens  eine  Professur 
in  München  erhält: 

Übrigens,  um  aufrichtig  zu  sein,  Sie  und  Ihre  Freunde 
scheinen  mir  nicht  grade  den  klügsten  Weg  gegangen 
zu  sein.  Die  Gesellschaft  mittelst  der  Idee,  von  der  ge- 
bildeten Klasse  aus  reformieren.-  Unmöglich!  Unsere  Zeit 
ist  rein  materiell;  wären  Sie  je  direkter  politisch  zu  Werke 
gegangen,  so  wären  Sie  bald  auf  den  Punkt  gekommen, 
wo  die  Reform  von  selbst  aufgehört  halte.  Sie  werden 
nie  über  den  Riß  zw-ischen  der  gebildeten  und  ungebil- 
deten Gesellschaft  hinauskommen. 

Ich  habe  mich  überzeugt,  die  gebildete  und  wohlhabende 
Minorität,  so  viel  Konzessionen  sie  auch  von  der  Gewalt 


STRASSBURG  1836  563 

für  sich  begehrt,  wird  nie  ihr  spitzes  Verhältnis  zur  großen 
Klasse  aufgeben  wollen.  Und  die  große  Klasse  selbst? 
Für  sie  gibt  es  nur  zwei  Hebel:  materielles  Elend  und 
religiöser  Fanatismus.  Jede  Partei,  welche  diese  Hebel 
anzusetzen  versteht,  wird  siegen.  Unsere  Zeit  braucht 
Eisen  und  Brot— und  dann  ein  Kreuz  oder  sonst  so  was. 
Ich  glaube,  man  muß  in  sozialen  Dingen  von  einem  ab- 
soluten Rechtsgrundsatz  ausgehen,  die  Bildung  eines  neuen 
geistigen  Lebens  im  Volke  suchen  und  die  abgelebte  mo- 
derne Gesellschaft  zum  Teufel  gehen  lassen.  Zu  was  soll 
ein  Ding,  wie  diese,  zwischen  Himmel  und  Erde  herum- 
laufen? Das  ganze  Leben  derselben  besteht  nur  in  Ver- 
suchen, sich  die  entsetzlichste  Langeweile  zu  vertreiben. 
Sie  mag  aussterben,  das  ist  das  einzig  Neue,  was  sie  noch 
erleben  kann. 

AN  DIE  FAMILIE  Straßburg,  im  Mai  1836. 

Ich  bin  fest  entschlossen,  bis  zum  nächsten  Herbste  hier 
zu  bleiben.  Die  letzten  Vorfälle  in  Z,ürich  geben  mir  einen 
Hauptgrund  dazu.  Ihr  wißt  vielleicht,  daß  man  unter  dem 
Vorwande,  die  deutschen  Flüchtlinge  beabsichtigten  einen 
Einfall  in  Deutschland,  Verhaftungen  unter  denselben 
vorgenommen  hat.  Das  nämliche  geschah  an  anderen 
Punkten  der  Schweiz.  Selbst  hier  äußerte  die  einfältige 
Geschichte  ihre  Wirkung,  und  es  war  ziemlich  ungewiß, 
ob  wir  hier  bleiben  dürften,  weil  man  wissen  wollte,  daß 
wir  (höchstens  noch  sieben  bis  acht  an  der  Zahl)  mit  be- 
waffneter Hand  über  den  Rhein  gehen  sollten!  Doch  hat 
sich  alles  in  Güte  gemacht,  und  wir  haben  keine  weiteren 
Schwierigkeiten  zu  besorgen.  Unsere  hessische  Regierung 
scheint  unserer  zuweilen  mit  Liebe  zu  gedenken. 
Was  an  der  ganzen  Sache  eigentlich  ist,  weiß  ich  nicht; 
da  ich  jedoch  weiß,  daß  die  Mehrzahl  der  Flüchtlinge 
jeden  direkten  revolutionären  Versuch  unter  den  jetzigen 
Verhältnissen  für  Unsinn  hält,  so  konnte  höchstens  eine 
ganz  unbedeutende,  durch  keine  Erfahrung  belehrte  Min- 
derzahl an  dergleichen  gedacht  haben.  Die  Hauptrolle 
unter  den  Verschworenen  soll  ein  gewisser  Herr  v.  Eib 
gespielt  haben.    Daß  dieses  Individuum  ein  Agent  des 


564  BRIEFE 

Bundestags  sei,  ist  mehr  als  wahrscheinlich;  die  Pässe, 
welche  die  Züricher  Polizei  bei  ihm  fand,  und  der  Um- 
stand, daß  er  starke  Summen  von  einem  Frankfurter 
Handelshause  bezog,  sprechen  auf  das  direkteste  dafür. 
Der  Kerl  soll  ein  ehemaliger  Schuster  sein,  und  dabei 
zieht  er  mit  einer  liederlichen  Person  aus  Mannheim  her- 
um, die  er  für  eine  ungarische  Gräfin  ausgibt.  Er  scheint 
wirklich  einige  Esel  unter  den  Flüchtlingen  übertölpelt 
zu  haben.  Die  ganze  Geschichte  hatte  keinen  andern 
Zweck,  als,  im  Falle  die  Flüchtlinge  sich  zu  einem  öffent- 
lichen Schritt  hätten  verleiten  lassen,  dem  Bundestag 
einen  gegründeten  Vorwand  zu  geben,  um  auf  die  Aus- 
weisung aller  Refugies  aus  der  Schweiz  zu  dringen.  Üb- 
rigens war  dieser  v.  Eib  schon  früher  verdächtig,  und 
man  war  schon  mehrmals  vor  ihm  gewarnt  w^orden.  Jeden- 
falls ist  der  Plan  vereitelt,  und  die  Sache  wird  für  die 
Mehrzahl  der  Flüchtlinge  ohne  Folgen  bleiben.  Nichts- 
destoweniger fände  ich  es  nicht  rätlich,  im  Augenblick 
nach  Zürich  zu  gehen;  unter  solchen  Umständen  hält  man 
sich  besser  fern.  Die  Züricher  Regierung  ist  natürlich 
eben  etwas  ängstlich  und  mißtrauisch,  und  so  könnte  man 
wohl  unter  den  jetzigen  Verhältnissen  meinem  Aufent- 
halte Schwierigkeiten  machen.  In  Zeit  von  zwei  bis  drei 
Monaten  ist  dagegen  die  ganze  Geschichte  vergessen. 

AN  DIE  FAMILIE  Straßburg,  im  Juni  1836. 

Es  ist  nicht  im  entferntesten  daran  zu  denken,  daß  im 
Augenblick  ein  Staat  das  Asyb'echt  aufgibt,  weil  ein  sol- 
ches Aufgeben  ihn  den  Staaten  gegenüber,  auf  deren 
Verlangen  es  geschieht,  politisch  annullieren  würde.  Die 
Schweiz  würde  durch  einen  solchen  Schritt  sich  von  den 
liberalen  Staaten,  zu  denen  sie  ihrer  Verfassung  nach 
natürlich  gehört,  lossagen  und  sich  an  die  absoluten  an- 
schließen, ein  Verhältnis,  woran  unter  den  jetzigen  po- 
litischen Konstellationen  nicht  zu  denken  ist.  Daß  man 
aber  Flüchtlinge,  welche  die  Sicherheit  des  Staates,  der 
sie  aufgenommen,  und  das  Verhältnis  desselben  zu  den 
Nachbarstaaten  kompromittieren,  ausweist,  ist  ganz  natür- 
hch  und  hebt  das  Asylrecht  nicht  auf.   Auch  hat  die  Tag- 


STRASSBURG  1836  565 

Satzung  bereits  ihren  Beschluß  erlassen.  Es  werden  nur 
diejenigen  Flüchtlinge  ausgewiesen,  welche  als  Teilnehmer 
an  dem  Savoyer  Zuge  schon  früher  waren  ausgewiesen 
worden,  und  diejenigen,  welche  an  den  letzten  Vorfällen 
teilgenommen  haben.  Dies  ist  authentisch.  Die  Mehrzahl 
der  Flüchtlinge  bleibt  also  ungefährdet,  und  es  bleibt 
jedem  unbenommen,  sich  in  die  Schweiz  zu  begeben. 
Niu:  ist  man  in  vielen  Kantonen  gezwungen,  eine  Kaution 
zu  stellen,  was  sich  aber  schon  seit  längerer  Zeit  so  ver- 
hält. Meiner  Reise  nach  Zürich  steht  also  kein  Hindernis 
im  Weg. — Ihr  wißt,  daß  unsere  Regierung  uns  hier  schika- 
niert und  daß  die  Rede  davon  war,  uns  auszuweisen,  weil 
wir  mit  den  Narren  in  der  Schweiz  in  Verbindung  ständen. 
Der  Präfekt  wollte  genaue  Auskunft,  wie  wir  uns  hier 
beschäftigten.  Ich  gab  dem  Polizeikommissär  mein  Diplom 
als  Mitglied  der  Sociiti  d'histoire  naturelle  nebst  einem 
von  den  Professoren  mir  ausgestellten  Zeugnisse.  Der 
Präfekt  war  damit  außerordentlich  zufrieden,  und  man 
sagte  mir,  daß  ich  namentlich  ganz  ruhig  sein  könne. 

AN  WILHELM  BÜCHNER  [r] 

Straßburg,  den  2.  September  1836. 
Ich  bin  ganz  vergnügt  in  mir  selbst,  ausgenommen,  wenn 
wir  Landregen  oder  Nordwestwind  haben,  wo  ich  freilich 
einer  von  denjenigen  werde,  die  abends  vor  dem  Bett- 
gehn,  wenn  sie  den  einen  Strumpf  vom  Fuß  haben,  im- 
stande sind,  sich  an  ihre  Stubentür  zu  hängen,  weil  es 
ihnen  der  Mühe  zuviel  ist,  den  andern  ebenfalls  auszu- 
ziehen   Ich  habe  mich  jetzt  ganz  auf  das  Studium 

der  Naturwissenschaften  und  der  Philosophie  gelegt,  und 
werde  in  kurzem  nach  Zürich  gehen,  um  in  meiner  Eigen- 
schaft als  überflüssiges  Mitglied  der  Gesellschaft  meinen 
Mitmenschen  Vorlesungen  über  etwas  ebenfalls  höchst 
Überflüssiges,  nämlich  über  die  philosophischen  Systeme 
der  Deutschen  seit  Cartesius  und  Spinoza,  zu  halten. — 
Dabei  bin  ich  gerade  daran,  sich  einige  Menschen  auf 
dem  Papier  totschlagen  oder  verheiraten  zu  lassen,  und 
bitte  den  lieben  Gott  um  einen  einfältigen  Buchhändler 
und    ein    groß  Publikum   mit   so  wenig  Geschmack   als 


566  BRIEFE 

möglich.  Man  braucht  einmal  zu  vielerlei  Dingen  unter  der 
Sonne  Mut,  sogar,  um  Privatdozent  der  Philosophie  zu  sein. 

AN  DIE  FAMILIE  Straßburg,  im  September  1836. 

Ich  habe  meine  zwei  Dramen  noch  nicht  aus  den  Händen 
gegeben;  ich  bin  noch  mit  manchem  unzufrieden  und  will 
nicht,  daß  es  mir  geht,  wie  das  erstemal.  Das  sind  Ar- 
beiten, mit  denen  man  nicht  zu  einer  bestimmten  Zeit 
fertig  werden  kann,  wie  der  Schneider  mit  seinem  Kleid. 


Zrä/C//i83Ö-i837 

AN  DIE  FAMILIE  Zürich,  den  26.  Oktober  1836. 

Wie  es  mit  dem  Streite  der  Schweiz  mit  Frankreich  gehen 
wird,  weiß  der  Himmel.  Doch  hörte  ich  neulich  jemand 
sagen:  "Die  Schweiz  wird  einen  kleinen  Knicks  machen, 
und  Frankreich  wird  sagen,  es  sei  ein  großer  gewesen." 
Ich  glaube,  daß  er  recht  hat. 

AN  DIE  FAMILIE  Zürich,  den  20.  November  1836. 
Was  das  politische  Treiben  anlangt,  so  könnt  Ihr  ganz 
ruhig  sein.  Laßt  Euch  nur  nicht  durch  die  Ammenmärchen 
in  unseren  Zeitungen  stören.  Die  Schweiz  ist  eine  Re- 
publik, und  weil  die  Leute  sich  gewöhnlich  nicht  anders 
zu  helfen  wissen,  als  daß  sie  sagen,  jede  Republik  sei 
unmöglich,  so  erzählen  sie  den  guten  Deutschen  jeden 
Tag  von  Anarchie,  Mord  und  Totschlag.  Ihr  werdet  über- 
rascht sein,  wenn  Ihr  mich  besucht;  schon  unterwegs  über- 
all freundliche  Dörfer  mit  schönen  Häusern,  und  dann, 
je  mehr  Ihr  Euch  Zürich  nähert  und  gar  am  See  hin,  ein 
durchgreifender  Wohlstand;  Dörfer  und  Städtchen  haben 
ein  Aussehen,  wovon  man  bei  uns  keinen  Begriff  hat.  Die 
Straßen  laufen  hier  nicht  voll  Soldaten,  Akzessisten  und 
faulen  Staatsdienern,  man  riskiert  nicht,  von  einer  adligen 
Kutsche  überfahren  zu  werden;  dafür  überall  ein  gesundes, 
kräftiges  Volk  und  um  wenig  Geld  eine  einfache,  gute, 
rein  republikanische  Regierung,  die  sich  durch  eine  Ver- 


ZÜRICH  1836/37  567 

mögenssteuer  erhält,  eine  Art  Steuer,  die  man  bei  uns 
überall  als  den  Gipfel  der  Anarchie  ausschreien  würde . . . 
Mi?inigerode  ist  tot,  wie  man  mir  schreibt,  das  heißt,  er 
ist  drei  Jahre  lang  totgequält  worden.  Drei  Jahre!  Die 
französischen  Blutmänner  brachten  einen  doch  in  ein  paar 
Stunden  um,  das  Urteil  und  dann  die  Guillotine!  Aber 
drei  Jahre!  Wir  haben  eine  gar  menschliche  Regierung, 
sie  kann  kein  Blut  sehen.  Und  so  sitzen  noch  an  vierzig 
Menschen,  und  das  ist  keine  Anarchie,  das  ist  Ordnung 
und  Recht,  und  die  Herren  fühlen  sich  empört,  wenn  sie 
an  die  anarchische  Schweiz  denken!  Bei  Gott,  die  Leute 
nehmen  ein  großes  Kapital  auf,  das  ihnen  einmal  mit 
schweren  Zinsen  kann  abgetragen  werden,  mit  sehr 
schweren — . 

AN  WILHELM  BÜCHNER 

Zürich,  Ende  November  1836. 
Ich  sitze  am  Tage  mit  dem  Skalpell  und  die  Nacht  mit 
den  Büchern. 

AN  DIE  BRAUT  Zürich,  Anfang  Januar  1837. 

[Ich  werde]  in  längstens  acht  Tagen  ^'■Leojice  und  Lena' ^ 
mit  noch  zwei  anderen  Dramen  erscheinen  lassen. 

AN  DIE  BRAUT  Zürich,  den  13.  Januar  1837. 

Mein  lieb  Kind!  .  .  .  Ich  zähle  die  Wochen  bis  zu  Ostern 
an  den  Fingern.  Es  wird  immer  öder.  So  im  Anfange 
ging's:  neue  Umgebungen,  Menschen,  Verhältnisse,  Be- 
schäftigungen— aber  jetzt,  da  ich  an  alles  gewöhnt  bin, 
alles  mit  Regelmäßigkeit  vor  sich  geht,  man  vergißt  sich 
nicht  mehr.  Das  beste  ist,  meine  Phantasie  ist  tätig,  und 
die  mechanische  Beschäftigung  des  Präparierens  läßt  ihr 
Raum.  Ich  sehe  Dich  immer  so  halbdurch  zwischen 
Fischschwänzen,  Froschzehen  etc.  Ist  das  nicht  rühren- 
der als  die  Geschichte  von  Abälard,  wie  sich  ihm  Heloi'se 
immer  zwischen  die  Lippen  und  das  Gebet  drängt?  O, 
ich  werde  jeden  Tag  poetischer,  alle  meine  Gedanken 
schwimmen  in  Spiritus.  Gott  sei  Dank,  ich  träume  wieder 
viel  nachts,  mein  Schlaf  ist  nicht  mehr  so  schwer. 


568  BRIEFE 

AN  DIE  BRAUT  Zürich,  den  20.  Januar  1837. 

Ich  habe  mich  verkältet  und  im  Bett  gelegen.  Aber  jetzt 
ist's  besser.  Wenn  man  so  ein  wenig  unwohl  ist,  hat  man 
ein  so  groß  Gelüsten  nach  Faulheit;  aber  das  Mühlrad 
dreht  sich  als  fort  ohne  Rast  und  Ruh  .  .  .  Heute  und 
gestern  gönne  ich  mir  jedoch  ein  wenig  Ruhe  und  lese 
nicht;  morgen  geht's  wieder  im  alten  Trab,  Du  glaubst 
nicht,  wie  regelmäßig  und  ordentlich.  Ich  gehe  fast  so 
richtig  wie  eine  Schwarzwälder  Uhr.  Doch  ist's  gut:  auf 
all  das  aufgeregte,  geistige  Leben  Ruhe,  und  dabei  die 
Freude  am  Schaffen  memtx  poetischen  Produkte.  Der  arme 
Shakespeare  war  Schreiber  den  Tag  über  und  mußte  nachts 
dichten,  und  ich,  der  ich  nicht  wert  bin,  ihm  die  Schuh- 
riemen zu  lösen,  hab's  weit  besser  .  .  . 
Lernst  Du  bis  Ostern  die  Volkslieder  singen,  wenn's  Dich 
nicht  angreift?  Man  hört  hier  keine  Stimme;  das  Volk 
singt  nicht,  und  Du  weißt,  wie  ich  die  Frauenzimmer  lieb- 
habe, die  in  einer  Soiree  oder  einem  Konzerte  einige 
Töne  totschreien  oder  winseln.  Ich  komme  dem  Volk  und 
dem  Mittelalter  immer  näher,  jeden  Tag  wird  mir's  heller 
— und  gelt,  Du  singst  die  Lieder?  Ich  bekomme  halb  das 
Heimweh,  wenn  ich  mir  eine  Melodie  summe  .  .  . 
Jeden  Abend  sitz  ich  eine  oder  zwei  Stunden  im  Kasino; 
Du  kennst  meine  Vorliebe  für  schöne  Säle,  Ijchter  imd 
Menschen  um  mich. 

AN  DIE  BRAUT  Zürich,  den  27.  Januar  1837. 

Mein  lieb  Kind,  Du  bist  voll  zärtlicher  Besorgnis  und 
willst  krank  werden  vor  Angst;  ich  glaube  gar.  Du  stirbst 
— aber  ich  habe  keine  Lust  zum  Sterben  und  bin  gesund 
wie  je.  Ich  glaube,  die  Furcht  vor  der  Pflege  hier  hat 
mich  gesund  gemacht;  in  Straßburg  wäre  es  ganz  an- 
genehm gewesen,  und  ich  hätte  mich  mit  dem  größten 
Behagen  ins  Bett  gelegt,  vierzehn  Tage  lang,  Rue  St.  Guil- 
laume  Nr.  66^  links  eine  Treppe  hoch,  in  einem  etwas 
Überzwergen  Zimmer,  mit  grüner  Tapete!  Hätt  ich  dort 
umsonst  geklingelt?  Es  ist  mir  heut  einigermaßen  inner- 
lich wohl,  ich  zehre  noch  von  gestern,  die  Sonne  war 
groß  und  warm  im  reinsten  Himmel— und  dazu  hab  ich 


ZÜRICH  1837  569 

meine  Laterne  gelöscht  und  einen  edlen  Menschen  an 
die  Brust  gedrückt,  nämlich  einen  kleinen  Wirt,  der  aus- 
sieht wie  ein  betrunkenes  Kaninchen  und  mir  in  seinem 
prächtigen  Hause  vor  der  Stadt  ein  großes  elegantes  Zim- 
mer vermietet  hat.  Edler  Mensch!  Das  Haus  steht  nicht 
weit  vom  See,  vor  meinen  Fenstern  die  Wasserfläche 
und  von  allen  Seiten  die  Alpen  wie  sonnenglänzendes 
Gewölk. — 

Du  kommst  bald:  Mit  dem  Jugendmut  ist's  fort,  ich  be- 
komme sonst  graue  Haare;  ich  muß  mich  bald  wieder  an 
Deiner  inneren  Glückseligkeit  stärken  und  Deiner  gött- 
lichen Unbefangenheit  und  Deinem  lieben  Leichtsinn  und 
all  Deinen  bösen  Eigenschaften,  böses  Mädchen.  Adio 
piccola  mial — 


MISZELLEN 


)  573  c 

POETISCHE  ANSÄTZE 


[DEM  VATER  ZUGEDACHT] 

.  .  .  Augen  von  der  Brandung  verschlungen.  Der  Kapitän 
ließ  nun  die  Jolle  aussetzen,  welche  er  mit  3  Passagieren, 
4  Offizieren,  6  Matrosen  und  mir  bestieg.  Trotz  der 
furchtbaren  Wogen  und  der  Brandung  gelang  es  uns  vom 
Schifife  zu  stoßen,  welches,  da  wir  uns  kaum  eine  halbe 
Seemeile  davon  entfernt  hatten,  von  einer  ungeheuren 
Welle  zertrümmert  wuide,  und  unter  einem  gräßlichen 
Schrei,  der  mir  jetzt  noch  in  den  Ohren  gellt,  versanken 
fast  400  Menschen  in  den  furchtbaren  Abgrund.  Trotz 
des  wütenden  Sturmes  erreichten  wir  glücklich  das  Ufer. 
Auf  den  Knien  und  mit  Freudentränen  in  den  Augen 
dankten  wir  Gott  für  unsre  wunderbare  Rettung  und  ver- 
fielen hierauf  in  einen  sanften  Schlaf,  aus  dem  wir  erst 
spät  am  Tage  erwachten.  Beim  Erwachen  fanden  wir  uns 
von  einem  Trupp  neugieriger  Chinesen  umgeben,  welche, 
gerührt  über  unser  trauriges  Schicksal,  das  wir  ihnen  er- 
zählten, uns  zu  unterstützen  und  nach  Kanton  zu  schaffen 
versprachen.  Wir  folgten  ihnen  hierauf  in  ein  nahgelegnes 
Dorf,  wo  sie  uns  trefllicb  bewirteten,  und  traten  am  fol- 
genden Tage  mit  zweien  von  ihnen  unsre  Reise  nach 
Kanton  an,  wo  wir  auch  nach  einigen  Tagen  wohlbehalten 
ankamen.  Wir  wurden  von  den  Faktoren  der  Handels- 
kompagnie sehr  gut  aufgenommen  und  aufs  beste  unter- 
stützt. Die  Matrosen  nahmen  auf  andern  Schiften  Dienste, 
und  der  Kapitän,  die  Offiziere  und  ich  mieteten  uns  auf 
einem  andern  Schiffe  ein,  um  nach  England  zurückzu- 
kehren und  der  Handelskompagnie  Bericht  über  das  trau- 
rige Schicksal  des  Schißs 

abzustatten. 

Nimm,  o  bester  der  Väter,  mit  willigem  Geist  dies  Ge- 
schenk an. 

Zwar  ist  es  klein  und  gering;  doch  beweis'  dir's  die  dank- 
bare Liebe, 

Welche  mein  Herz  für  dich  hegt,  geliebtester  Vater. 


574  MISZELLEN 

Möge  Gott  noch  lang  dein  teures  Leben  erhalten 
Und  dich  mit  schützender  Hand  vor  allem  Unglück  be- 
hüten. 
Mög'   er   noch  lange  dich   im  Kreise  der  Kinder  mid 

Freunde 
Feiern  lassen  den  Tag,  an  dem  die  Welt  du  erblicktest, 
Und  durch  die  sorgende  Hand  der  treuen  Gattin  und 

Kinder 
Dir  das  Leben  versüßen,  für  dessen  Erhaltung  ich  flehe. 


[DER  MUTTER] 

GEBADET  in  des  Meeres  blauer  Flut 
Erhebt  aus  purpurrotem  Osten  sich 
Das  prächtig-strahlende  Gestirn  des  Tags, 
Erweckt,  gleich  einem  mächt'gen  Zauberwort, 
Das  Leben  der  entschlafenen  Natur, 
Von  der  der  Nebel  wie  ein  Opferrauch 
Empor  zum  unermeßnen  Äther  steigt. 
Der  Berge  Zinnen  brennen  in  dem  ersten  Strahl, 
Von  welchem,  wie  vom  flammenden  Altar, 
Der  Rauch  des  finstren  Waldgebirges  wallt — 
Und  fernhin  in  des  Ozeans  Fluten  weicht 
Die  Nacht.  So  stieg  auch  uns  ein  schöner  Tag 
Vom  Äther,  der  noch  oft  mit  frohem  Strahl 
Im  leichten  Tanz  der  Hören  grüßen  mag 
Den  frohen  Kreis,  der  den  Allmächt'gen  heut 
Mit  lautem  Danke  preist,  da  gnädig  er 
Uns  wieder  feiern  läßt  den  schönen  Tag, 
Der  uns  die  beste  aller  Mütter  gab. 
Auch  heute  wieder  in  der  üppigsten 
Gesundheit,  Jugendfülle  steht  sie  froh 
Im  frohen  Kreis  der  Kinder,  denen  sie 
Voll  zarter  Mutterlieb  ihr  Leben  weiht. 
O!  stieg'  noch  oft  ihr  holder  Genius 
An  diesem  schönen  Tag  zu  uns  herab, 
Ihn  schmückend  mit  dem  holden  Blumenpaar 
Der  Kindesliebe  und  Zufriedenheit!— 


POETISCHE  ANSÄTZE  575 

Ein  kleines  Weihnachtsgeschenk  von   G.  Büchner 
für  seine  guten  Eltern.    18 28 

DIE  NACHT 

NIEDERSINECT  des  Tages  goldner  Wagen, 
Und  die  stille  Nacht  schwebt  leis'  herauf, 
Stillt  mit  sanfter  Hand  des  Herzens  Klagen, 
Bringt  uns  Ruh  im  schweren  Lebenslauf. 

Ruhe  gießt  sie  in  das  Herz  des  INIüden, 
Der  ermattet  auf  der  Pilgerbahn, 
Bringt  ihm  wieder  seinen  stillen  Frieden, 
Den  des  Schicksals  rauhe  Hand  ihm  nahm. 

Ruhig  schlummernd  liegen  alle  Wesen, 
Feiernd  schließet  sich  das  Heiligtum, 
Tiefe  Stille  herrscht  im  weiten  Reiche, 
Alles  schweigt  im  öden  Kreis  herum. 

Und  der  Mond  schwebt  hoch  am  klaren  Äther, 
Geußt  sein  sanftes  Silberlicht  herab; 
Und  die  Sternlein  funkeln  in  der  Ferne, 
Schau'nd  herab  auf  Leben  und  auf  Grab. 

Willkommen  Mond,  willkommen  sanfter  Bote 
Der  Ruhe  in  dem  rauhen  Erdental, 
Verkündiger  von  Gottes  Lieb  und  Gnade, 
Des  Schirmers  in  Gefahr  und  Mühesal. 

Willkommen  Sterne,  seid  gegrüßt  ihr  Zeugen 
Der  Allmacht  Gottes,  der  die  Welten  lenkt, 
Der  unter  allen  Myriaden  Wesen 
Auch  meiner  voll  von  Lieb  und  Gnade  denkt. 

Ja,  heil'gei  Gott,  du  bist  der  Herr  der  Welten, 
Du  hast  den  Sonnenball  emporgetürmt. 
Hast  den  Planeten  ihre  Bahn  bezeichnet. 
Du  bist  es,  der  das  All  mit  Allmacht  schirmt. 

Unendlicher,  den  keine  Räume  fassen. 
Erhabener,  den  keines  Geist  begreift, 
Allgütiger,  den  alle  Welten  preisen. 
Erbarmender,  der  Sündern  Gnade  beut! 


576  MISZELLEN 

Erlöse  gnädig  uns  von  allem  Übel, 
Vergib  uns  liebend  jede  Missetat, 
Laß  wandeln  uns  auf  deines  Sohnes  Wege, 
Und  siegen  über  Tod  und  über  Grab. 


LEISE  hinter  düstrem  Nachtgewölke 
Tritt  des  Mondes  Silberbild  hervor, 
Aus  des  Wiesentales  feuchtem  Grunde 
Steigt  der  Abendnebel  leicht  empor. 

Ruhig  schlummernd  liegen  alle  Wesen, 
Feiernd  schweigt  des  Waldes  Sängerchor, 
Nur  aus  stillem  Haine,  einsam  klagend, 
Tönet  Philomeles  Lied  hervor. 

Schweigend  steht  des  Waldes  düstre  Fichte, 
Süß  entströmt  der  Nachtviole  Duft, 
Um  die  Blumen  spielt  des  Westwinds  Flügel, 
Leis  hinstreichend  durch  die  Abendluft. 

Doch  was  dämmert  durch  der  Tannen  Dunkel, 
Blinkend  in  Selenens  Silberschein.^ 
Hoch  auf  hebt  sich  zwischen  schrofien  Felsen 
Einsam  ein  verwittertes  Gestein; 

An  der  alten  Mauer  dunklen  Zinnen 
Rankt  der  Efeu  üppig  sich  empor, 
Aus  des  weiten  Burghofs  öder  Mitte 
Ragt  ein  rings  bemoster  Turm  hervor. 

Fest  noch  trotzen  alte  Strebepfeiler; 
Aufgetürmet  wie  zur  Ewigkeit, 
Stehen  sie  und  schaun  wie  ernste  Geister 
Nieder  auf  der  Welt  Vergänglichkeit. 

Still  und  ruhig  ist's  im  öden  Räume, 
Wie  ein  weites  Grab  streckt  er  sich  hin; 
Wo  einst  kräftige  Geschlechter  blühten. 
Nagt  die  Zeit  jetzt,  die  Zerstörerin. 

Durch  der  alten  Säle  düstre  Hallen 
Flattert  jetzt  die  scheue  Fledermaus, 


POETISCHE  ANSÄTZE  5  7  7 

Durch  die  rings  zerfalinen  Bogenfenster 
Streicht  der  Nachtwind  pfeifend  ein  und  aus. 

Auf  dem  hohen  Söller,  wo  die  Laute 
Schlagend  einst  die  edle  Jungfrau  stand, 
Krächzt  der  Uhu  seine  Totenlieder, 
Klebt  sein  Nest  der  Rabe  an  die  Wand. 

Alles,  alles  hat  die  Zeit  verändert, 
Überall  nagt  ihr  gefräßger  Zahn, 
Über  alles  schwingt  sie  ihre  Sense, 
Nichts  ist,  was  die  schnelle  hemmen  kann. 


BUCHKER  37. 


)  578  c 

SCHULAUFSÄTZE  UND  SCHUU 
REDEN 


ÜBER  DIE  FREUNDSCHAFT 

DIE  Fähigkeit  zur  Freundschaft  gehört  zu  den  edel- 
sten, welche  unsere  Seele  überhaupt  besitzt;  die 
Freundschaft  selbst  ist  zugleich  eine  der  reinsten  und  ge- 
nußreichsten unserer  Gemütsstimmungen,  und  vielleicht 
die  einzige  Leidenschaft,  deren  Übermaß  nichts  Tadelns- 
wertes hat.  Das  Gefühl  der  Freundschaft  erwacht  vor- 
nehmlich in  dem  Lebensalter,  in  welchem  der  Mensch 
mit  seiner  Ausbildung  und  Erziehung  beschäftigt  ist,  in 
die  Welt  zu  treten  beginnt,  sich  zu  Unternehmungen  an- 
schickt und  überhaupt  einen  gewissen  Lebensplan  für  seine 
Zukunft  sich  ansetzt.  Zugleich  findet  sich  in  dieser  Epoche 
noch  ein  anderes  Motiv,  welches  das  Aufkeimen  der  Freund- 
schaft befördert  und  ihr  alle  Energie  verleiht,  deren  sie 
fähig  ist.  Jene  Zeit  ist  nämlich  auch  die  Zeit  des  Ver- 
trauens, und  des  unwillkürlichen  Triebes,  der  unsere  Seele 
anregt,  mit  einer  andern  Seele  in  Eins  sich  zu  verschmel- 
zen und  derselben  alle  Gefühle  und  Empfindungen  mit- 
zuteilen. Um  sich  zu  verstärken  und  mehr  Lebendigkeit 
zu  gewinnen,  muß  die  Freundschaft  Hindernisse  zu  über- 
winden. Gefahren  zu  bestehen  und  durch  Erprobungen 
sich  zu  bewähren  suchen;  es  muß  den  Freunden  alles  ge- 
meinschaftlich sein.  Glück  und  Unglück,  sowie  aller  Wech- 
sel des  Schicksals  im  menschlichen  Leben.  Man  kennt 
nichts  Rührenderes  und  zugleich  nichts,  was  mehr  das  wahre 
Wesen  der  Freundschaft  bezeichnete,  als  die  Worte  des 
sterbenden  Doktors  Eubreuil.  Dieser  ebenso  kenntnisreiche 
als  mitleidige  Arzt  war  ein  wohltätiger  Gott  für  alle  die- 
jenigen gewesen,  welche  sich  seiner  Sorge  anvertraut  hat- 
ten, und  der  Anteil,  den  man  allgemein  an  ihm  nahm, 
hatte  eine  große  Menge  Personen  jegliches  Standes  in 
sein  Zimmer  geführt,  während  die  Armen  in  seinem  Vor- 
saale den  bevorstehenden  Verlust  ihres  Wohltäters  be- 
weinten. ''Mein  Freund,"  sagte  er  zu  Techmeja,  den  er 
mit  der  größten  Zärtlichkeit  liebte,  ''man  muß  jedermann 


SCHUL  AUFSATZE  UND  SCHULREDEN     579 

von  hier  entfernen;  meine  Krankheit  ist  ansteckend,  und 
nur  du  sollst  bei  mir  bleiben."  Die  wahre  Freundschaft 
ist  nur  diejenige,  welche  nichts  in  ihren  großmütigen  Er- 
güssen aufhält,  welche  den  Menschen  in  allen  Lagen  und 
Zuständen,  worin  ihn  ein  Schicksal  versetzt,  begleitet, 
welche  sich  durch  keine  Rücksicht  erschüttern  läßt  und 
sich  unveränderlich  auch  im  Unglücke  ausspricht  und  be- 
währt. 

HELDENTOD  DER  VIERHUNDERT  PFORZHEIMER 

Für  Tuo^end,  Mensclieiirecht  und  Menschen-Freiheit  sterben 
Ist  höchsterhabner  Mut,  ist  Welterlöser-Tod, 
Denn  nur  die  Göttlichsten  der  Helden-Menschen  färben 
Dafür  den  Panzerrock  mit  ihrem  Herzblut  rot.  Bürger 

ERHABEN  ist  es,  den  Menschen  im  Kampfe  mit  der 
Natur  zu  sehen,  wenn  er  mit  gewaltiger  Kraft  sich 
stemmt  gegen  die  Wut  der  entfesselten  Elemente  und, 
vertrauend  der  Kraft  seines  Geistes,  nach  seinem  Willen 
die  Kräfte  der  Natur  zügelt. 

Aber  noch  erhabner  ist  es,  den  Menschen  zu  sehen  im 
Kampfe  mit  seinem  Schicksale,  wenn  er  es  wagt  mit  küh- 
ner Hand  in  die  Speichen  des  Zeitrades  zu  greifen,  wenn 
er  an  die  Erreichung  seines  Zweckes  sein  Höchstes  und 
sein  Alles  setzt.  W^er  nur  einen  Zweck  und  kein  Ziel  bei 
der  Verfolgung  desselben  sich  gesetzt  hat,  sondern  das 
Höchste,  das  Leben  daran  wagt,  gibt  den  Widerstand  nie 
auf,  er  siegt  oder  stirbt.  Solche  Männer  waren  es,  die, 
wenn  die  ganze  Welt  feige  ihren  Nacken  dem  mächtig 
über  sie  hinrollenden  Zeitrade  beugte,  kühn  in  die  Spei- 
chen desselben  griffen  und  es  entweder  in  seinem  Um- 
schwünge mit  gewaltiger  Hand  zurückschnellten  oder  von 
seinem  Gewichte  zermalmt  einen  ähnlichen  Tod  fanden, 
d.  h.  mit  dem  kleinen  Reste  des  Lebens  sich  Unsterb- 
lichkeit erkauften.  Solche  Männer  waren  es,  die  ganze 
Nationen  in  ihrem  Fluge  mit  sich  fortrissen  und  aus  ihrem 
Schlafe  rüttelten,  zu  deren  Füßen  die  Welt  zitterte,  vor 
welchen  die  Tyrannen  bebten.  Solche  Männer,  welche 
unter  den  Millionen,  die  gleich  Würm.ern  aus  dem  Schoß 
der  Erde  kriechen,  ewig  am  Staube  kleben  und  wie  Staub 


58o  MISZELLEN 

vergehn  und  vergessen  werden,  sich  zu  erheben,  sich  Un- 
vergänglichkeit  zu  erkämpfen  wagten,  solche  Männer  sind 
es,  die  wie  Meteore  in  der  Geschichte  aus  dem  Dunkel 
des  menschlichen  Elends  und  Verderbens  hervorstrahlen. 
Solche  Männer  zeugte  Sparta,  solche  Rom.  Doch  wir 
haben  nicht  nötig,  die  Vorwelt  um  sie  zu  beneiden,  wir 
haben  nicht  nötig,  sie  wie  die  Wunder  einer  längstver- 
gangnen Heldenzeit  zu  betrachten,  nein,  auch  unsre  Zeit 
kann  mit  der  Vorwelt  in  die  Schranken  treten,  auch  sie 
zeugte  Männer,  die  mit  einem  Leonidas,  Codes,  Scävola 
und  Brutus  um  den  Lorbeer  ringen  können.  Ich  habe 
nicht  nötig,  um  solche  Männer  anzuführen,  auf  die  Zeiten 
Karls  des  Großen,  oder  der  Hohenstaufen,  oder  der  Frei- 
heitskämpfe der  Schweizer  zurückzugehen,  ich  brauche 
mein  Augenmerk  nur  auf  den  Kampf  zu  richten,  der  noch 
vor  wenig  Jahren  die  Welt  erschütterte,  der  die  [Mensch- 
heit] in  ihrer  Entwickelung  um  mehr  denn  ein  Jahrhundert 
in  gewaltigem  Schwünge  vorwärtsbrachte,  der  in  blutigem 
aber  gerechtem.  Vertilgmigskampfe  die  Greuel  rächte,  die 
Jahrhunderte  hindurch  schändliche  Despoten  an  der  lei- 
denden Menschheit  verübte,  der  mit  dem  Sonnenblicke 
der  Freiheit  den  Nebel  erhellte,  der  schwer  über  Jugend- 
völkern lag  und  ihnen  zeigte,  daß  die  Vorsehung  sie  nicht 
zum  Spiel  der  Willkür  von  Despoten  bestimmt  habe.  Ich 
meine  den  Freiheitskampf  der  Franken;  Tugenden  ent- 
wickelten sich  in  ihm,  wie  sie  Rom  und  Sparta  kaum  aufzu- 
weißen  haben,  und  Taten  geschahen,  die  nach  Jahrhunder- 
ten noch  Tausende  zur  Nachahmung  begeistern  können. 
Tausende  solcher  Helden  könnte  ich  nennen,  doch  es  ge- 
nügt allein  der  Name  eines  L'Atourd'Auvergne,  der  wie  ein 
Riesenbild  in  unsrer  Zeit  dasteht;  Hunderte  solcher  Taten 
könnte  ich  anführen,  doch  nur  eine  und  die  Thermopylen 
hören  auf  die  einzigen  Zeugen  einer  großen  Tat  zu  sein. 
Als  die  Franken  unter  Dumouriez  den  größten  Teil  von 
Holland  mit  der  Republik  vereinigt  hatten,  lief  die  ver- 
einigte Flotte  der  Holländer  und  Franzosen  gegen  die 
Engländer  aus,  die  mit  einer  bedeutenden  Seemacht  die 
Küsten  Hollands  blockierten.  An  der  Küste  von  Nord- 
holland treffen  die  feindlichen  Flotten  aufeinander,  ein 


SCHULAUFSÄTZE  UND  SCHULREDBIN     581 

verzweifelter  Kampf  beginnt,  die  Franken  und  die  Hol- 
länder kämpfen  wie  Helden,  endlich  unterliegen  sie  der 
Übermacht  und  der  Geschicklichkeit  ihrer  Feinde.  In  die- 
ßem  Augenblick  wird  der  Vainqueur,  eins  der  holländi- 
dischen  Schiffe,  von  drei  feindlichen  zugleich  angegriffen 
imd  zur  Übergabe  aufgefordert .  Stolz  weißt  die  kühne  Mann  - 
Schaft,  obgleich  das  Schiff  schon  sehr  beschädigt  ist,  den 
Antrag  ab  und  rüstet  sich  zum  Kampf  auf  Leben  und  Tod. 
Mit  erneuter  Wut  beginnt  das  Gefecht,  das  Feuer  der 
Engländer  bringt  bald  das  der  Franken  zum  Schweigen. 
Noch  einmal  wird  der  Vainqueur  zur  Übergabe  aufgefor- 
dert, doch  den  Franken  ist  ein  freier  Tod  Heber  als  ein 
sklavisches  Leben:  sie  wollen  nicht  Leben,  sie  wollen  Un- 
sterblichkeit. Mit  letztem  Ruck  feuern  sie  auf  die  Feinde, 
schwenken  noch  einmal  die  Banner  der  Republik  und  ver- 
senken sich  mit  dem  Ruf:  es  lebe  die  Freiheit!  in  den  un- 
vermeßlichen  Abgrund  des  Meeres.  Kein  Denkmal  be- 
zeichnet den  Ort,  wo  sie  starben,  ihre  Gebeine  modern 
auf  dem  Grunde  des  Meeres,  sie  hat  kein  Dichter  be- 
sungen, kein  Redner  gefeiert;  doch  der  Genius  der  Frei- 
heit v^eint  über  ihrem  Grabe,  und  die  Nachwelt  staunt 
ob  ihrer  Größe. 

Doch  warum  greife  ich  denn  nach  außen,  um  solche  Män- 
ner zu  suchen,  warum  brachte  ich  denn  nur  das  Entfernte, 
warum  nicht  das,  was  mir  am  nächsten  liegt?  Sollte  denji 
mein  Vaterland,  sollte  denn  Teutschland  allein  nicht  Hel- 
den zeugen:  Nein,  mein  Vaterland,  ich  habe  nicht  nötig, 
mich  deiner  zu  schämen,  mit  Stolz  kann  ich  rufen:  ich 
bin  Teutscher!  ich  kann  mit  dem  Franken,  dem  Römer 
und  Sparter  in  die  Schranken  treten,  mit  freudigem  Selbst- 
bewußtsein kann  ich  die  Reihe  meiner  Ahnen  überblicken 
und  ihnen  zujauchzen:  seht,  wer  ist  größer  denn  sie?  Die 
Griechen  kämpften  ihren  Heldenkampf  gegen  die  Ge- 
samtmacht Asiens,  die  Römer  triumphierten  über  den 
Trümmern  Karthagos,  die  Franken  erkämpften  Europas 
politische  Freiheit;  aber  die  Teutschen  kämpften  den 
schönsten  Kampf,  sie  kämpften  für  Glaubensfreiheit,  sie 
kämpften  für  das  Licht  Aufklärung,  sie  kämpften  für  das, 
was  dem  Menschen  das  Höchste  und  Heiligste  ist.  Dießer 


582  MISZELLEN 

Kampf  war  der  erste  Akt  des  großen  Kampfes,  den  die 
Menschheit  gegen  ihre  Unterdrücker  kämpft,  so  wie  die 
französische  Revohition  der  zweite  war;  sowie  einmal  der 
Gedanke  in  keine  Fesseln  mehr  geschlagen  war,  erkannte 
die  Menschheit  ihre  Rechte  und  ihren  Wert,  und  alle 
Verbesserungen,  die  wir  jetzt  genießen,  sind  die  Folgen 
der  Reformation,  ohne  welche  die  Welt  eine  ganz  andre 
Gestalt  würde  erhalten  haben,  ohne  welche,  wo  jetzt  das 
Licht  der  Aufklärung  strahlt,  ewiges  Dunkel  herrschen 
würde,  ohne  welche  das  Menschengeschlecht,  das  sich  jetzt 
zu  immer  freieren,  zu  immer  erhabneren  Gedanken  erhebt, 
dem  gleich  seiner  Menschenwürde  verlustig  sein  würde. 
Auf  dießen  Kampf  kann  ich  mit  Stolz  blicken,  von  Teutsch- 
land ging  durch  ihn  das  Heil  der  Menschheit  aus,  er  zeugte 
Helden,  von  deren  Taten  eine  allein  alle  Taten  des  Alter- 
tums aufwiegt  und  der  nur  ein  tausendjähriges  Alter  fehlt, 
um  von  allen  Zungen  geprießen  zu  werden. 
In  den  ersten  Jahren  des  Dreißigjährigen  Krieges,  als  nach 
der  Schlacht  am  Weißen  Berge  bei  Prag  alle  mächtigen 
teutschen  Fürsten,  besorgt  für  ihre  Existenz,  treulos  die 
Sache  der  Protestanten  verließen,  waren  es  nur  noch  die 
kleineren  Fürsten  Teutschlands,  die  von  einem  höheren 
Gefühle  geleitet  ihr  Leben  und  ihre  Länder  opferten,  um 
für  Glauben  und  Freiheit  ihr  Blut  zu  versprützen.  Unter 
ihnen  ragt  als  das  Muster  eines  Fürsten  Markgraf  Fried- 
rich von  Baden  hervor;  gehorsam  dem  Rufe  der  Ehre 
und  Pflicht  riß  er  sich  aus  den  Armen  der  Ruhe,  übergab 
die  Regierung  seines  Landes  seinem  Sohne  und  vereinigte 
sich  an  der  Spitze  von  20000  Badensern  mit  dem  Heer- 
haufen des  Grafen  von  Mansfeld.  Ohne  zu  zaudern  rückte 
das  vereinigte  Heer  den  Liguistischen  entgegen,  die  un- 
ter Tilly  in  der  Oberpfalz  standen.  Bei  Wimpfen  treffen 
sich  die  feindlichen  Heere,  die  Badenser  werfen  sich,  ob- 
gleich sie  in  wiederholten  Gefechten  einige  Tage  zuvor 
schon  bedeutenden  Verlust  erlitten  haben,  mutig  auf  den 
ihnen  weit  überlegnen  Feind.  Ein  blutiges  Treffen  be- 
ginnt; hier  kämpft  Fanatismus,  dort  die  geläuterte 
Begeistrung  für  die  heiligsten  Rechte  der  Menschheit, 
Wut  ringt  mit  Tapferkeit,  Taktik  mit  Heldenmut.  Doch 


SCHUL  AUFSÄTZE  UND  SCHULREDEN     583 

was  vermag  die  Übermacht,  was  Feldherrnkunst,  was  ver- 
mögen feile  Söldner  und  wahnsinnige  Fanatiker  gegen 
Männer,  die  mit  ihren  Leibern  ihr  Vaterland  decken,  die 
entschlossen  sind  zu  siegen  oder  zu  sterben?  An  einem 
solchen  Bollwerk  brechen  sich  Tillys  mordgewohnte  Ban- 
den, ihre  Schlachtreihn  wanken  und  sinken  unter  dem 
Schwerte  ihrer  erbitterten  Gegner.  Schon  lächelt  der  Sieg 
den  kühnen  Helden  des  Glaubens  und  der  Freiheit,  schon 
wähnt  sich  Friedrich  die  Heldenschläfe  mit  dem  blutigen 
dem  Sieger  von  mehr  denn  zwanzig  Schlachten  entrisse- 
nen Lorbeer  schmücken  zu  können.  Doch  einem  Größeren 
war  dießer  Lorbeer  aufbehalten,  ein  Größerer  sollte 
Teutschland  befreien,  sollte  die  Menscheit  rächen;  noch 
sollte  die  Furie  des  Fanatismus  Teutschlands  blühende 
Gauen  verwüsten,  noch  einmal  sollte  Tillys  finstrer  Dämon 
siegen.  Ein  furchtbarer  Donnerschlag  vernichtet  mit  ein- 
mal die  schönsten  Hoffnungen,  verfinstert  wieder  den  ro- 
sigen Schimmer  von  Freiheit,  der  über  Teutschlands  Ge- 
filden aufzublühen  schien,  und  zersplittert  in  den  Händen 
der  Sieger  das  blutige  Rachschwert.  Wie  vom  Blitzstrahl 
getroffen  entzünden  sich  Friedrichs  Pulverwagen,  der 
Himmel  verfinstert  sich,  die  Erde  bebt,  und  von  der 
furchtbaren  Kraft  des  entfesselten  Elementes  zerschmet- 
tert brechen  sich  die  Schlachtreihn  der  Badenser.  In  die 
Lücken  stürzt  sich  der  ermutigte  Feind,  er  glaubt,  der 
Himmel  streite  für  ihn,  er  glaubt,  ein  Strafgericht  Gottes 
zu  sehen,  und  würgt  in  fanatischer  Wut  die  zerstreuten 
und  fliehenden  Haufen  der  Feinde.  Vergebens  sucht 
Friedrich  die  Seinigen  wieder  zu  sammeln,  vergebens  er- 
füllt er  zu  gleicher  Zeit  die  Pflichten  des  Feldherren  und 
des  Soldaten,  vergebens  stürzt  er  sich  selbst  dem  an- 
dringenden Feinde  entgegen.  Von  der  Übermacht  ge- 
drängt, muß  er  endlich  weichen  und  das  blutige  Schlacht- 
feld seinem  glückhchen  Gegner  überlassen.  Doch  wohin 
soll  er  sich  wenden:  Schon  ist  er  von  allen  Seiten  um- 
ringt, schon  überwältigt  der  Feind  den  letzten  schwachen 
Widerstand,  den  ihm  die  Überreste  des  fliehenden  Heeres 
entgegenstellen,  und  sein  Untergang  scheint  unvermeid- 
lich.   Da  werfen   sich  vierhundert  Pforzheim  er,   an  der 


584  MISZELLEN 

Spitze  ihren  Bürgermeister  Deimling^  dem  Feinde  ent- 
gegen; mit  ihren  Leibern  decken  sie,  ein  unerschütter- 
liches Bollwerk,  ihren  Fürsten  und  ihre  Landsleute.  Ver- 
gebens bietet  ihnen  Tilly,  betroffen  von  solcher  Kühnheit 
und  Seelengröße,  eine  ehrenvolle  Kapitulation  an.  Tau- 
sende, stürmt  der  erbitterte  Feind  gegen  das  heldenkühne 
Häuflein,  doch  Tausende  brechen  sich  an  der  ehernen 
Mauer.  Unerschütterlich  stehen  die  Pforzheimer;  keine 
Wut,  keine  Verzweiflung,  nur  hohe  Begeisterung  und  To- 
desverachtung malt  sich  in  ihren  Zügen.  Unablässig  stürmt 
der  Feind  seine  Schlachthaufen  heran:  doch  das  Vater- 
land steht  auf  dem  Spiele,  Freiheit  oder  Knechtschaft  ist 
die  große  Wahl,  keiner  weicht,  keiner  wankt,  wie  Löwen 
streiten  sie  von  ihren  Leichenhügeln  herab,  Mauern  sind 
ihre  Reihen,  ein  Turm  jeder  Mann,  ein  Bollwerk  von 
Leichen  umgibt  sie.  Endlich  von  allen  Seiten  angegriffen, 
erdrückt  von  der  Übermacht,  sinken  sie  Mann  an  Mann 
unter  Hügeln  erschlagner  Feinde  nieder  und  winden  sich 
sterbend  die  unvergängliche  Lorbeerkrone  des  Siegers 
und  die  unsterbliche  Palme  des  Märtyrers  um  die  Hel- 
denschläfe. 

Wollen  wir  eine  solche  Tat  beurteilen,  wollen  wir  sie  ge- 
hörig würdigen  und  auffassen,  so  dürfen  wir  nicht  die  Wir- 
kung allein,  nicht  die  bloße  Tat  berücksichtigen,  sondern 
wir  müssen  hauptsächlich  unser  Augenmerk  auf  die  Motive 
und  die  Umstände  richten,  welche  eine  solche  Tat  be- 
wirkten, begleiteten  und  bestimmten.  Sie  sind  die  ein- 
zige Richtschnur,  nach  der  man  die  Handlungen  der  Men- 
schen messen  und  wägen  kann.  Nach  der  Wirkung  aber 
und  nach  den  Folgen  kann  man  nichts  beurteilen,  denn 
jene  ist  oft  die  nämliche,  dieße  sind  oft  zufällig.  Wenn 
man  nun  von  dießem  Gesichtspunkte  aus  die  Aufopferung 
der  Pforzheimer  betrachtet,  so  wird  man  finden,  daß  es 
sehr  wenige,  vielleicht  auch  gar  keine  Tat  gibt,  welche 
sich  mit  der  der  Pforzheimer  messen  könnte.  Tausende 
bluteten  freilich  schon  für  ihr  Vaterland,  Tausende  opfer- 
ten schon  freudig  das  Leben  für  Rechte  und  Menschen - 
freiheit,  aber  keinen  wird  man  unter  dießen  Tausenden 
finden,  dessen  Aufopferung  an  und  für  sich  selbst  so  groß. 


SCHULAUFSÄTZE  UND  SCHULREDEN  585 

so  erhaben  sei  als  die  der  Pforzheimer.  Sie  trieb  nicht 
Wut,  nicht  Verzweiflung  zum  Kampf  auf  Leben  [und]  Tod 
(dies  sind  zwei  Motive,  die  den  Menschen,  statt  ihn  zu 
erheben,  zum  Tiere  erniedrigen);  sie  wußten,  was  sie  taten, 
sie  kannten  das  Los,  dem  sie  entgegengingen,  und  sie 
nahmen  es  hin  wie  Männer  nnd  starben  kalt  und  ruhig 
den  Heldentod.  Doch  dieß  ist  das  geringste,  was  ihre  Tat 
so  sehr  von  allen  übrigen  hervorhebt;  die  vierhundert 
Römer,  die  dreihundert  Sparter  opferten  sich  ebenso  kalt 
und  ruhig.  Aber  die  Römer,  die  Sparter  waren  von  Helden 
gezeugt,  waren  zu  Helden  erzogen,  kannten  nur  einen 
Zweck,  nur  ein  Ziel— ihr  Vaterland,  ihre  ganze  Erziehung 
war  nur  die  Vorbereitung  zu  einer  solchen  Tat.  Doch  wer 
waren  die  Pforzheimer r 

Einfache  ruhige  Bürger,  eilten  sie  aus  den  Armen  der  Ruhe 
auf  das  blutige  Schlachtfeld,  nicht  gewohnt,  dem  Tod  in 
das  Auge  zu  sehen,  noch  nicht  vertraut  mit  dem  hohen 
Gedanken  der  Aufopferung  für  das  Vaterland.  Ihre  Tapfer- 
keit war  nicht  Gewohnheit,  ihre  Aufopferung  war  nicht 
die  Frucht  des  Gehorsams,  sie  war  die  Frucht  der  höchsten 
Begeisterung  für  das,  was  sie  als  wahr  und  heilig  erkannt 
hatten.  Ihnen  drohte  nicht  Schmach  nicht  Schande,  wenn 
sie  sich  dem  Tode  entzogen,  ihnen  traten  nicht  die  strafen- 
den Gesetze  des  Vaterlandes  entgegen.  Sie  hatten  freie 
Wahl,  und  sie  wählten  den  Tod. 

Dieß  ist  das  Große,  dieß  das  Erhabene  an  ihrer  Tat;  dieß 
zeugt  von  einem  Adel  der  Gesinnung,  der  v/eit  erhaben 
ist  über  die  niedrige  Sphäre  des  Alltagsmenschen,  dem 
sein  Selbst  das  Höchste  ist,  sein  Wohlsein  der  einzige 
Zweck;  der,  jedes  höheren  Gefühls  unfähig  und  verlustig 
der  wahren  Menschenwürde,  [seine]  Vernunft  nur  ge- 
braucht, um  tierischer  als  das  Tier  zusein.  Dießer schänd- 
liche Egoismus  ist  eins  der  charakteristischen  Kennzeichen 
der  damaligen  Zeit.  Um  so  viel  mehr  sind  daher  die  Pforz- 
heimer zu  bewundern,  denn  sie  erhoben  sich,  indem  der 
Gedanke  und  die  Idee  einer  solchen  Tat  ganz  eigentüm- 
lich aus  ihnen  selbst  entsprang,  zugleich  über  ihre  Nation 
und  über  ihr  Zeitalter,  Wie  groß,  wie  erhaben  sind  aber 
noch   überdieß   die  Zwecke,   für  welche  sie  starben;  sie 


586  MISZELLEN 

allein  könnten  schon,  auch  ohne  die  angeführten  Umstände, 
dießerTat  das  Siegel  der  Unsterblichkeit  aufdrücken.  Dem 
Vaterland  gaben  sie  den  Vater  wieder,  mit  ihrem  Blute 
erkauften  sie  sein  Leben:  dieße  Tat  war  groß,  doch  nicht 
beispiellos;  sie  warfen  sich  gleich  einer  ehernen  Mauer 
zwischen  den  Feind  und  ihre  Landsleute  und  deckten  mit 
ihren  Leibern  ihren  Rückzug:  dieße  Tat  zeugt  von  hohem 
Seelenadel,  aber  schon  Tausende  taten  dasselbe;  sie  opfer- 
ten sich  für  Glaubensfreiheit,  das  heiligste  Recht  der 
Menschheit,  der  Himmel  war  es  und,  nach  ihrer  Meinung, 
die  ewige  Glückseligkeit,  für  welche  sie  willig  starben: 
aber  welche  irdische  Gewalt  hätte  denn  auch  in  das  innere 
Heiligtum  ihres  Gemütes  eindringen  und  den  Glauben, 
der  ihnen  ja  einmal  aufgegangen  war  und  auf  den  allein 
sie  ihrer  Seligkeit  Hoffnung  gründeten,  darin  austilgen 
können?  Also  auch  ihre  Seligkeit  war  es  nicht,  für  die  sie 
kämpften,  dießer  waren  sie  schon  versichert.  Die  Selig- 
keit ihrer  Kinder,  ihrer  noch  ungebornen  Enkel  und  Nach- 
kommen war  es:  auch  dieße  sollten  auferzogen  werden  in 
derselben  Lehre,  die  ihnen  als  allein  heilbringend  er- 
schienen war;  auch  dieße  sollten  teilhaftig  werden  des 
Heils,  das  für  sie  angebrochen  war.  Dieße  Hoffnung  allein 
war  es,  welche  durch  den  Feind  bedroht  wurde;  für  sie, 
für  eine  Ordnung  der  Dinge,  die  lange  nach  ihrem  Tode 
über  ihren  Gräbern  blühen  sollte,  versprützten  sie  mit 
Freudigkeit  ihr  Blut.  Bekennen  wir  auch  gerne,  daß  ihr 
Glaubensbekenntnis  nicht  das  einzige  und  ausschließliche 
Mittel  war,  des  Himmels  jenseits  des  Grabes  teilhaftig  zu 
werden,  so  ist  doch  dieß  ewig  wahr,  daß  mehr  Himmel 
diesseits  des  Grabes,  ein  mutigeres  und  fröhlicheres  Empor- 
blicken von  der  Erde  und  eine  freiere  Regung  des  Geistes 
durch  ihre  Aufopferung  in  alles  Leben  der  Folgezeit  ge- 
kommen ist  und  die  Nachkommen  ihrer  Gegner  sowohl 
als  wir  selbst,  ihre  Nachkommen,  die  Früchte  ihrer  Mühen 
bis  auf  dießen  Tag  genießen.  So  also  starben  sie  nicht 
einmal  für  ihren  eignen  Glauben,  nicht  für  sich  selbst, 
sondern  sie  bluteten  für  die  Nachwelt.  Dieß  ist  der  er- 
habenste Gedanke,  für  den  man  sich  opfern  kann,  dieß 
ist  Welterlöser  "Tod.     Ja  ihr  Deimling^   ihr  May  er  ^    ihr 


SCHULAUFSÄTZE  UND  SCHULREDEN  587 

Schober^  ihr  Helden,  ein  unvergängliches  Denkmal  habt 
ihr  euch  im  Herzen  aller  Edlen  erbaut,  ein  Denkmal,  das 
über  Tod  und  Verwesung  triumphiert,  das  unbewegt  steht 
im  flutenden  Strome  der  Ewigkeit.  Eure  Gebeine  deckt 
nicht  Marmor,  nicht  Erz,  kein  Denkmal  bezeichnet  den 
Ort,  wo  ihr  starbt,  vergessen  hat  euch  euer  undankbares 
Vaterland,  die  Gegenwart  kennt  euch  nicht,  aber  die  Be- 
wundrung  der  Nachwelt  wird  euch  rächen.  Zu  eurem 
Grabe  rufe  ich  alle  Völker  des  Erdbodens,  rufe  ich  Vor- 
welt und  Gegenwart,  herzutreten  und  [zu]  zeigen  eine  Tat, 
die  größer,  die  erhabner  ist,  und  sie  müssen  verstummen, 
und  Teutschland  wird  es  allein  sein,  das  solche  Männer 
zeugte,  und  einzig,  unerreicht  prangt  eiure  Tat  mit  unaus- 
löschlichen Zügen  in  den  Büchern  der  Weltgeschichte. — 
Doch  nicht  dießer  freudige  Stolz  auf  meine  Ahnen  allein 
bewegt  mich  an  ihrem  Grabe,  auch  ein  tiefer  Schmerz 
erfaßt  mich  bei  ihrem  Andenken.  Nicht  ihnen  gilt  dießer 
Schmerz— es  wäre  ja  Torheit,  über  solchen  Tod  zu  klagen; 
nur  glückhch  sind  die  zu  preißen.  welchen  ein  solches 
Los  zuteil  ward,  denn  sie  haben  sich  das  Höchste,  haben 
sich  Unsterblichkeit  erkämpft.  Ich  kann  nicht  weinen  an 
ihrem  Grabe,  ich  kann  sie  nur  beneiden.  Nicht  ihnen  gilt 
mein  Schmerz,  mein  Schmerz  gilt  meinem  Vaterlande. 
O  über  euch  Teutsche!  In  euren  Gauen  geschah  die 
schönste,  die  herrhchste  Tat,  eine  Tat,  welche  die  ganze 
Nation  adelt,  eine  Tat,  deren  Früchte  ihr  noch  genießt, 
und  vergessen  habt  ihr  die  Helden,  die  solches  ausführten, 
die  sich  für  euch  dem  Tode  weihten.  Das  Fremde  staunt 
ihr  an  in  kalter  Bewundrung,  während  ihr  aus  dem  Busen 
eures  Vaterlandes  glühende  Begeisterung  für  alles  Edle 
saugen  könntet.  Am  toten  Buchstaben  der  Fremden  klebt 
ihr,  doch  ihr  Geist  ist  ferne  von  euch;  denn  sonst  würdet 
ihr  wissen,  was  ihr  eurem  Vaterlande  schuldig  seid.  Eine 
Nation  seid  ihr,  an  der  sich  noch  Jahrhunderte  die  Völker 
bilden  könnten,  und  ihr  werft  eure  Nationalbildung,  d.  h. 
eure  geistige  Selbständigkeit  hin,  um  kindisch  zu  werden. 
O  Teutschland,  Teutschland,  den  Stab  wirfst  du  von  dir, 
der  dich  stützen  und  leiten  könnte,  für  fremden  Tand,  an 
den  Brüsten  der  fremden  Buhlerin  nährst  du  dich  und 


588  MISZELLEN 

ziehst  schleichendes  Gift  in  deine  Adern,  während  du 
frische,  kräftige  Lebensmilch  saugen  könntest  aus  deinem 
Busen.  Du  hast  nicht  mehr  gegen  außen  zu  streiten,  deine 
Freiheit  ist  gegen  alle  Anforderungen  gesichert.  Keines 
von  jenen  reißenden  Raubtieren,  die  brüllend  in  der  Welt 
umherirren,  um  die  anerschafifnen  Rechtsame  eines  freien 
Volkes  zu  verschlingen,  droht  dir.  Aber,  Teutschland, 
darum  bist  du  doch  nicht  frei;  dein  Geist  liegt  in  Fesseln, 
du  verlierst  deine  Nationalität,  und  so  wie  du  jetzt  Sklavin 
des  Frem-den  bist,  so  wirst  du  auch  bald  Sklavin  der  Frem- 
den werden. 

Doch  ich  höre  schon  antworten:  Wie?  sieh  doch  hin,  in 
einer  schönen  Ordnung  stehn  alle  Staaten,  gleichmäßig 
sind  alle  Rechte  abgewogen,  Friede  und  Wohlstand  blüht 
in  unsren  Gefilden;  sind  wir  nicht  glücklich?  O  ihr  Toren, 
trägen  Herzens  den  Ruf  von  vierthalbtausend  Jahren  zu 
fassen!  Blickt  doch  in  das  große  Buch  der  Weltgeschichte, 
das  offen  vor  euch  liegt,  blickt  doch  hin  und  antwortet 
noch  einmal:  sind  wir  nicht  glücklich.  Was  ist  denn  das, 
was  die  Staaten  vom  Gipfel  ihrer  Größe  herabwirft?  Der 
Verlust  ihrer  geistigen  Selbständigkeit  ist  es.  Denn  so 
wie  ein  Volk  sich  einmal  über  dem  Fremden  vergißt,  so 
wie  es  seinen  Nationalcharakter,  das  Band,  das  es  knüpft 
und  zusammenhält,  [aufgibt,]  so  wie  es  einmal  in  geistiger 
Bildung  der  Sklav  eines  andern  wird,  so  geht  auch  leicht 
die  politische  Freiheit  unter,  auf  die  ihr  stolz  jetzt  pocht, 
so  trägt  es  den  Keim  des  Verderbens  in  sich  und  wird, 
ein  leeres  Schattenbild,  die  Beute  jedes  feindlichen  Zu- 
falls; versunken  und  vergessen  geht  es  unter  und  steht  mit 
Verachtung  gebrandmarkt  vor  den  Augen  der  strengrich- 
tenden Nachwelt.  Dieß,  Teutsche,  dieß  wird  euer  Los 
sein;  wenn  ihr  euch  jetzt  [nicht]  zu  neuem  kräftigen  Leben 
wieder  erhebt,  wenn  ihr  nicht  bald  wieder  anfangt,  Teutsche 
zu  werden,  wenn  ihr  euch  [nicht]  eure  Nationalität,  rein 
und  geläutert  von  allem  Fremden,  wieder  erwerbt,  werden 
eure  Nachkommen  sich  eures  gebrandmarkten  Namens 
schämen,  und  untergehen  werdet  ihr,  ein  Spott  der  Nach- 
welt und  der  Gegenwart. — 
Denket,  daß  in  meine  Stimme  sich  mischen  die  Stimmen 


SCHULAUFSÄTZE  UND  SCHULREDEN  589 

eurer  Ahnen  aus  der  grauen  Vorwelt,  die  mit  ihren  Leibern 
sich  entgegengestemmt  haben  der  heranströmenden  rö- 
mischen Weltherrschaft,  die  mit  ihrem  Blute  erkauft  haben 
die  Unabhängigkeit  der  Berge,  Ebenen  und  Ströme.  Sie 
rufen  euch  zu:  Vertretet  und  überliefert  unser  Andenken 
ebenso  ehrenvoll  und  unbescholten  der  Nachwelt,  wie  es 
auf  euch  gekommen  und  wie  ihr  euch  dessen  und  der  Ab- 
stammung von  uns  gerühmt  habt.  Auch  mischen  sich  in 
ihre  Stimmen  die  Geister  eurer  spätem  Vorfahren,  die 
da  fielen  im  heiligen  Kampfe  für  Religions-  und  Glaubens- 
freiheit. Rettet  auch  unsre  Ehre,  rufen  sie  euch  zu,  laßt 
unsre  Kämpfe  nicht  zu  eitlen  vorüberrauschenden  Possen - 
spielen  werden,  zeigt,  daß  das  Blut,  was  wir  für  euch  ver- 
sprützten,  in  euern  Adern  wallt.  Es  mischen  sich  in  dieße 
Stimmen  die  Stimmen  eurer  noch  ungebornen  Nach- 
kommen. Wollt  ihr  die  Kette  zerreißen  lassen,  rufen  sie 
euch  zu,  die  euch  an  eure  Ahnen  bindet,  wollt  ihr  das 
Andenken  eurer  Vorfahren,  das  ihr  rein  und  makellos  er- 
halten habt,  besudelt  und  befleckt  ims  überliefern,  wollt 
ihr  uns,  die  Nachkommen  freier  Männer,  zu  Sklaven  wer- 
den lassen:  Teutsche!  Die  Wage  hängt,  in  jener  Schale 
liegt,  was  eure  Vorfahren  an  dem  Römer  verachtet  und 
an  seinen  Cäsaren  gehaßt,  in  dießer  das  ehrwürdige 
Kleinod  eurer  biedern  Voreltern,  die  durch  so  mancher 
Helden  Blut  im  Laufe  achtzehn  stürmischer  Jahrhunderte 
gegründete,  behauptete,  befestigte  Nationalität  und  Selb- 
ständigkeit. Dort  liegt  Gold  neben  Fesseln,  hier  der  seltne 
Ruhm,  zugleich  die  stärkste  und  beste  Nation  zu  sein. 
Wählet.— 


ÜBER  DEN  TRAUM  EINES  ARKADIERS 

DURCH  die  ganze  Geschichte  finden  wir  im  Leben 
jedes  Volkes  die  deutlichsten  Spuren  von  einem 
Wunderglauben,  der,  noch  jetzt  nicht  erloschen,  den  ge- 
bildeten Europäer  und  den  rohen  Wilden  befängt.  Wollten 
wir  dießes  innere  Gefühl  uns  als  Aberglauben  darstellen, 
wollten  wir  es  nur  als  ein  leeres  Spiel  der  Phantasie  ab- 
schütteln, so  würden  wir  frech  ein  geistiges  Band  zer- 


590  MISZELLEN 

reißen,  das  uns  gemeinsam  mit  allen  Erdbewohnern  um- 
schlingt, ein  Gefühl,  das  uns  alle  an  die  Mutterbrust  der 
Natur  drückt. 

Der  rohe  Mensch  sieht  Wunder  in  den  ewigen  Phäno- 
men[en]  der  Natur,  er  sieht  aber  auch  Wunder  in  außer- 
gewöhnlichen Fällen  des  Alltaglebens;  für  beide  schafft 
er  sich  seine  Götter.  Der  Gebildete  sieht  in  den  Wundern 
erstrer  Art  nur  die  Wirkungen  der  unerforschten,  unbe- 
griöhen  Naturkräfte;  aber  auch  sie  sind  ihm  Wunder,  so- 
lange das  blöde  Auge  des  Sterblichen  nicht  hinter  den 
Vorhang  blicken  kann,  der  das  Geistige  vom  Körperlichen 
scheidet,  auch  sie  weisen  ihn  zurück  auf  ein  Urprinzip, 
ein[en]  Inbegriff  alles  Bestehenden,  auf  die  Natur. — Von 
diesem  Standpunkte  aus  will  ich  jetzt,  so  weit  es  in  meinen 
Kräften  steht,  eine  Tatsache  zu  beurteilen  suchen,  die 
vom  grauen  Altertum  an  bis  jetzt  noch  niemand  ganz  er- 
klärt, ganz  aufgehellt  hat  und  niemand  vielleicht  ganz 
aufhellen  wird. 

Zwei  durch  wechselseitige  Liebe  aufs  innigste  verbundene 
Arkadier,  so  erzählt  man,  machten  eine  Reise.  Bei  ihrer 
Ankunft  [in]  Megara  kehrte  der  eine  bei  einer  Herberge, 
der  andre  bei  einem  Gastfreunde  ein.  Im  Traum  nun  er- 
schien dem  letzteren  sein  Freund,  der  ihn  um  Hülfe  flehte, 
weil  sein  Wirt  ihn  ermorden  wolle.  Erschreckt  sprang  er 
auf,  sammelte  sich  aber,  und  da  er  das  Ganze  für  eine 
Täuschung  des  Traumes  hielt,  schlief  er  wieder  ein.  Da 
erschien  ihm  sein  Freund  zum  zweiten  Male,  mit  Blut  be- 
deckt machte  er  ihm  Vorwürfe  und  erzählte  ihm,  sein  Wirt 
habe  ihn  ermordet,  auf  einen  mit  Mist  beladnen  Wagen 
geworfen,  um  die  Leiche  auf  diese  Art  aus  der  Stadt  zu 
schaffen.  .  .  . 

[KRITIK  AN  EINEM  AUFSATZ  ÜBER  DEN  SELBST- 
MORD] 
OHNE  gleich  im  Anfange  ein  entscheidendes  Urteil 
über  den  Wert  und  den  Inhalt  vorliegender  Arbeit 
fällen  zu  wollen,  werde  ich  mich  anfangs  darauf  ein- 
schränken, einige  von  den  in  dießer  Arbeit  ausgesprochnen 
Gedanken  und  Meinungen  in  der  von  dem  Verfasser  be- 


SCHULAUFSÄTZE  UND  SCHULREDEN  5  9 1 

folgten  Reihenfolge  zu  beleuchten  und  sie  entweder  zu 
verteidigen  oder  zu  widerlegen  versuchen.  Dießen,  viel- 
leicht etwas  sonderbar  scheinenden,  Weg  einzuschlagen 
zwingt  mich  die  eigentümliche  Beschaffenheit  des  Themas 
selbst,  bei  welchem  von  einem  allgemein  durchgrei- 
fenden Grundsatz  die  Rede  nicht  sein  kann,  sondern 
nur  von  einer  sachgemäßen  Zusammenstellung  einzelner 
Gedanken  und  Ansichten. 

Dießer  Verfahrungsart  gemäß  möchte  ich  behaupten,  daß 
der  gleich  im  Anfang  (p.  i)  ausgesprochne  Grundsatz, 
daß  von  einem  durchgängig  anwendbaren  Urteil 
die  Rede  nicht  sein  könne,  so  richtig  er  auch  an  und 
für  sich  selbst  ist,  uns  zuerst  am  Schlüsse,  als  ein 
Hauptresultat  dießer  Arbeit,  hätte  entgegenkommen 
dürfen. 

Im  Weitergehen  bemerkte  ich,  daß  der  Verfasser  bei  An- 
führung der  Behauptung,  der  Selbstmörder  handle  un- 
klug (p.  3),  den  so  oft  angeführten  Grund,  weil  derselbe 
einen  sichren  Zustand  mit  einem  unsichren  vertausche, 
ganz  überging,  ich  werde  deshalb  hier  einige  Worte  hier- 
über anführen.  Es  kommt  mir  immer  sonderbar  vor,  wenn 
man  dem  Selbstmörder  aus  dem  schon  angeführten  Grunde 
den  Vorwurf  der  Unklugheit  machen  will.  Es  liegt  ganz 
in  der  Natur  des  Menschen,  daß  er  einen  ihm  unerträg- 
lich gewordnen  Zustand  mit  einem  andern,  wenn  auch 
noch  so  unsichern,  zu  vertauschen  sucht,  es  ereignet  sich 
dieß  täglich,  und  niemand  nimmt  einen  iVnstoß  daran. 
Wer  will  nun  den,  welchem  sein  irdischer  Zustand  un- 
erträglich geworden  ist,  unklug  nennen,  weil  er  eine 
hoffnungslose  Sicherheit  aufopfert,  um  zu  einem  Zu- 
stand, von  dem  er  noch  hoffen  darf  und  der  auf  keinen 
Fall  schlechter  sein  kann  als  der  verlaßne,  zu  gelangen.- 
Es  wäre  ja  eher  Unklugheit,  in  einer  rettungslosen 
Lage  zu  verharren,  wenn  man  noch  ein,  wenn  auch  un- 
sichres, Mittel  übrig  hat,  sich  zu  retten.  Ich  behaupte 
also,  daß  man  in  dieß  er  Hinsicht  keineswegs  den  Selbst- 
mörder unklug  nennen  könne. 

Bei  der  (p.  6)  aufgestellten  sehr  richtigen  Behauptung, 
daß  der  Selbstmord  gegen  unsre  Bestimmung  handle, 


592  MISZELLEN 

erlaube  man  mir  eine  kleine  auf  den  (p.  2)  angeführten 
Einwurf,  daß  der  Selbstmord  unnatürlich  sei,  weil 
er  einen  natürlichen  Trieb  unterdrücke,  bezügliche  Be- 
merkung. Ich  möchte  nämlich  eigentlich  behaupten,  der 
Selbstmord  handle  gegen  unsre  Natur,  denn  in  ihr  liegt 
unsre  Bestimmung.  Man  könnte  also  in  dießer  Hin- 
sicht den  Selbstmord  eine  der  Natur  widerstrebende 
oder  unnatürliche  Handlung  nennen,  jedoch  in  einem 
von  dem  schon  angeführten,  sehr  schwachen  Einwurf  ganz 
verschiedenen  Sinne. 

Die  Behauptung,  der  Selbstmord  sei  in  allen  Fällen 
irreligiös,  klingt  gar  eigen.  Das  irreligiös  bedeutet 
in  unserm  Sinn  so  viel  als  unchristlich.  Dießes  un- 
christlich  wird  aber  als  Einwurf  gegen  den  Selbstmord 
oft  gar  sehr  gemißbraucht,  indem  man  gewöhnlich  damit 
angezogen  kommt,  wenn  man  keinen  andern  mehr  machen 
kann,  wie  bei  Kato  und  Lukreiia.  Ich  will  mich,  um  dieß 
zu  beweisen,  an  vorliegendes  Beispiel  halten.  Kato  ist, 
vom  wahren  Standpunkte  aus  betrachtet,  in  jeder  Hin- 
sicht zu  rechtfertigen;  dieß  gibt  man  zu,  kommt  aber  mit 
dem  schalen  Anhängsel  hinten  nach,  subjektiv  ist  dieß 
wohl  wahr,  objektiv  aber  unrichtig.  Dießes  Subjektive 
ist  aber  das  einzig  Richtige,  widerspricht  dießem  das 
Objektive,  so  ist  dasselbe  falsch.  Nun  ist,  wie  schon 
i^esasft,  Kato  nach  allen  Gesetzen  menschlicher  Ein- 
sieht  zu  rechtfertigen;  widerspricht  dießem  alsdann  wirk- 
lich das  Christentum,  so  müssen  die  Lehren  desselben 
in  dieser  Hinsicht  unrichtig  sein,  denn  unsre  Religion 
kann  uns  nie  verbieten,  irgendeine  Wahrheit,  Größe, 
Güte  und  Schönheit  anzuerkennen  und  zu  verehren 
außer  ihr  und  uns  nie  erlauben,  eine  anerkannt  sitt- 
liche Handlung  zu  mißbilligen,  weil  sie  mit  einer  ihrer 
Lehren  nicht  übereinstimmt.  Was  sittlich  ist,  muß  von 
jedem  Standpunkte,  von  jeder  Lehre  aus  betrachtet 
sittlich  bleiben.  Ob  man  aber  w  i  rkl  i  ch  beweisen  könne, 
daß  ein  Selbstmord  wie  der  des  Kato  dem  Christentum 
widerstrebe,  ist  eine  andre  Frage.  Denn  es  wäre  doch 
sonderbar,  ja  es  wäre  unmöglich,  daß  eine  Religion, 
welche  ganz  auf  das  Prinzip  der  Sittlichkeit  ge- 


SCHULAUFSÄTZE  UND  SCHULREDEN     593 

gründet  ist,  einer  sittHchen  Handlung  widerstreben 
sollte.  Es  trifft  also  dieser  Vorwurf  keineswegs  das 
Christentum  selbst,  sondern  nur  diejenigen,  welche  den 
Sinn  desselben  falsch  auffassen. 

Mit  dem  Seite  10  ausgesprochnen  Gedanken  kann  ich  nicht 
recht  übereinstimmen;  denn  ich  glaube,  daß  der  echte 
Sensualist  nie  in  den  beschriebnen  Zustand  geraten  wird. 
Über  Roland  (p,  11)  ist  zu  hart  geurteilt;  ihn  brachte  nicht 
die  Furcht  vor  dem  Blutgerüst  zu  dem  Entschluß,  sich 
selbst  zu  ermorden,  sondern  der  Schmerz,  welcher  ihn 
bei  der  Nachricht  von  der  Hinrichtung  seiner  Gattin  über- 
mannte. Überhaupt  weiß  ich  nicht,  was  die  letzte  Phrase 
hier  bedeuten  soll,  denn  wer  sich  selbst  ermordet,  wagt 
es  doch  wahrlich,  dem  Tod  in  das  Auge  zu  sehen. 
Nicht  mit  Unrecht  hat  der  Verfasser  bei  seinem  Urteile 
über  die  Tat  des  Kato  (p.  15)  Osiande?'n  erwähnt.  Aber 
wahrlich,  die  Vergleichung  mit  dem  Schwan  und  den 
Krähen  ist  noch  zu  erhaben  für  einen  solchen  Menschen, 
welcher  den  Kato  einen  Monolog  halten  läßt,  worin  der- 
selbe ungefähr  sagt,  daß  Cäsar  doch  bös  mit  ihm  umgehen 
würde,  es  sei  also  geratner,  sich  bei  Zeit  auf  dem  kür- 
zesten Wege  davon  zu  machen,  zumal  da  die  Narren  der 
Nachwelt  wahrscheinlich  ein  großes  Mirakel  aus  dießer 
Tat  machen  würden.  Es  fehlt  nur  wenig,  daß  der  Herr 
Professorin  seinem  heiligen  Eifer  über  die  blinden  Heiden 
eine  Sektion  des  Kato  vornähme  und  bewieße,  daß  der- 
selbe einige  Lot  Gehirn  zu  wenig  gehabt  hätte.  Wahr- 
haftig, wenn  ich  ein  solches  Buch  in  die  Hände  bekomme, 
möchte  ich  mit  Göthe  über  unser  tintenklecksendes  Säku- 
lum  ausrufen:  Römerpatriotismus!  Davor  bewahre 
uns  der  Himmel,  wie  vor  einer  Riesengestalt. 
Wir  würden  keinen  Stuhl  finden,  darauf  zu  sitzen, 
und  kein  Bett,  drinnen  zu  liegen. 
In  der  wahrhaft  vortrefflichen  Stelle,  wo  von  dem  letzten 
und  erhabensten  Motiv  zum  Selbstmord  gesprochen  wird 
(p.  1 6),  fand  ich  einen  Ausdruck,  dessen  Erläuterung  zwar 
nicht  hierher  zu  gehören  scheint,  der  aber  doch  bei 
näherer  Beachtung  einigen  Bezug  auf  dießes  Thema  hat. 
Die  Erde  wird  nämlich  hier  ein  Prüfungsland  genannt; 

BÜCHNER  38. 


594  MISZELLEN 

dießer  Gedanke  war  mir  immer  sehr  anstößig,  denn  ihm 
gemäß  wird  das  Leben  nur  als  Mittel  betrachtet;  ich 
glaube  aber,  daß  das  Leben  selbst  Zweck  sei,  denn: 
Entwicklung  ist  der  Zweck  des  Lebens,  das  Leben 
selbst  ist  Entwicklung,  also  ist  das  Leben  selbst  Zweck. 
Von  dießem  Gesichtspunkte  aus  kann  man  auch  den  ein- 
zigen, fast  allgemein  gültigen  Vorwurf  dem  Selbst- 
mord machen,  weil  derselbe  unserm  Zwecke  und  somit 
der  Natur  widerspricht,  indem  er  die  von  der  Natur  uns 
gegebene,  unserm  Zweck  angemeßne  Form  des  Lebens 
vor  der  Zeit  zerstört. 

Bei  der  aus  Göthes  Faust  entnommenen  Stelle  vermißte 
ich  die  Worte  des  verschwindenden  Erdgeistes:  Du 
gleichst  dem  Geist,  den  du  begreifst,  nicht  mir; 
sie  sind  es,  welche  Faust  von  seiner  Höhe  in  den  Ab- 
grund der  Verzweiflung  hinabstürzen. 
Ich  kann  nicht  umhin,  den  am  Schluß  ausgesprochnen  Ge- 
danken über  den  Selbstmord  aus  Patriotismus  oder  aus 
physischen  und  psychischen  Leiden  einige  Worte 
hinzuzufügen,  ob  ich  gleich  wohl  sehe,  daß  dieß  eigent- 
lich in  die  Form  einer  Rezension  nicht  paßt.  Die  Be- 
hauptung, daß  der,  welcher  dem  Vorteile  seines  Vater- 
landes das  Leben  aufopfert,  kein  eigentlicher  Selbstmörder 
sei,  ist  klar  und  bestimmt  ausgesprochen  und  deutlich  be- 
wiesen, das  übrige  jedoch  ist  etwas  dunkler  ohne  be- 
stimmtes Resultat:  ich  will  also  das,  was  ich  für  das  eigent- 
liche Resultat  halte,  hier  zufügen.  Der  Selbstmörder 
aus  physischen  und  psychischen  Leiden  ist  kein 
Selbstmörder,  er  ist  nur  ein  an  Krankheit  Ge- 
storbner. 

Ich  verstehe  nämlich  darunter  einen  solchen,  welcher 
durch  geistiges  oder  körperliches  unheilbares  Leiden  all- 
mählig  in  jene  Seelenstimmung  verfällt,  die  man  mit  dem 
Namen  derMelancholie  bezeichnet,  und  so  zum  Selbst- 
mord getrieben  wird,  keineswegs  aber  den,  welcher,  um 
einem  Leiden  zu  entgehen,  sich  bei  freiem  Sinn  mid 
Verstand  selbst  tötet.  Der  erster e  ist  krank,  der  andre 
schwach.  Der  erstere  ist  an  seiner  Krankheit  gestorben, 
denn  ob  dießes  Leiden  ihm  allmählig  das  Leben  raubt 


SCHUL  AUFS  ÄTZE  UND  SCHULREDEN  595 

oder  ihn  durch  den  störenden  Einfluß  auf  sein  Gemüt  zum 
Selbstmord  bringt,  ist  gleichgültig.  Die  Form  ist  nur 
verschieden,  die  Wirkung  ist  die  nämliche:  sie  ist  der 
Tod,  seine  Ursache  lag  in  einer  Krankheit,  die  eine 
Neigung  zum  Selbstmorde  zm-  Folge  hatte,  was  ich  aus 
Beispielen  zur  Genüge  beweisen  könnte.  So  wenig  man 
nun  von  einem  an  der  Auszehrung  Gestorbnen  sagen  kann: 
der  Narr  oder  der  Sünder,  warum  ist  er  gestorben:  ebenso- 
wenig darf  man  einem  Selbstmörder  aus  dieß  er  Ursache 
wegen  seiner  Tat  einen  Vorwurf  machen  wollen;  er  ist, 
wie  schon  gesagt,  nicht  als  Selbstmörder  zu  betrachten. 
Dasselbe  läßt  sich  nun,  tmd  zwar  in  noch  viel  höherem 
Grade,  auf  den  anwenden,  welcher  sich  aus  psychischen 
Leiden  den  Tod  gibt.  Psychische  Leiden  sind,  so  wie 
physische  Krankheit  des  Körpers,  Krankheit  des  Geistes; 
letztere  kann,  wenn  sie  einmal  feste  Wurzeln  geschlagen 
hat,  noch  viel  weniger  gehoben  werden  als  erstere.  Wen 
also  eine  solche  geistige  Krankheit  zum  Tode  treibt, 
der  ist  ebensowenig  ein  Selbstmörder,  er  ist  nur  ein  an 
geistiger  Krankheit  Gestorbner.  Das  geistige  Leiden 
selbst  vermag  den  Körper  nicht  unmittelbar  zu  töten, 
es  tut  dieß  also  mittelbar;  dieß  ist  der  ganze  Unter- 
schied zwischen  dem,  welcher  am  hitzigen  Fieber  oder  in 
einem  Anfall  von  Wahnsinn  stirbt. 

Fasse  ich  hier  nun  ein  allgemeines  und  bestimmtes  Urteil 
über  die  ganze  Arbeit  zusammen. 

Die  Frage  ist  trotz  der  schwierigen  Aufgabe  zur 
Genüge  gelöst. 

Der  Verfasser  umfaßt  in  seiner  Arbeit  bis  auf  weniges  alle 
Einwürfe  und  alle  Motive,  dargestellt  in  einer  bestimmten 
und  sachgemäßen  Ordnung;  ohne  es  jedoch  bei  einer 
bloßen  Zusammenstellung  bewenden  zu  lassen,  gibt  er  uns 
über  jeden  Gegenstand  eine  Menge  schätzenswerter,  vor- 
urteilsfreier Gedanken,  die,  wenn  sie  auch  nicht  alle  gleich 
richtig  sind,  doch  zeigen,  daß  der  Verfasser  sich  fern  ge- 
halten von  aller  Einseitigkeit,  daß  er  alles  nicht  von  einem 
fremden,  sondern  von  einem  eignen,  selbständigen  Stand- 
punkte aus  betrachtet  und  beurteilt  und  durch  eignes  Nach- 
denken schon  einen  tiefern  BHck  in  die  Li-  und  Außen- 


596  MISZELLEN 

weit  des  Menschen  getan  habe.  Noch  anziehender  werden 
dieße  Gedanken  durch  eine  klare,  schöne  und  kräftige 
Sprache.  Überdieß  wird  das  Ganze  durch  ein  schönes  und 
edles  Gefühl  wie  durch  einen  warmen  Frühlingshauch  be- 
lebt und  erwärmt;  es  erhebt  uns  über  den  gewöhnlichen 
Standpunkt  durch  eine  reine,  glühende  Begeisterung  für 
das  Edle  und  Große,  es  gibt  uns,  nicht  in  abgedroschnen 
Redensarten  von  Bruderhebe  u.  dgl.  m.,  den  Begriff  echter 
und  wahrer  Menschenliebe,  indem  es  uns  überall,  dem 
schönen  Gedanken  gemäß,  daß  der  Selbstmörder  nur 
Verirrter,  nicht  Verbrecher  sei,  die  Gebrechen  und 
Mängel  des  armen  Sterblichen  in  der  mildesten  Form 
sehen  läßt. 

Einen  würdigen  Schluß  zu  der  ganzen  Arbeit  bildet  über- 
dieß der  letzte  erhabne  Gedanke;  er  ist  es,  welcher  dem 
Menschen  allein  im  Schlamme  des  Lebens  die  wahre 
Würde  bewahren  kann. 


[KATO  VON  UTIKA] 

GROSS  und  erhaben  ist  es,  den  Menschen  im  Kampfe 
mit  der  Natur  zu  sehen,  wenn  er  gewaltig  sich  stemmt 
gegen  die  Wut  der  entfesselten  Elemente  und,  vertrauend 
derjKraft  seines  Geistes,  nach  seinem  Willen  die  rohen 
Kräfte  der  Natur  zügelt.  Aber  noch  erhabner  ist  es,  den 
Menschen  zu  sehen  im  Kampfe  mit  seinem  Schicksale, 
wenn  er  es  wagt  einzugreifen  in  den  Gang  der  Weltge- 
schichte, wenn  er  an  die  Erreichung  seines  Zwecks  sein 
Höchstes,  sein  Alles  setzt.  Wer  nur  einen  Zweck  und 
kein  Ziel  bei  der  Verfolgung  desselben  sich  vorgesteckt, 
gibt  den  Widerstand  nie  auf,  er  siegt — oder  stirbt.  Solche 
Männer  waren  es,  welche,  wenn  die  ganze  Welt  feige 
ihren  Nacken  dem  mächtig  über  sie  hinrollenden  Zeit- 
rade beugte,  kühn  in  die  Speichen  desselben  griffen,  und 
es  entweder  in  seinem  Um^schwunge  mit  gewaltiger  Hand 
zurückschnellten  oder  von  seinem  Gewichte  zermalmt 
einen  rühmlichen  Tod  fanden,  d.  h.  sich  mit  dem  Reste 
des  Lebens  Unsterblichkeit  erkauften.  Solche  Männer, 
die  unter  den  Millionen,   welche  auch  aus  dem  Schoß 


SCHULAUFSÄTZE  UND  SCHULREDEN  5  9  7 

der  Erde  kriechen,  ewig  am  Staube  kleben  und  wie  Staub 
vergehn  und  vergessen  werden,  sich  zu  erheben,  sich  Un- 
vergänglichkeit  zu  erkämpfen  wagten,  solche  Männer  sind 
es,  die  gleich  Meteoren  aus  dem  Dunkel  des  menschlichen 
Elends  imd  Verderbens  hervorstrahlen.  Sie  durchkreuzen 
wie  Kometen  die  Bahn  der  Jahrhunderte;  so  wenig  die 
Sternkunde  den  Einfluß  der  einen,  ebensowenig  kann  die 
Politik  den  der  andern  berechnen.  In  ihrem  exzentrischen 
Laufe  scheinen  sie  nur  Irrbahnen  zu  beschreiben,  bis  die 
großen  Wirkungen  dießer  Phänomene  beweisen,  daß  ihre 
Erscheinung  lange  vorher  durch  jene  Vorsehung  angeord- 
net war,  deren  Gesetze  ebenso  unerforschlich  als  unab- 
änderhch  sind. — 

Jedes  Zeitalter  kann  uns  Beispiele  solcher  Männer  auf- 
weisen, doch  alle  waren  von  jeher  der  verschiedenartig- 
sten Beurteilung  unterv/orfen.  Die  Ursache  hiervon  ist, 
daß  jede  Zeit  ihren  Maßstab  an  die  Helden  der  Gegen- 
wart oder  Vergangenheit  legt,  daß  sie  nicht  richtet  nach 
dem  eigentlichen  Werte  dieser  Männer,  sondern  daß  ihre 
Auffassung  und  Beurteilung  derselben  stets  bestimmt  und 
unterschieden  ist  durch  die  Stufe,  auf  der  sie  selbst 
steht.  Wie  fehlerhaft  eine  solche  Beurteilung  sei,  wird 
niemanden  entgehen:  für  einen  Riesen  paßt  nicht  das 
Maß  eines  Zwergs;  eine  kleine  Zeit  darf  nicht  einen  Mann 
beurteilen  wollen,  von  dem  sie  nicht  einen  Gedanken 
fassen  und  ertragen  könnte.  Wer  will  dem  x\dler  die  Bahn 
vorschreiben,  wenn  er  die  Schwingen  entfaltet  und  stür- 
mischen Flugs  sich  zu  den  Sternen  erhebt.'  Wer  will  die 
zerknickten  Blumen  zählen,  wenn  der  Sturm  über  die 
Erde  braust  und  die  Nebel  zerreißt,  die  dumpfbrütend 
über  dem  Leben  liegen:  Wer  will  nach  den  Meinungen 
und  Motiven  eines  Kindes  wägen  und  verdammen,  wenn 
Ungeheures  geschieht,  wo  es  sich  um  Ungeheures  han- 
delt.- Die  Lehre  dieser  Beobachtung  ist:  man  darf  die  Er- 
eignisse und  ihre  Wirkungen  nicht  beiurteilen,  wie  sie 
äußerlich  sich  darstellen,  sondern  man  muß  ihren  in- 
neren tiefen  Sinn  zu  ergründen  suchen,  und  dann  wird 
man  das  Wahre  finden, — 
Ich  glaube  erst  dießes  vorausschicken  zu  müssen,  um  bei 


598  MISZELLEN 

der  Behandlung  eines  so  schwierigen  Themas  zu  zeigen, 
von  welchem  Standpunkte  man  bei  der  Beurteilung  eines 
Mannes,  man  bei  der  Beurteilung  eines  alten  Römers 
ausgehen  müsse,  um  zu  beweisen,  daß  man  an  einem 
Kato  nicht  den  Maßstab  unsrer  Zeit  anlegen,  daß  man 
seine  Tat  nicht  nach  neueren  Gnmdsätzen  und  Ansichten 
beurteilen  könne. 

Man  hört  nämlich  so  oft  behaupten:  subjektiv  ist  Kato 
zu  rechtfertigen,  objektiv  zu  verdammen,  d.  h.  von  un- 
serm,  vom  christlichen  Standpunkte  aus  ist  Kato  ein  Ver- 
brecher, von  seinem  eigenen  aus  ein  Held.  Wie  man 
aber  diesen  christlichen  Standpunkt  hier  anwenden  könne, 
ist  mir  immer  ein  Rätsel  geblieben.  Es  ist  ja  doch  ein 
ganz  eigner  Gedanke,  einen  alten  Römer  nach  dem  Ka- 
techismus kritisieren  zu  wollen!  Denn  da  man  die  Hand- 
lungen eines  Mannes  nur  dann  zu  beurteilen  vermag,  wenn 
man  sie  mit  seinem  Charakter,  seinen  Grundsätzen  und 
seiner  Zeit  zusammenstellt,  so  ist  nur  ein  Standpunkt, 
und  zwar  der  subjektive,  zu  billigen  und  jeder  andre, 
zumal  in  diesem  Falle  der  christliche,  gänzlich  zu  ver- 
werfen. So  wenig  als  Kato  Christ  war,  ebensowenig 
kann  man  die  christlichen  Grundsätze  auf  ihn  anwenden 
wollen;  er  ist  nur  als  Römer  und  Stoiker  zu  betrachten. 
Dießem  Grundsatze  gemäß  werde  ich  alle  Einwürfe,  wie 
z.  B.  "Es  ist  nicht  erlaubt,  sich  das  Leben  zu  nehmen, 
das  man  sich  nicht  selbst  gegeben"  oder  "Der  Selbstmord 
ist  ein  Eingriff  in  die  Rechte  Gottes"  ganz  und  gar  nicht 
berücksichtigen  und  nur  die  zu  widerlegen  suchen,  welche 
man  Kato  vom  Standpunkte  des  Römers  aus  machen 
könnte,  wobei  es  unumgänglich  notwendig  ist,  vorerst 
eine  kurze,  aber  getreue  Schilderung  seines  Charakters 
und  seiner  Grundsätze  zu  entwerfen. — 
Kato  war  einer  der  untadelhaftesten  Männer,  den  die  Ge- 
schichte uns  zeigt.  Er  war  streng,  aber  nicht  grausam; 
er  war  bereit,  andern  viel  größere  Fehler  zu  verzeihen  als 
sich  selbst.  Sein  Stolz  und  seine  Härte  waren  mehr  die 
Wirkung  seiner  Grundsätze  als  seines  Temperaments.  Voll 
unerschütterlicher  Tugend,  wollte  er  lieber  tugendhaft 
sein  als  scheinen.   Gerecht   gegen  Fremde,  begeistert 


SCHULAUFSÄTZE  UND  SCHULREDEN  599 

für  sein  Vaterland,  nur  das  Wohl  seiner  Mitbürger,  nicht 
ihre  Gunst  beachtend,  erwarb  er  sich  um  so  größeren 
Ruhm,  je  weniger  er  ihn  begehrte.  Seine  große  Seele 
faßte  ganz  die  großen  Gedanken:  Vaterland,  Ehre  und 
Freiheit.  Sein  verzweifelter  Kampf  gegen  Cäsar  war  die 
Folge  seiner  reinsten  Überzeugung,  sein  Leben  und  sein 
Tod  den  Grundsätzen  der  Stoiker  gemäß,  die  da  behaup- 
teten: "Die  Tugend  sei  die  wahre,  von  Lohn  und  Strafe 
ganz  unabhängige  Harmonie  des  Menschen  mit  sich  selbst, 
die  durch  die  Herrschaft  über  die  Leidenschaften  er- 
langt werde;  diese  Tugend  setze  die  höchste  innre  Ruhe 
und  Erhabenheit  über  die  Affektionen  sinnlicher  Lust  und 
Unlust  voraus;  sie  mache  den  Weisen  nicht  gefühllos,  aber 
unverwundbar  und  gebe  ihm  eine  HeiTschaft  über  sein 
Leben,  die  auch  den  Selbstmord  erlaube." 
Solche  Gefühle  und  Grundsätze  in  der  Brust,  stand  Kato 
da,  wie  ein  Gigant  unter  Pygmäen,  wie  der  Heros  einer 
untergegangnen  Heldenzeit,  wie  ein  ungeheurer,  unbe- 
greiflicher Riesenbau,  erhaben  über  seine  Zeit,  erhaben 
selbst  über  menschliche  Größe.  Nur  ein  Mann  stand  ihm 
gegenüber.  Er  war  Julius  Cäsar.  Beide  waren  gleich  an 
Geisteskräften,  gleich  an  Macht  und  Ansehn,  aber  beide 
ganz  verschiednen  Charakters.  Kato  der  letzte  Römer, 
Cäsar  nichts  mehr  als  ein  glücklicher  Katilina;  Kato  groß 
durch  sich  selbst,  Cäsar  groß  durch  sein  Glück,  mit  dem 
größten  Verbrechen  geadelt  durch  den  Preis  seines  Ver- 
brechens. Für  zwei  solcher  Männer  war  der  Erdkreis  zu 
eng.  Einer  mußte  fallen,  und  Kato  fiel,  nicht  als  ein 
Opfer  der  Überlegenheit  Cäsars,  sondern  seiner  ver- 
dorbnen  Zeit.  Anderthalbe  hundert  Jahre  zuvor  hätte 
kein  Cäsar  gesiegt. — 

Nach  Cäsars  Siege  bei  TJiapsus  hatte  Kato  die  Hoffnung 
seines  Lebens  verloren;  nur  von  wenigen  Freunden  be- 
gleitet, begab  er  sich  nach  Utika,  wo  er  noch  die  letzten 
Anstrengungen  machte,  die  Bürger  für  die  Sache  der  Frei- 
heit zu  gewinnen.  Doch  als  er  sah,  daß  in  ihnen  nur 
Sklavenseelen  wohnten,  als  Rom  von  seinem  Herzen  sich 
losriß,  als  er  nirgends  mehr  ein  Asyl  fand  für  die  Göttin 
seines  Lebens,  da  hielt  er  es  für  das  einzig  Würdige,  durch 


6oo  MISZELLEN 

einen  besonnenen  Tod  seine  freie  Seele  zu  retten.  Voll 
der  zärtlichsten  Liebe  sorgte  er  für  seine  Freunde,  kalt 
und  ruhig  überlegte  er  seinen  Entschluß,  und  als  alle 
Bande  zerrissen,  die  ihn  an  das  Leben  fesselten,  gab  er 
sich  mit  sichrer  Hand  den  Todesstoß  und  starb,  durch 
seinen  Tod  einen  würdigen  Schlußstein  auf  den  Riesen- 
bau seines  Lebens  setzend.  Solch  ein  Ende  konnte  allein 
einer  so  großen  Tugend  in  einer  so  heillosen  Zeit  ge- 
ziemen! 

So  verschieden  nun  die  Beurteilungen  dieser  Handlung 
sind,  ebenso  verschieden  sind  auch  die  Motive,  die  man 
ihr  zum  Grunde  legt.  Doch  ich  denke,  ich  habe  nicht  nö- 
tig, hier  die  zurückzuweisen,  welche  von  Eitelkeit,  Ruhm- 
sucht, Halsstarrigkeit  und  dergleichen  kleinlichen  Grün- 
den mehr  reden  (solche  Gefühle  hatten  keinen  Raum  in 
der  Brust  eines  Kato!)  oder  gar  die  zurückzuweisen,  welche 
mit  dem  Gemeinplatz  der  Feigheit  angezogen  kommen. 
Ihre  Widerlegung  liegt  schon  in  der  bloßen  Schilderung 
seines  Charakters,  der  nach  dem  einstimmigen  Zeugnis 
aller  alten  Schriftsteller  so  groß  war,  daß  selbst  Vellejus 
Patercidus  von  ihm  sagt:  homo  virtuti  simillimus  et  per 
omiiia  ingenio  diis,  quam  hoininibiis ^  propior. 
Andre,  die  der  Wahrheit  schon  etwas  näher  kamen  und 
auch  [die]  meisten  Anhänger  fanden,  behaupteten,  der 
Beweggrund  zum  Selbstmord  sei  ein  unbeugsamer  Stolz 
gewesen,  der  nur  vom  Tode  sich  habe  wollen  besiegen 
lassen.  Wahrlich,  wäre  dieß  das  wahre  Motiv,  so  liegt 
schon  etwas  Großes  und  Erhabnes  in  dem  Gedanken,  mit 
dem  Tode  die  Gerechtigkeit  der  Sache,  für  die  man  streitet, 
besiegeln  zu  wollen.  Es  gehört  ein  großer  Charakter  dazu, 
sich  zu  einem  solchen  Entschluß  erheben  zu  können.  Aber 
auch  nicht  einmal  dieser  Beweggrund  war  es — es  war  ein 
höherer.  Katos  große  Seele  war  ganz  erfüllt  von  einem 
unendlichen  Gefühle  für  Vaterland  und  Freiheit,  das 
sein  ganzes  Leben  durchglühte.  Diese  beiden  Gedanken 
waren  die  Zentralsonne,  um  die  sich  alle  seine  Gedanken 
und  Handlungen  drehten.  Den  Fall  seines  Vaterlandes 
hätte  Kato  überleben  können,  wenn  er  ein  Asyl  für  die 
andre  Göttin  seines  Lebens,  für  die  Freiheit,  gefunden 


SCHULAUFSÄTZE  UND  SCHULREDEN  60 1 

hätte.  Er  fand  es  nicht.  Der  Weltball  lag  in  Roms  Ban- 
den, alle  Völker  waren  Sklaven,  frei  allein  der  Römer. 
Doch  als  auch  dieser  endlich  seinem  Geschicke  erlag,  als 
das  Heiligtum  der  Gesetze  zerrissen,  als  der  Altar  der 
Freiheit  zerstört  war,  da  war  Kato  der  einzige  unter 
Millionen,  der  einzige  unter  den  Bewohnern  einer  Welt, 
der  sich  das  Schwert  in  die  Brust  stieß,  um  unter  Skla- 
ven nicht  leben  zu  müssen;  denn  Sklaven  waren  die  Rö- 
mer, sie  mochten  in  goldnen  oder  ehernen  Fesseln  liegen 
— sie  waren  gefesselt.  Der  Römer  kannte  nur  e  i  n  e  Frei- 
heit, sie  war  das  Gesetz,  dem  er  sich  aus  freier  Über- 
zeugung als  notwendig  fügte;  diese  Freiheit  hatte  Cäsar 
zerstört,  Kato  war  Sklave,  wenn  er  sich  dem  Gesetz  der 
Willkür  beugte.  Und  war  auch  Rom  der  Freiheit 
nicht  wert,  so  war  doch  die  Freiheit  selb  st  wert, 
daß  Kato  für  sie  lebte  und  starb.  Nimmt  man  diesen 
Beweggrund  an,  so  ist  Kato  gerechtfertigt;  ich  sehe  nicht 
ein,  warum  man  sich  so  sehr  bemüht,  einen  niedrigem 
hervorzuheben;  ich  kann  nicht  begreifen,  warumman  einem 
Manne,  dessen  Leben  und  Charakter  makellos  sind,  das 
Ende  seines  Lebens  schänden  will.  Der  Beweggrund,  den 
ich  seiner  Handlung  zugrunde  lege,  stimmt  mit  seinem 
ganzen  Charakter  überein,  ist  seines  ganzen  Lebens  wür- 
dig, und  also  der  wahre. — 

Diese  Tat  läßt  sich  jedoch  noch  von  einem  andern  Stand- 
punkte aus  beurteilen,  nämlich  von  dem  der  Klugheit 
und  der  Pflicht.  Man  kann  nämlich  sagen:  Handelte 
Kato  auch  klug:  hätte  er  nicht  versuchen  können,  die 
Freiheit,  deren  Verlust  ihn  tötete,  seinem  Volke  wieder 
zu  erkämpfen?  Und  hätte  er,  wenn  auch  dieses  nicht  der 
Fall  gewesen  wäre,  sich  nicht  dennoch  seinen  Mitbürgern, 
seinen  Freunden,  seiner  Familie  erhalten  müssen.^ 
Der  erste  Einwurf  läßt  sich  widerlegen  durch  die  Ge- 
schichte. Kato  mußte  bei  einigem  Blick  in  sie  wissen 
und  wußte  es,  daß  Rom  sich  nicht  mehr  erheben  könne, 
daß  es  einen  Tyrannen  nötig  habe,  imd  daß  für  einen  des- 
potisch beherrschten  Staat  nur  Rettung  in  dem  Untergang 
sei.  Wäre  es  ihm  auch  gelungen,  selbst  Cäsarn  zu  besie- 
gen, Rom  blieb  dennoch  Sklavin;  aus  dem  Rumpfe  der 


6o2"  MISZELLEN 

Hyder  wären  nur  neue  Rachen  hervorgewachsen.  Die 
Geschichte  bestätigt  diese  Behauptung.  Die  Tat  eines 
Brutus  war  nur  ein  leeres  Schattenbild  einer  unter- 
gegangnen  Zeit.  Was  hätte  es  also  Kato  genützt,  wenn 
er  noch  länger  die  Flamme  des  Bürgerkrieges  entzündet, 
wenn  er  auch  Roms  Schicksal  noch  um  einige  Jahre  auf- 
gehalten hätte?  Er  sah,  Rom  und  mit  ihm  die  Frei  - 
heit  war  nicht  mehr  zu  retten. — 
Noch  leichter  läßt  sich  [der]  andre  Einwurf,  als  hätte  Kato 
sich  seinem,  wenn  auch  unterjochten  Vaterlande  den- 
noch erhalten  müssen,  beseitigen.  Es  gibt  Menschen,  die 
ihrem  größeren  Charakter  gemäß  mehr  zu  allgemeinen 
großen  Diensten  für  das  Vaterland  als  zu  besondern  Hülfs- 
leistungen  gegen  einzelne  Notleidende  verpflichtet  sind. 
Ein  solcher  war  Kato.  Sein  großer  Wirkungskreis  war 
ihm  genommen,  seinen  Grundsätzen  gemäß  konnte  er 
nicht  mehr  handeln.  Kato  war  zu  groß,  als  daß  er  die 
freie  Stirne  dem  Sklavenjoche  des  Usurpators  hätte  beu- 
gen, als  daß  er,  um  seinen  Mitbürgern  eine  Gnade  zu  er- 
betteln, vor  einem  Cäsar  hätte  kriechen  können.  Klei- 
neren Seelen  überließ  er  dieß;  doch  wie  wenig  durch 
Nachgeben  und  Fügsamkeit  erreicht  wurde,  kann  Ciceros 
Beispiel  lehren.  Kato  hatte  einen  andern  Weg  einge- 
schlagen, noch  den  letzten  großen  Dienst  seinem  Vater- 
lande zu  erweisen;  ja  sein  Selbstmord  war  eine  Aufopfe- 
rung für  dasselbe!  Wäre  Kato  leben  geblieben,  hätte  er 
sich  mit  Verleugnung  aller  seiner  Grundsätze  dem  Usur- 
pator unterworfen,  so  hätte  dieses  Leben  die  Billigung 
Cäsars  enthalten;  hätte  er  dieß  nicht  gewollt,  so  hätte  er 
in  offnem  Kampf  auftreten  und  unnützes  Blut  vergießen 
müssen.  Hier  gab  es  nur  einen  Ausweg,  er  war  der 
Selbstmord.  Er  war  die  Apologie  des  Kato,  war  die 
furchtbarste  Anklage  des  Cäsar.  Kato  hätte  nichts  Größ- 
res  für  sein  Vaterland  tun  können  denn  diese  Tat,  dieses 
Beispiel  hätte  alle  Lebensgeister  der  entschlafnen  Roma 
wecken  müssen.  Daß  sie  ihren  Zweck  verfehlte,  daran 
ist  nur  Rom,  nicht  Kato  schuld. — 
Dasselbe  läßt  sich  auch  auf  den  Einwurf  erwidern,  als 
hätte  Kato  sich  seiner  Familie  erhalten  müssen.  Kato  war 


SCHULAUFSÄTZE  UND  SCHULREDEN  603 

der  Mann  nicht,  der  sich  im  engen  Kreise  des  Familien- 
lebens hätte  bewegen  können;  auch  sehe  ich  nicht  ein, 
warum  er  es  hätte  tun  sollen:  seinen  Freunden  nützte  sein 
Tod  mehr  als  sein  Leben,  seine  Porcia  hatte  einen  Bru- 
tus gefunden,  sein  Sohn  war  erzogen;  der  Schluß  dieser 
Erziehung  war  der  Selbstmord  des  Vaters,  er  war  die  letzte 
große  Lehre  für  den  Sohn.  Daß  derselbe  sie  verstand, 
lehrte  die  Schlacht  bei  Philippi. — 

Das  Resultat  dieser  Untersuchung  Hegt  in  Zz^^/^/w  Worten: 
'^  Wer  fragen  kann,  ob  Kato  durch  seine  Tugend  nicht  Rom 
mehr  geschadet  habe  als  genützt,  der  hat  weder  Roms  Art 
erkannt  noch  Katos  Seele  noch  den  Sinn  des  menschlichen 
Lebens  y 

Nimmt  man  nun  alle  diese  angeführten  Gründe  und  Um- 
stände zusammen,  so  wird  man  leicht  einsehen,  daß  Kato 
seinem  Charakter  und  seinen  Grundsätzen  gemäß  so  hand- 
ien konnte  und  mußte,  daß  nur  dieser  eine  Ausweg 
der  Würde  seines  Lebens  geziemte  und  daß  jede  andre 
Handlungsart  sein  era  ganzen  Leben  widersprochen  [haben] 
würde. — 

Obgleich  hierdurch  nun  Kato  nicht  allein  entschuldigt, 
sondern  auch  gerechtfertigt  wird,  so  hat  man  doch  noch 
einen  andern,  keineswegs  leicht  zu  beseitigenden  Ein- 
wurf gemacht;  er  heißt  nämlich:  "Eine  Handlung  läßt 
sich  nicht  dadurch  rechtfertigen,  daß  sie  dem  besondern 
Charakter  eines  Menschen  gemäß  gewesen  ist.  Wenn  der 
Charakter  selbst  fehlerhaft  war,  so  ist  es  die  Hand- 
lung auch.  Dieß  ist  bei  Kato  der  Fall.  Er  hatte  nämlich 
nur  eine  sehr  einseitige  Entwicklung  der  Natur.  Die  Ur- 
sache, warum  mit  seinem  Charakter  die  Handlung  des 
Selbstmords  übereinstimmte,  lag  nicht  in  seiner  Voll- 
kommenheit, sondern  in  seinen  Fehlern.  Es  war  nicht 
seine  Stärke  und  sein  Mut,  sondern  sein  Unvermögen, 
sich  in  einer  ungewohnten  Lebensweise  schicklich  zu 
bewegen,  welches  ihm  das  Schwert  in  die  Hand  gab." — 
So  wahr  auch  diese  Behauptung  klingt,  so  hört  [sie]  bei 
näherer  Betrachtung  doch  ganz  auf,  einen  Flecken  auf 
Katos  Handlung  zu  werfen.  Diesem  Einwurf  gemäß  wird 
gefordert,   daß  Kato  sich   nicht  allein  in  die  Rolle  des 


6o4  MISZELLEN 

Republikaners,  sondern  auch  in  die  des  Dieners  hätte 
fügen  sollen.  Daß  er  dieß  nicht  konnte  und  wollte, 
schreibt  man  derUnvollkommenheit  seines  Charakters  zu. 
Daß  aber  dieses  Schicken  in  alle  Umstände  eine  Voll- 
kommenheit sei,  kann  ich  nicht  einsehen,  denn  ich  glaube, 
daß  das  große  Erbteil  des  Mannes  sei,  nur  eine  Rolle 
spielen,  nur  in  einer  Gestalt  sich  zeigen,  nur  in  das,  was 
er  als  wahr  und  recht  erkannt  hat,  sich  fügen  zu  können. 
Ich  behaupte  also  im  Gegenteil,  daß  grade  dieses  Unver- 
mögen, sich  in  eine  seinen  heiligsten  Rechten,  seinen 
heiligsten  Grundsätzen  widersprechende  Lage  zu  finden, 
von  der  Größe,  nicht  von  der  Einseitigkeit  und  Un- 
vollkommenheit  des  Kato  zeugt. 
Wie  groß  aber  seine  Beharrlichkeit  bei  dem  war,  was  er 
als  wahr  und  recht  erkannt  hatte,  kann  uns  sein  Tod 
selbst  lehren.  Wenig  Menschen  werden  je  gefunden 
worden  sein,  die  den  Entschluß  zu  sterben  mit  so  viel 
Ruhe  haben  fassen,  mit  so  viel  Beharrlichkeit  haben  aus- 
führen können.  Sagt  auch  ZT*?/-^^/' verächtlich:  ^^ jener  Rö- 
mer, der  im  Zorne  sich  die  Wtmdcn  aufrißV\  so  ist  doch 
dieß  ewig  und  sicher  wahr,  daß  grade  der  Umstand,  daß 
Kato  leben  blieb  und  doch  nicht  zurückzog,  daß  grade 
der  Umstand  die  Tat  nur  noch  großartiger  macht. 
So  handelte,  so  lebte,  so  starb  Kato.  Er  selbst  der  Re- 
präsentant römischer  Größe,  der  Letzte  eines  unterge- 
sunknen  Heldenstamms,  der  Größte  seiner  Zeit!  Sein  Tod 
der  Schlußstein  für  den  ersten  Gedanken  seines  Lebens, 
seine  Tat  ein  Denkmal  im  Herzen  aller  Edlen,  das  über 
Tod  und  Verwesung  triumphiert,  das  unbewegt  steht  im 
flutenden  Strome  der  Ewigkeit!  Rom,  die  Riesin,  stürzte, 
Jahrhunderte  gingen  an  seinem  Grabe  vorüber,  die  Welt- 
geschichte schüttelte  über  ihm  ihre  Lose,  und  noch  steht 
Katos  Namen  neben  der  Tugend  und  wird  neben  ihr 
stehn,  solange  das  große  Urgefühl  für  Vaterland  und 
Freiheit  in  der  Brust  des  Menschen  glüht! — 


)  6o5  < 

MÜNDLICHE  ÄUSSERUNGEN 


IM  Sommer  1831  begegnete  ich  Georg  Büchner  einmal 
in  der  Dämmerung  am  Jägertor.  Ej:  sah  sehr  ermüdet  aus, 
aber  seine  Augen  glänzten.  Auf  meine  Frage,  wo  er  ge- 
wesen, flüsterte  er  mir  ins  Ohr:  "Ich  wilPs  dir  verraten: 
den  ganzen  Tag  am  Herzen  der  Geliebten!"— "Unmög- 
lich!" rief  ich.— "Doch,"  lachte  er,  "vom  Morgen  bis  zum 
Abend  in  Einsiedel  und  dann  in  der  Fasanerie!" 

Erinnerung  eines  Jugendfreundes  (nach  Franzos  S.  XXXV). 

Wie  fühle  ich  mich  glücklich!  Ich  darf  werden,  wozu  ich 
einzig  tauge.  Ich  bin  nie,  auch  nur  eine  Sekunde  lang  im 
Zweifel  über  meinen  Beruf  gewesen. 
Ztc  demselben  Freiende,  der  Theologe  werden  sollte  (a.  a.  0.  S.  XXXVI). 

Ich  habe  Anlagen  zur  Schwermut.       Nachgel.  Schriften  S.  4. 

Einmal  apostrophierte  er  mich  lakonisch:  "Link,  wieviel 
Götter  glaubst  du?" — Antwort:  "Nur  einen." — "Wieviel 
Staaten  müßten  wir  da  in  Deutschland  haben  und  wieviel 
Fürsten?" — Pause  des  Schweigens  von  beiden  Seiten. 

L.  JV.  Link  an  Franzos,  ii.  Sept.  18^8. 

Die  Versuche,  welche  man  bis  jetzt  gemacht  hat,  um  die 
Verhältnisse  Deutschlands  umzustoßen,  berulien  auf  einer 
durchaus  knabenhaften  Berechnung,  indem  man,  wenn  es 
wirklich  zu  einem  Kampf,  auf  den  man  sich  doch  gefaßt 
machen  müßte,  gekommen  wäre,  den  deutschen  Regie- 
rungen und  ihren  zahlreichen  Armeen  nichts  hätte  ent- 
gegenstellen können  als  eine  Handvoll  undisziplinierte 
Liberale.  Soll  jemals  die  Revolution  auf  eine  durch- 
greifende Art  ausgeführt  werden,  so  kann  und  darf  das 
bloß  durch  die  große  Masse  des  Volkes  geschehen,  durch 
deren  Überzahl  und  Gewicht  die  Soldaten  gleichsam  er- 
drückt werden  müssen.  Es  handelt  sich  also  darum,  diese 
große  Masse  zu  gewinnen,  was  vorderhand  nur  durch 
Flugschriften  geschehen  kann. 
Die  früheren  Flugschriften,  welche  zu  diesem  Zweck  etwa 


6o6  MISZELLEN 

erschienen  sind,  entsprachen  demselben  nicht.  Es  war 
darin  die  Rede  vom  Wiener  Kongreß,  Preßfreiheit,  Bun- 
destagsordonnanzen u.  dgl.,  lauter  Dinge,  um  welche  sich 
die  Bauern  nicht  kümmern,  solange  sie  noch  mit  ihrer 
m.ateriellen  Not  beschäftigt  sind.  Denn  diese  Leute  haben 
aus  sehr  nahe  liegenden  Ursachen  durchaus  keinen  Sinn 
für  die  Ehre  und  Freiheit  ihrer  Nation,  keinen  Begriff 
von  den  Rechten  des  Menschen,  sie  sind  gegen  all  das 
gleichgültig,  und  in  dieser  Gleichgültigkeit  allein  beruht 
ihre  angebliche  Treue  gegen  die  Fürsten  und  ihre  Teil- 
nahmlosigkeit  an  dem  Hberalen  Treiben  der  Zeit.  Gleich- 
wohl scheinen  sie  unzufrieden  zu  sein,  und  sie  haben  Ur- 
sache dazu,  weil  man  den  dürftigen  Gewinn,  welchen  sie 
aus  ihrer  sauren  Arbeit  ziehen  und  der  ihnen  zur  Ver- 
besserung ihrer  Lage  so  notwendig  wäre,  als  Steuer  von 
ihnen  in  Anspruch  nimmt.  So  ist  es  gekommen,  daß  man 
bei  aller  parteiischen  Vorliebe  für  sie  doch  sagen  muß, 
daß  sie  eine  ziemlich  niederträchtige  Gesinnung  ange- 
nommen haben,  und  daß  sie,  es  ist  traurig  genug,  fast  an 
keiner  Seite  mehr  zugänglich  sind  als  gerade  am  Geld- 
sack. Dies  muß  man  benutzen,  wenn  man  sie  aus  ihrer 
Erniedrigung  hervorziehen  will;  man  muß  ihnen  zeigen 
und  vorrechnen,  daß  sie  einem  Staate  angehören,  dessen 
Lasten  sie  größtenteils  tragen  müssen,  während  andere 
den  Vorteil  davon  beziehen;  daß  man  von  ihrem  Grund- 
eigentum, das  ihnen  ohnedem  so  sauer  wird,  noch  den 
größten  Teil  der  Steuern  erhebt,  während  die  Kapitalisten 
leer  ausgehen;  daß  die  Gesetze,  welche  über  ihr  Leben 
und  Eigentum  verfügen,  in  den  Händen  des  Adels,  der 
Reichen  und  der  Staatsdiener  sich  befinden  usw.  Dieses 
Mittel,  die  Masse  des  Volkes  zu  gewinnen,  muß  man  be- 
nutzen, solange  es  noch  Zeit  ist.  Sollte  es  den  Fürsten 
einfallen,  den  materiellen  Zustand  des  Volkes  zu  ver- 
bessern, sollten  sie  ihren  Hofstaat,  der  ihnen  fast  ohne- 
dem unbequem  sein  muß,  sollten  sie  die  kostspieligen, 
stehenden  Heere,  die  ihnen  unter  Umständen  entbehrlich 
sein  können,  vermindern,  sollten  sie  den  künstlichen  Or- 
ganismus der  Staatsmaschine,  deren  Unterhaltung  so  große 
Summen  kostet,  auf  einfachere  Prinzipien  zurückführen, 


MÜNDLICHE  ÄUSSERUNGEN  607 

dann  ist  die  Sache  der  Revolution,  wenn  sich  der  Himmel 
nicht  erbarmt,  in  Deutschland  auf  immer  verloren.  Seht 
die  Östreicher,  sie  sind  wohlgenährt  und  zufrieden!  Fürst 
Metternich,  der  geschickteste  unter  allen,  hat  allen  re- 
volutionären Geist,  der  jemals  imter  ihnen  aufkommen 
könnte,  für  immer  in  ihrem  eigenen  Fett  erstickt. 

Nach  August  Beckers  gerichtlichen  Angaben  (Nöllner  S.  420 ff.}. 

Es  ist  keine  Kunst,  ein  ehrlicher  Mann  zu  sein,  wenn  man 
täglich  Suppe,  Gemüse  und  Fleisch  zu  essen  hat. 

Nach  demselben  (Nöllner  S.  42J). 

Der  materielle  Druck,  unter  welchem  ein  großer  Teil 
Deutschlands  liegt,  ist  ebenso  traurig  und  schimpflich  als 
der  geistige;  und  es  ist  in  meinen  Augen  bei  weitem  nicht 
so  betrübend,  daß  dieser  oder  jener  Liberale  seine  Ge- 
danken nicht  drucken  lassen  darf,  als  daß  viele  tausend 
Familien  nicht  imstande  sind,  ihre  Kartofiel  zu  schmälzen. 

Ä^ach  demselben  (Nölhier  S.  422). 

Von  den  Konstitutionellen  sagte  er  oft:  Sollte  es  diesen 
Leuten  gelingen,  die  deutschen  Regierungen  zu  stürzen 
und  eine  allgemeine  Monarchie  oder  auch  Republik  ein- 
zuführen, so  bekommen  wir  hier  einen  Geldaristokratismus 
wie  in  Frankreich,  und  lieber  soll  es  bleiben,  wie  es  jetzt  ist. 

Nach  demselben  (Nöllner  S.  42 j). 

Büchner  meinte,  in  einer  gerechten  Republik,  wie  in  den 
meisten  nordamerikanischen  Staaten,  müsse  jeder  ohne 
Rücksicht  auf  Vermögensverhältnisse  eine  Stimme  haben, 
und  behauptete,  daß  Weidig,  welcher  glaubte,  daß  dann 
eine  Pöbelherrschaft  wie  in  Frankreich  entstehen  werde, 
die  Verhältnisse  des  deutschen  Volks  und  unserer  Zeit 
verkenne.  JSfach  demselben  (Nöllner  S.  42^). 

Ich  schreibe  im  Fieber,  aber  das  schadet  dem  Werke  nicht 
—im  Gegenteil!  Übrigens  habe  ich  keine  Wahl,  ich  kann 
mir  keine  Ruhe  gönnen,  bis  ich  nicht  den  Danton  unter 
der  Guillotine  habe,  und  obendrein  brauche  ich  Geld,  Geld! 

Zum  Bruder  Wilhelm  (nach  Franzos  S.  CL  Vlll). 


6o8  MISZELLEN 

Mit  gräßlich  entstellten  Zügen  trat  er  in  das  Stübchen 
Wilhelms,  der  eben  seinen  Koffer  packte,  weil  er  am 
Nachmittage  nach  Butzbach  abreisen  sollte,  um  als  Prak- 
tikant in  die  dortige  Apotheke  einzutreten.  ''Sieh  her," 
sagte  er,  "das  ist  mein  Todesurteil!"    Nach'Franzos  S.  CLX. 

So  schieden  beide  am  Nachmittag  des  27.  Februar  in 
düsterster  Stimmung.  "Wir  sehen  uns  nie  wieder,"  sagte 
Georg,  und  die  traurige  Ahnung  hat  sich  erfüllt. 

Nach  Franz  OS  S.  CLXL 

Seine  Mutter  und  Schwester,  die  ihn  Sommer  1836  in 
seinem  Exil  besuchten,  fanden  ihn  zwar  gesund,  aber  doch 
in  einer  großen  nervösen  Aufgeregtheit  und  ermattet  von 
den  anhaltenden  geistigen  Anstrengungen.  Er  äußerte 
damals  oft:  "Ich  werde  nicht  alt  werden." 

Nachgelassene  Schriften  S.  ^j. 

Auch  hatte  er  niemals  die  Absicht,  seine  materielle  Exi- 
stenz durch  literarische  Tätigkeit  zu  begründen.  "Ruhm 
will  ich  davon  haben,  nicht  Brot",  pflegte  er  später  zu  sagen. 

Nach  Franzos  S.  CLX//. 


ANHANG 


BÜCHNER  39. 


)  6ii   ( 

BRIEFE  AN  BÜCHNER 


VOM  ONKEL  REUSS  NACH  GIESSEN 

Darmstadt,  den  24.  März  1834. 
Lieber  Georg!  Ich  war  wirklich  nicht  wenig  erstaunt  heute 
morgen,  einen  Brief  von  Dir  zu  erhalten,  worin  Du  noch 
um  Geld  bittest.  Im  größten  Regen  ging  ich  sogleich  in 
die  Heyrische  Buchhandlung  und  ließ  mir  eine  Anweisung 
von  17  fl.  30  kr.  an  die  dortige  Buchhandlung  geben; 
diese  nebst  einem  Briefe  folgt  anbei,  wogegen  Du  sogleich 
das  Geld  in  Empfang  nehmen  kannst.  Wenn  Du  Dich  nun 
beeilst,  so  mußt  Du  bis  den  Mittwoch  abend  mit  dem 
Gieser  Briefkurier  hier  eintreffen;  dies  verlang  ich  vor 
allem  von  Dir:  denn  der  Zustand,  worin  sich  Dein  Vater^ 
insbesondere  Deine  leidende  Mutter  befindet  über  Dein 
Ausbleiben,  ist  der  Raum  zu  kurz,  es  hier  zu  beschreiben; 
ich  weiß  nicht,  wie  Du  Dich  hierüber  genügend  verant- 
worten willst.  Dein  Vater  ist  so  aufgeregt  sowie  auch 
Deine  Mutter,  daß  ich  ihnen  von  Deinem  Verlangen  nach 
Geld  ohnmöglich  etwas  sagen  konnte;  sinne  nun  auf  Dei- 
ner Reise  darnach,  wie  wir  es  dem  Vater  beibringen  wol- 
len und  wie  Du  Dein  Ausbleiben  entschuldigen  kannst. 
Wärest  Du  wie  andere  Menschen,  das  heißt  gäbst  Du  Dir 
Mühe,  etwas  Lebensklugheit  Dir  anzueignen,  so  hättest 
Du  in  Deinem  ersten  Brief  an  mich  nur  geschrieben,  ich 
habe  den  Vater  um  2  2  fl.  gebeten,  ich  brauche  aber  außer- 
dem noch  20  fl.,  so  wärest  Du  nun  schon  hier;  es  ist  recht 
schlimm,  wenn  man  mit  viel  Kenntnissen  als  ein  Schussel 
auf  der  Welt  herumgehet.  Mündlich  ein  mehreres.  Dein 
Onkel  George  Reuß. 

VON  GUTZKOW  NACH  DARMSTADT 

Frankfurt,  den  25.  Februar  1835. 
Verehrtester  Herr!  In  aller  Eile  einige  Worte!  Ihr  Drama 
gefällt  mir  sehr,  und  ich  werde  es  Sauer [länder]  emp- 
fehlen: nur  sind  theatralische  Sachen  für  Verleger  keine 
lockende  Artikel.  Deshalb  müßten  Sie  bescheidene  Hono- 
rarforderungen machen. 


6i2  ANHANG 

Wenn  diese  vorläufige  Anzeige  dazu  dienen  könnte,  Ihren 
Mut  wieder  etwas  aufzurichten,  so  würde  es  mich  freuen. 
In  einigen  Tagen  mehr!   Ihr  ergebenster        K.  Gutzkow. 

VON  GUTZKOW  NACH  DARMSTADT 

Frankfurt,  den  28.  Februar  1835. 
Verehrtester;  Sie  hätten  mir  schreiben  sollen,  was  Ihre 
Forderung  in  betreff  Dantons  ist.  Viel  (am  wenigsten  aber 
das,  was  Ihre  Dichtung  wert  ist)  kann  Sauerländer  nicht 
geben.  Es  ist  für  ihn  ein  harter  Entschluß,  das  Manuskript 
zu  drucken;  denn  wie  günstig  die  Kritik  urteilen  mag,  so 
ist  doch  mit  dem  Absatz  dramatischer  Sachen  bei  dem 
gegenwärtigen  PubHkum  die  größte  Not.  Kaum,  daß  sich 
das  Papier  herausschlägt.  Ich  weiß  das.  Es  sind  keine 
Redensarten. 

Rechnen  Sie  das  Notdürftigste,  was  Sie  im  Augenblick 
brauchen,  zusammen,  resignieren  Sie  auf  jede  glänzende 
Erwartung  und  suchen  Sie  sich  durch  weitere  Arbeiten, 
etwa  für  den  PJmiix^  zu  dem  ich  Sie  einlade,  sich  einige 
wiederkehrende  Einkünfte  zu  verschaffen. 
Ihrer  Angabe  seh  ich  also  demnächst  entgegen.  Ihr  er- 
gebenster K.  Gutzkow. 

VON  GUTZKOW  NACH  DARMSTADT 

Frankfurt,  den  3.  März  1835. 
Verehrtester!  10  Friedrichsdor  will  Ihnen  Sauerländer 
geben  unter  der  Bedingung,  daß  er  mehres  aus  deffi  Drama 
für  den  Phönix  brauchen  darf,  und  daß  Sie  sich  bereit- 
willig finden  lassen,  die  Quecksilberblumen  Ihrer  Phan- 
tasie, und  alles,  was  zu  offenbar  in  die  Frankfurter  Bnm- 
nengasse  und  die  Berlinische  Königsmauer  ablenkt,  halb 
und  halb  zu  kastrieren.  Mir  freilich  ist  das  so  ganz  recht, 
wie  Sie  es  gegeben  haben;  aber  Sauerländer  ist  ein  Fa- 
milienvater, der  7  rechtmäßige  Kinder  im  Ehebett  gezeugt 
hat  und  dem  ich  schon  mit  meinen  Zweideutigkeiten  ein 
Alp  bin:  wieviel  mehr  Sie  mit  Ihren  ganz  grellen  und  nur 
auf  Eines  bezüglichen  Eindeutigkeiten!  Also  dies  ist  sehr 
>otwendig. 

n  schreibt  er  aber,  als  hätten  Sie  große  Eile.  Wo  wol- 


BRIEFE  AN  BÜCHNER  6 1 3 

len  Sie  hin:  brennt  es  Ihnen  wirklich  an  den  Sohlen:  Ich 
kann  alles  hören,  nur  nicht,  daß  Sie  nach  Amerika  gehen. 
Sie  müßten  sich  in  der  Nähe  halten  (Schweiz,  Frankreich), 
wo  Sie  Ihre  poetischen  Gaben  in  die  deutsche  Literatur 
hineinflechten  können;  denn  Ihr  Danton  verrät  einen  tie- 
fen Fond,  in  den  viel  hineingeht,  und  viel  heraus,  und 
das  sollten  Sie  ernstlich  bedenken.  Solche  versteckte 
Genies  wie  Sie  wären  mir  gerade  recht;  denn  ich  möchte, 
daß  meine  Prophezeiung  für  die  Zukunft  nicht  ohne  Be- 
lege bliebe,  und  Sie  haben  ganz  das  Zeug  dazu,  mitzu- 
machen. Ich  hoöe,  daß  Sie  mir  hierauf  keine  Antwort 
schuldig  bleiben. 

Wollen  Sie  Folgendes:  Ich  komme  zu  Ihnen  hinüber  nach 
Darmstadt,  bring  Ihnen  das  Geld  und  fange  mit  Ihnen 
gemeinschaftlich  an,  aus  Ihrem  Danton  den  Venerin  her- 
auszutreiben, nicht  durch  Metall,  sondern  linde,  durch 
Vegetabilien  und  etwas  sentimentale  Tisane.  Es  ist  ver- 
flucht, aber  es  geht  nicht  anders,  und  ich  vergebe  Ihnen 
nicht,  daß  Sie  mich  bei  dieser  Dolmetscherei  und  Ver- 
mittlerschaft zwingen,  die  Partie  der  Prüderie  zu  führen. 
Können  Sie  sich  aber  noch  halten  in  Darmstadt,  so  be- 
kommen Sie  das  Geld  und  Manuskript  durch  Heger,  wor- 
auf Sie  aber  letzteres  unfehlbar  einen  Tag  später  wieder 
abliefern  müssen.  Ihr  Gutzkow. 

VON  GUTZKOW  NACH  DARMSTADT 

Frankfurt,  den  5.  März  1835. 
Liebster!  Sauerländer  widerrät  mir,  nach  Darmstadt  zu 
gehen,  weil  ihm  freilich  daran  gelegen  sein  muß,  daß  ich 
mich  so  kauscher  als  möglich  erhalte.  Doch  möcht  ich  Sie 
gern  sprechen;  und  ich  erwarte  deshalb  bestimmt  von 
Ihnen  (Sie  können  direkt  an  mich  adressieren:  Wolfseck) 
genauere  Angabe  Ihrer  Lage,  ob  Sie  nicht  ausgehen  dür- 
fen und  es  dann  nicht  möglich  wäre,  daß  wir  uns  in  ir- 
gendeinem Gasthofe  ein  Rendezvous  gäben.  Um  10  Uhr 
morgens  geht  hier  ein  Postwagen  ab:  da  war  ich  zu  Mittag 
drüben,  spräche  einige  Stunden  mit  Ihnen  und  wäre  abends 
wieder  in  meiner  Behausung.  Was  dabei  so  Gefährliches 
ist,  seh  ich  nicht:  es  sei  denn,  daß  Sie  als  Pech  in  Darm- 


6i4  ANHANG 

Stadt  herumwandeln  und  jeden  wieder  ins  Pech  brächten, 
der  einige  Worte  mit  Ihnen  spricht.  Oder  gehen  Sie  gar 
nicht  aus;  dann  such  ich  Sie  in  Ihrem  Versteck.  Vor  allen 
Dingen  vertilgen  Sie  meine  Briefe! 

Daß  Sie  nach  Frankreich  gehen^  ist  gut.  So  bleiben  Sie 
doch  in  der  Nähe  und  können  für  Deutschland  etwas  tun. 
Arbeiten  Sie  ja  für  den  Phönix:  wenn  Sie  keine  Quellen 
in  Frankreich  haben,  müssen  Sie  solche  Verbindungen 
nicht  abweisen. — Wenn  Sie  mir  über  Ihre  Lage  einige 
Aufklärungen  geben,  komm  ich  sogleich:  ich  bin  so  einer 
Erholung  bedürftig,  da  ich  in  einigen  Tagen  meine  Tra- 
gödie ''Nero"  fertig  habe.  Ihr  Gutzkow. 

VON  GUTZKOW  NACH  STRASSBURG 

Lieber,  ich  habe  vor  länger  als  acht  Tagen,  beinahe  vier- 
zehn Tagen  schon  lo  fr.  an  die  Darmstädter  Adresse  ge- 
sandt und  von  Ihrem  Vater  darauf  die  Anzeige  erhalten, 
Sie  wären  nach  Friedberg,  und  das  Geld  würde  Ihnen  ein- 
gehändigt werden.  Ihr  Vater  schien  von  der  Herkunft 
dieses  Geldes  nichts  zu  wissen. 

Werden  Sie  in  Straßburg  bleiben?  Ich  halte  es  für  ratsam, 
da  Sie  wohl  keine  Aufhebung  durch  Dragoner  zu  fürchten 
haben.  Sie  sollten  meine  Ermunterung,  in  der  Teilnahme 
an  deutscher  Literatur  fortzufahren,  nicht  in  den  fran- 
zösischen Wind  schlagen.  Was  Sie  leisten  können,  zeigt 
Ihr  Danton,  den  ich  heute  zu  säubern  angefangen  habe, 
und  der  des  Vortrefflichsten  so  viel  enthält.  Glauben  Sie 
denn,  daß  sich  irgend  etwas  Positives  für  Deutschlands 
Politik  tun  läßt?  Ich  glaube,  Sie  taugen  zu  mehr  als  zu 
einer  Erbse,  welche  die  offne  Wunde  der  deutschen  Re- 
volution in  der  Eiterung  hält.  Treiben  Sie  wie  ich  den 
Schmuggelhandel  der  Freiheit:  V/ein  verhüllt  in  Novellen- 
Stroh,  nicht  in  seinem  natürlichen  Gewände:  ich  glaube, 
man  nützt  so  mehr,  als  wenn  man  blind  in  Gewehre  läuft, 
die  keineswegs  blindgeladen  sind.  War  es  nicht,  so  hätt 
ich  mich  in  der  Rechnung  meines  Lebens  betrogen  und 
müßte  dann  selbst  meinen  Untergang  beschleunigen. 
Noch  drückt  Sie  Mangel.  Hoffentlich  haben  Sie  jetzt  das, 
was  Sie  zehnmal  verdient  haben.  Das  beste  Mittel  der 


BRIEFE  AN  BÜCHNER  6 1 5 

Existenz  bleibt  die  Autorschaft,  d.  h.  nicht  die  geächtete, 
sondern  die  noch  etwas  geachtete,  wenigstens  honorierte 
bei  den  PhiHstern,  welche  das  Geld  haben.  Spekulieren 
Sie  auf  Ideen,  Poesie,  was  Ihnen  der  Genius  bringt.  Ich 
will  Kanal  sein,  oder  Trödler,  der  Ihnen  klingend  ant- 
wortet. Bessern  Rat  weiß  ich  nicht,  und  ich  möchte  Ihnen 
doch  welchen  geben,  und  recht  altklug  Ihnen  zurufen: 
Gehen  Sie  in  sich,  werden  Sie  praktisch,  und  regeln  Sie 
Ihr  Leben.  Aber  ich  tu  es  zagend,  denn  unsre  Zeit  hat 
eine  besondre  Art  Scham  erfunden,  nämlich  die,  nicht 
unglücklich  zu  sein. 
Vergessen  Sie  nicht,  von  sich  hören  zu  lassen.       Ihr  G. 

VON  GUTZKOW  NACH  STRASSBURG 

Frankfurt,  den  7.  April  1835. 
Mein  nach  Darmstadt  geschickter  Brief  enthält  nichts 
Wesentliches.  Ich  freue  mich,  daß  Sie  sich  zu  arrondieren 
anfangen  und  sich  wohl  fühlen.  Vo?n  Danton  hat  der  Phö- 
nix sein  Teil  schon  abgedruckt  und  damit  viel  Ehre  ein- 
gelegt. Was  ich  Ihnen  über  Ihre  Fähigkeit  schon  sagte, 
muß  ich  wiederholen.  Es  ist  mir,  als  hätten  Sie  eine  lite- 
rarische Prädestination.  Ich  warte  nur  den  Druck  imd  die 
Ausgabe  Ihres  Buches  ab,  um  Sie  beim  Publikum  einzu- 
führen. Aber  warten  Sie  das  nicht  ab  (denn  Sauerländers 
Pressen  schwitzen  Tag  und  Nacht,  und  für  Danton  könnte 
sich  der  Termin  auch  etwas  hinausschieben).  Reißen  Sie 
selbst  die  Flügeltüren  auf  und  stürzen  Sie  aufs  Parkett. 
Man  wird  erst  spröde  sein,  dann  horchen  und  zuletzt  sich 
hingeben.  Das  Selbstgefühl  wird  schon  kommen.  Meine 
Muse  bäumte  sich  auch  erst  wie  ein  scheues  Pferd  vor 
der  Autorschaft;  ich  hatte  sogar  schon  ein  Buch  geschrie- 
ben, als  ich  noch  immer  daran  zweifelte,  ob  ich's  könnte; 
als  ich  aber  Hunger  bekam  und  mir  in  meiner  Heimat,  in 
Preußen,  der  Brotkorb  hochgehangen  wurde,  da  schrieb 
ich  aus  Desperation  und  freue  mich  nun,  daß  das  Ding 
flott  geht. 

Die  (7bersetzung  lassen  Sie  unterwegs,  an  Originale  machen 
Sie  sich.  Sie  haben  selbst  viel  Ähnlichkeit  mit  Ihrem 
Danton:  genial  und  träge.    Mich  feuerte  vor  vier  Jahren 


6i6  ANHANG 

ein  Brief  Menzels  zur  Schriftstell erei  an;  wenn  ich  auch 
nicht  so  viel  auf  Sie  vermag,  wie  der  auf  mich,  so  ist  doch 
meine  Aufforderung  gewiß  aus  reiner  Freude  über  Sie 
entstanden.  Ich  wiege  mich  in  dem  Gedanken,  Sie  ent- 
deckt zu  haben  und  Sie  recht  als  ein  schlagendes  Beispiel, 
als  AriQidaschild  der  Menge,  mit  der  ich  mich  zu  balgen 
habe,  gegenüberstellen  zu  können.  Soll  ich  noch  mehr 
loben?  Nein,  Sie  sollen  sich  Ihren  eignen  Weg  machen. 
Ich  weiß  nicht,  ob  Sie  den  Phönix  gelesen  haben,  d.  h. 
mein  Literaturblatt,  und  noch  lesen.  Bei  Levrault,  der 
ihn  für  die  Revue germa?tique  bezieht,  können  Sie  ihn  ein- 
sehen. Mir  wär's  willkommen,  wenn  Sie  einige  Aufmerk- 
samkeit auf  das,  was  an  mir  ist  und  was  ich  will,  ver- 
wendeten. Sind  Sie  überhaupt  wegen  unsrer  laufenden 
literarischen  Verhältnisse  au  fait:  Sie  brauchen  es  nicht 
zu  sein:  Sie  scheinen  ganz  positiver  Natur.  Schreiben  Sie 
mir,  was  Sie  arbeiten  wollen.  Ich  bringe  alles  unter;  aber 
bald;  denn  in  vierzehn  Tagen  reis  ich  auf  kurze  Zeit  nach 
Berlin;  daß  ich  Sie  sehe,  könnte  sich  im  Juni  ereignen. 
Ich  freue  mich  sehr  darauf:  ich  stelle  mir  in  Ihnen  einen 
nicht  über  5  Fuß  hohen  Kerl  oder  Menschen  oder  Mann, 
wie  Sie  wollen,  vor,  und  zwar  fröhlicher  Laune;  doch 
haben  Sie  dunkles  Haar  .  .  .  Ihr  G. 

Apropos!  Wollen  Sie  mir  Kritiken  über  neuste  franz,  Lite- 
ratur schicken  für  mein  Blatt,  so  sind  mir  die  willkommen; 
aber  schneller  Entschluß!  Eine  Zusage,  um  mir  Freude 
zu  machen! 

VON  GUTZKOW  NACH  STRASSBURG 

Mannheim,  den  12.  Mai  1835. 
Mein  Lieber!  Statt  daß  Sie  mich  um  tausend  Parasangen 
weiter  von  sich  denken,  bin  ich  Ihnen  um  hundert  näher 
gerückt.  Meine  Paßverhältnisse  sind  etwas  in  Unordnung, 
sonst  kam  ich  schon  zu  Ihnen.  Ich  spare  das  auf.  Die 
Berliner  Reise  ist  mit  Gefahren  verknüpft.  Durch  eine 
Vorrede  zu  Schleiermachers  Briefen  über  Schlegels  ''Lu- 
zinde"  hab  ich  die  Geistlichkeit  und  den  Hof  gegen  mich 
empört:  ich  fürchte  ein  Autodafe  und  halte  mich  am  Rhein- 
geländer, das  bald  übersprungen  ist.  Adressieren  Sie  recht 


BRIEFE  AN  BÜCHNER  617 

bald  eine  Nachricht  hieher:  an  mich,  wohnhaft  bei  Herrn 
Reitz.  Ihre  Äußerungen  iiber  neure  Literatur  vermag  ich 
nicht  aufzunehmen,  weil  mir  jetzt  die  Muße  fehlt.  Nur 
glauben  Sie  nicht,  daß  ich  z.  B.  durch  meine  Besorgung 
einer  Übersetzung  Victor  Hugos  eine  große  Verehrung  vor 
der  romantischen  Konfusion  in  Paris  an  den  Tag  legen 
will:  dies  ist  nur  eine  Gefälligkeit  für  einen  Buchhändler, 
der  auf  mein  Anraten  auch  Sie  ins  Interesse  gezogen  hat. 
Danton  wird  nun  gedruckt. 

Ihre  Novelle  Lenz  soll  jedenfalls,  weil  Straßburg  dazu  an- 
regt, den  gestrandeten  Poeten  zum  Vorwurf  haben?  Ich 
freue  mich,  wenn  Sie  schaffen.  Einen  Verleger  geb  ich 
Ihnen  sogleich  .  .  . 

Vergelten  Sie  mir  diese  Abbreviatur  von  einem  Briefe 
nicht,  sondern  seien  Sie  mitteilsam  und  vollständig! 

Ihr  Gutzkow. 

VON  GUTZKOW  NACH  STRASSBURG 

Wiesbaden,  den  23.  Juli  1835. 
Mein  lieber  Freund;  ich  habe  länger  geschwiegen,  als  ver- 
ziehen werden  kann.  Heidelberg  und  Mannheim  nahmen 
mich  sehr  in  Anspruch,  dann  eine  Rheinreise,  Frankfurt 
mit  all  seinen  Verbindungen,  die  wieder  aufgefrischt  wer- 
den mußten,  nun  gar  Wiesbaden,  wohin  ich  gegangen  bin 
um  zu  schwitzen— das  alles  hat  mich  in  ewige  Unruhe 
gebracht.  Zuletzt  noch  hab  ich  in  der  Hast  von  drei 
Wochen  (schnelle  Arbeiten  sind  die  besten)  einen  Roman 
geschrieben:  "Wally,  die  Zweiflerin".  Auch  jetzt  bin  ich 
nur  erst  in  der  Stimmung,  ein  Billett  statt  eines  Briefes 
zu  schreiben,  und  Ihnen  in  der  Eile  zu  sagen,  daß  ich 
viel  und  herzlich  an  Sie  denke.  Sie  haben  mehr  Zeit  als 
ich.  Regen  Sie  mich  durch  einen  langen  Brief  zu  einem 
längern  auf! 

Sauerländer  trödelte  lange  mit  dem  Druck  Ihres  Danton. 
Für  den  Schreckenstitel  kann  ich  nicht:  das  ist  eine  der 
buchhändlerischen  Dreistigkeiten,  die  man  sich  bei  seinem 
zweiten  Buche  nicht  mehr  gefallen  läßt.  Sie  werden  jetzt 
Exemplare  haben,  und  meine  von  der  Zensur  verstümmelte 
Anzeige.  Ich  trug  Sauerländer  auf,  Ihnen  den  Korrektur- 


6i8  ANHANG 

abzug  zu  schicken;  denn  ich  habe  ein  böses  Gewissen. 
Ich  fürchte,  daß  ich  mich  nicht  erschöpfend  genug  über 
Sie  ausgedrückt  habe,  wenigstens  viel  zu  allgemein;  und 
da  ist  mir  jeder  verlorne  Buchstabe  wichtig,  wenn  Sie  ihn 
nicht  sehen  sollten.— Geben  Sie  bald  ein  zweites  Buch: 
Ihren  Lenz  (für  den  ich  schon  einen  bessern  Verleger 
habe),  dann  will  ich  das  Versäumte  einholen. 
Schreiben  Sie  nach  Frankfurt:  der  Brief  trifft  mich  sicher. 
Mit  bestem  Gruß  Ihr  Gutzkow. 

VON  GUTZKOW  NACH  STRASSBURG 

Stuttgart,  den  28.  August  1835. 
Jetzt  werd  ich  klagen,  mein  lieber  Freund,  daß  Sie  sich 
in  ein  nebelhaftes  Schweigen  hüllen.  Wie  leben  Sie?  Ich 
bin  in  Ihrer  Nähe;  aber  leider  werd  ich  die  Muße  nicht 
haben,  Straßburg  besuchen  zu  können.  Zwar  bin  ich  jetzt 
ungebundener  als  je,  weil  ich  mein  Literaturblatt  dem 
'Thönix"  preisgegeben  habe:  aber  es  drücken  mich  doch 
mancherlei  Geschäfte,  weil  ich  gesonnen  bin,  noch  vor 
dem  neuen  Jahre  selbst  ein  Journal  mit  meinem  Freunde 
Z.  Wienbarg  zu  edieren.  Der  Titel  wird  sein:  Deutsche 
Revue\  die  Form:  wöchentlich  ein  Heft.  Ich  gestehe  auf- 
richtig, daß  ich  mich  bei  diesem  Unternehmen  ernstlich 
auf  Sie  verlassen  möchte.  Schreiben  Sie  mir,  sobald  Sie 
können,  nach  Frankfurt  im  Wolfseck,  ob  ich  monatlich 
wenigstens  einen  Artikel  (spekulativ,  poetisch,  kritisch, 
guidquid  fert  anitnus)  von  Ihnen  erwarten  darf?  Mit  den 
buchhändlerischen  Bedingungen  werden  Sie  zufrieden 
sein  .  .  . 

Über  Ihren  Danto?i  hör  ich  sonst  noch  nichts.  Wienbarg 
hat  ihn  mit  Vergnügen  gelesen.  Von  Grabbe  sind  zwei 
Dramen  erschienen.  Wenn  man  diese  aufgesteifte,  forcierte, 
knöcherne  Manier  betrachtet,  so  muß  man  Ihrer  frischen, 
sprudelnden  Naturkraft  das  günstigste  Horoskop  stellen. 
Haben  Sie  Freunde  in  der  Schweiz?  nämlich  Freunde, 
die  Sie  dafür  halten?  Man  hat  mir  von  dort  anonyme  Ein- 
sendungen gemacht,  um  Ihr  Talent  zu  verdächtigen  und 
namentlich  mich  von  der  Hingebung,  die  ich  öffentlich 
gegen  Sie  gezeigt  habe,  zurückzubringen.  Mehr  mag  ich 


BRIEFE  AN  BÜCHNER  6 1 9 

nicht  sagen.  Es  scheinen  Knaben  zu  sein,  die  mit  Ihnen 
auf  der  Schulbank  saßen,  und  sich  ärgerten,  wenn  Sie 

[treffende]  Antworten  gaben. 

Schreiben  Sie  nach  Frankfurt.  Ihr  Gutzkow. 

VON  GUTZKOW  NACH  STRASSBURG 

Poststempeh  Frankfurt,  28.  Sept.  35. 
Mein  lieber  Freund,  Sie  erbauen  weder  mich  noch  meinen 
Plan  durch  Ihren  jüngsten,  doch  so  willkommnen  Brief. 
Ich  hatte  sicher  auf  Sie  gerechnet,  ich  spekulierte  auf  lau- 
ter Jungfernerzeugnisse,  Gedankenblitze  aus  erster  Hand, 
Lenziana^  subjektiv  und  objektiv:  Sie  können  auch  Ihre 
abschlägige  Antwort  nicht  so  rund  gemeint  haben  und 
werden  schon  darauf  eingehen,  folgenden  Kalkül  mit  sich 
anzustellen:  Du  hast  ein  Buch  mit  deinem  Namen  ge- 
schrieben. Ein  Enthusiast  hat  es  unbedingt  gelobt.  Ja, 
du  hast  dich  sogar  herabgelassen,  zwei  wahrscheinlich  sehr 
elende  Dramen  von  Victor  Hugo  zu  übersetzen;  du  stehst 
nun  mitten  drinnen  und  mußt  dich  entweder  behaupten 
oder  avancieren.  Die  Deutsche  Revue  wird  großartig  ver- 
breitet, sie  zahlt  für  den  8°bogen  2  Friedrichsdor.  Sie 
hat  einige  glänzende  Aushängeschilde  von  Namen,  welche 
sogar  das  alte  und  besorgliche  Publikum  ...  In  der  Tat, 
lieber  Büchner,  häuten  Sie  sich  zum  zweiten  Male:  geben 
Sie  uns,  wenn  weiter  nichts  im  Anfang,  Eri?inerunge?i  an 
Lenz:  da  scheinen  Sie  Tatsachen  zu  haben,  die  leicht  auf- 
gezeichnet sind.  Ihr  Name  ist  einmal  heraus,  jetzt  fangen 
Sie  an,  geniale  Beweise  für  denselben  zu  führen. 
Das  Brockhaussche  Repertorium  kanzelt  Sie  mit  zwei  Wor- 
ten ab.  Die  Abendzeitung,  wie  ich  aus  einem  Briefe  von 
Th.  Hell  an  einen  Dritten  sehe,  wird  desgleichen  tun. 
Basenhaft  genug  schreibt  dieser  .  .  .  genannt  Winckler: 
Wer  ist  dieser  Büchner,-  Antworten  Sie  ihm  darauf! 
W.  Schulz  hat  an  mich  geschrieben.  Er  scheint  recht  ge- 
drückt zu  sein;  was  ich  für  ihn  ausrichten  kann,  will  ich 
sehen.  Er  solle  sich  noch  einige  Tage  gedulden. 
Von  Menzels  elendem  Angriffe  auf  meine  Person  werden 
Sie  gehört  haben.  Ich  mußte  ihn  für  seine  Schamlosigkeit 
fordern;  er  schlug  diesen  Weg  aus  und  zwingt  mich  nun, 


620  ANHANG 

ihm  öfifentlich  zu  dienen.  Menzeln  war  es  eine  Freude 
gewesen,  wenn  ich  bei  ihm  noch  immer  die  zweite  Vio- 
line gespielt  hätte  und  einmal  Exekutor  seines  Testaments 
geworden  wäre.  Prinzipien  hat  er  für  keine  größere  Fehde 
mehr,  seine  letzten  Patronen  hat  er  gegen  Göthe  ver- 
schossen: nun  muß  die  Religion,  die  Moral  und  mein 
Leben  herhalten,  um  mich  zu  stürzen.  In  einigen  Tagen 
erscheinen  von  mir  und  Wienbarg  Broschüren.  Ich  kann 
nichts  Besseres  tun,  als  aus  seiner  Infamie  eine  literarische 
Streitfrage  machen.  Zeit  ist's,  endHch  einmal  die  Men- 
zelsche  Stellung  zu  revidieren  und  die  kritischen  Annalen 
zu  kontrollieren,  welche  er  seit  beinahe  zehn  Jahren  ge- 
schrieben hat. 

Am  I.  Dezember  erscheint  das  erste  Heft  der  Revue. 
Benimmt  sich  Menzel  nicht,  als  woll  er  sagen:  "O  Herr 
Zebaoth,  siehe,  sie  wollen  herausgeben  ein  Blatt,  das  da 
heißet:  Deutsche  Revue  und  soll  erscheinen  wöchentlich 
einmal!  spricht  der  Herr:  Sela."  Ihr  Gutzkow. 

VON  GUTZKOW  NACH  STRASSBURG 

Mannheim,  den  4.  Dezember  1835. 
Mein  Lieber!  Ich  sitz  im  Gefängnis — wie  imd  wodurch 
das  kam,  ein  andermal — wenn  ich  [mich]  in  mein  Schick- 
sal zu  finden  weiß.  Zunächst  dies,  daß  ich  des  Angriffs 
auf  die  Religion  beschuldigt  bin. 

Erst  wollt  ich  fliehen  und  schrieb  an  Mr.  Boulet  in  Paris, 
für  mich  zu  sorgen.  Wahrscheinlich  ist  unter  Ihrer  Adresse 
von  da  ein  Brief  an  mich  gekommen.  Schicken  Sie  ihn 
mir  hieher  mit  besonderm  Kuvert  an  den  Dr.  Löwenthal. 
Wie  glücklich  sind  Sie  in  der  Freiheit!  Ich  sehe  voraus, 
daß  ich  lange  werde  geplagt  werden.  Menzel  hat  mich 
so  weit  gebracht.  Ich  bin  zusammenhängender  Ideen  nicht 
fähig.  Ein  andermal  mehr,  wenn  es  sich  aus  den  Eisen- 
stäben schmuggeln  läßt.  Ihr  G. 

VON  GUTZKOW  NACH  STRASSBURG 

Mannheim,  den  6.  Februar  1836. 
Mein  lieber  Freund!  In  kurzer  Zeit  drei  Briefe  von  Ihnen-. 
zwei,  die  ziemlich  gleich  lauteten,  und  einen,  der  den 


BRIEFE  AN  BÜCHNER  6  2 1 

Alsabildem  beilag.  Ihre  Ratschläge  sind  entschieden;  aber 
ich  möchte  sie  noch  nicht  befolgen.  Eine  Entfernung  aus 
Deutschland  brächte  mich  um  die  Voraussetzung  eines 
guten  Gewissens,  auf  das  ich  mich  dreist  berufe.  Wenn 
auch  von  Menzel  als  strikter  Republikaner  denunziert,  so 
tritt  doch  die  politische  Seite  meiner  Anschuldigungen 
ziemlich  in  den  Hintergrund,  und  sogar  in  Preußen  scheint 
man  ein  andres  und  milderes  Benehmen  einleiten  zu  wol- 
len. Meine  Taktik  muß  die  sein,  Preußen  (ich  bin  aus 
Berlin  gebürtig)  so  lange  zu  vermeiden,  bis  ich  das  ent- 
schiedene Wort  des  Ministeriums  hab,  daß  meiner  Frei- 
heit nichts  in  den  Weg  tritt.  Da  Laube  und  Miiudt  frei 
passieren,  würde  man  vielleicht  auch  Anstand  nehmen, 
gegen  mich  persönlich  einzuschreiten.  Solange  ich  kann, 
halt  ich  mich  um  Frankfurt  herum;  denn  ich  bin  daselbst 
verlobt;  aber  die  elenden  Krämer  werden  mich  unsanft 
empfangen,  und  das  "binnen  vierundzwanzig  Stunden" 
hör  ich  schon,  wie  natürlich.  Diese  Menschen  wissen  nun 
alle,  daß  mich  nichts  nach  Frankfurt  zieht  als  meine  Braut; 
und  doch  sind  sie  spitzbübisch  genug,  mir  andre  Zwecke 
unterzuschieben.  Kurz,  ich  sehe  Not  und  Plage  voraus 
und  werde  so  viel  gehänselt  werden,  daß  ich  zuletzt  doch 
im  Rebstöckel  nachfragen  könnte.  Aber  die  Freude,  Sie 
zu  sehen,  müßt  ich  dann  teuer  erkaufen,  da  mir  schwer- 
lich der  Rückweg  dann  offen  bhebe. 
Die  gegen  mich  bereits  erhobene  Appellation  ist  zurück- 
genommen durch  die  Minister  in  Karlsruhe.  Ich  danke 
Gott,  von  dieser  Ungewißheit  befreit  zu  sein.  Am  10.  Fe- 
bruar bin  ich  nun  frei:  mit  der  Weisung,  Baden  zu  ver- 
lassen. Ich  saß  dann  2  Vg  Monate,  und  zwar,  wie  Sie  rich- 
tig annahmen,  im  Amthause  oder  Kaufhause,  wie  der 
ganze  Arkadenwürfel  heißt.  Behandlung  war  erst  massiv; 
dann  milderte  sie  sich  und  endete  zuletzt  in  entschiedene 
Höflichkeit.  Erst  wollte  man  mich  steinigen,  und  jetzt  bin 
ich  ziemlich  populär.  Die  Deutschen  sind  wenigstens  gut- 
mütig und  können  niemanden  lange  leiden  sehen. 
Können  Sie  denn  in  Straßburg  vollkommen  die  deutschen 
Affären  seit  einem  halben  Jahre  übersehen?  Eine  Kette 
von  Nichtswürdigkeiten  und  Dummheiten:  die  gänzliche 


62  2  ANHANG 

innre  Auflösung  Deutschlands  charakterisierend.  Ich  will 
mich  nicht  in  Schutz  nehmen,  ich  weiß,  daß  ich  outriert 
habe;  aber  was  erlaubte  man  sich  nicht  dagegen!  Vieles 
ist  sehr  versteckt,  und  Sie  erfahren  es  noch  einmal  münd- 
lich. 

Ich  höre  gern  von  Ihren  Beschäftigungen.  Eine  Novelle 
Lenz  war  einmal  beabsichtigt.  Schrieben  Sie  mir  nicht, 
daß  Lenz  Göthes  Stelle  bei  Friederiken  vertrat?  Was 
Göthe  von  ihm  in  Straßburg  erzählt,  die  Art,  wie  er  eine 
ihm  in  Kommission  gegebene  Geliebte  zu  schützen  suchte, 
ist  auch  schon  ein  sehr  geeigneter  Stofif. 
Sie  studieren  Medizin  und  sind,  wie  ich  höre,  an  eine 
junge  Dame  in  Straßburg  gefesselt,  von  früher  her,  wo 
Ihnen  die  Flucht  dorthin  sehr  willkommen  war.  So  sagte 
man  mir  wenigstens  in  Rödelheim. 
Wenn  Sie  mir  schreiben,  so  adressieren  Sie:  General- 
konsul Freinsheim  in  Frankfurt  a.  M.,  Wolfseck.  Freund- 
lich grüßend  Ihr  Gutzkow, 

VON  GUTZKOW  NACH  STRASSBURG 

Frankfurt,  den  lo.Juni  1836. 
Mein  lieber  Freund!  Sie  geben  mir  ein  Lebenszeichen 
und  wollen  eines  haben.  AllmähHch  kehr  ich  auch  wieder 
unter  die  Menschen  zurück  und  lerne  vor  erträglicher 
Gegenwart  die  Vergangenheit  vergessen.  Es  geht  mir  gut, 
und  es  würde  noch  besser  gehen,  wenn  mir  in  meiner 
Resignation  nicht  die  Zeit  lang  würde. 
Sie  scheinen  die  Arzneikunst  verlassen  zu  wollen^  womit  Sie, 
wie  ich  höre,  Ihrem  Vater  keine  Freude  machen.  Seien 
Sie  nicht  ungerecht  gegen  dies  Studium;  denn  diesem 
scheinen  Sie  mir  Ihre  hauptsächliche  Force  zu  verdanken, 
ich  meine,  Ihre  seltene  Unbefangenheit,  fast  möcht  ich 
sagen,  Ihre  Autopsie,  die  aus  allem  spricht,  was  Sie 
schreiben.  Wenn  Sie  mit  dieser  Ungeniertheit  unter  die 
deutschen  PhilosopJien  treten,  muß  es  einen  neuen  Effekt 
geben.  Wa7i7i  werden  Sie  nach  Zürich  abgehen? 
Die  Flüchtigen  in  der  Schweiz  spielen  nun  auch  mit  dem 
jungen  Deutschland  Komödie.  Dadurch  wird  der  Name, 
hoff  ich,  von  mir  und  meinen  Freunden  mit  der  Zeit  ab- 


BRIEFE  AN  BUCHNER  623 

gewälzt,  wie  fatal  es  mir  auch  im  Augenblick  ist,  daß  der 
wunderliche  Titel  auf  diese  neue  Weise  adoptiert  wurde. 
Mit  der  Zeit  wird  es  ein  pappener  Begriff  werden  und 
sich  abnützen,  was  immer  gut  ist  unter  Umständen,  wie 
die  heutigen,  wo  die  Massen  schwach  sind  und  das  Tüch- 
tige nur  aus  runden  und  vollkommenen  Individualitäten 
geboren  werden  kann.  So  werden  auch  Sie  gewiß  die 
Berührungen  vermeiden,  welche  sich  in  der  Schweiz  ge- 
nug darbieten,  und  meinem  Ihnen  schon  früher  oft  genug 
gegebenen  Zurufe  folgen,  daß  Sie  Ihre  ungeschwächte 
Kritik  der  Literatur  opfern. 

Von  Ihren  ^'■Ferkeld7'amerC^  erwarte  ich  mehr  als  Ferkel- 
haftes. Ihr  Da7iton  zog  nicht:  vielleicht  wissen  Sie  den 
Grund  nicht?  Weil  Sie  die  Geschichte  nicht  betrogen 
haben:  weil  einige  der  bekannten  heroice  Dicta  in  Ihre 
Komödie  liefen  und  von  den  Leuten  drin  gesprochen 
wurden,  als  käme  der  Witz  von  Ihnen.  Darüber  vergaß 
man,  daß  in  der  Tat  doch  mehr  von  Ihnen  gekommen  ist 
als  von  der  Geschichte,  und  machte  aus  dem  Ganzen  ein 
dramatisiertes  Kapitel  des  Thiers.  Schicken  Sie  mir,  was 
Sie  haben;  ich  will  sehen,  was  sich  tun  läßt  .  .  . 

Ihr  Gutzkow. 

VON  DER  MUTTER  NACH  ZÜRICH 

Darmstadt,  den  30.  Oktober  [1836]. 
Lieber  Georg!  Welche  Freude,  als  Dein  Brief  vom  2  8 .  Ok- 
tober, das  Postzeichen  Zürich  darauf,  ankam.  Ich  jubelte 
laut;  denn  obgleich  wir  uns  gegenseitig  nichts  sagten,  so 
hatten  wir  alle  große  Angst,  und  wir  glaubten  kaum,  daß 
Du  glücklich  über  die  Grenze  kommen  würdest.  Die  Sache 
hat  mir  vielen  heimlichen  Kummer  gemacht — nun  gott- 
lob, auch  dies  ging  glücklich  vorüber. — 
Wir  waren  die  Zeit  sehr  beschäftiget.  Mittwochs  legte  ich 
große  Wäsche  ein,  und  Montags  zuvor  kamen  Beckers  aus 
Frankfurt  und  blieben  bis  Donnerstag;  sie  erkundigten  sich 
sehr  nach  Dir  und  freuten  sich  recht  über  Deine  guten 
Aussichten — wir  hatten  einige  sehr  vergnügte  Tage.  Auf 
Deinen  Geburtstag  tranken  wir  alle  zusammen  Deine  Ge- 
sundheit.— 


624  ANHANG 

Wie  Dein  Brief  ankam  den  27.,  biegelte  ich  gerade  das 
letzte  Stück,  Vater  war  im  Theater;  ich  kann  Dir  gar  nicht 
sagen,  wie  sehr  er  sich  freute,  als  er  nach  Hauße  kam. 
Er  stimmt  ganz  mit  Becker  überein  und  ermahnt  Dich 
dringend,  ja  über  vergleichende  Anatomie  Vorlesungen 
zu  halten;  er  glaubt  sicher,  daß  Du  darin  am  ersten  einen 
festen  Fuß  fassen  und  Dich  am  ehrenvollsten  emporhelfen 
könntest. — 

Willhelm  war  ohngefähr  1 4  Tage  hier,  und  nun  ist  er  seit 
Mittwoch  nach  Heidelberg  mit  Schenk  abgereist.  Mit 
Giesen  war  es  für  diesen  Winter  nichts.  Ich  kann  Dir  gar 
nicht  sagen,  wie  ich  mich  über  diesen  Jungen  beunruhige; 
es  ist  noch  ein  gar  zu  großer  Kindskopf,  hat  gar  keinen 
Begrief  vom  Schaden,  hat  einen  falschen  Ehrgeiz,  und  ist 
hinter  seinem  Receptiertisch  gar  zu  schro[r]  geworden. 
Wie  wir  Briefe  von  ihm  erhalten,  werde  ich  ihm  schreiben, 
ihm  Deine  Adresse  schicken,  damit  er  auch  an  Dich 
schreiben  kann.  Antworte  ihm  nur  gleich  und  ermahne 
ihn  recht.  Mathilde  wird  Selbsten  an  Dich  schreiben. 
Sonsten  ist  alles  bei  uns  beim  alten.  Den  25.  Okt.  war 
Alexanders  Geburtstag,  er  wurde  9  Jahre  alt;  heute  wird 
er  solenn  gefeiert,  er  hat  sich  zehn  Jungens  gebeten,  der 
Chokolade  ist  bereits  gekocht— könnte  ich  Dir  doch  auch 
eine  Tasse  einschenken.  Onkel  Georg  ist  bei  seinem  Leut- 
nant auch  noch  so  ein  Stück  Stallmeister  geworden.  Der 
bekannte  Stall- Schenk,  zeither  Stallmeister  bei  Prinz  Louis, 
ist  am  Nervenfieber  gestorben,  und  nun  reitet  Onkel  die 
Pferde  vom  Prinzen;  er  hofft  auch  die  vom  Prinzen  Karl 
zu  bekommen,  und  dann  trägt  es  ihm  rund  200  fl.  ein. 
Das  Reiten  ist  seine  Liebhaberei,  er  ist  sehr  vergnügt 
darüber. — 

Wenn  Du  hörst,  daß  hier  das  Nervenfieber  grasierte,  so 
ängstige  Dich  nicht:  es  ist  nicht  so  arg,  als  es  die  Leute 
machen;  es  sind  zwar  schon  viele  Menschen  daran  ge- 
storben. Kürzlich  starben  aus  einer  Familie  drei  jungen 
Leute,  zwei  Söhne  und  eine  Tochter;  sie  wurden  an  einem 
Tage  begraben,  und  gestern  soll  auch  die  Mutter  gestorben 
sein. — Der  Vater  ist  Hoboist.  Leider  wurde  kürzlich  ein 
Mörder  hingerichtet.  Die  Kinder  sahen  ihm  auf  dem  Markt 


BRIEFE  AN  BÜCHNER  625 

den  Stab  brechen,  und  Louis  ging  mit  Vater  auf  die 
Richtstätte;  er  hatte  vor  zwei  Jahren  einen  Förster  er- 
schlagen.— 

Wie  es  hier  mit  den  Gefangenen  geht,  weiß  Gott;  es  ist 
alles  still.— 

Der  junge  Baron  von  Bechtold  ist  Leutnant  geworden  und 
wurde  nach  Butzbach  versetzt,  und  heute  hörten  wir,  daß 
Herr  Regierungs[rat]  von  Bechtold  Ministerialrat  geworden 
sei.    Dies  unsere  Neuigkeiten. — 

Ich  kann  nun  gar  nicht  erwarten,  bis  Dein  nächster  Brief 
kommt,  lasse  uns  nur  nicht  lange  warten;  gehe  nur  recht 
unter  Menschen  und  suche  Dich  zu  zerstreuen.  Doch 
hofife  ich,  daß  ich  Dich  nicht  mehr  zu  ermahnen  brauche, 
Dich  von  allem  politischen  Treiben  entfernt  zu  halten; 
Du  bist  nun  mitten  darin.  Du  wirst  Dich,  denke  ich,  nicht 
anstecken  lassen;  es  wird  mir  doch  manchmal  himmel- 
angst.—Morgen  schreiben  ich  und  Mathilde  an  Mina^  sie 
dauert  mich  gar  zu  sehr;  ich  kann  das  Früjahr  kaum  er- 
warten, dann  hoffe  ich  fest,  sie  bei  uns  zusehen.  Mathilde 
läßt  Dich  tausendmal  grüßen;  wie  sie  endlich  anfing  zu 
schreiben,  bekam  sie  Besuch;  sie  will  es  also  aufsparen, 
bis  ich  wieder  schreibe. — 

Vater  schickt  Dir  hier  ein  Rezept  für  Deine  Nase;  er  bittet 
Dich  sehr,  es  einmal  recht  ernstlich  und  anhaltend  zu  ge- 
brauchen und  ihm  über  den  Erfolg  zu  berichten.  Wie 
hast  Du  die  Straßburger  nacheinander  verlassen?  Hast 
Du  die  Tante  Rcuß  noch  gesprochen,  warst  Du  bis  Himm- 
lies? Wenn  Du  wieder  schreibst,  so  gib  mir  Nachricht. 
Deine  Kost  und  Logie  finden  wir  sehr  billig;  freilich  eine 
Kost  wie  bei  Fraulein  Jäkele  wirst  Du  nicht  leicht  wieder 
finden — nun  man  muß  sich  an  alles  gewöhnen.  Schreibe 
uns  nur  immer  recht  ausführlich;  ich  meine,  seit  Du  von 
Straßburg  weg  bist,  nun  seist  Du  erst  in  der  Fremde,  in 
Straßburg  glaubte  ich  Dich  immer  in  meiner  Nähe.  Wirst 
Du  denn  mein  Geschmier  lesen  können?  Ich  schreibe  aber 
in  einem  solchen  Tumult,  daß  ich  gar  nicht  weiß,  wo  mir 
der  Kopf  steht.  Groß?nuttcr  grüßt  Dich  vielmals;  schreibe 
ihr  bald,  weil  es  ihr  Freude  macht.  Sie  ist  immer  sehr 
niedergeschlagen,  denn  sie  sieht  fast  gar  nichts  mehr;  es 

BÜCHNER  40. 


626  ANHANG 

ist  sehr  betrübt,  und  für  uns  alle  traurige  Aussichten. 
Alles  grüßt  Dich,  jung  und  alt,  auch  Ema^  die  eben  da  ist, 
auch  die  träge  Mathilde.  Nun  lebe  wohl  und  schreibe  bald 
wieder  Deiner  treuen  Mutter  L.  Büchner. 

VOM  VATER  NACH  ZÜRICH 

Darmstadt,  den  i8.  Dezember  1836. 
Lieber  Georg!  Es  ist  schon  lange  her,  daß  ich  nicht  per- 
sönlich an  Dich  geschrieben  habe.  Um  Dich  einigermaßen 
dafür  zu  entschädigen,  soll  Dir  das  Christkindlein  diese 
Zeilen  bescheren,  und  ich  zweifele  nicht  daran,  daß  sie 
Dir  eine  angenehme  Erscheinung  sein  werden.  Meine  Be- 
sorgnis um  Dein  künftiges  Wohl  war  bisher  noch  zu  groß, 
und  mein  Gemüt  war  noch  zu  tief  erschüttert  durch  die 
Unannehmlichkeiten  alle,  welche  Du  uns  durch  Dein  un- 
vorsichtiges Verhalten  bereitet  und  gar  viele  trübe  Stimden 
verursacht  hast,  als  daß  ich  mich  hätte  entschließen  können, 
in  herzliche  Relation  mit  Dir  zu  treten;  wobei  ich  jedoch 
nicht  ermangelt  habe,  Dir  pünktlich  die  nötigen  Geld- 
mittel, bis  zu  der  Dir  bekannten  Siunme,  welche  ich  zu 
Deiner  Ausbildung  für  hinreichend  erachtete,  zufließen  zu 
lassen. — 

Nachdem  Du  nun  aber  mir  den  Beweis  geliefert,  daß  Du 
diese  Mittel  nicht  mutwillig  oder  leichtsinnig  vergeudet, 
sondern  wirklich  zu  Deinem  wahren  Besten  angewendet 
und  ein  gewisses  Ziel  erreicht  hast,  von  welchem  Stand- 
punkte aus  Du  weiter  vorwärtsschreiten  wirst,  und  ich  mit 
Dir  über  Dein  ferneres  Gedeihen  der  Zukunft  beruhigt 
entgegensehen  darf,  sollst  Du  auch  sogleich  wieder  den 
gütigen  und  besorgten  Vater  um  das  Glück  seiner  Kinder 
in  mir  erkennen. 

Um  Dir  hiervon  sogleich  einen  Beweis  zu  geben,  habe 
ich  Deinem  Wunsche,  "z'.  Frorieps  Notizen^^  von  mir  zu 
erhalten,  alsbald  entsprochen,  welche  längstens  bis  zum 
21.  d.  M.  per  Kiste  und  ganz  franco  bei  Dir  eintreffen 
werden.  Dieselben  sind  als  eine  kleine  BibHothek  zu  be- 
trachten und  werden  Dir  vielen  Nutzen  gewähren.  Bis 
jetzt  ist  der  5oste  Band  im  Erscheinen.  Ich  besaß  nur 
26  Bände,    welche  mich,    ohne  Einband,   93  fl.  36  kr. 


BRIEFE  AN  BÜCHNER  627 

kosteten,  und  diese  mache  ich  Dir  zum  Weihnachtsgeschenk. 
Die  Bände  29 — 46,  welche  Du  ebenfalls  jetzt  erhältst, 
habe  ich  für  Deine  dereinstige  Rechnung  mit  Deinen  Ge- 
schwistern um  20  fl.  52  kr.  erkauft,  und  um  diesen  3 teil 
Preis  sollst  Du  durch  mich  die  Fortsetzung  und  ebenso 
die  fehlenden  Bände  27  und  28  erhalten.  Sollten  Dir 
meine  anatomischen  Tafeln  von  Weber,  welche  Dir  schon 
genau  bekannt  sind  und  die  ich  jetzt  vollständig  habe, 
nötig  sein,  so  will  ich  Dir  auch  diese  schicken,  oder  wenn 
Du  sonst  Bücher  nötig  hast,  so  mache  mir  solche  namhaft 
und  bemerke  mir  genau  den  Ladenpreis,  um  welchen  Du 
solche  in  Zürich  würdest  erhalten  können.  Auch  findest 
Du  in  der  Kiste  unter  anderem  zwei  Exemplare  meiner 
Nadelgeschichte,  die  mir  beim  Packen  als  altes  Papier 
in  die  Hände  fielen.  Vielleicht  kannst  Du  Deinen  Schülern 
gelegentlich  eine  Erzählung  davon  machen.  Sodann  legte 
ich  auch  eine  Beilage  zu  unsrer  Zeitung  in  die  Kiste,  worin 
eine  Konkurrenzeröffnung  von  Zürich  aus  bekannt  gemacht 
wird.  Hättest  Du  früher  meinen  so  wohlgemeinten  Rat 
befolgt  und  Dich  mehr  mit  jMathematik  beschäftigt,  so 
könntest  Du  vielleicht  jetzt  mit  konkurrieren.  Doch  dies 
sei  bloß  nebenher  bemerkt.  Deine  Abhandlung  hat  mir 
recht  viel  Freude  gemacht,  und  nicht  weniger  war  ich  er- 
freut über  Deine  Kreierung  zum  Doktor  der  Philosophie, 
sowie  überhaupt  über  Deine  gute  Aufnahme  in  Zürich. 
Sei  nur  recht  [vorsichtig]  in  Deinem  Benehmen  und  in 
Deinen  Äußerungen  gegen  und  über  jederman.  Bedenke 
stets,  daß  man  Freunde  nötig  hat  und  daß  auch  der  ge- 
ringste Feind  schaden  kann.  Ich  bin  recht  begierig  zu 
hören,  wie  es  Dir  bisher  mit  Deinen  Vorlesunge?i  ergangen 
und  worauf  besonders  Dein  weiterer  Plan  gerichtet  ist. 
Zoologie  und  vergleichende  Anatomie  sind  Felder,  worin 
noch  viel  zu  lernen  ist,  und  wer  Fleiß  darauf  verwendet, 
dem  kann  es  nirgends  fehlen,  merk 's  tibi.  Auch  Kaups 
systematische  Beschreibung  des  Tierreichs,  wovon  das 
10.  Heft  erschienen  ist,  könnte  ich  Dir  schicken. 
Bei  uns  ist  alles  wohl,  und  es  werden  die  nötigen  Vor- 
bereitungen zu  Weihnachten  gemacht.  Deine  weitere  Be- 
scherung findest  Du  ebenfalls  in  der  Kiste.    In  Reinheim 


628  ANHANG 

ist  kürzlich  Oheims  jüngstes  Kind,  ein  schöner  Knabe  von 
1V2  Jahren,  gestorben.  Deine  Mutter  wollte  meinem  Brief 
noch  einige  Zeilen  beilegen,  bei  dem  teuren  Porto  aber 
wollen  wir  es  unterlassen,  zumal  Du  per  Kiste  Briefe  er- 
hältst. Mutter  und  Tante  Helene  sitzen  oben  bei  der  Groß- 
mutter^ welche  jetzt  beinahe  völlig  blind  ist.  Im  Frühling 
soll  das  eine  Auge  operiert  werden.  Mathilde  und  Louise 
sind  in  der  Oper  "Die  Stumme".  Louis  ist  wahrscheinlich 
mit  Anfertigung  von  Weihnachtsgeschenken  beschäftigt, 
und  Alexander  liest  wie  gewöhnlich  sehr  emsig  die  Ge- 
schichte. Dieser  wird  ein  ruhiger  Gelehrter  werden  in 
allem  Ernste.  Endlich  ich  sitze  am  Schreibtische  und 
schreibe  in  diesem  Augenblicke  am  Ende  meines  Briefes 
meinen  Namen.  F.  Büchner. 


)  629  c 

PERSÖNLICHE  ERINNERUNGEN 
UND  DOKUMENTE 


GEBURTS-  UND  TAUFPROTOKOLL  DER  PFARREI 

GODDELAU 
Im  Jahre  Christi  1813,  am  17.  Oktober  früh  um  halb 
6  Uhr,  wurde  dem  Herrn  Ernst  Karl  Büchner,  Doctor  und 
Amtschirurgus  dahier  zu  Goddelau,  und  seiner  Ehefrau 
Louise  Caroline  geh.  Reuß  das  erste  Kind,  der  erste  Sohn 
geboren  und  am  28.  Oktober  getauft,  wobei  er  den  Namen 
Karl  Georg  erhielt. 

Pate  war  i)  Johann  Georg  Reiiß^  Hofrat  und  Hospital- 
meisler  zu  Hofheim,  des  Kindes  Großvater  mütterlicher- 
seits, 

2)  Jakob  Karl  Büchner,  Doctor  und  Amtschirurgus  zu 
Reinheim,  des  Kindes  Großvater  väterlicherseits, 

3)  Wilhelm  Geo?g  Reuß,  der  Mutter  lediger  Bruder.  Stell- 
vertreter der  Taufpaten  zu  No  2)  und  3)  Johann  Heinrich 
Schober,  Pfarrer  zu 

Der  taufende  Pfarrer,  Jakob  Wiener  zu  Goddelau. 


L.  W.  LINKS  MITTEILUNGEN  AUS   DER  SCHUL- 

UND  UNIVERSITÄTSZEIT 
In  der  untersten  Abteilung  der  Prima  des  Gymnasiums  in 
Dan?istadt  kam  im  Frühjahr  1828  eine  zu  schönen  Hoff- 
nungen berechtigende  Zahl  von  Schülern  aus  Stadt  und 
Land  von  sehr  verschiedenartiger  Vorbildung  und  unleug- 
baren Kontrasten  zusammen,  die  gerade  dadurch  zu  desto 
interessanterem  und  anregenderem  Geistesverkehr  führ- 
ten .  .  . 

In  meiner  Ordnung  fand  ich  zwei  nur  wenig  jüngere  Zwil- 
lingsbrüder {Friedrich  und  Georg  Zim7nerman'n\  von  tüch- 
tigen Schulkenntnissen  und  relativ  umfassender  und  ein- 
gehender ästhetischer  Vorbildung  und  großer  Empfäng- 
lichkeit für  alles  höhere  geistige  Leben.  Sie  wurden  meine 
intimen  Freunde.  Sie  machten  mich  mit  Shakespeare  be- 
kannt, in  welchem  sie  in  jugendlicher  Überschwenglich- 


630  ANHANG 

keit  eine  neue  und  mehr  als  bloß  poetische  Offenbarung 
begrüßten.  Natürlich  waren  sie  nicht  frei  von  Einseitig- 
keit, aber  ihr  Streben  war  ein  ernstliches,  ganzes  und 
warmes.  Ich  fing  an  zu  glauben,  daß  nur  in  unserm  Meister 
Shakespeare  eine  neue,  wahre  und  tiefere  Weltoffenbarung 
vor  uns  trete  und  den  Schlüssel  zu  den  wichtigsten  Rätseln 
des  Menschenlebens  biete. 

Aber  der  nach  seiner  ganzen  Beanlagung,  namentlich  hin- 
sichtlich des  Charakters  vielleicht  bedeutendste,  selb- 
ständigste und  tatkräftigste  in  unserm  Kreise  war  der  mir 
gleichaltrige  Georg  Büchner.  Es  war  jedoch  nicht  seine 
Art,  sich  andern  ungeprüft  und  voreilig  hinzugeben,  er 
war  vielmehr  ein  ruhiger,  gründlicher,  mehr  zurückhalten- 
der Beobachter.  Wo  er  aber  fand,  daß  jemand  wirklich 
wahres  Leben  suchte,  da  konnte  er  auch  warm,  ja  enthusi- 
astisch werden. — Ich  glaube,  daß  die  erwähnten  beiden 
Brüder  ihm  sympathischer  waren  als  ich.  Sie  waren  in 
den  ihnen  früher  als  mir  entgegentretenden  modernen 
Geistesströmungen  mehr  au  fait  und  hatten  überdies  den 
residenzlichen  Kulturboden  mit  ihm  gemeinsam,  der  ihnen 
ergötzlichen  Stoff  zu  allerlei  kritischem  und  humoristischem 
Wetteifer  in  Beurteilung  der  Zustände  bot,  für  den  ich  zu 
ernst  und  zu  schwer  war. 

Auch  ein  junger,  geschichtlich  wohl  begründeter  und  poe- 
tisch beanlagter  Altersgenosse,  der  hernach  eine  juristisch 
schriftstellerische Zelebrität  geworden  [Karl Neuner],  eben- 
so ein  sehr  radikaler,  enthusiastischer  Freund  Büchners, 
welcher  sich  sehr  an  politischen  Angelegenheiten  beteiligt 
und  noch  radikaler  erschien  als  Georg  Büchner — er  ist 
frühe  gt?,\.OTbQn[Karl  Minnigerode'] — gehörten  auch  diesem 
Kreise  an.  Auch  Exoteriker  wurden  von  dem  darin 
herrschenden  Geiste  angeweht  und  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  angezogen.  Unter  uns  allen  bestand  jedoch — und 
das  war  gut— ein  solches  Verhältnis,  wodurch  zwar  der 
Kontakt  erhalten,  jedem  aber  nach  seinem  Bedürfnis  die 
Freiheit  seiner  Richtung  gelassen  wurde. 
Ich  glaube,  es  ist  von  den  erwähnten  beiden  Brüdern,  die 
uns  andern  mit  ihrer  Begeisterung  für  Shakespeare  an- 
steckten, ausgegangen,  daß  wir  uns  verabredeten,  in  dem 


PERSONL.  ERINNERUNGEN  U.  DOKUMENTE    631 

schönen  Buchwald  bei  Darmstadt  an  Sonntagnachmittagen 
im  Sommer  die  Dramen  des  großen  Briten  zu  lesen,  die 
uns  die  anregendsten  und  teuersten  waren,  als  den  "Kauf- 
mann von  Venedig'',  "Othello",  "Romeo  und  Julia", 
"Hamlet",  "König Richard III. "usw.  Wir  hatten  Momente 
innigster  und  wahrster  Hingerissenheit  und  Erhebung,  z.  B. 
beim  Lesen  der  Stelle:  "Wie  süß  das  Mondlicht  auf  dem 
Hügel  schläft  .  .  ."  und  "Der  Mann,  der  nicht  Musik  hat 
in  sich  selbst — trau  keinem  solchen".  Diese  gemeinsamen 
wahren  Geistesgenüsse  bei  jugendlicher  Empfänglichkeit 
bewahrten  uns  allerdings  vor  Trivialität  und  Roheit  und 
brachten  uns  tiefere  Offenbarungen  und  Aufschlüsse  über 
unsere  Jahre.  Es  erstarkte  das  Bedürfnis,  in  das  Wesen 
der  Dinge  einzudringen,  uns  demgemäß  auszubilden  und 
zu  handeln.  Allerdings,  für  die  Gewissenhaftigkeit  der 
Gymnasiasten  war  dergleichen  nicht  förderlich  und  den 
Lehrern  nichts  weniger  als  angenehm  .  .  . 
Georg  Büchner  ging  schon  frühe  und  allezeit  gradaus  auf 
das  los,  was  er  als  das  Wesen  und  den  Kern  der  Dinge 
erkannte,  auch  in  der  Wissenschaft,  besonders  der  Philo- 
sophie, sowie  hinsichtlich  der  poHtischen  Volksbedürf- 
nisse, wie  er  sie  ansah,  und  in  allem  war  sein  Prinzip  die 
Freiheit,  die  er  meinte.  Er  war  nicht  gewillt,  daß  die 
Unwissenheit  des  Volks  benützt  werde,  es  zu  betrügen 
oder  zum  Werkzeug  zumachen,  oder  gar  mit  seinem  Talent 
lukrative  Spekulationen  zu  machen. — Es  wurde  damals 
schon  erzählt,  daß  er  und  jener  in  Exzentrizität  mit  ihm 
wetteifernde  \^Minnigerode\  dessen  ich  oben  gedacht,  sich 
in  der  letzten  Gymnasialzeit  nur  mit  den  Worten  zu  grüßen 
pflegten:  Bon  jour^  citoye7i  .  .  . 

In  seinem  Denken  und  Tun  durch  das  Streben  nach  Wesen- 
haftigkeit  und  Wahrhaftigkeit  frühe  durchaus  selbständig, 
vermochte  ihm  keine  äußerliche  Autorität  noch  nichtiger 
Schein  zu  imponieren.  Das  Bewußtsein  des  erworbenen 
geistigen  Fonds  drängte  ihn  fortwährend  zu  einer  uner- 
bittlichen Kritik  dessen,  was  in  der  menschlichen  Gesell- 
schaft oder  Philosophie  und  Kunst  Alleinberechtigung  be- 
anspruchte oder  erlistete. — Daher  sein  vernichtender, 
manchmal  übermütiger  Hohn  über  Taschenspielerkünste 


632  ANHANG 

Hegelischer  Dialektik  und  Begrififsformulationen,  z.  B.: 
'^ Alles,  was  wirklich,  ist  auch  vernünftig,  und  was  ver- 
nünftig, auch  wirklich".  Aufs  tiefste  verachtete  er,  die 
sich  und  andere  mit  wesenlosen  Formeln  abspeisten,  an- 
statt für  sich  selbst  das  Lebensbrot  der  Wahrheit  zu  er- 
werben und  es  andern  zu  geben  .  .  .  Man  sah  ihm  an, 
an  Stirn e,  Augen  und  Lippen,  daß  er  auch,  wenn  er 
schwieg,  diese  Kritik  in  seinem  in  sich  verschloßnen 
Denken  übte.  Ich  weiß  nicht,  ob  ein  gutes  Bild  von  ihm 
existiert.  Aber  ich  sehe  im  Geist  sein  Angesicht,  ähnlich 
einem  alten  Bilde  Shakespeares,  von  bürgerlich  gediegnem, 
tatkräftigem,  aber  auch  liebenswürdig  übermütigem  Aus- 
druck. Es  lag  darin  Zurückhaltung,  Entschlossenheit,  skep- 
tische Verachtung  alles  Nichtigen  und  Niederträchtigen. 
Die  zuckenden  Lippen  verrieten,  wie  oft  er  mit  der  Welt 
im  Widerspruch  und  Streit  lag  .  .  . 

Nachdem  Büchner  seine  zwei  ersten  akademischen  Jahre 
in  Straßburg  zugebracht,  kehrte  er  im  Herbst  1833  auf 
die  Landesuniversität  Gießen  zurück,  um  den  bestehenden 
Gesetzen  zu  genügen.  Auch  meine  beiden  Freunde  waren, 
soviel  ich  weiß,  schon  früher  und  ich  im  Herbst  1833  von 
Heidelberg  dahin  zurückgekehrt. 

Mein  Verkehr  mit  Georg  Büchner  war  da  nur  ein  gelegent- 
licher. Er  lebte  zurückgezogen.  Ich  glaubte  wahrzunehmen, 
daß  sich  seiner  eine  leidenschaftliche  Unruhe  bemächtigt 
habe  und  daß  er  vieles  verschlossen  in  sich  herumwälze. 
Er  klagte  über  seinen  ganzen  körperlichen  und  geistigen 
Zustand,  daß  er  die  Nächte  zu  Tagen  und  die  Tage  zu 
Nächten  mache,  und  schien  mit  der  Philosophie,  mit  sich 
und  der  Welt  zerfallen.  Einmal  im  Zimmer  des  Freundes 
[Friedrich  Zimmermann]  apostrophierte  er  mich  lakonisch: 
"Link,  wieviel  Götter  glaubst  du?"  Antwort:  "Nur  einen." 
— "Wieviel  Staaten  müßten  wir  da  in  Deutschland  haben 
und  wieviel  Fürsten?" — Pause  des  Schweigens  von  beiden 
Seiten  .  .  . 

Ein  Gläubiger  im  kirchlichem  Sinn  ist  Georg  Büchner 
nicht  gewesen.  Aber  selbständig  und  objektiv  in  seinem 
Denken,  ist  er  später,  als  Reiferer,  auch  gerechter  gegen 
die  geschichtlichen  Mächte  der  Kirche  geworden  sowie 


PERSÖNL.  ERINNERUNGEN  U.  DOKUMENTE    633 

gegtn  den  Glauben  des  einzelnen,  der  auf  einem  andern 
Standpunkt  stand  als  er.  Namentlich  war  er  von  aller  Auf- 
dringlichkeit und  Propaganda  seiner  Anschauung,  von  An- 
sichts-  und  Parteifabrikationskünsten  für  die  zu  dirigierende 
Menge  weit  entfernt. — Das  betätigte  er  schon  in  früheren 
Jahren.  Trotz  des  jugendlichen  Übermuts,  womit  er  mit 
andern  während  des  Gymnasialgottesdienstes  statt  des 
jedesmal  zu  singenden  Liederverses  halblaut  die  Worte 
des  Totengräbers  im  Hamlet  sang:  ''Und  o  eine  Grube 
gar  tief  und  hohl  für  solchen  Gast  muß  sein",  indem  er 
damit  gegen  den  ihm  ungenügenden  Vortrag  des  Predigers 
als  Hohlheit  demonstrierte — ,  sagte  er  über  mich  zu  andern, 
die  mich  Mucker  oder  Mystiker  nannten:  ''Laßt  mir  den 
Link  gehn,  der  meint  es  ernst  und  ehrhch!"  Er  hat  lebens- 
lang aus  wirkhchem  Durst  nach  Wahrheit  gesucht  und  ge- 
rungen und  deshalb,  wie  ich  glaube,  nie  mit  sich  abge- 
schlossen .  .  . 


KARL  VOGTS  EINDRUCK  VON  DEM  GIESSENER 

STUDENTEN  BÜCHNER 
Offen  gestanden,  dieser  Georg  Büchner  war  uns  nicht  sym- 
pathisch. Er  trug  einen  hohen  Zylinderhut,  der  ihm  immer 
tief  unten  im  Nacken  saß,  machte  beständig  ein  Gesicht 
wie  eine  Katze,  wenn's  donnert,  hielt  sich  gänzlich  ab- 
seits, verkehrte  nur  mit  einem  etwas  verlotterten  und  ver- 
lumpten Genie,  August  Becker^  gewöhnlich  nur  der  "rote 
August"  genannt.  Seine  Zurückgezogenheit  wurde  für 
Hochmut  ausgelegt,  und  da  er  offenbar  mit  politischen 
Umtrieben  zu  tun  hatte,  ein-  oder  zweimal  auch  revolu- 
tionäre Äußerimgen  hatte  fallen  lassen,  so  geschah  es  nicht 
selten,  daß  man  abends,  von  der  Kneipe  kommend,  vor 
seiner  Wohnung  still  hielt  und  ihm  ein  ironisches  Vivat 
brachte:  "Der  Erhalter  des  europäischen  Gleichgewichtes, 
der  Abschaffer  des  Sklavenhandels,  Georg  Büchner,  er 
lebe  hoch!"— Er  tat,  als  höre  er  das  Gejohle  nicht,  ob- 
gleich seine  Lampe  brannte  und  zeigte,  daß  er  zu  Hause 
sei.  In  Wernekmcks  Privatissimum  war  er  sehr  eifrig,  und 
seine  Diskussionen  mit  dem  Professor  zeigten  uns  beiden 


634  ANHANG 

andern  bald,  daß  er  gründliche  Kenntnisse  besitze,  welche 
uns  Respekt  einflößten.  Zu  einer  Annäherung  kam  es  aber 
nicht;  sein  schroffes,  in  sich  abgeschlossenes  Wesen  stieß 
uns  immer  wieder  ab. 


AUS  AUGUST  BECKERS  GERICHTLICHEN 
ANGABEN 

Ob  ich  mich  hier  [S.  605  ff.]  gleich  meistens  der  Worte 
Büchners  bedient  habe,  so  dürfte  es  doch  schwer  sein,  sich 
einen  Begriff  von  der  Lebhaftigkeit,  mit  welcher  er  seine 
Meinungen  vortrug,  zu  machen. 

Man  braucht  nur  vier  Jahre  (und  halb  so  viel  im  Gefäng- 
nis) älter  zu  sein,  als  ich  damals  war,  da  Büchner  solche 
Reden  führte,  um  die  Sophisterei,  die  sie  enthalten,  ein- 
zusehen; damals  war  ich  fast  blind  dagegen,  sowie  andere, 
z.  B.  Klemm^  Lotus  Becker^  Schütz^  denen  allen  Büchner 
imponierte,  ohne  daß  sie  es  vielleicht  selber  gestehen 
mochten,  sowohl  durch  die  Neuheit  seiner  Ideen  als  durch 
den  Scharfsinn,  mit  welchem  er  sie  vortrug.  Wären  solche 
Meinungen  das  Rühmlichste  von  Büchner  gewesen,  dann 
würde  der  Abscheu,  den  sie  vielleicht  in  den  Augen  des  Ge  - 
richts  erregen,  mit  Recht  auf  diejenigen,  welche  genaueren 
Umgang  mit  ihm  gepflogen,  zurückfallen;  allein  er  hatte  bei 
all  dem.  das  edelste  Herz  und  war  für  diejenigen,  die  ihn 
genau  kannten,  der  liebenswürdigste  Mensch  .  .  . 

Die  Mitglieder  unserer  Gesellschaft  stimmten  darin  mit 
Weidig  überein,  daß  man  gemeinschaftlich  handeln  müsse, 
wenn  unser  politisches  Wirken  einigen  Erfolg  haben  solle. 
Büchner  meinte,  daß  man  Gesellschaften  errichten  müsse, 
Weidig  glaubte,  daß  es  schon  genüge,  wenn  man  die  ver- 
schiedenen Patrioten  der  verschiedenen  Gegenden  mitein- 
ander bekannt  mache  und  durch  sie  Flugschriften  verbreiten 
lasse.  Über  diesen  Punkt  wollte  man  sich  auf  der  Baden- 
burger Versammkwg  hesiprechen.  Büchner  hoffte,  auf  der- 
selben seine  Ansichten  bei  den  Marburgern  durchzusetzen. 
Ich  weiß  nicht,  wie  weit  ihm  dies  gelungen  ist.  Als  ich  ihn 
nach  meiner  Rückkehr  aus  dem  Hinterland  über  die  Sache 


PERSÖNL.  ERINNERUNGEN  U.  DOKUMENTE    635 

sprach,  sagte  er  mir,  daß  auch  die  Marburger  l.t\\tt  seien, 
welche  sich  durch  die  französische  Revolution,  wie  Kinder 
durch  ein  Ammenmärchen,  hätten  erschrecken  lassen,  daß 
sie  in  jedem  Dorf  ein  Paris  mit  einer  Guillotine  zu  sehen 
fürchteten  usw.  Es  muß  demnach  auf  dieser  Versammlung 
die  Rede  davon  gewesen  sein,  in  welchem  Geist  die  Flug- 
schriften abgefaßt  werden  müßten,  und  Büchner,  welcher 
glaubte,  daß  man  sich  an  die  niederen  Volksklassen  wen- 
den müsse,  und  der  auf  die  öfifentliche  Tugend  der  soge- 
nannten ehrbaren  Bürgernicht  viel  hielt,  muß  auf  der  Baden- 
burg seine  Ansichten  nicht  gebilligt  gesehen  haben,  weil 
er  über  die  Marburger  sich  so  ungehalten  äußerte. 

Dieser  Büchner  war  mein  Freund,  der  mich  lange  Zeit  zum 
einzigen  Vertrauten  seiner  teuersten  Angelegenheiten 
machte,  von  welchen  er  weder  seiner  Familie  noch  einem 
seiner  andern  Freunde  etwas  gesagt  hatte.  Ein  solches 
Vertrauen  mußte  ihm  mein  Herz  gewinnen;  seine  liebens- 
würdige Persönlichkeit,  seine  ausgezeichneten  Fähigkeiten, 
von  welchen  ich  hier  freilich  keinen  Begriff  geben  kann, 
mußten  mich  unbedingt  für  ihn  einnehmen  bis  zur  Ver- 
blendung. Die  Grundlage  seines  Patriotismus  war  wirk- 
lich das  reinste  Mitleid  und  ein  edler  Sinn  für  alles  Schöne 
und  Große.  Wenn  er  sprach  und  seine  Stimme  sich  erhob, 
dann  glänzte  sein  Auge— ich  glaubte  es  sonst  nicht  an- 
ders—wie die  Wahrheit.  Ich  habe  die  von  ihm  verfaßte 
Flugschrift  abgeschrieben.  Was  hätte  ich  nicht  für  ihn 
getan,  wovon  hätte  er  mich  nicht  überzeugt:! — 

Büchner,  der  bei  seinem  mehrjährigen  Aufenthalte  in 
Frankreich  das  deutsche  Volk  wenig  kannte,  wollte,  wie 
er  mir  oft  gesagt  hat,  sich  durch  diese  Flugschrift  über- 
zeugen, inwiev/eit  das  deutsche  Volk  geneigt  sei,  an  einer 
Revolution  Anteil  zu  nehmen.  Er  sah  indessen  ein,  daß 
das  gemeine  Volk  eine  Auseinandersetzung  seiner  Ver- 
hältnisse zum  Deutschen  Bund  nicht  verstehen  und  einem 
Aufruf,  seine  angeborenen  Rechte  zu  erkämpfen,  kein  Ge- 
hör geben  werde;  im  Gegenteil  glaubte  er,  daß  es  nur 
dann  bewogen  werden  könne,  seine  gegenwärtige  Lage 


636  ANHANG 

zu  verändern,  wenn  man  ihm  seine  naheliegenden  Inter- 
essen vor  Augen  lege.  Dies  hat  Büchner  in  der  Flugschrift 
getan.  Er  hatte  dabei  durchaus  keinen  ausschließlichen 
Haß  gegen  die  Großherzoglich  Hessische  Regierung;  er 
meinte  im  Gegenteil,  daß  sie  eine  der  besten  sei.  Er  haßte 
weder  die  Fürsten  noch  die  Staatsdiener,  sondern  nur  das 
monarchische  Prinzip,  welches  er  für  die  Ursache  alles 
Elends  hielt.— Mit  der  von  ihm  geschriebenen  Flugschrift 
wollte  er  vorderhand  nur  die  Stimmung  des  Volks  und  der 
deutschen  Revolutionärs  erforschen.  Als  er  später  hörte, 
daß  die  Bauern  die  meisten  gefundenen  Flugschriften  auf 
die  Polizei  abgeliefert  hätten,  als  er  vernahm,  daß  sich 
auch  die  Patrioten  gegen  seine  Flugschrift  ausgesprochen, 
gab  er  alle  seine  politischen  Hoffnungen  in  bezug  auf  ein 
Anderswerden  auf. 

WILHELM  BÜCHNER  AN  FRANZOS 

Scheveningen,  den  9.  September  1878. 
Allerdings  brachte  ich  die  letzte  Zeit  vor  der  Flucht  meines 
Bruders  Georg  mit  demselben  im  väterlichen  Hause  zu, 
und  war  ich  wohl  der,  welcher  in  seine  politischen  Ver- 
wicklungen der  damaligen  Zeit  wie  seine  Pläne  zu  flüchten 
am  tiefsten  eingeweiht  war. 

Daß  er  flüchten  müsse,  sprach  er  mir  gegenüber  wieder- 
holt aus,  und  alle  Einreden  halfen  nicht;  zog  ihn  doch  zu- 
gleich sein  Verhältnis  zu  seiner  Braut  mächtig  nach  Straß - 
bürg.  Aber  verschiedene  Gründe  hielten  ihn  noch  immer 
zurück.  Vor  allen  Dingen  das  daraus  entspringende 
Zerwürfnis  mit  dem  Vater,  die  Sorge  um  die  in  der  Ge- 
fangenschaft befindlichen  Freunde,  denen  zur  Flucht  zu 
helfen  seine  stete  Sorge  war,  der  Glaube,  man  könne  nicht 
an  ihn  heran,  und  der  Mangel  an  Geld.  Was  sollte  er 
in  Straßburg  beginnen,  wenn  ihm  nicht  einige  Mittel  zu 
Gebot  gestellt  würden:  Letzter  Grund  war  auch  vorzugs- 
weise das  Motiv,  das  schon  lange  im  Kopf  herumgetragene 
Drama  ^^ Dantons  Tod"  mit  kurzen  und  raschen  Zügen  zu 
entwerfen,  um  sich  Geld  zu  machen.  Und  was  war  das 
für  ein  kleines,  schwer  verdientes  Geld.  Einhundert  Gul- 
den!—Die  letzten  Tage  meiner  Anwesenheit  in  Darmstadt 


PERSÖNL.  ERINNERUNGEN  U.  DOKUMENTE    637 

vergingen  in  furchtbarer  Aufregung.  Ich  hatte  das  Manu- 
skript für  ihn  zur  Post  gebracht,  und  nun  kamen  die  Au- 
genblicke der  Abspannung  wie  der  Erwartung.  Damals 
war  es,  als  er  mich  um  die  zwei  Geldstücke  bat,  die  hin- 
reichen würden,  ihn  über  die  Grenze  zu  bringen. 
Vorladungen  nach  Offenbach  vor  den  Untersuchungsrich- 
ter wich  er  aus;  eine  Voi'ladiingin  das  Ar  resthaus  in  Darm- 
stadt zur  Vernehmung  umging  er  damit,  daß  er  mich  an 
seiner  Statt  hinschickte;  ich  war  dahin  instruiert,  mich 
nicht  früher  zu  erkennen  zu  geben,  als  bis  das  Protokoll 
angefangen  würde,  und  möge  ich  beobachten,  ob  man  die 
Absicht  zeige,  mich  (für  ihn)  in  Haft  zu  nehmen.  Wir 
hatten  schon  tagelang  eine  Leiter  in  dem  Garten  an  die 
Mauer  gelehnt,  mit  deren  Hülfe  er  in  andere  Gärten  flüch- 
ten wollte,  wenn  die  Häscher  kämen. — Meinen  Vorstel- 
lungen gegenüber,  welchen  Kummer  er  den  Eltern  be- 
reiten würde,  wenn  er  flüchte,  erklärte  er,  es  sei  sein  Tod, 
wenn  er  in  Gefangenschaft  geriete.  Da  ließ  ich  ab,  ihn  zu 
bitten,  und  mein  Abschied  war  ein  schmerzlicher. 
Die  Beratungen  mit  seinen  politischen  Freunden  drehten 
sich  in  dieser  Zeit  nur  um  die  Mittel,  wie  man  die  Ge- 
fangenen befreien  könne.  So  wurde  namentlich  bezüglich 
der  Befreiung  von  Minnigerode  vieles  besprochen,  wobei  ich 
die  Umsicht  meines  Bruders  wiederholt  bewunderte.  Sie 
mißglückte  an  der  körperlichen  Schwäche  Minnigerodes. 
Eine  einzige  politische  Unterhaltung  dürfte  von  allgemei- 
nem Interesse  sein.  Es  wurde  darüber  debattiert,  ob  es 
wünschenswerter  sei  und  erfolgversprechender,  gleich  eine 
t\v^€\\X\Q}!\tRepiiblik  zu  proklamieren,  oder  ob  man  nicht  zu- 
erst dahin  streben  müsse,  zugunsten  derKrone  Preußens  die 
anderen  Dynastien  zu  beseitigen.  Mein  Bruder  meinte  da- 
mals, "das  gäbe  doppelte  Arbeit",  und  wollte  von  dem  sta- 
tionsweisen Vorgehen  nichts  wissen. — Er  würde  niemals  Na- 
tionalliberaler geworden  sein,  so  wenig  wie  ich  es  heute  bin. 

Pfungstadt,  den  23.  Dezember  1878. 
Inwieweit  ich  Ihren  Wünschen  nachkommen  kann,  will  ich 
versuchen,  fürchte  aber,  Sie  nicht  in  allem  befriedigen  zu 
können;  liegt  doch  eine  so  lange  Zeit  dazwischen  und  habe 


638  ANHANG 

ich  auch  mit  den  Schwierigkeiten  des  Lebens  zu  kämpfen 
gehabt,  die  wohl  dazu  beigetragen  haben  mögen,  daß  mir 
jene  so  ernste  Zeit  nicht  mehr  ganz  vor  Augen  steht. 
Zu  Ihren  Fragen  mich  wendend,  lege  ich  das  gewünschte 
Gedicht  bei. 

Ad  2.  Mein  Vater ^  eine  strenge  Natur,  die  alles  sich  selbst 
verdankte,  was  sie  erreichte,  war  im  höchsten  Grad  spar- 
sam für  sich,  aber  gab  mit  vollen  Händen,  was  zur  Aus- 
bildung seiner  Kinder  nötig  war;  er  selbst,  ein  Zeitgenosse 
der  großen  französischen  Revolution,  der  als  Arzt  einige 
Feldzüge  bei  den  holländischen  Truppen  mitmachte,  die 
damals  unter  französischem  Kommando  waren,  hatte  die 
größte  Sympathie  für  die  Bewegung  der  Geister,  und  ge- 
hörte es  zu  seiner  liebsten  Lektüre,  die  erlebten  Ereig- 
nisse in  der  später  erscheinenden  Zeitschrift  "t/>w^r^  Zeif^ 
zu  repetieren  und  zu  ergänzen.  Vielfach  wurden  diese 
abends  vorgelesen,  und  nahmen  wir  alle  den  lebhaftesten 
Anteil  daran.  Wohl  möglich,  daß  bei  dem  ohnehin  freien 
Geist  der  Familie  die  Wirkung  dieser  Lektüre  von  beson- 
derm  Einfluß  insbesondere  auf  Georg  war,  und  ist  wohl 
diese  Lektüre  der  Entstehungsmoment  von '  ^Dafitons  Tod^\ 
Bei  aller  Freisinnigkeit  meines  Vaters  war  derselbe  aber 
sehr  vorsichtig,  und  bei  seiner  großen  Lebenserfahrung 
erkannte  er  ganz  gewiß  schon  frühe  die  Gefahr  einer  po- 
litischen Richtung  für  seine  Söhne.  Von  den  Verbindun- 
gen und  Beziehungen  Georgs  wußte  er  absolut  nicht  früher 
etwas,  bevor  die  eingeleiteten  Untersuchungen  Tagesge- 
spräch geworden  waren.  Ebenso  war  ihm  die  Arbeit  über 
Danton  völlig  unbekannt.  Hätte  er  gewußt,  in  welcher 
politischen  Situation  sich  Georg  befand,  er  würde  mit 
äußerster  Strenge  gegen  ihn  verfahren  sein. — Das  persön- 
liche Verhältnis  zum  Vater  war  ein  sehr  gutes  im  allge- 
meinen, und  war  Papa  stolz  auf  die  Talente  seines  Sohnes, 
von  dessen  Zukunft  er  sich  viel  versprach,  weil  er  von 
den  politischen  Verbindungen  nichts  wußte. — Als  nun  gar 
Georg  nach  Straßburg  flüchtete,  war  derselbe  im  höch- 
sten Grad  erbittert  und  hat  jede  pekuniäre  Unterstützung 
positiv  abgelehnt.  Nur  durch  die  Mutter  und  die  Groß- 
mutter wurden  Georg  einige  Mittel  von  Zeit  zu  Zeit  zu- 


PERSÖNL.  ERINNERUNGEN  U.  DOKUMENTE    639 

gewiesen,  vielleicht  nicht  ganz  ohne  Wissen  des  Vaters, 
aber  nicht  mit  seiner  offiziellen  Bewilligung. 
Ad  3  glaube  ich,  daß  vorzugsweise  die  Lektüre  ^^  Unsere 
Zeif^  Anlaß  zur  Arbeit  über  Danton  gegeben  hat;  ob  ein 
weiterer  Anstoß  durch  Bareres  Memoiren  gegeben  wurde, 
weiß  ich  nicht.  Sicherlich  hat  ihn  am  meisten  zur  beschleu- 
nigten Herausgabe  und  zur  scharfen,  markierten  Sprache 
darin  seine  bedrohte  Situation,  sein  Zorn  gegen  den  Po- 
lizeistaat und  sein  Wunsch,  nur  einiges  Geld  in  [die]  Hand 
zu  bekommen,  bewogen.  Bei  ruhigerer  Überlegung  würde 
er  das  Werk  mehr  ausgefeilt  haben — vielleicht  zum  Scha- 
den des  Entwurfs:  grade  das  Unfertige,  die  ungeschwächte 
Sprache,  macht  den  tiefen  Eindruck,  dem  jeder  Leser 
sich  nicht  entziehen  kann. 

Ad  4.  Allerdings  hat  Georg  die  Gesellschaft  der  Menschen- 
rechte in  Darmstadt,  ich  glaube,  auch  in  Gießen,  begrün- 
det. Ich  selbst  habe  diesen  Versammlungen  nie  beigewohnt, 
indem  Georg  nicht  auch  mich  in  diese  Gefahren  hinein- 
ziehen wollte,  ich  auch  in  dieser  Zeit  wenig  zu  Hause  war. 
Die  Persönlichkeiten  waren  Koch^  Mhinigeroae — die  an- 
deren Namen  sind  mir  entfallen.  In  Butzbach,  wo  eine 
geheime  Gesellschaft  bestand,  und  wohin  ich  wenige  Zeit 
vor  Georgs  Flucht  mich  in  Kondition  als  Apotheker  be- 
gab, wurde  ich  als  Bruder  Georgs  mit  offnen  Armen  emp- 
fangen. Nachdem  man  mich  kennen  gelernt,  sollte  ich  nun 
auch  in  den  geheimen  Bund  aufgenommen  werden;  ich 
war  mehr  neugierig  als  erregt  darüber.  An  einem  bestimm- 
ten Abend  wurde  ich  abgeholt,  an  einem  Haus  wurde  vor- 
sichtig Stellung  genommen,  beobachtet,  ob  man  keinen 
Lichtschimmer  an  einem  bestimmten  Fenster  sähe;  darauf 
ging  einer  der  "Verschworenen"  ins  Haus  und  kam  mit  der 
Nachricht  "Alles  in  Ordnung".  Im  Dunklen  ging's  nun  eine 
steile  Treppe  vorsichtig  hinauf;  es  brannte  im  Zimmer  ein 
dampfendes  Talglicht. — Nun  wurde  im  Flüsterton  ge- 
sprochen, Bier  gebracht.  Pfeifen  angezündet  und — über 
Mädchen,  aber  in  anständiger  Weise,  gesprochen.  Als  das 
einige  Zeit  gedauert  hatte,  gingen  die  Verschworenen 
wieder  einzeln  mit  größter  Vorsicht  fort,  und  aus  war  die 
ganze  Geschichte.  Hatte  ich  nun  früher  über  die  verwege- 


640  ANHANG 

nen  Butzbacher  so  viel  gehört,  so  hatte  ich  wohl  das  Recht, 
etwas  Besonderes  zu  erwarten.  Ich  fand  gute  Kameraden, 
derb  und  bieder;  aber  um  die  Welt  zu  verbessern,  dazu 
konnten  sie  kein  Material  abgeben — ,und  von  dem  Augen- 
blick an  war  ich  von  dem  Wahn  befreit,  als  wenn  durch 
Geheimbündelei  etwas  Gutes  zu  erzielen  sei.  Nur  als 
Handlanger  konnten  die  Leute  gebraucht  werden. 
Ad  7.  Bei  der  Vernehmung  wußte  ich,  daß  die  Fragen 
nach  Vor- und  Zunamen,  Alter  usw.  zuerst  gestellt  würden, 
um  zu  Protokoll  genommen  zu  werden.  Bei  dem  Fragen 
nach  dem  Vornamen  mußte  ich,  wollte  ich  nicht  als  ab- 
sichtlicher Lügner  dastehen,  meinen  Namen  angeben.  Bei 
Nennung  meines  Namen  "Wilhelm"  hatte  die  Sache  ein 
Ende,  indem  ich  erklärte,  ich  sei  nur  gekommen,  um  mei- 
nen Bruder  zu  entschuldigen. 

Hier  muß  ich  bemerken,  daß  der  Richter  meine  Familie 
genau  kannte,  indem  mein  Papa  Arzt  bei  demselben  war. 
Seiner  Humanität  war  es  wahrscheinlich  ohnehin  zu  dan- 
ken, daß  Georg  nicht  gleich  arretiert  und  nur  sehr  vorsichtig 
gegen  ihn  vorgegangen  wurde,  vielleicht  in  der  Absicht, 
ihm  Zeit  zur  Flucht  zu  lassen;  denn  die  Verfolgungssucht 
eines  Georgi\i2X\.^  nicht  bei  allen  Richtern  Platz  gegriffen, 
und  viele  legten  den  Verirrungen  der  Jugend  die  Bedeu- 
tung nicht  bei,  um  ganze  Familien  deshalb  ins  Unglück 
zu  bringen. — 

DER  STECKBRIEF 
Der  hierunter  signalisierte  Georg  Büchner,  Student  der 
Medizin  aus  Darmstadt,  hat  sich  der  gerichtlichen  Un- 
tersuchung seiner  indizierten  Teilnahme  an  staatsverräte- 
rischen Handlungen  durch  die  Entfernung  aus  dem  Va- 
terlande entzogen.  Man  ersucht  deshalb  die  öffentlichen 
Behörden  des  In-  und  Auslandes,  denselben  im  Betre- 
tungsfalle  festzunehmen  und  wohlverwahrt  an  die  unter- 
zeichnete Stelle  abliefern  zu  lassen. 
Darmstadt,  den  13.  Juni  1835. 

Der  von  Großh.  Hess.  Hofgericht  der  Provinz 
Oberhessen  bestellte  Untersuchungsrichter,  Hof- 
gerichtsrat Georgi. 


PERSÖNL.  ERINNERUNGEN  U.  DOKUMENTE    641 

Personal-Beschreibung 
Alter:  21  Jahre, 

Größe:  6  Schuh,  9  Zoll  neuen  Hessischen  Maßes, 
Haare:  blond, 
Stirne:  sehr  gewölbt, 
Augenbraunen:  blond, 
Augen:  grau, 
Nase:  stark, 
Mund:  klein, 
Bart:  blond, 
Kinn: rund, 
Angesicht:  oval, 
Gesichtsfarbe:  frisch, 
Statur:  kräftig,  schlank, 
Besondere  Kennzeichen:  Kurzsichtigkeit. 


ZÜRICHER  UNIVERSITÄTSPROTOKOLLE 
Protokoll  der  philosophischen  Fakultät,  Sitzung  vom  Sep- 
tember 1836. 
Da  das  Gutachten  der  Herren  Professoren  Oken^  Sc/ilnz^ 
Löwig  und  Heer  durchaus  günstig  lautet  für  die  von  Herrn 
G.  Büchner  in  Straßburg  zur  Erlangung  der  philosophi- 
schen Doktorwürde  eingereichte  Schrift:  Sur  le  Systeme 
nerveux  du  barbeaii  par  G.  Büc/iner,  Straßbourg  1836, 
wird  beschlossen,  Herrn  Büchner  auf  diese  Schrift  hin  die 
philosophische  Doktonvürde  zu  erteilen. 


Protokoll  der  philosophischen  Fakultät,  Sitzung  vom  No- 
vember 1836. 
Da  die  am  heutigen  Tage  gemäß  der  Auffordenmg  des 
Hohen  Erziehungsrates  angestellte  Probevorlesung  des 
Herrn  Dr.  Büchner  nach  Form  und  Inhalt  des  Vorgetra- 
genen den  Forderungen  der  Fakultät  vollkommen  ent- 
sprochen, wird  beschlossen,  denselben  dem  Hohen  Er- 
ziehungsrate zur  AufnaJime  unter  die  Privatdozenteii  der 
Hochschule  zu  empfehlen. 


BÜCHNER 


642  ANHANG 

DES  KANTONALSTABSARZTES  DR.  LÜNING  ER- 
INNERUNGEN AN  DEN  DOZENTEN  BÜCHNER 
Meine  erste  Begegnung  mit  Büchner  fand  im  Herbst  1836 
statt,  und  zwar  auf  der  Burgruine  Manegg  im  Sihltale  bei 
Zürich,  wohin  er  mit  dem  politischen  Schriftsteller  Dr. 
W.  Schulz  und  dessen  geistvoller  Gemahlin  Caroline  (der 
Herwegh  später  seine  Gedichte  dedizierte)  gekommen 
war.  Vor  allem  fiel  er  mir  auf  durch  die  breite,  mächtige 
Dichter-  imd  Denkerstirn,  wie  ich  sie  imposanter  nie  wie- 
der gesehen  habe,  und  durch  eine  gewisse,  äußerst  dezi- 
dierte  Bestimmtheit  in  Aufstellung  von  Behauptungen,  die 
zwar  von  hoher  Selbständigkeit  des  Urteils  zeugte,  zu- 
weilen aber  doch  ein  wenig  über  das  Ziel  hinausschoß. 
So  erinnere  ich  mich,  daß  er  an  demselben  Tage  den  be- 
kannten Revolutionsmann  Eulogius  Schneider  mit  dem 
Philologen  Schneider  identifizieren  wollte  und  mit  der 
größten  Hartnäckigkeit,  ja  fast  Heftigkeit,  auf  seinem 
Satze  bestand,  als  Herrmann  Saiippe  (damals  Professor  in 
Zürich,  jetzt  in  Göttingen)  ganz  maßvoll  widersprach.  Daß 
er — an  demselben  Tage — kühn  genug  die  landschaftlichen 
Schönheiten  des  eben  erst  verlassenen  Elsaß  als  der 
Schweiz  vollkommen  ebenbürtig  darstellte,  daran  moch- 
ten wohl  zum  Teil  ein  Paar  lieber  Augen  mit  beitragen, 
die  das  Land,  dem  sie  angehörten,  in  verklärendem  Schim- 
mer erscheinen  ließen. 

Büchner  lebte  in  Zürich  sehr  zurückgezogen;  sein  Um- 
gang beschränkte  sich  auf  das  Schulzsche  Ehepaar,  mit 
dem  auch  ich  näher  befreundet  war,  und  auf  einige  von 
früher  her  bekannte  hessische  Familien.  Wir  erfuhren  unter 
anderm  von  ihm,  daß  er  bis  vor  kurzem,  noch  ungewiß 
gewesen  war,  ob  er  sich  der  spekulativen  Philosophie  (über 
Spinoza  hatte  er  eingehende  Studien  gemacht)  oder  der 
beobachtenden  Naturivissenschaft  zuwenden  solle;  nun 
habe  er  sich  aber  definitiv  der  letzteren  gewidmet.— Da- 
mit übereinstimmend  kündigte  er  mit  Beginn  des  Winter- 
semesters 1836/37,  nachdem  er  die  venia  legendi  erhalten, 
an  der  Universität  zu  Zürich  Vorlesungen  über  vergleichende 
Aiiatomie  der  Fische  und  Amphibien  an,  die  denn  auch 
von  mir  besucht  wurden. 


PERSÖNL.  ERINNERUNGEN  U.  DOKUMENTE    643 

Unter  den  zirka  20  Zuhörern,  von  denen  die  mir  be- 
kannten sämtlich  gestorben  sind,  befand  sich  auch  der 
später  als  Reisender  in  Neuseeland  berühmt  gewordene 
Dr.  Ernst  Diefenbac/i,  wenn  ich  mich  recht  erinnere.  Der 
Vortrag  Büchners  war  nicht  geradezu  glänzend,  aber 
fließend,  klar  und  bündig,  rhetorischen  Schmuck  schien 
er  fast  ängstlich,  als  nicht  zur  Sache  gehörig,  zu  vermeiden; 
was  aber  diesen  Vorlesungen  vor  allem  ihren  Wert  ver- 
lieh und  was  dieselben  für  die  Zuhörer  so  fesselnd  machte, 
das  waren  die  fortwährenden  Beziehungen  auf  die  Be- 
deutung der  einzelnen  Teile  der  Organe  und  auf  die  Ver- 
gleichung  derselben  mit  denen  der  höheren  Tierklassen, 
wobei  sich  Büchner  aber  von  den  damaligen  Übertreibungen 
der  sogenannten  naturphilosophischen  Schule  (6>/r;/,  Carus 
usw.)  weislich  fernzuhalten  wußte;  das  waren  ferner  die 
ungemein  sachlichen,  anschaulichen  Demonstrationen  an 
frischen  Präparaten,  die  Büchner,  bei  dem  völligen  Mangel 
daran  an  der  noch  so  jungen  Universität,  sich  größten- 
teils selbst  beschaffen  mußte.  So  präparierte  er  z.  B.  das 
gesamte  Kopfnervensystem  der  Fische  und  der  Batrachier 
auf  das  sorgfältigste  an  frischen  Exemplaren,  um  diese 
Präparate  jedesmal  zu  den  Vorlesungen  verwenden  zu 
können.  DiesebeidenMomente,  diebeständige  Hinweisung 
auf  die  Bedeutung  der  Teile  und  die  anschaulichen  Demon- 
strationen an  den  frischen  Präparaten,  hatten  denn  auch 
wirklich  das  lebendigste  Interesse  bei  allen  Zuhörern  zur 
Folge.  Ich  habe  während  meines  achtjährigen  (juristischen 
und  medizinischen)  Studiums  manches  Kollegium  gehört, 
aber  ich  wüßte  keines,  von  dem  mir  eine  so  lebendige 
Erinnerung  geblieben  wäre  als  von  diesem  Torso  von 
Büchners  Vorlesungen  über  vergleichende  Anatomie  der 
Fische  und  Amphibien.  Es  sind  nun  41  Jahre,  seit  ich 
diese  Vorlesungen  besuchte,  ich  habe  während  meiner 
praktischen  Laufbahn  als  Militär-  und  Gerichtsarzt  seit- 
dem wenig  Gelegenheit  gehabt,  mich  speziell  mit  der 
feineren  vergleichenden  Anatomie  zu  beschäftigen;  aber 
das  weiß  ich  doch  noch  so  deutlich,  als  wenn  es  heute 
wäre,  daß  Büchner  bei  den  Fischen  (gegenüber  den  zwölf 
Kopfnervenpaaren  der  höheren  Tiere)  nur  sechs  Kopf- 


644  ANHANG 

nervenpaare  (und  demnach  auch  sechs  Kopfwirbel)  an- 
nahm und  die  den  Fischen  fehlenden  als  bloße  Zweige 
der  ihnen  eigentümlichen  Kopfnerven  demonstrierte,  so 
namentlich  einen  Ast  des  Nervus  vagus  als  Repräsen- 
tanten des  Nervus  glossopharyngeus  und  den  Ramus  oper- 
cularis  des  Nervus  trigeminus  als  Repräsentanten  des 
Nervus  facialis  der  höhern  Tiere;  die  Augenmuskelnerven 
dagegen  ließ  er  aus  der  bei  den  Fischen  vorhandenen 
vorderen  Wurzel  des  Nervus  opticus  entspringen.  Bei  den 
Batrachiern  nahm  er  nur  fünf  Kopfnervenpaare  an,  weil 
das  sechste  (beim  Menschen  das  zwölfte),  der  Nervus 
hypoglossus,  bei  denselben  zwischen  dem  ersten  und 
zweiten  Rückenwirbel  seinen  Ursprung  nehme.  Wir  sehen 
daraus,  daß  er  kein  naturphilosophischer  Pedant  und  Fana- 
tiker war,  bei  dem  alles  in  das  System  hineingezwängt 
werden  mußte.  So  gestand  er  auch  offen,  daß  ihm  bei  den 
Batrachiern  der  Ursprung  der  Augenmuskelnerven  nicht 
ganz  klar  sei;  er  habe  bei  seinen  Präparationen  einigemal 
geglaubt,  dieselben  aus  dem  Nervus  trigeminus  hervor- 
kommen zu  sehen.  Ein  Naturphilosoph  vom  reinsten 
Wasser  hätte  natürlich  die  Möglichkeit  der  Verschieden- 
heit des  Ursprungs  dieser  Nerven  bei  Fischen  und  bei 
Batrachiern  um  keinen  Preis  zugegeben! — 
Diese  Vorlesungen,  deren  wissenschaftlicher  Wert  end- 
lich noch  durch  die  eingehendste  Berücksichtigung  der 
in-  und  ausländischen  Literatur  erhöht  wurde,  sollten 
leider  nicht  beendigt  werden.  Nach  Beendigung  der  Vor- 
lesungen über  die  Anatomie  der  Fische  ging  der  geniale 
junge  Dozent  über  zur  Anatomie  der  Amphibien;  aber  hier 
sprach  leider  das  unerbittliche  Geschick:  bis  hieher  und 
nicht  weiter!  Es  war  dem  Vortragenden  nur  noch  ver- 
gönnt, über  Knochen-  und  Nervensystem  der  Batrachier 
zu  lesen;  dann  warf  ihn  der  damals  in  Zürich  grassierende 
Typhus  auf  das  Krankenlager,  von  dem  er  nicht  wieder 
erstehen  sollte,  und  nach  einigen  Wochen  schon  war  das 
junge,  vielversprechende  Leben  für  immer  entflohen,  und 
jenes  Kolleg  über  die  vergleichende  Anatomie  der  Fische 
und  Amphibien  blieb  das  erste  und  einzige,  das  Büchner 
gehalten  hat.— 


PERSÖNL.  ERINNERUNGEN  U.  DOKUMENTE    645 

Georg  Büchner  wohnte  im  Hause  des  kürzlich  verstorbenen 
Bürgermeisters  Dr.  Zehnder  von  Zürich,  der  ihn  in  Ge- 
meinschaft mit  Schölllein  behandelte;  verpflegt  wurde  er 
aufs  liebevollste  von  ^^x  Familie  Schuh  und  andern  deut- 
schen Familien,  und  wir  deutschen  Studenten  ließen  es 
uns  nicht  nehmen,  einen  förmlichen  VVachtdienst  für  Tag 
und  Nacht  zu  organisieren. — Da  war  ich  denn  oft  genug 
Zeuge  von  jenen  Phantasien,  wie  sie  das  arme  Gehirn  des 
Gemarterten  durchtobten  und  wie  sie  HenvegJi  1841  in 
seinen  drei  Gedichten  auf  Büchners  Andenken  so  er- 
greifend schilderte;  denn  als  ich  1839  i^^  Emmishofen  bei 
Konstanz  die  Bekanntschaft  des  damals  noch  unbekannten 
"Lebendigen"  machte,  ließ  er  nicht  nach,  mich  über  alles 
und  jedes,  was  Büchner  betraf,  zu  befragen,  und  aus  diesen 
Erzählungen  sind  großenteils  die  Schilderungen  jener 
Phantasien  des  kranken  Dichters  entstanden. — 
Das  ist  ungefähr  alles,  was  ich  von  Büchner  zu  erzählen 
wüßte;  vergessen  habe  ich  ihn  nicht:  wer  mit  dieser  Feuer- 
seele einmal  in  Berührung  kam,  dem  schwand  sie  nicht 
wieder  aus  der  Erinnerung. 


CAROLINE  SCHULZ'  TAGEBUCHAUFZEICH- 
NUNGEN ÜBER  BÜCHNERS  LETZTE  TAGE 
Februar  [183^]. 
2ten  fragten  wir  Büchner,  ob  er  einen  weiten  Spaziergang 
mit  uns  machen  wollte;  er  antwortete,  daß  er  mit  seinem 
Freunde  Schjuid  nur  einen  kurzen  Gang  machen  würde, 
weil  er  sich  nicht  ganz  wohl  fühle.  Als  wir  gegen  Abend 
nach  Hause  kamen,  klagte  er,  daß  es  ihm  fieberisch  zü- 
rn, ute  sei.  Da  er  sich  aber  nicht  zu  Bette  legen  wollte, 
aus  Furcht  nicht  einschlafen  zu  können,  setzte  er  sich  zu 
uns  aufs  Sofa.  Ich  bot  ihm  Tee  an,  den  er  ausschlug; 
bald  bemerkte  ich,  daß  er  einschlief,  und  als  er  erwachte, 
bat  ich  ihn  dringend,  sich  zu  Bett  zu  legen,  was  er  auch 
endlich  tat,  nachdem  er  ein  Senffußbad  genommen  hatte. 
Wir  sagten  ihm,  daß  er  an  der  Wand  klopfen  solle,  die  an 
unsere  Schlafstube  stieß,  wenn  er  des  Nachts  etwas  be- 
dürfe, und  ließen  seine  Lampe  brennen. 


646  ANHANG 

3ten  hatte  Büchner  nicht  gut  geschlafen,  klagte  aberkemer- 
lei  Schmerzen.  Da  es  sehr  hell  im  Zimmer  war,  gab  ich 
ihm  grüne  Vorhänge,  auch  ein  Pferdehaarkissen  unter  den 
Kopf,  was  ihm  wohl  tat.  Ich  hatte  gehofft,  daß  er  den 
Abend  wieder  bei  uns  zubringen  könnte,  und  deswegen 
unser  gewöhnliches  Lesekränzchen  nicht  abgesagt;  da  er 
aber  nicht  dabei  sein  konnte,  ließ  er  sich  von  uns  er- 
zählen, womit  wir  uns  unterhalten  hatten. 

4ten  war  das  Fieber  etwas  stärker,  doch  gab  es  zu  keiner 
Besorgnis  Raum;  er  aß  etwas  Suppe  imd  Obst  und  ver- 
sicherte, daß  es  ihm  ganz  wohl  in  seinem  Bette  sei.  Wir 
erhielten  Briefe  von  den  Unsrigen,  die  ich  ihm  vorlas  und 
denen  er  mit  Interesse  zuhörte. 

5ten  klagte  er  über  Schlaflosigkeit;  ich  suchte  ihn  damit 
zu  trösten,  daß  ich  in  meiner  kürzlichen  Krankheit  viele 
Nächte  nicht  geschlafen  habe  und  dabei  noch  Schmerzen 
habe  leiden  müssen.  Er  war  sehr  geduldig  und  ruhig; 
da  wir  genötigt  waren,  einige  Besuche  zu  machen,  so  blieb 
sein  liebster  Freund  Schniid  bei  ihm;  als  wir  wieder  nach 
Hause  kamen,  ließ  er  sich  von  uns  erzählen,  doch  hatte 
er  es  nicht  gerne,  wenn  man  laut  sprach. 

6ten,  da  ich  keine  häuslichen  Geschäfte  hatte,  konnte  ich 
mich  ganz  seiner  Pflege  widmen,  was  ich  von  Herzen 
gerne  tat.  Es  zeigte  sich  nach  und  nach  eine  große  P^mp- 
findlichkeit  bei  ihm;  man  konnte  ihm  nicht  leicht  etwas 
recht  machen,  was  seine  Freunde  oft  nicht  begreifen 
konnten.  Ich,  die  ich  aber  aus  Erfahrung  wußte,  wie  es 
einem  ist,  wenn  man  an  den  Nerven  leidet,  ich  tat  ihm 
alles,  was  er  nur  haben  wollte,  worüber  ich  jetzt  doppelt 
froh  bin. 

7ten  schickte  Frau  Seil  Suppe  für  Büchner,  die  ihm  sehr 
gut  schmeckte;  auch  die  vorgeschriebene  Arzenei  nahm 
er  gerne,  worüber  ich  ihn  oft  lobte.  Da  wir  den  Fast- 
nachtsabend bei  Seils  zubringen  sollten,  so  blieb  Büchners 
Yxt\m(\Brauhach  bei  ihm,  den  er  auch  sehr  gerne  hatte. 


PERSONL.  ERINNERUNGEN  U.  DOKUMENTE    647 

8ten  zeigte  sich  nur  sehr  wenig  Fieber,  und  er  wollte,  da 
Briefe  von  seiner  Braut  angekommen  waren,  an  dieselbe 
schreiben;  ich  bat  ihn,  dieses  zu  verschieben,  bis  er  sich 
wieder  ganz  wohl  fühlte;  auch  erbot  ich  mich,  statt  seiner 
zu  schreiben,  was  er  aber  ablehnte.  Da  die  Briefe  Minnas 
sehr  fein  geschrieben  waren,  legte  er  sie  weg,  um  sie  später 
fertig  zu  lesen. 

9ten  hatte  der  Kranke  fast  gar  kein  Fieber,  doch  klagte 
er  fortwährend  über  Schlaflosigkeit;  mein  Mann  war  des 
Nachts  lange  bei  ihm  und  bemerkte  doch,  daß  er  zuweilen 
geschlafen  hatte.  Er  war  kleinmütig,  und  wir  sprachen  ihm 
alle  Mut  ein;  auch  riet  man  ihm,  ein  wenig  aufzustehen,  um 
dann  vielleicht  besser  schlafen  zu  können .  Es  wurde  ihm  Man- 
delmilch verordnet,  die  ich  ihmbereitete  und  die  ihn  sehr  er- 
quickte. Jeden  Abend  legte  man  ihm  Senf  auf  die  Waden. 

loten  stand  er  nachmittags  auf  und  wollte  schreiben;  ich 
holte  ihm  alles  Nötige  herbei,  da  ich  sah,  daß  ersieh  durch- 
aus nicht  wollte  abhalten  lassen,  und  da  er  sagte,  daß  er 
sich  auf  dem  Sofa  wohler  wie  im  Bett  fühle,  so  freute  ich 
mich  sehr  und  nahm  es  für  ein  Zeichen  der  Besserung. 
Er  ergrifif  die  Feder,  erklärte  aber  sogleich,  nicht  schreiben 
zu  können;  ich  bot  ihm  abermals  an,  in  seinem  Namen 
zu  schreiben,  was  er  jetzt  geschehen  Heß.  Damit  er  seinen 
Geist  nicht  anstrengen  sollte,  schrieb  ich  den  Brief  nach 
meiner  Idee,  und  er  sagte  mir  alsdann,  was  ich  daran 
ändern  solle.  Endlich  war  das  Schreiben  nach  seinem 
Wunsch  ausgefallen;  er  nahm  es  mir  hastig  weg  und  setzte 
die  Worte:  ^^ Adieu  i?iein  Ki?id'^  darunter,  ließ  mich  eine 
seiner  Locken  hineinlegen  und  eilte  schnell  zu  Bett,  nach 
welchem  er  sehr  verlangte.  Nachdem  der  Brief  weg  war, 
fiel  es  mir  schwer  aufs  Herz,  daß  die  gute  Minna  viel- 
leicht diese  Worte  für  Abschiedsworte  nehmen  könnte, 
da  doch  die  Krankheit  damals  nicht  im  geringsten  ge- 
fährlich schien.  Dies  beunruhigte  mich  sehr,  und  ich  hatte 
einen  traurigen  Abend.  Mein  Mann  und  seine  anderen 
Freunde  schliefen  diese  wie  die  folgenden  Nächte  ab- 
wechselnd in  seinem  Zimmer,  was  ihm  lieb  war. 


648  ANHANG 

Uten.  Büchner  hatte  viel  Schleim  im  Halse  und  mußte 
oft  auswerfen.  Der  schwache  Tee,  den  er  morgens  genoß, 
und  die  Suppen,  die  ich  ihm  selbst  kochte,  schmeckten 
ihm  recht  gut:  doch  fiel  uns  eine  Art  Unempfindlichkeit 
(x^pathie)  an  ihm  auf.  Ich  fragte  ihn  an  diesem  Morgen, 
ob  es  ihm  angenehm  wäre,  wenn  ich  mit  meiner  Arbeit 
mich  zu  ihm  setzte,  was  er  gerne  zu  haben  schien.  Da 
er  viel  Schleim  im  Munde  hatte,  fiel  ihm  das  Sprechen 
schwer  und  er  drückte  sich  oft  durch  Gebärden  aus,  die 
mich  zu  Tränen  rührten,  auch  weil  sie  mich  lebhaft  an 
meinen  verstorbenen  Vater  erinnerten,  mit  dem  ich  sogar 
in  der  hohen  freien  Stirne  einige  Ähnlichkeit  bei  Büchner 
zu  entdecken  glaubte. —  An  einigen  Äußerungen,  die  er 
an  diesem  Tage  tat,  bemerkte  ich,  daß  sein  Geist  nicht 
ganz  helle  war.  Wir  beschlossen,  noch  einen  Arzt  kommen 
zu  lassen,  und  zwar  Sch'ö?ilein\  der  Kranke  wollte  aber 
nichts  davon  hören,  da  er  sich  nicht  so  krank  fühlte.  Es 
wurde  indessen  jetzt  jede  Nacht  gewacht,  was  seine  Freunde 
gerne  übernahmen. 

i2ten,  Sonntag,  erklärte  endlich  Büchner,  daß  trSchönlein 
zu  sprechen  wünsche;  dieser  war  aber  verreist;  sein  Assi- 
stent hatte  indessen  Büchner  schon  besucht  und  sich  mit 
den  von  Dr.  Zehnder  verordneten  Mitteln  ganz  einver- 
standen erklärt. 

i3ten.  Die  Betäubung  dauerte  fort;  am  Tage  vorher  war 
es,  wo  er  zum  ersten  Male  sagte,  der  Kopf  sei  ihm  schwer, 
und  dies  war  das  einzige  Mal  in  seiner  ganzen  Krankheit, 
daß  er  den  Kopf  klagte.  Er  war  ganz  bei  sich,  sprach 
aber  zuweilen  im  Schlaf.  Wir  schrieben  an  diesem  Tage 
an  unsre  Geschwister  nach  Darmstadt. 

i4ten.  Morgens  frühe  kam  Schö?ilein  und  billigte  ganz 
das  bisherige  Verfahren  des  Dr.  Zehnder^  auch  behielt  er 
dieselben  Arzeneien  bei.  Büchner  sprach  sehr  vernünftig 
mit  ihm,  bekam  aber  schon  während  der  Anwesenheit  der 
Ärzte  starke  Hitze.  Ich  blieb  bei  ihm,  und  ernannte  mich 
manchmal  Schmid;  wenn  ich  dann  sagte,  ich  sei  Frau 


PERSÖNL.  ERINNERUNGEN  U.  DOKUMENTE    649 

Schulz,  lächelte  er  mir  zu;  auch  glaubte  er  zuweilen,  es 
stände  jemand  in  der  Ecke  u.  dgl.  Ich  las  für  mich  im 
Morgenblatt,  das  er  für  einen  Brief  hielt;  ich  legte  es  da- 
her weg.  Gegen  Abend  bekam  er  einen  heftigen  Anfall 
von  Zittern  (Zittern  der  Hände  hatte  man  schon  früher 
bemerkt),  wobei  er  ganz  irre  sprach.  Ich  wurde  sehr  un- 
ruhig und  sorgte  von  nun  an  dafür,  daß  außer  mir  auch 
immer  noch  einer  seiner  Freunde  bei  ihm  war.  Er  wurde 
nach  und  nach  wieder  ruhiger.  Gegen  8  Uhr  kam  das 
Delirieren  wieder,  und  sonderbar  war  es,  daß  er  oft  über 
seine  Phantasien  sprach,  sie  selbst  beurteilte,  wenn  man 
sie  ihm  ausgeredet  hatte.  Eine  Phantasie,  die  oft  wieder- 
kehrte, war  die,  daß  er  wähnte,  ausgeliefert  zu  werden. 
Die  Nacht  war  unruhig;  er  sprach  viel  Französisch  und 
redete  mehrere  Male  seine  Braut  an. 

i5ten  fand  ich  ihn  morgens  früh  sehr  verändert;  doch 
kannte  er  mich,  verlangte  zu  seinem  Tee,  weil  die  Tasse 
groß  war,  auch  einen  großen  Löffel  und  spülte  sich  den 
Mund  aus.  Er  sprach,  wenn  er  bei  sich  war,  etwas  schwer, 
sobald  er  aber  delirierte,  sprach  er  ganz  geläufig.  Er  er- 
zählte mir  eine  lange  zusammenhängende  Geschichte:  wie 
man  ihn  gestern  schon  vor  die  Stadt  gebracht  habe,  wie 
er  zuvor  eine  Rede  auf  dem  Markte  gehalten  usw.  Ich 
sagte  ihm,  er  sei  ja  hier  in  seinem  Bette  und  habe  das 
alles  geträumt;  da  erwiderte  er,  ich  wisse  ja,  daß  Pro- 
fessor Escher  (einer  seiner  Schüler)  sich  für  ihn  verbürgt 
habe,  und  deshalb  sei  er  wieder  zurückgebracht  worden. 
Es  hatte  sich  nämlich  die  Idee  bei  ihm  gebildet,  er  habe 
Schulden,  was  aber  in  der  Wirklichkeit  nicht  der  Fall  war. 
Solche  Phantasien  ließ  er  sich  leicht  ausreden,  verfiel  abei 
alsdann  in  andere.  Um  1 2  Uhr  kam  Schönlein^  den  Büchner 
nicht  erkannte,  und  da  ich  um  jeden  Preis  wissen  wollte, 
wie  es  um  den  Kranken  stehe,  blieb  ich  im  Zimmer,  ob 
es  schicklich  war  oder  nicht.  Schon  als  Schönlein  eintrat, 
sagte  er:  "Welch  ein  Geruch!",  ließ  sich  den  Stuhlgang 
zeigen,  der  ganz  schwarz  war  und  aus  dickem  Blut  be- 
stand, betrachtete  den  Kranken  und  sagte  zu  mir:  "Alles 
paßt  zusammen,  es  ist  das  Faulfieber,  und  die  Gefahr  ist 


650  ANHANG 

sehr  groß."  Ich  erschrak  heftig,  und  da  meine  Nerven 
sehr  angegriffen  waren,  empfahl  mir  der  Arzt  dringend, 
das  Krankenzimmer  zu  meiden;  auch  war  männliche  Pflege 
jetzt  dringender.  Ich  konnte  jetzt  nichts  mehr  für  ihn  tun 
als  beten. — Es  wurde  ein  braver  Wärter  angenommen; 
doch  war  bei  diesem  immer  noch  einer  von  Büchners 
Freunden,  besonders  Wilhelm  und  ScJimid.  Ich  war  sehr 
traurig  und  schrieb  sogleich  nach  Straßburg. 

1 6ten.  Die  Nacht  war  unruhig;  der  Kranke  wollte  mehrere 
Male  fort,  weil  er  wähnte,  in  Gefangenschaft  zu  geraten, 
oder  schon  darin  zu  sein  glaubte  und  sich  ihr  entziehen 
wollte.  Den  Nachmittag  vibrierte  der  Puls  nur,  und  das 
Herz  schlug  löomal  in  der  Minute;  die  Ärzte  gaben  die 
Hoffnung  auf.  Mein  sonst  frommes  Gemüte  fragte  bitter 
die  Vorsehung:  ''Warum?"  Da  trat  Wilhelm  ins  Zimmer, 
und  da  ich  ihm  meine  verzweiflungsvollen  Gedanken  mit- 
teilte, sagte  er:  "Unser  Freund  gibt  dir  selbst  Antwort, 
er  hat  soeben,  nachdem  ein  heftiger  Sturm  von  Phantasien 
vorüber  war,  mit  ruhiger,  erhobener,  feierlicher  Stimme 
die  Worte  gesprochen:  '  Wir  haben  der  Schmerzen  nicht  zil 
viel^  wir  haben  ihrer  zu  wenige  denn  durch  den  Schmerz 
gehen  wir  zu  Gott  einP — '  Wir  sind  Tod^  Staub ^  Asche ^  wie 
dm-ften  wir  klagen?^  ^^  Mein  Jammer  löste  sich  in  Weh- 
mut auf,  aber  ich  war  sehr  traurig  und  werde  es  noch 
lange  sein. 

i7ten.  In  der  Nacht  phantasierte  der  Kranke  von  seinen 
Eltern  und  Geschwistern  in  den  rührendsten  Ausdrücken. 
Er  sprach  fast  immerwährend.  Schönlein,  wunderte  sich, 
ihn  am  Morgen  noch  lebend  zu  finden;  er  kam  täglich 
zweimal  und  nahm  den  größten  Anteil,  so  wie  alle,  die 
Büchner  auch  nur  entfernt  kannten.  Jeden  Morgen  ließ 
man  sich  von  verschiedenen  Seiten  nach  seinem  Befinden 
erkundigen.  Gegen  10  Uhr  kam  Frau  Pfarrer  Schmid 
von  Straßburg  und  benachrichtigte  uns,  daß  Minna  an- 
gekommen sei;  ich  erschrak  sehr,  denn  ich  fürchtete  für 
sie,  wenn  sie  den  Kranken  in  so  verändertem  Zustande 
sehen  würde.  Ich  eilte  zu  ihr  ins  Wirtshaus  und  bereitete 


PERSÖNL.  ERINNERUNGEN  U.  DOKUMENTE    651 

sie  nach  und  nach  auf  die  große  Gefahr  vor,  in  der  ihr 
Teuerstes  schwebte.  Ich  machte  mich  recht  stark  bei  ihr. 
Ich  holte  sie  nach  Tisch  mit  ihrer  Begleiterin  zu  uns;  die 
Ärzte  hatten  ihr  erlaubt,  den  Kranken  zu  sehen.  Er  er- 
kannte sie,  was  eine  schmerzliche  Freude  für  sie  war; 
unsere  Tränen  flössen  vereint  an  diesem  Tage,  und  mein 
Herz  litt  viel,  denn  es  verstand  das  ihrige.  Sie  und  Frau 
Schmid  blieben  von  nun  an  bei  uns.  Die  Nacht  war  für 
uns  alle  traurig.    Der  Kranke  delirierte  fortwährend. 

i8ten  besuchte  Minna  frühe  den  Kranken,  der  sie  deut- 
licher wie  am  vorigen  Tage  erkannte;  er  sprach  zu  ihr, 
auch  von  ihrem  Vater,  doch  konnte  man  nicht  alles  ver- 
stehen, denn  seine  Stimme  war  jetzt  schwächer.  Er  ließ 
sich  den  Mund  reinigen,  nahm  aus  Minnas  Händen  ein 
wenig  Wein  und  Konfitür,  aß  mittags  etwas  Suppe,  nannte 
mehrere  seiner  Freunde  mit  Namen,  auch  der  Puls  hob 
sich  ein  wenig;  alles  dieses  war  ein  Hofifnungsstrahl  für 
uns,  trotz  den  Ärzten,  die  nichts  darauf  gaben,  aber  nur 
ein  Hoffnungsstrahl,  denn  am  Abend  traten  von  neuem 
üble  Symptome  ein.  Die  Nacht  war  ruhig,  da  die  Schwäche 
zunahm;  doch  sprach  der  Kranke  immerfort. 

ipten,  Sonntag.  Der  Atem  wurde  schwerer,  die  Schwäche 
größer,  der  Tod  mußte  nahe  sein.  Das  starke  Mädchen 
bat  meinen  Mann,  sie  zu  rufen,  wenn  der  verhängnisvolle 
Augenblick  käme,  denn  lange  konnte  und  durfte  sie  nicht 
im  Krankenzimmer  verweilen.  Es  war  Sonntag;  der  Him- 
mel war  blau,  und  die  Sonne  schien.  Die  Kinder  hatte 
man  weggeschickt,  es  war  stille  im  Hause  und  stille  auf 
der  Straße.  Die  Glocken  läuteten.  Minna  und  ich  saßen 
allein  in  meinem  traulichen  Stübchen,  Wir  wußten,  daß 
wenige  Schritte  von  uns  ein  Sterbender  lag  und  welcher! 
Wir  hatten  uns  aber  in  den  Willen  der  Vorsehung  er- 
geben, denn  was  ja  in  der  Menschen  Macht  lag,  den  Teuren 
zu  retten,  war  geschehen.  Ich  erinnere  mich  in  meinem 
Leben  wenig  so  feierlicher  Stunden,  wie  diese;  eine  heilige 
Ruhe  goß  sich  über  uns.  Wir  lasen  einige  Gedichte,  wir 
sprachen  von  ihm,  bis  Wilhelm  eintrat,  Minna  zu  rufen, 


652  ANHANG 

damit  sie  dem  Geliebten  den  letzten  Liebesdienst  erzeige. 
Sie  tat  es  mit  starker  Ruhe,  aber  dann  brach  ihr  Schmerz 
laut  aus.  Ich  nahm  sie  in  meine  Arme  und  weinte  mit 
ihr.  Sie  wurde  ruhiger  und  endigte  einen  angefangenen 
Brief.  Der  Abend  verging  uns  in  Gesprächen  über  den 
Hingeschiedenen;  oft  gedachten  wir  mit  Schmerz  der 
armen  Eltern  und  Geschwister  des  Verewigten.  Minna 
brachte  die  Nacht  bei  mir  zu,  und  da  wir  lange  nicht  ge- 
schlafen hatten,  behauptete  die  Natur  ihr  Recht,  und  ein 
sanfter  Schlummer  stärkte  uns.  Am  Abend  war  ein  Brief 
aus  Darmstadt  gekommen,  der  uns  tief  bewegte;  ich  be- 
antwortete ihn  am 

2oten.  Auch  Minna  schrieb  an  ihren  Vater.  Wir  lasen  in 
einer  Aft  Tagebuch,  das  sich  unter  Büchners  Papieren  ge- 
funden hatte  und  reiche  Geistesschätze  enthält.  Die  Freunde 
des  Verewigten  brachten  den  Abend  bei  uns  zu,  und  er 
war  wie  immer  der  Gegenstand  unsrer  Unterhaltung.  Da 
er  sich  über  alles,  was  uns  interessierte,  so  oft  mit  uns 
besprochen  hatte,  so  wußten  wir  viel  von  ihm  zu  erzählen. 
Fast  jeder  Gegenstand,  der  uns  umgab,  erinnerte  uns  an 
diese  oder  jene  geistreiche  Bemerkung,  die  er  darüber 
gemacht.  Bald  flössen  unsre  Tränen,  und  bald  mußten 
wir  lachen,  wenn  wir  uns  seine  treffende  Satire,  seine 
witzigen  Einfälle  und  launigen  Scherze  ins  Gedächtnis 
zurückriefen. 

2  iten.  Der  Himmel  war  helle,  und  die  Sonne  schien  dem 
Tage,  an  dem  seine  irdische  Hülle  der  Erde  wiedergegeben 
werden  sollte.  Wir  wanden  am  Morgen  einen  großen 
Kranz  von  lebendigem  Grün,  Lorbeer  und  Myrten  und 
weißen  Blüten,  der  nach  hiesiger  Sitte  den  ganzen  Sarg 
umgeben  sollte.  Auch  ließ  Minna  dem  Dichter  und  Bräu- 
tigam durch  Wilhelm  einen  Lorbeer-  und  Myrtenkranz 
auf  die  hohe  blasse  Stirne  drücken.  Ein  Strauß  von  leben- 
digen Blumen,  den  einige  Freundinnen  schickten,  ruhte 
in  seinen  Händen.  Um  4  Uhr  sollte  das  Begräbnis  statt- 
finden; ich  verließ  daher  gleich  nach  Tisch  mit  Minna  das 
Haus,  denn  einem  zerrissenen  Herzen  können  die  An- 


PERSÖNL.  ERINNERUNGEN  U.  DOKUMENTE    653 

stalten  dazu  keinen  Trost  gewähren.  Wir  besuchten  zu- 
erst den  Lieblingsspaziergang  unsers  Freundes,  einen 
kleinen  Platz  am  See,  und  dann  begaben  wir  uns  zu  einer 
teilnehmenden  Freundin,  wo  wir  bis  zum  Abend  blieben. 
Wilhelm  holte  uns  dort  ab  und  erzählte  uns,  daß  mehrere 
hundert  Personen,  die  beiden  Bürgermeister  und  andere 
der  angesehensten  Einwohner  der  Stadt  an  der  Spitze, 
den  Verewigten  zur  Ruhestätte  begleitet  hatten.  Die  Teil- 
nahme der  ganzen  Stadt  war  groß.  Bekannte  und  Unbe- 
kannte waren  tief  erschüttert  durch  den  Tod  eines  so  geist- 
und  talentvollen  jungen  Mannes. 

Am  Abend  schickte  eine  Freundin  einen  Blumentopf,  ge- 
füllt mit  der  Erde,  in  der  der  Vollendete  ruht.  Das  Immer- 
grün, das  darin  stand  und  das  auch  auf  seinem  Grabe 
sproßt,  sei  uns  ein  Symbol  der  Plofifnung,  der  Hoffnung 
des  Wiedersehens.  Mit  den  herzlichsten,  teilnehmendsten 
Worten  an  Minna  war  dieses  sinnige  Geschenk  begleitet. 


WILHELM  SCHULZ'  NACHRUF 
Im  Verlaufe  weniger  Tage  hat  der  Tod  zwei  ausgezeichnete 
deutsche  Männer  den  Reihen  ihrer  trauernden  Landsleute 
und  der  Genossen  ihres  Schicksals  entrissen.  Am  15.  Fe- 
bruar wurde  Ludivig  Börne  zu  Paris,  am  21.  Februar  Georg 
Büc/mer  zViZmich.  beerdigt.  Beide  ruhen  in  fremdem  Lande, 
denn  beiden  hatte  sich  das  Vaterland  verschlossen.  Wenn 
Börne  im  heiligen  Kampfe  für  Licht  imd  Recht  ein  lang 
erprobter  Streiter  war,  dermitsteter  Ausdauer  die  scharfen 
Geisteswafifen  gegen  Unterdrückung  und  Knechtschaft, 
gegen  Heuchelei  und  Lüge  gerichtet  hatte,  so  begrüßten 
alle,  welche  Georg  Büchner  näher  kannten,  in  diesem  die 
frische  Jugendkraft,  der  eine  weite  Bahn  des  Ruhms  und 
der  Ehre  offen  lag.  Große  Hoffnungen  ruhten  auf  ihm, 
und  so  reich  war  er  mit  Gaben  ausgestattet,  daß  er  selbst 
die  kühnsten  Erwartimgen  übertrofifen  haben  würde. 
Georg  Büchner^  der  Sohn  eines  angesehenen  Arztes  zu 
Darmstadt,  wurde  am  17.  Oktober  1813  zu  Goddelau  bei 
Darmstadt  geboren.  Nachdem  er  das  Gymnasium  dieser 
Stadt  besucht,  widmete  er  sich  zu  Straßburg  vom  Herbste 


654  ANHANG 

1831  bis  zum  August  1832,  sodann  vom  Oktober  dieses 
Jahres  bis  zur  Mitte  des  Jahres  1833  dem  Studium  der 
Naturwissenschaften,  besonders  der  Zoologie  und  ver- 
gleichenden Anatomie.  In  dieser  Zeit  von  einer  Unpäß- 
lichkeit befallen,  fand  er  sorgsame  Pflege  im  Hause  des 
Pfarrers  Jägk  zu  Straßburg.  Während  dieser  Krankheit 
verlobte  er  sich  mit  der  Tochter  dieses  würdigen  Geist- 
lichen, welche  durch  Geist  und  Herz  in  jeder  Beziehung 
seiner  würdig  war.  Die  Gesetze  seines  Heimatlandes 
riefen  ihn  im  Herbst  1833  auf  die  Universität  Gießen, 
wo  er  sein  Studium  der  Naturwissenschaften  fortsetzte 
und  zugleich,  nach  dem  Wunsche  seines  Vaters,  mit  der 
praktischen  Medizin  sich  befaßte.  Durch  eine  Hirnent- 
zündung im  Frühjahr  1834  erlitten  diese  Studien  einige 
Unterbrechung;  doch  kehrte  er  nach  kurzem  Aufenthalte 
in  Darmstadt  nach  Gießen  zurück,  wo  er  bis  zum  Herbst 

1834  verweilte.  Von  da  begab  er  sich  abermals  in  sein 
elterliches  Haus  zu  Darmstadt,  wo  er  fortwährend  mit 
Naturwissenschaften  sowie  mit  Philosophie  sich  beschäf- 
tigte und  zugleich,  im  Auftrage  seines  Vaters,  anatomische 
Vorlesungen  hielt. 

In  der  letzten  Zeit  seines  Aufenthalts  in  Gießen  wurde 
Büchner,  mit  vielen  andern  Jünglingen  seines  Sinnes  und 
Alters,  in  die  politischen  Bewegungen  jener  Zeit  verwickelt. 
Der  gegen  ihn  eingeleiteten  Untersuchung  entzog  er  sich 
im  März  1835  durch  seine  Abreise  nach  Straßburg.  Hier 
gab  er  entschieden  die  praktische  Medizin  auf  und  wid- 
mete sich  mit  rastlosem  Eifer  dem  Studium  der  neueren 
Philosophie.  Besonders  tief  drang  er  in  die  Lehren  von 
Cartesius  und  Spinoza  ein.  Eine  gleiche  Tätigkeit,  die  ihn 
häufig  seine  Arbeiten  bis  tief  in  die  Nacht  fortsetzen  ließ, 
wendete  er  auf  die  Naturwissenschaften.    Im  Dezember 

1835  begann  er  die  Vorarbeiten  für  seine  Abhandlung 
Sur  le  Systeme  7ierveux  du  barbeau,  welcher  er  die  Ernen- 
nung zum  korrespondierenden  Mitgliede  der  naturforschen- 
den Gesellschaft  zu  Straßburg  verdankte.  Durch  Ein- 
sendung derselben  Abhandlung  an  die  philosophische 
Fakultät  zu  Zürich  erwarb  er  sich  die  philosophische 
Doktorwürde.    Von  den  ausgezeichnetsten  Kennern   der 


PERSÖNL.  ERINNERUNGEN  U.  DOKUMENTE    655 

Naturwissenschaften  ist  diese  Schrift  für  eine  meisterhafte 
Arbeit  erklärt  worden,  die  zu  den  höchsten  Erwartungen 
berechtige.  Gleichbedeutend  kündigte  er  sich  durch  seine 
Probevorlesung  und  seine  akademischen  Vorträge  über  ver- 
gleichende Anatomie  an  der  Hochschule  zu  Zürich  an, 
wohin  er  sich  am  18.  Oktober  vorigen  Jahres  zu  bleiben- 
dem Aufenthalte  begeben  hatte. 

Aber  nicht  bloß  die  Natur,  auch  das  reiche  innere  Leben 
der  Menschen,  ihre  Leidenschaften  und  Neigungen,  ihre 
Schwächen  und  Tugenden  zogen  ihn  mächtig  an,  und  was 
er  mit  scharfem  Blicke  aufgefaßt,  gestaltete  sich  seinem 
produktiven  Geiste  zu  poetischen  Schöpfungen.  Besonders 
hatte  ihn  das  große  Drama  der  neueren  Zeit,  die  franzö- 
sische Revolution,  lebhaft  ergriffen.  Er  studierte  gründ- 
lich die  Geschichte  derselben  und  bemächtigte  sich  eines 
ihrer  bedeutendsten  Stoffe.  In  politische  Untersuchungen 
verwickelt,  unter  mannigfachen  Störungen  und  Beschäf- 
tigungen verschiedener  Art,  vollendete  er  in  wenigen 
Wochen,  während  seines  letzten  Aufenthalts  zu  Darm- 
stadt, sein  dramatisches  Werk:  ^'-Dantons  Tod\  dramatische 
Bilder  aus  der  Zeit  der  Schreckensherrschaft".  Einer  der 
strengsten  und  geistvollsten  Kritiker  Deutschlands  be- 
zeichnete dieses  Drama  als  das  Werk  des  Genies,  und 
pries  sich  glücklich,  der  Erste  zu  sein,  welcher  das  deut- 
sche Publikum  auf  den  so  hervorragenden  Geist  aufmerk- 
sam mache.  In  Straßburg  gab  sodann  Büchner  sehr  ge- 
lungene Übersetzungen  der  beiden  Dramen  Viktor  Hugos, 
Liicretia  Borgia  und  Maria  Tiidor,  heraus.  In  derselben 
Zeit  und  später  zu  Zürich  vollendete  er  ein  im  Manu- 
skript vorliegendes  Lustspiel,  Lconce  und  Lena^  voll  Geist, 
Witz  und  kecker  Laune.  Außerdem  findet  sich  unter  seinen 
hinterlassenen  Schriften  ein  beinahe  vollendetes Drama^  so- 
wie das  Fragment  einer  Novelle,  welche  die  letzten  Lebens- 
tage des  so  bedeutenden  als  unglücklichen  Dichters  Lenz 
zum  Gegenstande  hat.  Diese  Schriften  werden  demnächst 
im  Druck  erscheinen. 

Der  so  reich  begabte  junge  Mann  war  mit  zu  viel  Tat- 
kraft ausgerüstet,  als  daß  er  bei  der  jüngsten  Bewegung 
im  Völkerleben,  die  eine  bessere  Zukunft  zu  verheißen 


656  ANHANG 

schien,  in  selbstsüchtiger  Ruhe  hätte  verharren  sollen. 
Durch  seinen  frühe  gereiften  Geist  auf  eine  heitere  Höhe 
gestellt,  blieb  er  indessen  in  seinen  politischen  Ansichten 
von  manchen  Täuschungen  frei,  welchen  sich  die  Jugend 
willig  hinzugeben  pflegt.  Ein  Feind  jeder  töricht  unbe- 
sonnenen Handlung,  die  zu  keinem  günstigen  Erfolge 
führen  konnte,  haßte  er  doch  jenen  tatenlosen  Liberalis- 
mus, der  sich  mit  seinem  Gewissen  und  seinem  Volke 
durch  leere  Phrasen  abzufinden  sucht,  und  war  zu  jedem 
Schritte  bereit,  den  ihm  die  Rücksicht  auf  das  Wohl  seines 
Volkes  zu  gebieten  schien.  So  haben  denn  in  gleicher 
Weise  die  Wissenschaft,  die  Kunst  und  das  Vaterland  seinen 
frühzeitigen  Verlust  zu  beklagen.  Dieses  Vaterland  hatte 
er  verlassen  müssen,  aber  der  Genius  ist  überall  zu  Hause. 
In  Zürich  hätte  er  eine  zweite  Heimat  gefunden;  dafür 
bürgt  die  Anerkennung,  die  ihm  seine  Talente  erwarben, 
dafür  die  Teilnahme,  die  von  so  vielen  der  ausgezeich- 
netsten Bewohner  dieser  Stadt  seinem  Andenken  am  Tage 
der  Beerdigung  bezeigt  wurde. 

Keiner  seiner  Freunde  hatte  diesen  Tag  noch  vor  wenigen 
Wochen  nahe  geglaubt.  Außer  einigen  leichten  Unpäß- 
lichkeiten war  Büchner  während  seines  Aufenthalts  in 
Zürich  stets  gesund  geblieben.  Sein  Äußeres  schien  mit 
seinem  Innern  in  Harmonie  zu  stehen,  und  die  breit  ge- 
wölbte Stirne  schien  noch  lange  seinem  umfassenden  Geiste 
eine  sichere  Stätte  zu  sein.  Doch  mochte  er  selbst  ein 
Vorgefühl  seines  frühen  Endes  haben.  W^enigstens  ver- 
gleicht er  in  einem  hintcrlassenen  Tagebuche  den  Zustand 
seiner  Seele  mit  einem  Herbstabende,  und  schließt  seine 
Bemerkung  mit  den  Worten:  ^^  Ich  fühle  keinen  Ekel,  keinen 
Überdruß;  aber  ich  bin  müde^  sehr  mitde.  Der  Herr  schenke 
mir  RiiheP^ 

Am  2.  Februar  mußte  er  sich  zu  Bette  legen,  das  er  von 
jetzt  an  nur  für  wenige  Augenblicke  verließ.  Trotz  der 
Sorgfalt  der  Ärzte  und  der  Pflege  seiner  Freunde  machte 
die  Krankheit  unaufhaltbare  Fortschritte  und  bildete  sich 
bald  zum  heftigen  Nervenfieber  aus.  Am  12.  Tage  fingen 
die  Delirien  an.  Der  Gegenstand  seiner  Phantasien  waren 
seine  Braut,  seine  Eltern  und  Geschwister,  deren  er  mit 


PERSÖNL.  ERINNERUNGEN  U.  DOKUMENTE    657 

der  rührendsten  Anhänglichkeit  gedachte,  und  das  Schick- 
sal seiner  politischen  Jugendgenossen,  die  seit  Jahren  in 
den  Kerkern  seiner  Heimat  schmachten.  Wie  vor  seiner 
Krankheit,  so  sprach  er  auch  jetzt  in  bitteren,  aber  wahren 
Worten,  die  im  Munde  eines  Sterbenden  ein  doppeltes 
Gewicht  haben,  über  jene  Schmach  unserer  Tage  sich  aus, 
über  die  verwerfliche  Behandlung  der  politischen  Schlacht- 
opfer, die  nach  gesetzlichen  Formen  und  mit  dem  An- 
schein der  Milde  in  jahrelanger  Untersuchungshaft  ge- 
halten werden,  bis  ihr  Geist  zum  Wahnsinne  getrieben  imd 
ihr  Körper  zu  Tode  gequält  ist.  "/;/.  jener  Französischen 
Revolution^'''  so  rief  er  aus,  ^^die  wegen  ihrer  G?'ausamkeit 
so  verrufen  ist,  war  man  milder  als  jetzt.  Man  schlug  seinen 
Gegnern  die  Köpfe  ab.  Gut!  Aber  man  ließ  sie  nicht  jahre- 
lang hinschmachten  und  hinsterben.^''  Später  jedoch,  als 
ihm  der  Tod  näher  gerückt  war,  schien  er  sich  bereits  von 
allen  irdischen  Banden  losgerissen  zu  haben,  und  mit  ge- 
hobener Sprache,  deren  Worte  die  erhabensten  Stellen 
der  Bibel  ins  Gedächtnis  riefen,  ergoß  sich  seine  Seele  in 
religiöse  Phantasien. 

Auf  die  erste  Nachricht  von  seiner  Krankheit  eilte  seine 
Verlobte  an  das  Krankenbett  ihres  Bräutigams.  Die  Nähe 
der  Geliebten  leuchtete  freundlich  in  seine  Träume  hin- 
ein, und  seine  sichtbar  freudige  Bewegung  weckte  einen 
letzten  Schimmer  der  Hoffnung  bei  denen,  die  ihm  nahe- 
standen. Aber  es  war  nur  ein  kurzes  Aufflackern  des  ver- 
glimmenden Lebens!  Von  Landsleuten  und  Freunden  um- 
geben starb  er  am  1 9.  Februar,  nachmittags  gegen  vier  Uhr, 
und  seine  treue  Braut  schloß  ihm  das  gebrochne  Auge. 
Sein  Verscheiden  war  schmerzlos  tmd  sanft,  denn  der 
Segen  der  Liebe  ruhte  auf  ihm! 


BUCHNER  42 


LESARTEN 


)  66i  C 
VORBEMERKUNG 


DAS  folgendeVerzeichnis  enthält  nur  diejenigen  Varian- 
ten, die  auf  Büchner  selbst  zurückgehen  oder  in  dieser 
Hinsicht  fraglich  sind.  Vor  allem  sind  also  die  abweichenden 
Lesartendes  handschriftlichen  Nachlasses  wiedergegeben, 
bei  den  Dichtungen  auch  die  gestrichenen  Stellen,  da- 
mit sich  der  Leser  die  Arbeitsweise  des  Dichters  möglichst 
vergegenwärtigen  kann.  Von  der  Wiedergabe  auch  der 
Orthographie  und  der  Literpunktion  der  Plandschriften 
wurde,  mit  Ausnahme  besonderer  Fälle,  abgesehen,  um 
das  Verzeichnis  nicht  durch  die  Aufnahme  bloßer  Äußer- 
lichkeiten zu  stark  zu  belasten.  Keine  Äußerlichkeit,  son- 
dern eine  dialektische  EigentümHchkeit  ist  es  freilich, 
wenn  Büchner  ständig  bieder  schreibt;  trotzdem  wurde 
aus  ästhetischen  Gründen  auch  hier  die  Normalisierung 
vorgenommen  und  nur  in  seinen  Entwürfen  und  Jugend- 
arbeiten die  anfangs  noch  schwankende  originale  Schreib- 
weise beibehalten.  Die  Beschreibung  der  einzelnen  Hand- 
schriften erfolgt  jeweils  unten  am  betreffenden  Orte;  zu 
Büchners  Hand  im  allgemeinen  aber  sei  kurz  bemerkt, 
was  für  die  Erkenntnis  mancher  Lesefehler  seiner  Her- 
ausgeber wichtig  ist,  daß  er,  von  Fremdworten  und  Ei- 
gennamen abgesehen,  Fraktur  schrieb,  und  zwar  eine 
ziemlich  kleine  und  gern  fast  stenographisch  abgekürzte 
Fraktur,  bei  der  namentlich  m,  \l,  e,  a,  r,  S  sowie  Q,  3,  p 
und  f[,  ft,  ^  oft  schwer  zu  unterscheiden  sind.  —  Die  ge- 
druckte Überlieferung  ist,  wie  schon  angedeutet,  nur  in- 
soweit herangezogen,  als  sie  zur  Herstellung  des  echten 
Textes  etwas  beitragen  kann;  die  absichtlichen  oder  irr- 
tümhchen  Abweichungen  Gutzkows,  Dullers,  Ludwig 
Büchners  und  auch  Franzos'  sind  also  nicht  berücksich- 
tigt. Wo  freilich  die  gesamte  Überlieferung  im  Stich 
läßt  und  der  echte  Wortlaut  erst  erschlossen  werden 
mußte,  sind  auch  die  textverderbten  Stellen  zur  Begrün- 
dung der  Konjekturen  mitgeteilt  worden.  Im  übrigen  ward 
der  Rahmen  eines  bloßen  Variantenapparates  nicht  eng- 
herzig innegehalten,  um  gelegentlich  auch  Fragen  höherer 
Textkritik  Raum  zu  gewähren  oder  die  Ergänzung  lücken- 


662  LESARTEN 

hafter  Stellen  in  der  Überlieferung  aus  den  Quellen  mög- 
lich zu  machen. 

Für  den  Text  Büchners  ist  im  Verzeichnis  der  Lesarten 
die  Antiqua-  und  Kursivschrift  beibehalten,  während  die 
editorischen  Bemerkungen  in  Fraktur  gesetzt  sind.  Die 
Klammer  {  }  bedeutet,  daß  die  betreffende  Stelle  der 
Handschrift  von  Büchner  gestrichen  ist;  was  in  eckigen 
Klammern  steht,  ist  Zusatz  des  Herausgebers.  Für  nicht 
entzifferbare  Wörter  sind  ebensoviele  Punkte  in  Mitte  der 
Zeilenhöhe  eingesetzt.  Die  ständig  wiederkehrenden  Sig- 
len  bedeuten: 

H  =  Handschrift  Büchners;  hs  =  handschriftlicher  Ent- 
wurf oder  Torso. 
N  =  Nachgelassene  Schriften  von  Georg  Büchner.  [Her- 
ausgegeben von  Ludwig  Büchner.]  Frankfurt  a.  M., 
J.  D.  Sauerländers  Verlag.  1850.  [302  S.] 
F  =  Georg  Büchners  Sämmtliche  Werke  und  handschrift- 
licher Nachlaß.  Erste  kritische  Gesammt- Ausgabe. 
Eingeleitet  und  herausgegeben  von  Karl  Emil  Fran- 
zos.  Mit  Portrait  des  Dichters  und  Ansicht  des  Zü- 
richer Grabsteins.  Frankfurt  am  Main,  J.  D.  Sauer- 
länders Verlag.  1879.  [CLXXX  u.  472  S.] 
Die  übrigen   Siglen  werden  an  Ort  und   Stelle  erklärt. 
Sonst  häufiger  gebrauchte  Abkürzungen: 
a.  R.  =  am  Rande  ursprgl.  =  ursprünglich 

durchstr.  =  durchstrichen    verb.  =  verbessert 
eingef.  =  eingefügt  wiederhergest.  =  wiederher- 

gestr.  =  gestrichen  gestellt 

nachgetr.  =  nachgetragen    zugef.  =  zugefügt 


)  663  ^ 
DICHTUNGEN  (S.  5-161). 

DIE  zeitliche  Folge  der  poetischen  Werke  Büchners  steht 
im  allgemeinen  fest,  nur  die  Einordnung  des  'Lenz' 
vor  das  Lustspiel  mag  kurz  begründet  werden. 
Büchners  Interesse  für  den  Dichter  Lenz  spricht  schon  aus 
dem  Zitat  Lenzischer  Verse  in  dem  Brief  an  die  Braut  vom 
März  1833  (S.  535 f-)-  Von  der  Absicht  des  Dichters,  eine 
Lenz-Novelle  zu  schreiben,  hören  wir  zum  ersten  Mal  durch 
Gutzkows  Brief  vom  Mai  35  (S.  617),  und  Gutzkow  baut 
auch  noch  fest  auf  dies  zweite  Werk  Büchners  im  Juli  35 
(S.  618).  Wenn  Büchner  der  Familie  gegenüber  seinen  Plan 
erst  im  Oktober  35  erwähnt  (S.  557),  so  wohl  deshalb,  weil 
er  von  selten  der  Eltern  eine  Mahnung,  sich  nicht  wieder 
von  der  wissenschaftlichen  Laufbahn  abbringen  zu  lassen, 
zu  befürchten  hatte.  Immerhin  mag  die  Beschränkung  des 
ursprünglichen  Planes  auf  einen  bloßen  "Aufsatz"  keine 
Verschleierung  der  Familie  gegenüber  sein,  sondern  eine 
tatsächliche  Folge  der  Inanspruchnahme  durch  die  wissen- 
schaftliche Arbeit,  die  in  jenem  Brief  an  die  Angehörigen 
gleich  darauf  erwähnt  wird.  Auch  Gutzkow  bescheidet 
sich  im  September  35  bereits  und  wünscht,  fürs  erste  wenig- 
stens, nur  noch  "Erinnerungen  an  Lenz"  (S.  619),  und  bei 
der  nächsten  Erwähnung  des  Lenz-Planes  hat  er  über- 
haupt jede  Hoffnung  auf  dessen  Ausführung  aufgegeben: 
"Eine  Novelle  Lenz  war  einmal  beabsichtigt",  schreibt  er 
im  Februar  36  (S.  622).  Danach  wird  der  'Lenz'  in  Büch- 
ners Briefwechsel  überhaupt  nicht  mehr  genannt.  Ge- 
meint ist  er  wohl  noch  mit  den  "Artikeln",  die  Büchner 
laut  Brief  an  die  Familie  vom  Januar  2>^  (S.  559)  für  die 
verbotene  Deutsche  Revue  bereit  hatte  und  nun  an  den 
Phönix  schicken  will;  denn  für  die  Revue  hatte  ja  Gutz- 
kow die  "Lenziana"  haben  wollen  (S.  619),  und  für  andere, 
im  Phönix  wirklich  erschienene  Artikel  kommt  Büchners 
Verfasserschaft  nicht  in  Frage.  Aber  in  jenem  Brief  an  die 
Angehörigen  vom  Januar  36  äußerte  derDichter  auch  schon 
kategorisch:  "Ich  gehe  meinen  Weg  für  mich  und  bleibe 
auf  dem  Felde  des  Dramas"  (S.  560).  Die  Arbeit  am  'Lenz', 
durch  Stöber  einst  angeregt,  ist  offenbar  eingestellt,  der 
Gedanke  an  eine  Novelle  ganz  aufgegeben. 
Hingegen  kündet  sich  nun  erst  die  neue  dramatische  Be- 
tätigung Büchners  an.  Gutzkow  kann  erst  zwischen  Fe- 
bruar und  Juni  T)6  davon  erfahren  haben,  da  er  sonst  schon 


664  LESARTEN 

in  seinem  Februarbrief  auf  solche  Mitteilung  mit  freudiger 
Anteilnahme  eingegangen  wäre;  in  der  Antwort  vom  Juni 
spricht  er  dann  freilich  gleich  von  mehreren  "Ferkel- 
dramen" (S.623).  Doch  vor  dem  Februar  ^^  kann  'Leonce 
und  Lena'  auch  gar  nicht  geschrieben  sem,  da  dies  Stück  be- 
kanntlich durch  Cottas  Preisausschreiben  auf  das  beste 
Lustspiel  veranlaßt  worden  ist.  "Die  Cottasche  Buchhand- 
lung", heißt  es  in  Ludwig  Büchners  Einleitung  (N,  S.  $y), 
"hatte  bis  zum  i.  Juli  1836  einen  Preis  auf  das  beste  Lust- 
spiel ausgesetzt,  und  Büchner  wollte  mit  seiner  Arbeit 
konkurrieren.  Seine  Trägheit  im  Abschreiben  des  Kon- 
zepts ließ  ihn  leider  die  Zeit  versäumen;  er  schickte  das 
Manuskript  zwei  Tage  zu  spät  und  erhielt  es  uneröffnet  zu- 
rück." Da  Cottas  "Preisaufgabe"  am  3.  Februar  36  im 
,Intelligenzblatt'  (Nr.  3)  veröffentlicht  wurde,  ist  damit  die 
zeitliche  Entstehungsmöglichkeit  des  Lustspiels  ziemlich 
genau  umschrieben. 

Endlich  ist  hier  noch  des  verlorenen  Dramas  PIETRO  ARE- 
TINO  Erwähnung  zu  tun.  Daß  außer  dem  Lustspiel 
'Leonce  und  Lena'  und  dem  Trauerspiel  'Woyzeck'  noch 
ein  drittes  Drama  in  der  letzten  Lebenszeit  Büchners  ent- 
standen sein  muß,  geht  aus  den  beiden  Briefzeilen  an  die 
Braut  vom  Januar  t,"/  (S.  567)  klar  hervor.  An  dies  dritte 
Stück  müssen  wir  aber  auch  schon  bei  den  "Ferkeldramen" 
denken,  von  denen  Gutzkows  Junibrief  ■^6  spricht;  denn 
als  solch  Ferkeldrama  ist  wohl  noch  'Leonce  und  Lena', 
besonders  in  der  Fassung  des  Telegraf,  anzusehen,  nicht 
aber  der  'Woyzeck'.  Auch  Büchners  Mitteilung  vom 
2.  Sept.  36,  er  sei  "gerade  daran,  sich  einige  Menschen  auf 
dem  Papier  totschlagen  oder  verheiraten  zu  lassen" 
(S.  565),  zielt  wohl  mit  auf  dies  dritte  Drama,  da  ja  'Leonce 
und  Lena'  bereits  vollendet  war  und  im  'Woyzeck'  nie- 
mand verheiratet  wird.  Merkwürdigerweise  wird  nun  dies 
dritte  Werk  des  Dramatikers  in  Schulz'  Nachruf  (S.  655) 
überhaupt  nicht  erwähnt:  wünschte  die  Braut  seine  Be- 
kanntgabe vielleicht  schon  damals  nicht?  Erst  in  Ludwig 
Büchners  Einleitung  zu  N  erfahren  wir  etwas  Näheres  von 
seinem  Inhalt:  "Es  handelte,  wie  aus  mündlichen  Mittei- 
lungen des  Dichters  an  seine  Braut  hervorzugehen  scheint, 
von  dem  Florentiner  Pietro  Aretino."  Ein  halb  Jahr- 
hundert später  hören  wir  dann  von  Franzos  (Deutsche 
Dichtung,  XXIX.  Bd.,  1901,  "Über  Georg  Büchner"),  daß 
dieses  Drama  für  die  Ausgabe  von  1850  sogar  noch  er- 


DICHTUNGEN  665 

reichbar  gewesen  wäre:  „seine  [Büchners]  Braut,  die  das 
Manuskript  besaß,  war  damals  bereit,  es  veröffentlichen 
zu  lassen.  Als  ich  mich  fast  vierzig  Jahre  später  an  sie 
wandte,  lehnte  sie  die  Auslieferung  des  Manuskriptes  ab. 
Aus  zwei  Gründen.  Die  geistvolle  und  tatkräftige  Dame, 
die  ihrem  Verlobten  zeitlebens  die  Treue  hielt,  hatte  Trost 
in  innigem  Gottvertrauen  gefunden;  es  ging  ihr  nun  gegen 
das  Gewissen,  ein  Werk  veröffentlichen  zu  lassen,  das 
atheistische  Stellen  enthielt.  Dieses  Hindernis  hätte 
ich  vielleicht  ...  mit  Hilfe  ihrer  Umgebung  hinwegräumen 
können;  ein  anderes  war  unbesiegbar.  Das  war  ihre  töd- 
liche Verfeindung  mit  der  Familie  Büchner  ..."  Als  Fran- 
zos  das  materielle  Interesse  der  Famihe  Büchner  an  der 
neuen  Ausgabe  Fräulein  Jägle  gegenüber  vorbrachte,  um 
sie  zur  Auslieferung  des  kostbaren  Manuskriptes  zu  be- 
wegen, erreichte  er  das  gerade  Gegenteil:  sie  schlug  es  ihm 
ab.  "Nach  ihrem  Tode  hat  auf  meine  Bitte  mein  ...  Freund 
Hubert  Janitschek,  der  Kunsthistoriker,  damals  noch  in 
Straßburg,  über  ihren  Nachlaß  sorgliche  Erkundigungen 
eingezogen;  er  enthielt  auch  nicht  ein  Blättchen  von  Georg 
Büchners  Hand.  Die  alte  Dame  muß  seine  Manuskripte 
wie  seine  Briefe  verbrannt  haben,  als  sie  ihren  Tod  heran- 
nahen fühlte,  denn  kurz  vorher  scheint  sie  sie  noch  be- 
sessen zu  haben."  Dies  die  letzte  positive  Mitteilung  über 
ein  Werk  Georgs,  "von  dem  in  der  Familie  Büchner  die 
Sage  geht,  daß  es  sein  bestes  gewesen  sei"  (Franzos). 


)  666  c 
DANTONS  TOD  (S.  7—80). 

H:  vollständige  Niederschrift  von  des  Dichters  Hand,  mit 
dem  Titel  auf  der  ersten  Seite  "Danton's  Tod.  Ein  Drama". 
Die  Handschrift  umfaßt  21  Doppelbogen  von  je  8  Seiten 
in  Quartformat,  die  aber  nicht  paginiert,  sondern  lagen- 
weis  gezählt  sind;  hinter  dem  ersten  Doppelbogen  noch 
eine  vierseitige  Einlage  (vgl.  Lesarten  S.  669),  während  die 
letzte,  21.  Lage  nur  noch  auf  vier  Seiten  Text  enthält. 
Zweifaches  Papier  wechselt  auffallend  ab:  Lage  i — 4, 
15 — 18,  20 — 21  besteht  aus  grauem  mittelstarkem  Papier 
mit  dem  Wasserzeichen  JJ,  Lage  5  — 14  und  19  aus  gelbem, 
leichtgeripptem,  stärkerem  Papier  mit  einem  Wappen  und 
C.  JLLIG  als  Wasserzeichen.  Es  handelt  sich  ganz  offen- 
bar um  die  erste  vollständige  Niederschrift,  nicht  um  die 
Reinschrift  des  Dramas;  denn  das  Manuskript  enthält,  wie 
die  Lesarten  zeigen,  noch  viele  Streichungen  und  Ände- 
rungen einzelner  Ausdrücke  und  ganzer  Sätze  infolge  neuer, 
beim  Schreiben  erst  auftauchender  Einfälle  sowie  zahl- 
reiche Einschübe  über  den  Zeilen  und  am  Rande  von  oft 
beträchtUchem  Umfang.  Demzufolge  ist  H  nicht,  wie  Fran- 
zos  a.  a.  O.,  S.  100  will,  als  endgültige  Druckvorlage  oder 
sogenannte  Reinschrift  zu  werten,  der  in  allem  der  Vor- 
zug gegenüber  den  Erstdrucken  zu  geben  wäre;  grund- 
legende Änderungen  freilich,  z.  B.  die  Akteinteilung  be- 
treffend, wird  Büchner  später  nicht  mehr  vorgenommen 
haben. 

R:  die  nicht  erhaltene  unmittelbare  Druckvorlage.  Wo  die 
Erstdrucke  gegenüber  H  unleugbare  Besserungen  aufwei- 
sen, wird  man  sie  nicht  ohne  weiteres  ablehnen  dürfen, 
sondern  in  ihnen  Korrekturen,  die  der  Dichter  selbst  noch 
in  R  vornahm,  zu  vermuten  haben.  Wie  weit  man  freihch 
mit  R  operieren  soll,  bleibt  dem  Stilgefühl  vorbehalten; 
die  nicht  allzu  häufigen  Abweichungen  unseres  Textes  von 
H  zugunsten  der  Erstdrucke  lassen  sich  aber  ohne  Not  auf 
R  zurückführen. 

P:  die  erste  bruchstückartige  Veröffentlichung  durch  Gutz- 
kow unter  dem  Titel  "Dantons  Tod.  Von  Georg  Büchner",  in 
der  Zeitschrift  "Phönix"  1835,  und  zwar  dort  in  den  Num- 
mern 73  (26.  März)  bis  jy  und  79  bis  83  (7.  April),  die  fol- 
gende Szenen  brachten:  S.  9 — 12,  27—32,  32—35,  49—53» 
53—57,  57 — 61,  64—6627,  6630 — 72,72— 77 n,  7712—80.  Die 
Lücken  füllte  Gutzkow  mit  schwungvollen  Inhaltsangaben 


DANTONS  TOD  667 

aus,  die  aber  für  die  Textfrage  keine  Bedeutung  haben 
und  deshalb  unten  nicht  wiedergegeben  sind. 
D:  der  durch  Duller  übel  zugerichtete  vollständige  Erst- 
druck "Dantons  Tod.  Dramatische  Bilder  aus  Frankreichs 
Schreckensherrschaft  von  Georg  Büchner.  Frankfurt  a.  M. 
Druck  und  Verlag  von  J.  D.  Sauerländer.  1835".  Trotz  der 
Textverschandehmg  verdient  Dullers  Ausgabe  insofern 
ernstliche  Beachtung,  als  ihr  neben  dem  lückenhaften  P 
die  vollständige  Reinschrift  R  zugrunde  gelegen  hat. 
N  und  F  (siehe  Vorbemerkung)  sind  mehr  historische  Vor- 
läufer dieser  Ausgabe  als  von  textkritischer  Bedeutung, 
da  sie  über  mehr  authentisches  Material,  als  noch  heute 
benutzt  werden  kann,  nicht  verfügt  zu  haben  scheinen. 
Franzos  erwähnt  zwar  a.  a.  O.,  S.  100  "einige  Blättchen  des 
ersten  Entwurfs"  (etwa  die  unter  H  erwähnte  Einlage?), 
fügt  aber  hinzu,  daß  ihm  nur  das  vollständige  Manuskript 
maßgebend  war.  R  kann  auch  Ludwig  Büchner  nicht  mehr 
verwertet  haben. 

8.  8.  X)as  ganse  ^erfonenüersetc^nis  feJ^It  P  |  2  GEORG  naä)' 
getr.  H  |  13  BARR^RE  H,  unb  stoar  [tets  [0  mit  rr;  bo^  f^rteb 
ft(^  ber  5?eDoIuttonär  [elbft  nur  mit  r,  roas  bic  Snfonfequcnj  ber 
Sd^reibuno  im  Zixi  entf^ulbtgen  mag  |  I6  hinter  CHAUMETTE 
eingef.  u.  tuieber  geftr.  {genannt  Anaxagoras,}  H  |  21  PARIS, 
{Greffier  des  Revolutionstribunals,!  H  |  24  Gattin  oerb.  aus 
Frau  H. 

S.  9.  3  Julie,  seine  Gattin  P— F;  OJO^I  3^^\^^  ^on  P,  bas  fein 
^cr[oncnDer3ei(^nis  ^at  |  4  Füßen  Juhe's  P  Juliens  D— F  |  6 
Karten  {hält,  w[endet]}  dreht  H  |  9  das  carreau  hin.  {Sie 
hat  ungeschickte  Beine  und  fällt  leicht,  ihr  Mann  trägt  die 
Beulen  dafür  auf  der  Stirn,  er  hält  sie  für  Witzhöcker  und 
lacht  dazu.}  Ihr  könntet  einem  H  |  19  lieb  Georg  H  [  23, 
30,  38  (5eban!en[tri^  fe^It  H  I  24  {zu  HeraiiU)  fe^It  H  |  34f.  Wenn 
das  {so}  ist,  {so  ruh'}  lieg'  ich  H. 

6. 10.  6  verstanden.  {Aber  in  Wahrheit,!  IchH  |  10  bekam 
über  {erwischte}  H  |  19  Platz  dabei  bekommen  P — F  |  26 
klassischen  a.  5i.  gugef.  |  26f.  Nimm  bis  dagegen!  nadjgetr.  H  j 
32  gegeben  hätte  über  {gäbe}  H  |  34  fürchtete  aus  fürchte  H. 
34—1139  urfprgl.,  aber  quer  burd)[tr.: 

{CAINIILLE.  Wir  müssen  vorwärts,  morgen  greif  ich  sie 
geradezu  an,  dann  einen  entschloßnen  Angriff  im  Konvent! 
Der  Gnadenausschuß  muß  durchgesetzt,  die  ausgestoßnen 
Deputierten  müssen  wieder  aufgenommen  werden.   Die 


668  LESARTEN 

Revolution  ist  in  das  Stadium  der  Reorganisation  gelangt. 
Die  Revolution  muß  aufhören  und  die  Republik  muß  an- 
fangen^. In  unseren  Staatsgrundsätzen  muß  das  Recht  an 
die  Stelle  der  Pflicht,  das  Wohlbefinden  an  die  der  Tugend 
und  die  Notwehr  an  die  der  Strafe  treten. J  (£s  folgen  [ed)S 
burd^  QänQS'  \mh  Qucrftric^c  unleferltc^  getoorbene  3^^^^")  bann: 
^  Jeder  muß  sich  geltend  machen  und  seine  Natur  durch- 
setzen können^.  Er  mag  nun  vernünftig  oder  unvernünftig, 
gut  oder  böse  sein,  das  geht  den  Staat^  nichts  an,  solang 
er  keinen  andern  damit*  stört.  Wir  sind  alle  Narren,  es 
hat  keiner  das  Recht,  dem  andern  seine  eigentümlicheNarr- 
heit  aufzudringen.  Die  Individualität  der  JNIehrzahl  muß^ 
in  der  Physiognomie  des  Staates  offenbaren.  Die  Staats- 
form muß  ein  durchsichtiges  Gewand  sein,  das  sich  dicht 
an  den  Leib  des  Volkes  schmiegt.  Jedes  Schwellen  der 
Adern,  jedes  Spannen  der  Muskeln  muß  sich  darin  ab- 
drücken. Die  Gestalt  mag  nun  schön  oder  häßlich  sein, 
sie  hat  ein[ma]l  das  Recht  zu  sein,  wie  sie  ist,  wir  sind 
nicht  berechtigt^  ihr  ein  Röcklein  nach  Belieben  zuzu- 
schneidern.  Wir  w^erden  den  Leuten,  welche  über  die  nack- 
ten Schultern  der  allerliebsten  Sünderin  Frankreich  den 
Nonnenschleier  werfen  wollen,  auf  die  Finger  schlagen. 
Danton,  Du  mußt  den  Angriff  im  Konvent  machen.} 
iBeDor  Sü(i)ner  bie[e  5^ebe  Kamtllcs  bur(^[ln(^en,  [e^te  er  a.  5?. 
üon  H  no(^  i^in3u,  unb  jtoar  oor  (Tamtlles  5Ißortc  [tellenb: 
{HERAULT.  Sie  möchten  uns'zu  Antedeluvianern  machen. 
St.  Just  sah  es  nicht  ungern,  wenn  wir  wieder  auf  allen 
Vieren  kröchen,  damit  uns^  der  Advokat  von  Arras  nach 
der  Mechanik^  des  Genfer  Uhrmachers  Fallhütchen,  Schul- 
bänke und  einen  Herrgott  erfände^".} 
9ta(^bem  (Mamille  bie  obige  lange  5?ebe  bereits  entgegen  ujar,  mu^ 
Sü(^ner  baran  gebatikt  ^ahm,  if;m  bie  Dorfte^enben  SBorte  §e'raults 
in  bcn  93Zunb  ju  legen,  benn  in  H  tft  HERAULT  no^  befonbers 
burd)[tr.  unb  CAMILLE  überge[d)rteben.  Xo^  bie  gange  9?anb= 
ein[(^altung  lourbe  bann  au^  bur^  einen  !räftigen  Querftric^  ner^ 


1  anfangen  ge[tr.  u.  tDiebcr^crge)t.  für  {beginnen}.—-  T)k  beiben 
folgenben  Sä^c  a.  9^.  nat^getragen.—^  den  Staat  für  urfprgl. 
uns.—*  damit  über  'in  seinen  Rechten}.— =  muß  über  {wird 
sich  dann},  fo  ha^  sich  gu  ergangen  ift.^  *■'  sind  nicht  berech- 
tigt für  {haben  nicht  das  Recht}.  ^  folgt  {wieder}.—"  folgt 
{Rohespierre  nach}. — ^  der  Mechanik  oerb.  aus  {den  Grund- 
sätzen,'.— -'^  erfände  aus  {erfinde}. 


DANTONS  TOD  669 

rourfen. — X)en  enbgülltgen  Zui  IO35— II39  f^rieb  23ücf)ner  auf 
ben  mit  5^reu3  bejetc^netcn  (Stnlegebogcn,  luorans  ^etüorge^t,  ha\^ 
S.  12ff.  [d^on  gefc^neben  war,  beuor  er  bie[e  XcxlreDifton  Dornar)m. 
S.  11.  4  Särge  zur  Wiege  aus  {in  Särgen  statt  in  Wiegen}  H 
die  Guillotine  zur  Wiege  P — N  [  5  hinter  spielen?  am  Einfang 
neuer  3etIe{HERAULT.  Die  Revolution  ist  in  das  {H  |  8{Ja} 
Die  H  I  13 f.  seinen  Naturtrieb  durchsetzen  P-  N  |  16-21 
Wir  alle  bis  stören  darf.  a.  5^  für  {Wir  alle  sind  Narren,  es 
hat  keiner  das  Recht,  dem  andern  seine  eigentümliche 
Narrheit  aufzudringen.  Die  Individualität  der  Mehrzahl 
muß  sich  in  der  Physiognomie  des  Staates  offenbaren}  H  | 
I6f.  und  keiner  hat  das  Recht  P — F  |  18  aufzudringen  und 
ihm  ein  Gesetz  daraus  zu  machen.  P— N  |  19  daß  keiner 
{den  andern}  H  |  20  in  seinem  eigentümlichen  Genuß  für 
{in  seiner  Art}  H  |  32  Bachantinnen  {und-,  olympische 
Spiele  { ,  Rosen  in  den  Locken,  funkelnden  Wein  und  wal- 
lende Busen}  und  melodische  Lippen  H  |  36  göttliche  über 
{heilige}  H  [  37  müssen  über  {sollen}  H  ]  38  Türsteher  geftr. 
u.  toieber^ergeft.  für  {Schildhalter}  H. 

(5.  12.  7  O,  es  versteht  sich  alles  von  selbst  a.  5R.  für  {Ich 
wollte,  es  verstünde  sich  alles  so  von  selbst,  was  du  eben 
gesagt  hast }  H  |  8  denn  aber  alle  die  P— F  |  ins  Werk  setzen 
geftr.  u.  loieberl^ergeft.  für  {ausführen}  H  13  auch!  bis  {mit}  den 
H  I  14  man  kann  nad)getr.  H  |  24  euch  [noch}  prophezeien 
H  I  25allena(^getr.H  \  28f.  er  könne  die  Finger  davon  lassen 
a.  9?.  für  {sein  Ehrgeiz  ließe  ihn  ruhen}  H. 
32— 27 21  feiert  P. 

S.  13.  13-15  ZWEITER  BÜRGER  bis  SIMON,  a.  ^.  mä)-- 
getr.  H  |  15  kahl  H  [  20  mit  über  lauf}  H  |  22  {Erst}  Richtig 
erst  H  I  mit  über  {auf}  H  !  27  so  über  {jetzt}  H. 
S.  14.  24  uns  über  {euch}  ausgesaugt  H  |  30f.  laufen  wie  zu- 
vor auf  nackten  Beinen  aus  {haben  wie  zuvor  nackte 
Beine}  H. 

S.  15.   2  EINIGE  STIMjMEN  a.  %  für  isie  schreien}  H  ] 
12  de{n}  Wurm  H  ]  I8f.  durch  Arbeit,  {der  Tod}  wir  H  |  25 
tritt  auf  über  {in  Begleitung}  H. 
S.  16.  3  gibt's  über  {ist}  H  |  19  führen  über  {leiten}  H. 
S.  17.  2 Die  {Lyoner}  Brüder  von  Lyon  H  |  3  bittren  a.  "D?. 
für  .'tiefen}  H. 

S.  18.  11  von  allen  {Teilen  der  Republik}  Seiten  H  |  19  tot 
über  {verloren}  H  |  35  Verbrecher  über  I Verräter}  H. 
S.  19.  3  nackt  und  na^getr.  H  |  6  ist  die  Tugend  j.  Ist  die 
Triebfeder  der  Volksregierung  im  Frieden  die  Tugend}  H 


670  LESARTEN 

12  gleiche  D — F  \  14  Satellit  der  Tyrannen  H:  wo\)\  [^on  in 
R  bte  Beffere  (£in5a^I  |  15  Beherrsche  der  Despot  D — F:  5tDar 
fräftrger  als  Regiere,  hßä)  i[t  baoor  unb  banad)  von  Regierung 
bte  9^ebe  22  bas  britte  Erbarmen  über  { Gnade]  H  j  31  ff.  hinter 
fliegen,  folgt  in  H:  {Erbarmen  können  nur  Leute  rufen,} 
welche  nur  auf  Ausplünderung  des  Volkes  bedacht  waren 
[ügl.  20 21]  uftö.  bis  seid  nicht  grausam!"  [2031];  nac^bem  ber 
^Tnfang  geftrt^en,  ifl  bas  übrige  burd)  3SertDei[ungs5ei(^en  ben 
SBorlen  Keinen  Vertrag,  keinen  Waffenstillstand  mit  den 
Menschen  [2020]  auf  ber  brittnäd)ften  9Jianu|!nplfeite  angepngt 
tDorben  |  34  Angriff  auf  die  Freiheit.  {Nur  der  höllischste 
Macchiavellismus,  doch  nein! — ich  will  nicht  sagen,  daß 
ein  solcher  Plan  in  dem  Gehirn  eines  Menschen  hätte  aus- 
gebrütet werden  können.  Es  mag  unwillkürlich  geschehen, 
doch  die  Absicht  tut  nichts  zur  Sache,  die  Wirkung  bleibt 
die  nämliche,  die  Gefahr  ist  gleich  groß.}  H  |  3-4 f.  Das 
Laster  bis  Aristokratismus  a.  %  nai^gelr.  H  |  36  es  über  {das 
Laster}  H. 
S.  20.  4  {Das  Laster  ist  das  Kainszeichen}  Ihr  werdet  H 

6  mit  {civedant}  ehemaligen  H  |  7  fragen:  {sind}  ist  H  |  16 
vor  kurzem  über  {neulich}  H  |  20-31:  ügl.  fiesartju  1931  ff.  |  29 
unsrer  über  {meiner}  H. 

5.  2L  11  Was  macht  das?  {Es  war,  als  ob  eine  Cham- 
pagnerflasche spränge,}  er  war  wieder  betrunken.  H  |  26  die 
Dezemvirn  a.  5?.  für  {sie}  H  |  27  ihnen  aus  {ihr}  H  |  36  zer- 
stückelt H:  bie  befferc  gemeine  fiesart  wo\)l  [(^on  in  R. 

6.  22.  2, 3  ufro.:  Der  9Zame  MARION  überall  erft  [päter  in  bte 
bur(^  je  einen  Stricf)  be3ei^neten  QMm  eingefefet  H  {  6  laß  mich 
einmal  so.   {Ich  bin  aus  guter  Familie.}  Meine  Mutter  H 

7  kluge  Frau  {,  sie  gab  mir  eine  sorgfältige  Erziehung;}  sie 
sagte  H  I  11  gewollt  hatten,  so  sagte  sie,  ich  D — F  |  14  Be- 
lieben, {das  w}  da  war  H  ]  15  ich  nicht  {gan[z]}  begriff  H  | 
20  verschmölze  über  {versänke}  H  |  21  eins.  {Da  kam}  H  i 
kam  zu  der  Zeit  eingefügt  H  |  22  oft  {an[es]  Mögliche}  tolles 
Zeug  H  I  24  recht.  {Das  ging  so  fort.}  H  |  26  beieinander 
über  {nebeneinander}  H  |  27  dürften  D — F  j  35  merkt  H. 
6.  23.  20  Sehnen  über  {Verlangen}  H  |  Fassen  über  {Genie- 
ßen} H  I  23  hinaus  über  {heraus}  H  j  24  hinter  Christusbildern 
a.  9^.  {Weingläsern}  H  j  25  es  ist  über  's  ist  H  |  27  kann  ich 
{nicht}  H  I  nicht  eingef.  H  |  3i  deines  aus  deiner  H  |  32 
Leibes  über  {Glieder}  H. 

S.  24.  4  {Nun}  Das  H  |  7  einmal  {auf}  in  H  |  34  bekommt 
{keine  Wun[de]}H. 


DANTONS  TOD  671 

S.  25.  3f.  a.  9?.  na(^getr.  H  |  15  bliebe  aus  bleibe  H  |  18  schrie 
[tatt  rief  H;  loa^rfd^einl.  [(^on  in  R  ucrb.,  töeil  schrie  als  Slei= 
gerung  27  für  ben  (Gegner  doWot  gebraust  toirb  |  23  LACROIX 
über  {CHALIER}  H  |  ssf.  Miene  zu  machen  a.  %  für  {Miene 
zu  ziehen}  H  |  36  Rücksicht{en}  H. 

(s.  26.  11  Doch  a.  %  jugef.  H  ]  23  wenn  {Danton}  H  |  24  {ist} 
war  H  I  28f.  lasterhaft  {d.  h.  wiej  wie  H  |  31  macht  über  {ge- 
macht hat}  H  I  35  DAXTON  a.  5?.  nac^getr.,  [o  ha^  bie  fol» 
genben  SBorle  urfprgl.  £?acroti  ^ugeba^t  roaren. 
S.  27.  4  ohne  {hin}  mich  H  |  21  i7iit  Paris  fel)lt  H  {Ab  mit 
Paris.)  feljlt  D— F. 

22  ZWEITER  AKT  über  EIN  ZIMMER  PD:  neuer  mt  auf 
©runb  üon  27i4f.  Morgen  geh  ich  zu  Robespierre;  aber  nad^ 
biefer^usfpra^e  mit^Robespierre  i[t  f^on  roieber  ein  3:ag  3U  i^nhe, 
unb  bie  barauf  folgenbe  Säene  S.  32  fängt  ebenfalls  morgens  an. 
C£ntf(^e!benb  i[t,  ha)ß  PD  5ugun[ten  i^rer  ^Hteinteilung  [inutoibrig 
324  u.  u.  kleidet  sich  an  geänbert  f)aben  in  kleidet  sich  um, 
benn  32 sf.  d.  u.  seigt,  'txn!^  es  [i(^  um  ein  üollflänbiges  ^nsie^en 
^anbelt  |  24  mir  fe^It  H. 

S.  28.  23  geht  es  aus  geht's  H  |  26  du  es  aus  du's  H  |  34  ihm 
{weh}  wohl  H. 

S.  29.  8  DANTON  {{zu  Paris))  H  j  15  schleifen  über  {schlep- 
pen} H  I  37  {Nach  einer  Pause)  a.  5?.  gugef.  H. 
S.  30.  1  Fenster  {,  7iach  einer  Pause)  H  |  2  {Die  leisesten} 
Gedanken  H  |  Wünsche  na^lrägl.  eingef.  H  |  s  geahnt{e 
Wünsche }  H  |  wirr  und  gestaltlos  a.  5?.  nac^getr.  H  |  scheu 
na^trägl.  jugef.  H  |  7  strecken  a.  5^.  für  {regen}  H  |  12-14  In 
einer  Stunde  bis  vermag,  a.  9i.  nad)gelr.  H  |  38  zerstücken  für 
verstümmeln  HF;  bie  [lili[ttf(^e  ^Befferung  roo^l  aus  R  uonPD 
übernommen. 

S.  31.  6  Generalleutnant  über  {Generalfeldmarschall}  H 
12  ausgewischt  a.  5R.  für  {ausgestrichen}  H  [  14  Das  dacht 
ich  a.  5i.  5ugef.  H  |  I6  {Der  alte}  Aha  H  |  18  hier,  hier!  über 
da,  da!  H    19  (liest)  nac^trägl.  5Ugef .  H    Glutmessias:  lies  Blut- 
messias  22  Maria  aus  Maria's  H  |  23  Magdalena  aus  Magda- 
lenen  H  |  ^inler  unten  unleferlic^es  äBort  geftr.  H  j  24  und  über 
er  H  I  25  er  über  und  H  |  29  {liest  ii'eiier)  a.  5t.  nadf)getr.  H  | 
35  schon  {vier  Mä[nner]}  H  |  36  und  sie  alle  P  und  die  sie  [!] 
D— F  I  {Doch}  Wer  H  |  38  Gesicht  {schon}  an  H. 
S.  32.    16-18  Er  hatte  bis  Henkers  a.  5?.  na^getr.  H  j  20f. 
des  Menschensohn  H  des  Menschen  Sohn  P — F. 
26  ZWEITER  AKT  fe^lt  PD;  Dgl.  Lesart  2722  |  32  {Ach  Ca- 
mille,}  Das  ist  H. 


672  LESARTEN 

Q.  33.   1  Absehens  H;  nurf)  R?  |  7  kindlichen  H,  aber  8  kin- 
disch; tuol}!  in  R  üerln  |  12  versammlen  H,  aber  15  sammeln 
25  du  es  über  {du's}  H  |  30  Das  ist  P — F  |  31  mir's  geftr.  11. 
ioieber^erge[t.  für  {mir  es}  H. 

S.  34.  4  nicht  {verloren  gehn}  ausgestrichen  werden  H  j  9 
Es  {ist|  wurde  H  |  11  dafür,  {aber}  wir  H;  Dielleli-^t  in  R  ah 
unentbe^rl.  it)ieberf)erge[t.  I  werden  es  au5  werden 's  H  ]  leim 
ewigen  H,  aber  I8  in  unlöschbarem;  u)o^l  in  R  r>erb.  ]  25  {Du 
sollt[est]  I  Desto  H  |  37  im  Ernst  a.  9i  s'ugef.  H. 
S.  85.  2  für  ein  nerb.  aus  zu  einem  H  |  I6  ein  Adieu  a.  9i 
nadjgelr. 

18—4916  fet)It  P,  bas  ben  Snl^alt  ber  fe^Ienben  Svenen  totebcr  furj 
5U[ammenfa^t. 

5.  36.  2  {singt)  fe^lt  H  ]  2if.  und  ein  wenig  Moos  a.  5R.  na^- 
getr.  H  |  27  Mein  Herr  nad)getr.  H  |  29  geben,  {ich}  H  |  37  hebt 
{sich  gegen}einander  H. 

(5. 37.  2f.  und  ein  wenig  Moos  a.  5t.  nac^getr.  H  1 7  {SOLDAT} 
BETTLER  H  |  22-27  Danton  und   bis  {Gehn  vorbei.)  a.  51. 
nacbgetr.  H  |  35  Sie  aus  sie  H  |  36  a.  5t.  nac^getr.  H. 
(5.  38.  14  {Geht  das  nicht  lustig?}  Mute  H;  ogl.  Lesart  3722 
bis  27  I  19  {Gehn  ab.)  fe^It  H. 

6.  39.  7  sie  gezerrt  über  {das  Ding  gezogen}  H  ]  18  Gasse: 
ach,  die  H;  tDo!)I  in  R  als  nic^t  ^inpa[[enb  ge[tr.  |  28  bekom- 
men. {Der  Unterschied  zw[ischen]}  H  j  29-33  DANTON.  Und 
die  bis  Bösewichtern.  a.  5t.  na(^getr.  H. 

S.  40.  4  {Sie  wollen  meinen  Kopf.}  Der  {Sicherheits}  Wohl- 
fahrtsausschuß H  1  15  mich,  {{er  geht.)}  H  |  23 Narrheit  [ftalt 
Unsinn]  DN  [  34  finster  und  (allein}  einsam.  {Ich  machte} 
{Nur}  Ich  allein  H. 

S.  41.  5  g{e}rad  H  |  in  den  Kopf  D — F  |  7  könnte  aus  könnt' 
H  I  9f.  als  {lä[ge]}  hätte  ...  gelegen  H  [  13-16  Ich  mag  bis 
nach  einer  Pause:)  a.  5t.  na(!)gelr.  H  |  19  kommt  mir  {'s} 
manchmal  {vor,  als  ob  er  noch  kräftiger}  die  Hoffnung  H  I 
24  für  mich;  {wir  sind  zwei}  mir  {ist  das}  gibt  das  Grab  H  | 
30  aus  der  Entfernung  H;  tDol^I  in  R  \6)m\  Ferne  ]  32  {Ja  in 
Wahrheit}  Eigentlich  H  [  33ff.  sagt:  morgen  und  übermor- 
gen und  weiter  hinaus  D — F. 

S.  42.  3  Wird  aus  Will  H  !  14  ich  sprach  nicht  {JULIE. 
Du  zitterst,  Danton}  das  dacht  ich  H  [  30  und  Europa 
hat  H  I  32  vier.  {Du}  Ich  H  )  33  siehst  du.  {Du  sagtest} 
Schrie's  H. 

S.  43.  6  Unter  mir  {stöhnte}  keuchte  H  j  9  preßt'  aus  preßte 
H  I  9f.  abwärts  gebückt  HF;  gewandt  tool^I  5^orre!tur  Don 


DANTONS  TOD  673 

R,  um  bie  !IautoIogie  5U  befeitigen  |  11  f.  und  ich  erwachte  über 
{das  weckte  mich}  H  j  I6  stumpf  a.  9?.  für  {schwach}  H. 
(5.  44.  1  nur  ^ugef.  H  |  14  {auf}  unter  den  Bett{en}deckenH. 
S.  45.  3  sollen  D — F  |  13  wer  aus  welche  H  |  so  aus  ich  H  | 
20  könnten  H;  möchten  als  Defiöetatiü  ftärfer  unb  mol)\  aus 
R  üon  D— F  übernoinmen. 

S.  46.  5  daß  es  sich  {heute}  H  |  8  Grundsätze  {so}  weit  ge- 
nug H  I  16  habe  aus  hat  H  |  36  einflößen  etngef.  H  |  37  Ge- 
walt {einflö[ßen]i  H. 

5.  47.  1  nicht  {ihr}  eine  H  |  2  {sei}  wäre  H  |  6  mich  schrek- 
ken  aus  mir  Schrecken  {einflö[ßen]}  H  |  9f.  die  Erinnerung 
über  der  Gedanke  H  |  15  alle  haben  aus  haben  alle  H  |  17 
keine  Schar  aus  kein  {Haufe}  H  |  20  Versammlung  {auch} 
H  I  21  groß,  {nur  wenige  Arme  gewann  das  Verbrechen}  H  | 
28  nicht  {mehr}  wohl  H  |  29  allgemeine  geftr.,  a.  9?.  n)ieber= 
^oltH  I  Betrachtungen  {über  die  allgemeinen  Verhältnisse 
der  Natur  und  Geschichte}  H  |  31  Natur  {selbst}  und  H 
33  Veränderung  H;  too^I  [c^on  in  R  huxä)  Änderung  erfe^t,  roeti 
Veränderung  39  töieberfe^rt  \  39  bemerkbare  {Modifikation} 
Veränderung  H. 

6.  48.  3  die  moralische  Natur  HF;  ber  roettere  Segriff  geistige 
an  biefer  ©teile  unb  in  unmittelbarem  ©egenfa^  5U  physische  tft 
Stoeifellos  beffer  unb  getotfe  [(^on  üon  R  eingefe^t  |  12  an  {der 
Revolution}  einer  Seuche  H  i9wo  {ihr]  der  Gang  H  der  Ge- 
schichte a.  9^.  H  23  Verhältnissen  {von  der  Natur}  geschaffen 
H  I  33  wäre  etngef.  H  36  neuen  { We[ndung]}  Krümmung  H. 
S.  49.  1  verdorbne  a.  9?.  nad^getr.  H  !  3  Gesetzgeber!  a.  9?. 
na^getr.  H  |  9  mit  urkräftigen  Gliedern  aus  urkräftig  H  | 
sich  erheben  a.  9i.  H  [  12  Feinde  a.  9?.  für  {Freunde}  H. 

17  DRITTER  AKT  fe^It  NF;  cgi.  ßesart  68 10  ff. 
S.  50.  3  das  Wesen  oerb.  aus  den  Begriff  H  ]  6  daß  sie  {dem- 
nach auch}  dem  H  j  7  sich  {haben}  oder  H  |  10  bas  3U)eite 
danke  a.  9?.  nac^getr.  H  [  iif.  Schöpfung  nun  ewig  PD  |  I6 
Philosophen  P — F  |  17  aber  Sie  müssen  mir  zugestehen  a. 
9?.  na^getr.  H  ]  20  {oder}  lebendig  H  |  werden  {kann}  oder 
H  I  29  ebensowenig  über  weder  H  |  30  er  es  a.  9i.  für  er's  H. 
(5.  51.  6f.  rühren  und  schütteln  P — F  |  10  versenkt  aus  zu 
versenken  strebt  H  |  11  sie  müsse  {über}  H  |  18  dann  allein 
könnt  ihr  aus  und  ihr  könnt  H  |  22  Das  über  Dies  H  |  29  aus 
Gott.  {Ein  schöner  Cirkelsch[l]uß,  der  sich  selbst  im 
Hintern  leckt. {-H  |  3i  doch  3Ugef.  H  ;  35  und  {wehre}  ver- 
teidige H  I  36  so  äUgef.  H  |  38  verachten  {oder  hassen}  zu 
müssen  H. 

BÜCHNER  43. 


674  LESARTEN 

6.  52.  1  a.  9?.  3ugef.  H  |  5  freilich  über  {aberj-  H  |  16  werden 
hereingeführt  a.  9?.  na^geti*.  H  j  17  und  umarmt  ihn  na^gelr. 
H  I  18  sollte  aus  sollt'  H  |  29  LACROIX  bis  gesagt?  a.  ^. 
na(i)getr.  H  |  37  hübschen  über  { allerliebsten }  H. 
S.  53.  3  kannst  über  {wirst}  H  |  4  lecken  über  {wischen}  H  | 
32  halten  über  {fallen}  H. 

(5.  54.  6  {Prächtig!}  Das  muß  gehen  H  |  9  Das  ist  [für  Es 
ist]  P— F  I  12  daher  a.  9?.  für  {er}  H  |  28  DAS  LUXEMBURG 
H — F;  geänbert  in  DIE  CONCIERGERIE,  loeti  bie  Sjene  nad^ 
bem  benu^ten  Stiers  f)ier  fpielt  unb  au(^  nur  [o  bes  ßactoti  (£r= 
[taunen  über  so  viel  Unglückliche  in  einem  so  elenden  Zu- 
stande (5431  f.)  erflärbor  ift,  benn  im  i!uiemburg  ift  ßacrotje  [d)on 
S.  52  f.  getoefen^  |  34  Schlachtbank  ist  P— F. 

5.  55,  7  ihre  aus  die  H  14  jetzt  flati  grade  H;  mo\)\  |cI)OU  in  R 
geänbert,  röeil  bereits  13  jetzt  oorfommt  |  17  die  Unschuldigen 
aus  Unschuldige  H  Unschuldige  P — F  (Jlüdforreftur  oon  R?) 

27  mein  Namen  H  |  31  Ludwigs  XVII.  P— F. 

(5.  56.  7  Verbrecher:  lies  Verbrechen  |  10  mit  welcher  aus 
mittelst  der  H  |  ii  oft  {die  Frei}  für  die  Freiheit  H  I  19  Stirne 
aus  Stirn  H  |  22f.  gesessen  zu  haben  P~F  |  39f.  {{Zeiche\n\\ 
Wiederholte  Zeichen  von  Beifall)  a.  5K.  H. 

6.  57.  10  hervorkriechen  aus  hervorgehn  H  |  20  {Lauter  Bei- 
fall) a.  5i.  H  i  35  Zeigt  über  {scheint}  H. 

6.  58.   4  {Sie  zi}  Nein,  sie  zieht  H  |  7  Da  aus  Das  H  |  9 

schwanken  H;  roo^I  [c^on  in  R  üetb.  S(i)reibfe^ler  |  13  von  Zeit 

zu  Zeit  a.  5^.  für  {zuweilen)  H  |  17  lägen  aus  liegen  H  liegen 

P— F  I  35  \heiseite\  fe^It  H— D. 

S.  59.  1, 8, 19  \beiseite\  fe^lt  H— D  |  9  Schufterei  H;  bie  [tariere 

allg.  £esart  roo^l  nac^  R  |  10  versuchen  über  {probieren}  H 

16  es  über  {eine  Sache}  H. 

S.  60.  1  appellieren  P — F  |  12  die  feine  Aristokratie  H;  bie 

belfere  allg.  £esart  löo^I  R  entnommen  |  26  ihre  über  {unsere} 

H  I  26 f.  aber  {lassen  wir  sie}  {bleiben  die  Angeklagten} 

bleibt  Danton  am  Leben,  {wird  Danton}  so  wird  er  H 

28  die  Freiheit  {sogar}  H  |  29  Just  fe^lt  H. 

S.  61.  8  sterben  über  {stirbt}  H  j  9  oder  am  Krebs  fe^It 
P_N  I  10 f.  Tarquinius  a.  5?.  für  {König}  H  |  13  hegt  P— D  ! 
14  Sargdeckel.  {Die  Antwort  ist  leicht,}  Sie  sitzt  H  |  I6f. 
[Schließer  ab.]  fe^it  H— F  |  I8  gesagt  {,  Collot}.  Aber  Collot 
H  I  20  sich  etngef.  H  j  21  macheu  hinter  { sein  j  H  j  26  Zimmer 

^  5Ö9I.  3o&eI  0.  3ö^ßI^^Ö-  ®-  ^-Büi^ner.  Sein  ü^bun  unb  fein 
Sd)affen.  23onner  gorjc^ungen,  JBb.VIlI,  S.  51. 


DANTONS  TOD  675 

über  {Gefängnis!  H  |  34  habe  aus  hab  H  j  35f,  die  Bestür- 
zung über  das  Benehmen  H. 

3.  62.  21  {mit  Pathos)  na(^getr.  H  |  3i  kämpfen  {mit}  nicht 
mit  H  I  34  {Bis}  Robespierre  H. 

6.  63.  11-19  Strahlen  bis  Collot  ah.)  q.  9^.  nad)gclr.  H  ^  |  13 
Nächstens  J  kann  er  es  aus  seinem  Futterale  ziehen  und  es 
als  Zöpfchen  über  den  Rücken  hängen  lassen  |  werden  die 
niedhchen  Finger  der  H  |  22  Zunge  über  { Lippen  }H  j  29  setze 
l^tnter  {dränge}  H  30f.  nur  {etwas}  mit  etwas  H  35 f.  Komm 
bis  Futter!  a.  %.  nac^getr.  H  ;  36  bi,  bi,  bi  fe^It  P — N  |  38  ge- 
wiß. {Komm,  mein  Gewissen,  wir  vertragen  uns  noch  ganz 
gut}  H. 

S.  64.  8  einem  H  |  10  so  {ganz}  in  allen  H  [  12  gesagt  '{wird} 
und  wie  {er}  dann  H  |  20  CAMILLE.  Da  liegen  H;  Und 
dann  tDO^I  !^vi\a^  Don  R,  um  bie  "ikrbtnbung  mit  bem  Sorl^er* 
(je^enben  ^er3U[lenen  I  22  Fibern  a.  5?.  für  {Gliedern}  H. 
S.  65.  6  {Es  lau}  Das  lautet  H  |  es  ist  aus  's  ist  H  |  17  or- 
ganisiertere über  {kompliziertere}  H  21  einsam  über  {allein} 
H  I  25  sterben.  1  Wir  sind  noch  nicht  geschlagen,}  H  |  27 
f)tnter  reißen,  mit  neuer  ^t\U  {LACROIX.  Wir  müssen  auf 
unserer  Forderung  bestehn,  unsere  Ankläger  und  die  Aus- 
schüsse müssen  vor  dem  Tribunal  erscheinen.  DANTON} 
H  2  j  31  fordern  über  (verlangen}  H  |  36  Nun  rasch  P — F. 
©.  66.  10  Fouquier  i tritt  ein},  Amar,  Voidand  treten  ein  H  j 
I9f.  versucht  haben,  {befiehlt  der  Ko}  wird  das  Tribunal 
{berechtigt}  ermächtigt  H  |  22  Gesetze  über  {Tribunal}  H. 

5.  67.  1  welchen  über  {denen}  H  |  17  und  Samson  ein 
schlechter  Bäckerknecht  a.  5^.  nad^gclr.  H  |  20  wieder  fef)It 
P— F  !  24  die  ihn  P— F. 

6.  68.  2  es  geftr.  u.  toieberf)erge[t.  für  's  H  |  3,  4f.  hat  es  aus 
hat's  H. 

loff.  [VIERTER]  AKT:  5n  H  (Sg.  18,  6.  1)  [te^t  III  Akt, 
offenbar  ein  glü(^ltg!eil5fel)ler,  'ba  es  fc^on  Sg.  12,  S.  4  (S.  49 
btefer  ?Iusg.)  III.  Act  Reifet.  9Iuf  neuer  5?etf)e  folgt  bann  in 
H  bte  Ssene  EINE  STRASSE,  barauf  erft  ber  auftritt  Julie, 
ein  Knabe,  bem  bie  Ortsbejcic^nung  EIN  ZIMMER  fe^Il;  aber 
a.  9^.  [te_{)t  re^ts  untert)aib  ber  3eile  EINE  STRASSE:  —2,  auf 
ber  näc^jten  6ette  a.  5?.  linfs  unterhalb  ber  3eile  Julie,  ein  Knabe: 

1  Diefer  inmitten  eines  Sa^es  beginnenbe  5?anbna(^trag  oerrät, 
halß  Süc^ner  ni^t  fortlaufenb  gcfd)rieben,  [onbern  ein5elne  Partien 
3unä(^[t  ausgelaffen  unb  für  fie nad)  ©utbünfen  ^la^  gelaffcn  ^at. — 

2  Die  geftr.  2Borte  finb  entbe^rlirf),  ha  t^r  3n^alt  65  31  unb  66 5f. 
roteberfc^rt. 


676  LESARTEN 

1.—  5um  3^^^Tt,  ha^  bte  beibcn  Svenen  umgelc^rt  folgen  [ollcn. 
—  Die  R  am  nädiftcn  [le^enben  PD  ^aben  teilte  neue  ^Übejeid)^ 
nung  unb  bringen  bie  beiben  Sjenen  in  ber  urfprüngl.  5^ei^enfoIge: 
erjt  EINE  STRASSE  [GASSE  bei  D]  unb  bann  ben  3ulie=mf^ 
tritt,  nur  in  D  mit  ber  Ortsbejcic^nung  EIN  ZIMMER  oerfe^en. 
2Bie  2722,  refp.  3226  [cEjeint  :^ier  bie  ^fteintetlung  tDilüürlii^  üon 
PD  geänbert  5U  [ein,  ujo^I  roeil  [i(^  ber  Einfang  bes  oietten  5l!tes 
unmittelbar  an  bie  üor^ergef)enben  Sjenen  an[d)Iiefet;  unb  toeil  bie 
Slra^en=  ober  (5a[[en[3ene  oom  bramaturgifd^en  Stanbpunft  au? 
[i(^  bem  5tuftritt  cor  bem  ^uftijpalaft  am  leic^teften  anreihen  lä^t, 
toirb  [ie  (Su^totö  oorangeftellt  ^aben,  [o  inftinttio  auf  bie  urfpr. 
Ssenenfolge  oonH  gurüdfommenb. — NF  enblirf)  ^aben  ben  SdE)reib' 
fe^^Ier  III  Act  in  H  ernft  genommen  unb  too^I  barauf^in  ben  5tft= 
ein[(f)nitt  S.  49  befeitigt;  im  übrigen  polten  \\ä)  NF  an  bie  enb= 
gültige  gaffung  oon  H,  nur  ba^  [ie  bie  Ortsbegeid^nung  EIN  ZIM- 
MER Don  D  übernef)men  j  12  Julie,  ein  Knabe  unter  \Lucile, 
ein  K\  H  |  14  ^inter  Geh!  groei  geftr.  unlesbare  2Borte,  oielleit^t 
^mein  Junge:  H  ]  habe  aus  |hab';  H  |  29  ist  es  aus  ist's  H. 
6. 69.  4  DUMAS  lints  a.  ^.H  j  6  Vaterlande  aus  Vaterland  H  , 
15  sich  {ordentlich}  wirklich  H  |  17  nießen  D— F  )  26  es  ist 
aus  's  ist  H  I  35 — 70 1  die  Hände  nicht  bis  unlöschbar  {,  ist 
das  Vestafeuer  in  der  Natur}  a.  9?.  für  {das  nicht.}  Unmög- 
Hch!  H. 

S.  70.  3-6  würde  wie  Tau  bis  murmeln  a.  5?.  nad^getr.  H^  i 
3  funkeln  über  {hängen}  H  [  4f.  Quellen  {würden}  H  |  7  so 
eingef.  H  |  8  elend  über  > erbärmlich}  H  |  18  schiebt  über 
{drängt}  H  |  19  so  eine  P — F  |  27  uns  {ja}  sonst  H  |  37  ist's 
geftr.  u.  tDieberf)erge[t.  für  es  ist  H  |  39 — 71i  Freihch,  wir  bis 
zur  Windel  a.  5R.  für  {Freilich,  die  Mutter  {putzt  uns  den 
Hintern  und  gibt  uns  einen  Schluzzer  [Schlupper?]  mit 
Sand}  {nimmt  uns  in  ihren}  legt  uns  an  ihre  Brust  und 
deckt  uns  zu}  H. 

(5.  71.  1  wird  es  aus  wird's  H  |  4-7  Camille!  bis  streifen  a. 
$R.  na^getr.  H  |  6  ihm  nicht  aus  nicht  ihm  H  |  9  gehn,  {das 
ist  ein  Trost,}  ich  danke  H  |  hätte  ich  aus  hätt'  ich  H  |  12 
Lichtstrahl  aus  Strahl  H  |  15  Aug  aus  Auge  H  |  16  sie  {alle} 
abträufelten  H  |  23  Ach  du  {?},  du,  so  o  halt  mich,  {schrei} 
sprich,  du!  H. 

e.  72.  9  mich  eingef.  H  |  31  |  Narr, ;  Wer  ist  H. 
(5.  73.  5  {Dasj  Ja,  das  H  |  11  Karren  über  Wagen  H  |  24  an- 
dre aus  andere  H  |  25  {Aber}  Leise  H  |  26  Der  Mond  bis 

^  Sßieber  ein  Seroeis,  baß  S.  nid^t  fortlaufenb  ge[(^rieben  f)at 


DANTONS  TOD  677 

warten  am  '\^ü^  ber  Seite  nac^gctr.  H  [  28  Das  ist  zu  arg  für 
den  Spaß  aus  Für  den  Spaß  ist's  zu  arg  H  |  34  mir's  aus 
mir  es  H  mir  es  P— F  |  37  (le^tc  3eile)  a.  9^.  nac^getr.  H. 
(5,  74.  14  lasse  aus  verlasse  H  |  19  wäre  es  aus  war'  es  H  | 
die  Dor  gesunde  Vernunft  a.  5R.  5ugef.  H  |  37f.  für  {sie  findet} 
unsere  Kinnbacken  findet  H. 

S.  75.  5  Ist  es  aus  Ist's  H  |  6f.  [Für  siciq  fehlt  H— D  |  15 
nichts  an.  {Du  sitzest  nicht  •  am  Fenster,'  H  |  23  den  {ural} 
einen  uralten  H  |  25  alle  sind  aus  sind  alle  H  \  32  schneiden 
über  {ziehen}  H  |  34  Tische  aus  Tisch  H  |  35  vor  das  aus 
vor's  H  I  36  wie  es  aus  wie's  H. 

<3.  76,  1  uns  {zus}  beieinander  H  j  2  nichts  {Dummres} 
dummer  H  |  3  {wenn's}  w^enn  H  |  was  nad^trägl.  jugef.  H  | 
8-10  Es  ist  nicht  so  übel  bis  Schatten  wirft  a,  9?.  nac^getr.  H  | 
10  Was  {brauchen}  sollen  wir  uns  zerren  über  {Da  braucht 
man  sich  untereinander  zu  zerren?}  Dann  folgt:  {Die  Toga, 
worin  ich  mich  wickle,  ist  kein  so  übles  Pflaster.  'S  ist 
wenigstens  ebensogut,  als  wenn  ich  sie  von  mir  würfe 
und  die  nackten  Wunden  zeigte.}  H  ]  10-13  Ob  wir  uns  nun 
bis  lecken  lassen  a.  9?.  für  üor^erge^enbe  geftr.  ©teile  nac^trägl. 
eingefe^t  H  |  14  Meine  Freunde  nac^trögl.  5Ugef.  H  |  I6f.  das 
Augen  H  |  17  [nur}  von  einigen  H  ]  17-20  Linien  erfüllt  bis 
Harmonien  sind  a.  5?.  H  |  I8  haben.  {Glaubt  mir,}  Es  gibt 
H  I  für  {das}  welches  das  H  |  19  Strom  über  Quell  H  |  22 
denn  fe^It  H;  tDof)I  [(f)Dn  in  R  3ugef.  1  23  welche  über  {die}  H  | 
nur  da  nac^trägl.  5Ugef.  H  |  36 f.  ewig  {über}  am  H. 
S.  77.  4  {legen}  ziehen  wir  H  legen  wir  P— F;  legen  offenbar 
f^on  inR  loiebereingefe^t  |  5  unter  welcher? — F  |  14  möchte 
ich  aus  möcht'  ich  H  möcht  ich  P — F  j  17  Es  ist  aus  's  ist 
H  I  20  scharf  über  { grell ;  H  31  {Die  Guillotine)  Die  Wagen  H. 
(5.  78.  9  auf  euch  {gefallen}  oder  ihr  H  |  13  gibt  über  \zu) 
H  I  Geld  3ugef.  H  |  30  bittrer  über  {härter}  H. 
S.  79.  7  Ernst  daran  P—F  11 ,  der  Vogel  5ugef.  H  |  iif.  nicht? 
{Ich  meine}  Der  Strom  H  |  16  so  so,  aI[o  jroeimal,  am  (£nbe 
u.  am  5Infang  je  einer  l^tWt  H  [  I8  mich  auf  den  Boden  setzen 
und  a.  9?.  nad)getr.  H  j  I9f.  mehr  regt  a.  9?.  H  ]  22  hilft  {alles} 
nichts  H  |  da  ist  aus  das  ist  H  das  ist  P — F  |  23  geht  {noch} 
H  I  ziehen  aus  ziehn  H. 

S.  80.  20  {gesungen  hast}  sangst  H  25  EIN  a.  9?.  H  26f.  {sin- 
nend bis  plötzlich)  fe^ItH;  roo^I  in  R  [(^on  jugef.,  febenfalls  jur 
9J^otiDierung  unentbehrlich. 


)  678  c 
LENZ  (S.  81—108). 

Die  Originalhandschrift  existiert  nicht  mehr;  vgl. 
Franzos  a.  a.  O.,  S.  240. 

T:  erste  Veröffentlichung  durch  Gutzkow,  der  das  Manu- 
skript aus  Büchners  Nachlaß  durch  Minna  Jägle  erhalten 
hatte,!  in  dem  "Telegraph  für  Deutschland"  1839,  und  zwar 
in  den  Januar-Nummern  5,  7 — 11,  13,  14;  Gutzkow  wählte 
den  Titel  "Lenz.  Eine  Reliquie  von  Georg  Büchner"  und 
gab  ein  kurzes  Geleit-  und  Schlußwort  dazu. 
N:  nur  ein  Nachdruck  von  T,  unter  dem  neuen  Titel  "Lenz. 
Ein  Novellenfragment".  Sinnlose  Lese-  und  Druckfehler 
von  T  druckt  N  getreulich  nach,  bringt  auch  noch  neue 
hinzu,  korrigiert  aber  auch  wiederholt  solche  Fehler  und 
füllt  vor  allem  mehrere  Lücken  aus,  die,  mögen  sie  nun 
schon  in  Büchners  Entwurf  gestanden  haben  oder  erst 
durch  T  verursacht  sein,  durchaus  nicht  vom  Stil  der  Er- 
zählung bedingt,  mithin  vom  Dichter  gewollt  sind,  son- 
dern sinnstörend  wirken  und  also  beseitigt  werden  muß- 
ten. In  diesen  Besserungsfällen  folgt  der  Text  unserer  Aus- 
gabe N,  lehnt  aber  seine  Versuche,  auch  sonst  den  Stil  zu 
glätten  und  zu  modernisieren  (verhochdeutschen),  ab. 
Auch  im  Gebrauch  der  Elision  und  Apokopierung  des  e 
verfährt  N,  wie  eine  Vergleichung  seines  Danton-Textes 
mit  der  zugrundegelegten  Danton-Handschrift  erhärten 
würde,  durchaus  willkürlich,  so  daß  seine  Varianten  in 
dieser  Beziehung  weder  hier  noch  anderswo  berücksichtigt 
zu  werden  brauchten;  wo  hingegen  unser  Text  bezüghch 
der  Elision  und  Apokopierung  vom  Erstdruck  abweicht, 
ist  dies  durch  Angabe  seiner  betreffenden  Variante  ver- 
merkt worden. 

O:  ein  tagebuchartiger  Bericht  des  Pfarrers  Oberlin  über 
Lenzens  Besuch  in  Waldbach,  von  August  Stöber  zuerst 
in  der  "Erwinia"  1839,  dann  nochmals  in  seiner  Monogra- 
phie "Der  Dichter  Lenz  und  Friedericke  von  Sesenheim", 
Basel  1842  (S.  n— 31)  veröffentlicht.  Zu  diesem  zweiten 
Abdruck  merkt  Stöber  in  einer  Fußnote  an  (S.  11):  "Dieser 
. . .  Aufsatz  bildet  die  Grundlage  der  leider  Fragment  ge- 
bhebenen  Novelle  'Lenz'  meines  verstorbenen  Freundes 
Georg  Büchner.   Er  trug  sich  schon  in  Straßburg  lange 

1  Vgl.  Gutzkows  Briefe  an  Minna  Jaegle,  Euphorion  1897, 
Ergänzungsheft  3,  S.  191. 


LENZ  679 

Zeit  mit  dem  Gedanken,  Lenz  zum  Helden  einer  Novelle 
zu  machen,  und  ich  gab  ihm  zu  seinem  Stoffe  alles,  was 
ich  an  Handschriften  besaß."  O  ist  dem  Dichter  also  hand- 
schriftlich durch  August  Stöber  benutzbar  gewesen  und 
hat  ihm  in  der  Tat  die  stoffliche  Grundlage  für  seine  Er- 
zählung geliefert;  und  da  Büchner  dieser  Quelle  in  der 
Wiedergabe  direkter  Reden  und  auch  sonst  oft  wortgetreu 
folgt,  so  konnte  sie  an  mehreren  Stellen,  wo  der  über- 
lieferte Text  verderbt  ist,  zur  Revision  mit  Erlolg  her- 
angezogen werden. 

Was  die  Interpunktion  und  Absatzteilung  betrifft,  so  ist 
auch  hier  auf  die  Wiedergabe  der  Überlieferung  verzichtet 
worden.  Am  'Lenz'  ist  wohl  öfters  gerühmt  worden,  daß 
selbst  die  Diktion  dem  Charakter  des  Gegenstandes  natu- 
ralistisch angepaßt  sei,  aber  die  abstruse  Satzteilung,  die 
der  Übersichtlichkeit  entbehrt  und  die  logische  Gliederung 
oft  vermissen  läßt,  kann  damit  nicht  erklärt  werden. 
Wenn  z.  B.  die  Überlieferung  des  'Lenz'  bis  8614  über- 
haupt keinen  Absatz  bringt,  so  ist  das  nicht  kunstgewollt, 
sondern  eine  Folge  der  Gewohnheit  des  Dichters,  seine 
Entwürfe  mit  kleiner  Schrift  auf  wenigem  Papier  nieder- 
zuschreiben und  deshalb  möglichst  an  Raum  zu  sparen. 
Ebenso  ist  die  überlieferte  Interpunktion  nur  das  flüch- 
tige Hilfsmittel  einer  ersten  Skizze  und  nicht  als  sakro- 
sankt anzusehen. 

S.  83.  1  Härtung  fe^lt  TN:  bte  Eingabe  bes  9Jionat5  ift,  mag 

aucf)  ber  genie^enbe  £e[er  auf  bic  ^tftonf(^e  ^J'^^ietung  bes  Saures 

feinen  2Bert  legen,  5um  a5cr[tänbm5  ber  l'anbfc^nftsfttmmung  faft 

unentbehrlich;  au^erbem  [eljt  bic  gjionateangabe  99 11,  i3  ooraus, 

hü^  ber  £e[er  mit  ber  Sa^resseit,  in  ber  bas  23or^erge[)enbe  fpielt, 

befannt  gemacht  ift.  O  beginnt  [einen  3:agebu(^berid)t  oon  fienj 

alfo:  "Den  20.  Januar  1778  fam  er  f)ierf)er." 

S.  85.   6  Freund  von  ...  TN;  O  ^at  Freund  K.s  |  13 f.  ruhig 

durch  das  N. 

S.  86.  9  stand  vor  ihm  fe^lt  T. 

8.  87.  39  unaufhaltsame:  Diellei(^t  ein  £e[efe^Iet  (öu^toios;  man 

ertoailet  unsichtbare. 

e.  88.  6  dies  Sein  T. 

S.  89.  1  oben,  als  N  4  Gesangbuche  T  [  27  schloß,  da  TN  | 

36  bückten  sich  über  ihm  aus  TN:  [innlos;  S^onfeftur  nieder 

auf  C^runb  oon  530 33  f.,  wa^rfc^cinlid)  [tanb  "nieb"  im  9Jknuffrlpt. 

S.  90.   4  xMitleid  in  sich  T  ,   13  Kleide    T  |  33  fühlte  und 

lebte  N. 


68o  LESARTEN 

S.  91.  16  und  l^tnter  Träume  fe^Il  N  |  27  Auch  war  es  Alles 
notwendig  T. 

S.  92.  4  daß  Was  geschaffen  sei  TN  |  lo  wolle  T  |  24  bie  bet= 
ben  und  cor  das  unb  ein  fehlen  N. 

S.  93.  36  verändert :  anä)  unverändert  gäbe  Sinn  unb  pa^te 
beffer  in  ben  5l^i)i^mus  I  37  zerstreut  N. 
S.  94.  6  sprach  Lenz  N  |  7  über  den  Reden  TN:  fiefefe^let 
22  bas  3ioette  weg  fef)It  TN:  wegen  bes  folgenben  mit  den  zwei 
Worten  zugefügt  |  24  rufen  T  |  30  Kann  er  mir  geben?  TN: 
Die  ^nltDort  Unmöglich!  mad)t  \o\ä)e  grage  [tnnlos,  r)tellet(^t 
"mir"  [tatt  "me^r"  gelefen. 

S.  95.  10  dessen  Abreise  N  |  14  sich  ^tnter  Täler  fe^It  N 
27  finster  Abend  TN. 
S.  97.  8  Rufe  T  I  19  er  spürte  fe^It  T. 
S.  98.  13  Sehen  TN  j  14  gehn  T  |  25f.  als  war  ihr  T. 
S.  99.  3  drängte  es  in  ihn  T  |  ii  f .  sei  gestorben,  das  Frie- 
derike hieß  I)at  O,  unb  biefer  3u[a^  ^[*  3ur  CSrüärung  ber  "fixen 
3bee"  faft  unentbe^rlt(^. 

S.  100.  11  lagen  fel^ItT  |  2i  Zustande  T  [  24 f.  die  Sünde  und 
der  heilige  Geist  TN:  [innlos;  bie  §anb[(i)rift  ^atte  offenbai 
"iDtb",  nic^l  "unb"  |  25  standen  N. 

S.  101.  10 f.  ach  sie  ist  tot!  TN:  neben  ber  folgb.  <^rage  [tnn= 
los;  bie  ^tet  abgef^rtebene  Quelle  O  f)at  "51^!  i[t  [ie  tot?  £ebt 
[te  noc^?"  1  11  Du  Engel  TN:  aus  Süc^ners  §anb[d)rift  erflär= 
batet  £e[efe^let;  au(^  O  ^at  "Det  (Engel,  [ic  Hebte  m\ä)  —"  |  12  o 
du  Engel  TN  ("0,  ber  ©ngel"  O)  |  15  ich  bin  ein  Mörder  TN: 
ßefefe^Iet  {an6)  O  l^at  "euer"). 

S.  102.  8  wußten  TN  |  17  alle  Figuren  TN:  [innlos  |  auf  die 
Wand  N  [  38  Tür  T. 

6. 103.  5  wollte  T  (O  "möc^t  i^'s"  —  aI[o :  wolle  er)  |  8  Seba- 
stian Scheidecker  fe^It  TN;  bie  aus  O  ^errü^tenbe  Krgänjung 
nottoenbtg,  roeil  ^ernai^  bet  9}otname  als  bc!annt  ootausgefe^t 
tDttb  I  in  Bellefosse  T  von  Bellesosse  [!]  N  (O:  "Sebafttan 
S(f)etbedfet,  Sd)ulle^tet  oon  ©ellefoffe")  |  I8  der  auf  dem  Grabe 
stehenden  Blume  T  den  auf  dem  Grabe  stehenden  Blu- 
men N;  5lDnie!tur  nai^  O :  "ber  auf  bem  ©tabe  fte^enben  Ätone"  | 
26  Mittel  fel)It  am  6eitenenbe  N  |  28  seine  Brüder  T  (O  "feinen 
23tubet  SRaitin")  |  30  weiter  ftatt  wacker  TN:  £efcfe^ler;  O 
^at  "toadet"  |  31  an  dem  Dorfe  T  |  32f.  Die  Männer  setzten 
ihm  nach,  fe^lt  N  |  36  der  fe^It  T  |  38  Drängen  N. 
S.  104.  21  dann  [tatt  sodann  N  |  setzen.  Siehe  die  Briefe.*) 
mit  ber  tjufenote  *)  Büchner  scheint  hier  echte,  nicht  gedich- 
tete, zu  verstehen.  TN:  Sü(^net  toirb  jenen  ^inroeis  auf  fien= 


l.ENZ  68 1 

Sens  Briefe  nur  fic^  jelbfi  gema(^t  ^aben,  um  üiclletc^t  nod)  Stellen 
baraus  ctnjufügen,^  [o  ba^  alfo  biefer  9?egieDermer!  aus  ber  Ccr^ 
3ä^Iung  toegbleiben  mu^  |  28  nicht  fe^It  TX,  roobur^  ber  Sinn 
ins  ®egcnteil  oerte^rt  roirb. 

S.  105.  8  verwirrte  sich  selbst  N  |  lo  Geist  T  |  15  das  er  ge- 
rade im  Sinn  hatte  fe^It  T  |  20  hinunter  N  |  28  zuvor  die 
noch  schreckUche  T  1  37  rief  T. 

S.  109.  4  bestände  N  i  8  etwas  N  |  15  denn  \taii  dann  T  | 
25  ihm  fe^It  N  |  28  wäre,  und  ich  T  |  30  Ruhe  und  schlafen 
können  T  |  36  im  Tod  T  |  39  AugenbHcke,  wenn  T. 
S.  107.  6  versetzte  T  |  9  bewegt  fef)It  T  j  12  empfände  T 
17  Bellesosse  X  |  20  nicht  zurück  zu  gehen  TX^:  [innlos;  emen= 
biert  auf  ©runb  oon  O  "5(^  hat  \\)n,  md)t  roeit  ju  ge^en"  |  21  Weg- 
gehenT  22nahT  27SeitdemX  32hinauf  X(0  ^at  auc^  "^er= 
auf")  35  Falle  TX  (O  "gall")  36  zitternd,  barunter  S^Iu^ftri^ 
unb  neuer  5lb[a^  T  zitternd  ...  mit  glcid^em  S^Iu^ftri^  u.  ^b» 
[a^  X'.  Ob  bie  [0  bejei^nete  Qüäi  [c^on  im  Original  oorlag  ober 
crft  bur(^  25erluft  eines  SO^anuffriptteils  entflanben  i[t,  lö^t  fid)  ntd^t 
me^r  entfc^eiben;  bo^  fprt^t  für  bie  gtüeite  aiZögli^feit  ber  Hm= 
ftanb,  ha)^  bie  (Srjäfilung  mitten  im  Sa^e  abbricht.  —  Um  bem 
£e[er  bte  £üde  roenigftens  in^altlid)  ausjufüllen,  fei  f)fer  ber  be= 
treffenbe  Sßortlaut  aus  $Bü(^ners  Quelle  roiebergegeben: 
Die  Kindsmagd  kam  todblaß  und  am  ganzen  Leibe  zitternd  zu 
meiner  Frau:  Herr  L.  hätte  sich  zum  Fenster  hinausgestürzt. 
Meine  Frau  rief  mir  mit  verwirrter  Stimme  —  ich  sprang  her- 
aus, und  da  war  Herr  L.  schon  wieder  in  seinem  Zimtner. 
Ich  hatte  nur  einen  Augenblick  Gelegenheit,  einer  Magd  zu 
sagen:  "Vite,  chez  l'homme  jure,  qu'il  me  dornte  deux  hommes", 
und  hierauf  zu  Herrn  Lenz. 

Ich  führte  ihn  mit  freundlichen  Worten  auf  mein  Zimmer;  er 
zitterte  vor  Frost  am  ganzen  Leibe.  Am  Oberleib  hatte  er  nichts 
an  als  das  Hemd,  welches  zerrissen  und  samt  der  Unter- 
kleidung über  und  über  kotig  war.  Wir  wärmten  ihm  ein  Hemd 
und  Schlafrock  und  trockneten  die  seinigen.  Wir  fanden,  daß 
er  in  der  kurzen  Zeit,  die  er  ausgegangen  war,  wieder  mußte 

1  ^u(^  O  überliefert:  "(£r  fc^rieb  einige  23riefc,  gab  mir  fie  fobann 
5U,  mit  Sitte,  i(i)  möchte  no^  felbft  einige  3eilen  barunter  fe^en... 
3n  bem  einen  an  eine  abelige  Dame  in  SB.  LS^au  d.  Stein?]  [d)ien 
er  \\6)  mit  ^bbabona  5U  Dergleichen;  er  rebete  uon  5lbfd)ieb...  3n 
bem  anbern,  an  bie  9J?utter  feiner  ©elicbten,  fagt  er,  er  fönnc  i^r 
bicsmal  nid^t  me^r  fagen,  als  baß  i^re  ^^rteberife  nun  ein  (£ngel 
fei,  unb  fie  würbe  Satisfaltion  befommen."  (Erhalten  f)at  fic^  nur  ein 
Srief  £en3ens  aus  2Balbersba(^  an  fiaoater,  Dom  22.3enner  1778. 


682  ]. ES  ARTEN 

versucht  haben  sich  zu  ertränken,  aber  Gott  hatte  auch  da  wieder 
gesorgt.  Seine  Kleidung  war  durch  und  durch  naß. 
Nun,  dachte  ich,  hast  du  mich  genug  betrogen,  nun  mußt  du  be- 
trogen, nun  ist's  aus,  nun  mußt  du  bewacht  sein.  Ich  wartete 
mit  großer  Ungeduld  auf  die  zwei  begehrten  Mann.  Ich  schrieb 
indessen  an  meiner  Predigt  fort  und  hatte  Herrn  L.  am  Ofen, 
einen  Schritt  weit  von  mir,  sitzen.  Keinen  Augenblick  traute  ich 
[mich]  von  ihm,  ich  mußte  harren.  Meine  Frau,  die  um  mich 
besorgt  war,  blieb  auch.  Ich  hätte  so  gerne  wieder  nach  den  be- 
gehrten Männern  geschickt,  konnte  aber  durchaus  nicht  mit 
meiner  Frau  oder  sonst  jemand  davon  reden:  laut,  hätte  er's 
verstanden;  heimlich,  das  wollten  wir  nicht,  weil  die  geringste 
Gelegenheit  zu  Argwohn  auf  solche  Personen  allzu  heftig  Ein- 
druck macht.  Um  halb  neun  gingen  zvir  zum  Essen;  es  wurde, 
wie  natürlich,  wenig  geredet;  meine  Frau  zitterte  vor  Schrecken 
und  Herr  L.  vor  Frost  und  Verwirrung. 

Nach  kaum  viertelstündigem  Beisammensitzen  fragte  er  mich, 
ob  er  nicht  hinauf  in  mein  Zimmer  dürfte? —  "Was  wollen  Sie 
machen,  mein  Lieber?''  ■ —  "Etwas  lesen.'"  —  "Gehen  Sie  in 
Gottes  Namen;''  —  er  ging,  und  ich,  mich  stellend,  als  ob  ich 
genug  gegessen,  folgte  ihm. 

Wir  saßen;  ich  schrieb,  er  durchblätterte  meine  französische 
Bibel  mit  furchtbarer  Schnelle  und  ward  endlich  stille.  Ich  ging 
einen  Augenblick  in  die  Stubenkammer,  ohne  im  allergeringsten 
mich  aufzuhalten,  nur  etwas  zu  nehmen,  was  in  dem  Pult 
lag.  Meine  Frau  stand  inwendig  in  der  Kammer  an  der 
Tür  und  beobachtete  Herrn  L.;  ich  faßte  den  Schritt  wieder 
herauszugehen,  da  schrie  meine  Frau  mit  gräßlicher,  hohler 
Stimme:  "Herr  Jesus,  er  will  sich  erstechen!"  In  meinem 
Leben  habe  ich  keinen  solchen  Ausdruck  eines  tödlichen, 
verzweifelten  Schreckens  gesehen,  als  in  dem  Augenblick  in 
den  verwilderten,  gräßlich  verzogenen  Gesichtszügen  meiner 
Frau. 

Ich  war  haußen.  —  "Was  wollen  Sie  doch  immer  machen, 
mein  Lieber  ?"  —  Er  legte  die  Schere  hin.  —  Er  hatte  mit  scheuß- 
lich starren  Blicken  umhergeschaut,  und  da  er  niemand  in  der 
Verwirrung  erblickte,  die  Schere  still  an  sich  gezogen,  mit  fest 
zusammengezogener  Faust  sie  gegen  das  Herz  gesetzt,  alles  dies 
so  schnell,  daß  nur  Gott  den  Stoß  so  lange  aufhalten  konnte, 
bis  das  Geschrei  meiner  Frau  ihn  erschreclie  und  etwas  zu  sich 
selber  brachte.  Nach  einigen  Augenblicken  nahm  ich  die  Schere, 
gleichsam  als  in  Gedanken  tmd  wie  ohne  Absicht  auf  ihn,  hin- 
weg; denn,  da  er  mich  feierlich  rersichern  wollte,  daß  er  sich 


LENZ  683 

nicht  damit  umzubringen  gedacht  hätte,  wollte  ich  nicht  tun, 
als  wenn  ich  ihm  garnicht  glaubte. 

Weil  alle  vorherigen  Vorstellungen  wider  seine  Entleibungs- 
ver suche  nichts  bei  ihm  gefruchtet  hatten,  versuchte  ich's  auf 
eine  andere  Art.  Ich  sagte  ihm:  ''Sie  waren  bei  uns  durchaus 
ganz  fremd,  wir  kannten  Sie  ganz  und  gar  nicht;  Ihren  Namen 
haben  wir  ein  einzig  Mal  aussprechen  hören,  ehe  wir  Sie  ge- 
kannt; wir  nahmen  Sie  mit  Liebe  auf,  mtine  Frau  pflegte  Ihren 
kranken  Fuß  mit  so  großer  Geduld,  und  Sie  erzeigen  uns  so- 
viel Böses,  stürzen  uns  aus  einem  Schrecken  in  den  andern." 
Er  war  gerührt,  sprang  auf,  wollte  meiyie  Frau  um  Verzeihung 
bitten;  sie  aber  fürchtete  sich  nun  noch  so  viel  vor  ihm,  sprang 
zur  Tür  hinaus;  er  wollte  nach,  sie  aber  hielt  die  Türe  zii. — 
Nun  jammerte  er,  er  hätte  meine  Frau  umgebracht,  das  Kind 
umgebracht,  so  sie  trage;  alles,  alles  bring'  er  um,  wo  er  hin- 
käme.—"Nein,  mein  Freund,  meine  Frau  lebt  noch,  ^md  Gott 
kann  die  schädlichen  Folgen  des  Schreckens  wohl  hemmen, 
auch  würde  ihr  Kind  nicht  davon  sterben  noch  Schaden  leiden.'''' 
Er  wurde  wieder  ruhiger.  Es  schlug  bald  zehn  Uhr.  Indessen 
hatte  meine  Frau  m  die  Nachbarschaft  um  schleunige  Hilfe 
geschickt.  Man  war  in  den  Betten;  doch  kam  der  Schulmeister, 
tat,  als  ob  er  mich  etwas  zu  fragen  hätte,  erzählte  mir  etwas 
aus  dem  Kalender,  und  Herr  L.,  der  indessen  wieder  munter 
wurde,  nahm  auch  teil  am  Diskurs,  wie  wenn  durchaus  nichts 
vorgefallen  wäre. 

Endlich  winkte  man  mir,  daß  die  zwei  begehrten  Männer  an- 
gekommen— o  wie  war  ich  so  froh!  Es  war  Zeit.  Eben  begehrte 
Herr  L.  zu  Bette  zu  gehen.  Ich  sagte  zu  ihm:  ''Wir  lieben  Sie, 
Sie  sind  davon  überzeugt,  und  Sie  lieben  uns,  das  wissen  wir 
ebenso  gewiß.  Durch  Ihre  Entleibung  würden  Sie  Ihren  Zu- 
stand verschlimmern,  nicht  verbessern,  es  muß  uns  also  an  Ihrer 
Erhaltung  gelegen  sein.  Nun  aber  sind  Sie,  wenn  Sie  die  Me- 
lancholie überfällt,  Ihrer  nicht  Meister;  ich  habe  daher  zwei 
Männer  gebeten,  in  ihrem  Zimmer  zu  schlafen  (wachen  dachte 
ich),  damit  Sie  Gesellschaft  und,  wo  es  nötig,  Hilfe  hätten."  Er 
ließ  sichs  gefallen. 

Der  eine  seiner  Wächter  durchschaute  ihn  mit  starren,  erschrok- 
kenen  Augen.  Um  diesen  etwas  zu  beruhigen,  sagte  ich  dem 
HerrnL.  nun  vor  den  zwei  Wächtern  auf  Französisch,  was  ich  ihm 
schon  auf  meinem  Zimmer  gesagt  hatte,  nämlich,  daß  ich  ihn 
liebte,  so  wie  er  mich;  daß  ich  seine  Erhaltung  wünschte  und 
wünschen  müßte,  da  er  selbst  sähe,  daß  ihm  die  Anfälle  seiner 
Melancholie  fast  keine  Macht  mehr  über  ihn  ließen;  ich  hätte 


684  LESARTEN 

daher  diese  zwei  Bürger  gebeten,  hei  ihm  zu  schlafen,  damit  er 
Gesellschaft  und,  im  Fall  der  Not,  Hülfe  hätte.  Ich  beschloß  dies 
mit  einigen  Küssen,  die  ich  dem  unglücklichen  Jüngling  von 
ganzem  Herzen  auf  den  Mund  drückte,  und  ging  mit  zer- 
schlagenen zitternden  Gliedern  zur  Ruhe. 
Da  er  im  Bett  war,  sagte  er  unter  anderm  zu  seinen  Wächtern: 
"Ecoutez,  nous  ne  voulons  point  faire  de  hruit,  si  vous  avez  un 
couteau,  donnez-le  moi  tranquillement  et  sans  rien  craindre." 
Nachdem  er  oft  deswegen  in  sie  gesetzt  und  nichts  zu  erhalten 
war,  so  fing  er  an,  sich  den  Kopf  an  die  Wand  zu  stoßen. 
Während  dem  Schlaf  hörten  wir  ein  öfteres  Poltern,  das  uns 
bald  zu-  bald  abzunehmen  schien  und  wovon  wir  endlich  er- 
wachten. Wir  glaubten,  es  wäre  auf  der  Bühne,  konnten  aber 
keine  Ursache  davon  erraten. — Es  schlug  drei,  und  das  Poltern 
währte  fort;  wir  schellten,  um  ein  Licht  zu  bekommen;  unsere 
Leute  waren  alle  in  fürchterlichen  Träumen  versenkt  und  hatten 
Mühe,  sich  zu  ermuntern.  Endlich  erfuhren  wir,  daß  das  Pol- 
tern von  Herrn  L.  käme  und  zum  Teil  von  den  Wächtern,  die, 
weil  sie  ihn  nicht  aus  den  Händen  lassen  durften,  durch  Stamp- 
fen auf  den  Boden  Hilfe  begehrten.  Ich  eilte  auf  sein  Zimmer. 
Sobald  er  mich  sah,  hörte  er  auf,  sich  den  Wärtern  aus  den 
Händen  ringen  zu  wollen.  Die  Wärter  ließen  dann  auch  nach, 
ihn  festzuhalten.  Ich  winkte  ihnen,  ihn  freizulassen,  redete  mit 
ihm,  und  auf  sein  Begehren,  für  ihn  zu  beten,  betete  ich  mit 
ihm.  Er  bewegte  sich  ein  wenig,  und  einmal  schmiß  er  seinen 
Kopf  mit  großer  Gewalt  an  die  Wand;  die  Wächter  sprangen 
zu  und  hielten  ihn  wieder. 

Ich  ging  und  ließ  einen  dritten  Wächter  rufen.  Da  Herr  L.  den 
dritten  sah,  spottete  er  ihrer,  sie  würden  alle  drei  nicht  stark 
genug  für  ihn  sein. 

Ich  befahl  nun  insgeheim,  mein  Wäglein  einzurichten,  zu  dek- 
ken,  noch  zicei  Pferde  zu  suchen  zu  den  meinigen,  beschickte 
Seb.  Scheidecker,  Schullehrer  von  Bellefosse,  und  Johann  David 
Bohy,  Schullehrer  von  Solb,  zween  verständige  entschlossene 
Männer  und  beide  von  Herrn  L.  geliebt.  Johann  Georg  Claude, 
Kirchenpfleger  von  Waldersbach,  kam  auch;  es  wurde  lebendig 
im  Haus,  ob  es  schon  nicht  Tag  war.  Herr  L.  merkte  was,  tmd 
so  sehr  er  bald  List,  bald  Gewalt  angewendet  hatte,  loszukom- 
men, den  Kopf  zu  zerschmettern,  ein  Messer  zu  bekommen,  so 
ruhig  schien  er  auf  einmal. 

Nachdem  ich  alles  bestellt  hatte,  ging  ich  zu  Herrn  L.,  sagte 
ihm,  damit  er  bessere  Verpflegung  nach  seinen  Umständen 
haben  könnte,  hätte  ich  einige  Männer  gebeten,  ihn  nach  Straß- 


LENZ  685 

bürg  zu  hegleiten,  und  mein  Wäglein  stände  ihm  dabei  zu 
Diensten. 

Er  lag  ruhig,  hatte  nur  einen  einzigen  Wächter  bei  sich  sitzen. 
Auf  meinen  Vortrag  jammerte  er,  bat  mich,  nur  noch  acht  Tage 
mit  ihm  Geduld  zu  haben  (man  mußte  weinen,  wenn  man  ihn 
sah). — Doch  sprach  er,  er  wolle  es  überlegen.  Eine  Viertelstunde 
darauf  ließ  er  mir  sagen :  "Ja,  er  wolle  verreisen,  stand  auf, 
kleidete  sich  an,  war  ganz  vernünftig,  packte  zusammen,  dankte 
jedem  insbesondere  auf  das  Zärtlichste,  auch  seinen  Wächtern, 
suchte  meine  Frau  und  Mägde  auf,  die  sich  vor  ihm  versteckt 
und  stille  hielten,  weil  kurz  vorher  noch,  sobald  er  nur  eine 
Weiberstimme  hörte  oder  zu  hören  glaubte,  er  in  größere  Wut 
geriet.  Nun  fragte  er  nach  allen,  dankte  allen,  bat  alle  um  Ver- 
gehung, kurz,  nahm  von  jedem  so  rührenden  Abschied,  daß  aller 
Augen  in  Tränen  gebadet  stunden. 

Und  so  reiste  dieser  bedauernswürdige  Jüngling  von  uns  ab, 
mit  drei  Begleitern  und  zwei  Fuhrleuten.  [Set  Oberltn  f^lie^t 
ber  23en^t  bann:]  Auf  der  Reise  wandte  er  nirgends  Gewalt 
an,  da  er  sich  übermannt  sah;  aber  wohl  List,  besonders  zu 
Ensisheim,  wo  sie  über  Nacht  blieben.  Aber  die  Schulmeister 
erwiderten  seine  listige  Höflichkeit  mit  der  ihrigen,  und  alles 
ging  vortrefflich  wohl  aus. 
S.  108.  7  Abends  X  |  9  Gebirges T  |  u Monds  T  |  I8 mehre  T 

25 f.  Last. So  o^ne  %h\a^  TN  |  26  hin.  T  hin  ...  N.  Cb  ber 

le^te  Sa^  Don  iBüc^ner  felber  ftamml?  5n  T  folgt  mit  neuem 
^b[ü^  nac^  brei  Sternen  bas  Sc^Iußroort,  be||en  erfter  £a^  lautet: 
"5Bi6  ^ief)er  reid)t  Sücfjners  I)ar[tellun9".  3II|o  ^at  fd)Dn  ®utj= 
foro  fein  Sefrf)Iu6  Dorgelegen. 


)  686  c 
LEONCE  UND  LENA  (S.  109-142). 

hs :  Vom  handschriftlichen  Original  haben  sich  nur  einige 
Stücke  des  Entwurfs  erhalten,  deren  Text  unten  im  Zu- 
sammenhang wiedergegeben  wird.  Es  sind  zwei  Bogen 
von  je  vier  Seiten  (hs^)  und  ein  einzelnes  Blatt  (hs^).  Das 
Papier  ist  hier  wie  dort  gleich:  dünn,  glatt,  vergilbt,  ohne 
Wasserzeichen;  Schreibheftformat.  Auch  ist  hs^  wie  hs^ 
mit  derselben  blassen  Tinte  beschrieben.  Dennoch  ist  das 
Schriftbild  verschieden:  hs\  wohl  von  Büchner  selbst  von 
der  zweiten  Seite  ab  mit  den  arabischen  Zahlen  1-7  pa- 
giniert, ist  trotz  einer  großen  Einschaltung  am  Rande  der 
ersten  Seite  des  zweiten  Bogens  eine  sorgfältige  Nieder- 
schrift, mit  breitem  Rand  von  der  dritten  Seite  ab;  das  ein- 
zelne Blatt  hs^  dagegen  enthält,  unpaginiert  und  ohne 
Rand,  in  eihger,  zuweilen  unlesbar  abgekürzter  Schrift 
Szenenfetzen,  wie  sie  dem  Dichter  gerade  eingefallen  sind. 
Man  ist  versucht,  hs^  für  älter  als  hs^  zu  halten;  dagegen 
spricht  aber,  daß  der  Name  für  den  Prinzen  erst  dort  auf- 
tritt, in  hs^  offenbar  noch  nicht  gewählt  war. 
T:  Die  erste,  für  den  ersten  Akt  leider  fragmentarische  Ver- 
öffentlichung durch  Gutzkow,  der  das  Manuskript  von 
der  Braut  des  Dichters  erhalten  hatte,^  im  "Telegraph  für 
Deutschland",  1838,  und  zwar  unter  dem  Titel  "Leonce  und 
Lena.  Ein  Lustspiel  von  Georg  Büchner",  in  den  Mai- 
Nummern  76  80.  Gutzkow  leitet,  ähnlich  wie  für  den 
'Danton',  die  Publikation  mit  ein  paar  Worten  ein  und 
aus  und  gibt  desgleichen  den  Inhalt  des  aus  dem  ersten 
Akt  nicht  Mitgeteilten  mit  eigenen  Worten  ausführlich 
wieder;  auf  den  Abdruck  dieser  Referate  konnte,  da  T 
von  N  stark  abweicht  und  jene  Inhaltsangaben  solche 
Abweichungen  auch  für  die  ausgelassenen  Stücke  er- 
kennen lassen,  nicht  verzichtet  werden.  Die  Fassung 
von  T  ist  zweifellos  die  burleskere  und  daher  wohl  ältere 
(s.  u.);  daß  ihr  Herausgeber,  Gutzkow,  für  romantische 
Ironie  und  Laune  selbst  nur  geringes  Verständnis  be- 
saß, geht  nicht  nur  aus  seiner  lässigen  Redaktion  und 
den  Streichungen,  sondern  auch  aus  dem  Schlußwort 
hervor,  worin  er  Büchners  "bescheidenes  Talent  allen- 
falls mit  untergeordneten  Kräften,  etwa  mit  Achim  v.  Ar- 

^  Vgl.  Gutzkows  Briefe  an  Minna  Jaegle,  Euphorion  1897, 
Ergänzungsheft  3,  S.  192. 


LKONCE  UND  LENA  687 

nim  und  mit  Clemens  Brentano"  vergleicht,  aber  nicht 
"die  klassische  Höhe  eines  Angely,  eines  Nestroy,  einer 
Birchpfeifer"  erreichen  läßt! 

N:  vermuthch  eine  zweite,  den  burlesken  Ton  etwas  dämp- 
fende Fassung,  die  aber  unter  Ludwig  Büchners  Hand 
manche  Änderung  und  Verstümmelung  hat  erfahren 
müssen. 

Die  Verschiedenheit  der  beiden  Fassungen  T  und  N  erklärt 
sich  wohl  so,  daß  der  einen  die  an  Cotta  anläßlich  seines 
Preisausschreibens  für  das  beste  Lustspiel  gesandte  und 
wegen  Verspätung  unveröffentlicht  zurückerhaltene  Rein- 
schrift zugrunde  liegt,  der  andern  hingegen  die  Revision, 
die  Büchner  für  den  1837  beabsichtigten  Druck  noch  ein- 
malvorgenommen zu  haben  scheint  (vgl.  S.  566  f.).  Ein  voll- 
kommen einwandfreier  Text  läßt  sich  auf  Grund  so  frag- 
licher Überlieferung  kaum  geben.  Für  unsere  Ausgabe  ist 
N  zugrundegelegt  und  T  nur  herangezogen,  wo  Ludwig 
Büchner  aus  Prüderie  oder  Unachtsamkeit  gefehlt  haben 
könnte:  hs  kam  für  die  endgültige  Textherstellung  nur  ge- 
legentlich in  Betracht,  seine  Polizeidiener-Szene,  die  schon 
T  nicht  mehr  kennt  und  Franzos  nur  künstlich  mit  dem 
Text  von  N  vernieten  konnte,^  mußte  in  die  Lesarten  ver- 
wiesen werden. 


[L  Seile,  9JJ{tte:] 


[2.  S.:] 


hsi 

Vorrede. 
Alfieri:  e  la  fama.^ 
G  o  z  z  i :  e  la  f ame  ? 

Personen, 
[freier  9^aum; 
mUU  b.  2.  S.:1 


LAct. 
O  war'  ich  doch  ein  Narr! 
Mein  Ehrgeiz  geht  auf  eine  bunte  Jacke. 

Wie  es  Euch  gefällt. 

1  Was  außerdem  zur  Wiederholung  desselben  Motivs  (drei- 
mahge  Wiederkehr  des  Ideals  von  Rindfleisch  im  Munde 
Valerios!)  und  zu  der  mit  Recht  beanstandeten  Überlange 
des  ersten  Aktes  führte. 


688  LESARTEN 

I.  Szene. 
Ein  Garten. 
DerPrinz,  {halb  ruhend  auf  einer  Bank)  derHofmeister. 
Prinz.  Mein  Herr,  was  wollen  Sie  von  mir?  Mich  auf  mei- 
nen Beruf  vorbereiten?  Ich  habe  alle  Hände  voll  zu  tun, 
ich  weiß  mir  vor  Arbeit  nicht  zu  helfen. — Sehen  Sie,  erst 
habe  ich  auf  den  Stein  hier  dreihundert  fünf  und  sechzig 
mal  hintereinander  zu  spucken.  Haben  Sie  das  noch  [3.  S.:] 
nicht  probiert?  Tun  Sie  es,  es  gewährt  eine  ganz  eigne 
Unterhaltung.  Dann — sehen  Sie  dieße  Hand  voll  Sand? — 
{er  nimmt  Sand  auf,  wirft  ihn  in  die  Höhe  und  fängt  ihn  mit 
dem  Rücken  der  Hand  wieder  auf) — jezt  werf  ich  sie  in  die 
Höhe.  Wollen  wir  wetten?  Wieviel  Körnchen  hab'  ich  jetzt 
auf  dem  Handrücken?  Grad  oderungrad? — Wie?  Sie  wollen 
nicht  wetten?  Sind  Sie  ein  Heide?  Glauben  Sie  an  Gott? 
Ich  wette  gewöhnlich  mit  mir  selbst  und  kann  es  tagelang 
so  treiben.  Wenn  Sie  einen  Menschen  aufzutreiben  wissen, 
der  Lust  hätte  als  mit  mir  zu  wetten,  so  werden^  Sie  mich 
sehr  verbinden.  Dann — habe  ich  nachzudenken,  wie  es 
wohl  angehn  mag,  daß  ich  mir  auf  den  Kopfsehe. — O  wer 
sich  einmal  auf  den  Kopf  sehen  könnte!  Das  ist  eins  von 
meinen  Idealen.  Mir  wäre  geholfen!  Und  dann — und  dann 
noch  unendlich  viel  der  Art. — Bin  ich  ein  Müßiggänger? 
Habe  ich  jezt  keine  Beschäftigung? — Ja  es  ist  traurig... 
Hofmeister.  Sehr  traurig,  Euer  Hoheit. 
Prinz.  Daß  dieWolken  schon  seit  dreiWochen  von  Westen 
nach  Osten  ziehen.  Es  macht  mich  ganz  melancholisch. 
Hofmeister.  Eine  sehr  gegründete  Melancholie. 
Prinz.  Mensch,  warum  widersprechen  Sie  mir  nicht?  Sie 
sind  pressiert,  nicht  wahr?  Es  ist  mir  leid,  daß  ich  Sie  so 
lange  aufgehalten  habe.  {Der  Hofmeister  entfernt  sich  mit 
einer  tiefen  Verbeugung.)  [4.  S.;]  Mein  Herr,  ich  gratuliere 
Ihnen  zu  der  schönen  Parenthese,  die  ihre  Beine  machen, 
wenn  Sie  sich  verbeugen. 

Prinz  {allein,  streckt  sich  auf  der  Bank  aus).  Die  Bienen 
sitzen  so  trag  an  den  Blumen,  und  der  Sonnenschein  liegt 
so  faul  auf  dem  Boden.  Es  krassiert  ein  entsetzlicher  Mü- 
ßiggang.— Müßiggang  ist  aller  Laster  Anfang. — Was  die 
Leute  nicht  alles  aus  Langeweile  treiben;  sie  studieren  aus 
Langeweile,  sie  beten  aus  Langeweile,  sie  verlieben,  ver- 
heuraten  und  vermehren  sich  aus  Langeweile  und  ster- 

^  forrigtert  aus  würden. 


LEONCE  UND  LENA  689 

ben  endlich  an  der  Langeweile  und — und  das  ist  der.  Hu- 
mor davon — alles  mit  den  ernsthaftesten  Gesichtern,  ohne 
zu  merken  warum  und  meinen  Gott  weiß  was  dabei.  Alle 
dieße  Helden,  dieße  Genies,  dieße  Dummköpfe,  dieße  Sün- 
der, dieße  Heiligen,  dieße  Familienväter  sind  im  Grunde 
nichts  als  raffinierte  jNIüßiggänger. — Warum  muß  ich  es 
grade  wissen?  Ich  bin  ein  elender  Spaßmacher.  Warum 
kann  ich  meinen  Spaß  nicht  auch  mit  einem  ernsthaften 
Gesicht  vorbringen?— Der  Mann,  der  eben  von  mir  ging, 
ich  beneidete  ihn,  ich  hätte  ihn  aus  Neid  prügeln  mögen. 
O,  wer  einmal  jemand  anders  sein  könnte!  Nur  'ne  Mi- 


Valerio,  halb  trunken,  kommt  gelaiifen. 
Prinz  {faßt  ihn  am  Arm.)   Kerl,  du  kannst  laufen?  Mein 
Gott,  wenn  ich  nur  etwas  unter  der  Sonne  wüßte,  was  mich 
noch  könnte  laufend  machen.  [5.  S.:] 

Valerio  {legt  den  Finger  an  die  Nase  und  sieht  ihn  starr 
an).  Ja! 

Prinz  {eben  so).  Richtig! 
Valerio.  Haben  Sie  mich  begriffen? 
Prinz.  Vollkommen. 

Valerio.  Nun  so  wollen  wir  von  etwas  anderm  redend — 
Ich  werde  mich  indessen  in  das  Gras  legen  und  meine 
Nase  oben  zwischen  den  Halmen  herausblühen  lassen  und 
romantische  Empfindungen  beziehen,  wenn  die  Bienen 
und  Schmetterlinge  sich  daraufwiegen,  wie  auf  einer  Rose. 
Prinz.  Aber  Bester,  schnaufen  Sie  nicht  so  stark,  oder  die 
Bienen  und  Schmetterlinge  müssen  verhungern  über  den 
ungeheuren  Prisen,  die  sie  aus  den  Blumen  ziehen. 
Valerio.  Ach,  Herr,  was  ich  ein  Gefühl  für  die  Natur  habe. 
Das  Gras  steht  so  schön,  daß  man  ein  Ochs  sein  möchte, 
um  es  fressen  zu  können,  und  dann  wieder  ein  Mensch,  um 
den  Ochsen  zu  fressen,  der  solches  Gras  gefressen. 
Prinz.  Unglücklicher,  Sie  scheinen  auch  an  Idealen  zu 
laborieren. 

Valerio.  O  Gott!  ich  laufe  schon  seit  acht  Tagen  einem 
Ideal  von  Rindfleisch  nach,  ohne  es  irgendwo  in  der  Reali- 
tät anzutreffen. 

1  X)as  golgenbe  bis  in  der  Realität  anzutreffen  ift  am  5?Qnbc 
na^getragen;  ba^er  crflärt  fid^,  \>a^  bie  [jenar.  ^emerfung  Er  setzt 
sich  auf  den  Boden  erft  oiel  [päter  !ommt. 

BÜCHNER  44. 


690  LESARTEN 

(er  singt:)      Frau  Wirtin  hat  'ne  brave  Magd, 

Sie  sitzt  im  Garten  Tag  und  Nacht. 
Sie  sitzt  in  ihrem  Garten 
Bis  daß  das  Glöcklein  zwölfe  schlägt 
Und  paßt  auf  die  Solda-a-ten. 
{Er  setzt  sich  auf  den  Boden.)    Seht  dieße  Ameisen,  liebe 
Kinder,    es    ist   bewundernswürdig  welcher  Instinkt  in 
dießen  kleinen  Geschöpfen,  Ordnung,  Fleiß — Herr,  es  gibt 
nur  drei  Arten,  sein  Geld  auf  menschliche  Weise  zu  ver- 
dienen: es  finden,  in  der  Lotterie  gewinnen,  erben  oder  in 
Gottes  Namen   stehlen,   wenn  man  die  Geschicklichkeit 
hat,  keine  Gewissensbisse  zu  bekommen. 
Prinz.  Du  bist  mit  dießen  Prinzipien  ziemlich  alt  gewor- 
den, ohne  vor  Hunger  oder  am  Galgen  zu  sterben. 
Valerio  {ihn  immer  starr  ansehend).  Ja  Herr,  und  das  be- 
haupte ich:  wer  sein  Geld  auf  eine  andere  Art  erwirbt,  ist 
ein  Schuft. 

Prinz.  Denn  wer  arbeitet,  ist  ein  subtiler  Selbstmörder, 
und  ein  Selbstmörder  ist  ein  Verbrecher,  und  ein  Ver- 
brecher ist  ein  Schuft,  also,  wer  arbeitet  ist  ein  Schuft. 
Valerio.  Ja. — Aber  dennoch  sind  die  Ameisen  ein  sehr 
[6.  S.:]  nützliches  Ungeziefer;  und  doch  sind  sie  wieder 
nicht  so  nützlich,  als  wenn  sie  gar  keinen  Schaden 
täten.  Nichts  destoweniger,  wertestes  Ungeziefer,  kann 
ich  mir  nicht  das  Vergnügen  versagen,  einigen  von  Ihnen 
mit  der  Ferse  auf  den  Hintern  zu  schlagen,  die  Nase  zu 
putzen  und  die  Nägel  zu  schneiden. 

Zwei  Polizeidiener  treten  auf. 

1.  Poliz.  Halt,  wo  ist  der  Kerl? 

2.  Po  1.  Da  sind  zwei. 

1.  P.  Sieh  einmal,  ob  keiner  davon  läuft. 

2.  P.  Ich  glaube,  es  läuft  keiner. 

1.  P.  So  müssen  wir  sie  beide  inquirieren.— Meine  Herren, 
wir  suchen  Jemand,  ein  Subjekt,  ein  Individuum,  eine 
Person,  einen  Delinquenten,  einen  Inquisiten,  einen  Kerl. 
{Zu  dem  andern  Pol.)  Sieh  einmal,  wird  keiner  rot? 

2.  P.  Es  ist  keiner  rot  geworden. 

I .  P.  So  müssen  wir  es  anders  probieren.  —Wo  ist  der  Steck- 
brief, das  Signalement,  das  Certificat?  (2.  Pol.  zieht  ein  Pa- 
pier aus  der  Tasche  und  überreicht  es  ihm.)  Visiere  die  Sub- 
jekte, ich  will  lesen:  ein  Mensch — 


LEONCE  UND  LENA  691 

2.  P.  Paßt  nicht,  es  sind  zwei. 

1.  P.  Dummkopf!  geht  auf  zwei  Füßen,  hat  zwei  Arme, 
femer  einen  IMund,  eine  Nase,  zwei  Augen,  zwei  Ohren. 
Besondere  Kennzeichen:  ein  höchst  gefährhches  Indivi- 
duum. 

2.  P.  Das  paßt  auf  beide.  Soll  ich  sie  beide  arretieren?  [7.S.:] 

1 .  P.  Zwei,  das  ist  gefährlich,  wir  sind  auch  nur  zwei.  Aber 
ich  will  einen  Rapport  machen.  Es  ist  ein  Fall  von  sehr 
krirain alischer  Verwicklung  oder  sehr  verwickelter  Krimi- 
nalität. Denn  wenn  ich  mich  betrinke  und  mich  in  mein 
Bett  lege,  so  ist  das  meine  Sache  und  geht  niemand  was 
an.  Wenn  ich  aber  mein  Bett  vertrinke,  so  ist  das  die  Sache 
von  wem,  Schlingel? 

2.  P.  Ja,  ich  weiß  nicht. 

I.  P.  Ja,  ich  auch  nicht,  aber  das  ist  der  Punkt.  (Sie  gehen 
ab.) 

Valerio.  Da  leugne  einer  die  Vorsehung.  Seht,  was  man 
nicht  mit  einem  Floh  ausrichten  kann!  Denn  wenn  es  mich 
nicht  heute  Nacht  überlaufen  hätte,  so  hätte  ich  nicht  den 
Morgen  mein  Bett  an  die  Sonne  getragen,  und  hätte  ich 
es  nicht  an  die  Sonne  getragen,  so  wäre  ich  nicht  damit 
neben  das  Wirtshaus  zum  Mond  geraten,  und  wenn 
Sonne  und  Mond  es  nicht  beschienen  hätten,  so  hätte  ich 
aus  meinem  Strohsack  keinen  Wein  keltern  und  mich  dar- 
an betrinken  können,  und  wenn  das  alles  nicht  geschehen 
wäre,  so  wäre  ich  jetzt  nicht  in  Ihrer  Gesellschaft,  werteste 
Ameisen,  und  würde  von  Ihnen  skelettiert  und  von  der 
Sonne  aufgetrocknet,  sondern  würde  ein  Stück  Fleisch 
tranchieren  und  eine  Bouteille  Wein  austrocknen  —  im 
Spital  nämlich. 

Prinz.  Ein  erbaulicher  Lebenslauf. 

Valerio.  Ich  habe  einen  läufigen  Lebenslauf.  Denn  nur 
mein  Laufen  hat  im  Lauf  dießes  [8.  S.:]  Krieges  mein 
Leben  vor  einem  Lauf  gerettet,  der  ein  Loch  in  dasselbe 
machen  wollte.  Ich  bekam  infolge  dießer  Rettung  eines 
Menschenlebens  einen  trocknen  Husten,  welcher  den  Dok- 
tor annehmen  ließ,  daß  mein  Laufen  ein  Galoppieren  ge- 
worden sei  und  ich  die  galoppierende  Auszehrung  hätte. 
Da  ich  nun  zugleich  fand,  daß  ich  ohne  Zehrung  sei,  so 
verfiel  ich  in  oder  vielmehr  auf  ein  zehrendes  Fieber,  worin 
ich  täglich,  um  dem  Vaterland  einen  Verteidiger  zu  er- 
halten, gute  Suppe,  gutes  Rindfleisch,  gutes  Brot  essen 


692  LESARTEN 

Prinz.  Nun  Edelster,  dein  Handwerk,  dein  metier,  deine 
Profession,  dein  Gewerbe,  dein  Stand,  deine  Kunst? 
Valerio.  Herr,  ich  habe  die  große  Beschäftigung  müßig 
zu  gehen,  ich  habe  eine  ungemeine  Fertigkeit  {nichts}  im 
Nichtstun,  ich  besitze  eine  ungeheure  Ausdauer  in  der 
Faulheit, 

[(Ein  T)nttel  biefer  legten  6ette  t[t  unbefc^neben.] 


hs2 
[23orber[ette;  ogl.  125i3ff.:] 

Gouvernante  (weint).  Lieber  Engel,  du  bist  ein  wahres 
Opferlamm. 

Lena.  Ja  wohl,  und  der  Priester  hebt  schon  das  Messer. — 
O  Gott,  ist  es  denn  wahr,  daß  wir  uns  selbst  erlösen  müssen 
mit  unserm  Schmerz?  Ist  es  denn  wahr,  die  Welt  sei  ein 
gekreuzigter  Heiland,  die  Sonne  seine  Dornenkrone  und 
die  Sterne  die  Nägel  und  Speere  in  seinen  Füßen  und 
Lenden? 

Gouvernante.  Mein  Kind,  mein  Kind!  ich  kann  dich 
nicht  so  sehen.— Vielleicht,  wer  weiß.  Ich  habe  so  etwas 
im  Kopf.  Wir  wollen  sehen.  Komm!  {sie  führt  die  Prin- 
zessin weg.) 

IL  Act. 
Wie  ist  mir  eine  Stimme  erklungen  im  tiefsten  Innern, 
Und  hat 
Steh  auf  in  deinem  weißen  Kleid  und  fwandl  sch|  schwebe 
durch  die  Nacht  und  sprich  zur  Leiche,  steh  auf  und  wandle. 
Lena.   Die  heiligen  Lippen,  {so}  die  so  sprachen,  sind 
längst  Staub. 
Leone.  O  nein,  {von  2} 

[%o.\\  bie  §älfle  biefer  Seite  ift  unbe[(^rieben.] 

[5Rüd[ette;  ogl.  S.  133 soff.:] 

Val.  Heiraten? 

Prinz.  Das  heißt  Leben  und  Liebe  eins  sein  lassen,  daß  die 

Liebe  das  Leben  ist,  und  das  Leben  die  Liebe.  Weißt  du 

auch,  Valerio,  daß  auch  der  Geringste  so  groß  ist,  daß  das 

menschliche  Leben  viel  zu  kurz  ist,  um  ihn  lieben  zu  können?*^ 


^  3m  93lanu[frtpt  ein  Slreuj,  gum  3^^^"»  ^0^  bie  ujeiter  unten 
ebenfo  maxfierte  (£tn[cf)altung  angefügt  roerben  [oll. 


LEONCE  UND  LENA  693 

Valerio.  Ja,  nur  [?]  ich  denke,  daß  der  Wein  noch  lange 
kein  Mensch  ist  und  daß  man  ihn  doch  sein  ganzes  Leben 
lieben  kann.  Aber  weiß  sie  auch,  wer  Sie  sind. 
Leo  nee.  Sie  weiß  nur,  daß  sie  micht  hebt. 
Val.  Und  wissen  Sie  auch,  wer  sie  ist? 

*  Und  dann  kann  ich  doch  den  Leuten  das  Ver- 
gnügen gönnen,  die  meinen  [?],  daß  [?]   nichts  so 
schön  und  heilig  sei,  daß  sie  es  nicht  noch  schöner 
und  heiliger  machen  müßten.  Es  liegt  ein  gewisser 
Genuß  in  d.  Meinung  [?],  warum  sollt'  ich  ihn  ihnen 
nicht  gönnen. 
Leonne^  Dummkopf!  Sie  ist  so  Blume  [?],  daß  sie  kaum 
getauft  sein  kann,  eine  geschlossne  Knospe,  noch  ganz  • 
von  Morgentau  u.  d.  Traum  d.  Nachtzeder  [Nachtnebels?]. 
Val.  Gut,  meinetwegen [?].  Wie  soll  das  gehn?  Prinz,  bin 
ich  Minister,  wenn  {Euer  H}  Sie  heute  vor  Ihrem  Vater  mit 
d.  Unaussprechlichen,  Namenlosen  kopuliert  werden? 
Leonne.  Wie  ist  das  möglich? 
Val.  Das  wird  sich  finden,  bin  ich's? 
Leonne.  Mein  Wort. 
Val.  Danke.  Kommen  Sie. 


Die  Überlieferung  oonTN 
S.  110.  -2  Po-Po  T  I  4  vom  Reiche  Pipi  fe^It  T. 
S.  1111—11416  gibt  T  aI[o  toieber:  Die  erste  Szene  des  ersten 
Aktes  stellt  einen  Garten  vor,  auf  dessen  Bänken  sich  der  Kron- 
prinz Leonce  mit  seinem  Hofmeister  entsetzlich  ennuyiert.  Er 
sagt  ihm,  daß  er  alle  Hände  voll  mit  seinem  Müßiggang  zu  tun 
hätte,  nachzählen  müsse,  wie  oft  er  täglich  ausspeie,  und  wie 
viel  Sandkörner  er  mit  zwei  Fingern  fassen  könne^.  Auch 
forsche  er  darüber  nach,  wie  er  ohne  Spiegel  sich  selber  ins  Gesicht 
sehen  könne.  Der  Hofmeister  bemitleidet  ihn  seijies  Müßig- 
gangs wegen.  Der  Prinz  verabschiedet  ihn  und  setzt  in  einem 
Monolog,  der  folgendermaßen  anfängt:  Die  Bienen  sitzen 
so  trag  auf  den  Blumen  und  der  Sonnenschein  hegt  so  faul 
auf  dem -Boden,  die  Leiden  der  Langeweile  auseinander,  und 
wünscht  nichts  sehnlicher,  als  ein  anderer  Mensch  zu  werden. 

^  Der  lateinif^  gef^riebene  9iame  ift  nii^t  glei(^mä^ig  gef^rieben, 
fie^t  an  ben  f olgenben  Stellen  rote  Leonne  au5.  —  ^  (Sine  S3er= 
glei(^ung  mit  hs^  unb  N  geigt,  'üa^  (öu^forn  ^ter  toie  fpäter  nic^t 
genau  referiert. 


694  LESARTEN 

Wenn  er  den  Hofmeister  prügeln  ließe,  so  müßte  er  ihn  beneiden: 
der  Mann  hätte  doch  eine  A  bwechlung  davon!  ^  Nun  tritt  der 
Narr  Valerie  auf.  Er  ist  betrunken  und  singt: 
Frau  Wirtin  hat  'ne  brave  Magd, 
Sie  sitzt  im  Garten  Tag  und  Nacht, 
Sie  sitzt  in  ihrem  Garten, 
Bis  daß  das  Glöcklein  zwölfe  schlägt 
Und  paßt  auf  die  Solda-a-ten. 
Darauf  philosophiert  er  über  die  Ameisen  imd  sagt:  Die  Amei- 
sen sind  ein  nützliches  Ungeziefer,  und  doch  sind  sie  wieder 
nicht  so  nützlich,  als  wenn  sie  gar  keinen  Schaden  täten. 
Er  bewundert  die  schöne  Natur  ringsherum  und  schlürft  so  viel 
Blumenduft  ein,  daß  der  Prinz  fürchtet,  seine  Bienen  könnten 
verhungern,  weil  er  ihnen  die  duftige  Nahrung  entzieht.  Valerio 
meint  auch,  das  schöne  Gras  würde  andre  ^  begeistern,  daß  sie 
darauf  weiden  möchten;  er  aber'^  möchte  bloß  ein  Mensch  bleiben, 
um  Tiere  zu  verzehren,  die  von  so  herrlichem  Grase  gemästet 
wären.  Als  ihm  der  Prinz  darauf  antwortet,  er  scheine  auch 
an  Idealen  zu  leiden,  sagt  Valerio:  Was  man  in  einer  Welt 
solle,  wo  es  rein  unmöglich  wäre,  von  einem  Kirchturm  zu- 
springen, ohne  sich  den  Hals  zu  brechen.  Valerio  spricht  mit  den 
Bhtmen  und  sagt  unter  anderm:  Ach  lieber  Herr  Medikus 
Kantharide,  ich  bin  um  einen  Erbprinzen  verlegen!— m^ 
Witz,  den  zu  verstehen  man  Arzt  sein  muß,  was  Büchner  war. 
Genug,  Valerio  und  der  Kronprinz  lieben  sich,  weil  sie  beide 
müßig  gehen  und  schließen  ewige  Freundschaft. 
3lbtoei(i)ungen  unfres  ^^exfes  oon  N  in  btefer  Sjene,  auf  ©runb 
uon  hs^: 

(5.  111.  24f.  daß  ich  mir  einmal  auf  den  Kopf  sehe  N  |  26 
eines  N  |  26f.  Mir  wäre  geholfen.  fef)It  N  |  28  jetzt  fe^It  N  | 
36  Eure  Hoheit  N.— S.  112.  22-25  lang.  Wie  der  Mensch  läuft! 
Wenn  ich  nur  etwas  unter  der  Sonne  wüßte,  was  mich  noch 
könnte  laufen  machen.  [Valerio,  etwasbetrunken,  tritt  auf. Y^. 
S.  114.    23  fast  nackt  fe^It  N  |  26  wo  sind  meine  Schuhe, 
meine  Hosen?  N  |  pfui  fe^It  N  |  27  davorn  fel^It  N. 
(5.  115.  6f.  Taschentuch  T  j  7  knöpfen  N. 
S.  116i — 12038   referiert  T  alfo:  Wir  lernen  eine  Freundin 
des  Prinzen  kennen,  Rosette.  Der  Prinz  ordnet  ihren  Empfang 
mit  folgenden  Befehlen  an: 

Sind  alle  Läden  geschlossen?  Zündet  die  Kerzen  an!  Weg 
mit  dem  Tag!   Ich  will  Nacht,  tiefe  ambrosische  Nacht. 

1  "ögl.  ^nmerfung  %  6.  693. 


i.eoncp:  und  lena  695 

stellt  die  Lampen  unter  Kristallglocken  zwischen  die  Ole- 
ander, daß  sie  wie  Mädchenaugen  unter  den  Wimpern  der 
Blätter  hervorträumen.  Rückt  die  Rosen  näher,  daß  der 
Wein  wie  Tautropfen  auf  die  Kelche  sprudle.  Musik.  Wo 
sind  die  VioHnen?  Wo  ist  dieRosetta?  Fort!  Alle  hinaus! 
Es  entspinnt  sich  ein  zartes  Gespräch,  in  welchem  Leonce  hin- 
länglich offenhart,  daß  er  nur  mit  Rosetten  spielt,  und  Rosette, 
daß  sie  darüber  sehr  unglücklich  ist.  Sie  singt  ihm  folgende 
zarte  Verse: 

O  meine  müden  Füße,  ihr  müßt  tanzen 

In  bunten  Schuhen, 
Und  möchtet  lieber  tief,  tief 

im  Boden  ruhen. 

O  meine  heißen  Wangen,  ihr  müßt  glühen 

Im  wilden  Kosen, 
Und  möchtet  lieber  blühen 

Zwei  weiße  Rosen. 

O  meine  armen  Augen,  ihr  müßt  blitzen 

Im  Strahl  der  Kerzen, 
Und  lieber  schlieft  ihr  aus  im  Dunkeln 

Von  euren  Schmerzen. 
Leonce  fühlt,  daß  er  ein  Römer  ist,  der  sich  zum  Dessert  an 
dem  Farbenspiel  gequälter  Fische  ergötzt.  Daß  Rosetta  weint, 
beneidet  er  ihr,  als  einen  feinen  Epikuräismus.  Stelle  dich  in 
die  Sonne,  sagt  er,  daß  die  köstlichen  Tropfen  kristalli- 
sieren, es  muß  prächtige  Diamanten  geben.  Du  kannst  dir 
ein  Halsband  daraus  machen  lassen.  Rosetta,  von  ihm  zu 
sehr  gequält,  geht;  Leonce  verfällt  in  partielle  Geistesabwesen- 
heit, in  welche  der  unter  einem  Tisch  hervorkriechende  Valerio 
einstimmt.  So  trifft  sie  der  Staatsrat. 

^btDCtc^urtgen  unfres  XnUs  Don  N  in  btefer  brtlten  Sjene,  auf 
©runb  uon  T: 

6.  116.  11  Wo  ist  Rosetta?  N.— 6. 117.  25  Im  milden  Kosen 
N.— S.  118.  4  daraus  fe^It  N  22  Meinst  du?  X:  [innlos,  bur^ 
T  ni^t  überliefert. 

<5.  121.  9  einmal  [lall  einst?  T  ]  10  niemand  etwas  ein,  als 
dem  T  |  11-24  PRÄSIDENT  {verlegen  bis  Rede  zurüclrtritt. 
fef)Il  T  I  30  von  Pipi  fe^It  T  |  31  Ihre  N  1  38  war  kein  Grüb- 
chen T  i  38f.  Abzugsgruben  T. 

S.  122.  5f.  an  dem  ein  Braten  an  der  königlichen  Tafel  ver- 
brennt T  !  7  Apropos  fef)It  T  |  17-20  so  groß,  daß  ich  sie  ja 
mit  den  Beinen  doch  nicht  ausmessen  kann.  Valerio,  T  |  23f. 


696  LESARTEN 

Soll  ich  sie  füliren  bis  gingCD?  fe^lt  T  |  26f.  Du  hast  weder 
Vater  bis  erzeugt,  fefjlt  T  |  39  und  Valerio  fef)It  T. 
e.  123.  1-6  LEONCE.  Valerio,  hast  du  es  gehört?  T. 
6.  12317 — 1245  referiert  T  nur:  Leonce  findet  diese  Aussicht, 
König  zu  werden,  jedoch  zu  entsetzlich  und  entschließt  sich, 
namentlich  auch,  um  der  beabsichtigten  Heirat  zu  entgehen,  zur 
Flucht  nach  Italien.  Valerio  verspricht,  ihn  zu  begleiten.  Der 
Prinz  ruft  aus:  Fühlst  du  nicht... 

S.  12415— 125 24. gibt  T  !ur3  [0  toieber:  In  der  vierten  Szene 
lernen  wir  die  Prinzessin  Lena  kennen,  die  mit  ihrer  Gouver- 
nante in  einem  Garten  auftritt.  Ihr  ist  der  Gedanke  des  Hei- 
ratens  so  schrecklich  wie  ihrem  ihr  unbekannten  Verlobten. 
Sie  ist  über  und  über  mit  Steinen  besäet  und  singt  doch: 
Auf  dem  Kirchhof  will  ich  liegen 
Wie  ein  Kindlein  in  der  Wiegen, — 
Ihr  Unglück  ist  nicht  grade  das  Heiratenmüssen,  sondern  daß 
man  einen  Nagel  durch  zwei  Hände  schlägt,  die  sich  gar  nicht 
gesucht  haben.  Bin  ich  denn,  klagt  sie,  wie  die  Quelle,  die 
jedes  Bild,  das  sich  in  ihr  spiegelt,  zurückstrahlen  muß?  1 
Ihre  Gouvernante  sinnt  etwas  aus,  was  wir  im  zweiten  Akt  er- 
fahren werden. 
8.  125.  35  weitläufiges  N. 

5.  126.  3  stände  N  |  7  wenigstens  ftatt  nächstens  T  {  12  grö- 
bere materielle  T  |  l4f.  wenn  man  Ihnen  denselben  scheren 
und  sie  Tropfen  für  Tropfen  darauf  fallen  ließ.  T  |  15  Ein 
köstlicher  Einfall!  fe^ItT  |  19  Tage  T  |  28  schön,  aber  dumm. 
T  I  29  hilflos  N  I  32  geistigen  [tott  geistlosen  TX;  toofil  [inn= 
los,  roeil  bei  "Rontraft"  fe^It  (S3erlefen  ber  i^raftur^anbfd^rift 
5Bü^ners). 

6.  127.  5  Stirne  X  |  7-15  Hätte  ich  nun  nicht  bis  inwendig 
anziehen.  fel^It  T  i  I6  Gott  ftatt  Pack  T  |  17  Ei  ihr  lieben  ver- 
kauften Hosen  (denn  verkaufen  will  ich  sie)  T;  biefe  fiesatt 
oerbrai^  ©u^toro,  nacEjbem  er  7-15  geftri(^en  unb  I6  uerlefen  \^oM^^ 
um  einen  3ufammen^ang  fierjuftellen  |  19  ins  Maul  T  |  21  {)iom- 
mßn)fef)ItT  |  29|f.  keine  Eremiten,  keine  Schäfer  T  |  38f.  Was 
ein  roter  Schein  über  den  Wiesen  spielt  von  den  Kukuks- 
blumen  T. 

S.  128.  15  liefern  Ihnen  die  zur  Bezahlung  gegebenen  Hosen 
T  I  20  großen  [tatt  greisen  X  [  30  über  dich  T  |  3of.  über  den 

^  X)iefe  in  ^Infü^rungsjeii^en  oon  (5u^!oiü  loiebergegebene  Stelle 
roei^t  Don  125  7  ff.  (xh  unb  roäre  5töeifeIIo5  Dor3U3ie|en,  toenn  fie 
Dom  X)i^ter  ^errü^rte;  es  mu^  aber  besraetfelt  roerben,  ^o^^j^  Sü^= 
ner  fpäter  bie  f^Ied)tere  Raffung  loä^lte.  i?gl.  5lnm.  2,  8.  693. 


LEONCE  UND  LENA  697 

Kelch  N  I  36  nur  auf  drei  Beinen  N  |  und  nicht  auf  zwei, 
daß  man  sich  die  Nase  mit  Hülfe  der  Hände  putzt  und 
nicht  wie  die  Fliegen  mit  den  Füßen.  T. 
3.  129.  1  irgend  unb  fürstlichen  fehlen  N  |  3 f.,  die  mir  erst 
bis  an  der  Decke  zupfe  fe^It  T  j  10  sie  macht  keine  Geburts- 
schmerzen fc^It  T  I  30  goldnen  T  |  33  Langerweile  T  |  34  der 
Kartenkönig  T. 

S.  130.  3f.  daß  man  Ihre  Füße  T  |  4  respektabeln  fef)lt  T  | 
6  das  Maul  T  |  9  Ihre  Nase  T  |  10  Damaskus  T  |  I8  Und  für 
müde  T  |  19  müde  Lippen  T  |  20  müde  Ohren  T  |  11  ins 
Haus  T  !  31  ich  hab  T  |  39  dorthin  fe^It  N. 
S.  131.  10  Wangen,  den  Winter  T  |  11  ein  Schlafkissen  T  | 
21  Harmonie  N  |  29 f.  sie  ist  aber  doch  nicht  so  schön,  als 
wenn  T  ;  3:5,  34  da  außen  N  |  3:«  {Er  legt  sich  auf  den  Rasen 
nieder.)  fe^It  N. 

(5.  132.  1-3  LEONCE  tritt  auf,  bemerkt  die  Prinzessin  und 
nähert  sich  ihr  leise.  N  j  9  dunkeln  TN  |  10  f.  Armes  Kind, 
kommen  die  schwarzen  Männer  bald  dich  holen?  Wo  ist 
deine  Mutter?  Will  sie  dich  nicht  noch  einmal  küssen? 
Ach,  es  ist  traurig,  tot  und  so  allein.  T  [  12  Kleide  T  j 
14  Totenlied  T  |  31  mir  fe^It  T  |  32  dunkelm  T  |  34  Sterne. 
Meine  Lippen  saugen  sich  daran:  dieser  eine  Tropfen  T. 
S.  133.  9  heute  N  [  12  Betten  zu  gehn.  T  |  13  von  dem 
Ungeziefer  N  |  I8  so  üor  vortrefflich  fc^It  N  (  24  heute 
N  I  25  f.  warmhalten.  Wohl  bekomm's,  Valerie.  N  |  35  doch 
fe^UT. 

S.  134.  10  Dummkopf!  fe^lt  T  [aber  w\6)i  hs"!]  |  32  an  sich  [tatt 
in  sich  TN. 

<5.  135.  4  stehet  T  |  7  kaum  mehr  T  |  13  nicht  mit  den  Fin- 
gern T  I  27-29  Wir  geben  aber  auch  bis  Kokarden  an  die 
Köpfe.  fef)It  T. 

S.  136.  3-4  Die  zwölf  Unschuldigen  sehen  in  T  |  8  Haltung. 
{Zu  einem  Diener:)  Sage  doch  dem  Herrn  Kandidaten,  er 
möge  seine  Buben  einmal  das  Wasser  abschlagen  lassen. — 
Der  arme  Herr  Hofprediger!  Sein  Frack  läßt  den  Schweif 
ganz  melancholisch  hängen.  Ich  glaube,  er  hat  Ideale  und 
verwandelt  alle  Kammerherrn  in  Kammerstühle.  Er  ist 
müde  vom  Stehen.  ZWEITER  BEDIENTE.  Alles  Fleisch 
verdirbt  vom  Stehen.  Auch  der  Hofprediger  ist  ganz  ab- 
gestanden, seit  er  heut  ^Morgen  aufgestanden.  CEREMO- 
NIENMEISTER.  Die  Hofdamen  stehen  da  T  |  8f.  Gradier- 
bäume T  I  10  BEDIENTE  TN  ]  machens  T  i  12  tragen  T 
auch  fcf)It  T  j  15  die  Dardanellen  und  fe^lt  T     17  kommt  T 


698  LESARTEN 

19  Also  fe^ll  N  I  26,  29  BEDIENTE  T  |  33  DIENER  T  [ 
36  noch  weniger  T  |  38  Tag  T. 

S,  137.  17  Kammernherrn  T  |  ?8  allerdings  ftalt  eben  T 
31  Tröste  sich  Eure  Majestät  mit  T  \  32 f.  ist  ein  Ding,  ein 
Ding,dasnichts— T|  35DIEfe^ItT  j  37 zwölf  ^inter  Glocken- 
schlag fe^Il  N  I  39  ganz  fe^It  T. 

e.  138.  if.  Anstands  halber  T  |  6, 12  BEDIENTE  T  6  sehe 
etwas  N  |  9  noch  oor  zwei  fe^It  N  .  21  dann  [tatt  denn  N  | 
24  dann  [talt  alsdann  T  -7  wer  [tatt  was  T  32  hiemit  T. 
S.  139.  6f.  einen  Herr  T  |  11  fünfzig  T  |  17  stehen  T  i  19  gehen 
T  1  i::o  eine  fef)It  T  ]  21-25  Sie  haben  ein  bis  hinunterzugehen. 
fe^It  T  I  34  einzige  [tatt  winzige  T  j  35  legend  fe^It  N. 
S.  140.  4  Leonce  und  LenaT  |  4f.  Das  ist  der  Prinz,  das  ist 
die  Prinzessin  T  |  10  fatalen  [tatt  vermaledeiten  T  j  21  vom 
Reiche  Popo  fe{)It  T  |  22  vom  Reiche  Pipi  [et)It  T  |  23  haben 
fe^It  T  I  24  sagen  T  |  27  wäre  T  |  dann  N  |  28  das  Fräulein 
T  I  28f.  Tiere  im  Paradies  N  |  34  ungiltig  N. 

5.  141.  3  das  Paradies.  Ich  bin  betrogen.  T  |  5  fcl^lt  T  i 
6  LEONCE.  O  Zufall!  T  |  7  LENA.  O  Vorsehung!  T  |  8,  ich 
muß  lachen  fe^It  T  ]  12  endlich  fef)It  T  |  16 f.  mich  vor  Rüh- 
rung kaum  zu  lassen  T  |  I8  sogleich  ungestört  jetzt  bloß 
nur  noch  T  |  23f.  Der  Mensch  hat  mich  vorhin  bis  heraus- 
helfen. fe^It  T  I  32  von  vorn  T. 

6.  142.   5  milchweiße  ästhetische  T  |  12  und  die  uns  T 
13  hinauf  destillieren,  und  wir  das  T  |  14  Lorbeern  T  |  24f. 
klassische  Gestalten  und  eine,  wo  möglich  bequeme  Reli- 
gion. T. 


)  0  99  ^ 
WOYZECK  (S.  143—161). 


Nach  Wilhelm  Schulz'  Nachruf,  S.  655,  scheint  dies  Drama 
"beinahe  vollendet"  gewesen  zu  sein,  als  der  Dichter  starb. 
Ein  fast  fertiges  Manuskript  ist  aber  nicht  auf  uns  gekom- 
men; vielmehr  enthält  der  Nachlaß  Büchners  nur  folgende 
handschriftlichen  Fragmente: 

h:  fünf  Foliobogen  ursprünglich  grauen  Konzeptpapiers 
mittlerer  Stärke,  das  aber  durch  chemischen  Eingriff  stark 
gelitten  hat  (ungleiche  Vergilbung).  Beschrieben,  und  zwar 
ohne  Rand,  sind  sämtliche  Bogen  bis  auf  einen,  von  dem 
nur  die  erste  Seite  zu  einem  Drittel  noch  Text  enthält 
und  der  also  als  der  letzte  Bogen  angesehen  werden  darf. 
Die  stark  geblaßte  Tinte  ist  auf  allen  Bogen  dieselbe;  par- 
tienweis  sehr  ungleich  hingegen  sind  die  Schriftzüge,  die 
dadurch  ein  häufiges  Unterbrechen  und  Wiederaufnehmen 
der  Arbeit  erkennen  lassen.  Daß  es  sich  um  Entwürfe  han- 
delt, geht  schon  aus  der  flüchtigen,  oft  bis  zur  Unleserlich- 
keit  abgekürzten,  anderwärts  zum  bloßen  Gekritzel  sich 
verkleinernden  Schrift  hervor;  spielerische  Zeichnungen 
mit  der  Feder  begleiten  zuweilen  den  Text,  zwei  kleine 
Rechnungen  machen  ihm  auch  einmal  den  Platz  streitig. — 
Leider  sind  die  Bogen  nicht  paginiert,  und  aus  dem  In- 
halt kann  nicht  ohne  weiteres  auf  die  Folge  bei  dichte- 
rischen Entwürfen  Büchners  geschlossen  werden,  da  er 
nicht  immer  der  Reihe  nach  konzipiert.  Indessen  gibt  es 
doch  einige  Kriterien,  die  aushelfen:  i.  Da  bei  vier  Bogen 
eine  Szene  von  der  zweiten  auf  die  dritte  Seite  überläuft, 
steht  fest,  daß  diese  Foliobogen  nicht  paarig  oder  mehr- 
fach ineinandergelegt  waren,  sondern  einzeln  nacheinan- 
der beschrieben  wurden.  2.  Von  einem  Bogen  zum  andern 
läuft  nur  einmal  eine  Szene  über,  und  zwar  läuft  diese  zu  dem 
letzten,  nur  auf  der  ersten  Seite  noch  beschriebenen  Bogen 
über,  so  daß  der  den  Anfang  dieser  Szene  enthaltende 
Bogen  als  der  vorletzte  anzusehen  ist.  3.  Auf  zwei  Bogen 
heißt  der  Held  und  seine  Geliebte  Louis  und  Margreth, 
auf  den  anderen  Franz  und  Louise:  trennen  wir  dement- 
sprechend die  Bogen  in  zwei  Gruppen  h^  und  h^,  so  ergibt 
sich  innerhalb  jeder  Gruppe  von  Szenen  ein  gewisser  Zu- 
sammenhang fortlaufender  Entwicklung,  was  die  Ver- 
mutung rechtfertigt,  daß  wir  es  mit  zwei  verschiedenen 
Entwurfstücken  zu  tun  haben;  da  die  endgültige  Fassung 
den  Namen  Franz^beibehält,  wird  als  h^  der  Entwurf  mit 


700  LESARTEN 

den  Namen  Louis-Margreth  zu  gelten  haben,  obwohl  er 
überwiegend  den  Schlußteil  des  Dramas  enthält,  während 
h^  der  Entwurf  mit  den  Namen  Franz-Louise  wäre,  der 
den  ersten  Teil  des  Stückes  behandelt.^ 
hH:  ein  Quartblatt  ursprünglich  weißen,  fast  glatten  Pa- 
piers von  ziemlicher  Stärke,  das  ebenfalls  infolge  chemi- 
scher Einwirkung  unregelmäßig  vergilbt  ist.  Das  Blatt  ist 
auf  beiden  Seiten  voll  beschrieben,  und  zwar  ohne  Rand, 
die  Tinte  wie  bei  h  verblaßt,  die  Schrift  etwas  sorgfältiger. 
Keine  Paginierung  deutet  eine  Zugehörigkeit  zu  einem  an- 
deren Manuskript  an;  es  mag  von  vornherein  ein  einzelnes 
Entwurfblatt  gewesen  sein,  wie  etwa  h^  bei  'Leonce  und 
Lena'  (S.  686).  Von  H  unterscheidet  es  sich  schon  durch  die 
Papierbeschaffenheit  und  das  etwas  größere  Format;  auch 
ist  die  Folge  der  beiden  auf  dem  Blatt  enthaltenen  Szenen 
nur  eine  zufällige,  nicht,  wde  bei  H,  der  Entwicklung  der 
Handlung  entsprechende. 

H:  sechs  Quartbogen  ursprünglich  weißen  Papiers  ohne 
Wasserzeichen,  glätter  und  dünner  als  h  und  hH,  aber 
gleichfalls  durch  chemischen  Eingriff  stark  in  Mitleiden- 
schaft gezogen.  Beschrieben  sind  sämtliche  Bogen,  doch 
so,  daß  sie,  mit  Ausnahme  von  fünf  Seiten^,  einen  breiten 
freien  Rand  behalten  haben  und  inmitten  eines  Bogens 
anderthalb  Seiten  für  die  Ausführung  einer  nur  durch 
Überschrift  bezeichneten  Szene  (BUDEN;  LICHTER)  leer- 
geblieben sind;  auch  wo  eine  Szene  unter  der  Mitte  einer 
Seite  endet,  ist  der,  restliche  Teil  dieser  Seite  frei  gelassen, 
auf  einer  Seite  sogar  mehr  als  die  Hälfte  derselben,  doch 
ist  es  fraglich,  ob  die  davor  stehende  Szene  {Haupt- 
mann. Doktor.)  als  abgeschlossen  zu  gelten  hat.  Neben 
den  überwiegenden  Strecken  mit  blasser  Tinte  finden 
sich  auch  solche  frischerer  Farbe,  was  aber  nicht  auf 
eine  verschiedene  Abfassungszeit,  sondern  auf  die  un- 
gleiche Wirkung  des  chemischen  Eingriffs  zurückzufüh- 

1  Wenn  am  Anfang  von  h^  ausnahmsweise  gerade  die  letzte 
uns  erhaltene  Szene,  nämlich  die  Gerichtsszene,  steht,  so 
läßt  sich  dies  zwiefach  erklären:  entweder  gehört  sie  noch 
zu  h\  was  nur  ein  Beweis  dafür  wäre,  daß  h^  tatsächlich 
nach  h^  geschrieben  wurde,  oder  diese  Szenenskizze  ist 
nur  als  letztes  programmatisches  Ziel  des  Dichters  auf- 
zufassen, und  dazu  würde  die  folgende  ebenfalls  program- 
matische Charakteristik  des  Helden  passen.— ^I6 — Il6  nach 
unserer  Zählung  (s.  Lesarten  unter  H)  sind  ohne  Rand. 


WOYZECK  701 

ren  sein  wird,  denn  der  Wechsel  findet  sogar  inmitten 
einzelner  Sätze,  ja  Wörter  statt.  Indessen  fällt  auch  in  dem 
Duktus  der  Schrift  wiederholt  ein  Wechsel  auf,  so  daß 
man  mit  einem  Abbrechen  und  Wiederaufnehmen  der 
Arbeit  auch  bei  diesen  Blättern  rechnen  muß.  Im  übrigen 
sind  wohl  die  Schriftzüge  sorgfältiger  als  in  h,  aber  noch 
weit  entfernt  davon,  für  einen  Setzer  lesbar  zu  sein;  um 
ein  Druckmanuskript  kann  es  sich  jedenfalls  auch  bei  H 
nicht  handeln. — Die  Reihenfolge  der  Szenen  ist  nicht  leicht 
erkennbar,  da  auch  diese  Quartblätter  nicht  paginiert  sind 
und  aus  dem  Inhalt  allein  nichts  Sicheres  geschlossen  werden 
kann.  Dadurch  aber,  daß  zweimal  eine  Szene  von  der  zwei- 
ten Seite  eines  Bogens  auf  die  erste  Seite  eines  andern 
Bogens  überläuft  und  von  der  vierten  Seite  dieses  andern 
Bogens  wiederum  eine  Szene  auf  der  dritten  Seite  jenes 
ersten  Bogens  endigt,  liegen  zwei  Lagen  von  je  zwei  Bogen 
fest: sie  umfassen  denTextS.145 1—15039  und  S.  155 12—15937. 
Die  Frage  ist  nun,  wie  sich  die  beiden  anderen  Bogen  ein- 
ordnen. Der  eine  davon  enthält  auf  seiner  ersten  Seite 
die  Fortsetzung  von  S.  15039,  schließt  sich  also  unmittel- 
bar jener  ersten  Bogenlage  an  und  ist  mit  seinem  ersten 
Blatt  an  sie  gebunden.  Da  auf  der  Rückseite  dieses  Blattes 
eine  ganze  Szene  (S.  151)  steht,  kann  man  vielleicht  im 
Zweifel  sein,  was  auf  dies  erste  Blatt  zu  folgen  hat.  Nun 
gibt  aber  das  Äußere  einen  Fingerzeig:  am  oberen  Rande 
jenes  Blattes  ist  eine  schlecht  beschnittene  Stelle,  steht 
nämlich  nach  innen  gefalzt  ein  unregelmäßiger  schmaler 
Streifen  Papier  über,  der  von  einem  schlecht  abgetrennten 
Blatte  herrühren  muß.  Dieses  abgetrennte  Blatt  ist  das 
erste  Blatt  des  noch  übrigen  Bogens,  dessen  oberer  Rand 
an  der  entsprechenden  Stelle  allein  eine  Ausbuchtung  hat, 
in  die  jener  überstehende  Streifen  genau  hineinpaßt;  die 
beiden  Bogen  haben  also  ursprünglich,  wie  alle  Doppel- 
bogenlagen in  Büchners  Handschriften,  einen  Foliobogen 
gebildet,  der  erst  von  dem  Dichter  halbiert  und  dann  zu 
Quartblättern  zusammengelegt  worden  ist.  Und  so  ergibt 
sich  denn  auch  für  die  beiden  letzten  Bogen  eine  Doppel- 
lage, deren  innerer  Bogen  die  beiden  Szenen  S.  152 ff.  ent- 
hält, während  das  hintere  Außenblatt  die  Szene  S.  154 f. 
folgen  läßt.  Die  Einordnung  dieser  Doppellage  zwischen 
den  beiden  anderen  ist  durch  den  bereits  erwähnten  un- 
mittelbaren Anschluß  ihrer  ersten  Seite  an  die  letzte  jener 
ersten  Doppellage  bedingt. 


70  2  LESARTEN 

So  äußerlich  diese  Bestimmuugsweise  auch  erscheinen 
mag,  so  gibt  sie  doch  den  einzig  sicheren  Ausgangspunkt, 
von  dem  aus  man  die  ursprüngUche  Anordnung  der  Hand- 
schrift entdecken  kann.  Nun  bringt  jedoch  Witkowski  in 
seiner  Woyzeck- Ausgabe,  Leipzig  1920  (W),  eine  andere 
Szenenfolge  nach  H.^  Man  erhält  sie,  indem  man  die  mitt- 
lere Doppelbogenlage  auseinandernimmt,  das  zweite  Blatt 
jenes  Bogens,  der  mit  seinem  ersten  Blatt  bereits  inhalt- 
lich an  die  erste  Doppellage  gebunden  ist,  um  diese  her- 
umschlägt, so  daß  eine  Lage  von  drei  Bogen  entsteht,  und 
dann  den  noch  übrigen  Bogen,  dessen  innere  Seiten  nicht 
getrennt  werden  dürfen,  weil  sie  eine  gemeinsame  Szene 
haben,  in  die  Mitte  der  anderen  Doppellage  legt,  so  daß 
auch  diese  zu  einer  Lage  von  drei  Bogen  wird.  Man  hat 
also  nunmehr  bloß  zwei  Lagen  von  je  drei  Bogen^  vor  sich 
und  in  dieser  Gruppierung  nachstehende  Szenenfolge: 
Hauptmann.  Doktor  (S.  i54f.),  anschließend  die  Szenen 
S.  145— 151  BT,  dann  DIE  WACHTSTUBE  bis  zu  der  Szene 
Nacht.  Andres  und  Woyzeck  in  einem  Bett  (S.  155 — 157),  nun- 
mehr Marie.  Woyzeck  und  Woyzeck.  Der  Doktor  (S.  152 — 154), 
zum  Schluß  w^ieder  gleichlaufend  die  Szenen  WIRTSHAUS 
bis  KASERNE  (S.  157  ff.).  Gewiß  hat  diese  Anordnung 
etwas  Bestechendes:  Die  mitten  im  Stücke  den  Ablauf  der 
Handlung  störende  Szene  Hauptmann.  Doktor  steht  jetzt 
am  Anfang,  wo  sie  nichts  verderben  kann,  und  die  Eifer- 
suchtsszene Marie.  Woyzeck  mit  dem  entscheidenden  Aus- 

1  Die  Entwürfe  von  h  sind  nach  Witkowski  "ohne  jede 
Absicht  geregelter  Folge"  geschrieben;  sie  stehen  daher  in 
W  in  zufälliger  Anordnung:  als  I  der  zweite  Foliobogen, 
als  II  der  dritte,  dann  als  III  der  erste,  endlich  als  IV  und  V 
die  beiden  letzten.  hH  steht  am  Schluß,  also  hinter  H  in 
W;  doch  wird  im  Nachwort  bemerkt,  daß  diese  beiden 
Szenen  ihrem  Charakter  nach  zwischen  den  "Entwürfen" 
und  der  "Ausführung"  stehen. — ^  Eine  an  sich  schon  für 
Büchner  ganz  ungewöhnliche  Lagenart.  In  dem  gesamten 
handschriftlichen  Nachlaß  kommt  nicht  eine  einzige  Lage 
von  drei  Bogen  vor;  die  vier  umfangreichsten  Handschrif- 
ten, der  Danton  und  die  drei  philosophischen  Schriften, 
zählen  zusammen  100 Quartlagen:  diese  enthalten  sämtlich 
je  zwei  Bogen,  und  bei  rund  60  Bogen  (vom  Danton  13) 
ist  noch  jetzt  durch  ähnliche  Schnittverhältnisse  am  obern 
Rand  zu  erkennen,  daß  auch  ihre  Lagen  ursprünglich 
einen  Foliobogen  gebildet,  also  von  jeher  zusammen- 
gehört haben. 


WOYZECK  703 

ruf  "Mußt  sterben!"  rückt  mehr  dem  Ausgang  des  Dramas, 
der  Katastrophe  zu.  Die  Lesart  "Mußt  sterben"  ist  nun 
aber  schon  graphisch,  als  Entzifferung  des  überheferten 
Schriftbildes,  außerordentlich  zweifelhaft,  inhaltlich  an- 
gesichts der  kecken  Antwort  Mariens  geradezu  unmöglich 
und  wohl  aus  beiden  Gründen  auch  in  W  mit  einem  Frage- 
zeichen versehen.  Zieht  man  die  ursprüngliche  Fassung 
dieser  Szene  in  h^  (S.  727)  zu  Rate,  so  findet  man  dort  nichts 
von  jener  Drohung,  im  Gegenteil  wird  Woyzeck  durch 
Mariens  Keckheit  von  neuem  schwankend,  und  in  H  ist 
kein  neues  Motiv  hinzugekommen,  das  die  alte  Fassung  in 
so  grundlegender  Weise  hätte  ändern  müssen.  Gegen  die 
Verlegung  der  Szene  zum  Schluß  hin  sprechen  aber 
auch  Mariens  Worte  "Der  Franz  ist  nit  gekommen, 
gestern  nit,  heut  nit"  (S.  159101'.);  denn  eine  solche  Zeit- 
spanne ist  zwischen  der  letzten  Begegnung  des  Paares, 
eben  jener  Eifersuchtsszene,  und  Mariens  Bibellektüre  nach 
der  Anordnung  von  W  nicht  anzunehmen.  Muß  nun  aus 
diesem  Grunde  die  Eifersuchtsszene  früher  angesetzt  wer- 
den, so  kann  sie  dem  Handschriltengefüge  nach  nur  un- 
mittelbar hinter  der  Szene  Marie.  Tambourmajor  (S.  1 5 1  f.)  zu 
stehen  kommen.  Und  inhaltlich  ist  diese  Einordnung  sehr 
wohlzu  begründen:  i. Die  vorhergehende  Szene Mane.  Tam- 
bourmajor steht  erst  in  H  und  ist  wohl  eigens  für  die  Eifer- 
suchtsszene geschaffen;  Woyzeck  begegnete  seinem  Neben- 
buhler offenbar  in  der  Nähe  von  Mariens  Wohnung,  und 
der  schon  früher  durch  die  Ohrringe  erregte  Verdacht 
gegen  sie  steigert  sich  nunmehr  bei  ihm  zur  Eifersucht, 
ohne  daß  er  jedoch  schon  Gewißheit  erlangte.  2.  erklärt 
sich  nur  so  die  Verstümmelung  der  Szene  Hauptmann. 
Doktor  (S.  I54f.)-  War  nämlich  für  die  Erregung  der  Eifer- 
sucht in  jener  Begegnung  Woyzecks  mit  dem  Tambour- 
major auf  der  Straße  ein  neues  Motiv  gefunden,  so  be- 
durfte der  Dichter  jener  Szene  von  h^  nun  nicht  mehr,  in  der 
der  Hauptmann  mit  dem  Doktor  auf  der  Straße  Woyzeck 
trifft  und  durch  seine  Andeutungen  in  ihm  den  Verdacht 
gegen  Marie  erweckt  oder  bestärkt  (S.  724  ff.);  darum  hat 
Büchner  diesen  an  sich  sehr  wirkungsvollen  Auftritt  in  H 
nicht  mehr  mit  aufgenommen;  unterm  Einfluß  von  h*  je- 
doch, wo  auch  auf  die  Szene  Woy2eck.  Doktor  die  Begeg- 
nung zwischen  Hauptmann.  Doktor  auf  der  Straße  folgt, 
hat  Büchner  auf  die  Gegenüberstellung  der  beiden  Quäl- 
geister Woyzecks  im  Anschluß  an  die  Szene  Woyzeck.  Dok- 


704  LESARTEN 

tor  nicht  ganz  verzichten  mögen  und  so  den  ersten  Teil 
jenes  Straßenauftritts  in  etwas  veränderter  Form  bei- 
behalten, sehr  zum  Schaden  der  dramatischen  Entwick- 
lung freilich,  da  die  Szene  ohne  das  Eifersuchtsmotiv  an 
dieser  Stelle  in  der  Luft  schwebt.  ^ — Mit  einem  Indizien- 
beweis sei  diese  Erörterung  abgeschlossen.  In  Büchners 
Nachlaß  befindet  sich  eine  lückenhafte  Abschrift  von  H, 
die  offenbar  den  ersten  Versuch  einer  Entzifferung  dieser 
Handschrift  darstellt.  Sie  ist  paginiert  und  enthält  auf 
S.  1—8  (Oktavblätter)  die  Szenen  DIE  WACHTSTUBE  bis 
KASERNE  (S.  155—159),  sodann  auf  S. 9— 23  (Quartblätter) 
die  Szenen  FREIES  FELD  bis  Hauptmann.  Doktor  (S.  145 
bis  155).  In  dieser  Szenenfolge  kann  die  Abschrift  nur  me- 
chanisch, d.h.  ohne  Kenntnis  des  Verlaufs  der  Handlung,  ge- 
macht sein;  um  so  wertvoller  ist  dann  aber  dieTatsache,  daß 
der  betreffende  Abschreiber  die  Bogenlagen  so  vorgefun- 
den hat,  wie  oben  erhärtet  worden:  denn  hat  er  auch  die 
dritte  Doppellage  beim  Abschreiben  vorweggenommen, 
so  ist  doch  die  Szenenfolge  der  einzelnen  drei  Lagen  un- 
verändert geblieben. 

Das  Verhältnis  von  H  zu  h  und  hH  ist  klar:  es  ist  nicht  nur 
die  letzte,  sondern  auch  die  ausgeführteste  der  uns  er- 
haltenen Handschriften.  Inhaltlich  baut  es  sich  zum  großen 
Teil  auf  der  Grundlage  von  h  auf.  Nicht  weniger  als  elf 
Auftritte  sind  daraus  verwertet  worden,  nämhch  aus  h^: 
S.708  DER  KASERNENHOF  (S.155  DIE  WACHTSTUBE), 
S.  708  WIRTSHAUS  (S.  156,  Mittelstück  vom  WIRTS- 
HAUS), S.  709  FREIES  FELD  (S.  157),  S.709  EIN  ZIMMER 
(S.  157,  wo  z.  T.  auch  die  Szene  NACHT  von  h^  S.  712  ver- 
wandt ist),  S.7iof.EIN  WIRTSHAUS  (z.T.  S.  i57f.  WIRTS- 
HAUS); sodann  aus  h^:  S.  7i6f.  FREIES  FELD  (S.  145), 
S.7i7ff.  DIE  STADT  (S.  145  f.),  S.72of.  HAND  WERKSBUR- 
SCHEN (z.T.  S.  i56f.  WIRTSHAUS),  S.  722f.  WOYZECK. 
DOKTOR  (S.i52ff.),S.723ff.  STRASSE (S.  154 f. il/awp/wafm. 
DoA^o;'),S.  726 f.  WOYZECK.  LOUISEL  (S.  152  Mam.  Woy- 
zeck).  Alle  diese  Szenen  sind,  offenbar  als  abgetan  mit  der 
Verwertung  in  H,  durchstrichen.  Daß  nicht  noch  mehr, 
für  den  weiteren  Verlauf  des  Dramas  sehr  brauchbare 
Szenen  in  h  durchstrichen  sind,  muß  wohl  dahin  gedeutet 

^  Es  ist  allerdings  nicht  ganz  sicher,  ob  die  Szene  so  bleiben 
sollte:  zwei  Drittel  der  Seite,  auf  der  sie  endigt,  hat  Büch- 
ner leer  gelassen. 


WOYZECK  705 

werden,  daß  H  noch  nicht  bis  zu  Ende  gediehen  ist.^  Aber 
H  ist  nicht  vollkommen  abhängig  von  den  früheren  Ent- 
würfen. Es  enthält  sechs  Szenen,  die  durchaus  neu  und 
z.T.  sehr  wichtige  Träger  der  Handlung  sind:  [Mariens 
Kammer]  8.148!  bis  Marie.  Tambourmajor  S.  151  und 
Woy^eck.  Der  Jude  S.  158  bis  KASERNE  S.  150.2  Durch 
diese  Bereicherung  stellt  H  einen  bedeutenden  Fortschritt 
den  früheren  Entwürfen  gegenüber  dar,  der  \'erlauf  der 
Handlung  wird  nunmehr  erst  deutlich.  Ob  die  drama- 
tische Entwicklung  in  der  endgültigen  Fassung  noch 
einschneidende  Veränderungen  durch  den  Dichter  er- 
fahren hätte,  muß  dahingestellt  bleiben.  H  ist  jedenfalls 
der  einzige  uns  erhaltene  Versuch  des  Dichters,  seine 
ersten  skizzenhaften  Entv.oirfe  zu  einer  dramatischen 
Handlung  auszugestalten,  und  dementsprechend  ist  H 
dem  Text  dieser  Ausgabe  zugrunde  gelegt  worden, 
während  die  früheren  Entwürfe  als  Varianten  abgedruckt 
sind. 

Leider  ist  auch  H  nur  ein  Fragment,  dem  vor  allem  der 
Schlußteil  mangelt.  Wie  sich  der  Dichter  den  Fortgang 
dachte,  geben  die  Entwürfe  an.  Aber  da  Büchner  in  der 
Ausführung  manches  verworfen,  manches  von  Grund  auf 
geändert  hat,  wäre  es  zu  gewagt  für  eine  kritische  Ausgabe, 
von  h^  und  hH  die  ursprünghch  geplanten  Szenen  der  wei- 
teren Entwicklung  als  Ersatzstücke  in  den  Text  von  H 
herüberzunehmen.  Wenn  trotz  dieser  Erkenntnis  zweimal 
von  der  rein  kritischen  Methode  abgewichen  wurde,  so 
gab  doch  für  die  eine  Stelle  der  Dichter  selbst  den  Anlaß 
mit  seiner  Überschrift  BUDEX.  LICHTER  (S.  147!);  für 
die  Schlußpartie  (S.  i6of.)  aber  sei  ins  Feld  geführt,  daß 
es  sich  hier  nur  um  die  Wiedergabe  der  Katastrophe  han- 
delt, die  auch  in  der  endgültigen  Fassung  unbedingt  hätte 
wiederkehren  müssen. ^  Zum  Unterschiede  von  dem  durch 
H  überlieferten  Text  sind  jedoch  diese  apokr^-phen  Er- 
satzstücke in  Fraktur  gesetzt  worden. 

1  Allerdings  ist  auch  eine  in  H  benutzte  Szene  nicht  durch- 
strichen, nämlich  die  STRASSE  S.723ff.)  von  h-;  doch  ist 
das  vielleicht  ein  Zeichen  dafür,  daß  der  Dichter  mit  der 
Ausführung  Hauptmann.  Doktor  nicht  zufrieden  war.  Vgl. 
S.  700. — ^  Der  Keim  für  Mariens  Monologszene  S.  158 f.  war 
allerdings  schon  durch  den  Schluß  von  h^  (S.  727)  gegeben.— 
3  Freilich  wohl  mit  anderem  Ausklang,  wie  im  Nachwort 
erörtert  wird. 

BÜCH!sER  45. 


7o6  LESARTEN 

Zu  der  Textgestaltung  ist  außer  den  Handschriften  nur 
Witkowskis  Woyzeck-Ausgabe  (W)  herangezogen  worden. 
F,  das  auch  nur  auf  den  uns  erhaltenen  handschriftlichen 
Fragmenten  beruht,  brauchte  um  so  weniger  berücksich- 
tigt zu  werden,  als  es  weder  methodisch  noch  kritisch  her- 
gestellt ist.  Diese  Aufgabe  ist  erst  durch  W  gelöst  worden. 
Und  mußte  auch  die  Richtigkeit  der  Szenenanordnung  von 
W  bestritten  werden,  so  war  doch  für  die  Entzifferung  des 
Textes  selbst  die  Hauptarbeit  durch  W  getan.  Immerhin 
blieb  auch  hier  die  erneute  Vergleichung  mit  den  Hand- 
schriften nicht  ganz  erfolglos:  manche  Lücken  ließen  sich 
noch  ausfüllen,  manche  irrigen  Lesungen  richtigstellen.^ 
Solcherlei  Abweichungen  von  W  sind  in  den  Lesarten  nicht 
vermerkt  worden;  wohl  aber  sind  diejenigen  Lesungen, 
die  zweifelhaft  bleiben,  als  Varianten  aufgeführt.  Die 
abweichende  Szenenfolge  von  W  ist  bereits  oben  an- 
gegeben worden. 

Im  übrigen  bedeuten:  i.  die  römischen  Zahlen  in  eckigen 
Klammern  die  Bogen  oder  Bogenlagen,  die  arabischen  die 
Seiten  des  betreffenden  Bogens  oder  der  betreffenden  Bo- 
genlage  vom  Manuskript;  2.  ein  Stern  hinter  der  Szenen- 
angabe, daß  die  Szene  im  Manuskript  durchstrichen  ist; 
3.  Fraktur  im  Text  vorn,  wie  bereits  erwähnt,  Ergänzung 
aus  den  Entwürfen;  4.  eckige  Klammern  im  Text,  daß  die 
eingeklammerte  Stelle  zugefügt  oder  interpoliert  ist;  bei 
den  so  eingeklammerten  szenarischen  Ortsangaben  rührt 
der  Antiquatext  aus  den  Entwürfen  des  Dichters  her,  wäh- 
rend Angaben  in  Fraktur  Zusätze  des  Herausgebers  sind; 
5.  für  jedes  unlesbare  Wort  ist  auch  hier  je  ein  Punkt  ein- 
gesetzt. 

h^ 
[1,1]  BUDEN.    VOLK 

Marktschreier  vor  einer  Bude 
Meine  Herren!  Meine  Herren!  Sehn  Sie  die  Kreatur,  wie  sie 
Gott  gemacht,  nix,  gar  nix.  Sehn  Sie  jetzt  die  Kunst,  geht 

1  Einige  Textverbesserungen  fand  Walter  Hoyer,  ein  Schü- 
ler Witkowskis,  bei  seiner  Arbeit  über  Stoff  und  Gestalt 
bei  Georg  Büchner;  ihm  zu  danken  sind  die  Besserungen: 
71322  Neuntöter,  16012,  7145  Friert's  dich,  7i42r,,2u,  71520 
Uu!,  724  5  Pressiert. 


WOYZECK  707 

aufrecht,  hat  Rock  und  Hosen,  hat  ein  Säbel!  Ho!  Mach 

KompHment!    So,   bist  Baron.    Gib  Kuß!    {Er  trompetet:) 

Wicht  ist  musikalisch.  Meine  Herren,  hier  ist  zu  sehen  das 

astronomische  Pferd  und  die  kleine  Canaillevögele.   Ist 

{Liebling}  favor[it]  von  alle  gekrönte  Häupter.  Die  raprä- 

sentation  anfangen!  {Pst!}  Man  mackt  Anfang  von  Anfang.^ 

Es  wird  sogleich  sein  das  commenc[em]ent  von  commen- 

c[em]ent. 

WOYZECK.-  Willst  du? 

MARGRETH.     Meinetwegen.     Das    muß    schön    Dings 

sein.    Was   der  Mensch  Quasten  hat  und   die  Frau  hat 

Hosen! 

Das  Innere  der  Bude 

—  ^  Zeig  dein  Talent!  zeig  deine  viehische  Vernünftigkeit! 
Beschäme  die  menschHche  Societät!  Meine  Herren,  dieß 
Tier,  das  Sie  da  sehn,  Schwanz  am  Leib  auf  seine  4  Hufe, 
ist  Mitglied  von  alle  gelehrte  Societät,  ist  Professor  an 
unsre  Universität,  wo  die  Studente  bei  ihm  reiten  {oder} 
und  schlagen  lernen.  Das  war  einfacher  Verstand.  Denk 
jetzt  mit  der  doppelten  ,'Ver}  raison.  W^as  machst  du,  wann 
du  mit  der  doppelten  Raison  denkst?  Ist  unter  der  gelehr- 
ten Societe  da  ein  Esel?  (Der  Gaul  schüttelt  den  Kopf.)  Sehn 
Sie  jetzt  die  doppelte  Raison?  Das  ist  Viehsionomik.  Ja, 
das  ist  kein  viehdummes  Individuum,  das  ist  ein  Person. 
Ein  Mensch,  ein  tierischer  Mensch,  und  doch  ein  Vieh,  ein 
bete  {das  Pferd  führt  sich  ungebührlich  auf).  So,  beschäme 
die  Societe.  Sehn  Sie,  das  Vieh  ist  noch  Xatur,  unideale 
Natur!  Lernen  [?]  Sie  bei  ihm^  Fragen  Sie  den  Arzt,  es  ist 
[sonst]  höchst  schädUch!  Das  hat  geheißen:  Mensch,  sei 
natürhch!  Du  bist  geschaffen  Staub,  Sand,  Dreck.  Willst 
du  mehr  sein  als  Staub,  Sand,  Dreck?  Sehn  Sie,  was  Ver- 
nunft: es  kann  rechnen  und  kann  doch  nit  an  den  Fingern 
herzählen.  Warum?  Kann  sich  nur  nit  ausdrücken,  nur  nit 
explizieren,  ist  ein  verwandelter  Mensch!  Sag  den  Herren, 
wieviel  Uhr  es  ist.  Wer  von  den  Herren  und  Damen  hat 
ein  Uhr,  ein  Uhr? 


^  fieptet  Sa^  unter  bcn  beibett  »ortgen  tntcritnear  nacfigelr., 
q1[o  Dtellei^t  nur  als  33ariante  gemeint.  —  -  9(ame  nur  oermut* 
bat;  bafteljt  oielleic^t  Wck  mit  e^nörfel.  W  ^at  LOUIS.— 
'■'  9^{^t  entsifferbare,  abgefürste  ^erfonalbejeic^nung.  - '  Thun 
Sie  gleich  ihm  W. 


7o8  LESARTEN 

UNTEROFFIZIER.!    Eine  Uhr!    {Zieht  großartig  und  ge- 
messen eine  Uhr  aus  der  Tasche.)  Da,  mein  Herr.^ 
jVIARGRETH.  Das  muß  ich  sehn  {sie  klettert  auf  den  ersten 
Platz.    Unteroffizier  hilft  ihr). 
UNTEROFFIZIER.  {Beste.} 

[I,  2]  MARGRETH  {allein). 

Der  andre  hat  ihm  befohlen,  und  er  hat  gehen  müssen. 

Ha!  ein  Mann  vor  einem  Andern! 

DER  KASERNENHOF* 
Andres.  Louis 

ANDRES  {singt)  Frau  Wirtin  hat  'ne  brave  Magd, 

Sie  sitzt  im  Garten  Tag  und  Nacht, 
Sie  sitzt  in  ihrem  Garten, 
Bis  daß  das  Glöcklein  zwölfe  schlägt. 
Und  paßt  auf  die  Soldaten. 

LOUIS.  Hör  Andres,  ich  hab  kei  Ruh! 

ANDRES.  Narre! 

LOUIS.  Was  meinst  du?^  So  red  doch 

ANDRES.  Nu? 

LOUIS.  Was  glaubst  du  wohl,  daß  ich  hier*  bin? 

ANDR.  Weil's  schön  Wetter  ist  und  sie  heut  tanzen. 

LOUIS.  Ich  muß  fort,  muß  sehen 

ANDR.  Was  willst  Du? 

LOUIS.  Hinaus! 

ANDR.  Du  Unfried  [?],  wegen  des  Menschs. 

LOUIS.  Ich  muß  fort. 

WIRTSHAUS* 

Die  Fenster  sind  offen.  Man  tanzt. 
Auf  der  Bank  vor  dem  Haus 
LOUIS  {lauscht  am  Fenster).  Er— Sie!  Teufel!  {Er  setzt  sich 
zitternd  nieder.) 

{Er  späht  von  \da'\  ans  Fenster.^)  Wie  das  geht!  Ja,*^  wälzt 
Euch  übereinander!  Und  Sie:  immer  zu— immer  zu. 

1  W  ^at  ANLASTIN,  besioetfelt  aber  [elbft  biefe  £e[ung  im  ^a&i' 
töort.  Der  mehrmals  u)teber!ef)renbe  9Iame  i[t  lateimf^  gefc^rieben, 
unb  an  einer  Stelle  i[t  Un,  an  anberer  officier  ju  eifennen.- ^  a. 
^J?.,  tDO^I  5Um  golgenben  gef^ijrig:  (Das  ist  ein  Weibsbild.  Guckt 
sieben  Paar  lederne  Hosen  durch.).— ^  Was  weißt  du?  W.— 
*  hinaus  W. — ^  ^xao^X.  Stelle;  W  Heft  Er  späht  wieder  hinaus. 
Dann. — ^  Ha  W. 


WOYZECK  709 

DER  NARR.  Puh!  Das  riecht. 

LOUIS.   Ja,  das  riecht!    Sie  hat  rote,  rote  Backen  {und 

riecht  doch  schon},  und  warum  riecht  sie  schon?  Karl,  was 

witterst  du  so? 

DER  NARR.  Ich  riech,  ich  riech  Blut. 

LOUIS.  Blut?  Warum  wird  es  mir  so  rot  vor  den  Augen? 

Es  ist  mir,  als  wälzten  sie  sich  in  einem  Meer  von  Blut, 

all  miteinander!  Ha,  rotes  Meer. 

[I,  3]  FREIES  FELD* 

LOUIS.  Immerzu! — Immerzu! — Hisch!  hasch!  so  gehn  die 
Geigen  und  die  Pfeifen. — Immer  zu!  immer  zu!  Was  spricht 
da?  Da  unten  aus  dem  Boden  hervor  [?],  ganz  leise — was, 
was?  {Er  bückt  sich  nieder.)  Stich,  stich  die  Woyzecke  tot, 
stich,  stich  die  Woyzecke  tot  {und  immer  lauter,  und  jetzt 
brüllt  es,  als  war  der  Himmel  ein  Rachen,  stich,  stich  die 
Woyzecke  tot!  stich  die  Woyzecke  tot.}  Immer  zu!  Immer 
Woyzecke!  das  zischt  und  wimmert  [?J  und  donnert 

EIN  ZIMMER* 

Louis  und  Andres 
ANDRES.  {Laß  mich}  He!  {Was} 
LOUIS.  Andres! 
ANDRES  {murmelt  im  Schlaf). 
LOUIS.  He!  Andres! 
ANDRES.  Na,  was  is? 

LOUIS.  Ich  hab  kei  Ruh,  ich  hör's  immer,  wieV  geigt  und 
springt,  immer  zu!  immer  zu!  Und  dann,  wann  ich  dieAugcn 
zumach,  da  blitzt  mir  es  immer,  es  ist  ein  großes  breites 
Messer,  und  {liegt}  das  liegt  auf  einem  Tisch  am  Fenster 
und  ist  in  einer  engen  [?]  dunkeln  Gaß  und  ein  alter  Mann 
sitzt  dahinter.  Und  das  Messer  ist  mir  immer  zwischen 
den  Augen. 
ANDRES.  Schlaf,  Narr! 

KASERNENHOF 
LOUIS.  Hast  nix  gehört. 

ANDRES.  Er  ist  da  noch  mit  einem  Kameraden. 
LOUIS.  Er  hat  was  gesagt. 

ANDRES.  Woher  weißt  du 's?  Was  soll  ich 's  sagen?  Nu, 
er  lachte,  und  dann  sagt'  er:  ein  köstlich  Weibsbild!  die 
hat  Schenkel  und  alles  so  heiß! 

^  hör  immer,  was  W. 


7IO  LESARTEN 

LOUIS  {ganz  kalt).  So,  hat  er  das  gesagt?  Von  was  hat  mir 

doch  heut  Nacht  geträumt?  War's  nicht  von  einem  Messer? 

Was  man  doch  närrische  Träume  hat. 

ANDRES.  Wohin,  Kamerad? 

LOUIS.  Meinem  Offizier  Wein  holen.   Aber,  Andres,  sie 

war  doch  ein  einzig  Mädel. 

ANDRES.  Wer  war? 

LOUIS.  Nix.  Adies. 

[I,  4]  DER  OFFIZIER.    LOUIS 

LOUIS  {allein).   Was  hat  er  gesagt?   So? — Ja,  es  ist  noch 

nicht  aller  Tag  Abend. 

EIN  WIRTSHAUS* 
Barbier.  Unteroffizier 
BARBIER.  Ach  Tochter,  Hebe  Tochter, 
Was  hast  du  gedenkt, 
Daß  du  dich  an  die  Landkutscher 
Und  die  Fuhrleut  hast  gehenkt. — Was  kann 
der  liebe  Gott  nicht,  was?   Das  Geschehene  ungeschehn 
machen.  Hä,  hä,  hä. — Aber  es  ist  einmal  so,  und  es  ist  gut, 
daß  es  so  ist.  Aber  besser  ist  besser.^  Und  ein  ordenthcher 
INIensch  hat  sein  Leben  lieb,  und  {der}  ein  Mensch,  der  sein 
Leben  lieb  hat,  hat  keine  Courage,  und  ein  tugendhafter 
Mensch   hat   keine   Courage.    Wer  Courage  hat,   ist  ein 
Hundsfott. 

UNTEROFFIZIER  {mit  Würde).  {Spricht  Er  mit  Beziehun- 
gen?} Sie  vergessen  sich,  in  Gegenwart  eines  Tapfern. 
BARBIER.  Ich  spreche  ohne  Beziehungen,  ich  spreche 
nicht  mit  Rücksicht,  wie  die  Franzose  sprechen,  und  es 
war  schön  von  Euch.  —  Aber  wer  Courage  hat,  ist  ein 
Hundsfott. 

UNTEROFFIZIER.  Teufel!  du  {schartiges  Bart[messer]! 
zerbrochne  Bartschüssel,  du  abgestandene  Seifbrüh,  du 
sollst  mir  dein  Urin  trinken^,  dusollst  mirdeinRasiermesser 
verschlucken! 

BARBIER.  Herr,  Er  tut  sich  Unrecht^!  hab  ich  Ihn  denn 
gemeint,  hab  ich  gesagt,  Er  hätt  Courage?  Herr,  laß  Er 
mich  in  Ruh!  Ich  bin  die  Wissenschaft.  Ich  bekomme  für 

^  3:eil5  a.  *}i.,  teils  interlinear  nad^gctr.:  {singt)  Branntwein,  das 
ist  mein  Leben,  Branntwein  gib[t]  Courage.  — ^  in  die  Knie 
knicken  W.  — ^  thut  sich  leicht  W. 


WOYZECK  711 

meine  Wissenscliaftlichkeit  alle  Wochen  einen  halben 
Gulden.  Schlag  Er  mich  nicht  entzwei,  oder  ich  muß  ver- 
hungern. Ich  bin  eine  Spinosa  pericyclica;  ich  hab  einen 
lateinischen  Rücken,  Ich  bin  ein  lebendiges  Skelett.  Die 
ganze  Menschheit  studiert  an  mir. — Was  ist  der  Mensch? 
Knochen!  Staub,  Sand,  Dreck.  Was  ist  die  Xatur?  Staub, 
Sand,  Dreck.  Aber  die  dummen  Menschen,  die  dummen 
Menschen!  Wir  müssen  Freunde  sein.  Wenn  Ihr  keine 
Courage  hättet,  gab  es  keine  Wissenschaft.  Nur  Natur, 
keine  amputation,  keine  [?]  articulation.  Was  ist  das?  Louis' 
Arm,  Fleisch,  Knochen,  Adern.  Was  ist  das?  Dreck.  Was 
steckt's  im  Dreck?  {Also  haut  mir  a  d}  Müßte  ich  den  Arm 
also  abschneiden?  Nein,  der  Mensch  ist  egoistisch,  aber 
haut,  schießt,  sticht  seinsgleichen.  (Er  schluchzt.Y  Wir 
müssen  Freunde  [sein],  ich  bin  gerührt.  Seht,  ich  wollte, 
unsere  Nasen  wären  zwei  Bouteillen  und  wir  könnten  sie 
uns  einander  in  den  Hals  gießen.  Ach,  was  die  Welt  schön 
ist!  Freund!  mein  Freund!  Die  Welt!  {gerührt)  seht!  wie  [?] 
die  Sonne  kommt  zwischen  den  Wolken  hervor  2,  als  würd' 
ein  potchambre  ausgeschüttet  {er  weint). 

[II,  i]  DAS  WIRTSHAUS 

(Louis  sitzt  vor  dem  Wirtshaus.)  Leute  gehn  hinaus 
ANDRES.  Was  machst»  du  da? 
LOUIS.  {Nix}  Wieviel  Uhr  ist's? 
ANDRES.  - 

LOUIS.  So,  noch  nicht  mehr?  Ich  meine,  es  müßte  schneller 
gehn,  und  ich  will  es  mir  überlegen  [vor]  Abend*. 
ANDRES.  Warum? 
LOUIS.  Dann  wär's  vorbei. 
ANDRES.  Was? 
LOUIS.  Jeh,  das  Vergn[ügen].'^ 

[ANDRES.]  Was  sitzt  du  da  vor  der  Tür? 
LOUIS.  Ich  sitze  gut  da,  {aber  es}  und  ich  weiß  [es]  — aber 
es  sitzen  manche  Leut  vor  der  Tür,  und  sie  wissen  es 
nicht:  Es  wird  mancher  mit  den  Füßen  voran  zur  Tür  'naus- 
getragen. 

[ANDRES.]  Komm  mit! 
[LOUIS.]  Ich  sitz  gut  so  und  lag  noch  besser  gut  so  ••• 

1  Die  ganjc  Stelle  t[t  me^r  enaten  als  entsiffcrt.— -  herein  [?]  W. 
^  Ober  willst.  —  *  will  es  nur  üben  W.— ^  Die  Stelle  bleibt 
Scoeifel^aft.  Darauf  folgt  neue  gaffung  berfelben  S^ene. 


712  LESARTEN 

[ANDRES.]  {Louis,  du  hast  Blut  am  Kopf} 
[LOUIS.]  Im  Kopf  {Es  ist  nur} 

Wenn  alle  Leut  wüßten,  wieviel  Uhr  es  ist,  sie  würden 
sich  ausziehn,  und  ein  seidnes  Hemd  antun  und  sich  ihr 
Bett  [zum  vom  Schrei[ner]  ihr  Bett  machen  lassen.  Schläft 
man  gut  auf  Hobelspan}  aus  Hobelspan  schütteln  lassen.} 
[ANDRES.]  Er  ist  besoffen.  [Geht  mit  den  andern  ab.] 
LOUIS.  Was  Hegt  denn  da  drüben?  Es  glänzt  nur  so.  Es 
zieht  mir  immer  so  zwischen  den  Augen  herum.  Wie  es 
ghtzert.  {Teufel}  Ich  muß  das  Ding  haben. ^ 

FREIES  FELD 
LOUIS  {er  legt  das  Messer  in  eine  Höhle).    Du  sollst  nicht 
töten.  Lieg  da!  Fort!  {Er  entfernt  sich  eilig.) 

NACHT.  MONDSCHEIN 
Andres  und  Louis  in  einem  Bett 
LOUIS  {leise).  Andres! 
ANDRES  {er  träumt  [?]).  Da.  Halt!— ja. 
LOUIS.  He,  Andres! 
ANDRES.  Wie? 

LOUIS.  Ich  hab  kein  Ruhe!  Andres 
ANDRES.  Drückt  dich  der  Alp? 

LOUIS.  Draußen  liegt  was.  Im  Boden.  Sie  deuten  immer 
drauf  hin,  und  hörst  du's  jetzt,  und  jetzt,  wie  sie  in  den 
Wänden  klopfen?  eben  hat  einer  zum  Fenster  hin[ein]- 
geguckt.  Hörst  du's  nicht,  ich  hör's  den  ganzen  Tag.  Im- 
mer zu.  Stich!  stich  die  ♦ 

ANDRES.  Leg  dich,  Louis.  Du  mußt  ins  Lazarett.  Jlch 
we}  Du  mußt  Schnaps  trinken  und  Pulver  drin,  das  schneidt 
das  Fieber. 

[II,  2]  Margreth  mit  Mädchen  vor  der  Haustür 

MÄDCHEN.  Wie  scheint  die  Sonn  am  [?]  Lichtmeßtag^ 

Und  steht  das  Korn  im  Blühn. 

Sie  gingen  wohl  [?]  die  Wieße  hin, 

Sie  gingen  zu  zwei  und  zwei^. 

Die  Pfeifer  gingen  vorn", 

Die  Geiger  hinterdrein, 

Sie  hatte  rote  Sock[en  an?] 

1  Unter  btefer  Sjene  ift  eine  bli^enbe  Sc^neibe  als  (5^luMtti(^  9e= 
3ei(^net. — ^  scheint  die  Sonn  über  Jbiüht  das  Korn}. — ^  33tel» 
lei^t  au^  zwein.— ^  Ober  voran. 


I 


WOYZECK  713 

1.  KIND.  Das  ist  nit  schön  [?]. 

2.  KIND.  Was  willst  du  auch  immer!  [?] 

Was  hast  zuerst  •••[?] 

Warum? 

Ich  kan  nit 

Darum? 

Es  muß  seini 

Aber  warum  darum? 

Margrethche,  sing  du  uns 
MARGRETH.  Kommt,  ihr  kleinen  Krabben. 

Ringle,  ringel  Rosenkranz.  König  Herodes.^ 
Großmutter,  erzähl. 

GROSSMUTTER.  Es  war  einmal  ein  arm  Kind  und  hat 
kein  Vater  und  keine  Mutter,  war  alles  tot  und  war  niemand 
mehr  auf  der  Welt.  Alles  tot,  und  es  ist  hingegangen  und  hat 
gesucht  Tag  und  Nacht.  Und  weil  auf  der  Erde  niemand 
mehr  war,  wollt's  in  Himmel  gehn,  und  der  Mond  guckt 
es  so  freundlich  an;  und  wie  es  endlich  zum  Mond  kam, 
war's  ein  Stück  faul  Holz.  Und  da  ist  es  zur  Sonn  gangen, 
und  wie  es  zur  Sonn  kam,  war's  ein  verwelkt  Sonneblum. 
Und  wie's  zu  den  Sternen  kam,  waren's  kleine  goldne 
Mücken,  die  waren  angesteckt  wie  der  Neuntöter  sie  auf  die 
Schlehen  steckt.   Und   wie's  wieder  auf  die  Erde  wollt, 
war  die  Erde  ein  umgestürzter  Hafen.  Und  [es]  war  ganz 
allein,  und  da  hat  sich's  hingesetzt  und  geweint,  und  da 
sitzt  es  noch  und  ist  ganz  allein. 
{I.Kind}  LOUIS.  Margreth! 
MARGRETH  [erschreckt).  Was  ist?^ 
LOUIS.  Margreth,  wir  wollen  gehn.  's  ist  Zeit. 
MARGRETH.  Wohinaus*? 
LOUIS.  Weiß  ich's? 

MARGRETH  UND  LOUIS 
MARGRETH.  Also  dort  hinaus  ist  die  Stadt,  's  ist  finster 
LOUIS.  Du  sollst  noch  bleiben.  Komm,  setz  dich. 
MARGRETH.  Aber  ich  muß  fort. 
LOUIS.  Du  wirst^  dir  die  Fuß  nicht  wund  laufen. 
MARGRETH.  Wie  bist  du  nur  [?]  auch! 

1  Ober  singen. — 2  3c()Ia(iit3Drtc,  btc  ber  Dtd)tcr  [id^  nur  felber  für 
eine  cüentuellc  *Jtusfül)runn  notiert. —  ^  5m  SDJonuffripl  [inb  bte 
Sßorte  was  ist  iüol)l  nur  oerfe^entlid)  mit  ctngcflammert. — ^  Wo- 
hin W.— ^  Ober  würdest? 


714  LESARTEN 

LOUIS.  Weißt  du  auch,  wie  lang  es  just  [?]  ist,  Margreth? 
MARGRETH.  Am  [?]  Pfingsten  2  Jahr. 
[II,  3]  LOUIS.  Weißt  du  auch,  wie  lang  es  noch  sein  wird? 
MARGRETH.  Ich  muß  fort  das  Nachtessen  richten  [?]. 
LOUIS.  Friert's  dich,  Margreth?  und  doch  bist  du  warm. 
Was  du  heiße  Lippen  hast!  (heiß,  heißen  Hurenatem)  und 
doch  möcht  ich  den  Himmel  geben,  sie  noch  einmal  zu 

küssen.)^ und  wenn  man  kalt  ist,  so  friert  man  nicht 

mehr.  Du  wirst  vom  Morgentau  nicht  frieren. 

MARGRETH.  Was  sagst  du? 

LOUIS.  Nix.  {Schweigen.) 

MARGRETH.  Was  der  Mond  rot  aufgeht. 

LOUIS.  Wie  ein  blutig  Eisen. 

MARGRETH.  Was  hast  du  vor?  Louis,  du  bist  so  blaß. 

Louis,  halt  ein!  Um  des  Himmels  willen.  Hülfe,  Hülfe ! 

LOUIS.  Nimm  das  und  das!  Kannst  du  nicht  sterben?  So! 

so!  Ha,  sie  zuckt  noch;  noch  nicht,  noch  nicht?  Immer^ 

noch  (stößt  zu)  {er  läßt  das  Me^ 

Bist  du  tot?  Tot!  {Alles  aus}  Tot!  {Es  kommen  Leute,  läuft  weg.) 

Es  kommen  Leute 
i.P.  Halt! 
2.  P.  Hörst  du?  Still!  Dort! 

1 .  Uu!  Da!  Was  ein  Ton! 

2.  Es  ist  das  Wasser,  es  ruft,  schon  ist  lang  niemand  er- 
trunken. Fort,  es  ist  nicht  gut,  es  zu  hören. 

1.  Uu!  jetzt  wieder  wie  ein  Mensch,  der  stirbt. 

2.  Es  ist  unheimlich,  so  dunstig^  —  allenthalb  [?]  Nebel, 
grau — und  das  Summen  der  Käfer  wie  gesprungene  Glok- 
ken.*  Fort! 

I.  Nein,  zu  deutlich,  zu  laut.  Da  hinauf.  Komm  mit! 

DAS  WIRTSHAUS 
LOUIS.  Tanzt  alle,  {als}  immer  zu,  schwitzt  und  stinkt,  er 
holt  Euch  doch  einmal  alle. 
{singt)  {Ach  Tochter,  liebe  Tochter,  was  hast  du  gedenkt} 

Frau  Wirtin  hat  'ne  brave  Magd, 

Sie  sitzt  im  Garten  Tag  und  Nacht, 

Sie  sitzt  in  ihrem  Garten, 

Bis  daß  das  Glöcklein  zwölfe  schlägt, 

Und  paßt  auf  die  Soldaten 

1  Die  i^Iammcrn  bebcuten  iDof)I,  \>al^  bcr  T)id)ter  bic  bartn  ent= 
^altenen  SLIIotioc  nur  in  (£rtoägung  30g.— ^  Frierst  [?]  W.  -^  3n 
bem  2ßort  [te^t  f  reilt(^  nic^t  st,  el^er  f  t.— *  wie  Gespenster  Spuk  W. 


WOYZECK  715 

{er  tanzt)  {hat  den  Rock}  So,  Käthe!  setz  dich!  Ich  hab  heiß, 

heiß  {er  zieht  den  Rock  atis)  es  ist  einmal  so,  der  Teufel  holt 

die  eine  und  läßt  die  andre  laufen.   Käthe,  du  bist  heiß! 

Warum  denn?   Käthe,  du  wirst  auch  noch  kalt  werden. 

Sei  vernünftig.— Kannst  du  nicht  singen? 

[KÄTHE.]  Ins  Schwabenland,  das  mag  ich  nicht. 
Und  lange  Kleider  trag  ich  nicht. 
Denn  lange  Kleider,  spitze  Schuh, 
Die  kommen  keiner  Dienstmagd  zu. 

[11,  4]  [LOUIS.]  Nein,  keine  Schuh,  man  kann  auch  ohne 

Schuh  in  die  Höll  gehn. 

KÄTHE  {dannY  O  pfui,  mein  Schatz,  das  war  nicht  fein. 
Behalt  dein  Taler  und  schlaf  allein. 

[LOUIS.]  Ja,  wahrhaftig,  ich  möchte  mich  nicht  blutig 

machen. 

KÄTHE.  Aber  was  hast  du  an  deiner  Hand? 

LOUIS.  Ich?  ich? 

KÄTHE.  Rot!  Blut!  [Es  stellen  sich  Leute  um  sie.) 

LOUIS.  Blut?  Blut? 

WIRT.  Uu— Blut! 

LOUIS.  Ich  glaub,  ich  hab'  mich  geschnitten,  da  an  der 

rechten  Hand. 

WIRT.  Wie  kommt's  aber  an  den  Ellenbogen? 

LOUIS.  Ich  hab's  abgewischt. 

WIRT.  Was,  mit  der  rechten  Hand  an  den  rechten  Ellen- 
bogen? Ihr  seid  geschickt. 

NARR.  Und  da  hat  der  Ries  gesagt:  ich  riech,  ich  riech 

Menschenfleisch.  Puh,  das  stinkt  schon! 

LOUIS.  Teufel,  was  wollt  ihr?  Was  geht's  euch  an?  Platz, 

oder  der  erste — Teufel!  Meint  ihr,  ich  hätt  jemand  umge- 
bracht? Bin  ich  [ein]  Mörder?  Was  gafft  ihr?  Guckt  euch 

selbst  an!  Platz  da!  {Er  läuft  hinaus.) 

KINDER 

1.  KIND.  Fort  [zu]  Margrethin! 

2.  KIND.  Was  is? 

1.  KIND.  Weißt  du's  nit?  Sie  sind  schon  alle  hinaus.  Drauß 
liegt  eine! 

2.  KIND.  Wo? 

I.  KIND.  Links  über  die  Loch[schlucht]  in  das  Wäldchen  [?], 
am  roten  Kreuz. 

^  gragltc^e  Stelle;  uiellei^t  5lon3eptbemerfung  bes  Dieters,  nur 
[i$  felbjt  gema(^t. 


7i6  LESARTEN 

2.  KIND.  Kommt  schnell  [?],  daß  wir  noch  was  sehen.  Sie 
tragen's  sonst  hinein. 

LOUIS  {allein) 
Das  Messer?  Wo  ist  das  Messer?  Ich  hab'  es  da  gelassen. 
{Näher}  Es  verrät  mich!  Näher,  noch  näher!  Was  ist  das 
für  ein  Platz?  Was  hör  ich?  ;Sie  rührt}  Es  rührt  sich  was. 
Still.  Da  in  der  Nähe.  Margreth?  Ha!  Margreth!  Still! 
Alles  still!  (Was  bist  du  so  bleich,  Margreth?  Was 
hast  du  eine  rote  Schnur  um  den  Hals?  Bei  Jdem}  wem 
hast  du  das  Halsband  verdient,  mit  deinen  Sünden?  Du 
warst  schwarz  davon,  schwarz!  Hab  ich  dich  gebleicht? 
Was  hängen  deine  schwarzen  Haare  so  wild?  Hast  du 
deine  Zöpfe  heut  nicht  geflochten?)^  Da  liegt  was!  Kalt, 
naß,  still!  Weg  von  dem  Platz.  Das  Messer,  das  Messer! 
Hab  ich's?  So!  Leute— dort!  {Er  lauf t  weg.) 

LOUIS  an  einem  Teich 
So,  da  hinunter!  (Er  wirft  das  Messer  hinein.)  Es  taucht  in 
das  dunkle  Wasser  wie  ein  Stein.  Der  Mond  ist  wie  ein 
blutig  Eisen!  Will  denn  die  ganze  Welt  es  ausplaudern? 
{Hab  i}  Nein,  es  liegt  zu  weit  vorn,  wenn  sie  sich  baden  {er 
geht  in  den  Teich  und  wirft  weit)  so,  jetzt — aber  im  Sommer^ 
wenn  sie  tauchen  nach  Muscheln — bah,  es  wird  rostig. 
{Und  ich.}  Wer  kann's  erkennen — hätt'  ich  es  zerbrochen. 
Bin  ich  noch  blutig?  Ich  muß  mich  waschen.  Da  ein  Fleck 
und  da  noch  einer. 

h^ 
[III,  i]  GERICHTSDIENER.  BARBIER.  ARZT.  RICHTER 
POL.  Ein  guter  Mord,  ein  ächter  Mord,  ein  schöner  Mord, 
so  schön  als  man  ihn  nur  verlangen  tun  kann;  wir  haben 
schon  lange  so  keinen  gehabt. 

BARBIER.  Dogmatischer  Atheist.    Lang,   hager,   feig,   gut- 
mütig [?],  Wissenschaf tl.  [?] 

FREIES  FELD.    DIE  STADT  IN  DER  FERNE. 
WOYZECK.  ANDRES 

Andres  {pfeift)  und  Woyzeck  schneiden  Stöcke  im  Gebüsch 
ANDRES  {pfeift  und  singt). 

1  Die5^Iammer  geigt,  'iia^  \\^  ber  Dichter  über  bie  ^lufna^mc  biejer 
5i^etori!  no(^  m^l  [d)lü[[tg  toar.— ^  Sanbe  W. 


WOYZECK  717 

Da  ist  die  schöne  Jägerei, 

Schießen  steht  jedem  frei; 
Da  möcht  ich  Jäger  sein, 
Da  möcht  ich  sein. 

Läuft  dort  ein  Has  vorbei, 

Fragt  mich,  ob  ich  Jäger  sei: 

Jäger  bin  ich  auch  schon  gewesen, 

Schießen  kann  ich  aber  nit. 
WOYZECK.  Ja,  Andres,  das  ist  er,  der  Platz  ist  verflucht. 
Siehst  du  den  {schwer}  lichten  Streif  [?]  da  über  das  Gras 
hin,  wo  die  Schwämme  so  nachwachsen?  da  rollt  abends 
der  Kopf;  es  hob  ihn  einmal  einer  auf,  er  meint,  es  sei  ein 
Igel;  drei  Tage  und  drei  Xächte  •  •  • ,  und  er  war  tot^.  (Leise) 
Das  waren  die  Freimaurer,  ich  hab'  es  heraus. 
ANDRES.  {Faßt}  Es  wird  finster,  fast  macht  Ihr  mir  Angst. 
(Er  singt.) 

WOYZECK  {faßt  ihn  an).  Hörst  du's.  Andres?  Hörst  du's? 
Es  geht  neben  uns,  unter  uns.  Fort,  die  Erde  {bebt} 
schwankt  unter  unsern  Sohlen.  Die  Freimaurer!  \Vie  sie 
wühlen!  {Er  reißt  ihn  mit  sich.) 
ANDRES.  Laßt  mich!  Seid  Ihr  toll?  Teufel! 
WOYZECK  (hastig).  ]\Iensch,  bist  du  ein  ^Maulwurf,  sind 
deine  Ohren  voll  Sand?  Hörst  du  das  fürchterliche  Getös 
am  Himmel?  über  der  Stadt  [ist]  alles  [in]  Glut!  {Wie} 
Sieh  nicht  hinter  dich.  Wie  es  heraufschießt  und  alles  dar- 
unter [?]  stürzt  {zu  Boden,  zu  Boden  (er  wirft  sich  mit  ihm 
ins  Gebüsch)} 

ANDRES.  Du  machst  mir  Angst. 

WOYZECK.  Sieh  nicht  hinter  dich!   (Sie  verstecken  sich  im 
Gebüsch.) 

ANDRES.  Woyzeck,  ich  hör  nichts  mehr. 
WOYZECK.  Still,  ganz  still,  wie  der  Tod. 
[III,  2]  ANDRES.  Sie  trommeln  drin.  Wir  müssen  fort. 
{WOYZECK.} 

DIE  STADT* 

Louise.   Margreth  (am  Fenster).  Der  Zapfenstreich  geht  vor- 
bei. Tambourmajor  voraus 
LOUISE.  He,  Bub!  •  • 
MARGRETH.  Ein  schöner  Mann. 

1  Nächte  und  er  wurde  siech  und  er  war  todt  W. 


7i8  LESARTEN 

LOUISE.  Wie  e  Baum. 

{Tambourmajor  grüßt) 
MARGRETH.    Ei,  was  freundliche  Auge,  Frau  Nachbar, 
so  was  is  man  nit  an  ihr  gewöhnt. 

LOUISE.  {Als  ob  man  •  •  }  Soldaten,  das  sind  schmucke 
Bursch 

MARGRETH.  Ihre  Auge  glänze  ja  noch. 
LOUISE-    Was  geht  sie's  an!  Trag  sie  ihre  Auge  zum  Jud 
und  laß  sie  sich  putze,  vielleicht  glänze  sie  auch  noch,  daß 
man  sie  als  zwei  Knöpf  verkaufe  könnt. 
]\L\RGRETH.  Sie!  Sie!  Frau  Jungfer,  {es  weiß}  ich  bin  e 
honette  Person,  aber  Sie,  es  weiß  jeder,  sie  guckt  sieben 
Paar  lederne  Hose  durch. 
LOUISE.  Luder  {schlägt  das  Fenster  zu). 
Komm,  mei  Bu,  soll  ich  dir  singe?  Was  die  Leut  wollen! 
Bist  du  auch  nur  e  Hurenkind  und  machst  der  Mutter 
Freud  mit  dein  unehrliche  Gesicht!^ 

Hansel,  spann  deine  sechs  Schimmel  aus. 

Gib  sie  zu  fresse  aufs  neu; 

Kein  Haber  fresse  sie. 

Kein  Wasser  saufe  sie. 

Lauter  kühle  Wein  muß  es  sein,  juchhe! 

Lauter  kühle  Wein  muß  es  sein. 

Mädel,  was  fängst  du  jetzt  an? 

Hast  ein  klein  Kind  und  kein  Mann. 

Ei,  was  frag  ich  danach; 

Sing  ich  den  ganzen  Tag 

Heio  popeio,  mei  Bu,  juchhe! 

Gibt  mir  kein  Mensch  nix  dazu, 
{Es  klopft  am  Fenster)  Bist  du's,  Franz?  Komm  herein! 
WOYZECK.  Ich  kann  nit.  Muß  zum  Verles. 
LOUISE.  Hast  du  Stecken  geschnitten  für  den  Major? 
WOYZECK.  Ja,  Louisel. 

[III,  3]  LOUISE.  Was  hast  du,  Franz?  du  siehst  so  verstört. 
WOYZECK.  Pst!  still!  Ich  hab's  aus!  Die  Freimaurer!  Es 
war  ein  fürchterliches  Getös  am  Himmel  und  alles  in  Glut! 
Ich  bin  viel  auf  der  Spur,  sehr  viel. 
LOUISE.  Mann! 

WOYZECK.  Meinst?  Sieh  um  dich!  Alles  starr,  fest,  fin- 
ster; was  regt  sich  dahinten?  {Gott  weg,  alles  [?]  weg,  •}  Et- 

^  I)te  teibeii  legten  Sä^e  of[enI)ar  nac^gelr.,  bn  ber  le^tc  3:cil 
interlinear  [te^t. 


WOYZECK  719 

was,  was  wir  nicht  fassen,  begreifen  —  still,  was  uns  von 

Sinnen  bringt,  aber  ich  hab's  aus.  Ich  muß  fort!  {Heut} 

LOUISE.  Das  Kind? 

WOYZECK.  Ach,  Junge!  Heut  Abend  auf  die  Mess.   Ich 

hab  wieder  was  gespart  (ab). 

LOUISE.  Der  Mann  schnappt  noch  über,  er  hat  mir  Angst 

gemacht.  Wie  unheimlich!  ich  mag,  wenn  es  finster  wird, 

gar  nicht  bleiben;  ich  glaub',  ich  bin  blind,  er  steckt  mich 

an.  {Ich  will  vor  die  Tür.}  {Sie  singt:) 

Und  macht  die  Wiege  knick  knack, 

Schlaf  wohl,  mein  lieber  Dicksack.i  (Sie  geht  ab.) 

ÖFFENTLICHER  PLATZ.  BUDEN.  LICHTER 

Alter  Mann.  Kind,  das  tanzt:  Auf  der  Welt  ist  kein  Bestand, 
Wir  müssen  alle  sterben,  das  ist  uns  wohlbekannt. 
[WOYZECK.]    Hei!    Hopsa's!    Armer  Mann,  alter  Mann! 
Armes  Kind!   Junges  Kind!   Sorgen  und  Fest  [?]!   Ha  [?]^ 
Louisel,  soll  ich  •  -^p 

LOUISEL  [?].  Mensch,  [s]ind  noch  die  Narrn  von  Ver- 
stände, dann  ist  man  selbst  Narr.'  Komische [?]  Welt! 
schöne  Welt! 

x\USRUFER  (vor  einer  Bude).  Meine  Herren,  meine  Damen, 
hier  sind  zu  sehn  das  astronomische  Pferd  und  die  kleine  [?] 
Canaillenvogel,  sind  Liebling  von  alle  Potentate  Europas 
und  Mitglied  von  alle  gelehrte  Societät,  {sagen}  verkündi- 
gen den  Leuten  alles,  wie  alt,  wie  viel  Kinder,  was  für 
Krankheit.  Schießt  Pistol  los,  stellt  sich  auf  ein  Bein.  Alles 
Erziehung,  haben  nur  eine  viehische  Vernunft,  oder  viel- 
mehr eine  ganz  vernünftige  Viehigkeit,  ist  kein  viehdum- 
mes Individuum,  wie  viel  Personen,  das  verehrliche  Pu- 
bhkum  abgerechnet.  {Keine  Lügen}  Es  wird  gleich^  [sein] 
die  rapraesentation,  das  commencement  vom  commence- 
ment  wird  sogleich  nehmen  sein  Anfang. 
Sehen  Sie  die  Fortschritte  der  Civilisation.  Alles  schreitet 
fort:  ein  Pferd,  ein  Alf,  ein  Canaillenvogel!  der  Äff  ist  schon 
ein  Soldat,  's  ist  noch  nit  viel,  unterste  Stuf  von  mensch- 
liche Geschlecht! 

1  3m  freien  5^aum  na(^gctr.,  3U  ich  bin  bhnd  geijörig:  Sonst 
scheint  doch  als  dieLatern  herein.  Ach,  wir  armen  Leute. — 

2  He  W,  beibes  gleich  fraglt(^.— ^  dich  tanzen  lassen  W;  es 
[tef)n  aber  nur  jtDet  2Börter  ba.— *Dte  ganje  !leinge!rt^elte  Stelle 
t[t  äufeerft  fraglti^;  W  Iie[t:  Ei! .  nicht— nach  den  Herren  [aber 
SBüd^nersH  ift  ganjanbers]  von  Stande ... — 5fein,W. 


7  20  LESARTEN 

{FRANZ.i  Das  will  ich  dir  sagen,  ich  hatt'  ein  Hundele, 
{und}  das  schnüffelte  an  einem  großen  Hut  und  könnt  nicht 
drauf,  und  da  hab  ich's  ihm  aus  Gutmütigkeit  erleichtert 
und  hab  ihn  drauf  gesetzt.  Und  da  standen  die  Leute  her- 
um und  die  klatschten  [?]} 
HERR.2  Grotesk!  Sehr  grotesk! 

[WOYZECK].^  Sind  Sie  auch  ein  Atheist?  ich  bin  ein  dog- 
matischer Atheist 

— *  {Ich  bin  ein  Freund}  Ist's  grotesk?  Ich  bin  ein  Freund 
vom  Grotesken.  Sehen  Sie  dort?  was  ein  grotesker  Effekt. 
FRANZ.ö  Ich  bin  ein  dogmatischer  Atheist. 
Grotesk 

[III,  4]  HANDWERKSBURSCHEN* 

Bruder!  Vergißmeinnicht!  Freundschaft!  Ich  könnt  ein 
Regenfaß  voll  greinen  vor  Wehmut,  wenn  ich  noch  Rum[?] 
hätt.  Es  stinkt  [?]  nur,  es  riecht  [?]  nur.  Warum  ist  dieße 
Welt  so  schön?  Wenn  ich's  eine  Aug  zumach  und  über  mei 
Nas  hingucke,  so  is  alles  rosenrot.  Brandwein,  das  ist 
mein  Leben. 

EIN  ANDRER.  Er  sieht  alles  rosenrot,  wann  ihm's 
Kreuz  über  sei  Nas  guckt. 

FRANZ  [?].  Es  is  kei  Ordnung!  Was  hat  der  Laternputzer 
vergessen  mir  die  Augen  zu  fegen,  's  is  alles  finster.  Hol 
der  Teufel  den  lieben  Herrgott.  Ich  lieg  mir  selbst  im  Weg: 
meine  Fuß  über  mich  springen.  Wo  ist  mein  Schatten  hin- 
gekommen? Keine  Sicherheit  mehr  im  Stall^.  Leucht  mir 
einmal  mit  dem  Mond  zwischen  die  Beine,  ob  ich  mein 
Schatten  noch  hab. 

Fraßen  ab  das  grüne,  grüne  Gras, 
Fraßen  ab  das  grüne,  grüne  Gras 
Bis  auf  den  Ra-a-sen. 
Sternschnuppe,  ich  muß  dem  Stern  die  Nas  schneuzen. 
Gesellen,  ••,•••,•,••,•,••  sandige,  Mauer  •  und  emp- 
fiehlt sich  mit  •  •  Kindern. 

1  LOUIS  W.— 2  Das  SBort  bleibt  fraglt(^.  Später  gebraust  bet 
Hauptmann  bte[elben  SBorte.— ^  W  ent5tffert  STUD.,  überfielt 
aber,  i>a)^  Süc^ner  mit  S  \ä)on  bas  nä(^[tc  213ort  begann,  als  t^m 
einfiel,  ha)^  er  bie  ^et[onenbc5ci(t)nung  uergeffen;  es  fann  naä) 
ben  folgenben  2ßorten  nur  21Joi)5ed  gemeint  [ein  (ogl.  716 3 1).— 
*  (£tnc  unlesbare  ^Ibfürjung  von  ein  ober  stoei  5Bu(^ftaben  [oII 
tüobi  bic  ^erfon  be5eid)ncn.  — ^  Ober  ettwa  LOUIS?  —  »  »er* 
[^rieben  für  Staat? 


WOYZECK  721 

Mach  kein  Loch  in  die  Natur. 

Warum  hat  Gott  die  ISIenschen  geschaffen?  Das  hat  auch 
sein  Nutzen.  Was  würde  der  Landmann,  der  Schuhmacher, 
der  Schneider  anfangen,  wenn  er  für  die  Menschen  keine 
Schuhe,  keine  Hosen  machte?  Warum  hat  Gott  den  Men- 
schen das  Gefühl  der  Schamhaftigkeit  eingeflößt?  damit 
der  Schneider  leben  kann.  Ja!  Ja!  Also — darum!  auf  daß! 
damit!  Oder  aber,  wenn  eres  nicht  getan  hätte— aber  dar- 
in sehen  wir  seine  Weisheit,  daß  er  den  ISIenschen  noch 
die  {Pflege  und  Geruch  erschaffen}  daß  auch[?]  die  viehische 
Schöpfung  das  menschliche  Ansehen  hätte,  weil  die  Mensch- 
lichkeit sonst  dasViehische  aufgefressen  hätte.  Dießer  Säug- 
ling, dießes  schwache,  hülflose  Geschöpf,  jener  [?]  Säug- 
ling,— Laßt  uns  jetzt  über  das  Kreuz  pissen,  damit  ein  Jud 
stirbt.^  Branntwein,  das  ist  mein  Leben,  Branntwein  gibt 
Courage. 

{LOUISEL.  WOYZECK} 
{Heißa,  IMusik.  Was  Licht,  meine  Augen} 

UNTEROFFIZIER.  TAMBOURMAJOR 
[TA:\IB0URMAJ0R.]-   Halt,  jetzt!  Siehst  du  sie?  Was  ein 
Weibsbild! 

UNTEROFFIZIER.^  Teufel,  zum  Fortpflanzen  von  Küras- 
sierregimentern. ^ 

[T.\^IBOURMAJOR.]^  Und  zur  Zucht  von  Tambour- 
majors. 

UNTEROFFIZIER.^  Wie  sie  den  Kopf  trägt!  man  meint, 
das  schwarze  Haar  müßt  sie  abwärts  ziehn,  wie  ein  Ge- 
wicht. Und  Augen,  schw 

TAMBOUR]\L\JOR.  Als  ob  man  in  ein  Ziehbrunnen  {guck} 
oder  zu  einem  Schornstein  hinunter  guckt.  Fort,  hinter 
drein! 

1  X)cr  Dorfte^cnbe  Sa^  i[t  interlinear  zugefügt.-  -  3Ber  fprid)t, 
gel)t  aus  bem  ^^olgenben  f^eroor.— ^  Die  ^erfoncnbejeit^nung  ift 
nt^t  glei(^  crlennbar,  toeti  Süc^ner  oerfe^entlic^  Tambourmajor 
[(^reiben  roollle  nnb  ein  T  latfäc^Iic^  ^ingefe^t  \)at~^  Fortpflan- 
zen von  Kunst-  W.— ^  ^m  9Jknu[fript  t[t  fein  ^erfonenroec^fel, 
üielme^r  ge^t  bcr  folgcnbe  Sa^  mit  und  zur  Zucht  von  Tam- 
bourmajors in  ber[clbcn  5?ei]^e  fort,  roä^rcnb  cr[t  ber  näc^ftc  Sa^ 
ur[prünglt(^  bem  ^^ambourmajor  in  ben  9[Runb  gelegt  tüurbe; 
ba  bies  aber  nacbträgl.  geänbert  u)urbc  (ugl.  näd)[te  gufenotc), 
mufete  bcr  5llsed)[cl  geregelt  werben,  roas  im  (Sintlang  mit  151  :<i  f.  ge= 
l^af).— «  9Iarf)trägI.  über  iTAMBOURMAJOR;  gc[d)ricbcn. 

BÜCHNER  46. 


722  LESARTEN 

LOUISEL.  Was  Licht,  m 

FRANZ.  Ja,  •  •  •  •  schwarze  Katzen  mit  feurige  Augen.  Hei, 

was  ein  Abend! 

[IV,  I]  WOYZECK.  DOKTOR* 

DOKTOR.  Was  erleb  ich,  Woyzeck?  Ein  Mann  von  Wort? 
Er!  Er!  Er! 

WOYZECK.  Was  denn,  Herr  Doktor? 
DOKTOR.  Ich  es  gesehn  hab.  Er  auf  die  Straß  gepißt  hat, 
wie  ein  Hund.  {Beko}  Geb'  ich  Ihm  dafür  alle  Tag  drei 
Groschen  und  Kost?  Die  Welt  wird  schlecht,  sehr  schlecht, 
schlecht,  sag'  ich.  O!  Wo37zeck,  das  ist  schlecht. 
WOYZECK.  Aber  Herr  Doktor,  wenn  man  nit  anders 
kann? 

DOKTOR.  Xit  anders  kann,  {ab}  nit  anders  kann.  Aber- 
glaube, abscheulicher  Aberglaube.  Hab  ich  nit  nachgewie- 
sen, daß  der  musculus  constrictor  vesicae  dem  Willen 
unterworfen  ist?  Wo3^zeck,  der  Mensch  ist  frei!  im  Men- 
schen verklärt  sich  die  Individualität  zur  Freiheit.  [Er] 
seinen  Harn  nicht  halten  können!  Es  ist  Betrug,  Woyzeck. — 
Hat  Er  schon  seine  Erbsen  gegessen?  nichts  als  Erbsen, 
nichts  als  Hülsenfrüchte,  cruciferae,  merk  Er  sich's. — Die 
nächste  Woche  fangen  wir  dann  mit  Hammelfleisch  an. 
Muß  Er  nicht  aufs  Secret[?]?  Mach  Er!  Ich  sag's  Ihm.  Es 
gibt  eine  Revolution  in  der  Wissenschaft,  eine  Revolution! 
Nach  gestrigem  Bericht  o,  lo  Harnstoff,  •  salzsaures  Ammo- 
niak, •  • 

Aber  ich  hab's  gesehen,  daß  Er  an  die  Wand  pißte;  ich 
steckt  grad  meinen  Kopf  hinaus,  zwischen  {zwei  Blattläuse, 
die  sich  begatteten}  meiner  [?]  Valnessia  und  •  •  Hat  Er  mir 
Frosch  gefangen?  Hat  Er  Laich?  Keinen  Süßwasserpolyp? 
keine  Hydra?  Vestillen?  Cristatellen?  Stoß  Er  mir  nicht  ans 
Mikroskop,  ich  hab  eben  den  dicken  Backzahn  von  einem 
Infusionstier  darunter.  Ich  sprenge  sie  in  die  Luft,  alle 
miteinander.  Woyzeck,  keine  Spinneneier,  keine  Kröten- 
eier? Aber  an  die  Wand  gepißt!  Ich  hab's  gesehen  {tritt 
auf  ihn  los).  Nein,  Wo^-zeck,  ich  ärgere  mich  nicht,  ärgern 
ist  ungesund,  ist  unwissenschaftlich.  Ich  bin  ruhig,  ganz 
ruhig,  und  ich  sag's  Ihm  mit  der  größten  Kaltblütigkeit. 
Behüte!  wer  wird  sich  über  einen  Menschen  ärgern,  einen 
Menschen!  Wenn  es  noch  ein  Proteus  wäre,  der  einem 
krepiert!  Aber  Er  hätte  doch  nicht  an  die  Wand  pissen 
sollen. 


WOYZECK  723 

WOYZECK.  Ja  die  Natur,  Herr  Doktor  {wenn  dan}  wenn 
die  Natur  aus  ist. 

DOKTOR.  Was  ist  das,  wenn  die  Natur  [aus]  ist? 
WOYZECK.  Wenn  die  Natur  aus  ist,  das  ist,  wenn  die 
Natur  [aus]  ist.  Wenn  die  Welt  so  finster  wird,  daß  man 
mit  den  Händen  an  ihr  herumtappen  muß,  daß  man  meint, 
sie  verrinnt  wie  Spinnew^eb.  Das  ist  so,  wenn  etwas  ist 
und  doch  nicht  ist,  {wenn  duj  w'enn  alles  dunkel  ist  und 
nur  noch  ein  {glühen droterj-  roter  Schein  im  Westen,  wie 
von  einer  Esse.  Wenn  {schreitet  im  Ziimiier  mif  und  ah) 
DOKTOR.  Kerl,  Er  tastet  mit  seinen  Füßen  herum  wie 
mit  Spinnfüßen. 

[IV,2  WOYZECK  (steht  ganz  starr).  Haben  Sie  schon  dieRinge 
von  den  Schw^ämmen  auf  dem  Boden  gesehen,  lange  Linien, 
krumme  [?]  Kreise,  Figuren— da  steckt's!  da!  W^er  das  lesen 
könnte!  Wenn  die  Sonn  im  hellen  IVIittage  steht  und  es 
ist,  als  müsse  die  Welt  auflodern,— hören  Sie  nichts?  •  •  •  • 
als  die  Welt  spricht^  sehen  Sie  die  langen  Linien,  und  ist, 
als  ob  es  einem  mit  fürchterlicher  Stimme  anredete. 
DOKTOR.  Woyzeck!  Er  kommt  ins  Narrenhaus;  Er  hat 
eine  schöne  fixe  Idee,  eine  köstliche  alienatio  mentis.  Seh 
Ermich  an!  Was  soll  Er  tun?  Erbsen  essen,  dann  Hammel- 
fleisch essen,  sein  Gewehr  putzen,  das  weiß  Er  alles,  und 
dazwischen  die  fixen  Ideen,  die  • .  Das  ist  brav,  Woyzeck, 
Er  bekommt  ein  Groschen  Zulage  die  Woche.  ^Meine  Theo- 
rie, meine  neue  Theorie  ^  kühn,  ewig,  jugendlich [?]!  Woy- 
zeck, ich  werde  unsterblich.  Zeig  Er  seinen  Puls!  ich  muß 
Ihm  morgens  und  abends  den  Puls  fühlen. 

STRASSE 
HAÜPTMAN^^.  DOKTOR 

Hauptmann  keucht  die  Straße  herunter,  hält  an,  keucht,  sieht 

sich  um^ 
HAUPTMANN.  Wohin  so  eilig,  geehrtester  Herr  Sargnagel? 
DOKTOR.  Wohin  so  langsam,  geehrtester  Herr  Exerzier- 
zagel? 

HAUPTMANN.  Nehmen  Sie  sich  Zeit,  verehrtester  Grab- 
stein. 
DOKTOR.  Ich  stehle  meine  Zeit  nicht,  wie  Sie,  wertester* 

^nichts?  Dann,  wieder,  wenn  als  im  Zirkel  geht  W. — ^ y^[Q  ein 
Thurm  W.— ^  SU.  5?.  ^Ibbilbung  ber  beiben  (öeftalten.  bcr  Do!tor 
mit  bem  §ut  in  ber  ^anh  in  ganser  g-igur.— *  2Bot)I  ^ier  abgebro» 
(^en  unb  neu  begonnen. 


724  LESARTEN 

HAUPTÄIANN.    Laufen  Sie  nicht  so,  Herr  Doktor!  ein 
guter  Mensch  geht  nicht  so  schnell,  Geehrtester  [?],  ein 
guter  Mensch  {schnauft),  ein  guter  Mensch— Sie  hetzen  sich 
ja  hinter  dem  Tod  drein,  Sie  machen  mir  ganz  x\ngst. 
DOKTOR.  Pressiert,  Herr  Hauptmann,  pressiert. 
HAUPTMANN.   Herr  Sargnagel,  Sie  schleifen  sich  ja  so 
ihre  kleinen  Beine  ganz  auf  dem  Pflaster  ab.  Reiten  Sie 
doch  nicht  auf  ihrem  Rock^  in  der  Luft. 
DOKTOR.  {Gute  Frau}  Sie  ist  in  vier  Wochen  tot,  ein  •  -^ 
im  siebenten  Monat;  ich  hab  schon  zwanzig  solcher  Patien- 
ten gehabt,  in  vier  Wochen,  rieht  sie  sich  danach  {und  daß 
ich} 

HAUPTMANN.  Herr  Doktor,  erschrecken  Sie  mich  nicht, 
es  sind  schon  Leute  am  Schreck  gestorben,  am  puren 
hellen  Schreck 

DOKTOR.  In  vier  Wochen,  dummes  Tier,  sie  gibt  ein  in- 
teressantes Präparat  [?].  Ich  sag  ihr,  [in]  vier 
[IV,  3]  HAUPTMANN.  Daß  dich  das  Wetter,  ich  halt  Sie 
beim  FlügeP,  ich  lasse  Sie  nicht!  Teufel,  vier  Wochen?  Herr 
Doktor,  Sargnagel,  Totenhemd!  ich,  so  lang  ich  da  bin, 
vier  Wochen,  und  die  Leute  Citron  in  den  Händen — aber 
sie  werden  sagen,  er  war  ein  guter  Mensch,  ein  guter 
Mensch.* 

DOKTOR.  Ei  guten  Morgen,  Herr  Hauptmann  {fast  hätt 
ich  Sie  nicht  bemerkt}  [den  Hut  und  Stock  schwingend)  Kike- 
riki! Freut  mich!  Freut  mich!  {Hält  ihm  den  Hut  hin:) 
was  ist  das,  Herr  Hauptmann?  Das  ist  Hohlkopf.  {Ist  das 
scharf}  Hä? 

HAUPTMANN  {macht  eine  Falte:)  Was  ist  das,  Herr  Dok- 
tor? Das  ist  ne  Einfalt!  Hähähä!  Aber  nichts  für  ungut. 
Ich  bin  ein  guter  Mensch — aber  ich  kann  auch,  wenn  ich 
wüll,  Herr  Doktor,  hähähä,  wenn  ich  will. — He,  Woyzeck, 
was  hetzt  Er  sich  so  an  uns  vorbei.  Bleib  Er  doch,  Woy- 
zeck! Er  läuft  ja  wie  ein  offnes  Rasiermesser  durch  die 
Welt,  man  schneidt  sich  an  Ihm;  Er  läuft,  als  hätt  Er  ein 
Regiment  Kastrierte  zu  rasieren  und  würde  gehenkt  über  [?] 
dem  letzten  Haar  noch  vorm  Verschwinden  [?].  Aber,  über 

1  Stock  [Rock?]  W;  btc  5l55tlbung  jetgt  feinen  Stodf,  aber  lange 
üiodf^ö^e. — 2  collaps  congestaticus  W.— ^  halt  sie  Herr  Fle- 
gel [?]  W;  mit  Flügel  [inb  toieber  bie  5?Dd[d^ö^e  gemeint. — *  50^9^ 
barauf  wo^I  neue  Raffung. 


WOYZECK  725 

die  langen  Barte,  was  wollt  ich  doch  sagen?  Woyzeck — die 
langen  Barte 

DOKTOR.  Ein  langer  Bart  unter  dem  Kinn,  schon  Pli- 
nius  spricht  davon,  man  müßt  es  den  Soldaten  abgewöh- 
nen, du,  du, 

HAUPTMANN  (fährt  fort).  Ha!  über  die  langen  Barte?  Wie 
is,  Wo^'zeck,  hat  Er  noch  nicht  ein  Haar  aus  einem  Bart 

He,  Er  versteht  mich  doch? 
Haar  von  einem  Menschen,  vom  Bart  eines 
Sapeurs,  eines  Unteroffiziers,  eines — eines  Tambourmajors? 
He,  Woyzeck?  Aber  Er  hat  eine  brave  Frau.  Geht  Ihm 
nicht  wie  andern. 

WOYZECK.  Ja  wohl!  Was  wollen  Sie  sagen,  Herr  Haupt- 
mann? 

HAUPTMANN.  Was  der  Kerl  ein  Gesicht  macht!  Er  steckt 
Alch^^misten-  in  den  Himmel  nein.  Vielleicht  nun  [?]  auch 
nicht  in  der  Suppe,  aber  wenn  Er  sich  eilt  und  um  die  Eck 
geht,  so  kann  Er  vielleicht  noch  auf  [ein]  Paar  Lippen  eins 
finden,  ein  Paar  Lippen,  Woyzeck — ich  habe  auch  das 
Lieben  gefühlt,  Wo3'zeck.  Kerl,  Er  ist  ja  kreideweiß. 
WOYZECK.  Herr  Hauptmann,  ich  bin  ein  armer  Teufel — 
und  hab  sonst  nichts  auf  der  Welt.  Herr  Hauptmann, 
wenn  Sie  Spaß  machen — 

HAUPT.AL\NN.  Spaß  ich,  daß  dich  Spaß,  Kerl! 
DOKTOR.  Den  Puls,  Woyzeck,  den  Puls.^  klein,  hart,  hüp- 
fend, unregelmäßig!. 

WOYZECK.  Herr  Hauptmann,  {die  Höll  ist  so  •}  die  Erd 
ist  höllenheiß,  mir  eiskalt,  eiskalt^  —  die  Hölle  ist  kalt, 
wollen  wir  wetten. Unmöglich!  jMensch!  Mensch!  un- 
möglich! 

[IV,  4]  HAUPTMANN.  Kerl,  wiUEr[Rech]enschaft[?],  will 
ein  Paar  Kugeln  vor  den  Kopf  haben  [?]?  Er  ersticht  mich 
mit  seinen  Augen,  und  ich  mein  es  gut  [mit]  Ihm,  weil  Er 
ein  guter  Mensch  ist,  Wo^-zeck,  ein  guter  Mensch. 
DOKTOR.  Gesichtsmuskeln  starr,  gespannt,  zuweilen 
hüpfend.  Haltung  aufgeregt  [?],  gespannt. 
WOYZECK.  Ich  geh.  Es  ist  viel  möghch.  Der  Alensch!  es 
ist  viel  möglich. — Wir  haben  schön  Wetter,  Herr  Haupt- 
mann. Sehn  Sie,  so  ein  schöner,  fester,  grauer  HimmeP;  man 
könnte  Lust  bekommen,  ein  Kloben  hineinzuschlagen  und 

!  ungeregelt  W. — -  mir  is  es  eiskalt  W. — ^  so  ein  schön 
heißer  •  Himmel  W. 


726  LESARTEN 

sich  daran  zu  hängen,  nur  wegen  des  Gedankenstricheis 
zwischen  ja  und  wieder  [?]  ja— und  nein.  Herr  Hauptmann, 
ja  und  nein?  Ist  das  Nein  am  Ja  oder  das  Ja  am  Nein 
schuld?  Ich  will  drüber  nachdenken  {geht  mit  hreiten  [?] 
Schritten  ah,  erst  langsam  dann  immer  schneller). 
DOKTOR  {schießt  ihm  nach).  Phänomen!  Woyzeck,  Zulage! 
HAUPTMANN.  Mir  wird  ganz  schwindlich  vor  dem^  Men- 
schen. Wie  schnell!  der  lange  Schlingel  greift  aus,  als  läuft 
}•  •  •}  der  Schatten  von  einem  Spinnbein,  und  der  Kurze,  das 
zuckelt.  Der  Lange  ist  der  Blitz  und  der  Kleine  der  Don- 
ner. Haha,  hinterdrein  [?].  Das  hab'  ich  nicht  gerne!  ein 
guter  Mensch  ist  •  und  hat  sein  Leben  lieb,  ein  guter 
Mensch  hat  keine  courage  nicht!  ein  Hundsfott  hat 
courage!  Ich  bin  bloß  in  Krieg  gegangen,  um  mich  in 
meiner  Liebe  zum  Leben  zu  befestigen.  Von  d.  •  zu  •,  von 
da  zur  • ,  von  da  zur  •,  wie  man  zu  •  •  •  Grotesk!  grotesk!^ 

WOYZECK.  LOUISEL* 
LOUISEL.  Guten  Tag,  Franz. 

FRANZ  {sie  betrachtend).  Ach,  bist  du's  noch!  Ei^  wahr- 
haftig! nein,  man  sieht  nichts,  man  müßt's  doch  sehen! 
Louisel,  du  bist  schön! 

LOUISEL.  Was  siehst  du  so  sonderbar,  Franz,  ich  furcht 
mich. 

FRANZ.  Was  eine  schöne  Straße,  man  läuft  sich  Leich- 
dorn! es  ist  gut  auf  der  Gasse  stehn,  und  in  Gesellschaft 
auch  gut. 

LOUISEL.  {Es}  Gesellschaft? 

FRANZ.  Es  gehn  viel  Leut  durch  die  Gasse,  nicht  wahr? 
und  du  tust  reden,  mit  wem  du  willst,  was  geht  das  mich! — 
Hat  er  da  gestanden?  da?  da?  Und'^  so  bei  dir?  so?  Ich  wollt, 
ich  war  er  gewesen. 

LOUISEL. .  Er?  Ich  kann  die  Leute  {nicht}  die  Straße  nicht 
verbieten  und  wehren,  daß  sie  ihr  Maul  {nicht}  mitnehmen, 
wenn  sie  durchgehn. 

FRANZ.  Und  die  Lippen  nicht  zu  Haus  lassen,  es  war 
schade,  sie  sind  so  schön.  Aber  die  Wespen  setzen  sich 
gern  drauf. 

LOUISEL.  Und  was  ne  Wesp  hat  dich  gestochen,  du  siehst 
so  verrückt  wie  eine  Kuh,  die  die  Hornisse  jagt  [?]. 

1  den  h^.— 2  2)te  legten  Sä^e  laufen  f^on  in  bie  nä^fte  ©jene 
hinein,  |inb  al[o  nai^trägl.  angefügt.— ^  Ha  W.  -^  Stand  [?]  W. 


WOYZECK  727 

[V,  i]  FRANZ.  Mensch!  {Geht  auf  sie  los.) 
LOUISEL.  Rühr  mich  an,  Franz!  Ich  hätt  lieber  ein  Mes- 
ser in  den  Leib,  als  deine  Hand  auf  meiner.  Mein  Vater 
hat  mich  nicht  anzugreifen  gewagt,  wie  ich  zehn  Jahr  alt 
war,  wenn  ich  ihn  ansah. 

WOYZECK.  Weib! — Nein,  es  müßte  was  an  dir  sein!  Jeder 
Mensch  ist  ein  Abgrund;  es  schwindelt  einem,  wenn  man 
hinabsieht.  Es  wäre!  Sie  geht  wie  die  Unschuld.  Nun,  Un- 
schuld, du  hast  ein  Zeichen  an  dir.  Weiß  ich's?  Weiß  ich's? 
Wer  weiß  es? 

LOUISEL  {allein).  Gehet 
{La  corruption  du  siecle  est  parvenue  ä  ce  point,  que  pour 
maintenir  la  morale 
Und  ist  kein  Betrug  in  seinem  Munde  erfunden.  Herr  Gott!} 

hH 
[i]  DER  HOF  DES  PROFESSORS^ 

Studenten  unten,  der  Professor  am  Dachfenster 
Meine  Herren,  ich  bin  auf  dem  Dach  wie  David,  als  er  die 
Bathseba  sah;  aber  ich  sehe  nichts  als  die  culs  de  Paris 
der  Mädchenpension  im  Garten  trocknen.  Meine  Herren, 
wir  sind  an  der  wichtigen  Frage  über  das  Verhältnis 
des  {Individuums}  Subjects  zum  Object.  Wenn  wir  nur  eins 
von  den  Dingen  nehmen,  worin  [sich]  die  organische  Selbst- 
affirmation des  Göttlichen,  auf  einem  so  hohen  Stand- 
punkte, manifestiert,  und  ihre  Verhältnisse  zum  Raum, 
zur  Erde,  zum  Planetarischen  untersuchen,  meine  Herren, 
wenn  ich  dieße  Katze  zum  Fenster  hinauswerfe,  wie  wird 
dieße  Wesenheit  sich  zum  centrum  gravitationis  gemäß  [?] 
ihrem^  eigenen  Instinct  verhalten.  He,  Woyzeck,  {brüllt) 
Woyzeck! 

WOYZECK.  Herr  Professor,  sie  beißt. 
PROFESSOR.  Kerl,  Er  greift  die  Bestie  so  zärtlich  an,  als 
wär's  seine  Großmutter. 

WOYZECK.  Herr  Doktor,  ich  hab  's  Zittern. 
DOKTOR.  {Ei}  {ganz  erfreut).  Ei,  ei!  schön,  Woyzeck  {reibt 
sich  die  Hände.  Er  nimmt  die  Katze.)   Was  seh  ich,  meine 
Herren,  die  neue  Species  Hühnerlaus',  eine  schöne  Spezies, 

^  Der  ^rofeffor  unb  ber  Xioftor  finb  biefelbe  ^crfon,  3.  %.  offen^ 
bar  eine  Rarifatur  bcs  Uniuerntätsprofcjfors  2ßilbrnnb,  bcr  3U« 
gleid^  prafttf(^er  ^15!  toar. — ^  und  dem  W. — ^  Hasenlaus  W. 


728  LESARTEN 

wesentlich  verschieden  • ,  die^  Herr  Doktor  {er  zieht  eine 
Loupe  heraus)  Ricinus,  meine  Herren  [P]^ — [die  Katze  läuft 
fort)  meine  Herren,  das  Tier  hat  keinen  wissenschafthchen 
Instinkt  —  Ricinus  ^  die  schönsten  Exemplare,  bringen 
Sie  ihre  Pelzkragen.  Meine  Herren,  Sie  können  dafür  was 
anders  sehen.  Sehen  Sie:  der  Mensch,  seit  einem  Viertel- 
jahr ißt  er  nichts  als  Erbsen;  bemerken  Sie  die  Wirkung, 
fühlen  Sie  einmal:  was  ein  ungleicher  Puls!  der*  und  die 
Augen. 

WOYZECK.  Herr  Doktor,  es  wird  mir  dunkel!  {Er  setzt 
sich.) 

[2]  DOKTOR.  Courage,  Woyzeck,  noch  ein  paar  Tage,  und 
dann  ist's  fertig.  Fühlen  Sie,  meine  Herren,  fühlen  Sie! 
{Sie  betasten  ihm  Schläfe,  Puls  und  Busen.)  A  propos,  Woy- 
zeck, beweg  den  Herren  doch  einmal  die  Ohren!  ich  hab 
{dies}  es  Ihnen  schon  zeigen  wollen,  zwei  Muskeln  sind  bei 
ihm  tätig.  Allons,  frisch! 
WOYZECK.  Ach,  Herr  Doktor! 

DOKTOR.  Bestie,  soll  ich  dir  die  Ohren  bewegen,  willst 
du's  machen  wie  die  Katze?  So,  meine  Herren,  das  sind  so 
Übergänge  zum  Esel,  häufig  auch  die^  Folge  weiblicher 
Erziehung  und®  die  Muttersprache.  Wieviel  Haare  hat  dir 
die  Mutter  zum  Andenken  schon  ausgerissen  aus  Zärtlich- 
keit? Sie  sind  dir  ja  ganz  dünn  geworden,  seit  ein  paar 
Tagen.  Ja,  die  Erbsen,  meine  Herren! 

DER  IDIOT.  DAS  KIND.  WOYZECK 
KARL  {hält  das  Kind  vor  sich  auf  dem  Schoß).  Der  is  ins 
Wasser  gefallen,  der  is  ins  Wasser  gefallen,  mir,  der  is  ins 
Wasser  gefallen. 
WOYZECK.  Bub,  Christian! 

KARL  {sieht  ihn  starr  an).  Der  is  ins  Wasser  gefallen. 
WOYZECK  {will  das  Kind  liehkosen,  es  wendet  sich  weg  und 
schreit).  Herrgott! 

KARL.  Der  is  ins  Wasser  gefallen. 

WOYZECK.  Christianchen,  du  bekommst  en  Reuter,  sa 
sa  {das  Kind  wehrt  sich;  zu  Karl:)  da{s},  kauf  dem  Bub  en 
Reuter! 

1  enfonce,  der  W.— ^  Der  Doftor  luolltc  Dielleti^t  [mjcn:  wesent- 
lich verschieden  von  der,  die  Doktor  Ricinus  .  .  fand  ober 
beschrieben.— 3  3^  bem  ftrtcilic^cn  JiCort,  bas  W  als  herauf 
entstffert,  [tecft  oielleid)!  bas  'l\txh  3Um  6ubie!t  "iRtcinus.  *  daW. 
^  in  W. — ®  wie  W. 


WOYZECK  729 

KARL  {sieht  ihn  starr  an). 

WOYZECK.  Hop!  hop!  Roß. 

KARL  {jauchzend).   Hop!  hop!  Roß!  Roß!  {läuft  mit  dem 

Kind  weg.) 


H 

(5. 145.  10  was!  über  {Hohl  da  unten,  alles  hohl;  H  |  -'4  be= 
ginnt  [I,  2]  H  1  ANDRES  über  ;WOYZECK|  H  ,  Woyzeck  über 
{Andres}  H  [  25  WOYZECK  über  {ANDRES;  H  |  -6  cor 
Hörst  unlesbares  geftr.  2BortH  |  27  Ortsangabe  na(^  h^:  ügl.Tl?  ■..: : 
29  voran  na(^getr.  H. 

e.  146.  2  {Was  g[eht][  Und  wenn!  H ;  8  beginnt  [I,  3]  H  9  arm 
na^getr.  H  |  10  deiner  {Frau[lein]}  Mutter  H  |  18  lies  Schim- 
mel aus  I  29  l^tnter  viel  unlesbare  geftr.  Stelle  H  |  32  {her}ggan- 
gen  H  I  34  beginnt  [I,  4]  H. 

S.  147.  2  herein.  {Ich  muß  fort}  H  |  4f.  [te^t  als  fsenar.  Über« 
ft^rtft  in  einer  ^tWt,  bann  bie  3U)eite  §älfte  ber  4.  unb  bic  5.  Seite 
leer  inH  |  6-17  ^erübergenommen  aus  h\  mit  ^nberung  ber  ^er« 
[onennamen:ügl.706f.  |  i8-27einge[^altetau5h2:  DgI.S.721i9ff.; 
bie[es3roi[(^enfpieIinbie3ct^rmar!tf5eneein3ufügen,berecf)tigtroDf)I 
bie  ^ntoefen^eit  bes  Hnter  offi5iers  im  Snnern  ber  5Bube  bei  h^  (S.708) 
[oroie  bie  geroiditigen  2Borte  93largret^en5,  bie  [i^  in  h^  an  bie 
^a^rmarftfjene  anfc^lie^en  (708 6 ff.)  unb  toonac^  bort  ber  er[te3u= 
[ammenfto^  SBopsedfs  mit  [einem  9]ebenbu^Ier  erfolgt  [ein  mu^  | 
29 — 14818  l^erübergenommen  aus  h^:  ogl.  S.  707  f. 
S.  148.  19  5ugefügt  auf  ©runb  ber  5\anbbemerfung  5um  ä^orfier« 
gef)enben  in  h^:  ogl  S.  708,  gufen.  2;  t^a  bie  2Borte  guckt  sieben 
Paar  lederne  Hosen  durch  [(f)on  146  6  f.  oerroertet roorben,  mußten 
[ie  ^ier  loegfallen;  bem  ^^ambourmajor  fonnten  bie  2Borte  in  tizn 
5ö^unb  gelegt  toerben  auf  ©runb  üon  147 18  f.  (re[p.  721 20  f.  in  h^) 
unb  70938  (in  h^)  \  20  beginnt  [I,  6]  H  ;  31  Gold!  {Wie  wird  mir's 
beim  Tanz  stehen?}  H  |  33  einen  jugef.  H  |  Mund  über  {Lip- 
pen} H  I  37  Schlafengelchen!  {siehst}  H. 
S.  149.  2  wirst.  {Zum  Mittag  w}  H  |  11  {Was  willst  du?}  Bin 
ich  ein  ]\Iensch?  H  |  13  drückt  ihn.  {Über  so  glatte  Backen 
läuft}  H  I  15  hinter  Leut!  beginnt  [I,  7]  H  ]  Das  is  H  |  20  hinter 
andern!  unlesbare  geftr.  Stelle. 

S.  150.  9  hinter  Ein  guter  Mensch  beginnt  [1, 8]  H  |  18  Gerührt 
na(f)getr.  H  |  34  auf  die  Moral  über  {auf  die  moralische  Art} 
H  I  39  hinter  Mensch  beginnt  [II,  1]  H. 

S.  151.  3f.  Ich  hab  bis  Blut  na^getr.  H  j  11  ein  {vornehmer} 
Herr  H  |  und  eine  Uhr  nad)getr.  H  |  12  und  könnt  bis  reden 


730  LESARTEN 

na^getr.  H  |  13  tugendhaft  sein  {und  hätt  mich  kopulieren 
lassen  in  der  Kirch  mit  Chaise  und  Pferd}.  H  |  19  j^inter  hin- 
unter! ber  9?e[t  bcr  Seile  (V4)  frei  H  1 20  beginnt  [II,  2]  H;  bofe  bie 
Sjene^ävor  SJlariens  5lammei"  [pielt,  [(i)etnt  aus  ber  folgenben 
Ssene  ^etuorjugeljen,  auc^  ijt  9[JIarien5  33cr[limmt^eit  ob  ber  3"= 
bringli^feit  bes  3:ambonrmaiois  auf  ber  Strafe  boppelt  oerftänb^ 
li^.  I  29  spötiisch  nai^getr.  H  |  33  verstimmt  nad^gelr.  H  bc- 
stimmt  W  |  a:  I)inter  alles  eins,  ber  9\e[t  ber  Seite  (Vd)  frei  H. 
S.  152.  1  beginnt  [II,  3]  H  [  3f.  Hm!  {Man  müßt's  sehn,  wahr- 
haftig, man}  Ich  seh  nichts  H  |  6  hirn  gugef.  H  |  10-12  Wie, 
Marie  bis  schön  sein?  nai^trägl.  jugef.,  3.  Z.  a.  5R.  H  |  13  du 
{tust}  redst  H  |  i9f.  zwei  Augen  hat  und  na(|getr.  H  |  21-26 
WOYZECK.  •  •  •  MARIE  {keck-^).  Und  wenn  auch.  H;  bie  un- 
lesbare Stelle,  bie  aber  brei  SBörter  gu  entl^alten  f^eint,  entziffert 
als  Mußt  sterben  [?]  W.  3SgI.  bagu  bas  oben  S.  703  ©efagte. 
Hm  im  3:eit  feine  Sücfe  an  [0  geinid^tiger  Stelle  gu  laffen,  tft  (£r= 
[ü^  aus  h2  ge[d)affen  roorben:  ogl.  727 1  ff.  §inter  Und  wenn 
auch  i[t  ber  5^e[t  ber  Seite  (V5)  frei  in  H  |  26  beginnt  [II,  4]  H. 
S.  153.  11  Aber  an  die  Wand  H  |  12  hinter  in  der  Hand, 
beginnt  [II,  5]  H  ]  15  beobachten  {,denn  die  Sonne  schien 
grade  zufällig  einmal  wieder}  H  |  21  einem  [btaleftif^er 
DatiD]  H  I  krepiert  [toas  in  h^  (722  ii)  [te^t]  W  |  3i  hat  {sie's} 
schon  H  I  Stimme  {zu  ihnen  geredet}  H  |  35  hinter  in  was 
beginnt  [II,  6]  H  |  37  {WOYZECK}  DOKTOR  H  |  37f.  men- 
tahs  partialis  a.  5R.  für  3U)et  geftr.  Sßorte  H  |  3S  ausgezeich- 
net w^ 

S.  154.  9  Subjekt  na^getr.  H  ]  11  l^inter  Ja.  ber  5Re[t  ber  Seite 
(1/4)  frei  H  12  beginnt  [II,  7]  H;  Ortsangabe  nac^  h^:  ogl.  S.  723  | 
14 f.  ebenfalls  nac^  h^  \  16  HAUPTMANN  nac^getr.  H  23  em  a.  5?. 
nac^getr.  H  j  Menschen  über  {das}  H  j  hinter  schießen  no^  {un- 
aufhör[?]}  H  |  24  ich  bin  so  schwermütig  na^getr.  H. 
S.  155.  3  hinter  sagen  beginnt  [11,8]  H  [  11  l^inter  Sargnagel, 
bas  Übrige  ber  Seite  (gut  Vs)  frei  H  |  12  beginnt  [in,  1]  H  |  2if. 
Vorhin  sind  über  Die  {Mensche}  Weibsbilder  H  |  22  hinaus 
über  {dampfen}  H  hin  W  |  26  Meintwege.  {Ich  hab}  H  |  33 
Tanz,  Tanz.  {Ich  •  tanz}  wird  H  ]  38  beginnt  [HI,  2]  H  |  hinter 
dahie.  freier  5Raum  uor  neuer  Sjene  H. 
S.  156.  6  ^erfonenbeäei^nung  a.  5R.  na^getr.  H  |  dir  nad^getr. 
H  I  7  Vorwärts  [?]  nac^getr.  H  |  9f.  ich  will  ihm  bis  totschla- 
gen nac^getr.,  5.  3:.  a.  5R.  H  |  14  muß  über  könnt  H  |  14-16  Ich 
wollt  bis  Hals  gießen  a.  5?.  nac^getr.  H  |  17-22  ANDRES  bis 

1  9la(^getr.  H. 


WOYZECK  731 

ist  mei  Freud,  a.  5\.  H,  hinter  9Boi)5ed5  SC^ortcn,  qIIo  ^iutcr  06 
[te^enb,  W:  aber  2rsDi)3ed5  SBorte  [leiten  3.  X.  fc^on  auf  bcr  nQd)= 
[ten  9.1lanu)!ript[eite  (f.  u.),  fo  ha^  Sü(i)ner  aurf)  it--2-2  an  bereu 
^anh  ge[(^rtcben  l^ätte,  rocnn  er  |ie  bort  etngefc^altet  f)ätte  luiiicn 
roDÜen  ]  :^7  erstickt  über  J/äV/r/j-  H  |  so  f)inter  Warum  bcninnt 
[III,  3]  H  I  35  wie  ich  [?]  W. 

S.  157.  2  Euch  jugef.  H  ]  7  der  Soldat  n.  9?.  für  {der;  Wirt 
H  1  8  sich  totzuschlagen  über  {der  Unmäßigkeit}H  9nicht[?] 
jugef.  H  I  13  beginnt  [III,  4]  H  |  14  ey  legt  für  reckt  W  |  15  ihr? 
{So!  Lauter  H  |  I6  die  {Hauer- Ji  Zickwolfin  H  |  17  Zick- 
wolfin  über  ein  nid^t  mel^r  lesbares  Sßort  gefcfiricben  H  |  17  f. 
Hör  ich's  da  auch,  sagt's  der  Wind  auch?  a.  0^.  na^gctr.  H  | 
20  EIN  ZDDIER  ^ei^fs  in  h^  (S.  709),  bie  toeitere  Ortsbeftim- 
mung  jugef.  24  zu.  {Hörst}  und  H  25  aus  der  Wand  3Ugef.  H 
üG  Ja  —  {sie  •  [  laß  sie  H  |  Einer  ist  bis  dann  ift  fraglirf), 
[tc^t  U)ie  geftr.  aus  H  |  27  Amen,  {schläft  wieder  ein.)  HW; 
bie  f3enari|(f)e  58emer!ung  tjt  u)o^I  nur  üerfe^entli^  [tc^en  gc= 
blieben,  benn  Rubres  antwortet  ja  noc^  einmal  |  28  Es  redt 
bis  stich!  stich!  fie^t  roic  geftr.  aus  H  |  32  beginnt  [III, 
5]H. 

(5.  158.  3  ich  wollt  bis  Schnaps  a.  9?.  H  [  4  muß  saufen,  {ich 
wollt,  die  Welt  war  ein  Faß  Bordeaux.}  H  |  7  sie  {dreimal} 
umH  I  -:\.{eY{sieYingenY{\ler{sieringe}iW  \  i2oorBrannde- 
wein  röof)!  norf)  Ha  H  |  i7  beginnt  [III,  6]  H  |  25  nicht  umsonst 
W  I  25 f.  Er  soll  bis  haben  na^getr.,  benn  Tod  haben  intcr^ 
linear  3ugef.  H  ]  31  Du  Hund  H;  Ijinter  Hund!  ber  9\eft  ber 
Seite  (Vs)  fi-ei  H  |  32  beginnt  [III,  7]  H. 
e.  159.  5  Fort  [tatt  Karl  W  |  Das  {liegt  in  der}  brüst'  H 
sf.  Blutwurst  {und  Leberwurst}  sagt  H  |  ig  Heiland!  Hei- 
land! bis  salben!  a.  -R.  beim  (£nbe  ber  Seite  H  |  17  beginnt  [IIIs] 
H  I  24 f.  Herr!  wie  dein  Leib  bis  aller  Stund  a.  5R.,  offenbar 
als  SSariante  ausuferen  neben  ben  im  3:e3tt  fte^enben  33erfen  Lei- 
den sei  all  mein  Gewinnst,  Leiden  sei  mein  Gottesdienst 
H;  "ha  biefe  SSerfe  [c^on  im  '£en3',  O.  89  oortommcn,  finb  t)ier 
bie  anbern  getoäljlt  ujorben  24  war  über  {gewesen;  H  2'j  Fried- 
rich über  hervor  H  heimlich  hervor  W  |  30  Wehrmann  3Ugef. 
H  1  31  geb.— d.— H  |  Maria  bis  Juli  a.  9^.  3ur  5lusfüllung  oor- 
r^erge^enber  SüdEe  H. 

6. 160.  1-26  r;erübergeiu">mmou  aus  h\  niii  'Itnbcrung  ber  ^cvfoucn= 
namen:  ugl.  S.  7i;3f.  |  27— IBLs  "1)05  ^Jieffei"  bis  "uub  ba  nod) 
einer  •••"  ebenfalls  ^erübergenommcn  auc>  h^  luo  freiließ  biefe  9?ucf* 

1  ein  nid)t  gan3  lesbarer  geftr.  9iame. 


732  LESARTEN 

fe^r  2ßDi)3cd5  jur  SOlorbftelle  erft  [päter  folgt,  motiöiert  burcf)  bte 
2Btrt5^aus[3ene:  r»gl.  S.  716  iinb  (5(^Iufebert(^t. 
e.  1611.  5  '<eanbe"  lies:  "Sommer"  |  6  ''2ßer  fann  es— bann": 
lies:  "2Ber  !ann's  ericnnen"  |  i'-is  toieber  aus  h^  (S.  714)  herüber* 
genommen,  bo(^  lä^t  [t^  bte  Anfügung  an  btefer  Stelle  ntd)t 
galten,  roenn  au6)  für  h^  eine  fortlaufenbe  (gnttoidlung  angenom* 
men  ujtrb;  na^  ber  Sjenenfolge  oon  h^  nämlt(^  [(^liefet  [xä)  btefer 
5Iuf tritt  frember  ^er[onen  an  16026  an,  bie  £eute  vertreiben  aI[o 
2Boi)5ed  non  ber  93lorbfteIIe  unb  finben  bie  i^ei^e,  ^ören  i^n  aber 
ni(^t  ertrtnfen  (ogl.  S^Iufeberi^t)  j  u  "StillÜDa!"  lies:  "Still! 
Dort!"  I  12  "Da!  toieber  ein  2on"  lies:  "Uu!  Da!  toas  ein  Üon" 
13  "2Bai[er,  bas"  lies:  "2ßa[[er,  es"  |  is  "Unb  je^t  toieber— [toie]" 
lies:  "Hu!  je^t  roieber.  2Bte"  |  i:  "toie  ©efpenfterfpu!"  lies: 
"toie  gefprungne  ©loden". 

1  Die  Seite  toar  [(^on  na^  W  gebrudt,  beoor  eine  erneute  Ser= 
gleidjung  au(^  ber  Sßotjjed^^anbf^riftcn  oorgenommen  tourbe. 


)  733  <■ 
DER  HESSISCHE  LANDBOTE  (S.  163-177). 


DIE  ursprüngliche,  ausschließlich  von  Büchner  herrüh- 
rende Fassung  existiert  nicht  mehr,  auch  nicht  in  den 
Büchnerschen  Prozeßakten,  die,  nach  eingeholter  Auskunft, 
gleich  den  Weidigschen  Prozeßakten  weder  im  Hessischen 
Justizministerium  noch  im  Hessischen  Staatsarchiv  vor- 
handen sind  und  allem  Anschein  nach  vernichtet  wurden.^ 
A:Erstdruck  desFlugblatts;  zwei  ineinanderliegende  Bogen 
von  schlechtem,  grauem  Papier  in  hohem  Oktavformat, 
paginiert  mit  1-8;  nach  der  gerichtlichen  Ermittlung  in 
Offenb  ach  hergestellt,vonDruck-undSatzfehlern  strotzend. 
Einzig  bekanntes,  von  ]\Iäusen  angefressenes  Exemplar 
im  Nachlaß  Büchners. — Inhaltlich  eine  von  Weidig  vor- 
genommene Bearbeitung  des  Büchnerschen  Entwurfes; 
über  den  Umfang  der  Änderungen  Weidigs  geben  die  in 
Nöllners  "Aktenmäßiger  Darlegung  des  wegen  Hochver- 
rates eingeleiteten  gerichtlichen  Verfahrens  gegen  den 
Pfarrer  Dr.  Friedr.  Ludw.  Weidig"  mitgeteilten  Aussagen 
Beckers  Auskunft: 

"In  dem  oben  [S.  605  ff.]  angegebenen  Sinn  schrieb  Büchner  die 
Flugschrift,  welche  7'on  IVeidig  ^Landhotc  genawit  worden  ist.  Noch 
muß  ich  erwähnen,  daß  Büchner  während  meiner  Abwesenheit  ein- 
mal bei  Weidig  gewesen  sein  muß,  um  bei  demselben  eine  Stati- 
stik vom  Großherzogtum,  die  er  bei  seiner  Arbeit  benutzt  hat,  zu 
entlehnen  ...  Diese  Schrift  wurde  durch  Clemm  und  mich  an  Wei- 
dig überbracht.  Er  machte  ...  Einwendungen  ...  und  sagte,  daß  bei 
solchen  Grundsätzen  kein  ehrlicher  Mann  mehr  bei  uns  aushalten 
werde  (er  meinte  damit  die  Liberalen]  ...  Indessen  konnte  Weidig 
der  Flugschrift  einen  gewissen  Grad  von  Beifall  nicht  versagen  und 
meinte,  sie  müsse  vortreffliche  Dienste  tun,  wenn  sie  verändert 
werde.  Dies  zu  tun,  behielt  er  sie  zurück  und  gab  ihr  die  Gestalt, 
in  welcher  sie  später  im  Druck  erschienen  ist.  Sie  unterscheidet 
sich  vom  Originale  dadurch,  daß  an  die  Stelle  der  Reichen  die  Vor- 
nehmen gesetzt  sind,  und  daß  das,  was  gegen  die  sogetiantite  liberale 
Partei  gesagt  7var,  weggelassen  nnd  viit  anderem,  was  sich  bloß  anf 
die  Wirksamkeit  der  konstitutionellen  Verfassung  bezieht,  ersetzt  wov- 
den  ist,  wodurch  denn  der  Charakter  der  Schrift  noch  gehässiger 
geworden  ist.  Das  ursprüngliche  Manuskript  hätte  man  allenfalls 
als  eine  schwärmerische,  mit  Beispielen  belegte  Predigt  gegen  deu 
Mammon,  wo  er  sich  auch  finde,  betrachten  können,  nicht  so  das 

1  Die  Akten  sind  auch  nicht  abschriftlich  im  Geheimen 
Staatsarchiv  zu  Berlin  erhalten. 


734  LESARTEN 

letzte.  Die  biblischen  Stellen  sowie  überhaupt  der  Schluß  sind  von 
Weidig  ..." 

Ferner  noch,  bei  einem  anderen  Verhör: 
"Das  Manuskript  dieser  F"lugsclirift  habe  ich  bei  Büchner  ins  Reine 
geschrieben,  weil  seine  eigene  Hand  durchaus  unleserlich  war  ... 
Ich  habe  indessen  nur  das  ursprüngliche  Manuskript,  wie  es  Büch- 
ner geliefert  hat,  abgeschrieben.  Ich  kann  auch  hier  noch  anführen, 
daß  der  Vorbericht  ebenfalls  von  Weidig  verfaßt  worden  ist.  Büch- 
ner war  über  die  Veränderung,  welche  Weidig  mit  der  Schrift  vor- 
genommen hatte,  außerordentlich  aufgebracht;  er  wollte  sie  nicht 
mehr  als  die  seinige  anerkennen  und  sagte,  daß  er  ihm  gerade  das, 
worauf  er  das  meiste  Gewicht  gelegt  habe,  und  wodurch  alles  an- 
dere gleichsam  legitimiert  werde,  durchgestrichen  habe." 
Um  Büchners  Unwillen  über  Weidigs  Eigenmächtigkeiten 
gerecht  zu  werden,  mußte,  wenn  auch  nicht  die  ursprüng- 
liche Fassung  wiederhergestellt  werden  konnte,  doch 
wenigstens  versucht  werden,  die  Weidigschen  Änderungen 
von  dem  echt  Büchnerischen  Texte  abzuheben.  Das  ist 
auf  Grund  der  gerichtlichen  Angaben  Beckers  sowie  auf 
Grund  stilistischer  Momente  geschehen,  indem  die  von 
Büchner  allem  Anschein  nach  nicht  herrührenden  Stellen 
kursiv  gesetzt  wurden;  die  nähere  Begründung  für  die 
Unterscheidung  im  einzelnen  bringen  die  Lesarten. 
B:  neue,  durch  Weidig  nochmals  veränderte  Auflage,  dies- 
mal in  Marburg  gedruckt.  Ein  Exemplar  dieses  Zweitdruk- 
kes  existiert  offenbar  nicht  mehr,  obwohl  er  dem  Gericht 
seinerzeit  vorgelegen  hat.  Aus  Nöllners  "Aktenmäßiger 
Darlegung"  ist  nur  eine,  von  dem  früheren  Wortlaut  ziem- 
lich abweichende  Fassung  aus  dem  Anfang  der  Flugschrift 
bekannt  (Lesarten  165  26-36);  der  vollkommen  geänderte 
Schluß  wird  aus  h  entnommen  werden  können, 
h:  Quartbogen  (4  Seiten)  vergilbten  glatten  Papiers,  voll- 
beschrieben, doch  mit  Rand,  nicht  paginiert.  Die  Schrift 
ist  weder  die  Hand  Georg  Büchners  noch  die  Ludwig 
Weidigs^  und  gewiß  auch  nicht  die  August  Beckers;  auch 
Ludwig  Büchner  schreibt  in  Briefen  etwas  anders^  und 
doch  wird  das  Schriftstück  mit  den  Vorbereitungen  zu  der 
Ausgabe  N  in  Verbindung  zu  bringen  sein.  Denn  h  stellt 

^  Festgestellt  an  Hand  einer  von  Weidig  ausgestellten 
Quittung,  die  sich  in  Butzbacher  Privatbesitz  befindet. — 
"■  Wie  die  in  der  Staatsbibliothek  zu  Berlin  aufbewahrten 
Briefe  Ludwig  Büchners  dartun;  noch  weniger  kann 
Luise  Büchners  Hand  in  Frage  kommen. 


DER  HESSISCHE  LANDBOTE  735 

nur,  wie  seine  ursprüngliche  Überschrift  besagt,  Bruch- 
stücke einer  Flugschrift  aus  1834  dar,  und  zu  welch  an- 
derem Zweck  könnte  dieser  Auszug  gemacht  worden 
sein  als  zur  Wiedergabe  in  N?  Tatsächlich  wagt  ja  Ludwig 
Büchner  nur  einen  fragmentarischen  Abdruck  des  'Land- 
boten' in  seiner  Ausgabe,  aber  freilich  fällt  dieser  dann 
wesentlich  umfangreicher  aus.  Und  doch  sind  Beziehun- 
gen da  zwischen  h  und  N,  die  erklärt  werden  müssen: 
i.ist  die  ursprüngliche  Überschrift  von  h  durchstrichen  und 

mit  anderer  Tinte  dafür  die  von  N  eingesetzt:  "Der sehe 

Landbote.    Erste  Botschaft ,  im  Juli  1834";  2.  stimmt 

N  in  einigen  Lesarten  im  Gegensatz  zu  A  mit  h  überein; 
3.  sind  diese  Abweichungen,  soweit  man  aus  dem  bekannten 
Wortlaut  von  B  urteilen  kann,  mit  B  identisch.  Die  Sache 
wird  also  wohl  so  liegen,  daß  der  Auszug  h  aus  B  statt 
aus  A  vorgenommen  worden  ist  und  mit  dieser  mehr  Wei- 
digschen  Fassung  für  eine  Ausgabe  Georg  Büchners  wenig 
geeignet  war;  es  wird  deshalb  ein  neuer  Auszug  nach  A 
gemacht  worden  sein,  und  dieser  ist  zugleich  bedeutend 
umfangreicher  ausgefallen,  weil  man  wohl  einsah,  daß  ein 
so  kärglicher  Auszug  wie  h  kein  Bild  von  der  Flugschrift 
Büchners  geben  konnte.  Wie  dem  aber  auch  sein  mag,  so 
viel  darf  als  feststehend  angenommen  werden,  daß  der 
gänzlich  anders  lautende  Schluß  von  h  (deutsche  Reichs- 
idee! vgl.  Lesart  zu  17711-39)  der  Weidigschen  Fassung  von 
B  entstammt. 

N:  der  von  Ludwig  Büchner  für  seine  Ausgabe  endgültig 
gewählte  Auszug  aus  A,  in  den  sich  jedoch  einige  Lesarten 
aus  B  verirrt  haben;  auch  von  den  Milderungen  der  A-Fas- 
sung  mögen  nicht  alle  eigenmächtig  von  Ludwdg  Büchner 
aus  Furcht  vor  der  Zensur  vorgenommen  worden  sein, 
sondern  manche  auf  B  zurückgehen. 

F:  schon  Franzos  hat  in  seiner  "Anmerkung  zum  'Land- 
boten'" versucht,  die  von  Weidig  herrührenden  Stellen 
als  solche  festzustellen  (S.  285  f.);  wo  seine  Auffassung  von 
unserer  abweicht,  ist  dies  unter  den  Lesarten  vermerkt 
worden. 

D:  Eduard  Davids  Ausgabe  des  'Landboten'  in  der  "Samm- 
lung gesellschaftswissenschaftlicher  Aufsätze,  10.  Heft, 
München  1896".  David  unternimmt  es  bereits,  die  Weidig- 
schen Stellen  im  Text  durch  Anwendung  verschiedener 
Druckt^^pen  von  Büchners  Fassung  zu  unterscheiden.  Er 


736  LESARTEN 

alles  Erreichbare.  Auch  seine  Abweichungen  von  unserer 
Auffassung  sind  unten  verzeichnet  worden. 
Für  die  Textherstellung  kam  nur  A,  mit  Benutzung  von 
F  und  D,  in  Betracht;  doch  wird  man  auch  die  Lesarten 
der  noch  unbekannten  Handschrift  h  kennen  lernen  wollen, 
und  so  werden  diese  im  folgenden  mitverzeichnet,  wobei 
auch  B  und  N,  soweit  letzteres  mit  h  übereinstimmt,  be- 
rücksichtigt sind.  Hingegen  sind  die  bloßen  Druck-  und 
Satzfehler  von  A  weder  hier  verzeichnet  noch  in  den  Text 
übernommen  worden. 

S.  165.  1-18  3:{tel  unb  33orbend^t  üou  2Beib{g  na6)  ^Seders  5In< 
gaben  (S.733f.);  ber  3;itel  lautet  Bruchstücke  einer  Flugschrift 
aus  1834  in  h,  i[t  aber  [päter  mit  anberer  Xtnte  geftri^en  unb 

buri^  ben  ZiUl  von  X  erfe^t  roorben:  Der sehe  Landbote. 

Erste  Botschaft ,  im  JuH  1834;  ber  93orben(^t  fe^Il  hN 

19  bas  9JZDtlo  [(^reiben  FD  SBeibtg  gu,  getot^  mit  Hnrc^t;  ber 
3?uf  entstammt  ber  fran5.  Jieoolutton^  unb  rotrb  aI[o  com  I)id)tcr 
bes  'Danton'  als  urfprünglic^e  Öberf^rift  getoä^li  loorben  [ein 
20-25  Don  SBeibig,  benn  bei  91öIIner  a.  a.  D.,  6.  106  als  Se» 
laftungsftelle  gegen  i^n  angeführt  |  22  Fürsten  und  Großen  h  | 
20 ff.  SBü^neri[(^,  bes^alb  in  B  von  2Betbtg  geönbert;  ogl.  au^ 
14 10 ff.  unb  bie  Sauern  in  '£eonce'  (S.  134  f.) !  26  Vornehmen  üon 
Sßeibig  an  Stelle  ber  S^etd^en  f)ier  roie  [onft  naä)  Sedfer  (8.  733) 
eingefe^t;  Fürsten  Bh  j  26-28  sie  wohnen  bis  eine  eigne 
Sprache  f e^It  B  h  |  so  der  Beamte  des  Fürsten  [tatt  der  Vor- 
nehme Bh  I  31  hinter  dem  Bauer  BhN  |  dem  Ochsen  B  | 
32  der  Fürst  nimmt  Bh  |  läßt  dem  Volke  B  läßt  dem  Volk 
h  1  35 f.  auf  dem  Tische  des  Zv/ingherrn  BhN  j  37 ff.  alles 
Stattftif^e  :^ter  töte  fpäter  t)on  58ü(^ner,  naä)  Scdfer  (S.  733)  | 
37 — 166 12  Im  Großherzogtum  bis  im  Staat  zu  erhalten. 
fel^It  h  1  38  6,  363,  364  Gulden  A:  Drud-  ober  9?ed^enfe]^Ier. 
(5.  166.  7  6,  363,  363  fl.  A:  ogl.  16538  |  13  nun  fef)It  h  |  für  ein 
gewaltiges  hN  |  20—171 33  Seht  nun  bis  16000  Gulden.  fe^Ith. 
S.  168.  10-14  Und  will  endlich  bis  selber  geschunden,  offenbar 
ein  abf^töädienber  !^n]ci^  oon  Sßeibig,  {ebod^  oon  FD  nt(^t  als 
[ol^er  anerfannt. 

S.  169.  21-26  In  Deutschland  bis  teuer  bezahlen;  denn  abfc^toa^ 
d)enber  3u[<^^  SBeibigs,  oon  bem  bie  Stbelftellen  na^  Seder 
(S.  734)  ftammen;  mit  ber  Statifti!  [e^t  toteber  Süi^ner  ein. 

^  Der  1794  in  ber  5teüoIution  umgefommene  Scf)rift[teIIer  (£^am= 
fort  [oll  i^n  in  umgete^rter  Sa^folge  geprägt  ^aben:  Krieg  den 
Palästen,  Friede  den  Hütten! 


DER  HESSISCHE  LANDBOTE  737 

S.  170.  i^J-i'J  Wehe  über  euch  bis  eure  Kinder,  offenbar  ein 
nltteftamcntlirfjes  Silb  üon  iBelbip,  bas  fcl)Icc^t  511  bem  folfleubeii 
58ilbe  bes  9JU'bi3tner5  23üci)ner  pafjt;  FD  ertennen  nur  in  lyf. 
SBeibigs  Eigentum. 

S.  171.  Ö-32  Das  alles  duldet  ihr  bis  Das  Teil  von  Judas!  5Iod) 
ber  unmittelbar  oor^erge^enbc  9alj  ift  5a)eifelIo5  uon  33iuf)ner 
(ogl.  bie  Sauernfjene  in  'l'eonce'!);  'bamx  aber  fe^t,  faft  unocrtenn- 
bar,  'iüeibigs  poftörlic^cr  %m\  <t\\\  {Vater  der  Lügen,  unser  liebes 
Vaterland  n\w.),  unb  auc^  bie  Propagierung  ber  beut|d)en  9?ei(^ss 
ibee  ftimmt  nieF)r  ju  2Beibig  als  3U  Sü^ner.  FD  fe^en  nur  in  ben 
brei  legten  3eilcn  Die  Heilige  Schrift  sagt  ufco.  ÜBorte  iüeibigs. 
(5.  172.  3  Keiner  erbt  mit  der  Geburt  vor  dem  Andern  h 
Keiner  erbt  durch  die  Geburt  vor  dem  Anderen  N  |  5 ff. 
ed)t  Süi^nerifc^:  ogl.  668 12  f.  15  am  Volk  h  ly  über  der  Voll- 
ziehung h  I  22  Gesetzgebung  h  |  23  Volke  h  |  26  über  der 
ersten  Königsleiche  den  Hals  brechen:  Dantonftil!  |  27  Frei- 
heitsrufe h  I  30  f.  im  Lande  schlug  sich  h  |  -.v-i  die  Söldlinge 
h  I  34  im  Blute  h  X. 

S.  173.  2  dickwanstigen:  ec^t  SücQnerifd)  (ogl.  431 20)  |  3 f.  vom 
erblichen  Götzendienst  der  Königslierrschaft  h  3  den  Men- 
schen h  14  richteten  sich  zum  A  rüsteten  sich  zum  hX;  folglirf) 
in  A  nur  ein  Drndfe^Ier,  fo  ha^  ber  3:ejEt  oorn  nac^  hX  berichtigt 
roerben  mu^  24 — 17437  Detm  was  sind  diese  Verfassungen  bis 
euch  ergeben  hattet.  fef)It  h  ]  30 ff.  über  bie  Wahlgesetze  f)at  ]\ä) 
SBü^ner  au^  fonft  geäußert:  ogl.  607  21  ff.  :j7— 175  38  Denkt  an  die 
Verfassung  bis  Aber  ihr  Maß  ist  voll!  ^ad)bem  oon  ben  ^yerfaffun« 
gen  fdjon  24 ff.  bie  5^ebe  gecoefen  unb  bann  fpejiell  oom  2Baf;I= 
gefe^  gefproi^en  roorben,  bebeutet  es  einen  5^üd|c^ritt,  roenn  nun 
nochmals  au5füF)rli(^  auf  bie  Ü^erfaffung  $effens  eingegangen  wirb; 
roar  bo^  au^  fc^on  oon  ber  UnoerIet5lid)feit  bes  (öroB^er3og5 
169 f.  bie  5?ebe,  unb  au^  bie  Grroä^nung  oon  ber  ^orioeigerung 
ber  3tDei  ^Jlillionen  COuIben  174 20 ff.  bebeutet  eine  iBicber= 
^oliing  oon  17336.  Überhaupt  ift  bie  Darftellung  ber  gan3en 
Stelle  bis  17538  auBerorbenllic^  breit  unb  matt  gegenüber  bor 
prägnanten  Äür3e  ^ßü^ners;  ber  paftörlid)e  Son  flingt  auc^  aufeer- 
^alb  ber  ^ßibelftellen  öfters  burc^.  Die  beträd}tlid)e  i^ängc  biefes 
2ßeibtgfc^en  CSrfa^ftüdes  aber  ertlätt  fic^  baraus,  ^icii^  roir  ^ier  an  ber 
Stelle  fte^en,  roo  fid)  33üd)ncr,  im  ^rnfc^luß  a\\  bie  Grmä^nung  (örol-- 
manns  unb  jenes  fianbtagsfampfes,  gegen  bie  fogenannten  liberalen 
Qusgelaffen  \)a\,  loas  SBeibig  na^  Seders  ^usfage  (S.  733)  burc^ 
anberes  blo^  auf  bie  ^irffamfeit  ber  fonftitutionellen  ^erfaffung 
33e3uglic^e5  erfe^t  t)at.  F  erfennt  2Beibigfd)en  Stil  nur  in  1743s- 
17527  {Der  Herr  bis  schunden)  unb  175 3!- js  {Er  hat  eine  Zeit- 

BÜCHNER  47. 


738  LESARTEN 


bis  Knechtschaft.),  D  {ebod)  in  174;!.' — 176:^9  {^md  von  der 
Furcht  des  Herrn  bis  ist  eitel  Schinderei.  [[.  u.])  |  :i!>f.  unserer 
einheimischen  Tyrannen  fcf)It  h. 

S.  175.  1  Volkes  h  |  2  diese  Gewalthaber  h  |  4— 176:iß  Gott 
ivird  bis  ein  seJir  groß  Heer."  ]i\)\i  h  |  3« — 1768  Sehet  an  bis 
zum  Segen  verordnet?"  [(i)reibt  D  5ü3cibin  311;  bagegen  [prid)t 
33üc^ners  briefliche  '^^(uf^erung  über  fiubiuig  Don  23ai)ern  559  1 1  ff. 
(5.  176.  9-12  bie  ^erfe  finb  SBü^netifd)es  ^^xiai  ^Bürgers  (ogl. 
5?eg.),  finb  alfo  3U  Unrecbt  in  S^urfiofc^rift  gefetzt  |  i3-:J9  Idi 
sage  euch  bis  ist  eitel  Schinderei.  fd)on  bur^  bie  üielen  23ibel= 
5itote  als  ^>Qftorengut  gefennselcbnet;  erft  mit  ber  Slatiftif  fäi^rt 
93iic^jner  fort  |  Vo  Ich  sage  euch  bis  Maß  ist  voll,  oon  F,  ent- 
fprecl)enb  175  38,  ^ü(^ner  sugef^ricben  |  37  Wie  der  Prophet 
schreibet  feljlt  hN  |  37 f.  Also  stehet  es  in  Deutschland;  eure  h 
Also  stand  es  bisher  in  Deutschland;  eure  N  |  38 — 1778  denn  die 
Ordnung  bis  Land  und  Volk,  fel^lt  h  |  38 — 177  4  sind  ''verdor- 
ret", wie  der  Prophet  schreibt.  Ihr  seid  nichts  N. 
(3.  177.  6-11  So  weit  ein  Tyrann  bis  großes  Heer  sein.  (Segen 
bie  3:t)rannen  tämpft  SBeibig,  93ütE)ner  gegen  ben  9[)lammon;  qu^ 
nimmt  verdorret  Land  und  Volk  bas  ^xopfietenßitat  uon  176  w  f. 
töiebcr  anf.  Xro^bem  laffen  FD  cr[t  uon  8  an  {Aber  wie  der 
Prophet)  äBeibigfcben  Xeit  beginnen  |  8f.  Aber  der  Tag 
der  Auferstelmngh.  \  11-39  Heer  sein.  Dann  wird  der  Hesse 
dem  Thüringer,  der  Rheinländer  dem  Schwaben,  der  Westphale 
dem  Sachsen,  der  Tyroler  dem  Baier  die  Bruderhand  reichen. 
Die  besten  Männer  aller  Stämme  des  großen  deutschen  Vater- 
lands werden,  berufen  durch  die  freie  Wahl  ihrer  Mitbürger, 
im  Herzen  von  Deutschland  zu  einem  großen  Reichs-  und 
Volkstage  sich  versammeln,  um  christlich  über  Brüder  zu 
regieren,  h  |  12-27  Hebt  die  Augen  bis  mit  euch  aufstehen 
\)ä\i  F  für  2Borte  SBeibigs,  aber  bas  ftatiftifc^e  ^Irgument  rül;rt 
bücf)  töD^I  lieber  Don  Sü^ner  I^er,  unb  uor  allem  fommt  natur= 
lid)  bem  aUebisiner  bas  ©ilb  von  ber  Scheinleiche  5U,  bie  zu 
zucken  anfängt;  letjteres  gilt  aud)  gegen  D,  bas  SBeibig  mit  17 
Wohl  drohen  sie  beginnen  läf^t  |  2S-39  Ihr  bücktet  euch  bis 
Amen.  paftörlid)er  Sc^Inf^,  ber  and)  nad)  5Beder  (S.  734)  von 
SBeibig  Ijerrüfjrt. 


>  739  ^ 
NATURWISSENSCHAFTLICHE  UNI)  PHILOSOPHI- 
SCHE SCHRIFTEN  (S.  179—367). 


DIE  chronologische  Aiioydiiniig  der  wissenschaftlichen 
Schriften  bereitet  insofern  Schwierigkeiten,  als  Büch- 
ners naturwissenschaftliches  und  philosophisches  Interesse 
lange  Zeit  gleich  stark  gewesen  zu  sein  scheint  und  selbst 
schwer  zu  entscheiden  ist,  welche  seiner  ersten  wissenschaft- 
lichen Arbeiten  auch  nur  zeitlich  den  Vorrang  hat.  Nach 
einer  mündlichen  Äußerung  Büchners  (S.  605)  ist  er  sich 
über  seinen  Beruf  nie  im  Zweifel  gewesen,  aber  nach  einer 
persönlichen  Erinnerung  des  Kantonalstabsarztes  Dr.  Lü- 
ning  wäreBüchner  noch  kurz  vor  Antritt  seinerVo riesungen 
in  Zürich  schwankend  gewesen,  ob  er  sich  "der  spekulati- 
venPhilosophie  oder  der  beobachtendenXaturwissenschaft 
zuwenden  solle"  (S.  642).^  Die  Briefe  der  Zeit  geben  keine 
ganz  klare  Auskunft  darüber.  In  dem  ersten  Brief  nach 
derFlucht  ausDeutschland  wird  programmatisch  geäußert: 
"Ich  werde  das  Studium  der  medizinisch-philosophischen 
Wissenschaften  mit  der  größten  Anstrengung  betreiben, 
und  auf  dem  Felde  ist  noch  Raum  genug,  um  etwas  Tüch- 
tiges zu  leisten"  (S.  544).  Hier  wird  also  nur  an  das  natur- 
wissenschaftliche Studium  gedacht.  Im  Oktober  35  sieht 
sich  aber  Büchner,  offenbar  um  das  Züricher  Doktordiplom 
zu  erlangen,  "nach  Stoff  zu  einer  Abhandlung  über  einen 
philosophischen  oder  naturhistorischen  Gegenstand  um" 
(S.  557)-  Das  erste  Schwanken  zeigt  sich  demnach  bei  der 
Anstellungsfrage.  In  dem  Brief  an  Gutzkow,  der  wahr- 
scheinlich vom  Ende  35  stammt,  schreibt  Büchner  dann 
zum  erstenmal  vom  "Studium  der  Philosophie"  (S.  559), 
und  der  nächste  Brief  an  Gutzkow  gibt  eine  nähere  Aus- 
kunft darüber:  er  gedenkt  Herbst  36  in  Zürich  "einen  Kurs 
über  die  Entwicklung  der  deutschen  Philosophie  seit  Car- 
tesius"  (S.  562)  zu  lesen.  Während  er  sich  dazu  offenbar 
noch  vorbereitet,  ist  jedoch  die  "Abhandlung",  die  ihm 

1  Dazu  stimmt  X,  S.  ^>,7:  "Am  18.  Okt.  iS;^6  reiste  Büchner 
nach  Zürich,  vorbereitet  auf  zwei  Lehrkurse,  einen  über 
vergleichende  Anatomie,  den  anderen  über  Philosophie. 
Dem  letzteren  gab  seine  eigene  Neigung  den  Vorzug;  doch 
da  Professor  Bobrik  bereits  philosophische  Vorlesungen 
angekündigt  hatte,  so  sparte  er,  um  CoUisionen  zu  ver- 
me'iden,  diesen  Plan  für  das  folgende  Sommersemester  auf 
und  entschloß  sich  zur  vergleichenden  Anatomie." 


740  LESARTEN 

den  Doktorhut  verschaffen  soll,  längst  fertig;  denn  das  ist 
die  Schrift  "sur  le  Systeme  nerveux  du  barbeau"  (S.  641), 
die  er  bereits  im  April  und  Mai  in  der  Naturwissenschaft- 
lichen Gesellschaft  zu  Straßburg  vorgelesen  und  danach 
an  die  Züricher  Fakultät  gesandt  hat.  Demnach  wird  man 
die  Entstehung  der  naturwissenschaftlichen  Abhandlung 
früher  anzusetzen  haben  als  die  Abfassung  der  philosophi- 
schen Vorlesungen,  von  denen  die  Spinoza-Arbeit  sogar 
erst  im  Brief  vom  2.  Sept.  ^6  namentlich  erwähnt  wird. — 
Von  den  beiden  philosophischen  Vorlesungen  stellt  Fran- 
zos  den  Spinoza  voran,  und  er  beruft  sich  dabei  auf  eine 
Bemerkung  Büchners,  die  er  aber  nicht  näher  angibt  (F, 
S.  319).  In  Büchners  Briefen  w^ird  zuerst  Cartesius  er- 
wähnt (s.  o.)  und  erst  im  Brief  vom  2.  Sept.  s^  auch  Spi- 
noza genannt.  Da  auch  inhaltlich  ein  Teil  der  Spinoza- 
Arbeit  eine  eingehende  Beschäftigung  mit  Cartesius  vor- 
aussetzt (vgl.  S.  747),  ist  hier  im  Gegensatz  zu  F  die  natür- 
liche Folge  auch  für  die  chronologische  angesehen  worden. 

Nicht  aufgenommen  ist  die  GESCHICHTE  DER  GRIECHI- 
SCHEN PHILOSOPHIE.  Sie  steht  auf  einem  Manuskript 
von  34  Doppelbogenlagen  (je  8  Seiten,  lagenweis  gezählt 
sogenannten  Büttenpapiers  (verschiedener  Qualität:  Lage 
12-14,  ^7'  25 f.  mit  Wasserzeichen),  umfaßt  also,  die  vier 
letzten  leergebliebenen  Seiten  abgerechnet,  268  Seiten,  bei 
freigelassenem  breitem  Rande  freilich.  Doch  nicht  der 
Umfang  des  Manuskripts  schloß  es  von  dieser  Ausgabe 
aus,  sondern  die  Tatsache,  daß  sein  Inhalt  keine  selb- 
ständige Arbeit  Büchners  darstellt.  Auch  nicht  einmal  in 
dem  von  Franzos,  a.a.O.  S.  3i8f.  geäußerten  Sinne,  das 
Ganze  wäre  "eine  mit  staunenswertem  Fleiße  zusammen- 
getragene, überaus  gewissenhafte  Arbeit,  welche  durch- 
weg aus  den  Quellen  schöpft  und  mit  größter  Objek- 
tivität referiert".  Das  ganze  Manuskript  ist  nämhch,  wie 
sich  bei  näherem  Zusehen  herausstellt,  nichts  weiter  als  ein 
kurzer  Abriß  von  den  drei  ersten  Bänden  der  "Geschichte 
der  Philosophie"  Wilhelm  Gottlieb  Tennemanns  (1798, 
1799,  1801),  mit  oft  wörtlicher  Wiedergabe  und  derart  ab- 
hängig, daß  Büchner  eine  gelegentliche  eigene  Äußerung 
a]s  nicht  zur  Abschrift  gehörig  in  Klammern  dazusetzt! 
Zum  Beweis  dafür  vergleiche  man  die  in  F,  S.  303ff.  mit- 
geteilten, übrigens  nicht  ganz  wörtHch  aus  dem  Manu- 
skript wiedergegebejien  Proben  über  Thaies  und  Epikur 
mit  Tennemann  1,  S.  55-63  und  III,  S.  358-366;  dort  stehn 


NATURWISS.  UND  PHILOS.  SCHRIFTEN    741 

auch  alle  die  Quellen  verzeichnet,  deren  Angabe  Büchner, 
was  Franzos  zu  seinem  Irrtum  offenbar  verleitete,  eben- 
falls übernommen  hat.  Eine  sorgfältige  Vergleichung  des 
ganzen  Manuskripts  mit  Tennemanns  genannten  drei  Bän- 
den ergab,  daß  so  gut  wie  nichts  übrigbleibt,  was  man  für 
Büchnerisch  gelten  lassen  könnte.  Nur  hier  und  da  wird 
die  Tennemannsche  Anordnung  im  Detail  etwas  geändert, 
wohl  auch,  wie  schon  erwähnt,  eine  eigene  Bemerkung 
gelegentlich  eingeschaltet  (z.  B.  Hinweis  auf  Spinoza  bei 
Xenophanes)  oder,  was  ja  immerhin  bezeichnend  ist,  eiber 
doch  nur  ein  paarmal  vorkommt,  die  Tennemannsche 
Charakterisierung  eines  Lüstlings  gemildert^;  all  das  aber 
hebt  die  Arbeit  kaum  über  das  Niveau  einer  bloßen  Ab- 
schrift und  hätte  ihren  Abdruck  gewiß  nicht  gerechtfertigt. 
Diese  Abschrift  kann  nur  den  Zweck  gehabt  haben,  die 
Anschaffung  des  Tennemann  selbst  zu  ersparen;  eine  eigene 
Vorarbeit  für  Vorlesungen  über  die  Geschichte  der  griechi- 
schen Philosophie  war  damit  auch  nicht  entfernt  geleistet. 


MEMOIRE  SUR  LE  SYSTEME  NERVEUX  DU 
BARBEAU  (S.  181—250). 


Dem  Text  ist,  da  sich  handschriftliches  Material  zu  dieser 
Vorlesung  nicht  erhalten  hat,  die  allein  erschienene  Aus- 
gabe in  den  "Memoires  de  la  Societe  d'histoire  naturelle 
de  Straßbourg"  (Exemplar  in  der  Staatsbibliothek  zu  Ber- 
lin) zugrundegelegt;  nur  die  Verweise  auf  die  Abbildungen 
sind  nicht  mit  aufgenommen,  da  die  jenem  Erstdruck  bei- 
gegebene Tafel  mit  achtzehn,  von  Büchner  selbst  ge- 
zeichneten Figuren  nicht  berücksichtigt  werden  konnte. 
In  deutscher  Übertragung,  der  diese  Schrift  mit  Rücksicht 
auf  ihren  Verfasser  wohl  wert  wäre,  ist  nur  ein  winziger 
Bruchteil  aus  Ludwig  Büchners  Feder  in  F  (S.  2961.)  er- 
schienen. 

1  Prodicus  war  nach  Tennemann  I,  -})y6,  ''sehr  gewinnsüch- 
tig und  ein  großer  Wollüstling",  Büchnern  liingegen  ist  er 
"ein  behaglicher  Epikuräer";  desgleichen  nennt  er  Aristipp 
einen  "behaglichen  Genießer",  an  dem  Sokrates  nach  Jen- 
nemann  II,  S.  103  "einen  zu  großen  Hang  zur  Weichlich- 
keii,  zum  Vergnügen  und  Wohlleben"  bemerkte. 


)  742  c 
CARTESIUS  (S.  251-320). 


Der  Abdruck  erfolgte  nach  der  in  Büchners  Nachlaß  be- 
findlichen Handschrift 

H:  23  Doppelbogen  (Lagen  von  je  8  Seiten)  von  nicht 
ganz  gleichmäßigem  Quartformat,  lagenweis  gezählt;  das 
verwandte  Büttenpapier  ist  verschiedenartig,  überwiegend 
grauweiß,  gelb  jedoch  bei  den  inliegenden  Bogen  der 
Lagen  7,  8  sowie  bei  den  Lagen  10-12;  nur  diese  Lagen 
(außer  7)  haben  Wasserzeichen,  und  zwar  der  gelbe 
Bogen  von  8  das  Wappen  der  gelben  Danton -Bogen, 
die  inliegenden  Bogen  der  Lagen  10-12  hingegen  die 
Buchstaben  MAB.  Bei  breitem  freiem  Rande,  der  aber 
nicht  selten  zu  mehr  oder  minder  ausführlichen  Nach- 
trägen benutzt  worden  ist,  ist  das  Manuskript  von  der 
ersten  Seite  bis  zur  fünften  der  letzten  Lage  beschrieben 
(Schrift  sehr  ungleichmäßig)  und  offenbar  vollständig;  der 
Titel  "Cartesius"  steht  nicht  auf  besonderem  Blatte,  son- 
dern über  dem  Text  der  i.  Seite,  der  außerdem  noch  den 
Untertitel  "Principia  Philosophiae"  trägt. 
Der  Abdruck  ist  bis  S.  302  vollständig,  nur  daß  die  aus- 
führlichen lateinischen  Zitate  aus  Descartes'  Schriften  nicht 
in  extenso  wiedergegeben  sind:  hier  genügte  die  Umschrei- 
bung des  betreffenden  Zitats  durch  seinen  Anfang  und  sein 
Ende,  nötigenfalls  mit  genauer  Angabe  der  Descartes- 
Stelle  in  eckigen  Klammern.  Zum  Unterschied  von  Büch- 
ners Text  sind  diese  lateinischen  Zitate  in  Kursivschrift 
gesetzt  worden;  desgleichen  aber  auch  alle  die  Stellen,  die 
I3üchner  in  H  unterstrichen  hat,  also  im  Vortrag  hervor- 
gehoben wissen  wollte.  Was  Büchner  am  Rande  anmerkt 
oder  nachträgt,  steht  mit  dem  Vermerk  a.  R.  am  Fuß  des 
Textes  dieser  Ausgabe.  Hingegen  sind  alle  handschrift- 
lichen Korrekturen  hier  ebensowenig  wie  bei  der  Spinoza- 
Arbeit  wiedergegeben,  weil  solche  Ai^ribic  den  philosophi- 
schen Arbeiten  Büchners  eine  Bedeutung  beilegen  würde, 
die  ihnen  denn  doch  nicht  zukommt. 

Büchner  ist  nämlich  auch  in  diesen  Vorlesungen— daß  es 
sich  um  solche  handelt,  erweist  der  persönliche  Vortrags- 
ton— durchaus  nicht  selbständig.  Wenigstens  für  den  Car- 
tesius hat  er  wiederum  Tennemann,  und  zwar  hauptsäch- 
lich Bd.  X,  S.  228-263,  zugrunde  gelegt,  und  wenn  man 
darüber  im  Anfang  seiner  Vorlesung  leiclit  getäuscht  wird, 
so  nur  deshalb,  weil  er  hier  auch  den  S.  257  zitierten  Ju- 


CARTESIUS  743 

hannes  Kuhn  (Jacobi  u.  die  Philosophie  seiner  Zeit.  Mainz 
1834)  herangezogen  hat.'^  Aber  die  Art  der  Verarbeitung 
und  die  persönUche  Note  des  Vortrags,  die  allerdings  durch 
die  schöngeistige  Art  des  Lehrvortrags  eines  Kuhn  an- 
geregt sein  mag,  sind  doch  Büchners  Eigentum,  und  so 
konnte  dem  'Cartesius'  die  Aufnahme  in  unsere  Ausgabe 
nicht  verweigert  werden.  Auch  macht  sich  Büchner  zeit- 
weilig vollkommen  frei  von  Tennemann,  so  wenn  er,  im 
Gegensatz  zu  diesem  und  seinem  eigenen  Interesse  fol- 
gend, sich  eingehend  mit  Descartes'  Lehre  von  der  Funk- 
tion der  Nerven  beschäftigt  (S.  298-302)  oder  auch  das 
geistige  Ringen  Descartes'  mit  seinen  Gegnern  in  den"Ob- 
jectiones  et  Responsiones"  (S.  303-20)  ausführlich  wieder- 
gibt. 

Nicht  aufgenommen  wurde  jedoch  der  kurze  Lebensabriß 
von  Descartes,  der  auf  sechs  Manuskriptseiten  steht  (XV, 
4-9)  und  sich  an  S.  302  dieser  Ausgabe  anschließt:  er  ist 
weiter  nichts  als  ein  Auszug  von  Tennemann  X,  S.  200-215. 
Und  vollkommen  abhängig  von  Tennemann  (X,  S.  285- 
374)  ist  endlich  auch  die  Darstellung  von  Descartes'  Nach- 
folgern (Geulinx,  Bekker  und  namenthch  Malebranche), 
die  in  H  28  Seiten  einnimmt  (XX,  4 — XXIII,  5)  und  hier  auf 
S.  320  folgen  würde;  auch  dieser  Schlußteil  des  Manu- 
skriptes ist  wertlos  für  die  Erkenntnis  Büchnerischer  Denk- 
weise und  deshalb  weggeblieben. 

Berichtigungen 
(3. 256  Reifet  ber  unleferli^e  ^tusbrud  5Bü(^ner5,  für  ben  ^icr  [Vor- 
dersatz] eingefe^t  t[t,  Obersatz. 

<5.  315.  V.)  lies  hinreichend  für  sinnreicher,  benn  [o  [te^t  bei 
3:ennemann  X,  275. 

1  Man  vergleiche  S.  253-257  mit  Kuhn,  a.  a.  O.,  S.  78ff.;  auch 
die  erste  Randbemerkung  vom  Neid  des  Philosophen  auf 
den  Mathematiker,  die  man  öfters  als  Bonmot  Büchners 
angeführt  hat,  ist  Kuhns  Eigentum  (a.  a.  O.,  S.  65),  und  vor 
allem  stammt  auch  die  Stelle  gegen  Hegel  und  Hotho,  die 
Büchner  selbst  vielleicht  gar  nicht  gelesen,  \on  Kuhn 
(a.  a.  O.,  S.70). 


>  744  C 
SPINOZA  (S.  321— 352J. 


Folgende  Handschriften  über  Spinoza  haben  sich  in  Büch- 
ners Nachlaß  erhalten: 

H:  20  Doppelbogen  (Lagen  von  je  8  Seiten)  von  nicht  ganz 
gleichmäßigem  Quartformat,^  lagenweis  gezählt  (jedoch 
mit  dem  Zählfehler,  daß  die  15.  Lage  noch  einmal  als  XIV 
gezählt  ist,  wodurch  auch  die  folgenden  Lagen  falsch  be- 
ziffert sind");  äußerlich  wie  inhaltlich  teilen  sich  diese 
20  Lagen  in  zwei  Gruppen: 

H^:  dieLagen  1-14  und  XIV  (d.  i.  15!)  umfassend;  dieBogen 
bestehen  aus  Büttenpapier,  das  mit  Ausnahme  der  dün- 
nern 7.  Lage  an  Stärke  und  Farbe  den  weißgrauen  Car- 
tesius-Bogen  gleicht;  die  einzelnen  Lagen  sind  geheftet 
und  haben  nicht  nur  auf  jeder  Seite  einen  freien  breiten 
Rand,  sondern  auch  innen  zwischen  je  zwei  Seiten  den 
sogenannten  Bundsteg;  die  Handschrift  ist  fast  auffal- 
lend groß  für  Büchner  und  überwiegend  sauber,  wenn 
auch  zuweilen  der  freie  Rand  zu  Nachträgen  herhalten 
muß;  der  Text  geht  bis  auf  die  dritte  Seite  der  letzten 
Lage,  von  der  also  noch  fünf  Seiten  leer  geblieben  sind, 
so  daß  H^  als  abgeschlossen  gelten  kann.  Das  erste  Blatt 
trägt  nur  den  Titel  "Spinoza"^,  auf  der  dritten  Seite 

1  Die  Lagen  1-5  sind  offenbar  beschnitten.  —  ^  dj^  gg. 
zifferuug  ist  bis  zur  13.  Lage  arabisch,  und  zwar  steht 
die  Zahl  rechts  oben  auf  dem  freien  Rande,  nur  bei 
der  13.  Lage  links  oben  am  sogenannten  Bundsteg;  die 
14.  Zahl  hat  wieder  rechts  die  arabische  Zahl,  aber  außer- 
dem links  die  römische,  die  15.  umgekehrt  rechts  die  rö- 
mische Zahl  XIV,  links  die  arabische  14;  die  übrigen  Lagen 
haben  nur  noch  rechts  die  römische  Zahl.  Daß  etwa  die 
Zählung  mit  römischen  Zahlen  nicht  von  Büchner  her- 
rührt, eine  für  die  zeitliche  Fixierung  von  H^  nicht  un- 
wichtige Frage,  erscheint  danach  ausgeschlossen;  Büchner 
beziffert  zwar  gewöhnlich  arabisch,  aber  in  der  Hand- 
schrift "Geschichte  der  griech.  Philosophie"  gelegentlich 
auch  einmal  (Lage  IV)  römisch.  Zur  Unterscheidung  der 
beiden  hier  in  H^  gleich  numerierten  i^agen  wird  die  wirk- 
liche 14.  Lage  mit  der  arabischen  Ziffer,  die  eigentlich  15. 
hingegen  als  XIV  angegeben. — ^  Auf  derselben  ersten  Seite 
steht  unten  rechts  von  fremder  Hand  mit  Bleistift  ge- 
schrieben, noch  jetzt  erkennbar:  "ä  Louis.  Le  4  Decembre 
1844";  diese  nachträgliche  (wohl  auf  Ludwig  Büchner  be- 
zügliche) Aufschrift  kann  nicht  daran  irremachen,  daß  die 
Handschrift  selbst  von  Georg  geschrieben  ist. 


SPINOZA  745 

folgt  der  Untertitel  "Ethik.  I.  Teil",^  und  dementspre- 
chend enthält  H^  die  Definitionen,  Axiomen  und  Pro- 
positionen des  ersten  Teils  derEthica,  aber  in  deutscher, 
und  zwar  eigener  Übertragung  und  mit  Anmerkungen 
zu  den  nach  Meinung  des  Übersetzers  anfechtbaren  oder 
erklärungsbedürftigen  einzelnen  Stücken.  Daß  es  sich 
bei  dieser  mit  Anmerkungen  begleiteten  Übertragung 
um  ein  Manuskript  für  Lehrzwecke  handelt,  ist  ange- 
sichts des  persönlichen  Vortragstons  {vgl.^^y  u)  durchaus 
wahrscheinlich,  und  demnach  wird  H^  in  die  Vorberei- 
tungszeit für  einen  Züricher  philosophischen  Lehrkursus 
zu  setzen  sein;  doch  steht  es  inhaltlich  unter  den  philo- 
sophischen Vorlesungen  vollkommen  isoliert  da  und  mag 
vielleicht  eher  als  Grundlage  für  eine  Seminarübung  über 
Spinozas  Ethik  denn  als  eigentliche  Vorlesung  zu  gelten 
haben. — Für  die  Aufnahme  in  unsere  Ausgabe  kamen  von 
dieser  Arbeit  nur  diejenigen  Stücke  in  Betracht,  in  denen 
Büchner  selber  kritisch  oder  wenigstens  glossatorisch 
Stellung  nimmt;  infolgedessen  sind  die  bloßen  Über- 
setzungen der  Definitionen  und  Axiome  und  auch  der- 
jenigen Propositionen,  zu  denen  Büchner  keine  Anmer- 
kungen beigesteuert  hat,  weggeblieben;  bei  den  aufge- 
nommenen glossierten  Propositionen  aber  ist  die  Über- 
setzung der  lateinischen  Vorlage  in  Kursivdruck  gesetzt, 
um  sie  von  dem  eigenen  Texte  Büchners  deutlicher  ab- 
zuheben. Daß  im  übrigen  Büchner  für  seine  Anmerkun- 
gen wiederum  Tennemann  zu  Rate  gezogen  haben  wird, 
darf  als  ausgemacht  gelten,  wenn  er  auch  angesichts 
der  rein  darstellerischen  Anlage  des  Tennemannschcn 
Werkes  bei  seinem  Kommentar  zu  einer  Übersetzung 
der  Ethik  zu  größerer  Selbständigkeit  von  vornherein 
gezwungen  war. 

H^:  die  Lagen  XV  (d.  i.  16)  bis  XIX  (20)  umfassend;  die 
Bogen  bestehen  aus  demselben  grauen  Konzeptpapier 
wie  die  Foliobogen  der  Woyzeck-Entwürfe,  sind  nicht 
geheftet  und  haben  nur  einen  breiten  Rand,  aber  keinen 
Bundsteg;  auch  die  viel  kleinere,  feinere  Schrift  erinnert 
mehr  an  die  Woyzeck-Handschrift  als  an  H^  (was  aber 
durch  das  Papier  mit  verursacht  sein  kann);  sämtliche 
Seiten  sind  voll  beschrieben,  außer  der  letzten,  ganz 
leer  gebliebenen,  so  daß  auch  dies  Manuskript  schein- 

^  Hier  S.  323  geändert  in  "Zur  Ethik",  da  nicht  die  ganze 
Übersetzung  des  ersten  Teils  wiedergegeben  wird  (s.  o.). 


746  LESARTEN 

bar  zum  Abschluß  gebracht  ist.  Die  erste  Seite  enthält 
keine  Überschrift,  sondern  beginnt  gleich  mit  dem  Text 
S.  338  dieser  Ausgabe,  als  ob  sie  sich  an  H^  anschlösse. 
Daß  dies,  trotz  der  fortlaufenden  Zählung  der  Lagen, 
nicht  der  Fall  ist,  lehrt  der  Inhalt  des  abgedruckten 
Teils  von  H^:  er  handelt  nur  von  den  Prinzipien  der 
Erkenntnislehre  Spinozas,  wie  sie  hauptsächlich  in  der 
Abhandlung  Dß  emendatione  intellectus  niedergelegt  sind. 
Viel  weiter  führt  auch  der  Rest  von  H^  (s.  u.)  nicht,  der 
nur  noch  3^4  Manuskriptseiten  einnimmt  und  zur  Meta- 
physik übergeht,  sich  dort  noch  einmal  mit  den  wich- 
tigsten Axiomen  und  Propositionen  Spinozas  zu  beschäf- 
tigen anschickt,  aber  sehr  bald  mit  einem  Zitate  aus 
Tennemann  abbricht.  Diese  Arbeit  ist  also  nicht  zu 
Ende  geführt  worden.  Beabsichtigt  war  offenbar  eine 
vollständige  Darstellung  der  Lehre  Spinozas,  und  zwar, 
wie  die  mehrfachen  Verweisungen  auf  Cartesius  und 
Malebranche  dartun,  im  Anschluß  an  die  Vorlesung  über 
Cartesius  und  dessen  Nachfolger,  von  denen  gerade 
Malebranche  eingehend,  wenn  auch  vollkommen  ab- 
hängig von  Tennemann  in  der  Cartesius-Arbeit  behan- 
delt ist.^  Der  Gang  der  geheferten  Darstellung  steht 
vollkommen  im  Einklang  mit  Tennemann  X,  S.  398-419; 
doch  geht  Büchner  im  einzelnen  zuweilen  selbständig 
vor,  so  wenn  er  sich  S.  345  f.  in  die  Polemik  mit  Kuhn, 
dessen  Buch  über  Jacobi  erst  nach  Tennemann  erschie- 
nen war,  einläßt  oder  noch  andere  Schriften  Spinozas 
als  die  von  Tennemann  zugrunde  gelegte  Abhandlung 
über  die  Verbesserung  des  Verstandes  für  die  Darlegung 
der  Erkenntnisprinzipien  heranzieht. — Der  Abdruck  im 
Text  beschränkt  sich  auf  den  in  sich  abgeschlossenen 
Teil  dieser  Vorlesung,  der  nach  allgemeiner  Einleitung 
die  Prinzipien  der  Erkenntnislehre  (Methodenlehre) 
Spinozas  behandelt;  immerhin  gibt  der  Rest  des  Manu- 
skripts noch  eine  gute  Vorstellung  von  der  Art,  wie 
Büchner  fortfahren  wollte,  und  so  mag  dies  Bruchstück 
von  der  Metaphysik  Spinozas  noch  als  Lesart  unten  ge- 
geben werden.  Im  übrigen  erfolgte  der  Abdruck  in  der 
schon  für  den  Cartesius  angegebenen  Weise;  für  die  aus- 
führlichen lateinischen  Zitate,  die  wiederum  nur  durch 
Anfang  und  Ende  umschrieben  wurden,  sind   diesmal 

1  Mindestens  H^  kann  also  auf  keinen  Fall  vor  der  Car- 
tesius-Vorlesung  geschrieben  sein. 


SPINOZA  747 

die  betreffenden  Stellen  der  zweibändigen  Spinoza- Aus- 
gabe von  Vloten  und  Land,  Haag  1882-83  in  eckigen 
Klammern  [V'L]  zugefügt  worden. 

Hh:  2  Doppelbogenlagen  in  Quartformat,  von  dünnem 
glattem  Papier  ohne  Wasserzeichen,  das  bis  auf  die  besser 
erhaltene  weißliche  Farbe  den  vergilbten  Blättern  des 
Leonce-Entwurfes  ähnlich  ist;^  ohne  Seiten-  oder  Lagen- 
zählung; bis  auf  das  letzte  Drittel  der  letzten  Seite  unter 
Freilassung  eines  breiten  Randes  voll  beschrieben,  mit 
sauberer  ziemlich  deutlicher  Handschrift,  ohneBetitelung. 
Leider  stellt  sich  jedoch  der  Inhalt  nur  als  eine  Abschrift 
heraus:  zunächst  von  Tennemann  X,  S.  472  ("Nach  dem 
Spinoza  sind  die  endlichen  Dinge  ...")  bis  S.  478  ("...  ohne 
welche  kein  Selbstbewußtsein  gedenkbar  ist."),  worauf  aus 
X,  S.  451  f.  das  Stück  "Vielleicht  könnte  durch  ein  allmäli- 
ges  Abnehmen  und  Schwinden  der  göttlichen  Kraft ..."  bis 
"...  sind  nur  Scheinbegriffe"  folgt;  daran  schheßt  sich  mit 
der  Überschrift  "Jacobi  über  die  Lehre  des  Spinoza"  das 
bei  Tennemann  X,  S.  452  in  einer  Fußnote  gegebene  Zitat, 
und  nun  folgt  endlich  mit  der  neuen  Überschrift  "Herbart ", 
die  größere  Hälfte  von  Hh  ausmachend,  abschriftlich  ein 
Auszug  aus  Herbarts  "Allgemeiner  Metapltysik  nebst  den 
Anfängen  der  philosophischen  Naturlehre.  Erster  histor.- 
kritischer  Teil.  1828",  wo  in  der  zweiten  Abteilung  "Die 
Lehre  des  Spinoza"  behandelt  ist:  daraus  sind  hier  §  40-43 
und  §  45-48  ("Ontologie  des  Spinoza")  sowie  §  49,  51  und 
54  ("Kosmologie  des  Spinoza")  meist  wörtlich  ausgezogen. 
Damit  ist  der  Inhalt  von  Hh  erschöpft.  Dieses  steht  also 
auf  derselben  Stufe  wie  die  "Geschichte  der  griechischen 
Philosophie",  seine  Aufnahme  in  unsere  Ausgabe  kam 
nicht  in  Betracht;  und  es  wäre  auch  hier,  in  der  zeitlichen 
Fixierung  der  Handschriften,  als  bloße  -Alaterialiensamm- 
lung  zu  eigener  Arbeit  den  beiden  Teilen  von  II  voran- 
gestellt worden,  wenn  nicht  das  gänzliche  Verschweigen 
Herbartscher  Kritik  an  Spinozas  Lehre  in  H^  wie  H^  zu 
der  Annahme  drängte,  daß  Büchner  zu  Herbart  erst  nach 
Abfassung  von  H  gekommen  ist.- 

^  Allerdings  sind  auch  die  Leoncc-Blättcr  ein  wenig  größer, 
was  aber  an  der  Beschneidung  der  andern  liegen  kann. — 
2  Dazu  will  stimmen,  daß  sich  inhaltlich  der  Anfang  von 
Hh  (Tennemann  X,  472)  an  das  fragmentarische  Ende  von 
H^  (Zitat  aus  Tennemann  X,  467)  so  ziemlich  anschließt. 


748  LESARTEN 

Der  Ausgang  von  H^ 
S.  052.  '^In]  bie  le^te  ^nk  bort  folgt  nod)  luic^  einem  S(l)Iuf3* 
[trid): 

Einen  eigentlichen  Übergang  von  der  Wissenschaftslehre  zur  Meta- 
physik findet  sich  nicht  bei  Spinoza,  doch  könnte  man  ihn  viel- 
leicht in  dem  finden,  veas  er  in  dem  ersten  Teil  des  Tractattts  de 
emendatione  inteUectiis  über  die  Art  sagt,  wie  ein  metaphysisches 
System  aus  der  alles  umfassenden  Idee  des  höchsten  Wesens  her- 
geleitet werden  müsse.  Auch  kann  man  fortwährend  das  Räsonne- 
ment  des  Cartesius  von  dem  cogifo,  ergo  stau  an  bis  zum  Beweis  für 
das  Dasein  Gottes  aus  seiner  Idee,  die  Dasein  involviere,  voraus- 
setzen. 

Zum  Verständnis!  der  INIetaphysik  muß  man  übrigens  sich  bestän- 
dig die  Identitätslehre  zurückrufen!  So  steht  eigentlich  vor  dem 
ganzen  System  das  6.  Axiom:  idea  vera  debet  cum  suo  ideato  con- 
venire'^ 

Der  erste  Teil  der  Ethik  enthält  die  Grundlage  des  Systems.  Die 
synthetische  Methode  ist  in  ihm  verfolgt,  es  wird  alles  in  Axiomen, 
Definitionen,  Propositionen  und  Demonstrationen  vorgetragen.  Ich 
folge  nicht  genau  dem  Gang  des  Spinoza,  weil  dies  zu  großen  Weit- 
läufigkeiten führen  würde;  doch  hoffe  ich,  den  Grundgedanken 
richtig  zu  entwickeln. 

Das  ganze  System  fängt  eigentlich  mit  dem  auf  den  Satz  des  aus- 
schließenden Dritten  gegründeten  i.  Axiom  an:  Of/inia,  qjiae  sunt, 
vel  in  se  vel  iti  alio  sunt.  Ferner  2.  Axiom:  Id,  quo d per  aliud  non 
potest  concipi,  per  se  debet  concipi. 

I.  Was  ist  nun  das,  was  in  se  est  und  per  se  debet  concipi?  Die  Sub- 
stanz (def.  3;  und  ihr  Attribut  (def.  5  und  prop.  10  . 
^Was  ist  aber  der  Unterschied  zwischen  Substanz  und  Attribut?  In 
der  Definition  der  Substanz  heißt  es,  die  Substanz  muß  dtirch  sich 
selbst  begriffeti  werden',  in  der  Definition  des  Attributs  heißt  es,  das 
Attribut  ist  das,  was  das  Wesen  der  Substanz  ausmacht:  zum  Wesen 
der  Substanz  gehört  aber,  durch  sich  selbst  begriffen  zu  werden, 
dies  ist  das  einzige,  was  wir  von  ihr  wissen,  und  aus  der  10.  Prop. 
geht  endlich  die  nämliche  Definition  für  die  Substanz  und  das  At- 
tribut hervor.  Also  sind  die  Begriffe  von  Substanz  und  Attribut  iden- 
tisch, eins  von  beiden  ist  ein  leeres,  inhaltloses  Wort.  Das  Attribut 
ist  also  eigentlich  selbst  Substanz.  Tennemann  sagt  darüber  [X, 
471  f.]:  "zwei  real  verschiedene  Attribute,  von  denen  keines  die 
Folge  des  andern  ist,  welche  von  Ewigkeit  immer  in  der  Substanz 
beisammen  gewesen,  bringen  eine  ewige  und  wesentliche  Trennung 
(kr  Substanz  hervor,  welche  mit  der  Einheit  der  Substanz  streitet. 

1  Dbcr  Zur  Vervollständigung.—  ^  T)ie[er  Sa^  a.  9?.  nac^getr. 


ÜBER  SCHÄDELNERVEN  749 

Denn  diückt  das  Attribut  das  Sein  der  Substanz  aus,  so  hat  die  Sub- 
stanz ein  doppeltes,  real-verschiedenes  Sein,  wenn  es  zwei  real  ver- 
M-hiedene  Attribute  der  Substanzen  gibt,  welches  notwendig  auf 
zwei  Substanzen  hinführt." — Selbst  Spinoza  scheint  dies  gefühlt  zu 
haben,  indem  er  Attribut  mit  Sub 
Definition  von  Gott  hervorgeht.) 

2.  Was  ist  zweitens  das,  was  in  alio  esf^  Der  Modus  {affectus)y 
def.  5. 

3.  Was  [ist]  nun  das  Wesen  dessen,  was  m  se  est,  oder  der  Substanz? 

a)  Ditae  snbstantiae  diversa  attrikita  habentes  nihil  inter  se  com- 
imine  habent  'prop.  2,  axiom.  5,  prop.  3). 

b)  In  rernm  fuitura  nonpossnnt  dari  diiae  aut phires  substantiae  ejtis- 
dem  jtaturae  (prop.  5. 

Der  Beweis  dieses  Satzes  ist  sehr  unphilosophisch,  er  gründet  sich 
auf  das  Nichtunterscheidenkönnen,  was  aber  nicht  einmal  in  der 
Identitätslehre  Gültigkeit  hat,  da  dieselbe  nur  von  einem  Nicht- 
denkenkönnen sprechen  kann.  Spinoza  tritt  hier  aus  seinem  eige- 
nen System  heraus.  Tennemann  sagt  darüber  X,  467  i.]:  "Außerdem 
liegt  auch  noch  in  dem  fünften  Satze  ein  anderer  Fehlschluß  ver- 
boro^en  ...  entscheidet  aber  nichts  über  die  Anzahl  der  Individuen.' 


ÜBER   SCHÄDELNERVEN  (S.  353— 367). 


H:  vier  Bogen  in  Großoktav  (fast  Folioformat),  drei  von 
glattem  dünnem  Papier  und  unter  Freilassung  eines  Ran- 
des, voilbeschrieben,  der  vierte  von  wesentlich  stärkerem 
Papier  und  nur  auf  der  ersten  Seite  noch  zur  Hälfte  be- 
schrieben, danach  mit  einem  Schlußstrich  versehen;^  alle 
Bogen  sind  an  der  oberen  rechten  (resp.  Unken)  Seite  der- 
art von  Mäusen  angefressen,  daß  durchschnittlich  die 
Hälfte  von  vier  Zeilen  jeder  Seite  vernichtet  ist,  und  auch 
in  der  Mitte  des  Falzrandes  sind  zwei  Bogen  angenagt, 
was  ebenfalls  den  Text  in  Mitleidenschaft  gezogen  hat; 
von  Seiten-  oder  Lagenzählung  ist  nichts  erhalten,  doch 
läuft  der  Text  von  der  zweiten  auf  die  dritte  Seite  der  drei 
vollbeschriebenen  Bogen  fort,  so  daß  die  getrennte  Lage 
der  einzelnen  Bogen  feststeht;  die  Reihenfolge  läßt  sich 

^  Auf  der  zweiten  Seite  dieses  Schlußbogens  steht  von  frem- 
der Hand  ^tobe="!8orle[ung. 


750  LESARTEN 

daraus  erschließen, 
bestimmt  ist  und  die  zwei  vorhergehenden  Bogen  wieder- 
um durch  das  Überlaufen  des  Textes  von  Bogen  zu  Bogen 
trotz  der  Beschädigung  des  ^Manuskripts  zu  ermitteln 
sind;-  der  noch  übrigbleibende  Bogen,^  der  textlich  ab- 
geschlossen für  sich  steht,  muß  demnach  vorangehen;  daß 
aber  auch  er  nicht  den  Anfang  der  Vorlesung  enthält,  lehrt 
ein  Blick  auf  seine  ersten  Zeilen,  und  bei  näherem  Zusehen 
ergibt  sich  auch  zwischen  ihm  und  dem  folgenden  Bogen 
inhaltlich  eine  Lücke:  H  ist  uns  nur  unvollständig  erhalten,^ 
erfährt  aber  für  den  fehlenden  Anfang  durch  N  eine  sehr 
willkommene  Ergänzung. — Die  Entzifferung  des  erhalte- 
nen Textes  bereitete  keine  großen  Schwierigkeiten;  hin- 
gegen konnte  die  Ausfüllung  der  durch  den  Mäusefraß  ent- 
standenen Lücken  bei  einer  so  schwierigen,  nicht  nur  ana- 
tomische Fachkenntnisse,  sondern  auch  Vertrautheit  mit 
der  historischen  Seite  dieser  Wissenschaft  voraussetzenden 
Materie  nur  einem  Spezialisten  gelingen,  und  so  kann  hier 
Herrn  Dr.  Hans  Fischer,  Arzt  am  Gerichtlich-Medizinischen 
Institut  der  Universität  Zürich,  nicht  genug  dafür  gedankt 
werden,  daß  er  sich  aus  Liebe  zur  Sache  mit  besonderem 
Interesse  für  Georg  Büchner  dieser  Mühe  unterzogen  und 
die  störenden  I^ücken  restlos  beseitigt  hat.  Diese  Ersatz- 
stücke sind  so  glücklich  ausgefallen,  daß  sie  uns  an  den 
meisten  Stellen  den  ursprünglichen  Wortlaut  wiedergefun- 
den zu  haben  scheinen,  nichtsdestoweniger  sind  sie  aber 
von  Büchners  überliefertem  Text  durch  eckige  Klammern 
unterschieden  worden. 

N:  Teilabdruck  der  Probevorlesung  in  Ludwig  Büchners 
Ausgabe,  der  glücklicherweise  dazu  den  in  H  zum  Teil 
fehlenden  Anfang  gewählt  hat. 

F:  Wiederabdruck  von  N,  mit  einem  geringfügigen  neuen 
Stück  aus  H. 

^Er  beginnt  mit  36633  "der  Respi[ration".— ^  Bogen  II  be- 
ginnt mit  36025  "Es  dürfte  wohl",  Bogen  III  mit  ^6^  i5  "in 
zwei  Aste";  Näheres  im  Lesartenverzeichnis.  Zu  der  aus 
dem  Inhalt  erschlossenen  Reihenfolge  der  Bogen  stimmt 
übrigens  äußerlich,  daß  die  beiden  ersten  Bogen  einen  brei- 
ten Rand  haben,  der  dritte  ihn  aber  von  der  dritten  Seite 
an  aufgibt  und  auch  der  Schlußbogen  ihn  nicht  mehrhat.— 
^  Er  beginnt  mit357  i".  "War  nun  auch".—"*  H  scheint  aber, 
was  wenigstens  den  Ausgang  angeht,  niemals  die  Probe- 
vorlesung ganz  abgeschlossen  enthalten  zu  haben. 


ÜBER  SCHÄDELNERVEN  751 

3.  353.  3)er  2;itcl  t[t  nid)t  überliefert;  Aus  der  Probevorlesung 
in  Zürich.    Oktober  1836  ^ei^t  es  X  Aus  der  Vorlesung: 
Über  Schädelnerven  F. 
<B.  355.  1 — 35719  Hocligcaclitctc  Zuhörer  bis  frisch  und  hell 

auf.   Namenthch  etc.  etc.  überliefert  burc^   NF^  |  -i 

Es  treten  uns  XF:  toa^rfc^einlitf)  ^at  l^ubroig  33ü(^ncr  eine  all= 

gemeine,  me^r  perjönlic^e  (Einleitung  ber  ^Intrittsüorlcfung  wcg= 

gelaffen;  mi3gli^  i[t  aber  aud),  ba^  bicfe  fd)on  im  50Zanu[fri|)t  ge= 

nau  [0  töte  ber  Sc^Iu^  (f.  w.)  gefehlt  ^ot. 

S.  357.  i:;  mit  War  nun  auch  beginnt  1, 1-  öon  H;  bic  i'ürfcn 

btefer  er[ten  Seite  Don  H  füllt  XF  aus. 

(5.  358.  -1  mit  [Klar  war  man  sich]  beginnt  L  2  -vi  mit  während 

die  vordere  beginnt  I,  3. 

5.  359.  25  mit  [betrachtet.  Die  X'erven  beginnt  I,  4. 

6.  360.  25  mit  Es  dürfte  wohl  beginnt  II,  1  |  25—361  u»  ...  Es 
dürfte  wohl  bis  Schädelnerven,  nämlich  mit  attge^ängtem 
usw.  usw.  bringt  au(^  F;  gransos  fanb  bereits  bie  iJücfen  in  H 
üor  unb  füllt  fic  auf  [eine  ^ei[e  aus  ]  25 ff.  Lösung  eines  ana- 
tomischen Problems  zu  erhalten,  wenn  man  sein  Erschei- 
nen in  der  verwickeltesten  Form,  nämlich  bei  dem  Men- 
schen ins  Auge  faßt.  F:  bies  C^rfa^ftüd  i[t  5U  grofe  für  bie  IMicfe; 
2><  weil  sich  in  ihnen  F:  tDillfürlid)  |  :i<»  für  dieses  Problem 
fe^It  F. 

S.  361.  s  Tatsachen  zusammen  F  |  '•  zusammen  fel^It  F  | 
lo  mit  [übrigen  Schädelnerven  beginnt  II,  2  |  oU  mit  Problem 
beginnt  II,  3. 

S.  362.  2.S  mit  [und  Spinalnerven  beginnt  II,  4. 
S.  363.  15  mit  in  zwei  Äste  beginnt  III,  1. 
S.  364.  :!  mit  [ÄhnHch  liegen  beginnt  III,  2  [  :;n  mit  den  facia- 
lis, den  beginnt  III,  3. 

S.  365.  :J4  mit  [wo  eine  Wurzel  beginnt  III,  4. 
S.  366.  :>^  mit  der  Respi[ration  beginnt  IV. 
S.  367.  s  geknüpft,  barunter  £d)luB[iri(^  H:  [^tocrlid)  roirb  aber 
[o  flanglos  bic  ^Intrittsoorlefung  geenbet  f)abcn;  es  tüirb  nn3u= 
nefimcn  [ein,  'ba''^  SBüc^ncr  bie  [(^riftlic^e  gi.\:icrung  eines  all* 
gemeinen  Sd^Iu^paffus  nid)t  für  notiucnbig  crad)tct  l)at,  i^re  gor= 
mulicrung  uiclleid)!  (\\\^  ber  (Eingebung  bcs  ^lugcnblids  übcrlaffcn 
tuolltc. 

^  X)D(^  läßt  F  bie  5lnrebc  lueg  unb  brid)t  c(b  mit  hell  auf 

-  I)ie  romifc^e  ^cCi)\  bebeutet  [tcts  bcn  23ogcn,  bic  arabijc^e  bic  Seite 
bes  bctrcffcnben  Sogcns  üon  H. 


)  752  ( 
ÜBERSETZUNGEN  (369-520). 

ABGESEHEN  von  den  Arbeiten  des  Schülers  und  von 
der  zu  wissenschaftlichen  Zwecken  vorgenommenen 
Übersetzung  aus  Spinozas  Ethik,  von  der  Proben  auf  S.  323 
bis  335  enthalten  sind,  hat  sich  Büchner  in  der  Kunst  der 
Übertragung  nur  an  Victor  Hugo  versucht.  Die  von  ihm 
übersetzten  Dramen  erschienen  als  "Viktor  Hugo's  sämt- 
liche Werke.  Sechster  Band.  Lucretia  Borgia.  Maria  Tudor. 
Frankfurt  am  Main,  1835.  Druckund  Verlag  von  J.D.  Sauer- 
länder." Der  einzelne  Bandtitel  gab  auch  den  Namen 
des  Übersetzers  bekannt:  "Lucretia  Borgia.  Maria  Tudor. 
Deutsch  von  Georg  Büchner."  Ebenso  wurde  auf  dem 
Schmutztitel  jedes  Dramas  noch  einmal  "Übersetzt  von 
Georg  Büchner"  hervorgehoben. 

Da  eine  handschriftliche  Vorlage  nicht  mehr  existiert, 
mußte  der  Erstdruck  dem  Text  zugrundegelegt  werden. 
Doch  wurde,  außer  Interpunktion  und  Orthographie,  ge- 
ändert: 45126  "denkst  du  des  noch",  wo  im  Erstdruck  auf 
Grund  gedankenloser  Falschlesung  der  schlechten  Hand- 
schrift Büchners  "denk'  dir  es  noch"  steht  (franz.  "te  rap- 
pelles-tu");  auch  lies  43810  trotz  Erstdrucks  "vergeben" 
statt  "vergelten",  da  es  im  französischen  Original  "par- 
donner" heißt. 


753  c 
BRIEFE  (S.  521-569). 

\/'ON  Büchners  Briefen  sind  zuerst  veröffentlicht  wor- 
den: 
G:  die  Stücke  an  Gutzkow,  fünf  ^  schon  in  Gutzkows  Nach- 
ruf im  'Telegraph'  1837  (G\),  alle  sechs  ein  Jahr  später  in 
dem  Essay-Bande  'Götter,  Helden,  Don  Ouixote.  Abstim- 
mungen zur  Beurteilung  der  literarischen  Epoche'  {G-)^ 
Mehr  von  den  an  ihn  gerichteten  Briefen  hatte  sich  Gutz- 
kow leider  nicht  aufbewahrt,  und  auch  die  erhaltenen 
sechs  teilte  er  überwiegend  nur  bruchstückweise  mit,  zwei 
sogar  nicht  einmal  in  ihrer  ursprünglichen  Gestalt,  sondern 
aus  essayistischen  Zweckmäßigkeitsgründen  verschweißt 
zu  einem  Brief,  dazu  noch  in  veränderter  Folge,  doch  ohne 
genauere  Angabe,  wo  der  ältere  Briefteil  beginne.  Auch 
sonst  bereitet  die  zeitliche  Einordnung  dieser  Briefstücke 
Schwierigkeiten,  da  nur  ein  paar  Stücke  ein  genaueres 
Datum  tragen. 

N:  Ludwig  Büchner  brachte  in  seiner  Ausgabe  neu  den 
Auszug  "Aus  den  Briefen  an  die  Familie"  (S.  237-280)  und 
"Briefe  an  die  Braut,  aus  Gießen,  1833  und  1834"  (S.  281 
bis  287)^.  Dazu  kommen  noch  gelegentliche  Briefzitate  in 
der  biographischen  Einleitung,  besonders  die  drei  letzten 
Briefe  an  die  Braut,  wie  auch  drei  der  schon  veröffent- 
lichten Briefe  an  Gutzkow  in  die  biographische  Darstel- 
lung verflochten  werden.  Bedauerlicherweise  werden  auch 
in  N  die  meisten  Briefe  nur  in  stark  beschnittener  Form, 
oft  sogar  bloß  noch  fetzenweise  wiedergegeben;  auch  wird 
die  Ausschreibung  der  Namen  nicht  selten  vermieden. 
F:  Das  von  N  gelieferte  Briefmaterial  hat  Franzos  nur  in- 
sofern vermehren  können,  als  er  sämtliche  von  Gutzkow 

1  Das  Briefstück  S.  549  war  noch  nicht  dabei.  —  2  Später 
gingen  die  Essays  jenes  Bandes,  mithin  auch  der  Büchner- 
Artikel,  in  die  erweiterte  Sammlung  der  "öffentlichen 
Charaktere"  über. — ^  Wie  Ludwig  Büchner  zu  Georgs  Brie- 
fen an  die  Braut  gekommen,  berichtet  Luise  Büchner  auf 
einem  im  Nachlaß  Georgs  befindlichen  Blatt  dem  Heraus- 
geber Franzos:  es  waren  ursprünglich  für  die  von  Gutzkow 
geplante  Büchner-Ausgabe  von  Wilhelmine  hergestellte 
Auszüge,  die  Gutzkow  später  der  Luise  Büchner  übergab; 
sie  legte  sie  zu  dem  übrigen  Nachlaß,  wo  sie  Ludwig  fand 
und  für  N  benutzte.  Diese  Veröffentlichung  wider  ihr  Wis- 
sen vsoll  Wilhelminc  besonders  übel  genommen  haben. 
i:ÜCHNEK  .,s. 


754  LESARTEN 

veröffentlichten  Stücke  in  seine  Ausgabe  aufnimmt  und 
auch  die  bei  N  in  der  Einleitung  zerstreuten  Briefzitate  in 
seine  Abteilung  "Briefe"  (S.  ;^2^-28S)  eingliedert.  Da  er 
die  Gruppierung  nach  den  Adressaten  beibehält,  hat  er 
also  nunmehr  drei  Gruppen:  I.  An  die  Familie,  IL  An  die 
Braut,  IIL  An  Karl  Gutzkow.  Die  in  N  nur  durch  Punkte 
oder  einzelne  Buchstaben  angedeuteten  Namen  hat  Fran- 
zos,  wohl  gestützt  auf  mündliche  oder  briefliche  Angaben 
Ludwig  Büchners,  in  vielen  Fällen  ausschreiben  können; 
im  übrigen  aber  beschränkt  er  sich,  von  einigen  bestimm- 
teren Datierungen  abgesehen  auf  einen  bloßen  Abdruck 
des  von  N  gelieferten  Materials. 

Das  Briefmaterial  wesentlich  zu  vermehren,  ist  schon  Fran- 
zos,  der  sich  an  Büchners  Verwandte  und  Freunde  noch 
persönlich  wenden  konnte,  nicht  gelungen:  die  Original- 
briefe an  die  Angehörigen  sind  in  den  fünfziger  Jahren  bei 
einem  Brande  des  Familienhauses  in  Darmstadt  zugrunde 
gegangen;  die  Braut  des  Verstorbenen,  die  sich  mit  der 
Familie  Büchner  entzweit  hatte,  verweigerte  die  Verwer- 
tung der  in  ihrem  Besitz  befindlichen,  an  sie  geschriebenen 
Briefe  Georgs  für  die  zum  Nutzen  der  Familie  Büchner 
geplante  Ausgabe  Franzos'  und  muß  sie  ebenso  wie  den 
'Pietro  Aretino'  kurz  vor  ihrem  Tode  vernichtet  haben; 
von  den  übrigen  Korrespondenten  Büchners  endlich  hatte 
sich  niemand  seine  Briefe  noch  so  lange  Zeit  nach  des 
Dichters  Tode  aufbewahrt.  So  kann  es  nicht  überraschen, 
daß  auch  der  anläßlich  unserer  Ausgabe  neuerdings  er- 
gangene öffentliche  Aufruf  kein  erfreulicheres  Ergebnis 
gezeitigt  hat.  Originalbriefe  Georg  Büchners  scheinen  tat- 
sächlich nicht  mehr  vorhanden  zu  sein,  bis  auf  den  einen 
an  Sauerländer,  den  Heinrich  Hubert  Houben  entdeckt 
hat  (vgl.  Lesart  zu  542  i  ff.).  Das  ist  also  der  einzige  Brief 
Georgs,  um  den  unsere  Ausgabe  gegenüber  der  früheren 
vermehrt  erscheint^.  Nur  textkritisch  konnte  sie  im  übri- 
gen fortzuschreiten  anstreben.  So  wurde  vor  allem  ver- 
sucht, den  künstlich  zusammengeschweißten  Brief  an  Gutz- 

1  Die  schon  in  G^  gebrachte  Erwähnung  einer  brieflichen 
Äußerung  Büchners  über  Musset  und  Hugo  sei  wenigstens 
hier  noch  wiedergegeben;  "Alfred  de  Musset",  erzählt 
Gutzkow,  "zog  ihn  an,  während  er  nicht  wußte,  'wie  er 
sich  durch  V.  Hugo  durchnagen'  solle;  Hugo  gäbe  nur  'auf- 
spannende Situationen',   Musset  aber  doch  'Charaktere, 


BRIEFE  755 

low  in  seine  ursprünglichen  Teile  zu  zerlegen;  im  zweiten 
Briefe  an  Gutzkow  ist  das  in  den  früheren  Ausgaben  noch 
fehlende  übermütige  Schlußstück  aus  G-  hinzugefügt  und 
vor  allem  bei  den  Briefen  an  die  Braut  die  chronologische 
Reihenfolge  revidiert  worden.  Die  Gruppierung  der  Briefe 
nach  Adressaten  ist  zugunsten  der  rein  chronologischen 
Anordnung  aufgegeben  worden,  wobei  nun  allerdings  bei 
der  mangelhaften  Datierung  vieler  Brieffetzen  die  neue 
Schwierigkeit  entstand,  diese  richtig  einzuordnen;  da  hat 
zuweilen  die  geistige  Nachbarschaft  zweier  Stücke  die  zeit- 
liche bestimmen  müssen. — Sämtliche  Sperrungen  früherer 
Ausgaben  zu  wiederholen,  erwies  sich  als  unnötig  schon 
aus  dem  Grunde,  weil  sie  schwerlich  alle  auf  eigenhändige 
UnterstreichungenBüchners  zurückgehen  werden;  so  wurde 
denn  vorgezogen,  durcliKursivdruck  nur  dieNamen  und  die 
wichtigsten  Sachworte  hervorzuheben.  Auch  die  das  Frag- 
mentarische bezeichnenden  Punkte  am  Anfang  und  Ende 
der  einzelnen  Briefe  sind  von  den  früheren  Ausgaben  nicht 
übernommen  worden,  da  der  Leser  die  wenig  vollständig 
wiedergegebenen  Briefe  von  selbst  als  solche  erkennen 
wird;  wo  jedoch  innerhalb  eines  mitgeteilten  Stückes 
Lücken  vorhanden  sind,  ist  dies  durch  Punkte  schon  im 
Text  bezeichnet  worden.  Die  Ausschreibung  der  in  N  nur 
angedeuteten  Namen  konnte  gelegentlich  über  F  hinaus 
fortgeführt  werden. 

S.  527.  17  Ende  Mai  i833:Datierung  uonF;  Der  folgenbe  Sa^ 
wirb  Don  N,  8.  3  in  ber  Gtnicitg.  nad)  (£nüäl)nung  bes  Svtefftüds 
uom  5.  ^Tpril  1833  Df)ne  3eitangabe,  nur  mit  bcr  iBemerfung  gc 
geben:  "(£r  [treibt  ferner  einmal"  ^nff.  Ihr  könnt  voraussehen 
bis  einlassen  werde:  fc^It  N,  S.  243;  bo(f)  luirb  ber  Sn^  in  ber 
(£tnleitg.,  S.  3  mit  ber  Semetfung  sittcrt,  bai5  er  "im  5ln[cl)lufe  an 
bas  35rieffragment  uom  3uni  1833'''  gefc^iiebcn  [et. 
S.  529.  10  usw.:  üielleic^t  nur  ebitoti[d)er  5lbbru(^5uermerf  uon 
N  I  21  den  19.  November:  fo  aud)  N,  S.  245;  in  ber  (Sinleitg.  N, 
S.  5  aI[o  falfrf)  "uom  1.  9ioüember"  batiert  |  -'»  [Gießen,  Früh- 
jahr 1834?]:  X)ie  Datierung  biefeserften^Briefes  AN  DIE  BRAUT 
bleibt  nac^  toie  uor  3tüeifelf)aft.  dXaä)  ber  Übcrf^rift  N,  S.  281 
"95riefe  an  bie  Sraut,  aus  (Sieben,  1833  unb  1834"  müijte  wenig» 
[tens  biefcr  erfte  23ricf  vom  5af)re  1833  ftammen,  unb  jioar  üom 
^erbft,  ba  Süd)ner  eift  in  biefer  3eit  bie  Hniüerjität  Strapurg 
mit  bev  uon  (öie^en  ueitaufd)te.  X>a3U  [timmt  aud),  ha']]  ^Bücbner 
[eit  feiner  ^breife  nod)  nid)t  an  bie  33raut  gefd)rieben  3U  l)ahen 
[(^eint;  bagegen  fptidjt  bo^  wo\)\  abor  bie  (frroä^nung  bes  ^xüf)' 


756  LESARTEN 

lin.qs  unb  ber  frif^cn  iseilc^en,  ble  has,  ^tnbenieu  aus  Strasburg 
"immer  eiferen"  fönnen.  (53gl.  3o&cIti^,  ®-  Süc^ncr,  S.  125f., 
^2tnm.)  N  ^at  fein  Datum  für  bie  einseinen  S3riefc  an  bie  Sraut, 
F  Gießen  1833. 

S.  530.  28  B[öckei]:  um  btefen  Slrapurger  5'teunb  (ober  Baum?) 
tnirb  es  [xä)  too^I  ^anbeln;  XF  f)ahtn  nur  B. 
S.  532.  25  [Gießen,  Februar  1834.]:  ha  auf  bas  in  [e(^5  213o^en 
fällige  ©[terfeft  angefpielt  totrb,  wo  Sü(^ner  in  bcr  Dtligence  bie 
"Himmelfahrt"  5U  [einer  Sraut  antreten  töill,  fann  es  \\^  nur  um 
bas  3a^r  1834  ^anbeln,  unb  ha  Cjtein  1834  auf  hm  30.  ?JMr3 
fiel,  mu^  ber  Srief  im  ^^e^ruar  gef(f)rieben  [ein;  bie  Datierung  üon 
F  Gießen  1833  i[t  bemnac^  fal[^.  ("iigl.  3abelti^,  a.  a.  £.) 
S.  533.  1  [Gießen,  März  1834.]:  im  5U3eitenSriefab[a^  i[t  lieber 
Don  ber  £[terrei[e  gur  Sraut  bie  9iebe,  bie  biesmal  in  oierse^n 
Sagen  beöDr[tel^t:  aI[o  fann  ber  ©rief  nur  im  9JMr5  ge[tf)riebcn 
[ein;  F  t)at  tüieber  fäl[(i)li(^  Gießen  1833.  (33gl.  3abelti^,  a. a.D.) 
S.  534.  24 ff.  NF  [teilen  bie[en  Srief  AN  DIE  BRAUT  hinter 
ben  folgenben  S.  536;  aber  27 f.  ^etßt  es  Fast  hätte  ich  Lust, 
statt  nach  Darmstadt  gleich  nach  Straßburg  zu  gehen, 
VDä^renb  5Bü(^ner  536 13 f.  bereits  fe[t  basu  ent[(^Io[[en  i[t;  beibe 
SBriefe  fallen  natürlicf)  in  ben  9}? arg  1834  (F  batiert  nur  Gießen 

1834). 

S.  535.  10  mein  Beälam:  töo^l  ein  fie[efe^ler  üon  N;  irgenbeine 
pDeti[^e  ^Betätigung  tonnte  baf)inter  [teden. 
S.  536.  12 ff.  AN  DIE  BRAUT  über  bie  Ginorbnung  bie[es 
^Briefes  ogl.  bas  3U  53424ff.  ®e[agte  22  wie  man  nur  NF:  offene 
barer i]e[efef)Ier  so  bas  Datum  gibtN(S.8)ni(^t;bD(^baSü(i^ner 
aud^  na^  N  er[t  "am  (£nbe  bes  ^Jlonats  93tär5"  na^  Strasburg 
ret[te,  ^at  F  geroif^  rec^t  mit  bcr  Datierung  im  April  3i  [in  Gießen] 
fe^It  N  unb  i[t  nur  3uge[e^t,  um  htn  3u[ammen^ang  !Iar3u[teIlen;  F 
änbert  3U  bie[em  3tüe(!:  In  Gießen  war  ich  im  Äußern  ruhig 
37  Ich  komme  nach  Gießen  NF:  bas  ^rä[en5  T^a'^^i  ni^t  5um 
Sßorangegangenen;  offenbar  ))aiit  $Bü(^ner  nt^t  ausge[(^rieben 
unb  N  ji(J)  üerle[en  [  in  die  niedrigsten  N  (£e[efe]^Ier)  j  37  ma- 
chen mich  krank  NF:  iDot)I  buri^  ben  £?e[efe^Ier  komme  mx= 
anlaste  5tnberung  ber  !^t\i  bur^  N. 

S.  537.  20  usw.  i[t  3U  [treic^en,  ha  es  [id)  I)ier  nur  um  einen  5Ib= 
fürsungsüermerf  uon  N,  bas  übrigens  mit  F  etc.  {)ai,  Ijanbelu 
fann  |  sollte  in  X....  N  Darmstadt  F;  lies  aber  Butzbach. 
S.  538.  23f.  Briefe  von  W...,  Muston,  L...  und  B...NF;  m\U 
Ijelmine  ^ägle  [^rieb  nac^  bem3itat  5305f.  fran3ö[i[(^  anöeorg; 
par  Adresse  ä  Mr.  ]Mr.  Lucius,  ä  Strassbourg— Rue  Guil- 
laume  No.  66  [d)rieb  ©u^foai  ben  ^rief  Dom  12.  5.  1835  an 


BRIEFE  757 

'-i^üd)ner;  bie  5krinutung,  baß  es  [ic^  bei  bcm  B.  wieber  um  Söcfel 
I)aubclt,  finbet  biesmal  eine  Stü^e  in  ber  2:atiad)c,  ha'^  Süd)ner 
mit  Södel  ing-rantfurt  3U|ammeiigctroffcn  ruar  (luil.  X,  £.  18,  ioü= 
naä)  übrigens  auä)  Söcfel  ''bei  [einer  ^2l>eiterreife  in  ^Jtainj  nnge= 
galten  unb  Derf)ört,  aber  fogleid)  tuicbcr  entlaffen"  würbe). 
S.  539.  37  [latt  usw.  lies  etc. 

S.  542.  iff.  Va  53rief  AX  SAUERLÄXDER  3um  erftcnmal 
burd)  §ouben  in  ber  5ran!f.  3citg.  uom  7.  7.  1918  (9ir.  18G)  üer= 
öffentlic^t;  üorfle^enber  5lbbrud  nod)mal5  mit  bem  Original,  bas 
in  ^Dubens  Sefi^  roar,  uerglid^en  1  c  das  Verlag  ftel)t  im  Origi= 
nal  I  22  den  21.  Februar:  bies  ^atum  ift  aus  bem  üDrf)crge^en= 
ben  Srief  5U  erfc^lie^en;  G^  fpri^t  oon  den  letzten  Tagen  des 
Februar;  F^at  auf  (örunb  biefer  Eingabe  Ende  Februar  |  "o  Hes 
Hauptmann  na^  G^  |  36  lies  Wrack  nac^  G^. 
S.  543.  T)er  Srief  an  (öu^foto  trägt  noc^  bie  Unterf(^rift  G.Büch- 
ner. 

S.  544.  21  Straßburg,  März  1835:  9Ia^  G^  roare  ber  ©rief  im 
Sommer  1835  geschrieben,  X'  bringt  i^n  ni^t,  unb  F  f)at  be= 
ftimmter  Juni  1835,  rool^l  auf  ©runb  bes  crwäfinten  Stedbriefs, 
ber  juerft  am  18.  5uni  im  ^i^anffurter  ^i-'urnal  erfc^eint  (ugl. 
S.  640 f.).  (Ss  ift  allerbings  rotfelljaft,  u)ie  ber  3tedbrief  erft  am 
13.  ^ii^^i  erlaffen  [ein  fann,  rocnn  ^üdiner  [c^on  am  9.  Wäx^  nad) 
SBeifeenburg  geflüd)tet  i[t  (Srief  S.  543 f.);^  aber  ein  frül^ercr 
Stedbrief  lä'ßt  [ic^  ni^t  auffinben.  3)Dd^  bestöcgen  ben  53rie[  an 
05u^forD  auc^  er[t  in  ben  ^uni  nerlegen,  ge^t  nid)t  an,  ha  23üd)ncr 
er[t  seit  einigen  Tagen  in  Strasburg  i[t  unb  Cöu^foro  if^m  auf 
bie[e  9]a(^ri(^t  [c^on  cor  Einfang  ^Tpril  (S.  614  f.)  antiuortet 
üT  Kurs  gemacht:  lies  Kurs  durchgemacht  35—545  7  Wir  wer- 
den sehen  bis  verkleideter  Samson  fe^ltG^F,  aber  nid)t  G^. 
S.  548.  27  ff.  AX  WILHELM  BÜCHXER:  ber  «rief  |tef)t  in 
X',  S.  28  of)ne  Datum  unb  na^  bem  folgenben  Srief [tüd  üw  03utj= 
foro;  im  Juli  'i)ai  F,  freiließ  Df)ne  Segrünbung  38 ff.  Eine  genaue 
Bekanntschaft  ufco.:  bem  23Drigen  mit  ben  ÜBorten  "^In  einer 
anbcrn  Stelle  [[c^reibt  Südjner]:"  von  X  zugefügt  unb  bes^alb 
^ier  U)ie  oon  F  als  3um  [elben  33rief  gehörig  betrad)tet,  üiellcid)t 
mit  Hnre^t. 

e.  549.  6ff.  Die[er  Srief  AX  GUTZKOW  fe^lt  G^  i[t  batum* 
los  G-,  roä^renb  F  o^ne  alle  iöegrünbung  Juli  1835  barüber[e^t; 

^  Grflären  läßt  es  [ic^  nod)  mit  iBilf)elm  53ü(^ners  Semertung 
640  10 ff.,  aber  ^ranjos'  '3d)ilberung  F,  S.  CLX,  roona^  bas  (f)e= 
ri^t  nur  nod)  brei  ^age  nac^  ber  letzten  "i^orlabung  warten  wollte, 
läßt  [id)  faum  galten. 


758  LESARTEN 

Dtellcic^t  ift  er  einer  bor  drei  Briefe,  bereit  (Smpfang  ©u^foiu  erft 
6.  2.  1836  beftätigt  (S.  620),  unb  tuäre  bann  Diel  [päter  em3U= 
orbnen;  \>a  aber  jeber  ^-ingerjeig  für  bie  seitliche  t^i^'^vung  fe^It, 
tourbe  er  feines  uertuanbten  Sn^alts  tuegen  bem  $8rief  an  2BiI^elni 
Sü^ner  angereif)t  |  ^n  Kl...  N^;  bie  erläuternbc  (^n^note  uerriet 
aber,  ujas  bie  ^lamensabfürjiing  ucrfd^tocigen  follte. 
6.  552.  isf.  nur  noch  NF:  £efefe^ler  m\\  N. 
S.  554.  22  lies  die  Gefangenkost  nad)  N  die  Gefängniskost 
mobernifiert  F;  ügl.  57  29. 

S.  556.  ()  Herbst  1835:  ^tntujort  auf   (ön^foius  93rtef  uom 
28.  mguft(S.618f.). 
S.  557.  29  lies  Hypothesen  •  •  • 

S.  558.  i2ff.  AN  GUTZKOW.  Straßburg  [1835]:  Der  23rief 
ift  an  563 13  o^ne  Überfc^rift,  alfo  unmittelbar  angefd)Ioffen  in  G^ 
G^NF;  bod)  bemerft  ©uijioio  fi^on  in  G^  ba5u:  "Dies  ©anje  ift 
bie  3iiffl"^niß"fc^itng  jrüeicr  ©riefe,  ber  le^te  !Xeil  ift  älter  als 
ber  crfte."  9^un  fe^It  aber  in  G^  bem  gufammengefe^ten  Stüd  nod) 
ber  2^eil  562i9— 563i5  (Es  zeigt  sich  bis  erleben  kann),  unb 
in  bem  übrigbleibenben  Stüd  finb,  'ha  fonft  alles  in^altlic^  eng  3U= 
fammenl)ängt,  nur  brci  9JJöglid^feiten  für  eine  Trennung  in  bie  ur= 
fprünglid)en  Xeile:  562  i3  (Sie  sind  in  Frankfurt  •  •  •),  558 1"-  (Sie 
erhalten  hierbei  •  •  •) ,  559  1  (Ich  werde  ganz  dumm  •  •  •);  bauon 
fällt  bie  Xrcnnftelle  559 1  ujo^I  f(^on  aus  bem  ©runbe  u)eg, 
tueil  bie  ^Inl^ängung  ber  leijten  fe(^s  3ctlcn  bie  ?JZü^e  ber  reba!= 
tionellen  ä^erfc^iebung  getoi^  ni(^t  gelohnt  l^ätte;  mutatis  mutan- 
dis  gilt  bies  au^  für  bie  Stelle  562 1-,  ber  nur  elf  !^t\\tx{  uoran^ 
gelten.  5\ann  fc^on  fo  bie  (£ntfd)eibung  für  5581",  u)o  ein  gan3 
anberer  3^on  für  eine  ganj  anbere  Sad)e  angefd)Iagen  roirb,  n}d)t 
[(^u)er  fallen,  fo  fommt  als  ausfd)laggebenb  not^  folgenbes  I^inßu: 
®u^!otös  58ricf  üom  6.  2. 1836  (S.  620f.)  beftätigt  ben  Empfang 
ber  Stöberf^en  Alsahilder  unb  fprid^t  röeiterl^in  t)om  Rebsiöckel, 
roorauf  \\6)  ©üd)ners  Sriefjeilen  562i3ff.  be^ie^en;  bemna(^  mu^ 
ber  (gmpfcl^lungsbrief  für  bie  Stöber  mit  beren  "Snfa^Silbern" 
fd)Dn  abgegangen  [ein,  rDäI)renb  bie  Sriefftelle  562 1"  ff.  noc^  nic^t 
gefd)rieben  ift.— 3uglei^  ift  mit  (5u^!ort)S  ^Briefen  ein  ^intoeis  für 
bie  Datierung  gegeben:  ber  ©rief  558  i2ff.  roirb  nod)  ins  3(^^^1835 
fallen,  ba  ©ü^ner  bie  9la(^ri(^t  ©utjfotos  uon  feiner  (5efangen= 
fd)aft  (©rief  S.  620  uom  4.  12.  35)  nod)  nic^t  erhalten  l)ai  |  i^f. 
von  meinem  Freunde  Stöber  G^G^NF:  £efefe^ler  ©u^fotDs, 
ba  bie  Alsa-Bilder  "üon  't^^w  ©rübern  ^luguft    unb  ^^tbolpf) 


^  Desglei(^en  551",  556  .''. 


BRIEFE  7  59 

Stöber"  herausgegeben  finb,^  ja  aucl)  im  Sricf  uieiterr^in  uon 

beiben  btc  5?ebc  ift  1  -v^  lies  Vaterland  nad)  G^ 

S.  559.   -t  lies  iinsern  wai^  G'  |  1 1  f.  König  von  X.....  X  |  1 1  f . 

Großhevzog  von  Y....  N  |  löf.  vom  doppelten  M N. 

S.  560.  20  gegen  K r  N. 

S.  561.  10  Herr  J.:  offenbar  Jägle  |  i2f.  Theaters  zu  X N| 

:s8f,  in herumläuft  X". 

S.  562.  i  ff.  AX  GUTZKOW:  ugl.  bic  ^iriisfüfjrungcn  511  558  1  j  ff.; 
baraus  ergibt  \\6)  au^,  ba{3  bcr  ^ricf  nad^  ©utjfoius  uom  (5.  2.  06 
gefi^rieben  [ein  muß  1  11  lies  Sohn  na(^  G^  1  1;  lies  unangefoch- 
ten? I  19—563  1.3  Es  zeigt  sich  bis  erleben  kann.  fel)It  G\  aus 
3cnfurrüd[tc^ten. 

S.  563.  \-i  Leben  desselben  X  |  1:.  folgt  558!:;ff.  (ogl.  bas 
ba5U  ©efagte). 

S.  565.  120  AN  WILHELM  BÜCHNER  [.^]:  Der  33rief  ftcljt 
in  N  unter  ben  "23riefcn  an  bic  (^ömilie",  luas  ja  aber  nid)t  au5= 
f(^Iie^t,  ba^  einige  bauon  an  ein  einseines  ^amilicnmitglicb  gerid)tet 
fein  tonnten,  unb  biefe  ^rnnafjme  legte  fjicr  ber  für  bie  'JJhitter  gc= 
roi^  ni^t  berechnete  Qcingang  nal)e. 

S.  567.  IC' Ende  Xo\-ember  1S36:  fo  batierl  F,  lieber  obnc 
^egrünbung;  ber  Salj  rnirb  üon  X'  in  ber  (Sinicitg.  (S.  38)  oljne 
Datum  3itiert  i  i;>  Anfang  Januar  1837:  toieber  nad)  F,  bod)  mit 
mel)r  S^ec^t,  bcnn  bie  9Borte  finb  na^  X  (S.  39)  "turj  oor  23eginn 
ber  töbIi(^enÄranff)eit"  ge|d)ricbcn  ;  :i<'  [Ich  werde]  in  längstens 
acht  Tagen:  N  ^itiert  "er  roürbe  »in  längstens  acht  Tagen«" 
In  längstens  acht  Tagen  will  ich  F. 

1  "Strasburg  1836"  fte^t  auf  bem  2itel;  bod)  fpric^t  bics  offi.volle 
C£rf(^einungsia^r  nid)t  gegen  bie  ^^lnnal)me,  baf3  33üd)ncr  [d)ün 
(Snbe  1835  bas  fertige  Sdnbd)en  ocrfdjiden  tonnte. 


)  76o  ( 
MISZELLEN  (S.  571-608). 


DIESE  Abteilung  bringt  zunächst  ausBüchners  Nachlaß 
das,  was  aus  seinen  Schul-  und  Entwicklungsjahren 
noch  irgendwie  mitteilenswert  erscheint;  die  Gruppierung 
in  Poesie  und  Prosa  ergab  sich  aus  dem  Stoff  von  selbst.  Ein 
anderer  als  biographischer  Wert  kommt  diesen  beiden 
Gruppen  natürlich  nicht  zu;  daher  erschien  es  auch  un- 
nötig, jede  handschriftliche  Korrektur  für  diese  "Miszellen" 
als  Lesart  anzugeben.  Mehr  Bedeutung  haben  die  "Münd- 
lichen Äußerungen";  aber  ihr  Umfang  ist  zu  gering,  als 
daß  sie  eine  besondere  Abteilung  für  sich  hätten  in  An- 
spruch nehmen  können. 

Was  selbst  für  das  Miszellenformat  nicht  ausreicht  und 
doch  vielleicht  vermißt  werden  würde,  sind  die  charak- 
teristischen Glossen  und  poetischen  Notizen  in  den  Schul- 
heften Büchners.  Diese  Schulhefte,  denen  auch  die  S.578ff. 
mitgeteilten  Aufsätze  und  Reden  entnommen  sind,  haben 
sich  in  des  Dichters  handschriftlichem  Nachlaß  miterhalten, 
ja  sie  machen  sogar  den  größten  Teil  davon  aus.^  Für  die 
Geschichte  des  Schulunterrichts  in  Deutschland  mögen 
diese  Hefte,  in  denen  fast  alle  Lehrstufen  und  Fächer  ver- 
treten sind,^  von  größererBedeutung  sein,  für  die  Erkennt- 
nis der  geistigen  Entwicklung  Büchners  hingegen  ist  die 
Ausbeute  gering.  Verhältnismäßig  noch  die  stärksten  An- 

^  Einiges  andere  von  Büchners  Schularbeiten  befindet  sich 
in  dem  Archiv  des  Ludwig-Georg-Gymnasiums  zu  Darm- 
stadt, das  Büchner  bekanntlich  nach  kurzer  Vorbereitung 
in  einem  Privatinstitut  besucht  hat,  sowie  in  dem  Besitz 
von  Dr.  Georg  Büchner,  einem  Neffen  des  Dichters,  eben- 
falls in  Darmstadt;  von  beiden  Seiten  kam  der  Bescheid, 
daß  darunter  Wesentliches  nicht  mehr  enthalten  ist,  auch 
nicht  die  1831  beim  Verlassen  des  Gymnasiums  gehaltene 
Abgangsrede.— 2  Es  sind  vorhanden,  in  Heften  oder  in- 
einandergelegten  Bogen,  meist  nach  Diktat  geschrieben: 

a)  kurz  klassifizierende  Beschreibungen  aus  der  Botanik; 

b)  "Fragen  u.  Antworten  aus  der  ebnen  Geotnetrie  als  Ein- 
leitg.  in  dieselbe";  c)  Elementares  aus  der  Sittenlehre;  d)  ein 
geographischer  Kursus,  Italien,  die  Schweiz  u.  Asien  behan- 
delnd; e)  Geschichtliches:  einfache  Skizzen  aus  d.  röm.  Kaiser- 
zeit und  eine  umfangreichere  Geschichte  Roms;  f)  aus  dem 
lateinischen  Unterricht:  zwei  Hefte  Übungen  zur  lat.  Syntax, 
l"'n:)ersetzungen  aus  Ciccros  Reden  gegen  Catilina  und  für 
Maicellus,  "Lateinische  Aufsätze.   Sommersemester  1829, 


MISZELLEN  761 

regungen  gab  dem  jungen  Büchner  der  deutsche  Unter- 
richt: ihm  entstammen  auch  sämthche  S.  578 If.  wieder- 
gegebenen Arbeiten,  in  denen  wir  wenigstens  einen  Hauch 
vom  Geiste  Büchners  spüren  können.  Die  Übersetzungen 
aus  Ciceros  Reden,  die  Prosaübertragungen  aus  dem 
Homer  oder  Sophokles  erheben  sich  nicht  über  das  Niveau 
von  besseren  Schülerleistungen.  Und  sonst  zeigt  sich  eine 
persönliche  Note  tatsächlich  nur  noch  in  den  GLOSSEN 
UND  NOTIZEN,  mit  denen  der  ältere  Schüler  aus  Wider- 
spruch gegen  den  toten  Schulkram,  aus  Langeweile  und 
Übermut  den  Rand  oder  freie  Textstellen  in  einigen  Heften 
beschrieben  hat.  Hierzu  könnte  einfach  auf  F,  S.  XXff. 
verwiesen  werden,  wenn  nicht  Franzos'  Darstellung  be- 
richtigt und  ergänzt  werden  müßte:  Die  S.  XXI  zitierte 
Bemerkung  zu  dem  Memorialvers  aus  der  lateinischen 
Syntax  ist  nicht  vorhanden,  obwohl  sich  das  Heft  mit  dem 
Memorialvers  selbst  erhalten  hat  und  auch  bestimmt  von 
Georg  Büchner  herrührt;^  das  gleiche  gilt  von  der  ebendort 
mitgeteilten  Glosse  zu  einer  Stelle  der  Rede  Ciceros  für 
Marcellus:  das  Manuskript  ist  erhalten,  hat  aber  an  der  be- 
treffenden Stelle  nicht  das  F,  S.  XXI  zitierte  übermütige 
"Einschiebsel";  die  dritte  auf  derselben  Seite  von  F  mit- 
geteilte Bemerkung  zu  dem  Paragraphen  "Von  dem  Nutzen 
der  Münzkunde"  lautet  wörtlich,  mehr  als  die  letzte  Seite 
des  betreffenden  Heftes  einnehmend: 

Ich  bin  so  fest  von  ihrem  Nutzen  überzeugt,  daß  ich  es  für  höchst 
überflüssig  halte,  auch  nur  einen  Grund  hier  aufzuschreiben,  die 
Symptome,  die  ich  zufolge  dießes  Studiums  an  mir  selbst  bemerkt, 
sind  unleugbar,  und  die   Langeweile  und  Abspannung,    die 

Prima";  g)aus  demGriechischen: Präparixtionen  zur  Od3^ssee, 
"Version[en  in  Prosa]  aus  [dem  Ajax  u.]  der  Ilias";  h)  ''Von 
der  lyrischen  Poesie  [der  Griechen].  Vorgetragen  von  H.  Pro- 
fessor Weber.  Winter-Semester.  Selecta.  1829-30";  i)  Kunst- 
geschichtliches,  vier  Hefte:  "über  die  Geschichte  der  Bild- 
hauerkunst"; Hermen,  Reliefs,  Gemmen  und  Münzen;  Holz- 
schnitt, Mosaik,  Archäologie  und  Paläographie;  Malerei  u. 
Farbenlehre;  k)  aus  dem  deutschen  Unterricht:  ein  Heft  von 
1825,  enthaltend  Satzlehre,  Gedichte  u.  Aufsätze  (vgl.  S.770, 
Anm.);  ein  Heft  mit  den  Stücken  S.  579ff.  u.  589!;  ferner 
die  Rede  über  Kato  und  die  Kritik  (S.  590 ff.). 
^  Auf  der  diesem  Memorialvers  vorhergehenden  Seite  steht 
ein  stenographischesZeichen  für  das  Wort  "nicht"  (ein  Kreis 
mit  Punkt  darin),  das  noch  in  den  Handschriften  der 
philosophischen  Vorlesungen  wiederkehrt. 


762  LESARTEN 

eine  Folge  dießer  höchst  zu  •  Wissenschaft  waren,  genügen  schon 
hinlänglich  in  den  Augen  jedes  tiefer  in  den  Geist  der  Philologie 
eingedrungenen  Philologen  als  der  schlagendste  l^eweis  für  den 
Nutzen  dießes  Studiums.  Ich  muß  daher  wirklich  den  H.  Dr.  er- 
suchen, mich  mit  allen  fernem  Erläuterungen  zu  verschonen. 
Scharfsinn,  Verstand,  gesunde  Vernunft!  lauter  leere 
Namen;  eine  Dung-Kaktee  [?j  von  Gelehrsamkeit  das  allein  würdige 
Ziel  alles  menschlichen  Strebensü!  Es  ist  vollbracht! 

Der  Trödel,  der  mit  tausendfachem  Tand 

In  dießer  Mottenwelt  mich  dränaet ! 


Endresultat  dießes  geprießen  Studiums! 

G.  Büchner 

Die  Worte  also,  die  Franzos  dem  Hefte  als  Motto  vor- 
gesetzt wissen  will,  stehen  in  Wirklichkeit  am  Schluß  des- 
selben. Die  zollhohen  Buchstaben  "Lebendiges!  was  nützt 
der  tote  Kram!",  die  F,  S.  XXII  aus  dem  Hefte,  das  im 
letzten  Teil  die  Paläographie  behandelt,  zitiert,  lassen  sich 
wiederum  dort  nicht  finden;^  wohl  aber  starrt  uns  aus  den 
letzten  Seiten  dieses  Heftes  ein  Gekritzel  persönHcher 
Notizen  und  Glossen  in  solcher  Fülle  entgegen,  wie  sie  uns 
F  nicht  ahnen  läßt.  Auf  der  viertletzten  Seite  des  Heftes, 
deren  Text  sich  mit  semitischen  Schriftarten  beschäftigt,  ist 
der  Rand  und  auch  der  Schlußteil  der  Seite  mit  ganz  an- 
deren Ergüssen  vollgekritzelt;  viel  ist  durchstrichen,  ande- 
res kaum  lesbar,  doch  läßt  sich  entziffern: 
[Am  Rande:]  [Am  Schluß  der  Seite:] 

In  jungen  Tagen  ich  lieben  tat,     Doch  [?]  es  singen  die  Zungen 
Das  däuchte  mir  so  süß,  Frisch,  fröhlich  und  frei  [?J, 

Vom  Morgen  bis  zum  Abend  spät  Die  mutigen  Söhne  der  Turner  •  • 
Behagte  mir  nichts  wie  dieß.         Sternaugen  [?J  funkeln,  dieSchwer- 

ter  sind  bloß. 
Und  oh  eine  Grube  gar  tief  und  Laut  schallet  der  Freiheit  Trom- 

bohl  petenstoß. 

Für  solchen  Gast  muß  sein.2         ^^f^  ^jg  posaunen  erklingen, 
[Folgen  fünf  gestrichne  Zei-  Gräber  und  Särge  zerspringen, 
len,  dann:]  Freiheit  steht  auf. 

Er  ist  lange  tot  und  hin, 

Tot  und  hin,  Fräulein—  [Folgen  zwei  gestrichne  Zei- 

Ihm  zu  Raupten  ein  Rasen  grün,  len,  dann:] 

1  Allerdings  fehlt  ein  Blatt;  aber  "§  11:  Pelasgische  Buch- 
staben" und  "§  1 2:  Hieroglyphen"  kann  dem  Zusammenhang 
nach  nicht  darauf  gestanden  haben.— ^  Vgl.  633 9 f. 


MISZELLEN  763 

Ihm  zu  Füßen  ein  Stein.  {Wenn  die  in  meinem  Yrxterland 

Wie  erkenn  ich  dein  Treulieb  verkümm.ert  ? 

Vor  den  andern  nun?  So  sei  mein  Blut  doch  deine  letzte 

An    dem   Muschelhut    und   Stab  Ölung, 

und  den  Sandelschuhn.i      Dann    greif   ich    freudig    in    den 

Kranz  der  Dornen, 
{Und  Freiheit,  Freiheit  Hell  klingen  mir  die  ewigen  Sic- 

sci  mein  •  •  }  geshürner.} 

[Folgen  noch  zwei  gestri- 
chene und  zwei  unlesbare 
Zeilen.] 

Das  nächste  Blatt  des  Heftes  fehlt;  die  dann  folgende 
Seite  trägt  den  Titel  "Geschichte  der  Entzifferung  der 
Hieroglyphen"  und  ist  mit  zugehörigem  Text  bis  auf  das 
letzte  Drittel  beschrieben;  dann  folgen  hingekritzelte  Stoß- 
seufzer Büchners,  von  denen  diese  zu  entziffern  sind: 
o  's  ist  grausig  wichtig,  wenn's  nur  nicht  so  •  langweilig  war.   Philo- 

log.  Schandvolk  •  •  •  's  tut  mir  leid  •  •  •  Donner  u.  Doria Hilf 

Teufel  mir  die  Zeit  d.  Angst  [V]  verkürzen! — Vier  Uhr!  Gottheit — 
o  mon  dieu!  will  denn  die  Zeit  nicht  verrinnen?  — ,  die  \\'elt  ist 
stehn  geblieben  •  •  • 

Darunter  malt  Büchner  seinen  Namen,  ermanntsich  dann 
zur  neuen  Kapitelüberschrift  "Von  der  griechischen  Paläo- 
graphie",  bricht  aber  sogleich  danach  in  erneute  Klagen 
aus: 

Gelehrte  Dungkaktee  1?^,  wie  ich  mir  all  das  Zeug  in  den  Hirn- 
kasten jagen  wollt I  )unnerwetterkicl  nochmal.  rdasgischc 

l'.uchslabeu! 

Die  nächste  Seite  bringt  ein  wahnsinniges  Gekritzel,  daß 
man  an  den  irren  Lenz  erinnert  wird,  der  "Hieroglyphen! 
Hieroglyphen!"  an  die  Wand  schreibt;-  aus  dem  wirren  Ge- 
kritzel heben  sich  nur  einzelne  Worte  hier  und  da  lesbar 
ab,  wieder  aus  Ophelias  Wahnsinnssang  z.  B.;  im  übrigen 
ist  auf  dieser  Seite  nur  am  Rand  entzifferbar: 

Zu  Lauterbach  hast  du  dein  Strumpf  verlorn, 

Ohne  Strumpf  du  kommst  heim, 

Drum  geh  nur  wieder  nach  Lauterbach, 

Kauf  dir  zu  dem  ein'  noch  ein'. 
Die  letzte  beschriebene  Seite  bringt  nur  noch  Büchncrisclie 


1  Der  geistesgestörten  Ophelia  Sang  in  "Hamlet"  IV  5. 

2  Vgl.  1021111.  und  10117. 


764  LESARTEN 

O  du  gelehrte  Bestie,  lambc  me  in  podice. 
's  ist  scheußlich,  horribile  dictu. 
O  schaudervoll!  höchst  schaudervoll! 
Gott  sei  oreiobt,  es  ist  das  letztemal. 


Hier  ruht  ein  junges  Öchselein, 

Dem  Schreiner  Ochs  sein  Söhnelein, 

Der  liebe  Gott  hat  nicht  gewollt, 

Daß  es  ein  Ochse  werden  sollt. 

Drnm  nahm  er  es  aus  dießer  Welt 

Zu  sich  ins  schöne  Plimmelszelt; 

Der  Vater  hat  mit  Vorbedacht 

Kind,  Sarg  und  Grabschrift  selbst  gemacht. 

Den  ganzen  Schülernachlaß  gäbe  man  gern  hin  für  zwei 
Manuskripte,  die  leider  als  verloren  bezeichnet  werden  müs- 
sen: eine  politische  Satire  und  ein  Tagebuch  des  Dichters. 
Das  satirische  Gedicht  "HEER  DU  THIL  MIT  DER 
EISENSTIRN  und  Schreinermeister  Kraus  von  Butzbach" 
ist  nach  Nöllners  aktenmäßiger  Darlegung  (S.  105)  "durch 
eine  bei  Schreiner  Kraus  zu  Butzbach  auf  eine  falsche  ano- 
nyme Anzeige  hin  vorgenommene  Haussuchung  nach  einer 
Druckerpresse  veranlaßt  worden  und  auf  Verhöhnung  der 
Behörden,  auf  deren  Anordnung  diese  Haussuchung  voll- 
zogen wurde,  berechnet".  "Spott  und  Hohn",  heißt  es  fer- 
ner S.  196,  "sprach  sich  schon  am  Tage  jenes  Aktes  aus; 
ein  gedrucktes  Gedicht  voll  heftiger  Schmähungen  und 
Hindeutung  auf  die  Anwendung  der  'Laterne'  wurde  bald 
darauf  insgeheim  verbreitet."  Daß  Büchnern  der  Vorfall 
bekannt  war  und  ihn  köstlich  amüsierte,  zeigt  der  Brief 
vom  2.  7.  34;  daß  er  aber  der  Verfasser  jenes  Gedichtes  ist, 
verrät  uns  erst  Wilhelm  Schulz  in  seinem  Buche  "Geheime 
Inquisition,  Zensur-  und  Cabinetsjustiz  im  verderblichen 
Bunde"  (S.  13):  "Auch  dieses  Spottgedicht  kam  vom  ver- 
storbenen Georg  Büchner,  wie  ich  von  diesem  selbst  ge- 
hört habe.  Es  läßt  sich  also  voraussetzen,  daß  es  voll  des 
schlagendsten  Witzes  ist.  t)berdies  ist  es  nach  der  be- 
kannten Volksweise  verfaßt:  'Ich  bin  der  Doktor  Eisen- 
bart' und  pflanzte  sich  leicht  von  Mund  zu  Mund  fort." 
Auf  diese  "Probe  politisch-satirischer  Lj-rik  Büchners"  hat 
neuerdings  Arthur  Plocli  im  Feuilleton  der  Frankf.  Ztg. 
vom  7.  6.  1905  nachdrücklich  hingewiesen.  Seine  Bemü- 
hungen, das  Gedicht  in  Butzbach  ausfindig  zu  machen, 
sind  leider  erfolglos  geblieben,  wenn  auch,  wie  er  schreibt. 


POETISCHE  AN  SATZE  765 

zwei  Personen  sich  noch  erinnerten,  es  gehört  zu  haben. 
Daß  es  von  Mund  zu  Munde  ging,  besagen  auch  die  gericht- 
lichen Strafen,  die  für  seine  Verbreitung  erteilt  wurden. 
Gewiß  wird  das  Gedicht  den  Prozeßakten  gegen  Weidig 
und  Genossen  beigelegen  haben;  aber  diese  Akten  sind, 
wie  schon  zum  "Hessischen  Landbolcn"  bemerkt  wurde 
{S.733),  vernichtet  worden.  Die  Hoffnung,  uusreAusgabe  um 
dies  Kabinettstück  politisch-satirischer  Laune  des  Dichters 
bereichern  zu  können,  mußte  daher  aufgegeben  werden. 
Und  verloren  ist  auch  des  Dichters  TAGEBUCH,  dessen 
Caroline  und  Wilhelm  Schulz  Erwähnung  tun  (S.652,  656). 
Die  Stelle,  die  Wilhelm  Schulz  in  seinem  Nachruf  daraus 
mitteilt,  ist  die  einzig  erhaltene. ^  Über  den  Verbleib  des 
Tagebuchs  erfährt  man  nur  zufäUig  et\vas  aus  eineniFeuille- 
ton-Artikel  von  Franzos  in  der  Voss.  Zeitg.  vom  4.  i,  1902: 
danach  besaß  Minna  Jägle  auch  dies  Manuskript,  "das 
nach  der  Ansicht  aller,  die  es  gelesen,  von  größtem  Werte 
war".  Das  Tagebuch  ist  folglich  mit  dem  Tietro  Aretino' 
und  den  Briefen  Büchners  an  seine  Braut  von  dieser  vor 
ihrem  Tode  vernichtet  worden. 


POETISCHE  ANSÄTZE  (S.  573-577). 


Die  Anordnung  mußte,  soweit  keine  Zeitangabe  vorliegt, 
auf  Grund  rein  graphischer  Entwicklungsmerkmale  er- 
folgen, für  die  die  Schulhefte  genug  Material  boten. 

6.  573.  2ff.  [DEM  VATER  ZUGEDACHT]:  [teljt  auf  einem 
Sogen  üon  [larfem,  faft  glattem  kopier  in  S^relb^eftformat,  mit 
9?anb  unb  23unbfteg:  für  bic  einseinen  3ctlen  l)ai  fid)  ber  S^reiber 
Stnien  mit  5Blet[ti[t  gcßcgen;  bef^ricben  ftnb  bic  erften  beiben 
Seiten  doII,  üon  ber  brittcn  bie  gtöfeere  ^nlfle;  töQ^r[(f)einIi(^  f)at 
bas  nur  fragmentarifc^  erhaltene  üeine  Sc^rtftiiüc!  ur[prünglt(^ 
aus  einem  Doppelbogen  beftanben,  oon  bem  bie  erjte  Seite  tüof)I 

1  Doch  mag  hier  noch  eine  andere  Äußerung  Büchners  ver- 
zeichnet werden,  durch  deren  bittere  Ironie  ja  auch  ein 
gewisser  Bekenntniswert  hindurchblitzt;  auf  einer  im 
Nachlaß  befindhchen  unausgefüllten  deutschen  Enskrip- 
tionslistc,  offenbar  der  Gießener  Universität,  stehen  quer- 
gekritzelt die  Worte:  ''Boire  sans  soif  et  faire  ramour  en  tout 
femps,  ü  11' y  a  qiie  ce  qui  noiis  distingue  des  aittres  hetes. 
G.  Büchner." 


766  LESARTEN 

nur  ben  2:itel  ober  bie  äBibniung  trug;  S^itft  luie  ge[to(^en  (Iro^ 
gtueier  5\orrc!turen),  nidjt  üor  1825;  rei^ts  unter  ber  legten  !^dk 
fte^t  in  beuti(^cr  S^rtft  [tolj  ber  9lame  "®corg  Sürf)ner". 
6.  574.  inff.  [DER  MUTTER]:  nur  erljaltcn  burd)  eine  ^fc^rift, 
bie  i?ui[e  Sü^ner  roof)!  für  5-ran30s  niac^te^  unb  mit  folgenben 
SBorten  einleitete:  "(Sin  ^ugenbgebii^t  von  ©eorg,  bas  er  5U  einem 
(f)clnirt5tag  ber  SJhitter  nerfagt.  (£5  trägt  leiber  fein  X^dum,  aber 
fi^ujerlid)  roar  er  bamals  über  [ed)5e^n  ^f*^^^-" 
(B.  575.  1  ff.  Ein  kleines  Weilinachtsgeschenk  ...:  erljnlten  auf 
einem  Doppelbogen  [tarten  Rapiers  mit  2Baffer3ei(^en  (2Bappen 
unb  JL),  in  Quartformat,  mit  breitem  Sunbfteg;  für  bie  i^txkw 
finb  toieber  Linien  mit  SBIeiftift  ge5ogen,  bie  Schrift  i[t  eltoas  toei* 
&)n  unb  Iä[figer  als  bei  bem  erftcn  Stüd;  bie  erfte  Seite  trägt  nur 
bie  5\uriiüüber[(^rift,  bie  ^toeite  unb  [ec^fle  bis  ai^te  Seite  [inb 
frei,  bc^  fte^t  auf  biefer  legten  Seite  mit  ©leiftift,  luo^I  oon  bem 
Did^ter  in  [päterer  ^^\i  geftfirieben,  no(^  folgenbe  2}ariante: 
Nacht 

Wieder  eine  Nacht  herabgestiegen 

Auf  das  alte,  ew'ge  Erdenrund, 

Wieder  eine  Finsternis  geworden 

In  dem  qualmerfüllten  Kerkerschlund. 
9?e(^tsbauonunb  in  gleicher  §öf)c  mit  ber  Öberfdirift  Xacht  fte^t 
nod)  eine  ^<i\\<^,  toouon  nur  ertennbar  ...  stehen  alle  Wunden; 
f)ingegen  i[t  oon  ber  3a^rc53a^I  1835,  bie  F  3ufe^t,  ni(^ts  3U  fel;en. 
S.  576.  "'ff.  LEISE  hinter  düstrem  Nachtgewölke:  erhalten 
auf  einem  Doppelbogen  ftorten  Rapiers  in  Quartformat,  toouon 
nur  bie  erfte  bis  oierte  Seite,  letjtcrc  noc^  mit  einer  Stropf)e,  be= 
fd)vieben  finb;  bie  cin3clnen  ^ixkw  ftcben  luicbcr  auf  231eiftiftltnicn, 
bie  Sdjrifl  iit  etwas  ausgeprägter;  bcn  3wed  biefer  9iieber|d)rift  auf 
bem  oicl  3U  rcidjiid)  bcmcffenen  Doppelbogen  oerrät  loeber  %\id 
110^  aUibmung,  bod)  erwähnt  l'uife  Süifiuer  im  5lnf(^hi^  an  bie 
^bfc^iift  bes  3weiten  3ugcubgebid;'tes  (ogl.  3U  574  J off.)  aud)  biefes 
mit  bcn  51Borten:  "(£in  anbcrcs  (<3cbi(^t  im  9Jiatt!^if)onfd^en  Stil, 
an  eine  oerfallne  S^urgruine,  wobei  (^>eorg,  fooicl  id)  wcij^,  bas 
£)cibclbergcr  Sd)lDB  im  Sinne  tjatte,  tonnte  id)  fcincrseit,  ba  es 
mir  fcl;r  gut  gefiel,  ausiuenbig,  erinnere  mid)  aber  jetjt  nur  nod) 
ciußelner  "ilerfe.  i?eiber  ift  es  au^  nid)t  me^r  uor^anben,"  roie  ein 
brittes  (5cbid)t,3  auf  bcffen  Sn^alt  id)  mid)  aber  nid)t  enifinne." 

^  (!!:r[)alten  in  ^üd^ners  9iad)Ia^  auf  einem  2>riefbogen.— -Offcn= 
bar  ift  es  f)interber  bod)  nod)  aufgefunben.— ^  iliieneid)t  bas  britte 
bicfcr  'ifusgabe. 


)  767     c 
SCHULAUFSÄTZE  UND  SCHULRKDEN(S.  578-604). 


Von  der  chronologischen  Anordnung  gilt  das  zu  den  "Poe- 
tischen Ansätzen"  Bemerkte.  Die  Aufnahme  der  schwäbi- 
schen Übertragung  von  Schillers  Gedicht  "Graf  Ebcrliard 
der  Greiner",  die  F,  S.  XXIII  zum  Teil  anführt,  wurde  nicht 
in  Betracht  gezogen,  da  sie  gewiß  keine  selbständige  Lei- 
stung Büchners  ist,  sondern  von  dem  Subkonrektor  Baur 
genau  so  wie  die  übrigen  Gedichte  diktiert  sein  wird^— 
Von  Büchners  Schulreden  hat  sich  die  ABGANGSREDE 
nicltl  erhalte)};  denn  dies  ist  nicht  die  Kato-Rede,  wie  F, 
S.  XXX  irrtümlich  angibt:  Büchner  ist  nach  den  Feststel- 
lungen Zobels  von  Zabeltitz  Ostern  1831  abgegangen, und 
worüber  der  Abiturient  gesprochen,  überliefert  uns  das 
Gymnasialprogramm  von  1831,  das  für  den  30.  März  ver- 
kündigt: "Karl  Georg  Büchner  ward  im  Namen  des  Mene- 
nius  Agrippa  das  auf  dem  heiligen  Berg  gelagerte  Volk 
zur  Rückkehr  nach  Rom  in  lateinischer  Sprache  mahnen." 
Diese  lateinische  Rede  ist  nirgends  aufbewahrt.  (Vgl.  zu 
596i.^ff.) 

S.  578.  iff.  ÜBER  DIE  FREUNDSCHAFT:  aus  bcni  beut= 
[c^eii  Unlertic^tsf)cit  uom  ^sc^^xe  1825  entnomnien,  luo  es.  auf 
S.  50-52  [ler;t. 

S.579.  off.HELDENTOD  DER  VIERHUNDERT  PFORZ- 
HEBIER:  erhalten  in  einem  §eft,  bas  [onft  nur  no(^  ba5  5Bru(^= 
[lud  S.  589f.  enthält,  ^uf  beni  [c^iuorscn  I)e(!el  fte^t  oon  frember, 
offenbar  fpäler  regiftrierenber  §anb  mit  9?otftift:  "1828.  X)eut[(^"; 
F  gefeilt  es  S.  XXVIII  ben  "^3Iuf[ä^en  von  18:J0  unb  18:51"  3U, 
bod)  ^anbelt  es  \\ö)  bem  Stil  nac^  um  eine  5?ebe,  feinen  ^uffalj. 

1  Diese  "Gedichte  für  G.  Büchner.  1825.  Bei  Herrn  Sub- 
konrektor Baur"'  stehen  in  dem  deutschen  Unterrichts- 
heft hinter  der  Satzlehre;  es  sind  folgende:  "Der  Graf  von 
Habsburg'",  ein  Stück  aus  Strickers  "Karl  dem  Großen"  in 
Hexametern,  Schillers  "Berglied",  "Graf  Eberhard  der 
Greiner"  in  schwäbischer  Mundart,  "Das  Eleusische  Fest^' 
mit  Glossar,  "Der  Antritt  des  neuen  Jahrhunderts".  Mit 
S.  43  hebt  dann  die  letzte  Abteilung  "Aufsätze"  an;  sie 
enthält  folgende  Stücke:  "Lebensbeschreibung  Ulrichs  von 
Hütten",  "Lebensbeschreibung  des  Epaminondas"',  "Über 
die  Freundschaft",  "Geschichte  des  Messenischen  Krieges". 
Das  Heft  schließt  mit  des  Lehrers  \'ermcrk:  "Die  Hand- 
schrift ist  sehr  schlecht:  denn  sie  ist  sehr  undeutlich." 


768  LESARTEN 

S.  589.  ^u].  ÜBER  DEN  TRAUM  EINES  ARKADIERS: 
r)inter  bem  Doriöeu  ^tuffa^  tm  [elben  $efte  jte^ent)  unh  bort  mitten 
auf  einer  Seite  abbrerf)enb,  obtöof)!  bas  $eft  nod)  uiele  leere  (Seiten 
entl^ält;  bie  uielen  i^orrefturen  laffen  bas  Srui^ftüd  als  einen  Gnt^ 
iDurf  erfc^etnen. 

S.  590.  Süff.  [KRITIK  AN  EINEM  AUFSATZ  ÜBER  DEN 
SELBSTMORD]:  erhalten  in  einem  befonberen  .^eft,  auf  beffen 
iüei(^em  Dedel  nur  G.  Büchner  [tefit;  uon  fpäterer  §anb  ift  mit 
5\Dift}ft  hinzugefügt  "Kritik.  1S31":  ift  bie  3e^^ö"9«&^  nrfjtig, 
müfete  bie  ^(rbeit  ]^  tut  er  ber  5latO'5iebe  fielen.  Xie  gefperrten 
2BDrte  [inb  Don  Sü^ner  unterftrirfjen  toorben. 
S.  596.  i8ff.  [KATO  VON  ÜTIKA]:  erhalten  auf  breiineinanberge- 
legten  unb  gel^efteten  Sogen  in  (Sro^quarlformat;  bie  le^te  Seite  ift 
freigeblieben,  bie  erfte  beginnt  glei(^  mit  bem  Xtxi,  hoä)  ift  öon  anbe= 
rer^anb  mit  anberer  2inte fiinsugefügt  Rede  zurV^erteidigung 
desKato  von  Utika,  gehalten  auf  dem Gymnasial-Rede- 
aktus  in  Darmstadt,  im  Herbst  1831.  Die  i\ato*9^ebe  uer« 
funbigt  febo^  bas  ©i^mnafialprogramm  bereits  für  hcn  29.  Sept. 
1830  mit  ben  2Borten:  "ilarl  ©eorg  Sü^ner  wirb  in  einer  beut» 
f^en  5iebe  ben  ilato  von  lltifa  3U  re^tfertigen  fuc^en."  Die  Sper= 
rungen  entfpred)en  röieber  ben  Unterftrei^ungen  ^Büc^ners.  'i^xan= 
30s'  IJlbtoeid^ungen  ge^en  auf  Äorrefturen  surüd,  bie  oon  anberer 
§anb  unb  mit  anberer  Sinte  in  bem  9Jtanuf!tipt  vorgenommen 
ujorben  finb,  um  ben  Stil  5U  glätten. 


MÜNDLICHE  ÄUSSERUNGEN  (S.  605-608). 


Diese  Zusammenstellung  mündlicher  Äußerungen  Büch- 
ners darf  nicht  mit  allzu  kritischen  Augen  angesehn  wer- 
den. Selbst  diejenigen  Mitteilungen,  die  unmittelbar  auf 
Ohrenzeugen  zurückgehn,  von  der  mittelbaren  Überliefe- 
rung Franzos'  ganz  zu  schweigen,  beruhen  nur  auf  Erinne- 
rungen, die  zum  Teil  weit  zurückliegen,  und  sind  dement- 
sprechend einzuschätzen.  Insofern  jedoch  wenigstens  in- 
haltlich die  wiedergegebenen  Berichte  ein  wirkliches  Echo 
geäußerter  Ansichten  und  Empfindungen  Büchners  dar- 
stellen können,  verdienten  sie,  in  dieser  Ausgabe  berück- 
sichtigt zu  werden. 

Nicht  aufgenommen  sind  die  Worte  des  Fieberkranken,  die 
65O20ff.  verzeichnet  sind— obwohl  sie  nicht  im  Delirium, 
sondern  "nachdem  ein  heftiger  Sturm  von  Phantasien  vor- 
über war",  gesprochen  zu  sein  scheinen.  Franzos  hat  sie 


MÜNDLICHE  ÄUSSERUNGEN  769 

trotzdem  nicht  ernst  genommen  und  diesen  Standpunkt 
gegen  einen  Jugendfreund  Büchners,  den  Pfarrer  Luck, 
vertreten,  wie  aus  dessen  Antwortbriefen,  die  sich  in  Büch- 
ners Nachlaß  befinden,  zu  ersehen  ist.  ^Merkwürdig  ist  nur 
dabei,  daß  sich  Franzos  für  seinen  Standpunkt  auch  auf 
des  Dichters  Tagebücher  beruft,  die  er  doch  selbst  nie  ge- 
sehen hat.^  Nachzutragen  wäre  endlich  noch  die  Mitteilung 
eines  Jugendfreundes,  den  F  S.  XXXI  zitiert: 
Ich  bin  überzeugt,  daß  Büchner  bereits  in  der  Prima  des  Gymna- 
siums ein  radikaler  Atheist  war.  Mit  der  Kirche  war  er  schon  früh 
fertig.  So  sagte  er  mir  einmal,  noch  in  unserer  Knabenzeit:  "Das 
Christentum  gefällt  mir  nicht — es  ist  mir  zu  sanft,  es  macht  lamm- 
fromm." Die  Äußerung  ist  mir  in  Erinnerung  geblieben,  weil  ich 
mich  damals  so  sehr  darüber  entsetzte. 

Wenn  Franzos  fortfährt:  "Es  stimmt  dazu,  wenn  wir  in  des 
Knaben  Religionshefte  neben  dem  Diktat  'Mit  der  Ehr- 
furcht vor  Gott  ist  die  Demut  unzertrennhch  verbunden' 
eine  Garnitur— von  Fragezeichen  finden",  so  kann  dies 
nicht  bestätigt  werden:  die  zitierte  Stelle  findet  sich  zwar 
auf  der  Doppelbogenlage,  die  Elementares  aus  der  Sitten- 
oder Religionslehre  enthält,  aber  ohne  jene  "Garnitur  von 
Fragezeichen".^  Wer  jener  Jugendfreund  Büchners  ist,  sagt 
Franzos  nicht;  der  weiterhin  von  ihm  zitierte  zweite  Ge- 
währsmann hingegen,  nach  dessen  Überzeugung  Büchner 
"damals  zwar  ein  kühner  Skeptiker,  aber  nicht  Atheist  war", 
istausseineminBüchnersNachlaßerhaltenenBrief  anFran- 
zos  festzustellen:  es  ist  der  Gymnasialprofessor  Friedrich 

^  Luck  schreibt  antwortend  am  20.  9.  78  an  Franzos: 
"Was  Büchners  pohtische  und  religiöse  Ansichten  und 
Strebungen  anlangt,  müssen  allerdings  die  Ihnen  vor- 
liegenden Akten  über  und  Tagebücher  von  ihm  maß- 
gebend für  Sie  sein",  und  auf  der  nächsten  Briefseite  noch- 
mals über  Büchners  Stellung  zum  Christentum:  "Auch 
hierin  sind  seine  Tagebücher  entscheidend."  Von  den 
Tagebüchern  muß  also  Franzos  geschrieben  haben,  ob- 
wohl er  sie  selbst  nicht  kannte:  vgl.  S.  765;  auch  Ludwig 
oder  Wilhelm  Büchner  kannten  das  hinterlassene  Tage- 
buch schwerlich,  wenn  es  in  Minna  Jägles  Besitz  kam,  und 
Wilhelm  Schulz,  der  es  kannte,  lebte  nicht  mehr,  um  Fran- 
zos darüber  Auskunft  zu  geben. — ^  Franzos  müßte  denn 
ein  schwaches  Bleistiftzeichen  am  Rande,  das  man  als 
Fragezeichen  deuten  könnte,  für  eine  Äußerung  des  Dich- 
ters gehalten  haben;  Büchner  hat  aber  sonst  alle  Glossen 
in  seinen  Schulheften  mit  Tinte  geschrieben. 

BÜCHNER  49. 


770  LESARTEN 

Zimmermann,  dessen  Meinung  übrigens  auch  der  Pfarrer 
Luck  teilt. 

S.  605.  9  Erinnerung  eines  Jugendfreundes:  £ud  \\i  es  ntd[)t, 
t^a  [eine  im  9Iacf)Ia^  Sudaners  befinbltc^en  fe^r  ausführlichen  5D?lt= 
teilungen  an  ^i^an^os  bie  beiben  er[tcn  (Erinnerungen  üon  6.  605 
m(^t  enthalten;  man  fönnte  an  (Seorg  3i"^"ißi^"^cinn  benfen,  ber  bie 
t^eologifc^e  i^aufbal^n  einfc^lug,  oon  bem  [i(^  aber  feine  HJlitteilung 
im  9la(t)Iafe  5Büd)ners  bcfinbet,  tDäl)renb  |ic^  bod)  bie  beiben  23riefe 
[eines  5Brubers  an  gransos  bort  erljalten  f)aben  |  i4  Ich  habe  An- 
lagen zur  Schwermut:  üielleid)t  bo^  nur  eine  brieflid^e  ?iufec= 
rung,  benn  es  Reifet  N,  S.  4:  "Die  i^m  beinahe  uncrträglid)  [(^ei« 
nenbe  3^tennung  oon  [einer  33raut  erseugte  in  i^m  toäl^renb  [eines 
©iefeener  ^ufentijalis  eine  trübe  unb  3erri[[ene  (5emüts[timmung, 
bie  [ic^  in  [einen  33riefen  ^äufig  aus[pric^t  unb  ben  [on[t  [o  lebcns« 
frol)cn  jungen  SJlann  [agen  läfet ..."  |  i5ff.  Einmal  apostro- 
phierte er  mich  . . .:  entnommen  aus  Lucks  aUitteilungen  (ogl. 

S.  632  30 ff.)  I  i^y  19  Link:  lies  Luck  |  20ff.  Die  Versuche 

Seder  bemüht  \\ä)  groar,  toie  er  cor  (5eri(i)t  au5[agt,  "Sü(^ner  in 
[einen  eigenen  SBorten,  beren  i<^  mi(|  no(^  jiemlid)  genau  erinnere, 
reben  ju  Ia[[en"  (^Röllners  "5lftenmäfeige  Darlegung"  S.  420,  F 
(5.  409),  aber  ange[i^ts  ber  ^usfu^rli(^feit  [einer  SBiebergaben 
toerben  [te  als  ^ufeerungen  Sü^ners  tool^I  nur  cum  grano  salis 
auf5ufa[[en  [ein. 

S.  607.  32-36  Ich  schreibe  im  Fieber  •  •  •  Zum  Bruder  Wilhelm: 
Die  SBorlc  flingen  SBü(^neri[^,  bo^  [te^cn  [ie  ni(^t  in  ben  bricf-^ 
Ii(^en  SÖlitteilungen  SBil^elm  58ü^ners  an  giansos,  bie  \\^  eben-« 
falls  in  bes  Dieters  9la^la^  befinben;  oiellei^t  oon  gransos  !on« 
[truiertnad)636  33ff. 

S.  608.  i-ö  Mit  gräßlich  entstellten  Zügen  bis  mein  Todes- 
urteil!": au(^  für  bie[e,  epifd^  [i(^erli(^  oufgepu^te  Dar[teIIung 
eJfransos'  geben  SBil^elm  23ü(f)ners  ^Briefe  feinen  $BeIcg  i  6-8  So 
schieden  beide  bis  Ahnung  hat  sich  erfüllt:  oiellei^t  oon 
gransos  !on[truiert  na^  ben  im  5Rad^Ia^  (Seorgs  befinblic^en  C£r= 
innerungsDcrfen  SBil^elms:  "Do(^  bu  leb  roo^I,  bcroa^re  bi(!)  ben 
(gltem.— C£in  Äufe,  ein  ^änbebrud  unb— nie  [a^  \6)  i^n  roiebct!"  ' 
16-18  Auch  hatte  er  bis  pflegte  er  später  zu  sagen:  eine  Quelle 
ffi^rt  F  ni^t  an,  oicUeic^t  wa^  münbli^cr  Überlieferung. 


)  771  ( 
ANHANG  (S.  609-65 7 j. 


DER  Anhang  soll  bis  zu  einem  gewissen  Grade  die  Lük- 
kenhaftigkeit  derüberlieferung unmittelbarer  Lebens- 
zeugnisse Büchners  ergänzen.  Die  erhaltenen  Briefe  an 
Büchner  sind  schon  inbiographischerHinsicht  außerordent- 
lich wertvoll;  auch  bilden  sie  einen  kleinen  Ersatz  für  ver- 
lorene Briefe  des  Dichters  selbst  an  die  Absender.  Die 
zeitgenössischen  Berichte  aber  ergänzen  uns  das  Bild  vom 
Werden  und  Wirken  Büchners  aus  dokumentarischen 
Quellen  und  persönlichen  Eindrücken.  Mit  dem  Nachruf 
von  Wilhelm  Schulz,  der  noch  einmal  das  Lebensbild  des 
Dichters  kurz  skizziert,  v/ar  eine  natürliche  Begrenzung 
dieses  Anhangs  gegeben;  das  nur  zum  geringsten  Teil  eigene 
Eindrücke  vermittelnde  biographische  Vorwort  Ludwig 
Büchners  wird  hier  niemand  vermissen,  und  ebensowenig 
gehören  hierher  die  zufällig  noch  zu  des  Dichters  Lebens- 
zeit erschienenen  ersten  Kritiken  über  den  'Danton',  die 
rein  literarische,  nicht  persönliche  Zeugnisse  darstellen. 


BRIEFE  AN  BÜCHNER  (S.  611-628). 
— -~^ — 

Mehr  Briefe  an  Büchner  als  die  hier  mitgeteilten  sind,  so- 
weit bekannt,  nicht  vorhanden.  Von  den  mitgeteilten  ist 
der  des  Onkels  Reuß  noch  ungedruckt;  die  beiden  Briefe 
der  Eltern  Büchner  sind  zum  erstenmal  im  Insel- Almanach 
auf  das  Jahr  1923  veröffentlicht  worden;  die  Gutzkow- 
Briefe  brachte  Charles  Andler  (  =  A)  im  Euphorion,  Er- 
gänzungsheft 4  mit  drei  weiteren  Briefen  Gutzkows  an  des 
verstorbenen  Dichters  Braut  zur  Kenntnis,  aber  nicht  in 
der  richtigen  Zeitfolge  noch  überhaupt  mit  der  gehörigen 
Sorgfalt. 

S.  611.  2  ff.  VOM  ONKEL  REUSS:  in  SBü(f)ners  dlad)la^  be- 
finbltci^ei  5Brtef,  mit  ^o[t[tempeI  oom  gleiten  3:age;  bie  5lbrc[[e 
lautet: 

Herrn 
George  Büchner 

Student  der  Medicin 
in 
pressant  Gießen 


772  LESARTEN 

6.  613.  22  durch  Heger:  [o  A,  lies  aber  Heyer. 

6.  614.  5  Daß  Sie  nach  Frankreich  gehen:  offenbar  non  Sü^= 

ner  in  einem  verlorenen  5B riefe  mitgeteilt  |  i3ff.  Lieber,  ich 

habe  ...:   ®u^!otös  3lnttDort  auf  SBüc^ners  SBrief  oon  Einfang 

$DZar5  (S.  544 f.),  benn  er  tueife  i^n  ie^t  in  Straßburg. 

S.  615.   13 ff.  Mein  nach  Darmstadt  geschickter  Brief...: 

^nttoort  auf  einen  verlorenen  Srief  ^Büdiners,  ber  anfragte,  roas 

©u^fotD  na^  Darmftabt  gefd^rieben,  ido^I  aud^  ben  (Empfang  bes 

nac^gefanbten  Honorars  beftätigte  unb  bie  Sereitroilligfeit  aus= 

brüdte,  an  Sauerlänbers  beutf^er  5Iusgabe  23i!tor  §ugos  mit= 

5uarbeiten. 

S.  616.  29  Mannheim,  den  12.  Mai:  ber  gi^nsofe  lieft  März  für 

May  unb  f)at  infolgebeffen  btefen  Srief  ©u^totDS  fäl[(^li(^  als 

fünften  eingeftellt;  abref jiert  ift  ber  58rief  p.  A.  ä  Mr.  Mr.  Lucius, 

a  Strassbourg,  Rue  Guillaume  No  6ß  \  10  Ihre  Novelle  Lenz: 

toieber  ift  ein  verlorener  Srief  Sü(^ners  DDrausjufe^en,  in  bem 

er  erftens  ©u^totos  $D^af)nung  Die  Übersetzung  lassen  Sie 

unterwegs  (61536)  mit  bem  ^intoeis  parierte,  ba^  ©u^fotö  ja 

[eiber  am  3Si!tor  §ugD  mit  überfe^e,  unb  bann  bie  mistige  $0lit« 

teilung  Don  bem  ^lan  einer  Novelle  Lenz  ma^te. 

S.  619.  8  Ihren  jüngsten,  doch  so  willkommnen  Brief:  in 

bem  Sü^ner  ni(f)t  nur  über  die  Zusendung  aus  der  Schweiz 

( 556  7  ff.)  f(^rieb,  f  onbern  au^  die  Verpflichtung  zu  regelmäßigen 

Beiträgen  (558  32  f.)  ablehnte. 

S.  620.  36  In  kurzer  Zeit  drei  Briefe  von  Ihnen:  barunter  ben 

(Empfehlungsbrief  für  bie  Alsa-Bilder  ber  trüber  Stöber  unb 

DieIIei(f)t549  6ff. 

S.  622.  21  Sie  geben  mir  ein  Lebenszeichen:  nämlid^  'btn 

Srief  5621  ff.,    als  5lntroort   auf  (5u^!otöS  Doriges  Schreiben; 

bod^  mufe  in  biefem  au(^  etroas  oon  ben  Ferkeldramen  geftanben 

^aben,  ujorauf  [i^  (Bu^foto  623 12  bejie^t. 

S.  623.  23 ff.  VON  DER  MUTTER:  ber  in  ȟc^ners  9Zac^Ia^ 

befinblii^c  Srief  ^at  ^ojtftempel  oom  glei(^en  3^age  unb  folgenbe 

neue  5Ibre[fe  SBü(i)ners: 

An 
Herrn  Doctor  G.  Büchner 
Wohlgeboren 
Abzugeben  bei  Herrn  in 

Regierungsrat  Zehnder  Zürich, 

in  der  Steinstraße.  In  der  Schweiz. 

S.  626.  5 ff.  VOM  VATER:  ebenfalls  in  Süc^ners  ?la^Iafe  bc= 
finbli(^er  Srief  mit  gleicher  ^brc[[c  toie  ber  oortge. 
S.  628.  14  lies  E.  Büchner. 


^  773  c 
PERSÖNLICHE  ERINNERUNGEN  UND  DOKU- 
MENTE (S.  629-657). 


e.  629.  3ff.  GEBURTS-  UND  TAUFPROTOKOLL:  m\U 
geteilt  oon  ^faner  2ud  an  i^xan^os  im  ^n[(^Iufe  an  [eine  foIgcn= 
hin  (Erinnerungen  {[.  b.)  |  20ff.  L.W.  LUCKS  [[0!]  MITTEI- 
LUNGEN: 2}Dn  Surf  befinben  [i^  in  SBüc^ners  9k(^Iafe  brei 
Briefe  an  '^xan^os  oom  September  unb  Oftober  1878,  unb  bem 
cr[ten  Dom  IL  Sept.  batierten  [inb  auf  brei  engbef^riebenen  Srief-- 
bogen  bie  Don  ^ransos  für  [eine  biDgrap^i[d)e  Ginleitung  erbete* 
nen  "(Erinnerungen  an  ©eorg  Süc^ner,  oon  einem  gleic^alterigen 
;3ugenbgeno[ien"  beigelegt,  oon  benen  bie  9JiitteiIungen  6292üff. 
einen  Slusjug  bilben.  ^\6)t  mitteilensroert  er[(^ienen  nömli^  Suds 
5Iu5la[[ungen  gan5  allgemeiner  ober  blo^  ^i)pot^eti[^er  5trt,  5.  $B. 
über  bie  angebli^e  2ßirfung  ber  paulini[rf)en  Sriefe  auf  Sudaner, 
[oiDie  bie  ^eut  überholte  Dar)teIIung  oon  Süi^ners  Sßer^ältnis  5um 
(5ran!furter  ^tttentat  unb  5um  §e[[i[^en  £anbboten.^  Der  gegebene 
3lu53ug  i[t  in[ofern  noc^  retu[d)iert,  als  bie  etroas  fonfufe  unb 
[prung^afte  (£r3ä!)Iermanier  bes  ^Pfarrers  bur^  23er[c^iebung  ber 
5?ei^enfoIge  einzelner  ^b[(f)nitte  bem  i?e[er  5uliebe  be[eitigt  lüorben 
i[t.  Die  9^amen  ber  ertDöfjnten  ^er[Dnen  [inb  auf  (Srunb  bes  naä)-- 
tragenben  jroeiten  fiudf^en  ^Briefes  oom  20.  9.  in  5^Iammern  ^in= 
5ugefügt,  au^  i[t  bie  9^irf)tig[tellung  ^in[ic^tlid)  äJiinnigerobes,  ben 
Sud  er[t  für  einen  SJIebisiner  t)ielt,  berüd[id)tigt  roorben.  (2on[t 
gelegentlli^  aus  [tili[ti[d)en  (Srünben  Dorgenommene  geringfügige 
Rorretturen  brausen  t)ier  töo^I  nid)t  nod)  öerseic^net  3U  loerben. 
S.  630.  28  beteiligt:  lies  beteiligte  |  38  uns  andern:  lies  uns 
andere. 

S.  632.  32  Link:  lies  Luck;  bcsgl.  633 14  |  36  im  kirchlichem: 
lies  im  kirchlichen. 

3ugefiiQt  [et3ubem^U53ug]^ierno^,u)a5£ud  inbenfelben  "(£rinne* 
rungen"  con  besDid)ters9JJutter  [agt:  Sie  war  eine  ehren- 

i3rran305[eIb[t[c^eintrDeberbie  "(Erinnerungen"  noc^  bie  Sriefeiiuds 
für  [eine  (Einleitung  benu^t  3U  ^aben,  obroo^I  it)m  bie[erfrei[telltc, 
baraus  3U  entnehmen,  roas  i^m  3rDedent[pre(^enb  unb  uerlä^Iid) 
er[^ien.  93ieIIeid)t  wax  i^m  2uä  als  un3UDerIä[[ig  bc5^alb  Der= 
bäc^tig,  roeil  er  Hebbel  gegenüber,  roie  aus  (Emil  5vuh5  §ebbcIbio= 
grap^ie  II,  S.  610  fieroorging,  irrtümlich  Don  einer  Ü^erroidlung 
Süd)ners  in  bas  ^rantfurter  Komplott  1833  ge[prod)en  l)aik  unb 
an  bes  Dieters  SBiebcrannä^erung  an  bas  (Ei)ri[tcntum  au^  nod) 
gran30s  gegenüber  glauben  mochte;  mit  llnre_d)t  Derioirft  aber  gran^ 
3DS  bestoegen  ben  gan3en  5Beri(^t  iluds,  be[[en  3uoerIä[[igfeit  tüir 
an  einer  Stelle  [ogar  nad)prüfen  tonnen:  ogl.  633yf.  mit  76231  f. 


774  LESARTEN 

werte,  charaJrterf  este  deutscheHausfrau.Des  Gegensatzes  zu 
ihrem  Gatten  vollbewußt— dies  versichert  meine  Frau,  die 
sie  als  Mädchen  kannte — ,  war  sie  ohne  alle  Prätension  auf 
außergewöhnliche  Bildung  und  gehörte  nicht  zu  den  fühli- 
gen Frauen,  die  sich  selbst  genießen  und  geltend  machen. 
Diesen  Eindruck  haben  mir  die  wenigen  anfänglichen  Be- 
suche in  Georg  Büchners  Elternhaus  hinterlassen. — 5lu^ 
eine  5iufeerung  über  ©üd^ners  Staut,  btc  [i^  in  ßuös  SBrtef 
Dom  16.  Oft.  ftnbet,  ift  bei  bem  roentgen,  xoas  totr  über  [ie  rot[|en, 
iDtebergebensroert:  Was  den  Einfluß  der  im  allgemeinen  gläu- 
bigen Braut  Georg  Büchners  auf  ihn  betrifft,  so  versichert 
mich  Georg  Zimmermann,  sie — Minnna  Egle — als  eine  reli- 
giöse, stilltiefe  Natur  persönlich  kennen  gelernt  zu  haben,^ 
die  jedoch  nur  auf  dem  Boden  der  ihr  mitgeteilten  ratio- 
nalistischen Auffassung  gestanden  habe.  Es  sei  ihm  sehr 
wahrscheinlich  und  natürlich,  daß  sie  eine  beruhigende, 
mildernde  Einwirkung  auf  ihn  ausgeübt  und  religiöser  ge- 
stimmt habe. 

^Is  23artante  getötjfernmfeen  gu  fiudfs  (Erinnerungen  tonnen  enbltd) 
i5fttebrl(f)  3^"^Tnermanns  brtefH(^e  50ltttetlungcn  an 
granjos  oom  13.  unb  16.  Ottober  1877  gelten^  bie  ftc^  ebenfalls 
in  Sudaners  9lac^Ia^  erhalten  ^aben,  bru^ftüdfroeife  freiließ  f^on 
in  F,  S.  XXXI f.  oerroertet  [inb.  3i"^"^ßi'^iö"Tt  [c^reibt: 

Darmstadt,  13.  Oct.  1877. 
Die  Bekanntschaft  mit  Georg  Büchner,  diesem  hochsinnigen,  ge- 
nialen und  kraftvollen  Menschen  machte  ich  imLauf  des  Jahres  1829, 
und  wir  schlössen  herzliche  Freundschaft.  Wir  verkehrten  sehr 
häufig  zusammen  bis  Herbst  1831-,  wo  er  nach  Straßburg,  ich  nach 
Heidelberg  Studiens  halber  abgingen  (ohne  Maturitätszeugnis,  der- 
gleichen damals  nur  in  Ausnahmefällen  erfordert  ward).  Wir  arbei- 
teten gemeinsam  an  unserer  Geistesbildung,  besonders  in  philoso- 
phierenden Gesprächen  auf  Spaziergängen  (Wirtshäuser  besuchten 
wir  nicht).  Wir  vertieften  uns  in  die  Lektüre  großer  Dichterwerke. 
Büchner  liebte  vorzüglich  Shakespeare,  Homer,  Goethe,  alle  Volks- 
poesie, die  wir  auftreiben  konnten,  Äschylos  und  Sophokles;  Jean 
Paul  und  die  Hauptromantiker  wurden  fleißig  gelesen.  Bei  der  Ver- 
ehrung Schillers  hatte  Büchner  doch  vieles  gegen  das  Rhetorische 

1  9Jlinna  war  na6)  N,  S.  18  im  September  1834  in  Darmfiabt, 
auc^  na^  bem  2obe  (Seorgs  noc^  einmal.— ^  Dcmnaif)  müfete  ]\df, 
toenn  3abem^  re^t  behalten  [oll  (ogl.  S.  767),  ȟdiner  no(^ 
ein  I)albes  ^a^r  na^  Sc^ulabgang  in  Darmftabt  aufgehalten 
^aben. 


ERINNERUNGEN  UND  DOKUMENTE       775 

in  seinem  Dichten  einzuwenden.  Übrigens  erstreckte  sich  der 
Bereich  des  Schönliterarischen,  das  er  las,  sehr  weit;  auch  Calderon 
war  dabei.  Für  Unterhaltungslektüre  hatte  er  keinen  Sinn;  er  mußte 
beim  Lesen  zu  denken  haben.  Sein  Geschmack  war  elastisch.  Wäh- 
rend er  Herders  'Stimmen  der  Völker"  und  'Des  Knaben  Wunder- 
horn'  verschlang,  schätzte  er  auch  Werke  der  französischen  Lite- 
ratur. Er  warf  sich  frühzeitig  auf  religiöse  Fragen,  auf  metaphy- 
sische und  ethische  Probleme,  in  einem  inneren  Zusammenhang 
mit  Angelegenheiten  der  Naturwissenschaften,  für  deren  Studium 
er  sich  frühe  entschied.  Gedichtet  hat  er,  meines  Wissens,  damals 
nichts;  aber  für  echte  Poesie  war  seine  Liebe  groß,  sein  Verständ- 
nis fein  und  sicher.  Für  die  Antike  und  für  das  Seelenbezwingende 
in  der  Dichtung  neuerer  Zeiten  hatte  er  gleiche  Empfänglichkeit, 
übrigens  so,  daß  er  sich  dem  einfach  Menschlichen  mit  Vorliebe 
zuwandte.  Sein  mächtig  strebender  Geist  suchte  sich  eigne  Wege; 
in  der  Schvde  befriedigte  er  durch  recht  mäßige  Anstrengung.  Sein 
sittlicher  Wandel  war  durchaus  unbescholten;  nur  für  edlere  Ge- 
nüsse des  Geistes  und  Gemütes  hatte  er  Sinn,  das  Gemeine  stieß 
er  unwillig  von  sich.  Die  Natur  liebte  er  mit  Schwärmerei,  die  oft 
in  Andacht  gesammelt  war.  Kein  Werk  der  deutschenPoesie  machte 
darum  auf  ihn  einen  so  mächtigen  Eindruck,  wie  der  Faust. — Den 
ehemaligen  Lehrern  des  hiesigen  Obergymnasiums  muß  ich  viel 
Gutes  nachrühmen;  unter  den  Schülern  befand  sich  eine  erhebliche 
Zahl  von  Talenten  und  Emporstrebenden.  Die  Grundfärbung  des 
Unterrichts  war  Griechisch-Lateinisch;  in  den  exakten  Wissen- 
schaften verlangte  man  vom  Schüler  sehr  wenig,  der  Besuch  des 
Französischen,  Englischen,  Italienischen  war  fakultativ.  Der  Ordi- 
narius der  ehemaligen  Prima,  Karl  Weber,  der  Herausgeber  des 
Lucan,  später  Gymnasialdirektor  zu  Kassel,  gestorben  als  Univer- 
sitätsprofessor der  klassischen  Philologie  in  Marburg,  war  ein  sehr 
gelehrter  Kenner  des  Griechischen,  ein  redlich  bemühter,  energi- 
scher, charaktervoller  Lehrer;  der  Führer  der  Selekta  war  Gymna- 
sialdirektor Karl  Dilthey  (gestorben  1857;,  ein  geistreicher,  Lust 
und  Liebe  zum  interpretierten  Autor  erweckender  Lehrer,  von 
humanem  und  feinem  Benehmen  bei  einer  gewissen  Zugeknöpftheit. 
Ein  Hauptgegenstand  der  Pflege  war  ihm  der  lateinische  Aufsatz; 
die  ungeduldig  vorwärtsstrebende  Seele  Büchners  hatte  kein  Herz 
für  Grammatik  und  Stillehre,  auch  nicht  für  die  lateinischen  Vers- 
übungen und  das  lateinische  Nachinterpretieren,  was  doch  alles  von 
Nutzen  gewesen  ist.  Im  Deutschen  verdanken  die  beiden  jungen 
Freunde  sehr  viele  Anregung  und  Förderung  dem  noch  lebenden, 
fast  neunzigjährigen  Professor  Karl  Baur. — Ich  bin  überzeugt,  daß 
mein  unvergeßlicher  Jugendfreund  und  commilito  in  literis  mehr 
zum  Philosophen  als  zum  Dichter  geboren  war;  auch  den  Beruf  zum 


776  LESARTEN 

bedeutenden  Naturforscher  scheint  er  mir  schon  damals  entschieden 
angekündigt  zu  haben. 

Professor  Dr.  F.  Zimmermann,  Gymnasiallehrer  i.  R. 

3m  ätoetten  ©rief  oom  16.  £)!t.  1867  läfet  ]\ä)  3tmmermann  nod^ 
über  Suc^ners  reltgtijfen  StanbpunÜ  folgenbermafecn  aus: 

Als  Mitschüler  hatte  ich  mit  Georg  Büchner  viele  Unterredungen, 
welche  die  Religion  betrafen.  Davon  habe  ich  natürlich  nur  all- 
gemeineErinnerung.  Ihr  folgend,  bin  ich  fest  überzeugt,  daß  er  damals 
zwar  ein  kühner  Skeptiker,  aber  nicht  Atheist  war.— Das  frommeWort, 
auf  dem  Todesbett  gesprochen  (aus  dem  Tagebuch  der  Frau  Schulz 
gedruckt),  halte  ich  äußerlich  und  innerlich  für  sicher  beglaubigt. 

(S.  633.  17  ff.  KARL  VOGTS  EINDRUCK:  aus  i^arl  93ogt, 
^usmemcmfieben.  (£rtnnetungenunb3^ücf5Iide.  Stuttgart  1896.— 
!r)er  SdE)tIberung  SSogts  t)on  58üc^ners  ^tu^erem  [eten  f)ter  aus  bem 
(Erinnerungsgebi(i)t  SBil^elm  Sürfiners  auf  [einen  trüber  (ogl. 
2tsaxi  3U  638  i f.)  folgenbe  3}ei[e  gegenübergefteilt: 
Das  blaue  Aug,  sein  lockig  Haar, 
Die  kühne  Stirn  mit  den  Apollo-Bogen, 
Ein  schlanker,  großer  junger  Mann, 
Geziert  mit  roter  Jakobiner-Mütze, 
Im  Polen-Rock,  schritt  stolz  er  durch  die  Straßen 
Der  Residenz,  die  Augenweide  seiner  Freunde! 

S.  634.  5ff.  AUS  AUGUST  BECKERS  GERICHTLICHEN 
ANGABEN:  roie  fie  91öIIners  "5l!tenmä^ige  Darlegung"  S.  420  ff. 
überliefert  ^at;  toas  baoon  S.  605  ff.  unb  733 f.  töiebergegeben 
i[t,  i[t  nid^t  loieber^olt  roorben;  aber  mas  $Beder  an  ©u^tou) 
über  SBü^ners  33er^ältnis  gu  SBeibig  unb  be[[en  grau  [d)reibt,i 
mag  ^ier  nod)  ^insugefügt  toerben: 

Ich  habe  den  Büchner  bei  Weidig  eingeführt.  Er  vertrug  sich  nicht 
gut  mit  ihm  in  politicis.  Desto  mehr  enchantiert  war  er  von  seiner 
Frau,  einem  überaus  herrlichen  Geschöpf.  Er  verlor  sein  natür- 
liches Ungestüm,  wenn  sie  dazu  kam,  und  ward  zahm,  wie  ein  Hirsch, 
wenn  er  Musik  hört. 

S.  636.  I6ff.  WILHELM  BÜCHNER  AN  FRANZOS:  beibe 
SBriefe,  je  ein  blauer  (5rofeo!tat)bogen  mit  ber  ^\xma  "SBill^elm 
93ü(^ner.  Hltramarinfabrü.  ^fungftabt  beiDarm[tabt",  im  ^aä)-- 
la^  bes  X)i(^ters  erhalten;  nur  roas  loefentli^  unb  nid^t  überholt 
ift,  i[t  baraus  roiebergegeben  |  36  lies  Geld  zu  "machen". 

1  erhalten  in  ber  [päteren  ^faffung  oon  ©u^fotos  25üd^ner«^uf[a^. 


ERINNERUNGEN  UND  DOKUMENTE       777 

S.  638.  4 f.  das  gewünschte  Gedicht:  im  9la(^Iafe  auf  ben  ^w- 
nenfetten  eines  toeifeen  OftaoBogens  gebrudt  erf)altcn;  ber  Xitel 
lautet  Erinnerung  an  meinen  Bruder  Georg!  bas  ®cbi^t  ift 
Pfungstadt,  Juni  1875  batiert  unb  entl^ölt  aufeer  ben  [rf)on  oben 
3ttterten  33et[en  nichts  9JZittetIenstDertes. 

S.  640.  8  Ad  7:  unter  ad  5  unb  ad  6  [teilen  teils  unüate,  teils 
irrige  eingaben  über  (öeorgs  9JZitteI  jur  gluckt  unb  beren  3eit^ 
punft  I  26ff.  DER  STECKBRIEF:  ügl.  bas  5U  54421  ©efagte. 
S.  641.  I6ff.  ZÜRICHER  UNIVERSITÄTSPROTOKOLLE: 
in  einer  oom^^eüorat  ber  Hniüerjität  ßüxiä)  offenbar  für  gran30s 
Deranla^ten  ^b[^rift  im  9lad)Ia^  SBü(f)ners  erljalten. 
S.  642  ff.  DES  KANTONALSTABS  ARZTES  DR.  LÜNING 
ERINNERUNGEN:  aus  einem  5U)ciein^alb  Sogen  umfaffen* 
ben  Srief,  ben  3}r.fiüning  aus  9?ü[c^li!on  b.  3ürid^  am  9. 9ioü.  1877 
an  gfran^os  ge[(^rieben  f)at  unb  ber  ebenfalls  in  bes  Didfjters  9la(^= 
la^  aufbetoal^rt  ift. 

S.  645  ff.  CAROLINE  SCHULZ'  TAGEBUCHAUFZEICH- 
NUNGEN: ber  in  F,  e.  420 ff.  gegebene  5lbbrud  i[t  ungenau 
unb  lüden^aft  (aus  ^rüberte);  unferm  Zixt  liegen  bie  in  Sü^ners 
9la(^Ia^  befinbli^cn  l^anbi^riftli^en  ^ufjeic^nungen  ber  grau 
Sc^ul5  5ugrunbe. 

S.  653 ff.  WILHELM  SCHULZ'  NACHRUF:  aus  ber  3üri* 
^er3eitung  oom  23.  ^februar  1837. 


SCHLUSSBERICHT 
REGISTER 


)  78i   C 

ES  gehört  sonst  zum  Wesen  der  Klassikerausgaben 
des  Insel -Verlags,  in  deren  Rahmen  dieser  Büchner 
erscheint,  daß  sie  alles  biographische  und  philologische 
Beiwerk  fernhalten  und  allein  den  Autor  zu  Worte  kom- 
men lassen.  Dieser  Grundsatz  hat  jedoch  zur  Vorausset- 
zung, daß  die  textliche  Überlieferung  des  betreffenden 
Schriftstellers  bereits  geklärt  ist  und  also  ein  wissenschaft- 
lich bewährter  Text  zugrunde  gelegt  werden  kann.  Das 
ist  aber  bei  Georg  Büchner  nicht  der  Fall. 
Franzos'  Büchner-Werk  nennt  sich  freilich  eine  "Erste 
kritische  Gesamt-Ausgabe";  aber  bei  allen  Verdiensten, 
die  dieser  Herausgeber  um  die  allmählich  wachsende 
Kenntnis  und  Anerkennung  Büchners  sowie  um  die  Er- 
haltung seines  literarischen  Nachlasses  sich  erworben  hat, 
kritisch  verfuhr  er  bei  seiner  Ausgabe  nicht.  Schon  die 
wesentlichste  Vorbedingung  für  einen  kritischen  Heraus- 
geber, der  Überlieferung  bis  auf  den  Grund  zu  gehen  und 
sich  über  die  Entstehung  verschiedener  Lesarten  klar  zu 
werden,  um  sich  danach  für  die  demWillen  des  Dichters  ge- 
mäße entscheiden  zu  können,  hat  Franzos  nicht  erfüllt.  Bei 
denjenigen  Werken  Büchners,  für  deren  Textherstellung 
der  handschriftliche  Nachlaß  nichts  oder  zu  wenig  hergab, 
dachte  er  nicht  daran,  auf  die  Erstdrucke  zurückzugehen;  er 
übernahm  vielmehr  den  Text  der  unzuverlässigen  Ausgabe 
Ludwig  Büchners  und  brachte  sich  so  um  die  Früchte 
selbständiger  Textvergleichung.  Aber  auch  die  Handschrif- 
ten verwertete  Franzos,  wie  bereits  Witkowski  am  "Woy- 
zeck"  nachgewiesen,  in  unkritischer  Weise;  er  setzte  sogar 
Stellen  in  den  Text  wieder  ein,  die  Büchner  schon  in  der 
Handschrift  durchgestrichen,  und  nahm  Fassungen  erster 
Entwürfe  auf,  obwohl  sie  sich  nur  durch  eigenmächtige 
Änderungen  in  die  vom  Dichter  endgültig  gewählte  Form 
zwängen  ließen.  Wird  man  auch  angesichts  der  sachlichen 
Schwierigkeiten  und  der  persönlichen  Widerstände,  mit 
denen  Franzos  nach  seiner  eigenen  Schilderung  ("Über 
Georg  Büchner",  Deutsche  Dichtung,  XXDC.Bd.)  zu  kämp- 
fen hatte,  über  solch  Verfahren  milde  urteilen,  so  ändert 
das  doch  nichts  an  der  Tatsache,  daß  Franzos'  Ausgabe 
heutzutage  nur  noch  historische  Bedeutung  hat. 
Da  alle  späteren  Büchner- Ausgaben  auf  der  von  Franzos 
fußen  und  höchstens  gelegentlich  kritischen  Zweifeln  an 
der  Echtheit  des  Textes  durch  Konjekturen  praktische 
Folge  geben,  so  hatte  sich  die  neue  Insel- Ausgabe  von  der 


782  SCHLUSSBERICHT 

bisherigen  Text-Überlieferung  möglichst  freizumachen  und 
auf  die  Erstdrucke  und  Handschriften  selbst  zurückzu- 
gehen. Dazu  kam  noch,  daß  die  bisherigen  Büchner-Aus- 
gaben sich  in  der  Hauptsache  auf  den  Dichter  beschränk- 
ten, die  poetischen  Arbeiten  Büchners  jedoch  nur  einen 
Teil  seines  Lebenswerks  ausmachen.  Dieses  in  seiner  er- 
staunlichen Vielseitigkeit  einmal  vollständig  vorzulegen, 
war  angesichts  des  frühen  Endes,  mit  dem  der  Tod  Büch- 
ners Entwicklung  abbrach,  eine  doppelte  Notwendigkeit. 
Der  Insel- Verlag  konnte  dieser  Aufgabe  um  so  eher  gerecht 
werden,  als  es  ihm  gelungen  war,  den  literarischen  Nach- 
laß Büchners  in  seinen  Besitz  zu  bringen.  Eine  vollständige 
Ausnutzung  dieses  Nachlasses  aber,  in  dem  auch  wertvolles 
biographisches  Material  steckte,  brachte  die  völlig  neue 
Gestaltung  der  vorliegenden  Ausgabe  mit  sich. 
Es  sei  hier  erlaubt,  den  Ertrag  dieser  Neugestaltung  mit 
einem  kurzen  Rückblick  auf  den  Inhalt  der  Ausgabe  zu- 
sammenzufassen; für  alle  Einzelheiten  der  textlichen  Wie- 
dergabe muß  auf  die  Lesarten  verwiesen  werden. 
Die  Teilung  und  sachliche  Gliederung  des  Stoffes  bedarf 
keiner  Erläuterung.  Eine  rein  chronologische  Anordnung 
verbot  die  Verschiedenheit  der  Materie;  daß  aber  inner- 
halb der  einzelnen  Abteilungen  die  zeitliche  Folge  ange- 
strebt wurde,  ist  selbstverständlich. 

Die  DICHTUNGEN  stehen  gebührend  voran.  Ihr  Text 
zeigt  fast  auf  jeder  Seite  Abweichungen  von  der  früheren 
Überlieferung.  Das  kommt  bei  Dantons  Tod  nicht  mehr 
überraschend,  nachdem  schon  die  Insel- Bücherei  Nr.  88 
in  der  Neuauflage  eine  nach  der  Handschrift  des  Dichters 
revidierte  Ausgabe  hat  erscheinen  lassen.  Schon  diese 
brachte  die  veränderte  Akteinteilung  und  die  früher  unter- 
drückten Stellen  des  Dramas,  wie  sie  auch  sonst  den  stark 
verderbten  Text  auf  Grund  der  Handschrift  in  seiner  Ur- 
sprünglichkeit wiederherstellen  konnte.  Darin  jedoch  un- 
terscheidet sich  von  ihr  die  hier  nun  vorliegende  Gesamt- 
ausgabe, daß  die  in  der  Handschrift  gestrichenen  Stellen, 
deren  Streichungen  tatsächlich  auf  den  Dichter  zurück- 
gehen, die  aber  trotzdem  von  Franzos  wiederhergestellt 
wurden,  aus  dem  Text  entfernt  und  in  die  Lesarten  auf- 
genommen worden  sind. — Von  der  fragmentarischen  Lenz- 
Novelle  hat  sich  leider  keine  Handschrift  in  Büchners  Nach- 
laß erhalten.  Doch  l^onnte  auch  hier  durch  Heranziehung 
der  Quelle  des  Dichters,  des  Oberlinschen  Tagebuchbe- 


SCHLUSSBERICHT  783 

richtes,  der  von  Gutzkow  schlecht  redigierte  Erstdruck 
von  seinen  in  allen  späteren  Ausgaben  wiederkehrenden 
Entstellungen  des  ursprünglichen  Wortlauts  gereinigt 
werden.  Die  Vergleichung  des  "Lenz"  mit  der  Quelle  Ober- 
lin  drängt  übrigens  zu  der  Erkenntnis,  daß  nur  dem  ersten 
Teil  von  Büchners  Fragment  der  Wert  eines  dichterischen 
Originales  beigemessen  werden  kann,  im  weiteren  Verlauf 
hingegen  die  Erzählung  sich  immer  mehr  in  einen  den 
Oberlinschen  Bericht  referierenden  Ton  verliert,  ja  zuwei- 
len sogar  diese  Quelle  geradezu  ausschreibt:  offenbar  han- 
delt es  sich  nur  um  einen  ersten  Entwurf  des  Dichters,  und 
sein  persönliches  Interesse  am  Stoff  erlahm.te  nach  der 
grandiosen  Landschaftsschilderung  und  der  naturalistisch- 
zergliedernden Wiedergabe  des  mehr  psychischen  Krank- 
heitsprozesses in  Lenzen s  Zustande.  Die  Lücke  freilich 
mitten  im  Text  S.  107  wird  auch  so  kaum  erklärt  werden 
können,  sondern  auf  Verlust  eines  Handschriftenteils  zu- 
rückzuführen sein;  um  dem  für  den  Stoff  einmal  eingenom- 
menen Leser  darüber  hinwegzuhelfen,  ist  durch  Aufnahme 
des  betreffenden  Stücks  aus  der  Quelle  Oberlin  in  die  Les- 
arten ein  notdürftiger  Ersatz  geschaffen  worden.  — 
Auch  für  das  Lustspiel  Leonce  und  Lena  fehlt  leider  die 
grundlegende  Handschrift.  Jenes  handschriftliche  Frag- 
ment, aus  dem  Franzos  seinen  Text  um  ein  paar  Auftritte 
bereichert  hat,  ist  zwar  noch  vorhanden,  stellt  sich  jedoch 
als  ein  bloßer  Entwurf  heraus,  den  der  Dichter  für  die 
endgültige  Fassung  zwar  benutzt,  aber  stark  verändert, 
vor  allem  erheblich  gekürzt  hat.  Was  Valerio  z.  B.  in  dem 
Entwurf  zum  besten  gibt,  ist  teilweise,  jedoch  viel  kürzer, 
auch  in  der  endgültigen  Fassung  verwertet,  so  daß  die 
scheinbare  Bereicherung  durch  Franzos  in  Wirklichkeit 
zum  Teil  eine  matte  Wiederholung  ist;  und  die  Beibehal- 
tung der  Polizeidienerszene,  so  witzig  sie  an  sich  sein  mag, 
würde  eine  starke  Belastimg  des  ersten,  sowieso  schon 
längsten  Aktes  und  eine  Verschleppung  der  dramatischen 
Entwicklung  bedeutet  haben.  Tatsächlich  ist  die  durch 
Franzos' Einfügung  der  Entwurfszenen  entstandene  Über- 
länge des  ersten  Aktes  wiederholt  gerügt  worden;  sie  hat 
den  Anlaß  zu  der  Vermutung  gegeben,  daß  auch  die  übrigen 
Akte  ursprünglich  länger  gewesen  und  wohl  aus  Zensur- 
rücksichten gekürzt  worden  wären.  In  Wahrheit  verhält 
es  sich  also  umgekehrt,  wie  auch  daraus  hervorgeht,  daß 
Franzos,  um  die  Entwurfszenen  überhaupt  einfügen  zu 


784  SCHLUSSBERICHT 

können,  den  überlieferten  Text  an  den  Verbindungsstellen 
zu  ändern  gezwungen  war.  Die  Aufdeckung  dieser  Sach- 
lage hatte  natürlich  zur  Folge,  daß  die  zu  Unrecht  mit  der 
Ausführung  verquickten  Entwurfszenen  aus  dem  Text 
wieder  entfernt  und  mit  den  Entwurfsbrocken  eines  zwei- 
ten Manuskriptblattes  bei  den  Varianten  untergebracht 
wurden  (S.  687 ff.).  Noch  ein  anderes  Problem  aber  tauchte 
bei  der  Vergleichung  des  fragmentarischen  Erstdrucks  in 
Gutzkows  "Telegraph"  mit  der  ersten  vollständigen  Ver- 
öffentlichung in  Ludwig  Büchners  Ausgabe  auf:  beide  Fas- 
sungen unterscheiden  sich  derart  voneinander,  daß  man 
zwar  die  im  "Telegraph"  für  die  burleskere  halten  wird, 
aber  weder  der  einen  noch  der  anderen  Büchnerische 
Originalität  absprechen  kann.  Wie  in  den  Lesarten  näher 
ausgeführt  worden,  wird  die  eine  Fassung  mit  der  an 
Cotta  gesandten  Preisschrift  identisch,  die  andere  erst  für 
den  1837  beabsichtigten  Druck  hergestellt  sein;  welche 
Fassung  aber  die  ältere  ist,  steht  dahin,  wenn  man  nicht 
gar  bezweifeln  möchte,  daß  Büchner  von  einem  strengen 
Preisrichterkollegium  Verständnis  für  die  burleskere  Fas- 
sung erwartet  haben  wird. — Zeitlich,  und  wohl  auch  seiner 
inneren  Verwandtschaft  nach,  würde  sich  dem  Lustspiel 
der  Pietro  Aretino  anzuschließen  haben,  der  aber  für  immer 
verloren  gegeben  werden  muß  (vgl.  S.664f.).  Bleibt  noch  der 
Woyzeck,  das  Schmerzenskind  kritischer  Forschung.  Nach- 
dem Witkowski  die  Bahn  für  die  wissenschaftliche  Be- 
trachtung dieses  Torsos  gebrochen  und  mit  seiner  Woy- 
zeck-Ausgabe  den  Grund  für  die  endgültige  Entzifferung 
der  erhaltenen  Handschriften  gelegt  hat,  konnte  auf  die- 
sem Wege  erfolgreich  fortgeschritten  werden.  Nur  in  der 
Frage  der  Szenenfolge  führte  die  eigne  Untersuchung  der 
Handschriften  zu  einer  anderen  Auffassung,  die  in  dem 
Les  arten  apparat  ausführlich  begründet  worden  ist  (S.70  iff.). 
Die  Textgestaltung  bereitet  insofern  noch  Schwierigkeiten, 
als  auch  die  letzte  erhaltene  Fassung  des  Dramas  nur 
fragmentarisch  ist  und  sogar  der  entscheidenden  Kata- 
strophe ermangelt,  die  in  den  Entwürfen  doch  vorliegt. 
Um  nun  dem  Stück  auch  im  Text  einen  gewissen  Abschluß 
zu  geben,  wurde,  während  die  Entwürfe  selbst  ihren  Platz 
bei  den  Lesarten  fanden,  wenigstens  die  Ermordung  der 
Marie  auch  vorn  wiedergegeben,  wenn  auch  zur  Unterschei- 
dung vom  Text  des  Dichters  in  anderer  Druckschrift.  Der 
Ausklang  freihch,  den  im  Anschluß  an  die  Mordszene  nun- 


SCHLUSSBERICHT  785 

mehr  das  Drama  erhalten  hat,  läßtsich  aus  derhandschrift- 
hchen  Überheferung  nicht  begründen.  Die  noch  von  Fran- 
zos'  Textgestaltung  herrührende  Auffassung,  daß  der  Mör- 
der Wo5^zeck  ertrinkt  (die  szenarische  Bemerkung  "ertrinkt" 
hat  Franzos  von  sich  aus  zugesetzt),  kann  sich  nur  auf  den 
Auftritt  jener  beiden  Personen  nach  der  Ermordung  stüt- 
zen, die  vom  Wasser  her  Töne  hören  wie  von  einem  Men- 
schen, der  stirbt.  Wie  aber  die  Lesarten  zeigen  (S.  714), 
treten  diese  beiden  Personen  unmittelbar  nach  Mariens 
Erstechung  auf,  während  Woyzeck  später  noch  einmal 
am  Teich  erscheint  (S.  716);  und,  was  noch  wichtiger 
ist:  in  der  nur  angedeuteten  Gerichtsszene  (S.  716)  er- 
scheint ebenfalls  Wo3^zeck  wieder;  denn  mit  der  Bezeich- 
nung "Barbier"  ist  kein  anderer  als  er  gemeint  (vgl.  710 13  ff., 
71631  f.),  so  daß  er  also  nach  den  Entwürfen,  und  nur  aus 
ihnen  haben  wir  ja  überhaupt  Kenntnis  über  den  Ausgang 
des  Dramas,  nicht  ertrinken  sollte.  Der  Auftritt  jener 
beiden  Personen  am  Teich  müßte  dann  freilich  einen 
andern  Zweck  haben,  vielleicht  den,  daß  sie  Mariens  Leiche 
aufspüren  und  der  Polizei  davon  Mitteilung  machen  soll- 
ten, während  Woyzecks  nochmaliges  Erscheinen  an  der 
Mordstelle  möglicherweise  zu  seiner  Verhaftung  führen 
sollte.  Jedenfalls  aber  war  der  Ausgang  des  Dramas  ur- 
sprünglich wohl  so  gedacht:  vor  Gericht  sollte  der  von 
der  menschlichen  Gesellschaft  Ausgenützte,  Betrogene, 
bis  zur  Wahnsinnstat  des  Mordes  Gebrachte,  dann  von  ihr 
blind  Verurteilte  selber  moralisch  den  Stab  brechen  über 
die  Gesellschaft  und  ihre  staatlichen  Einrichtungen. 
Noch  vor  dem  Dichter  hat  sich  der  Politiker  Büchner  be- 
tätigt, der  vorübergehend  schon  1832  in  Straßburg  an  "eine 
politische  Abhandlung"  gedacht  zu  haben  scheint  (vgl. 
S.  524).  Doch  ist  von  den  politischen  Schriften  Büchners 
nur  DER  HESSISCHE  LANDBOTE  auf  uns  gekommen, 
und  auch  dieser  nur  in  einer  Fassung,  die  Büchner  selbst 
nicht  mehr  als  die  seinige  anerkennen  wollte.  Es  ist  ver- 
sucht worden,  den  echt  Büchnerischen  Text  von  Weidigs 
Änderungen  und  Zutaten  durch  Anwendung  zwiefacher 
Typen  zu  unterscheiden;  die  Begründung  für  das  so  als 
echt  oder  unecht  Erklärte  findet  man  in  den  Lesarten, 
desgleichen  eine  handschriftliche  Variante  zu  dem  Schluß 
des  Flugblattes,  die  vermutlich  von  Weidig  herrührt  (vgl. 
S.  738).  Eine  andere  politische  Arbeit  Büchners  ist  leider 
vernichtet  worden;  wie  Ludwig  Büchner  im  Vorwort  zu 

BÜCHNER  so. 


7  8  6  SCHLUSSBERICHT 

seiner  Ausgabe  mitteilt,  verfaßte  Georg  für  die  Gießener 
und  wohl  auch  für  die  Darmstädter  Gesellschaft  der  Men- 
schenrechte "nach  dem  Muster  der  französischen  eine  Er- 
klärung der  Menschenrechte,  die  mit  ihren  Ausführungen 
damals  als  Programm  der  vorgeschrittensten  Fraktion 
der  revolutionären  Partei  gelten  konnte.  Diese  Schrift- 
stücke wurden  während  der  Periode  der  Untersuchungen 
mit  anderen  Papieren  verbrannt".  Auch  die  Briefe,  die 
Büchner  nach  einer  Anmerkung  seines  Bruders  in  den 
Nachgelassenen  Schriften  (S.  250)  mit  dem  in  Darmstadt 
weilenden  französischen  Flüchtling  Muston  wechselte, 
werden  überwiegend  politischen  Inhalts  gewesen  sein. 
Viel  ergiebiger  ist  der  handschriftliche  Nachlaß  des  spä- 
teren Gelehrten  Büchner.  Von  seinen  Arbeiten  sind  die 
NATURWISSENSCHAFTLICHEN  SCHRIFTENzumgrö- 
ßern  Teil  schon  bekannt.  Aber  gerade  die  naturwissen- 
schaftliche Betätigung  Büchners  erscheint  so  wichtig,  daß 
nichts  unversucht  bleiben  durfte,  sie  so  vollständig  als 
möglich  wiederzugeben.  Deshalb  wurde  nicht  nur  die 
Straßburger  Vorlesung  über  das  Nervensystem  der  Fische  aus 
den  selten  gewordenen  "Memoires  de  la  societe  d'histoire 
naturelle"  ganz,  und  natürlich  im  Urtext,  aufgenommen, 
sondern  auch  die  Züricher  Probevorlesung  über  Schädelner- 
ven, von  der  bisher  nur  Probestücke  veröffentlicht  waren, 
ist  so  vollständig,  wie  es  die  fragmentarisch  erhaltene 
Handschrift  zuließ,  zum  Abdruck  gebracht.  Eine  sehr  will- 
kommene Ergänzung  zu  diesen  Vorlesungen  enthalten 
außerdem  die  Erinnerungen  Dr.  Lünings  an  des  Züricher 
Privatdozenten  Büchner  erstes  und  einziges  Kolleg  über 
vergleichende  Anatomie  der  Fische,  die  im  Anhang  S.  642  ff. 
aufgenommen  sind.  —  Mit  dem  Maßstab,  den  man  an  die 
naturwissenschaftlichen  Arbeiten  Büchners  legen  kann, 
dürfen  die  PHILOSOPHISCHEN  SCHRIFTEN  nicht  ge- 
messen werden.  Die  Erwartungen,  die  Franzos'  Mitteilun- 
gen über  den  philosophischen  Nachlaß  Büchners  erweckt 
haben  mögen,  erfüllen  sich  kaum.  Die  umfangreiche  Ge- 
schichte der  griechischen  Philosophie  kam  für  diese  Ausgabe 
überhaupt  nicht  in  Betracht,  da  sie  sich  nur  als  ein  ausführ- 
licher Auszug  aus  den  ersten  drei  Bänden  von  Tennemanns 
"Geschichte  der  Philosophie"  herausstellte,  als  ein  Erzeug- 
nis Büchnerischen  Geistes  also  nicht  anzusprechen  war; 
wie  wenig  Originalwert  dieses  Exzerpt  besitzt,  ist  S.  740 f. 
auseinandergesetzt  worden.   Mit  den  Vorlesungen   über 


SCHLUSSBERICHI^  787 

Cartesius  verhält  es  sich  wenigstens  insofern  anders,  als 
Büchner  für  sie  zwar  auch  den  betreffenden  Band  von 
Tennemann  zugrunde  legte,  aber  im  einzelnen  doch  auch 
selbständig  vorging,  so  wenn  er  gelegentlich  die  erst  nach 
Tennemann  erschienene  Literatur  berücksichtigt  oder  die- 
jenigen Gebiete  von  Descartes'  Philosophie,  die  ihn  beson- 
ders interessierten  (Nervenlehre  usw.),  eingehender  als 
seine  Vorlage  behandelt.  Freihch  muß  man  sich  hüten, 
nun  alles,  was  nicht  im  Tennemann  steht,  für  Eigentum 
Büchners  zu  halten.  Den  Hinweis  auf  Hegel  und  Hotho 
z.  B.,  die  beide  wiederholt  in  der  Vorlesung  erwähnt  wer- 
den, hat  Büchner,  wie  schon  S.  743  erwähnt,  in  dem  Buch 
von  Johannes  Kuhn  über  "Jacobi  und  die  Philosophie 
einer  Zeit"  gefunden,  einem  Buch  übrigens,  das  er  nichi 
nur  für  die  Cartesius-Darstellung,  sondern  auch  für  die 
über  Spinoza  benutzt  hat  und  dessen  Kenntnis  höchstwahr- 
scheinlich auf  ein  persönliches  Verhältnis  des  Gießener 
Studenten  Büchner  zu  dem  Professor  der  Theologie  und 
Doktor  der  Philosophie  an  der  Universität  Gießen  zurück- 
geht. Da  aber  auch  Stil  und  Vortrag  dieser  V^orlesung 
durchaus  persönUcher  Natur  sind,  so  konnte  ihr  die  Auf- 
nahme in  eine  Gesamtausgabe  Büchners  nicht  versagt 
werden,  mit  Ausnahme  freihch  derjenigen  Abschnitte,  die 
sich  nicht  über  das  Niveau  eines  bloßen  Exzerpts  er- 
heben. Was  sich  endlich  über  Spinoza  in  Büchners 
Nachlaß  erhalten  hat,  ist  nach  den  Ausführungen  S.  744 ff. 
von  dreierlei  Art.  Für  sich  steht  die  Übersetzung  des 
ersten  Teils  der  Ethik  mit  den  teils  kommentierenden, 
teils  kritischen  Anmerkungen  Büchners,  die  man  sich  zwar 
nicht  für  gut  geeignet  zu  einer  Vorlesung  denken  kann, 
aber  angesichts  ihres  Vortragstones  (vgl.  33714)  vielleicht 
als  Seminarübung  vorzustellen  hat;  soweit  diese  Übertra- 
gung von  Büchnerischen  Anmerkungen  begleitet  ist,  ist 
sie  auf  S. 323 — 2>Z7  wiedergegeben.  Der  S.  338 — 352  folgende 
Abschnitt  ist  der  erste  Teil  einer  Vorlesung  über  Spinoza, 
die  mit  der  vorhergehenden  Seminarübung  nicht  in  un- 
mittelbarem Zusammenhang  steht.  Denn  sie  geht  nicht 
von  der  Ethik,  sondern  von  dem  Traktat  über  die  Ver- 
besserung des  Verstandes  aus  und  kommt  über  die  Dar- 
stellung der  Erkenntnislehre  Spinozas  nur  wenig  hinaus. 
Nur  diese  ist  deshalb  vorn  aufgenommen  worden,  wäh- 
rend der  noch  verbleibende  Rest,  der  zur  Metaphysik 
Spinozas  überleitet,  aber  in  Zitaten  aus  Tennemann  ver- 


788  SCHLUSSBERICHT 

sandet,  in  die  Lesarten  verwiesen  wurde  (S.  748  f.).  Im 
übrigen  ist  das  Verhältnis  zu  Tennemann  bei  dieser  Vor- 
lesung so,  daß  Büchner  dem  Gang  der  Tennemannschen 
Darstellung  zwar  zum  Teil  folgt,  ja  auch  zuweilen  ihm 
wörtlich  sich  anschließt,  andererseits  aber  doch  auch 
selbständig  die  außer  jenem  von  Tennemann  zugrunde- 
gelegten Traktat  noch  für  die  Darlegung  in  Betracht  kom- 
menden Schriften  Spinozas  heranzieht  und  sich  gelegent- 
lich auch  ausführlich  mit  der  neuesten  Auffassung  eines 
Johannes  Kuhn  auseinandersetzt  (S.  345  f.)-  Auch  Herbarts 
hätte  hier  wohl  gedacht  werden  können,  aber  dessen 
gänzliche  Ablehnung  des  Spinozismus  in  der  "Allgemeinen 
Metaphysik"  scheint  Büchner  erst  nach  der  Abfassung 
seiner  Vorlesung  kennen  gelernt  zu  haben;  ein  wörtlicher 
Auszug  aus  Herbarts  Polemik  gegen  Spinoza  findet  sich 
nämlich,  mit  anderen  Abschriften  aus  Tennemann,  in 
einer  dritten  Handschrift,  die  aber  weiter  nichts  als  diese 
Exzerpte  über  Spinoza  enthält  und  deshalb  eine  Aufnahme 
in  die  Büchner-Ausgabe  nicht  beanspruchen  konnte. 
Die  ÜBERSETZUNGEN  der  beiden  Dramen  Victor  Hugos 
durften  nicht  wegbleiben,  wenn  die  Ausgabe  den  Anspruch 
auf  Vollständigkeit  erheben  wollte.  Gewiß  hat  Büchner 
einer  Überschätzung  dieser  Arbeit  durch  sein  eigenes  Urteil 
über  jenen  französischen  Dichter  vorgebeugt  (vgl.  S.  754); 
auch  hat  Paul  Landau  in  der  vortrefflichen  Einleitung  zu 
seiner  Büchner-Ausgabe  hervorgehoben,  wie  leicht  sich 
der  Dichter  das  Übersetzen  gemacht  hat.  Um  so  eher  aber 
konnte  er  schöpferisch  vorgehen  und  auch  in  seine  Mittler- 
rolle eigenen  Ausdruck,  Ton  und  Farbe  legen.  Besonders 
die  übertragenen  Verse  S.  431  und  467  haben  echt  Büch- 
nerische Prägung  erhalten. 

Die  BRIEFE  Büchners  können  schon  ihres  Bekenntnis- 
gehalts wegen  nicht  hoch  genug  eingeschätzt  werden.  Und 
sie  gehören  in  eine  Gesamtausgabe  seiner  Werke  um  so 
mehr  hinein,  als  sie  mit  dem  Niederschlag  poetischer,  poli- 
tischer und  wissenschaftlicher  Strebungen  Büchners  auch 
die  lückenhafte  Überlieferung  seiner  Schriften  wertvoll  er- 
gänzen können.  Freilich,  stark  lückenhaft  sind  auch  die 
Briefe  selbst  nur  erhalten,  ja  es  dürfte  kaum  einen  andern 
bedeutenden  SchriftstellerneuererZeit  geben,  dessen  Briefe 
in  ähnlich  abgerissenen  Fetzen  uns  überkommen  wären 
wie  so  viele  von  Büchner.  Leider  war  an  diesem  Zustand 
nichts  mehr  zu  ändern,  da  sich  die  Originalbriefe  nicht  er- 


SCHLUSSBERICHT  789 

halten  haben.  Auch  die  gelegentHch  von  Ludwig  Büchner 
en^'^ähnte  Korrespondenz  mit  dem  französischen  Flücht- 
ling Muston  wird  wohl  schon  von  den  Korrespondenten 
selbst  aus  politischer  Vorsicht  vernichtet  worden  sein,  und 
sonstige  Spuren,  denen  man  noch  nachgehen  könnte,  sind 
überhaupt  nicht  vorhanden.  So  muß  man  sich  denn  mit 
dem  Material  zufrieden  geben,  das  bereits  Franzos  heraus- 
gab, zuzüglich  des  einen  Briefes  an  den  Verleger  Sauerlän- 
der, denHouben  1918  in  der  Frankfurter  Zeitung  veröffent- 
licht hat.  Daß  es  aber  textkritisch  auch  an  derüberlieferung 
der  Briefe,  besonders  der  Briefe  an  die  Braut  und  an  Gutz- 
kow, viel  zu  bessern  gab,  lehrt  ein  Blick  in  die  Lesarten; 
auch  ist,  dem  Prinzip  dieser  Ausgabe  entsprechend,  eine 
rein  chronologische  Anordnung  des  gesamten  Briefmate- 
rials durchgeführt  worden. 

W^as  sonst  noch  an  direkten  Äußerungen  der  Büchnerischen 
Individualität  auf  uns  gekommen  ist,  wurde  in  der  Abtei- 
lungMISZELLEN  zusammengestellt.  Der  chronologischen 
Ordnung  entsprechend  stehen  die  Zeugnisse  aus  der  Schul- 
zeit voran.  Sie  namentlich  sind  nichts  weiter  als  bloße 
Miszellen,  die  keinen  Eigenwert  besitzen,  wohl  aber  zum 
Verständnis  der  Entwicklung  Büchners  das  Ihrige  beitra- 
gen. Nur  zum  Teil  hatte  sie  bereits  Franzos  veröffentlicht, 
und  auch  nicht  mit  der  kritischen  Sorgfalt,  die  gerade  diese 
Keime  einer  erwachenden  Originalität  erfordern.  Diese 
zeigt  sich  weniger  in  den  Versen  als  in  den  Schulaufsätzen 
und  Schulreden,  deren  Prosa  mehr  Bewegungsfreiheit  zur 
Äußerung  eigner  Gedanken  verstattete.  In  dem  Eintreten 
für  die  nationale,  für  die  religiöse,  für  die  persönliche  Frei- 
heit, in  der  Polemik  gegen  die  hergebrachten  Anschauungen 
von  Religiosität  und  Moral  und  auch  in  dem  Interesse  an 
psychischen  Problemen  zeigt  sich  bereits  der  Büchnerische 
Geist  mit  kraftvollem  Flügelschlag.  Auch  in  jenen  Glossen 
mtd  Notizen  zu  den  Schulheften  ist  er  zu  finden,  von  denen 
Franzos  in  der  Einleitung  seiner  Ausgabe  einiges  mitge- 
teilt hat.  Sie  üeßen  sich  hier  in  dem  Text  nicht  gut  unter- 
bringen, sind  aber,  soweit  entzifferbar,  S.  761  ff.  wiedergege- 
ben: Auflehnung  gegen  die  langweilige  Lehrmethode, 
daneben  Volksliedfreude  und  Shakespeare-Begeisterung 
und  vor  allem  schon  politisch  gefärbter  Freiheitsdrang 
sprechen  aus  ihnen.  Was  die  sehr  zahlreich  im  Nachlaß 
aufbewahrten  Schulhefte  Büchners  sonst  noch  enthalten, 
erschien  nicht  mitteilenswert,  ist  aber  S.  760  f.  kurz  registriert 


790  SCHLUSSBERICHT 

worden. — Ein  größeres  Interesse  als  die  übrigen  Miszellen 
dürfen  die  Mündlichen  Äußerungen  beanspruchen.  Freilich 
ist  die  Überlieferung  bei  manchen  von  ihnen  so  wenig 
zuverlässig,  daß  ihre  Wiedergabe  nur  mit  Vorsicht  aufzu- 
nehmen ist.  Immerhin  wird  man  nicht  nur  Büchners  Ge- 
sinnung und  Ansicht,  sondern  auch  seinen  Ton  und  seine 
Ausdrucksweise  überall  heraushören.  —  Nicht  mehr  auf- 
zutreiben war  leider  die  Satire  im  Volksliedton  Herr  du 
Thil  mit  der  Eisenstirn,  auf  die  Arthur  Ploch  in  der  Frank- 
furter Zeitung  1905  nachdrückhch  hingewiesen  hat;  und 
auch  das  Tagebuch  des  Dichters,  in  dessen  Lektüre  die 
Freunde  und  die  Braut  des  Verstorbenen  ihren  ersten 
Trost  fanden,  mußte  bereits  S.  765  als  verloren  bezeichnet 
werden. 

Aber  noch  einige  andere  Schätze  enthielt  der  literarische 
Nachlaß  Büchners,  die  zwar  nicht  unmittelbar  zu  seinen 
Werken  und  Briefen  gehören,  aber  so  wertvolles  biographi- 
sches Material  enthalten,  daß  sie  längst  hätten  ans  Licht  ge- 
zogen werden  sollen.  Ihnen  verdankt  der  ANHANG  seine 
Entstehung.  Die  Abteilung  Briefe  an  Büchner  enthält  frei- 
lich nur  drei  Briefe,  die  vor  kurzem  noch  gänzlich  unbe- 
kannt waren,  nämlich  den  Brief  des  Patenonkels  Reuß 
und  die  beiden  Schreiben  der  Eltern  Büchners;  aber  man 
wird  zugeben,  daß  sich  schon  ihretwegen  ein  Anhang 
lohnte.  Die  Eltern  des  Dichters  lernt  man  aus  ihren  Brie- 
fen, man  möchte  sagen  leibhaft  kennen;  auch  wird  durch 
den  Brief  des  Vaters  die  bisherige  ÜberHeferung  widerlegt, 
daß  eine  Versöhnung  zwischen  ihm  und  seinem  Altesten 
niemals  stattgefunden  hätte;  und  ob  nicht  erst  der  Mutter 
Mitteilung  von  der  öffentlichen  Hinrichtung  eines  Mörders 
in  Darmstadt  den  Dichter  an  jene  Leipziger  Exekution, 
die  in  seiner  Schulzeit  den  aufsehenerregenden  KriminaLfall 
Woyzeck  abschloß,  erinnert  und  damit  die  erste  Anregung 
zu  seinem  letzten  Drama  gegeben  hat?  An  den  Onkel  Reuß 
hat  sich  offenbar  der  Gießener  Student,  der  vomVater  knapp 
gehalten  wurde,  gewandt,  um  genügendGeld  zur  Reise  nach 
Straßburg  zu  haben;  erst  von  dort  aus  schrieb  er  dann 
den  beunruhig-cen  Eltern  den  Grund  seines  Ausbleibens. 
Wurden  schon  einmal  Briefe  an  Büchner  in  diese  Ausgabe 
aufgenommen,  so  lag  es  nahe,  auch  die  schon  bekannten 
von  Gutzkow  beizufügen,  die  als  Antworten  auf  zum  Teil 
verlorene  Briefe  Büchners  einen  ganz  besonderen  Wert 
haben. — Auch  die  Persönlichen  Erinnerungen  und  Dokumente 


SCHLUSSBERICHT  7  9 1 

setzen  sich  aus  Altem  und  Neuem  zusammen.  Die  Mittei- 
lungen des  Pfarrers  Luck,  Wilhelm  Büchners  und  Dr.  Lü- 
nings  vor  allem  waren  bisher  noch  unbekannt  und  sind 
doch  unschätzbare  Beiträge  zu  der  Entwicklung  Büchners. 
Durch  Luck  lernen  wir  Büchner  und  seinen  Freundeskreis 
in  der  Schul-  und  Studentenzeit  näher  kennen,  und  die 
daher  quellenden  Anregungen.  Die  Mitteilung,  daß  schon 
der  Gymnasiast  Büchner  Schlagworte  aus  der  französi- 
schen Revolution  aufgriff,  läßt  auch  seinen  Freiheitsäuße- 
rungen in  den  Schulheften  erhöhte  Bedeutung  zukommen. 
Im  übrigen  wird  Lucks  Darstellung  durch  die  Nachträge 
S.  773  ff.  sowie  durch  Vogts  Eindrücke  von  dem  Kommili- 
tonen Büchner  noch  wesentlich  ergänzt  und  vervollstän- 
digt. Wilhelm  Büchners  Berichte  über  die  letzte  Darm- 
städter Zeit  sind  zum  Teil  wohl  schon  von  Franzos  in 
seiner  Einleitung  verwertet  worden,  aber  den  sehr  wich- 
tigen Hinweis  auf  die  erste  Anregung  zum  Danton-Dram.a, 
die  gemeinsame  Familienlektüre  der  Zeitschrift  "Unsere 
Zeit",  hat  er  nicht  beachtet:  diese  Zeitschrift  hat  der  Dich- 
ter nachweislich  noch  für  die  Abfassung  des  Dramas  heran- 
gezogen, während  Bareres  Memoiren,  die  seit  Ludwig 
Büchners  und  Franzos'  Einleitungen  als  eine  seiner  Quellen 
gelten,  schon  wegen  ihres  späten  Erscheinens  nicht  in  Be- 
tracht kommen  können  (vgl.  Reg.).  Wie  wertvoll  endhch 
Dr.  Lünings  Erinnerungen  an  den  Züricher  Privatdozenten 
Büchner  sind,  bedarf  kaum  der  Hervorhebung;  auch  ist 
schon  bei  den  naturwissenschaftlichen  Schriften  jener 
Schilderung  des  einzigen  Anatomiekollegs,  das  Büchner 
gehalten,  gedacht  worden.  Mit  diesen  ausführlichen  Be- 
richten aus  drei  verschiedenen  Lebensepochen  Büchners 
war  bereits  der  Kern  zu  einer  biographischen  Umschau 
nach  zeitgenössischen  Quellen  gegeben,  und  so  wurden  zur 
Abrundung  dieses  Umrisses  auch  noch  die  übrigen  per- 
sönlichen Erinnerungen  und  Dokumente  teils  aus  dem 
Nachlaß,  teils  aus  entlegenen  Druckwerken  hinzugefügt. 
Auf  die  Abteilung  LESARTEN  mußte  bereits  wiederholt 
verwiesen  werden.  Sollte  dem  Leser  nicht  zugemutet  wer- 
den, die  oft  einschneidenden  Veränderungen  der  Textre- 
vision gegenüber  den  bisherigen  Ausgaben  leichtgläubig 
hinzunehmen,  so  ließ  sich  eine  methodische  Darlegung 
der  handschriftlichen  wie  der  gedruckten  Überlieferung 
nicht  gut  umgehen.  Doch  wurde  das  Verzeichnis  nicht 
mit  der  Wiedergabe  sämtlicher  Lesarten  beschwert,  son- 


7  9  2  SCHLUSSBERICHT 

dern  nur  auf  diejenigen  beschränkt,  die  von  Büchner  her- 
rühren oder  in  dieser  Beziehung  zweifelhaft  sind.  Und  auch 
hierbei  wurde  noch  zwischen  den  Werken  des  Dichters 
und  den  übrigen  Schriften  Büchners  insofern  ein  Unter- 
schied gemacht,  als  nur  bei  poetischen  Werken  auch  die 
Streichungen  der  Handschriften,  die  einen  intimen  Ein- 
blick in  die  Arbeitsweise  des  Dichters  gewähren,  berück- 
sichtigt wurden.  Folgerichtig  wurden  nun  auch  die  aus- 
führlichen Skizzen  und  ersten  Formungen,  die  später 
anderen  Fassungen  weichen  mußten,  bei  den  Lesarten 
untergebracht,  und  so  stehen  denn  hier  auch  so  bedeutende 
Stücke,  wie  die  ursprünglichen  Szenen  aus  "Leonce  und 
Lena"  (S.  687  ff.)  und  vor  allem  die  Woyzeck-Entwürfe 
(S.  706 ff.).  Daß  endlich  der  Lesartenapparat  dazu  verwandt 
wurde,  Lücken  des  Textes  gelegentlich  durch  Anführung 
der  Quelle  auszufüllen  oder  durch  Nachtrag  von  Parallel- 
stellen ihn  zu  bereichern,  wird  hoffentlich  ebensowenig 
verargt  werden  wie  etwa  das  Hereinziehen  der  Quellen- 
kritik bei  den  philosophischen  Schriften  Büchners. 
Vom  REGISTER  endhch  erwarte  man  nicht  die  Vollstän- 
digkeit eines  Sach-  und  Schlagwortverzeichnisses.  Gewiß, 
in  der  Fülle  und  Mannigfaltigkeit  des  Stoffes  versinken 
leicht  auch  die  wesenhaften  Züge,  aus  denen  sich  die  schrift- 
stellerische Persönlichkeit  Büchners  zusammensetzt,  und 
die  Versuchung  war  groß,  sie  durch  Verzeichnis  der  wieder- 
kehrenden Motive  und  wichtigsten  Belange  auffinden  zu 
helfen.  Das  hätte  jedoch  viele  Bogen  Papier  gekostet  und 
das  Register  bis  zur  Unübersichtlichkeit  aufschwellen  las- 
sen. Auch  konnte  einigermaßen  derselbe  Zweck  dadurch 
erreicht  werden,  daß  unter  dem  Namen  Georg  Büchner 
die  wesentlichsten  Züge  seiner  Persönlichkeit  zusammen- 
gestellt wurden.  Im  übrigen  ist  das  Register  vor  allem  ein 
Personenverzeichnis;  ein  Sachregister  nur  insofern,  als  es 
zugleich  die  sonst  notwendigen  Anmerkungen  ersetzen 
will  und  also  außer  den  Namen  auch  die  erklärungsbedürf- 
tigen Textstellen  schlagwortartig  aufführt  und  erklärt. 
Doch  konnte  bei  Lesern  einer  Ausgabe  wie  der  vorliegen- 
den ein  entsprechendes  Maß  von  Wissen  vorausgesetzt 
werden,  und  so  durfte  namentlich  die  Erklärung  aller  der 
Dinge,  deren  Kenntnis  auch  ein  neueres  Konversations- 
lexikon vermittelt,  ausgeschaltet  bleiben.  Daß  es  auch  so 
noch  für  Personen  und  Sachen  genug  zu  vermerken  gab, 
lehrt  ein  Blick  ins  Register.  Wenn  dieses  für  den  "Danton" 


BENUTZTE  LITERATUR  793 

noch  ein  übriges  tut  und  die  Quellen  zur  Vergleichung 
heranzieht,  so  gab  den  ersten  Anstoß  dazu  die  im  Text 
aufgeworfene  Frage,  ob  neben  Thiers  und  Mignet  auch 
"Unsere  Zeit"  vom  Dichter  benutzt  worden  ist.  Eine  be- 
sonders wichtige  Aufgabe  für  das  Register  war  die  Her- 
leitung der  vielen  Zitate,  besonders  der  Liedzitate,  die 
zwar  der  Vorliebe  des  Dichters  für  lebendiges  Volkstum 
ein  glänzendes  Zeugnis  ausstellen,  aber  bei  dem  heutigen 
Leser  eine  nicht  vorhandene  Sachkenntnis  voraussetzen; 
für  manches  Zitat  mußte  leider  auch  im  Register  die  Frage 
nach  seiner  Herkunft  offen  bleiben.  Auch  sonst  blieb  noch 
manches  unaufgeklärt;  aber  viele  dunkle  Bezüge  konnten 
doch  aufgehellt,  manch  irrige  Vorstellungen  berichtigt 
werden.  Außer  der  zu  Rate  gezogenen  Fachliteratur, 
die  unten  verzeichnet  ist,  wurde  gelegentlich  auch  per- 
sönliche Auskunft  eingeholt  und  mit  Dank  verwertet. 
Besonders  verdient  gemacht  haben  sich  in  dieser  Be- 
ziehung der  Neffe  des  Dichters,  Georg  Büchner  in 
Darmstadt,  durch  die  Beisteuerung  der  Daten  für  die 
Verwandten  des  Dichters,  und  Herman  Haupt,  der  Her- 
ausgeber Hessischer  Biographien,  der  im  Verein  mit  Karl 
Esselborn  und  H.  Lehnert  an  der  Feststellung  vieler 
Landsleute  Büchners  mitgearbeitet  hat. 


BENUTZTE  LITERATUR 

Nur  gelegentlich  herangezogene  Schriftwerke  sind  hier  nicht  berücksichtigt, 

sondern  am  Ort  ihrer  Verwendung  (Lesarten,  Register)  genauer  angegeben; 

ebensowenig    werden  die   unter  den  Lesarten   verzeichneten  Erstdrucke  der 

Schriften  Büchners  hier  nochmals  aufgezählt. 

Ausgaben 

Außer  N  und  F  (vgl.  S.  662),  deren  Einleitungen  noch 
heute  Quellenwert  haben: 

Georg  Büchners  Gesammelte  Schriften.  In  zwei  Bänden. 
Herausgegeben  von  Paul  Landau.  P.  Cassirer,  Berlin, 
1909.  (Biogr.  Einleitung  in  I,  S.  7—177.) 
Georg  Büchner:  Dramatische  Werke.  Mit  Erklärungen 
herausgegeben  von  Rudolf  Franz.  München,  bei  Birk 
&  Co.  [1912].  (Erklärungen  S.  193  —  227,  Versuch  text- 
kritischer Besserungen  S.  228!) 

Der  hessische  Landbote.  Von  Georg  Büchner.  Sowie  des 
Verfassers  Leben  und  politisches  Wirken  von  Eduard 
David.  (Vgl.  S.  735f0 


794  SCHLUSSBERICHT 

Georg  Büchner.  Woyzeck.  Nach  den  Handschriften  des 
Dichters  herausgegeben  von  Georg  Witkowski.  Leipzig, 
im  Insel- Verlag.  MCMXX.  (Vgl.  S.  yozii.) 

Monographien 

Hans  Landsberg,  Georg  Büchners  Drama  "Dantons  Tod". 
Berliner  Dissertation,  1900. 

Rudolf  Majut,  Farbe  und  Licht  im  Kunstgefühl  Georg 
Büchners.  Greifswald,  1912. 

Max  Zobel  von  Zabeltitz,  Georg  Büchner,  sein  Leben 
und  sein  Schaffen.  Bonner  Forschungen,  Bd.  VIII.  Grote- 
sche  Verlagsbuchhandlung.  Berlin,  191 5. 
V^alther  Kupsch,  Wozzeck.  Ein  Beitrag  zum  Schaffen 
Georg  Büchners.  Germanische  Studien,  Heft  4.  Berhn, 
1920. 

Kurt  Voß,  Georg  Büchners  *'Lenz".  Eine  Untersuchung 
nach  Gehalt  und  Formgebung.  Bonner  Dissertation,  un- 
gedruckt [1922]. 

Walter  Hoyer,  Stoff  und  Gestalt  bei  Georg  Büchner. 
Leipziger  Dissertation,  ungedruckt  [1922]. 

Aufsätze 

Außer  den  Nachrufen  von  Karl  Gutzkow  (vgl.  S.  753) 
und  Wilhelm  Schulz  (S.  653ff.); 

Karl  Buchner,  Georg  Büchner.  Literarische  und  kritische 
Blätter  der  Börsenhalle.  Hamburg,  22.  und  24.  Mai  1837. 
Artikel  "Büchner"  im  Biographisch-literarischen  Lexikon 
der  Schriftsteller  des  Großherzogtums  Hessen  im  19.  Jahr- 
hundert. Bearbeitet  und  herausgegeben  von  H.  E.  Scriba. 
Zweite  Abteilung.  Darmstadt,  1843. 

Artikel  "Georg  Büchner"  in  der  Allgemeinen  Deutschen 
Biographie.  Leipzig,  1876.  [Verfasser:  Rochus  von  Lilien- 
cron.] 

Karl  Emil  Franzos,  Über  Georg  Büchner.  Deutsche  Dich- 
tung, Bd.  XXIX,  S.  195—203,  289—300.  Berlin,  1901. 
Karl  Emil  Franzos,    Georg  Büchners   "Dantons   Tod". 
Vossische  Zeitung,  4.  Januar  1802. 

Arthur  Ploch,  Aus  Georg  Büchners  Brausejahren.  Frank- 
furter Zeitung,  7.  Juni  1905. 

Hugo  Bieber,  Wozzeck  und  Woyzeck.  Literarisches  Echo. 
XVLBd.  (S.  iiSSff.),  I.Juni  1914. 

Joseph  Colün,  Georg  Büchner.  Biographischer  Artikel 
in  Herman  Haupts  Hessischen  Biographien,  I.  Bd.  Darm- 
stadt, 1918. 


BENUTZTE  LITERATUR  795 

Wilhelm  Diehl,  Minnigerodes  Verhaftung  und  Georg  Büch- 
ners Flucht.  Hessische  Chronik,  9.  Jg.  (S.  5ff.),  1920. 
Georg  Witkowski,  Büchners  Woyzeck.    Das  Inselschiff, 
I.  Jg.  (S.  2off.),  1920. 

Fritz  Bergemann,   Der  Fall  Woyzeck   in  Wahrheit   und 
Dichtung.  Das  Inselschiff,  i.  Jg.  (S.  242ff.),  1920. 
Armin  Renker,  Büchner  und  Musset.  Das  Inselschiff,  3.  Jg. 
(S.  284f.),  1922. 

Ouellenwerke 

a)  Mignet,  Histoire  de  la  Revolution  fran9aise,  Tome  II. 
Leipsic,  Geoffr.  Basse,  1827. 

Thiers,  Histoire  de  la  Revolution  fran9aise,  Tome  VI*. 
Paris,  1834. 

Unsere  Zeit  oder  geschichtliche  Übersicht  der  merk- 
würdigsten Ereignisse  von  1789  bis  1830,  nach  den 
vorzüglichsten  französischen,  englischen  und  deutschen 
Werken  bearbeitet  von  einem  ehemaligen  Offizier 
der  kaiserlich -französischen  Armee  [Konrad  Fried- 
rich, Pseudonym  Carl  Strahlheim].  Stuttgart,  gedruckt 
bei  E.  F.  Wolters.  1826— 1830  heftweise  erschienen, 
120  Duodezbände. 

b)  August  Stöber,  Der  Dichter  Lenz  und  Friedericke 
von  Sesenheim.  Aus  Briefen  und  gleichzeitigen 
Quellen....  Basel,  Schweighausersche  Buchhandlung, 
1842.  (Darin  S.  II — 31  Oberlins  Tagebuchdarstellung, 
abgedruckt  aus  der  "Erwinia"  1839;  neuerer  Nach- 
druck in  Landaus  Büchner- Ausgabe  II,  S.  117— 130.) 

c)  Über  die  Woyzeck-Quellen  vgl.  die  Aufsätze  von  Bieber 
und  Bergemann  a.  a.  O. 

d)  Zu  den  philosophischen  Vorlesungen,  außer  Descartes' 
und  Spinozas  Schriften: 

Wilhelm  Gottlieb  Tennemann,  Geschichte  der  Philo- 
sophie. Bd.  I— XI.  Leipzig,  1798— 1819.  (Bd.  I— lU  Ge- 
schichte der  griechischen  Philosophie;  Bd.  X,  S.  228ff. 
über  Cartesius,  S.  398ff.  über  Spinoza.) 
Johannes  Kuhn,  Jacobi  und  die  Philosophie  seiner 
Zeit.  Ein  Versuch,  das  wissenschaftliche  Fundament 
der  Philosophie  historisch  zu  erörtern.  Mainz,  Kupfer- 
berg, 1834. 

Wilhelm  Hegel,  Enzyklopädie  der  philosophischen 
Wissenschaften.  Heidelberg,  1827. 


796  SCHLUSSBERICHT 

e)   Zum  Anhang  usw.: 

Briefe  Gutzkows  an  Georg  Büchner  und  dessen  Braut. 
Mitgeteilt  von  Charles  Andler  in  Paris.  Euphorion, 
Ergänzungsheft.  3  (S.  181— 193),  1807. 
Karl  Gutzkow,  Götter,  Helden,  Don  Quixote.  Abstim- 
mungen zur  Beurteilung  der  literarischen  Epoche. 
Carl  Vogt,  Aus  meinem  Leben.  Erinnerungen  und 
Rückblicke.  Stuttgart,  E.  Nägele,  1896. 
Friedrich  Nöllner,  Aktenmäßige  Darlegung  des  wegen 
Hochverrats  eingeleiteten  gerichtlichen  Verfahrens 
gegen  Pfarrer  D.  Friedrich  Ludwig  Weidig,  mit  be- 
sonderer Rücksicht  auf  die  rechtlichen  Grundsätze 
über  Staatsverbrechen  und  deutsches  Strafverfahren, 
sowie  auf  die  öffentlichen  Verhandlungen  über  die 
politischen  Prozesse  im  Großherzogtum  Hessen  über- 
haupt und  die  späteren  Untersuchungen  gegen  die 
Brüder  des  D.  Weidig.  Darmstadt,  Leske,  1844.  (S.  98ff. 
Büchner  u.  die  Gesellschaft  der  Menschenrechte,  der 
Hessische  Landbote,  "Herr  du  Thil  mit  der  Eisen- 
stirn"; S.  42off.  Beckers  Aussagen  über  Büchner.) 
Wilhelm  Schulz  und  Carl  Welcker,  Geheime  Inqui- 
sition, Zensur  und  Kabinettsjustiz  im  verderblichen 
Bunde....  Carlsruhe,  G.  Braun,  1845.  (S.  12t  Büchner 
und  der  Hessische  Landbote  sowie  das  Spottlied 
"Herr  du  Thil  mit  der  Eisenstirn";  S.  83  Büchner 
über  Clemm.) 

Nachschlagewerke 

a) .  Allgemeine  deutsche  Biographie. 

Biographie  des  Hommes  vivants....  Tome  I — V.  Paris, 

Michaud,  18 16 — 18 19. 

Nouvelle  Biographie  generale....  Paris,  Didot  Freres. 

i858ff. 

The  Encyclopaedia  Britannica.  Cambridge,  i9iof. 

b)  August  Hirsch,  Biographisches  Lexikon  der  hervor- 
ragenden Ärzte  aller  Zeiten  und  Völker.  Bd.  I — VI. 
Wien  und  Leipzig,  1884 — 1888. 

Julius  Pagel,  Biographisches  Lexikon  hervorragender 
Arzte  des  19.  Jahrhunderts.  Wien,  i90of. 

c)  Otto  Wiltberger,  Die  deutschen  politischen  Flücht- 
linge in  Straßburg  von  1830— 1849.  Abhandlungen 
zur  mittleren  und  neueren  Geschichte,  Heft  17.  Berlin 
und  Leipzig,  1910. 


BENUTZTE  LITERATUR  7  9  7 

L.  Fr.  Ilse,  Geschichte  der  politischen  Untersuchungen, 
welche  durch  die  neben  der  Bundesversammlung 
errichteten  Commissionen  der  Centraluntersuchungs- 
Commission  zu  Mainz  und  der  Bundes-Centralbehörde 
zu  Frankfurt  in  den  Jahren  1819— 1827  und  1837 — 
1842  geführt  sind.  Frankfurt  a.  M.,  Meidinger  Sohn 
&  Co.,  1860.  (Im  Anhang  ausführliches  tabellarisches 
Verzeichnis  sämtlicher  pohtischen  Flucht-  und  Häft- 
linge.) 

Frh.  V.  Wagemann,  Darlegung  der  Hauptresultate  aus 
den  wegen  der  revolutionären  Complotte  der  neueren 
Zeit  in  Deutschland  geführten  Untersuchungen...  Frank- 
furt a.  M.,  1839. 
d)  Des  Knaben  Wunderhorn.  Alte  deutsche  Lieder,  ge- 
sammelt von  L.  A.  V.  Arnim  und  Clemens  Brentano. 
Franz  Ludwig  Mittler,  Deutsche  Volkslieder.  Samm- 
lung von  ...  Frankfurt  a.  M.,  K.  Th.  Völcker,  1865. 
Ludwig  Erk  und  Franz  Böhme,  Deutscher  Liederhort. 
Auswahl    der   vorzüglicheren    deutschen    Volkslieder, 
nach  Wort  und  Weise   aus   der  Vorzeit  und   Gegen- 
wart....    Bd.   I — III.     Leipzig,     Breitkopf    &    Härtel, 

i893f.- 

Dr.  Otto  Böckel,  Deutsche  VolksHeder  aus  Ober- 
hessen. Gesammelt  und  mit  kulturhistorisch-ethno- 
graphischer Einleitung  ...  Marburg,  Elwert,  1885. 
Johann  Lewalter,  Deutsche  Volkslieder.  In  Nieder- 
hessen aus  dem  Munde  des  Volkes  gesammelt,  mit  ein- 
facher Klavierbegleitung,  geschichtlichen  und  verglei- 
chenden Anmerkungen  ...  Heft  1-5.  Kassel,  18962. — 
August  Stöber,  Elsässisches  Volksbüchlein.  Kinderwelt 
und  Volksleben,  in  Liedern,  Sprüchen,  Rätseln,  Spie- 
len etc.  mit  Erläuterungen  und  Zusammenstellungen, 
einem  Sachregister  und  einem  Wörterbuche  ...2  Mül- 
hausen,  1859. 

Carl  Köhler  und  John  Meier,  Volkslieder  von  der 
Mosel  und  Saar.  Mit  ihren  Melodien  aus  dem  Volks- 
munde gesammelt  ...  Mit  vergleichenden  Anmerkun- 
gen und  einer  Abhandlung  ...  Halle,  Niemeyer,  1896. 
Ernst  Meier,  Schwäbische  Volkslieder  mit  ausgewählten 
Melodien.  Aus  mündhcher  Überlieferung  gesammelt  ... 
Berlin,  G.  Reimer,  1855. 


798  SCHLUSSBERICHT 

NACHTRAG 

In  der  Hessischen  Chronik,  S.  3iif.  des  vierten  Jahrgangs 
(1915),  teilt  Wilhelm  Diehl,  der  Herausgeber  dieser  Monats- 
schrift, folgendes  politische  Gedicht  auf  den  Minister 
du  Thil  mit: 

HERR  DU-THIL  MIT  DER  EISENSTIRN 

und   Schreinermeister  Kraus   in  Butzbach. 

Mel:  Ich  bin  der  Doktor  Eisenbart. 

Ein  Leuchter  leuchtet  durch  das  Land, 
Der  Hessen  Notwehr  auch  genannt; 
Was  der  Minister  lügt  und  trügt, 
Wird  durch  den  Leuchter  streng  gerügt. 

Herr  Du-Thil  macht  es  viel  Verdruß, 
Daß  er  den  Leuchter  dulden  muß; 
Es  kränkt  ihn,  daß  die  Welt  erfährt, 
Wie  frech  er  sich  den  Sold  vermehrt. 

Herr  Du-Thil  hat  ein'  Eisenstirn, 

Herr  Du-Thil  hat  ein  kluges  Hirn; 

Wohl  läßt  er  seine  Unken  schrein: 

Den  Pabst,  den  Schacht,  den  Breidenstein. 

Wohl  bot  er  tausend  Gulden  Lohn, 
Zeigt  ihm  den  Leuchter  ein  Spion. 
Da  kommt  ein  Brief:  in  Butzbach  sei 
Des  schlimmen  Leuchters  Druckerei. 

Wie  schnell  er  zu  Herrn  Knapp  da  lief! 
Frohlockend  zeigt  er  ihm  den  Brief. 
Herr  Bechtold  ward  gesandt  zur  Stund 
Gen  Friedberg  als  ihr  Schnüffelhund. 

Herr  Camesasca  sollt  ihn  dort 
Geleiten  an  den  schlimmen  Ort, 
Der  lange  Peter:  löwenkühn; 
Allein  der  Kriegsrat  warnte  ihn. 

"Ach  Peter,  Peter,  bleib  davon! 
Nur  Schimpf  und  Schande  sind  dein  Lohn! 
Denk,  wie  nach  Steinfurt  du  gerückt 
Und  dich  der  Ärg^er  fast  erstickt. 


NACHTRAG  799 

Denk  an  die  schwarzrotgoldne  Fahn, 
Nach  der  du  rittst  in  deinem  Wahn; 
Auf  stolzem  Rosse  rittst  du  aus. 
Ein  Esel  trug  dich  naß  nach  Haus." 

Herr  Camesasca  hörte  nicht, 
Er  schnitt  ein  superklug  Gesicht; 
Er  nahm  noch  zwei  Stück  Federvieh^ 
Den  Kopp  und  Fink;  fort  fuhren  sie. 

Es  öffnet  sich  ein  Kutschenschlag 
In  Butzbach  selben  Nachmittag, 
Heraus  springt  Bechtold  und  die  drei 
Und  fragen  nach  der  Polizei. 

Zu  Krausens  Hause  ging's  nun  flink, 
Die  Tür  bewachte  Kopp  und  Fink; 
Die  andern  schnüffelten  ins  Haus, 
Des  Leuchters  Licht  zu  blasen  aus. 

"Herr  Kraus,  es  ward  uns  offenbart, 
Hier  sei  die  Presse  aufbewahrt, 
Auf  welcher  man  den  Leuchter  druckt". 
Sprach  Bechtold,  der  scharf  um  sich  guckt. 

"Ihr  Herrn,  man  treibt  mit  Euch  sein  Spiel, 

Ich  habe  zwar  Holzpressen  viel, 

Allein  die  Presse,  die  Ihr  sucht. 

Die  steht  in  Nebel-Siegfrieds  Schlucht. 

Herr  Siegfried  druckt  in  tiefem  Schacht 
Den  Leuchter,  der  Euch  Ängste  macht; 
Sein  Zwerg  trägt  ihn  zur  Welt  hinein 
Und  streut  ihn  aus  im  Mondenschein." 

Sie  suchten  scharf  nun  überall, 
In  Haus  und  Keller,  Stub  und  Stall; 
Schrank,  Kasten,  Bett  und  Hobelspan' 
Ward  alles  emsig  durchgesehn. 

Herr  Bechtold  suchte  stets  voran, 
Drum  stieß  er  sich  die  Nase  an; 
Als  er  sich  schund  die  Nas  und  Stirn, 
Da  ward's  ihm  hell  in  seinem  Hirn. — 

Herr  Knapp,  Herr  Du-Thil,  tröstet  Euch: 
So  bleibt's  nicht  stehn  im  Deutschen  Reich. 
Kommt,  statt  des  Leuchters,  die  Latern, 
Dann  heißt's:  Lebt  hoch,  Ihr  werten  Herrn!! 


8oo  SCHLUSSBERICHT 

Der  Leser  dieser  Büchner-Ausgabe  wird  auf  Grund  der 
S.  764!  gegebenen  Hinweise  in  diesem  Spottlied,  dessen 
Verfasser  nach  Wilhelm  Diehl  unbekannt  blieb,  sofort 
das  verloren  geglaubte  satirische  Gedicht  auf  den  Minister 
du  Thil  erkennen.  Aber  die  Entdeckerfreude  wird  ge- 
dämpft durch  eine  gewisse  Enttäuschung,  die  die  Lektüre 
dieses  Liedes  zurückläßt.  Schon  technisch  läßt  es  sehr 
zu  wünschen  übrig,  und  Wilhelm  Schulz'  Voraussetzung, 
"daß  es  voll  des  schlagendsten  Witzes  ist",  trifft  auch 
kaum  zu.  Man  lese  Büchners  Brief  vom  2.  Juli  1834 
(S.  537),  der  zweifellos  denselben  Vorgang  behandelt  (und 
worin  demnach Franzos' Konjektur  "Darmstadt"  in  "Butz- 
bach" zu  ändern  ist),  und  man  wird  zugeben,  daß  unser 
Dichter  den  Vorfall  in  Prosa  viel  witziger  geschildert 
hat.  Die  Klaue  des  Löwen  Keße  sich  nur  in  den  Schluß- 
versen wiederfinden;  nur  dieser  Hinweis  auf  die  Laterne 
erinnert  an  den  Danton-Dichter.  Wie  matt  ist  aber,  im 
Gegensatz  zu  der  brieflichen  Schilderung,  die  Auseinander- 
setzung zwischen  dem  Kommissar  und  dem  Schreiner; 
die  Doppelbedeutung  des  Wortes  "Presse"  bleibt  fast 
unausgenutzt,  und  auch  aus  der  Verletzung  des  Kom- 
missars wird  kein  Kapital  für  den  satirisch-politischen 
Zweck  geschlagen,  obwohl  es  doch  ungemünzt  in  der 
Prosa  des  Briefes  schon  reichlich  vorhanden  ist.  Aber 
ist  an  Büchners  Verfasserschaft  überhaupt  zu  zweifeln, 
wenn  Wilhelm  Schulz  versichert  "Auch  dieses  Spottgedicht 
kam  vom  verstorbenen  Georg  Büchner,  wie  ich  von 
diesem  selbst  gehört  habe"?  Man  würde  sich  wohl  oder 
übel  damit  abfinden  müssen,  wenn  nicht  von  gericht- 
licher Seite  eine  Gegenbehauptung  vorläge.  In  Ilses  "Ge- 
schichte der  politischen  Untersuchungen"  heißt  es  S.  352 
von  jener  Haussuchung  und  dem  darauf  gedichteten 
Spottlied:  "Zum  Hohn  der  Regierung  veranlaßte  Ge- 
meinderat Kühl  den  Carl  Flach,  eine  anonyme  Anzeige 
zu  machen,  die  gesuchte  geheime  Presse  sei  bei  dem 
Tischler  Kraus  in  Butzbach.  Bei  der  Haussuchung  fand 
man  nichts.  Diesen  Vorgang  benutzte  Carl  Flach  zu 
einem  Spottliede  auf  das  Ministerium  und  die  Beamten, 
welches  von  Weidig  verbessert  und  von  diesem  selbst 
zum  Druck  nach  Offenbach  zu  Preller  und  in  den  ge- 
druckten Exemplaren  zurückgetragen  wurde.  Das  Lied, 
das  sonach  dem  Pfarrer  Weidig  zuzuschreiben  ist  und 
das,  überall  ausgestreut,  allgemein  in  Butzbach  gesungen 


NACHTRAG  80 1 

wurde,  endet  mit  der  Drohung  an  hochgestellte  Beamte 
des  Großherzogtums:  'wenn  erst  statt  des  Leuchters 
die  Laterne  kommen  werde,  dann  würden  sie  hoch 
leben!'"  Diese  Darstellung  beruht  nicht  etwa  auf  einer 
persönlichen  Auffassung  Ilses,  sondern  ist  die  Wieder- 
gabe eines  Kommissionsberichtes  der  Bundeszentral- 
behörde zu  Frankfurt  am  Main,  also  eine  gerichtliche 
Feststellung.  Leider  vermißt  man  die  Angabe,  worauf 
sich  diese  Feststellung  stützt,  und  der  Eifer,  mit  dem 
gleich  Weidig,  dem  Herausgeber  der  Zeitschrift  "Leuchter 
und  Beleuchter  für  Hessen",  die  Hauptschuld  an  dem 
Liede  zugesclirieben  wird,  ist  nicht  geeignet,  über  diesen 
Mangel  hinwegsehen  zu  lassen.  Und  selbst  wenn  auch 
die  gerichtliche  Annahme  auf  ein  Geständnis,  etwa  Flachs, 
zurückginge,  so  stände  noch  immer  Behauptung  gegen 
Behauptung,  und  es  bliebe  nach  wie  vor  die  Frage,  auf 
welcher  Seite  eine  falsche  Angabe  oder  ein  Mißverständ- 
nis vorliege.  Zur  Klarheit  führt  also  auch  die  gericht- 
liche Darstellung  nicht,  doch  muß  sie  den  schon 
vorhandenen  Zweifel  an  der  Verfasserschaft  Büchners 
bestärken.  Und  wäre  jene  an  den  Danton-Dichter  er- 
innernde Schlußpointe  des  Liedes  nicht,  so  könnte  man 
allerdings  glauben,  Wilhelm  Schulz  hätte  irgendeine 
Äußerung  seines  Freundes  Büchner  falsch  gedeutet  und 
sich  durch  solch  Mißverständnis  zu  jener  Behauptung 
in  seinem  mit  Welcker  geschriebenem  Buch  über  "Ge- 
heime Inquisition"  verleiten  lassen. 


BÜCHNER  51. 


REGISTER 


Die  Abkürzungen  bedeuten:  E.-B.  =  Erk  und  Böhme,  F  =  FranzoSj  Mign. 
=  Mignet,  N  =  Nachgelassene  Schriften,  NöUn.  =  Nöllner,  Oberl.  =  Oberlin, 
Sch.-W.  =  Schulz  und  Welcker,  Tennem.  =  Tennemann,  Th.  =  Thiers,  U.  Z. 
=  Unsere  Zeit.  Die  genaueren  Titel  und  Auflagen  der  also  zitierten  Bücher 
sowie  die  der  Werke  und  Aufsätze  von  Böckel,  Collin,  Diehl,  Franzos,  Köhler, 
Kuhn,  Lewalter,  Majut,  Vogt  suche  man  in  dem  Verzeichnis  der  benutzten 
Literatur  S.  793  ff. 


"Ach  Scheiden,  ach  Scheiden, 
ach  Scheiden  . . .":  mit  d.  Ant- 
wort "Es  hat  sich  e.  frisch- 
junges Mädchen  D.  Seh.  mit 
Thränen  erdacht",  Schlußstro- 
phe d.  hess.  Liedes  "Dort  dro- 
ben auf  hohem  Berge  ..."  (vgl. 
auch  E.-B.,  419b— e).  41. 

"Ach  Tochter,  liebe  Tochter": 
mitd.  Antw.  "Ach  Mutter,  liebe 
M.,  So  sei  doch  gescheit,  Die 
Landk.  u.  die  Fuhrl.  Das  sind 
kreuzbrave  Leut",  hess.  Volks- 
lied (vgl.Vogt,  S.  77).  710,714. 

Alcibiades:  s.  Sokrates. 

Alfieri,  Vittorio,  Graf:  ob  es 
sich  um  e.  wirkl.  Zitat  d.  ital. 
Dram.atikers  handelt,  ließ  sich 
nicht  ermitteln;  doch  ist  bei 
d.  Worten  wohl  eher  an  d.  er- 
habne Pathos  d.  Tragödien  als 
an  e.  iron,  Äußerg.  d.  politisch 
gefärbten  Lustspiele  A.s  zu 
denken.    109,  687. 

Alsabilder:    s.  Stöber,  Adolph. 

Amar.  gefügiges  Mitgld.  d.  Si- 
cherheitsausschusses, das  spä- 
ter d.  Schwenkg.  geg.  Robes- 
pierre mitmachte.    65,  66. 

Archimedes:  den  Ausspruch  d. 
griech.  Physikers  wandte  H. 
More  (s.  d.)  auf  d.  Philosophie 
an,  was  Büchner  bei  Tennem. 
X,  283  erwähnt  fand.   253. 

Amauld,  Antoine  303,  308  ff. 

Arnold,  Friedr.  234,  236,  359. 

Arsaky:  Verfasser  e.  "Commen- 
tatio  de  piscium  cerebro  et 
medulla  spinali",  die  unter 
Meckels  Leitg.  entstanden  u. 
1836  von  Gust.  Wilh.  Minter 


neu  herausgegeben  war.  184, 
194,   196. 

"Auf  dem  Kirchhof  will  ich  lie- 
gen": mit  d.  letzten  Vers  "Das 
die  Lieb  tut  wiegen  ein", 
Schluß  d.  Volkslieds  "So  viel 
Stern  am  Himmel  stehen'"  (vgl. 
Wunderhorn).    124. 

"Auf  dieser  Welt  hab  ich  kein 
Freud":  bekanntes  Volkslied, 
das  aber  im  2.  Vers  sonst  "m/ 
Schatz"  hat.  98. 

August:  10.  8.  92  wurden  d.Tui- 
lerien  gestürmt  u.  d.  Schweizer- 
garde niedergemacht.  15,  17, 
48,  56,  57,  67. 

Baden,  Großherzog  von:  s.  Leo- 
pold. 

Badenburger  Versammlung:  3. 
Juli  34  von  Weidig  veranst. 
Zusammenkunft  bei  d.  Ruine 
B.  zwischen  Marburgern  (Dr. 
Eichelberg,  Dr.  Heß,  Stud. 
Breidenbach),  Gießenem  (Ad- 
vokaten Briel  u.  Rosenberg, 
Buchhändl.  Ricker,  Büchner, 
Klemm)  u.  Weidig  selbst,  der 
V.  e.  Reise  durch  Süddeutschi, 
d.  Anregung  mitbrachte,  durch 
geh.  Flugschriften  d.  Revolut. 
vorzubereiten.  634  f. 

Baiser,  Georg  Friedr.  Wilh. 
(1780 — 1846':  Medizinalrat  u. 
Universitätsprofessorin  Gießen 
(vgl.Vogt,  S.  5  2  f.).   529.^ 

Bankiers:  d.  Brüder  Junius  u. 
Immanuel  Frey,  Chabots  jüd.- 
österr.  Schwäger  u.  mit  ihm 
verhaftet.    54. 

Barere  de  Vieuzac:  s.  wechsel- 
vollen   Schicksale    hat    B.   in 


ACH  SCHEIDEN  -  BOJANUS 


80- 


s.  **M6moires"  selbst  geschil- 
dert, da  diese  aber  erst  1841 
ersch.,  kann  sie  Büchner  nicht    , 
benutzt    haben;    dessen    Auf-    ! 
fassg.  von  B.s  V/etterfa!.nen-    ! 
Charakter  ist  die  \^n  Thiers  u.    ■ 
JNIign.,  doch  waren  dem  hist.     i 
B.  Gewissensbisse  fremd.  8,  31     1 
C'd.  alt.  Sack":  Wortspiel  mit    \ 
B.s'' Beinamen,  vgl.  Th.    125, 
59ff.,  639,  667. 

Baum,  Joh.  Wilh.  (1809—78/ 
Straßb.  Freund  Büchners,  der 
sich  spät,  als  Kirchenhistoriker 
um  d.  Lebensgesch.  hess.  u.  a. 
Reformatoren  verdient  machte; 
s.  preisgekr.  Schrift  "Der  Me- 
thodismus"'ersch.  38.  546,756. 

Baur,  Karl:  Darmstädter  Gym- 
nasialprofessor.   767,   775. 

Bechtold.  Baron  v.:  wohl  ver- 
wandt mit  Friedr.  Georg  v.  B. 
(s.  u.)  sowie  mit  d.  Hause  Carl 
Theod.  Bechtolds,  der  Karo-  ■ 
line  Luise  Reuß,  e.  Nichte  von 
Büchners  Großvater,  geheiratet  j 
hatte.  625.  i 

Bechtold,  Friedr.  Georg  v.  ( 1 800 
bis    72):    hess.   Ministerialrat,    ! 
später  Minister  d.  Innern.  625.    i 

i^^ecker,  August  (geb.  18 14): 
hess.  Pfarrerssohn,  der  als 
Stud.  d.Theol.,  dann  als  Haus- 
lehrer u.  zuletzt  beschäfti- 
gungslos in  Gießen  e.  küm- 
merl.  Dasein  fristete,  bis  er 
weg.  s.  Teilnahme  an  d.  Baden- 
burg. Versammig.  (s.  d.)  u.  an 
d.  "Gesellschaft  d.  Menschen- 
rechte" verhaftet  wurde;  nach 
langer  Untersuchungshaft  zu 
9  J.  Gefängn.  verurteilt,  wurde 
er  39  durch  d.  hess.  Amnestierg. 
frei,  worauf  er  als  Kommunist 
in  d.  Schweiz,  später  als  Feld- 
prediger inNordamerika  lebte. 
Für  d.  Dichter,  den  er  auch 
in  die  "Gieß.  Winkelpolitik"  ' 
eingeweiht  zu  haben  scheint, 
war  der  Umgang   mit  diesem    , 


verkommenen  Genie  außer- 
ordentl.  anregd.;  äußerl.  do- 
kumentiert sich  das  in  der 
gleichen  Vorliebe  für  d.  Schin- 
derhanneslied (vgl.  ''Die  da 
liegen...",  aber  auch  noch 
im  'Woyzeck'  fühlt  man  sich 
zuweilen  an  d.  '"roten  August'', 
der  nur  6 — 7  kr.  für  Mittags- 
kost hatte,  erinnert.Vgl.  F  CLI, 
Nölln.  S.  243 fif.  u.  Vogt  S.  83. 
545-547,549,607,  633,  634ff., 
733 f.,  770.  —  ^«Gutzkow 776. 
Becker,  Ludwig:  Cand.  theol. 
in  Gieß.,  Mitgl.  von  Büchners 
•'Gesellsch.  der  Menschenr.". 

549,  634. 

Beckers  aus  Frankfurt:  den 
Büchners  befreundete  Pfarrers- 
familie, bei  der  Georg  2.  8.  34 
auf  s.  "Ausflug"  nach  Offen- 
bach weilte  vgl.  W.  Diehl, 
Hess.  Chronik  IX,  S.  5].  623  f. 

Bekker,  Balthasar  743. 

Bell,  Charles   187,  228. 

Biegeleben,  Maximilian  Frhr.  v. 

550,  561. 

Billaud-\  arennes:  Th.  191  gab 
d. Charakteristik,  U.Z.  Details. 
8,  59  fr.  :d.  Worte  6034 f.  "so 
viel  Mühe  .  .  :'  aus  U.  Z.  XIT. 
S.  14). 

ßischoflf,  Theod.  Ludw.  Wilh.: 
s.  "Nervi  access.  Will,  ana- 
tomia  et  physiologia"  ersch. 
1832  inDarmst.  183,  202,  206. 
208,  2i9f.,    231,   233 f.,   236. 

Bobrik,  Zürcher  Philosophie- 
professor 739. 

Böckel,  Eugen:  Mediz.;  Straßb. 
Studienfreund  Büchners.  530, 
538,  546,  550,  756  f.  (außer  N 
S.  18  vgl.  noch  Diehl;. 

Bojanus:  lit.  Tierarzt  u.  Anatom, 
Entdecker  d.  Niere  bei  d. 
Muscheln  ("Parergon  ad  ana- 
tomen  testudinis;  cranii  ver- 
tebr.  animalium  sc.  piscium. . ." 
1821  .  193,  203.  233,  237, 
242—45,  247. 


8o4 


REGISTER 


Börne,  Ludwig  558,  653. 

"Branndewein,  das  ist  mein  Le- 
ben'': Volksliedzitat?   158. 

Braubach:  offenb.derweg.Teiln. 
am  revol.  Komplott  1833  seit 
Sommer  35  flüchtige  Wilh.  B. 
aus  Butzb.,  vormals  Student  iu 
Gießen.   646. 

Braunschweig,  Herzog  von:  s. 
Wilhelm. 

Brentano,  Clemens:  s.  Lustspiel 
'Ponce  de  Leon'  gab  bekanntl. 
manche  Anregungen  f.  'Leonce 
u.  Lena'  (bes.  d,  Hauptmotiv 
mit  d.  Maskenspiel  u.  d.  An- 
wendg,  d.  Wortspiels).  687. 

Breschet,  Gilbert  (1784— 1845): 
franz.  Anatomieprofess. ,  der 
sich  u.  a.  um  d.  Anatomie  d. 
Ohres  verdient  gemacht.  2 10  f. 

Brion,  Friederike  98  u.  loi  (bei 
Oberlin  wird  d.  Frage  nach 
"d.  Frauenz."nur  an  ihn  selbst 
gerichtet;  d.  "gebrochn.  Wor- 
te" auch  bei  Oberl.),  104,  622, 
678,  681. 

Brissot  46. 

Brockhaus'  Repertorium  d.  ge- 
samten deutschen  Literatur: 
brachte  35  e.  kurze  Besprechg. 
des  'Danton',  die  nur  d.  gute 
Charakterisierg.  d.  undramat. 
Helden  anerkennt.  619. 

Brutus,  Luc.  Jun.  25,  69,  580. 

— ,  Marc.  Jun.  33,  49,  602  f. 
* 

Büchner,  Georg  [x^i'^^ — 37): 
I.  Biographisches. 
Lebenslauf  653 — 57;  Geburt, 
Taufe  629,  Schulzeit  629 if., 
653,76off.,767f.,774ff-,  Be- 
rufsfrage 535,  544, 605,  622, 
642,  654,  739,  775  ^M  Uni-    I 
versitätsjahre  523  ff.,  632  bis    | 
634,Flucht543f.,6o8,636f..    ; 

640,  757,  Straßb.  Exil  544 ff.,    j 
Doktorwürde  557,  562,  627, 

641,  654,  739  f.,  Zürich 
566  ff.,  641  ff.,  Tod  644, 
651  ff.,  657. 


Persönlichkeit  63o{f.,  634 f. 
Äußere3632f.,  64if.,647f., 
656,776;  Gesundh.,Krankh. 

530.  533^-,  536,  567ff-,  608, 
645—53,  656  f. 
CharaKterbildung: 

i)  Angebl.  Hochmut  531, 
633f.,Ehrgeiz6o8(vgl.55i), 
Gutmütgkt.  5  56,  Mitleid  532, 
560,  635,  Schwermut  532. 
536,  605,  608,  geniale  Träg- 
heit 527,  544,  615  (Danton, 
Leonce!). 

2)  Familiensinn  535,  543, 
656 f.,  Freundschft.  556  (vgl. 
Trapp),  5  78  f.,  630,  633, 
635,637,  657,  Liebe  U.Ehe 

531,  535,  560,  642,  647, 
654,  656  (vgl.  133  f.,  765 
Anm.),  Nationalgefühl  558, 
587 f.,  Naturgef.  527 f.,  529, 
533,  565,  605,  775,  Vater- 
landsliebe 543,  604,  763. 

3)  Politische  Gesinng.: 

a)  Eigne  Freiheitsliebe  559, 
579,  599,  601,  604,  631, 
762  f.; 

b)  Staat  u.  Gesellschaft: 
Arm  u.  Reich  165  ff.  (733), 
549,  606  f.  (vgl.i48,i5of.), 
Bildungsunterschiede  531, 
562,  Gesellsch.-Moral  139, 
5 59 f.,  Kleinstaaterei  605 
(vgl.  126,  136,  138),  Kon- 
stitutionswesen 173  f.,  525, 
555,  Liberale  Partei  526, 
548  f.,  605,607,  656.  733, 
Regierungen  (dtsche.:)  553, 
559,  (franz.:)  547,  554f., 
(hess.:)i66f.,534,55o,636, 
(prß.:)  550; 

c)  Umsturzversuche  165  bis 
177.  525^-1  548 f-,  605 ff., 
634ff.;  e.  Magenfrage  527, 
545,  549.  562  f.,  607  (vgl. 
14,  135,  i7of.);  soziale 
Reform  563   (vgl.  27); 

d)  Staatsideal:  Staatsbegriff 
166,  Monarch.  od.Republ. 
607,  636  f.,  Mehrheitswille 


BÖRNE  —  BÜCHNER 


805 


172,  668,  Idealstaaten  11, 
566 f.,  607. 

4)  Religiosität  632  f.,  769, 
776;  vgl.  noch:  Glaube  u. 
Wissen  3 56 f.,  Gott  575, 
650, 656,  Gottesbeweis  49  ff., 
268  f.,  331,  Christus  28,  32. 
43,  524,  Christentum  560, 
592,  Atheism.  5i.64f.,(ioo,) 
331,  665,  (716,  720,)  Fata- 
Hsm.  43,  47  f.,  530,  Thomme 
machine  292  f.,  530,  533 
(43 f.,  138 f.),  Moralbegriffe 
28,  75'  139,  151,  33S,  551^ 
559f.,  Epikuräism.,  Genuß- 
religion 28.  76,  142,  (698,; 
741. 

5)  Kunstempfinden: 

a)  Sensibilität  überhpt.  530, 
533  f.,  608;  üb.  Lichtein- 
drücke vgl.  Rudolf  Majut; 
Schallemptindlichkt.  532 
(vgl.  42,  107  usw.);  Musik- 
freude  568,  776  (vgl.  39. 
1 16 usw.),  Phantasietätigkt. 
567; 

b)  Idealism.  u.  Realism.  39, 
91  ff.,  552  f.  (vgl.  noch  113^ 
126, 147,  ferner:)  Roman tk. 
112,   123,  133,  536,  774; 

c)  Volkskunst:  Märchen 
159,713, Sagen558,  Volks- 
lieder 92,  568,  775  (vgl. 
15,  36  f.,  41,  73,  80,  98, 
124,  145 f.,  148,  155  f.,  708. 
7io.7i2?7i3— 7i5,7i7ff.;.; 

d)  Drama  551  ff.,  560. 
IL  Werke. 

Dichtungen  5  ff.,  663  ff.;  Dan- 
tons Tod  7 — 80,    542—47, 
550—52,    562,    607,  6iif.,    I 
617.619,623,636—39,655,    I 
666ff.,  771;  Lenz  8i  — loS,    ' 
557,  6i7ff,  622,  655.  663,    ' 
678 ff.,  772;  Leonce  109  bis 
142,566?  567,623.655,664.     ' 
686ff.    (Entwürfe  687 — 93  ; 
Woyzeck  143— 61.5669567^    i 
655,  664,  699  ff.   (Entwürfe    j 


706— 29),   784  f.     Vgl.  Mis- 
zellen,  Verlorenes. 
PoHt.Schriften  785  f.;  D.Hess. 
Landbote    163—77,    635  f, 

733  ff- 
Wissensch.   Arbeiten    179 ff., 
557,  559,  739 ff-;  Sur  le  Sy- 
steme  nerveux   du   barbeau 
181  —  250,    562,    627,    641, 
654,  739 ff-;  Gesch.  d.  griech. 
Philosophie  740  f.;  Cartesius 
251—320,    562,    565,    654, 
739  f-,    742  f.;   Spinoza  321 
bis  52,  565,  642,  654,  740, 
744 ff.,  748 f.;  Über  Schädel- 
nerven 353—67,  641,  655, 
749  ff.   Vgl.  Verlorenes. 
Übersetzungen    369  ff..    550, 
615,745,752, 761, 772;  Lucr. 
Borgia  371—438,  619,  655, 
752;  Mar.  Tudor  439—520, 
619.  655,   752. 
Briefe  521-69,   753  ff 
Miszellen  571  ff.,  760 ff.;  Poet. 
Ansätze     573-77,     765  f., 
Schulaufsätze,    -reden    578 
bis 604,  76of.,  76 7f., Schüler- 
glossen,     Schulheftnotizen 
761  —  64,   Müudl.  Äußerun- 
gen 605-08.  633,  635,  637. 
642,650.  657,  768 ff,  776. 
Verlorenes:    Aretino    664f., 
LTerr  du  Thil   m.  d.  Eisen- 
stirn 764  f..  798 ff., Tagebuch 
765,  769,   Briefe  772,  789, 
Abgangsrede  760,  767,  Bed- 
lam?    535,     756,     Jouraal- 
artikel?  559,  663.  Polit.  Ab- 
handlungen 785  f.,   Zürcher 
Vorlesg.üb.  vergl.  Anatomie 
642 ff.,  655. 
* 
Büchner,  Familie    5 23  ff.,    635 

638,  652,  656f.,  753  f.  ^ 
Büchner,Jak.Karl(i753 — 1835): 
Großvater  d.  Dichters;  Amts- 
chirurg in  Reinheim.  629. 
Büchner,  Em.st  (1786— 1861): 
Vater  d.  Dichteis;  nachmilitär- 
ärztl.  Laufbahn  Arzt   in  God- 


8o6 


REGISTER 


delau,  dann  in  Darinst.,  zu- 
letzt als  Medizinalrat;  Mitarb. 
v.ärztl. Zeitschriften.  573,575. 
611,  614,  622,  624f.,  629, 
636 — 40,  653  f.  —  An  Georg 
626 fF.  ("Nadelgeschichte":  in 
Henkes  Zeitschrift  f.  Staats- 
arzneikunde, 26. Bd.  "Versucht. 
Selbstmord  durch  Verschluk- 
ken V.  Stecknadeln"). 
Büchner,  Carol.  geb . Reuß  ( 1 79 1 
bis  1858):  Mutter  d.  Dichters; 
Tochter  d.  hess.  SpitalschafF- 
ners  u.  Regierungsrats  Reuß, 
seit  18 12  Gattin  Dr.  Büchners. 
574,  575,  608,  611,  628f., 
637  f-)  irJ-—^4n  Georg  623  ff., 
772. 

—  Mathilde  (1815—88):  älteste 
Schwester  d.  Dichters.  608, 
624ff.,  628. 

—  Wilhelm  (1817—92):  Bruder 
Georgs ,  Pharmazeut;  später 
Besitzer  d.  ersten  Ultramarin- 
fabrik in  Pfungstadt,  auch 
politisch  als  Abgeordneter  im 
hess.  Landtg.  u.  Reichst^,  wir- 
kend. 607 f.,  624,  757,  759, 
769 f.  —  Gedicht  "Erinnerg. 
an  m.  Bruder  Georg!"  638, 
775  f.  —  An  Franzos  636 — 40; 
von  Georg  548  f.,  565 f?,  567. 

—  Luise  (1821 — 78):  Schwester 
d.  Dichters,  Schriftstellerin  u. 
Frauenrechtlerin.  628,  734, 
753,  766. 

—  Ludwig  (1824 — 99):  Bruder 
d.  Dichters,  später  Arzt  in 
Darmst.  u.  Verf.  d.  Buches 
'•Kraft  U.Stoff";  erster  Heraus- 
geber d.  Schriften  Georgs. 
625,628,  661  f.,  664,  678,  687, 
734f.,  741,  744,  750,  753, 
769,  771- 

—  Alexander  (1827  —  1904): 
Bruder  d.  Dichters,  später  Lite- 
raturprof.  in  Caen.  624,  628. 

Büchner,  Joh.  Karl  (1791  bis 
1858):  Bruder  v.BüchnersVater; 
Kreisarzt  in  Reinheim.   628. 


Bürger,  Gottfr.Aug.  176  (Zitat), 

579,  738- 
Burschenschaft:  verboten,  aber 
im  Korps  Palatia  wiederauf- 
erstanden (vgl.  Vogt,  S.  1 1 5  fF.); 
der  zitierte  Ruf  soll  wohl  das 
Burschenschaftslied  "Burschen 
heraus"  parodieren.  537. 

Calderon  775. 

Callot-Hoffmann:  s.  Hoffmann. 

Camper,  Peter:  die  "Kleinen 
Schriften,  die  Arzneikunde  u. 
Naturgesch.  betr."  ersch.Ende 
d.  18.  Jh.  in  dtsch.  Übers.  213. 

Carlisten:  Anhänger  des  Don 
Carlos  von  Spanien,  der  seit 
1834  d.  weibliche  Thronfolge 
d.  Königin-Regentin  Christine 
im  Bürgerkrieg  bestritt;  Louis 
Philipp,  Mai  35  von  d.  span. 
Regierung  um  Hilfe  ersucht, 
lehnte  e.  Intervention  ab.  554. 

Carmagnole  27,   77,  523. 

Cartesius,  Renatus  253—320, 
340,  342,  345  ff.,   748. 

Cartesius'  Gegner  u.  Nachfolger 
269,  297,  303,  320,  743;  vgl. 
Malebranche,  Meyer,  Spinoza. 

Carus,  Carl  Gust.:  "Versuch  e. 
Darstellg.  d.  Nervensystems" 
18 14;  "Lehrbuch  d.Zootomie" 
18 18;  "Von  d.  Urteilen  d. 
Knochen-  u.  Schalengerüstes" 
u.  "Grundzüge  d.  vergl.  Anat. 
u.  Physiologie"  1828.  183  f., 
194fr.,  213,  219,  235,  237f., 
243fiF.,  293,  358,  643. 

Caters,  holländ.  Gelehrter  303  ff. 

Chabot  46. 

Chalier:  Anhänger  Marats;  Ja- 
kobiner-Stadtrat in  Lyon,  dort 
vom  reaktion.  Mittelstand  7.  2. 
93  hingerichtet.   II,  17,  25. 

Chamisso,  Adelbert  v.  125 
(Zitat  aus  "Die  Blinde"). 

Chaumette:  drei  Tage  nach 
Hebert  verhaftet,  doch  erst 
nach  den  Dantonisten  hinge- 
richtet. 8,  49  ff.    (s.  schwächl. 


BÜCHNER  —  DANTON 


807 


Haltg.  i.  d.  Haft  histor.,  d. 
spekulat.  Ausführg.  d.  Dichters 
Werk^ 

•'Christinleiii,  lieb  Christinlein 
mein':  Volksliedverse?  37. 

Christus  u.  d.  Jünger  in  Em- 
maus:  s.  Holland.  Maler. 

Cicero  62,  602,   761. 

Clemm  (Klemm^  Gustav:  Studt. 
d.  Theol..  dann  d.  Pharmakol. 
in  Gießen.  Mitgl.  d.  Verbindg. 
Hassia;  schon  einmal  weg.  Ver- 
dachts der  Teiln.  am  Frankf. 
Attent.  in  Haft  Jul.  33  bis  März 
34),  wurde  er  weg.Beteilgg.  an 
d.  neuen  durch  d.  Hess.  Ldb. 
dokum.  Machenschftn.  (er  war 
Mitgl.  d.  "Gesellsch.  d.  Men- 
schenr."  u.  hatte  an  d.Badenb. 
Zusammenkunft  teilgen.)  8.  5. 
35  wieder  verhaftet,  aber  Aug. 
geg.  Kaution  freigelassen,  weg. 
s.  geschwächt.  Gesundh.u.  weil 
er  sich,  z.  Schaden  s.  beteiligt. 
Kameraden,  geständig  gezeigt; 
die  Dez.  38  erhalt,  zehnj.  Zucht- 
hausstrafe erledigte  sich  mit  d. 
hess.  Amnestie 39,  verdarb  ihm 
aber  d.  forstw.  Karriere,  die  er 
durch  Beziehungen  zum  Geh. 
Staatsr.  Knapp  erstrebt  hatte: 
er  lebte  später  nach  N,  S.  262, 
überall  zurückgestoßen  an  ver- 
schied. Orten.  iVgl.  auch  Seh.- 
W.,S.82ff.]  545,  549fr.,  536f., 
634,  733. 

Clichy63(vgl.U.Z.XII,233f.}. 

Collot  d'Herbois  8,  17  f,  21, 
25  :fing.  Zitat),  59ff.  (C.s  Ant- 
wort an  d.  Bürgerin  geht  auf 
U.  Z.  XII,  14  zurück,  wo  sie 
aber  Couthon  gibt!). 

Conciergerie  64f.,  ögff.,  74ff., 
674. 

Cottas  Preisausschreiben  für  d. 
beste  Lustspiel  664,  6S7,  784. 

Couthon  31  (fing.  Zitat),  74  (den 
bei  Th.  204  schamhaft  ver- 
schwiegenen Ausspruch  Dan- 
tons überlieferte  U .  Z.  XII,  124: 


"Könnte  ich  Robesp.  meine 
H  .  .  .  n  u.  Couthon  m.  Waden 
hinterlassen,  so  würde  sich  d. 
Wohlfahrtsausschuß  noch  eine 
Zeitlang  halten'"). 
Cuvier,  Georges  1S4, 192  f.,  194 
bis  97,  199—205,  208fr.,  213. 
216,  218—21,  226,  229,  231, 
242—45,  247  f. 

"Da  ist  die  schöne  Jägerei": 
kürzere  Variante  d.hess.\  olks- 
lieds  "Drüben  im  Odenwald, 
da  wächst  ein  schönes  Holz'" 
(vgl.E.-B.,  1461).  717. 
Danton,  Georges  Jacques:  die 
histor.  Gestalt  D.s  mag  schon 
U.  Z.  III,  297  f.  Büchner  ein- 
geprägt haben,  der  ihn  frei- 
lich nur  am  Ende  s.  Laufbahn 
darstellt:  v.  d.  Heimat  wieder- 
verheiratet zurückgekehrt,  al- 
les Terrors  müde,  nach  dem 
Kampf  geg.  d.  soeben  erledig- 
ten Hebertisten  nur  noch  über- 
drüssiger d.  Politik  u.  lechzen- 
der nach  Erholung  im  Genuß 
geworden;  die  Verwertg.  dieser 
Stimmungsmomente  zu  d.mehr 
lyrisch  geart.  Szenen  mit  Julie. 
Marion  usw.  ist  des  Dichters 
eigenstes  Werk,  der  jedoch 
geg.  d.  bist.  Wahrht.  verstößt, 
wenn  er  den  in  s.  zweite  Frau 
Verliebten  noch  zur  Zeit  dieser 
Ehe  zu  Grisetten  gehn  läßt; 
Büchnerisch  ist  ferner  d.  Ver- 
innerlicbg.  des  Atheisten  durch 
moral.  u.  religiöse  Einschläge 

I      (vgl.4331  ff.  mit  53021fr.,  7621^. 

!  mit  53323  fr.  ;  im  übrigen  ist 
d.  bist.  Material,  wie  es  Mign.. 

I      Th.,    U.  Z.   überlieferten,    bis 

j  ins  Detail  direkter  Reden  u. 
Äußerungen  benutzt  worden. 
8,  9fr.,  21,  22fr,  27fr.  (Zu- 
sammenkunftmit  Robesp.  nach 
Mign.  32  f.),  29,  30.  32  fr.  (auch 
bei  Mign.  34f.,  Th.  192  ff.  drän- 
gen die  Freunde  Danton  (zum 


8o8 


REGISTER 


Handeln;  zu  3334  vgl.  Mign. 
34;  34 6 f.  u.  35t2ff.  wörtl.  nach 
Mign.  35,  resp.  Tb.  193),  37, 
38,  39  f.  (zu  3929 flf.  s.  u.  Da- 
vid; 407ff.  wörtl.  nach  U.  Z. 
Xn,  123),  41  (vom  Flucht- 
versuch weiß  nur  U.  Z.  XII,  92), 
42  ff.,  45  ("rettete  Frankr.": 
Sept.  92,  als  Verdun  gefallen 
war,  durch  seine  energ.  Auf- 
forderg, zum  Widerstd,),  46, 
47,  52  f.  fz.  T.  wörtl.  nach  Th. 
201  ff.),  53,  54f.  (55i4ff.  nach 
Th.  204,  5  5 19 f.  nur  bei  Mign. 
35)»  55  ff-  (I-  Verhör  am 
2.  April;  nach  Th.  208  ff. ,  Mign. 
37,  U.  Z.  XII,  III  Anm.),  58, 
60  (Wagt!:  "II  nous  faut  de 
l'audace  et  encore  de  l'audace 
.  .  ."  hatte  D.  nach  d.  Verlust 
Verduns  gerufen),  62,64f.,66f. 
(3.  Verhör  am  4.  April;  vgl.Th. 
2i7,U.Z.XII,ii5f.i,67f.,69ff, 
74 ff.  (7414!  nach  Th.  204,  d. 
folgd.  obzöne  Stelle  bringt  nur 
U.  Z.  XII,  124:  vgl.  Couthon; 
7424  nach  Mign.  37  "J'entraine 
Robesp.";  75  "Kainsbrüder" 
nach  Th.204),78f,  (D.s  letzte 
Worte  zum  Henker  nach  Th. 
220),  552,  562,  6x5. 
Danton,  Julie:  D.szweite Gattin, 
die  er  93  heiratete  u.  die  in 
Wirklichkt.  Louise,  geb.  G61y 
hieß;  sie  war  93  erst  sechzehn- 
jährig, doch  ihre  jugendl.  Reize 
fesselten  D.  so,  daß  er  sogar 
auf  d.  Bedingg.  einer  priesterl. 
Trauung  einging;  übrigens  ist 
Louise  dem  Gatten  nicht  in  d. 
Tod  gefolgt,  sondern  sie  hei- 
ratete drei  Jahre  darauf  d.  spä- 
tem Präfekten  u.  Baron  Dupin 
und  überlebte  auch  Büchner 
noch.  (Vgl.  Louis  Madelin, 
Danton.  Paris  19 14.)  8,  9 ff., 
42 ff.,  58  (bei  Th.  214  spricht 
Dillon  nur  von  "la  femme  de 
Camille"),  65,  66  (bei  Th.  216 
heißts  wieder  nur  "la  femme 


de  Camille"),  67,  68  (mit  dem 
Knaben  ist  wohl  keiner  d.  bei- 
den Söhne  D.s  aus  i.  Ehe,  die 
Louise  übernahm,  gemeint],  7 1 
[d.  histor.  D.  ruft  nach  Mign. 
38  noch  auf  d.  Weg  zum  Scha- 
fott "O  ma  bien-aim^e!  6  ma 
femme!  je  ne  te  verrai  donc 
plus!"',  77. 

Darmstädter  Arresthaus:  Provin- 
zialarresthaus,  35  provisor.  für 
polit.  Gefangne  eingerichtet. 
=^49 ff.,  554,637. 

■'Das  war  schon  einmal  da":  s. 
"Ihr  tötet  uns  .  .  .". 

David,  Jacques  Louis:  vgl.  U.  Z. 
xn,  121  zu  Dantons  Hinrichtg.: 
"David, s.ehemaliger.  .Freund, 
sah  ihn  hinrichten,  mit  eben  d. 
Ruhe,  womit  er  am  3.  Sept.  die 
aus  d.  Mordhöhle  La  Force 
geworf.  Sterbenden  zeichnete 
u.  d.  Deputierten  Reboul,  wel- 
cher ihm  Vorwürfe  machte, 
zur  Antwort  gab:  Ich  erhasche 
d.  letzten  Bewegungen  d.  Na- 
tur in  dies.  Bösewichtern!"  39. 

Deen,  Izaak  van  (1804 — 69): 
promovierte  34  in  Leyden  mit 
d.  zit.  Dissert.  u.  ließ  sich  üb. 
d.  Nervus  vagus  nochmals  34 
in  d.  "Tijdskr.  voor  natuurl. 
geschied,  en  physiol."  aus; 
später  Prof.  d.  Pbysiol.  in  Gro- 
ningen, Spezialist  in  d.  Nerven- 
physiologie. 218,  230. 

Deimling,  Berthold:  Sagenge- 
stalt; vgl.  Pforzheimer.  584, 
586. 

Dekret,  Ein:  wonach  d.  Immu- 
nität d. Deputierten  aufgehoben 
war;  auch  war  vom  Revolutions- 
tribunal keine  Appellat.  mög- 
lich. 45. 

Delaunai  d' Angers:  Konvents- 
mitgld.,  mit  Chabot  u.  a.  weg. 
Fälsch g.  zwecks  Bereicherg. 
bereits  17.  11.  93  verhaftet  u. 
mit  d.  Dantonis ten  zusammen 
hingerichtet.  46. 


DANTON  —  DILTHEY 


809 


Demaly:  wohl  fing.  Gelieble 
Bareres.  63. 

Deputierten,  Die  ausgestoßenen: 
die  verhafteten  girondist.  Kon- 
ventsmitglieder, von  denen  nur 
e.  Teil  hingerichtet  war.   11. 

Deputierten,  Die  zuiiickgek ehr- 
ten: von  Damast,  nach  Auf  lösg. 
d.  hess.  Kammern,  die  d.  Re- 
gierg.  nicht  gefügig  waren.  529. 

"Der  is  ins  Wasser  gefallen'': 
erster  Vers  e.Fünffingerabzähl- 
liedchens  'vgl.  A.  Stöber,  EI- 
säss.Volksbüchl.  I^.  S. 43);  doch 
wird  Woyzeck  d.  Worte  nicht 
auf  den  Daumen,  sondern  auf 
sich  bezogen  haben.  728. 

"DerMann.dernicht  Musik  hat": 
vgl.  Shakespeare,  D.  Kaufmann 
von  Venedig. 

Descartes:  s.  Cartesius. 

Desmoulins,  Camille:  dem  bist. 
D.hat  Büchner  weichere  Züge 
u.e.  stärkeres  künstler. Interesse 
verliehen.  8,  lofF.  (die  Parod. 
auf  Sokr.  m.  d.Bemerkg.  dazu 
ausTh.  i6if.),  26.  31  (d.  Zitat 
aus  d.  schon  eingegang.  ,Cor- 
delier'  fingiert  bis  auf  d.  Worte 
üb.  Just,  die  mit  dess.  Antwort 
aus  Mign.  30  stammen),  3 2 ff., 
37,  38,  39ff.  C'freundl."  war 
Robesp.  zu  D.  bis  zur  Kennt- 
nisnahme seiner  Ausfälle  S.  31; 
"auf  e.  Schulbank"  saßen  sie 
im  Pariser  College  de  Louis  le 
Grand),  52  f.  (5326fF.  nach  Th. 
203),  64f.,66f..  69  ft"..  73,  74ff.. 
78  (bezahlte  Individuen,  nicht 
d.  Volk  bezeigte  inWirklichkt. 
Schadenfreude;   vgl.  Th.  220), 

79- 
—  Lucile  geb.  Duplessis:  die 
in  Wirklkt.  auf  Laflottes  De- 
nunziation hin  verhaftete  Gat- 
tin Camilles  läßt  der  Dichter 
nach  berühmtem  Muster  erst 
wahnsinnig  werden  u.  sich  dann 
durch  d.  Ruf  "Es  lebe  d.  Kö- 
nig!" freiwillig  d.  Verhaftg.  zu- 


ziehen, wie  es  d.  Gattin  d.  ver- 
urteilt.Kommand.  von  Longwy 
Delavergne  oder  d  Buchhändl. 
Gattey  vorm  Tribunal  selbst 
tatfvgl.U.Z.XII,  I55ff.).  39fr., 
53,  58,  61,  66,  6gf.,  73,  79f. 
Desmoulins,  Louis-Ant.  (1794 
bis  1S28):  französ.  Mediziner, 
Anatom,  Zoolog;  im'*Joum.  de 
physiol.  experimentelle"  erseb. 
22  s.  "'Recherches  anat.  et  phy- 
siol. sur  le  Systeme  nerveux  des 
poissons",  während  er  d.  "Ana- 
tom, des  systemes  nerveux  des 
animaux  a  vertebres"  25  zwei- 
bändig zus.  mit  der  Physiol. 
Frangois  Magendie  herausgab. 
iS3.i85,i92,i94f.,  197—203, 
205f.,  208 fF.,  213,  2i8f.,  221, 

223,  227,  229f.,  233,  237. 

Des  vers:  heißt  sowohl  "Verse" 
als  auch  "Würmer"',  also  franz. 
Wortspiel.   74. 

DeutscheRevue  556— 59,618  ff., 
663. 

Dezemvirn:  zehn  Mitglieder  d. 
Wohlfahrtsausschusses  (s.  d.), 
von  denen  die  einflußreichsten 
Robesp.,  Just,  Couthon,  Collot, 
Billaud,  Barere  waren.  10,  21, 
33,  58,  66,  67. 

"Die  da  liegen  in  der  Erden": 
Ende  d.  Schinderhannesliedes, 
das  nach  K.  Vogt,  S.  83  Büch- 
ners Freund  Becker  mit  Vor- 
liebe gesungen;  d.  Lied  beginnt: 
"Kann  es  eiw.  Schoners  geben 
Auf  der  ganzen  weiten  Welt, 
Als  e. lustig  Räuberleben, Mor- 
den um  d.  liebe  Geld!"  Jene 
Schlußverse  liebte  auch  Büch- 
ner so,  daß  er  sie  e.  Freunde 
ins  Stammbuch  schrieb  (vgl. 
Collin).    15. 

Dillon.  Arthur:  geb.  Engländer, 
Divisionsgeneral  d.  Ardennen- 
armee;  als  Girondist  hingerich- 
tet. 8,  57 ff.,  61,  66. 

Dilthey,  Karl:  Darmstädt.  Gym- 
nasialdirektor.  775. 


<Sio 


REGISTER 


Dinet,  Jesuitenpater  303,  320. 

Diszipfin  geben:  Ausdruck  der 
Klostersprache  für:  d.  Geißel, 
d.  Rute  geben.  24. 

Duller,  Eduard  661,  667. 

Dumas:  Präsident  des  Revolu- 
tionstribunals; früher  Mönch 
gewesen  u.  aus  achtbarer  Fa- 
milie stammend,  machte  er  als 
Anhänger  Robespierres  s.  eig- 
nen Angehörigen  vor  s.  Grau- 
samkeit flüchten,  mußte  selber 
jedoch  Robesp.  aufs  Schafott 
begleiten.  8,  68 f.  (vgl.  U.  Z. 
XII,  233:  "S.  Frau,  die  nicht 
entfliehen  wollte,  ließ  er  in  den 
Luxemburg  einsperren,  um  sie 
den  10.  Thermidor  umbringen 
zu  lassen;  glücklicherw.  rettete 
ihr  der  9.  [Robespierres  Sturz] 
d.  Leben".). 
Dumas:  offenbar  d.  Chemiker 
Jean  Bapt.  Andr6  D.  (1800  bis 
84),  der  1823  Experimente  üb. 
d.Muskelkontraktion  veröffent- 
lichte. 301. 
Dumouriez,  Charles  Francois  46, 

.        55,  56,  580.  , 

Duvernoy,   George  Louis    550, 

565. 

Eib,  Herr  V.  563f. 

''Ein  Jäger  aus  der  Pfalz'":  Va- 
riante d.  Volkslieds  "E.  J.  a. 
Kurpfalz"  (vgl.  E.-B.,  I454)- 
156. 

"Eine  Handvoll  Erde  u.  em  we- 
nigMoos":  Volksliedzitat?  36! 

EUervater:  Dialektform  für  Äl- 
tervater, Großvater.  80. 

Emil,  Prinz  von  Hessen  (1790 
bis  1876):  reaktionär  gesinnter 
Bruder  d.  Großherzogs  Lud- 
wig H.  555  f. 

Emma:  s.  Gerlach. 

Escher,  Züricher  Prof.:  entweder 
d.  Regierungsratsmitgl.  Heinr. 
E.  (1789 — 1870),  außerordentl. 
Prof.  d.  Staatswissensch.,  oder 
der  Gymnasialprof.  u.  Histor. 


Heinr.  E.;i78i— 1860];  "Schü- 
ler", insofern  erBüchuers  ana- 
tom.  Vorlesg.   besucht  haben 
wird.  649. 
Eschricht,  Daniel  Friedrich:  s. 
Dissert.  über  die  Gesichts-  u. 
Riechnerven  ersch.  1825.  234. 
I    "Es  ist  ein  Schnitter  .  .  .":  alt- 
j      kathol.  Kirchenlied,  hier  in  d. 
Fassg.  d.  'Wunderhorn'.  80. 
"Es  stehn  zwei  Stemlein  an  d. 
Himmel":  vielfach  variierende 
Volksliedstrophe  (vgl.  beson- 
ders Schlußstr.  d.  hess.  Liedes 
"O  wie  wohl  ist's  jedem  Men- 
schen", E.-B.,  660).   73. 
Eubreuil:  berühmter  Arzt?  5  78  f. 
Ewiger   Kalender:    insofern   d. 
Hochzeitstag  e.  immer  wieder- 
kehrender Festtag  in  Leonces 
Kalender  wäre.   133. 

Fahre  d'Eglantine:  war  wegen 
j      Fälschg.  "in  Bezug  auf  Gelder 
d.  Ind.  Compagnie"   12.  i.  94 
I      verhaftet   u.    schmachtete    im 
I      Luxemb.    bis    zur    Festnahme 
Dantons,    mit    dessen  Prozeß 
der  gegen  die  Fälscher  (s.  d.) 
verbunden  wurde;  wie  er  am 
2.  4.  d.  Überführg.  in  d.  Con- 
ciergerie    mitmacht,    muß    er 
Danton  am  5.  auch  aufs  Scha- 
fott begleiten.    46,    74    ("Am 
Sterben":  vgl.  Th.  203  "F.  etait 
malade  et  presque  mourant"), 
78  ("Ich  sterbe  doppelt":  als 
Kranker  u.  durch  d.  Guillotine). 
Fabricius:  s.  Paris. 
Faktion  Ludwigs  XVII:  die  nach 
Ludwigs  XVI.   Tode   s.  Sohn 
anhängenden  Royalisten.  55. 
Fälscher:      Chabot,     Delaunai, 
Fahre  u.Bazire,  letzter  freilich 
nur  aus  Solidarität,  hatten  ein 
d.  Indische   Gesellschft.  betr. 
Dekret  gefälscht,  um  sich  zu 
bereichern;  schon  vor  d.  Dan- 
tonisten  verhaftet,  wurde  ihnen 


DINET  —  FRIEDRICH  VON  BADEN 


8ii 


nun  mit  diesen  zus.  d.  Prozeß 
gemacht.   39,  54. 

Fälscher  geben  d.Ei  u.  d.  Frem- 
den d.  Apfel  ab:  vgl.  Fälscher, 
Fremde;  die  wohl  aus  d.  franz. 
Rechtsbrauch  stammende  Re- 
densart selbst  muß  unerklärt 
bleiben.  32. 

Flick,  Hemr.  Christian  (geb. 
1790):  Pfarrer  zu  Petterweil; 
nicht  nur  Studien-,  auch  polit. 
Gesinnungsgenosse  Weidigs, 
37  zu  8  J.  Zuchthaus  verurt., 
aber  durch  d.  hess.Begnadigg. 
39  wieder  frei.  547,  550. 

Floret:  vermutl.Theod.  Engelb. 
Joseph  Bemh.  Fl.  fiSii — 46), 
Sohn  d.hess.  Oberappellations- 
gerichtsrats  Joseph  FL,  später 
selbst  Hofgerichtsrat.   550. 

Force,  La:  Pariser  Gefängn.  39. 

Fötus:  s.  Entwickig.  während 
d.  PYuchtlebens  ward  vielfach 
untersucht,  z.  B.  von  Tiede- 
mann  mit  Hinblick  auf  d.  Ge- 
hirn, von  Oken  mit  Rücksicht 
auf  d.  Darmkanal.  310,  357, 
359,  360. 

Fouquier-Tinville,  Antoine  8, 
53f.,  59(vgl.Th.2i5"F.  ecri- 
vit  sur-le-champ  nach  d.  2.  Ver- 
hör] une  lettre  au  comite  . . ."), 
65  f.  (bei  d.  3.  Verhör,  vgl.  Th! 

217). 

Franckh,  Gottlob  545. 

Frankfurt:  Büchners  Ausflug  n. 
Fr.  u.  Offenbach  geschah  un- 
mittelbar nach  Miniügerodes 
Verhaftung,  um  alle  am  Hess. 
Ldb.  Beteiligten  zu  warnen  (vgl. 
Diehl).    5 37 f. 

Frankfurter  Attentat  525  f.,  545, 

773. 
Franziskaner,  Der  alte:  Le  vieux 
Cordelier,  ein  von  Desmoulins 
im  Gegensatz  zu  d.  radikalen 
neuern  Franziskanern  (Hebert 
usw.)  Anfg.  Dez,93  gegr.  Blatt, 
das  aber  schon  Jan.  94  (also 
vor  Beginn  d.  Dramas)  einge- 


gangen war;  da  es  den  Terror 
mit  Stellen  aus  Tacitus'  Dar- 
stellg.  d.  röm.  Kaisererrschaft 
parodierte        woraufhRobesp. 
20i5ff.  anspielt)  u.  für  e.   Co- 
I      mite  de  clemence  eintrat,  hatte 
I      es   bald  auch   Robesp.  gegen 
!      sich.    31  (d.  Zitate  sind  erfun- 
1      den,  vgl.  aber  Saint- Just). 
"Fraßen   ab   das   grüne   Gras"': 
aus    d.    Volkslied    "Zwischen 
Berg  u.  tiefem  Tal".   720. 
"Frau    Wirtin    hat    ne     brave 
Magd":   sonst  nicht  bekannte 
Variante  zur  4.  (3.)  Strophe  d. 
Liedes  ''Es  steht  e.  Wirtshaus 
and.Lahn"(vgl.  E.-B.,Nr.858; 
Mittlers. 64).   155,  708,  714. 
Freiburg:  d.  bad.  Universität  war 
Sept.  32  wegen  kleiner,  durch 
d.  Widerrufung  d.  Preßfreiheit 
veranlaßter  Unruhen  vorüber- 
gehend   geschlossen    worden. 
527- 
Fremde:   auswärtige   Feinde  d. 
!      Republik  18,  55,  67,  68  (Pitt); 
\      — :  verhaftete  Ausländer    32, 
j      54  (nach  Th.  205  wurde  dem 
I      Spanier  Gusman  u.  dem  Dänen 
!      Diederichs  zus.  mit  d.  Danto- 
i      nisten  d.  Prozeß  gemacht). 
Friedberg:    da    nach    Nöllner. 
S.  190  d.  Arresthaus  in  Gießen 
1      für  polit.  Gefangne  unbrauch- 

■  bar  war,  wurden  diese  seit  Okt. 
33  in  der  Friedberger  Kloster- 
kaserne, 35  in  dem  neuen  Pro- 
vinzialgefängn.  untergebracht; 

;  die  weg.  Teilnahme  am  Frankf. 
i  Attentat  Verhafteten  wurden 
i      größtenteils  März  34  aus  Man- 

■  gel  an  Beweisen  freigelassen, 
:  drauf  in  Butzbach  u.  Gießen  mit 
I  Festmahl  u.  Lorbeerkränz,  ge- 
\  feiert.  529,  534,  538,  544,  554, 
j      614. 

I    "Friede  den  Hütten!  Krieg  den 
I      Palästen!"    165,  736. 
j    Friedrich  von  Baden:  Markgraf 
I      Georg  Friedrich.    582 ff. 


8l2 


REGISTER 


Froriep,  Ludw.  Friedr.  v.  626 f. 

''Für  Tugend,  Menschenrecht  u. 
Menschenfreiheit  sterben":  Zi- 
tat aus  Bürgers  Gedicht  "Die 
Tode".   579- 

Gaedeschens,  Physiolog  234. 
Gaillard:  Schauspieler,  der  als 
Hebertist    durch    Selbstmoid 
endigte.    17. 
Gassendi,  Pierre  303,  312 — 20. 
Geilfus,  Georg:  nach  beendetem 
Baufachstudium  im  Minist,  der 
öffentl.  Arbeiten  zu  DaiTnstadt 
tätig,  weg.  s.  Zugehöiigkt.  zur 
burschenschaftl.  Palatia  flüch- 
tig; später  Gymuasialleiter^vgl. 
Vogt,  S.  142).  549- 
Gemeinderat   von    Paris:    "tut 
Buße",  nachd.  s.  Führer  Chau- 
mette  verhaftet  worden.  33. 
Genfer  Uhrmacher:  der  aus  Genf 
gtibürt.  Ühnnacherssohu  Rous- 
seau, dessen  Erziehungs    und 
Staatslehren     Leitsterne      für 
Robespierre  waren.    10. 
Geoffroy  de  Saint -Hilaire,Etien- 
ne  243  ff. 
Georg,  Onkel:  s.  Reuß. 
Georgi,  Konrad  \um  1801 — 57]: 
erst  hess.  Landricht. ,  dann  Hof- 
gerichtsrat und  Gießener  Uni- 
versitätsrichter, bald  auch   in 
d.  polit.  Affären  Untersuchungs- 
richter,  obwohl    er   nach  ge- 
richtsärztl.    Zeugnis    an   Deli- 
rium tremens  litt;  zum  Unter- 
suchungsrichter war  G.  jeden- 
falls wenig  geeignet,  und  vor 
allem  an  Weidigs  Selbstmord 
war  er  nicht  ohne  Schuld.  537, 
538—41,  640. 
Gerlach,  Emma:  Base  d.  Dich- 
ters; Tochter  d.  Kriegskanzlei- 
Protokollisten  G.   u.  s.  ersten 
Gattin  Johannette  Marie  (gest. 
1820),  e.  Schwester  von  Büch- 
ners Vater.  626. 
Geschwome  53 f.  ^s.  d.  Namen', 
60  (nach  e,  schon  gegen  die  Gi- 


rondisten   eingebrachten    Ge- 
setz  konnten  d.  Debatten  vor 
Gericht   nach    drei   Verhand- 
lungstagen   geschlossen    wer- 
den,  wenn   sich  die  Geschw. 
'*für  hinlänglich  unten-lchtet" 
erklärten;,  61. 
Gesellschaft  d.  Menschenrechte: 
polit.  Verbindg.  von  Studenten 
u.    Bürgern,    die    Büchner    in 
Gießen    vorfand,    aber    nach 
franz.  Muster  zuschnitt;  ihr  ge- 
hörten außer  Büchn.  u.  a.  an 
die   Studenten  Aug.  u.  Ludw. 
Becker,  Clemm,  Minnigerode, 
Schütz,  Trapp  sowie  d.  Küfer- 
meister Faber  und  Schneider; 
e.  Zweiggesellschaft    griindete 
Büchner  34  in  Darmst.,  der  u. 
a  Kahlert.  Koch,  Nievergelter 
beitraten.  634,  639. 
Gesetzgebungsausschuß:  was  ge-^ 
meint,  ist  unklar,  da  d.  Gesetz- 
gebende Nationalversammlung 
längst  durch  d.  Nationalkonv. 
abgelöst  war;  auch  tritt  kein 
G,  im  Drama  in  Tätigkeit.  30. 
Geulinx.  Arnold  743. 
Gießener  Winkelpolitik:  Gieße- 
ner Studenten,  darunter  Glad- 
bach, Schüler,   Stamm,  Groß, 
hatten  sich  am  Frankf.  Atten- 
tat beteiligt,   527. 
Giltay,  Karl  Mar.:  holländ.  Neu- 
rolog.  224! 
Girard:  Geschworner,  selbst  mit 
den  Geschwornen  Leroi,  Re- 
naudin,  Vilatte,  dem  Ankläger 
Fouquier  u.  a.  7.  5.  95  hinge- 
richtet. 54. 
Gladbach.    Georg    (181 1—83,: 
Vetter  Karl  Vogts  u.  Darmst. 
Mitschüler     Büchners;     dann 
Student  d.  Rechte,   seit  32  in 
Gießen,   wo  er  als  Burschen- 
schafter an  d.  revolut.  Plänen 
teilnahm  u.   deshalb    33    ver- 
haftet wurde;  erst  Nov.  38  er- 
hielt er  s.  Urteil,  achteinhalb- 
jährige   Zuchthausstrafe,     die 


FRORIEP  —  GUTZKOW 


ihm  aber  durch  d.  hess.  Amne- 
stie Jan,  39  erlassen  wurde;  in 
der  Schweiz  fand  G.  als  Er- 
zieher u.  Lehrer  e.  neue  Wir- 
kungsstätte.  557,  561. 

Gnadenausschuß:  beantragt  von 
Desmoulins  in  s.  "Franziska- 
ner", um  d.  Schreckenswirt- 
schaft e.  Ende  zu  machen.  1 1. 

Goethe  92,  357  (Metam.  d.  Pfl.\ 
553,557,593  (Zitat  a.  Schillers 
Räubern!;,  594  u.  775  (Faust;, 
620,  622  (üb.  Lenz  in  ''Dichtg. 
u.  Wahrh.",  XIV.  Buch),  774. 

Gottsche,  C.  M.:  Anatom  und 
Physiolog,  Mitarbeiter  an  Mül- 
lers Arch.  184, 187— 92, 194  fF., 
198,  200,  241. 

Gozzi,  Carlo  Graf;  auch  hier 
(vgl,  Altieri]  bleibt  fra;Tl.,  ob 
es  sich  um  e.  wirkl.  Zitat  aus 
d.  Werken  d,  ital.  Lustspiel- 
dichters handelt;  näher  als  der 
durch  G.  erneuerten  Commedia 
deir  arte  steht  'Leonce'  jeden- 
falls d.  Lustsp.  d.  dtsch.  Ro- 
mantik, vor  allem  Brentanos 
'Ponce  de  Leon'  (s,  d.),  aber 
auch  Tiecks  'Prinz  Zerbino' 
d.  polit.-satir.  Moment)  usw. 
Vgl.  auch  Musset.  199,  687. 

Grabbe,  Christian  Dietr.:  35 
ersch,  d.  Trag.  'Hannibal'  u. 
d.  dram.  Mäicheu  'Aschen- 
brödel'; auch  Hebbel  verglich 
"Gr,  u.  Büchner:  d.  eine  hat  d. 
Riß  zur  Schöpfg.,  d.  andere  d, 
Kraft".  618. 

Gradierbäue:  Schichten  Strauch- 
werks zum  Auffangen  d.  Salz 
gehalts  solehaltig. Wasser.  136. 

Grolmann:  da  d,  hess,  Minister 
Karl  Ludw.  Wilh.  Gr.,  der  auch 
im  Gegensatz  zu  s.  Nachfolger 
du  Tbil  von  ruhigem,  mildem 
Wesen  war,  schon  vor  d.Thron- 
besteigg.  d,  verschuldeten  Lud- 
wigs IT.  gestorben  war  (1829), 
ist  nicht  er  gemeint,  sondern 
wahrscheinlich  ein  hess,Laud- 


tagsabgeordneter  gleichen  Na- 
mens,  173,  737. 

Gros,  August  ;  1810—93;:  aus 
Groß-Steinheim.  Student  der 
Rechte,  später  Ökonom;  weg. 
Mitwisserschft.  am  Frankf.  At- 
tentat verhaftet  u.  erst  nach 
19  Mon.  weg.  Beweismangels 
freigespr.;  später  Gutspächter, 
529,  560. 

Großherzog  von  Hessen:  s.  Lud- 
wig II. 

Großmutter:  s.Reuß,  Luise  Phil. 

Gutzkow,  Karl:  weniger  der 
selbst  noch  in  d,  Anfängen 
steckende  Dichter  als  der  jun- 
gen Kräften  mit  Verständn, 
begegnende  Kritiker,  der  sich 
von  Menzels  Diktatur  losge- 
sagt u.  d,  wöchentl.  Literatur- 
blatt zu  Sauerländers  Früh- 
lingszeitg.  "Phönix'"  übernom- 
men hatte,  gewann  Büchners 
Vertrauen;  briefl.  kamen  sie 
sich  schnell  näher,  zumal  als 
Gesinnungsgenossen  im  Kampf 
geg.  alles  Philisterium,  wie  ihn 
G,  35  in  s, Vorrede  zu  Schleier- 
machers 'Briefen  üb.  Schlegels 
Lucinde'  (vgl.  616;  sowie  in  s. 
Roman  'Wally  die  Zweiflerin' 
(vgl.  61 7)  führte;  Menzel  brand- 
markte diesen  als  "Unmoral, 
Literatur"  und  rief  die  Staats- 
gewalt an,  die  mit  e.  Bundes- 
tagsbeschluß die  jungdeutsche 
Literatur  überhaupt  verbot, 
auch  die  von  G.  mit  Wienbarg 
geplante  "Deutsche  Revue" 
und  schließlich  G,  selbst,  der 
sich  nach  seiner  Ausweisg.  in 
Frankf  d.  bad.  Gericht  stellte, 
auf  e. Monat  weg.  Verächtlich- 
machg.  des  christl.  Gl.-.ubens 
hinter  Schloß  u.  Riegel  setzte 
(620  ft".,;  nach  wie  vor  aber 
S;)omte  G.Büchaer  zum  Dich- 
ten an  u.  bezeigte  auch  nach 
dessen  Tode  noch  in  d.  Be- 
mühen um  s,  literar.  Nachlaß 


8i4 


REGISTER 


verdienstl.    Interesse    an   ihm. 

542,  546,  547,  550,  551,  556, 
559f..  614  (d.  'Nero'  ersch.  35). 
655,  661,  666,  676,678,686f., 
693,  753  f.  —An  Büchner 
61 1  —  623;  von  Büchner  542  f., 
544f.,  549,  556,  558f-,  562f. 

"Ha!  du  wärst  Obrigkeit  von 
Gott?":  Zitat  aus  Bürgers  Ge- 
dicht 'Der Bauer.  An  s.  durch- 
lauchtigen Tyrannen'.   176. 

Haller,    Albrecht  v.    184,   189, 

192,  194  f.,  197- 

"Hansel,  spann  deine  sechs 
Schimmel  aus"  [nicht  "an"!]: 
letzte  Strophe  d.  hess.  Fuhr- 
mannsliedes "Hat  mir  mein  Va- 
ter vierzig  Gulden  geb'n"  (vgl. 
E.-B..  Nr.  1575).   146,  718- 

Hebert,  Jacques  Rene  18,  33 
("erniedrigt'":  H.  hatte  sich  bei 
d.  Verhören  feige  benommen}. 

Hebertisten:  Hebert  u.  s.  Anhän- 
ger Vincent,  Momoro,  Ron- 
sin,  Cloots  usw.,  die  als  Ultra- 
revolutionäre  u.  Atheisten  d. 
Revolution  in  Mißkredit  ge- 
bracht, auch  mit  d.  äußern  Fein- 
den konspiriert  hätten  u.  des- 
halb 24.3.94  größtenteils  hin- 
gerichtet waren.  10,  21  (Athe- 
isten u.  Ultrarevolutionäre),  26 
("die  H.  sind  noch  nicht  tot": 
viele  Anhängerleben  noch), 33 
(Mitschuldige  Heberts). 

Heckefeuer:  vgl.  U.  Z.  XII,  20 
"Waren  mehrere  Angeklagte 
auf  einmal  zu  verdammen,  so 
sagten  d.  Geschwornen  'Hek- 
kefeuer!'  (feu  de  filej'';  ähnlich 
XII,  232,  wo  aber  d.  Form 
"Heckenfeuer"  steht.  54. 

Heer,  Oswald  641. 

Hegel,  Wilh.:  in  d.  'Enzykl.  d. 
Wissensch. 'hatte  H.zum  ersten- 
mal vollständig  s.  philos.  Sy- 
stem entwickelt,  in  dem  er  von 
Fichtes  subj.  u.  Schellings  obj. 
Idealism.  zum  absol.  Idealism. 


fortschritt.  d.h.  zum  Standpunkt 
d.  absol.  Wissens,  für  den  alles 
aus  d.  Denken  deduz.  Sein  des- 
halb auch  obj.  Realität  hat,  weil 
beides  innerl.  eins  u.  identisch 
ist;  in  diesem  Sinne  war  das 
cogito,  ergo  stwi  allerdings  e. 
unmittelbare,  keines  Beweises 
bedürftige  Wahrheit  u.  letzten 
Endes,  wenn  alles  Wirkl.  Ver- 
nunft, u.  alles  Vernunft,  wirkl. 
ist,  auch  H.s.  Entwicklungs- 
idee, wonach  es  im  Geschehen 
wed.  Zufall  noch  Willkür  gibt, 
sondern  nur  kontinuierl.  Ent- 
wickig. zu  immer  größerer  Voll- 
kommenheit (Hegeische  Dia- 
lektik), gesetzl.  begründet.  256, 
270,  277,  632,  743,  787. 

"Hei,  da  sitzt  e  Fleig  an  der 
Wand":  Liedzitat?   113,  114. 

Heine,  Heinrich  558,  560. 

Helene,  Tante:  entw.  Magdalene 
Reuß  (s.  d.)  oder  Helene  v. 
Becbtold  geb.  Klees,  seit  1817 
Gattin  d.  Hauptmanns  Carl  v. 
Bechtold,  e.  Großneffen  von 
Büchners  Großvater  Reuß.  628. 

Hell,  Theod.:  Pseudonym  für 
Hofrat  Th.  Winkler.  619. 

Herault  de  Sechelles:  in  Wirk- 
lichkeit schon  17.  3.  verhaftet, 
weil  er  e.  verfolgte  Emigrierte 
verborgen  gehalten.  8,  9  ff.. 
26, 3 1  ("d.  schöngem.  Anfangs- 
buchst."; H.  galtais  e.  d.  schön- 
sten Männer  i.  Frankr.,  u.  d. 
Konstitutionsakte  wird  er,  als 
ihr  eigentl.  Schöpfer,  zuerst  v. 
d.  Konstitutionsmitgliedern  un- 
terschrieben haben),  49 ff.,  52  f. 
(d.  Begrüßung,  nach  Th.  202, 
nur  verständl.  unt.  d.  tatsächl. 
Voraussetzg.,  daß  H.  schon  voj- 
Danton  verhaftet  gewesen;  die 
53 12  f.  zu  H.  gespr.  Worte  paro- 
dieren eine  Äußerg.,  die  H. 
nach  d.  erst.  Verhaftg.  Heberts 
Mai  93  als  Konventspräsid.  zu 
protest.  Bürgern  getan:  vgl.  U. 


HA!  DU  WÄRST  —  VICTOR  HUGO 


«^15 


Z.  IX,  444),  69  ff.,  74  ff.,  78  f. 
(vgl.  Th.  220',  79  (beim  Kon- 
stitutionsfest 10.  8.  93). 

Herbart,  Job.  Friedr.   747,  788. 

Herder  604  (Zitat  nicht  aus  d. 
'Ideen  zur  Philos.  d.  Gesch.  d. 
Menschht.',  die  Luden  iSii 
herausg.).  774. 

Herdweg:  Herdenweg  (hess.Dia- 
lektforra'.  24. 

Herman:  Präsidt.  d.  Revolutions- 
tribunals, teilte  Robespierres 
Schicksal.  8,  53  f.,  55!. 

"Herr!  wie  dein  Leib  war  rotu. 
wund'^  Gesangbuchverse?  159. 

Herwegh,  Georg:  s.  'Gedichte 
eines  Lebendigen"  (1841}  ent- 
hielten auch  d.  drei  Gedichte 
'"Zum  Andenken  an  G.  Büch- 
ner .  .  ,";  sie  tragen  das  Datum 
"Zürich,  im  Februar  1 841",  wo 
H.  in  Zürich  weilte  u.  gewiß 
auch  durch  d.  Wiederkehr  von 
Büchners  Todestag  u.  Frau 
Schulz  zu  d.  Gedichten  ange- 
regt wurde.  642,  645. 

Heumann,  Adolf  ^  1 8 1 1 — 52': 
Darmst,  Arzt,  schon  33  wegen 
revol.  Umtriebe  in  Gießen  ge- 
flohen. 548. 

Heyerische  Buchhandlg.  542, 
611,  613  (-'Heyer"  statt  "He- 
ger"!], 772.  _ 

"Hier  ruht  ein  junges  Öchse- 
lein";  altes  Marterl.    764. 

Hobbes.Thom.:  Büchners  schar- 
fe Kritik  an  H.  erklärt  sich  wohl 
z.  T.  aus  s.  Abneigg.  geg.  d.  Ver- 
treter d.  staatl.  Absolutismus. 
303,  306—308. 

Hoffmann,  Ernst  Theod.  Amad.: 
mit  dem  nach  s.  '"Phantasie- 
Stücken  in  Callots  Manier" 
auch  Call.-Hoffm.  genannt. Ro- 
mantiker begegnete  sich  Büch- 
ner in  d.  Interesse  an  krank- 
haften Gemütserscheinungen 
^Wahnsinn,  Mesmerismususw.) 
u.  Problemen  d.  Geisteslebens 
("Die    Automate"j;    auch    die 


Kühnheit,  beid.  Namengebung 
verpönte  Worte  zu  gebrauchen, 
hatte  schon  H.  (Freundin  "Pi- 
pi"  des  Affen  Milo,  Fantasie- 
stück 2.  IV,  2).  553. 

Holländische  Maler:  Christus  u. 
d.  Jünger  in  Emmaus  hatRem- 
brandt  verschiedentlichgemalt; 
vielleicht  ist  nicht  d.  Meister- 
bild imLouvre(i648],  sondern 
das  ganz  auf  d.  trüben  Ton  d. 
Abends  gestimmte  Bild  von 
1629,  vielleicht  aber  auch  d. 
Radierung  (1654  gemeint.  93 f. 

Holländische  Wirren:  der  nach 
d.  Julirevolution  erfolgte  Abfall 
Belgiens  v.  Holl.  hatte  zwar  d. 
Einverständnis  d.  europ.  Groß- 
mächte Lond.  Konf.  31),  aber 
nicht  Hollands,  so  dab  Engld. 
mit  Frankr.  32  feindselig  geg. 
Holld.  vorging;  doch  blieben  d. 
Kämpfe  auf  Holld.  beschränkt, 
da  Zar  Nikolaus  infolge  des 
poln.  Aufstands  behindert  war, 
für  d.  Legitimitätsprinzip  PIol- 
lands  einzuschreiten.  523  f. 

Höllenmaschine:  Art  Maschi- 
nengewehr, womit  Fieschi  28. 
7.  35  sein  Attentat  auf  Louis 
Philipp  verübte.   554  f. 

Homer  761,  774. 

Hotho,Heinr.  Gu3t:Berl.  Kunst- 
historiker, dess.  26  ersch.  Dis- 
sert.  üb.  d.  Cartesische  Philo- 
sophie Hegel  i.  d.  spätem  Auf- 
lagen s.  Enzyklopädie  zitiert. 
236,  270,  277,  743,  787. 

Huet,  Daniel  256  (Zitat  aus  Ten- 
nem.  X,  229). 

Hugo,  Victor:  hatte  bereits  in  d. 
30er  Jahren  als  Dramatiker  wie 
als  Erzähler  d.  dichter.  Physio- 
gnomie, die  ihn  als  Haupt  d. 
romant.  Bewegg.  in  d.  franz. 
Liter,  erscheinen  ließ,  so  daß 
Sauerländer  schon  damals  an 
d.  Übertragg.  s.  Sämtl.  Werke 
denken  konnte;  mit  Recht  hebt 
aber  Büchner  auch  schon  als 


i6 


REGISTER 


Schattenseite  H.s  das  Quälen- 
de seiner  künstl.  gespannten 
Situationen  hervor,  das  sich 
auch  in  den  35  ersch,  Stücken 
'Lucrece  Borgia'  u.  'Marie  Tu 
dor'  geltend  macht;  e.  nachhal- 
tigeren Eindruck  mag  Büchner 
von  H.s  Drama  'Marion  de 
Lorme'  (29)  bekommen  haben, 
dessen  Heldin  der  Marion  im 
'Danton'  Name  u.  Züge  verlie- 
hen hat.    371—520,  617,619, 

655.  752.  754-  772. 
Jiumboldt,  Alexander  v.:  in  s. 
'Versuch  üb  d.  elektr.  Fische' 
(1808)  sowie  d.  frühern  'Ver- 
suchen über  d.  gereizten  Mus- 
kel- u.  Nervenfasern  oder  Gal- 
vanismus'  berührte  H  die 
Büchner  interessierenden  Fra- 
gen. 231. 

"Ich  bin  eine  arme  Waise"'; 
Verse  Büchners?   118. 

"Ich  hab  ein  Hemdlein  an  .  .  .": 
Volksliedzitat?   156. 

"Ihr  tötet  uns  .  .  .":  ähnlich 
hatte  "schon  einmal"  d.  Giron- 
dist  Lasource  bei  s.  u.  s.  Ge- 
nossen Verurteilung  30.  10.  93 
d  Richtern  zugerufen:  'Ich 
sterbe  an  d.Tage,  an  dem  d. 
Volk  d.  Verstand  verloren  hat; 
ihr  werdet  sterben,  wenn  es 
ihn  wieder  erlangt"  (vgl.  U.  Z. 
X,42o).    178. 

"In  jungen  Tagen  ich  lieben 
tat":  vgl.  Shakespeare,  Hamlet. 

"Ins  Schwabenland,  das  mag 
ich  nicht":  auch  mit  dem  Wort- 
laut "Ins  Niederland,  da  mag 
ich  nicht",  letzte  Strophe  d. 
Volkslieds  "Auf  dieser  Welt . ." 
(s.  d.).  715- 

Jacobi,  Frledr.  Heinr.  746  f. 

Jägle  (franz.  Jaegle'j:  Straßb. 
Pfarrer,  bei  dem  Büchner  Woh- 
nung u.  Kost  hatte.  535.  56 r 
(Herr  J.),  651,  654,  759. 


Jägle,  Louise  Wilhelmine  (Min- 
na): Tochter  d.  vor.;  d.  Dich- 
ters Verhältn.  zu  ihr  (vgl.  654) 
wurde  s.  Eltern  bekannt,  als 
e.  Erkrankg.  d.  Braut  ihn  März 
34  von  Gießen  nach  Straßburg 
zog,  von  wo  er  d.  Eltern,  die  ihn 
inDarmst.  erwarteten,  briefl.e. 
Bekenntn.  ablegte  (vgl.  N,  S.  8; 
Bruchstück  d.  Briefs  53630  ff.); 
Spätherbst  34  hat  sich  dann 
Minna  in  Darmst.  vorgestellt; 
d.  Grund  für  ihre  spätre  Ver- 
feindg.  mit  d.  Familie  Büchn. 
ist  hauptsächlich  in  d.  Vorge- 
schichte d.  Nach  gel.  Schriften 
zu  suchen  (vgl.  Franzos  'Über 
G.  B.'):  während  offenbar  Min- 
na mit  Wilhelm  Schulz  diese 
Ausg.  schon  37  ins  Auge  faßte 
(655 35f.),  zögerte  sie  d.  Fam. 
Büchn.  bis  50  hinaus u.  benutzte 
dannd.  Auszüge,  die  Minna  von 
Georgs  Briefen  an  sie  für  Gutz- 
kow gefertigt,  ohne  sie  sonst 
an  d.  Sache  zu  beteiligen  ("Da 
sich  Minna  schon  damals  sehr 
sonderbar  benahm."  schreibt 
Luise  Büchn.  an  Franzos  auf  e. 
im  Nachl.  befindl.  Blatt  o.  O. 
u.  D.,  "widersetzte  ich  mich 
der  mir  [von  Gutzk.]  gegebenen 
Auszüge,  jedoch  vergebens . . . 
Diese  Veröflfentlichg.  aber  hat 
sie  uns  am  übelsten  genom- 
men"); unvermählt  muß  M.  J. 
ziemlich  betagt  gestorben  sein, 
da  Franzos  noch  in  d.  70er 
Jahren  mit  ihr  korrespondiert 
"hat,  538,  622,  625,  636,  642, 
647,649—53,654,  656f.,664f., 
678,  686,  753  ff.,  756,  765- 
769 f.,  774.  —  An  sie  529 ff., 
532  ff.,  534ff.,  567ff. 
Jalermechanismus:  ?  293. 
Januar,  £i:  Tag  der  Hinrichtg. 

Ludwigs  XVI.  (1793)-   56- 
Jean  Paul  Friedr.  Richter  774. 
Juli.  14.:  Tag  der  Erstürmg.  d. 
Bastille  (1789'.  48. 


HUMBOLDT  -  K0SP:RITZ 


Juli-Revolution  173. 

Jung,  Job.  Heinr.,  gen.  Stilling: 
der  pietist.-myst.  Neigungen 
hingegebene  Volksschriftstel- 
ler hatte  außer  e.  'Theorie  d. 
Geisterkunde'  auch  e.  'Gemein- 
nützige Erklärg.  d.  Offenbarg. 
Johannis'  veröffentlicht.  91. 

Junges  Deutschland  (liter.)  560. 

Junges  Deutschland  (polit.):  wie 
d.  flüchtigen  Republikaner  aus 
Italien  u.  Polen  hatten  auch  d. 
deutschen  Flüchtlinge  e.  Verein 
Junges  Deutschi,  gebildet,  der 
34  in  Bern  mit  d.  Jg. Italien  u. 
Jg.  Polen  zu  d.  Jg.  Europa  zu- 
sammengetreten war;  geg.  des- 
sen Mitglieder  richteten  sich 
die  36  von  d.  Schweiz  (s.  d.i 
verfügt.  Ausweisungen,  u.wenn 
sich  auch  d.  J.  D.  in  London 
niederließ,  so  verlor  es  doch 
immer  mehr  an  Bedeutg.  622  f. 

Just:  s.  Saint-Just. 

J ustizpalast:  Sitz  d.  Revolutions- 
tribunals. 58  ("'bis  zu  d.  Brük- 
ken":  d.  Palais  de  Justice  be- 
findet sich  auf  der  Seine-Insel 
de  la  Cit^),  67. 

Kalischer  Revue:  I.ustlager  d. 
absolutist.  Fürsten  von  Rußl., 
Prß.,  Österr.  Sommer  35  zur 
Feier  d.  Siegs  üb.  Polen.   555. 

KarljPrinzv.  Hessen:  1809  geb. 
Sohn  Ludwigs  IL   624. 

Karl  X.  von  Frankreich:  "mein- 
eidig" durch  s.  Staatsstreich, 
der  d.  Julirevol.veranlaßte.  1 73. 

Katilina  20  (wie  Tacit.  über  d. 
Kaiserzeit,  hatte  Sallust  "Üb. 
d.  Verschwörg.  K.s"  geschr.), 
21,  62  (weg.  Hinrichtg.  d.  Ge- 
nossen K.s  war  Cicero  auf  Be- 
treiben d.  Triumvim  verklagt 
worden),   599. 

Kato  von  ütika  17,  592  f.,  596 
bis  604. 

Kaufmann.  Christoph:  denWin- 
terthurer     Kraftapostel     hatte 

BÜCHNER  52- 


817 

Lenz  76  in  Weimar  kennen  ge- 
lernt; als  Weltverbesserer  war 
dann  K.  nach  Basedows  Phi- 
lanthropin u.  weiter  nach  Rußl 
gezogen,  wo  er  auch  Lenzens 
Angehörige  besuch  t  hatte;  Nov 
77  wurdeerinWintherth  v  d 
gemütskranken  Lenz  besucht 
^^"/^•^-^Oberlin  schickte,  um 
bald   darauf  mit    s.   Braut  ins 
btemthal  nachzufolgen  —  K  s 
Auftreten  in  Waldersbach  ent- 
halt  bereits   Büchners   Quelle 
Oberl.,  d.Kenntn.  S.Beziehun- 
gen zu  Lenzens  Vater  jedoch 
hat  Buchn.  anderswoher-   die 
kunsttbeoret.  Ansicht  K.s   im 
'Lenz    ist  insofern  wahrheits- 
widng,  als  K.  gerade  für  Natur 
im  Gegens.  zur  Kunst  war   8; 
91,  93,  94- 
^aup,  Joh.  Jak.  627. 
lemm:  s.  Cleram. 
och     Adam:    aus    Darmstadt. 
Vlitgl.  d.  "Gesellsch.  d.  Men- 
chenrechte";  endete  nach  F 
^VIII.,als  Opfer  d.  Reaktion  i' 
)armst.  Gefängn."    (vgl.  Ilse" 

.427flr.u.Sch.-W.,S.58j.639. 
'ch,  Jakob:  älterer  Bruder  d 
)r.,  stud.  med.;  flüchtig  weg. 
Teilnahme  an  Büchners  Ver- 
ödung (vgl.  II.se,  S.  42S  und 
AI).   549. 

Istitutionsakte:  die  von  Fie- 
lt (s.  d.;  93  entworfene,  10. 
roklam.  Verfassg..  die  je- 
^  10.  10.  d.  Diktatur  Platz 
hte.  31. 

Kitutionsfest: vom  lo.  S.93, 
N.  Annahme  der  von  H^-' 
r  entworfenen  neuen  Ver- 
f'  gefeiert  wurde.   79. 

Kc:z:  württemb.  Leutnant. 
"itd.Buchhdlr.  Franck  in 
^Svnhg.  d.  Verschwörg.  an- 
g''lt;  er  wurde  jedoch  be- 
g^  u.  nach  Amerika  ent- 
1^^545. 


REGISTER 


8i8 

Kriegerisches  Aussehn  Europas 
i8^r  s.  Holland.  Wirren. 

Küchler,Heinr.  (1811^73):  Arzt 
in  Darmstdt;  wurde  zu  b  J  • 
Zuchthaus  verurteilt,  aber  39 
auch  begnadigt.   560. 

Kuhn,  Joh.:  Prof.  d.kath.  Theo- 
logie in  Gießen,  wo  er  auch 
als  Doktor  d.  Philosophie  do- 
zerteu.vielleichtvonBücnner 
Gehört  wurde;  s.  von  Büchner 
benutztes  Buch  'Jacobi  u.  die 
Philosophie  s.zelt'   ersch    34 

zu  Mainz.  257  (vgl- K.^-^- O- 
S.  7if-),  345,  743-746,  787 1- 

Lacroix:  früher  Advokat,  dann 
Takobiner  u.  Parteimann  Dan- 
tons, mit  dem  ervom  Konvent 
92zumHeernachd.Niederlc 
Lschicktwar;daßersichdot 
Veruntreuungen  hatte  zuschul^ 
den  kommen  lassen  war  Ihm 
schon  von  d.  Girondisten  vor. 

geworfenworden   8,  2i,23tt.: 

5i  {"Generalleutn."iron.),32tt- 

46    52,  54  (Frage  u.  Antwor- 

nach  Th.  205),  64,69,  74f.,  7^ 

(vgl.  "Ibr  tötet  uns  ). 

Lafayette,  Marquis    de:    spielt 

noch  zu  Büchners  Lebzeiten  < 

nolit.  Rolle  in  Frankr.,u.zwf 

in  d.  Dichters  Sinne,  wenn  er  c 

aeaen  das  Ministerium  Pen 

FrSnt  machten.  33  den Vere 

d.Menschenrechte  begründe 

46,  67-  .      , 

Laflotte:    junger    Mitgefang: 
Dillons  im  Luxemburg;  übe 
feige  Denunziation  fand  Buc 
bei  Th.  2 1 3  f.  ausführl.  Ben 
57fr.,  61. 
Langermann,  General  523. 
"Laß  in  mir  die  heiigen  Seh 
zen":  wohl  e.  echte,  doch  : 
nicht  nachgewiesene  Kirc 
liedstiophe.  89  (vgl.  73 1 
Laube,  Heinr.:  stand  bereit 
34  unter  Anklage  u.  wuiy 


zu  anderthalbjäh r.  Haft  verur- 
teilt. 621. 
Laurencet,  franz.  Anatom.   185, 

191. 
Lauth,  Ernst  Alex.  (1803—37): 
Sohn  d.  berühmten  Anatomen 
Thomas  L.  (gest.  1826),  Prof. 
d.  Physiologie  u.  Verf.  e.  'Ma- 
nuel de  ranatomie'.    550,  565. 
Lavater,  Job.  Kasp.  94,  355. 
Legendre,  Louis  (1752— 97):  d. 
frühere  Schlächter  war  Mitgld. 
d.  Jakobin.-wie  d.Franziskaner- 
klubs  und  hatte  als  Konvents- 
mitgld.  für  den  Tod  d.  Königs 
gestimmt,um  dann  freilich  nach 
d.  Beseitigg.  d.  Girondisten  mit 
Danton  e.  mildere  Tonart  an- 
zuschlagen; so  suchte  er  auch 
für  Danton  einzutreten,  zog  sich 
aber  vor  d.Zorn  d.  Robespier- 
risten   vorsichtig    zurück,   bis 
auch   deren  Sturz  gekommen 
war.    8,  I7f.,  21,  24,  25,  26, 
44  f.  (fast  wörtl.  nach  Th.  196], 
46,  47. 
Lenz,  Jak.  Reinh.:  Nov.  77  be- 
kam L.  bei  Kaufmann  (s.  d.)  in 
Winterthur  e.   ernsten  Anfall, 
u.  Kaufm.  wies  ihn  an  Oberlin, 
bei  dem  er  Jan.  78  wahnsinnig 
eintraf;  von  dort  wurde  er  nach 
Straßbg.  und  weiter  nach  Em- 
mendingen gebracht,  wo  sich 
Schlosser  seiner  annahm,  bis 
d.  Kranke  endlich   79  von  e. 
Bruder   in  die  Heimat  geholt 
wurde.  Über  Büchners  Quelle 
vgl.  Oberlin  und  Aug.  Stöber. 
83—108,  557,  617,   622,  678, 
681—85.  —Briefe  680 f.,  Dra- 
men 85,  92,  Gedicht  "D.  Liebe 
auf  d.  Lande"  535  f. 
Leopold,  Großherzog  von  Ba- 
den: in  Wirklichkeit   d.   libe- 
ralste unter  d.  deutsch.  HeiT- 
schern  damals.  559. 
Leroi:  Geschworn.  (s.Girard).  54. 
Literaturblatt:  z.  'Phönix'.   546. 
Louis,  Prinz:  ältester  Sohn  Lud- 


KRIEGERISCHES  AUSSEHN  —  MARSEILLAISE   8 1 9 

wigs  IL  V.  Hessen-Darmst,  d. 

spätre  Großherzog  Ludwig ni. 

624. 
Louis  Philipp  173  ("Heuchler", 

weil  er's  weder  mit  d.  Legiti- 

misten  noch  mit  den  Liberalen 

verderben  wollte),    524,   547. 

555  (Attentat  Fieschis). 
Lüwig.    Karl   Jak.:    Chemiker, 

seit  33  Prof.  in  Zürich.  641. 
Lucius,  Ferdinand:  evang.-pro- 

test.    Theolog    in    Straßburg, 

vielleicht  ident.  mit  dem,  der 

die  in  Darmstadt  1827  fif.  ersch. 

'Hand-Concordanz'  M.  Luthers 

mitherausgab.   538,  756. 
Luck  ;so  statt  "Link"!\  Ludw. 

Wilh.(i8i3 — 81):  Jugendfreund 

Büchners,    später    Pfarrer    in 

Wolfskehlen  b.Darmst.;  wie  78 

geg.  Franzos  bricfl.,  hatte  sich 

L.  schon  59  geg.  Hebbel  mündl. 

üb.  Büchner  ausgelassen,  doch 

damals  d.  Freund  noch  irrtüml. 

m.  d.  Fraukf.  Attentat  in  Ver- 

bindg.  gebracht.  605,  629 — 33, 

769 f,  773f. 
Luden,  Heinr.  603  (vgl.  Herder). 
Ludwig  I.   V.  Bayern  (Sohn   e. 

hess. Prinzessin)  i75f.,559.73S- 
Ludwig II.  V.Hessen  166,  i7of, 

1 73  f.  (Schulden,  die  L.  als  Erb- 
prinz gemacht),  537. 
Ludwig  XVI.  von  Frankreich  56, 

73,  171  f. 
Ludwig  XVIL,  Sohn  d.  vor.  55. 
Lukretia  14,  35,  61,  592. 
Lumiere:  Geschworner.   54. 
Lüning,  August  (geb.  um  181 8): 

ausWestfalen;  weg.  s.burschen- 

schaftl.   Gesinnung    1834   von 

Greifs w.,  wo  er  Jura  studiert, 

nach  Zürich  geflohen,  begann 

L.  hier  unter  vSchönlein,  Oken, 

Arnold,  Löwig  u.  a.  s.  medizin. 

Laufbahn,  auf  der  er  es  bis  zum 

Zürcher  Kantonalstabsarzt  und 

Oberstleutnant  brachte.  642(1., 

777,  786;  791. 
Luxemburg.  Das:  ursprüngi.  e. 


I  Schloß  auf  d.  frühem  Grund  u. 
I  Boden  d.  Herzogs  von  Luxem- 
i  burg-Piney.  während  d.  Revo- 
'      lution  Staatsgefängnis.    49  ft"., 

57,  674. 
,    Lyon:    Stadt  d.  royalist.-giron- 
dist.    Gegenrevolution,  die  d. 
Jakobiner  Chalier  hingerichtet 
!      hatte;  nach  Beseitigg.  d.  radi- 
'      kalen    Hebertisten,    zu  denen 
auch  Ronsin  gehörte,  fürchte- 
ten d.  Lyonerjakobiner  e.  neues 
Aufkommen  ihrer  reaktionären 
Mitbürger.  17,  20. 
Lyoner,  Ein  17  (d.  Rede  stammt 
aus  Th.  188  f.,  wird  dort  aber 
auf  Grund  briefl.  Mitteilungen 
aus  Lyon  von  Robesp.  gehal- 
ten'. 

i  ''Mädel, mach'sLadel  zu":  viel- 
leicht e.  altes  Kinderlied.  148. 
"Mädel,  was  fängst  du  jetzt  an": 
Ausgangsstrophe  des  Liedes 
''Sitzt  e.  schöns  Vogel  im  Tan- 
nenwald", in  d.  benutzten  Lie- 
dersammlgen.  nicht  enthalten 

I      (vgl.E.-B.,  Nr.  15751.  146,718. 

]  Mai,  31.:  Tag  des  Jahrs  1793,  ^^ 
dem  d.  Bergpartei  im  Konvent 
offen  geg.  d.  Girondisten  Front 
machte.  17,  34  (auch  d.  Giron- 
disten hatten  gewalts.  Opposi- 
tion versucht),  48. 
Malebranche,  Nicolas  340,  345, 

743.  746. 

Marat  1 1  (,,Recbng.'":  i.  s.  'Volks- 
freund' 1790  aufgestellt,  später 
also  verteidigt:  "Wenn  ich  da- 
zu geraten  habe.  500  Verbre- 
cherköpfe fallen  zu  lassen,  so 
geschah  das  nur.  um  500000 
Unschuldigen  ihre  Köpfe  zu  er- 
halten"), 17  f.,  25,  36,  56. 

Marburg:  Druckort  d.  2.  Aufl.  d. 
Hess.  Ldb.  545,  734. 

Marburger:  s.  Badenburg.  Ver- 
sammig. 

Marion  8.  22  ff.,  67o(vgl.Hugo\ 

Marseillaise  49,  77,  523,  529. 


820 


REGISTER 


Marsfeld:  17.  7.  91  hatte  dort  e. 
Volksversammlg.,  mit  auf  Dan- 
ton» Anregg.,  für  d.  Monarchen 
Eatthrong.  petitioniert.   56. 

Masonet:  Ausdr.  f.  Freimaurer 
(franz.  Franc-magon^.  63. 

Mayer.  Karl  (1787 — 1865):  Bon- 
ner Prof.  d.  Anatomie  u.  Phy- 
siologie; in  den  'Acta  nova 
Acad.  Caes.  Leop.  Carol  Na- 
turalis Curiae  Vol.  XVI'  lie- 
ferte M.  e.  anat.-physiol.  Un- 
tersuchg.  "Üb.  d.  Gehirn,  d. 
Rückenmark  u.  die  Nerven" 
(1833),  e.  besondre  Arbeit  üb. 
d.  Ganglien  d.  Nerv,  hypogl. 
ersch.  später.  232,  246,  363. 

Meckel,  Joh.  Friedr.  der  Jün- 
gere, Herausgeb.  d.  'Arch.  f. 
Anatomien.  Physiologie'.  193, 
203,  242  f,  244,  245,  247  ff. 

Meckels  Archiv  200,  214,  2 18  f., 
221,  223,  229,  240. 

Menenius  Aprippa  767. 

Menzel,  Wolfg.  562,  616,  6 19  ff. 

Mercier,  Sebastien  49  ff.,  54 f. 

Mersenne,  Marin  304. 

Methfessel,  Alb.  Gottl.  561. 

Metternich  607. 

Meyer,  Ludw.:  Freund  Spino- 
zas, der  d.  Philosophen  zum 
Druck  von  Cartesius' Prinzipien 
mit  s.  „Cogit.ita"  veranlaßteu. 
d.Buch  mit  e.  Vorrede  heraus- 
gab. 340. 

Mignet,  Frangois  Auguste:  s. 
zweibändige,  nicht  ganz  ten- 
denzfreie 'Hist.  de  la  Revol. 
frang.'  ersch.  1824  u.  ist  von 
Büchner  neben  Thiers  Js.  d.  u. 
Unsere  Zeit  (s.  d.l  für  s.  Revo- 
lutionsdrama benutzt  worden; 
vgl.  Mign.  unter  Danton,  Des- 
moulins,  Robespierre.  Saint- 
Denis. 

Minniger o de,  Karl  (18 14 — 61): 
Sohn  eines  pens,  hess.  Hofge- 
richtspräsidenten, Studieafrd. 
Büchners  u.  Mitgl.  der  "Ge- 
sellsch.  der  Menschenrechte"; 


mit  d.  von  Offenbach  abgehol- 
ten Hess.  Ldb.  wm^de  er  auf 
Denunziation  (Kuhls)  hin  am 
Gießener  Stadttor  i.  8.  34  ver- 
haftet (vgl.  Diehl  u.,  nachd. 
ein  von  s.  poiit=  Gesinnungs- 
genossen unternommener  Ver- 
such, ihn  aus  Friedberg  zu  be- 
freien, mißglückt  war,  erst  weg. 
körperl.Zerrüttg.(Georgi!;  nach 
drei  Jahren  entlassen;  er  lebte 
später,  nach  e.  briefl.  Mitteilg. 
Lucks  an  Franzos,  als  Bischof 
e.  Sekte  in  Nordamerika.  538, 
5+0,  545,  549,  551,  554,  557, 
558,  567  (falsches  Gerücht  von 
S.Tod),  630 f.,  637,  639. 

Mirabeau  5  5  f. 

Momoro:  Gattin  d.  Buchhänd- 
lers M.,  der  mit  Hubert  guillo- 
tiniert war;  s.  schöne  Gattin 
hatte  bei  Chaumettes  Fest  der 
Vernunft  diese  Göttin  darge- 
stellt, was  zu  d.  Verdacht  un- 
erlaubter Beziehungen  zw.  ihr 
u.  Chaumette  Anlaß  gab.  5  2. 

Monro,  Alex.:  wohl  d.  zweite 
dieses  Namens  (1733 — 1817), 
der  d.  Kenntn.  d.  cerebro-spi- 
nalen  Nervensystems  beson- 
ders gefördert  u.  auch  e.  "Phy- 
siology  of  fishes"  geschrieben 
hat.  203. 

More,  Heinr.:  s.  Briefe  an  Gart, 
hat  Büchner  in  Tennem.  X, 
281  ff.  erwähnt  gefunden.  320. 

Muck,  Ferdin.  (?):  wohl  Schüler 
Tiedemanns,  denn  s.  "Dissert. 
de  ganglio  ophthalmico  et  ner- 
vls  ciliaribus  animalium"  er- 
schien 1S15  in  Landshut.  197. 

Müller,  Johannes  224  f.,  230,232. 

Müllers  Archiv  212,  218,  224; 
Handbuch  197. 

Mundt,  Theod.  558,  621. 

Musset,  Alfr.  de:  nicht  d.  tiefe 
u.  doch  so  graziöse  Lyriker, 
sondern  d.  launige,  mit  romant. 
Selbstironie  geistr.  spielende, 
auch  weltschmerzlerisch  ange- 


MARSFELD  -  O  PFUI,  MEIN  S'CHATZ      82 


hauchte  Dramatiker  zog  Büch- 
ner an  (vgl.  Insel-Schifif,  lll.  Jg., 
S.  282f.).  754- 
Muston:  franz.  Flüchtling,  d.  an 
Ramorinos  s.  d.)  Zug  gag.  Sa- 
voyen  teilgenommen.  538,756, 
786,  789. 

Nachtgedanken,  Die:  d.  fromm- 
eleg.Versbetrachtungend.engl. 
Dichrers  Edw.  Young  über  Tod 
u.  Unsterblichkt.,  e.  Lieblings- 
lekt.  d.  empfinds.  Zeitalters.  72. 

Napoleon!.  123,  I72f.,  174,555. 

Naturwissenschaftl. Gesellschaft 
zu  Straßb.  iSi,  654,  74of. 

Neuhof:  wohl  Schwester  der  seit 
April  34  flüchtig.  Brüder  Georg 
u.  Wilhelm  N.  aus  Bonames, 
Gastwirtstochter,  die  revolut. 
KoiTespondenzen  vermittelte  u. 
steckbriefl.  Verfolgten  forthalf. 
(Vgl.  üse,  S.  354.357-;  554- 

Neuner,  Karl  (18 15 — 82]:  Sohn 
d.  Darmst.  Oberchirurg.  Georg 
Karl  N.,  seit  32  stud.  jur.  in 
Gießen;  später  Rechtslehrer, 
zuletzt  in  Kiel.  630  f. 

Neustadt  a.  d.  Hardi:  d.  Jahres- 
tag d.Hambacher  Festes  woll- 
ten 1833  liberale  Einwohner  v. 
N.  in  still  er  Nachfeier  begehen, 
als  sie  von  Soldaten  angefallen 
u.  selbst  Kinder,  Frauen,  Greise 
verwundet  wurden.  526. 

Nievergelter,  Ludw.:  Forstwis- 
senschaftler in  Darmst.,  Mitgl. 
d.  "Gesellsch.  d.  Menschenr."; 
noch  vor  ßüchn.  geflohen,  hielt 
er  sich  vorübergehend  in  Straß- 
burg auf  u.  w^anderte  dann  nach 
Amerika  aus.  553. 

Nöllner,  Friedr.:  hess.  Hofge- 
richtsrat in  Gießen;  Verf.  d. 
wiederholt  herangezog.  'Ak- 
tenmäß.  Darlegung'.  607, 733  f, 
764,  770. 

Oberlin,Joh.  Friedr.:  s.  Erlebn. 
mit  Lenz  hat  O.  selbst  tage- 


buchartig zu  Papier  gebracht, 
u.  diese  .Aufzeichnungen  sind 
Büchners  hauptsächl.  Quelle 
für  s.  Erzählg.  gewesen.  85  bis 
91,  94f,  100  (O.  kehrte  am 
5.  2.  zurück,  war  aber  nicht  bis 
in  d.  Schweiz  gekommen  ,  loi 
bis  107,  678 f,  681  ff. 

—  Madame:  Marie  Salome  geb. 
Witter  (1783  gest.;,  seit  1768 
Gattin  d.  vor.  85,  97 — 99,  102, 
I04f,  681  ff. 

Ödipus:  als  Gatte  seiner  Mutter 
war  Ö.  "s.  eign,  Vater''  oder 
"Vater  u.  Kind  zugleich".    58. 

OfTenbach  538  ivgl.  Frankfurt), 
540  (''Gerücht'":  von  der  geh. 
Fresse,  auf  der  d.  Hess.  Ldb. 
gedruckt  worden).  554,  637. 

"'O  Gott!  in  deines  Lichtes 
Welle": nach  K.Voß'  Vermutg. 
Verse  Büchners.   102. 

ÜKen,  Lorenz:  nach  ihm  ist 
nicht  nur  d.  Geschmacksorgan 
e.  Verfeinerg.  d.  Darmwerk- 
zeuges, d.  Ohr  e.  Umbildg.  d. 
Kiemenhöhle,  sondern  auch  d. 
Schädel  e.  Weiterbildung  d. 
Wirbelsäule  u.  das  ganze 
menschl,  Skelett  aus  d.  ein- 
fachen Wirbelform  herzuleiten; 
auch  in  d.  verschiedenen  Art 
sieht  O.,  s.  Lieblingsidee  vom 
Parallelismus  im  Naturreich 
folgend,  dieselben  Er.schei- 
nungen  wiederkehren,  indem 
er  d,  höher  entwickelten  Tiere 
z  B.  alle  Stufen  niederer  Tiere 
repräsentieren  läßt  u.  dem- 
entspr.  d.  Tierreich  zu  klassi- 
fizieren sucht.  228,  236,  239, 
357 f.,  365  f-«  641,  643. 

■'O  meine  müden  Büße,  ihr  müßt 
tanzen":  wohl  eigene  Verse 
Büchners.   117,  695 

"O  pfui,  mein  Schatz,  d;is  war 
Avär?j  nicht  fein":  aus  d.  Lied 
■'Auf dieserWelt  hab  ich's  keine 
Freud"  (vgl. Böckel  Nr.  lOjKöh- 
lerNr.  32.Le\\alterINr.5;.7i5. 


822 


REGISTER 


Orleans,  Ludw.  Phil.  Jos.  Her- 

zoiT  V,   55,  56,  68. 
Oslander,  Friedr.Benjam.  (1759 

bis    1822):     Götting.   Prof.    d. 

Geburtshilfe,  hatte  1813  "Üb. 

d.  Selbstmord,  seine  Ursachen, 

Arten'"  eine  medizin.-gerichtl. 

Untersuchg.  geschrieben.  593. 

P :  ?   545- 

Palais-Royal:  schon  vor  d.  Re- 
vol.  von  Philipp  von  Orleans 
mit  e.  Vergnügungsetablisse- 
ment versehen,  das  auch  d. 
Prostitution  eine  Schlupfstätte 
bot.  21,  30. 

Panizza,  Barthol.  (1785— 1867): 
hen^orrag.  Anatom  u.  Chirurg, 
Prof.  d.  Anat.  in  Pavia.    236! 

Paris  5 54 f.  ; Attentat  d.  Korsen 
Fieschi;  d.  darauf  erlaßnen  Ge- 
setze geg.  d.  Preßfreiheit  usw. 
wurden  Sept.  angenommen). 

Paris,  mit  d.  Beinamen  Fabri- 
cius:  Geschworner  im  Revolu- 
tionstribuual,  mit  Danton  be- 
freundet; er  war  es  auch,  der 
Dant.  von  d.  bevorstehd.  Ver- 
haftg.  Mitteilg.  machte  (4O5). 
Der  Name  kommt  in  Büchners 
sonstigen  Quellen  nicht  vor, 
wohl  aber  in  d.  'Biogr.  des  mi- 
nistres'  (Brüss.  1826),  die  mit- 
benutzt zu  sein  scheint.  8,  25, 
2  7  ff.  (vgl.  Biogr.  des  ministres, 
§  Danton),  3 2 ff. 

Payne,  Thomas:  wenn  Büchner 
P.  im  Gefängn.  d.  Frage  nach 
dem  Dasein  Gottes  behandeln 
läßt,  so  liegt  dem  d.  Tatsache 
zugrunde,  daß  P.  während  s. 
14  monatigen  Gefangenschaft 
d.  Buch  'The  age  of  reason' 
geschrieben,  das  seit  94  auch 
in  dtsch.  Übers,  kursierte;  aber 
hierin  spricht  sich  P.  gegen  d. 
Atheism.  aus,  während  ihn  d. 
Dichter  bezeichnenderweise  als 
Atheist  hinstellt:  es  handelt 
sich  im  Drama  also  um  e.  per- 


sönl.  Bekenntn.  Büchners!  8, 
49ff. 

Parier,  Casimir:  starb  doch  noch 
an  d.  Cholera;  Marschall  Soult 
trat  an  s.  Stelle.    524. 

Pfeffel,  Gottl.Konr.  100  ("Land- 
geistl,"'  ist  nicht  auf  Pf.  zu  be- 
ziehen; Oberlin  selbst  schrieb 
deutlicher:  "Ich  erzählte  ihm, 
daß  Herr  Hofrat  Pf.  die  Land- 
geistl.  so  glückl.  schätzt.  .  ."l 

Pforzheimer,  Heldentod  der 
vierhundert:  erst  im  18.  Jahrh. 
aufgekommene  Sage  (vgl, 
Coste,  Die  vierh.  Pf.,  Sybels 
Hist.  Zeitschr.  XXXIT,  23  ff.); 
Büchners  Quelle  mögen  die 
1824  ersch.  'Erinnerungen  an 
d.  Schlacht  b.  Wimpffen  u.  d. 
Tod  d.  400  Pf.  von  C.  V.  Som- 
merlatt'  gewesen  sein.   5 79 ff. 

Philippeau  (Ph^lippeau):  e.  d. 
wenigen  gläubigen  Moralisten 
in  Dantons  Anhang,  an  dem 
auch  Robesp.  nur  s.  Mäßigg. 
aussetzen  konnte.  8,  loff.,  26, 
31,  32  ff.,  52f.,  64,  74ff-,  78. 

Phönix:  tägl.  " Frühlingsztg.  für 
Deutschld.",  redig.  von  Ed. 
Duller  u.  Karl  Gutzkow,  der 
d.  wöchentl.  Literaturbl.  dazu 
leitete.  546,  559,  612,  6i4ff.. 
618,  663,  666. 

Pitt,  William,  der  Jüngere:  d. 
engl.  Ministerpräsident  ließ  93 
alle  Häfen  Frankreich s  blo  ekle- 
ren, um  es  auszuhungern.    17. 

Plato  69  (wohl  nach  neuplaton. 
Dämonologie,  die  Büchn.  aus 
franz.  Quelle  übernahm). 

Plinius  725. 

Polen:  d.  poln.  Aufstd.  endigte 
mir  der  Übergabe  Warschaus 
Sept.  31;  auch  durch  Hessen 
zogen  danach  flüchtige  Polen- 
scharen,u.  manche  hielten  sich 

:  besonders"  bei  Weidig  in  Butz- 
bach länger  auf.   523,  555. 

Polenlied:  "Noch  istPolennicht 
verloren''.   529. 


ORLEANS  —  ROBESPIERRE 


823 


Forcia   16,  603. 

Präfekt  in  Straßbuig:  Chopin 
d'Arnvauille  '^vgl.Vogt,  i5oflF.  . 

548,  550j  555>  565- 
Präsident  d.  Jakobinerklubs:  Vi- 

vier.   20. 
—  d.  Konvents:  Thuriot.  45. 
Pucelle:  s.  Voltaire. 

Ramorino  (so  statt  "Romarino", : 
aus  Genua  stammender  poln. 
General,  der  nach  Warschaus 
Fall  31  mit  s.  Heer  auf  österr. 
Gebiet  übertrat  u.  dann  nach 
Frankreich  floh;  34  fiel  er  mit 
Flüchtlingen  verschiedner  Na- 
tionen in  Savoyen  ein,  um  d. 
sardin.  Thron  zu  stürzen  u.  d. 
Junge  Italien  zu  revolutionie- 
ren, was  aber  auch  mißlanr. 
49  machte  ein  kriegsgerichtl. 
Spruch  in  Piemont  s.  Aben- 
teurerleben e.  Ende.  523. 

Rastadter  Gesandtenmord,  Der: 
Büchner  hält  offenbar  Bona- 
parte, der  d.  Krieg  gewollt 
hätte,  für  d.  Urheber  d.  Mor- 
des an  jenen  franz.  Gesandten, 
die  April  99  auf  d.  Rückkehr 
V.  d.  fruchtlosenVerhandlungen 
über  die  durch  d.  Frieden  von 
Campe  Formio  geschaffene 
Lage  von  ungar.  Husaren  über- 
fallen wurden.   555. 

Rathke,  Heinr.  (1793—1860;: 
hervorragender  Anatom,  seit 
35  in  Königsberg  ( Anatom. - 
physiolog.  Untersuchungen  üb. 
d.  Kiemenapparat  u.  d.  Zungen- 
bein d.  Wirbeltiere,  Dorpat 
1832).  217. 

Rebstöckel:  Straßburger  Gast- 
hof.  562,  621,  75S. 

Reil,  Joh.  Christian  19S. 

Reinheim  627  f.  (s,  Joh.  Karl 
Büchner),  629. 

Renaudin:  Geschwomer  (s.  Gi- 
rard).  54. 

Repräsentationsidee:  s.  Oken. 


Reuß,  Joh.  Georg  (1757  -1815;: 
Grobvater  d.  Dichters;  Spital- 
schaffner u.  Regierungsrat  in 
Hofheim.  629. 

—  Luise  Philippine  geb.  Her- 
mani  (1764 — 1846):  Gattin  d. 
vor.,  als  Witwe  zuletzt  bei 
Büchners  Eltern  wohnend.  542. 
625,  628,  638. 

Reuß,  Georg(  1795  1S49;:  Sohn 
d.  vor.,  also  Bruder  d.  Mutter 
Büchners;  Offizier.  624,  629, 
771.  —  An  Büchner  611. 

—  Magdalena  geb.  Meyer  (geb. 
1796;:  Gattin  d.  vor.  628? 

Reuß,  Tante:  Gattin  d.  Straßb. 
Orientalisten  und  Theologen 
Eduard  Reuß  (1804 — 91),  des- 
sen Vater  e.  Bruder  von  Büch- 
ners Großvater  R.  war.  625. 

Revolutionstribunal:  bestand  aus 
d.  Präsidenten  (Herman,  resp. 
Dumas),  d.  öff.  Ankläger  (Fou- 
quier  ,  fünf  Richtern  und  Ge- 
schwomen,  die  eigentlich  ge- 
wählt, nicht  bestimmt  werden 
sollten,  u.  konnte  nur  auf  To- 
desstrafe oder  Freispruch  er- 
kennen. 55  ("daß  ich  d.  R. 
schuf'":  so  aus  Th.  204,  doch 
ist  d.  Tribunal  im  März  93  gar 
nicht  auf  Dantons  Antrag  ge- 
schaffen worden],  61,  62,  66 ff. 

Ringel,  Ringel.  Rosenkranz  713. 

Robespierre:  der  Dichter  hat  R. 
so  dargestellt,  wie  ihn  zuerst 
U.  Z.  ihn  kennen  lehrte  (vgl. 
dort  III,  291  f.  u.  XII,  292  ;  alles 
stoffl.  Detail  zu  R.s  Reden 
lieferten  außer  U.  Z.  noch  Th. 
u.  Mign. —  8,  10,  15  f.  (auch  d. 
geschichtl.  R.hatte  d.  Beinamen 
'"D.  Unbestechl."  u.  ist  mit  d. 
Messias  verglichen  worden), 
18  ff.  (R.s  Rede  z.  T.  aus  Mign. 
31  f.,  U.Z.XII,34ff.  u.  Th.189, 
wo  auch  d.  Worte  d.  Lyoners 
S.  17  als  briefl.  Äußerg.  durch 
R.  wiedergegeben  sind;  die 
Worte  2024ff.  bringt  U.  Z.  XII, 


824  REGISTER 

sie  aberSt.ju^tsprichtl),        Saint-Denis  31   ;vgl.  Mign.  30). 


21,  25  (Äußerg.  zu  Paris  nach 
Th.  192  ■;  26,  27  ff.  (d.  Unter- 
redg.mitDanton  in  Gegenwart 
e.  Freundes  dess.  z.  T.  wörtl. 
nach  Mign.  321 ;  R.s  näheres 
Verhältn.  zu  Cam,  ist  insofern 
histor.,  als  er  e.  Schulfreund 
von  ihm  gewesen u.  auch  jüngst 
noch  seine  Joumalistenstreiche 
geg.  d.  Hebertisten  entschul- 
digt hatte;,  34,  36,  40  (s.  u. 
Desmoulins},  46 f.  füberwiegd. 
nach  Th.  197;  4628  ff.  wörtl. 
nach  U.  Z.  XII,  96).  60,  62  f, 
66,  67f.,  74,  75(vgl.U.  Z.XIL 
113  Anm..  Avonach  Cam.  selbst 
vor  Gericht  äußerte:  "Dieser 
Nero  warniemalsfreundlich[erj 
gegen  mich  als  an  d.  Tage  vor 
m.  Verhaftg.";. 

Pvockenberg:  Ort  in  derWetter- 
au;  s.  Vogelsberger  Mitbürger. 
168. 

Roland  de  la  Piatiere  593. 

Rolando,  Luigi  (1773— 1831  : 
Anatomieprof.  u.  Hofmedikus 
in  Turin;  s.  'Gehirn-Beobach- 
tungeu*  erschienen  1827.  231. 

R-omarino:  s.  Ramorino. 

Ronsin:  General  d.  Revolutions- 
armee, weg.  angebl.  Konspira- 
tion mit  d.äußemFeind  gleich 
d.  andern  Hebertisten  hinge-    I 
richtet.   17.  : 

^osenstiel,  Ludw.  11806 — 63  :  [ 
cand.  jur.,  kehrte  später  aus  j 
Frankr.  nach  Darmst.  zurück,  i 
wo  er  als  Rentner  starb.  548.    ; 

xosenthal,  Friedrich   Christian    ; 
11779 — 182g  :  Anatom  u.  Phy-    | 
siolog,  besonders  um  d.  Ana- 
tomie der  Wale  und  »Seehunde 
verdient.    198,  244. 

^ue  St.  Guiliaume  Nr.66:  Straßb. 
Wohng. Büchners  beim  Pfarrer 
Jägle.   568. 

äaglio:  monarchist.  Deputierter 
Straßburgs.  529. 


Sainte-P^lagie:  Pariser  Gefäng- 
nis.  60. 

Saint-Just.  Antoine  8,  10.  27  ij. 
war  auch  Romanschreiber  im 
Stil  Voltaires),  30  ff.  fd.  Inti- 
mität mit  Robesp.  hatte  dem 
schöngestalteten,  langlockigen 
Jünglg.  d.  Spitznamen  d.  Mes- 
siasjüngers Johannes  nicht  nur 
von  Desmoulins  eingetragen), 
47  ff.  (d.  Rede  ist  schwerlich 
ganz  fingiert,  ließ  sich  aber  in 
Büchners  Quellen  nicht  auf- 
finden; vielleicht  ist  Justs 
Schrift  'Esprit  de  larevolution' 
benutzt),  56,  59  ff.  (das  2.  Ver- 
hör war  am  3.  April;  vgl.  Th. 
215),  66. 

Saint-Simon,  Claude  Henri  Graf: 
Begründer  d.  Sozialism.  durch 
d.'Cat^chisme  des  industriels' 
(1823)  u.  d.  'Nouveau  Christia- 
nisme'  (1825  ;  durch  eigne  Not 
auf  d.  Gedanken  einer  'Reorga- 
nisation de  la  societe  europe- 
enne'(i8i4) gekommen,  suchte 
er  diese  in  jenen  Hauptwerken 
auf  d.  Wege  e.  Wirtschafts- 
reform zugunsten  d.  Arbeiter 
u.  e.  religiös-ethischen  Reform 
im  Sinne  werktätiger  Bruder- 
liebe zu  erreichen;  s.  Verehrer 
u.  Schüler,  d.  Saint- Simonisten. 
bildeten  s.  Lehre  weiter  aus 
(polit.  Gleichstellg.  d.  Frau)  u. 
warben  tür  sie.  Büchners  revol. 
Gesinng.  hat  zweifellos  durch 
d.  Saint- Simonismus  e,  stärkern 
Sozialist.  Einschlag  fgegen  d. 
Mammon)  erhalten.   526f. 

Saint-Simonist:  Anbänger  der 
Lehre  Saint-Simons  ;'s.d.).  526, 

527.  544- 

Sallust:  s.  Katilina. 

Samson:  Scharfrichter.  60,  67, 
70. 

Sartorius,  Theodor:  aus  Lauter- 
bach, Studt.  d.  Medizin;  wurde 
36  weg.  s.  Beteiligg.  au  d,  re- 


ROCKENBERG  —  SCHWAB 


825 


volut.  Umtrieben  zu  I  J.  6  M. 
Getängn.  verurteilt.  547. 

Sauerländer:  Frankf.  Verleger. 
542,  543,  6iiff.,  615,  617,  754. 

Sauppe,  Herrn.:  damals  Zürcher 
Gymnasiallehrer  und  Privat- 
dozent, später  Göttinger  Uni- 
versitätsprofessor. 642. 

SavoyerZug:  Einfall  Ramorinos 
(s.  d.)  34  mit  Italien.,  poln., 
deutsch.  iRauschenblatt,  Brü- 
der Breidensrein  u.  a.)  Flücht- 
lingen. 565. 

Scarpa,  Antonio  193  f.,  203, 
209 f.,  212  f.,  236. 

Schenk:  Leopold  Schenck  (181 5 
bis  65; :  Pharmazeut  vfie  Wilh. 
Büchn.,  48  nach  Texas  ausge- 
wandert. 624. 

Schiller  125  (Don  Carlos  ,  553, 
593  (Zitat  aus  d.  'Räubern', 
Goethe  zugeschr.),  767,  774 f. 

Schinz,  Heinr.  Rud.  (1777  bis 
1861):  Schweizer  Mediziner  u. 
Naturwissenschafder,  Zürcher 
Universitätsprofessor.  641. 

Schlemm,  Friedr.  (1795 — 1^59  • 
Berl.  Anatomie-Professor;  mit 
d' Alton  gab  er  'Das  Nerven- 
system der  Fische'  heraus,  auch 
stellte  er  die  Vereinigg.  der 
aus  d.  Ziliarmuskel  d.  Auges 
tretenden  kleinen  Venen  zu  d. 
Schlemmschen  Kanal  fest.  197. 

Schmid:  Pfarrersfrau  aus  Straß- 
burg, ö^of. 

Schmid:  Zürcher  Freund  Büch- 
ners (vermutl.  d.  weg.  Teiln.  a. 
d.  Würzb.  Burschensch.  flüch- 
tige Ludw.  Schmidt  aus  Augs- 
burg). 645  f.,  648,  650. 

Schneider,  Eulogius  642. 

Schneider,  Joh.  Gottl.  642. 

Schneider,  General  523. 

Schneider  v.  d.  Sektion  d,  roten 
Mütze:  des  Bildes  wegen  sind 
wohl  die  Schneider  aus  jener 
Sektion  (s.  d.),  zu  der  an  sich 
auch  andre  Stände  gehörten, 
herausgegriffen.    26. 


Schober,  Joh.  Hnr.:  Pfarrer.  629. 
Schober:  Sagengest.;  vgl.Pforz- 

biemer.  587. 
Schönlein,  Joh.  Lukas:  Begrün- 
der d.  naturhistor.,  auf  exakte 
Forschg.  gerichteten  Schule 
im  Gegensatz  zur  naturphilos. 
Richtg.;  seit  3 3  Prof.  d.  Zürcher 
Klinik.  645,  648 ff.,  656. 
Schulz,  Dr.  Wilh.  Friedr.  (1797 
bis  i86o)-  ursprgl.  hess.  Offi- 
zier, aber  weg.  s.  liberal.  Ge- 
sinng.  20  pensioniert  u.  nun, 
nach  Erwerbg.  d.  philos.  Dok- 
torwürde u,  vergebl.  Versuch, 
in  den  hessisch.  Staatsdienst  zu 
kommen,  Publizist,  der  d.  li- 
beral. Forderungen  nach  Preß- 
u.  Redefreiheit,  Abschaffg.  d. 
stehd.  Heeres  u.  'Deutschlds. 
Einheit  durch  Nationalreprä- 
sentation' vertrat;  diese  letzte 
Schrift  zog  ihm  34  fünfjährige 
Festungshaft  zu,  aus  der  er  aber 
bald  mit  Hilfe  s.  Gattin  entkam 
und  nach  Straßburg  flüchtete; 
Sept.  36  begab  er  sich  dann 
nach  Zürich,    um    dort   Jurist. 

1      Vorlesungen  zu  halten.  Später- 

j      hin  hat  sich  Seh.  noch  publi- 
zist.  durch  s.  Auftreten  geg.  d. 

I      'Geh.  Kabinettsjustiz' anläßlich 

'      d. Todes  Weidigs  u.  imFrankt. 
Pariamt.  hervorgetan.  537,546, 

1      548,  558,  619,  642,  645  f.,  647, 

65off.,  664, 699, 764f.,  769,777. 

—  Caroline  geb. Sartorius  igest. 

1847),  seit  28   Gattin   d.   vor. 

546,  642,  645—53,  777. 

,    Schütz,  Jak.  Friedr.  ;i8io — 77): 
stud.  jur.,  Mitglied  der  Gieße- 

'  ner  "Ges.  d.  Menschenrechte"; 
seit  Minnigerodes  Verhaftung, 
mit  dem  er  d.  Hess.  Ldb.  von 
Offenbach  abgeholt,  flüchtig 
als  Erzieher  und  Sprachlehrer 
im  Ausland  lebend,  später  im 
Frankf.  Parlam.  auttretd.  634. 
Schwab:  "Gust.  Schwab,  dem 
Dichter"   waren  d.  Alsabilder 


826 


REGISTER 


gewidm.,  auch.  d.  erste  Gedicht 
darin  war  ''An  Gust.  Schwab" 
gerichtet.  558. 

Schweiz  546  (''strenge  Maßre- 
geln", nachdem  in  Lausanne 
10. 4.  36  Verbrüderungsvertrag 
zw.  Abgesandten  d.  "Jung.  Eu- 
ropa" u.  franz.  Republikanern 
geschlossen  war),  556  u.  618 
("Zusendung":  von  Trapp,  s.d.), 
622  f.  (vgl.  Junges  Deutschi.). 

Schweizer  Streit  mit  Frankreich: 
wohl  durch  d.  Aufnahme  Louis 
Napoleons  hervorgerufen,  der 
bis  Okt.  36  in  d.  Schw.  geweilt 
hatte.  566. 

Sektionen:  in  48  S.,  Verwal- 
tungsbezirke mit  bedeutenden 
Machtbefugnissen,  war  Paris 
durch  die  Gemeindeverfassung 
vom  Mai  1790  eingeteilt;  eine 
davon  war  die  d.  roten  Mütze. 
26,  33- 

Seil:  Wilhelm  S.  (1804— 46),  seit 
34  Prof.  d.  Rechte  in  Zürich, 
später  in  Gießen,  u.  s.  Gattin 
Emilie  geb.  Stamm  (1807 — 4^5 
vgl.  Hess.  Chronik  V,  S.  134  u. 
VII,  S.  25).  646. 

September:  vom  2.  bis  6.  9.  92 
wurden  d.  royalist.  u.  klerika- 
len Gefangnen  durch  den  von 
Marat  u.  Danton  aufgereizten 
Pöbel  hingeschlachtet;  Danton 
war  damals  Justizminister  u, 
ließ  ruhig  gewähren.  15,  17, 
26,  39,  42f.,  55,  57,  67. 

Septembriseurs:  Mörderdes  Sep- 
tember (s.  d.).  63. 

Septembrisierte:  im  September 
Ermordete.  60. 

Serres,Etienne  R^naud  Augustin 
(1787— 1868):  franz.  Arzt  u. 
Anatomieprof.,  der  die  vergl. 
Anatomie  d.  Gehirns  u.  d.  Zen- 
tralnervensystems fördernd  be- 
handelt hat  ('Anatomie  com- 
par^e'  1824 — 26).  184  f.,  189, 
192,  i94flF.,  ipSff.,  209,  219, 
227,  233. 


Shakespeare  87,  92,  543,  553, 
568,  629fr.,  774. 

—  Hamlet  16,  130  ^Zitat  aus 
III 2),  631,  633  (aus  V  I),  7621 
("In  jungen  Tagen":  Totengrä- 
berlied aus  V  I.  desgl.  "Und 
oh  e.  Grube";  Ophelias  Sang 
IV  5),  764  ("O  schaudervoll" 
aus  I  5); 

—  Kaufmann  63 1  ("Wie  süß  d. 
Mondlicht"  u.  "Der  Mann,  der 
nicht  Musik  hat"  aus  Vi); 

—  Othello  631;  Romeo  631; 
Richard  III.  631;  Wie  es  euch 
gefällt  1 1 1  (Zitat  aus  11 7),  687. 

Shandy:  d.  Vater  d.  Helden  in 
Sternes  Roman  'Tristram  Shan- 
dy' führte  in  s.  Alter  e.  solches 
Gewohnheitsdasein,  daß  er 
nicht  nur  d.  Hausuhr  regel- 
mäßig am  erst.  Sonntg.  im  Mo- 
nat aufzog,  sondern  sich  nach 
dieser  Uhr  auch  in  s.  ehelichen 
Pflicht  richtete,  sie  also  nur 
einmal  im  Monat  erfüllte.  123. 

Shaw:  entw  d.  junge  Alexander 
Sh.,  der  1839  'Narrative  of  the 
discoveries  of  Gh.  Bell  in  the 
nervous  system'  publiziert,  od. 
John  Sh.,  Verf.  e.  'Account  of 
some  experiments  on  the  ner- 
ves  by  Magendie'  (1822).  228. 

Sicherheitsausschuß:  aus  dem 
Wohlfahrtsausschuß  hervor- 
gegangne  u.  ihm  unterstehende 
Verwaltungsbehörde,  der  Amar 
u.  Vouland  angehörten.  30,45. 

Skelett  V.  d.  Wirbelform  abge- 
leitet: durch  Oken  (s.  d.).   357. 

Södel:  hess.  Dorf;  s.  Vogels- 
berger  Mitbürger.   169. 

Sokrates  10  (Reminiszenz  an  d. 
'zweiten  Alkibiades',  aus  d. 
'VievixCordelier'  vonTh.  161  f. 
zitiert;  dort  auch  Camilles  Be- 
merkung "Quels  republicains 
aimables!"),  17  ("Je  boirai  la 
cigue  avec  toi"  rief  später  Da- 
vid Robesp.  zu). 

''Soldaten,      das     sind    schöne 


SCHWEIZ  —  TENNEMANN 


827 


Bursch"':  vgl.  d.Volksl.  ''S. das 
sein  lustge  Brüder"  (Lewalter 
I,  S.  68.   145. 

'"Sollte  nicht  dies  u.e.  Wald  von 
Federbüschen":  vgl.  Shakesp., 
Hamlet. 

Sophokles  761,  774. 

Spinoza  50,  51,  256,  273,  276, 
289,  321  —  52,  744ff-,  752. 

Spinozismus  339  f-,  341,  344^-; 
Gegner  dess.  337. 

St.-:  s.  Saint-. 

Stall-Schenk:  Friedr.  Gg.  Ferd. 
Frh.  V.  Schenck  zu  Schweins- 
berg (1805 — 36),  Stallmeister. 
624. 

Stamm,  Karl  Theodor  Friedr.: 
aus  Darmstadt,  Stud.  med.  in 
Gieß.;  33  weg.  Mitwisserschft. 
am  Frankf.  Attentat  verhaftet, 
doch  aus  Beweismangel  freige- 
geben, ward  er  nach  Beschlag- 
nahme d.  Hess.  Ldb.  35  von 
neuem  verdächtig,  entkam  aber 
rechtzeitig.  529.  54S,  549. 

Steifensand,  Karl  Aug.  (1804 
bis  49):  Arzt  in  Krefeld;  pro- 
movierte auch  mit  e.  Dissert. 
'Üb.  d.  Entwicklungsgesch.  d. 
Gehörs'.  212. 

Stilling:  s.  Jung. 

Stöber,  Adolph  (181 1 — 92): 
Sohn  des  erst  Dez.  35  verst. 
eis.  Dichters  Daniel  Ehrenfr. 
St.,  der  selbst  d.  erste,  auch 
von  Büchn.  benutzte  Biogr.  d. 
Pfarrers  Oberlin  (Parisi  83 1 )  lie- 
ferte u.  Lammenais'  revolution. 
'Parolesd'un  croyant'  übers.;  s. 
Sohn  Ad.,  Theolog  u.Pädagog, 
dichtete  auch  im  eh.  Dialekt 
u.  erwarb  sich  um  d.  Erhaltg. 
d.  Deutschtums  im  Elsaß  liter. 
Verdienste;  die  'Alsa-Bilder. 
Vaterland.  Sagen  u.  Geschich- 
ten' (nebst  Gedichten)  ließ  er 
mit  s.  Bruder  Aug.  als  erstes 
Buch  erscheinen.  558,  621, 
758 f.,  772. 

Stöber,  August  (1808—84):  Bru- 


der d.  vor.,  nach  theol.  Studium 
Lehrer d. deutsch.  Spr.u.Liter., 
später  Oberstadtbibliothekar  u. 
Museumsdirektor,  machte  sich 
um  die  Erhaltg.  d.  deutschen 
Volkstums  im  Elsaß  durch 
Sammig.  d.  elsäss.  Sagen,  Mär- 
chen, Kinder-  u.  Volkslieder 
verdient,  wie  ihm  auch  Büch- 
ner d.  Mitteilg.  mancher  im 
'Woyzeck'  verwerteten  Wie- 
gen- u.  Kinderlieder  aus  d.  erst 
42  ersch.  'Elsäss.  Volksbüch- 
lein' zu  danken  haben  wird; 
desgl.  wies  Aug.  St.  d.  Dichter 
auf  Lenzhin,  über  deu  er  selbst 
d.  Monogr.  'Der  Dichter  Lenz 
u.  Friedericke  v.  Sesenheim' 
vorbereitete;  über  d.  'Alsa- 
Bilder' vgl.  Adolph  St.;  auch  in 
Zeitschriften,  darunter  d.  beile- 
trist. Wochenschrift  'Erwinia' 
(1838 f.),  suchte  Aug.  für  d. 
Stärkg.  deutsch.  Sinnes  im  Eis. 
zu  wirken.  558,  663,  678  f., 
758 f.,  772. 
Stumme  von  Portici,  Die:  jene 
Oper  d.  franz.  Komponisten 
Daniel  Auber,  die  1830  in 
Brüssel  d.  Signal  zur  Revolu- 
tion gab.    628. 

Tacitus:  parod.  vonDesmoulins, 
der    im    'Alten   Franziskaner' 


s.d.) 


;2.  93   Stellen  ''aus 


d.  T.  vom  Reiche  d.  Tiberius" 
mit  unverkennbarer  Beziehg. 
auf  d.  eigne  Schreckenszeit 
übersetzt  hatte.  20. 

Tale,  Die  vom:  die  im  Zentrum 
d.  Konvents,  die  weder  zur 
Bergpartei  noch  zu  d.  Giron- 
disten gehörten.  33. 

'Telegraph  für  Deutschland': 
Frankf.  Zeitschrift  Gutzkows. 
678,  686,  753. 

Tennemann,  Wilhelm  Gottlieb 
(1761  — 1819):  Marburger  Uni- 
versitätsprofessor d.Philos., der 
eine  nicht  ganz  zu  Ende  ge- 


82i 


REGISTER 


diehene  'Gesch.  d.  Philos.'  in 
elf  Bänden  geschrieben,  die 
Büchner  seineu  philos.  Arbeiten 
nachweislich  zugrundegelegt 
hat.  256,  297  f.,  740  f.,  742  f., 
746 — 49,  786  ff. 

Thiers,  Louis  Adolphe:  daß  der 
Geschichtsschreiber  Th,  die 
Glanzzeit  Napoleons  I.  nicht 
minder  verherrlichte  als  d.  Frei- 
heitsgedanken d.  franz.  RevoL, 
erlebte  Büchner  nicht  mehr:  er 
nahm  Thiers'  gewandte,  wenn 
auch  nicht  immer  zuverlässige 
Darstellg.  d. Revolutionszeit  zur 
stoffl.  Grundlage  s,  histor.  Dra- 
mas u.  entlehnte  von  ihm  auch 
viele  Einzelheiten;  vgl.  Th. 
unter  Barere,  Billaud,  Danton, 
Desmoulins,  Fahre,  Fouquier, 
H^rault,  Lacroix,  Laflotte,  Le- 
gendre.  Lyoner,  Revolutions- 
trib.,  Robespierre,  Sokrates. 
623. 

Thomas:  Th.  v.  Aquino;  doch 
rührt  d.  (ontolog.)  Beweis  vom 
Dasein  Gottes  aus  d.  Idee  von 
Gott  von  Anselm  von  Canter- 
bury  her,  u.  widerlegt  ist  dieser 
Beweis  schon  von  d.  Mönch 
Gaunilo,  e.  Zeitgenossen  An- 
selms.  303  f. 

Thudichum,  Georg  (1794  bis 
1873):  Pfarrer  u.  Gymnasialdi- 
rekt, in  Büdingen,  Übersetzer 
d.  Sophokles  u.  griech.  Lyriker; 
d.  liberal.  Partei  angehörig  u. 
Anhänger  d.nation.  Einigungs- 
gedankens, entging  Th.  mit 
Mühe  d.  Gefahr,  selber  belangt 
zu  werden.   550. 

Tiedemann,  Friedr.   196  f.,  240. 

Tilly  582  ff. 

Trapp,  Herrn.:  Schulkamerad  u. 
Gießener  Kommilitone  Büch- 
ners, dessen  Freundschaft  er 
sich  aber  durch  e.  anon.,  Büch- 
ners erste  Dichterleistg.  ver- 
kleinernden Brief  an  Gutzkow 
verscherzte;  doch  söhnte  er  sich 


'  in  d.  Schweiz,  wohin  er  wegen 
seiner  Teilnahme  an  d.  "Ge- 

j  sellsch.  d,  Menschenrechte"  u. 
a.  Machenschaften  geflüchtet, 
mit  Büchner  aus  u.  starb  schon 
drei  Monate  nach  ihm.  556. 
Treviranus,  Gottfr.Reinh.  (1776 
bis  1837]:  Bremer  Physiologu. 
Naturforscher,  Bruder  d.  be- 
rühmten Botanik.  Ludolf  Chri- 
stian Tr.,  mit  d.  er  zus.  'Verm. 

I      Schriften anatom.  u.  physiolog. 

i  Inhalts'  herausgab;  davon  ent- 
hielt Bd.  III  ''Untersuchungen 
üb.  d.  Bau  u.  d.  Funktionen  d. 

j      Gehirns...".  209,213,219. 

I    Uhland,  Ludw.:  558. 
:    ültrarevolutionärs:   Hebertisten 
:      (s.  d.).  21. 

j    "Und  macht  d.   Wiege    knick- 
I      knack":    Schlußverse  e.  Wie- 
i      genliedchens  (vgl.  A.  Stöbers 
j      Elsäss.  Volksbüchl.  1, 19  "Geht 
1      die  Wagle  kn.,  Schlof  du  klei- 
'      ner  D."'j.   719. 
■'Und  oheineGrube":vgl.Shake- 
speare,  Hamlet 
"Und  wann  ich  harne  geh":  im 
Text  vielf.  variierendes  Volksl. 
(vgl.  Köhler-Meier  I  S.  124 f.; 
E.-B.,  Nr.  524).   80. 
Unsere  Zeit:  vgl.  Literaturverz.; 
daß  Büchner  diese  Zeitschr.  für 
s.  Revolutionsdrama  benutzte, 
beweisen    vielfache    Überein- 
stimmungen:  vgl.   U.  Z.  unter 
Clicby,  Collot,  Couthon,  Dan- 
ton, David,  Lucile  Desmoulins, 
Dumas,  Heckefeuer,  Herault, 
I      Robespierre.  6381 

I    Vellejus  Paterculus  600. 

i    Verbindungen  in  Gießen:  d.  ver- 

botne  Burschenschaft  bestand 
j      als  Korps  Palatia  fort,  dessen 

Mitglieder  überwiegd.  f.  polit. 
I      Betätigung  waren   (vgl.  Vogt, 

S.  il5f-,  I33f);   daneben  gab 


THIERS  -  WERNEKINCK 


829 


es  noch  e.  Studentenverein  u. 
schon  vor  Büchners  Ankunft 
auch  e.  Verbindg.,  in  der  sich 
Studenten  mit  Bürgern,  na- 
mentl.  Handwerkern,  zu  poHt. 
Zwecken  zusammenfanden  (vgl. 
Darlegung  d.  Hauptresultate  u. 
NöUner).  534,  537- 

Veto:  Einspruchsrecht  d.  Kö- 
nigsgegend. Beschlüsse  d.  Na- 
tionalvers. 14  ("totgeschlag." 
durch  Ludwigs Hinrichtg.),  68. 

"Viel  Hunderttausend  unge- 
zählt": Anfg.  d.  3.  Strophe  von 
"Es  ist  ein  Schnitter"  (s.d.).  80. 

Vilatte:  Geschwomer(s.  Girard). 

54. 

Vogelsberger  Mitbürger:  die  d. 
oberhess.  Bauernaufstand  Sept. 
30  mitmachten,  beim  Dorfe 
vSödel  v.  d. hess.Dragonem  blu- 
tig zusammengehauen  u.  in  d. 
Rockenberg.  Landeszuchthaus 
"Marienschloß"  eingekerkert 
wurden.   16S. 

Vogt,  Phil.  Friedr.  Wilh.  (1787 
bis  iSöi):  üniversitätsprof.  d. 
Med.  in  Gieß.,  spät.inBem.  529. 

— ,  Karl:  Sohn  d.  vor.,  studierte 
seit  33  Medizin  in  Gießen  u. 
hörte  dort  auch  e.  Privatissi- 
mum  d.  Prosektors  Wernekinck 
mit  Büchn.  zus.;  weg.  s.  bur- 
schenschaftl.-liberal.  Gesinng. 
mußte  er  flüchten  u.  ging.s.  El- 
tern folgd.,  über  Straßbg.  nach 
d.  Schweiz,  wo  er  s.  anatom.  u. 
physiolog.  Studien  abschloß  u. 
d.  wissenschaftl.  Laufbahn  be- 
gann; der  auch  polit.  48  als 
parlam.  Volksvertr.  d.  Linken 
hervorgetretne  Gelehrte  hat  s. 
Erinnerungen  'Aus  m.  Leben' 
(Stuttgart,  95)  selbst  noch  ver- 
öffentlicht.  554,  633 f. 

Voltaire  50,  72  (La  Pucelle). 

Vouland:  gleich  Amar  Mitgld, 
d.  Sicherheitsausschusses,  spä- 
ter aber  sich  zu  Robespierres 
Gegnern  schlagend.  65,  66. 


Walloth,  Joh.  Friedr.  (1810  bis 
1877):  Darmstädter  Mitschüler 
Büchners,  dann  Studt.  d.  Rechte 
u.  Mitgl.  d.  verbotnen  Gießener 
Burschenschaft;  desh.  35  flüch- 
tig u.  längere  Zeit  als  Notars- 
gehilfe   im  obereis.    Reichen- 
weierlebend;  durch  s.Beteiligg. 
ambad.  Aufstand49verscherzte 
j      er  sich  s.  eis.   Zufluchtsort  u. 
I      ging  nun  in  d.  Schweiz,  wo  er 
später  e.  Bankbeamtenstelle  in 
Genf  bekleidete  u.  bei  s.  alten 
;      Bundesbruder  Karl  Vogt  Woh- 
j      nung  fand.   549. 
I    "War  nicht  umsonst  so  still  u. 
1      schwach'^  Verse  aus  Lenzens 
'      Gedicht  'Die  Liebe  auf  d.  Lan- 
de', nach  der  in  Schillers  Mu- 
senalmanach 98,  S.  44  ff.  ver- 
öffentl.  Fassg.  535 f.,  663. 
I    '"Was  doch  ist,  was  doch  ist. . .": 
I      anscheinend  nach  d.  Melodie 
"Morgenrot,   Morgenrot ,  .  .". 
36. 
Weber,  Ernst Heinr.  183,  2 00  ff"., 
[      205,   207 — 10,    212 — 15,    218 
I     bis  21,  223,   225,  228  f.,   231, 
I      242,  627. 

I  Weber.  Karl:  Darmstädter  Gym- 
j  nasialprofessor.  761,  775. 
i  Weidenbusch:  wohl  der  Darm- 
I  städt.  Phil.KarlNikol.W.(i8ii 
I  bis  93),  Sohn  d.  hess.  Hofge- 
j  richtsadvok.  Karl  W..  seit  42 
I  selbst  Advokat,  45 — 48  Audi- 
I      teur.  550. 

!  Weidig,  Friedr.  Ludw.:  Büchn. 
ist  mit  W.  durch  A.  Becker 
spätestens  Anfg.  34  bekanntge- 
worden, da  W.  im  Verhör  aus- 
sagt, Büchn.  sei  zur  Zeit  d. 
Freilassg.  der  in  Friedbg.  Ver- 
hafteten mit  Clemm  bei  ihm  in 
Butzbach  gewesen  (NöUn.,  S. 
435)-  545^  547,  55^,  607,  634, 
733ff.,  776. 
Wernekinck,  Friedrich  Christian 
Gregor  (1798 — 1835):  Gießen. 
Prosektor  u.  Üniversitätsprof. 


830 


REGISTER 


d.  Nervenlehre,  Anatomie  und 
Mineralogie.  633  f.  (vgl.  Vogt, 
S.  120  f.). 

"Wie  ist  mir  eine  Stimme  doch 
erklungen":  ungenauesZitataus 
Chamissos  Ged.  'Die  Blinde', 
das  zuerst  im  Musenalman.  34, 
dann  im  III.  Bd.  d.  Werke  (36, 
erschien.  125. 

"Wie  scheint  d.  Sonn'  am  Licht- 
meßtag": nach  e.  Kinderlied? 
712. 

"Wie  süß  d.  Moudllcht":  vgl. 
Shakespeare,  D.  Kaufmann  v. 
Venedig. 

Wienbarg,  Ludolf  556,  618,620. 

Wiener,  Herrn.  (18 13-97) :Darm- 
städter  Mitschüler  Büchners, 
dann  Gießener  Stud.  d.  Philol. 
u.Theol.;  weg.  S.Teilnahme  am 


Frankf.  Attentat 


in  Unter- 


suchungshaft, erst  in  Darm- 
stadt, dann  in  Friedberg;  Frühj. 

34  vom  Gießener  Hofgericht 
freigelassen,  entzog  ersieh  Mai 

35  neuer  Verhaftg.  durch  d. 
Flucht  über  Straßburg  nach 
d.  Schweiz,  die  ihn  aber  Au- 
gust 36  weg.  d.  damaligen  Um- 
triebe d.  polit.  Flüchtlinge  aus- 
wies; nach  längerm  Aufenthalt 
in  Engld.  kehrte  W.  42  nach 
Lausanne  zurück,  wo  er  Prof. 
d.  griech.  Spr.  u.  Lit.  wurde;  48 
wurde  er  ins  Frankf.  Parlament 
gewählt.   548. 

Wiener,  Jak.:  Taufpfarrer  des 
Dichters.  629. 

Wilbrand:  Prof.  d.  Botanik,  Zoo- 
logie, Anatomie  u.  Physiologie 
in  Gießen,  teilweise  karikiert 
im  Doktor  und  Professor  des 
'Woyzeck';  bes.  geht  die  De- 
monstration der  Ohrmuscheln 
(S.  728)  auf  e.  Liebhaberei  W.s 
zurück.  (Vgl.Vogt,  S.53if.).  727. 

Wilhelm  von  Braunschweig:  seit 
31  Herzog  statt  des  weg.  s.  ty- 
rann.  Willkür  abgesetzt.  Bru- 
ders Karl;  W.  zeichnete  sich 


durch  liberale  Reformen  aus, 
auch  war  über  d.  blutige  Inter- 
mezzo, dasviell.  noch  auf  Karls 
Schuldkontokommt,  nichtsNä- 
heres  zu  ermittein.  561. 

Wirbelformtheorie:  s.  Oken. 

W^ohlfahrtsausschuß,Der8,  I7f., 
21,  26,  30,  40,  45,  60,  66. 

Woyzeck,  Joh.  Christian  (1780 
bis  1824):  inLeipzig  nach  drei- 
jähr. Untersuchungshaft  hin- 
gericht.  Mörder,  der  d.  46jähr. 
Witwe  d.  Chirurgen  Wo  ost  mit 
e.  abgebroch.  Degenklinge  aus 
Eifersuchterstochenhatte;  ob- 
wohl derschon  während  s.  Sol- 
datenlaufbahn d.  Trunk  nicht 
abgeneigte  Friseur  bereits  e. 
Mädchen  mit  unehel.  Kinde 
hatte  sitzenlassen,  hatte d. Fall 
doch  allgem.  Aufsehn  erregt, 
weil  d.  Verteidigg.  mit  d.  Hin- 
weis auf  d.  zerrütteten  Geistes- 
zustd.  d.  Angeklagten,  der  an 
Geistererscheinungen  u.  Frei- 
maurerzauber glaubte,  d.  Frage 
der  Zurechnungsfähigkeit  auf- 
geworf.  hatte  (vgl.  InselschifF, 
I  242ff.).  145 — 61,  707 — 29, 
790. 

Wunderhom,  Des  Knaben  775. 

Zehnder,  HansUlr.(i 798-1877): 
um  d.  Medizinal-  u.  Armenwe- 
sen Zürichs  hochverdienter 
Arzt,  seit  34  Mitgl.  d.  Erzie- 
hungs-  u.  Regierungrates,  spät, 
auch  Bürgerm.  u.  Präsident  d. 
Regierg.  645,  648,  656,  772. 

Zimmermann,  Georg  (1814-81): 
Sohn  e.  hess.  Kriegssekretärs, 
Jugendfreund  Büchners;  stu- 
dierte nach  Jurist.  Anfängen  in 
Heidelbg.  Theologie  in  Gie- 
ßen, wurde  Lizentiat  u.  Dr.phil., 
39  Dozent  für  deutsche  Lite- 
ratur, später  Gymnasiallehrer, 
zuletzt  Literaturprof.;  s.  Begei- 
sterg.  f.  Shakespeare  bewahrte 
er  bis  ins  Alter,  auch  zeichnete 


WIE  IST  MIR  —  ZWEIUNDZWANZIG        83 1 

Züricher  Vorfälle:  Ausweisung 
politischer  Flüchtlinge,  die  d. 
Asylrecht  miLbbraucht  hatten 
(vgl.  Schweiz).   563. 

Zweiundzwanzig,  Blut  der:  Ge- 
meint sind  die  31.  10.  93  guil- 
lot,  Girondisten,  in  Wirklichk. 
nur  einundz\Y.,  von  denen  sich 
einer  (Valaz6  bereits  bei  d. 
Urteilsverkündg.  erdolchthatte 
(vgl.  U.  Z.  X,  253  ff.):  Danton 
hatte  übrigens  ihren  Tod  nicht 
gewünscht,  wie  ihmderGiron- 
dist  Mercier  zur  Last  legt.   53. 


er  sich  als  hinreißender  Rezi- 
tator aus.  629  ff.,  632,  770. 

Zimmermann,  Friedr.  (1814  bis 
84):  Zwillingsbruder  des  vor., 
auch  mit  Büchner  befreundet; 
später  Dr.  phil.  u.  Gymnasial- 
prof.  629  ff.,  63 2  f..  769  f.,  7 74 ff. 

"Zu  Lauterbach  hast  du  dein 
Strumpf  verlorn' :  Variante  zu 
d.  hess.  Volkslied  "Z.  L.  h.  ich 
m.  Str.  V."  (E.-B.,  1009}.  763. 

Zusendg.  aus  d.  Schweiz:  vgl. 
618340".;  d.  Anonymus  war 
Trapp  (s.  d.\   556,  772. 


INHALTSVERZEICHNIS 

DICHTUNGEN     5 

DANTONS  TOD 7 

LENZ     81 

LEONCE  UND  LENA     109 

WOYZECK   143 

DER  HESSISCHE  LANDBOTE 163 

NATURWISSENSCHAFTLICHE    UND    PHILOSO- 
PHISCHE SCHRIFTEN 179 

MJ^MOIRE   SUR  LE  SYSTEME  NERVEUX  DU  BAR- 

BEAU     181 

CARTESIUS     251 

SPmOZA 321 

ÜBER  SCHÄDELNERVEN.    PROBEVORLESUNG  ..   ..  353 

ÜBERSETZUNGEN    369 

LUCRETIA  BORGL^ 371 

MARL\  TUDOR  439 

BRIEFE 521 

MISZELLEN 571 

POETISCHE  ANSÄTZE 573 

[DEM  VATER  ZUGEDACHT] 573 

[DER  MUTTER] 574 

DIE  NACHT     575 

LEISE  HINTER  DÜSTREM  NACHTGEWÖLKE  ..  ..  576 

SCHULAUFSÄTZE  UND  SCHULREDEN    578 

ÜBER  DIE  FREUNDSCHAFT 578 

HELDENTOD    DER  VIERHUNDERT    PFORZHEI- 
MER  579 

ÜBER  DEN  TRAUM  EINES  ARKADIERS 589 

[KRITIK  AN  EINEM  AUFSATZ  ÜBER  DEN  SELBST- 
MORD]  590 

[KATO  VON  UTIKA] 596 

MÜNDLICHE  ÄUSSERUNGEN 605 

ANHANG    609 

BRIEFE  AN  BÜCHNER 611 

PERSÖNLICHE  ERINNERUNGEN  UND  DOKUMENTE  629 
BÜCHNER  53. 


834  INHALTSVERZEICHNIS 

LESARTEN    659 

SCHLUSSBERICHT    781 

BENUTZTE  LITERATUR 793 

NACHTRAG:    HERR    DU-THIL    MIT    DER    EISEN- 
STIRN   798 

REGISTER    802 


AUF  GRUND  DES  HANDSCHRIFTLICHEN 
NACHLASSES  GEORG  BÜCHNERS  HERAUS- 
GEGEBEN VON  FRITZ  BERGEMANN 

GEDRUCKT  VON  BREITKOPF  &  HÄRTEL 
IN  LEIPZIG 


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