Skip to main content

Full text of "George Frederic Watts"

See other formats


Digitized  by  the  Internet  Archive 
in  2015 


https://archive.org/details/georgefredericwaOOjess 


GEORGE  FREDERICK  WATTS 


1 


Das  Künstlerbuch 

EINE  KLEINE 
AUSGEWÄHLTE  REIHE  VON 
KÜNSTLERMONOGRAPHIEEN 

HERAUSGEGEBEN 

VON 

Franz  Hermann  Meissner 

BAND  VIT 
GEORGE  FREDERICK  WATTS 

VON 

Jarno  Jessen 


SCHUSTER  &  LOEFFLER 

BERLIN  UND  LEIPZIG 


George  Frederick  Watts 

VON 

JARNO  JESSEN 


1901 

SCHUSTER  &  LOEFFLER 

BERLIN  UND  LEIPZIG 


Alle  Rechte,  insbesondere  das 
in  fremde  Sprachen,  sind 


der  Übersetzung 
vorbehalten. 

Franz  Hermann  Meissner. 
Schuster  &  Loeffler. 


George  Frederick  Watts. 
(Mit  Genehmigung  des  Cameron  Studio,  London.) 


GEORGE  FREDERICK  WATTS. 


Lebewesen  wandeln  ihre  Eigenschaften  nach  den 
geographischen  Bedingungen  des  Aufenthaltortes.  Die 
Kultur  jedes  Volkes  ist  auch  ein  Organismus.  Sie 
bildet  sich  nach  ihrem  Himmelsstrich.  Von  allen 
Kulturen  hat  die  Antike  die  grösste  Anpassungsfähig- 
keit bewiesen.  Unter  der  Monumentalität  ägyptischer, 
der  muskulösen  Art  römischer  Ausdrucksformen  ver- 
minderte sich  im  Altertum  die  heitre  Unbefangenheit 
ihres  Wesens.  Formenreicher,  individualisirter  ge- 
staltete sie  sich  nach  ihrer  Auferw^eckung  im  päpst- 
lichen Rom  des  Mittelalters,  und  fremde  Züge  wurden 
ihr  durch  die  späteren  Wanderschaften  in  Europa  auf- 
geprägt. Der  drakonische  Zeitgeist  des  revolutionären 
Frankreichs  forderte  eine  Antike  in  dem  strengen 
Faltenwurf  der  römischen  Toga.  Nur  für  republika- 
nische Bürger  wollte  David  ein  Geschmacksideal  auf- 
stellen. Es  war  sein  Amt,  jede  Erinnerung  an  naive 
Schamlosigkeiten  zu  beseitigen,  und  unter  diesem 
Puritanismus  schwand  sinnbetörende  Anmut  und  Lebens- 
freudigkeit. Gerade  dieses  Wesenselement  pflegte  man 
auf    deutschem    Boden.     Winkelmann    und  Lessing 


—    8  — 


priesen  es  als  erstrebenswerte  Güter,  und  in  Göthes 
Künstlerseele  wurde  der  echte  Hellenismus  wiederge- 
boren. Er  erklärte  die  Antike  als  »die  Klarheit  der 
Ansicht,  die  Heiterkeit  der  Aufnahme,  die  Leichtigkeit 
der  Mitteilung,  —  geleistet  am  edelsten  Stoff,  am 
würdigsten  Gehalt  mit  sicherer  und  vollendeter  Aus- 
führung«. Aus  diesem  beglückenden  Wissen  erging 
sein  Ruf  an  die  Menschheit:  »Jeder  sei  auf  seine  Art 
ein  Grieche,  aber  er  seis!« 

Heimatlich  und  dennoch  fremd  musste  sich  die 
Tochter  des  Südens  in  England  fühlen.  Hier  hatte 
man  längst  mit  suchender  Seele  nach  ihr  ausgeschaut, 
aber  es  war  das  Volk  des  Nebelklimas  und  der  Moral- 
philosophie, das  sie  begehrte.  Seit  den  Tagen  Chaucers 
und  der  früh-elisabethanischen  Zeit  waren  werbende 
Gewalten  aus  der  Litteratur  des  Südens  heraufgedrungen, 
und  dieser  Magnetismus  hat  in  immer  gleicher  Stärke 
seine  Anziehung  ausgeübt.  Auch  die  bildenden 
Künstler  verspürten  klassische  Sehnsucht.  Jahrzehnte 
vor  dem  Empire-Geschmack  des  Continents  begannen 
englische  Architekten  Palladios  Vermächtnis  in  streng- 
ster Folgerichtigkeit  durchzuführen.  Die  Ausgrabungen 
Palmyras  brachten  um  die  Mitte  des  achtzehnten  Jahr- 
hunderts neue  Zusätze  römisch-orientalischen  Wesens; 
Pompeji,  das  Parthenon  vermehrten  in  ungeahnten 
Schönheitsoffenbarungen  hellenischen  Reichtum  auf 
englischem  Boden.  Ein  glückliches  Zusammentreffen 
bot  auch  dem  schaffenden  Künstler  in  den  hochge- 
wachsenen, freigliederigen  Landestöchtern  Modelle,  die 
sich  wie  Schwestern  neben  die  panathenäischen  Jung- 


—    9  — 


frauen  stellten,  und  die  Sportplätze  Englands  setzten 
die  Ziele  der  antiken  Palästra  fort.  Aber  ob  man  auch 
hier  in  der  Malerei,  wie  in  Baukunst  und  Plastik  reinen 
Hellenismus  oder  eklektische  Klassicismen  verarbeitete, 
immer  blickten  durch  alle  Phidias-  und  Botticelli-  und 
Tizian-Masken  die  Augen  des  Engländers  in  ihrem 
versonnenen  Ernst.  Die  der  Volksseele  eigene  Lethargie 
begann  sich  über  antikische  Regungen  zu  lagern  wie 
Nebelverschleierungen  über  die  Inselatmosphäre.  Hier 
erschien  der  grosse  Pan  stets  schlummerbefangen 
und  mit  ihm  das  ganze  tolle  Volk  der  Satyrn  und 
Faune.  Nirgends  wagte  sich  bachantische  Lust  hervor, 
nur  verträumte  Nymphen  zeigten  sich  und  ein  paar 
feierlich-sentimentale  Gottheiten.  Der  moralisirende 
Nationalgeschmack  begann  ferner  all  die  holdselige 
Nacktheit  dieser  Fabelwesen  mit  dem  Gewände  brit- 
tischer  Keuschheit  zu  umkleiden.  Auf  diesem  Boden 
wandelten  sie  unter  den  Hütern  der  Wohlanständigkeit. 
Hier  wurde  Voltaires  Ausspruch  von  der  Nation,  die 
energisch  wie  keine  andere  Moralideen  in  der  Poesie 
behandelt,  mit  Stolz  citirt,  und  Künstler  und  Gelehrte 
wetteiferten,  den  volkspsychologischen  Grundzug  des 
Lehrhaften  zu  bestätigen.  Nicht  von  Eros  Macht  be- 
zwungen, wie  einst  im  Hellas,  schlug  die  Malerei  in 
England  die  Augen  auf.  Die  Zeitkritik  weckte  Hogarth, 
und  Satiren  wurden  das  Kindeslallen  der  englischen 
Pinselführung.  Während  ihrer  Lebensdauer  von  andert- 
halb Jahrhunderten  hat  diese  spätgeborene  Kunst  immer 
die  gleiche  Blutmischung  gezeigt.  Es  ist  verwandtes 
Wesen  in  den  Alltagsdramen  Wilkies,  der  wählerischen 


—     10  — 


Portraitirung  Reynolds  und  Gainsboroughs,  dem  pathe- 
tischen Tierbild  Landseers,  wie  in  den  intensiven  Ge- 
fühlsäusserungen der  Präraphaeliten.  Was  sich  inhalt- 
lich abwandelte,  ist  in  der  Vortragsweise  einheitlich 
geblieben.  Es  ist  das  moralische  Prinzip,  das  die 
Impression  ablehnt  und  die  exakte  Wiedergabe  aller 
Details,  den  Finish,  als  erstes  Gebot  in  die  Malerbibel 
einschreibt. 

Zu  diesen  nationalen  Zügen,  die  die  Physiognomie 
der  Antike  in  England  abänderten,  trat  als  mitumge- 
staltender Factor  die  Romantik.  Sie  war  aufs  neue  wach- 
gesungen worden  durch  Percys  Volksballaden-Sammlung, 
durch  Ossians  wildklagende  Naturpoesieen.  Mit  dem 
Regierungsbeschluss  des  Jahres  1835,  der  den  gothischen 
Stil  dem  antiken  für  den  Parlamentsbau  vorzog,  war 
ihr  Sieg  für  die  Architektur  entschieden.  Ueppig 
sprossten  mittelalterliche  Triebe  in  der  Kunst  des  neun- 
zehnten Jahrhunderts.  Aus  dem  alten  Epos,  der 
Legende,  aus  Dantes  Poetenvisionen  zog  man  Nahrung, 
fühlte  man  sich  mit  Verzückungsschauern  in  die  bis 
zur  Vergeistigung  verinnerlichte  Formensprache  christ- 
licher Meister  des  Südens  und  Nordens  hinein.  Künstler 
wie  Burne  Jones,  Rossetti,  Hunt  prägten  Typen,  die 
das  Volk  wie  Idole  heiligte,  und  bis  über  das  Wohn- 
haus des  schlichten  Mannes  wünschte  William  Morris 
den  heiligen  Geist  der  Gothik  ausgegossen. 

Ein  Grieche  nach  seiner  Künstlersehnsucht,  ein 
Engländer  durch  seine  Nationalität  und  ein  Romantiker 
aus  poetischen  Impulsen  ist  der  grösste  aller  zeitge- 
nössischen,   der    originellste   aller    englischen  Maler 


—    II  — 


George  Frederick  Watts.  Heut  als  Greis  nennt  er 
sich  noch  einen  echten  Griechen,  und  er  ist  es  in 
seinem  Schönheitskultus,  seiner  Dogmenlosigkeit  und 
seiner  Natürlichkeit.  Mit  patriotischem  Stolz  empfindet  er 
sich  jedoch  auch  als  Engländer.  Zur  Glorie  dieses  Vater- 
landes schaffen,  seinen  künstlerischen  Kanon  klassisch  ge- 
stalten, war  sein  Ehrgeiz.  Für  dieses  Ziel  ist  er  der  hei- 
matlichen Moraltendenz  dankbar,  hebt  ihn  das  Bewusst- 
sein,  unter  den  Malern  aller  Zeiten  fast  der  einzige 
ausgesprochene  Moralist  zu  sein.  Aber  mit  der  Prüderie 
des  Britten,  die  Madox  Brown  zwang,  seine  Christus- 
gestalt zu  bekleiden,  hat  er  nichts  gemein.  Kein  Schul- 
meister, ein  ethisches  Vorbild  strebt  er  zu  sein,  ein 
Didaktiker  wie  die  grossen  Philosophen  des  Altertums. 
Von  den  Schätzen  Hellas'  waren  es  die  Parthenon- 
skulpturen, die  seine  Seele  bezwangen.  Nach  den 
Gesetzen  der  Wahlverwandtschaft  musste  ihn  der 
Meister  am  stärksten  anziehen,  dem  das  Göttliche  am 
reinsten  sichtbar  wurde.  Nicht  Praxiteles  und  Skopas, 
die  Künstler  des  Liebreizes  und  der  Grazie,  —  Phidias, 
der  Bildner  der  Erhabenheit,  wurde  seine  Gottheit. 
Während  die  Leighton  und  Tadema  über  Paris  und 
Belgien  ihren  Hellenismus  bezogen,  stieg  Watts  ein- 
sam seinen  Höhenpfad  zur  Akropolis.  Er  hat  nicht 
wie  Prometheus  sein  olympisches  Gastrecht  verscherzt, 
—  die  Gesellschaft  der  Unsterblichen  ist  sein  Um- 
gang geblieben.  Andere  Gottheiten  offenbarten  sich 
ihm  aus  dem  Zeitalter  der  Renaissance,  die  Tizian  und 
Lionardo,  die  Giorgione  und  Veronese.  Er  verweilte 
nicht   wie    die   präraphaelitischen   Kunstgenossen  im 


Morgenlicht  dieser  Epoche,  —  Mittagsonne  brauchte 
seine  Seele.  Auch  die  Romantik  lockte  ihn  nicht  im 
Sinne  mittelalterhcher  Spitzbögigkeit  und  Frömmigkeit. 
Ihre  Phantasiefülle,  ihr  Organ  für  die  dunklen 
Mächte  des  Gewissens  berührte  eine  gleichgestimmte 
Saite  seines  Innern.  Bonaventura,  nicht  Abälard  sprach 
zu  ihm. 

Wenn  wir  heute  auf  dem  Continent  George 
Frederick  Watts  erwähnen,  weckt  sein  Name  meist 
nur  matte  Anteilnahme.  Weniges,  ziemlich  Unbe- 
stimmtes ist  von  ihm  bekannt.  Man  weiss  ungefähr, 
dass  er  zu  der  Elite  der  gegenwärtigen  Malerei  Eng- 
lands gezählt  wird,  dass  ihm  Verehrer  vor  einigen 
Jahren  eine  Münchener  Collectiv- Ausstellung  veran- 
stalteten, wofür  die  dortige  Akademie  ihm  mit  einer 
Ehrenmitgliedschaft  quittirte.  Kaum  dieses  oder  jenes 
seiner  Werke  ist  über  den  Aermelkanal  gekommen. 
Nur  ganz  vereinzelt  hat  ihn  hin  und  wieder  eine  Stimme 
in  der  Presse  mit  Enthusiasmus  behandelt.  Für  den 
gebildeten  Deutschen  bleibt  immer  noch  die  Frage 
natürlich:  wer  ist  George  Frederick  Watts?  Diese  Un- 
wissenheit findet  durch  den  Künstler  selbst  ihre  Ent- 
schuldigung. Ängstlich  ist  er  stets  bestrebt  gewesen, 
die  Öffentlichkeit  zu  meiden.  Unaufhörlich  wieder- 
holt er  den  Künstlern  Englands  die  Mahnung:  Fertigt 
keine  Spielwaren  für  den  alljährlichen  Weihnachts- 
baum der  Kunstausstellungen.  Wenn  die  Verehrung 
seiner  Nation  und  die  praktischen  Forderungen  des 
Lebens  nicht  unabweisbar  ihre  Rechte  behauptet  hätten, 
w^ären  die  geographischen  Grenzen  seines  Ruhmes  heut 


—    13  — 


noch  mehr  eingeschränkt.  Sein  Künstlertraum  war  ein 
stilles  Ansammeln  seiner  Werke,  ein  rastloses  Vervoll- 
kommnen jedes  Einzelnen,  bis  der  Tod  sein  Gesammt- 
schaffen der  Nation  als  Vermächtnis  freigab.  Von  der 
Schönheit  des  Königskindes  erzählt  das  Volksmärchen, 
deren  Glanz  durch  die  Schlossmauern  hindurchleuchtete. 
So  hat  das  Werk  Watts  kein  Verbergen  geduldet.  Es 
hat  sich  kraft  seiner  Lichtstärke  selbst  offenbart.  So 
vielfältig  bereits  die  reproducirenden  Künste  am  Werk 
sind,  seine  Schöpfungen  international  zu  machen,  immer 
noch  muss,  wer  den  Meister  selbst  beurteilen  will,  die 
Fahrt  nach  England  antreten.  Das  Phänomen  dieser 
Künstlerpersönlichkeit  würde  innerhalb  keiner  Nation 
an  packender  Kraft  einbüssen,  es  kommt  grade  auf 
seinem  Heimatboden  am  überwältigendsten  zur  Er- 
scheinung. Anders  als  in  andern  Köpfen  spiegelt 
sich  im  Sinn  des  Engländers  der  Begriff  der  Voll- 
kommenheit. Er  empfindet  sich  als  Muster  aller  guten 
Sitten,  als  sein  bester  Mentor  in  künstlerischen  Dingen. 
Während  das  internationale  Heer  schöpferischer  Geister 
nach  Paris  blickt,  um  Wegweiser  für  seine  Methoden 
zu  finden,  wandelt  er  ruhig  die  Pfade,  die  er  nach 
Erfahrungen  mit  fremden  Einflüssen  als  persönlich 
passende  erkannte.  Hier  gilt  Ruskins  Mahnruf  »Mässig- 
keit«  als  goldene  Regel  aller  Kunstlehre.  Der  gute 
Ton  verbietet  die  lebhafte  Geste,  das  laute  Lachen,  er 
hält  die  Temperamente  wie  unter  einem  Opiat  gezügelt. 
Vergebens  suchen  wir  nach  Rubens  Lebensüberdrang 
und  Michel  Angelos  Titanentrotz.  Um  so  kolossaler 
hebt  sich  aus  dem  verzauberten  Kreis  die  monumentale 


—    14  — 


Erscheinung  George  Frederick  Watts.  Er  wirkt  wie 
ein  erratischer  Block,  der  durch  ein  unberechenbares 
Spiel  der  Naturkräfte  in  das  Flachland  verschlagen 
wurde.  Wie  ist  er  hierher  gekommen  .^^  Wie  lässt  er 
sich  in  das  Gesamtbild  einfügen?  Wir  wissen  es  nicht. 
Nur  den  Felsblock  erkennen  wir  und  vernehmen  in 
seiner  Nähe  etwas  von  dem  Raunen  der  Urzeit. 

Seitdem  eine  engUsche  Malerei  besteht,  erzählte 
oder  belehrte  man  mit  dem  Pinsel;  man  malte  zur 
Belustigung  und  Besserung.  Der  Roman,  das  Theater, 
die  schöne  Natur,  die  zahme  Historie  lieferten  die  Stoffe. 
Intensiveres  Fühlen,  höherer  Ernst  des  Wollens  setzte 
mit  den  präraphaelitischen  Reformatoren  ein.  Diese 
Renaissance  nannte  Walter  Crane  mit  Recht:  »die  ent- 
schlossene und  enthusiastische  Rückkehr  zum  direkten 
Symbolismus,  zum  offenen  Naturalismus  und  zum 
poetischen  oder  romantischen  Gefühl  der  Kunst  des 
Mittelalters,  gepaart  mit  der  Macht  der  modernen  Ana- 
lyse. «  Trotzdem  erscheinen  dem  Continentalen  die  meisten 
der  Gilde  immer  nur  wie  »mildäugig- melancholische 
Lotusesser«.  Wohin  heut  noch  der  Blick  in  der 
Londoner  Akademie,  dem  Sammelpunkt  alles  besten 
modernen  Kunstschaffens  Englands  fällt,  sind  die  Nach- 
schwingungen dieser  Bewegung  erkenntlich.  Sie  über- 
wiegen selbst  die  journalistische  Tendenz,  die  dem 
patriotischen  Publikum  grade  die  flüchtigen  Sensationen 
des  Tages  auftischt.  Sie  haben  der  englischen  Malerei 
durch  die  Vornehmheit  der  Methode  und  die  eigen- 
tümlich exaltirte  Ausdrucksweise  des  schmachtenden 
Augenaufschlags    und    der   verschraubten    Pose  eine 


—    15  — 


Sonderstellung  unter  den  continentalen  Nachbarn  ge- 
sichert. Immer  noch  erscheint  den  Malern  als  er- 
strebenswertester Platz  für  ihre  Bilder  das  Drawing 
Room;  eine  Scheu  vor  den  geräumigen  Wänden  des 
Museums  bannt  ihren  Pinsel.  So  bedauernswert  heut  der 
teilw^eise  berechtigte  Standpunkt  der  Salonmalerei  auch 
überall  auf  dem  Continent  vernachlässigt  wird,  —  sein 
alleiniges  Hervorheben  umkleidet  die  englische  Malerei 
mit  der  Atmosphäre  der  Monotonie  und  Temperament- 
losigkeit.  In  diesem  insularen  Kunstareopag  hat  der 
Tod  die  Reihen  traurig  gehchtet.  Rossetti,  der  Maler 
des  Liebesmysteriums,  Burne  Jones,  der  Legenden- 
Nachempfinder,  Leigthon,  der  hochgestimmte  Akade- 
miker, Millais,  der  Proteus,  sind  mit  Charons  Nachen 
abgestossen.  Wenige  Gipfel  ragen  noch  auf.  Noch 
malt  Alma  Tadema  seine  englische  Antike  mit  spitzem, 
lichtseligem,  Poynter  die  seine  mit  breiterem,  tief- 
farbigerem Pinsel.  Schwer  und  düster  entringen  sich  die 
Farben  der  frommen  Palette  Holman  Hunts.  Herkomer, 
der  Sultan  der  Methoden,  betet  in  dem  Harem  seiner 
Kunstbethätigung  augenblicklich  die  Emailletechnik  als 
bevorzugte  Schönheit  an.  Ueberrascht  erblickt  der 
prüfende  Beschauer  leise  Spuren  von  Umsturzversuchen 
in  zahmen  Impressionsäusserungen,  die  besonders  den 
Landschaftern  in  das  Blut  gefahren  sind.  Der  Naturalis- 
mus der  Stott,  Clausen,  La  Thangue  hat  mehr  vom 
gestriegelten  Gentleman  als  vom  struppigen  Bauern- 
burschen an  sich.  Wenn  auch  dem  geistreichen  und 
geschickten  Sargent  mit  seiner  Coup  d'  Oeil-Methode 
im  Reiche  des  starren  Konservativismus  ein  entschiede- 


ner  Sieg  gelungen  ist,  bestätigt  eine  Umschau  in  diesen 
Räumen  immer  das  Wort  Tizians:  Der  Dichter,  der 
improvisirt,  kann  nicht  hoffen,  reine  Verse  zu 
machen. 

Gänzlich  unabhängig  von  all  diesen  Regungen  des 
Kunstorganismus,  doch  sie  alle  teilnahmsvoll  beobach- 
tend und  nach  Verdienst  abschätzend,  hebt  sich  die 
Riesenerscheinung  Watts  aus  dem  englischen  Kunst- 
leben. Höhencharakter  zeigt  allein  sein  Werk.  Seit 
er  den  Pinsel  aufgenommen,  war  er  sich  bewusst,  im 
Dienste  einer  Mission  zu  stehen.  Wir  finden  in  ihm 
keine  sogenannte  künstlerische  Entwicklung.  Das  Suchen 
und  Tasten  des  Genius,  das  Emporläutern  aus  Sturm 
und  Drang  zu  klassischer  Abgeklärtheit  weist  seine 
Laufbahn  nicht  auf.  Er  wollte  immer  die  grosse 
Kunst,  für  die  Malerei  seiner  Nation  das,  was  Shakes- 
peare, Milton  für  die  Poesie  erstrebten.  In  solcher 
Kunst  erkannte  er  den  sichersten  Hebel  zur  Vervoll- 
kommnung des  Nationalcharakters.  Nicht  belustigen 
und  unterhalten,  erziehen  und  veredeln  sollte  die  Muse. 
Wenn  Lord  Leighton  Formenkraft  und  Kompositions- 
grösse  schmerzlich  unter  den  Eigenschaften  der  eng- 
lischen Maler  vermisste,  wollte  Watts  diese  Lücke  der 
nationalen  Kunst  ausfüllen.  Er  war  sich  bewusst, 
dass  die  Persönlichkeit  des  Künstlers  den  Vollgehalt 
seines  Werkes  bedeute.  Schon  seit  drei  Menschen- 
altern hat  er  nach  Vorbildlichkeit  seines  Charakters 
gestrebt.  Wenn  der  hohe  Achtziger  heut  mit  tiefer 
Enttäuschung  von  der  Unvollkommenheit  seiner  Lands- 
leute spricht,  vermag  diese  Erkenntnis  seinen  Optimis- 


Leben  und  Liebe. 
(Mit  Genehmigung  von  F.  Hollyer  in  London  ) 


—    i8  — 


mus  nicht  zu  erschüttern.  »Das  Aeusserste  für  das 
Höchste«  betont  er,  und  immernoch  beginnt  der  Greis 
täglich  um  vier  Uhr  morgens  seine  Arbeit  an  dem 
sittlichen  Förderungswerk  der  Menschheit.  Er  fühlt 
wie  Goethe  für  den  Beruf  des  Erziehers  die  Voraus- 
setzung notwendig,  viel  entbehren  zu  können.  Mit 
dieser  pädagogischen  Anlage  ist  Watts  zugleich  und 
vor  allem  der  grosse  Künstler.  Immer  umschwebt 
Ariel  auch  den  Prospero,  und  die  Erhabenheit  seiner 
Ideen  wird  von  der  beweglichen  Grazie  der  Phantasie 
begleitet.  Sein  höchster  Ehrgeiz  sind  aber  bedeutsame 
Botschaften.  In  seinen  eindrucksvollsten  Schöpfungen 
ist  er  bestrebt  gewesen,  die  weltbewegenden  Mächte 
des  Naturlebens,  wie  die  lenkenden  Gewalten  des 
Menschenwillens  in  den  von  ihm  geschauten  Formen 
zur  Anschauung  zu  bringen.  Wie  allem  höchsten 
Künstlertum  war  ihm  die  Symbolik  der  Gipfel  des 
Ausdruckvermögens.  In  grandioser  Formensprache  hat 
er  die  verallgemeinernde,  typenbildende  Macht  des 
Genies  erwiesen.  Als  der  Maler  der  Ideen,  der  ewigen 
Wahrheiten  wird  er  in  einsamer  Höhe  aus  der  Kunst- 
geschichte aufragen.  Der  Tod,  das  Leben,  die  Liebe, 
die  Hoffnung,  die  Leidenschaften,  die  Geheimnisse  der 
Träume,  das  Unsichtbare  hat  er  sichtbar  gemacht. 
Keines  Vorgängers  Nachfolger  ist  er  geworden.  Mit 
Watts  Bildgestalten  werden  die  künftigen  Zeiten  ein 
kunstgeschichtliches  Sonderkapitel  ausfüllen.  Die  heutige 
Zeit  feiert  eine  Schilderhebung  des  flachsten  Realismus. 
Watts  geistige  Potenz  wird  jeder  um  so  höher  einschätzen, 
dem    der    Tiefsinn    immernoch    keine  künstlerische 


—    19  — 


Dekadenz  bedeutet.  Wer  die  Säle  der  Täte  Gallery, 
des  Londoner  Museums  für  brittische  Kunst,  durch- 
schreitet, wird  in  dem  Augenblick  aus  der  Stimmung 
ästhetischen  Wohlgefallens  von  Titanenfaust  aufgerüttelt 
werden,  wenn  sein  Fuss  den  Watts-Saal  betritt.  Hier 
zwingt  ein  gebieterischer  Wille  zum  Nachdenken,  Ge- 
fühlsmächte ergreifen  kathegorisch  Besitz  von  unserer 
Seele.  Diese  Farben  flüstern  und  singen  oder  dröhnen. 
Mächtige  Formen  umgeben  uns  wie  polychrome  Statuen. 
Sie  predigen  oder  prophezeien,  —  es  sind  Visionäre 
oder  Träumer.  Hier  strömen  magnetische  Gewalten, 
die  uns  nicht  von  sich  lassen.  So  überwältigend  und 
neu  erscheinen  diese  Offenbarungen  einer  Künstler- 
seele, dass  wir  uns  vorerst  mit  ihrer  Fremdheit  abzu- 
finden haben.  Robert  de  la  Sizerannes'  Urteil  über 
Watts,  »den  düstersten  Künstler  Englands,  den  Henker 
all  unserer  Freudenträume,  all  unserer  Illusionen«,  fällt 
uns  ein.  Aber  dieser  Henkersatz  hat  keinen  Bestand 
angesichts  der  Liebesfülle,  die  aus  diesen  Werken  auf 
uns  überströmt.  Mehr  und  mehr  vernehmen  wir  es  in 
ihrer  Nähe  wie  das  Flügelrauschen  himmlischer  Heer- 
schaaren,  die  rosenstreuend  singen : 

Was  Euch  nicht  angehört, 
Müsset  Ihr  meiden. 
Was  Euch  das  Innere  stört, 
Dürft  Ihr  nicht  leiden. 
Dringt  es  gewaltig  ein, 
Müssen  wir  tüchtig  sein; 
Liebe  nur  Liebende 
Führet  herein. 


2* 


—     20  — 


»Ich  bin  ein  absoluter  Autodidact«,  versichert 
George  Frederick  Watts,  wenn  er  seine  Lebensrück- 
schau hält.  Bei  dem  Versuch,  aus  Familien  -  und 
Studieneinflüssen  sein  Wachsen  und  Werden  festzu- 
legen, müsste  selbst  der  Wagemut  Tainescher  Analysen 
versagen.  Watts  lächelt  über  ausführliche  Stamm- 
baumiorschungen.  In  seinem  Sinn  handelt,  wer  alles 
Persönliche  möglichst  unterdrückt,  alles  Psycho- 
logische einzig  und  allein  aus  dem  Werk  beurteilt. 
Er  tröstet  uns,  mit  leiser  Selbstironie,  bei  diesem 
Kapitel  mit  der  Thatsache,  dass  Homer,  Plato  und 
Shakespeare  der  Menschheit  auch  nur  dunkle  Existenzen 
bedeuteten.  Der  Erfahrungssatz,  dass  grosse  Männer 
meist  der  Mütter  geistige  Anlagen  fortsetzen,  trifft  bei 
Watts  nicht  zu.  Ihm  haben  vielmehr  die  mystische 
Veranlagung  celtischer  Vorfahren  und  ein  erfinderisch 
begabter,  kunst-  und  wissenschaftliebender  Vater  Bluts- 
erbschaften übermittelt.  Die  Mutter  empfand  nach 
keiner  Richtung  künstlerische  Impulse.  Wegen  ge- 
schäftlicher Interessen  war  der  Vater  von  Hereford  in 
Wales  nach  London  übergesiedelt.  Er  hat  es  zu 
keinen  Reichtümern  gebracht,  denn  das  Talent  des 
Sohnes  hat  schon  in  dessen  Jünglingsjahren  auch  als 
Erwerbsquelle  seine  Segnungen  bewiesen.  Auf  dem 
Blatt  eines  mit  zierlichen  Kupfern  geschmückten  Gebet- 
bu-ches  aus  der  Königin-Anna-Zeit  steht  als  Geburts- 
datum Watts  der  23.  Februar  1817  eingetragen. 
Zeichnungen  nach  diesen  Illustrationen,  sowie  Skizzen 
von  Menschengesichtern  und  Pferden  sind  als  Erstlings- 
werke  des   acht-   und   neunjährigen   Künstlers  aufbe- 


wahrt.  Sein  Farbensinn  offenbarte  sich  ein  oder  zwei 
Jahre  später  an  einer  Reihe  phantasievoller  Kom- 
positionen nach  Walter  Scotts  Gedichten  und  Romanen. 
Eine  Kampfscene  um  die  Leiche  des  Patroklos  verrät 
seine  leidenschaftliche  Anteilnahme  an  den  Schilder- 
ungen Homers.  Unverkennbar  trat  die  Prägung  seines 
Talentes  hervor.  Sie  führte  den  Knaben  in  die  Klassen 
der  Londoner  Akademie.  Hier  erkannte  er  nach 
wenigen  Wochen,  dass  der  Hunger  seiner  Seele  un- 
gestillt blieb.  Jene  Zwiehchtphase  der  Entwicklung, 
innerhalb  derer  verschiedene  Triebe  in  der  Kiinstler- 
seele  wie  feindliche  Brüder  um  die  Vorherrschaft 
ringen,  muss  jetzt  gefolgt  sein.  Instinctiv  fand  Watts 
seinen  Weg  in  das  Bildhaueratelier  William  Behnes. 
Dieser  mittelmässige  Künstler  hatte  sich  besonders 
durch  die  Herstellung  von  Büsten  damals  einen 
Namen  gemacht.  Bei  ihm  scheuchte  den  Künstler 
nichts  aus  seinem  passiven  Verhalten.  Er  durfte 
den  Arbeiten  des  Lehrers  zuschauen ,  er  zeichnete 
je  nachdem  ihn  ein  Einfall  reizte.  Der  prometheische 
Prunke  sprang  jedoch  schon  hier  in  sein  Inneres 
über,  als  er  die  Abgüsse  Phidiasscher  Sculpturen 
im  Atelier  entdeckte.  Jetzt  waren  die  verwandten 
Strömungen  aufeinander  getroffen.  Im  Brittischen 
Museum  konnte  Watts  die  englischen  Originale  studiren, 
jene  herrlichen  Parthenon-Fragmente,  die  Lord  Elgin 
seiner  Nation  aus  dem  Trümmerfeld  der  Akropolis 
gerettet  hatte.  Dem  Fluche  Lord  Byrons,  den  Angriffen 
einer  parlamentarischen  Minderheit  zuwider  hatte  die 
englische  Nation  diese  Schätze  bei  sich  geborgen.  Sie 


wurden  für  Watts,  was  die  Kupferstiche  nach  den 
Freskenbildern  des  Pisaner  Campo  Santo  für  die  prä- 
raphaeUtische  Brüderschaft  werden  sollten.  Die  In- 
brunst, mit  der  der  jugendliche  Künstler  damals  diese 
Formenwelt  in  sich  aufnahm,  hat  sich  in  dem  Greis 
nicht  gemindert.  In  seinem  Londoner  wie  in  seinem 
Comptoner  Landatelier  stehen  die  Nachbildungen  der 
Parthenon-Gestalten  als  Jungbrunnen  seiner  Künstler- 
instincte.  Drei  Menschenalter  hindurch  hat  er  aus 
ihnen  seine  Formenideale  geschöpft.  Er  versichert, 
auch  seinen  Farbenkanon  hier  abgeleitet  zu  haben. 
Ein  jugendliches  Selbstportrait  Watts  aus  jenen 
Jünglingsjahren  trägt  in  dem  wallenden  Lockenhaar, 
den  durchgeistigten  Zügen,  der  malerischen  Kleidung 
deutlich  den  Stempel  des  Künstlertums.  Etwas 
Ätherisches  muss  damals  seine  Persönhchkeit  um- 
schwebt haben,  und  es  paarte  sich  mit  seltener 
Arbeitsenergie.  Grade  solche  Widersprüche  werden 
dem  Psychologen  zum  Ariadnefaden  durch  das  laby- 
rinthische Seelenleben  des  Genies.  Die  Hochschule 
englischen  Kunstgeschmacks,  die  Londoner  Akademie, 
nahm  im  Jahre  1837  bereits  die  ersten  Gemälde  des 
Zwanzigjährigen  zur  Ausstellung  an.  Es  waren  zwei 
Damenportraits  und  das  Tierstück  »Der  verwundete 
Reiher«.  Das  Reiherbild  wurde  erst  vor  wenigen 
Jahren  bei  einem  Bilderhändler  wieder  entdeckt  und 
ziert  seitdem  die  Londoner  Watts -Gallerie  in  Little 
Holland  House.  Es  wirkt  als  Erstlingswerk  um  so 
erstaunlicher,  wenn  wir  uns  die  Thatsache  des  Auto- 
didaktentums  seines  Malers  ins  Gedächtnis  rufen.  Hier 


—    23  — 


ist  die  Natur  auf  das  Liebevollste  nachgebildet,  doch 
zugleich  in  persönlicher  Grossheit  erfasst.  Der  Körper 
des  prachtvollen  Riesenvogels  ist  flügellahm  herabge- 
sunken. Das  Geschoss  des  aus  der  Ebene  heran- 
sprengenden Jägers  hat  ihn  getroffen.  Noch  richtet 
sich  die  eine  Schwinge  wie  im  Kampf  mit  der  ver- 
sagenden Flugkraft  empor.  Der  Schnabel,  die  Krallen 
beteiligen  sich  an  dem  Widerstand.  Milde  grau- 
schwarze Töne  des  Gefieders,  das  Goldgelb  des 
Schnabels  und  der  Krallen  heben  sich  in  vornehmem 
Akkord  von  einem  lichtblauen  Himmel.  Poetisirender 
Naturalismus  steht  als  bedeutsames  Wahrzeichen  auf 
diesem  Anfangswerk.  Es  muss  betont  werden,  dass 
Watts  hier  bei  aller  Naturtreue  vor  allem  malerisch 
wiedergab.  Diese  Seite  seines  Talents,  das  Kennwort 
seiner  ersten  Schaffensjahrzehnte,  ist  während  der  fort- 
schreitenden Laufbahn  in  dem  Maasse  zurückgetreten, 
als  er  nur  der  Malerphilosoph  zu  sein  begehrte.  Heut 
empfindet  sein  künstlerischer  Ehrgeiz  in  dieser  Be- 
nennung die  höchste  Würdigung,  sein  angeborenes 
Malgenie  hat  ihn,  trotz  entschiedener  Verstösse  gegen 
Anatomie  und  Lichtgesetze  vor  der  Gefahr  eines 
Apostatentums  bewahrt.  An  neuen  Portraits  und  Dar- 
stellungen dramatischer  Scenen  aus  Boccaccio  und 
Shakespeare  übte  sich  des  Künstlers  Hand  in  den 
folgenden  Jahren.  Die  Akademie  stellte  1840  »Lorenzo 
und  Isabella«,  1842  »Belarius,  Guiderius  und  Arviragus« 
aus.  Verzweifelndes  Liebesleid  und  sieghafte  Mannes- 
würde hatten  hier  die  Künstlerseele  inspirirt.  Ein  Portrait 
der    »Frau    Constantine    Jonides«    (1842)    fiel  durch 


Fata  M Organa. 
(Mit  Genehmigung  von  F.  Hollyer  in  London.) 


-    25  - 


charakteristische  Auffassuno-  auf.    Hier  war  die  Natur- 
treue  bis   auf  Wiedergabe   einer  Gesichtswarze  inne- 
gehalten  und    zugleich   die  Freizügigkeit   der  Form- 
gebung gewahrt.    Van  Eyck  und  Tizian  lagen  vorge- 
deutet.   Mit   dieser  Schöpfung  festigte  sich  Watts  in 
der  Schätzung   eines    seiner    ersten    Gönner,  dessen 
Familienglieder  er  seitdem  bis  in  das  dritte  und  vierte 
Glied   portraitirte.     Für  diese  Auftraggeber  entstand 
auch  die  »Aurora«  (1878)  eine   Poetenvision,  die  aus 
Farbenoffenbarungen  geboren  schien.    Dieses  zu  seiner 
Jugendart  zurückkehrende  Meisterwerk  ist  grade  neuer- 
dings durch  die  Glasgower  Internationale  Kunstausstellung 
von  1901  wieder  aus  dem  Privatbesitz  der  Mrs.  Lee  ans 
Licht  gezogen.    Es  entzückt  die  Beschauer  wie  eine  der 
anmutvollen  Bildsymphonieen  aus  Guido  Renis  mittlerer 
Schaffensperiode.  Aus  lichtgelbem  Gewölk  sehen  wir  die 
Göttin  der  Morgenröte  hier  in  herrlicher  Körperschön- 
heit auftauchen.    Eine  bezaubernde  Puttenschaar  um- 
flattert ihren  Heilszug  in  die  morgendämmernde  Welt. 
Sonnendurchleuchtet  schwingt  ihr  Shawl  wie  ein  Licht- 
fanal, er  lässt  lichtblaue  Töne  aus  seinem  Orangegelb 
aufleuchten.    Auch   hier  wiederholt  sich  die  emaille- 
artige  Glätte  der  Ölfarben  wie   auf  dem  Reiherbild. 
Sie  steht  zu  der  granitenen  Härte  des  sonstigen  Farben- 
körpers   des    Künstlers    in    auffallendem  Gegensatz. 
Mächtig   regte  Watts  Gestaltungskraft  die  Schwingen, 
als   der  Wettbewerb   um   die  Fresken   zum  Schmuck 
der  neuerbauten  Parlamentshäuser  1842  ausgeschrieben 
wurde.     Sein    späteres   Streben   zu  überlebensgrosser 
Darstellujig,  seine  Begabung  zur  ernsten  Historie  fanden 


—     26  — 


hier  ein  ersehntes  Feld,  Er  schuf  seinen  Karton 
»Caractacus  wird  im  Triumph  durch  die  Strassen  Roms 
geführt«,  einen  Aufruf  an  das  patriotische  Gewissen. 
Er  ergriff  so  stark  mit  dieser  Erinnerung  an  die  Früh- 
zeit brittischer  Geschichte,  dass  ihm  einer  der  ersten 
Preise  zufiel.  Dennoch  brandmarkte  sich  die  damalige 
Kommission  mit  dem  Beschluss,  das  Fresko  nicht  aus- 
zuführen, und  den  Karton  in  einer  Auktion  einem 
gutzahlenden  Kunsthändler  zu  überlassen.  Dieser 
findige  Kopf  zerschnitt  die  figurenreiche  Schöpfung 
und  verkaufte  ihre  einzelnen  Teile.  Heut  noch  be- 
finden sich  einige  im  Besitz  des  Sir  Walter  James. 
Aber  mit  dieser  künstlerischen  That  hatte  sich  Watts 
seinen  Weg  in  die  weite  Welt  gebahnt.  Sein  lang- 
gehegter Künstlertraum,  Italien  zu  schauen,  wurde 
Wirklichkeit.  Er  that  vorher  in  Paris  einen  Blick  in 
die  dortige  Künstlerboheme,  sah  die  glanzvolle  Ent- 
faltung der  romantischen  Schule.  Die  Sehnsucht  trieb 
ihn  nach  wenigen  Wochen  gen  Süden,  nach  Florenz. 
Ein  Empfehlungsschreiben  öffnete  ihm  das  Haus  Lord 
Hollands,  des  brittischen  Botschafters  am  grossherzog- 
lichen Hof.  Seine  Persönlichkeit  und  sein  Talent  ge- 
wannen ihm  dort  derart  die  Herzen,  dass  er  die 
folgenden  vier  Jahre  hier  als  Hausgenosse  weilen 
musste.  Welches  Glück  für  einen  jungen  Künstler, 
aus  solchem  Heim  Fühlung  mit  der  grossen  Welt  zu 
bekommen.  In  der  Casa  Ferroni ,  dem  Stadthause 
Lord  Hollands,  und  in  der  Villa  Careggi,  seiner 
Sommervillegiatur,  durfte  Watts  die  Reihe  illustrer 
Gäste   portraitiren ,    die   aus   der  Blüte  einheimischer 


—     27  — 


und  ausländischer  Gesellschaft  hier  einkehrte.  Hier 
schuf  er  auch  die  Bildnisse  seiner  Gastgeber  und  lernte 
Männernaturen  und  weiblichen  Liebreiz  mit  den 
wägenden  Blicken  des  künftigen  klassischen  Meisters 
erfassen.  Seinem  historischen  Darstellerdrang  boten 
die  Wände  der  Villa  Raum.  Hier  an  der  denk- 
würdigen Stätte,  die  einst  Savonarola  am  Totenbette 
Lorenzo  des  Prächtigen  gesehen,  schuf  er  ein  grosses 
Fresko.  Er  schilderte  die  bewegte  Todesscene  des 
verdächtigen  Leibarztes  des  grossen  Medicäers. 
Freunde  des  verstorbenen  Fürsten  stürzen  ihn,  den  sie 
der  Vergiftung  Lorenzos  zeihen,  in  einen  Brunnen.  Die 
Ölskizze  zu  dieser  Schöpfung  ist  noch  in  des  Künstlers 
Besitz,  wie  auch  der  farbenprächtige  Entwurf  einer 
zweiten  historischen  Arbeit  der  damaligen  Tage.  Hier 
hatte  er  die  Liebesepisode,  die  den  Zwist  der  Guelfen 
und  Ghibellinen  hervorrief,  dargestellt.  In  grosszügiger 
Kompositon  sehen  wir  hier  schon  das  prachtvolle 
weisse  Ross  und  den  gebieterischen  Jünglingstyp  wie 
die  versonnene,  stolze  Jungfrau  späterer  Zeiten.  Auch 
die  Hunde  Lord  Hollands  sind  als  Modelle  verwertet. 
Durch  einen  Zufall  fand  des  Künstlers  Gattin  die 
grosse  Leinwand  erst  kürzlich  unter  aufgerollten 
Atelierdach-Vorhängen  wieder.  Heut  belebt  die  kühne 
Jugendskizze  des  Meisters  ländliches  Bildhaueratelier  mit 
ihrem  Farbenkonzert.  Er  wünscht  dieses  Werk  noch 
auszuführen.  Es  wird  ihn  in  keine  fremdgewordene 
Periode  der  eignen  Gestaltungskraft  zurückführen,  denn 
von  diesen  statuarischen  Gestalten  aus  vollendet  sich 
der  eigentliche  Kreislauf  Wattsscher  Farbenskulpturen. 


Der  Hof  des  Todes. 
(Mit  Genehmigung  von  F.  Hollyer  in  London.) 


Reiches  Wissen  nahm  der  Künstler  in  diesen  Werde- 
jahren aus  den  Schätzen  itaUscher  Hochrenaissance  in 
sich  auf.  Es  bezeichnet  seinen  unabhängigen  Künstler- 
sinn, dass  er  das  Copiren  klassischer  Meister  mied. 
Er  schaute  nur  und  sann,  und  in  ihm  krystallisirte 
sich  das  Schönheitsideal,  das  besonders  durch  das 
Studium  der  grossen  Venetianer  abschliessende 
Prägung  gewann.  Er  verhielt  sich  hier  wie  in  späteren 
Jahren  bei  der  Benutzung  von  Modellen.  Ihm  war 
das  Sicheinprägen  der  Eindrücke,  ein  Ausw^endiglernen 
der  Natur  erstrebenswert.  Er  wünschte  bei  seinem 
Schaffen  an  keine  sklavische  Abschrift  gebunden  zu 
sein,  gleichsam  die  Rohmateriahen  in  einem  Durch- 
gangsprozess  durch  seine  künstlerische  Phantasie  zu 
läutern.  Wie  Delacroix  verlangt  Watts  die  Natur  nur 
als  ein  Lexikon  betrachtet,  in  dem  der  schöpferische 
Künstler  nachzuschlagen  habe,  um  sich  über  That- 
sachen  zu  vergewissern.  Von  den  Gefühlen  wahrer 
Freundschaft  bestimmt,  drängte  Lord  Holland  seinen 
jungen  Hausgenossen,  1846  sich  an  einem  neuen  Wett- 
bewerb in  London  zu  beteiligen.  Er  hielt  das  unter 
seinen  Fittichen  w^achsende  Talent  für  zu  kostbar,  um 
es  der  MögUchkeit  eines  Capuanertums  auszusetzen. 
Wiederum  handelte  es  sich  um  Wandbilder  für  das 
Parlament,  und  diesmal  trug  Watts  für  seine  Dar- 
stellung der  ersten  englischen  Seeschlacht  »König 
Alfred  reizt  die  Sachsen,  das  Landen  der  Dänen  zu 
hindern«  (1848 — 53)  den  ersten  Preis  von  500  Pfund 
davon.  Die  Regierung  kaufte  den  Karton.  Sie  bewies 
ferner    ihre    hervorragende   Anerkennung   durch  den 


Auftrag  eines  Freskos,  »der  heilige  Georg«,  für  das 
Haus  der  Lords.  Dieses  Werk  ist  schlimm  durch  die 
Zeit  verwüstet  worden.  Es  teilt  heut  in  dem  soge- 
nannten Saal  der  Dichter,  oder  oberen  Wartesaal,  das 
Schicksal  der  Fresken  von  Cope,  Herbert,  Horsley, 
Dyce  und  Armitage,  schlecht  beleuchtet  und  wenig  ge- 
sehen zu  werden.  Der  Erfolg  war  kein  Boden,  aus 
dem  eine  Natur  wie  die  Watts  Schädliches  hätte 
ziehen  können.  Ihm  half  er,  wahre  Charakterstärke 
offenbaren.  Schon  damals  regte  sich  mächtig  in  ihm 
das  Streben,  die  Kunst  als  erzieherischen  Factor  zu 
verwerten.  In  der  Belebung  der  Freskomalerei  glaubte 
er  dieses  Mittel  gefunden.  Voll  höchster  Selbstlosig- 
keit erbot  er  sich,  die  grosse  Nordwand  im  pracht- 
vollen Sitzungssaal  des  Gerichtsgebäudes  Lincoln's  Inn 
unentgeltlich  auszumalen.  Freudig  ging  man  auf 
diesen  grossmütigen  Vorschlag  ein.  Auf  einem 
Flächenraum  von  45  Fuss  Breite  und  40  Fuss  Höhe 
entstand  1859  »die  Schule  der  Gesetzgebung«,  oder, 
wie  es  der  Künstler  jetzt  zu  benennen  vorzieht  »Ge- 
rechtigkeit: Ein  Hemicyklus  von  Gesetzgebern«.  Hier- 
mit war  eine  der  w^ürdigsten  Schöpfungen  dieses  Stils 
für  England  geschaffen.  Heut  noch  angesichts  der 
traurig  verlöschenden  Farbentöne  prägt  sich  uns  der 
Eindruck  des  Wandgemäldes  ein  wie  die  That  eines 
bedeutsamen  Künstlers.  Ein  grosser  Zug  durchweht 
die  dreiundachtzig  Gestalten  des  Bildes.  Sie  sind  in 
drei  Reihen  auf  einer  Freitreppe  verteilt,  die  spitz- 
winklig nach  oben  zuläuft.  Schwungvoll  betont  sich  die 
Gestalt  Eduard  des  Ersten,  ziemUch  steif  steht  Karl  der 


—    31  — 


Grosse.  Mahomet,  Justinian,  Moses,  Pythagoras,  Plato 
bis  Zoroaster  hinauf  sind  hier  nach  der  Raphaelschen 
Anordnung  der  Schule  von  Athen  zusammengestellt 
und  teilweise  nach  Modellen  aus  Watts  Freundeskreise 
gemalt.  Die  Gerechtigkeit,  die  Religion  und  die  Barm- 
herzigkeit schliessen  als  weibliche  Schutzgöttinnen  in 
giebelartiger  Krönung  das  Ganze.  Trotz  des  sklavischen 
Innehaltens  eines  gegebenen  Planes  empfinden  wir  den 
Geist  des  Heroismus,  den  der  Künstler  zu  erwecken 
trachtete.  Es  lässt  sich  nicht  entscheiden,  ob  das 
Londoner  Klima,  die  Beschaffenheit  des  Mauerwerks, 
oder  die  angewandten  Farben  den  Selbstauflösungs- 
prozess  des  Freskos  verschuldeten.  Das  gründliche 
Restaurirungsw^erk,  mit  dem  Professor  Church  betraut 
wurde,  beweist  den  Wert,  der  ihm  beigemessen  wird. 
Dieser  Rettungsversuch  ist  leider  gescheitert.  Während 
der  Entstehung  dieses  Werkes  schrieb  Watts  in  einem 
Brief  an  Sir  Henry  Taylor:  »Ich  habe  vielen  Ehrgeiz  und 
wünsche  innig,  meiner  Generation  nützlich  zu  sein ;  aber 
mich  macht  die  stille,  unbemerkte  Arbeitam  glücklichsten. 
Wenn  ich  mich  in  rechter  Richtung  bemühe,  möchte  ich 
deswegen  Ermutigung  sehen,  um  mich  angespornt  zu 
fühlen.  Für  grosses  Schaffen  müssen  wir  unser  Äusserstes 
dransetzen.  Man  darf  nie  anhalten  und  nachdenken, 
ob  die  Sache  abstract  genommen  gross  oder  klein  ist. 
Das  wahrhaft  Grosse  liegt  soweit  jenseits  unseres 
Könnens,  dass  der  Vergleich  eine  unwürdige  Ueber- 
legung  wird.  Von  ganzem  Herzen,  mit  aller  Kraft 
der  Seele  arbeiten,  ist  das  Rechte,  und  wer  dies  thut, 
darf  sich   befriedigt   fühlen,   was   auch   das  Resultat 


seiner  Arbeit  werde.«  Grade  in  den  letzten  Jahren 
sind  in  England  bedeutende  Staatsaufträge  für  Fresken 
erteilt  worden;  aber  die  Entwicklungsgeschichte  dieses 
Kunstzweiges  bis  zu  Watts  enthusiastischer  Initiative 
war  nicht  angethan,  ihn  zu  ermutigen.  Vergebens 
hatten  vor  ihm  Hogarth  und  später  Barry  und  Haydon 
den  Sisyphusblock  zu  rollen  gesucht.  Er  entglitt  ihren 
Händen  wie  den  seinen.  Es  fanden  sich  Privatauftrag- 
geber für  seine  edlen  Absichten  wie  der  Marquis  von 
Landsdowne  und  die  Kirchengemeinde  St.  James-the- 
Less;  auch  entwarf  der  Künstler  unermüdlich  farbige 
Kartons  für  grosse  Ausführungen.  Solche  Arbeiten 
befinden  sich  heut  noch  zahlreich  in  seinem  Besitz. 
In  »Echo«  (1847),  d^i'  Fluss  träumenden  Nymphe, 
lebt  sich  rein  lyrisches  Dichterempfinden  aus.  Die 
leidenschaftliche  Energie  des  Dramatikers  stürmt  in 
der  michelangelesken  Kolossalgestalt  des  bronzefarbenen 
»Satan«  (1861).  Im  »Aristides«  (1850— 1860),  dem  der 
Schäfer  erklärt,  dass  er  sein  Todesvotum  für  ihn  ab- 
gegeben habe,  weil  es  ihn  langweile,  soviel  von  dem 
Gerechten  zu  hören,  hat  der  Moralist  eine  wehmütige 
Mitteilung  gemacht.  In  den  sehnsuchtsvoll  gen  Osten 
ausschauenden  »Leuten,  die  in  der  Dunkelheit  sassen« 
(1849),  dämmert  etwas  von  der  Erkenntnis  des  Propheten- 
wortes Jesaias,  dass  ihnen  ein  grosses  Licht  leuchten  werde. 
Wie  hier  der  Seelsorger,  malt  auf  der  »Irischen  Hungers- 
not« (1850)  der  Volksredner.  Zu  einer  machtvollen  An- 
klage gegen  eine  engherzige  Regierungspolitik  wird  die 
tragische  Familiengruppe  am  Gestade  der  Irischen  See. 
Vater,  Mutter  und  Kinder  sitzen  aneinander  geschmiegt, 


—    33  — 


den  Hunger  auf  den  edlen  Zügen,  aber  zugleich  den 
Stolz  der  Armut.  Sie  sind  von  der  Welt  vergessen,  sie 
wollen  klaglos  mitsammen  untergehen.  Eine  Glad- 
stonesche  Rede,  die  fanatische  Homeruler  zeugen 
müsste,  hat  hier  Watts  Pinsel  geschaffen.  Wir  können 
heut  die  Wirkung  der  meisten  dieser  Farbencartons  in 
Little  Holland  House  an  uns  erproben.  Des  Künstlers 
Enttäuschung,  sie  nicht  nach  seinen  Absichten  ver- 
wertet zu  haben,  werden  wir  begreifen.  Wie  einst 
Tintoretto  sieht  auch  Watts  in  der  Ausbildung  des 
Freskos  einen  bedeutsamen  Hebel  zur  Veredlung  des 
Menschengeschlechtes.  In  seinem  Gutachten  vor  der 
königlichen  Kunstkommission  im  Jahre  1863  that  er 
den  Ausspruch:  »Ich  bestehe  aus  drei  Gründen  auf 
Wandmalerei.  Sie  ist  erstens  eine  Kunstübung,  die 
unbedingt  nur  auf  ehrlichem  Studium  basirende 
Kenntnis  verlangt.  Zweitens  müsste  sie  den  Gehalt 
und  die  Noblesse  des  englischen  Charakters  hervor- 
heben, die  leider  in  den  englischen  Malschulen  nicht 
zu  Tage  treten.  Sie  sind  latent  und  können  daher 
herausgeholt  werden.  Drittens  bestimmt  mich  ihre 
Wirkung  auf  den  Volksgeist.  Es  ist  für  die  allgemeine 
Hebung  notwendig,  dass  Werke  von  echter  aber 
schlichter  Vortrefflichkeit  soweit  als  möglich  verbreitet 
würden.« 

An  Watts  beweist  sich  die  Wahrheit  des  Wortes: 
das  Kind  ist  des  Mannes  Vater.  Immer  sind  die 
sozialen  Instincte  Triebfedern  seines  Wollens  gewesen. 
Schon  als  Jüngling  war  sein  Ideal  die  Stiftung  eines 
Volkskunsttempels.    Das  Haus  des  Lebens  wünschte 

3 


—    34  — 


er  ihn  genannt,  und  er  plante  für  seine  Wandelhallen 
Darstellungen  von  den  Mysterien  des  Lebens  und 
Todes.  Diese  Sixtina  hat  sich  auf  englischem  Boden 
nicht  erheben  dürfen.  Sie  besteht  heute  in  andrer 
Form,  als  der  Watts-Saal  des  britischen  Nationalmuseums. 
Wenn  je  die  Geschichte  Beispiele  von  der  völligen 
Uebereinstimmung  von  Künstler  und  Werk  aufweist, 
ist  der  Lebensgang  Watts  hierfür  typisch.  »Die  Gottheit 
in  sich  zu  befreien«,  wie  Biotin  es  bezeichnete,  war 
sein  Bemühen.  Niemals  hat  er  nach  äusseren  Ehrungen 
gestrebt,  sie  immer  zu  meiden  getrachtet.  Ein  zurück- 
gezogenes Leben  in  der  Arbeit  für  seine  Ideen,  für 
die  Freunde,  die  ihn  zahlreich  umgaben,  war  sein 
Begriff  von  Glück.  Ihm  ist  der  Reichtum  nie 
begehrensw^ert  erschienen.  Er  hat  ihn  aus  Prinzip 
gemieden.  Erst  die  Erfahrung  überzeugte  ihn  von 
dem  Wert  des  Geldes.  Sie  lehrte  ihn,  seine  Kunst 
teilweise  als  Brodbringer  zu  benützen.  Er  hätte  eine 
Ausbeutung  nur  für  solche  Zwecke  als  Sacrileg 
empfunden.  Das  Portrait  wurde  sein  Mittel,  sich 
Bedürfnisse  zu  befriedigen,  die  seiner  Individualität 
notwendig  waren.  Diesen  Einnahmen  dankt  er  die 
Möglichkeit,  seine  beiden  Häuser  in  London  und 
und  Compton  nach  eigenem  Sinn  zu  gestalten.  Sie 
tragen  beide  die  Signatur  des  Schönheitsfreundes,  den 
es  beglückt,  im  Anschauen  vornehmer  Kunst  und  ver- 
edelnden Geschmacks  ästhetischen  Bedürfnissen  Genüge 
zu  thun.  Sein  Londoner  Heim,  Little  Holland  House, 
liegt  in  tiefer  Parkgeborgenheit,  in  der  Nähe  der 
Residenz  seines   einstigen  Mäcenaten.    Es  trägt  nach 


diesem  seinen  Namen.  Hier  klettert  der  Epheu  über 
die  roten  Ziegelmauern,  und  Lilien  und  Rosen  blühen 
unter  den  herrlichen  Bäumen  des  Gartens.  Hier 
grenzen  die  Besitzungen  berühmter  Künstler  an.  In 
dieser  Stille  schufen  sie  und  fanden  sich  gesellig  zu- 
sammen. In  Watts  bewundern  alle  Kunstgenossen  den 
grossherzigen  Kollegen  und  unvergleichlichen  Meister. 
Diese  einstimmige  Verehrung  ist  fast  ein  noch  sichrerer 
Gradmesser  als  die  Liebe  der  gesammten  Nation.  Wer 
Little  Holland  House  betritt,  fühlt  sich  bald  wie  auf 
klassischem  Boden.  Hier  strahlt  nicht  wie  in  Alma 
Tademas  Künstlerheim  der  lichte  Geist  des  Hellenismus 
aus.  Hier  leuchten  die  intensiven  Farben,  prangen  die 
bedeutsamen  Formen  der  Hochrenaissance.  Alle  Raum- 
anordnung gipfelt  in  dem  ausgedehnten  Atelier  und 
der  Bildergallerie  des  Meisters.  An  zwei  Wochen- 
tagen ist  dem  Publikum  der  Eintritt  zu  dem  Museum 
gestattet,  und  die  Zahlen  internationaler  Besucher 
zeugen  für  das  rapid  wachsende  Interesse  der  Aussen- 
welt.  Seit  die  mächtige  Stimme  seines  Genius  sich 
verkündete,  ist  die  Welt  zu  ihm  geströmt.  Wer  den 
Menschen  in  ihm  finden  durfte,  ging  bereichert  heim. 
Ein  hoher  Geist  und  -^ein  seltenes  Gemüt  haben  sich 
ihm  erschlossen.  Watts  gehört  angesichts  der  Ver- 
ständnisvollen nicht  zu  den  Gedankenbewahrern,  viel- 
mehr zu  den  Selbstoffenbarern.  Er  spricht  über  seine 
Philosophie,  über  seine  Malprinzipien,  über  Politik  und 
Kunst.  Immer  charakterisirt  ihn  seine  Bescheidenheit, 
die  die  Tugend  fast  bis  zur  Schwäche  treibt.  Wie 
allen  grossen  Geistern  liegt  ihm  alles  Persönliche,  aber 


Hoffnung. 
(Mit  Genehmigung  von  F.  HoUyer  in  London.) 


—    37  — 


nichts  Menschliches  fern.  Wir  empfinden  ihn  festen 
Fusses  im  Reich  der  Spekulation,  sicheren  Blickes  den 
Zeitereignissen  gegenüber,  einen  Kosmopoliten  und 
Engländer,  einen  Träumer  und  Praktiker  zugleich.  Er 
ist  leicht  und  schlank  gebaut  und  bewegt  sich  mit  der 
dem  Engländer  charakteristischen  Gelenklockerheit. 
Sein  Künstlerhaupt  ist  von  idealer  Schönheit,  voller 
Kühnheit  und  Güte.  Er  blickt  scharf,  als  spähe  er 
auf  den  Grund  der  Seelen. 

Dicht  an  dem  Saumpfad,  über  den  einst  die  Pilger- 
scharen zur  Grabstätte  Thomas  a  Beckets  nach  Canter- 
bury  wallfahrteten,  liegt  sein  Sommerheim  in  Surrey, 
bei  der  Stadt  Guilford.  In  prachtvollen,  schottischen 
Fichten  steht  es  geborgen,  inmitten  schweigender 
Hügel.  Dort  wehen  die  Lüfte  in  seegeschwellter 
Frische.  Den  Blick,  der  von  der  Höhe  aus  über  die 
anmutigen  Thalgefilde  gleitet,  vermeint  den  Liebreiz 
der  umbrischen  Ebene  in  sich  zu  trinken.  Vom  Fallen 
der  Blätter  bis  zum  Spätfrühling  weilt  Watts  unter 
diesem  Dach.  Das  gleiche  tieftönige  Farbenkonzert 
wie  in  seinem  Londoner  Besitz  beherrscht  die  Ein- 
richtung, Zahlreichen  Gottheiten  sind  hier  Altäre 
errichtet  wie  in  der  polytheistischen  Tempelstätte  des 
Künstlerheims  Frederick  Leightons.  Indische  Messing- 
arbeiten, orientalische  Decken,  arabische  Gefässe, 
Damascenische  Töpfereien  geben  starke  Colorit- 
wirkungen  neben  schönen  Bildern  des  Hausherrn  und 
seiner  Künstlerfreunde.  Watts  »Genius  der  griechischen 
Poesie«  enthüllt  seine  keuschen  Glieder  neben  den 
Sybillen  Michel  Angelos  und  den  Madonnen  Raphaels. 


-    38  - 


In  weissen  Stuckpaneelen  erkennen  wir  Religions- 
symbole aller  Völker.  Die  geschickten  Hände  der 
Gattin  des  Künstlers,  einer  hochbegabten  Bildhauerin, 
haben  diesen  künstlerischen  Wand-  und  Deckenschmuck 
geschaffen.  Die  Verehrung,  die  sie  selbst  dem  Werk 
ihres  Mannes  zollt,  die  auch  einst  ihre  gleichgestimmte 
Seele  zu  der  seinen  führte,  ist  in  symbolischer 
Ornamentik  überall  ausgesprochen.  Vor  seinem  Bild- 
haueratelier hat  sie  ihm  draussen  im  Garten  ein 
Denkmal  errichtet,  das  Watts  Motto  »das  Aeusserste 
für  das  Höchste«  als  Aufschrift  trägt.  Die  Zeichen 
der  ägyptischen  Sonnenuhr,  der  Sonnenblume,  alle 
Embleme  idealistischen  Strebens  schildern  den  Kultus 
ihrer  Seele.  Wenn  je  ein  Weib  berufen  war,  die 
Lebensgefährtin  eines  grossen  Künstlers  zu  sein,  ist  es 
Mrs.  Watt.  Erst  in  seinen  späten  Mannesjahren  wählte 
er  die  Jahrzehnte  jüngere  Gattin.  Er  bedurfte  ihrer 
selbstlosen  Hingabe,  um  die  Wunden,  die  eine  erste 
Ehe  mit  der  Schauspielerin  Ellen  Terry  geschlagen, 
zu  heilen.  Ueber  dieses  düstere  Kapitel  seines  Innen- 
lebens breiten  die  Freunde  des  Künstlers  schonendes 
Schweigen.  Es  war  eine  jener  Tragödien,  die  aus 
dem  Ikarussturz  des  hochstrebenden  Idealismus  ent- 
stehen, die  erfolgen  müssen,  wenn  Seelenreinheit  und 
Weltlust  miteinander  ringen.  Unrast  hatte  diese  Ehe 
in  sein  Heim  und  Herz  getragen,  die  Segnungen  des 
Gemütsfriedens  brachte  die  zweite  Heirath  dem  Schwer- 
verletzten. Mrs.  Watts,  eine  Tochter  des  schottischen 
Hochlands,  hütet  das  ihr  anvertraute  Leben  wie  eine 
Vestalin  die  heilige  Flamme.    Nach  einer  zehntägigen 


—    39  — 


Abwesenheit,  die  der  Tod  ihrer  Mutter  bedingte, 
äusserte  sie  zu  mir:  »Als  ich  den  wunderbaren  alten 
Mann  wieder  sah,  empfand  ich  ein  Glück,  als  ob  er  mir 
neugeschenkt  sei.«  Sie  überwacht  die  Pflege  seines 
zarten  Organismus,  der  in  Folge  einer  spartanischen 
Lebensführung  die  gewöhnliche  Altersgrenze  weit  über- 
dauern konnte.  Sie  sorgt  für  seine  ästhetischen  Freuden. 
Täglich  um  vier  Uhr  beginnt  der  Greis  heut  noch  wie 
früher  sein  Tagewerk.  Er  malt,  weil  er  den  Menschen 
noch  viel  zu  sagen  hat.  Aus  der  reichen  Schaar  der 
Besucher,  die  zu  dem  Zurückgezogenen  strömen,  weiss 
sie  ihm  eine  Auslese  zuzuführen.  Sie  wählt,  wie 
Freunde  des  Hauses  es  bezeichnen,  aus  dem  Bazar 
des  Lebens  nur  die  erfreulichsten  Dinge  für  ihn.  In 
sozialen  Aufgaben  finden  beide  Gatten  eine  gemeinsame 
Arbeit.  Wo  irgend  ein  Appell  um  Hilfe  zu  ihnen 
dringt,  ruft  er  ihr  Herz  zur  Liebesthätigkeit.  In  der 
Wiederbelebung  der  vaterländischen  Hausindustrie 
sehen  sie  ein  Mittel  der  Volksbeglückung.  Im  Sinne 
der  Ruskin-  und  Morris-Bestrebungen  haben  sie  Kapital 
und  Kräfte  der  Begründung  des  Vereins  für  Kunst- 
gewerbe und  Kunstindustrie  gewidmet.  Schönheits- 
schimmer in  das  schlichte  Heim  der  Armut  tragen, 
hält  Watts  für  eine  gute  That.  Er  beklagt  den 
Geschmacksverfall,  den  verkümmernden  Sinn  der 
Gediegenheit  als  Folgen  des  Maschinenalters.  Kein 
Opfer  ist  Beiden  für  ihre  Zwecke  zu  gross.  Den 
Ertrag  zweier  Portraitbestellungen  von  20  000  Mark 
hat  Watts  für  einen  Stiftungsfond  des  Kunstgewerbe- 
Vereins  gespendet,  während  seine  Gattin  24  000  Mark 


—    40  — 


aus  einer  Sammlung  beisteuerte.  Sie  unterweist  in 
ihrem  Comptoner  Heim  die  Dörfler  im  Formen  und 
Brennen  der  Ziegel  für  den  Bau  einer  Dorftrauerkapelle. 
Während  Watts  Freunde  Vermögen  durch  den  Verkauf 
von  Verlagsrechten  erwarben,  kümmerte  er  sich  um 
keinen  Nachdruck,  bis  die  Erfahrung  eine  eindringliche 
Lehre  erteilte.  Zeitungsberichte  von  den  aufopfernden 
Rettungswerken  eines  Lokomotivführers  und  eines 
Dienstmädchens  hatten  ihn  auf  das  tiefste  ergriffen. 
Solche  Helden  aus  den  Kreisen  der  Enterbten  zu  ver- 
herrlichen, erschien  dem  Idealisten  eine  würdige  Auf- 
gabe. Ein  Pantheon  für  die  Thaten  des  schlichten 
Heroismus  sollte  sich  im  Londoner  Armenviertel 
erheben!  Aber  dieser  Plan,  der  heut  in  dem 
bescheidenen  Maassstab  einer  Inschriftenhalle  Wirk- 
lichkeit geworden  ist,  forderte  damals  von  dem  Künstler 
eine  Summe,  die  ihm  fehlte.  Diese  schmerzliche  Er- 
kenntnis veranlasste  ihn  zu  Geldansprüchen  für  Nach- 
druckrechte. Vor  kurzer  Zeit  hatte  sich  ein  lang- 
jähriger Diener  seines  Hauses  als  Dieb  einer  wert- 
vollen Büchersammlung  entpuppt.  Eine  besonders 
seltene  Shakespeare-Ausgabe  w^ar  mit  entwendet.  Auf 
diese  Entdeckung  Hess  Watts  nicht  nur  keine  Anklage 
folgen,  sondern  er  setzte  noch  dem  in  Not  geratenen 
Sohn  des  Schuldigen  eine  namhafte  Jahresunterstützung 
aus.  Schwer  hat  sich  Watts  zum  Verkauf  eines  seiner 
Bilder  entschlossen.  Die  Würdigkeit  des  Käufers  war 
ihm  wesentlich.  Aber  häufig  hat  er  seine  Bilder  als 
freiwillige  Spenden  ausgeteilt,  wenn  er  seiner  Mission 
hiermit  zu  dienen  glaubte.    Auf  dem  Londoner  Armen- 


Der  Reiter  auf  dem  weissen  Ross. 
(Mit  Genehmigung  von  F.  Hollyer  in  London.) 


—    42  — 


friedhof,  in  den  Proletarierkirchen,  in  den  Erziehungs- 
anstalten der  Jugend  —  da  hängen  seine  Geschenke. 
Sie  werfen  ihren  versöhnenden  Schönheitsschimmer 
über  das  Leben  der  Besitzlosen,  sie  spornen  die  Jugend 
zu  idealem  Thun,  sie  erhöhen  die  Inbrunst  der  An- 
dächtigen. Die  Verehrung  der  Mitwelt  hat  eine  be- 
trächtliche Anzahl  seiner  Werke  aus  ihrer  Geborgenheit 
gezogen.  Der  Watts-Saal  der  Tate-Galerie  bezeugt 
den  Stolz  der  Nation  auf  diesen  Meister.  Schon  in 
jüngeren  Jahren  ging  seine  Scheu  vor  der  Oeffentlichkeit 
so  weit,  dass  er  1858  unter  dem  Pseudonym  F.  W.  George 
ausstellte.  Ein  öffentliches  Festbankett,  die  Präsident- 
schaft der  Londoner  Akademie  schlug  er  aus,  ebenso 
zweimal  das  Anerbieten  der  Adelserhebung.  »Wissen 
Sie,  welchen  Titel  ich  für  den  Künstler  gelten  lasse.?« 
fragte  er  einmal,  einzig  und  allein  den  Right  Honourable 
(wörtlich  übersetzt:  wirklich  Ehrenwerte).  Ohne  sein 
Wissen  erwählte  man  ihn  1867  zum  Associaten  der 
Königlichen  Akademie.  Man  beförderte  ihn,  eine  Aus- 
zeichnung ohne  Gleichen,  in  demselben  Jahre  zum 
ordentlichen  Mitglied.  Diese  Ehrung  schien  ihm  als 
Ansporn  für  mitstrebende  Kollegen  nicht  zurückweisbar. 
Eine  Gratulationsadresse  seiner  Freunde  und  Bewunderer 
zum  achtzigsten  Geburtstag  hat  ihm  jedoch  wirkliche 
Freude  bereitet.  Sie  trug  die  Unterschriften  der  Elite  des 
englischen  Geistes-  und  Geschmackslebens.  Der  Dichter 
Swinburne  hatte  sie  mit  schwunghaften  Versen  eingeleitet, 
die  die  menschheitbeglückende  Kunst  des  poetischen 
Dichterphilosophen  feierten.  Watts  ist  ein  leiden- 
schaftlicher Musikfreund   und  hat  selbst  eine  ansehn- 


—    43  — 


liehe  Höhe  des  VioHnspiels  erreicht.  Ein  besonderer 
Teil  seiner  Bildwirkungen  ist  auf  ein  musikalisches 
Element  zurückzuführen.  Ihm  scheint  sein  höchster 
Triumph  gelungen,  wenn  man  ihm  versichert,  Beethoven 
oder  Bach  vor  einem  seiner  Gemälde  empfunden  zu 
haben.  Auf  den  Erklärungstafeln,  die  er  zum  Studium 
mancher  seiner  Werke  selbst  verfasste,  sagt  er  bei 
dem  Bild  der  »Bewohner  des  Innersten«:  »Der  Ein- 
druck ist  absichtlich  unbestimmt.  Dies  Bild  kann 
unter  meinen  Werken  als  typisch  angesehen  werden 
wegen  des  Anspruchs,  den  eine  grosse  Reihe  meiner 
Werke  macht.  Es  ist  mein  Wunsch,  dass  imaginäre 
Gemälde  eine  ebenso  starke  Wirkung  ausüben  wie 
musikalische  Compositionen.  Im  Gebiet  des  Idealen 
muss  der  Musiker  wie  der  Dichter  die  Hilfe  der  Ein- 
bildungskraft beanspruchen.«  Das  Reiten  hat  Watts 
als  seinen  Lieblingssport  betrachtet.  Er  hat  seine  Be- 
wunderung des  Pferdekörpers  häufig  als  Maler  und 
Bildhauer  bewiesen.  Heut  noch  macht  es  dem  Greis 
Freude,  ganze  Sportklubs,  die  an  seinem  ländlichen 
Buenretiro  vorüberkommen,  gastlich  zu  bewirten.  Seine 
Stellung  zu  den  Kunstkollegen  und  ihre  Verehrung 
des  Altmeisters  ist  nie  von  dem  leisesten  Missklang 
getrübt  gewesen.  »Es  mag  sein,  dass  ein  Uebel  wie 
der  Neid  existirt«,  meinte  er  unlängst  nachdenklich, 
»aber  bei  den  Malern  kommt  es  nicht  vor.«  Das 
Lesen  guter  Bücher  hat  stets  zu  des  Künstlers  bevor- 
zugten Genüssen  gehört.  Er  nennt  Shakespeare, 
Milton,  Byron,  Tennyson  und  Wordsworth  seine  besten 
Freunde.    Mit  Wordsworth  Naturphilosophie  fühlt  er 


—    44  — 


sich  eins.  Ihm  sind  die  gewaltigen  Erscheinungen  des 
Naturlebens  wie  die  Seelenregungen  der  schlichten 
Menschen  Aeusserungen  der  gleichen  Schöpferkraft. 
Mysteriöse  Spuren  des  mysteriösen  Ganzen  erkennt  er 
im  Kleinsten.  Von  sich  selbst  behauptet  Watts,  dass 
er  kein  starker  Denker  sei.  Er  ist  es  auch  nicht  im 
Sinne  eines  streng  systematischen  Logikers.  Sein  syn- 
thetischer Geist  hat  jedoch  den  ausgleichenden  Sinn 
der  Harmonie,  wie  ihn  Göthe  und  Spinoza  besassen. 
Die  Fähigkeit  der  litterarischen  Aeusserung  spricht 
sich  Watts  ab.  Er  hat  bei  Gelegenheiten,  als  es  ihm 
zum  Sprechen  drängte,  ebenso  plastische  Schönheit  als 
epigrammatische  Knappheit  bewiesen.  Eines  seiner 
bedeutsamsten  Litteraturdokumente  ist  die  Abhandlung 
über  den  »Gegenwärtigen  Zustand  der  Kunst«.  Er 
fühlte  sich  im  Jahre  1880  bei  der  Anfrage,  ob  eine 
grosse  Kunstschule  in  England  möglich  sei,  zu  ihr 
gedrängt.  Hierin  beklagt  er  den  Tiefstand  der  Malerei. 
Er  verlangt,  dass  sie  die  Höhe  der  Dichtkunst  zu  er- 
reichen strebe.  Er  wünscht,  dass  der  Künstler  die 
Sprache  seiner  Zeit  rede,  und  bedauert,  dass  dem 
Engländer  zu  wenig  des  Schönen  in  seiner  Umgebung 
geboten  würde.  In  den  schaffenden  Künstlerseelen 
vermisst  er  Weihegefühle.  Die  materialistische  Zeit- 
tendenz erscheint  ihm  ihr  Verhängnis.  Ihm  fehlt  der 
Geist  des  heiligen  Franziskus  in  der  christlichen  Kirche 
wie  im  Lande.  Die  jährlichen  Kunstausstellungen  be- 
klagt er  als  Tod  alles  vertieften  Schafifens.  Genussun- 
fähig besuchen  sie  die  meisten,  und  ihre  Abgestumpft- 
heit  ist   entschuldbar,    da   »eine  Nachtischrede  kein 


—    45  — 


Essay,  noch  weniger  ein  Epos  sein  dürfe«.  Für  die 
höchste  Kunstleistung  verlangt  er  seelische  Tiefe  und 
vollkommene  Technik.  Hogarth  nennt  er  einen  wirklich 
Grossen.  Er  bedauert  nur,  dass  er  Dialect  gesprochen 
habe,  und  die  Reynolds,  Van  Dyk,  Tintoretto  und  selbst 
Titian  lassen  ihm  Wünsche  offen.  Bei  dem  Thema 
»Geschmack  in  der  Kleidung«  ist  Watts  Ansicht  grade 
für  die  heutigen  Reformbestrebungen  von  Interesse. 
Die  enge  Taille  der  Frau  tadelt  er  als  unschön.  Er 
hält  das  antike  Schönheitsideal  hoch,  das  kein  Corsett 
duldete.  Die  anliegenden  Scheitel,  der  freie  Hals,  die 
abfallenden  Schultern,  die  hackenlosen  Schuhe  gefallen 
ihm.  Den  langen  Rock  findet  er  immer  graziöser  als 
den  kurzen.  Er  liebt  faltige  Gewänder,  die  unendliche 
Abwechselung  des  Lichtes  und  Schattens  schaffen. 

*  * 
* 

Watts  fand  den  höchsten  Ausdruck  seines  künst- 
lerischen Wollens  im  Symbolismus.  Er  ist  durch  die 
Schulung  der  Geschichtsmalerei  und  des  Portraits  ge- 
gangen, bevor  er  diesen  Gipfel  erstieg.  Er  meisterte 
den  Realismus,  um  der  rechte  Idealist  zu  werden. 
Als  Maler  der  ewigen  Wahrheiten  wünscht  er  zu  über- 
dauern, mit  Geringschätzung  blickt  er  heut  auf  sein 
übriges  Schaffen.  Er  weiss,  dass  nur  die  auserwählten 
Künstler  aller  Zeiten  mit  transcendenten  Mitteln  zu 
schalten  wussten,  weil  die  Symbolik  wie  keine  andere 
Kunstsprache  die  grossen  Seelen  voraussetzt,  und  weil 
die  meisten  an  der  haarbreiten  Grenze  zwischen  dem 
Erhabenen  und  Lächerlichen  zu  Fall  kommen.  Aus 


-    46  - 


der  symbolisirenden  Phantasie  haben  sich  die  Völker 
der  Erde  die  poetischen  Wundergebilde  ihrer  Mytho- 
logieen  und  Religionen  geschaffen.  Aus  diesem  Born 
trank  Sage  und  Legende,  trank  alle  Poesie  ihren  Be- 
geisterungsrausch. Von  zeitlichen  und  individuellen  An- 
lagen bestimmt,  wuchs  in  jeder  Künstlerseele  die  persön- 
liche Symbolik.  Mythologische  Formen  nahm  sie  bei 
Sophokles,  Geisterscheinungen  wurde  sie  Shakespeare, 
Lichtphänomene  Rembrandt  und  kosmische  Gewalten 
Goethe.  Watts  Symbole  sind  Gefühlspotenzen.  Sie  tragen 
die  statuarische  Prägung  von  Phidias  Gestalten;  aber 
ihr  Seeleninhalt  ist  das  Element  der  Liebe.  Meist  hat 
sein  apostolischer  Sinn  sie  erzeugt,  nur  in  vereinzelten 
Fällen  besteht  ein  direkter  Zusammenhang  mit  eigenem 
Erleben.  Immer  hat  Watts  als  Dichter  und  Philosoph 
Realitäten  im  Lichte  von  Problemen  betrachtet.  Das 
Leben,  den  Tod  musste  sein  grüblerischer  Geist  sym- 
bolisch umgestalten,  um  sich  mit  ihrer  Thatsächlich- 
keit  abzufinden.  Ob  in  seinem  Werk  auch  zuweilen 
der  heisse  Puls  der  Leidenschaft  pocht,  er  wies  für 
seine  grossen  Symbole  jede  Formgebung  ab,  die  das 
Gemüt  beunruhigen  konnte.  Diese  Kunst  sollte  der 
Menschheit  den  Frieden  bringen.  Aus  gütigem  Herzen 
und  gütigem  Wollen  offenbarte  sich  ihm  der  Tod  als 
ruhespendendes  Weib,  das  Leben  als  zartes  Frauen- 
gebilde, die  Liebe  als  schützender  Jünglingsgenius.  In 
diesen  grossen  liebeatmenden  Wesen  regt  sich  nichts 
von  der  grotesken  Phantasie  der  Lorenzetti,  der  Rops 
und  Klinger.  Jede  von  ihnen  ist  bei  vorsichtigem, 
oft  jahrelangem   Abwägen    in   dem   Nährboden  der 


—    47  — 


Künstlerseele  langsam  wachsend,  zu  der  Majestät  ihrer 
Erscheinung  ausgereift. 

Seitdem  Künstlerherzen  schlagen,  hat  das  Mysterium 
des  Todes  die  Phantasie  mit  reichen  Stoffen  versorgt. 
Die  schönheitsliebende  Antike  erschaute  ihn  im  Bilde 
des  Genius  mit  der  verlöschenden  Fackel.  Sie  mied 
die  Idee  des  Grässlichen  derart,  dass  sie  den  Ausdruck 
= —  er  ist  gestorben  —  durch  Euphemismen  wie  —  er 
hat  gelebt  — ,  oder  —  er  ist  gewesen  —  ersetzte. 
Der  Jenseitsglauben  des  Christentums  bedurfte  der 
Schrecken  des  Jüngsten  Gerichts.  Das  Knochengerippe 
der  Dürer  und  Holbein  zog  in  die  Kunst.  »Schwarz 
wie  die  Nacht,  grimm  wie  der  Tod,  schrecklich  wie 
die  Hölle«  schildert  Milton  den  Tod.  Er  ist  das  ab- 
schreckende Gespenst  geblieben  bis  zu  Böcklins  Pinsel- 
visionen. Einem  Künstler  wie  Watts,  der  trotz  eines 
schwächlichen  Körpers  das  » Aeusserste  für  das  Höchste« 
einsetzte,  musste  der  Begriff  des  Todes  wie  ein  grosses 
Ausruhen  nach  schwerer  Anstrengung  erscheinen.  Den 
Schleier  zog  er  von  dem  Saisbilde  und  erblickte  ein 
imposantes,  rührendes  Weib.  Als  unerbittliche  Fordre- 
rin,  aber  auch  als  Trösterin  stand  sie  vor  ihm.  In 
immer  neuen  Wiederholungen  hat  er  dieses  innere  Er- 
lebnis vor  seine  Sinne  gestellt. 

Auf  dem  herrlichen  Altarwerke  »Zeit,  Tod  und 
Jüngstes  Gericht«  (1882)  steht  sie  uns  zum  ersten  Male 
gegenüber  —  die  machtvolle  Frauengestalt  mit  ihren 
leiderfüllten  Zügen.  Zu  den  abgeschnittenen  Blüten  in 
ihrem  Schooss  schaut  sie  sinnend  hinab.  Es  ist  als 
verschlössen  ihre  Lippen  die  Worte:  Die  arme,  ent- 


Zeit,  Tod  und  Jüngstes  Gericht. 
(Mit  Genehmigung  von  F.  Hollyer  in  London.) 


—    49  — 


täuschte  Menschheit!  Wozu  all  diese  trügerische  Lust? 
—  Mild  in  weissgrauem  Licht  umschimmert  sie  das 
faltenreiche  Gewand,  dessen  Stoff  zugleich  ihr  Haupt 
überwallt.  Es  hebt  sich  wie  ein  Mollakkord  von 
dem  Discant  des  rotorangenen  Schurzes,  der  die 
Jünglingsgestalt  des  Lebens  umflattert,  von  den  tiefen 
Mitteltönen  des  Purpurs  im  schwingenden  Mantel  des 
dahinsausenden  Weltenrichters  über  ihr.  In  diesen 
monumentalen  Gestalten  des  Lebens  und  Todes  zwingt 
der  Dichtermoralist  den  denkenden  Beschauer  zur  An- 
nahme seines  Gegenwartsglaubens.  Thatkraft  und 
Fortschritt  ist  allein  die  gegebene  Stunde.  Der  Tod 
löst  alle  Energie,  er  bedeutet  das  Entnerven,  die  grosse 
Stille.  Auf  solchen  Schöpfungen  des  Künstlers  hat 
jede  Einzelheit  ihre  Bedeutung.  Grade  diese  symbo- 
lischen Gemälde  zeigen  seine  höchste  Konzentration 
aller  Mittel.  Hier  ist  nichts  nur  um  des  Effects  willen 
angebracht.  Diese  Methode  ohne  wahrheitsgetreues 
Nachschaffen  von  Licht-  und  Schattenwirkungen,  ohne 
Sfumato  der  Luft,  ohne  die  Vermittelung  verschmelzen- 
der Oele  will  ihre  Gestalten  als  Ideenträger  wie  Stein- 
monumente hinstellen.  Sie  will  etwas  Bleibenderes 
geben  als  nur  Farbenbilder,  will  ethische  Ewigkeits- 
monumente. An  den  Parthenonskulpturen  hat  Watts 
die  Bedeutung  des  Faltenwurfs  erkannt.  Er  ist  auf 
all  seinen  grossen  Schöpfungen  »das  tausendfache 
Echo  der  Gestalt« ,  ein  wesentlicher  Teil  der  Bild- 
psychologie. Glatt,  fast  müde  gleitet  der  Stoff  in 
langen  Brüchen  an  der  Figur  des  Todes  herab,  wie 
stählernes    Sprungfederwerk    strafft   er   sich   um  das 

4 


—    50  — 


Leben,  und  in  wogender  Fülle  umbauscht  er  die  Form 
der  richtenden  Gottheit.  Dieses  Werk  machte  der 
Künstler  der  Königin  zum  Diamantjubiläum  für  die 
St.  Pauls  Kathedrale  zum  Geschenk.  Er  hat  eine 
Wiederholung  für  die  Täte  Gallerie  gemalt.  Wie  der 
Orgelton  eines  Requiem  braust  es  aus  der  grossartigen 
Todesgestalt,  die  als  unabweisliches  Schicksal  auf 
dem  berühmten  Bilde  »Liebe  und  Tod«  (1887)  die 
steinerne  Hausschwelle  empor  in  das  Innere  eines 
Hauses  schreitet.  —  Ihr  Weg  führt  durch  das  Rosen- 
gerank des  Thores,  an  dem  kleinen  Gott  der  Liebe  vor- 
bei. Er  ist  der  Hüter  dieser  Schwelle  und  sucht  der 
ungebetenen  Besucherin  mit  aller  Energie  den  Eintritt 
zu  wehren.  Ohne  Grausamkeit,  doch  unerbittlich 
bahnt  sie  ihren  Weg.  Sie  verwirrt  die  Flügelfedern 
Eros,  ohne  ihn  zu  verletzen;  aber  sie  duldet  keinen 
Widerstand.  Auch  auf  diesem  Gemälde  leuchtet  kein 
einziger  voller  Lokalton.  Das  Weiss  des  Todes- 
gewandes schimmert  bläulich  grau.  Schatten  fallen 
auf  den  Liebesgott,  und  selbst  die  Rosen  scheinen  fahl. 
Ohne  dekorative  Absichten  des  Künstlers  geht  ein 
prachtvoller  Compositionszug  durch  die  Körperlinien. 
Er  verläuft  in  dem  schleppenden  Gewand,  in  den 
herabwallenden  Rosenranken  wie  in  schwunghafter 
Ornamentik.  Die  Idee  dieses  Bildes  entstammt  einem 
Erlebnis  des  Künstlers.  Sie  reifte  in  ihm,  während  er 
das  Portrait  eines  jungen  Aristokraten  malte,  des  hoch- 
begabten Sohnes  einer  befreundeten  Familie.  Er  be- 
merkte mit  Schrecken  während  seiner  fortschreitenden 
Arbeit   die   Zunahme    der  Schwindsucht   bei  seinem 


Modell.  Das  Verhängnis  sah  er  trotz  der  auf- 
opferndsten Pflege  der  Verwandten  unheimlich  vor- 
dringen. Er  empfand  das  Ringen  der  Liebe  mit  dem 
Tode,  und  einige  Jahre  später  war  seine  Symbolik  aus- 
gestaltet. Seiner  Gewohnheit  gemäss  hat  der  Künstler 
mehrere  Wiederholungen  desselben  Motives  gemalt, 
um  verschiedenen  Bitten  gerecht  zu  werden.  Eines 
dieser  Gemälde  schenkte  er  der  Stadt  Manchester. 
Mit  dem  Zauber  eines  unvergleichlichen,  in  tiefen 
Gluten  wirkenden  Colorits  hat  er  die  »Todesbotin« 
(1887)  in  der  Tate-Gallerie  geschaffen.  Niemals  sind 
die  Farbenträume  Bellinis  und  Tizians  kühner  gewesen. 
Aus  blaugrünem  Licht  schwebt  sie  hervor,  die  streng- 
gütige Botin  in  tiefrotem  Gewand.  Leise,  doch  fest 
berührt  ihr  Finger  die  in  ihrem  Lehnstuhl  erschöpft 
zurückgesunkene  Frau.  Buch  und  Violine  sind  dieser 
zu  Boden  geglitten,  etwas  Kostbareres  muss  sie  noch 
hergeben.  Von  der  entschlossenen  Erscheinung  strömt 
es  wie  unendliches  Trösten.  Es  überflutet  wie  ein 
pulsbesänftigendes  Heilmittel  die  Seele  des  ergriffenen 
Beschauers.  Eine  Symphonie  herrlich  roter  Töne  von  der 
tiefen  Nüance  des  Hintergrundes  bis  in  die  strahlende 
Orangeskala  des  Frauenkleides,  die  sich  aus  grünen 
ShawlhüUen  abhebt,  wirkt  mit  schwellendem  Konzert 
aus  der  linken  Seite  des  Bildes.  So  gewaltig  ist  der 
Eindruck  des  Ganzen,  dass  wir  Schauer  empfinden  wie 
in  der  Gegenwart  einer  überirdischen  Macht.  Das 
gleiche  Bild  hat  der  Künstler  in  seiner  Londoner 
Schaffensstätte  beständig  vor  Augen.  Seit  langen 
Jahren  malt  er  in   dem  Comptoner  Atelier  an  einer 


—    52  — 


umfangreichen  Variation  des  gleichen  Gedankens,  an 
dem  »Hof  des  Todes«.  Wiederum  empfinden  wir  vor 
dieser  erst  jetzt  fast  vollendeten  Schöpfung  sein 
Friedensevangelium.  Hier  tront  der  Engel  des  Todes 
auf  dem  Weltensitz  und  sieht  alle  Klassen  und  Alter 
der  Sterblichen  bei  ihm  Befreiung  suchen  von  irdischen 
Lasten.  In  seinen  Armen  trägt  er  ein  menschliches 
Embryo,  um  die  nahe  Beziehung  zwischen  Entstehen 
und  Vergehen  anzudeuten.  Hier  liefert  der  König  im 
hermelinbesetzten  Purpurmantel  seine  Krone,  der  ge- 
panzerte Ritter  sein  Schwert  ab.  Erlösung  von  den 
Enttäuschungen  ihres  jungen  Lebens  sucht  die  Maid, 
die  sich  wie  eine  vertrauende  Tochter  an  das  Knie 
der  Weltherrscherin  schmiegt.  Der  Krüppel  wie  das 
gebeugte  Alter  flehen  hier  um  Rast  nach  schwerer 
Wanderschaft.  Aber  auch  ein  unschuldiges  Kind 
hüllt  sich  in  den  Mantel  der  bergenden  Mutter,  und 
die  brutale  Kraft,  in  Gestalt  eines  kauernden  Löwen, 
ist  hier  gebändigt.  Angesichts  solcher  Verkündigung 
aus  der  Seele  eines  Menschenfreundes  vergessen  wir 
Addisons  beängstigende  Vision  von  den  Erscheinungen 
der  Lebensbrücke.  Wir  ahnen  etwas  von  den  Inseln 
der  Seligen  jenseits  aller  Seufzer.  Der  Sonnenball 
hinter  dem  Thron  des  Todes  beginnt  seine  Tröstungen 
auszustrahlen.  In  der  Tate-Gallerie  wiederholt  sich 
eine  verwandte  Auffassung  auf  dem  Bilde  »Der  Tod 
krönt  die  Unschuld«.  (1887).  Hier  falten  sich  die 
machtvollen  Schwingen  und  die  mütterlichen  Arme 
der  Todesgöttin  in  segnender  Liebe  um  ein  erloschenes, 
junges  Leben.    Eine  Farbenharmonie   in  Grün,  Weiss 


—    53  — 


und  Grau  hebt  sich  in  geisterhaftem  Lichtflimmer  von 
dem  Tiefblau  des  Himmels,  und  eine  Intensität  des 
Fühlens  ist  erreicht,  dass  wir  uns  den  Schöpfer  solchen 
Werkes  knieend  vor  seiner  Arbeit  denken  können,  wie 
einst  Fra  Angelico  in  San  Marcos  Klosterzellen.  Ein 
Bild  wie  dieses  hat  Watts  die  Erfolge  eingetragen,  die 
er  am  höchsten  schätzt:  die  Dankbarkeit  der  schlichten 
Seelen.  Er  erzählt  mit  besonderem  Stolz,  wie  manche 
schwerberaubte  Mutter  ihn  brieflich  des  Trostes  ver- 
sicherte, den  seine  Farbenpredigt  ihrem  Trauerschmerz 
spendete. 

Während  eines  Besuchs  der  Königin  von  Rumänien 
in  seinem  Atelier,  citirte  der  Künstler  das  alte  Wort: 
Was  ich  ausgab,  hatte  ich,  was  ich  sparte,  verlor  ich, 
was  ich  gab,  habe  ich.  Carmen  Sylva  bezweifelte  die 
Möglichkeit  einer  bildlichen  Darstellung  dieses  Ge- 
dankens. Der  Künstler  sagte  sie  zu.  In  Folge  dessen 
schuf  er  sein  pathetisches  Stillleben  »Sic  transit  gloria«. 
(1892).  Er  malte  in  dem  feierlich  aufgebahrten  Leichnam, 
den  sich  noch  niemals  ein  Stilllebenmaler  zu  ver- 
wenden erkühnt  hatte,  eine  epische  Dichtung  voll  er- 
schütternder Tragik.  Die  Waffen  und  Helmzier,  die 
Bücher  und  Instrumente  und  der  Lorbeerkranz  des 
Toten  ruhen  als  beredte  Zeugen  eines  bedeutsamen 
Lebenslaufes  an  seiner  Bahre.  Die  traurige  Lehre  von 
der  Vergänglichkeit  alles  Irdischen  findet  einen  opti- 
mistischen Ausklang  in  dem  Schlusswort  der  Bildauf- 
schrift: Was  ich  gab,-  habe  ich.  Die  werkthätige 
Liebe  ist  das  Bleibende,  das  wir  zu  schaffen  ver- 
mögen. 


—    54  — 


Watts  Symbol  der  Liebe  ist  wie  das  seines  Todes 
von  dem  gleichen  Drang  eines  menschheitbeglückenden 
Wollens  gezeugt.  Beide  sind  Zwillingsgeschwister. 
Aus  dem  kaleidoskopischen  Farbenspiel  grade  dieses 
Begriffes  wählte  der  Künstler  den  intensivsten  Ton. 
Das  Wesen  der  Liebe  fällt  für  ihn  zusammen  mit 
einem  Ewigkeitsgefühl.  Es  ist  die  Macht,  die  alles 
Leben  stützt,  festigt  und  heiligt.  Watts  Kunst  beweist, 
dass  er  auch  Cupido  hinter  seinen  Masken  belauschte, 
dass  er  gern  den  Possen  der  ausgelassenen  Eroten 
nachging.  Wenn  sein  Künstlertemperament  ihn  auch 
immer  aufs  neue  in  solche  Gesellschaft  lockte,  konnte 
sie  ihm  zur  Schöpfung  eines  Idealbegriffs,  eines 
Symbols,  nicht  Genüge  thun.  Er  suchte  nach  einem 
Ausdruck  für  die  Liebe,  den  keine  Zeit  und  kein  Ort 
zu  wandeln  vermochte,  der  ihr  tiefstes  Geheimnis  er- 
schöpfte. Längst  hatte  ihn  in  London  die  Tragödie 
des  Daseins  auf  das  Tiefste  erschüttert.  Der  altrui- 
stische Puls,  der  in  Freunden  wie  Carlyle  und 
Ruskin,  Gladstone  und  Tennyson  mit  feurigem  Tempo 
klopfte,  war  auch  in  ihm  angesichts  der  Schrecknisse 
der  Riesenstadt,  der  Freistätte  allen  nationalen  Elends, 
erwacht.  Womit  schaffst  du  den  Sinkenden  einen 
Halt,  grübelte  sein  erzieherischer  Geist.  Womit  ver- 
kündest du  den  Verzagenden  ein  Evangelium  des 
Trostes,  sann  sein  gütiges  Herz. 

Und  so  fand  er  die  gesuchte  Formel  und  zeigte 
seinen  Typ  geprägt  auf  dem  Bilde:  »Liebe  und  Leben« 
(1884).  Hier  sehen  wir  einen  öden  Felsgrad  in  den  bläu- 
Hchen  Äther  emporragen.    Zaghaft  tappt  ein  nacktes 


—    55  — 


Mägdlein  durch  das  Gestein  hinauf.  Sie  könnte  niemals 
vorwärts  klimmen,  wenn  nicht  ein  machtvoller  Schutz- 
engel die  Wehrlose,  Zarte  geleitete.  Es  ist  die  Liebe, 
die  das  Leben  stützt  und  führt!  Wundersame  grün- 
liche Luft,  das  Fluidum  Lionardo  da  Vincis,  ist  durch 
den  Raum  ergossen,  aber  die  helle  und  dunkle  Gestalt 
zeigen  die  granitene  Fleischbehandlung  Watts'schen 
Stils.  »Diesem  Bilde,  erzählte  der  Künstler,  danke 
ich  einen  der  schönsten  Erfolge  meiner  Laufbahn. 
Es  hat  eine  Fremde  zu  mir  geführt,  die  mich  in  einer 
verzweifelten  Lebenslage  um  Hilfe  bitten  kam.  Die 
Geldsumme  war  für  mich  nicht  gering,  aber  ihr  Ver- 
trauen auf  den  Maler  von  Liebe  und  Leben  belohnte 
mich  reichlich.«  Das  Glück,  das  der  Meister  mit 
solchen  Thaten  spendete  und  selbst  empfand,  hat  den 
Greis  erst  noch  vor  wenigen  Jahren  veranlasst,  allen 
inneren  Jubel  auf  dem  Bilde  »Triumphirende  Liebe« 
(1898)  auszuströmen.  Hier  steht  sein  Jünglingsgenius 
überlebensgross  im  Weltenraum  aufgerichtet.  Zu  den 
Wolken  hinauf  reckt  er  die  herrlichen  Glieder,  hebt 
er  Blicke  und  Arme.  Ein  Lufthauch  scheint  sein 
purpurnes  Gewand  emporzuschwellen.  Die  Schwingen 
straffen  sich  nach  oben.  Ihm  zu  Füssen  hegen  die 
Geschlechter  in  zwei  riesigen  entseelten  Typen,  noch 
im  Tode  mit  verschränkten  Armen.  Er  hat  die  Eini- 
gung der  Menschheit  durch  seine  göttliche  Mission  voll- 
bracht. Ein  ekstatischer  Dank  verkündet  den  Triumph 
der  allsiegenden  Liebe!  Neben  der  kosmischen  Gefühls- 
grösse  dieser  Auffassung  eines  Zweiundachtzigjährigen 
scheint  uns   das  Liebesempfinden  der  Madonnenmaler 


Triumphierende  Liebe. 
(Mit  Genehmigung  von  F.  Hollyer  in  London.) 


—    57  — 


blutlos,  tritt  der  Sinnen  cult  Tizians  und  Rubens  pein- 
lich hervor,  und  das  gleiche  Motiv  der  Prudhon  und 
Bougereau  verletzt  als  Theatralik. 

Der  melancholische  Wesenszug  des  Engländers 
ist  in  dem  dritten  Symbol  Wattsscher  Zeugungskraft, 
in  seiner  »Hoffnung«  fühlbar.  (1885.)  Watts  sieht  sie 
nicht  als  das  unzerstörbare  Prinzip  des  Lebenswillens, 
auch  nicht  als  die  gleissnerische  Chimäre.  Seine 
Hoffnung  ist  die  Seelenstimmung  der  Vielenttäuschten. 
Der  Künstler  stellt  sie  als  jugendliche  Schöne  dar,  die 
gebrochenen  Körpers,  verbundenen  Auges  auf  dem 
Erdball  kauert.  Einsam  weilt  sie  im  All,  nur  der 
ewige  Äther  umkreist  sie  und  unter  ihr  wallen  die 
Wolken.  Verzweiflung  könnte  ihr  Name  sein,  wenn 
sie  nicht  gespannt  auf  den  Laut  der  letzten  Saite  ihrer 
zerstörten  Lyra  lauschte,  wenn  nicht  ein  Stern  sein 
dünnes  Lichtfädchen  zu  ihr  herab  webte.  Angesichts 
dieses  Symbols  mögen  die  Tapferen  den  Kopf  schütteln, 
und  nur  die  Zagenden  zustimmen.  Es  wird  keinen 
Beschauer  jemals  ohne  tiefe  Ergriffenheit  entlassen. 
Die  malerischen  Eigenschaften  des  Bildes  w^erden  es 
unter  die  Meisterwerke  aller  Zeiten  einreihen.  Hier 
ist  ein  Stimmungsfiuidum  in  mondlichtfarbigem  Zauber 
ausgegossen,  ein  atmosphärisches  Farbenwunder  ge- 
leistet, das  seinesgleichen  nur  in  Lionardos  Gemälden 
findet.  Trotz  ihrer  geschraubten  Pose  ist  diese  Hoffnung 
der  Inbegriff  jungfräulicher  Holdseligkeit.  Der  Blick 
schwelgt  in  der  Plastik  ihrer  Glieder,  in  dem  Falten- 
geriesel ihres  Gewandes.  Wie  musikalischer  Wohl- 
laut  hallt    es    aus    dem   Rahmen,    die  Mondschein- 


-    58  - 


sonate  Beethovens  setzt  mit  bebenden  Sehnsuchts- 
cadenzen ein. 

Einem  Künstler,  dem  die  Nächstenliebe  das  höchste 
Gefühl  bedeutet,  konnte  die  Religion  kein  höheres 
Gedankenbild  eingeben.  Watts  nennt  sich  nur  einen 
Religionsphilosophen.  Er  fühlt  sich  frei  von  allem 
Cult.  Wahres  Christentum  fällt  ihm  zusammen  mit 
dem  Begriff  des  wahren  Menschentums.  »Sprechen  Sie 
nicht  von  meiner  Theologie«,  sagte  er  einmal.  »Der 
Verstand  hat  sich  niemals  sklavisch  dem  Glauben 
unterzuordnen.  Ich  habe  mir  eine  Art  anschaulicher 
Beweisführung  ersonnen.  W^enn  mein  Zeigefinger  hier 
den  Glauben,  der  Mittelfinger  die  Liebe,  der  Vierte 
die  Hoffnung,  der  Kleine  das  Mitleid  bedeutete,  wären 
sie  doch  alle  nicht  im  stände  fest  zuzugreifen  und  zu 
halten  ohne  den  Daumen.  Er  ist  für  mich  das  Bild 
des  Verstandes.  Übrigens  will  ich  die  Menschen  nur 
bis  an  das  Thor  der  Kirche  führen,  ich  fordere  sie 
nicht  zum  Eintreten  auf.«  In  den  Werken  Watts 
findet  sich  nicht  ein  einziges  Mal  das  Zeichen  des 
Kreuzes.  Zu  einer  Zeit  heftiger  Sektenstreitigkeiten 
in  England  malte  er  den  »Geist  des  Christentums« 
(1875),  wie  er  ihn  erfasste.  Er  stellt  ihn  dar  als  eine 
traurig  blickende  Madonna  auf  ihrem  Wolkensitz.  Sie 
birgt  eine  Schaar  unverträglicher  Kindlein  in  ihrem 
Schooss  und  scheint  ihr  Thun  mit  pathetischer  Geberde 
gen  Himmel  zu  verteidigen.  Die  ethische  Kraft  dieses 
Werkes  ist  stark  genug,  uns  gewisse  Dissonanzen  der 
Farbe  im  oberen  Teil  des  Bildes  und  die  Wunder- 
hchkeit  der  Komposition  in  der  Lage  der  Kinder  ver- 


—    59  — 


gessen  zu  machen.  Diese  »Widmung  an  alle  Kirchen«, 
wie  Watts  das  Bild  mit  einem  Untertitel  bezeichnet, 
steht  an  seelischer  Schönheit  auf  der  Höhe  des 
Evangeliums,  wie  es  die  wahrhaft  freien  Geister  zu 
allen  Zeiten  predigten.  Den  gleichen  Gedanken  in 
geschlossener  Form  sprach  er  auf  dem  Madonnenbild 
»Barmherzigkeit«  (1895)  aus.  Mit  einer  Farben- 
intensität, die  seiner  Gefühlsenergie  offenbar  nicht 
genug  thun  konnte,  wünschte  er  auch  hier  die  all- 
umfangende Güte  einer  wohlthätigen  Macht  zu  per- 
sonificiren.  Tiefblau  leuchtet  das  Kopftuch  der 
Madonna,  purpurn  und  grün  ist  ihr  Kleid,  und  in 
kupfrigem  Braun  bettet  sich  der  nackte  Kindeskörper 
auf  ihrem  rechten  Arm  in  diese  Tonfülle.  Nicht  die 
Gebenedeite  sehen  wir  hier  mit  ihrem  Gottesknaben, 
eine  Allmutter  umfasst  drei  Schutzbefohlene  Wesen, 
die  drei  geoffenbarten  Religionen.  Die  grosszügige 
Formensprache  der  Hochrenaissance  geht  durch  die 
Gruppe,  und  etwas  wie  die  leidberührte  Traumge- 
bundenheit Giorgiones  spiegelt  sich  auf  den  Gesichtern. 
Ein  Beitrag  zu  der  idealistischen  Tendenz  der  Neuzeit, 
die  in  der  Haager  Friedensconferenz  ihren  Ausdruck 
fand,  ist  Watts  Bild  »Der  Glaube«  (1897)  in  der  Tate- 
Gallerie.  Der  Maler  symbolisirt  ihn  als  eine  Jungfrau  von 
Orleans,  die  nach  dem  Kampf  am  Strom  die  blutbe- 
fleckten Füsse  reinspült  und  das  Schwert  ablegt. 
Während  Vernichtung  noch  in  der  Ferne  tobt,  schwelgt 
dieses  behelmte  Mädchen  in  der  Frühlingsnatur  und 
schaut  hoffender  Seele  nach  oben.  Zu  dramatischer 
Wucht    steigert    sich   die    symbolisirende   Kraft  des 


Der  Schlummer  der  Zeitalter. 
(Mit  Genehmigung  von  F.  Hollyer  in  London.) 


—    6i  — 


Künstlers,  wenn  er  die  Tragödie  der  Eva  in  der  Bild- 
trilogie  »Die  Geburt«  (1892),  »Die  Verführung«,  »Die 
Reue«  (1880 — 1892)  schildert.  Nicht  die  Geschichte 
des  Weibes,  das  da  liebt  und  Mutter  wird,  ergriff  ihn, 
er  durchlebte  den  Sündenfall.  Mit  allem  Aufgebot 
seines  Idealismus  zeigte  er  die  Entstehung  Evas  aus 
Wolkenschleiern,  Lichtstrahlen  und  Lilienblüten.  Als 
ein  Teil  all  dieser  Herrlichkeiten  richtet  sich  das  Weib 
in  monumentaler  Hoheit  auf,  sie  steht  wie  zum  Hohen- 
priesterinnenamt  berufen.  Aber  nichts  Menschliches 
bleibt  ihr  fern.  Auf  dem  zweiten  Bilde  erfassen 
stürmische  Triebe  die  Menschheitsmutter.  Ihre  Haar- 
massen schwingen  wild,  aus  dem  wirren  Buschwerk 
um  sie  her  flüstert  etwas  Unsichtbares  und  leiden- 
schafthch  ergiebt  sie  sich  dem  machtvollen  Drängen. 
Der  letzte  Teil  des  Dramas  ist  völlige  Gebrochenheit. 
Gegen  die  Stämme  des  Waldes  lehnt  die  Reuige  in 
Verzweiflung.  Sie  hat  ihr  Anrecht  auf  paradiesisches 
Glück  für  ewig  verscherzt.  Der  Hymnus  der  Keusch- 
heit des  ersten  Bildes  ist  zum  Dithyrambus  der  Sinnen- 
gewalt im  zweiten  gewandelt,  um  als  Trauerklage  im 
dritten  auszuklingen.  Kein  richtender,  nur  ein  mit- 
fühlender Künstler  hat  den  Cyklus  geschaffen.  Wie 
ein  umfassendes  Symbol  seiner  Weltanschauung  hat 
der  Künstler  erst  in  diesem  Jahre  »den  Schlummer 
der  Zeitalter«  (1901)  vollendet.  Ein  riesenhaftes  Weib 
mit  klassischen  Formen,  der  Genius  der  entschwundenen 
Menschheit,  ist  auf  den  Weltenthron  von  tiefstem 
Schlaf  bemeistert.  Ein  prachtvolles  Vergessen  aller 
Daseinsbilder,  der  grosse  Friede  ist  über  sie  gekommen. 


—     62  — 


Geheimnisvolles  Dunkel  füllt  den  Bildrahmen.  Nur 
hinter  der  Schlummergebannten  verglüht  der  Sonnen- 
ball im  violetten  Meere.  Auf  dieser  grossen  Hypnose 
atmet  nur  ein  einziges  Moment  frisches  Leben.  Es 
ist  das  blühende  Kind,  der  Genius  der  jungen  Mensch- 
heit, der  auf  dem  Schooss  der  entschlummernden 
Mutter  wacht.  Eine  grosse  Symbolik  des  Vergehens 
und  Kommens,  der  Resignation  und  der  unzerstörbaren 
Glaubenskraft  ist  hier  gegeben.  Aus  dieser  Farben- 
und  Formensymphonie  klingt  es  wie  ein  Orgellargo 
Bachs,  wie  Miltons  Gesänge. 

*  * 
* 

Der  physische  Wesenszug  der  Kunst  Watts  tritt 
auch  als  Wahrzeichen  seiner  Portraitmalerei  auf.  Wir 
stellen  diese  Seite  seines  Schaffens  in  direkte  Folge 
hinter  seine  symbolischen  Kompositionen.  Einen  Geist 
wie  dem  seinen  lag  das  Portrait  an  sich  nicht  nah. 
Der  Zwang  der  Verhältnisse  entwickelte  es  zu  einem 
Hauptzweig  seiner  Thätigkeit.  Er  erwies  sich  als  einer 
der  Auserwählten  des  Faches,  und  der  Erfolg  Hess  ihn 
eine  Portraitgallerie  vaterländischer  und  amerikanischer 
Geistesgrössen  vollenden,  ein  Pantheon  englischer 
Portraitmalerei.  Hierin  entfaltete  er  die  grossen  Züge 
seines  Könnens,  erwies  er  den  Realidealismus,  der  ihn 
zum  würdigen  Nachfolger  der  alten  Meister  erhöht. 
Wir  bewegen  uns  unter  den  Bildnis -Gestalten  eng- 
lischer Portraitmalerei  in  der  Gesellschaft  sehr  ver- 
schiedenartiger, doch  meist  sehr  vornehmer  Menschen. 
Wir   spüren    den   schnellen  Atem   der  temperament- 


-    63  - 


vollen  Geschöpfe  Hogarths,  des  Malers,  der  »den  Sitten 
ins  Gesicht  sah«.  Sie  stammen  nicht  immer  aus  den 
besten  Kreisen,  aber  sie  sind  immer  von  dem  Meister 
gemalt,  der  auf  seinem  Selbstportrait  die  Bände 
Shakespeares  und  Miltons  nicht  entbehren  wollte.  Mit 
Adel  und  Kraft  bewegt  sich  die  Grand  monde  Reynolds, 
mit  verführerischer  Empfindsamkeit  bei  Gainsborough. 
Tizian  schlägt  unter  ihnen  die  Augen  auf  und  ein 
wenig  auch  Watteau.  Das  Gentlemantum,  gepaart 
mit  dem  realistischen  Sinn  des  Engländers,  haben  ihm 
seine  herrschende  Stellung  in  der  Portraitmalerei  be- 
wahrt. Noch  heut  behauptet  er  bei  jedem  internatio- 
nalen Nebeneinander  seinen  Sonderplatz  durch  sein 
selbstsicheres,  vornehm  bescheidenes  Wesen.  Um  so 
bedeutsamer  ist  grade  in  diesem  Lande  die  ungeteilte 
Bewunderung  der  Menschendarstellung  Watts.  Trotz- 
dem fehlt  seinem  Portrait  alles,  was  in  den  heutigen 
Ausstellungen  die  Augen  anzieht.  Er  besitzt  nicht 
den  Pomp  Dicksees,  die  Brillanz  Sargents,  die  Eleganz 
Tademas,  die  Grosszügigkeit  Herkomers.  Man  muss 
seine  stillen  Menschenbilder  aufsuchen.  Sie  scheuen 
die  Oeffentlichkeit  wie  ihr  Schöpfer.  In  dem  ruhig 
Dauernden  ihrer  Individualität,  der  Zurückhaltung  ihrer 
Darstellung  stellen  sie  sich  neben  die  Art  Tintorettos. 
Immer  kündet  sich  neben  diesen  Biographieen  die 
i\utobiographie  des  grossen  Watts.  Er  erfasst  die 
Modelle  als  Wesen,  wie  sie  sein  sollen,  als  ethische 
Typen,  so  wie  Sophokles  die  Menschen  als  Dichter 
gesehen.  Alle  diese  Portraits  scheinen  von  einer  ge- 
wissen Schwere   belastet,   ihre  seelische  oder  gedank- 


-    64  - 


liehe  Fülle  liegt  auf  ihren  Zügen.  Meist  finden  wir 
nur  Brustbilder,  seltener  Kniestücke,  in  Ausnahme- 
fällen die  Vollfigur.  Auf  den  Brustbildern  der  letzten 
Jahre  sind  die  Hände  auch  oft  fortgelassen,  die  Kon- 
zentration der  Individualität  bleibt  einzig  dem  Gesichte 
übertragen.  Obgleich  Watts  die  Aehnlichkeit  als 
wesentliche  Bedingung  des  guten  Portraits  auffasst,  er- 
strebt er  durchaus  die  Natur  nur  durch  Auswahl 
individueller  Eigenschaften  zu  charakterisiren.  Immer 
soll,  wie  Schopenhauer  es  nennt:  das  Wunder  einer 
im  Individuum  sich  offenbarenden  Idee  verdeutUcht 
werden.  Watts  analysirt  bei  den  Sitzungen  mit  psycho- 
logischer Vivisection,  um  endlich,  nur  aus  dem  Er- 
innerungsvermögen ,  in  einer  Farben-  und  Formen- 
synthese sein  Endresultat  aufzustellen.  Hier  durchläuft 
er  den  Prozess  bei  der  Portraitmalerei,  der  für  seine 
gesamte  künstlerische  Production  mehr  und  mehr 
typisch  wurde.  Die  Modelle  studirt  er  wohl  mit  dem 
Auge,  aber  er  belauscht  sie  m^it  dem  Ohr,  sinnt  sich 
in  ihre  Empfindungswelt  hinein.  Er  hält  an  seiner 
Eigenart  fest,  die  Natur  nicht  wiederzugeben,  sondern 
zu  übersetzen.  Daher  ist  ihm  ein  psychisches  Colorit 
wesentHcher  als  exacte  Lichtbehandlung.  Meist  ist 
jeder  Physiognomie  etwas  Lichtfrohes  oder  Düsteres, 
je  nach  der  Seele  des  Sitzers  mitgeteilt.  Die  Anatomie 
des  Kopfes  ist  immer  in  meisterlicher  Modellirung 
nachgebildet.  Die  Flächen  stehen  organisch  inein- 
andergefügt, die  Augen  spiegeln  individuelles  Leben. 
Jeder  einzelne  Teil  ist  mit  höchster  Sorgfalt  behandelt, 
mit  der  Romantik  und  zugleich  dem  Klassicismus  der 


-    65  - 

Watts  ganz  allein  eigentümlichen  Technik.  Watts 
Stolz  ist,  dass  jedes  seiner  Portraits  dem  Sitzer  ent- 
sprechend vollständig  anders  gemalt  wurde,  dass  nie 
ein  Teil  schematisch  entstand.  »Es  ist  ein  Irrtum, 
sagt  er,  meine  Portraitirung  für  im  landläufigen  Sinn 
»ideal«  zu  halten.  Sie  soll  im  Gegenteil  sehr  real 
sein,  und  daher  bemühe  ich  mich,  geistige  wie  körper- 
liche Ähnlichkeit  zu  erzielen.  Einige  Künstler  malen 
z.  B.  die  Nase  immer  mit  demselben  Strich  und  ihre 
Schatten  mit  derselben  Farbe.  Wegen  dieser  Identi- 
ficirung  kann  man  auf  den  ersten  Blick  sagen:  Dies 
ist  ein  Portrait  von  So  und  So.  Mein  Bemühen  war 
es  stets,  den  Beschauer  zu  nötigen,  bei  der  Betrachtung 
eines  Bildes  immer  nur  an  das  Gesicht  vor  sich  und 
nicht  an  den  Mann,  der  es  malte,  zu  denken.  Wer 
derart  Portraits  malt,  braucht  keine  Fallgruben  des 
Manierismus  zu  fürchten.  Bei  meinem  imaginären 
Werk  betrachte  ich  mich,  in  Anbetracht  des  Details, 
so  lange  vollkommen  frei,  als  ich  kein  Gesetz  verletze. 
Beim  Portraitmalen  ist  dies  natürlich  anders,  denn 
während  ich  meinen  geistigen  Fähigkeiten  vollen  Spiel- 
raum gebe,  des  Sitzers  intellectuelle  Charakteristik  zu 
erfassen,  beobachte  ich  gleichzeitig  das  körperliche 
Detail.«  Watts  besitzt  auch  das  Talent  des  coup 
d'oeil  in  hohem  Maasse,  trotzdem  er  seiner  Gewohn- 
heit gemäss  ein  langsamer  Arbeiter  ist.  Das  Portrait 
Lord  Shrewsburys  entstand  als  eine  alprima  Leistung 
in  einer  Stunde.  Garibaldi  war  nach  vierstündiger 
Sitzung,  Leslie  Stephan  nur  nach  zweistündiger  auf  die 
Leinwand  gebannt.   Watts,  dem  die  Geistesblüte  seiner 

5 


—    66  — 


Zeit  willig  Modell  stand,  hat  sich  selbst  nur  selten 
gemalt.  An  das  obenerwähnte  Knabenportrait  schliessen 
sich  drei  herrliche  Männerbildnisse.  Jedes  ist  in  seiner 
Art  für  eine  Seite  der  Künstlernatur  typisch,  —  jedes 
ist  ein  Meisterstück  der  Pinselkunst.  Das  eine,  im 
Palais  Lord  Hollands  (1850)  stellt  den  Künstler  in 
Ritterrüstung  dar.  Das  zweite  in  der  Tate-Gallerie, 
aus  1864,  zeigt  Watts  in  der  Auffassung  eines  schlichten 
Wandermannes,  eines  Seelsorgers.  Es  ist  Halbfigur, 
auf  einfarbigem  Hintergrund  in  grauen  und  schwarzen 
Tönen  gehalten,  bis  in  die  Hände  hinein  sorgfältig 
durchgearbeitet.  Die  Persönlichkeit  in  ihrer  Seelen- 
güte und  Schlichtheit  kommt  überzeugend  zur  An- 
schauung. Das  andere  in  der  Gallerie  der  Uffizien 
(1883),  ebenfalls  Halbfigur,  nur  ohne  Hände,  leuchtet 
in  gedämpftem  Farbenreichtum.  Hier  ist  Watts  der 
Maler  wiedergegeben,  mit  dem  Malkäppchen  und  der 
Palette.  Diese  Physiognomie  ist  voll  klassischer  Schön- 
heit, sie  trägt  den  Stempel  des  Künstlertums  von 
Gottes  Gnaden. 

In  der  Portrait- Abteilung  der  Londoner  National- 
Gallerie  ist  heut  das  Werk  Watts  am  reichhaltigsten 
zu  Studiren.  Hier  hängen  mehr  als  dreissig  seiner 
Bildnisse  unsterblicher  Engländer.  Sie  sind  verschieden- 
artig gemalt,  bald  weich,  bald  von  steinerner  Härte, 
bald  sorgfältiger  oder  schneller,  wahre  Perlen  der 
Portraitmalerei  befinden  sich  unter  ihnen.  Staatsmänner, 
Philosophen,  Künstler,  Kirchenfürsten  und  Philantropen, 
sind  hier  durch  Watts  Pinsel  dem  Gedächtnis  der 
Nachwelt   verewigt.     Aus    der  Selbstherrlichkeit  des 


schöpferischen  Künstlers  ist  hier  dem  Mann  des  Ge- 
dankens wie  der  That  der  Ritterschlag  erteilt.  Eine 
der  klassischen  Portraitleistungen  aller  Zeiten  ist  das 
Kniestück  des  Cardinais  Manning.  Der  sinnende  Theo- 
loge ist  sitzend  dargestellt.  In  prangender  Lokalfarbe 
leuchtet  der  Scharlach  seines  Gewandes,  schimmert 
das  Weiss  der  Spitzenbesätze.  Aus  dem  abgezehrten 
Antlitz,  das  des  Gedankens  Blässe  durchgeistigt, 
schauen  in  grüblerischem  Ernst  die  Augen.  Etwas 
Asketisches,  Energisches,  zugleich  Gütiges,  durchdringt 
diese  Persönlichkeit  bis  in  die  Spitzen  der  knochigen 
Finger.  Hier  ist  ein  Werk  geschaffen,  das  sich  neben 
Bellinis  Cardinal  Loredano  behauptet.  Von  gross- 
artiger Plastik  ist  der  bildschöne  KopT  John  Laird 
Mairs,  des  Vicekönigs  von  Indien  (1862),  der  das  Pend- 
schab vor  der  Revolution  rettete.  Geschlossene  That- 
kraft  ist  in  den  festen  Gesichtspartieen,  dem  stählernen 
Blick  der  blauen  Augen  concentrirt.  Auf  John  Stuart 
Mills  Portrait  (1874)  daneben  mit  den  schmalen  Lippen 
und  den  dünnen  Bartcotteletten  prägt  sich  der  Intellect 
des  Denkers  in  den  durchfurchten  Zügen  aus.  Hier 
dräut  das  zerklüftete  Haupt  Carlyles  (1877)  in  braun- 
gelber Farbenstimmung.  Neben  den  Demokraten  tritt 
der  Aristokrat:  Venetianisches  Goldgelb  und  Rot 
strahlen  von  der  reichgeschmückten  Person  Owen 
Meredith  (1884),  des  lyrisch  begabten  Sohnes  Bulwers, 
und  werfen  einen  Wiederschein  auf  sein  Antlitz  mit 
den  blauen  Träumeraugen.  Doktor  Martineaus  Blick 
scheint  metaphysische  Nebel  zu  durchdringen,  Glad- 
stone  (1865)  spiegelt  leidenschaftlichen  Eifer  und  Selbst- 


Cardinal  Manning. 
(Mit  Genehmigung  von  F.  Hollyer  in  London.) 


-    69  - 


gewissheit.  Eines  der  vollendetsten  Werke  ist  das 
Portrait  des  Londoner  Stadtarchivars  Rüssel  Gurney. 
Feine  silbrige  Töne  leuchten  hier  am  Kopf  und  an 
dem  eleganten  Rock.  Nur  die  rötlichen  Töne  des 
Fleisches  bringen  Melodie  in  die  graubraune  Begleitung 
des  Ganzen.  Hier  hängt  Frederick  Leighton  (187 1)  in 
seinem  vornehmen  Künstlertum,  als  Präsident  der 
Londoner  Akademie,  und  Panizza,  der  Begründer  des 
Lesesaals  des  Brittischen  Museums,  zeigt  seine  massive 
Persönlichkeit  mit  höchster  Intensität  bei  der  Schreib- 
arbeit. Auch  Brownings  männlicher  Kopf  und  des 
Dichtermalers  Rosetti  südliche  Schönheit  ist  hier  zu 
betrachten.  In  Mathew  Arnold  offenbart  sich  die 
kritische  wie  die  dichterische  Seele. 

Eine  umfassende  Bildnissammlung  Watts  befindet 
sich  auch  in  Little  Holland  House.  Hier  ist  er  als 
Maler  der  Frauenschönheit  zu  bewundern.  Wer  könnte 
die  junge  Lady  Lilford  vergessen,  deren  klassische 
Züge  in  wundervollstem  Colorit  festgebannt  wurden. 
Wie  ihre  dunklen  Augen  emporschauen,  ihr  entzücken- 
der Mund  sich  wölbt!  In  holdselige  Wehmut  das 
Ganze  getaucht,  ein  Seufzer  der  Keuschheit  über  das 
Erdgeborensein.  Da  sehen  wir  die  gefeierte  Schönheit 
Mrs.  Langtry  als  züchtiges,  junges  Frauchen  im  alt- 
modischen Hut,  dessen  schwarze  Bindebänder  ihre  rot- 
blonden Haare  einrahmen.  Die  bildschöne  Comtesse 
Somers  prangt  hier  mit  tiefgrünem  Gewand  in  land- 
schaftlicher Umgebung.  Immer  zeigt  Watts  den  Hals- 
ansatz des  Frauenkopfes.  Er  ist  zuviel  Anbeter  der 
Form,  um  dieses  wundervolle  Bauglied  des  weiblichen 


—    70  — 


Körpers  jemals  zu  verhüllen.  Selbst  auf  einer  Portrait- 
zeichnung  der  Lady  de  Vesci  aus  seinen  letzten  Jahren 
bleibt  er  diesem  Prinzip  treu.  Die  vornehme  Dame 
trägt  einen  hohen  Kragen,  der  auf  Wunsch  des 
Künstlers  so  locker  gehalten  wurde,  dass  der  Hals  frei 
blieb.  Besonders  stolz  ist  Watts  auf  den  kraftvollen 
Hals  der  eignen  Gattin.  Er  hat  sie  hier  in  grünlichen, 
von  gelbgoldenen  Lichtern  überspieltem  Kleid,  in  einer 
Rückenansicht  gemalt,  die  diese  Schönheit  voll  zu 
Tage  treten  lässt.  In  Holland  House  träumt  und 
lächelt  und  lockt  noch  manches  Frauenwesen,  aber 
nimmer  hat  Watts  Pinsel  frivolen  Wünschen  gedient, 
nie  versuchte  er  Creuze  oder  Fragonard  zu  sein.  Ein- 
zelne seiner  Frauenportraits  vertragen  die  Nachbar- 
schaft Tizians,  andere  wirken  schwer  in  der  Form- 
gebung und  im  Ton.  Er  wird  im  Ganzen  als  Männer- 
maler höher  gestellt.  Eine  erlauchte  Herrengesell- 
schaft ist  auch  in  Little  Holland  House  beisammen 
gehalten.  Wir  finden  im  schwarzen  Rock  den  träume- 
rischen Prinzen  Joinville,  dessen  rote  Lippen  durch 
den  Bart  schimmern.  Wir  sehen  Swinburne,  den 
Poeten,  dessen  seelische  Glut  wie  in  leisem  Feuer  sein 
kühnes  Haupt  mit  den  rötlichen  Haarmassen  zu  um- 
leuchten  scheint.  Der  schöne,  bärtige  Kopf  William 
Morris,  des  Geschmacksreformators,  hebt  sich  von  dem 
Lilienmuster  der  Tapete,  und  besonders  charakteristisch, 
in  vornehm  schlichten  Farben,  ist  Walter  Cranes 
scharfgeprägtes  Antlitz  wiedergegeben.  Voll  feierlichen 
Ernstes  hebt  sich  George  Meredith  (1894),  der  geist- 
volle Dichter,  in  grauem  Anzug  von  dem  roten  Hinter- 


—    71  — 


grund  seines  Bildes,  und  sein  parnassischer  College, 
Philipp  Calderon,  wirkt  wie  eine  Seelenvision,  die  aus 
dem  Dunkel  auftaucht.  Schlicht  und  klug  blickt  der 
Philantrop  Passmore  Edwards  (1894)  aus  dem  Rahmen, 
pompös,  in  gedämpfter  Farbenpracht,  ist  Lord  Salis- 
burys  kraftvolle  Persönlichkeit  gegeben.  Der  haarum- 
wogte, edle  Kopf  Motleys,  des  grossen  Geschichts- 
schreibers, fesselt  uns  durch  den  tiefen  Blick  seiner 
blauen  Augen,  und  sein  College  Lecky  verrät  deutlich 
sein  geistiges  Element.  Gerald  Balfour  (1899),  der  feine 
Denker,  zeigt  jünglinghafte  Schönheit  im  weissen  Haar. 
Dieses  Portrait  beweist  Watts  ungeminderte,  souveräne 
Beherrschung  seines  Malhandwerks.  Hier  ist  die  Ein- 
dringlichkeit der  Charakteristik  und  des  Colorits  mit 
äusserster  Beschränkung  aller  Mittel  erreicht,  der  Greis 
steht  im  Zenith  seines  Könnens.  Ein  Seitenstück  ist 
das  Brustbild  Lord  Roberts  (1899).  Es  zeigt  den  alten 
Soldaten,  mit  dem  leuchtenden,  gütigen  BUck  und  der 
sonnengebräunten  Haut  in  der  Anspruchslosigkeit,  die 
seine  Nation  an  ihm  liebt.  All  diese  Werke  sind  in 
dem  gleichen  Brustbildformat  gehalten,  offenbar  alle 
Beiträge  zu  seinem  Physiognomieen- Pantheon.  Uns 
Deutsche  fesselt  hier  besonders  ein  Portrait  Joseph 
Joachims,  das  den  Geigerkönig  noch  bartlos  zeigt. 
Watts  malte  ihn  wie  in  das  Tonmeer  des  eignen 
Violinspiels  versenkt.  Die  weichen  doch  festen  Formen 
des  Hauptes  stützen  sich  auf  das  Instrument,  während 
die  Hand  voller  Innigkeit  den  Bogen  führt.  Ein  mildes 
Licht,  das  von  unten  einfällt,  hellt  die  Persönlichkeit 
des  Künstlers    magisch   auf.     Joachim   selbst  rühmt 


Walter  Crane. 
(Mit  Genehmigung  von  F.  HoUyer  in  London.) 


—    73  — 


dieses  Portrait  als  eines  seiner  gelungensten.  Ange- 
sichts dieser  Gesellschaft  bedeutender  Männer  und  edler 
Frauen  in  Little  Holland  House  kommt  uns  die  Be- 
merkung eines  geistreichen  Besuchers  in  die  Erinnerung. 
Er  sagte,  dass  ihn  hier  die  Empfindung  überkäme,  als 
dürften  nur  vornehme  und  schöne  Menschen  über  die 
Hausschwelle. 

Einzelne  besonders  schöne  Portraitschöpfungen 
des  Meisters  sind  in  Privatbesitz  geborgen.  Zu  ihnen 
zählt  das  Bildnis  der  frühverstorbenen  Marquise  Louisa 
von  Waterford.  In  ihrem  entzückenden,  gleichsam 
nur  auf  die  Leinwand  hingehauchten  Profil  ahnen  wir 
die  kunstinspirirte  Seele,  die  sich  ebenso  gross  in  der 
Liebesfülle  ihrer  Weiblichkeit  erwies.  Als  Gast  Lord 
Hollands  in  Florenz  und  Paris  schuf  Watts  eine  Reihe 
von  Portraits,  die  jetzt  im  Palast  Lord  Hollands,  in 
London,  aufbewahrt  werden.  Trotzdem  ein  Feuer 
hier  im  Jahre  1871  einige  schöne  Bilder  gänzlich 
zerstörte,  und  andere  arg  beschädigte,  ist  ein  Teil 
gerettet.  Lady  Holland  befindet  sich  hier  in  lebens- 
grosser  Darstellung  in  dem  breitkrämpigen  Strohhut 
der  Nizzaer  Landfrauen.  Hier  ist  ihre  Adoptivtochter 
Mary  Fox,  die  spätere  Prinzessin  Lichtenstein,  als  Kind 
mit  ihrem  Lieblingshunde  unter  den  Gedern  des  Herren- 
sitzes dargestellt.  Eine  stolze  Reihe  englischer  und 
französischer  Granden,  die  im  Hause  verkehrten,  waren 
des  Künstlers  Modelle.  Von  den  Pariser  Aufnahmen 
existirt  hier  noch  die  Guizots,  Thiers  und  Jerome 
Bonapartes. 

Watts  hat  in  seiner  bescheidenen  Art  jede  Nach- 


—    74  — 


Marquise  Louisa  von  Waterford. 
(Mit  Genehmigung  von  F.  Hollyer  in  London.) 


Schöpfung  eines  denkwürdigen  Menschentums  nur  als 
»biographische  Notiz«  zu  einem  Lebenslauf  bezeichnet. 

*  * 

»Ein  Universum  edlen  Traumlands  liegt  noch  un- 
erobert  vor  uns«,   hatte   Ruskin   gesagt.    Er  pries  die 


—    75  — 


Phantasie  als  Krone  der  schöpferischen  Begabung,  und 
feierte  Watts  und  Burne  Jones  als  die  mythischen 
Künstler  Englands.  Es  schien  ihm  eine  grosse  That, 
den  Gedankeninhalt  des  Mythos  in  feierlicher  Helden- 
anbetung nachzuschaffen.  Ruskins  Urteil  hat  Watts 
Eigenart  nur  zum  Teil  erschöpft.  Er  ist  einerseits  der 
mythische  Künstler,  aber  andererseits  und  vor  allem 
strebte  er  als  praktischer  Sittenprediger,  Laster  und 
Tugenden  seiner  Zeit  in  freiersonnenen  Gedanken- 
bildern als  Wegweiser  oder  Warnungstafeln  aufzustellen. 
Wie  als  Symboliker  hat  er  auch  als  AUegoriker 
gestaltet.  Er  betont  jedoch:  »Ich  will  nichts  mit  jenen 
flachen  AUegorikern  gemein  haben,  die  mit  skrupel- 
loser BequemHchkeit  Göttliches,  Menschliches  und 
Tierisches  durcheinander  werfen«.  Niemals  hat  er 
sich  mit  verbrauchten  Typen  begnügt,  ihm  galt  es 
Gold  statt  der  Scheidemünzen  zu  prägen.  Mit  welch' 
merkwürdiger  Vertiefung  der  Anschauung,  wie  ganz 
originell  Watts  auch  die  Allegorie  schuf,  zeigt  eine 
seiner  packendsten,  »das  Gewissen«.  Dieses  sonderbare 
Werk,  jetzt  in  der  Sammlung  der  Tate-Gallerie,  ent- 
lässt  uns  vorerst  unbefriedigt  in  seinem  rötlichbraunen 
Schattendämmer.  Wir  empfinden  es  auf  den  ersten 
Blick  als  unklar  und  reizlos.  Je  mehr  wir  aber 
schauen,  um  so  magnetischer  bannt  uns  irgend  eine 
geheimnisvolle  Macht.  Wir  erkennen  mehr  und  mehr 
den  düstren  Tonschleier  als  die  Riesenform  eines 
Menschenherzens.  In  ihm  sitzt  eine  geflügelte,  weibliche 
Gestalt.  Auf  dem  Schooss  hält  sie  eine  Posaune,  an 
der  Stirn  glänzt  ein  Stern,  ein  kleines  rotes  Menschen- 


-    76  - 


herz  ist  ihr  Halsschmuck.  Das  Merkwürdigste  aber 
diese  Augen!  So  scheinbar  verhüllt  und  doch  so 
unbeschreiblich  scharf,  durchdringend,  unbarmherzig. 
Wehe,  wer  schuldbeladen  vor  diesen  Bewohner  des 
Innersten  tritt.  Da  wird  das  Himmelslicht  auf  dem 
Haupt  flammen,  die  Posaune  wird  sich  heben  und 
furchtbare  Verdammnis  künden.  So  einfach  und  so 
eindringlich  hat  noch  kein  Maler  das  Gewissen  dar- 
gestellt. Unverkennbar  trägt  dieses  kühnblickende, 
scharfgeschnittene  Antlitz  die  Züge  der  Gattin  des 
Malers.  Gehen  wir  nun  die  bekanntesten  Allegorien 
Watts  nach  ihrer  Reihenfolge  im  Laufe  der  Jahre 
durch,  so  hat  ihn  früh  der  Gedanke  der  schnell  ent- 
gleitenden Gelegenheit  beschäftigt.  Sie  nahm  zweimal 
als  »Fata  Morgana«  Gestalt  an.  Die  trügerische  Fee 
Boiardos,  die  den  Ritter  verlockt,  schwebte  der 
Phantasie  des  Malers  vor.  Die  erste  Version  voller 
Leben  und  Feuer,  ganz  in  der  geschwungenen  Kom- 
positionslinie, die  Hogarth  als  Quelle  aller  Schönheit 
anbetete,  entstand  1847.  Dieses  Bild  schmückt  jetzt  die 
Gallerie  der  Stadt  Leicester  als  ein  Geschenk  Watts 
für  die  wertvollen  Dienste,  die  Thomas  Cook,  ein 
Bürger  dieser  Stadt,  englischen  Reisenden  leistete. 
Die  zweite  aus  1870  von  ruhevollerer  Haltung,  aber 
höherer  künstlerischer  Reife  ist  in  Privatbesitz. 
Jünglingsgestalten,  eine  Mischung  von  Helden  und 
Träumern  sind  für  Watts  typisch.  Er  malt  »Sir 
Galahad«,  den  Gralsucher  (1862),  der  mit  seinem  Ross 
den  einsamen  Wald  durchstreift.  Er  verkörpert  das 
»Streben«  (1880)  als  Standartenträger,  der  voll  hohen 


Sir  Galahad. 
5(Mit  Genehmigung  von  F.  Hollyer  in  London.) 


-    78  -. 


Jugendsinns  vorwärtsschreitet.  Der  »Gewappnete  Ritter«, 
der  »Glückliche  Krieger«  (1884),  den  die  Münchener 
Pinakothek  erwarb,  sind  fernere  Mitglieder  der  jugend- 
lichen Kreuzfahrerschaar  des  Maleridealisten.  An 
ihnen  vermochte  der  Künstler  auch  seiner  Lust, 
schimmernde  Rüstungen  zu  malen,  wie  sie  selbst 
Giorgione  entzückt  hätten,  Genüge  zu  thun.  Eine 
solche  Einzelstudie  auf  rotem  Grund  hängt  jetzt  in 
Little  Holland  House.  Sie  steht  in  ihrer  peinHchen 
Naturnachbildung  auf  der  Höhe  derartiger  Studien 
von  Menzel.  Den  Geist  antiker  Schönheit  und  Freiheit 
offenbart  Watts  in  seiner  »Arkadia«  (1878).  Herb  und 
und  keusch  löst  hier  eine  statuarische  Jungfrau  die 
Gewandhüllen  ihres  Leibes,  am  Marmorbrunnen,  wo 
die  Wasser  rieseln  und  durch  die  Bäume  die  freie 
Landschaft  schimmert.  Im  »Unheil«  (1878)  malte 
Watts  eine  packende  Allegorie  der  Fleischlust.  Trotz 
der  Disharmonie  dieses  Farbenkonzerts,  die  allerdings 
als  psychische  Illustration  des  Themas,  hier  wie  so 
häufig  bei  ihm  beabsichtigt  ist,  empfinden  wir  die 
furchtbare  Macht  der  Verführerin,  der  der  Jüngling 
unterliegt.  Das  Problem  von  der  Gewalt  der  Leiden- 
schaften hat  Watts  immer  beschäftigt.  Wie  er  das 
lichte  Heldenbild  des  Idealisten  (1881)  als  den  »Reiter 
auf  weissem  Ross«  schilderte,  hat  er  die  von  düstern 
Trieben  beherrschte  Menschenseele  als  »Reiter  auf 
rotem  Ross«  dargestellt.  Auf  beiden  Bildern  erscheint 
der  titanenhafte  Typ,  der  die  Jünglinge  und  Frauen 
Watts  oft  wie  aus  den  Pergamon  Reliefs  entlehnt 
zeigt.     Eine   Allegorie   von   furchtbarer   Wucht  der 


—    79  — 


Anklage  ist  »Mammon«  (1885).  Watts  verkörpert  ihn 
als  den  brutalen  Eunuchen,  der.  gleichgiltig  weiblichen 
Liebreiz  und  männliche  Kraft  zertritt.  In  gelbem 
Mantel  über  blaugrünem  Gewand  tront  dieser  Moloch 
vor  blutroter  Wand.  Totenschädel  zieren  seinen  Sitz. 
Die  kindliche  Herzensgüte  des  Künstlers  war  in 
einer  seiner  letzten  Allegorieen  »der  schaudernde 
Engel«  (1900),  eine  »Widmung  an  Alle,  die  das  Schöne 
lieben«,  ausgesprochen.  An  die  eitle  Frauenwelt 
wandte  er  sich  mit  diesem  rührenden  Appell,  um  die 
Tötung  der  Singvögel  für  Modezwecke  zu  hindern. 
Vor  einem  Altar  auf  weissem  Bahrtüchlein  liegen  die 
gefiederten  Opfer  ausgebreitet.  Ein  Engel  in  tief- 
blauem, mit  Rot  umsäumtem  Gewand,  verhüllt  sein 
blondes  Haupt  vor  diesem  Anblick.  Trotz  einer 
gewissen  mathematischen  Steifheit  der  Pose,  dringt  die 
Empfindung  dieser  Schöpfung  mit  ihren  melodischen 
Farbenakkorden  tief  in  die  Seele.  Den  Gesetzen  alles 
Lebenden  zuwider  scheint  die  gestaltende  Kraft  des 
Künstlers  mit  dem  Alter  zu  wachsen.  In  der  New 
Gallery  dieses  Jahres  überraschte  er  mit  »Geldgier 
und  Arbeit«  (1901),  einer  Allegorie  von  unmittelbarer 
Wirkung.  In  blühendem  Jugendprangen  schreitet  hier 
ein  junger  Feldarbeiter,  zu  dem  der  Künstler  das  Modell 
in  einem  Comptoner  Gärtner  entdeckt  hatte,  mit  dem 
Arbeitsgerät  in  den  Tag  hinein.  Robuste  Gesundheit 
und  Glück  strahlt  dieses  Bild  der  Kraft  aus.  Licht- 
scheu versteckt  sich  hinter  ihm  ein  lauernder  Greis, 
der  seinen  Geldbeutel  umklammert.  Er  atmet  nur 
Missmut  und  Gewissenspein  aus.   Alle  diese  Allegorieen 


Geldgier  und  Arbeit. 
(Mit  Genehmigung  von  F.  HoUyer  in  London.) 


Noah. 

(Mit  Genehmigung  von  F,  Hollyer  in  London.) 


—     82  — 


Watts  sind  wie  seine  Symbole  Lapidarschrift  der 
Kunst. 

Wie  aus  der  freien  Phantasie  hat  Watts  auch  aus 
der  Bibel,  der  Mythologie,  dem  Alltagsleben  und  der 
Poesie  seine  Stoffe  entnommen.  Er  bestätigte  immer 
seinen  Ausspruch:  »Der  wahre  Prophet,  sei  seine 
Sprache  Prosa  oder  Poesie,  Malerei  oder  Musik,  kann 
in  Regionen  versetzen,  wo  die  Erde  ihren  Platz  unter 
den  Sternen  einnimmt  und  etwas  von  der  Unendlichkeit 
des  Himmels  auf  die  Luft  übertragen  scheint«.  Niemals 
erreicht  Watts  wie  die  Bolognesen  aus  religiöser 
Ekstase  seine  Wirkung,  den  dogmenlosen  Engländer 
trägt  immer  nur  sein  sittliches  Pathos.  Jedes  dieser 
Bilder  ist  in  der  Absicht  gemalt,  zu  starkem  Mit- 
empfinden fortzureissen.  Meist  wirkt  ein  leidenschaft- 
licher Monolog,  häufig  ein  Zwiegespräch,  selten  ein 
vielstimmiger  Vortrag  auf  uns  ein.  Gewöhnlich  ist 
eine  Person  der  Hauptträger  der  Handlung,  während 
sich  die  übrigen  wie  passive  Choristen  verhalten.  Wir 
besitzen  eine  Reihe  biblischer  Gestalten  von  Watts. 
Den  »Kain«  hat  der  Künstler  1872  und  1885  in  zwei 
verschiedenen  Versionen  gemalt.  Er  zeigte  ihn  erst 
als  den  gottverfluchten  Mörder,  dann  als  den  Reuigen, 
dem  der  Engel  Gottes  Versöhnung  kündet.  Den  Ur- 
vater »Noah«  sehen  wir  wie  eine  michelangeleske 
Gestalt  mit  den  Seinen  beim  Bau  der  Arche  am  Meer. 
Vergebende  Liebe  ist  das  Motiv  des  »Jacob  und  Esau« 
(1868).  Der  »Noah«  sowohl  als  »Jacob  und  Esau« 
zeichnen  sich  durch  prachtvolle  KompositionsHnie  aus. 
Des  Propheten  »Jonas«  (1895)  bediente  sich  Watts  zu 


einer  Kapuzinade  an  seine  Landsleute.  Empört  über 
die  Sündenchronik  der  Sport-  und  Spielerkreise  malte 
er  ihn  im  glühenden  Blick,  den  Untergang  Ninives 
schauend.  In  der  Muskelsprache  des  Körpers,  bis  in 
die  gespreizten  Finger,  die  gestrafften  Gewandfalten, 
kündet  sich  der  anklagende  Seher.  Grell  sticht  sein 
grüner  Rock  von  dem  rotbraunen  Körper  ab.  An  der 
steinernen  Mauer  hinter  ihm  schimmert  es  wie  Blut- 
spuren auf  den  Reliefdarstellungen  der  nationalen 
Laster.  Verschiedene  Stoffe  voll  starken  Gefühlsinhalts 
ergaben  sich  aus  dem  neuen  Testament.  Niemals 
jedoch  hat  der  Künstler  die  Gestalt  Christi  dargestellt. 
»Der  gute  Samariter«  (1850)  verherrlicht  in  einer 
beredten  Gruppe  die  Nächstenliebe.  Er  wurde  der 
Stadt  Manchester  zur  Erinnerung  an  die  philantropische 
Arbeit  eines  ihrer  Mitbürger  gespendet.  Eine  »Magdalene« 
am  Fusse  des  Kreuzes,  ein  »Verlorener  Sohn«  (1871) 
in  der  Einsamkeit  sind  Monodramen.  Die  »Tochter 
der  Herodias«  (1885),  die  sich  das  Haupt  des  Täufers 
in  einer  Schüssel  reichen  lässt,  wirkt  in  dem  Pomp  ihrer 
Erscheinung  wie  eine  Gestalt  Veroneses.  Ebenso  klingt 
venetianische  Majestät  aus  der  Figur  des  Reichen,  der  in 
tiefer  Scham  sein  beturbantes  Haupt  abwendet,  »Weil 
er  grosse  Güter  hatte«  (1894).  Der  herrliche  Empfindungs- 
gehalt dieser  Schöpfung  tritt  durch  den  Contrast 
äusseren  Glanzes  und  innerer  Demut  ergreifend  in  die 
Erscheinung.  Trotz  der  Plastik  der  Gestalt  und  des 
Grandentums  ihrer  Formgebung  ist  grade  hier  die 
Trübheit  des  Colorits  nicht  recht  begreiflich.  Der 
Purpur  des  Mantels,  das  Gold  der  Halskette  und  die 


-    84  - 


Ringe  hätten  in  besonderer  Leuchtkraft  strahlen  müssen, 
um  die  tragische  Ironie  zu  verschärfen. 

Der  antike  Geist  des  Künstlers  hat  stets  mit  Vor- 
liebe in  der  Phantasiewelt  des  griechischen  Mythos 
geweilt.  Die  Olympier  und  ihre  gliederschimmernden 
Heldinnen,  die  ausgelassene  Flatterschaar  der  Eroten 
teilten  seinem  grüblerischen  Sinn  Jugendimpulse  mit. 
Fröstelnd  in  der  Firnenluft  seiner  Ethik,  im  Verkehr 
mit  seinen  Idolen  rauschte  ihm  hier  der  Vollstrom 
eines  halkyonischen  Daseins.  Zuweilen  strömt  dieses 
Empfinden  unmittelbar  wie  mit  bachantischer  Lust  in 
seinen  Pinsel  über,  es  durchläuft  meist  einen  Trübungs- 
prozess  im  Gemütsmedium  des  Engländers.  Früh 
schon  gestaltete  er  »Vertumnus  und  Pomona«  (1841), 
»Aurora«  (1842),   »Echo«   (1847)  ^^^^  »Ariadne« 

(1863),  die  er  in  verschiedener  Auffassung  wiederholte, 
weil  ihn  das  Weh  verlassener  Liebe  zur  Darstellung 
reizte.  Welcher  Unterschied  zwischen  dem  über- 
quellenden Lebensdrang  auf  Tizians  Liebeswerben  des 
Bachus  um  die  schöne  Kreterin  und  Watts  monumentaler 
Ariadne,  die  wie  durch  ein  Opiat  gebannt  auf  einsamer 
Insel  vor  sich  hindämmert.  Eine  »Thetis«  entstand 
1866  und  ein  »Weib  des  Pygmalion«  1868,  das  den 
hehren  Typ  der  milesischen  Venus  trägt.  Ein  Fortissimo 
des  Gefühls  schuf  er  in  »Orpheus  und  Euridice«  (1869). 
Hier  ist  der  Moment  geschildert,  der  dem  leiden- 
schaftlich begehrenden  Sänger  die  eben  dem  Orkus 
entführte  Gattin  aufs  neue  entreisst.  Sie  bricht  in 
seinen  Armen  zusammen  und  zwingt  seine  machtvolle 
Gestalt  fast  zum  Taumeln.     Die  Leichenfarbe  ihres 


<u 


U  IL» 

5  iz: 


—    86  — 


Körpers  hebt  sich  von  dem  Tiefbraun  des  seinen,  und 
aus  dem  bräunlichen  Düster  des  Bildes  schimmern  als 
einzige  helle  Farbentöne  das  rote  Band  der  Leier  und 
das  Blau  eines  winzigen  Himmelsfleckens.  Den  andern 
Sänger  der  Sage  »Arion«  zeigt  er  auf  dem  Delphin 
einherziehend,  Tritonen  und  Nymphen  mit  dem  Zauber 
seines  Liedes  zu  Liebesentzücken  fortreissend.  Den 
»Minotauer«,  den  Stiermann,  malt  er  von  hoher  Warte 
in  den  grünen  Dämmer  einer  Landschaft  »ins  Un- 
betretene nicht  zu  Betretende«  hinausblickend.  Er 
harrt  seiner  Opfer  und  zerdrückt  dabei  fast  instinctiv 
ein  Vögelein,  das  ihm  unter  die  Tatze  geriet.  In 
nächtlicher  Verschwiegenheit  lässt  er  »Luna«  (1879) 
zu  ihrem  schönen  Endynnion  herabschweben,  er  zeigt  die 
scheue  »Daphne«  (1870)  in  ihrer  Flucht  vor  Apollo. 
Die  »Psyche«  (1880)  der  Tate-Gallerie,  die  in  trauriger 
Erkenntnis  den  Verlust  ihres  Gottes  vor  vereinsamtem 
Lager  empfindet,  ist  ein  prächtiges  Stück  Wattsscher 
Fleischmalerei.  Sie  ist  in  der  Keuschheit,  die  ihre 
Glieder  wie  ein  Gewand  umkleidet,  zugleich  ein 
charakteristischer  Typ  des  englischen  Aktes. 

Geistreiche  Apergüs,  heitere  Anwandlungen  in  Watts 
erhabener  Ideenwelt  sind  die  Schöpfungen  »die  erste 
Auster»  (1883),  »das  müssige  Kind  Phantasie«  (1885), 
»Glück  auf  zum  Fischfang«  (1888),  »Ganymed«  (1850), 
»Versprechungen«  (1893),  »Goldene  Stunden,  eine  Fuge« 
(1890)  und  »Kleinigkeiten,  leicht  wie  Luft«  (1901). 
Eros  und  seine  Eroten  müssen  hier  dem  Meister  dienen 
und  sie  folgen  willig  jedem  seiner  Winke.  Bald  von 
Rubens  schwellender  Gliederpracht,    bald   von  Noel 


-    87  - 


Patons  luftiger  Elfenart  sind  sie  immer  Kinder  der 
Grazien.  »Das  Weib  des  Pluto«  (1889)  wirkt  in  der 
mächtigen  Gliederfülle  der  schlafenden  Blondine  wie 
ein  steinerner  Palma,  der  fast  den  Rahmen  zu  sprengen 
droht.  Eine  farbenglühende  Scene  aus  der  Kindheit 
des  Jupiter  (1896)  zeigt  das  Götterkind  von  den 
Nymphen  gehütet,  und  die  Stimmung  modernen  Welt- 
schmerzes über  antike  Formen  ausgegossen.  Ein 
mythologisches  Genrebild  voller  Pathos  ist  »Paris  auf 
dem  Berge  Ida«  betend  (1897).  Der  Geist  des  Hellenis- 
mus zeigt  sich  allgegenwärtig  in  des  Künstlers  Schaffen. 

Auch  Watts  Schöpfungen  beweisen  sich  häufig 
als  Bruchstücke  einer  grossen  Confession.  Seine  alt- 
ruistischen Ideen  kehren  in  sozialen  Vorwürfen  wieder. 
Sie  finden  sich  vereinzelt,  weil  der  Flug  seiner 
Phantasie  gewöhnlich  den  Alltag  unter  sich  Hess.  Sie 
sind  immer  aus  intensivem  Empfinden  geboren.  In 
Little  Holland  House  hängt  die  schon  genannte  »Irische 
Hungernot«  (1850)  und  neben  ihr  »das  Lied  vom 
Hemde«.  Hier  sehen  wir  die  bleiche  Nähterin,  die 
sich  in  ihrem  Kämmerlein  zu  Tode  stichelt.  Auf  dem 
Bilde  der  »Selbstmörderin«  ergreift  uns  der  Leichnam 
eines  jungen  Mädchens,  den  die  Themse  wie  einen 
Auswurf  hervorspülte  Dieses  Opfer  der  Grossstadt 
hat  im  Herzen  des  Malers  überströmendes  Mitleid 
erweckt.  Hoch  über  der  Lebensmüden  lässt  er  am 
Nachthimmel  ein  Sternlein  aufleuchten,  als  sei  die 
Seele  der  Toten  in  ihrem  Excelsiordrange  gerettet. 
Eine  obdachlose  Alte  malte  er  ein  anderes  Mal,  die 
»unter  einem  trocknen  Brückenbogen«  ihr  Asyl  suchte. 


—    90  — 


Er  verschmäht  den  krassesten  Naturalismus  nicht 
wegen  eines  Appells  an  die  Nächstenliebe.  Seine 
beiden  Tierstücke  »Mittagsruhe«  (1869)  und  »Ein 
geduldiges  Leben  voll  unbelohnter  Mühe«  (1889 — 1891) 
sind,  so  sonderbar  es  klingen  mag,  aus  demselben 
Trieb  entstanden.  Beides  sind  realistische  Werke,  die 
den  Pferdekörper  mit  der  Naturtreue  Paul  Potters 
nachschufen,  und  die  dem  stummen  Vieh  seinen  An- 
spruch an  menschliche  Sympathie  sichern  wollen. 

Selten  hat  Watts  der  Dichtkunst  Stoffe  entlehnt, 
weil  er  meist  selbst  der  Dichter  war.  Bei  der  Ge- 
staltung des  alten  Sprichworts: 

»Zieht  die  Armut  in  das  Haus, 

Fliegt  die  Liebe  zum  Fenster  hinaus«  (1883) 

finden  wir  den  ungewöhnlichen  Fall  einer  anekdotischen 
Schilderung.  Hier  verwandelt  der  Künstler  nur  in 
zerlegender  und  dadurch  ungemein  übersichtlicher 
Komposition  Worte  in  Bilder.  Er  wählt  ein  antikisches 
Gepräge,  um  den  materialistischen  Inhalt  jeder  Flach- 
heit zu  entkleiden  und  erhebt  eine  Alltagserfahrung 
zur  Höhe  einer  Sittenlehre.  Eines  seiner  ergreifend- 
sten Bildmotive  »Paolo  und  Francesca«  (1882)  hat 
ihm  Dantes  Infernovision  eingegeben.  Es  zeigt  das 
unheilvolle  Liebespaar  in  schmerzlicher  Lust  aneinander 
gepresst  zu  ewiger  Verdammnis  durch  den  Weltenraum 
schweben.  Kein  freundlicher  Farbenklang  belebt  das 
aschfahle  Grau  der  Tonstimmung.  Hier  geht  alle 
Wirkung  nur  von  der  unvergleichlichen  Gefühlstiefe 
aus.    Die  Bewegung  des  Fluges  ist  den  Gewandfalten 


—    91  — 


mit  elementarer  Kraft  mitgeteilt,  und  der  Realismus 
des  Schmerzes  packt  uns  mit  jäher  Gewalt. 

Das  zeitbeherrschende  fiat  lux  der  modernen 
Malerei  findet  in  Watts  Lichtproblemen  eine  eigenartige 
Lösung.  Ihm,  dem  Engländer,  liegt  wie  Turner  die 
nebelhaft  verschleierte  Atmosphäre  der  Heimatinsel  in 
jeder  Nervenfiber.  Diese  Wunder  malt  er  nicht 
angesichts  der  Natur  wie  sein  grosser  Landsmann,  wie 
die  frühen  Holländer  und  die  späten  Franzosen.  Sie 
müssen  bei  seinem  Schaffen  als  Erinnerungsbilder  aus 
dem  Innern  emporsteigen.  Ein  seltsames  Gemisch 
von  Dichtung  und  Wahrheit  gestaltet  sich  auf  der 
Leinewand.  Eine  gewisse  Magie  der  Wirkung,  eine 
musikalische  Stimmung,  bei  der  wir  Ossian  citiren 
können,  bleibt  ihm  die  Hauptsache.  Er  zerlegt  sich 
ein  helles  Farbenprisma  bis  in  die  äusserste  Schattirung 
jedes  Tons,  lässt  diese  Ausklänge  und  Anklänge  fein 
ineinander  zerrinnen.  Gestalten  bilden  und  auseinander- 
fiiessen.  Wir  glauben  etwas  Greifbares  zu  halten, 
Frauengestalten,  Gebirge,  Schiffe;  aber  Nebelgebilde 
entschweben  uns  unter  den  Blicken.  So  wirkt  das 
Bild  »Uldra«  (1884),  die  skandinavische  Brunnenfee. 
Ein  Weib,  ein  Mädchen,  etwas  unausprechlich  LiebUches 
taucht  aus  Regenbogendünsten  auf.  Wir  schauen,  wir 
lieben  und  müssen  vergessen.  So  erscheinen  »die  drei 
Göttinnen«  (1885),  Juno,  Pallas  und  Aphrodite  in  dem 
Gewölk  des  Olymp.  Die  Nebel  weichen  von  ihnen, 
ihre  Gewände  lüften  sich,  drei  Marmorstatuen  stehen 
in  weisslichem  Licht  gebadet.  Auch  die  »Iris«  (1892), 
die  in  wunderlicher  Ballerinenhaltung  dem  Regenbogen 


—    92  — 


entflattert,  ist  nur  die  Frucht  eines  seiner  atmosphärischen 
Experimente.  Dieser  Impressionismus  Watts  will  nie 
wie  der  der  Franzosen  nur  den  farbigen  Abglanz  der 
Dinge,  ihren  reinen  Stimmungsgehalt  herausziehen,  — 
er  will  immer  eine  transcendente  Wirkung  herstellen. 
Jemehr  sich  der  Philosoph  aus  dem  Künstlertum 
kristallisirte,  je  häufiger  findet  sich  die  Neigung  zu 
solchen  Impressionismen.  Mit  dieser  Begabung  konnte 
er  zum  Schöpfer  einiger  Landschaftsbilder  werden,  die 
Reales  und  Phantasmen  zu  merkwürdiger  Einheit  ver- 
schmelzen. Er  sann  sich  zurück  in  die  Entstehungs- 
tage des  Erdballs.  Das  chaotische  Ringen  der  Natur- 
kräfte beschäftigte  ihn.  Der  biblische  Gedanke  des  vierten 
Schöpfungstages  nahm  auf  dem  Gemälde  »Nach  der  Sünd- 
fluth«  (1890)  Gestalt  an.  Hier  sind  die  Elemente  noch  alle 
verwandt  und  doch  bereits  in  der  Scheidung  begriffen.  Die 
Erdmassen  haben  sich  schw^erwogend  gestaltensuchend 
niedergesenkt,  und  wogend,  gestaltensuchend  steigt  die 
Sonnenscheibe  empor.  Schon  ist  der  glutvolle  Kreis 
erkennbar,  schon  hebt  sein  glorreiches  Ausstrahlen  an, 
da  entdeckt  der  Beschauer  in  dem  Feuerkern  etwas, 
das  den  Lebensmassen  ihren  Weg  weist,  etwas  wie 
den  Finger  des  Allmächtigen.  Auf  dem  Bilde  »Chaos« 
(1860— 1870)  in  der  Tate-Gallerie  sind  die  Lebewesen 
auf  den  Erdball  versetzt.  Riesen,  Menschen,  Schemen 
wimmeln  durcheinander.  Michelangeleske  Formen, 
noch  in  lethargischen  Träumen  befangen,  lagern  auf 
den  Felsen  und  Schollen.  Gelb,  Braun  und  Weiss 
ringt  miteinander,  und  der  erste  Schimmer  eines  tiefen 
Blau  beginnt  sich  von  oben   loszulösen.  »Corsica« 


Die  drei  Göttinnen. 
(Mit  Genehmigung  von  F.  HoUyer  in  London.) 


—    94  — 


(1889)  ist  nur  eine  Luftstudie.  Das  »Seegespenst« 
(1889)  ebenfalls  nur  ein  Dunst  und  Nebelakkord,  doch 
ein  weisser  Kern  verschmilzt  und  hebt  sich  in  der 
Mitte,  der  uns  verfolgt,  bannt,  ängstigt.  »Capri«  ist 
nur  eine  Farbenharmonie  bläulicher,  rosiger,  grünlicher 
Schattirungen,  die  über  die  Seele  streifen  wie  die  Töne 
eines  einschmeichelnden  Adagios.  Eine  Reihe  solcher 
Landschaftsträume  sind  in  den  Ateliers  des  Meisters 
geborgen,  Früchte  seiner  Reisen  nach  Italien,  Ägypten, 
Kleinasien,  Griechenland  und  innerhalb  der  Heimat. 
Neuerdings  fand  ich  den  Meister  vor  einer  kleinen 
Phantasielandschaft,  die,  wie  er  erzählte,  ganz  nach 
einer  Traumerscheinung  gemalt  wurde.  Hochgebirge 
und  Thalschlucht  waren  hier  nebeneinander  gedrängt. 
So  hat  er  die  beiden  Wege  zum  Guten  und  Bösen  im 
Schlafe  gesehen.  In  einer  umfangreichen  Vedute  über 
der  Eingangsthür  zu  seiner  Londoner  Privatgallerie 
hat  er  seinen  Cultus  der  schönen  Natur  verbildlicht. 
Unter  Tempelruinen  am  Meeresgestade  ist  ein  An- 
betender in  tiefer  Andacht  versunken.  Ein  Lichtspiel 
fällt  aus  dem  leichten  Gewölk  auf  das  grünliche 
Wasser  und  hellt  es  in  schimmernden  Reflexen  auf. 
Voll  leidenschaftlicher  Pathetik  umfasst  er  das  All. 
Eine  grosse  Melancholie  durchdringt  ihn,  eine  priester- 
liche Weihestimmung,  die  klassischer  Reminiscenzen 
bedarf,  um  ihren  tiefsten  Seeleninhalt  auszuschöpfen. 
Den  Kegel  des  »Arrarat«  hat  Watts  im  Mondschein 
gemalt  und  die  »Sphinx«  in  weiter  grünlicher  Ebene. 
Ein  purpurnes  »Orientbild«,  über  dessen  Wasserflut  ein 
blaues  Segel  flattert,  und  an  dessen  dunklem  Uferrand 


—    95  — 


ein  Geier  in  die  Einsamkeit  hinausstarrt,  zeigen  den 
Malerpoeten  in  warmen  Farben  schwelgen.  Immer 
bezwingt  ihn  auch  die  magistrale  Formensprache  der 
Natur.  Die  zerrissenen  Felsen  »Carraras«  (1887),  die  breit- 
gelagerte Grösse  der  »Berge  von  Mentone«  (1887)  giebt 
er  wie  Rhapsodieen  wieder.  Die  vielen  Landschaftsbilder 
aus  heimatlicher  Umgebung  beweisen  seine  Fähigkeit 
gewissenhafter  Naturabschriften.  Landschaften  zu  malen 
ist  dem  grossen  Ideendarsteller  stets  ein  Bedürfnis  ge- 
wesen wie  lyrische  Improvisationen  den  Epikern  des 
Mittelalters.  Sie  allein  hätten  ihm  niemals  seine 
herrschende  Stellung  in  der  englischen  Kunst  gesichert. 
Sie  bedeuten  unter  den  klassischen  Leistungen  der 
englischen  Landschaftsmalerei  eine  ganz  eigenartige 
Gattung.  Bonnigton  und  Turner  schwingen  nach,  ein 
Hauch  Constables  weht  herein,  aber  immer  giebt  Watts 
selbst  das  Gepräge. 

Watts  Drang  zu  plastischen  Formen  übertrug  sich 
folgerichtig  auf  bildhauerische  Arbeiten.  Er  hinter- 
lässt  auch  hier  bedeutsame  Schöpfungen.  Willig  folgte 
der  Stein  seiner  Hand  in  der  Darstellung  starker  Ge- 
fühle. Er  machte  ihn  lebendig  wie  Donatello.  Eine 
seiner  schönsten  Schöpfungen  ist  die  Büste  der  »Klythia«. 
Sie  zeigt  die  Jungfrau  in  leidenschaftlicher  Bewegung 
aus  dem  Lotuskelch  an  das  Licht  emporstreben.  Trotz 
der  Energie  des  Ausdruckes  ist  die  klassische  Form- 
gebung des  Mädchenleibes  vollkommen  gewahrt.  »Hugh 
Lupus«,  das  kraftvolle  Reiterstandbild  eines  kühnen 
Helden  schmückt  den  Park  des  Herzogs  von  West- 
minster  in  Eaton.    Zwei  würdevolle  Grabmonumente, 


—    97  — 


das  eine  für  Lord  Lothian,  das  andere  für  Bischof 
Lonsdale  zeigen  Watts  als  Meister  der  ruhenden  Ge- 
stalt. Sein  Gipfelwerk  in  der  Richtung  der  bewegten 
Skulptur  ist  das  kolossale  Reitermonument  »Körper- 
liche Energie«.  Er  ist  an  der  Ausführung  dieser 
Schöpfung  seit  fast  zwei  Jahrzehnten  an  der  Arbeit. 
Im  Stil  der  grossen  Florentiner  Reitermonumente  stellt 
es  einen  jugendschönen,  nackten  Jüngling  dar,  der  sein 
Riesenross  zügelt.  Das  Tier  bäumt  sich  in  mächtigem 
Muskelspiel,  trotzend,  siegesungeduldig,  der  Jüngling 
leitet  es  ruhig  ausspähend,  zäh  und  zielbewusst.  Watts 
Lebensprinzip  der  Standhaftigkeit  sollte  in  diesem  Stein- 
werk unvergänglich  verkündet  werden.  Ein  Denkmal 
für  Tennyson  ist  augenblicklich  im  Comptoner  Atelier 
in  der  Entstehung  begriffen.  Es  ist  für  des  Dichters 
Vaterstadt  Lincoln  bestimmt  und  zeigt  ihn  in  mäch- 
tigem Künstlerhut  und  Mantel  auf  einem  seiner  Spazier- 
gänge. Sein  Lieblingshund  begleitet  ihn,  und  es  scheint, 
als  verweile  der  Dichter  während  seines  Ganges,  um 
über  eine  Blume  in  seiner  Hand  zu  sinnen.  Der  Phi- 
losoph und  der  Poet  sind  voller  Grösse  und  Schlicht- 
heit erfasst.  Auch  in  seiner  Skulptur  verschmäht  Watts 
alles  dekorative  Beiwerk,  er  erstrebt  Charakteristik  nur 
durch  individuelle  Züge. 


Als  einige  Deutsche  Tizian  in  seinem  Venediger 
Atelier  aufgesucht  hatten,  sollen  sie  über  die  höhere 
Durchbildung  der  Werke  Dürers  Bemerkungen  gemacht 
haben.    Es  wird  erzählt,   dass  Tizians  »Zinsgroschen« 


* 


* 


7 


_    98  - 


die  Antwort  war.  Der  Meister  äusserte  aber  auch  damals, 
die  grösste  Gewissenhaftigkeit  sei  nicht  das  höchste  Ziel 
der  Kunst.  In  diesem  Sinne  hat  Watts  auch  seine 
Pflicht  als  Künstler  erfasst:  er  ist  immer  entschiedener  der 
Vertreter  eines  Idealrealismus  geworden.  Ohne  Zweifel 
sind  seinem  Werk  mancherlei  Verstösse  vorzurechnen. 
Es  ist  nur  vorsichtig  abzuwägen,  ob  Unkenntnis  oder 
gewollte  Umbildung  vorliegt.  Zuweilen  darf  auch 
Watts  hier  wie  Michel  Angelo  entgegnen,  dass  ein 
Kunstwerk  nicht  mit  der  Hand,  sondern  mit  dem  Auge 
zu  messen  sei.  Immer  wieder  hat  er  den  Wunsch 
betont,  ganz  etwas  Anderes  als  die  Franzosen,  die  vor- 
bildlichen Meister  der  Technik,  leisten  zu  wollen.  Er 
will  nicht  durch  den  Glanz  der  Palette,  die  Feinheiten 
der  Zeichnung  und  das  Raffinement  der  Composition 
erstaunen.  Seine  künstlerischen  Bestrebungen,  die  im 
Sinn  einer  guten  Kunst  mit  denen  der  Präraphaeliten 
zusammenfallen,  graviren  nach  ganz  anderer  Richtung. 
Heut  betont  er  gradezu,  dass  er  absolut  gar  keine  Be- 
ziehungen zu  dieser  Malergruppe  fühle,  dass  er  nach 
England  aus  Italien  heimkehrte,  als  sie  in  Blüte  standen, 
und  dass  er  immer  nur  der  Erreichung  des  eigenen 
Ideals  nachgestrebt  habe.  Dies  war  das  Moralische 
des  Bildinhalts  und  die  Dauerhaftigkeit  des  Farben- 
körpers. Auf  Kosten  seiner  Künstlernatur,  aber  zur 
erhöhten  Würdigung  seines  über  alles  geliebten  Vater- 
landes hat  er  im  Prinzip  eines  solchen  Moralisten  ver- 
harrt. Er  hat  seine  Methode  zuweilen  bis  zur  Verge- 
waltigung des  Reinmalerischen  durchgeführt.  Wir 
staunen   über  die  Idee   einer  Bildhauer-Malerei.  Wir 


—    99  — 


bewundern  die  Ausdrucksmöglichkeiten,  die  ihr  glückten, 
—  eine  Verallgemeinerung  würde  uns  die  notwendige 
Grenzabsteckung  der  Kunstgebiete  zu  gefährden 
scheinen.  Watts  steht  und  fällt  mit  seinem  Prinzip. 
Er  ist  glücklicherweise  so  sehr  als  der  wahre  Maler 
geboren,  dass  er  ihm  unbeschadet  seines  Künstlertums 
treu  bleiben  durfte.  Nichts  ist  ihm  widerlicher  als  die 
Verwendung  irgend  welchen  Effects.  Die  grosszügige 
Formgebung,  die  venetianische  Pracht  des  Colorits, 
die  Mystik  der  Atmosphäre,  die  Polychromie  der 
Körper  sind  ihm  immer  nur  Mittel  zum  Zweck.  Das 
Erhabene  will  er  durch  Bedeutsames,  das  Heitre  durch 
Gefälliges  wiedergeben,  alles  Auffallende  scheint  ihm 
der  Tod  echter  Kunst.  Enttäuscht  lässt  er  sich  sagen, 
dass  man  seine  Schöpfungen  immer  herauserkenne. 
Hierin  empfindet  er  den  Vorwurf  der  Manier,  die  er 
mit  Effect  verwechselt.  Wie  alle  bedeutenden  schöpfe- 
rischen Individualitäten  besitzt  er  nach  Goethes  Er- 
klärung: »Manier  in  dem  Sinne,  die  Erscheinung  mit 
leichtem,  fähigem  Gemüt  zu  ergreifen,  und  Stil,  inso- 
fern er  auf  den  tiefsten  Grundfesten  der  Erkenntnis, 
dem  Wesen  der  Dinge  fusst,  und  dies  in  greifbaren 
Gestalten  zu  dokumentiren  vermag. 

Er  liebt  sein  Werk  lange  um  sich  zu  sehen,  weil 
er  nur  auf  gutgetrocknete  Töne  andere  setzt.  Er  ge- 
braucht steife  Farben  mit  möglichst  wenigen  Ölen 
versetzt,  damit  sie  keiner  Wandlung  unterliegen  können. 
Es  gilt  ihm  vor  allem  das  Gewischte,  den  smear  zu 
meiden.  Wenn  man  ihn  dieser  Sünde  zeihen  kann, 
meint  er,   sei   es  nur  durch  Correcturen  verschuldet. 

T 


100  — 


Durch  häufiges  Bessern  hat  er  thatsächHch  manche 
Stellen  seiner  Bilder  geschwächt.  Von  Van  Dyk  ab 
findet  er  einen  Verfall  der  Technik  eingetreten.  Nur 
bei  Meistern  wie  Lippi,  Eyck  und  Bellini  sind  seine 
Ansprüche  voll  befriedigt.  Für  die  französische  Methode 
nennt  er  den  smear  typisch.  »Nichts  hasse  ich  so  sehr 
als  Fingerfertigkeit«,  sagt  er.  »Solche  Entfaltung  der 
Geschicklichkeit  entsteht  aus  der  Eitelkeit  des  Künstlers 
und  hilft  nur  die  Aufmerksamkeit  des  Beschauers  von 
dem  Hauptthema  ablenken.«  Eine  Thatsache  ist  es, 
dass  Watts  Bilder  nicht  nachdunkeln,  weil  er 
hellen  Malgrund  vorzieht.  Er  vermeidet  durchsich- 
tige Farben  mit  Weiss  zu  mischen,  oder  helle  Farben 
auf  dunkle  zu  setzen.  Wenn  möglich  streicht  er  die 
Farben  nur  nebeneinander.  Dies  bewirkte  die  leichtere, 
hellere  Art  früherer  Werke.  Je  mehr  die  philoso- 
phirende  Richtung  bei  ihm  überwog,  hat  er  eine  Art 
des  tupfenden  Übergehens  der  Grundfarbe  geübt,  ein 
mythisches  Element  lag  diesem  Verschleierungssystem 
zu  Grunde.  Die  Farben  lässt  Watts  im  Hause  reiben 
und  trocken  in  Krausen  aufbewahren.  Sie  werden 
nach  genauer  Angabe  mit  einer  Dosis  Leinöl,  das  mit 
hellem  Öl  verdünnt  wird,  gemischt.  Ganz  sonderbar 
enorme  Pinsel  verwendet  der  Meister,  die  er  für  sich 
besonders  aus  Igelborsten  herstellen  lässt.  Schon  in 
seinem  Werkzeug  liegt  sein  Prinzip.  Bei  der  Schöpfung 
eines  Gemäldes  zeichnet  Watts  direkt  mit  dem  Pinsel 
auf  die  Leinwand.  Er  zieht  keine  Umrisse  vor,  sondern 
überlässt  es  seinen  steifen  Farben  selbst,  diese  Linie 
je  nach  Bedarf  schari    oder  weich  abzusetzen.  Er 


lOI 


macht  vor  der  Vollendung  des  Werkes  keine  Studien. 
»Ich  überlege  meinen  Stoff  gut«,  sagt  er.  »Wenn 
meine  Idee  sich  nach  dieser  inneren  Arbeit  bei  der  Prüfung 
als  nicht  stark  genug,  oder  sonst  mangelhaft  erweist, 
fasse  ich  meinen  Beschluss  über  sie.  Durch  beständiges 
Nachdenken  über  sie  wird  sie  gänzlich  ein  Teil  meiner 
Gedanken.  Ich  bin  dann  noch  Jahre  nach  ihrer 
ReaHsirung  auf  der  Leinwand  im  stände,  auf  sie  zurück- 
zukommen. Daher  vermag  ich  jahraus  und  jahrein 
an  meinen  Bildern  zu  arbeiten.«  Dieser  Eigentüm- 
lichkeit Watts  entspringt  auch  das  Fortlassen  des 
Datums  auf  den  meisten  Bildern.  Wie  thatsächlich 
seine  übergrosse  Bescheidenheit  hier  mit  entscheidet, 
ist  andrerseits  die  jahredauernde  Entstehung  mit  der 
Grund,  dass  häufig  kein  zuverlässiges  Datum  mehr  zu 
ermitteln  ist.  Dieser  Umstand  gestaltet  die  Chronologie 
seines  Werkes  zu  einer  vollständigen  Rätselarbeit, 

Watts  wird  mit  Recht  zu  den  besten  Fleischmalern 
Englands  gezählt.  Er  hat  Meisterstücke  dieser  Art 
geschaffen,  die  ihn  neben  Tizian  stellen.  Mehr  und 
mehr  ist  er  auch  hierbei  seinem  Prinzip  gefolgt. 
Ernest  Chesneau  betont  als  Charakter  seines  Nackten 
den  Stil,  das  Übergewicht  des  Inhaltlichen.  Im  Gegen- 
satz zu  der  Fleischmalerei  Rubens  und  der  Franzosen, 
ist  es  sein  Stolz,  die  Körper  mit  dem  Gewand  der 
Keuschheit  zu  bekleiden.  Die  mit  grösster  Feinheit 
ausgeführten  Bleistiftzeichnungen  seines  Skizzenbuches 
beweisen,  mit  welcher  Ehrfurcht  er  das  Natürliche 
nachzubilden  trachtet.  Dank  den  Mühen  einer  Freundin 
können  wir  uns  heut  bei  ihm  an  diesen  Schätzen  er- 


—      102  — 


freuen.  Meist  sind  sie  mit  der  Genauigkeit  von 
Radirungen  in  kleinen,  klaren  Strichlagen  hergestellt. 
Das  Modell  nennt  er  die  Grammatik  der  Malerei.  An 
ihm  studirt  er  auch  jetzt  noch  häufig  das  Spiel  eines 
Muskel,  die  Bildung  eines  Knochens,  die  Wirkung  des 
Lichtes.  Solche  Einzelzeichnungen  anatomischer  Frag- 
mente stellt  er  sich  zahlreich  her.  Er  bedarf  ihrer, 
wenn  es  ihm  beliebt,  ohne  Modell  zu  malen.  Dieses 
nennt  er  den  Diener,  nicht  den  Herrn  des  Künstlers. 
Die  Gefahr  der  Unsittlichkeit  bei  der  Aktmalerei  giebt 
Watts  nicht  zu.  Ihm  ist  die  Willigkeit  des  Modell- 
stehens durchaus  kein  Anzeichen  des  Leichtsinns  für 
eine  Frauennatur.  Er  meint,  reine  Frauen  ohne  Scheu 
davor  gefunden  zu  haben  und  unkeusche,  die  zurück- 
schreckten. Ihm  steht  das  Entkleiden  für  künstlerische 
Zwecke  bei  weitem  höher  als  das  DecoUete  der  ge- 
sellschaftlichen Vergnügungen.  Seine  Ansichten  über 
die  Ehrbarkeit  der  Modelle  beleuchten  den  höheren 
Stand  dieser  Klasse  in  England.  Sie  geben  eine  auf- 
klärende Perspektive  über  die  Decenz  der  englischen 
Malerei  im  allgemeinen.  In  der  heutigen  Zeit  puri- 
tanischen Ansturms  sind  die  Ansichten  des  sittlichsten 
aller  lebenden  Maler  besonders  interessant.  Er  ver- 
gleicht die  Angriffe  auf  das  Nackte  mit  der  Prüderie 
der  französischen  Gouvernante,  die  ihren  Schülern  vom 
Bade  abriet,  weil  sie  zwar  im  Zimmer  allein  seien, 
doch  vom  lieben  Gott  gesehen  werden  könnten.  »Die 
Nacktheit  ist  die  absolut  höchste  Form  der  Malerei«, 
sagt  er.  »Die  Kunst  durch  Unterdrückung  dieses 
Studiums   entmannen,   ist  Zimperhchkeit,   nicht  Fein- 


—    103  — 


gefühl.    Solch'   entmannte  Kunst  kann  sich  zu  keiner 

höheren  Empfindung  aufschwingen.«    Er  betont,  dieses 

Mittel   selbst   für   seine    erziehlich   gedachten  Bilder 

nicht  entbehren  zu  können. 

*  * 
* 

In  dem  Bereich  der  englischen  Malerei  besteht 
das  Charakterbild  Watts  ohne  irgend  welche  Parallele. 
Vereinzelte  Malernamen  tauchen  aus  der  Kunst- 
geschichte auf,  kaum  einer  scheint  in  seine  Gesell- 
schaft zu  passen.  Häufig  hört  man  ihn  als  den  Tizian 
Englands  bezeichnen.  Mit  einer  überraschenden  Ähn- 
lichkeit der  Person,  der  Schaffensfrische  bei  hohem 
Greisenalter  und  dem  gemeinsamen  Zug  des  Schönheits- 
cultus  scheint  dieser  Vergleich  erschöpft.  Verschieden 
wie  der  Rassentypus  des  Italieners  und  Engländers 
wirkt  ihr  Werk  auf  unser  Empfinden.  Die  Quintessenz 
reinmalerischen  Könnens  erscheint  Tizian,  Watts  die 
Höhe  der  Individualität.  Entzücken  will  der  Eine,  der 
Andere  bessern.  Wir  glühen  bei  Tizian  und  frösteln 
bei  Watts,  aber  in  dem  Maass  wie  uns  Tizian  ver- 
wöhnt, kräftigt  Watts  unsern  sittlichen  Organismus. 
Einen  Augenblick  lang  kommt  uns  Antoine  Wiertz  in 
die  Erinnerung.  Wir  empfinden  die  heissatmige 
Dramatik  seiner  Künstlerphantasieen,  seine  sozialen 
Angstschreie  und  Sündenbekenntnisse.  Wir  sehen  den 
Fieberparoxismus  seines  Schaffens  auf  verlöschenden 
Riesentafeln,  und  wie  ein  thönerner  Koloss  bricht 
diese  grössenwahnsinnige  Kunst  neben  Watts  Inner- 
lichkeit zusammen.    Peter  Cornelius  und  Watts  wollen 


—    104  — 


zusammenstehen,  die  beiden  grossen,  einsamen  Künstler- 
seelen, Geistesbrüder  in  antikischer  Richtung,  in  der 
Leidenschaft  für  die  monumentale  Ausdrucksform  des 
Freskos.  Wir  sehen  sie  von  einander  weichen  in  dem 
Maasse  als  Cornelius  den  grösseren  Zeichner  und 
Formenbändiger,  Watts  den  besseren  Maler  darstellt. 
In  die  Tröstungen  seiner  Kirchlichkeit  hat  sich  der 
Deutsche  geflüchtet,  der  Engländer  verharrte  im  Frieden 
seiner  reinmenschlischen  Symbole.  Unter  den  Künstlern 
der  Gegenwart  liegt  ein  Vergleich  mit  Böcklin  nahe. 
Beide  Dichtermaler  sind  Höhepunkte  ihres  nationalen 
Kunstschaffens.  In  pantheistischem  Naturcult  erweckt 
Böcklin  die  Fabelwesen  des  antiken  Mythos,  Watts, 
der  moderne  Ethiker,  sucht  den  Hochgestalten 
Phidias  Leben  einzuhauchen.  In  Böcklins  Farben- 
träumen feiert  sein  naturalistischer  Vollsinn  Triumphe, 
in  Watts  Ideengemälden  sein  klassisches  Philosphentum. 

Jenseits  aller  Zeitgrössen  und  Schulen  steht  das 
Gesamtbild  Watts  in  der  Kunstgeschichte  aufgerichtet. 
Es  hat  jedem  von  uns  eine  Botschaft  zu  künden.  Je 
nachdem  Gläubige  oder  Zweifler  lauschen,  wird  sie 
beurteilt  werden.  Die  Brüderlichkeit  seines  Empfindens, 
die  Lauterkeit  seiner  Mission  kann  niemand  ver- 
kennen. — 

Jarno  Jessen. 


Studienmaterialien  über  Watts: 


JULIA  CARTWRIGHT,  G.  F.  Watts.    Life  and  Work. 
Extra  Number  of  Art  Journal  1896. 

M.  H.  SPIELMANN,  The  works  of  G.  F.  Watts. 

Extra  Number  of  Pall  Mall  Gazette. 
ROBERT  DE  LA  SIZERANNE,  Peinture  anglaise  contemporaire. 
RICHARD  MUTHER,  Geschichte  der  Malerei  im  XIX.  Jahrhundert. 
G.  F.  WATTS',  writings  on  „Aims  ofArt",  „Present  Condition  of  Art", 

„On  Taste  in  Dress",  „What  should  a  Picture  say". 


Aufsätze  in  Zeitschriften: 

CORNELIUS  GURLITT,  Die  Präraphaeliten  in  Westermanns  Monats- 
heften 1892. 

M.  H.  SPIELMANN,  Watts  in  Revue  de  L'Art  1898. 

COSMO  MONKHOUSE,  G.  F.  Watts  in  Scribener's  Magazine  1894. 

CHARLES  F.  BATEMAN,  Watts  and  his  Art  in  Windsor  Magazine  1901. 

HERRMANN  HELFERICH,  G.  F.  Watts  in  Kunst  für  Alle. 

Eigene  Aufsätze  in  Kunst  für  Alle  1900,  Westermanns  Monatshefte  1900. 


Permanente  Photographien 


der  Werke  von 

Sir  EDUARD  BURNE  JONES,  Baron, 
O.  F.  WATTS,  R.  A.,  Portraits  und  Bilder; 

DANTE  GABRIEL  ROSSETTI; 

HARRY  BATES,  A.  R.  A.,  Homer  und  andere; 

HAQUE  OALLERIE,  Eine  Auswahl  von; 
von  F.  Hollyer  jun; 

HOLBEIN,  Zeichnungen  im  Schloss  zu  Windsor, 
Mit  gnädigster  Erlaubnis  Ihrer  verewigten  Majestät  der  Königin  Victoria. 


Zu  beziehen  von 

FRED.  HOLLYER,   9  Pembroke  Square, 
Kensington,  LONDON,  England. 

^»'^►'^i^  Illustrirte  Kataloge  postfrei  gegen  1  M.  in  Postmarken. 

Die  Ateliers  sind  täglich  geöffnet  von  10  Uhr  morgens  bis 
6  Uhr  abends,  Montags  von  10  Uhr  m,  bis  10  Uhr  a. 


Das  Künstlerbuch 


umfasst  bis  heute 
folgende  sieben  Bände: 

BAND  I:  ARNOLD  BÖCKLIN 

II:  MAX  KLINGER 

III:  FRANZ  STUCK 

IV:  HANS  THOMA 

V:  FRITZ  VON  UHDE 

VI:  FRANZ  V.  DEFREGGER 

VII:  G.  F.  W^ATTS 

Jeder  Band  reich  illustriert 
und  gebunden  in  Einbanddecke  von  HANS  THOMA 

3  Mark. 


SCHUSTER  &  LOEFFLER 

BERLIN  UND  LEIPZIG. 


Von  Franz  Hermann  Meissner  erschienen  bisher 
bei  Franz  Hanfstaengl  in  München: 

Das  Werk  von  Max  Klinger.  ❖  cg,  cs. 

Achtzig  Heliogravüren  und  Ätzungen  nach  den  Haupt- 
gemälden des  Künstlers,  seinen  schönsten  Handzeich- 
nungen, Studien,  Entwürfen,  seinen  Bildwerken  sowie 
einer  Auswahl  von  Radierungen  neben  der  Gesamt- 
wiedergabe seines  Radierungs-Cyklus  »Eine  Liebe«, 
Ausführlicher  Text  von  Franz  Hermann  Meissner. 

Vorzugsausgabe  auf  Japanpapier  Mk.  400. 

Gewöhnliche  Ausgabe  auf  Kupferdruckpapier  Mk.  200. 

bei  Velhagen  &  Klasing  in  Bielefeld 

innerhalb  des  Knackfuss'schen  Monographieen-Cyklus : 

Paolo  Veronese.  mit  88  Illustrationen. 

Giovanni  Battista  Tiepolo,  mit  74  Illustrationen. 

Elegant  gebunden  je  Mk.  3. — . 
bei  Schuster  &  Loeffler  in  Berlin: 

Das   Künstlerbuch,   illustrierte  Monographieen- 
Sammlung,  elegant  gebunden  je  Mk.  3. — . 

Band  1.  Arnold  Böcklin  Band  IV.  Hans  Thoma 
„    II.  Max  Klinger        „     V.  Fritz  von  Uhde 
„  III.  Franz  Stuck         „    VI.  Franz  v.  Defregger 

(Weitere  Bände  erscheinen  demnächst.) 

bei  Gerhard  KÜhtmann  in  Dresden: 

Hermann  Prelis  Wandgemälde  *  «>  ❖ 

im  Thronsaal  der  Deutschen  Botschaft  (Palazzo  Caffa- 
relli)  zu  Rom.  Herausgegeben  und  erläutert  von 
Franz  Hermann  Meissner. 

Mappenausgabe   .  Mk.  200. 

Buchausgabe  geb.  Mk.  25. 


Verlag  von  Schuster  &  LoefFler  Berlin  und  Leipzig. 


Neue    illustrierte  Halbmonatsschrift 

Herausgeber:  Kapellmeister  Bernhard  Schuster 

»Die  Musik«  ist  kein  Fachorgan  mit  nüchternen,  nur  den  Musiker 
interessierenden  Untersuchungen,  sondern  eine  Kunstzeitschrift, 
die  für  alle  die  Hunderttausende  da  ist,  die  in  dieser  geliebtesten 
aller  Künste  mehr  als  eine  Unterhaltung  sehen. 

Die  Mitarbeiter  der  »Musik«  sind  so  zahlreich, 
dass  sich  hier  nur  wenige  illustre  Namen  nennen  lassen: 


Jedes  Heft  ist  80 — 90  Seiten  stark  und  bringt  8 — 10  Kunstbeilagen. 

Abonnementspreis  pro  Jahrgang  10  M. 
»Die  Musik«  ist  weder  durch  die  Post  noch  vom  Verlag  direkt  zu 
beziehen,   sondern  nur  durch  die  Buch-  und  Musikalienhandlungen. 


Eugen  d'Albert 
Dr.  Richard  Batka 
Prof.  Oskar  Bie 
Prof.  H.  Bulthaupt 
H.  St.  Chamberlain 
Prof.  Felix  Draeseke 
Dr.  Th.  von  Frimmel 
C.  Fr.  Glasenapp 
S.  V.  Hausegger 
Dr.  A.  Ch.  Kalischer 
Wilhelm  Kienzl 
Prof.  Iwan  Knorr 
Prof.  Carl  Krebs 
Dr.  Rud.  Louis 
Dr.  Paul  Marsop 


Malwida  von  Meysenbug 
Felix  Mottl 
Prof.  Franz  Muncker 
Prof.  Heinr.  Reimann 
Friedrich  Rösch 
Max  Schillings 
Dr.  Leop.  Schmidt 
Dr.  Arthur  Seidl 
Prof.  Rieh.  Sternfeld 
Prof.  Julius  Stockhausen 
Prof.  E.  E.  Taubert 
Prof.  Henry  Thode 
Prof.  Heinr.  Urban 
Prof.  Fritz  Volbach 
Hans  von  Wolzogen 


Verlag  von  Schuster  &  Loeffler  Berlin  und  Leipzig. 


In  unserem  Verlage  erschienen  folgende  Werke  von 

OTTO  JULIUS  BIERBAUM 

Pankrazius  Graunzer,  Roman 

V.  Auflage   3.—  M.,  geb.  4.—  M. 

Stilpe,  Roman        IV.  Auflage  4.—  M.,  geb.  5.50  M. 

Das  Schöne  Mädchen  von  Pao,  Roman 

III.  Auflage   3.—  M.,  geb.  4.50  M. 

Studentenbeichten   L  Reihe,  Novellen 

V.  Auflage    i.—  M.,  geb.  2.—  M. 

—  IL  Reihe,  Novellen 

IV.  Auflage    i.—  M.,  geb.  2.—  M. 

Die  Schlangendame,  Novelle 

III.  Auflage   2.—  M.,  geb.  3.—  M. 

Kaktus,  Novellen   III.  Auflage   3.—  M.,  geb.  4.50  M. 

Lobetanz,  Ein  Singspiel  2. —  M. 

Der  Bunte  Vogel  von  1897,  Ein  Kalenderbuch   6, —  M. 

Der  Bunte  Vogel  von  1899,  Ein  Kalenderbuch   6, —  M. 


Verlag  von  Schuster  &  Loeffler  Berlin  und  Leipzig. 


Die  Sämtlichen  Werke  von 


DETLEV  VON  LILIENCRON 


liegen  jetzt  in  einer  Gesamtausgabe  vor. 


Die  neun  Bände  sind  betitelt: 


Bd.     I.  Kriegsnovellen 

IL  Aus  Marsch  und  Geest 

III.  Könige  und  Bauern 

IV.  Roggen  und  Weizen 
V.  Der  Mäcen 

VI.  Breide  Hummelsbüttel 

VII.  Kampf  und  Spiele 

VIII.  Kämpfe  und  Ziele 

IX.  Nebel  und  Sonne 


Novellen 


Romane 


Gedichte 


Jeder  Band,  ca.  260 — 280  Seiten  stark  geheftet  2. —  M. 
elegant  gebunden  3. —  M. 

Näheres  über  den  Inhalt  dieser  9  Bände  und  einiger 
anderer  noch  ausserhalb  der  Gesamtausgabe  stehenden 
Werke,  über  seine  ausgewählten  Gedichte,  seine  Dramen 
etc.  besagt  der  Verlagskatalog  der  Firma  Schuster  & 
Loeffler,  der  jedermann  auf  Wunsch  kostenlos  zur 
Verfügung  steht. 


Verlag  von  Schuster  &  Loeffler  Berlin  und  Leipzig. 


In  unserem  Verlage  erschienen  folgende  Werke  von 

RICHARD  DEHMEL 

Erlösungen.    Gedichte  und  Sprüche.    Mit  Zeichnung  von 

E.  R.  Weiss.  Zweite  Auflage.  Geheftet  4. —  M. 
Gebunden  5.50  M.    Liebhaber-Ausgabe  12. —  M. 

Aber  die  Liebe.  Gedichte  und  Geschichten.  Mit  Zeich- 
nungen von  Thoma  und  Fidus.  Zweites  Tausend. 
Geheftet  4. —  M.  Gebunden  5.—  M.  Liebhaber- 
Ausgabe  8. —  M. 

Lebensblätter.    Gedichte  und  Anderes.    Mit  Zeichnungen 

von  Sattler.  Geheftet  3.—  M.  Gebunden  4.—  M. 
Liebhab  er- Ausgabe  7,—  M. 

Der  Mitmensch.   Tragikomödie.   Mit  Zeichnung  von  Sattler. 

Geheftet  3.—  M.    Gebunden  4.—  M. 

Weib  und  Welt    Gedichte  und  Märchen.    Mit  einem 

Sinnbild.  Zweite  Auflage.  Geheftet  3.—  M.  Ge- 
bunden 4.50  M.    Liebhaber- Ausgabe  6. —  M. 

Lucifer.    Ein  Tanz-  und  Glanzspiel.    Mit  Zeichnung  von 

E.  R.  Weiss.    Geheftet  2.50  M.    Gebunden  4.—  M. 

Ausgewählte  Gedichte.  Mit  dem  Bilde  des  Dichters  von 
Peter  Behrens,    i. — 5.  Tausend.   Nur  gebunden  i. —  M. 

Studie  zur  Einführung: 

20  Dehmeische  Gedichte  mit  einem  Begleitbrief  von  Wilhelm 
Schäfer  und  dem  Bilde  des  Dichters.   Geheftet  i.— M. 


DRUCK  VON  ROSENBAUM  &  HART,  BERLIN  W.;  WILHELMSTR.  47. 


GETTY  RESEARCH  INSTITUTE 


3  3125  01429  8273 


1  OorH!'!'//'^--, BAUER BÜ'^i•'^^t^'^^^FT  RFRl !MW