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GEORGE FREDERICK WATTS
1
Das Künstlerbuch
EINE KLEINE
AUSGEWÄHLTE REIHE VON
KÜNSTLERMONOGRAPHIEEN
HERAUSGEGEBEN
VON
Franz Hermann Meissner
BAND VIT
GEORGE FREDERICK WATTS
VON
Jarno Jessen
SCHUSTER & LOEFFLER
BERLIN UND LEIPZIG
George Frederick Watts
VON
JARNO JESSEN
1901
SCHUSTER & LOEFFLER
BERLIN UND LEIPZIG
Alle Rechte, insbesondere das
in fremde Sprachen, sind
der Übersetzung
vorbehalten.
Franz Hermann Meissner.
Schuster & Loeffler.
George Frederick Watts.
(Mit Genehmigung des Cameron Studio, London.)
GEORGE FREDERICK WATTS.
Lebewesen wandeln ihre Eigenschaften nach den
geographischen Bedingungen des Aufenthaltortes. Die
Kultur jedes Volkes ist auch ein Organismus. Sie
bildet sich nach ihrem Himmelsstrich. Von allen
Kulturen hat die Antike die grösste Anpassungsfähig-
keit bewiesen. Unter der Monumentalität ägyptischer,
der muskulösen Art römischer Ausdrucksformen ver-
minderte sich im Altertum die heitre Unbefangenheit
ihres Wesens. Formenreicher, individualisirter ge-
staltete sie sich nach ihrer Auferw^eckung im päpst-
lichen Rom des Mittelalters, und fremde Züge wurden
ihr durch die späteren Wanderschaften in Europa auf-
geprägt. Der drakonische Zeitgeist des revolutionären
Frankreichs forderte eine Antike in dem strengen
Faltenwurf der römischen Toga. Nur für republika-
nische Bürger wollte David ein Geschmacksideal auf-
stellen. Es war sein Amt, jede Erinnerung an naive
Schamlosigkeiten zu beseitigen, und unter diesem
Puritanismus schwand sinnbetörende Anmut und Lebens-
freudigkeit. Gerade dieses Wesenselement pflegte man
auf deutschem Boden. Winkelmann und Lessing
— 8 —
priesen es als erstrebenswerte Güter, und in Göthes
Künstlerseele wurde der echte Hellenismus wiederge-
boren. Er erklärte die Antike als »die Klarheit der
Ansicht, die Heiterkeit der Aufnahme, die Leichtigkeit
der Mitteilung, — geleistet am edelsten Stoff, am
würdigsten Gehalt mit sicherer und vollendeter Aus-
führung«. Aus diesem beglückenden Wissen erging
sein Ruf an die Menschheit: »Jeder sei auf seine Art
ein Grieche, aber er seis!«
Heimatlich und dennoch fremd musste sich die
Tochter des Südens in England fühlen. Hier hatte
man längst mit suchender Seele nach ihr ausgeschaut,
aber es war das Volk des Nebelklimas und der Moral-
philosophie, das sie begehrte. Seit den Tagen Chaucers
und der früh-elisabethanischen Zeit waren werbende
Gewalten aus der Litteratur des Südens heraufgedrungen,
und dieser Magnetismus hat in immer gleicher Stärke
seine Anziehung ausgeübt. Auch die bildenden
Künstler verspürten klassische Sehnsucht. Jahrzehnte
vor dem Empire-Geschmack des Continents begannen
englische Architekten Palladios Vermächtnis in streng-
ster Folgerichtigkeit durchzuführen. Die Ausgrabungen
Palmyras brachten um die Mitte des achtzehnten Jahr-
hunderts neue Zusätze römisch-orientalischen Wesens;
Pompeji, das Parthenon vermehrten in ungeahnten
Schönheitsoffenbarungen hellenischen Reichtum auf
englischem Boden. Ein glückliches Zusammentreffen
bot auch dem schaffenden Künstler in den hochge-
wachsenen, freigliederigen Landestöchtern Modelle, die
sich wie Schwestern neben die panathenäischen Jung-
— 9 —
frauen stellten, und die Sportplätze Englands setzten
die Ziele der antiken Palästra fort. Aber ob man auch
hier in der Malerei, wie in Baukunst und Plastik reinen
Hellenismus oder eklektische Klassicismen verarbeitete,
immer blickten durch alle Phidias- und Botticelli- und
Tizian-Masken die Augen des Engländers in ihrem
versonnenen Ernst. Die der Volksseele eigene Lethargie
begann sich über antikische Regungen zu lagern wie
Nebelverschleierungen über die Inselatmosphäre. Hier
erschien der grosse Pan stets schlummerbefangen
und mit ihm das ganze tolle Volk der Satyrn und
Faune. Nirgends wagte sich bachantische Lust hervor,
nur verträumte Nymphen zeigten sich und ein paar
feierlich-sentimentale Gottheiten. Der moralisirende
Nationalgeschmack begann ferner all die holdselige
Nacktheit dieser Fabelwesen mit dem Gewände brit-
tischer Keuschheit zu umkleiden. Auf diesem Boden
wandelten sie unter den Hütern der Wohlanständigkeit.
Hier wurde Voltaires Ausspruch von der Nation, die
energisch wie keine andere Moralideen in der Poesie
behandelt, mit Stolz citirt, und Künstler und Gelehrte
wetteiferten, den volkspsychologischen Grundzug des
Lehrhaften zu bestätigen. Nicht von Eros Macht be-
zwungen, wie einst im Hellas, schlug die Malerei in
England die Augen auf. Die Zeitkritik weckte Hogarth,
und Satiren wurden das Kindeslallen der englischen
Pinselführung. Während ihrer Lebensdauer von andert-
halb Jahrhunderten hat diese spätgeborene Kunst immer
die gleiche Blutmischung gezeigt. Es ist verwandtes
Wesen in den Alltagsdramen Wilkies, der wählerischen
— 10 —
Portraitirung Reynolds und Gainsboroughs, dem pathe-
tischen Tierbild Landseers, wie in den intensiven Ge-
fühlsäusserungen der Präraphaeliten. Was sich inhalt-
lich abwandelte, ist in der Vortragsweise einheitlich
geblieben. Es ist das moralische Prinzip, das die
Impression ablehnt und die exakte Wiedergabe aller
Details, den Finish, als erstes Gebot in die Malerbibel
einschreibt.
Zu diesen nationalen Zügen, die die Physiognomie
der Antike in England abänderten, trat als mitumge-
staltender Factor die Romantik. Sie war aufs neue wach-
gesungen worden durch Percys Volksballaden-Sammlung,
durch Ossians wildklagende Naturpoesieen. Mit dem
Regierungsbeschluss des Jahres 1835, der den gothischen
Stil dem antiken für den Parlamentsbau vorzog, war
ihr Sieg für die Architektur entschieden. Ueppig
sprossten mittelalterliche Triebe in der Kunst des neun-
zehnten Jahrhunderts. Aus dem alten Epos, der
Legende, aus Dantes Poetenvisionen zog man Nahrung,
fühlte man sich mit Verzückungsschauern in die bis
zur Vergeistigung verinnerlichte Formensprache christ-
licher Meister des Südens und Nordens hinein. Künstler
wie Burne Jones, Rossetti, Hunt prägten Typen, die
das Volk wie Idole heiligte, und bis über das Wohn-
haus des schlichten Mannes wünschte William Morris
den heiligen Geist der Gothik ausgegossen.
Ein Grieche nach seiner Künstlersehnsucht, ein
Engländer durch seine Nationalität und ein Romantiker
aus poetischen Impulsen ist der grösste aller zeitge-
nössischen, der originellste aller englischen Maler
— II —
George Frederick Watts. Heut als Greis nennt er
sich noch einen echten Griechen, und er ist es in
seinem Schönheitskultus, seiner Dogmenlosigkeit und
seiner Natürlichkeit. Mit patriotischem Stolz empfindet er
sich jedoch auch als Engländer. Zur Glorie dieses Vater-
landes schaffen, seinen künstlerischen Kanon klassisch ge-
stalten, war sein Ehrgeiz. Für dieses Ziel ist er der hei-
matlichen Moraltendenz dankbar, hebt ihn das Bewusst-
sein, unter den Malern aller Zeiten fast der einzige
ausgesprochene Moralist zu sein. Aber mit der Prüderie
des Britten, die Madox Brown zwang, seine Christus-
gestalt zu bekleiden, hat er nichts gemein. Kein Schul-
meister, ein ethisches Vorbild strebt er zu sein, ein
Didaktiker wie die grossen Philosophen des Altertums.
Von den Schätzen Hellas' waren es die Parthenon-
skulpturen, die seine Seele bezwangen. Nach den
Gesetzen der Wahlverwandtschaft musste ihn der
Meister am stärksten anziehen, dem das Göttliche am
reinsten sichtbar wurde. Nicht Praxiteles und Skopas,
die Künstler des Liebreizes und der Grazie, — Phidias,
der Bildner der Erhabenheit, wurde seine Gottheit.
Während die Leighton und Tadema über Paris und
Belgien ihren Hellenismus bezogen, stieg Watts ein-
sam seinen Höhenpfad zur Akropolis. Er hat nicht
wie Prometheus sein olympisches Gastrecht verscherzt,
— die Gesellschaft der Unsterblichen ist sein Um-
gang geblieben. Andere Gottheiten offenbarten sich
ihm aus dem Zeitalter der Renaissance, die Tizian und
Lionardo, die Giorgione und Veronese. Er verweilte
nicht wie die präraphaelitischen Kunstgenossen im
Morgenlicht dieser Epoche, — Mittagsonne brauchte
seine Seele. Auch die Romantik lockte ihn nicht im
Sinne mittelalterhcher Spitzbögigkeit und Frömmigkeit.
Ihre Phantasiefülle, ihr Organ für die dunklen
Mächte des Gewissens berührte eine gleichgestimmte
Saite seines Innern. Bonaventura, nicht Abälard sprach
zu ihm.
Wenn wir heute auf dem Continent George
Frederick Watts erwähnen, weckt sein Name meist
nur matte Anteilnahme. Weniges, ziemlich Unbe-
stimmtes ist von ihm bekannt. Man weiss ungefähr,
dass er zu der Elite der gegenwärtigen Malerei Eng-
lands gezählt wird, dass ihm Verehrer vor einigen
Jahren eine Münchener Collectiv- Ausstellung veran-
stalteten, wofür die dortige Akademie ihm mit einer
Ehrenmitgliedschaft quittirte. Kaum dieses oder jenes
seiner Werke ist über den Aermelkanal gekommen.
Nur ganz vereinzelt hat ihn hin und wieder eine Stimme
in der Presse mit Enthusiasmus behandelt. Für den
gebildeten Deutschen bleibt immer noch die Frage
natürlich: wer ist George Frederick Watts? Diese Un-
wissenheit findet durch den Künstler selbst ihre Ent-
schuldigung. Ängstlich ist er stets bestrebt gewesen,
die Öffentlichkeit zu meiden. Unaufhörlich wieder-
holt er den Künstlern Englands die Mahnung: Fertigt
keine Spielwaren für den alljährlichen Weihnachts-
baum der Kunstausstellungen. Wenn die Verehrung
seiner Nation und die praktischen Forderungen des
Lebens nicht unabweisbar ihre Rechte behauptet hätten,
w^ären die geographischen Grenzen seines Ruhmes heut
— 13 —
noch mehr eingeschränkt. Sein Künstlertraum war ein
stilles Ansammeln seiner Werke, ein rastloses Vervoll-
kommnen jedes Einzelnen, bis der Tod sein Gesammt-
schaffen der Nation als Vermächtnis freigab. Von der
Schönheit des Königskindes erzählt das Volksmärchen,
deren Glanz durch die Schlossmauern hindurchleuchtete.
So hat das Werk Watts kein Verbergen geduldet. Es
hat sich kraft seiner Lichtstärke selbst offenbart. So
vielfältig bereits die reproducirenden Künste am Werk
sind, seine Schöpfungen international zu machen, immer
noch muss, wer den Meister selbst beurteilen will, die
Fahrt nach England antreten. Das Phänomen dieser
Künstlerpersönlichkeit würde innerhalb keiner Nation
an packender Kraft einbüssen, es kommt grade auf
seinem Heimatboden am überwältigendsten zur Er-
scheinung. Anders als in andern Köpfen spiegelt
sich im Sinn des Engländers der Begriff der Voll-
kommenheit. Er empfindet sich als Muster aller guten
Sitten, als sein bester Mentor in künstlerischen Dingen.
Während das internationale Heer schöpferischer Geister
nach Paris blickt, um Wegweiser für seine Methoden
zu finden, wandelt er ruhig die Pfade, die er nach
Erfahrungen mit fremden Einflüssen als persönlich
passende erkannte. Hier gilt Ruskins Mahnruf »Mässig-
keit« als goldene Regel aller Kunstlehre. Der gute
Ton verbietet die lebhafte Geste, das laute Lachen, er
hält die Temperamente wie unter einem Opiat gezügelt.
Vergebens suchen wir nach Rubens Lebensüberdrang
und Michel Angelos Titanentrotz. Um so kolossaler
hebt sich aus dem verzauberten Kreis die monumentale
— 14 —
Erscheinung George Frederick Watts. Er wirkt wie
ein erratischer Block, der durch ein unberechenbares
Spiel der Naturkräfte in das Flachland verschlagen
wurde. Wie ist er hierher gekommen .^^ Wie lässt er
sich in das Gesamtbild einfügen? Wir wissen es nicht.
Nur den Felsblock erkennen wir und vernehmen in
seiner Nähe etwas von dem Raunen der Urzeit.
Seitdem eine engUsche Malerei besteht, erzählte
oder belehrte man mit dem Pinsel; man malte zur
Belustigung und Besserung. Der Roman, das Theater,
die schöne Natur, die zahme Historie lieferten die Stoffe.
Intensiveres Fühlen, höherer Ernst des Wollens setzte
mit den präraphaelitischen Reformatoren ein. Diese
Renaissance nannte Walter Crane mit Recht: »die ent-
schlossene und enthusiastische Rückkehr zum direkten
Symbolismus, zum offenen Naturalismus und zum
poetischen oder romantischen Gefühl der Kunst des
Mittelalters, gepaart mit der Macht der modernen Ana-
lyse. « Trotzdem erscheinen dem Continentalen die meisten
der Gilde immer nur wie »mildäugig- melancholische
Lotusesser«. Wohin heut noch der Blick in der
Londoner Akademie, dem Sammelpunkt alles besten
modernen Kunstschaffens Englands fällt, sind die Nach-
schwingungen dieser Bewegung erkenntlich. Sie über-
wiegen selbst die journalistische Tendenz, die dem
patriotischen Publikum grade die flüchtigen Sensationen
des Tages auftischt. Sie haben der englischen Malerei
durch die Vornehmheit der Methode und die eigen-
tümlich exaltirte Ausdrucksweise des schmachtenden
Augenaufschlags und der verschraubten Pose eine
— 15 —
Sonderstellung unter den continentalen Nachbarn ge-
sichert. Immer noch erscheint den Malern als er-
strebenswertester Platz für ihre Bilder das Drawing
Room; eine Scheu vor den geräumigen Wänden des
Museums bannt ihren Pinsel. So bedauernswert heut der
teilw^eise berechtigte Standpunkt der Salonmalerei auch
überall auf dem Continent vernachlässigt wird, — sein
alleiniges Hervorheben umkleidet die englische Malerei
mit der Atmosphäre der Monotonie und Temperament-
losigkeit. In diesem insularen Kunstareopag hat der
Tod die Reihen traurig gehchtet. Rossetti, der Maler
des Liebesmysteriums, Burne Jones, der Legenden-
Nachempfinder, Leigthon, der hochgestimmte Akade-
miker, Millais, der Proteus, sind mit Charons Nachen
abgestossen. Wenige Gipfel ragen noch auf. Noch
malt Alma Tadema seine englische Antike mit spitzem,
lichtseligem, Poynter die seine mit breiterem, tief-
farbigerem Pinsel. Schwer und düster entringen sich die
Farben der frommen Palette Holman Hunts. Herkomer,
der Sultan der Methoden, betet in dem Harem seiner
Kunstbethätigung augenblicklich die Emailletechnik als
bevorzugte Schönheit an. Ueberrascht erblickt der
prüfende Beschauer leise Spuren von Umsturzversuchen
in zahmen Impressionsäusserungen, die besonders den
Landschaftern in das Blut gefahren sind. Der Naturalis-
mus der Stott, Clausen, La Thangue hat mehr vom
gestriegelten Gentleman als vom struppigen Bauern-
burschen an sich. Wenn auch dem geistreichen und
geschickten Sargent mit seiner Coup d' Oeil-Methode
im Reiche des starren Konservativismus ein entschiede-
ner Sieg gelungen ist, bestätigt eine Umschau in diesen
Räumen immer das Wort Tizians: Der Dichter, der
improvisirt, kann nicht hoffen, reine Verse zu
machen.
Gänzlich unabhängig von all diesen Regungen des
Kunstorganismus, doch sie alle teilnahmsvoll beobach-
tend und nach Verdienst abschätzend, hebt sich die
Riesenerscheinung Watts aus dem englischen Kunst-
leben. Höhencharakter zeigt allein sein Werk. Seit
er den Pinsel aufgenommen, war er sich bewusst, im
Dienste einer Mission zu stehen. Wir finden in ihm
keine sogenannte künstlerische Entwicklung. Das Suchen
und Tasten des Genius, das Emporläutern aus Sturm
und Drang zu klassischer Abgeklärtheit weist seine
Laufbahn nicht auf. Er wollte immer die grosse
Kunst, für die Malerei seiner Nation das, was Shakes-
peare, Milton für die Poesie erstrebten. In solcher
Kunst erkannte er den sichersten Hebel zur Vervoll-
kommnung des Nationalcharakters. Nicht belustigen
und unterhalten, erziehen und veredeln sollte die Muse.
Wenn Lord Leighton Formenkraft und Kompositions-
grösse schmerzlich unter den Eigenschaften der eng-
lischen Maler vermisste, wollte Watts diese Lücke der
nationalen Kunst ausfüllen. Er war sich bewusst,
dass die Persönlichkeit des Künstlers den Vollgehalt
seines Werkes bedeute. Schon seit drei Menschen-
altern hat er nach Vorbildlichkeit seines Charakters
gestrebt. Wenn der hohe Achtziger heut mit tiefer
Enttäuschung von der Unvollkommenheit seiner Lands-
leute spricht, vermag diese Erkenntnis seinen Optimis-
Leben und Liebe.
(Mit Genehmigung von F. Hollyer in London )
— i8 —
mus nicht zu erschüttern. »Das Aeusserste für das
Höchste« betont er, und immernoch beginnt der Greis
täglich um vier Uhr morgens seine Arbeit an dem
sittlichen Förderungswerk der Menschheit. Er fühlt
wie Goethe für den Beruf des Erziehers die Voraus-
setzung notwendig, viel entbehren zu können. Mit
dieser pädagogischen Anlage ist Watts zugleich und
vor allem der grosse Künstler. Immer umschwebt
Ariel auch den Prospero, und die Erhabenheit seiner
Ideen wird von der beweglichen Grazie der Phantasie
begleitet. Sein höchster Ehrgeiz sind aber bedeutsame
Botschaften. In seinen eindrucksvollsten Schöpfungen
ist er bestrebt gewesen, die weltbewegenden Mächte
des Naturlebens, wie die lenkenden Gewalten des
Menschenwillens in den von ihm geschauten Formen
zur Anschauung zu bringen. Wie allem höchsten
Künstlertum war ihm die Symbolik der Gipfel des
Ausdruckvermögens. In grandioser Formensprache hat
er die verallgemeinernde, typenbildende Macht des
Genies erwiesen. Als der Maler der Ideen, der ewigen
Wahrheiten wird er in einsamer Höhe aus der Kunst-
geschichte aufragen. Der Tod, das Leben, die Liebe,
die Hoffnung, die Leidenschaften, die Geheimnisse der
Träume, das Unsichtbare hat er sichtbar gemacht.
Keines Vorgängers Nachfolger ist er geworden. Mit
Watts Bildgestalten werden die künftigen Zeiten ein
kunstgeschichtliches Sonderkapitel ausfüllen. Die heutige
Zeit feiert eine Schilderhebung des flachsten Realismus.
Watts geistige Potenz wird jeder um so höher einschätzen,
dem der Tiefsinn immernoch keine künstlerische
— 19 —
Dekadenz bedeutet. Wer die Säle der Täte Gallery,
des Londoner Museums für brittische Kunst, durch-
schreitet, wird in dem Augenblick aus der Stimmung
ästhetischen Wohlgefallens von Titanenfaust aufgerüttelt
werden, wenn sein Fuss den Watts-Saal betritt. Hier
zwingt ein gebieterischer Wille zum Nachdenken, Ge-
fühlsmächte ergreifen kathegorisch Besitz von unserer
Seele. Diese Farben flüstern und singen oder dröhnen.
Mächtige Formen umgeben uns wie polychrome Statuen.
Sie predigen oder prophezeien, — es sind Visionäre
oder Träumer. Hier strömen magnetische Gewalten,
die uns nicht von sich lassen. So überwältigend und
neu erscheinen diese Offenbarungen einer Künstler-
seele, dass wir uns vorerst mit ihrer Fremdheit abzu-
finden haben. Robert de la Sizerannes' Urteil über
Watts, »den düstersten Künstler Englands, den Henker
all unserer Freudenträume, all unserer Illusionen«, fällt
uns ein. Aber dieser Henkersatz hat keinen Bestand
angesichts der Liebesfülle, die aus diesen Werken auf
uns überströmt. Mehr und mehr vernehmen wir es in
ihrer Nähe wie das Flügelrauschen himmlischer Heer-
schaaren, die rosenstreuend singen :
Was Euch nicht angehört,
Müsset Ihr meiden.
Was Euch das Innere stört,
Dürft Ihr nicht leiden.
Dringt es gewaltig ein,
Müssen wir tüchtig sein;
Liebe nur Liebende
Führet herein.
2*
— 20 —
»Ich bin ein absoluter Autodidact«, versichert
George Frederick Watts, wenn er seine Lebensrück-
schau hält. Bei dem Versuch, aus Familien - und
Studieneinflüssen sein Wachsen und Werden festzu-
legen, müsste selbst der Wagemut Tainescher Analysen
versagen. Watts lächelt über ausführliche Stamm-
baumiorschungen. In seinem Sinn handelt, wer alles
Persönliche möglichst unterdrückt, alles Psycho-
logische einzig und allein aus dem Werk beurteilt.
Er tröstet uns, mit leiser Selbstironie, bei diesem
Kapitel mit der Thatsache, dass Homer, Plato und
Shakespeare der Menschheit auch nur dunkle Existenzen
bedeuteten. Der Erfahrungssatz, dass grosse Männer
meist der Mütter geistige Anlagen fortsetzen, trifft bei
Watts nicht zu. Ihm haben vielmehr die mystische
Veranlagung celtischer Vorfahren und ein erfinderisch
begabter, kunst- und wissenschaftliebender Vater Bluts-
erbschaften übermittelt. Die Mutter empfand nach
keiner Richtung künstlerische Impulse. Wegen ge-
schäftlicher Interessen war der Vater von Hereford in
Wales nach London übergesiedelt. Er hat es zu
keinen Reichtümern gebracht, denn das Talent des
Sohnes hat schon in dessen Jünglingsjahren auch als
Erwerbsquelle seine Segnungen bewiesen. Auf dem
Blatt eines mit zierlichen Kupfern geschmückten Gebet-
bu-ches aus der Königin-Anna-Zeit steht als Geburts-
datum Watts der 23. Februar 1817 eingetragen.
Zeichnungen nach diesen Illustrationen, sowie Skizzen
von Menschengesichtern und Pferden sind als Erstlings-
werke des acht- und neunjährigen Künstlers aufbe-
wahrt. Sein Farbensinn offenbarte sich ein oder zwei
Jahre später an einer Reihe phantasievoller Kom-
positionen nach Walter Scotts Gedichten und Romanen.
Eine Kampfscene um die Leiche des Patroklos verrät
seine leidenschaftliche Anteilnahme an den Schilder-
ungen Homers. Unverkennbar trat die Prägung seines
Talentes hervor. Sie führte den Knaben in die Klassen
der Londoner Akademie. Hier erkannte er nach
wenigen Wochen, dass der Hunger seiner Seele un-
gestillt blieb. Jene Zwiehchtphase der Entwicklung,
innerhalb derer verschiedene Triebe in der Kiinstler-
seele wie feindliche Brüder um die Vorherrschaft
ringen, muss jetzt gefolgt sein. Instinctiv fand Watts
seinen Weg in das Bildhaueratelier William Behnes.
Dieser mittelmässige Künstler hatte sich besonders
durch die Herstellung von Büsten damals einen
Namen gemacht. Bei ihm scheuchte den Künstler
nichts aus seinem passiven Verhalten. Er durfte
den Arbeiten des Lehrers zuschauen , er zeichnete
je nachdem ihn ein Einfall reizte. Der prometheische
Prunke sprang jedoch schon hier in sein Inneres
über, als er die Abgüsse Phidiasscher Sculpturen
im Atelier entdeckte. Jetzt waren die verwandten
Strömungen aufeinander getroffen. Im Brittischen
Museum konnte Watts die englischen Originale studiren,
jene herrlichen Parthenon-Fragmente, die Lord Elgin
seiner Nation aus dem Trümmerfeld der Akropolis
gerettet hatte. Dem Fluche Lord Byrons, den Angriffen
einer parlamentarischen Minderheit zuwider hatte die
englische Nation diese Schätze bei sich geborgen. Sie
wurden für Watts, was die Kupferstiche nach den
Freskenbildern des Pisaner Campo Santo für die prä-
raphaeUtische Brüderschaft werden sollten. Die In-
brunst, mit der der jugendliche Künstler damals diese
Formenwelt in sich aufnahm, hat sich in dem Greis
nicht gemindert. In seinem Londoner wie in seinem
Comptoner Landatelier stehen die Nachbildungen der
Parthenon-Gestalten als Jungbrunnen seiner Künstler-
instincte. Drei Menschenalter hindurch hat er aus
ihnen seine Formenideale geschöpft. Er versichert,
auch seinen Farbenkanon hier abgeleitet zu haben.
Ein jugendliches Selbstportrait Watts aus jenen
Jünglingsjahren trägt in dem wallenden Lockenhaar,
den durchgeistigten Zügen, der malerischen Kleidung
deutlich den Stempel des Künstlertums. Etwas
Ätherisches muss damals seine Persönhchkeit um-
schwebt haben, und es paarte sich mit seltener
Arbeitsenergie. Grade solche Widersprüche werden
dem Psychologen zum Ariadnefaden durch das laby-
rinthische Seelenleben des Genies. Die Hochschule
englischen Kunstgeschmacks, die Londoner Akademie,
nahm im Jahre 1837 bereits die ersten Gemälde des
Zwanzigjährigen zur Ausstellung an. Es waren zwei
Damenportraits und das Tierstück »Der verwundete
Reiher«. Das Reiherbild wurde erst vor wenigen
Jahren bei einem Bilderhändler wieder entdeckt und
ziert seitdem die Londoner Watts -Gallerie in Little
Holland House. Es wirkt als Erstlingswerk um so
erstaunlicher, wenn wir uns die Thatsache des Auto-
didaktentums seines Malers ins Gedächtnis rufen. Hier
— 23 —
ist die Natur auf das Liebevollste nachgebildet, doch
zugleich in persönlicher Grossheit erfasst. Der Körper
des prachtvollen Riesenvogels ist flügellahm herabge-
sunken. Das Geschoss des aus der Ebene heran-
sprengenden Jägers hat ihn getroffen. Noch richtet
sich die eine Schwinge wie im Kampf mit der ver-
sagenden Flugkraft empor. Der Schnabel, die Krallen
beteiligen sich an dem Widerstand. Milde grau-
schwarze Töne des Gefieders, das Goldgelb des
Schnabels und der Krallen heben sich in vornehmem
Akkord von einem lichtblauen Himmel. Poetisirender
Naturalismus steht als bedeutsames Wahrzeichen auf
diesem Anfangswerk. Es muss betont werden, dass
Watts hier bei aller Naturtreue vor allem malerisch
wiedergab. Diese Seite seines Talents, das Kennwort
seiner ersten Schaffensjahrzehnte, ist während der fort-
schreitenden Laufbahn in dem Maasse zurückgetreten,
als er nur der Malerphilosoph zu sein begehrte. Heut
empfindet sein künstlerischer Ehrgeiz in dieser Be-
nennung die höchste Würdigung, sein angeborenes
Malgenie hat ihn, trotz entschiedener Verstösse gegen
Anatomie und Lichtgesetze vor der Gefahr eines
Apostatentums bewahrt. An neuen Portraits und Dar-
stellungen dramatischer Scenen aus Boccaccio und
Shakespeare übte sich des Künstlers Hand in den
folgenden Jahren. Die Akademie stellte 1840 »Lorenzo
und Isabella«, 1842 »Belarius, Guiderius und Arviragus«
aus. Verzweifelndes Liebesleid und sieghafte Mannes-
würde hatten hier die Künstlerseele inspirirt. Ein Portrait
der »Frau Constantine Jonides« (1842) fiel durch
Fata M Organa.
(Mit Genehmigung von F. Hollyer in London.)
- 25 -
charakteristische Auffassuno- auf. Hier war die Natur-
treue bis auf Wiedergabe einer Gesichtswarze inne-
gehalten und zugleich die Freizügigkeit der Form-
gebung gewahrt. Van Eyck und Tizian lagen vorge-
deutet. Mit dieser Schöpfung festigte sich Watts in
der Schätzung eines seiner ersten Gönner, dessen
Familienglieder er seitdem bis in das dritte und vierte
Glied portraitirte. Für diese Auftraggeber entstand
auch die »Aurora« (1878) eine Poetenvision, die aus
Farbenoffenbarungen geboren schien. Dieses zu seiner
Jugendart zurückkehrende Meisterwerk ist grade neuer-
dings durch die Glasgower Internationale Kunstausstellung
von 1901 wieder aus dem Privatbesitz der Mrs. Lee ans
Licht gezogen. Es entzückt die Beschauer wie eine der
anmutvollen Bildsymphonieen aus Guido Renis mittlerer
Schaffensperiode. Aus lichtgelbem Gewölk sehen wir die
Göttin der Morgenröte hier in herrlicher Körperschön-
heit auftauchen. Eine bezaubernde Puttenschaar um-
flattert ihren Heilszug in die morgendämmernde Welt.
Sonnendurchleuchtet schwingt ihr Shawl wie ein Licht-
fanal, er lässt lichtblaue Töne aus seinem Orangegelb
aufleuchten. Auch hier wiederholt sich die emaille-
artige Glätte der Ölfarben wie auf dem Reiherbild.
Sie steht zu der granitenen Härte des sonstigen Farben-
körpers des Künstlers in auffallendem Gegensatz.
Mächtig regte Watts Gestaltungskraft die Schwingen,
als der Wettbewerb um die Fresken zum Schmuck
der neuerbauten Parlamentshäuser 1842 ausgeschrieben
wurde. Sein späteres Streben zu überlebensgrosser
Darstellujig, seine Begabung zur ernsten Historie fanden
— 26 —
hier ein ersehntes Feld, Er schuf seinen Karton
»Caractacus wird im Triumph durch die Strassen Roms
geführt«, einen Aufruf an das patriotische Gewissen.
Er ergriff so stark mit dieser Erinnerung an die Früh-
zeit brittischer Geschichte, dass ihm einer der ersten
Preise zufiel. Dennoch brandmarkte sich die damalige
Kommission mit dem Beschluss, das Fresko nicht aus-
zuführen, und den Karton in einer Auktion einem
gutzahlenden Kunsthändler zu überlassen. Dieser
findige Kopf zerschnitt die figurenreiche Schöpfung
und verkaufte ihre einzelnen Teile. Heut noch be-
finden sich einige im Besitz des Sir Walter James.
Aber mit dieser künstlerischen That hatte sich Watts
seinen Weg in die weite Welt gebahnt. Sein lang-
gehegter Künstlertraum, Italien zu schauen, wurde
Wirklichkeit. Er that vorher in Paris einen Blick in
die dortige Künstlerboheme, sah die glanzvolle Ent-
faltung der romantischen Schule. Die Sehnsucht trieb
ihn nach wenigen Wochen gen Süden, nach Florenz.
Ein Empfehlungsschreiben öffnete ihm das Haus Lord
Hollands, des brittischen Botschafters am grossherzog-
lichen Hof. Seine Persönlichkeit und sein Talent ge-
wannen ihm dort derart die Herzen, dass er die
folgenden vier Jahre hier als Hausgenosse weilen
musste. Welches Glück für einen jungen Künstler,
aus solchem Heim Fühlung mit der grossen Welt zu
bekommen. In der Casa Ferroni , dem Stadthause
Lord Hollands, und in der Villa Careggi, seiner
Sommervillegiatur, durfte Watts die Reihe illustrer
Gäste portraitiren , die aus der Blüte einheimischer
— 27 —
und ausländischer Gesellschaft hier einkehrte. Hier
schuf er auch die Bildnisse seiner Gastgeber und lernte
Männernaturen und weiblichen Liebreiz mit den
wägenden Blicken des künftigen klassischen Meisters
erfassen. Seinem historischen Darstellerdrang boten
die Wände der Villa Raum. Hier an der denk-
würdigen Stätte, die einst Savonarola am Totenbette
Lorenzo des Prächtigen gesehen, schuf er ein grosses
Fresko. Er schilderte die bewegte Todesscene des
verdächtigen Leibarztes des grossen Medicäers.
Freunde des verstorbenen Fürsten stürzen ihn, den sie
der Vergiftung Lorenzos zeihen, in einen Brunnen. Die
Ölskizze zu dieser Schöpfung ist noch in des Künstlers
Besitz, wie auch der farbenprächtige Entwurf einer
zweiten historischen Arbeit der damaligen Tage. Hier
hatte er die Liebesepisode, die den Zwist der Guelfen
und Ghibellinen hervorrief, dargestellt. In grosszügiger
Kompositon sehen wir hier schon das prachtvolle
weisse Ross und den gebieterischen Jünglingstyp wie
die versonnene, stolze Jungfrau späterer Zeiten. Auch
die Hunde Lord Hollands sind als Modelle verwertet.
Durch einen Zufall fand des Künstlers Gattin die
grosse Leinwand erst kürzlich unter aufgerollten
Atelierdach-Vorhängen wieder. Heut belebt die kühne
Jugendskizze des Meisters ländliches Bildhaueratelier mit
ihrem Farbenkonzert. Er wünscht dieses Werk noch
auszuführen. Es wird ihn in keine fremdgewordene
Periode der eignen Gestaltungskraft zurückführen, denn
von diesen statuarischen Gestalten aus vollendet sich
der eigentliche Kreislauf Wattsscher Farbenskulpturen.
Der Hof des Todes.
(Mit Genehmigung von F. Hollyer in London.)
Reiches Wissen nahm der Künstler in diesen Werde-
jahren aus den Schätzen itaUscher Hochrenaissance in
sich auf. Es bezeichnet seinen unabhängigen Künstler-
sinn, dass er das Copiren klassischer Meister mied.
Er schaute nur und sann, und in ihm krystallisirte
sich das Schönheitsideal, das besonders durch das
Studium der grossen Venetianer abschliessende
Prägung gewann. Er verhielt sich hier wie in späteren
Jahren bei der Benutzung von Modellen. Ihm war
das Sicheinprägen der Eindrücke, ein Ausw^endiglernen
der Natur erstrebenswert. Er wünschte bei seinem
Schaffen an keine sklavische Abschrift gebunden zu
sein, gleichsam die Rohmateriahen in einem Durch-
gangsprozess durch seine künstlerische Phantasie zu
läutern. Wie Delacroix verlangt Watts die Natur nur
als ein Lexikon betrachtet, in dem der schöpferische
Künstler nachzuschlagen habe, um sich über That-
sachen zu vergewissern. Von den Gefühlen wahrer
Freundschaft bestimmt, drängte Lord Holland seinen
jungen Hausgenossen, 1846 sich an einem neuen Wett-
bewerb in London zu beteiligen. Er hielt das unter
seinen Fittichen w^achsende Talent für zu kostbar, um
es der MögUchkeit eines Capuanertums auszusetzen.
Wiederum handelte es sich um Wandbilder für das
Parlament, und diesmal trug Watts für seine Dar-
stellung der ersten englischen Seeschlacht »König
Alfred reizt die Sachsen, das Landen der Dänen zu
hindern« (1848 — 53) den ersten Preis von 500 Pfund
davon. Die Regierung kaufte den Karton. Sie bewies
ferner ihre hervorragende Anerkennung durch den
Auftrag eines Freskos, »der heilige Georg«, für das
Haus der Lords. Dieses Werk ist schlimm durch die
Zeit verwüstet worden. Es teilt heut in dem soge-
nannten Saal der Dichter, oder oberen Wartesaal, das
Schicksal der Fresken von Cope, Herbert, Horsley,
Dyce und Armitage, schlecht beleuchtet und wenig ge-
sehen zu werden. Der Erfolg war kein Boden, aus
dem eine Natur wie die Watts Schädliches hätte
ziehen können. Ihm half er, wahre Charakterstärke
offenbaren. Schon damals regte sich mächtig in ihm
das Streben, die Kunst als erzieherischen Factor zu
verwerten. In der Belebung der Freskomalerei glaubte
er dieses Mittel gefunden. Voll höchster Selbstlosig-
keit erbot er sich, die grosse Nordwand im pracht-
vollen Sitzungssaal des Gerichtsgebäudes Lincoln's Inn
unentgeltlich auszumalen. Freudig ging man auf
diesen grossmütigen Vorschlag ein. Auf einem
Flächenraum von 45 Fuss Breite und 40 Fuss Höhe
entstand 1859 »die Schule der Gesetzgebung«, oder,
wie es der Künstler jetzt zu benennen vorzieht »Ge-
rechtigkeit: Ein Hemicyklus von Gesetzgebern«. Hier-
mit war eine der w^ürdigsten Schöpfungen dieses Stils
für England geschaffen. Heut noch angesichts der
traurig verlöschenden Farbentöne prägt sich uns der
Eindruck des Wandgemäldes ein wie die That eines
bedeutsamen Künstlers. Ein grosser Zug durchweht
die dreiundachtzig Gestalten des Bildes. Sie sind in
drei Reihen auf einer Freitreppe verteilt, die spitz-
winklig nach oben zuläuft. Schwungvoll betont sich die
Gestalt Eduard des Ersten, ziemUch steif steht Karl der
— 31 —
Grosse. Mahomet, Justinian, Moses, Pythagoras, Plato
bis Zoroaster hinauf sind hier nach der Raphaelschen
Anordnung der Schule von Athen zusammengestellt
und teilweise nach Modellen aus Watts Freundeskreise
gemalt. Die Gerechtigkeit, die Religion und die Barm-
herzigkeit schliessen als weibliche Schutzgöttinnen in
giebelartiger Krönung das Ganze. Trotz des sklavischen
Innehaltens eines gegebenen Planes empfinden wir den
Geist des Heroismus, den der Künstler zu erwecken
trachtete. Es lässt sich nicht entscheiden, ob das
Londoner Klima, die Beschaffenheit des Mauerwerks,
oder die angewandten Farben den Selbstauflösungs-
prozess des Freskos verschuldeten. Das gründliche
Restaurirungsw^erk, mit dem Professor Church betraut
wurde, beweist den Wert, der ihm beigemessen wird.
Dieser Rettungsversuch ist leider gescheitert. Während
der Entstehung dieses Werkes schrieb Watts in einem
Brief an Sir Henry Taylor: »Ich habe vielen Ehrgeiz und
wünsche innig, meiner Generation nützlich zu sein ; aber
mich macht die stille, unbemerkte Arbeitam glücklichsten.
Wenn ich mich in rechter Richtung bemühe, möchte ich
deswegen Ermutigung sehen, um mich angespornt zu
fühlen. Für grosses Schaffen müssen wir unser Äusserstes
dransetzen. Man darf nie anhalten und nachdenken,
ob die Sache abstract genommen gross oder klein ist.
Das wahrhaft Grosse liegt soweit jenseits unseres
Könnens, dass der Vergleich eine unwürdige Ueber-
legung wird. Von ganzem Herzen, mit aller Kraft
der Seele arbeiten, ist das Rechte, und wer dies thut,
darf sich befriedigt fühlen, was auch das Resultat
seiner Arbeit werde.« Grade in den letzten Jahren
sind in England bedeutende Staatsaufträge für Fresken
erteilt worden; aber die Entwicklungsgeschichte dieses
Kunstzweiges bis zu Watts enthusiastischer Initiative
war nicht angethan, ihn zu ermutigen. Vergebens
hatten vor ihm Hogarth und später Barry und Haydon
den Sisyphusblock zu rollen gesucht. Er entglitt ihren
Händen wie den seinen. Es fanden sich Privatauftrag-
geber für seine edlen Absichten wie der Marquis von
Landsdowne und die Kirchengemeinde St. James-the-
Less; auch entwarf der Künstler unermüdlich farbige
Kartons für grosse Ausführungen. Solche Arbeiten
befinden sich heut noch zahlreich in seinem Besitz.
In »Echo« (1847), d^i' Fluss träumenden Nymphe,
lebt sich rein lyrisches Dichterempfinden aus. Die
leidenschaftliche Energie des Dramatikers stürmt in
der michelangelesken Kolossalgestalt des bronzefarbenen
»Satan« (1861). Im »Aristides« (1850— 1860), dem der
Schäfer erklärt, dass er sein Todesvotum für ihn ab-
gegeben habe, weil es ihn langweile, soviel von dem
Gerechten zu hören, hat der Moralist eine wehmütige
Mitteilung gemacht. In den sehnsuchtsvoll gen Osten
ausschauenden »Leuten, die in der Dunkelheit sassen«
(1849), dämmert etwas von der Erkenntnis des Propheten-
wortes Jesaias, dass ihnen ein grosses Licht leuchten werde.
Wie hier der Seelsorger, malt auf der »Irischen Hungers-
not« (1850) der Volksredner. Zu einer machtvollen An-
klage gegen eine engherzige Regierungspolitik wird die
tragische Familiengruppe am Gestade der Irischen See.
Vater, Mutter und Kinder sitzen aneinander geschmiegt,
— 33 —
den Hunger auf den edlen Zügen, aber zugleich den
Stolz der Armut. Sie sind von der Welt vergessen, sie
wollen klaglos mitsammen untergehen. Eine Glad-
stonesche Rede, die fanatische Homeruler zeugen
müsste, hat hier Watts Pinsel geschaffen. Wir können
heut die Wirkung der meisten dieser Farbencartons in
Little Holland House an uns erproben. Des Künstlers
Enttäuschung, sie nicht nach seinen Absichten ver-
wertet zu haben, werden wir begreifen. Wie einst
Tintoretto sieht auch Watts in der Ausbildung des
Freskos einen bedeutsamen Hebel zur Veredlung des
Menschengeschlechtes. In seinem Gutachten vor der
königlichen Kunstkommission im Jahre 1863 that er
den Ausspruch: »Ich bestehe aus drei Gründen auf
Wandmalerei. Sie ist erstens eine Kunstübung, die
unbedingt nur auf ehrlichem Studium basirende
Kenntnis verlangt. Zweitens müsste sie den Gehalt
und die Noblesse des englischen Charakters hervor-
heben, die leider in den englischen Malschulen nicht
zu Tage treten. Sie sind latent und können daher
herausgeholt werden. Drittens bestimmt mich ihre
Wirkung auf den Volksgeist. Es ist für die allgemeine
Hebung notwendig, dass Werke von echter aber
schlichter Vortrefflichkeit soweit als möglich verbreitet
würden.«
An Watts beweist sich die Wahrheit des Wortes:
das Kind ist des Mannes Vater. Immer sind die
sozialen Instincte Triebfedern seines Wollens gewesen.
Schon als Jüngling war sein Ideal die Stiftung eines
Volkskunsttempels. Das Haus des Lebens wünschte
3
— 34 —
er ihn genannt, und er plante für seine Wandelhallen
Darstellungen von den Mysterien des Lebens und
Todes. Diese Sixtina hat sich auf englischem Boden
nicht erheben dürfen. Sie besteht heute in andrer
Form, als der Watts-Saal des britischen Nationalmuseums.
Wenn je die Geschichte Beispiele von der völligen
Uebereinstimmung von Künstler und Werk aufweist,
ist der Lebensgang Watts hierfür typisch. »Die Gottheit
in sich zu befreien«, wie Biotin es bezeichnete, war
sein Bemühen. Niemals hat er nach äusseren Ehrungen
gestrebt, sie immer zu meiden getrachtet. Ein zurück-
gezogenes Leben in der Arbeit für seine Ideen, für
die Freunde, die ihn zahlreich umgaben, war sein
Begriff von Glück. Ihm ist der Reichtum nie
begehrensw^ert erschienen. Er hat ihn aus Prinzip
gemieden. Erst die Erfahrung überzeugte ihn von
dem Wert des Geldes. Sie lehrte ihn, seine Kunst
teilweise als Brodbringer zu benützen. Er hätte eine
Ausbeutung nur für solche Zwecke als Sacrileg
empfunden. Das Portrait wurde sein Mittel, sich
Bedürfnisse zu befriedigen, die seiner Individualität
notwendig waren. Diesen Einnahmen dankt er die
Möglichkeit, seine beiden Häuser in London und
und Compton nach eigenem Sinn zu gestalten. Sie
tragen beide die Signatur des Schönheitsfreundes, den
es beglückt, im Anschauen vornehmer Kunst und ver-
edelnden Geschmacks ästhetischen Bedürfnissen Genüge
zu thun. Sein Londoner Heim, Little Holland House,
liegt in tiefer Parkgeborgenheit, in der Nähe der
Residenz seines einstigen Mäcenaten. Es trägt nach
diesem seinen Namen. Hier klettert der Epheu über
die roten Ziegelmauern, und Lilien und Rosen blühen
unter den herrlichen Bäumen des Gartens. Hier
grenzen die Besitzungen berühmter Künstler an. In
dieser Stille schufen sie und fanden sich gesellig zu-
sammen. In Watts bewundern alle Kunstgenossen den
grossherzigen Kollegen und unvergleichlichen Meister.
Diese einstimmige Verehrung ist fast ein noch sichrerer
Gradmesser als die Liebe der gesammten Nation. Wer
Little Holland House betritt, fühlt sich bald wie auf
klassischem Boden. Hier strahlt nicht wie in Alma
Tademas Künstlerheim der lichte Geist des Hellenismus
aus. Hier leuchten die intensiven Farben, prangen die
bedeutsamen Formen der Hochrenaissance. Alle Raum-
anordnung gipfelt in dem ausgedehnten Atelier und
der Bildergallerie des Meisters. An zwei Wochen-
tagen ist dem Publikum der Eintritt zu dem Museum
gestattet, und die Zahlen internationaler Besucher
zeugen für das rapid wachsende Interesse der Aussen-
welt. Seit die mächtige Stimme seines Genius sich
verkündete, ist die Welt zu ihm geströmt. Wer den
Menschen in ihm finden durfte, ging bereichert heim.
Ein hoher Geist und -^ein seltenes Gemüt haben sich
ihm erschlossen. Watts gehört angesichts der Ver-
ständnisvollen nicht zu den Gedankenbewahrern, viel-
mehr zu den Selbstoffenbarern. Er spricht über seine
Philosophie, über seine Malprinzipien, über Politik und
Kunst. Immer charakterisirt ihn seine Bescheidenheit,
die die Tugend fast bis zur Schwäche treibt. Wie
allen grossen Geistern liegt ihm alles Persönliche, aber
Hoffnung.
(Mit Genehmigung von F. HoUyer in London.)
— 37 —
nichts Menschliches fern. Wir empfinden ihn festen
Fusses im Reich der Spekulation, sicheren Blickes den
Zeitereignissen gegenüber, einen Kosmopoliten und
Engländer, einen Träumer und Praktiker zugleich. Er
ist leicht und schlank gebaut und bewegt sich mit der
dem Engländer charakteristischen Gelenklockerheit.
Sein Künstlerhaupt ist von idealer Schönheit, voller
Kühnheit und Güte. Er blickt scharf, als spähe er
auf den Grund der Seelen.
Dicht an dem Saumpfad, über den einst die Pilger-
scharen zur Grabstätte Thomas a Beckets nach Canter-
bury wallfahrteten, liegt sein Sommerheim in Surrey,
bei der Stadt Guilford. In prachtvollen, schottischen
Fichten steht es geborgen, inmitten schweigender
Hügel. Dort wehen die Lüfte in seegeschwellter
Frische. Den Blick, der von der Höhe aus über die
anmutigen Thalgefilde gleitet, vermeint den Liebreiz
der umbrischen Ebene in sich zu trinken. Vom Fallen
der Blätter bis zum Spätfrühling weilt Watts unter
diesem Dach. Das gleiche tieftönige Farbenkonzert
wie in seinem Londoner Besitz beherrscht die Ein-
richtung, Zahlreichen Gottheiten sind hier Altäre
errichtet wie in der polytheistischen Tempelstätte des
Künstlerheims Frederick Leightons. Indische Messing-
arbeiten, orientalische Decken, arabische Gefässe,
Damascenische Töpfereien geben starke Colorit-
wirkungen neben schönen Bildern des Hausherrn und
seiner Künstlerfreunde. Watts »Genius der griechischen
Poesie« enthüllt seine keuschen Glieder neben den
Sybillen Michel Angelos und den Madonnen Raphaels.
- 38 -
In weissen Stuckpaneelen erkennen wir Religions-
symbole aller Völker. Die geschickten Hände der
Gattin des Künstlers, einer hochbegabten Bildhauerin,
haben diesen künstlerischen Wand- und Deckenschmuck
geschaffen. Die Verehrung, die sie selbst dem Werk
ihres Mannes zollt, die auch einst ihre gleichgestimmte
Seele zu der seinen führte, ist in symbolischer
Ornamentik überall ausgesprochen. Vor seinem Bild-
haueratelier hat sie ihm draussen im Garten ein
Denkmal errichtet, das Watts Motto »das Aeusserste
für das Höchste« als Aufschrift trägt. Die Zeichen
der ägyptischen Sonnenuhr, der Sonnenblume, alle
Embleme idealistischen Strebens schildern den Kultus
ihrer Seele. Wenn je ein Weib berufen war, die
Lebensgefährtin eines grossen Künstlers zu sein, ist es
Mrs. Watt. Erst in seinen späten Mannesjahren wählte
er die Jahrzehnte jüngere Gattin. Er bedurfte ihrer
selbstlosen Hingabe, um die Wunden, die eine erste
Ehe mit der Schauspielerin Ellen Terry geschlagen,
zu heilen. Ueber dieses düstere Kapitel seines Innen-
lebens breiten die Freunde des Künstlers schonendes
Schweigen. Es war eine jener Tragödien, die aus
dem Ikarussturz des hochstrebenden Idealismus ent-
stehen, die erfolgen müssen, wenn Seelenreinheit und
Weltlust miteinander ringen. Unrast hatte diese Ehe
in sein Heim und Herz getragen, die Segnungen des
Gemütsfriedens brachte die zweite Heirath dem Schwer-
verletzten. Mrs. Watts, eine Tochter des schottischen
Hochlands, hütet das ihr anvertraute Leben wie eine
Vestalin die heilige Flamme. Nach einer zehntägigen
— 39 —
Abwesenheit, die der Tod ihrer Mutter bedingte,
äusserte sie zu mir: »Als ich den wunderbaren alten
Mann wieder sah, empfand ich ein Glück, als ob er mir
neugeschenkt sei.« Sie überwacht die Pflege seines
zarten Organismus, der in Folge einer spartanischen
Lebensführung die gewöhnliche Altersgrenze weit über-
dauern konnte. Sie sorgt für seine ästhetischen Freuden.
Täglich um vier Uhr beginnt der Greis heut noch wie
früher sein Tagewerk. Er malt, weil er den Menschen
noch viel zu sagen hat. Aus der reichen Schaar der
Besucher, die zu dem Zurückgezogenen strömen, weiss
sie ihm eine Auslese zuzuführen. Sie wählt, wie
Freunde des Hauses es bezeichnen, aus dem Bazar
des Lebens nur die erfreulichsten Dinge für ihn. In
sozialen Aufgaben finden beide Gatten eine gemeinsame
Arbeit. Wo irgend ein Appell um Hilfe zu ihnen
dringt, ruft er ihr Herz zur Liebesthätigkeit. In der
Wiederbelebung der vaterländischen Hausindustrie
sehen sie ein Mittel der Volksbeglückung. Im Sinne
der Ruskin- und Morris-Bestrebungen haben sie Kapital
und Kräfte der Begründung des Vereins für Kunst-
gewerbe und Kunstindustrie gewidmet. Schönheits-
schimmer in das schlichte Heim der Armut tragen,
hält Watts für eine gute That. Er beklagt den
Geschmacksverfall, den verkümmernden Sinn der
Gediegenheit als Folgen des Maschinenalters. Kein
Opfer ist Beiden für ihre Zwecke zu gross. Den
Ertrag zweier Portraitbestellungen von 20 000 Mark
hat Watts für einen Stiftungsfond des Kunstgewerbe-
Vereins gespendet, während seine Gattin 24 000 Mark
— 40 —
aus einer Sammlung beisteuerte. Sie unterweist in
ihrem Comptoner Heim die Dörfler im Formen und
Brennen der Ziegel für den Bau einer Dorftrauerkapelle.
Während Watts Freunde Vermögen durch den Verkauf
von Verlagsrechten erwarben, kümmerte er sich um
keinen Nachdruck, bis die Erfahrung eine eindringliche
Lehre erteilte. Zeitungsberichte von den aufopfernden
Rettungswerken eines Lokomotivführers und eines
Dienstmädchens hatten ihn auf das tiefste ergriffen.
Solche Helden aus den Kreisen der Enterbten zu ver-
herrlichen, erschien dem Idealisten eine würdige Auf-
gabe. Ein Pantheon für die Thaten des schlichten
Heroismus sollte sich im Londoner Armenviertel
erheben! Aber dieser Plan, der heut in dem
bescheidenen Maassstab einer Inschriftenhalle Wirk-
lichkeit geworden ist, forderte damals von dem Künstler
eine Summe, die ihm fehlte. Diese schmerzliche Er-
kenntnis veranlasste ihn zu Geldansprüchen für Nach-
druckrechte. Vor kurzer Zeit hatte sich ein lang-
jähriger Diener seines Hauses als Dieb einer wert-
vollen Büchersammlung entpuppt. Eine besonders
seltene Shakespeare-Ausgabe w^ar mit entwendet. Auf
diese Entdeckung Hess Watts nicht nur keine Anklage
folgen, sondern er setzte noch dem in Not geratenen
Sohn des Schuldigen eine namhafte Jahresunterstützung
aus. Schwer hat sich Watts zum Verkauf eines seiner
Bilder entschlossen. Die Würdigkeit des Käufers war
ihm wesentlich. Aber häufig hat er seine Bilder als
freiwillige Spenden ausgeteilt, wenn er seiner Mission
hiermit zu dienen glaubte. Auf dem Londoner Armen-
Der Reiter auf dem weissen Ross.
(Mit Genehmigung von F. Hollyer in London.)
— 42 —
friedhof, in den Proletarierkirchen, in den Erziehungs-
anstalten der Jugend — da hängen seine Geschenke.
Sie werfen ihren versöhnenden Schönheitsschimmer
über das Leben der Besitzlosen, sie spornen die Jugend
zu idealem Thun, sie erhöhen die Inbrunst der An-
dächtigen. Die Verehrung der Mitwelt hat eine be-
trächtliche Anzahl seiner Werke aus ihrer Geborgenheit
gezogen. Der Watts-Saal der Tate-Galerie bezeugt
den Stolz der Nation auf diesen Meister. Schon in
jüngeren Jahren ging seine Scheu vor der Oeffentlichkeit
so weit, dass er 1858 unter dem Pseudonym F. W. George
ausstellte. Ein öffentliches Festbankett, die Präsident-
schaft der Londoner Akademie schlug er aus, ebenso
zweimal das Anerbieten der Adelserhebung. »Wissen
Sie, welchen Titel ich für den Künstler gelten lasse.?«
fragte er einmal, einzig und allein den Right Honourable
(wörtlich übersetzt: wirklich Ehrenwerte). Ohne sein
Wissen erwählte man ihn 1867 zum Associaten der
Königlichen Akademie. Man beförderte ihn, eine Aus-
zeichnung ohne Gleichen, in demselben Jahre zum
ordentlichen Mitglied. Diese Ehrung schien ihm als
Ansporn für mitstrebende Kollegen nicht zurückweisbar.
Eine Gratulationsadresse seiner Freunde und Bewunderer
zum achtzigsten Geburtstag hat ihm jedoch wirkliche
Freude bereitet. Sie trug die Unterschriften der Elite des
englischen Geistes- und Geschmackslebens. Der Dichter
Swinburne hatte sie mit schwunghaften Versen eingeleitet,
die die menschheitbeglückende Kunst des poetischen
Dichterphilosophen feierten. Watts ist ein leiden-
schaftlicher Musikfreund und hat selbst eine ansehn-
— 43 —
liehe Höhe des VioHnspiels erreicht. Ein besonderer
Teil seiner Bildwirkungen ist auf ein musikalisches
Element zurückzuführen. Ihm scheint sein höchster
Triumph gelungen, wenn man ihm versichert, Beethoven
oder Bach vor einem seiner Gemälde empfunden zu
haben. Auf den Erklärungstafeln, die er zum Studium
mancher seiner Werke selbst verfasste, sagt er bei
dem Bild der »Bewohner des Innersten«: »Der Ein-
druck ist absichtlich unbestimmt. Dies Bild kann
unter meinen Werken als typisch angesehen werden
wegen des Anspruchs, den eine grosse Reihe meiner
Werke macht. Es ist mein Wunsch, dass imaginäre
Gemälde eine ebenso starke Wirkung ausüben wie
musikalische Compositionen. Im Gebiet des Idealen
muss der Musiker wie der Dichter die Hilfe der Ein-
bildungskraft beanspruchen.« Das Reiten hat Watts
als seinen Lieblingssport betrachtet. Er hat seine Be-
wunderung des Pferdekörpers häufig als Maler und
Bildhauer bewiesen. Heut noch macht es dem Greis
Freude, ganze Sportklubs, die an seinem ländlichen
Buenretiro vorüberkommen, gastlich zu bewirten. Seine
Stellung zu den Kunstkollegen und ihre Verehrung
des Altmeisters ist nie von dem leisesten Missklang
getrübt gewesen. »Es mag sein, dass ein Uebel wie
der Neid existirt«, meinte er unlängst nachdenklich,
»aber bei den Malern kommt es nicht vor.« Das
Lesen guter Bücher hat stets zu des Künstlers bevor-
zugten Genüssen gehört. Er nennt Shakespeare,
Milton, Byron, Tennyson und Wordsworth seine besten
Freunde. Mit Wordsworth Naturphilosophie fühlt er
— 44 —
sich eins. Ihm sind die gewaltigen Erscheinungen des
Naturlebens wie die Seelenregungen der schlichten
Menschen Aeusserungen der gleichen Schöpferkraft.
Mysteriöse Spuren des mysteriösen Ganzen erkennt er
im Kleinsten. Von sich selbst behauptet Watts, dass
er kein starker Denker sei. Er ist es auch nicht im
Sinne eines streng systematischen Logikers. Sein syn-
thetischer Geist hat jedoch den ausgleichenden Sinn
der Harmonie, wie ihn Göthe und Spinoza besassen.
Die Fähigkeit der litterarischen Aeusserung spricht
sich Watts ab. Er hat bei Gelegenheiten, als es ihm
zum Sprechen drängte, ebenso plastische Schönheit als
epigrammatische Knappheit bewiesen. Eines seiner
bedeutsamsten Litteraturdokumente ist die Abhandlung
über den »Gegenwärtigen Zustand der Kunst«. Er
fühlte sich im Jahre 1880 bei der Anfrage, ob eine
grosse Kunstschule in England möglich sei, zu ihr
gedrängt. Hierin beklagt er den Tiefstand der Malerei.
Er verlangt, dass sie die Höhe der Dichtkunst zu er-
reichen strebe. Er wünscht, dass der Künstler die
Sprache seiner Zeit rede, und bedauert, dass dem
Engländer zu wenig des Schönen in seiner Umgebung
geboten würde. In den schaffenden Künstlerseelen
vermisst er Weihegefühle. Die materialistische Zeit-
tendenz erscheint ihm ihr Verhängnis. Ihm fehlt der
Geist des heiligen Franziskus in der christlichen Kirche
wie im Lande. Die jährlichen Kunstausstellungen be-
klagt er als Tod alles vertieften Schafifens. Genussun-
fähig besuchen sie die meisten, und ihre Abgestumpft-
heit ist entschuldbar, da »eine Nachtischrede kein
— 45 —
Essay, noch weniger ein Epos sein dürfe«. Für die
höchste Kunstleistung verlangt er seelische Tiefe und
vollkommene Technik. Hogarth nennt er einen wirklich
Grossen. Er bedauert nur, dass er Dialect gesprochen
habe, und die Reynolds, Van Dyk, Tintoretto und selbst
Titian lassen ihm Wünsche offen. Bei dem Thema
»Geschmack in der Kleidung« ist Watts Ansicht grade
für die heutigen Reformbestrebungen von Interesse.
Die enge Taille der Frau tadelt er als unschön. Er
hält das antike Schönheitsideal hoch, das kein Corsett
duldete. Die anliegenden Scheitel, der freie Hals, die
abfallenden Schultern, die hackenlosen Schuhe gefallen
ihm. Den langen Rock findet er immer graziöser als
den kurzen. Er liebt faltige Gewänder, die unendliche
Abwechselung des Lichtes und Schattens schaffen.
* *
*
Watts fand den höchsten Ausdruck seines künst-
lerischen Wollens im Symbolismus. Er ist durch die
Schulung der Geschichtsmalerei und des Portraits ge-
gangen, bevor er diesen Gipfel erstieg. Er meisterte
den Realismus, um der rechte Idealist zu werden.
Als Maler der ewigen Wahrheiten wünscht er zu über-
dauern, mit Geringschätzung blickt er heut auf sein
übriges Schaffen. Er weiss, dass nur die auserwählten
Künstler aller Zeiten mit transcendenten Mitteln zu
schalten wussten, weil die Symbolik wie keine andere
Kunstsprache die grossen Seelen voraussetzt, und weil
die meisten an der haarbreiten Grenze zwischen dem
Erhabenen und Lächerlichen zu Fall kommen. Aus
- 46 -
der symbolisirenden Phantasie haben sich die Völker
der Erde die poetischen Wundergebilde ihrer Mytho-
logieen und Religionen geschaffen. Aus diesem Born
trank Sage und Legende, trank alle Poesie ihren Be-
geisterungsrausch. Von zeitlichen und individuellen An-
lagen bestimmt, wuchs in jeder Künstlerseele die persön-
liche Symbolik. Mythologische Formen nahm sie bei
Sophokles, Geisterscheinungen wurde sie Shakespeare,
Lichtphänomene Rembrandt und kosmische Gewalten
Goethe. Watts Symbole sind Gefühlspotenzen. Sie tragen
die statuarische Prägung von Phidias Gestalten; aber
ihr Seeleninhalt ist das Element der Liebe. Meist hat
sein apostolischer Sinn sie erzeugt, nur in vereinzelten
Fällen besteht ein direkter Zusammenhang mit eigenem
Erleben. Immer hat Watts als Dichter und Philosoph
Realitäten im Lichte von Problemen betrachtet. Das
Leben, den Tod musste sein grüblerischer Geist sym-
bolisch umgestalten, um sich mit ihrer Thatsächlich-
keit abzufinden. Ob in seinem Werk auch zuweilen
der heisse Puls der Leidenschaft pocht, er wies für
seine grossen Symbole jede Formgebung ab, die das
Gemüt beunruhigen konnte. Diese Kunst sollte der
Menschheit den Frieden bringen. Aus gütigem Herzen
und gütigem Wollen offenbarte sich ihm der Tod als
ruhespendendes Weib, das Leben als zartes Frauen-
gebilde, die Liebe als schützender Jünglingsgenius. In
diesen grossen liebeatmenden Wesen regt sich nichts
von der grotesken Phantasie der Lorenzetti, der Rops
und Klinger. Jede von ihnen ist bei vorsichtigem,
oft jahrelangem Abwägen in dem Nährboden der
— 47 —
Künstlerseele langsam wachsend, zu der Majestät ihrer
Erscheinung ausgereift.
Seitdem Künstlerherzen schlagen, hat das Mysterium
des Todes die Phantasie mit reichen Stoffen versorgt.
Die schönheitsliebende Antike erschaute ihn im Bilde
des Genius mit der verlöschenden Fackel. Sie mied
die Idee des Grässlichen derart, dass sie den Ausdruck
= — er ist gestorben — durch Euphemismen wie — er
hat gelebt — , oder — er ist gewesen — ersetzte.
Der Jenseitsglauben des Christentums bedurfte der
Schrecken des Jüngsten Gerichts. Das Knochengerippe
der Dürer und Holbein zog in die Kunst. »Schwarz
wie die Nacht, grimm wie der Tod, schrecklich wie
die Hölle« schildert Milton den Tod. Er ist das ab-
schreckende Gespenst geblieben bis zu Böcklins Pinsel-
visionen. Einem Künstler wie Watts, der trotz eines
schwächlichen Körpers das » Aeusserste für das Höchste«
einsetzte, musste der Begriff des Todes wie ein grosses
Ausruhen nach schwerer Anstrengung erscheinen. Den
Schleier zog er von dem Saisbilde und erblickte ein
imposantes, rührendes Weib. Als unerbittliche Fordre-
rin, aber auch als Trösterin stand sie vor ihm. In
immer neuen Wiederholungen hat er dieses innere Er-
lebnis vor seine Sinne gestellt.
Auf dem herrlichen Altarwerke »Zeit, Tod und
Jüngstes Gericht« (1882) steht sie uns zum ersten Male
gegenüber — die machtvolle Frauengestalt mit ihren
leiderfüllten Zügen. Zu den abgeschnittenen Blüten in
ihrem Schooss schaut sie sinnend hinab. Es ist als
verschlössen ihre Lippen die Worte: Die arme, ent-
Zeit, Tod und Jüngstes Gericht.
(Mit Genehmigung von F. Hollyer in London.)
— 49 —
täuschte Menschheit! Wozu all diese trügerische Lust?
— Mild in weissgrauem Licht umschimmert sie das
faltenreiche Gewand, dessen Stoff zugleich ihr Haupt
überwallt. Es hebt sich wie ein Mollakkord von
dem Discant des rotorangenen Schurzes, der die
Jünglingsgestalt des Lebens umflattert, von den tiefen
Mitteltönen des Purpurs im schwingenden Mantel des
dahinsausenden Weltenrichters über ihr. In diesen
monumentalen Gestalten des Lebens und Todes zwingt
der Dichtermoralist den denkenden Beschauer zur An-
nahme seines Gegenwartsglaubens. Thatkraft und
Fortschritt ist allein die gegebene Stunde. Der Tod
löst alle Energie, er bedeutet das Entnerven, die grosse
Stille. Auf solchen Schöpfungen des Künstlers hat
jede Einzelheit ihre Bedeutung. Grade diese symbo-
lischen Gemälde zeigen seine höchste Konzentration
aller Mittel. Hier ist nichts nur um des Effects willen
angebracht. Diese Methode ohne wahrheitsgetreues
Nachschaffen von Licht- und Schattenwirkungen, ohne
Sfumato der Luft, ohne die Vermittelung verschmelzen-
der Oele will ihre Gestalten als Ideenträger wie Stein-
monumente hinstellen. Sie will etwas Bleibenderes
geben als nur Farbenbilder, will ethische Ewigkeits-
monumente. An den Parthenonskulpturen hat Watts
die Bedeutung des Faltenwurfs erkannt. Er ist auf
all seinen grossen Schöpfungen »das tausendfache
Echo der Gestalt« , ein wesentlicher Teil der Bild-
psychologie. Glatt, fast müde gleitet der Stoff in
langen Brüchen an der Figur des Todes herab, wie
stählernes Sprungfederwerk strafft er sich um das
4
— 50 —
Leben, und in wogender Fülle umbauscht er die Form
der richtenden Gottheit. Dieses Werk machte der
Künstler der Königin zum Diamantjubiläum für die
St. Pauls Kathedrale zum Geschenk. Er hat eine
Wiederholung für die Täte Gallerie gemalt. Wie der
Orgelton eines Requiem braust es aus der grossartigen
Todesgestalt, die als unabweisliches Schicksal auf
dem berühmten Bilde »Liebe und Tod« (1887) die
steinerne Hausschwelle empor in das Innere eines
Hauses schreitet. — Ihr Weg führt durch das Rosen-
gerank des Thores, an dem kleinen Gott der Liebe vor-
bei. Er ist der Hüter dieser Schwelle und sucht der
ungebetenen Besucherin mit aller Energie den Eintritt
zu wehren. Ohne Grausamkeit, doch unerbittlich
bahnt sie ihren Weg. Sie verwirrt die Flügelfedern
Eros, ohne ihn zu verletzen; aber sie duldet keinen
Widerstand. Auch auf diesem Gemälde leuchtet kein
einziger voller Lokalton. Das Weiss des Todes-
gewandes schimmert bläulich grau. Schatten fallen
auf den Liebesgott, und selbst die Rosen scheinen fahl.
Ohne dekorative Absichten des Künstlers geht ein
prachtvoller Compositionszug durch die Körperlinien.
Er verläuft in dem schleppenden Gewand, in den
herabwallenden Rosenranken wie in schwunghafter
Ornamentik. Die Idee dieses Bildes entstammt einem
Erlebnis des Künstlers. Sie reifte in ihm, während er
das Portrait eines jungen Aristokraten malte, des hoch-
begabten Sohnes einer befreundeten Familie. Er be-
merkte mit Schrecken während seiner fortschreitenden
Arbeit die Zunahme der Schwindsucht bei seinem
Modell. Das Verhängnis sah er trotz der auf-
opferndsten Pflege der Verwandten unheimlich vor-
dringen. Er empfand das Ringen der Liebe mit dem
Tode, und einige Jahre später war seine Symbolik aus-
gestaltet. Seiner Gewohnheit gemäss hat der Künstler
mehrere Wiederholungen desselben Motives gemalt,
um verschiedenen Bitten gerecht zu werden. Eines
dieser Gemälde schenkte er der Stadt Manchester.
Mit dem Zauber eines unvergleichlichen, in tiefen
Gluten wirkenden Colorits hat er die »Todesbotin«
(1887) in der Tate-Gallerie geschaffen. Niemals sind
die Farbenträume Bellinis und Tizians kühner gewesen.
Aus blaugrünem Licht schwebt sie hervor, die streng-
gütige Botin in tiefrotem Gewand. Leise, doch fest
berührt ihr Finger die in ihrem Lehnstuhl erschöpft
zurückgesunkene Frau. Buch und Violine sind dieser
zu Boden geglitten, etwas Kostbareres muss sie noch
hergeben. Von der entschlossenen Erscheinung strömt
es wie unendliches Trösten. Es überflutet wie ein
pulsbesänftigendes Heilmittel die Seele des ergriffenen
Beschauers. Eine Symphonie herrlich roter Töne von der
tiefen Nüance des Hintergrundes bis in die strahlende
Orangeskala des Frauenkleides, die sich aus grünen
ShawlhüUen abhebt, wirkt mit schwellendem Konzert
aus der linken Seite des Bildes. So gewaltig ist der
Eindruck des Ganzen, dass wir Schauer empfinden wie
in der Gegenwart einer überirdischen Macht. Das
gleiche Bild hat der Künstler in seiner Londoner
Schaffensstätte beständig vor Augen. Seit langen
Jahren malt er in dem Comptoner Atelier an einer
— 52 —
umfangreichen Variation des gleichen Gedankens, an
dem »Hof des Todes«. Wiederum empfinden wir vor
dieser erst jetzt fast vollendeten Schöpfung sein
Friedensevangelium. Hier tront der Engel des Todes
auf dem Weltensitz und sieht alle Klassen und Alter
der Sterblichen bei ihm Befreiung suchen von irdischen
Lasten. In seinen Armen trägt er ein menschliches
Embryo, um die nahe Beziehung zwischen Entstehen
und Vergehen anzudeuten. Hier liefert der König im
hermelinbesetzten Purpurmantel seine Krone, der ge-
panzerte Ritter sein Schwert ab. Erlösung von den
Enttäuschungen ihres jungen Lebens sucht die Maid,
die sich wie eine vertrauende Tochter an das Knie
der Weltherrscherin schmiegt. Der Krüppel wie das
gebeugte Alter flehen hier um Rast nach schwerer
Wanderschaft. Aber auch ein unschuldiges Kind
hüllt sich in den Mantel der bergenden Mutter, und
die brutale Kraft, in Gestalt eines kauernden Löwen,
ist hier gebändigt. Angesichts solcher Verkündigung
aus der Seele eines Menschenfreundes vergessen wir
Addisons beängstigende Vision von den Erscheinungen
der Lebensbrücke. Wir ahnen etwas von den Inseln
der Seligen jenseits aller Seufzer. Der Sonnenball
hinter dem Thron des Todes beginnt seine Tröstungen
auszustrahlen. In der Tate-Gallerie wiederholt sich
eine verwandte Auffassung auf dem Bilde »Der Tod
krönt die Unschuld«. (1887). Hier falten sich die
machtvollen Schwingen und die mütterlichen Arme
der Todesgöttin in segnender Liebe um ein erloschenes,
junges Leben. Eine Farbenharmonie in Grün, Weiss
— 53 —
und Grau hebt sich in geisterhaftem Lichtflimmer von
dem Tiefblau des Himmels, und eine Intensität des
Fühlens ist erreicht, dass wir uns den Schöpfer solchen
Werkes knieend vor seiner Arbeit denken können, wie
einst Fra Angelico in San Marcos Klosterzellen. Ein
Bild wie dieses hat Watts die Erfolge eingetragen, die
er am höchsten schätzt: die Dankbarkeit der schlichten
Seelen. Er erzählt mit besonderem Stolz, wie manche
schwerberaubte Mutter ihn brieflich des Trostes ver-
sicherte, den seine Farbenpredigt ihrem Trauerschmerz
spendete.
Während eines Besuchs der Königin von Rumänien
in seinem Atelier, citirte der Künstler das alte Wort:
Was ich ausgab, hatte ich, was ich sparte, verlor ich,
was ich gab, habe ich. Carmen Sylva bezweifelte die
Möglichkeit einer bildlichen Darstellung dieses Ge-
dankens. Der Künstler sagte sie zu. In Folge dessen
schuf er sein pathetisches Stillleben »Sic transit gloria«.
(1892). Er malte in dem feierlich aufgebahrten Leichnam,
den sich noch niemals ein Stilllebenmaler zu ver-
wenden erkühnt hatte, eine epische Dichtung voll er-
schütternder Tragik. Die Waffen und Helmzier, die
Bücher und Instrumente und der Lorbeerkranz des
Toten ruhen als beredte Zeugen eines bedeutsamen
Lebenslaufes an seiner Bahre. Die traurige Lehre von
der Vergänglichkeit alles Irdischen findet einen opti-
mistischen Ausklang in dem Schlusswort der Bildauf-
schrift: Was ich gab,- habe ich. Die werkthätige
Liebe ist das Bleibende, das wir zu schaffen ver-
mögen.
— 54 —
Watts Symbol der Liebe ist wie das seines Todes
von dem gleichen Drang eines menschheitbeglückenden
Wollens gezeugt. Beide sind Zwillingsgeschwister.
Aus dem kaleidoskopischen Farbenspiel grade dieses
Begriffes wählte der Künstler den intensivsten Ton.
Das Wesen der Liebe fällt für ihn zusammen mit
einem Ewigkeitsgefühl. Es ist die Macht, die alles
Leben stützt, festigt und heiligt. Watts Kunst beweist,
dass er auch Cupido hinter seinen Masken belauschte,
dass er gern den Possen der ausgelassenen Eroten
nachging. Wenn sein Künstlertemperament ihn auch
immer aufs neue in solche Gesellschaft lockte, konnte
sie ihm zur Schöpfung eines Idealbegriffs, eines
Symbols, nicht Genüge thun. Er suchte nach einem
Ausdruck für die Liebe, den keine Zeit und kein Ort
zu wandeln vermochte, der ihr tiefstes Geheimnis er-
schöpfte. Längst hatte ihn in London die Tragödie
des Daseins auf das Tiefste erschüttert. Der altrui-
stische Puls, der in Freunden wie Carlyle und
Ruskin, Gladstone und Tennyson mit feurigem Tempo
klopfte, war auch in ihm angesichts der Schrecknisse
der Riesenstadt, der Freistätte allen nationalen Elends,
erwacht. Womit schaffst du den Sinkenden einen
Halt, grübelte sein erzieherischer Geist. Womit ver-
kündest du den Verzagenden ein Evangelium des
Trostes, sann sein gütiges Herz.
Und so fand er die gesuchte Formel und zeigte
seinen Typ geprägt auf dem Bilde: »Liebe und Leben«
(1884). Hier sehen wir einen öden Felsgrad in den bläu-
Hchen Äther emporragen. Zaghaft tappt ein nacktes
— 55 —
Mägdlein durch das Gestein hinauf. Sie könnte niemals
vorwärts klimmen, wenn nicht ein machtvoller Schutz-
engel die Wehrlose, Zarte geleitete. Es ist die Liebe,
die das Leben stützt und führt! Wundersame grün-
liche Luft, das Fluidum Lionardo da Vincis, ist durch
den Raum ergossen, aber die helle und dunkle Gestalt
zeigen die granitene Fleischbehandlung Watts'schen
Stils. »Diesem Bilde, erzählte der Künstler, danke
ich einen der schönsten Erfolge meiner Laufbahn.
Es hat eine Fremde zu mir geführt, die mich in einer
verzweifelten Lebenslage um Hilfe bitten kam. Die
Geldsumme war für mich nicht gering, aber ihr Ver-
trauen auf den Maler von Liebe und Leben belohnte
mich reichlich.« Das Glück, das der Meister mit
solchen Thaten spendete und selbst empfand, hat den
Greis erst noch vor wenigen Jahren veranlasst, allen
inneren Jubel auf dem Bilde »Triumphirende Liebe«
(1898) auszuströmen. Hier steht sein Jünglingsgenius
überlebensgross im Weltenraum aufgerichtet. Zu den
Wolken hinauf reckt er die herrlichen Glieder, hebt
er Blicke und Arme. Ein Lufthauch scheint sein
purpurnes Gewand emporzuschwellen. Die Schwingen
straffen sich nach oben. Ihm zu Füssen hegen die
Geschlechter in zwei riesigen entseelten Typen, noch
im Tode mit verschränkten Armen. Er hat die Eini-
gung der Menschheit durch seine göttliche Mission voll-
bracht. Ein ekstatischer Dank verkündet den Triumph
der allsiegenden Liebe! Neben der kosmischen Gefühls-
grösse dieser Auffassung eines Zweiundachtzigjährigen
scheint uns das Liebesempfinden der Madonnenmaler
Triumphierende Liebe.
(Mit Genehmigung von F. Hollyer in London.)
— 57 —
blutlos, tritt der Sinnen cult Tizians und Rubens pein-
lich hervor, und das gleiche Motiv der Prudhon und
Bougereau verletzt als Theatralik.
Der melancholische Wesenszug des Engländers
ist in dem dritten Symbol Wattsscher Zeugungskraft,
in seiner »Hoffnung« fühlbar. (1885.) Watts sieht sie
nicht als das unzerstörbare Prinzip des Lebenswillens,
auch nicht als die gleissnerische Chimäre. Seine
Hoffnung ist die Seelenstimmung der Vielenttäuschten.
Der Künstler stellt sie als jugendliche Schöne dar, die
gebrochenen Körpers, verbundenen Auges auf dem
Erdball kauert. Einsam weilt sie im All, nur der
ewige Äther umkreist sie und unter ihr wallen die
Wolken. Verzweiflung könnte ihr Name sein, wenn
sie nicht gespannt auf den Laut der letzten Saite ihrer
zerstörten Lyra lauschte, wenn nicht ein Stern sein
dünnes Lichtfädchen zu ihr herab webte. Angesichts
dieses Symbols mögen die Tapferen den Kopf schütteln,
und nur die Zagenden zustimmen. Es wird keinen
Beschauer jemals ohne tiefe Ergriffenheit entlassen.
Die malerischen Eigenschaften des Bildes w^erden es
unter die Meisterwerke aller Zeiten einreihen. Hier
ist ein Stimmungsfiuidum in mondlichtfarbigem Zauber
ausgegossen, ein atmosphärisches Farbenwunder ge-
leistet, das seinesgleichen nur in Lionardos Gemälden
findet. Trotz ihrer geschraubten Pose ist diese Hoffnung
der Inbegriff jungfräulicher Holdseligkeit. Der Blick
schwelgt in der Plastik ihrer Glieder, in dem Falten-
geriesel ihres Gewandes. Wie musikalischer Wohl-
laut hallt es aus dem Rahmen, die Mondschein-
- 58 -
sonate Beethovens setzt mit bebenden Sehnsuchts-
cadenzen ein.
Einem Künstler, dem die Nächstenliebe das höchste
Gefühl bedeutet, konnte die Religion kein höheres
Gedankenbild eingeben. Watts nennt sich nur einen
Religionsphilosophen. Er fühlt sich frei von allem
Cult. Wahres Christentum fällt ihm zusammen mit
dem Begriff des wahren Menschentums. »Sprechen Sie
nicht von meiner Theologie«, sagte er einmal. »Der
Verstand hat sich niemals sklavisch dem Glauben
unterzuordnen. Ich habe mir eine Art anschaulicher
Beweisführung ersonnen. W^enn mein Zeigefinger hier
den Glauben, der Mittelfinger die Liebe, der Vierte
die Hoffnung, der Kleine das Mitleid bedeutete, wären
sie doch alle nicht im stände fest zuzugreifen und zu
halten ohne den Daumen. Er ist für mich das Bild
des Verstandes. Übrigens will ich die Menschen nur
bis an das Thor der Kirche führen, ich fordere sie
nicht zum Eintreten auf.« In den Werken Watts
findet sich nicht ein einziges Mal das Zeichen des
Kreuzes. Zu einer Zeit heftiger Sektenstreitigkeiten
in England malte er den »Geist des Christentums«
(1875), wie er ihn erfasste. Er stellt ihn dar als eine
traurig blickende Madonna auf ihrem Wolkensitz. Sie
birgt eine Schaar unverträglicher Kindlein in ihrem
Schooss und scheint ihr Thun mit pathetischer Geberde
gen Himmel zu verteidigen. Die ethische Kraft dieses
Werkes ist stark genug, uns gewisse Dissonanzen der
Farbe im oberen Teil des Bildes und die Wunder-
hchkeit der Komposition in der Lage der Kinder ver-
— 59 —
gessen zu machen. Diese »Widmung an alle Kirchen«,
wie Watts das Bild mit einem Untertitel bezeichnet,
steht an seelischer Schönheit auf der Höhe des
Evangeliums, wie es die wahrhaft freien Geister zu
allen Zeiten predigten. Den gleichen Gedanken in
geschlossener Form sprach er auf dem Madonnenbild
»Barmherzigkeit« (1895) aus. Mit einer Farben-
intensität, die seiner Gefühlsenergie offenbar nicht
genug thun konnte, wünschte er auch hier die all-
umfangende Güte einer wohlthätigen Macht zu per-
sonificiren. Tiefblau leuchtet das Kopftuch der
Madonna, purpurn und grün ist ihr Kleid, und in
kupfrigem Braun bettet sich der nackte Kindeskörper
auf ihrem rechten Arm in diese Tonfülle. Nicht die
Gebenedeite sehen wir hier mit ihrem Gottesknaben,
eine Allmutter umfasst drei Schutzbefohlene Wesen,
die drei geoffenbarten Religionen. Die grosszügige
Formensprache der Hochrenaissance geht durch die
Gruppe, und etwas wie die leidberührte Traumge-
bundenheit Giorgiones spiegelt sich auf den Gesichtern.
Ein Beitrag zu der idealistischen Tendenz der Neuzeit,
die in der Haager Friedensconferenz ihren Ausdruck
fand, ist Watts Bild »Der Glaube« (1897) in der Tate-
Gallerie. Der Maler symbolisirt ihn als eine Jungfrau von
Orleans, die nach dem Kampf am Strom die blutbe-
fleckten Füsse reinspült und das Schwert ablegt.
Während Vernichtung noch in der Ferne tobt, schwelgt
dieses behelmte Mädchen in der Frühlingsnatur und
schaut hoffender Seele nach oben. Zu dramatischer
Wucht steigert sich die symbolisirende Kraft des
Der Schlummer der Zeitalter.
(Mit Genehmigung von F. Hollyer in London.)
— 6i —
Künstlers, wenn er die Tragödie der Eva in der Bild-
trilogie »Die Geburt« (1892), »Die Verführung«, »Die
Reue« (1880 — 1892) schildert. Nicht die Geschichte
des Weibes, das da liebt und Mutter wird, ergriff ihn,
er durchlebte den Sündenfall. Mit allem Aufgebot
seines Idealismus zeigte er die Entstehung Evas aus
Wolkenschleiern, Lichtstrahlen und Lilienblüten. Als
ein Teil all dieser Herrlichkeiten richtet sich das Weib
in monumentaler Hoheit auf, sie steht wie zum Hohen-
priesterinnenamt berufen. Aber nichts Menschliches
bleibt ihr fern. Auf dem zweiten Bilde erfassen
stürmische Triebe die Menschheitsmutter. Ihre Haar-
massen schwingen wild, aus dem wirren Buschwerk
um sie her flüstert etwas Unsichtbares und leiden-
schafthch ergiebt sie sich dem machtvollen Drängen.
Der letzte Teil des Dramas ist völlige Gebrochenheit.
Gegen die Stämme des Waldes lehnt die Reuige in
Verzweiflung. Sie hat ihr Anrecht auf paradiesisches
Glück für ewig verscherzt. Der Hymnus der Keusch-
heit des ersten Bildes ist zum Dithyrambus der Sinnen-
gewalt im zweiten gewandelt, um als Trauerklage im
dritten auszuklingen. Kein richtender, nur ein mit-
fühlender Künstler hat den Cyklus geschaffen. Wie
ein umfassendes Symbol seiner Weltanschauung hat
der Künstler erst in diesem Jahre »den Schlummer
der Zeitalter« (1901) vollendet. Ein riesenhaftes Weib
mit klassischen Formen, der Genius der entschwundenen
Menschheit, ist auf den Weltenthron von tiefstem
Schlaf bemeistert. Ein prachtvolles Vergessen aller
Daseinsbilder, der grosse Friede ist über sie gekommen.
— 62 —
Geheimnisvolles Dunkel füllt den Bildrahmen. Nur
hinter der Schlummergebannten verglüht der Sonnen-
ball im violetten Meere. Auf dieser grossen Hypnose
atmet nur ein einziges Moment frisches Leben. Es
ist das blühende Kind, der Genius der jungen Mensch-
heit, der auf dem Schooss der entschlummernden
Mutter wacht. Eine grosse Symbolik des Vergehens
und Kommens, der Resignation und der unzerstörbaren
Glaubenskraft ist hier gegeben. Aus dieser Farben-
und Formensymphonie klingt es wie ein Orgellargo
Bachs, wie Miltons Gesänge.
* *
*
Der physische Wesenszug der Kunst Watts tritt
auch als Wahrzeichen seiner Portraitmalerei auf. Wir
stellen diese Seite seines Schaffens in direkte Folge
hinter seine symbolischen Kompositionen. Einen Geist
wie dem seinen lag das Portrait an sich nicht nah.
Der Zwang der Verhältnisse entwickelte es zu einem
Hauptzweig seiner Thätigkeit. Er erwies sich als einer
der Auserwählten des Faches, und der Erfolg Hess ihn
eine Portraitgallerie vaterländischer und amerikanischer
Geistesgrössen vollenden, ein Pantheon englischer
Portraitmalerei. Hierin entfaltete er die grossen Züge
seines Könnens, erwies er den Realidealismus, der ihn
zum würdigen Nachfolger der alten Meister erhöht.
Wir bewegen uns unter den Bildnis -Gestalten eng-
lischer Portraitmalerei in der Gesellschaft sehr ver-
schiedenartiger, doch meist sehr vornehmer Menschen.
Wir spüren den schnellen Atem der temperament-
- 63 -
vollen Geschöpfe Hogarths, des Malers, der »den Sitten
ins Gesicht sah«. Sie stammen nicht immer aus den
besten Kreisen, aber sie sind immer von dem Meister
gemalt, der auf seinem Selbstportrait die Bände
Shakespeares und Miltons nicht entbehren wollte. Mit
Adel und Kraft bewegt sich die Grand monde Reynolds,
mit verführerischer Empfindsamkeit bei Gainsborough.
Tizian schlägt unter ihnen die Augen auf und ein
wenig auch Watteau. Das Gentlemantum, gepaart
mit dem realistischen Sinn des Engländers, haben ihm
seine herrschende Stellung in der Portraitmalerei be-
wahrt. Noch heut behauptet er bei jedem internatio-
nalen Nebeneinander seinen Sonderplatz durch sein
selbstsicheres, vornehm bescheidenes Wesen. Um so
bedeutsamer ist grade in diesem Lande die ungeteilte
Bewunderung der Menschendarstellung Watts. Trotz-
dem fehlt seinem Portrait alles, was in den heutigen
Ausstellungen die Augen anzieht. Er besitzt nicht
den Pomp Dicksees, die Brillanz Sargents, die Eleganz
Tademas, die Grosszügigkeit Herkomers. Man muss
seine stillen Menschenbilder aufsuchen. Sie scheuen
die Oeffentlichkeit wie ihr Schöpfer. In dem ruhig
Dauernden ihrer Individualität, der Zurückhaltung ihrer
Darstellung stellen sie sich neben die Art Tintorettos.
Immer kündet sich neben diesen Biographieen die
i\utobiographie des grossen Watts. Er erfasst die
Modelle als Wesen, wie sie sein sollen, als ethische
Typen, so wie Sophokles die Menschen als Dichter
gesehen. Alle diese Portraits scheinen von einer ge-
wissen Schwere belastet, ihre seelische oder gedank-
- 64 -
liehe Fülle liegt auf ihren Zügen. Meist finden wir
nur Brustbilder, seltener Kniestücke, in Ausnahme-
fällen die Vollfigur. Auf den Brustbildern der letzten
Jahre sind die Hände auch oft fortgelassen, die Kon-
zentration der Individualität bleibt einzig dem Gesichte
übertragen. Obgleich Watts die Aehnlichkeit als
wesentliche Bedingung des guten Portraits auffasst, er-
strebt er durchaus die Natur nur durch Auswahl
individueller Eigenschaften zu charakterisiren. Immer
soll, wie Schopenhauer es nennt: das Wunder einer
im Individuum sich offenbarenden Idee verdeutUcht
werden. Watts analysirt bei den Sitzungen mit psycho-
logischer Vivisection, um endlich, nur aus dem Er-
innerungsvermögen , in einer Farben- und Formen-
synthese sein Endresultat aufzustellen. Hier durchläuft
er den Prozess bei der Portraitmalerei, der für seine
gesamte künstlerische Production mehr und mehr
typisch wurde. Die Modelle studirt er wohl mit dem
Auge, aber er belauscht sie m^it dem Ohr, sinnt sich
in ihre Empfindungswelt hinein. Er hält an seiner
Eigenart fest, die Natur nicht wiederzugeben, sondern
zu übersetzen. Daher ist ihm ein psychisches Colorit
wesentHcher als exacte Lichtbehandlung. Meist ist
jeder Physiognomie etwas Lichtfrohes oder Düsteres,
je nach der Seele des Sitzers mitgeteilt. Die Anatomie
des Kopfes ist immer in meisterlicher Modellirung
nachgebildet. Die Flächen stehen organisch inein-
andergefügt, die Augen spiegeln individuelles Leben.
Jeder einzelne Teil ist mit höchster Sorgfalt behandelt,
mit der Romantik und zugleich dem Klassicismus der
- 65 -
Watts ganz allein eigentümlichen Technik. Watts
Stolz ist, dass jedes seiner Portraits dem Sitzer ent-
sprechend vollständig anders gemalt wurde, dass nie
ein Teil schematisch entstand. »Es ist ein Irrtum,
sagt er, meine Portraitirung für im landläufigen Sinn
»ideal« zu halten. Sie soll im Gegenteil sehr real
sein, und daher bemühe ich mich, geistige wie körper-
liche Ähnlichkeit zu erzielen. Einige Künstler malen
z. B. die Nase immer mit demselben Strich und ihre
Schatten mit derselben Farbe. Wegen dieser Identi-
ficirung kann man auf den ersten Blick sagen: Dies
ist ein Portrait von So und So. Mein Bemühen war
es stets, den Beschauer zu nötigen, bei der Betrachtung
eines Bildes immer nur an das Gesicht vor sich und
nicht an den Mann, der es malte, zu denken. Wer
derart Portraits malt, braucht keine Fallgruben des
Manierismus zu fürchten. Bei meinem imaginären
Werk betrachte ich mich, in Anbetracht des Details,
so lange vollkommen frei, als ich kein Gesetz verletze.
Beim Portraitmalen ist dies natürlich anders, denn
während ich meinen geistigen Fähigkeiten vollen Spiel-
raum gebe, des Sitzers intellectuelle Charakteristik zu
erfassen, beobachte ich gleichzeitig das körperliche
Detail.« Watts besitzt auch das Talent des coup
d'oeil in hohem Maasse, trotzdem er seiner Gewohn-
heit gemäss ein langsamer Arbeiter ist. Das Portrait
Lord Shrewsburys entstand als eine alprima Leistung
in einer Stunde. Garibaldi war nach vierstündiger
Sitzung, Leslie Stephan nur nach zweistündiger auf die
Leinwand gebannt. Watts, dem die Geistesblüte seiner
5
— 66 —
Zeit willig Modell stand, hat sich selbst nur selten
gemalt. An das obenerwähnte Knabenportrait schliessen
sich drei herrliche Männerbildnisse. Jedes ist in seiner
Art für eine Seite der Künstlernatur typisch, — jedes
ist ein Meisterstück der Pinselkunst. Das eine, im
Palais Lord Hollands (1850) stellt den Künstler in
Ritterrüstung dar. Das zweite in der Tate-Gallerie,
aus 1864, zeigt Watts in der Auffassung eines schlichten
Wandermannes, eines Seelsorgers. Es ist Halbfigur,
auf einfarbigem Hintergrund in grauen und schwarzen
Tönen gehalten, bis in die Hände hinein sorgfältig
durchgearbeitet. Die Persönlichkeit in ihrer Seelen-
güte und Schlichtheit kommt überzeugend zur An-
schauung. Das andere in der Gallerie der Uffizien
(1883), ebenfalls Halbfigur, nur ohne Hände, leuchtet
in gedämpftem Farbenreichtum. Hier ist Watts der
Maler wiedergegeben, mit dem Malkäppchen und der
Palette. Diese Physiognomie ist voll klassischer Schön-
heit, sie trägt den Stempel des Künstlertums von
Gottes Gnaden.
In der Portrait- Abteilung der Londoner National-
Gallerie ist heut das Werk Watts am reichhaltigsten
zu Studiren. Hier hängen mehr als dreissig seiner
Bildnisse unsterblicher Engländer. Sie sind verschieden-
artig gemalt, bald weich, bald von steinerner Härte,
bald sorgfältiger oder schneller, wahre Perlen der
Portraitmalerei befinden sich unter ihnen. Staatsmänner,
Philosophen, Künstler, Kirchenfürsten und Philantropen,
sind hier durch Watts Pinsel dem Gedächtnis der
Nachwelt verewigt. Aus der Selbstherrlichkeit des
schöpferischen Künstlers ist hier dem Mann des Ge-
dankens wie der That der Ritterschlag erteilt. Eine
der klassischen Portraitleistungen aller Zeiten ist das
Kniestück des Cardinais Manning. Der sinnende Theo-
loge ist sitzend dargestellt. In prangender Lokalfarbe
leuchtet der Scharlach seines Gewandes, schimmert
das Weiss der Spitzenbesätze. Aus dem abgezehrten
Antlitz, das des Gedankens Blässe durchgeistigt,
schauen in grüblerischem Ernst die Augen. Etwas
Asketisches, Energisches, zugleich Gütiges, durchdringt
diese Persönlichkeit bis in die Spitzen der knochigen
Finger. Hier ist ein Werk geschaffen, das sich neben
Bellinis Cardinal Loredano behauptet. Von gross-
artiger Plastik ist der bildschöne KopT John Laird
Mairs, des Vicekönigs von Indien (1862), der das Pend-
schab vor der Revolution rettete. Geschlossene That-
kraft ist in den festen Gesichtspartieen, dem stählernen
Blick der blauen Augen concentrirt. Auf John Stuart
Mills Portrait (1874) daneben mit den schmalen Lippen
und den dünnen Bartcotteletten prägt sich der Intellect
des Denkers in den durchfurchten Zügen aus. Hier
dräut das zerklüftete Haupt Carlyles (1877) in braun-
gelber Farbenstimmung. Neben den Demokraten tritt
der Aristokrat: Venetianisches Goldgelb und Rot
strahlen von der reichgeschmückten Person Owen
Meredith (1884), des lyrisch begabten Sohnes Bulwers,
und werfen einen Wiederschein auf sein Antlitz mit
den blauen Träumeraugen. Doktor Martineaus Blick
scheint metaphysische Nebel zu durchdringen, Glad-
stone (1865) spiegelt leidenschaftlichen Eifer und Selbst-
Cardinal Manning.
(Mit Genehmigung von F. Hollyer in London.)
- 69 -
gewissheit. Eines der vollendetsten Werke ist das
Portrait des Londoner Stadtarchivars Rüssel Gurney.
Feine silbrige Töne leuchten hier am Kopf und an
dem eleganten Rock. Nur die rötlichen Töne des
Fleisches bringen Melodie in die graubraune Begleitung
des Ganzen. Hier hängt Frederick Leighton (187 1) in
seinem vornehmen Künstlertum, als Präsident der
Londoner Akademie, und Panizza, der Begründer des
Lesesaals des Brittischen Museums, zeigt seine massive
Persönlichkeit mit höchster Intensität bei der Schreib-
arbeit. Auch Brownings männlicher Kopf und des
Dichtermalers Rosetti südliche Schönheit ist hier zu
betrachten. In Mathew Arnold offenbart sich die
kritische wie die dichterische Seele.
Eine umfassende Bildnissammlung Watts befindet
sich auch in Little Holland House. Hier ist er als
Maler der Frauenschönheit zu bewundern. Wer könnte
die junge Lady Lilford vergessen, deren klassische
Züge in wundervollstem Colorit festgebannt wurden.
Wie ihre dunklen Augen emporschauen, ihr entzücken-
der Mund sich wölbt! In holdselige Wehmut das
Ganze getaucht, ein Seufzer der Keuschheit über das
Erdgeborensein. Da sehen wir die gefeierte Schönheit
Mrs. Langtry als züchtiges, junges Frauchen im alt-
modischen Hut, dessen schwarze Bindebänder ihre rot-
blonden Haare einrahmen. Die bildschöne Comtesse
Somers prangt hier mit tiefgrünem Gewand in land-
schaftlicher Umgebung. Immer zeigt Watts den Hals-
ansatz des Frauenkopfes. Er ist zuviel Anbeter der
Form, um dieses wundervolle Bauglied des weiblichen
— 70 —
Körpers jemals zu verhüllen. Selbst auf einer Portrait-
zeichnung der Lady de Vesci aus seinen letzten Jahren
bleibt er diesem Prinzip treu. Die vornehme Dame
trägt einen hohen Kragen, der auf Wunsch des
Künstlers so locker gehalten wurde, dass der Hals frei
blieb. Besonders stolz ist Watts auf den kraftvollen
Hals der eignen Gattin. Er hat sie hier in grünlichen,
von gelbgoldenen Lichtern überspieltem Kleid, in einer
Rückenansicht gemalt, die diese Schönheit voll zu
Tage treten lässt. In Holland House träumt und
lächelt und lockt noch manches Frauenwesen, aber
nimmer hat Watts Pinsel frivolen Wünschen gedient,
nie versuchte er Creuze oder Fragonard zu sein. Ein-
zelne seiner Frauenportraits vertragen die Nachbar-
schaft Tizians, andere wirken schwer in der Form-
gebung und im Ton. Er wird im Ganzen als Männer-
maler höher gestellt. Eine erlauchte Herrengesell-
schaft ist auch in Little Holland House beisammen
gehalten. Wir finden im schwarzen Rock den träume-
rischen Prinzen Joinville, dessen rote Lippen durch
den Bart schimmern. Wir sehen Swinburne, den
Poeten, dessen seelische Glut wie in leisem Feuer sein
kühnes Haupt mit den rötlichen Haarmassen zu um-
leuchten scheint. Der schöne, bärtige Kopf William
Morris, des Geschmacksreformators, hebt sich von dem
Lilienmuster der Tapete, und besonders charakteristisch,
in vornehm schlichten Farben, ist Walter Cranes
scharfgeprägtes Antlitz wiedergegeben. Voll feierlichen
Ernstes hebt sich George Meredith (1894), der geist-
volle Dichter, in grauem Anzug von dem roten Hinter-
— 71 —
grund seines Bildes, und sein parnassischer College,
Philipp Calderon, wirkt wie eine Seelenvision, die aus
dem Dunkel auftaucht. Schlicht und klug blickt der
Philantrop Passmore Edwards (1894) aus dem Rahmen,
pompös, in gedämpfter Farbenpracht, ist Lord Salis-
burys kraftvolle Persönlichkeit gegeben. Der haarum-
wogte, edle Kopf Motleys, des grossen Geschichts-
schreibers, fesselt uns durch den tiefen Blick seiner
blauen Augen, und sein College Lecky verrät deutlich
sein geistiges Element. Gerald Balfour (1899), der feine
Denker, zeigt jünglinghafte Schönheit im weissen Haar.
Dieses Portrait beweist Watts ungeminderte, souveräne
Beherrschung seines Malhandwerks. Hier ist die Ein-
dringlichkeit der Charakteristik und des Colorits mit
äusserster Beschränkung aller Mittel erreicht, der Greis
steht im Zenith seines Könnens. Ein Seitenstück ist
das Brustbild Lord Roberts (1899). Es zeigt den alten
Soldaten, mit dem leuchtenden, gütigen BUck und der
sonnengebräunten Haut in der Anspruchslosigkeit, die
seine Nation an ihm liebt. All diese Werke sind in
dem gleichen Brustbildformat gehalten, offenbar alle
Beiträge zu seinem Physiognomieen- Pantheon. Uns
Deutsche fesselt hier besonders ein Portrait Joseph
Joachims, das den Geigerkönig noch bartlos zeigt.
Watts malte ihn wie in das Tonmeer des eignen
Violinspiels versenkt. Die weichen doch festen Formen
des Hauptes stützen sich auf das Instrument, während
die Hand voller Innigkeit den Bogen führt. Ein mildes
Licht, das von unten einfällt, hellt die Persönlichkeit
des Künstlers magisch auf. Joachim selbst rühmt
Walter Crane.
(Mit Genehmigung von F. HoUyer in London.)
— 73 —
dieses Portrait als eines seiner gelungensten. Ange-
sichts dieser Gesellschaft bedeutender Männer und edler
Frauen in Little Holland House kommt uns die Be-
merkung eines geistreichen Besuchers in die Erinnerung.
Er sagte, dass ihn hier die Empfindung überkäme, als
dürften nur vornehme und schöne Menschen über die
Hausschwelle.
Einzelne besonders schöne Portraitschöpfungen
des Meisters sind in Privatbesitz geborgen. Zu ihnen
zählt das Bildnis der frühverstorbenen Marquise Louisa
von Waterford. In ihrem entzückenden, gleichsam
nur auf die Leinwand hingehauchten Profil ahnen wir
die kunstinspirirte Seele, die sich ebenso gross in der
Liebesfülle ihrer Weiblichkeit erwies. Als Gast Lord
Hollands in Florenz und Paris schuf Watts eine Reihe
von Portraits, die jetzt im Palast Lord Hollands, in
London, aufbewahrt werden. Trotzdem ein Feuer
hier im Jahre 1871 einige schöne Bilder gänzlich
zerstörte, und andere arg beschädigte, ist ein Teil
gerettet. Lady Holland befindet sich hier in lebens-
grosser Darstellung in dem breitkrämpigen Strohhut
der Nizzaer Landfrauen. Hier ist ihre Adoptivtochter
Mary Fox, die spätere Prinzessin Lichtenstein, als Kind
mit ihrem Lieblingshunde unter den Gedern des Herren-
sitzes dargestellt. Eine stolze Reihe englischer und
französischer Granden, die im Hause verkehrten, waren
des Künstlers Modelle. Von den Pariser Aufnahmen
existirt hier noch die Guizots, Thiers und Jerome
Bonapartes.
Watts hat in seiner bescheidenen Art jede Nach-
— 74 —
Marquise Louisa von Waterford.
(Mit Genehmigung von F. Hollyer in London.)
Schöpfung eines denkwürdigen Menschentums nur als
»biographische Notiz« zu einem Lebenslauf bezeichnet.
* *
»Ein Universum edlen Traumlands liegt noch un-
erobert vor uns«, hatte Ruskin gesagt. Er pries die
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Phantasie als Krone der schöpferischen Begabung, und
feierte Watts und Burne Jones als die mythischen
Künstler Englands. Es schien ihm eine grosse That,
den Gedankeninhalt des Mythos in feierlicher Helden-
anbetung nachzuschaffen. Ruskins Urteil hat Watts
Eigenart nur zum Teil erschöpft. Er ist einerseits der
mythische Künstler, aber andererseits und vor allem
strebte er als praktischer Sittenprediger, Laster und
Tugenden seiner Zeit in freiersonnenen Gedanken-
bildern als Wegweiser oder Warnungstafeln aufzustellen.
Wie als Symboliker hat er auch als AUegoriker
gestaltet. Er betont jedoch: »Ich will nichts mit jenen
flachen AUegorikern gemein haben, die mit skrupel-
loser BequemHchkeit Göttliches, Menschliches und
Tierisches durcheinander werfen«. Niemals hat er
sich mit verbrauchten Typen begnügt, ihm galt es
Gold statt der Scheidemünzen zu prägen. Mit welch'
merkwürdiger Vertiefung der Anschauung, wie ganz
originell Watts auch die Allegorie schuf, zeigt eine
seiner packendsten, »das Gewissen«. Dieses sonderbare
Werk, jetzt in der Sammlung der Tate-Gallerie, ent-
lässt uns vorerst unbefriedigt in seinem rötlichbraunen
Schattendämmer. Wir empfinden es auf den ersten
Blick als unklar und reizlos. Je mehr wir aber
schauen, um so magnetischer bannt uns irgend eine
geheimnisvolle Macht. Wir erkennen mehr und mehr
den düstren Tonschleier als die Riesenform eines
Menschenherzens. In ihm sitzt eine geflügelte, weibliche
Gestalt. Auf dem Schooss hält sie eine Posaune, an
der Stirn glänzt ein Stern, ein kleines rotes Menschen-
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herz ist ihr Halsschmuck. Das Merkwürdigste aber
diese Augen! So scheinbar verhüllt und doch so
unbeschreiblich scharf, durchdringend, unbarmherzig.
Wehe, wer schuldbeladen vor diesen Bewohner des
Innersten tritt. Da wird das Himmelslicht auf dem
Haupt flammen, die Posaune wird sich heben und
furchtbare Verdammnis künden. So einfach und so
eindringlich hat noch kein Maler das Gewissen dar-
gestellt. Unverkennbar trägt dieses kühnblickende,
scharfgeschnittene Antlitz die Züge der Gattin des
Malers. Gehen wir nun die bekanntesten Allegorien
Watts nach ihrer Reihenfolge im Laufe der Jahre
durch, so hat ihn früh der Gedanke der schnell ent-
gleitenden Gelegenheit beschäftigt. Sie nahm zweimal
als »Fata Morgana« Gestalt an. Die trügerische Fee
Boiardos, die den Ritter verlockt, schwebte der
Phantasie des Malers vor. Die erste Version voller
Leben und Feuer, ganz in der geschwungenen Kom-
positionslinie, die Hogarth als Quelle aller Schönheit
anbetete, entstand 1847. Dieses Bild schmückt jetzt die
Gallerie der Stadt Leicester als ein Geschenk Watts
für die wertvollen Dienste, die Thomas Cook, ein
Bürger dieser Stadt, englischen Reisenden leistete.
Die zweite aus 1870 von ruhevollerer Haltung, aber
höherer künstlerischer Reife ist in Privatbesitz.
Jünglingsgestalten, eine Mischung von Helden und
Träumern sind für Watts typisch. Er malt »Sir
Galahad«, den Gralsucher (1862), der mit seinem Ross
den einsamen Wald durchstreift. Er verkörpert das
»Streben« (1880) als Standartenträger, der voll hohen
Sir Galahad.
5(Mit Genehmigung von F. Hollyer in London.)
- 78 -.
Jugendsinns vorwärtsschreitet. Der »Gewappnete Ritter«,
der »Glückliche Krieger« (1884), den die Münchener
Pinakothek erwarb, sind fernere Mitglieder der jugend-
lichen Kreuzfahrerschaar des Maleridealisten. An
ihnen vermochte der Künstler auch seiner Lust,
schimmernde Rüstungen zu malen, wie sie selbst
Giorgione entzückt hätten, Genüge zu thun. Eine
solche Einzelstudie auf rotem Grund hängt jetzt in
Little Holland House. Sie steht in ihrer peinHchen
Naturnachbildung auf der Höhe derartiger Studien
von Menzel. Den Geist antiker Schönheit und Freiheit
offenbart Watts in seiner »Arkadia« (1878). Herb und
und keusch löst hier eine statuarische Jungfrau die
Gewandhüllen ihres Leibes, am Marmorbrunnen, wo
die Wasser rieseln und durch die Bäume die freie
Landschaft schimmert. Im »Unheil« (1878) malte
Watts eine packende Allegorie der Fleischlust. Trotz
der Disharmonie dieses Farbenkonzerts, die allerdings
als psychische Illustration des Themas, hier wie so
häufig bei ihm beabsichtigt ist, empfinden wir die
furchtbare Macht der Verführerin, der der Jüngling
unterliegt. Das Problem von der Gewalt der Leiden-
schaften hat Watts immer beschäftigt. Wie er das
lichte Heldenbild des Idealisten (1881) als den »Reiter
auf weissem Ross« schilderte, hat er die von düstern
Trieben beherrschte Menschenseele als »Reiter auf
rotem Ross« dargestellt. Auf beiden Bildern erscheint
der titanenhafte Typ, der die Jünglinge und Frauen
Watts oft wie aus den Pergamon Reliefs entlehnt
zeigt. Eine Allegorie von furchtbarer Wucht der
— 79 —
Anklage ist »Mammon« (1885). Watts verkörpert ihn
als den brutalen Eunuchen, der. gleichgiltig weiblichen
Liebreiz und männliche Kraft zertritt. In gelbem
Mantel über blaugrünem Gewand tront dieser Moloch
vor blutroter Wand. Totenschädel zieren seinen Sitz.
Die kindliche Herzensgüte des Künstlers war in
einer seiner letzten Allegorieen »der schaudernde
Engel« (1900), eine »Widmung an Alle, die das Schöne
lieben«, ausgesprochen. An die eitle Frauenwelt
wandte er sich mit diesem rührenden Appell, um die
Tötung der Singvögel für Modezwecke zu hindern.
Vor einem Altar auf weissem Bahrtüchlein liegen die
gefiederten Opfer ausgebreitet. Ein Engel in tief-
blauem, mit Rot umsäumtem Gewand, verhüllt sein
blondes Haupt vor diesem Anblick. Trotz einer
gewissen mathematischen Steifheit der Pose, dringt die
Empfindung dieser Schöpfung mit ihren melodischen
Farbenakkorden tief in die Seele. Den Gesetzen alles
Lebenden zuwider scheint die gestaltende Kraft des
Künstlers mit dem Alter zu wachsen. In der New
Gallery dieses Jahres überraschte er mit »Geldgier
und Arbeit« (1901), einer Allegorie von unmittelbarer
Wirkung. In blühendem Jugendprangen schreitet hier
ein junger Feldarbeiter, zu dem der Künstler das Modell
in einem Comptoner Gärtner entdeckt hatte, mit dem
Arbeitsgerät in den Tag hinein. Robuste Gesundheit
und Glück strahlt dieses Bild der Kraft aus. Licht-
scheu versteckt sich hinter ihm ein lauernder Greis,
der seinen Geldbeutel umklammert. Er atmet nur
Missmut und Gewissenspein aus. Alle diese Allegorieen
Geldgier und Arbeit.
(Mit Genehmigung von F. HoUyer in London.)
Noah.
(Mit Genehmigung von F, Hollyer in London.)
— 82 —
Watts sind wie seine Symbole Lapidarschrift der
Kunst.
Wie aus der freien Phantasie hat Watts auch aus
der Bibel, der Mythologie, dem Alltagsleben und der
Poesie seine Stoffe entnommen. Er bestätigte immer
seinen Ausspruch: »Der wahre Prophet, sei seine
Sprache Prosa oder Poesie, Malerei oder Musik, kann
in Regionen versetzen, wo die Erde ihren Platz unter
den Sternen einnimmt und etwas von der Unendlichkeit
des Himmels auf die Luft übertragen scheint«. Niemals
erreicht Watts wie die Bolognesen aus religiöser
Ekstase seine Wirkung, den dogmenlosen Engländer
trägt immer nur sein sittliches Pathos. Jedes dieser
Bilder ist in der Absicht gemalt, zu starkem Mit-
empfinden fortzureissen. Meist wirkt ein leidenschaft-
licher Monolog, häufig ein Zwiegespräch, selten ein
vielstimmiger Vortrag auf uns ein. Gewöhnlich ist
eine Person der Hauptträger der Handlung, während
sich die übrigen wie passive Choristen verhalten. Wir
besitzen eine Reihe biblischer Gestalten von Watts.
Den »Kain« hat der Künstler 1872 und 1885 in zwei
verschiedenen Versionen gemalt. Er zeigte ihn erst
als den gottverfluchten Mörder, dann als den Reuigen,
dem der Engel Gottes Versöhnung kündet. Den Ur-
vater »Noah« sehen wir wie eine michelangeleske
Gestalt mit den Seinen beim Bau der Arche am Meer.
Vergebende Liebe ist das Motiv des »Jacob und Esau«
(1868). Der »Noah« sowohl als »Jacob und Esau«
zeichnen sich durch prachtvolle KompositionsHnie aus.
Des Propheten »Jonas« (1895) bediente sich Watts zu
einer Kapuzinade an seine Landsleute. Empört über
die Sündenchronik der Sport- und Spielerkreise malte
er ihn im glühenden Blick, den Untergang Ninives
schauend. In der Muskelsprache des Körpers, bis in
die gespreizten Finger, die gestrafften Gewandfalten,
kündet sich der anklagende Seher. Grell sticht sein
grüner Rock von dem rotbraunen Körper ab. An der
steinernen Mauer hinter ihm schimmert es wie Blut-
spuren auf den Reliefdarstellungen der nationalen
Laster. Verschiedene Stoffe voll starken Gefühlsinhalts
ergaben sich aus dem neuen Testament. Niemals
jedoch hat der Künstler die Gestalt Christi dargestellt.
»Der gute Samariter« (1850) verherrlicht in einer
beredten Gruppe die Nächstenliebe. Er wurde der
Stadt Manchester zur Erinnerung an die philantropische
Arbeit eines ihrer Mitbürger gespendet. Eine »Magdalene«
am Fusse des Kreuzes, ein »Verlorener Sohn« (1871)
in der Einsamkeit sind Monodramen. Die »Tochter
der Herodias« (1885), die sich das Haupt des Täufers
in einer Schüssel reichen lässt, wirkt in dem Pomp ihrer
Erscheinung wie eine Gestalt Veroneses. Ebenso klingt
venetianische Majestät aus der Figur des Reichen, der in
tiefer Scham sein beturbantes Haupt abwendet, »Weil
er grosse Güter hatte« (1894). Der herrliche Empfindungs-
gehalt dieser Schöpfung tritt durch den Contrast
äusseren Glanzes und innerer Demut ergreifend in die
Erscheinung. Trotz der Plastik der Gestalt und des
Grandentums ihrer Formgebung ist grade hier die
Trübheit des Colorits nicht recht begreiflich. Der
Purpur des Mantels, das Gold der Halskette und die
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Ringe hätten in besonderer Leuchtkraft strahlen müssen,
um die tragische Ironie zu verschärfen.
Der antike Geist des Künstlers hat stets mit Vor-
liebe in der Phantasiewelt des griechischen Mythos
geweilt. Die Olympier und ihre gliederschimmernden
Heldinnen, die ausgelassene Flatterschaar der Eroten
teilten seinem grüblerischen Sinn Jugendimpulse mit.
Fröstelnd in der Firnenluft seiner Ethik, im Verkehr
mit seinen Idolen rauschte ihm hier der Vollstrom
eines halkyonischen Daseins. Zuweilen strömt dieses
Empfinden unmittelbar wie mit bachantischer Lust in
seinen Pinsel über, es durchläuft meist einen Trübungs-
prozess im Gemütsmedium des Engländers. Früh
schon gestaltete er »Vertumnus und Pomona« (1841),
»Aurora« (1842), »Echo« (1847) ^^^^ »Ariadne«
(1863), die er in verschiedener Auffassung wiederholte,
weil ihn das Weh verlassener Liebe zur Darstellung
reizte. Welcher Unterschied zwischen dem über-
quellenden Lebensdrang auf Tizians Liebeswerben des
Bachus um die schöne Kreterin und Watts monumentaler
Ariadne, die wie durch ein Opiat gebannt auf einsamer
Insel vor sich hindämmert. Eine »Thetis« entstand
1866 und ein »Weib des Pygmalion« 1868, das den
hehren Typ der milesischen Venus trägt. Ein Fortissimo
des Gefühls schuf er in »Orpheus und Euridice« (1869).
Hier ist der Moment geschildert, der dem leiden-
schaftlich begehrenden Sänger die eben dem Orkus
entführte Gattin aufs neue entreisst. Sie bricht in
seinen Armen zusammen und zwingt seine machtvolle
Gestalt fast zum Taumeln. Die Leichenfarbe ihres
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— 86 —
Körpers hebt sich von dem Tiefbraun des seinen, und
aus dem bräunlichen Düster des Bildes schimmern als
einzige helle Farbentöne das rote Band der Leier und
das Blau eines winzigen Himmelsfleckens. Den andern
Sänger der Sage »Arion« zeigt er auf dem Delphin
einherziehend, Tritonen und Nymphen mit dem Zauber
seines Liedes zu Liebesentzücken fortreissend. Den
»Minotauer«, den Stiermann, malt er von hoher Warte
in den grünen Dämmer einer Landschaft »ins Un-
betretene nicht zu Betretende« hinausblickend. Er
harrt seiner Opfer und zerdrückt dabei fast instinctiv
ein Vögelein, das ihm unter die Tatze geriet. In
nächtlicher Verschwiegenheit lässt er »Luna« (1879)
zu ihrem schönen Endynnion herabschweben, er zeigt die
scheue »Daphne« (1870) in ihrer Flucht vor Apollo.
Die »Psyche« (1880) der Tate-Gallerie, die in trauriger
Erkenntnis den Verlust ihres Gottes vor vereinsamtem
Lager empfindet, ist ein prächtiges Stück Wattsscher
Fleischmalerei. Sie ist in der Keuschheit, die ihre
Glieder wie ein Gewand umkleidet, zugleich ein
charakteristischer Typ des englischen Aktes.
Geistreiche Apergüs, heitere Anwandlungen in Watts
erhabener Ideenwelt sind die Schöpfungen »die erste
Auster» (1883), »das müssige Kind Phantasie« (1885),
»Glück auf zum Fischfang« (1888), »Ganymed« (1850),
»Versprechungen« (1893), »Goldene Stunden, eine Fuge«
(1890) und »Kleinigkeiten, leicht wie Luft« (1901).
Eros und seine Eroten müssen hier dem Meister dienen
und sie folgen willig jedem seiner Winke. Bald von
Rubens schwellender Gliederpracht, bald von Noel
- 87 -
Patons luftiger Elfenart sind sie immer Kinder der
Grazien. »Das Weib des Pluto« (1889) wirkt in der
mächtigen Gliederfülle der schlafenden Blondine wie
ein steinerner Palma, der fast den Rahmen zu sprengen
droht. Eine farbenglühende Scene aus der Kindheit
des Jupiter (1896) zeigt das Götterkind von den
Nymphen gehütet, und die Stimmung modernen Welt-
schmerzes über antike Formen ausgegossen. Ein
mythologisches Genrebild voller Pathos ist »Paris auf
dem Berge Ida« betend (1897). Der Geist des Hellenis-
mus zeigt sich allgegenwärtig in des Künstlers Schaffen.
Auch Watts Schöpfungen beweisen sich häufig
als Bruchstücke einer grossen Confession. Seine alt-
ruistischen Ideen kehren in sozialen Vorwürfen wieder.
Sie finden sich vereinzelt, weil der Flug seiner
Phantasie gewöhnlich den Alltag unter sich Hess. Sie
sind immer aus intensivem Empfinden geboren. In
Little Holland House hängt die schon genannte »Irische
Hungernot« (1850) und neben ihr »das Lied vom
Hemde«. Hier sehen wir die bleiche Nähterin, die
sich in ihrem Kämmerlein zu Tode stichelt. Auf dem
Bilde der »Selbstmörderin« ergreift uns der Leichnam
eines jungen Mädchens, den die Themse wie einen
Auswurf hervorspülte Dieses Opfer der Grossstadt
hat im Herzen des Malers überströmendes Mitleid
erweckt. Hoch über der Lebensmüden lässt er am
Nachthimmel ein Sternlein aufleuchten, als sei die
Seele der Toten in ihrem Excelsiordrange gerettet.
Eine obdachlose Alte malte er ein anderes Mal, die
»unter einem trocknen Brückenbogen« ihr Asyl suchte.
— 90 —
Er verschmäht den krassesten Naturalismus nicht
wegen eines Appells an die Nächstenliebe. Seine
beiden Tierstücke »Mittagsruhe« (1869) und »Ein
geduldiges Leben voll unbelohnter Mühe« (1889 — 1891)
sind, so sonderbar es klingen mag, aus demselben
Trieb entstanden. Beides sind realistische Werke, die
den Pferdekörper mit der Naturtreue Paul Potters
nachschufen, und die dem stummen Vieh seinen An-
spruch an menschliche Sympathie sichern wollen.
Selten hat Watts der Dichtkunst Stoffe entlehnt,
weil er meist selbst der Dichter war. Bei der Ge-
staltung des alten Sprichworts:
»Zieht die Armut in das Haus,
Fliegt die Liebe zum Fenster hinaus« (1883)
finden wir den ungewöhnlichen Fall einer anekdotischen
Schilderung. Hier verwandelt der Künstler nur in
zerlegender und dadurch ungemein übersichtlicher
Komposition Worte in Bilder. Er wählt ein antikisches
Gepräge, um den materialistischen Inhalt jeder Flach-
heit zu entkleiden und erhebt eine Alltagserfahrung
zur Höhe einer Sittenlehre. Eines seiner ergreifend-
sten Bildmotive »Paolo und Francesca« (1882) hat
ihm Dantes Infernovision eingegeben. Es zeigt das
unheilvolle Liebespaar in schmerzlicher Lust aneinander
gepresst zu ewiger Verdammnis durch den Weltenraum
schweben. Kein freundlicher Farbenklang belebt das
aschfahle Grau der Tonstimmung. Hier geht alle
Wirkung nur von der unvergleichlichen Gefühlstiefe
aus. Die Bewegung des Fluges ist den Gewandfalten
— 91 —
mit elementarer Kraft mitgeteilt, und der Realismus
des Schmerzes packt uns mit jäher Gewalt.
Das zeitbeherrschende fiat lux der modernen
Malerei findet in Watts Lichtproblemen eine eigenartige
Lösung. Ihm, dem Engländer, liegt wie Turner die
nebelhaft verschleierte Atmosphäre der Heimatinsel in
jeder Nervenfiber. Diese Wunder malt er nicht
angesichts der Natur wie sein grosser Landsmann, wie
die frühen Holländer und die späten Franzosen. Sie
müssen bei seinem Schaffen als Erinnerungsbilder aus
dem Innern emporsteigen. Ein seltsames Gemisch
von Dichtung und Wahrheit gestaltet sich auf der
Leinewand. Eine gewisse Magie der Wirkung, eine
musikalische Stimmung, bei der wir Ossian citiren
können, bleibt ihm die Hauptsache. Er zerlegt sich
ein helles Farbenprisma bis in die äusserste Schattirung
jedes Tons, lässt diese Ausklänge und Anklänge fein
ineinander zerrinnen. Gestalten bilden und auseinander-
fiiessen. Wir glauben etwas Greifbares zu halten,
Frauengestalten, Gebirge, Schiffe; aber Nebelgebilde
entschweben uns unter den Blicken. So wirkt das
Bild »Uldra« (1884), die skandinavische Brunnenfee.
Ein Weib, ein Mädchen, etwas unausprechlich LiebUches
taucht aus Regenbogendünsten auf. Wir schauen, wir
lieben und müssen vergessen. So erscheinen »die drei
Göttinnen« (1885), Juno, Pallas und Aphrodite in dem
Gewölk des Olymp. Die Nebel weichen von ihnen,
ihre Gewände lüften sich, drei Marmorstatuen stehen
in weisslichem Licht gebadet. Auch die »Iris« (1892),
die in wunderlicher Ballerinenhaltung dem Regenbogen
— 92 —
entflattert, ist nur die Frucht eines seiner atmosphärischen
Experimente. Dieser Impressionismus Watts will nie
wie der der Franzosen nur den farbigen Abglanz der
Dinge, ihren reinen Stimmungsgehalt herausziehen, —
er will immer eine transcendente Wirkung herstellen.
Jemehr sich der Philosoph aus dem Künstlertum
kristallisirte, je häufiger findet sich die Neigung zu
solchen Impressionismen. Mit dieser Begabung konnte
er zum Schöpfer einiger Landschaftsbilder werden, die
Reales und Phantasmen zu merkwürdiger Einheit ver-
schmelzen. Er sann sich zurück in die Entstehungs-
tage des Erdballs. Das chaotische Ringen der Natur-
kräfte beschäftigte ihn. Der biblische Gedanke des vierten
Schöpfungstages nahm auf dem Gemälde »Nach der Sünd-
fluth« (1890) Gestalt an. Hier sind die Elemente noch alle
verwandt und doch bereits in der Scheidung begriffen. Die
Erdmassen haben sich schw^erwogend gestaltensuchend
niedergesenkt, und wogend, gestaltensuchend steigt die
Sonnenscheibe empor. Schon ist der glutvolle Kreis
erkennbar, schon hebt sein glorreiches Ausstrahlen an,
da entdeckt der Beschauer in dem Feuerkern etwas,
das den Lebensmassen ihren Weg weist, etwas wie
den Finger des Allmächtigen. Auf dem Bilde »Chaos«
(1860— 1870) in der Tate-Gallerie sind die Lebewesen
auf den Erdball versetzt. Riesen, Menschen, Schemen
wimmeln durcheinander. Michelangeleske Formen,
noch in lethargischen Träumen befangen, lagern auf
den Felsen und Schollen. Gelb, Braun und Weiss
ringt miteinander, und der erste Schimmer eines tiefen
Blau beginnt sich von oben loszulösen. »Corsica«
Die drei Göttinnen.
(Mit Genehmigung von F. HoUyer in London.)
— 94 —
(1889) ist nur eine Luftstudie. Das »Seegespenst«
(1889) ebenfalls nur ein Dunst und Nebelakkord, doch
ein weisser Kern verschmilzt und hebt sich in der
Mitte, der uns verfolgt, bannt, ängstigt. »Capri« ist
nur eine Farbenharmonie bläulicher, rosiger, grünlicher
Schattirungen, die über die Seele streifen wie die Töne
eines einschmeichelnden Adagios. Eine Reihe solcher
Landschaftsträume sind in den Ateliers des Meisters
geborgen, Früchte seiner Reisen nach Italien, Ägypten,
Kleinasien, Griechenland und innerhalb der Heimat.
Neuerdings fand ich den Meister vor einer kleinen
Phantasielandschaft, die, wie er erzählte, ganz nach
einer Traumerscheinung gemalt wurde. Hochgebirge
und Thalschlucht waren hier nebeneinander gedrängt.
So hat er die beiden Wege zum Guten und Bösen im
Schlafe gesehen. In einer umfangreichen Vedute über
der Eingangsthür zu seiner Londoner Privatgallerie
hat er seinen Cultus der schönen Natur verbildlicht.
Unter Tempelruinen am Meeresgestade ist ein An-
betender in tiefer Andacht versunken. Ein Lichtspiel
fällt aus dem leichten Gewölk auf das grünliche
Wasser und hellt es in schimmernden Reflexen auf.
Voll leidenschaftlicher Pathetik umfasst er das All.
Eine grosse Melancholie durchdringt ihn, eine priester-
liche Weihestimmung, die klassischer Reminiscenzen
bedarf, um ihren tiefsten Seeleninhalt auszuschöpfen.
Den Kegel des »Arrarat« hat Watts im Mondschein
gemalt und die »Sphinx« in weiter grünlicher Ebene.
Ein purpurnes »Orientbild«, über dessen Wasserflut ein
blaues Segel flattert, und an dessen dunklem Uferrand
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ein Geier in die Einsamkeit hinausstarrt, zeigen den
Malerpoeten in warmen Farben schwelgen. Immer
bezwingt ihn auch die magistrale Formensprache der
Natur. Die zerrissenen Felsen »Carraras« (1887), die breit-
gelagerte Grösse der »Berge von Mentone« (1887) giebt
er wie Rhapsodieen wieder. Die vielen Landschaftsbilder
aus heimatlicher Umgebung beweisen seine Fähigkeit
gewissenhafter Naturabschriften. Landschaften zu malen
ist dem grossen Ideendarsteller stets ein Bedürfnis ge-
wesen wie lyrische Improvisationen den Epikern des
Mittelalters. Sie allein hätten ihm niemals seine
herrschende Stellung in der englischen Kunst gesichert.
Sie bedeuten unter den klassischen Leistungen der
englischen Landschaftsmalerei eine ganz eigenartige
Gattung. Bonnigton und Turner schwingen nach, ein
Hauch Constables weht herein, aber immer giebt Watts
selbst das Gepräge.
Watts Drang zu plastischen Formen übertrug sich
folgerichtig auf bildhauerische Arbeiten. Er hinter-
lässt auch hier bedeutsame Schöpfungen. Willig folgte
der Stein seiner Hand in der Darstellung starker Ge-
fühle. Er machte ihn lebendig wie Donatello. Eine
seiner schönsten Schöpfungen ist die Büste der »Klythia«.
Sie zeigt die Jungfrau in leidenschaftlicher Bewegung
aus dem Lotuskelch an das Licht emporstreben. Trotz
der Energie des Ausdruckes ist die klassische Form-
gebung des Mädchenleibes vollkommen gewahrt. »Hugh
Lupus«, das kraftvolle Reiterstandbild eines kühnen
Helden schmückt den Park des Herzogs von West-
minster in Eaton. Zwei würdevolle Grabmonumente,
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das eine für Lord Lothian, das andere für Bischof
Lonsdale zeigen Watts als Meister der ruhenden Ge-
stalt. Sein Gipfelwerk in der Richtung der bewegten
Skulptur ist das kolossale Reitermonument »Körper-
liche Energie«. Er ist an der Ausführung dieser
Schöpfung seit fast zwei Jahrzehnten an der Arbeit.
Im Stil der grossen Florentiner Reitermonumente stellt
es einen jugendschönen, nackten Jüngling dar, der sein
Riesenross zügelt. Das Tier bäumt sich in mächtigem
Muskelspiel, trotzend, siegesungeduldig, der Jüngling
leitet es ruhig ausspähend, zäh und zielbewusst. Watts
Lebensprinzip der Standhaftigkeit sollte in diesem Stein-
werk unvergänglich verkündet werden. Ein Denkmal
für Tennyson ist augenblicklich im Comptoner Atelier
in der Entstehung begriffen. Es ist für des Dichters
Vaterstadt Lincoln bestimmt und zeigt ihn in mäch-
tigem Künstlerhut und Mantel auf einem seiner Spazier-
gänge. Sein Lieblingshund begleitet ihn, und es scheint,
als verweile der Dichter während seines Ganges, um
über eine Blume in seiner Hand zu sinnen. Der Phi-
losoph und der Poet sind voller Grösse und Schlicht-
heit erfasst. Auch in seiner Skulptur verschmäht Watts
alles dekorative Beiwerk, er erstrebt Charakteristik nur
durch individuelle Züge.
Als einige Deutsche Tizian in seinem Venediger
Atelier aufgesucht hatten, sollen sie über die höhere
Durchbildung der Werke Dürers Bemerkungen gemacht
haben. Es wird erzählt, dass Tizians »Zinsgroschen«
*
*
7
_ 98 -
die Antwort war. Der Meister äusserte aber auch damals,
die grösste Gewissenhaftigkeit sei nicht das höchste Ziel
der Kunst. In diesem Sinne hat Watts auch seine
Pflicht als Künstler erfasst: er ist immer entschiedener der
Vertreter eines Idealrealismus geworden. Ohne Zweifel
sind seinem Werk mancherlei Verstösse vorzurechnen.
Es ist nur vorsichtig abzuwägen, ob Unkenntnis oder
gewollte Umbildung vorliegt. Zuweilen darf auch
Watts hier wie Michel Angelo entgegnen, dass ein
Kunstwerk nicht mit der Hand, sondern mit dem Auge
zu messen sei. Immer wieder hat er den Wunsch
betont, ganz etwas Anderes als die Franzosen, die vor-
bildlichen Meister der Technik, leisten zu wollen. Er
will nicht durch den Glanz der Palette, die Feinheiten
der Zeichnung und das Raffinement der Composition
erstaunen. Seine künstlerischen Bestrebungen, die im
Sinn einer guten Kunst mit denen der Präraphaeliten
zusammenfallen, graviren nach ganz anderer Richtung.
Heut betont er gradezu, dass er absolut gar keine Be-
ziehungen zu dieser Malergruppe fühle, dass er nach
England aus Italien heimkehrte, als sie in Blüte standen,
und dass er immer nur der Erreichung des eigenen
Ideals nachgestrebt habe. Dies war das Moralische
des Bildinhalts und die Dauerhaftigkeit des Farben-
körpers. Auf Kosten seiner Künstlernatur, aber zur
erhöhten Würdigung seines über alles geliebten Vater-
landes hat er im Prinzip eines solchen Moralisten ver-
harrt. Er hat seine Methode zuweilen bis zur Verge-
waltigung des Reinmalerischen durchgeführt. Wir
staunen über die Idee einer Bildhauer-Malerei. Wir
— 99 —
bewundern die Ausdrucksmöglichkeiten, die ihr glückten,
— eine Verallgemeinerung würde uns die notwendige
Grenzabsteckung der Kunstgebiete zu gefährden
scheinen. Watts steht und fällt mit seinem Prinzip.
Er ist glücklicherweise so sehr als der wahre Maler
geboren, dass er ihm unbeschadet seines Künstlertums
treu bleiben durfte. Nichts ist ihm widerlicher als die
Verwendung irgend welchen Effects. Die grosszügige
Formgebung, die venetianische Pracht des Colorits,
die Mystik der Atmosphäre, die Polychromie der
Körper sind ihm immer nur Mittel zum Zweck. Das
Erhabene will er durch Bedeutsames, das Heitre durch
Gefälliges wiedergeben, alles Auffallende scheint ihm
der Tod echter Kunst. Enttäuscht lässt er sich sagen,
dass man seine Schöpfungen immer herauserkenne.
Hierin empfindet er den Vorwurf der Manier, die er
mit Effect verwechselt. Wie alle bedeutenden schöpfe-
rischen Individualitäten besitzt er nach Goethes Er-
klärung: »Manier in dem Sinne, die Erscheinung mit
leichtem, fähigem Gemüt zu ergreifen, und Stil, inso-
fern er auf den tiefsten Grundfesten der Erkenntnis,
dem Wesen der Dinge fusst, und dies in greifbaren
Gestalten zu dokumentiren vermag.
Er liebt sein Werk lange um sich zu sehen, weil
er nur auf gutgetrocknete Töne andere setzt. Er ge-
braucht steife Farben mit möglichst wenigen Ölen
versetzt, damit sie keiner Wandlung unterliegen können.
Es gilt ihm vor allem das Gewischte, den smear zu
meiden. Wenn man ihn dieser Sünde zeihen kann,
meint er, sei es nur durch Correcturen verschuldet.
T
100 —
Durch häufiges Bessern hat er thatsächHch manche
Stellen seiner Bilder geschwächt. Von Van Dyk ab
findet er einen Verfall der Technik eingetreten. Nur
bei Meistern wie Lippi, Eyck und Bellini sind seine
Ansprüche voll befriedigt. Für die französische Methode
nennt er den smear typisch. »Nichts hasse ich so sehr
als Fingerfertigkeit«, sagt er. »Solche Entfaltung der
Geschicklichkeit entsteht aus der Eitelkeit des Künstlers
und hilft nur die Aufmerksamkeit des Beschauers von
dem Hauptthema ablenken.« Eine Thatsache ist es,
dass Watts Bilder nicht nachdunkeln, weil er
hellen Malgrund vorzieht. Er vermeidet durchsich-
tige Farben mit Weiss zu mischen, oder helle Farben
auf dunkle zu setzen. Wenn möglich streicht er die
Farben nur nebeneinander. Dies bewirkte die leichtere,
hellere Art früherer Werke. Je mehr die philoso-
phirende Richtung bei ihm überwog, hat er eine Art
des tupfenden Übergehens der Grundfarbe geübt, ein
mythisches Element lag diesem Verschleierungssystem
zu Grunde. Die Farben lässt Watts im Hause reiben
und trocken in Krausen aufbewahren. Sie werden
nach genauer Angabe mit einer Dosis Leinöl, das mit
hellem Öl verdünnt wird, gemischt. Ganz sonderbar
enorme Pinsel verwendet der Meister, die er für sich
besonders aus Igelborsten herstellen lässt. Schon in
seinem Werkzeug liegt sein Prinzip. Bei der Schöpfung
eines Gemäldes zeichnet Watts direkt mit dem Pinsel
auf die Leinwand. Er zieht keine Umrisse vor, sondern
überlässt es seinen steifen Farben selbst, diese Linie
je nach Bedarf schari oder weich abzusetzen. Er
lOI
macht vor der Vollendung des Werkes keine Studien.
»Ich überlege meinen Stoff gut«, sagt er. »Wenn
meine Idee sich nach dieser inneren Arbeit bei der Prüfung
als nicht stark genug, oder sonst mangelhaft erweist,
fasse ich meinen Beschluss über sie. Durch beständiges
Nachdenken über sie wird sie gänzlich ein Teil meiner
Gedanken. Ich bin dann noch Jahre nach ihrer
ReaHsirung auf der Leinwand im stände, auf sie zurück-
zukommen. Daher vermag ich jahraus und jahrein
an meinen Bildern zu arbeiten.« Dieser Eigentüm-
lichkeit Watts entspringt auch das Fortlassen des
Datums auf den meisten Bildern. Wie thatsächlich
seine übergrosse Bescheidenheit hier mit entscheidet,
ist andrerseits die jahredauernde Entstehung mit der
Grund, dass häufig kein zuverlässiges Datum mehr zu
ermitteln ist. Dieser Umstand gestaltet die Chronologie
seines Werkes zu einer vollständigen Rätselarbeit,
Watts wird mit Recht zu den besten Fleischmalern
Englands gezählt. Er hat Meisterstücke dieser Art
geschaffen, die ihn neben Tizian stellen. Mehr und
mehr ist er auch hierbei seinem Prinzip gefolgt.
Ernest Chesneau betont als Charakter seines Nackten
den Stil, das Übergewicht des Inhaltlichen. Im Gegen-
satz zu der Fleischmalerei Rubens und der Franzosen,
ist es sein Stolz, die Körper mit dem Gewand der
Keuschheit zu bekleiden. Die mit grösster Feinheit
ausgeführten Bleistiftzeichnungen seines Skizzenbuches
beweisen, mit welcher Ehrfurcht er das Natürliche
nachzubilden trachtet. Dank den Mühen einer Freundin
können wir uns heut bei ihm an diesen Schätzen er-
— 102 —
freuen. Meist sind sie mit der Genauigkeit von
Radirungen in kleinen, klaren Strichlagen hergestellt.
Das Modell nennt er die Grammatik der Malerei. An
ihm studirt er auch jetzt noch häufig das Spiel eines
Muskel, die Bildung eines Knochens, die Wirkung des
Lichtes. Solche Einzelzeichnungen anatomischer Frag-
mente stellt er sich zahlreich her. Er bedarf ihrer,
wenn es ihm beliebt, ohne Modell zu malen. Dieses
nennt er den Diener, nicht den Herrn des Künstlers.
Die Gefahr der Unsittlichkeit bei der Aktmalerei giebt
Watts nicht zu. Ihm ist die Willigkeit des Modell-
stehens durchaus kein Anzeichen des Leichtsinns für
eine Frauennatur. Er meint, reine Frauen ohne Scheu
davor gefunden zu haben und unkeusche, die zurück-
schreckten. Ihm steht das Entkleiden für künstlerische
Zwecke bei weitem höher als das DecoUete der ge-
sellschaftlichen Vergnügungen. Seine Ansichten über
die Ehrbarkeit der Modelle beleuchten den höheren
Stand dieser Klasse in England. Sie geben eine auf-
klärende Perspektive über die Decenz der englischen
Malerei im allgemeinen. In der heutigen Zeit puri-
tanischen Ansturms sind die Ansichten des sittlichsten
aller lebenden Maler besonders interessant. Er ver-
gleicht die Angriffe auf das Nackte mit der Prüderie
der französischen Gouvernante, die ihren Schülern vom
Bade abriet, weil sie zwar im Zimmer allein seien,
doch vom lieben Gott gesehen werden könnten. »Die
Nacktheit ist die absolut höchste Form der Malerei«,
sagt er. »Die Kunst durch Unterdrückung dieses
Studiums entmannen, ist Zimperhchkeit, nicht Fein-
— 103 —
gefühl. Solch' entmannte Kunst kann sich zu keiner
höheren Empfindung aufschwingen.« Er betont, dieses
Mittel selbst für seine erziehlich gedachten Bilder
nicht entbehren zu können.
* *
*
In dem Bereich der englischen Malerei besteht
das Charakterbild Watts ohne irgend welche Parallele.
Vereinzelte Malernamen tauchen aus der Kunst-
geschichte auf, kaum einer scheint in seine Gesell-
schaft zu passen. Häufig hört man ihn als den Tizian
Englands bezeichnen. Mit einer überraschenden Ähn-
lichkeit der Person, der Schaffensfrische bei hohem
Greisenalter und dem gemeinsamen Zug des Schönheits-
cultus scheint dieser Vergleich erschöpft. Verschieden
wie der Rassentypus des Italieners und Engländers
wirkt ihr Werk auf unser Empfinden. Die Quintessenz
reinmalerischen Könnens erscheint Tizian, Watts die
Höhe der Individualität. Entzücken will der Eine, der
Andere bessern. Wir glühen bei Tizian und frösteln
bei Watts, aber in dem Maass wie uns Tizian ver-
wöhnt, kräftigt Watts unsern sittlichen Organismus.
Einen Augenblick lang kommt uns Antoine Wiertz in
die Erinnerung. Wir empfinden die heissatmige
Dramatik seiner Künstlerphantasieen, seine sozialen
Angstschreie und Sündenbekenntnisse. Wir sehen den
Fieberparoxismus seines Schaffens auf verlöschenden
Riesentafeln, und wie ein thönerner Koloss bricht
diese grössenwahnsinnige Kunst neben Watts Inner-
lichkeit zusammen. Peter Cornelius und Watts wollen
— 104 —
zusammenstehen, die beiden grossen, einsamen Künstler-
seelen, Geistesbrüder in antikischer Richtung, in der
Leidenschaft für die monumentale Ausdrucksform des
Freskos. Wir sehen sie von einander weichen in dem
Maasse als Cornelius den grösseren Zeichner und
Formenbändiger, Watts den besseren Maler darstellt.
In die Tröstungen seiner Kirchlichkeit hat sich der
Deutsche geflüchtet, der Engländer verharrte im Frieden
seiner reinmenschlischen Symbole. Unter den Künstlern
der Gegenwart liegt ein Vergleich mit Böcklin nahe.
Beide Dichtermaler sind Höhepunkte ihres nationalen
Kunstschaffens. In pantheistischem Naturcult erweckt
Böcklin die Fabelwesen des antiken Mythos, Watts,
der moderne Ethiker, sucht den Hochgestalten
Phidias Leben einzuhauchen. In Böcklins Farben-
träumen feiert sein naturalistischer Vollsinn Triumphe,
in Watts Ideengemälden sein klassisches Philosphentum.
Jenseits aller Zeitgrössen und Schulen steht das
Gesamtbild Watts in der Kunstgeschichte aufgerichtet.
Es hat jedem von uns eine Botschaft zu künden. Je
nachdem Gläubige oder Zweifler lauschen, wird sie
beurteilt werden. Die Brüderlichkeit seines Empfindens,
die Lauterkeit seiner Mission kann niemand ver-
kennen. —
Jarno Jessen.
Studienmaterialien über Watts:
JULIA CARTWRIGHT, G. F. Watts. Life and Work.
Extra Number of Art Journal 1896.
M. H. SPIELMANN, The works of G. F. Watts.
Extra Number of Pall Mall Gazette.
ROBERT DE LA SIZERANNE, Peinture anglaise contemporaire.
RICHARD MUTHER, Geschichte der Malerei im XIX. Jahrhundert.
G. F. WATTS', writings on „Aims ofArt", „Present Condition of Art",
„On Taste in Dress", „What should a Picture say".
Aufsätze in Zeitschriften:
CORNELIUS GURLITT, Die Präraphaeliten in Westermanns Monats-
heften 1892.
M. H. SPIELMANN, Watts in Revue de L'Art 1898.
COSMO MONKHOUSE, G. F. Watts in Scribener's Magazine 1894.
CHARLES F. BATEMAN, Watts and his Art in Windsor Magazine 1901.
HERRMANN HELFERICH, G. F. Watts in Kunst für Alle.
Eigene Aufsätze in Kunst für Alle 1900, Westermanns Monatshefte 1900.
Permanente Photographien
der Werke von
Sir EDUARD BURNE JONES, Baron,
O. F. WATTS, R. A., Portraits und Bilder;
DANTE GABRIEL ROSSETTI;
HARRY BATES, A. R. A., Homer und andere;
HAQUE OALLERIE, Eine Auswahl von;
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