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4 bs-f
• • 99
BEITRAGE ZUR ÄSTHETIK
HERAUSGEGEBEN
VON
THEODOB LIPP8 und ßlCHABD MARIA WERNER.
XL
GERHART HAUPTMANNS
NATURALISMUS UND DAS DRAMA.
VON SIGMUND BYTKOWSKL
HAMBURG UND LEIPZIG
VERLAG VON LEOPOLD VOSS
1908.
6ERHART HAUPTMANNS
NATURALISMUS UND DAS DRAMi
SIGMUND BTTKOWSKl.
HAMBDBa mm LEIPZie
YEELA8 VON LEOPOLD VOSS
1908.
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129385
HERRN
Prof. Dr. RICHARD MARIA WERNER
IN VEREHRUNG UND DANKBARKEIT
GEWIDMET.
Inhalt :
Seite
L Einftthrunsr 1
IL Historisehe Einleitung 5
III. Teelinik 23
IT. Werke 36
1. „Vor SonnenautjgaDg'' 36
2. „Das Friedensfest" 50
3. „Einsame Menschen" 52
4. „Kollege Orampton" 57
5. „Der Biberpelz" und „Der Bote Hahn" 60
6. „Michael Krämer", „Fuhrmann Henschel" und Anderes . 64
7. „Die Weber" 67
8. „Florian Geyer" 73
V. Charaktere 86
1. Charaktere bei Hauptmann 86
2. Von der Technik der Charakteristik 94
3. Die Gestaltung, die Funktion und die Bedeutung des
Charakters im Drama 104
TL Sprache, Dialogr und Monologr lld
1. Sprache 119
2. Der Dialog 129
3. Der Monolog 186
TU* Handlang, Fabel und Idee 160
Vin, Ergebnis 176
IX. Ennsttheoretische Begründung 180
I. Einführung.
Die Aufgabe der vorliegenden Untersuchung ist beschränkt.
In doppelter Eichtung. Erstens konnte hier der Persönlichkeit
Gbehart Hauptmanns als Mensch und Dichter nictt
Rechnung getragen werden. Nicht einmal seinem SchaiFen
als solchem, noch viel weniger seinem Werke als ganzem —
insoweit es abgeschlossen erschiene. Es ist nur das natura-
listische Drama Hauptmanns ins Auge gefaßt, nicht das
gesamte naturalistische Drama, sondern nur dasjenige
Hauptmanns, und darin liegt die zweite Beschränkung.
Es wird wohl einerseits nicht möglich sein, die Person
Hauptmanns, so wie sie sich in seinem gesamten Schaffen
kundgibt, aus den folgenden Erörterungen völlig auszuschließen,
ebensowenig ist es darauf abgesehen, das naturalistische Drama
Hauptmanns ganz isoliert von dem übrigen zeitgenössischen
hinzustellen. Im Gegenteil wird jenes hier als Typus und Vor-
bild genommen, und es muß also das darüber Gesagte zum
überwiegenden Teil auch für dieses Geltung beanspruchen.
Immerhin muß aber, um Mißdeutungen vorzubeugen, auf die
zweifache Beschränkung im Voraus hingewiesen werden. Das
naturalistische Drama Hauptmanns ist, wie gesagt, als Beispiel
ins Auge gefaßt, an dem die Anwendbarkeit des Naturalismus
im Drama geprüft werden soll. Warum ich das Drama
Hauptmanns hierzu wählte, braucht nicht erst gerechtfertigt
zu werden. Hauptmann ist unter den zeitgenössischen natura-
listischen Dramatikern der hervorragendste, der erfolgreichste
und der konsequenteste.
Bytkowski, Gerhart Hauptmann. 1
/. Einführung.
Ich beschränke mich aber in meiner Bezugnahme fast
ausschließlich auf das naturalistische Drama Hauptmanns nicht
ohne Ursache. Obzwar nämlich die übrigen naturalistischen
Dramatiker sicherlich für die subjektive Literaturgeschichte
interessant genug sind, bieten sie für die Betrachtung des
naturalistischen Dramas meistens doch nur dasselbe dar, was
Hauptmann. In der Beschränkung aber liegt, wie immer, ein
großer Vorteil.
Es ist nämlich klar, daß eine zu große Fülle von Bei-
spielen nur verwirrt, statt aufzuklären. Denn bei Heranziehung
von Beispielen aus verschiedenen Autoren muß man den sub-
jektiven Unterschieden und den Eigentümlichkeiten der Einzelnen
gerecht werden — will man überhaupt billig sein, wie wir uns
ja Hauptmann gegenüber zu sein vornehmen. Schon das allein
lenkt ab und zersplittert die Aufmerksamkeit, statt sie zu
konzentrieren.
Dazu kommt noch etwas, was gemeiniglich nicht recht
beachtet wird. Bei Anwendung von Beispielen soll man nach
Möglichkeit von der Voraussetzung ausgehen, daß sie meistens
dem Leser bekannt sind, wenn nicht, daß sie ihm leicht zu-
gänglich sind, oder daß es ihm keine besondere Schwierigkeit
bereiten würde, sich mit ihnen bekannt zu machen. Über-
wiegen aber Beispiele aus minder bekannten oder unzugäng-
lichen Werken, so ist das Ziel ihrer Anführung nicht erreicht,
auch wenn man sich noch so viel Mühe gibt, das Nötige dazu
zu tun. Sie bleiben für denjenigen, der sie nicht kennt, tote
Stellen des Buches und entkräften so die Beweisführung, in-
dem sie ermüden.
Was nun unseren Gegenstand im allgemeinen anbetrifft,
könnte uns zum Vorwurf gemacht werden, daß wir offene
Türen einrennen, da der Naturalismus zu den überwundenen
Phasen gehört. Dem ist nicht so. Ist der Naturalismus über-
wunden, so wäre gerade jetzt, wo der Kampf ausgerungen,
Zeit, sich umzuschauen und ihn zu bewerten, in seinen Irr-
tümern und in seinen Errungenschaften. Ein solcher Rück-
/. Einführung.
blick bietet den Vorteil, nicht als ein Fehderuf aufgefaßt zu
werden, und für die Zukunft kann man Irrtümern eher aus-
weichen, wenn man aus vergangenen die Lehre gezogen. Was
die mehr theoretischen Auseinandersetzungen anlangt^ die die
kritischen ergänzend begleiten, so können sie nicht immer
Neues bringen — vieles wurde schon längst hervorgehoben.
Dennoch glaubten wir, daß es von Nutzen wäre^ es hier in
diesem Zusammenhang zu wiederholen. Manches wirkt ein
paar Jahre später, das einmal für taube Ohren gesprochen
wurde. Denn die Zeiten ändern sicL Wird daher das, was
zu Anfang der Fehde behauptet wurde, nach deren Ausgang
wiederholt, so bekommt es ein anderes Gewicht. Denn man
wird nicht vermuten, daß derjenige, der jetzt die Stimme er-
hoben, all die Gegenrufe nicht vernommen oder nicht beachtet
hätte, die im Laufe des Kampfes erschallten. Man vermutet
also ein ganz anderes Vertrautsein mit dem Gegenstande, als
zur Zeit, da dieser neu war. Wird dennoch etwas abgelehnt,
so wird es — so muß man glauben — trotz der neu ge-
wonnenen Gesichtspunkte, oder eben von ihnen aus abgelehnt.
Ebenso bekommt auch das Positive jetzt eine neue Bedeutung.
So wird z. B. das über den Monolog Gesagte, obwohl dieser
schon seiner Zeit Gegenstand lebhafter Erörterungen sein mochte,
ein anderes Gewicht erlangen, jetzt, nachdem der sieghafte
Naturalismus über dem Monolog dahergegangen war — ihn
anscheinend für immer vernichtend.
Was die Sichtung des Stoffes anbelangt, so ergab sie sich
von selbst. Nach einer historischen Einleitung, die uns den
zeitlichen und örtlichen Zusammenhang des deutschen Natu-
ralismus mit anderen Strömungen vergegenwärtigt, folgt eine
Analyse der naturalistischen äußeren Technik, dann die Ana-
lyse der einzelnen Werke Hauptmanns. Li der Folge faßten
wir das, was wir über die Charaktere, die Sprache samt dem
Dialog und Monolog, endlich über die Handlung, Idee und
Fabel zu sagen hatten in je einem Kapitel zusammen, wobei
aus der Analyse theoretische Ausführungen sich von selbst
/. Einfilknmg,
ergaben. Der Schlußzusammenfassung endlich folgte noch eine
allgemeine kunsttheoretische Begründung.
Von besonderen Vorschlägen oder Forderungen für die
Zukunft hielten wir uns wohlweislich ferne. Es sollte keine
Programmschrift werden, sondern ein Rückblick und eine
Kritik; was als Mahnung daraus fließt, was Positives sich
daraus ergibt, das braucht keiner besonderen, systematischen
Zusammenfassung hier, wo nicht der Ort dafür. Nichtsdesto-
weniger wird der Leser oft Gelegenheit haben, es zu finden,,
so er unseren Ausführungen einige Aufmerksamkeit schenkt
Denn Kritik ohne positives Resultat halten wir für steriL
Deshalb scheuten wir nicht vor einem scheinbaren Abgehen
vom Thema zurück, wenn es in irgendwelcher Richtung Posi-
tives zutage förderte. Wir hoffen, daß diese Verstöße gegen
das System uns nicht als Sünde, sondern vielmehr als Verdienst
angerechnet werden. Bekommt doch so manches eine andere
Bedeutung, wenn es an praktischen Beispielen erwiesen wird
und sich aus ihnen ergibt.
n. Historische Einleitung.
Das im Sommer des Jahres 1889 zum erstenmal heraus-
gegebene und im Frühling desselben Jahres entstandene drama-
tische Erstlingswerk Hauptmanns: „Vor Sonnenaufgang"
ist Bjabne P. Holmsen „dem konsequentesten Bealisten^
Verfasser von »Papa Hamlet« in freudiger Anerkennung
der durch sein Buch empfangenen^ entscheidenden Anregung'^
gewidmet. Gemeint sind Aeno Holz und Johannes Schlaf,
die sich im Winter 1887 bis 1888 in Nieder-Schönhausen zu
gemeinsamer Arbeit zusammenfanden, deren erste Frucht, der
Novellenzyklus „Papa Hamlet'^ (1889) war, die zweite das
Drama „Familie Selicke'% beide unter dem gemeinsamen
Pseudonym Bjaene P. Holmsen herausgegeben.
Hauptmann will durch seine Widmung den Dank aus-
drücken für die Anregung, die ihm von Holz gegeben wurde.
ScHLENTHEB Schreibt darüber in seiner Hauptmann-Bio-
graphie: „Holz las in seiner kleinen, sehr rührend und an-
schaulich von ihm geschilderten »Bude« in Hauptmanns
Gegenwart eine Reihe kleiner Skizzen vor, die er gemein-
schaftlich mit seinem etwas älteren Freund und Stubengenossen,
Johannes Schlaf verfaßt hatte. Die wesentlichste dieser
Skizzen hieß »Papa Hamlet« und führte mit peinlicher Liebe
zum kleinsten Detail in eine verwahrloste Eomödiantenwirt-
schaft, die ohne jede Furcht vor den Widerwärtigkeiten der
Armut, der Liederlichkeit, des Schmutzes, in vollkommener
Naturtreue, der Wirklichkeit gemäß, sehr talentvoll abge-
klatscht war. Mehr noch als diese Skizzen mögen auf Gebhabt
6 //. Historische Einleitung,
Hauptmann die eindringlichen Reden gewirkt haben, in welchen
Holz seine Kunsttheorie entwickelte, der jener »Papa Hamlet«
als Paradigma dienen sollte". Dann weiter: „Geehast Haupt-
mann sah nun das, was er innerlich bestimmt empfand, durch
Abno HoLzens schneidige Beredsamkeit in Form und Satzung
gebracht. Abno Holz hatte es nicht mehr nötig, diesen neuen
Kameraden zum Realismus zu bekehren. Er gab ihm aber die
letzte entscheidende Anregung**.
So der Biograph, der mit der Entwickelungsgeschichte
Hauptmanns innig vertraut ist. Er bemüht sich zwar in der
Folge, nachzuweisen, daß sich bei Hauptmann schon früher
diese radikale Wendung vorbereitete und weist unter anderem
auf die im Jahre 1887, also noch bevor Hauptmann Aeno
Holz kannte, verfaßte novellistische Studie „Bahnwärter
Thiel" hin. Dies ist aber einerseits überflüssig, denn es ver-
steht sich von selbst, daß sich die Wendung in der Seele
Hauptmanns vorbereiten mußte, damit die Anregung sie dann
herbeiführen könnte. Andererseits ist aber damit nicht viel
nachgewiesen.
Denn, zugegeben, daß im „Bahnwärter Thiel" der
künftige Hauptmann sich ankündigte, so ist es ja eben eine
„novellistische Studie'*, also eine erzählende Dichtung, mit
der wir es hier zu tun haben, und Schlenthee erwähnt auch,
daß Hauptmann an einen autobiographischen Roman dachte,
also wieder eine erzählende Dichtung — seitdem aber produ-
zierte Hauptmann nur Dramen. Nun besteht aber schon
„Papa Hamlet" aus fast lauter Rede und Gegenrede, so daß
die eingeflochtene Schilderung nicht viel mehr oder, mit
manchem Drama verglichen, entschieden weniger Raum ein-
nimmt als die Bühnenanweisungen Hauptmä^nns, und sich das
ganze wie eine Reihe szenischer Bilder liest. Als Beispiel
diene gleich der Anfang, den wir auch deshalb wörtlich wieder-
geben, weil der nervös impressionistische Dialog charakteristisch
und vorbildlich ist:
Was? Das war Niels Thienwiebel? Niels Thien-
//. Historische EinUHung.
wiebel, der große, untLbertroffene Hamlet ausTrondhjem?
Ich esse Luft und werde mit Versprechungen gestopft? Man
kann Kapaunen nicht besser mästen? . . . ,3e! Horatiol^'
„Gleich! Gleich! Nielchen! Wo brennt's denn? Soll ich
auch die Skatkarten mitbringen ?''
„N . . . nein. Das heißt" . . .
— „Donnerwetter nochmal! Das, das ist ja eine,
eine — Badewanne!"
Der arme, kleine Ole Nissen wäre um ein Haar über
sie gestolpert. Er hatte aber die Eüche passiert und suchte
jetzt auf allen Vieren nach seinem blauen Pinzenez herum,
das ihm wieder in der Eile von der Nase gefallen war.
„Ha? Was? sagste nu?!"
„Was denn Nielchen. Was denn?"
„Schafskopf!"
„Aber Tiinwiebel!"
„Amalie?! Ich . . ."
„Ai! Kieek da! Also döß?"
„Ha?! Was?! Famoser Schlingel! Mein Schlingel!
Mein Schlingel! Mein Schlingel, AmaUe! Hä!" Was?"
Amalie lächelte. Etwas abgespannt.
„Ein Prachtkerl!"
„Ein Teufelsbraten. Mein Teufelsbraten! Mein Teufels-
braten. Hä! Was Amalie? Mein Teufelsbraten!"
Amalie nickte. Etwas müde.
„Ja doch, Herr Thienwiebel! Ja doch!"
Aber Frau Wachtel mühte* sich vergeblich ab. Herr
Thienwiebel, der große, unübertroffene Hamlet ausTrondhjem,
wollte seinen Teufelsbraten nicht wieder loslassen.
„Hä! oller Junge? Hä?" In der Tat, Nielchen! In
der Tat, ein ... ein .. . Prachtinstitut! Ein Pracht-
institut!"
„Hoo, hoo, hoo, hoop! Hoo, hoo, hopp! Bumü!"
Der große Thienwiebel schwelgte vor Wonne. Er hatte
sich jetzt sogar auf ein Bein gestellt. Hinten aus
\
8 //. Historische Einlfitung.
seinem karrierten Schlafrock klankerteu die Watten-
stückchen.
„Aber Thieenwiebel!" "
Noch merkwürdiger ist die Darstellungstechnik in einer
anderen Novelle „Die papierene Passion". Hier sind die
szenischen Angaben, um sie so zu nennen, durch kleineren
Druck von dem Dialog, dem eigentlichen Inhalt, kenntlich ge-
macht. Wir geben auch aus ihr eine Probe, etwas gekürzt,
aber in der Weise, daß das Bild unverfälscht bleibt:
Eine kleine berliner Küche, vier Treppen hoch, um die Weinachts-
zeit. Es ist fast dunkel. Nur das Herdenfeuer, das oben über die
Decke zittert und ab und zu aus dem Aschenloch ein paar Funken,
die leis in den Kohlenkasten spritzen.
Mutter Abendroth'n, eine braunirdene Schüssel zwischen den Knien,
sitzt da und reibt KartofiFeln. Ihr dickes, rundes Gesicht ist in den
Wiederschein der Herdglut vor ihr getaucht und puterrot; ihr Haar
schwarz und glatt gescheitelt. Sie trägt eine dunkelbraune Trikottaille,
die durch eine bunte Brosche zusammengehalten wird, mit dem Bildnis
der Königin Luise.
Die Uhr über dem Bett tickt, stoßweise weht der Wind den Schnee
gegen das kleine Fenster. Dazwischen zuweilen, leise in das dumpfe
Geratter der Fabrik hinten auf dem Hofe, das Klirren der Scheiben.
„Hach Gott ja! — Ich sag ja! Sonn Fruenzimmer!'*
Das Reibeisen ist ihr in den Brei gerutscht, sie klopft es gegen
den Schüsselrand ab.
„Ich sag't ja! Ich ärger mir noch kaputt! An janzen
Leibe! Ich kriej de Schwindsucht! Sonn Fruenzimmer!'*
Die kleinen silbernen Ringe in ihren Ohrläppchen zittern, wieder
kratzt es regelmäßig durch die Küche.
„Nee! Nee! Sonn Fruenzimmer! Sonn . . . pfff? ! Ooch
schlecht! ! Ich sag't ja! Warum nicht lieberst in de Beene??
Sonn Miststicken!! Na komm Du mir man! Ich weer
dir schon inweihen! —
Wat? ? . . . Eenzen . . . Zween . . /^
Die Uhr über dem Bett hat zu schlagen begonnen, Mutter
Abendroth'n zählt.
„Vieren . . . Fünwen . . . Wat Sechsen? ! Nanu wird's
Dag! Nu schlag eener lang hin! Sonn Aas!"
//. Historische Einleitung.
Jetzt endlich ist auch die Küchentür aufgegangen.
,/N Abend, Mutterk'n!"
„Mü"
Verblüfft ist Wally an der Tür stehn geblieben. Sie ist ein
kleines, blondes, vermeckertes Ding von elf Jahren. Den Schneeball
hat sie so schnell als möglich wegzuwischen gesucht, sie stottert.
Unten, vier Treppen tiefer aus dem Budikerkeller tont jetzt
deutlich der dünne Ton einer Ziehharmonika: „Siste woU, da kimmt
er, lange Schritte macht er'^ . . . Mutter Abendrothn, hat sich, die
Hände in die Seiten mitten in die Küche gestellt . . . „Siste woll, da
kimmt er schon, der besoffne Schwiegersohn . . .''
„I! — Ich. Doch! — Also doch schon?!
„Ich! . . . ich hab ja man . . . Liese! !"
„Wat?? Liese?? — JawoU, Du Aas! Hab — ich —
Dir — nicht jesagt. Du sost um Vieren widder da sind?!
Wat?! Un jetzt is't Sechsen!! Na wachte Du! Ich weer
Dir Fruenzimmer! Mensch infamichtetü Det's schon det
dritte Mal! ! Mit die verflucktichsten Bengels haste dir
wieder rumjetrieben! üflfe Weinachtsmarcht! Aasticke! ! !"
„Ach Mutterch'en? ! Mutterch'en?! Ich — ich — will't
jo — Mutter!! Mutter!!"
„So! — So! — Ae! — Ae! — Ich weer dir!! . . . Ich
hau Dir noch, dette Boomeel giebst! !*'
„Muttär, — Muttärü"
Wie lebhaft erinnert das nicht an Hauptmanns Dialog
und seine umständlichen szenischen Anweisungen, die, wie
gesagt, oft, wie in dem „Friedensfest" oder in der „Rose
Berndt*^, bedeutend länger sind als die hier kleingedruckten
Stellen.
Es liegt in dem Wesen dieser impressionistischen Dar-
stellungstechnik, daß die Beschreibung bis auf ein Minimum
zusammenschrumpft und sich auf die knappe Angabe dessen
beschränkt, was mit dem Auge unmittelbar gesehen, oder mit
dem Ohr gehört wird. In der „Papierenen Passion*^ wird
10 II' Eistorische Einleitung.
— das ist besonders merkwürdig — hierbei sogar das Zeitwort
stets in der Gegenwart gebraucht , wenn nicht ganz weg-
gelassen: Eine kleine Küche (ohne Zeitwort), das Herdfeuer
zittert, die Funken spritzen, Mutter Abendrot sitzt, ihr
Gesicht ist puterrot, sie trägt eine Trikottaile, sie klopft,
die Binge zittern usw.
Alles drängt zur dramatischen Darstellungsform, wohl zu
merken: nicht zum Drama hin. Es ist leicht zu begreifen,
wie sich da die Täuschung einstellen konnte, daß dies direkt
zum Drama hinführe, obwohl umgekehrt diese lose verbundenen,
endlos sich einander reihenden Bildchen vom Drama weit
y wegführen, das vor allem einen streng architektonischen Bau
beansprucht.
Dieser Täuschung gaben sich auch Holz und Schlap hin,
davon gibt die „Familie Selicke" Zeugnis. Schlentheb
erwähnt auch, daß Holz Geehabt Hauptmann vorschlug, mit
ihm gemeinschaftlich ein Drama nach allen Regeln der neuen
Kunst zu schreiben und fügt hinzu: „Vor diesem dämonischen
Antrag, dem er anfangs bereitwillig entgegenkam, den er wohl
gar herausgefordert hatte, bewahrte den anderen ein guter
Stern. Mit scheuem Respekt vor dem überlegenen Kunst-
verstande des strammen Rastenburgers, teilte er seinen Stoff
nicht, wie er von Hamburg brieflich zugesagt hatte, dem neuen
Kameraden mit, sondern flüchtete sich wieder nach Bergdorf*.
Aber an einer früheren anderen Stelle sagt er: „Jene Begeg-
^ nung mit Arno Holz entschied aber nicht nur für den
^Naturalismus, sondern auch für das Drama".
Es hätte aber nicht einmal dieses Zeugnisses gebraucht.
Man sieht an der ganzen Faktur der Hauptmann sehen
Dramen, daß sie von „Papa Hamlet'^ ausgegangen sind und
von der Theorie HoLzens, die dieser dann in seinem Buch
„ die Kunst ^ ihr Wesen und ihre Gesetze (1891) niederlegte.
Und es ist merkwürdig, mit welch zäher Beharrung der Jünger
an der einmal erworbenen Art festhielt. Merkwürdig in zwei-
facher Hinsicht. Es wirft ein Licht mehr auf die Entwickelungs-
U, Historische Einleitung, 11
unf&hi^keit Hattpt maktnr ^^ nd es zeugt auch dafür, daß Haupt -
mann von Natur ans geschaffen war für d ^^^ft ^^ TTuTiof-
Übung .
Jedenfalls, jene Begegnung fahrte Hauptmann nicht nur
zum Naturalismus, sondern auch zum Drama. .Wir haben
also yielfachen und gewichtigen Grund, uns mit der Kunst-
theorie HoiiZens näher zu befassen.
BiCHABT) M. Meyeb schreibt in seiner ,,Deut8chen Lite-
ratur des neunzehnten Jahrhunderts". „Soll man für
das Jahrzehnt von 1880 — 1890 nach einem Generalnenner
suchen, so kann sich nur ein Wort anbieten, viel verrufen,
und doch nicht ohne den Oberton geheimer Vorzüge : Nervosität . —
Eine unruhige Hast überall: in der Gesetzgebung wie im
Kunstgewerbe, in den Moden, wie in den Weltanschauungen.
Mit atemloser Unruhe wirft man sich von der einen Seite auf
die andere^'. ^) Man suchte also. Man war mit dem Alten,
im Grunde mit Allem unzufrieden und suchte nach Neuem.
Da man sich einmal von dem Epigonentum wegwandte, so
war es natürlich, daß man auch alles übersah, was an seiner
Seite stand. Hinter ihm, über ihm. So sah man auch nicht
die Großen des silbernen Zeitalters. Mit jugendlichem Übermut
wollte man da von Grund auf zu bauen beginnen, wo schon
ragende Biesen mächtig in den Himmel hineinwuchsen. So
wurden die Himmelstürmer zu rasenden Bilderstürmern. Die
verschiedenartigsten Einflüsse kreuzten sich. Zolas Einfluß
war eben im Abnehmen, denn in Frankreich begannen ihn die
Symbolisten zu verdrängen. Mittlerweile trat der Norden die
Herrschaft über die Gemüter an. Bußland und Norwegen,
"Tolstoi, Dostojewski, Bjöbson, Strindberg und endlich
Ibsen. Man gab sich dieser Herrschaft willenlos und ganz
hin, aber mit dem immer lebendigen Gefühl, daß sie nur inter-
imistisch sei — bis eine eigene deutsche Kunst entstehen werde.
^) „Die deutsche Literatur des neunzehnten Jahrhunderts". Kap. IX,
S. 741.
12 IL Historische Einleitung,
Abno Holz glaubte sie gefanden zu haben. Er begann
als formaicherer, aber nichts Neues bringender Lyriker. Doch
sein Band Lyrik „Buch der Zeit, Lieder eines Modernen",
hatte nicht den gewünschten Erfolg und der Dichter begann
über die Ursachen dieses Mißerfolges zu grübeln. So kam er
zur Überzeugung, daß der Vers eine überwundene Form sei
und in dem Doktrinarismus, der ihm eigen ist, ging er daran,
sich ein neues Eunstgesetz zurecht zu legen. Er selbst stellt
sich dann, selbstbewußt, wie immer, das Zeugnis aus: „Es wird
dereinst erkannt werden, noch nie hat es in unserer Literatur
eine Bewegung gegeben, die von außen her weniger beeinflußt
gewesen wäre^ die so von innen herausgewachsen, die, mit einem
Wort, nationaler war als eben gerade diejenige, vor deren
weiterer Entwickelung wir heute stehen und die mit unserem
„Papa Hamlet" ihren ersten sicheren Ausgang genommen.
Die „Familie Selicke" ist das deutscheste Stück, das unsere
Literatur überhaupt besitzt'^
Man muß lächeln. Fast möchte man ausrufen: „Hochmut
kommt vor dem Fall!" „Papa Hamlet" ist unter einem
nordischen Pseudonym in die Welt geschickt worden. Diese
Mystifikation sollte ein satirischer Peitschenhieb sein gegen die
nordische Manie. Aber ist sie nicht wider Willen der Ver-
fasser zu einer Spur geworden, von woher der neue Stil kam?
Steht nicht Arne Gtaeboeg hinter dem Buche, dessen feines
Naturempfinden übrigens sicher nicht von Aeno Holz, sondern
von Johannes Schlaf kommt? Und doch, ein solches Eigenlob
besitzt eine große Suggestionskraft und nicht nur die Jünger
des Naturalismus, auch kühl beurteilende Kritiker glaubten
ihm aufs Wort und erklärten diesen Naturalismus als rein
deutsche Blüte. Dies ist er aber mit nichten. Wenn Gaeboeo den
impressionistischen Stil gab, so stammte die Theorie von Zola.
Holz stellt sich zwar in seinen Ausführungen in den
schärfsten Gegensatz zu Zola, das ist aber nur ein Beweis
mehr, daß er von ihm ausging. Gegensatz weist fiir den
Psychologen auf Ursprung. Holz gesteht es übrigens selbst,
IL Hisiorische Einleitung. Y^
daß er von Zola ausging. Dafür nennt er ihn gelegentlich
den Papagei Taines und spricht mit souveräner Verachtung^
von der „draufzutäppischen" Art, mit der Zola den Unterschied
von Natur und Kunst ,,gleich mit seinem dummen klobigen
Temperament zustopfen möchte, wodurch sich dann natürlich
alles sofort wieder in den größten Unsinn verkringelte und
der alte Blödsinn wieder in vollster Blüte blühte'^ Dies eine
Stilprobe. Man sieht, daß Holz mit Höflichkeiten nicht
knausert Er verwirft nun den bekannten Satz Zolas: „une
Oeuvre d'art est un coin de la Nature, vu ä travers un tempe-
rament^^ Er formt statt dessen sein eigenes Gesetz, das er
das ganze Buch hindurch und in seiner Fortsetzung als eine
Entdeckung preist, die die ganze alte Ästhetik „über den
Haufen wirft*^ Das Gesetz lautet: „Die Kunst hat die Ten-
denz, wieder Natur zu sein. Sie wird sie (so!) nach Maßgabe
ihrer jeweiligen Reproduktionsbedingungen und deren Hand-
habung". Ein wirklich entsetzlicher Satz. Höchst interessant
ist es übrigens, wie er zu ihm kommt.
Er betrachtet eine Schiefertafel, auf der ein Knabe mit
dem Griflfel einen Soldaten gekritzelt hat. Aus diesem „Kunst-
werk" will er sich seine Theorie herausdestillieren. Darin
steckt schon die ganze ungeheuerliche und unglaubliche
Borniertheit HoLzens. Oder wie soll man sonst ein Unter-
fangen nennen, auf Grund eines einzigen Kunstwerkes, und
wäre es dasjenige eines Büonareotti oder Shakespeare, eine
Kunsttheorie aufzubauen. Und nun ist es sicher kein Zufall,
hat aber für den Betrachter einen ironischen Beigeschmack^
daß es ein „Kunstwerk** aus dem Gebiete der bildenden Kunst
ist, der Malerei. Sonderbar genug für einen, welcher ein neues
Kunstgesetz auch für das Drama dann gefunden zu haben sich
einbildet. Wie, könnte er nicht vom Tanz und Gesang aus-
gehen? Käme er da dem Richtigen nicht näher? Aber es^
ist eben ein ziemlich allgemeiner Fehler der Ästhetiker,,
besonders der naturalistischen, daß sie in ihren Untersuchungen
vom Standpunkt der bildenden Künste ausgehen.
14 II' Htstoriscke Einleitung,
Übrigens^ hätte Holz hier einen scharfen psychologischen
Blick bewährt, er könnte gerade an diesem unscheinbaren Bei-
spiel viel lernen. Auf seine Frage antwortet der Knabe, das
Gekritzel („Schmierage^^ nennt es Holz in seiner schnodderigen
Weise) sei ein Soldat. Holz ist nun noch naiver als der
Knabe, betrachtet das Bild ganz ernst und kommt zu dem
Schluß, daß das wirklich ein Soldat, also Natur sein könnte,
jedoch mit einem Mangel behaftet sei, der in den „unzureichenden
Reproduktionsbedingungen und in deren unzureichender Hand-
habung'^ seine Ursache habe. Um wie viel klüger ist da der
Knabe. Dieser glaubt sicher nicht, daß alle die Striche
zusammen die „Tendenz'^ hätten, je zu einem Soldaten zu
werden. Ein Strich ist, das weiß er, ein Strich und kein
Bein. Er stellt ihm aber ein Bein vor, er ist für ihn Symbol
«ines Beines und hilft ihm, sich ein solches vorzustellen.
Insofern ist der Knabe mit seinem unbeholfenen Gekritzel
viel näher dem Wesen der Kunst gekommen, als es sich
Holz vorstellen kann. Er strebt keine täuschende Nachahmung,
keinen Abklatsch der Natur an, um sich mit Holz dann ein-
zureden, dies könnte je Natur sein. Die Flugkraft der kind-
lichen Phantasie ist eben eine andere, als die eines doktrinären,
anmaßenden Kunstgesetzgebers. Wenn Kinder spielen, so
genügt es, daß eines von ihnen sagt: hier steht eine Kirche,
und es steht eine solche vor ihnen, anstandslos werden sie
dort eine Messe abhalten, wo nur ein Rasen ist. Und sagt
ein anderes: hier ist ein abgrundtiefes, schäumendes und hoch-
gehendes Meer, so werden sie scheu die Stelle meiden und
mit Aufregung und Spannung die Schiffe beobachten — es
können ganz gut Steine sein — die auf diesen aufgeregten
Wassern treiben. Was brauchen sie die platte Hlusion? Ihnen
genügt das Symbol, das weckende Wort und dieselbe Bedeutung
hat für den Knaben die Zeichnung auf der Schiefertafel.
Bei der Wahl seines Untersuchungsobjektes hat nun Holz
einen zweifachen Fehler begangen. Erstens dadurch, daß er,
^ie schon Abtue Moellee-Beijck schön ausführte, das denkbar
//. Historische Einleitung, 15
primitive Kunstgebilde allein dazu wählte. Würde er wirklich
so wissenschaftlich gedacht haben, wie er vorgibt, so müßte
er bald merken^ daß dies nicht genügt. Geht man wissen-
schaftlich vor, dann prüft man nicht diese oder jene, sondern
alle Entwickelangsformen, von den untersten bis zur höchsten
und sucht das Gemeinsame darin.
Und gerade die Prüfung der niedersten Formen dient
nicht so sehr zur Auffindung der in einem Gebiete herrschen-
den Gesetze, als vielmehr der Grenze von anderen Gebieten.
So ist denn die Forderung Moeller-Bbücks gerechtfertigt,
daß wenigstens neben das von Holz gewählte Untersuchungs-
objekt ein denkbar reines Kunstwerk z. ß. Rembeandts
„Anatomie*^ zum Vergleich herangezogen werde. Der zweite
und wichtigere Fehler besteht darin, daß Holz nur das fertige
Kunstgebilde, also etwas an sich totes, der Betrachtung unterzog,
nicht aber das Phänomen der Kunsttätigkeit und seiner
Ursache, des Kunsttriebes selbst. Nicht eine Ahnung scheint
er gehabt zu haben, daß man auch das Kind selbst bei seinem
Werk beobachten, daß man fragen könnte, was treibt das Kind
zu seinem Tun? Es ist so recht die Art der Doktrinäre, daß
sie sich viel lieber mit toten Präparaten abgeben, als mit dem
frisch treibendem Leben. Vielleicht wäre es ihm aber dann
nicht so schwer gewesen, ins Reine zu kommen, was unbedingt
zur Kunst gezählt werden soll.
Um nun zu dem Gesetz HoLzens zurückzugreifen, ist es
keineswegs neu. Von der Nachahmung der Natur in der Kunst
spricht man, seit es eine Ästhetik gibt, d. h. seit Aristoteles.
Dieser „alte Herr" nämlich war der erste, der die Mimesis,
die Nachahmung der Natur in die Kunstwissenschaft einführte.
Freilich wenn zwei dasselbe sagen, ist es nicht dasselbe. Auch
er „stopfte gleich das Loch zu" und zwar so gründlich, daß
nach ihm die Kunst mehr darbietet als Natur. Wie darf
auch reines Nachschaffen für ein vornehmes Streben des
Künstlers gelten?
Goethe sagt im „Sammler und den Seinigen" (Brief 6):
16 II» Historische Einleitung,
„Lassen sie aber die Nachahmung — (des Schoßhündchens
ßello) recht gut' geraten, so werden wir doch nicht sehr
gefordert sein, denn wir haben nun allenfalls zwei Bellos für
einen^^
Mit der Lehre von der Nachahmung der Natur werden
wir uns noch auseinanderzusetzen haben, hier sei festgestellt»
daß sie in HoLzens Fassung einen Rückschritt bedeutet.
Wie viel näher der Wahrheit ist Zola, obwohl auch er
vom Standpunkt des Malers auszugehen scheint. Er sagt zwar:
„un coin de la nature^' also ein Anschnitt der Natur, ganz
malerisch gedacht, aber er sagt weiter: „vu a travers un
temperament". Geschautes Stück Natur also, geschaut von
einer Künstlerindividualität. Das ist schon etwas, was auf das
Wesen der Kunst sowohl, wie auf ihre Funktion hinweist.
Was soll uns Kunst sein? Wenn Natur, wozu wäre da
die Kunst nötig? Freilich in einem anderen Sinne ist Kunst
Natur, insofern nämlich die Natur selbst es nicht ist. Denn
nicht für jeden Menschen ist Natur Natur. Für den Künstler
ist die Natur mehr als für den Nichtkünstler. Sie entschleiert
sich ihm und dann ist Kunst: Natur gesehen durch den Künstler.
Es ist eben ein Unterschied, ob sie ein Faust sieht oder sein
Famulus. Wären wir alle, und immer, und auch immer in
demselben Grade Künstler, das ist Schöpfer, dann hätten wir
Künstler und Kunst nicht nötig. Ein jeder dichtete dann und
malte in seinem Innern ununterbrochen für sich. Gewisser-
maßen ist das auch der Fall. Wir dichten alle, so wie wir sind,
vielleicht auch immer. Ohne diesen Umstand wäre das Nach-
dichten, oder das Nachempfinden und Nachfühlen nach dem
Künstler, also das Genießen des Kunstwerks unmöglich. Mau
muß bis zu einem gewissen Grade Dichter sein, um den Dichter
genießen zu können.
Nicht alle jedoch besitzen diese Dichterkraft in dem Grade»
in der Stärke, die zum selbständigen Schaffen ausreichte. Da
hilft uns des Künstlers starker Arm. Er führt uns über
Abgründe und Tiefen, er trägt uns in schwindliche Höhen»
//. Eistorische Einleitung, 17
1
Er leiht uns seinen Blick, seine Seele und wir werden sehend,
wie er. Wir sehen dann die Natur, wie er sie sieht in dem
beglückten Zustand schöpferischen Dranges. Wir träumen ihm
nach. Ja er selbst tut es und muß es tun, ist er im Zustand
der Ruhe und will er ein fremdes oder sein eigenes Werk
genießen.
Im Traume sind wir alle Dichter. Der Kunstgenuß ist
eine Art Träumen unter Eingebung, Suggestion des Künstlers.
Der Unterschied zwischen Künstler und Nichtkünstler ist
gewissermaßen quantitativ nicht qualitativ, es ist ein Grad-
unterschied. Deswegen gibt es auch im Genießen des Kunst-
werks Gradunterschiede. Und wieder weiter in der schöpfe-
rischen Kraft des Künstlers. Jedenfalls ist das Kunstwerk
eine Vision und dies ist, wenn auch nicht deutlich, gesagt in
dem Satze Zolas. Wie weit bleibt hinter ihm der Satz
HoLzens zurück? Wie scheint er gerade darauf auszugehen,
die Seele, die schaffende Künstlerseele aus- und dafür eine
trockene Kopistenseele einzuschalten.
Freilich in „Papa Hamlet" gelang es ihm nicht, denn
er arbeitete mit dem feinfühligen Poeten Schlaf. Was aber
merkwürdig ist, und für seine Herkunft zeugend, ist die ihm
unbewußte Tatsache, daß er nach seiner Verwerfung, sich doch
an den Satz Zolas in einem Punkte hielt. Es ist der „coiii
de la nature", der Ausschnitt oder das Stück Natur, schon bei
Zola ein Erbteil der von den bildenden Künsten ausgehenden
Kunsttheorien. Diese Herkunft der naturalistischen Theorien
der Dichtkunst von der Malerei bekommt eine noch größere
Bedeutung, wenn man sich erinnert, wie in der Malerei selbst,
besonders der französischen, ähnliche Strömungen nacheinander
sich Bahn brachen und, sich ablösend, herrschten. Ich weise
auf den Naturalismus eines Manet hin, auf den Plainairismus,
den dann folgenden Impressionismus und Pointillismus. Es
ist unzweifelhaft, daß fast alle modernen Strömungen und die
von ihnen getragenen Theorien von den plastischen Künsten
stark beeinflußt sind, wie sie auch beeinflussend rückwirken.
Bytkowski, Gerbart Hauptmann. 2
18 IL Historische Einleitung»
Für unsere Untersuchung ist die Feststellung dieser Tat-
sache von Bedeutung, denn aus ihr ergibt sich zum großen
Teil die ünbrauchbarkeit und Unzulänglichkeit der betreffenden
Theorien für das Drama. Das Wesen des Dramas ist Kampf,
somit Bewegung, das der Plastik Zustand, somit Ruhe. Wenn
daher dieser und der ihr verwandten Epik Zuständlichkeit
und Gegenständlichkeit zukommt, so kommt jenem fort-
schreitender Fluß zu, packende Kraft.
Daß aber die Vorstellung eines geschauten Winkels,
Stückes Natur in dem Denken von Holz und Schlaf und
ihren Jüngern eingestandener- und uneingestandenermaßen,
ja ihnen unbewußt, lebendig wirkte und es bestimmte, das
erfordert keines Beweises für den, der die Produkte dieser
Schule, besonders die vorbildlichen, die mehrerwähnten Novellen
des „Papa Hamlet*' kennt und prüft Es ist, als ob man
unter dem Mikroskop das Leben und Weben der kleinsten
Organismen im hellen Licht der Lampe beobachtete oder als
ob man mit einem Scheinwerfer irgend ein Stück Leben
beleuchtete. Was außerhalb des beschienenen Kreises ist,
besteht nicht, verschwindet in vollkommenster Finsternis.
Freilich kann sich, um beim Bilde des Scheinwerfers zu
bleiben, der Lichtkegel bewegen und nacheinander ein immer
neues Stück Natur aufleuchten lassen. Es entstehen mehrere
oder viele sich aneinanderreihende Bilder, aber mehr als
Bilder sind das nicht, was aber Bild ist, paßt nicht für das
Drama.
Und mag nun auch theoretisch zugegeben werden, daß
sich ein solches im naturalistischen Sinn eng begrenztes Bild
von selbst, aus innerer Kraft des Schauens zu einem Universal-
bild ausweiten konnte, denn die Grenze ist ja fließend: alles
Schauen ist zugleich gewissermaßen Erkennen, Erinnern, ja
Urteilen, und mit der unmittelbaren Wahrnehmung sowohl wie
mit dem Gebilde sekundärer Ordnung schmelzen tausend andere
zusammen und verdichten sich zu einem tertiären, zum eigent-
lichen Phantasiebild; praktisch ist hier ein wesentlicher Faktor
//. Historische Einleitung. 19
dieS; daß man von Kunstanschauungen ausgeht, die den Ge-
sichtskreis begrenzen. Denn — wer sich von ihnen bestimmen
läßt, sich zu ihnen hingezogen fühlt — bewußt oder unbewußt —
der wird die Grenzen nicht leicht ausweiten. Gewiß, Zola
selbst tat es in gewissem Sinne und dies in großartiger Weise,
aber Zola vergaß eben in seinem Satze die Seele , die ge-
staltende Individualität nicht, er verbrannte nicht alle Brücken
hinter sich.
Wir kommen nun zu Hauptmann zurück und fassen unsere
Ausführungen zusammen: er begab sich bewußt in den Bann
einer grundfalschen, beschränkten Kunsttheorie und unbewußt
in den von viel treflfenderen zwar und weiteren, jedoch immer
noch zu engen und insbesondere für das Drama unzulänglichen
Kunstanschauungen.
Er folgte darin der Zeitströmung, die zu dem Impressio-
nismus hindrängt, wie aus der impressionistischen Erzählung
siQh seine Kunst weise entwickelte. Selbstverständlich folgte
er aber darin auch der Natur seines Talentes.
Bevor wir nun zur Analyse seiner Werke schreiten, möge
eine zusammenfassende Darstellung seines Schaffensganges in
knappen Worten gegeben werden.
Gebhart Hauptmann (geb. am 15. November 1862 zu
Salzbrunn in Schlesien), debütierte, nachdem er sich früher
als Bildhauer versucht hatte, im Jahre 1885 mit einer byro-
nisierenden epischen Dichtung „Promethidenlos".
Dieses, aus dem Buchhandel zurückgezogene Jugendwerk,
hat aber nur literaturgeschichtliches Interesse.
Dann brachte am 28. Oktober 1889 die „Freie Bühne"
das dramatische Erstlingswerk Hauptmanns, das soziale Drama
„Vor Sonnenaufgang", im Lessingtheater zu Berlin zur
Aufführung, in jener denkwürdig stürmischen Vorstellung, die
als erste Schlacht des seitdem ununterbrochen geführten sonder-
baren Kampfes gelten darf, in dem sich der Naturalismus an
fast lauter glänzenden Siegen verblutete. Theodor Fotane
nannte das Werk, die „Erfüllung Ibsens", ein Beweis, wie
2*
20 1^' Eistorisehe Einleitung.
stark es trotz aller Mängel wirkte und ein Beispiel unter
Tausenden, wie ungeheuerlich sich Zeitgenossen in ihrem Ur-
teil über ein Werk irren können. In Wirklichkeit ist es eben
ein Erstlingswerk und steht, vorbedeutungsvoll für den künftigen
Hauptmann, unter dem Einfluß Ibsens und Tolstois („Macht
der Finsternis"), wohl auch Zolas „L'assomoir** einerseitf^
und Schlafs und HoLzens andererseits.
Es schildert — und auch dieses Schildern ist vor-
bedeutungsvoll — in jugendlich kraß aufgetragenen Farben
das entsetzliche Verkommen einer plötzlich reich gewordenen
schlesischen Bauemfamilie und ihr Zugrundegehen am Alkoho-
lismus.
In knappen Zeiträumen von je einem Jahr folgten dann
die Bühnendichtung „Das Friedensfest", „eine Familien-
katastrophe", Anfang 1890 in der „Freien Bühne", auf-
geführt 1890 auf der Freien Bühne, erschienen in Buchform
April 1890, sowie „Einsame Menschen". Beide, wie das
erste, echte Sturm- und Drangdramen, unter dem vorwiegenden
Einfluß Ibsens stehend.
Dann folgten „Die Weber" (1892), ein Schauspiel aua
den 40er Jahren, bis jetzt das Hauptwerk Hauptmanns und '
des deutschen Naturalismus, wieder eine Schilderung und zwar
eine ergreifende der Webernot, sowie die Komödien „College
Crampton'- (1892), eine Charakterstudie, und der „Biber-
pelz" (1893). Hauptmann steht in diesen Werken auf der
Höhe seiner naturalistischen Technik, hat sich vom Einfluß
Ibsens zum Teil befreit, freilich nur um sich in den Kleist»
und anderer zu begeben.
Alle drei sind aber wiederum Schilderungen, wie das
nächstfolgende „Hannele" oder „Hanneles Himmelfahrt"
(1893), wo der Naturalismus in poetisch eingekleideten Sym-
bolismus umschlägt oder eigentlich mit ihm ringt.
Im Jahre 1892 erschienen auch die novellistischen Studien
„Bahnwärter Thiel" und „Der Apostel". Die erste be-
sonders Zeugnis legend für Hauptmanns Kraft der Charakte-
//. Historische Einleitung. 21
ristik und sein Mitgefühl bei Schilderung der einfachen Seele
eines Mannes aus dem Volke.
Zwei Jahre nach dem Biberpelz (1895) folgte „Florian
Geyer", ein Versuch, die Technik der naturalistisch-impressio-
nistischen Milieudarstellung auf das historische Drama zu
übertragen. Der Versuch ist, das muß man anerkennen, ernst
und in seiner Art großartig gedacht gewesen. Er mißlang aber
und es folgte vollständiger Umschlag. Im Jahre 1896 erschien
„Die versunkene Glocke", ©i^^ „deutsches Märchendrama
in Versen", zum ersten Male bei Hauptmann keine Schilderung,
sondern ein echtes Drama, insofern es der Anlage nach ein
Ringen darstellen soll, freilich ein sonderbares. Hier hat
Hauptmann den Naturalismus vollständig beiseite gelassen
und wandelt in den Spuren Faust s und Brands mit echter
Epigonengemächlichkeit , Manieriertheit und Gespreiztheit.
Nicht uninteressant, aber auch nicht zu verwundern ist es,
daß das Drama den größten Absatz und Bühnenerfolg aufzu-
weisen hat. Das große Publikum war gerührt darüber, daß
der strenge Naturalist sich zu einer so süßlichen Verspräche
herbeiließ. Nun, die Verse und ihr Inhalt waren auch danach,
dieses Publikum zu entzücken. Original war Hauptmann dies-
mal noch weniger als sonst
Im Jahre 1898 erschien aber (5. November aufgeführt)
„Fuhrmann Henschel" und zwar, so wie seinerzeit „Die
Weber" („De Waber*% als „Originalausgabe" in reinem
schlesischen Dialekt und als „Übertragung" in gemeinverständ-
licher Fassung. Es ist eine Wiederholung des Motivs im
„Bahnwärter Thiel" und wieder ein streng naturalistisches
Drama, mehr Schilderung als Handlung. Im Jahre 1900 folgte
dann der Schwank „Schluck und Jau", an Shakespeaees Vor-
spiel in der „Zähmung der Widerspänstigen" anknüpfend, so-
wie das naturalistische Charakterdrama (um die Bezeichnung
der Kürze halber zu gebrauchen) „Michael Kramer". Dann
folgte die Tragikomödie „Der rote Hahn", eine Fortsetzung
der Diebskomödie „Der Biberpelz", und wiederum ein Vers-
22 IJ^' Historische Einleitung,
drama „Der arme Heinrich" (1902), etwas naturalistisch ge-
färbt, sonst ebensowenig original (Kleist), dafür aber ebenso
redselig wie das erste; darauf das naturalistische Schauspiel
„Rose Berndt" (1903), eine Wiederaufnahme des Themas
der „Maria Magdalene" von Hebbel, dann „Elga", eine
Dramatisierung Yon Geillpabzees Novelle „Das Kloster von
Sendomir" und neulich das viel besprochene „Und Pipa
tanzt'* sowie das jüngst in Berlin durchgefallene Lustspiel:
„Die Jungfern vom Bischofsberg'^
Eine reiche Tätigkeit, fast allzureich, wenn man die kurze
Spanne Zeit in Betracht zieht, in der die Werke entstanden»
Was in ihr im Hinblick auf den Zweck unserer üntersuchuDg
merkwürdig erscheint, ist der mehrmalige Abfall von der natu-
ralistischen Methode. Es ist, als ob der Dichter selbst Zweifel
hegte, ob sie die einzig richtige sei, ja wenn man die Probleme,
die der Dichter gerade in den nichtnaturalistischen Dramen
zu lösen versucht, darauf prüft, scheint es fast, als ob sich in
diesen Werken ein Ringen um eine höhere Kunstmethode
offenbarte.
Weiter fällt bei einer allgemeinen Übersicht aller Werke
Hauptmanns eine ziemliche Ideenarmut, verbunden mit einer
durchgängigen Abhängigkeit von irgend einem Vorbild (Babtels
nennt sie treffend Pat^nstücke), auf, also ein Mangel an original-
schaffender Kraft. Endlich ist es eine für unsere Untersuchung
wichtige Erscheinung, daß Hauptmann fast ausnahmslos
Charakter- und willensschwache, ja völlig willenlose Menschen
zu Hauptpersonen seiner Dramen macht.
III. Teclmik.
Hauptmann mag sich als junger, konsequenter Naturalist
nicht wenig auf seine technischen Neuernungen eingebildet haben.
Nun, er war jung. Er ist jedoch fast durchwegs bei den
wichtigeren Yon ihnen geblieben. Das zeigt, daß sie seinen
Neigungen und Überzeugungen entsprechen. Andererseits —
doch das nur nebenbei — sind sie nicht alle ganz neu.
Eine Yon diesen Neuerungen ist es, daß Hauptmann die
auftretenden Personen „handelnde Menschen" nennt, gewiß
recht protzig und für den Beobachter nicht ohne ironischen
Beigeschmack, weil ja Hauptmanns Menschen am wenigsten
handeln. Hauptmann ist dann von dieser Bezeichnung ab-
gegangen. Was er mit ihr wollte, fühlt man. Den Grund-
sätzen des Naturalismus entsprechend, gewiß andeuten, daß er
die Personen nicht auftreten läßt, sondern sie abbildet, wie
sie sich geben in ihrem Tun und Lassen, also in ihren Hand-
lungen. Auch schien dem Naturalismus die Bezeichnung Person
zu abstrakt, zu wenig das Leben spiegelnd. Vergessen wurde
dabei nur, daß es auf den Namen eben nicht ankommt.
Zweitens wird für jeden Schauplatz der Handlung oder,
wie sie Hauptmann mitunter nennt, der „Vorgänge** eine
Situationszeichnung beigegeben, was nicht neu ist, und wohl
der exakten Methode des Naturalismus entsprechen soll. Auch
diese „Neuerung hat Hauptmann dann fallen lassen, fast
möchte man sagen mit Unrecht, denn seine Bühnenbeschrei-
buDgen sind so kompliziert, daß man sich nur mit großer
Mühe ein Bild danach machen kann. Manchmal ist das Bild
sogar ganz unkonstruierbar, insofern man dabei den Zuschauer
24 Jlf' Technik.
der oberen Stockwerke und der seitwärts gelegenen Plätze des
Zuschauersaumes vom Sehen nicht ausschließen will. So ist z. B.
— da wir schon dabei sind — das Bühnenbild des fünften
Aktes der „Weber" fast undarstellbar. Wir meinen das
Weberstübchen des alten Hilse:
„Links ein Fensterchen, davor ein Webstuhl, rechts ein
Bett usw. Der sehr enge, niedrige und flache Raum hat
eine Tür nach dem »Hause* in der Hinterwand. Dieser
Tür gegenüber im »Hause« (bedeutet wohl soviel wie Flur)
steht eine andere Tür oflfen, die den Einblick gewährt in ein
zweites, dem ersten ähnliches Weberstübchen".
Also drei niedrige Räume hintereinander, durch Türen
verbunden und durch diese zweifache niedrige Türöffnung soll
man nun von der Gallerie oder von den Seitensitzen noch
sogar bemerken, daß der dritte Raum „ein dem ersten ähn-
liches Weberstübchen" sei. Wie das möglich ist, wenn die
Zwischenwände nicht aus Glas sind, ist unerfindlich.
Ahnlicher Zumutungen an den Zuschauer gibt es mehr in
den Bühnenbeschreibungen Hauptmanns. So im „Fuhrmann
Henschel" die Beschreibung der Kellerwohnung. Zugegeben
soll sein, daß Hauptmann nicht der einzige unter den modernen
Autoren ist, der darin sündigt, auch wäre man versucht, zu
denken, daß dies Nebensächlichkeiten sind, nicht wert, sie zu
i erwähnen. Für uns haben sie aber, insbesondere in Verbindung
mit den gleich weiter zu berührenden Eigentümlichkeiten der
Bühnenanweisungen, eine symptomatische Bedeutung: man
ft^ I
merkt, daß der Dramatiker sich während der Beschreibung
^ \vergißt und schreibt, als wäre er ein erzählender Dichter.
XI • Dieser Eindruck steigert sich, wenn man die Beschreibung
der Personen liest, bei Gelegenheit ihrer Einführung. Nicht
mit Unrecht sagt Bartels, daß jede Person mit einem Steck-
brief versehen ist. Man lese nur: („Vor Sonnenaufgang").
Hoff mann ist etwa 33 Jahre alt, schlank, groß, hager.
Er kleidet sich nach der neuesten Mode (gut noch, daß wir
die Adresse des Schneiders nicht bekommen), ist elegant
///. Technik. 25
frisiert, trägt kostbare Ringe, Brillantknöpfe im Vorhemd und
Berloques an der Uhrkette. Kopfhaar und Schnurrbart i
schwarz (!), der letztere sehr üppig, äußerst sorgfältig gepflegt. |
Gesicht spitz, vogelartig. Ausdruck verschwommen. Augen
schwarz (!), lebhaft, zuweilen unruhig.
Zu bemerken ist, daß diese Beschreibung eingeflochten
wird, nachdem Hoffmann schon aufgetreten ist und gesprochen
hat, also ganz in der Art der berichtenden Erzählung. Und
nun fragt sich, welche Schlüsse auf den Charakter Hoffmanns
man aus dem schwarzen Kopf- und Barthaar und seinen
schwarzen Augen ziehen soll? Natürlich ist sein Gegenpart
Loth blond:
„Loth hat blondes Haar, blaue Augen und ein dünnes,
lichtblondes Schnurrbärtchen".
Auch Helene ist blond, aber das ginge noch an, da
blondes üppiges Haar den besonderen deutschen Mädchentypus
bezeichnen soll. Jedoch von Frau Spill er erfahren wir sogar,
daß sie mit zurückgelegten Sachen der Frau Krause her-
ausgestutzt ist (also Biographisches). Wilhelm Kahl muß
Hirschzähne an der Uhrkette tragen. In gleicher Weise
werden alle Personen des Dramas genau nach Gestalt, Farbe,
Haltung, Kleidung beschrieben.
An dieser Unart, oder sagen wir Art, hält Haxjptmann
zäh in allen seinen Stücken. Schon im Personenverzeichnis
des „Friedensfestes" ist angegeben.
Dr. med, Fritz Scholz, 68 Jahre alt; Minna- Scholz,
dessen Ehefrau, 46 Jahre alt; Auguste, 29; Robert, 28;
Wilhelm, 26 Jahre alt. Frau Marie Buchner, 42 Jahre
alt; Ida, ihre Tochter, 20; Friebe, derHausknecht, 50 Jahre alt.
Ich frage nochmals: welchen Schluß auf ihren Charakter
sollen wir daraus ziehen, daß Frau Buchner 42 Jahre alt ist,
nicht 40 oder 44?
Dies ist aber noch nicht alles. Die Personen werden
noch bei Gelegenheit ihrer Einführung genau beschrieben. Wir
erfahren, daß Frau Buchner eine gesundaussehende, gut genährte
28 IJI' Technik.
Haar. Dies ist aber bei Ibsen keine Begel^ sondern Aus-
nahme und man muß schon demselben Symptom eine andere
Deutung geben, wenn es mit ganz verschiedenen in Verbindung
bleibt, übrigens soll nicht geleugnet werden, daß Ibsens
Bühnenanweisung etwas Novellistisches in sich hat und der
Einfluß Ibsens mag sich auch da einigermaßen geltend ge-
macht haben.
Für uns ist es vorläufig von Belang, festzustellen, daß
Hauptmanns Personenbeschreibungen den Charakter einer
Schilderung, nicht einer Bühnenanweisung tragen. Wir erinnern
an unsere Ausführungen über die Herkunft seines Dramas
und behalten uns vor, darauf zurückzukommen, um unsere
Schlüsse zu ziehen.
Des Vergleiches halber folge hier ein Auszug aus der
Personenangabe von Max Halbe, „Jugend", betitelt pomp-
haft „Menschen".
Pfarrer Hoppe, Fünfziger. Untersetzte, stämmige
Statur, rundes, gerötetes Gesicht. Ein leiser Anflug von
geistlicher Würde liegt über seinem Wesen, ohne jedoch ins
Pastorale auszuarten. Der Haupteindruck geht auf eine
strotzende, mit den Jahren gedämpfte Kraft und tief ver-
innerlichte Lebenserfahrung. Seine Kleidung ist die übliche
des katholischen Landgeistlichen, aber bequem, lässig, mit
einem Stich ins Weltliche. Auch seine Bartstoppeln ent-
sprechen nicht streng den Vorschriften.
Ann eben, seine Nichte. Sie ist 18 Jahre alt. Ihre
braunen Augen sind leicht verschleiert. Das aschblonde
Haar fällt kraus und wirr in die Stirn. Es ist slavischer
Schlag. Das Gesicht rundlich, eine warme Fülle des Wuchses,
naive Sinnlichkeit, etwas Empfangendes, weich Weibliches,
Hingegebenes. Auch in der Art, wie sie sich trägt, gibt sie
sich etwas Schmiegsames, Wiegsames. Sie liebt bunte
Farben. Um den Hals hat sie an einer Schnur ein kleines
goldenes Kreuz.
Amandus, ihr Stiefbruder, siebzehnjährig, lang auf-
///. Tech7iik. 2»
geschossen, kretinhaft kindisch. Er vegetiert in einer Art
von animalischen Triebleben. Seine tierischen Instinkte sind
stark geschärft. Seine Bewegungen sind lümmelhaft und
ungelenk, als wisse er mit seinen Gliedmaßen nichts anzu-
fangen. Er sieht aus wie ein blödsinniger BauernbengeL
In seinen schwarzen Augen lauert die Tücke eines Tieres.
Man muß sich hüten, ihn zu reizen.
Kaplan Gregor von Schigorski. Er steht zu
Ende der zwanzig, sieht aber älter aus. Er ist von mittel-
großer hagerer Gestalt. Die Askese hat sein Gesicht früh-
zeitig gefurcht und vergeistigt. Er ist brünett in Haar-
farbe und Ton der Haut. Sein Gesicht ist glatt rasiert.
Ein bläulicher Schimmer liegt über den bartlosen Wangen.
Es ist der polnische Geistliche in Haltung und Redeweise.
Er ist kein Intrignant, sondern Fanatiker.
Hans Hartig, ein junger Student, achtzehn Jahre alL
Er ist blond usw. In seinem schnellen und abgebrochenen
Sprechen offenbart sich ein heftiger und jäh umschlagender
Charakter. Alles in allem, der Embryo eines modernen
Stimmangsmenschen usw.
Maruschka, das Dienstmädchen, sie ist vom Schlage
der polnischen Landmädchen, madonnenhaft und einer Figur,,
die zur Üppigkeit neigt.
Wie wir sehen, auch über das Dienstmädchen, das kaum
auftritt, müssen iateressante Details angeführt werden.
Noch merkwürdiger ist, daß unsere Autoren oft überhaupt
aus der Rolle fallen und Bericht, Erzählung, ja seelische
Schilderung und Analyse oder moralethische Kritik in die An-
weisung einflechten, die ja deswegen auch einen so unverhältnis-
mäßig breiten Raum einnimmt.
So sagt Hauptmann im zweiten Akte des „Sonnen-
aufgangs'*: „Auf dem Gange vom Wirtshaus her wird eine
dunkle Gestalt bemerklich ... es ist der Bauer Krause^
welcher, wie immer (!), als l^zter Gast das Wirtshaus verlassen
haf Kann man es sehen, daß Krause als letzter Gast das-
30 III' Technik.
Wirtshaus verlassen hat oder gar, daß er es immer tut?
Loths Worten wird einmal die Bemerkung vorangestellt:
„ohne Takt" (also ein Urteil!). Dann trillern Lerchen, es ist
„tauiger Morgen". Von einer Magd, die im Hof etwas schafft,
erfahren wir dabei, daß sie Liese heißt. Li der Liebesszene
vollends: „Sie kommt ihm dabei so lieblich vor . . •" „Ein
Geben und Nehmen von Küssen stumm und beredt zu-
gleich.^*
Ln „Friedensfest" lesen wir von Frau Buchner:
„Ihr ganzes Wesen drückt eine Herzlichkeit aus, die durchaus
echt ist." Während Frau Buchner „nur für andere zu
existieren scheint", hat Frau Scholz „vollauf mit sich selbst
zutun". Von Auguste Scholz heißt es: „Mit der Aufgeregt-
heit der Mutter verbindet sie ein pathologisch offensives
Wesen. Diese Gestalt muß gleichsam eine Atmosphäre von
Unzufriedenheit, Mißbehagen und Trostlosigkeit um sich ver-
breiten." Dafür heißt es von Ida: „ . . . demgemäß ist der
Ausdruck ihres Gesichtes meist heiter . . .", „Robert raucht
aus einer Pfeife türkischen (!) Tabak".
Dann heißt es von ihm: „er ergreift mit Hast die gelb-
seidene Geldbörse, fuhrt sie den Augen näher und mit einer
jähen, leidenschaftlichen Bewegung an die Lippen. Dieser
Moment zeigt das Aufblitzen einer unheimlichen, krankhaften
Leidenschaft." Ida „singt piano mit schelmischer Beziehung
auf etwas in der Vergangenheit". Ein anderes Mal folgt sie,
„froh, auf diese Weise ihre Bewegung verbergen zu können",
ihrer Mutter. Von Braun heißt es in den „Einsamen
Menschen": „Braun ist meist unbefriedigt, deshalb übel-
gelaunt."
Solcher Beispiele gibt es genug auch in anderen Dramen.
In „Den Webern" insbesondere ist die Personenbeschreibung
weniger umständlich und wir wissen auch warum. Dafür aber
lese man gleich den Eingang des ersten Aktes:
Es ist schwüler Tag gegen Ende Mai, die Uhr zeigt
zwölf, die meisten der harrenden Webersleute gleichen
///. Technik, 31
Menschen, die vor die Schranken des Gerichts gestellt sind,
wo sie in peinigender Gespanntheit eine Entscheidung über
Tod und Leben zu erwarten haben. Hinwiederum haftet
allen etwas Gedrücktes, dem Almosenempfänger Eigentüm-
liches an, der, von Demütigung zu Demütigung schreitend,
im Bewußtsein, nur geduldet zu sein, sich so klein als mög-
lich zu machen gewohnt ist. Dazu kommt ein starrer Zug
resultatlosen, bohrenden Grübelns in aller Mienen. Die
Männer, einander ähnelnd, halb zwerghaft, halb schulmeister-
lich, sind in der Mehrzahl flachbrüstige, hüstelnde, ärmliche
Menschen mit schmutzigblasser Gesichtsfarbe: Geschöpfe des
Webstuhls, deren Kniee infolge vielen Sitzens gekrümmt
sind. Ihre Weiber zeigen weniger Typisches auf den ersten
Blick: sie sind aufgelöst gehetzt, abgetrieben, während die
Männer eine gewisse klägliche Gravität zur Schau tragen —
und zerlumpt, wo die Männer geflickt sind. Die jungen
Mädchen sind mitunter nicht ohne Eeiz: wächserne Blässe,
zarte Formen, große hervorstehende, melancholische Augen
sind ihnen dann eigen.
Ist es nicht, als ob man einen Abschnitt aus einem Eoman
oder einer ßeiseschilderung lesen würde? Man kann ja nichts
sagen. Die Schilderung ist an und für sich gut, sie ist aber
Schilderung, enthält Erwägungen und Betrachtungen, geht, mit
einem Wort, weit über das in einer Theatervorstellung Dar-
zustellende hinaus, und so ist es überall: Weber Heiber
„bleibt stehen, um nochmals einen günstigen Augenblick ab-
zupassen". Die alte Frau Baumert hat „versunkene Augen,
die durch Wollstaub, ßauch und Arbeit bei Licht gerötet und
wäßrig sind", Meister Wiegand „ist ein Mann, dem man
anmerkt, er weiß, worauf es in der Welt ankommt, wenn man
ein Ziel erreichen will, nämlich auf Pfiffigkeit, Schnelligkeit
und rücksichtsloses Fortschreiten".
Doch wozu die Beispiele mehren. Die angeführten ge-
nügen, um zu zeigen, daß Hauptmann — darin allen modernen
Autoren ähnlich — sich über die Grenzen zwischen der An-
32 UL Technik.
Weisung über das Darzustellende und der Schilderung keine
Rechenschaft gibt. Man wird fragen, was es schadet, wenn
der Autor für den Leser Schilderungen und Betrachtungen
einäicht, die dann für den Zuschauer Ton selbst wegfallen. Ja
gewiß, es schadet anscheinend unmittelbar nicht, ja in gewissem
Sinne nützt es mitunter, wenn nämlich das DarzustelleiMe,
das, was man schauen kann, nicht genügt, um den gewollten
Eindruck hervorzurufen. Dann aber weist es auf einen Mangel
in der Darstellung hin, ist ein Armutszeugnis, das sich der
Dichter selbst ausstellt, ein Auskunftsmittel, um das Mangelnde
zu ersetzen. Ist es aber so, dann schadet es noch obendrein.
Denn es verleitet den Verfasser dazu, sich durch eingeflochtene
Erzählung über Schwierigkeiten der dramatischen Darstellung
hinwegzuhelfen. Man wende nicht ein, daß die Unmittelbar-
keit der Vorstellung das ersetzt, was hier dem Leser hinzu-
gegeben wird. Das ist ein Irrtum: kein Schauspieler, kein
Bühnenleiter kann das ersetzen, was hier Hauptmann und mit
ihm so viele hinzutun.
Eins von beiden also. Ist es nötig, dann muß es in das
Drama selbst hineinkommen. Mittel dazu gibt es genug. Die
Betrachtungen, die der Autor anstellt, die Schilderungen, die
er gibt, können ganz gut von den Personen des Dramas, auch
wenn es „handelnde Menschen** sind, getragen werden. Schildern
nicht bei Hauptmann selbst Loth und Helene in ihrem Ge-
spräch die Zustände von Witzdorf und geben dadurch dem Ge-
sehenen einen Hintergrund. Könnte die Schilderung der
Weber nicht ebenso einer oder mehreren minderbeteiligten
Personen in den Mund gelegt werden? Wer aber dieses Aus-
kunftsmittel verschmäht, muß auf andere sinnen. Solcher gibt
es genug. Shakespeare hat es nicht nötig, die Affekte zu
schildern: es sehen sie ja die anderen handelnden Personen und
äußern sich darüber, reagieren darauf. „Mann, drücke den
Hut nicht so tief ins Gesicht!'* ruft Malcolm dem Macduff zu.
Und wie trefflich charakterisiert Caesar seine Gegner und
andererseits sie ihn!
UI. Teehmk. 33
Oder es tritt der zweite Fall ein. Die Bemerkungen sind
nicht nötig. Dann gehören sie auch keinesfalls ins Drama
hinein, dürfen nicht hineinkommen. Denn das muß festgehalten
werden, was man nicht schaut, was man nicht von den auf-
tretenden Personen hört; das gehört auch nicht in das Drama
und darf darin nicht vorkommen. Auch nicht als für den
Leser eingeschmuggelte Bandbemerkungen. Soviel Achtung
darf schon die höchste Form dichterischen Schaffens be-
anspruchen, daß man ihre Werke nicht mit bettelhaften An-
leihen bei anderen herausputzt. Man lächelt mitleidig über
die Eselsbrücken der alten Kunst. Da muß gesagt werden,
daß Monologe auch die unberechtigten in ganz anderem orga-
nischen Zusammenhang mit dem Drama stehen als beigefügte
Bemerkimgen. Diese .können nur mit den erklärenden In-
schriften der alten naiven Malerei verglichen werden. Wir
werden übrigens weiter unten bei anderer Gelegenheit beweisen,
daß dieser ganze Aufputz nichts nützt, daß es einfach nur eine
auf Selbsttäuschung bestehende Illusion ist, wenn man darin
eine Charakteristik sieht. Es ist auch für den Leser nur un-
nütz bedrucktes Papier, sonst nichts, überhaupt müssen wir
bezüglich der Bühnenanweisung alles vorher Gesagte auch im
Hinblick auf das Lesedrama im engeren Sinne au&echt halten.
Eine Begiebemerkung soll lediglich als Anleitung für die Dar-
stellung des Dramas dienen. Auch dort, wo von Haus aus
auf eine solche verzichtet wird, bleibt dennoch eine jede Be-
merkung, die nicht in diesem Sinne gehalten ist, ja ein jedes
überflüssige Wort, eine arge Stilwidrigkeit, eine Erscheinung,
die auf eine Verrohung und einen Verfall des dramatischen
Stils, auf ein Schwinden dessen Gefühls zurückgeführt werden
muß. Im Drama, auch im Lesedrama darf sich die Phantasie
nur in den Bahnen der dramatischen Darstellung bewegen.
Wenn da durch Worte ein Schein geweckt wird, so ist es
ein Schein nicht der Wirklichkeit, sondern der dramatischen
Handlung. Was dagegen verstößt und darüber hinausgeht,
und seien es die tiefsten Worte, die witzigsten Bandglossen,
Bttxowski, Gerhart Hauptmann. 3
34 Ul' Technik.
ist ein Vergehen gegen die Stileinheit Es wirft uns aus
unserer Bahn heraus, weil sich da Bericht und Betrachtung
in die unmittelbare Darstellung der Tor uns sich ToUziehenden
Handlung eindrängt. Ja dies gilt sogar für den Roman oder
die Novelle, falls sie in einer dramatisch unmittelbaren Dar-
stellungsform erscheinen. Auch da wäre es nicht gestattet,
unvermittelt zum Bericht überzugehen. Um wieviel weniger
im Drama. So stellt sich der Unfug, der mit den Regie-
bemerkungen getrieben wird, als eine Stillosigkeit dar, die
durchaus verpönt sein soll. Er zeigt uns aber auch am Neben-
sächlichen, daß der Naturalismus nichts anderes will, als epische
Darstellung auf das Drama zu übertragen. Daß die Szenen-
einteilung fehlt, ist wiederum eine so belanglose „Neuerung**
wie die Neubenennung der Personen. Der fließende Strom der
Vorgänge wird durch die Szeneneinteilung ebensowenig ge-
hindert, wie das Verrinnen der Zeit durch den Glockenschlag
der Uhr, die uns die Stunden anzeigt
Über die strenge Durchführung der Sprache des täglichen
Lebens und die Verwendung des Dialekts werden wir in anderem
Zusammenhange noch zu sprechen haben. Hier bemerken wir
nur, daß wir prinzipiell nichts dagegen haben, darin aber
durchaus ein bestimmtes Maß eingehalten zu sehen verlangen,
ein Maß, auf welches wir noch zurückkommen und dessen
Weite in der Funktion des Wortes im Drama gegeben ist.
Andererseits schlagen wir die gar nicht neue Neuerung im
ganzen und großen nicht so hoch an. Mehr Bedeutung schon
hat der neue impressionistische Stil im allgemeinen, der sich
hier als Frucht der impressionistischen Tendenzen der Kunst,
speziell der Holz-Schlat sehen darstellt. Daß dieser impressio-
nistische Stil nicht urdeutsch ist, haben wir schon hervor-
gehoben. Auch auf ihn kommen wir zurück.
Mit einer Eigentümlichkeit der Sprache möchten wir aber
vorwegnehmend noch hier abrechnen. Wenn im Text nämlich
die Umgangssprache des täglichen Lebens streng durchgeführt
wird, so entspricht das der Neigung und der künstlerischen
III. Technik. 35
Tendenz des Autors. Wie soll man es sich aber erklären,
daß in allen Äußerungen des Autors selbst, also in den Bühnen-
anweisungen und Bemerkungen an den Leser eine merkwürdige
Sprache geführt wird, die man nicht anders, als einen Kliquen-
jargon bezeichnen kann. In Hauptmanns Bühnenangaben
wimmelt es förmlich von Provinzionalismen, Lokalausdrücken
und Ausdrücken, die bestimmten Berliner Literatenkreisen
eigentümlich sind.
So haben wir das Wort ,, puterrot'' schon bei Holz und
Schlaf gehabt. Bei Hauptmann verfolgt es uns auf Schritt
und Tritt. Umsonst fragt man sich auch nach der Notwendig-
keit von Ausdrücken wie „propre gekleidet", „ein proppres
Mädchen", „adrett", „schußrig", „sie dudelt'*, „Blaukittel"
(für Wagenschieber), „unterm Nähen", „unter Nachdenken",
„echauflSert", „Registrator" (für Uhr), „tollpatschig", „patzig",
„winzlige Sprechweise", „glupsch" u. a. m.
Man wird unsere Ausstellung als Nörgelei ansehen. Dieser
familiäre Ton hat jedoch etwas Aufdringliches und Exklusives
zugleich, das man rügen muß. Hauptmann kümmert sich
überhaupt wenig (oder gibt sich den Anschein, als ob er sich
wenig kümmerte), ob man Ausdrücke wie „Helle", „Haus",
„Erbscholtiseibesitzer" auch versteht. Er protzt sozusagen mit
seinem Schlesiertum, anderseits mit dem Berlinertum. Dies
wirkt aber ansteckend. Die Herren beginnen zu schreiben,
als wären sie „unter sich" und es wird dazu kommen, daß ein
junger Autor erst den Berliner Literatenjargon wird erlernen
müssen, bevor er es wagt, ans Schreiben zu gehen.
Was die innere Technik, d. i. den Aufbau der Dramen
Hauptmanns anlangt, wird sich ihre Kritik beim Eingehen in
die einzelnen Stücke ungezwungen von selbst ergeben.
Ohne uns also dabei aufzuhalten, wollen wir mit der
Analyse der einzelnen Werke beginnen.
IV. Werke.
1. „Vor Sonnenaufgang".
„Vor Sonnenaufgang" ist zwar ein Erstlingswerk, aber
es trägt schon deutlich alle charakteristischen Merkmale der
Kunst Hauptmanns, ja in mancher Hinsicht bietet es sogar
ein besseres Objekt der Beobachtung, als die späteren.
Prüft man nun den Inhalt und die Anlage des Stückes
darauf hin^ so wird sofort klar, daß man es hier mit einer
Zustandsschilderung zu tun hat. In ein schlesisches Kohlen-
dorf, dessen Bewohner plötzlich durch die Kohle, welche sie
unter ihren Feldern muten, reich geworden, in Völlerei, Trunk-
sucht und Unzucht verfallen sind und dem Untergang ent-
gegengehen, kommt ein sozialistischer Schwärmer^ um die
„Lokalverhältnisse'' zu studieren. Er gerät in eine Bauern-
familie, in die sein ehemaliger Jugendfreund Hoffmann hin-
eingeheiratet hat. Hoffmann, der die Bauern prellt und nun
„stark auf Bleichröder zusteuert", wittert in dem „Studieren"
einfach „Maulwurfsarbeit, Wühlen, Wühlen". — (Sollte man
sich da nicht vor Ibsen höflichst verneigen?) Anders seine
Schwägerin, Helene Krause, die in dem Fremden einen
Sendling einer besseren und reineren Welt sieht. Helene
fühlt sich tief unglücklich. Ihr Vater ist ein Trunkenbold,
ein geiles, unflätiges „Tier, vor dem die eigene Tochter nicht
sicher ist", ihre Stiefmutter ist zänkisch, bösartig, durchaus
verlogen, dumm und ehebrecherisch, ihr Bräutigam, der Lieb-
haber dieser Stiefmutter, ein Lümmel, halb Vieh, halb Idiot;
IV. Werke. 37
ihre Schwester unrettbar dem Alkoholismus verfallen; ihr
Schwager endlich, der zugewanderte gebildete Mann, der findige
Eopf, >,gegen den gehalten sind sie alle Lämmer'^ Er ver-
schmäht es nicht, die traurige Lage des Mädchens zu miß-
brauchen und es mit lüsternen Liebesbewerbungen zu um-
stricken. — Wir sehen, Unzucht ist hier das billige Mittel,
das den armen Zuschauer schaudern machen soll. — Helene
glaubt nun in Loth ihren Better gefunden zu haben, dieser in
ihr die ideale Gattin, die seinen hohen Ansprüchen Genüge
täte. Doch da erfahrt er von Doktor Schimmelpfennig,
daß in ihrer Familie die Trunksucht erblich ist und der Dok-
trinär und Abstinenzler flieht vor dieser Verbindung. Das um
seine Hoffnung betrogene Mädchen gibt sich den Tod.
Dieses Motiv könnte nun in zweifacher Konzeption
dichterisch erschöpft werden. Entweder könnte die Schilderung
der schrecklichen Verhältnisse in dem schlesischen Kohlendorf
Hauptsache sein, dann wäre der daraus sich entwickelnde
Konflikt nur eine Folgeerscheinung. Dies entspräche der
epischen Behandlung des Stoffes, der eines Zola. Oder es
würde der aus den erwähnten Verhältnissen sich ergebende
Konflikt Hauptsache sein, dann wäre die Schilderung der Ver-
hältnisse nur Hintergrund, von dem sich der Konflikt abhebt,
und aus dem heraus er sich entwickelt. Das wäre die drama-
tische Auffassung des Vorwurfes.
Hauptmann ist nun, getreu den naturalistischen Grund-
sätzen, von der ersten Auffassung ausgegangen. Man soll, wie
durch ein Fenster, in ein Stück Natur hineinsehen. Dabei hat
er aber doch, seinen Neigungen und Ansichten entsprechend,
die dramatische Form erwählt Daraus ergab sich die Eigen-
art des Stückes: die Likongruenz zwischen Form und Lihalt.
Seiner Aufgabe gemäß mußte Hauptmann der Schilderung den
breitesten Baum gewähren. Sie und nur sie bildet auch den
eigentlichen Inhalt des Dramas. So blieb für Kampf, Be-
wegung, Konflikt so gut wie gar nichts übrig. Der Konflikt
ist nur so angehängt — wie oft bei Hauptmann — damit die
38 ' : IV. Werke.
Geschichte docH ein Ende bekommt Er ist weder glaubwürdig,
noch irgendwie für den Inhalt des Stückes von Belang. Loth
tat eigentlich nur dasselbe, was wir tun, er sieht sich die Zu-
stände an und tritt schaudernd zurück. Nur ein Unterschied
besteht dabei^ daß wir nicht, wie er, ein vorschnelles Ehe-
gelöbnis gegeben haben. Aber ist der unterschied bei näherem
Zusehen so groß? Entsteht bei Loth daraus irgendein ernst
zu nehmender Konflikt? Gewahren wir im ganzen Drama auch
nur einen Ansatz von einem inneren Kampf in Loth, oder
von einem Kampf gegen ihn? Er kommt und geht. Von einer
wirklichen Zuneigung zu Helene ist nichts zu bemerken,
trotz der yielgepriesenen, in Wirklichkeit aber süßlich senti-
mentalen, innerlich unwahren Liebesszene. Ein Mann, der
seine Liebe so rasch und so gefaßt einer doktrinären Schrulle
opfert mit dem zynisch eingestandenen Bewußtsein, daß er
ihren Gegenstand dem sicheren Verderben preisgibt, ein solcher
Mann konnte doch nicht auch nur einen Augenblick lang
wirklich geliebt haben. Das Mädchen mag ihm nicht übel
gefallen haben. Nun, er wird irgend anderswohin gehen und
„Lokalverhältnisse studieren". Da kann ihm ein anderes ge-
fallen. Was hat sich da viel in seinen Verhältnissen geändert?
Man hat ihm einen Plan verdorben. Er hat müssen Knall
und Fall wegfahren, sonst nichts. Ein Mensch, der sich uns
vorstellt: so bin ich, ich bin Abstinenzler, habe Grundsätze^
und der, nachdem er ein Mädchen in den Tod gejagt hat, nun
vollständig unverändert, in seinen Anschauungen unerschüttert,
nicht einmal geritzt vom Schicksal, von uns scheidet. Ja,
wenn man mit Schlentheb liebenswürdig glauben könnte,
daß auch ihn Paustens Reue überkommen werde. Aber wir
haben leider in keinem einzigen seiner geschwollenen Worte
einen Anhaltspunkt dafür, um dies anzunehmen oder nur zu
hoffen, wie faustisch sich auch der Wicht geberdet. Lauter
trockenes Zeug. Auf Schimmelpfennigs Einwurf, daß es
Fälle gibt, wo solche ererbte Übel, wie der Alkoholismus,
durch rationelle Erziehung erdrückt werden, antwortet er ein-
IV. Werke. 39
fach: ^,das kann uns nicht helfen, SchimmeP^ Er ist
so ruhig innerlich, daß er den Freund „Schimmel" nennt, wie
wenn es sich in dieser Auseinandersetzung nur um eine studen-
tische Eannegießerei handelte. Dann fährt er fort: „Entweder
ich heirate sie, und dann . . . nein, dieser Ausweg existiert
überhaupt nicht. Oder — die bewußte Kugel! — Aber
nein! So weit sind wir noch nicht, so was kann man sich
einstweilen nicht leisten !*' — Wie unausstehlich sicher im
Ton! überhaupt ist die ganze Bedeweise Loths dazu an-
getan, einen nerrös zu machen, so geschwollen und dabei
trocken, selbstbewußt und jämmerlich ist sie.
Man könnte nun mit Schlentheb die Episode: Loth als
ein elementares Naturereignis ansehen, eine unwiderstehliche,
rücksichtslos packende Macht, die in das Leben so manchen
Mädchens verhängnisvoll zermalmend eingreift, ohne sich um
das Weitere zu kümmern. (Man denke an Faust oder an
Halbes „Jugend".) Aber dazu ist Loth eben zu wenig ele-
mentar. Man könnte ihn auch für ein unbewußtes blindes
Werkzeug des Schicksals ansehen, für den arglosen Wecker
des Verhängnisses, den Stein, der das Verderben, das nur
lauernd geduckt auf den Anstoß gewartet hat, nun ins Bollen
bringt. So faßt ihn, wie die Anna Mahr, Bichabd M. Meyeb
auf und man muß zugeben, daß diese Auffassung der Absicht
des Dichters in Bücksicht auf Helene gerecht wird. Doch
entspricht ihr kaum der erreichte Effekt.
Dann aber ist hier zweierlei zu bedenken. Erstens, wenn
einem solchen Werkzeug des Zufalls mehr Platz eingeräumt
wird, als eben seinem episodischen Charakter zukommt, also
etwa wie dem fremden Mann in „der Frau vom Meere",
dann tritt es in die Bechte einer Person des Dramas ein, die,
wie die anderen, das dramatische Schicksal an sich er-
fahren muß. Hier ist dies unzweifelhaft der Fall und des-
wegen muß Loth sein Schicksal erleiden. Geschieht es nicht,
wie wir erwiesen haben, so ist diese Art der Behandlung
durchaus undramatisch, ja nicht einmal den Anforderungen
40 ly* Werke,
der SchUderang entspricht sie. Sie kommt in der epischen
Daxstellung nur ihrer niedersten Form^ der Skizze zu«
Zweitens aber vermögen wir nicht mit Biohabd Meyeb
an das Schicksalsreife bei Helene glauben, ebensowenig wie
bei Johannes Yockerat in den „Einsamen Menschen'^
Helene macht anfangs den Eindruck einer schablonenhaften
6 estalt y ersonnen zur Erzielung einer billigen theatralischen
Eontrastfigur. Das blonde, reine Mädchen mitten in dem
schmutzigen Moraste, das einzige keusche und edle Geschöpf
unter den Scheusalen, wie ist das nicht alt und bekannt! Man
merkt, auch sie hat anfänglich einen episodischen Charakter
und eine chorusartige Funktion wie Loth: sie soll uns er-
klären, mitteilen und also schauen helfen, dabei soll ihre lichte
Erscheinung das schwarze noch schwärzer erscheinen lassen.
Erst dann scheint sich der Dichter besonnen und, da sie gegen
seine Absicht zu einer Hauptperson wurde, ihr das, was er bei
Loth zu geben versäumt hat, gegeben zu haben. Helene
erfährt das dramatische Schicksal an sich.
Aber wie? Bis zum Erscheinen Loths befindet sie sich
zwar in fortwährender Fehde mit den anderen, ist backfisch-
mäßig verzweifelt, daß sie in diesen Verhältnissen „verbauern
muß^S sonst aber scheint das Schmollen die einzige Reaktion
auf das Unerträgliche in ihrer Lage zu sein. Nun kommt der
Wecker. Sie faltet hinter seinem Rücken die Hände und betet:
„0 geh nicht fort!'' Doch das ist mädchenhaft sentimentaL
Die ganze Art, wie sie Feuer fängt, ist nicht angetan, uns an
eine echte verzehrende Glut glauben zu machen. Wir ge-
winnen nicht den Eindruck, daß sich die Trughofi&iung so stark
in ihrer Seele eingegraben und festgewurzelt hat, daß sie mit
ihr und an ihr zusammenbrechen müßte.
So kann sie nur an dem Verzweiflungsvollen ihrer Lage
selbst zugrunde gehen. Die verhängnisvollen Mächte, denen
sie zum Opfer fallen soll, müßten sichtbar auf sie einstürmen,
um die Katastrophe glaubhaft zu machen. Hoff mann be-
treibt aber seine unlautere Bewerbung sehr zahm. Man hat
IV. Werke. 41
nicht das Geftihl^ als müßte Helene doch unfehlbar seine
Beute werden, wie Loth zynisch vorwegnimmt Schließlich ist
Hoff mann doch zu sehr von seinen Geschäften in Anspruch
genommen. Wilhelm Kahl vollends, ihr Bräutigam, scheint
sich fast gar nicht um sie zu kümmern. Übrigens, wenn
Hoff mann, der unüberwindliche, weidlich bekannte schwarze
Charakter, ihr noch gefährlich werden könnte, dem Wilhelm
Kahl, dem unbeholfenen, dummen Tölpel, ist sie sicher in
allem überlegen. Es sind auch nicht Yitalinteressen, die bei
den anderen im Spiele wären und gegen Helene ankämpften.
Eine Laune bei Hoffmann und bei Kahl wissen wir nicht
einmal, ob er ihrer oder ihres Geldes so stark begehrte.
Bebthold Litzmann, ein unbedingter Verehrer BLiupt-
MANNs glaubt genug getan zu haben, wenn er feststellt, daß
dieses reine impulsive Geschöpf, ohne eigenen inneren Halt,
der letzten Illusionen und Ideale beraubt, zugrunde gehen
muß. Es muß aber nochmals darauf hingewiesen werden, daß
nach unserem Dafürhalten Hauptmann zwar diesen Eindruck
erstrebte, ihn aber nicht erreichte. Wie in der Stickluft die
wunderbare Blume der unwiderstehlichen Sehnsucht verhängnis-
voll prächtig aufgeht, das wollte er zeigen, hat es aber nicht
getan. Seine Verehrer nehmen, wie oft, das Erstreben für die
Erfüllung. "Wir vermissen sie durchaus. So etwas muß her-
ausgearbeitet werden, wie es der von Litzmann so arg ver-
pönte Ibsen mit unvergleichlicher Meisterschaft versteht Dazu
genügt eine peinlich genaue Schilderung vielleicht nicht mehr.
Man muß die Vergangenheit in den Dialog unsichtbar hinein-
spielen lassen, wenn es auch in der geheimnisvoll raunenden
Art Ibsens sein müßte, und nicht nur die Vergangenheit,
auch die Zukunft muß mit Zungen reden. Der dramatische
Dialog ist eben verdichtend. Ein sentimentaler Ausruf: „0 geh
nicht fort!" genügt nicht. Wie wenig merkt man von der
schaudernden Angst, welche Helene vor der Verbindung mit
Kahl haben mußte.
Freilich wird uns einerseits sie geschildert, andererseits
42 IV' Werke,
er. Freilich der Gegensatz ist schroff genug, am alles eher
gewärtig sein zu lassen, als diese Verbindung. Aber wir
wiederholen, dies genügt nicht Die Überzeugung von der Un-
möglichkeit einer solchen Verbindung tut es noch nicht. Wir
müßten das kalte Grauen Helenens selbst im Nacken spüren,
es müßte aus ihrem ganzen Tun und Sprechen^ aus ihrem
ganzen Wesen uns anstarren, dann erst würden wir den Stoß
mit dem Hirschfänger glauben.
So tritt denn der Selbstmord Helenens völlig unmotiviert,
jedenfalls vorzeitig ein, wohl nur deshalb, weil der Dichter das
Drama schließen mußte, folglich nicht in der Lage war, ihr
Zeit zu gönnen. Er gibt ihr also den Gnadenstoß, wiewohl
sie zur Zeit noch wohlbehalten ist und ganz gut leben könnte«
Das ist keine dramatische Konzentration, das ist so viel, wie
den Dingen Gewalt antun. Da sieht man es nämlich klar,
was es heißt Schilderung, statt Handlung, d. i. Wandlung zu
geben. Die fänf Akte vergehen schnell, man muß schließen,
ob die Dinge dazu reif sind oder nicht. Und kommt der Tod
nicht notwendig nach innerem Zusammenbruch, tut nichts:
man ruft ihn wie den dem ex machina herbei, man schlachtet
das Opfer einfach ab.
Es ist auch nicht, wie Litzmann wiederum behauptet, der
einzig mögliche konsequente Ausgang. Der ganzen Art der Ge-
staltung des Dramas und der Behandlung des Stoffes nach, näm-
lich der Zustandsschilderung entsprechend, könnte das Drama
zwar mit einer schrillen Dissonanz endigen, der Entdeckung des
Abschiedsbriefes und dem trunkenen LaUen des alten Krause,
aber dabei hätte es bleiben können. Wir würden höchstens
den Eindruck davontragen, daß die trüben Voraussagungen des
Doktor Schimmelpfennig eintreffen werden und das wäre auch
ein tragisches Ende — wenn auch kein dramatisches.
Die Autoren der „Familie Selicke" waren deswegen
konsequentere Naturalisten, als sie durch den Tod des von der
ganzen Familie geliebten Kindes keine plötzliche Wendung
herbeiführten, sondern uns mit unserer Einsicht in die
IV. Werke, 43
„schleichende^ Tragik dieses Familienlebens entließen. Dies
entspricht dem Postulat eines Augenblicksbildes, wenn auch
öreilich nicht dem des Dramas.
Daß Helene gewaltsam in die schleichende Tragik ihres
Schicksals eingreift, ist eine Willkür des Dramatikers und wirkt
als solche.
Was die anderen Personen anbelangt, den Säufer Krause,
seine ehebrecherische Frau, den ehrenwerten Industrieritter
Hoff mann, den Tölpel Eahl und die nicht auftretende
Alkoholikerin Frau Hoffmann, sie alle bleiben von den
Geschehnissen des Dramas, wenn man sie so nennen darf,
vollständig unberührt. Sie zeigen sich uns, wie Loth,
in ihrer wenig anziehenden Art und verschwinden mit dem
Schluß des fünften Aktes aus unseren Blicken, ohne uns das
geringste Interesse eingeflößt zu haben. Wir wissen, sie werden
ihr liebenswürdiges Treiben unbeirrt fortsetzen. Krause wird,
„wie immer, als letzter das Wirtshaus verlassen*^, seine Frau
wird keifen, protzen, Unzucht treiben und ehrbar tun, der
gute Hoffmann seinen dunklen Geschäften nachgehen.
Wo ist da das Zwingende, das Notwendige in ihrem Schick-
sal, wo das Schicksal überhaupt? In einem Momentbild sehen
wir sie vollständig fertig in ihrer ganzen Uninteressantheit.
Und das, was sie sind, — geworden schon längst, ehe wir ihre
Bekanntschaft machen — auch das ist reiner Zufall. Durch
Zufall — die Entdeckung der Kohle unter ihren Feldern —
sind sie Millionäre geworden: wenn dieser Zufall nun wenigstens
notwendige Folgen nach sich ziehen würde. Auch das nicht.
Plötzlich reich gewordene Bauern müssen doch nicht gerade
in der Weise verkommen, wenn nicht schon vordem etwas
in ihnen war, was sie auf diesen Weg notwendig
brächte. Sie müssen nicht durchaus zu Säufern werden, wie
der Dichter uns mit allen Zeichen des Entsetzens glauben
machen möchte. Sie könnten zu knauserigen, geschäftsmäßigen
Leuteschindern werden, oder umgekehrt zu Spielern, oder aber
zu Parvenüs, die in der Stadt ihr Geld ausgeben. Fasziniert
44 /^. Werke.
von den schwarz in schwarz gemalten Bildern der ausländischen
Naturalisten^ hat sich Hauptmann hier vollständig geirrt üher
den Zusammenhang von Ursache und Folge. Er übersieht
durchaus^ daß jene dargetan haben, was darzutun er ver-
säumte^ nämlich die unabwendbare Notwendigkeit, das Unent-
rinnbare in den von ihnen geschilderten Verhältnissen.
Daß Hauptmann nicht prinzipiell von einer solchen
Motivierung Abstand nahm^ etwa den Grundsätzen des Natura-
lismus getreu — daß er sich im Gegenteil der Notwendigkeit
einer Motivierung bewußt war, das zeigt er in seinen späteren
Werken. Im „Friedensfest" sagt Robert Scholz das be-
kannte ibsenisierende Wort: „Kein Wunder allerdings. Ein
Mann von vierzig heiratet ein Mädchen von sechzehn und
schleppt sie in diesen weltvergessenen Winkel. Ein Mann^ der
als Arzt in türkischen Diensten gestanden und Japan bereist
hat. Ein gebildeter unternehmender Geist. '^ Und dann weiter:
,,Nun und danach ist es denn auch geworden: ein stehender,
fauler^ gährender Sumpf, dem wir zu entstammen das zweifel-
hafte Vergnügen haben."
Ja in „Vor Sonnenaufgang" selbst versucht Hauptmann
zu motivieren, aber merkwürdigerweise für die Zukunft. Der
feigen Flucht Loths liegt ja der Ideengang zugrunde, daß
der gemiedenen Verbindung nur degenerierte, dem AlkohoKs-
mus unrettbar verfallene Sprossen entstammen können.
Allerdings besteht seine Motivierung hier nur in Worten,
nicht in Tatsachen. Wer aber viel erklärt, beweist desto
weniger. „Qm* s'eoccuse s'acouse^^ ist das französische Wort dafür
und wie treffend es mitunter sein kann, möge an einem Beispiel
ersehen werden, das in dieser Hinsicht für das ganze Stück
sozusagen symbolisch ist. Dr. Schimmelpfennig warnt Loth
vor der Heirat und sagt unter anderem: „Du weißt zum Beispiel
nicht, daß Hoffmann einen Sohn hatte, der mit drei Jahren
bereits am Alkoholismus zugrunde ging'^ Liest man
dies, so kommt einen das Gruseln an (ist auch wahrscheinlich
darauf berechnet). Dann aber folgt die staunenswerte Erklärung,
IV. Werke. 45
die alles zunichte macht: ,,Nach der Essigflasche hatte das
dumme Eerlchen gelangt, in der Meinung, sein geliebter Fusel
sei darin. Die Flasche war herunter- und das Eind in die
Scherben gefallen.^' Man denke: das Kind langt nach einer Essig-
flasche — wonach langt denn ein Eind, auch ein kerngesundes,
nicht? — es fällt in die Scherben und verblutet sich, es kommt
durch einen Unfall, den reinsten Zufall, um und das nennt
man am Alkoholismus zugrunde gehen! Wie sollte man es
nennen, wenn das Eind nach einer Milchflasche oder nach
einer brennenden Lampe gegriffen hätte?
Es ist ja ganz nebensächlich, woran das gute Eind ge-
storben war, aber die haarsträubende Verdrehung der Wahr-
heit ist nicht gleichgültig, sie ist, wie gesagt, sinnbildlich für
die ganze Motivierung. Denn nähmen wir sogar an, daß das
Eind wirklich, nicht „symbolisch" am Alkoholismus zugrunde
ginge, so würde es nur ein Beweis sein, daß die Mutter — eine
Alkoholikerin, wie sie es ist — das Eind langsam vergiftete.
Wie aber, wenn weder Vater noch Mutter Alkoholiker sind,
wie es ja Loth und Helene in der Tat nicht sein sollen?
Außerdem sieht man es dem Doktor Schimmelpfennig an,
daß er mit innerem Unglauben spricht: „Ich kann Dir als Arzt
noch sagen, daß Fälle bekannt sind, wo solche ererbte Übel
unterdrückt werden und Du würdest ja Deinen Eindern eine
rationelle Erziehung geben.'* Wie, sahen denn beide nicht,
der Doktor und Loth, daß sie in Helene selbst, einen solchen
zuweilen vorkommen sollenden „Fall" vor sich hatten? Wozu
erst nach entlegenen Fällen suchen? Sie war ja nicht einmal
so rationell erzogen worden, wie es Loth für seine Nach-
kommen plant und ist doch heil geblieben. Aber den „Fall",
der leibhaftig vor ihnen stand, sahen, scheint es, ebensowenig
die beiden wie der Autor.
So steht es um eine Motivierung, die an den Haaren
herbeigezogen ist. Oder ist es z. B. wahrscheinlich, daß
Hoff mann nach einer Erfahrung, wie er sie eben schon hat,
gerade nach Witzdorf mit seiner die Niederkunft erwartenden
46 IV. Werke.
Frau kommt Man denke: ein Millionär, der sich manches
gönnen kann und auch gönnte ein Mensch aus einer ganz
anderen Welt, kommt ^^der größeren Ruhe und gesünderen
Luft wegen" auf einen verlumpten Bauernhof, wo den ganzen
Tag, selbst bei der Tafel, nichts denn gezankt und gekeift
wird, wo er notwendigerweise täglich den unmöglichsten Szenen
beiwohnen muß.
Wozu hat es aber der Dichter nötig gehabt, dieser Art
gegen alle Wahrscheinlichkeit zu verstoßen? Um die Einheit
des Ortes zu wahren? (der realistische Dichter!) Um alle
handelnden Personen beisammen zu haben? Aber Hoffmann
könnte ja dort allein, ohne Frau weilen — geschäftshalber!
Ja dann müßte der Dichter jedoch auf den spannenden
naturalistisch effektvollen Hintergrund des fünften Aktes ver-
zichten. Für die Flucht Loths vor Helene, für Helenens
Tod fehlte dann die theatralische Staffage, die Eindergeburt
in einem Nebenraume, das hastige Hin- und Herrennen der
Leute, die bedeutungsvollen Worte: „totgeboren". Kann man
das aber, „sich streng an die Wirklichkeit halten" nennen?
Hatte da nicht jener boshafte Berliner Arzt recht, wenn er
während der Uraufführung die Geburtszange schwang und seine
Dienste anbot?
Gewiß: dem Dichter steht das Recht zu, selbst das
Krasseste auf die Bühne zu bringen, wenn er es für seinen
dramatischen Zweck für nötig erachtet, wenn er Mut und
Geschick dazu hat. Ja wenn! Aber Übermut ist nicht
Mut und Geschick ist es gewiß nicht, wenn man etwas Über-
flüssiges in ein Kunstwerk von so strengem Bau hineinbringt,
wie das Drama. Und wozu ? Um den Sensationsgelüsten eines
mit den primitivsten Effekten zufriedenzustellenden, rohen
Publikums zu fröhnen, oder um seinen Trotz darzutun! Bichtig
ist es, man muß einem blutjungen Dramatiker schon etwas
zugute halten. Wir rechten auch nicht mit ihm, sondern mit
der ganzen Methode, einer Methode der Schilderung und nur
Schilderung, welche Bilder statt Handlung und Wandlung bringt.
IV. Werke. 47
und glaubt, genug getan zu haben , wenn sie recht krasse
Bilder gibt
und Schilderung ist alles in diesem Drama. Wenn man
es recht besieht, possenhafte Schilderung. Das Grekeife
der brutalen Frau Krause, das Protzen mit dem Champagner
und den Austern während des ununterbrochenen Gezänkes bei
Tische, die Morgendämmerungsszenen: der in Strümpfen von
seinem Liebesabenteuer heimkehrende Kahl, der „als Letzter^'
vom Wirtshaus heimkehrende lallende Krause. Das Kommen
und Gehen des Gesindes im Hofe, das Treiben der Mägde,
des mürrischen, mißtrauischen Bleibst, des Hopslabaers,
das Lerchenschießen Kahls. Alles nur Augenblicksbilder.
Man erinnert sich unwillkürlich an die alten derben Intermedien,
die ja auch nur Augenblicksbilder waren und deren Verfasser
sich übrigens noch weniger zierten als Hauptmann oder die
anderen Naturalisten.
Das Werk hat seinerzeit dennoch gewaltig gewirkt, ja
wirkt noch heute stark genug, um für den ersten Blick seine
Widersprüche, seine großen inneren Schäden, das ündramatische
darin zu verdecken. Wenn dies ein Rätsel ist, so dürfte seine
Lösung interessant genug sein, weil sie uns auf Ursachen bringt,
die außerhalb des Dramas, außerhalb der Kunst überhaupt
liegen. Es sind dies hier, wie uns scheint, Momente, die wir
unter dem Gesamtnamen der Aktualität zusammenfassen
möchten. Jede Zeit hat ihre besonderen Ideen und Vorurteile,
Einsichten und Wahnvorstellungen, Ahnungen und Trugglauben,
in deren Bann sie steht, an denen sie mit blinder Hingabe
hängt. Zeitumstände, wissenschaftliche Errungenschaften und
Umwälzungen, politische und soziale Verschiebungen, wohl auch
der übermächtige Einfluß großer oder suggestiver Persönlich-
keiten — dies alles tut sich zusammen, kreuzt sich in seinem
Wirken, färbt gegenseitig ab und bildet jedes für sich und
wiederum zusammen das Aktuelle. Dieses Aktuelle ist die
besondere Domäne des Snobismus, der seine Herrschaft leider
auch auf die Gebiete der Kunst erstreckt. Außerordentlich
48 IV. Werke.
ist die fa82dnierende Macht dieses Aktuellen, so daß sich ihr
auch die stärksten Geister nicht immer zu entziehen vermögen.
Dann aber geht die Kunst nach Brot und Beifall.
Was nun in unserem Falle die Aktualität bildet^ ist nicht
schwer zu erraten. Es sind dies die kleinbürgerlichen, sozia-
listischen Weltverbessererideen, die bange Furcht vor der
y^Macht der Finsternis'^ und dem Alkoholismus, die um die
Wende der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts besonders
in Schwang waren. Anschaulich schildert S. Lttblinski in
seiner .^Bilanz der Moderne^' (S. llff.) das wunderliche
Treiben all dieser Ideen. „Früher hatte die Freiheit eine
mystische Erlösermacht ausgeübt und nunmehr trat das Wasser-
trinken an seine Stelle.** „Wo es zufällig nicht der Alkohol
machte, da machte es ganz gewiß der Tabak, und wenn man
diesen zur Not gelten ließ, dann wurde die Fleischnahrung mit
Flüchen belegt. . . Doktrinäre Beschränktheit und ein Schwelgen
in Extase taten sich zu einem grotesken Bündnis zusammen. . .
Eäne drollig großartige Symbolik überbrückte scheinbar den
klaffenden Widerspruch und täuschte eine innere Einheit vor,
die manchmal eine künstlerische Wirklichkeit wurde. Der
Kreuzritter gegen den Alkohol konnte sich, wenn er Phantasie
genug besaß, diesen seinen Feind im Symbol einer Großstadt-
kneipe verkörpert denken. Diese Kneipe befand sich in einem
verfallenen schmutzigen Gebäude, das riesenhaft empor-
zuwachsen und sich in das Unendliche zu erweitern schien,
bis es ganz und gar den Horizont erfüllte und bald die ganze
Welt, so daß alles andere vor diesem monumentalen Ungeheuer
versank. Man brauchte dann nur noch Säufertypen mit natur-
getreuer Einzelschärfe herauszutreiben und etwas Sozialpsycho-
logie des Säufertums hinzuzutun, und der Eindruck von
Monumentalität, Extase und Weltuntergang war reichlich vor-
handen, während die getreue und „wissenschaftliche** Sozial-
untersuchung gleichfalls nicht fehlte. Der Kunstgriff bestand
darin: man ließ die Welt vergessen, daß es in ihr noch andere
Leute als Säufer gab..."
IV. Werke. 49
Nehmen wir nun statt der ins Riesenhafte wachsenden
Großstadtkneipe das Haus Krause als stinkenden Herd der
Trunksucht, Unzucht und Völlerei mit der merkwürdig nach-
barlich gelegenen Stammschenke des alten Krause als Hinter-
grund, so haben wir die eben geschilderte Symbolik. Und
jetzt verstehen wir, wozu solch unheimlichen Worte, wie die-
jenigen vom „Zugrundegehen am Alkoholismus*' im Alter von
drei Jahren, wozu die anmutigen Episoden des von der Liebsten
sich nach Hause schleichenden Kahl und des aus dem Wirts-
haus wankenden Krause dienen. Wir sollen das Gruseln lernen.
Diese anscheinend so realistischen Züge sind nichts als echt
romantische, zolaistische Symbolik. Und darin liegt ihre starke
Wirkung.
Hiermit gelangten wir aber ganz abseits von den Zielen,
die sich der Naturalismus gesteckt hat, in bezug auf Form
sowohl, als auch auf den Inhalt. Der fanatische Realist, der
Wirklichkeitsdarsteller wird durch willkürliches Herausgreifen
einzelner Bilder, durch die grelle Beleuchtung, in die er sie
rückt, ungewollt zu einem Apostel, aber auch zu einem
Wirklichkeitsfälscher. Durch seine übertreibende Symbolik,
sowie schon durch die Darstellung im Drama hat er das, ii^as
höchstens als Einzelfall für wahr gelten könnte, zum Typischen
erhoben und sich damit von der Wahrheit völlig entfernt
Wie stark auch Ibsen seine Farben aufträgt, seiner Darstellung
der norwegischen „Lokalverhältnisse" kann man das Typische
glauben — derjenigen Hauptmanns nicht.
Darin liegt Ironie des Schicksals. Den Wahrheitsfanatiker
prellt sein eigenes Prinzip.
Wir ziehen nun nochmals die Summe. Das Drama ist
Zustandsschilderung. Episch in Anlage und Durchführung mit
künstlich aufgesetztem dramatischen, auch theatralischem Auf-
putz. Seine Wirkung liegt abseits des naturalistischen Form-
programms, ja jeder gesunden Dramatik — sie quillt aus
schnell veraltenden Momenten der Aktualität.
Bttkowski, Gerbart Hauptmann. ^
50 iV' Werke.
2. „Das Friedensfest".
^,Das Friedensfest'' ist eine Katastrophe, wie sie auch
der Dichter nennt. Wir kommen zum Schluß selbst. Was
ihn herbeiflihrt, liegt, wie bei Ibsen^ in der Vergangenheit.
Jedoch auch dieser Schluß ist, recht besehen^ kein solcher.
Es ist im Grunde nur eine Schilderung der unerträglichen
Verhältnisse in der Familie Scholz. Wenn wir, wie wir müssen,
Dr. Scholz und seinen Sohn Wilhelm, der sich einst an ihm
vergriffen hat, als die Hauptbeteiligten ansehen, so haben wir
Folgendes: Dr. Scholz kommt nach einer jahrelangen Abwesen-
heit zerrüttet, krank an Geist und Körper, zum Tode reif nach
Hause und der kleinste Zwischenfall, eine Zankszene, wie sie
in dieser Familie täglich vorkommt, gibt ihm auch den Tod.
Das ist Lebensschluß, aber kein dramatischer Schicksalsschluß.
Nun wird er, könnte man glauben, wie jener Stein wirken,
von dem wir schon gesprochen, welcher das Verderben ins
EoUen bringt.
Dem ist nicht so. Wilhelm geht wie er gekommen
ist, mit dem Vorsatz, an der Seite seiner Braut ein neues,
schönes Leben zu beginnen, in der frohen, wenn schon weniger
sicheren, so doch nicht zerstörten Zuversicht, die bösen Geister,
die „Gespenster", die in ihm leben, bannen zu können. Bei
den übrigen Personen, der Frau Scholz, die ohne ihren Mann
doch auch früher lebte, und Robert und Auguste Scholz
ist von einem Geschehen oder Getroffensein schon gar keine
Rede. So haben wir denn wiederum Schilderung. Wie effektvoll
sich auch die Familienkatastrophe ansieht, es ist nicht einmal
eine rechte Katastrophe: die Familie bleibt wie sie war, ob
auch ein seit langem verschollenes Mitglied derselben stirbt.
Die Dichtung ist dennoch ergreifend, ja die Führung der
Vorgänge bis zum entscheidenden Moment dramatisch. Die
Vorgänge selbst können auch gut als typisch gelten, was
Bartels mit Unrecht nicht zugeben wilL Mag auch die Moti-
vierung des sonderbaren latenten Uberreizungszustandes aller
IV. Werke. 51
Familienmitglieder nicht restlos gelungen sein, wobei die Schuld,
wie WoEBNEB richtig bemerkt, eher an zu Tielfacher, als an zu
sparsamer Motivierung gelegen ist. Wir können und müssen
der Darstellung dennoch Glauben schenken, denn das Leben
in dem engen £reis der Familie ist eben an sich ein solches,
daß unter gewissen Bedingungen — wie sie hier gegeben sind —
gar leicht sich ein Zustand der Überreizung entwickelt. Bei
etwas abnormer Gemütsverfassung also, wie sie hier voraus-
gesetzt wird, führt er zu ununterbrochenen Reibungen, ja zu
sich fortwährend ablösenden kleinen Katastrophen. Die äußeren
Momente dazu sind gegeben. Wenn man auch von der erb-
lichen Veranlagung mit ihrer bekannten Motivierung absieht,
so ist das einsame Leben in einem geschlossenen, so beschaffenen
Zirkel schon ausreichend, um das stetige Wachsen der ab-
normen Reizbarkeit zu erklären. Reizbarkeit und Zanksucht
sind eben durchaus ansteckend und nähren sich selbst am
eigenen Zündstoff. Und gewiß liegt in einem solchen un-
entrinnbaren Zustand eine Tragik, die wir wiederum „schleichend"
nennen möchten. Sache des Dramatikers ist es, sie zur
„explosiven" zu gestalten.
Dies ist aber gegen das auf Zustandsschilderung angelegte
Prinzip des Naturalismus. Holz und Schlaf bringen auch in
der schon erwähnten „Familie Selicke*' eine solche
schleichende Tragik des Unentrinnbaren zur Darstellung, ohne
eine Explosion herbeizuführen. Sie waren, wie gesagt, kon-
sequenter als Hauptmann. Die „Familie Selicke'* ist
jedoch eben darum auf der Bühne wirkungslos. Hauptmann,
der bessere Dramatiker, fühlte es, daß man im Drama nicht
bei dem tragischen Zustande stehen bleiben darf. So ist er
denn weitergegangen und machte aus der „Familie Scholz**
eine Familienkatastrophe. Dem Banne seines Eunstprinzipes
aber und den Grenzen seines Talentes konnte er doch nicht ent-
rinnen. Was hätte ein echter Dramatiker nicht alles aus dieser
Katastrophe gemacht I Der Tod des Doktor Scholz hätte
das Verderben, das über den Leuten lauernd brütet und nur
52 ^V. Werke.
gewitterartig aufzuckt, jäh und schrecklich entfesseln sollen.
All das Gefährliche, das in diesen ahnormen Naturen sich an-
gesammelt hatte, das ja schon einmal bei Wilhelm unheil-
kündend ausbrach — es müßte sich in einem verheerenden
blinden Wüten entladen. Die trüben Ahnungen Roberts, der
Frau Buchner und Wilhelms selbst müßten sich erfüllen,
ja seine gefährliche Natur müßte sich nun wirklich gegen Ida
kehren, wie es schon einmal geschehen wollte. Statt all dessen,
was tut nun Hauptmann? Er führt die Leute bis an den
ßand des Abgrundes, dann packt er sie, wie der Maschinengott,
und führt sie sachte zurück. „Wilhelm will aufs neue aus-
brechen, wird abermals durch Ida beschwichtigt, kämpft seinen
Schmerz nieder, sucht und findet Idas Hand, die er krampf-
haft in seiner drückt, und geht Hand in Hand mit dem
Mädchen aufrecht und gefaßt auf das Nebengemach zu.*'
So sieht der schlimmste aller dramatischen Rückzüge aus.
Wir werden noch einmal einen ähnlichen im „Kollege
Crampton" erleben. Wir stellen vorläufig fest: Das eine Mal
führt Hauptmann den Untergang willkürlich herbei, nun dieser
ein anderes Mal selbst naht, spielt der Verfasser ebenso will-
kürlich den Retter. Die Hand aber, die beides tut, ist nicht
die des geborenen und echten Dramatikers.
3. „Einsame Menschen^s
Richard M. Meyee zählt die „Einsamen Menschen"
zu den Genietragödien — er sagt: „ein hervorragender Mensch
geht an der Macht der Gewöhnlichkeit zugrunde. Dieser
Typus ist die realistische Verjüngung der alten romantischen
Künstlertragödien.*' „Es ist viel Selbsterlebtes in diesem Drama",
fügt er dann weiter hinzu.
Damit wäre die Art des Dramas genau bezeichnet, wenn
R. M. Meyeb seinen Satz gefaßt hätte: „Ein hervorragender
IV, Werke. 53
Mensch soll an der Macht der Gewöhnlichkeit zugrunde
gehen", nicht „geht zugrunde". Es ist für die Herrschaft des
obenerwähnten ^^Aktuellen'' bezeichnend, sonst aber irreführend,
daß man bei unseren modernen Autoren so allgemein geneigt
ist, Gewolltes für Erfülltes zu honorieren. Beinahe überall
geht der „arme Johannes^' unter dem Namen eines genialen
„Empfindungsmenschen". Nur Adolf Baetels faßt ihn nüchtern
richtig auf, wenn er ihn einen „Jammerlappen" nennt Hierauf
kommen wir noch zurück. Aber der zweite Satz von Meyeb
ist unbedingt richtig und für uns auch der wichtigere. „Es
ist viel Selbsterlebtes in dem Drama." Auch darauf müssen
wir in anderem Zusammenhang zurückkommen. Nun zum
Inhalt.
Der junge Gelehrte Vockerat wohnt in einer Villa am
Müggelsee bei Berlin. Er hat eine liebenswürdige Frau
„zart gebaut, bleich, brünett und sanft". Wir können noch
hinzufügen sie ist gut, gemütsvoll und aufopferungsfreudig.
Junge Gelehrte müssen aber auch „'n klein bissei Verständnis"
bei ihrer Umgebung finden. Frau Käthe geht leider jedes
Interesse ab für das wissenschaftliche Hauptwerk ihres Mannes,
samt seinen zwölf Seiten Quellenangabe und seiner Kontroverse
mit DüBOis Eeymond, Sie befaßt sich mehr mit ihrem Erst-
geborenen, dessen Taufe soeben stattgefunden. Nun ist es klar,
daß eine solche Frau für ein angehendes Genie „den modernen
Empfindungsmenschen mit Nerven, zart wie Seide", nicht wohl
paßt. Natürlich, wenn sie sich für die zwölf Seiten Quellen
nicht interessiert! Der arme Johannes fühlt sich vereinsamt.
Was hilft es, daß er von allen Seiten verhätschelt wird? Die
übrige Umgebung reizt ihn nur noch mehr.
Die Eltern mit ihren altväterlichen Ansichten, die seinem
aufgeklärten, wissenschaftlichen Freigeist so fremd und zuwider
sind. Ob die Sommersprossen auf Gesicht und Händen des
alten Vockerat auch etwas dazu beitragen, wissen wir nicht
Aber im Drama kommen sie vor. Der Naturalismus ist eben
gründlich. Da ist noch ein Freund, der Maler Braun, wie
54 IV. Werke.
wir schon mitgeteilt haben, ^iineist unbefriedigt^ deshalb übel-
gelaunt'^ Auch er reizt den zartbesaiteten Freund, er ist ihm
doch zu grobkörnig. Sonst hat er, scheint es, die Aufgabe,
Frau Käthe ein bischen in allen Ehren zu vertrösten und?
was wichtiger ist, die Studentin Anna Mahr in den Kreis zu
bringen. Dieser zweite einsame Geist nämlich kommt nach
Friedrichshagen, um den alten Bekannten Braun zu be-
suchen. Sie kommt zu ihm, findet aber Johannes. Mau
wäre versucht zu sagen, schöne Seelen finden sich. Johannes
ist brutal genug, Frau Käthe zu erklären, sie solle Anna zum
Bleiben auffordern, „weil sie ja von so einem Wesen noch sehr
viel lernen könne." Käthe wehrt sich schwach gegen die
Bescherung, meint endlich, sie sei ganz dafür. Als sich aber
Johannes entfernt „geht etwas in ihr vor, sie wird gleichsam
welk und muß mit den Händen Stützpunkte suchen^^ Hiermit
schließt der erste Akt.
In den folgenden vier Akten wird der Eindringling von
der Umgebung hinausbugsiert. Dagegen wehrt sich aber
Johannes in seiner egoistischen Art. Ihm ist die Studentin
nötig, jetzt hat er ja jemanden, dem er seine Manuskripte vor-
lesen kann. Und auch sie ist zäh genug. Sie geht und
geht, bleibt aber immer noch da. Einmal hat sie schon von
der ganzen Familie Abschied genommen, als Johannes plötzlich
erscheint und meldet: „Kinder, sie bleibt!" Das geschieht am
Ende des dritten Aktes. Sie bleibt also noch ganze zwei Akte
hindurch. Doch die Peripetien dieses Spieles sind zu ermüdend.
Als sie endlich wirklich im Ernste abreist geht auch J ohannes
weg — in den Müggelsee. Wie war es denn anders möglich?
Wenn die Studentin fort ist, was hilft da Dubois-Reymond?
Grau ist jede Theorie, grün nur des Lebens goldener Baum!
Der Herr Gelehrte, der Einsame, war, scheint es, einfach ein
verliebter Narr.
Dieser Schluß ist nun wirklich eine Katastrophe. Aber
hier hat nun Hauptmann wieder einmal, wie bei Helene in
„Vor Sonnenaufgang", den Würgengel gespielt. Der Selbst-
IV, Werke, 55
mord ist nicht im mindesten gerechtfertigt. Wir mögen nicht
einsehen, wie einem Mann der Wissenschaft ein zugewandertes^
eigentlich durch nichts hervorragendes Mädchen — auch wenn
er vor ihm ,,seine gelehrten Sachen auskramen kann'^ — eine
solch unumgängliche Stütze werden könne, daß er ohne sie
zusammenbrechen müßte.
Auch ist es wenig glaubwürdig, ja völlig unwahr, daß
Johannes Vockerat — selbst wenn man seine ganz ab-
norme Charakterschwäche als gegeben voraussetzt — sich an
dem Konflikt mit seiner Umgebung verblutet, weil diese ihm
kein Verständnis entgegenbringt Sehen wir uns diesen Kon-
flikt näher an, nicht, wie er sich wohl dem Verfasser darstellen
mochte, und seinem Gefolge noch darstellt — sondern wie er
vor dem unbefangenen Auge besteht. Zugegeben, daß Käthe
„ein herzlich unbedeutendes Weib" sei, was aus der Dichtung
keineswegs so klar hervorgeht. Dies zugegeben, muß dennoch
behauptet werden, daß hier noch immer ein Denkfehler mit-
läuft, der an der gewaltsam tendenziösen Konstruktion gelegen
ist Denn ein unbedeutendes Weib kann und ist es wohl oft,
muß aber nicht das Verderben des bedeutenderen Mannes
bilden, besonders eines Mannes der Wissenschaft Käthe
scheint, wie gesagt, eher bedeutender zu sein als Johannes,
nicht aber so viel weniger bedeutend. Wollte man aber auch
durchaus das Zweite annehmen, so ist dennoch zu bedenken,
daß ihre Geistesarmut nicht aggressiv dargestellt ist Haupt-
mann schwebte wohl die Vorstellung von jenen kleinlich
nörgelnden Frauenzimmern vor, die ihren Mann mit Vorwürfen
zu Tode sticheln, so lange dieser noch nicht den gewünschten
materiellen oder moralischen Erfolg errungen hat. Bei Käthe
ist nichts davon zu sehen. In der parodistisch gehaltenen
fiechenszene, wo sie ihn um Entscheidung einer dringenden
Geschäftsangelegenheit bittet, erscheint sie sicher in besserem
Lichte als er, der in ein weinerliches Jammern ausbricht, weil
sie mit ihren Geschäftsfragen „eine ganz mühselig zusammen-
gehaspelte Gedankenkette durchreißt'^
56 IV, Werke,
Daß sie sich mit ihm nicht über seine gelehrten Sachen
unterhält, ist mehr als natürlich. Hier sehen wir aber jene
unreifen Schrullen, denen wir bei Loth begegnet sind, in
anderer Form wieder erscheinen. Es sind dies Ideen „von
gemeinsamer Arbeit, von gegenseitigem Fördern" von Mann
und Frau u. dgl. Dergleichen ist zwar sehr schön, keineswegs
jedoch so unentbehrlich, daß man im entgegengesetzten Fall
den Müggelsee aufsuchen müßte.
Auch die sonstige Umgebung ist weder aggressiv, noch
eigentlich störend. Mutter Vockerat, abgesehen davon, daß
sie sich nur zeitweise in der Villa zu Friedrichshagen auf-
hielt, ist eine herzensgute Frau, und wenn sie auch seltsame
Weltanschauungen zum besten gibt, auch das kann einen ver-
nünftigen Mann wohl nicht in den Müggelsee treiben, besonders
wenn es die Mutter ist, die ihn damit ganz unschuldig auf-
wartet.
Völlig mißlungen aber, ja geradezu dilettantisch ist das
Bemühen, den Konflikt in die Sphäre des Zeitnotwendigen zu
erheben, die handelnden Personen in den Kampf zweier Welt-
anschauungen, der christlich-gläubigen und der darwinistischen,
hineinzustellen. Denn von einem Bekämpfen seitens seiner
Gegner, der Mutter und des Vaters, des Rittergutspächters
mit den Sommersprossen oder des Pastors ist in Wirklichkeit
nichts zu verspüren. Daß sie mit ihren gutgemeinten, gut-
mütig harmlosen Abmahnungen immer bei der Hand sind, das
ist noch kein Kampf und sollte einen Gelehrten, der einen
DuBOis Reymond angreift, gar wenig beschweren.
Bleiben also noch als letzte Möglichkeiten die Liebe oder
die eigene Haltlosigkeit. Etwas Ahnliches mußte auch dem
Autor vorgeschwebt haben. Die Idee vom „unverstandenen
Genie", vom „Einsamen", trübte aber die Konzeption des Kon-
fliktes soweit, daß weder die unglückliche Liebe zu einer derart
verhängnisvollen Macht, noch auch die innere Haltlosigkeit
schicksalsreif genug herausgearbeitet wurde.
Das Merkwürdigste dabei ist, daß, wie auch aus der mehr-
IV. Werke. 57
maligen Wiederaufnahme des Problems („Friedensfest*^
j, Versunkene Glocke") hervorzugehen scheint, hier wohl eine
Lebenserfahrung mitspielt Auch das Motiv des unheilvollen
Eingreifens einer Erscheinung aus einer fremden, freieren
Welt in das Schicksal der in irgendeiner „Stickluft" dahin-
vegetierenden, wiederholt sich dreimal (Loth, Anna Mahr
und Bautendelein]. Wohl ebenfalls so etwas wie Lebens-
erfahrung,
Desto schlimmer für das Drama. Wir sehen richtige
Einzelbeobachtung, Lebenserfahrung in einer auf Schilderung
des Zuständlichen angelegten Wiedergabe gewaltsam zu einem
dramatischen Konflikt zugespitzt. Bezeichnend dafür ist die
Widmung: „Ich lege dies Drama in die Hände derjenigen, die
es gelebt haben", also wohl noch alle wohlbehalten leben
können, wie es ja auch nach dem Drama die Mahr tut Nur
der arme Johannes muß sterben, weil es der Dramatiker
befiehlt
Ob sich aber doch nicht im Leben ähnliche Konflikte zu
tragischen gestalten können? Sicher, daß Keime des Tragischen
darin sind. Sie wurden aber nicht zur Entfaltung gebracht,
weil man in der Zustandsschilderung befangen war und das
Dramatische nur als äußeren Aufputz verwendete.
4. „Kollege Crampton^'.
,, Kollege Crampton" ist eine Komödie. Es ist inter-
essant den Werdeursachen und dem Werdegang dieser Komödie
nachzugehen. Harry Crampton ist Professor an der Kunst-
akademie in „einer größeren schlesischen Stadt" (wir wissen,
Hauptmann studierte an einer solchen in Breslau). Er ist ein
Trinker und wir sehen, wie sich vor dem in seiner Verkommen-
heit naiv größenwahnsinnigen, leichtsinnig ahnungslosen Manne
sachte der Boden zu einem gähnenden Abgrund des Verderbens
auflut. Die unregelmäßige Lebensweise^ die er führt, hat ihn
58 IV' Werke.
mit seiner Frau in Zerwürfnis gebracht Er schläft in seinem
Atelier an der Akademie, in der seine Tage gezählt sind. In
dem Optimismus des Schwächlings und Trinkers erhofit er
von einer Visitation der Akademie seitens des Herzogs, seines
einstigen Förderers, eine Wendung in seiner Stellung. Aber
den Herzog bekommt er nicht einmal zu sehen. Nun bricht
das Truggebäude der leeren Hoffnungen über ihm zusammen.
Seine Tochter Gertrud, ein ideales, liebenswürdiges Persön-
chen, wie es oft in den Komödien vorkommt, bringt die doppelte
Trauerbotschaft, daß er entlassen wird und daß seine Frau
zu ihrer reichen Familie abgereist ist. Nun steht er allein
und hilflos da. Aber zum Glück haben wir noch Max
Strähler, seinen ehemaligen Schüler, einen Verehrer seiner
Tochter. Crampton verliert nicht die Haltung, er stellt die
Tochter in den Schutz der Familie Strähl er, gebietet ihr,
der Mutter nachzureisen und zieht sich zurück. Während uns
der dritte Akt in die „mit individuellem Geschmack" ein-
gerichtete Wohnung der Brüder Strähler führt, wo Fräulein
Gertrud ihre Zuflucht genommen, zeigt uns der vierte
Crampton in einer Vorstadtkneipe in seiner ganzen Ver-
kommenheit. Da der Wirt, bei dem er verschuldet ist, auf
die reiche Familie rechnet und fortfahrt zu kreditieren^ so
wird getrunken, geraucht, Karten gespielt, renommiert und es
werden Luftschlösser gebaut. Mittlerweile findet Max Strähler
mit Hilfe des Faktotums Cramptons sein buen retiro —
richtet im Geheimen aus wiedereingekauften Einrichtungs-
stücken des früheren ein neues Atelier ein, worin Crampton
von dem sich jetzt glücklich verlobenden Paar Max und
Gertrud eingeführt wird. Crampton schwelgt in Rührung,
freudiger Hoffnung und großartigen Plänen. „Jetzt müssen
wir schuften, Max, wie zwei Kulis. Max, heißt der Dummkopf,
nun sagen Sie, Löff 1er. So'n dummer Kerl, so'n dummer Kerl."
Wenn wir nur nicht wüßten, daß mit guten Vorsätzen
die Hölle gepflastert ist!
über die Fabel ist nicht nötig viel Worte zu verlieren.
IV. Werke, 59
Sie ist lustspielartig und als solche banal und bedeutungslos.
Sieht man ihr ernst ins Gesicht, dann zeigt sie sich unwahr^
weil sie eine Wendung in Aussicht stellt, die nicht in der
Kichtungslinie des uns gegebenen Entwicklungs- oder eigent-
lich Verfallsprozesses sich bewegt. Es ist also klar, daß sich
dieser Fabel wegen nicht lohnen würde, eine Fabel zu er-
sinnen. „Kollege Crampton" sollte ein Charaktergemälde
werden. Das Bild einer talentvollen, halbgenialen Künstler-
natur, die bestimmt zu sein scheint, an ihrer Halbheit und
Willensschwäche, insbesondere an der wohl aus ihnen geborenen
Trunksucht zugrunde zu gehen. So sagte sich der naturalisti-
sche Zustandsschilderer, der die Züge Cramptons mit der
schärfsten Erfassung und größten Treue wiedergab, wohl auch
nicht ermangelte, durch die Namengebung auf eine wirklich
beobachtete Persönlichkeit hinzudeuten. Hierbei bleibt die
Frage offen, ist aber weiter nicht von Belang, ob. es reiner Zu-
fall ist, daß die naturalistische Meister- und Mustemovelle, der
uns schon bekannte „Papa Hamlet" denselben Vorwurf be-
handelt. Meister Thienwiebel ist ein genialer Schauspieler,
der vor unseren Augen von Stufe zu Stufe der Verkommen-
heit sinkend endlich auf der Gasse endet. Während aber
die „konsequenten Realisten*' Holz und Schlaf zwar mit
feinstem und bitterstem Humor, aber auch mit rücksichts-
losester Wahrheit das Bild des tragischen Niederganges vor
unseren Augen entrollten, hat hier der Dramatiker Hauptmann
bei dem Zustandsschilderer ein Veto eingelegt. Der Dramatiker
sagte: das wäre wohl tragisch, aber nicht dramatisch, deshalb
nicht wirksam. Das Bühnenschicksal der „Familie Selicke"
ist ein zu abschreckendes Beispiel. Und da die Persönlichkeit
Cramptons, wie die des Thienwiebel, bei aller Tragik ihre»
Vorkommens an sich ziemlich unbedeutend und in dem äußeren
Auftreten, sowie in den Situationen, in welche sie sich brachte,
mehr komisch als tragisch erschien, so entschied sich Hauptmann
kurz und dichtete (nach Bjöbnson) eine lustspielartige Bettung
hinzu.
60 iV' Werke.
Nun rettet er also schon zam zweitenmal willkürlich eine
dem Untergang geweihte Person, so wie er in zwei anderen
Fällen willkürlich Totschlag übte.
Man möchte sagen ein asiatischer Despot. Kerngesunden
Mädchen, wie Helene, unschuldigen Narren, oder sagen wir
eingebildeten „Empfindungsmenschen'^, wie Johannes, schickt
er die seidene Schärpe. Wilhelm Scholz aber mit seinen
wirklich gefährlichen Nerven und Crampton, den an Trunk-
sucht verkommenen, entläßt er in Gnade.
Warum ist nun hier wiederum der glückUche Schüler
hinter den Meistern Holz und Schlaf in der Konsequenz und
Wahrheit zurückgeblieben? Der Dramatiker ist daran schuld.
„Papa Hamlet" ist eine Novelle. In einer solchen kann man
sich erlauben „schleichende" Tragik zu gestalten. „Kollege
Crampton" ist ein Bühnenstück. Wohl wäre es tiefer und
unendlich lebenswahrer, wenn es mit einem Ausblick auf un-
rettbares Sinken schließen möchte. Aber das wäre nicht
dramatisch weil ohne dramatischen Schluß, vor allem aber nicht
theatralisch, weil ohne irgendeinen Effekt. Den Mut dazu
hatte Hauptmann nicht. Er scheiterte, weil er aus einem
Porträt ein Drama machen wollte.
5. „Der Biberpelz" und „Der Rote Hahn".
„Der Biberpelz" hat den Untertitel „Diebeskomödie^^
Auf die Sucht Hauptmanns, effektvolle Untertitel zu ersinnen,
hat schon Bartels aufmerksam gemacht. Ein ziemlich un-
schuldiges Vergnügen. Hier soll der Titel noch die Grundidee
des Stückes andeuten. Wie skruppellose von naiver Lebens-
weisheit geleitete Spitzbüberei sich im Leben so oft prächtig
bewährt, das wird uns in einer Reihe lose und in jeder Hinsicht
ungezwungen aneinandergereihten Szenen dargestellt.
Frau Wolff, Gattin eines Spreezimmermanns „irgendwo
IV. Werke, 61
um Berlin^', ihres Zeichens Waschfrau, hegt keinerlei Bedenken,
wenn es gilt, keck zuzugreifen, wo immer sich die Gelegenheit
dazu darbietet. Ihre Tochter, die bei Rentier Krüger in
Dienst ist, meldet ihr in vorgerückter Abendstunde, daß sie
ihren Dienst verlassen hat, weil sie nach halb zehn Abends noch
zwei Meter Holz in den Stall schaflFen sollte. Frau Wolff
weist sie streng mütterlich zurecht, verteidigt sie aber gleich
darauf gegen den Mann und faßt den Plan, fürs erste die
zwei Meter Holz in die eigene Behausung zu schaffen. Daß
sie sich von dem Amtsdiener, der mit einem Auftrag vom
Amtsvorsteher gekommen ist, beim Zurechtmachen des Schlittens
helfen läßt — weist darauf hin, daß sie alles mit Humor be-
trachtet. An demselben Abend wird ihr noch vom Schiffer
Wulkow das Geld für einen gewilderten Rehbock und den zu
stehlenden Biberpelz zugezählt. Nichtsdestoweniger verabreicht
sie der jüngeren Tochter für eine vorlaute Bemerkung eine
Ohrfeige und sagt: „Wir sind keene Diebe nicht" — dann ruft
sie ihr noch zu: „Lerne Du mir ja Deine Bibelspriche. Ich
komme nachher und iberheere Dich." Wir sehen, es steckt
naives, selbstsicheres Gaunertum in ihr. Es ist ihr auch ein
leichtes, nicht nur den beschränkten Amtsvorsteher von Wehr-
hahn, sondern all die Männer herum an der Nase zu führen.
Sie wird von allen, auch vom Beschädigten als die biederste
Haut gehalten und nützt diesen Vorteil mit überlegenem Humor
aus. Vor ihr schüttet der aristokratische Amtsvorsteher sein
Herz aus, sowie der demokratische Krüger und der politisch
bei Wehrhahn verdächtige Privatgelehrte Dr. Fleischer.
Sie hält die E'äden der Untersuchung in der Hand, die der
grenzenlos ungeschickte Amtsvorsteher nicht zu handhaben
weiß. So endigt auch das Stück damit, daß von Wehrhahn
sie versichert, „so wahr sie eine ehrliche Haut sei, so wahr
sei Dr. Fleischer ein gefährlicher Kerl".
Wehrhahn ist eben nicht nur stockdumm und ein-
gebildet, er hat im Grunde mit den anderen dies gemein, daß
er nicht auf dem festen Boden der Wirklichkeit steht, sondern
62 iV' Werke.
Wolken und Schatten nachjagt Wie er nur nach politisch
Verdachtigen fahndet, so sind auch sie in ihrem Ingrimm gegen
die Behörde' derart verblendet, daß sie die breit vor ihnen auf-
gepflanzte Diebin nicht sehen. Deshalb war es vielleicht nicht
einmal notwendig, aus Wehrhahn einen solchen Narren zu
machen. Künstlerisch ist dies sogar ein Fehler, denn es ver-
dunkelt die Grundidee des Stückes. Man vergißt, daß die
Wolffen nicht nur ihm gegenüber als Siegerin erscheint.
Nicht umsonst sagt der Schiffer Wulkow, der Abnehmer ihrer
gestohlenen Sachen, frech in ihrer aller Gegenwart, er besitze
iiuch einen Biberpelz. Keinem der Anwesenden kommt es in
den Sinn, daß es eben der gestohlene Pelz ist Auch der
anderen Wolkenjägerei wird damit gekennzeichnet
Die Einzelheiten dieser meisterlichen Prellerei sind mit
prächtigem Humor gegeben, die Situationen oft von verblüffender
Komik, die Schilderung bietet eine Fülle feinster Lebens-
beobachtung dar und atmet behagliche Ironie. Dennoch bleibt
sieZustandsschilderung, an der Oberfläche der Lebensverhältnisse
haftend.
„Der Rote Hahn'^ ist nicht nur, was die Personen
anlangt, eine Fortsetzung des „Biberpelzes^^ ^^^ch. ideell ist
das Stück ein Fortspinnen desselben Motivs. Im „Boten
Hahn" ist es etwas variiert und zugleich vertieft Hier sehen
wir die Leute ringsum die Lunte riechen. Es weiß mehr
oder weniger ein jeder im Orte, mit Ausnahme des Herrn
von Wehrhahn natürlich, daß die Wolffen ihr Haus selbst
angezündet hat, um die Versicherungssumme einzustreichen.
Man läßt aber die Leute gewähren, ja schützt sie sogar ge-
legentlich vor dem Argwohn der Behörde. Es ist die Moral
der Leutchen: „Leben und leben lassen!*^ Ein bischen plagen,
ja — aber stören nimmer, das verdirbt den Spaß. Und Spaß
hat eben der kleine Mann, wenn die Behörde geprellt wird.
Jedoch weiter kompliziert wird noch das Motiv dadurch,
daß ein Opfer da ist. Der blödsinnige Junge des Gendarmerie-
wachtmeisters und wohl auch er selbst fallen der Spekulation von
IV. Werke, 63
Frau Wolff zum Opfer. Der Knabe wird der Tat bezichtigt
und da er unzurechnungsfähig ist, in eine Anstalt gebracht.
So was also wie ein Kampf ums Leben. Ohne Opfer geht es
nicht ab. Dem Motiv wird jedoch die Spitze abgebrochen.
Mutter Wolffen stellt dem Wachtmeister gutmütig vor, der
Junge verliere ja im Grunde nichts dabei. In der Anstalt
habe er gute Kost, was wolle man von ihr, auch sie sei nicht
glücklich, sie sei krank, herzkrank, sie werde es nicht erleben,
sich der Früchte ihrer Saat zu erfreuen. Ihr Tod erfolgt auch
gerade, als sie schon am Ziele ihrer im Grunde recht be-
scheidenen Wünsche ist. Dies ist fast wie eine tragische Idee.
Sie bleibt aber nur Nebenmotiv und deswegen wirkt der Tod,
so vorbereitet sonst sein Eintritt ist, doch wie etwas unmotiviertes.
In die lustspielartige Anlage des Stückes paßt eben dieser
Ausgang nicht hinein, so wenig wie die fröhliche Rettung des
Crampton in die tragische Grundidee jen^s Stückes hineinpaßt.
Auch im „Eoten Hahn" ist die Szenenführung willkürlich,
das Band, das die Szenen zusammenhält, lose und locker.
Es ist eben wieder in ihrer Grundanlage reine Zustand-
schilderung.
In ihrer nicht auf das Eindringen in die Tiefen des Lebens
^henden Tendenz ist sie uns willkommen so, wie sie ist. Die
kleinen Gebrechen stören weiter nicht. Das Talent Hauptmanns
für äußere Charakterisierung feiert hier seine verdienten Triumphe.
Das Gemälde ist köstlich, im Detail wahr und von einer
heiteren Poesie des Humors umweht. Dabei ist alles durch-
wärmt von dem Hauptmann eigentümlichen Mitgefühl mit dem
kleinen Mann, dem innigen, durch Liebe eingegebenen Ver-
ständnis für seine Schwächen und seine Lebensphilosophie.
Eine Reihe wohlgeratener lebendiger Gestalten zieht an uns
vorüber, die merkwürdigerweise fast alle von demselben Geist
beseelt sind, von dem Geist der Auflehnung gegen die Gewalt
der regierenden Mächte. Sie alle, ob sie devot der Behörde
zu dienen vorgeben und glauben; ob sie mit ihrer Hilfe empor-
zukommen hoffen, oder höhnisch und schadenfroh ihre Hand-
64 IV, Werke,
lusgen und ihre Ohnmacht manchen Fällen gegenüber bekritteln —
scheinen dasselbe zu sagen: „Ja, werden wir schon regiert, so
Solls niemandem zu leicht ankommen, wie auch uns das Leben
nicht leicht ankommt.'^ Dies ist die Philosophie des Kleinen.
Liebevoll hat sich ihr Hauptmann zugewendet und beredten
Ausdruck verleiht er ihr durch den Mund der Mutter Wolffen.
So ist denn das Lob, das Babtels dem „Biberpelz^' spendet,
vollauf verdient. Die naturalistische Technik steht hier auf
Höhe ihrer Aufgabe. Sie soll ein Bild, einen Lebensausschnitt
geben und gibt ihn.
Freüich, wie weit sind wir hier vom Drama entfernt, da
wir fast glücklich bei der Lokalposse, bei den alten Intermedien
angelangt sind.
6. „Michael Eramer^s „Fuhrmann Henschel''
und Anderes.
Wir erachten es nicht für nötig, in der eingehenden
Analyse der einzelnen Werke fortzufahren. Ist doch ihre
Kritik nicht Selbstzweck. Beispiele sind genug gegeben worden,
und passen dürfte das darüber Gesagte auf die übrigen Stücke,
insoweit sie naturalistisch angelegt sind. Scheint es in diesem
oder jenem Fall anders zu sein, so können besondere Umstände
obwalten, die zu erörtern hier kein Anlaß ist. Es ist auch
zum Nachweis der Unzulänglichkeit einer Kunsttheorie nicht
durchaus notwendig, daß alle nach ihr geschaffenen Werke
verfehlt seien. Wie wäre es den möglich, alle die im Werde-
prozeß eines Werkes mitspielenden Kräfte und Momente heraus-
zubringen, sie klar voneinander zu scheiden, und ihr gegen-
seitiges Verhältnis zu bestimmen. Nicht nur die Persönlichkeit
des Schaffenden, auch die momentanen Einwirkungen, die
augenblicklichen Stimmungen, Neigungen und vage, vorüber-
gehende, nicht einmal immer bewußt gewordene Einsichten und
Überzeugungen, vor allem aber der nach Gestaltung verlangende
IV. Werke. 65
Gehalt des Werkes selbst — dies alles sind seine Werde-
ursachen, deren größter Teil überhaupt im Dunkel bleibt. Das,
was wir von ihnen ans Licht bringen, kann nur das Gröbste
sein. Freilich mehr haben wir auch nicht nötig. Zweitens
aber, was eigentlich nur eine andere Fassung des ersten ist,
wird ein Werk kaum je nach einem einzigen Kunstprinzip,
nach Eunstprinzipien überhaupt geschaffen. Es kreuzen und
bekämpfen sich in einem jeden die mannigfachsten, oft ent-
gegengesetztesten, falls sie zum Bewußtsein gelangen, was selten
geschieht, denn das Schaffen ist das Erste.
Da zum Überfluß noch vieles bei Gelegenheit der zusammen-
fassenden Analyse zur Erörterung gelangt, so können wir hier
nur noch den „Webern" und dem „Florian Geyer" breiteren
Eaum gestatten. Über das sonstige möge Folgendes genügen.
„Michael Kramer" ist verfehlt in seiner ganzen Anlage.
Der Selbstmord des jungen Kramers ist ebensowenig motiviert,
wie so viele Selbstmorde bei Hauptmann. Im „Fuhrmann
Henschel"und in der „RoseBerndt" haben wir eine ziemlich
leidliche Motivierung. Nun ist aber Henschel ein Mensch,
der an gebrochenem Willen zugrunde geht, was dramatisch
zulässig ist, und sogar tragisch sein kann, jedenfalls aber für
Hauptmanns Talent charakteristisch ist.
„Rose Berndt" steht als tapferes Mädchen da und geht
zugrunde an der sonderbaren, schicksalsmächtigen Yerquickung
der Umstände, förmlich zu Tode gehetzt durch diejenigen, die
sie im Grunde lieben, vorwiegend den Vater. Aber „Rose
Berndt" steht doch zu sehr im Schatten von Hebbels „Maria
Magdalena^S als daß man ein besonderes Verdienst Haupt-
manns erblicken könnte im Schaffen und Lösen des Konfliktes.
Die Analogien sind so groß, daß sie fast zur Wiederholung
werden. Hier wie dort die Gebundenheit der Verhältnisse:
der ländlichen hier, der kleinbürgerlichen dort. Hier wie dort
ist es der starre Sinn des Vaters, welcher nicht imstande wäre,
ein Haar breit von dem überlieferten abzutreten, der im letzten
Gruiide das arme Opfer ins Verderben jagt. Hier wie dort
Bytkowski, Gerhart Hauptmann. 5
66 ^V- Werke.
im Gegensatz hierzu die verständnisvolle^ aber zu spät kommende
Nachsicht der Liebenden. Natürlich sind die Einzelheiten
abweichend. Wir wollen auch nicht das Geringste gegen das
Recht Hauptmanns, im Schatten des Größeren zu wandeln,
vorbringen. Wir wollen nur, ohne in die Kritik des Stückes
einzugehen^ feststellen^ daß der Konflikt und die Katastrophe
nicht Hauptmanns Eigentum sind und das Stück folglich für
unsere Frage nicht von Belang ist.
„Hannele^^ ist nur zum Teil naturalistisch^ darin eben
ist es reine Schilderung, aber auch was Hanneles Schicksal
selbst betrifft , ist wenig vom Dramatischen zu verspüren. Wir
kommen^ wie im „Friedensfest", zum Schluß. Die Fieber-
phantasien des sterbenden Mädchens haben zwar einen drama-
tischen Aufbau, sind aber eben nur Phantasien. Es ist der
letzte Akt, den wir vor uns haben, eine dramatisierte Novelle
oder, wie sie Hauptmann nennt, Traumdichtung.
Noch weiter abseits von unserer Betrachtung stehen die
beiden Versdramen: „Die versunkene Glocke" und „Der
arme Heinrich". Wohl können sie uns aber dennoch inter-
essantes Material zum Vergleich liefern. „Die versunkene
Glocke" ist innerlich erlebter Konflikt. Der Meister Heinrich
eine aus innerer, nicht wie sonst, äußerer Erfahrung, heraus
geschaffene Gestalt. Da dieses Drama nicht naturalistisch ist,
so könnte man versucht sein, daraus a contrario lehrreiche
Folgerungen zu ziehen. Für solche Folgerungen ist aber das
Drama doch zu unbedeutend, zu wenig originell. Zu schwankend
ist die Gestaltung des Problems, man weiß nicht recht, ist es
die Tragödie des Einsamen, Unverstandenen oder die Tragödie
des Unvermögenden. Dazu kommt wieder das leidige Sich-
stützenmüssen.
Auch „Der arme Heinrich" ist zu wenig originell, leidet
an epischer Breite, ist überhaupt mehr poetische Erzählung
als Drama und gehört jedenfalls nicht in den Rahmen unserer
Betrachtung. So könnten die beiden Dichtungen höchstens ein
Zeugnis dafür sein, daß Hauptmanns Talent bei nicht-
IV. Werke. Q
rr
naturalistischer Konzeption des Stoffes zu versagen scheint.
Er sinkt da zu einem vollständigen Epignonen herunter. Er
muß, wo er nicht nach dem Leben bildet, ganz nach Mustern
arbeiten. Sicher wird eine solche Folgerung nicht zu gewagt
erscheinen, wenn man das Wesen von Hauptmanns Talent
aus dem positiv Geschaffenen gefunden haben wird.
So begegnet uns größtenteils dasselbe charakteristische
Moment: Das Überwuchern der Schilderung, ja eine Konzeption
des Stoffes, die von der Schilderung ausgeht und bei ihr stehen
bleibt. Infolgedessen das Fehlen eines bedeutsamen Konfliktes,
eines Kampfes, einer Wandlung und eines Schlusses, der erst
gewaltsam herbeigezogen wird.
7. „Die Weber."
In der Widmung „Der Web er "an den Vater Hauptmanns
lesen wir: „Deine Erzähluug vom Großvater, der in jungen
Jahren ein armer Weber, wie die Geschilderten, hinterm Web-
stuhl gesessen, ist der Keim meiner Dichtung geworden."
Die Erzählungen des Vaters hatten also Hauptmanns
Mitgefühl wachgerufen, seine Phantasie angeregt. Sie begann
sich innig mit der Lage und der bitteren Not jener geduldig
leidenden Menschen zu beschäftigen, deren Nachfahre er war.
Daraus erwuchs der Entschluß, jener Not und dem aus ihr
geborenen Aufstand dichterische Gestalt zu geben. Nun war
der Weberaufstand von 1844 nichts als eine vereinzelte
Eruption, verhältnismäßig unschuldig in ihren Wirkungen, kein
Schluß, kein Anfang, eine symptomatische Erscheinung ledig-
lich, die auf irgend etwas schreckliches ein jähes, greUes Licht
warf. Dem Dichter konnten sich nun, ähnlich wie wir es
schon anläßlich der Zustände im „Sonnenaufgang^^ ausführten,
zwei Wege eröffiien. Entweder könnte die Schilderung jener
68 IV. Werke.
entsetzlichen Verhältnisse in den schlesischen Gebirgsdörfern
die Hauptaufgabe sein, der ihnen entsprungene Aufstand nur
eine Folgeerscheinung, der Schlußstein des Baues^ etwa wie
ZoLAS 9,Germinal'^ Oder aber könnte der Konflikt zwischen
der hungernden Webermasse und den Fabriksherren Haupt-
aufgabe sein, die erschreckliche Not der Hintergrund. Jener
Weg entspräche der epischen Konzeption des Problems, dieser
der dramatischen.
Hauptmann hat hier wieder bei einer epischen Konzeption
doch eine dramatische Form gewählt. Die Schilderung des
Elends ist Hauptsache. Der Konflikt besteht schon längst
und auch seine Zuspitzung hat nicht den Charakter einer un-
abwendbaren dramatischen Austragung. So kommt denn der
Ausbruch zwar nicht unerwartet, doch nicht mit der ent-
sprechenden Macht und Gewalt der Lösung. Man hört Donner
rollen und Wetter schlagen. Das beklemmende Gefühl aber
wird man nicht los, die Befreiung kommt nicht.
Lassen wir die Geschehnisse der fünf Akte, die bezeich-
nenderweise jeder far sich ihre besonderen Personen-
verzeichnisse haben, an uns vorüberziehen.
Erster Akt. Ein Kaum in Dreissigers Hause, wo die
Webe abgUefert wird. Die Weber werden in der schon oben
in der Analyse der Technik angeführten Bühnenanweisung ge-
schildert Man muß jedoch Hauptmann die Gerechtigkeit
widerfahren lassen, daß jene Anweisung wirklich überflüssig
ist, so meisterhaft werden hier die Weber durch Wort und
Gebärde dargestellt Sie krümmen und winden sich vor den
hartherzigen, rohen Beamten, welche das Recht des Mächtigeren
in einer brutal grausamen Weise ausüben, die typisch ist; sie
kriechen im Staub vor dem Fabrikanten, der sie nach allen
Eegeln der Kunst aussaugt, geben aber dabei ihrer Not und
Angst in der rührendsten Weise Ausdruck. Zu einer kleinen
Keibungsszene ' kommt es doch.
Der junge Weber Bäcker läßt seinen kochenden Ingrimm
freien Lauf, läßt sich nicht einmal von dem Fabrikanten ein-
IV. Werke. 69
schüchtern, antwortet grob und unverblümt, aber das ist auch
alles. Der Fabrikant droht ihm, auf die Drohung kommt keine
Gegendrohung. Bäcker zieht sich nur in guter Haltung zu-
rück. Und doch wäre hier Gelegenheit geboten zu einem
heftigeren Anprall der feindlichen Kräfte. Es wäre damit sicher
mehr gewonnen, als mit der wieder in die Anweisung verlegten
Hervorkehrung des Gegensatzes dadurch, daß das Personen-
verzeichnis in eine Fabrikanten- und eine Webergruppe ge-
teilt wird.
Eine andere Szene löst diese auch bald ab. Ein kleiner
Knabe ist vor Hunger ohnmächtig geworden. Auf einen drama-
tischen Zwischenfall folgt wieder Schilderung. Dann kündigt der
Fabrikant eine Herabminderung des Lohnes an und zieht sich
zurück. Die angekündigte Drückung des Lohnes wird die Er-
eignisse in Rollen bringen. „Nu, das macht sich", sagt ein
Weber zu seinem stumpfsinnig fassungslosen Genossen. Diese
Exposition ist übrigens' an sich ausgezeichnet, man könnte sich
nur wünschen, daß mit größerem Nachdruck die Unausweich-
lichkeit des Kampfes betont wäre.
Im zweiten Akt befinden wir uns in einer Weberwohnung.
Noch ergreifender, noch düsterer ist das Bild des Elends. — ^
Aber die Blitze zucken doch schon. Der gewesene Soldat, vor-
dem Weber, Moritz Jäger, bringt einen Abglanz von einer
anderen Welt in die dumpfe Weberhütte, spendet Branntwein,
die Stimmung wird gehoben, die Gemüter erhitzt. Jäger
singt endlich das neue gegen die Fabrikanten gerichtete Weber-
lied vor: eine unbekannte Erregung bemächtigt sich der sonst
so geduldig in ihr Schicksal ergebenen Bewohner der Weber-
hütte.
Der dritte Akt spielt im Gasthaus zu Peterswaldau.
Ein buntbewegtes Bild von unglaublicher Treue und Wahrheit
und von wunderbarer Kraft der Darstellung, aber doch nur
ein Bild. Erst gegen das Ende des Aktes ziehen sich doch
dräuender die Wolken zusammen, es kommt zu einer auf-
geregten Szene zwischen dem zu den Webern haltenden
70 IV. Werke.
Schmied Wittig und dem G-endarmen Kutsche. Der
Gendarm muß sich zurückziehen und Terbietet noch im Bück-
zug das weitere Singen des Weberliedes, und nun wirkt dieses
Verbot weckend, so daß alle das Lied anstimmen und singend
vor die Wohnung des Fabrikanten ziehen. Eine der wenigen
zurückgebliebenen Personen, der Lumpensammler Hornig, gibt
der herrschenden Stimmung in einem wundersam treffenden
Wort Ausdruck: „A' jeder Mensch hat halt 'ne Sehnsucht"
Und nun kommt der Ausbruch. Der vierte Akt führt
uns in die Wohnung des Fabrikanten in Peterswaldau. Es
sind gerade Gäste da, der Pastor und seine Frau. Man be-
spricht die Vorfälle der letzten Tage ; der Hauslehrer, der die
Weber entschuldigt, wird entlassen. Da ziehen die Weber
wieder heran. Es kommt zu einem Zusammenstoß. Der fest-
genommene Moritz Jäger wird gewaltsam befreit, der Fabrikant
muß sich mit seiner Familie und den Gästen vor den an-
stürmenden Webern flüchten. — „Nun erscheinen junge Weber
und Webermädchen in der Flurtür, die nicht wagen einzutreten
und eines das andere hereinzustoßen suchen." Allmählich aber
überwinden sie ihre Schüchternheit und man zerstreut sich,
neugierig alles betrachtend, in den Zimmern. Dann erst
stürzen die Führer herein, wütend, daß ihnen die Opfer ent-
schlüpft sind, rufen sie aus: „arm soll a wer'n*' und es beginnt
das Werk der Zerstörung.
Hauptmann hat sich sichtlich bemüht, die Szene mit mög-
lichster Feinheit psychologisch durchzuführen. Leider fehlt
ihr das Wichtigste: dramatische Steigerung, elementare Kraft.
Die Szene verläuft matt, ja kläglich und völlig wirkungslos*
Man sieht: hier, wo es gilt, eine dramatisch vorwärtstreibende
Szene zu gestalten, versagt eben Hauptmanns Kraft. Die
„Sehnsucht" vermag durch seinen Mund zu reden, die aus ihr
geborene Tat nicht.
Der fünfte Akt sollte entweder die ersehnte Steigerung
bringen oder wegbleiben. Jedoch die Steigerung fehlt, der
Akt ist geblieben. Der ganze Akt ist eine Art Wiederholung
IV. Werke. 71
des Ausbruches in verstärktem Maße und Umfange. Der Schau*
platz wird verlegt nach Langenbielau. Das bedeutet ein
Anschwellen der Bewegung^ ein sich Ergießen des Stromes
über die ganze Umgebung. Es geht jedoch mit dieser Aus-
breitung der Bewegung eine entsprechende Kraftsteigerung
nicht gleich mit dem Beginn des Aktes Hand in Hand. Wenn
wir sogleich den sich daherwälzenden Strom des Aufstandes
vor uns hätten! Statt dessen ist anfangs nichts von ihm zu
bemerken. Wir haben das Weberstübchen Hilses vor uns,
mit dem uns schon bekannten Ausblick auf das ,,Haus'' und
ein zweites Stübchen. Die Weberfamilie geht an ihre tägliche
Beschäftigung, da kommen Leute: Hornig, der Lumpen*
Sammler, Schmidt, der Chirurgus, und erzählen vom Aufstande
in Peterswaldau und von dem nahenden Anzug der Auf-
ständischen nach Langenbielau. Erst allmählich wird aus der
Erzählung Wirklichkeit. Die Glocken ]äuten, man hört end-
lich das von vielen hunderten von Stimmen gesungene Weber-
lied. Einzelne Aufständische stürmen herein und fordern alle
auf, sich ihnen anzuschließen, es kommt zu erregten Ausein-
andersetzungen zwischen dem frommen, in sein Schicksal er-
gebenen alten Hilse und dem jüngeren Teil der Familie, der
sich den Aufständischen anschließt. Militär kommt mittler-
weile angerückt. Salven krachen, das Stübchen wird leer, nur
das alte Paar Hilse bleibt. Da fliegt eine Kugel herein und
trifft den für seine Brüder betenden Vater Hilse. Als die
kleine Enkelin mit der Nachricht kommt, daß das Militär zum
Dorf hinausgetrieben werde, ist Hilse tot.
Der Akt zittert vor Leben und Aufregung, es gibt darin
packende Szenen, er bildet aber im ganzen doch keine
Steigerung. Würde der vierte Akt früher schließen, etwa mit
der Flucht der Familie Dreissiger vor den Aufständischen,
oder würde der fünfte Akt etwa in der Mitte beginnen, dann
wäre eine Steigerung da. So aber haben wir zwei parallele
Verläufe desselben Prozesses von Anfang bis Ende. Wohl
aber ist der fünfte Akt viel dramatischer als der vierte. Der
72 IV' Werke.
Schluß ist nicht mehr matt, sondern sogar bedeutend, denn
statt der unschuldigen Scheiben und Spiegel bildet das Leben
eines Märtyrers das sichtbare Opfer des Aufruhrs.
Trotzdem ist der Schluß kaum tragisch zu nennen. Man
fühlt, daß der Aufstand vergeblich ist und das Opfer, welches
fällt, ist auf der Seite der unglücklichen Webermasse. Es ist,
als ob wir eine ohnmächtig geballte Faust sich nun gegen die
eigene Brust kehren sähen. Voleelt findet hier das Tragische
der niederdruckenden Art. Ob das aber noch tragisch zu
nennen wäre, ist fraglich. Jedenfalls wirkt der Schluß nicht
lösend vom Druck, nicht befreiend. Und Schuld daran ist, wie
oben erwähnt, nicht so sehr der Schluß selbst, als vielmehr
seine Vorbereitung, die keine dramatische, keine aktive war.
Wenn ein kraftvoll Kämpfender fällt, so benimmt er uns nicht
die Hofihung auf den Sieg seiner Sache. Seine Nachfolger
können einst glücklicher sein, er nur ihr Vorläufer. Wenn
aber eine so ohnmächtig sich aufbäumende Masse auch schein-
bar gewinnt, so kann man dennoch das Gefühl des Nieder-
drückenden nicht los werden. Die ganze, breite, ergreifende,
aber nicht eine Spur von schlummernder Kraft in dieser
elenden Menschenmasse aufdeckende Schilderung hat zur Folge,
daß man mit einem Gefühl größerer Trostlosigkeit vom Drama
scheidet, als man es selbst während der Schilderung des
Düstersten darin gehabt hat.
Im übrigen sei nochmals auf die im einzelnen wunder-
bare Kraft der Darstellung hingewiesen, die Intensität des
Schauens und Erlebens, die das Weh des einzelnen zum Weh
des Menschen, der sich in ihrer Pein windenden Kreatur er-
hebt. Unmerklich und uns selbst unbewußt wächst in unserer
Seele der Gegenstand. Aus der erst dumpf brütend treibenden,
dann mit wachsender Kraft hervorbrechenden Sehnsucht aus
dem ganz materiellen Druck des Elendes heraus wird mählich
die Sehnsucht jedes bewußten Seins nach Erlösung von seinem
Druck Dieses erhebt die Qual jener Elenden zum tragi-
schen Leid.
IV. Werke. 73
Sicher ist endlich^ daß die Fabel der Weber wenig Drama-
tisches zu bieten scheint, ein echter Dramatiker hätte aber
aus dem Wenigen doch etwas gemacht: Gestalten, wie Jäger,
Bäcker, Wittig zeigen, wie auch der Dichter sich dessen
bewußt war, daß ein Aufstand, selbst der zahmste^ ganz
ohne aktive Erafk doch nicht zustande kommt Hätte Haupt-
mann mit psychologischem Blick nach dieser Bichtung hin
die Geschichte des Aufstandes durchforscht, so würde ihn
schon das bekannte, unzweifelhaft historische Weberlied auf
die richtige Spur gebracht haben. Denn Lieder sind immer
individuelle Schöpfung, nicht kollektive. Es mußten also auch
positiv, spontan tätige Kräfte beim Zustandekommen des Auf-
standes mitgewirkt haben. Diesen aktiven E^räften eine größere
Bolle zuzuweisen, sie mehr sichtbar sich einerseits nach oben
auflehnen, andererseits nach unten werbend auftreten lassen,
wäre nicht so schwer. Aber, wie gesagt, des Dichters Kon-
zeption ging eben nicht dahin. Er schildert das unsägliche
Elend mit einem düsteren Ernst und mit einer schlichten
Einfachheit, die ihres gleichen sucht, er versteht es auch, das
mählige, dumpfe Anschwellen gährender £j*äfte, „die Sehn-
sucht", sichtbar darzustellen. Das Wirken der treibenden
aktiven Kräfte aufzudecken, ist ihm versagt.
Dies kommt zum Teil von der Technik der Darstellung,
die auf breite sorgfältige Schilderung des Zustands ausgeht,
also der naturalistischen Technik, zum Teil aber von der
Eigenart der Hauptmann sehen Charaktere und der Technik
ihrer Zeichnung und Darstellung, wovon wir noch zu sprechen
haben.
8. „Florian Geyer".
Wenn die „Weber" mit einem Scheinsieg enden, so finden
wir im ganzen „Florian Geyer" nichts denn eine ßeihe
entmutigender, für das menschliche Gefühl beschämender
Niederlagen.
74 IV, Werke.
Der Inhalt des Dramas ist den Ereignissen des deutschen
Bauernkrieges von 1525 entnommen. Sehr merkwürdig ist es,
daß hier gerade die Zeitangabe fehlt, wo wir sie im „Biberpelz^
z. B. genau bestimmt bekommen. Bei aller romanartiger Breite
der Darstellung — vielleicht eben ihretwegen — ist uns aus
dem Kriege nur ein kleiner Teil gegeben, umfassend die Zeit
vom 5. Mai bis 9. Juni 1525, die Zeit, wo der Stern Florian
Geyers und mit ihm die Sache der Bauern eigentlich schon
im Niedergang war.
Das wäre dramatisch richtig, wenn die Darstellung drama-
tisch wäre. Sie ist es aber, wie wir sehen werden, nicht. Es
sind gleichsam Ausschnitte aus einem geschichtlichen Roman,
schwer dem Verständnis zugänglich, weil sie bei aller Breite
doch fragmentarisch und lückenhaft bleiben.
Doch versuchen wir es mit einer gedrängten Angabe des
Inhaltes. Es sind fünf Akte mit einem Prolog, mit einer ver-
wirrenden Menge von auftretenden Personen und einem be-
sonderen Verzeichnis derselben für jedes Bühnenbild.
Im Vorspiel befinden wir uns in der großen Hofstube des
bischöflichen Schlosses „Unserer Frauen Berg" bei Würz-
burg. Es sind viele Eitter versammelt, Schreiber Gilgenessig
liest die Artikel der Bauernschaft vor, was — wie Baetels
richtig bemerkt — ein wenig verspätet erscheint, da doch der
Krieg schon längst begonnen, ja die Bäuerischen sich schon in
der Stadt des Bischofs selbst festgesetzt hatten.
über die Forderungen der Bauern wird nun weidlich ge-
schimpft und gewettert, sie werden als Ungeheuerlichkeiten
verlacht und verketzert. Wir erfahren, daß Florian Geyer
mit seiner schwarzen Schar Weinsberg genommen, daß Graf
Ludwig von Helfenstein samt vierzig Rittern durch Spieße
gejagt wurde. Dann erscheint der Bischof Konrad selbst,
legt seine Sache in die Hände der Ritterschaft, welche be-
geistert gelobt, die Burg zu verteidigen. Nur ein Ritter^
Wolf von Hanstein tritt mit dem Feldgeschrei: „Bundschuh,
Bundschuh" aus der Mitte der Schwörenden.
IV. Werke. 75
Im ersten Akt befinden wir uns in der Stadt Würzburg,
in der Kapitelstabe des Nenmünsters. Es soll ein Yersammlungs-
rat aller Haufen in und um Würzburg gehalten werden. Im
Hintergrund fuhrt eine Tür in die Kirche, wo vorerst Gottes-
dienst abgehalten wird. Die Personen in der Kapitelstube,
meistens Führer der Bauernschaft oder sonst hervorragendj
wie der Feldschreiber Löffelholz, Bektor Besenmeyer, der
Schultheiß von Ochsenfurt Stefan von Menzingen, Buben-
leben u. a. beobachten den Elinzug in die Kirche. Die Bauern-
hauptleute, welche in die Kirche eintreten, werden von den
Beobachtenden mit saftigen Worten charakterisiert — man
merkt, daß diejenigen von den Anwesenden, die es ernst mit
der Sache meinen, den Geyer allein als Helden ansehen.
Sein Sturm auf Weinsberg wird in den Gesprächen geschildert.
Eine Legation der Feste Frauenberg wartet auf ihre Ab-
fertigung. Auch Wilhelm Grumbach, der Schwager Geyers,
ist da, als ansbachischer Gesandter.
Aus allen den Beden und spitzen Worten, die da fallen,
kommt schwaches Licht in die Verhältnisse und Gruppierung
der Kräfte. Geyer hat Gegner, es sind das die Anhänger
Jakob Kohls und Götzens.
Endlich kommt man aus der Kirche. Es erscheinen die
Bauernhauptleute. „Der dicke Jakob Kohl ist auch zugegen''^
Götz von Berlichingen, „der kaum andere als hämische
Beachtung findet", und Florian Geyer, dann Wendel
Hippler u. a. Zuerst wird über die Abfertigung der Gesandt-
schaft beraten. Trotz Abratens des Götz, dem sich auch
Geyer anschließt, wird das Anerbieten der Gesandtschaft,
wonach sich die Besatzung die Artikel zu beschwören und
Schätzung zu zahlen verpflichtet, abgewiesen und beschlossen,
die Burg mit Sturm zu nehmen.
Dann soll zur Wahl eines Hauptmannes der gesamten
Bauernschaft geschritten werden. Die Anhänger der einzelnen
Hauptleute geraten aber so aneinander, daß es zu einer
Einigung nicht kommen kann. Geyer, dem vorgeworfen wird.
76 IV. Werke.
er wolle sich der Führerschaft mit Gewalt bemächtigen —
beantragt nun mißmutig einen stehenden Eriegsrat^ was auch
sofort angenommen wird. Dies ist aber eine Niederlage G-eyers
und der Beginn der Auflösung aller Zucht und Einigkeit in
den Lagern der Bauern^ da jetzt das strenge Regiment Geyers
aufhört.
Im zweiten Akte sind wir zu Rotenburg in Kratzers
Wirtsstube auf dem Marktplatz. Allerlei Volk kommt und
geht und spricht Rektor Besenmeyer bemüht sich um die
schwarze Marei^ Geyers Felddirne, die von Würzburg Bot-
schaft für Geyer gebracht hat^ jedoch erschöpft hinsinkt
Auch Earlstatt erscheint Dieser wird von einem Lands-
knecht als Schänder Marions mit dem Leben bedroht — da kommt
Geyer. Als der Landsknecht sich nicht fügen und die Wehr
nicht einstecken will — wird er von Geyer mit einem Faust-
schlag niedergeschlagen.
Es sollen nun die zwei Feldschlangen der Stadt mit
Florian Geyer nach Würzburg abgehen. Geyer hält noch
durch das Fenster eine Rede an die Bürger. Man ist froher
Hoffnung. Da wird die schwarze Marei, die bis jetzt auf der
Ofenbank geschlafen, geweckt. Ihre Botschaft ist schlimm
genug. Man hat in Würzburg, entgegen der Verabredung
auf die Notschlangen und auf Geyer nicht gewartet, sondern
einen vergeblichen Sturm unternommen, wobei die Hälfte der
„schwarzen Schar" Geyers geopfert worden ist Gleich-
zeitig kommt die Nachricht von einem Sieg des Truchsessen
von Waldburg bei Böblingen. Geyer, der sich seiner
besten Kraft beraubt sieht, verliert nun allen Mut.
Der dritte Akt führt uns nach Schweinfurt. Dort soll
ein von den Bauern einberufener Landtag stattfinden. Er
kommt aber nicht zustande, weil jetzt, da die Sache der
Bauern schlimm steht^ weder die Städte noch sonst wer ihn
beschicken will. Der Landtag ist eben, und zwar wieder gegen
die Stimme Geyers, zu spät einberufen worden, so wie der
Sturm auf Würzburg zu früh unternommen. Trübe Nach-
IV. Werke, 77
richten schwirren herein, die Bauemfiihrer stehen wie gelähmt
da. Löffelholz und Geyer kanzeln sie ab. Sie wollen den
Schimpf nicht auf sich sitzen lassen, da hört man Lärm hinter
der Szene und sie stieben auseinander. Geyer mit Jakob
Eohl, der jetzt reuig zu ihm hält, brechen nach Würzburg
auf; um noch zu retten , wenn was zu retten ist. Auch die
anderen verlassen die Stadt. Nur der todkranke Löffelholz
bleibt allein da in seiner Sterbensnot
Der vierte Akt spielt wieder in Kratzers Wirtsstube zu
Botenburg. Zuerst sehen wir allerlei Bürger. Man sieht,
daß jetzt ein anderer Wind weht. Die Sache der Bauern gilt
als endgültig verloren — da werden Anstalten getroffen, um
die alte Ordnung zu Botenburg wiederum glatt einzuführen.
Endlich gehen die Leute heim. Es ist Mittemacht und nun
kommen nacheinander Karlstatt, Geyer, dann Tellermann,
der Leutnant Geyers.
Geyer hat in der Umgegend von Botenburg vergeblich
gemustert. Noch einmal will er es aber wagen, „das Bädlein
zu treiben." Noch stehen ja an zwanzig Tausend Bauern
unter Götzens Anführung dem Truchsessen entgegen. Da
wankt Tellermann herein, der sterbend die Nachricht bringt
von Götzens Verrat und der Niederlage bei Königshof en.
Nun ist alles aus. Geyer zieht gegen den Truchsessen, nicht
um zu siegen, sondern um zu sterben.
Im fünften Akte sind wir auf dem Schloß Bimpar,
Wilhelm Grumbachs, Geyers Schwager, Eigentum. Grum-
bach ist schlecht angeschrieben bei den Bündischen, er hat
sich mit den Bauern eingelassen. Deswegen ist ihm, und noch
mehr seiner Frau sehr daran gelegen, vor den Bittem, die
jetzt bei ihm einreiten, als eifriger Bauemfresser zu erscheinen.
Wir erfahren von den Bittem, daß der Frauenberg entsetzt
wurde, daß die letzte Schlacht bei Ingolstadt, wo sich Geyer
tapfer wehrte, mit der völligen Vernichtung der Bäuerischen
endigte, daß man den flüchtigen Geyer sucht und ihm auf
der Spur ist.
78 IV, Werke,
Während nun die Ritter in einem anderen Saale beim Mahle
flitzen, erscheint Geyer totkrank von Mar ei begleitet. Wilhelm
Grumbach entdeckt ihn — er erbarmt sich seiner und ver-
birgt ihn in einem Nebengemach. Aber seine Frau hat ihm
das Geheimnis entlockt und zeigt den Rittern das Versteck
Geyers. Geyer tritt nun mit einem furchtbaren Kampf-
geschrei der ganzen Schar entgegen, wird aber von Schäfer-
hans, jenem Landsknecht, den er einst gezüchtigt hatte, durch
einen Schuß aus der Armbrust niedergestreckt
Was ersehen wir nun aus dieser Inhaltsübersicht? Un-
leugbar vorerst einen durchgängigen Mangel jeglicher drama-
tischer Bewegung. Wenn wir vom Vorspiel absehen, wo allen-
falls etwas geschieht, da sich die Ritterschaft auf Frauenberg
um das Banner der Abwehr schart — so kann nur noch im
ersten Akte von irgendeinem Handeln der gegenwärtigen Per-
sonen gesprochen werden. Die Gesandtschaft vom Schloß
Frauenberg wird abgewiesen; weiter wird aus Neid und Haß
der Anführer gegen Geyer die Ernennung eines obersten Feld-
hauptmanns verworfen und ein Kriegsrat an dessen Stelle
eingesetzt
Gerade in den betreffenden Szenen zeigt sich aber Geyer
zwar edel und großmütig als Mensch, jedoch klein und kläglich
als Führer und Leiter der Massen. Wiederum, wie in den
„Webern", müssen wir Hauptmann den Vorwurf machen, daß
er es nicht versteht, einen Konflikt dramatisch zuzuspitzen.
Den geschichtlichen Ereignissen müßte durchaus jkein Zwang
auferlegt werden, um Geyer mit etwas mehr Liitiative, Tat-
kraft und mit einem weiteren Blicke auszustatten. Es müßten
dann nur auf der Seite der Gegenmächte ebenfalls mehr Kraft
in Neid, Bosheit und Verlogenheit, mehr Borniertheit vor-
handen sein. So wie die Szene gegeben ist, sehen wir bei
Geyer nicht einmal einen ernsten Versuch, die Ereignisse zu
beherrschen, sie kraftvoll zu lenken. Er läßt sich von den
Wogen treiben wie die anderen.
Von der anderen Seite ist noch weniger Kraft zu ver-
IV, Werke. 79
spüren, mit solchen Wichten, wie sie ihm hier gegenüber stehen,
könnte Geyer, sollte man glauben, unschwer fertig werden.
Für die drei weiteren Akte, den zweiten, dritten und
vierten kann folgendes Schema der Darstellung als typisch
angenommen werden. Es kommen allerlei Leute zusammen
(in der Wirtsstube, auf dem ßathause und wiederum in der
Wirtsstube). Da wird immer auf etwas gewartet, gehorcht,
von zu unternehmenden Handlungen gesprochen, dabei aber
ängstlich nach Kunde und Nachricht vom eigentlichen Schau-
platz der Handlung ausgeschaut — die auch vor Aktschluß
regelmäßig hereinschwirren und ein verzweifeltes, aber ohn-
mächtiges Aufraffen der Beteiligten zur Folge haben. Daß
irgendwo irgendetwas geschieht, geschehen ist, erfahren wir in
der Eegel aus den Gesprächen und den Botschaften, welche
anlangen. — Die Anwesenden sprechen sich aus, erleichtem
ihr Herz, zanken oder reden sich Trost zu, beleuchten die
Ereignisse. Mit einem Worte, sie spielen so recht die „Staffage''
des Bildes, das vor uns aufsteigt, nicht gegenwärtig, sondern
aus allen den Berichten, die uns gegeben werden.
Dies ist noch schlimmer als Schilderung, es ist Bericht-
erstattung. Es sind Kriegsnachrichten, zerstückt einzelnen
Personen in den Mund gelegt. Der in der Dramatik fast
verschollene „Bote" ist auferstanden in vervielfachter Ver-
körperung. Ja, ausnahmsweise nur berichtet er über unmittelbar
Gesehenes, meist nur über mittelbar Erfahrenes. Das Drama
wird, so wie es aus einer Chronik entstanden, wieder zur
Chronik, ob sie auch noch so schön aufgeputzt ist mit Seufzern
der Betroffenen und den aus ihnen geborenen verzweifelten
Entschlüssen.
Nun zum fünften Akte. Dieser ist ja eigentlich eine Art
Epilog. An sich ist er dennoch gut gebaut Der zur Staffage
herabgesunkene Florian Geyer wird wenigstens wieder Held,
wenn auch nur leidender Held. Daß der Akt mit seiner
jedenfalls äußerst dürftigen Handlung, mit seiner Funktion
eines Epiloges nicht geschickt ist, für den Mangel einer Hand-
80 IV. Werke.
lang im eigentlichen Drama aufzukommen, das liegt klar
zutage.
Nicht viel besser als mit der Handlung ist es mit den
Charakteren des Dramas bestellt. Sie sind blaß. Manche zwar
von den vielen Personen sind kräftig charakterisiert, aber nur
äußerlich, durch Worte, seien es eigene oder fremde. Die
Charakteristik durch das Handeln fehlt durchwegs, es sei denn,
daß es Nebenpersonen sind, die nur schattenhaft vorüberziehen,
wie Earlstatt, oder Personen, die überhaupt nicht von Be-
deutung sind, wie die Dirne Marei. — Die übrigen reden nur
eine jede der ihr zugewiesenen Rolle und Stellung gemäß —
man weiß nicht, was sie tun, nicht einmal, was sie wollen.
Man weiß es nicht von Götz, nicht von Menzingen und
Wilhelm Grumbach. Aber auch von Florian. Geyer wäre
schwer zu erraten, wohinaus er will, überhaupt scheinen alle
Personen an besonderer Willensschwäche zu leiden.
Wenn schon das Gegenspiel der Macht und Gegenmacht
innerhalb des bäuerischen Lagers kläglich erscheint, so ist das
Gegenspiel der Bauern einerseits und der ßitter andererseits
noch um vieles kläglicher. Die letzteren erscheinen als eine
Rotte verlotterter, feiger, elender Wichte. Es ist eine merk-
würdige Erscheinung, durch und durch undramatisch, daß beide
Parteien, sowohl Bauern als Ritter, vom allerersten Anfang
an ihre Sache für verloren halten. Die Ritter und Domherren
im Vorspiel sind die Mutlosigkeit selber, und im Lager der
Bauern trägt ein jeder, von Florian Geyer angefangen bis
zum letzten der führenden Männer, den Stempel der Resignation
auf der Stirn. Der endgültige Sieg wird auch von keiner der
beiden streitenden Parteien des Dramas erfochten, sondern von
einem völlig außerhalb desselben Stehenden, vom Truchsessen
Georg von Waldburg.
Es wurde darauf hingewiesen, daß der Held dieses Dramas
ein Kollektivheld sei: wie in den „Webern" die Webermasse,
so hier die Bauern und daß das Drama auch nach ihnen be-
nannt werden könnte. Wir haben aber schon bei den „Webern"
IV. Werke. 81
den Mangel an kraftvolleren Persönlichkeiten innerhalb der
Masse gerügt und müssen es hier mit noch größerem Nach-
druck tun. Auch bei YoUständigster Anarchie, wenn es der
Intention des Autors entsprach, eine solche darzustellen, können
mächtig gegeneinander wirkende Strömungen und Kräfte auf-
gedeckt werden. Ein EoUektivheld muß noch durchaus kein
kläglicher Held sein, selbst wenn er seine Sache yerliert, ja
selbst wenn er sie darum verUeren muß, weü seine Kraft un-
zureichend und der ihm gestellten Aufgabe nicht gewachsen
war. Unzureichende Kraft ist nicht dasselbe, wie völliger
Mangel an Kraft.
Übrigens, bemerkt richtig ein Kritiker, sieht man in diesem
Milieudrama von Bauern der damaligen Zeit gar wenig. Nicht
einmal als Milieu, als Staffage ist er da. Als eigentlicher
Gesamtheld schon gar nicht. Wäre er so elend gar, wie er
im fünften Akt erscheint, wie könnte es dann zu einer
Bewegung kommen? So ist es nur zu verwundern, daß man
von Bauern als Kollektivhelden sprechen konnte.
Wir beobachten hier wiederum, wie oft, das Schauspiel,
daß Genießende und Kritiker in gleichem Maße von der —
keinesfalls erfüllten — Absicht des Verfassers hypnotisiert er-
scheinen und etwas zu sehen meinen, was nicht da ist. In
Wahrheit ist, anders als in den „Webern", trotz der großen
Anzahl von handelnden Personen, von einem Gesamthandeln,
von einem Gesamtfühlen nichts zu merken.
Im Gegenteil ist selten die allgemeine Zerfahrenheit so^
weit zum Prinzip erhoben worden wie hier. Wohl mochte der
Drang, zu individualisieren und die darauf sich beim Dichter
einstellende Einsicht in die bei solchen Bewegungen typisch
auftretende Erscheinung, diesen bewogen haben, gerade sie, die
Zerfahrenheit und Uneinigkeit, das Hin- und Herzerren der ge-
meinen Sache aus eigennützigen Gründen, Mißgunst, Neid,
Beschränktheit und Bosheit zum tragischen Motiv zu erheben.
Er scheiterte aber in diesem Bemühen und dieser Ab-
sicht, wenn er sie hatte. Denn eine Gesamtbewegung, eine
Bytkowski, Gerhart Hauptmann. 6
IV. Werke. 83
peinlich verwirrend, weil der Dichter, wie es scheint^ zwischen
zwei Problemen hin nnd hergeworfen wurde. Einerseits
schwebte ihm das Problem eines Massendramas vor^ anderer-
seits Bah er sich gezwungen, dasselbe fallen zu lassen und die
Hauptpersonen doch als Einzelhelden zu behandeln. Er wollte
eine in ihren Gliedern individualisierte Masse schaffen, schuf
aber doch nur sehr viele Einzelindividuen, die schattenhaft
vorüberschweben.
und wenn auch das ständische Gesamtinteresse hindurch-
leuchtet, die Zerfahrenheit der Einzelbestrebungen ist zu groß,
um dasselbe deutlich aufkommen zu lassen. Es geht manchmal
wie in einem wahren Turm Babels zu. Die Leute sprechen
verschiedene Zungen und verstehen einander nicht im geringsten.
Mochte diese Zerfahrenheit das tragische Motiv sein, das Werk
selbst durfte nicht zu einem Chaos werden. Klarheit und
Übersichtlichkeit ist in einem jeden Werk Grundbedingung der
Wirkung, besonders aber im Drama, das seiner Natur nach
ein geschlossenes Ganzes sein muß.
So wie es ist, stellt sich dies Drama als eine Art ge-
waltigen Torso's dar, ein ungeheuerlich in die Breite gehender
letzter Akt Es ist das am großartigsten gedachte und an-
gelegte Werk Hauptmanns, mißlungen und doch weit über-
ragend auch die gelungensten, „Die Weber" einbegriffen; ver-
fehlt, trotz der großen Anzahl markiger Gestalten, trotz seines
starken ethischen Gehaltes.
Fragen wir nun nach der Ursache des Scheiterns des
Dichters an seiner Aufgabe, die er sicherlich sehr ernst ge-
nommen, so ergibt sich wohl die Antwort aus dem An-
geführten. Der Stoff an und für sich ist mehr episch als
dramatisch. Zweitens ist das Verfahren und auch das Talent
Hauptmanns, das naturalistische, das mit Schärfe beobachtende,
einem solchen Drama sicher nicht gewachsen. Das an der
Oberfläche bleibende Talent des scharfen naturalistischen Be-
obachters genügt für das historische Drama überhaupt nicht,
schon deswegen nicht, weil der zurückliegende Gegenstand
6*
84 2V. Werke.
eben nicht beobachtet, sondern mit innerem Auge erschaut
werden muß.
Dann kam noch etwas hinzu, was die Wirkung erschwerte
und was eben£EÜls im Bestreben ^ den Naturalismus auf das
historische Drama zu übertragen, seinen Ursprung hat Es
ist dies die Anwendung der naturalistisch -impressionistischen
Methode auf die Sprache des Dramas.
In der Beurteilung der letzteren gehen die Kritiker ziemlich
weit auseinander. Die einen finden sie überzeugend, sie bewundem
diese kunstvoll archaistische Bede, die anderen behaupten, daß
das gar nicht die damalige Umgangssprache in Franken ist,
sondern die Sprache der Kanzleien und Chroniken. Man könnte
fast sagen: beides ist wahr, so paradoxal es klingt Vor allem
muß zugegeben werden: trotz des Gezwungenen und hier und
da Getüftelten ist die Sprache markig und kraftvoll, ja indi-
vidualisierend. Andererseits haftet ihr doch etwas Gezwungenes
an und ihr übertriebener Archaismus ist ungemein ermüdend
und stört im Verein mit der Menge der protzig breit auf-
tretenden Personen und Episoden den Genuß des Werkes. Wie
sind nun diese Gegensätze zu vereinigen?
ff
Die Sache stellt sich wie folgt dar: Hauptmanns un-
bestreitbar großartiges Sprachgefühl hat hier Wunderbares ge-
leistet. Die Mühe ist aber von vornherein verloren gewesen,
denn es ist verfehlt, die naturalistisch-impressionistische Methode
auf das historische Drama aus entlegenen Zeiten in so aus-
gedehnter Weise und so strenger Durchführung anzuwenden.
Je erfolgreicher also das Bemühen war, desto weiter ist man
vom Ziel abgekommen.
Doch dies führt uns zur Funktion des Wortes im Drama,
und darüber soll weiter unten gesprochen werden. Dort werden
wir uns der Pflicht der Beweisführung für unseren Satz ent-
ledigen, hier mag er stehen als vorläufige Erklärung des gegen-
sätzlichen, zum Teil gemischten Gefühles, das die Sprache dieses
Dramas einflößt.
Noch ein Umstand ist hier merkwürdig. Das Drama will
V. Charaktere.
L Charaktere bei Hauptmann.
Hält man bezüglich der Charaktere bei Hauptmann ein
wenig Umschau unter den Kritiken und Besprechungen, so be-
merkt man mit Verwunderung, daß die Kritiker in der Be-
urteilung von Hauptmanns Charakterisierungsvermögen nicht
nur weit auseinander gehen ^ die einen yoII Lob sind, wo die
anderen tadeln, sondern daß auch bei einem und demselben
Kritiker sich zuweilen ein Schwanken kundgibt. Derselbe
Charakter erscheint demselben Schriftsteller das eine Mal Yor-
züglich durchgeführt, das andere Mal brüchig.
und wirklich stellen sich die Charaktere Hauptmanns dem
Beobachter fast wie jene Wechselbilder dar, die, je nachdem
man sie von der einen oder von der anderen Seite ansieht,
etwas anderes darbieten. Sieht man sie lediglich als Charaktere
an, als dem Leben nachgebildete Charakterdarstellungen oder
Studien, dann muß man oft die Schärfe und die Feinheit der
Beobachtung, die Treue des Gedächtnisses und die Kraft der
Gestaltung bewundem. Sieht man aber diese „handelnden
Menschen^' eben als solche, als dramatische Personen, als
Träger und Bringer des dramatischen Schicksals an, dann er-
scheinen sie nicht nur brüchig, sondern unzureichend, ver-
sagend, ja völlig verfehlt. Es ist, als ob man diese Personen
an eine unrichtige Stelle gesetzt hätte, die auszufüllen sie
nicht vermögen, als ob sich bei ihnen das Sprichwort nicht
bewahrheiten wollte, daß, wem Gott ein Amt gibt, dem gibt
er auch den Verstand dazu.
F. Charaktere. 87
Das kann man überall beobachten. Da wir bei der Be-
sprechung der einzelnen Werke schon öfter Anlaß hatten, uns
auch über die Charaktere zu äußern, so werden wir nur noch
einige besonders yomehmen. Auch hierbei wolle das dort
Gesagte als Voraussetzung dienen.
Von den beiden Hauptcharakteren in ,,Vor Sonnenauf-
gang^' ist Loth kein Träger und Bringer des Schicksals, wie
dies schon ausgeführt worden, er ist eine Figur, wie man sie
zuweilen trifft und als solche prächtig gezeichnet, nur leider
nicht für ein Drama passend. Auch darf man sich nicht
täuschen lassen. Von einem ironischen, oder nur überlegenen
Standpunkt des Dichters seiner Schöpfung gegenüber — was
diese freilich mit nichten zu einer dramatischen machen
würde — kann nicht die Bede sein.
Man yergegenwärtige sich nur die Zeit des Entstehens des
Dramas. Es war nicht lange nach jener Sturm- und Drang-
zeit, in der das „Promethidenlos'^ gedichtet wurde und sie
war sicher für den Dichter noch lange nicht Yorüber, wie aus
der ganzen Anlage und der schon oben dargestellten Tendenz
des Werkes, ja auch der späteren, wie „Das Friedensfest''
und „Einsame Menschen'', leicht zu merken ist Hauptmann
war also noch zum Teil erfüllt von seinen utopistischen Welt-
beglückungsideen, woraus sich auch der Entstehungsprozeß des
Dramas und der Gestalt Loths ungezwungen erklärt In eine
möglichst kraß und düster realistisch darzustellende, dem Ver-r
kommen verfallene Welt sollte ein Idealist, ein Weltverbesserer,
ein „Apostel" hineingestellt werden. Die Züge zu seiner Ge-
staltung mochten wohl dieser oder jener Persönlichkeit aus
dem Jugendkreise entliehen worden sein, dem er das „Pro-
methidenlos^' gewidmet hatte, dem er in seiner Widmung
zuruft:
' „Poch, glühend Herz, und walle, Blut,
Für Wahrheit und für Licht,
Und du, gewaltiger Kämpfermut,
Verlisch, verlisch uns nichts*
F. Cha/raktere. 98
bleibt sie eben nur eine pikante Nebensächlichkeit Bei Cassius
dagegen wird sie mit dem ihm schon eigentümlichen Charakter
glücklich yerwoben^ nicht aber dieser aus ihr erst geschaffen.
In beiden Fällen aber ist das dem Nebensächlichen zukommende
Maß nicht überschritten.
Wir haben schon davon gesprochen, daß Haüptmakns
Eraft besonders bei geistig und gemütlich komplizierten
Charakteren wie bei Loth^ Johannes Vockerat, Michael
Kram er versagt. Dagegen muß hervorgehoben werden, daß
ihm nichtzusammengesetzte Charaktere, so Männer aus dem
Volke, einfache auf einen Ton gestimmte Seelen wie Fuhr-
mann Henschel, Bahnwärter Thiel, Nebengestalten: die
Weber und alle Personen dieses Dramas, die Personen der
„Rose Berndt^^ u. a. vorzüglich gelingen.
Dies hängt eben mit seiner Methode des Schaffens innig
zusammen. Einfache Menschen, die in dem Äußeren ihrer
Seele diese vollständig ausdrücken, dann Nebenfiguren, bei
denen es auf tiefe Kenntnis ihrer Seele nicht ankommt, die
lassen sich durch scharf beobachtete Einzelzüge leichter restlos
wiedergeben. Wir brauchen nicht viel mehr als das, was man
mit raschem Blicke sieht, um einen solchen Menschen oder
bei Nebenpersonen ihre Handlimgsweise im Drama zu begreifen.
Anders bei zusammengesetzten und geistig höher stehenden
Charakteren. Da muß die Gestalt aus innerem Schauen ge-
boren werden.
Man hat auch ebenso mit Eecht darauf hingewiesen, daß
Hauptmanns Gestalten meistenteils willensschwach sind. So
die Personen des „Friedensfestes". Vockerat, Meister
Heinrich, Henschel, Thiel, Geyer und andere Personen
des „Florian Geyer", Arnold Kramer und viele andere.
Dazu kommt, daß Frauen verhältnismäßig zu oft eine Willens-
kraft aufweisen, die dem schwachen Manne gegenüber zu einer
dämonischen Macht wird. So die Frau des Bahnwärters Thiel,
Hanne im Fuhrmann Henschel, zum Teil Anna Mahr,
Bauten delein. Überhaupt bekunden die Frauencharaktere
F.v Charaktere, 95
ebnet, welche den Griff erst durch Erfahrung erw'orben haben.
Was dauerhaft ist, bewährte sich mit der Zeit als solches; was
unangebracht war, nützte sich ab und ward abgestoBen. Die
Handgriffe aber werden durch Übung und Tradition Gemein-
gut. Damit erklärt sich jeder Fortschritt von selbst^ es ist
also naiy, sich auf ihn allzuviel einzubilden. Noch naiver,
wenn eine Schule sich allein das zuschreibt^ was sich im Ver^
laufe der Zeiten von selbst entwickelt hat. Vollends lächerlich
ist es, wenn einmal dabei kein groBer Gewinn, wohl aber eine
empfindliche Einbuße herauskommt.
Was nun die Kunst der Charakteristik im Drama an-
belangt, so kennen wir eine direkte und indirekte Charakte-
ristik. Die erste Art liegt dann vor, wenn eine Person, sei
es im Gespräch, sei es im Monolog, sich selbst charakterisiert,
also in der Selbstcharakteristik; oder aber, wenn andere Per-
sonen uns über die Charaktereigenheiten irgendeiner Person
Aufschlüsse geben. Daß die Selbstcharakteristik bis jetzt „die
gröbste Art" der direkten Charakteristik war^ kann zugegeben
werden. Sie ist es nicht mehr, wie wir sehen werden. Ab-
gesehen davon aber darf man sich auf ihr Wegfallen in der
neuen Technik nichts einbilden. Sie gehört zu eben jenen
sich nicht bewährenden Kunstmitteln, von denen wir sagten,
daß sie von selbst abgestoßen wurden. Sie wurde niemals,
weder in der Theorie, noch in der Praxis als vollgültig an-
erkannt, sondern galt vielmehr als ein verpöntes Auskunfts-
mittel. Alfbed Kebb behauptet mit Eecht, daß ein guter
Dramatiker die Selbstcharakteristik nur verwendet, um einen
anderen Zweck — nicht aber wirkliche Charakteristik anzu-
streben: etwa um uns zu zeigen, wie die betreffende Person
sich selbst oder andere in bezug auf ihren Charakter täuschen
möchte. Er zitiert dann Ibsens „Wildente" und sagt:
„wenn Hjalmar Ekdal seine Charakterstärke rühmt, so er-
kennen wir hinter diesem Selbstbekenntnis die Absicht des
^ Alfred ELebb, „Das neue Drama", Berlin, S. Fischer, S. 301.
96 V- Charaktere.
Dichters und lächeln/' Bis jetzt ist alles vortrefiflich. Nun
aber wendet sich unser Gewährsmann zu den ,^ten'' und
sagt: ,yWenn aber Paul Heyse von uns verlangt, die Selbst*
Schilderung jeder beliebigen Person ohne weiteres als objektiv
richtig hinzunehmen, so lächeln wir zwar auch — doch aus
einem anderen Grunde/'^ Wie, fragen wir darauf, hat man
denn kein anderes Beispiel finden können, als gerade Hetse?
Heyse war doch — wiewohl er auch Dramen geschrieben —
zeiUebens kein Dramatiker, auch nicht als solcher anerkannt,
geschweige denn als ein guter. Wir müssen an das in der
!|^inleitung Gesagte erinnern: „Da man sich vom Epigonentum
wegwandte, so übersah man auch alles, was an seiner Seite
stand, hinter ihm, über ihm." War denn von den Dramatikern
vor Ibsen gar kein anderer namhaft zu machen, als Heyse?
Wie wäre es, wenn wir einen hübscheren Sprung machten.
Zwar möchte ich es durchaus nicht von Herrn Eebb behaupten^
aber im allgemeinen hält die Moderne nicht gar große Stücke
von der Technik Shaeespeabes. Jedenfalls, wenn man von einer
neuen im Gegensatz zur alten spricht, ist Shakespeabe ein
besseres Beispiel als Heyse.
Bei Shakespeabe findet sich ein bekannter Fall von einer
Selbstcharakteristik, der noch dazu in einemMonolog entbaltenist.
Wir meinen die Selbsteinführung Glosters im „Richard 111."^
beginnend mit den Worten:
„Ich aber, nicht geformt zum Possenspiel,
Zum buhlerischen Äugeln mit dem SpiegeP^ . .
endigend:
„Bin ich gewiUt ein Bösewicht zu werden.
Zu hassen dieser Zeiten seh aale Lust.*'
Wie steht es nun, lächeln wir auch da und zwar „aus
einem anderen Grunde" als bei Ibsen? Oder lächeln wir gar
nicht? Wiewohl uns — wovon weiter unten — Shaeespeabes
Handhabung des Monologes zum Teil als veraltet erscheinen
muß, so wäre es doch zu naiv, zu glauben, daß er hier zu
» ibid.
V, Charaktere. . 97
einem so plumpen Mittel griffe, um uns den Gloster zu
charakterisieren? Ist doch dieser Gloster in jedem Wort,
das er spricht, in der geringsten seiner Handlungen glänzend
charakterisiert — zu schweigen von der durch andere Per-
sonen gegebenen direkten Charakteristik. Wozu also die
Charakteristik im Monolog? Wir merken, Shakespeake, ob-
zwar so „slV% hatte hier ebenfalls eine andere Absicht, als
direkt zu charakterisieren, wiewohl sie sich nicht mit der von
Ibsen deckt. Natürlich — dies sei vorausgeschickt — hatte
Sha£espeabe ein anderes PubUkum vor sicfa^ wir wollen nicht
darüber streiten, ob es besser war, als das Berliner. — Dieses
Publikum hatte das Verständnis eines Feinschmeckers gerade
für solche schönen Monologe, ihm zuliebe war also auch dieses
geschrieben. Der rein künstlerische Zweck aber war einfach
der eines Präludiums. Es wurde ein Grundmotiv angeschlagen,
dadurch eine Stimmung hervorgerufen, die das Publikum schon
von deren erstem Auftreten in einen eigentümlichen Eapport
mit der Erscheinung Glosters gebracht. Um diese Stimmung
handelte es sich, nicht um Mitteilungen über den Charakter.
Hätte der Charakter Glosters sich nicht dann in jedem Wort,
in seinem ganzen Tun dem keck selbstentworfenen Bilde ent-
sprechend gezeigt, oder wäre sein Bild, abgesehen von dieser
Selbstcharakteristik, gar blaß ausgefallen, so daß die ganze
Last der Charakteristik auf ihr ruhte, ja freilich, dann wäre
sie eine Stümperei. Nun aber ist es ein verwegenes Bravour-
stück, das sich ein Shakespeare wohl erlauben durfte.
Man merkt jetzt, worauf es uns in unserer Beweisführung
angekommen. Wir wiederholen nochmals, die Technik des
Dramas entwickelt sich, wie ein jedes Ding. Auch der Ge-
schmack wird anders. Abgesehen aber hieiTon, gibt es noch
einen anderen Gegensatz, als der zwischem „Altem'* und
„Neuem", einen Gegensatz, der nur zu oft mit dem letzteren
verwechselt wird.
Wenn Ibsen von der einen, Shakespeaee von der anderen
Seite die Selbstcharakteristik mit Geschick zur Erreichung von
Bttkowski, Gerbart Hauptmann. 7
98 y- Charaktere.
Nebenzwecken verwendeten^ dahingegen aber der zeitlich in
der Mitte stehende Heyse ungeschickt znr Eürreichung einer
unmittelbaren Wirkung — so stellt sich dieser GFegensatz, als
der einer guten und schlechten Dramatik, nicht aber als
der einer „neuen" und „alten" dar. Dies wollten wir durch
unsere Auseinandersetzung einmal anschaulich klarlegen.
Wenn also Eebb you der direkten Charakteristik über-
haupt, also auch von derjenigen durch andere Personen, sagt:
,,Die moderne Technik verrät eine entschiedene Neigung, diese
Art vollkommen fallen zu lassen, zugunsten der ungleich
schwereren indirekten^, so müssen wir vor allem entgegensetzen,
daß dies gar nicht der Fall ist. In der neueren Dramatik
tritt die direkte Charakteristik ebenso oft auf, wie in der
älteren. Um nur von Hauptmann zu sprechen, werden wir
später sehen, daß, wo er von der direkten Charakteristik ab-
steht, er es nicht immer „zugunsten der ungleich schwereren
indirekten", sondern einer ungleich leichteren, aber durchaus
verwerflichen tut Aber auch die ausgesprochen direkte
Charakteristik mangelt nicht. Sie kommt vor in „Vor
Sonnenaufgang", wo z. B. Helene die Mitglieder der
Familie Krause solcher Art charakterisiert — im „Friedens-
fest'', wo Robert Scholz sich und die anderen Familien-
mitglieder ebenfalls derart charakterisiert — es wimmelt von
ihr formlich im „Florian Geyer", wo gleich im ersten Akt
die Bauernhauptleute derart charakterisiert werden, wo der
Jude Jöslein gleicher Art den Ritter Grumbach charakteri-
siert, wo überhaupt die Leute nicht viel mehr zu tun haben,
als über sich hämische aber charakterisierende Worte in Um-
lauf zu setzen. Doch wir wollen die Beispiele nicht mehren,
weil wir die Frage für ziemlich belanglos halten. Nach
unserem Dafürhalten soll zwar die Charakteristik indirekt,
nämlich die durch die Handlungen der Personen selbst, in der
Hauptsache gegeben werden. Dies schließt aber gar nicht aus,
daß auch direkte Charakteristik der indirekten helfend zur
Seite stehe. Warum soll denn aus Äußerungen von Personen,
V. Charaktere. 99
die mit anderen zu tun haben, die sie von der oder der
anderen Seite kennen, nicht in geschickter Weise Licht über
jene anderen verbreitet werden? Daß z. B. Sudbemann sich
in „Sodoms Ende'' dieses Mittels in ziemlich nachlässiger,
also ungeschickter Weise bedient, beweist gar nichts. Erstens
gehört SuBEBMANN nicht zur älteren Dramatik. Was man ihm
hier vorwerfen kann, ist Schleuderarbeit Zweitens aber ist
auch ELauptmann von ihr in einem ähnlichen Fall nicht frei,
denn der zitierten Charakteristik im „Florian Geyer'' sieht
man allzusehr die Absicht an.
Wie man aber direkt, dabei jedoch geschickt charakte-
risiert, das könnten die neueren Dramatiker wiederum am
besten beim „alten'' Shaeespeabe lernen. Was der nur so
aus dem Ärmel schüttelt, wäre schon eine glänzende Recht-
fertigung des Existenzrechtes dieses Mittels. Ich erinnere an
„Julius Caesars" Sandglossen. Wenn Caesar von Cassius
spricht „er bUcke stets so hager und hungrig drein'S so sagt
er zugleich „Er denkt zu viel: die Menschen sind gefährlich".
Und, was noch wichtiger, gleich eingangs „Laßt fette Männer
um mich sein, mit Glatzen und gutem Nachtschlaf". Aus
diesem Beispiel ersehen wir nun zweifaches: Erstens darf sich
ein Caesar wohl erlauben, ein- „feinsinniger Psychologe" zu
sein. Schon darin zeigt sich eine Geschicklichkeit. Zweitens
sind die Bemerkungen Caesars keine müßige Plauderei, wie
bei SuDEBMANN, soudem Eeaktion, Gegengefühl und Ent-
gegenarbeit Er durchschaut nicht nur den Charakter des
Cassius, sondern bestimmt durch diese Erkenntnis auch
sein Fühlen: er fürchtet den Cassius und sein Tun; er
will Cassius meiden. Hier werden wir also unmittelbar in
den Strudel des Kampfes hineingezogen, der sich zwischen
diesen zwei Männern schon abspielt Es ist dies also nur
der Erscheinung nach eine direkte Charakteristik, dem Wesen
nach ist es eine indirekte Charakteristik durch Handlung, in
diesem Falle durch das Benehmen Caesars.
Was sind dagegen die saftigen Wörtlein, die Löffelholz
V, Charaktere. 101
klar heraus. Wie gesagt, Caesar läßt sich am Morgen durch
eine dick aufgetragene, auf seinen Größenwahn zurechtgelegte
Schmeichelei betören. Es war also die Charakteristik des
Decius für uns nicht einmal darchaus nötig. Wir sehen es ja
bald darauf selbst, wie Caesar einer solchen Schmeichelei gegen-
über nicht stand hält. Die Charakteristik wäre also entbehr-
lich. Es ist eben keine solche, sondern ein Vorbereiten der Tat.
Und dies finden wir bei Shakespeake in der Eegel.
Wenn er direkt charakterisiert, so tut er es nicht aus Not.
Wie seine direkte Charakteristik mehr ist als solche allein,
weil sie auch treibendes Moment ist, so ist sie auch zwar
Behelf, aber kein Notbehelf. Der Dramatiker könnte sich ganz
gut ohne sie Rat schaffen. Wenn er sie anwendet, so tut er
es aus der Fülle seiner Schöpferkraft zur Verstärkung des
Eindruckes, nicht zu seiner Hervorbringung. Das Bild selbst
wird durch die Handlungen hervorgebracht. Shakespeake ist
zwar ein alter Dramatiker, aber ein echter und genialer.
Fassen wir zusammen. Von einem Fortschritt in der
Handhabung der Mittel der Charakteristik ist nichts zu ver-
spüren. Ibsen mag sie mit fester Hand regieren, daher ist er
ein guter Dramatiker. Wäre er der Naturalist, den man den
konsequenten nennt, so wäre er eher ein schlechter. Denn,
nun kommen wir zum Hauptpunkt, zur mehrmals angekündigten
Einbuße, zu jenem Mittel, dem zuliebe Hauptmann von der
direkten Charakteristik absteht.
Wenn sich nämlich wirklich ein Zurückweichen der direkten
Charakteristik bemerkbar macht, so ist es ein Zurückweichen
nicht vor der indirekten, sondern vor der durch den Natura-
lismus ins Leben gerufenen Charakteristik durch Begie*
bemerkungen oder Regiecharakteristik. Von dieser aber
haben wir schon im Abschnitt über äußere Technik dargetan
daß sie weder eine direkte noch indirekte, sondern gar keine
Charakteristik ist. Sie gleicht Zeugenaussagen, die bei einer
Gerichtsverhandlung nicht zur Verlesung gelangen. Sie füllen
nur die Untersuchungsakten. Regiecharakteristiken, wie die
F. Charaktere. 108
zu bringen hat Hier aber bleibt es nun bei der Absicht.
Die Ausführung kommt nie.
So sehen wir also statt des legitimen Fortschrittes, parallel
mit der schwachen Eunst der Gharakterdarstellung eine mangel-
hafte Technik der Charakteristik einhergehen. Eins bestimmt
das Andere, das Eine ist nur eine andere Seite des Anderen.
Wenn Shakespeabe, ohne dazu irgendwie genötigt zu sein,
auch direkte Charakteristik durch den Mund der Handelnden
gibt, so tut er es nicht, weil er muß, sondern, weil die Vision
seiner Personen bei ihm in jedem Moment der Handlung und
der Situationen ungeheuer lebendig, weil seine Gestaltungskraft;
eine rastlos üppig treibende ist. Wir erinnern an das schon
einmal Zitierte: „Mann, drücke den Hut nicht so tief ins Ge-
sicht!'' Der Dramatiker sieht seine Personen nicht nur in
jedem Augenblick, in der leibhaftesten Verkörperung, er sieht
sie auch immer mit den Augen der anderen beteiligten Per-
sonen. Darum sprechen sie in einer so wunderbar charakte-
risierenden Weise voneinander. Der Dichter braucht seine
Charakterisierungsabsichten nicht zu verhüllen — sie sind
wirklich nicht da. Seine Personen sprechen charakterisierend
voneinander, weil sie es tun müssen, aus innerem Drange, um
ihrer selbst willen, nicht weil es dem Dramatiker nötig ist.
Im Gegensatz hierzu sieht der naturalistische Dichter seine
Person auch lebhaft, aber, wie in einem früheren Abschnitte
dargetan, selten in ihrem Tun, sondern meist in einem ein-
maligen Sein, als ein Bild, und zwar ein Erinnerungsbild irgend-
einer im Leben gesehenen Persönlichkeit Daher kommen alle
die Sommersprossen, graues, schwarzes, blondes Haar, die
schiefen Schritte usw. Daher auch die Charakteristik durch
Eegieangaben. Der Dramatiker beschreibt seine Personen
nicht, wie sie den Partnern, sondern, wie sie ihm selbst
erscheinen, nicht, wie sie ihm während des Spieles, sondern
vor dem Spiele erscheinen.
So etwas läßt sich freilich schwer durch eine Person des
Spieles ausdrücken. Kann Johannes Vockerat von seiner
F. Charaktere, 105
Naturalidmas gewoben wurde. Wir wollen uns erinnern, mit
welcher Fracht an pseudowissenschaftlichen Marotten der
französische Naturalismus seinen Einzug hielt Von Dabwin
nahm er die erbliche Belastung, von Tainb das Milieu, von
den Naturwissenschaften die Pflicht einer mühsamen Beweis-
führung mittels einer unübersehbaren Menge von Daten. Ein
leiser Nachhall philosophischer Ideen von der Gesetzmäßigkeit
und Bestimmtheit jeglichen Entwickelungsprozesses summte
hinein. So entstand die Ungeheuerlichkeit der unendlich sich
windenden Romanringe, in deren einzelnen Kettengliedern das
in den vorhergehenden Keimende seine naturnotwendige Ent-
wickelung durchzumachen hätte. So entstand der Boman
ZOLAS.
Solche Konstruktionen haben nun eine um so größere
Werbe- und Expansionskraft, je schematischer, je künstlicher
und je ärmer sie in ihrem Wesen sind. Der Mensch liebt es,
sich von einem weitverzweigten System einschnüren zu lassen.
Das ist im Grunde das Bequemste. So sagte man auch bald
in diesem Fall: was für den Roman gut ist, ist für das Drama
nicht schlecht. Wie, rief man, ein fertiger Mensch auf der
Bühne, losgelöst vom Boden, dem er entsprossen? Nein
das ist gut genug für einen Shakespeaeb. „N'en demandons pas
davantage ä Shakespeare".^ Aber von Leuten der „Freien
Bühne" kann man doch füglich mehr verlangen: „L'homme,
resultante des ancetres, du sol, du climat, de la nourriture, de
r^ducation, des conditions naturelles, sociales, 6conomiques au
sein desquelles il nalt et grandit, voilä, par contre, le personnage
que nous montre ou que tente de nous montrer la dramaturgie
nouvelle."^ Was wußte ein Schiller von solchen komplizierten
Forderungen? Er ließ die Leute sprechen, wie ihnen der
Schnabel gewachsen, und denken und fühlen, wie es in ihrem
Wesen lag. Doch das darf man nun nicht mehr, der Charakter
^ Louis Bennoist-Hanappieb: Le drame naturaliste, S. 218.
« A. a. 0. S. 219.
F. Charaktere. 107
Hanappieb belächelt mit überlegenem Gemüt die Naivität
Shakbspeabes, der uns im ,^Lear" die beiden Söhn^ Glosters
Edgar und Edmund ganz anders geraten läßt, den einen gut^
den anderen verworfen. Zwar sieht auch Hanappieb die Löwen-
klaue Shaeespeabes. Er gesteht, daß der um die Ehren und
Lebensgüter betrogene Bastard schon Grund genug hat, neidisch,
bös und verworfen zu werden. Daß Shakespeare es auch so
meinte, kann man ruhig annehmen, wenn man sich an andere
Gestalten erinnert, an Bichard IIL, welcher erklärt, daß er
„der Zeiten schale Lust hasse", weil er von der Natur um
den Liebreiz betrogen wurde, an Shylock, mit seiner ins Un-
geheuerliche gesteigerten Verbitterung des Parias. Wir gehen
aber weiter und fragen: warum soll denn Edgar und Edmund
gleich geraten? Wenn der eine ein Bastard war, so waren
sie zwar von einem Vater, nicht aber von einer Mutter. Wer
kann denn wissen, wie diese Mütter waren?
Wo kämen wir aber auch hin, wenn wir den ganzen
Stammbaum auf seine moralischen Eigenschaften prüfen müßten?
Übrigens gibt Shaeespeabe Beispiele, wo Kinder desselben
Eltempaares verschieden voneinander geraten , wie Eordelia
und ihre Schwestern, Bichard III. und seine Brüder. Und
mit Becht: denn die Faktoren der erblichen Veranlagung ge-
hören ins Beich des ünerforschlichen. Die Wissenschaft be-
ginnt kaum in die alleräußersten Geheimnisse der Entstehung
eines Individuums einzudringen. Über die Werdung eines Ge-
schöpfes besitzen wir geniale Hypothesen, sonst nicht viel mehr
Was wir zu wissen glauben, ist nichts im Vergleich damit, was
noch erforscht werden soll, dieses nichts im Vergleich damit,
was nie erforscht werden wird. Ist es überdies nicht klar, daß
außer der allgemeinen Beschaffenheit der beiden Eltern, die
an und für sich das Ergebnis unzähliger Faktoren ist, noch die
speziellen Begleitumstände und Bedingungen des Zeugungsaktes,
der momentane Zustand der Eltern und viele andere Momente,
kurz eine Unzahl von unbekannten auf die Art des künftigen
Geschöpfes von entscheidendem Einfluß werden muß. Wie kann
V. Charaktere, 109
war, wenn man Wilhelm Scholz nicht unbedingt glauben
muß, daß er und seine Geschwister nicht anders geraten
konnten — so ist es doch unzweifelhaft, daß sie alle in den
Boden, in welchen sie der Dramatiker hineingestellt hat, wohl
passen. Ebenso Fuhrmann Henschel, Rose Berndt,Florian
G^yer und andere. Was ist nun aber dabei? Paßt aber
etwa ScHiLLEBs Wallenstein nicht in seinen Boden hinein,
oder Macbeth, Richard III. oder gar Othello und Shylock?
Oder, um zu den späteren vorzugehen, Hebbels Meister Anton,
der alte Bernauer, oder seine Nibelungenrecken zu den
ihrigen?
So stellt sich der ganze Unterschied zwischen dem früheren
„isoliert dastehenden'^ Helden und dem neueren aus seiner
Umgebung organisch herauswachsenden zum Teil als eine leere
Einbildung dar, deren Ursache in den in der Luft schwirrenden
unklaren, aber verführerischen Zeitideen liegt, zum Teil als eine
Neigung, die Grenzen der Kunstgebiete zu verwischen — ihre
Unterschiede zu nivellieren. Es ist für uns gleichgültig, ob die
seit den Jungdeutschen immer wieder auftauchende Idee einer
umfassenden Darstellung des Nebeneinanders, verquickt neuer-
dings mit der Idee der Entwickelungsdarstellung für den Roman
als schädlich, oder nur als ein unschuldiges Spiel zu betrachten
ist. Auf das Drama angewendet können solche Ideen zer-
setzend und desorganisierend wirken und haben es schon getan,
wie an dem Beispiel des „Florian Geyer" zu sehen ist.
Die fokale Einrichtung unseres Bewußtseins und unserer
Aufmerksamkeit macht sich im Drama am stärksten geltend,
weil da unsere Aufmerksamkeit unmittelbar und besonders
stark durch vor uns sich abspielende Vorgänge in Anspruch
genommen wird. Die erwähnte Einrichtung bewirkt es nun,
daß wir nur das sehen, worauf unsere Aufmerksamkeit un-
mittelbar gerichtet ist. Das Übrige ist vorläufig nicht da.
Der Dramatiker tut also recht, wenn er in derselben Weise
vorgeht. Auch für ihn kann und soll außer dem im Brenn-
punkt der Darstellung stehenden Gegenstand alles im Dunkel
F. Charaktere. 111
nicht in den Charakteren enthalten, sondern in der Situation,
in dem Druck der Verhältnisse (so z. B. im Odipus). Oder
es tritt endlich eine vielfache Kombination zutage. Immer
muß der Charakter als Träger einer Kraft oder mehrerer
Kräfte oder nur Träger eines Interesses in Aktion sich be-
finden. Diese Aktion kann aggressiv oder regressiv, offensiv
oder defensiv sein, kann im Handeln oder Erleiden bestehen —
immer muß sie eine Wandlung der Kraft, d. i. des Charakters
im dramatischen Sinne, involvieren. Der Charakter, die Persom
in Aktion^ bedeutet also den Charakter in Wandlung.
Was aber diese Wandlung ist, muß richtig verstanden
werden. Deswegen wollen wir hier vorerst genauer bestimmen,
was der Ausdruck Charakter für das Drama bedeutet Das
Wort Charakter entspricht einem ethischen, einem psycho-
logischen und einem ästhetischen Begriff. Der ethische Begriff
ist es nicht, der uns hier stören kann. Niemand wird den
ethischen Begriff mit dem ästhetischen verwechseln. Wohl aber
kommt dies vor in bezug auf den psychologischen und ästheti-
schen. Im ästhetischen Sinn nennen wir Charakter alle Seelen-
eigenschaften (nicht die körperlichen, also nicht Sommersprossen,
krauses Haar usw.) einer Person als Einheit aufgefaßt, also das
seelische Gesamtbild einer Person. Daß es im Drama vor-
zugsweise auf die Willenseigenschaften ankommt, ist wahr.
Denn die Willenseigenschaften sind es, die den Vollzug der
Aktion oder Reaktion hauptsächlich bestimmen. Jedenfalls
aber sind — wenn man von einer Wandlung des Charakters
spricht und insoweit man davon sprechen darf — nicht die
Willenseigenschaften, sondern das seelische Gesamtbild gemeint.
Nun bilden eben jene Willenseigenheiten des Menschen das-
jenige, was man in der Psychologie den Charakter nennt und
zwar den erworbenen Charakter, ^ Daneben gibt es einen
Begriff des angeborenen Charakters, welcher, „teils die ver-
schiedenen Weisen, auf Motive zu reagieren, teils die ver-
^ JoDL, Lehrbuch der Psychologie, Bd. II, XII, 23.
K Charaktere, 113
geradezu malerische. Der Dramatiker ist da vor allem ein
scharfer Physiognomiebeobachter, notiert sich im Gedächtnis
von allen den Menschen, denen er im Leben begegnet, ihre
äußeren Merkmale, ihre Gestalt und ihren Wuchs, die Gesichts-
züge, die Haar- und Augenfarbe, die Haartracht und die
Kleidung mit all den kleinen Eigenheiten beim Reden, Gehen
und Stehen. Kurz, wie sie sich räuspern und spucken, das
hat er vollkommen inne. Daß daraus ein Charakterbild ent-
steht, ist nicht durchaus notwendig. Aber selbst da, wo dies
der Fall ist, was geschieht nun mit diesen fertigen Bildnissen?
Wir beobachten hier drei Grundarten. Entweder wird die
Gestalt in eine unabhängig von ihr konzipierte Handlung oder
Zustandschilderung, in welche sie gerade zu passen scheint,
einfach eingewebt. So z. B. Loth in die Schilderung des
„Sonnenaufgangs**. Oder es wird der Charakter selbst zu
schildern unternommen, zu einem Charakter, also eine Art
Handlung hinzugedichtet, so zum Teil im „Friedensfest",
wo aus der Charakterschilderung der Familienglieder sich die
Handlung (insoweit sie eine solche ist) entwickelte. So be-
sonders im „Kollege Crampton", wo die Handlung völlig
nur zum Aufputz herabgesunken ist. Endlich aber kann das
Erinnerungsbild Personen samt den sie betreiffenden Verhält-
nissen umfassen, wobei dann dem Bedürfnisse einer drama-
tischen Zuspitzung dadurch entsprochen wird^ daß sowohl die
Charaktere als auch die Ereignisse eine meist gewaltsame und
äußerliche Umgestaltung erfahren. So in den „Einsamen
Menschen**.
Diese drei Arten treten natürlich nicht rein, sondern
verschiedenartig kombiniert auf. Zu welchen Unzukömmlich-
keiten und Nachteilen sie führen, waren wir bestrebt bei der
Besprechung der einzelnen Stücke nachzuweisen. Wir wiesen
im einzelnen darauf hin, wie gerade im naturalistischen Drama
das geschieht, was man dem älteren Drama zum Vorwurf
machen möchte. Der im Zustande der Kühe konzipierte
Charakter ist mit der Handlung nicht organisch verbunden.
Bytkowski, Gerhart Hauptmann. 8
114 V, Charaktere,
Die Personen handeln nicht, wie es ihrem Charakter ent-
spricht, sondern wie ihnen der Dichter befiehlt Natürlich so-
fern es zur Handlang überhaupt kommt. Meist sind es aber
leidende Charaktere, wobei dann die Kongruenz zwischen
Leiden und Charakter sich leichter einstellt. Wir wiederholen:
Der schärfste Blick für die äußere Erscheinung kann das
Schauen und Verstehen des Geschehens und der in ihm
wirkenden Kräfte nicht ersetzen — wohl aber umgekehrt.
Jenes ist für den Dramatiker manchmal nützlich, keinesfalls
durchaus notwendig, oft schädlich, wenn es ihn von seiner
Hauptaufgabe ablenkt. Dieses ist für ihn unumgänglich. Der
naturalistische Dramatiker, der jenes besitzt, dieses nicht —
kann geschickt sein, wenn er seine Mittel klug verwendet, ein
echter Dramatiker wird er dadurch nicht.
Aus der Funktion der Charaktere im Drama leiten sich
auch andere Forderungen ab. Wenn man einen Fortschritt
in der Gestaltung dramatischer Charaktere darin erblickt, daß
ihre individuellen Eigenschaften immer mehr die typischen
überwiegen, so muß dagegen auf die Grenzen des Individuali-
sierens hingewiesen werden. Sie sind durch die Funktion der
Charaktere gegeben. Da der Charakter im Drama nicht Selbst-
zweck ist, so darf auch das psychologische Problem, als solches,
für sich nicht Gegenstand der Behandlung werden. Es darf
also die Individualisation nicht so weit geführt werden, daß
das psychologische Kätsel und seine Lösung selbständiger
Gegenstand des ästhetischen Genusses wird. Dieser kann
seiner Hauptsache nach, wie gesagt, nur im Austrag des
Kampfes gelegen sein. Verschiebt sich das ganze Gewicht des
Werkes auf die Psychologie, wird unsere ganze Aufmerksam-
keit durch sie in Anspruch genommen, wie oft bei Hebbel,
so geschieht es nur auf Kosten der Schlagkraft und Wirkung
des Dramas, mag das Problem, wie z, B. in „Gyges und sein
Ring", noch so interessant und tief sein. Natürlich bleibt
Hebbel auch da noch immer in jedem Zug Dramatiker. Auch
dort, wo seine Psychologie zu kompliziert erscheint, ist jeden-
F. Charaktere. 115
falls nicht ein Zustand, sondern eine Handlung ihr Problem.
Nicht der Charakter des Kandaules und der Bhodope ist
Gegenstand seiner Psychologie, sondern was diese Charaktere
in Berührung mit der Welt und miteinander erfahren und er-
leiden, also im Kampf mit antagonistischen Kräften. Dasselbe
ist der Fall in „Herodes und Mariamne", in der „Geno-
veva", in der „Judith" und anderen Dramen. Überall wird
der betreffende Charakter (Person) seinem innersten Wesen
entsprechend und gemäß in Aktion gesetzt und in dieser Aktion
und Keaktion auf die Verhältnisse entfaltet sich sein Wesen.
Nicht aber ist die Aktion dazu geführt, um dieses aufzudecken.
Dennoch aber ist die Psychologie Hebbels oft zu kompliziert.
Sie beansprucht ein beschauliches Genießen, im Drama hin-
gegen besteht der Genuß in einer Hingerissenheit, welche die
Beschaulichkeit ausschließt, sowie diese umgekehrt jene ver-
nichtet.
Noch aus einem weiteren Grunde darf die Individuali-
sierung nicht zu weit gehen. Das Drama soll nämlich allgemein
Menschliches zur Darstellung bringen, nicht Spezielles. Spezielles
ist seiner ganzen Natur nach Gegenstand beschaulichen Kunst-
genusses, wovon noch später des Näheren. ^ Und endlich noch
ein drittes Moment kommt hinzu: Die Darstellung im Drama
muß großzügig sein, im Freskostil gehalten werden, sich nicht
in Einzelheiten verlieren. Dies steht mit dem Vorigen in
innigster Verbindung, ist aber auch aus technischen Eück-
sichten geboten, insbesondere durch den Umstand, daß im
Drama die äußere Erscheinung der Personen wandelbar ist.
Ein jeder Darsteller bringt eine eigene äußere, zum Teil auch
innere Erscheinung in seine Verkörperung mit. Der Dichter
bringt nur die großen Züge, der Schauspieler erst die kleinen
in die Darstellung. Diese letzteren werden aber vom Zu-
schauer nicht besonders und für sich gesehen, sondern als
* Das Nähere über den Unterschied von beschaulicher und ex-
thatischer Kunst im Kapitel: Kunsttheoretische Begründung.
8*
F. Charaktere. 117
schwang zu Haupt- und Grundforderungen aufdonnert. Flugs
wird dann noch mit diktatorischer Gebärde alles Alte in die
Bumpelkammer geworfen. Die Bahn ist nun frei, der Geist
mit keiner überflüssigen Kenntnis des Früheren beschwert und
so kann man mit hochtönenden Worten und vielem Staunen
in jeder Anfängerarbeit Niedagewesenes entdecken. Kommt
dann gar etwas wirklich Wertvolles in den Wurf, dann ist der
Bewunderung kein Ende. Nichts vom „Alten" wird nun ge-
schont, selbst die Größten müssen sich als naive Stümper ab-
kanzeln lassen. Und was nur irgendeinem im Sturmeifer über
die Feder kommt, das wird von den Nachstürmenden mit
frommer Gläubigkeit nachgeschrieben.
Auf diese Art entstehen die unglaublichsten Legenden, ge-
boren aus Neuerungssucht, Oberflächlichkeit und apodiktischer
Gesetzgeberweisheit. Und getragen von der Gedankenlosigkeit,
Leichtgläubigkeit und Bequemlichkeit> sowie von etwas, was ich,
im Anklang an den Lokalpatriotismus, den „Temporalpatrio-
tismus« nennen möchte, schwellen sie immer mehr an, bis ihre
Suggestionskraft unwiderstehlich wird.
Darin liegt auch die Erklärung dafür, daß selbst gewissen-
hafte und kenntnisreiche Leute sich oft zu Behauptungen ver-
steigen können, wie die oben angeführten oder wie folgende:
„Que devient ä cot4 de cette chimie des instincts et des senti-
ments, la psychologie si claire, mais si rudimentaire (!) des
classiques grecs oü frangais, ou memo de Shakespeabe, de
ScHiLLEE, de Dumas Als? On va crier ä l'h^r^sie, mais il
me semble, ä moi, que les carract&res de Hauptmann sont
plus complexes et plus profonds que ceux de ces dramaturges.^'^
Ist es nicht merkwürdig, daß da, wo man von Kompüziert-
heit der Charaktere spricht, von einem Hebbel nicht einmal
Erwähnung getan wurde? Aber freilich die rudimentäre Ein-
fachheit und Flachheit der Psychologie eines Lear, Macbeth,
^ Loüis Bennoist-Hanapfier, Le drame naturaliste en Alle-
magne, S. 216.
118 V, Charaktere,
Othello, Shylock, Brutus, Coriolan, des Hamlet und
Wallenstein neben die Kompliziertheit und Tiefe eines Loth,
Johannes Vockerat, Crampton oder des ,,nach auswärts-
schreitenden" Michael Kramer zu stellen, wer dächte an so
etwas? Wenn so manche Erklärer von Geist ihren ganzen Scharf-
sinn aufgeboten haben, um das Dunkel des Wesens jener
Charaktere aufzuhellen, so wird ihnen jetzt rundweg erklärt,
daß sie Stümper seien samt und sonders, weil jene Psychologie
„klar und rudimentär sei" — die reinste Anfängerarbeit im
Vergleich mit der Psychologie eines Wilhelm Scholz im
„Friedensfest".^
Wie steht es nun im Ernst mit dieser Sache? Wir haben
im einzelnen nachgewiesen, daß Hauptmanns Charaktere
meistens nur Stückwerk sind, ohne echtes Leben oder so blaß,
daß sie wie „leere Harnische" umgehen, oder endlich willenlose,
stumpfsinnige, vegetierende, dem Leben nicht gewachsene
Menschen, deren Seelen auf gar wenige Töne gestimmt sind.
Die nicht zahlreichen Ausnahmen aber sind Epigonenarbeit
und Selbstspiegelung (Meister Heinrich). In dieser letzteren
möchte ich — nebenbei bemerkt — die weitere Erklärung der
merkwürdigen Erscheinung sehen, daß man der ödesten Dürftig-
keit gegenüber von quellendem Reichtum spricht, daß man
jene Dürftigkeit gegen die grandios wuchernde Urwälderüppigkeit
eines Shakespeabe ausspielt. Was hat man nicht alles in den
Johannes Vockerat hineingesehen? Es sind dies Eigen-
schaften, die die Herren bei sich selbst vermuten, und wer
hielte sein eigenes Gemüt nicht für reich?
* Vgl. Bennoist-Hanappiee, a. a. 0., S. 217.
VI. Sprache, Dialog und Monolog.
1. Sprache.
Unterzieht man die Funktion der Sprache im Drama einer
genaueren Analyse, so ergibt sich, daß dieselbe eine zwiefache
ist Erstens ist die Sprache im Drama ein Element der durch
Kunst oder Schein darzustellenden Wirklichkeit selbst. So
wie in der Wirklichkeit die Sprache Mittel des Berichtes ist
oder „Kundgabe"^ unseres Innern, ebenso ist auch im Drama
die Sprache zunächst Bericht und Kundgabe der dramatischen
Personen. In diesem Sinne nennen wir sie einen Teil der
darzustellenden Wirklichkeit.
Als solches Element der Wirklichkeit wird die Sprache
gleich anderen, wie Einrichtungsgegenstände, Bäume und dgl.
nicht nur konkret, sondern auch durch ein adäquates Mittel
reproduziert, nämlich durch sich selbst. Da nun in der drama-
tischen Darstellung bei den konkret und. noch mehr bei den,
durch adäquate Mittel reproduzierten Bealitäten möglichste
Wirklichkeitstreue Regel ist, so glaubt man die Forderung
einer solchen auch an die Sprache ausdehnen zu dürfen. In-
soweit der Schein der Wirklichkeit durch diese selbst, durch
eine adäquate Wirklichkeit erweckt werden soll, unterliegt,
meint man, der Anspruch auf unbedingte Treue nicht dem ge-
ringsten Zweifel. So abgeleitet hat auch die Forderung der
yollen Wirklichkeitstreue bei Verwendung der Sprache im
1 Theodob Lipps, Grundlegung der Ästhetik, S. 498 ff.
120 ^^' Sprache, Dialog und Monolog,
Drama einen gewissen Anschein der Berechtigung. Warum
soll, so fragt man, die Sprache des Schauspielers nicht die
Sprache des Lebens sein mit allen ihren Eigenheiten, wenn
doch hier nichts im Wege steht?
Wir werden später sehen, daß Wirklichkeitstreue über-
haupt kein Selbstzweck in der Kunst ist, sondern nur Mittel
zur Erweckung des Scheines, daß sie oft nur durch negative
Rücksichten bis zu einem gewissen Grade geboten ist. Weiter
werden wir bald erweisen, daß diesem geforderten Realismus
tatsächlich nicht zu umgehende Hindernisse entgegenstehen.
Die ganze Forderung aber erwuchs in ihrer Schroffheit
und Schärfe nur aus der Verkennung der zweiten Funktion
der Sprache im Drama. Das Wort hat nämlich im Drama
noch eine zweite Funktion, die vollständig derjenigen entspricht,
die es in der Poesie erfüllt. So wie die Farbe und der Umriß
für den Maler, wie das Wort selbst in der reinen Wortkunst
in der Poesie, ist das Wort auch im Drama Mittel der Dar-
stellung. Es dient zur Mitteilung der Gedanken und Gefühle,
und zwar wiederum derjenigen der dargestellten Personen und
derjenigen des Dramatikers selbst
Dies ist näher zu erklären. Wenn wir früher sagten: die
Sprache ist Element des Darzustellenden, so meinten wir
Folgendes: Zweck der dramatischen Darstellung ist eine Hand-
lung, aber zur Handlung gehört auch die Sprache des Han-
delnden, denn sie ist die unmittelbare „Kundgabe*' ihres Fühlens
und WoUens, durch sie wirken sie auf sich ein, sie vermittelt
ihren Verkehr. Ein anderes ist es, was wir hier meinen. Es
gibt Tatsachen, es gibt Gefühle und Gedanken, deren Mitteilung
nicht so sehr im Interesse der handelnden Personen, als des
Dramatikers und des Zuschauers liegt. Oder anders gesagt,
der Dramatiker hat ein Interesse, daß der Zuschauer von diesen
Tatsachen, Gefühlen und Gedanken der Personen Kenntnis
habe; er hat zweitens ein Interesse daran, dem Zuschauer ge-
wisse Gedanken, Einsichten und Gefühle einzugeben oder zu
suggerieren. Beides tut er durch die Sprache, die also hier
VI. Sprache, Dialog und Monolog. 121
nicht ein Element des Darzustellenden im eigensten Sinne ist,
sondern ein Mittel der Darstellung. In beiden Fällen ist sie
von konventionellen Elementen stark durchsetzt, wie jede Mit*
teilung auf Konvention beruht.
Wiewohl nun der Naturalismus in der Theorie diese zweite
Funktion der Sprache (als Mitteilungsmittel) nicht anerkennen )(
und einfach übersehen möchte, so folgt doch mit nichten daraus,
daß er sich in der Praxis dieses Mittels nicht im vollsten
Maße bediente. Helenes Eröffnungen Loth gegenüber in „Vor
Sonnenaufgang" können zwar Wirklichkeit sein, sind aber
im Grunde doch nur an uns gerichtet, sind also Mitteilung des
Dramatikers. Noch mehr gilt dies von den aufklärenden Worten
Dr. Schimmelpfennigs, dessen ganze Einführung nur den
Zweck hat, sowohl Loth als auch uns über die weiteren Ver-
hältnisse in der Familie Krause zu unterrichten. Ganz den-
selben Zweck verfolgt der bekannte Vortrag des Robert Scholz
im „Friedensfest" über den „gärenden Sumpf'*, dem er und
seine Geschwister entstammen. Im „Florian Geyer" gibt
es eigentlich nur Mitteilungen des Dichters, so sehr sie auch
mit Interjektionen wie „mere", „kotz" und „blau" „verdeckt"
sind. Das ist natürlich schlecht, aber auch das bestgefügte
Drama kann der Mitteilungen über Gedanken und Gefühle der
handelnden Personen, sowie der als Suggestionsmittel ver-
wendeten Sprache nicht entbehren. Ist ihre Anwendung auch
verdeckt und beschränkt, so ist sie doch da und kann nicht
hinwegdisputiert werden. Damit aber kommt das Element der
Konvention hinzu, welches eine weitere Beschränkung der
Wirklichkeitstreue bedingt.
Überhaupt muß schon hier kurz bemerkt werden, daß der
ganze Genuß eines Dramas auf einer Fiktion und auf Kon-
vention beruht, wovon später noch mehr.
Indem wir nun ins Einzelne eingehen, wollen wir vor-
nehmlich das Wort als die zu reproduzierende Wirklichkeit
vornehmen. Oben haben wir auf die Hindernisse hingedeutet,
die sich dabei der unbedingten Wirklichkeitstreue entgegen-
122 VI, Spraehe, Dialog und Monolog,
stellen. Worin diese Hindemisse zu suchen sind, ist nicht
schwer zu erraten. Wollte man bei der Eeproduktion des
Wortes immer strenge Wirklichkeitstreue wahren, so müßte
sich der Dramatiker in der Wahl des Stoffes nicht nur auf
sein Zeitalter, seine weitere Heimat, sondern auch auf seine
engere Heimat, ja auf das dem präsumptiven Publikum am
nächsten stehende Milieu beschränken. Denn es ist klar, daß
die Nichtanwendung einer fremden Sprache, wenn das Stück
in einem fremden Lande spielt, ja sogar schon die Nicht-
anwendung der speziellen Sprache der handelnden Personen
gegen die Forderung unbedingter Wirklichkeitstreue verstößt
Fragt man in dieser Hinsicht die naturalistischen Theore-
tiker, so meinen sie freilich, eine solche Auffassung jener
Forderung wäre platt Wir teilen diese Ansicht vollauf, be-
haupten aber, daß weder die Theorie, noch insbesondere die
Praxis der Naturalisten eine andere Auffassung zulassen. Was
denn sonst bedeutet die Forderung und Durchführung strengster
Dialekttreue?
Fraglos ist es verbohrter Snobismus, wenn Hauptmann
den schlesischen, oder Halbe den ostpreußischen Dialekt in
strengster Durchführung anwendet Kommt es zur Aufführung,
da werden die Segel auch rasch gerefft Man begnügt sich
mit einer gemilderten Durchführung, die man „Übertragung"
nennt Diese Übertragung wird dann von den Schauspielern
weiter „übertragen", ja manchmal wird aus dem schlesischen
gar der österreichische Dialekt, wie bei der Aufführung des
„Hannele" im Burgtheater.
Das ist auch natürlich. Denn abgesehen vom Schau-
spieler^ der sich nicht die Zunge zerbrechen kann, muß doch
das Publikum wenigstens eine Ahnung davon haben, was ge-
sprochen wird. Der „konsequenteste" Naturalist kann doch nicht
verlangen, daß man z. B. dem „Eisgang'^ zuliebe in aller Eile *
den nordostpreußischen Dialekt erlernt Anders aber wäre der
„Eisgang" einem österreichischen Publikum absolut unverständ-
lich. Ja der Kreis müßte sich noch mehr verengern. Für die
VL Sprache, Dialog und Monolog» 123
„Weber" müßte das Publikum einfach nur aus den Webern
jener schlesischen Gegend bestehen, in welcher das Stück
spielt So müßte für ein jedes Stück ein anderes Publikum
gesucht werden. Das bestätigen auch die offiziellen Über-
tragungen und die den lokalen Verhältnissen Eechnung tragenden
Einrichtungen. Da fragt sich nun, wozu die originellen Aus-
gaben da sind, wenn man zu ihrer Ergänzung Übertragungen
nötig hat. Die Antwort ist klar. Sie sollen nichts anderes
sein als eine Verbeugung vor der Forderung der unbedingten
Wirklichkeitstreue. Sprechen die Weber so, da soll auch so
im Stücke gesprochen werden. Weil es aber kaum jemand
versteht, so gibt man eine „Übertragung" dazu, die natürlich
jener Forderung ins Gesicht schlägt, wie noch mehr die Über-
setzungen in andere Dialekte. Dies alles ist um so sinnloser,
als die Forderung der vollen Wirklichkeitstreue bei der Ver-
wendung des Wortes im Drama an sich nicht begründet ist.
Es hat nämlich die Treue in der Wiedergabe des Wortes im
Drama, wie schon erwähnt, keinen für sich bestehenden posi-
tiven Zweck, sondern nur einen negativen. Sie soll nämlich
verhindern, daß wir im Genüsse des Werkes gestört werden
durch allzu fühlbare Inkongruenz zwischen der Eedeweise der
dramatischen Personen und derjenigen, die ihnen nach unserer
Kenntnis oder Vorstellung eigentümlich ist Wenn z. B. ein
Bauer wie ein Gelehrter spräche oder umgekehrt, so würden
wir den inneren Widerspruch unangenehm empfinden. Damit
sind aber auch die Grenzen der naturalistischen Gestaltung
der Bede gegeben. Sie darf nicht aufdringlich sein, darf nicht
unsere ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, denn sonst
stört sie eben in anderer Weise, indem sie uns von wichtigeren
Dingen ablenkt. Somit stellt sich die Forderung der un-
bedingten Wirklichkeitstreue in der Verwendung der Sprache
nicht nur als unausführbar und schon deshalb lächerlich, sondern
auch als an sich schädlich dar.
Es ist übrigens interessant zu beobachten, wie zu ihrer
Aufstellung nicht nur verbohrter Doktrinarismus, sondern, wie
124 yj^* Sprache^ Dialog und Monolog,
in anderen Fällen, auch mißverstandene Beispiele verleitet
haben.
Das erste ist das der Lokalposse. Die strenge Durch-
führung des Dialektes des Volks- und Lokaltones ist nichts
Neues. Sie hatte Verwendung in der Lokalposse. Seit jeher
haben Possendichter den Dialekt ihrer Umgebung mit mehr
oder weniger Strenge verwendet. Ihr genialster Vertreter Eenst
Elias Niegeeball soll stark auf Hauptmann eingewirkt haben.
Wie dem auch sei, unzweifelhaft hat das Beispiel der Lokal-
posse, sicher auch Anzengeubees, die Rolle des Versuchers
gespielt. „Was den Lokalpossendichtern gelungen ist, soll uns
noch besser gelingen^', dachten die Naturalisten. „Jene haben
einer instinktiven Neigung gefolgt, wir wollen den Dialekt
konsequent anwenden."
Nun behaupten wir, daß das Beispiel gründUch miß-
verstanden wurde. Erstens wandte sich die Lokalposse an ein
mit dem betreflfenden Dialekt halbwegs vertrautes Publikum.
Wo sie in eine andere Umgebung verpflanzt ward, erfuhr sie
auch eine gründliche Umarbeitung. Zweitens ist der Genuß
an der Posse in seinem Wesen nicht dramatisch. Außer der
Komik der Situation, der derben Witze usw. wirkt in der
Lokalposse insbesondere die saftige Verwendung des Lokaltones
an sich. Man freut sich daran, diesen Ton in allen den gelungenen
Wendungen wiederzufinden. Diese Freude hat — das wird
man zugeben — mit der dramatischen nichts gemein, sie ist
vom beschaulichen Charakter und wirkt, wo sie auftritt, dem
dramatischen Genuß geradezu entgegen.
So wurde nun bei Befolgung des Beispieles von der Lokal-
posse die doppelte Lehre mißachtet, daß einerseits ihre Wirkung
auf einen engsten Kreis beschränkt und berechnet ist, daß sie
andererseits nicht rein dramatischen Charakter hat.
Die zweite Versuchung, der man erlegen ist, kann von
der schon ziemlich eingebürgerten Verwendung der Sprache
des täglichen Lebens in den Zeit- und Gesellschaftsdramen.
In diesen, wo Personen der gebildeten Stände auftreten, wie
VI, Sprache, Dialog und Monolog, 125
Doktoren, Advokaten, Ingenieure, Privatgelehrte, Journalisten
Dichter, Maler usw. steht der Verwendung ihrer Umgangs-
sprache nichts im Wege. Mag sie auch noch so lokal gefärht
sein und mögen auch hier die konsequenten Naturalisten des
Guten zu viel tun, jedenfalls ist es eine Sprache, welche im
großen und ganzen allgemein gültig und verständlich ist und
jenen Charakter des Typischen hat, der es mit sich bringt,
daß bei einer Übersetzung nichts verloren geht.
Aber auch hier sollte die Lehre gezogen werden, daß, was
gut ist, wenn die Sprache der handelnden Personen und des
Publikums in der Hauptsache sich gleichen — nicht notwendig in
allen Fällen gut sein muß, insbesondere nicht in denjenigen, wo
der Unterschied so grell auftritt, daß eineUbertragungvonnötenist.
Jedoch nicht nur aus dem Gebiete des Dramas kamen
die verführerischen Beispiele. Wie bei vielen anderen hat der
Naturalismus auch hier die im Roman zuerst angewandten
Neuerungen gedankenlos auf das Drama ausdehnen wollen.
Est ist nun hier nicht der Ort zu untersuchen, wie weit die
Anwendung des Dialektes im Boman gehen kann. Wir können
nur feststellen, daß die Grenzen jedenfalls weiter gezogen
werden dürfen als im Drama.
Einmal ist der Roman eine epische Nebengattung, die
überhaupt die größten Freiheiten gestattet. Zweitens ist der
Genuß beim Roman ein anderer, er ist ein beschaulicher, hat
ein anderes Tempo, als der Genuß des Dramas und verweilt
seiner beschaulichen Natur nach gern bei den Erscheinungen,
Zu diesen Erscheinungen können nun die Eigenheiten der
Sprache ebensogut gehören wie die anderen, von denen wir
bei der Besprechung der Charaktere gesprochen, oder wie
Landschaften, Einrichtungsgegenstände usw.
Drittens ist die Auffassung oder, sagen wir einfach, das Ver-
stehen des Dialektes im Roman erleichtert. Die Dialektstellen
wechseln mit den berichtenden des Verfassers ab. Der fremde Dia-
lekt selbst ist, in Ruhe gelesen, der Einfühlung leichter zugänglich
als im Drama, wo er uns sozusagen leibhaft entgegentritt.
126 V^' Sprache^ Dialog und Monolog.
Wer ein Drama in einem fremden Dialekt zuerst ge-
lesen, dann gesehen, maßte die Erfahrung gemacht haben
daß der Dialekt, der ihm beim Lesen halbwegs verdaulich vor-
gekommen, ja vertraut angemutet, ihm jetzt während der Auf-
führung als etwas fremdartig Störendes verletzte. Dies geht
so weit, daß dagegen keine noch so intime Kenntnis des
Stückes hilft.
Es ist nämlich nicht das Nicht verstehen allein, welches
stört. Hört man ja oft fremde Schauspieler in einer wenig
bekannten Sprache mit großem Genuß. Sondern es ist eben haupt-
sächlich das Fremdartige. Gerade deswegen, weil es die uns
vertraute Sprache ist und doch zugleich fremd dabei, das ver-
letzt und behindert den Genuß. Es ist dem selbstlosesten, zart-
fühlendsten Menschen leicht, sich in die Gedanken, Gefühle
und Handlungen eines Erzbösewichtes einzufühlen. Ebenso
umgekehrt, dem nüchternsten, kältesten Verstandesmenschen
in diejenige einer Antigone. Dagegen aber ist es schwer, sich
in einen fremden unbekannten Dialekt einzufühlen.
Ich wiederhole: nicht so im Boman. Dort tritt das Wort
nicht leibhaftig, konkret vor mich hin. Ich höre es gleichsam
in meiner Seele in einer gemilderten, harmonisch eingestimmten
Resonanz. So erweist sich wieder einmal, wie leichtfertig und
gefährlich es ist, die Methoden eines Kunstgebietes ungeprüft
und wörtlich auf ein anderes übertragen zu wollen.
Es ist selbstverständlich, daß wenn die strenge Anwendung
des Dialektes im Zeitdrama, das in der Gegenwart spielt, nicht
durchführbar und nicht erwünscht ist, dann ist es im histo-
rischen, in der Vergangenheit sich abspielendem Drama noch
weniger möglich und am Platze. Fürs erste sind wir durch
die Forderung strenger Wirklichkeitstreue noch weniger ge-
bunden als im Zeitdrama. Denn da man von der Sprache der
entlegenen Zeiten keine so lebendige Vorstellung hat wie von
derjenigen der Gegenwart, so wird man auch nicht so leicht
•durch das Inadäquate in der Sprache des Werkes gestört.
Es kommt aber noch ein anderes hinzu. Bei der Dar-
VI, Sprache^ Dialog und Monolog. 127
Stellung der Gegenwart gibt der Dichter das Beobachtete treu
wieder. Dies wirkt durch seine Unmittelbarkeit. Im historischen
Drama kann der Dichter nicht unmittelbar beobachten, er muß,
ähnlich wie beim Schaffen des Charakters, konstruieren. Es
mangelt infolgedessen der Eindruck der Frische, es entsteht
vielmehr derjenige des Gekünstelten oder wenigstens des Künst-
lichen. So muß die äußere Treue noch mehr zugunsten der
inneren, auf das Psychologische reduzierten zurücktreten. Ja,
selbst wenn es an dem Dichter nicht läge, ähnlich wie dies
der Fall ist bei Werken, die selbst in entlegenen Zeiten ge-
schaffen wurden — der Zuschauer, der Hörer wird durch die
allzugroße Treue gestört, — denn die Sprache der entlegenen
Zeiten ist ihm ebenso fremd, als irgendein fremder Dialekt.
Dazu kommt aber, daß im historischen Drama auch Personen,
die im Zeitdrama keinen Dialekt, sondern eine der Schriftsprache
ähnliche Umgangssprache anwenden würden, sich einer fast
fremden, fremdartig klingenden Sprache bedienen. Wir sehen
Leute des sogenannten gebildeten Standes, die doch etwas
sprechen, das wie Dialekt klingt Dies stört noch mehr.
Das sehen wir auch im „Florian Geyer". Die Sprache
verrät einerseits den Schweiß den Dichters, andererseits wird
durch ihre Absonderlichkeit der Genuß mehr gestört, als ge-
fördert. Weniger würde da mehr sein. Würde sich der Dichter
auf Andeutung, auf archaistische, dem Zeitalter entsprechende
Färbung der Bede, auf Transposition in Ton, Ausdruck und
Denkweise beschränken, dann wäre die Wirkung viel stärker.
Wir schließen nun. Die „konsequente" Anwendung des
Dialektes im Drama ist die inkonsequenteste aller Neue-
rungen des Naturalismus. Sie beruht auf einer irrtümlichen
Voraussetzung der Notwendigkeit unbedingter Wirklichkeitstreue.
Sie wurde unter Verkennung der wesensverschiedenen Ver-
hältnisse teils von einem Teilgebiete des Dramas, teils vom
Roman blind herübergenommen. Sie wäre endlich nur eine
fragmentarische Konsequenz, wenn sie je ernst genommen
würde, was aber nicht der Fall ist.
VI, Sprache, Dialog tmd Monolog, 129
I » . ■ — _ —
ralismus, wohl aber die Naturalisten wie z. B. Hauptmann
auch eine von der unbedingten Wirklichkeitstreue völlig los-
gelöste Sprache, nämlich die Versspraehe kennen. Hauptmann
sucht auch dabei — und zwar oft glücklich — die möglichste
Anschmiegung an die Sprache der Wirklichkeit zu erreichen^
(„Versunkene Glocke", „Der arme Heinrich'*). Dabei
erfährt er selbst, worauf es eigentlich ankommt, nämUch auf
den Schein der Treue, nicht auf diese selbst
2. Der Dialog.
Die Verdienste des Naturalismus um den dramatischen
Dialog sind unbestreitbar. Wir wollen sie ihm auch nicht
schmälern. Der Boden ist zwar vorbereitet gewesen. Mit
Lessing und dem bürgerlichen Schauspiel setzt die Bewegung
ein, die einen stetigen, wenn auch nicht ununterbrochenen
Fortschritt in der Behandlung des Dialogs brachte. Dann
kam der Einfluß des fremden realistischen und impres-
sionistischen fiomans, des französichen, russischen und skandi-
navischen. Endlich der Ibsenische Dialog mit seiner
wunderbaren Mischung von Bedeutung und Impression, Ab-
sichtlichkeit und ünabsichtlichkeit, Zweckvollem und Intimem.
Doch den letzten Schritt taten Holz und Schlaf. In ihren
Novellen drängte sich der impressionistische Bericht bis zur
Knappheit von Bühnenanweisungen zusammen, dagegen erfuhr
die mit unerhörter Hingebung, Schärfe und Feingefühl be-
lauschte Rede die treueste und liebevollste Wiedergabe.
Dies wirkte geradezu wie eine Offenbarung. Man sah mit
Staunen, daß die Sprache des täglichen Lebens noch immer
unentdecktes Land war, mit unerschöpflichem Reichtum. Und
nun kam man, durch die dramatische Zuspitzung der Form
jener Novellen verführt, auf den irrtümlichen Gedanken, daß
das Drama die Kunstgattung sei, in der dieser Reichtum an
den Tag gefordert werden soll.
Bytkowski, Gerhart Hauptmann. 9
VI. Spraoke, Dialog tmd Monolog, 131
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der Wiedergabe der sprachlichen Eigenheiten selbst^ also der
Dialektstreue.
Znin zweiten brachte der Naturalismus dem Dialog auch
direkten Nachteil. Er verleitete nämlich^ wie paradox das auch
klingen mag, zur Nachlässigkeit. Da man sich jetzt bemühen
sollte, den Schein der Nachlässigkeit, der natürlichen Un-
absichtlichkeit zu wecken, so glaubte man berechtigt zu sein,
wirklich nachlässig zu verfahren. So ist manche Schleuder-
arbeit unter der Flagge der Naturwahrheit, Eunstlosigkeit statt
der Ungezwungenheit in den naturalistischen Dialog hinein-
gekommen, von den unnützen Roheiten und Gemeinheiten ganz
abgesehen.
Dazu kam, daß man mit der Abwendung von den mit
Becht verpönten Geistreicheleien der vorangehenden Epoche
sich oft auch vom Geist abwenden zu müssen glaubte. So
trat Geistlosigkeit und Banalität an Stelle des früheren Geist-
reichtums.
Endlich kam noch eine zuweilen unausstehUche Manieriert-
heit hinzu, die sich in der absichtlichen Zurschaustellung einer
burschikosen Unbekümmertheit kundgab. Alles dies zusammen
gibt ein Bild der Unreife, die lebhaft an die Sturm- und
Drangzeit erinnert.
Nun ist es gewiß verwunderlich, daß vom allzu großen
Betonen des formalen Prinzips, wie es die Bestrebungen von
Holz und Schlaf sicher sind, solche Sünden gegen den Stil
geboren werden könnten. Das Paradoxon ist aber leicht zu
lösen. Die Wegweiser waren wirklich nur liebevolle Beobachter
und Gestalter der Alltagsrede — die Nachfolger wollten vor
allem Dramatiker sein. Sie kamen von anderswoher und
strebten anderswohin zu. Für eine fremde Idee aber, sagt
der Skalde in den „Kronprätendenten^', kann man wohl
sterben, nicht aber leben. Die Ideen HoLzens und Schlafs
waren ihnen fremd, weil sie episch durch und durch sind, und
wie wenig Dramatiker die Schüler auch oft sein mochten, dem
Drama haben doch ihre Bestrebungen gegolten. Nicht umsonst
9*
132 VL Sprache, Dialog und Monolog,
schrieb Hauptmann in seiner bekannten Widmung zu vor
„Sonnenaufgang" von Holz und Schlaf als den „einzig
konsequenten" Bealisten. Er fühlte dunkel, daß es ihm
schwerlich möglich sein wird, jenen in der Konsequenz zu
folgen.
Und wirklich, was helfen die saftigen Wendungen dea
Ehepaares, Krause, des Kahl-Wilhelm und anderer? Mai>
sieht doch, daß sie nur Verbrämung sind, naturalistischer Auf-
putz zu einem Dialog, der von ganz anderem Geiste getragen
ist, zum Dialog zwischen Loth und Hoffmann, zwischen
Loth und Helene (trotz der berühmten Liebesszene!), endlich
zwischen Loth und Dr. Schimmelpfennig. Jene hat sich
der epische Beobachter zur eigenen Freude gut aufgelesen
und dann dem Dramatiker zur Verfügung gestellt. Diese hat
der letztere erst zum Zwecke des Dramas schlecht komponierte
Äußerlich sind sie verbunden, organisch nicht.
Und merkwürdig, welches Stück immer wir hernehmen^
überall fast zeigt es sich, daß Hauptmann dort, wo seine
Personen im Dialekt sprechen, sich als Meister des Dialoges
erweist. So ist er unbedingter Meister des Dialoges in den
„Webern", im „Fuhrmann Henschel", in der „Rose
Berndt", ebenso im „Kollege Crampton" und in den Er-
güssen des „Michael Krämer'^ Dagegen ist die Sprache
des Johannes Vockerat unerträglich manieriert.
Wie kommt dies? G-ewiß kann man daraus nicht die
Lehre ziehen, daß der Dialekt der dialektfreien Sprache vor-
zuziehen wäre. Die Sache gestaltet sich anders und einfack
Es ist wie bei den Charakteren Hauptmanns. Was er be-
obachtet, was er beobachten kann, das gibt er unnachahmlich
wieder. Wo er gestalten soll, da geht er irre. Betont sei^
daß wir nicht meinen, der Dialog im Dialekt sei dramatisch
überall gelungen, sondern für sich als solcher ist er gelungen.
Die Beden Gramptons könnten ganz gut in einen Boman
passen, haben sie doch mit einer Handlung nichts zu tun..
Noch weniger haben die Auslassungen des „Michael Krämer'^
VL SpraeJte, Dialog und Monolog, 133
Lachmann gegenüber^ deren Gegenstand Kunst ist^ etwas
mit dem Verhältnis zu seinem Sohne zu tun. Auch in der
gebundenen Rede, so wie der altfränkischen „Florian Geyers'S
ist übrigens Hauptmann ein glücklicherer Gestalter des Dia-
loges, als in der modernen Sprache des Alltags« Es scheint
aus ebendemselben Grunde, weil er dort wie auch im Dialekt
gezwungen war zu einer Sorgfalt und Durchbildung, die ihm
hier überflüssig zu sein schien.
Bei alledem wollen wir uns dabei nicht aufhalten. Wie
notwendige Folgeerscheinung auch diese Nachteile sein mögen,
sie ließen sich durch redliche Mühe, die den Herren oft zu
wünschen wäre, überwinden oder wenigstens insoweit ein-
schränken, daß die oben aufgeführten Vorteile rein zur Geltung
kämen. Unser Haupteinwurf, den wir uns bis zuletzt auf-
sparten, ist prinzipieller Natur.
Wir meinen, daß selbst die größte Verfeinerung des Dia-
loges, mag sie auch an sich vöUig einwandsfrei sein, für das
Drama keinen reinen Vorteil bringt. Ja, über eine gewisse
Grenze hinausgeführt, schlägt der Vorteil direkt in Nach-
teil um.
Stellt man sich auf unseren Standpunkt, den wir durch
alle unsere Ausführungen gerechtfertigt zu haben glauben und
noch rechtfertigen wollen, so müssen sämtliche Gründe, die
gegen den alten Dialog und für den modernen in seinen
mannigfachen Abarten angeführt werden, gerade gegen diesen
letzten sprechen. Man beruft sich darauf, daß im Leben nicht
so wohlgesetzte, schlagfertige, geistreiche Beden geführt werden,
wie in dem früheren Drama. Hier steckt ein alter Irrtum. Man
verwechselt Kunst und Leben. Mit demselben Bechte könnte
man die ganze Lyrik, die Plastik oder die Musik ausrotten
wollen. Denkt oder fühlt denn je ein Mensch in gebundener,
wohlgeformter Bede, wie Goethe oder Mombeet? Oder gibt
es Menschen aus Erz und Stein? Man vergißt eben wieder,
wie oft, daß Kunst Inneres offenbart durch Symbole, durch
Zeichen, die sich mit den Zeichen des Lebens vielfach decken,
VL Sprache, Dialog und Monolog, 135
zum Teil jenes Abgehen von der Wirklichkeit, gegen welches
sich die Vorwürfe des Modernen wandten. Uns aber erscheinen
diese Vorwürfe nur insofern begründet, als sie sich gegen das
direkt Unnatürliche, Verknöcherte und inwendig Hohle, gegen
das künstlich Konventionelle richten. Dagegen darf die Ver-
feinerung des Dialoges nur so weit gehen, als seine dramatische
Schlagkraft es erlaubt, so weit nämlich, als man die Ver-
feinerung noch gewahr wird. Weil sie dramatische Kunst,
Theaterkunst ist, darin der Freskomalerei ähnlich, daß sie für
die Ferne bestimmt, muß sie großzügig und wuchtig sein,
mit herausgearbeitetem Umriß und scharf sich abhebender
Gliederung.
Es ist eine allerdings selbstverständliche, jedoch oft miß-
achtete Hauptregel aller Kunst, daß eine jede von ihnen nur
die Mittel anwenden soll, die ihr zu Gebote stehen, und nur
insoweit sie mit ihnen die ihren Zwecken entsprechende
Wirkung erlangt. Dann aber soll sie sich durch nichts ge-
bunden fühlen, nicht durch aufgedrungene Gesetze. Sondern
sie soll ihre Mittel schrankenlos ausnützen, soweit sie es
nur vermag. Eines der Mittel des Dramas ist das Wort.
Das Wort in allen seinen Funktionen, auch als Mitteilungs-
mittel der Seele in wohlgesetzter gebundener Eede, auch als
musikalisches Element zur direkten Erweckung von Stim-
mungen, zur Erregung, zur Aufwühlung des Gemütes. Des-
wegen sind auch pathetische sogenannte „ schöne '' Eeden
erlaubt, insofern sie wirkungsvoll sind (also nicht die inwendig
hohlen).
Daß auch ein Prinz von Dänemark oder ein von seinen
Töchtern vertriebener König nicht so sprechen wird, wie
Shakbspeabes Hamlet oder Lear, das kümmert uns wenig.
Wir sagen dennoch glattweg: dies ist durch und durch wahr.
Ja wir nennen Shaeespeabe einen unvergleichlichen Realisten.
Weil seine Eede das ausdrucksvollste, sinnfälligste Zeichen
einer Aufregung der Seele ist, die sich uns durch dieses macht-
volle, musikalische, gedanken- und gefühlerregende Mittel ge-
136 VL Sprache, Dialog und Monolog.
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bieterisch aufzwingt^ die uns mit- nnd hinreißt und so die
reellste Einfühlung zuwege bringt. Das ist die innere Realität,
von der wir noch sprechen werden.
3. Der Monolog.
Die Sprache, haben wir gesagt, ist das Sinnbild der Ge-
danken und Gefühle der handelnden Personen. Dies führt
uns auf die Frage, inwiefern der Monolog im Drama zu-
lässig ist
Die auf die strengste Wirklichkeitstreue ausgehende Ten-
denz der Naturalisten mußte sich auch gegen den Monolog
kehren. Im Namen der Wirklichkeitstreue wurde der Monolog
aus dem Drama verbannt. Wenigstens im Drama mit rea-
listischer Sprache, sagte man, dürfe der Monolog nicht vor-
kommen. Die Gründe bewegen sich meist innerhalb derselben
Einwürfe. Sie sind bekannt. Der Mensch, sagt man, denke
gar nicht laut, spreche nicht mit sich selbst und, was er fühlt
und denkt, das habe nicht die Form und nicht die Langsam-
keit des Monologs. Folglich sei der Monolog unwahr. Außer-
dem sei er nicht nötig, denn innere Begebenheiten können sich
auch verteilt im Verlaufe des Dialogs offenbaren.^
Wir wollen nun diese Einwürfe einzeln vornehmen.
Zunächst im allgemeinen. Wie wir sehen, wird wieder
äußere Wirklichkeitstreue mit innerer Wahrheit verwechselt.
So ist die Frage nach dem Zeitmaß in dem Verlaufe der Ge-
danken völlig belanglos. Auch im Traume scheinen uns die
Bilder von Vorgängen sich langsam abzuwickeln, die in Wahr-
heit blitzschnell durch die Seele ziehen. Demnach und gerade
deswegen erscheinen sie naturwahr, weil der Vorgang, dessen
Reproduktion der Traum ist, sich ebenfalls viel langsamer ab-
spielt als der Traumprozeß. Dasselbe gilt also bezüglich der
Gedanken, die durch das Wort zu einem äußeren Vorgang
* Vgl Alfbed Kerb, „Das neue Drama", S. 298f.
VI. Sprache, Dialog und Monolog, 137
werden. Übrigens ist es nicht einmal richtig, daß die Ge-
danken immer nnTerhältnismäBig rascher sind, als die aus-
geführte Rede. Dies trifft insbesondere dann nicht zn, wenn
sich die Gedanken wirklich in ausgeführter Kede bewegen,
wovon bald des Näheren.
Nicht minder belanglos ist es, ob der Mensch laut oder
fitiU mit sich spricht. Doch behaupten wir, was dies anbelangt,
ebenfalls vorgreifend, daß er auch laut mit sich selbst zu sprechen
pflegt.
Um nun ins Einzelne einzugehen, fragen wir, wie ist es
mit dem Denken? Allerdings denken wir nicht immer laut,
wenn auch nicht selten. Auch das lautlose Denken aber
vollzieht sich mit Zuhilfenahme der Sprache. Diese ,4nnere
Sprache*' kann ausgeführt sein oder abgekürzt, von Schlag-
wort zu Schlagwort sich blitzschnell schwingend. Auch in
diesem letzteren Falle tauchen einzelne Worte klar im Be-
wußtsein auf, mit einem meist deutlich hörbarem Klang- und
Lautbild. Schon dieser ungünstigste Fall des abgekürzten
Denkens kann zur Not wörtlich durch den Monolog fixiert
werden. Es haben nur die einzelnen Worte, welche die frag-
liehe Person im Inneren hört, auch von uns gehört zu werden.
Von ihrer Natur-, ja selbst ihrer Wirklichkeitstreue braucht
diese Sprache dabei nichts zu verlieren.
Denn es ist, wie erwähnt, vollkommen gleichgültig, ob das
Wort nur von der handelnden Person gehört wird oder auch
mitgehört von uns. Beruht doch unsere ganze Teilnahme und
sozusagen Zeugenschaft all der Vorgänge, die sich im Drama
abspielen, auf einer Fiktion und Konvention. Wie kämen wir
sonst dazu, Zeugen zu sein dessen, was sich vor vierhundert
Jahren auf Schloß Rimpar zwischen dem Ritter Grumbach
und Florian Geyer begeben hat Ist es nicht lächerlich,
uns solche Sprünge in die Zeit, wo nichts von uns gewesen
war, zu gestatten und uns im Namen einer falschen Natur-
wahrheit das Mithören der inneren Sprache jener Personen zu
verbieten?
VI. Sprache^ Dialog und Monolog, 139
trauten zu wenden, zu dem man das vollste Vertrauen hat
und der auch über alles Nötige vollkommen Bescheid weiß,
nämlich an sich selbst.
Der hierbei sich vollziehende Prozeß ist psychologisch
merkwürdig genug. Der momentane Willensakt geht nämlich
vorerst darauf aus, eine Klärung, Einsicht, Ermannung, Ent-
scheidung oder einen Entschluß herbeizuführen. Dieser
Willensantrieb ist dör führende, er beherrscht das Bewußtsein
so vollkommen, daß er sich zum Herrn des Denkens auf-
schwingt. Das Ich ist jetzt nur das auf Klärung ausgehende
Subjekt. Dieses Subjekt objektiviert nun das Gesamtich,
eigentlich das übrige Teilich, zu einer zweiten Person, zu der
es mit „Du'* spricht
Schon Wendungen, wie wir sie täglich an uns selbst ge-
brauchen, als wie: ,^Mein Lieber, das hast du gut (prächtig usw.)
gemacht", „das war schlecht, abscheulich von dir*', dessen
solltest du dich schämen'*, ^,du bist ein Narr, ein dieser oder
jener", oder „das mußt du tun", „das soll dir gelingen",
„fürchte (du) nichts", „verfallen" usw., schon solche An-
sprachen an uns selbst sind — ob sie laut oder im Inneren
stattfinden — nichts als ein Zwiegespräch.^
In den oben angeführten Fällen aber entwickelt es sich
gewöhnlich zu einem Längeren und Vollständigeren.
Sei es, daß das Bedürfnis, ins Beine zu kommen, in einer
Art Geständnis von uns selbst befriedigt wird. Dann ist unser
berichtendes Gesamtich der führende und leitende Teil, welcher
das kontrollierende, reflektierende Teilich als „Du" anspricht
Es sind dies Fälle, wo wir eine Handlung vor uns selbst recht-
fertigen, einen noch nicht ganz festen Entschluß vor Schwan-
kungen oder Gegenantrieben wahren, ihn festigen wollen, bei
Anwandlungen der Reue, der Gewissensqualen oder bei Mah-
nungen des Gewissens.
Zu solchen Selbstansprachen gehört z. B. das bekannte Wort
Oababs: „alea iacta est!"
140 yi» Sprache, Dialog und Monolog.
Oder sei es, daß in einem ausgesprochenen Willens-
konflikt die Motive der antagonistischen Willensantriebe ab-
wechselnd zu Worte kommen. Je nachdem nun die eine
oder die andere Seite das Wort führt, ist natürlich die andere
Ichseite als „Du" angesprochen.
Diese flüchtige Analyse der verschiedenen Arten des Zwie-
gespräches mit sich selbst muß hier genügen. Für uns war es
ja nur wichtig, festzustellen, daß zuweilen der Mensch nicht
nur in ausgeführter Bede denkt ^ sondern auch zu sich selbst
spricht, mit sich selbst ein Gespräch führt. Noch wichtiger
war, zu finden, wann dies vorzugsweise geschieht, nämlich in
Augenblicken, wo das Urteil oder der Wille schwankt, jenes
nach, dieser vor dem Geschehen.
Wenn wir nun im Lichte der angeführten psychologischen
Tatsachen den dramatischen Monolog betrachten, so stellt er
sich uns als etwas ganz anderes dar, als das, wofür er heut-
. zutage allgemein sowohl bei seinen Anhängern, als auch bei
seinen Gegnern gilt. Er ist nämlich nicht mehr ein mit mehr
oder weniger Nachsicht zu behandelndes Kunst- und Aus-
kunftsmittel, sondern das, wofür ihn die ältere Ästhetik auch
ansah, ein vollgültiger Teil der darzustellenden Handlung, ein
„Insichgehen'* der handelnden Person, eine Einkehr in sich
selbst, die sich in einem echten^ natur wahren Zwiegespräch
mit sich äußert. „Der Monolog ist nichts Außerordentliches,
nichts Außematürliches ; er ist die gewöhnliche Art und
Weise, welche der Verkehr des Menschen mit sich selbst an-
nimmt. Unser inneres Leben bewegt sich in Monologen von
morgens bis abends."^
Vor allem soll und darf also der Monolog nicht als ein
verdecktes Enthüllen der Seele betrachtet werden und darf es
auch nicht sein. Der Monolog richtet sich so wenig an das
Publikum als sonst ein Gespräch.
^ BüDOLF V. Gottschall, „Zur Kritik des modernen Dramas'^
S. 117.
VL Sprache, Dialog tmd Monolog. 141
Zweitens soll der Monolog nicht ausschließlich lyrischer
Erguß sein. Ist er das, so bleibt er ein fremdes, dem Drama
äußerlich eingefügtes Glied, und wenn es auch ein noch so
kostbares Kleinod sein sollte. Es sei denn, daß das Werk
überhaupt mit lyrischen Elementen durchsetzt ist.
Drittens ist der Monolog, wie erwähnt, ganz ebenso ein
organisches Element im Drama , wie der Dialog, dessen Er-
gänzung er ist. Er darf darin ebensowenig fehlen wie der
Dialog oder die Handlung. Sollte es nur dem reinen Zufall,
sollte es nur dem Umstand allein, daß der Monolog dem
Drama als Kunstmittel erwünscht und unentbehrlich wäre, zu-
zuschreiben sein, daß sich seiner das klassische Drama in so
ausgedehntem Maße bedient hat? Wäre es dann nicht sonder-
bar, daß ihn die schlagkräftigsten Dramatiker mit solcher Vor-
liebe anwendeten, daß ihre Monologe das Entzücken zahlloser
Generationen von Zuschauern waren?
Wollte man sich einzig auf den Standpunkt stellen, daß
alles das in der Kunst berechtigt ist, was Wirkung hat, so
wäre ja schon dadurch allein die Existenzfrage des Monologs
über allen Zweifel erhaben. Er hat sich ja glänzend be-
währt. Das lehrt uns schon die flüchtigste Umschau in den
klassischen Dramen. Sie lehrt uns aber noch mehr. Sie
zeigt, daß der Monolog nur dort wirkt, wo er im Sinne
obiger Ausführungen naturwahr und notwendig ist.
Sehen wir uns einmal unter ihnen um. Ich beginne mit
Shakespeare und zwar, an das Frühere anknüpfend, mit dem
schon angezogenen Einführungsmonolog Richard III. Als
Mittel zur Charakteristik Glosters wäre er, wie wir schon
hervorgehoben, entbehrlich. Was stellt er also dar? In einem
wjeiteren Sinne und absichtslos freilich die trefflichste Charakte-
ristik. Diese großartig kraftvolle, zynisch rücksichts- und liebe-
lose Natur, das geborene Herrschergenie, welches sich selbst
als einen Kiesen fühlen muß, dem sich von rechts wegen alle»
unterordnen sollte — sieht sich seit seinem ersten Denken und
Erkennen von der Natur zurückgesetzt, in einer Hinsicht tief
VL Sprache^ Dialog und Monolog. 143
Und tragt mich aufrecht! — Dein soll ich gedenken?
Ja, armer Geist, — so lang Gedanken wohnen
Hier im verstörten Schädel! ...
Der dritte (11^ 2) beginnt schon bezeichnend: Und nun bin
ich allein! ,,0 welch gemeiner Sklav und Schuft bin ichl^^
Die Worte: ,,nun bin ich allein^^ drücken die ganze Er-
leichterung aus, die Hamlet fühlen muß, wenn er sich wieder
allein sieht, nur mit sich selbst und seinen Gedanken. Dann
spricht er sich an und gibt sich die uns schon bekannten
Titulaturen. Der Monolog ist eine fortwährende Selbstauf-
peitschung^ die in den Worten ausklingt: „An's Werk nun,
mein Gehirn!" (also eine Du anspräche. Der Verstand wird
objektiviert), worauf nun der Plan der Vorstellung gefaßt und
erwogen wird. Wir erinnern außerdem an die antagonistischen
Antriebe. Einerseits: „Und stutzt er nur, so weiß ich meinen
Weg. — " Dagegen andererseits: „Der Geist kann auch der
Teufel sein."
In dem berühmten: „Sein oder nicht sein*' QU, 1), wehrt
sich Hamlets kranker Wille gegen den sich aufzwingenden
Entschluß zur Tat und nimmt, wie schon früher einmal, Zu-
flucht zu dem Gedanken an den Selbstmord.
Der nächstfolgende Monolog (III^ 2): ^, Jetzt ist zum
Hexenspuck die rechte Zeit . . ." hat wiederum Bezug auf eine
mögliche Tat Hamlet warnt sich vor zu rascher Handlung,
vor einem Muttermord: „Mein Wort erdolche sie, doch nicht
mein Stahl." Auch der folgende (III, 3), wo Hamlet den
Gedanken, den betenden König zu töten, von sich weist, ist
von derselben Art: „Zurück mein Schwert! Für einen anderen
Stoß!" (Das Schwert oder der Arm, der es führt, oder das
Teilich des Willensautriebes, es zu gebrauchen, wird mit „Du"
angesprochen.)
Und wiederum ermannt er sich im nächsten Selbst-
gespräch (IV, 4) zur Tat, durch das beschämende Beispiel des
Fortinbras aufgerüttelt „Wenn ihr, Gedanken, nun nach
Blut nicht schreit, dann fahrt dahin in eurer Nichtigkeit!"
144 VI. Sprache, Dialog und Monolog.
So sehen wir, den* ersten ausgenommen^ der eine Samm-
lung darstellt^ in allen Monologen Hamlets einen Kampf sich
abspielen zwischen dem Antrieb zur Tat und seiner Taten-
unlust, also einen Kampf antagonistischer Antriebe.
Macbeths Monologe: „Wäre es, getan, auch abgetan..."
(I, 7), „Ist das ein Dolch, was ich vor mir sehe? ... (II, 1) und
„Sein, was ich bin, ist nichts'* . . . (III, 1), sind alle drei Selbst-
anspomung zur Tat. Als eine Art Monolog muß man auch
Macbeths Auseinandersetzung mit dem Geist Banquos
III, 4) betrachten, denn er vergißt, daß er sich in Gegenwart
von Fremden befindet Ebenso Monolog sind die Delirien
Lady Macbeths (V, 1). Beide sind Reaktionen nach der
Tat, ein Kampf mit dem eigenen Gewissen.
Othellos Monologe vor und nach der Erdrosselung
Desdemonas (V, 2) sind typische Selbstgespräche vor und
nach der Tat. Dagegen sind Jagos Monologe (II, 1) und
(II, 2) zwar auch in gewissem Sinne Vorbereitungen zur Tat,
m^r aber exponierendes Einweihen in seine Pläne, also an
das Publikum gerichtet. Daß diese Monologe, sowie diejenigen
Edmunds und Edgars im „Lear" nicht Selbstgespräche in
dem von uns verstandenem Sinne sind, ist klar. Sie sind in
Wirklichkeit das, wofür man jetzt alle halten möchte, nämlich
ein veraltetes Kunstmittel, dazu dienend, um uns über den
Gang der Begebenheiten oder über die Pläne der handelnden
Personen auf dem Laufenden zu erhalten. Sie wären als ein
naturwidriges Ausplappern verwerflich, als Kunstmittel naiv.
Bei Shab:espeaeb sind sie aber natürlich mehr eine, dem Ge-
schmack seines Publikums zuvorkommende und entsprechende,
zur Sitte und Konvention gewordene Sorglosigkeit, als eine
wirkliche Verlegenheitsauskunft, denn sie können ausnahmslos
weggelassen werden, ohne Schaden für die Klarheit des be-
treffenden Dramas.
Sie gehören zu jenen technischen Mitteln, die mit der
ganzen Einrichtung und Art der Bühne Shakespeares in Zu-
sammenhang stehen und jetzt in unseren gänzlich veränderten
VI. Sprache, Dialog und Monolog. 145
Verhältnissen ein Anachronismus wären. Sie hahen aber, und
darauf legen wir Nachdruck, nur die äußere Form mit den
echten Monologen gemeinsam. Sie verhalten sich zu ihnen
ganz in derselben Weise, wie jene Stellen des Dialogs, welche
uns plump und ungeschickt in etwas einweihen, das den
sprechenden Personen bekannt sein müßte. So wie man aber
deswegen nicht allen Dialog verwerfen kann, ebensowenig
ist es am Platze, ihretwegen den Monolog aus dem Drama zu
verbannen. Doch dies nur nebenbei, da wir darauf noch zu-
rückkommen.
Es sei uns nun gestattet, Schillebs Monologe zum Ver-
gleiche heranzuziehen. Schillebs Monologe tragen, was ihre
Sprache anbetrifft, dasselbe eigentümUche Gepräge wie seine
Dialoge. Es ist „sentimentalische^^ Kunst. Gedankenlyrik,
Pathos und Tendenz durchdringen seine Bede, die sich in
wohlgesetzten, bedeutungsvollen Wendungen nur zu oft mehr
an das Publikum, als an die unmittelbar Beteiligten wendet.
Abgesehen hiervon aber entsprechen seine Monologe meist
durchaus der ihnen von uns oben zugewiesenen Funktion.
Im „Don Carlos'* finden wir die Monologe des Don
Carlos (I, 1) „Beneidenswerter Philipp, wie dein Sohn be-
neidenswert! — ", der Eboli: „Nein! Verdrungen nur, ver-
drungen von einer Nebenbuhlerin. Er liebt . . .'* mit dem
Schluß: „Ja, recht das ist der Weg zu seinem Ohre" (11, 9).
Dann den Monolog des Königs in der ersten und den bekannten
in der fünften Szene des dritten Aktes: „Jetzt gib mir einen
Menschen, gute Vorsicht . . ." Endlich die Monologe des
Marquis Posa: „Wohlgesprochen, Herzog. Nützen muß man
den Augenblick . . ." (III, 9), und im vierten Akt (1): „Wär's
möglich? War' es? . . ." Wie schon aus den angeführten
Eingangs- und Schlußworten sichtbar ist, stellen sie sich alle
als Augenblicke der Besinnung, der Sammlung, des reifenden
Entschlusses dar.
In der Trilogie wären die Monologe Wallensteins zu
nennen. Der erste findet sich in den „Piccolomini" (II, 5):
Bytkowski, Gerhart Hauptmann. 10
146 ^^' SpracJie, Diuhg und Monolog,
Sie hat ganz recht gesehn. — So isVs . . .
mit dem charakteristischen Schluß:
Drum keine Zeit verloren!
Der zweite ist der bekannte Monolog in „Wallensteins
Tod'' (I, 4):
Wars möglich? Könnt ich nicht mehr, wie ich wollte?
Nicht mehr zurück, wie mirs beliebt? Ich müßte
Die Tat vollbringen, weil ich sie gedacht,
Nicht die Versuchung von mir wies — das Herz
Genährt mit diesem Traum, auf ungewisse
Erfüllung hin die Mittel mir gespart,
Die Wege bloß mir offen hab* gehalten? —
Beim großen Gott des Himmels! Es war nicht
Mein Ernst, beschloßne Sache war es nie . . .
Ist es nicht, als ob Lessings schlichter Geist über diesem
Eingang schwebte?
Dann bitte ich zu beachten, wie sich die Worte in der
Folge ganz an den Sprechenden selbst als an eine zweite
Person wenden:
Und was ist dein Beginnen? Hast du dir*s
Auch redlich selbst bekannt? Du willst die Macht,
Die ruhig, sicher thronende erschüttern? . . ."
Und dann weiter:
Das wird kein Kampf der Kraft sein mit der Kraft;
Den furcht' ich nicht. Mit jedem Gegner wag' ich's.
Den ich kann sehn . . .
Ein echtes Zwiegespräch also des abmahnenden Teilichs
mit dem Gesamtich:
Sei im Besitze, und du wohnst im Becht
Und heilig wird's die Menge dir bewahren.
Endlich sei noch der berühmte Monolog Wilhelm Teils
(IV, 3) aufgeführt:
Durch diese hohle Gasse muß er kommen . . .
Es ist eine vollständige Abrechnung mit dem leise abmahnenden
Gewissen, die hier Teil hält. Kein technischer Notbehelf,
sondern eine psychologische Notwendigkeit ist es, daß Teil
VL Sprache f Dialog und Monolog, 147
vor der furchtbaren Tat, vor dem seiner ganzen so tapferen,
biederen und offenen Seele so verhaßten Meuchelmord mit
sich selbst spricht und nur mit sich selbst. Er muß sich vor
sich selber rechtfertigen und zwar trotzdem seine Tat eine
festbeschlossene Sache ist. Er weiß, daß er nicht wankt, nicht
wanken kann, noch wird einen Augenblick lang. Er will sich
nicht im Entschluß festigen, noch ihn erschüttern, er will ihn
nur rechtfertigen, denn es ist eine häßliche Tat, die er be-
gehen soll, er, der im Leben nur schöne begangen hat Das
bedeuten die schlicht ergreifenden Worte:
Ich lebte still und bannlos . . .
Zum Ungeheuren hast du mich gewöhnt
Die armen Kindlein, die anschuldigen,
Das treue Weib muß ich vor deiner Wut
Beschützen, Landvogt!
Hier wendet sich Teil in seiner Anrede, wie es oft in einem
Selbstgespräch geschieht, an seinen Gegner^ der vor seinem
Geiste steht Ihn will er von der Notwendigkeit seiner Hand-
lung überzeugen. Ihm droht er, ihm macht der Fromme
bittere Vorwürfe:
Doch nicht der Kaiser hätte sich erlaubt,
Was du! . . .
Deswegen darf man auch das Selbstgespräch Teils mit
dem Schluß des Monologs keineswegs als abgeschlossen an-
sehen. Es ist ein feiner psychologischer Zug, daß Teil auch
während der Unterhaltung mit dem Flurschützen eigentlich
nur das Gespräch mit sich selbst fortführt Nicht an den
Flurschützen sind seine Worte gerichtet, die demselben auch
sonderbar und dunkel erscheinen müssen:
Wanken auch
Die Berge selbst? Es steht nichts fest auf Erden • . .
Dem Schwachen ist sein Stachel auch gegeben . . .
Es kann der Frömmste nicht im Frieden bleiben,
Wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt
Doch genug der Beispiele. Wie sie uns lehren, ist auch bei
ScHiLLEB, den wir nicht ohne Absicht wählten, der Monolog
10*
148 VI' Sprache, Dialog und Monolog.
das, was er unseren Ausführungen nach sein soll: ein Ge-
spräch, das der schwankende Mensch in Augenblicken der
Einkehr, der Sammlung vor und nach der Handlung mit sich
selbst führt Zu diesem Behufe sondert sich von dem G-esamt-
ich ein Teilich ab, um, sei es fordernd, anspornend, sei es
hemmend, abmahnend auf den Entschluß oder die Entscheidung
einzuwirken; nach der Tat, um sie vor sich selbst zu recht-
fertigen oder zu verdammen.
Und nun, nachdem wir uns in Erinnerung gebracht haben,,
wie zwei Vertreter des verpönten klassischen Dramas den
Monolog in der Eegel behandelt hatten, fragen wir nochmals,,
warum tindet der Monolog gerade im Drama die ausgedehnteste
Anwendung? Steht sie nicht in engster Beziehung zur eigensten
Natur des Dramas, als einer Kunst, die vorzüglich durch
Handlung und Kampf wirkt und wirken will? Sind nicht die
Einkehr, das Sichzurückziehen in sich selbst und andererseits
die Spaltung der Persönlichkeit bei antagonistischen Antrieben
Zustände, die im eigensten Sinne Vor- und Nachspiel der
Tat, Stadien des Kampfes sind? Nur gedankenlose, un-
berechenbare und unzurechnungsiähige Menschen handeln ohne
Überlegung, das ist ohne Kampf der Antriebe und suchen sich
von den eigenen oder fremden Handlungen keine Rechenschaft
zu geben. Das Drama aber, das Feld der motivierten Handlung,
hat mit solchen Menschen wenig zu tun. Da nun das Über-
legen ebenso wie das überdenken der Handlung sich, wie oben
ausgeführt, immer, wenn nicht in voller, so doch wenigstens
in sprunghafter Rede bewegt, da sich diese Rede besonders
bei starkem Widerstreit der Willensrichtungen und innerem
Zwiespalt in ein eigenstes Zwiegespräch verwandelt, so ist auch
das Drama das geeignetste Feld für den Monolog.
Die äpik, die oft den Zustand, das Seiende, nicht das
sich vorwärts Bewegende darstellt, die kann den Monolog ent-
behren, auch wenn sie des Dialogs voll ist. Wer z. B. im
Roman auf eine äußere und innere Charakterschilderung aus-
geht, der wird vielleicht auch die Sprechweise der fraglichen
VI, Sprächet Dialog und Monolog. 149
Person gerne darstellen. Er kann lange Gespräche anführen,
um zu zeigen, welche Sprache sie führt, wie sie denkt und
mit anderen Umgang pflegt. Da aber nicht ein Handeln Gegen-
stand seiner Darstellung ist, so wird er oft keinen Anlaß finden
ein Selbstgespräch zu reproduzieren.
Also nicht deswegen allein, weil der Romanschriftsteller
über die seine Personen bewegenden Gedanken auch einfach
als Erzählender selbst berichten kann, sondern auch weil seine
Person wirklich keinen Grund hat, mit sich selbst zu sprechen,
wird er in diesem Falle kein Selbstgespräch einfügen.
Kommt aber in dem Roman eine Handlung doch zur
Darstellung, da kann sich die Sache sofort ändern und die
handelnden Personen werden auch häufig Selbstgespräche führen.
Selbst da aber bringt es die Form der berichtenden Dar-
stellung mit sich, daß diese Selbstgespräche nicht in direkter,
sondern meist in indirekter Rede wiedergegeben werden, ganz
im Gegensatz zum Drama.
So wird der Verfasser etwa berichten:
N. N. saß in Gedanken versunken. Er erinnerte sich aller Einzel-
heiten seiner Begegnung und mußte sich gestehen, daß er sich wie
ein Tölpel, wie ein grüner Junge benommen habe ....
In Wirklichkeit wird der Betreffende nicht in dritter Person
von sich denken, sondern etwa so: „Ja, ich war ein rechter
Tölpel, ein Lümmel, ein grüner Junge..."
Oder ein anderes Beispiel. Der Verfasser schreibt etwa:
Seine Gedanken wogten auf und nieder. Seine Seele befand sich
im heftigsten Aufruhr. Einmal meinte er, er müsse ihr rundweg erklären
was er von ihr hielte, was sie in seinen Augen geworden. Das andere
Mal drückte ihn das Bewußtsein der eigenen Schuld so nieder, daß er
sich nicht berechtigt fühlte, ihr auch die leisesten Vorwürfe zu machen usw.
Derselbe Verfasser könnte aber nach gleichem Eingang
dann die Gedanken seines Helden wörtlich anführen, etwa in
der Weise:
„Ja, rund heraus werde ich ihrs erklären, was ich daron
halte!"
Dann aber kamen ihm Zweifel:
150 VI, Sprache, Dialog und Monolog.
„Aber hast du auch das Kecht dazu? Wer bist du denn^
der sich untersteht anderen Vorwürfe zu machen? Bist denn
du frei von Schuld? War dein Spiel nicht verwerflich und
schändlich? "
Wir sehen, wie der im Drama verpönte Monolog da mit
allen seinen Eigentümlichkeiten^ mit der von uns gekenn-
zeichneten Du anspräche aufersteht. Wir merken jetzt auch^
wie es kommt, daß die Romane so wenig Selbstgespräche auf-
weisen. Erstens, nach dem früher ausgeführten, weil oft Zu-
standsschilderung überwiegt, zweitens aber, weil der be-
richtende Epiker an und für sich die Tendenz hat, ein
Selbstgespräch nicht in direkter Rede, sondern in
freiem Bericht zu reproduzieren. Schon deswegen, weil
er die fraglichen Gedanken oft gleichzeitig erklärt, motiviert
und bewertet. Nicht die Entbehrlichkeit des Monologs als
Kunstmittel ist es also, die auch in solchen Fällen sein seltenes
Vorkommen bewirkt, sondern die Tatsache, daß sich der Roman
der unmittelbaren Rede überhaupt nicht ausschließlich und
nicht vorzugsweise bedient. Und wenn man sich auch gewöhnt
hat, die besonders wichtigen Wechselreden in der Epik eben-
falls wörtlich anzuführen, so hat man in bezug auf die Ge-
danken, welche die Personen bewegen, sobald sie allein sind,,
sich umgekehrt meist an den freien Bericht gehalten, wovon
die neuesten Romane freilich abgehen.
Uns geht die Sache nicht unmittelbar an. Es war nur
unsere Absicht^ darauf hinzuweisen, daß, wenn man, mit auf
den Roman gerichteten Blick, sich gedrungen sah, ein Bann-
gesetz gegen den Monolog zu erlassen, so erlag man wieder
einmal einer Täuschung, weil man aus falschen Analogien falsche
Schlüsse zog.
Würden die Naturalisten des Dramas alle solche liebe-
volle Beobachter der Alltagssprache sein, als die sie gelten
möchten — welcher Ehrgeiz an und fiir sich nicht für den
Dramatiker paßt — so könnten sie es nicht übersehen, da&
das Selbstgespräch gerade bei dem modernen Menschen zu den
VI, Sprache, Dialog und Monolog, 151
5
ständigsten Erscheinungen geworden ist. Während ich an der
Abfassung dieses Kapitels arbeitete, bot sich mir die Gelegen-
heit dar^ einen solchen Monolog zu erlauschen.
Ein junger Mann ist^ scheint es^ durch eine Examenarbeit
allzusehr hergenommen. So ist er übel gelaunt und läßt seinem
Unmut freien Lauf. In dem Selbstgespräch^ das er gegen alle
moderne Eunstregel ganz laut und zusammenhängend führt,
kommt der Unmut in verdrossenen Stänkereien über dies und
jenes zum Ausdruck. Plötzlich aber bricht er ab^ um zu dem
klassischen Schluß zu gelangen: ,^Da ist weiter nichts zu tun.
Ich muß mich erschießen. Ich kann nicht so immerfort lernen.'^
Der junge Mann wird hoffentlich ohne alle tragischen
Zwischenfälle sein Examen bestehen. Als er sich belauscht
sah^ war er natürlich ziemlich verlegen. Er konnte nicht ahnen,
wie dankbar ich ihm war, weil er mir, der eben von Selbst-
gesprächen den £opf voll hatte, das schönste und reinste
psychologische Experiment darbot. Sicher haben wir da einen
klassischen Zeugen für den Monolog. Denn erstens ist ein
junger Mann, der an einem Examen arbeitet, zweifelsohne ein
„Stück Natur^^ Dann ist er doch sozusagen auch ein moderner
Mensch. Endlich ist die Arbeit an einem Examen der aller-
alltäghchste, allerliebste Alltag.
Ziehen wir also aus unserem Experiment die Lehre. Der
junge Mann ist, soviel ich weiß, ganz normal veranlagt. Es
ist aber sein augenblicklicher Zustand nicht vollkommen normal.
£'ortgesetzte hastige und angestrengte geistige Arbeit spannt
ab, erschöpft die Nerven und versetzt sie dadurch in einen
Zustand besonderer Reizbarkeit, Wir haben es also mit einer
Depression und Überreizung zugleich zu tun. Die Überreizung
hatte die mißmutige Kritik zur Folge, die Depression die
Selbstmordanwandlungen. So kommt, wenn wir diesen Fall
mit vielen anderen beobachteten und bekannten in Zusammen-
hang bringen, zu den oben aufgezählten noch einer hinzu, wo
der Mensch gerne mit sich selbst spricht, nämlich der Zustand
einer Depression und Überreizung.
152 VI. Sprache^ Dialog und Monolog,
Auf den Monolog im Drama läßt er sich ganz gut beziehen.
Prüfen wir alle oben angeführten und die vielen, vielen anderen
Beispiele von mustergültigen Monologen, so sehen wir, daß dabei
der Zustand einer Depression oder Überreizung fast Regel ist.
Hamlets Monologe sind klassische Beispiele für beides.
Und wiederum ergibt sich aus dieser Betrachtung der
Schluß, daß das Drama, das besonders geeignete Feld ist
für das Selbstgespräch. Weil — wenn die Menschen darin
auch durchaus nicht abnormal sein sollen — doch die Ver-
hältnisse und die Situation, oder der augenblickliche Zustand
der Beteiligten oder Betroffenen meist abnormal ist. Ist er es
nicht, so hat man auch keine Ursache, einen Monolog einzufügen.
Wir sehen auch im Lichte dieser Betrachtungen, wie ober-
flächlich der gangbare Einwurf gegen den Monolog ist, daß der
Mensch doch nicht so häufig mit sich selbst spreche, wie es
den Dramen geschieht. Wie gesagt, wir lassen es überhaupt
nicht gelten. Aber selbst angenommen, daß der Mensch wirklich
nicht sehr häufig mit sich spreche. Was folgte daraus? Ist
denn sonst etwas in einem echten Drama häufig und täglich
vorkommend? Wir sprechen nicht von einem Lear, Hamlet
oder Wallenstein; ist aber die Lage eines Bartel Turaser,
im gleichnamigen Stück, eines Wilhelm oder Robert Scholz
im „Friedensfest*% eines Vockerat in den „Einsamen
Menschen'', eines Michael Eramer u. a. etwa normal?
Darin liegt ja der Grundirrtum, daß man vom Drama Dar-
stellung des Normalen erwartet, wo es doch in seiner ganzen
Anlage auf dem Abnormalen beruht
Das Normale kann nur Gegenstand einer Zustanddarstellnng
sein. Nicht einmal die Komödie gibt vollkommen Normales,
um wieviel weniger das Drama. Aber das wissen sehr gut
auch die Naturalisten. Nur vergessen sie es gerne, wenn sie
sich Regeln austüfteln für das Einzelne. Daher das Losungs-
wort vom Stück Natur, daher die Sucht, das Ungewöhnliche
aus dem Drama zu bannen, der auch der Monolog zum Opfer
fallen mußte.
VI. Sprache, Dialog und Monolog. 153
und nun sehen wir genauer zu, wie es die Modernen,
insbesondere die Naturalisten mit dem Monolog halten. Von
einem Verständnis seiner wahren Natur und Aufgabe im Sinne
obiger Ausführungen ist selbstverständlich keine Rede. Nicht
zu leugnen ist, daß die Monologe der Epigonenliteratur zu
seinem schlechten Leumund viel beigetragen haben. Kurz, die
Naturalisten sehen den Monolog mit Unrecht als einen Not-
behelf an, eine Art gezwungener und gespielter Offenherzigkeit
der handelnden Person, die psychologisch nicht begrtLndet, nur
dazu dient, um über die Gedanken, Gefühle, Absichten der-
selben Licht zu verbreiten. Dieses Auskunftsmittel finden sie
mit Recht plump und unbrauchbar und verwerfen es deswegen.
Was tun sie aber weiter? Sie gehen von der Notwendigkeit
eines solchen Auskunftsmittels doch aus und suchen nur ein
anderes, unbekümmert darum, ob es auch besser ist. Sie sind
wie der dienstfertige Ladendiener eines Warenhauses. Weist
man irgendein Ding als unbrauchbar zurück, so ist er gleich
mit einem anderen bei der Hand. Ob es tauglicher ist, ist
nicht seine Sache, wenn es nur ein anderes ist
So haben die Naturalisten als Surrogat für den Monolog
unter anderen auch das stumme Spiel erfunden. Dramatiker
und Schauspieler beglückwünschten einander ob der Ent-
deckung. Es ging ein Freudengeschrei durch die Theaterkreise
und das Publikum stimmte fröhlich ein. Was ein modemer
Schauspieler sein wollte, mußte das Sprechen vergessen, dafür
aber das stumme Spiel vollkommen inne haben. Die Drama-
tiker hatten eine neue Gelegenheit bekommen, seitenlange
Bühnenanweisungen niederzuschreiben, in welchen das stumme
Spiel genau angegeben wurde.
Was ist nun aus alledem geworden? Nichts, natürlich.
Mag der Schauspieler noch soviel über die Bühne hasten,
plötzlich wieder stillstehen, um sich dann vom neuen herum-
zuwerfen, alle möglichen Ruhebänke und Ruhesessel nach-
einander aufzusuchen, mag er den Kopf noch so krampfhaft
in die Hände drücken, er wird uns nicht sichtbar machen
154 VI- Sprache f Dialog und Monolog,
können, welche Gedanken durch sein Hirn schwirren. Wir
können nur ihren Gefühlswert und ihre Gefühlsart von ungefähr
erraten, zur Not merken^ daß es widerstreitende Gedanken und
Gefühle sind, die ihn erfüllen. Alles übrige bleibt dunkeL
Wir wissen aber, daß in solchen Augenblicken in der Seele
des Betreffenden außer Gefühlen auch bestimmte Gedanken
auf und abwogen, sich kreuzen und bekämpfen, Gedanken in
Worte gekleidet, meist sogar in die Form eines Gesprächs oder
einer Anrede. Diese Gedanken möchten wir kennen. Allein
diese Kenntnis wird uns, trotz der verzweifeltesten Anstrengungen
des Schauspielers, nicht zuteil.
Wieder einmal hat man sich da am Eoman versehen und
man findet, um uns über das, was in der Seele der fraglichen
Person vorgeht, zu unterrichten, kein anderes Mittel als den
Bericht. Dieser Bericht im Roman klar und präzis und sug-
gestiv — wird hier im Drama zu einer toten Stelle — so er
in die Bühnenanweisung hineingebracht wird. Dies fühlend,
sucht man durch möglichst ausdrucksvolle Bewegungen den
Mangel an klarem Gedankeninhalt zu ersetzen.
Dabei verfällt man denn natürlich auf die verbrauchteste
und gewagteste Konvention; und oft auch Sentimentalität. Ich
führe ein solches monologartiges stummes Spiel an („Frieden-
fest" I, S. 39):
Robert (ihr nachrufend) Frau Bucbner! (sich wendend) Hysterie,
verdammte! Er zuckt mit den Achsehi und durchmißt den Baum;
mehrmals noch nimmt er plötzlich einen Anlauf, wie um ihr nachzu-
eilen, ändert aber jedesmal seinen Entschluß, gibt ihn schließlich ganz
auf und beruhigt sich gewaltsam bis zu einem Stadium scheinbaren
Gleichmuts. In diesem Stadium beschäftigt ihn anfänglich seine Tabaks-
pfeife : er klopft sie aus, füllt sie mit neuem Tabak, den er einem Beutel
entnimmt, setzt sie in Brand und scheint mehrere Augenblicke dem Genuß
des Rauchens ganz allein hingegeben. Sein Interesse fängt in der Folge
an, sich dem Christbaum und den Geschenken auf der Tafel zuzuwenden:
breitbeinig davorstehend und alles überblickend lacht er, die Pfeife im
Munde, wiederholt bitter auf. Plötzlich stutzt er dann und beugt sich,
nachdem er die Pfeife in die Hand genommen, tief über die Tafel.
Sich aufrichtend, scheint er jetzt erst die Entdeckung zu machen, daß
VL Sprache^ Dialog und Monolog, 155
er allein ist. Scheu wie ein Dieb umherblickend, beugt er sich aber-
mals, ergreift mit Hast die gelbseidene Geldbörse, f&hrt sie den Augen
näher und mit einer j&hen, leidenschaftlichen Bewegung an die Lippen.
Dieser Moment zeigt das Aufblitzen einer imheimlichen , krankhaften
Leidenschaftlichkeit. Ein Geräusch stört ihn. Augenblicklich liegt die
Börse an ihrem alten Platz. Auf den Zehen gehend, sucht Robertsich
davon zu schleichen. Im Begriff durch die erste Seitentür links zu ver-
schwinden, bemerkt er, wie durch die Nebentür seine Mutter, Frau
Scholz, eintritt, und steht seinerseits still.
Die Stelle ist, wie wir sehen, ein ausgezeichnetes Beispiel
für unsere obigen Ausführungen. Da haben wir erstens die
typische Verwebung von Anweisung und Schilderung oder
Bericht, eigentlich eine auf Täuschung und Selbsttäuschung
angelegte Einschmuggelung von Schilderung und Bericht in die
Anweisung. Wir weisen auf Ausdrücke hin wie: „In diesem
Stadium beschäftigt ihn anfänglich . . . .'S „Sein Interesse fängt
in der Folge an, sich dem Christbaum zuzuwenden." Ins-
besondere aber: „Dieser Moment zeigt das Aufblitzen einer
unheimlichen^ krankhaften Leidenschaft.'^ Ist es nicht wie eine
Stelle aus einem Eoman? Der Anweisung wird ein regelrechter
Kommentar beigegeben. Wir werden unterrichtet, als was wir
den Moment anzusehen haben.
Doch darüber haben wir in anderem Zusammenhang im
allgemeinen schon gesprochen. Wir haben dort auch betont, daß
solche Bühnenanweisungen über einen Mangel der Darstellung
hinwegtäuschen sollen. Was uns jetzt angeht, ist nachzuspüren,
worauf das alles in diesem besonderen Falle ausgeht, und
da finden wir, daß ein Ersatz für den Monolog vorgetäuscht
werden soll, der bei näherem Betrachten ein Nichts ist. Bei
diesem ümhertasten auf der Bühne sitzt, nach einem richtigen
Wort, das Publikum nur mit offenen Mäulem da, ohne nur
eine Ahnung zu haben, was gemeint sei.^
Daß die Erklärungen des Dramatikers dem nicht abhelfen.
^ AvoNiANüs, „Dramatische Handwerkslehre^S zitiert nach
Hugo Dinger, „Dramaturgie als Wissenschaft^', II, 198. Avonianus*
Schrift habe ich nicht gelesen.
156 VJ^' Sprache^ Dialog und Monolog.
liegt zutage. Sind sie ja in Wirklichkeit gar nicht da. Des-
wegen nimmt auch Hauptmann Zuflucht zu einem radikalen
Mittel, indem er Robert die gelbseidene Börse küssen läßt.
Das ist das obenerwähnte konventionell melodramatische Mittel.
Man glaubt kaum seinen Augen! Robert, der Zyniker, der
vor jeder Gefühlsäußerung sich mit dem bittersten Hohn wehrt,
er soll sich plötzlich wie ein grüner Jüngling benehmen? Zwar
möglich ist alles, aber nicht glaubwürdig. Und in diesem Falle
ist es einfach lächerlich. Ich fühle förmlich, wie bei solchem
Anlaß sich die Kinnladen gewaltsam zu einem krampfhaften
Gähnen öffnen. Bitte nur zu beachten! Nachdem man minuten-
lang auf das Ende der unklaren Pantomine gewartet hat,
kommt eine solche Lösung. Das erinnert ja an den Zirkus.
Das ganze war ja nicht nötig, denn dieses Aufblitzen einer
jähen Leidenschaft ist an und für sich nicht nur wenig glaub-
würdig, sondern auch überflüssig. Wenn Hauptmann das
Motiv der Eifersucht verwenden wollte, so konnte sich die
Leidenschaft Roberts für Ida auch ohne den stummen Monolog
äußern. Monologe — auch stumme — sind eben nicht dazu
da, um aufzuklären, sondern sie sollen dort Anwendung finden,
wo der Mensch wirklich mit sich, sei es laut, sei es im Geiste,
spricht.
Hat man aber schon den hier ganz unnötigen Monolog ver-
brochen — wäre es dann nicht doch besser, Robert einige
Worte fallen zu lassen? Wie er sagen konnte „Hysterie, ver-
dammte!** so konnten seine Gedanken in weiteren Monolog-
fragmenten zum Ausdrucke gelangen, wie etwa folgende: „Diese
Ida! — Der Mann hat Sohweineglück alles in allem. Nun
ja, dir kommt so was nicht ins Gehege! . . ." „Im Grunde,
was findet sie nur an dem Geck? . . ." usw. Das wäre gegen
die Schulregel natürlich. Dafür wäre es weniger gegen die
Natur und weniger rührselig als das Küssen einer Börse und,
was das Wichtigste ist, auch verständlicher. Denn Hauptmann
mag uns in seiner Regieanweisung noch so sehr versichern, daß
es derselbe Beutel ist, den Ida dort hingelegt hatte, dem Zu-
VI. Sprache, Dialog und Monolog. 157
schauer wird der Sachverhalt nicht so schnell klar geworden
sein. Das Theater wirkt nur durch Sinnfälliges. Was nicht
ein solches ist, fällt durch, zählt nicht, darüber helfen keine
intimen Theater hinweg.
So steht es nun mit dem stummen Spiel, das die Natura»
listen und ihre Nacheiferer an Stelle des Monologs gesetzt
haben. Einem nicht vorhandenem Bedürfnis entsprechend, be-
friedigt es dieses nicht im geringsten, bietet höchstens eine
günstige Gelegenheit dar zum schauspielerischen Humbug.
Noch ein zweites Mittel wenden die Naturalisten an, um
den Monolog zu ersetzen. Sie verteilen das in dem Monolog
zu Bringende auf die hier und dort verstreuten Andeutungen,
Offenbarungen, Mitteilungen des Dialogs. Das Mittel ist nicht
neu und nicht schlecht. Ibsen ist ein Meister seiner Ver-
wendung. Es kann übrigens auch^ wie der Monolog, mißbraucht
werden.
Hauptsache aber bleibt, daß es ein grundsätzlicher Irrtum
ist, dasselbe als einen Ersatz für den Monolog anzusehen. Es
kann nur Ersatz bieten für den unrichtigerweise als
Expositionsmittel verwendeten Monolog. Dieser ist aber
kein echter Monolog und durchaus verwerflich. Das echte
Selbstgespräch soll nur ein solches sein, ein Sichzurückziehen
in die Einsamkeit, Sichbeschränken auf den Umgang mit sich
selbst, eine momentane Spaltung der Persönlichkeit zum Zwecke
der Selbstberatung. Ein solches Selbstgespräch, einen solchen
Kampf oder Auseinandersetzung mit sich selbst kann doch ein
Gespräch mit anderen nie und nimmer ersetzen. Was also
das letzterwähnte Mittel anbelangt, so ist es eines von den
Expositionsmitteln und sollte von Rechts wegen keine Berührung
haben mit dem Monolog. Nur eine unrichtige Auffassung der
Funktion eines Monologs konnte dazu führen, darin einen Ersatz
für denselben sehen zu wollen.
Ganz ausnahmsweise nur kann etwas ähnliches künstlich
dazu gebraucht werden, einen Monolog wirklich zu ersetzen.
Es geschieht dies in den Fällen, wo eine Person sich vor
158 y^' Sprache, Dialog und Monolog.
jemandem ausspricht, der einfach nur dazu dient, um diesen
Eröffuungen als unschuldiger Strohmann beizuwohnen und „sein
überflüssiges Dasein auf der Bühne mit Zigarettendrehen^
Streichhölzeran zünden, mit jenem von Gegenstand zu Gegen-
stand Herumlungern, auf dem Schaukelstuhl Baumeln usw.
ausfüllt und so ab und zu, des Dialogs wegen, ein Sätzchen
dazwischen wirft." ^ Es ist etwa wie wenn man ein Selbst-
gespräch vor seinem Hunde führt. Das Tier schaut einem
verständnisvoll in die Augen, gähnt bisweilen und dauert es
zu lange, so wendet es sich verachtungsvoll weg und verfällt
in einen süßen Schlummer.
Wie wir sehen, ist das Ersatzmittel in einem solchen
Falle nur ein Maskieren eines echten Monologs, ein „Schein-
dialog". Es ist übrigens Geschmacksache, ob man etwas
ähnliches verwenden will oder nicht. Zu warnen wäre jeden-
falls vor zu ausgedehntem Gebrauche dieses Mittels, das gar
zu leicht zum Mißbrauch wird. Das Inslebenrufen solcher
„Vertrauten" erinnert doch zu sehr an verschollene Technik
und führt geradenwegs zur widernatürlichsten Konvention und
der banalsten Schablone. Wo bleibt dann die Naturwahrheit?
Wir ziehen nun den Schluß. Wie wir gesehen, hat man
in gänzlicher Verkennung der wahren Natur des Monologs, wie
seiner Funktion im Drama, geblendet durch das immerwährende
Hinschielen nach dem Boman und der Epik, etwas verworfen,
das durchaus in das Drama gehört. Abgesehen von der nicht-
versagenden Wirkung des Monologs, ist das Sichzurückziehen
in sich selbst ein organisches Glied, ein Stadium im Kampfe
der antagonistischen Kräfte, als welcher sich das Drama
darstellt.
So ist der Kreuzzug gegen den Monolog nicht nur durchaus
verwerflich, sondern es ist geradezu eine der Forderungen
für die Fortentwickelung des Dramas, daß man dem
Monolog darin den gebührenden Platz wieder zuweise.
^ Hüao DiKGEB a. a. 0. S. 201 in der Anmerkung.
VI. Sprächet Dialog und Monolog, 159
wobei er, von allen fremden Zutaten, falscher Verwendung und
konventioneller Unwahrheit befreit, zu einer neuen Wirkungs-
fähigkeit gelangt.
Dahingegen sind die in Verwendung gebrachten Mittel
zum Ersatz des Monologs teils die plumpste Selbsttäuschung,
wie die Kommentare in der Bühnenanweisung; teüs wirkungs-
lose Stückchen, wie das stumme Spiel; teils ersetzen sie gar
nicht den Monolog, wie die Verteilung seines vermeintlichen
Inhaltes auf den Dialog; teils endlich fähren sie zur Banalität
und Unnatur, vne der Scheindialog mit einem „Vertrauten".
VII. Handlung, Fabel und Idee.
Wir haben im Verlaufe der Analyse und der Kritik oft
darauf hingewiesen , daß das naturalistische Drama von der
Zustandsschilderung herkommt und auf eine solche ausgeht
Sei es^ daß ein Milieu^ sei es, daß Charaktere ihr Gegenstand
sind, immer ist es Schilderung, die den eigentlichen Inhalt des
Dramas bildet. Richabd M. Meyeb hat daher für dieses
Drama die Bezeichnung: ,,das Drama des reifen Zustandest'
gefunden. „Ein Charakter oder eine Gruppe stehen da, schick-
salsreif, und warten auf ihr Verhängnis. Irgendein, keines-
wegs auffallendes, Ereignis zeitigt es: ein Besuch^ eine Nach-
richt, eine Begegnung. Und rasch vollzieht sich nun, was
geschehen muß.*^ „Bei Hauptmann hat dieser neue drama-
tische Typus etwa folgende feste Form. Ein paar Personen,
jede eine ausgeprägte Individualität, sind vom Schicksal zu-
sammengeworfen; in ihrem Zusammenwirken nähren sie gegen-
seitig jeder des anderen Eigenart Eine unter ihnen fühlt vor
allem das Bedrückende, Gefahrliche dieser Existenz und sehnt
sich heraus. Ein Bote aus der großen Welt ringsum kommt
und scheint einen Augenblick die Möglichkeit zu bringen, daß
der Gebundene sich löst. Aber die Gebundenheit ist zu stark;
und so führt der Versuch der Kettung die Katastrophe herbei." ^
Diese Charakteristik ist so treffend, daß wir ihr nichts
beizufügen haben. Prüfen wir diesen Typus der Idee, so er-
gibt sich, daß er nicht im geringsten dramatisch ist. Der „reife
^ Die deutsche Lit. des neunzehnten Jahrh. 2. Aufl., S. S24.
VU. Handlung^ Fahd und Idee, 161
Zustand" kann zur Not, d. h. wenn man von Mißgriflfen ab-
sieht, ein tragischer Zustand sein. Aber seine Tragik kann
und darf noch lange nicht Gegenstand dramatischer Be-
handlung sein.
„Ein Zustand, aus dem sich die Personen vergebens zu
lösen suchen^S sagt E. M. Meyeb weiter, „ist die allgemeinste
Formel für das moderne Drama dieser Schule."^ Den Zu-
stand geben wir zu, das „Suchen der Lösung'^ nur mit mehr-
facher Beschränkung. In den allerseltensten Fällen ist es
nämlich zu einem bewußten Wollen verdichtet, fast nie zu
einem entschiedenen. Ohne Wollen aber gibt es kein echtes
Drama. Selbst Hamlet, der Mann mit dem an der Gedanken-
blässe kranken Willen hat doch immer ein bewußtes Wollen,
wenn es auch noch so sehr hin und her schwankt. Bei diesen
modernen Gebundenen gibt es gar keinen Willen bis der be-
wußte „Bote" kommt und ihn weckt.
Es ist nur eine dumpfe Unzufriedenheit da, die aber zu-
gleich Ergebenheit ist. So bei Helene in „Vor Sonnen-
aufgang", im„Friedensfest", in den „Webern", im „Fuhr-
mann Henschel", auch in der „Versunkenen Glocke".
Oft sind es nur „Nerven" wie in den „Einsamen Menschen",
in Halbes „Jugend".
Für beide Arten bietet das naturalistische Drama die
zahlreichsten Beispiele: „Toni Stürmer" von Caesab
Flaischlen, „Efraims Breite" von Ka.el Hauptmann,
„Tote. Zeit*' von Eenst Hakdt, „Winterschlaf" von Max
Dbeyer, „Die Familie Selicke" von Schlae und Holz,
„Das Stärkere" von C. G. Eeütling, „Stickluft" von Feanz
Seevaes, „Zu Hause" von Geoeg Hieschfeld und viele
andere.
Mit Eecht übersetzte auch Louis Bennoist -Hanappiee
den Ausdruck ß. M. Meyees „Das Drama des reifen Zustandes"
mit ,ydrame des ämes nostalgiques'^. Das Drama der nostalgischen,
* A. a. 0. S. 826.
Bytkowski, Gerhart Hauptmann. 11
162 VII' Handlung, Fabel und Idee,
sich sehnenden Seelen, das ist vorwiegend das moderne deutsche
Drama der realistischen Schale. Sein Gegenstand ist nicht
irgendein Konflikt, Zusammenstoß, sondern ein schleichendes
Übel, ein unentrinnbares Geschick. Dieser Gegenstand ist
aber undramatisch durch und durch. Er ist episch, weil es
eben ein dauernder Zustand ist. Wird sein allmähliches
Werden, seine Ausreifang und seine natürliche Lösung dar-
gestellt, so haben wir einen modernen ßoman, wie ^,Müde
Seelen" von Gaeborg. Wird der Schilderung des Zustandes
weniger Raum gestattet und eine von außen kommende plötz-
liche Wendung und Lösung gegeben, so haben wir eine
Novelle.
Da das Drama für breitere Schilderung und längeres Ver-
weilen keine Zeit gibt, so ist es nur natürlich, daß sich unsere
realistischen Dramatiker novellistischen Stoffen zuwandten, oder
sich dieselben novellistisch, zustutzten. So ist es auch. Die
meisten modernen Dramen sind eigentlich dramatisierte
Novellen. Diejenigen Hauptmanns auch hier vor allem. So
„Vor Sonne-naufgang", „Das Friedensfesf , „Einsame
Menschen*^, „Fuhrmann Henschel" (ein Gegenstück zu
„Bahnwärter Thiel"), „Michael Kramer". Von den
Dramen anderer Verfasser seien nur genannt „Familie
Selicke", „Jugend", „Eisgang", „Zu Hause", „Stick-
luft" u. a.
Bei vielen dieser dramatisierten Novellen ist überdies,
wie schon bei der Analyse der einzelnen Werke erwiesen
wurde, die dramatische Wendung, das Erscheinen des „Boten",
ein äußerliches Anhängsel, ein künstliches Mittel, um einen
Konflikt, eine Gärung herbeizurufen. Es ist, als ob man ein
Experiment anstellen wollte, eine Probe auf die Richtigkeit
der Diagnose, welche lautet: „Nostalgie". Der Verfasser sagt
uns: Seht, wenn nun jemand kommt von draußen, um die
Augen zu öffnen, so rollt das Unglück ab, wie das Uhrwerk
bei Umdrehung eines Hebels. („Vor Sonnenaufgang",
„Einsame Menschen", „Jugend".)
VU. Handlimg, Fabel und Idee, 163
Entsprechend dieser Beschaffenheit der Fabel wird auch
die Handlung geführt, insofern man eben Schilderung über-
haupt Handlung nennen darf. Das, was bei dem echten
Drama Exposition ist, bildet hier fast den ganzen Inhalt des
Dramas, manchmal den ganzen, so in der „Familie Selicke'^.
Eine Art äußerlich eingewirkter Handlung läufk nur nebenbei
her. Es ist die Handlung des „Boten von Außen". So dient
das Eingreifen Loths im „Vor Sonnenaufgang", Idas im
„Friedensfest", Anna Mahrs in den „Einsamen Men-
schen", Maxens im „Kollegen Crampton", auchKauten-
deleins in der „Versunkenen Glocke" nur dazu, damit
sich die Verhältnisse, der Zustand, offenbart.
Auch dort, wo die Absicht nicht so kraß hervortritt, bleibt
immer das entscheidende Ereignis ein äußeres, mit den ge-
gebenen Zuständen nicht innerlich verbundenes. So sehen wir,
wie in Halbes „Jugend" die Einführung eines verhängnis-
vollen Ereignisses rein äußerlich geschieht. Außerdem werden
wir nicht durch den Gang der Ereignisse belehrt, sondern
durch die Worte der Beteiligten und durch eine symbolische
Nebenkatastrophe beredet, daß dies eine Katastrophe sei. Jene
Nebenkatastrophe erst bringt uns das greifbar vor die Augen,
was vrir sonst als eine künftige Folge der Ereignisse ahnen
müßten. Sie steht aber mit ihnen in einem nur sehr losen
und künstlich herbeigezogenen Zusammenhang.
Man sieht, die Novelle ist manchmal spröde genug, um
sich nicht leicht in die Verhältnisse des Dramas fügen zu
lassen. Wie mager ist dabei die Katastrophe bei Halbe!
Ein unschuldiges Opfer der blinden Wut eines Wahnsinnigen,
das ist ein höchst trauriges Ereignis, aber doch kein Schluß
eines Dramas. Daran ändert nichts die Absicht des Verfassers,
durch den Tod Annchens symbolisch auszudrücken, daß ihr
Geschick sei, ein Opfer zu werden. Wohin würde man kommen,
wenn man sich so überall statt redlicher Arbeit mit so nach-
lässig eingefügten symbolischen Surrogaten begnügen wollte?
Da könnte ja bald das 'ganze Drama ungeschrieben bleiben
11*
1 64 yil' Handlung, Fabel tmd Idee,
und statt seiner eine Sentenz gegeben werden. Etwa: ,,so ist
es in der Welt, junges Blut wallt plötzlich auf, besonders
unter diesen und diesen Umständen und dann ist das Weib
gewöhnlich das Opfer." Man mißverstehe uns nicht. Nicht
gegen das Symbolisieren wendet sich unser Vorwurf, sondern
gegen die leichtfertige Arbeit bei seiner Einführung. Alles,
was in das Drama kommt, muß sich seinen Gesetzen fügen.
Auch das Symbol. Das Ereignis, welches das Symbol dar-
stellt, muß also dramatisch motiviert sein.
Daran liegt es ja eben bei jenen Dramatisierungen novel-
listischer Stoffe, daß sich die naturalistischen Dramatiker
hierbei — im Gegensatz zu Ibsen — nicht einmal Mühe geben,
den Stoff den Forderangen des Dramas entsprechend umzu-
modeln. Sie gießen ihn einfach in eine dramatische Form,
Dialog bleibt Dialog, Bericht wird in die Bühnenanweisung
getan und ist die Zeit der paar Akte um, so ruft man einen
Mord, Selbstmord oder sonst ein Unglück zu Hilfe, manch-
mal — und das ist konsequenter — gar nichts, sondern sagt
mit salbungsvoller Betonung: „Der Vorhang fällt langsam.**
Oder „Der Vorhang fällt schnell". Uns ist es aber gleich-
gültig, ob der Vorhang schnell oder langsam fällt. Nicht gleich-
gültig kann es sein, daß die modernen Dramen meist ohne
eigentlichen Schluß sind. Wo aber ein solcher da ist, wie
durchgängig bei Hauptmann, da ist er gewaltsam durch ein
äußeres Ereignis oder durch eine unmotivierte Tat herbei-
geführt
Diese letzte Art ist, wie gesagt, nicht konsequent, sie
bildet ein Zugeständnis an die Forderungen des Dramas oder
sagen wir, der Bühne. Auf die erste Art dagegen bilden sich
Naturalisten recht viel ein. Sie sagen: Das ist eben das Neue
darin. Dramen sind keine Anekdoten, daß man die Neugierde
auf den Ausgang befriedigen sollte.
Ganz recht. Dramen sind keine Anekdoten. Man ist
auch auf den Ausgang gar nicht neugierig. Man will nur, daß
ein solcher da sei. Nicht wie er iSt, sondern, daß er sei
VIL Handlung^ Fabel tmd Idee. 165
ist das Entscheidende. Ist man etwa über den Ausgang des
„Ödipus", der „Antigene" im Zweifel? Oder des „Lear",
des „Macbeth", des „Othello", des „Hamlet"? Oder
„Wallensteins"? Oder von Hebbels „Herodes und
Marianne^', „Maria Magdalena"?
Das Drama ohne Ausgang ist ein Widersinn, so wie ein
Kampf ohne Ausgang ein Widersinn wäre. Man verliert den
Glauben an den Ernst des Kampfes, wenn er keinen Ausgang
hat. Deswegen muß das Drama einen Ausgang haben, nicht
aber um jemandes Neugierde zu befriedigen.
Es zeigt uns hingegen die ganze Führung der Handlung,
die Breite der Exposition, das Verweilen bei Episoden und
Schilderungen, dann das jähe unvermittelte Ende, das oft ein
einfaches Abbrechen der Darstellung ist, daß die naturalisti-
schen Dramatiker vom Epischen kommen und zwischen dem-
selben und dem Dramatischen nicht zu unterscheiden wissen.
Ihre Berufung auf das Leben ist der beste Beweis dafür.
Denn zwar gibt auch das Drama das Leben wieder, nicht jedes
Leben aber.
Es hängt nicht von der zufälligen Laune des Verfassers
ab, in welche Form das gegebene Thema gegossen werden solL
Die einzelnen Kunstformen haben ihre besonderen, ihnen ent-
sprechenden Gegenstände der Darstellung. Ein Bückfall in die
primitiven Entwicklungsstufen der Kunst ist es sohin, wenn
man glaubt jeder Ausschnitt des Lebens lasse sich ebensogut
im Drama als in einer Novelle darstellen.
Und was schon für die Wahl des Gegenstandes gilt, hat
noch mehr Geltung für die Art seiner Darstellung. Wenn es
klar ist, daß ein und derselbe Gegenstand anders in einer
Skulptur und anders in einem Bilde dargestellt wird, warum
will man es für das Drama nicht zugeben?
So sagt man, in besonderer Beziehung auf die Akt- und
Dramenschlüsse, ferner, daß das Leben nicht dutzendweise
solche effektvollen Abschlüsse darbietet Auch das ist richtig.
Nur muß man &agen, weswegen denn dann die neueren Drama-
166 yil' Handlung^ Fabel und Idee.
tiker dutzendweise Dramen liefern? Wenn man aus jedem
interessanten Ereignis, aus jeder Begebenheit, aus jeder Un-
zufriedenheit gleich ein Drama konstruiert, so ist es nur zu
verständlich, daß man von „effektvollen Abschlüssen" abstehen
muß. Spricht es aber gegen diese, nicht eher gegen das
leichtfertige Dramenproduzieren?
Es war eine Zeit, wo alles, was nur die Feder zu führen
wußte, sich auf das Novellenschreiben verlegte. Was einem
irgendwie nur begegnete, mochte es das Geringste sein, das
goß man in Novellenform. Meister der Novelle verstanden
dabei wohl, durch die Darstellung das Unbedeutende des Inhalts
zu einem Bedeutenden zu verwandeln, oder es wenigstens über
der Kunst der Darstellung vergessen zu lassen. — Nicht ein
jeder aber war Meister. — Mit der Zeit wurde man der Novelle
überdrüssig. Man wurde anspruchsvoller, man wollte von den
weltbedeutenden Brettern herab wirken. Die Stoffe aber mit
der Form zu wechseln — das ist keinem in den Sinn gekommen.
Wozu auch? Wer kennt nicht das Premierepublikum der
Residenzen? Leute, die gestern Streichhölzer verkauften,
schwingen sich zu Millionären auf. Das ist ganz in der Ord-
nung. Nicht in der Ordnung aber ist es, wenn solch ein zu-
sammengewürfeltes Publikum Kunstgesetze dekretiert, wenn
Dichter und Kritiker (wer sind diese?) sich um die Wette be-
mühen, ihrem Geschmack zu fröhnen. Dann kommt man all-
mählich zu recht wunderlichen Vorstellungen, zu recht bedenk-
lichen Ergebnissen.
Es ist fast auf jedem Gebiete der Kunst wahrzunehmen,
daß aus der Not eine Tugend gemacht wird. Weil ein gewisses
Publikum weder Verständnis, noch Sinn, noch Geduld hat für
ein wahres Drama, weil den modernen Verfassern die Muße,
die Ausdauer und der Atem abgeht zu größer angelegten
Werken, so werden Anekdoten, Novellen, Apergus zu Dramen
aufgetrieben.
Wir möchten nun an die Ausführungen über den Schluß
des Dramas noch einige Bemerkungen über den Tod, als Ab-
VII. Eandlungy Fabel und Idee, 167
Schluß eines dramatischen Schicksals anknüpfen. Die modernen
naturalistischen Theoretiker lächeln vornehm über Shakespeaee
und die alten Dramatiker samt und sonders^ weil es bei ihnen
bekanntlich ohne ausgiebiges Blutvergießen nicht abgeht Wie
hoch dünken sie sich über jenen Barbaren zu stehen. Sie
weisen auf die steigende Versittlichung hin, welche das gegen-
seitige Abschlachten allmählich zu verschollenen Institutionen
macht. Die Bestie im Menschen, so sagt man, sterbe allmählich
ab und so naht die Zeit, wo die Tragödie ein Anachronismus
sein werde, denn sie werde längst aufgehört haben, ein Spiegel
des Lebens zu sein.^
Über die Voraussetzung dieser Aussicht wollen wir nicht
streiten. Möglich ist, daß die Bestie in uns abstirbt. Aber
bis sie gänzlich verschwindet, hat es noch lange Zeit. Wie
auch die naturalistischen Dramatiker in praxi oft einsehen,
ist übrigens der Tod in der Tragödie das Symbol gänzlicher
Vernichtung. Da das Drama sich als Kampf darstellt, so ist
Vernichtung als sein vornehmstes Ziel nicht zu vermeiden.
Wohl könnte eine Zeit kommen, wo die Vernichtung — wie
schon jetzt ausnahmsweise — klar und entschieden in anderer
Gestalt als im Tode zutage treten würde. Dann würde diese
Gestalt häufiger die Stelle des bisherigen Todes einnehmen.
Vorläufig sind wir noch weit davon.
Andererseits aber ist der Tod einmal nicht von dem mensch-
lichen Leben überhaupt zu trennen. So wird denn auch ge-
waltsamer Tod immer zu seinen ständigen Einrichtungen gehören
müssen. Daß er nicht zu den alltäglichen Dingen gehören wird,
was ist dabei? Auch jetzt und seit jeher starb die Mehrzahl
der Menschen eines natürlichen, ruhigen Todes. Das Drama stellt
aber nichts Alltägliches dar. Fortinbras sagt im „Hamlet^*
0, stolzer Tod, welch hohes Fest
Bereitest du in deiner ewigen Halle,
Daß du mit einem Schlag so viele Fürsten
So blutig schlachtest?
* Vgl. Hermann Bahr, „Dialog vom Tragischen", Berlin 1904
S. Fischer.
168 VII' Handlung y Fabel und Idee,
„Hohe Feste der Vernichtung*^ sollen ebenfalls Dramen
sein. Erschüttert sollen wir werden im Drama^ in den Grund-
festen unserer Seele und nichts ist so erschütternd erhaben,
wie das grauenhafte Werk des stolzen Todes, die geheimnis-
volle Auflösung des Lebens, seine Kehrseite, seine Ergänzung.
Des Lebens höchste Steigerung ist das Drama, darum ist der
Tod sein würdigster Abschluß, wie sich die tiefsten Schatten
neben die stärksten Lichter stellen.
Und wiederum sehen wir ein Unvermögen der Modernen,
eine Not zu einer Tugend umgedichtet. Weil man es nicht
versteht, Feste des Todes zu bringen, sieht man auf sie ver-
ächthch herab. Und doch hat ein ganz Modemer, einer, der
das Wort von dem „Tragique quotidien" zuerst geprägt hat,
dem Tode als Gottheit des Dramas geopfert. Maeterlincks
„Die Blinden", „Der Eindringling" und „Das Heim'*
sind Hohelieder des Todes, gesungen von einem, der seine
schaurig hehre Schönheit mit ehrfurchtsvoller Inbrunst be-
wundert.
Diejengen aber, die den Tod aus dem Drama bannen
möchten, sie verwechseln das gewöhnlich Gemeine mit dem
ewig Wahren. So erweist sich denn die naturalistische Theorie
auch in diesem Fall als eng, schief und auf das Drama nicht
passend.
Indem wir nun noch einmal auf die Idee im naturalistischen
Drama zurückgreifen, möchten wir noch auf einen Umstand
aufmerksam machen, der auch zur Klärung seiner Stellung
beitragen kann. Wir meinen seine enge Verwandtschaft mit
den französischen Thesen- und dem Tendenzstück im all-
gemeinen. Auf den ersten Blick scheint dies paradox zu sein.
Geht doch die naturalistische Theorie von der strengsten
Objektivität aus. Die Kunst hat nach ihr „die Tendenz Natur
zu sein*' und nichts als Natur. Natur ist aber thesen- und
tendenzlos.
Doch sprechen Tatsachen eine zu beredte Sprache. Haupt-
manns erstes Drama nennt sich „sozial" und ist ein „Paten-
VII, Handlung, F(zbel und Idee. 169
kind" von Tolstois „Macht der Finsternis". Wir haben
auch bei seiner Besprechung die ihm innewohnende Tendenz
beleuchtet. Dient doch die ganze Einführung Loths, insofern
er nicht „Bote der großen Welt" ist, nur dazu, um dieser
Tendenz Worte zu leihen.
Auch eine These ist da. Sie lautet etwa: „Was muß
geschehen, wenn filzige^ an Elend gewöhnte Bauern, plötzlich,
ohne irgendwelches eigene Verdienst steinreich werden . . . ?"
Daß diese These albern ist, wurde schon erwiesen. Ihre Existenz
im Stück läßt sich aber nicht wegleugnen. Kompliziert wird
sie mit der These von der erblichen Belastung und mit der
Tendenz gegen den Alkoholismus.
Wie „Vor Sonnenaufgang" ist auch „Das Friedens-
fest" ein Thesenstück. Seine These könnte ungefähr wie die
Worte Roberts lauten: „Ein Mann von vierzig heiratet ein
Mädchen von sechzehn und schleppt sie in einen weltvergessenen
Winkel. Ein Mann, der als Arzt in türkischen Diensten ge-
standen und Japan bereist hat. Ein gebildeter, unternehmender
Geist Ein Mann, der noch eben die weittragendsten Projekte
schmiedete, tut sich mit einer Frau zusammen, die noch vor
wenigen Jahren fest überzeugt war, man könne Amerika als
Stern am Himmel sehen. Was kann daraus werden, wenn
nicht ein stehender, fauler, gärender Sumpf? Liebe — keine
Spur. Gegenseitiges Verständnis, Achtung — nicht Bühran —
und die Kinder, die auf diesem Beet gewachsen, was können
die werden? Das Leben dieser Familie, wie kann es sich
gestalten? . . ." Die These also des „Nichtverstandenwerdens",
die Hauptmann dann noch zweimal entwickelt, verbunden
wieder mit derjenigen der erblichen Belastung und anderen.
und mit einer kleinen Änderung sehen wir wiederum die
erste These in den „Einsamen Menschen". Sie lautet un-
gefähr: „Ein geistig hochstehender Mann, hochstrebend und
radikal in seinen Gesinnungen, tut sich mit einem braven aber
beschränkten Weib zusammen, lebt in einer Umgebung, die
gar kein »Verständnis« für ihn hat. Und nun kommt eine
170 VIL Handlung, Fabel und Idee,
»verwandte Seele«. — Hat er das Recht, alles zu verlassen,
um ihr zu folgen?"
Von den „Wehern" wird entweder behauptet, daß sie
kein Tendenzstück seien oder, daß sie eines im besten Sinne
des Wortes sind. Wahr ist, daß sie eine Tendenz haben.
Ob im besten Sinne, ist hier gleichgültig. Auch die Wahl des
Stoffes allein kann schon Tendenz enthalten.
Auch die Komödien „Kollege Crampton" (Alkoholismus)
„Der Biberpelz" und „Der rote Hahn" wären hier bei-
zuzählen. Von anderen Autoren: Hermann Bahes „Neue
Menschen", „Die große Sünde", „Der Meister"; Otto
Eensts: „Die größte Sünde"; MaxHalbes: „Freie Liebe",
„Jugend" auch „Eisgang"; Otto Erich Hartlebens:
,,Angele", „Die Erziehung zur Ehe", „Die sittliche
Forderung"; Philipp Langmanns: „Bartel Turaser";
Carlot Gottfried Eeütlings: „Das Stärkere"; Franz
Servaes: „Stickluft"; Caesar Flaischlens: „Toni Stürmer",
„Martin Lenhardt"; Johannes Schlafs: „Gertrud", „Der
Bann"; Ernst Hardts: „Tote Zeit". Endlich des Halb-
naturalisten Hermann Südermann: „Die Ehre", „Sodoms
Ende", „Heimat", „Glück im Winkel". Natürlich wollen
wir damit nicht behaupten, daß alle genannten Stücke und
noch viele andere derselben Art, konsequent naturalistisch
seien. Sie stehen aber doch mehr oder weniger unter dem
Einfluß der naturalistischen Schule, sind ihrer Anlage nach natura-
listisch gedacht, streben also an naturalistisch zu sein und gehen
auch meist unter naturalistischer Flagge. Sie haben auch ein
jedes eine mehr oder minder ausgesprochene Tendenz oder These.
Angesichts der Tatsache nun, daß das naturalistische
Drama in der überwiegenden Mehrheit seiner Produktion
Thesen- oder Tendenzstücke enthält, ist zu fragen: wie erklärt
sich dieser Widerspruch? Wir berufen uns auf das bei der
Besprechung von Hauptmanns Erstlingsdrama „Vor Sonnen-
aufgang" Gesagte. Der literarische Sturm und Drang der
neunziger Jahre richtete sich nicht nur gegen die alte Kunst^
VJL Handlung, Fabel und Idee, 171
sondern gegen alles Alte. Es war eine allgemeine Auflehnung
gegen das Bestehende, deswegen war sie unbestimmt und
schwankend in ihren Zielen, bestimmt nur in der Färbung
ihrer Gesinnung und diese war radikal. Verbessern, heilen
Yon Grund aus, wiederaufrichten wollte man überall und alles.
Ebensogut wie gegen die Kunst der Epigonen wandte sich
der Zorn der Gerechten gegen allen Unfug, als da war: Trunk-
sucht, konventionelle Lüge in allen bürgerlichen Institutionen,
in der Ehe und Familie, Religion und Moral, gegen die Unter-
drückung der Frau und wiederum gegen die Sklaverei des
Mannes; gegen die Sklaverei überhaupt des vierten Standes,
des geistig über seiner Umgebung stehenden Individuums;
gegen die Entartung in allen ihren Erscheinungen und Formen.
Sowie sich aber die Revolution nicht auf die Kunst allein
beschränkte, mußte sie mit unerbittlicher Logik zur Tendenz-
und Thesenkunst führen. Das ist auch die moderne Kunst
meistenteils geblieben Hs auf den heutigen Tag. Wie weit
dies durchaus schlecht ist, ist hier in diesem Zusammenhange
Nebensache. Hauptsache bleibt, daß durch die Tendenz oder
die These der meisten seiner Werke der Naturalismus seiner
eigenen Theorie ins Gesicht schlägt, sich gegen sich selbst
kehrt und sich selbst verneint. Femer ist es für uns von Be-
deutung, festzustellen, daß mit der Tendenz und These das
naturalistische Drama zu einer Nebenform des Dramas wird,
seine Tragik zu einer Nebentragik oder Teiltragik. Denn nur
das allgemeine Menschliche, das Ewige in dem ewigen Wechsel
der Erscheinungen kann Gegenstand des wahren Dramas sein,
ist tragisch. Wo der Druck besonderer Verhältnisse als Grund
des tragischen Schicksals auftritt, da ist für die reine Tragik
kein Platz. Aktuelles ist nie und nimmer tragisch und kann
es nicht sein.
Doch ist das Problem der neuen Kunst tiefer zu fassen.
Wer die Revolution nur als eine Auflehnung gegen überwundene
oder überwunden scheinende Form, oder gegen unerträgliche
Institutionen und Zustände auffassen möchte, der würde ihr
172 yil' Handlung^ Fabel und Idee,
doch nicht ganz gerecht werden. Nicht um die Form, auch
nicht um das Aktuelle allein konnte es den stürmenden Neuerern
zu tun sein. Was sie dunkel, yielleicht aber desto intensiver
und schmerzlicher fühlten, war doch noch etwas anderes.
Sie fühlten ungefähr folgendes: Alles das, was uns die
alte Tragödie bringt, es mag sehr tragisch sein. Das Schicksal
eines Ödipus, eines Lear, eines Hamlet. Sie waren aber
doch Könige und Prinzen. Und all die anderen Tragödien,
sie behandelten nur Äusnahmsschicksale und Ausnahmsmenschen.
Allein da geschieht es nun, daß einem das Tragische auf der
Straße begegnet auf Schritt und Tritt und hohläugig ansieht.
Bei hellichtem Tag geht es leibhaftig um und macht einem
erschauern bis ins Innerste der Seele.
Ein an allen Gliedern zitternder, ein schlotternder und
zappelnder Gesell, elend und verkommen, mit trübem, ab-
wesendem Blick in seinen Glasaugen. Ein Wrack von einem
Menschen, unentrinnbar dem Säuferwahnsinn verfallen. Seine
Tage sind gezählt. Er wird von einem schmächtigen, eng-
brüstigen, weinenden Mädchen geführt. Er stammelt etwas nach
Art der Säufer mit lallender Zunge. Er möchte eifrig in das
Mädcheo hineinsprechen, wohl zu seiner Beruhigung. Das
Mädchen jedoch hört kaum seine Worte, es geht schweigend
neben dem Vater her und stille Tränen rinnen seine Wange
herunter. Daheim wartet ihrer vielleicht eine schwindsüchtige
Mutter, die die letzten Funken ihres Lebens anfacht, um für
die Notdurft der Familie und den Branntwein des Mannes
aufzukommen. Wer weiß, wie bald die Nadel ihren fiebernden
Fingern entfallen wird und sie ihre erschöpften Glieder aus-
streckt, um nicht wieder aufzustehen. Dann ist das junge
sprossende Leben nur an einen Wrack gekettet. Und wenn
auch diese Ruine zusammenstürzt und das Mädchen bis dahin
und ferner den Fangarmen der Straße nicht verfällt, was wird
aus ihm? Seit der ersten Kindheit wurde es vom Vater mürbe
geschlagen, wenn er in seinem Säuferzorn gegen Weib und
Kind tobte. Wie lange noch und es bekommt einen Mann,
VIL Handlung, Fabel und Idee. 178
der es samt Kind zu schlagen beginnt. — Und das ist sein
Leben nun vom ersten Augen auf schlag des unschuldigen Kindes
bis zum letzten, müden Augenschließen im Krankensaal eines
Hospitals. Nichts als Flüche und Schläge und Kummer und
Not und bösbittere Tränen.
Und dies ist kein Einzelschicksal. Ganze Schichten der
Bevölkerung, wimmelndes Gewühl, Generationen auf Gene-
rationen trost- und lichtlos in der schrecklichsten Qual des
Lebens dahintappender Existenzen.
Solches nun begegnet dem modernen Dichter auf Schritt
und Tritt und sein Auge hängt gebannt an seinem Anblick.
Und es schreit nach seiner Gestaltung in ihm, seit Dostojewski
die Wege gewiesen. Und so ging der eine oder der andere
und setzte sich hin, um zu schreiben. Die Tragik des Alltages^
Maeteelinks „tragique quotidien" suchten sie in ihren Werken
zu bannen.
So entstanden Novellen wie „Papa Hamlet", so „Die
Familie Selicke". Was ist aber geschehen? Das Stück
wirkt nicht! Wie? Ist das darin Dargestellte nicht tragisch?
Ja, aber es ist nicht nur „Tragik des Alltages", sondern das,
was ich schon oben „schleichende Tragik" nannte. Das Drama
kann nur „akute" Tragik brauchen. Die „schleichende" gehört
in den Roman und die Novelle und wirkt auch bei einem
Dostojewski gewaltig.
Will man sie aber durchaus in das Drama bringen^ so
muß man sich seinen Gesetzen fügen und es verstehen,
„schleichende" Tragik in „akute" zu verwandeln. Nicht die
impressionistisch naturalistische Zustandsschilderung ist der
Weg dazu. Dazu kann nur Darstellung der Bewegung, des
gewaltsamen Anpralles, der plötzlichen Entladung führen. Man
verglich mit Eecht das Drama mit dem Epigramm. Beiden
ist gemeinsam, daß sie lang gesammelte Ejraft zum verdichteten
Ausdruck bringen. Hier die Kraft des Gedankens, dort künstle-
rischen Schauens — wenn auch die Wucht sich in beiden Fällen
nicht vergleichen läßt.
174 yil' Handlung^ Fabel und Idee,
Wiewohl man sich nun nicht mit vollem ßechte auf das Bild
des Alltages beruft, so kann jedoch darauf hingewiesen werden,
daß auch der Alltag oft Beispiele solcher plötzlicher Ent-
ladungen darbietet, wenn auch nicht oft genug für die rein
rezeptive und flüchtige Beobachtung. Es genügt, der Gerichts-
saalchronik ein wenig mehr Aufmerksamkeit zu schenken, um
zu merken, daß das Explosive noch keineswegs aus unserem
polizeilich geregelten Alltag verschwunden ist, ja des Dauernden
darin eigentlichster, letzter Ausdruck ist, sein Sinn und
Sinnbild.
So ergibt sich wiederum von einem neuen Gesichtspunkte
eine Bekräftigung unserer früheren Ausführungen von der Be-
deutung des gewaltsamen Todes als Abschluß eines dramatischen
Schicksals. Wenn die geladene Feuerwaffe an der Wand hängt,
so birgt sie zwar eine furchtbare Kraft, aber selbst jahrelanges,
tägliches Anschauen der Waffe wird dem Unkundigen ihren
Gehalt und ihr Wesen, ihren Sinn nicht enthüllen. Wird sie
aber einmal zur Verteidigung von Gut und Leben oder im
plötzlichen Ausbruch eines wilden, ungebändigten Zornes ge-
braucht, so tritt mit einem Male, in einem Augenblicke in
schrecklicher Weise zutage, was sie in all den Jahren gewesen
ist. Jäh und plötzlich offenbart sich als ihr Wesen und Sinn:
Vernichtung.
Solch furchtbar unheilschwangere Gewalten sind auch oft,
die Menschen des Alltages. Der Unkundige sieht es ihnen aber
nicht an. Will man ihre vernichtende Kraft in einem blitzartig
durchleuchteten Augenblick sichtbar werden lassen, so muß
man sie bis zum plötzlichen Entladen bringen. Dies ist Sache
des Dramatikers.
Auch der Epiker schildert verderbliche Gewalten, jedoch
nicht in einem plötzlichen Ausbruch. Homee sagt in seiner
Invokation, er wolle den verderblichen Zorn des Pelliden
schildern. Für den Dramatiker war da nichts zu holen, wie
Tiele Opfer er auch forderte.
Nun war aber Ajax da, bieder und edel und tapfer. Wie
VIL Handlung, Fabel und Idee. 175
sich nun diese unschuldig scheinende Kraft plötzlich zu einer
verheerenden verwandelt und gegen sich kehrt, das konnte den
Dramatiker zur Darstellung locken.
Solcher Ajaxe giht es mehr im Alltagsleben, als man ahnt.
Man muß nur die Kraft des Dramatikers haben, die schlum-
mernde Bestie zu wecken. Wie meisterlich verstand es nun
wieder Shakespeaee! Konnte König Dunkan es ahnen, als
er Macbeth mit Ehren überschüttete, daß er sich damit seinen
Mörder bestellte? Ahnte dieser es selbst? Die verderbliche
Kraft schlummerte in ihm, ohne daß er von ihr etwas wußte.
Oder konnte es Desdemona ahnen, als sie vor dem Rat
Venedigs, angesichts des zürnenden Vaters, in Othello ihren
Gemahl und Herrn begrüßte und frei erklärte, wie sie ihn
liebe, daß es ihr Würgengel ist? Wer von allen Anwesenden
würde es nicht für Wahnsinn erklären, wenn es jemand voraus-
sagen wollte? Und doch war es derselbe Othello, der ihr
später nicht einmal Zeit ließ, ihre Gedanken zu sammeln, als
er sie mordete.
Wenn dagegen Hauptmanns Weber auch mehr vernichtet
hätten, als ein paar unschuldige Fenster und Spiegel, man
dürfte sich nicht wundem. Menschen, die in einer solch un-
natürlichen Weise gepeinigt waren, sollten, könnte man denken,
zu viel schrecklicheren Dingen fähig sein. Was ist dabei?
Aber der süße Liebesworte lispelnde ritterlich zärtliche Othello?
Einmal nur ist es Hauptmann gelungen, eine ähnliche
Wandlung zur Darstellung zu bringen und dieses eine Mal war
es merkwürdiger Weise in einer Novelle. Der „geborene"
Dramatiker schwächte dann die dramatische Wendung der
Novelle im Drama noch beträchtlich ab. Aus dem „Bahn-
wärter Thiel", welcher Frau und Kind im Wahnsinn ermordet,
wurde Fuhrmann Henschel, welcher nach furchtbaren Droh-
ungen gegen andere sich selbst erhenkt.
„Schleichende" Tragik in „akute" dramatische zu ver-
wandeln, ist den naturalistischen Dramatikern nicht gegeben.
VIIL Ergebnis.
Wir kommen nun zum Schluß unserer kritischen Aus-
führungen. Wir glauben nachgewiesen zu haben, daß das
naturalistische Drama von der naturalistisch-impressionistischen
Erzählung herstammt und in einer Eunsttheorie fußt, die^ von
den bildenden Künsten kommend, einseitig auf eine besondere
Gattung der epischen Dichtung, eben jene naturalistisch-im-
pressionistische Erzählung zugeschnitten, dann irrtümlich auf
das Drama angewendet worden ist
Diesem Tatbestande entsprechen die Eigentümlichkeiten,
Schwächen und Mängel des Hauptmann sehen Dramas. Breite
Zustandsschilderung, episch in allerlei Episodisches zersplittert,
ohne eigentliche Handlung, ohne Kampf und Bewegung, ohne
rechten, jedenfalls zwingend notwendigen Schluß. Die Dar-
stellung der Charaktere, bei der genauesten Zeichnung und
Schilderung der äußeren Erscheinung, doch unzureichend, um
die Handlungsweise der Personen — insofern eine vorhanden
ist — zu motivieren, die Charaktere selbst meist kraft- und
willenlos, schwankend und unselbständig, oft kläglich. Der
Versuch, die naturalistisch-impressionistische Methode auf das
historische Drama zu übertragen, muß als völlig gescheitert
angesehen werden.
Daß dies alles nicht nur in der individuellen Art von
Hauptmanns Talent, sondern in der Richtung seine Ursache
hat, ergibt sich, wie wir hoffen, ebenfalls aus unserer Analyse.
VIIL Ergebnis. 177
Alle speziell naturalistischen Kunsttheorien sind eine
Reaktion gegen die jeweilige Verflachung und gegen die Ab-
kehr Tom Wahren und Echten des Epigonentums.
Sie trachten den unterbrochenen Zusammenhang mit der
Natur, der Allmutter und Allernährerin aller Kunst, wieder-
herzustellen. Sie yerwechseln aber in ihrer Einseitigkeit das
Heilmittel mit dem Zweck.
Wirklichkeit kann in der Kunst nur Mittel sein, um den
inneren Kern, den eigentlichen Inhalt der Kunst, bildlich aus-
zudrücken. Derselbe Inhalt kann aber unter Umständen durch
minder treues Abbilden der äußeren Wirklichkeit erreicht
werden. Wendet man aber das Mittel der treuen Wiedergabe
der äußeren Wirklichkeit auch an, so soll man sich immer
dessen bewußt sein^ daß dies nur Mittel der Darstellung ist
und sich als solches den höheren Zwecken der Kunst unter-
ordnen muß.
Wo die Kunst bei der treuen Wiedergabe des Wii'klichen
als solcher stehen bleibt, gibt es nur Budimente, Ansätze der
Kunst. Zwittergebilde, die man nur im uneigentlichen Sinne
Kunst nennt Eine Skizze, eine Studie und sei sie von einem
ßuoNAEOTTi oder Da Vinci bleibt Skizze oder Studie, wertvoll
für uns nur, weil sie das Werk eines Großen ist, ebenso wie
ein poetisches Fragment eines großen Dichters uns teuer ist
und doch nur ein Torso.
Im Drama insbesondere enthüllt sich uns das Geheimnis
des menschlichen Lebens durch Kampf und Bewegung, durch
Anprall antagonistischer Kräfte. Nur dieser Kampf ist uns
wichtig. Die Entwicklung dieses Kampfes ist das, was man
dramatische Handlung nennt. Wir genießen weiter das Drama
durch Schauen und Hören und dieses Mittel des Genusses,
welches gespannte Aufmerksamkeit des Genießenden be-
ansprucht, erfordert in Verbindung mit dem Inhalt des
Dramas die größte Konzentration und strengen architektoni-
sehen Bau, in dem alles überflüssige auch schädlich ist.
Dieses innere Gesetz der Konzentration waltet unerbittlich
Bytkowski, Gerhart Hauptmann. 12
178 VUI. Ergebnis.
und bedingt die Wirkung, deren Mangel doch jede Kunst
aufhebt
Der Naturalismus muß sich deswegen im Drama, in viel
höherem Grade auf seine Funktion, Mittel der Darstellung zu
sein, beschränken.
Alle die Errungenschaften des Naturalismus und Im-
pressionismus, Intimität, Kompliziertheit und Fülle der
Probleme, das Verteilen des Lichtes auf das Nebeneinander,
das Milieu — sind schöne Dinge. Die neuen Gesichtspunkte,
die neue Art des Schauens, mögen ihren Wert und ihren be-
sonderen Eeiz haben. Es mag vieles in unserer Zeit nach
dieser Bichtung hin drängen, die Demokratisierung der Kunst
einerseits, die Verfeinerung unseres Wahrnehmungsvermögens
andererseits. Bei dem allem darf man aber eine Grundwahr-
heit nicht vergessen: kein Vorteil, ohne Nachteil, kein Gewinn
ohne Opfer. Es ist nun die Frage, ob die Opfer hier nicht zu
groß sind im Hinblick auf den Gewinn. Dies ist aber in unserem
Fall so sehr wahr, daß die Bedeutung und Wirkung des
Dramas dabei verloren geht, die Vorteile dagegen überhaupt
nicht zur Geltung gelangen. Die einzigartige Wirkung, ihre
Tiefe und Nachhaltigkeit, das Grandiose und Monumentale des
Dramas sind bedingt durch die größte Einfachheit und Klar-
heit der Verhältnisse. Das Drama ist von allen Kunstformen
die im höchsten Grade fokal angelegte. Alles muß sich hier
um einen Brennpunkt ordnen, und dieser fokalen Anordnung
entspricht auch die Lichtverteilung. Darin sind die Grenzen
der Dezentralisation gegeben.
Ahnlich steht es mit der Intimität und Kompliziertheit.
Es sind Errungenschaften der poetischen Darstellung vor
allem. Auf fremdem Boden, auf dem Boden des Dramas, der
für das Großzügige und Großgestaltete geschaffen ist, Msten
die zarten Pflanzen ein kümmerliches Dasein, wenn sie nicht
gänzlich vernichtet werden.
Andererseits ist die Intimität ein Feind der Größe und
Monumentalität. Nie wird man es erreichen, daß man den
VIU. Ergebnis. 179
Anblick gigantischer Berge, stolzer^ gewaltiger Dome genießen
werde gleichzeitig mit dem intimen Bilde der Hütten, des
Buschwerks, der Täler und Niederungen, mit dem bunten Ge-
wimmel der Häuser und Menschen zu den Füßen des Domes.
Der ragenden Größe aber gehört das Drama.
So kommen wir denn zum Schluß, daß das naturalistische,
auf breite Zustandsschilderung, äußerste Treue in der Wieder-
gabe der Oberfläche der Erscheinungen ausgehende beschau-
liche Prinzip im Drama — wenn es sich nicht einem höheren,
dem dramatischen Prinzip der Bewegung, Wandlung und Kon-
zentration, vollständig unterordnet, wenn es mehr sein will als
eine Mitteilungsform unter anderen — nur schädlich, hemmend
und auflösend, ja vernichtend wirkt.
Das Drama selbst ist und kann weder naturalistisch,
noch idealistisch, symbolisch oder sonst wie sein. Es soll und
muß vor allem dramatisch und tragisch sein. Das übrige ist
Frage der Mittel, der Ausdrucks- und Mitteilungsweise. Des-
wegen kann bis zu den von uns oben bestimmten Grenzen
sehr wohl eine naturalistische, oder sagen wir lieber natura-
listisch-impressionistische Sprech- und Ausdrucksweise an-
gewendet werden, ebenso wie eine ins Poetische übertragene.
Beide müssen sich aber den Zwecken des Dramas anpassen
und unterordnen. Geschieht es nicht, so entstehen mehr oder
minder gelungene Zwittergebilde, dramatisierte Erzählungen,
Bilder einerseits, dramatisierte Lyrik andererseits.
Das moderne, gesellschaftliche oder soziale Drama gehört
zur ersten Zwittergattung. Es verdankt sein Entstehen dem
Drange der unmittelbaren, wirksamen, eindringlichen Mitteilung
von der Bühne herab, verbunden mit dem Drange, alles Ak-
tuelle, alles, was die moderne Seele mehr oder minder tief
bewegt, in das Bereich der poetischen Behandlung hereinzu-
ziehen. Damit verbindet sich die Neigung zum Intimen und
Exakten, eine Abneigung gegen das Großzügige: in der Malerei
der Naturalismus, der Pointillismus, die Punktiermanier statt
der Strichmanier, in der Musik zerfließende Akkorde an Stelle
12*
180 FZZZ Ergebnis.
der Melodie und des straffen^ energisch bewegten Khyihmns,
in allen Gebieten der Wissenschaft^ der Technik der Hang,
sich zu spezialisieren, die Vorliebe für Exaktheit im Kleinen.
Wir müssen aber daran festhalten, daß dieses Drama eine
Zwittergattung ist^ deren Daseinsberechtigung im übrigen nicht
geleugnet werden soll. Es ist die Darstellung der kleinen
Tageskonflikte und Eonfliktchen, eine Nähedarstellung ohne
Hintergründe, es ist zum großen Teil Eintagsliteratur.
IX. Kunsttheorefcische Begründung.
In der Ästhetik und Kunstwissenschaft ist jetzt wieder
alles im Fluß. Kein System, keine Theorie, ja kein einziger
Satz findet widerspruchslose Anerkennung und es giht Fanatiker
der beschreibenden Ästhetik, die sogar das Becht der Formu-
lierung eines solchen heftig bestreiten. Diese könnte man
fragen, woher denn ihnen die Erleuchtung kommt darüber,
was Gegenstand ihrer „Beschreibung'' sein soll, wenn sie keine
Bewertung zugeben. Sagt man von einem Tun, es sei Kunst,
80 bewertet man es. Solange man es aber nicht sagt, liegt
kein Anlaß vor, es zu beschreiben.
Man beruft sich gern auf die Naturwissenschaften und
sagt, in der Physik, Chemie oder Anatomie werde es keinem
einfallen, Normen aufstellen zu wollen, wie sich die Körper
zueinander verhalten, oder wie Tiere gebaut sein sollen, es
genüge, wenn gefunden wird, wie sie sich tatsächlich verhalten.
Dies ist richtig. Nur ist das Beispiel unrichtig gewählt
Kunst ist eine menschliche Tätigkeit, und zwar ist sie
als solche nach dem Ausdruck Heineich von Steins „Be-
wältigung des Stofflichen".^ Kunst in diesem Sinne ist auch
jede Technik. Will man daher Analogien aufsuchen, so darf
man keine theoretische Wissenschaft zum Vergleiche heran-
ziehen, sondern eine von den praktischen, für die man die
bessere Benennung „Techne" gefunden hat Statt der Physik
^ K. Heinrich von Stein, Vorlesungen über Ästhetik, Cotta, Stutt-
gart 1897, S. 34f.
182 I^' Kunsttkeoretisehe Begründung,
oder Chemie, sollte also Brückenbau^ Maschinenbau oder
„Farbenindustrie^', statt der Anatomie, Medizin zum Vergleiche
herangezogen werden. In diesen aber schließt eine jede wissen-
schaftliche Einsicht schon eine Norm ein. Doch darüber ist
schon so viel gesprochen worden, daß es sich nicht lohnt, noch
weitere Worte zu verlieren, überdies kann es nicht in unserer
Absicht liegen, den Gegenstand, wenn auch noch so flüchtig,
allseitig zu beleuchten, so müssen wir auch diese Streitfrage
fallen lassen, indem wir den Satz akzeptieren, „daß zwischen den
beschreibenden und normativen Wissenschaften theoretisch nicht
sicher zu scheiden ist".^
Was nun die folgende Darstellung anbelangt, so verfolgt
sie lediglich den Zweck, für die früheren Untersuchungen und
Behauptungen eine allgemeine theoretische Grundlage zu bieten,
daraus entnehmen wir eben das Becht, uns nur darauf ein-
zulassen, was uns im Hinblick auf diesen Zweck wichtig er-
scheint. Wiewohl nun im allgemeinen die Wiederholung be-
kannter Dinge nicht vermieden werden konnte, so wurden
doch — so hoffen wir — im einzelnen auch neue Gesichts-
punkte aufgesucht. Und darin liegt die Eechtfertigung unserer
Darstellung.
Indem wir nun zur Sache selbst übergehen, sei bemerkt, daß
wir im Nachstehenden unter Kunst, Kunst im eigentlichen Sinne
verstehen, und zwar höhere Kunst, im Gegensatz zu den
niederen Künsten, und reine Kunst, im Unterschied von den
angewandten. Kunst in diesem Sinne bezweckt die Hervor-
bringung des Scheines. „Schein" wird hier als Gegensatz zur
Wirklichkeit verstanden. Dies soll erklärt werden.
Ein Kind hat Verdruß, bekommt Schelte, es wird ihm
etwas versagt oder untersagt — es weint bitterlich. Oder es
sucht jemanden und findet ihn nicht und weint deswegen. Oder
es sieht Wagen, Pferde, Soldaten und freut sich daran. Das
^ Max Dessoib, Ästhetik und allgemeine Kunstwissen-
schaft, S. 96.
IX. Kunsitheoreitsche Begründung. 183
ist des Kindes Wirklichkeit Nun geht es ein anderes Mal
und ruft ihren Schein hervor. Es schilt, wird gescholten, be-
kommt Schläge und weint — aber alles als Spiel zum Spiele,
zum „Schein^^ Ein anderes Mal kritzelt es auf Papier oder
Tafel etwas und hat den „Schein" eines Pferdes. Was ist nun
daran? Zur selben Zeit könnte das Kind ganz ernsthaft ge-
scholten, geschlagen werden und bitterlich weinen, es kann zum
Fenster hingehen und wirkliche Pferde sehen. Nein, dies mag
es nicht. Wirklichkeit mag es nicht, sondern nur ihren Wider-
schein, ihren „Schein".
Ein anderes Beispiel. Jemand eilt ins Museum, in eine
Kunstausstellung. Dort wird er gemalte Häuser, Bäume, Men-
schen und Pferde sehen. Auf dem Wege aber können ihm
an die zwanzig Paar Pferde, unzählige Menschen, alt und jung,
schön und häßlich begegnen. Er achtet ihrer nicht Er geht
achtlos an Baum und Haus, an Mensch und Tier vorüber,
um bei womöglich schlechter Beleuchtung sich an ihrem
„Schein" zu ergötzen.
Noch ein Beispiel Ein Volksauflauf. Ein Mann kommt
raschen Schrittes herzu. Was ist denn vorgefallen? Man
klärt ihn auf. Ein tragisches Ereignis. Mord und Selbstmord.
Man erzählt viel von der blendenden Schönheit der jungen
Dame imd den mysteriösen Nebenumständen. Der Mann hört
gespannt und doch nur zerstreut zu. Er hat leider keine Zeit.
Im Theater wird „Kabale und Liebe^< gegeben. Schon des
berühmten Darstellers halber möchte er um keinen Preis zu
spät kommen. Dann hat er doch keinen Sinn für das traurige
Ereignis hier. Seine Gedanken fliegen dem zu erwartenden
Genuß entgegen. Er ist auch zu nervös, zu empfindlich, um
solcher Erschütterung standhalten zu können. Er entfernt sich
deshalb mit einem dumpfen Gefühl des Unbehagens, halb
ärgerlich über den sonderbaren Zufall, der ihm gerade diese
Straße nehmen ließ, noch mehr geärgert über die zudringlichen
eigenen Gedanken, die sich wie lästige Fliegen nicht ver-
scheuchen lassen. Was geht ihn im Grunde alles dies an?
184 i3r. Kunsttheoretische Begründung,
Geschieht solches nicht täglich? Allzugroße Weichherzigkeit
ist vom Übel. Wo käme der Mensch hin, wenn %v sich alles
zu Herzen nehmen wollte? So trachtet er sich zu beruhigen
und beschleunigt die Schritte. — Wie? Hier hat er die leib-
hafte Tragödie vor sich mit echten Tränen und echtem Blut!
Er flieht formlich vor ihr, um sich an gemimter, mit Wasser
statt Gift zu ergötzen? Ist dies nicht verwunderlich?
Und nun sehen wir einmal zu. Warum ziehen in diesen
verschiedenen Fällen so Eind als Mann den Schein der Wirklich-
keit vor? Eine Kunsttheorie, die sich mit dieser Frage nicht
abfindet, erklärt nichts, ist armselig. Eine Theorie, die von
Nachahmung als letztem Zweck der Kunst spricht und nicht
erklärt, wozu das Nachbild, wenn ein Vorbild da ist, ist
höchstens Kunstregel, nicht Kunsttheorie. So wie die vielen
anderen Regeln über die Handhabung des Pinsels oder des
Meißels, ist sie einfach ein Wink der Meisters für den Schüler:
„beobachte scharf die Natur und bilde sie treu ab.'' Daraus
ist sie auch sicherlich abzuleiten, trotz der Poetik des Aristo-
teles, welcher einerseits sicher unter dem Einfluß der bildenden
Künste stand, andererseits schon durch seine „Katharsis^' allein
weit über die „Mimesis*' hinausging.
Der Einwurf, daß wir das Nachbild leichter haben können,
als das Vorbild, ist leicht abzuweisen. Zwar manchmal stellt
man sich auch in einem Kunstwerk eine Art Surrogat, Ersatz
für die Natur vor. So oft bei einem Porträt. Wie aber aus
den angeführten Beispielen zu ersehen ist, wird bei gleicher
Möglichkeit beider Genüsse derjenige des „Scheins" vor-
gezogen. Daraus geht auch hervor, daß dieser ein wesens-
anderer ist, folglich kann er nicht zum Ersatz des ersten
dienen. Ersatz bedeutet außerdem immer etwas Minderwertiges.
Ist Kunst aber minderwertig? Übersteigt der Wert eines Bildes
nicht oft hunderttausendfach den Wert des abgebildeten Gegen-
standes? Endlich, kann ein gemaltes Stilleben ein gutes Früh-
stück ersetzen?
Ernsthafter ist ein zweiter Einwurf. Man behauptet mit
IX. Kunsttheoretische Begründung» 185
Eecht, weil auf Grund strenger Beobachtung, daß der Nach-
ahmungstrieb einem jeden lebenden Wesen angeboren ist.
Dieser Trieb mll befriedigt werden, wie aUe Triebe. Und
80 entsteht Nachahmung, als welche sich die Kunst darstellt.
Dies ist wahr. Die Kunst ist unzweifelhaft aus dem Nach-«
ahmungstriebe geboren. Aber ebenso unzweifelhaft kann dieser
Trieb allein die Freude an der Kunst nicht erklären. Er
könnte zur Not die Freude am Kunstschaffen bedingen, nicht
mehr die Freude am Geschaffenen. Auch das Korrelat der
ersten Freude nämlich, die Freude am Wiedererkennen, so
sicher sie in manchen Kunstgenuß eingeht, genügte nicht zur
Erklärung der Freude an der Kunst. Was erkennt man denn
eigentlich wieder bei der neunten Sinfonie, oder beim Kölner
Dom oder bei einem Böcklin? Sind das Abbilder einer uns
vertrauten Natur?
So muß denn ein anderer Trieb herangezogen werden,
der mit jenem in engster Beziehung und Verwandtschaft steht.
Wir nennen ihn. Es ist der Trieb, unsere Kräfte zu gebrauchen
oder der Trieb der Lebensbetätigung.
Jedes Tun, sohin auch jedes Fühlen, Wollen, aber auch
jedes Erleiden, endUch jedes Wahrnehmen, welches auch ein
Tun ist — alles dies Tan also ist eine Lebensbetätigung oder
ein Erlebnis. Der Möglichkeit einer Lebensbetätigung oder
des Erlebens entspricht der Trieb sich zu betätigen. Dieser
Trieb ist es, der einem jeden Erlebnis, auch dem schmerzvollen
ein Element der Lust beimischt. Dies merken wir am deut-
lichsten im Traume. Das Träumen ist an sich lustvoll. Auch
der schrecklichste Traum enthält, besonders für stärker ästhetisch
veranlagte Naturen, ein Moment intensivster Lust und Freude
in sich. Es ist die Freude am Traum. Diese Freude ist
nichts als Lust am Erlebnis. Sie ist es auch, welche die
ästhetische Freude ausmacht.
Die Freude am Schauen, am Wahrnehmen ist es eben-
falls, die uns beim Anblick der Natur erfreut. Dies gehört
nicht unmittelbar zu unserem Gegenstand, doch können wir
186 I^' Ktmstthearettsehe Begründung.
auch dabei etwas lernen. Man hat oft darauf aufmerksam
gemacht, daß die Schönheit der Natur nicht auf jeden im
gleichen Maße wirke, daß sie auf einen und denselben Menschen
nicht immer den gleichen Eindruck mache. Der Bauer^ welcher
das Feld bestellt, der müde Wanderer im Gebirge, der Soldat
während eines anstrengenden Marsches, der Jäger oder der
Wilderer bei der Jagd, sie haben weniger Sinn für die Schön-
heit der Natur, die sie umgibt, als der Tourist. Ja man be-
hauptet sogar, daß er zuweilen ganz fehle. Freilich wird der
Bauer, welcher in seiner harten Arbeit aufgehen muß, kaum
ein Auge für die Schönheit des Bildes haben, das sich vor
ihm entfaltet, sicher spielt auch die Abstumpfung dabei mit.
Daß er kein Gefühl für die Schönheit der Natur hätte, darf
aber nicht behauptet werden. Eher hat er keine Zeit dafür,
keine Muße, keinen freien Kopf. Mehr jedoch werden wir
vom Jäger lernen. Dieser hat oder kann Sinn für die Natur-
schönheit haben, er hat ihn meist so weit, daß ihr Genuß den
wesentlichsten Bestandteil der Freude an der Jagd ausmacht.
Er kann sich ihm aber nicht immer voll hingeben, denn er
jagt doch. Und nun können wir fragen: Wann erfreut sich
der Jäger voll der Naturschönheit? Wenn die Jagd seine
Aufmerksamkeit nicht ganz in Anspruch nimmt, also z. B.
während er auf den Anstand wartet.
Wir können es anders ausdrücken: Wenn der Jäger frei
ist, dann erfreut er sich der Natur. Und ebenso der Soldat,
wenn er ruht, oder wenn er die Beschwerden des Marsches
momentan vergißt. Und der Bauer erfreut sich vielleicht des-
halb am wenigsten von ihnen der Natur, weil er am wenigsten
frei ist von der Qual und Mühe des Tagewerkes. Allgemeiner
gefaßt, der Mensch muß sich frei fühlen, frei von Beschwerde,
von Kummer oder Sorge, frei von jedem anderweitigen Inter-
esse endlich, dann wird er sich erst au der Schönheit der
Natur erfreuen. Dies trifft beim Touristen meist zu. Insofern
nicht, entsteht ein gemischtes Gefühl, oder es kommt zu keinem
Genuß. So haben wir ein bedeutungsvolles Moment ge-
IX. KunsttheoreUache Begründung, 187
funden. Die Grundbedingung der Freude am Schauen ist
Freiheit
Und nun wenden wir uns wieder dem Traum, dem Spiel
und der Kunst zu. Wenn ich weinen kann, ohne Schläge zu
bekommen^ wenn ich durch Tod, durch Unglück und Elend
erschüttert werde, ohne daß dabei irgendjemandem ein reales
Leid geschieht, wenn ich bei aller meiner Hingerissenheit mir
vollkommen dessen bewußt bin, daß ich durch kein reales
Unglück betroffen, geängstigt oder zermalmt werde, wenn ich
mich jenseits aller harten Wirklichkeit seiend fühle und doch
von ihrem Strudel taumelnden und berauschten Sinnes ergriffen
und getragen, dann — beim Spiel, im Traume und im Kunst-
genuß bin ich mächtig und frei wie ein Gott — der erdenschweren,
der lastenden und drückenden Wirklichkeit enthoben und doch
in sie getaucht bis in ihre tiefsten Tiefen.
Jetzt sind wir beim Hauptpunkt angelangt Kunstgenuß
ist ein Erleben in vollkommener Freiheit vom Zwange
des Erlebnisses. Denn dieses Erleben wird herbeigeführt
nicht durch eine Wirklichkeit, sondern durch den
„Schein'^ einer Wirklichkeit Dieses Moment, dieses Ge-
fühl der Freiheit ist es, welches jeden Kunstgenuß, jeden
ästhetischen Genuß der Natur, wie nicht minder Freude am
Spiel bedingt und in ihrem Wesen bestimmt Es ist bei allen
diesen Genüssen durch den Genuß hindurch immer wach und
lebendig und verändert ihn von Grund aus. Ob wir ein Bild
anschauen, ob wir ein Märchen lesen, oder einer Tragödie bei-
wohnen, ob wir einer Sonate Beethovens lauschen, oder vor
einem Dom bewundernd stehen, ob wir endlich in Naturgenuß
schwelgen, immer ist es dieses Gefühl der Freiheit, des Frei-
seins von aller Gebundenheit, durch die Wirklichkeit, ist es
das Gefühl des Entzücktseins, welches vorherrscht und das Ge-
fühl des Erlebens durchdringt^
^ Verwandt damit ist das, was Konrad Lange das illusionstörende
Moment nennt, welches, wie er richtig nachweist, in jedem Eimstwerk
vielfach enthalten sein muß. Vgl. Konbad Lange, Das Wesen der
Kunst, G. Grote, Berlin 1901, Bd. I, S. 209ff. u. 281.
188 i^' Kunsttheoretische Begründtmg,
Doch dieses Moment der subjektiven Freiheit ist noch
nicht alles. Es involviert ein weiteres das Moment der ob-
jektiven Freiheit, der Freiheit des Gegenstandes, des Ge-
nusses. Sind wir einmal durch keinen Zwang der Wirklich-
keit gebunden, so erfreut sich auch der Gegenstand, der uns
den Genuß bereitet, dieser Freiheit. Auf Leinwand, in Stein
können wir gewöhnliche Bassenpferde oder Ackergäule ebensogut
wie den geflügelten Pegasus, wie das gehörnte oder doppel-
köpöge Eoß, oder wie den Zentauren darstellen und anschauen.
Was hindert uns? Aus Elementen der Wirklichkeit, die wir
tausend und abertausendmal durcheinandergeworfen, bauen wir
eine andere Welt auf: die Welt der Kunst, die Zauber- und
Fabelwelt des „Scheins'^ Welch unermeßliche Bereicherung
des Eeiches des Erlebnisses und des Schauens! Es entsteht
vor uns der gefesselte Prometheus, ein Odipus, ein Lear!
Wo sind die in der Wirklichkeit zu finden?
Ich fasse zusammen. Der Kunstgenuß ist wie jeder
ästhetische Genuß, eine Freude am Erlebnis. Diese Freude
ist bedingt durch das Gefühl der Freiheit vom Zwang der
Wirklichkeit. Wir schaffen also Kunstwerke, nicht lediglich,
um die Natur oder die Wirklichkeit nachzuahmen, sondern
erstens, um den Schaffensdrang zu befriedigen, zweitens, um
eine Welt des „Scheins" hervorzubringen, welcher das Gebiet
des Erlebnisses unendlich erweitert und das Erlebnis zu
einem an sich lustvollen verwandelt durch das ihm
innewohnende Gefühl der Freiheit und des Spieles,
Endlich sind nicht nur wir entrückt der Wirklichkeit und auch
frei von jeder Gebundenheit an die von uns geschaffene Welt
des „Scheins*', sondern auch diese selbst ist wiederum voll-
kommen frei von der Wirklichkeitstreue und darin liegt,
wie wir noch sehen werden, ihre unbezwingbare und unerschöpf-
liche Krafb.
Nun gehen wir einen Schritt weiter. Der „Schein" kann
erstens der Schein eines Dinges oder Geschehnisses außerhalb
uns sein. Das Kind stellt sich vor^ es sehe Soldaten, Pferde,
XL Kunsttheoretische Begründimg, 18^
Burgen; der primitive Mensch meißelt in Stein eine Figur, die
eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Menschen hat^ der ge--
wandtere Künstler eines Kulturvolkes bringt Bilder hervor, die
in höherem Grade den Schein der Naturwahrheit hervorrufen.
Oder es schart sich eine wegemtide Karawane um eine Quelle,
um Bast zu halten und einer von den Beisegenossen erzählt
wunderbare Märchen von verwunschenen Prinzen und engel-
schönen Prinzessinnen, von kristallenen Palästen und Zauber-
gärten, von Gold und Edelgestein in unterirdischen Höhlen.
Die Schar um ihn her aber hängt gebannt an seinem Munde
bis tief in die sternenhelle Nacht .... In allen diesen Fällen
ist der Genuß ein ,,beschaulicher'^ Der Genießende schaut
Bilder, sei es der Wahrnehmung, sei es der Phantasie an»
Sie sind etwas außerhalb seines Ich Gegebenes. Es herrscht
das objektive Prinzip vor.
Zweitens können wir es mit dem Schein eines Vorganges
in uns zu tun haben, oder eines Vorganges, an dem wir inner-
lich teilnehmen. Das Kind weint, lacht, jauchzt, versteckt sich,
reitet auf einem Stecken, spielt Vater oder Mutter, Lehrer
oder Schüler. Der primitive Mensch führt Kriegstänze,
Scheinkämpfe auf, spielt auf seinen einfachen Musikinstrumenten,
läßt seinen Gesang, sein Kriegs- und Freudengeschrei er-
schallen. Der Kulturmensch jauchzt, jodelt, singt, treibt Musik
oder mimt. In allen diesen Fällen ist der Genuß ein „ex-
tatischer^'. Der Mensch schaut nicht etwas außerhalb seiner
mit kontemplativen Sinn an, sondern er wird von einem
Taumel ergriffen, es schreit aus ihm heraus, sei es Freude
oder Schmerz, er ist hingenommen, hingerissen, sein Inneres
hat sich für die Dauer des Genusses in ein anderes ver-
wandelt. Der Zustand des Genießenden ist ein extatischer..
Dieser Zustand kommt in der Kunstübung unmittelbar zum
Ausdruck, zur „Verlautbarung*'. Der Genießende schaut nicht
ein Bild außerhalb seines Ich an, sondern sein Ich selbst wird
durch den Schein verwandelt. Es herrscht das subjektive
Prinzip vor.
190 1^ Kunstiheoretüohe Begründung.
Dieser Gegensatz ist tief und grundgehend. Derselbe
Unterschied, der zwischen den jeweiligen Seelenzuständen be-
steht, wenn ich einmal einen zornigen Mann beobachte, das
andere Mal selbst in Zorn gerate, wenn ich einmal einer Über-
schwemmung zuschaue, das andere Mal selbst in einem
schwachen Kahn mit den aufgeregten Wogen kämpfe, besteht
auch zwischen den jeweiligen Zuständen, wenn ich einmal ein
Bild eines zornigen Mannes betrachte, das andere Mal selbst
einen Zornigen spiele, wenn ich das eine Mal von Angst und
Kampf erzählen höre, das andere Mal selbst den in Angst
ums Leben Kämpfenden spiele. Worin besteht nun dieser
Unterschied? Das eine Mal ist, wie erwähnt, das Schauen
das Bestimmende unseres Seelenzustandes, das andere Mal das
Fühlen und Wollen: Zorn, Angst und Verzweiflung, Trotz
und Kampf.
Die Frage nach dem Seelenzustande des Schauspielers
während seines Spieles gehört nur scheinbar hierher. Der
Schauspieler mag ganz hingenommen sein von seinem Spiel,
er paag an das Publikum denken und Lampenfieber haben,
er mag kühl die Wirkung seiner Sprache und Gebärden be-
rechnen, für unsere Frage ist dies alles nicht entscheidend.
Auf einer gewissen Stufe der Kunstentwicklung wird der
Seelenzustand eines produzierenden Künstlers zu differenziert,
zu vielfach zusammengesetzt, um in Bücksicht auf unser
Problem ein richtiges Bild und Beispiel zu geben. Vor allem,
was den Schauspieler anbelangt, so produziert er während der
Vorstellung meistens nicht mehr, sondern er reproduziert das
während der Vorbereitung Geschaffene. Sicher ist, daß ur-
sprünglich Kunstschöpfung oder Kunstübung sich hier mit dem
Kunstgenuß vollständig deckten. So wie noch jetzt beim
Kinderspiel, war der ursprüngliche Schauspieler sein eigener
Zuschauer, worauf die Anfänge des griechischen Dramas deut-
lich hinweisen. Freilich mußte bald eine Scheidung vor sich
gehen. Nicht jedermann war in gleichem Maße veranlagt, an
der Kunstübung — und sei sie noch so primitiv — teil-
/X Ktinsitheoretiseke Begründung, 191
zunehmen. Bei Tanz, Gesang, £ainpf und Festspiel konnten
schon der physischen Bedingungen halber nicht alle in gleicher
Weise mittun. So differenzierte sich die Masse der Spielenden
allmählich in eine Gruppe der Agierenden und eine Gruppe
der Zuschauer. Bei den griechischen Spielen können wir den
Differenzierungsprozeß weiter verfolgen. Aus dem Chore trat
der Chorführer heraus und dann erfolgte eine weitere Scheidung
in Schauspieler und Chor, welch letzterer nicht ganz mit Un-
recht der ^,ideale Zuhörer'^ genannt wurde. So wie sich aus
der ursprünglichen Masse der gleichzeitig Spielenden und
Schauenden ein Teil der eigentlichen Spieler ausschied, ebenso
aus der Gruppe der letzteren, aus dem Chore der Schauspieler.
Es ist ein Unterschied zwischen dem Betroffensein des Pro-
metheus und derjenigen der Ozeaniden, oder, um ein Bei-
spiel eines verdeckten Chores zu wählen, zwischen dem Be-
troffensein des Königs Lear und dem Kents oder des Narren.
Wie fortgerissen auch Kent von dem Strudel der Vorgänge
wird, er bleibt doch der eigentlichen Handlung gegenüber, die
sich um Lear dreht, nur Zuschauer. Noch mehr der Narr
„Lears" oder im „Prometheus*' die Ozeaniden. Natürlich
ist es nicht der befrackte, krittelnde Zuschauer der Loge —
und dies verführte Nietzsche zu seinem Ausfall gegen
A. W. Schlegel. — Wohl aber der mitschwärmende Zu-
schauer, der mithingerissene und, wie bei den Spielen der
Kinder, der teilweise Mitspielende.
Und ich meine weiter: selbst nachdem eine vollkommenere
Scheidung vor sich ging, und jener mitschwärmende Zuschauer
völlig in die Sphäre des „Scheins" der Dargestellten gehoben
wurde, den eigentlichen Zuschauer weit hinter sich lassend —
auch dann noch blieb diesem letzten, dem jetzigen von der
Loge aus dem Spiele skeptischen und kühlen Sinnes folgenden
Zuschauer noch etwas von jenem schwärmenden Geist,
von jener Mithingenommenheit, Mithingerissenheit
zurück, die den Seelenzustand des ehemaligen mitspielenden
Zuschauers kennzeichnete. Und das ist es, worauf wir hinzielten.
192 1^' KtmaWieoreüsche Begründung.
Denn, ist das hier Ausgeführte richtig, so ergibt sich
daraus^ daß man die Künste einteilen kann in solche, bei
denen der beschauliche, kontemplative oder objektive
und solche, bei denen der extatische oder subjektive
Charakter des Genusses vorherrscht, um sie kurz zu benennen,
in kontemplative und extatische Künste. Zu jenen wären
die plastischen Künste, die Architektur, die Ornamentik und
die beschreibende Poesie zu zählen, zu diesen der Tanz, die
Musik, die Lyrik, die dramatische und die Schauspielkunst. Es
ist klar, daß uns bei Aufsuchung dieses Einteilungsprinzips
nicht um eine geistreiche Konstruktion zu tun ist, sondern
darum, den unterschied im Charakter des Genusses bei jeder
dieser Gruppe klar hervorzuheben. Bemerkt muß dabei werden,
daß wir nur von einem Vorherrschen des einen oder des
anderen Charakters in einer Kunst sprachen. Denn wir sind
uns dessen bewußt, daß man von einer Alleinherrschaft hier
oder dort doch nicht gut sprechen kann. Es kann be-
schreibende Poesie, Extatisches enthalten — freilich ist dieses
dann zugleich auch Lyrisches. Ebenso kann Malerei oder
Plastik Extatisches enthalten — freilich spricht man in diesem
Fall mit Recht von poetischer Malerei. Genauer ausgedrückt,
sollte man von lyrischer Malerei sprechen. Umgekehrt kann
Lyrik auch Kontemplatives enthalten — dann ist es aber zu-
gleich „Episches". Dasselbe gilt vom Drama. Es kann ein*-
zelne kontemplative Momente enthalten, sie dürfen aber nicht
vorherrschen.
Dahingegen gibt es keine größere Unnatur und Gewalt-
samkeit als beschreibende oder schildernde Musik, welche unter
allerlei Flagge und Namen von großen und kleinen Geistern
propagiert wird. Dieselbe Widernatur, wenn auch anscheinend
nicht so kraß, ist es aber, wenn das Drama — vom kon-
templativen Geist beherrscht — beschreiben oder schildern
will. Und diese vom Naturalismus in vielfacher Verdeckung
begangene Sünde ist es eben, die wir im Laufe unserer
Darstellung mit dem größten Nachdruck bekämpfen mußten»
IX, Kunsttheoretische Begründung, 193
Das Drama soll und darf nicht schildern, sein Grandcharakter
muß unbeschadet einzelner beschaulicher Momente ein ex-
tatischer bleiben, dieser aber widerstrebt jeglicher Schilderung,
weil sie beschaulich ist.
Zwar unterscheidet sich das Drama von der Lyrik ebenso
wie von der Musik dadurch, daß es nicht reine Verlautbarung
oder Ausdruck unseres Innern, unseres Gefühls ist. Sondern
es stellt das Drama den Schein eines äußeren Vorgangs her,
dennoch bleibt sein Genuß ein extatischer oder subjektiver,
weil dieser Vorgang ein Geschehen mit uns, unser
Handeln, unser Erleiden ist Wir sind es, mit denen
etwas vorgeht. Und wenn sich auch in der Folge der Ent-
wicklung die Person, mit der etwas vorgeht, vervielfacht, wenn
Spiel und Gegenspiel, Macht und Gegenmacht, endlich die
Agierenden und die Zuschauenden voneinander schieden und
sich scharf sonderten; wenn auch der Schöpfungsakt sich viel-
fach differenzierte in das Verfassen und das wieder differenzierte
Darstellen, so bleibt dem Drama dennoch von alledem un-
berührt sein ursprünglicher Grundcharakter und dieser ist ein
extatischer.
Ein anderes Einteilungsprinzip, dessen Durchfuhrung in
diesem Zusammenhang minder wichtig ist, das aber doch
interessante Streiflichter auf unsere Fragen werfen kann —
ergibt sich, wenn man in Berücksichtigung zieht, ob eine
Kunst unmittelbar durch Wahrnehmung und durch Wahr-
genommenes, oder aber durch Vorstellung wirkt. Nach diesem
Einteilungsprinzip steht die Poesie, und zwar insbesondere die
beschreibende allein allen anderen Künsten gegenüber. Diese
wirken durch unmittelbar Wahrgenommenes Bild, Bauwerk,
Ton, Bewegung — jene mittelbar durch das Wort, welches
uns Vorstellungen suggeriert. Es ist nicht unsere Absicht, die
heikle Frage aufzurollen, wie denn das Wort eigentlich wirke,
ob die Phantasiebilder deutlich oder minder deutlich, schatten-
haft vor unserer Seele auftauchen und der Gefühlswert, die
Erregung schon unmittelbar aus dem Wort fließe. Wie inter-
Bytkowski, Gerhart Hauptmann. 13
194 I^ Kunsttheoretische Begründung.
essant alle diese Probleme sind — die Grundtatsache berühren
sie nicht, die darin besteht, daß die Poesie nicht durch un-
mittelbar Wahrgenommenes, sondern durch reproduktive Fak-
toren, durch Suggestion wirkt oder, anders ausgedrückt, daß
das Yon uns wahrgenommene Wortbild, Klangbild nicht un-
mittelbar äußerlich den „Schein" hervorruft, welcher erstrebt
wird, sondern mittelbar in unserem Innern. Der Unterschied
tritt an dem ersten besten Beispiel klar hervor. Wenn man
die Wirkung des Wortes „Baum" mit derjenigen eines ge-
malten Baumes vergleicht, so ergibt sich unter anderem
folgendes: Ein gut gemalter Baum wird mehr oder weniger
von einem jeden als ein solcher angesehen, es entsteht un-
mittelbar aus und an den Wahrgenommenen der Schein eines
Baumes und zwar ein „Schein" eines ganz konkreten Baumes
mit individuellen Zügen, mit durchaus besonderer Erscheinung.
Dahingegen ruft das Wort „Baum** nur unter besonderen Um-
ständen — wenn man sich absichtlich darum bemüht — ein
schattenhaftes, allgemeines, abstraktes Bild hervor und bleibt
bei einem der deutschen Sprache nicht Mächtigen leerer
Schall.
Dies alles würde uns, wie gesagt, nicht näher angehen. Der
letzte Umstand erklärt uns jedoch den Anlaß, aus welchem wir die
Frage berührten. Er erinnert und vergegenwärtigt uns nämlich,
welchen Faktor in der Wirkung des Wortes das Konven-
tionelle bildet. Denn wirkt das Wort nicht unmittelbar durch
Wahrgenommenes, das ist durch sich selbst, sondern durch
Vorstellungen, Gefühle, Erregungen, welche es hervorruft, so
ist es klar, daß seine Wirkung ohne Konvention nicht be-
stehen kann. Wie auch am obigen Beispiel dargetan wurde.
Für denjenigen, der an der sprachlichen Konvention der
Deutschen keinen Anteil hat, weckt das Wort „Baum" keinerlei
Vorstellung und verhallt wirkungslos. Ebenso wird er vor
Zorn nicht erblassen, wenn man ihm „Schurke!" zuruft,
keinerlei Gefühle werden in ihm wach, wenn man ihm von
„leichenfahler Blässe*' spricht
IX, Ktmsttkeoretische Begründung. 195
Konvention ist Übereinkunft. Wo aber Übereinkunft und
Suggestion auf Grund dieser die Wirkung bestimmt, wo nichts
zur unmittelbaren Darstellung gelangt^ kann auch von einer
„Nachahmung** der Natur als Mittel zur Hervorbringung des
Scheins nur in sehr uneigentlichem Sinne gesprochen werden.
Das Wort „Baum" oder „leichenfahl" ahmt nichts nach — es
ist, wie schon Lessing sagt, ein willkürliches und, wie wir eben
ausgeführt haben, ein konventionelles Zeichen, ein Symbol.
Dagegen ahmt ein gemalter Baum unmittelbar die Natur nach.
Danach sondert sich aus der Gruppe der kontemplativen
Künste die berichtende Poesie aus, weil sie zwar wie jene be-
schaulich ist und sohin bei der Erscheinung verweilen kann,
dafür aber nicht imstande ist, dieselbe nachzuahmen. Aus
anderem Grunde sondern sich aus derselben Gruppe die Archi-
tektur und die Ornamentik ab, weil diese nämlich — so wie
von der anderen Gruppe die Musik und Lyrik — überhaupt
nicht den Zweck verfolgen, durch den „Schein der Natur" zu
wirken, sondern unabhängig von ihr einen eigenen Schein zu
schaffen suchen. Doch dies nebenbei.
Was nun die beschreibende Poesie anbelangt, so muß
man zugeben, daß sie in einem Stück Gelegenheit hat, die
Natur direkt nachzuahmen, und zwar dort, wo sie unmittelbar
darstellt. So wie, zum Teil, das Drama kann nämlich auch die
beschreibende Poesie die menschliche Rede selbst zum Gegen-
stand der Darstellung machen, sie führt die Bede an als
solche, mit allen ihren Eigenheiten, wörtlich. Von dieser Mög-
lichkeit hat auch der Naturalismus den ausgiebigsten Gebrauch
gemacht, wovon eine Probe in unserer Einleitung gegeben
wurde.
Hier tritt nun aber eine Komplikation ein. Denn es kann
zwar die Poesie die Bede unmittelbar nachahmen, sie tut es
aber wirklich nur in den seltenen Fällen, wo laut gelesen
wird. Wird aber still gelesen, so tritt wiederum nur die Vor-
stellung an Stelle des sinnlich Wahrgenommenen. Wohl aber
bleibt — dies sei zugestanden — der Charakter des Genusses
13*
196 XI- KunsttheoreUsche Begründung.
derselbe, da die Vorstellung des gesprochenen Wortes viel un-
mittelbarer mit dem Wort verknüpft ist, als die Vorstellung
irgendeines Dinges, dessen Symbol das Wort nur ist Ja noch
mehr, wie im Abschnitt über die Sprache ausgeführt wurde,
führt dieser Mangel der still gelesenen Poesie einen Vorteil
gegenüber der lauten Wiedergabe des Wortes mit sich, näm-
lich eine größere Freiheit in der getreuen Wiedergabe der
Rede des Alltages.
Andererseits muß hervorgehoben werden, daß die Sprache als
solche nur in sehr beschränktem Maße Gregenstand der
poetischen Darstellung ist, daß sohin diese ganze Ausnahme
überhaupt wenig Bedeutung hat und die beschreibende Poesie
sich doch im großen und ganzen von den bildenden Künsten
dadurch unterscheidet, daß sie nicht unmittelbar darstellt. So-
nach blieben für die allgetreueste Nachahmung der Natur nur
die bildenden Künste allein übrig, denn das Drama stellt
zwar unmittelbar und konkret dar, ist dafür aber eine exta-
tische Kunst, für welche die Treue in der Wiedergabe über-
haupt Nebensache ist. Und wirklich sind es, wie nochmals
hervorgehoben werden soll, die Kunstregeln der bildenden
Künste eben gewesen, von welchen die ganze Theorie von der
Natumachahmung als letztem Ziel der Kunst ihren Ausgang
nahm.
Nun zu etwas anderem. Wir haben die Welt der Kunst
eine Welt des „Scheins" genannt im Gegensatz zur Welt der
„Wirklichkeit". Dieser Gegensatz kommt nach zweifacher
Seite zur Geltung, nach der subjektiven und nach der ob-
jektiven.
Nach der subjektiven, in dem wir uns dessen vollkommen
bewußt sind, daß wir es mit keiner Wirklichkeit zu tun haben.
Träume ich, ein Raskolnikow zu sein, so habe ich durch alle
Angst und Pein hindurch das Gefühl, daß dieser ganze Komplex
von Ereignissen, Handlungen und Gefühlen mit dem Ganzen
meines Lebenszusammenhanges in keinem kausalen Verhältnis
steht, da£ er es nicht im Geringsten berührt. Es ist das von
IX, Kunsttheoretische Begrimdung, 197
Lange mit Recht so nachdrücklich hervorgehobene Bewußt-
sein der Illusion. Dieses Bewußtsein färbt auf die Gefühle,
die uns im Traume und beim Kunstgenuß bewegen, derart ab,
daß sie von Grund aus verändert werden, daß auch an sich
unlustvolle Gefühle das Gepräge der Lust erhalten. Sie er-
halten es, weil das Moment des Losgelöstseins vom Lebens-
zusammenhang ihnen den Stachel des Schmerzes oder der
Unlust benimmt^ hingegen das Moment des Erlebens in seiner
vollen Geltung verbleibt, ja durch das Wegfallen des ersten
zu einem besonders intensiven wird, zur Lust des ästhetischen
Schauens, zur ästhetischen Hingenommenheit, Hingerissenheit.
Unsere ganze Lebensenergie, unsere ganze Lebenserfahrung
und unser ganzer Lebensdrang konzentriert sich sozusagen in
dem Erleben und gibt seinem Genuß jene intensive Färbung,
die den Erlebnissen der Wirklichkeit nur in den seltensten
Fällen zukommt.
Wenn daher von mancher Seite bei Annahme von Schein-
gefühlen, — auf welches Problem wir nicht eingehen wollen —
von einer Abschwächung der Gefühle im ästhetischen Genuß
gesprochen wird, so ist das einseitig. Der reale Zusammen-
hang der Wirklichkeit gibt den Gefühlen, sobald es sich um
uns selbst betreffende Dinge handelt, eine Dauerhaftigkeit und
ein Bewußtsein dieser Dauerhaftigkeit, die selbstverständlich
auf die Stärke des Gefühles im höchsten Grade einvnrkt.
Dahingegen werden uns Dinge, die unser Interesse nicht un-
mittelbar berühren, in der Wirklichkeit ein viel schwächeres
Gefühl einflößen als beim ästhetischen Genuß. Ja nicht nur
schwächer, sondern anders ist das Gefühl. Das, was z. B. im
Leben Mitleid ist, ist in der Tragödie etwas völlig anderes.
Unrichtig ist es, zu glauben, daß wir mit dem Odipus Mit-
leid fühlen, denn die Sache ist nach unseren früheren Aus-
führungen die, daß wir die Gefühle des Odipus selbst in uns
erleben, dabei aber ganz genau wissen, daß wir nicht Odipus
sind. Das ist die ästhetische „Einfühlung", von der noch
zu sprechen ist
198 ^X* Kv/nsttheoreUsche Begründung»
Sohin kann man nicht sagen, daß ästhetische Gefühle als
Scheingefühle schwächer seien, im Gegenteil, sie sind meistens
nur ihrer Anlage nach intensiver als Gefühle, die uns die
Wirklichkeit einflößt oder sie sind einerseits schwächer,
andererseits aber stärker als diese. Sie sind nämlich losgelöst
vom Kontinuum unseres Ich. Das schwächt sie ab. Denn
wir wissen doch, daß wir nicht Odipus sind, und wir können
den Schmerz der Blendung keinesfalls auch nur annähernd
fühlen. Das gibt ihnen auch eine gewisse Flüchtigkeit, die
wiederum nicht so weit geht, als man gewöhnlich annimmt.
Denn das betreffende Gefühl kann sich sofort nach dem Schluß
einer Tragödie verflüchtigen, dafür werden aber andere wach,
die aus der Verklärung jener, aus ihrem Entheben in eine
Welt der Erinnerung, des „Einst'*, entstehen. Dies ist die
Katharsis, welche unleugbar besteht. Wenn die Tragödie zu
Ende ist, so kann ich sofort ungefähr dieselben Gefühle haben,
die Odipus erst viel später auf Kolonos hatte, als das ganze
vielbewegte erlebnis-^und schmerzensreiche Leben weit hinter
ihm war.
Andererseits sind, wie wir sahen, die ästhetischen Gefühle
intensiver als die Gefühle, welche uns die Wirklichkeit einflößt,
weil man sich ihnen als einem Erlebnis infolge des WegfaUens
aller Wirklichkeitsbeziehung voll und ungeteilt hingibt So
können wir denn sagen, daß die ästhetischen Gefühle, die uns
der „Schein" der Kunst einflößt, einerseits schwächer, anderer-
seits aber stärker sind als die, welche der Wirklichkeit gegenüber
wach werden, daß sie zwar flüchtig sind, diese Flüchtigkeit
aber einen Vorteil der Verklärung oder Läuterung einschließt.
Wir haben oben gesagt, daß sich der Gegensatz des
ästhetischen „Scheins" und der „Wirklichkeit'^ auch nach der
objektiven Seite äußert. Er äußert sich darin, daß, wie gesagt,
dieser Schein tatsächlich etwas anderes ist als Wirklich-
keit. Und doch ist die Welt des „Scheins" zugleich auch die
Welt der reinsten Wahrheit. Denn in ihr entschleiern
sich die tiefsten Geheimnisse der Natur. Und insofern geben
IX, Ktmsttkeoretiscke Begründimg s 199
wir jenen Ästhetikern Eecht, welche in dem Streben nach
Naturwahrheit das vornehmste Streben der Kunst sehen. Wie
erklärt sich nun der Widerspruch dieses Zugeständnisses und
unserer vorigen Behauptung, daß die Welt des „Scheins" sich
im schärfsten Gegensatz zur Welt der Wirklichkeit befindet?
Wie kommt es, daß wir nach unserer früheren Behauptung
von der Welt der Wirklichkeit in die Welt des „Scheins«
fliehen und nun nach der jetzigen Behauptung zur eigentlichsten
Wirklichkeit zur Wahrheit gelangen?
Die Psychologen sagen da einfach. Die Einbildungskraft
des Menschen kann schlechterdings nichts Neues schaffen, es
ist nur die Wiedergabe des Wahrgenommenen in neuer Kom-
bination. Was vereinzelt gesehen wurde, wird zusammengefaßt,
was klein gesehen, groß gestaltet und umgekehrt. Dies ist
wahr. Warum aber, frage ich, wird dann dieser Mangel, diese
Ohnmacht unserer Einbildungs- und Schöpferkraft allgemein
als Vorzug empfunden und gepriesen? Wie kommt es, daß
man ein Kunstwerk, welches in irgendeiner Beziehung zum
Leben oder zur Natur steht, um so höher schätzt, je tiefere
Wahrheit es enthält?
Die Erklärung und Auflösung dieses Widerspruches ist
etwa folgende. Wir haben einmal gesagt, daß die Kunst aus
dem Nachahmungstriebe geboren ist, weiter, daß sie allenfalls
und unzweifelhaft eine Betätigung des Schaffensdranges ist,
daß der Kunstgenuß ein „Erleben" ist im Spiel und durch
den „Schein** oder durch das Schauen des „Scheins", endlich
jetzt vorhin, daß dieser Schein nur aus Elementen der Wirklich-
keit zusammengesetzt sein kann.
Prüfen wir jetzt den Sachverhalt näher. Hierbei fügen
wir das Prinzip der sogenannten „Einfühlung" ein. Was
ist „Einfühlung*'? „Einfühlung", das ist das eigentliche innere
Erfassen des Wahrgenommenen durch „innere Nachahmung*^
Mit jeder Wahrnehmung einer Bewegung ist, infolge einer ur-
sprünglichen Einrichtung unseres Organismus, die zu erklären
hier nicht der Ort ist, der Trieb verbunden, sie nachzuahmen.
200 -^-X". Ktmsttheoretische Begründung.
Kommt es zu einer solchen äußeren Nachahmung, so entsteht
in uns ein kinästhetisches Bild, d. i. ein Bild oder Gefühl der
entsprechenden inneren Vorgänge in uns. In der Folge ver-
bindet sich auch dann, wenn keine äußere Nachahmung zu-
stande kommt, mit jedem wahrgenommenen Bilde, das in ein
Bild der Bewegung aufgelöst wird, ein inneres kinästhetisches
Bild. Dies ist die „innere Nachahmung**, die in dem Aus-
lösen Yon Bewegungsimpulsen und den sie begleitenden Ge-
flihlen besteht Ins einzelne hier einzugehen, haben wir hier
weder Anlaß noch Beruf.
Die Tatsache läßt sich nicht leugnen, daß eine solche
„innere Nachahmung" besteht und sie ist es, die uns ermöglicht,
das Wahrgenommene eigentlich zu erfassen. Wenn wir einen
traurigen Mann sehen, so sehen wir zunächst nur ein so und
so verzogenes Gesicht. Und es ist nicht so, daß wir davon
Kenntnis haben, es müsse Trauer bedeuten, sondern so, daß
wir im Innern das Verziehen des Gesichtes nachmachen, und daß
damit zugleich das Gefühl der Trauer sich einstellt, was wiederum
auf ursprüngliche Einrichtung sowohl, als auf Assoziation zurück-
zuführen ist So verbindet sich mit der Wahrnehmung zugleich
das Erfassen des Wahrgenommenen. Ich sehe einen Traurigen,
ahme unwillkürlich innerlich seine Trauer nach und erfasse sie
dadurch. Ich erlebe sie unmittelbar mit der Wahrnehmung.
Dieses „innere Nachahmen" oder eigentlich Miterleben ist
ein „Tun" jedenfalls. Es ist nicht ein Erleiden, sondern ein
Tun. So stellt sich eine Kette her. Erfassen des Wahr-
genommenen, oder Schauen ist ein „inneres Nachahmen", „ein
Tun" und ein , Erleben" durch „Einfühlung". Kunstschaffen
andererseits entsteht aus dem Triebe zur — äußeren Nach-
ahmung, aus welchem auch die innere Nachahmung entstand;
weiter aus dem Schaffensdrange, der wiederum eine andere
Form des Triebes zur Nachahmung ist, die doch auch ein
„Tun" darstellt, endlich aus dem Triebe zur Lebensbetätigung,
zum Erleben durch den „Schein", oder durch das Schauen
des „Scheins", durch „Einfühlung" in den „Schein".
IX, Kunsttheoretisehe Begründung. 201
Wenn wir nun erwägen, daß je innerlicher, je intensiver
unser „inneres Nachahmen" ist, desto tiefer wir in das Wesen
des Wahrgenommenen eindringen, daß also das tiefere Erfassen
des Wahrgenommenen mit der größeren Fähigkeit und mit
stärkerem Triebe zur „inneren Nachahmung^' verbunden ist;
daß dieser stärkere Drang auch zur äußeren Nachahmung zur
Eünstlertätigkeit führt, so ist es klar, daß die Begabung des
Künstlers und ebenso die des Genießenden darin besteht, tiefer
als andere oder als sonst — d. i. nicht im Zustande des Kunst-
genusses — in das Wesen der Dinge einzudringen und stärker
zur Nachahmung getrieben zu werden. Oder daß dieses Letztere
nur eine andere Seite des Ersten ist.
Der Künstler ist also nicht nur aus Unvermögen, dem
Umkreis der Wirklichkeit zu entfliehen, gezwungen, sich in
ihm und nur in ihm zu bewegen, sondern seine ganze Be-
gabung, sein Trieb drängt ihn dazu. Denn dieser angeborene,
stärker als bei anderen Menschen entwickelte Trieb fuhrt ihn
zum tieferen Eindringen in die Wirklichkeit einerseits und
zum Nachahmen andererseits. So schließt sich der Kreis.
Fliehen wollte der Künstler — sowie der Genießende — von
der Welt der „Wirklichkeit* ' in die Welt des „Scheins" um
zu erleben. Er ist zu ihr durch das Schaffen oder den Genuß
des Scheins zarückgekehrt, welche aus dem tieferen Eindringen
in sie geboren wurden. So löst die Persönlichkeit des Schaffenden
und das Wesen des Schaffens, sowie des Kunstgenusses den
Widerspruch auf.
Man erinnere sich nun. „Schein'» haben wir das Kunst-
produkt genannt im Gegensatz zur Wirklichkeit. Wohl ist
der Schein ein Bild der Wirklichkeit, muß aber nicht un-
mittelbar Widerschein, unmittelbare Spiegelung irgendeiner
besonderen Wirklichkeit sein, sondern nur einer Wirklich-
keit überhaupt.
Gleichzeitig haben wir jedoch den „Schein" weiter in einen
noch schärferen Gegensatz gestellt zur „Erdenschwere" zu dem
„Ernst" der Wirklichkeit Der „Schein" des Feuers, haben
202 -?^« Kunsttheoretiseke Begründung.
wir gesagt, brennt nicht und der „Schein** des Leids macht
nicht unglücklich. Und darin haben wir den Vorzug des
„Scheins** vor der Wirklichkeit gefunden. Es ist die ästhetische
Freiheit des Genusses. Ich brenne, ich will brennen und will
doch nicht verbrennen. Wenn nun der „Schein" des Kunstwerkes
ein von den Schlacken des Wirklichkeitsdaseins befreites
Spiegelbild der Wirklichkeit ist, so kann er ganz Wahrheit und
Wirklichkeit enthalten. Ja noch mehr! Wenn er, vne wir
gesehen, die Frucht einer besonders tiefen Einfühlung des
Künstlers ist, so wird er auch um so wahrer sein, je tiefer
diese Einfühlung war.
Und so gelangen wir zur Forderung der Wahrheit als
der Forderung eines tiefen Eindringens, einer tiefen Einfühlung
in die W^elt der Wirklichkeit. Der Schein ist „Schein" und
nichts als „Schein" und muß dennoch innere Wahrheit ent-
halten, jene Wahrheit, die nicht an den Zufälligkeiten der
Einzelerscheinung haften bleibt, sondern in den Dingen ist und
über den Dingen schwebt.
Und in dem Sinne ist denn auch jedes Kunstschaflfen
ein Erkennen, ebenso wie jeder Kunstgenuß. Darin haben die-
jenigen Theorien recht, die dieses Erkennen der Geheimnisse
der Natur als Wesen der Kunstschöpfung und des Kunst-
genusses ansehen. Haben doch der ästhetische Genuß und die
wissenschaftliche Einsicht einen gemeinsamen Ursprung: die „Ein-
fühlung**; sowie die ästhetische Empfänglichkeit und die Freude
an der Einsicht gemeinsam aus der Einfühlung entspringen.
So stellt sich der „Schein** der Kunst einerseits als ein
„Symbol" der Wirklichkeit dar. Andererseits aber ist der
„Schein** der Kunst eine Art Konzentration, Zusammen-
fassung, Synthese oder auch Mundgerechtmachung der Wirk-
lichkeit für die Einfühlung. Eine Art, um uns einen Ausdruck
aus der medizinischen Chemie zu entlehnen — aufiiahms-
fähigerer Neudarstellung der Wirklichkeit. Sowie uns die
Pflanzen den mineralischen Stoff neu darstellen und zur Re-
sorbierung durch den tierischen Organismus geeignet machen,
IX, Kunsttheoretisehe Begründung, 203
80 stellen auch die Künste die Wirklichkeit neu dar, damit
sie desto tiefer von uns erfaßt werde. Wir erinnern an das
einmal Gesagte, daß ein jeder Mensch schaffender Künstler
sein muß, um Kunst zu genießen, ein Goethe aber so stark
Künstler ist, daß er dem nachgenießenden Künstler die Wege
ebnet. Insofern hat auch Zola recht, wenn er sagt: „vu par
un temparament". Es sind dies die Wege der Einfühlung, diese
Einfühlung enthält aber ein Eindringen in das Wesen des
Seins also die höchste Wahrheit. Von diesem Gesichts-
punkte ist auch das Idealisieren, das Stilisieren und das
Symbolisieren zu betrachten.
Fassen wir zusammen. Wenn Kunst aus dem Nach-
ahmungstrieb geboren, auf dem Wege nach dem „Erleben**
eine Welt des „Scheins" aufsucht; wenn dieser „Schein", weil
er das Werk des tief in das Wesen der Dinge eindringenden
Künstler ist, die inneren Zusammenhänge, die innere Wahrheit
des Seins, oder der Wirklichkeit erschließt; wenn das Werk
des Künstlers um so höher steht, je tiefer der Künstler in das
Wesen der Dinge eindringt — so kann getreue, sklavisch ge-
dankenlose Nachahmung der äußeren Wirklichkeit nimmermehr
letzter Zweck der Kunst sein. Sie ist vielmehr eine der Etappen
auf dem Wege nach der Wahrheit.
Ihre Produkte können uns willkommen sein dort, wo wir
mit beschaulicher Freude bei der Erscheinung verweilen —
in den bildenden Künsten, in der Epik. Wird unsere Seele
zum Mitschwingen gebracht, wie in den extatischen Künsten,
so verlieren wir im Taumel, der uns erfaßt, jedweden Sinn
für solche Art des Erlebens, die im Vergleich mit der anderen
doch mehr passiver Natui* ist. Wir tragen jetzt Verlangen
nach stärkerem Erleben, wir wollen miterleben, mit fortgerissen
werden vom Strudel des Lebens. Fremd und feindlich ist
uns jetzt die Freude des passiven Zuschauers. Was kümmert
uns, die wir das tragische Leid eines Lear, eines Othello
miterleben — mit ihnen, in ihnen — was kümmert es uns
da, welches Haar, welchen Gang, welche Gestalt sie haben
204 IX. Kunsttheoretische Begründung,
mögen. Eönnen wir die Gemütsruhe haben ^ um uns selbst
im Spiegel zu begucken? Wenn Lear mit wallendem Bart
und Haar durch den dunklen Wald jagt^ gepeitscht von seiner
bitteren Qual, so sind wir es ja, die es tun. Steht es aber
so mit uns, daß eine ganze Welt über unserem Haupte zu-
sammenstürzt — wie können wir Gefühl und Augen haben für
etwas anderes als unser Leid? Kann man von jemandem, auf
den eine Lawine niedergeht, verlangen, daß er ihre Schönheit
bewundere; von einem Schiffbrüchigen, der mit den Wogen
um sein Leben kämpft^ daß er das großartige Schauspiel des
Sturmes genieße; von jemandem, der nackt aus einem brennenden
Hause flüchtet, daß er für die Pracht des wundersamen An-
blickes Sinn und Augen habe? Welch seltsame, welch wider-
und wahnsinnige Zumutung?
Und doch gleichen ihr die Zumutungen des Naturalismus
im Drama vollkommen. Denn, nochmals sei es gesagt, im
Drama gehe ich ganz auf in dem Geschick^ in dem Kampfe,
den die Personen des Dramas ertragen und austragen. Ich
kämpfe mit ihnen, ich leide mit ihnen, ich werde mit ihnen
vom Schicksal erfaßt und zermalmt. Und ist das Spiel zu
Ende, habe ich ausgerungen, so geht in mir die vielgenannte
Katharsis, die Eeinigung vor. Der Sturm tobt nicht mehr,
der wilde Aufruhr der Gefühle, er hat sich gelegt, ßuhe und
Stille ist in mein Gemüt eingezogen und in dem emstheiteren
Lichte der Erinnerung sehe ich das Erlebte, das Durchlebte
nochmals im Schimmer der Verklärung an mir vorüberziehen.
Und jetzt erchließt sich mir ein plötzlicher Einblick in das
Wesen der Dinge, das Wesen des Lebens, des Menschen-
schicksals und alles Seins. Dunkles wird mir hell, Verworrenes
klar, Unergründliches zeigt mir seinen Grund. Das ist es, was
das Drama, was die Tragödie letzten Endes erstrebt Durch
Leid und Pein, durch das wildeste, verzweiflungsvollste Ringen
mit dem Geschick, mit den bösen Leidenschaften, in mir und
außer mir, komme ich zu neuer Ruhe, zu neuer Einsicht und
Erkenntnis, zur Wahrheit. Weil nichts so belehrt wie Er-
IX, Kunsttheoretische Begründung, 205
fahrenes, wie Erlebtes und Durchlebtes, so bin ich hinein-
gesprungen mitten in den Wirbel der aufgeregtesten Lebens-
wogen, habe mich erfassen, treiben und zerreiben lassen —
alles im Spiel, alles im „Schein" — und nun, da ich auf alles
dies zurückschaue, fühle ich, daß ich der Wahrheit näher bin.
Wie klein, wie nichtig und schal erscheint mir in dieser
meiner neuen Erleuchtung die Freude an der äußeren Er-
scheinung. Krauses oder schlichtes, dunkles oder helles Haar,
dieser oder jener Gang, diese oder jene Tracht, diese oder
jene Sprechweise — was ist dies alles im Vergleich damit»
was ich erfahren habe, erfahren am Schicksal der Betroffenen,
das mein Schicksal, das Menschenschicksal ist. So ist
es der Geist des Kunstgenusses, der extatische Geist, welcher im
Drama äußere Wirklichkeitstreue ausschließt und innere Wahr-
heit an ihrer Stelle erfordert
Bevor wir nun schließen, möchten wir noch zwei Fak-
toren, die beim Genuß des Dramas mitspielen, in Rücksicht
auf unsere früheren Auseinandersetzungen, einige Worte widmen.
Der eine berührt die Form, der andere den Inhalt
Mit dem ersten meinen wir den Rhythmus. Nach allem,
was wir über die Natur des Kunstgenusses überhaupt und
speziell über den extatischen und noch weiter über den dra-
matischen Genuß sprachen, ist es klar, daß wir der Hin-
genommenheit. Hingerissenheit durch den Genuß die größte
Bedeutung beilegen. Nun ist der Rhythmus ein musikalisches^
also extatisches Element Der Rhythmus reißt fort, bringt
unsere Seele zum Mitschwingen. Gilt es daher, unsere Seele
in einen Zustand einer bestimmten Erregung zu bringen, sie
aus der Wirklichkeit fort in eine neue Welt des „Scheins" zu
entheben, sie vollständig in seinen Bann zu legen, dann wird
uns der Rhythmus bei diesem Bemühen im höchsten Grade
fordern. Dies ist die Funktion der rhythmischen Sprache
im Drama.
Der Vers ist es, der uns im Vorhinein aus der Welt der
gemeinen Wirklichkeit in die Welt des schönen Scheins hinaus-
206 I^' Kwisitheoretische Begrimdung,
hebt, er ist es, der iu uns das Gefühl dieser Gehobenheit wach
erhält, er ist es, der uns dadurch die besondere Hingabe, das
vollständigste Aufgehen in den Geschehnissen des Spieles er>
leichtert. Damit ist sein Existenzrecht, seine Aufgabe und die
Art seiner Verwendung im allgemeinen gegeben. Er hat eine
Aufgabe zu erfüllen, somit ist er eidstenzberechtigt und darum
kann ihm, die auch sonst nichtige Einwendung, daß er gegen
die Wirklichkeitstreue verstoße, nichts anhaben. Er ist aber
nur ein Hilfsfaktor und deswegen darf er sich nicht vordrängen,
darf nicht durch zu häufigen Wechsel, durch Unruhe oder sonst
irgendetwas die Aufmerksamkeit auf sich lenken; er darf sich
nicht fühlbar machen. Darum verwendet die dramatische
Kunst mit Recht den natürlichsten, den am wenigsten auf-
' fallenden, den einfachsten und gleichförmigsten Vers und
Rhythmus.
Nun zum anderen Faktor. Er betrifft den Inhalt. Wie
wir oft betont haben, flüchtet sich der Mensch beim Kunst-
genuß aus der Welt der Wirklichkeit in die Welt des „Scheins".
Wiewohl nun das Alltäglichste, sobald es in diese Welt des
„Scheins" gehoben wird, ein verklärtes Aussehen bekommt, so
ist dennoch das Nichtalltägliche in höherem Maße geeignet,
unsere Lust am „Schein" zu befriedigen. Es ist die Lust am
Ungewöhnlichen, die „Freude am Märchenhaften", wie wir
es nennen möchten, die zu der Lust am „Schein" hinzutritt,
deren Neben- und Entwickelungsform sie ist. Diese „Freude
amMärchenhaften'^ist einer der mächtigsten kunstgestaltenden
Faktoren. Der Trieb, Wunderbares zu erleben, lebt in uns
allen, nicht nur in Kindern. Er ist es, der die Naturvölker
und den Naturmenschen treibt, in die Welt der Wirklichkeit
eine Fabelwelt des Mythus hineinzudichten. Er ist es, der im
Leben des Alltages so vieles verklärt, er gibt sich kund in
tausenderlei Gewohnheiten dieses täglichen Lebens, in den
exotischen Namen, die man für Vergnügungslokale und ihre
Sterne sucht, für Villen und sonstiges.
In der Kunst wird dieser Drang, wie erwähnt, vielfach
IX. Kunsttheoretische Begrimdtmg, 207
befriedigt, im Drama kommt er insbesondere in der Wahl
ungewöhnlicher Stoffe zur Geltung. Im Lichte dieser Aus-
führungen erscheint uns diese Gewohnheit, gegen die seit dem
,3ürgerlichen Schauspiel" still und seit dem Naturalismus be-
sonders laut protestiert wird — viel berechtigter zu sein, als
es den Anschein hatte. Nicht nur deswegen, weil ihnen die
Schicksale der Könige und Prinzen, der „Helden" interessanter
und insbesondere dramatischer zu sein schienen, sondern aus
Liebe zum Ungewohnten an sich, wandten sich seit jeher und
bis in die neueste Zeit die Dramatiker mit großer Vorliebe
jenen „Heldenschicksalen" zu. Und wir dürfen ihnen nicht
Unrecht geben, trotzdem wir auch das „Tragische des Alltages"
voll anerkennen, denn die „Lust am Märchenhaften" lebt in
uns ebenso stark, wie die Lust am „Schein", aus der sie
geboren.
Zu unserem Hauptthema nun zurück und zum Schluß. Die
Richtigkeit unserer Ansichten und Ausführungen angenommen,
ergibt sich aus ihnen, daß die Kunst das Schaffen eines schönen
„Scheins" anstrebt; daß dieser „Schein" uns die Wahrheit des
Seins enthüllt, weil der Drang zu seinem Schaffen aus einem
besonders tiefen und innerlichen Eindringen in das Wesen der
Dinge heraus sich einstellt; daß dieser „Schein" endlich eine
zweifache Natur haben kann, je nachdem wir ihn kontemplativ
anschauen oder uns ihm extatisch hingeben, wobei der Genuß
ein wesensanderer ist. Es ergibt sich daraus weiter, daß die
Künste sich danach in zwei Gruppen sondern, in eine Gruppe
der kontemplativen Künste und eine der extatischen,
daß endlich die dramatische Kunst ihrem ganzen Wesen nach
zur letzteren gehört. Sie ist somit enger verwandt der Musik
und dem Tanze, als der beschreibenden Poesie, mit der sie
nur Äußerliches gemein hat. Sie darf sich deswegen nicht
wahllos die Prinzipien und Kunstregeln der letzteren aneignen,
insbesondere jene nicht, die auf dem Verweilen bei der äußeren
Erscheinung gegründet sind. Seinem Wesen nach ist das
Drama Darstellung eines Kampfes, eines Kampfes antago-
208 IX.. KunsUheoretische Begründung,
nistischer Kräfte miteinander, eines Ringens der Menschen
mit dem Schicksal. In diesen Kampf, in dieses Eingen werden
wir mit bineingerissen und in dieser Mithingerissenheit besteht
unser G^nuß. Aus ihr heraus gelangen wir zur Katharsis,
zur Läuterung, zur Einsicht und Erleuchtung. Es enthüllt
sich uns das Geheimnis des Lebens und des Seins, wir schauen
dem Wesen der Dinge ins Antlitz. Erschüttert davon im
Innersten unserer Seele, werden wir doch gehoben und in
diesem Gehobensein erleben wir eine Wonne, mit der sich
kaum eine, von dem Genuß einer anderen Kunst kommende
Lust vergleichen darf. So steht das Drama allein da, eine
einsame Gottheit unter den Künsten und wer ihr opfern will,
muß sich ihrem Dienste ganz und weihevoll hingeben und
keine andere Gottheit kennen außer ihr.