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Full text of "Gerhart Hauptmanns naturalismus und das drama"

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BEITRAGE ZUR ÄSTHETIK 



HERAUSGEGEBEN 



VON 



THEODOB LIPP8 und ßlCHABD MARIA WERNER. 



XL 

GERHART HAUPTMANNS 

NATURALISMUS UND DAS DRAMA. 

VON SIGMUND BYTKOWSKL 



HAMBURG UND LEIPZIG 
VERLAG VON LEOPOLD VOSS 

1908. 



6ERHART HAUPTMANNS 
NATURALISMUS UND DAS DRAMi 



SIGMUND BTTKOWSKl. 



HAMBDBa mm LEIPZie 
YEELA8 VON LEOPOLD VOSS 

1908. 






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HERRN 

Prof. Dr. RICHARD MARIA WERNER 

IN VEREHRUNG UND DANKBARKEIT 

GEWIDMET. 



Inhalt : 



Seite 

L Einftthrunsr 1 

IL Historisehe Einleitung 5 

III. Teelinik 23 

IT. Werke 36 

1. „Vor SonnenautjgaDg'' 36 

2. „Das Friedensfest" 50 

3. „Einsame Menschen" 52 

4. „Kollege Orampton" 57 

5. „Der Biberpelz" und „Der Bote Hahn" 60 

6. „Michael Krämer", „Fuhrmann Henschel" und Anderes . 64 

7. „Die Weber" 67 

8. „Florian Geyer" 73 

V. Charaktere 86 

1. Charaktere bei Hauptmann 86 

2. Von der Technik der Charakteristik 94 

3. Die Gestaltung, die Funktion und die Bedeutung des 
Charakters im Drama 104 

TL Sprache, Dialogr und Monologr lld 

1. Sprache 119 

2. Der Dialog 129 

3. Der Monolog 186 

TU* Handlang, Fabel und Idee 160 

Vin, Ergebnis 176 

IX. Ennsttheoretische Begründung 180 



I. Einführung. 



Die Aufgabe der vorliegenden Untersuchung ist beschränkt. 
In doppelter Eichtung. Erstens konnte hier der Persönlichkeit 
Gbehart Hauptmanns als Mensch und Dichter nictt 
Rechnung getragen werden. Nicht einmal seinem SchaiFen 
als solchem, noch viel weniger seinem Werke als ganzem — 
insoweit es abgeschlossen erschiene. Es ist nur das natura- 
listische Drama Hauptmanns ins Auge gefaßt, nicht das 
gesamte naturalistische Drama, sondern nur dasjenige 
Hauptmanns, und darin liegt die zweite Beschränkung. 

Es wird wohl einerseits nicht möglich sein, die Person 
Hauptmanns, so wie sie sich in seinem gesamten Schaffen 
kundgibt, aus den folgenden Erörterungen völlig auszuschließen, 
ebensowenig ist es darauf abgesehen, das naturalistische Drama 
Hauptmanns ganz isoliert von dem übrigen zeitgenössischen 
hinzustellen. Im Gegenteil wird jenes hier als Typus und Vor- 
bild genommen, und es muß also das darüber Gesagte zum 
überwiegenden Teil auch für dieses Geltung beanspruchen. 
Immerhin muß aber, um Mißdeutungen vorzubeugen, auf die 
zweifache Beschränkung im Voraus hingewiesen werden. Das 
naturalistische Drama Hauptmanns ist, wie gesagt, als Beispiel 
ins Auge gefaßt, an dem die Anwendbarkeit des Naturalismus 
im Drama geprüft werden soll. Warum ich das Drama 
Hauptmanns hierzu wählte, braucht nicht erst gerechtfertigt 
zu werden. Hauptmann ist unter den zeitgenössischen natura- 
listischen Dramatikern der hervorragendste, der erfolgreichste 
und der konsequenteste. 

Bytkowski, Gerhart Hauptmann. 1 



/. Einführung. 



Ich beschränke mich aber in meiner Bezugnahme fast 
ausschließlich auf das naturalistische Drama Hauptmanns nicht 
ohne Ursache. Obzwar nämlich die übrigen naturalistischen 
Dramatiker sicherlich für die subjektive Literaturgeschichte 
interessant genug sind, bieten sie für die Betrachtung des 
naturalistischen Dramas meistens doch nur dasselbe dar, was 
Hauptmann. In der Beschränkung aber liegt, wie immer, ein 
großer Vorteil. 

Es ist nämlich klar, daß eine zu große Fülle von Bei- 
spielen nur verwirrt, statt aufzuklären. Denn bei Heranziehung 
von Beispielen aus verschiedenen Autoren muß man den sub- 
jektiven Unterschieden und den Eigentümlichkeiten der Einzelnen 
gerecht werden — will man überhaupt billig sein, wie wir uns 
ja Hauptmann gegenüber zu sein vornehmen. Schon das allein 
lenkt ab und zersplittert die Aufmerksamkeit, statt sie zu 
konzentrieren. 

Dazu kommt noch etwas, was gemeiniglich nicht recht 
beachtet wird. Bei Anwendung von Beispielen soll man nach 
Möglichkeit von der Voraussetzung ausgehen, daß sie meistens 
dem Leser bekannt sind, wenn nicht, daß sie ihm leicht zu- 
gänglich sind, oder daß es ihm keine besondere Schwierigkeit 
bereiten würde, sich mit ihnen bekannt zu machen. Über- 
wiegen aber Beispiele aus minder bekannten oder unzugäng- 
lichen Werken, so ist das Ziel ihrer Anführung nicht erreicht, 
auch wenn man sich noch so viel Mühe gibt, das Nötige dazu 
zu tun. Sie bleiben für denjenigen, der sie nicht kennt, tote 
Stellen des Buches und entkräften so die Beweisführung, in- 
dem sie ermüden. 

Was nun unseren Gegenstand im allgemeinen anbetrifft, 
könnte uns zum Vorwurf gemacht werden, daß wir offene 
Türen einrennen, da der Naturalismus zu den überwundenen 
Phasen gehört. Dem ist nicht so. Ist der Naturalismus über- 
wunden, so wäre gerade jetzt, wo der Kampf ausgerungen, 
Zeit, sich umzuschauen und ihn zu bewerten, in seinen Irr- 
tümern und in seinen Errungenschaften. Ein solcher Rück- 



/. Einführung. 



blick bietet den Vorteil, nicht als ein Fehderuf aufgefaßt zu 
werden, und für die Zukunft kann man Irrtümern eher aus- 
weichen, wenn man aus vergangenen die Lehre gezogen. Was 
die mehr theoretischen Auseinandersetzungen anlangt^ die die 
kritischen ergänzend begleiten, so können sie nicht immer 
Neues bringen — vieles wurde schon längst hervorgehoben. 
Dennoch glaubten wir, daß es von Nutzen wäre^ es hier in 
diesem Zusammenhang zu wiederholen. Manches wirkt ein 
paar Jahre später, das einmal für taube Ohren gesprochen 
wurde. Denn die Zeiten ändern sicL Wird daher das, was 
zu Anfang der Fehde behauptet wurde, nach deren Ausgang 
wiederholt, so bekommt es ein anderes Gewicht. Denn man 
wird nicht vermuten, daß derjenige, der jetzt die Stimme er- 
hoben, all die Gegenrufe nicht vernommen oder nicht beachtet 
hätte, die im Laufe des Kampfes erschallten. Man vermutet 
also ein ganz anderes Vertrautsein mit dem Gegenstande, als 
zur Zeit, da dieser neu war. Wird dennoch etwas abgelehnt, 
so wird es — so muß man glauben — trotz der neu ge- 
wonnenen Gesichtspunkte, oder eben von ihnen aus abgelehnt. 
Ebenso bekommt auch das Positive jetzt eine neue Bedeutung. 
So wird z. B. das über den Monolog Gesagte, obwohl dieser 
schon seiner Zeit Gegenstand lebhafter Erörterungen sein mochte, 
ein anderes Gewicht erlangen, jetzt, nachdem der sieghafte 
Naturalismus über dem Monolog dahergegangen war — ihn 
anscheinend für immer vernichtend. 

Was die Sichtung des Stoffes anbelangt, so ergab sie sich 
von selbst. Nach einer historischen Einleitung, die uns den 
zeitlichen und örtlichen Zusammenhang des deutschen Natu- 
ralismus mit anderen Strömungen vergegenwärtigt, folgt eine 
Analyse der naturalistischen äußeren Technik, dann die Ana- 
lyse der einzelnen Werke Hauptmanns. Li der Folge faßten 
wir das, was wir über die Charaktere, die Sprache samt dem 
Dialog und Monolog, endlich über die Handlung, Idee und 
Fabel zu sagen hatten in je einem Kapitel zusammen, wobei 
aus der Analyse theoretische Ausführungen sich von selbst 



/. Einfilknmg, 



ergaben. Der Schlußzusammenfassung endlich folgte noch eine 
allgemeine kunsttheoretische Begründung. 

Von besonderen Vorschlägen oder Forderungen für die 
Zukunft hielten wir uns wohlweislich ferne. Es sollte keine 
Programmschrift werden, sondern ein Rückblick und eine 
Kritik; was als Mahnung daraus fließt, was Positives sich 
daraus ergibt, das braucht keiner besonderen, systematischen 
Zusammenfassung hier, wo nicht der Ort dafür. Nichtsdesto- 
weniger wird der Leser oft Gelegenheit haben, es zu finden,, 
so er unseren Ausführungen einige Aufmerksamkeit schenkt 
Denn Kritik ohne positives Resultat halten wir für steriL 
Deshalb scheuten wir nicht vor einem scheinbaren Abgehen 
vom Thema zurück, wenn es in irgendwelcher Richtung Posi- 
tives zutage förderte. Wir hoffen, daß diese Verstöße gegen 
das System uns nicht als Sünde, sondern vielmehr als Verdienst 
angerechnet werden. Bekommt doch so manches eine andere 
Bedeutung, wenn es an praktischen Beispielen erwiesen wird 
und sich aus ihnen ergibt. 



n. Historische Einleitung. 



Das im Sommer des Jahres 1889 zum erstenmal heraus- 
gegebene und im Frühling desselben Jahres entstandene drama- 
tische Erstlingswerk Hauptmanns: „Vor Sonnenaufgang" 
ist Bjabne P. Holmsen „dem konsequentesten Bealisten^ 
Verfasser von »Papa Hamlet« in freudiger Anerkennung 
der durch sein Buch empfangenen^ entscheidenden Anregung'^ 
gewidmet. Gemeint sind Aeno Holz und Johannes Schlaf, 
die sich im Winter 1887 bis 1888 in Nieder-Schönhausen zu 
gemeinsamer Arbeit zusammenfanden, deren erste Frucht, der 
Novellenzyklus „Papa Hamlet'^ (1889) war, die zweite das 
Drama „Familie Selicke'% beide unter dem gemeinsamen 
Pseudonym Bjaene P. Holmsen herausgegeben. 

Hauptmann will durch seine Widmung den Dank aus- 
drücken für die Anregung, die ihm von Holz gegeben wurde. 
ScHLENTHEB Schreibt darüber in seiner Hauptmann-Bio- 
graphie: „Holz las in seiner kleinen, sehr rührend und an- 
schaulich von ihm geschilderten »Bude« in Hauptmanns 
Gegenwart eine Reihe kleiner Skizzen vor, die er gemein- 
schaftlich mit seinem etwas älteren Freund und Stubengenossen, 
Johannes Schlaf verfaßt hatte. Die wesentlichste dieser 
Skizzen hieß »Papa Hamlet« und führte mit peinlicher Liebe 
zum kleinsten Detail in eine verwahrloste Eomödiantenwirt- 
schaft, die ohne jede Furcht vor den Widerwärtigkeiten der 
Armut, der Liederlichkeit, des Schmutzes, in vollkommener 
Naturtreue, der Wirklichkeit gemäß, sehr talentvoll abge- 
klatscht war. Mehr noch als diese Skizzen mögen auf Gebhabt 



6 //. Historische Einleitung, 

Hauptmann die eindringlichen Reden gewirkt haben, in welchen 
Holz seine Kunsttheorie entwickelte, der jener »Papa Hamlet« 
als Paradigma dienen sollte". Dann weiter: „Geehast Haupt- 
mann sah nun das, was er innerlich bestimmt empfand, durch 
Abno HoLzens schneidige Beredsamkeit in Form und Satzung 
gebracht. Abno Holz hatte es nicht mehr nötig, diesen neuen 
Kameraden zum Realismus zu bekehren. Er gab ihm aber die 
letzte entscheidende Anregung**. 

So der Biograph, der mit der Entwickelungsgeschichte 
Hauptmanns innig vertraut ist. Er bemüht sich zwar in der 
Folge, nachzuweisen, daß sich bei Hauptmann schon früher 
diese radikale Wendung vorbereitete und weist unter anderem 
auf die im Jahre 1887, also noch bevor Hauptmann Aeno 
Holz kannte, verfaßte novellistische Studie „Bahnwärter 
Thiel" hin. Dies ist aber einerseits überflüssig, denn es ver- 
steht sich von selbst, daß sich die Wendung in der Seele 
Hauptmanns vorbereiten mußte, damit die Anregung sie dann 
herbeiführen könnte. Andererseits ist aber damit nicht viel 
nachgewiesen. 

Denn, zugegeben, daß im „Bahnwärter Thiel" der 
künftige Hauptmann sich ankündigte, so ist es ja eben eine 
„novellistische Studie'*, also eine erzählende Dichtung, mit 
der wir es hier zu tun haben, und Schlenthee erwähnt auch, 
daß Hauptmann an einen autobiographischen Roman dachte, 
also wieder eine erzählende Dichtung — seitdem aber produ- 
zierte Hauptmann nur Dramen. Nun besteht aber schon 
„Papa Hamlet" aus fast lauter Rede und Gegenrede, so daß 
die eingeflochtene Schilderung nicht viel mehr oder, mit 
manchem Drama verglichen, entschieden weniger Raum ein- 
nimmt als die Bühnenanweisungen Hauptmä^nns, und sich das 
ganze wie eine Reihe szenischer Bilder liest. Als Beispiel 
diene gleich der Anfang, den wir auch deshalb wörtlich wieder- 
geben, weil der nervös impressionistische Dialog charakteristisch 
und vorbildlich ist: 

Was? Das war Niels Thienwiebel? Niels Thien- 



//. Historische EinUHung. 



wiebel, der große, untLbertroffene Hamlet ausTrondhjem? 
Ich esse Luft und werde mit Versprechungen gestopft? Man 
kann Kapaunen nicht besser mästen? . . . ,3e! Horatiol^' 

„Gleich! Gleich! Nielchen! Wo brennt's denn? Soll ich 
auch die Skatkarten mitbringen ?'' 

„N . . . nein. Das heißt" . . . 

— „Donnerwetter nochmal! Das, das ist ja eine, 

eine — Badewanne!" 

Der arme, kleine Ole Nissen wäre um ein Haar über 
sie gestolpert. Er hatte aber die Eüche passiert und suchte 
jetzt auf allen Vieren nach seinem blauen Pinzenez herum, 
das ihm wieder in der Eile von der Nase gefallen war. 

„Ha? Was? sagste nu?!" 

„Was denn Nielchen. Was denn?" 

„Schafskopf!" 

„Aber Tiinwiebel!" 

„Amalie?! Ich . . ." 

„Ai! Kieek da! Also döß?" 

„Ha?! Was?! Famoser Schlingel! Mein Schlingel! 
Mein Schlingel! Mein Schlingel, AmaUe! Hä!" Was?" 

Amalie lächelte. Etwas abgespannt. 

„Ein Prachtkerl!" 

„Ein Teufelsbraten. Mein Teufelsbraten! Mein Teufels- 
braten. Hä! Was Amalie? Mein Teufelsbraten!" 

Amalie nickte. Etwas müde. 

„Ja doch, Herr Thienwiebel! Ja doch!" 

Aber Frau Wachtel mühte* sich vergeblich ab. Herr 
Thienwiebel, der große, unübertroffene Hamlet ausTrondhjem, 
wollte seinen Teufelsbraten nicht wieder loslassen. 

„Hä! oller Junge? Hä?" In der Tat, Nielchen! In 
der Tat, ein ... ein .. . Prachtinstitut! Ein Pracht- 
institut!" 

„Hoo, hoo, hoo, hoop! Hoo, hoo, hopp! Bumü!" 

Der große Thienwiebel schwelgte vor Wonne. Er hatte 
sich jetzt sogar auf ein Bein gestellt. Hinten aus 



\ 



8 //. Historische Einlfitung. 

seinem karrierten Schlafrock klankerteu die Watten- 
stückchen. 

„Aber Thieenwiebel!" " 

Noch merkwürdiger ist die Darstellungstechnik in einer 
anderen Novelle „Die papierene Passion". Hier sind die 
szenischen Angaben, um sie so zu nennen, durch kleineren 
Druck von dem Dialog, dem eigentlichen Inhalt, kenntlich ge- 
macht. Wir geben auch aus ihr eine Probe, etwas gekürzt, 
aber in der Weise, daß das Bild unverfälscht bleibt: 

Eine kleine berliner Küche, vier Treppen hoch, um die Weinachts- 
zeit. Es ist fast dunkel. Nur das Herdenfeuer, das oben über die 
Decke zittert und ab und zu aus dem Aschenloch ein paar Funken, 
die leis in den Kohlenkasten spritzen. 

Mutter Abendroth'n, eine braunirdene Schüssel zwischen den Knien, 
sitzt da und reibt KartofiFeln. Ihr dickes, rundes Gesicht ist in den 
Wiederschein der Herdglut vor ihr getaucht und puterrot; ihr Haar 
schwarz und glatt gescheitelt. Sie trägt eine dunkelbraune Trikottaille, 
die durch eine bunte Brosche zusammengehalten wird, mit dem Bildnis 
der Königin Luise. 

Die Uhr über dem Bett tickt, stoßweise weht der Wind den Schnee 
gegen das kleine Fenster. Dazwischen zuweilen, leise in das dumpfe 
Geratter der Fabrik hinten auf dem Hofe, das Klirren der Scheiben. 

„Hach Gott ja! — Ich sag ja! Sonn Fruenzimmer!'* 

Das Reibeisen ist ihr in den Brei gerutscht, sie klopft es gegen 
den Schüsselrand ab. 

„Ich sag't ja! Ich ärger mir noch kaputt! An janzen 
Leibe! Ich kriej de Schwindsucht! Sonn Fruenzimmer!'* 

Die kleinen silbernen Ringe in ihren Ohrläppchen zittern, wieder 
kratzt es regelmäßig durch die Küche. 

„Nee! Nee! Sonn Fruenzimmer! Sonn . . . pfff? ! Ooch 
schlecht! ! Ich sag't ja! Warum nicht lieberst in de Beene?? 

Sonn Miststicken!! Na komm Du mir man! Ich weer 
dir schon inweihen! — 

Wat? ? . . . Eenzen . . . Zween . . /^ 

Die Uhr über dem Bett hat zu schlagen begonnen, Mutter 
Abendroth'n zählt. 

„Vieren . . . Fünwen . . . Wat Sechsen? ! Nanu wird's 
Dag! Nu schlag eener lang hin! Sonn Aas!" 



//. Historische Einleitung. 



Jetzt endlich ist auch die Küchentür aufgegangen. 

,/N Abend, Mutterk'n!" 
„Mü" 

Verblüfft ist Wally an der Tür stehn geblieben. Sie ist ein 
kleines, blondes, vermeckertes Ding von elf Jahren. Den Schneeball 
hat sie so schnell als möglich wegzuwischen gesucht, sie stottert. 

Unten, vier Treppen tiefer aus dem Budikerkeller tont jetzt 
deutlich der dünne Ton einer Ziehharmonika: „Siste woU, da kimmt 
er, lange Schritte macht er'^ . . . Mutter Abendrothn, hat sich, die 
Hände in die Seiten mitten in die Küche gestellt . . . „Siste woll, da 
kimmt er schon, der besoffne Schwiegersohn . . .'' 

„I! — Ich. Doch! — Also doch schon?! 

„Ich! . . . ich hab ja man . . . Liese! !" 

„Wat?? Liese?? — JawoU, Du Aas! Hab — ich — 
Dir — nicht jesagt. Du sost um Vieren widder da sind?! 
Wat?! Un jetzt is't Sechsen!! Na wachte Du! Ich weer 
Dir Fruenzimmer! Mensch infamichtetü Det's schon det 
dritte Mal! ! Mit die verflucktichsten Bengels haste dir 
wieder rumjetrieben! üflfe Weinachtsmarcht! Aasticke! ! !" 

„Ach Mutterch'en? ! Mutterch'en?! Ich — ich — will't 
jo — Mutter!! Mutter!!" 

„So! — So! — Ae! — Ae! — Ich weer dir!! . . . Ich 
hau Dir noch, dette Boomeel giebst! !*' 

„Muttär, — Muttärü" 

Wie lebhaft erinnert das nicht an Hauptmanns Dialog 
und seine umständlichen szenischen Anweisungen, die, wie 
gesagt, oft, wie in dem „Friedensfest" oder in der „Rose 
Berndt*^, bedeutend länger sind als die hier kleingedruckten 
Stellen. 

Es liegt in dem Wesen dieser impressionistischen Dar- 
stellungstechnik, daß die Beschreibung bis auf ein Minimum 
zusammenschrumpft und sich auf die knappe Angabe dessen 
beschränkt, was mit dem Auge unmittelbar gesehen, oder mit 
dem Ohr gehört wird. In der „Papierenen Passion*^ wird 



10 II' Eistorische Einleitung. 

— das ist besonders merkwürdig — hierbei sogar das Zeitwort 
stets in der Gegenwart gebraucht , wenn nicht ganz weg- 
gelassen: Eine kleine Küche (ohne Zeitwort), das Herdfeuer 
zittert, die Funken spritzen, Mutter Abendrot sitzt, ihr 
Gesicht ist puterrot, sie trägt eine Trikottaile, sie klopft, 
die Binge zittern usw. 

Alles drängt zur dramatischen Darstellungsform, wohl zu 
merken: nicht zum Drama hin. Es ist leicht zu begreifen, 
wie sich da die Täuschung einstellen konnte, daß dies direkt 
zum Drama hinführe, obwohl umgekehrt diese lose verbundenen, 
endlos sich einander reihenden Bildchen vom Drama weit 
y wegführen, das vor allem einen streng architektonischen Bau 
beansprucht. 

Dieser Täuschung gaben sich auch Holz und Schlap hin, 
davon gibt die „Familie Selicke" Zeugnis. Schlentheb 
erwähnt auch, daß Holz Geehabt Hauptmann vorschlug, mit 
ihm gemeinschaftlich ein Drama nach allen Regeln der neuen 
Kunst zu schreiben und fügt hinzu: „Vor diesem dämonischen 
Antrag, dem er anfangs bereitwillig entgegenkam, den er wohl 
gar herausgefordert hatte, bewahrte den anderen ein guter 
Stern. Mit scheuem Respekt vor dem überlegenen Kunst- 
verstande des strammen Rastenburgers, teilte er seinen Stoff 
nicht, wie er von Hamburg brieflich zugesagt hatte, dem neuen 
Kameraden mit, sondern flüchtete sich wieder nach Bergdorf*. 
Aber an einer früheren anderen Stelle sagt er: „Jene Begeg- 
^ nung mit Arno Holz entschied aber nicht nur für den 
^Naturalismus, sondern auch für das Drama". 

Es hätte aber nicht einmal dieses Zeugnisses gebraucht. 
Man sieht an der ganzen Faktur der Hauptmann sehen 
Dramen, daß sie von „Papa Hamlet'^ ausgegangen sind und 
von der Theorie HoLzens, die dieser dann in seinem Buch 
„ die Kunst ^ ihr Wesen und ihre Gesetze (1891) niederlegte. 
Und es ist merkwürdig, mit welch zäher Beharrung der Jünger 
an der einmal erworbenen Art festhielt. Merkwürdig in zwei- 
facher Hinsicht. Es wirft ein Licht mehr auf die Entwickelungs- 



U, Historische Einleitung, 11 

unf&hi^keit Hattpt maktnr ^^ nd es zeugt auch dafür, daß Haupt - 
mann von Natur ans geschaffen war für d ^^^ft ^^ TTuTiof- 
Übung . 

Jedenfalls, jene Begegnung fahrte Hauptmann nicht nur 
zum Naturalismus, sondern auch zum Drama. .Wir haben 
also yielfachen und gewichtigen Grund, uns mit der Kunst- 
theorie HoiiZens näher zu befassen. 

BiCHABT) M. Meyeb schreibt in seiner ,,Deut8chen Lite- 
ratur des neunzehnten Jahrhunderts". „Soll man für 
das Jahrzehnt von 1880 — 1890 nach einem Generalnenner 
suchen, so kann sich nur ein Wort anbieten, viel verrufen, 
und doch nicht ohne den Oberton geheimer Vorzüge : Nervosität . — 
Eine unruhige Hast überall: in der Gesetzgebung wie im 
Kunstgewerbe, in den Moden, wie in den Weltanschauungen. 
Mit atemloser Unruhe wirft man sich von der einen Seite auf 
die andere^'. ^) Man suchte also. Man war mit dem Alten, 
im Grunde mit Allem unzufrieden und suchte nach Neuem. 
Da man sich einmal von dem Epigonentum wegwandte, so 
war es natürlich, daß man auch alles übersah, was an seiner 
Seite stand. Hinter ihm, über ihm. So sah man auch nicht 
die Großen des silbernen Zeitalters. Mit jugendlichem Übermut 
wollte man da von Grund auf zu bauen beginnen, wo schon 
ragende Biesen mächtig in den Himmel hineinwuchsen. So 
wurden die Himmelstürmer zu rasenden Bilderstürmern. Die 
verschiedenartigsten Einflüsse kreuzten sich. Zolas Einfluß 
war eben im Abnehmen, denn in Frankreich begannen ihn die 
Symbolisten zu verdrängen. Mittlerweile trat der Norden die 
Herrschaft über die Gemüter an. Bußland und Norwegen, 
"Tolstoi, Dostojewski, Bjöbson, Strindberg und endlich 
Ibsen. Man gab sich dieser Herrschaft willenlos und ganz 
hin, aber mit dem immer lebendigen Gefühl, daß sie nur inter- 
imistisch sei — bis eine eigene deutsche Kunst entstehen werde. 



^) „Die deutsche Literatur des neunzehnten Jahrhunderts". Kap. IX, 
S. 741. 



12 IL Historische Einleitung, 

Abno Holz glaubte sie gefanden zu haben. Er begann 
als formaicherer, aber nichts Neues bringender Lyriker. Doch 
sein Band Lyrik „Buch der Zeit, Lieder eines Modernen", 
hatte nicht den gewünschten Erfolg und der Dichter begann 
über die Ursachen dieses Mißerfolges zu grübeln. So kam er 
zur Überzeugung, daß der Vers eine überwundene Form sei 
und in dem Doktrinarismus, der ihm eigen ist, ging er daran, 
sich ein neues Eunstgesetz zurecht zu legen. Er selbst stellt 
sich dann, selbstbewußt, wie immer, das Zeugnis aus: „Es wird 
dereinst erkannt werden, noch nie hat es in unserer Literatur 
eine Bewegung gegeben, die von außen her weniger beeinflußt 
gewesen wäre^ die so von innen herausgewachsen, die, mit einem 
Wort, nationaler war als eben gerade diejenige, vor deren 
weiterer Entwickelung wir heute stehen und die mit unserem 
„Papa Hamlet" ihren ersten sicheren Ausgang genommen. 
Die „Familie Selicke" ist das deutscheste Stück, das unsere 
Literatur überhaupt besitzt'^ 

Man muß lächeln. Fast möchte man ausrufen: „Hochmut 
kommt vor dem Fall!" „Papa Hamlet" ist unter einem 
nordischen Pseudonym in die Welt geschickt worden. Diese 
Mystifikation sollte ein satirischer Peitschenhieb sein gegen die 
nordische Manie. Aber ist sie nicht wider Willen der Ver- 
fasser zu einer Spur geworden, von woher der neue Stil kam? 
Steht nicht Arne Gtaeboeg hinter dem Buche, dessen feines 
Naturempfinden übrigens sicher nicht von Aeno Holz, sondern 
von Johannes Schlaf kommt? Und doch, ein solches Eigenlob 
besitzt eine große Suggestionskraft und nicht nur die Jünger 
des Naturalismus, auch kühl beurteilende Kritiker glaubten 
ihm aufs Wort und erklärten diesen Naturalismus als rein 
deutsche Blüte. Dies ist er aber mit nichten. Wenn Gaeboeo den 
impressionistischen Stil gab, so stammte die Theorie von Zola. 

Holz stellt sich zwar in seinen Ausführungen in den 
schärfsten Gegensatz zu Zola, das ist aber nur ein Beweis 
mehr, daß er von ihm ausging. Gegensatz weist fiir den 
Psychologen auf Ursprung. Holz gesteht es übrigens selbst, 



IL Hisiorische Einleitung. Y^ 



daß er von Zola ausging. Dafür nennt er ihn gelegentlich 
den Papagei Taines und spricht mit souveräner Verachtung^ 
von der „draufzutäppischen" Art, mit der Zola den Unterschied 
von Natur und Kunst ,,gleich mit seinem dummen klobigen 
Temperament zustopfen möchte, wodurch sich dann natürlich 
alles sofort wieder in den größten Unsinn verkringelte und 
der alte Blödsinn wieder in vollster Blüte blühte'^ Dies eine 
Stilprobe. Man sieht, daß Holz mit Höflichkeiten nicht 
knausert Er verwirft nun den bekannten Satz Zolas: „une 
Oeuvre d'art est un coin de la Nature, vu ä travers un tempe- 
rament^^ Er formt statt dessen sein eigenes Gesetz, das er 
das ganze Buch hindurch und in seiner Fortsetzung als eine 
Entdeckung preist, die die ganze alte Ästhetik „über den 
Haufen wirft*^ Das Gesetz lautet: „Die Kunst hat die Ten- 
denz, wieder Natur zu sein. Sie wird sie (so!) nach Maßgabe 
ihrer jeweiligen Reproduktionsbedingungen und deren Hand- 
habung". Ein wirklich entsetzlicher Satz. Höchst interessant 
ist es übrigens, wie er zu ihm kommt. 

Er betrachtet eine Schiefertafel, auf der ein Knabe mit 
dem Griflfel einen Soldaten gekritzelt hat. Aus diesem „Kunst- 
werk" will er sich seine Theorie herausdestillieren. Darin 
steckt schon die ganze ungeheuerliche und unglaubliche 
Borniertheit HoLzens. Oder wie soll man sonst ein Unter- 
fangen nennen, auf Grund eines einzigen Kunstwerkes, und 
wäre es dasjenige eines Büonareotti oder Shakespeare, eine 
Kunsttheorie aufzubauen. Und nun ist es sicher kein Zufall, 
hat aber für den Betrachter einen ironischen Beigeschmack^ 
daß es ein „Kunstwerk** aus dem Gebiete der bildenden Kunst 
ist, der Malerei. Sonderbar genug für einen, welcher ein neues 
Kunstgesetz auch für das Drama dann gefunden zu haben sich 
einbildet. Wie, könnte er nicht vom Tanz und Gesang aus- 
gehen? Käme er da dem Richtigen nicht näher? Aber es^ 
ist eben ein ziemlich allgemeiner Fehler der Ästhetiker,, 
besonders der naturalistischen, daß sie in ihren Untersuchungen 
vom Standpunkt der bildenden Künste ausgehen. 



14 II' Htstoriscke Einleitung, 

Übrigens^ hätte Holz hier einen scharfen psychologischen 
Blick bewährt, er könnte gerade an diesem unscheinbaren Bei- 
spiel viel lernen. Auf seine Frage antwortet der Knabe, das 
Gekritzel („Schmierage^^ nennt es Holz in seiner schnodderigen 
Weise) sei ein Soldat. Holz ist nun noch naiver als der 
Knabe, betrachtet das Bild ganz ernst und kommt zu dem 
Schluß, daß das wirklich ein Soldat, also Natur sein könnte, 
jedoch mit einem Mangel behaftet sei, der in den „unzureichenden 
Reproduktionsbedingungen und in deren unzureichender Hand- 
habung'^ seine Ursache habe. Um wie viel klüger ist da der 
Knabe. Dieser glaubt sicher nicht, daß alle die Striche 
zusammen die „Tendenz'^ hätten, je zu einem Soldaten zu 
werden. Ein Strich ist, das weiß er, ein Strich und kein 
Bein. Er stellt ihm aber ein Bein vor, er ist für ihn Symbol 
«ines Beines und hilft ihm, sich ein solches vorzustellen. 

Insofern ist der Knabe mit seinem unbeholfenen Gekritzel 
viel näher dem Wesen der Kunst gekommen, als es sich 
Holz vorstellen kann. Er strebt keine täuschende Nachahmung, 
keinen Abklatsch der Natur an, um sich mit Holz dann ein- 
zureden, dies könnte je Natur sein. Die Flugkraft der kind- 
lichen Phantasie ist eben eine andere, als die eines doktrinären, 
anmaßenden Kunstgesetzgebers. Wenn Kinder spielen, so 
genügt es, daß eines von ihnen sagt: hier steht eine Kirche, 
und es steht eine solche vor ihnen, anstandslos werden sie 
dort eine Messe abhalten, wo nur ein Rasen ist. Und sagt 
ein anderes: hier ist ein abgrundtiefes, schäumendes und hoch- 
gehendes Meer, so werden sie scheu die Stelle meiden und 
mit Aufregung und Spannung die Schiffe beobachten — es 
können ganz gut Steine sein — die auf diesen aufgeregten 
Wassern treiben. Was brauchen sie die platte Hlusion? Ihnen 
genügt das Symbol, das weckende Wort und dieselbe Bedeutung 
hat für den Knaben die Zeichnung auf der Schiefertafel. 

Bei der Wahl seines Untersuchungsobjektes hat nun Holz 
einen zweifachen Fehler begangen. Erstens dadurch, daß er, 
^ie schon Abtue Moellee-Beijck schön ausführte, das denkbar 



//. Historische Einleitung, 15 

primitive Kunstgebilde allein dazu wählte. Würde er wirklich 
so wissenschaftlich gedacht haben, wie er vorgibt, so müßte 
er bald merken^ daß dies nicht genügt. Geht man wissen- 
schaftlich vor, dann prüft man nicht diese oder jene, sondern 
alle Entwickelangsformen, von den untersten bis zur höchsten 
und sucht das Gemeinsame darin. 

Und gerade die Prüfung der niedersten Formen dient 
nicht so sehr zur Auffindung der in einem Gebiete herrschen- 
den Gesetze, als vielmehr der Grenze von anderen Gebieten. 

So ist denn die Forderung Moeller-Bbücks gerechtfertigt, 
daß wenigstens neben das von Holz gewählte Untersuchungs- 
objekt ein denkbar reines Kunstwerk z. ß. Rembeandts 
„Anatomie*^ zum Vergleich herangezogen werde. Der zweite 
und wichtigere Fehler besteht darin, daß Holz nur das fertige 
Kunstgebilde, also etwas an sich totes, der Betrachtung unterzog, 
nicht aber das Phänomen der Kunsttätigkeit und seiner 
Ursache, des Kunsttriebes selbst. Nicht eine Ahnung scheint 
er gehabt zu haben, daß man auch das Kind selbst bei seinem 
Werk beobachten, daß man fragen könnte, was treibt das Kind 
zu seinem Tun? Es ist so recht die Art der Doktrinäre, daß 
sie sich viel lieber mit toten Präparaten abgeben, als mit dem 
frisch treibendem Leben. Vielleicht wäre es ihm aber dann 
nicht so schwer gewesen, ins Reine zu kommen, was unbedingt 
zur Kunst gezählt werden soll. 

Um nun zu dem Gesetz HoLzens zurückzugreifen, ist es 
keineswegs neu. Von der Nachahmung der Natur in der Kunst 
spricht man, seit es eine Ästhetik gibt, d. h. seit Aristoteles. 
Dieser „alte Herr" nämlich war der erste, der die Mimesis, 
die Nachahmung der Natur in die Kunstwissenschaft einführte. 
Freilich wenn zwei dasselbe sagen, ist es nicht dasselbe. Auch 
er „stopfte gleich das Loch zu" und zwar so gründlich, daß 
nach ihm die Kunst mehr darbietet als Natur. Wie darf 
auch reines Nachschaffen für ein vornehmes Streben des 
Künstlers gelten? 

Goethe sagt im „Sammler und den Seinigen" (Brief 6): 



16 II» Historische Einleitung, 

„Lassen sie aber die Nachahmung — (des Schoßhündchens 
ßello) recht gut' geraten, so werden wir doch nicht sehr 
gefordert sein, denn wir haben nun allenfalls zwei Bellos für 
einen^^ 

Mit der Lehre von der Nachahmung der Natur werden 
wir uns noch auseinanderzusetzen haben, hier sei festgestellt» 
daß sie in HoLzens Fassung einen Rückschritt bedeutet. 

Wie viel näher der Wahrheit ist Zola, obwohl auch er 
vom Standpunkt des Malers auszugehen scheint. Er sagt zwar: 
„un coin de la nature^' also ein Anschnitt der Natur, ganz 
malerisch gedacht, aber er sagt weiter: „vu a travers un 
temperament". Geschautes Stück Natur also, geschaut von 
einer Künstlerindividualität. Das ist schon etwas, was auf das 
Wesen der Kunst sowohl, wie auf ihre Funktion hinweist. 

Was soll uns Kunst sein? Wenn Natur, wozu wäre da 
die Kunst nötig? Freilich in einem anderen Sinne ist Kunst 
Natur, insofern nämlich die Natur selbst es nicht ist. Denn 
nicht für jeden Menschen ist Natur Natur. Für den Künstler 
ist die Natur mehr als für den Nichtkünstler. Sie entschleiert 
sich ihm und dann ist Kunst: Natur gesehen durch den Künstler. 
Es ist eben ein Unterschied, ob sie ein Faust sieht oder sein 
Famulus. Wären wir alle, und immer, und auch immer in 
demselben Grade Künstler, das ist Schöpfer, dann hätten wir 
Künstler und Kunst nicht nötig. Ein jeder dichtete dann und 
malte in seinem Innern ununterbrochen für sich. Gewisser- 
maßen ist das auch der Fall. Wir dichten alle, so wie wir sind, 
vielleicht auch immer. Ohne diesen Umstand wäre das Nach- 
dichten, oder das Nachempfinden und Nachfühlen nach dem 
Künstler, also das Genießen des Kunstwerks unmöglich. Mau 
muß bis zu einem gewissen Grade Dichter sein, um den Dichter 
genießen zu können. 

Nicht alle jedoch besitzen diese Dichterkraft in dem Grade» 
in der Stärke, die zum selbständigen Schaffen ausreichte. Da 
hilft uns des Künstlers starker Arm. Er führt uns über 
Abgründe und Tiefen, er trägt uns in schwindliche Höhen» 



//. Eistorische Einleitung, 17 

1 

Er leiht uns seinen Blick, seine Seele und wir werden sehend, 
wie er. Wir sehen dann die Natur, wie er sie sieht in dem 
beglückten Zustand schöpferischen Dranges. Wir träumen ihm 
nach. Ja er selbst tut es und muß es tun, ist er im Zustand 
der Ruhe und will er ein fremdes oder sein eigenes Werk 
genießen. 

Im Traume sind wir alle Dichter. Der Kunstgenuß ist 
eine Art Träumen unter Eingebung, Suggestion des Künstlers. 
Der Unterschied zwischen Künstler und Nichtkünstler ist 
gewissermaßen quantitativ nicht qualitativ, es ist ein Grad- 
unterschied. Deswegen gibt es auch im Genießen des Kunst- 
werks Gradunterschiede. Und wieder weiter in der schöpfe- 
rischen Kraft des Künstlers. Jedenfalls ist das Kunstwerk 
eine Vision und dies ist, wenn auch nicht deutlich, gesagt in 
dem Satze Zolas. Wie weit bleibt hinter ihm der Satz 
HoLzens zurück? Wie scheint er gerade darauf auszugehen, 
die Seele, die schaffende Künstlerseele aus- und dafür eine 
trockene Kopistenseele einzuschalten. 

Freilich in „Papa Hamlet" gelang es ihm nicht, denn 
er arbeitete mit dem feinfühligen Poeten Schlaf. Was aber 
merkwürdig ist, und für seine Herkunft zeugend, ist die ihm 
unbewußte Tatsache, daß er nach seiner Verwerfung, sich doch 
an den Satz Zolas in einem Punkte hielt. Es ist der „coiii 
de la nature", der Ausschnitt oder das Stück Natur, schon bei 
Zola ein Erbteil der von den bildenden Künsten ausgehenden 
Kunsttheorien. Diese Herkunft der naturalistischen Theorien 
der Dichtkunst von der Malerei bekommt eine noch größere 
Bedeutung, wenn man sich erinnert, wie in der Malerei selbst, 
besonders der französischen, ähnliche Strömungen nacheinander 
sich Bahn brachen und, sich ablösend, herrschten. Ich weise 
auf den Naturalismus eines Manet hin, auf den Plainairismus, 
den dann folgenden Impressionismus und Pointillismus. Es 
ist unzweifelhaft, daß fast alle modernen Strömungen und die 
von ihnen getragenen Theorien von den plastischen Künsten 
stark beeinflußt sind, wie sie auch beeinflussend rückwirken. 

Bytkowski, Gerbart Hauptmann. 2 



18 IL Historische Einleitung» 

Für unsere Untersuchung ist die Feststellung dieser Tat- 
sache von Bedeutung, denn aus ihr ergibt sich zum großen 
Teil die ünbrauchbarkeit und Unzulänglichkeit der betreffenden 
Theorien für das Drama. Das Wesen des Dramas ist Kampf, 
somit Bewegung, das der Plastik Zustand, somit Ruhe. Wenn 
daher dieser und der ihr verwandten Epik Zuständlichkeit 
und Gegenständlichkeit zukommt, so kommt jenem fort- 
schreitender Fluß zu, packende Kraft. 

Daß aber die Vorstellung eines geschauten Winkels, 
Stückes Natur in dem Denken von Holz und Schlaf und 
ihren Jüngern eingestandener- und uneingestandenermaßen, 
ja ihnen unbewußt, lebendig wirkte und es bestimmte, das 
erfordert keines Beweises für den, der die Produkte dieser 
Schule, besonders die vorbildlichen, die mehrerwähnten Novellen 
des „Papa Hamlet*' kennt und prüft Es ist, als ob man 
unter dem Mikroskop das Leben und Weben der kleinsten 
Organismen im hellen Licht der Lampe beobachtete oder als 
ob man mit einem Scheinwerfer irgend ein Stück Leben 
beleuchtete. Was außerhalb des beschienenen Kreises ist, 
besteht nicht, verschwindet in vollkommenster Finsternis. 
Freilich kann sich, um beim Bilde des Scheinwerfers zu 
bleiben, der Lichtkegel bewegen und nacheinander ein immer 
neues Stück Natur aufleuchten lassen. Es entstehen mehrere 
oder viele sich aneinanderreihende Bilder, aber mehr als 
Bilder sind das nicht, was aber Bild ist, paßt nicht für das 
Drama. 

Und mag nun auch theoretisch zugegeben werden, daß 
sich ein solches im naturalistischen Sinn eng begrenztes Bild 
von selbst, aus innerer Kraft des Schauens zu einem Universal- 
bild ausweiten konnte, denn die Grenze ist ja fließend: alles 
Schauen ist zugleich gewissermaßen Erkennen, Erinnern, ja 
Urteilen, und mit der unmittelbaren Wahrnehmung sowohl wie 
mit dem Gebilde sekundärer Ordnung schmelzen tausend andere 
zusammen und verdichten sich zu einem tertiären, zum eigent- 
lichen Phantasiebild; praktisch ist hier ein wesentlicher Faktor 



//. Historische Einleitung. 19 

dieS; daß man von Kunstanschauungen ausgeht, die den Ge- 
sichtskreis begrenzen. Denn — wer sich von ihnen bestimmen 
läßt, sich zu ihnen hingezogen fühlt — bewußt oder unbewußt — 
der wird die Grenzen nicht leicht ausweiten. Gewiß, Zola 
selbst tat es in gewissem Sinne und dies in großartiger Weise, 
aber Zola vergaß eben in seinem Satze die Seele , die ge- 
staltende Individualität nicht, er verbrannte nicht alle Brücken 
hinter sich. 

Wir kommen nun zu Hauptmann zurück und fassen unsere 
Ausführungen zusammen: er begab sich bewußt in den Bann 
einer grundfalschen, beschränkten Kunsttheorie und unbewußt 
in den von viel treflfenderen zwar und weiteren, jedoch immer 
noch zu engen und insbesondere für das Drama unzulänglichen 
Kunstanschauungen. 

Er folgte darin der Zeitströmung, die zu dem Impressio- 
nismus hindrängt, wie aus der impressionistischen Erzählung 
siQh seine Kunst weise entwickelte. Selbstverständlich folgte 
er aber darin auch der Natur seines Talentes. 

Bevor wir nun zur Analyse seiner Werke schreiten, möge 
eine zusammenfassende Darstellung seines Schaffensganges in 
knappen Worten gegeben werden. 

Gebhart Hauptmann (geb. am 15. November 1862 zu 
Salzbrunn in Schlesien), debütierte, nachdem er sich früher 
als Bildhauer versucht hatte, im Jahre 1885 mit einer byro- 
nisierenden epischen Dichtung „Promethidenlos". 

Dieses, aus dem Buchhandel zurückgezogene Jugendwerk, 
hat aber nur literaturgeschichtliches Interesse. 

Dann brachte am 28. Oktober 1889 die „Freie Bühne" 
das dramatische Erstlingswerk Hauptmanns, das soziale Drama 
„Vor Sonnenaufgang", im Lessingtheater zu Berlin zur 
Aufführung, in jener denkwürdig stürmischen Vorstellung, die 
als erste Schlacht des seitdem ununterbrochen geführten sonder- 
baren Kampfes gelten darf, in dem sich der Naturalismus an 
fast lauter glänzenden Siegen verblutete. Theodor Fotane 

nannte das Werk, die „Erfüllung Ibsens", ein Beweis, wie 

2* 



20 1^' Eistorisehe Einleitung. 

stark es trotz aller Mängel wirkte und ein Beispiel unter 
Tausenden, wie ungeheuerlich sich Zeitgenossen in ihrem Ur- 
teil über ein Werk irren können. In Wirklichkeit ist es eben 
ein Erstlingswerk und steht, vorbedeutungsvoll für den künftigen 
Hauptmann, unter dem Einfluß Ibsens und Tolstois („Macht 
der Finsternis"), wohl auch Zolas „L'assomoir** einerseitf^ 
und Schlafs und HoLzens andererseits. 

Es schildert — und auch dieses Schildern ist vor- 
bedeutungsvoll — in jugendlich kraß aufgetragenen Farben 
das entsetzliche Verkommen einer plötzlich reich gewordenen 
schlesischen Bauemfamilie und ihr Zugrundegehen am Alkoho- 
lismus. 

In knappen Zeiträumen von je einem Jahr folgten dann 
die Bühnendichtung „Das Friedensfest", „eine Familien- 
katastrophe", Anfang 1890 in der „Freien Bühne", auf- 
geführt 1890 auf der Freien Bühne, erschienen in Buchform 
April 1890, sowie „Einsame Menschen". Beide, wie das 
erste, echte Sturm- und Drangdramen, unter dem vorwiegenden 
Einfluß Ibsens stehend. 

Dann folgten „Die Weber" (1892), ein Schauspiel aua 
den 40er Jahren, bis jetzt das Hauptwerk Hauptmanns und ' 
des deutschen Naturalismus, wieder eine Schilderung und zwar 
eine ergreifende der Webernot, sowie die Komödien „College 
Crampton'- (1892), eine Charakterstudie, und der „Biber- 
pelz" (1893). Hauptmann steht in diesen Werken auf der 
Höhe seiner naturalistischen Technik, hat sich vom Einfluß 
Ibsens zum Teil befreit, freilich nur um sich in den Kleist» 
und anderer zu begeben. 

Alle drei sind aber wiederum Schilderungen, wie das 
nächstfolgende „Hannele" oder „Hanneles Himmelfahrt" 
(1893), wo der Naturalismus in poetisch eingekleideten Sym- 
bolismus umschlägt oder eigentlich mit ihm ringt. 

Im Jahre 1892 erschienen auch die novellistischen Studien 
„Bahnwärter Thiel" und „Der Apostel". Die erste be- 
sonders Zeugnis legend für Hauptmanns Kraft der Charakte- 



//. Historische Einleitung. 21 

ristik und sein Mitgefühl bei Schilderung der einfachen Seele 
eines Mannes aus dem Volke. 

Zwei Jahre nach dem Biberpelz (1895) folgte „Florian 
Geyer", ein Versuch, die Technik der naturalistisch-impressio- 
nistischen Milieudarstellung auf das historische Drama zu 
übertragen. Der Versuch ist, das muß man anerkennen, ernst 
und in seiner Art großartig gedacht gewesen. Er mißlang aber 
und es folgte vollständiger Umschlag. Im Jahre 1896 erschien 
„Die versunkene Glocke", ©i^^ „deutsches Märchendrama 
in Versen", zum ersten Male bei Hauptmann keine Schilderung, 
sondern ein echtes Drama, insofern es der Anlage nach ein 
Ringen darstellen soll, freilich ein sonderbares. Hier hat 
Hauptmann den Naturalismus vollständig beiseite gelassen 
und wandelt in den Spuren Faust s und Brands mit echter 
Epigonengemächlichkeit , Manieriertheit und Gespreiztheit. 
Nicht uninteressant, aber auch nicht zu verwundern ist es, 
daß das Drama den größten Absatz und Bühnenerfolg aufzu- 
weisen hat. Das große Publikum war gerührt darüber, daß 
der strenge Naturalist sich zu einer so süßlichen Verspräche 
herbeiließ. Nun, die Verse und ihr Inhalt waren auch danach, 
dieses Publikum zu entzücken. Original war Hauptmann dies- 
mal noch weniger als sonst 

Im Jahre 1898 erschien aber (5. November aufgeführt) 
„Fuhrmann Henschel" und zwar, so wie seinerzeit „Die 
Weber" („De Waber*% als „Originalausgabe" in reinem 
schlesischen Dialekt und als „Übertragung" in gemeinverständ- 
licher Fassung. Es ist eine Wiederholung des Motivs im 
„Bahnwärter Thiel" und wieder ein streng naturalistisches 
Drama, mehr Schilderung als Handlung. Im Jahre 1900 folgte 
dann der Schwank „Schluck und Jau", an Shakespeaees Vor- 
spiel in der „Zähmung der Widerspänstigen" anknüpfend, so- 
wie das naturalistische Charakterdrama (um die Bezeichnung 
der Kürze halber zu gebrauchen) „Michael Kramer". Dann 
folgte die Tragikomödie „Der rote Hahn", eine Fortsetzung 
der Diebskomödie „Der Biberpelz", und wiederum ein Vers- 



22 IJ^' Historische Einleitung, 

drama „Der arme Heinrich" (1902), etwas naturalistisch ge- 
färbt, sonst ebensowenig original (Kleist), dafür aber ebenso 
redselig wie das erste; darauf das naturalistische Schauspiel 
„Rose Berndt" (1903), eine Wiederaufnahme des Themas 
der „Maria Magdalene" von Hebbel, dann „Elga", eine 
Dramatisierung Yon Geillpabzees Novelle „Das Kloster von 
Sendomir" und neulich das viel besprochene „Und Pipa 
tanzt'* sowie das jüngst in Berlin durchgefallene Lustspiel: 
„Die Jungfern vom Bischofsberg'^ 

Eine reiche Tätigkeit, fast allzureich, wenn man die kurze 
Spanne Zeit in Betracht zieht, in der die Werke entstanden» 
Was in ihr im Hinblick auf den Zweck unserer üntersuchuDg 
merkwürdig erscheint, ist der mehrmalige Abfall von der natu- 
ralistischen Methode. Es ist, als ob der Dichter selbst Zweifel 
hegte, ob sie die einzig richtige sei, ja wenn man die Probleme, 
die der Dichter gerade in den nichtnaturalistischen Dramen 
zu lösen versucht, darauf prüft, scheint es fast, als ob sich in 
diesen Werken ein Ringen um eine höhere Kunstmethode 
offenbarte. 

Weiter fällt bei einer allgemeinen Übersicht aller Werke 
Hauptmanns eine ziemliche Ideenarmut, verbunden mit einer 
durchgängigen Abhängigkeit von irgend einem Vorbild (Babtels 
nennt sie treffend Pat^nstücke), auf, also ein Mangel an original- 
schaffender Kraft. Endlich ist es eine für unsere Untersuchung 
wichtige Erscheinung, daß Hauptmann fast ausnahmslos 
Charakter- und willensschwache, ja völlig willenlose Menschen 
zu Hauptpersonen seiner Dramen macht. 



III. Teclmik. 



Hauptmann mag sich als junger, konsequenter Naturalist 
nicht wenig auf seine technischen Neuernungen eingebildet haben. 
Nun, er war jung. Er ist jedoch fast durchwegs bei den 
wichtigeren Yon ihnen geblieben. Das zeigt, daß sie seinen 
Neigungen und Überzeugungen entsprechen. Andererseits — 
doch das nur nebenbei — sind sie nicht alle ganz neu. 

Eine Yon diesen Neuerungen ist es, daß Hauptmann die 
auftretenden Personen „handelnde Menschen" nennt, gewiß 
recht protzig und für den Beobachter nicht ohne ironischen 
Beigeschmack, weil ja Hauptmanns Menschen am wenigsten 
handeln. Hauptmann ist dann von dieser Bezeichnung ab- 
gegangen. Was er mit ihr wollte, fühlt man. Den Grund- 
sätzen des Naturalismus entsprechend, gewiß andeuten, daß er 
die Personen nicht auftreten läßt, sondern sie abbildet, wie 
sie sich geben in ihrem Tun und Lassen, also in ihren Hand- 
lungen. Auch schien dem Naturalismus die Bezeichnung Person 
zu abstrakt, zu wenig das Leben spiegelnd. Vergessen wurde 
dabei nur, daß es auf den Namen eben nicht ankommt. 

Zweitens wird für jeden Schauplatz der Handlung oder, 
wie sie Hauptmann mitunter nennt, der „Vorgänge** eine 
Situationszeichnung beigegeben, was nicht neu ist, und wohl 
der exakten Methode des Naturalismus entsprechen soll. Auch 
diese „Neuerung hat Hauptmann dann fallen lassen, fast 
möchte man sagen mit Unrecht, denn seine Bühnenbeschrei- 
buDgen sind so kompliziert, daß man sich nur mit großer 
Mühe ein Bild danach machen kann. Manchmal ist das Bild 
sogar ganz unkonstruierbar, insofern man dabei den Zuschauer 



24 Jlf' Technik. 



der oberen Stockwerke und der seitwärts gelegenen Plätze des 
Zuschauersaumes vom Sehen nicht ausschließen will. So ist z. B. 
— da wir schon dabei sind — das Bühnenbild des fünften 
Aktes der „Weber" fast undarstellbar. Wir meinen das 
Weberstübchen des alten Hilse: 

„Links ein Fensterchen, davor ein Webstuhl, rechts ein 
Bett usw. Der sehr enge, niedrige und flache Raum hat 
eine Tür nach dem »Hause* in der Hinterwand. Dieser 
Tür gegenüber im »Hause« (bedeutet wohl soviel wie Flur) 
steht eine andere Tür oflfen, die den Einblick gewährt in ein 
zweites, dem ersten ähnliches Weberstübchen". 

Also drei niedrige Räume hintereinander, durch Türen 
verbunden und durch diese zweifache niedrige Türöffnung soll 
man nun von der Gallerie oder von den Seitensitzen noch 
sogar bemerken, daß der dritte Raum „ein dem ersten ähn- 
liches Weberstübchen" sei. Wie das möglich ist, wenn die 
Zwischenwände nicht aus Glas sind, ist unerfindlich. 

Ahnlicher Zumutungen an den Zuschauer gibt es mehr in 
den Bühnenbeschreibungen Hauptmanns. So im „Fuhrmann 
Henschel" die Beschreibung der Kellerwohnung. Zugegeben 
soll sein, daß Hauptmann nicht der einzige unter den modernen 
Autoren ist, der darin sündigt, auch wäre man versucht, zu 
denken, daß dies Nebensächlichkeiten sind, nicht wert, sie zu 

i erwähnen. Für uns haben sie aber, insbesondere in Verbindung 
mit den gleich weiter zu berührenden Eigentümlichkeiten der 
Bühnenanweisungen, eine symptomatische Bedeutung: man 



ft^ I 



merkt, daß der Dramatiker sich während der Beschreibung 
^ \vergißt und schreibt, als wäre er ein erzählender Dichter. 

XI • Dieser Eindruck steigert sich, wenn man die Beschreibung 

der Personen liest, bei Gelegenheit ihrer Einführung. Nicht 
mit Unrecht sagt Bartels, daß jede Person mit einem Steck- 
brief versehen ist. Man lese nur: („Vor Sonnenaufgang"). 
Hoff mann ist etwa 33 Jahre alt, schlank, groß, hager. 
Er kleidet sich nach der neuesten Mode (gut noch, daß wir 
die Adresse des Schneiders nicht bekommen), ist elegant 



///. Technik. 25 



frisiert, trägt kostbare Ringe, Brillantknöpfe im Vorhemd und 
Berloques an der Uhrkette. Kopfhaar und Schnurrbart i 
schwarz (!), der letztere sehr üppig, äußerst sorgfältig gepflegt. | 
Gesicht spitz, vogelartig. Ausdruck verschwommen. Augen 
schwarz (!), lebhaft, zuweilen unruhig. 

Zu bemerken ist, daß diese Beschreibung eingeflochten 
wird, nachdem Hoffmann schon aufgetreten ist und gesprochen 
hat, also ganz in der Art der berichtenden Erzählung. Und 
nun fragt sich, welche Schlüsse auf den Charakter Hoffmanns 
man aus dem schwarzen Kopf- und Barthaar und seinen 
schwarzen Augen ziehen soll? Natürlich ist sein Gegenpart 
Loth blond: 

„Loth hat blondes Haar, blaue Augen und ein dünnes, 
lichtblondes Schnurrbärtchen". 

Auch Helene ist blond, aber das ginge noch an, da 
blondes üppiges Haar den besonderen deutschen Mädchentypus 
bezeichnen soll. Jedoch von Frau Spill er erfahren wir sogar, 
daß sie mit zurückgelegten Sachen der Frau Krause her- 
ausgestutzt ist (also Biographisches). Wilhelm Kahl muß 
Hirschzähne an der Uhrkette tragen. In gleicher Weise 
werden alle Personen des Dramas genau nach Gestalt, Farbe, 
Haltung, Kleidung beschrieben. 

An dieser Unart, oder sagen wir Art, hält Haxjptmann 
zäh in allen seinen Stücken. Schon im Personenverzeichnis 
des „Friedensfestes" ist angegeben. 

Dr. med, Fritz Scholz, 68 Jahre alt; Minna- Scholz, 

dessen Ehefrau, 46 Jahre alt; Auguste, 29; Robert, 28; 

Wilhelm, 26 Jahre alt. Frau Marie Buchner, 42 Jahre 

alt; Ida, ihre Tochter, 20; Friebe, derHausknecht, 50 Jahre alt. 

Ich frage nochmals: welchen Schluß auf ihren Charakter 

sollen wir daraus ziehen, daß Frau Buchner 42 Jahre alt ist, 

nicht 40 oder 44? 

Dies ist aber noch nicht alles. Die Personen werden 
noch bei Gelegenheit ihrer Einführung genau beschrieben. Wir 
erfahren, daß Frau Buchner eine gesundaussehende, gut genährte 



28 IJI' Technik. 



Haar. Dies ist aber bei Ibsen keine Begel^ sondern Aus- 
nahme und man muß schon demselben Symptom eine andere 
Deutung geben, wenn es mit ganz verschiedenen in Verbindung 
bleibt, übrigens soll nicht geleugnet werden, daß Ibsens 
Bühnenanweisung etwas Novellistisches in sich hat und der 
Einfluß Ibsens mag sich auch da einigermaßen geltend ge- 
macht haben. 

Für uns ist es vorläufig von Belang, festzustellen, daß 
Hauptmanns Personenbeschreibungen den Charakter einer 
Schilderung, nicht einer Bühnenanweisung tragen. Wir erinnern 
an unsere Ausführungen über die Herkunft seines Dramas 
und behalten uns vor, darauf zurückzukommen, um unsere 
Schlüsse zu ziehen. 

Des Vergleiches halber folge hier ein Auszug aus der 
Personenangabe von Max Halbe, „Jugend", betitelt pomp- 
haft „Menschen". 

Pfarrer Hoppe, Fünfziger. Untersetzte, stämmige 
Statur, rundes, gerötetes Gesicht. Ein leiser Anflug von 
geistlicher Würde liegt über seinem Wesen, ohne jedoch ins 
Pastorale auszuarten. Der Haupteindruck geht auf eine 
strotzende, mit den Jahren gedämpfte Kraft und tief ver- 
innerlichte Lebenserfahrung. Seine Kleidung ist die übliche 
des katholischen Landgeistlichen, aber bequem, lässig, mit 
einem Stich ins Weltliche. Auch seine Bartstoppeln ent- 
sprechen nicht streng den Vorschriften. 

Ann eben, seine Nichte. Sie ist 18 Jahre alt. Ihre 
braunen Augen sind leicht verschleiert. Das aschblonde 
Haar fällt kraus und wirr in die Stirn. Es ist slavischer 
Schlag. Das Gesicht rundlich, eine warme Fülle des Wuchses, 
naive Sinnlichkeit, etwas Empfangendes, weich Weibliches, 
Hingegebenes. Auch in der Art, wie sie sich trägt, gibt sie 
sich etwas Schmiegsames, Wiegsames. Sie liebt bunte 
Farben. Um den Hals hat sie an einer Schnur ein kleines 
goldenes Kreuz. 

Amandus, ihr Stiefbruder, siebzehnjährig, lang auf- 



///. Tech7iik. 2» 



geschossen, kretinhaft kindisch. Er vegetiert in einer Art 
von animalischen Triebleben. Seine tierischen Instinkte sind 
stark geschärft. Seine Bewegungen sind lümmelhaft und 
ungelenk, als wisse er mit seinen Gliedmaßen nichts anzu- 
fangen. Er sieht aus wie ein blödsinniger BauernbengeL 
In seinen schwarzen Augen lauert die Tücke eines Tieres. 
Man muß sich hüten, ihn zu reizen. 

Kaplan Gregor von Schigorski. Er steht zu 
Ende der zwanzig, sieht aber älter aus. Er ist von mittel- 
großer hagerer Gestalt. Die Askese hat sein Gesicht früh- 
zeitig gefurcht und vergeistigt. Er ist brünett in Haar- 
farbe und Ton der Haut. Sein Gesicht ist glatt rasiert. 
Ein bläulicher Schimmer liegt über den bartlosen Wangen. 
Es ist der polnische Geistliche in Haltung und Redeweise. 
Er ist kein Intrignant, sondern Fanatiker. 

Hans Hartig, ein junger Student, achtzehn Jahre alL 
Er ist blond usw. In seinem schnellen und abgebrochenen 
Sprechen offenbart sich ein heftiger und jäh umschlagender 
Charakter. Alles in allem, der Embryo eines modernen 
Stimmangsmenschen usw. 

Maruschka, das Dienstmädchen, sie ist vom Schlage 
der polnischen Landmädchen, madonnenhaft und einer Figur,, 
die zur Üppigkeit neigt. 

Wie wir sehen, auch über das Dienstmädchen, das kaum 
auftritt, müssen iateressante Details angeführt werden. 

Noch merkwürdiger ist, daß unsere Autoren oft überhaupt 
aus der Rolle fallen und Bericht, Erzählung, ja seelische 
Schilderung und Analyse oder moralethische Kritik in die An- 
weisung einflechten, die ja deswegen auch einen so unverhältnis- 
mäßig breiten Raum einnimmt. 

So sagt Hauptmann im zweiten Akte des „Sonnen- 
aufgangs'*: „Auf dem Gange vom Wirtshaus her wird eine 
dunkle Gestalt bemerklich ... es ist der Bauer Krause^ 
welcher, wie immer (!), als l^zter Gast das Wirtshaus verlassen 
haf Kann man es sehen, daß Krause als letzter Gast das- 



30 III' Technik. 



Wirtshaus verlassen hat oder gar, daß er es immer tut? 
Loths Worten wird einmal die Bemerkung vorangestellt: 
„ohne Takt" (also ein Urteil!). Dann trillern Lerchen, es ist 
„tauiger Morgen". Von einer Magd, die im Hof etwas schafft, 
erfahren wir dabei, daß sie Liese heißt. Li der Liebesszene 
vollends: „Sie kommt ihm dabei so lieblich vor . . •" „Ein 
Geben und Nehmen von Küssen stumm und beredt zu- 
gleich.^* 

Ln „Friedensfest" lesen wir von Frau Buchner: 
„Ihr ganzes Wesen drückt eine Herzlichkeit aus, die durchaus 
echt ist." Während Frau Buchner „nur für andere zu 
existieren scheint", hat Frau Scholz „vollauf mit sich selbst 
zutun". Von Auguste Scholz heißt es: „Mit der Aufgeregt- 
heit der Mutter verbindet sie ein pathologisch offensives 
Wesen. Diese Gestalt muß gleichsam eine Atmosphäre von 
Unzufriedenheit, Mißbehagen und Trostlosigkeit um sich ver- 
breiten." Dafür heißt es von Ida: „ . . . demgemäß ist der 
Ausdruck ihres Gesichtes meist heiter . . .", „Robert raucht 
aus einer Pfeife türkischen (!) Tabak". 

Dann heißt es von ihm: „er ergreift mit Hast die gelb- 
seidene Geldbörse, fuhrt sie den Augen näher und mit einer 
jähen, leidenschaftlichen Bewegung an die Lippen. Dieser 
Moment zeigt das Aufblitzen einer unheimlichen, krankhaften 
Leidenschaft." Ida „singt piano mit schelmischer Beziehung 
auf etwas in der Vergangenheit". Ein anderes Mal folgt sie, 
„froh, auf diese Weise ihre Bewegung verbergen zu können", 
ihrer Mutter. Von Braun heißt es in den „Einsamen 
Menschen": „Braun ist meist unbefriedigt, deshalb übel- 
gelaunt." 

Solcher Beispiele gibt es genug auch in anderen Dramen. 
In „Den Webern" insbesondere ist die Personenbeschreibung 
weniger umständlich und wir wissen auch warum. Dafür aber 
lese man gleich den Eingang des ersten Aktes: 

Es ist schwüler Tag gegen Ende Mai, die Uhr zeigt 
zwölf, die meisten der harrenden Webersleute gleichen 



///. Technik, 31 



Menschen, die vor die Schranken des Gerichts gestellt sind, 
wo sie in peinigender Gespanntheit eine Entscheidung über 
Tod und Leben zu erwarten haben. Hinwiederum haftet 
allen etwas Gedrücktes, dem Almosenempfänger Eigentüm- 
liches an, der, von Demütigung zu Demütigung schreitend, 
im Bewußtsein, nur geduldet zu sein, sich so klein als mög- 
lich zu machen gewohnt ist. Dazu kommt ein starrer Zug 
resultatlosen, bohrenden Grübelns in aller Mienen. Die 
Männer, einander ähnelnd, halb zwerghaft, halb schulmeister- 
lich, sind in der Mehrzahl flachbrüstige, hüstelnde, ärmliche 
Menschen mit schmutzigblasser Gesichtsfarbe: Geschöpfe des 
Webstuhls, deren Kniee infolge vielen Sitzens gekrümmt 
sind. Ihre Weiber zeigen weniger Typisches auf den ersten 
Blick: sie sind aufgelöst gehetzt, abgetrieben, während die 
Männer eine gewisse klägliche Gravität zur Schau tragen — 
und zerlumpt, wo die Männer geflickt sind. Die jungen 
Mädchen sind mitunter nicht ohne Eeiz: wächserne Blässe, 
zarte Formen, große hervorstehende, melancholische Augen 
sind ihnen dann eigen. 

Ist es nicht, als ob man einen Abschnitt aus einem Eoman 
oder einer ßeiseschilderung lesen würde? Man kann ja nichts 
sagen. Die Schilderung ist an und für sich gut, sie ist aber 
Schilderung, enthält Erwägungen und Betrachtungen, geht, mit 
einem Wort, weit über das in einer Theatervorstellung Dar- 
zustellende hinaus, und so ist es überall: Weber Heiber 
„bleibt stehen, um nochmals einen günstigen Augenblick ab- 
zupassen". Die alte Frau Baumert hat „versunkene Augen, 
die durch Wollstaub, ßauch und Arbeit bei Licht gerötet und 
wäßrig sind", Meister Wiegand „ist ein Mann, dem man 
anmerkt, er weiß, worauf es in der Welt ankommt, wenn man 
ein Ziel erreichen will, nämlich auf Pfiffigkeit, Schnelligkeit 
und rücksichtsloses Fortschreiten". 

Doch wozu die Beispiele mehren. Die angeführten ge- 
nügen, um zu zeigen, daß Hauptmann — darin allen modernen 
Autoren ähnlich — sich über die Grenzen zwischen der An- 



32 UL Technik. 



Weisung über das Darzustellende und der Schilderung keine 
Rechenschaft gibt. Man wird fragen, was es schadet, wenn 
der Autor für den Leser Schilderungen und Betrachtungen 
einäicht, die dann für den Zuschauer Ton selbst wegfallen. Ja 
gewiß, es schadet anscheinend unmittelbar nicht, ja in gewissem 
Sinne nützt es mitunter, wenn nämlich das DarzustelleiMe, 
das, was man schauen kann, nicht genügt, um den gewollten 
Eindruck hervorzurufen. Dann aber weist es auf einen Mangel 
in der Darstellung hin, ist ein Armutszeugnis, das sich der 
Dichter selbst ausstellt, ein Auskunftsmittel, um das Mangelnde 
zu ersetzen. Ist es aber so, dann schadet es noch obendrein. 
Denn es verleitet den Verfasser dazu, sich durch eingeflochtene 
Erzählung über Schwierigkeiten der dramatischen Darstellung 
hinwegzuhelfen. Man wende nicht ein, daß die Unmittelbar- 
keit der Vorstellung das ersetzt, was hier dem Leser hinzu- 
gegeben wird. Das ist ein Irrtum: kein Schauspieler, kein 
Bühnenleiter kann das ersetzen, was hier Hauptmann und mit 
ihm so viele hinzutun. 

Eins von beiden also. Ist es nötig, dann muß es in das 
Drama selbst hineinkommen. Mittel dazu gibt es genug. Die 
Betrachtungen, die der Autor anstellt, die Schilderungen, die 
er gibt, können ganz gut von den Personen des Dramas, auch 
wenn es „handelnde Menschen** sind, getragen werden. Schildern 
nicht bei Hauptmann selbst Loth und Helene in ihrem Ge- 
spräch die Zustände von Witzdorf und geben dadurch dem Ge- 
sehenen einen Hintergrund. Könnte die Schilderung der 
Weber nicht ebenso einer oder mehreren minderbeteiligten 
Personen in den Mund gelegt werden? Wer aber dieses Aus- 
kunftsmittel verschmäht, muß auf andere sinnen. Solcher gibt 
es genug. Shakespeare hat es nicht nötig, die Affekte zu 
schildern: es sehen sie ja die anderen handelnden Personen und 
äußern sich darüber, reagieren darauf. „Mann, drücke den 
Hut nicht so tief ins Gesicht!'* ruft Malcolm dem Macduff zu. 
Und wie trefflich charakterisiert Caesar seine Gegner und 
andererseits sie ihn! 



UI. Teehmk. 33 



Oder es tritt der zweite Fall ein. Die Bemerkungen sind 
nicht nötig. Dann gehören sie auch keinesfalls ins Drama 
hinein, dürfen nicht hineinkommen. Denn das muß festgehalten 
werden, was man nicht schaut, was man nicht von den auf- 
tretenden Personen hört; das gehört auch nicht in das Drama 
und darf darin nicht vorkommen. Auch nicht als für den 
Leser eingeschmuggelte Bandbemerkungen. Soviel Achtung 
darf schon die höchste Form dichterischen Schaffens be- 
anspruchen, daß man ihre Werke nicht mit bettelhaften An- 
leihen bei anderen herausputzt. Man lächelt mitleidig über 
die Eselsbrücken der alten Kunst. Da muß gesagt werden, 
daß Monologe auch die unberechtigten in ganz anderem orga- 
nischen Zusammenhang mit dem Drama stehen als beigefügte 
Bemerkimgen. Diese .können nur mit den erklärenden In- 
schriften der alten naiven Malerei verglichen werden. Wir 
werden übrigens weiter unten bei anderer Gelegenheit beweisen, 
daß dieser ganze Aufputz nichts nützt, daß es einfach nur eine 
auf Selbsttäuschung bestehende Illusion ist, wenn man darin 
eine Charakteristik sieht. Es ist auch für den Leser nur un- 
nütz bedrucktes Papier, sonst nichts, überhaupt müssen wir 
bezüglich der Bühnenanweisung alles vorher Gesagte auch im 
Hinblick auf das Lesedrama im engeren Sinne au&echt halten. 
Eine Begiebemerkung soll lediglich als Anleitung für die Dar- 
stellung des Dramas dienen. Auch dort, wo von Haus aus 
auf eine solche verzichtet wird, bleibt dennoch eine jede Be- 
merkung, die nicht in diesem Sinne gehalten ist, ja ein jedes 
überflüssige Wort, eine arge Stilwidrigkeit, eine Erscheinung, 
die auf eine Verrohung und einen Verfall des dramatischen 
Stils, auf ein Schwinden dessen Gefühls zurückgeführt werden 
muß. Im Drama, auch im Lesedrama darf sich die Phantasie 
nur in den Bahnen der dramatischen Darstellung bewegen. 
Wenn da durch Worte ein Schein geweckt wird, so ist es 
ein Schein nicht der Wirklichkeit, sondern der dramatischen 
Handlung. Was dagegen verstößt und darüber hinausgeht, 
und seien es die tiefsten Worte, die witzigsten Bandglossen, 

Bttxowski, Gerhart Hauptmann. 3 



34 Ul' Technik. 



ist ein Vergehen gegen die Stileinheit Es wirft uns aus 
unserer Bahn heraus, weil sich da Bericht und Betrachtung 
in die unmittelbare Darstellung der Tor uns sich ToUziehenden 
Handlung eindrängt. Ja dies gilt sogar für den Roman oder 
die Novelle, falls sie in einer dramatisch unmittelbaren Dar- 
stellungsform erscheinen. Auch da wäre es nicht gestattet, 
unvermittelt zum Bericht überzugehen. Um wieviel weniger 
im Drama. So stellt sich der Unfug, der mit den Regie- 
bemerkungen getrieben wird, als eine Stillosigkeit dar, die 
durchaus verpönt sein soll. Er zeigt uns aber auch am Neben- 
sächlichen, daß der Naturalismus nichts anderes will, als epische 
Darstellung auf das Drama zu übertragen. Daß die Szenen- 
einteilung fehlt, ist wiederum eine so belanglose „Neuerung** 
wie die Neubenennung der Personen. Der fließende Strom der 
Vorgänge wird durch die Szeneneinteilung ebensowenig ge- 
hindert, wie das Verrinnen der Zeit durch den Glockenschlag 
der Uhr, die uns die Stunden anzeigt 

Über die strenge Durchführung der Sprache des täglichen 
Lebens und die Verwendung des Dialekts werden wir in anderem 
Zusammenhange noch zu sprechen haben. Hier bemerken wir 
nur, daß wir prinzipiell nichts dagegen haben, darin aber 
durchaus ein bestimmtes Maß eingehalten zu sehen verlangen, 
ein Maß, auf welches wir noch zurückkommen und dessen 
Weite in der Funktion des Wortes im Drama gegeben ist. 
Andererseits schlagen wir die gar nicht neue Neuerung im 
ganzen und großen nicht so hoch an. Mehr Bedeutung schon 
hat der neue impressionistische Stil im allgemeinen, der sich 
hier als Frucht der impressionistischen Tendenzen der Kunst, 
speziell der Holz-Schlat sehen darstellt. Daß dieser impressio- 
nistische Stil nicht urdeutsch ist, haben wir schon hervor- 
gehoben. Auch auf ihn kommen wir zurück. 

Mit einer Eigentümlichkeit der Sprache möchten wir aber 
vorwegnehmend noch hier abrechnen. Wenn im Text nämlich 
die Umgangssprache des täglichen Lebens streng durchgeführt 
wird, so entspricht das der Neigung und der künstlerischen 



III. Technik. 35 



Tendenz des Autors. Wie soll man es sich aber erklären, 
daß in allen Äußerungen des Autors selbst, also in den Bühnen- 
anweisungen und Bemerkungen an den Leser eine merkwürdige 
Sprache geführt wird, die man nicht anders, als einen Kliquen- 
jargon bezeichnen kann. In Hauptmanns Bühnenangaben 
wimmelt es förmlich von Provinzionalismen, Lokalausdrücken 
und Ausdrücken, die bestimmten Berliner Literatenkreisen 
eigentümlich sind. 

So haben wir das Wort ,, puterrot'' schon bei Holz und 
Schlaf gehabt. Bei Hauptmann verfolgt es uns auf Schritt 
und Tritt. Umsonst fragt man sich auch nach der Notwendig- 
keit von Ausdrücken wie „propre gekleidet", „ein proppres 
Mädchen", „adrett", „schußrig", „sie dudelt'*, „Blaukittel" 
(für Wagenschieber), „unterm Nähen", „unter Nachdenken", 
„echauflSert", „Registrator" (für Uhr), „tollpatschig", „patzig", 
„winzlige Sprechweise", „glupsch" u. a. m. 

Man wird unsere Ausstellung als Nörgelei ansehen. Dieser 
familiäre Ton hat jedoch etwas Aufdringliches und Exklusives 
zugleich, das man rügen muß. Hauptmann kümmert sich 
überhaupt wenig (oder gibt sich den Anschein, als ob er sich 
wenig kümmerte), ob man Ausdrücke wie „Helle", „Haus", 
„Erbscholtiseibesitzer" auch versteht. Er protzt sozusagen mit 
seinem Schlesiertum, anderseits mit dem Berlinertum. Dies 
wirkt aber ansteckend. Die Herren beginnen zu schreiben, 
als wären sie „unter sich" und es wird dazu kommen, daß ein 
junger Autor erst den Berliner Literatenjargon wird erlernen 
müssen, bevor er es wagt, ans Schreiben zu gehen. 

Was die innere Technik, d. i. den Aufbau der Dramen 
Hauptmanns anlangt, wird sich ihre Kritik beim Eingehen in 
die einzelnen Stücke ungezwungen von selbst ergeben. 

Ohne uns also dabei aufzuhalten, wollen wir mit der 
Analyse der einzelnen Werke beginnen. 



IV. Werke. 



1. „Vor Sonnenaufgang". 

„Vor Sonnenaufgang" ist zwar ein Erstlingswerk, aber 
es trägt schon deutlich alle charakteristischen Merkmale der 
Kunst Hauptmanns, ja in mancher Hinsicht bietet es sogar 
ein besseres Objekt der Beobachtung, als die späteren. 

Prüft man nun den Inhalt und die Anlage des Stückes 
darauf hin^ so wird sofort klar, daß man es hier mit einer 
Zustandsschilderung zu tun hat. In ein schlesisches Kohlen- 
dorf, dessen Bewohner plötzlich durch die Kohle, welche sie 
unter ihren Feldern muten, reich geworden, in Völlerei, Trunk- 
sucht und Unzucht verfallen sind und dem Untergang ent- 
gegengehen, kommt ein sozialistischer Schwärmer^ um die 
„Lokalverhältnisse'' zu studieren. Er gerät in eine Bauern- 
familie, in die sein ehemaliger Jugendfreund Hoffmann hin- 
eingeheiratet hat. Hoffmann, der die Bauern prellt und nun 
„stark auf Bleichröder zusteuert", wittert in dem „Studieren" 
einfach „Maulwurfsarbeit, Wühlen, Wühlen". — (Sollte man 
sich da nicht vor Ibsen höflichst verneigen?) Anders seine 
Schwägerin, Helene Krause, die in dem Fremden einen 
Sendling einer besseren und reineren Welt sieht. Helene 
fühlt sich tief unglücklich. Ihr Vater ist ein Trunkenbold, 
ein geiles, unflätiges „Tier, vor dem die eigene Tochter nicht 
sicher ist", ihre Stiefmutter ist zänkisch, bösartig, durchaus 
verlogen, dumm und ehebrecherisch, ihr Bräutigam, der Lieb- 
haber dieser Stiefmutter, ein Lümmel, halb Vieh, halb Idiot; 



IV. Werke. 37 



ihre Schwester unrettbar dem Alkoholismus verfallen; ihr 
Schwager endlich, der zugewanderte gebildete Mann, der findige 
Eopf, >,gegen den gehalten sind sie alle Lämmer'^ Er ver- 
schmäht es nicht, die traurige Lage des Mädchens zu miß- 
brauchen und es mit lüsternen Liebesbewerbungen zu um- 
stricken. — Wir sehen, Unzucht ist hier das billige Mittel, 
das den armen Zuschauer schaudern machen soll. — Helene 
glaubt nun in Loth ihren Better gefunden zu haben, dieser in 
ihr die ideale Gattin, die seinen hohen Ansprüchen Genüge 
täte. Doch da erfahrt er von Doktor Schimmelpfennig, 
daß in ihrer Familie die Trunksucht erblich ist und der Dok- 
trinär und Abstinenzler flieht vor dieser Verbindung. Das um 
seine Hoffnung betrogene Mädchen gibt sich den Tod. 

Dieses Motiv könnte nun in zweifacher Konzeption 
dichterisch erschöpft werden. Entweder könnte die Schilderung 
der schrecklichen Verhältnisse in dem schlesischen Kohlendorf 
Hauptsache sein, dann wäre der daraus sich entwickelnde 
Konflikt nur eine Folgeerscheinung. Dies entspräche der 
epischen Behandlung des Stoffes, der eines Zola. Oder es 
würde der aus den erwähnten Verhältnissen sich ergebende 
Konflikt Hauptsache sein, dann wäre die Schilderung der Ver- 
hältnisse nur Hintergrund, von dem sich der Konflikt abhebt, 
und aus dem heraus er sich entwickelt. Das wäre die drama- 
tische Auffassung des Vorwurfes. 

Hauptmann ist nun, getreu den naturalistischen Grund- 
sätzen, von der ersten Auffassung ausgegangen. Man soll, wie 
durch ein Fenster, in ein Stück Natur hineinsehen. Dabei hat 
er aber doch, seinen Neigungen und Ansichten entsprechend, 
die dramatische Form erwählt Daraus ergab sich die Eigen- 
art des Stückes: die Likongruenz zwischen Form und Lihalt. 
Seiner Aufgabe gemäß mußte Hauptmann der Schilderung den 
breitesten Baum gewähren. Sie und nur sie bildet auch den 
eigentlichen Inhalt des Dramas. So blieb für Kampf, Be- 
wegung, Konflikt so gut wie gar nichts übrig. Der Konflikt 
ist nur so angehängt — wie oft bei Hauptmann — damit die 



38 ' : IV. Werke. 



Geschichte docH ein Ende bekommt Er ist weder glaubwürdig, 
noch irgendwie für den Inhalt des Stückes von Belang. Loth 
tat eigentlich nur dasselbe, was wir tun, er sieht sich die Zu- 
stände an und tritt schaudernd zurück. Nur ein Unterschied 
besteht dabei^ daß wir nicht, wie er, ein vorschnelles Ehe- 
gelöbnis gegeben haben. Aber ist der unterschied bei näherem 
Zusehen so groß? Entsteht bei Loth daraus irgendein ernst 
zu nehmender Konflikt? Gewahren wir im ganzen Drama auch 
nur einen Ansatz von einem inneren Kampf in Loth, oder 
von einem Kampf gegen ihn? Er kommt und geht. Von einer 
wirklichen Zuneigung zu Helene ist nichts zu bemerken, 
trotz der yielgepriesenen, in Wirklichkeit aber süßlich senti- 
mentalen, innerlich unwahren Liebesszene. Ein Mann, der 
seine Liebe so rasch und so gefaßt einer doktrinären Schrulle 
opfert mit dem zynisch eingestandenen Bewußtsein, daß er 
ihren Gegenstand dem sicheren Verderben preisgibt, ein solcher 
Mann konnte doch nicht auch nur einen Augenblick lang 
wirklich geliebt haben. Das Mädchen mag ihm nicht übel 
gefallen haben. Nun, er wird irgend anderswohin gehen und 
„Lokalverhältnisse studieren". Da kann ihm ein anderes ge- 
fallen. Was hat sich da viel in seinen Verhältnissen geändert? 
Man hat ihm einen Plan verdorben. Er hat müssen Knall 
und Fall wegfahren, sonst nichts. Ein Mensch, der sich uns 
vorstellt: so bin ich, ich bin Abstinenzler, habe Grundsätze^ 
und der, nachdem er ein Mädchen in den Tod gejagt hat, nun 
vollständig unverändert, in seinen Anschauungen unerschüttert, 
nicht einmal geritzt vom Schicksal, von uns scheidet. Ja, 
wenn man mit Schlentheb liebenswürdig glauben könnte, 
daß auch ihn Paustens Reue überkommen werde. Aber wir 
haben leider in keinem einzigen seiner geschwollenen Worte 
einen Anhaltspunkt dafür, um dies anzunehmen oder nur zu 
hoffen, wie faustisch sich auch der Wicht geberdet. Lauter 
trockenes Zeug. Auf Schimmelpfennigs Einwurf, daß es 
Fälle gibt, wo solche ererbte Übel, wie der Alkoholismus, 
durch rationelle Erziehung erdrückt werden, antwortet er ein- 



IV. Werke. 39 



fach: ^,das kann uns nicht helfen, SchimmeP^ Er ist 
so ruhig innerlich, daß er den Freund „Schimmel" nennt, wie 
wenn es sich in dieser Auseinandersetzung nur um eine studen- 
tische Eannegießerei handelte. Dann fährt er fort: „Entweder 
ich heirate sie, und dann . . . nein, dieser Ausweg existiert 
überhaupt nicht. Oder — die bewußte Kugel! — Aber 
nein! So weit sind wir noch nicht, so was kann man sich 
einstweilen nicht leisten !*' — Wie unausstehlich sicher im 
Ton! überhaupt ist die ganze Bedeweise Loths dazu an- 
getan, einen nerrös zu machen, so geschwollen und dabei 
trocken, selbstbewußt und jämmerlich ist sie. 

Man könnte nun mit Schlentheb die Episode: Loth als 
ein elementares Naturereignis ansehen, eine unwiderstehliche, 
rücksichtslos packende Macht, die in das Leben so manchen 
Mädchens verhängnisvoll zermalmend eingreift, ohne sich um 
das Weitere zu kümmern. (Man denke an Faust oder an 
Halbes „Jugend".) Aber dazu ist Loth eben zu wenig ele- 
mentar. Man könnte ihn auch für ein unbewußtes blindes 
Werkzeug des Schicksals ansehen, für den arglosen Wecker 
des Verhängnisses, den Stein, der das Verderben, das nur 
lauernd geduckt auf den Anstoß gewartet hat, nun ins Bollen 
bringt. So faßt ihn, wie die Anna Mahr, Bichabd M. Meyeb 
auf und man muß zugeben, daß diese Auffassung der Absicht 
des Dichters in Bücksicht auf Helene gerecht wird. Doch 
entspricht ihr kaum der erreichte Effekt. 

Dann aber ist hier zweierlei zu bedenken. Erstens, wenn 
einem solchen Werkzeug des Zufalls mehr Platz eingeräumt 
wird, als eben seinem episodischen Charakter zukommt, also 
etwa wie dem fremden Mann in „der Frau vom Meere", 
dann tritt es in die Bechte einer Person des Dramas ein, die, 
wie die anderen, das dramatische Schicksal an sich er- 
fahren muß. Hier ist dies unzweifelhaft der Fall und des- 
wegen muß Loth sein Schicksal erleiden. Geschieht es nicht, 
wie wir erwiesen haben, so ist diese Art der Behandlung 
durchaus undramatisch, ja nicht einmal den Anforderungen 



40 ly* Werke, 



der SchUderang entspricht sie. Sie kommt in der epischen 
Daxstellung nur ihrer niedersten Form^ der Skizze zu« 

Zweitens aber vermögen wir nicht mit Biohabd Meyeb 
an das Schicksalsreife bei Helene glauben, ebensowenig wie 
bei Johannes Yockerat in den „Einsamen Menschen'^ 
Helene macht anfangs den Eindruck einer schablonenhaften 
6 estalt y ersonnen zur Erzielung einer billigen theatralischen 
Eontrastfigur. Das blonde, reine Mädchen mitten in dem 
schmutzigen Moraste, das einzige keusche und edle Geschöpf 
unter den Scheusalen, wie ist das nicht alt und bekannt! Man 
merkt, auch sie hat anfänglich einen episodischen Charakter 
und eine chorusartige Funktion wie Loth: sie soll uns er- 
klären, mitteilen und also schauen helfen, dabei soll ihre lichte 
Erscheinung das schwarze noch schwärzer erscheinen lassen. 
Erst dann scheint sich der Dichter besonnen und, da sie gegen 
seine Absicht zu einer Hauptperson wurde, ihr das, was er bei 
Loth zu geben versäumt hat, gegeben zu haben. Helene 
erfährt das dramatische Schicksal an sich. 

Aber wie? Bis zum Erscheinen Loths befindet sie sich 
zwar in fortwährender Fehde mit den anderen, ist backfisch- 
mäßig verzweifelt, daß sie in diesen Verhältnissen „verbauern 
muß^S sonst aber scheint das Schmollen die einzige Reaktion 
auf das Unerträgliche in ihrer Lage zu sein. Nun kommt der 
Wecker. Sie faltet hinter seinem Rücken die Hände und betet: 
„0 geh nicht fort!'' Doch das ist mädchenhaft sentimentaL 
Die ganze Art, wie sie Feuer fängt, ist nicht angetan, uns an 
eine echte verzehrende Glut glauben zu machen. Wir ge- 
winnen nicht den Eindruck, daß sich die Trughofi&iung so stark 
in ihrer Seele eingegraben und festgewurzelt hat, daß sie mit 
ihr und an ihr zusammenbrechen müßte. 

So kann sie nur an dem Verzweiflungsvollen ihrer Lage 
selbst zugrunde gehen. Die verhängnisvollen Mächte, denen 
sie zum Opfer fallen soll, müßten sichtbar auf sie einstürmen, 
um die Katastrophe glaubhaft zu machen. Hoff mann be- 
treibt aber seine unlautere Bewerbung sehr zahm. Man hat 



IV. Werke. 41 



nicht das Geftihl^ als müßte Helene doch unfehlbar seine 
Beute werden, wie Loth zynisch vorwegnimmt Schließlich ist 
Hoff mann doch zu sehr von seinen Geschäften in Anspruch 
genommen. Wilhelm Kahl vollends, ihr Bräutigam, scheint 
sich fast gar nicht um sie zu kümmern. Übrigens, wenn 
Hoff mann, der unüberwindliche, weidlich bekannte schwarze 
Charakter, ihr noch gefährlich werden könnte, dem Wilhelm 
Kahl, dem unbeholfenen, dummen Tölpel, ist sie sicher in 
allem überlegen. Es sind auch nicht Yitalinteressen, die bei 
den anderen im Spiele wären und gegen Helene ankämpften. 
Eine Laune bei Hoffmann und bei Kahl wissen wir nicht 
einmal, ob er ihrer oder ihres Geldes so stark begehrte. 

Bebthold Litzmann, ein unbedingter Verehrer BLiupt- 
MANNs glaubt genug getan zu haben, wenn er feststellt, daß 
dieses reine impulsive Geschöpf, ohne eigenen inneren Halt, 
der letzten Illusionen und Ideale beraubt, zugrunde gehen 
muß. Es muß aber nochmals darauf hingewiesen werden, daß 
nach unserem Dafürhalten Hauptmann zwar diesen Eindruck 
erstrebte, ihn aber nicht erreichte. Wie in der Stickluft die 
wunderbare Blume der unwiderstehlichen Sehnsucht verhängnis- 
voll prächtig aufgeht, das wollte er zeigen, hat es aber nicht 
getan. Seine Verehrer nehmen, wie oft, das Erstreben für die 
Erfüllung. "Wir vermissen sie durchaus. So etwas muß her- 
ausgearbeitet werden, wie es der von Litzmann so arg ver- 
pönte Ibsen mit unvergleichlicher Meisterschaft versteht Dazu 
genügt eine peinlich genaue Schilderung vielleicht nicht mehr. 
Man muß die Vergangenheit in den Dialog unsichtbar hinein- 
spielen lassen, wenn es auch in der geheimnisvoll raunenden 
Art Ibsens sein müßte, und nicht nur die Vergangenheit, 
auch die Zukunft muß mit Zungen reden. Der dramatische 
Dialog ist eben verdichtend. Ein sentimentaler Ausruf: „0 geh 
nicht fort!" genügt nicht. Wie wenig merkt man von der 
schaudernden Angst, welche Helene vor der Verbindung mit 
Kahl haben mußte. 

Freilich wird uns einerseits sie geschildert, andererseits 



42 IV' Werke, 



er. Freilich der Gegensatz ist schroff genug, am alles eher 
gewärtig sein zu lassen, als diese Verbindung. Aber wir 
wiederholen, dies genügt nicht Die Überzeugung von der Un- 
möglichkeit einer solchen Verbindung tut es noch nicht. Wir 
müßten das kalte Grauen Helenens selbst im Nacken spüren, 
es müßte aus ihrem ganzen Tun und Sprechen^ aus ihrem 
ganzen Wesen uns anstarren, dann erst würden wir den Stoß 
mit dem Hirschfänger glauben. 

So tritt denn der Selbstmord Helenens völlig unmotiviert, 
jedenfalls vorzeitig ein, wohl nur deshalb, weil der Dichter das 
Drama schließen mußte, folglich nicht in der Lage war, ihr 
Zeit zu gönnen. Er gibt ihr also den Gnadenstoß, wiewohl 
sie zur Zeit noch wohlbehalten ist und ganz gut leben könnte« 
Das ist keine dramatische Konzentration, das ist so viel, wie 
den Dingen Gewalt antun. Da sieht man es nämlich klar, 
was es heißt Schilderung, statt Handlung, d. i. Wandlung zu 
geben. Die fänf Akte vergehen schnell, man muß schließen, 
ob die Dinge dazu reif sind oder nicht. Und kommt der Tod 
nicht notwendig nach innerem Zusammenbruch, tut nichts: 
man ruft ihn wie den dem ex machina herbei, man schlachtet 
das Opfer einfach ab. 

Es ist auch nicht, wie Litzmann wiederum behauptet, der 
einzig mögliche konsequente Ausgang. Der ganzen Art der Ge- 
staltung des Dramas und der Behandlung des Stoffes nach, näm- 
lich der Zustandsschilderung entsprechend, könnte das Drama 
zwar mit einer schrillen Dissonanz endigen, der Entdeckung des 
Abschiedsbriefes und dem trunkenen LaUen des alten Krause, 
aber dabei hätte es bleiben können. Wir würden höchstens 
den Eindruck davontragen, daß die trüben Voraussagungen des 
Doktor Schimmelpfennig eintreffen werden und das wäre auch 
ein tragisches Ende — wenn auch kein dramatisches. 

Die Autoren der „Familie Selicke" waren deswegen 
konsequentere Naturalisten, als sie durch den Tod des von der 
ganzen Familie geliebten Kindes keine plötzliche Wendung 
herbeiführten, sondern uns mit unserer Einsicht in die 



IV. Werke, 43 



„schleichende^ Tragik dieses Familienlebens entließen. Dies 
entspricht dem Postulat eines Augenblicksbildes, wenn auch 
öreilich nicht dem des Dramas. 

Daß Helene gewaltsam in die schleichende Tragik ihres 
Schicksals eingreift, ist eine Willkür des Dramatikers und wirkt 
als solche. 

Was die anderen Personen anbelangt, den Säufer Krause, 
seine ehebrecherische Frau, den ehrenwerten Industrieritter 
Hoff mann, den Tölpel Eahl und die nicht auftretende 
Alkoholikerin Frau Hoffmann, sie alle bleiben von den 
Geschehnissen des Dramas, wenn man sie so nennen darf, 
vollständig unberührt. Sie zeigen sich uns, wie Loth, 
in ihrer wenig anziehenden Art und verschwinden mit dem 
Schluß des fünften Aktes aus unseren Blicken, ohne uns das 
geringste Interesse eingeflößt zu haben. Wir wissen, sie werden 
ihr liebenswürdiges Treiben unbeirrt fortsetzen. Krause wird, 
„wie immer, als letzter das Wirtshaus verlassen*^, seine Frau 
wird keifen, protzen, Unzucht treiben und ehrbar tun, der 
gute Hoffmann seinen dunklen Geschäften nachgehen. 

Wo ist da das Zwingende, das Notwendige in ihrem Schick- 
sal, wo das Schicksal überhaupt? In einem Momentbild sehen 
wir sie vollständig fertig in ihrer ganzen Uninteressantheit. 
Und das, was sie sind, — geworden schon längst, ehe wir ihre 
Bekanntschaft machen — auch das ist reiner Zufall. Durch 
Zufall — die Entdeckung der Kohle unter ihren Feldern — 
sind sie Millionäre geworden: wenn dieser Zufall nun wenigstens 
notwendige Folgen nach sich ziehen würde. Auch das nicht. 
Plötzlich reich gewordene Bauern müssen doch nicht gerade 
in der Weise verkommen, wenn nicht schon vordem etwas 
in ihnen war, was sie auf diesen Weg notwendig 
brächte. Sie müssen nicht durchaus zu Säufern werden, wie 
der Dichter uns mit allen Zeichen des Entsetzens glauben 
machen möchte. Sie könnten zu knauserigen, geschäftsmäßigen 
Leuteschindern werden, oder umgekehrt zu Spielern, oder aber 
zu Parvenüs, die in der Stadt ihr Geld ausgeben. Fasziniert 



44 /^. Werke. 



von den schwarz in schwarz gemalten Bildern der ausländischen 
Naturalisten^ hat sich Hauptmann hier vollständig geirrt üher 
den Zusammenhang von Ursache und Folge. Er übersieht 
durchaus^ daß jene dargetan haben, was darzutun er ver- 
säumte^ nämlich die unabwendbare Notwendigkeit, das Unent- 
rinnbare in den von ihnen geschilderten Verhältnissen. 

Daß Hauptmann nicht prinzipiell von einer solchen 
Motivierung Abstand nahm^ etwa den Grundsätzen des Natura- 
lismus getreu — daß er sich im Gegenteil der Notwendigkeit 
einer Motivierung bewußt war, das zeigt er in seinen späteren 
Werken. Im „Friedensfest" sagt Robert Scholz das be- 
kannte ibsenisierende Wort: „Kein Wunder allerdings. Ein 
Mann von vierzig heiratet ein Mädchen von sechzehn und 
schleppt sie in diesen weltvergessenen Winkel. Ein Mann^ der 
als Arzt in türkischen Diensten gestanden und Japan bereist 
hat. Ein gebildeter unternehmender Geist. '^ Und dann weiter: 
,,Nun und danach ist es denn auch geworden: ein stehender, 
fauler^ gährender Sumpf, dem wir zu entstammen das zweifel- 
hafte Vergnügen haben." 

Ja in „Vor Sonnenaufgang" selbst versucht Hauptmann 
zu motivieren, aber merkwürdigerweise für die Zukunft. Der 
feigen Flucht Loths liegt ja der Ideengang zugrunde, daß 
der gemiedenen Verbindung nur degenerierte, dem AlkohoKs- 
mus unrettbar verfallene Sprossen entstammen können. 

Allerdings besteht seine Motivierung hier nur in Worten, 
nicht in Tatsachen. Wer aber viel erklärt, beweist desto 
weniger. „Qm* s'eoccuse s'acouse^^ ist das französische Wort dafür 
und wie treffend es mitunter sein kann, möge an einem Beispiel 
ersehen werden, das in dieser Hinsicht für das ganze Stück 
sozusagen symbolisch ist. Dr. Schimmelpfennig warnt Loth 
vor der Heirat und sagt unter anderem: „Du weißt zum Beispiel 
nicht, daß Hoffmann einen Sohn hatte, der mit drei Jahren 
bereits am Alkoholismus zugrunde ging'^ Liest man 
dies, so kommt einen das Gruseln an (ist auch wahrscheinlich 
darauf berechnet). Dann aber folgt die staunenswerte Erklärung, 



IV. Werke. 45 



die alles zunichte macht: ,,Nach der Essigflasche hatte das 
dumme Eerlchen gelangt, in der Meinung, sein geliebter Fusel 
sei darin. Die Flasche war herunter- und das Eind in die 
Scherben gefallen.^' Man denke: das Kind langt nach einer Essig- 
flasche — wonach langt denn ein Eind, auch ein kerngesundes, 
nicht? — es fällt in die Scherben und verblutet sich, es kommt 
durch einen Unfall, den reinsten Zufall, um und das nennt 
man am Alkoholismus zugrunde gehen! Wie sollte man es 
nennen, wenn das Eind nach einer Milchflasche oder nach 
einer brennenden Lampe gegriffen hätte? 

Es ist ja ganz nebensächlich, woran das gute Eind ge- 
storben war, aber die haarsträubende Verdrehung der Wahr- 
heit ist nicht gleichgültig, sie ist, wie gesagt, sinnbildlich für 
die ganze Motivierung. Denn nähmen wir sogar an, daß das 
Eind wirklich, nicht „symbolisch" am Alkoholismus zugrunde 
ginge, so würde es nur ein Beweis sein, daß die Mutter — eine 
Alkoholikerin, wie sie es ist — das Eind langsam vergiftete. 
Wie aber, wenn weder Vater noch Mutter Alkoholiker sind, 
wie es ja Loth und Helene in der Tat nicht sein sollen? 
Außerdem sieht man es dem Doktor Schimmelpfennig an, 
daß er mit innerem Unglauben spricht: „Ich kann Dir als Arzt 
noch sagen, daß Fälle bekannt sind, wo solche ererbte Übel 
unterdrückt werden und Du würdest ja Deinen Eindern eine 
rationelle Erziehung geben.'* Wie, sahen denn beide nicht, 
der Doktor und Loth, daß sie in Helene selbst, einen solchen 
zuweilen vorkommen sollenden „Fall" vor sich hatten? Wozu 
erst nach entlegenen Fällen suchen? Sie war ja nicht einmal 
so rationell erzogen worden, wie es Loth für seine Nach- 
kommen plant und ist doch heil geblieben. Aber den „Fall", 
der leibhaftig vor ihnen stand, sahen, scheint es, ebensowenig 
die beiden wie der Autor. 

So steht es um eine Motivierung, die an den Haaren 
herbeigezogen ist. Oder ist es z. B. wahrscheinlich, daß 
Hoff mann nach einer Erfahrung, wie er sie eben schon hat, 
gerade nach Witzdorf mit seiner die Niederkunft erwartenden 



46 IV. Werke. 



Frau kommt Man denke: ein Millionär, der sich manches 
gönnen kann und auch gönnte ein Mensch aus einer ganz 
anderen Welt, kommt ^^der größeren Ruhe und gesünderen 
Luft wegen" auf einen verlumpten Bauernhof, wo den ganzen 
Tag, selbst bei der Tafel, nichts denn gezankt und gekeift 
wird, wo er notwendigerweise täglich den unmöglichsten Szenen 
beiwohnen muß. 

Wozu hat es aber der Dichter nötig gehabt, dieser Art 
gegen alle Wahrscheinlichkeit zu verstoßen? Um die Einheit 
des Ortes zu wahren? (der realistische Dichter!) Um alle 
handelnden Personen beisammen zu haben? Aber Hoffmann 
könnte ja dort allein, ohne Frau weilen — geschäftshalber! 
Ja dann müßte der Dichter jedoch auf den spannenden 
naturalistisch effektvollen Hintergrund des fünften Aktes ver- 
zichten. Für die Flucht Loths vor Helene, für Helenens 
Tod fehlte dann die theatralische Staffage, die Eindergeburt 
in einem Nebenraume, das hastige Hin- und Herrennen der 
Leute, die bedeutungsvollen Worte: „totgeboren". Kann man 
das aber, „sich streng an die Wirklichkeit halten" nennen? 
Hatte da nicht jener boshafte Berliner Arzt recht, wenn er 
während der Uraufführung die Geburtszange schwang und seine 
Dienste anbot? 

Gewiß: dem Dichter steht das Recht zu, selbst das 
Krasseste auf die Bühne zu bringen, wenn er es für seinen 
dramatischen Zweck für nötig erachtet, wenn er Mut und 
Geschick dazu hat. Ja wenn! Aber Übermut ist nicht 
Mut und Geschick ist es gewiß nicht, wenn man etwas Über- 
flüssiges in ein Kunstwerk von so strengem Bau hineinbringt, 
wie das Drama. Und wozu ? Um den Sensationsgelüsten eines 
mit den primitivsten Effekten zufriedenzustellenden, rohen 
Publikums zu fröhnen, oder um seinen Trotz darzutun! Bichtig 
ist es, man muß einem blutjungen Dramatiker schon etwas 
zugute halten. Wir rechten auch nicht mit ihm, sondern mit 
der ganzen Methode, einer Methode der Schilderung und nur 
Schilderung, welche Bilder statt Handlung und Wandlung bringt. 



IV. Werke. 47 



und glaubt, genug getan zu haben , wenn sie recht krasse 
Bilder gibt 

und Schilderung ist alles in diesem Drama. Wenn man 
es recht besieht, possenhafte Schilderung. Das Grekeife 
der brutalen Frau Krause, das Protzen mit dem Champagner 
und den Austern während des ununterbrochenen Gezänkes bei 
Tische, die Morgendämmerungsszenen: der in Strümpfen von 
seinem Liebesabenteuer heimkehrende Kahl, der „als Letzter^' 
vom Wirtshaus heimkehrende lallende Krause. Das Kommen 
und Gehen des Gesindes im Hofe, das Treiben der Mägde, 
des mürrischen, mißtrauischen Bleibst, des Hopslabaers, 
das Lerchenschießen Kahls. Alles nur Augenblicksbilder. 
Man erinnert sich unwillkürlich an die alten derben Intermedien, 
die ja auch nur Augenblicksbilder waren und deren Verfasser 
sich übrigens noch weniger zierten als Hauptmann oder die 
anderen Naturalisten. 

Das Werk hat seinerzeit dennoch gewaltig gewirkt, ja 
wirkt noch heute stark genug, um für den ersten Blick seine 
Widersprüche, seine großen inneren Schäden, das ündramatische 
darin zu verdecken. Wenn dies ein Rätsel ist, so dürfte seine 
Lösung interessant genug sein, weil sie uns auf Ursachen bringt, 
die außerhalb des Dramas, außerhalb der Kunst überhaupt 
liegen. Es sind dies hier, wie uns scheint, Momente, die wir 
unter dem Gesamtnamen der Aktualität zusammenfassen 
möchten. Jede Zeit hat ihre besonderen Ideen und Vorurteile, 
Einsichten und Wahnvorstellungen, Ahnungen und Trugglauben, 
in deren Bann sie steht, an denen sie mit blinder Hingabe 
hängt. Zeitumstände, wissenschaftliche Errungenschaften und 
Umwälzungen, politische und soziale Verschiebungen, wohl auch 
der übermächtige Einfluß großer oder suggestiver Persönlich- 
keiten — dies alles tut sich zusammen, kreuzt sich in seinem 
Wirken, färbt gegenseitig ab und bildet jedes für sich und 
wiederum zusammen das Aktuelle. Dieses Aktuelle ist die 
besondere Domäne des Snobismus, der seine Herrschaft leider 
auch auf die Gebiete der Kunst erstreckt. Außerordentlich 



48 IV. Werke. 



ist die fa82dnierende Macht dieses Aktuellen, so daß sich ihr 
auch die stärksten Geister nicht immer zu entziehen vermögen. 
Dann aber geht die Kunst nach Brot und Beifall. 

Was nun in unserem Falle die Aktualität bildet^ ist nicht 
schwer zu erraten. Es sind dies die kleinbürgerlichen, sozia- 
listischen Weltverbessererideen, die bange Furcht vor der 
y^Macht der Finsternis'^ und dem Alkoholismus, die um die 
Wende der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts besonders 
in Schwang waren. Anschaulich schildert S. Lttblinski in 
seiner .^Bilanz der Moderne^' (S. llff.) das wunderliche 
Treiben all dieser Ideen. „Früher hatte die Freiheit eine 
mystische Erlösermacht ausgeübt und nunmehr trat das Wasser- 
trinken an seine Stelle.** „Wo es zufällig nicht der Alkohol 
machte, da machte es ganz gewiß der Tabak, und wenn man 
diesen zur Not gelten ließ, dann wurde die Fleischnahrung mit 
Flüchen belegt. . . Doktrinäre Beschränktheit und ein Schwelgen 
in Extase taten sich zu einem grotesken Bündnis zusammen. . . 
Eäne drollig großartige Symbolik überbrückte scheinbar den 
klaffenden Widerspruch und täuschte eine innere Einheit vor, 
die manchmal eine künstlerische Wirklichkeit wurde. Der 
Kreuzritter gegen den Alkohol konnte sich, wenn er Phantasie 
genug besaß, diesen seinen Feind im Symbol einer Großstadt- 
kneipe verkörpert denken. Diese Kneipe befand sich in einem 
verfallenen schmutzigen Gebäude, das riesenhaft empor- 
zuwachsen und sich in das Unendliche zu erweitern schien, 
bis es ganz und gar den Horizont erfüllte und bald die ganze 
Welt, so daß alles andere vor diesem monumentalen Ungeheuer 
versank. Man brauchte dann nur noch Säufertypen mit natur- 
getreuer Einzelschärfe herauszutreiben und etwas Sozialpsycho- 
logie des Säufertums hinzuzutun, und der Eindruck von 
Monumentalität, Extase und Weltuntergang war reichlich vor- 
handen, während die getreue und „wissenschaftliche** Sozial- 
untersuchung gleichfalls nicht fehlte. Der Kunstgriff bestand 
darin: man ließ die Welt vergessen, daß es in ihr noch andere 
Leute als Säufer gab..." 



IV. Werke. 49 



Nehmen wir nun statt der ins Riesenhafte wachsenden 
Großstadtkneipe das Haus Krause als stinkenden Herd der 
Trunksucht, Unzucht und Völlerei mit der merkwürdig nach- 
barlich gelegenen Stammschenke des alten Krause als Hinter- 
grund, so haben wir die eben geschilderte Symbolik. Und 
jetzt verstehen wir, wozu solch unheimlichen Worte, wie die- 
jenigen vom „Zugrundegehen am Alkoholismus*' im Alter von 
drei Jahren, wozu die anmutigen Episoden des von der Liebsten 
sich nach Hause schleichenden Kahl und des aus dem Wirts- 
haus wankenden Krause dienen. Wir sollen das Gruseln lernen. 
Diese anscheinend so realistischen Züge sind nichts als echt 
romantische, zolaistische Symbolik. Und darin liegt ihre starke 
Wirkung. 

Hiermit gelangten wir aber ganz abseits von den Zielen, 
die sich der Naturalismus gesteckt hat, in bezug auf Form 
sowohl, als auch auf den Inhalt. Der fanatische Realist, der 
Wirklichkeitsdarsteller wird durch willkürliches Herausgreifen 
einzelner Bilder, durch die grelle Beleuchtung, in die er sie 
rückt, ungewollt zu einem Apostel, aber auch zu einem 
Wirklichkeitsfälscher. Durch seine übertreibende Symbolik, 
sowie schon durch die Darstellung im Drama hat er das, ii^as 
höchstens als Einzelfall für wahr gelten könnte, zum Typischen 
erhoben und sich damit von der Wahrheit völlig entfernt 
Wie stark auch Ibsen seine Farben aufträgt, seiner Darstellung 
der norwegischen „Lokalverhältnisse" kann man das Typische 
glauben — derjenigen Hauptmanns nicht. 

Darin liegt Ironie des Schicksals. Den Wahrheitsfanatiker 
prellt sein eigenes Prinzip. 

Wir ziehen nun nochmals die Summe. Das Drama ist 
Zustandsschilderung. Episch in Anlage und Durchführung mit 
künstlich aufgesetztem dramatischen, auch theatralischem Auf- 
putz. Seine Wirkung liegt abseits des naturalistischen Form- 
programms, ja jeder gesunden Dramatik — sie quillt aus 
schnell veraltenden Momenten der Aktualität. 

Bttkowski, Gerbart Hauptmann. ^ 



50 iV' Werke. 



2. „Das Friedensfest". 



^,Das Friedensfest'' ist eine Katastrophe, wie sie auch 
der Dichter nennt. Wir kommen zum Schluß selbst. Was 
ihn herbeiflihrt, liegt, wie bei Ibsen^ in der Vergangenheit. 
Jedoch auch dieser Schluß ist, recht besehen^ kein solcher. 
Es ist im Grunde nur eine Schilderung der unerträglichen 
Verhältnisse in der Familie Scholz. Wenn wir, wie wir müssen, 
Dr. Scholz und seinen Sohn Wilhelm, der sich einst an ihm 
vergriffen hat, als die Hauptbeteiligten ansehen, so haben wir 
Folgendes: Dr. Scholz kommt nach einer jahrelangen Abwesen- 
heit zerrüttet, krank an Geist und Körper, zum Tode reif nach 
Hause und der kleinste Zwischenfall, eine Zankszene, wie sie 
in dieser Familie täglich vorkommt, gibt ihm auch den Tod. 
Das ist Lebensschluß, aber kein dramatischer Schicksalsschluß. 
Nun wird er, könnte man glauben, wie jener Stein wirken, 
von dem wir schon gesprochen, welcher das Verderben ins 
EoUen bringt. 

Dem ist nicht so. Wilhelm geht wie er gekommen 
ist, mit dem Vorsatz, an der Seite seiner Braut ein neues, 
schönes Leben zu beginnen, in der frohen, wenn schon weniger 
sicheren, so doch nicht zerstörten Zuversicht, die bösen Geister, 
die „Gespenster", die in ihm leben, bannen zu können. Bei 
den übrigen Personen, der Frau Scholz, die ohne ihren Mann 
doch auch früher lebte, und Robert und Auguste Scholz 
ist von einem Geschehen oder Getroffensein schon gar keine 
Rede. So haben wir denn wiederum Schilderung. Wie effektvoll 
sich auch die Familienkatastrophe ansieht, es ist nicht einmal 
eine rechte Katastrophe: die Familie bleibt wie sie war, ob 
auch ein seit langem verschollenes Mitglied derselben stirbt. 

Die Dichtung ist dennoch ergreifend, ja die Führung der 
Vorgänge bis zum entscheidenden Moment dramatisch. Die 
Vorgänge selbst können auch gut als typisch gelten, was 
Bartels mit Unrecht nicht zugeben wilL Mag auch die Moti- 
vierung des sonderbaren latenten Uberreizungszustandes aller 



IV. Werke. 51 



Familienmitglieder nicht restlos gelungen sein, wobei die Schuld, 
wie WoEBNEB richtig bemerkt, eher an zu Tielfacher, als an zu 
sparsamer Motivierung gelegen ist. Wir können und müssen 
der Darstellung dennoch Glauben schenken, denn das Leben 
in dem engen £reis der Familie ist eben an sich ein solches, 
daß unter gewissen Bedingungen — wie sie hier gegeben sind — 
gar leicht sich ein Zustand der Überreizung entwickelt. Bei 
etwas abnormer Gemütsverfassung also, wie sie hier voraus- 
gesetzt wird, führt er zu ununterbrochenen Reibungen, ja zu 
sich fortwährend ablösenden kleinen Katastrophen. Die äußeren 
Momente dazu sind gegeben. Wenn man auch von der erb- 
lichen Veranlagung mit ihrer bekannten Motivierung absieht, 
so ist das einsame Leben in einem geschlossenen, so beschaffenen 
Zirkel schon ausreichend, um das stetige Wachsen der ab- 
normen Reizbarkeit zu erklären. Reizbarkeit und Zanksucht 
sind eben durchaus ansteckend und nähren sich selbst am 
eigenen Zündstoff. Und gewiß liegt in einem solchen un- 
entrinnbaren Zustand eine Tragik, die wir wiederum „schleichend" 
nennen möchten. Sache des Dramatikers ist es, sie zur 
„explosiven" zu gestalten. 

Dies ist aber gegen das auf Zustandsschilderung angelegte 
Prinzip des Naturalismus. Holz und Schlaf bringen auch in 
der schon erwähnten „Familie Selicke*' eine solche 
schleichende Tragik des Unentrinnbaren zur Darstellung, ohne 
eine Explosion herbeizuführen. Sie waren, wie gesagt, kon- 
sequenter als Hauptmann. Die „Familie Selicke'* ist 
jedoch eben darum auf der Bühne wirkungslos. Hauptmann, 
der bessere Dramatiker, fühlte es, daß man im Drama nicht 
bei dem tragischen Zustande stehen bleiben darf. So ist er 
denn weitergegangen und machte aus der „Familie Scholz** 
eine Familienkatastrophe. Dem Banne seines Eunstprinzipes 
aber und den Grenzen seines Talentes konnte er doch nicht ent- 
rinnen. Was hätte ein echter Dramatiker nicht alles aus dieser 
Katastrophe gemacht I Der Tod des Doktor Scholz hätte 
das Verderben, das über den Leuten lauernd brütet und nur 



52 ^V. Werke. 



gewitterartig aufzuckt, jäh und schrecklich entfesseln sollen. 
All das Gefährliche, das in diesen ahnormen Naturen sich an- 
gesammelt hatte, das ja schon einmal bei Wilhelm unheil- 
kündend ausbrach — es müßte sich in einem verheerenden 
blinden Wüten entladen. Die trüben Ahnungen Roberts, der 
Frau Buchner und Wilhelms selbst müßten sich erfüllen, 
ja seine gefährliche Natur müßte sich nun wirklich gegen Ida 
kehren, wie es schon einmal geschehen wollte. Statt all dessen, 
was tut nun Hauptmann? Er führt die Leute bis an den 
ßand des Abgrundes, dann packt er sie, wie der Maschinengott, 
und führt sie sachte zurück. „Wilhelm will aufs neue aus- 
brechen, wird abermals durch Ida beschwichtigt, kämpft seinen 
Schmerz nieder, sucht und findet Idas Hand, die er krampf- 
haft in seiner drückt, und geht Hand in Hand mit dem 
Mädchen aufrecht und gefaßt auf das Nebengemach zu.*' 

So sieht der schlimmste aller dramatischen Rückzüge aus. 

Wir werden noch einmal einen ähnlichen im „Kollege 
Crampton" erleben. Wir stellen vorläufig fest: Das eine Mal 
führt Hauptmann den Untergang willkürlich herbei, nun dieser 
ein anderes Mal selbst naht, spielt der Verfasser ebenso will- 
kürlich den Retter. Die Hand aber, die beides tut, ist nicht 
die des geborenen und echten Dramatikers. 



3. „Einsame Menschen^s 

Richard M. Meyee zählt die „Einsamen Menschen" 
zu den Genietragödien — er sagt: „ein hervorragender Mensch 
geht an der Macht der Gewöhnlichkeit zugrunde. Dieser 
Typus ist die realistische Verjüngung der alten romantischen 
Künstlertragödien.*' „Es ist viel Selbsterlebtes in diesem Drama", 
fügt er dann weiter hinzu. 

Damit wäre die Art des Dramas genau bezeichnet, wenn 
R. M. Meyeb seinen Satz gefaßt hätte: „Ein hervorragender 



IV, Werke. 53 



Mensch soll an der Macht der Gewöhnlichkeit zugrunde 
gehen", nicht „geht zugrunde". Es ist für die Herrschaft des 
obenerwähnten ^^Aktuellen'' bezeichnend, sonst aber irreführend, 
daß man bei unseren modernen Autoren so allgemein geneigt 
ist, Gewolltes für Erfülltes zu honorieren. Beinahe überall 
geht der „arme Johannes^' unter dem Namen eines genialen 
„Empfindungsmenschen". Nur Adolf Baetels faßt ihn nüchtern 
richtig auf, wenn er ihn einen „Jammerlappen" nennt Hierauf 
kommen wir noch zurück. Aber der zweite Satz von Meyeb 
ist unbedingt richtig und für uns auch der wichtigere. „Es 
ist viel Selbsterlebtes in dem Drama." Auch darauf müssen 
wir in anderem Zusammenhang zurückkommen. Nun zum 
Inhalt. 

Der junge Gelehrte Vockerat wohnt in einer Villa am 
Müggelsee bei Berlin. Er hat eine liebenswürdige Frau 
„zart gebaut, bleich, brünett und sanft". Wir können noch 
hinzufügen sie ist gut, gemütsvoll und aufopferungsfreudig. 
Junge Gelehrte müssen aber auch „'n klein bissei Verständnis" 
bei ihrer Umgebung finden. Frau Käthe geht leider jedes 
Interesse ab für das wissenschaftliche Hauptwerk ihres Mannes, 
samt seinen zwölf Seiten Quellenangabe und seiner Kontroverse 
mit DüBOis Eeymond, Sie befaßt sich mehr mit ihrem Erst- 
geborenen, dessen Taufe soeben stattgefunden. Nun ist es klar, 
daß eine solche Frau für ein angehendes Genie „den modernen 
Empfindungsmenschen mit Nerven, zart wie Seide", nicht wohl 
paßt. Natürlich, wenn sie sich für die zwölf Seiten Quellen 
nicht interessiert! Der arme Johannes fühlt sich vereinsamt. 
Was hilft es, daß er von allen Seiten verhätschelt wird? Die 
übrige Umgebung reizt ihn nur noch mehr. 

Die Eltern mit ihren altväterlichen Ansichten, die seinem 
aufgeklärten, wissenschaftlichen Freigeist so fremd und zuwider 
sind. Ob die Sommersprossen auf Gesicht und Händen des 
alten Vockerat auch etwas dazu beitragen, wissen wir nicht 
Aber im Drama kommen sie vor. Der Naturalismus ist eben 
gründlich. Da ist noch ein Freund, der Maler Braun, wie 



54 IV. Werke. 



wir schon mitgeteilt haben, ^iineist unbefriedigt^ deshalb übel- 
gelaunt'^ Auch er reizt den zartbesaiteten Freund, er ist ihm 
doch zu grobkörnig. Sonst hat er, scheint es, die Aufgabe, 
Frau Käthe ein bischen in allen Ehren zu vertrösten und? 
was wichtiger ist, die Studentin Anna Mahr in den Kreis zu 
bringen. Dieser zweite einsame Geist nämlich kommt nach 
Friedrichshagen, um den alten Bekannten Braun zu be- 
suchen. Sie kommt zu ihm, findet aber Johannes. Mau 
wäre versucht zu sagen, schöne Seelen finden sich. Johannes 
ist brutal genug, Frau Käthe zu erklären, sie solle Anna zum 
Bleiben auffordern, „weil sie ja von so einem Wesen noch sehr 
viel lernen könne." Käthe wehrt sich schwach gegen die 
Bescherung, meint endlich, sie sei ganz dafür. Als sich aber 
Johannes entfernt „geht etwas in ihr vor, sie wird gleichsam 
welk und muß mit den Händen Stützpunkte suchen^^ Hiermit 
schließt der erste Akt. 

In den folgenden vier Akten wird der Eindringling von 
der Umgebung hinausbugsiert. Dagegen wehrt sich aber 
Johannes in seiner egoistischen Art. Ihm ist die Studentin 
nötig, jetzt hat er ja jemanden, dem er seine Manuskripte vor- 
lesen kann. Und auch sie ist zäh genug. Sie geht und 
geht, bleibt aber immer noch da. Einmal hat sie schon von 
der ganzen Familie Abschied genommen, als Johannes plötzlich 
erscheint und meldet: „Kinder, sie bleibt!" Das geschieht am 
Ende des dritten Aktes. Sie bleibt also noch ganze zwei Akte 
hindurch. Doch die Peripetien dieses Spieles sind zu ermüdend. 
Als sie endlich wirklich im Ernste abreist geht auch J ohannes 
weg — in den Müggelsee. Wie war es denn anders möglich? 
Wenn die Studentin fort ist, was hilft da Dubois-Reymond? 
Grau ist jede Theorie, grün nur des Lebens goldener Baum! 
Der Herr Gelehrte, der Einsame, war, scheint es, einfach ein 
verliebter Narr. 

Dieser Schluß ist nun wirklich eine Katastrophe. Aber 
hier hat nun Hauptmann wieder einmal, wie bei Helene in 
„Vor Sonnenaufgang", den Würgengel gespielt. Der Selbst- 



IV, Werke, 55 



mord ist nicht im mindesten gerechtfertigt. Wir mögen nicht 
einsehen, wie einem Mann der Wissenschaft ein zugewandertes^ 
eigentlich durch nichts hervorragendes Mädchen — auch wenn 
er vor ihm ,,seine gelehrten Sachen auskramen kann'^ — eine 
solch unumgängliche Stütze werden könne, daß er ohne sie 
zusammenbrechen müßte. 

Auch ist es wenig glaubwürdig, ja völlig unwahr, daß 
Johannes Vockerat — selbst wenn man seine ganz ab- 
norme Charakterschwäche als gegeben voraussetzt — sich an 
dem Konflikt mit seiner Umgebung verblutet, weil diese ihm 
kein Verständnis entgegenbringt Sehen wir uns diesen Kon- 
flikt näher an, nicht, wie er sich wohl dem Verfasser darstellen 
mochte, und seinem Gefolge noch darstellt — sondern wie er 
vor dem unbefangenen Auge besteht. Zugegeben, daß Käthe 
„ein herzlich unbedeutendes Weib" sei, was aus der Dichtung 
keineswegs so klar hervorgeht. Dies zugegeben, muß dennoch 
behauptet werden, daß hier noch immer ein Denkfehler mit- 
läuft, der an der gewaltsam tendenziösen Konstruktion gelegen 
ist Denn ein unbedeutendes Weib kann und ist es wohl oft, 
muß aber nicht das Verderben des bedeutenderen Mannes 
bilden, besonders eines Mannes der Wissenschaft Käthe 
scheint, wie gesagt, eher bedeutender zu sein als Johannes, 
nicht aber so viel weniger bedeutend. Wollte man aber auch 
durchaus das Zweite annehmen, so ist dennoch zu bedenken, 
daß ihre Geistesarmut nicht aggressiv dargestellt ist Haupt- 
mann schwebte wohl die Vorstellung von jenen kleinlich 
nörgelnden Frauenzimmern vor, die ihren Mann mit Vorwürfen 
zu Tode sticheln, so lange dieser noch nicht den gewünschten 
materiellen oder moralischen Erfolg errungen hat. Bei Käthe 
ist nichts davon zu sehen. In der parodistisch gehaltenen 
fiechenszene, wo sie ihn um Entscheidung einer dringenden 
Geschäftsangelegenheit bittet, erscheint sie sicher in besserem 
Lichte als er, der in ein weinerliches Jammern ausbricht, weil 
sie mit ihren Geschäftsfragen „eine ganz mühselig zusammen- 
gehaspelte Gedankenkette durchreißt'^ 



56 IV, Werke, 



Daß sie sich mit ihm nicht über seine gelehrten Sachen 
unterhält, ist mehr als natürlich. Hier sehen wir aber jene 
unreifen Schrullen, denen wir bei Loth begegnet sind, in 
anderer Form wieder erscheinen. Es sind dies Ideen „von 
gemeinsamer Arbeit, von gegenseitigem Fördern" von Mann 
und Frau u. dgl. Dergleichen ist zwar sehr schön, keineswegs 
jedoch so unentbehrlich, daß man im entgegengesetzten Fall 
den Müggelsee aufsuchen müßte. 

Auch die sonstige Umgebung ist weder aggressiv, noch 
eigentlich störend. Mutter Vockerat, abgesehen davon, daß 
sie sich nur zeitweise in der Villa zu Friedrichshagen auf- 
hielt, ist eine herzensgute Frau, und wenn sie auch seltsame 
Weltanschauungen zum besten gibt, auch das kann einen ver- 
nünftigen Mann wohl nicht in den Müggelsee treiben, besonders 
wenn es die Mutter ist, die ihn damit ganz unschuldig auf- 
wartet. 

Völlig mißlungen aber, ja geradezu dilettantisch ist das 
Bemühen, den Konflikt in die Sphäre des Zeitnotwendigen zu 
erheben, die handelnden Personen in den Kampf zweier Welt- 
anschauungen, der christlich-gläubigen und der darwinistischen, 
hineinzustellen. Denn von einem Bekämpfen seitens seiner 
Gegner, der Mutter und des Vaters, des Rittergutspächters 
mit den Sommersprossen oder des Pastors ist in Wirklichkeit 
nichts zu verspüren. Daß sie mit ihren gutgemeinten, gut- 
mütig harmlosen Abmahnungen immer bei der Hand sind, das 
ist noch kein Kampf und sollte einen Gelehrten, der einen 
DuBOis Reymond angreift, gar wenig beschweren. 

Bleiben also noch als letzte Möglichkeiten die Liebe oder 
die eigene Haltlosigkeit. Etwas Ahnliches mußte auch dem 
Autor vorgeschwebt haben. Die Idee vom „unverstandenen 
Genie", vom „Einsamen", trübte aber die Konzeption des Kon- 
fliktes soweit, daß weder die unglückliche Liebe zu einer derart 
verhängnisvollen Macht, noch auch die innere Haltlosigkeit 
schicksalsreif genug herausgearbeitet wurde. 

Das Merkwürdigste dabei ist, daß, wie auch aus der mehr- 



IV. Werke. 57 



maligen Wiederaufnahme des Problems („Friedensfest*^ 
j, Versunkene Glocke") hervorzugehen scheint, hier wohl eine 
Lebenserfahrung mitspielt Auch das Motiv des unheilvollen 
Eingreifens einer Erscheinung aus einer fremden, freieren 
Welt in das Schicksal der in irgendeiner „Stickluft" dahin- 
vegetierenden, wiederholt sich dreimal (Loth, Anna Mahr 
und Bautendelein]. Wohl ebenfalls so etwas wie Lebens- 
erfahrung, 

Desto schlimmer für das Drama. Wir sehen richtige 
Einzelbeobachtung, Lebenserfahrung in einer auf Schilderung 
des Zuständlichen angelegten Wiedergabe gewaltsam zu einem 
dramatischen Konflikt zugespitzt. Bezeichnend dafür ist die 
Widmung: „Ich lege dies Drama in die Hände derjenigen, die 
es gelebt haben", also wohl noch alle wohlbehalten leben 
können, wie es ja auch nach dem Drama die Mahr tut Nur 
der arme Johannes muß sterben, weil es der Dramatiker 
befiehlt 

Ob sich aber doch nicht im Leben ähnliche Konflikte zu 
tragischen gestalten können? Sicher, daß Keime des Tragischen 
darin sind. Sie wurden aber nicht zur Entfaltung gebracht, 
weil man in der Zustandsschilderung befangen war und das 
Dramatische nur als äußeren Aufputz verwendete. 

4. „Kollege Crampton^'. 



,, Kollege Crampton" ist eine Komödie. Es ist inter- 
essant den Werdeursachen und dem Werdegang dieser Komödie 
nachzugehen. Harry Crampton ist Professor an der Kunst- 
akademie in „einer größeren schlesischen Stadt" (wir wissen, 
Hauptmann studierte an einer solchen in Breslau). Er ist ein 
Trinker und wir sehen, wie sich vor dem in seiner Verkommen- 
heit naiv größenwahnsinnigen, leichtsinnig ahnungslosen Manne 
sachte der Boden zu einem gähnenden Abgrund des Verderbens 
auflut. Die unregelmäßige Lebensweise^ die er führt, hat ihn 



58 IV' Werke. 



mit seiner Frau in Zerwürfnis gebracht Er schläft in seinem 
Atelier an der Akademie, in der seine Tage gezählt sind. In 
dem Optimismus des Schwächlings und Trinkers erhofit er 
von einer Visitation der Akademie seitens des Herzogs, seines 
einstigen Förderers, eine Wendung in seiner Stellung. Aber 
den Herzog bekommt er nicht einmal zu sehen. Nun bricht 
das Truggebäude der leeren Hoffnungen über ihm zusammen. 
Seine Tochter Gertrud, ein ideales, liebenswürdiges Persön- 
chen, wie es oft in den Komödien vorkommt, bringt die doppelte 
Trauerbotschaft, daß er entlassen wird und daß seine Frau 
zu ihrer reichen Familie abgereist ist. Nun steht er allein 
und hilflos da. Aber zum Glück haben wir noch Max 
Strähler, seinen ehemaligen Schüler, einen Verehrer seiner 
Tochter. Crampton verliert nicht die Haltung, er stellt die 
Tochter in den Schutz der Familie Strähl er, gebietet ihr, 
der Mutter nachzureisen und zieht sich zurück. Während uns 
der dritte Akt in die „mit individuellem Geschmack" ein- 
gerichtete Wohnung der Brüder Strähler führt, wo Fräulein 
Gertrud ihre Zuflucht genommen, zeigt uns der vierte 
Crampton in einer Vorstadtkneipe in seiner ganzen Ver- 
kommenheit. Da der Wirt, bei dem er verschuldet ist, auf 
die reiche Familie rechnet und fortfahrt zu kreditieren^ so 
wird getrunken, geraucht, Karten gespielt, renommiert und es 
werden Luftschlösser gebaut. Mittlerweile findet Max Strähler 
mit Hilfe des Faktotums Cramptons sein buen retiro — 
richtet im Geheimen aus wiedereingekauften Einrichtungs- 
stücken des früheren ein neues Atelier ein, worin Crampton 
von dem sich jetzt glücklich verlobenden Paar Max und 
Gertrud eingeführt wird. Crampton schwelgt in Rührung, 
freudiger Hoffnung und großartigen Plänen. „Jetzt müssen 
wir schuften, Max, wie zwei Kulis. Max, heißt der Dummkopf, 
nun sagen Sie, Löff 1er. So'n dummer Kerl, so'n dummer Kerl." 

Wenn wir nur nicht wüßten, daß mit guten Vorsätzen 
die Hölle gepflastert ist! 

über die Fabel ist nicht nötig viel Worte zu verlieren. 



IV. Werke, 59 



Sie ist lustspielartig und als solche banal und bedeutungslos. 
Sieht man ihr ernst ins Gesicht, dann zeigt sie sich unwahr^ 
weil sie eine Wendung in Aussicht stellt, die nicht in der 
Kichtungslinie des uns gegebenen Entwicklungs- oder eigent- 
lich Verfallsprozesses sich bewegt. Es ist also klar, daß sich 
dieser Fabel wegen nicht lohnen würde, eine Fabel zu er- 
sinnen. „Kollege Crampton" sollte ein Charaktergemälde 
werden. Das Bild einer talentvollen, halbgenialen Künstler- 
natur, die bestimmt zu sein scheint, an ihrer Halbheit und 
Willensschwäche, insbesondere an der wohl aus ihnen geborenen 
Trunksucht zugrunde zu gehen. So sagte sich der naturalisti- 
sche Zustandsschilderer, der die Züge Cramptons mit der 
schärfsten Erfassung und größten Treue wiedergab, wohl auch 
nicht ermangelte, durch die Namengebung auf eine wirklich 
beobachtete Persönlichkeit hinzudeuten. Hierbei bleibt die 
Frage offen, ist aber weiter nicht von Belang, ob. es reiner Zu- 
fall ist, daß die naturalistische Meister- und Mustemovelle, der 
uns schon bekannte „Papa Hamlet" denselben Vorwurf be- 
handelt. Meister Thienwiebel ist ein genialer Schauspieler, 
der vor unseren Augen von Stufe zu Stufe der Verkommen- 
heit sinkend endlich auf der Gasse endet. Während aber 
die „konsequenten Realisten*' Holz und Schlaf zwar mit 
feinstem und bitterstem Humor, aber auch mit rücksichts- 
losester Wahrheit das Bild des tragischen Niederganges vor 
unseren Augen entrollten, hat hier der Dramatiker Hauptmann 
bei dem Zustandsschilderer ein Veto eingelegt. Der Dramatiker 
sagte: das wäre wohl tragisch, aber nicht dramatisch, deshalb 
nicht wirksam. Das Bühnenschicksal der „Familie Selicke" 
ist ein zu abschreckendes Beispiel. Und da die Persönlichkeit 
Cramptons, wie die des Thienwiebel, bei aller Tragik ihre» 
Vorkommens an sich ziemlich unbedeutend und in dem äußeren 
Auftreten, sowie in den Situationen, in welche sie sich brachte, 
mehr komisch als tragisch erschien, so entschied sich Hauptmann 
kurz und dichtete (nach Bjöbnson) eine lustspielartige Bettung 
hinzu. 



60 iV' Werke. 



Nun rettet er also schon zam zweitenmal willkürlich eine 
dem Untergang geweihte Person, so wie er in zwei anderen 
Fällen willkürlich Totschlag übte. 

Man möchte sagen ein asiatischer Despot. Kerngesunden 
Mädchen, wie Helene, unschuldigen Narren, oder sagen wir 
eingebildeten „Empfindungsmenschen'^, wie Johannes, schickt 
er die seidene Schärpe. Wilhelm Scholz aber mit seinen 
wirklich gefährlichen Nerven und Crampton, den an Trunk- 
sucht verkommenen, entläßt er in Gnade. 

Warum ist nun hier wiederum der glückUche Schüler 
hinter den Meistern Holz und Schlaf in der Konsequenz und 
Wahrheit zurückgeblieben? Der Dramatiker ist daran schuld. 
„Papa Hamlet" ist eine Novelle. In einer solchen kann man 
sich erlauben „schleichende" Tragik zu gestalten. „Kollege 
Crampton" ist ein Bühnenstück. Wohl wäre es tiefer und 
unendlich lebenswahrer, wenn es mit einem Ausblick auf un- 
rettbares Sinken schließen möchte. Aber das wäre nicht 
dramatisch weil ohne dramatischen Schluß, vor allem aber nicht 
theatralisch, weil ohne irgendeinen Effekt. Den Mut dazu 
hatte Hauptmann nicht. Er scheiterte, weil er aus einem 
Porträt ein Drama machen wollte. 



5. „Der Biberpelz" und „Der Rote Hahn". 

„Der Biberpelz" hat den Untertitel „Diebeskomödie^^ 
Auf die Sucht Hauptmanns, effektvolle Untertitel zu ersinnen, 
hat schon Bartels aufmerksam gemacht. Ein ziemlich un- 
schuldiges Vergnügen. Hier soll der Titel noch die Grundidee 
des Stückes andeuten. Wie skruppellose von naiver Lebens- 
weisheit geleitete Spitzbüberei sich im Leben so oft prächtig 
bewährt, das wird uns in einer Reihe lose und in jeder Hinsicht 
ungezwungen aneinandergereihten Szenen dargestellt. 

Frau Wolff, Gattin eines Spreezimmermanns „irgendwo 



IV. Werke, 61 



um Berlin^', ihres Zeichens Waschfrau, hegt keinerlei Bedenken, 
wenn es gilt, keck zuzugreifen, wo immer sich die Gelegenheit 
dazu darbietet. Ihre Tochter, die bei Rentier Krüger in 
Dienst ist, meldet ihr in vorgerückter Abendstunde, daß sie 
ihren Dienst verlassen hat, weil sie nach halb zehn Abends noch 
zwei Meter Holz in den Stall schaflFen sollte. Frau Wolff 
weist sie streng mütterlich zurecht, verteidigt sie aber gleich 
darauf gegen den Mann und faßt den Plan, fürs erste die 
zwei Meter Holz in die eigene Behausung zu schaffen. Daß 
sie sich von dem Amtsdiener, der mit einem Auftrag vom 
Amtsvorsteher gekommen ist, beim Zurechtmachen des Schlittens 
helfen läßt — weist darauf hin, daß sie alles mit Humor be- 
trachtet. An demselben Abend wird ihr noch vom Schiffer 
Wulkow das Geld für einen gewilderten Rehbock und den zu 
stehlenden Biberpelz zugezählt. Nichtsdestoweniger verabreicht 
sie der jüngeren Tochter für eine vorlaute Bemerkung eine 
Ohrfeige und sagt: „Wir sind keene Diebe nicht" — dann ruft 
sie ihr noch zu: „Lerne Du mir ja Deine Bibelspriche. Ich 
komme nachher und iberheere Dich." Wir sehen, es steckt 
naives, selbstsicheres Gaunertum in ihr. Es ist ihr auch ein 
leichtes, nicht nur den beschränkten Amtsvorsteher von Wehr- 
hahn, sondern all die Männer herum an der Nase zu führen. 
Sie wird von allen, auch vom Beschädigten als die biederste 
Haut gehalten und nützt diesen Vorteil mit überlegenem Humor 
aus. Vor ihr schüttet der aristokratische Amtsvorsteher sein 
Herz aus, sowie der demokratische Krüger und der politisch 
bei Wehrhahn verdächtige Privatgelehrte Dr. Fleischer. 
Sie hält die E'äden der Untersuchung in der Hand, die der 
grenzenlos ungeschickte Amtsvorsteher nicht zu handhaben 
weiß. So endigt auch das Stück damit, daß von Wehrhahn 
sie versichert, „so wahr sie eine ehrliche Haut sei, so wahr 
sei Dr. Fleischer ein gefährlicher Kerl". 

Wehrhahn ist eben nicht nur stockdumm und ein- 
gebildet, er hat im Grunde mit den anderen dies gemein, daß 
er nicht auf dem festen Boden der Wirklichkeit steht, sondern 



62 iV' Werke. 



Wolken und Schatten nachjagt Wie er nur nach politisch 
Verdachtigen fahndet, so sind auch sie in ihrem Ingrimm gegen 
die Behörde' derart verblendet, daß sie die breit vor ihnen auf- 
gepflanzte Diebin nicht sehen. Deshalb war es vielleicht nicht 
einmal notwendig, aus Wehrhahn einen solchen Narren zu 
machen. Künstlerisch ist dies sogar ein Fehler, denn es ver- 
dunkelt die Grundidee des Stückes. Man vergißt, daß die 
Wolffen nicht nur ihm gegenüber als Siegerin erscheint. 
Nicht umsonst sagt der Schiffer Wulkow, der Abnehmer ihrer 
gestohlenen Sachen, frech in ihrer aller Gegenwart, er besitze 
iiuch einen Biberpelz. Keinem der Anwesenden kommt es in 
den Sinn, daß es eben der gestohlene Pelz ist Auch der 
anderen Wolkenjägerei wird damit gekennzeichnet 

Die Einzelheiten dieser meisterlichen Prellerei sind mit 
prächtigem Humor gegeben, die Situationen oft von verblüffender 
Komik, die Schilderung bietet eine Fülle feinster Lebens- 
beobachtung dar und atmet behagliche Ironie. Dennoch bleibt 
sieZustandsschilderung, an der Oberfläche der Lebensverhältnisse 
haftend. 

„Der Rote Hahn'^ ist nicht nur, was die Personen 
anlangt, eine Fortsetzung des „Biberpelzes^^ ^^^ch. ideell ist 
das Stück ein Fortspinnen desselben Motivs. Im „Boten 
Hahn" ist es etwas variiert und zugleich vertieft Hier sehen 
wir die Leute ringsum die Lunte riechen. Es weiß mehr 
oder weniger ein jeder im Orte, mit Ausnahme des Herrn 
von Wehrhahn natürlich, daß die Wolffen ihr Haus selbst 
angezündet hat, um die Versicherungssumme einzustreichen. 
Man läßt aber die Leute gewähren, ja schützt sie sogar ge- 
legentlich vor dem Argwohn der Behörde. Es ist die Moral 
der Leutchen: „Leben und leben lassen!*^ Ein bischen plagen, 
ja — aber stören nimmer, das verdirbt den Spaß. Und Spaß 
hat eben der kleine Mann, wenn die Behörde geprellt wird. 

Jedoch weiter kompliziert wird noch das Motiv dadurch, 
daß ein Opfer da ist. Der blödsinnige Junge des Gendarmerie- 
wachtmeisters und wohl auch er selbst fallen der Spekulation von 



IV. Werke, 63 



Frau Wolff zum Opfer. Der Knabe wird der Tat bezichtigt 
und da er unzurechnungsfähig ist, in eine Anstalt gebracht. 
So was also wie ein Kampf ums Leben. Ohne Opfer geht es 
nicht ab. Dem Motiv wird jedoch die Spitze abgebrochen. 
Mutter Wolffen stellt dem Wachtmeister gutmütig vor, der 
Junge verliere ja im Grunde nichts dabei. In der Anstalt 
habe er gute Kost, was wolle man von ihr, auch sie sei nicht 
glücklich, sie sei krank, herzkrank, sie werde es nicht erleben, 
sich der Früchte ihrer Saat zu erfreuen. Ihr Tod erfolgt auch 
gerade, als sie schon am Ziele ihrer im Grunde recht be- 
scheidenen Wünsche ist. Dies ist fast wie eine tragische Idee. 
Sie bleibt aber nur Nebenmotiv und deswegen wirkt der Tod, 
so vorbereitet sonst sein Eintritt ist, doch wie etwas unmotiviertes. 
In die lustspielartige Anlage des Stückes paßt eben dieser 
Ausgang nicht hinein, so wenig wie die fröhliche Rettung des 
Crampton in die tragische Grundidee jen^s Stückes hineinpaßt. 

Auch im „Eoten Hahn" ist die Szenenführung willkürlich, 
das Band, das die Szenen zusammenhält, lose und locker. 
Es ist eben wieder in ihrer Grundanlage reine Zustand- 
schilderung. 

In ihrer nicht auf das Eindringen in die Tiefen des Lebens 
^henden Tendenz ist sie uns willkommen so, wie sie ist. Die 
kleinen Gebrechen stören weiter nicht. Das Talent Hauptmanns 
für äußere Charakterisierung feiert hier seine verdienten Triumphe. 
Das Gemälde ist köstlich, im Detail wahr und von einer 
heiteren Poesie des Humors umweht. Dabei ist alles durch- 
wärmt von dem Hauptmann eigentümlichen Mitgefühl mit dem 
kleinen Mann, dem innigen, durch Liebe eingegebenen Ver- 
ständnis für seine Schwächen und seine Lebensphilosophie. 
Eine Reihe wohlgeratener lebendiger Gestalten zieht an uns 
vorüber, die merkwürdigerweise fast alle von demselben Geist 
beseelt sind, von dem Geist der Auflehnung gegen die Gewalt 
der regierenden Mächte. Sie alle, ob sie devot der Behörde 
zu dienen vorgeben und glauben; ob sie mit ihrer Hilfe empor- 
zukommen hoffen, oder höhnisch und schadenfroh ihre Hand- 



64 IV, Werke, 



lusgen und ihre Ohnmacht manchen Fällen gegenüber bekritteln — 
scheinen dasselbe zu sagen: „Ja, werden wir schon regiert, so 
Solls niemandem zu leicht ankommen, wie auch uns das Leben 
nicht leicht ankommt.'^ Dies ist die Philosophie des Kleinen. 
Liebevoll hat sich ihr Hauptmann zugewendet und beredten 
Ausdruck verleiht er ihr durch den Mund der Mutter Wolffen. 
So ist denn das Lob, das Babtels dem „Biberpelz^' spendet, 
vollauf verdient. Die naturalistische Technik steht hier auf 
Höhe ihrer Aufgabe. Sie soll ein Bild, einen Lebensausschnitt 
geben und gibt ihn. 

Freüich, wie weit sind wir hier vom Drama entfernt, da 
wir fast glücklich bei der Lokalposse, bei den alten Intermedien 
angelangt sind. 



6. „Michael Eramer^s „Fuhrmann Henschel'' 

und Anderes. 

Wir erachten es nicht für nötig, in der eingehenden 
Analyse der einzelnen Werke fortzufahren. Ist doch ihre 
Kritik nicht Selbstzweck. Beispiele sind genug gegeben worden, 
und passen dürfte das darüber Gesagte auf die übrigen Stücke, 
insoweit sie naturalistisch angelegt sind. Scheint es in diesem 
oder jenem Fall anders zu sein, so können besondere Umstände 
obwalten, die zu erörtern hier kein Anlaß ist. Es ist auch 
zum Nachweis der Unzulänglichkeit einer Kunsttheorie nicht 
durchaus notwendig, daß alle nach ihr geschaffenen Werke 
verfehlt seien. Wie wäre es den möglich, alle die im Werde- 
prozeß eines Werkes mitspielenden Kräfte und Momente heraus- 
zubringen, sie klar voneinander zu scheiden, und ihr gegen- 
seitiges Verhältnis zu bestimmen. Nicht nur die Persönlichkeit 
des Schaffenden, auch die momentanen Einwirkungen, die 
augenblicklichen Stimmungen, Neigungen und vage, vorüber- 
gehende, nicht einmal immer bewußt gewordene Einsichten und 
Überzeugungen, vor allem aber der nach Gestaltung verlangende 



IV. Werke. 65 



Gehalt des Werkes selbst — dies alles sind seine Werde- 
ursachen, deren größter Teil überhaupt im Dunkel bleibt. Das, 
was wir von ihnen ans Licht bringen, kann nur das Gröbste 
sein. Freilich mehr haben wir auch nicht nötig. Zweitens 
aber, was eigentlich nur eine andere Fassung des ersten ist, 
wird ein Werk kaum je nach einem einzigen Kunstprinzip, 
nach Eunstprinzipien überhaupt geschaffen. Es kreuzen und 
bekämpfen sich in einem jeden die mannigfachsten, oft ent- 
gegengesetztesten, falls sie zum Bewußtsein gelangen, was selten 
geschieht, denn das Schaffen ist das Erste. 

Da zum Überfluß noch vieles bei Gelegenheit der zusammen- 
fassenden Analyse zur Erörterung gelangt, so können wir hier 
nur noch den „Webern" und dem „Florian Geyer" breiteren 
Eaum gestatten. Über das sonstige möge Folgendes genügen. 

„Michael Kramer" ist verfehlt in seiner ganzen Anlage. 
Der Selbstmord des jungen Kramers ist ebensowenig motiviert, 
wie so viele Selbstmorde bei Hauptmann. Im „Fuhrmann 
Henschel"und in der „RoseBerndt" haben wir eine ziemlich 
leidliche Motivierung. Nun ist aber Henschel ein Mensch, 
der an gebrochenem Willen zugrunde geht, was dramatisch 
zulässig ist, und sogar tragisch sein kann, jedenfalls aber für 
Hauptmanns Talent charakteristisch ist. 

„Rose Berndt" steht als tapferes Mädchen da und geht 
zugrunde an der sonderbaren, schicksalsmächtigen Yerquickung 
der Umstände, förmlich zu Tode gehetzt durch diejenigen, die 
sie im Grunde lieben, vorwiegend den Vater. Aber „Rose 
Berndt" steht doch zu sehr im Schatten von Hebbels „Maria 
Magdalena^S als daß man ein besonderes Verdienst Haupt- 
manns erblicken könnte im Schaffen und Lösen des Konfliktes. 
Die Analogien sind so groß, daß sie fast zur Wiederholung 
werden. Hier wie dort die Gebundenheit der Verhältnisse: 
der ländlichen hier, der kleinbürgerlichen dort. Hier wie dort 
ist es der starre Sinn des Vaters, welcher nicht imstande wäre, 
ein Haar breit von dem überlieferten abzutreten, der im letzten 
Gruiide das arme Opfer ins Verderben jagt. Hier wie dort 

Bytkowski, Gerhart Hauptmann. 5 



66 ^V- Werke. 



im Gegensatz hierzu die verständnisvolle^ aber zu spät kommende 
Nachsicht der Liebenden. Natürlich sind die Einzelheiten 
abweichend. Wir wollen auch nicht das Geringste gegen das 
Recht Hauptmanns, im Schatten des Größeren zu wandeln, 
vorbringen. Wir wollen nur, ohne in die Kritik des Stückes 
einzugehen^ feststellen^ daß der Konflikt und die Katastrophe 
nicht Hauptmanns Eigentum sind und das Stück folglich für 
unsere Frage nicht von Belang ist. 

„Hannele^^ ist nur zum Teil naturalistisch^ darin eben 
ist es reine Schilderung, aber auch was Hanneles Schicksal 
selbst betrifft , ist wenig vom Dramatischen zu verspüren. Wir 
kommen^ wie im „Friedensfest", zum Schluß. Die Fieber- 
phantasien des sterbenden Mädchens haben zwar einen drama- 
tischen Aufbau, sind aber eben nur Phantasien. Es ist der 
letzte Akt, den wir vor uns haben, eine dramatisierte Novelle 
oder, wie sie Hauptmann nennt, Traumdichtung. 

Noch weiter abseits von unserer Betrachtung stehen die 
beiden Versdramen: „Die versunkene Glocke" und „Der 
arme Heinrich". Wohl können sie uns aber dennoch inter- 
essantes Material zum Vergleich liefern. „Die versunkene 
Glocke" ist innerlich erlebter Konflikt. Der Meister Heinrich 
eine aus innerer, nicht wie sonst, äußerer Erfahrung, heraus 
geschaffene Gestalt. Da dieses Drama nicht naturalistisch ist, 
so könnte man versucht sein, daraus a contrario lehrreiche 
Folgerungen zu ziehen. Für solche Folgerungen ist aber das 
Drama doch zu unbedeutend, zu wenig originell. Zu schwankend 
ist die Gestaltung des Problems, man weiß nicht recht, ist es 
die Tragödie des Einsamen, Unverstandenen oder die Tragödie 
des Unvermögenden. Dazu kommt wieder das leidige Sich- 
stützenmüssen. 

Auch „Der arme Heinrich" ist zu wenig originell, leidet 
an epischer Breite, ist überhaupt mehr poetische Erzählung 
als Drama und gehört jedenfalls nicht in den Rahmen unserer 
Betrachtung. So könnten die beiden Dichtungen höchstens ein 
Zeugnis dafür sein, daß Hauptmanns Talent bei nicht- 



IV. Werke. Q 



rr 



naturalistischer Konzeption des Stoffes zu versagen scheint. 
Er sinkt da zu einem vollständigen Epignonen herunter. Er 
muß, wo er nicht nach dem Leben bildet, ganz nach Mustern 
arbeiten. Sicher wird eine solche Folgerung nicht zu gewagt 
erscheinen, wenn man das Wesen von Hauptmanns Talent 
aus dem positiv Geschaffenen gefunden haben wird. 

So begegnet uns größtenteils dasselbe charakteristische 
Moment: Das Überwuchern der Schilderung, ja eine Konzeption 
des Stoffes, die von der Schilderung ausgeht und bei ihr stehen 
bleibt. Infolgedessen das Fehlen eines bedeutsamen Konfliktes, 
eines Kampfes, einer Wandlung und eines Schlusses, der erst 
gewaltsam herbeigezogen wird. 



7. „Die Weber." 



In der Widmung „Der Web er "an den Vater Hauptmanns 
lesen wir: „Deine Erzähluug vom Großvater, der in jungen 
Jahren ein armer Weber, wie die Geschilderten, hinterm Web- 
stuhl gesessen, ist der Keim meiner Dichtung geworden." 

Die Erzählungen des Vaters hatten also Hauptmanns 
Mitgefühl wachgerufen, seine Phantasie angeregt. Sie begann 
sich innig mit der Lage und der bitteren Not jener geduldig 
leidenden Menschen zu beschäftigen, deren Nachfahre er war. 
Daraus erwuchs der Entschluß, jener Not und dem aus ihr 
geborenen Aufstand dichterische Gestalt zu geben. Nun war 
der Weberaufstand von 1844 nichts als eine vereinzelte 
Eruption, verhältnismäßig unschuldig in ihren Wirkungen, kein 
Schluß, kein Anfang, eine symptomatische Erscheinung ledig- 
lich, die auf irgend etwas schreckliches ein jähes, greUes Licht 
warf. Dem Dichter konnten sich nun, ähnlich wie wir es 
schon anläßlich der Zustände im „Sonnenaufgang^^ ausführten, 
zwei Wege eröffiien. Entweder könnte die Schilderung jener 



68 IV. Werke. 



entsetzlichen Verhältnisse in den schlesischen Gebirgsdörfern 
die Hauptaufgabe sein, der ihnen entsprungene Aufstand nur 
eine Folgeerscheinung, der Schlußstein des Baues^ etwa wie 
ZoLAS 9,Germinal'^ Oder aber könnte der Konflikt zwischen 
der hungernden Webermasse und den Fabriksherren Haupt- 
aufgabe sein, die erschreckliche Not der Hintergrund. Jener 
Weg entspräche der epischen Konzeption des Problems, dieser 
der dramatischen. 

Hauptmann hat hier wieder bei einer epischen Konzeption 
doch eine dramatische Form gewählt. Die Schilderung des 
Elends ist Hauptsache. Der Konflikt besteht schon längst 
und auch seine Zuspitzung hat nicht den Charakter einer un- 
abwendbaren dramatischen Austragung. So kommt denn der 
Ausbruch zwar nicht unerwartet, doch nicht mit der ent- 
sprechenden Macht und Gewalt der Lösung. Man hört Donner 
rollen und Wetter schlagen. Das beklemmende Gefühl aber 
wird man nicht los, die Befreiung kommt nicht. 

Lassen wir die Geschehnisse der fünf Akte, die bezeich- 
nenderweise jeder far sich ihre besonderen Personen- 
verzeichnisse haben, an uns vorüberziehen. 

Erster Akt. Ein Kaum in Dreissigers Hause, wo die 
Webe abgUefert wird. Die Weber werden in der schon oben 
in der Analyse der Technik angeführten Bühnenanweisung ge- 
schildert Man muß jedoch Hauptmann die Gerechtigkeit 
widerfahren lassen, daß jene Anweisung wirklich überflüssig 
ist, so meisterhaft werden hier die Weber durch Wort und 
Gebärde dargestellt Sie krümmen und winden sich vor den 
hartherzigen, rohen Beamten, welche das Recht des Mächtigeren 
in einer brutal grausamen Weise ausüben, die typisch ist; sie 
kriechen im Staub vor dem Fabrikanten, der sie nach allen 
Eegeln der Kunst aussaugt, geben aber dabei ihrer Not und 
Angst in der rührendsten Weise Ausdruck. Zu einer kleinen 
Keibungsszene ' kommt es doch. 

Der junge Weber Bäcker läßt seinen kochenden Ingrimm 
freien Lauf, läßt sich nicht einmal von dem Fabrikanten ein- 



IV. Werke. 69 



schüchtern, antwortet grob und unverblümt, aber das ist auch 
alles. Der Fabrikant droht ihm, auf die Drohung kommt keine 
Gegendrohung. Bäcker zieht sich nur in guter Haltung zu- 
rück. Und doch wäre hier Gelegenheit geboten zu einem 
heftigeren Anprall der feindlichen Kräfte. Es wäre damit sicher 
mehr gewonnen, als mit der wieder in die Anweisung verlegten 
Hervorkehrung des Gegensatzes dadurch, daß das Personen- 
verzeichnis in eine Fabrikanten- und eine Webergruppe ge- 
teilt wird. 

Eine andere Szene löst diese auch bald ab. Ein kleiner 
Knabe ist vor Hunger ohnmächtig geworden. Auf einen drama- 
tischen Zwischenfall folgt wieder Schilderung. Dann kündigt der 
Fabrikant eine Herabminderung des Lohnes an und zieht sich 
zurück. Die angekündigte Drückung des Lohnes wird die Er- 
eignisse in Rollen bringen. „Nu, das macht sich", sagt ein 
Weber zu seinem stumpfsinnig fassungslosen Genossen. Diese 
Exposition ist übrigens' an sich ausgezeichnet, man könnte sich 
nur wünschen, daß mit größerem Nachdruck die Unausweich- 
lichkeit des Kampfes betont wäre. 

Im zweiten Akt befinden wir uns in einer Weberwohnung. 
Noch ergreifender, noch düsterer ist das Bild des Elends. — ^ 
Aber die Blitze zucken doch schon. Der gewesene Soldat, vor- 
dem Weber, Moritz Jäger, bringt einen Abglanz von einer 
anderen Welt in die dumpfe Weberhütte, spendet Branntwein, 
die Stimmung wird gehoben, die Gemüter erhitzt. Jäger 
singt endlich das neue gegen die Fabrikanten gerichtete Weber- 
lied vor: eine unbekannte Erregung bemächtigt sich der sonst 
so geduldig in ihr Schicksal ergebenen Bewohner der Weber- 
hütte. 

Der dritte Akt spielt im Gasthaus zu Peterswaldau. 
Ein buntbewegtes Bild von unglaublicher Treue und Wahrheit 
und von wunderbarer Kraft der Darstellung, aber doch nur 
ein Bild. Erst gegen das Ende des Aktes ziehen sich doch 
dräuender die Wolken zusammen, es kommt zu einer auf- 
geregten Szene zwischen dem zu den Webern haltenden 



70 IV. Werke. 



Schmied Wittig und dem G-endarmen Kutsche. Der 
Gendarm muß sich zurückziehen und Terbietet noch im Bück- 
zug das weitere Singen des Weberliedes, und nun wirkt dieses 
Verbot weckend, so daß alle das Lied anstimmen und singend 
vor die Wohnung des Fabrikanten ziehen. Eine der wenigen 
zurückgebliebenen Personen, der Lumpensammler Hornig, gibt 
der herrschenden Stimmung in einem wundersam treffenden 
Wort Ausdruck: „A' jeder Mensch hat halt 'ne Sehnsucht" 

Und nun kommt der Ausbruch. Der vierte Akt führt 
uns in die Wohnung des Fabrikanten in Peterswaldau. Es 
sind gerade Gäste da, der Pastor und seine Frau. Man be- 
spricht die Vorfälle der letzten Tage ; der Hauslehrer, der die 
Weber entschuldigt, wird entlassen. Da ziehen die Weber 
wieder heran. Es kommt zu einem Zusammenstoß. Der fest- 
genommene Moritz Jäger wird gewaltsam befreit, der Fabrikant 
muß sich mit seiner Familie und den Gästen vor den an- 
stürmenden Webern flüchten. — „Nun erscheinen junge Weber 
und Webermädchen in der Flurtür, die nicht wagen einzutreten 
und eines das andere hereinzustoßen suchen." Allmählich aber 
überwinden sie ihre Schüchternheit und man zerstreut sich, 
neugierig alles betrachtend, in den Zimmern. Dann erst 
stürzen die Führer herein, wütend, daß ihnen die Opfer ent- 
schlüpft sind, rufen sie aus: „arm soll a wer'n*' und es beginnt 
das Werk der Zerstörung. 

Hauptmann hat sich sichtlich bemüht, die Szene mit mög- 
lichster Feinheit psychologisch durchzuführen. Leider fehlt 
ihr das Wichtigste: dramatische Steigerung, elementare Kraft. 
Die Szene verläuft matt, ja kläglich und völlig wirkungslos* 
Man sieht: hier, wo es gilt, eine dramatisch vorwärtstreibende 
Szene zu gestalten, versagt eben Hauptmanns Kraft. Die 
„Sehnsucht" vermag durch seinen Mund zu reden, die aus ihr 
geborene Tat nicht. 

Der fünfte Akt sollte entweder die ersehnte Steigerung 
bringen oder wegbleiben. Jedoch die Steigerung fehlt, der 
Akt ist geblieben. Der ganze Akt ist eine Art Wiederholung 



IV. Werke. 71 



des Ausbruches in verstärktem Maße und Umfange. Der Schau* 
platz wird verlegt nach Langenbielau. Das bedeutet ein 
Anschwellen der Bewegung^ ein sich Ergießen des Stromes 
über die ganze Umgebung. Es geht jedoch mit dieser Aus- 
breitung der Bewegung eine entsprechende Kraftsteigerung 
nicht gleich mit dem Beginn des Aktes Hand in Hand. Wenn 
wir sogleich den sich daherwälzenden Strom des Aufstandes 
vor uns hätten! Statt dessen ist anfangs nichts von ihm zu 
bemerken. Wir haben das Weberstübchen Hilses vor uns, 
mit dem uns schon bekannten Ausblick auf das ,,Haus'' und 
ein zweites Stübchen. Die Weberfamilie geht an ihre tägliche 
Beschäftigung, da kommen Leute: Hornig, der Lumpen* 
Sammler, Schmidt, der Chirurgus, und erzählen vom Aufstande 
in Peterswaldau und von dem nahenden Anzug der Auf- 
ständischen nach Langenbielau. Erst allmählich wird aus der 
Erzählung Wirklichkeit. Die Glocken ]äuten, man hört end- 
lich das von vielen hunderten von Stimmen gesungene Weber- 
lied. Einzelne Aufständische stürmen herein und fordern alle 
auf, sich ihnen anzuschließen, es kommt zu erregten Ausein- 
andersetzungen zwischen dem frommen, in sein Schicksal er- 
gebenen alten Hilse und dem jüngeren Teil der Familie, der 
sich den Aufständischen anschließt. Militär kommt mittler- 
weile angerückt. Salven krachen, das Stübchen wird leer, nur 
das alte Paar Hilse bleibt. Da fliegt eine Kugel herein und 
trifft den für seine Brüder betenden Vater Hilse. Als die 
kleine Enkelin mit der Nachricht kommt, daß das Militär zum 
Dorf hinausgetrieben werde, ist Hilse tot. 

Der Akt zittert vor Leben und Aufregung, es gibt darin 
packende Szenen, er bildet aber im ganzen doch keine 
Steigerung. Würde der vierte Akt früher schließen, etwa mit 
der Flucht der Familie Dreissiger vor den Aufständischen, 
oder würde der fünfte Akt etwa in der Mitte beginnen, dann 
wäre eine Steigerung da. So aber haben wir zwei parallele 
Verläufe desselben Prozesses von Anfang bis Ende. Wohl 
aber ist der fünfte Akt viel dramatischer als der vierte. Der 



72 IV' Werke. 



Schluß ist nicht mehr matt, sondern sogar bedeutend, denn 
statt der unschuldigen Scheiben und Spiegel bildet das Leben 
eines Märtyrers das sichtbare Opfer des Aufruhrs. 

Trotzdem ist der Schluß kaum tragisch zu nennen. Man 
fühlt, daß der Aufstand vergeblich ist und das Opfer, welches 
fällt, ist auf der Seite der unglücklichen Webermasse. Es ist, 
als ob wir eine ohnmächtig geballte Faust sich nun gegen die 
eigene Brust kehren sähen. Voleelt findet hier das Tragische 
der niederdruckenden Art. Ob das aber noch tragisch zu 
nennen wäre, ist fraglich. Jedenfalls wirkt der Schluß nicht 
lösend vom Druck, nicht befreiend. Und Schuld daran ist, wie 
oben erwähnt, nicht so sehr der Schluß selbst, als vielmehr 
seine Vorbereitung, die keine dramatische, keine aktive war. 
Wenn ein kraftvoll Kämpfender fällt, so benimmt er uns nicht 
die Hofihung auf den Sieg seiner Sache. Seine Nachfolger 
können einst glücklicher sein, er nur ihr Vorläufer. Wenn 
aber eine so ohnmächtig sich aufbäumende Masse auch schein- 
bar gewinnt, so kann man dennoch das Gefühl des Nieder- 
drückenden nicht los werden. Die ganze, breite, ergreifende, 
aber nicht eine Spur von schlummernder Kraft in dieser 
elenden Menschenmasse aufdeckende Schilderung hat zur Folge, 
daß man mit einem Gefühl größerer Trostlosigkeit vom Drama 
scheidet, als man es selbst während der Schilderung des 
Düstersten darin gehabt hat. 

Im übrigen sei nochmals auf die im einzelnen wunder- 
bare Kraft der Darstellung hingewiesen, die Intensität des 
Schauens und Erlebens, die das Weh des einzelnen zum Weh 
des Menschen, der sich in ihrer Pein windenden Kreatur er- 
hebt. Unmerklich und uns selbst unbewußt wächst in unserer 
Seele der Gegenstand. Aus der erst dumpf brütend treibenden, 
dann mit wachsender Kraft hervorbrechenden Sehnsucht aus 
dem ganz materiellen Druck des Elendes heraus wird mählich 
die Sehnsucht jedes bewußten Seins nach Erlösung von seinem 
Druck Dieses erhebt die Qual jener Elenden zum tragi- 
schen Leid. 



IV. Werke. 73 



Sicher ist endlich^ daß die Fabel der Weber wenig Drama- 
tisches zu bieten scheint, ein echter Dramatiker hätte aber 
aus dem Wenigen doch etwas gemacht: Gestalten, wie Jäger, 
Bäcker, Wittig zeigen, wie auch der Dichter sich dessen 
bewußt war, daß ein Aufstand, selbst der zahmste^ ganz 
ohne aktive Erafk doch nicht zustande kommt Hätte Haupt- 
mann mit psychologischem Blick nach dieser Bichtung hin 
die Geschichte des Aufstandes durchforscht, so würde ihn 
schon das bekannte, unzweifelhaft historische Weberlied auf 
die richtige Spur gebracht haben. Denn Lieder sind immer 
individuelle Schöpfung, nicht kollektive. Es mußten also auch 
positiv, spontan tätige Kräfte beim Zustandekommen des Auf- 
standes mitgewirkt haben. Diesen aktiven E^räften eine größere 
Bolle zuzuweisen, sie mehr sichtbar sich einerseits nach oben 
auflehnen, andererseits nach unten werbend auftreten lassen, 
wäre nicht so schwer. Aber, wie gesagt, des Dichters Kon- 
zeption ging eben nicht dahin. Er schildert das unsägliche 
Elend mit einem düsteren Ernst und mit einer schlichten 
Einfachheit, die ihres gleichen sucht, er versteht es auch, das 
mählige, dumpfe Anschwellen gährender £j*äfte, „die Sehn- 
sucht", sichtbar darzustellen. Das Wirken der treibenden 
aktiven Kräfte aufzudecken, ist ihm versagt. 

Dies kommt zum Teil von der Technik der Darstellung, 
die auf breite sorgfältige Schilderung des Zustands ausgeht, 
also der naturalistischen Technik, zum Teil aber von der 
Eigenart der Hauptmann sehen Charaktere und der Technik 
ihrer Zeichnung und Darstellung, wovon wir noch zu sprechen 
haben. 



8. „Florian Geyer". 

Wenn die „Weber" mit einem Scheinsieg enden, so finden 
wir im ganzen „Florian Geyer" nichts denn eine ßeihe 
entmutigender, für das menschliche Gefühl beschämender 
Niederlagen. 



74 IV, Werke. 



Der Inhalt des Dramas ist den Ereignissen des deutschen 
Bauernkrieges von 1525 entnommen. Sehr merkwürdig ist es, 
daß hier gerade die Zeitangabe fehlt, wo wir sie im „Biberpelz^ 
z. B. genau bestimmt bekommen. Bei aller romanartiger Breite 
der Darstellung — vielleicht eben ihretwegen — ist uns aus 
dem Kriege nur ein kleiner Teil gegeben, umfassend die Zeit 
vom 5. Mai bis 9. Juni 1525, die Zeit, wo der Stern Florian 
Geyers und mit ihm die Sache der Bauern eigentlich schon 
im Niedergang war. 

Das wäre dramatisch richtig, wenn die Darstellung drama- 
tisch wäre. Sie ist es aber, wie wir sehen werden, nicht. Es 
sind gleichsam Ausschnitte aus einem geschichtlichen Roman, 
schwer dem Verständnis zugänglich, weil sie bei aller Breite 
doch fragmentarisch und lückenhaft bleiben. 

Doch versuchen wir es mit einer gedrängten Angabe des 
Inhaltes. Es sind fünf Akte mit einem Prolog, mit einer ver- 
wirrenden Menge von auftretenden Personen und einem be- 
sonderen Verzeichnis derselben für jedes Bühnenbild. 

Im Vorspiel befinden wir uns in der großen Hofstube des 
bischöflichen Schlosses „Unserer Frauen Berg" bei Würz- 
burg. Es sind viele Eitter versammelt, Schreiber Gilgenessig 
liest die Artikel der Bauernschaft vor, was — wie Baetels 
richtig bemerkt — ein wenig verspätet erscheint, da doch der 
Krieg schon längst begonnen, ja die Bäuerischen sich schon in 
der Stadt des Bischofs selbst festgesetzt hatten. 

über die Forderungen der Bauern wird nun weidlich ge- 
schimpft und gewettert, sie werden als Ungeheuerlichkeiten 
verlacht und verketzert. Wir erfahren, daß Florian Geyer 
mit seiner schwarzen Schar Weinsberg genommen, daß Graf 
Ludwig von Helfenstein samt vierzig Rittern durch Spieße 
gejagt wurde. Dann erscheint der Bischof Konrad selbst, 
legt seine Sache in die Hände der Ritterschaft, welche be- 
geistert gelobt, die Burg zu verteidigen. Nur ein Ritter^ 
Wolf von Hanstein tritt mit dem Feldgeschrei: „Bundschuh, 
Bundschuh" aus der Mitte der Schwörenden. 



IV. Werke. 75 



Im ersten Akt befinden wir uns in der Stadt Würzburg, 
in der Kapitelstabe des Nenmünsters. Es soll ein Yersammlungs- 
rat aller Haufen in und um Würzburg gehalten werden. Im 
Hintergrund fuhrt eine Tür in die Kirche, wo vorerst Gottes- 
dienst abgehalten wird. Die Personen in der Kapitelstube, 
meistens Führer der Bauernschaft oder sonst hervorragendj 
wie der Feldschreiber Löffelholz, Bektor Besenmeyer, der 
Schultheiß von Ochsenfurt Stefan von Menzingen, Buben- 
leben u. a. beobachten den Elinzug in die Kirche. Die Bauern- 
hauptleute, welche in die Kirche eintreten, werden von den 
Beobachtenden mit saftigen Worten charakterisiert — man 
merkt, daß diejenigen von den Anwesenden, die es ernst mit 
der Sache meinen, den Geyer allein als Helden ansehen. 
Sein Sturm auf Weinsberg wird in den Gesprächen geschildert. 
Eine Legation der Feste Frauenberg wartet auf ihre Ab- 
fertigung. Auch Wilhelm Grumbach, der Schwager Geyers, 
ist da, als ansbachischer Gesandter. 

Aus allen den Beden und spitzen Worten, die da fallen, 
kommt schwaches Licht in die Verhältnisse und Gruppierung 
der Kräfte. Geyer hat Gegner, es sind das die Anhänger 
Jakob Kohls und Götzens. 

Endlich kommt man aus der Kirche. Es erscheinen die 
Bauernhauptleute. „Der dicke Jakob Kohl ist auch zugegen''^ 
Götz von Berlichingen, „der kaum andere als hämische 
Beachtung findet", und Florian Geyer, dann Wendel 
Hippler u. a. Zuerst wird über die Abfertigung der Gesandt- 
schaft beraten. Trotz Abratens des Götz, dem sich auch 
Geyer anschließt, wird das Anerbieten der Gesandtschaft, 
wonach sich die Besatzung die Artikel zu beschwören und 
Schätzung zu zahlen verpflichtet, abgewiesen und beschlossen, 
die Burg mit Sturm zu nehmen. 

Dann soll zur Wahl eines Hauptmannes der gesamten 
Bauernschaft geschritten werden. Die Anhänger der einzelnen 
Hauptleute geraten aber so aneinander, daß es zu einer 
Einigung nicht kommen kann. Geyer, dem vorgeworfen wird. 



76 IV. Werke. 



er wolle sich der Führerschaft mit Gewalt bemächtigen — 
beantragt nun mißmutig einen stehenden Eriegsrat^ was auch 
sofort angenommen wird. Dies ist aber eine Niederlage G-eyers 
und der Beginn der Auflösung aller Zucht und Einigkeit in 
den Lagern der Bauern^ da jetzt das strenge Regiment Geyers 
aufhört. 

Im zweiten Akte sind wir zu Rotenburg in Kratzers 
Wirtsstube auf dem Marktplatz. Allerlei Volk kommt und 
geht und spricht Rektor Besenmeyer bemüht sich um die 
schwarze Marei^ Geyers Felddirne, die von Würzburg Bot- 
schaft für Geyer gebracht hat^ jedoch erschöpft hinsinkt 

Auch Earlstatt erscheint Dieser wird von einem Lands- 
knecht als Schänder Marions mit dem Leben bedroht — da kommt 
Geyer. Als der Landsknecht sich nicht fügen und die Wehr 
nicht einstecken will — wird er von Geyer mit einem Faust- 
schlag niedergeschlagen. 

Es sollen nun die zwei Feldschlangen der Stadt mit 
Florian Geyer nach Würzburg abgehen. Geyer hält noch 
durch das Fenster eine Rede an die Bürger. Man ist froher 
Hoffnung. Da wird die schwarze Marei, die bis jetzt auf der 
Ofenbank geschlafen, geweckt. Ihre Botschaft ist schlimm 
genug. Man hat in Würzburg, entgegen der Verabredung 
auf die Notschlangen und auf Geyer nicht gewartet, sondern 
einen vergeblichen Sturm unternommen, wobei die Hälfte der 
„schwarzen Schar" Geyers geopfert worden ist Gleich- 
zeitig kommt die Nachricht von einem Sieg des Truchsessen 
von Waldburg bei Böblingen. Geyer, der sich seiner 
besten Kraft beraubt sieht, verliert nun allen Mut. 

Der dritte Akt führt uns nach Schweinfurt. Dort soll 
ein von den Bauern einberufener Landtag stattfinden. Er 
kommt aber nicht zustande, weil jetzt, da die Sache der 
Bauern schlimm steht^ weder die Städte noch sonst wer ihn 
beschicken will. Der Landtag ist eben, und zwar wieder gegen 
die Stimme Geyers, zu spät einberufen worden, so wie der 
Sturm auf Würzburg zu früh unternommen. Trübe Nach- 



IV. Werke, 77 



richten schwirren herein, die Bauemfiihrer stehen wie gelähmt 
da. Löffelholz und Geyer kanzeln sie ab. Sie wollen den 
Schimpf nicht auf sich sitzen lassen, da hört man Lärm hinter 
der Szene und sie stieben auseinander. Geyer mit Jakob 
Eohl, der jetzt reuig zu ihm hält, brechen nach Würzburg 
auf; um noch zu retten , wenn was zu retten ist. Auch die 
anderen verlassen die Stadt. Nur der todkranke Löffelholz 
bleibt allein da in seiner Sterbensnot 

Der vierte Akt spielt wieder in Kratzers Wirtsstube zu 
Botenburg. Zuerst sehen wir allerlei Bürger. Man sieht, 
daß jetzt ein anderer Wind weht. Die Sache der Bauern gilt 
als endgültig verloren — da werden Anstalten getroffen, um 
die alte Ordnung zu Botenburg wiederum glatt einzuführen. 
Endlich gehen die Leute heim. Es ist Mittemacht und nun 
kommen nacheinander Karlstatt, Geyer, dann Tellermann, 
der Leutnant Geyers. 

Geyer hat in der Umgegend von Botenburg vergeblich 
gemustert. Noch einmal will er es aber wagen, „das Bädlein 
zu treiben." Noch stehen ja an zwanzig Tausend Bauern 
unter Götzens Anführung dem Truchsessen entgegen. Da 
wankt Tellermann herein, der sterbend die Nachricht bringt 
von Götzens Verrat und der Niederlage bei Königshof en. 
Nun ist alles aus. Geyer zieht gegen den Truchsessen, nicht 
um zu siegen, sondern um zu sterben. 

Im fünften Akte sind wir auf dem Schloß Bimpar, 
Wilhelm Grumbachs, Geyers Schwager, Eigentum. Grum- 
bach ist schlecht angeschrieben bei den Bündischen, er hat 
sich mit den Bauern eingelassen. Deswegen ist ihm, und noch 
mehr seiner Frau sehr daran gelegen, vor den Bittem, die 
jetzt bei ihm einreiten, als eifriger Bauemfresser zu erscheinen. 
Wir erfahren von den Bittem, daß der Frauenberg entsetzt 
wurde, daß die letzte Schlacht bei Ingolstadt, wo sich Geyer 
tapfer wehrte, mit der völligen Vernichtung der Bäuerischen 
endigte, daß man den flüchtigen Geyer sucht und ihm auf 
der Spur ist. 



78 IV, Werke, 



Während nun die Ritter in einem anderen Saale beim Mahle 
flitzen, erscheint Geyer totkrank von Mar ei begleitet. Wilhelm 
Grumbach entdeckt ihn — er erbarmt sich seiner und ver- 
birgt ihn in einem Nebengemach. Aber seine Frau hat ihm 
das Geheimnis entlockt und zeigt den Rittern das Versteck 
Geyers. Geyer tritt nun mit einem furchtbaren Kampf- 
geschrei der ganzen Schar entgegen, wird aber von Schäfer- 
hans, jenem Landsknecht, den er einst gezüchtigt hatte, durch 
einen Schuß aus der Armbrust niedergestreckt 

Was ersehen wir nun aus dieser Inhaltsübersicht? Un- 
leugbar vorerst einen durchgängigen Mangel jeglicher drama- 
tischer Bewegung. Wenn wir vom Vorspiel absehen, wo allen- 
falls etwas geschieht, da sich die Ritterschaft auf Frauenberg 
um das Banner der Abwehr schart — so kann nur noch im 
ersten Akte von irgendeinem Handeln der gegenwärtigen Per- 
sonen gesprochen werden. Die Gesandtschaft vom Schloß 
Frauenberg wird abgewiesen; weiter wird aus Neid und Haß 
der Anführer gegen Geyer die Ernennung eines obersten Feld- 
hauptmanns verworfen und ein Kriegsrat an dessen Stelle 
eingesetzt 

Gerade in den betreffenden Szenen zeigt sich aber Geyer 
zwar edel und großmütig als Mensch, jedoch klein und kläglich 
als Führer und Leiter der Massen. Wiederum, wie in den 
„Webern", müssen wir Hauptmann den Vorwurf machen, daß 
er es nicht versteht, einen Konflikt dramatisch zuzuspitzen. 
Den geschichtlichen Ereignissen müßte durchaus jkein Zwang 
auferlegt werden, um Geyer mit etwas mehr Liitiative, Tat- 
kraft und mit einem weiteren Blicke auszustatten. Es müßten 
dann nur auf der Seite der Gegenmächte ebenfalls mehr Kraft 
in Neid, Bosheit und Verlogenheit, mehr Borniertheit vor- 
handen sein. So wie die Szene gegeben ist, sehen wir bei 
Geyer nicht einmal einen ernsten Versuch, die Ereignisse zu 
beherrschen, sie kraftvoll zu lenken. Er läßt sich von den 
Wogen treiben wie die anderen. 

Von der anderen Seite ist noch weniger Kraft zu ver- 



IV, Werke. 79 



spüren, mit solchen Wichten, wie sie ihm hier gegenüber stehen, 
könnte Geyer, sollte man glauben, unschwer fertig werden. 

Für die drei weiteren Akte, den zweiten, dritten und 
vierten kann folgendes Schema der Darstellung als typisch 
angenommen werden. Es kommen allerlei Leute zusammen 
(in der Wirtsstube, auf dem ßathause und wiederum in der 
Wirtsstube). Da wird immer auf etwas gewartet, gehorcht, 
von zu unternehmenden Handlungen gesprochen, dabei aber 
ängstlich nach Kunde und Nachricht vom eigentlichen Schau- 
platz der Handlung ausgeschaut — die auch vor Aktschluß 
regelmäßig hereinschwirren und ein verzweifeltes, aber ohn- 
mächtiges Aufraffen der Beteiligten zur Folge haben. Daß 
irgendwo irgendetwas geschieht, geschehen ist, erfahren wir in 
der Eegel aus den Gesprächen und den Botschaften, welche 
anlangen. — Die Anwesenden sprechen sich aus, erleichtem 
ihr Herz, zanken oder reden sich Trost zu, beleuchten die 
Ereignisse. Mit einem Worte, sie spielen so recht die „Staffage'' 
des Bildes, das vor uns aufsteigt, nicht gegenwärtig, sondern 
aus allen den Berichten, die uns gegeben werden. 

Dies ist noch schlimmer als Schilderung, es ist Bericht- 
erstattung. Es sind Kriegsnachrichten, zerstückt einzelnen 
Personen in den Mund gelegt. Der in der Dramatik fast 
verschollene „Bote" ist auferstanden in vervielfachter Ver- 
körperung. Ja, ausnahmsweise nur berichtet er über unmittelbar 
Gesehenes, meist nur über mittelbar Erfahrenes. Das Drama 
wird, so wie es aus einer Chronik entstanden, wieder zur 
Chronik, ob sie auch noch so schön aufgeputzt ist mit Seufzern 
der Betroffenen und den aus ihnen geborenen verzweifelten 
Entschlüssen. 

Nun zum fünften Akte. Dieser ist ja eigentlich eine Art 
Epilog. An sich ist er dennoch gut gebaut Der zur Staffage 
herabgesunkene Florian Geyer wird wenigstens wieder Held, 
wenn auch nur leidender Held. Daß der Akt mit seiner 
jedenfalls äußerst dürftigen Handlung, mit seiner Funktion 
eines Epiloges nicht geschickt ist, für den Mangel einer Hand- 



80 IV. Werke. 



lang im eigentlichen Drama aufzukommen, das liegt klar 
zutage. 

Nicht viel besser als mit der Handlung ist es mit den 
Charakteren des Dramas bestellt. Sie sind blaß. Manche zwar 
von den vielen Personen sind kräftig charakterisiert, aber nur 
äußerlich, durch Worte, seien es eigene oder fremde. Die 
Charakteristik durch das Handeln fehlt durchwegs, es sei denn, 
daß es Nebenpersonen sind, die nur schattenhaft vorüberziehen, 
wie Earlstatt, oder Personen, die überhaupt nicht von Be- 
deutung sind, wie die Dirne Marei. — Die übrigen reden nur 
eine jede der ihr zugewiesenen Rolle und Stellung gemäß — 
man weiß nicht, was sie tun, nicht einmal, was sie wollen. 
Man weiß es nicht von Götz, nicht von Menzingen und 
Wilhelm Grumbach. Aber auch von Florian. Geyer wäre 
schwer zu erraten, wohinaus er will, überhaupt scheinen alle 
Personen an besonderer Willensschwäche zu leiden. 

Wenn schon das Gegenspiel der Macht und Gegenmacht 
innerhalb des bäuerischen Lagers kläglich erscheint, so ist das 
Gegenspiel der Bauern einerseits und der ßitter andererseits 
noch um vieles kläglicher. Die letzteren erscheinen als eine 
Rotte verlotterter, feiger, elender Wichte. Es ist eine merk- 
würdige Erscheinung, durch und durch undramatisch, daß beide 
Parteien, sowohl Bauern als Ritter, vom allerersten Anfang 
an ihre Sache für verloren halten. Die Ritter und Domherren 
im Vorspiel sind die Mutlosigkeit selber, und im Lager der 
Bauern trägt ein jeder, von Florian Geyer angefangen bis 
zum letzten der führenden Männer, den Stempel der Resignation 
auf der Stirn. Der endgültige Sieg wird auch von keiner der 
beiden streitenden Parteien des Dramas erfochten, sondern von 
einem völlig außerhalb desselben Stehenden, vom Truchsessen 
Georg von Waldburg. 

Es wurde darauf hingewiesen, daß der Held dieses Dramas 
ein Kollektivheld sei: wie in den „Webern" die Webermasse, 
so hier die Bauern und daß das Drama auch nach ihnen be- 
nannt werden könnte. Wir haben aber schon bei den „Webern" 



IV. Werke. 81 



den Mangel an kraftvolleren Persönlichkeiten innerhalb der 
Masse gerügt und müssen es hier mit noch größerem Nach- 
druck tun. Auch bei YoUständigster Anarchie, wenn es der 
Intention des Autors entsprach, eine solche darzustellen, können 
mächtig gegeneinander wirkende Strömungen und Kräfte auf- 
gedeckt werden. Ein EoUektivheld muß noch durchaus kein 
kläglicher Held sein, selbst wenn er seine Sache yerliert, ja 
selbst wenn er sie darum verUeren muß, weü seine Kraft un- 
zureichend und der ihm gestellten Aufgabe nicht gewachsen 
war. Unzureichende Kraft ist nicht dasselbe, wie völliger 
Mangel an Kraft. 

Übrigens, bemerkt richtig ein Kritiker, sieht man in diesem 
Milieudrama von Bauern der damaligen Zeit gar wenig. Nicht 
einmal als Milieu, als Staffage ist er da. Als eigentlicher 
Gesamtheld schon gar nicht. Wäre er so elend gar, wie er 
im fünften Akt erscheint, wie könnte es dann zu einer 
Bewegung kommen? So ist es nur zu verwundern, daß man 
von Bauern als Kollektivhelden sprechen konnte. 

Wir beobachten hier wiederum, wie oft, das Schauspiel, 
daß Genießende und Kritiker in gleichem Maße von der — 
keinesfalls erfüllten — Absicht des Verfassers hypnotisiert er- 
scheinen und etwas zu sehen meinen, was nicht da ist. In 
Wahrheit ist, anders als in den „Webern", trotz der großen 
Anzahl von handelnden Personen, von einem Gesamthandeln, 
von einem Gesamtfühlen nichts zu merken. 

Im Gegenteil ist selten die allgemeine Zerfahrenheit so^ 
weit zum Prinzip erhoben worden wie hier. Wohl mochte der 
Drang, zu individualisieren und die darauf sich beim Dichter 
einstellende Einsicht in die bei solchen Bewegungen typisch 
auftretende Erscheinung, diesen bewogen haben, gerade sie, die 
Zerfahrenheit und Uneinigkeit, das Hin- und Herzerren der ge- 
meinen Sache aus eigennützigen Gründen, Mißgunst, Neid, 
Beschränktheit und Bosheit zum tragischen Motiv zu erheben. 

Er scheiterte aber in diesem Bemühen und dieser Ab- 
sicht, wenn er sie hatte. Denn eine Gesamtbewegung, eine 

Bytkowski, Gerhart Hauptmann. 6 



IV. Werke. 83 



peinlich verwirrend, weil der Dichter, wie es scheint^ zwischen 
zwei Problemen hin nnd hergeworfen wurde. Einerseits 
schwebte ihm das Problem eines Massendramas vor^ anderer- 
seits Bah er sich gezwungen, dasselbe fallen zu lassen und die 
Hauptpersonen doch als Einzelhelden zu behandeln. Er wollte 
eine in ihren Gliedern individualisierte Masse schaffen, schuf 
aber doch nur sehr viele Einzelindividuen, die schattenhaft 
vorüberschweben. 

und wenn auch das ständische Gesamtinteresse hindurch- 
leuchtet, die Zerfahrenheit der Einzelbestrebungen ist zu groß, 
um dasselbe deutlich aufkommen zu lassen. Es geht manchmal 
wie in einem wahren Turm Babels zu. Die Leute sprechen 
verschiedene Zungen und verstehen einander nicht im geringsten. 
Mochte diese Zerfahrenheit das tragische Motiv sein, das Werk 
selbst durfte nicht zu einem Chaos werden. Klarheit und 
Übersichtlichkeit ist in einem jeden Werk Grundbedingung der 
Wirkung, besonders aber im Drama, das seiner Natur nach 
ein geschlossenes Ganzes sein muß. 

So wie es ist, stellt sich dies Drama als eine Art ge- 
waltigen Torso's dar, ein ungeheuerlich in die Breite gehender 
letzter Akt Es ist das am großartigsten gedachte und an- 
gelegte Werk Hauptmanns, mißlungen und doch weit über- 
ragend auch die gelungensten, „Die Weber" einbegriffen; ver- 
fehlt, trotz der großen Anzahl markiger Gestalten, trotz seines 
starken ethischen Gehaltes. 

Fragen wir nun nach der Ursache des Scheiterns des 
Dichters an seiner Aufgabe, die er sicherlich sehr ernst ge- 
nommen, so ergibt sich wohl die Antwort aus dem An- 
geführten. Der Stoff an und für sich ist mehr episch als 
dramatisch. Zweitens ist das Verfahren und auch das Talent 
Hauptmanns, das naturalistische, das mit Schärfe beobachtende, 
einem solchen Drama sicher nicht gewachsen. Das an der 
Oberfläche bleibende Talent des scharfen naturalistischen Be- 
obachters genügt für das historische Drama überhaupt nicht, 
schon deswegen nicht, weil der zurückliegende Gegenstand 

6* 



84 2V. Werke. 



eben nicht beobachtet, sondern mit innerem Auge erschaut 
werden muß. 

Dann kam noch etwas hinzu, was die Wirkung erschwerte 
und was eben£EÜls im Bestreben ^ den Naturalismus auf das 
historische Drama zu übertragen, seinen Ursprung hat Es 
ist dies die Anwendung der naturalistisch -impressionistischen 
Methode auf die Sprache des Dramas. 

In der Beurteilung der letzteren gehen die Kritiker ziemlich 
weit auseinander. Die einen finden sie überzeugend, sie bewundem 
diese kunstvoll archaistische Bede, die anderen behaupten, daß 
das gar nicht die damalige Umgangssprache in Franken ist, 
sondern die Sprache der Kanzleien und Chroniken. Man könnte 
fast sagen: beides ist wahr, so paradoxal es klingt Vor allem 
muß zugegeben werden: trotz des Gezwungenen und hier und 
da Getüftelten ist die Sprache markig und kraftvoll, ja indi- 
vidualisierend. Andererseits haftet ihr doch etwas Gezwungenes 
an und ihr übertriebener Archaismus ist ungemein ermüdend 
und stört im Verein mit der Menge der protzig breit auf- 
tretenden Personen und Episoden den Genuß des Werkes. Wie 
sind nun diese Gegensätze zu vereinigen? 

ff 

Die Sache stellt sich wie folgt dar: Hauptmanns un- 
bestreitbar großartiges Sprachgefühl hat hier Wunderbares ge- 
leistet. Die Mühe ist aber von vornherein verloren gewesen, 
denn es ist verfehlt, die naturalistisch-impressionistische Methode 
auf das historische Drama aus entlegenen Zeiten in so aus- 
gedehnter Weise und so strenger Durchführung anzuwenden. 
Je erfolgreicher also das Bemühen war, desto weiter ist man 
vom Ziel abgekommen. 

Doch dies führt uns zur Funktion des Wortes im Drama, 
und darüber soll weiter unten gesprochen werden. Dort werden 
wir uns der Pflicht der Beweisführung für unseren Satz ent- 
ledigen, hier mag er stehen als vorläufige Erklärung des gegen- 
sätzlichen, zum Teil gemischten Gefühles, das die Sprache dieses 
Dramas einflößt. 

Noch ein Umstand ist hier merkwürdig. Das Drama will 



V. Charaktere. 



L Charaktere bei Hauptmann. 

Hält man bezüglich der Charaktere bei Hauptmann ein 
wenig Umschau unter den Kritiken und Besprechungen, so be- 
merkt man mit Verwunderung, daß die Kritiker in der Be- 
urteilung von Hauptmanns Charakterisierungsvermögen nicht 
nur weit auseinander gehen ^ die einen yoII Lob sind, wo die 
anderen tadeln, sondern daß auch bei einem und demselben 
Kritiker sich zuweilen ein Schwanken kundgibt. Derselbe 
Charakter erscheint demselben Schriftsteller das eine Mal Yor- 
züglich durchgeführt, das andere Mal brüchig. 

und wirklich stellen sich die Charaktere Hauptmanns dem 
Beobachter fast wie jene Wechselbilder dar, die, je nachdem 
man sie von der einen oder von der anderen Seite ansieht, 
etwas anderes darbieten. Sieht man sie lediglich als Charaktere 
an, als dem Leben nachgebildete Charakterdarstellungen oder 
Studien, dann muß man oft die Schärfe und die Feinheit der 
Beobachtung, die Treue des Gedächtnisses und die Kraft der 
Gestaltung bewundem. Sieht man aber diese „handelnden 
Menschen^' eben als solche, als dramatische Personen, als 
Träger und Bringer des dramatischen Schicksals an, dann er- 
scheinen sie nicht nur brüchig, sondern unzureichend, ver- 
sagend, ja völlig verfehlt. Es ist, als ob man diese Personen 
an eine unrichtige Stelle gesetzt hätte, die auszufüllen sie 
nicht vermögen, als ob sich bei ihnen das Sprichwort nicht 
bewahrheiten wollte, daß, wem Gott ein Amt gibt, dem gibt 
er auch den Verstand dazu. 



F. Charaktere. 87 



Das kann man überall beobachten. Da wir bei der Be- 
sprechung der einzelnen Werke schon öfter Anlaß hatten, uns 
auch über die Charaktere zu äußern, so werden wir nur noch 
einige besonders yomehmen. Auch hierbei wolle das dort 
Gesagte als Voraussetzung dienen. 

Von den beiden Hauptcharakteren in ,,Vor Sonnenauf- 
gang^' ist Loth kein Träger und Bringer des Schicksals, wie 
dies schon ausgeführt worden, er ist eine Figur, wie man sie 
zuweilen trifft und als solche prächtig gezeichnet, nur leider 
nicht für ein Drama passend. Auch darf man sich nicht 
täuschen lassen. Von einem ironischen, oder nur überlegenen 
Standpunkt des Dichters seiner Schöpfung gegenüber — was 
diese freilich mit nichten zu einer dramatischen machen 
würde — kann nicht die Bede sein. 

Man yergegenwärtige sich nur die Zeit des Entstehens des 
Dramas. Es war nicht lange nach jener Sturm- und Drang- 
zeit, in der das „Promethidenlos'^ gedichtet wurde und sie 
war sicher für den Dichter noch lange nicht Yorüber, wie aus 
der ganzen Anlage und der schon oben dargestellten Tendenz 
des Werkes, ja auch der späteren, wie „Das Friedensfest'' 
und „Einsame Menschen'', leicht zu merken ist Hauptmann 
war also noch zum Teil erfüllt von seinen utopistischen Welt- 
beglückungsideen, woraus sich auch der Entstehungsprozeß des 
Dramas und der Gestalt Loths ungezwungen erklärt In eine 
möglichst kraß und düster realistisch darzustellende, dem Ver-r 
kommen verfallene Welt sollte ein Idealist, ein Weltverbesserer, 
ein „Apostel" hineingestellt werden. Die Züge zu seiner Ge- 
staltung mochten wohl dieser oder jener Persönlichkeit aus 
dem Jugendkreise entliehen worden sein, dem er das „Pro- 
methidenlos^' gewidmet hatte, dem er in seiner Widmung 
zuruft: 

' „Poch, glühend Herz, und walle, Blut, 
Für Wahrheit und für Licht, 
Und du, gewaltiger Kämpfermut, 
Verlisch, verlisch uns nichts* 



F. Cha/raktere. 98 



bleibt sie eben nur eine pikante Nebensächlichkeit Bei Cassius 
dagegen wird sie mit dem ihm schon eigentümlichen Charakter 
glücklich yerwoben^ nicht aber dieser aus ihr erst geschaffen. 
In beiden Fällen aber ist das dem Nebensächlichen zukommende 
Maß nicht überschritten. 

Wir haben schon davon gesprochen, daß Haüptmakns 
Eraft besonders bei geistig und gemütlich komplizierten 
Charakteren wie bei Loth^ Johannes Vockerat, Michael 
Kram er versagt. Dagegen muß hervorgehoben werden, daß 
ihm nichtzusammengesetzte Charaktere, so Männer aus dem 
Volke, einfache auf einen Ton gestimmte Seelen wie Fuhr- 
mann Henschel, Bahnwärter Thiel, Nebengestalten: die 
Weber und alle Personen dieses Dramas, die Personen der 
„Rose Berndt^^ u. a. vorzüglich gelingen. 

Dies hängt eben mit seiner Methode des Schaffens innig 
zusammen. Einfache Menschen, die in dem Äußeren ihrer 
Seele diese vollständig ausdrücken, dann Nebenfiguren, bei 
denen es auf tiefe Kenntnis ihrer Seele nicht ankommt, die 
lassen sich durch scharf beobachtete Einzelzüge leichter restlos 
wiedergeben. Wir brauchen nicht viel mehr als das, was man 
mit raschem Blicke sieht, um einen solchen Menschen oder 
bei Nebenpersonen ihre Handlimgsweise im Drama zu begreifen. 

Anders bei zusammengesetzten und geistig höher stehenden 
Charakteren. Da muß die Gestalt aus innerem Schauen ge- 
boren werden. 

Man hat auch ebenso mit Eecht darauf hingewiesen, daß 
Hauptmanns Gestalten meistenteils willensschwach sind. So 
die Personen des „Friedensfestes". Vockerat, Meister 
Heinrich, Henschel, Thiel, Geyer und andere Personen 
des „Florian Geyer", Arnold Kramer und viele andere. 
Dazu kommt, daß Frauen verhältnismäßig zu oft eine Willens- 
kraft aufweisen, die dem schwachen Manne gegenüber zu einer 
dämonischen Macht wird. So die Frau des Bahnwärters Thiel, 
Hanne im Fuhrmann Henschel, zum Teil Anna Mahr, 
Bauten delein. Überhaupt bekunden die Frauencharaktere 



F.v Charaktere, 95 



ebnet, welche den Griff erst durch Erfahrung erw'orben haben. 
Was dauerhaft ist, bewährte sich mit der Zeit als solches; was 
unangebracht war, nützte sich ab und ward abgestoBen. Die 
Handgriffe aber werden durch Übung und Tradition Gemein- 
gut. Damit erklärt sich jeder Fortschritt von selbst^ es ist 
also naiy, sich auf ihn allzuviel einzubilden. Noch naiver, 
wenn eine Schule sich allein das zuschreibt^ was sich im Ver^ 
laufe der Zeiten von selbst entwickelt hat. Vollends lächerlich 
ist es, wenn einmal dabei kein groBer Gewinn, wohl aber eine 
empfindliche Einbuße herauskommt. 

Was nun die Kunst der Charakteristik im Drama an- 
belangt, so kennen wir eine direkte und indirekte Charakte- 
ristik. Die erste Art liegt dann vor, wenn eine Person, sei 
es im Gespräch, sei es im Monolog, sich selbst charakterisiert, 
also in der Selbstcharakteristik; oder aber, wenn andere Per- 
sonen uns über die Charaktereigenheiten irgendeiner Person 
Aufschlüsse geben. Daß die Selbstcharakteristik bis jetzt „die 
gröbste Art" der direkten Charakteristik war^ kann zugegeben 
werden. Sie ist es nicht mehr, wie wir sehen werden. Ab- 
gesehen davon aber darf man sich auf ihr Wegfallen in der 
neuen Technik nichts einbilden. Sie gehört zu eben jenen 
sich nicht bewährenden Kunstmitteln, von denen wir sagten, 
daß sie von selbst abgestoßen wurden. Sie wurde niemals, 
weder in der Theorie, noch in der Praxis als vollgültig an- 
erkannt, sondern galt vielmehr als ein verpöntes Auskunfts- 
mittel. Alfbed Kebb behauptet mit Eecht, daß ein guter 
Dramatiker die Selbstcharakteristik nur verwendet, um einen 
anderen Zweck — nicht aber wirkliche Charakteristik anzu- 
streben: etwa um uns zu zeigen, wie die betreffende Person 
sich selbst oder andere in bezug auf ihren Charakter täuschen 
möchte. Er zitiert dann Ibsens „Wildente" und sagt: 
„wenn Hjalmar Ekdal seine Charakterstärke rühmt, so er- 
kennen wir hinter diesem Selbstbekenntnis die Absicht des 



^ Alfred ELebb, „Das neue Drama", Berlin, S. Fischer, S. 301. 



96 V- Charaktere. 



Dichters und lächeln/' Bis jetzt ist alles vortrefiflich. Nun 
aber wendet sich unser Gewährsmann zu den ,^ten'' und 
sagt: ,yWenn aber Paul Heyse von uns verlangt, die Selbst* 
Schilderung jeder beliebigen Person ohne weiteres als objektiv 
richtig hinzunehmen, so lächeln wir zwar auch — doch aus 
einem anderen Grunde/'^ Wie, fragen wir darauf, hat man 
denn kein anderes Beispiel finden können, als gerade Hetse? 
Heyse war doch — wiewohl er auch Dramen geschrieben — 
zeiUebens kein Dramatiker, auch nicht als solcher anerkannt, 
geschweige denn als ein guter. Wir müssen an das in der 
!|^inleitung Gesagte erinnern: „Da man sich vom Epigonentum 
wegwandte, so übersah man auch alles, was an seiner Seite 
stand, hinter ihm, über ihm." War denn von den Dramatikern 
vor Ibsen gar kein anderer namhaft zu machen, als Heyse? 
Wie wäre es, wenn wir einen hübscheren Sprung machten. 
Zwar möchte ich es durchaus nicht von Herrn Eebb behaupten^ 
aber im allgemeinen hält die Moderne nicht gar große Stücke 
von der Technik Shaeespeabes. Jedenfalls, wenn man von einer 
neuen im Gegensatz zur alten spricht, ist Shakespeabe ein 
besseres Beispiel als Heyse. 

Bei Shakespeabe findet sich ein bekannter Fall von einer 
Selbstcharakteristik, der noch dazu in einemMonolog entbaltenist. 
Wir meinen die Selbsteinführung Glosters im „Richard 111."^ 
beginnend mit den Worten: 

„Ich aber, nicht geformt zum Possenspiel, 
Zum buhlerischen Äugeln mit dem SpiegeP^ . . 



endigend: 



„Bin ich gewiUt ein Bösewicht zu werden. 
Zu hassen dieser Zeiten seh aale Lust.*' 



Wie steht es nun, lächeln wir auch da und zwar „aus 
einem anderen Grunde" als bei Ibsen? Oder lächeln wir gar 
nicht? Wiewohl uns — wovon weiter unten — Shaeespeabes 
Handhabung des Monologes zum Teil als veraltet erscheinen 
muß, so wäre es doch zu naiv, zu glauben, daß er hier zu 

» ibid. 



V, Charaktere. . 97 



einem so plumpen Mittel griffe, um uns den Gloster zu 
charakterisieren? Ist doch dieser Gloster in jedem Wort, 
das er spricht, in der geringsten seiner Handlungen glänzend 
charakterisiert — zu schweigen von der durch andere Per- 
sonen gegebenen direkten Charakteristik. Wozu also die 
Charakteristik im Monolog? Wir merken, Shakespeake, ob- 
zwar so „slV% hatte hier ebenfalls eine andere Absicht, als 
direkt zu charakterisieren, wiewohl sie sich nicht mit der von 
Ibsen deckt. Natürlich — dies sei vorausgeschickt — hatte 
Sha£espeabe ein anderes PubUkum vor sicfa^ wir wollen nicht 
darüber streiten, ob es besser war, als das Berliner. — Dieses 
Publikum hatte das Verständnis eines Feinschmeckers gerade 
für solche schönen Monologe, ihm zuliebe war also auch dieses 
geschrieben. Der rein künstlerische Zweck aber war einfach 
der eines Präludiums. Es wurde ein Grundmotiv angeschlagen, 
dadurch eine Stimmung hervorgerufen, die das Publikum schon 
von deren erstem Auftreten in einen eigentümlichen Eapport 
mit der Erscheinung Glosters gebracht. Um diese Stimmung 
handelte es sich, nicht um Mitteilungen über den Charakter. 
Hätte der Charakter Glosters sich nicht dann in jedem Wort, 
in seinem ganzen Tun dem keck selbstentworfenen Bilde ent- 
sprechend gezeigt, oder wäre sein Bild, abgesehen von dieser 
Selbstcharakteristik, gar blaß ausgefallen, so daß die ganze 
Last der Charakteristik auf ihr ruhte, ja freilich, dann wäre 
sie eine Stümperei. Nun aber ist es ein verwegenes Bravour- 
stück, das sich ein Shakespeare wohl erlauben durfte. 

Man merkt jetzt, worauf es uns in unserer Beweisführung 
angekommen. Wir wiederholen nochmals, die Technik des 
Dramas entwickelt sich, wie ein jedes Ding. Auch der Ge- 
schmack wird anders. Abgesehen aber hieiTon, gibt es noch 
einen anderen Gegensatz, als der zwischem „Altem'* und 
„Neuem", einen Gegensatz, der nur zu oft mit dem letzteren 
verwechselt wird. 

Wenn Ibsen von der einen, Shakespeaee von der anderen 
Seite die Selbstcharakteristik mit Geschick zur Erreichung von 

Bttkowski, Gerbart Hauptmann. 7 



98 y- Charaktere. 



Nebenzwecken verwendeten^ dahingegen aber der zeitlich in 
der Mitte stehende Heyse ungeschickt znr Eürreichung einer 
unmittelbaren Wirkung — so stellt sich dieser GFegensatz, als 
der einer guten und schlechten Dramatik, nicht aber als 
der einer „neuen" und „alten" dar. Dies wollten wir durch 
unsere Auseinandersetzung einmal anschaulich klarlegen. 

Wenn also Eebb you der direkten Charakteristik über- 
haupt, also auch von derjenigen durch andere Personen, sagt: 
,,Die moderne Technik verrät eine entschiedene Neigung, diese 
Art vollkommen fallen zu lassen, zugunsten der ungleich 
schwereren indirekten^, so müssen wir vor allem entgegensetzen, 
daß dies gar nicht der Fall ist. In der neueren Dramatik 
tritt die direkte Charakteristik ebenso oft auf, wie in der 
älteren. Um nur von Hauptmann zu sprechen, werden wir 
später sehen, daß, wo er von der direkten Charakteristik ab- 
steht, er es nicht immer „zugunsten der ungleich schwereren 
indirekten", sondern einer ungleich leichteren, aber durchaus 
verwerflichen tut Aber auch die ausgesprochen direkte 
Charakteristik mangelt nicht. Sie kommt vor in „Vor 
Sonnenaufgang", wo z. B. Helene die Mitglieder der 
Familie Krause solcher Art charakterisiert — im „Friedens- 
fest'', wo Robert Scholz sich und die anderen Familien- 
mitglieder ebenfalls derart charakterisiert — es wimmelt von 
ihr formlich im „Florian Geyer", wo gleich im ersten Akt 
die Bauernhauptleute derart charakterisiert werden, wo der 
Jude Jöslein gleicher Art den Ritter Grumbach charakteri- 
siert, wo überhaupt die Leute nicht viel mehr zu tun haben, 
als über sich hämische aber charakterisierende Worte in Um- 
lauf zu setzen. Doch wir wollen die Beispiele nicht mehren, 
weil wir die Frage für ziemlich belanglos halten. Nach 
unserem Dafürhalten soll zwar die Charakteristik indirekt, 
nämlich die durch die Handlungen der Personen selbst, in der 
Hauptsache gegeben werden. Dies schließt aber gar nicht aus, 
daß auch direkte Charakteristik der indirekten helfend zur 
Seite stehe. Warum soll denn aus Äußerungen von Personen, 



V. Charaktere. 99 



die mit anderen zu tun haben, die sie von der oder der 
anderen Seite kennen, nicht in geschickter Weise Licht über 
jene anderen verbreitet werden? Daß z. B. Sudbemann sich 
in „Sodoms Ende'' dieses Mittels in ziemlich nachlässiger, 
also ungeschickter Weise bedient, beweist gar nichts. Erstens 
gehört SuBEBMANN nicht zur älteren Dramatik. Was man ihm 
hier vorwerfen kann, ist Schleuderarbeit Zweitens aber ist 
auch ELauptmann von ihr in einem ähnlichen Fall nicht frei, 
denn der zitierten Charakteristik im „Florian Geyer'' sieht 
man allzusehr die Absicht an. 

Wie man aber direkt, dabei jedoch geschickt charakte- 
risiert, das könnten die neueren Dramatiker wiederum am 
besten beim „alten'' Shaeespeabe lernen. Was der nur so 
aus dem Ärmel schüttelt, wäre schon eine glänzende Recht- 
fertigung des Existenzrechtes dieses Mittels. Ich erinnere an 
„Julius Caesars" Sandglossen. Wenn Caesar von Cassius 
spricht „er bUcke stets so hager und hungrig drein'S so sagt 
er zugleich „Er denkt zu viel: die Menschen sind gefährlich". 
Und, was noch wichtiger, gleich eingangs „Laßt fette Männer 
um mich sein, mit Glatzen und gutem Nachtschlaf". Aus 
diesem Beispiel ersehen wir nun zweifaches: Erstens darf sich 
ein Caesar wohl erlauben, ein- „feinsinniger Psychologe" zu 
sein. Schon darin zeigt sich eine Geschicklichkeit. Zweitens 
sind die Bemerkungen Caesars keine müßige Plauderei, wie 
bei SuDEBMANN, soudem Eeaktion, Gegengefühl und Ent- 
gegenarbeit Er durchschaut nicht nur den Charakter des 
Cassius, sondern bestimmt durch diese Erkenntnis auch 
sein Fühlen: er fürchtet den Cassius und sein Tun; er 
will Cassius meiden. Hier werden wir also unmittelbar in 
den Strudel des Kampfes hineingezogen, der sich zwischen 
diesen zwei Männern schon abspielt Es ist dies also nur 
der Erscheinung nach eine direkte Charakteristik, dem Wesen 
nach ist es eine indirekte Charakteristik durch Handlung, in 
diesem Falle durch das Benehmen Caesars. 

Was sind dagegen die saftigen Wörtlein, die Löffelholz 



V, Charaktere. 101 



klar heraus. Wie gesagt, Caesar läßt sich am Morgen durch 
eine dick aufgetragene, auf seinen Größenwahn zurechtgelegte 
Schmeichelei betören. Es war also die Charakteristik des 
Decius für uns nicht einmal darchaus nötig. Wir sehen es ja 
bald darauf selbst, wie Caesar einer solchen Schmeichelei gegen- 
über nicht stand hält. Die Charakteristik wäre also entbehr- 
lich. Es ist eben keine solche, sondern ein Vorbereiten der Tat. 

Und dies finden wir bei Shakespeake in der Eegel. 
Wenn er direkt charakterisiert, so tut er es nicht aus Not. 
Wie seine direkte Charakteristik mehr ist als solche allein, 
weil sie auch treibendes Moment ist, so ist sie auch zwar 
Behelf, aber kein Notbehelf. Der Dramatiker könnte sich ganz 
gut ohne sie Rat schaffen. Wenn er sie anwendet, so tut er 
es aus der Fülle seiner Schöpferkraft zur Verstärkung des 
Eindruckes, nicht zu seiner Hervorbringung. Das Bild selbst 
wird durch die Handlungen hervorgebracht. Shakespeake ist 
zwar ein alter Dramatiker, aber ein echter und genialer. 

Fassen wir zusammen. Von einem Fortschritt in der 
Handhabung der Mittel der Charakteristik ist nichts zu ver- 
spüren. Ibsen mag sie mit fester Hand regieren, daher ist er 
ein guter Dramatiker. Wäre er der Naturalist, den man den 
konsequenten nennt, so wäre er eher ein schlechter. Denn, 
nun kommen wir zum Hauptpunkt, zur mehrmals angekündigten 
Einbuße, zu jenem Mittel, dem zuliebe Hauptmann von der 
direkten Charakteristik absteht. 

Wenn sich nämlich wirklich ein Zurückweichen der direkten 
Charakteristik bemerkbar macht, so ist es ein Zurückweichen 
nicht vor der indirekten, sondern vor der durch den Natura- 
lismus ins Leben gerufenen Charakteristik durch Begie* 
bemerkungen oder Regiecharakteristik. Von dieser aber 
haben wir schon im Abschnitt über äußere Technik dargetan 
daß sie weder eine direkte noch indirekte, sondern gar keine 
Charakteristik ist. Sie gleicht Zeugenaussagen, die bei einer 
Gerichtsverhandlung nicht zur Verlesung gelangen. Sie füllen 
nur die Untersuchungsakten. Regiecharakteristiken, wie die 



F. Charaktere. 108 



zu bringen hat Hier aber bleibt es nun bei der Absicht. 
Die Ausführung kommt nie. 

So sehen wir also statt des legitimen Fortschrittes, parallel 
mit der schwachen Eunst der Gharakterdarstellung eine mangel- 
hafte Technik der Charakteristik einhergehen. Eins bestimmt 
das Andere, das Eine ist nur eine andere Seite des Anderen. 
Wenn Shakespeabe, ohne dazu irgendwie genötigt zu sein, 
auch direkte Charakteristik durch den Mund der Handelnden 
gibt, so tut er es nicht, weil er muß, sondern, weil die Vision 
seiner Personen bei ihm in jedem Moment der Handlung und 
der Situationen ungeheuer lebendig, weil seine Gestaltungskraft; 
eine rastlos üppig treibende ist. Wir erinnern an das schon 
einmal Zitierte: „Mann, drücke den Hut nicht so tief ins Ge- 
sicht!'' Der Dramatiker sieht seine Personen nicht nur in 
jedem Augenblick, in der leibhaftesten Verkörperung, er sieht 
sie auch immer mit den Augen der anderen beteiligten Per- 
sonen. Darum sprechen sie in einer so wunderbar charakte- 
risierenden Weise voneinander. Der Dichter braucht seine 
Charakterisierungsabsichten nicht zu verhüllen — sie sind 
wirklich nicht da. Seine Personen sprechen charakterisierend 
voneinander, weil sie es tun müssen, aus innerem Drange, um 
ihrer selbst willen, nicht weil es dem Dramatiker nötig ist. 

Im Gegensatz hierzu sieht der naturalistische Dichter seine 
Person auch lebhaft, aber, wie in einem früheren Abschnitte 
dargetan, selten in ihrem Tun, sondern meist in einem ein- 
maligen Sein, als ein Bild, und zwar ein Erinnerungsbild irgend- 
einer im Leben gesehenen Persönlichkeit Daher kommen alle 
die Sommersprossen, graues, schwarzes, blondes Haar, die 
schiefen Schritte usw. Daher auch die Charakteristik durch 
Eegieangaben. Der Dramatiker beschreibt seine Personen 
nicht, wie sie den Partnern, sondern, wie sie ihm selbst 
erscheinen, nicht, wie sie ihm während des Spieles, sondern 
vor dem Spiele erscheinen. 

So etwas läßt sich freilich schwer durch eine Person des 
Spieles ausdrücken. Kann Johannes Vockerat von seiner 



F. Charaktere, 105 



Naturalidmas gewoben wurde. Wir wollen uns erinnern, mit 
welcher Fracht an pseudowissenschaftlichen Marotten der 
französische Naturalismus seinen Einzug hielt Von Dabwin 
nahm er die erbliche Belastung, von Tainb das Milieu, von 
den Naturwissenschaften die Pflicht einer mühsamen Beweis- 
führung mittels einer unübersehbaren Menge von Daten. Ein 
leiser Nachhall philosophischer Ideen von der Gesetzmäßigkeit 
und Bestimmtheit jeglichen Entwickelungsprozesses summte 
hinein. So entstand die Ungeheuerlichkeit der unendlich sich 
windenden Romanringe, in deren einzelnen Kettengliedern das 
in den vorhergehenden Keimende seine naturnotwendige Ent- 
wickelung durchzumachen hätte. So entstand der Boman 

ZOLAS. 

Solche Konstruktionen haben nun eine um so größere 
Werbe- und Expansionskraft, je schematischer, je künstlicher 
und je ärmer sie in ihrem Wesen sind. Der Mensch liebt es, 
sich von einem weitverzweigten System einschnüren zu lassen. 
Das ist im Grunde das Bequemste. So sagte man auch bald 
in diesem Fall: was für den Roman gut ist, ist für das Drama 
nicht schlecht. Wie, rief man, ein fertiger Mensch auf der 
Bühne, losgelöst vom Boden, dem er entsprossen? Nein 
das ist gut genug für einen Shakespeaeb. „N'en demandons pas 
davantage ä Shakespeare".^ Aber von Leuten der „Freien 
Bühne" kann man doch füglich mehr verlangen: „L'homme, 
resultante des ancetres, du sol, du climat, de la nourriture, de 
r^ducation, des conditions naturelles, sociales, 6conomiques au 
sein desquelles il nalt et grandit, voilä, par contre, le personnage 
que nous montre ou que tente de nous montrer la dramaturgie 
nouvelle."^ Was wußte ein Schiller von solchen komplizierten 
Forderungen? Er ließ die Leute sprechen, wie ihnen der 
Schnabel gewachsen, und denken und fühlen, wie es in ihrem 
Wesen lag. Doch das darf man nun nicht mehr, der Charakter 



^ Louis Bennoist-Hanappieb: Le drame naturaliste, S. 218. 
« A. a. 0. S. 219. 



F. Charaktere. 107 



Hanappieb belächelt mit überlegenem Gemüt die Naivität 
Shakbspeabes, der uns im ,^Lear" die beiden Söhn^ Glosters 
Edgar und Edmund ganz anders geraten läßt, den einen gut^ 
den anderen verworfen. Zwar sieht auch Hanappieb die Löwen- 
klaue Shaeespeabes. Er gesteht, daß der um die Ehren und 
Lebensgüter betrogene Bastard schon Grund genug hat, neidisch, 
bös und verworfen zu werden. Daß Shakespeare es auch so 
meinte, kann man ruhig annehmen, wenn man sich an andere 
Gestalten erinnert, an Bichard IIL, welcher erklärt, daß er 
„der Zeiten schale Lust hasse", weil er von der Natur um 
den Liebreiz betrogen wurde, an Shylock, mit seiner ins Un- 
geheuerliche gesteigerten Verbitterung des Parias. Wir gehen 
aber weiter und fragen: warum soll denn Edgar und Edmund 
gleich geraten? Wenn der eine ein Bastard war, so waren 
sie zwar von einem Vater, nicht aber von einer Mutter. Wer 
kann denn wissen, wie diese Mütter waren? 

Wo kämen wir aber auch hin, wenn wir den ganzen 
Stammbaum auf seine moralischen Eigenschaften prüfen müßten? 
Übrigens gibt Shaeespeabe Beispiele, wo Kinder desselben 
Eltempaares verschieden voneinander geraten , wie Eordelia 
und ihre Schwestern, Bichard III. und seine Brüder. Und 
mit Becht: denn die Faktoren der erblichen Veranlagung ge- 
hören ins Beich des ünerforschlichen. Die Wissenschaft be- 
ginnt kaum in die alleräußersten Geheimnisse der Entstehung 
eines Individuums einzudringen. Über die Werdung eines Ge- 
schöpfes besitzen wir geniale Hypothesen, sonst nicht viel mehr 
Was wir zu wissen glauben, ist nichts im Vergleich damit, was 
noch erforscht werden soll, dieses nichts im Vergleich damit, 
was nie erforscht werden wird. Ist es überdies nicht klar, daß 
außer der allgemeinen Beschaffenheit der beiden Eltern, die 
an und für sich das Ergebnis unzähliger Faktoren ist, noch die 
speziellen Begleitumstände und Bedingungen des Zeugungsaktes, 
der momentane Zustand der Eltern und viele andere Momente, 
kurz eine Unzahl von unbekannten auf die Art des künftigen 
Geschöpfes von entscheidendem Einfluß werden muß. Wie kann 



V. Charaktere, 109 



war, wenn man Wilhelm Scholz nicht unbedingt glauben 
muß, daß er und seine Geschwister nicht anders geraten 
konnten — so ist es doch unzweifelhaft, daß sie alle in den 
Boden, in welchen sie der Dramatiker hineingestellt hat, wohl 
passen. Ebenso Fuhrmann Henschel, Rose Berndt,Florian 
G^yer und andere. Was ist nun aber dabei? Paßt aber 
etwa ScHiLLEBs Wallenstein nicht in seinen Boden hinein, 
oder Macbeth, Richard III. oder gar Othello und Shylock? 
Oder, um zu den späteren vorzugehen, Hebbels Meister Anton, 
der alte Bernauer, oder seine Nibelungenrecken zu den 
ihrigen? 

So stellt sich der ganze Unterschied zwischen dem früheren 
„isoliert dastehenden'^ Helden und dem neueren aus seiner 
Umgebung organisch herauswachsenden zum Teil als eine leere 
Einbildung dar, deren Ursache in den in der Luft schwirrenden 
unklaren, aber verführerischen Zeitideen liegt, zum Teil als eine 
Neigung, die Grenzen der Kunstgebiete zu verwischen — ihre 
Unterschiede zu nivellieren. Es ist für uns gleichgültig, ob die 
seit den Jungdeutschen immer wieder auftauchende Idee einer 
umfassenden Darstellung des Nebeneinanders, verquickt neuer- 
dings mit der Idee der Entwickelungsdarstellung für den Roman 
als schädlich, oder nur als ein unschuldiges Spiel zu betrachten 
ist. Auf das Drama angewendet können solche Ideen zer- 
setzend und desorganisierend wirken und haben es schon getan, 
wie an dem Beispiel des „Florian Geyer" zu sehen ist. 

Die fokale Einrichtung unseres Bewußtseins und unserer 
Aufmerksamkeit macht sich im Drama am stärksten geltend, 
weil da unsere Aufmerksamkeit unmittelbar und besonders 
stark durch vor uns sich abspielende Vorgänge in Anspruch 
genommen wird. Die erwähnte Einrichtung bewirkt es nun, 
daß wir nur das sehen, worauf unsere Aufmerksamkeit un- 
mittelbar gerichtet ist. Das Übrige ist vorläufig nicht da. 
Der Dramatiker tut also recht, wenn er in derselben Weise 
vorgeht. Auch für ihn kann und soll außer dem im Brenn- 
punkt der Darstellung stehenden Gegenstand alles im Dunkel 



F. Charaktere. 111 



nicht in den Charakteren enthalten, sondern in der Situation, 
in dem Druck der Verhältnisse (so z. B. im Odipus). Oder 
es tritt endlich eine vielfache Kombination zutage. Immer 
muß der Charakter als Träger einer Kraft oder mehrerer 
Kräfte oder nur Träger eines Interesses in Aktion sich be- 
finden. Diese Aktion kann aggressiv oder regressiv, offensiv 
oder defensiv sein, kann im Handeln oder Erleiden bestehen — 
immer muß sie eine Wandlung der Kraft, d. i. des Charakters 
im dramatischen Sinne, involvieren. Der Charakter, die Persom 
in Aktion^ bedeutet also den Charakter in Wandlung. 

Was aber diese Wandlung ist, muß richtig verstanden 
werden. Deswegen wollen wir hier vorerst genauer bestimmen, 
was der Ausdruck Charakter für das Drama bedeutet Das 
Wort Charakter entspricht einem ethischen, einem psycho- 
logischen und einem ästhetischen Begriff. Der ethische Begriff 
ist es nicht, der uns hier stören kann. Niemand wird den 
ethischen Begriff mit dem ästhetischen verwechseln. Wohl aber 
kommt dies vor in bezug auf den psychologischen und ästheti- 
schen. Im ästhetischen Sinn nennen wir Charakter alle Seelen- 
eigenschaften (nicht die körperlichen, also nicht Sommersprossen, 
krauses Haar usw.) einer Person als Einheit aufgefaßt, also das 
seelische Gesamtbild einer Person. Daß es im Drama vor- 
zugsweise auf die Willenseigenschaften ankommt, ist wahr. 
Denn die Willenseigenschaften sind es, die den Vollzug der 
Aktion oder Reaktion hauptsächlich bestimmen. Jedenfalls 
aber sind — wenn man von einer Wandlung des Charakters 
spricht und insoweit man davon sprechen darf — nicht die 
Willenseigenschaften, sondern das seelische Gesamtbild gemeint. 
Nun bilden eben jene Willenseigenheiten des Menschen das- 
jenige, was man in der Psychologie den Charakter nennt und 
zwar den erworbenen Charakter, ^ Daneben gibt es einen 
Begriff des angeborenen Charakters, welcher, „teils die ver- 
schiedenen Weisen, auf Motive zu reagieren, teils die ver- 



^ JoDL, Lehrbuch der Psychologie, Bd. II, XII, 23. 



K Charaktere, 113 



geradezu malerische. Der Dramatiker ist da vor allem ein 
scharfer Physiognomiebeobachter, notiert sich im Gedächtnis 
von allen den Menschen, denen er im Leben begegnet, ihre 
äußeren Merkmale, ihre Gestalt und ihren Wuchs, die Gesichts- 
züge, die Haar- und Augenfarbe, die Haartracht und die 
Kleidung mit all den kleinen Eigenheiten beim Reden, Gehen 
und Stehen. Kurz, wie sie sich räuspern und spucken, das 
hat er vollkommen inne. Daß daraus ein Charakterbild ent- 
steht, ist nicht durchaus notwendig. Aber selbst da, wo dies 
der Fall ist, was geschieht nun mit diesen fertigen Bildnissen? 
Wir beobachten hier drei Grundarten. Entweder wird die 
Gestalt in eine unabhängig von ihr konzipierte Handlung oder 
Zustandschilderung, in welche sie gerade zu passen scheint, 
einfach eingewebt. So z. B. Loth in die Schilderung des 
„Sonnenaufgangs**. Oder es wird der Charakter selbst zu 
schildern unternommen, zu einem Charakter, also eine Art 
Handlung hinzugedichtet, so zum Teil im „Friedensfest", 
wo aus der Charakterschilderung der Familienglieder sich die 
Handlung (insoweit sie eine solche ist) entwickelte. So be- 
sonders im „Kollege Crampton", wo die Handlung völlig 
nur zum Aufputz herabgesunken ist. Endlich aber kann das 
Erinnerungsbild Personen samt den sie betreiffenden Verhält- 
nissen umfassen, wobei dann dem Bedürfnisse einer drama- 
tischen Zuspitzung dadurch entsprochen wird^ daß sowohl die 
Charaktere als auch die Ereignisse eine meist gewaltsame und 
äußerliche Umgestaltung erfahren. So in den „Einsamen 
Menschen**. 

Diese drei Arten treten natürlich nicht rein, sondern 
verschiedenartig kombiniert auf. Zu welchen Unzukömmlich- 
keiten und Nachteilen sie führen, waren wir bestrebt bei der 
Besprechung der einzelnen Stücke nachzuweisen. Wir wiesen 
im einzelnen darauf hin, wie gerade im naturalistischen Drama 
das geschieht, was man dem älteren Drama zum Vorwurf 
machen möchte. Der im Zustande der Kühe konzipierte 
Charakter ist mit der Handlung nicht organisch verbunden. 

Bytkowski, Gerhart Hauptmann. 8 



114 V, Charaktere, 



Die Personen handeln nicht, wie es ihrem Charakter ent- 
spricht, sondern wie ihnen der Dichter befiehlt Natürlich so- 
fern es zur Handlang überhaupt kommt. Meist sind es aber 
leidende Charaktere, wobei dann die Kongruenz zwischen 
Leiden und Charakter sich leichter einstellt. Wir wiederholen: 
Der schärfste Blick für die äußere Erscheinung kann das 
Schauen und Verstehen des Geschehens und der in ihm 
wirkenden Kräfte nicht ersetzen — wohl aber umgekehrt. 
Jenes ist für den Dramatiker manchmal nützlich, keinesfalls 
durchaus notwendig, oft schädlich, wenn es ihn von seiner 
Hauptaufgabe ablenkt. Dieses ist für ihn unumgänglich. Der 
naturalistische Dramatiker, der jenes besitzt, dieses nicht — 
kann geschickt sein, wenn er seine Mittel klug verwendet, ein 
echter Dramatiker wird er dadurch nicht. 

Aus der Funktion der Charaktere im Drama leiten sich 
auch andere Forderungen ab. Wenn man einen Fortschritt 
in der Gestaltung dramatischer Charaktere darin erblickt, daß 
ihre individuellen Eigenschaften immer mehr die typischen 
überwiegen, so muß dagegen auf die Grenzen des Individuali- 
sierens hingewiesen werden. Sie sind durch die Funktion der 
Charaktere gegeben. Da der Charakter im Drama nicht Selbst- 
zweck ist, so darf auch das psychologische Problem, als solches, 
für sich nicht Gegenstand der Behandlung werden. Es darf 
also die Individualisation nicht so weit geführt werden, daß 
das psychologische Kätsel und seine Lösung selbständiger 
Gegenstand des ästhetischen Genusses wird. Dieser kann 
seiner Hauptsache nach, wie gesagt, nur im Austrag des 
Kampfes gelegen sein. Verschiebt sich das ganze Gewicht des 
Werkes auf die Psychologie, wird unsere ganze Aufmerksam- 
keit durch sie in Anspruch genommen, wie oft bei Hebbel, 
so geschieht es nur auf Kosten der Schlagkraft und Wirkung 
des Dramas, mag das Problem, wie z, B. in „Gyges und sein 
Ring", noch so interessant und tief sein. Natürlich bleibt 
Hebbel auch da noch immer in jedem Zug Dramatiker. Auch 
dort, wo seine Psychologie zu kompliziert erscheint, ist jeden- 



F. Charaktere. 115 



falls nicht ein Zustand, sondern eine Handlung ihr Problem. 
Nicht der Charakter des Kandaules und der Bhodope ist 
Gegenstand seiner Psychologie, sondern was diese Charaktere 
in Berührung mit der Welt und miteinander erfahren und er- 
leiden, also im Kampf mit antagonistischen Kräften. Dasselbe 
ist der Fall in „Herodes und Mariamne", in der „Geno- 
veva", in der „Judith" und anderen Dramen. Überall wird 
der betreffende Charakter (Person) seinem innersten Wesen 
entsprechend und gemäß in Aktion gesetzt und in dieser Aktion 
und Keaktion auf die Verhältnisse entfaltet sich sein Wesen. 
Nicht aber ist die Aktion dazu geführt, um dieses aufzudecken. 
Dennoch aber ist die Psychologie Hebbels oft zu kompliziert. 
Sie beansprucht ein beschauliches Genießen, im Drama hin- 
gegen besteht der Genuß in einer Hingerissenheit, welche die 
Beschaulichkeit ausschließt, sowie diese umgekehrt jene ver- 
nichtet. 

Noch aus einem weiteren Grunde darf die Individuali- 
sierung nicht zu weit gehen. Das Drama soll nämlich allgemein 
Menschliches zur Darstellung bringen, nicht Spezielles. Spezielles 
ist seiner ganzen Natur nach Gegenstand beschaulichen Kunst- 
genusses, wovon noch später des Näheren. ^ Und endlich noch 
ein drittes Moment kommt hinzu: Die Darstellung im Drama 
muß großzügig sein, im Freskostil gehalten werden, sich nicht 
in Einzelheiten verlieren. Dies steht mit dem Vorigen in 
innigster Verbindung, ist aber auch aus technischen Eück- 
sichten geboten, insbesondere durch den Umstand, daß im 
Drama die äußere Erscheinung der Personen wandelbar ist. 
Ein jeder Darsteller bringt eine eigene äußere, zum Teil auch 
innere Erscheinung in seine Verkörperung mit. Der Dichter 
bringt nur die großen Züge, der Schauspieler erst die kleinen 
in die Darstellung. Diese letzteren werden aber vom Zu- 
schauer nicht besonders und für sich gesehen, sondern als 



* Das Nähere über den Unterschied von beschaulicher und ex- 
thatischer Kunst im Kapitel: Kunsttheoretische Begründung. 

8* 



F. Charaktere. 117 



schwang zu Haupt- und Grundforderungen aufdonnert. Flugs 
wird dann noch mit diktatorischer Gebärde alles Alte in die 
Bumpelkammer geworfen. Die Bahn ist nun frei, der Geist 
mit keiner überflüssigen Kenntnis des Früheren beschwert und 
so kann man mit hochtönenden Worten und vielem Staunen 
in jeder Anfängerarbeit Niedagewesenes entdecken. Kommt 
dann gar etwas wirklich Wertvolles in den Wurf, dann ist der 
Bewunderung kein Ende. Nichts vom „Alten" wird nun ge- 
schont, selbst die Größten müssen sich als naive Stümper ab- 
kanzeln lassen. Und was nur irgendeinem im Sturmeifer über 
die Feder kommt, das wird von den Nachstürmenden mit 
frommer Gläubigkeit nachgeschrieben. 

Auf diese Art entstehen die unglaublichsten Legenden, ge- 
boren aus Neuerungssucht, Oberflächlichkeit und apodiktischer 
Gesetzgeberweisheit. Und getragen von der Gedankenlosigkeit, 
Leichtgläubigkeit und Bequemlichkeit> sowie von etwas, was ich, 
im Anklang an den Lokalpatriotismus, den „Temporalpatrio- 
tismus« nennen möchte, schwellen sie immer mehr an, bis ihre 
Suggestionskraft unwiderstehlich wird. 

Darin liegt auch die Erklärung dafür, daß selbst gewissen- 
hafte und kenntnisreiche Leute sich oft zu Behauptungen ver- 
steigen können, wie die oben angeführten oder wie folgende: 
„Que devient ä cot4 de cette chimie des instincts et des senti- 
ments, la psychologie si claire, mais si rudimentaire (!) des 
classiques grecs oü frangais, ou memo de Shakespeabe, de 
ScHiLLEE, de Dumas Als? On va crier ä l'h^r^sie, mais il 
me semble, ä moi, que les carract&res de Hauptmann sont 
plus complexes et plus profonds que ceux de ces dramaturges.^'^ 

Ist es nicht merkwürdig, daß da, wo man von Kompüziert- 
heit der Charaktere spricht, von einem Hebbel nicht einmal 
Erwähnung getan wurde? Aber freilich die rudimentäre Ein- 
fachheit und Flachheit der Psychologie eines Lear, Macbeth, 



^ Loüis Bennoist-Hanapfier, Le drame naturaliste en Alle- 
magne, S. 216. 



118 V, Charaktere, 



Othello, Shylock, Brutus, Coriolan, des Hamlet und 
Wallenstein neben die Kompliziertheit und Tiefe eines Loth, 
Johannes Vockerat, Crampton oder des ,,nach auswärts- 
schreitenden" Michael Kramer zu stellen, wer dächte an so 
etwas? Wenn so manche Erklärer von Geist ihren ganzen Scharf- 
sinn aufgeboten haben, um das Dunkel des Wesens jener 
Charaktere aufzuhellen, so wird ihnen jetzt rundweg erklärt, 
daß sie Stümper seien samt und sonders, weil jene Psychologie 
„klar und rudimentär sei" — die reinste Anfängerarbeit im 
Vergleich mit der Psychologie eines Wilhelm Scholz im 
„Friedensfest".^ 

Wie steht es nun im Ernst mit dieser Sache? Wir haben 
im einzelnen nachgewiesen, daß Hauptmanns Charaktere 
meistens nur Stückwerk sind, ohne echtes Leben oder so blaß, 
daß sie wie „leere Harnische" umgehen, oder endlich willenlose, 
stumpfsinnige, vegetierende, dem Leben nicht gewachsene 
Menschen, deren Seelen auf gar wenige Töne gestimmt sind. 
Die nicht zahlreichen Ausnahmen aber sind Epigonenarbeit 
und Selbstspiegelung (Meister Heinrich). In dieser letzteren 
möchte ich — nebenbei bemerkt — die weitere Erklärung der 
merkwürdigen Erscheinung sehen, daß man der ödesten Dürftig- 
keit gegenüber von quellendem Reichtum spricht, daß man 
jene Dürftigkeit gegen die grandios wuchernde Urwälderüppigkeit 
eines Shakespeabe ausspielt. Was hat man nicht alles in den 
Johannes Vockerat hineingesehen? Es sind dies Eigen- 
schaften, die die Herren bei sich selbst vermuten, und wer 
hielte sein eigenes Gemüt nicht für reich? 



* Vgl. Bennoist-Hanappiee, a. a. 0., S. 217. 



VI. Sprache, Dialog und Monolog. 



1. Sprache. 

Unterzieht man die Funktion der Sprache im Drama einer 
genaueren Analyse, so ergibt sich, daß dieselbe eine zwiefache 
ist Erstens ist die Sprache im Drama ein Element der durch 
Kunst oder Schein darzustellenden Wirklichkeit selbst. So 
wie in der Wirklichkeit die Sprache Mittel des Berichtes ist 
oder „Kundgabe"^ unseres Innern, ebenso ist auch im Drama 
die Sprache zunächst Bericht und Kundgabe der dramatischen 
Personen. In diesem Sinne nennen wir sie einen Teil der 
darzustellenden Wirklichkeit. 

Als solches Element der Wirklichkeit wird die Sprache 
gleich anderen, wie Einrichtungsgegenstände, Bäume und dgl. 
nicht nur konkret, sondern auch durch ein adäquates Mittel 
reproduziert, nämlich durch sich selbst. Da nun in der drama- 
tischen Darstellung bei den konkret und. noch mehr bei den, 
durch adäquate Mittel reproduzierten Bealitäten möglichste 
Wirklichkeitstreue Regel ist, so glaubt man die Forderung 
einer solchen auch an die Sprache ausdehnen zu dürfen. In- 
soweit der Schein der Wirklichkeit durch diese selbst, durch 
eine adäquate Wirklichkeit erweckt werden soll, unterliegt, 
meint man, der Anspruch auf unbedingte Treue nicht dem ge- 
ringsten Zweifel. So abgeleitet hat auch die Forderung der 
yollen Wirklichkeitstreue bei Verwendung der Sprache im 



1 Theodob Lipps, Grundlegung der Ästhetik, S. 498 ff. 



120 ^^' Sprache, Dialog und Monolog, 

Drama einen gewissen Anschein der Berechtigung. Warum 
soll, so fragt man, die Sprache des Schauspielers nicht die 
Sprache des Lebens sein mit allen ihren Eigenheiten, wenn 
doch hier nichts im Wege steht? 

Wir werden später sehen, daß Wirklichkeitstreue über- 
haupt kein Selbstzweck in der Kunst ist, sondern nur Mittel 
zur Erweckung des Scheines, daß sie oft nur durch negative 
Rücksichten bis zu einem gewissen Grade geboten ist. Weiter 
werden wir bald erweisen, daß diesem geforderten Realismus 
tatsächlich nicht zu umgehende Hindernisse entgegenstehen. 

Die ganze Forderung aber erwuchs in ihrer Schroffheit 
und Schärfe nur aus der Verkennung der zweiten Funktion 
der Sprache im Drama. Das Wort hat nämlich im Drama 
noch eine zweite Funktion, die vollständig derjenigen entspricht, 
die es in der Poesie erfüllt. So wie die Farbe und der Umriß 
für den Maler, wie das Wort selbst in der reinen Wortkunst 
in der Poesie, ist das Wort auch im Drama Mittel der Dar- 
stellung. Es dient zur Mitteilung der Gedanken und Gefühle, 
und zwar wiederum derjenigen der dargestellten Personen und 
derjenigen des Dramatikers selbst 

Dies ist näher zu erklären. Wenn wir früher sagten: die 
Sprache ist Element des Darzustellenden, so meinten wir 
Folgendes: Zweck der dramatischen Darstellung ist eine Hand- 
lung, aber zur Handlung gehört auch die Sprache des Han- 
delnden, denn sie ist die unmittelbare „Kundgabe*' ihres Fühlens 
und WoUens, durch sie wirken sie auf sich ein, sie vermittelt 
ihren Verkehr. Ein anderes ist es, was wir hier meinen. Es 
gibt Tatsachen, es gibt Gefühle und Gedanken, deren Mitteilung 
nicht so sehr im Interesse der handelnden Personen, als des 
Dramatikers und des Zuschauers liegt. Oder anders gesagt, 
der Dramatiker hat ein Interesse, daß der Zuschauer von diesen 
Tatsachen, Gefühlen und Gedanken der Personen Kenntnis 
habe; er hat zweitens ein Interesse daran, dem Zuschauer ge- 
wisse Gedanken, Einsichten und Gefühle einzugeben oder zu 
suggerieren. Beides tut er durch die Sprache, die also hier 



VI. Sprache, Dialog und Monolog. 121 

nicht ein Element des Darzustellenden im eigensten Sinne ist, 
sondern ein Mittel der Darstellung. In beiden Fällen ist sie 
von konventionellen Elementen stark durchsetzt, wie jede Mit* 
teilung auf Konvention beruht. 

Wiewohl nun der Naturalismus in der Theorie diese zweite 
Funktion der Sprache (als Mitteilungsmittel) nicht anerkennen )( 
und einfach übersehen möchte, so folgt doch mit nichten daraus, 
daß er sich in der Praxis dieses Mittels nicht im vollsten 
Maße bediente. Helenes Eröffnungen Loth gegenüber in „Vor 
Sonnenaufgang" können zwar Wirklichkeit sein, sind aber 
im Grunde doch nur an uns gerichtet, sind also Mitteilung des 
Dramatikers. Noch mehr gilt dies von den aufklärenden Worten 
Dr. Schimmelpfennigs, dessen ganze Einführung nur den 
Zweck hat, sowohl Loth als auch uns über die weiteren Ver- 
hältnisse in der Familie Krause zu unterrichten. Ganz den- 
selben Zweck verfolgt der bekannte Vortrag des Robert Scholz 
im „Friedensfest" über den „gärenden Sumpf'*, dem er und 
seine Geschwister entstammen. Im „Florian Geyer" gibt 
es eigentlich nur Mitteilungen des Dichters, so sehr sie auch 
mit Interjektionen wie „mere", „kotz" und „blau" „verdeckt" 
sind. Das ist natürlich schlecht, aber auch das bestgefügte 
Drama kann der Mitteilungen über Gedanken und Gefühle der 
handelnden Personen, sowie der als Suggestionsmittel ver- 
wendeten Sprache nicht entbehren. Ist ihre Anwendung auch 
verdeckt und beschränkt, so ist sie doch da und kann nicht 
hinwegdisputiert werden. Damit aber kommt das Element der 
Konvention hinzu, welches eine weitere Beschränkung der 
Wirklichkeitstreue bedingt. 

Überhaupt muß schon hier kurz bemerkt werden, daß der 
ganze Genuß eines Dramas auf einer Fiktion und auf Kon- 
vention beruht, wovon später noch mehr. 

Indem wir nun ins Einzelne eingehen, wollen wir vor- 
nehmlich das Wort als die zu reproduzierende Wirklichkeit 
vornehmen. Oben haben wir auf die Hindernisse hingedeutet, 
die sich dabei der unbedingten Wirklichkeitstreue entgegen- 



122 VI, Spraehe, Dialog und Monolog, 

stellen. Worin diese Hindemisse zu suchen sind, ist nicht 
schwer zu erraten. Wollte man bei der Eeproduktion des 
Wortes immer strenge Wirklichkeitstreue wahren, so müßte 
sich der Dramatiker in der Wahl des Stoffes nicht nur auf 
sein Zeitalter, seine weitere Heimat, sondern auch auf seine 
engere Heimat, ja auf das dem präsumptiven Publikum am 
nächsten stehende Milieu beschränken. Denn es ist klar, daß 
die Nichtanwendung einer fremden Sprache, wenn das Stück 
in einem fremden Lande spielt, ja sogar schon die Nicht- 
anwendung der speziellen Sprache der handelnden Personen 
gegen die Forderung unbedingter Wirklichkeitstreue verstößt 

Fragt man in dieser Hinsicht die naturalistischen Theore- 
tiker, so meinen sie freilich, eine solche Auffassung jener 
Forderung wäre platt Wir teilen diese Ansicht vollauf, be- 
haupten aber, daß weder die Theorie, noch insbesondere die 
Praxis der Naturalisten eine andere Auffassung zulassen. Was 
denn sonst bedeutet die Forderung und Durchführung strengster 
Dialekttreue? 

Fraglos ist es verbohrter Snobismus, wenn Hauptmann 
den schlesischen, oder Halbe den ostpreußischen Dialekt in 
strengster Durchführung anwendet Kommt es zur Aufführung, 
da werden die Segel auch rasch gerefft Man begnügt sich 
mit einer gemilderten Durchführung, die man „Übertragung" 
nennt Diese Übertragung wird dann von den Schauspielern 
weiter „übertragen", ja manchmal wird aus dem schlesischen 
gar der österreichische Dialekt, wie bei der Aufführung des 
„Hannele" im Burgtheater. 

Das ist auch natürlich. Denn abgesehen vom Schau- 
spieler^ der sich nicht die Zunge zerbrechen kann, muß doch 
das Publikum wenigstens eine Ahnung davon haben, was ge- 
sprochen wird. Der „konsequenteste" Naturalist kann doch nicht 
verlangen, daß man z. B. dem „Eisgang'^ zuliebe in aller Eile * 
den nordostpreußischen Dialekt erlernt Anders aber wäre der 
„Eisgang" einem österreichischen Publikum absolut unverständ- 
lich. Ja der Kreis müßte sich noch mehr verengern. Für die 



VL Sprache, Dialog und Monolog» 123 

„Weber" müßte das Publikum einfach nur aus den Webern 
jener schlesischen Gegend bestehen, in welcher das Stück 
spielt So müßte für ein jedes Stück ein anderes Publikum 
gesucht werden. Das bestätigen auch die offiziellen Über- 
tragungen und die den lokalen Verhältnissen Eechnung tragenden 
Einrichtungen. Da fragt sich nun, wozu die originellen Aus- 
gaben da sind, wenn man zu ihrer Ergänzung Übertragungen 
nötig hat. Die Antwort ist klar. Sie sollen nichts anderes 
sein als eine Verbeugung vor der Forderung der unbedingten 
Wirklichkeitstreue. Sprechen die Weber so, da soll auch so 
im Stücke gesprochen werden. Weil es aber kaum jemand 
versteht, so gibt man eine „Übertragung" dazu, die natürlich 
jener Forderung ins Gesicht schlägt, wie noch mehr die Über- 
setzungen in andere Dialekte. Dies alles ist um so sinnloser, 
als die Forderung der vollen Wirklichkeitstreue bei der Ver- 
wendung des Wortes im Drama an sich nicht begründet ist. 
Es hat nämlich die Treue in der Wiedergabe des Wortes im 
Drama, wie schon erwähnt, keinen für sich bestehenden posi- 
tiven Zweck, sondern nur einen negativen. Sie soll nämlich 
verhindern, daß wir im Genüsse des Werkes gestört werden 
durch allzu fühlbare Inkongruenz zwischen der Eedeweise der 
dramatischen Personen und derjenigen, die ihnen nach unserer 
Kenntnis oder Vorstellung eigentümlich ist Wenn z. B. ein 
Bauer wie ein Gelehrter spräche oder umgekehrt, so würden 
wir den inneren Widerspruch unangenehm empfinden. Damit 
sind aber auch die Grenzen der naturalistischen Gestaltung 
der Bede gegeben. Sie darf nicht aufdringlich sein, darf nicht 
unsere ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, denn sonst 
stört sie eben in anderer Weise, indem sie uns von wichtigeren 
Dingen ablenkt. Somit stellt sich die Forderung der un- 
bedingten Wirklichkeitstreue in der Verwendung der Sprache 
nicht nur als unausführbar und schon deshalb lächerlich, sondern 
auch als an sich schädlich dar. 

Es ist übrigens interessant zu beobachten, wie zu ihrer 
Aufstellung nicht nur verbohrter Doktrinarismus, sondern, wie 



124 yj^* Sprache^ Dialog und Monolog, 

in anderen Fällen, auch mißverstandene Beispiele verleitet 
haben. 

Das erste ist das der Lokalposse. Die strenge Durch- 
führung des Dialektes des Volks- und Lokaltones ist nichts 
Neues. Sie hatte Verwendung in der Lokalposse. Seit jeher 
haben Possendichter den Dialekt ihrer Umgebung mit mehr 
oder weniger Strenge verwendet. Ihr genialster Vertreter Eenst 
Elias Niegeeball soll stark auf Hauptmann eingewirkt haben. 
Wie dem auch sei, unzweifelhaft hat das Beispiel der Lokal- 
posse, sicher auch Anzengeubees, die Rolle des Versuchers 
gespielt. „Was den Lokalpossendichtern gelungen ist, soll uns 
noch besser gelingen^', dachten die Naturalisten. „Jene haben 
einer instinktiven Neigung gefolgt, wir wollen den Dialekt 
konsequent anwenden." 

Nun behaupten wir, daß das Beispiel gründUch miß- 
verstanden wurde. Erstens wandte sich die Lokalposse an ein 
mit dem betreflfenden Dialekt halbwegs vertrautes Publikum. 
Wo sie in eine andere Umgebung verpflanzt ward, erfuhr sie 
auch eine gründliche Umarbeitung. Zweitens ist der Genuß 
an der Posse in seinem Wesen nicht dramatisch. Außer der 
Komik der Situation, der derben Witze usw. wirkt in der 
Lokalposse insbesondere die saftige Verwendung des Lokaltones 
an sich. Man freut sich daran, diesen Ton in allen den gelungenen 
Wendungen wiederzufinden. Diese Freude hat — das wird 
man zugeben — mit der dramatischen nichts gemein, sie ist 
vom beschaulichen Charakter und wirkt, wo sie auftritt, dem 
dramatischen Genuß geradezu entgegen. 

So wurde nun bei Befolgung des Beispieles von der Lokal- 
posse die doppelte Lehre mißachtet, daß einerseits ihre Wirkung 
auf einen engsten Kreis beschränkt und berechnet ist, daß sie 
andererseits nicht rein dramatischen Charakter hat. 

Die zweite Versuchung, der man erlegen ist, kann von 
der schon ziemlich eingebürgerten Verwendung der Sprache 
des täglichen Lebens in den Zeit- und Gesellschaftsdramen. 
In diesen, wo Personen der gebildeten Stände auftreten, wie 



VI, Sprache, Dialog und Monolog, 125 

Doktoren, Advokaten, Ingenieure, Privatgelehrte, Journalisten 
Dichter, Maler usw. steht der Verwendung ihrer Umgangs- 
sprache nichts im Wege. Mag sie auch noch so lokal gefärht 
sein und mögen auch hier die konsequenten Naturalisten des 
Guten zu viel tun, jedenfalls ist es eine Sprache, welche im 
großen und ganzen allgemein gültig und verständlich ist und 
jenen Charakter des Typischen hat, der es mit sich bringt, 
daß bei einer Übersetzung nichts verloren geht. 

Aber auch hier sollte die Lehre gezogen werden, daß, was 
gut ist, wenn die Sprache der handelnden Personen und des 
Publikums in der Hauptsache sich gleichen — nicht notwendig in 
allen Fällen gut sein muß, insbesondere nicht in denjenigen, wo 
der Unterschied so grell auftritt, daß eineUbertragungvonnötenist. 

Jedoch nicht nur aus dem Gebiete des Dramas kamen 
die verführerischen Beispiele. Wie bei vielen anderen hat der 
Naturalismus auch hier die im Roman zuerst angewandten 
Neuerungen gedankenlos auf das Drama ausdehnen wollen. 
Est ist nun hier nicht der Ort zu untersuchen, wie weit die 
Anwendung des Dialektes im Boman gehen kann. Wir können 
nur feststellen, daß die Grenzen jedenfalls weiter gezogen 
werden dürfen als im Drama. 

Einmal ist der Roman eine epische Nebengattung, die 
überhaupt die größten Freiheiten gestattet. Zweitens ist der 
Genuß beim Roman ein anderer, er ist ein beschaulicher, hat 
ein anderes Tempo, als der Genuß des Dramas und verweilt 
seiner beschaulichen Natur nach gern bei den Erscheinungen, 
Zu diesen Erscheinungen können nun die Eigenheiten der 
Sprache ebensogut gehören wie die anderen, von denen wir 
bei der Besprechung der Charaktere gesprochen, oder wie 
Landschaften, Einrichtungsgegenstände usw. 

Drittens ist die Auffassung oder, sagen wir einfach, das Ver- 
stehen des Dialektes im Roman erleichtert. Die Dialektstellen 
wechseln mit den berichtenden des Verfassers ab. Der fremde Dia- 
lekt selbst ist, in Ruhe gelesen, der Einfühlung leichter zugänglich 
als im Drama, wo er uns sozusagen leibhaft entgegentritt. 



126 V^' Sprache^ Dialog und Monolog. 

Wer ein Drama in einem fremden Dialekt zuerst ge- 
lesen, dann gesehen, maßte die Erfahrung gemacht haben 
daß der Dialekt, der ihm beim Lesen halbwegs verdaulich vor- 
gekommen, ja vertraut angemutet, ihm jetzt während der Auf- 
führung als etwas fremdartig Störendes verletzte. Dies geht 
so weit, daß dagegen keine noch so intime Kenntnis des 
Stückes hilft. 

Es ist nämlich nicht das Nicht verstehen allein, welches 
stört. Hört man ja oft fremde Schauspieler in einer wenig 
bekannten Sprache mit großem Genuß. Sondern es ist eben haupt- 
sächlich das Fremdartige. Gerade deswegen, weil es die uns 
vertraute Sprache ist und doch zugleich fremd dabei, das ver- 
letzt und behindert den Genuß. Es ist dem selbstlosesten, zart- 
fühlendsten Menschen leicht, sich in die Gedanken, Gefühle 
und Handlungen eines Erzbösewichtes einzufühlen. Ebenso 
umgekehrt, dem nüchternsten, kältesten Verstandesmenschen 
in diejenige einer Antigone. Dagegen aber ist es schwer, sich 
in einen fremden unbekannten Dialekt einzufühlen. 

Ich wiederhole: nicht so im Boman. Dort tritt das Wort 
nicht leibhaftig, konkret vor mich hin. Ich höre es gleichsam 
in meiner Seele in einer gemilderten, harmonisch eingestimmten 
Resonanz. So erweist sich wieder einmal, wie leichtfertig und 
gefährlich es ist, die Methoden eines Kunstgebietes ungeprüft 
und wörtlich auf ein anderes übertragen zu wollen. 

Es ist selbstverständlich, daß wenn die strenge Anwendung 
des Dialektes im Zeitdrama, das in der Gegenwart spielt, nicht 
durchführbar und nicht erwünscht ist, dann ist es im histo- 
rischen, in der Vergangenheit sich abspielendem Drama noch 
weniger möglich und am Platze. Fürs erste sind wir durch 
die Forderung strenger Wirklichkeitstreue noch weniger ge- 
bunden als im Zeitdrama. Denn da man von der Sprache der 
entlegenen Zeiten keine so lebendige Vorstellung hat wie von 
derjenigen der Gegenwart, so wird man auch nicht so leicht 
•durch das Inadäquate in der Sprache des Werkes gestört. 

Es kommt aber noch ein anderes hinzu. Bei der Dar- 



VI, Sprache^ Dialog und Monolog. 127 

Stellung der Gegenwart gibt der Dichter das Beobachtete treu 
wieder. Dies wirkt durch seine Unmittelbarkeit. Im historischen 
Drama kann der Dichter nicht unmittelbar beobachten, er muß, 
ähnlich wie beim Schaffen des Charakters, konstruieren. Es 
mangelt infolgedessen der Eindruck der Frische, es entsteht 
vielmehr derjenige des Gekünstelten oder wenigstens des Künst- 
lichen. So muß die äußere Treue noch mehr zugunsten der 
inneren, auf das Psychologische reduzierten zurücktreten. Ja, 
selbst wenn es an dem Dichter nicht läge, ähnlich wie dies 
der Fall ist bei Werken, die selbst in entlegenen Zeiten ge- 
schaffen wurden — der Zuschauer, der Hörer wird durch die 
allzugroße Treue gestört, — denn die Sprache der entlegenen 
Zeiten ist ihm ebenso fremd, als irgendein fremder Dialekt. 
Dazu kommt aber, daß im historischen Drama auch Personen, 
die im Zeitdrama keinen Dialekt, sondern eine der Schriftsprache 
ähnliche Umgangssprache anwenden würden, sich einer fast 
fremden, fremdartig klingenden Sprache bedienen. Wir sehen 
Leute des sogenannten gebildeten Standes, die doch etwas 
sprechen, das wie Dialekt klingt Dies stört noch mehr. 

Das sehen wir auch im „Florian Geyer". Die Sprache 
verrät einerseits den Schweiß den Dichters, andererseits wird 
durch ihre Absonderlichkeit der Genuß mehr gestört, als ge- 
fördert. Weniger würde da mehr sein. Würde sich der Dichter 
auf Andeutung, auf archaistische, dem Zeitalter entsprechende 
Färbung der Bede, auf Transposition in Ton, Ausdruck und 
Denkweise beschränken, dann wäre die Wirkung viel stärker. 

Wir schließen nun. Die „konsequente" Anwendung des 
Dialektes im Drama ist die inkonsequenteste aller Neue- 
rungen des Naturalismus. Sie beruht auf einer irrtümlichen 
Voraussetzung der Notwendigkeit unbedingter Wirklichkeitstreue. 
Sie wurde unter Verkennung der wesensverschiedenen Ver- 
hältnisse teils von einem Teilgebiete des Dramas, teils vom 
Roman blind herübergenommen. Sie wäre endlich nur eine 
fragmentarische Konsequenz, wenn sie je ernst genommen 
würde, was aber nicht der Fall ist. 



VI, Sprache, Dialog tmd Monolog, 129 

I » . ■ — _ — 

ralismus, wohl aber die Naturalisten wie z. B. Hauptmann 
auch eine von der unbedingten Wirklichkeitstreue völlig los- 
gelöste Sprache, nämlich die Versspraehe kennen. Hauptmann 
sucht auch dabei — und zwar oft glücklich — die möglichste 
Anschmiegung an die Sprache der Wirklichkeit zu erreichen^ 
(„Versunkene Glocke", „Der arme Heinrich'*). Dabei 
erfährt er selbst, worauf es eigentlich ankommt, nämUch auf 
den Schein der Treue, nicht auf diese selbst 



2. Der Dialog. 

Die Verdienste des Naturalismus um den dramatischen 
Dialog sind unbestreitbar. Wir wollen sie ihm auch nicht 
schmälern. Der Boden ist zwar vorbereitet gewesen. Mit 
Lessing und dem bürgerlichen Schauspiel setzt die Bewegung 
ein, die einen stetigen, wenn auch nicht ununterbrochenen 
Fortschritt in der Behandlung des Dialogs brachte. Dann 
kam der Einfluß des fremden realistischen und impres- 
sionistischen fiomans, des französichen, russischen und skandi- 
navischen. Endlich der Ibsenische Dialog mit seiner 
wunderbaren Mischung von Bedeutung und Impression, Ab- 
sichtlichkeit und ünabsichtlichkeit, Zweckvollem und Intimem. 
Doch den letzten Schritt taten Holz und Schlaf. In ihren 
Novellen drängte sich der impressionistische Bericht bis zur 
Knappheit von Bühnenanweisungen zusammen, dagegen erfuhr 
die mit unerhörter Hingebung, Schärfe und Feingefühl be- 
lauschte Rede die treueste und liebevollste Wiedergabe. 

Dies wirkte geradezu wie eine Offenbarung. Man sah mit 
Staunen, daß die Sprache des täglichen Lebens noch immer 
unentdecktes Land war, mit unerschöpflichem Reichtum. Und 
nun kam man, durch die dramatische Zuspitzung der Form 
jener Novellen verführt, auf den irrtümlichen Gedanken, daß 
das Drama die Kunstgattung sei, in der dieser Reichtum an 
den Tag gefordert werden soll. 

Bytkowski, Gerhart Hauptmann. 9 



VI. Spraoke, Dialog tmd Monolog, 131 

' ' ' ' . - I ^^^m^ ^ ■■ ■!! ■ I ■ I . ■ I ■■ ■ ■ III , I ■ ^ 

der Wiedergabe der sprachlichen Eigenheiten selbst^ also der 
Dialektstreue. 

Znin zweiten brachte der Naturalismus dem Dialog auch 
direkten Nachteil. Er verleitete nämlich^ wie paradox das auch 
klingen mag, zur Nachlässigkeit. Da man sich jetzt bemühen 
sollte, den Schein der Nachlässigkeit, der natürlichen Un- 
absichtlichkeit zu wecken, so glaubte man berechtigt zu sein, 
wirklich nachlässig zu verfahren. So ist manche Schleuder- 
arbeit unter der Flagge der Naturwahrheit, Eunstlosigkeit statt 
der Ungezwungenheit in den naturalistischen Dialog hinein- 
gekommen, von den unnützen Roheiten und Gemeinheiten ganz 
abgesehen. 

Dazu kam, daß man mit der Abwendung von den mit 
Becht verpönten Geistreicheleien der vorangehenden Epoche 
sich oft auch vom Geist abwenden zu müssen glaubte. So 
trat Geistlosigkeit und Banalität an Stelle des früheren Geist- 
reichtums. 

Endlich kam noch eine zuweilen unausstehUche Manieriert- 
heit hinzu, die sich in der absichtlichen Zurschaustellung einer 
burschikosen Unbekümmertheit kundgab. Alles dies zusammen 
gibt ein Bild der Unreife, die lebhaft an die Sturm- und 
Drangzeit erinnert. 

Nun ist es gewiß verwunderlich, daß vom allzu großen 
Betonen des formalen Prinzips, wie es die Bestrebungen von 
Holz und Schlaf sicher sind, solche Sünden gegen den Stil 
geboren werden könnten. Das Paradoxon ist aber leicht zu 
lösen. Die Wegweiser waren wirklich nur liebevolle Beobachter 
und Gestalter der Alltagsrede — die Nachfolger wollten vor 
allem Dramatiker sein. Sie kamen von anderswoher und 
strebten anderswohin zu. Für eine fremde Idee aber, sagt 
der Skalde in den „Kronprätendenten^', kann man wohl 
sterben, nicht aber leben. Die Ideen HoLzens und Schlafs 
waren ihnen fremd, weil sie episch durch und durch sind, und 
wie wenig Dramatiker die Schüler auch oft sein mochten, dem 
Drama haben doch ihre Bestrebungen gegolten. Nicht umsonst 

9* 



132 VL Sprache, Dialog und Monolog, 

schrieb Hauptmann in seiner bekannten Widmung zu vor 
„Sonnenaufgang" von Holz und Schlaf als den „einzig 
konsequenten" Bealisten. Er fühlte dunkel, daß es ihm 
schwerlich möglich sein wird, jenen in der Konsequenz zu 
folgen. 

Und wirklich, was helfen die saftigen Wendungen dea 
Ehepaares, Krause, des Kahl-Wilhelm und anderer? Mai> 
sieht doch, daß sie nur Verbrämung sind, naturalistischer Auf- 
putz zu einem Dialog, der von ganz anderem Geiste getragen 
ist, zum Dialog zwischen Loth und Hoffmann, zwischen 
Loth und Helene (trotz der berühmten Liebesszene!), endlich 
zwischen Loth und Dr. Schimmelpfennig. Jene hat sich 
der epische Beobachter zur eigenen Freude gut aufgelesen 
und dann dem Dramatiker zur Verfügung gestellt. Diese hat 
der letztere erst zum Zwecke des Dramas schlecht komponierte 
Äußerlich sind sie verbunden, organisch nicht. 

Und merkwürdig, welches Stück immer wir hernehmen^ 
überall fast zeigt es sich, daß Hauptmann dort, wo seine 
Personen im Dialekt sprechen, sich als Meister des Dialoges 
erweist. So ist er unbedingter Meister des Dialoges in den 
„Webern", im „Fuhrmann Henschel", in der „Rose 
Berndt", ebenso im „Kollege Crampton" und in den Er- 
güssen des „Michael Krämer'^ Dagegen ist die Sprache 
des Johannes Vockerat unerträglich manieriert. 

Wie kommt dies? G-ewiß kann man daraus nicht die 
Lehre ziehen, daß der Dialekt der dialektfreien Sprache vor- 
zuziehen wäre. Die Sache gestaltet sich anders und einfack 
Es ist wie bei den Charakteren Hauptmanns. Was er be- 
obachtet, was er beobachten kann, das gibt er unnachahmlich 
wieder. Wo er gestalten soll, da geht er irre. Betont sei^ 
daß wir nicht meinen, der Dialog im Dialekt sei dramatisch 
überall gelungen, sondern für sich als solcher ist er gelungen. 
Die Beden Gramptons könnten ganz gut in einen Boman 
passen, haben sie doch mit einer Handlung nichts zu tun.. 
Noch weniger haben die Auslassungen des „Michael Krämer'^ 



VL SpraeJte, Dialog und Monolog, 133 

Lachmann gegenüber^ deren Gegenstand Kunst ist^ etwas 
mit dem Verhältnis zu seinem Sohne zu tun. Auch in der 
gebundenen Rede, so wie der altfränkischen „Florian Geyers'S 
ist übrigens Hauptmann ein glücklicherer Gestalter des Dia- 
loges, als in der modernen Sprache des Alltags« Es scheint 
aus ebendemselben Grunde, weil er dort wie auch im Dialekt 
gezwungen war zu einer Sorgfalt und Durchbildung, die ihm 
hier überflüssig zu sein schien. 

Bei alledem wollen wir uns dabei nicht aufhalten. Wie 
notwendige Folgeerscheinung auch diese Nachteile sein mögen, 
sie ließen sich durch redliche Mühe, die den Herren oft zu 
wünschen wäre, überwinden oder wenigstens insoweit ein- 
schränken, daß die oben aufgeführten Vorteile rein zur Geltung 
kämen. Unser Haupteinwurf, den wir uns bis zuletzt auf- 
sparten, ist prinzipieller Natur. 

Wir meinen, daß selbst die größte Verfeinerung des Dia- 
loges, mag sie auch an sich vöUig einwandsfrei sein, für das 
Drama keinen reinen Vorteil bringt. Ja, über eine gewisse 
Grenze hinausgeführt, schlägt der Vorteil direkt in Nach- 
teil um. 

Stellt man sich auf unseren Standpunkt, den wir durch 
alle unsere Ausführungen gerechtfertigt zu haben glauben und 
noch rechtfertigen wollen, so müssen sämtliche Gründe, die 
gegen den alten Dialog und für den modernen in seinen 
mannigfachen Abarten angeführt werden, gerade gegen diesen 
letzten sprechen. Man beruft sich darauf, daß im Leben nicht 
so wohlgesetzte, schlagfertige, geistreiche Beden geführt werden, 
wie in dem früheren Drama. Hier steckt ein alter Irrtum. Man 
verwechselt Kunst und Leben. Mit demselben Bechte könnte 
man die ganze Lyrik, die Plastik oder die Musik ausrotten 
wollen. Denkt oder fühlt denn je ein Mensch in gebundener, 
wohlgeformter Bede, wie Goethe oder Mombeet? Oder gibt 
es Menschen aus Erz und Stein? Man vergißt eben wieder, 
wie oft, daß Kunst Inneres offenbart durch Symbole, durch 
Zeichen, die sich mit den Zeichen des Lebens vielfach decken, 



VL Sprache, Dialog und Monolog, 135 

zum Teil jenes Abgehen von der Wirklichkeit, gegen welches 
sich die Vorwürfe des Modernen wandten. Uns aber erscheinen 
diese Vorwürfe nur insofern begründet, als sie sich gegen das 
direkt Unnatürliche, Verknöcherte und inwendig Hohle, gegen 
das künstlich Konventionelle richten. Dagegen darf die Ver- 
feinerung des Dialoges nur so weit gehen, als seine dramatische 
Schlagkraft es erlaubt, so weit nämlich, als man die Ver- 
feinerung noch gewahr wird. Weil sie dramatische Kunst, 
Theaterkunst ist, darin der Freskomalerei ähnlich, daß sie für 
die Ferne bestimmt, muß sie großzügig und wuchtig sein, 
mit herausgearbeitetem Umriß und scharf sich abhebender 
Gliederung. 

Es ist eine allerdings selbstverständliche, jedoch oft miß- 
achtete Hauptregel aller Kunst, daß eine jede von ihnen nur 
die Mittel anwenden soll, die ihr zu Gebote stehen, und nur 
insoweit sie mit ihnen die ihren Zwecken entsprechende 
Wirkung erlangt. Dann aber soll sie sich durch nichts ge- 
bunden fühlen, nicht durch aufgedrungene Gesetze. Sondern 
sie soll ihre Mittel schrankenlos ausnützen, soweit sie es 
nur vermag. Eines der Mittel des Dramas ist das Wort. 
Das Wort in allen seinen Funktionen, auch als Mitteilungs- 
mittel der Seele in wohlgesetzter gebundener Eede, auch als 
musikalisches Element zur direkten Erweckung von Stim- 
mungen, zur Erregung, zur Aufwühlung des Gemütes. Des- 
wegen sind auch pathetische sogenannte „ schöne '' Eeden 
erlaubt, insofern sie wirkungsvoll sind (also nicht die inwendig 
hohlen). 

Daß auch ein Prinz von Dänemark oder ein von seinen 
Töchtern vertriebener König nicht so sprechen wird, wie 
Shakbspeabes Hamlet oder Lear, das kümmert uns wenig. 
Wir sagen dennoch glattweg: dies ist durch und durch wahr. 
Ja wir nennen Shaeespeabe einen unvergleichlichen Realisten. 
Weil seine Eede das ausdrucksvollste, sinnfälligste Zeichen 
einer Aufregung der Seele ist, die sich uns durch dieses macht- 
volle, musikalische, gedanken- und gefühlerregende Mittel ge- 



136 VL Sprache, Dialog und Monolog. 

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bieterisch aufzwingt^ die uns mit- nnd hinreißt und so die 
reellste Einfühlung zuwege bringt. Das ist die innere Realität, 
von der wir noch sprechen werden. 

3. Der Monolog. 

Die Sprache, haben wir gesagt, ist das Sinnbild der Ge- 
danken und Gefühle der handelnden Personen. Dies führt 
uns auf die Frage, inwiefern der Monolog im Drama zu- 
lässig ist 

Die auf die strengste Wirklichkeitstreue ausgehende Ten- 
denz der Naturalisten mußte sich auch gegen den Monolog 
kehren. Im Namen der Wirklichkeitstreue wurde der Monolog 
aus dem Drama verbannt. Wenigstens im Drama mit rea- 
listischer Sprache, sagte man, dürfe der Monolog nicht vor- 
kommen. Die Gründe bewegen sich meist innerhalb derselben 
Einwürfe. Sie sind bekannt. Der Mensch, sagt man, denke 
gar nicht laut, spreche nicht mit sich selbst und, was er fühlt 
und denkt, das habe nicht die Form und nicht die Langsam- 
keit des Monologs. Folglich sei der Monolog unwahr. Außer- 
dem sei er nicht nötig, denn innere Begebenheiten können sich 
auch verteilt im Verlaufe des Dialogs offenbaren.^ 

Wir wollen nun diese Einwürfe einzeln vornehmen. 

Zunächst im allgemeinen. Wie wir sehen, wird wieder 
äußere Wirklichkeitstreue mit innerer Wahrheit verwechselt. 
So ist die Frage nach dem Zeitmaß in dem Verlaufe der Ge- 
danken völlig belanglos. Auch im Traume scheinen uns die 
Bilder von Vorgängen sich langsam abzuwickeln, die in Wahr- 
heit blitzschnell durch die Seele ziehen. Demnach und gerade 
deswegen erscheinen sie naturwahr, weil der Vorgang, dessen 
Reproduktion der Traum ist, sich ebenfalls viel langsamer ab- 
spielt als der Traumprozeß. Dasselbe gilt also bezüglich der 
Gedanken, die durch das Wort zu einem äußeren Vorgang 



* Vgl Alfbed Kerb, „Das neue Drama", S. 298f. 



VI. Sprache, Dialog und Monolog, 137 

werden. Übrigens ist es nicht einmal richtig, daß die Ge- 
danken immer nnTerhältnismäBig rascher sind, als die aus- 
geführte Rede. Dies trifft insbesondere dann nicht zn, wenn 
sich die Gedanken wirklich in ausgeführter Kede bewegen, 
wovon bald des Näheren. 

Nicht minder belanglos ist es, ob der Mensch laut oder 
fitiU mit sich spricht. Doch behaupten wir, was dies anbelangt, 
ebenfalls vorgreifend, daß er auch laut mit sich selbst zu sprechen 
pflegt. 

Um nun ins Einzelne einzugehen, fragen wir, wie ist es 
mit dem Denken? Allerdings denken wir nicht immer laut, 
wenn auch nicht selten. Auch das lautlose Denken aber 
vollzieht sich mit Zuhilfenahme der Sprache. Diese ,4nnere 
Sprache*' kann ausgeführt sein oder abgekürzt, von Schlag- 
wort zu Schlagwort sich blitzschnell schwingend. Auch in 
diesem letzteren Falle tauchen einzelne Worte klar im Be- 
wußtsein auf, mit einem meist deutlich hörbarem Klang- und 
Lautbild. Schon dieser ungünstigste Fall des abgekürzten 
Denkens kann zur Not wörtlich durch den Monolog fixiert 
werden. Es haben nur die einzelnen Worte, welche die frag- 
liehe Person im Inneren hört, auch von uns gehört zu werden. 
Von ihrer Natur-, ja selbst ihrer Wirklichkeitstreue braucht 
diese Sprache dabei nichts zu verlieren. 

Denn es ist, wie erwähnt, vollkommen gleichgültig, ob das 
Wort nur von der handelnden Person gehört wird oder auch 
mitgehört von uns. Beruht doch unsere ganze Teilnahme und 
sozusagen Zeugenschaft all der Vorgänge, die sich im Drama 
abspielen, auf einer Fiktion und Konvention. Wie kämen wir 
sonst dazu, Zeugen zu sein dessen, was sich vor vierhundert 
Jahren auf Schloß Rimpar zwischen dem Ritter Grumbach 
und Florian Geyer begeben hat Ist es nicht lächerlich, 
uns solche Sprünge in die Zeit, wo nichts von uns gewesen 
war, zu gestatten und uns im Namen einer falschen Natur- 
wahrheit das Mithören der inneren Sprache jener Personen zu 
verbieten? 



VI. Sprache^ Dialog und Monolog, 139 

trauten zu wenden, zu dem man das vollste Vertrauen hat 
und der auch über alles Nötige vollkommen Bescheid weiß, 
nämlich an sich selbst. 

Der hierbei sich vollziehende Prozeß ist psychologisch 
merkwürdig genug. Der momentane Willensakt geht nämlich 
vorerst darauf aus, eine Klärung, Einsicht, Ermannung, Ent- 
scheidung oder einen Entschluß herbeizuführen. Dieser 
Willensantrieb ist dör führende, er beherrscht das Bewußtsein 
so vollkommen, daß er sich zum Herrn des Denkens auf- 
schwingt. Das Ich ist jetzt nur das auf Klärung ausgehende 
Subjekt. Dieses Subjekt objektiviert nun das Gesamtich, 
eigentlich das übrige Teilich, zu einer zweiten Person, zu der 
es mit „Du'* spricht 

Schon Wendungen, wie wir sie täglich an uns selbst ge- 
brauchen, als wie: ,^Mein Lieber, das hast du gut (prächtig usw.) 
gemacht", „das war schlecht, abscheulich von dir*', dessen 
solltest du dich schämen'*, ^,du bist ein Narr, ein dieser oder 
jener", oder „das mußt du tun", „das soll dir gelingen", 
„fürchte (du) nichts", „verfallen" usw., schon solche An- 
sprachen an uns selbst sind — ob sie laut oder im Inneren 
stattfinden — nichts als ein Zwiegespräch.^ 

In den oben angeführten Fällen aber entwickelt es sich 
gewöhnlich zu einem Längeren und Vollständigeren. 

Sei es, daß das Bedürfnis, ins Beine zu kommen, in einer 
Art Geständnis von uns selbst befriedigt wird. Dann ist unser 
berichtendes Gesamtich der führende und leitende Teil, welcher 
das kontrollierende, reflektierende Teilich als „Du" anspricht 
Es sind dies Fälle, wo wir eine Handlung vor uns selbst recht- 
fertigen, einen noch nicht ganz festen Entschluß vor Schwan- 
kungen oder Gegenantrieben wahren, ihn festigen wollen, bei 
Anwandlungen der Reue, der Gewissensqualen oder bei Mah- 
nungen des Gewissens. 



Zu solchen Selbstansprachen gehört z. B. das bekannte Wort 



Oababs: „alea iacta est!" 



140 yi» Sprache, Dialog und Monolog. 

Oder sei es, daß in einem ausgesprochenen Willens- 
konflikt die Motive der antagonistischen Willensantriebe ab- 
wechselnd zu Worte kommen. Je nachdem nun die eine 
oder die andere Seite das Wort führt, ist natürlich die andere 
Ichseite als „Du" angesprochen. 

Diese flüchtige Analyse der verschiedenen Arten des Zwie- 
gespräches mit sich selbst muß hier genügen. Für uns war es 
ja nur wichtig, festzustellen, daß zuweilen der Mensch nicht 
nur in ausgeführter Bede denkt ^ sondern auch zu sich selbst 
spricht, mit sich selbst ein Gespräch führt. Noch wichtiger 
war, zu finden, wann dies vorzugsweise geschieht, nämlich in 
Augenblicken, wo das Urteil oder der Wille schwankt, jenes 
nach, dieser vor dem Geschehen. 

Wenn wir nun im Lichte der angeführten psychologischen 
Tatsachen den dramatischen Monolog betrachten, so stellt er 
sich uns als etwas ganz anderes dar, als das, wofür er heut- 
. zutage allgemein sowohl bei seinen Anhängern, als auch bei 
seinen Gegnern gilt. Er ist nämlich nicht mehr ein mit mehr 
oder weniger Nachsicht zu behandelndes Kunst- und Aus- 
kunftsmittel, sondern das, wofür ihn die ältere Ästhetik auch 
ansah, ein vollgültiger Teil der darzustellenden Handlung, ein 
„Insichgehen'* der handelnden Person, eine Einkehr in sich 
selbst, die sich in einem echten^ natur wahren Zwiegespräch 
mit sich äußert. „Der Monolog ist nichts Außerordentliches, 
nichts Außematürliches ; er ist die gewöhnliche Art und 
Weise, welche der Verkehr des Menschen mit sich selbst an- 
nimmt. Unser inneres Leben bewegt sich in Monologen von 
morgens bis abends."^ 

Vor allem soll und darf also der Monolog nicht als ein 
verdecktes Enthüllen der Seele betrachtet werden und darf es 
auch nicht sein. Der Monolog richtet sich so wenig an das 
Publikum als sonst ein Gespräch. 



^ BüDOLF V. Gottschall, „Zur Kritik des modernen Dramas'^ 
S. 117. 



VL Sprache, Dialog tmd Monolog. 141 

Zweitens soll der Monolog nicht ausschließlich lyrischer 
Erguß sein. Ist er das, so bleibt er ein fremdes, dem Drama 
äußerlich eingefügtes Glied, und wenn es auch ein noch so 
kostbares Kleinod sein sollte. Es sei denn, daß das Werk 
überhaupt mit lyrischen Elementen durchsetzt ist. 

Drittens ist der Monolog, wie erwähnt, ganz ebenso ein 
organisches Element im Drama , wie der Dialog, dessen Er- 
gänzung er ist. Er darf darin ebensowenig fehlen wie der 
Dialog oder die Handlung. Sollte es nur dem reinen Zufall, 
sollte es nur dem Umstand allein, daß der Monolog dem 
Drama als Kunstmittel erwünscht und unentbehrlich wäre, zu- 
zuschreiben sein, daß sich seiner das klassische Drama in so 
ausgedehntem Maße bedient hat? Wäre es dann nicht sonder- 
bar, daß ihn die schlagkräftigsten Dramatiker mit solcher Vor- 
liebe anwendeten, daß ihre Monologe das Entzücken zahlloser 
Generationen von Zuschauern waren? 

Wollte man sich einzig auf den Standpunkt stellen, daß 
alles das in der Kunst berechtigt ist, was Wirkung hat, so 
wäre ja schon dadurch allein die Existenzfrage des Monologs 
über allen Zweifel erhaben. Er hat sich ja glänzend be- 
währt. Das lehrt uns schon die flüchtigste Umschau in den 
klassischen Dramen. Sie lehrt uns aber noch mehr. Sie 
zeigt, daß der Monolog nur dort wirkt, wo er im Sinne 
obiger Ausführungen naturwahr und notwendig ist. 

Sehen wir uns einmal unter ihnen um. Ich beginne mit 
Shakespeare und zwar, an das Frühere anknüpfend, mit dem 
schon angezogenen Einführungsmonolog Richard III. Als 
Mittel zur Charakteristik Glosters wäre er, wie wir schon 
hervorgehoben, entbehrlich. Was stellt er also dar? In einem 
wjeiteren Sinne und absichtslos freilich die trefflichste Charakte- 
ristik. Diese großartig kraftvolle, zynisch rücksichts- und liebe- 
lose Natur, das geborene Herrschergenie, welches sich selbst 
als einen Kiesen fühlen muß, dem sich von rechts wegen alle» 
unterordnen sollte — sieht sich seit seinem ersten Denken und 
Erkennen von der Natur zurückgesetzt, in einer Hinsicht tief 



VL Sprache^ Dialog und Monolog. 143 

Und tragt mich aufrecht! — Dein soll ich gedenken? 
Ja, armer Geist, — so lang Gedanken wohnen 
Hier im verstörten Schädel! ... 

Der dritte (11^ 2) beginnt schon bezeichnend: Und nun bin 
ich allein! ,,0 welch gemeiner Sklav und Schuft bin ichl^^ 
Die Worte: ,,nun bin ich allein^^ drücken die ganze Er- 
leichterung aus, die Hamlet fühlen muß, wenn er sich wieder 
allein sieht, nur mit sich selbst und seinen Gedanken. Dann 
spricht er sich an und gibt sich die uns schon bekannten 
Titulaturen. Der Monolog ist eine fortwährende Selbstauf- 
peitschung^ die in den Worten ausklingt: „An's Werk nun, 
mein Gehirn!" (also eine Du anspräche. Der Verstand wird 
objektiviert), worauf nun der Plan der Vorstellung gefaßt und 
erwogen wird. Wir erinnern außerdem an die antagonistischen 
Antriebe. Einerseits: „Und stutzt er nur, so weiß ich meinen 
Weg. — " Dagegen andererseits: „Der Geist kann auch der 
Teufel sein." 

In dem berühmten: „Sein oder nicht sein*' QU, 1), wehrt 
sich Hamlets kranker Wille gegen den sich aufzwingenden 
Entschluß zur Tat und nimmt, wie schon früher einmal, Zu- 
flucht zu dem Gedanken an den Selbstmord. 

Der nächstfolgende Monolog (III^ 2): ^, Jetzt ist zum 
Hexenspuck die rechte Zeit . . ." hat wiederum Bezug auf eine 
mögliche Tat Hamlet warnt sich vor zu rascher Handlung, 
vor einem Muttermord: „Mein Wort erdolche sie, doch nicht 
mein Stahl." Auch der folgende (III, 3), wo Hamlet den 
Gedanken, den betenden König zu töten, von sich weist, ist 
von derselben Art: „Zurück mein Schwert! Für einen anderen 
Stoß!" (Das Schwert oder der Arm, der es führt, oder das 
Teilich des Willensautriebes, es zu gebrauchen, wird mit „Du" 
angesprochen.) 

Und wiederum ermannt er sich im nächsten Selbst- 
gespräch (IV, 4) zur Tat, durch das beschämende Beispiel des 
Fortinbras aufgerüttelt „Wenn ihr, Gedanken, nun nach 
Blut nicht schreit, dann fahrt dahin in eurer Nichtigkeit!" 



144 VI. Sprache, Dialog und Monolog. 

So sehen wir, den* ersten ausgenommen^ der eine Samm- 
lung darstellt^ in allen Monologen Hamlets einen Kampf sich 
abspielen zwischen dem Antrieb zur Tat und seiner Taten- 
unlust, also einen Kampf antagonistischer Antriebe. 

Macbeths Monologe: „Wäre es, getan, auch abgetan..." 
(I, 7), „Ist das ein Dolch, was ich vor mir sehe? ... (II, 1) und 
„Sein, was ich bin, ist nichts'* . . . (III, 1), sind alle drei Selbst- 
anspomung zur Tat. Als eine Art Monolog muß man auch 
Macbeths Auseinandersetzung mit dem Geist Banquos 
III, 4) betrachten, denn er vergißt, daß er sich in Gegenwart 
von Fremden befindet Ebenso Monolog sind die Delirien 
Lady Macbeths (V, 1). Beide sind Reaktionen nach der 
Tat, ein Kampf mit dem eigenen Gewissen. 

Othellos Monologe vor und nach der Erdrosselung 
Desdemonas (V, 2) sind typische Selbstgespräche vor und 
nach der Tat. Dagegen sind Jagos Monologe (II, 1) und 
(II, 2) zwar auch in gewissem Sinne Vorbereitungen zur Tat, 
m^r aber exponierendes Einweihen in seine Pläne, also an 
das Publikum gerichtet. Daß diese Monologe, sowie diejenigen 
Edmunds und Edgars im „Lear" nicht Selbstgespräche in 
dem von uns verstandenem Sinne sind, ist klar. Sie sind in 
Wirklichkeit das, wofür man jetzt alle halten möchte, nämlich 
ein veraltetes Kunstmittel, dazu dienend, um uns über den 
Gang der Begebenheiten oder über die Pläne der handelnden 
Personen auf dem Laufenden zu erhalten. Sie wären als ein 
naturwidriges Ausplappern verwerflich, als Kunstmittel naiv. 
Bei Shab:espeaeb sind sie aber natürlich mehr eine, dem Ge- 
schmack seines Publikums zuvorkommende und entsprechende, 
zur Sitte und Konvention gewordene Sorglosigkeit, als eine 
wirkliche Verlegenheitsauskunft, denn sie können ausnahmslos 
weggelassen werden, ohne Schaden für die Klarheit des be- 
treffenden Dramas. 

Sie gehören zu jenen technischen Mitteln, die mit der 
ganzen Einrichtung und Art der Bühne Shakespeares in Zu- 
sammenhang stehen und jetzt in unseren gänzlich veränderten 



VI. Sprache, Dialog und Monolog. 145 

Verhältnissen ein Anachronismus wären. Sie hahen aber, und 
darauf legen wir Nachdruck, nur die äußere Form mit den 
echten Monologen gemeinsam. Sie verhalten sich zu ihnen 
ganz in derselben Weise, wie jene Stellen des Dialogs, welche 
uns plump und ungeschickt in etwas einweihen, das den 
sprechenden Personen bekannt sein müßte. So wie man aber 
deswegen nicht allen Dialog verwerfen kann, ebensowenig 
ist es am Platze, ihretwegen den Monolog aus dem Drama zu 
verbannen. Doch dies nur nebenbei, da wir darauf noch zu- 
rückkommen. 

Es sei uns nun gestattet, Schillebs Monologe zum Ver- 
gleiche heranzuziehen. Schillebs Monologe tragen, was ihre 
Sprache anbetrifft, dasselbe eigentümUche Gepräge wie seine 
Dialoge. Es ist „sentimentalische^^ Kunst. Gedankenlyrik, 
Pathos und Tendenz durchdringen seine Bede, die sich in 
wohlgesetzten, bedeutungsvollen Wendungen nur zu oft mehr 
an das Publikum, als an die unmittelbar Beteiligten wendet. 
Abgesehen hiervon aber entsprechen seine Monologe meist 
durchaus der ihnen von uns oben zugewiesenen Funktion. 

Im „Don Carlos'* finden wir die Monologe des Don 
Carlos (I, 1) „Beneidenswerter Philipp, wie dein Sohn be- 
neidenswert! — ", der Eboli: „Nein! Verdrungen nur, ver- 
drungen von einer Nebenbuhlerin. Er liebt . . .'* mit dem 
Schluß: „Ja, recht das ist der Weg zu seinem Ohre" (11, 9). 
Dann den Monolog des Königs in der ersten und den bekannten 
in der fünften Szene des dritten Aktes: „Jetzt gib mir einen 
Menschen, gute Vorsicht . . ." Endlich die Monologe des 
Marquis Posa: „Wohlgesprochen, Herzog. Nützen muß man 
den Augenblick . . ." (III, 9), und im vierten Akt (1): „Wär's 
möglich? War' es? . . ." Wie schon aus den angeführten 
Eingangs- und Schlußworten sichtbar ist, stellen sie sich alle 
als Augenblicke der Besinnung, der Sammlung, des reifenden 
Entschlusses dar. 

In der Trilogie wären die Monologe Wallensteins zu 
nennen. Der erste findet sich in den „Piccolomini" (II, 5): 

Bytkowski, Gerhart Hauptmann. 10 



146 ^^' SpracJie, Diuhg und Monolog, 



Sie hat ganz recht gesehn. — So isVs . . . 

mit dem charakteristischen Schluß: 

Drum keine Zeit verloren! 

Der zweite ist der bekannte Monolog in „Wallensteins 

Tod'' (I, 4): 

Wars möglich? Könnt ich nicht mehr, wie ich wollte? 
Nicht mehr zurück, wie mirs beliebt? Ich müßte 
Die Tat vollbringen, weil ich sie gedacht, 
Nicht die Versuchung von mir wies — das Herz 
Genährt mit diesem Traum, auf ungewisse 
Erfüllung hin die Mittel mir gespart, 
Die Wege bloß mir offen hab* gehalten? — 
Beim großen Gott des Himmels! Es war nicht 
Mein Ernst, beschloßne Sache war es nie . . . 

Ist es nicht, als ob Lessings schlichter Geist über diesem 
Eingang schwebte? 

Dann bitte ich zu beachten, wie sich die Worte in der 
Folge ganz an den Sprechenden selbst als an eine zweite 
Person wenden: 

Und was ist dein Beginnen? Hast du dir*s 

Auch redlich selbst bekannt? Du willst die Macht, 

Die ruhig, sicher thronende erschüttern? . . ." 

Und dann weiter: 

Das wird kein Kampf der Kraft sein mit der Kraft; 
Den furcht' ich nicht. Mit jedem Gegner wag' ich's. 
Den ich kann sehn . . . 

Ein echtes Zwiegespräch also des abmahnenden Teilichs 
mit dem Gesamtich: 

Sei im Besitze, und du wohnst im Becht 
Und heilig wird's die Menge dir bewahren. 

Endlich sei noch der berühmte Monolog Wilhelm Teils 
(IV, 3) aufgeführt: 

Durch diese hohle Gasse muß er kommen . . . 

Es ist eine vollständige Abrechnung mit dem leise abmahnenden 
Gewissen, die hier Teil hält. Kein technischer Notbehelf, 
sondern eine psychologische Notwendigkeit ist es, daß Teil 



VL Sprache f Dialog und Monolog, 147 

vor der furchtbaren Tat, vor dem seiner ganzen so tapferen, 
biederen und offenen Seele so verhaßten Meuchelmord mit 
sich selbst spricht und nur mit sich selbst. Er muß sich vor 
sich selber rechtfertigen und zwar trotzdem seine Tat eine 
festbeschlossene Sache ist. Er weiß, daß er nicht wankt, nicht 
wanken kann, noch wird einen Augenblick lang. Er will sich 
nicht im Entschluß festigen, noch ihn erschüttern, er will ihn 
nur rechtfertigen, denn es ist eine häßliche Tat, die er be- 
gehen soll, er, der im Leben nur schöne begangen hat Das 
bedeuten die schlicht ergreifenden Worte: 

Ich lebte still und bannlos . . . 
Zum Ungeheuren hast du mich gewöhnt 
Die armen Kindlein, die anschuldigen, 
Das treue Weib muß ich vor deiner Wut 
Beschützen, Landvogt! 

Hier wendet sich Teil in seiner Anrede, wie es oft in einem 
Selbstgespräch geschieht, an seinen Gegner^ der vor seinem 
Geiste steht Ihn will er von der Notwendigkeit seiner Hand- 
lung überzeugen. Ihm droht er, ihm macht der Fromme 
bittere Vorwürfe: 

Doch nicht der Kaiser hätte sich erlaubt, 
Was du! . . . 

Deswegen darf man auch das Selbstgespräch Teils mit 
dem Schluß des Monologs keineswegs als abgeschlossen an- 
sehen. Es ist ein feiner psychologischer Zug, daß Teil auch 
während der Unterhaltung mit dem Flurschützen eigentlich 
nur das Gespräch mit sich selbst fortführt Nicht an den 
Flurschützen sind seine Worte gerichtet, die demselben auch 
sonderbar und dunkel erscheinen müssen: 

Wanken auch 
Die Berge selbst? Es steht nichts fest auf Erden • . . 
Dem Schwachen ist sein Stachel auch gegeben . . . 
Es kann der Frömmste nicht im Frieden bleiben, 
Wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt 

Doch genug der Beispiele. Wie sie uns lehren, ist auch bei 
ScHiLLEB, den wir nicht ohne Absicht wählten, der Monolog 

10* 



148 VI' Sprache, Dialog und Monolog. 

das, was er unseren Ausführungen nach sein soll: ein Ge- 
spräch, das der schwankende Mensch in Augenblicken der 
Einkehr, der Sammlung vor und nach der Handlung mit sich 
selbst führt Zu diesem Behufe sondert sich von dem G-esamt- 
ich ein Teilich ab, um, sei es fordernd, anspornend, sei es 
hemmend, abmahnend auf den Entschluß oder die Entscheidung 
einzuwirken; nach der Tat, um sie vor sich selbst zu recht- 
fertigen oder zu verdammen. 

Und nun, nachdem wir uns in Erinnerung gebracht haben,, 
wie zwei Vertreter des verpönten klassischen Dramas den 
Monolog in der Eegel behandelt hatten, fragen wir nochmals,, 
warum tindet der Monolog gerade im Drama die ausgedehnteste 
Anwendung? Steht sie nicht in engster Beziehung zur eigensten 
Natur des Dramas, als einer Kunst, die vorzüglich durch 
Handlung und Kampf wirkt und wirken will? Sind nicht die 
Einkehr, das Sichzurückziehen in sich selbst und andererseits 
die Spaltung der Persönlichkeit bei antagonistischen Antrieben 
Zustände, die im eigensten Sinne Vor- und Nachspiel der 
Tat, Stadien des Kampfes sind? Nur gedankenlose, un- 
berechenbare und unzurechnungsiähige Menschen handeln ohne 
Überlegung, das ist ohne Kampf der Antriebe und suchen sich 
von den eigenen oder fremden Handlungen keine Rechenschaft 
zu geben. Das Drama aber, das Feld der motivierten Handlung, 
hat mit solchen Menschen wenig zu tun. Da nun das Über- 
legen ebenso wie das überdenken der Handlung sich, wie oben 
ausgeführt, immer, wenn nicht in voller, so doch wenigstens 
in sprunghafter Rede bewegt, da sich diese Rede besonders 
bei starkem Widerstreit der Willensrichtungen und innerem 
Zwiespalt in ein eigenstes Zwiegespräch verwandelt, so ist auch 
das Drama das geeignetste Feld für den Monolog. 

Die äpik, die oft den Zustand, das Seiende, nicht das 
sich vorwärts Bewegende darstellt, die kann den Monolog ent- 
behren, auch wenn sie des Dialogs voll ist. Wer z. B. im 
Roman auf eine äußere und innere Charakterschilderung aus- 
geht, der wird vielleicht auch die Sprechweise der fraglichen 



VI, Sprächet Dialog und Monolog. 149 

Person gerne darstellen. Er kann lange Gespräche anführen, 
um zu zeigen, welche Sprache sie führt, wie sie denkt und 
mit anderen Umgang pflegt. Da aber nicht ein Handeln Gegen- 
stand seiner Darstellung ist, so wird er oft keinen Anlaß finden 
ein Selbstgespräch zu reproduzieren. 

Also nicht deswegen allein, weil der Romanschriftsteller 
über die seine Personen bewegenden Gedanken auch einfach 
als Erzählender selbst berichten kann, sondern auch weil seine 
Person wirklich keinen Grund hat, mit sich selbst zu sprechen, 
wird er in diesem Falle kein Selbstgespräch einfügen. 

Kommt aber in dem Roman eine Handlung doch zur 
Darstellung, da kann sich die Sache sofort ändern und die 
handelnden Personen werden auch häufig Selbstgespräche führen. 
Selbst da aber bringt es die Form der berichtenden Dar- 
stellung mit sich, daß diese Selbstgespräche nicht in direkter, 
sondern meist in indirekter Rede wiedergegeben werden, ganz 
im Gegensatz zum Drama. 

So wird der Verfasser etwa berichten: 

N. N. saß in Gedanken versunken. Er erinnerte sich aller Einzel- 
heiten seiner Begegnung und mußte sich gestehen, daß er sich wie 
ein Tölpel, wie ein grüner Junge benommen habe .... 

In Wirklichkeit wird der Betreffende nicht in dritter Person 
von sich denken, sondern etwa so: „Ja, ich war ein rechter 
Tölpel, ein Lümmel, ein grüner Junge..." 

Oder ein anderes Beispiel. Der Verfasser schreibt etwa: 

Seine Gedanken wogten auf und nieder. Seine Seele befand sich 
im heftigsten Aufruhr. Einmal meinte er, er müsse ihr rundweg erklären 
was er von ihr hielte, was sie in seinen Augen geworden. Das andere 
Mal drückte ihn das Bewußtsein der eigenen Schuld so nieder, daß er 
sich nicht berechtigt fühlte, ihr auch die leisesten Vorwürfe zu machen usw. 

Derselbe Verfasser könnte aber nach gleichem Eingang 
dann die Gedanken seines Helden wörtlich anführen, etwa in 
der Weise: 

„Ja, rund heraus werde ich ihrs erklären, was ich daron 
halte!" 

Dann aber kamen ihm Zweifel: 



150 VI, Sprache, Dialog und Monolog. 



„Aber hast du auch das Kecht dazu? Wer bist du denn^ 
der sich untersteht anderen Vorwürfe zu machen? Bist denn 
du frei von Schuld? War dein Spiel nicht verwerflich und 
schändlich? " 

Wir sehen, wie der im Drama verpönte Monolog da mit 
allen seinen Eigentümlichkeiten^ mit der von uns gekenn- 
zeichneten Du anspräche aufersteht. Wir merken jetzt auch^ 
wie es kommt, daß die Romane so wenig Selbstgespräche auf- 
weisen. Erstens, nach dem früher ausgeführten, weil oft Zu- 
standsschilderung überwiegt, zweitens aber, weil der be- 
richtende Epiker an und für sich die Tendenz hat, ein 
Selbstgespräch nicht in direkter Rede, sondern in 
freiem Bericht zu reproduzieren. Schon deswegen, weil 
er die fraglichen Gedanken oft gleichzeitig erklärt, motiviert 
und bewertet. Nicht die Entbehrlichkeit des Monologs als 
Kunstmittel ist es also, die auch in solchen Fällen sein seltenes 
Vorkommen bewirkt, sondern die Tatsache, daß sich der Roman 
der unmittelbaren Rede überhaupt nicht ausschließlich und 
nicht vorzugsweise bedient. Und wenn man sich auch gewöhnt 
hat, die besonders wichtigen Wechselreden in der Epik eben- 
falls wörtlich anzuführen, so hat man in bezug auf die Ge- 
danken, welche die Personen bewegen, sobald sie allein sind,, 
sich umgekehrt meist an den freien Bericht gehalten, wovon 
die neuesten Romane freilich abgehen. 

Uns geht die Sache nicht unmittelbar an. Es war nur 
unsere Absicht^ darauf hinzuweisen, daß, wenn man, mit auf 
den Roman gerichteten Blick, sich gedrungen sah, ein Bann- 
gesetz gegen den Monolog zu erlassen, so erlag man wieder 
einmal einer Täuschung, weil man aus falschen Analogien falsche 
Schlüsse zog. 

Würden die Naturalisten des Dramas alle solche liebe- 
volle Beobachter der Alltagssprache sein, als die sie gelten 
möchten — welcher Ehrgeiz an und fiir sich nicht für den 
Dramatiker paßt — so könnten sie es nicht übersehen, da& 
das Selbstgespräch gerade bei dem modernen Menschen zu den 



VI, Sprache, Dialog und Monolog, 151 

5 

ständigsten Erscheinungen geworden ist. Während ich an der 
Abfassung dieses Kapitels arbeitete, bot sich mir die Gelegen- 
heit dar^ einen solchen Monolog zu erlauschen. 

Ein junger Mann ist^ scheint es^ durch eine Examenarbeit 
allzusehr hergenommen. So ist er übel gelaunt und läßt seinem 
Unmut freien Lauf. In dem Selbstgespräch^ das er gegen alle 
moderne Eunstregel ganz laut und zusammenhängend führt, 
kommt der Unmut in verdrossenen Stänkereien über dies und 
jenes zum Ausdruck. Plötzlich aber bricht er ab^ um zu dem 
klassischen Schluß zu gelangen: ,^Da ist weiter nichts zu tun. 
Ich muß mich erschießen. Ich kann nicht so immerfort lernen.'^ 

Der junge Mann wird hoffentlich ohne alle tragischen 
Zwischenfälle sein Examen bestehen. Als er sich belauscht 
sah^ war er natürlich ziemlich verlegen. Er konnte nicht ahnen, 
wie dankbar ich ihm war, weil er mir, der eben von Selbst- 
gesprächen den £opf voll hatte, das schönste und reinste 
psychologische Experiment darbot. Sicher haben wir da einen 
klassischen Zeugen für den Monolog. Denn erstens ist ein 
junger Mann, der an einem Examen arbeitet, zweifelsohne ein 
„Stück Natur^^ Dann ist er doch sozusagen auch ein moderner 
Mensch. Endlich ist die Arbeit an einem Examen der aller- 
alltäghchste, allerliebste Alltag. 

Ziehen wir also aus unserem Experiment die Lehre. Der 
junge Mann ist, soviel ich weiß, ganz normal veranlagt. Es 
ist aber sein augenblicklicher Zustand nicht vollkommen normal. 
£'ortgesetzte hastige und angestrengte geistige Arbeit spannt 
ab, erschöpft die Nerven und versetzt sie dadurch in einen 
Zustand besonderer Reizbarkeit, Wir haben es also mit einer 
Depression und Überreizung zugleich zu tun. Die Überreizung 
hatte die mißmutige Kritik zur Folge, die Depression die 
Selbstmordanwandlungen. So kommt, wenn wir diesen Fall 
mit vielen anderen beobachteten und bekannten in Zusammen- 
hang bringen, zu den oben aufgezählten noch einer hinzu, wo 
der Mensch gerne mit sich selbst spricht, nämlich der Zustand 
einer Depression und Überreizung. 



152 VI. Sprache^ Dialog und Monolog, 

Auf den Monolog im Drama läßt er sich ganz gut beziehen. 
Prüfen wir alle oben angeführten und die vielen, vielen anderen 
Beispiele von mustergültigen Monologen, so sehen wir, daß dabei 
der Zustand einer Depression oder Überreizung fast Regel ist. 
Hamlets Monologe sind klassische Beispiele für beides. 

Und wiederum ergibt sich aus dieser Betrachtung der 
Schluß, daß das Drama, das besonders geeignete Feld ist 
für das Selbstgespräch. Weil — wenn die Menschen darin 
auch durchaus nicht abnormal sein sollen — doch die Ver- 
hältnisse und die Situation, oder der augenblickliche Zustand 
der Beteiligten oder Betroffenen meist abnormal ist. Ist er es 
nicht, so hat man auch keine Ursache, einen Monolog einzufügen. 

Wir sehen auch im Lichte dieser Betrachtungen, wie ober- 
flächlich der gangbare Einwurf gegen den Monolog ist, daß der 
Mensch doch nicht so häufig mit sich selbst spreche, wie es 
den Dramen geschieht. Wie gesagt, wir lassen es überhaupt 
nicht gelten. Aber selbst angenommen, daß der Mensch wirklich 
nicht sehr häufig mit sich spreche. Was folgte daraus? Ist 
denn sonst etwas in einem echten Drama häufig und täglich 
vorkommend? Wir sprechen nicht von einem Lear, Hamlet 
oder Wallenstein; ist aber die Lage eines Bartel Turaser, 
im gleichnamigen Stück, eines Wilhelm oder Robert Scholz 
im „Friedensfest*% eines Vockerat in den „Einsamen 
Menschen'', eines Michael Eramer u. a. etwa normal? 
Darin liegt ja der Grundirrtum, daß man vom Drama Dar- 
stellung des Normalen erwartet, wo es doch in seiner ganzen 
Anlage auf dem Abnormalen beruht 

Das Normale kann nur Gegenstand einer Zustanddarstellnng 
sein. Nicht einmal die Komödie gibt vollkommen Normales, 
um wieviel weniger das Drama. Aber das wissen sehr gut 
auch die Naturalisten. Nur vergessen sie es gerne, wenn sie 
sich Regeln austüfteln für das Einzelne. Daher das Losungs- 
wort vom Stück Natur, daher die Sucht, das Ungewöhnliche 
aus dem Drama zu bannen, der auch der Monolog zum Opfer 
fallen mußte. 



VI. Sprache, Dialog und Monolog. 153 

und nun sehen wir genauer zu, wie es die Modernen, 
insbesondere die Naturalisten mit dem Monolog halten. Von 
einem Verständnis seiner wahren Natur und Aufgabe im Sinne 
obiger Ausführungen ist selbstverständlich keine Rede. Nicht 
zu leugnen ist, daß die Monologe der Epigonenliteratur zu 
seinem schlechten Leumund viel beigetragen haben. Kurz, die 
Naturalisten sehen den Monolog mit Unrecht als einen Not- 
behelf an, eine Art gezwungener und gespielter Offenherzigkeit 
der handelnden Person, die psychologisch nicht begrtLndet, nur 
dazu dient, um über die Gedanken, Gefühle, Absichten der- 
selben Licht zu verbreiten. Dieses Auskunftsmittel finden sie 
mit Recht plump und unbrauchbar und verwerfen es deswegen. 
Was tun sie aber weiter? Sie gehen von der Notwendigkeit 
eines solchen Auskunftsmittels doch aus und suchen nur ein 
anderes, unbekümmert darum, ob es auch besser ist. Sie sind 
wie der dienstfertige Ladendiener eines Warenhauses. Weist 
man irgendein Ding als unbrauchbar zurück, so ist er gleich 
mit einem anderen bei der Hand. Ob es tauglicher ist, ist 
nicht seine Sache, wenn es nur ein anderes ist 

So haben die Naturalisten als Surrogat für den Monolog 
unter anderen auch das stumme Spiel erfunden. Dramatiker 
und Schauspieler beglückwünschten einander ob der Ent- 
deckung. Es ging ein Freudengeschrei durch die Theaterkreise 
und das Publikum stimmte fröhlich ein. Was ein modemer 
Schauspieler sein wollte, mußte das Sprechen vergessen, dafür 
aber das stumme Spiel vollkommen inne haben. Die Drama- 
tiker hatten eine neue Gelegenheit bekommen, seitenlange 
Bühnenanweisungen niederzuschreiben, in welchen das stumme 
Spiel genau angegeben wurde. 

Was ist nun aus alledem geworden? Nichts, natürlich. 
Mag der Schauspieler noch soviel über die Bühne hasten, 
plötzlich wieder stillstehen, um sich dann vom neuen herum- 
zuwerfen, alle möglichen Ruhebänke und Ruhesessel nach- 
einander aufzusuchen, mag er den Kopf noch so krampfhaft 
in die Hände drücken, er wird uns nicht sichtbar machen 



154 VI- Sprache f Dialog und Monolog, 

können, welche Gedanken durch sein Hirn schwirren. Wir 
können nur ihren Gefühlswert und ihre Gefühlsart von ungefähr 
erraten, zur Not merken^ daß es widerstreitende Gedanken und 
Gefühle sind, die ihn erfüllen. Alles übrige bleibt dunkeL 
Wir wissen aber, daß in solchen Augenblicken in der Seele 
des Betreffenden außer Gefühlen auch bestimmte Gedanken 
auf und abwogen, sich kreuzen und bekämpfen, Gedanken in 
Worte gekleidet, meist sogar in die Form eines Gesprächs oder 
einer Anrede. Diese Gedanken möchten wir kennen. Allein 
diese Kenntnis wird uns, trotz der verzweifeltesten Anstrengungen 
des Schauspielers, nicht zuteil. 

Wieder einmal hat man sich da am Eoman versehen und 
man findet, um uns über das, was in der Seele der fraglichen 
Person vorgeht, zu unterrichten, kein anderes Mittel als den 
Bericht. Dieser Bericht im Roman klar und präzis und sug- 
gestiv — wird hier im Drama zu einer toten Stelle — so er 
in die Bühnenanweisung hineingebracht wird. Dies fühlend, 
sucht man durch möglichst ausdrucksvolle Bewegungen den 
Mangel an klarem Gedankeninhalt zu ersetzen. 

Dabei verfällt man denn natürlich auf die verbrauchteste 
und gewagteste Konvention; und oft auch Sentimentalität. Ich 
führe ein solches monologartiges stummes Spiel an („Frieden- 
fest" I, S. 39): 

Robert (ihr nachrufend) Frau Bucbner! (sich wendend) Hysterie, 
verdammte! Er zuckt mit den Achsehi und durchmißt den Baum; 
mehrmals noch nimmt er plötzlich einen Anlauf, wie um ihr nachzu- 
eilen, ändert aber jedesmal seinen Entschluß, gibt ihn schließlich ganz 
auf und beruhigt sich gewaltsam bis zu einem Stadium scheinbaren 
Gleichmuts. In diesem Stadium beschäftigt ihn anfänglich seine Tabaks- 
pfeife : er klopft sie aus, füllt sie mit neuem Tabak, den er einem Beutel 
entnimmt, setzt sie in Brand und scheint mehrere Augenblicke dem Genuß 
des Rauchens ganz allein hingegeben. Sein Interesse fängt in der Folge 
an, sich dem Christbaum und den Geschenken auf der Tafel zuzuwenden: 
breitbeinig davorstehend und alles überblickend lacht er, die Pfeife im 
Munde, wiederholt bitter auf. Plötzlich stutzt er dann und beugt sich, 
nachdem er die Pfeife in die Hand genommen, tief über die Tafel. 
Sich aufrichtend, scheint er jetzt erst die Entdeckung zu machen, daß 



VL Sprache^ Dialog und Monolog, 155 

er allein ist. Scheu wie ein Dieb umherblickend, beugt er sich aber- 
mals, ergreift mit Hast die gelbseidene Geldbörse, f&hrt sie den Augen 
näher und mit einer j&hen, leidenschaftlichen Bewegung an die Lippen. 
Dieser Moment zeigt das Aufblitzen einer imheimlichen , krankhaften 
Leidenschaftlichkeit. Ein Geräusch stört ihn. Augenblicklich liegt die 
Börse an ihrem alten Platz. Auf den Zehen gehend, sucht Robertsich 
davon zu schleichen. Im Begriff durch die erste Seitentür links zu ver- 
schwinden, bemerkt er, wie durch die Nebentür seine Mutter, Frau 
Scholz, eintritt, und steht seinerseits still. 

Die Stelle ist, wie wir sehen, ein ausgezeichnetes Beispiel 
für unsere obigen Ausführungen. Da haben wir erstens die 
typische Verwebung von Anweisung und Schilderung oder 
Bericht, eigentlich eine auf Täuschung und Selbsttäuschung 
angelegte Einschmuggelung von Schilderung und Bericht in die 
Anweisung. Wir weisen auf Ausdrücke hin wie: „In diesem 
Stadium beschäftigt ihn anfänglich . . . .'S „Sein Interesse fängt 
in der Folge an, sich dem Christbaum zuzuwenden." Ins- 
besondere aber: „Dieser Moment zeigt das Aufblitzen einer 
unheimlichen^ krankhaften Leidenschaft.'^ Ist es nicht wie eine 
Stelle aus einem Eoman? Der Anweisung wird ein regelrechter 
Kommentar beigegeben. Wir werden unterrichtet, als was wir 
den Moment anzusehen haben. 

Doch darüber haben wir in anderem Zusammenhang im 
allgemeinen schon gesprochen. Wir haben dort auch betont, daß 
solche Bühnenanweisungen über einen Mangel der Darstellung 
hinwegtäuschen sollen. Was uns jetzt angeht, ist nachzuspüren, 
worauf das alles in diesem besonderen Falle ausgeht, und 
da finden wir, daß ein Ersatz für den Monolog vorgetäuscht 
werden soll, der bei näherem Betrachten ein Nichts ist. Bei 
diesem ümhertasten auf der Bühne sitzt, nach einem richtigen 
Wort, das Publikum nur mit offenen Mäulem da, ohne nur 
eine Ahnung zu haben, was gemeint sei.^ 

Daß die Erklärungen des Dramatikers dem nicht abhelfen. 



^ AvoNiANüs, „Dramatische Handwerkslehre^S zitiert nach 
Hugo Dinger, „Dramaturgie als Wissenschaft^', II, 198. Avonianus* 
Schrift habe ich nicht gelesen. 



156 VJ^' Sprache^ Dialog und Monolog. 

liegt zutage. Sind sie ja in Wirklichkeit gar nicht da. Des- 
wegen nimmt auch Hauptmann Zuflucht zu einem radikalen 
Mittel, indem er Robert die gelbseidene Börse küssen läßt. 
Das ist das obenerwähnte konventionell melodramatische Mittel. 
Man glaubt kaum seinen Augen! Robert, der Zyniker, der 
vor jeder Gefühlsäußerung sich mit dem bittersten Hohn wehrt, 
er soll sich plötzlich wie ein grüner Jüngling benehmen? Zwar 
möglich ist alles, aber nicht glaubwürdig. Und in diesem Falle 
ist es einfach lächerlich. Ich fühle förmlich, wie bei solchem 
Anlaß sich die Kinnladen gewaltsam zu einem krampfhaften 
Gähnen öffnen. Bitte nur zu beachten! Nachdem man minuten- 
lang auf das Ende der unklaren Pantomine gewartet hat, 
kommt eine solche Lösung. Das erinnert ja an den Zirkus. 

Das ganze war ja nicht nötig, denn dieses Aufblitzen einer 
jähen Leidenschaft ist an und für sich nicht nur wenig glaub- 
würdig, sondern auch überflüssig. Wenn Hauptmann das 
Motiv der Eifersucht verwenden wollte, so konnte sich die 
Leidenschaft Roberts für Ida auch ohne den stummen Monolog 
äußern. Monologe — auch stumme — sind eben nicht dazu 
da, um aufzuklären, sondern sie sollen dort Anwendung finden, 
wo der Mensch wirklich mit sich, sei es laut, sei es im Geiste, 
spricht. 

Hat man aber schon den hier ganz unnötigen Monolog ver- 
brochen — wäre es dann nicht doch besser, Robert einige 
Worte fallen zu lassen? Wie er sagen konnte „Hysterie, ver- 
dammte!** so konnten seine Gedanken in weiteren Monolog- 
fragmenten zum Ausdrucke gelangen, wie etwa folgende: „Diese 
Ida! — Der Mann hat Sohweineglück alles in allem. Nun 
ja, dir kommt so was nicht ins Gehege! . . ." „Im Grunde, 
was findet sie nur an dem Geck? . . ." usw. Das wäre gegen 
die Schulregel natürlich. Dafür wäre es weniger gegen die 
Natur und weniger rührselig als das Küssen einer Börse und, 
was das Wichtigste ist, auch verständlicher. Denn Hauptmann 
mag uns in seiner Regieanweisung noch so sehr versichern, daß 
es derselbe Beutel ist, den Ida dort hingelegt hatte, dem Zu- 



VI. Sprache, Dialog und Monolog. 157 



schauer wird der Sachverhalt nicht so schnell klar geworden 
sein. Das Theater wirkt nur durch Sinnfälliges. Was nicht 
ein solches ist, fällt durch, zählt nicht, darüber helfen keine 
intimen Theater hinweg. 

So steht es nun mit dem stummen Spiel, das die Natura» 
listen und ihre Nacheiferer an Stelle des Monologs gesetzt 
haben. Einem nicht vorhandenem Bedürfnis entsprechend, be- 
friedigt es dieses nicht im geringsten, bietet höchstens eine 
günstige Gelegenheit dar zum schauspielerischen Humbug. 

Noch ein zweites Mittel wenden die Naturalisten an, um 
den Monolog zu ersetzen. Sie verteilen das in dem Monolog 
zu Bringende auf die hier und dort verstreuten Andeutungen, 
Offenbarungen, Mitteilungen des Dialogs. Das Mittel ist nicht 
neu und nicht schlecht. Ibsen ist ein Meister seiner Ver- 
wendung. Es kann übrigens auch^ wie der Monolog, mißbraucht 
werden. 

Hauptsache aber bleibt, daß es ein grundsätzlicher Irrtum 
ist, dasselbe als einen Ersatz für den Monolog anzusehen. Es 
kann nur Ersatz bieten für den unrichtigerweise als 
Expositionsmittel verwendeten Monolog. Dieser ist aber 
kein echter Monolog und durchaus verwerflich. Das echte 
Selbstgespräch soll nur ein solches sein, ein Sichzurückziehen 
in die Einsamkeit, Sichbeschränken auf den Umgang mit sich 
selbst, eine momentane Spaltung der Persönlichkeit zum Zwecke 
der Selbstberatung. Ein solches Selbstgespräch, einen solchen 
Kampf oder Auseinandersetzung mit sich selbst kann doch ein 
Gespräch mit anderen nie und nimmer ersetzen. Was also 
das letzterwähnte Mittel anbelangt, so ist es eines von den 
Expositionsmitteln und sollte von Rechts wegen keine Berührung 
haben mit dem Monolog. Nur eine unrichtige Auffassung der 
Funktion eines Monologs konnte dazu führen, darin einen Ersatz 
für denselben sehen zu wollen. 

Ganz ausnahmsweise nur kann etwas ähnliches künstlich 
dazu gebraucht werden, einen Monolog wirklich zu ersetzen. 
Es geschieht dies in den Fällen, wo eine Person sich vor 



158 y^' Sprache, Dialog und Monolog. 

jemandem ausspricht, der einfach nur dazu dient, um diesen 
Eröffuungen als unschuldiger Strohmann beizuwohnen und „sein 
überflüssiges Dasein auf der Bühne mit Zigarettendrehen^ 
Streichhölzeran zünden, mit jenem von Gegenstand zu Gegen- 
stand Herumlungern, auf dem Schaukelstuhl Baumeln usw. 
ausfüllt und so ab und zu, des Dialogs wegen, ein Sätzchen 
dazwischen wirft." ^ Es ist etwa wie wenn man ein Selbst- 
gespräch vor seinem Hunde führt. Das Tier schaut einem 
verständnisvoll in die Augen, gähnt bisweilen und dauert es 
zu lange, so wendet es sich verachtungsvoll weg und verfällt 
in einen süßen Schlummer. 

Wie wir sehen, ist das Ersatzmittel in einem solchen 
Falle nur ein Maskieren eines echten Monologs, ein „Schein- 
dialog". Es ist übrigens Geschmacksache, ob man etwas 
ähnliches verwenden will oder nicht. Zu warnen wäre jeden- 
falls vor zu ausgedehntem Gebrauche dieses Mittels, das gar 
zu leicht zum Mißbrauch wird. Das Inslebenrufen solcher 
„Vertrauten" erinnert doch zu sehr an verschollene Technik 
und führt geradenwegs zur widernatürlichsten Konvention und 
der banalsten Schablone. Wo bleibt dann die Naturwahrheit? 

Wir ziehen nun den Schluß. Wie wir gesehen, hat man 
in gänzlicher Verkennung der wahren Natur des Monologs, wie 
seiner Funktion im Drama, geblendet durch das immerwährende 
Hinschielen nach dem Boman und der Epik, etwas verworfen, 
das durchaus in das Drama gehört. Abgesehen von der nicht- 
versagenden Wirkung des Monologs, ist das Sichzurückziehen 
in sich selbst ein organisches Glied, ein Stadium im Kampfe 
der antagonistischen Kräfte, als welcher sich das Drama 
darstellt. 

So ist der Kreuzzug gegen den Monolog nicht nur durchaus 
verwerflich, sondern es ist geradezu eine der Forderungen 
für die Fortentwickelung des Dramas, daß man dem 
Monolog darin den gebührenden Platz wieder zuweise. 



^ Hüao DiKGEB a. a. 0. S. 201 in der Anmerkung. 



VI. Sprächet Dialog und Monolog, 159 

wobei er, von allen fremden Zutaten, falscher Verwendung und 
konventioneller Unwahrheit befreit, zu einer neuen Wirkungs- 
fähigkeit gelangt. 

Dahingegen sind die in Verwendung gebrachten Mittel 
zum Ersatz des Monologs teils die plumpste Selbsttäuschung, 
wie die Kommentare in der Bühnenanweisung; teüs wirkungs- 
lose Stückchen, wie das stumme Spiel; teils ersetzen sie gar 
nicht den Monolog, wie die Verteilung seines vermeintlichen 
Inhaltes auf den Dialog; teils endlich fähren sie zur Banalität 
und Unnatur, vne der Scheindialog mit einem „Vertrauten". 



VII. Handlung, Fabel und Idee. 



Wir haben im Verlaufe der Analyse und der Kritik oft 
darauf hingewiesen , daß das naturalistische Drama von der 
Zustandsschilderung herkommt und auf eine solche ausgeht 
Sei es^ daß ein Milieu^ sei es, daß Charaktere ihr Gegenstand 
sind, immer ist es Schilderung, die den eigentlichen Inhalt des 
Dramas bildet. Richabd M. Meyeb hat daher für dieses 
Drama die Bezeichnung: ,,das Drama des reifen Zustandest' 
gefunden. „Ein Charakter oder eine Gruppe stehen da, schick- 
salsreif, und warten auf ihr Verhängnis. Irgendein, keines- 
wegs auffallendes, Ereignis zeitigt es: ein Besuch^ eine Nach- 
richt, eine Begegnung. Und rasch vollzieht sich nun, was 
geschehen muß.*^ „Bei Hauptmann hat dieser neue drama- 
tische Typus etwa folgende feste Form. Ein paar Personen, 
jede eine ausgeprägte Individualität, sind vom Schicksal zu- 
sammengeworfen; in ihrem Zusammenwirken nähren sie gegen- 
seitig jeder des anderen Eigenart Eine unter ihnen fühlt vor 
allem das Bedrückende, Gefahrliche dieser Existenz und sehnt 
sich heraus. Ein Bote aus der großen Welt ringsum kommt 
und scheint einen Augenblick die Möglichkeit zu bringen, daß 
der Gebundene sich löst. Aber die Gebundenheit ist zu stark; 
und so führt der Versuch der Kettung die Katastrophe herbei." ^ 

Diese Charakteristik ist so treffend, daß wir ihr nichts 
beizufügen haben. Prüfen wir diesen Typus der Idee, so er- 
gibt sich, daß er nicht im geringsten dramatisch ist. Der „reife 



^ Die deutsche Lit. des neunzehnten Jahrh. 2. Aufl., S. S24. 



VU. Handlung^ Fahd und Idee, 161 

Zustand" kann zur Not, d. h. wenn man von Mißgriflfen ab- 
sieht, ein tragischer Zustand sein. Aber seine Tragik kann 
und darf noch lange nicht Gegenstand dramatischer Be- 
handlung sein. 

„Ein Zustand, aus dem sich die Personen vergebens zu 
lösen suchen^S sagt E. M. Meyeb weiter, „ist die allgemeinste 
Formel für das moderne Drama dieser Schule."^ Den Zu- 
stand geben wir zu, das „Suchen der Lösung'^ nur mit mehr- 
facher Beschränkung. In den allerseltensten Fällen ist es 
nämlich zu einem bewußten Wollen verdichtet, fast nie zu 
einem entschiedenen. Ohne Wollen aber gibt es kein echtes 
Drama. Selbst Hamlet, der Mann mit dem an der Gedanken- 
blässe kranken Willen hat doch immer ein bewußtes Wollen, 
wenn es auch noch so sehr hin und her schwankt. Bei diesen 
modernen Gebundenen gibt es gar keinen Willen bis der be- 
wußte „Bote" kommt und ihn weckt. 

Es ist nur eine dumpfe Unzufriedenheit da, die aber zu- 
gleich Ergebenheit ist. So bei Helene in „Vor Sonnen- 
aufgang", im„Friedensfest", in den „Webern", im „Fuhr- 
mann Henschel", auch in der „Versunkenen Glocke". 
Oft sind es nur „Nerven" wie in den „Einsamen Menschen", 
in Halbes „Jugend". 

Für beide Arten bietet das naturalistische Drama die 
zahlreichsten Beispiele: „Toni Stürmer" von Caesab 
Flaischlen, „Efraims Breite" von Ka.el Hauptmann, 
„Tote. Zeit*' von Eenst Hakdt, „Winterschlaf" von Max 
Dbeyer, „Die Familie Selicke" von Schlae und Holz, 
„Das Stärkere" von C. G. Eeütling, „Stickluft" von Feanz 
Seevaes, „Zu Hause" von Geoeg Hieschfeld und viele 
andere. 

Mit Eecht übersetzte auch Louis Bennoist -Hanappiee 
den Ausdruck ß. M. Meyees „Das Drama des reifen Zustandes" 
mit ,ydrame des ämes nostalgiques'^. Das Drama der nostalgischen, 



* A. a. 0. S. 826. 

Bytkowski, Gerhart Hauptmann. 11 



162 VII' Handlung, Fabel und Idee, 

sich sehnenden Seelen, das ist vorwiegend das moderne deutsche 
Drama der realistischen Schale. Sein Gegenstand ist nicht 
irgendein Konflikt, Zusammenstoß, sondern ein schleichendes 
Übel, ein unentrinnbares Geschick. Dieser Gegenstand ist 
aber undramatisch durch und durch. Er ist episch, weil es 
eben ein dauernder Zustand ist. Wird sein allmähliches 
Werden, seine Ausreifang und seine natürliche Lösung dar- 
gestellt, so haben wir einen modernen ßoman, wie ^,Müde 
Seelen" von Gaeborg. Wird der Schilderung des Zustandes 
weniger Raum gestattet und eine von außen kommende plötz- 
liche Wendung und Lösung gegeben, so haben wir eine 
Novelle. 

Da das Drama für breitere Schilderung und längeres Ver- 
weilen keine Zeit gibt, so ist es nur natürlich, daß sich unsere 
realistischen Dramatiker novellistischen Stoffen zuwandten, oder 
sich dieselben novellistisch, zustutzten. So ist es auch. Die 
meisten modernen Dramen sind eigentlich dramatisierte 
Novellen. Diejenigen Hauptmanns auch hier vor allem. So 
„Vor Sonne-naufgang", „Das Friedensfesf , „Einsame 
Menschen*^, „Fuhrmann Henschel" (ein Gegenstück zu 
„Bahnwärter Thiel"), „Michael Kramer". Von den 
Dramen anderer Verfasser seien nur genannt „Familie 
Selicke", „Jugend", „Eisgang", „Zu Hause", „Stick- 
luft" u. a. 

Bei vielen dieser dramatisierten Novellen ist überdies, 
wie schon bei der Analyse der einzelnen Werke erwiesen 
wurde, die dramatische Wendung, das Erscheinen des „Boten", 
ein äußerliches Anhängsel, ein künstliches Mittel, um einen 
Konflikt, eine Gärung herbeizurufen. Es ist, als ob man ein 
Experiment anstellen wollte, eine Probe auf die Richtigkeit 
der Diagnose, welche lautet: „Nostalgie". Der Verfasser sagt 
uns: Seht, wenn nun jemand kommt von draußen, um die 
Augen zu öffnen, so rollt das Unglück ab, wie das Uhrwerk 
bei Umdrehung eines Hebels. („Vor Sonnenaufgang", 
„Einsame Menschen", „Jugend".) 



VU. Handlimg, Fabel und Idee, 163 

Entsprechend dieser Beschaffenheit der Fabel wird auch 
die Handlung geführt, insofern man eben Schilderung über- 
haupt Handlung nennen darf. Das, was bei dem echten 
Drama Exposition ist, bildet hier fast den ganzen Inhalt des 
Dramas, manchmal den ganzen, so in der „Familie Selicke'^. 
Eine Art äußerlich eingewirkter Handlung läufk nur nebenbei 
her. Es ist die Handlung des „Boten von Außen". So dient 
das Eingreifen Loths im „Vor Sonnenaufgang", Idas im 
„Friedensfest", Anna Mahrs in den „Einsamen Men- 
schen", Maxens im „Kollegen Crampton", auchKauten- 
deleins in der „Versunkenen Glocke" nur dazu, damit 
sich die Verhältnisse, der Zustand, offenbart. 

Auch dort, wo die Absicht nicht so kraß hervortritt, bleibt 
immer das entscheidende Ereignis ein äußeres, mit den ge- 
gebenen Zuständen nicht innerlich verbundenes. So sehen wir, 
wie in Halbes „Jugend" die Einführung eines verhängnis- 
vollen Ereignisses rein äußerlich geschieht. Außerdem werden 
wir nicht durch den Gang der Ereignisse belehrt, sondern 
durch die Worte der Beteiligten und durch eine symbolische 
Nebenkatastrophe beredet, daß dies eine Katastrophe sei. Jene 
Nebenkatastrophe erst bringt uns das greifbar vor die Augen, 
was vrir sonst als eine künftige Folge der Ereignisse ahnen 
müßten. Sie steht aber mit ihnen in einem nur sehr losen 
und künstlich herbeigezogenen Zusammenhang. 

Man sieht, die Novelle ist manchmal spröde genug, um 
sich nicht leicht in die Verhältnisse des Dramas fügen zu 
lassen. Wie mager ist dabei die Katastrophe bei Halbe! 
Ein unschuldiges Opfer der blinden Wut eines Wahnsinnigen, 
das ist ein höchst trauriges Ereignis, aber doch kein Schluß 
eines Dramas. Daran ändert nichts die Absicht des Verfassers, 
durch den Tod Annchens symbolisch auszudrücken, daß ihr 
Geschick sei, ein Opfer zu werden. Wohin würde man kommen, 
wenn man sich so überall statt redlicher Arbeit mit so nach- 
lässig eingefügten symbolischen Surrogaten begnügen wollte? 
Da könnte ja bald das 'ganze Drama ungeschrieben bleiben 

11* 



1 64 yil' Handlung, Fabel tmd Idee, 



und statt seiner eine Sentenz gegeben werden. Etwa: ,,so ist 
es in der Welt, junges Blut wallt plötzlich auf, besonders 
unter diesen und diesen Umständen und dann ist das Weib 
gewöhnlich das Opfer." Man mißverstehe uns nicht. Nicht 
gegen das Symbolisieren wendet sich unser Vorwurf, sondern 
gegen die leichtfertige Arbeit bei seiner Einführung. Alles, 
was in das Drama kommt, muß sich seinen Gesetzen fügen. 
Auch das Symbol. Das Ereignis, welches das Symbol dar- 
stellt, muß also dramatisch motiviert sein. 

Daran liegt es ja eben bei jenen Dramatisierungen novel- 
listischer Stoffe, daß sich die naturalistischen Dramatiker 
hierbei — im Gegensatz zu Ibsen — nicht einmal Mühe geben, 
den Stoff den Forderangen des Dramas entsprechend umzu- 
modeln. Sie gießen ihn einfach in eine dramatische Form, 
Dialog bleibt Dialog, Bericht wird in die Bühnenanweisung 
getan und ist die Zeit der paar Akte um, so ruft man einen 
Mord, Selbstmord oder sonst ein Unglück zu Hilfe, manch- 
mal — und das ist konsequenter — gar nichts, sondern sagt 
mit salbungsvoller Betonung: „Der Vorhang fällt langsam.** 
Oder „Der Vorhang fällt schnell". Uns ist es aber gleich- 
gültig, ob der Vorhang schnell oder langsam fällt. Nicht gleich- 
gültig kann es sein, daß die modernen Dramen meist ohne 
eigentlichen Schluß sind. Wo aber ein solcher da ist, wie 
durchgängig bei Hauptmann, da ist er gewaltsam durch ein 
äußeres Ereignis oder durch eine unmotivierte Tat herbei- 
geführt 

Diese letzte Art ist, wie gesagt, nicht konsequent, sie 
bildet ein Zugeständnis an die Forderungen des Dramas oder 
sagen wir, der Bühne. Auf die erste Art dagegen bilden sich 
Naturalisten recht viel ein. Sie sagen: Das ist eben das Neue 
darin. Dramen sind keine Anekdoten, daß man die Neugierde 
auf den Ausgang befriedigen sollte. 

Ganz recht. Dramen sind keine Anekdoten. Man ist 
auch auf den Ausgang gar nicht neugierig. Man will nur, daß 
ein solcher da sei. Nicht wie er iSt, sondern, daß er sei 



VIL Handlung^ Fabel tmd Idee. 165 

ist das Entscheidende. Ist man etwa über den Ausgang des 
„Ödipus", der „Antigene" im Zweifel? Oder des „Lear", 
des „Macbeth", des „Othello", des „Hamlet"? Oder 
„Wallensteins"? Oder von Hebbels „Herodes und 
Marianne^', „Maria Magdalena"? 

Das Drama ohne Ausgang ist ein Widersinn, so wie ein 
Kampf ohne Ausgang ein Widersinn wäre. Man verliert den 
Glauben an den Ernst des Kampfes, wenn er keinen Ausgang 
hat. Deswegen muß das Drama einen Ausgang haben, nicht 
aber um jemandes Neugierde zu befriedigen. 

Es zeigt uns hingegen die ganze Führung der Handlung, 
die Breite der Exposition, das Verweilen bei Episoden und 
Schilderungen, dann das jähe unvermittelte Ende, das oft ein 
einfaches Abbrechen der Darstellung ist, daß die naturalisti- 
schen Dramatiker vom Epischen kommen und zwischen dem- 
selben und dem Dramatischen nicht zu unterscheiden wissen. 
Ihre Berufung auf das Leben ist der beste Beweis dafür. 
Denn zwar gibt auch das Drama das Leben wieder, nicht jedes 
Leben aber. 

Es hängt nicht von der zufälligen Laune des Verfassers 
ab, in welche Form das gegebene Thema gegossen werden solL 
Die einzelnen Kunstformen haben ihre besonderen, ihnen ent- 
sprechenden Gegenstände der Darstellung. Ein Bückfall in die 
primitiven Entwicklungsstufen der Kunst ist es sohin, wenn 
man glaubt jeder Ausschnitt des Lebens lasse sich ebensogut 
im Drama als in einer Novelle darstellen. 

Und was schon für die Wahl des Gegenstandes gilt, hat 
noch mehr Geltung für die Art seiner Darstellung. Wenn es 
klar ist, daß ein und derselbe Gegenstand anders in einer 
Skulptur und anders in einem Bilde dargestellt wird, warum 
will man es für das Drama nicht zugeben? 

So sagt man, in besonderer Beziehung auf die Akt- und 
Dramenschlüsse, ferner, daß das Leben nicht dutzendweise 
solche effektvollen Abschlüsse darbietet Auch das ist richtig. 
Nur muß man &agen, weswegen denn dann die neueren Drama- 



166 yil' Handlung^ Fabel und Idee. 

tiker dutzendweise Dramen liefern? Wenn man aus jedem 
interessanten Ereignis, aus jeder Begebenheit, aus jeder Un- 
zufriedenheit gleich ein Drama konstruiert, so ist es nur zu 
verständlich, daß man von „effektvollen Abschlüssen" abstehen 
muß. Spricht es aber gegen diese, nicht eher gegen das 
leichtfertige Dramenproduzieren? 

Es war eine Zeit, wo alles, was nur die Feder zu führen 
wußte, sich auf das Novellenschreiben verlegte. Was einem 
irgendwie nur begegnete, mochte es das Geringste sein, das 
goß man in Novellenform. Meister der Novelle verstanden 
dabei wohl, durch die Darstellung das Unbedeutende des Inhalts 
zu einem Bedeutenden zu verwandeln, oder es wenigstens über 
der Kunst der Darstellung vergessen zu lassen. — Nicht ein 
jeder aber war Meister. — Mit der Zeit wurde man der Novelle 
überdrüssig. Man wurde anspruchsvoller, man wollte von den 
weltbedeutenden Brettern herab wirken. Die Stoffe aber mit 
der Form zu wechseln — das ist keinem in den Sinn gekommen. 

Wozu auch? Wer kennt nicht das Premierepublikum der 
Residenzen? Leute, die gestern Streichhölzer verkauften, 
schwingen sich zu Millionären auf. Das ist ganz in der Ord- 
nung. Nicht in der Ordnung aber ist es, wenn solch ein zu- 
sammengewürfeltes Publikum Kunstgesetze dekretiert, wenn 
Dichter und Kritiker (wer sind diese?) sich um die Wette be- 
mühen, ihrem Geschmack zu fröhnen. Dann kommt man all- 
mählich zu recht wunderlichen Vorstellungen, zu recht bedenk- 
lichen Ergebnissen. 

Es ist fast auf jedem Gebiete der Kunst wahrzunehmen, 
daß aus der Not eine Tugend gemacht wird. Weil ein gewisses 
Publikum weder Verständnis, noch Sinn, noch Geduld hat für 
ein wahres Drama, weil den modernen Verfassern die Muße, 
die Ausdauer und der Atem abgeht zu größer angelegten 
Werken, so werden Anekdoten, Novellen, Apergus zu Dramen 
aufgetrieben. 

Wir möchten nun an die Ausführungen über den Schluß 
des Dramas noch einige Bemerkungen über den Tod, als Ab- 



VII. Eandlungy Fabel und Idee, 167 



Schluß eines dramatischen Schicksals anknüpfen. Die modernen 
naturalistischen Theoretiker lächeln vornehm über Shakespeaee 
und die alten Dramatiker samt und sonders^ weil es bei ihnen 
bekanntlich ohne ausgiebiges Blutvergießen nicht abgeht Wie 
hoch dünken sie sich über jenen Barbaren zu stehen. Sie 
weisen auf die steigende Versittlichung hin, welche das gegen- 
seitige Abschlachten allmählich zu verschollenen Institutionen 
macht. Die Bestie im Menschen, so sagt man, sterbe allmählich 
ab und so naht die Zeit, wo die Tragödie ein Anachronismus 
sein werde, denn sie werde längst aufgehört haben, ein Spiegel 
des Lebens zu sein.^ 

Über die Voraussetzung dieser Aussicht wollen wir nicht 
streiten. Möglich ist, daß die Bestie in uns abstirbt. Aber 
bis sie gänzlich verschwindet, hat es noch lange Zeit. Wie 
auch die naturalistischen Dramatiker in praxi oft einsehen, 
ist übrigens der Tod in der Tragödie das Symbol gänzlicher 
Vernichtung. Da das Drama sich als Kampf darstellt, so ist 
Vernichtung als sein vornehmstes Ziel nicht zu vermeiden. 
Wohl könnte eine Zeit kommen, wo die Vernichtung — wie 
schon jetzt ausnahmsweise — klar und entschieden in anderer 
Gestalt als im Tode zutage treten würde. Dann würde diese 
Gestalt häufiger die Stelle des bisherigen Todes einnehmen. 
Vorläufig sind wir noch weit davon. 

Andererseits aber ist der Tod einmal nicht von dem mensch- 
lichen Leben überhaupt zu trennen. So wird denn auch ge- 
waltsamer Tod immer zu seinen ständigen Einrichtungen gehören 
müssen. Daß er nicht zu den alltäglichen Dingen gehören wird, 
was ist dabei? Auch jetzt und seit jeher starb die Mehrzahl 
der Menschen eines natürlichen, ruhigen Todes. Das Drama stellt 
aber nichts Alltägliches dar. Fortinbras sagt im „Hamlet^* 

0, stolzer Tod, welch hohes Fest 
Bereitest du in deiner ewigen Halle, 
Daß du mit einem Schlag so viele Fürsten 
So blutig schlachtest? 

* Vgl. Hermann Bahr, „Dialog vom Tragischen", Berlin 1904 
S. Fischer. 



168 VII' Handlung y Fabel und Idee, 

„Hohe Feste der Vernichtung*^ sollen ebenfalls Dramen 
sein. Erschüttert sollen wir werden im Drama^ in den Grund- 
festen unserer Seele und nichts ist so erschütternd erhaben, 
wie das grauenhafte Werk des stolzen Todes, die geheimnis- 
volle Auflösung des Lebens, seine Kehrseite, seine Ergänzung. 
Des Lebens höchste Steigerung ist das Drama, darum ist der 
Tod sein würdigster Abschluß, wie sich die tiefsten Schatten 
neben die stärksten Lichter stellen. 

Und wiederum sehen wir ein Unvermögen der Modernen, 
eine Not zu einer Tugend umgedichtet. Weil man es nicht 
versteht, Feste des Todes zu bringen, sieht man auf sie ver- 
ächthch herab. Und doch hat ein ganz Modemer, einer, der 
das Wort von dem „Tragique quotidien" zuerst geprägt hat, 
dem Tode als Gottheit des Dramas geopfert. Maeterlincks 
„Die Blinden", „Der Eindringling" und „Das Heim'* 
sind Hohelieder des Todes, gesungen von einem, der seine 
schaurig hehre Schönheit mit ehrfurchtsvoller Inbrunst be- 
wundert. 

Diejengen aber, die den Tod aus dem Drama bannen 
möchten, sie verwechseln das gewöhnlich Gemeine mit dem 
ewig Wahren. So erweist sich denn die naturalistische Theorie 
auch in diesem Fall als eng, schief und auf das Drama nicht 
passend. 

Indem wir nun noch einmal auf die Idee im naturalistischen 
Drama zurückgreifen, möchten wir noch auf einen Umstand 
aufmerksam machen, der auch zur Klärung seiner Stellung 
beitragen kann. Wir meinen seine enge Verwandtschaft mit 
den französischen Thesen- und dem Tendenzstück im all- 
gemeinen. Auf den ersten Blick scheint dies paradox zu sein. 
Geht doch die naturalistische Theorie von der strengsten 
Objektivität aus. Die Kunst hat nach ihr „die Tendenz Natur 
zu sein*' und nichts als Natur. Natur ist aber thesen- und 
tendenzlos. 

Doch sprechen Tatsachen eine zu beredte Sprache. Haupt- 
manns erstes Drama nennt sich „sozial" und ist ein „Paten- 



VII, Handlung, F(zbel und Idee. 169 

kind" von Tolstois „Macht der Finsternis". Wir haben 
auch bei seiner Besprechung die ihm innewohnende Tendenz 
beleuchtet. Dient doch die ganze Einführung Loths, insofern 
er nicht „Bote der großen Welt" ist, nur dazu, um dieser 
Tendenz Worte zu leihen. 

Auch eine These ist da. Sie lautet etwa: „Was muß 
geschehen, wenn filzige^ an Elend gewöhnte Bauern, plötzlich, 
ohne irgendwelches eigene Verdienst steinreich werden . . . ?" 
Daß diese These albern ist, wurde schon erwiesen. Ihre Existenz 
im Stück läßt sich aber nicht wegleugnen. Kompliziert wird 
sie mit der These von der erblichen Belastung und mit der 
Tendenz gegen den Alkoholismus. 

Wie „Vor Sonnenaufgang" ist auch „Das Friedens- 
fest" ein Thesenstück. Seine These könnte ungefähr wie die 
Worte Roberts lauten: „Ein Mann von vierzig heiratet ein 
Mädchen von sechzehn und schleppt sie in einen weltvergessenen 
Winkel. Ein Mann, der als Arzt in türkischen Diensten ge- 
standen und Japan bereist hat. Ein gebildeter, unternehmender 
Geist Ein Mann, der noch eben die weittragendsten Projekte 
schmiedete, tut sich mit einer Frau zusammen, die noch vor 
wenigen Jahren fest überzeugt war, man könne Amerika als 
Stern am Himmel sehen. Was kann daraus werden, wenn 
nicht ein stehender, fauler, gärender Sumpf? Liebe — keine 
Spur. Gegenseitiges Verständnis, Achtung — nicht Bühran — 
und die Kinder, die auf diesem Beet gewachsen, was können 
die werden? Das Leben dieser Familie, wie kann es sich 
gestalten? . . ." Die These also des „Nichtverstandenwerdens", 
die Hauptmann dann noch zweimal entwickelt, verbunden 
wieder mit derjenigen der erblichen Belastung und anderen. 

und mit einer kleinen Änderung sehen wir wiederum die 
erste These in den „Einsamen Menschen". Sie lautet un- 
gefähr: „Ein geistig hochstehender Mann, hochstrebend und 
radikal in seinen Gesinnungen, tut sich mit einem braven aber 
beschränkten Weib zusammen, lebt in einer Umgebung, die 
gar kein »Verständnis« für ihn hat. Und nun kommt eine 



170 VIL Handlung, Fabel und Idee, 

»verwandte Seele«. — Hat er das Recht, alles zu verlassen, 
um ihr zu folgen?" 

Von den „Wehern" wird entweder behauptet, daß sie 
kein Tendenzstück seien oder, daß sie eines im besten Sinne 
des Wortes sind. Wahr ist, daß sie eine Tendenz haben. 
Ob im besten Sinne, ist hier gleichgültig. Auch die Wahl des 
Stoffes allein kann schon Tendenz enthalten. 

Auch die Komödien „Kollege Crampton" (Alkoholismus) 
„Der Biberpelz" und „Der rote Hahn" wären hier bei- 
zuzählen. Von anderen Autoren: Hermann Bahes „Neue 
Menschen", „Die große Sünde", „Der Meister"; Otto 
Eensts: „Die größte Sünde"; MaxHalbes: „Freie Liebe", 
„Jugend" auch „Eisgang"; Otto Erich Hartlebens: 
,,Angele", „Die Erziehung zur Ehe", „Die sittliche 
Forderung"; Philipp Langmanns: „Bartel Turaser"; 
Carlot Gottfried Eeütlings: „Das Stärkere"; Franz 
Servaes: „Stickluft"; Caesar Flaischlens: „Toni Stürmer", 
„Martin Lenhardt"; Johannes Schlafs: „Gertrud", „Der 
Bann"; Ernst Hardts: „Tote Zeit". Endlich des Halb- 
naturalisten Hermann Südermann: „Die Ehre", „Sodoms 
Ende", „Heimat", „Glück im Winkel". Natürlich wollen 
wir damit nicht behaupten, daß alle genannten Stücke und 
noch viele andere derselben Art, konsequent naturalistisch 
seien. Sie stehen aber doch mehr oder weniger unter dem 
Einfluß der naturalistischen Schule, sind ihrer Anlage nach natura- 
listisch gedacht, streben also an naturalistisch zu sein und gehen 
auch meist unter naturalistischer Flagge. Sie haben auch ein 
jedes eine mehr oder minder ausgesprochene Tendenz oder These. 

Angesichts der Tatsache nun, daß das naturalistische 
Drama in der überwiegenden Mehrheit seiner Produktion 
Thesen- oder Tendenzstücke enthält, ist zu fragen: wie erklärt 
sich dieser Widerspruch? Wir berufen uns auf das bei der 
Besprechung von Hauptmanns Erstlingsdrama „Vor Sonnen- 
aufgang" Gesagte. Der literarische Sturm und Drang der 
neunziger Jahre richtete sich nicht nur gegen die alte Kunst^ 



VJL Handlung, Fabel und Idee, 171 

sondern gegen alles Alte. Es war eine allgemeine Auflehnung 
gegen das Bestehende, deswegen war sie unbestimmt und 
schwankend in ihren Zielen, bestimmt nur in der Färbung 
ihrer Gesinnung und diese war radikal. Verbessern, heilen 
Yon Grund aus, wiederaufrichten wollte man überall und alles. 
Ebensogut wie gegen die Kunst der Epigonen wandte sich 
der Zorn der Gerechten gegen allen Unfug, als da war: Trunk- 
sucht, konventionelle Lüge in allen bürgerlichen Institutionen, 
in der Ehe und Familie, Religion und Moral, gegen die Unter- 
drückung der Frau und wiederum gegen die Sklaverei des 
Mannes; gegen die Sklaverei überhaupt des vierten Standes, 
des geistig über seiner Umgebung stehenden Individuums; 
gegen die Entartung in allen ihren Erscheinungen und Formen. 

Sowie sich aber die Revolution nicht auf die Kunst allein 
beschränkte, mußte sie mit unerbittlicher Logik zur Tendenz- 
und Thesenkunst führen. Das ist auch die moderne Kunst 
meistenteils geblieben Hs auf den heutigen Tag. Wie weit 
dies durchaus schlecht ist, ist hier in diesem Zusammenhange 
Nebensache. Hauptsache bleibt, daß durch die Tendenz oder 
die These der meisten seiner Werke der Naturalismus seiner 
eigenen Theorie ins Gesicht schlägt, sich gegen sich selbst 
kehrt und sich selbst verneint. Femer ist es für uns von Be- 
deutung, festzustellen, daß mit der Tendenz und These das 
naturalistische Drama zu einer Nebenform des Dramas wird, 
seine Tragik zu einer Nebentragik oder Teiltragik. Denn nur 
das allgemeine Menschliche, das Ewige in dem ewigen Wechsel 
der Erscheinungen kann Gegenstand des wahren Dramas sein, 
ist tragisch. Wo der Druck besonderer Verhältnisse als Grund 
des tragischen Schicksals auftritt, da ist für die reine Tragik 
kein Platz. Aktuelles ist nie und nimmer tragisch und kann 
es nicht sein. 

Doch ist das Problem der neuen Kunst tiefer zu fassen. 
Wer die Revolution nur als eine Auflehnung gegen überwundene 
oder überwunden scheinende Form, oder gegen unerträgliche 
Institutionen und Zustände auffassen möchte, der würde ihr 



172 yil' Handlung^ Fabel und Idee, 

doch nicht ganz gerecht werden. Nicht um die Form, auch 
nicht um das Aktuelle allein konnte es den stürmenden Neuerern 
zu tun sein. Was sie dunkel, yielleicht aber desto intensiver 
und schmerzlicher fühlten, war doch noch etwas anderes. 

Sie fühlten ungefähr folgendes: Alles das, was uns die 
alte Tragödie bringt, es mag sehr tragisch sein. Das Schicksal 
eines Ödipus, eines Lear, eines Hamlet. Sie waren aber 
doch Könige und Prinzen. Und all die anderen Tragödien, 
sie behandelten nur Äusnahmsschicksale und Ausnahmsmenschen. 
Allein da geschieht es nun, daß einem das Tragische auf der 
Straße begegnet auf Schritt und Tritt und hohläugig ansieht. 
Bei hellichtem Tag geht es leibhaftig um und macht einem 
erschauern bis ins Innerste der Seele. 

Ein an allen Gliedern zitternder, ein schlotternder und 
zappelnder Gesell, elend und verkommen, mit trübem, ab- 
wesendem Blick in seinen Glasaugen. Ein Wrack von einem 
Menschen, unentrinnbar dem Säuferwahnsinn verfallen. Seine 
Tage sind gezählt. Er wird von einem schmächtigen, eng- 
brüstigen, weinenden Mädchen geführt. Er stammelt etwas nach 
Art der Säufer mit lallender Zunge. Er möchte eifrig in das 
Mädcheo hineinsprechen, wohl zu seiner Beruhigung. Das 
Mädchen jedoch hört kaum seine Worte, es geht schweigend 
neben dem Vater her und stille Tränen rinnen seine Wange 
herunter. Daheim wartet ihrer vielleicht eine schwindsüchtige 
Mutter, die die letzten Funken ihres Lebens anfacht, um für 
die Notdurft der Familie und den Branntwein des Mannes 
aufzukommen. Wer weiß, wie bald die Nadel ihren fiebernden 
Fingern entfallen wird und sie ihre erschöpften Glieder aus- 
streckt, um nicht wieder aufzustehen. Dann ist das junge 
sprossende Leben nur an einen Wrack gekettet. Und wenn 
auch diese Ruine zusammenstürzt und das Mädchen bis dahin 
und ferner den Fangarmen der Straße nicht verfällt, was wird 
aus ihm? Seit der ersten Kindheit wurde es vom Vater mürbe 
geschlagen, wenn er in seinem Säuferzorn gegen Weib und 
Kind tobte. Wie lange noch und es bekommt einen Mann, 



VIL Handlung, Fabel und Idee. 178 

der es samt Kind zu schlagen beginnt. — Und das ist sein 
Leben nun vom ersten Augen auf schlag des unschuldigen Kindes 
bis zum letzten, müden Augenschließen im Krankensaal eines 
Hospitals. Nichts als Flüche und Schläge und Kummer und 
Not und bösbittere Tränen. 

Und dies ist kein Einzelschicksal. Ganze Schichten der 
Bevölkerung, wimmelndes Gewühl, Generationen auf Gene- 
rationen trost- und lichtlos in der schrecklichsten Qual des 
Lebens dahintappender Existenzen. 

Solches nun begegnet dem modernen Dichter auf Schritt 
und Tritt und sein Auge hängt gebannt an seinem Anblick. 
Und es schreit nach seiner Gestaltung in ihm, seit Dostojewski 
die Wege gewiesen. Und so ging der eine oder der andere 
und setzte sich hin, um zu schreiben. Die Tragik des Alltages^ 
Maeteelinks „tragique quotidien" suchten sie in ihren Werken 
zu bannen. 

So entstanden Novellen wie „Papa Hamlet", so „Die 
Familie Selicke". Was ist aber geschehen? Das Stück 
wirkt nicht! Wie? Ist das darin Dargestellte nicht tragisch? 
Ja, aber es ist nicht nur „Tragik des Alltages", sondern das, 
was ich schon oben „schleichende Tragik" nannte. Das Drama 
kann nur „akute" Tragik brauchen. Die „schleichende" gehört 
in den Roman und die Novelle und wirkt auch bei einem 
Dostojewski gewaltig. 

Will man sie aber durchaus in das Drama bringen^ so 
muß man sich seinen Gesetzen fügen und es verstehen, 
„schleichende" Tragik in „akute" zu verwandeln. Nicht die 
impressionistisch naturalistische Zustandsschilderung ist der 
Weg dazu. Dazu kann nur Darstellung der Bewegung, des 
gewaltsamen Anpralles, der plötzlichen Entladung führen. Man 
verglich mit Eecht das Drama mit dem Epigramm. Beiden 
ist gemeinsam, daß sie lang gesammelte Ejraft zum verdichteten 
Ausdruck bringen. Hier die Kraft des Gedankens, dort künstle- 
rischen Schauens — wenn auch die Wucht sich in beiden Fällen 
nicht vergleichen läßt. 



174 yil' Handlung^ Fabel und Idee, 

Wiewohl man sich nun nicht mit vollem ßechte auf das Bild 
des Alltages beruft, so kann jedoch darauf hingewiesen werden, 
daß auch der Alltag oft Beispiele solcher plötzlicher Ent- 
ladungen darbietet, wenn auch nicht oft genug für die rein 
rezeptive und flüchtige Beobachtung. Es genügt, der Gerichts- 
saalchronik ein wenig mehr Aufmerksamkeit zu schenken, um 
zu merken, daß das Explosive noch keineswegs aus unserem 
polizeilich geregelten Alltag verschwunden ist, ja des Dauernden 
darin eigentlichster, letzter Ausdruck ist, sein Sinn und 
Sinnbild. 

So ergibt sich wiederum von einem neuen Gesichtspunkte 
eine Bekräftigung unserer früheren Ausführungen von der Be- 
deutung des gewaltsamen Todes als Abschluß eines dramatischen 
Schicksals. Wenn die geladene Feuerwaffe an der Wand hängt, 
so birgt sie zwar eine furchtbare Kraft, aber selbst jahrelanges, 
tägliches Anschauen der Waffe wird dem Unkundigen ihren 
Gehalt und ihr Wesen, ihren Sinn nicht enthüllen. Wird sie 
aber einmal zur Verteidigung von Gut und Leben oder im 
plötzlichen Ausbruch eines wilden, ungebändigten Zornes ge- 
braucht, so tritt mit einem Male, in einem Augenblicke in 
schrecklicher Weise zutage, was sie in all den Jahren gewesen 
ist. Jäh und plötzlich offenbart sich als ihr Wesen und Sinn: 
Vernichtung. 

Solch furchtbar unheilschwangere Gewalten sind auch oft, 
die Menschen des Alltages. Der Unkundige sieht es ihnen aber 
nicht an. Will man ihre vernichtende Kraft in einem blitzartig 
durchleuchteten Augenblick sichtbar werden lassen, so muß 
man sie bis zum plötzlichen Entladen bringen. Dies ist Sache 
des Dramatikers. 

Auch der Epiker schildert verderbliche Gewalten, jedoch 
nicht in einem plötzlichen Ausbruch. Homee sagt in seiner 
Invokation, er wolle den verderblichen Zorn des Pelliden 
schildern. Für den Dramatiker war da nichts zu holen, wie 
Tiele Opfer er auch forderte. 

Nun war aber Ajax da, bieder und edel und tapfer. Wie 



VIL Handlung, Fabel und Idee. 175 

sich nun diese unschuldig scheinende Kraft plötzlich zu einer 
verheerenden verwandelt und gegen sich kehrt, das konnte den 
Dramatiker zur Darstellung locken. 

Solcher Ajaxe giht es mehr im Alltagsleben, als man ahnt. 
Man muß nur die Kraft des Dramatikers haben, die schlum- 
mernde Bestie zu wecken. Wie meisterlich verstand es nun 
wieder Shakespeaee! Konnte König Dunkan es ahnen, als 
er Macbeth mit Ehren überschüttete, daß er sich damit seinen 
Mörder bestellte? Ahnte dieser es selbst? Die verderbliche 
Kraft schlummerte in ihm, ohne daß er von ihr etwas wußte. 

Oder konnte es Desdemona ahnen, als sie vor dem Rat 
Venedigs, angesichts des zürnenden Vaters, in Othello ihren 
Gemahl und Herrn begrüßte und frei erklärte, wie sie ihn 
liebe, daß es ihr Würgengel ist? Wer von allen Anwesenden 
würde es nicht für Wahnsinn erklären, wenn es jemand voraus- 
sagen wollte? Und doch war es derselbe Othello, der ihr 
später nicht einmal Zeit ließ, ihre Gedanken zu sammeln, als 
er sie mordete. 

Wenn dagegen Hauptmanns Weber auch mehr vernichtet 
hätten, als ein paar unschuldige Fenster und Spiegel, man 
dürfte sich nicht wundem. Menschen, die in einer solch un- 
natürlichen Weise gepeinigt waren, sollten, könnte man denken, 
zu viel schrecklicheren Dingen fähig sein. Was ist dabei? 
Aber der süße Liebesworte lispelnde ritterlich zärtliche Othello? 

Einmal nur ist es Hauptmann gelungen, eine ähnliche 
Wandlung zur Darstellung zu bringen und dieses eine Mal war 
es merkwürdiger Weise in einer Novelle. Der „geborene" 
Dramatiker schwächte dann die dramatische Wendung der 
Novelle im Drama noch beträchtlich ab. Aus dem „Bahn- 
wärter Thiel", welcher Frau und Kind im Wahnsinn ermordet, 
wurde Fuhrmann Henschel, welcher nach furchtbaren Droh- 
ungen gegen andere sich selbst erhenkt. 

„Schleichende" Tragik in „akute" dramatische zu ver- 
wandeln, ist den naturalistischen Dramatikern nicht gegeben. 



VIIL Ergebnis. 



Wir kommen nun zum Schluß unserer kritischen Aus- 
führungen. Wir glauben nachgewiesen zu haben, daß das 
naturalistische Drama von der naturalistisch-impressionistischen 
Erzählung herstammt und in einer Eunsttheorie fußt, die^ von 
den bildenden Künsten kommend, einseitig auf eine besondere 
Gattung der epischen Dichtung, eben jene naturalistisch-im- 
pressionistische Erzählung zugeschnitten, dann irrtümlich auf 
das Drama angewendet worden ist 

Diesem Tatbestande entsprechen die Eigentümlichkeiten, 
Schwächen und Mängel des Hauptmann sehen Dramas. Breite 
Zustandsschilderung, episch in allerlei Episodisches zersplittert, 
ohne eigentliche Handlung, ohne Kampf und Bewegung, ohne 
rechten, jedenfalls zwingend notwendigen Schluß. Die Dar- 
stellung der Charaktere, bei der genauesten Zeichnung und 
Schilderung der äußeren Erscheinung, doch unzureichend, um 
die Handlungsweise der Personen — insofern eine vorhanden 
ist — zu motivieren, die Charaktere selbst meist kraft- und 
willenlos, schwankend und unselbständig, oft kläglich. Der 
Versuch, die naturalistisch-impressionistische Methode auf das 
historische Drama zu übertragen, muß als völlig gescheitert 
angesehen werden. 

Daß dies alles nicht nur in der individuellen Art von 
Hauptmanns Talent, sondern in der Richtung seine Ursache 
hat, ergibt sich, wie wir hoffen, ebenfalls aus unserer Analyse. 



VIIL Ergebnis. 177 



Alle speziell naturalistischen Kunsttheorien sind eine 
Reaktion gegen die jeweilige Verflachung und gegen die Ab- 
kehr Tom Wahren und Echten des Epigonentums. 

Sie trachten den unterbrochenen Zusammenhang mit der 
Natur, der Allmutter und Allernährerin aller Kunst, wieder- 
herzustellen. Sie yerwechseln aber in ihrer Einseitigkeit das 
Heilmittel mit dem Zweck. 

Wirklichkeit kann in der Kunst nur Mittel sein, um den 
inneren Kern, den eigentlichen Inhalt der Kunst, bildlich aus- 
zudrücken. Derselbe Inhalt kann aber unter Umständen durch 
minder treues Abbilden der äußeren Wirklichkeit erreicht 
werden. Wendet man aber das Mittel der treuen Wiedergabe 
der äußeren Wirklichkeit auch an, so soll man sich immer 
dessen bewußt sein^ daß dies nur Mittel der Darstellung ist 
und sich als solches den höheren Zwecken der Kunst unter- 
ordnen muß. 

Wo die Kunst bei der treuen Wiedergabe des Wii'klichen 
als solcher stehen bleibt, gibt es nur Budimente, Ansätze der 
Kunst. Zwittergebilde, die man nur im uneigentlichen Sinne 
Kunst nennt Eine Skizze, eine Studie und sei sie von einem 
ßuoNAEOTTi oder Da Vinci bleibt Skizze oder Studie, wertvoll 
für uns nur, weil sie das Werk eines Großen ist, ebenso wie 
ein poetisches Fragment eines großen Dichters uns teuer ist 
und doch nur ein Torso. 

Im Drama insbesondere enthüllt sich uns das Geheimnis 
des menschlichen Lebens durch Kampf und Bewegung, durch 
Anprall antagonistischer Kräfte. Nur dieser Kampf ist uns 
wichtig. Die Entwicklung dieses Kampfes ist das, was man 
dramatische Handlung nennt. Wir genießen weiter das Drama 
durch Schauen und Hören und dieses Mittel des Genusses, 
welches gespannte Aufmerksamkeit des Genießenden be- 
ansprucht, erfordert in Verbindung mit dem Inhalt des 
Dramas die größte Konzentration und strengen architektoni- 
sehen Bau, in dem alles überflüssige auch schädlich ist. 
Dieses innere Gesetz der Konzentration waltet unerbittlich 

Bytkowski, Gerhart Hauptmann. 12 



178 VUI. Ergebnis. 



und bedingt die Wirkung, deren Mangel doch jede Kunst 
aufhebt 

Der Naturalismus muß sich deswegen im Drama, in viel 
höherem Grade auf seine Funktion, Mittel der Darstellung zu 
sein, beschränken. 

Alle die Errungenschaften des Naturalismus und Im- 
pressionismus, Intimität, Kompliziertheit und Fülle der 
Probleme, das Verteilen des Lichtes auf das Nebeneinander, 
das Milieu — sind schöne Dinge. Die neuen Gesichtspunkte, 
die neue Art des Schauens, mögen ihren Wert und ihren be- 
sonderen Eeiz haben. Es mag vieles in unserer Zeit nach 
dieser Bichtung hin drängen, die Demokratisierung der Kunst 
einerseits, die Verfeinerung unseres Wahrnehmungsvermögens 
andererseits. Bei dem allem darf man aber eine Grundwahr- 
heit nicht vergessen: kein Vorteil, ohne Nachteil, kein Gewinn 
ohne Opfer. Es ist nun die Frage, ob die Opfer hier nicht zu 
groß sind im Hinblick auf den Gewinn. Dies ist aber in unserem 
Fall so sehr wahr, daß die Bedeutung und Wirkung des 
Dramas dabei verloren geht, die Vorteile dagegen überhaupt 
nicht zur Geltung gelangen. Die einzigartige Wirkung, ihre 
Tiefe und Nachhaltigkeit, das Grandiose und Monumentale des 
Dramas sind bedingt durch die größte Einfachheit und Klar- 
heit der Verhältnisse. Das Drama ist von allen Kunstformen 
die im höchsten Grade fokal angelegte. Alles muß sich hier 
um einen Brennpunkt ordnen, und dieser fokalen Anordnung 
entspricht auch die Lichtverteilung. Darin sind die Grenzen 
der Dezentralisation gegeben. 

Ahnlich steht es mit der Intimität und Kompliziertheit. 
Es sind Errungenschaften der poetischen Darstellung vor 
allem. Auf fremdem Boden, auf dem Boden des Dramas, der 
für das Großzügige und Großgestaltete geschaffen ist, Msten 
die zarten Pflanzen ein kümmerliches Dasein, wenn sie nicht 
gänzlich vernichtet werden. 

Andererseits ist die Intimität ein Feind der Größe und 
Monumentalität. Nie wird man es erreichen, daß man den 



VIU. Ergebnis. 179 



Anblick gigantischer Berge, stolzer^ gewaltiger Dome genießen 
werde gleichzeitig mit dem intimen Bilde der Hütten, des 
Buschwerks, der Täler und Niederungen, mit dem bunten Ge- 
wimmel der Häuser und Menschen zu den Füßen des Domes. 
Der ragenden Größe aber gehört das Drama. 

So kommen wir denn zum Schluß, daß das naturalistische, 
auf breite Zustandsschilderung, äußerste Treue in der Wieder- 
gabe der Oberfläche der Erscheinungen ausgehende beschau- 
liche Prinzip im Drama — wenn es sich nicht einem höheren, 
dem dramatischen Prinzip der Bewegung, Wandlung und Kon- 
zentration, vollständig unterordnet, wenn es mehr sein will als 
eine Mitteilungsform unter anderen — nur schädlich, hemmend 
und auflösend, ja vernichtend wirkt. 

Das Drama selbst ist und kann weder naturalistisch, 
noch idealistisch, symbolisch oder sonst wie sein. Es soll und 
muß vor allem dramatisch und tragisch sein. Das übrige ist 
Frage der Mittel, der Ausdrucks- und Mitteilungsweise. Des- 
wegen kann bis zu den von uns oben bestimmten Grenzen 
sehr wohl eine naturalistische, oder sagen wir lieber natura- 
listisch-impressionistische Sprech- und Ausdrucksweise an- 
gewendet werden, ebenso wie eine ins Poetische übertragene. 
Beide müssen sich aber den Zwecken des Dramas anpassen 
und unterordnen. Geschieht es nicht, so entstehen mehr oder 
minder gelungene Zwittergebilde, dramatisierte Erzählungen, 
Bilder einerseits, dramatisierte Lyrik andererseits. 

Das moderne, gesellschaftliche oder soziale Drama gehört 
zur ersten Zwittergattung. Es verdankt sein Entstehen dem 
Drange der unmittelbaren, wirksamen, eindringlichen Mitteilung 
von der Bühne herab, verbunden mit dem Drange, alles Ak- 
tuelle, alles, was die moderne Seele mehr oder minder tief 
bewegt, in das Bereich der poetischen Behandlung hereinzu- 
ziehen. Damit verbindet sich die Neigung zum Intimen und 
Exakten, eine Abneigung gegen das Großzügige: in der Malerei 
der Naturalismus, der Pointillismus, die Punktiermanier statt 
der Strichmanier, in der Musik zerfließende Akkorde an Stelle 

12* 



180 FZZZ Ergebnis. 



der Melodie und des straffen^ energisch bewegten Khyihmns, 
in allen Gebieten der Wissenschaft^ der Technik der Hang, 
sich zu spezialisieren, die Vorliebe für Exaktheit im Kleinen. 
Wir müssen aber daran festhalten, daß dieses Drama eine 
Zwittergattung ist^ deren Daseinsberechtigung im übrigen nicht 
geleugnet werden soll. Es ist die Darstellung der kleinen 
Tageskonflikte und Eonfliktchen, eine Nähedarstellung ohne 
Hintergründe, es ist zum großen Teil Eintagsliteratur. 



IX. Kunsttheorefcische Begründung. 



In der Ästhetik und Kunstwissenschaft ist jetzt wieder 
alles im Fluß. Kein System, keine Theorie, ja kein einziger 
Satz findet widerspruchslose Anerkennung und es giht Fanatiker 
der beschreibenden Ästhetik, die sogar das Becht der Formu- 
lierung eines solchen heftig bestreiten. Diese könnte man 
fragen, woher denn ihnen die Erleuchtung kommt darüber, 
was Gegenstand ihrer „Beschreibung'' sein soll, wenn sie keine 
Bewertung zugeben. Sagt man von einem Tun, es sei Kunst, 
80 bewertet man es. Solange man es aber nicht sagt, liegt 
kein Anlaß vor, es zu beschreiben. 

Man beruft sich gern auf die Naturwissenschaften und 
sagt, in der Physik, Chemie oder Anatomie werde es keinem 
einfallen, Normen aufstellen zu wollen, wie sich die Körper 
zueinander verhalten, oder wie Tiere gebaut sein sollen, es 
genüge, wenn gefunden wird, wie sie sich tatsächlich verhalten. 
Dies ist richtig. Nur ist das Beispiel unrichtig gewählt 

Kunst ist eine menschliche Tätigkeit, und zwar ist sie 
als solche nach dem Ausdruck Heineich von Steins „Be- 
wältigung des Stofflichen".^ Kunst in diesem Sinne ist auch 
jede Technik. Will man daher Analogien aufsuchen, so darf 
man keine theoretische Wissenschaft zum Vergleiche heran- 
ziehen, sondern eine von den praktischen, für die man die 
bessere Benennung „Techne" gefunden hat Statt der Physik 



^ K. Heinrich von Stein, Vorlesungen über Ästhetik, Cotta, Stutt- 
gart 1897, S. 34f. 



182 I^' Kunsttkeoretisehe Begründung, 

oder Chemie, sollte also Brückenbau^ Maschinenbau oder 
„Farbenindustrie^', statt der Anatomie, Medizin zum Vergleiche 
herangezogen werden. In diesen aber schließt eine jede wissen- 
schaftliche Einsicht schon eine Norm ein. Doch darüber ist 
schon so viel gesprochen worden, daß es sich nicht lohnt, noch 
weitere Worte zu verlieren, überdies kann es nicht in unserer 
Absicht liegen, den Gegenstand, wenn auch noch so flüchtig, 
allseitig zu beleuchten, so müssen wir auch diese Streitfrage 
fallen lassen, indem wir den Satz akzeptieren, „daß zwischen den 
beschreibenden und normativen Wissenschaften theoretisch nicht 
sicher zu scheiden ist".^ 

Was nun die folgende Darstellung anbelangt, so verfolgt 
sie lediglich den Zweck, für die früheren Untersuchungen und 
Behauptungen eine allgemeine theoretische Grundlage zu bieten, 
daraus entnehmen wir eben das Becht, uns nur darauf ein- 
zulassen, was uns im Hinblick auf diesen Zweck wichtig er- 
scheint. Wiewohl nun im allgemeinen die Wiederholung be- 
kannter Dinge nicht vermieden werden konnte, so wurden 
doch — so hoffen wir — im einzelnen auch neue Gesichts- 
punkte aufgesucht. Und darin liegt die Eechtfertigung unserer 
Darstellung. 

Indem wir nun zur Sache selbst übergehen, sei bemerkt, daß 
wir im Nachstehenden unter Kunst, Kunst im eigentlichen Sinne 
verstehen, und zwar höhere Kunst, im Gegensatz zu den 
niederen Künsten, und reine Kunst, im Unterschied von den 
angewandten. Kunst in diesem Sinne bezweckt die Hervor- 
bringung des Scheines. „Schein" wird hier als Gegensatz zur 
Wirklichkeit verstanden. Dies soll erklärt werden. 

Ein Kind hat Verdruß, bekommt Schelte, es wird ihm 
etwas versagt oder untersagt — es weint bitterlich. Oder es 
sucht jemanden und findet ihn nicht und weint deswegen. Oder 
es sieht Wagen, Pferde, Soldaten und freut sich daran. Das 



^ Max Dessoib, Ästhetik und allgemeine Kunstwissen- 
schaft, S. 96. 



IX. Kunsitheoreitsche Begründung. 183 

ist des Kindes Wirklichkeit Nun geht es ein anderes Mal 
und ruft ihren Schein hervor. Es schilt, wird gescholten, be- 
kommt Schläge und weint — aber alles als Spiel zum Spiele, 
zum „Schein^^ Ein anderes Mal kritzelt es auf Papier oder 
Tafel etwas und hat den „Schein" eines Pferdes. Was ist nun 
daran? Zur selben Zeit könnte das Kind ganz ernsthaft ge- 
scholten, geschlagen werden und bitterlich weinen, es kann zum 
Fenster hingehen und wirkliche Pferde sehen. Nein, dies mag 
es nicht. Wirklichkeit mag es nicht, sondern nur ihren Wider- 
schein, ihren „Schein". 

Ein anderes Beispiel. Jemand eilt ins Museum, in eine 
Kunstausstellung. Dort wird er gemalte Häuser, Bäume, Men- 
schen und Pferde sehen. Auf dem Wege aber können ihm 
an die zwanzig Paar Pferde, unzählige Menschen, alt und jung, 
schön und häßlich begegnen. Er achtet ihrer nicht Er geht 
achtlos an Baum und Haus, an Mensch und Tier vorüber, 
um bei womöglich schlechter Beleuchtung sich an ihrem 
„Schein" zu ergötzen. 

Noch ein Beispiel Ein Volksauflauf. Ein Mann kommt 
raschen Schrittes herzu. Was ist denn vorgefallen? Man 
klärt ihn auf. Ein tragisches Ereignis. Mord und Selbstmord. 
Man erzählt viel von der blendenden Schönheit der jungen 
Dame imd den mysteriösen Nebenumständen. Der Mann hört 
gespannt und doch nur zerstreut zu. Er hat leider keine Zeit. 
Im Theater wird „Kabale und Liebe^< gegeben. Schon des 
berühmten Darstellers halber möchte er um keinen Preis zu 
spät kommen. Dann hat er doch keinen Sinn für das traurige 
Ereignis hier. Seine Gedanken fliegen dem zu erwartenden 
Genuß entgegen. Er ist auch zu nervös, zu empfindlich, um 
solcher Erschütterung standhalten zu können. Er entfernt sich 
deshalb mit einem dumpfen Gefühl des Unbehagens, halb 
ärgerlich über den sonderbaren Zufall, der ihm gerade diese 
Straße nehmen ließ, noch mehr geärgert über die zudringlichen 
eigenen Gedanken, die sich wie lästige Fliegen nicht ver- 
scheuchen lassen. Was geht ihn im Grunde alles dies an? 



184 i3r. Kunsttheoretische Begründung, 



Geschieht solches nicht täglich? Allzugroße Weichherzigkeit 
ist vom Übel. Wo käme der Mensch hin, wenn %v sich alles 
zu Herzen nehmen wollte? So trachtet er sich zu beruhigen 
und beschleunigt die Schritte. — Wie? Hier hat er die leib- 
hafte Tragödie vor sich mit echten Tränen und echtem Blut! 
Er flieht formlich vor ihr, um sich an gemimter, mit Wasser 
statt Gift zu ergötzen? Ist dies nicht verwunderlich? 

Und nun sehen wir einmal zu. Warum ziehen in diesen 
verschiedenen Fällen so Eind als Mann den Schein der Wirklich- 
keit vor? Eine Kunsttheorie, die sich mit dieser Frage nicht 
abfindet, erklärt nichts, ist armselig. Eine Theorie, die von 
Nachahmung als letztem Zweck der Kunst spricht und nicht 
erklärt, wozu das Nachbild, wenn ein Vorbild da ist, ist 
höchstens Kunstregel, nicht Kunsttheorie. So wie die vielen 
anderen Regeln über die Handhabung des Pinsels oder des 
Meißels, ist sie einfach ein Wink der Meisters für den Schüler: 
„beobachte scharf die Natur und bilde sie treu ab.'' Daraus 
ist sie auch sicherlich abzuleiten, trotz der Poetik des Aristo- 
teles, welcher einerseits sicher unter dem Einfluß der bildenden 
Künste stand, andererseits schon durch seine „Katharsis^' allein 
weit über die „Mimesis*' hinausging. 

Der Einwurf, daß wir das Nachbild leichter haben können, 
als das Vorbild, ist leicht abzuweisen. Zwar manchmal stellt 
man sich auch in einem Kunstwerk eine Art Surrogat, Ersatz 
für die Natur vor. So oft bei einem Porträt. Wie aber aus 
den angeführten Beispielen zu ersehen ist, wird bei gleicher 
Möglichkeit beider Genüsse derjenige des „Scheins" vor- 
gezogen. Daraus geht auch hervor, daß dieser ein wesens- 
anderer ist, folglich kann er nicht zum Ersatz des ersten 
dienen. Ersatz bedeutet außerdem immer etwas Minderwertiges. 
Ist Kunst aber minderwertig? Übersteigt der Wert eines Bildes 
nicht oft hunderttausendfach den Wert des abgebildeten Gegen- 
standes? Endlich, kann ein gemaltes Stilleben ein gutes Früh- 
stück ersetzen? 

Ernsthafter ist ein zweiter Einwurf. Man behauptet mit 



IX. Kunsttheoretische Begründung» 185 

Eecht, weil auf Grund strenger Beobachtung, daß der Nach- 
ahmungstrieb einem jeden lebenden Wesen angeboren ist. 
Dieser Trieb mll befriedigt werden, wie aUe Triebe. Und 
80 entsteht Nachahmung, als welche sich die Kunst darstellt. 
Dies ist wahr. Die Kunst ist unzweifelhaft aus dem Nach-« 
ahmungstriebe geboren. Aber ebenso unzweifelhaft kann dieser 
Trieb allein die Freude an der Kunst nicht erklären. Er 
könnte zur Not die Freude am Kunstschaffen bedingen, nicht 
mehr die Freude am Geschaffenen. Auch das Korrelat der 
ersten Freude nämlich, die Freude am Wiedererkennen, so 
sicher sie in manchen Kunstgenuß eingeht, genügte nicht zur 
Erklärung der Freude an der Kunst. Was erkennt man denn 
eigentlich wieder bei der neunten Sinfonie, oder beim Kölner 
Dom oder bei einem Böcklin? Sind das Abbilder einer uns 
vertrauten Natur? 

So muß denn ein anderer Trieb herangezogen werden, 
der mit jenem in engster Beziehung und Verwandtschaft steht. 
Wir nennen ihn. Es ist der Trieb, unsere Kräfte zu gebrauchen 
oder der Trieb der Lebensbetätigung. 

Jedes Tun, sohin auch jedes Fühlen, Wollen, aber auch 
jedes Erleiden, endUch jedes Wahrnehmen, welches auch ein 
Tun ist — alles dies Tan also ist eine Lebensbetätigung oder 
ein Erlebnis. Der Möglichkeit einer Lebensbetätigung oder 
des Erlebens entspricht der Trieb sich zu betätigen. Dieser 
Trieb ist es, der einem jeden Erlebnis, auch dem schmerzvollen 
ein Element der Lust beimischt. Dies merken wir am deut- 
lichsten im Traume. Das Träumen ist an sich lustvoll. Auch 
der schrecklichste Traum enthält, besonders für stärker ästhetisch 
veranlagte Naturen, ein Moment intensivster Lust und Freude 
in sich. Es ist die Freude am Traum. Diese Freude ist 
nichts als Lust am Erlebnis. Sie ist es auch, welche die 
ästhetische Freude ausmacht. 

Die Freude am Schauen, am Wahrnehmen ist es eben- 
falls, die uns beim Anblick der Natur erfreut. Dies gehört 
nicht unmittelbar zu unserem Gegenstand, doch können wir 



186 I^' Ktmstthearettsehe Begründung. 

auch dabei etwas lernen. Man hat oft darauf aufmerksam 
gemacht, daß die Schönheit der Natur nicht auf jeden im 
gleichen Maße wirke, daß sie auf einen und denselben Menschen 
nicht immer den gleichen Eindruck mache. Der Bauer^ welcher 
das Feld bestellt, der müde Wanderer im Gebirge, der Soldat 
während eines anstrengenden Marsches, der Jäger oder der 
Wilderer bei der Jagd, sie haben weniger Sinn für die Schön- 
heit der Natur, die sie umgibt, als der Tourist. Ja man be- 
hauptet sogar, daß er zuweilen ganz fehle. Freilich wird der 
Bauer, welcher in seiner harten Arbeit aufgehen muß, kaum 
ein Auge für die Schönheit des Bildes haben, das sich vor 
ihm entfaltet, sicher spielt auch die Abstumpfung dabei mit. 
Daß er kein Gefühl für die Schönheit der Natur hätte, darf 
aber nicht behauptet werden. Eher hat er keine Zeit dafür, 
keine Muße, keinen freien Kopf. Mehr jedoch werden wir 
vom Jäger lernen. Dieser hat oder kann Sinn für die Natur- 
schönheit haben, er hat ihn meist so weit, daß ihr Genuß den 
wesentlichsten Bestandteil der Freude an der Jagd ausmacht. 
Er kann sich ihm aber nicht immer voll hingeben, denn er 
jagt doch. Und nun können wir fragen: Wann erfreut sich 
der Jäger voll der Naturschönheit? Wenn die Jagd seine 
Aufmerksamkeit nicht ganz in Anspruch nimmt, also z. B. 
während er auf den Anstand wartet. 

Wir können es anders ausdrücken: Wenn der Jäger frei 
ist, dann erfreut er sich der Natur. Und ebenso der Soldat, 
wenn er ruht, oder wenn er die Beschwerden des Marsches 
momentan vergißt. Und der Bauer erfreut sich vielleicht des- 
halb am wenigsten von ihnen der Natur, weil er am wenigsten 
frei ist von der Qual und Mühe des Tagewerkes. Allgemeiner 
gefaßt, der Mensch muß sich frei fühlen, frei von Beschwerde, 
von Kummer oder Sorge, frei von jedem anderweitigen Inter- 
esse endlich, dann wird er sich erst au der Schönheit der 
Natur erfreuen. Dies trifft beim Touristen meist zu. Insofern 
nicht, entsteht ein gemischtes Gefühl, oder es kommt zu keinem 
Genuß. So haben wir ein bedeutungsvolles Moment ge- 



IX. KunsttheoreUache Begründung, 187 

funden. Die Grundbedingung der Freude am Schauen ist 
Freiheit 

Und nun wenden wir uns wieder dem Traum, dem Spiel 
und der Kunst zu. Wenn ich weinen kann, ohne Schläge zu 
bekommen^ wenn ich durch Tod, durch Unglück und Elend 
erschüttert werde, ohne daß dabei irgendjemandem ein reales 
Leid geschieht, wenn ich bei aller meiner Hingerissenheit mir 
vollkommen dessen bewußt bin, daß ich durch kein reales 
Unglück betroffen, geängstigt oder zermalmt werde, wenn ich 
mich jenseits aller harten Wirklichkeit seiend fühle und doch 
von ihrem Strudel taumelnden und berauschten Sinnes ergriffen 
und getragen, dann — beim Spiel, im Traume und im Kunst- 
genuß bin ich mächtig und frei wie ein Gott — der erdenschweren, 
der lastenden und drückenden Wirklichkeit enthoben und doch 
in sie getaucht bis in ihre tiefsten Tiefen. 

Jetzt sind wir beim Hauptpunkt angelangt Kunstgenuß 
ist ein Erleben in vollkommener Freiheit vom Zwange 
des Erlebnisses. Denn dieses Erleben wird herbeigeführt 
nicht durch eine Wirklichkeit, sondern durch den 
„Schein'^ einer Wirklichkeit Dieses Moment, dieses Ge- 
fühl der Freiheit ist es, welches jeden Kunstgenuß, jeden 
ästhetischen Genuß der Natur, wie nicht minder Freude am 
Spiel bedingt und in ihrem Wesen bestimmt Es ist bei allen 
diesen Genüssen durch den Genuß hindurch immer wach und 
lebendig und verändert ihn von Grund aus. Ob wir ein Bild 
anschauen, ob wir ein Märchen lesen, oder einer Tragödie bei- 
wohnen, ob wir einer Sonate Beethovens lauschen, oder vor 
einem Dom bewundernd stehen, ob wir endlich in Naturgenuß 
schwelgen, immer ist es dieses Gefühl der Freiheit, des Frei- 
seins von aller Gebundenheit, durch die Wirklichkeit, ist es 
das Gefühl des Entzücktseins, welches vorherrscht und das Ge- 
fühl des Erlebens durchdringt^ 

^ Verwandt damit ist das, was Konrad Lange das illusionstörende 
Moment nennt, welches, wie er richtig nachweist, in jedem Eimstwerk 
vielfach enthalten sein muß. Vgl. Konbad Lange, Das Wesen der 
Kunst, G. Grote, Berlin 1901, Bd. I, S. 209ff. u. 281. 



188 i^' Kunsttheoretische Begründtmg, 

Doch dieses Moment der subjektiven Freiheit ist noch 
nicht alles. Es involviert ein weiteres das Moment der ob- 
jektiven Freiheit, der Freiheit des Gegenstandes, des Ge- 
nusses. Sind wir einmal durch keinen Zwang der Wirklich- 
keit gebunden, so erfreut sich auch der Gegenstand, der uns 
den Genuß bereitet, dieser Freiheit. Auf Leinwand, in Stein 
können wir gewöhnliche Bassenpferde oder Ackergäule ebensogut 
wie den geflügelten Pegasus, wie das gehörnte oder doppel- 
köpöge Eoß, oder wie den Zentauren darstellen und anschauen. 
Was hindert uns? Aus Elementen der Wirklichkeit, die wir 
tausend und abertausendmal durcheinandergeworfen, bauen wir 
eine andere Welt auf: die Welt der Kunst, die Zauber- und 
Fabelwelt des „Scheins'^ Welch unermeßliche Bereicherung 
des Eeiches des Erlebnisses und des Schauens! Es entsteht 
vor uns der gefesselte Prometheus, ein Odipus, ein Lear! 
Wo sind die in der Wirklichkeit zu finden? 

Ich fasse zusammen. Der Kunstgenuß ist wie jeder 
ästhetische Genuß, eine Freude am Erlebnis. Diese Freude 
ist bedingt durch das Gefühl der Freiheit vom Zwang der 
Wirklichkeit. Wir schaffen also Kunstwerke, nicht lediglich, 
um die Natur oder die Wirklichkeit nachzuahmen, sondern 
erstens, um den Schaffensdrang zu befriedigen, zweitens, um 
eine Welt des „Scheins" hervorzubringen, welcher das Gebiet 
des Erlebnisses unendlich erweitert und das Erlebnis zu 
einem an sich lustvollen verwandelt durch das ihm 
innewohnende Gefühl der Freiheit und des Spieles, 
Endlich sind nicht nur wir entrückt der Wirklichkeit und auch 
frei von jeder Gebundenheit an die von uns geschaffene Welt 
des „Scheins*', sondern auch diese selbst ist wiederum voll- 
kommen frei von der Wirklichkeitstreue und darin liegt, 
wie wir noch sehen werden, ihre unbezwingbare und unerschöpf- 
liche Krafb. 

Nun gehen wir einen Schritt weiter. Der „Schein" kann 
erstens der Schein eines Dinges oder Geschehnisses außerhalb 
uns sein. Das Kind stellt sich vor^ es sehe Soldaten, Pferde, 



XL Kunsttheoretische Begründimg, 18^ 

Burgen; der primitive Mensch meißelt in Stein eine Figur, die 
eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Menschen hat^ der ge-- 
wandtere Künstler eines Kulturvolkes bringt Bilder hervor, die 
in höherem Grade den Schein der Naturwahrheit hervorrufen. 
Oder es schart sich eine wegemtide Karawane um eine Quelle, 
um Bast zu halten und einer von den Beisegenossen erzählt 
wunderbare Märchen von verwunschenen Prinzen und engel- 
schönen Prinzessinnen, von kristallenen Palästen und Zauber- 
gärten, von Gold und Edelgestein in unterirdischen Höhlen. 
Die Schar um ihn her aber hängt gebannt an seinem Munde 
bis tief in die sternenhelle Nacht .... In allen diesen Fällen 
ist der Genuß ein ,,beschaulicher'^ Der Genießende schaut 
Bilder, sei es der Wahrnehmung, sei es der Phantasie an» 
Sie sind etwas außerhalb seines Ich Gegebenes. Es herrscht 
das objektive Prinzip vor. 

Zweitens können wir es mit dem Schein eines Vorganges 
in uns zu tun haben, oder eines Vorganges, an dem wir inner- 
lich teilnehmen. Das Kind weint, lacht, jauchzt, versteckt sich, 
reitet auf einem Stecken, spielt Vater oder Mutter, Lehrer 
oder Schüler. Der primitive Mensch führt Kriegstänze, 
Scheinkämpfe auf, spielt auf seinen einfachen Musikinstrumenten, 
läßt seinen Gesang, sein Kriegs- und Freudengeschrei er- 
schallen. Der Kulturmensch jauchzt, jodelt, singt, treibt Musik 
oder mimt. In allen diesen Fällen ist der Genuß ein „ex- 
tatischer^'. Der Mensch schaut nicht etwas außerhalb seiner 
mit kontemplativen Sinn an, sondern er wird von einem 
Taumel ergriffen, es schreit aus ihm heraus, sei es Freude 
oder Schmerz, er ist hingenommen, hingerissen, sein Inneres 
hat sich für die Dauer des Genusses in ein anderes ver- 
wandelt. Der Zustand des Genießenden ist ein extatischer.. 
Dieser Zustand kommt in der Kunstübung unmittelbar zum 
Ausdruck, zur „Verlautbarung*'. Der Genießende schaut nicht 
ein Bild außerhalb seines Ich an, sondern sein Ich selbst wird 
durch den Schein verwandelt. Es herrscht das subjektive 
Prinzip vor. 



190 1^ Kunstiheoretüohe Begründung. 

Dieser Gegensatz ist tief und grundgehend. Derselbe 
Unterschied, der zwischen den jeweiligen Seelenzuständen be- 
steht, wenn ich einmal einen zornigen Mann beobachte, das 
andere Mal selbst in Zorn gerate, wenn ich einmal einer Über- 
schwemmung zuschaue, das andere Mal selbst in einem 
schwachen Kahn mit den aufgeregten Wogen kämpfe, besteht 
auch zwischen den jeweiligen Zuständen, wenn ich einmal ein 
Bild eines zornigen Mannes betrachte, das andere Mal selbst 
einen Zornigen spiele, wenn ich das eine Mal von Angst und 
Kampf erzählen höre, das andere Mal selbst den in Angst 
ums Leben Kämpfenden spiele. Worin besteht nun dieser 
Unterschied? Das eine Mal ist, wie erwähnt, das Schauen 
das Bestimmende unseres Seelenzustandes, das andere Mal das 
Fühlen und Wollen: Zorn, Angst und Verzweiflung, Trotz 
und Kampf. 

Die Frage nach dem Seelenzustande des Schauspielers 
während seines Spieles gehört nur scheinbar hierher. Der 
Schauspieler mag ganz hingenommen sein von seinem Spiel, 
er paag an das Publikum denken und Lampenfieber haben, 
er mag kühl die Wirkung seiner Sprache und Gebärden be- 
rechnen, für unsere Frage ist dies alles nicht entscheidend. 
Auf einer gewissen Stufe der Kunstentwicklung wird der 
Seelenzustand eines produzierenden Künstlers zu differenziert, 
zu vielfach zusammengesetzt, um in Bücksicht auf unser 
Problem ein richtiges Bild und Beispiel zu geben. Vor allem, 
was den Schauspieler anbelangt, so produziert er während der 
Vorstellung meistens nicht mehr, sondern er reproduziert das 
während der Vorbereitung Geschaffene. Sicher ist, daß ur- 
sprünglich Kunstschöpfung oder Kunstübung sich hier mit dem 
Kunstgenuß vollständig deckten. So wie noch jetzt beim 
Kinderspiel, war der ursprüngliche Schauspieler sein eigener 
Zuschauer, worauf die Anfänge des griechischen Dramas deut- 
lich hinweisen. Freilich mußte bald eine Scheidung vor sich 
gehen. Nicht jedermann war in gleichem Maße veranlagt, an 
der Kunstübung — und sei sie noch so primitiv — teil- 



/X Ktinsitheoretiseke Begründung, 191 

zunehmen. Bei Tanz, Gesang, £ainpf und Festspiel konnten 
schon der physischen Bedingungen halber nicht alle in gleicher 
Weise mittun. So differenzierte sich die Masse der Spielenden 
allmählich in eine Gruppe der Agierenden und eine Gruppe 
der Zuschauer. Bei den griechischen Spielen können wir den 
Differenzierungsprozeß weiter verfolgen. Aus dem Chore trat 
der Chorführer heraus und dann erfolgte eine weitere Scheidung 
in Schauspieler und Chor, welch letzterer nicht ganz mit Un- 
recht der ^,ideale Zuhörer'^ genannt wurde. So wie sich aus 
der ursprünglichen Masse der gleichzeitig Spielenden und 
Schauenden ein Teil der eigentlichen Spieler ausschied, ebenso 
aus der Gruppe der letzteren, aus dem Chore der Schauspieler. 
Es ist ein Unterschied zwischen dem Betroffensein des Pro- 
metheus und derjenigen der Ozeaniden, oder, um ein Bei- 
spiel eines verdeckten Chores zu wählen, zwischen dem Be- 
troffensein des Königs Lear und dem Kents oder des Narren. 
Wie fortgerissen auch Kent von dem Strudel der Vorgänge 
wird, er bleibt doch der eigentlichen Handlung gegenüber, die 
sich um Lear dreht, nur Zuschauer. Noch mehr der Narr 
„Lears" oder im „Prometheus*' die Ozeaniden. Natürlich 
ist es nicht der befrackte, krittelnde Zuschauer der Loge — 
und dies verführte Nietzsche zu seinem Ausfall gegen 
A. W. Schlegel. — Wohl aber der mitschwärmende Zu- 
schauer, der mithingerissene und, wie bei den Spielen der 
Kinder, der teilweise Mitspielende. 

Und ich meine weiter: selbst nachdem eine vollkommenere 
Scheidung vor sich ging, und jener mitschwärmende Zuschauer 
völlig in die Sphäre des „Scheins" der Dargestellten gehoben 
wurde, den eigentlichen Zuschauer weit hinter sich lassend — 
auch dann noch blieb diesem letzten, dem jetzigen von der 
Loge aus dem Spiele skeptischen und kühlen Sinnes folgenden 
Zuschauer noch etwas von jenem schwärmenden Geist, 
von jener Mithingenommenheit, Mithingerissenheit 
zurück, die den Seelenzustand des ehemaligen mitspielenden 
Zuschauers kennzeichnete. Und das ist es, worauf wir hinzielten. 



192 1^' KtmaWieoreüsche Begründung. 

Denn, ist das hier Ausgeführte richtig, so ergibt sich 
daraus^ daß man die Künste einteilen kann in solche, bei 
denen der beschauliche, kontemplative oder objektive 
und solche, bei denen der extatische oder subjektive 
Charakter des Genusses vorherrscht, um sie kurz zu benennen, 
in kontemplative und extatische Künste. Zu jenen wären 
die plastischen Künste, die Architektur, die Ornamentik und 
die beschreibende Poesie zu zählen, zu diesen der Tanz, die 
Musik, die Lyrik, die dramatische und die Schauspielkunst. Es 
ist klar, daß uns bei Aufsuchung dieses Einteilungsprinzips 
nicht um eine geistreiche Konstruktion zu tun ist, sondern 
darum, den unterschied im Charakter des Genusses bei jeder 
dieser Gruppe klar hervorzuheben. Bemerkt muß dabei werden, 
daß wir nur von einem Vorherrschen des einen oder des 
anderen Charakters in einer Kunst sprachen. Denn wir sind 
uns dessen bewußt, daß man von einer Alleinherrschaft hier 
oder dort doch nicht gut sprechen kann. Es kann be- 
schreibende Poesie, Extatisches enthalten — freilich ist dieses 
dann zugleich auch Lyrisches. Ebenso kann Malerei oder 
Plastik Extatisches enthalten — freilich spricht man in diesem 
Fall mit Recht von poetischer Malerei. Genauer ausgedrückt, 
sollte man von lyrischer Malerei sprechen. Umgekehrt kann 
Lyrik auch Kontemplatives enthalten — dann ist es aber zu- 
gleich „Episches". Dasselbe gilt vom Drama. Es kann ein*- 
zelne kontemplative Momente enthalten, sie dürfen aber nicht 
vorherrschen. 

Dahingegen gibt es keine größere Unnatur und Gewalt- 
samkeit als beschreibende oder schildernde Musik, welche unter 
allerlei Flagge und Namen von großen und kleinen Geistern 
propagiert wird. Dieselbe Widernatur, wenn auch anscheinend 
nicht so kraß, ist es aber, wenn das Drama — vom kon- 
templativen Geist beherrscht — beschreiben oder schildern 
will. Und diese vom Naturalismus in vielfacher Verdeckung 
begangene Sünde ist es eben, die wir im Laufe unserer 
Darstellung mit dem größten Nachdruck bekämpfen mußten» 



IX, Kunsttheoretische Begründung, 193 

Das Drama soll und darf nicht schildern, sein Grandcharakter 
muß unbeschadet einzelner beschaulicher Momente ein ex- 
tatischer bleiben, dieser aber widerstrebt jeglicher Schilderung, 
weil sie beschaulich ist. 

Zwar unterscheidet sich das Drama von der Lyrik ebenso 
wie von der Musik dadurch, daß es nicht reine Verlautbarung 
oder Ausdruck unseres Innern, unseres Gefühls ist. Sondern 
es stellt das Drama den Schein eines äußeren Vorgangs her, 
dennoch bleibt sein Genuß ein extatischer oder subjektiver, 
weil dieser Vorgang ein Geschehen mit uns, unser 
Handeln, unser Erleiden ist Wir sind es, mit denen 
etwas vorgeht. Und wenn sich auch in der Folge der Ent- 
wicklung die Person, mit der etwas vorgeht, vervielfacht, wenn 
Spiel und Gegenspiel, Macht und Gegenmacht, endlich die 
Agierenden und die Zuschauenden voneinander schieden und 
sich scharf sonderten; wenn auch der Schöpfungsakt sich viel- 
fach differenzierte in das Verfassen und das wieder differenzierte 
Darstellen, so bleibt dem Drama dennoch von alledem un- 
berührt sein ursprünglicher Grundcharakter und dieser ist ein 
extatischer. 

Ein anderes Einteilungsprinzip, dessen Durchfuhrung in 
diesem Zusammenhang minder wichtig ist, das aber doch 
interessante Streiflichter auf unsere Fragen werfen kann — 
ergibt sich, wenn man in Berücksichtigung zieht, ob eine 
Kunst unmittelbar durch Wahrnehmung und durch Wahr- 
genommenes, oder aber durch Vorstellung wirkt. Nach diesem 
Einteilungsprinzip steht die Poesie, und zwar insbesondere die 
beschreibende allein allen anderen Künsten gegenüber. Diese 
wirken durch unmittelbar Wahrgenommenes Bild, Bauwerk, 
Ton, Bewegung — jene mittelbar durch das Wort, welches 
uns Vorstellungen suggeriert. Es ist nicht unsere Absicht, die 
heikle Frage aufzurollen, wie denn das Wort eigentlich wirke, 
ob die Phantasiebilder deutlich oder minder deutlich, schatten- 
haft vor unserer Seele auftauchen und der Gefühlswert, die 
Erregung schon unmittelbar aus dem Wort fließe. Wie inter- 

Bytkowski, Gerhart Hauptmann. 13 



194 I^ Kunsttheoretische Begründung. 



essant alle diese Probleme sind — die Grundtatsache berühren 
sie nicht, die darin besteht, daß die Poesie nicht durch un- 
mittelbar Wahrgenommenes, sondern durch reproduktive Fak- 
toren, durch Suggestion wirkt oder, anders ausgedrückt, daß 
das Yon uns wahrgenommene Wortbild, Klangbild nicht un- 
mittelbar äußerlich den „Schein" hervorruft, welcher erstrebt 
wird, sondern mittelbar in unserem Innern. Der Unterschied 
tritt an dem ersten besten Beispiel klar hervor. Wenn man 
die Wirkung des Wortes „Baum" mit derjenigen eines ge- 
malten Baumes vergleicht, so ergibt sich unter anderem 
folgendes: Ein gut gemalter Baum wird mehr oder weniger 
von einem jeden als ein solcher angesehen, es entsteht un- 
mittelbar aus und an den Wahrgenommenen der Schein eines 
Baumes und zwar ein „Schein" eines ganz konkreten Baumes 
mit individuellen Zügen, mit durchaus besonderer Erscheinung. 
Dahingegen ruft das Wort „Baum** nur unter besonderen Um- 
ständen — wenn man sich absichtlich darum bemüht — ein 
schattenhaftes, allgemeines, abstraktes Bild hervor und bleibt 
bei einem der deutschen Sprache nicht Mächtigen leerer 
Schall. 

Dies alles würde uns, wie gesagt, nicht näher angehen. Der 
letzte Umstand erklärt uns jedoch den Anlaß, aus welchem wir die 
Frage berührten. Er erinnert und vergegenwärtigt uns nämlich, 
welchen Faktor in der Wirkung des Wortes das Konven- 
tionelle bildet. Denn wirkt das Wort nicht unmittelbar durch 
Wahrgenommenes, das ist durch sich selbst, sondern durch 
Vorstellungen, Gefühle, Erregungen, welche es hervorruft, so 
ist es klar, daß seine Wirkung ohne Konvention nicht be- 
stehen kann. Wie auch am obigen Beispiel dargetan wurde. 
Für denjenigen, der an der sprachlichen Konvention der 
Deutschen keinen Anteil hat, weckt das Wort „Baum" keinerlei 
Vorstellung und verhallt wirkungslos. Ebenso wird er vor 
Zorn nicht erblassen, wenn man ihm „Schurke!" zuruft, 
keinerlei Gefühle werden in ihm wach, wenn man ihm von 
„leichenfahler Blässe*' spricht 



IX, Ktmsttkeoretische Begründung. 195 



Konvention ist Übereinkunft. Wo aber Übereinkunft und 
Suggestion auf Grund dieser die Wirkung bestimmt, wo nichts 
zur unmittelbaren Darstellung gelangt^ kann auch von einer 
„Nachahmung** der Natur als Mittel zur Hervorbringung des 
Scheins nur in sehr uneigentlichem Sinne gesprochen werden. 
Das Wort „Baum" oder „leichenfahl" ahmt nichts nach — es 
ist, wie schon Lessing sagt, ein willkürliches und, wie wir eben 
ausgeführt haben, ein konventionelles Zeichen, ein Symbol. 
Dagegen ahmt ein gemalter Baum unmittelbar die Natur nach. 

Danach sondert sich aus der Gruppe der kontemplativen 
Künste die berichtende Poesie aus, weil sie zwar wie jene be- 
schaulich ist und sohin bei der Erscheinung verweilen kann, 
dafür aber nicht imstande ist, dieselbe nachzuahmen. Aus 
anderem Grunde sondern sich aus derselben Gruppe die Archi- 
tektur und die Ornamentik ab, weil diese nämlich — so wie 
von der anderen Gruppe die Musik und Lyrik — überhaupt 
nicht den Zweck verfolgen, durch den „Schein der Natur" zu 
wirken, sondern unabhängig von ihr einen eigenen Schein zu 
schaffen suchen. Doch dies nebenbei. 

Was nun die beschreibende Poesie anbelangt, so muß 
man zugeben, daß sie in einem Stück Gelegenheit hat, die 
Natur direkt nachzuahmen, und zwar dort, wo sie unmittelbar 
darstellt. So wie, zum Teil, das Drama kann nämlich auch die 
beschreibende Poesie die menschliche Rede selbst zum Gegen- 
stand der Darstellung machen, sie führt die Bede an als 
solche, mit allen ihren Eigenheiten, wörtlich. Von dieser Mög- 
lichkeit hat auch der Naturalismus den ausgiebigsten Gebrauch 
gemacht, wovon eine Probe in unserer Einleitung gegeben 
wurde. 

Hier tritt nun aber eine Komplikation ein. Denn es kann 
zwar die Poesie die Bede unmittelbar nachahmen, sie tut es 
aber wirklich nur in den seltenen Fällen, wo laut gelesen 
wird. Wird aber still gelesen, so tritt wiederum nur die Vor- 
stellung an Stelle des sinnlich Wahrgenommenen. Wohl aber 
bleibt — dies sei zugestanden — der Charakter des Genusses 

13* 



196 XI- KunsttheoreUsche Begründung. 



derselbe, da die Vorstellung des gesprochenen Wortes viel un- 
mittelbarer mit dem Wort verknüpft ist, als die Vorstellung 
irgendeines Dinges, dessen Symbol das Wort nur ist Ja noch 
mehr, wie im Abschnitt über die Sprache ausgeführt wurde, 
führt dieser Mangel der still gelesenen Poesie einen Vorteil 
gegenüber der lauten Wiedergabe des Wortes mit sich, näm- 
lich eine größere Freiheit in der getreuen Wiedergabe der 
Rede des Alltages. 

Andererseits muß hervorgehoben werden, daß die Sprache als 
solche nur in sehr beschränktem Maße Gregenstand der 
poetischen Darstellung ist, daß sohin diese ganze Ausnahme 
überhaupt wenig Bedeutung hat und die beschreibende Poesie 
sich doch im großen und ganzen von den bildenden Künsten 
dadurch unterscheidet, daß sie nicht unmittelbar darstellt. So- 
nach blieben für die allgetreueste Nachahmung der Natur nur 
die bildenden Künste allein übrig, denn das Drama stellt 
zwar unmittelbar und konkret dar, ist dafür aber eine exta- 
tische Kunst, für welche die Treue in der Wiedergabe über- 
haupt Nebensache ist. Und wirklich sind es, wie nochmals 
hervorgehoben werden soll, die Kunstregeln der bildenden 
Künste eben gewesen, von welchen die ganze Theorie von der 
Natumachahmung als letztem Ziel der Kunst ihren Ausgang 
nahm. 

Nun zu etwas anderem. Wir haben die Welt der Kunst 
eine Welt des „Scheins" genannt im Gegensatz zur Welt der 
„Wirklichkeit". Dieser Gegensatz kommt nach zweifacher 
Seite zur Geltung, nach der subjektiven und nach der ob- 
jektiven. 

Nach der subjektiven, in dem wir uns dessen vollkommen 
bewußt sind, daß wir es mit keiner Wirklichkeit zu tun haben. 
Träume ich, ein Raskolnikow zu sein, so habe ich durch alle 
Angst und Pein hindurch das Gefühl, daß dieser ganze Komplex 
von Ereignissen, Handlungen und Gefühlen mit dem Ganzen 
meines Lebenszusammenhanges in keinem kausalen Verhältnis 
steht, da£ er es nicht im Geringsten berührt. Es ist das von 



IX, Kunsttheoretische Begrimdung, 197 

Lange mit Recht so nachdrücklich hervorgehobene Bewußt- 
sein der Illusion. Dieses Bewußtsein färbt auf die Gefühle, 
die uns im Traume und beim Kunstgenuß bewegen, derart ab, 
daß sie von Grund aus verändert werden, daß auch an sich 
unlustvolle Gefühle das Gepräge der Lust erhalten. Sie er- 
halten es, weil das Moment des Losgelöstseins vom Lebens- 
zusammenhang ihnen den Stachel des Schmerzes oder der 
Unlust benimmt^ hingegen das Moment des Erlebens in seiner 
vollen Geltung verbleibt, ja durch das Wegfallen des ersten 
zu einem besonders intensiven wird, zur Lust des ästhetischen 
Schauens, zur ästhetischen Hingenommenheit, Hingerissenheit. 
Unsere ganze Lebensenergie, unsere ganze Lebenserfahrung 
und unser ganzer Lebensdrang konzentriert sich sozusagen in 
dem Erleben und gibt seinem Genuß jene intensive Färbung, 
die den Erlebnissen der Wirklichkeit nur in den seltensten 
Fällen zukommt. 

Wenn daher von mancher Seite bei Annahme von Schein- 
gefühlen, — auf welches Problem wir nicht eingehen wollen — 
von einer Abschwächung der Gefühle im ästhetischen Genuß 
gesprochen wird, so ist das einseitig. Der reale Zusammen- 
hang der Wirklichkeit gibt den Gefühlen, sobald es sich um 
uns selbst betreffende Dinge handelt, eine Dauerhaftigkeit und 
ein Bewußtsein dieser Dauerhaftigkeit, die selbstverständlich 
auf die Stärke des Gefühles im höchsten Grade einvnrkt. 
Dahingegen werden uns Dinge, die unser Interesse nicht un- 
mittelbar berühren, in der Wirklichkeit ein viel schwächeres 
Gefühl einflößen als beim ästhetischen Genuß. Ja nicht nur 
schwächer, sondern anders ist das Gefühl. Das, was z. B. im 
Leben Mitleid ist, ist in der Tragödie etwas völlig anderes. 
Unrichtig ist es, zu glauben, daß wir mit dem Odipus Mit- 
leid fühlen, denn die Sache ist nach unseren früheren Aus- 
führungen die, daß wir die Gefühle des Odipus selbst in uns 
erleben, dabei aber ganz genau wissen, daß wir nicht Odipus 
sind. Das ist die ästhetische „Einfühlung", von der noch 
zu sprechen ist 



198 ^X* Kv/nsttheoreUsche Begründung» 

Sohin kann man nicht sagen, daß ästhetische Gefühle als 
Scheingefühle schwächer seien, im Gegenteil, sie sind meistens 
nur ihrer Anlage nach intensiver als Gefühle, die uns die 
Wirklichkeit einflößt oder sie sind einerseits schwächer, 
andererseits aber stärker als diese. Sie sind nämlich losgelöst 
vom Kontinuum unseres Ich. Das schwächt sie ab. Denn 
wir wissen doch, daß wir nicht Odipus sind, und wir können 
den Schmerz der Blendung keinesfalls auch nur annähernd 
fühlen. Das gibt ihnen auch eine gewisse Flüchtigkeit, die 
wiederum nicht so weit geht, als man gewöhnlich annimmt. 
Denn das betreffende Gefühl kann sich sofort nach dem Schluß 
einer Tragödie verflüchtigen, dafür werden aber andere wach, 
die aus der Verklärung jener, aus ihrem Entheben in eine 
Welt der Erinnerung, des „Einst'*, entstehen. Dies ist die 
Katharsis, welche unleugbar besteht. Wenn die Tragödie zu 
Ende ist, so kann ich sofort ungefähr dieselben Gefühle haben, 
die Odipus erst viel später auf Kolonos hatte, als das ganze 
vielbewegte erlebnis-^und schmerzensreiche Leben weit hinter 
ihm war. 

Andererseits sind, wie wir sahen, die ästhetischen Gefühle 
intensiver als die Gefühle, welche uns die Wirklichkeit einflößt, 
weil man sich ihnen als einem Erlebnis infolge des WegfaUens 
aller Wirklichkeitsbeziehung voll und ungeteilt hingibt So 
können wir denn sagen, daß die ästhetischen Gefühle, die uns 
der „Schein" der Kunst einflößt, einerseits schwächer, anderer- 
seits aber stärker sind als die, welche der Wirklichkeit gegenüber 
wach werden, daß sie zwar flüchtig sind, diese Flüchtigkeit 
aber einen Vorteil der Verklärung oder Läuterung einschließt. 

Wir haben oben gesagt, daß sich der Gegensatz des 
ästhetischen „Scheins" und der „Wirklichkeit'^ auch nach der 
objektiven Seite äußert. Er äußert sich darin, daß, wie gesagt, 
dieser Schein tatsächlich etwas anderes ist als Wirklich- 
keit. Und doch ist die Welt des „Scheins" zugleich auch die 
Welt der reinsten Wahrheit. Denn in ihr entschleiern 
sich die tiefsten Geheimnisse der Natur. Und insofern geben 



IX, Ktmsttkeoretiscke Begründimg s 199 



wir jenen Ästhetikern Eecht, welche in dem Streben nach 
Naturwahrheit das vornehmste Streben der Kunst sehen. Wie 
erklärt sich nun der Widerspruch dieses Zugeständnisses und 
unserer vorigen Behauptung, daß die Welt des „Scheins" sich 
im schärfsten Gegensatz zur Welt der Wirklichkeit befindet? 
Wie kommt es, daß wir nach unserer früheren Behauptung 
von der Welt der Wirklichkeit in die Welt des „Scheins« 
fliehen und nun nach der jetzigen Behauptung zur eigentlichsten 
Wirklichkeit zur Wahrheit gelangen? 

Die Psychologen sagen da einfach. Die Einbildungskraft 
des Menschen kann schlechterdings nichts Neues schaffen, es 
ist nur die Wiedergabe des Wahrgenommenen in neuer Kom- 
bination. Was vereinzelt gesehen wurde, wird zusammengefaßt, 
was klein gesehen, groß gestaltet und umgekehrt. Dies ist 
wahr. Warum aber, frage ich, wird dann dieser Mangel, diese 
Ohnmacht unserer Einbildungs- und Schöpferkraft allgemein 
als Vorzug empfunden und gepriesen? Wie kommt es, daß 
man ein Kunstwerk, welches in irgendeiner Beziehung zum 
Leben oder zur Natur steht, um so höher schätzt, je tiefere 
Wahrheit es enthält? 

Die Erklärung und Auflösung dieses Widerspruches ist 
etwa folgende. Wir haben einmal gesagt, daß die Kunst aus 
dem Nachahmungstriebe geboren ist, weiter, daß sie allenfalls 
und unzweifelhaft eine Betätigung des Schaffensdranges ist, 
daß der Kunstgenuß ein „Erleben" ist im Spiel und durch 
den „Schein** oder durch das Schauen des „Scheins", endlich 
jetzt vorhin, daß dieser Schein nur aus Elementen der Wirklich- 
keit zusammengesetzt sein kann. 

Prüfen wir jetzt den Sachverhalt näher. Hierbei fügen 
wir das Prinzip der sogenannten „Einfühlung" ein. Was 
ist „Einfühlung*'? „Einfühlung", das ist das eigentliche innere 
Erfassen des Wahrgenommenen durch „innere Nachahmung*^ 
Mit jeder Wahrnehmung einer Bewegung ist, infolge einer ur- 
sprünglichen Einrichtung unseres Organismus, die zu erklären 
hier nicht der Ort ist, der Trieb verbunden, sie nachzuahmen. 



200 -^-X". Ktmsttheoretische Begründung. 

Kommt es zu einer solchen äußeren Nachahmung, so entsteht 
in uns ein kinästhetisches Bild, d. i. ein Bild oder Gefühl der 
entsprechenden inneren Vorgänge in uns. In der Folge ver- 
bindet sich auch dann, wenn keine äußere Nachahmung zu- 
stande kommt, mit jedem wahrgenommenen Bilde, das in ein 
Bild der Bewegung aufgelöst wird, ein inneres kinästhetisches 
Bild. Dies ist die „innere Nachahmung**, die in dem Aus- 
lösen Yon Bewegungsimpulsen und den sie begleitenden Ge- 
flihlen besteht Ins einzelne hier einzugehen, haben wir hier 
weder Anlaß noch Beruf. 

Die Tatsache läßt sich nicht leugnen, daß eine solche 
„innere Nachahmung" besteht und sie ist es, die uns ermöglicht, 
das Wahrgenommene eigentlich zu erfassen. Wenn wir einen 
traurigen Mann sehen, so sehen wir zunächst nur ein so und 
so verzogenes Gesicht. Und es ist nicht so, daß wir davon 
Kenntnis haben, es müsse Trauer bedeuten, sondern so, daß 
wir im Innern das Verziehen des Gesichtes nachmachen, und daß 
damit zugleich das Gefühl der Trauer sich einstellt, was wiederum 
auf ursprüngliche Einrichtung sowohl, als auf Assoziation zurück- 
zuführen ist So verbindet sich mit der Wahrnehmung zugleich 
das Erfassen des Wahrgenommenen. Ich sehe einen Traurigen, 
ahme unwillkürlich innerlich seine Trauer nach und erfasse sie 
dadurch. Ich erlebe sie unmittelbar mit der Wahrnehmung. 

Dieses „innere Nachahmen" oder eigentlich Miterleben ist 
ein „Tun" jedenfalls. Es ist nicht ein Erleiden, sondern ein 
Tun. So stellt sich eine Kette her. Erfassen des Wahr- 
genommenen, oder Schauen ist ein „inneres Nachahmen", „ein 
Tun" und ein , Erleben" durch „Einfühlung". Kunstschaffen 
andererseits entsteht aus dem Triebe zur — äußeren Nach- 
ahmung, aus welchem auch die innere Nachahmung entstand; 
weiter aus dem Schaffensdrange, der wiederum eine andere 
Form des Triebes zur Nachahmung ist, die doch auch ein 
„Tun" darstellt, endlich aus dem Triebe zur Lebensbetätigung, 
zum Erleben durch den „Schein", oder durch das Schauen 
des „Scheins", durch „Einfühlung" in den „Schein". 



IX, Kunsttheoretisehe Begründung. 201 

Wenn wir nun erwägen, daß je innerlicher, je intensiver 
unser „inneres Nachahmen" ist, desto tiefer wir in das Wesen 
des Wahrgenommenen eindringen, daß also das tiefere Erfassen 
des Wahrgenommenen mit der größeren Fähigkeit und mit 
stärkerem Triebe zur „inneren Nachahmung^' verbunden ist; 
daß dieser stärkere Drang auch zur äußeren Nachahmung zur 
Eünstlertätigkeit führt, so ist es klar, daß die Begabung des 
Künstlers und ebenso die des Genießenden darin besteht, tiefer 
als andere oder als sonst — d. i. nicht im Zustande des Kunst- 
genusses — in das Wesen der Dinge einzudringen und stärker 
zur Nachahmung getrieben zu werden. Oder daß dieses Letztere 
nur eine andere Seite des Ersten ist. 

Der Künstler ist also nicht nur aus Unvermögen, dem 
Umkreis der Wirklichkeit zu entfliehen, gezwungen, sich in 
ihm und nur in ihm zu bewegen, sondern seine ganze Be- 
gabung, sein Trieb drängt ihn dazu. Denn dieser angeborene, 
stärker als bei anderen Menschen entwickelte Trieb fuhrt ihn 
zum tieferen Eindringen in die Wirklichkeit einerseits und 
zum Nachahmen andererseits. So schließt sich der Kreis. 
Fliehen wollte der Künstler — sowie der Genießende — von 
der Welt der „Wirklichkeit* ' in die Welt des „Scheins" um 
zu erleben. Er ist zu ihr durch das Schaffen oder den Genuß 
des Scheins zarückgekehrt, welche aus dem tieferen Eindringen 
in sie geboren wurden. So löst die Persönlichkeit des Schaffenden 
und das Wesen des Schaffens, sowie des Kunstgenusses den 
Widerspruch auf. 

Man erinnere sich nun. „Schein'» haben wir das Kunst- 
produkt genannt im Gegensatz zur Wirklichkeit. Wohl ist 
der Schein ein Bild der Wirklichkeit, muß aber nicht un- 
mittelbar Widerschein, unmittelbare Spiegelung irgendeiner 
besonderen Wirklichkeit sein, sondern nur einer Wirklich- 
keit überhaupt. 

Gleichzeitig haben wir jedoch den „Schein" weiter in einen 
noch schärferen Gegensatz gestellt zur „Erdenschwere" zu dem 
„Ernst" der Wirklichkeit Der „Schein" des Feuers, haben 



202 -?^« Kunsttheoretiseke Begründung. 

wir gesagt, brennt nicht und der „Schein** des Leids macht 
nicht unglücklich. Und darin haben wir den Vorzug des 
„Scheins** vor der Wirklichkeit gefunden. Es ist die ästhetische 
Freiheit des Genusses. Ich brenne, ich will brennen und will 
doch nicht verbrennen. Wenn nun der „Schein" des Kunstwerkes 
ein von den Schlacken des Wirklichkeitsdaseins befreites 
Spiegelbild der Wirklichkeit ist, so kann er ganz Wahrheit und 
Wirklichkeit enthalten. Ja noch mehr! Wenn er, vne wir 
gesehen, die Frucht einer besonders tiefen Einfühlung des 
Künstlers ist, so wird er auch um so wahrer sein, je tiefer 
diese Einfühlung war. 

Und so gelangen wir zur Forderung der Wahrheit als 
der Forderung eines tiefen Eindringens, einer tiefen Einfühlung 
in die W^elt der Wirklichkeit. Der Schein ist „Schein" und 
nichts als „Schein" und muß dennoch innere Wahrheit ent- 
halten, jene Wahrheit, die nicht an den Zufälligkeiten der 
Einzelerscheinung haften bleibt, sondern in den Dingen ist und 
über den Dingen schwebt. 

Und in dem Sinne ist denn auch jedes Kunstschaflfen 
ein Erkennen, ebenso wie jeder Kunstgenuß. Darin haben die- 
jenigen Theorien recht, die dieses Erkennen der Geheimnisse 
der Natur als Wesen der Kunstschöpfung und des Kunst- 
genusses ansehen. Haben doch der ästhetische Genuß und die 
wissenschaftliche Einsicht einen gemeinsamen Ursprung: die „Ein- 
fühlung**; sowie die ästhetische Empfänglichkeit und die Freude 
an der Einsicht gemeinsam aus der Einfühlung entspringen. 

So stellt sich der „Schein** der Kunst einerseits als ein 
„Symbol" der Wirklichkeit dar. Andererseits aber ist der 
„Schein** der Kunst eine Art Konzentration, Zusammen- 
fassung, Synthese oder auch Mundgerechtmachung der Wirk- 
lichkeit für die Einfühlung. Eine Art, um uns einen Ausdruck 
aus der medizinischen Chemie zu entlehnen — aufiiahms- 
fähigerer Neudarstellung der Wirklichkeit. Sowie uns die 
Pflanzen den mineralischen Stoff neu darstellen und zur Re- 
sorbierung durch den tierischen Organismus geeignet machen, 



IX, Kunsttheoretisehe Begründung, 203 



80 stellen auch die Künste die Wirklichkeit neu dar, damit 
sie desto tiefer von uns erfaßt werde. Wir erinnern an das 
einmal Gesagte, daß ein jeder Mensch schaffender Künstler 
sein muß, um Kunst zu genießen, ein Goethe aber so stark 
Künstler ist, daß er dem nachgenießenden Künstler die Wege 
ebnet. Insofern hat auch Zola recht, wenn er sagt: „vu par 
un temparament". Es sind dies die Wege der Einfühlung, diese 
Einfühlung enthält aber ein Eindringen in das Wesen des 
Seins also die höchste Wahrheit. Von diesem Gesichts- 
punkte ist auch das Idealisieren, das Stilisieren und das 
Symbolisieren zu betrachten. 

Fassen wir zusammen. Wenn Kunst aus dem Nach- 
ahmungstrieb geboren, auf dem Wege nach dem „Erleben** 
eine Welt des „Scheins" aufsucht; wenn dieser „Schein", weil 
er das Werk des tief in das Wesen der Dinge eindringenden 
Künstler ist, die inneren Zusammenhänge, die innere Wahrheit 
des Seins, oder der Wirklichkeit erschließt; wenn das Werk 
des Künstlers um so höher steht, je tiefer der Künstler in das 
Wesen der Dinge eindringt — so kann getreue, sklavisch ge- 
dankenlose Nachahmung der äußeren Wirklichkeit nimmermehr 
letzter Zweck der Kunst sein. Sie ist vielmehr eine der Etappen 
auf dem Wege nach der Wahrheit. 

Ihre Produkte können uns willkommen sein dort, wo wir 
mit beschaulicher Freude bei der Erscheinung verweilen — 
in den bildenden Künsten, in der Epik. Wird unsere Seele 
zum Mitschwingen gebracht, wie in den extatischen Künsten, 
so verlieren wir im Taumel, der uns erfaßt, jedweden Sinn 
für solche Art des Erlebens, die im Vergleich mit der anderen 
doch mehr passiver Natui* ist. Wir tragen jetzt Verlangen 
nach stärkerem Erleben, wir wollen miterleben, mit fortgerissen 
werden vom Strudel des Lebens. Fremd und feindlich ist 
uns jetzt die Freude des passiven Zuschauers. Was kümmert 
uns, die wir das tragische Leid eines Lear, eines Othello 
miterleben — mit ihnen, in ihnen — was kümmert es uns 
da, welches Haar, welchen Gang, welche Gestalt sie haben 



204 IX. Kunsttheoretische Begründung, 

mögen. Eönnen wir die Gemütsruhe haben ^ um uns selbst 
im Spiegel zu begucken? Wenn Lear mit wallendem Bart 
und Haar durch den dunklen Wald jagt^ gepeitscht von seiner 
bitteren Qual, so sind wir es ja, die es tun. Steht es aber 
so mit uns, daß eine ganze Welt über unserem Haupte zu- 
sammenstürzt — wie können wir Gefühl und Augen haben für 
etwas anderes als unser Leid? Kann man von jemandem, auf 
den eine Lawine niedergeht, verlangen, daß er ihre Schönheit 
bewundere; von einem Schiffbrüchigen, der mit den Wogen 
um sein Leben kämpft^ daß er das großartige Schauspiel des 
Sturmes genieße; von jemandem, der nackt aus einem brennenden 
Hause flüchtet, daß er für die Pracht des wundersamen An- 
blickes Sinn und Augen habe? Welch seltsame, welch wider- 
und wahnsinnige Zumutung? 

Und doch gleichen ihr die Zumutungen des Naturalismus 
im Drama vollkommen. Denn, nochmals sei es gesagt, im 
Drama gehe ich ganz auf in dem Geschick^ in dem Kampfe, 
den die Personen des Dramas ertragen und austragen. Ich 
kämpfe mit ihnen, ich leide mit ihnen, ich werde mit ihnen 
vom Schicksal erfaßt und zermalmt. Und ist das Spiel zu 
Ende, habe ich ausgerungen, so geht in mir die vielgenannte 
Katharsis, die Eeinigung vor. Der Sturm tobt nicht mehr, 
der wilde Aufruhr der Gefühle, er hat sich gelegt, ßuhe und 
Stille ist in mein Gemüt eingezogen und in dem emstheiteren 
Lichte der Erinnerung sehe ich das Erlebte, das Durchlebte 
nochmals im Schimmer der Verklärung an mir vorüberziehen. 
Und jetzt erchließt sich mir ein plötzlicher Einblick in das 
Wesen der Dinge, das Wesen des Lebens, des Menschen- 
schicksals und alles Seins. Dunkles wird mir hell, Verworrenes 
klar, Unergründliches zeigt mir seinen Grund. Das ist es, was 
das Drama, was die Tragödie letzten Endes erstrebt Durch 
Leid und Pein, durch das wildeste, verzweiflungsvollste Ringen 
mit dem Geschick, mit den bösen Leidenschaften, in mir und 
außer mir, komme ich zu neuer Ruhe, zu neuer Einsicht und 
Erkenntnis, zur Wahrheit. Weil nichts so belehrt wie Er- 



IX, Kunsttheoretische Begründung, 205 

fahrenes, wie Erlebtes und Durchlebtes, so bin ich hinein- 
gesprungen mitten in den Wirbel der aufgeregtesten Lebens- 
wogen, habe mich erfassen, treiben und zerreiben lassen — 
alles im Spiel, alles im „Schein" — und nun, da ich auf alles 
dies zurückschaue, fühle ich, daß ich der Wahrheit näher bin. 

Wie klein, wie nichtig und schal erscheint mir in dieser 
meiner neuen Erleuchtung die Freude an der äußeren Er- 
scheinung. Krauses oder schlichtes, dunkles oder helles Haar, 
dieser oder jener Gang, diese oder jene Tracht, diese oder 
jene Sprechweise — was ist dies alles im Vergleich damit» 
was ich erfahren habe, erfahren am Schicksal der Betroffenen, 
das mein Schicksal, das Menschenschicksal ist. So ist 
es der Geist des Kunstgenusses, der extatische Geist, welcher im 
Drama äußere Wirklichkeitstreue ausschließt und innere Wahr- 
heit an ihrer Stelle erfordert 

Bevor wir nun schließen, möchten wir noch zwei Fak- 
toren, die beim Genuß des Dramas mitspielen, in Rücksicht 
auf unsere früheren Auseinandersetzungen, einige Worte widmen. 
Der eine berührt die Form, der andere den Inhalt 

Mit dem ersten meinen wir den Rhythmus. Nach allem, 
was wir über die Natur des Kunstgenusses überhaupt und 
speziell über den extatischen und noch weiter über den dra- 
matischen Genuß sprachen, ist es klar, daß wir der Hin- 
genommenheit. Hingerissenheit durch den Genuß die größte 
Bedeutung beilegen. Nun ist der Rhythmus ein musikalisches^ 
also extatisches Element Der Rhythmus reißt fort, bringt 
unsere Seele zum Mitschwingen. Gilt es daher, unsere Seele 
in einen Zustand einer bestimmten Erregung zu bringen, sie 
aus der Wirklichkeit fort in eine neue Welt des „Scheins" zu 
entheben, sie vollständig in seinen Bann zu legen, dann wird 
uns der Rhythmus bei diesem Bemühen im höchsten Grade 
fordern. Dies ist die Funktion der rhythmischen Sprache 
im Drama. 

Der Vers ist es, der uns im Vorhinein aus der Welt der 
gemeinen Wirklichkeit in die Welt des schönen Scheins hinaus- 



206 I^' Kwisitheoretische Begrimdung, 



hebt, er ist es, der iu uns das Gefühl dieser Gehobenheit wach 
erhält, er ist es, der uns dadurch die besondere Hingabe, das 
vollständigste Aufgehen in den Geschehnissen des Spieles er> 
leichtert. Damit ist sein Existenzrecht, seine Aufgabe und die 
Art seiner Verwendung im allgemeinen gegeben. Er hat eine 
Aufgabe zu erfüllen, somit ist er eidstenzberechtigt und darum 
kann ihm, die auch sonst nichtige Einwendung, daß er gegen 
die Wirklichkeitstreue verstoße, nichts anhaben. Er ist aber 
nur ein Hilfsfaktor und deswegen darf er sich nicht vordrängen, 
darf nicht durch zu häufigen Wechsel, durch Unruhe oder sonst 
irgendetwas die Aufmerksamkeit auf sich lenken; er darf sich 
nicht fühlbar machen. Darum verwendet die dramatische 
Kunst mit Recht den natürlichsten, den am wenigsten auf- 
' fallenden, den einfachsten und gleichförmigsten Vers und 
Rhythmus. 

Nun zum anderen Faktor. Er betrifft den Inhalt. Wie 
wir oft betont haben, flüchtet sich der Mensch beim Kunst- 
genuß aus der Welt der Wirklichkeit in die Welt des „Scheins". 
Wiewohl nun das Alltäglichste, sobald es in diese Welt des 
„Scheins" gehoben wird, ein verklärtes Aussehen bekommt, so 
ist dennoch das Nichtalltägliche in höherem Maße geeignet, 
unsere Lust am „Schein" zu befriedigen. Es ist die Lust am 
Ungewöhnlichen, die „Freude am Märchenhaften", wie wir 
es nennen möchten, die zu der Lust am „Schein" hinzutritt, 
deren Neben- und Entwickelungsform sie ist. Diese „Freude 
amMärchenhaften'^ist einer der mächtigsten kunstgestaltenden 
Faktoren. Der Trieb, Wunderbares zu erleben, lebt in uns 
allen, nicht nur in Kindern. Er ist es, der die Naturvölker 
und den Naturmenschen treibt, in die Welt der Wirklichkeit 
eine Fabelwelt des Mythus hineinzudichten. Er ist es, der im 
Leben des Alltages so vieles verklärt, er gibt sich kund in 
tausenderlei Gewohnheiten dieses täglichen Lebens, in den 
exotischen Namen, die man für Vergnügungslokale und ihre 
Sterne sucht, für Villen und sonstiges. 

In der Kunst wird dieser Drang, wie erwähnt, vielfach 



IX. Kunsttheoretische Begrimdtmg, 207 

befriedigt, im Drama kommt er insbesondere in der Wahl 
ungewöhnlicher Stoffe zur Geltung. Im Lichte dieser Aus- 
führungen erscheint uns diese Gewohnheit, gegen die seit dem 
,3ürgerlichen Schauspiel" still und seit dem Naturalismus be- 
sonders laut protestiert wird — viel berechtigter zu sein, als 
es den Anschein hatte. Nicht nur deswegen, weil ihnen die 
Schicksale der Könige und Prinzen, der „Helden" interessanter 
und insbesondere dramatischer zu sein schienen, sondern aus 
Liebe zum Ungewohnten an sich, wandten sich seit jeher und 
bis in die neueste Zeit die Dramatiker mit großer Vorliebe 
jenen „Heldenschicksalen" zu. Und wir dürfen ihnen nicht 
Unrecht geben, trotzdem wir auch das „Tragische des Alltages" 
voll anerkennen, denn die „Lust am Märchenhaften" lebt in 
uns ebenso stark, wie die Lust am „Schein", aus der sie 
geboren. 

Zu unserem Hauptthema nun zurück und zum Schluß. Die 
Richtigkeit unserer Ansichten und Ausführungen angenommen, 
ergibt sich aus ihnen, daß die Kunst das Schaffen eines schönen 
„Scheins" anstrebt; daß dieser „Schein" uns die Wahrheit des 
Seins enthüllt, weil der Drang zu seinem Schaffen aus einem 
besonders tiefen und innerlichen Eindringen in das Wesen der 
Dinge heraus sich einstellt; daß dieser „Schein" endlich eine 
zweifache Natur haben kann, je nachdem wir ihn kontemplativ 
anschauen oder uns ihm extatisch hingeben, wobei der Genuß 
ein wesensanderer ist. Es ergibt sich daraus weiter, daß die 
Künste sich danach in zwei Gruppen sondern, in eine Gruppe 
der kontemplativen Künste und eine der extatischen, 
daß endlich die dramatische Kunst ihrem ganzen Wesen nach 
zur letzteren gehört. Sie ist somit enger verwandt der Musik 
und dem Tanze, als der beschreibenden Poesie, mit der sie 
nur Äußerliches gemein hat. Sie darf sich deswegen nicht 
wahllos die Prinzipien und Kunstregeln der letzteren aneignen, 
insbesondere jene nicht, die auf dem Verweilen bei der äußeren 
Erscheinung gegründet sind. Seinem Wesen nach ist das 
Drama Darstellung eines Kampfes, eines Kampfes antago- 



208 IX.. KunsUheoretische Begründung, 

nistischer Kräfte miteinander, eines Ringens der Menschen 
mit dem Schicksal. In diesen Kampf, in dieses Eingen werden 
wir mit bineingerissen und in dieser Mithingerissenheit besteht 
unser G^nuß. Aus ihr heraus gelangen wir zur Katharsis, 
zur Läuterung, zur Einsicht und Erleuchtung. Es enthüllt 
sich uns das Geheimnis des Lebens und des Seins, wir schauen 
dem Wesen der Dinge ins Antlitz. Erschüttert davon im 
Innersten unserer Seele, werden wir doch gehoben und in 
diesem Gehobensein erleben wir eine Wonne, mit der sich 
kaum eine, von dem Genuß einer anderen Kunst kommende 
Lust vergleichen darf. So steht das Drama allein da, eine 
einsame Gottheit unter den Künsten und wer ihr opfern will, 
muß sich ihrem Dienste ganz und weihevoll hingeben und 
keine andere Gottheit kennen außer ihr.