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Full text of "Gerhart Hauptmann: Leben und Werke"

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PAULA CONRAD 

der ersten Darstellerin des Hannele und der Frau Flamm 
widme ich diese Schrift und wenn meine Frau mich 
fragt, warum ihr, so antworte ich: „Denn du büst die 
negste dortau." Paul Schienther 




Letzte Aufnahme 



GERHART HAUPTMANN 

L e B e n u n cf W e r R e 



von 



PAUL gCHLENTHER 



Neue Ausgabe 
umgearbeitet und erweitert 



von 



ARTHUR ELOESSER 



S. FISCHER/VERLAG/BERLIN 



1922 



.Z.8 



Mit acht Abbildungen 

Dritte veränderte und erweiterte Ausgabe 

Achte bis dreizehnte Auflage 

Alle Rechte, 

insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten 

Copyright 1922 by S. Fischer, Verlag, Berlin 






GERHART HAUPTMANN 
Leben und Werke 



KINDHEIT. SCHULE. STROMTID 

Am 15. November 1862 wurde im schlesischen Kurort 
L Obersalzbrunn dem Hotelbesitzer Robert Hauptmann 
von seiner Ehefrau Marie, geborenen Straehler, ein Sohn 
geschenkt, der am Neujahrstage 1863 in der Taufe die Na- 
men Gerhart Johann Robert erhielt. Herr Robert Haupt- 
mann besaß in Obersalzbrunn als Erbstück der eigenen 
Eltern den stattlichen Gasthof „Zur Preußischen Krone". 
Er hatte eine der Töchter des Fürstlich Hessischen Brunnen- 
inspektors Ferdinand Straehler geheiratet. So hielten ihn 
doppelte Familienbande in dem ländlichen Badeort fest. 
Bei seiner strengen Ordnungsliebe leitete er das Haus, das 
er beträchtlich ausbaute, so sehr zur Zufriedenheit ver- 
wöhntester Gäste, daß ihm die fürstliche Verwaltung eines 
Tages auch die Pacht des Brunnenhofs und des Kurhauses 
antrug. Nach einigen Jahren aber löste er aus eigenem 
Willen dieses wenig ergiebige Pachtverhältnis auf und 
begnügte sich mit seiner Preußischen Krone. Der Kur- 
ort, dem er 1865 mit Mühe, Kosten und persönlichen 
Opfern auch die Gasanstalt gründete, dessen Gemein- 
wohl er hob und förderte, wurde nicht bloß vom deut- 
schen, sondern noch mehr vom polnischen höchsten Adel 
besucht. 

Die Gäste, mochten sie hoher oder niedriger Geburt 
«ein, fanden in ihren Wirten ehrenfeste, an Bildung des 
Geistes und Herzens nie unter ihnen stehende Leute, die 
rieh über Welt und Leben eine eigne Meinung gebildet 
hatten und ohne Zudringlichkeit, aber auch ohne Unter- 



würfigkeit, menr bewirtend als bedienend, im wohlgebau- 
ten Hauswesen walteten. 

Roberts Vater Karl Ehrenfried Hauptmann, der schle- 
sische Weberssohn aus Herischdorf bei Warmbrunn, hatte 
zwar in jungen Jahren selbst am Webstuhl gesessen und 
die Not der Brüder, wenn nicht geteilt, so doch erlebt. 
Aber nachdem er 1815 als Feldwebel aus den Befreiungs« 
kriegen heimgekehrt war, hatte er das kärgliche Handwerk 
verlassen und war in eine Gastwirtschaft eingetreten, wo 
er viele Jahre als Oberkellner diente. Als sein Sohn heran- 
wuchs, saß Karl Ehrenfried mit der tugendsamen Haus- 
frau, einer Warmbrunnerin, schon unter größeren Ge- 
schäftsverhältnissen zu Salzbrunn in der Preußischen Krone, 
die er seit 1832 als Pächter, seit 1839 als Eigentümer besaB« 
Als Robert die Tertia des Schweidnitzer Gymnasiums er- 
reicht hatte, gab ihn der Alte nach Breslau in eine allge- 
mein als musterhaft anerkannte Weinhandlung. Der Sohn 
des wohlbegüterten Mannes mußte bei der Arbeit im 
Keller heran wie der erste beste Küferjunge; aber er 
lernte hier Fleiß und Zucht. Beides kam ihm zustatten, 
als er Herr im eignen Hause ward, und eine liebe Gattin 
ihm half. 

Nicht weit von Salzbrunn, wo neben dem Gasthof zur 
Preußischen Krone die Töchter des Brunnenwarts Straeh- 
1er aufblühten, liegt Gnadenfrei und Herrnhut. Seit langer 
Zeit hatte sich hier das Luthertum gegen die eng benach- 
barte, unablässig werbende katholische Kirche stark und 
streng zu behaupten. In diesem Kampf faßte der Glaube 
ans Evangelium tiefer Wurzel als anderwärts. Der Ver- 
kehr mit Gott, der Gedanke an ein Leben nach dem Tode 
ward zum täglichen, nicht bloß sonntäglichen Bedürfnis 



'J 



der Seelen. Gerade das nahe Beispiel katholischer Lebens- 
führung lehrte, daß der Glaube an ein Jenseits den dies« 
seitigen Freuden nicht widerstrebe. Auf dieser ausglei- 
chenden Erkenntnis hatte einst die Pietät des philosophi- 
sehen Schusters Jakob Böhme zu Görlitz beruht. Sie war 
als Fruchtsaat durch die Gärten der pietistischen Gemein- 
den Schlesiens gegangen und hatte auch in Salzbrunner 
Familien eine Anschauung gedeihen lassen, bei der sich 
Weltkind und Prophet vertrugen. 

In den Straehlers mußte diese Lebensanschauung beson- 
ders fest fußen; denn einerseits stammten sie aus den Nie- 
derungen des Landvolkes, das von Kanzel und Altar mehr 
oder minder abhängig bleibt; andrerseits standen ihre äl- 
teren Generationen im Untertanenverhältnis zum erbein- 
gesessenen Grafengeschlecht. Auch die Familie Straehler, 
aus der Herr Robert Hauptmann seine Gefährtin holte, 
hat sich von einer Generation zur andern im Grafenschloß 
aus geringem Stande langsam emporgehoben. Aus Dienern 
des hohen Adels wurden Vertraute und Beamte. Der Groß- 
vater Straehler fuhr als Respektsperson in der eigenen 
Kutsche und lebte durchaus im Stil eines preußischen Ge- 
heimrats. Nach norddeutschen Begriffen stieg die Tochter 
wohl eine Stufe herunter, wenn sie die Frau eines noch so 
angesehenen Gastwirts wurde, und es mag sie einige Über- 
windung gekostet haben, bis sie die Beschäftigung ihres 
Mannes als eine endgültige respektierte. Der tatkräftige, 
etwas verschlossene Eheherr, den man kaum je lachen sah, 
ließ sich auch durch seine temperamentvolle Frau nicht 
bestimmen, und so wird es auch hier nicht ohne die häus- 
lichen Reibungen abgegangen sein, die einer rechten Ehe 
endlich den Schliff geben. 



X* 



Ak jüngstes unter vier Geschwistern wuchs Gerhart 
heran. Von der Schwester Johanna und den älteren Brü- 
dern unterschied ihn, freilich nur vor Fremden, ein in sich 
gekehrtes Wesen. Wenig bedacht auf seinen Anzug, aber 
mit natürlicher Anmut, trat er, ein kleiner, schlanker, blon- 
der Prinz, unter die Dorf Jugend. Wenn es ans Spielen ging, 
so war er mit Leidenschaft dabei; unter den wilden Jungen 
ein wildester. Mit den Kameraden, besonders in der engern 
Familie, konnte er von ausgelassenster Laune sein. Als er 
sieben Jahre alt war, begeisterte ihn die Freude, seine Ge- 
schwister nach längerer Trennung wiederzusehen, zu einem 
Ballettanz, den er aus eigenster Erfindung wie ein Wirbel- 
wind vollführte, und den er dann noch öfter zum besten 
geben mußte. 

^ Wie die älteren Geschwister, so kam auch Gerhart in die 
Obersalzbrunner Dorfschule. Der Lehrer hieß, wie der 
Lehrer des Ibsenschen Johannes Rosmer, Brendel. Aber 
ein Ulrik Brendel war dieser Salzbrunner Brendel nicht; 
er war ein Schulmeister nach dem Lineal. Wohl führte er 
die Jungen durch Flur und Wald und Feld, über Berg und 
Tal; aber bei diesen Spaziergängen wies er sie nicht nur 
auf den Sang der Vögel hin, auf Blumen und Saaten, auf 
Käfer und Schmetterlinge, sondern zum Entsetzen des 
armen Gerhart paukte er ihnen auch in Gottes freier Natur 
die Versregeln der lateinischen Grammatik ein. Für diese 
Art von Poesie hatte Gerhart Hauptmann nie Verständnis. 
Von jeher war er das, was man einen schlechten Schüler 
zu nennen pflegt. Mehr als Lexikon und Grammatik reizte 
ihn der schöne Glasschrein seines Vaters, der mit Reihen 
goldbedruckter Bände den Kindern ein Heiligtum des Hau- 
ses blieb. Dem scheinbar so nüchternen Manne dankte 



Gerhart sein erstes Verhältnis zur Poesie. Als er eines Nach- 
mittags verzweifelt und tränenüberströmt zu Hause blei- 
ben mußte, weil Mutter und Geschwister ohne ihn einen 
Ausflug machten, hatte der Vater den ausgezeichneten päd- 
agogischen Einfall, mit dem Knaben Schillers „Taucher** 
zu lesen und ihn dann mit dem Gedicht allein zu lassen, — 
als einen Glücklichen. 

Wie wenig ihn das Lernen in der Schule lockte, erwies 
sich, als er Ostern 74 zu seinen Brüdern nach Breslau in die 
Pension geschickt wurde, um mit ihnen dort die städtische 
Realschule erster Ordnung am Zwinger zu besuchen. Der 
kleine, freie Prinz aus dem Quellenland fühlte sich hier 
wirklich wie im Zwinger. Er verstand die Stadt und das 
städtische Leben nicht. Er verstand die Lehrer nicht, die 
Lehrer verstanden ihn nicht und taten ihm darum Gewalt 
an. Die Mitschüler hätten seine Träumereien verspot- 
tet, wenn sie bei deutschen Aufsätzen nicht seine Hilfe 
brauchten; denn in diesem Fach war er Oberster. Alles 
andere warf ihn auf die Lotterbank. Auch in den Pen- 
sionaten, wo Vater Hauptmann seine Jungen unterge- 
bracht hatte, ward Gerhart nicht heimisch. Bruder Carl, 
dessen wissenschaftlicher Geist zeitig erwacht war, der 
früher als andere hinter dem schulscheuen Wesen des Klei- 
nen tiefe Anlagen erkannt hatte, sah, wie wenig Gerharts 
Geist und Gemüt im Zwinger gediehen. Selbst noch jung 
und unerfahren, wußte er nicht, wie dieses Knabenschick- 
sal zu wenden sei. Aber während er sann und sorgte, 
wandte sich das Schicksal von selbst. 

Daheim in Obersalzbrunn war es mit den Jahren bergab 
gegangen. Die Zuspitzung nationaler Gegensätze, die zu- 
nehmende Bequemlichkeit und Billigkeit des Reisens wies 



dier vorteilhaftesten Badekundschaft neue Wege und Ziele. 
Salzbrunn verlor seine leistungsfähigsten Sommergäste. 
Das Kurpublikum verminderte sich an Zahl, noch mehr 
an Zahlungskraft. Statt der polnischen Magnaten kamen 
neben armen deutschen Adligen sparsame, um den Pfennig 
feilschende polnische Handelsleute. Die Pekesche ver- 
drängte der Kaftan. Man wollte nicht mehr gut, sondern 
billig leben. Das Haus war nicht mehr zu halten; wohl 
stand es über einem kostbaren Schatz, aber der blieb un- 
gehoben. Die heilkräftige Kronenquelle, die den spätem 
Besitzer des weitläufigen Grundstücks zum Millionär ge- 
macht hat, für die jetzt durch ganz Europa die Reklame 
dringt, die Kronenqu^lle, die schon für Hauptmanns zum 
Quell des Wohlstandes hätte werden können, war damals 
eine Pferdetränke. Später läßt Gerhart seinen Fuhrmann 
Henschel zu Siebenhaar sagen: „Unsere Quelle ist die 
beste." Das blieb damals noch unverwertet. 

Während die Gäste von einem Umschwung der Verhält- 
nisse in der Preußischen Krone nichts ahnen konnten, und 
kaum die Ortsinsassen etwas merkten, sah sich Vater Haupt- 
mann genötigt, sein schönes, treu gehegtes Erbgut, das 
vom Gericht damals auf 250 000 Mark geschätzt wurde, in 
die Hände der Hypothekengläubiger abzugeben. Nur mit 
einem kargen Notgroschen, aber mit wohlbehüteter Bür- 
ger- und Kaufmannsehre zog er 1877 vom Hofe weg. Wer 
jetzt in diesen Hof tritt, findet im großen Festsaale zwi- 
schen zwei deutschen Kaisern das Bildnis Gerhart Haupt- 
manns, und an der Einfahrt die Kutscherkneipe heißt „Zum 
Fuhrmann Henschel". Wie aber würde Vater Hauptmann 
erst staunen, wenn er nicht weit von seiner alten Preußi- 
schen Krone, nur durch den Kurgarten getrennt, jetzt 



dnen allermodemstcn Hotelpalast sähe, der an Größe und 
Glanz in Berlin seinesgleichen sucht. Die Herzogin von 
Pleß ließ ihn bauen, um Bad Salzbrunn als Sommer- und 
Winterfrische ipvieder in Schwung zu bringen. 

Durch Vermittlung des Realschuldirektors Kletke in 
Breslau erhielt Vater Hauptmann in dem damals neu ein- 
gerichteten Bahnhof, der jetzt Niedersalzbrunn heißt, die 
Gastwirtschaft zur Pacht. Aber der Erwerb an dieser klei- 
nen Stelle war gering, und es galt, sich einzuschränken. Am 
wenigsten freilich sollte nach des Vaters Willen die standes- 
gemäße Erziehung der beiden jüngeren Söhne darunter 
leiden. Der älteste, Georg, hatte die Realschule mit dem 
Zeugnis der Reife verlassen, hatte längere Zeit daheim dem 
Vater in kaufmännischen Geschäften zur Seite gestanden 
und war nun zur Zeit der Krisis in einem großen Hambur- 
ger Handelshause tätig. Der mittlere der Brüder, Carl, 
sollte seine wissenschaftUchen Fähigkeiten noch weiter auf 
der Schule ausbilden, um sich durch akademisches Studium 
forthelfen zu können. Das Angstkind blieb Gerhart, der 
Jüngste. Da er auf der Schule nicht mitkam, so ward er, 
noch lange bevor er das Recht zum einjährigen Militär- 
dienst hätte erwerben können, aus der Schule genommen. 
Das Abgangszeugnis, das Direktor Meffert und der Ordi- 
narius der Quarta B, Dittrich, am 29. April 1878 unter- 
zeichneten, nennt Betragen gut, Fleiß genügend, macht 
aber durch die Aufmerksamkeit einen dicken verschwie- 
genen Strich. Unter den Leistungen fehlt bei Religion die 
Zensur. Gut ist nur das Zeichnen. Am wenigsten befrie- 
digt das Rechnen. Alle übrigen Fächer halten sich auf der 
Durchschnittshöhe des Genügenden. Auch Naturgeschichte 
und Deutsch, die man als Lieblingsfächer Gerharts vor- 



aussetzen darf, erreichen keinen höhern Grad. Was sollte 
aus dem Jungen werden ? Unter seinen freien Ausarbei- 
tungen hatten gute Urteile gestanden. In seinen Heften 
standen lyrische Gedichte und Märchen, die den Einfluß 
Andersens verrieten. Bruder Carl las diese stillen Sünden, 
die von der goldnen Mittelstraße der richtigen Schularbeit 
so weit abwichen. Der Beruf des Kleinen zum Dichter 
dämmerte ihm auf. Aber wie sollte ein fünfzehnjähriger 
Bursch, bei dem die Schulweisheiten so locker saßen, von 
Unterquarta aus deutscher Schriftsteller werden? Auf 
diese Zweifelsfrage wußte auch der ratende, fördernde 
Bruder keine Antwort. So kam Gerhart zu Verwandten 
aufs Land. 

Auch die Eltern auf ihrer kleinen Bahnstation, die da- 
mals noch den ominösen Namen Sorgau führte, mögen 
nicht ohne Zweifel in die Zukunft des Knaben geblickt 
haben, der so vorzeitig aus dem regelrechten Bildungs- und 
Erziehungsgange deutscher Jugend verschlagen wurde. 
Aber der Vater pflegte in schwierigen Lebenslagen um so 
zuversichtlicher und tatkräftiger zu werden; es sollte ihm 
überdies eine pekuniäre Last abgenommen werden, und 
— das wußten die Eltern — ihr Kind kam in liebevolle 
Hände. Der Einzige jedoch, der dieses Wechsels ganz froh 
wurde, war Gerhart selbst. Nun lagen Schulbank und 
Schulbücher hinter ihm, und vor ihm lag das offene 
Land. Hinter ihm Staub und Stubendunst, vor ihm 
Luft, Licht, Leben. Hinter ihm die Zucht, vor ihm die 
Freiheit. So wenigstens hoffte er, als er in seine „Strom- 
tid" eintrat. 



Dem treuen Vater, der ihn hat geleitet, 
Gibt er die herben Grüße in die Hand. 



8 



Er kam in den Striegauer Kreis, wo sein Oheim Gustav 
Schubert zwei Landgüter bewirtschaftete, das Freiherrn 
V. Tschammer abgepachtete Rittergut Lohnig und eine 
eigene bäuerliche Besitzung in Lederose. Gustav Schubert 
war, ebenso wie Robert Hauptmann, mit einer von den 
Töchtern des Obersalzbrunner Kurinspektors Straehler 
verheiratet. Gustav und Julie Schubert hatten einen ein- 
zigen Sohn, ihren Georg, in strenger Gottesfurcht heran- 
gezogen, und der Segen des Himmels schien an diesem 
begabten Kinde das fromme Tun der Eltern, ihr Gebet 
und ihre Arbeit, zu lohnen. Georg war der Stolz der enge- 
ren und weitern Familie. Man erwartete Großes von ihm. 
Da plötzlich bewies Gott seinen Getreuesten, daß alles 
Irdische eitel sei. Eines Tages standen die Eltern am Sarg 
ihrer Freude. Zugleich standen sie ratlos vor der Uner- 
forschlichkeit des götthchen Willens. Ihr gläubiges Herz 
hielt fest zum Himmel, darin sie ihr Kind wußten. Aber 
ihr Haus hienieden war verödet, und so suchten sie für 
den seligen Knaben eine Art Statthalter auf Erden. Das 
sollte kein anderer sein als Georgs junger Vetter und Ueb- 
ster Freund Gerhart Hauptmanh, der nun in eine streng 
religiöse Geistesrichtung kam. 

In den Jahren der Entwicklung drückte diese Geistes- 
richtung dem lebhaften Knabengemüt, welches ohnehin 
zur transzendenten Spekulation neigte, einen so starken 
Stempel auf, daß Gerhart Hauptmann seither kaum was 
Größres gedichtet hat, ohne die Macht dieses Gepräges 
irgendwie und irgendwo spüren zu lassen. Vielleicht hat 
er in „Emanuel Quint", wo er selbst als Kurt Simon und 
seine Tante Julie als die „temperamentvolle Christin" — 
Frau Oberamtmann Julie Scheibler — erscheint, über diese 



letzten Dinge sein Letztes gesagt. Überall ist zu fühlen, 
wie tief und auch wie ungestüm Glaubenssachen den Geist 
und das Herz des Jünglings aufgeregt haben. Schon im 
Elternhause war Gott mehr gewesen als ein guter Mann. 
Aber herrnhutische Traktätchen an Berliner Gepäckträger, 
wie der alte Vockerat, hätte Herr Robert Hauptmann nim- 
mermehr verteilt. Vom Vater hatten die Kinder nie reli- 
giöse Äußerungen gehört, sondern nur in ganz entschei- 
denden Augenblicken des Lebens sein stilles Gottvertrauen 
bemerkt. Seinem Schwager Gustav Schubert, dem Pflege- 
vater Gerharts, dem Urbilde des alten Vockerat, wäre jene 
Handlungsweise eher zuzutrauen gewesen, obwohl seinem 
kindlich ringenden Gemüt, das alle Welt beglücken wollte, 
seiner „natürlichen Milde" jeder Zug des Eiferers fehlte; 
und seine Frau, die herzensgute und herzensfrische Tante 
JuUe, der Liebling der ganzen Verwandtschaft, sorgte in 
ihrer resoluten und werktätigen Art dafür, daß dem christ- 
lichen Geist ihres Hauses Zelotisches und Zionswächteri- 
sches fernblieb. „Es war," heißt es von Julie Scheibler, 
„in ihrer Natur neben allerlei ideellen Rumoren eine nicht 
gerade derbe, aber gesunde Sinnlichkeit." Wie in Herrn- 
hut selbst, an das die Bauerntochter Helene aus „Vor 
Sonnenaufgang" so liebliche Erinnerungen bewahrt, lag 
auch in Lohnig und Lederose das Hauptgewicht des gott- 
gefälligen Lebens auf der Gemütsseite. 

Das Schubertsche Haus war eine weltliche Domäne 
herrnhutischen Geistes. Hier erholten sich an schönen 
Sonntagsnachmittagen in traulicher Geselligkeit, wohl auch 
beim Schachbrett, das Onkel Schuberts irdische Leiden- 
schaft war, die Dorfpastoren der Umgegend von ihrer 
Morgenpredigt, der die Hausherrschaft zuvor andächtig 

IG 



gelauscht hatte. Und wie sich fromme, reine Christenherzen 
immer am höchsten, am heiligsten, am freudigsten auf den 
Schwingen der Musik über die Zeitlichkeit erheben, so war 
auch für die schlanke Tante Julie und deren älteste Schwe- 
ster, die Respektsperson der Familie, für das kluge Fräu- 
lein Auguste Straehler, die ihren verwachsenen Körper am 
liebsten in Herrnhuter Tracht kleidete, die Musik der herr- 
lichste Lebensgenuß. Beide waren tief musikalisch begabt 
und gebildet. Frau Juliens Stimme „war von Schmerz und 
Inbrunst geheiligt, und niemals, so weit Emanuel Quint 
sich erinnern konnte, war der verehrte Name des Heilands, 
der Name Jesus, wie hier, auf so vollen, reinen und zärt- 
lichen Liebeswellen zu seinem Ohr herabgeschwebt". So 
schön wie Tante Julie sang, so wunderschön spielte Tante 
Auguste auf dem Fortepiano. Neben den kirchlichen Cho- 
rälen, wie „O Jesus, süßes Licht", durchschwirrten dann 
alte liebe Lieder des Volkes das Haus. Neben Bach und 
Haendel fehlten auch weltlichere Meister nicht. Allgemei- 
ner Liebling war Beethoven. Der junge Gerhart schwelgte 
in diesen erhabenen lüängen, die ein Zauber der Unschuld 
umgab, und in denen sich eine freudige Klarheit der musi- 
zierenden Frauen aussprach. 

Aber nach dem Tode des kleinen Georg wurde das Haus 
stiller und stiller, und auf Gerhart lastete die unmögliche 
Mission, daß er den Eltern den entrissenen Liebling wenig- 
stens auf Erden ersetzen sollte. Wie Kurt Simon mag er 
über Tantens Evangelienbuch „in heimlichen Stunden oft 
und mit Inbrunst" gebetet haben, ohne daß „sich die Wirr- 
nis seines Innern durch seine Gebete in Klarheit gelöst 
hatte". Die Selbstqual und Sündenangst seiner verschlos- 
senen Seele ergoß sich in Verse. „Es weinte in diesem 

II 



Gedicht von Selbstanklage, von Abkehr und Überwindung 
der Welt, die dem heißen, in Liebe überwallenden Herzen 
nur Kalte und Gleichgültigkeit entgegenbrachte." Ger- 
hart hat seine Tante und seinen Onkel herzlich verehrt, 
und er bewahrt sie im dankbaren Gemüt. Aber heimisch 
ist er auf ihrer Scholle nicht geworden, und ein vollkom^- 
mener Landwirt ward er in Lederose so wenig wie ein 
vollkommener Christ. Er nahm von diesen guten Menschen 
mit sich den läuternden Kampf um Gott, darin seine Seele 
ehrlich und glühend rang. Er nahm mit sich Tante Juliens 
Lieder. Und das Werk des Landmanns, der zweckhafte 
Verkehr des Menschen mit der Natur, war ihm in seinem 
ungeheuren Ernst nahegetreten. Aber alles führte doch 
nicht zu den Zwecken seines Daseins. Das empfand er. 
Darum ward er auch des Landwirtberufes nicht froh. Und 
darum ging er neuen Wegen und Zielen nach. Als er nach 
Jahren wieder bei Tante Julie zum Besuch war, schrieb 
er ihr ins Stammbuch: 

Ich kam vom Pflug der Erde 
Zum Flug ins weite All — 
Und vom Gebrüll der Herde 
Zum Sang der Nachtigall. 

Die Welt hat manche Straße, 
Und jede gilt mir gleich; 
Ob ich ins Erdreich fasse, 
Ob ins Gedankenreich. 

£s wiegt in gleicher Schwere 
Auf Erden jedes Glied. — 
Ihr gebt mir Eure Ähre, 
Ich gebe Euch mein Lied. 



II 



KUNSTSCHÜLER IN BRESLAU. STUDENT IN 
JENA. BILDHAUER IN ROM. DIE JUNGFERN 
VOM BISCHOFSBERG. DICHTER UND EHE- 
MANN IN ERKNER 

Einstweilen stand das Lied noch nicht im Sterne seines 
Lebens. Zunächst winkte ihm eine andere Kunst. Ge- 
legentlich hatten sich Anlagen zum Bildhauer gezeigt. Wie 
sein ältester Bruder, der temperamentvolle, leichtlebige, 
in Wort und Witz überaus bewegliche Georg beim Kari- 
katurenzeichnen ein gewisses Genie dilettantisch entfal- 
tete, so hatte auch Gerhart in Lehm oder Wachs an aller- 
hand possierlichen Figürchen nicht unglücklich geknetet 
und mit umgekehrten Stahlfedern in grobe Kreidestücke 
hineingemeißelt. Die zufällige Bekanntschaft seines Vaters 
mit einem Maler und Bildhauer brachte ihn auf den Ge- 
danken, diese spielerische Fertigkeit systematisch auszu- 
bilden. Er erreichte das um so eher, als auch der künst- 
lerisch wohlerfahrene Vater an Gerharts kleinen Arbeiten 
sein stilles Vergnügen fand und sie guten Freunden mit 
einigem Stolz zeigte. So kam Gerhart wieder nach Breslau 
zurück. Diesmal nicht auf die Realschule am Zwinger, son- 
dern auf die dortige Königliche Kunstschule. Er trat am 
6. Oktober 1880 in die Vorbereitungsklasse ein, ließ sich 
eine Künstlermähne wachsen und belegte beim Direktor 
der Anstalt, Baurat Lüdecke, omamentales Zeichnen, bei 
Alwin Schultz Kunstgeschichte, beim Bildhauer Michaelis 
Modellieren. Gegen die Schulregeln dieses Vorbereitungs- 

13 



Unterrichts lehnte sich der herangewachsene Jüngling in- 
nerlich bald auf. 

Ein Volk von Krämern schleift des Marmors Decken, 
Ein Volk von Bäckern bäckt den braunen Ton, 
Statt heU'ger Priester Lumpen nur und Gecken, 
Statt stiller Wahrheit Lug und Leid und Hohn. 

Schon am 26. Oktober zog er sich wegen „seines Beneh- 
mens" eine direktoriale Verwarnung zu. Mit dem Model- 
lierlehrer, bei dem er am meisten zu tun hatte, kam es zum 
Bruch. Desto mehr Verständnis und Ermutigung fand er 
im Bildhaueratelier Robert Haertels, den er später in 
freundschaftliche Beziehung zu „Michael Kramer" setzte. 
Haertel erteilte ihm Privatunterricht, als Gerhart Anfang 
1881 zusammen mit einem Kameraden namens Urban elf 
Wochen lang von der Kunstschule ausgeschlossen war, weil 
sie laut Konferenzbeschluß vom 5. Januar „hinsichtlich 
ihres Betragens und ganzen Wesens, bei mangelhaftem 
Stundenbesuch, geringen Fortschritten und bösem Beispiel 
für die andern Schüler sich nicht mehr für die Anstalt eig- 
neten." Auf Haertels Betreiben aber wurde der störrische 
Scholar bereits am 23. März wieder zu Gnaden angenom- 
men, ohne daß der Vater von dem ganzen Zwischenfall 
erfuhr. Bei Haertel blieb Gerhart noch ein Jahr, bis er 
am 15. April 1882 die Anstalt „wegen Krankheit" für im- 
mer verließ. Die Lehrer hielten ihn für schwindsüchtig. 
Da der sogenannte Künstlerparagraph der Wehrordnung 
Akademikern ein Recht zum einjährigen Militärdienst gibt, 
so setzte es Haertel durch, daß sein Lieblingsschüler das 
Zeugnis für den Dienst als Einjährig-Freiwilliger erhielt, 
Haertel hatte aber nicht bloß sein bildnerisches Schaffen 
gefördert und eine in rotem Wachs modellierte, durch die 

14 



Wolken dahinjagende Gottheit anerkannt, sondern er ließ 
sich auch Gerharts Dichtungen vorlesen, die ebenso wie 
jenes Bildwerk der germanischen Sage entstammten. Vom 
Dänen Andersen war der junge Dichter zum Schweden 
Tegnir gelangt, aus dessen Frithjofsage er ein Drama 
„Ingeborg" schuf. Wie Wilhelm Jordan, den er unter 
starkem Eindruck las, wie Felix Dahn, der Gerharts und 
Carls Freunde zu einem pangermanischen Geheimbund 
etwas unbestimmten Zieles begeistert hatte, wollt er es 
„wagen, zu wandeln verlassene Wege zur grauen Vorzeit 
unseres Volkes". Er plante ein Hermannsepos in zwölf Ge- 
sängen, von denen anderthalb im Stile Jordans fertig wur- 
den. Derselbe Stoff sollte auch zum Gegenstand eines 
Dramas werden. Die Tragödie sollte heißen : „Germanen 
und Römer". Der Held war wiederum Hermann der Che- 
rusker. Neben ihm sollte ein alter Sänger Sigwin hervor- 
treten, dessen Tochter von einem Römer verführt und dann 
verlassen wird. Der Dichter ließ seinen Sigwin in dem 
Augenblicke sterben, da man ihm die Botschaft vom Siege 
der Germanen über die Römer bringt, und diesen Augen- 
blick stellte der Dichter später auch bildnerisch in einer 
kleinen Statuette Sigwins dar. 

Sein Kunstlehrer merkte, daß diese Jünglingsseele ein 
andres Land suchte. Bruder Carl hatte inzwischen seine 
Reifeprüfung bestanden und studierte in Jena bei Ernst 
Haeckel Naturwissenschaften. Mit mannigfaltiger Gewalt 
zog es die Brüder damals noch zueinander. Was Gerhart 
auf der Schule versäumt hatte, sollte und wollte er im freien 
Getriebe der Universität nachholen. Haertel und der gute 
Zechbruder Professor James Marshall, das Urbild des Col- 
legen Crampton, hatten Beziehungen zum Weimarer Hof. 

15 



Sie erreichten es, daß auf Veranlassung des Großherzogs 
Karl Alexander der Breslauer Kunstschüler Ostern 1882 
an der Jenaischen Universität als Studiosus historiae imma- 
trikuliert wurde. Er belegte nach junger Füchse Art für 
den Winter eine Überfülle der unterschiedlichsten Col- 
legia, nur keine historischen. Er belegte nicht bloß bei 
Rudolf Eucken und Otto Liebmann Philosophisches, son- 
dern auch bei Haeckel Zoologie und bei Chr. Ernst Stahl 
Botanik. Am meisten aber interessierte ihn eine Vorlesung 
über Pompeji von Professor Gaedechens. Im nächsten 
Sommer war sein Wissensdurst wesentlich vermindert. Er 
belegte nur noch die Vorlesungen seines Tischgenossen 
Arthur BoehtUngk über das Revolutionszeitalter und über 
Goethe. Lieber jedoch ging er zu einem Steinmetzen, griff 
eine Hand voll Ton auf und formte zum Vergnügen der 
Freunde allerhand Sächelchen draus: einige Köpfe und 
auch jenen sterbenden Sänger. Diese Art der körperlichen 
Gestaltung schärfte seinen dichterischen Blick für das Cha- 
rakteristische und Individuelle der Menschen. Die eine 
Kunstübung kam der andern zugute. 

In Jena lernte er auch den Segen junger brüderlicher 
Kameradschaft näher kennen. Schon auf der Breslauer 
Kunstschule war er mit dem spätem Landschaftsmaler 
Hugo Ernst Schmidt, dem Urbilde Gabriel Schillings, und 
mit dem jetzigen Rassenhygieniker Alfred Ploetz, der da- 
mals in Breslau Nationalökonomie studierte, innig befreun- 
det gewesen. Aber ein rechtes Studentenleben konnte sich 
in Breslau nicht entfalten. Das fand er erst in Jena im 
Akademisch-naturwissenschaftlichen Verein bei seinem 
Bruder Carl und dessen Kameraden. Es war ein Kreis 
junger Leute, die, vorwiegend mit reaHstischer Bildung 

16 



tQ^erastet, zur Unirersitat gingen und in den beiden 
Mächten der modernen Entwicklung, den Naturwissen- 
schaften und der Sozialpolitik, das Heil der Welt suchten. 
Darwin war der Heros dieses Bundes. Naturwissenschaft- 
liehe und philosophische Ideen wurden bei den taglichen 
Studien und den abendlichen meist sehr leidenschaftlichen 
Debatten am Biertisch ausgetauscht. Gerhart Hauptmann, 
der Jüngste, der Ungelehrteste, der Poet in diesem ELreise, 
hielt wacker mit im Kneipen wie im Streiten. Seine Freunde 
wissen nichts ron jener stillen Schweigerart, die in frem- 
der förmlicher Gesellschaft bei ihm zu jener Zeit auffiel, 
als er anfing berühmt zu werden, die sich aber dann 
wieder verloren hat. Am engsten schloß er sich in Jena 
einem jungen, musikalisch fein empfindenden, wunder- 
Y<J1 Klavier spielenden Wagnerianer, Max Müller, an. 
Von Müller und Gerhart ging das Künstlerische jenes 
Elreises aus. So oft Kunstfragen oder auch Fragen der 
Menschlichkeit aufgeworfen wurden, vermochte Gerhart 
seinen Standpunkt ebenso lustig wie hartnäckig, ebenso 
selbstbewußt wie beredt zu verteidigen. Von Inhalt und 
Gangart dieser Debatten bekommt einen Begriff, wer in 
einem der Breslauer Schlußkapitel des Quintromans den 
„blauäugigen, blonden verstandestüchtigen" Arzt Hülse- 
busch (Alfred Ploetz) diskutieren hört. 
Allmählich trieb es ihn aber von den Freunden weg in 
Im Frühling 1883 besuchte er seinen Bruder 
der eine von den fünf Töchtern des Großkaufherm 
geheiratet und in Bergedorf bei Hamburg 
jungen I nd ein Geschäft begründet 

ir Gerhart auf einem Kauf- 
te Küste entlang ins Mittel- 
er 




ländische Meer. Er fuhr denselben Wasserweg, den einst 
Byrons Harold gepilgert war, und wie das Buch von Harolds 
Pilgerfahrt während dieser Reise oft in seiner Hand lag, 
60 lebten in seiner Seele Harolds Schmerzen, Den ersten 
Ungern Aufenthalt nahm er in Malaga, wo teils lockend, 
teils widrig die Sünde auf ihn zutrat, und ihn im Anblick 
entweihter Frauenreize der Menschheit ganzer Jammer 
anfaßte. Ihn überkamen Empfindungen des Grauens und 
des Grams, Empfindungen aber auch, wie sie Jesus Chri- 
stus jener Sünderin darbrachte, gegen die andre den Stein 
hoben. In Marseille verließ er das Schiff, um die Riviera 
entlang nach Genua zu fahren. Hier traf er seinen Bruder 
Carl, der inzwischen über die Alpen gewandert war. Beide 
reisten selbander nach Neapel. Sechs Wochen verlebten 
sie auf Capri, von der Schönheit dieser Insel nicht mehr 
bezaubert als von der realistischen Poesie dieses Volks- 
lebens, Tom Reize dieser Volksgestalten. Abends pflegte 
sich um die beiden hchtblonden deutschen Jünglinge ein 
kleines Lumpengesindel schwarzgeäugt er Lausebübchen zu 
sammeln. Die junge italienische Volksseele klang und sang. 
Als endlich die Brüder Abschied nahmen, vergoß Jung- 
Capri bitterliche Tränen. 

Aber Gerhart Hauptmann war schon damals nicht der 
Mann, sich wie Gottfiied Kellers Schöngeist an den ro- 
mantischen Fetzen der Armut in ästhetischer Kaltherzig- 
keit zu vergnügen. Wie in Malaga der Anblick gemeiner 
Unzucht, so ergriff ihn in Neapel das soziale Elend mit 
herbem Weh. Klagend ruft er aus: „Schafft mir Neapel 
aus Neapels Welt!" 

Im Juni kehrte Carl zu einer militärischen Übung z 
rück. Gerhart blieb zunäc in :mi. rauiro iha bald die 

i8 




Malaria ebenfalls nach Hause hetzte. Unterwegs hatte ihn 
das Heimweh oft übermannt. Zumal wenn er in Gesell- 
schaft kalter, fader, vernünftlerischer Dutzendmenschen 
sein volles Herz nicht gewahrt hatte und statt auf Verständ- 
nis nur auf Spott und Schimpf gestoßen war. Dann 
wünschte er sich, wie Goethes Faust, den Fittich der Vögel: 

Was Solls? Ich wandre heim euch zu vergessen, 
Zu sitzen dort, wo selig ich gesessen, 
Wo stiller Wiesen duft'ge Blumen sprießen, 
In meiner Liebe zu der Liebsten Füßen. 

Trotzdem befand er sich ein Jahr später wieder in Ita- 
lien. Diesmal aber war es weniger die Natur, die ihn anzog, 
als die große alte Kunst. Unter dem Eindruck Michel- 
angelos hatte sich die Bildhauerei das Vorrecht bei ihm 
verschafft. Er richtete sich in Rom ein Atelier ein und 
bosselte an einem Relief. Aber wieder war ihm das römi- 
sche Klima nicht zuträglich. Mit einem Typhus ward er 
ins deutsche Krankenhaus geschafft. Hier schwebte er lang 
in Lebensgefahr. An seinem Lager saß ein guter Engel: 
seine Braut. 

In demselben alten festen „Hohen Haus", unter dem- 
selben hohen roten Giebeldach, in demselben weiten, dicht 
belaubten Haine von Linden, Kastanien und Nußbäumen, 
wo ihr ältester Bruder Georg sein Glück gefunden hatte, 
suchten es auch Carl und Gerhart. Vater Thienemann war 
mittlerweile gestorben. Den aufrechten Mann hatte ein 
Herzleiden ergriffen; da er dessen nicht achtend ein kaltes 
Seebad nahm, so warf es ihn aus vollster Lebensfrische aufs 
Totenbett. Seine fünf Töchter, jung, schlank, hübsch, 
saßen, wie „die Jungfern vom Bischofsberg", zur Winters- 
zeit als verwaiste, trauernde Burgfräulein im weiten Saale 

2» 19 



des alten Bischofssitzes auf altem Gestühl, neben hohen 
Kaminen, am runden Eichentisch, zwischen gediegenen Sil- 
berr und Goldgefäßen, unter nachgedunkelten alten Ge- 
mälden beisammen und spannen vom schnurrenden Rad- 
chen die langen Abende weg und auch ihren Herzensgram 
um den Papa und um die früh verlorene Mutter, deren 
liebliches, sommerlich freundliches Bild in bleibender Ju- 
gend an der Wand des Prunkzimmers hing. So fand eines 
Abends Carl Hauptmann diese Mädchen vor, als er auf der 
Weihnachtsreise von Jena nach Schlesien auf Hohenhaus 
Halt machte, um der Braut und den vier Schwägerinnen 
seines Bruders Georg, die dort unter der Obhut eines alten 
Onkels hausten, den Beileidsbesuch abzustatten. Der Gast 
brachte Fröhlichkeit ins Trauerhaus. Die schwermütigen 
Spinnrädchen der schwarzen Schwestern standen still, und 
als der Gastfreund schied, war er ein verliebter, als er zur 
Frühlingszeit wiederkam, ein Verlobter Mann. Hatte es 
Carlen die braune Martha angetan, so liebte Knabe Ger- 
hart die vollere, südlich prangende, dunklere Schönheit 
Mariens. Als ich mit ihm im Dezember 1891 von Berlin 
nach Wien reiste, die „Einsamen Menschen" im Burg- 
theater aufführen zu sehn, und wir kurz vor Dresden in 
den Bahnhof von Kötzschenbroda einfahren sollten, sprang 
mein Reisegefährte, der mir bis dahin bei einem vom 
Schaffner geliehenen Stearinstümpfchen die ersten Akte 
des eben vollendeten „Collegen Crampton" vorgelesen 
hatte, vom Polster auf, wischte eifrig den Frostschweiß vom 
linken Fensterglas weg, starrte eine Weile ins Dunkel der 
Nacht und rief dann in Unternehmungslust: „Wenn ich 
mal einen Sommemachtstraum schreiben sollte, so kann er 
nur dort oben spielen!" Dabei wies er zum Fenster hinaus« 

20 



Auf dieses unverhoffte Geständnis hin gaffte auch ich 
sofort ins Dunkel der Nacht, sah nur ein paar Lichter durch 
die Elälte blitzen und empfing die Aufklärung: ^^Denn dort 
oben liegt Hohenhaus!" An jenem Tage lasen wir den 
„CoUegen Crampton" nicht weiter. An Hohenhaus blie- 
ben Gedanken und Gespräche hangen. Er hat seinen Som- 
mernachtstraum bisher nicht geschrieben. Sein 1905 flüch- 
tig und doch breit hingestelltes Lustspiel „Die Jungfern 
vom Bischofsberg" ist nur eine schwache Abschlags- 
zahlung. Ein Dummer Jungenstreich, dümmer als der nette 
frische Junge, der ihn verübt, löst eine unerquickliche Ver- 
lobung, die in sich selbst keinen Bestand hatte. An Ge- 
stalten, die mit Liebe gesehen sind, ist doch nicht die 
rechte Liebe verwandt worden. Die steife, konventionelle 
Karikatur des Oberlehrers und Tantensöhnchens braucht 
man nur mit Ibsens Jörgen Tesman zu vergleichen, um zu 
erkennen, wie weit Hauptmann gerade hier hinter Ibsen 
zurückgeblieben ist. Auch die jüngste der vier Schwestern 
vom Bischofsberg, der Backfisch Ludovike, Lux genannt, 
erinnert an Ibsens rundlichere Hilde Wangel; aber sie ist 
wohl eher ein kindliches Vorstadium der Lude Heil aus 
„Gabriel Schillings Flucht", wie diese eine Geigenfee. Mit 
ihr scheint in das Leben auf Hohenhaus der Strahl eines 
neuen Lebens hineinzublitzen. Vielleicht erklärt sich ge- 
rade aus dem Zwiespalt des alten und neuen Lebens eine 
gewisse Hilflosigkeit und Gewaltsamkeit in diesem miß- 
lichen Stück. 

Auf Hohenhaus bei Zitzschewig in der Lößnitz gab es 
hoch oben in des Parkes Mitte eine kleine Kapelle. Darin 
hing ein Glöcklein. Es hallt auch auf dem Bischofsberg wider. 
Dies Glöcklein wußte von einem jungen Glück zu sagen: 

21 



Die Glocke klingt, still rauscht die Eiche; 
Wer hat das kleine Haus erstiegen, 
Vor dem lebend'ge Zauberreiche 
In sanfter Pracht entfaltet liegen? 

Wem quillt die volle Seele über, 
Daß er das helle Glöcklein läutet? 
Denn klingt ihr Ton zu mir herüber. 
So weiß man, daß es Glück bedeutet. 

Zuerst ist Hohenhaus 1894 in einem Romanfragment be- 
schrieben. Halbtausendjähriges graues Gemäuer, hohe ehr- 
würdige Räume, enge Steintreppen, seltsame Kämmer- 
chen, unheimliche Dachstuben, ungeheure Kamine mit 
ganz ungeheuerlichen Bildwerken verziert, Elreuzgewölbe: 
„Ein ernster strenger Geist hatte hier Stein auf Stein ge- 
türmt, hatte gezimmert und gewölbt für die Ewigkeit, aber 
ein heiterer, lichter Geist der Gegenwart hatte das Aus- 
gestorbene in Besitz genommen und es ausgeschmückt, 
farbig und launisch, reich, licht und modern." Dieser 
heitere Geist war Papa Thienemann gewesen, der, seinem 
Wahlspruche treu, fröhlich gelebt hatte und selig gestorben 
war. Er war ein begüterter Herr, der Winter über in Berlin 
sein Bank- und Wollkommissionsgeschäft leitete, im Som- 
mer aber draußen auf der waldigen Höhe in seinem schönen 
Asyl, dem nur die Hausfrau fehlte, flott und behaglich um 
sich her spielen und tanzen, zechen und schwärmen ließ, 
der seine jungen blühenden Töchter am liebsten sah, wenn 
sie tizianische Fruchtkörbe auf die reich besetzte Tafel 
stellten und den goldenen Wein, freilich nicht den ein- 
gebornen „Hohenhäuser", kredenzten, und der in all dieser 
Weltlust doch für gut fand, seine Töchter herrnhutisch 
erziehen zu lassen, teils in Herrnhut selbst, wo Marie und 
Martha anfangs waren, teils in der thüringischen Gemeinde 

22 



Neudietendorf . Hier lebten alle fünf Schwestern in stren- 
ger klösterlicher Zurückgezogenheit. Ihr weltfrohes Herz 
aber zog sie fernhin zum heimisch heitern Hohenhaus, wo 
,,eine anachronistische SüBe in der Luft lag^% wie es in den 
, Jungfern vom Bischof sberg^^ heißt: ^Etwas Stilles, Un- 
schuldvoUes, Verwunschenes, das durch die alten be- 
moosten Steine der Parkmauer von dem gellenden Lärm 
des europäischen Kulturparozysmus geschieden ist/^ 

Hierher nach Hohenhaus kam von Rom im Frühling 
1884 ^^ ^^^ Thienemanntöchtem, unter denen eine die 
Braut war, ein schwach genesender Elranker. Von hier aus 
beschäftigte sich Gerhart im Juni und Juli in der Dresdner 
Akademie der bildenden Künste sechs Wochen lang metho- 
disch mit Aktzeichnen. Noch immer rangen um seine 
Künstlerseele die beiden Musen: „die Frau mit Stein und 
Meißel", „die Frau mit Kranz und Leier". 

Naiv suchte er nach einer hohem künstlerischen Einheit, 
in der sich Poesie und Plastik zu einem neuen Ganzen ver- 
schmelzen. Der Tod Richard Wagners hatte die Bayreu- 
ther Gedanken einer Kunst der Künste vollends zum Siege 
geführt. In der Luft, die das neu erwachsende und erwa- 
chende Künstlergeschlecht einsog, lag nicht Abgrenzung, 
sondern Verschmelzung der Künste. Unbewußt schien 
Hauptmann einen Vereinigungspunkt für Plastik und Poesie 
erreicht zu haben. Wie, mag er damals mehr empfunden 
als überlegt haben, wie, wenn das steinerne oder tönerne 
Bild unter dem Kusse der Künstlerliebe lebendig würde! 
Wie, wenn es eratmete, die Augen aufschlüge, das Ohr den 
Lauten der Welt liehe, der Fuß den Boden fühlte, die 
Hand nach einem erwidernden Druck suchte! Diesen 
Dichterbildhauer bewegte der Pygmalionwunsch. Damals 

23 



vielleicht dichtete er ,^as Märchen Tom Steinbild'^ 
das in etwas wirrer und trüber Symbolik, aber mit staiker 
Anschauung ein Mannesstreben darstellt, dessen Ziel es ist, 
die Marmorjungfrau seines Ideals liebend zu beleben. 
Mochten in dieses Steinbild Lebensideale oder Kunstideale 
hineingemeißelt worden sein, jedenfalls trat im Klampf der 
beiden Musen an Gerhart Hauptmann die Frage heran: 
Gibt es eine solche Kunst, in der aus Plastik Poesie empor- 
steigt ? Naiv begriff er so den höchsten Sinn der Schau- 
spielkunst und gedachte zum Theater zu gehn; zu einem 
Theater zwar, wie es, außer in Bayreuth, nirgends exi- 
stierte. 

Dem Theater, wie es wirklich war und ist, stand er noch 
ziemlich fern. Vor dem kleinen Kurbühnchen in Salz- 
brunn, an das ihn später Lauchstedt erinnerte, hatte er 
seine ersten Eindrücke empfangen. Sie mögen schmieren- 
haft genug gewesen sein. In Breslau hatte der Schüler die 
Meininger bewundert; Shakespeare und danach Kleist hat- 
ten ihn am stärksten bewegt. In Jena gab es keine stehende 
Bühne; nach Weimar wurde nur einmal zu Fuß eine Wall- 
fahrt zur „Walküre" unternommen. In Dresden füllten 
ihn Interessen und Neigungen, die vom Theaterbesuch ab- 
lagen. Nun aber ging er im Mai 1885 nach Berlin. Hier 
fand er einen dramaturgischen Unterricht beim frühern 
Direktor des Straßburger Stadttheaters, Alexander Heßler, 
an den er sich noch erinnerte, als er die „Ratten" schrieb. 
Seiner Stimme, in die er beim intimen Vorlesen eigener 
Werke so viel Natur, so viel Seele, so viel Stimmung zu 
legen weiß, haftet ein Lispelton an, der seinem Lehrmeister 
für die bezweckte Ausbildung eines sogenannten schönen 
Organs hinderlich war. Aber er war vor die rechte Schmiede 

24 



der landläufigen Theaterspielerei geraten und gab seinen 
abenteuerlichen, nur einer Unkenntnis der tatsächlichen 
Verhältnisse und nur der Vorstellungeines selbstgeschaffe- 
nen Ideals entsprungenen Plan, Schauspieler zu werden, 
bald wieder auf. 

Aber er war nun dort, wo sich alle strebende Jugend im 
Deutschen Reich zu ihren entscheidenden Taten sammelte. 
Er fand sich in der jungen Hauptstadt dieses Reiches; noch 
ein Jüngling, aber kein Junggeselle mehr. Ein halbes Jahr 
früher hatte Bruder Carl die Schwester Martha heimge- 
führt. Jetzt, im Mai 1885, führte Gerhart, erst zweiund- 
zwanzigeinhalb Jahr alt, die Schwester Marie in das junge 
Heim, das ihm ihre Liebe bestellt hatte. Die Trauung fand 
in Dresden statt. Von der Johanniskirche fuhr das Paar 
hinauf nach der Brühischen Terrasse, wo im Belvedere 
wenigen Gästen das Hochzeitsmahl gerichtet war. 

In jenem „Romanfragment^^ hat Gerhart Hauptmann 
mit tragikomischer Selbstironie die Geschichte dieser Hy- 
menäen erzählt. Aus den handelnden Personen erkennt 
man den blonden Kopf, das blasse Gesicht des Dichters, 
der sich noch als Bildhauer hinstellte mit kolossalischen 
Schöpferplänen („König Lear auf der Heide, wie er hüpft 
und davonrennt^^. Man sieht, wie am Hochzeitstage der 
knabenhafte, schwächliche Bräutigam in Onkels hohem 
Hut, ohne Frack, an den er sich spät gewöhnt hat, zur Ver- 
mählung schleicht und einen kleinen Stoßseufzer über das 
Strapaziöse dieser Festlichkeit nicht unterdrücken kann. 
Neben ihm die junge Frau im glänzend schwarzen Haar 
mit dem lautlosen Gang, den einfachen Bewegungen, warm 
und doch zurückhaltend und leis melancholisch gestimmt. 
Ab sie auf der Terrasse stehn, und die unentwickelte 

25 



Dürftigkeit des jungen langmähnigen* Ehegatten dem Hohn 
eines vorüberflanierenden und flirtenden Leutnants preis- 
gegeben ist, als es beinah zum EUndgemenge gekommen 
wäre, mag ein banger Blick über den Eibstrom nach jener 
Waldeshöhe hingewandert sein, wo dieser jungen Frau im 
alten Hohenhaus die Mädchenzeit vergangen war. „Es ist 
als würde man heimatlos, wenn man diese Scholle mal auf- 
geben müßte^^, sagt die empfindsamste der „Jungfern vom 
Bischofsberg". 

Niclit hier ward dem jungen Paar das Heim bestellt. 
Das Ziel ist Berlin, wo sie zunächst eine Stadtwohnung 
aufnimmt. Der junge Gatte jedoch kränkelt und kann die 
Luft in den „Steingräbern der Großstadt" nicht vertragen. 
Als es Sommer wird, gehen sie mit dem Geschwisterpaare 
Carl und Martha und mit Freund Hugo Ernst Schmidt 
nach Rügen, wo Gerhart die Ostsee und die pommersche 
Küste fürs Leben lieb gewinnt. Noch legt er nicht „Ga- 
briel Schillings Flucht" hierher, aber er lauscht dem Volk 
seine Sagen und Märchen ab und dichtet einige in balla- 
desken Formen nach. G. A. Bürger ist Vorbild. Nach 
Bürgers Manier besingt er etwas holprig „Die Jungfrau 
am Waschstein", „Die schwarze Frau in der Stubben- 
kammer" und „Den Teufelsdamm im Naugarder See". 
Die Darstellung, die ihren Stoff aus Temmes Volkssagen 
von Pommern und Rügen schöpfte, verrät noch den An- 
fänger. Formvollendeter, anschaulicher, poetischer erzählt 
er, mehr in der Art des getreuen Eckart und des Hochzeit- 
liedes von Goethe, ein reizendes Pudminer Märlein von den 
„sieben Mäusen", die einst ebenso viele kleine Mädchen 
waren und durch einen übereilten Zornesfluch ihrer eignen 
Mutter so arg verwandelt wurden. Nun kommen sie um 

26 



AGttemacht aus des Teiches Grund hervor und tanzen und 
singen gar kläglich: y^9fir wollen fein erlöset sein, wir 
Mauslein und wir Maide^. 

Nach diesem sagen- und sangesreichen flitteifrohen 
Sommer auf Rügen lenkte der Herbst 1885 das junge Ehe- 
paar doch wieder gen Berlin. Man will die Weltstadt mei- 
den, aber nicht missen. Man folgt dem Zug in die Vororte, 
der damals unter den BerUnem b^ann. Man mietet sich 
eine hübsche, helle kleine GartenwcJmung in Erkner beim 
Rentier Lassen, der wohl mit dem biberpelzbestohlenen 
Rentier Krüger Ähnlichkeiten hatte. Dieser östUche Vor- 
ort, vcm Berlin in einer Bahnstunde erreichbar, an See und 
Eaef emwald belegen, ist das echte märkisch-melancholi- 
sche Idjll. Vier Jahre lang haben Gerhart und Marie 
Hauptmann diesen Ort als ihren Stammsitz betrachtet. 
In Erkner wurden ihnen drei Knaben geboren. Der sand- 
und mückenreiche Ort bot allerdings nur einen schwäch- 
lichen Ersatz für das immerdar aufgegebene Hohenhaus 
in den Lößnitzer Weinbergen. Thienemanns Erben hatten 
den alten Bischofssitz mit seinem großen terrassenförmigen 
YsA verkauft. Der zu späten Reue gibt Gerhart in jenem 
Romanfragment einen leidenschaftlichen Ausdruck: ,Ja 
freilich, das Paradies war hin. Aus dem Paradies waren sie 
vertrieben. Das Paradies war verschleudert worden. Das 
Paradies ihrer schönen, schönen Brautjahre. Man hatte 
es verkauft und imter viele Geschwister die Beute verteilt, 
jedoch es war Blutgeld." Der Anteil der Beute, der auf 
Frau Marie fiel, ging bald darnach durch den Bankrott 
des Depothüters verloren. So war den drei Hauptmann- 
paaren ihr Liebeshain spukhaft entschwunden. Aber als sei 
durch diese Sühne die Vorsehung schon vneder begütigt 

27 



worden, fügte es ein Zufall, daß genau dieselbe Summe, 
die sie verloren hatten, ihnen aus der Hinterlassenschaft 
einer Verwandten wieder zufloß. Gerhart blieb in der 
Lage, mit Frau und Eündem bescheiden, aber standes- 
gemäß leben zu können, ohne literarische Frondienste an- 
nehmen zu müssen. Dem Literatenproletariate seiner Be- 
kanntschaft galt er als Leihanstalt, ohne immer Dank da- 
von zu ernten. Ein böser Zahler streute, empört über 
wohlberechtigte Mahnungen, sogar die alberne Lüge um- 
her. Gerhart Hauptmann leihe Geld auf Wucherzinsen 
aus. Erfahrungen solcher Art fanden, ebenso wie andere 
tragikomische Erknererlebnisse und Erknergestalten, später 
im „Biberpcj^" und im „Roten Hahn" ihren humoristi- 
schen Niederschlag. 

Die vier Erknerjahre setzten den jungen Dichter in 
langsame und allmähliche Beziehungen zur literarischen 
Jugend. Da er solche Anknüpfungen nie gesucht hat, 
da es ihm auch nie in den Sinn kam, sich unter den 
anerkannten Schriftstellern einen Schutzpatron zu er- 
werben, so blieb er in den ersten Jahren auf den Ver- 
kehr mit seinem Breslauer Schulfreund Hugo Ernst 
Schmidt und mit seinem Jenaer Universitätsgenossen Fer- 
dinand Simon, dem späteren Schwiegersohn August Bebeis, 
angewiesen. 

Wieder stand er zwischen einer Künstlernatur und einem 
Weltverbesserer. Simon interessierte sich besonders für die 
Frauenbewegung, wie sie durch Ibsens Nora angebahnt 
war. Mit diesen Freunden besuchte Gerhart öffentliche 
Abendvorlesungen Du Bois-Reymonds, Treitschkes und 

anderer akademischer Redner und ließ den Eindruck einer 

* 

starken Persönlichkeit auch hier auf sich wirken. Aber 
28 



zusammen mit den Freunden stand er innerlich in einer 
gereizten Kampfstimmung gegen alles Zünftige, Akade- 
mische, Methodische und Systematische. Er ist mehr mit 
den andern mitgebummelt, als daß er sich aus eigner Be- 
flissenheit akademische Bildungsquellen erschlossen hatte. 
FreiUch begann er die Schaden eines ungeordneten Er- 
ziehungsganges zu empfinden. Er vertiefte sich in reli- 
gionsgeschichtliche Studien, las wissenschaftliche Werke 
von F. Max Müller und andern Gelehrten und trug sich 
mit dem Gedanken, ein Leben Jesu zu schreiben. Was von 
diesem Gedanken bisher Tat geworden ist, liegt in „Ema- 
nuel Quint^^ und seinem durchgeführten Parallelismus zu 
den Evangelien. 

Mit der Zeit ward es lebhafter in der gemütlichen Villa 
von Erkner. Eine Weile verkehrte er mit Max Kretzer, 
dem ersten modernen Berliner Naturalisten, und mit Ädal- 
bert V. Hanstein, einem ILainsdichter. Mit Hanstein mag 
der damalige „Promethide", mit Kretzer der spätere „kon- 
sequente Realist'^ umgegangen sein, obwohl Hanstein es 
war, der ihm gerade für sein Sonnenaufgangsdrama den 
Verleger besorgte. Eine größere Zahl junger, neuerungs- 
lustiger, zukunftstolzer Literaten und Studenten hatte sich 
im Frühjahr 1886 unter dem Vorsitz des kleinen, lahmen 
und verwachsenen, aber tapfern und gesinnungstüchtigen 
Leo Berg zu einem Vereine zusammengetan, den sie 
„Durch" nannten. Im ersten Winter, den dieser „Durch" 
erlebte (er erlebte nicht viele Winter), war Gerhart Haupt- 
mann öfters mit dabei, und im Frühjahr 1887 wurde das 
erste Stiftungsfest bei ihm in Erkner gefeiert. Trotzdem 
blieb seine Verbindung mit den meisten dieser Vereinsbrü- 
der ziemlich lose. Dauerhafter und vertrauter gestaltete 

29 



sich die Freundschaft mit zwei uneigennützigen, hohen 
menschlichen Idealen zugewandten Sozialisten, die den 
philosophischen, naturwissenschaftlichen und politischen 
Interessen des jungem Klameraden entgegenkamen und 
dann zu den Ersten gehörten, welche in ihm freudig und 
neidlos das überragende dichterische Talent erkannten. Es 
waren Bruno Wille und Wilhelm Bölsche, die den Sommer 
1887 in Fangschleuse bei Erkner zubrachten. Mit ihnen, 
mit Schmidt und Simon kamen auch die neuen literari- 
schen Anreger des Auslandes, Tolstoi, Zola, Ibsen aufs Ta- 
pet der häufigen scharfen Wortgefechte, an denen Bruder 
Carl, so oft er sich in Berlin oder Erkner einfand, durch 
Widerspruch fördernd, durch Kampf klärend lebhaft be- 
teiligt war. 

Wanderlustig und etwas unstet, wie er von jeher gewe- 
sen und geblieben ist, hielt auch Gerhart es in diesen vier 
Jahren nie lang bei den märkischen Kiefern aus. So ging 
er für den Sommer 1888 auf Monate nach Zürich, wo sich 
Carl an Forel und Richard Avenarius angeschlossen hatte. 
An diesen Studien, aus denen später Carl Hauptmanns 
Werk über die Metaphysik in der modernen Physiologie 
hervorging, nahm auch Gerhart Anteil, soweit seine wis- 
senschaftliche Vorbildung es zuließ. Er holte sich aus die- 
sen biologischen Untersuchungen für die künstlerische Er- 
fassung der menschlichen Natur das Seinige heraus. Die 
alten Freunde Ploetz und Simon hielten mit, und es mochte 
scheinen, als würde nun der zwischen zwei Künsten Hin- 
und Hergeworfene im wissenschaftlichen Fahrwasser ver- 
schwinden. Aber gerade in Zürich fing er wieder zu dich- 
ten an und las bei Avenarius Kapitel aus einem autobio- 
graphischen Romane vor, von dem nur jenes Fragment 

30 



erschienen ist. Bald trennte er sich von den Zürichern und 
fuhr zur Herbstzeit bis nach Frankfurt am Main auf dem 
Rade, wo ihm in wechsehiden Bildern Lander imd Leute 
wieder nahe Icamen. Als er in Erkner eintraf, hatte ,,die 
Frau mit Kranz und Leier" gesi^. 



III 

POETISCHE VORSPIELE: DAS ERBE DES TIBE- 
RIUS. DAS PROMETHIDENLOS. DAS BUNTE 

BUCH 

In Rom hatte den werdenden Dichter die große Vergan- 
genheit der Stadt beschäftigt. Er vertiefte sich in Ran- 
kes Geschichte der Päpste und befaßte sich auch mit der 
klassischen Zeit. Es entstand in G. A. Bürgers Balladenton 
ein Gedicht auf „den Tod des Gracchus^% das schon 
vom sozialen Mitleid für die Mühseligen und Beladenen 
erfüllt ist, aber auch das tragische Ende des revolutionären 
Volksbeglückers bringt, den sein feiges Volk im Stiche läßt. 
Auch Adolf Stahrs Rettung des Tiberius, die damals noch 
der Rede wert schien, fiel ihm in die Hand. Ein verkann- 
ter, zu Unrecht dem Haß und Abscheu der Menge aus- 
gesetzter Held war der rechte Gegenstand für das Mitge- 
fühl des Weltbeglückers. Er schrieb ein dramatisches Ge- 
dicht, „Das Erbe des Tiberius". Es wurde von Hohen- 
haus am 25. Oktober 1884 an Adolf L'Arronge nach Berlin 
geschickt, damit er es im Deutschen Theater auHühre. 
L'Arronge und sein Dramaturg Moritz Ehrlich, der gedacht 
haben wird: „Schon wieder ein Tiberius", lehnten ab. 
Trotzdem machte der junge Poet Anfang 1885 noch einen 
zweiten Versuch, die Bühne schon jetzt zu erobern. Er 
sandte die Handschrift Otto Devrient, an den er aus seiner 
Jenaer Studienzeit angenehme Erinnerungen hegte. De- 
vrient hatte in Jena Vorlesungen über die Geschichte des 
Dramas gehalten, wobei er im wesentlichen seine Readta- 
tionskunst leuchten ließ; die Brüder Hauptmann bewun- 

32 



derten die Geschicklichkeit, mit der in bewegten Szenen 
die mannigfaltigsten Stimmen charakteristisch auseinander- 
gehalten wurden. Den stärksten Eindruck machte auf sie 
die Vorlesung der „Frösche" des Aristophanes, die noch in 
Nickelmanns populär gewordenen Naturlauten nachwirkt. 
Auf diese etwas einseitige Beziehung hin wandte sich Ger- 
hart mit seinem Tiberius an den Luthermann, der damals 
gerade die Direktion des Hoftheaters in Oldenburg ange- 
nommen hatte. Bei Devrient verschwand das Heft. Trotz 
Stahr und Hauptmann schien Tiberius rettungslos ver- 
loren zu sein. Nach Jahr und Tag aber kam er im Gewahr- 
sam des Oldenburger Direktors doch wieder zum Vor- 
schein. Unter mancherlei Belobigung lehnte Devrient die 
Aufführung ab, da in Ausdruck und Inhalt zuviel vorginge, 
was für ein Hoftheater nicht tauge. Seitdem ist Tiberius 
wirklich verschwunden. Devrient mag sich des Stückes 
kaum mehr entsonnen haben, als drei Jahre später, wäh- 
rend seiner Episode im Berliner Hofschauspiel, nun wirk- 
lich ein Drama seines einstigen Zuhörers aufs Theater kam. 
Unter denen, die damals in Berlin am sittlichsten entrüstet 
waren, gehörte Direktor Devrient zu den allersittlichst 
Entrüsteten. Devrient ist in sein Grab gegangen, ohne zu 
ahnen, eine wie fruchtbare Erinnerung der verschmähte 
Sonnenaufgangsdichter an seine Vortragskunst bewahrt hat. 
Und wenn er das Epos gelesen hätte, mit dem Gerhart 
Hauptmann zum erstenmal vor die Öffentlichkeit treten 
wollte, so hätte er in Stoff und Form auch noch keine Ab- 
weichung vom poetischen Brauch bemerkt, obgleich von 
diesem „Promethidenlos" Karl Bleibtreu verkündigte, 
daß es „an Größe der Konzeption, Adel und Schwung der 
Sprache das verkrüppelte Knieholz der üblichen Poetaster ei 

3 33 



titanenhaft überrage^S Der Dichter selbst dachte bald von 
dieser Byronimitation nicht so günstig. Er zog das Epoe, 
kaum daß es (durch W. Ißleib, Berlin) im Sommer 1885 in 
den Buchhandel gekommen war, wieder zurück und ließ 
den Vorrat einstampfen. 

Nach dieser vernichtenden Kritik des Dichters selbst 
steht uns kein. Recht mehr zu, ihm metrische, prosodische 
und sonstige sprachliche Mängel der Erstgeburt tadelnd 
vorzuhalten. Das Ganze war locker, verschwimmend, 
formlos. Es fehlte ihm ein klarer Grundgedanke. Den ma- 
gern Stoff für seine Ausgestaltung bot dem Dichter jene 
Seereise nach Italien. Im Meere spiegelt sich seine eigne 
Stimmung. Er legt sich die Maske eines knabenhaften 
Jünglings vor, den er Selin nennt. Vertauscht man die 
beiden Silben, so ergibt sich das Wort Insel. Bewußt oder 
unbewußt geheimnißte der Dichter das Isolierte seines in- 
nern Wesens und Lebeijts hinein, jene seelische Einsamkeit, 
die ihm trotz aller Kameradschaften Kindheit und Jugend 
bedrückt hat und von der viele Jahre später sein Michael 
Kramer sagt: „Das Eigne, das Echte, Tiefe und Kjräftige, 
das wird nur in Einsiedeleien geboren. Der Künstler ist 
immer der wahre Einsiedler." Was diesen Selin vom Lande 
fort über die Meere treibt, waren des Dichters eigne 
Schmerzen. Was Selin an Bord und in den südlichen Kü- 
stenstädten erlebte, sind des Dichters eigne Reiseerinne- 
rungen. Aber die äußern Erlebnisse sind dürftig. Der Ein- 
fluß des Child Harold von Byron ist nicht nur in den Vers- 
maßen, sondern auch im ganzen Stil, in Stimmung und 
Inhalt fühlbar. Nach alter Epikerweise ruft er die Muse an 
und den Zaubergeist des Traumes. Die Allegorie macht 
unklare Vorstellungen nicht klarer. Dichterisch stark aber 

34 



ist die Begegnung des Jünglings mit einem jener Wesen, 
die am gütigsten dann sind, wenn sie selber vor dem Um- 
gang mit sich warnen. Hier zerstreut sich die Achtzahl der 
Reknbündel zum tragischen Blankvers und nähert sich dem 
dramatischen Dialog. Fast scheint es, als habe sich hier das 
Überbleibsel einer Szene jenes gescheiterten Tiberius- 
dramas in den epischen Sang hereingeflüchtet. Und man 
wird ebenfalls an Tiberius denken dürfen, wenn im „Pro- 
methidenlos" (auch der römische Kaiser mag für Haupt- 
manns Auffassung ein „Promethide" gewesen sein) im gei- 
stigen Hinblick auf Rom die Vision'eines „heimlichen Kai- 
sers" empordämmert. Was dieser spricht, ist der dunkle, 
in jedem Sinn dunkle Grundtext der ganzen Jugendseelen- 
dichtung, durch die sich aber doch erkennbar im Seelen- 
leben des jungen Dichters eine große, entscheidende Wand- 
lung vollzieht: die Wandlung vom Mitleid mit sich selbst 
zu einem Mitleid mit der Menschheit, vom egoistischen 
zum altruistischen Weh, vom Seelenschmerz zum Welt- 
weh. 

Du lerntest lieben und du lerntest hassen, 
Jetzt lerne, Jüngling, deine Laute fassen. 
Kannst du entsagen, Jüngling? Singe, dichte I 
Das ist der Mut, den wir anjetzt bedürfen. 
Die Dichter sind die Tränen der Geschichte, 
Die heiße Zeiten mit Begierde schlürfen. 

Aber erst 1888 ließ Hauptmann eine kleine Sammlung 
von Gedichten herstellen, die er „Das bunte Buch" 
nannte, und die in einem als Verlagsort fast unwahrschein- 
lichen Städtchen des Odenwalds ans Licht treten sollte. 
Als der Schriftsatz eben beendigt, aber das Druckpapier 
noch nicht angeschafft war, geriet der Verleger in Konkurs, 
und der Dichter erhielt von ihm nur eine lose Zusammen- 

3' 35 



heftung der Korrekturbogen auf schlechtem Papier. Nur 
in ganz wenigen behutsamen Freundeshänden werden die 
vergilbenden Blätter dieses „Bunten Buchs*^ geheimnisvoll 
aufbewahrt. Manches allzu weichlich, allzu tränenselig, 
manches hat sich im öffentlichen Vortrage bewährt. Kleine 
Lyrika hat Robert Kahn in Musik gesetzt, und Ämalie Joa- 
chim nahm diese Lieder in ihr Konzertprogramm auf. Auch 
in der Dichtung schon schwingen die sanften Verse wie 
Geigenakkorde. Eindrücke der äußeren Natur finden in 
kurzen, knappen, oft nur gestammelten, oft nur hingehauch- 
ten Lauten einen Widethall im Gemüte des Dichters, der 
still seufzend beim Blätterfall durch die Herbstnacht wan- 
delt oder im Dämmerlicht des Föhrenwaldes vor einem 
Jünglingsgrabe weilt. Der Dichter vertieft sich in die 
Stimmungen der Selbstmörder, deren Geisterchor aus dem 
Grunewald gegen die nahe Riesenstadt, ihre Verderberin, 
flucht. Nacht, Nebel, Herbstwind, ein Schmetterling im 
Schnee, eine singende Lerche im Mondschein, schwache 
Hoffnungen auf Licht und Lenz, das „alles will zusammen- 
stimmen in einen einzigen Sterbelaut". In diese abster- 
benden Natureindrücke drängt sich manchmal eine un- 
vermittelte literarische Reminiszenz ein. Ein kleines Lied, 
worin schon das Motiv der „Versunkenen Glocke" an- 
schlägt, fängt mit einem Heinevers an: 

Ich weiß nicht, was soll es bedeuten. 
Daß meine Träne rinnt 
Zuweilen, wenn ferne das Läuten 
Der Glocke, der Glocke beginnt. 

Ein Mondlied schließt goethisch: 

Meine Seele, schlummerleer, 
Wandelt durch die Nacht. 

36 



Das müde, sanfte Träumen wird visionärer, aufgeregter, 

wilder, wenn der Dichter aus Heideland und Föhrenwald 

ans Meer kommt, das in Gewittern steht* Man denkt an 

jenes rote Götterbildwerk aus dem Breslauer Atelier, wenn 

man liest: 

Immer schneller und schneller 
Jagen die Rosse der Flut; 
Immer heller und heller 
Bricht aus den Wolken die Glut. 

Und man denkt zurück ans „Promethidenlos", wenn 
man weiter liest : 

Die alte Esche orgelt wild 
Und sträubt ihr Blattgefieder, 
Und um das dunkle Eiland brüllt 
Das Meer Titanenlieder. 

Titanenlieder, die kein Spott 
Des Spotters kann bezwingen, 
Titanenlieder, die kein Gott 
Kann zum Verstummen bringen. 

Antwort fordert auch die Frage aller Fragen: 

Nie noch sah ich unsre Gottheit, 
Die uns schützt und die uns führet, 
Sage mir, wie denk ich jenen 
Gott mir? Zeige mir den Gottt 

„Hoch im Bergland von Arkadien" richtet sie der Frager 
an einen alten Priester des pelasgischen Zeus. Und die 
Antwort lautet: 

Siehst du nicht, nun denn, so schweige! 
Geh ins Tal und schweige, Jüngling. 

Im Tal aber bilden sich die Menschen nach ihren eignen 
winzigen Vorstellungen ihre eignen winzigen Götterchen: 

Und bald trug ein jeder sorglich 
In der hohlen Hand sein Göttlein, 
In der hohlen Hand nach Hause. 

37 



Hoch im Bergland von Arkadien aber geht der pelas- 
gische Zeus und „fürchtet die neuen Götter nicht und 
zürnt nicht den Menschen". Nur sein alter Priester hört 
ihn. Keiner sieht ihn. 

Nachdem Gerhart Hauptmann sein „Buntes Buch" der 
Vernichtung überlassen hatte, beschäftigte ihn jener auto- 
biographische Roman, den er l888 in Zürich begonnen 
hatte. Berlin und Umgegend hatten Hauptmanns Kennt- 
nis der Welt bereichert. In Zürich sah er das,. menschliche 
Leben wissenschaftlich durchforscht. So mochte er sich 
gerüstet fühlen, objektiver das Ich zu verstehen. Doch 
auch dieses Werk kam nicht zustande. Vieles daraus ist 
aber in den späteren Werken verwertet worden. Dieser 
totgesagte Roman scheint die Urzelle gewesen zu sein, aus 
der nun des Dichters lebendige Poesie entstand. 



IV 

DIE LITERARISCHE REVOLUTION. BAHN- 
WÄRTER THIEL. VOR SONNENAUFGANG. 

FREIE BÜHNE 

Gegen Weihnachten 1888 ging Hauptmann mit seiner 
Familie nach Bergedorf , wo jetzt bei ihrem ältesten 
Sohn auch die Eltern lebten und ihn mit ihren Erfahrungen 
im Geschäft unterstützten. Hier brütete der Dichter wo- 
chenlang weiter über seinem Roman. 

In den allerersten Frühlingswochen des Werdejahrs 1889 
kam er dann allein zu Besuch nach Berlin, wohnte aber 
nicht draußen in Erkner, sondern in der Stadt bei seinem 
Freunde Schmidt. In Niederschönhausen lernte er den 
fast gleichaltrigen Dichter Arno Holz kennen. Holz las auf 
seiner kleinen, rührend und anschaulich von ihm geschil- 
derten „Bude" in Hauptmanns Gegenwart eine Reihe klei- 
ner Skizzen vor, die er gemeinschaftlich mit seinem etwas 
altern Freund und Stubengenossen, Johannes Schlaf aus 
Magdeburg, verfaßt hatte. Die wesentlichste dieser Skiz- 
zen hieß „Papa Hamlet" und führte mit peinlichster Liebe 
zum kleinsten Detail in eine verwahrloste Komödianten- 
wirtschaft, die ohne jede Furcht vor den Widerwärtigkei- 
ten der Armut, der Liederlichkeit, des Schmutzes in voll- 
kommener Naturtreue, der Wirklichkeit gemäß, sehr ta- 
lentvoll abgeklatscht war. Mehr noch als diese Skizzen mö- 
gen auf Gerhart Hauptmann die eindringlichen Reden ge- 
wirkt haben, in welchen Arno Holz seine Kunsttheorie ent- 
wickelte, der jener „Papa Hamlet" als Paradigma dienen 
sollte. Arno Holz, jung, energisch, im äußern Wesen frisch 

39 



und erfrischend, Rastenburger Apothekerssohn, früh auf 
sich selbst und seine Arbeit gestellt, ein kühl kalkulierender, 
auf seine konsequent herausgerechneten Verstandesergeb- 
nisse eigenköpfisch trotzender Mittelostpreuße, hatte ein 
schönes Talent zur Lyrik seitwärts von hergebrachten, bis 
zum Ekel benutzten Mustern schon öfters bekundet. Er 
ist ein heller, findiger Kopf, der einen gescheiten Gedanken 
fassen kann, aber die gefährliche, nahezu selbstmörderische 
Neigung hat, diesen Gedanken bis zur Superklugheit fort- 
zutreiben und ihn schließlich im Aberwitz, dem letzten 
Ziel aller Einseitigkeit Verstecken zu lassen. Holz ging in 
seiner Papa Hamlet-Doktrin vom Naturalismus Zolas aus. 
Seine und Schlafs treue Abschriften des scharf beobachte- 
ten Kleinlebens waren eine zeitgeschichtliche Notwendig- 
keit, weil sie die Dichtkunst fester an den allgemeinen Geist 
des modernen Lebens banden. Überall hatte die rauhe 
Wirklichkeit stark in die Seelen der Menschheit eingegrif- 
fen. Bismarcks Realpolitik, die soziale Forderung des Pro- 
letariats, der induktive, detaillierende Grundzug moderner 
wissenschaftlicher Forschung, die Lehre von der Entwick- 
lung aller Dinge, die gesteigerte Wertschätzung statisti- 
schen Materials, die großen Schöpfungen ausländischer 
Wirklichkeitsdichter und Seelenergründer — dies alles 
wirkte zusammen, um auch in der deutschen Literatur die 
Notwendigkeit einer realistischeren Darstellungsweise zur 
Geltung zu bringen. Keiner war naiv und instinktiv über- 
zeugter davon als Gerhart Hauptmann, der nun das, was 
er innerlich bestimmt empfand, durch Arno Holzens schnei- 
dige Beredsamkeit in Form und Satzung gebracht sah. 
Arno Holz hatte es nicht mehr nötig, diesen neuen Kame- 
raden zum Realismus zu bekehren. Er gab ihm aber die 

40 



letzte entscheidende Anregung. Schon im „Promethiden- 
los", 80 wenig realistisch dieses Gedicht sein mag, deutet 
sich die radikale Wendung sehr sicher an. Wer seine Laute 
stimmt, den Jammer der wirklichen Welt mitleidweckend 
zu verkündigen, wird tief hinabsteigen müssen in mensch- 
liches Elend, oder er wird ein Phrasenheld sein. Der Dich- 
ter des „Promethidenloses" war schon damals zum äußer- 
sten entschlossen. Schon die konventionell-allegorisch von 
ihm erfaßte Muse der Dichtkunst sprach zu ihm, ihr Tem- 
pel sei die Erde. Schon damals fand er das Wort : „So muß 
Natur der Kunst die Wege bahnen"; oder das andre 

Wort: 

Und wollt ihr meines Gottes Namen kennen, 
So mögt ihr ihn den Gott der Wahrheit nennen. 

Schon mahnt er mitten in diesen ideellen Vorstellungen 
sich selbst: „Laßt mich ins Spiel der Welt die Blicke sen- 
ken". Was aber hier die Blicke sahen, war trostlos: 

Das Elend greift in jeden Menschenhaufen 
Und faßt mit Kreischen Kind \md Mann und Greis: 
Den treihts zum Hängen^ jenen zum Ersaufen, 
Den wirft es lachend in der Laster Kreis. 

Schon damals rief er den Elenden verzweifelten Ent* 
Schlusses zu: 

So laßt in eurem Schmutz mich hocken, 
Laßt mich mit euch, mit euch im Elend sein! 

Das „Promethidenlos" nimmt zum Schluß eine seltsame 
Wendung. Während sich bis dahin der Dichter mit seinem 
Helden ganz eins zu fühlen schien, stellt er sich plötzlich 
außerhalb dieses „irren Knaben", der das, was er ahnte, 
„in hehrer Form, in heiPger Melodie" singen wollte. Der 
Dichter selbst aber denkt nun ganz anders als sein Held: 

41 



Du traust mir nicht ? Dich lockt das süße Tdneii| 

Du glaubst, es sei auch in der Menschenwelt 

Erlaubt zu singen, und das Arbeitsfeld, 

Meinst du, kann milder Dichtersang yerschGnen. 

Es fliege leichter dann, meinst du, der Spaten, 

Die Sense blinke freudiger darein. 

Sei still I — Sie können deines Lieds entraten, 

Es muß gepflügt, doch nicht gesungen sein* 

Begleite mich durch öde finstre Gassen 
Furchtbarer Nacht! — Hörst du's den Weg entlang. 
Dies Wimmern? — Sieh, dich will ein Grauen fassen: 
Dies wird, mein Kind, in unsrer Zeit Gesang. 

Schon 1885, als er von seiner Reise zurückgekehrt war, 
stand es für Gerhart Hauptmann fest, wohin ihn seine 
Dichtersendung führen würde. Sehnsucht zog zur Schön- 
heit, aber der Weckruf der Zeit treibt einem andern Ziel 
entgegen. Schon 1888 entstand ein Gedicht, das er seinem 
Sonnenaufgangsdrama hätte voransetzen können. Denn in 
ihm spricht er aus, wie er seine Mission verstand: 

Dir nur gehorch ich, reiner Trieb der Seelei 
Des sei mein Zeuge, Geist des Ideales, 
Daß keine Rücksicht eitler Art mich bindet. 
Ich kann nicht singen, wie die Philomele. 
Ich bin ein Sänger jenes düstern Tales, 
Wo alles Edle beim Ergreifen schwindet. 

Du aber, Volk der ruhelosen Bürger, 
Du armes Volk, zu dem ich selbst mich zähle. 
Das sei mir ferne, daß ich deiner fluche! 
Durch deine Reihen gehen tausend Würger, 
Und daß ich dich, ein neuer Würger, quäle, 
Verhüt es Gott, den ich noch inuner suche! 

Ich darf es dir mit meiner Hand verbriefen, ' 

Daß, wenn ich zürne, zürn ich deinen Leiden, 

Das Gute wollend, dir zum ew'gen Heile. 

Ihr, die ihr weilt in Höhen und in Tiefen, 

Ich bin ihr selbst, ihr dürft mich nicht beneiden! 

Auf mich zuerst zielt jeder meiner Pfeile. 

42 



Und so schärfte er sein Auge für das Nahe und Nächste. 
Schon 1887, bevor er Arno Holz kannte, zeitigte der Auf- 
enthalt in Erkner eine kleine novellistische Studie, die in 
ihrem Realismus nicht so „konsequent" ist, wie „Papa 
Hamlet", aber dichterisch als geschlossenes, rundes Werk- 
chen höher steht. Es ist die zuerst in M. G. Conrads „Ge- 
sellschaft" abgedruckte Erzählung vom „Bahnwärter 
Thiel". Ihr moderner Zug kündigt sich schon im Titel 
an. Als die Eisenbahn aufkam, ging ein Jammern durch das 
epigonenhafte Geschlecht der Spätromantik. Mit dem 
Posthorn schien die Poesie aus der Welt zu schwinden. Mit 
dem Pfiff der Lokomotive schien sich der Welt die Prosa 
bemächtigt zu haben. Schon Gottfried Keller lachte über 
solches kurzsichtige Haften am Überlieferten, über diese 
Unkraft, den poetischen Reiz des Neuen zu finden, und 
verkündigte frohgemut die Poesie der Luftschiffahrt. Ger- 
hart Hauptmann, der in einem dichten Eisenbahnnetz auf- 
wuchs, gehört bereits zu denen, die auch aus dem Eisen- 
bahnwesen Poesie und realistische Symbolik zu holen ver- 
stehen. 

Im „Bunten Buch" schildert er die Nachtstimmung 
einer kleinen Vorortstation mit dem schwindsüchtigen 
alten Wächter, der keuchend, hustend fortwährend hin- 
über nach den Rüdersdorfer Kalkbergen sieht und nach 
ihren bald gelben, bald roten Grubensignalen. So oft 
diese die Farbe wechseln, wechselt die Farbe auch auf 
dem Fieberantlitz des ergrimmten Mannes, der sich 
dort unten in den Kalkbergen den schleichenden Tod 
geholt hat. 

Ungefähr gleichzeitig entstand ein Gedicht „Im 
Nachtzug": 

43 



El poltert der Zug durch die MondKheiimacht, 

Die Räder dröhnen und rasen. 

Still sitz ich im Polster und halte Wacht 

Unter sieben schnarchenden Nasen. 

Die Lampe flackert imd zittert und zuckt, 

Und der Wagen rasselt und rüttelt und ruckt, 

Und weit, wie ins Reich der Gespenster, 

Weit blick ich hinaus in das dämmrige Licht 

Und schemenhaft schau ich mein blasses Gesicht 

Im lampenbeschienenen Fenster. 

Dem Passagier ist*s nicht wohl in der dumpfen beklem- 
menden Enge. Ihn durchklingt 

Ein Sehnen hinaus in das Mondscheinreich, 
Das fliehend die Drahte durchschneiden. 
Sie tauchen hernieder \md steigen zugleich, 
Vom Zauber der Nacht mich zu scheiden. 

Aber am romantischen Elfenziel jagts den modernen 
Reisenden vorüber, und das Rasseln der Räder singt ihm 
ihr eigenes Lied, den „Sonnengesang" moderner Zyklopen- 
arbeit : 

Wir tragen euch hier durch die duftende Nacht, 

Mit keuchenden Kehlen und Brüsten. 

Wir haben euch güldene Häuser gemacht. 

Indessen wie Heiden wir nisten. 

Wir schaffen euch Kleider. Wir backen euch Brot. 

Ihr schafft uns den grinsenden, rieselnden Tod. 

Wir wollen die Ketten zerbrechen. 

Uns dürstet, uns dürstet nach eurem Gut! 

Uns dürstet, uns dürstet nach eurem Blut; 

Wir wollen uns rächen, uns rächen 1 

Wohl sind wir ein rauhes, blutdürstend Geschlecht. 

Mit schwieligen Händen und Herzen. 

Doch gebt uns zum Leben, zum Streben ein Recht 

Und nehmt uns die Last unsrer Schmerzen I 

Ja, könnten wir atmen in keuchendem Lauf 

Nur einmal erquickend tief innerlich auf, 

44 



So, weil du die Elfen bewundert, 

So sängen wir dir mit Donnergetön 

Das Lied, das finster und doch so schön. 

Das Lied von unserm Jahrhundert! 

Vom fahrenden Dichter weicht nun die Sehnsucht nach 
Elfentanz in mondbeglänzter Zaubernacht. Ein andrer, 
die schöne Welt mit der wirklichen versöhnender Traum 
steht vor seiner Seele: 

Die Lampe flackert und zittert und zuckt, 
Und der Wagen rasselt und rüttelt und ruckt. 
Und tief aus dem Chaos der Töne, 
Da 'quillt es, da drängt es, da perlt es empor. 
Wie Hymnengesänge, bezaubernd mein Ohr, 
In erdenverklärender Schöne. 

Er träumt von „himmlischen Lenzen auf irdischen 
Höhn". Dieser Traum ist der Traum des idealistischen 
Weltverbesserers, der nur der Wirklichkeit, nicht den Mög- 
lichkeiten gegenüber pessimistisch denkt; diesen Traum 
gab dem Dichter die Fahrt auf der Eisenbahn. 

Denselben Eindruck schafft ihm auch der vorüberfah- 
rende Bahnzug. Phantastisch malt er in der Novelle vom 
„Bahnwärter Thiel" den Zug, der im Nu erscheinend, im 
Nu verhallend durch das stille Dunkel des Heidelands tost. 
Die blauen Nachtsignale dünken ihn wie Tropfen über- 
irdischen Lichtes. Aber über dem Hüttlein des Bahnwär- 
ters Thiel leuchtet nichts Überirdisches. Er ist einer der 
modernen Arbeitszyklopen, wie jener schwindsüchtige 
Bahnwärter aus Rüdersdorf. Sein höchster Erdenwunsch 
ist der, daß sein Söhnchen Tobias es dermaleinst bis zum 
Bahnmeister bringe. Für sich selbst strebt er so stolze Ziele 
nicht an. Aber auf dem biBchen Bahndamm und Schienen- 
strang, den er zu betreuen hat, kennt er jedes Schräubchen 

45 



und jedes Stäubchen. Um dieses Streckchen und die nu- 
merierte Bude in der Mitte webt sich ihm im Lauf der 
Zeiten ein seelisches Gespinst, die Poesie seines Daseins. 
Der Fleck Erde wird ihm, einem Vorlauf er und Schicksals- 
genossen des Fuhrmanns Henschel, zum Heiligtum, worin 
seine tote, sanfte Frau weiterlebt und das von den plumpen 
Füßen der zweiten lebendigen Frau, von ihren groben Fäu- 
sten nicht berührt werden soll. Die Telegraphendrähte 
aber klingen und singen ihm das Lied von der, die er ver- 
loren hat : „Er stellte sich vor, es sei ein Chor seliger Geister, 
in den sie ja auch ihre Stimme mischte". 

Wie leicht war hier die Gefahr, sentimental zu werden. 
Nicht bloß die Effekte eines Mord- und Wahnsinnsschlus- 
ses schützten ihn davor, sondern auch sein Naturgefühl. 
Nicht sentimental ist das Empfinden des Bahnwärters 
Thiel, der dann Weib und Kind erschlagt, sondern melan- 
cholisch wie der märkische Kiefernwald am märkischen See. 
Der Dichter hat die Erknerstimmung auf sich wirken las- 
sen. Er hat in die Heide einen Menschen gepflanzt, der 
wie sie empfindet, arm an Geist, reich an Seele, sanftmütig, 
bescheiden, schüchtern, energielos in der alltäglichen Ruhe, 
aber rauh, wild, wüst, grausam bis zur Vernichtung, wenn 
Orkane toben. Ein solcher Orkan ist in das Gemüt des 
Bahnwärters gefahren, als er argwöhnt, durch die böse Ab- 
sicht der Stiefmutter sei sein kleiner Tobias unter die Räder 
des Bahnzugs geraten. 

Des Dichters Problem war, diesen Stimmungsübergang, 
wie in einem epischen Monolog, darzustellen. Er hält sich 
dabei ausschließlich an die Mittel der erzählenden Kunst. 
Dialoge fehlen fast ganz. Den einzigen längern Sermon 
hält die böse Stiefmutter, wenn sie das Prügelknäbchen mit 

46 



Schimpfworten herunterhudelt. Dramatisch wird die 
Aktion nur in den lallenden Lauten, mit denen beim 
Vater Thiel der Wahnsinn sich meldet und zum Morde 
mahnt. 

Die Studie darf als Probe des Stiles gelten, in welchem 
Gerhart Hauptmann seinen Roman damals abgefaßt hätte. 
Jene Begegnung mit Arno Holz entschied aber nicht nur 
für den Naturalismus, sondern auch für das Drama. Wie 
das gewöhnliche Volk in seinen mündlichen Erzählungen 
die Person, um die es sich dabei handelt, mit Vorliebe selber 
sprechen läßt und auf diese direkte Rede so viel Gewicht 
legt, daß er möglichst oft ein „sagt er" oder „sagt sie" 
dazwischenschiebt, ebenso liegt es im Wesen einer natura- 
listischen Darstellung, daß die handelnden Personen mög- 
lichst viel selber sprechen, und daß uns möglichst viel aus 
ihren eignen Worten von den Geschehnissen kund werde. 
In dieser Konsequenz lag es, die Erzählung aufzugeben und 
das Dramatische zum Drama zu vollenden. 

Erfüllt von Arno Holzens Theorie, angespornt von sei- 
nem Zuspruch, machte sich Gerhart Hauptmann sofort an 
einen Stoff, der für diese extrem naturalistische Behand- 
lung geeignet war. Wie in den westlichen und nördlichen 
Vororten Berlins die sogenannten Millionenbauern, so gab 
es auch in nächster Nähe von Obersalzbrunn, in Weißstein 
und Hermsdorf Bauern, die plötzlich zu Reichtum da- 
durch gelangten, daß man unter ihren Äckern mächtige 
Kohlenlager entdeckte. Ein solcher Umschwung materiel- 
ler Verhältnisse konnte im ungebildeten Stande nicht ohne 
Einwirkung auf Sitte und Sittlichkeit des überschnell und 
übermäßig reich gewordenen Volkes bleiben. Diese Ju- 
gendeindrücke sollten im autobiographischen Roman nach- 

47 



wirken. Nun wollten sie sich zu einem sozialen Drama ge- 
stalten. 

Auch Holz fühlte sich durch das eigene Prinzip zum 
dramatischen Schaffen hingedrängt. Für Kompagnie- 
arbeit eingenommen, wie er war und blieb, durch die Füg- 
samkeit des sanften, sinnigen Johannes Schlaf daran ge- 
wöhnt, schlug er vor, mit Hauptmann gemeinschaftlich 
ein Drama nach allen Regeln der neuen Kunst abzufassen. 
Vor diesem dämonischen Antrag, dem er anfangs entgegen- 
kam, den er wohl gar herausgefordert hatte, bewahrte den 
andern sein guter Stern. „Der Künstler ist immer der 
wahre Einsiedler." Mit Respekt vor dem Kunstverstande 
des strammen Rastenburgers teilte er seinen Stoff nicht, 
wie er von Hamburg aus brieflich zugesagt hatte, dem 
neuen Kameraden mit, sondern flüchtete sich wieder nach 
Bergedorf zu Eltern und Geschwistern. In kürzester Zeit, 
noch war es Frühling, brachte er das Drama ziemlich fertig 
nach Erkner. Mit den Freunden Bölsche und Wille, mit 
dem Bruder Carl, der ihm noch immer der beste, auch in 
Rat und Tat förderlichste Freund war, zog er in die Klie- 
fernheide des „Bahnwärters Thiel", und während die 
Nadelhölzer hellgrüne Spitzen ansetzten, erwachte hier in 
freier, etwas öder Natur der Frühlingssang des neuen 
deutschen Naturalismus. 

Frühlingssang ist Nachtigallenschlag und Lerchenjubel. 
Schon im „Promethidenlos" aber hieß es: 

Du fragst nach Lerchenjubel. — Lerchenjubel I 
Wir haben alles Jubeln längst verbannt. 

Und doch trillern auch in dem neu erstandenen Drama 
„Vor Sonnenaufgang", das ursprünglich „Der Sämann" 
heißen sollte, die Lerchen in der Morgenröte. Ihr Lied 

48 



tönt unverdrossen jenseits von Gut und Böse, jenseits der 
moralischen Gegensätze, in denen sich dieses soziale Drama 
kraß und schroff bewegt. Der Dichter nimmt persönlich 
einen leidenschaftlichen Anteil an den moralischen Dingen. 
Er zeichnet Personen und Zustände entweder mit Liebe 
oder mit Haß. Von einem objektiven Naturalismus, wie 
ihn die Natur selbst ihren Geschöpfen gegenüber beob- 
achtet, ist hier noch weniger die Rede als beim Moralisten 
Zola oder in Tolstois „Macht der Finsternis". Was Werke 
wie „Die Macht der Finsternis" und „Vor Sonnenaufgang" 
erst naturalistisch werden läßt, ist die von keiner konven- 
tionellen Rücksicht befangene, unverfrorene Darstellung 
sittlicher Zustände, in denen sich der Mensch wieder der 
Naturverfassung des Tieres nähert. Die naturalistische 
Kunstform klebt noch am naturalistischen Stoff. Die Be- 
deutung des jungen Werkes, welches von Tolstoi vielfach 
abhängig ist, liegt vor allem darin, daß es der Dichter wagte, 
unpolierte und unarrangierte Wirklichkeit, und zwar häß- 
liche Wirklichkeit in einer gewissen Kunstform auf die 
Bühne zu bringen. Als Arno Holz, der auch die Titelände- 
rung durchgesetzt haben will, das Stück las, erklärte er es 
von seinem Standpunkt aus „für das beste Drama, das je 
in deutscher Sprache geschrieben sei". Später dachte er 
nicht mehr so enthusiastisch davon, sondern beklagte das 
Vorhandensein einer Tendenz. 

Lag während der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhun- 
derts der Wert des französischen Dramas in der Gesell- 
schaftssatire, so lag der Wert des deutschen Dramas im 
Volksstück. Was wir mit höherm Stolz all den Scribe und 
Feuillet, Augier, Dumas und Sardou entgegenstellen, das 
U^;t in jenem Bereich des deutschen Volkes, wo Hebbel 

4 49 



seine Maria Magdalene, Otto Ludwig seinen Erbförster, 
Änzengruber seine Bauernkomödien fand. Dort hat auch 
der junge Gerhart Hauptmann sein erstes soziales Drama 
gefunden. Wie Änzengruber übte auch er eine mundart- 
liche Sprache. Wie Ludwig schildert auch er den Nieder- 
gang einer landlichen Familie. Wie Hebbel zeigt auch er 
das tragische Schicksal eines verratenen Weibes aus dem Volk. 
Und doch hat ihn keiner seiner Vorgänger beeinflußt. 

Er verlegt den Schauplatz der Handlung in die Gegend, 
die er von Kindesbeinen an kennt. Freilich sagt er Jauer 
statt Waidenburg, Witzdorf statt Weißstein. Seine Land- 
leute reden die schlesische Mundart. Ihr Schicksal steht 
im engsten Zusammenhange mit den besondem sozialen 
Verhältnissen jener Gegend. Ein Bauernhof, auf dem man 
von Austern und Hummern lebt und seinen Durst in Cham- 
pagner (nicht mal in Grüneberger Champagner) löscht, 
wo Kühe und Pferde aus marmornen Ejippen und neu- 
silbernen Raufen fressen, während das Gesinde darbt und 
sich rackert, kommt in all seinen Zuständen und Gestalten 
zur lebendigsten Anschauung. In einer solchen Bauem- 
familie ist der Vater ein wüster Trunkenbold, der sein La- 
ster nicht bloß auf die älteste Tochter, sondern sogar auf 
deren dreijähriges Söhnchen vererbt hat. Sein Schwieger- 
sohn ist ein eitler, unreeller Wicht, der trotz aussaugeri- 
schen Manipvdationen das angeheiratete Geld über kurz 
oder lang verspekuliert haben wird. Die jüngere Tochter 
hat hermhutische Erziehung genossen, und dadurch ist ihr 
gutes ehrliches Wesen in einen konfliktreichen Zwiespalt 
geraten, an dem sie, fremd im Vaterhaus, zugrunde geht. 
Die Stiefmutter ist ein rohes Weib, dessen abgeschmackter 
Eitelkeit eine städtische Tartüffin frönt, dessen Wollust 

50 



ein junger dummdreister Vetter vom Nachbarhof befrie- 
digt, während der Hausvater bis vor Sonnenaufgang hinter 
dem Schnapse vertiert. 

Man wird es dem jungen idealistischen Volksbeglücker, 
der zum Studium der sozialen Verhältnisse in jenen Koh- 
lenbezirk kommt, nicht verargen, wenn er alsbald wieder 
seine Schritte wendet. Aber er nimmt das Lebensglück der 
Bauemtochter mit, die an den verstiegenen Prinzipien- 
reiter ihr junges Herz verlor, das in allem Schmutz und, 
was mehr sagen will, bei gründlichster Einsicht in die un* 
saubersten Dinge keusch geblieben ist. Er war im Hand- 
umdrehen ihr heinJich Verlobter geworden und dachte 
mit dem frischen und gesunden Mädchen seinen erbkräf- 
tigen Stamm fortzupflanzen. Da erfährt er, der prinzi- 
pielle Mäßigkeitsapostel, der angehende Rassenhygieniker, 
daß sie aus einer Potatorenfamilie stammt, und macht sich 
verstohlen davon. Man erfährt nicht recht, wie tief ihn 
der Verzicht auf diese Liebe innerlich berührt. Das Mädr 
chen aber ersticht sich. Sie ist die eigentliche Heldin dieser 
Dorftragödie; denn sie steht geistig und seelisch über Ver- 
hältnissen, von denen sie physisch nicht los kann. Es ist 
ausgezeichnet, wie sie mit ihrer Einschränkung ringt, wie 
sie unter der geilen Trunksucht des Vaters, unter der Ro- 
heit der Stiefmutter, unter der lüsternen Lafferei des 
Schwagers, unter der Rüdigkeit eines aufgezwungenen 
Freiers leidet, ohne doch zu verleugnen, daß sie von Natur 
zu diesen Leuten gehört. Erst als der Mann ihrer Liebe 
kommt, gehen ihr die letzten Lichter über alles auf, und 
diese Erkenntnis schlägt sie zu Boden. 

Die Fülle der Personen teilt sich in zwei Kategorien, in 
dit Eingebomen und in die Zugewanderten, in diejenigen, 

4' 51 



die in ihrem Urzustände mehr oder minder vegetieren, und 
in diejenigen, die diesem Zustand mehr oder minder fremd 
gegenüberstehen. Jene bringen das naive, diese das reflek- 
tierende Element in die Tragödie hinein. Zu jenen zahlt 
der Bauer, die Bäuerin, deren Liebhaber, zahlen Knechte 
und Mägde. Zu diesen gehören vor allem drei junge Man- 
ner: der Ingenieur Hoff mann, der Arzt Schimmelpfennig 
und der Nationalökonom Alfred Loth. Hoffmann und 
Schimmelpfennig sind Loths Jugendbekannte. Durch 
einen theatralischen Zufall treffen sich alle in jenem Koh- 
lenwinkel. Der Dichter hat die Modelle aus seiner eignen 
Jugendbekanntschaft hergeholt, aber in jedem der drei 
steckt etwas vom alten französischen Raisonneur, der die 
Dinge um sich her betrachtet und beurteilt, ohne persön- 
lich stark dran beteiligt zu sein. Am fernsten steht der 
Handlung Doktor Schimmelpfennig. Er hat die Aufgabe, 
dem Freunde die potatorischen Familienverhältnisse Idar 
zu machen, und bringt ihn so zu dem harten Entschluß, 
sein eben erst eingegangenes Verlöbnis zu brechen. Das 
entwickelt sich in einer meisterhaft geführten Szene des 
letzten Aktes, während Scjiimmelpfennig, zur Geburtshilfe 
bereit, im Hause weilt. Er ist ein gutherziger Mensch ohne 
Vorurteile, mit einer bewegten Vergangenheit, der nun 
hier ist, um unter den Millionenbauern genug Geld zu er- 
werben, damit er mal seiner Idee leben kann. Diese Idee 
ist die Lösung der Frauenfrage. Als Gegner der Ehe will 
er die Frauen selbständig und den Männern gleichberech- 
tigt machen. Aber über das Wie ist er sich noch nicht 
klar. Einflüsse des Bebeischen Buches über die Frau wirken 
hier neben Ibsen mit. Praktisch verwendet Schimmelpfen- 
nig seine Feindschaft gegen die Ehe dazu, den Freund von 

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der Geliebten zu trennen. Er wird damit einer jener Dä- 
monen, die aus Prinzip das Gute wollen und das Böse 
schaffen. Sein Prinzip befruchtet hier das Prinzip Loths, 
das Prinzip der Rassenzüchtung durch Abstinenz. Diese 
Prinzipien spuken gelegentlich sehr fleisch- und blutlos in 
ihrer dürren Blöße umher. Daneben aber steht doch in 
Schimmelpfennig eine ausgeprägte Menschengestalt vor 
uns, die freilich mit einem Fuß weit außerhalb des Dramas 
tritt. Der Dichter, wie es auch sonst seine Art ist, hat ihm 
vom Modell her allerlei Züge beigelegt, die dann für das 
Stück selbst nicht verwertet sind. 

Weniger glaubwürdig erscheint die wichtige Figur Alfred 
Loths. Gegen ihn sind auch von Freunden des Stücks Be- 
denken erhoben worden. Der Dichter selbst hat einmal 
lächelnd gesagt, man habe ihm seinen Loth so oft zu ver- 
leiden gesucht, daß er selbst nicht mehr recht an ihn glau- 
ben wolle. Man hat diesen Loth sogar mit dem Dichter 
identifizieren wollen; den Haß gegen Alkohol hatten zwar 
beide damals gemein, und Loths Verliebtheit mag der 
Dichter aus dem eignen Herzensleben geschöpft haben. 
Aber ein Selbstporträt ist Loth nicht. Er stellt nur den 
Einfluß dar, den ein volkspädagogischer Studienfreund auf 
den Dichter auszuüben suchte. Wenn Loth die Leiden des 
jungen Werthers für ein dummes Buch erklärt, wenn er 
Dahns „Kampf um Rom" seiner Schönfärberei halber über 
Zola und Ibsen stellt, wenn er von der Kunst nicht das 
Seiende, sondern das Seinsollende verlangt, so sind das nie- 
mals Gerhart Hauptmanns eigne Ansichten gewesen. Es 
sind nur Punkte, über die er in Jena oder Zürich mit un- 
künstlerischen Freunden heftig wird gestritten haben. Auch 
daß Loth aus seinem Prinzip die grausamste Folgerung 

53 



zieht, hat der Dichter nirgend entschuldigt oder gar ge- 
rechtfertigt. Der Dichter ist ganz anders als sein Held« 

Aber der Dichter hätte tiefer und klarer motivieren kön- 
nen. Loth verläßt sein Lenchen, wie Faust sein Gretchen 
und so mancher andere sein Mädchen verlassen hat. Loth 
verläßt sie nach einer jungen warmen Liebschaft von kaum 
zwölf Stunden. Auch das soll oft genug vorkommen. Man 
kann dazu mit Mephisto sagen: ,ySie ist die Erste nicht!*' 
Und man kann dazu mit dem reumütigen Faust sagen: 
, Jammer, Jammer, von keiner Menschenseele zu fassen!** 
An Loth und Helene offenbart sich der Unterschied von 
Verliebtheit und Liebe. Loth ist bis über die Ohren in das 
reizende, sinnige Geschöpf an seiner Seite verliebt; er rührt 
an den Stengel einer schönen Blume, sie zu pflücken, zieht 
aber sofort die Hand weg, sobald er merkt, daß der Sumpf, 
aus dem sie wuchs, die Hand beschmutzt. Für Helene da- 
gegen ist die Liebe zum Manne nicht bloß ein Sinnenreiz; 
sie ist ihr Rettung aus Not, Erlösung vom Übel, Freiheit, 
Licht, Luft. Für ihn ist diese liebliche Begegnung ein Er- 
lebnis, für Helene ist sie das Leben. Es gehört zu den 
menschlichsten Irrtümern, nachdem Grade des eignen Emp- 
findens den Grad des Empfindens anderer zu messen. Loth 
redet sichs ein, daß der Seufzer des Scheidens und Meidens 
bei Helenen nicht tiefer geht als bei ihm selbst. Loths 
Treubruch hat auf den Zuschauer um so überraschender 
und empörender gewirkt, als gerade dieser hübsche, freund- 
lich blickende, blau- und strahläugige, blondbärtige ger- 
manische Mensch durch eine Liebesszene vom Dichter 
in das anmutigste Licht gestellt worden war. 

Diese Liebesszene, die fast den ganzen vierten Akt füllt, 
ist' Gegenstand besonderer Streitigkeiten geworden. Bei 

54 



der Vorstellung im Theater hat sie entzückt, ergriffen, 
hingerissen. Aber die Vorurteile, die damals im flotten 
Schwange waren, rieben sich auch an ihr. Man konnte sich 
über sie nicht, wie über so manches andere im Stück, sitt- 
lich entrüsten. Daher versuchte man, sich über sie lustig 
zu machen. Ich höre noch das blöde Lachen, womit bei 
der ersten Aufführung Skandalmacher den holden Frieden 
dieses Idylls stören wollten, und wie sie von der Mehrheit 
der innerlich beteiligten Zuhörer energisch zur Ruhe ver- 
wiesen wurden. Jemand nannte dann die Szene mit einem 
Lieblingsworte Theodor Fontanes „dalbrig" und ahnte 
nicht, daß er diesem Liebesgestammel damit ein Aner- 
kenntnis süßer Wahrheit machte. Andere warfen dem 
„konsequenten Naturalisten" Inkonsequenz vor und ver- 
meinten, diese Szene sei viel zu poetisch, um naturalistisch 
sein zu können. Diesen Mißverständigen hat der Dichter 
einmal das Scherzwort erwidert: „Kann ich dafür, daß die 
Natur auch schön ist ?" 

Mit Bewußtsein hat Gerhart Hauptmann dem Stoff sei- 
nen Stil gegeben. Er hat ihn scharf und bestimmt in einer 
so lebendigen Charakteristik der Personen ausgeprägt, wie 
wir dies im deutschen Drama nicht gewohnt waren. Mag 
diese Charakteristik bei Loth anfechtbar sein, so steht sie, 
wie beim Doktor Schimmelpfennig, auch beim dritten der 
Eingewanderten, beim Ingenieur Hoffmann, über aUem 
Zweifel. Bei allen dreien ist neben lebendigen Vorbildern 
ein Einfluß der „Wildente" von Henrik Ibsen nicht zu ver- 
kennen; Loth, Hoff mann und Doktor Schimmelpfennig 
stehen ungefähr so zueinander, wie Gregers Werle, Hjal- 
mar Ekdal und Doktor Relling. Bei Hoffmann aber hat 
sich das Hj almarisch- Allzumenschliche zur bewußten und 

55 



berechneten Gemeinheit der Gesinnung kristallisiert. Er 
ist mehr als der traurige Zwitter, für den ihn Schimmel- 
pfennig hält. Er ist, ganz diesseits von Gut und Böse ge- 
sprochen, ein Gesinnungslump, dem die beiden andern, 
besonders Loth, etwas gesinnungsprotzig gegenüberstehen. 

Loth und seine beiden Jugendfreunde sind nicht die ein- 
zigen, die ins Kohlendorf zuwanderten, um eine schwer- 
flüssige Masse, jeder nach seiner Art, in Bewegung zu brin- 
gen. Es ist auch noch ein Berliner Kellner da, der sich als 
Kammerdiener verdungen hat und auf den schönen Namen 
Eduard hört. Es ist ferner die liebedienerische, zwischen- 
trägerische Frau Spiller da. Zwei köstliche, mit wenig Stri- 
chen lebenskräftig gezeichnete dienstbare Geister, von de- 
nen Er sich redlicher, Sie sich unredlicher vom Überflusse 
derer nährt, die hier heimisch sind. Aber auch unter den 
Einheimischen klafft ein starker Gegensatz. Es ist der 
schreiende Gegensatz von Reich und Arm. Neben dem 
schlemmenden Bauernpöbel die darbenden, geplackten Ar- 
beiter. Einer, ein Greis, der Vater Beibst, hat sich philo- 
sophisch mit seinen Schicksalsschlägen fast abgefunden und 
für seine alten Tage als Andenken nur eine Brummigkeit 
zurückbehalten und eine Art versteinerten Grolls. Aber in 
den jungen Gutsdirnen kocht noch wild das Blut. Und von 
allen der unglücklich-glücklichste ist Hopslabär, der Dorf- 
trottel, eine Figur, die an Falstaffs Aufgebot heranreicht. 

Es sind nur landwirtschaftliche Arbeiter, die im Stück 
auftreten. Die Bergleute, die schwarzen, rußigen Gestal- 
ten, die der Dichter während seiner Kinderzeit rings um 
den Heimatort in dunklen Massen auf allen Wegen traf, 
zeigt er nicht im Stück. Wie ein tiefes, finstres Verhängnis 
durchwühlen und durchlockern sie das Erdreich. Denen 

56 



Schatze grabend, die zugleich durch dieses Grubenwerk 
auf ihrem Grund und Boden wankend werden. Auch ohne 
daß der Dichter einen Repräsentanten dieses Mavdwurfs- 
geschafts erscheinen läßt, fühlt mandie düstre soziale Macht 
und ihre unterirdische Massenarbeit. 

Zwischen den Einheimischen und Zugewanderten 
schwebt das lieblich lebendige Bild Helenens, die von sich 
schon hätte sagen können, was nachmals Rautendelein, die 
Elfe, empfinden lernt: „Fremd und daheim". Sie fühlt 
sich als die Tochter des Trunkenbolds, der viehisch an 
ihren Leib tastet, und sie fühlt sich auch als die berufene 
Gefährtin des idealistischen Kämpfers für eine physische 
Ädlung der Menschheit. An diesem Zwiespalt geht sie zu- 
grunde; ein tragisches Schicksal, gegen dessen Fügung Ari- 
stoteles kaum etwas einzuwenden gehabt hätte. 

Auch gegen die Komposition des Dramas könnte Aristo- 
teles kaum Einwände erheben. Die Einheit des Orts und 
der Zeit ist streng gewahrt. In einem einzigen Zimmer des 
Wohnhauses und auf dem Hofraum davor trägt sich wäh- 
rend der Zeit von einer Nacht zur andern, ohne technische 
Zwangsmaßregeln, ohne Monologe, Beiseites und ähnliche 
unrealistische Eselsbrücken der Theaterspielerei mit einer 
fast nachtwandlerischen Bühnensicherheit die ganze Bege- 
benheit zu. Noch nie zuvor ist auf natürlichere Art ein in 
sich geschlossener Vorgang auf die Bühne gebracht worden, 
ohne daß die Gesetze des Lebens irgendwie verletzt wären. 
Wo aber Gesetze der Kunst verletzt worden sind, da han- 
delt sichs stets um leicht vertilgbare, überschüssige Einzel- 
heiten. Wenn mitten in einer meisterhaften, höchst leben- 
digen und abwechslungsreichen, vollkommen dramatischen 
Tischszene plötzlich eine lehrhafte Abhandlung, sogar mit 

57 



genauen statistischen Daten, vorgetragen wird, wenn in 
einem Äugenblick der Spannung zwei an der Spannung zu- 
meist beteiligte Personen einander allerlei Unglücksfälle 
fremder Leute erzählen, so sind das nur Beweise dafür, wie- 
viel mehr Interesse der junge Dichter an seinem Stoff nahm 
als an der Ausgestaltung dieses Stoffes. Aber um so be- 
wunderungswürdiger ist es, daß daraus doch ein künst- 
lerisches Ganzes entstand. 

Im Publikum der ersten Vorstellung sind Vielzuviele 
dem Beispiel des Dichters gefolgt. Auch sie sahen mehr 
auf den Stoff als auf die künstlerische Gestaltung. So kam 
das Werk zu seinem sonderbaren Schicksal. Als es im Hoch- 
sommer 1889 fertig war, erschien „Vor Sonnenaufgang^* in 
C, F. Conrads Buchhandlung zu Berlin. In der Zueignung, 
die aus Erkner vom 8. Juli datiert ist, dankt der Dichter 
den Verfassern des „Papa Hamlet" für die „entscheidende 
Anregung", die er durch dieses Buch des „konsequentesten 
Realismus" erhalten habe. Als Hauptmann es unterließ, 
mit Holz zusammen an die Arbeit zu gehen, wollte er seine 
tiefen Eindrücke von „Papa Hamlet" wenigstens in einer 
öffentlichen Anzeige des Buches kundgeben. Das Bücher- 
besprechen ist aber seine Sache nicht. Nur drei oder vier- 
mal hat er sich 1887 in den Akademischen Blättern an die- 
sem Metier versucht. So rettete er Dank und „freudige 
Anerkennung" in jene Widmungszeilen. 

Als das schlecht und auf schlechtem Papier gedruckte 
Büchlein erschienen war, sandte der Verleger, Herr Acker- 
mann, ein Exemplar an den damals siebzigjährigen Theo- 
dor Fontane, der zwei Jahre vorher durch seinen lebens- 
wahren Meisterroman „Irrungen Wirrungen" bei Schön- 
geistern und Philistern so manches droUige Ärgernis erregt 

58 



hatte. In seiner höflich graziösen Art antwortete der alte 
Herr alsbald mit einem Dankschreiben an den Verleger. 
Fontane beglückwünschte ihn, ein so bedeutendes Werk 
ediert zu haben. Er nannte dieses Werk ^^die Erfüllung 
Ibsens^* und sprach den Wunsch aus, es aufgeführt zu sehen. 
Er erklärte sich bereit, es der „Freien Bühne", die eben 
damals ins Leben trat, dringlich anzuempfehlen. Dieser 
Brief machte auf Gerhart Hauptmann und alle, die ihm 
nahe standen, einen ergreifenden Eindruck. Gerhart war 
27 Jahr alt geworden. Es war das dritte Söhnchen ge- 
kommen. Eltern, Geschwister, Frau Marie, nicht am 
wenigsten er selbst, waren voller Erwartung. Aber die 
Jugendjahre verstrichen, und das reiche innere Leben 
suchte noch immer den rechten Ausdruck, zerrieb sich 
in wechselnden Plänen. Nun kam ein Etwas, vor dem 
die Tanten und entfernten Verwandten baß erschrecken 
mußten. Man denke nur, wie sich die alten Vockerats 
über das Drama „Vor Sonnenaufgang" äußern würden! 
Noch schlimmer als damals große Berliner Zeitungen. 
Fest zur Sache des jungen Dichters hielten die Getreuen, 
die das Werk schon vor dem Druck kannten: Bölsche, 
Wille, die Geschwister Carl und Martha, die Gattin. Als 
Bruder Carl das erste Exemplar der Buchausgabe mit 
dankbaren Widmungsworten ins Manöver nachgeschickt 
erhielt, telegraphierte er dem Dichter neckend-ernsthaft 
zurück: „Tausend Freuden über Deinen ersten Schritt in 
die Unsterblichkeit", So fühlten die Nächsten. Nun aber 
kam ganz von außen her unerwartet eine Bestätigung die- 
ser Freundeszuversicht. Und diese Bestätigung kam von 
einer Seite, die ehrwürdiger und ehrender, sachkundiger 
und zuverlässiger nicht sein konnte. 

59 



Fontanes Brief hatte wohl die nächste praktische Folge, 
daß der Dichter Anfang September an den Vorsitzenden 
des Vereins „Freie Bühne", Otto Brahm, ein Exem- 
plar des Dramas sandte, begleitet von einem kurzen Schrei- 
ben, woraus den Empfänger „trotz seinen wenigen Zeilen 
eine Persönlichkeit anzusprechen schien". Zur selben 
Frühlingszeit wie dieses Drama war dieser Verein entstan- 
den. Während draußen im Kaefemwald von Erkner der 
Dichter den Freunden das Stück vorlas, hockte drinnen in 
einem Wirtshause Berlins ein ganz anderer Kreis von Lite- 
raturbeflissenen nicht sehr einträchtig beisammen, beriet 
die Vereinssatzungen, wählte einen Vorstand, entwarf einen 
Aufruf. Hüben und drüben wußte man nichts voneinan- 
der. Es vergingen Wochen, bevor man voneinander erfuhr. 
Wie Bölsche schon damals in einer biographischen Skizze 
richtig hervorhob, kamen die Begründer der Freien Bühne 
aus einer ganz andern Ecke des ästhetischen Kriegsschau- 
platzes als der Dichter der schlesischen Bauerntragödie. Im 
lockeren Zusammenhang zu beiden Gruppen standen höch- 
stens die Brüder Hart, die dem Dichter ihre kräftige An- 
erkennung nicht vorenthielten. Erst diese Tragödie führte 
beide Gruppen fester zusammen. 

Als Brahm das Stück las, hatte er Fontanes Empfehlung 
noch nicht erhalten. Er war bald entschieden, das Stück 
aufzuführen. Erst nachdem dieser Beschluß endgültig ge- 
faßt war, erfuhr er zu seiner Freude, daß damit zugleich 
ein Wunsch seines alten Gönners und Freundes erfüllt wer- 
den sollte. In der Tat wäre die Freie Bühne ohne Daseins- 
recht gewesen, wenn sie, nach den damals noch verbotenen 
„Gespenstern" Ibsens, nicht vor allen andern Stücken die- 
ses verheißungsvolle Erstlingsdrama eines jungen unbe- 

60 



kannten Deutschen dem Publikum und nicht am wenig- 
sten dem Verfasser selbst vorgestellt hätte. 

Schon durch die Aufführung der „Gespenster" am 
30. September war die Freie Bühne in den Mittelpunkt 
des künstlerischen Interesses getreten. Schon die Wahl der 
„Gespenster" hatte erhitzte Anhänger und Gegner geschaf- 
fen. Begierig fragte man in beiden Lagern: was wird das 
Nächste sein ? Dieses Nächste lag im Buchhandel vor. Je 
mehr davon bekannt ward, desto mehr ward es gelesen. 
Schon lang vor der Aufführung stritt man bei allen Bier- 
und Kaffeetischen nicht so sehr über den Wert des Stücks 
als über seine Auff ührbarkeit. Sollte man wirklich die Drei- 
stigkeit haben, derartige Szenen, wie sie hier ein Anfänger 
wagte, auf eine noch so freie Bühne zu bringen ? Was kam 
nicht alles an Greueln in den fünf Akten vor! Im ersten 
Akt ging es noch! Da sollten wir bloß zur Enthaltsamkeit 
bekehrt werden, damit unser Nachwuchs kräftig werde. 
Jedoch schon im zweiten Akt : ein betrunkener Bauer ver- 
greift sich auf offener Szene an seiner eigenen Tochter, und 
der Verlobte dieses Mädchens schleicht vor Tagesgrauen 
unvollständig bekleidet aus der Schlafstube ihrer Stief- 
mama. Im dritten Akt will der Mann einer Wöchnerin 
seine junge Schwägerin kirren, und wir erfahren, daß die 
Wöchnerin samt ihrem Söhnchen durch Vererbung dem 
Trunk ergeben ist. Im vierten Akt macht ein Kretin Luft- 
sprünge. Und nun gar im fünften! Da hört man aus der 
Nebenstube das Wimmern einer Gebärenden! Und das 
alles sollte auf die Bühne ? Wenn das geschah, dabei sein 
mußt' ein jeder. Aber jeder mußte auch seine gehörige 
Tracht sittlicher Entrüstung und ästhetischer Empörung 
mitbringen. Zugleich suchte man durch anonyme Droh- 

61 



und Wambriefe die mutigen Schauspieler, vor allem die 
treffliche Else Lehmann, einzuängstigen. Während dieser 
Vorbereitungszeit machte auch ich die persönliche Be- 
kanntschaft Hauptmanns, von dem ich bis zum September 
1889 höchstens den Namen gehört hatte. Er war damals 
von einer scheuen Schweigsamkeit durchdrungen. Die 
Worte lösten sich nur schwer von der Zunge. Auf jeder 
Probe wurden mit Zustimmung des Dichters Längen be- 
seitigt und die gewagtesten Kraßheiten gemildert, ohne 
daß der Grundcharakter des Dramas und seiner „handeln- 
den Menschen*^ dadurch beeinträchtigt war. So konnte 
es geschehen, daß die Wöchnerin überhaupt nicht gewim- 
mert hatte, als im Parkett das Sinnbild der Empörung, eine 
Geburtszange, durch die sengende Luft des Lessingthea- 
ters geschwungen wurde. 

Diese Aktion in der Aktion war der Höhepunkt wilder 
und wüster Lärmszenen. Denn zu einer Ablehnung des 
Stückes kam es nicht. An den Protesten der Gegner er- 
wärmte und erhitzte sich der Beifall derer, die in diesem 
neuen Werk Jugend, Kraft, Mut und eine große dichte- 
rische Gabe begrüßten. Diese Freunde tobten schließlich 
ebenso wild wie die Gegenpartei. Und nach den Aktschlüs- 
sen auf der Bühne mußte der junge Dichter dem tollsten 
Hexensabbat standhalten. 

Damals sah auch Theodor Fontane seinen Proteg6 
zum erstenmal von Angesicht zu Angesicht, und er schrieb 
der Vossischen Zeitung über diesen persönlichen Eindruck: 
„Statt eines bärtigen, gebräunten, breitschvdterigen Man- 
nes mit Schlapphut und Jägerschem Klapprock erschien ein 
schlank aufgeschossener, junger, blonder Herr von untade- 
ligstem Rockschnitt und untadeligsten Manieren, verbeugte 

62 



sich mit einer graziösen Anspruchslosigkeit, der wohl auch 
die meisten seiner Gegner nicht widerstanden haben. Einige 
freilich werden aus dieser Erscheinung, indem sie sie für 
höllische Täuschung ausgeben, neue Waffen gegen ihn ent- 
nehmen und sich gern entsinnen, daß der verstorbene Ge- 
heime Medizinalrat Casper sein berühmtes Buch über seine 
Physikats- und gerichtsärztlichen Erfahrungen mit den 
Worten anfing: Meine Mörder sahen alle aus wie junge 
Mädchen." Fontane hat den „Mörder" mit ungeschwäch- 
ter Teilnahme, wenn auch nicht immer mit gleicher Zu- 
stimmung (für „Hanneles Himmelfahrt" empfand er zu 
berlinisch-rationalistisch) bis an die „Versunkene Glocke" 
begleitet, also bis er starb. Kurz vorher hatten wir mit Ger- 
hart Hauptmann an des Alten Tische noch einmal f ein- 
stens gespeist, getrunken und geplaudert. Die erste Vor- 
stellung der „Versunkenen Glocke" stand unmittelbar be- 
vor. Da apostrophierte er seinen Gast in huldigender Paro- 
die durch den Vortrag seines im Texte leicht geänderten 

Jakobitenliedes: 

• Sie ließen Weib und Kind zurück, 
Wohlan, so. tun auch wir. 
Wir baun auf Gott und gutes Glück 
Und auf den Kavalier; 
O Charlie ist mein Liebling, 
Mein Liebling, mein Liebling, 
O Charlie ist mein Liebling, 
Der junge Kavalier. 

Wenn Hauptmann literarisch bewanderter gewesen 
wäre, so hätte er sich sagen müssen, daß, seitdem es ein 
Theater gibt, nur ganz wenige Dramatiker in einer so krie- 
gerischen Situation die Feuertaufe empfangen haben. Die- 
sel Toben der Menge konnte seiner Zukunft bloB zwei 
Wege weisen. Brüllte man ihm dort unten ziun Sieg oder 

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zum Untergang? Ein dritter Weg, die talmine Mittel- 
straße, war nicht mehr zu gehen. Sieg oder Untergang! 
Diese Frage stand auch in zwei großen dunklen Äugen, 
deren prüfender Blick aus der Loge heraus klug und ge- 
spannt bald auf die Bühne, bald in den Kampf und Streit 
spähte. Das Haupt der jungen Frau hob sich seitwärts. 
Ihre Seele schien ruhig. Sie sah Sieg. Sie sah den Weg 
zum Ruhm. Einen Weg, auf dem es nicht leicht ist, Hand 
in Hand zu bleiben. 

Der junge Gatte dieser stillen Frau trug sein Schicksal 
getrost. Vielleicht war es Glück für ihn, daß er Stimmun- 
gen, in die ihn sonst diese Hetze hätte treiben können, be- 
reits vorher durchlebt und, wie es scheint, überwunden 
hatte. Stellen im „Promethidenlos" deuten darauf hin. 
Schon damals war er auf Streit gefaßt gewesen: 

Beim Saitenspiele muß die Waffe blitzen, 
Und weh dem Sänger, der den Frieden singt I 
Auf seinem Schilde muß die Wahrheit sitzen, 
Die er im Kampfe selbst dem Feinde bringt. 

Er wußte schon vorher, wie weit der Weg, auf den ihn 
das Mitleid mit dem Elende der Welt sendet, vom Wege 
der Menge entfernt ist, die im Theater vor allem das sucht, 

was sie Vergnügen nennt. 

Er martert sich und wälzt in trüben Qualen 
Sich hin und her und fragt zu tausend Malen: 
Ob er denn wirklich solch ein Unhold wäre, 
Der nur der Menschen stillen Frieden störe. 
Und wies zu Ende geht, da wills ihn dünken. 
Als sei er wert, im Meere zu versinken. 

Nach dem 20. Oktober 1889 hatte Gerhart Hauptmann 
kein solch verzweifeltes Bedenken mehr. Aus allem Zank 
und Lärm zog sich der „Friedenstörer" hinter eine neue 
Arbeit zurück, die er „Das Friedensfest" nannte, 

64 



DAS FRIEDENSFEST. DER APOSTEL. EINSAME 

MENSCHEN 

Schon Anfang 1890 erschien „Das Friedensfest" in 
der kurz vorher von Otto Brahm begründeten Wochen- 
schrift „Freie Bühne für modernes Leben". Im Juni ward 
es im Verein Freie Bühne als letzte Vorstellung des ersten 
Spieljahrs aufgeführt. Es geschah an einem hellen Sommer- 
tage, der im größten Kontraste stand zu der trostlosen 
Winterstimmung des Dramas, das dem Publikum weniger 
Abscheu als Scheu einflößte. Bereits im November des- 
selben Jahres las der Dichter in Charlottenburg sein drittes 
Drama vor. Es hieß mit einer Kakophonie im Titel „Ein- 
same Menschen". Ich habe es seither oft aufführen 
sehen; es sind hervorragende Schauspieler darin aufgetre- 
ten, der interessanteste war Ermete Zacconi; aber ich habe 
von dieser zarten Dichtung nie einen tief ern Eindruck emp- 
fangen als damals, da der Dichter selbst vorlas. Das Werk 
erschien zu Neujahr ebenfalls in der Zeitschrift Freie Bühne 
und kam auch sofort im Verein Freie Bühne zur ersten Auf- 
führung. Durch dieses Stück eroberte sich Gerhart Haupt- 
mann schon große, vornehme öffentliche Theater. Adolf 
L'Arronge Heß es, freilich um den mittelsten der fünf Akte 
schmählich verkürzt, im Deutschen Theater, Max Burck- 
hard Ueß es im Hofburgtheater zu Wien aufführen. 

Wer vom „sozialen" Drama „Vor Sonnenaufgang" zu 
diesen „Familienkatastrophen" gelangt, hat das Gefühl, 
aus Feldern, Hof und Garten ins Innere eines Hauses zu 
treten. Dort war die Familie des Bauern Krause ein Typus. 

» 65 



Die vier Wände aber, in denen „Das Friedensfest" began- 
gen wird, die vier Wände, in denen „Einsame Menscben" 
leben, lieben und leiden, umschließen ein eigentümliches, 
absonderliches Menschenschicksal. Hier wie dort drängen 
sich im engen Raum nur wenige Personen, sechs oder acht, 
an, auf, gegeneinander. Gerade durch die Enge der Ver- 
hältnisse, durch Gleichartigkeit des Bluts bei Altersunter- 
schieden entstehen Reibungen, Erbitterungen, Quälereien, 
die sich bis zur Unversöhnlichkeit, bis zur Verzweiflung 
steigern. 

„Einfach furchtbar", wie Doktor Schimmelpfennig von 
den Zuständen des Witzdorfer Bauernhofes sagte, sind 
auch im „Friedensfest" die Zustände der Familie Scholz. 

Der Vater und die beiden Söhne haben sich jahrelang 
in der weiten Welt umhergetrieben. Sie konnten die See- 
lenlast, die sie an heimische Vorgänge drückend mahnt, 
nicht los werden. Zu Hause sitzen Mutter und Tochter. 
Beide quält die gleiche Last. Die Selbstqualen arten in 
Zank und Vorwurf aus. Jeder sucht im andern die Schuld. 
Jeder ist bereit, sich gegen den andern mit dem dritten und 
dann wieder gegen den dritten mit dem andern zu verbün- 
den. Und doch gelingt es keinem, sich selbst ganü: frei zu 
sprechen. Alle fünf verbeißen sich im Glauben an eine 
Schuld und fühlen nur dumpf, wie abhängig sie allesamt 
von heimlichen Gewalten sind, die in ihrem Fleisch und 
Blut leben, gegen die ihr Wille nicht ankann, in denen die 
Unabänderlichkeit ihrer Naturen besteht. So gewähren sie 
das Bild von Fliegen, die sich im Spinnennetz zu Schanden 
zappeln. Der sogenannte „gute Wille" zum Familienglück, 
zum Friedensfest lockt oft genug. Hier schüttelt der Bru- 
der dem Bruder die Hand. Hier schließt der Vater den 

66 



Sohn in seine Arme. Dort hii^ die Toditer am Halse des 
Vaters, and bald Ton dem, bald Ton jenem wird Mütter- 
chen gehätschelt. Aber immer wieder legt sich mit schwe- 
rem, unsichtbarem Drack eine Gctsteihand auf diese ban- 
genden Seelen, und im Handumdrehen ist alles wieder 
beim schlimmen Alten. Unselige Menschen gehen hoff- 
nungslos durch ihr Schicksal, das an ihre Familienart ge- 
bunden ist. 

Der alte Vater ist schon nah am Zid., Unverhc^ kehrt 
er heim, um sich zu übeizeugen, daß alles noch beim Selben 
ist, und unter dem Eindruck, Altes werde wieder neu, stirbt 
er. Die Mutter wird sich weiter durdi ihr elendes Dasein 
quangeln, und in ihr beschränktes Gehirn wird sich die 
Frage: „Wer hat Schuld ?^^ so lange einbohren, bis auch 
sie nicht mehr sich und andere umjammem kann. Der äl- 
tere Bruder geht verdrossen und zynisch an irgend ein 
gleidi^ültiges Tagesgeschäft. Er wird leben, weil er ohne 
Hoffnung und ohne Ächtung vor sich selbst, ohne Glücks- 
gefuhl und ohne Glücksvedangen leben kann. Die Toch- 
ter, schon recht säuerlich, ein Geschöpf ohne Anmut des 
Körpers und der Seele, wird ganz versauern, und ihr dürf- 
tiges Herz wird den Trost finden: „Die andern hatten 
Schuld". Von allen der Unglücklichste aber ist der jüngere 
Sohn. Denn er hat den frdesten Blick, das zarteste Gewis- 
sen. In il^tn liegen Keime zum Glücklichsein und Glück- 
lichmachen. Was in der Natur der Eltern Gutes war, hat 
sich auf ihn gesteigert vererbt: geniale Züge des Vaters, 
die musikalische Begabung und Neigung der Mutter. Aber 
eben darum, weil er feiner fühlt als die anderen, ist auf ihn 
die schlimmste Erbschaft gdcommen. Ihn quälen und reuen 
knabenhafte Verirrungen zumeist. Er ist der Einzige, 

5* 69 



der sich zu einer Tat moralischer Empörung aufgerafft 
hatte, und auch diese Tat, edel in ihren Motiven, frevel- 
haft in ihrem Ziel, muß er bereuen: er züchtigte mit eige- 
ner Hand den Vater, weil dieser die Mutter beschimpft 
hatte. Gerade in ihm wiederholt sich das Wesen des Va- 
ters. An der Vergangenheit des Vaters sieht er das Bild 
seiner eigenen Zukunft. 

Es liegt in diesem jungen Menschen so viel zur schönen 
Entwicklung bereit, so viel, was nach Hilfe, nach Rettung 
ruft, daß es wunderbar wäre, wenn nicht auch Rettungs- 
versuche angestellt würden. Zwei Frauenherzen sind ihm 
gut. Sie lieben sein zartes, feines, künstlerisch angelegtes 
Wesen; was dumpf auf ihm lastet, jenes Unheimlich-Heim- 
liche glauben diese naiven Optimisten mit guten, sanften 
Händen wegstreicheln zu können. Mit milder Gewalt lei- 
ten sie ihn am Weihnachtsabend zum Friedensfest ins 
Elternhaus zurück. Aber ihre Nächstenliebe ist machtlos. 
Mit Entsetzen sieht die Frau, die dem Geliebten ihrer 
Tochter mehr als schwiegermütterlich zugetan ist, wie sich 
ihr treues, reines Kind in fremde Schicksale gefährlich ver- 
strickt. Den zappelnden Fliegen im Spinngeweb flattert 
ein junges Libellchen zu. Die kleine Ida Buchner handelt 
anders als Alfred Loth. Sein männischer Egoismus ließ 
lieben lieben sein und ging beizeiten aus der Luft, die er 
für verseucht hielt. Idas weibliche Hingegebenheit hängt 
sich, je kränker sie ihn findet, desto inniger an den Lieb- 
sten; und in dieser Situation müssen wir am Totenbett des 
Vaters, dem der Sohn so ähnlich wird, das junge Paar ver- 
lassen. So wenig Hoffnung der Dichter gibt, so läßt er doch 
zuletzt die Frage offen, ob Idas starkem, demütigem Glau- 
ben an den GeUebten nicht doch das Rettungswerk glücken 

68 



wird, das die kleinmütige Zweifelsucht der alten Mutter 
Scholz nie hat vollbringen können. Vater Scholz ist dem 
Verfolgungswahn erlegen: schon gaukeln die Gespenster 
dieser Erbschaft auch durch das Hirn des Sohnes. Wird es 
einer Frauenhand glücken, sie von dort zu verscheuchen ? 
Der Dichter sagt weder Nein noch Ja. 

Eine düstere und dicke Wolke liegt wie über den Vor- 
gangen, so über den Gemütern in diesem Familiendrama. 
Der psychiatrische Eindruck waltet vor. Es ist kein Zufall, 
daß beinah in derselben Zeit, als er dieses Drama schrieb, 
der Dichter zugleich eine novellistische Studie aufzeich- 
nete, die durchweg aus dem Psychologischen ins Psychiatri- 
sche übergreift und mit sicherer Hand das Wesen eines 
starken, eigenwilligen, aber schwer erkrankten Geistes ge- 
staltet. Es ist auch kein Zufall, daß dieser „Äpostel^^, der 
skizzenhafte Vorläufer Emanuel Quints, gerade in Zürich 
seinem unvermeidlichen Schicksal, dem Irrenhaus, ent- 
gegengeht; denn Züricher Eindrücke, der Verkehr mit 
August Forel und seinen Schülern, haben Hauptmanns In- 
teresse für anormale Geistes- und Seelenzustände gestei- 
gert und durch Erfahrungen bereichert. Jener Apostel, 
der sich auch äußerlich vom Gros der Menschen unter- 
scheiden will, der sich kleidet wie der Münchner Maler 
Dieffenbach, der ein Gegner der animalischen Kost ist, der 
auch die Sitten und Gewohnheiten der Menschen auf den 
einfachsten und reinsten Zustand der Natur zurückführen 
will, sucht mit einer krankhaften, abnormen Begier das Na- 
türliche und Gesunde, und je mehr er sich in diesem Stre- 
ben von den Übrigen getrennt sieht, desto mehr wächst 
ihm das Selbstgefühl; er dünkt sich wie Jesus Christus; ihm 
ist vor seiner Gottähnlichkeit nicht mehr bange. Wie hier 

69 



den Größenwahn, so hat der Dichter im „Friedensfest" 
die Kehrseite des Größenwahns, den Verfolgungswahn, ge- 
schildert, nicht wie dort in einem ausgeprägten, entwickel- 
ten klinischen Fall, sondern als das nahende Unglück, das, 
nur halb gefühlt und halb verstanden, wie eine gefürchtete 
Epidemie die Gemüter der Beteiligten umlauert. 

Aus den psychiatrischen Abgründen steigt Gerhart 
Hauptmann in seinem nächsten Drama „Einsame Men- 
schen" wieder zu der sogenannten normalen Gesundheit 
der Seelen empor. Aber so wenig wie die Natur in dieser 
monistischen Welt, so wenig gelangt auch der Dichter an 
das ideale Ziel solcher Normalität. Ein Nebelstreif aus je- 
nem Abgrund hängt sich vor allem an die Gestalt des Hel- 
den dieser neuen Dichtung, des jungen Forschers Johannes 
Vockerat. Wie Helene Krause in „Vor Sonnenaufgang", so 
endet auch er durch Selbstmord. Das Drama seines Le- 
bens hat also den vielbegehrten „Schluß". Haben auf „Das 
Friedensfest" in seiner strengeren Orts- und Zeiteinheit, 
seiner festem Geschlossenheit, seiner Einheitlichkeit dump- 
fer, trüber Stimmung, der Unentrinnbarkeit seines Schick- 
sals, der knechtischen Gebundenheit des menschlichen Wil- 
lens, in seinem Fluch von Alters her Henrik Ibsens „Ge- 
spenster" eingewirkt, so stehen die „Einsamen Menschen" 
unter dem Einflüsse von Ibsens „Rosmersholm". Auch hier 
sind, wie in „Rosmersholm", die Einheiten des Orts und 
der Zeit nur wenig gelockert. Aber es öffnet sich hier nicht 
wie im „Friedensfest" und in den „Gespenstern" bloß der 
eine schmale Schicksalspfad, der durch Nacht und Nebel 
notgedrungen beschritten werden muß. In diesen späteren 
Werken der Dichter ist das Leben farbiger und weiter ge- 
worden. Freilich ist eben darum die Entwicklung der Vor- 

70 



gange nicht mehr so zvöngcnd, nkht mdir so übeneugend 
wie dort. Ibsen wie Hauptmann haben das MotiT der Ver^ 
erbnng jetzt zurückgesetzt. Dafür treten erworbene g^- 
stigeMädite hindernd und Terstiidcend in den Weg. Nicht 
mehr Famüienblut, sondern Famifiengdst führt durch Kon- 
flikte zum tragischen Ausgang. Es geschieht kein plumpes 
Unrecht; es sind lauter gute und anstandige Menschen, die 
hier einander quälen Ihs auf den Tod. Der Zwiespalt li^ 
weniger in den Charakteren als in der yerschiedenen Auf- 
faissung des Lebens. Eltern und Kinder, Mann und Frau, 
ja sogar die beiden Rivalinnen haben einander von Herzen 
lieb, aber sie verstehen einander nicht. Und nur weil der 
durch Sohnespflichten, Gattenpflichten, Vaterpflichten an 
den engsten Daseinskreis gebundene Mann in seinen tief- 
sten Empfindungen und höchsten Ideen von einem frem* 
den Mädchen gut verstanden wird, wächst ohne Rücksicht 
auf den Unterschied der Geschlechter eine Freundschaft 
auf, die dem kurzen Blick der andern verdächtiger scheint, 
als sie ist. Aber erst die Furcht vor der Gefahr beschwört 
die Gefahr herauf. Erst das Warnzeichen weist auf den Ab- 
grund. Ein nur durch sich selbst erklärliches Seelenbünd- 
nis wird vor den allgemeinen Sittenkodez gestellt und ver- 
liert dadurch seine unbefangene Reinheit. Die Tugend- 
wacht, die auch etwas Zionswacht ist, bläst Feurio, und 
erst dadurch, daß in die sanften Dämmerungen zweier See- 
len ein grelles Licht getragen wird, steht alles in Flammen. 
Erst als das Herz vom Herzen weggezerrt wird, fangen diese 
Herzen an zu bluten, und das eine bricht. Aber alles, was 
so brutal, so blind lärmend, so heimtückisch wirkt, ist aufs 
beste gemeint; Liebe wird vernichtet durch Liebe. Die 
Dichtung durchzittern dunkle Gewalten, die von Mensch 

71 



zu Mensch herüberwirken, ohne böse Absicht, im besten 
Glauben, im Namen Gottes. 

Der Schauplatz der „Einsamen Menschen" liegt von dem 
des „Friedensfestes" nicht weit ab. Spielte „Das Friedens- 
fest" in einem imaginären Landhaus auf dem Schützen- 
hügel bei Erkner, so spielen die „Einsamen Menschen" in 
einer Villa zu Friedrichshagen, wo damals die Bölsche und 
Wille, die Brüder Hartu. a. ihre zigeunerhaft leichten Zelte 
aufschlugen. Von der Veranda übersieht man den Müggel- 
see. Aus der Ferne hört man bei günstigem Wind das Läu- 
ten der Bahnhofsglocke, das Pfeifen des Zuges. Ein junger, 
begabter, nicht unbemittelter Naturforscher, Johannes 
Vockerat, hat sich in diese nervenstärkende Ländlichkeit 
zurückgezogen, um sein Erstlingswerk über psychophysi- 
sche Probleme abzuschließen. 

Dort draußen am Müggelsee gebar Frau Käte Vockerat 
den Stammhalter. Vockerats Eltern sind von ihrem Gut 
zur Taufe gekommen. Auch noch ein anderer Tauf gast ist 
da, der Maler Braun, ein Studienfreund des jungen Vocke- 
rat. Kein größerer Gegensatz als zwischen ihm und den 
beiden Alten! Alle drei gute Seelen, stehen sie sich gegen- 
über wie „die liebe alte Zeit", an die man sich lächelnd 
erinnert, und die Verdrießlichkeit des Augenblicks, den 
man just erlebt. Die Alten gehen in herrnhutischer Le- 
bensweisheit und Lebensweise auf. Sie lieben die Welt um 
Gottes und Gott um der Welt willen. Ohne Muckerei, 
Starrheit und Duckmäuserei haben sie ihr „Vergnügen in 
Gott". Sie beten und arbeiten und sind nicht ängstlich, 
auch mal auf einem dummen Witzchen oder sonstiger klei- 
ner WeltUchkeit ertappt zu werden. Denn ihr lieber Gott 
ist ein leutseliger Herr, der den Gläubigen eins durch die 

72 



Finger sieht: freüich — merk dir das Johannes — nur den 
Glaubigen! 

Frisch, froh und fromm haben die alten Vockerats bei 
Gottes Wort und gutem Landschinken ihr einziges Kind 
erzogen, ihren Johannes. Aber dieser Knabe wuchs mit 
eigenem Sinn in eine neue Zeit und in neue Gedanken 
hinein. Von Geroks Palmblattem ging er zum Darwin- 
deuter HaeckeL Und in derselben Sphäre, wo das harm- 
lose Faultier Braun ohne viel Federlesens ein platter Got- 
tesleugner wurde, rang sich Johannes Vockerat in peinvol- 
lem Seelenkampf den Glauben der Väter vom Herzblut 
weg. Er ward ein gewissenhafter Evolutionist und Monist, 
der sich auf seinem angenommenen Standpunkt noch nicht 
heimisch fühlt und darum desto hitziger streitet, je weni- 
ger er in sich selbst sicher ist. Die Wunde blutet fort, da 
er sein Weib nahm, ein indifferentes liebes Wesen, und 
sein Kind bekam. Auch jetzt, da er das Söhnchen nach 
dem Wunsche der Großeltern kirchlich taufen läßt, findet 
er zwischen Lebensgewohnheit und Weltanschauung kei- 
nen Ausgleich. Dieser Mangel an geistiger Überlegenheit 
und ethischer Freiheit verstimmt ihn selbst. Wie an seiner 
Stubenwand neben Priestern im Talar moderne Forscher 
hängen, so hängen in seiner Brust durcheinander anerzo- 
gene Gefühle und selbsterworbene Ansichten. Das macht 
den Reizbaren innerlich krank. Wer aber am tiefsten dar- 
unter leidet, ist die kleine, vom Wochenbett noch angegrif- 
fene Frau, die sich nur auf ihn stützt und mit der wanken- 
den Stütze selber wankt. 

Es ist Stickluft in dieser nur von guten Menschen be- 
wohnten Stube. Wenn aber die Tür aufschlägt, wer weiß, 
ob der Zugwind beleben oder erkälten wird ? Die Tür geht 

73 



auf. Herein zieht im Herbstwind von ungefähr, wer weiß 
woher, ein fremder Gast. Fräulein Anna bleibt zum Ge- 
vatterschmaus, sie bleibt über Nacht, sie bleibt tagelang, 
wochenlang. Sie hilft der Mama Vockerat in Hausgeschäf- 
ten, sie schließt mit Frau Käte Duzfreundschaft; mit Jo- 
hannes rudert sie auf dem See, wandelt sie durch den Wald, 
durchprüft sie seine Arbeit, plaudert und diskutiert sie. 
Er fand endlich einen Widerhall seines Innern und ist 
glückselig. Nicht nur sein Geist, auch seine Nerven erfri- 
schen sich. Sein Herz aber schweigt noch. Beide denken 
nichts Schlimmes. Es bleibt bei „Fräulein Anna^^ und 
„Herr Doktor" auch im Zwiegespräch und in der Dunkel- 
stunde, bis zuletzt. Und als sie eines Tages merken, daß 
Braun in den Bart brümmelt, daß Mama Vockerat ihren 
ehrlichen Altweiberkopf schüttelt, daß Frau Käte sich 
härmt, daß „die Leute schon darüber reden"; daß Gale- 
Otto unterwegs ist, — da sind sie schwer betroffen. Die 
Notwendigkeit einer Trennung zeigt ihnen erst, wie nah 
sie sich getreten sind. Und je angstvoller sie's vor einander 
verbergen wollen, desto schmerzlicher brichts hervor. Der 
Mann wird reizbarer, launischer, ungemütlicher denn je; 
das Mädchen hält ihr tapferes Herz krampfhaft fest. Aber 
auch sie kann nicht hindern, daß sichs immer schwerer und 
immer dichter über ihnen wölkt. Sie vermag nicht ganz 
ihre stürmische Brust der Gattin des Freundes zu ver- 
schließen, und dem kurzsichtigen Kleinmut der guten 
Mutter zeigen sich sündhafte Gespenster. Aus dem un- 
rechten Glauben sieht diese „alte erfahrene Frau" in der 
Befangenheit ihres Herzens unrechte Werke kommen; sie 
ruft sich ihren Mann zu Hilfe, und die das Unglück ver- 
hüten wollen, führen es herbei. Der Argwohn der andern 

74 



erst bringt etwas Gefährliches in dieses Verhältnis. Aber 
Fräulein Anna geht nach einigem Zögern wirklich. Die 
Trennung besiegelt der erste und einzige, der „brüder- 
liche" Kuß. Das Mädchen geht, woher sie kam, ins un- 
gewisse Weite. Wird ihr starker Sinn überwinden ? Wer 
weiß es ? Ihr Wille war freier in der Einsamkeit ihrer Seele. 
Der Wille des Mannes dagegen war gebunden an Verhält- 
nisse, die ihn mit dem stärksten Kitt, dem Herzen, halten: 
durch Eltern, Weib, Kind. So kommt er, äußerlich ge- 
trennt von der geliebten Freundin, innerlich getrennt von 
seinen Nächsten, gebrochen durch Sehnsucht und Eltern- 
gram, in eine Seelenverfassung, die ihn zum Selbstmord 
treibt. Er stürzt sich in den Müggelsee. War das, wie Papa 
Vockerat deuten wird, der unerforschliche Ratschluß eines 
strafenden Gottes ? Oder war es, wie Anna in der Ferne 
denken wird, der zarte, vom Kampf der heiligsten Emp- 
findungen zerriebene Lebensnerv, den keine Willenskraft, 
keine Willensfreiheit stählte ? Der Dichter löst diese ewige 
Frage nicht; aber er zieht doch aus seinem Drama einen 
Schluß. Die kleine verlassene Frau, die einfältigste von 
allen, hat plötzlich die klarste Vorstellung, wie es kam. Ihre 
reine Neigung zeigt ihr plötzlich alles deutlich. In ihrer 
Herzensangst um den Verlorenen, dem sie „nichts zu ver- 
zeihen hatte", rafft sie sich zum erstenmal zu einer ent- 
schlossenen eignen Meinung auf und ruft, doch wohl mit 
des Dichters Stimme: „Mutter! Vater! Ihr habt ihn zum 
Äußersten getrieben! Warum habt Ihr das getan?" Der 
Vorwurf kommt zu spät. Johannes liegt draußen im See. 
In der Widmung des Buches erklärt Gerhart Hauptmann, 
er lege sein Drama in die Hände derjenigen, die es gelebt 
haben. Die meisten kommen mit blauem Auge davon; 

75 



denn die meisten trösten sich und überwinden, resignieren 
und kompromittieren. Aber unter Hunderten ist immer 
einer, der dran glauben muß, der die Schlußfolgerungen 
seines Schicksals zieht. Das ist dann, so individuell und be- 
sonders sich dieses Schicksal auch gestalten mag, der typi- 
sche Fall, das von der Natur statuierte Exempel, die große 
einzige dichterische Eins, welche all die vielen Zufallsnullen 
der Wirklichkeit hinter sich her führt und ihnen erst den 
hohen Nennwert gibt. Auch der sogenannte Naturalismus, 
sofern er poetische Rechte besaß, mußte über die Nullen 
fort auf die große Eins losgehen. Das hat Gerhart Haupt- 
mann von allem Anfang seiner steigenden Dichterkraft ge- 
fühlt und durch sein drittes Drama in freier Herrschaft 
über die natürliche Kunstform erreicht. In den „Einsamen 
Menschen", aus dem Wiegenliede des kleinsten Vockerat, 
aus dem Abschiedsliede des fliehenden Mädchens konnte 
schon ein Ton der „Versunkenen Glocke" herausklingen. 
Die Empfindung, die dort im Wohllaut gebundener Worte 
üppig daherrauscht, tritt hier schlichter, reiner, näher, 
menschlicher ans Herz. Die Verse und Bilder des Märchen- 
dramas tragen den, dem sie sich einmal geneigt haben, 
leichtern Flugs über sich selbst empor. Viel schwerer 
scheint es, und von Zeit zu Zeit ist es verdienstvoller, das 
Gold der Poesie in der Sprache des Lebens, in den Wesens- 
zügen der Nächsten, in den Schicksalen des Alltags zu fin- 
den. Das ist dem Dichter der „Versunkenen Glocke" in 
den „Einsamen Menschen" schon sechs Jahre früher ge- 
glückt. Ohne seinen Schritt metrisch zu beflügeln, trat er 
vor die Tür des eigenen Hauses, aufs eigene Gartenland, im 
Hausrock und ungespornt, und grub dort mit seinem Spaten 
das Schicksal ringender Menschen unseres Lebens ans Licht. 

76 



Hier wie dort, im Märchen wie im Leben, dasselbe 
Schicksal, aus ähnlichen Naturen geboren! Ein jüngerer 
Mann, der (Künstler oder Forscher) zu Höherem geistig 
aufstrebt, wird durch seine liebevolle, auch von ihm herz- 
lich wieder geliebte Umgebung gewaltsam seinem Ziel ent- 
zogen. Seine Hausfrau bleibt nicht auch die Gefährtin sei- 
nes seelischen Lebens. Ein anderes Frauenbild tritt an ihn 
heran, aus einer fremden Welt, und öffnet ihm die Äugen 
für weitere Fernen. In der Berührung mit ihr fühlt er sich 
seinem Ideal entgegenwachsen. Wäre er frei, so würde 
sie vielleicht sein guter Engel. Dem Gebundenen aber, 
dem Verpflichteten, wird sie zum Dämon. Im Steigen, im 
Folgen stürzt er und geht zerrieben unter. 

Wer von diesem gemeinsamen Grundmotiv aus das Mär- 
chendrama wie das Lebensdrama ansieht, für den wird das 
Lebensdrama viel gewinnen. Denn es ist leichter, an der 
Hand mythischer Überlieferungen störende Naturkräfte 
von außen her körperlich wirken zu lassen, als unsichtbare 
Mächte, die im eigenen Busen walten, nur aus ihrer inneren 
Seelenkraft heraus unkörperlich zur dramatischen Anschau- 
ung zu bringen. Sinnbilder, auch wenn sie einer Fabelwelt 
gehören, nehmen die Formen des menschlichen Leibes an 
und bringen so ihre eigene Plastik mit sich. Innere Zu- 
stände und Vorgänge der Seele, die dieses bequemeren 
Hilfsmittels entbehren, bedürfen einer feineren, zarteren 
Kunst, um verstanden und nachempfunden zu werden. 

Die Gewissensqualen Heinrichs des Glockengießers wer- 
den uns sehr deutlich, wenn ihm Nickelmann im Traum 
erscheint, wenn die Seelchen seiner Kinder den Krug mit 
Mutters Tränen zu ihm heraufschleppen. Einen so wun- 
dervollen Zauber durfte der Dichter seinen beiden ein- 

77 



Samen Menschen, der Züricher Studentin und dem Dar- 
winisten, nicht aufbauen. Hier mußte er sich seine poetischen 
Stimmungsmittel aus der Älltagswirklichkeit holen, wo sie 
schwerer zu finden sind, weil sie gekettet tief im Grunde 
der Seelen liegen, und nicht schon die äußere Situation sie 
verklärt. Hier werden die Menschentränen nicht im Krüg- 
lein gesammelt und über Berg und Tal getragen. Man muß 
sie einzeln in ihrer Verlorenheit blinken und perlen sehen; 
aber wer auch nur eine einzige davon erlauscht und weh- 
mütig einfängt, den dünkt sie das Poetischste von allem; 
poetisch wie Tropfen Tau am Grashalm. 

Eine solche Tautropfenpoesie zittert und schimmert 
durch die „Einsamen Menschen". Wenn Anna Mahr „das 
dünne Hälschen" der armen Frau Käte halb häßlich be- 
höhnt, halb liebevoll vertröstet, und Elätchen der geistig 
überlegenen Rivalin antwortet: „Es hat nicht viel Ge- 
scheits zu tragen, Anna!", wenn die unfrommen Arbeits- 
menschen zwar die Wespe, aber nicht das Bienchen vom 
Frühstückstische scheuchen, so ist dies nicht minder poe- 
tisch als Rautendelein, das elbische Wesen. 

In der dramatischen Konstruktion könnten hinter dem 
fest und knapp gefügten „Friedensfest" her die „Einsamen 
Menschen" als künstlerischer Rückschritt gelten. Wie un- 
ruhig und unwillkürlich in dem Friedrichshagener Garten- 
zimmer die Türen geöffnet und geschlossen werden, fiel 
mir am störendsten bei einer holländischen Vorstellung 
auf, wo die Sprache einige Schwierigkeit machte und durch 
das, was sich dem Ohr entzog, das Auge desto schärfer und 
achtsamer wurde. Ein Theaterroutinier, der auf Schlag 
und Gegenschlag sinnt, ist Gerhart Hauptmann nicht. 
Man schiebt das gewöhnlich auf Mangel an sogenannter 

78 



Handlung. Auf diesen Vorwurf erwidert im Motto zum 
„Friedensfest" der Dichter selbst mit Worten Lessings aus 
dessen Abhandlung über die Fabel. 

So wenig die moderne Ästhetik mit Recht auf Defini- 
tionen ausgeht, so sehr sie sich gerade durch die Mißach- 
tung der Definition auch von Lessing unterscheidet/ so 
möchte ich doch gegenüber dem Vorwurf der Handlungs- 
losigkeit, der auch noch späteren Werken Hauptmanns ge- 
macht worden ist, an Lessings Definition der poetischen 
Handlung nicht ganz vorübergehen. Handlung nennt Les- 
sing „eine Folge von Veränderungen, die zusammen ein 
Ganzes ausmachen". Zur Handlung genügt für Lessing 
nicht eine Veränderung, genügen nicht mehrere Verände- 
rungen, die nur nebeneinander, sondern bloß solche Ver- 
änderungen, die auf einander folgen. Wervon dieser Doktrin 
aus die beiden Familienkatastrophen Hauptmanns durch- 
nimmt, wird finden, daß sie der Lessingschen Forderung 
entsprechen und im Sinne des großen Kritikers eine Hand- 
lung haben. Im „Friedensfest" das Erscheinen der Buch- 
nerschen Familie, die unerwartete Rückkehr des Vaters, 
die Rückkehr des jüngeren Sohnes, die Abbitte dieses Soh- 
nes und ihre seelische Einwirkung auf dessen physische Na- 
tur, die plötzlich aufwachende Sorge der Vaterliebe um das 
Leben dieses scheinbar gehaßten Kindes, das Heraufsteigen 
alter schlimmer Leidenschaften in allen, der durch die Auf- 
regung darüber entstandene Schlaganfall und Tod des Va- 
ters, der Eindruck, den dieser Tod auf die drei Kinder 
macht, alles das ist ein Ganzes, in welchem die Verände- 
rungen nicht nur zeitlich und räumlich, sondern auch ur- 
sächlich aufeinanderfolgen. In den „Einsamen Menschen" 
fehlt es sogar an einer eigentlichen Vorgeschichte, wie sie 

79 



im „Friedensfest" erst analytisch herausgewickelt wird. 
Das völlig unerwartete, zufällige Erscheinen des fremden 
Fräuleins wühlt alles auf, was verborgen lag, und wandelt 
alles um, was gewesen ist. Die Dinge verändern sich stetig 
und unaufhaltsam. Eins folgt unmittelbar aus dem an- 
deren. Wie weit ist beispielsweise der liebevolle, heitere 
Papa Vockerat des Taufschmauses vom streng strafenden 
Vater entfernt, dessen heiliger Eifer den Sohn vernichtet! 
Und doch zieht sich von einem zum anderen innerhalb der- 
selben Menschenseele eine Kette natürlicher Folgen. 

An der von Hauptmann herangezogenen Stelle fragt 
Lessing: „Gibt es aber doch wohl Kunstrichter, welche 
einen noch engeren, und zwar so materiellen Begriff mit 
dem Worte Handlung verbinden, daß sie nirgends Hand- 
lung sehen, als wo die Körper so tätig sind, daß sie eine 
gewisse Veränderung des Raumes erfordern ? Sie finden in 
keinem Trauerspiele Handlung, als wo der Liebhaber zu 
Füßen fällt, die Prinzessin ohnmächtig wird, die Helden 
sich balgen; und in keiner Fabel, als wo der Fuchs springt, 
der Wolf zerreißet und der Frosch die Maus sich an das 
Bein bindet. Es hat ihnen nie beifallen wollen, daß auch 
jeder innere Kampf von Leidenschaften, jede Folge von 
verschiedenen Gedanken, wo eine die andere aufhebt, eine 
Handlung sei; vielleicht weil sie viel zu mechanisch denken 
und fühlen, als daß sie sich irgendeiner Tätigkeit dabei be- 
wußt wären. — Ernsthafter sie zu widerlegen, würde eine 
unnütze Mühe sein." 

Auch wir wollen uns diese Mühe nicht geben, alle jene 
Zweifel, ob Hauptmanns Werke „wirkliche" Dramei\, wirk- 
liche „Theaterstücke" seien, ernsthaft zu widerlegen. Aber 
mit dem vieldeutigen Wort Handlung wird soviel Miß- 

80 



braucli getrieben, daB idi darauf Kinweisen wfll, wie wenig 
es in Hauptmanns baden Famifiendramen auch an jenen 
äußeren y^Veranderungen des Raumes^^ fehlt, die für Les<* 
sing durchaus keine Vorbedingung einer Handlung waren. 
Man denke z. B. an die Szene im ,,Friedensfest^*, wo Robert 
Scholz unter dem Weihnachtsbaum Idas Geschenk zurück- 
weist, und sein Bruder, der diese Verlegenheit für Gefühls- 
roheit hält, wütend auf ihn losfahren will. Man denke an 
die Szene in den „Einsamen Menschen^^, wo Johannes 
nach dem Abschied vom Fräulein zum See läuft, dann wie- 
derkehrt, die Scheideworte schreibt und ins Boot rennt, 
den Tod zu suchen. Solcher äußerlich, raumlich, „mate- 
riell" bewegten Szenen gibt es in beidfti Stücken genug. 
Aber darauf kann es bloß denen ankommen, die „mecha- 
nisch^^ denken und fühlen und von dem „inneren Kampf 
der Leidenschaften", der in beiden Stücken tobt, nichts 
merken. Wer von diesem Kampfe nicht ergriffen wird, 
den wird „Das Friedensfest" peinigen, den werden die 
„Einsamen Menschen", die allerdings von technisch un- 
beholfenen Retardationen und Wiederholungen nicht frei 
sind, ermüden. Die „Einsamen Menschen" sind oft und 
in verschiedenen Sprachen gegeben worden. Aber zu einer 
großen literarischen Tat sind auch sie noch nicht geworden. 
Das blieb dem nächsten Werke Gerhart Hauptmanns vor- 
behalten, das wie kein anderes zuvor aus den starken Wur- 
zeln seiner Ejraft entstanden ist. 



VI 

DIE WEBER 

Den Mahnruf des Schillerschen Ättinghausen hat nie- 
mand bisher treuer befolgt als der Dichter der 
„Weber". Aber wenn Ättinghausen, der Politiker, mahnt : 
„Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an," so hat sich's 
unser Dichter in sein eigenes Gefühl umgesetzt. Nicht im 
Vaterlande, sondern in der Heimat liegen für diesen Dich- 
ter die starken Wurzeln seiner Kraft, die ihn vermögen, 
den ganzen Weltraum zu umfassen. 

Gerhart Hauptmann hat an seiner schlesischen Erd- 
scholle festgehalten. Er hat sich seit Jahren wieder in den 
Bergen der Heimat unter den Dorfbewohnern des Riesen- 
gebirges auf eigenem Grund und Boden häuslich nieder- 
gelassen. Zuerst in Mittelschreiberhau, wo sich die innigen 
Be:^ehungen von Hohenhaus noch fortsetzten, dann mit 
der zweiten Gemahlin, Margarete geb. Marschalk, und dem 
goldlockigen, pagenhaften Sohne Benvenuto auf seiner 
Villa Wiesenstein in Agnetendorf . So weit und so oft ihn 
der Wandertrieb auch in die Feme zog, dort in den grünen 
Tälern ist sein Herd und sein Hof, sein Hort und sein Halt. 
Dort träumt er sich sein Festspielhaus. So wird er auch 
als Dichter von manchen Ausflügen in Raum und Zeit im- 
mer wieder heimkehren. Im Sonnenaufgangsdrama hat er 
seine Landsleute nicht glimpflich behandelt. Aber nie ist 
von einem Dichter der Naturlaut des Heimatvolks treuer 
erlauscht worden. Uns allen hat er diese rauhen Töne mit 
ihren dumpf und dunkel ausklingenden Vokalen, ihren ge- 
preßten Konsonanten wert und vertraut gemacht. In bei- 
den Familiendramen reden die Mütter, Mutter Scholz und 

82 



Mutter Vockeraty in mehr als einem Sinn des Dichters 
eigene Muttersprache. Bei der Diebin des „Biberpelzes", 
bei Hanneles Dorfgenossen, bei Rautendeleins Buschgroß- 
mutter, beim Fuhrmann Henschel und bei Rose Bernd 
wird sich das gleiche wiederholen. Aber in diesen oft zu- 
fälligen, oft sogar eigensinnigen Abweichungen zum schle- 
sischen Dialekt erschöpft sich nicht das Heimatgefühl des 
Dichters. Ihn ergriff auch die Tragödie seines Stammes. 
Den Weberenkel ergriff das düsterste Kapitel aus der so- 
zialen Geschichte seiner Provinz. 

Zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts war sein Urgroß- 
vater als armer Weber aus Böhmen über das Gebirge ge- 
kommen und hatte sich in Herischdorf bei Warmbrunn zur 
Handarbeit festgesetzt. Von den vier Söhnen dieses Alten 
war auch Gerharts Großvater, Karl Ehrenfried, bis er 1813 
in den Krieg zog, Weber gewesen. Als dieser bereits im 
Wohlstande war, wußte er aus frühen armen Tagen dem 
eigenen Sohne Robert manches zu erzählen. Und Herr Ro- 
bert Hauptmann hat dies alles seinen Knaben weitergemel- 
det. Der jüngste horchte dann achtsam auf. Früh prägte 
sich seinem Gemüte das Mitleid ein mit diesem hundert- 
jährigen Todeskampf ums tägliche Brot. In der Erinne- 
rung an die alte Familienüberlieferung hat er darum sein 
Weberdrama dem Vater gewidmet. 

Die Zeit dieses Dramas ist weder die gegenwärtige noch 
die, in der des Dichters Vorfahren hinter dem Webstuhl 
saßen. Sie liegt zwischen heute und dazumal. Das Drama 
ist „ein Schauspiel aus den vierziger Jahren". „Die Weber" 
oder, wie das Werk in der eigentlichen und ursprüng- 
lichen Dialektausgabe heißt, „De Waber", sind ein ge- 
schichtliches Drama, dessen Stoff mit großer Treue aus 

«• 83 



historischen Quellen geschöpft ist. Alfred Zimmermanny 
aus der Schule Schmollers, veröffentlichte 1885 bei Korn 
in Breslau ein Buch über „Blüte und Verfall des Leinen- 
gewerbes in Schlesien". Es beginnt mit den Anfängen 
der schlesischen Dorfweberei, die noch vor dem Dreißig- 
jährigen Kjriege liegen, und führt bis zu den Wirkungen 
des Zolltarifs von 1885. Schon aus diesen wissenschaft- 
lichen Erörterungen schaut von Zeit zu Zeit immer 
wieder dasselbe bleiche, spitznäsige, wundäugige, abge- 
zehrte Menschenangesicht hilfesuchend hervor; eine ma- 
gere, zittrige Menschenhand scheint sich langend auszu- 
strecken. Es ist die Hand und das Angesicht des alten 
Weberelends. Alle Wandlungen der Zeit, weder das öster- 
reichische Regiment noch das preußische, weder günstige 
noch ungünstige Handelsverhältnisse, weder Zölle noch 
Verordnungen waren fähig, die Lage der Weber und Spin- 
ner anders als vorübergehend zu bessern. Immer wieder 
stand in den Türen dieser Armen die Not. Sie war das 
Erbe, das eine Generation der anderen zurückließ. Und von 
den Vätern vererbte sich auf die stets erstaunlich zahl- 
reichen Kinder auch die Geduld, mit der jene Not ertragen 
wurde. Nur einmal im Verlauf eines Viertel Jahrtausends 
hob sich die Hand der Armut drohend zum Himmel, und 
auf den Zügen der Not zuckten Haß und Wut. 1844, im 
Sommer, kam es im Eulengebirge zum Weberaufstand. 
„D'r Mensch muß doch a ennzichts Mool an Auchablick 
Luft kriechen", läßt Gerhart Hauptmann einen alten We- 
ber sprechen, der sich bald im Taumel dem Troß der jun- 
gen Aufrührer anschließen wird. 

Diesen Augenblick Luft, diesen Weberaufstand hat Zim- 
mermann in seinem Buch ausführlich behandelt. Zimmer- 



manns Schilderung der äußeren Vorgänge beruht zum Teil 
auf den Berichten, die sich damals die ,, Vossische Zeitung^^ 
von Dr. Leopold Schweitzer aus dem Eulengebirge nach 
Berlin schicken ließ. 

Über das „Blutgericht" jenes plötzlich aus unbekann- 
tem, nie erkanntem Ursprung aufgetauchte Weberlied heißt 
es hier: „Es ist ein offenes Manifest aller der Klagen und 
Beschwerden, welche bis dahin nur verstohlen und leise von 
Mund zu Mund wanderten. In seinen größtenteils wohl- 
lautenden und regelmäßig gebauten Versen bricht sich eine 
drohende Verzweiflung, ein wilder Haß und Grimm be- 
sonders gegen das vierte, zuerst angegriffene Handlungs- 
haus aus, welches man offenkundig zu immer höherem 
Reichtum und Glänze neben der steigendsten Not auf- 
blühen sah. Dieses in jeder Beziehung merkwürdige Doku- 
ment enthält neben der Schilderung der Trübsal und des 
Jammers auf der einen, und der Pracht und Üppigkeit auf 
der anderen Seite überraschend verständige Ansichten und 
Anschauungen . . . Das Lied eilte wie ein Aufruf von Haus 
zu Haus; es fiel als Zündstoff in die gärenden Gemüter." 
Wir finden in diesen Berichten auch eine Schilderung, wie 
man die Wohnhäuser der Fabrikanten plünderte und zer- 
störte; Gerhart Hauptmann hat sich bei der Demolierungs- 
szene im vierten Akt seines Dramas ziemUch treu an diese 
Schilderung gehalten. 

Aber mit einer Wiedergabe der äußeren Vorfälle nach 
Zeitungsberichten konnte sich der historische Forscher 
nicht begnügen. Um die Ursachen der Not und des Auf- 
standes festzustellen, mußte Zimmermann EinbUck in amt- 
liche Aktenstücke gewinnen. Die Staatsarchive und statisti- 
schen Ämter haben seiner Arbeit zur Verfügung gestanden, 

85 



und das Ergebnis ist eine scharfe, zuweilen vernichtende 
Kritik, die Zimmermann nicht nur an den Fabrikanten, 
sondern noch mehr an den damaligen zuständigen Staats- 
behörden übt. Verglichen mit der Darstellung des Histo- 
rikers kommt im Drama des Dichters sowohl der Fa- 
brikant als auch die Dorfpolizei noch ziemlich gnädig weg. 
Und in Hauptmanns Drama findet sich kein Zeichen der 
Not, kein Ausdruck der Klage, kein Zustand des Hungers 
und auch keine Äußerung der Rebellion, die nicht ge- 
schichtlich belegt wären. 

Diese Zustände entwickelten sich bis zur Unerträglich- 
keit, und weil der Bedrängte nirgends Recht finden konnte, 
so griff er verzweifelt zur Gewalt. Der Aufstand war nichts 
anderes gewesen als ein Augenblick des Luftschöpfens. In 
einem knappen, herben Satze stellt der Geschichtsforscher 
das Ergebnis fest: „Der Mut der Weber war ebenso plötz^ 
lieh erloschen, als er aufgeflammt war, geduldig fügten sie 
sich wieder in ihr altes Elend.^^ 

Diese Vorgänge und dieser Ausgang lagen dem Dichter 
als Rohstoff vor. Ein Volksbefreiungsdrama, wie Schillers 
„Teil", konnte er aus diesem Stoff ohne Verletzung der 
historischen Treue nicht schaffen. Einem Tellschuß, der 
in dieser besten der Welten alles zum Besten wendet, hätte 
unter den schlesischen Webern sowohl der Schütze wie das 
Ziel gemangelt. Die Flinten preußischer Soldaten schös- 
sen ein paar armselige Hungerleider aus der Welt; dann 
blieb alles beim alten. Der Dichter konnte daher den dra- 
matischen Entwicklungsgang nicht in der sozialpolitischen 
Aktion finden. Er fand ihn im menschlichen Schicksal. Man 
hat „Die Weber" ein Drama ohne Helden genannt. Man 
könnte sie dafür ein Schicksalsdrama nennen. Nicht ein 

86 



romantisches, sondern ein modernes Schicksalsdrama. Die- 
ses Schicksal schreibt nicht aus höherer gespenstischer Will-^ 
kür dem einzelnen seine unabänderliche Bahn vor, son- 
dern es bändigt und bricht mit Naturgewalt die freie Wil- 
lenskraft einer Gesamtheit. Durch diese Gesamtheit geht 
vielgestaltig und wandelbar ein geisterhafter, tragischer 
Held: als seien alle diese spitzen, abgemagerten Weberpro- 
file mit dem Blick auf ihre gemeinsame Not nach ein und 
demselben Ziel gerichtet; als würfen sie auf das Land ihres 
Jammers gemeinsam einen einzigen Riesenschatten, das 
große Profil des Webertypus. 

Ergriffen von der inwendigen Gewalt des Dramas suchte 
Friedrich Spielhagen für seine Ergriffenheit nach einem 
konventionellen Kunstausdruck und rief: ihr sucht einen 
Helden? Ich habe den Helden! Der Held ist die Not! 
Aber ein solches Abstractum pro concreto ist doch nur im 
eigentlichen Sinn ein Notbehelf. Auf jene Frage nach dem 
Helden antworten wir: der Held ist das Webervolk, das 
wahrlich wie ein Held leidet, streitet und fällt. Und doch 
sieht Hauptmann in jedem dieser Weber auch das beson- 
dere Geschöpf; aus zahllosen kleinen Individuen, die sich 
auf verschiedene Körper verteilen, setzt sich ihm der Volks- 
typus, der Weberheld, zusammen. Im Vater Baumert 
klagt und wimmert, im Vater Hilse betet und arbeitet die- 
ser Weberheld. Im roten Bäcker flucht er und schlägt um 
sich, im jungen Hilse schwankt er zwischen Pflicht und 
Selbstbefreiung, im entlassenen Reservemann Moritz Jäger, 
der sich in der Welt auskennt, steigt die trotzige Wagelust 
auf. Sein Heldenmut überschlägt sich. Durch die viel- 
gestaltige Seele dieses Leidensheldentums zieht weckend 
und werbend die Macht jenes Liedes, das sagt, wie groß 

87 



ihr Leiden ist. Wie eine Flamme springt das Lied von 
Dach zu Dach, von Hirn zu Hirn, und endlich lodert das 
ganze Land in der Feuersbrunst. Doch die Flammen des 
Aufruhrs werden niedergetreten. Am Webstuhl des from- 
men Greises, der seine Not zum Himmel schrie, aber auf 
Erden von keiner Blutschuld beladen sein wollte, stirbt 
betend und arbeitend der Weberheld. Vor dem Erschos- 
senen steht fragend, im bangen, ahnenden Zweifel verzagt 
aufschluchzend ein unschuldiges Kind. Es verstummt vor 
der halb verstandenen Größe dieses Ahnenschicksals und 
zögert, den Weg in die Zukunft, den alten Weberweg, 
weiterzugehen. 

Wer heute durch den wirklichen Schauplatz des Dramas 
wandert, merkt auf den ersten Blick nichts mehr vom Not- 
stand eines bestimmten Gewerbes. Wie zwei meilenlange 
schmale Zeilen recken sich diese Dörfer, Langenbielau und 
Peterswaldau, von den Vorhügeln des Eulengebirg^s un- 
absehbar in die weite, wald- und bergumsäumte Ebene 
herunter, aus deren Mitte die schlanken weißen Türme des 
alten, malerischen Städtchens Reichenbach aufsteigen. 
Durch beide Riesehdörfer fließt ein murmelnder, grün- 
umbuschter Gebirgsbach, der von der Hohen Eule her die 
Weistritz sucht. Rechts und links von diesem freundlichen 
Bächlein ist je eine Häuserstraße angebaut, die strecken- 
weise höchst vornehm und großstädtisch wirkt. Prächtige 
Villen der Fabrikanten und Fabrikdirektoren, mitten in 
alten, schönen Parkanlagen, davor stolze Blumenbosketts, 
erinnern an einen eleganten Badeort. Der Kontrast hierzu, 
die elende Weberhütte, fehlt heute schon fast ganz. Erst 
wenn man oberhalb Peterswaldau höher ins Gebirge hin- 
einsteigt, und wenn sich hinter einem wildromantischen 



Waldgrunde der Blick auf die weit und breit über das 
Hügelland vereinzelten Strohdächer von Kaschbach öffnet, 
merkt man, daß in diesen verlassenen, öden Sitzen noch die 
Armut kauert. Hier könnte man wohl noch heute dem 
Vater Baumert begegnen, dessen ausgehungerter Magen 
kein gebratenes Hundefleisch mehr vertragen kann, oder 
seinen abgemagerten Töchtern, oder den kleinen Barfüß- 
chen seiner unehelichen Enkel. Aber ob Vater Baumerts 
Urenkel heute noch Weber sind ? Ob sie nicht vielmehr 
südlich von ihren Heimatbergen im Waldenburger Kreise 
die Kohle muten ? Wer durch jene drei Dörfer wandert, 
die den Schauplatz des Dramas bilden, durch Peterswaldau, 
Kaschbach, Langenbielau, hat nicht den Eindruck, dem 
Weberhelden gehe es jetzt besser, sondern der Weberheld 
sei ausgestorben. 

Dennoch hat man das„Schauspiel aus den vierziger Jah- 
ren**, als es erschien, mit der Gegenwart in Beziehung ge- 
bracht und ihm vorgeworfen, es predige den Aufruhr, es 
reize die unbefriedigten Massen zur Empörung gegen Recht 
und Gesetz, es sei umstürzlerischer Tendenzen voU. Der- 
artige Einwände, die häufig zu polizeilichen Verboten der 
Theateraufführung verleitet haben und erst durch eine 
weise Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts vom 
2. Oktober 1893 widerlegt werden mußten, sind nur aus 
dem Stoff heraus begründet worden. Niemals konnten sie 
einen Anhaltspunkt in der künstlerischen Gestaltung fin- 
den. In den „Webern" gibt es kein Wort, das irgendeiner 
bestehenden Partei das Recht gäbe, den Dichter auf ihre 
Fahne einzuschwören. Es findet sich auch kein Wort, das 
aus dem Zwange der Situation herausfiele und von der 
Person des Dichters gesprochen wäre. Als das Stück auf 

89 



der Neuen Freien Voltsbühne vor einem Berliner Arbeiter- 
publikum aufgeführt wurde, konnte man beobachten, wie 
wenig gerade dieses Publikum von den Vorgängen unmittel- 
bar erregt wurde. Erst im dritten Akt bei einigen Boshei- 
ten gegen die Polizei wurde die lange vergeblich erhoffte 
„Tendenz" unter Heiterkeit begrüßt, und erst die Demo- 
lierung am Schluß des vierten Aktes tat ihre unmittelbare 
Schuldigkeit. Aber gerade dieses Publikum schien die zün- 
denden Schlagworte zu vermissen; die Brandreden, deren 
unverblümte Wörtlichkeit auf die Massen weit stärker wirkt 
als eine plastische Darstellung menschlicher Vorgänge. 
Schon im Februar 1892, als das Drama eben beendigt war, 
hatte es Adolf L*Arronge für das Deutsche Theater in Ber- 
lin zur Aufführung angenommen. Aber so lange er am 
Ruder stand, konnte in Berlin das Polizeiverbot vom 3. März 
1892 nicht rückgängig gemacht werden, und so blieb es 
wieder dem Verein Freie Bühne vorbehalten, am 26. Fe- 
bruar 1893 ein wuchtiges Hauptmannwerk aus der Feuer- 
taufe zu heben. Als dann Otto Brahm die Leitung der 
Freien Bühne mit der Direktion des Deutschen Theaters 
vertauschte, konnte er auf selbst gemauertem Grunde wei- 
terbauen. Der große Berliner Erfolg mag dadurch noch 
verstärkt worden sein, daß das Drama immer wieder zum 
Gegenstand öffentlicher Streitigkeiten wurde und das 
„aktuelle" Interesse immer neue Nahrung fand. Bald gab 
das Stück den Anlaß, daß dem Besitzer des Deutschen 
Theaters das Abonnement auf die königliche Hofloge ge- 
kündigt wurde; bald eiferte im Abgeordnetenhause der 
Staatsminister v. KöUer gegen die Umsturztendenzen des 
Stücks, ohne daß diesem unliterarischen und kunstfremden 
Standpunkt einer der damaligen Landboten nach Gebühr 

90 



entgegengetreten wäre ; bald kam aus einer oder der anderen 
Proyinzstadt wieder mal die Nachricht von einem neuen 
Polizeiverbot, das stellenweise zu wilden Beamtenkriegen 
Anlaß gab. Aber die Hauptwirkung lag doch im Drama 
selbst, in seiner inneren Kraft, die nie versagen wird. 



VII 

KOLLEGE CRAMPTON, DER BIBERPELZ. 

DER ROTE HAHN 

Als Gerhart Hauptmann im Herbst 1891 „Die Weber" 
x\nach Berlin brachte, besuchte er im „Berliner Thea- 
ter" eine Vorstellung des Moli^reschen „Geizigen". Unter 
dem Eindruck dieser tragikomischen Figur drangen alte 
Pläne, alte Bekanntschaften wieder auf ihn ein. Es nahte 
sich ihm wieder eine schwankende Gestalt. Er reiste in 
den Schnee seiner Berge zurück und dichtete in wenig 
Wochen die fünfaktige Komödie vom „KollegenCra mp- 
ton", die mit dem „Geizigen" manche technische Ver- 
wandtschaft hat. Hier wie dort eine überragende Haupt- 
person, um deren moralische Schwäche sich alles übrige 
dreht. Hier wie dort mitten aus komischen Situationen 
ein kühner Zug in die Tragik der menschlichen Seele. Denn 
hier wie dort, nicht zu weit von Narretei und Torheit, das 
drohende Gespenst des Wahnsinns! Dort freilich im Mittel- 
punkt des Ganzen ein menschlicher Typus, der nur von 
einer einzigen, ebenso lästerlichen wie lächerlichen Charak- 
tereigenschaft beherrscht wird, hier eine menschliche Na- 
tur, die in ihrer individuellen Vielfältigkeit lebt. Dort eine 
moralische, hier eine psychologische Komödie. 

In der Kunstschule einer großen Provinzialhauptstadt 
(die Dienstmänner dort reden den schlesischen Dialekt) 
hat Professor Crampton ein Meisteratelier. Eines Tages 
bricht über ihn viel Unglück herein, das ja selten allein 
kommt. Ein fürstlicher Gönner gibt ihn auf. Seine Woh- 
nung wird ausgepfändet und versiegelt. Seine Frau verläßt 

92 



ihn. Die Akademie enthebt ihn seines Lehramts. Er ginge 
zugrunde, wenn sich nicht ein paar Seelen fänden, die ihn 
lieben. »»Die kleine Trude, das ist ihm sein Höchstes/^ Sie 
ist sein jüngstes Töchterchen, sein „Polizistchen", das frei- 
willig beim armen Papa ausharrt, während Mutter und 
Schwestern zu den reichen, adhgen Großeltern flüchten. 
Ein wohlhabender, junger Schüler ihres Vaters ist dem 
Mädchen gut. Diesem glückhaften Umstand ist zu danken, 
daß der Professor nicht ganz untergeht. Die blutjungen 
Leute richten ihm ein Nest her. In dieser Glücksatmo- 
sphäre faßt der arme Kerl neuen Mut und — vielleicht — 
auch neue Kraft. 

Ist Professor Crampton seines Unglücks eigner Schmied ? 
Die Komödie gibt sich nicht viel damit ab, seinen gegen- 
wärtigen Zustand aus seiner Vergangenheit zu begründen. 
Es wird nicht in Ibsens Weise durch gelegentliche Ausein- 
andersetzungen das Vergangene aufgehellt. Wenn er selbst 
zuweilen auf Erinnerungen zurückgreift, so geschieht das 
in seiner konfusen Art und ist bezeichnender für seine 
gegenwärtige Seelenbeschaffenheit als für sein vergangenes 
Leben. Er steht fertig vor uns, wie ein Porträt. Seine gei- 
stige Entwicklung ist abgeschlossen. Sein Weltlauf stoppt. 
Er kann nur noch versinken oder von treuen Händen recht- 
zeitig im Hafen geborgen werden. Eins so möglich wie das 
andere. Der Abgrund allerdings wahrscheinlicher als der 
Hafen. Der Dichter aber wollte seinen Mann retten und 
entschied für den Hafen. 

Bei Rettungsversuchen geht es selten ohne kleine List 
und Hinterlist ab. Hier ist der Punkt, wo auch diese Ko- 
mödie an Intrigenspiel erinnert. Aber die spinnwebzarten 
Fäden werden nicht, wie bei Scribe und seiner deutschen 

93 



Schule, von einem ränkevollen Verstand gelenkt, sondern 
von der natürlichen, gesunden Empfindung der helfenden 
Menschlein, die im Gegensatz zur massiven Hauptfigur 
etwas Diminutivisches haben* Gehen die beiden ersten 
Akte mit der Charakteristik der Hauptfigur und der Dar- 
legung ihres unglückseligen Zustandes hin, so beginnt im 
dritten das Rettungswerk. Dort ist der Professor aktiv, 
hier passiv. Durch diesen Wechsel der Zustande erhält und 
steigert sich das Interesse. Die Frage bleibt, welche Ge- 
fühle sich im Zuschauer mit diesem Interesse verknüpfen, 
wie man sich zu dem Professor persönlich stellt. Man wird 
das erstemal mehr ergriffen, das zweitemal mehr belustigt 
werden. Die Gewißheit des guten Ausgangs entscheidet. 
Wenn jemand ins Wasser fällt, so zittern ringsumher alle 
Herzen. Kommt er dann pudelnaß und mit einem festen 
Schnupfen ans Ufer, so gesellt sich gerne zum Schaden der 
Spott. Die Kunst des Dichters besteht dar^n, und darin 
liegt auch die reiche Erfindung dieses scheinbar so erfin- 
dungsarmen Werkes, daß sich Mitleid und Spott, Rührung 
und Lust zu ein und demselben Eindruck vermischen; des- 
halb ist das Stück in seinem Humor eine Komödie besten 
Schlages. Der Eindruck wird dadurch erzielt, daß die 
Hauptgestalt in jedem Augenblick naiv bleibt und niemals 
unsere Sympathie verliert. Man sieht ein altes Kind. Da- 
bei schillert diese Gestalt wie ein Opal, man könnte auch 
sagen; wie die Nase des guten Professors, in allen Farben. 
Die ganze lebendige Mannigfaltigkeit dieser Charakteristik 
tritt für Augen, die sehen können, zutage. Gewiß ist der 
Professor im Grunde immer derselbe, mag er im Atelier 
gegen die Schulpedanten wettern oder in der Bumskneipe 
^ch mit den Stubenmalem anfreunden oder endlich im 

94 



Glück der Tochter selber froh werden: die Einheit der In- 
dividualität ist festgehalten. Die gute Seele und das jähe 
Blut; das bis zum Dünkel gesteigerte Selbstbewußtsein und 
die bis zur Zerknirschung sinkende Bescheidenheit; der 
feine, ironisch das schlagende Wortspiel und Gleichnis fin- 
dende Kunstsinn und der aufbrausende Grobianus; die 
freie, hochstrebende Künstlernatur, voll Phantasie und 
Schwärmerei, und das wüste Sumpfhuhn — alles und noch 
viel mehr springt eins aus dem anderen, spielt herüber und 
hinüber. Dazu das allmähliche Sinken der ganzen Existenz : 
die zunehmende Dumpfheit, die auf Willen und Gedächt- 
nis lagert, die Spuren des Verfolgungswahns und seines 
feindlichen Zwillingsbruders, des Größenwahns, die Krank- 
haftigkeit des Durstes, alles wehmütig verklärt vom Son- 
nenglanz eines goldnen Herzens, das seinen Zauber nicht 
bloß auf die eigene Tochter und den dankbaren Schüler, 
sondern auch auf einen treuherzigen Mann aus dem Volk 
und auf die gutmütige ordinäre Schenkmamsell ausübt. 
Wird nun in seiner Geborgenheit dieses Herz den Frieden 
finden? 

Wie aus Rembrandtschem Dunkel ein Rembrandtscher 
Charakterkopf vorleuchtet, so beherrscht die Hauptfigur 
des Kollegen Crampton den Hergang und drängt alle an- 
deren in den Schatten. Auch wo er nicht auftritt, im mittel- 
sten der fünf Akte und in der ersten EEälfte des letzten Aktes, 
dreht sich alles nur um ihn. Wo aber die Hauptfigur der 
Bühne fernbleibt, hat der Dichter für Ersatz gesorgt. Im 
dritten Akt entfaltet sich eine Kontrastfigur: Herr Adolf 
Straehler, „der dicke Ejrämer^^, der seinem Bruder, dem 
jungen Maler, lachend hänselnd, aber tatkräftig beim Ret- 
tungswerke hilft; ein urgemütlicher Kerl, immer fidel, 

95 



immer gleichmütig, ewig auf dem Neckfuß, kein Spielver- 
derber und auch kein Machtwortsprecher, sanguinisch wie 
der Professor, aber einer, der seinen Mann steht und in der 
Welt etwas erreicht hat: Gerhart Hauptmanns früh ver- 
storbener ältester Bruder Georg. Die erste Hälfte des fünf- 
ten Aktes bringt statt der Person des Helden ein reizendes 
Capriccio, ein junges himmelhoch aus jüngsten Herzen 
jauchzendes Liebesglück, das um so heller strahlt, je mehr 
es ein Glück wird auch für andere. Diese Szene zwischen 
der kleinen Trude und dem nicht viel größeren Max wird 
von jener anderen Liebesszene zwischen Alfred Loth und 
Helene an Reinheit und Echtheit natürlichen Empfindens 
nicht übertroffen. Auch hier neckt sich, was sich liebt, in 
der entzückendsten Weise; mitten im unschuldigen Minne- 
spiel steigen auch hier wehmütige Gedanken an Vergäng- 
lichkeit und Abschied auf; aber doch wie ganz anders alles 
dort, wie ganz anders alles hier! Dort die Schicksalswolke 
nah und schwer über ahnungsvollen Gemütern, hier klar- 
ster, leuchtendster Sonnenschein. Gleichmäßig sind die 
Wangen dieser hebenden Jugend frisch gerötet von der 
hellen Winterluft draußen und vom Frühling in ihren 
Herzen. 

Im übelsten Humor stößt Kollege Crampton auf dieses 
Jugendglück, das zugleich sein eigenes Altersglück werden 
soll. Aber dieses Glück leuchtet so tief und so zart in sein 
eigenes verdumpftes und versumpftes Innere herein, daß 
der wetterwendische Sinn des alten Burschen sofort wieder 
umgewandelt ist. Lebensfreude, sogar Arbeitslust sprudelt 
wieder in ihm auf, und froh erschüttert fällt er seinem alten 
hundetreuen Faktotum, seinem „lieben Löffler", dem 
Dienstmann, um die blaue Bluse. 

96 



So sehr ist er gewöhnt, sich in allen Dingen an den „Her- 
ben Löffler" zu wenden, daß er auch in Fragen der Kunst 
und des Familienglücks zunächst an das Herz hinter der 
Bluse appelliert; denn das ist seine nächste Instanz; — 
einer der kleinen, feinen Meisterzüge, an denen dieses 
Werk reich ist. 

In den Breslauer Schlußkapiteln des Quintromans, in 
der wüsten Verbrecherkneipe läßt der Dichter das Urbild 
seines Professor Crampton noch einmal am Kneiptisch auf- 
tauchen. Malerisch in einen leichten römischen Mantel 
drapiert, mit schwarzem Faunsgesicht und roten feuchten 
Faunslippen hing ihm ein schwarzer Schopf wild über die 
düster funkelnden Augen. Es ist Professor Cramptons, des 
Rettungslosen, letztes Säuferstadium, kurz vor dem Deli- 
rium. So E. T. A. Hoffmannisch ist der Kollege Crampton 
noch nie auf der Bühne dargestellt worden. Georg Engels 
bot eine glänzende Leistung und entschied, wohin er damit 
kam, den Erfolg des Stücks. Aber er spielte ihn doch ab- 
seits der Gestalt, die tiefer und weniger pompös, weniger 
atelierhaft ist. 

Ein Jahr nach dem „Kollegen Crampton", im November 
1892, brachte Gerhart Hauptmann ebenfalls unerwartet 
eine zweite Komödie aus Schreiberhau nach Berlin und las 
sie den Freunden vor. Es war eine „Diebskomödie" und 
wurde nach dem Gegenstand des Diebstahls „Der Biber- 
pelz" genannt. Schon uns ersten Hörern fiel eine tech- 
nische Ähnlichkeit mit dem Meisterlustspiele Heinrichs 
v. Kleist, dem „Zerbrochenen Krug", auf. 

Hier wie dort ist nächtlicher Weile in einem Dorf eine 
lichtscheue Missetat begangen. Die Frage nach dem Täter 
gelangt an die Dorf Justiz. Wer zerbrach den Krug ? Wer 

7 97 



Stahl den Pelz ? Dort eilt die Besitzerin des zerbrochenen 
Kruges zum Dorfrichter, hier eilt der Besitzer des gestoh- 
lenen Pelzes zum Amtsvorsteher. Beide Kläger, ansässig 
und angesehen im Dorf, finden an der Seite des Unter- 
suchungsrichters eine dürftige, unterwürfige Schreiberseele, 
die mit ihrem subalternen Strebersinn bei Kleist deutlicher 
hervortritt als bei Hauptmann, und einen Büttel, der wie- 
derum von Hauptmann als dienstunfähiger, sanfter Süffel 
genauer charakterisiert wird. Wichtiger aber als Schreiber 
und Büttel ist in beiden Fällen jener Adamssohn selbst, der 
vom Amts wegen die Untersuchung einzuleiten und den 
Verbrecher zu entdecken hat. Daß diese Untersuchung 
und diese Entdeckung hier wie dort mit den größten 
Schwierigkeiten verbunden ist, daß immer wieder, hart vor 
dem Ertappen, in die Kreuz und Quer abgeirrt wird, und 
über jeden klareren Einblick in das kriminelle Rätsel gleich 
wieder Nebel fallen, daß sich die Sache ins Dunkel und in 
die Länge zieht, ist hier wie dort Schuld des Untersuchungs- 
richters. 

Weder der altholländische Dorfrichter Adam noch der 
neupreußische Amtsvorsteher v. Wehrhahn haben Neigung, 
diesen Prozeß aufzuhellen. Beiden ist gerade dieser Prozeß 
fatal. Der Amtsvorsteher ist ein persönlicher und politi- 
scher Gegner des Bestohlenen; der Dorfrichter ist noch in- 
teressierter an der nächtlichen Missetat; denn der, der den 
Kjug zerbrach, ist er selbst. Die Hauptperson der Komö- 
die ist bei Kleist enger und bänger mit dem Vorgang ver- 
knüpft als bei Hauptmann. Für den Dorfrichter hängt am 
zerbrochenen Krug Existenz und Ehre. Dem Amtsvor- 
steher hingegen kann der Biberpelz des Rentiers Krüger 
ruhig gestohlen bleiben; sein persönliches Gewissen wird 

98 



nicht betroffen, seine Ehre steht nicht auf dem Spiel. Und 
nur darin ist er dem Dorfrichter Adam ähnlich, daß sich 
beide als unfähig erweisen, die Prozeßverhandlung zu füh- 
ren. Sie richten, der Dorfrichter wissentlich, der Amts- 
vorsteher unwissentlich, in kürzester Zeit eine solche Ver- 
wirrung an, daß es in der Amtsstube einen Heidenlärm gibt, 
bei dem Beamte und Zeugen hart aneinander geraten. 

Hier wie dort sind Zeugen aufgetreten. Und wenn der 
Dorfrichter aus triftigem Grunde diese Zeugen durch An- 
schnauzen und Dreinreden ins Bockshorn jagt, so verfährt 
auch der Amtsvorsteher nicht viel anders, als hätte er selbst 
den Pelz gestohlen. Ohne Nebenabsichten, ohne Ansehen 
der Person sitzt auch er nicht zu Gericht. Der Dorfrichter 
Adam hatte seine eigene Nichtswürdigkeit zu vertuschen; 
denn statt des Kruges war er ausgegangen, eine Mädchen- 
ehre zu zerbrechen, und aus dem Lustspiel hätte leicht eine 
Tragödie werden können. Harmloser an Gemüt ist der 
Amtsvorsteher von der Oberspree in seinem Treiben nicht 
viel ungefährlicher als der Dorf richter. Er will den Herrn 
spielen und Karriere machen. Dazu mißbraucht er sein Amt. 
Wer den Pelz gestohlen hat, kümmert ihn nicht; aber wer 
in seinem Amtsbezirk freigeistige Bücher kauft und demo- 
kratische Schriften liest oder gar verbreitet, wer bei Kai- 
sers Geburtstag nicht illuminiert, welcher Gastwirt seinen 
Saal den fortschrittlichen Gesinnungsgenossen des bestoh- 
lenen Rentiers Krüger vermietet — das alles will er genau 
wissen. Dazu benutzt er seine Untergebenen, dafür ver- 
brüdert er sich mit Spitzeln, die vor dem Meineid nicht 
erschrecken. Ein stiller, scheuer Privatgelehrter kann ihn 
auf die rechte Diebesspur führen, aber er hört ihn gar nicht 
an, weil dieser gewissenhafte Zeuge ihm „politisch" ver- 

;• 99 



dächtig ist, auch erhofft er sich durch dessen Maßregelung 
Lohn von oben. 

Dieser moderne Strebertypus ist an sich weder tragisch 
noch komisch, sondern gemeinschädlich; eine Dichtung, 
die ihn rein als Typus hinstellen wollte, unterschiede sich 
nicht von guten polemischen Leitartikeln oder Flugschrif- 
ten. Zu seiner künstlerischen Bewertung muß der Typus 
in eine Individualität gesteckt werden. Wie Kleist sinn- 
reich andeutet, daß nicht nur in Huisum, sondern auch in 
Holla und Hussah „lüderliche Hunde" sitzen, die „Recht 
so jetzt, jetzo so erteilen", so wird das von Hauptmann aufs 
Korn genommene Strebertum der Beamten außer an der 
Oberspree auch sonst im Lande gefunden. Aber es gibt je 
nach individueller Veranlagung Schlauköpfe und Dumm- 
köpfe unter den Strebern. Hauptmann hat sich den Spaß 
gemacht, einen Dummkopf aufzuzeichnen. 

Er hat die Komödie der streberhaften Dummheit ge- 
dichtet. Ihr Held entwickelt eine wahrhaft bezaubernde 
Borniertheit. Wenn sich der Charakter des Amtsvorstehers 
langsamer auswickelte, würde es klarer, daß der Held der 
Komödie weniger der Pelzdieb ist, als der, der dieses Pelz- 
diebes habhaft werden soll. Die Diebesgeschichte vertritt 
das, was bei Moliere, Holberg und anderen Komikern der 
Tradition die Intrige war. Wie dort die Intrige dazu diente, 
den Heuchler als Heuchler, den Geizhals als Geizhals ad 
absurdum zu führen, so dient hier die Diebesgeschichte 
dazu, den streberhaften Dummkopf als blitzdummen Stre- 
ber zu blamieren. Und wie könnte seine Blamage größer 
sein als da, wo ihn der Dichter entläßt, wo Wehrhahn, 
im traulichen Beisammen zwischen Hehler und Stehlerin 
stehend, beide miteinander in aller gesellschaftlichen Form 

IOC 



bekannt macht, und wo er die Diebin nicht nur für eine 
fleißige Waschfrau, was sie ist, sondern auch für eine „ehr- 
liche Haut" erklärt. 

Nach der Größe dieses innerlichen Schlußeffekts, was 
schiert uns da noch der Biberpelz und sein Geschick ? Wer 
ihn stahl, wissen wir. Daß man dem Dieb auf der Spur ist, 
wissen wir auch, und ganz wohl in der eigenen „ehrlichen" 
EEaut wird sich weder der Hehler noch die Stehlerin füh- 
len, trotz der Menschenkenntnis des tiefblickenden Herrn 
V. Wehrhahn. Alles Psychologische ist mithin klar. Was 
übrigbleibt, ist Sache des Gerichtsreporters, nicht des Dich- 
ters. Wenn aber das gesamte Publikum der ersten Berliner 
Aufführung über das unerwartete Ende verblüfft war und 
die Gescheiten erst beim Warten auf die Garderobe über 
den Schlußwitz lachten, so ist der Dichter nicht ganz 
schuldlos. Schuld daran ist ein Vorzug und ein Mangel 
seiner Arbeit. Der Vorzug liegt in der Charakteristik, der 
Mangel in der Komposition. Der Vorzug liegt in der pracht- 
vollen Gestalt der Diebin, der fleißigen Waschfrau Mutter 
Wolff, einer Person, mit der man gern zusammen ist, einer 
dichterischen Saft- und Kraftschöpfung, die den schema- 
tischen Rahmen der Traditionskomödie fast ebenso sprengt 
wie Shakespeares Shylock. Der Mangel liegt darin, daß 
man durch diese prachtvolle Gestalt in seinen verschiede- 
nen Interessen geteilt wird und zuletzt noch hinter der 
Blamage des Amtsvorstehers sie, die besagte Wolffin mit 
ihren Schicksalen, sehen will. Hinter der boshaften Ironie, 
mit der der Dummkopf im Amte belassen wird, verlangt 
man noch vom Dichter ein moralisches Endurteil über 
Mama Wolff. Sie war von je ein Bösewicht, drum treff sie, 
wenn schon nicht Wehrhahns, so doch Gottes Strafgericht! 

lOI 



Ein solches moralisches Endurteil, worauf unsere Ästhetik 
einen alten Gewohnheitsanspruch geltend macht, ist in 
Kleists „Zerbrochenem Krug" zu finden. In der Person 
des Revisors, der wie ein Blitz aus heiterem Himmel kam, 
geht durch das Drama eine höhere Gerechtigkeit, die den 
Dorfrichter seines Amtes entsetzt; während unser armes 
Publikum über die Schicksale des Pelzes ganz im Dunkeln 
bleibt, ist dort Aussicht vorhanden, daß in Utrecht dem 
Kruge doch noch soll sein Recht geschehen. 

So schließt geschlossen die einheitlichere Komödie Kleists. 
Hauptmanns Komödie ist zwiespältig. Wie der Schauplatz 
der vier Akte zwischen Wehrhahns Amtsstube und dem 
Wohnraum der Wolf fin wechselt, so verteilt sich das Inter- 
esse auf beide. Bei Kleist waren Richter und Missetater 
vereinigt in einer Person. Und wie sich im Amtsvorsteher 
mancher Vergleichspunkt mit dem Dorf richter Adam fand, 
so findet er sich auch in der Mutter Wolffin. Wie den 
Adam ein ganz menschlicher Zug, der Hang zum süßen 
jungen Blut, in den Bereich des Kruges lockte, so lockt 
auch sie ein rein menschlicher Zug zum Biberpelz hin. Es 
ist die Sorge um ihre Familie. Sie ist in ihrer Art das, was 
man eine gute Mutter nennt. Sie beweint mit treuen Trä- 
nen ihr heimgegangenes Söhnchen. Mit ihren beiden Töch- 
tern will sie hoch hinaus. Sie sollen auf Gummirädern fah- 
ren und auf dem Theater gefeiert werden. Darum sind 
sie auch Adelheid und Leontine getauft. Zu ihrem duß- 
lichen Vater sagen sie Papa und geben Gutenachtkuß. Für 
diese Kinder und ihren Papa arbeitet Mutter Wolffin un- 
ermüdlich. Für sie raubt sie sich den Schlaf der Nächte. 
Für sie raubt sie Rehböcke, Knüppelholz und den Biber- 
pelz. Sie ist ein Gemütsmensch. Man gewinnt diese naive 

102 



Niedertracht so lieb, daß man ihr zuletzt nichts Böseres 
wünschen möchte als einen Amtsvorsteher, der nie hinter 
ihre Schliche kommt. 

Aber man möchte noch länger bei Mutter Wolffin blei- 
ben. Der Dichter selbst fühlte dieses Bedürfnis. Sechs 
Jahre später ist er noch einmal auf sie und ihren Wehrhahn 
zurückgekommen. Er hat uns dann in wundersamer Weise 
ihre letzte Lebensstunde gezeigt, in der sie es durch die 
naive Kraft ihres Wesens wieder dahin bringt, daß ihr ge- 
fährlichster Todfeind Versöhnung mit ihr trinkt. Wir er- 
leben auch ihr seliges Ende, wo sie, ohne Schmerz, die 
Hände jubelnd nach ihrem vorangegangenen Julian langend, 
plötzlich nicht mehr da ist. Diesen schönen Schlußakt war 
sich der Dichter schuldig. Er hat uns darüber beruhigt, 
daß der Wolffin nun doch Gefängnis und Zuchthaus er- 
spart blieb, daß sie im Gedanken an ihr kleines durch den 
Tod verklärtes Söhnchen dahinging und nun ganz geborgen 
ist. FreiKch war sie auch als JuUan Wolffs Witwe, als Frau 
des Flickschusters Fielitz, der im Nebenamt Wehrhahns 
Spitzel ist, ihren Weg weitergegangen. Sie hatte sich sogar 
entwickelt. Sie gibt sich nicht mehr mit Kleinigkeiten ab, 
wie Wildfrevel, Holz- und Pelzdiebstahl. Sie verübt Grö- 
ßeres. Auf die baufällige, aber hochversicherte Hütte ihres 
Flickschusters setzt sie „den roten Hahn" und richtet es 
so ein, daß der Verdacht dieser Brandstiftung auf einen 
blödsinnigen Jungen fällt. Im Vater dieses Kretins er- 
wächst ihr jener rachsüchtige Feind, den sie aber doch noch 
in letzter Stunde beim Glase Wein begütigt, weil er selbst 
ein verbrauchter, lebensmüder armer alter Hund ist, der 
nur noch bellen, nicht mehr beißen kann, und — weil noch 
immer die undurchdringliche Dummheit des Herrn v.Wehr- 

103 



hahn auf dem Dorfrichterstuhle sitzt. Der irdischen Ge- 
rechtigkeit entgeht sie. Aber geholfen hat ihr die ganze 
Betriebsamkeit ihres unverfrorenen Strebens auch gar nicht. 
Sie stirbt als arme Frau. Abgesehen von der Schlußszene 
und einem großartigen Zusammenprallen aller Gegensätze 
im Gerichtsakt ist „Der rote Hahn" (so heißt die Fort- 
setzung) ein loseres Stück als der „Biberpelz". War es schon 
im „Biberpelz" eine überflüssige Wiederholung, daß zuerst 
Holz und dann erst der Pelz gestohlen wird, so zeigt sich 
auch die Brandstifterin in keinem anderen Lichte als die 
Diebin. Wir wissen schon genau, wie sie so etwas anstellt. 
Daher erwacht das Interesse an ihr erst wieder gegen Ende. 
Eine Anzahl neuer Personen, die ziemlich verworren auf- 
treten, wie der jüdische Arzt Boxer, ein weibstoller Schmied 
und sein weltphilosophisch-mephistophelisch lächelnder 
Geselle, auch Adelheid Wolffs Mann, ein kratzbürstiger 
Bauspekulant, sie können sich nicht mit den lebensvollen 
humoristischen Nebengestalten des Biberpelzes verglei- 
chen. Nur der alte Racheengel Rauchhaupt, der Gegen- 
part unserer Wolffin, könnte in seiner hilflosen Verzweif- 
lung und in seiner Liebe zum trottelhaften Jungen, die erst 
mit der Gefahr erwacht, in ergreifendsten Lebensszenen 
stehen. 

Während sich der „Biberpelz" immer weiteren Raum 
auf den Bühnen eroberte (der Sieg ging diesmal vom Wie- 
ner Deutschen Volkstheater aus), konnte ihm „Der rote 
Hahn" auf diesem Wege nicht folgen. Der Dichter hat ihn 
mit zu lockerer Hand aufs Dach gesetzt. 



VIII 

HANNELES HIMMELFAHRT 

Wie eine Windesharfe sei deine Seele, Dichter! Der 
leiseste Hauch bewege sie. Und ewig müssen die Sai- 
ten schwingen im Atem des Weltwehs ; denn das Weltweh 
ist die Wurzel der Himmelssehnsucht. Also steht deiner 
Lieder Wurzel begründet im Weh der Erde; doch ihren 
Scheitel krönet Himmelslicht." Mit diesen schönen, sein 
ganzes dichterisches Wesen durchleuchtenden Worten 
wollte Gerhart Hauptmann 1885 „Das bunte Buch" er- 
öffnen. Wo in diesem „Bunten Buch" die ,47rische Form" 
allmählich von der „epischen Form" abgelöst wird, steht 
ein langes Gedicht, das „Die Mondbraut" heißt und 
den Kontrast zwischen Weltweh und Himmelssehnsucht 
aus der Seele des Dichters in die Seele eines phantasie- 
begabten Volkskindes überträgt. Ein armes, verwaistes 
Bettelkind, Bergliese genannt, hat unter den Fäusten und 
Flüchen ihres grausamen Pflegevaters bitterlich zu leiden. 
Er jagt sie bei Nacht aus dem Hause hinaus in Sturm und 
Schnee. Sie irrt über Feld. Ermattet sinkt sie beim Reisig- 
sammeln vor einer hohen, schlanken Fichte nieder, die im 
Mondschein himmelan strebt. Bergliese schläft vor Müdig- 
keit ein. Aber sie ist mondsüchtig und „wandelt durch die 
Nacht". Sie klettert dem Mond entgegen zum Fichten- 
wipfel empor, sie will weitersteigen, tritt in leere Luft, 
und — 

Was dröhnte der Grund, was scholl durch die Nacht? 

Mir schien es ein klagender Ton: 

Sie liegt an der Föhre, sie hat es vollbracht, 

Auf ewi^ dem Jammer entflQhn« 



Soweit behandelt das Gedicht einen ganz realen Vorgang, 
über den alltäglich „Der Bote aus dem Riesengebirge** 
berichten könnte. Der Dichter aber legt dem realen Vor- 
gang ein seelisches Motiv unter. Dieses seelische Motiv ist 
die Sehnsucht, die ein vom Weltweh schwer belastetes 
Menschenkind nach dem Himmel empfindet. Je jammer- 
voller das Dasein, desto höher und schöner die Hoffnung 
aufs Jenseits. Des Kindes Phantasie hält sich zunächst an 
das, was aus der Himmelswelt sichtbar entgegenglänzt, an 
den Mond. Mehr und mehr aber verwandelt sich den 
schwärmenden Sinnen des Mädchens der Mond in den 
himmlischen Bräutigam, neben dem der tote Vater, der 
hienieden als Lump galt, die tote Mutter, die hienieden 
als Dirne galt, auf ihr verlassenes Kind warten. Das lockt 
und zieht himmelwärts. Der Mond hebt sie liebend in 
seinen Sichelkahn; ihrem verzückten Auge tut sich alle 
Herrlichkeit des Himmels auf: 

Und MQtterlein steht auf der Schwelle und winkt, 
Und Väterlein auch, und der Nachen — er unkt. 
Er sinkt in die duftenden Gärten. 

Für Bergliese war die Erfüllung ihrer Himmelssehnsucht 
nur ein Traumglück. Aber nun liegt sie am Fuße der 
Fichte, befreit von allem Weltweh. 

Mehrere Jahre später ist der Dichter auf dasselbe Motiv 
noch einmal zurückgekommen. Mit seiner gereifteren Büh- 
nenkenntnis wagt er, den Vorgang auf das Theater zu 
bringen. Sein „Hannele" ist eine Schicksalsgefährtin der 
Bergliese. Vom bösen Stiefvater geplagt und geprügelt, 
vernimmt auch sie den Lockruf der toten Mutter, den 
Weckruf des himmlischen Bräutigams. Aber jener Ruf er- 
schallt ihr nicht aus den Wipfeln des Waldes; er kommt 

io6 



aus den Tiefen des Wassers, in das die Mutter ihr voran- 
gegangen ist. Und der himmlische Bräutigam erscheint ihr 
nicht mehr, wie der Bergliese, als unpersönliches ungreif- 
bares Himmelslicht, sondern wie den ersten Christen in 
menschlich vertrauter Gestalt. 

Als Gerhart Hauptmann im Spätsommer 1895 das Drama 
aus Schreiberhau fertig nach Berlin brachte und den Freun- 
den vorlas, hieß es noch „Hannele Matter ns Himmel- 
fahrt". Später wurde der Titel in „Hannele" verkürzt, 
weil vorsichtige Hoftheater alles meiden mußten, was über- 
frommen Gemütern als Entweihung der Heilandsgestalt 
und der Heilandsgeschichte gelten könnte. Inzwischen ist 
man halbwegs zum Urtitel zurückgekehrt und gönnt dem 
„Hannele" wenigstens seine „Himmelfahrt". Nun 
drückt sich die Doppelwelt des Stücks, das Diesseits und 
das Jenseits, schon in der Überschrift aus. „Hannele" war 
nur das verlassene BetteUdnd, das abgerissen und zerprügelt, 
hungrig und frierend sein fieberndes Elend endlich in den 
Dorfteidi schleppt; war nur die Lumpenprinzessin, wie sie 
ihre Mitschüler schimpften, nur das störrische Mädel, wie 
sie die gedankenlose Exaktheit des Amtsvorstehers schilt, 
der etwas heller als Wehrhahn ist. „Hannele" war nur das 
hilflose EEäuflein Menschenjammers und Weltwehs. Erst 
durch die „Himmelfahrt" befriedigt sich die Himmels- 
sehnsucht, weidet sich der innere Gesichtskreis : „Millionen 
Sternchen" blinken nun am Firmament auf; die Stimme 
Gottes ruft aus den Tiefen des eiskalten Gewässers ; freund- 
liche Engel trösten im Traum; der liebe Herr Lehrer ver- 
wandelt sich in den lieben Herrn Jesus, der die Kindlein zu 
uch kommen läßt und den Sünderinnen vergibt. Zugleich 
weckt in der unschuldigen Kindesbrust sein Name das erste 

107 



Ahnen einer Leidenschaft. Sinnlichkeit und Seligkeit wer- 
den eins. Im sterbenden Kind erregt sich das werdende 
Weib. Die Himmelssehnsucht empfindet bräutlich. 

Hannele liegt zuletzt verendet auf dem Strohsack des 
Armenhauses. Aber in der Todesstunde hat sie ihr Kinder- 
glaube selig gemacht. Aus dem Religionsunterricht des 
Lehrers, aus den geistlichen Liedern, die sie im Kloster ge- 
sungen hatte, aus den Heiligenbildern der Dorfkirche, aus 
den Volksmärchen, die sie von der Mutter gehört hatte, 
war der Phantasie des träumerischen Kindes eine überirdi- 
sche Welt aufgegangen. Sie sieht nun diesen Himmel of- 
fen. Ihr Herr und Heiland hält sie bei der Hand. Alles, 
was hienieden „ihren armen Blick" entzückt hatte, alles 
was sie entbehrt und erhofft hatte, hilft diese Herrlichkeit 
wie eine wunderschöne Stadt aufbauen. In ihrem Him- 
mel wird nicht bloß gesungen und geliebkost und gebetet, 
sondern auch rechtschaffen gegessen und getrunken. Ihr 
Himmelstischlein deckt sich mit allen den guten, appetit- 
lichen Sachen, die das darbende Kind auf Erden nur vom 
Hörensagen kannte. Nicht bloß „die Milch der weidenden 
Rinder", „das goldene Brot auf den Äckern", wird dar- 
gereicht, sondern auch der Purpursaft der Reben. Auch 
einen gewandten und galanten Dorfschneider gibt es im 
Himmelreich. Hannele wird nicht nur eine reine Seele 
sein, sondern auch eine schön geputzte kleine Himmels- 
braut, in Seide glänzend. Das fromme Kind ist in seiner 
natürhchen Unschuld Weltkind geblieben : alle kleinen Lü- 
sternheiten und Eitelkeiten des Weibes nahm es mit in seine 
heilige Hoffnung. Alles dreht sich allein um sie, niemand 
kümmert sich um sonstwen. Das eigene Begräbnis — Han- 
nele Mattern erlebt es im Traum. 

Io8 



Sterbend sieht sie sich tot. Sie sieht die zahlreiche Betei- 
ligung von alt und jung. Sie hört die gute Nachrede, von 
der die Selbstmörderin sogar heilig gesprochen wird. Die 
kleinen Schulkameraden müssen ihr manches abbitten, und 
die Himmelskinder tragen ihren Leib dahin, „sanft, daB 
sein krankes Fleisch der Druck nicht schmerze*'. Sie lauscht 
besonders freudvoll auf, wenn die barmherzige Schwester 
Martha und der liebe Lehrer Gottwald, so herzerquicklich 
um sie trauernd, miteinander, als ob kein Drittes horte, 
von ihr sprechen. Sie erkennt, daß es nun doch auf Erden 
eine Gerechtigkeit gibt; während sie selbst so hoch geehrt 
wird, nimmt der Stiefvater, der sie mißhandelte, das 
schimpflichste Ende; denn der liebe Herr Lehrer hat es 
ihm endlich einmal tüchtig gesagt; so tüchtig, daß sich der 
trunkene Bösewicht vor Schmach und Reue erhangt. 

Auf der Bühne sehen wir das träumende, sterbende Kind 
in seiner ganzen klaglichen Existenz vor uns liegen. Wir 
hören ihr leibhaftiges Wehklagen, ihr Geplauder ; wir hören, 
wie das Fieber aus ihr spricht ; wir verfolgen, wie ihr kran- 
ker Zustand wechselt, wie Bewußtsein und Fieberwahn in- 
einander übergehen. Jede Schwankung im körperlichen 
Befinden der Sterbenden macht sich bemerkbar; wird der 
Zustand fiebriger, so kommen böse Träume; tritt etwas 
Ruhe ein, so tauchen lieblichere Bilder auf. Um sie her 
walten hilfreiche Hände. Sie verkehrt wachend mit leben- 
digen Menschen. Zwischendurch aber tritt ihre schwär- 
mende Seele immer wieder in eine andere Welt. In schrof- 
fen, mächtigen Kontrasten erscheint der rohe Stiefvater im 
Traum, erscheint tröstend der Geist ihrer toten Mutter. 
Es kommen Engel mit Notenblättern, wie das Kind sie auf 
dem Altarbild mag gesehen haben. Es erscheint, wie der 

109 



schwarze Mann, den die Kinder fürchten, der stumme Tod 
und richtet das Schwert gegen ihr Herz. Engel tragen 
einen Sarg und legen das tote Hannele selbst hinein. Einige 
dieser Traumgestalten sind uns vorher als lebendige Men- 
schen bekannt geworden. Der Waldarbeiter Seidel, der das 
Kind aus dem Wasser zog, die halb vertierten, aber zum 
Teil doch gutmütigen Armenhäusler, die Diakonissin, die 
vom fiebernden Hannele mit ihrer toten Mutter verwech- 
selt wird, der Lehrer, den sie für den Erlöser hält; — sie alle 
haben wir leibhaftig vorher gesehen und sehen sie dann in 
Hanneles Träumen wieder. Wir nahmen sie zuerst mit un- 
seren eigenen klaren Sinnen wahr und müssen sie dann mit 
dem verwirrten Sinn eines anderen Wesens wahrnehmen. 

Manchmal geht Hanneles wechselndem Fieberzustand 
gemäß das Wirkliche jählings in die Einbildung über. 
Schwester Martha war eben noch eine reale Person, und 
schon ist sie ein verklärtes Traumbild, verquickt mit Han- 
neles Mutter. Diese Schwester Martha, die dem Kranken- 
bett am nächsten steht, wirkt wie eine Vermittlerin zwi- 
schen den Fieberphantasien der Sterbenden und der leben- 
digen Außenwelt. Mit welcher Meisterschaft vom Dichter 
durch sie unmittelbar auf das Visionäre hingedeutet wird, 
hat zuerst Otto Pniower sehr fein bemerkt („Dichtungen 
und Dichter", Berlin, S. Fischer, S. 355). 

So wenig das frommgläubige Hannele mit seiner Him- 
melssehnsucht eine Rationalistin ist, so wenig wäre dieses 
kleine Dichtergenie, das vom Himmel her so wunderschöne 
Verse hört. Anhängerin des sogenannten Naturalismus. Ihr 
Herzchen schlug höher, wenn die erhobene Stimme des 
Pfarrherrn den Segen sprach, wenn ein Choral erklang, 
wenn sie beim Lehrer Gottwald biblische Geschichte hatte, 

HO 



wenn ihr die Mutter dn Marcken erzählte« Schneewitt- 
chens gläserner Sarg, Aschenbrodels gläserne Pantoffelchen 
b^leiten sie in ihren ICmmeL Gemischt mit jenen 
feierlichen Tönen, ist es dieser naiv getragene Ton der 
Mirchenerzählerin, den sie aus ihren Traumbildern wie- 
derhört. Diesen Ton hat die Schauspielkunst zu finden 
und zu treffen. Es ist ein Ton der Dämmerung. Man 
möchte an ,,die blauen Blitze der Nacht** denken» von 
denen Hanneles selige Mutter raunt. Im Wiener Burg- 
theater traf Josef Lewinsky als spukhaftes, buckliges 
buckelndes Dorfschneiderlein diesen Ton. Und auf der 
Berliner Hof bühne, der dieses Wunderwerk nur allzu rasch 
entwunden ward, wurde das Verschwommene schaurig 
schön getroffen durch die leidtragenden Dorfweiber, die 
auf stillen Sohlen schattenhaft ineinander huschend und 
mit tonloser Scharfe flüsternd Hanneles Lager umschwirr- 
ten. Ist auf diesen Ton einmal das Ganze gestimmt, so läßt 
sich aus jedem einzelnen eine volle Gestalt schaffen. Am 
wichtigsten ist für die Bühnendarstellung neben Hannele 
selbst ihr vergötterter Lehrer, der Weib und Kinder hat, 
der von des fremden Kindes stiller Schwärmerei nicht das 
mindeste ahnt, der bei all seiner Menschenfreundlichkeit 
doch nicht opferfähig genug ist, das sterbende Stückchen 
Elend in der eigenen Wohnung zu bergen, sondern es von 
dort ins Armenhaus trägt. Nur in ihrem Traum erscheint 
er als Hauptleidtragender, der Hanneles keusche Neigung 
zart erwidert, und als Ministrant beim Begräbnis, der den 
Schulkindern die Seite des Gesangbuchs angibt, worauf der 
Text des Grabliedes steht. Dann tritt er, wieder nur im 
Traum, schon halb verwandelt, als Mahner und Warner 
ihrem bösen Stiefvater machtvoll entgegen. Zuletzt 

III 



erweckt er das Hannele von den Toten, wie Jesus Christus 
des Jairi Töchterlein, und öffnet ihr in Heilandsgestalt mit 
Mutterchens Himmelsschlüsselblume den herrlichsten Him- 
mel, gütig bedeutend, wundervoll redend. Und nun Han- 
nele selbst ! Um diese Gestalt schauspielerisch ganz zu ver- 
derben, dazu gehört schon ein vollgemessenes Maß von Ta- 
lentlosigkeit; um ihr ganzes Innere zu zeigen, dazu bedarf 
es einer dem Dichter und gerade diesem Dichter kongenia- 
len Naturkraft, die kindhaftes, tiefes, phantasievolles Emp- 
finden mit vollendeter künstlerischer Reife und auch mit 
Humor vereinigt. 

Unter den ersten, die vom Dichter selbst das wunder- 
same Traumstück hörten, befand sich der damalige Chef 
der königlichen Bühnen in Berlin, Graf Hochberg, des 
Dichters engster Landsmann. Er stand sofort im Bann 
dieser heimatlichen Poesie. Es war für ihn kein Zweifel, 
daß dieser Poesie die Bühne bereitstehen müsse. Und am 
14. November 1893, am Abend vor Hauptmanns 31. Ge- 
burtstag, ward „Hannele" im königlichen Schauspielhause 
in Berlin zum erstenmal auf eine Bühne getragen. Erst jetzt 
mußte Graf Hochberg erkennen, wie verschieden über das 
Werk geurteilt werden konnte. Wie hat man um dieses 
Kind gezankt und gezetert! Die Frömmler wollten es den 
Sozialdemokraten, die Sozialdemokraten den Frömmlern 
unterschieben. Die einen ärgerte aufwiegelnde Kritik so- 
zialer Zustände, die anderen ärgerte „Mystizismus" und 
„Kirchlichkeit". Sogar hygienische Gründe wurden ins 
Feld gerückt; weil der Gestalt des stummen Todes einige 
überreizte Frauennerven nicht standhielten, verleugnete 
man die sonstige Gegnerschaf t gegen Theaterzensur und rief 
schlankweg nach der Polizei. An das Ohr des Monarchen 

112 



drängten sich flosterstimmen, die von Gotteslisterung 
raunten, weil sich dem kleinen Hannele das Bild des 
angebeteten Schulmeisteis mit dem Bilde des Heilands im 
Fieberwahn verwebt. Der Hof- imd Gamisonprediger 
Emil Frommel soll eigens ins königliche Schauspielhaus ent- 
sandt worden sein, um über den blasphemischen Charakter 
des Stückes ein vertrauliches Gutachten abzugeben. Aber 
man war bei der Wahl des Begutachters an den Unrechten 
gekommen; denn man war an einen Dichter gekommen. 
Frommel ging tief ergriffen und poetisch gehoben aus der 
Vorstellung, die er noch einigemal mit steigender Liebe für 
das arme Hannele besucht haben soll. Vom Angstschrei 
dieser gequälten Kreatur schien man, wie vorher von den 
„Webem^^, ein tausendfaches Echo in den Scharen der sozial 
Unzufriedenen zu befürchten, während umgekehrt Nicolais 
geistige Nachkommenschaft den Dichter einen Frömmler 
schalt, der uns ins finstere Mittelalter zurückführen wollte. 
Wie der fromme alte Weber Hilse in Langenbielau, der 
auch sein Weltweh nur aus Himmelssehnsucht trug, kommt 
das kleine Hannele von den pietistischen Gärten Schlesiens 
her. Die Armenhäusler, die Hanneles Sterbelager umlär- 
men und umlungern, reden den Dialekt der schlesischen 
Berge. Aber das Schlesiertum liegt nicht bloß im Arme- 
leutedialekt. Wie tief schlesische Volksart in diese Dich- 
tung versenkt ist, hat vor allen andern der Schlesier Gustav 
Freytag erkannt, der ein Jahr vor seinem Tod die Traum- 
dichtung des jungen Stammesgenossen besprach. Freytag 
rühmte die Bühnenkenntnis, mit der Hauptmann hier „et- 
was geschaffen hat, was nur ein echter Dichter, vielleicht 
nur einer aus dem Regierungsbezirke des Berggeistes Rübe- 
zahl ersinnen konnte." Während sich ein Teil der Tages- 

8 113 



presse über den „naturalistischen" Anfang ebenso erboste, 
wie über das „symbolistisch-mystische" Ende des Stücks, 
sah in Übereinstimmung auch mit Spielhagen der alte, die 
poetischen Mittel des Kontrastes genau kennende Verfas- 
ser einer „Technik des Dramas", daß „erst auf der Grund- 
lage der gemeinen, harten Wirklichkeit des Daseins, des 
Kampfes mit der Not, der Schwäche und sittlichen Ver- 
derbnis die Poesie des idealen Inhalts, welchen frommer 
Glaube dem Kinde des Volks zuteilt, verständlich und er- 
greifend wird." 

„Hanneles Himmelfahrt" ist ein Ergebnis des Aufent- 
halts, den Gerhart Hauptmann seit 1891 wieder in Schle- 
sien genommen hatte. Hier traten dem gereiften Dichter 
heimatliche Kindeseindrücke mit gesteigerter und gerei- 
nigter Kraft wiederum vor die Seele. Wer bei dem lang- 
gestreckten, am Fuß einer hügelan steigenden, bewaldeten 
Wiese gelegenen Bauernhause, das damals Carl und Ger- 
hart Hauptmann mit ihren schwesterlichen Frauen noch 
gemeinsam bewohnten, vorüber ins meilenweit hingela- 
gerte Dorf Schreiberhau wandert, kann auf der Landstraße 
den Armenhäuslern begegnen, dem stottrigen, schlottrigen 
Vater Pleschke, der fromm gewordenen Zuchthäuslerin 
Tulpe, der Straßendirne Hete, die noch nicht Betschwester 
geworden ist, dem Flegel Hanke; auch wohl dem Maurer 
Mattem, der im Stück nur Schreckgespenst des Traums 
ist. Am Verkehr mit Volk und Natur hat sich auch hier 
des Dichters Kunst gestärkt. Auch diese Dichtung wurzelt 
im Weh der Erde. Doch ihren Scheitel krönt Himmelslicht. 

Dieses aus Lust und Schmerz gefügte Werk widmete der 
Dichter der Frau Marie Hauptmann, gebornen Thiene- 
mann, mit Worten, auf denen Abschiedsstimmung liegt. 

114 



IX 

FLORIAN GEYER 

Seit dem Tiberiusdrama hatte sich Gerhart Hauptmann 
in der Wahl dramatischer Stoffe nicht wieder aus seinem 
Land und seiner Zeit entfernt. Denn die drei Stücke, die 
in der östlichen Umgebung Berlins spielen (Das Friedens- 
fest, Einsame Menschen, Der Biberpelz) stehen noch unter 
schlesischem Einfluß, und das „Schauspiel aus den vierziger 
Jahren" führte in eine Zeit, die noch nicht hinter lebender 
Menschen Gedenken lag. Jetzt erst wagte der Dichter wie- 
der einen Sprung in andere Zeit und anderes Land. Bei 
seiner Beschäftigung mit den sozialpolitischen Bewegungen 
der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit war ihm ein 
Buch in die Hände gefallen, das den großen deutschen 
Bauernkrieg behandelt, und dessen Verfasser ein alter vor- 
märzlicher Demokrat, der schwäbische Pfarrer Dr. Wilhelm 
Zimmermann, ist. In seinem wissenschaftlichen Wert wird 
dies Buch von der Geschichtforschung für abgetan erklärt. 
Aber es ist mit populärem Schwung geschrieben. Als 
Hauptmann dieses Buch las, steckte ihn der Enthusiasmus 
an, womit Zimmermann die Gestalt des ritterlichen Bauern- 
führers Florian Geyer hervorhebt. Und noch unter dem 
Eindruck sozialpolitischer Weberstimmung, noch bevor er 
an den „Biberpelz" und „Hannele" ging, entschloß er sich, 
Florian Geyer zum Helden eines historischen Dramas zu 
wählen. 

Während des Sommers 1894 war er von einem mehr- 
monatigen Aufenthalt in Newyork und Umgegend, wo er 
Gattin und Söhne bei alten Freunden aufgesucht hatte, 

8* 115 



eben heimgekehrt. Nun hielt er sich längere Zeit in Rothen- 
burg ob der Tauber auf, kam auch nach Würzburg und 
Schweinfurt, und in Nürnberg ergriff ihn aufs tiefste die 
alte, starke, deutsche Kunstgewalt der Adam Kraft, Veit 
Stoß und Peter Vischer, Dann ging er nach Schreiberhau 
zurück, um seine Arbeit vorläufig abzuschUeßen. Während 
des Frühlings 1895 brachte er seinem Freund Brahm, der 
sein erstes Direktionsjahr im Deutschen Theater durch den 
Erfolg der „Weber" geborgen hatte, ein starkes Manuskript 
nach Berlin. Auch dies Werk las er uns vor, erklärte aber 
gleich anfangs, es eigne sich von allen seinen Stücken am 
wenigsten zur Vorlesung, weil es sich von allen seinen Stük- 
ken am meisten fürs Theater eigne. Die Vorlesung gab 
kein klares Bild und auch keine rechte Hoffnung auf Ge- 
lingen der Bühnenaufführung. Aber der Dichter selbst 
blieb seiner Sache so sicher, daß er im Herbst 1895 daran 
dachte, mit Felix Hollaender zusammen das Theater des 
Westens in Charlottenburg zu übernehmen und hier zu- 
nächst ganz nach seinen eigensten Intentionen den „Flo- 
rian Geyer" aufzuführen. Er ging dabei vom richtigen Ge- 
fühl aus, daß ein Bühnenwerk nicht im Buche schon fertig 
sei, sondern erst wenn der Vorhang über dem letzten Akt 
fällt, und daß der Verfasser bis zu diesem letzten Punkt die 
Oberhand im Spiel haben müsse. Alte Ideale poetisch- 
plastischer Schauspielkunst wurden wieder lebendig, aber 
für diesmal scheiterte der Plan. Am 5. Januar 1896 kam 
„Florian Geyer" in Berlin aufs Deutsche Theater. Das 
weitschichtige Werk, nicht zum besten dargestellt, erfuhr 
eine sehr stürmische Aufführung, der dann nur wenige Vor- 
stellungen folgten. In dem Sturm jener ersten Aufführung 
kam es zu drolligen Szenen. So rief ein werter Mann, der 

116 



sich mehr auf Witz als auf Wissenschaft verstand: „Das ist 
doch nicht der Florian Geyer, den wir alle kennen und lie- 
ben !** Der Brave hatte keine Ahnung, wie wenig auch die 
gelehrtesten Kenner des Bauernkrieges von Florian Geyer 
wissen. 

Daß er Franke war, ist sicher. Seine Burg Giebelstatt 
ragte unweit des Würzburger Bischofssitzes in dieses schöne 
Land hinein. Er war aus altem Rittergeschlecht. Sein Va- 
ter und mehrere Brüder überlebten ihn. Zum Weibe ward 
ihm ein Fräulein von Grumbach angetraut, deren Sippe 
ganz in der Nachbarschaft auf Schloß Rimpar saß. Durch 
diese Ehe bekam er zum Schwager den glänzend begabten 
Abenteurer Wilhelm von Grumbach, der nach einem Leben 
voll kühner Eroberungsgelüste und wilder Händel endlich 
1567 in Gotha hingerichtet wurde. Die Sage geht, zu den 
vielen Gewalttaten dieses Herrn gehöre auch die hinter- 
listige Ermordung seines eigenen Schwagers Florian Geyer. 
Soviel ist gewiß, daß die beiden Schwäger Todfeinde wa- 
ren, als Florian Geyer 1525 fiel. Sein früher Tod nach 
einem ritterlichen Leben, von dem auch bauernfeindliche 
Chroniken und Volkslieder nichts Nachteiliges zu melden 
wissen, läßt seine Gestalt in einem reineren Lichte erschei- 
nen, als jenen Götz von Berlichingen, dessen treuloses, räu- 
berisches Verhalten weder die ahnenstolze Pietät später 
Enkel noch die dichterische Verklärung durch Goethe vor 
dem Richterspruche historischer Forschung retten durfte. 
Nicht so erkenntlich den Augen des Historikers steht mit 
seiner dunklen Schar Florian Geyer. Desto mehr muß 
es dichterische Phantasie reizen, von ihm ein deutliche- 
res Bild aus dem Grunde des Zeitalters aufsteigen zu 
lassen. 

117 



Gerhart Hauptmanns Drama teilt sich in ein Vorspiel 
und fünf Akte. Die Zeit der Handlung Uegt zwischen Ostern 
und Pfingsten 1525. Würzburg, Rothenburg, Schweinfurt 
sind die drei Hauptorte der Handlung. Das Vorspiel be- 
ginnt vor der Schlacht bei Weinsberg auf dem Würzburger 
Bischofsschloß. Wir sehen die bedrängten Umstände der 
bauernfeindlichen Ritterschaft. Der fränkische Adel ist 
versammelt und erwartet den Bescheid seines bischöflichen 
Herzogs. Das Vorspiel scheidet sich in zwei Teile. Im 
ersten Teile werden durch ein Schreiberseelchen des Rit- 
ters die „Zwölf Artikel" bäuerlicher Ansprüche vorgelesen, 
die hier teils empörend, teils beängstigend wirken, wie das 
Weberlied in Fabrikantenkreisen. Im zweiten Teile spricht 
der Bischof-Herzog zu den Rittern. Dem Bischof -Herzog 
ist es auf seinem Schlosse nicht mehr geheuer; der ebenso 
kluge wie feige Kirchenfürst trägt, wie sein Zeitgenosse 
Eck sich ausdrücken würde, „einen Hasen im Busen", aber 
er weiß dieses Hasenpanier so diplomatisch und wohlred- 
nerisch zu drapieren, daß die große Mehrheit der Ritter 
nichts merkt, und die Zurückbleibenden dem entweichen- 
den Herrn Hab und Haus hüten werden. Unter den Rit- 
tern, den „festen Junkern", die in den aufgestandenen Bau- 
ern nur Gesindel, in der Bauernbewegung nur den Um- 
sturz von Recht, Sitte, Ordnung sehen, heben sich mit 
kleinen, feinen Zügen, anfangs nicht leicht zu sondern, 
dann sehr unterschiedlich, Typen ab, wie sie auch in den 
politischen Kämpfen unserer Gegenwart wiederkehren. 
Aber dieser Schar fehlt auch der Opponent nicht : der frei- 
gesinnte Edelmann, der offen und kühn die gerechten Be- 
schwerden des Bauernstandes anerkennt und aus seiner Ab- 
neigung gegen Junker und Pfaffen kein Hehl macht. Unter 

118 



einfältigen Haudegen, großmäuligen Emporkömmlingen, 
geistlichen Fanatikern, geschmeidigen Höflingen ist Wolf 
von Hanstein der geistige Nachfahr Ulrich von Hutten's 
und Franz von Sickingen's. Er ist in dieser Ritterrunde 
der Stellvertreter und Sachwalter Florian Geyers. Der gilt 
diesem Junker- und Pfaffenkreis als die Seele aller Feind- 
seligkeit. Sein Geist geht schreckhaft und gehaßt durch die 
Versanmilung. Körperlich muß ihn daher ein anderer ver- 
treten. Dieser andere leitet unser Interesse am Helden aus 
dem parlamentarisch gehaltenen Vorspiel ins Drama selbst 
über. 

Der ersteAkt hält uns noch in Würzburg auf. Wir sind 
in der Kapitelstube der Neumünsterkirche. Nebenan ist 
Dankgottesdienst. Die Kapitelstube schmückt sich mit 
grünen Reisern. Unter Führung Florian Geyers haben die 
Bäurischen .Würzburg in Besitz genommen. Der Sieges- 
taumel ist gewaltig. „Das Glück schneiet mit großen Flok- 
ken", jubelt im Übermut Florian Geyers Feldschreiber 
Lorenz Löffelholz. Aber bald darauf muß derselbe Lorenz 
Löffelholz klagen: „Bös Ahnen nestelt sich an mich." Die 
stolzen Ritter vom Bischofssitz müssen unten in der Ka- 
pitelstube antreten, um mit der bäuerischen Übermacht zu 
unterhandeln. Die kecken Spötter und Schimpfer aus dem 
Vorspiel finden sich murrend bereit, jene „Zwölf Artikel", 
die sie so feindlich glossierten, für Recht und Gesetz anzu- 
erkennen. Die Bäurischen lassen es dabei ihrerseits an hoch- 
fahrender Schadenfreude nicht fehlen; ihre Begehrlichkeit 
steigt. Die mannigfaltigsten Interessen der Einzelnen ge- 
raten in Wirrwarr. Den Siegern gebricht es an Eintracht. 
Quot capita, tot sententiae! könnte der humane und huma- 
nistische, gegen die Scholastik aufgebrachte Rektor Besen- 

119 



meyer, der freudig zu Florian Geyer steht, in seinem Hei- 
denlatein sagen. Das bäurische Element selbst tritt fast 
zurück hinter all den Rittern und Bürgern, Geistlichen 
und Gelehrten, Schreibemund Klriegsknechten, die irgend- 
ein wirklicher oder eingebildeter Vorteil der eigenen Person 
auf diese Seite geschlagen hat. Es hallt wider von Worten 
wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, aber jeder legt 
in diese Worte seinen besonderen Sinn. Äußerhch ent- 
wickelt sich ein farbiges bewegtes Bild. Noch ehe die Ein- 
zelnen in das ehrwürdige Kirchengemach eintreten, sehen 
wir mit den begierigen Augen derer, die zum Bogenfenster 
auf die Straße hinabschauen, das Getriebe draußen vor dem 
Dome. Da hebt sich schwer von seinem Rößlein der volle 
Wanst des Odenwälder Bauernhäuptlings Jakob Kohl. 
Dann reitet auf seiner Schindmähre Götz von Berlichingen 
heran; er hat mit Goethes biederm Helden kaum mehr als 
den Namen, die eiserne Hand und etliche Schicksale ge- 
mein ; sonst ist er ein kurzes „Nußknackerlein", voller Un- 
fried und Tücke. Wir sehen Florian Geyers Schwager in 
die Tür treten, den äußerlich glänzenden, innerlich rohen 
Ritter Wilhelm von Grumbach, der im Trüben dieser Hän- 
del nach bischöflichem Gut fischen möchte. Endlich tönt 
Jubel die Gassen herauf. Sie grüßen draußen den Helden 
des Tages, den Einzug Florian Geyers in Würzburg. Nun 
sitzt er ab, nun tritt er ins Gotteshaus, nun erscheint trun- 
ken von Wonne und Wein sein treuer verwilderter und ver- 
welschter Kriegsgesell Tellermann, und endlich, nach Pre- 
digt, Gebet und Segen, ist er selbst im Zimmer, der 
schwarzgeharnischte Sieger. 

Gleich seinen ersten Worten merkt man*s an, daß ihn 
zuvor Rektor Besenmeyer richtig beurteilt hat: „Ein bren- 

120 



nendes Recht fließt durch sein Herz." Auch der bürger- 
lich gewordene Ritter von Menzingen, der Schultheiß Be- 
zold, der junge Diakonus im Dom und vor allem Teller- 
mann und Löffelholz hangen an diesem Helden. Aber 
schon mußte Löffelholz sorgend bekennen: ,,Sie denken 
nit alle so wie wir"; und je dichter sich die Stube füllt, 
desto bedenklicher zeigt sich's, daß Florian Geyer über 
diese buntscheckige Siegerschar „in keinem Weg" die un- 
bestrittene Herrschaft hat. In diesem Durcheinander von 
Wünschen und Meinungen hebt am ruhmvollsten Tage 
seines Lebens der Held schon den Fuß auf zum Schritt ins 
tragische Verhängnis. Ein feiner Diplomat, ein weiser 
Staatsmann, ein gewalttätiger Tyrann hätte dieser zügel- 
losen Schar den Herrn gezeigt, mit dem überwundenen 
Feind paktiert und sich die Führerschaft erzwungen. Denn 
je verrannter der Haufe, desto günstigere Zeit für die Des- 
poten. Von alledem aber lag in Florian Geyers Natur so 
wenig, und alles Tragische ist entweder ein Zuviel oder ein 
Zuwenig; meist ist es beides. Er ist, modern gesprochen, 
kein RealpoHtiker, sondern ein Idealist. Florian Geyer, ein 
ganzer Mann, ist doch nur einen halben Weg gegangen. 
Den verbündeten Rittern galt er als Bauer, den Bauern 
blieb er trotz der Lockenschur ein Ritter, und die Geist- 
lichkeit sah in ihm den Ketzer. Er hat nach eigenem 
Rechtsgefühl gehandelt, aber schon wuchs aus seiner Saat 
etwas hervor, was seinen Willen überwucherte. Draußen 
in der Stadt tobt noch der Siegesjubel. Das Volk schlägt 
aus. Man will an den Überwundenen sein Mütchen küh- 
len. Weinsbergs böses Beispiel wirkt nach. Die Unter- 
händler des Bischofs finden nicht das freie Geleite durch 
die Stadt, das Geyer ihnen zugesichert hat. Weiber möchten 

121 



zu Hyänen werden, und alle diese Rechtswidrigkeiten 
geschehen unter dem Feldgeschrei: ,Vivat Florian Geyer!* 
Geyer aber handelt nun nicht, sondern redet. Er wirft sich 
nicht zum alleinigen Herrn der Situation auf, sondern plä- 
diert für einen vielköpfigen Kriegsrat. In ehrlichem Pathos 
leitet er die Wut in eine symbolische Handlung ab, zu der 
sich nun die Getrennten vereinigen. Ein Stoß des Messers 
in die Kirchentür bedeutet für sie einen Stoß „mitten ins 
Herz" des Feindes. So findet jeder, der Soldat wie der 
Ffaff, der Anarchist wie der Bürger, der Bauer wie der 
Gelehrte, der Feste wie der Schwankende irgendein 
Herz, in das er ohne Blutvergießen mitten hinein stechen 
kann. Statt des festen einen Herrenwillens waltet ein 
Vielerlei. 

Der zweite Akt spielt in Rothenburg. Geyer ist in der 
Stadt. Wenn im Vorspiel die äußere Handlung in zwei 
Teile, Verlesung der Artikel und Ansprache des Bischofs, 
zerfällt, wenn im ersten Akt die Stimmung von der Sieges- 
freude zu heißer Zwietracht umschlägt, so sind auch im 
zweiten Akt zwei Teile zu unterscheiden. Der erste ist 
wieder zuständlicher Art. Der zweite bringt die tragische 
Wendung. Dieser Akt erinnert, nicht nur durch anschau- 
liche, breite, den Fortgang der Aktion hemmende Schilde- 
rung von Zuständen, sondern auch durch die Szenerie zu- 
nächst an den dritten Akt der „Weber". Auch hier sind 
wir in einer Schenkstube : am Marktplatz von Rothenburg 
beim Gastwirt Kratzer, der zur Bauernpartei gehört und 
ihr stiller Vertrauensmann ist. Weinselige Bürger plärren 
die großen Schlagworte der Zeit her wie Bundschuh und 
Evangelium. Die Reformationsstimmung ist so stark, daß 
sie sich schon zu Spott und Hohn entschließt. Ein anti- 

122 



papistischer Hausierer ruft die neuesten Flugschriften aus, 
und in dieser Marktschreierei vergegenwärtigen sich alle 
Gewalten des Zeitlaufs: Äblaßkram und päpstliche Welt- 
herrschaft, der Opfertod von Hus und Savonarola, Huttens 
letzte Tage und Thomas Münzers Streit mit Luther. In 
glücklichster Weise dient die Episode zur Charakteristik 
der Zeit^ der Zeitstimmung wie der Lage des Augenblicks. 
Unter diesen bunten Gestalten, die nur als episodische 
Merkmale der Zeit erscheinen, begegnet uns so mancher 
Bekannte aus der Würzburger Klapitelstube. Auch Rek- 
tor Besenmeyer, der Humanist, ist dabei; er hat unter- 
wegs eine todmüde, zigeunerhafte Dirne aufgegriffen und 
schafft ihr barmherzig bei Kratzer Unterschlupf. Der 
Dichter wurde auf die unheimliche, heimatlose Gestalt 
der „schwarzen Marei" durch die schwarze Hofmännin aus 
Böckingen bei Heilbronn geführt. Diese Petroleuse des 
Bauernkriegs war mannhafter als alle Männer. Ihre Zau- 
bersprüche hatten fortreißende Macht. Ihr Segen, der ein 
Fluch war, tat das Seinige, um die Bauern durch jene Weins- 
berger Greueltaten ins sittliche Unrecht zu setzen. Ger- 
hart Hauptmanns schwarze Marei ist freilich nur ein Schat- 
ten dieser Gestalt. Sie ist zahmer und scheuer. Der Dich- 
ter hat die Böckingerin dem BLäthchen von Heilbronn an- 
genähert. Wie das Käthchen in hündischer Treue ihrem 
Ritter folgt, so die schwarze Marei dem Florian Geyer. 
Wie sich das Käthchen mit dringlicher Kunde den Atem 
ausläuft, so kommt über Nacht die schwarze Marei mit 
Hiobsposten von Würzburg nach Rothenburg gerannt. Am 
Ziel sinkt sie übermüdet in todesähnUchen Schlaf, und 
während beim Kratzer an den verschiedenen Wirtstischen 
die „Laufte" beredet werden, während durch wimmelnde 

123 



Gestalten die damalige Welt im Kleinen erscheint, liegt 
hinten, unbemerkt und ungestört, wie sein schlafendes, 
schwarzes Verhängnis, Florian Geyers schwarze Marei. 

Aber die schwarze, treue Marei ist nur das Scheinbild 
seines Schicksals. Leibhaftig verkörpert sich dieses Schick- 
sal in einer Männergestalt. Gleichfalls in Kratzers Wirts- 
haus zu Rothenburg tritt er zur selben Stunde ihm entgegen. 
Wie den Wallenstein sein Buttler umkreist, so umkreist 
den Florian Geyer sein Schäferhans. Der Schäferhans, ein 
einfältig frumber Landsknecht, der sich gegen seine bäue- 
rischen Brüder nicht will brauchen lassen, aber ein in der 
Soldateska verrüdeter Rauf- und Saufbold, wollte in der 
Glut des Branntweins dem verhaßten Bilderstürmer Karl- 
statt, der ebenfalls bei Kratzer untergekrochen ist, ans Le- 
ben, wird aber von dessen Mut der Demut abergläubisch 
gebannt, dann jedoch durch Lärm und Spottlied gegen den 
eingetretenen Florian Geyer, mit dem er schon vor Pavia 
Händel hatte, so aus der Maßen frech, daß dieser ihn mit 
einem Faustschlag ins Gesicht niederwirft. 

Florian Geyer trifft mit diesem sinnbildlichen Faust- 
schlag die ganze Wildnis und Wüstheit des Zeitalters und 
beweist, daß sein Herz dem niedern Volk, aber nicht dem 
verrotteten Pöbel gehört. Zwar liegt der Schäferhans jetzt 
bewußtlos am Boden. Aber es kommt ein Tag, da er den 
Florian Geyer zum zweitenmal treffen wird. Jetzt hat 
Florian nur seinen verräterischen Schwager Wilhelm von 
Grumbach zur Seite, und hinten im Dunkeln auf der Bank 
schläft noch immer, durch keinen Schäferhans zu erwecken, 
und auch nicht zu erwecken, als das Volk seinen Helden 
um jauchzt, und der Held zu seinem Volke spricht, die 
schwarze Marei. Man hatte ihrer und ihrer Hiobsposten 

124 



lange vergessen. Nun aber wird sie doch geweckt, und sie 
bringt stockend, unbeholfen, mavdfaul vor Müdigkeit, mür- 
risch aus Ohnmacht, mühsam hervor, was sie weiß, und 
was ihr mitgegeben ist. Auf einen Ruck sind wir damit in 
die seit Würzburg fortgeschrittene Aktion hineingerissen. 
Wir erfahren mit Florian Geyer und den andern, wie sich 
seit jenem Siegestag alles gewendet hat, wie verzweifelt es 
um die bäurische Sache steht. In der Böblinger Schlacht 
fielen gegen den Truchseß von Waldburg zwanzigtausend 
Bauern. Aber auch in Würzburg selbst steht es schlimm. 
Während sich Florian Geyer unheilvollerweise hierher nach 
Rothenburg „verschicken" ließ, wurde dort gegen seinen 
Willen und wider Versprechen* beschlossen, die bischöf- 
liche Burg anzugreifen. Nur Teilennann hatte sich wider- 
setzt. Er wurde für diese Treue zum Herrn ins Eisen ge- 
legt. Die andern samt Geyers schwarzem Haufen wagten 
den Angriff und wurden schmählich niedergemetzelt. Als 
Geyer diese Nachrichten von der schwarzen Marei emp- 
fängt, verläßt ihn sein Vertrauen zur Sache. Solange er nur 
von der Übermacht des Feindes bei Böblingen hörte, er- 
scholl immer wieder sein ermunternder Ruf: „Gen Würz- 
burg". Als er aber vom Wortbruch der Freunde hört, ver- 
stummt sein Ruf; anstatt die Rothenburger Geschütze zu 
fordern, legt er selbst Stück für Stück seine eigenen Waffen 
ab. Er denkt ans Kloster. Dieser Akt, in allen Tonarten 
spielend, endigt mit einem elegischen Akkord. In der ent- 
scheidenden Stunde, vom Orte der Entscheidung weit ent- 
fernt, hält sich Geyer damit auf, einem einzelnen Mann die 
Faust ins Gesicht zu schlagen und zum Fenster hinaus eine 
schöne Volksrede zu halten. Ist das sein Charakter oder sein 
Schicksal? Statt frischer Tat Sinnbild und Worte! 

125 



Der dritte Akt führt nact Schweinfurt. Die tiefe Nie- 
dergeschlagenheit, in der wir Florian Ge7er verließen, hat 
inzwischen alle Beteiligten ergriffen. Die Lage ist für die 
Bauern schlimmer geworden. Jetzt, da es zu spät ist, ge- 
schieht, was Geyer schon in der Würzburger Kapitelstube 
gewollt hatte, jetzt, da der rechte Augenblick bereits ver- 
paßt ist, hat der bäurische Kriegsrat einen Landtag aller 
Genossen nach Schweinfurt berufen. Aber alle Schwachen 
und Schwanken sagen ab, und der Festen bleiben nur we- 
nige. Wir sehen unsre alten Bekannten aus der bäurischen 
Gruppe nacheinander in die Schweinfurter Ratsstube tre- 
ten. Jeder weiß was Neues, keiner was TröstUches. Einer 
gibt dem andern die Schuld am Unglück. Aus allen diesen 
Vorwürfen, dieser eigensinnigen Borniertheit, diesem 
Schimpf und Groll und Zank entrollt sich eins der trüb- 
sten Gemälde deutscher Vergangenheit, deutscher Zer- 
klüftung und Zerfahrenheit: im Dienst für eine Sache das 
vielspältigste Wesen. So verläuft vom dritten Akt der erste 
Teil. 

Den zweiten Teil beherrscht Geyer selbst: still gefaßt 
und ohne Vertrauen, ein Besiegter in der Größe des Sie- 
gers. Er ist gütig gegen seine Getreuen, nimmt für seine 
Gleichheitsbestrebungen gelassen den naiven Dank eines 
hausierenden Juden hin, zerschneidet mit einem kurzen, 
messerscharfen Wort das Tischtuch zwischen sich und sei- 
nem Schwager Grumbach und ignoriert verächtlich jenen 
Jakob Kohl, der bei Würzburg den Hauptkarren verfahren 
hatte. In dieses wartende Rumpfparlament bricht eine 
gräßliche Szene ein, die auch Geyers Blut wild aufrührt. 
Ein altes Weib führt ihren zu Kitzingen beim Einzug der 
Markgräflichen mit zahllosen andern Bürgern geblendeten 

126 



Sohn herein. Im Irrsinn ist sie bekehrt zum ältesten Glau- 
ben; alle Menschen, besonders aber den Luther und den 
Geyer verflucht sie; Gott und allen Heiligen singt sie Lob. 
Der Wut uijd dem Wahn ihres Wehs begegnet Geyer sanft, 
ergeben und mildtätig. Dann aber feuert es, wie aus einem 
langverhaltenen Ejrater, flammenspeiend hervor, und sehr 
verschieden von den Hadereien, Nörgeleien und Ärgereien 
der andern, hält er ein Strafgericht über alle die Halben, 
Ungetreuen, Unverträglichen, Habgierigen, Eigenmächti- 
gen, Eitlen, die ihm seine Sache verdorben haben, „eine 
Sache, die Gott einmal in eure Hand gegeben hat und viel- 
leicht nimmer." Es ist wieder bloß in Worten ein Straf- 
gericht, aber die ganze derbe Ausdruckskraft des lutheri- 
schen Zeitgeistes steht diesem ritterlichen Helden zu Ge- 
bot, und auch das welterschütternde Hohngelächter, in das 
Goethe seinen Götz vor den Heilbronner Ratsperücken 
ausbrechen läßt. Die Macht seiner Persönlichkeit wirkt 
durch diesen emphatisch ausgeschrienen Seelenschmerz 
stärker als bisher. Er beugt sie alle nieder. Am erschüt- 
terndsten wirkt er auf den armen dicken Jakob Kohl, der 
nun ganz zerknirscht ist. Und doch! So hoch Geyer über 
den andern steht, so bestätigt und bestärkt sich der erste, 
aus der Würzburger Kapitelstube geholte Eindruck: Geyer 
ist nicht der Mann, diese tobenden Zeiten zu führen. Noch 
eh er, zum letzten Verzweiflungskampf um Leben und 
Tod, begleitet von den Treugebliebenen und einem wieder 
Treugewordenen, dem reuigen, rührend lächerlichen Jakob 
Kohl, davon schreitet, umfaucht ihn sichtbar schon ein 
Hauch des Todes. Er läßt seinen Löffelholz im Sterben 
zurück. Er rückt in ein Feld, wo er eines Feldschreibers 
nicht mehr bedürfen wird. 

127 



Während des vierten Aktes sind wir wieder in Krat- 
zers Herberge am Markt zu Rothenburg. Der Ort ist der- 
selbe, aber wie anders die Stimmung! Ringsher brennen 
die Dörfer. Der Glutschein steigt über die nächtlichen 
Dächer der Stadt. Unter den Bürgern Rothenburgs herrscht 
eine reaktionäre Strömung. Die kleinen selbstischen Inter- 
essen kommen zum Vorschein. Man will Fried im Land 
und sich ducken. Nur eine Minderheit vertraut noch auf 
den Götz und den Geyer und läßt sich von herumziehen- 
den Spielleuten die neuen Volkslieder auf diese Helden vor- 
bänkeln. Die Gegenpartei antwortet mit Spottliedern auf 
Thomas Münzer und Martin Luther. 

Der Standhaftgebliebenen Hoffen richtet sich auf den 
Schweinfurter Landtag. Als Geyer von Rothenburg nach 
Schweinfurt geritten war, scheint die schwarze Marei in 
der Herberge zurückgeblieben zu sein. Während Gevatter 
Schuster und Schneider sich , ^kleines Lauts" zur Ruhe trol- 
len, liegt sie wieder hinten auf ihrer alten Bank und schläft. 
Aber ihre Träume stehen in der Feldschlacht bei Geyer 
und seinem Tellermann. Sie ist nicht das einzig Unheim- 
liche in der jetzt so unwirtlichen Herberge. Wie aus der 
Nachtluft gebildet, steht plötzlich vor dem erschreckten 
Wirt sein gefährlichster Gast, Andreas Karlstatt, der Bil- 
derstürmer. Eine ganz gescheiterte Existenz! Mutlos und 
unwillkommen kehrt er von Würzburg zurück, das sicht- 
bare Gespenst einer verlorenen Sache. Er spricht jetzt das 
Wort aus, worin sich die ganze Tragödie spiegelt : „Hat ein 
Aussehen gehabt, als sollte der Frühling hervorkeimen, al- 
lenthalben, ist aber alles wiederum verfaulet in Finsternis!" 
Karlstatt ist nicht der einzige, der in dieser düstern Nacht 
die Herberge des armen Kratzer heimsucht. Von Marei 

128 



sofort aus dem Schlaf e heraus von weitem erkamit, kommt 
Geyer mit anderen Abgeordneten, darunter Menzingen 
und Rektor Besenmeyer, vom Schweinfurter Landtag zu- 
rück. Unverrichteter Sache! Gegen Würzburg, wo nach 
Karlstatts Äußerung die Hölle ist, Leute anzuwerben, um 
seinen schwarzen Haufen wieder herzustellen, ist auch ver- 
gebliche Mühe gewesen. 

Still in sich gekehrt sitzt er wieder an Kratzers Tisch, 
auf den seine verlorene Hand Kreidefiguren hinmalt, wäh- 
rend seine Gedanken um das deutsche Schicksal kreisen. 
Wir kennen diese Situation schon, aber wir sehen jetzt tie- 
fer in sein Inneres. Sein Lebenszweck schwindet. Sein 
Traum verschäumt: „Der heimliche Kaiser muß weiter- 
schlafen, die Raben sammeln sich wieder zu Haufen. ^^ Sein 
weit und frei gebliebener Blick, der nur manchmal das 
Nächste nicht sah, sucht über den großen Wassern das neu 
entdeckte Land, und während sich die Propheten um ihn 
her, der Humanist und der Bilderstürmer, durch gelehrte 
Disputationen über das Seinsollende die ängstliche Zeit 
vertreiben, erwacht in ihm das Weltkind. Er begehrt Mu- 
sik und Tanz. Tändelnd scherzt er mit seiner hundstreuen 
Dirne, deren lange Strähnen dem Ketzer lieber sind als das 
Haar der allerseligsten Jungfrau. Da plötzlich unterbricht 
ein anderer Ton dieses ganze müßige Brüten über ein ge- 
suchtes und nicht gefundenes Glück. Der schwerverwun- 
dete, sterbende Tellermann, den Stumpf einer schwarzen 
Fahne in der Hand, stürzt taumelnd im irren Fieberwahn 
herein. Bei Königshofen ging wieder eine Schlacht ver- 
loren. Götz hat Verrat geübt. Dieser Todeskampf Teller- 
manns mitten unter denen, mit denen er zusammenhielt, 
ist die mächtigste Szene im Drama. Es ist, als müsse nun 

9 129 



jeder Einzelne in sein Grab steigen. Wir werden keinem 
von ihnen mehr begegnen. Nur Geyer nimmt ncxdi einmal 
den stummen Dienst seiner Dirne in Anspruch. Er läßt 
sich noch einmal den schwarzen Harnisch umlegen und 
trägt sein Letztes in den letzten Kampf. Jetzt, da er einer 
göttUchen Sache gedient hat, will er keinem König mehr 
dienen. Er ist schon dem Grab vertrauter als dem Dies- 
seits. „Wo ist man die erste Nacht nach dem Tode ?" fragt 
er. „Bei Sankt Gertrauden", antwortet Marei. „Wo ist 
man die zweite Nacht nach dem Tode ?" fragt er wieder. 
„Bei Sankt Michel", antwortet Marei. „So will ich über- 
morgen Sankt Gertrauden und über drei Tagen Sankt 
Michel von euch grüßen." 

Vom alten Bänkelsänger läßt er sich eins der Volkslieder, 
die über ihn durchs Land zogen, als Nänie singen. Er 
weint. „Ihr Herren, ich schäme mich nit vor euch. Ich 
habe nit um mich geweint !" Er lächelt bitter seines Ruhms, 
seines Segens für Deutschland: „Ich hab gedacht, ich wollt 
Wandel schaffen. Wer bin ich, daß ich's gewagt." Er selbst 
fällt in den Ton der Lieder, die das Volk von ihm singt. Er 
denkt huldigend der Großen, die ihm vorangegangen sind, 
des Sickingen und des Huttea. Sein Feuer flackert noch 
einmal auf. „Lustig Brüder! Warum sollen wir nit lustig 
sein? Die heilige Agathe ging zum Märtyrertod als wie 
zum Tanz. Das heilige Mädchen Anastasia verachtete den 
Tod, und wir sind Mannskerle." Mit so grimmem Humor 
nimmt er Abschied von den Brüdern. Er nimmt Abschied 
vom toten Tellermann, der noch immer den Fahnenstumpf 
fest umklammert hält: „Willst sie nit hergeben? Ei, Bru- 
der, gib dich zufrieden. Auf Bauemehr, Bruder! Ich will 
ihr so treu sein wie du." Wie zu Schweinfurt mit seinem 

130 



Löffelholz, so ist jetzt mit seinem Tellennann ein Stück 
des eigenen Selbst von ihm abgestorben. Löffelholz war 
freilich nur sein Federkiel. Tellermann ist der Griff seines 
Schwertes gewesen. Von Geyers schwarzem Haufen, seinen 
„Dunkelknaben", bleibt nur noch Geyer selbst übrig. 

Im fünften Akt sind wir im Schloß zu Rimpar, unweit 
Würzburgs, auf dem Herrnsitz Wilhelms von Grumbach. 
Die Grumbachischen sind in großer Ängstlichkeit. Mit den 
Bauern und Florian Geyer ist es aus, und der Schloßherr 
hat sich in seiner Gier, vom besiegten Bischof Land und 
Leute zu erschnappen, so weit bloßgestellt, daß nun vom 
Zorn der Sieger Übles zu befürchten steht. Frau Anna von 
Grumbach, die harte und doch feige Huttentochter, ein 
Kind ihrer wilden Zeit, leidet an bösen Traumen, und ein 
altes Weib vermag ihr mit seinem Aberglauben nur wenig 
Trost zu schaffen. Der Schreiber Sartorius wird höchst 
übel aufgenommen, und wie bedenklich jetzt die Verschwä- 
gerung mit dem berüchtigten Geyer ist, tritt der Schloß- 
frau in unheimlicher Körperlichkeit vor Augen. 

Die schwarze Marei sollte der uns unbekannt gebliebe- 
nen Gemahlin Geyers eine letzte Botschaft bringen. Sie 
sucht diese ängstliche Dame, eine Schwester Grumbachs, 
vergeblich im Schloß ihres Bruders und steht nun trotzig, 
doppelt trotzig, weil sie von ihr mißhandelt wurde, vor 
Anna von Grumbach. Wieder ist Marei der schwarze 
Schatten, der dem Schicksal ihres Helden voranzieht. Denn 
hier auf Grumbachs Schloß wird sich das Schicksal Geyers 
erfüllen. In nächster Nähe, beim Dörfchen Ingolstadt, 
haben die Bäuerischen ihre letzte Schlacht verloren. Geyer 
war dabei gewesen. Ist er gefallen oder lebt er ? Ein hoher 
Preis steht auf seinen Kopf. Ins Schloß des Schwagers 

9* 131 



stürmt ein Rudel Ritter, ihn zu suchen. Es sind jene Rit- 
ter, die wir in ganz anderer Stimmung zu Würzburg beim 
Bischof und dann in der Kapitelstube kennen gelernt ha- 
ben. Sie mißtrauen ihrem Freunde Grumbach und kehren 
bei ihm zu einer regelrechten Haussuchung ein. Durch 
Speise und Trank setzt sich Grumbach bei seinen Standes- 
genossen wieder in besseren Kredit. Rasch, für so geübte 
Frühstücker zu rasch, herrscht allgemeine Bezechtheit, und 
sie treiben mit dem armen, gefangenen, aufs ärgste miß- 
handelten Bauernvolk ein so schnödes Spiel, daß die Zu- 
schauer im Deutschen Theater diese grausame Szene nicht 
ertrugen. Während nebenan bis zur Bewußtlosigkeit ge- 
bechert wird, schleicht auf heimlichen Wegen, zu Tod er- 
mattet, allein, Geyer herauf. Wie er gerade hierherkommt, 
wo ihn am allerehesten das Verderben treffen kann, weiß 
er selbst nicht. Er ist nun auch so weit, wie vor ihm sein 
Löffelholz und dann sein Tellermann. Er hält sich schon 
für tot. Auf der Stelle, die ihm zum Sterben bestimmt ist, 
trifft ihn sein Schatten, die schwarze Marei. Derselbe Wein, 
der nebenan seine Todfeinde aus den Siegesbechem be- 
rauscht, erlabt ihm noch einmal die ausatmende Seele. Vom 
entsetzten Schwager, der nun doch den Vogelfreien her- 
bergt, erbittet er nichts anders als „ein Stündlein Schla- 
fes". Es ist der letzte Lebenswunsch dessen, der sich selbst 
schon für tot gehalten hat. Grumbach kann diese Bitte 
nicht weigern: er versteckt ihn, aber er dvddet, daß ihn 
sein Weib, die entartete Huttentochter, den Rittern ver- 
rät. Und nun erhebt sich ein tragisches Possenspiel, eine 
Szene von weltgeschichtUcher Diabolik. Nur schwer er- 
nüchtert die betrunkenen Ritter der Anblick des einen, 
dem sie den Tod geschworen haben. Und der sterbende 

132 



Mann schreckt sie noch ebenso wie ehedem. Seine Dirne, 
die Marei, in ihre gezückten Schwerter fallen zu lassen, war 
im Nu getan. Aber gegen des einen eignes Schwert die 
Klingen zu heben, wagt keiner dieser Kavaliere. Statt ge- 
gen ihn loszuschlagen, redet man ihm gut zu, sich zu er- 
geben. Nun fühlt er noch einmal die Lebenskraft in sich: 
Einer gegen viele, die ihn fürchten. Kein Ritter kann ihn 
mehr verraten, kein Bauer kann ihn mehr verlassen. Noch 
einmal stößt ihm aus der Brust das donnernde Feldgeschrei 
seines verwehten schwarzen Haufens, der Heerruf, den 
auch die Ritter verstehen, der Heerruf „Her!" Die Ritter, 
die sich kurz zuvor über ein zusammengelesenes, schlot- 
terndes Häuflein eingefangenen Bauemgesindels so mutig, 
so tierquälerisch belustigt hatten, denen das Niederstechen 
eines wehrlosen Weibsbildes gar nichts gewesen war, stecken 
die Köpfe zusammen, und Florian Geyer müßte wohl 
am eignen Kummer sterben, wäre nicht der Schäferhans 
da, jener frumbe Landsknecht, der jetzt im Solde Grum- 
bachs steht. Er hat die Stunde von Rothenburg nicht ver- 
gessen und läßt sich das verhaßte Haupt seines Züchtigers 
gern bezahlen. So fliegt über die ratlosen Schädel der Rit- 
ter hinweg, geräuschlos, unverhofft, in die Brust des Ge- 
fürchteten der Mordpfeil eines gemeinen Söldlings, der sich 
diesen Meisterschuß mit Gold bezahlen läßt. Und während 
die Ritter noch der erlegte Löwe ängstigt, macht sich Schä- 
ferhans wie ein Schlächtergesell, der sein Handwerk ver- 
steht, über den Toten her. Den opferwilligsten Freund des 
Volks hat ein Pöbelknecht umgebracht. Und nun geht ein 
Aufschrei der Befriedigung durch die ritterliche Runde. 
Nun schachert man um das Schwert des Ermordeten. Und 
der die frohe Botschaft: Florian Geyer (der Bauer 

133 



gewordene Ritter) ist tot, am frühesten und lautesten in 
die Weite schrie, ist ein lacherlicher Kunz von der Mühlen 
(der Ritter gewordene Bauer). 

Hier ist die Stelle, an den großen Menschengestalter zu 
denken, der seit dem Jägermoritz seinem oberschlesischen 
Landsfreunde Gerhart Hauptmann immer die besten 
Dienste geleistet hat. Vor vielen Jahren haben wir den 
Amerikaner Edwin Booth bewundert, wie er es verstand, 
in ein und derselben gewaltigen Szene heute als Jago das 
Gift der Verleumdung zu spenden, morgen als Othello es 
zu empfangen. So hat in dieser großen Szene des Geyer- 
dramas während jener ersten Vorstellungen Rudolf Rittner 
den mordenden Schäferhans verkörpert und zehn Jahre 
später, als Otto Brahm wieder einen Versuch mit diesem 
Stück machte, dem gemordeten Florian Geyer selbst Blut 
und Leben, Geist und Herz und Seele gegeben. Als Schä- 
ferhans hatte Rittner den Florian Geyer getötet, später hat 
er ihn lebendig gemacht. Wer diesen Florian Geyer mit 
dem Schwert in der Faust, eine Heldenkraft im Letzten, 
sah und hörte, wird es nie vergessen. Wer es nicht sah, 
bekommt eine Ahnung davon aus dem Gemälde Lovis 
Corinths. 

Mit seinem Helden endet der Bauernkrieg. Der Krieg 
aber war doch größer als sein Held. Es ist nicht so unrich- 
tig, wenn ihm sein Schwager Grumbach zvdetzt sagt: er 
habe sich vermessen, den Fürsten und Pfaffen aufzuspie- 
len, daß sie sollten das Tanzen lernen; aber er kunnt nit 
recht spielen und so schlug man ihm die Laute am Kopfe 
entzwei. Darin Hegt in Geyers Leben die Tragik. Aber 
auch woran es ihm fehlte, führt ihn uns nah. Jene Zeit be- 
durfte eines Bismarck, und Florian Geyer war eine Kaiser- 

134 



Friedrich-Natur, wenigstens wie sie in der liberalen Le- 
gende fortlebt. 

Die Zeit hat sich ohne Geyer weiter entwickelt. Es konn- 
ten über das erste Viertel des i6. Jahrhunderts gründliche, 
gediegene und gerechte Geschichtswerke verfaßt werden, 
ohne daß Geyers Name darin genannt wurde. Das Drama 
Gerhart Hauptmanns straft diesen historischen Standpunkt 
nicht Lügen. Aber wie der historische Florian Geyer im 
Dunkeln bleibt, so tritt auch im Drama seine Gestalt nie 
ganz in den Vordergrund. Wir sind nie ganz allein mit ihm ; 
Gerhart Hauptmann haßt im realistischen Drama die Mo- 
nologe und hat ein anderes Äusdrucksmittel für das, was 
im „einsamen" Menschen vorgeht, noch nicht gefunden. 
Aber er zeigt seinen Helden auch nicht einmal im vertrau- 
lichen Zwiegespräch. Der Held steht immer vereinzelt un- 
ter vielen; er soll immer im Umrisse seiner Zeit erblickt 
werden, und es ist kaum zu bezweifeln, daß seinen Dichter 
die Zeit mehr interessierte, als der Held selber. Auf sein 
Weberdrama ließ er sein Bauerndrama folgen. Wie dort, 
so geht auch hier durch das ganze Stück der große Zug des 
sozialen Mitleids. Soziales Mitleid erweckt man nur durch 
Wahrhaftigkeit in der Darstellung mitleidswürdiger Zu- 
stande. Auch im historischen Drama ist Gerhart Haupt- 
mann seinem konsequenten Realismus treu geblieben, und 
hier mehr als je hat er bewiesen, wie unendlich reich der 
konsequente Realismus sein kann, und daß er auch ein so 
romantisches Wesen wie die schwarze Marei in sich begreift. 
Gerade in ein so insubstanzielles Wesen kann sich der kon- 
sequente Realist verlieben. Im historischen Drama ist der 
konsequente Realismus nichts anderes als historische Treue, 
und wenn man gegenüber modernen Naturalisten zwischen 

135 



niederer Wirklichkeit und höherer Wahrheit einen Unter- 
schied zu machen beliebte, so hat Hauptmann hier bewie- 
sen, daß dieser Unterschied nicht stofflich, sondern formal 
zu verstehen ist. Die niedere Wirklichkeit beschränkt sich 
auf das, was wirklich geschehen ist, auf die zufällige Tat- 
sächlichkeit. Die höhere Wahrheit aber greift in die weite 
Fülle von Möglichkeiten hinein und stellt sich nur selbst 
die prüfende Frage, ob dieses und das so und so hätte ge- 
schehen können. Die exakte, pragmatische Geschichtsfor- 
schung muß sich in diesem Sinne mit der niedrigen Wirk- 
lichkeit begnügen. Den Dichter hindert sein konsequenter 
Realismus nicht, in jenem Sinne die höhere Wahrheit 
zu suchen. Neben historische Wirklichkeiten, wie den 
Bischof von Würzburg, Grumbach, Götz, Karlstatt, stellt 
er andere, deren Namen er zwar in Chroniken fand, 
denen er aber das Fleisch und Blut selber geben muß, 
wie Tellermann, Kratzer, Anna von Grumbach, Jakob 
Kohl und zum großen Teil auch Florian Geyer. Was 
sich seiner Beobachtung entzieht, gestaltet er frei im 
Sinne dieser Beobachtung. Was er findet, verwendet 
er, und wo er nichts findet, erfindet er im Sinne des 
Gefundenen. 

Bauern, Bürger, Ritter, Mönche, Landsknechte, fah- 
rende Leute — es gibt ein Getümmel und ein Gewimmel, 
und zunächst geht, wie bei einem richtigen Volksauflauf, 
alles wirr durcheinander. Wer aber näher hinsieht, unter- 
scheidet immer deutlicher die einzelnen Gesichter. Aus 
jedem Gesicht schaut ein Wesen heraus. Der anfangs so 
mühsame Gang durch diese sechs Räume des Dramas be- 
lohnt mit der Bekanntschaft von einem halben Hundert 
lebendiger Menschen, 

136 



Mit der Menschengestaltung aber begnügte sich der 
Dichter nicht. Er hat auch den unsichtbaren Geist der 
Zeit getroffen, in die sich sein Interesse versenkte, die Luft 
der Zeit. Dazu braucht er allerdings eine sehr breite Aus- 
malung, ein liebevolles Arbeiten ins Einzelne, die ganze 
Buntheit einer nicht nur äußerlich, sondern auch im tief- 
sten Wesen bewegten Welt. So scharf der Dichter den Ein- 
zelnen ins Auge faßt, so leicht läßt er ihn laufen, weil ihm 
das Ganze mehr gilt als der Einzelne. Das Individualisie- 
rungsbedürfnis Gerhart Hauptmanns ist hier zu einer typi- 
schen Kunst zurückgekehrt, die schon in den „Webern" 
vorhanden war. Aber dadurch, daß wir an die Webertypen 
näher herangeführt wurden, mehrten sich dort die indivi- 
duellen Züge, und wir hatten mit den Personen ein inti- 
meres Mitgefühl. Die Mehrzahl der Vierundsechzig um 
oder gegen Florian Geyer wird uns nur durch das Ganze, 
zu dem sie gehören, interessant. Schauspieler, auch gute 
Schauspieler, können nicht allzuviel damit beginnen, und 
auf solcher Höhe steht unsere Schauspielkunst nicht, daß 
sie aus sechzig bis siebzig Atmungsorganen die Temperatur 
und den Dunst einer bestimmten Welt sichtlich, hörbar, 
greifbar darstellte. 

Es ist ein parlamentarischer Grundzug in diesem „Flo- 
rian Geyer". Eine Debatte löst die andere ab. Wirtshaus- 
gespräche, Disputationen, Landtagsverhandlungen erör- 
tern immer dasselbe Thema: die schwere Not der Zeit. 
Botenberichte melden, was geschehen ist oder was ge- 
schehen wird. Das Wichtigste und Entscheidendste er- 
fahren wir nicht durchs Auge, sondern durchs Ohr. Zwei- 
mal werden wichtige Vorgänge dem Publikum erst durchs 
Fenster vermittelt. In der Würzburger Kapitelstube sieht 



man durchs Fenster den Eintritt Geyers in die Stadt, 
und in Rothenburg redet Geyer durchs Fenster der Wirts- 
stube zum Volk, das unsichtbar auf der Straße steht. 
Das ist auch für das Verhältnis des Publikums zu diesem 
Drama charakteristisch. Die dramatischen Vorgänge selbst 
tragen sich auf der Straße zu, das Publikum sieht nur in 
eine Stube hinein und soll den Leuten, die durchs Fenster 
gucken, alles aufs Wort glauben. Dieses dramatische Grund- 
gebrechen zu heilen, wird die Fülle lebensvoller, tief 
menschlicher Details vielleicht erst fähig sein, wenn die 
Bühne die tragische Beseeltheit dieses vielgliedrigen 
Organismus empfinden läßt. 



ELGA. DIE VERSUNKENE GLOCKE 

Wider alles Hoffen des Dichters versagte beim ersten 
Erscheinen des „Florian Geyer" die Bühnenwirkung. 
Das zyklopische Werk versank. Tief erschüttert sah der 
Dichter ihm nach in den Abgrund. Wie düster diese 
Stunden der Enttäuschung waren, blieb kein Geheimnis. 
Mit der Aufrichtigkeit, die dem Manne ziemt und den 
Künstler ziert, hat der Dichter seinen Schmerz eingestan- 
den, als ihm unmittelbar nach „Florian Geyers" Sturz am 
15. Januar 1896 für „Hanneles Himmelfahrt" der Grill- 
parzerpreis zuerkannt wurde. Von Wien kam diese Huldi- 
gung, für die sich besonders Max Burckhard eingesetzt 
hatte, ebenso unerwartet wie kurz zuvor der Berliner 
Mißerfolg. Sie warf in des Dichters bewölkte Brust einen 
Sonnenstrahl. Erst dadurch gewann er Freiheit, den seeli- 
schen Stimmungen jener Zeit künstlerische Gestalt zu 
geben. Dieser Preis hat nicht nur ein Meisterwerk be- 
lohnt, er hat auch geholfen, ein Meisterwerk zu ent- 
binden. Er gab dem Dichter den freien Mut, zu sagen, 
was er htt. Dieser Mut hob die alte Kraft empor, und so 
erstand, während eines langen Aufenthaltes am Luganer- 
see noch im selben Jahre 1896 „Die versunkene Glocke". 
Vorher vertiefte er sich jedoch in die Werke desjenigen 
Dichters, dem jener Preis zu danken ist. Er las Grill- 
parzer und kam dabei zu der weniger bekannten Novelle 
„Das Kloster bei Sendomir". Sie ist 1828 entstanden, 
zwischen „König Ottokars Glück und Ende" und dem 
„Treuen Diener seines Herrn". Beide Stücke halten sich 

139 



in einer gewissen sarmatischen Sphäre; in ihr bewegt sich 
durchaus auch jene Novelle. Ein Schauerhistörchen, er- 
zählt von einem Dichter. Graf Starschenski, der als dienen- 
der Klosterbruder das Verbrechen des Gattenmordes ab- 
büßt, vertraut zwei zugereisten Fremden eine bitterböse 
Lebens- und Ehegeschichte an. Die Geschichte ist eine 
romantisch aufgeputzte, in polnisches Starostenkostüm ge- 
wickelte Ehebruchsaffäre. Ein älterer Mann hat ein junges, 
begehrenswertes Weib aus dem Elend aufgelesen und ge- 
heiratet. Das Weib aber hält zum Jugendliebsten, und ihr 
Kind ist nicht des Gatten Künd. Das enthüllt sich allmäh- 
lich dem Manne, er setzt das Künd aus und tötet das Weib. 
Dann entsagt Graf Starschenski der Welt, baut bei Sendo- 
mir ein Kloster, darin er dienend büßt, und erzählt dreißig 
Jahre später fremden Menschen sein Schicksal. 

Was konnte hieran Gerhart Hauptmann zur Dramatisie- 
rung reizen ? War es nur Dankbarkeit gegen den großen 
Wiener Dichter, der auf der Grenzscheide zwischen klassi- 
scher und moderner Poesie steht ? Man tut einem Dichter 
keinen Gefallen, wenn man das, was er sich selbst für die 
epische Form vorbehalten hatte, ins Dramatische über- 
trägt. Gerhart Hauptmann fühlte sich offenbar hier nach 
längerer Zeit wieder durch das Problem des Verhältnisses 
zwischen Weib und Mann getroffen. Seine vier letzten 
Werke, so verschieden sie unter sich sind, die „Weber", 
die beiden Komödien, „Hannele", „Florian Ge7er" liegen 
alle diesem Probleme fern. Nun drang es mit aufgespei- 
cherter, abenteuerlicher Gewalt auf den Dichter ein, der 
selbst in einer Seelenkrise stand. Er hatte von Altgewohn- 
tem, Liebgewesenem Abschied zu nehmen. Denn ein neues 
junges, strahlendes Leben lockte. Er stand mitten im 

140 



„Rinascimento des vierten Jahrzehntes" und empfand eine 
Erneuerung seiner ganzen Existenz als Vorbedingung wei- 
teren Glücks. Nun sah er in GriUparzers Erzählung die 
Gefahr, die einen solchen Schritt begleitet. Er las, wie 
Starschenski, ,,von Jugend auf an Einsamkeit gewöhnt, die 
Freuden des Hofes und der Stadt nur in der Freude, die 
seine junge Gattin daran zeigte, mitgenoß"; wie Star- 
schenski „bald sich in Geräusch und Glanz fügen lernte, ja 
wohl gar daran Vergnügen finden konnte, wenigstens inso- 
weit Elga es darin fand, deren Geschmack für rauschende 
Lustbarkeiten, jung und schön wie sie war, sich immer be- 
stimmter aussprach". Er las ferner, wie dieser schranken- 
lose Aufwand den Vermögensstand des Grafen erschütterte 
und schleunige Vorsorge heischte. Er las noch manches 
andere, und das Problem, wie ein stiller, einsamer, älterer 
Mann mit einer weltfrohen, jungen Gemahlin lebt, ging 
ihm näher. Es war wohl ein innerer Trieb, der ihn auch 
zu den sechs Szenen der „Elga" zwang. 

Wie Grillparzer legt auch er um den Vorgang einen Rah- 
men. Der fremde Ritter, der zur Nachtzeit ins Kloster 
kommt, wird vom Mönch Starschenski bedient, aber der 
ist kein redsehger Autobiograph, sondern unheimlich ge- 
rade in seiner Einsilbigkeit und Zurückhaltung. Seine Ge- 
stalt beschäftigt die Phantasie des einschlafenden Fremden, 
der im Traume des andern Schicksale sieht. Eine waghal- 
sige dichterische Idee, die sich auf der Bühne in starke sug- 
gestive Kraft umgesetzt hat. Solange die sechs Szenen in der 
geschickten Einrichtung des Brahmschen Theaters spielten, 
saß man in einem narkotischen Bann, und Begleitmusik 
tat das übrige, die Nerven spukhaft zu kitzeln. Über diesen 
angenehmen Alpdinick geht die Wirkung nicht hinaus. 

141 



Hauptmann hatte da, wo er von Grillparzer abweicht, 
nicht immer die beste Hand. Der Graf tötet hier nicht die 
Frau, sondern den an sich gleichgültigen Nebenbuhler, den 
Grillparzer entfliehen ließ. Vielleicht hätte er auch die 
Frau getötet, aber — der, der das alles träumt, wird gerade 
„im schönsten Moment" geweckt. Recht peinlich wirkt die 
alte, fadenscheinige Gräfin-Mutter, die ohne Rat und Tat, 
ja ohne Leib und Seele ihres Sohnes Vertraute ist in seinen 
Zweifeln und Qualen. Bei Grillparzer hat Starschenski das 
alles mit sich allein abzumachen. Das Bedenklichste ist aber 
der Träumende. Wie kommt er zu diesem Traume, was 
geht er ihn an ? Ist dieser träumende Ritter der verkleidete 
Dichter ? Derselbe Dichter, der die Technik des Traumes 
in „Hanneles Himmelfahrt" mit meisterhafter Kunst ver- 
wendete, macht hier ein äußerhches Kunststück, einen Vir- 
tuoseneffekt. Er hat das Stück lange genug verborgen ge- 
halten. Als er es dann aber doch hergab, überraschte ihn 
ein flüchtiger Sensationserfolg, wie er manchem seiner gu- 
ten Werke bisher nicht beschieden war, 

„Elga" ist kein genügender poetischer Ausdruck für das, 
was in des Dichters Seele mit doppelter Macht damals 
kämpfte: für den Konflikt zwischen alter und neuer Liebe 
und für den Schmerz um ein gestürztes großes Werk. Von 
diesen beiden Gewalten tönt erst „Die versunkene 
Glocke". 

Das Symbol der Glocke war und blieb dem Dichter, der 
so tief in christlichen Vorstellungen steckte, ein vertrautes 
poetisches Motiv. Noch Michael Kramer hört aus Glocken- 
geläute das heraus, was auf seiner Seele liegt, und sagt: „Die 
Glocke ist mehr als die Kirche . . . Der Ruf zum Tische 
i^t mehr als das Brot." Schon im Hohenhauser Liebeshain 



142 



hörte Gerhart Hauptmann den Klang der Glocke, der ihm 
Glück bedeutete. Es war die Geliebte, die mit ihrer bräut- 
lichen Hand damals des Glöckleins Klöppel rührte, so daß 
es leis hinunter dem Liebsten ans Herz schlug. Neben die- 
sem kleinen Gelegenheitsgedicht steht schon im „Bunten 
Buch" ein anderes, mit der Überschrift: „Gestorbenes 
Erz". Die Glocke ist hier das Sinnbild jener einst so frohen 
Botschaft, die niemand auf "der Welt mehr hören wolle: 

Es geht, ein verlassener Armer, 
Ihr Ton dufchs öde Land; 
Er predigt vom großen Erbarmer, 
Den Gott aus dem Himmel gesandt. 

Auch diese Glocke schon versinkt: 

Wohl hast du zu Grabe geleitet 
Manch müdes Menschenherz 
Nun ist auch dein Hügel bereitet, 
Du armes, gestorbenes Erz. 

Diese begrabene, ins Erdreich versunkene Glocke fällt 
dem Dichter zehn Jahre später wieder ein. Sie tönt ihm 
wieder. Sie soll der Welt wieder tönen. Florian Geyers 
Freund, den Rektor Besenmeyer, läßt der Dichter sprechen : 
„Es ist Sag: von wo unser Herr Jesus aufgefahren gen Him- 
mel, im Mittelpunkt der Erden, da, heißt es, hangt eine 
große Glocke, die soll einst laut und fürchterlich anschla- 
gen, so laut und so fürchterlich soll sie anschlagen, daß 
selbst die Tauben sie hören werden. Wohlan! knöpfet die 
Ohren auf, ihr Tyrannen und Peiniger Leibes und der 
Seele und merket, daß euer jüngster Tag nahet." 

Als sich Rektor Besenmeyer und Florian Geyer nach 
Jahren wiedersehn, drückt Geyer seine frohe Hoffnung 
also aus : „Die Glocke ist gar gegossen und der Pfeifer mag 
auf pfeifen; das wollen wir Gott im Himmel danken." 

143 



Begeistert rufen darauf seine Anhänger: ^^Das danken wir 
Gott und dem Florian Geyer." So tönt eine Glocke auch 
in Geyers Glück hinein. Aber ihr Ton war falsch. Florian 
Geyer unterlag. Er unterlag als Held, er unterlag ak 
„Bühnenspiel". 

Und nun kommt „Die versunkene Glocke", die den Na- 
men ihres Dichters populär gemacht hat. 

Wie Meister Gerhart am „Florian Geyer", so hat auch 
Meister Heinrich an seiner Kirchenglocke lang gegossen. 
Nun ward die Glocke, die heller klingen soll als alle frühem 
Glocken desselben Meisters. Aber wie Hauptmanns Geyer- 
drama auf dem Weg über die Bühne versank, so geschieht 
es der neuen Glocke Meister Heinrichs auf dem Weg von 
der Werkstatt hinauf zur neuen Kirche hoch oben imWald- 
gebirg. Am achtspännigen Wagen, der die eiserne Masse 
auf Bergpfaden hart neben dem Abgrund hinaufschleppen 
soll, bricht ein Rad. Die Glocke schießt viele Klafter tief 
in ein unergründliches Wasserloch. Der Meister, der sein 
Werk versinken und ertrinken sieht, stürzt „wars willig? 
widerwillig ?" nach. Freunde aus dem Dorf finden ihn in 
der Bergeinsamkeit, vor der Hütte eines verrufnen, alten 
Weibes. 

Am frühen Morgen desselben festlichen Tags, an dem 
die Glocke zum erstenmal läuten sollte, bringen sie auf 
einer Tragbahre den Glockengießer seiner Frau ins Haus 
zurück. Meister Heinrich liegt auf den Tod. Im Fieber 
sucht er nach Ursachen seines Unglücks. Er sucht sie in 
seinem verlornen Werke selbst. In eignen Zweifeln an der 
Bühnenkraft des „Florian Geyer" mag es gewesen sein, daß 
Meister Gerhart den Meister Heinrich klagen, ließ. „Ja, 
mein Werk war schlecht: die Glocke, Magda, die hinunter- 

144 



fiel, sie war nicht für die Höhen, — nicht gemacht, den 
Widerhall der Gipfel aufzuwecken ... Im Tale klingt sie, 
in den Bergen nicht . . . Noch einmal denn : mein jüngstes 
Werk mißlang. Beklommnen Herzens stieg ich hinterdrein 
. . . Sie fiel hinab, wohl hundert Klaftern tief und ruht im 
Bergsee. Dort im Bergsee ruht die letzte Frucht von mei- 
ner Kraft und Kunst. Mein ganzes Leben, wie ich es ge- 
lebt, trieb keine bessre, konnte sie nicht treiben: So warf 
ichs denn dem schlechten Werke nach ... So Glock als 
Leben, keines kehrt mir wieder . . . der Dienst der Täler 
lockt mich nicht mehr." 

Wie der Dichter der „Einsamen Menschen", der „We- 
ber", des „Hannele" im „Florian Geyer" zum erstenmal 
den Anstieg aus räumlichen und zeitlichen Engen des eig- 
nen Daseins auf die weltgeschichtliche Höhe der Jahrhun- 
derte gewagt hatte und scheinbar dabei gestrauchelt war, 
80 wollte auch Meister Heinrich fortan „im Klaren überm 
Nebelmeere wandeln und Werke wirken aus der Kraft der 
Höhen." Weil er das nicht vermochte, will er trotz Weib 
und Kindern sterben. Aber er wird auf wunderbare Weise 
gesund. Er wird „noch einmal seinen Schritt ins Leben 
wenden, noch einmal wünschen, streben, hoffen, wagen — 
und schaffen, schaffen." Dies Wunder hat kein tröstendes 
Preisgericht vollbracht. Dies Wunder, das Frau Magda zu- 
nächst ach! so jubelnd begrüßt, dies Wunder, an dem sie 
dann mit ihrem Elnäblein selber sterben soll, vollführt der 
junge Zauber eines fremden, weiblichen Wesens. Ein Mäd- 
chen küßt ihn gesund. 

Kaum erstanden, verläßt Meister Heinrich sein Dorf im 
Tal, seine Frau und seine Knaben. Er steigt hinauf zu je*- 
ncn Waldeshöhen, wo im Turm des Karchleins, das, kaum 

lo 145 



erbaut, ein Blitz zerschlug, seine versunkene Glocke erklin- 
gen sollte. Dort läßt er sich in einem verlassenen Hütten- 
werk nieder und schmiedet Schmuck für sein Liebchen. 
Das Heimatdorf ist entsetzt über so unerhörten Frevel. 
Der Seelenhirte des Dorfes macht sich auf, „das verstiegne 
Lamm zurückzuretten^^ Zunächst kanzelt dieser Pastor 
die reizende Verführerin ab: 

Du freches Ding! 
Nicht mir, dem Weib allein, noch seinen Kindern — 
Du nahmst der ganzen Menschheit diesen Mann! 

Alsbald tritt ihm dieser Mann selbst entgegen, so frei und 
leicht und stark und frühlingsfroh und königlich, wie ihn 
der gute Pfarrer nie zuvor gesehn, und auch so schaffens- 
freudig und so voller Zuversicht, wie er ihn noch nie gesehn 

hatte: 

Was in mir wächst, ist wert, daß es gedeihe, 
Wert, daß es reife. Wahrlich, sag ich euch! — 
Es ist ein Werk, wie ich noch keines dachte: 
Ein Glockenspiel aus edelstem Metall, 
Das aus sich selber klingend sich bewegt. 

Keiner Kirche gilt dies Glockenspiel der Einbildung. Es 
gilt einem Tempel der Einbildung. Aus seinem Kunst- 
handwerk ist dem Meister das Sinnbild für Höheres, für 
Unbestimmtes geworden. Der Realist schwebt zum Ideal 
empor. Der Arbeiter wird Künstler, der Schaffende wird 
Schöpfer. Selber menschlich-übermenschlich beglückt, er- 
füllt ihn ganz einMenschheitsbeglückungstraum. Die Sehn'- 
sucht, die den aufgereizten Webern aus dem Eulengebirge 
nie gestillt wurde, die Hoffnung, die sich dem sterbenden 
Bettelkind nur im Todestraum erfüllt, hier springt und 
singt sie aus dem Glauben einer Manneskünstlerbrust 

146 



hervor und jauchzet dem zu, was vorhin der Pfarrer in so 
viel engerm Sinne „die ganze Menschheit" genannt hatte. 

Und nun erklingt mein Wunderglockenspiel. 



Und wie es anhebt, heimlich, zehrend-bang, 
Bald Nachtigallenschmerz, bald Taubenlachen — 
Da bricht das Eis in jeder Menschenbrust, 
Und Haß und Groll \md Wut und Qual und Pein 
Zerschmilzt in heißen, heißen, heißen Tränen. 

Das Buhldirnchen an seiner Hand versteht ihn, denn sie 
ist in der Freiheit, in Luft und Licht auf den Höhen ge- 
boren. Der Seelsorger vom Tal unten, obwohl kein starrer 
Eiferer, sondern nur ein milder Mahner, ein geistlicher 
Onkel Schubert auf Lederose, kann ihm nicht folgen. Vä- 
terlich warnend tritt er vor ihn hin, wie einst der alteVocke- 
rat vor seinen Johannes. Er hält dem „Übcrstiegncn" nicht 
bloß seine Christenpflicht vor, sondern noch mehr seine 
Bürgerpflicht, seine Gatten- und Vaterpflicht. Von jener 
Glocke, die unten im Bergsee liegt und nun beiden ein 
Symbol des vergangnen Meisterlebens unten im Tale wird, 
weissagt der Priester: 

Sie klingt euch wieder, Meistert Denkt an mich! 

Aber mit dem häuslichen Herd, wo sie entstand, soll für 
den Meister auch die versunkene Glocke abgetan sein. Mit 
übermenschlichen Kräften arbeitet er, vom Glockengießer 
unversehens zum Baumeister geworden, an seinem neuen 
Werk (halb Kirche und halb Königsschloß), dessen „hoch- 
getürmter Bau in einsam freier Luft zur Sonnennähe seinen 
Knauf soll heben". Aber dieselben geheimen Kräfte, die 
ihm halfen, versagen sich dem Vollbringen. Dieser Mann 
der Tat, der nicht wie Johannes Vockerat die feiernde Däm- 
merstunde liebt, der nur entweder wach schaffen oder sich 



lO* 



147 



schlafend zu neuem Schaffen stärken will, fällt in einen 
qualvollen Halbschlummer. Was er träumt, ist — der 
Pfarrer hatte recht — die alte versunkene Glocke. Tief 
niedergeschlagen, ungestärkt zu neuem Schaffen wacht er 
auf und sucht bei der Liebsten vergebens müßige Labung. 
„Gib meiner Seele den erhabnen Rausch, des sie bedarf 
zum Werk!" 

Sie will ihn durch die gewohnten Genüsse trösten. Er 
aber klebt an seiner unverrichteten Sache. Siefühlt schmerz- 
lich, daß sein eingebildetes Werk ihm mehr gilt als ihre 
spielenden Reize. Aber als ihm die Nöte des Lebens, die 
Rache seiner Schuld auf den Leib rücken, schüttelt er noch 
einmal alles ab, im Hoffnungsblick auf die Geliebte: „Du 
bist die Schwinge meiner Seele, Kind, zerbrich mir nicht!" 

Und nun, da Körper und Geist im Sieg über die Mächte 
der Vergangenheit gestärkt sind, ist er wieder zum Spiel der 
Liebe bereit. Aber dieMächte der Vergangenheit sind nicht 
so ganz besiegt. Zu den Küssen der Geliebten drängt käl- 
tende Reflexion, die sich wiederum bis zur Gespenster- 
furcht erhitzt. Sein böses Gewissen — der Pfarrer hat es 
geweissagt — hört den Klageton seiner versunkenen Glocke, 
sieht, von den eignen Kindern im Krüglein dargebracht, 
die Tränen der ertrunkenen Frau, die er verließ. 

Aus nassen Grüften steigt seine Vergangenheit wider ihn 
auf; geängstigt und fluchend stößt er die sündhaft-holde 
Gegenwart des schwangeren Liebchens weg. Was er be- 
sitzt, verläßt er. Was er verloren hat, findet er nicht wie- 
der. Den ungetreuen Hausvater, den schlimmen Christen 
empfangen die Nachbarn unten im Dorf mit Steinwürfen 
und hetzen ihn wieder hinauf in die Wildnis des Waldes, 
wo er seine Bergschmiede und den Bau seiner Zukunft in 

148 



Flammen aufgehn sieht. Ein Gebrochner schleppt er sich 
bis vor die Hütte jenes verrufnen, alten Weibes, wo er 
schon einmal zu Tod erschöpft niedergesunken war. Die 
Alte ist eine kluge Frau. In ihrer Weltweisheit blitzt noch 
einmal sein ganzes Leben an ihm vorüber. Dann gibt sie 
ihm den Erlösungstrank. Und dann ist es vorbei. 

Dieses Künstlers Erdenwallen hängt nicht ab von Raum 
und Zeit. Der Dichter hat Zeit und Raum auch nur flüch- 
tig angedeutet. Als Schauplatz sind wieder dieselben schle- 
sischen Heimatberge gedacht, wo auch das Hannele her 
ist; man denkt am liebsten an das steile, dicht bewaldete 
Zackental, das von den Schneegruben nach Schreiberhau 
herunterkommt. Die alte Waldfrau spricht (ein großer 
dichterischer Gedanke) im Dialekt der Weber. Aber in die 
Bergbezirke Rübezahls zog fremde Kultur ein. Was Hein- 
rich der Glockengießer in seinen guten Bürgerjahren schafft, 
deutet auf Blütezeit und Blüteort des deutschen Kunst- 
gewerbes. Als Gerhart Hauptmann zugunsten Florian 
Ge7ers jene fränkische Forschungsreise unternahm, bannte 
seine entzückten Sinne fast noch mehr als Rothenburg und 
Würzburg die alte Stadt Nürnberg mit ihren Kunstschätzen 
und Künstlererinnerungen. Schon sein „Florian Geyer" 
sprach das Wort: „Gott grüß die Kunst" aus der vollen 
Seele Adam Krafts, Veit Stoßens, Peter Vischers. Nun 
schmücken Werke Peter Vischers und Adam Krafts auch 
die gute Stube des schlesischen Glockengießers, der in sei- 
nen Wander Jahren gewiß einmal die Glocken von Sankt 
Lorenz und Sankt Sebaldus hat läuten hören. Seine Haus- 
frau Magda darf ehr- und tugendsam gekleidet gehn, wie 
die Frau des Hans Sachs oder des Dürer, obgleich ihre Kin- 
der den Vater Papa nennen, obgleich Tabakspfeife und 

149 



Schwefelhölzchen sogar für Waldteufel schon im Gebrauch 
sind. Aber auch die finstern Seiten jenes glänzenden Zeit- 
alters deutscher Kunst treten hervor: ein qualmiger Ab- 
glanz der Florian-Geyer-Läufte. Für Ketzer und Sünder 
brennen Scheiterhaufen im Land. Die Alte im Walde gilt 
den Leuten als Hexe, die man schmoren sollte, und nur ein 
rationalistisch angewehter Schulmeister, der wieder aus Ni- 
colais achtzehntem Jahrhundert zu stammen scheint, wagt 
sich zu der nüchternen These vor: „Hexen gibt es nicht!** 

Jener Volksaberglaube und diese Anachronismen schlu- 
gen dem Dichter die Brücke, um aus der Künstlertragödie 
ins Märchendrama zu gelangen. „Die versunkene Glocke** 
ist das erste Märchendrama, das Gerhart Hauptmann für 
die Bühne vollendete. „Hannele** wurde fälschlich so ge- 
nannt. Bei „Hannele** liegt alles Ereignis in den Grenzen 
irdischer Wirklichkeit. Was dort überirdisch erscheint, voll- 
zieht sich nur im Fiebertraum des Kindes, der an sich auch 
eine irdische Wirklichkeit ist. Die verderblichen Geister 
der „Versunkenen Glocke** hingegen führen in ihrer über- 
menschlichen Existenz ein reales Leben. 

Die Bühnendarstellung, die den Traumgestalten Hanne- 
les etwas Subsistenzloses, Schemenhaftes geben muß, darf 
hier bei diesem Wald- und Bergspuk fest ins Fleisch und 
Blut gehn. Von der Illusion des Zuschauers wird der sichere 
Glaube an diese Zauberwesen gefordert, denen der Dichter 
Böcklins Farbenfülle und Lebenswärme, denen er auch et- 
was von Böcklins Humor gab. 

Überall greifen diese Geister leibhaftig ein, wo sich des 
Glockengießers Schicksal wendet. Jenes Wagenrad, das er 
am liebsten, wie das feurige Sonnenrad der Sage, zündend 
durch die Welt triebe, zerbricht der bocksfüßige, ziegen- 

150 



bärtige Waldschrat, ein urgesunder, munterer Bursch 
von strotzender Naturkraft, lustig, genußfroh, unanständig 
und stark, in seinem menschenfeindlichen Schabernack von 
naiver Grausamkeit, wie ein Knabe, der Fliegen quält; zer- 
störend wie ein Orkan, der durch die Baumkronen tobend 
bricht, doch ohne Größe. Seinen heidnisch-weltlichen Sinn 
ärgert das Glockengebimmel. Die Glocke stürzt daher in 
den Bergsee und gelangt so auf das Gebiet eines frosch- 
artigen Wasserkönigs, des aristophanischen Nickelmann, 
der an die Schwerkraft des Erdmittelpunktes so verhaftet 
ist, daß er aus seinen Brunnenbecken und Wassertrögen im- 
mer nur auf Nabelhöhe emporsteigen kann. Er hütet die 
versunkene Glocke, und er sieht auch, ihm selbst ein schau- 
riges Wunder, wie Heinrichs Frau, die vor Gram ins Wasser 
ging, mit ihren Totenfingern dort unten der Glocke Klöp- 
pel rührt, so daß sie laut herauf dem Meister ans Gewissen 
schlägt. Der Wassemiz ist kulturbeleckter, tiefsinniger, 
schwermütiger als der Waldneck. Er ist schon ein philo- 
sophischer Frosch. Er kennt die Sehnsucht. Ihn plagen die 
Grillen seiner Eifersucht. Bedachtsam und betrachtsam, 
auch verachtsam blickt er von seinen Brunnenrändern ins 
Menschliche hinein. Wenn den Waldschrat die Menschen 
stören, so stellt er ihnen ein Bein: er wirkt körperlich gegen 
ihre Körper. Nickelmann hingegen macht sich seelisch be- 
merkbar. Er quält den Menschen, der ihn ärgert, mit Alp- 
druck. In seiner Welterfahrung ist er mit christlichen An- 
schauungen so vertraut, daß er wie ein Pfarrer den strafen- 
den Gott, das Schreckgespenst von Schuld und Sühne, vor 
ein beladenes Gewissen zu zaubern vermag. Mit derselben 
Glocke, die der Waldschrat ins Wasser stieß, läßt Nickel- 
mann dem Glockengießer ins Gemüt läuten; denn er miß- 

151 



gönnt ihm das Liebchen. Nickehnann streckt seine f euck- 
ten, tausendjährigen Arme nach dem reizenden Kind aus, 
das er an eines Menschen Brust glühend erwarmen sieht, 
das bald auch ein Menschenkind unter dem Herzen trägt. 
Und wirklich, als auch sie vom Glockengießer verstoßen 
wird, als sie der Mensch zerbrach, zieht der Wassermann 
auch sie herab in seinen Brunnen und in seinen Schlamm. 
Berührt von Menschlichkeit sinkt das luftige, leichte Wald- 
vöglein schwer in „der Erde moderigen Schlund" zu Krö- 
ten und Fröschen. So fällt eine Blüte ins Erdreich zurück, 
und aus ihrem Samen wächst dann neues Grün und Blühn. 
Auch dieses liebliche Eand, Rautendelein (hochdeutsch 
Rot-Annchen), ein Elfchen unter Elfen, ist in seinen Ein- 
wirkungen auf menschliche Schicksale kein guter Geist. Sie 
kennt sich und erzählt wie Shakespeares Puck selbst von 
ihren kleinen Schandtaten. Sie gehört nicht zu denen ihres 
Geschlechts, von denen Ariel vor dem Lager des schlum- 
mernden Faust sagt: 

Kleiner Elfen Geistergrdße 
Eilet wo sie helfen kann, 
Ob er heilig, ob er böse. 
Jammert sie der Unglücksmann. 

Als Rautendelein helfen möchte, ist es zu spät. Denfn 
sie selber ist es, durch die ihr Unglücksmann, der Glocken- 
gießer, entheiligt wird. Ihn verwandelnd, verwandelt sie 
sich selbst. Der Waldschrat, mit dem sie auf dem Neck- 
fuße steht, war naiv und bleibt naiv. Nickelmann, der mit 
ihr äugelt, ist längst sentimental geworden. In Rauten- 
delein geht eine Entwicklung vor. Sie war naiv und wird 
nun sentimental. Anlage zu dieser Wandlung war im- 
mer da. Schon früh beschäftigt sie ihre dunkle Herkunft. 



Aber sie ist rasch getrost: ,,Kann es nicht sein, füg ich mich 
drein". 

Doch als dem Kindersinn dieses unbekannten Wesens 
ein Menschenherz nahe tritt, lernt sie, die bisher nur la- 
chen konnte, auch weinen. Sehnsucht überkommt sie zu 
den Menschen. Sie möchte es ihren Bergbächen, dem 
Zacken, der Elbe nachtun: 

Da ist kein Wässerlein so dflnn und klein, 
Es will und muß ins Menschenland hinein. 

Nickelmann warnt: 

Laß du die Knechtlein ihrer Wege gehn, 

Den Menschen Wäsche waschen, Mühlen drehn, 

In ihren Gärten wässern Kohl und Kraut, 

Ich weiß nicht, was verschlucken, brrr, mir graut. 

Aber Nickelmann warnt und fleht umsonst. 

Rautendelein eilet nun wirklich zu helfen. Als heilende 
Fee tritt sie an das Sterbelager des Glockengießers. Sein 
Leib wird gesund, aber seine Seele bleibt im Banne der, die 
seinen Leib genesen ließ. Rautendelein zieht den Sterb- 
lichen in ihren Zauberkreis. Unter ihrem Kusse scheinen 
sich ihm „alle Himmelsweiten^^ zu öffnen und „ahnungs- 
weis ergreift er ihre Welt". Er folgt ihr nicht am Gängel- 
band. Gerade an ihr entfaltet sich seine Persönlichkeit 
freier. Zwischen Elfchen und Menschensohn entsteht ein 
Verhältnis von gegenseitigem Geben und Empfangen. Er 
wird Übermensch, wenn auch nur in seinem Willen; sie 
wird menschlich, wenn auch nur in ihren Wünschen. 
Elaum ist sie ihm nah, so tritt an sie die Auffassung heran, 
die von ihr und ihriesgleichen unter Menschen gilt: 

Aber wir dienen iroh und bereit, 
Weil uns beherrschet, der uns befreit. 

153 



Sie ahnt etwas von einem Bann, von dem Geister ihrer 
Art zu erlösen wären, von einem Fluch, unter dem sie alle 
stehn, wissend oder nicht wissend. Sie nähert sich der 
christlichen Anschauung, daß in verderblichen Geistern 
ihrer Art das Heidentum der alten Gottheiten weiterspukt, 
und sie muß sich den Spott des Waldschrats gefallen lassen: 
„Den Heiland wirst du nicht gebären". Indem sie aber 
den Menschen durch ihre natürhche Wildheit entheiligt, 
wird sie selbst durch ihn heiliger. Wie sein Fleisch und 
Blut in ihrem Körper zu quiUen beginnt, so geht auch das 
Stück Christentum, das er verliert, in sie ein. 

Er dagegen ist schon ein halber Heide. Wie die alten 
indogermanischen Sonnenanbeter schwört er schon „bei 
Hahn und Schwan und Pferdekopf", den Symbolen des 
Sonnenkults. Die christliche Legende vom verlornen Sohn 
muß sich in seiner Anschauung mit Gott Freir vertragen. 
Aus seinem überspannten, von ihr gesteigerten Selbstbe- 
wußtsein heraus sieht er in sich eine Einheit von Christus 
und dem heidnisch-germanischen Licht- und Frühlings- 
gotte Baidur. Der tote Heiland soll „strahlend, lachend, 
ew'ger Jugend voll, ein Jünghng, in den Maien niederstei- 
gen." Wie dem Fiebergesicht Hanneles der Geist Gottes 
in geliebter Menschengestalt erscheint, so bildet sich im 
Glockengießer eine heidnisch-christliche Zweieinigkeit von 
Geist und Natur aus. 

Seines Mädchens Zauberkünste, mit denen sie die äußere, 
sinnliche Natur beherrscht, wollen ihm auch die Wege 
zur höchsten innern, geistigen Vollkommenheit ebnen. 
Heinrich aber kann diese Wege so wenig wandeln, wie Rau- 
tendelein ihm diese Wege ebnen kann. Er erwehrt sich: 
„Ich aber bin was mehr als solch ein Falter!" Sie jedoch 

^54 



ist kein Waldschrätlein und darf mit tiefem Ernste fragen: 
,,Und ich i bin ich nicht mehr als solch ein Kind V* Diese 
beiden, die miteinander ihr Bestes getauscht haben, zer- 
brechen aneinander; beiden wird derselbe Zwiespalt ihres 
Innern klar : „Fremd und daheim dort unten — so hier oben 
fremd und daheim!" Der Ruf der Urheimat zieht jedes 
von beiden wieder dorthin, woher es kam. Mit den dump- 
fen Schlägen seiner versunkenen Glocke treibt den Men- 
schen das Gewissen weg, und Rautendelein sinkt über den 
Brunnenrand in Nickelmanns feuchtes Gebiet. Die Elfen- 
welt trauert über Baldurs Tod. Aber den sterbenden Bai- 
dur umschwebt mit der ganzen Unbestimmtheit des Trau- 
mes, bald fern, bald nah, bald unbekannt, bald innig ver- 
traut sein blasses, mattes, schon schmerzlich und schwer an 
seiner Liebe tragendes Verhängnis. Noch einmal umweht 
ihn ihr Uchter Geist, noch einmal fühlt er die alte ELraft 
seiner Hände, aber beides flackert zum letztenmal auf, und 
dann stirbt Heinrich der Glockengießer in den Armen 
seiner Elfe; die Wirklichkeit stirbt am Märchen und im 
Märchen. 

Dieses Märchen, aus Leben und Phantasie zusammen- 
gewoben, hat einen Schluß, in dem sich das Gewebe zu 
verwirren droht. Beide Welten fluten schließhch durch- 
einander wie im Traume, wo dieses Gewebe allein ReaUtät 
hat, wo diese ReaUtät gerade in ihrer Verworrenheit be- 
steht. So geht der Dichter des Hannele zuletzt auch hier 
auf einen Todestraum aus, und zuletzt steht auch hier wie- 
der die Bühne vor der schweren Frage, wie sie das Unbe- 
greifliche begreifen, wie sie Symbole realisieren soll. 

Zwischen Geisterwelt und Menschenwelt ließ der Dich- 
ter eine vermittelnde Gestalt treten. Es ist jene alte Frau, 

155 



vor deren Hütte der Glockengießer zweimal im Sterben 
liegt. Sie hat in beiden Welten ihren Platz. Für die Men- 
schen im Dorf ist sie die alte Wittichen, ein Weib wie 
andere mehr, die im Hexenrufe stehn; für die Geister ist 
sie die „Buschgroßmutter", von der Rautendelein ihre Zau- 
berkünste gelernt hat. Diese Alte tritt nur zweimal in den 
Vordergrund: ganz zu Anfang und ganz gegen Schluß. 
Dort gehört sie mehr zur Geisterwelt, denn sie füttert mit 
brummiger Güte die kleinen Kobolde des Waldes, und auch 
Waldschrat nennt sie Großmutter; die Menschen aber, die 
gegen sie zetern und zagen, läßt sie ihre geistige Überlegen- 
heit fühlen, eine unerschütterliche Ruhe der Verachtung; 
sie ist unter den Geistern die Einzige, die Größe hat. Was 
dem Glockengießer nicht glückt, Mensch zugleich und 
Übermensch zu sein, ist dieser uralten Frau gelungen. Sie 
weiß all seine Schmerzen und steht über solchen Schmer- 
zen. Wie sie ihren kleinen Holzmännerchen und Holzwei- 
berchen wohl getan hat, so erweist sie zuletzt, wo sie Mensch 
beim Menschen steht, auch ihm eine Wohltat. Sie braut 
ihm Tränke, die ihn von den Qualen des Lebens erlösen. 
Und in ihre Weine mischt sie Wahrheiten und Weisheit. 
Sie ist einsilbig und regt doch mit kargen Worten die Er- 
kenntnis seiner selbst breit in ihm auf. Die verrufne Hexe 
setzt ihm ein christliches Wort wider die Brust: er ward 
berufen, aber nicht auserwählt! Sie weiß es, daß ihm seine 
Toten zu mächtig sind. Und sie, die das Leben ihm 
nicht gibt, sondern von ihm nimmt, wird ihm wie eine 
Mutter. 

Die alte Wittichen steht skeptisch über religiösen Din- 
gen. Sie kümmert sich weder um Baidur noch um Christus. 
Von Freia und Freir, von Loki und dem Meister Thor, 

156 



die in den Vorstellungen der andern Geister noch leben 
und herrschen, will sie so wenig wissen, wie von dem Gott, 
mit dessen Kreuz ihr der Priester entgegentritt. Sie hält 
es mit der sichtbaren Sonne, die, wie sie selbst, weltlich 
ist und überweltlich scheint. Aus der unmittelbarsten Na- 
turanschauung, der erhabensten Bedingung alles Lebens, 
nimmt sie ihr Gleichnis der Größe. Von dem Menschen- 
sohne, der zertreten vor ihr liegt, dem sie raten und helfen 
soll, sagt sie das stolz-mitleidige Wort: „Der dort hat die 
Sonne nie gesehn". Sie selbst aber sieht die Sonne. Sie 
begrüßt sie schon frühmorgens nach altheidnischer Vor- 
stellung als das güldne Ei, das dem — Sonnenaufgang ver- 
kündenden — Hahn seine Henne gelegt hat. 

Auch Nickelmann, der Wassergreis, fühlt sich der Sonne 
näher als das arme Menschenvolk, von dem er verächtlich 
spricht: 

Mit Schmachterarmen langt es nach dem Licht, 
Die Sonne, seine Mutter, kennt es nicht. 

Baldur ist ihm ein „Sonnenbote", der den Köcher mit 
den „Sonnenpfeilen" trägt. Auch in Rautendelein, dessen 
goldenes Haar aus Sonnenstrahlen gesponnen ist, lebt die- 
selbe Vorstellung. Im Geliebten erscheint ihr Baldur, der 
Sonnenheld. Aber Meister Heinrich, der Mensch, sucht in 
sich selbst vergeblich den Sonnenhelden. Das mächtige 
Gottesauge, um das alle diese Geister schwärmen, wird 
auch ihm zum Sinnbild seines höchsten Strebens. Im Fie- 
ber schreckt ihn der Gedanke, daß die Sonne flieht. Als er 
sterben soll, beglückt ihn der Glaube, daß die Sonne kommt, 
daß ihm seine Glocken aus der Sonne klingen. Zeitlebens 
sucht er die Sonne. Ihren Untergang begleitet seine 
Klage: 

157 



Die Sonne, allen Purpur um nch hüllend, 
Steigt in die Tiefen . . . läßt uns hier allein, 
Die wir, des Lichts gewohnt, nun hilflos schauem, 
Uns ganz yerarmt der Nacht ergeben müssen. 

Die Sonne ist ihm Urmutter. Sie wird ihren verirrten 
Kindern das Erlösungsfest geben, das nach alter heidnisch- 
christlicher Übergangsvorstellung Baidur und Christus, bei- 
den in einem, gelten soll. Für dieses Fest war Heinrichs 
Tempel besummt. 

Ich bin der Sonne ausgesetztes Kind, 
Das heim verlangt; und hilflos ganz und gar. 
Ein Häuflein Janmiers, grein ich nach der Mutter, 
Die ihren goldnen Arm sehnsüchtig streckt 
Und nie mich doch erlangt. 

Der Stoff des Märchendramas scheint einen andern Stoff 
verdrängt zu haben, von dem nur wenige Szenen fertig 
wurden. Das Fragment ist in den „Gesammelten Werken" 
gedruckt; ein Beweis, daß es der Dichter nicht fortsetzen 
will. Es gibt Ratsei auf, die kaum zu lösen sind. Ein jun- 
ger, kranker König läßt sich nachts auf das Meer rudern, 
um auf dem Meeresgrund Glocken läuten zu hören, ver- 
sunkene Glocken, die jeder hören und wieder hören muß, 
der sie einmal gehört hat, vergehend in Sehnsucht nach der 
Tiefe. Man denkt an Vineta, man denkt auch an Ludwig 
den Zweiten von Bayern. Alles ist mit dem König und um 
den König herum krank und matt: der Spielmann und der 
Schalksnarr, der alte Koch und sein Lehrjunge; ja sogar der 
schöne urgermanische Krieger sieht ein wenig blaß. Ort 
und Zeit liegen ganz im Unbestimmten: Wechsel von Hei- 
dentum und Christentum, Völkerwanderungsvorstellungen, 
orientalischer Menschenschacher, Verfall; alles deutet sich 
an, alles spukt hinein ins Kellerloch der Handlung, das an 

158 



Nickelmanns Schlünde erinnert. Aber in diese Finsternis 
bricht plötzlich ein Strahl des Lichts. Ein „Sonnenkind** 
erscheint, ein junger, schlanker, kecker, heiterer Knabe mit 
goldenem Gürtel. Draußen ist es Nacht. Die Sonne hat 
sich im Westen verblutet. Der Mond bescheint den König 
im Ruderboot. Der Knabe blickt dem schönen, jungen, 
kranken König ins Gesicht und versinkt entzückt ins Schauen. 
Was weiter geschieht, wissen wir nicht. Wird dieser König 
der Nacht, der auf dem Heidenmeer schwimmt, auch den 
Knaben verdüstern wie all sein Volk ? Oder wird der Knabe, 
wie der junge Tag, die Sonne wiederbringen ? Der Knabe 
heißt „Helios", und seine Sehnsucht geht nach dem tan- 
zenden, singenden, spielenden Apoll. Von diesem liegen- 
gebliebenen Heliosgedicht scheint der Dichter den Sonnen- 
kult und einige Gedanken an die Vinetasage, die ihm auf 
Rügen nähergetreten war, in die „Versunkene Glocke" her- 
übergeholt zu haben. 

Wie Ikaros, fliegt auch Heinrich der Glockengießer zur 
Sonne. Er hebt sich von der Niederung, wo ihm Herd und 
Werkstatt mäßig gediehen. Sein Denken sucht eine über- 
irdische Kunst, sein Fühlen eine übermenschliche Liebe. 
Am Übermaße dieses Doppelwollens stürzt er und sinkt 
mit allen seinen guten und bösen Geistern der versunkenen 
Glocke nach. Der Dichter des „Florian Geyer" aber stand 
nun lichtumflossen da, im wundersamen Schein einer hö- 
heren Poesie. Er kam durch dieses Werk in Mode. Aber 
gerade das, was den Zauber der „Versunkenen Glocke" aus- 
macht, das Übersinnliche, Übermenschliche, märchenhaft 
Sinnbildliche ist nicht ganz schlackenfrei. So köstlich Nik- 
keimann und auch der Waldschrat, so berückend Rauten- 
delein in unholdholde Zauberkreise ?ieht, so fein in ihrer 

159 



schattenhaften Entfemtheit die alte Großmutter über das 
Leben gestellt ist, so spukt doch allerhand blecherner Fabel- 
kram umher, wie die Zwerge in Meister Heinrichs Höhen- 
werkstatt, die Ausweitung des Glockenmotivs zum Tempel- 
motiv, die undurchsichtige Symbolik der drei Becher, aus 
denen Heinrich Kraft, licht und dann doch den Tod 
trinkt. 

Der Dichter hatte sich hier starken Eigenwillens be- 
geben. Er rief sich den Goethe des zweiten Faustteils und 
den schlegelisierten Shakespeare des Sommemachtstraums 
zu Hilfe, und diese Muster halfen ihm nun, eine Vers- 
sprache schmieden. „Die versunkene Glocke** war das erste 
dramatische Werk Gerhart Hauptmanns, worin er nicht 
mehr künstlerisch revoltierte. Als man es ihm ohne Vor- 
wurf sagte, ward er stutzig und bewies sofort, daß er seine 
Urkraft nicht an schöne alte Traditionen verloren hatte. 



XI 

DAS HIRTENLIED. FUHRMANN HENSCHEL. 
SCHLUCK UND JAU. MICHAEL KRAMER 

Der große Erfolg, der rasche Ruhm wirkt auf einen 
Dichter, dem alles Erlebnis nahe geht, erschütternd. 
Gerhart Hauptmann war von Freund und Feind als „kon- 
sequenter Naturalist" eingeschrieben. Mit dieser Marke 
galt er hier als Vemichter, dort als Erlöser. Und doch er- 
rang er seinen Weitsieg erst durch Abkehr vom konsequen- 
ten Naturalismus. So fand er in sich selbst ein künstleri- 
sches Problem. Er durfte sich nicht auf ein Prinzip fest- 
legen; er konnte aber auch nicht sein Naturell verleugnen. 
So geht er seitdem als Schätzegräber bald in die Ferne, 
bald kehrt er wieder heim. 

„Gott grüß die Kunst", rief Florian Geyer zu Zeiten 
des Bildersturms. Nun trat vor Hauptmanns selbstprüfen- 
der Phantasie Gottes Engel an einen „armen Künstler" 
heran, der arbeitmüde und untätig damiederliegt. Vor 
Hanneles Bett stand der Todesengel. Vor dem Lager des 
„armen Künstlers" steht der Engel seines Lebens. Er wiU 
ihn in die „Heimat" führen. Das Wort Heimat wirkt auf 
den „armen Künstler" wie Alltäglichkeit, Niedrigkeit, Ge- 
meinheit; deshalb lästert er Gott: „Das Brot, das in dem 
Kot der Straße liegt, ist mir zum Ekel. Bücke sich, wer 
will, es aufzuheben. Weiß mir Gott im Himmel nicht 
reinere Speise, meid ich seinen Tisch . . . Wo hat ihm 
einer treu wie ich gedient i Ich hab ihm rein bewahrt die 
reine Flamme, warum versagt er mir das heilige öl ? Mit 
Talg von Schweinen mag ich sie nicht nähren.' 



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i6i 



Schweinetalg oder ähnliche dem Schweinernen entnom- 
mene Vergleiche hatte Hauptmann über sein frühstes Dra- 
ma und auch über die „Weber", ja sogar über „Hannde" 
genug zu hören bekommen. Wollte nun dem Dichter der 
„Versunkenen Glocke" selbst vor den Konsequenzen seines 
Naturalismus bange werden ? Sein „armer Künstler" sieht 
mit Grauen diesen „Heimweg" vor sich: „Durch abgelegne 
Gassen muß ich schleichen, in Keller kriechen, die nach 
Fusel duften, muß Speise schlingen, die mich ekelt, muß 
Gestank, verdorbne Dünste in mich atmen. Dort, wo die 
Pest des Lasters ewig frißt, Verworfenheit Gott schändet, 
wo der Mensch, ein viehisch Zerrbild, sich im Schlamme 
wälzt, ist meine Wohnung; dorthin führt mein Weg." 

Solch ein Jammer schrie schon einmal aus dem „Prome- 
thidenlos". Den „armen Künstler" fesselt ein Idealwerk, 
aber es will ihm nicht glücken. Er sucht es nicht in der 
ScheußUchkeit des Realen und Gegenwärtigen; er malt, 
an einem Bild aus legendarischer Nomadenzeit: Rahel am 
Brunnen. Da lacht ihn sein guter Engel aus : „Armer, armer 
Mann! Wie willst du malen, was du nie gesehn?" Und 
nun führt ihn dieser seraphische Realist ins biblische Hir- 
tenland und reaUsiert ihm das Ideal, vergegenwärtigt ihm 
die Ferne. Raheis Anblick („kein Füllen ist so wild und so 
gesund in Labans Herden") gibt dem Ermatteten eine wahre 
Jakobskraft; er vermag den Stein vom Brunnen zu wälzen. 
Rahel heißt diesen starken Fremdling willkommen. Sie hält 
ihn für ihren Vetter Jakob selbst, den versprochnen Bräu- 
tigam. Nun hätte er auch Kraft genug, Rahel, die „wilde 
Blume", zu malen, weil er sie sieht, weil er sie liebt. Aber 
weil er für sie Jakob wurde, so hört er auf, Maler zu sein, 
und wird auch für sich selbst Jakob. Der Künstler und sein 

162 



Gegenstand werden Eins. Nur der Romeo in Shakespeare 
konnte Juliens Bild, nur der Werther in Goethe Lottens 
Gestalt schaffen. 

Aus dieser Einswerdung von Kunstobjekt und Künstler, 
die der pantheistischen Einswerdung von Schöpfer und 
Schöpfung entspricht, die aber auch das künstlerische 
Schaffensgebiet über Erfahrung und Beobachtung hinaus 
in die Unendlichkeit der Phantasie steigert, hat Gerhart 
Hauptmann mitten im jungen Nachruhm der „Versunke- 
nen Glocke" einen dramatischen Akt geschaffen, der an 
Tiefe und Größe beinahe die ganze „Versunkene Glocke" 
übertrifft. Es ist prachtvoll, wie hier jedes Wort eine Seele 
hat, jedes Wort nach innen und nach oben weist. Man 
möchte diesen einen Akt als Ganzes, Rundes, Abgeschlos- 
senes anerkennen. 

Aber es ist nur der erste Akt, richtiger nur der Prolog 
einer dramatischen Dichtung, die eigentlich erst im zwei- 
ten Akte beginnt. Sie heißt „Das Hirtenlied". Jakob, 
in dessen Gestalt die des „armen Künstlers" verwandelt 
ist, steht mitten im Hirtenland bei Laban und Labans 
Töchtern. Laban stellt die bekannte schwere Bedingung: 
erst Lea, dann Rahel! Die ersten sieben Jahre sind um. 
Lea zehrt sich in Sehnsucht nach Jakob ab. Rahel — „die 
Kinder Gottes harren aus der Ferne, wenn sie vorübergeht, 
bis sie sich neigt, und Cherubime senken ihre Augen" — 
Rahel rechnet auf Jakob. Und es geht anders zu, als in der 
naiven mosaischen Legende. Lea und Laban werden senti- 
mental. Lea, anstatt rücksichtslos den ihr bestimmten 
Mann ins erlaubte, lang ersehnte Ehebett zu ziehn, beklagt 
gutschwesterlich die „arme Rahel", die auf ihr Glück noch 
sieben Jahre warten soll, und Laban gibt schließlich klein 



XI» 



163 



bei. Am Ende des zweiten Akts entscheidet er tügüntten 
Raheis. Es scheint, als hätte Lea das Nachsehen, als hatte 
sie sieben Jahre umsonst gewartet. 

Hier stockte der Dichter. Der Künstler ließ Raheis Bild 
fallen. Hatte ihn sein guter Engel doch irregeführt ? Der 
Dichter brach schroff ab, ließ ideale Feme ideale Feme, 
Mesopotamien Mesopotamien, das „Hirtenlied^ „Hirten- 
lied^' sein und kehrte trotzigen Laufschritts ins BLaus seiner' 
eignen Kindheit heim, nach der „Preußischen Krone'' zu 
Salzbrunn in Schlesien. Sein guter Engel führte ihn doch 
in die „Heimat^^ In dieser jähen Flucht nach Hause lag 
etwas wie Angst, den eignen Urboden unter den Füßen zu 
verlieren. Oder wollte er nur sich und andere überzeugen, 
daß er noch immer fest und stark auf seiner Vatererde 
stand? So wurde das „Hirtenlied^^ das leider liegen ge- 
blieben ist, durch ein Meisterwerk ganz anderer Art ver- 
drängt: durch „Fuhrmann Henschel". 

Stofflich steht dieses Schauspiel neben den „Webern*' 
und „Sonnenaufgang'^ Aber als es mir der Dichter im 
Herbst 1898 in seiner damaligen Grunewaldvilla beim 
Abenddämmerschein wunderbar stimmungsvoll aus der 
Handschrift vorlas, als beim letzten Lichte des September- 
tages durch Dichters Mund Fuhrmann Henschel mit dem 
Gespenst seiner toten Frau redete, überliefen uns zwei Hö- 
rende Schauer der Unterwelt. Man empfand, daß das große, 
gewaltige Schicksal, gepackt durch Dichterfaust, von Zat 
und Art, von nah und fem, von alt und neu, von hoch und 
niedrig unabhängig ist. Man sah das zweite Gesicht dieses 
Dramas. 

Für die Erlebnisse Henschels schwebte dem Dichter sdn 
Elternhaus vor, da er noch Kind war. Er verlegt die 

164 



Geschehnisse in einen schlesischen Badeort und in die 
sechziger Jahre, als noch keine Eisenbahn dorthin ging, ab 
Fuhrleute noch auf ihre Kosten kamen. Er erwähnt die 
schlecht ausgenützte Heilquelle im Hof und die mißlichen 
Finanzen des Eigentümers, der dem einfachen Fuhrmann, 
seinem Mieter, verschuldet ist und deshalb ein um so willi- 
gerer Vertrauter seiner Seele wird. Das Stück kommt aus 
diesem Gasthofe nicht heraus; nur da ist das enge Zusam- 
menrücken beteiligter Menschen möglich, aus dem die tra- 
gische Katastrophe entsteht. Im Souterrain die Stube des 
Fuhrmanns, der im Hof seine Ausspannung hat. An der 
Einfahrt die Schenkstube, wo bei Wermelskirch kleine Leute 
verkehren und den Nachbarntratsch schüren, wo das Ohr 
Galeottos lauscht. Als unbetretenes, nie zu betretendes 
höheres Gefild darüber die herrschaftlichen Zimmer und 
Säle des Hotels, aus denen herab zu Henschels Keller sorg- 
sames Wohlwollen, aber auch — spaßhaft gestaltet — das 
Verhängnis dringt. Lust und Schmerz, Kampf und Hoff- 
nung, Leben und Tod stehen unter einem Dach, von vier 
Mauern umschlossen. 

So zusammengefaßt, wie äußerlich, ist das Drama auch 
innerlich. Wenn man der Poetik des Aristoteles jetzt noch 
so viel nachfragen wollte, wie zu Lessings Zeit, so ließe sich 
beweisen, daß „Fuhrmann Henschel" den aristotehschen 
Gesetzen in einem tieferen Sinne entspricht, als alle nach 
der Tabulatur konstruierten Trauerspiele deutscher Schul- 
meister. Auch beweist „Fuhrmann Henschel" wieder, daß 
eine große Dichtung ein gutes Theaterstück sein darf, welches 
sich überall durchsetzen kann. In Berlin schien der Erfolg 
von Darstellern wie Rittner und Else Lehmann abzuhängen. 
Aber in Wien mit Sonnenthal war der Erfolg nicht geringer. 

165 



Nie zuvor ließ uns der Dichter unmittelbarer in die Vor- 
gänge selbst blicken. Wir erleben, wie Henschels erste Frau 
auf ihrem Sterbebett ihn und sich mit neurasthenischer 
Eifersucht quält; wie ihn gerade das auf den Gedanken 
bringt, die kräftige Magd zur zweiten Frau zu nehmen; wie 
ihn dieses brutale Weib mißhandelt; wie sie ihn betrügt; 
wie er es erfährt ; wie in dem stillen, gütigen, schwerfälligen 
Träumer die Wut aufkocht, wie sich die Wut in Selbst- 
anklage, in Gespensterfurcht, endlich in Selbstverurteilung 
umwandelt; eine ungeheure seelische Entwiddung! Aus 
dem Alltagstreiben des ganzen Hauses, belichtet von viel- 
gestaltigen Humoren, zwischen Bettstatt, Trockenofen und 
Waschtrog, Biergläsern und Billardkugeln, unter zigeuner- 
haften, hausierenden, tölpischen Dutzendleuten steigt die 
Tragödie eines seelisch tiefen Menschen zartesten Gewissens 
in die ewige Nacht hinab. Starke dramatische Gegensätze 
prallen heftig aufeinander. Sogar die Faust spricht mit. 
Jeder im Stück trägt zum Ganzen nicht nur durch Gerede, 
sondern auch durch Handeln bei, und jeder ist eine Figur 
für sich, jeder für den Darsteller eine Fundgrube der Cha- 
rakteristik. Mächtig steigt die äußere Aktion bis zur stür- 
mischen Schlußszene des vierten Akts empor, dann folgt 
im Notturno des fünften Akts die schwere innere Lösung. 
In der Geisterstunde brütet Fuhrmann Henschel über sei- 
nem Schicksal, stellt die Schuldfrage und schafft Sühne. Er 
entlastet sein zweites, dirnenhaft brutales Weib. Mit sei- 
nem Gotte, der kein Gott des Erbarmens ist, wird er einig, 
daß er selbst die Schuld zu tragen habe. Denn er brach ein 
Gelübde. Seiner ersten Frau hatte er in die sterbende Hand 
geschworen, diese Hanne Schäl nie zu heiraten. Weil er e« 
trotzdem getan hat, verfällt er dem Gericht Gottes und 

i66 



verurteilt sich selbst zum Tode. Sein Glaube wird zum Aber- 
glauben durch sein Gewissen. Der redliche Mann hängt 
sich auf, als sei er jener Verbrecher aus Hanneles Traum. 

In dieser Tragödie g^^bt nicht der Dichter, sondern der 
„Held" an gerechten Ausgleich von Schuld und Sühne. 
Was für den Dichter Aberglaube wäre, ist für seinen ver- 
wirrten „Helden" Gottes Wille. Er fühlt sich als Gottes 
Geschöpf und vermag mit seinem irrenden Geist Gottes 
Gebot nicht zu erforschen. Gott hat es gewollt! Aber 
warum hat Gott es gewollt ? Auf diese Frage findet er eine 
Antwort, die man philosophisch als Identität des Guten 
und Bösen bezeichnen könnte. Beides kommt von Gott, 
wie Gott es selbst ist, der den Satan auf seinen Knecht Hiob 
hetzt. Auch dem armen Henschel hat Gott eine teuflische 
Schlinge gelegt, und nun muß er sich selbst die Schlinge 
um den Hals legen. Gott hat ihm die Hanne Schäl ins 
Haus geschickt, und daran geht er zugrunde. Hanne Schäl 
aber, das satanische Kraftweib, bleibt leben. Wahrschein- 
lich wird sie die einzige sein, die als erb|;^erechtigte Fuhr-* 
mannswitwe ihren Platz im Hause behauptet. Denn auch 
Herrn Siebenhaar, dem Hotelbesitzer, wird Haus und Hof 
verkauft, und mit der Komödiantenwirtschaft im Schank 
wird es bald vorbei sein. Bloß Hanne Schäl, die rotwangige 
Robustheit, hätte Zukunft und ein Leben, das ihr lebens- 
wert erscheint. Man sieht: der Dichter steht nicht auf 
Henschels Schuld- und Sühnestandpunkt. 

Die Stimmung, in der einst Hauptmanns Eltern ihr Erb- 
gut verließen, klingt nur als Nebenton mit. Aber sie fügt 
sich zum Grundthema, denn auch sie verließen vor der 
Zeit das, was sie für ihre Welt gehalten hatten. Eine fremde 
Übermacht trieb sie aus dem kleinen Weltwinkel, von dem 

167 



erst der dichtende Sohn mit seiner Phantasie wieder Besitz 
ergreifen sollte. Die guten Salzbrunner Pfahlbürger woll- 
ten ihm nichts zum fünfzigsten Geburtstag schenken, weil 
sie von ihm auch noch nichts gek|||^gt hatten. Und doch 
schenkte er ihnen keinen Geringern als den Fuhrmann 
Henschel zum Einwohner. 

Weniger gern brauchten sich die paar Salzbrunner, die 
ihren Dichter vielleicht lesen, zwei so lausige Kerle wie 
„Schluck und Jau^^ als Landsleute gefallen zu lassen. 
Auch sie reden die Sprache des Fuhrmanns Henschel, aber 
sie sind betrunkene Bauern, wie sie Hauptmann als ELind 
auf Landstraßen im Salzbrunner Gebiet umherlungem und 
umhertorkeln sah. Früh empfand er dort den schroffsten 
sozialen Gegensatz, wenn an so verlumptem Gesindel gräf- 
liche und fürstliche Karossen in vollster Gala vorübersau- 
sten, wenn in den hochherrschaftlichen Wäldern das Hift- 
horn Halali blies, während Bettelvolk trockne Äste stahl. 
Jene Magnaten, die jetzt in Salzbrunn das stolze Hotel- 
schloß erbaut haben, herrschen in ihren Revieren wie kleine 
Könige. Wohl und Weh der Landbevölkerung hängt von 
ihnen ab. Als Knabe konnte sie Hauptmann nur aus der 
Ferne, von unten betrachten; sie mögen seiner Kindes- 
phantasie als begehrenswertes Blendwerk erschienen sein. 
Später sah er sie zwar auch noch von unten an, aber mit 
dem scharfen Auge sozialer Kritik im Interesse derer, die 
unten bleiben. Als er dann selbst in die Höhe stieg, als er 
mit „Hochgeborenen" wie mit seinesgleichen zu verkehren 
begann, als ihm die Lebensformen der Aristokratie ein- 
leuchteten, als er sich selbst in die Berge der Heimat hinein 
sein Schlößchen baute, da trat ihm der Gegensatz von Volk 
und Herrschaft in den Schein heitrer Phantasie. Für arme 



z68 



Weber hatte er gegen die großen Fabrikherren Partei ge- 
nommen. Jetzt ist er tendenzlos. Auch das Soziale emp* 
findet er ästhetisch. Es gibt ihm keinen tragischen Stoff 
mehr. Es erbittert ihn nicht mehr. Er empfindet den Hu- 
mor des Kontrastes. Dieser stimmt ihn spielerisch über- 
mütig. So entsteht ein „Spiel zu Scherz und Schimpf'^ 
Zwar gräbt er auch diese beiden Tröpfe ,,Schluck und 
Jau'^ aus dem Dreck des heimischen Erdreichs und stellt 
sie mit alter naturalistischer Kraft auf festen Boden, wenn 
auch nicht auf feste Beine. Dann aber verpflanzt er ihre 
Lumpen und ihren Schnapsgestank mit einiger Anstren- 
gung, als wollte er alle Grillen sozialen Mitgefühls gewalt- 
sam wegtreiben, in literarisches Gefild. 

Schon die Namen „Schluck" und „Jau" deuten an, daß 
sich in diesem Paar der Shakespearische Kesselflicker 
„Schlau" zwieselt; jener Trunkenbold, dem eingebildet 
wird, er sei ein Lord, und dem ein wirklicher Lord, „die 
Zähmung der Widerspenstigen" vorstellt. Über Petruc- 
chio und seinem Käthchen verlor Shakespeare das Interesse 
an Christof Schlau, dem Vorspiele fehlt daher das ergän- 
zende Nachspiel. Spätere Dichter suchten das Versäumte 
nachzuholen, keiner bisher mit soviel Glück wie Ludwig 
Holberg in „Jeppe vom Berge". Als altes Märchen geht 
der Scherz vom verwandelten Bauer durch die Weltlitera- 
tur. Hauptmann kannte ihn wohl nur aus Shakespeares kur- 
zem Fragment, aber seine Arbeit wurde das Gegenteil eines 
Fragments. Shakespeares Lord nannte diesen Spaß „einen 
schön ausbündigen Zeitvertreib, wird er gehandhabt mit 
bescheidnem Maß". Diese Mahnung schlug Haupt- 
mann fn den Wind. An der Ausführlichkeit, an ungezähl- 
ten Wiederholungen, an einer Zersplitterung in fünf 

169 



Abschnitte, die der Dichter mit Recht „Unterbrechungen" 
nennt, an einer Überfülle gespreizter Sätze, in denen sich 
die preziösere Art der Adelsgesellschaft widerspiegeln soll, 
verweht, verwelkt, verschalt der derbe Ulk. Schon vor 
der ersten Aufführung beredete Otto Brahm den Dichter 
zu radikalen Kürzungen, aber sie waren falsch und nützten 
nichts» Keine Weglassung, höchstens eine Zusammendrän* 
gung getrennter Szenen könnte helfen. Von dem Momente, 
da sich der Scheinfürst Jau unter Fanfaren an die Festtafel 
setzt, bis zu dem Momente, da er in der Wut und Verblen- 
dung des Größenwahns morden will, darf kein Vorhang 
fallen. Nur so könnte sich in einem einzigen großen Zuge 
der Charakter des Bauern entwickeln, der die ihm aufge- 
zwungene Fürstenhoheit eigenmächtig in eine Schreckens- 
herrschaft steigert; beweisend, wie Plebs zum Terrorismus 
neigt. 

Dieser jähe Übergang von Spiel zu Ernst ist der tiefere 
Sinn der Maskerade. Für den echten Fürsten liegt darin 
die Mahnung, daß mit Notdurft und Roheit des Volkes 
nicht zu spaßen ist. Der falsche Fürst kommt dadurch am 
ehesten wieder zu sich selbst und auf seinen Mist zurück. 
Bei Shakespeare fehlte noch das Lebensgefährliche der 
Mummerei. Holberg, der sein dänisches Bauemvolk kannte, 
deutet schon an, daß plötzliche, traumhafte Standes- 
erhöhung den Charakter erniedrigt oder als niedrig eht- 
larvt. Auch Jeppe vom Berge ist drauf und dran, in seiner 
eingebildeten Machtvollkommenheit alle zehn Gebote über 
den Haufen zu werfen. Holberg blieb aber im Stile der mo- 
ralischen Komödie, der Komödie überhaupt. 

„Schluck und Jau" hingegen verderben die gute Laune. 
Jau erregt mehr Furcht, Schluck mehr Mitleid, als ein 

170 



Schwank vertragen kann. Aus dem Übermute des Dichters 
ließ sich das soziale Unterbewußtsein doch nicht wegdrän- 
gen. Und etwas säuerlich ist auch der Übermut der Hoch* 
gestellten, die mit dem Pöbel Schindluder treiben. Der er- 
grauende Fürst wird seiner undinenhaften Buhle, in deren 
Reizen ein blasser Schatten vom Rautendelein spukt, nicht 
ganz froh. Sein Freund, der eigentliche Spaßmacher, von 
des Gedankens Blasse angekränkelt, vergleicht die eigne 
windige Höflingsezistenz mit dem Knechtstand der ge- 
prellten Bauern. 

Das niderläendisch saftige Doppelbild Schluck und Jau 
steht, in einem breit überladnen und doch zerbrechlichen 
Rahmen, allerdings köstlich da. Schluck ist noch köstlicher 
als Jau. Es wird ihm nicht ganz so arg mitgespielt, wie dem 
Kumpan. Er wird sogar von schönen Mädchen abgeküßt. 
Er bleibt wenigstens er selbst und wechselt nur das Kleid. 
Jau glaubt etwas anderes zu sein, als er ist ; Schluck glaubt 
nur etwas anderes spielen zu müssen, als er ist. Da er 
sich zu Jau verhält, wie Moll zu Dur, so ist sein feminines 
Schneiderse eichen wie geschaffen für die Rolle der Schein- 
füretin, die bei Shakespeare ein junger Page spielt. Der 
junge Page wird sie mit natürlichem Anstand gespielt ha- 
ben. Schluck spielt sie im Schweiße seines Angesichts mit 
allen „Kinstlichkeiten", die er von herumziehenden Gauk- 
lern aufgegriffen hat. Und wie er in langen fürstlichen Ge- 
wändern seinen Scheingemahl kokett umäugelt und um- 
tänzelt, da wendet sich Jaus Stierwut zuerst gegen ihn. 
Früher noch als der echte Fürst gerät der gute Kamerad 
in Lebensgefahr, und im Erbarmen mit ihm verlischt das 
Gelächter. „Schluck und Jau^* hinterläßt keinen tragikomi- 
schen, höchstens einen komitragischen Eindruck. Der Rest 



ist Traurigkeit. Man denkt bei Schlucks behender ^^Eonst- 
lichkeit'^ an Worte der Hippolyta im MSommemachts- 
traum^^: ,,Ich mag nicht gern Armseligkeit bedrückt» Er- 
gebenheit im Dienst erliegen sehn/^ Aber bei Schludk 
dem Schneider und Zettel dem Weber empfindet man der- 
lei nicht. Woran liegt das i 

,,Schluck und Jau'^ schlagen eine allzu groteske und doch 
zu wenig groteske Brücke von der Größe des ,,Fuhnnann 
Henschel" zur Größe des „Michael Kramer", Man 
möchte diese beiden Werke, diese beiden Nachtgestalten 
dicht beisammen haben. Sie gehören zueinander. Wie 
yyFuhrmann Henschel" den Dichter in sein Vaterhaus, so 
führte ihn „Michael Kramer" in sein Studienhaus zurück. 
Wie College Crampton, ist auch Michael Ejramer Lehrer 
an der königlichen Kunstschule in Breslau und steht wie 
Crampton im Gegensatze zu jener akademischen Verzopft- 
heit, die einst von dort den jungen Kunstschüler wegge- 
trieben hatte. Aber sonst hat Kramer mit Crampton 
nichts gemein, weder dessen Liebenswürdigkeit, noch dessen 
Liederlichkeit, auch nicht seine Genialität. 

Michael Kramer ist ein strenger, ernster, finstrer Mann 
der Pflicht und der Arbeit, der aber seinen Schülern die 
„Kleinbürgerseele" auszuklopfen verstand, wie keiner. In 
seinem Innern leuchtet die Flamme eines Ideals, aber seine 
Hand kommt nur mühsam nach. Jahre, Jahrzehnte ver- 
gehen, und sein Gemälde des Gekreuzigten, das „feieriiche 
ruhige Christusbild", will seiner Selbstkritik nie genügen. 
Er ist in der Lage jenes „armen Künstlers", der sich in Ja- 
kob verwandelt. Er hat Christum nie gesehen, und doch 
möchte er mit ihm verschmelzen. So streng wie an die 
Kunst ist seine sittliche Forderung ans Leben. Er ist 

172 



zugleich Künstler und Moralist, äein hausbacknes, bomiet- 
teSy quängliches Weib zu verlassen, kam ihm nie in den Sinn, 
denn Ehe und Familie gehörten in den Pflichtenkreis des 
Mannes. Gerade aus seiner Familie, die ihn niederdrückte, 
erhoffte er die Steigerung seiner Kunst, die künstlerische 
Äußerung seines Innenlebens. In seinen Kindern sollte die 
Kraft des Vaters wachsen. Aber Fleiß und Genie, die bei- 
den Vorbedingungen dafür, sind ungleich verteilt. Der 
Sohn trägt den Vornamen des vergötterten Böcklin, die 
Tochter heißt nur nach dem Vater. Michaline hat Fleiß 
ohne Genie. Arnold Genie ohne Fleiß, ist also kein Böcklin. 
Die Tochter quält sich, der Sohn verwahrlost. Die Toch- 
ter deutet das Verhältnis richtig: „Um Arnolds Vertrauen 
hat Vater gebuhlt. Ich mußte um Vaters Vertrauen rin- 
gen." Als starker, freier, feiner Mensch errang sie sein Ver- 
trauen innerhalb ihrer Begabung, die zur Kunstlehrerin, 
nicht zur Künstlerin reicht. Arnolds Vertrauen blieb dem 
Vater versagt. Weil er den Vater fürchtete, mied er ihn, 
und die dumme Mutter beging das Todverbrechen, die 
Furcht vor dem Vater als Erziehungsmittel anzuwenden. 
Nicht bloß wegen ihrer Verschiedenheit, auch wegen ihrer 
Gleichheit konnten sich Michael und Arnold Kramer nicht 
finden. Michael der Künstler sieht in Arnold das Genie; 
Michael der Moralist sieht in Arnold den Lump. So stehen 
sich Vater und Sohn zum letzten Male unversöhnter denn 
je gegenüber. Der Vater ist die Wahrhaftigkeit selbst, und 
eine kleine läppische Lüge des Trotzkopfs bringt ihn so auf, 
daß er den Sohn verstößt. Als er ihn wiedersieht, ist sein 
Junge tot. Ein skandalöser Konflikt mit den gemeinsten 
Trieben des um Wein, Weib, Gesang taumelnden Philister- 
tums hetzte ihn zum Selbstmord. Und im Schlußakt — 

173 



auch dieses Drama ist wie ,,Fuhrmann Henschel'* des Schluß- 
akts wegen da — hält der Vater beim Sohne die Totenwacht. 

Ganz im Gegensatze zu den Weitläufigkeiten von 
,,Schluck und Jau^' geht hier alles einen kurzen, knappen, 
scharfen Schritt. Wir sehen im trübseligen Licht eines 
Wintermorgens die häusliche Misere, wir sehen den ringen- 
den alten Künstler in der Werkstatt, seine Dauerarbeit 
ängstlich verbergend, wir sehen bei einem sogenannten ge- 
mütlichen Frühschoppen die Dutzendmenschen, von Wein 
und Weib erhitzt, auf Bosheit und Wut des Einsamen die 
Gewalt hetzen und nach all diesem kleinen Jammer dann 
den mächtigen Schlußakt, den ein ganz großer Schauspieler 
auch zur ebenso mächtigen Bühnenwirkung bringen würde. 
An der Leiche des Sohnes wächst Michael Kramer in die 
Höhe des alten Propheten, das Leben anblickend mit Äugen 
Beethovens, dessen Totenmaske er in der Hand hält. Der 
reine Mensch, der andächrige Künstler, der im kleinen Le- 
ben nie freigeworden war, erhebt sich jetzt vor der Größe 
des Todes. Indem er seine Hoffnungen begräbt, ist er von 
aller Kleinheit erlöst. Das tiefe Geheimnis des Todes leuch- 
tet ihn an, wie die große Liebe, und für diese Empfindung 
findet er den Ausdruck: „Der Tod ist die mildeste Form 
des Lebens: der ewigen Liebe Meisterstück." Auf dem 
Totenantlitz des Sohnes erkennt er das Genie, das im Leben 
nicht aufkam. Aller Hader, aller Gram, alles Mißverstehen 
ist vorbei. Zwischen Vater und Sohn, zwischen Gott vmd 
Welt ist Friede. Irdisches hat keine Schrecken mehr. Der 
yerschlossne, wortkarge, einsame Mann findet für diese Nir- 
wanastimmung Worte vom Reichtum einer Symphonie. 

Und doch endet diese Symphonie mit einer Dissonanz, 
mit der antwortlosen Frage nach dem Ende. Was jenem 

174 



verträumten Fuhrmann in seinem Wahn ganz klar erschien, 
das Hirngespinst von Schuld und Strafe als Gottesfügung, 
das schließt bei diesem denkenden Geiste, je weiter er die 
Welt anschaut, je tiefer er ins Innere dringt, mit einem 
dunklen Rätsel. Beide, Henschel wie Kramer, sind aus dem 
realsten Leben geholt, beide enden in Mystik. 

Mystik ist die Binnenseite der Realität. Daß Mystik und 
Realität keine Gegensätze sind, sondern das Auswendige 
und Inwendige ein und desselben Dinges, wußte noch jeder 
künstlerische Realismus. Diese Einsicht lag auch im konse- 
quenten Naturalismus Gerhart Hauptmanns schon zu der 
Zeit, da ihn Arno Holzens Theoreme beherrschen wollten. 
Wenn man die Reihe seiner realistischen Werke vom Son- 
nenaufgangsdrama an verfolgt, so zeigt sich die fortschrei- 
tende Entwicklung des Dichters darin, daß die auswendige 
Haut immer durchsichtiger wird, so daß vom Innenleben 
immer mehr hervorschimmert, bis man dorthin sieht, wo 
sich das Innerste nicht mehr enthüllen will. Auf diesem 
Punkte steht die tragische Meditation Michael Kramers, 
der seines Dichters erster Denker ist. 

Wie dieser Mann zuletzt weit über die Grenzen seines 
räumlichen Daseins hinausblickt, so wurden diese Grenzen 
auch dem Dichter wieder zu eng, und was sich ihm in der 
biblischen Sage nicht vollendet hatte, bot ihm die deutsche 
Legende des Mittelalters. Zunächst aber trieb es den Dich- 
ter, noch einer alten Lieblingsgestalt den Blick ins unbe- 
kannte Land zu gönnen. Bald nach „Michael Kramer" 
schrieb er den „Roten Hahn" und zeigte auch der ster- 
benden Waschfrau und Biberpelzdiebin in ihrer letzten 
schönen Vision ein Engelsangesicht. 



XII 
DER ARME HEINRICH 

Als Gerhart Hauptmann im Schwabenalter stand, zog es 
LÜin ins Schwabenland des ,,Armen Heinrich*^, for 
den das Bauemmadchen Blut und Leben lassen will. Haupt- 
mann lernte die Legende wohl zunächst aus dem Gedichte 
Chamissos kennen, das dieser zaghaft den Brüdern Grimm 
gewidmet hatte. In fünffüßigen, reimlosen Trochäen er- 
zählt Chamisso trocken und reizlos, wie der miselsüchtige 
Graf sich und sein Leiden in einem Meierhofe verbirgt, 
wie die Meiersleute ihn betreuen, wie ergeben ihm das 
Haustöchterchen ist. Als sie den Ausspruch des Salemer 
Arztes erfährt, daß ihn nur das Herzblut einer reinen, opfer- 
freudigen Magd heilen könne, ist sie entschlossen, ihr Herz 
dem Messer des Salemers prebzugeben. Mühsam über- 
windet sie den Widerstand der Eltern, mühsamer und doch 
zu leicht den Widerstand des kranken Herrn. Nun liegt sie 
nackt auf dem Seziertische, trotzt den Widerreden des Arz- 
tes, hört, wie er das Messer wetzt, und erwartet freudig zu- 
erst den Opfertod, dann aber auch den himmlischen Lohn. 
Der arme Heinrich ist es selbst, der im allerletzten Augen- 
blicke das Furchtbare verhindert, das nackte Mädchen los- 
bindet, ihr Opfer ablehnt. Unverrichteter Sache kehren 
beide nach Schwaben heim ; aber unterwegs wird er gesund. 
Der „Spectator cordis^' oder, wie Chamisso übersetzt, „der 
die Nieren prüft und Herzen^^ begnügt sich mit des Kindes 
gutem Willen und macht ihren geliebten Herrn auch ohne 
Opfer und Himmelslohn gesund. Nun wird aus dem armen 
Heinrich wieder ein glücklicher Heinrich; er führt das 

176 



Bauernkind als ebenbürtige Gemahlin auf sein Grafen- 
schloß. 

Vielleicht war es zunächst die Überwindung der Standes- 
unterschiede und Standesvorurteile, wodurch sich der 
Dichter des „Schluck und Jau" auch zu diesem Stoff hin- 
gezogen fühlte. Diese sozialen Schranken sollten winzig 
und kläglich erscheinen gegenüber einer Größe der Näch- 
stenliebe, der Entsagung, der Todesbereitschaft, wie sie das 
kleine Bauerndirnchen bewährt. Der Fürst und das Land- 
kind hatten sich im Allermenschlichsten, Allernatürlich- 
sten so innig gefunden, daß jede künstliche Mauer fiel. 
Schon die Achtjährige nannte der arme Heinrich „sin 
gemahele". Chamisso übersetzt „seine kleine Frau" oder 
„seine liebe Frau". Hauptmann schließt sich auch 
hier, wie so oft, enger an den mittelhochdeutschen Ur- 
dichter Hartmann von Aue und findet für das pro- 
phetische Liebeswort die trauliche Form: „Mein klein 
Gemahl". 

Der moderne Dichter fühlt sich dem mittelalterlichen 
Dichter so genähert, daß er ihm die Rolle des Vertrauten 
in seinem Drama zuwies. Hartmann von Aue ist der erste 
Dichter, den Hauptmann in seine Werke eingeführt hat. 
Aber er ist in dem Drama mehr dienender Ritter als Dich- 
ter. Der historische Hartmann hatte zum niedrigen Adel 
gehört und zu den Dienstmannen der Herren von Aue. 
Hauptmann macht den legendarischen armen Heinrich 
selbst zum Grafen von Aue, und so wird Heinrich der H^rr 
seines ritterlichen Dichters, Diskreter Weise bl^bt Haft- 
mann im Drama eine episodische Nebenfigur. Er ersch^nt 
bloß im zweiten und fünften Akt. Eine phantasievolle An- 
schauung der Natur führt ihn als Poeten ein: 

13 177 



Und nnd die kleinen Vöglein tuch Tentummt: 
Et zwitschert unterm Roatethuf der Schnee 
Bei jedem Tritt, lo daß ich lausch und spitze 
Und horch und mich Ternnn und fast Tertiere, 
Wit Petrus Forschegrund, als ihm das V^ein 
Des Paradieses sang und tausend Jahre 
Gleich einer flüchtigen Stunde ihm Terrannen. 

Doch ist Hartmann der erste, der aus Heinrichs eignem 
Munde nicht nur Heinrichs Schicksal erfährt, sondern auch 
den tiefsten Einblick in Heinrichs Seele empfängt. Der 
antipapistische aber gottesfürchtige Ritter muß es erleben, 
wie sein Herr von wildem Pessimismus befallen ist, Gott 
lästert, seine Weisheiten aus dem Koran schöpft und end- 
lich im Verzweiflungsschrei einer Weltanklage bekennt, ihn 
habe das Schicksal Hiobs getroffen: „Da fuhr der Satan aus 
vom Angesichte des Herrn und schlug Hiob mit bdsen 
Schwären von der Fußsohle bis an den Scheitel. Und Hiob 
nahm einen Scherben und schabte sich und saß in der 
Asche/^ Diese Stelle bezieht Heinrich fast wörtlich auf 
sich selbst. Hartmann von Aue verstummt ob solchem Be- 
kenntnis, das in gewaltiger dramatischer Steigerung den 
zweiten Akt bis dicht vors Ende führt. Wir sehen die 
treuherzige Rittergestalt erst wieder, als sein Herr und 
Held geheilt und mit dem Gotte der Christenheit ver- 
söhnt ist. 

Der Jubelruf „Hartmann" ist das erste Wort, das wir 
aus dem Munde des heimgekehrten, genesenen Heinrich 
hören. Das zweite Wort ist ein freudiges Bekenntnis zu 
Gott. Das dritte Wort ist die frohe Botschaft, daß auch 
sein klein Gemahl heil und lebendig sei. So erfährt Hart- 
mann von seinem Herrn und Helden selbst nicht bloß des- 
sen Elend, sondern auch dessen Glück, also Anfang und 

178 



Ende seines poetischen Stoffes. Auch Hartmanns letztes 
Wort im Drama ist das Wort eines Dichters : 

Wir wollen an die erzenen Schilde schlagen, 
Und dieses alten Schlosses Fenster sollen, 
Wie Munde, Freude über die Täler schreinl 

Was jedoch im modernen Drama Zwischen Anfang und 
Ausgang liegt, vollzieht sich in der Abwesenheit Hartmanns 
von Aue, der inzwischen seinem verschollnen Grafen das 
Land hütet. Hier geht Gerhart Hauptmann eigne Wege. 
Sein Gefährte ist nicht der naive Geschichtenerzähler des 
Mittelalters, dem die Oberfläche der Begebenheiten ge- 
nügte. Sein Gefährte ist eher der tief grübelnde Verfasser 
des Buches Hiob. Der dritte und vierte Akt lösen sich von 
der mittelhochdeutschen Dichtung los und erregen deshalb 
bei einigen Germanisten Ärgernis. 

Gerhart Hauptmann braucht zwei umfangreiche Akte 
zur Behandlung der großen Kernfrage des Stoffs: wie 
kommt Heinrich dazu, das Opfer des Kindes anzunehmen, 
wie wird es ihm möglich, das Kind bis an den Seziertisch 
des Salerner Arztes zu führen ? Dem treuherzigen mittel- 
hochdeutschen Dichter genügt das Faktum: 

Ze jungest d6 bedähte sich 
ihr herre, der arme Heinrich 

Diese epigrammatische Knappheit zieht Chamisso nur 
in schwatzhafte Breite, wenn er erzählt: 

Als der arme Heinrich jetzt erkannt, 
Daß einmütig doch das Ungeheure 
Alle wollten und von ihm begehrten, 
Stieg in ihm aufs neue Lebenslust auf, 
Sah er schon im Geiste sich genesen. 
Andres nicht gedacht er, und mit Grausen 
Sprach er leis und langsam: „Also sei es!'* 



la' 



179 



Hauptmann, der tiefste der drei Dichter, braucht die 
beiden Hauptakte des Dramas allein zu dieser Ergründung, 
der auch die beiden früheren Expositionsakte vorbereitend 
zu dienen haben. 

Der erste Akt spielt in der Morgenfrühe eines frischen 
Herbsttages unter der großen Ulme vor dem Hause, wenig 
Stunden nach Heinrichs Einkehr in den Meierhof. Die 
Meiersleute wissen nicht, was ihm fehlt. Aus seinem selt- 
samen Benehmen, aus seinen andeutenden Worten schlie- 
ßen sie auf seelisches Leid. Aber ihr Töchterchen weiß 
es schon besser. Den Ausspruch des Salerner Arztes erfuhr 
sie nie von Heinrich selbst, sondern von einem plauderhaf- 
ten Kriegsknecht, der aus Angst vor Ansteckung durch- 
brennt. „Sie lebt von seinem Blick", wie es im „Hamlet** 
heißt. Bei Hauptmann ist das Kind nicht mehr achtjährig 
wie bei Hartmann, sondern im Alter der Pubertät mit An- 
zeichen von Bleichsucht und Hysterie. In diesem krank- 
haften Stadium der natürlichen Entwicklung mischen sich 
erotische und religiöse Ekstase. Sie denkt nicht anders, als 
daß ihr geliebter Herr mit seiner Krankheit für begangne 
Sünden büßt, und will das Lamm Gottes sein, das ihn er- 
löst. Die großen Wirkungen des zweiten Aktschlusses stei- 
gern sich endlich zu ihrem leidenschaftlichen Entschluß: 
„Ich hab's gelobt! Du mußt versühnet sein." 

Hauptmanns Heinrich beteiligt sich nicht, wie der Hart- 
mannsche, an dem kümmerlichen Hin und Her und Für 
und Wider, das dieser Entschluß des Kindes bei den Eltern 
hervorruft. Auf das Gelübde des Mädchens antwortet 
Hauptmanns mannhafter Heinrich mit jäher Flucht. Er 
verläßt das freundliche Obdach bei den Meiersleuten und 
ist venchoUen. 

i8o 



Seit jenem ersten Herbstmorgen verging ein Jahr; es vnll 
wieder Winter werden. In einer Wildnis von Wald und 
Fels ist der arme Heinrich verwildert. Er lebt von dem, 
was er findet, er gräbt sich selbst sein Grab, aber er lebt. 
Die Lebenslust, die Lebenskraft erhält ihn am gräß- 
lichsten Leben. Aber es sucht ihn niemand seiner selbst 
wegen auf, außer dem Mädchen. Der Spürsinn ihrer Liebe 
hatte ihn schon drei Tage nach der Flucht gefunden ; als er 
sie mit Steinwürfen weggetrieben hatte, war sie nochmals 
zu ihm in die einsame Wildnis gekommen und hatte den 
Ohnmächtigen betreut. Nach seiner hier gewiß zu recht- 
fertigenden Manier enthält uns der Dichter diese beiden 
Szenen vor. In diesem dritten Akt erscheint das Mädchen 
gar nicht. Statt ihrer kommen ihre beiden Väter: Stief- 
vater und Beichtvater; auch der Beichtvater, der dieses 
übersinnlichsinnlichen Kindes rechter Vater zu sein scheint. 
Ihnen erst erzählt der Waldmensch von jenen Begegnungen 
mit dem Mädchen. Wie so oft im „Florian Geyer", wird 
statt der Ereignisse selbst der Bericht davon gegeben; statt 
der Hauptperson des Prozesses sprechen Anwälte. Da- 
durch wird die Bühnenwirkung geschwächt; selbst ein so 
durchdringender Darleger wie Josef Kainz konnte das Pu- 
blikum im Wildnisakte nicht vor Ermüdung schützen. 
Selbst seinem dialektischen Genie gelang es nicht, die poeti- 
schen Kräfte dieser Reflexszenen dramatisch zu beleben. 
Was bei jenen heimlichen Begegnungen zwischen dem sprö- 
den, kranken Mann und dem reinen, in Unschuld werben- 
den Mädchen geschah und nicht geschah, ersetzt dem Le- 
ser Heinrichs wundervolle. Grausigstes und Süßestes ver- 
mischende Erzählung. Wie ihn die Verführung packte, wie 
er der Verführung widerstand ! Wie er, unrein am ganzen 

l8l 



Körper, rein in seinem Gewissen blieb! Man müßte das 
alles so genau kennen, wie man etwa die Klassiker kennt. 
Dann würde man es auch auf der Bühne zu würdigen wissen. 
Zufällig entdeckt Heinrichs neues Versteck jener furcht- 
same Kriegsknecht, der nun zum zweiten Male vor Hein- 
richs Krankheit ausreißt. Von ihm erfahren es die beiden 
Väter des Kindes. So kommen sie zu ihm, nie ganz mitein- 
ander einig, aber doch einig in der blinden Hoffnung, der 
arme Heinrich könne durch seine Rückkehr ihr verwirrtes 
Kind zur Raison bringen. Diese besorgten Väter nehmen 
sogar die Miselsucht in Kauf, wenn nur das ekstatische Kind 
wieder zu sich kommt. Aus dem, was sie erzählen, und aus 
dem, was Heinrich von ihr erzählt, wird das holde Märty- 
rerbild des abwesenden Mädchens dennoch ganz gegenwär- 
tig. Wie die drei Freunde zum duldenden Hiob, so spricht 
hier der geistliche Vater zum gottverfluchten und Gott 
verfluchenden Heinrich. Nur Heinrich spricht anders als 
Hiob. Hiobs „Auge tränet zu Gott", Heinrich hört Gottes 
Hohngelächter. Wie Gott seinen Knecht Hiob in Satans 
Hände gab, um ihn zu prüfen, so sieht Heinrich in allem, 
was Gott ihm schickt, „des Teufels schlimmstes Buben- 
stück". Das süße, reifende Kind schickte ihm der höllische 
Versucher in die Waldwildnis; denselben „verfluchten En- 
gel, der ritterlich die Blöße Gottes schont" erkennt er nun 
aus der Bitte wieder, mit der sich die beiden Väter an ihn 
wenden. Er möge doch zu ihrem Kinde kommen! Sie bit- 
ten ihn, als wäre er ein Arzt. Auch dieser Versuchung wider- 
steht er noch. Er verschmäht das dargebotene Obdach. Er 
will in der Wildnis überwintern. Er will sein Grab weiter gra- 
ben. Aber seine Sinne verwirren sich, sein Geist schwärmt, 
sein siedendes Blut sieht hoch aufgerichtet über allem 

182 



Heldentume und Heiligtume nur noch das rettende Kind. 
Heinrich ist am Ende aller seiner physischen und morali» 
sehen Kräfte, also auch am Ende seiner Entsagungskraft. 
Den Zustand des Mädchens zeigt erst der vierte Akt. 
Der Dichter nennt sie 1 1 e ge b e. Dieser gute altdeutsche 
Name fehlt bei Hartmann, aber er klingt wie aus volksety- 
mologischem Eandermund an einen Vers an, worin der 
mittelhochdeutsche Dichter von ihr sagt: 

iedoch geliebte irz aller meist 
von gotet gebe ein tüezer gebt. 

Das heißt, als Gottes Gabe war in ihr ein Geist der Liebe. 

Ottegebe ist nicht mehr bei den Eltern, sondern d«r 
Sicherheit wegen in ihres geliebten Beichtvaters Wald- 
kapelle. Dort hält man sie verborgen, denn zur Nachtzeit 
um den Meierhof herum klappert die Klapper eines Misel- 
süchtigen. Nun sitzt das Kind in der Waldkapelle, geißelt 
seinen jungen opferfreudigen Leib, und das aufgeregte Blut 
spritzt. Sie geht und spricht wie eine Nachtwandlerin, aber 
wachsam wie die klugen Jungfrauen wartet sie auf ihren 
Herrn. In ihrer frommen Verblendung ist sie Hellseherin. 
„Pater, heut wird er kommen!" sagt sie. Und wirklich 
kommt er heute. Aber sie sieht nicht bloß den armen Kran- 
ken, der nach ihrer Heilkraft schreit, sondern auch die 
Gnade Gottes, die des Richterspruches Härte bricht. Hart- 
manns Motiv vom Himmelslohn ist hier innerlicher gefaßt. 
Nicht um Gottes Lohn für sich, sondern um Gottes Gnade 
für den Geliebten zu erlangen, geht Ottegebe-Gottesgabe 
ihren schweren Gang. 

Heinrich, der Gotteslästerer, tritt in die Waldkapelle. 
Sein Gebet mißlingt. Ihm fehlt Hiobs Geduld. Auch seine 
unverwüstliche „Lebenslust", seine Scheu vor dem Selbst- 

X83 



xnord macht er Gott zum Vorwurf und doch bittet er mit 
trotzigen Worten Gott um Vernichtung. Aber „die Schlan- 
gen der Sonne rasen ihm im Haupt^^, sein kranker Geist 
verfällt wieder in eine wilde Wollust zu leben. Wie ein 
zweiter Aussatz, wie ein Aussatz des Gemüts packt ihn das, 
was Qiamisso so glatt und artig ,,Lebenslust*^ nannte. Und 
nun schreit er aus kränkster Seele heraus nach dem Eande, 
das ihn erlösen, das ihn versühnen wollte; überzeugt, daß 
sein Schrei nicht gehört wird. Nun erst schreit er nach 
Ottegebe, da er glaubt, daß sie tot sei. Der Verbrecher, 
das Raubtier erwacht in diesem standhaften Menschen erst, 
als er glaubt, daß nichts mehr zu rauben, nichts mehr zu 
töten da ist. Schon längst hatte ihm sein Mißgeschick das 
eigne Ich zerspalten und ihn für sich selbst zu einem 
Doppelwesen gemacht. 

Ich nahm den Rest, ich raffte mir zusammen, 
Was mir yon mir geblieben war, und lief 
Vor mir dayon. Es lief ein Fürst I und der 
Ihm folgte in der fürchterlichen Hatz, 
War der zertretne Knechtj der annoch lebt. 
Er schrie nach mirl Er winselte! Er bot 
Mir j\mge Kindesleiber an zum Kauf . . . 

Ottegebe ist nicht tot. Ottegebe lebt. Ottegebe ist da. 
Wie ein Engel des Himmels erscheint sie ihm. Wie ein 
Engel des Himmels spricht sie zu ihm: „Komm, es ist spät 
geworden, armer Heinrich." Und wie die Engel Gottes 
das träumende arme Hannele in die Stadt der Ewigkeit 
führen, so führt „Sankt-Ottegebe" ihren außer sich selbst 
gesetzten armen Heinrich aus Vater Benedikts Waldkapelle 
nach Salemo. Nicht er zieht sie, sondern sie zieht ihn dort- 
hin. Sein Wille ist unfrei, unterworfen einer stärkeiea 
Macht, und wer darf entscheiden, ob diese Mtdit 

184 




außen nach innen oder dennoch von innen nach außen 
wirkt ? Nicht darauf kann es dem Dichter ankommen» son- 
dern auf die Seelenkampf e, in denen der Mensch gegen sich 
selbst zu streiten hat. 

Als Heinrich und Ottegebe wieder daheim sind und im 
Glück, erfahren wir einiges von dieser märchenhaften Wan- 
derung aus dem Schwarzwald nach Salerno. Der Dichter 
weiß aus Erfahrung, welch schöner Weg durch Gottes Welt 
das seltsame Paar führte, und das ekstatische Schwaben- 
madchen blieb nicht unempfindlich gegen die neuen Wun- 
der der Landschaft. Aber ihr Ziel blieb der Seziertisch des 
Salerners. Natürlich hat der Dichter auf die große Szene 
in Salerno verzichtet. Aber Heinrich schildert sie seinem 
treuen Hartmann so wundervoll, daß man sich wundert, 
warum Hartmann nicht mehr davon für sein kleines Epos 
profitiert hat. Auch den bängsten Augenblick schildert er, 
als der Arzt das nackte Mägdlein auf den Opfertisch legt: 

Da schloß er sich mit ihr in seine Kammer. 

Ich aber . . . nun, ich weiß nicht, was geschah . . . 

Ich hörte ein Brausen, Glanz umzuckte mich 

Und schnitt mit Brand imd Marter in mein Herze. 

Ich sah nichts I Einer Türe Splitter flogen, 

Blut troff von meinen beiden Fäusten, und 

Ich schritt — mir schien es — mitten durch die Wand! — 

In diesen Versen steht der geheilte, von Krankheiten des 
Leibes und der Seele genesene, der große, starke, edle, rit- 
terliche Mann und Held und Fürst leibhaftig so wieder da, 
wie wir ihn aus Hartmanns Erzählungen kannten. 

In der Zeit, als dieses große Drama entstand, hat man 
sich über Heinrichs unappetitliche Leibesbeschaffenheit 
entrüstet und über den glücklichen Ausgang lustig gemacht. 
Oft wurde über beides dieselbe Nase gerümpft, und der- 

185 



selbe unweise Mund sprach bald von Lazarettpoesie^ bald 
vom Benedixischen ^^Sie kriegen sich^^ Den zweiten Ein- 
wand abzuweisen» genügt wieder ein Blick auf Grimms Mär* 
eben : »»Und wenn sie nicht gestorben sind» so leben sie noch 
heute^^ Der erste Einwand trifft nicht dieses Werk allein, 
sondern den ganzen Dichter» dem seit frühester Zeit das 
Hiobslos der Menschheit ans mitleidige Herz greift. Nie 
aber hat er so gewaltig an diesem Elend gerüttelt wie hier. 
Nirgends sonst wurde es so offenbar, wie aus physischem 
Jammer seelischer Jammer entsteht» wie äußere Schicksals- 
schlage auch den innern Menschen verwandeln. Nie zuvor 
auch siegte so triumphierend Gerhart Hauptmanns dich- 
terische Sprachgewalt. 

Das kleine» schlichte Epos Hartmanns von Aue ist sechs- 
hundert Jahre alt. Die Philologen edieren und kommen- 
deren es; ab und zu findet es im deutschen Volke sonst 
noch einen willigen Leser. Man möchte den Schleier der Zu- 
kunft lüften» um zu wissen» wie nach abermals sechshun- 
dert Jahren Gerhart Hauptmanns „Armer Heinrich" in 
Deutschland geschätzt wird. Wird man im Volke die Kunst 
und den Charakter» ja auch nur den Laut seiner Sprache 
noch verstehen i Wird zunehmende Gelehrtheit Anachro- 
nismen aufmutzen oder lieber jenen Geist verspüren» der 
an der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahr- 
hundert in seiner besondren Weise der Psyche des Men- 
schen auf den Grund zu kommen suchte i Wir ahnen nichts 
davon und müssen mit dem Begriffe der Unsterblichkeit auch 
unsern Größten gegenüber vorsichtig sein, aber jetzt darf 
jeder seine Meinung sagen. Und so sage ich» daß „der arme 
Heinrich" 1902 entstanden, die deutsche dramatische Dicht- 
kunst des neuen Jahrhunderts in großer Art eröffnet hat. 



XIII 

ROSE BERND. UND PIPPA TANZT. GABRIEL 

SCHILLINGS FLUCHT 

Kaum war Gerhart Hauptmann Hand in Hand mit 
Hartmann von Aue durch die deutsche Legende ge- 
schritten, so wurde er in seinem heimischen Landgerichts- 
bezirk Hirschberg als Geschworner einberufen. Aus dem 
Weiten rief ihn drängendes Leben wieder ins Nahe. Und 
nun wird es dem Dichter zur Gewohnheit, wechselweis in 
der eignen Zeit oder in idealen Femen seine schaffende 
Phantasie einzunisten. Wie er immer wieder oft zu mo- 
natelanger Abwesenheit seine Riesengebirgsstätte verlaßt 
und im Süden reist oder wohnt, so lösen sich in seiner dich- 
terischen Vorstellung Inland und Weite immer wieder ab. 
Eine Weile aber hielten ihn jetzt Eindrücke der Heimat 
und der Jugend wieder fest. 

Als Hauptmann 1903 in Hirschberg Geschworner war, 
standen am 15. April auch Meineid und Kindesmord zur 
Verhandlung. Hauptmann votierte mit der Mehrheit des 
Schwurgerichtes auf Freispruch der angeklagten und ge- 
ständigen jungen Mutter, einer ledigen Landarbeiterin. 
Dieser Lebenseindruck vergegenwärtigte dem Dichter wie- 
der seine Eleven- und Gutsschreiberzeit im Kreise Striegau. 
In die fruchtbaren, blumigen, parkartigen Ebenen dieser 
Gegend verlegte er das fünf aktige Schauspiel „Rose 
Bernd". 

Rose Bernd, die schöne, kräftige, blonde Bauerndirne 
wird von drei Mannsen umworben. Den einen liebt sie, 
den anderen haßt sie, der dritte soll sie heiraten. 

187 



Der eine ist ein waidgerechter, kriegstüchtiger Gutsherr 
auf der Höhe des Lebens. Er ist mit einer klugen und gü- 
tigen Frau verheiratet, die er liebt und verehrt; aber sie 
ist älter als er und sitzt im Rollstuhl. Für Rose Bernd war 
Herr Flamm schon der Mann der Männer, als sie noch mit 
Puppen spielte. Jetzt strahlt am Maiensonntag die Mor- 
gensonne. Zwischen den Äckern, aus denen es sprießt und 
grünt, wächst bergendes Buschwerk. Während die gottes- 
fürchtige Gemeinde (wir wissen, wie fromm es im Ejreise 
Striegau zugeht) in der nahen Dorfkirche singt und betet, 
nimmt draußen im Freien Herr Christof Flamm seine Rose 
auf eigene Art ins Gebet. Das Stück, das mit Eondesmord 
endigt, beginnt frühlingsfrisch mit dem Gegenteile von 
Kindesmord. Noch dazu unter einem Kruzifix! Als der 
Vorhang aufgeht, ist das Tätchen vollbracht. Diese derbe 
Minnelust gibt sich ländlich-sittlich oder richtiger ländlich- 
sinnlich. Es ist nicht das, was man in Gesellschaftskreisen 
ein Liebesverhältnis nennen würde. Es ist alles nur auf 
Nimm und Gib gestellt. Flamms Heiratsabsichten, falls er 
frei wäre, sind nicht allzu ernst gemeint. In seinen Kreisen 
betrügt man die eigne Frau, aber man verläßt sie nicht, 
am wenigsten einer Magd zuliebe. Mag man aber über das 
Moralische, wie man will, denken, so ist es eine Freude, 
zu sehen, wie der Dichter des armen Heinrich und seiner 
Ottegebe noch Kraft, Gesundheit, Lebensgenuß in zwei 
strotzenden Menschennaturen darzustellen weiß. 

Doch während der arme Heinrich aus Kummer zu Wonne 
gedeiht, entwickelten sich Rose Bernds Lebenssachen um- 
gekehrt. Schon als sich die beiden nach jenem Maienmor- 
gen wiedersehen, sind Freud und Lust dahin. Es ist, als 
treibe vom Äschenhaufen des armen Heinrich eine Flocke 

i88 



in dieses lebensfrohe Stück. ^^Du tust ja^ als wenn ich aus- 
sätzig wär^^» sagt zur scheu gewordenen Rose Bernd Herr 
Flamm^ und Roses Vater^ der jeden Abend ein Fußbad 
nimmt, stöhnt, als er von der Schuld seiner Tochter hört: 
„Mir ist, als hatt ich die Krätze am Leibe^^ Beide schei- 
nen den „armen Heinrich" gelesen zu haben, Herr Flamm 
ist nicht aussätzig, er ist gesund und genußsüchtig wie im- 
mer, und Vater Bernd bleibt ein sauberer alter Mann. Aber 
mit Rose Bernd steht es schlimm. 

Jener Zweite, den sie haßt, der aufgetakelte Lokomobi- 
list Streckmann, ein berüchtigter Trunkenbold und Wei- 
berhengst, hat gesehen, was an jenem Sonntagsmorgen un- 
ter dem Kruzifix vorging. Seine Erpressernatur geht dieses 
Mal nicht auf Schweigegeld, sondern auf Minnesold. Er 
neidet Herrn Flamm sein Glück nicht allzu sehr, aber er 
fordert für sich das gleiche. Doch Rose Bernd haßt ihn; 
in seiner plumpen Geckenhaftigkeit ist er ihr widerlich. 
Sie versagt sich ihm. An sich wäre die Gefahr seiner An- 
geberei nicht allzu groß, denn die „Unschuld vom Lande" 
besteht meist darin, daß man den Liebesgenuß für keine 
Schuld hält. Wie auf der Alm, so gibt es auch unter dem 
Landvolk der Tiefebene keine Sund. Auch Rose Bernd 
ist an sich nicht zimperlich und spröd. Wenn ihr das Blut 
in die Wangen steigt, so nimmt sie den einen, der ihr gefällt, 
fest in die Arme, ohne erst nach Standesamt und Traualtar 
zu fragen oder nach dem Kruzifix zu sehen. 

Auch wenn sich die Liste der unehelich Gebornen im 
Dorf um eines vermehrte, so käme sie selbst in ihrer kräf- 
tigen Naivität und Animalität schon darüber hinweg. Im 
dritten Akt hören wir den neckenden, gemütlich-schand- 
mäuligen Tratschton der Landarbeiter und kdnntan uns 

189 



denken, daß sich die aufrechte Rose Bemd durch solches 
Gerede so wenig niederwerfen läBt, wie sie sich an er stw e n 
wegwürfe. 

Dennoch tritt sie in ein schweres Schicksal ein. Von zwei 
Seiten droht ihrem innern Frieden Gefahr. Frau Flamm, 
die Dame im Rollstuhl, war der mutterlosen Waise ivie eine 
Mutter gewesen. Mit dem kleinen Kurtel Flamm hatte 
die kleine Rose gespielt, und als Kurtel starb, blieb sie wie 
ein Kind im Hause. Auch jetzt in ihrem Elend findet Rose 
bei der grundgescheiten und grundgütigen Frau vorurteils- 
freies Verständnis. Um so härter trifft es ihr Gewissen, daß 
ihr Mitschuldiger der Mann dieser Frau ist. 

Schon darum hat sie Streckmanns Denunziantentum zu 
fürchten. Noch mehr deshalb, weil ihr alter, armer, be- 
schäftigungsloser Vater zu den Frommen im Striegauer 
Kreise, zu den Stillen im Lande gehört, zu denen, deren 
Religiosität bei der Moral anfängt, die auch auf der Alm 
keine Sünde dulden. Seine ernste, strenge, rauhe Gottes- 
furcht begegnet in innigster Seelenbrüderschaft der ebenso 
ernsten, ebenso strengen Gottesfurcht jenes Dritten, den 
Rose heiraten soll. Das ist der Buchbinder und Traktät- 
chenhändler August Keil, ein ofenhockerisches Männchen 
mit etwas Veitstanz. Seitdem sie sich Mutter fühlt, wird 
Rose der Heirat mit dem kümmerlichen Leimsieder ge- 
neigter, der gute Rat der lebensklugen Frau Flamm bestärkt 
sie, und es fliegt sogar eine etwas nervöse Heiterkeit und 
erzwungne Zärtlichkeit über ihr Wesen. Sie folgt der müt- 
terlichen Gönnerin, die sie aus eignem Herzweh ermahnte: 
„Freu dich! Man soll sich freuen auf sein Eünd!" 

Frau Flamm hält das Kinderkriegen unter allen Um- 
ständen für des Weibes größtes Glück, und Roses kern- 

190 



gesunde Frauennatur wäre auch glücklich darüber^ wenn 
Streckmann nur den Mund hielte. Kommt sie aber durch 
Streckmann in der Leute Mäuler» so wird sie von ihrem 
Vater verstoßen, von ihrem Bräutigam verschmäht und von 
Frau Flamm mit der natürlichen Eifersucht des betrognen 
Weibes gehaßt und verachtet. Das weiß sie. 

Streckmann, der mit seiner Maschine auf allen Höfen ar- 
beitet, geht umher und macht Anspielungen. Sie ist vor 
ihm wie eine gehetzte Maus. In ihrer Herzensangst läuft 
sie zu ihm hin, bittet und bettelt, bietet Geld, soviel sie 
hat. Er aber fordert nur eines, und als sie es ihm nicht aus 
freiem Willen gibt, holt er es sich mit Gewalt. Nun trägt 
sie Flamms Kind in einem geschändeten Mutterleib, wäh- 
rend sie vom Vater ihres Kündes in einer wundervollen 
Zwiesprach für immer Abschied nimmt. Sie werden sich 
noch sehen, aber sie sind geschiedne Leute, denn zwischen 
sie hat Streckmanns Teufelei Mißtrauen und Mißverstehen 
gestreut. Das Haus Flamm, ihre zweite Heimat, die Woh- 
nung ihres Glücks hat sie verloren. 

Aber sie verliert auch ihr Vaterhaus, inre wahre Heimat, 
die armselige, frostige, reine Stube der väterlichen Zucht. 
Streckmanns boshafte Anspielungen führten zur Tätlichkeit 
zwischen ihm und Roses Bräutigam. Dem armen August 
wird ein Auge ausgeschlagen. Dadurch wird die Sache 
gerichtskundig. Flamm und Rose sind Zeugen. Sie wer- 
den über ihre Beziehungen zueinander verhört. Flamm, in 
jenem berüchtigten Konflikt zwischen Ritterlichkeit und 
Eidesfurcht, entscheidet mehr zi; seinen als zu des Mädchens 
Gunsten und sagt die Wahrheit. Wäre Rose kein Bauem- 
kind, sondern eine Baronesse, so hätte der Landwehrleut- 
nant vielleicht falsch geschworen. Rose schwört wirklich 

191 




falsch. Sie sagt dem Richter so wenig die Wahrheit wie dem 
Vater und ihrer Frau Flamm. Wie in Ibsens Nora^ so ist 
auch in ihr das Gefühl starker als das Gesetz. Nun ist sie 
eine Verbrecherin. In dem furchtbaren Zustand, in dem 
sie aus der Kreisstadt ins Dorf zurückkehrt, wird sie unter- 
wegs durch vorzeitige Wehen überrascht und tötet auf der 
Stelle ihr neugebornes Kind. 

Eine doppelte Verbrecherin wankt in die blitzblanke Va- 
terstube. Was sie so ängstlich verborgen hatte, erfährt ihr 
Vater nun doch. Der fromme alte Mann kommt sich selbst 
wie ein doppelter Verbrecher vor. Wie in „Fuhrmann 
Henschel" und „Michael Kramer" hebt sich der Dichter 
die tiefsten, innersten Dinge für den Schlußakt auf. Aber 
Rose Bernd selbst ist vom Schicksal schon erledigt. Den 
Akt beherrscht Vater Bernd, dessen harte Strenge nicht so 
tief erschüttern kann wie Henschels Kampf mit dem Ge- 
wissen oder Kramers Abrechnung mit Himmel und Erde. 
Auch zittert hier der schwurgerichtliche Ursprung des 
Dramas durch Erscheinen der Dorf polizei nach. Die Sze- 
nen vor Gericht selbst hat uns der Dichter erspart; desto 
mehr fällt kriminalistischer Meltau auf die Vorgänge des 
letzten Aktes. Auch ist das Mitleid mit dem körperlichen 
Zustande der armen Entbundenen, die sich hier von Bank 
zu Schemel, von Schemel zu Bank schleppen muß, so über- 
stark, daß daneben ihr seelisches Leid nicht aufkonmit. 
Beim armen Heinrich herrschte das Seelische, hier herrscht 
das Physische vor. Aber etwas ganz Großes und Schönes 
wächst auch aus diesem Akt empor. Jener duckrige, mück- 
rige August mit dem einen Auge sagt sich vom Rigorinnus 
seines alten Vorbildes, des Vater Bernd, lot. Mitleid niit 
Rose füllt seine Seele ganz. Aus dieser unschönen Gestik 

192 



strahlt plötzlich die menschlichste» die bräutlichste, die 
brüderlichste Liebe, die christlichste Liebe im Sinne des 
Heilandes leuchtenden Glanzes hervor, und man denkt an 
das Erlöserwort: „Den Armen wird das Evangelium ge- 
predigt". 

Die Perspektive aus dem Drama ist bedrückend. Rose 
Bernd wird, wie jenes Mädchen aus dem Hirschberger 
Kreise, vor die Geschwornen kommen, und nur ihr offenes 
Bekenntnis wird ihr nützen. Es wäre besser gewesen, der 
Dichter hätte den Rest der Gedanken an jenes Schwur- 
gerichtserlebnis getilgt. So bleiben das beste des Stücks im 
ersten Akt die Naturstimmung eines Frühlingssonntags auf 
dem Lande und äie Szenen des zweiten und vierten Aktes, 
wo sich Frau Flamms mütterliche Gestalt entfaltet. Wie 
die kranke Frau entsagungskräftig ihrem lebenslustigen 
Manne nirgends im Wege ist und sich mit der Rolle der ver- 
trauten alten Freundin begnügt, so lange ihm gleichgültige 
Weibsbilder zu Diensten stehen ! Wie sie allmählich wittert, 
ahnt, merkt, weiß, daß auch ihre Rose unter den vielen ist! 
Wie sie nun ein Ekel packt! Wie die tapfere Dame aber 
doch mit Rose redet, und nicht viel anders redet als zuvor! 
Am schönsten, wie sie sich mit August Keil über Himm- 
lisches und Irdisches verständigt, die Betrogne mit dem Be- 
trognen! Man könnte an Mutter Vockerat denken, aber 
Frau Flamms Seelengüte ist nie beschränkt, auch nicht 
durch religiöse Vorurteile. Man könnte an Henschels erste 
Frau denken, aber ihr Kranksein macht keinen Lärm, und 
die Qualen der Eifersucht trägt sie still für sich. Sie geht 
auch nicht in den Brunnen, wie des Glockengießers Frau. 
Sie sinnt und sorgt und schafft Gutes, soweit von ihrem 
Rollstuhl aus die feinen, tätigen Hände reichen. Sähe sie 

13 193 



zuletzt mit den klugen Äugen ihres Herzens Roses tiefstes 
Elend, so stände sie nicht beim alten Zeloten, sondern 
spräche mit August dem Einäugigen das Schlußwort : „Was 
muß die gelitten han". 

Wenn man ein dichterisches Werk durchaus nach seiner 
Stofflichkeit beurteilen will, wenn man keinen Sinn für 
Rose Bernds sinnliche Gesundheit hat, keine Freude dar- 
über, daß der Dichter nach einer stolzen Ausfahrt ins Le- 
gendenland wieder heimgefunden hat, so müßten mit allem 
„Anstößigen^^ in diesem Stück jene beiden ethisch liebens- 
werten Charaktere versöhnen. Das war die Meinung, als 
„Rose Bemd'^ neben vielen andern Bühnen Mitte Februar 
1904 auch auf das Wiener Hofburgtheater kam, das kurz 
zuvor den „Armen Heinrich" gut vertragen hatte. Auch 
zur „Rose Bernd" wandte sich das in solchen Fällen immer 
etwas beängstigte Wiener Publikum mit lebhaftem Zu- 
spruche hin. Dennoch kam es nur bis zur fünften Auffüh- 
rung. Ein sittlich entrüsteter Machtspruch setzte sich über 
die Ethik dieses Dramas ebenso wie über viele zuständige, 
dem Drama günstige Instanzen hinweg, und die weitem 
Vorstellungen unterblieben. Der Dichter war an solche 
Erfahrung schon gewöhnt und ließ sich nicht weiter da- 
durch verstimmen. 

Wenn nach „Rose Bernd" trotzdem eine Pause seines 
Schaffens eintrat, wenn die Jahre 1904 und 1905 wenig- 
stens auf den Markt keine Früchte brachten, so war lange 
und schwere Krankheit der Grund. Hanneles schwarzer 
Engel stand schon vor des Dichters eigner Tür. Aber seine 
innere Gesundheit siegte. Arztliche Kunst und Pflege 
sorgten für das übrige, und nach einem ausgiebigen Er- 
holungsaufenthalt in der italienischen Schweiz konnte 

194 



Gerhart Hauptmann mit seinem genesenen Heinrich von 

der Aue rufen: 

Und 80 ergreif ich wiederum Besitz 

Von meinem Gnmd. Gestorben! Auferstanden! 

Die zween Schläge schlägt der Glodcenschwengel 

Der Ewigkeit. Los bin ich von dem Bann! 

Laßt meine Falken, meine Adler wieder steigen! 

Wie Heinrich von der Aue zog er mit seinen Falken, sei- 
nen Adlern wieder heimwärts. Er stieg hoch in die Schnee- 
regionen des Riesengebirges, das der Welt auch seine Win- 
terreize entdeckt hatte. Mehr Schnee und Eis kann es nicht 
geben, als zu der Zeit, da sich Hauptmanns „Glashütten- 
märchen" dort oben zuträgt. Es ist, als wollte der Dich- 
ter die weiße Natur zur künstlich aufs äußerste gesteiger- 
ten Weißglut der Glasöfen in den schärfsten Gegensatz 
bringen. Mehr noch lockten ihn wohl die Verwandtschafts- 
züge zwischen Glas und Eis. Die langen Zapfen an den 
Bergfichten klingen und klirren ihm wie Glas; aus Wasser 
Glaskügelchen fertig zu bringen, ist ein schöner Traum, 
und eine Märchenhoffnung läßt in der „schönen Wasser- 
und Glasmacherstadt" Venedig das Wasser zu gläsernen 
Blumen sprießen. 

In dieses zweischichtige, aus Phantasie und Wirklichkeit 
seltsam durcheinander gewirkte Riesengebirgsstück kom- 
men von der Adria her Erinnerungen, ziehen zur Adria hin 
Wünsche. Venedig ist das Land einer Mignonssehnsucht. 
Das Reich der Tatsachen liegt unter Schnee und Eis am 
Gebirgskamm auf der Grenze von Schlesien und Böhmen. 
Dort steht eine Glashütte, die außer Betrieb gesetzt ist. 
Wahrscheinlich, weil sie zu hoch im Gebirge steckt. Auch 
Gerhart Hauptmann empfing seine Glashütteneindrücke 
an kultivierterer Stelle. Freilich flieht vor der Kultur das 

13* 195 



Märchen, das hier auch dem Dichter nicht so standhält 
wie sonst. Dem Dichter besonders bequem für seine Beob- 
achtungen lag und liegt am obersten Ende von Oberschrei- 
berhau die Josefinenhütte, deren sozialen und merkantil!- 
sehen Einfluß man auf der ganzen stundenlangen Wande- 
rung durch die drei Schreiberhauer Dörfer verspürt. Man 
kommt an Glasmalern und Glashändlem vorbei, man be- 
gegnet den hagern bleichen Gestalten der Glasarbeiter in 
blauer Bluse, und in eleganter Equipage fährt ein hoher 
Hüttenbeamter durch das Tal. Oben in der Hütte selbst 
kann jeder zusehen, wie einfach aus dem Fluß einer zähen 
Masse das zierliche, wasserklare Kelchglas entsteigt. Man 
hat den Eindruck einer frei schaffenden Kunst, einer zau- 
bernden Phantasie und erkennt auch, daß das Gelingen des 
Werkes sehr wesentlich vom individuellen Können des Ar- 
beiters abhängt. Er ist schon ein Kunsthandwerker. Er 
muß genau wissen, wie er mit dem langen eisernen Rohr 
umgeht; mit dem einen Rohrende greift er äußerst ge- 
schickt in die Weißglut, um ein Stück Materie herauszu- 
fischen, das andere Rohrende setzt er wie ein Musikus an 
den eigenen Mund, um in die Form hineinzuhauchen, als 
sei das Instrument ein Pfeifchen, aus dem Seifenblasen em- 
porspringen. Wirklich nennt er dieses wundertätige Rohr 
die Pfeife, und wirklich steht im Nu wie eine schön gelun- 
gene Seifenblase das kristallene Gebild vor unsern Äugen. 
Während wir es betrachten, hat der emsige Bläser (er 
verdient diesen musikalischen Namen) schon wieder die 
Backen voll genommen; seine Lunge hat ein neues Werk 
vollbracht. Man betrachtet ihn voll Mitleid und fragt, wie 
lang menschliche Ätmungsorgane diese Last in dieser Glut- 
hitze ertragen können. 

196 



Neben das Mitleid aber treten ästhetische Empfindun- 
gen. Man denkt an den schöpferischen Odem Gottes. Man 
f ühlty daß diese Arbeit einen Dichter zu ähnlichen Lebens- 
betrachtungen reizen könnte^ wie Schiller sie an das hand- 
werksmäßige Entstehen der Glocke knüpft. Wir sind in der 
Heimat Gerhart Hauptmanns des Glockendichters, und 
meinen, er wäre der Rechte, auch das Symbol des Glases 
zu finden. 

Das Feinste, Zarteste, Schönste in der Glasmacherkunst 
wurde nicht in Rübezahls Bergen erfunden. Auch dort- 
hinauf kam es aus der Märchenstadt an den Lagunen. Wie 
sich der Glockengießer Heinrich die Kunst für sein Hand- 
werk aus Nürnberg geholt hatte, so holten sich die schlesi- 
schen Glashütten ihre Kunst aus Venedig. Aus Venedig kam, 
was ihrer heißen, harten, lebensgefährlichen Tagesarbeit 
den sonntäglichen Schmuck gab, den leichten Schwung, 
die liebliche Form, die künstlerische Freiheit, den poeti- 
schen Adel. Diese märchenhafte Herkunft war es vor al- 
lem, die der Dichter des Glases im Sinnbild zu gestalten 
hatte. Das Sinnbild wird ein Mädchen aus dem Märchen 
von Venedig. So entstand Pippa, leicht und frei und zart 
und rein wie aus Glasbläsers Rohr in die Welt hineinge- 
haucht. So entstand Pippa, wie das edle „Zierglas" ihrer 
venetianischen Heimat, eine „schlanke Winde", eine „Blüte 
auf biegsamem Stengel". So entstand Pippa der „Spuk", 
Pippa, der „kleine Geist" > Pippa, das „zitternde Salaman- 
derchen in der Weißglut", das „kleine Fünklein aus dem 
Glasofen", die „kleine zitternde Flamme". So entstand 
Pippa, wie Rautendelein, eine „kleine rothaarige Nixe". 
So entstand Pippa, die „kleine, ans Licht gescheuchte 
Motte"; Pippa, „das liebliche Kind von Murano". 

197 



Den Namen holte sich der Dichter aus Robert Brownings 
Drama „Pippa geht vorüber". Er fand hier wenig mehr 
ak den Namen. Brownings Pippa ist ein segenbringendes 
Engelskind. Hauptmanns Pippa hat außer ihrer irdischen 
Tanzlust noch andere sehr weltliche, sehr weibliche Eigen- 
schaften. Sie hat gar kein Beglückungsbedürfnis, gar kein 
Läuterungsamt. Naiv lebt sie in den Tag und, wenn es 
sein muß, auch in die Nacht hinein. Ihr zweifelhafter Va- 
ter, ein Glastechniker aus Venedig, hat sie nach Schlesien 
mitgenommen und in einem ziemlich unfreundlichen Wirts- 
haus hoch am Gebirgskamm untergebracht. Wie alle Ita- 
liener scheint er tags fleißig zu arbeiten. Nachts spielt er 
Hasard, und zwar mit Vorliebe falsch. Bei solch einer Ge- 
legenheit kommt es zum Streit, und er wird erstochen. Nun 
hat die kleine Pippa allen Zusammenhang mit der Heimat 
verloren. Sie trauert um ihren Vater keinen Augenblick, 
aber sie ist allein in der Fremde. Sie bleibt nicht allein. 
Wie Rose Bernd hat sie mindestens drei Mannsbilder, die 
sich um das kleine flügge Mädchen drängen. Der eine ist 
der Hüttendirektor selbst, ein angejahrter Viveur, der sich 
ihretwegen im härtesten Winterfrost nach Mitternacht zu 
Sekt und Forellen in die Bergschenke setzt; eine etwas ge- 
schliffenere Spielart des Herrn Flamm. Der andere ist ein 
alter ausgedienter Glasbläser namens Huhn, der seinen Na- 
men wohl eher von Hunne oder Hüne als von unserem 
friedlichen Federvieh ableiten darf. Der dritte ist Michel 
Hellriegel, ein wandernder Glasmachergesell, der von 
Schneidern stammt. Am weitesten vom Ziele bleibt der 
noble, etwas bedenklich auf Jungfernbraten erpichte Herr 
Direktor. Er ist die realste Figur im Stück, und doch hebt 
auch er sich mit seiner Bildung, mit seinen Reisen in eine 

198 



etwas höhere Sphäre und findet, als ihn der Schnee blen- 
dete, das dichterische Bild: „Mein Sehorgan kommt mir 
vor wie ein Teich, auf dessen Grund ich gesunken bin und 
über das oben fortwährend farbige Inselchen schwimmen/* 
Er empfindet das Symbolische seiner Industrie, wenn er 
auf seinen Dienstfahrten die Arbeit plumper, dunüpf er Ge- 
birgsmenschen an Pariser Galatafeln prangen sieht. Aber 
er bleibt für Pippa nur der „gute Onkel", der Süßigkeiten 
mitbringt; sie vergißt ihn, als sie ihr Herz entdeckt hat. 
Etwas weiter kommt der Hüne Huhn. Während ihr Vater 
im Streite fällt, verschleppt Huhn das Kind mit Gewalt in 
seine einsame Spelunke. Aber von hier wird Pippa wieder- 
um entführt, und zwar durch Michel Hellriegel. 

Diesmal geht sie gern mit. Michel ist jung, regsam und 
ein wahrer Tausendsassa an wunderlichen Einfällen. Wie 
jener kleine Berliner Ballettänzer und Schachmeister Max 
Harmonist, einer der frühesten und glühendsten Haupt- 
mannenthusiasten, ist Michel Hellriegel der „Sohn einer 
verwitweten Obstfrau". Er ist auch sonst ein Muttersöhn- 
chen mit Mutterwitz. Die Vernunft kam bei ihm zu kurz, 
weil die Phantasie alles überwuchert. Wie der Hütten- 
direktor, wie Wirt, Kellnerin und Gäste in der Bergschenke, 
ist auch Michel ganz Wirklichkeit. Dennoch lebt er wo- 
anders. In seinem Hirn fiebert Romantik. Er nährt sich von 
Illusionen. Aus einem Bilde Moritz von Schwinds scheint 
er herzukommen oder aus dem Märchen von Hans im Glück 
oder aus der Handwerksburschenpoesie unsrer Volkslieder 
oder aus Gerhart Hauptmanns eigenster dichterischer Be- 
schaffenheit. Aber er steht mit zerrissenen Stiefeln und 
beschädigtem Lungenflügel auf irdischem Boden. Wie spä- 
ter Emanuel Quint mit seinen jenseitigen, so lebt Michel 

199 



Hellriegel mit seinen diesseitigen Glückserwartungen in 
einer andern Welt; aber körperlich befindet er sich auf der 
Walze als ein „ergebenst erfrorener Handwerksbursche**, 
und seinetwegen brauchte das Stück noch kein Märdien 
zu sein. 

Dieser urdeutsche Gesell erblickt mit Augen, die lachen 
und weinen können, schon in der mittemäditigen Gebirgs- 
schenke die kleine Italienerin zusammen mit dem alten 
Glasbläser Huhn in einem wilden Naturtanz, der zugleich 
Verfolgung und Flucht ist. Auch Huhn kann zunächst noch 
als Realität gelten; ins Riesenhafte, Groteske, Wüste ge- 
steigert, aber doch ein lebendiger Mensch, dem auf Wald- 
wegen des Zackentales unheimlich zu begegnen wäre. Als 
Gerhart Hauptmann später in Griechenland reist, erinnert 
er sich an einen alten Knecht, der in seinen Delirien die 
Welt von schwarzen Ziegen oder Katzen erfüllt sah, wobei 
er von alpdruckartiger Angst gepeinigt war. Das war ge- 
wiß der existente Doppelgänger des Glasbläsers Huhn. 

Huhn hat Glas geblasen, solange in der benachbarten 
Glashütte noch die zwei Öfen brannten, und es muß ein 
mächtiges Fauchen gewesen sein; vor der wilden Lohe ein 
wilder Mensch! Zusammen mit der alten Glashütte wird 
auch der alte Glasbläser außer Dienst gestellt, und nun 
spukt er ohne Daseinsrechte um sie herum, wie eine ent- 
thronte Gottheit. Etwas Titanisches, etwas Gigantisches, 
etwas Zyklopisches, etwas Heidnisch-Höllisches setzt die- 
sen stumpfen Riesen über die Natur, etwas Vorsintflutlich- 
Tierisches stellt ihn hinter Zeit und Kultur. Mit dem Halb- 
tiere Waldschratt könnte er sich verstehn, wenn er so rede- 
gewandt und geistreich wäre wie jener. Seinen ungeheuren 
Lebenskräften scheint das Alter nichts anzuhaben. Er säuft, 

200 



er tanzt, er streckt mit Gorillagier seinen Arm nach der 
Jüngsten aus. Aber daheim mit einer Dohle, einer Ziege, 
den beiden einzigen Hausgenossen, lebt er friedlicher als 
mit Menschen; nur das Kind, das er bei sidi versteckt, und 
für das er gutmütig zu sorgen scheint, ist in Gefahr. Wohl 
dem Kinde, daß ein Michel da ist, der es aus dieser Höhle 
noch rechtzeitig entführte, denn der alte Huhn hatte hier 
anderes im Sinn als zu tanzen. Freilich findet dieser junge 
David keine Gelegenheit, dem Riesen Goliath gegenüber- 
zutreten. Das besorgt eine höhere Macht. 

Eine höhere Fügung brachte auc^ in derselben Nacht, 
da Huhn mit Pippa verschwunden war, den Michel her- 
bei. Beide vergessen übereinander die Gefahr und halten 
in Huhns Hütte ein Zwiegespräch, wie es nur große Dich- 
ter schaffen können. Wir sahen den deutschen Jüngling 
und das itaUenische Mädchen vorher nur mit andern. Jetzt 
sind sie, die sich erst seit einer Stunde kennen, selbander 
allein; allein wie zwei verirrte Kinder, allein mit ihrer Ju- 
gend, allein mit ersten Regungen ihrer Herzen und ihrer 
Sinne. Sie erscheint ihm als das Wunder, das er voller 
Vertrauen gesucht hat, er weckt in ihr den Glauben an 
seine Träume. Und doch empfinden sie sich als Wirklich- 
keit und klammem sich fest aneinander. Trotz der Gefahr, 
in der sie sind, kommt eine selige Lust über sie. Sie hören 
in der Winternacht die Vögel singen und suchen durch 
Schnee und Eis den Frühling. Pippas Vater und Hellriegels 
Mutter spuken durch ihr Geschwätz, der Falschspieler als er- 
ledigtes Hindernis, die Obstfrau als kopfschüttelnde Sorge. 
Mit dem ersten Frühlicht scheint die Macht des Raub- 
tiers Huhn gebrochen; ohne es selbst zu wissen, begleitet er 
mit einem gewaltigen Naturschrei der Freude den Auszug 

201 



dieser weinenden, lachenden, küssenden, seligen Kinder. 
Durch die ganze Szene zieht ein Ton, als redete Shake- 
speares Humor mit einem Märchen des deutschen Volkes. 
Mit diesem Bröcklein reinster und kräftigster Poesie sind 
wir erst am Schlüsse des zweiten Aktes angelangt und haben 
noch zwei Akte vor uns. Wie wird es vms, wie wird es den 
Kindern weiter ergehn ? Bisher waren wir in einem Mär- 
chen der Wirklichkeit, in der Wirklichkeit eines Märchens, 
und nun sollen wir zum alten Wann. Eine neue Erschei- 
nung! Zur Not und zunächst kann man sich auch ihn bür- 
gerlich konstruieren. Es gibt solche uralte Herren, die sich 
irgendwo in die Einsamkeit zurückziehen, um sich mit ir- 
gendeiner geistigen oder mechanischen Betätigung die 2^t 
zu vertreiben. Ich kannte einen pensionierten Husaren- 
oberst mit dem eisernen Kreuz der Freiheitskriege, der wie 
ein Obermeister drechselte. Herr Wann — er wird einmal, 
nur halb im Scherz, als Major a. D. angesprochen — Herr 
Wann hat sich auf dem Kamm eine Baude genommen und 
dort eine Sternwarte eingerichtet. Da er offenbar kein 
Zunftmensch ist, so würde man es ihm kaum übelnehmen, 
wenn er gelegentlich in seine Astronomie auch etwas Astro- 
logie einmengte und in den Sternen, die er berechnet und 
beguckt, auch zu lesen versuchte. Menschlich kommt man 
ihm dadurch näher, daß er, dem Höhenklima gemäß, Sinn 
für schweren alten Falernerwein hat. Doch spendet er den 
edlen Stoff in edelstem Gefäß, und so bleiben wir auch bei 
ihm im Bereich der venetianischen Glasindustrie. Mit dem 
allzumenschlichen Hüttendirektor verkehrt er ganz mensch- 
lich, zitiert Schillers Wallenstein, philosophiert in anschau- 
lichen Beispielen aus dem Tierreich über das Ignoramus 
der Menschen und macht sich seine Gedanken über eine 



202 



musikalisch-kosmische Brüderschaft nach dem sogenannten 
Tode. Aber er lebt keineswegs bloß in höhern Sphären. 
Daß sein Freund, der Hüttendirektor, der kleinen Pippa 
nachstellt, oft in später Nacht durch Schnee und Eis ihr 
im wahren Sinn des Worts nachsteigt, weiß der getreue 
Nachbar, der gern durch weithin reichende Femgläser zum 
Fenster hinaus auch in die Talgründe schaut, ganz genau. 
Und nun sehen wir, zum erstenmal, wie der alte Schalk ein 
bißchen Charlatanerie treibt. Der Direktor will von seiner 
Leidenschaft für das Kind geheilt werden. Wann klatscht 
in die Hände, sofort erscheint Pippa und verrät ihre Liebe 
zu Michel. Der Direktor, den wohl nur nach dem Jüngf er- 
lein gelüstet hatte, schöpft schnöden Verdacht, ist geheilt 
und verschwindet auf Nimmerwiedersehen. Man weint 
ihm keine Träne nach. 

Desto frischer, herzhafter, bewegter ist Pippa, die der 
Alte durch sein Fernrohr längst kommen sah. Wie ein 
Sturmwind fährt sie herein in die wildfremde Stube zu 
wildfremden Leuten : „Ihr Männer helft ! Dreißig Schritte 
von hier stirbt der Michel im Schnee!" Wirklich sind die 
Kinder wie Hansel und Gretel von früh bis spät umher- 
geirrt. Nun kann der „ergebenst erfrorene Handwerks- 
gesell" nicht weiter. Und wie er am Morgen Pippa vor 
Huhn rettete, so rettet am Abend Pippa ihn zu Wann. 
Wie im Reiche Wanns nichts so ganz mit rechten Dingen 
zugeht, so springt auch Michel, der Ohnmächtige, der Er- 
starrte plötzlich quicklebendig wieder auf, fängt sofort mit 
seinen Phantastereien an, und sein Selbstbewußtsein als 
Schützer einer Mädchenunschuld entwickelt sich zusehends. 
Mit Pippas Glauben an seine Illusionen steigt ein naiver 
Größenwahn in ihm auf; er vergleicht sich mit dem 

203 



flüchtig kennen. Sie heißt Alwine. Otto Pniower gibt ihr das 
Zeugnis, daß sie mit einer fast beispiellosen Treffsicherheit 
hingestellt, daß jede ihrer Bemerkungen von schlagender 
Kraft ist. Obwohl man sofort erkannte, daß Alwine Ihren 
Mann unglücklich macht, wirkte sie noch humoristisch, 
halb filia hospitalis aus dem Berliner Quartier latin, halb 
Kellnerin des Caf6 latin. Die beiden Frauen, die den armen 
Gabriel Schilling zur Flucht ans Meer und ins Meer treiben, 
wirken kaum noch humoristisch. Sie kommen auch nicht 
mehr aus Alwinens Revier, von Alwinens Niveau. Die eine 
ist eine Gouvemantennatur, die andre eine Zigeunematur. 
Das Stück spielt in frischester Seeluft. Sichtbar sind die 
Dünen und der Strand, die man von Stralsund oder von 
Rügen aus erreicht. Die Abendsonne, bald sinkend, bald 
gesunken, wirft ihren Glanz auf Himmel und schäumende 
Wellen. Vom Leuchtturm blinkt das auf- und nieder- 
gehende Feuer und wirft magische Schatten. Aus Windstille 
entsteht Sturm. Möwen fliegen, Krähen schreien. Ein 
Echo hallt schaurig wider. Fischerboote segeln. Ein Ba- 
dender springt in die Flut. Alles das empfinden wir wie 
in der Natur. Aber außerdem noch den übernatürlichen, 
gespenstischen Hauch einer andern Welt, der aus Kloster- 
ruinen und Kirchhofsstimmung entgegenweht, jener an- 
dern Welt, die hinter der sichtbaren verborgen liegt „mit- 
unter bis zum Anklopfen nahe"; jener andern Welt, die 
man „durch dunkle Ringe um beide Augen viel genauer 
und gründlicher sehen kann". Aus dieser Welt heraus soll 
auch das Meer zu uns sprechen. Mit Künsderaugen ge- 
sehen, soll es Ursprung und Ziel alles Wesens sein: „Dort 
stammen wir her, dort gehören wir hin." Man denkt an 
Ibsens Ellida. 

208 



bezeichnet Wann diesen Zustand Huhns mit der bomba- 
stischen Phrase: „Hier keltern typhonische Mächte den 
gellenden Qualschrei rasender Gotterkenntnis." Man muß 
Sätze wie diesen noch einmal lesen. Michel lästert Gott, 
der hier erkannt werden soll, als den „großen Fischblüti- 
gen", der nur zerstören kann, was er geschaffen hat. Dabei 
sieht er vor der Tür kuriose furiose Gestalten, die offenbar 
nach Huhns armer Seele schnappen. Wann geht hinaus, 
um, wie einen Arzt, den Tod herbeizuholen. Aber Huhn, 
der plötzlich dem alten Wann ähnlich wird und sogar Pip- 
pas weiße Mädchenhaut kriegt, beruhigt sich, als auf sei- 
nem Herzen samariterhaft Pippas kleine Hand ruht, diese 
kleine Hand, die immer wieder auch mit den Extravagan- 
zen des Stückes versöhnt. Auf Suggestion und Trance folgt 
Handauflegung. Der alte Glasbläser wird nun wieder etwas 
menschlich-nachweisbarer. Er verfällt in ein sanftes Deli- 
rium. Seine Sucht nach Pippa verwischt sich mit seiner 
Trauer um die verlorne Berufsarbeit. Pippa scheint ihm 
aus der Weißglut des Glasofens zu kommen wie ein gläser- 
nes Gebilde. Das doppelte Verlangen zerrt an allen seinen 
Gliedern. Er sieht im Glasofen Funken und Lichter tan- 
zen, seine Knochen tanzen, sein Blut tanzt, sein Wahn 
tanzt, auch Pippa soll tanzen. Gerade das aber hatte ihr 
der alte Wann — ich weiß nicht warum — streng verboten. 
Nun ist das Kind im heftigsten Kampfe mit ^ich selbst. 
Sie muß tanzen und darf nicht tanzen. Der Zwiespalt in 
ihr steigert sich bis zum äußersten, schließlich tanzt sie, 
weil Michel Hellriegel es ihr rät. Wann hat es untersagt, 
Huhn hat es verlangt, Michel entscheidet. Huhn trium- 
phiert. Während er mit seiner Hand ein Glas zerdrückt, 
stirbt Pippa in Wanns Armen, der draußen jenen Arzt, den 

205 



er suchte, gefunden hat. Auch Huhn stirbt sofort nach, 
und zwar mit jenem Natursdirei der Freude, der auch dies- 
mal, wie das erstemal, dem guten Michel durch Mark und 
Bein geht. Michel erblindet, aber seine innem Gesichte 
werden immer schöner, immer venetianischer. Wie Huhn 
seine Pippa mit einem Glase verwechselte, so verwechselt 
der bUnde Michel die tote Pippa mit seiner italienischen 
Tonpfeife, nach der Pippa tanzen soll. 

„U ndPippatanzt", redet der alte Wann dem Blinden 
ein. Ein Stummer aber führt den Blinden mit allen seinen 
Einbildungen hinaus ins Weite, Ungewisse. Wie vor sei- 
nem Glutofen aus flüssigem Glas feste Kugeln werden, so 
will Michel in Pippas Venedig Wasser zu Kügelchen ballen. 
Dabei stehn ihm schon geballte Wasserkügelchen unter 
seinen Glutaugen auf den Wangen. Mit einer heitern 
Schwermut endigt dieses Stück, das voller Schönheit, aber 
ohne Klarheit ist, wie ein wundervolles Glas, dem der 
Hauch des Bläsers nicht die letzte Reinheit geben konnte. 
Mit Recht wollte der Dichter selbst nicht ausdeuten, ist 
aber in Andeutungen dunkel gebUeben und den Weg von 
der Idee zur Anschauung nicht ganz bis ans Ende gegangen. 
Was an diesem Stück wunderbar schön ist, legt sich um 
Pippa und besonders um Michel. Was starr und kalt ge- 
blieben ist, trifft den alten Wann, der gar keine „mythische 
Persönlichkeit" zu sein brauchte. Etwas mehr Major a. D., 
und alles wäre besser! 

p Fast gleichzeitig mit dem Glashüttenmärchen beschäf- 
tigte sich Hauptmann mit einem andern Drama, das nicht 
in der sichtbaren Welt zugleich die unsichtbare vor Augen 
stellen will, sondern die unsichtbare Welt aus der sicht- 
baren fühlen läßt. Innerhalb seines alten Realismus fand 

206 



er die geheimen Sinnbilder, und je weniger er sie ausmalte, 
desto lebendiger sind sie zu spüren. Wie in „Rose Bernd" 
die fruchtbare Ebene, in „Pippa" das winterliche Hoch- 
gebirge, so ist diesmal das Meer der große Hintergrund, 
den die Natur stellt. Auch hier knüpft Hauptmann, wenn 
er diesmal auch schlesischen Boden verläßt, an eignes Er- 
lebnis an. Schon früh hatte er mit seinem Malerfreunde 
Hugo Ernst Schmidt auf Rügen große Eindrücke geteilt 
und genossen. Später besuchte er mit seiner zweiten Gat- 
tin, einer flotten, frischen Bade- und Schwimmnatur, meh- 
rere Sommer hindurch Hiddensoe, jene Insel, die sich west- 
lich von Rügen wie ein langer dürrer Hecht etwas gekrümmt 
längs der Küste ins Wasser streckt. Dort mag ihm sein 
Freund Schmidt oft genug eingefallen sein, dort dachte er 
über das Schicksal des Frühverstorbenen nach, dorthin 
legte er den Schauplatz seines Dramas „Gabriel Schil- 
lings Flucht", das zusammen mit „Pippa" 1906 ent- 
stand, aber erst 191 2 erschienen ist. Wie sich „Rose Bernd" 
in Sachen des Milieus an „Fuhrmann Henschel" knüpfte, 
so knüpft sich „Gabriel Schilling" an „Michael Kramer". 
„Michael Kramer" wurde dem Andenken Schmidts gewid- 
met. „Gabriel Schilling" spiegelt Schmidts Schicksal wider. 
Der Dichter tritt noch einmal in jenen jungen Kameraden- 
kreis, zu dem schon Loth und Schimmelpfennig aus „Vor 
Sonnenaufgang", Braun aus den „Einsamen Menschen", 
Michael Kramers feiner, mitsinnender Schüler Ernst Lach- 
mann gehörten. Gabriel Schillings Arzt Rasmussen wirkt 
wie ein Gemisch aus Loth und Schimmelpfennig, Ernst 
Lachmann wie eine Vorstudie zu Gabriel Schilling selbst. 
Schon Ernst Lachmann war schlimm verheiratet. Wir 
lernten seine junge Frau auf einer Visite bei Kramers 

207 



flüchtig kennen. Sie heißt Alwine. Otto Pniower gibt ihr das 
Zeugnis, daß sie mit einer fast beispiellosen Treffsicherheit 
hingestellt, daß jede ihrer Bemerkungen von schlagender 
Kraft ist. Obwohl man sofort erkannte, daß Alwine ihren 
Mann unglücklich macht, wirkte sie noch humoristisch, 
halb filia hospitalis aus dem Berliner Quartier latin^ halb 
Kellnerin des Caf 6 latin. Die beiden Frauen, die den armen 
Gabriel Schilling zur Flucht ans Meer und ins Meer treiben, 
wirken kaum noch humoristisch. Sie kommen auch nicht 
mehr aus Alwinens Revier, von Alwinens Niveau. Die eine 
ist eine Gouvemantennatur, die andre eine Zigeunematur. 
Das Stück spielt in frischester Seeluft. Sichtbar sind die 
Dünen und der Strand, die man von Stralsund oder von 
Rügen aus erreicht. Die Abendsonne, bald sinkend, bald 
gesunken, wirft ihren Glanz auf Himmel und schäumende 
Wellen. Vom Leuchtturm bhnkt das auf- und nieder- 
gehende Feuer und wirft magische Schatten. Aus Windstille 
entsteht Sturm. Möwen fliegen, Krähen schreien. Ein 
Echo hallt schaurig wider. Fischerboote segeln. Ein Ba- 
dender springt in die Flut. Alles das empfinden wir wie 
in der Natur. Aber außerdem noch den übernatürlichen, 
gespensrischen Hauch einer andern Welt, der aus Kloster- 
ruinen und Kirchhofsstimmung entgegenweht, jener an- 
dern Welt, die hinter der sichtbaren verborgen liegt „mit- 
unter bis zum Anklopfen nahe'^; jener andern Welt, die 
man „durch dunkle Ringe um beide Augen viel genauer 
und gründlicher sehen kann^^ Aus dieser Welt heraus soll 
auch das Meer zu uns sprechen. Mit Künstleraugen ge- 
sehen, soll es Ursprung und Ziel alles Wesens sein: „Dort 
stammen wir her, dort gehören wir hin.'' Man denkt an 
Ibsens Ellida. 

208 



Aber die künsderischen Seelen lockt noch ein höheres 
Ideal. Es ist das Land der Griechen, das sie suchen. Wie 
in „Pippa" zum Riesengebirgskamm Venedig, so verhält 
sich hier zur Ostsee Griechenland. In dieser Sehnsucht 
einigt sich der Glückspilz mit dem Pechvogel. Glück und 
Pech aber hängt weder vom Meer ab, noch von Griechen- 
land. Glück und Pech kommt von Weibern. 

Schon das Motto der Buchausgabe deutet auf den Sinn 
des Stückes. „Einige versichern," sagt Plutarch, „Euno- 
sthos sei ihnen begegnet, ans Meer eilend, um sich zu ba- 
den, weil ein Weib sein Heiligtum betreten habe." Dieser 
misogyne Standpunkt bestimmt Gabriel Schillings Flucht. 
Vor zwei Weibern flieht er ins Meer. Nicht um zu baden, 
sondern um zu sterben. Die Ehefrau und die Geliebte het- 
zen ihn wechselweis in den Tod. Sie werden mit Harpyien 
verglichen. Die Ehefrau ist eins jener unseligen Wesen, 
von denen man nie weiß, ob sie mehr sich oder andre quä- 
len, eine Frau, die nie bei wirklich guter Laune ist; für 
jeden Mann die Pein, für problematische Künstlernaturen 
der Tod. Aber auch die andere, die Geliebte, ist keine 
Befreierin von solcher Pein. Aus dieser Jüdin von Odessa, 
die geistige Anregung sucht, ist eine Berhner literarische 
Nachtcaf&chlampe geworden. Sie ist sehr verlogen. Sie 
lockt und lähmt zugleich. Wenn der Mann, der nicht von 
ihr loskann, sie haßt, so nennt er sie Vampyr, wenn er sie 
liebt, sp nennt er sie euphemistisch seine Braut von Ko- 
rinth. Diese Frau Hanna Elias und Gabriel haben ein un- 
eheliches Kind; Klein-Gabriel ist gebrechlich und verküm- 
mert wie Ibsens Klein-Eyolf. Auch das Kind kann die 
Eltern nicht beieinander halten; wie Gabriel vor seiner 
rechtmäßigen Eveline zur unrechtmäßigen Hanna floh, so 

14 209 



flieht er jetzt vor Hanna und Eveline an den Busen eines 
Freundes. 

So kommt er auf jene kleine, einsame Ostseeinsel, in den 
Frieden der Natur, zu friedlichen Menschen. Diese Men- 
schen sind edel, hilfreich und gut, wie so oft bei Haupt- 
mann die Nebenmenschen, die bisweilen gar kein andres 
Daseinsrecht haben, als einem armen körperlich oder see- 
lisch Gebrochnen beizustehen. Wer im £Bmmel und auf 
Erden bemüht sich nicht alles um Hanneles Fiebertraum, 
um Kollege Cramptons Suff, um den Aussatz des armen 
Heinrich! In diesem Drama ist es ein Vorzug der Charak- 
teristik, daß die Beistände nicht bloß hilfreiche Herzen und 
Hände haben, sondern auch für sich selbst etwas bedeuten, 
mindestens als Kontraste zur Gabriel Schilling-Seite. Pro- 
fessor Maurer und sein „Schusterchen^^ lieben sich, ohne 
von Staat und Kirche dafür legitimiert zu sein. Er radiert 
und bildhauert, sie geigt und liest; sie leben in geistig ge- 
sunder Luft, ihr Dasein hat Heiterkeit, ihre Nähe ist ein 
Rettungshafen für Schiffbrüchige. Hier ist Gabriel Schil- 
ling auf bestem Wege, sich von seinen Qualen gesund zu 
baden, von Todesgedanken, von Reue um verschwendete 
Zeit, von Verpfuschungen künstlerisdier Zwecke, vom all- 
gemeinen Weltekel, von jener Ideenverfolgung, die ihn an- 
gesichts der Gallionfigur eines gestrandeten Schiffes auf- 
ächzen läßt: „Überall diese wahnwitzigen Weibsbilder!" 
Gabriel Schilling scheint der Mahnung des Freundes zu 
gehorchen: „Atme, Mensch, trinke die starke Luft und 
laß das Gespenst deines Lebens von gestern dein wirkliches 
Leben von heut nicht mattsetzen." 

Aber das Gespenst von gestern ist schon über ihm, das 
Skelett schon wieder im Hause, der Vampyr lechzt schon 

210 



wieder nach Blut, Delila greift schon wieder in die Locken 
dessen, der in seiner Eigenschaft als moderner Dramenheld 
ach! so gar kein Simson ist. Mitten aus einer großen Aus- 
tobungs- und Entladungsrede heraus entdeckt plötzlich 
Gabriel Schilling dort, wo er noch eben mit den Freunden 
leidlich guter Laune gefrühstückt hat, ein kleines, feines 
Damenschirmchen. Es ist Hannas Schirm. Hanna Elias 
ist da, und — wie es in Goethes „Stella" heißt — „Rinaldo 
wieder in den alten Ketten". Ihre erste Waffe ist Appell 
an das Mitleid : ihre kranke Lunge, das kranke Rückgrat des 
Kindes! Ihre zweite Waffe ist das Bekenntnis ihrer Liebe 
und ihrer Unschuld. Ihre dritte, die siegende Waffe, ist 
sie selbst, die Macht ihrer Person auf seine Sinne oder auch 
nur auf seine Nerven. In der Heimlichkeit der Düne er- 
obert sie sich ihn zurück. 

Ihr Sieg ist seine Niederlage. Eine dämonische Raserei 
kommt ihn an; mit dem Todesgedanken treibt er schauer- 
lichen Scherz, die Zerrissenheit des Gemüts wirkt auf das 
Nervensystem des Diabetikers, er bricht körperlich zusam- 
men, noch bevor auch das andre Gespenst der Vergangen- 
heit, die ehelich Angetraute, wieder in seiner Nähe er- 
scheint. Sie kommt, weil sie hört, er sei erkrankt. Aber als 
sie den Kranken sieht, fehlt ihr das Auge dafür. Sie wühlt 
nur im eignen Jammer, den Kranken überhäuft sie mit 
Klagen und Anklagen. Und nun dringen die beiden Har- 
pyien mit geballter Faust gegeneinander los. Nachdem sich 
die Beredsamkeit empörter Weiberseelen genugsam ergos- 
sen hat, will es zu Taten kommen, dicht vor der Tür, hinter 
welcher der Kranke liegt, um den sie kämpfen ; dann vor dem 
Kranken selbst, den der Ekel würgt, der vergebens fragt, wie 
das Doppelpech dieses Schicksals über ihn kommen konnte. 

x4* 211 



Wir sehn ihn nur noch auf seinem Tode^gang» zwischen 
Elirchhof smauem und Klostertrümmem, im Gespräch über 
die letzten Dinge mit einem schwindsüchtigen Sargtisch- 
ler, der sich auf Vorrat Bretter für einen ,^ölzemen Schlaf- 
rock'' holt. Das Leuchtturmfeuer, das auf die Gallionfigar 
des gestrandeten Schiffes gespenstischen Schein wirf t, weist 
ihm den Weg ins Meer, den Ausweg aus allen Elalamitäten. 
So ward doch Gabriel Schillings Flucht vor seinen Weibern 
eine Zuflucht. So fand er doch auf dem Friedenseiland 
seiner Freunde den Frieden. 

Durch den düstern Schatten dieser gescheiterten, schon 
vor Beginn des Dramas verlornen, physisch erkrankten Exi- 
stenz ziehn ein paar liebliche Strahlen. Sie kommen aus 
den Seelen der Freunde. Hauptmann war in keinem seiner 
frühern Werke, auch nicht im „Friedensfest**, gegen Frauen 
so hart wie hier. Man könnte ihn mit Strindberg verwech- 
seln, wenn der Gestalter der Ottegebe und Griselda nicht 
doch auch hier für den Ausgleich gesorgt hatte. Das ,ySchu- 
sterdien'', die klare, freie, sichre Lude Heil, nicht unähn- 
lich jener Lüde aus Kellers Sinngedicht, die „Lux, mein 
Licht'* genannt wird, ist vom Dichter mit persönlicher 
Liebe geschaffen. Daneben steht dne junge Russin, die in 
das Verhältnis zwischen Maurer und Lude zwar auch dni- 
ges Wirrsal bringt. Was „endgültig** schien, schdnt plötz- 
lich nur „interimistisch**, und der wangenrote Professor 
droht von einer zur andern ganz sacht hinüberzugldten. 
„O diese Männer!** pflegt man in solchem Falle zu sagen; 
„Einer ist wie der andre.** Der gesunden Mannesseele droht 
dieselbe Gefahr wie der kranken. Aber zum Glück ist dies- 
mal das Schicbal überlegnem Frauengeist anheimgegeben. 
Sie knebeln das Schicbal nicht, sie fordern keine Rechte, 

2X2 



mahnen an keine Pflichte n, sie lassen Freiheit und bewah- 
ren die eigne Freiheit. Im fünften Akt haben Lucie und 
die kleine Russin eine Aussprache, die zum feinsten gehört, 
was Hauptmann gedichtet hat, ohne Eifer, ohne Sentimen- 
talität, ohne Pathos und doch innig, latent bewegt, voll 
verhaltner Wärme. Jede würde der andern den Besitz las- 
sen, denn Zwang wäre Entweihung. Sie einigen sich in der 
Erkenntnis, daß, wenn ein Mann unstet ist, er noch nicht 
der Frau begegnet ist, die ihn bis in die geheimste Regung 
der Seele versteht. Angesichts des Schrecklichen, das sie 
bei den andern erlebten, sind sie auch darin einig: „Meistens 
erschrickt der Mensch vor der Natur, manchmal scheint 
die Natur vor dem Menschen zu erschrecken." Und beide 
bleiben bei der Natur. Das russische Fräulein geht der er- 
schreckenden Menschlichkeit aus dem Wege. Sie erkennt 
das Bestehende, das Natürliche im Verhältnis zwischen 
Maurer und Lucie an. Sie will nicht verwirren, nicht weg- 
nehmen, sie geht ihrer Wege. Lucie aber will nach wie vor 
an Maurer durch kein andres Band geknüpft sein, als durch 
das Band der gegenseitigen freien Harmonie. 

Diese beiden Frauen haben sich gut verstanden, und zu- 
letzt hält Maurer wieder sein „Schusterchen" bei der Hand. 
Er ist gegen die Ehe, weil das immer für die Männer eine 
Klippe sei; aber sie nehmen sich vor, beisammen zu blei- 
ben, so lang es in dieser Welt dauert. Sie verstehen sich. 

Die andern drei verstanden sich nicht. So kommt es, daß 
man jetzt Gabriel Schillings Leichnam aus den Wellen 
fischt. Fischer tragen ihn. Inzwischen liegt Eveline im 
Morphiumschlaf, durch den sie der hilfreiche, resolut nüch- 
terne Arzt Rasmussen bis auf weitres unschädlich gemacht 
hat. Dann wird sie einen Witwenschleier kaufen und weiter 



213 



jammern, aber leben bleiben. Hanna Elias jedoch ist dem 
Ertrunknen nachgelaufen; völlig verstört. Sie ist doch et* 
was besser als ihr Ruf. In Gabriel Schillings Flucht liegt 
auch ihr Schicksal besiegelt. Dieser arme VampTT hat sich 
verblutet. 

Immer wieder wird man an die ,,Einsamen Menschen" 
erinnert. Gabriel Schilling ist der um zehn Jahre älter ge- 
wordene Johannes Vockerat. Johannes Vockerats Flucht in 
den Müggelsee war die Befreiung des Elnaben, des Jüng- 
lings aus gütigen Schlingen von Haus und Heimat. Der 
erste Schritt in die Freiheit, ins eigne Land, war sein 
Todessturz. Jetzt hat sich der Binnensee zum offenen Meer 
erweitert. Seiner eignen Kraft überlassen, stand der Mann 
im feindlichen Leben. Die beiden großen Gewalten, Kunst 
und Liebe, bedrängen, verwirren, verjagen den Wehrlosen. 
Die Vockeratnaturen sind für das große Leben so wenig 
geschaffen, wie für den häuslichen Tisch. Auch Johannes 
hätte sich getäuscht. Aber es gibt Naturen, die der An- 
fechtung widerstehn, die durchdringen. Dazu braucht man 
kein Mufflinski zu sein, wie das vertrübte Rauhbein Braun 
aus den „Einsamen Menschen"; man muß ein Mensch auf 
der Sonnenseite sein, wie Professor Ottfried Maurer, der 
für „das Rinascimento des vierten Jahrzehnts" nicht erst 
Anregungen brauchte, der in seiner Natur die Kraft fand, 
immer wieder von neuem den innern Menschen, den Künst- 
ler aus sich heraus zu gebären. Trotz Hanna und Eveline 
ist der Optimismus des Dichters seit den „Einsamen Men- 
schen" gestiegen. 

Die beiden ungleichen Brüder Maurer und Schilling 
(manchmal wirken sie wie Klinger und Stauffer) sind beide 
siebenunddreißig Jahre alt. Im Jahre 1900, da das Stück 

214 



spielt, war Gerhart Hauptmann ungefähr auch so alt. Er 
erlebte also damals selbst das ,,Rina8cimento des vierten 
Jahrzehnts"; vielleicht hat er auch einmal Ottfried Maurers 
flüchtige Wirrung erlebt. Von diesen Eindrücken, Stim- 
mungen, Erinnerungen, Empfindungen, von diesem Un- 
wägbaren und Unsichtbar-Klopfenden, das viel mythischer 
ist als Wanns Persönlichkeit, wird das Drama bewegt. Es 
ist in seiner gehobnen, fast rhythmischen Prosa voller Ly- 
rik. Daß es bei höchst lockrer, kunstloser, zerschnittener 
Szenenfolge voller Dramatik, sogar kaum ganz frei von 
Theatralik ist, bewies eine nicht alltägliche Bühnenauf- 
führung. 

Als ich im August 191 1 den Dichter in Agnetendorf be- 
suchte, sprachen wir viel von dem kleinen alten Goethi- 
schen Theaterchen in Lauchstedt bei Merseburg. Zwei 
Monate zuvor war dort mit Erfolg Kleists „Zerbrochner 
Krug" und Holbergs „Erasmus Montanus" aufgeführt wor- 
den. Hauptmann hatte sich dazu angemeldet, war jedoch 
über den Termin falsch unterrichtet, und so mußte sein 
höchst willkommener Besuch unterbleiben. Aber er hatte 
sich von Lauchstedt ganz richtige Begriffe gemacht; beim 
Gespräch über solch ein kleines Bayreuth zog er aus dem 
Schreibtisch ein altes Manuskript hervor und meinte, das 
wäre etwas für Lauchstedt. Es enthielt „Gabriel Schil- 
lings Flucht". Das Stück erschien dann im Januar 191 2 in 
der „Neuen Rundschau" mit einem kurzen Vorwort, das 
im doppelten Sinn ein Vorsatz war. Es lautete: „Das nach- 
folgende Drama wurde im Jahre 1906 geschrieben. Ich 
habe die Aufführung mehr gescheut, als gewünscht, des- 
halb ist sie unterblieben. Heute würde ich das Werk nicht 
auf den Hasardtisch einer Premiere legen mögen. Es ist 



keine Angelegenheit für das große PuUikum, sondern für 
die reine Passivität und Innerlichkeit eines kleinen Kxeises. 
Einmalige Aufführung, YoUkommenster Art, im intimsten 
Theaterraum, ist mein unerfüllbarer Wunsch.** 

Dieser Wunsch des Dichters wurde ein halbes Jahr spä- 
ter in Lauchstedt annähernd erfüllt. Die Schauspieler ka- 
men aus verschiednen Theatern Berlins zusammen, das 
PubUkum kam zu allen drei Vorstellungen aus allen \'(^d- 
richtungen herbei. Seit der „Versunkenen Glocke** hatte 
der Dichter nie wieder einen so sichtbaren Triumph erlebt, 
und diesmal auf seinem selbeigensten Gebiete des mo- 
dernen Seelendramas. Von allen Seiten streckten sich nun 
Hände aus, die das wirksame Stück auf die ständige Bühne 
ziehn wollten. Und der Dichter gab nach. Mit Recht gab 
er nach, ebenso wie jetzt vielleicht in dem müßigen Streit 
um „Parsifal^^ Richard Wagner nachgäbe, wenn er noch 
lebte. Man soll einen Dramatiker nicht auf das festnageb, 
was er in Stimmungen, die überwunden sind, unter Um- 
ständen, die sich inzwischen ganz verändert haben, einmal 
gefühlt, gedacht und daher auch ausgesprochen hat. Die 
erste der dargebotnen Hände, die Gerhart Hauptmann 
nach der guten Lauchstedter Erfahrung mit Freuden er- 
griff, war die des Dresdner Hoftheaters und seines klugen 
Chefs, des Grafen Seebach. Wie sich ein vorsichtiger Tou- 
rist, der ins Hochgebirge will, erst allmählich ans höhere 
Klima zu gewöhnen sucht, so sollte sich Gabriel Schilling 
auf dem Wege von der Lauchstedter Sommerfrische zum 
Berliner Wintereis erst in der Dresdner Übergangsluft ak- 
klimatisieren. 

Dieses tiefsinnige Drama, in welchem die Mystik der 
Seele rein und klar zum Ausdrucke kommt, gleich der 

2l6 



Bühne zu geben, widerstrebte dem Dichter vielleicht nur 
deshalb, weil man „Pippas Tanz" nicht recht hatte begrei- 
fen wollen, und weil einige mit dem alten Wann nicht zu- 
rechtkommen konnten. So entschloß er sich, dem Theater- 
publikum lieber einmal mit leichtrer Ware Konzessionen 
zu machen, und ihm nicht ohne Ironie zu sagen: Was ihr 
wollt, das kann ich auch. Teilt einmal erst gehörig meine 
Heiterkeit, dann werdet ihr auch wieder meinen Ernst ver- 
stehen. So kam 1907 das Lustspiel „Die Jungfern vom 
Bischofsberg", von dem ich schon andeutete, daß es aus 
Gerhart Hauptmanns zartesten Liebeserlebnissen geschöpft 
ist. Das Stück sollte ihn an frühes Bangen und Hoffen, an 
die heiterste, glücklichste Zeit seiner Jugend erinnern. Aber 
das Lied aus der Jugendzeit klang nicht mehr rein, die hel- 
len freundlichen Gestalten von dazumal gingen im Schat- 
ten. So öffnet man bisweilen nach vielen Jahren eine 
Schachtel mit Angedenken, möchte noch einmal das, woran 
sie gemahnen, durcherleben und findet die alten Liebes- 
zeichen eingestaubt; die Bildchen sind verblaßt, die Briefe 
vergilbt, das Kettlein verrostet, die Vergißmeinnicht ent- 
färbt. 

Es ist schade um den guten Stoff, den Gerhart Haupt- 
mann so lange im Herzen getragen hatte. Dieses Stück ab- 
zulehnen, war die Tageskritik im Recht. Nur hätte sie 
daraus nicht den voreiligen Schluß ziehen dürfen, daß sich 
der Dichter der Szenen von Pippa und Michel, der Dichter 
des „Gabriel Schilling" zum Niedergang wende. 



XIV 

GRIECHISCHER FRÜHLING. DER BOGEN DES 
ODYSSEUS. KAISER KARLS GEISEL. 

GRISELDA 

Wenn Gabriel Schillings Freunde den armen Lebens- 
müden werden begraben haben, wenn Lude Heil und 
Ottfried Maurer, solang es dauert, wieder allein beisammen 
sind, so werden sie ihren alten Plan aufnehmen; der Künst- 
ler, den man für einen Großen seiner Kunst, wie Max Klin- 
ger, halten darf, wird die kluge, ruhige Geliebte in „das 
Land des goldelfenbeinernen Zeus^^ führen. 

Und wirklich stehn im nächsten Frühling, Ende März, 
zwei Menschen wieder am Meere, dem die Begleiterin des 
Künstlers so sehr zugetan ist. Aber dieses Mal ist es nicht 
die Ostsee, sondern Pippas Adria. Im Hafen von Triest 
steigen sie auf einen Lloyddampfer; es geht die dalmati- 
nische Küste entlang hinüber nach Brindisi. In Korfu wird 
längerer Aufenthalt genommen, bis tief in den April hin- 
ein; dann erst beginnt die eigentliche Pilgerfahrt: Patras, 
Olympia, Athen. Die Stätte, wo „der goldelfenbeineme 
Zeus^^ gestanden hat, sucht ein Bildhauer vor allem auf. 
Aber der Bildhauer ist zum Dichter geworden. Im Kampf 
zwischen zwei Künsten hat er schon längst die „Frau mit 
Kranz und Leier" gewählt. Au(^ noch eine andre Frau 
hat er schon längst gewählt und sich ihr an^traut, sobald 
der Weg freigegeben war. Auch ein blonder f eiger Kn abe 
ist schon da, der den griechischen Frühling, d en olym pi- 
schen Spielplatz in seine Kinderspiele mitnehmen darf. Denn 
diese deutschen Menschen in Griechenland sind Gerhart 

2i8 



Hauptmann selbst mit Frau und Kind. Ihr „Griechi- 
scher Frühling" ist der Frühling des Jahres 1907. 

Der Dichter steht mitten im fünften Jahrzehnt seines 
Lebens. Mit dieser Reise erfüllt sich sein Jünglingstraum. 
Der schulwidrige Schlesier, der verschriene Gegenwarts- 
mensch und Plebsbeschauer, der ewige Nager am christ- 
lichen Problem, der regellos Erzogne hatte von frühester 
Jugend an einen unbezwinglichen Trieb ins Land der An- 
tike, nicht wie sie im Lehrbuch steht, sondern wie sie einst 
mag lebendig gewesen sein. Schon als sich ihm ganz jung 
die Mignonsehnsucht nach Italien erfüllte, lockte ihn eine 
Hyperionsehnsucht weiter nach Griechenland. Nun end- 
lich ist er da. Es begleiten ihn die Liebsten und Nächsten, 
aber es begleitet ihn auch Homer; von Insel zu Insel der 
odysseische Homer. Der Philologenstreit, ob Homer ge- 
lebt hat, kümmert ihn nicht. Er kennt ihn kaum. Der Dich- 
ter fühlt den Dichter; er läßt sich führen, wie Dante von 
Virgil durch die Unterwelt geführt wird. 

Etwas besitzt der moderne Dichter, was Homer nicht 
besaß: einen Bleistift, mit dem er im Gehn Notizen macht. 
Wie der Maler sein Skizzenbuch, so führt auch er etwas 
Ahnliches bei sich. Eindrücke, die er empfängt, faßt er 
gleich in Worte. So macht er nicht bloß eine Reise, son- 
dern zugleich auch ein Buch. 

Mehrfach ist im Buch von Goethe die Rede. Alles Sin- 
nen, Grübeln, Wirken, Dichten und Trachten dieses „Ma- 
giers" sei dem Endzweck rastlos Untertan, den Menschen 
mit Göttersinn und Menschenhand zu bilden und hervor- 
zurufen. Auch Gerhart Hauptmann empfand Goethe durch 
Griechenland und Griechenland durch den Dichter der 
Iphigenie und der Nausikaa. Verführerisch scheint ihm der 

219 



Gedanke, Goethes Nausikaafragment zu ergänzen. Den- 
noch entdeckt er Griechenland auf seine eigne Art. Der 
„Griechische Frühling" ist keine Nachahmung von Goe- 
thes „Italienischer Reise". Am wenigsten in seinem im- 
pressionistischen Stil. Eindrücke der Natur, Eindrücke des 
Lebens in dieser Natur führen zu phantastischen Erwä- 
gungen, wie aus diesem Volksboden, aus dieser Natur ein 
großer Mythos,* aus dem Mythos eine große Kunst ent- 
stehn konnte. 

Der Dichter sieht die schwarzen attischen Böcke schrei- 
ten, die Tragoi, und begreift den Bocksursprung der atti- 
schen Tragödie. Nichts von dem, was er vielleicht erst zur 
Vorbereitung für diese griechische Reise gelesen und ge- 
lernt hat, ist verkalkter Gedächtniskram. Ihm selber neu 
und frisch, verkehrt er damit wie mit einem Lebewesen. Die- 
sem Urrealisten wird das Entfernteste real ; er hält es für eine 
reale Entdeckung, wenn man eine abgestorbene Empfin- 
dung wieder beleben kann. Einmal beklagt er — Wasser 
auf die Mühle unsrer Humanisten — daß er den Diodor 
nicht im Urtext lesen kann; denn er weiß von seinem Hei- 
matsdialekt her, was für Aufschlüsse über den Menschen 
seine Sprache gibt. Niemals wird er von etwas, dessen Le- 
bensspur er wittert, sagen: „Was ist mir Hekuba?" Mit 
Fenelope und ihren Freiern beschäftigt, kommt er zu der 
Vermutung, daß Zaudern jchon da mals eine Schwäche des 
edlen Weibes gewe sen se i; vielleicht wendet er hier eine 
Erfahrung, die er jahrelang im Allerpersönlichsten zu ma- 
chen hatte, auf die Königin von Ithaka an, die auch jahre- 
lang wartet, ob ihr nicht doch der Gatte wiederkehrt. So 
vergleicht der Dichter Vergangenheit mit Gegenwart, 
Fremdes mit Eignem, Ferne mit Heimat. 

220 



Im „Griechischen Frühling** liegen Keime einer „Dich- 
tung und Wahrheit". Kaum hat er den Triester Hafen ver- 
lassen, kaum ist er auf hoher See, so gedenkt er jener Reise 
über den Ozean, die er einst ganz plötzlich von Paris aus 
antrat, um Frau und Kinder aus Amerika zurückzuholen: 
„Ich erlebte damals stürmische Wochen auf zwei Meeren, 
und ich wußte genau, daß, wenn wir mit unserem bremen- 
sischen Dampfer auch wirklich den Hafen erreichen sollten, 
dies für mein eignes gebrechliches Fahrzeug durchaus nicht 
der Hafen sei." Inj^arta i\\h\^ ^x V^h \p Ofllr el Schube rts 
Obstgarten versetzt, nach Lederose bei Striegau, wo der 
fünfzehnjährige Junge zum ersten Male verliebt war. Im- 
mer ergreift es ihn, wenn er im L ande der griechisc hen 
Götter an Deutsches erinnert jrird. Sogar bei Lykurg 
scheint er an die Rassenhygiene seines Freundes Alfred 
Ploetz zu denken. Am Fuße des Parnaß begegnet ihm seine 
Rose Bernd: „Sie ist frisch und derb und germanisch kern- 
haft. Die Art ihres übermütigen Grußes ist zugleich wild, 
verwegen, ungezogen und treuherzig. Sie würde sich von 
der jungen und schönen Bauemmagd, wie ich sie auf den 
Gütern meiner Heimat gesehen habe, nicht unterscheiden, 
wenn sie nicht doch ein wenig geschmeidiger und wenn sie 
nicht eine Tochter aus Hellas wäre." Schon in Pelleka be- 
gegnete ihm mitten unter brünetten Südländerinnen solch 
ein blondes Mädchen, blauäugig und von zarter weißer 
Haut; der große, vollkommen deutsche Kopf erinnert ihn 
an Leibl, und ihn beschleicht eine Traurigkeit, die er sich 
mit dem Verstände nicht recht erklären kann, denn das 
Mädchen ist die vergnügteste von allen. Was ist dieses Un- 
erklärliche ? Ist es mitten im Genuß der großen Fremde 
das alte deutsche Heimweh? Mindestens das Heimats- 



221 



gefühl verlaßt ihn auch im Lande der Größe nicht; froh 
glaubt er dort zu erkennen, daß die Seele des Griechen 
auch seinen Gott an den Landboten, an die LandstraBe, an 
die Heimat bannte, so wie er, der deutsche Dichter, die 
Muse. Hier in Griechenland findet er das Kemwort seiner 
ganzen Poesie: „Was wäre ein Dichter, dessen Wesen nicht 
der gesteigerte Ausdruck der Volksseele ist ?" 

Was Humanisten und Klassizisten griechische Kultur 
nennen, empfindet der ungelehrte Dichter auf griechischem 
Boden als natürliches Ergebnis nackter Urzustände. Etwas 
geschraubt erklärt er Kxiltur als „eine fleischliche Bil- 
dung zu kraftvoll gefestigter, heiterer, heldenhaft freier 
Menschlichkeit^^ Das Fleischliche bedeutet ihm das Ani- 
malisch-Unschuldige, Nackte, Naive, Urwüchsige, Ur- 
sprüngliche. Er rühmt sich seines starken und gesunden, 
ihm eingebornen Bergglücks, das ihn jene Urzustände eines 
Volkes der Hirten und der Jäger finden läßt. Gerade ein 
solches Volk aber findet er überall auf klassischem Boden. 
Hirten und Götter_wer den ihm ein s. Das Stärkste^ G rößte. 
Erhabenste ist zugleich das Einfachs te, das Schlich teste, 
das Bedürfnisloseste, also Freiste. Keine home rische H el- 
dengestalt interessiert ihn mehr alTHe TISauhirt Eumaio s. 

Unter dem Glockengebimmel weidender Ziegen und 
Schafe erneuert sich ihm der Mythos, ersteht ihm das grie- 
chische Drama, das Drama überhaupt, und wie er nie etwas 
gedichtet hat, in das nicht irgendwie der Nazarener hinein- 
gezogen wurde, so erscheint dieses Krippenkind, dieser 
Sohn der Armut, der unter Hirten geboren ist, der selbst 
eine Art Hirt geworden ist, auch unter den HLirten des 
Parnaß. Diese Gestalt, die unserm Dichter durchs ganze 
Leben überallhin folgt, begegnet ihm hier, wie ihm Rose 

222 



Bernd und das Mädchen aus Onkels Obstgarten begegnen. 
Vor der Bucht von Eleusis denkt er mit einer Art von Sehn- 
sucht an das galiläische Meer, und der griechische Demeter- 
kult gemahnt ihn an jene a^dre Legende, „die mit einer Kraft 
ohnegleichen heute Zweifler wie Fromme beherrscht." 
Bisher durfte er über Jesus nur das aussprechen, was drama- 
tische Personen von ihm dachten oder fühlten. Jetzt zum 
erstenmal kann der Dichter sein persönliches Bekenntnis 
ablegen.! Auf demselben klassischen Boden, den „die ver- 
derbte Weltanschauung der christlichen Zeit" entgöttert 
hat, fällt sein innres Auge immer wieder auf den Schatten 
eines einzelnen Mannes : ,>Es ist unum gänglich| d^ß ein bis 
ins tiefste religiös erregter, christlichjygoj^ner Mensch 
doch immer auf die Gestalt des Heilandes treffen muß ; un d 
dies war mir und ist mir noch jetzt jener Schatten. Etwas 
Wie Unruhe, etwas wie Hast und Besorgnis scheint ihn den 
gleichen Weg zu treiben, und etwas wie der gleiche, immer 
noch ungestillte Durst." 

Aus diesen Sätzen, die wie so vieles im „Griechischen 
Frühling" das seelische Schaffen Gerhart Hauptmanns er- 
klären, steigt ein Wegweiser empor, der über Griechenland 
hinaus noch östlicher, noch südlicher zeigt. Einen Früh- 
ling in Palästina ist Gerhart Hauptmann sich selbst schul- 
dig. Dieser Kreuzzug wäre kein Kriechen zu Kreuze vor 
dem, was aus den christlichen Bekenntnissen mit der Zeit 
geworden ist, aber um jenes Schattens willen wird sein 
Kreuzzug zur Pflicht gegen das eigne Selbst. Wenn der 
Dichter schon in Athen und Sparta an Eigenstes erinnert 
wurde, Eigenstes sich ihm dort neu belebte, so wird er um 
Bethlehem und Golgatha den Schwerpunkt seiner Seele 
entdecken. Dann scheue er sich nicht, auch in dieser neu 

223 



erschlossnen Welt sich selbst zu fühlen, wie er es in 
Griechenland getan hat. 

Man könnte darüber spotten und hat wohl auch gespot- 
tety daß der Dichter, als er durch die klassischen Gelände 
ging, immer den eignen Puls in der Hand hielt, immer am 
eignen Blute die Temperatur der Umgebung maß. Und 
doch erhöht es den Reiz und Wert dieses autobiographi- 
schen Reisetagebuches, daß er es nur für sich allein scheint 
geschrieben zu haben. Wenn ihm Tausende und Abertau- 
sende dabei über die Schulter sehen, so ist das Sache der 
Tausende, denen dieser Dialog zwischen Hellas und Haupt- 
mann eingeleuchtet hat. Ein andrer als Hauptmann dürfte 
ähnliches allerdings kaum wagen. Besonders unsere Reise- 
feuilletonisten seien gewarnt. Die Außenwelt mit sich selbst 
so eng zu verbinden, wird nur einem Dichter gelingen. 
Unter den Lebenden aber gibt es niemand, der so eindrucks- 
fähig wäre wie Gerhart Hauptmann, der so tief alles er- 
leidet, im schlimmen und im schönen Sinn erleidet, was 
auf ihn zukommt. Seine Sinne sind der Außenwelt zu- 
gänglich wie die Foren unsrer Haut der atmosphärischen 
Luft. Es ist ein ganz unmerklicher Vorgang. Er vollzieht 
sich ohne jede Bewegung, lautlos. Aber die Luft, die 
niemand greifen kann, dringt in den Organismus ein und 
stärkt ihn. 

Es wäre wunderbar, wenn das Frühlingstagebuch die ein- 
zige dichterische Frucht dieser griechischen Reise geblieben 
wäre. Schon unterwegs regte sich der Schaffenstrieb wie 
ein Fieber. Ein alter Jugendplan fällt ihm wieder ein, die 
Tragödie des Lykophron, der seinem Vater Periander da- 
hinter kommt, daß dieser sein Weib Melissa, Lykophrons 
Mutter, getötet habe. Lykophron, ein umgekehrter Orest, 



ein Zauderer wie Hamlet, irrt durch die Gassen seiner 
väterlichen Hauptstadt Korinth als obdachloser, verwahr- 
loster Bettler, und dieser Eindruck war für Gerhart Haupt- 
mann entscheidend, sich für den Stoff zu erwärmen. Die 
Probleme, durch die der Mensch ein Bet tler ist oder zu m 
Bettler wird, haben ihn immer am t iefsten ergriffen. 

Als Bettler kehrt auch Odysseus nach Ithaka zurück. Der 
erste, den er trifft, ist ein Schweinehirt. Den König labt 
und beschenkt sein eigner niedrigster Knecht. Von der tie- 
fen Naivetät dieses Idylls fühlt sich der moderne Dichter 
entzückt und angeheimelt. Von dieser Empfindung aus 
möchte er dem ewigen Gegenstand ein neues lebendiges 
Dasein gewinnen. Im Zusammenhang damit nennt der 
griechische Reisende plötzlich den Namen Murillo. Er 
wird also aus dem Sauhirten und seinem geheimnisvollen 
Gaste gewiß nichts im Stile Corneliusscher Kartons schaf- 
fen. Zu Eumaios und Odysseus tritt in seiner nachschaf- 
fenden Phantasie der junge, vaterlos aufgewachsene Tele- 
mach, und es will scheinen, als ob den Dichter auch hier, 
wie bei Lykophron^ das Motiv reizte, das den Sohi^yr\Yi^chfJ? 
di eTei3en ^etr^mitea Kit er abteilt . 

Indem Hauptmann sich in das Schicksal des Königshau- 
ses von Ithaka hineinsinnt, indem er Odysseus, der bisher 
nur mit widrigen Winden, Göttern und Ungeheuern 
kämpfte, nach der Rückkehr noch durch eine seelische Wirr- 
nis leitet, hat der moderne Dichter, der nicht anders, als 
psychologisch nachspüren kann, auf homerischem Boden 
eine antihomerische Idee gefaßt. Die 




fennärchen mit glückhaftem Ende, ist halb orientalisch 
in der Gläubigkeit, in der Unbedenklichkeit unstillbarer 
Wunderlust. Odysseus kehrt aus Krieg und Irrfahrt als der 

15 225 



einzig Untragische von den großen Führern zurück, — kein 
Agamemnon, kein Äias, kein Philoktetes. Die griechischen 
Tragiker haben ihn im Epos, im Märchen gelassen, es sei 
denn, daß sie den Vielgewandten als Realpolitiker, als be- 
schwichtigenden oder belistenden Unterhändler zur Lö- 
sung dramatischer Konflikte brauchten. Nichts bezelch- 
nender und reizender als wenn OdTSseus auf Ithaka der 
Pallas Athene in Gestalt eines Jünglings begegnet und sich 
erst einmal vorsichtshalber einen fakchen Paß ausstellt. 
Und nichts familiärer von allem Umgang zwischen Göttern 
und Menschen, als wenn die Meisterin der sinnigen Rede 
und des listigen Rates ihn gütig und anerkennend auslacht: 
Du warst immer der Klügste, aber mir brauchst du wahr- 
'- haftig nichts vorzumachen. 

Je weiter sich Hauptmann vom griechischen Boden ent- 
fernte, desto tiefer mag ihm sein Stoff in eine nordischere 
Gefühlswelt hinunter gesunken sein, zumal von einem 
Dichter mitgenommen, der von Natur ein Sänger des Leids 
sich für den Freiermord und die satten Befriedigungen der 
Rache nicht eben begeistern konnte. Es ist ein trauriges 
Lied^ das Lied von der Rückke];ir^ sagt Oj^?. ii?^23sl^" 
mal. Das sind die Gedanken eines modernen Grüblers, 
aber nicht eines Helden und Seefahrers, der obendrein noch 
viel von einem orientalischen Kaufmann hat. Qjgijlurt 
Hauptmann richtet an den rückkehrenden Odpseus einige 
Fragen, die Homer, als er ihn glücklich nach Hause ge- 
bracht hatte, nicht die geringsten Beschwerden machten: 
Will meine Frau mich noch, will mein Sohn mich noch, 
will mein Volk mich noch, und wiU ich selbst mich noch? 

Der „Bogen des Odysseus" — Hauptmanns Dra- 
men haben oft lange B rutzeite n — kam erst sieben Jahre 

226 



nach der griechischen Reise heraus. Das Stück wurde zuerst 
in Berlin durch die Societät des deutschen Künstlertheaters 
aufgeführt, die mit Oskar Sauer, Rudolf Rittner, Else Leh- 
mann und anderen Stützen des Brahmschen Ensembles die 
Nachfolge ihres großen Erziehers übernehmen sollte. Aber 
das Unternehmen ging schon an seiner republikanischen 
Verfassung zugrunde, der Hauptmann selbst kaum mehr 
als seinen Namen und eine Art Ehrenpräsidium gegeben 
hatte. Auch mit der Empfehlung und Bestätigung einer 
besseren Aufführung hätte sich die Bühne diesem Stü 
wohl nicht inniger und anhänglicher ergeben, das nach der 
Verdunkelung der Odysseusfigur in Hauptmanns eigener 
Gemütsfarbe durch die Beängstigungen des Tragischen 
schreiten mußte, um doch nicht tragisch enden zu dürfen . 
Der „Bogen des Odysseus" von Gerhart Hauptmann. 
„Fast eine Tragödie" hätte das unbezeichnete Stück heißen 
können. Bei Homer wird Odysseus von Pallas Athene aus 
bloßer Vorsicht in einen Bettler verwandelt, nachdem beide 
als praktische Griechen die kostbaren Gastgeschenke der 
Phäaken recht sorgfältig versteckt haben. Man kann das 
lustvoll Märchenhafte mit den rein privaten Beziehungen 
zu günstigen und ungünstigen Göttern wohl nicht aus der 
Odyssee herausnehmen. Goethe wußte, warum er die 
Nausikaa nach einiger Verliebtheit im Stiche ließ, wenn er 
nicht das Wunder sowohl wie die Resolutheit der folgen- 
losen Abenteuer in notwendig sentimentalischer Psycho- 
logie aufweichen wollte. Gerhart Hauptmann bestand auf 
seinem Vorsatz, weil er sich gerade in dem heimkehrenden 
Odysseus einen Bruder herangesonnen hatte, der ihm ahn- 
lieh wie der arme Heinrich der mittelalterlichen Legende 
zu eigen werden sollte. 

«• 227 




Diesen Odysseus finden wir als einen wiiUichen Bettler, 
entfremdet den Seinen, entfremdet seinem Volke, dessen 
Jugend er zur Schlachtbank führte. Der klarste be- 
herrschteste Held der griechischen Sage, der Idealmann der 
Sophrosyne, spielt nicht nur handetisch den Wahnsinnigen, 
sondern der Wahnsinn spielt auch hamletisch mit nun ge- 
rade vor seinem letzten und schwersten Erlebnis der Heim- 
kehr, der Wiederbesinnung, der Wiedereinsetzung. Laßt 
meine Falken, meine Adler wieder fliegen! schlieBt der 
Arme Heinrich. Dieser Kampfer überwindet im wesent- 
lichsten nicht praktische Widerstände, wie sie in den letz- 
ten Gesängen der Odyssee erledigt werden, sondern er muß 
die eigenen Hemmungen ausschalten, seelische Schwellen 
überschreiten, bis er sich klärt und sühnt. Das über ihn 
verhängte Drama bedeutet eine Genesung, es führt die 
Fiebertabelle seines in letzter Tiefe heimgesuchten Gemüts 
mit auf und nieder gehender Kurve bis zur vollendeten 
Heilung, und damit dürfte zugleich gesagt sein, daß es 
nicht wie die homerische Erzählung gemächlich vorwärts 
fließen kann, daß es sich in allzu bedachten Stauungen 
durch fünf Akte hinhalten muß. 

In Bettlergestalt kehrt Odysseus bei dem Sauhirten Eu- 
maios ein, in einem etwas zyklopischen Gehöft, wie Haupt- 
mann sie auf Ithaka gesehen hat, in einer Art Schweine- 
burg und von Blutdunst durchzogener Metzgerei, die schon 
als einziger Schauplatz geeignet scheint, das ganze Ansehen 
des Dramas zu verdüstern. Hauptmann geleitet seinen 
Odysseus nicht in den väterlichen Palast und nicht bis zum 
Lager der Konigin, wo ihn wohl gerade nach unseren mo- 
dernen und durch den Krieg besonders herabgestimmten 
Anschauungen noch eine letzte Befremdung und Ausein- 

228 



andersetzuüg erwarten müßte. Seine erste Begegnung ist 
die edle Magd Leiikone, die ihm wie Pallas Athene er- 
scheint, eine Art Ersatz des Göttlichen und bei aller aus- 
zeichnenden Neigung des Dichters doch keine dramatisch 
aktive Figur, da sie als eine männlichere Iphigenie mehr 
aus Vernunft als aus Instinkt, stets überlegen und beschwich- 
tigend handelt. Leiikone hat ihren Jugendfreund Tele- 
mach auf die Erziehungsreise geschickt, von der er als Mann 
zurückkehren soll; ihre sehr ungefährdete Tugend gewährt 
ihm nichts als mütterlichen Rat und schwesterliche Hilfe. 
Hier ist Athene oder ihre Vertreterin wirklich zum Mentor 
für die reifende Jugend geworden. 

In dem Wesen des verstörten Bettlers ahnt aUgiaXeu- 
kone etwas Schicksalhaftes, odejfiijis^gö^^$Ji$:he,^S 
die^eiigat, an das Reich nach zwanzigjähriger Entrech- 
tung, Erniedrigung und Verwirrung. Bei Homer gibt sich 
Odysseus dem Sohne zuerst zu erkennen, wie es sich gehört. 
I Hier wird dieser homerische Anagnorismos sowohl gegen 
den zurückgekehrten Telemach wie gegen den gastfreund- 
lichen Eumaios zu einem innerlichen und sehr langsam ge- 
förderten Prozeß von der Bedeutung, daß der Vater, der 
König, der Rächende, der Sühnende, der Waltende in der 
Folge erkannt wird, in der er sich selbst aus Wahn, Verlas- 
senheit, Verzweiflung herausklärt, in der er die Muttererde 
mit seinen menschlichsten Pflichten und Rechten zurück- 
gewinnt. Was bei Homer der Anfang ist, die rein praktische 
Einführung „Ich bin Odysseus", was so einfach und rüh- 
rend variiert wird durch den letzten Seufzer des auf seinem 
Misthaufen verreckenden Hundes, durch den Freudenschrei 
der fußwaschenden alten Eurykleia, das wird von Haupt- 
mann zum Ende und Ziel gemacht. /Zu einer Lösung, die 

22g 



sich immer wieder verdickt, um nicht zu früh ins Fließen 
zu kommen. Durch fast vier Akte, und das war nicht ohne 
Anstrengung durchzuhalten, lebt, denkt, spricht Odysseus 
in einem Wahn, der ihn aus dem halbgespielten des Hamlet 
fast in den echten herzbrechenden der Learschen Versto- 
ßenheit trägt. Die Freier sind Feinde und Schädlinge; aber 
braucht das Volk seinen König, der sich ihm abenteuernd 
entfremdete, braucht der Sohn und Prinz den Vater, für 
den er schon den Platz einnahm i In diese Verwicklung bt 
ein Kronprinzendrama eingesponnen; der Sohn wächst an 
den Vater, an den Sohn wächst der Vater heran, der sich 
als Erhaltender wieder in den Dienst der Generationen 
stellt, der von soviel Wundern und Abenteuern betäubt im 
eigentlichsten Sinne wieder zur Vernunft komimt. San 
Ruhm ging da draußen bis zu den Sternen^be^j^cineni 
Lande ist er fremd, ein Spott, ein TJng(^S3jifX..JtSSeiaxdetiy 
der Mann, der in den Hades gestiegen war, der im Kampfe 
mit Göttern und Menschen Ungeheuerliches, Übermensch- 
liches erlebt hat. 

Es ist lyrisch schön, es wiederholt die verführerische 
Sprachgewalt des Armen Heinrich, wenn Odysseus die Hei- 
mat grüßt, wenn er sich vor der Scholle Muttererde wie 
vor dem größten Wunder neigt. Wenn er sich aus dem 
Ungeheuerlichen, dem Verstörenden herausringt, das die 
Götter keinen Menschen erleben lassen sollten. Aber der 
Verkehr des interessanten und aufregenden Bettlers, der in 
dem Gehöft des Eumaios bald das Kommando übernimmt, 
die vielseitige Auseinandersetzung mit dem Sauhirten, mit 
Leukone, mit Telemach und auch mit dem verwahrlosten 
Vater Laertes windet sich wie durch eine einzige fieber- 
hafte Ekstase, die, um nicht zu erlöschen, in jedem Akt 

230 



neu angeschürt werden muß. Erst am Ende des vierten 
Aktes kommt das seit langem kaum noch vermeidbare ,,Mein 
Vater" des Telemach gegen den heiligen Mann, den großen 
Dulder, den er i m H erz eiL verra;^gn,Jbtatte. Aber auch. zu 
dieser Erkenntnis muß (He schwestei^Kdie I^ej^QAC.ÜWÄ ihr 
Auge leihen. 

Die Freier sind im Vorwerk des Eumaios eingekehrt, ^e 
prassen nicht in dem Festsaal des Königspalastes, sondern 
zwischen den hohen Steinwänden einer düstern Halle des 
Blockhauses, die sich sonst den Verrichtungen der Land- 
wirtschaft, dem Leben und Sterben des hier gebietenden 
Schweines widmet. Indem Hauptmann auf das glänzendere 
homerische Fest mitvdem edlen Sänger verzichtet, nutzt 
er die düstere Atmosphäre dieses Raumes aus, durch den 
die trunknen und geilen Freier wie schlachtreife Tiere tau- 
meln. Das Tatsächliche des Freiermordes selbst konnte 
sich von der homerischen Vorlage nicht weit entfernen. 
Hauptmann führt den Kampf mit großer Wucht und er 
weiß trotz ihrer Gedrängtheit die einzelnen Freier von der 
kultivierten sogar perversen Erotik des Antinous bis zu der 
stumpfen Roheit des Ktesippos mit einer ungemein ener- 
gischen Charakteristik zu unterscheiden. Der Rächer Odys- 
seus, der endlich zu dem mythischen Bogen greift, der die 
Trotzigen und die Feigen, die Fluchenden und die Win- 
selnden höhnisch abschießt, ist mit dem homerischen Hel- 
den wieder eins geworden^ jiachdem^e^mi^ selbst wie- 
der eins geworden ist, und wir grüßen ihn zum Abschied 
in seiner von keinem Wahn mehr angefochtenen heiligen 
Stärke. Sie hat auch ihren Humor wieder. 
ß Was wird die Mutter sagen, Telemach, 

Daß ich ihr schönstes Spielzeug schon zerschlug ? 

231 



Mit dieser Frage schließt das Stück, die sich Homer nicht 
vorgelegt hat, der den Mann und die Frau mit göttlicher 
Hilfe und nach altem Märchenrecht wieder so june und 
liebend sein läßt, wie sie gjrli vnr TWAngigjah^ffl jf^fJj^^BAn 

hatten. 

Im Gedanken an Lykophron mit Telemach beschäftigt, 
sprach der Dichter, wie aus selbstdurchlebtem Schmerz, 
die Überzeugung aus, daß tiefe Zwiste naher Verwandter 
unter die grauenvollsten Phänomene der menschlichsten 
Psyche zu rechnen seien. „In solchen Kämpfen kann es 
geschehen, daß glühende Zuneigung und glühender Haß 
parallel laufen, — daß Liebe und Haß in jedem der Kämp- 
fenden gleichzeitig und von gleicher Stärke sind: das be- 
dingt die ausgesuchten Qualen und die Endlosigkeit solcher 
Gegensätze. Liebe verewigt sie, Haß allein würde sie 
schnell zum Austrag bringen. Was köimte im übrigen 
furchtbarer sein, als es die Fremdheit der«,^die sich 
kennen, ist." 

Wer das im Reisetagebuche las, mochte denken, daß der 
Dichter nun im größern Stil unter hohem Menschen eine 
„Familienkatastrophe" dichten würde, wie es im engsten 
Räume das „Friedensfest" und „Michael Kramer" waren; 
vielleicht auf dem Hintergrunde Griechenlands, das ihn so 
oft an Heimisches und Eignes erinnert hatte. 

Als er aber aus Griechenland zurückkehrte, ließ er Anti- 
kes ebenso weitab liegen wie Heimisches. Auf der Spur des 
„Armen Heinrich" wählte er wieder das Mittelalter und 
holte ein paar weltliche Legenden hervor, die nicht von 
familiären Konflikten handeln, sondern von zwei sonder- 
baren Fällen der Geschlechterliebe. Beide haben etwas 
Anekdotisches. 



232 



Zuerst erschien „Kaiser Karls Geisel", angeregt 
durch eine Notiz des Italieners Erizzo aus dem sechzehnten 
Jahrhundert. 

Es ist bekannt, daß der allerchristlichste Kaiser Karl der 
Große einen Harem hatte, wie nur je sein Zeitgenosse 
Harun al Raschid. Noch im Greisenalter macht ein ganz 
junges, halbwüchsiges Mädchen auf ihn Eindruck. Aber 
sie ist weder willig noch keusch. Der kleine Racker hänselt 
den großen alten Herrn, den hier zum letzten Male viel- 
leicht eine echte reine Liebe erfüllt; etwa wie sie Goethe 
zur Ulrike v. Levetzow hatte. Aber Gersuind ist kein zar- 
tes züchtiges Edelfräulein wie Ulrike. In ihrem „köstUchen 
Goldelfenbeingehäus" wohnt ein Dämon, mindestens ein 
Luder. Als sie mit mehr kindischen als weiblichen Ge- 
fühlen am Halse des alten Kaisers hängt, muß er sie „kleine 
Hure" nennen. Den ersten besten jungen Kavalier ruft 
sie an wie eine Straßendirne : „Schöner, nimm mich mit". 
Sie, um deren Herz der Kaiser wirbt, gibt ihren Leib dem 
ärgsten Schenkenpöbel preis. Dem Pöbel eine Wollust, 
wird sie dem Volk eine Plage, denn der große Kaiser ver- 
säumt seine Herrscherpflicht. Alles in der Welt geht drun- 
ter und drüber, weil ihm das Kind im Sinne liegt. Sie ist 
wie eine kleine Stechfliege, die wieder und wiederkehrt, 
sich nicht fangen läßt und immer beunruhigt, immer ab- 
lenkt. Wie das Tier steht sie jenseits von Gut und Böse. 
Scham kennt sie nicht. Aller moralische Einfluß versagt. 
Da nimmt sie derselbe Volkshaufe, dem sie sich nackt ge- 
zeigt hat, bei den goldenen, von Kaiser Karl so sehr ge- 
liebten Haaren und verprügelt das „Königsliebchen". Nun 
hat Kaiser Karl über sie Gericht zu halten. Er droht mit 
dem Henkerstod; sie aber fragt ihn nach ihrer Schuld, 

233 



nennt ihm seine Schuld. „Was hebst du Wegwurf auf ?** 
Ihrer jungen Begehrlichkeit kam er nicht als Liebhaber 
entgegen, sondern halb väterlich als Bildner, als Erzieher; 
nicht sinnlich, sondern seelisch; nicht naiv gebend und ver- 
langend, sondern sentimental und langsam werbend. Sein 
hohes Älter, das zum Jungbrunnen die warmen Quellen 
von Aachen braucht, machte wohl aus Not eine Tugend. 
Und doch flattern alle seine Sinne um das süße junge Ge- 
schöpf. Der weise Fürst, vom weisem Älcuin beraten, 
dringt auf den tiefern Grund dieser Dinge. Er gibt sich 
selbst die Schuld. Vor sich selbst spricht er Gersuind frei. 
Gegen seinen Willen erreicht sie statt des Henkerbeils der 
Meuchelmord. Wie einer Ratte ward ihr Gift gestreut. 
Des Kaisers eigner Kanzler tat es. Das todkranke Wild 
darf bei frommen Klosterfrauen und Krankenschwestern 
sterben. Die Oberin hält ihr den Nachruf: »^Der Pöbel 
nannte sie eine Hexe! Er, der Kinderfreund, der Heiland, 
nur ein Kind.^' Im Sterben wird ihr klar, daß sie den 
großen alten Kaiser geliebt hat. Sein hohes Bild verklart 
sich ihr über alle Jünglingsschönheit und Jünglingskraft 
hinaus. Ihrer Torheit letzter Schluß lautet: ,>Karl ist ein 
Gott! Wir andern sind nur Menschen!" Auch der hüb- 
sche Junge, dem sie als erstem nachlief, der freilich kein 
Geisteskind zu sein braucht, setzt ihr eine etwas verzagte 
Grabschrift: „Mag der dies Kind durchschaun, der es er- 
schuf." 

Graf Ricco von Maine meint damit nicht unsem Dich- 
ter, sondern den lieben Gott. Unser Dichter aber halt es 
für nötig, dieses Kind durch eine Rede Älcuins zu erklaren. 
Alcuin ist in das Drama zu ähnlichen Zwecken eingeführt, 
wie Hartmann von Aue im „Armen Heinrich**. Er ist 

234 



Vertrauter des Kaisers; leider jedoch muß er auch Deuter 

des Dichters sein. Die Vorgänge selbst, die Taten, bleiben 

hinter legendarischem, weißlichem Nebelschleier zart, aber 

unklar liegen. Daher muß einer vortreten und erklären, 

wie es gemeint war. Niemand kann das auf bessere Art 

sagen als mit Alcuins, mit des Dichters eignen Worten: 

War dieses Kind unschuldig, keusch und treu, 

War es gegangen, wie es immer ging: 

Ein Kaisersöhnlein mehr! imd damit gut! 

Was weiter? Nichts! Nun aber kam es so; 

Sie blieb ihm fremd, und er bezwang sie nicht! 

Und dort, wo seine Sinne bettelten, 

Hielt ihn, unbeugsam, eigner Stolz zurück. — 

Und eines Tages stieß er sie von sich: sie. 

Die jetzt erst recht verderblich in ihm herrscht. 

Und nun schlug die verhaltne Glut zurück. 

Gepaart mit dem enttäuschten Herrscherwillen, 

Und steckte Tenn und Scheuern uns in Brand . . . 

Das heißt: ihn selbst, von innen aus, den König. 

Daß es dieser langen Erklärung bedarf, daß Älcuin den 
Dichter selbst im Drama anwaltschaftlich vertreten muß, 
ist eine dramatische Schwäche des feinen und wehevollen 
Spieles, das im Balladisch-Lyrischen bleibt, obwohl es von 
schroffsten Kontrasten lebt: Karl alt, das Kind jung; Karl, 
der große Weltbeherrscher, das Kind eine Gefangene; Karl 
ein gebildeter Franke, das Kind ein rohes Sachsenkind; 
Karl ein Apostel des Christentums, das Kind ein Heiden- 
kind; Karl ein raffinierter Welt- und Lebemann, das Kind 
ein Tierchen der Wildnis. Über alle diese Gegensätze, 
durch diese Gegensätze haben beide sich geliebt, ohne es 
voneinander zu wissen. Auch der Kaiser bekennt es und 
erklärt es durch Zwang eines Dämons, durch einen Dienst 
der Finsternis. Da er ihren Mord erfährt, tobt noch ein- 
mal alles in ihm auf. Das eine Wort Mord rüttelt ihn wie 

235 



hundert Fieberschauer. Es klingt wie hundertfaches Weh- 
geschrei. Dann aber rettet ihn seine Größe, seine Tatkraft, 
und er hebt wieder das Schwert Karls des Großen. Im 
Leben des großen Frankenkaisers war Gersuind, die Sach- 
sengeisel, nur eine Episode, wohl die letzte Episode seines 
Herzens. Die Geisel stirbt an diesem Drama, Kaiser Karl 
gehört ohne dieses Drama der Weltgeschichte, mit der die- 
ses Drama so gut wie nichts zu schaffen hat. Bei der Ber- 
liner Aufführung im Brahmschen Theater wurde die Geisel 
höchst verständnisvoll dargestellt durch eine junge, 
schlanke und geschmeidige Schauspielerin, Ida Orloff, die 
schon Hauptmanns gläserne Pippa gewesen war. 

Wie Gersuind als eine weitere und kühnere Dämonisie- 
rung der tanzenden Pippa zu denken wäre, so sieht „Gri- 
s e 1 d a" einer sagenhaften Rose Bernd gleich. Seitdem Ger- 
hart Hauptmann seiner Rose von Striegau sogar auf helle- 
nischem Boden begegnet war, konnte ihn ihre Versetzung 
in eine mittelalterliche Legende nicht schrecken. Diese 
Legende zieht durch die Welthteratur noch weitere Kreise, 
als jenes Märchen vom verwandelten Bauer. Auch hier be- 
gegnen als ihre Interpreten große Dichter. Am unbekann- 
ten Ursprung stehen Boccaccio und Petrarca. Bei Boc- 
caccio heißt der Name, wie jetzt bei Hauptmann, Grisdda; 
bei Petrarca und fast allen späteren heißt er Griseldis. 
Dann kam die Sage nach England zu Chaucer und nach 
Frankreich zu Perrault. Sie ging bis hinauf nach Island 
und bis hinauf nach Rußland. Sie taucht in Böhmen, in 
Holland, in Dänemark, in Schweden auf. Sie wird inter- 
national und populär, denn sie handelt, wie Petrarca schon 
im Titel sagt, von der mythologischen Unterwürfigkeit 
und Treue einer Ehefrau. 

236 



Unsrer modernen f rauenemanzipation muß diese Sage 
sehr zuwider sein. Denn hier ist allein der Mann der Herr, 
das Weib ist ihm leibeigen. Er kann sie zerbrechen und 
wegwerfen wie irgendeine Sache, die er neben ihr besitzt. 
Auch wenn er sie mißhandelt, verstößt, ihr die Kinder 
nimmt und Magddienste von ihr fordert, bleibt sie gehor- 
sam und treu. Alles Erdenkliche tut der Marchese von 
Saluzzo — so heißt er schon bei Boccaccio — seiner Gri- 
selda zuleide, und er tut ihr auch noch das Äußerste an: sie 
muß seiner angeblichen Braut als Kammerfrau dienen. 
Alles das geschieht nicht aus angeborner Roheit, sondern 
nur um ihre Treue und ihren Gehorsam auf die härteste 
Probe zu stellen; um zu sehen, wieweit weibliche Ergeben- 
heit in einen männlichen Willen zu kommen vermag. Denn 
als Griselda auch noch die letzte, schmerzlichste Bedingung 
erfüllt hat, zieht der Markgraf sie an sich, begnadet sie wie- 
der, seine GemahUn zu sein, und wenn sie nicht gestorben 
sind, so leben sie noch heute. 

Je weiter dieser Stoff in die Kunstdichtung vorrückte, 
desto dringender wurde die Frage: Was veranlaßte den 
Markgrafen zu solchen Forderungen, was veranlaßte die 
Frau zu solcher Standhaftigkeit ? Der Antworten auf diese 
Frage gibt es die verschiedensten, und je mehr sich ein 
Dichter psychologisch in die Motive versenkte, desto freier 
gestaltete er den überlieferten Stoff. 

Schon Friedrich Halms dramatisches Griseldisge- 
dicht, das am Artushofe spielt und der Griseldis den Par- 
zival zum Gatten gibt, hat mit den alten Geschichten kaum 
noch etwas zu tun. Am wenigsten paßt der Schluß. Denn 
zwar bleibt Halms Griseldis gehorsam und treu, aber nur 
bis zu dem Augenblick, da Parzival sie wieder zu Ehren und 

237 



Rechten annimmt. Nun gibt sie ihm den Laufpaß. Er hat 
ihre Liebe verscherzt, weil die ganze Quälerei nur das Er- 
gebnis einer frivolen Wette war, die er in der Tafelrunde 
um jeden Preis gewinnen wollte. Einer so banalen Lust- 
spiellösung mit eheschiedlichem Ausgang konnte Gerhart 
Hauptmann nicht zustimmen. Der moderne Seelenrealist 
mußte tiefer in den Grund der Herzen schürfen als der 
seicht-spielerisch-wienerische Romantisierer. 

In der „Zähmung der Widerspenstigen", derselben 
Shakespearischen Komödie, aus der er sich Schluck und 
Jau geholt hatte, konnte er lesen, wie Petrucchios ironi- 
scher Hohn sein Kätchen schildert: „Im Dulden kommt 
sie gleich Griseldens Vorbild"; und ob nun dadurch ange- 
regt oder nicht, Hauptmanns Griselda ward eine gezähmte 
Widerspenstige. Aber Hauptmanns Griselda ward auch 
Bäuerin, und dafür bot ihm die Überlieferung einen 
Halt. 

Seit etwa sechzig Jahren kennt man eine volkstümlich- 
tirolerische Fassung des Märchens. Hier ist Griseldis die 
jüngste und schönste der drei Töchter eines alten Bäuer- 
leins. Ihren Namen erklärt die treuherzige Volksetymolo- 
gie daraus, daß die Nationaltracht der Landmädchen von 
„griselter", d. h. grauer Farbe war. So wird das „Grisel- 
dele" eine Art Aschenbrödel. Aber während das Aschen- 
brödel des Königssohns Gemahlin bleibt, wird das „Grisel- 
dele" wieder in ihre Dürftigkeit zurückgestoßen. Denn 
derselbe junge Graf, der sie ihrer Schönheit, ihres Fleißes, 
ihrer Sittsamkeit wegen zur Frau genommen hatte, der ihr 
„griseltes Kittele" mit den prächtigsten Gewändern ver- 
tauscht hatte, nimmt ihr die Kinder weg, läßt sie im Glau- 
ben, er habe diese Knäblein im Ziehbrunnen ersäuft, und 

238 



schickt sie schließlich zu ihrem Vater heim. Der Vater 

aber spricht: 

Leg nur an das griselte Klttele 
.r Und iß mit mir ein Überschüttele. 

Auch der Tirolerin bleibt die letzte Prüfung nicht erspart. 
Zu den Vorbereitungen einer neuen Hochzeit muß sie als 
Aufwaschweib wieder ins Schloß, muß frisch vom Ab- 
spülen weg im schmutzigen Gewand Speisen auftragen und 
die Schönheit der angeblichen Braut preisen. Dann aber 
schlägt ihre Erlösungsstunde. Sie erhält nicht bloß ihre 
gräflichen Gewänder wieder, sondern auch ihre Kinder und 
den Mann. 

Gewiß nicht unbekannt mit dieser urdeutschen Form 
des Märchens machte Gerhart Hauptmann aus Griselda 
eine widerspenstige Bäuerin, die sich der Markgraf von 
Saluzzo erst zähmen muß. Dem Urstoff bricht er damit 
ebenso das Genick, wie in seiner anderen Art Friedrich 
Halm. Während Halm die geprüfte Frau am Schlüsse nein 
sagen läßt, sagt Hauptmanns Griselda am Anfange nein. 
Dennoch hat der neue Dichter den Geist und besonders 
das Herz des Stoffes im Tiefsten erfaßt. 

Die erste der zehn Szenen zeigt Griselda als tüchtige, 
kräftige Bauerndirne im Gehöft wirtschaftend. Vater und 
Mutter füllen ein stumpfsinniges Alltagsleben mit Alltags- 
gespräch, und ihre schöne Tochter kommt über der schwe- 
ren Tagesarbeit nicht zu eignen Gedanken und Empfin- 
dungen. Der Graf, der ein wunderliches Troglodytenda- 
sein führt, fern von Welt und Damen, will mit ihr grade- 
hin handeln, als sei sie eine Straßendirne. Sie aber trotzt 
den Eindringling kräftig ab, nicht bloß mit Worten. Da 
hebt er sie auf und schleppt sie mit Gewalt ins Haus hinein. 

239 



Ks ist das Haus ihrer Eltern, aber die Eltern sind Hörige 
des Adels, und was drinnen geschieht, sagt nachher weder 
er noch sie. Die armen guten Alten haben nichts vom Va- 
ter Bernd, der mit Gott um die Wette zu richten und zu 
strafen kommt. Das starke Weib hat die Übeikraft des 
Mannes verspürt. Den übersättigten Mann reizte ein 
Weib aus der unmittelbaren Hand der Natur. 

In der dritten Szene holt er sie ab. Er bändigt sie körper- 
lich, aber als sie wehrlos ist, drückt er ihr den Brautkuß auf 
den Mund. Schon in der nächsten Szene ist Hochzeit im 
Schloß vor dem gesamten Adel des Landes. Grisdda in 
Brokat und Seide. Sie trägt es, als hätte sie nie was „grisel- 
tes^^ getragen, und sogar ihr schöner Mund redet schon 
Brokat und Seide. Sie scheint die derbe Bauemprosa des 
väterlichen Gehöftes verlernt zu haben und weiß schon 
ganz genau, wie man mit Fürsten spricht. Weil es ihr neu 
ist, übertreibt sie sogar den noblen Ton, und wenn ich ihr 
Markgraf wäre, der selber kein derbes Wort scheut, so 
würde ich ihr raten, sich weniger geschwollen zu äußern. 
Der Gatte will auch durchaus nicht das Urwüchsige an ihr 
unterdrücken. Der Damen überdrüssig, war ihm die Volks- 
magd gerade recht. Zum Sinnbild dessen gibt er ihr noch 
einmal die Sichel in die Hand, damit sie auf der Wiese das 
Gras mähe. Mit diesem erquicklichen Eindruck könnte das 
Lustspiel schließen, wenn es sich nur um Zähmung einer 
Widerspenstigen gehandelt hätte. 

Doch diese gezähmte Widerspenstige heißt Griselda. Sie 
hat ihren Leidensweg noch vor sich. Auch ihr U^bt die 
Prüfung nicht erspart. Aber von dem kalten und rohen 
Zuchtmeister der Sage, von dem Manne, der ein Unmensch 
wird, damit sich die Frau in ihrer Übermenschlichkeit 

240 



glorlenhaft entfalten kann, wollte Gerhart Hauptmann 
nichts wissen. Sein Markgraf von Saluzzo hat mit jenem 
mythologischen Urbilde nur den einen Zug gemeinsam, 
daß er sie allein und ganz beherrschen will. Er eifert auf 
sein Sonderrecht an sie. Er trennt sie von Vater und Mut- 
ter. Niemand sonst darf sie beim Vornamen nennen. Kein 
Arzt darf sie besehen. Kein Haustier darf sie anrühren. 
Aus übergroßer Liebe ist ihm jeder zuwider, der zwischen 
sie kommt. Er leidet an Wahnwitz der Zweisamkeit. Er 
duldet kein Drittes. 

Nun ist ein Drittes unterwegs. Es kommt ein Kind. Er 
spürt mit Argwohn, mit Grauen schon zum Ungebornen 
die Zärtlichkeit der Mutter. Zu diesem Ungebornen wütet 
er sich in einen blinden Haß hinein. Wie Tolstois Lewin 
fühlt er in der schweren Stunde alle Wehen der Mutter 
im eignen Leibe. Es gibt gewiß noch Menschen, die bei 
dieser wundervollen Szene wieder die Geburtszange heben 
möchten. Aber man wird hinter solche Poesie schon kom- 
men. Diesem unbekannten Stückchen Menschenfleisch, 
das der Geliebten soviel Qual schafft, noch bevor es da ist, 
das ihr Leben gefährdet, soll er gut sein ? Mit ihm soll er 
die Liebe der Geliebten teilen? Es gibt Menschen, die 
nichts teilen können. Darum schafft er seinen neugebor- 
nen, wohlgestalteten, kerngesunden Erbprinzen aus dem 
Hause. Die Mutter weiß nicht, wohin. Mitten im innig- 
sten Allein zwischen Mann und Weib fragt sie ihn nach 
dem Kinde. 

Damit hat sie ihre Schicksalsfrage gestellt. Nicht wie der 
Sagengraf verjagt er sie, aber er selbst läuft auf und davon. 
Der Arme Heinrich konnte nicht wilder, nicht unheimlicher 
verschwinden. Nun ist sie ohne Mann und Kind in seinem 

i6 241 



Schloß allein, während er sein altes einsames Troglodyten- 
leben weiterführt. Diesen Zustand erträgt sie nicht lange; 
während ihre mythische Schicksals- und Namensschwester 
alles auf Befehl tun mußte, faßt sie eine Reihe freiwilliger 
Entschlüsse. Der angebome Bauemtrotz erwacht. Sie 
zieht ,,das griselte Kittele^^ wieder an und geht, wie sie ge- 
kommen war, aus freien Stücken, auf freien, festen Füßen 
zu den Eltern an die Tagesarbeit. Wieder ist das Drama 
bei einem vorläufigen Ende. 

Um die Handlung fortzusetzen, knüpft der Dichter an 
ein Bild aus der Sage an. Er erinnert sich des Aufwasch- 
weibes im schmutzigen Kleid. Seine Griselda schwört, daß 
sie nie anders als zu solch niedrigster Dienstleistung der 
Hörigen das Schloß wieder betreten werde. Sie kommt mit 
Besen, Lappen, Eimern ins Schloß, zwar nicht zur neuen 
Hochzeit ihres Gemahls, wohl aber zu seiner angekündigten 
Heimkehr. Sie liegt auf den Stufen der großen Eingangs- 
stiege und scheuert so heftig, als scheuerte sie die Schnuch 
von den Stufen, die sie in diesem Hause erduldet hat. Da 
trägt man das Kind an ihr vorüber, da fällt ihr das eigne 
Kind in die Arme, da schreit ihr Herz, und diesen Herzens- 
schrei seines Weibes hört der Mann. Es war der Schrei 
der Lösung von aller Last. Das neue Märchen von Gri- 
selda endet so glücklich wie alle frühem. 

An vielem Tiefergreifenden mußte dieser Bericht vor- 
übergehen. Wie der alte Bauer seiner Gräfin Tochter in 
schuldiger Ehrfurcht das Wochensüppchen und Mutten 
gute Ratschläge bringt, gehört zum Allerschönsten, was wir 
von Hauptmann haben. Diese innige Dichtung zeigt, dafi 
er sein deutsches Gemüt an Griechenland nicht verloren 
hatte. Der griechische Frühling ist ihm gut bekonmien. 

242 



Die Rose von Striegau und die Rose von Parnassos sprie- 
ßen selbander auf dem ewigen Grunde deutscher Märchen. 
Der Dichter aber kehrt gehoben und gefestigt wieder heim 
in sein eignes Land und sein eignes Leben. Hieraus ent- 
steht etwas, für das alles Frühere nur Vorbereitung zu sein 
scheint : der große Roman von Emanuel Quint, dem Narren 
in Christo. 



XV 



DER NARR IN CHRISTO EMANUEL QUINT 

Gerhart Hauptmann stand dichterisch nie höher. Viel- 
leicht nie so hoch. Aber der Roman gehört nach 
keiner Richtung hin zu jenen Phänomenen, die heute blen- 
den und morgen für immer im Dunkel verschwunden sind. 
Was der Dichter hier auf den Tisch seines Volkes legte, da- 
von wird sein Volk langsam vielleicht, aber sicher Besitz er- 
greifen. Dieses geistige Besitztum wird nie zu veräußern 
sein. Man wird nie aufhören, sich mit dem Romane zu be- 
fassen. 

Wer die ersten Kapitel las und sich sofort in eine ganz 
abgesonderte Welt versetzt sah, dem mag diese Welt fremd 
erschienen sein, fremder als Griechenland und Mittelalter, 
entfernt vom eignen Kulturleben, das nur gelegentlich 
diese wunderlichen Kreise stört. Man denke sich den Schä- 
fer Thomas, den Maler Dieffenbach, den armen Peter I£lle, 
einen Vegetarier oder „Kohlrabiapostel", jemand von 
der Heilsarmee, Antialkoholiker und Antivivisektoren, Mis- 
sionare und Sektenbrüder, man denke alles, was sich ab- 
sondert und doch zur Vereinigung strebt, in einem Keh- 
richthaufen gesammelt, und man wird von Emanuel Quint 
und seiner „Gemeinschaft des Geheimnisses" einen unge- 
fähren Begriff erhalten. Zu absonderlich, zu entlegen, zu 
fremd unsern eigensten Interessen konnte es der gebildete 
Weltstädter noch finden, solange Leo Tolstcri sein Leben 
nicht beschlossen hatte. Seitdem kann er es nicht mehr. 
Gerade als sich dieser Roman des „Narren in Christo^^ an 
die ganze große Öffentlichkeit wandte, wurde diese öffent- 

244 



lichkeit von Ereignissen bewegt, deren tiefrer Sinn oder 
Unsinn mitten in die Probleme der kleinen Welt führt, die 
um Emanuel Quint liegt. Diesem schlesischen Romane 
starb Tolstoi sehr gelegen. Wie vor zwei Jahrzehnten den 
jungen Schlesier zu seinem sozialen Drama nichts stärker er- 
mutigte, als das Beispiel von Tolstois „Macht der Finster- 
nis", so war es jetzt, als legte der abgeschiedne Geist des 
russischen Urchristenapostels eine heilskräftig segnende 
Hand auf seinen armen, gleichgesinnten Bruder Emanuel 
Quint, der das Urchristentum der vier Evangelien und der 
Apostelgeschichte hienieden noch einmal durchleben will, 
der bei diesem wunderbaren Unternehmen seiner reinen 
Seele mit der Folgerichtigkeit eines umf angnen Geistes der- 
gestalt bis ans letzte Ende geht, daß ihn die Menge einen 
Narren, einen Toren schilt, geradeso wie der alte, der älte- 
ste Tolstoi mit dem Gassenausdruck eines Grundwieners 
„Tepp" genannt worden ist. 

Aber nicht nur die Menge schilt, spottet, tobt oder weh- 
klagt über den Toren und Narren; — und diese Menge 
würfelt sich aus den verschiedensten Elementen zusammen, 
aus Bauernburschen und adligen Gutsherren, aus evange- 
lischen Pastoren, katholischen KJerikern und manchem 
selbst ganz wunderlichen Heiligen. Sogar der Dichter gibt 
sich den Anschein, als sei er vom Narrentum seines Helden, 
dieses heldenmütigen Dulders, durchdrungen'. Freilich 
scheint der Dichter mit künstlerischer Feinheit und Frei- 
heit nicht nur von seinem Dulderhelden, sondern sogar 
vom Erzähler dieses Dulderheldentums persönlich abzu- 
rücken. Es wird nie auf einen andern Erzähler hingewie- 
sen, aber aus dem Stile scheint bisweilen ein andrer spre- 
chen zu wollen als der Dichter. Man könnte einen sehr 

245 



humanen, rationalistischen und doch gef ühUstarken Emeri- 
tus imaginieren, der zu seiner eignen Beruhigung auf die 
leeren Blätter einer alten Chronik treu und wahrhaftig auf- 
regende, ungewöhnliche Vorgänge aus seiner Gegend ver- 
zeichnet, manchmal etwas breit wird und besonders zu 
liebevoll am biblischen Worte haftet, das im Geist des nar- 
rischen Gottsuchers seine tief tragische Parodie findet. Die- 
ser imaginäre Chronist steht frei über Quints religiösen 
Wahnvorstellungen, mitleidig, ohne Eifer, ohne Zorn; hin 
und wieder flicht er eine mehr oder minder weisheitstiefe 
Betrachtung ein, im ganzen aber stellt er nur schlicht und 
sachlich den Tatbestand fest; denn er weiß, daß gerade 
daraus die zwingendste und erschütterndste Seelenkraft 
spricht. Man könnte sich weiter einbilden, Gerhart Haupt- 
mann habe diesen pfarrherrlichen Chronikenbericht ge- 
lesen, und weil er selbst davon auf das tiefste ergriffen 
wurde, in der begründeten Meinung, es könnte auch an- 
dern so ergehen, nun der Öffentlichkeit übergeben, Was 
besonders ihn zu diesem Leben Quints mag hingezogen 
haben, ist zweierlei : ein rein persönliches Moment und ein 
andres, das geeignet wäre, die Gemüter der ganzen Chri- 
stenheit aufzuwühlen. 

Das persönliche Moment liegt darin, daß der Dichter 
in Emanuel Quint einen Bekannten aus seiner frühen Jur 
gend wiedererkennt, einen Menschen, der zeitweilig star- 
ken Einfluß auf sein Empfinden hatte. Mit besondrer 
Überraschung wird er entdecken, daß der ehrliche Chro- 
nist auch ihn selbst nicht vergessen hat; Gerhart. Haupt- 
mann findet sich in jenem jungen Landwirt wieder, der 
hier Kurt Simon heißt, und nimmt mit Erstaunen wahr, 
wie tief der Chronist das Gefühlsleben seiner jugendlichen 

246 



„Stromtid" durchschaut, die er einst bei Onkel und Tante 
als Eleve verbrachte; bei Onkel und Tante, die in Fröm- 
migkeit und Güte so hart gegen den „Narren in Christo" 
verfuhren. 

Der „Narr in Christo" selbst. ist das andre, das aufrüt- 
telnde Moment. Gerhart Hauptmann entdeckt — und wir 
entdecken es mit ihm — , daß sich nicht nur die Lehre 
Christi, sondern fast das ganze Leben Jesu, wie es die 
Evangelisten überliefern, in Emanuel Quints Walten und 
Wallen wiederholt. Der vaterlose Tischlerssohn aus Schle- 
sisch-Giersdorf hat sich in den vaterlosen Zimmermanns- 
sohn aus Nazareth mit Leib und Seele so innig hineinge- 
fühlt, daß ihm die biblische Welt näher rückt als die wirk- 
liche; er redet nicht nur Christi Worte, er zieht nicht nur 
aus Christi Weisheit die äußersten Konsequenzen, sondern, 
indem er Christi Wort in Tat, Christi Lehre in innres Sein 
verwandeln will, gestaltet sich ihm auch das äußere Er- 
leben nach dem großen Alterego des Neuen Testamentes. 
Es sammelt sich um ihn eine Schar armer Leute, die ihm 
jüngerhaft ergeben sind, unter denen aber doch die Ver- 
leugner und auch der Verräter nicht, fehlen. Ein Herni- 
hutischer Wanderbruder wird ihm zum Täufer Johannas; 
Kranke werden unter seiner milden Hand gesund; eine 
Magdalena neigt sich über diese Hand; unter denandäch- 
dgen, ihm anhangenden Frauen findet sich bald eine Mar^ 
tha, bald eine Maria ; er teilt das Abendmahl mit den Jün- 
gern und wäscht ihre Füße; er läßt die Kindlein zu sich 
kommen; er wird gefangen, bespien, gesteinigt, gezüch- 
tigt, aber er küßt die Faust, die in sein Gesicht schlug. 

Es wäre unschwer und unschön, das heilige Original ab- 
zuklatschen. Dieser schlesische Roman au9 dem Ende de& 

247 



neunzehnten Jahrhunderts ist aber nichts weniger als ein 
Abklatsch. Die Kraft und Lieblichkeit der biblischen Bil- 
der und Berichte, durch den untheologischen Eindruck 
einer jungen Poesie noch gesteigert^ wächst aus des Dich- 
ters Heimaterde; so tief der arme entrückte Handwerks- 
bursch unter dem Gekreuzigten steht, so hebt ihn auch die 
Dauer der zwei dazwischenliegenden Jahrtausende von ihm 
ab und gibt ihm eine ganz andere Prägung. Dieser in- 
brünstige Gottsucher, der nie etwas andres als die Bibel 
gelesen hat, verwirft zuletzt die Vermittlung des Gebetes 
und der Bibel, wie er alles Menschenwerk verwirft, und 
begrüßt die Offenbarung seines Gottes in der aufgehenden 
Sonne. Er sieht Gott im Wunder der Natur und findet 
das Gotteswunder überall; diese Wahrnehmung erfüllt ihn 
so, daß der sanfte, gütige Mensch unter dem Einfluß einer 
persönlichen Erregung (er ist bei seinem leiblichen Vater, 
einem Kleriker) zum bilderstürmenden Earchenschander 
wird. Diese pantheistische Vorstellung, daß Gott im Welt- 
all stecke, tritt ihm von selbst nahe und bestärkt sein naives 
Gefühl, sich selbst, als einen Teil des Alls, mit dem Gottes- 
sohne zu identifizieren. Hier liegt sogar die Wurzel dieses 
Wahns. Aus dem schlichtesten Glauben an einen höheren 
Sinn, Zweck und Ursprung des Erdendaseins wird in die- 
sem beschränkten Hirn, diesem Herzen ohne Falsch, dieser 
Seele voll Andacht und Güte, in diesem Sinnierer, der die 
Tagesarbeit scheut, langsam, allmählich, nach und nach 
der Wahn, der Heiland lebe in der Menschheit fort, end- 
lich zum Wahnwitz, der wiedergekommne, wiedergebome 
Heiland sei er selbst; durch die Gläubigkeit der wunder- 
süchtigen, ein besseres Dasein erwartenden Jünger, durch 
die Verzücktheit anbetender Frauen und andrerseits durch 

248 



weltliche Gewalten, die ihn bis ins Martyrium hinein- 
schleppen, findet dieser herzliche Größenwahn auch von 
außen her verderbenbringende Nahrung. Alles das ist vom 
Dichter mit einer bildnerischen Meisterschaft entwickelt, 
an der man nicht nur das Studium der Bibel, sondern auch 
das Studium Homers zu erkennen glaubt. Wir machen 
jeden Schritt auf dieser abschüssigen Bahn begleitend mit, 
wir folgen dem armen Narren durch Not und Pein und 
verweilen nur allzu flüchtig auch in dem irdischen Para- 
diese, das sich ihm gerade in der höchsten Not und gerade 
durch die höchste Not öffnet. Dieser Erdenfriede schuf 
aus dem zerlumpten Landstreicher für ein Weilchen das 
freundlich anzuschauende, auch von außen her gesittete, 
innerlich heitere, herzgewinnende Menschenbild, dem der 
Zugang ins Glück noch frei stände, wenn sich die Mächte 
seines heiligen Wahnes noch bezwingen ließen. 

Wie Gerhart Hauptmann bei der Schilderung des 
menschlichen Elends in Hütten und Höhlen der Berge 
seine alte naturalistische Kraft bewährt, wie er zuletzt das 
Bohemetreiben einer großen Stadt, in das Emanuel Quint 
äußerhch versinkt, aus den Lebenserfahrungen der eignen 
Jugend darstellt, so flimmern ihm die lieblichsten Farben 
für das mittendrinliegende ländliche, menschlich reine 
Idyll, das dem Leser wie dem Dulderhelden einen wohligen 
Ruhepunkt, eine Erholung des Auges und des Herzens gibt. 
Dieser Ruhepunkt, auf dem sich die realistische Phantasie 
des Dichters behaglich ausbreitet, ist um so nötiger, als 
sich zum Schluß Furchtbares zusammendrängt. Emanuel 
Quint wird eines Lustmordes geziehen, den er bekennt, 
obwohl ihn ein abtrünniger Jünger begangen hat. So 
jammervoll unterscheidet sich das Schicksal des armen j 

249 



verwirrten, in Welt und Zeit verirrten Gottsuchers von der 
erhabnen Aufopferung dessen, dem er sich naher und naher 
fühlte, bis er sich zuletzt eins mit ihm glaubte. Verlassen 
von seinen Getreusten, unericannt von denen, die ihn kann- 
ten, vergeblich gesucht von Frauenliebe, wandert er, ähn- 
licher dem Ähasverus als dem Christus, unstat durch die 
Welt, und wenn er zur Nachtstunde irgendwo um Brot 
und Obdach bittet, so entzieht sich ihm überall auch die 
hilfreichste Hand, sobald er seinen Namen nennt; denn 
dieser Name heißt nicht Quint, sondern Christus. Der 
Dichter oder vielmehr der „Chronist" gibt über seinen 
Ausgang keine Gewißheit, sondern nur eine Vermutung. 
Danach sei er auf dem Gotthard bei armen Hirten, denen 
es gleichgültig war, ob er so oder so hieß, im Schneesturm 
verendet. 

So wandelte Emanuel Quint auf Erden. Niemandem 
wird es einfallen, ihn an die Seite des Nazareners zu stellen, 
so wie dessen Bild in die Jahrtausende wirkt. Dennoch 
brennt unter dem greifbaren Bild unseres Altersgenossen 
Emanuel Quint eine Frage, die geeignet wäre, alle Ge- 
müter nicht bloß der Christenheit, sondern der ganzen 
lebenden Menschheit aufzurütteln. Der Dichter wirft die 
Frage nirgends auf, aber unsichtbar bewegt sie sich durch 
alle Begebenheiten und macht über den Begebenheiten die 
Luft erzittern: Wie würde es heute dem echten Jesus 
Christus auf unsrer Welt ergehn, wenn er selber mit den 
idealen Forderungen seiner Bergpredigt unter die heutigen 
Menschen träte? Würde es ihm anders ergehn als dem 
armen, überspannten und übergeschnappten Emanuel 
Quint, der ihm in der Herzensreinheit und in der schran- 
kenlosen Hingebung an den unweltlichen Urgeist seiner 

250 



Lehre doch ganz nahestand ? Diese Frage zu beantworten, 
ist meine Sache noch weniger als die des Dichters. Aber 
Theologen, Juristen, Mediziner sollten sie erörtern und 
eine Antwort suchen. Keiner der vier FakiJtäten kann es 
schaden, sich mit diesem Roman zu befassen. 

Dem Dichter haben die philosophischen Fakultäten von 
Oxford und Leipzig honoris causa den Doktorhut aufge- 
setzt. Den drei andern Fakultäten könnte es nicht schaden, 
wenn auch sie ihm und durch ihn der modernen deutschen 
Dichtkunst die gleiche Ehre erwiesen. Die Wissenschaften, 
die in diesen Fakultäten abgegrenzt sind, hat er freilich 
nicht „durchaus studiert mit heißem Bemühn". Aber 
ihrem Wissensdurst hat er Quellen des Lebens geöffnet. 



XVI 



DIE RATTEN. PETER BRAUER. ATLANTIS 

Emanuel Quint, ein Höhenzug der modernen deutschen 
Dichtkunst, steht auch im Schaffen seines Dichters 
so überragend hoch, daß die beiden Werke, die unmittel- 
bar darauf gefolgt sind, schon durch diesen Abstand zu 
leiden haben. Mit der Berliner Tragikomödie »»Die Rat- 
ten" wollte Gerhart Hauptmann 191 1 noch einmal beim 
konsequenten Naturalismus seiner Jugend einkehren; bei 
jenem angeblich längst übenvundnen, längst abgewirt- 
schafteten Naturalismus, der, wie jede andre künstlerische 
Daseinsformation, ewig bereitsteht und bloß von der ge- 
eigneten Dichterhand aus dem Arsenal geholt zu werden 
braucht, wenn man ihn braucht. Man braucht ihn, wenn 
man im Nächsten das Höchste, im Gemeinsten das Reinste, 
im Niedrigsten das Tiefste finden will. 

Es ist nicht gerade das Berliner „Scheunenviertel**, wo 
diese mehr tragische als komische Tragikomödie vor sich 
geht. Aber es ist einer jener Winkel Berlins, wo ehrbares 
Handwerk, Dirnenschaft, Verbrechertum eng beisanunen- 
wohnen. Es ist das Milieu einer Anekdote, die Theodor 
Fontane seinem Freunde Lucae gern nacherzählte. Ein 
junger Arzt hilft der Frau eines armen Kerls. Der Mann: 
„Na, Herr Doktor, wat is et denn?" Doktor: „Ein Mad- 
chen." Der Mann: „Een Mächen? Na, denn schieben 
s' et man wieder rin; et wird doch man ne Hure.** So hätte 
auch Hauptmanns Maurerpolier John, eine Art Fuhrmann 
Henschel, sprechen können, dessen Frau die Schwester 
eines ziemlich schweren Jungen ist. Sie hat ihr Adelbertchen 

252 



verloren und diesen Verlust des Mutterherzens so wenig 
verschmerzt wie ihr Mann, der brave Polier. Nun hatte 
sie sich zum zweiten Male Mutter geglaubt, aber ihre und 
des Mannes Vorfreude war umsonst. Da faßt sich die herz- 
hafte Frau ein Herz und bringt dem Mann, der von aus- 
wärtiger Arbeit heimkehrt, ein angenommnes Kind als ihr 
eignes dar. John schwelgt im Vaterglück. Vollends der 
Frau wird das kerngesunde, kräftige Bübchen wie ihr eignes. 
Denn mit Frau Flamm teilt sie das Gefühl, daß es für ein 
Weib kein größeres Glück gibt, als Mutter zu sein. Aber 
der fromme Betrug rächt sich. Auch in der wahren Mutter 
des Kindes, in der Straßendirne regt sich der Muttersinn. 
Zuerst will sie das Kind sehn, dann haben. Es kommt da- 
zu, daß das Kind auf dem Standesamt doppelt gemeldet 
ist; als unehelicher Knabe und als Kind der Johnschen 
Eheleute. 

Hier steht der Konflikt der beiden Mütter am Scheide- 
weg zu Komik und Tragik. Der Dichter wählt den Weg 
zur Tragik und wühlt mit der ihm eignen psychologischen 
Gewalt und Wärme alles auf, wessen Mütter im Löwinnen- 
kampf um ein Kind fähig sind. Vor allem Mutter John! 
Ihr ganzes tiefes, heißes, inniges Gemüt beherrscht der 
eine Gedanke: das Kind behalten! Dieser Zweck heiligt 
die bösesten Mittel. Sie will der rechten, der schlechten 
Mutter ein fremdes, degeneriertes, kaum lebensfähiges 
Nachbarskind unterschieben; dieser Wechselbalg stirbt 
unter den Händen derer, die um ihn streiten. Sie geht 
weiter: sie veranlaßt ihren verbrecherischen Bruder, die 
Rivalin auf gute Manier zu beseitigen. Er beseitigt sie auf 
schlechte Manier: er schlägt sie tot. Nun hat der Mutter- 
trieb zum Kind einen Mord bewirkt. Nun beginnt die 

253 



Kriminalpolizei zu f ozschcn, zu verhöien, und alles kommt 
ans Licht der Sonnen. 

Aber alles das ist vom Dichter wenig fein gesponnen. 
Die gute Absicht, ELriminalistisches im Ifinteigrande zu 
lassen und aus seelischen Symptomen, aus dem Verrate des 
bösen Gewissens die Tat der Frau ruchbar zu machen, fuhrt 
hier zu Unklarheiten im Tatsächlichen. Diese Unklarheiten 
steigern sich noch durch etwas Fremdes, das sich breit und 
anspruchsvoll in den Gang der Müttertragödie eindrangt. 
Der Dichter wollte auf den Weg der Tragik die Komik 
zurückzwingen. Zu jener Zeit, da Gerhart Hauptmann 
im Übergang von der Bildhauerkunst zur Dichtkunst Schau- 
spieler werden wollte, nahm er dramatischen Unterricht 
bei Alezander Hessler. Dieser damals in Berlin vazierende 
Straßburger Theaterdirektor war „vieux jeu**, und der 
junge Naturalist lief bald wieder aus seiner Schule. Aber 
der Mann selbst scheint ihn ergötzt zu haben. Vielleicht, 
weil er ihn damals nicht weit von den „Scheunen** und 
„Ratten'^ Berlins getroffen hatte, setzte er nun sein ge- 
lungnes Ebenbild dick ausgepinselt mitten in die Berliner 
Tragikomödie vom Muttertrieb zum Kinde. Im dritten 
Akt, wo die tragische Heldin, die „tragische Muse** der 
Mulackstraße, nur vorübereilt, macht sich sein liebenswür- 
diges, aber hohles Komödiantentum besonders breit. Harro 
Hassenreuter hätte ein besonderes Lustspiel verdient; er 
könnte ein Seitenstück zum „Kollegen Crampton** werden. 
In den „Ratten^^ ist er bald Rasonneur, bald Statist, bald 
störend. Seine Beziehung zur Familie John ist erkünstelt. 
Frau John bewacht seinen Theaterfundus, der in einer 
Dachkammer untergebracht ist und dort von den Ratten 
angefressen wird. Ratten und Plunder, das ist die Signatur 

254 



des Milieus der großen Mietskaserne, in der unter vielen 
andern auch der kaltgestellte Komödiant und das gute Ehe- 
paar John aus der Höhe in die Tiefe, aus der Tiefe in die 
Höhe steigen. Harro Hassenreuter hatte bei der Berliner 
Aufführung in Brahms Theater das vorletzte Wort. Das 
vielumkampfte Wickelkindchen liegt in seinem blühweißen 
Steckkissen auf dem Kaffeetisch und schläft; die rechte, 
schlechte Mutter fand man ermordet am Spreeufer, die 
falsche, gute Mutter stürzt sich gerade zum Fenster hin- 
aus. Da spricht der alte Schauspieler, der sonst immer die 
Tragik gewöhnlicher Leute leugnete, mit edler Gebärde 
im Tone Delobelles das naturalistische Bekenntnis aus: 
„Wir haben das Haupt der Gorgo gesehen!" Das letzte 
Wort aber hatte damals seine dicke, asthmatische, appetit- 
liche weißhaarige Frau, die er gern betrügt: „Was weiß 
der Mann, was eine Mutter ist!" 

Es war einleuchtend, daß dieses Wort, welches der 
Schluß der Buchausgabe nicht kennt, ausgesprochen wurde. 
Denn in diesem Worte liegt alles Schöne, alles Dichterische 
des Stückes, das schwach, hart, ungefügig gezimmert ist, 
mit buckelnden Anbauten und weitläufigen Nebenbauten. 
Um Jette John herum stehn viele, zu viele Figuren. Nicht 
von jeder führt eine sichtbare Linie nach dem Mittelpunkt. 
Das hängt mit der Hyperepisode des Theaterdirektors zu- 
sammen, der noch einige Schüler, Kollegen und sogar einen 
dicken Landpastor nach sich zieht. Die Komik drängt sich 
oft vor, wo sie nicht am Platze ist. Aber in dieser Schwer- 
fälligkeit wohnt eine Fülle des Herzens, und gerade hier 
hatte sich dem Dichter wieder mit der Wucht ihrer starken 
Seele seine älteste und treuste Verbündete in den Arm ge- 
hängt: Frau Else Lehmann. Vom strahlendsten Mutter- 

255 



glück durch alles Bangen, Sorgen und Ängsten, durch seli- 
ges Erinnern an längst vergangne schöne Jugend- und Lie- 
beszeity aber auch durch eine herbe Anklage gegen den 
Mann, dem seine Arbeit näher war als sein Weib, durch 
allen Trotz gegen das Feindliche, der auch handgreiflich 
werden kann, durch einen bitterzarten Lebensabschied 
vom verkommnen Bruder, durch alle Verwirrungen des 
Gefühls, die schließlich zur halluzinatorischen VerirruQg 
des Geistes führen, bis zum allerletzten Verzweiflung^* 
schritt ging diese Frau unentgleisbar den Weg der Wahp« 
heit und der Menschlichkeit. Jette John war Else Lel^ 
mann, und Else Lehmann war wieder eine schöne Didi- 
tung Gerhart Hauptmanns. 

„Die Ratten^^ stammen aus des Dichters epischer Zeit 
Vielleicht wäre auch ihnen die erzählende Kunstfonn er- 
sprießlicher gewesen. Alles, was jetzt als unzusammenlifin* 
gend empfunden wird, hätte sich enger aneinander ge- 
schmiegt, wäre in deutlichere Kontraste getreten. Du 
Rattensymbol hätte sich durch breitere Darstellung nod| 
gelichtet und doch verdichtet. Die WiUkürlidbkeiteil 
der Ortseinheit, die das Drama hier fordert, wären ver- 
mieden worden. Gerhart Hauptmann sah vor sich one^ 
Zolaschen Stoff, der zur Zolaschen Behandlung drängt. 
Doch der Dichter wollte es anders. Fast gleichzeitig mit 
den „Ratten" entstand eine andere Berliner Tragikomödie^ 
„Pe terBraue r", die den beiden von Hauptmann in Bres- 
lau angesiedelten Künstlerdramen wie ein leichterer Epilog 
folgt. Das bis 1921 von dem Dichter zurückgehaltene 
Stück ist ein Nachschößling aus Größerem, Tieferem, und 
sein Held Peter Brauer ein kleinerer Bruder sowohl von 
Michael Kramer wie von Kollege Crampton, aber mit 

256 



weniger Gewissen als der eine und mit weniger !^ünstlcTtem* 
perament als der andere ausgestattet. Der Dichter selbst, 
der nocli lange nach seiner Bildhauerzeit eine stilistisch 
recht interessante Süste seines Sohnes Benvenuto model- 
hert, der sich aus der Ateherzeit eine immergrüne Neigung 
zu dem merkwürdigen Menschenschlage mit dem Samt- 
jackett, dem Kalabrocer und der wehenden Künstler- 
schleife bewahrt hat, läßt uns keinen Zweifel, daß dieser 
Berliner Nachfahre sich mehr durch die äußeren als durch 
die inneren Beweise seiner Kunst bestätigt. Feter Brauer 
hat wirklich kein Talent außer dem des Schwindels, der 
jenen beklagenswerten Defektiveffekt vor der gutgläubigen 
Menschheit Tersdileiert, bis er schließlich selbst besonders 
in alkoholisch erlifiltCea Augenblicken an die Genialität 
seiner Künstlerschleife wie seines Pinidschwungs zu glau- 
ben vermag. Mit dieser Neigung zu Feuchtigkeiten, mit 
seiner Abneigung gegen die Arbeit und mit seiner ganzen 
lumpigen Existenz bekennt er sich als einen norddeutschen 
Blutsverwandten de» alten biedermeicrlichen Datterich, 
nur daß dieser die Erleichterung hat, in einem anspruchs- 
losen Volksstück zu stehen und mit Käse, Bier und Heuri- 
gem auf natürhche Weise Dialekt zu hauchen. 

In einer Berhnei Dachkammer, die sich Atelier nennt, 
pinselt Peter Brauer Kaiser-Fricdrich-Bilder zu Dutzenden 
und von fünf zu acht Mark aufwärts. Da mißt er mit be- 
deutendem Auge und mit imposanter Böcklinhaltung eine 
noch immer leere Leinwand; da fertigt er, besten Gewis- 
sens, trotz einet für den Staatsanwalt beachdichen Möbel- 
verschiebung, einen nicht eben zarten Berliner Althändlei 
1 und Gläubiger mit überlegen profcssoraler Würde ab; da 
-'-h mit Frau und Tochter herum, die den 



Vater Leichtsinn nicht ausstehen können, und für die wir 
als Schattengewächse nach dem wurzelhafteren und eigen- 
saftigeren FamiUenanhang von Crampton und Kramer 
auch nicht viel Neigung aufbringen. Kein Dichter hat sich 
vor der Wiederholung gewisser Motive und Gruppen be- 
wahren können, als ob aus einer einmal aufgesprungenen 
Quelle immer noch etwas nachfließt, um vor dem Verrin- 
nen eine letzte wenn auch weniger grüne Vegetation her- 
vorzubringen. Peter Brauer hat so gut wie Michael Kra- 
mer einen talentvollen Sohn, den gar die Auszeichnung des 
Rompreises erwartet. Aber er hat ihn besser als der ewige 
Forderer durch die Warnung seines Beispiels erzogen. 
Leichtblütige Väter bringen ja meistens ernste und ge- 
diegene Söhne hervor. Wir erfahren nicht recht, ob Erwin 
unter anderen kindlichen Liebenswürdigkeiten seinem Va- 
ter auch den Gefallen erweist, an sein Talent zu glauben. 
Jedenfalls sehen wir, wie er allein nach dem erregenden 
Kampfe mit dem Gläubiger, nach den höhnischen Zurück-^ 
Weisungen der Damen dem Vater die Brust bietet, an die 
sich Künstlernot und Künstlerstolz tränenreich werfen 
können. Und das war der erste Akt. 

Endlich erbeutete fünfunddreißig Mark — die Frau hat 
eine kleine Rente, die Tochter fast ihr Lehrerindiplom — 
führen Peter Brauer in den zweiten Akt, in die Provinz 
und zum glücklichsten Abenteuer seines Lebens. Peter 
Brauer hat sich in einem Wirtshaus festgepumpt. Ein gro- 
ßer Feudalherr und Kohlenbaron, der soviel von Kunst 
versteht wie die anderen Stammtischler des schlesischen 
Nestes, läßt sich von seiner flunkernden Geschwätzigkeit 
zu einem Auftrag überreden. Ein anderer bestellt seinen 
toten Vater, und ein dritter seinen toten Hund. Es ist hier 

258 



wieder zu bemerken, wie witzig Hauptmann so etwas zeich^ 
net, ohne Witze zu machen, und mit welcher humorigen 
Selbstsicherheit diese vornovemberliche, aber auch gut 
nachnovemberliche Gesellschaft sich zur Familie des lieben 
alten Werhahn bekennt. „Professor Peter Brauer", wohl- 
genährt und wohlgetränkt, spreizt sich als ein großer Mann 
in der Provinz, bis das Kartenhäuschen seiner schwindeln- 
den Faulheit und Unfähigkeit von einem bösen Winde um- 
geblasen wird. Hätte er weniger gefrühstückt und sich 
seinen talentvollen Erwin zur Zeit geholt, der würde ihm 
die Kapelle des Feudalschlosses schon ausgepinselt haben* 
Die zur Abnahme berufene Magnatengattin ist schon zu 
anspruchsvoll geworden, um sich mit zwei kuttentragenden 
Zwergen unten links — oben ist noch gar nichts — zu be- 
gnügen; in ihrem Hofstaat hat sie sogar einen schottischen 
Maler mitgebracht, weshalb alle englisch sprechen. Das 
zehn Jahre zurückgehaltene Stück entstand eben in dem 
entlegenen Kunstzeitalter, als das berühmte Telegramm 
aus Glasgow kam: Bäume werden wieder grün gemalt. 
Ganz reizend der so liebenswürdig stotternde Magnaten- 
sohn und Gardeducorpsleutnant, der sich des peinlichen 
Auftrags der gnädigen Mama mit so gütiger Simplizität 
entledigt. Der junge Mann wurde gewiß im Kriege ganz 
zu Anfang und ganz ehrenvoll totgeschossen, weil er einen 
Befehl nicht zu rechter Zeit herausbringen konnte. 

Das Kartenhäuschen wird also im dritten Akt umgebla- 
sen. Die über ihren Meister aufgeklärten Aristokraten 
lachen den armen Pfuscher mit seiner komischen Familie 
aus. Frau und Tochter lassen ihn höhnisch stehen, und 
Peter Brauer, nur noch auf den Sohn gestützt, greift sich 
in vorübergehender Verzweiflung an sein Fettherz. Nun, 

«7* 259 



er wird weiter schwindeln, bis er an irgendeiner Ecke zu- 
grunde geht. Und wir wünschen ihm trotz seinen Schin- 
ken ein schmerzloses Ende; denn mit seiner Laune, seiner 
Schlagfertigkeit, mit der echten Begabung des Schwind- 
lers, sich selbst zu beschwindeln, und die Dinge zu sehen, 
wie sie im Äugenblick aussehen sollen, hat er sich als aus- 
gezeichneten Gesellschafter empfohlen. Der arme Teufel, 
der das Chemisett auf dem bloßen Leibe trägt, liat Phan- 
tasie genug, hat die nicht tiefe, aber breite sinnliche Exi- 
stenz, um das Stück auf seine Schultern zu nehmen und bis 
zu einem Schlüsse zu tragen, der allerdings nur einen vor- 
letzten Punkt setzt. Womit zugleich gesagt ist, daß die 
Wirkung gegen Ende nachlassen muß, weil Hauptmann auf 
eine Steigerung so wenig wie auf eine Folgerung abzielte. 
Peter Brauer hat kein Schicksal, weil er nie einen Willen 
hatte; die Götter haben mit seiner Sache nichts zu tun. 
Ein Nebenwerk von Gerhart Hauptmann. Nebenwerk 
besonders, weil die Sonne seiner liebenden Gerechtigkeit, 
die sonst den schlechtesten Wurm aus der Erde heraus 
wärmt, nur auf den Helden scheint, weil alle die anderen 
Figuren, Frau und Kinder und Gläubiger und Stasun- 
tischler und Aristokraten nur den Äugenblick auf der Büh- 
ne, aber keine weiterreichende Existenz für sich haben. 
Und wenn der behäbigere und liebenswürdigere Peter 
Brauer einmal von unten her, von einem mauKertigen 
Wanderphotographen angegriffen wird, der den Herrn 
Professor vor den Großen des kleinstädtischen Stammtischs 
zu enthüllen droht, so bleibt ihr Schimpfduell auch eine 
innerlich folgenlose Plänkelei. Für gegensätzliche Beispiele 
oder Typen vermag man die beiden kaum zu halten, und 
ihre nur praktische Gegensätzlichkeit weist über die kleine 

260 



Veranlassung von Eifersucht und Futterneid wohl nicht 
hinaus. Dieser Nachschößling einer großen Gestaltungs- 
kraft, die schon den Crampton und den Kramer gezeugt 
hatte, wäre vielleicht im Jahre 191 3, da man den Naturalis- 
mus liquidierte, als Spätling zur Welt gekommen. Zehn 
Jahre darauf, da sich die Dinge des Theaters nun einmal im 
Kreise drehen, kam das Stück schon viel richtiger an. Die 
Leute begannen der redenden Schatten des Expressionis- 
mus gerade müde zu werden; sie freuten sich, wieder ein- 
mal Menschen zu sehen, die man betasten kann, und sie 
fühlten sich recht wohl in dieser Hauptmannschen Wärme, 
die auch seine kleineren oder anspruchsloseren Werke zu 
einem so menschlichen und herzerfreuenden Aufenthalt 
macht. Findet der Peter Brauer einen Kerl voll Saft wie 
Jacob Tiedtke, für den der Dichter nach einem alten Ver- 
sprechen die Rolle und das Stück aufgespart hatte, so 
scheint das Bühnengeschick dieser Tragikomödie vorläufig 
gesichert. Das ein glückhaftes hätte werden können, wenn 
Gerhart Hauptmann, von anderen Unternehmungen un- 
abgelenkt, sich mit einigen Verkürzungen und Lichtern 
noch die Mühe genommen hätte, sie auf die Heiterkeit 
einer Komödie zu runden. 

Als der Dichter die beiden Berliner Tragikomödien ab- 
schloß, in denen sich Tragik und Komik im entgegen- 
gesetzten Verhältnis mischen, fand er sich durch ein Er- 
lebnis heimgesucht, das nach später Gestaltung, und zwar 
in der einzig angemessenen Form des Romans verlangte. 
Gerade die Reise nach Griechenland mag Hauptmann die 
Eindrücke einer Fahrt über den Atlantischen Ozean er- 
neuert haben, die er gegen den Ausgang seiner ersten Ehe 
unternommen hatte. Und da ihm der griechische Frühling 

261 



noch in der Seele blühte, so nannte er den Roman, dessen 
großes Hauptstück die meisterhafte Schilderung eines 
Schiffbruches ist, „Atlantis". 

Von der Rieseninsel Atlantis, die im Ozean versunken 
sei, fabelten die Griechen. Der moderne Dichter, den 
schon früh die Vinetasage bewegte, dem die versunkene 
Glocke zum Sinnbild versunkenen Lebens ward, steigt auf 
einen der großen Amerikadampfer, sieht darauf eine Welt 
für sich, eine fahrende Rieseninsel und träumt von Atlan- 
tis. Wie Atlantis, wie Vineta, wie Meister Heinrichs Glocke, 
so versinkt, kurz bevor die Titanic auf das dichterische 
Exempel eine Probe der Realität geben konnte, der Llo^d- 
dampfer Roland, auf dem der gescheiterte Arzt Friedrich 
von Kammacher die Überfahrt nach Amerika nuchen 
wollte. Auf ähnliche Weise und aus ähnlichen Gründen, 
wie 1892 Gerhart Hauptmann selbst, unternimmt Fried- 
rich die Reise. Beide zwang eine Herzensangelegenheit, 
plötzlich in Paris alles stehn zu lassen, mit erster bester 
Gelegenheit nach Southampton hinüberzufahren und dort 
auf den fälligen Bremer Riesendampfer zu steigen. Das 
Schiff, auf dem Hauptmann fuhr, war damals in Gefahr 
und ging später wirklich unter. Das Schiff, auf dem Fried- 
rich von Kammacher fährt, scheitert, und nur wenige 
werden gerettet. Zu den Geretteten gehört Friedrich. 

Hauptmann selbst wurde durch einen Zwang des Schick- 
sals über das Meer getrieben. Er hatte Pflichten und 
Rechte zu wahren. Er lag im Kampf um den Bestand 
seines Hauses. Die Romanfigur Friedrich von Kammacher 
hingegen läßt sich durch ein IrrUcht locken. Eine Ver- 
wandte Rautendeleins, Pippas, Gersuinds lag ihm in den 
Sinnen. Ihr Name klingt an Gersuind an: sie heißt 

262 



Ingigerd. Sie ist eine jener Kunst-, Poesie- und Programm- 
tänzerinnen, wie sie sich seit Isidora Duncan in den be- 
rückendsten Formen sehn lassen. Mit Vorliebe und be- 
sondrer Begabung geben sie sich kindlich, so daß gereifte 
Männer zu ihnen sprechen: „Mir ist, als ob ich die Hände 
aufs Haupt dir legen sollt." Auch Friedrich hatte bei 
Ingigerds Kunstproduktion die hinreißende Empfindung, 
daß dieses arme Kind einen Beschützer, daß Mignon einen 
Wilhelm Meister brauchte. Als er hört, sie sei mit dem 
Roland unterwegs nach Neuyork, um dort öffentlich auf- 
zutreten, kommt es über ihn. Er holt das Schiff in South- 
ampton ein. Als das Schiff sinkt, rettet er sie und sich. 
Ohne ihn wäre sie mit der großen Mehrzahl der Passagiere, 
zu denen auch ihr Vater und ein dicker wienerischer Bra- 
kenburg gehörte, untergegangen. Das kleine Weltwunder 
nicht für sich, sondern der Welt zu retten, war die höhere 
Bestimmung seiner übereilten Reise. Obwohl er immer 
wieder, wie Kaiser Karl von seiner Geisel, von ihr neu an- 
gelockt wird, so war er doch schon vor dem Schiffbruch 
und der Lebensrettung widrigsten Enttäuschungen ausge- 
setzt. Statt der „Blume so hold und schön und rein", fin- 
det er ein höchst raffiniertes Biestchen, statt des gequälten 
Tierchens eine kleine Tierquälerin ; nicht kindlich, sondern 
kindisch; in ihrer Lebensart wenig wählerisch; gutherzig, 
aber ohne Herzenstakt; ihre eigne angeborne Grazie un- 
fein und unzart entstellend. Er, der ihr wie ein girrender 
Schäfer nachgezogen war, fühlt sich bald durch sie kom- 
promitriert und hängt sich schon gleich auf dem Schiff 
eine Jüdin von Odessa an den Hals: Hanna Elias in jungen 
Jahren. Das ganze Liebesabenteuer trägt seitens des Man- 
nes einen Zug von Albernheit und ist nicht Selbstzweck. 

263 



Wie Gerhart Hauptmann so etwas ernst nimmt, 
„Kaiser Karls Geisel". 

Im Romane dient der erotische Handel zum Vorwand, 
um einen Schiffbruch zu schildern. Wir erleben ihn mit 
Friedrich von Kammacher. Nur was dieser sieht und hört, 
fühlt und denkt, findet und träumt, wird von uns nach- 
empfangen. Er ist der klassische Zeuge dieses großartig- 
jammervollen Elementarereignisses. Deshalb konnte ihn 
der Dichter, der ihn durch eine so tragisch-^kosmische'' 
Situation führt, nicht mit jenem überlegnen Humor be- 
handeln, den der dumme Streich eines klugen Menschen 
verdient. Dieser ganze Friedrich von Kammacher mit 
seiner unwahrscheinlichen Generalsherkunft und bakterio- 
logischen Laufbahn, mit seiner geisteskranken Frau und 
seiner knabenhaften Leidenschaft für das Tanzweibchen 
wäre nur durch sympathisierende Ironie menschlich zu 
nehmen gewesen. Doch so, wie er ist, wirkt er nicht als 
Person an sich, sondern als Instrument, auf dem der Dich- 
ter die gewaltige Symphonie der Ozeane und Orkane zwar 
mit höchster Virtuosität spielt, aber nicht ohne an Leder- 
strumpf zu denken. Was unsre Jugend bei Robinson Cru- 
soe und Masterman Ready so sehr aufregte, das zeigt sich 
hier gleichsam im Zustande der Erwachsenheit. 

Hauptmanns Kraft der Anschauung und Phantasie, die 
aufeinander wirken, verleugnet sich nirgends. Man findet 
sich auf dem ganzen Schiffskoloß zurecht und sieht, wie 
jeder seiner Teile zerstört wird. Man überblickt das ganze 
Gewimmel der Mitreisenden, aller Passagiere aller Klassen, 
der Offiziere, Matrosen und Schiffsjungen, der Stewards 
und der Heizer. Man nimmt in der Stunde des Endes mit 
Schrecken von jedem Abschied, weil mgn ihn auch b^ 

264 



flüchtigen Begegnungen gut gekannt hat. Mit dem Ele- 
mentaren und Kosmischen verwirkt sich das Gesellschaft- 
liche, das Gemeinsame, das Persönliche, das Berufliche, das 
Mechanische einer solchen in sich geschlossenen, von Ge- 
gensätzen durchfurchten Welt, der plötzlich der Welt- 
untergang droht. Daß sich aus dieser Sintflut eine Hand- 
voll guter Bekannter in die Arche Noah rettet, daß dazu 
unser Gewährsmann Kammacher gehört, ist ein Zufall, wie 
es ein Zufall ist, der diese ganze bunte Menge zusammen- 
gewürfelt hat. In den fürchterlichsten Augenblicken er- 
schien der Untergang des Schiffes ein Symbol für den Un- 
tergang der Welt. Aber die Geretteten bleiben in der 
Welt, sogar in der Neuen Welt, in der weltlichsten aller 
Welten, und zuletzt kehrt unser verunglückter Amerika- 
fahrer Friedrich von Kammacher reumütig in sein altes 
Europa zurück. Das ganze war ein Abenteuer, eine Laune 
des Schicksals, eine kleine Irrung mit großen, nicht ganz 
zur Sache gehörigen Folgen. 

Aus dieser Mißstimmung zwischen Wesen und Wirkun- 
gen erklärt es sich, daß nach der übermächtigen Sensation 
des Schiffbruchs der Menschlichkeitsgehalt des Romans 
verblaßt. Diese Geretteten, die auf hoher See ein gigan- 
tisches Schicksal gepackt hielt, laufen in Amerika wieder 
als Alltagsmenschen durch den Werkeltag, und kaum einer 
trägt die Spur der großen Stunde, die er durchlebt hat. 
Es ist, als seien sie für eine tragische Erfüllung bestimmt 
gewesen, und der Dichter habe sie plötzlich wieder zu 
Speise und Trank verurteilt. Man wird ihrer zuletzt über- 
drüssig und preist das Los derer, die mit dem Roland, wenn 
auch nicht in Schönheit, so doch in Größe starben, wie 
jener Kapitän des Schiffes. Ein Schiffsjunge, der ihn 

265 



vergöttert, bringt ihm auf die Kommandobrücke einen 
Rettungsgürtel. Mit stummem Dank lehnt er den Liebes- 
dienst des Burschen ab, dann aber wirft er ein paar Bld- 
stif tzeilen aufs Papier, den Äbschiedsgruß an seine Schwe- 
stern. Damit rettet er zugleich den Jungen, denn nun fühlt 
dieser die Pflicht, sich selbst zu retten, um 4en letzten 
Wunsch seines Kapitäns zu erfüllen. Wir sind beiden, dem 
Kapitän wie dem Schiffsjungen, immer nur im Vorbeigehn 
begegnet, und doch gebe ich für diesen letzten Befehl und 
Gehorsam den ganzen zu einem Typus aufgebiahten Fried- 
rich von Kammacher und seinen Ingigerdrunimel hin. 
Auch daß sich Friedrich von Kammacher zuletzt statt des 
Tanzmädchens eine jener modernen Frauen heimführt, die 
man maskuUnisch als „tüchtiger Mensch'* zu bezeichnen 
pflegt, kann seine Werte nicht mehr erhöhen. 

In die zweite, überbreite Hälfte des Romans hat der Dich- 
ter offenbar viel von seinen amerikanischen Erlebnissen 
hineingestopft, aber diese Erlebnisse wachten zu keinem 
neuen Leben auf. Der Dichter ist mit diesem Romane zu 
schnell fertig geworden, der nicht auf jeder Seite seinem 
Ingenium zu gehören scheint. Die große Konzeption der 
„Atlantis^^ verrät ihn wohl, und nur die Ausführung läßt 
jene nobile officium vermissen, das Gerhart Hauptmann 
sich sonst auferlegt hat. 



XVII 

FESTSPIEL IN DEUTSCHEN REIMEN. HAUPT- 
MANN IM KRIEG. DER WEISSE HEILAND. 
INDIPOHDI. NACHWIRKUNG ÄLTERER 
STÜCKE. DRAMA UND EPOS 

Ein Jahr vor dem Weltkrieg wurde in Deutschland die 
hundertjährige Erinnerung an die Erhebung gegen die 
französische Fremdherrschaft gefeiert. Das Volk spricht 
von den Freiheitskriegen, die nicht nur den äußeren 
Gegner meinten und die nach seiner Niederwerfung ein 
anderes ruhmloseres Ende in den Karlsbader Beschlüssen 
fanden. Die offizielle und die besonders für die Schulen 
zurechtgemachte Geschichtsschreibung pflegt die zurück- 
haltendere Bezeichnung der Befreiungskriege vorzuziehen. 
Von seiner schlesischen Heimat und ihrer Hauptstadt 
Breslau, aus der Friedrich Wilhelm III. recht widerwillig 
den Aufruf zur Bildung der freiwilligen Jägerkorps erließ, 
wurde Gerhart Hauptmann mit der Abfassung eines Fest- 
spiels beauftragt: der Dichter der „Weber", des „Han- 
nele", des „Fuhrmann Henschel", der Anwalt der leiden- 
den Kreatur, Schöpfer aus einer religiösen Kraft, von der 
vor dem deutschen Zusammenbruch noch die wenigsten 
begriffen hatten, wie national sie zugleich im tiefsten Sinne 
war, und von der sie noch weniger ahnen konnten, wie sehr 
das deutsche Wesen ihrer bedürfen würde in seinen schwer- 
sten Prüfungstagen. 

In einer noch zurückgehaltenen Geschichte seiner Kind- 
heit und ersten Jugend erzählt Gerhart Hauptmann, daß 
ihn, dem doch Empfindungen von Schmerz das erste 

267 



Bewußtsein erweckten, ein früher Traum von Schönheit, 
ein zärtliches Verlangen nach Festlichkeit besessen habe. 
Die dorische Säulenstellung der Kurpromenade seines 
Heimatsnestchens versicherte dem bedrückten Kinde, daß 
aus diesem dunklen Dasein irgendwann einmal Helligkeit 
und Festlichkeit aufgetaucht sei, und daß er irgendwo ein- 
mal im Leben der Schönheit begegnen müsse, die sich von 
menschlicher Notdurft losgemacht hat, um selig in sich 
selbst zu ruhen. Festivitas ist eine hohe glanzvolle Kiraft, 
sagt er später einmal zum Ruhme Friedrich Schillers. Ge- 
rade nach der griechischen Reise, als der Dichter das Sta- 
dion zu Olympia und das Theater des Dionysos zu Athen 
noch in ihren letzten Resten bewundert hatte, mag er wie 
der Bürger und Republikaner Gottfried Keller an die er- 
ziehliche Macht nationaler Feste geglaubt haben, an die 
symbolhafte Vorstellung der Einheit nationaler Kultur, 
die sich sonst in der zersplitternden Versachlichung von 
Bedürfnis und Zweck ihrer Ganzheit nicht bewußt wird. 
Den Sieg über den braunlockigen Perser verherrlichte 
Aeschylos durch eine Tragödie, nachdem er ihn mit er- 
fochten hatte, und Sophokles, Dichter und Admiral, konnte 
die Einsetzung des obersten Gerichtshofs zu Athen als ein 
Werk der Götter feiern, die sich freundlich in der frommen 
Stadt niedergelassen hatten. Unsere Geschichte wird vom 
Mythos nicht mehr genährt und immer wieder gegen- 
wärtig gemacht; die Wissenschaft versucht sie unter ihre 
sehr wandelbaren Gesetze, die Politik unter ihre sehr wider- 
streitenden Tendenzen zu stellen — ein Protokoll ohne 
die göttliche Unterschrift, das täglich anders revidiert 
werden darf. Wenn nationale Geschichte lebendige Er- 
innerung, unbedingt gemeinsames Erlebnis bedeutet, so 

268 



gewährt gerade dem Deutschen seine Vergangenheit nach 
der langen Spaltung und der späten Einigung keine breite 
Ruhelage ; sie bleibt in vielen und nicht in den schlechtesten 
Fällen persönliches Bekenntnis. 

Von dieser Freiheit hat Gerhart Hauptmann Gebrauch 
gemacht, als er sein Festspiel schrieb, und sie ist ihm im 
offiziellen Deutschland genug verübelt worden, von dem 
man überdies die Einsicht nicht erwarten konnte, daß das 
persönliche Bekenntnis eines Dichters seherisch, überper- 
sönlich national sein mußte, und daß man viel von ihm 
hätte lernen sollen, statt es nach seinem ersten Erscheinen 
beleidigt zu verstecken. „Im wilhelminischen Deutschland 
in mancher Beziehung als Spielverderber verschrien", so hat 
Hauptmann in seiner großen Rede vor der Wiener Univer- 
sität am II. November 1921 zurückhaltend genug die Stel- 
lung bezeichnet, die das kaiserliche Deutschland einem der 
mildesten und friedlichsten Schöpfer aller Zeiten anwies. 
Man hatte zu ihm im besten Fall geschwiegen, im schlim- 
meren die Nutznießung seiner Werke entwandt; er wurde 
an der höchsten Stelle, die ja auch den ritterlichen Frei- 
mut eines Wildenbruch nicht vertrug, mit allen anderen 
wahrhaft produktiven, demnach wahrhaft nationalen Kräf- 
ten abgelehnt. So mag aus Gerechtigkeit an dieser Stelle 
auch der Legende begegnet werden, die dem damaligen 
Kronprinzen die Schuld einer großen Respektlosigkeit zu- 
geschrieben hat. Die wirkliche Verantwortung für die Zu- 
rückziehung des Festspiels war höher hinauf zu suchen. 

Nach all dem darf das Breslauer Festspiel weder über- 
schätzt noch als Kunstleistung überhaupt zu den echten 
Hauptmannwerken gerechnet werden. Ein Stück kann wohl 
nur noch zur Bedeutung eines Festspiels gelangen, gerade 

269 



wenn es nicht als solches gedacht, wenn es nicht aus der 
Trompete geblasen wurde. Den Wilhelm Teil bekam die 
Schweiz von Schiller ohne Auftrag geschenkt. Bestellte 
Festspiele gelingen nicht mehr, gelangen wahrscheinlich nur 
in einer Gemeinschaft, wo das Publikum zugleich Volk, wo 
die politische zugleich die religiöse Gemeinde war« Goethes 
Epimenedes bleibt ein warnendes Ezempel, das diese Regel 
mit der höchsten Autorität bestätigt. Der nationalste 
Dichter wird zugleich immer der menschlichste sein» hat 
Gerhart Hauptmann später in seiner einfachen Art gesagt« 
Mit dieser Gesinnung widmete er sein Werk nicht den 
Dynastien auf Erden, nicht dem preußischen Herrgott im 
Himmel, sondern dem deutschen Volke als dem Mitglied 
der großen europäischen Familie, das zwischen Ost und 
West, zwischen Nord und Süd vorurteilslos empfangend, 
reich wiedergebend, nicht nur geographisch im Herzen 
unseres geprüften Weltteils wohnt. 

Noch immer bist du nicht entbunden, und die Lait 

des ungeborenen Gottessohnes trägst du noch. 

Noch nicht geboren ist Europens Friedensfflnt| 

nicht der Erlöser, ob man viele Tempel auch 

ihm schon geweiht: wer anders sagt, spricht lügenhaft. 

Denn wäre dieser Sohn des höchsten Gottes dort, 

wo sie ihm huldigen: Wie hätte Krampf und stille Wut 

und Krankheit weiter so der Mutter Leib Tenehrt 

und die schmerzbrüllende durch Stein und Dom gehetzt. 

Nein, dieser Friedensfürst, dem sie lobsingen, er 

hat immer nur des Krieges wilden Brand entfadit. 

Und seine Diener sinnen solche Martern aus, 

wie sie kein Teufel je erdacht in Fleisch und Blutl 

Das graue Altertum kennt solche Qualen nicht. 

Man war auf solche Töne nicht gefaßt, die heute schmerz- 
lieh prophetisch klingen, noch weniger auf eine Pjrthia, die 

270 



sie mit antiker Gemessenheit rhythmisiert, am wenigsten 
vielleicht auf die anspruchslose sogar leicht humoristische 
Form eines Puppenspiels, mit der Hauptmann der nahe- 
liegenden Gefahr eines offiziellen und banalen Pathos zu 
entgehen wünschte. Der Direktor seines Puppenspiels ist 
der hebe Gott als alter Magier und Sternengreis, der selbst 
sehr menschUch spricht und sehr menschlich mit sich 
sprechen läßt. Aber das Stück bekommt ein GUed zuviel, 
fast eine Prothese, wenn sich der Intendant des Welt- 
theaters noch einen Hermes ähnlichen Regisseur hält, der 
die Puppen aus seinem Ranzen holt und mit manchen Er- 
klärungen auf die Füße setzt. Dieser PhiUstiades, an dem 
schon der Name künstlich, kommt aus keiner vertrauten 
oder geläufigen Vorstellung, und da Hauptmann schon 
volkstümlich und primitiv sein wollte, so hätte ich mir in 
die Befugnisse des Intendanten und des Regisseurs wohl 
einen alten Guckkastenmann und Ausrufer von Moritaten 
hineindenken können. 

Aus dem Ranzen wird Napoleon ausgepackt oder Ad- 
miral Nelson oder Marschall Vorwärts oder Turnvater 
Jahn, aber der Erklärer bleibt neben seinen Puppen stehen, 
so daß sie von ihren Drähten auch nicht scheinbar zu einer 
selbständigen dramatischen Existenz entlassen werden. Ein 
Festspiel kann schon seiner gelegentlichen Bestimmung 
nach kaum zu einem unabhängigen sich in sich selbst voll- 
endenden Drama werden ; was Hauptmann hier an histori- 
schen Figuren und Gruppenszenen gibt, sei es Revolution, 
Konsulat, Empire, Jena, Moskau oder Leipzig und dann 
die um Scharnhorst und Gneisenau, um Fichte, Stein und 
Kleist, das wirkt alles halb episch oder wie eine Illustration, 
die die vorausgehenden Erklärungen des PhiUstiades oder 

271 



der Pythia oder sonstiger etwas absichtlich bemühter 
Sprecher noch einmal versinnlicht. 

Das Wesentliche eines Festspiels wird aber notwendig 
der Festzug sein müssen; das Bekenntnis des Dichten ruht 
nicht nur im Text, der zuweilen über die Macht einei Li- 
brettos nicht hinaus kann, sondern vor allem in den l^no- 
nen, die die Kunst des Regisseurs mit allen Schwester- 
künsten des Theaters herausfordern, und die ndx in usse- 
rem Fall auf die ausgreifende Phantasie von Max Reinhanit 
verlassen sollten. Als die Franzosen im Jahre 1900 m ihrer 
Weltausstellung einluden, gaben sie als Festspiel Ednond 
Rostands Aiglon. Es war wieder, wie schon ein franziödadier 
Kritiker von seinem Cyrano gesagt hat, eine Fanfare ton 
roten Hosen. Die deutsche Literatur ist durch die Bmmt 
der Gloire am wenigsten entzündet worden, anch nicht 
von Heinrich von Kleist, dem Roiisseauschwärmer, der ans 
Schmerz, Gram, Verzweiflung, auch nicht von dem richtig 
verstandenen Wildenbruch, der noch nach unserer politi- 
schen Einigung aus der Sorge um unsere innere Einheit 
dichtete. Gerhart Hauptmann hat in seinem Fettng' ge- 
rade die Soldaten nicht auftreten lassen, nachdem sie rohm- 
lich ihre Pflicht getan haben, um allerdings diejenigen 
Kreise zu enttäuschen, die sich für eine Apotheose nicho 
anderes als eine Parade vorzustellen gewähnt warai« Sebe 
Festivitas, es ist die Goethes und Schillers, •*"^^nnlfit sich 
mit den bekränzten Werkzeugen der Handweiker, mit 
Fruchtkörben und Getreidegarben, die von schönen Frauen 
und Landmädchen getragen werden; sein Festzug oidet 
allerdings in einer Parade, aber in der des Geistes, mit einer 
DefiUercour, aber von Künstlern, Dichtern» Forscfaenii 
Philosophen und Erfindern aller Väker und Zeitalter. 

272 



Der Festzug wird auch keinem Fürsten sondern Athene- 
Deutschland dargelwracht. Nicht der hochbusigen Ger- 
mania unserer Briefmarke sondern der schmerzenreichen 
alten Mutter, die ihre Söhne zum Kampfe für die Freiheit 
dahingab und die nun zur Pallas verjüngt, im Geiste 
wiedergeboren, die Lebenden und die Künftigen den Wer- 
ken des Geistes, den Taten des Friedens weiht. 

Die Tat des Friedens ist es, nicht die Tat des Kriegs. 
Die Wohltat ist es, nimmermehr die Missetat! 
Was anders aber ist des Krieges nackter Mord? 
So ruf ich euch dann auf, ihr eines andren Krieges 
Krieger I Ihr, nicht todbringend, lebenschaffende! 

Was trennt, ist Irrtum, Irrtum, der allein den Haß 

entfesselt, ist Unwissenheit, ist nackte Not 

des Hungers! Nicht was Göttliches im Menschen wohnt. 

Denn dieses Göttliche ist Eros! Eros ist 

der Schaffende, der Schöpfer! Alles was da lebt, 

ist Eros, ward aus Eros, wird in ihm und zeugt 

ihn neu. Und Eros zeugt sie immer neu, die Welt! 

Und darum laßt uns Eros feiern! Darum gilt 
der fleischgewordenen Liebe dieses Fest, die sich 
auswirkt im Geist! 

Man könnte hier ein kritisches Bedenken anheften, wie 
Eros, wenn auch aus antiker zu christlicher Vorstellung 
hinüberwachsend, in ein deutsches Puppenspiel hinein- 
kommt, das sonst den Hans Sachsschen Knittelvers braucht, 
das mit der mutwilligen Laune und Familiarität des 
jungen Goethe zu wetteifern sucht. Und das gewiß eine un- 
mittelbare rein gefühlsmäßige Antwort der versammelten 
Menge hervorrufen möchte, die nicht Publikum der Ober- 
stufe, sondern Volk aller Schichten sein soll. Es wird noch 
schwer ein Festspiel denkbar sein, das sich nicht von einer 
Konstruktion überkommener Bildungselemente tragen 



iS 



273 



läßt, das nicht eines etwas allegorisch posaunenden Herolds 
bedarf. Aber auf die Gesinnung und auf das Vermächtnis 
des größten und deutschesten Dichters unserer Tage wer- 
den wir ab auf ein unanfechtbares Dokument hinweisen 
können. Die Prophetie, die nur auf weite Sicht ins Religiöse 
eingeschränkt scheint, hat sich für unsere Zeiten langst in 
das dichterische Ingenium hinübergepflanzt. 

Der Verfasser dieses Festspiels, der „Spielverderber" im 
wilhelminischen Deutschland, dem nun sein Spiel ver- 
dorben wurde, hatte sein Ohr an die Muttererde gelegt, 
hatte das weltgeschichtliche Erdbeben von weitem kommen 
gefühlt. Der Privatmann Gerhart Hauptmann wurde me 
wir alle vom Weltkrieg überrascht. Die Haltung Goethes 
während der Freiheitskriege, dieser Einzige hatte das 
Vorrecht in Jahrtausenden zu denken, war im geeinten 
Deutschland nicht mehr möglich: 

Denn fQr den Schmerz, den wir empfunden, 
Seid ihr auch größer als ich bin. 

Gerhart Hauptmann hat sich keinem Schmerze versagt; 
er brauchte nicht als Epimenedes zu erwachen. Haupt- 
mann gab zwei Söhne in den Krieg, er sandte Fritz von 
Unruh ein Reiterlied, er sah rein gefühlsmäßig, ohne diplo- 
matische Dokumente, ohne die Stunden von Mobil- 
machung und Kriegserklärung nachrechnen zu müssen, den 
Krieg als einen Verteidigungskrieg nach langer politischer 
Umklammerung an. Als die Vertreter des Geistes auf allen 
Seiten noch nachträglich mobilisierten, als Romain Rolland 
im Namen Europas von einem „seiner erlauchtesten Stra- 
ter^^ Rechenschaft forderte, ob er Enkel Attilas oder 
Goethes sein wollte, verbat sich Hauptmaim mit der ge- 
botenen Entschiedenheit gegen den noch schlecht Unter- 

274 



richteten „die ekelhaften und läppischen Werwolfsge- 
schichten", mit denen die gegnerische Lügenpresse unsere 
Soldaten bewußt und erfinderisch bekämpfte. Wir sind ein 
eminent friedliches Volk, sagte der Dichter in einem andern 
Manifest, wir haben jede fruchtbare Anregung der Welt- 
literatur, der Weltkunst mit einer einzigen Vorurteilslosig- 
keit empfangen, und die Idee des Weltbürgertums hat 
nirgends tiefere Wurzeln als in Deutschland geschlagen. 
Gerade ein Hauptmann, der wie kein anderer Dichter aus 
der Muttererde genommen ist, der seine Geschöpfe fried- 
lich, kindhaft, unschuldig aus dieser Erde hervorzulocken 
wußte, konnte sich auf die eigene Erfahrung und Sicher- 
heit berufen, daß das Stärkste im Nationalen auch das 
Stärkste im allgemein Menschlichen ist. Hauptmann hoffte 
auf eine große Zeit, nicht der Waffen, nicht der äußeren 
Macht, nicht der Bereicherung, sondern einer Wieder- 
geburt in Freiheit und Brüderlichkeit, wenn wir aus dieser 
lebenbedrohenden Prüfung würdig hervorgehen sollten« 
Dieser Dichter hatte nichts zurückzunehmen, galt doch 
sein ganzes Werk, keinem Machtgedanken schmeichelnd, 
kein anderes Gericht als das der Armen und Niedrigen an- 
erkennend, einer dauernden Wiedergeburt aus einer Ge- 
sinnung, die man trotz aller Diesseitigkeit, Naturnähe und 
Erdfrömmigkeit als evangelisch bezeichnen muß. „Von son- 
nigen Energien getragen," so heißt es in der Gedenkrede 
auf Richard Dehmel, mit dem er ungefähr zur gleichen 
Weltstunde in dieses schöne Reich verantwortlicher Geistig- 
keit eintrat, „den nationalen Gewinnst in allen Pulsen füh- 
lend wandten wir uns dem allgemein Menschlichen zu, in 
dem die Gegensätze der Nationen verschwanden und von 
jeher verschwunden sind. Und getragen von jener sonnigen 

i8» 275 



Welle von Energien wurden wir im rein Menschlichen 
stark . . ." 

Hauptmann hat den Krieg nicht verschlafen, er erlebte 
ihn während der Jahre der apokalyptischen Heimsuchung 
mit seinem Volke, mit der Menschheit. Und wo sollte er 
anders gewesen sein, der mitleidende Dichter, der Sohn 
unserer Erde ? Und wo sollten wir nach der 2^rtrümmerung 
und Zerstückelung andere Heimat, andere Geborgenheit 
finden als in unseren Schaffenden? Wo anders die neuen 
alten Lebenskräfte, die unterirdischen unter allem Men- 
schenwerk, zu denen keine Zerstönmg und Zerstörtheit 
hinabreicht ? Wir müssen es Gerhart Hauptmann danken, 
daß er tief er liebend, tiefer leidend als irgendeiner seinHen 
zusammengehalten, daß er den Elrieg überstanden und 
sich uns für die Zeit der Läuterung, für eine neue Bestim- 
mung und geschichtliche Würde aufbewahrt hat. Der 
Dichter ist kein Sprachrohr und nicht einmal ein Herold; 
gerade wenn er nicht von heute sondern von immer ist, 
wird er nur antworten können, wann ihm die Stunde 
schlägt, wie lange auch unsere bange Frage zu warten hätte. 
Es ist leicht zu verstehen, daß der Dichter im Anfang des 
Krieges, wenn ihm nicht gelegentUche Äußerungen ab- 
genötigt wurden, in einer tiefen Bedrücktheit und Ver- 
zagtheit verstummte, daß er dann eine schwere Henmiung 
zu überwinden, vielleicht auch eine lebensgefährliche Läh- 
mung zu überstehen hatte, um überhaupt die Sprache 
wiederzufinden, um sich seiner Schöpferkraft und ihrer 
unveräußerlichen Rechte neu bewußt zu werden. 

Gerhart Hauptmann hat während des Krieges und knn 
danach drei Dramen herausgegeben, die »^Winterballade'^t 
den „Weißen Heiland^^ und „Indipohdi'^ Du.ersteschemt 

276 



nur angeeignet, die beiden anderen sind mit dem eigenen 
Blut geschrieben als Zeugnisse einer tiefen Verzweiflung 
an der Menschheit, am Christentum, und einerWeltmüdig- 
keit, die sich zum Abschied rüstet, die Mörikes sanftes Ver- 
zagen „Welt, o Welt, o laß mich sein" schmerzlicher, in- 
grimmiger und fast mit einem Fluche nachspricht. Wie 
kam der Dichter dazu, Selma Lagerlöfs Erzählung „Herrn 
Arnes Schatz" zu seiner „Winterballade" (1917) zu 
dramatisieren ? Wahrscheinlich weil seine Quellen noch ver- 
schüttet schienen, weil er die Anregung einer fremden für 
sich bestehenden Vorlage brauchte, um die noch zitternde 
Hand wieder ans Schreiben zu gewöhnen. Wer je mit einer 
Feder umgegangen ist, kennt diesen Widerstand nach einer 
auferlegten Brachzeit, nach einer Krankheit, nach einer 
Verstörtheit, nach der dumpfen Belastung durch das 
vernichtende Gefühl der Zwecklosigkeit. 

Selma Lagerlöfs schöne Erzählung, wie Hauptmann sagt, 
hat seine Dichtung angeregt. „Herrn Arnes Schatz" ist 
wahrscheinlich der schwedischen Dichterin schönste Erzäh- 
lung mit ihrer balladenhaft gehaltenen Stimmung, mit 
der Gelassenheit einer alten Chronik, mit dem guten 
Gewissen einer volkstümlichen Überlieferung, für die sich 
schon Generationen einfacher gläubiger Gemüter verbürgt 
zu haben scheinen. „Zur Zeit als König Friedrich H. von 
Dänemark Bohuslan regierte, wohnte in Marstrand ein 
armer Fischkrämer, der Torarin hieß. Er war ein schwa- 
cher und geringer Mann . . ." Es wird einer dramatischen 
Bearbeitung — man denke sie etwa auf Jacobsens Frau 
Marie Grubbe angewandt — schon schwer genug sein, 
den primitiven Ton, den Reiz der zeitlichen Entlegenheit 
nachzuschaffen und dieselbe Dichtung für die Vergegen- 

277 



wärtigung und Versinnlichung der Bühne aus einer in 
Märchen denkenden Gemütswelt noch einmal herauszu- 
heben. Der Dramatiker muß auf manche Stimmung- 
gebende Mittel der Erzählung, namentlich die des lyri- 
schen Auftaktes, der halben oder aufschiebenden Mittei- 
lung, der rückwärts gewandten lUärung verzichten, wie er 
auch nicht die Märchenfreiheit hat, die Toten anzurufen 
und ihre Rache an einer furchtbaren Freveltat selbst be- 
sorgen zu lassen. 

Der gewaltige und reiche Pfarrer Herr Arne ist mit allen 
den Seinen von drei schottischen Kriegsmännem ermordet 
worden; nur die kleine Milchschwester seiner Enkelin ent- 
kam dem Gemetzel und der angestifteten Feuersbrunst. 
Diese Tat wird von der Lagerlöf nie auf einmal und nie in 
zusammenhängender Feststellung erzählt. Wir ahnen 
etwas Furchtbares aus der Seele des armen und geringen 
Torarin, der bei Arne einkehrend zu seinem von der Bühne 
auch nicht zugelassenen Hunde spricht. Wir fürchten schon 
etwas Bestimmteres aus der dreimaligen Frage von Arnes 
alter einfältiger Hausmutter: Warum schleifen sie Messer 
auf Branehög? Die sich im Jambenfluß des Dramatikers 
verlieren und von ihrer balladesken Formelhaftigkeit ein- 
büßen würde. Wir werden, da die Gerichte versagen, mit 
den Ahnungen Torarins immer wieder um die Tat herum- 
geführt und schließlich in sie hinein durch die allmählich 
wieder zum Bewußtsein erwachende kleine Elsalil, die das 
Herz Sir Archies, des Hauptmanns aus großem, schottischem 
Hause, gewinnt. Seinem Verlangen, zu lieben, zu sühnen, 
an ihr gutzumachen, ihrem Schwanken zwischen Rache 
und Liebe mag die tatsächlichere Kunst des Dramatikers 
gewachsen sein und auch ihrem Opfertode, wenn der 

278 



verfolgte Krieger sie wie einen Schild vor sich her trägt, bis 
sie der Rache des toten Schwesterleins eingedenk, die Lanze 
eines Verfolgers in die eigene Brust senkt. Aber der Dra- 
matiker muß zusammenfassen, wo die Märchenerzählerin 
hingehalten und aufgelöst hat; er muß Tag und Licht 
geben, wo sie aus der Dämmerung modelliert, und er muß 
die Toten fernhalten, den Schatten der gemordeten Jung- 
frau, der vampyrisch hinter Sir Archie herschleicht, wie 
die Gespenster des Herrn Arne und all der Opfer, die weiter 
durch die Träume Torarins gehen und die nach altem 
Märchenrecht ihren Gerichtstag halten. Bis der stolze Sir 
Archie mit seinen drei verbrecherischen Genossen durch 
den Geringsten und Schwächsten gefällt wird. Der Dra- 
matiker kann auch kaum in dem Grade die Natur beleidigt, 
grollend, endlich entsühnt mitspielen lassen, da in dem 
merkwürdigen Winter dieser Untat das offene Meer zufror 
und alle Schiffe gefangenhielt, bis der tote Arne sein Recht 
hatte. 

Gerhart Hauptmann hat aus Grillparzers „Kloster von 
Sendomir^' ein höchst dankbares Theaterstück gemacht, 
aber die Ehebruchsaffäre der Elga bot ihm trotz dem 
Rahmen eines Traumes eine geschlossenere, sensationellere, 
vor allem diesseitigere Handlung als der Gerichtstag 
der toten Familie Arne und die vampyrhafte Buhlschaft 
der von Archie ermordeten Enkelin, die sich obendrein 
durch ihre Milchschwester Elsalil vertreten läßt. Wenn 
Hauptmann auch auf eine Akteinteilung verzichtete, um 
seine Szenenfolge in einem balladenartigen Fließen zu hal- 
ten, sein Drama braucht doch einen derberen Knochenbau 
und eine muskulösere Gliederung. Die drei wilden Ge- 
sellen werden uns vor dem Verbrechen vorgestellt, sie 

279 



erledigen den Mord vor unseren Äugen, nach dem sich Sir 
Archie gleich mit seinen Gewissensbissen auszustatten hat, 
die ihn zur konflikthaltigen tragischen Figur und zum 
tragenden Pfeiler des Dramas bestimmen. Wird die Er- 
zählung wie unwillkürlich von geheimnisvollen unirdischen 
Mächten belebt, so bekommt das Drama zwei Augen, die 
vorwärtssehtn und auf den Weg achten müssen. Statt einer 
Balladenseele einen Kopf, in den auch ein bewußterer 
Verstand mit der Fähigkeit begrifflicher Rechnungslegung 
gehört. 

Es ist merkwürdig, daß Gerhart Hauptmann, der Dichter 
des Hannele, der Versunkenen Glocke und der Pippa die 
Ballade rationalisiert hat, indem er für den toten Herrn 
Arne, der seine Sache selbst führt, einen Sohn und Erben 
seiner Stärke neu einsetzt. Dieser von Hauptmann erfun- 
dene Pfarrer Arnesohn geht vor Gericht als wilder ICläger, 
er hadert mit Elsalil, die aus ihrer Stummheit nicht zu er- 
wecken, von ihm nicht zu brauchen ist, die sogar die retten- 
den Hochländer herbeiruft, da Arnesohn ihren Obersten 
in der Schenke zu Marstrand gestellt hat. WahrscheinKch 
aus technischen Gründen hat sich Hauptmann den immer- 
hin darstellbaren Opfertod der Elsalil entgehen lassen, die 
Sir Archie in einer der schönsten Szenen der Lagerlöf über 
das Eis zu dem rettenden Schiffe trägt; er sah nicht, daß 
sie tot ist. Hauptmanns beide Widersacher treffen sich dort 
zu einem nicht sehr wahrscheinlichen und etwas künstlich 
aufgesparten Waffengang. Sir Archie langt wahnsinnig bei 
dem Schiffe an, er hat den Vampyr auf der Flucht getötet, 
der Elsalil oder Berghild oder beide war, und der hat ihn 
mit einem kleinen Biß vergiftet. Wir müssen da fast an den 
unwürdigen Templer in Walter Scotts „Ivanhoe" denken, 

280 



den sein schlechtes Gewissen, nicht die Lanze des Gegners 
in den Staub wirft. Sir Archie weigert sich der Rettung 
durch die Freunde, er sagt nein zu seinem verfluchten 
Leben, das er selbst richtet. Pfarrer Arnesohn braucht seine 
Bauernwaffe nicht mehr, der Christ hat dieses Nein, diese 
mystische Stillegung des Willens zum Leben verstanden. 

Es galt dem Schicksal, galt dem Leben, galt 

dem nächsten Atemzug, dem nächsten Herzschlag. 

Und alles stand im Augenblicke still, 

als sich dies ungeheure „Nein** gebar 

in eines Menschen Seele. Amen, Amen, Amen! 

Hier liegt ein Überwinder ... ein 
Entsühnter, Freunde I und wo ist mein Feind?! 

Die Verwendung des Arnesohn, die zwei Gegner gleichen 
Maßes in Kampfstellung bringt, hat ganz besonders das 
Märchentum der Lagerlöfschen Erzählung verweltlicht, 
die im Sagenhaften, in der Ahnung, in den dumpfen, ge- 
duldigen, unnachgiebigen Gefühlsansprüchen der Ein- 
fachen und Geringen wurzelt. Und wenn ihr auch die 
ganze Erfindung allein gehören mag, die Lagerlöf hat eine 
alte Geschichte wieder- oder weitererzählt, die sich zur Zeit 
zutrug, da König Friedrich IL von Dänemark Bohuslan re- 
gierte, und die von einem Torarin zum anderen überliefert 
den Edelrost des Alters angesetzt haben mag. Dagegen 
scheint das Drama gerade in seiner zweckmäßigeren Glie- 
derung etwas messinghell und blankgeputzt von ethischer 
Reflexion. Kann man überhaupt irgendwelche „Kraniche 
des Ibykus" oder „Die Sonne bringt es an den Tag" dra- 
matisieren? Märchen und Sagen haben ihre immanente 
Gerechtigkeit, nur daß diese sich nicht wie im Drama durch 
zweckmäßig handelnde Personen zu exponieren braucht, 

281 



nur daB sie sich kindlich und wundersüchtig schon mit 
Gottes kleinstem Finger begnügt. Hauptmanns Dramati- 
sierung nennt sich Winterballade, aber gerade Pfarrer Arne- 
söhn ist kaum eine Balladenfigur mehr, trotz altem Widdn- 
gerblut uns zu angenähert, zu denkerisch und schließlich zu 
ethisch, um nicht über die Märchendammerung oder das 
seelische Zwischenreich, um nicht über den heidnischen 
Geisterzug der ungesühnt über ihrem Grabe Schwebenden 
hinauszusehen. Mit seinen letzten verstehenden Worten 
bekommt Hauptmanns Drama ein christliches Gesicht. 
Aber da es auf der Höhe des Krieges, nach dreijährigem 
Völkerringen oder Völkerbluten abgeschlossen wurde, 
sprang wohl das Wort Wo ist mein Feind ? aus dem Herzen 
des wahren Dichters, der immer der wahre Friedens- 
bringer ist. 

In Gerhart Hauptmanns autobiographischen Au&eich- 
nungen steht ein wundervolles Wort von der Utopie, die 
in jedes Menschen Inneren entsteht und die so natürlich 
in ihm wächst wie das Haar auf seinem Haupte. Ein jedes 
hat halt a Sehnsucht, —sagt auch der Kindlichste, der De- 
mütigste von seinen Webern. Hauptmann wäre kein deut- 
scher Dichter und überhaupt kein Deutscher, wenn er nicht 
zugleich die Schollenhaftigkeit und den Trieb in die Feme 
von Ländern und Zeiten hätte, jenen Trieb, den sich Ibsen, 
der größte Ökonom der Dramatik nach der blendenden 
Ausschweifung des Peer Gynt und nach der großartigen 
Inszenierung des Apostata verbot, um sich, ein für allemal 
entschieden, in die Problematik des Häuslichen und Bür- 
gerlichen einzuschränken. Ibsen kehrte mit dem genauen 
Bewußtsein seiner Bestimmung zum Norden zurück; in 
Hauptmanns Geist und Werk hat sich der Süden immer 

282 



mehr ausgebreitet, und wenn die vielen Pläne, die ihn ab- 
wechselnd beschäftigen, zur erwünschten Ausführung ge- 
raten sollten, so werden wir ihm auf merkwürdigen Ent- 
deckungszügen folgen können nach fernen Inseln, die er 
allein besiedelt, die er seiner Sehnsucht, wahrscheinlich 
auch seinen Ironien und bitteren Humoren gegen die Zivi- 
lisation unterwirft. Es ist die Verzweiflung an unserer Kul- 
tur, die Europamüdigkeit, die Auswandererstimmung vor 
der letzten unwiderruflichen Weltflucht, es ist die herbst- 
liche Resignation des schaffensmüden Prospero, den nach 
der Auflösung, nach der Abdankung von der Persönlich- 
keit, von der eingebildeten Souveränität verlangt, an der 
die Fähigkeit des Leids die wahre Legitimität gewesen ist. 
Jeder Dichter, der dies und jenes gekonnt hat, wird in einem 
Augenblick aufhören wollen, Künstler zu sein oder der Tor 
seiner Zauberei, um eine Lehre zu hinterlassen, um ethisch 
zu wirken, um als Weiser Abschied zu nehmen. 

In solcher Verfassung mag Hauptmann Heinrich Heines 
Bimini wiedergelesen haben, jenes wehmütige Scherzo 
eines Sterbenden, der sein Schiff, sein Zauberschiff zur 
letzten Fahrt über das blaue Märchenweltmeer Don- 
Quichotisch bewimpelt. Wir wissen auch, daß Hauptmann 
seit Jahren ein Drama Johann Orth plant, daß er mit dem 
verschollenen Prinzen aus altem Herrscherhause, der jede 
Verbindlichkeit, Tradition, Rang und Namen hinter sich 
ließ, nach einer unentdeckten Südseeinsel forscht, nach 
dem Exil der Freiheit, das nur durch eine unwiderruf- 
liche Entsagungsurkunde erkauft wird. Heines närrischer 
Hidalgo hat unter allen Konquistadoren gefochten, um in 
der Neuen Welt nur neue Bestien und neue Weltkrank- 
heiten zu finden. 

283 



Gold war jetzt das erste Wort, 
das der Spanier sprach beim Eintritt 
In des Indianers Hütte — 
Erst nachher trug er nach Wasser. 

Juan Ponce de Leon findet das gute Wasser, das alle 
Krankheiten und Leiden vergessen macht, aber es war ein 
sterbender Dichter, der es brauchte. Im Kriege ist das 
Sterben auch hinter der Front leichter geworden ; mancher 
gab nach, weil er nicht mehr mitmachen konnte oder wollte. 
Hauptmann hat sich aufbewahrt und so hat er auch seine 
Utopie noch nicht gefunden, die den Schluß des Schlusses 
bringen muß. Als er etwa Bimini wieder las und sich auf 
den glitzernden Wellen dieser schaumleichten Trochäen 
über das blaue Märchen Weltmeer schaukeln ließ, gelangte 
er nochmals in den Krieg, in Völkerringen und Völker- 
bluten, gelangte er in die mit Schwert und Kjreuz grausam 
gläubige, in die von Blutrausch und Goldgier benommene 
Konquistadorenzeit. Ein großer Leser, mag er auch das 
Memoire von Fernando Cortez über die Eroberung Mexi- 
kos gelesen haben, von dem gerade gegen Ende des Krieges 
eine neue Übersetzung erschien. 

Kein so ritterlicher Degen, 
Auch von g'ringerm Heldensinn, 
Doch ein Feldherr sondergleichen 
War der Cortez, der Fernando I 

So schätzt ihn Heines romanrischer Hidalgo. Statt in 
Bimini landete Gerhart Hauptmann, vom Leben, also vom 
Leiden nicht entlassen, wieder unter den Menschen, wie- 
der in dem Inferno von Krieg, Mord, Zerstörung, Fana- 
tismus, und es muß uns natürlich scheinen, daß er sein 
Herz zu den Schwächeren, zu den Unterliegenden, zu den 
Leidenden trug. Zu den Menschen einer Sehnsqcfat^ vor 

284 




allem, die sich gerade durch ihren Glauben aufs grausamste 
an ihnen erfüllt; die im Zeitlichen unterliegen, um im 
Menschlichen zu siegen. 

Sein Montezuma Kaiser von Mexiko erwartet den 
weißen Heiland und wird es selbst, indem er die Dornen- 
krone aller Schmerzen und Demütigungen empfängt. 
Hauptmann der Naturalist, der den Geschöpfen seiner 
Jugend gleichmäßig von seinem Blute gab und auch 
vor dem Geringsten seine Vaterschaft nicht verleug- 
nete, ist in seinen späteren Werken mehr und mehr zum 
Bekenner geworden. Sein Fuhrmann Henschel etwa und 
auch sein Michael Kramer stehen im Drama noch auf der- 
selben Erde gleichen Klimas und gleicher Vegetation mit 
den anderen Geschöpfen. Aber sein Kaiser Karl oder sein 
Armer Heinrich tragen das Drama allein, machen es in sich 
allein aus, sind Beklagte, Kläger und Richter in einer Per- 
son. Der „Arme Heinrich" könnte nicht auch „Ottegebe" 
heißen, selbst Griselda ist nicht die entscheidende Figur 
ihres Dramas, und die anderen müssen überhaupt mit einem 
geringeren Grade von Wirklichkeit beiseite oder zurück- 
stehen. Dieser romantische Typus seiner nicht mehr so erd- 
nahen, den Kopf höhertragenden Dramatik hat zugleich 
etwas Monologisches und Lyrisches bekommen. Die Ent- 
scheidungen werden ausgesprochen oder vorgetragen; es 
sind eigenste Selbstbesinnungen, Selbstbekennungen des 
Dichters in Flucht und Wiederkehr, es sind seine Rettun- 
gen, die er in Versen hinterläßt. 

So müssen der Weiße Heiland (1920) und der ihm 
eng folgende Indipohdi vor allem als Dokumente von der 
Furchtbarkeit unserer Zeit in der schutzlosen Brust des 
Dichters gewürdigt werden. Diese beiden Dichtungen des 

285 



überwindenden Leids und der überwindenden Erkenntnis 
werden einmal als Taten der Entsülmung, als priesterliche 
Opferhandlungen gelten; das Wesentliche an ihnen ist die 
persönliche Haltung des Dichters. Hauptmann hat die Tra- 
gödie MontezumaSy die er eine dramatische Phantasie 
nennt, in den Bimini-Trochaen geschrieben, jenem ge- 
wichtslos eilenden besonders lyrischen Versmaß, das in der 
längeren Erzählung leicht der Monotonie verfallt, das im 
Drama seinen Mangel an Ruhe, seiner geringen Fähigkeit 
der Gestaltung leicht erliegen kann. Für die Zwecke sach- 
licher Mitteilung und in dem Augenblick minderer Er- 
höhung des Ausdrucks verhüllt die Gleichmäßigkdt der 
trochäischen Zeile kaum eine etwas dünne und von keinem 
Knochenbau gefestigte Prosa. 

Vater, welch ein fürchterlicher 
Irrtum herrscht in deinem Innern. 

Das ist kein Bild und kein Vers mehr. Um so besser nimmt 
dieser Rhythmus das direkte lyrischflieBende Ichbekennt- 
nis auf, und die Monologe des Montezuma stellen den 
inneren Gang nicht nur seiner Entwicklung sondern auch 
des Dramas so vollständig dar, daß man es aus ihnen tllm 
fast zusammensetzen könnte. 

. . . Nichts vermag ich. Und das heilige 
Gottesblut, das in mir rollt, 
wenn ich schlummre, wenn ich triume, 
stockt wie Blei am wachen Tag. 
Helft mir, helft mir: ich bin elend I 
Bin ein Bettler nur, kein Kaiser, 
und der Leichnam meines Selbst! 
In den Schoß und Kern der Sonne 
eingegangen, heimgenommen, 
ruh ich selig und bewußtlos 
nachts, in traumlos tiefem Schlaf, 

286 



oder wirke in die Träume, 

schaffend mit der Lust der Gottheit. 

Dann verbreit ich schöpferischen 

Winkes Welten, wölbe Himmel, 

schleudre, wie der Sämann Kömer, 

Stemensaaten in den Raum. 

So ins Große, so ins Kleine 

wünschend ohne Wunsch, mich wandelnd, 

schalt ich über Weltalls Grenzen, 

oder bilde diese Erde 

frei zum Paradiese aus. 

Täler, Ströme treten lautlos 

aus dem Äther in ihr Dasein, 

Inseln steigen, und ich bilde 

glückbeschenkte Menschenvölker, 

Vögel, Fisch und Wurm hinein . . . 

Montezuma ist ein Einsamer, ein Träumer, ein armer 
Dekadent, trübsinniger Abkömmling eines hellen, blau- 
äugigen Sonnengeschlechts, aber ein Sehnsüchtiger, Er- 
lösungsbedürftiger, der an eine alte Botschaft vom weißen 
Heiland glaubt und den Friedensbringer, den liebevollen 
Hirten zu sehen gefaßt ist. Allein unter den Kriegern, die 
gegen die gewaltigen weißen Eindringlinge fechten wollen, 
allein unter den Priestern, die nur mit Menschenopfern 
entgegnen, vermag sich Montezuma den Heiland vorzu- 
stellen, weil er auch ein Stück Dichter und Künstler ist. 
Und gerade mit dieser seherischen Kraft, die nur das nahe 
Wirkliche nicht mehr sieht, liefert er sich als schwer Ent- 
täuschbarer den SpanieriMus, neigt er sich vor Cortez wie 
vor dem ersehnten Bruder. Seine Seele scheint gewoben 
aus des Mondes kühlem Lichte, — sagt der einzige Spanier 
und Christ, der ihn nicht ohne ehrfürchtige Erschütterung 
versteht. 

Das eigentliche Drama schreitet nur im Innern des la- 
denden Helden von der sehnsüchtigen Erwartung bis zur 

287 



Enttäuschung und Verzweiflung fort. Aber Hauptmann 
hat es von der Masse des Stofflichen, die ihm die Ge- 
schichte auflud, andererseits nicht entlasten können. So ist 
es seiner äußeren Erscheinung nach im wesentlichen die 
Chronik der Eroberung Mexikos, der furchtbaren Prou- 
essen einer wilden Soldateska, wie Heine sagt, die oben- 
drein für Gott und die Eärche verübt werden. Die Kon- 
quistadoren, auch Cortez selbst, nähren sich nicht vom 
eigentlich Hauptmannschen Blut, sie bleiben rein tatsäch- 
lich, von der Geschichte geliefert, und können deshalb auch 
kein Schicksal haben. Nur Montezuma ist symbolische Fi- 
gur, aus des Dichters Lebenssaft gewachsen und ihm von 
der Wurzel an zugehörig. Als historisches Drama wenn 
auch wider Willen leidet der Weiße Heiland an gewissen 
Verfallserscheinungen der alternden Gattung, vor allem 
an inneren Unmöglichkeiten, wenn Gegner höchst ver- 
schiedener Rasse, Kultur und Sprache aufeinanderstoßen. 
Es wirkt schon etwas bänglich, wenn die Spanier, — die 
Naivität ging an unser historisches Bevmßtsein verloren, 
für ihren Verkehr mit den Indianern eine an sich kaum 
bedeutsame Dolmetscherin brauchen, die wiederum in den 
späteren Akten entbehrlich zu werden scheint. Dramatisch 
gegeneinander aufgestellte Figuren müssen schließlich doch 
irgendwie von einem Vater oder von einer Mutter stam- 
men, müssen sich trotz den schwersten Gegensätzen an eine 
vergessene, ehedem gemeinsame Sprache erinnern wollen. 
Auf der einen Seite die Spanier mit den unbekannten 
Schrecken der Pferde und Feuerwaffen, erobernd, mor- 
dend, raubend, auf der andern die Mexikaner in ihrer Ver- 
teidigung, im Stich gelassen von dem träumenden Könige; 
— das sind wohl Fakten, aber weniger die Glieder einer 

288 



Handlung, die von demselben in sich gespaltenen Willen 
gegeneinander bewegt werden. So reißen die einzelnen 
Szenen meistens ab, bevor sie einen im dramatischen Sinn 
unwiderruflichen Schritt getan haben, und sie können 
sich in ihrer chronikartigen Gleichmäßigkeit und Gleich- 
betontheit auch nicht zu Akten zusammenfassen. Trotz den 
feindseligen Verhandlungen, trotz Kämpfen, Überfällen, 
Belagerungen geraten die beiden Parteien vielleicht nur 
einmal in dieselbe sofort gemeinsame und heißere Tem- 
peratur, wenn die Spanier gegen den Hauptaltar des Aller- 
heiligsten im Tempel der Mexikaner eindringen und der 
Oberpriester ihnen ein Kreuz mit der mexikanischen 
Schmerzensmutter entgegenhält, die auch ein Kidd auf 
dem Arme trägt. Diese Szene schließt mit einer furcht- 
baren Ironie, da die Spanier statt der höheren Wahrheit 
ein Wunder begrüßen, nur ein Wunder, das sie zu frischem 
Bekehren und gottgefälligem Morden neu ermutigt. 

Montezuma selbst bleibt auch als dramatische Figur ein 
Einsamer, aber seine Passion gibt dem Werke die mensch- 
liche Schönheit. Nicht unabsichtlich aber auch nicht un- 
würdig führt ihn Hauptmann auf einem Golgathaweg zu 
den letzten Stationen der Gefangennahme, der Geißelung 
und Verhöhnung durch die Kriegsknechte, nähert ihn mehr 
und mehr dem höchsten Vorbild des Menschensohnes, ohne 
die Besonderheit des exotischen Kaisers anzutasten, der 
als Sterbender sein neues Reich, nicht mehr von dieser Welt 
gewinnt. 

. . . Und der Kaiser Montezuma 
schwebt auf einer goldnen Barke 
über blaue Weltgewässer. 
Hinter ihm in goldnen Barken 
seine sieben Königinnen, 



19 



289 



seine Söhne, seine Töditer, 
seine Fürsten, seine Krieger, 
seine Jäger, seine Priester 
und sein ganzes Gottesrolk. 
Oh, wie schön ist dieser König, 
oh, wie groß ist dieser Kaiser, 
oh, wie herrlich, oh, wie göttlich 
wie glückselig und doch wieder 
wie unendlich schmerzensreichl •.. 

Hauptmanns dramatische Phantasie hitte mit dieser 
schönen Vision des Sterbenden, des sich Auflösenden, sich 
Erlösenden sanft verschweben können. Aber die Christen, 
die diese Seele retten wollen, zerren ihn noch einmal 
ins Bewußtsein zurück. Die Welt erlaubt ihm nicht einmal, 
sie in der Ekstase des Martyriums zu verlassen. Indem sich 
der Wundenreiche, der Gemarterte und Verhöhnte beim 
letzten Anblick seiner Peiniger alle Verbände abreißt, ver- 
strömt er sein Blut noch mit einer Verwünschung gegen 
das Raubgesindel, gegen das Gezücht, das unserer Mutter- 
erde Antlitz mit dem Unrat seiner Greuel so frech entehrt. 

. . . Rauhgesindel 1 Fort! Vertilgt das 

Ungeziefer von der Erde! 

Legt Giftbrocken! Grabet Gruben! 

Stellet Fallen! Leget Schlingenl 

Überschleicht sie, wenn sie schlafen, 

mordet, mordet ohne Gnade 

dies Gezficht, das unsrer Mutter 

Erde Antlitz mit dem Unrat 

seiner Greuel frech entehrt. 

Fort die Binden, laßt mich, laßt mich! . . . 

• 

Es war wohl Hauptmann, es war wohl dem friedlichsten 
aller Dichter nicht möglich, anders als mit Haß gegen den 
Haß, mit einer Kriegserklärung gegen den Elrieg zu 
schließen. Gesammeltes Leid, Demütigung des Mensch- 

290 



liehen, rote Scham über unser Christentum verlangte nach 
diesem Ausbruch, da auch seine Wunden noch bluteten. 

Als Gerhart Hauptmann sein Bimini suchte, verschlug 
ihn der Sturm, der in der Welt und in ihm noch raste, 
wieder unter die Menschen, und wie einer, der den Blick 
noch nicht abkehren kann, den die Welt noch nicht sein 
läßt, bot er sich zum Zeugen eines der großen histori- 
schen Verbrechen, die das mit seinen Göttern unterliegende 
Volk stumm, die das siegreiche beredt und selbstbewußt 
gemacht haben. Gegen die dokumentierte Überlieferung 
hat sich Hauptmann die nötige dichterische Freiheit schon 
dadurch gewahrt, daß er die für Gott und die Kirche ver- 
richteten Heldentaten nicht von Seiten derer ansah, die sie 
aufschrieben und sich brünstigen Glaubens obendrein im 
Himmel gutschreiben ließen. Aber durch die Last des 
Chronikalischen, die da abzutragen war, kann der Weiße 
Heiland immer noch als eine Art historischen Dramas auf- 
gefaßt werden. Wie tief Hauptmann auch in Montezumas 
des Leidensmannes Passionsgeschichte den Sinn dieses 
furchtbaren Abenteuers hineinsenkt, und wie entschieden 
auch unser Ohr diesem Herzschlag des Dramas im Lesen 
gehören mag, gerade die Versinnlichung durch die Bühne 
wird es nicht vermeiden können, die äußeren Gegensätze 
zwischen zwei Rassen und zwei Kulturen hervorzuheben 
und die wehmütige Stille der dramatischen Phantasie mit 
Kriegsruf und Waffenlärm zu übertönen. 

Als Gerhart Hauptmann ein Jahr darauf das drama- 
tische Gedicht „Indipohdi" (Niemand weiß es) folgen 
ließ, suchte er wohl weiterfliehend wieder die endliche 
Stille, das wahre Bimini, und er benahm sich wie einer, 
der sein letztes Drama zu schreiben hat, um nur noch eine 

i^ 291 



Friedensbotschaft zu hinterlassen. In dieser Gemütsver- 
fassung hat er dem Träger seines letzten Dramas den Namen 
von Shakespeares letztem Helden Prospero gegeben. Auch 
der „Sturm'' war eine utopische Elegie, aber sie stammte 
aus einer Zeit, da noch unbekannte Inseln, jungfräuliche 
Welten aus dem Meere auftauchten, allerdings um nach 
Anwendung der nötigen Waffengewalt von einem neuen 
nordischen Eroberergeschlecht der jungfräulichen Köni- 
gin zu Füßen gelegt zu werden. Auf dieser Geisterinsel 
träumt der alte erprobte Staatsmann Gonzalo von einem 
wiedergewonnenen Paradies, in dem es keine Gewalt, keinen 
Verrat, keinen Betrug, keinen Dienst und keine Gemarkung 
gibt, in dem der alte Fluch vergessen ist, mit dem der 
Mensch aus dem Paradiese vertrieben wurde. Aber auch 
die Weichheit des Abschieds machte Shakespeare nicht 
wehmütig; er läßt den alten Staatsmann gerade im Augen- 
blick träumen, da Verräterdolche gegen seinen Herrn ge- 
zückt werden. Shakespeares Spiel bleibt ein Spiel und seme 
Zauberinsel ein Märchen, das glücklich gerettete junge 
hoffende Menschen hinter sich lassen. Sie kehren ins Men- 
schenland zurück und selbst Prospero verlangt es wieder 
nach seinem Reiche, wenn auch nur nach dem Grabe in 
seiner Erde, das ihm Kinder und Enkel schmücken sollen. 
Den modernen Dichter, der jenseitiger, der 2sugleich 
christlicher und pessimistischer denkt, verlangt es nach völli- 
ger Abdankung, nach Auflösung der Persönlichkeit, nach der 
Rückkehr in das Ein und All, das Hölderlins metaphysische 
Liebe sehnsüchtig verehrte. Und so ist dem Prospero 
Hauptmanns auch der Empedokles vorangegangen, der 
gegen das Göttliche sein letztes Gesetz erfüllt, nachdem 
er den Menschen in der Götter Namen Gesetze gegeben 

292 



hat. Auch dieser neue Prospero ist ein König im Exil, ver- 
trieben von dem eigenen wilden Sohne, dann mit seiner 
Tochter an einer Südseeinsel gelandet, die gleich dem Volke 
Montezumas nach einer alten Botschaft auf neue weiße 
Götter wartet. Den alten Göttern galten die Menschen- 
opfer, die nun von dem zu den Wilden verschlagenen weißen 
und weisen Manne aufgehalten werden. Es spielt also dieser 
Prospero auch die Rolle der Goetheschen Iphigenie; er 
findet eine Art Thoas an dem ihm ergebenen Oberpriester, 
der ihn wie einen Heiland verehrt, er findet an der Tochter 
des Priesters, nicht an der eigenen, die mild Verstehende, 
die Vertraute seiner Leiden, die als die echte Erbin seines 
Geistes das Göttliche in ihm erfühlt und die Sendung, 
die ihn aus der Welt herausführt, wenn sie der Welt ver- 
bleiben soll. 

So steht dieses Gedicht Indipohdi, dem Hauptmann 
noch den anderen Titel „Das Opfer" hinzufügte, in seiner 
Gefühlslage, in seinem Bedürfnis der Entsühnung von allem 
Atridischen des Menschengeschlechts der Iphigenie nahe, 
wie es die Geschicke der an der fernen Insel Gescheiterten, 
der friedlichen, wie der kriegerischen, der gewissensvoUen 
Gedankenmenschen wie der gewissenlosen Tatmenschen 
nach Shakespeares Sturm erneuert hat. Aber Hauptmanns 
Dichtung versagt sich den einen Vorteil der Anlehnung an 
einen geläufigen alten Mythus, wie sie andererseits nicht 
mit der shakespeareschen Unangefochtenheit eine wirkliche 
Zauberinsel mit den Ungeheuern und den guten Geistern 
des Märchens ersinnen darf. Unsere Zeit hat keinen My- 
thos, kann ungeheuerliche Schicksale der Volksgemeinschaf t 
nicht in den vertrauten Anschauungen zugleich nationaler 
und religiöser tiberlief erung darstellen. Der Faust war 

293 



noch eine Legende, aber Richard Wagners Walhall steht 
doch auf philosophischen Luftmauem. Der symbolisch 
schaffende Dichter friert in einem leeren Raum, den er 
allein zu erfüllen hat, und unsere Dramatik muß sich in je- 
dem Fall ihr Klima und die dazugehörige Vegetation yon 
neuem herstellen. Um wieviel mehr, wenn sie sich von der 
Scholle, wenn sie sich sogar von unserer Kult urwelt loslöst, 
um sich Voraussetzungen auf eigenste Verantwortung zu 
schaffen. 

Dieser neue Prospero wird noch mehr als der geschicht- 
lich beglaubigte Montezuma auf die Verständigung mit 
sich selbst angewiesen sein, während seine Insel der De- 
koration, während sein exodsches Volk der Maskerade yer- 
fällt. Als das Stück in Dresden zuerst aufgeführt wurde, 
konnte sich die Aufmerksamkeit auf das Bekenntnis, auf 
den stillen Gang des inneren Dramas nur schwer gegen die 
Tomahawks und Kriegsrufe der Indianer behaupten, die 
für Prospero oder für seinen Sohn fechten, gegen das Sicht- 
bare des Kampfes um die Krone, die von dem Vater ver- 
ächtlich hingeworfen, von dem Sohne begierig aufgenom- 
men wird. Gegen Spiele und Tänze der Indianer, gegen 
die Kultverrichtungen ihres Opferdienstes, die sich in 
ihrer erfinderischen Buntheit doch nicht mit der Würde 
beglaubigen können, die im alten, dichtbelaubten heiligen 
Hain von Kolchis gebietet. 

Wir glauben auch nicht mehr an vertriebene Könige, 
wenigstens nicht an ihre Entrückung in ein poetisches Exil 
mit den unveräußerlichen Rechten des Gottesgnadentumi. 
Allein nach innen gedeutet und aus dem Tatsächlichen ins 
Gedankliche gefiltert wird uns die Geschichte Prosperos 
wichtig, dem sein wilder Sohn Omnann auch nach 

294 



märchenhafter Scheiterung folgt, gegen den er die noch wild 
gebliebenen Indianer, sogar die eigene Schwester in un- 
bewußt blutschänderischem Verlangen aufruft, bis er den 
Vater erkennt. Es ist ein Anagnorismos von rein symboli- 
scher Bedeutung wie zwischen Odysseus und Telemach. 
Der Sohn erkennt die Heiligkeit des Leids, die Gewissen- 
losigkeit jeder Tat, die einzige Schaffenskraft der Idee, die 
das Opfer des Selbst verlangt, weil sie jenseitig ist. Die Be- 
wohner dieser Insel, ob sie sich der Überlegenheit des 
weißen Mannes ergeben, ob sie sich ihr sogar mit kaniba- 
lischer Primitivität widersetzen, umgeben diesen ideellen 
Konflikt recht exzentrisch und auch außerhalb unserer Ge- 
fühlssphäre, wie ja die Schilderung primitiver Rassen oder 
Kulturen sich bisher etwas höhnisch jedem Versuch wider- 
setzt hat, der etwa über die Ansprüche von Coopers Leder- 
strumpf hinauszielte. Prinz Orrmann selbst und die wilden 
Kumpane seines Beutezuges, die mit ihm scheiterten, wer- 
den schon durch eine zugreifendere Charakteristik gepackt 
und beglaubigt. Aber ihre Geschicke, an sich selbst unselb- 
ständig, fließen doch nur in das des Prospero hinein oder 
lassen den Strom schwellen, der ihn aus dieser Welt hinaus- 
trägt. Prosperos Situation ist wohl erdacht oder aus alten 
Überlieferungen der Weltliteratur wieder zusammenge- 
setzt, aber seine innere Verfassung ist durchaus erfühlt, die 
Verzweiflung und Selbsterlösung, die Tiefenlage, zu der 
des Dichters Seele heruntergedrückt wurde. 

Allein wegen seiner Figur möchten wir dieses melancho- 
lische Bekenntnis nicht entbehren, diese Stimme De pro- 
fundis, die nicht nach einem helfenden Gott ruft, diesen 
Triumph des Leids über die Welt der Not, des Zwanges, 
der Täuschung, und diese letzte Selbsthilfe durch Selbst- 

295 



auflösung. Du hast gesiegt, was du gelitten^ — bieB es schon 
früher in dem von Gerhart Hauptmann ausgegebenen dra- 
matischen Entwurf des T7II Eulenspiegel. Im AugenUick, 
da Prospero von seiner indianischen Schülerin Teihnxa noch 
einen merkwürdig spät erotischen Abschied nimmt, da er 
aus ihren Armen im Nebel über dem feuerspeienden Berge 
verschwindet, trägt er statt seiner Elrone, die er einnud er- 
erbte und einmal gewann, nur noch eine BettlersduJe in 
den Händen. Dieser Epilog zu Hauptmanns dramatiadiem 
Schaffen, der aber wieder zu einem Prolog werden kfinntei 
bedeutet, wenn auch ungewollt, eine völlige Sjnthflse von 
Hölderlins Empedokles, den der Ätna aufnimmt, und 
Shakespeares letztem Helden, der seinen Stab zerbricbt und 
seine grausen Zaubereien abschwört. Und wenigitena in 
der Figur seines neuen Prospero ist Hauptmann diese Ver- 
schmelzung in der Glut einer echten Temperamentahand- 
lung gelungen. 

Mein Leben ward Magie. Ich ward zum Ma|^. 
Es lag bei mir, Gestalten aufsorufen, 
gastlich sie zu bewirten, oder sie 
mit einem Wink zu scheuchen in das Nichts. 

Die ältesten Dichter waren Gesetzgeber, und dieSitetten 
Gesetzgeber haben Verse auf eherne Tafeln geschrieben. 
Auf diese alte mythische Einheit kommt Hauptmann n- 
rück, und der bekannten pathetischen Deklamation eines 
schwärmenden Lyrikers, daß der letzte Mensch der letzte 
Dichter sein wird, gibt er die Geltung und Würde eines 
höchst persönlichen und tragischen Erlebnisses. Welche Ver- 
messenheit zu dichten, in der Schöpfung noch eine zweite 
Schöpfung, in der Täuschung noch eine Täuschung zu 
wollen! Was er webt, das weiß kein Weber. Oder das 

296 



will kein Weber, — scheint Hauptmann nach dem Bimini- 
Dichter zu sagen. Jeder hat einmal den Zaubermantel 
mit den furchtbaren Zeichen wieder abgelegt im Grauen 
über die Gewalt, die immer diesen zweiten Demiurgos 
überwältigt. 

Noch einmal in dem heiligen Augenblick 

des Abschieds, wo der mächtige Webstuhl noch 

dröhnt und mein Werk erschafft, was doch nicht mein ist, 

grüß ich dich, furchtbare und wundervolle Welt 

des Zaubers und der Täuschung. Du gebierst 

millionenfachen Fluch, wie Blumen auf 

glückseligen Wiesen, und ich habe sie 

jauchzend gepflückt und jubelnd mich gewälzt 

im Schmerzenstau, im Todesduft der Gräser. 

Und als mein inmierwachsendes Geweb 

mich enger stets umstrickte und Gestalt, 

unzähliger Form, mich, der sie schuf, umdrang, 

da würgte mich mein eigener Zauber, drang 

mein Volk von Schatten grausam auf mich ein 

und legte mich, den Schöpfer, an die Folter . . . 

Indipohdi ist Hauptmanns zweite Passion nach dem 
Weißen Heiland, die des Denkenden nach der des Träu- 
menden, die des Schaffenden nach der des Leidenden cxler 
vielmehr die des Leides der Tat nach der Tat des Leides. 
Montezumas Königskrone wurde zur Dornenkrone. Pro- 
spero hat seine Krone niedergelegt und dafür die Bettler- 
schale eingetauscht, aus der eine blaue Flamme empor- 
lodert. Und diese Darbietung des Selbst dürfte wohl die 
letzte und allein wirksame Magie sein. Der Weiße Heiland 
und Indipohdi sind gewissermaßen Vermächtniswerke, aber 
es ist nicht der Dichter, sondern es ist eine Dichtgattung, 
die die Welt hinter sich läßt, die sich nach einem unver- 
gleichlichen Frühling, nach reichem sommerlichen Aus- 
bruch in ihm auszuleben scheint. 

297 



Hauptmanns gesamtes dramatisches Werk, das in diesem 
herbstlichen Äusklingen mehr Welt meidet als Welt schafft, 
hat gerade in der Kriegszeit, die für uns noch nicht auf- 
hören will, eine denkwürdige Auferstehung gefeiert. Eine 
Zeitlang stand unser Dichter im Schatten neben Ibsen, um 
dann die Sonnenseite zu gewinnen, nachdem wir aus dem 
Laboratorium des großen nordischen Magiers und Apo- 
thekers etwas lufthungrig und wärmebedürftig wieder ent- 
lassen worden waren. Hauptmann war nie ein Rechner, 
seine Dichtung hat nicht die Dialektik, die das Erlebnis in 
den Kühlraum des Gedankens hinaufführt; dafür hat sie 
das stärker pochende Herz. Wie det arbeet! sagte Max 
Liebermann in seinem treuen Berlinisch von den Einsamen 
Menschen. Wir haben dieses Werk und manches andere, 
das Hauptmann mit allen Fäserchen aus poetischer Mutter- 
erde ausgegraben hatte, in den letzten Jahren wiederge- 
sehen, und sie schienen neue Wurzeln geschlagen zu haben. 
Nicht nur die verbreiteten volkstümlich gewordenen Stücke, 
sondern auch die der fragmentarischen Schönheiten, die 
sich nicht zu dem zweckvollsten dramatischen Körperbau 
ausgewachsen haben. Als die „Ratten^^ Anfang 1912 auf 
der Bühne zuerst erschienen, wurden sie nur für einen 
naturalistischen Spätling gehalten, für den Beweis einer 
Kunst der Milieuschilderung, den gerade Gerhart Haupt- 
mann nicht mehr zu erbringen brauchte. Der Literatur 
war der Weg der Entwicklung vom Naturalismus als einem 
ewigen Wiederaufgang aufgegeben worden bis zu einer 
Höhenkunst, die sich neuromantisch oder symbolisch nannte 
und die nach früheren Mustern in einer neuen Klassizität 
des Stils gipfeln sollte. Als die „Ratten^^ nach zehn Jahren 
wieder in Berlin und an dem richdgen Platze der „Volks- 

298 



bühne" erschienen, war ein ungeheuer verstärkter, das 
Pubhkum eisern umklammernder Eindruck festzustellen, 
wenn sich auch die beiden letzten Akte wieder etwas aus- 
einanderzogen. Erst die gesteigerte Empfindlichkeit einer 
schwer erschütterten und geprüften Zeit erfühlte jetzt die 
Wucht, erahnte die symbolische Bedeutung eines mäch- 
tigen sozialen und politisch furchtbar ahnungsvollen dra- 
matischen Freskos. Der Anspruch des Titels war nun ge- 
rechtfertigt. Wie manches andere hat auch dieses Stück 
nachgearbeitet, derweilen es eben ruhte oder derweilen 
man es etwas unbekümmert hatte ruhen lassen. Gerade 
als unsere Jugend, von dem Schlagwort Expressionismus 
geleitet, die Natur zu überspringen sich vermaß, als sie 
die diktatorische Gewalt des Subjekts, des gebieterischen 
Ich zur einzigen Souveränität und Substanz erheben wollte, 
hat allein das stille Walten einer süßen Naturkraft, hat 
allein eine unwiderlegbare, unzerlegbare Gemütsgewalt, 
die das höchst Persönliche zum Überpersönhchen erhebt, 
den ungeheuren Erschütterungen widerstanden, die unsere 
Fassungskraft zu sprengen drohten. Hauptmann war wie- 
der unser menschlichster und sozialster Dichter, von kei- 
nem Ereignis überholt oder erschöpft, wie er auch als der 
nationalste anerkannt werden muß, weil er der volk- 
hafteste ist. Große Dichtungen zeigen sich auch Mißver- 
ständnissen oder Willkürlichkeiten oder tendenziösen Aus- 
legungen gewachsen. So hat man nach der Revolution aus 
den Webern, deren Stärke ihre Schwäche ist, fauststarke 
moderne Proletarier gemacht, die ihren Klassenstand- 
punkt haben und morgen die pohtische Herrschaft über- 
nehmen werden. Die Weber waren eine Anklage in Per- 
manenz gegen die Grausamkeit menschlicher Einrich- 

299 



tungen, ein mystischer Chor De profundis, wdl der 
Ärmste, den es immer geben wird, unser Ankläger und 
Richter am Jüngsten Tage sein muß. Man nahm Haupt- 
manns Figuren das Lauschige, Eandhafte, das Koboldhafte 
ihrer schlesischen Eigenart, man nahm dem seelischen Ge- 
spinst die Zartheit, der tragischen Idylle die Anmut, um 
eine religiöse Grundstimmung in eine vorübergehende po- 
litische Wirkung umzusetzen. Aber die gewalttatigenWeber 
werden vorübergehen und die Gewaltlosen werden bleiben. 
Manche Stimmen aus seinem Weric sind besser als früher 
gehört worden, weil sie erst auf eine furchtbare Bestätigung 
durch die 2^it der Not zu warten hatten. So ist gerade der 
Florian Geyer, dem der Dichter am tiefsten nachgetrauert 
hat, als ein prophetisches Werk wieder auferstanden, wenn 
sich auch der gewaltigere Bauernkrieg ihm nicht so rein 
aus der Studie ins Symbolische gelöst hat wie der kleine 
Weberaufstand. Als Bismarck noch lebte, kam der dunUe 
Held dieser deutschen Tragödie zugleich zu spät und zu 
früh. Der Florian Geyer vor Weinsberg lag, da nahm er 
die schwarze Fahn und sprach . . . Ballade von einem Hel- 
den, der eigentlich nichts tut, als daß er einen rohen 
Kriegsknecht niederschlägt, ein paar Reden hält, ein paar 
Kannen Wein trinkt, den Harnisch abwechselnd auf- und 
zuschnallt und nichts lenkt, nichts fördert als seinen ziem- 
lich nutzlosen Untergang. Hatte der Verstand früher für 
ihn nichts übrig, so jetzt das Gefühl alles. Es zeigte sich, 
daß Magie in ihm ist, Dämonie der Liebenswürdigkeit, und 
selbst leidend waren wir nun bereiter, ihm unser Mitleid 
so gut wie einem Egmont zu schenken. Das Stück hatte 
sein Auge neu aufgeschlagen, uns mit einer neuen Stimme, 
mit einer tieferen IQage angerufen. Der deutschen Zwie- 

300 



tracht mitten ins Herz: dieses Wort wurde nun mit einer 
leidenschaftlichen Bewegung erwidert. Aber es war nicht 
allein die Gunst von dieser Zeiten Ungunst. Die Ballade 
vom Ritter, der sich zum Bauern macht, der Bruder 
Mensch werden will, ist noch melancholischer geworden 
als ein Lied vom Untergang, ein PreisUed auf den Helden 
des Herzens ohne Tat, auf einen erschreckend unpolitischen 
Stimmungsmenschen, auf unseren unvergänglichen Bruder 
Michel mit seinem Besten, seinem Gefährlichsten, was auch 
unser Bestes und GefährUchstes ist. Die Florian Geyer 
brauchen nicht mehr hoch zu Roß zu kommen, sie können 
auch auf einem Schreibstuhl reiten, aber wem von ihnen, 
wie dem fränkischen Ritter, ein brennend Recht durchs 
Herz fUeßt, der wird wieder seine Tumbheit geerbt haben 
oder die Waffenlosigkeit des würdig Vertrauenden und 
die Blöße für einen tückischen Bolzenschuß. 

Unverführt von dem theatralischen Glanz der wilhelmi- 
nischen Epoche — der echte Dichter bleibt immer Spiel- 
verderber—hat Gerhart Hauptmann die Heimsuchungen 
und Erschütterungen des Weltkrieges und der Weltnot vor- 
her gefühlt. Als sie dann eintraten, hat Hauptmann die 
furchtbaren Begegnungen mit dem Schicksal in die exoti- 
schen Fresken seiner letzten Dramen verwebt, auf denen 
aber immer nur eine, nur seine Figur in der hieratischen 
Haltung eines Geopferten und Opfernden recht sichtbar 
wurde. Darin war Abschiedsstimmung, Weltflucht, utopi- 
sche Sehnsucht, und diese Reihe scheint noch nicht ab- 
geschlossen, da der Dichter ja noch dem Schicksal des ver- 
schollenen Prinzen, der ganz zu verschwinden wußte, zu 
symbolischer Ausdeutung nachdenkt. Das Drama, mit dem 
er sich in seinem Frühling die grüne Wirklichkeit zu eigen 

301 



machte, das ihm aus der heimatlichen Scholle so lieblich 
wie ernst aufblühte, wird ihm vielleicht immer mehr zu 
einem Abgesang, zu einer stillen nach dem jenseitigen 
Reiche schwebenden Melodie werden. Aber auf einer er- 
höhten Stufe wird der Dichter erwiesenen Könnens zu 
einem Weisen, dem jede Form recht ist und der jede 
braucht, um der leidenden Menschheit, die er so wenig wie 
sich selbst im Stich lassen kann, Richtung und Aussicht zu 
hinterlassen. Der große befruchtende Strom teilt die Über- 
last seiner warmen Woge in ein vielarmiges Delta, bevor 
er sich ins Meer ergießt. Wer je die Gunst gastlicher Tage 
in Hauptmanns Haus Wiesenstein über Agnetendorf ge- 
noß, der wird sich auf die großen Manuskriptenschranke 
verlassen, die der Dichter nur zögernd öffnet, hier auf alte 
Pläne weisend, die ihm nach dem Kriege wiederkamen, 
dort auf neue, die ihm gerade Krieg und Revolution ein- 
gebracht haben. Der wird nicht ohne die fröhliche Sicher- 
heit fortgehen, daß dieser Schaffende von der echten Sei- 
denwurmnatur sich in eine zweite Jugend — oder ist es 
schon die dritte — still hinüberzuspinnen beginnt. Sei 
es Roman oder Epos oder autobiographisches Bekenntnis 
oder aphoristische Glosse oder auch halb lyrische Erneue- 
rung der strengen Terzine, er wird sich auf alle Arten mit 
einer neuen Wahlfreiheit zwischen den Formen in Haß und 
Liebe bekennen, er wird vielgestaldg auch uns gestalten in 
einer vulkanisch aufgewühlten Zeit, da Götzen stürzten und 
neue Götter gesucht werden. 

So stehen wir wahrscheinlich vor einer unerwarteten und 
doch aus innerlichem Bedürfnis zu begreifenden Um- 
kehrung, daß Hauptmanns Einsamkeit und Friedenssehn- 
sucht sich in der früher kampferischen Form des Dramas 

302 



anbaut, daß er aber in die Rüstung der ruhigsten und ge- 
setztesten Form gehüllt das Lebenwollen und Leben- 
müssen der Menschheit mit epischen Gesängen begleitet. 
Da wird sein Volk ihn finden und da wird er mitten unter 
uns sein. 

Deutschland war immer ein etwas unauffindbares Land. 
Für die anderen und für uns selbst. War es jetzt in unseren 
Massen, in unseren sozialen Aposteln, in unseren politischen 
Führern, in unseren rechten und linken Desperados? Es 
war wohl im Herzen eines Liebenden, eines Verzagenden 
und wieder Hoffenden verwahrt. Wir wissen, daß Haupt- 
mann uns wahrscheinlich schon zu seinem sechzigsten Ge- 
burtstage mit dem Epos „Tyll Eulenspiegel" beschenken 
wird, mit der großen Passion der weltliebenden, der welt- 
flüchtigen, der tragischen deutschen Seele. Sollte die 
Kunstform des Dramas von der Vorherrschaft seines 
Schaffens abdanken oder nur noch die Klagen und Klänge 
seiner Herbststimmungen sammeln wollen, so hat sich 
der neue Frühling schon in zwei erzählenden Werken 
angekündigt, die starken Atems, festen Schrittes, von 
neuem Lebenssafte schwellend einer blühenden Nachfolge 
Toranzugehen scheinen. 



XVIII 

NEUE JUGEND: DER KETZER VON SOANA. 

ANNA 

Eros ist älter als Kjonos, so heißt es in Hauptmanns Er- 
zählung „Der Ketzer von Soana", die gegen das Ende 
des Krieges (191 8) und noch vor seinen beiden dramati- 
schen Passionen erschien. Man hätte ihn fragen können, der 
Meister des Westöstlichen Diwans darf nicht mehr gefragt 
werden, ob er in der Zeit ungeheurer nationaler Prüfung 
an nichts Besseres als an Liebesgeschichten zu denken hatte. 
Allerdings hätte man zugleich auch Arthur Schnitzler und 
Thomas Mann verhören können, die Hauptmanns meister- 
liche Erzählung mit zwei erotischen Stücken hoher stilisti- 
scher Prägung flankierten. „Casanovas letztes Abenteuer" 
galt dem müden Eros; Schnitzler hat sich von dem größten 
Glücksritter der Liebe in seiner Demütigung des Alterns 
und Verzichtens inspirieren lassen. „Der Tod in Venedig" 
galt dem tragischen Eros, der seit der Aufhebung der von 
Plato erschwärmten Einheit der Geschlechter die Grenzen 
immer wieder verwirrt, unbekümmert um den Wechsel 
sittlicher Anschauungen und Einrichtungen. Hauptmanns 
Erzählung hat weniger literarische Voraussetzungen als diese 
beiden; das Schicksal seines Priesters, der die Gelübde eines 
Weibes willen bricht, spielt sozusagen mehr in der Naturge- 
schichte als in der Kulturgeschichte des Menschen; zu- 
gleich heutig und zeitlos dehnt sie sich zu einer Spannweite, 
die noch die Jugend des alten Adam ergreift und ihn wieder 
vor den ersten Sündenfall zurückstellt. Derselbe Bekenner, 
den die Verzweiflung an der Menschheit, an ihrem mörde- 
rischen Kulturwahn fast aus der Welt treibt, hat auch die 

304 



Gabe der Erneuerung» des Nachkeimens und NachUähens, 
der geheimnisvollen Selbstbefruchtung empfangen, die das 
Genie in seiner Zweigeschlechtig^eit am gültigsten beweist. 
Die sinnlichen Naturen haben größere Lebenskraft als die 
einseitig männischen Geister der Reflexion, der Dialektik 
und Rhetorik. Während der Geist ermüdet, treibt das Blut 
mit neuen Säften in einem Kreislauf, der auch die Jugend 
wiederum umfaßt. Kronos wird alt und Eros bleibt jung. 
In Wahrheit wissen wir nie, wo der Dichter steht — das 
bringen die Biographen erst nachher in Ordnung; — aber 
wir können uns darauf verlassen, daß er immer richtig steht. 
Selbst wenn wir von Hauptmann in den letzten Jahren 
nichts anderes empfangen hätten als diesen sehr heidni- 
schen „Ketzer von Soana*' und das ihm folgende Liebes- 
gedicht ,,Änna^% wir brauchten nicht zu zweifeln, daß für 
ihn, der nie vom bloß Erlernten und Gedachten, der immer 
von seinem Eigensten und Nächsten, Blut und Nerven 
gelebt hat, das Geschick seines Volkes nun zu seiner größe- 
ren Biographie, zu seinem weiteren Leibe geworden ist mit 
der Fähigkeit aller Schmerzen, aber auch mit der ^ück- 
haften Fähigkeit jeder Gesundung. In seiner großen Rede 
vor der Wiener Universität im Oktober 192 1 hat Haupt- 
mann uns zu Füßen des Berges der Läuterung gestellt, den 
wir ohne alle schimmernde Wehr mit der Tapferkeit des 
Herzens und in froh gläubiger Demut zu erklimmen haben. 
Aber Hauptmann ist kein Dante, kein Hasser über alle 
Gräber hinaus, kein Höllenrichter, der dem alten Hades 
das Richtschwert abnimmt. Als Gesandter des deutschen 
Geistes vor unseren zum Pariatum heruntergestoßenen 
Brüdern in Österreich sprach er von dem Teller Erde, den 
sich Goethe vor seinem Tode zu frommer symbolischer 

•• 305 



Anschauung reichen ließ. Hauptmann ist gütig wie die Erde 
selbst, im tiefsten sogar froh und mutwillig wie ein Ge* 
birgsflüßchen seiner Heimaty das die Wiesen grün, das die 
Mühlen und Spindeln geschäftig macht, und er hat nie 
anders als aus Liebe geschaffen. Auf Eros und Neikos, Liebe 
und Haß, hat der griechische Mythos die Entstehung der 
Welt gegründet. Hauptmann ist der Dichter des Eros, 
wenn je einer war, ein Priester vom Mysterienkult der 
Zeugungskraft, der unbefleckbaren Empfängnis; die Natu- 
ra naturans entläßt seinen Menschen nicht aus ihrem 
Schoß, die alte Mutter Isis stillt seinen Menschen an ihren 
Brüsten. 

Die Geschichte des Ketzers von Soana ist in einen 
Rahmen gefaßt, mit dem die romantische Erzählungskunst 
gern ihre Erfindungen schützte; sie wird uns durch einen 
Reisenden als eine seltsame Begegnung weitergegeben. 
Hauptmann hat den Rahmen sehr schmal gehalten, und 
der „Herausgeber dieser Blätter", wie sein Amt sich etwas 
steif bezeichnet, läßt sich nur die nötigste Zeit der isolieren- 
den und stimmenden Vorbereitung, bis der merkwürdige 
brillentragende Hirt oben auf dem Monte Generoso seinen 
antiken Steintisch von einer homerischen Mahlzeit abge- 
räumt hat, um ihm seine Geschichte vorzulesen. „Francesco 
Vela war bleich und zart. Sein Auge lag tief. Hektische 
Tupfen glühten auf der unreinen Haut seiner Backen- 
knochen." Es ist wohl nicht ganz wahrscheinlich, daß der 
frühere Priester, der nicht nur die Kirche, sondern auch 
unsere Kulturwelt hinter sich ließ, daß der Herr über diese 
Einsamkeit, der lustvoll ergriffene Zuschauer zu den Liebes- 
kämpfen seiner Böcke, das Bild der Jugend wie im Spiegel 
aufgenommen hat. Aber der zottige MBrte, der doch auch 

306 



Johannes dem Täufer ähnelt, bewahrt in seiner Hütte die 
klassischen Autoren, beweist sich als Kenner der schwarzen 
Magien und alten Mysterienkulte von Pan und Dionysos, 
von Mithra und Wischnu, und wenn man sich erst an die 
Vorstellung gewöhnt hat, daß die Hand, die die Ziegen 
melkt, die alte Pansflöte meistert, auch einmal eine Feder 
führte, so wird man der ungeheuren rauschvollen Gewalt 
seiner Erzählung nicht mehr widerstehen können. 

Der junge Priester, der asketisch und weltfremd und 
doch mit der Autorität seiner Weihen eine kleine Gemeinde 
im Tessinischen lenkt, wird in die höchste Bergeinsamkeit 
zur Seelsorge eines verkommenen und verächtlich gemiede- 
nen Paares gerufen, eines blutschänderischen Geschwister- 
paares, das über den Menschen da unten und über all 
ihren Begriffen wie vor der Einführung des Christen- 
tums und vor den Anfängen aller Zivilisation lebt. So emp- 
fängt Francesco das ihm bestimmte Weib rein aus den 
Armen der Natur, die sich in ihrem Geschöpf ihm zum 
erstenmal offenbart und mit nie gefühlten Mutterarmen 
nach ihm greift. Schon der junge Frühling, durch den 
der Priester und Heilsbringer, vermessen zu binden und 
zu lösen, ins Hochgebirge emporsteigt, hat etwas Heid- 
nisches, Unerlebtes, ihm Ununterworfenes, als ob er mit 
einer alten Göttlichkeit vor allen seinen Heiligtümern da-? 
gewesen sei. Die freche Unzucht des schmutzigen, des mit 
der Kirche handelnden und lügenden Hirtenpaares ver- 
wirrt ihn; ihr heidnischer Fetischdienst an einem verlore- 
nen Phallusbildchen entsetzt ihn; aber der Anblick ihrer 
Tochter, ihrer unschuldigen wilden Schönheit läßt ihm 
den leisen Schrecken, der sich nicht fortbeten, der sich 
nicht fortkasteien läßt. Schwarze Magie umlauert den 

.0* 307 



Priester mit Vorstellungen, Wünschen, Traumen, die gar 
keinen Ursprung in ihm selbst, in der kindhaften Unan- 
gefochtenheit seiner geistigen und geweihten Jugend 
haben können. Francescos Sinne erwachen und beginnen zu 
lesen; die Natur offenbart sich ihm in Zeichen, Wort, 
Schrift, Gedanken, ein ungeheurer, bilderreicher, - töne- 
rieselnder, nichts als Leben brausender, nichts als Leben 
wollender Psalter. 

„Wo alles quoll, wo alles pulsierte, sowohl in ihm 
als um ihn herum, wußte Francesco den Platz des Todes 
nicht auszumitteln. Er berührte den Stamm eines Kasta- 
nienbaumes und fühlte, wie er die Nahrungssäfte durch 
sich empordrängte. Er trank die Luft wie eine lebendige 
Seele ein und wußte zugleich, daß sie es war, der er 
das Atmen und Lobsingen seiner eigenen Seele verdankte. 
Und war sie es nicht allein, die aus seiner Kehle und Zunge 
ein sprechendes Werkzeug der Offenbarung machte ?" Der 
Priester sieht, was er nie gesehen, sieht die braunen Fisch- 
adler, die das Wunder des Blutes, das Wunder des pulsieren- 
den Herzens in majestärischer Wonne durch den Raum 
tragen. Auch die wechselnden Kurven ihres Fluges zeich- 
nen auf die blaue Seide des Himmels eine unverkennbare 
Schrift, deren Sinn und Schönheit aufs engste mit Leben 
und Liebe verbunden sein muß. „Und er gedachte der 
zahllosen Augen der Menschen, der Vögel, der Säugetiere, 
der Insekten und Fische, mit denen die Natur sich selbst 
erblickt. Mit einem immer rieferen Staunen erkannte er sie 
in ihrer unendlichen Mütterlichkeit. Sie sorgte dafür, daß 
ihren Kindern nichts im allmütterlichen Reich ungenossen 
verborgen blieb; sie waren von ihr nicht aUein mit den 
Sinnen des Auges, des Ohres, des Geruches, des Geschmacks 

308 



und des Gefühls bedacht worden, sondern sie hatte, wie 
Francesco fühlte, für die Wandlungen der Äonen noch un- 
zählige neue Sinne bereit. Was war das für ein gewaltiges 
Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen in der 
Welt! - 

. Gerhart Hauptmann gestaltet den Rausch des Schöp* 
fungswunders, und so starker Herzschlag mit solcher All- 
gegenwart der Sinne hat wohl selten deutsche Prosa ge- 
trieben. Solche Geschichte eines Priesters und eines Mad- 
chens, dem er rettungslos zu eigen wird, ist oft und gewiß 
auch von recht geringen Leuten geschrieben worden. Aber 
jedes Bild gehört hier einem Meister, der noch über den 
Rausch gebietet. Die Erscheinung Agatas, der jungen 
Hirtin, mit der innerlich garenden, edelreif en Schläfrigkeit, 
die die Wimper herabzieht und die Augen in überdrängen- 
der Zärtlichkeit feucht macht, diese Schönheit hat nichts 
Süßes,nichts Überkommenes, nichtsWiederholtes; es ist, als 
ob die Farben eines Tizian wieder fließend würden, um ins 
Licht und zum Auge des glücklichen Schauers zurückzu- 
kehren, der von der lebendigen Schönheit auf der Leinwand 
nur die Kruste lassen konnte. Man fühlt hier besonders, 
daß der Bildner dieser in sich ruhenden Schönheit ein 
Plastiker war und es immer geblieben ist. Die Rückkehr zur 
Natur wird uns seit Rousseau gesungen, aber Hauptmann 
ist zu sinnlich, um sie nur zu besingen, um außerhalb ihrer 
sein zu können; in die Wunder der Schöpfung wollüstig 
hineingerissen wird er Mitschöpfer und Eingeweihter ihres 
Mysteriums. So schreitet er von Vollendung zu Vollendung, 
und er läßt sich von keinem Rausch die Gelassenheit des 
Bildners entführen, wenn er sein Paar, den neuen Adam 
und die. neue Eva zur höchsten Liebesfeier vereinigt 

309 



zwischen den Armen eines Bächleins auf einem Laublager, 
über dem Gewölke von Funken, Leuchtkäfern, Glühwürm- 
chen, Milchstraßen und Stemenwelten in Garben auf- 
steigen, als wollten sie leere Weltenräume neu bevölkern. 

„Francesco war nicht Francesco mehr, er war als erster 
Mensch soeben vom göttlichen Odem geweckt, als alleini- 
ger Adam, alleiniger Herr des Gartens Eden. Es lebte kein 
zweiter Mann außer ihm in der Fülle der sündenlosen 
Schöpfung. Gestirne zitterten, hymnisch klingend, Glück- 
seligkeit . . . aber alles dieses hing doch von Eva ab . . . aller 
Gewürze Duft, ihre feinste Essenz hatte der Schöpfer in 
Haar, Haut und Fruchtfleisch ihres Körpers gelegt, aber 
ihre Form, ihr Stoff hatte nicht ihresgleichen. Ihre Form, 
ihr Stoff war Gottes Geheimnis. Die Form bewegte sich 
aus sich selbst und blieb gleich köstlich in Ruhe wie in 
Wandlung . . . Und was in dieser Schöpfung, in diesem 
wiedergewonnenen Paradiese das Köstlichste war, konnte 
man wohl aus der Nähe des Schöpfers herleiten. Weder 
hatte hier Gott sein Werk vollendet und allein gelassen 
noch sich darin zur Ruhe gelegt. Im Gegenteil war die 
schaffende Hand, der schaffende Geist, die schaffende 
Macht nicht abgezogen, sie blieben im Werke schöpferisch. 
Und jeder von allen Teilen und Gliedern des Paradieses 
blieb schöpferisch. Francesco-Adam, soeben erst aus der 
Werkstatt des Töpfers hervorgegangen, fühlte sich als ein 
rings umher Schaffender. Mit einer Entzückung, die außer- 
weltlich war, spürte und sah er Eva, die Tochter Gottes." 

Das Manuskript des Hirten bricht hier ab, und wir blei- 
ben der künstlerischen Weisheit des Dichters verpflichtet, 
der für die Schicksale des Paares in der Welt, für seine Ver- 
folgung, Verfemung und endliche Rettung in das wilde 

310 



Hirtenidyll der Pan geweihten Bergeinsamkeit nur Andeu- 
tungen übrigläßt. Der Herausgeber dieser Blätter scheidet 
von dem Anachoreten, der aber verheiratet sein soll, schei» 
det berauscht von der Höhenluft, benommen von seinem 
starken Wein und von der Wärme des Tages; absteigend 
läßt er eins von den Abenteuern hinter sich, die bald un- 
wirklich oder traumhaft werden. Aber der Dichter, die Ge- 
schichte schließend und wieder einrahmend, läßt uns noch 
einem gewaltigen Bilde begegnen, das ihr über alle roman- 
tische Schwärmerei hinaus in seiner plastischen Kraft eine 
letzte Festigung und Klassizität gibt. Unter die Men- 
schen zurückkehrend begegnet er dem Weibe, den Ton- 
krug auf dem Haupte, ein Kind an der Hand, begegnet er 
der hochgeschürzten, starken, sicheren, urwesenhaften 
Kanephore des Altertums, der syrischen Göttin, der Sün- 
derin, die von Gott abfiel, um sich ganz den Menschen zu 
schenken. Sie hat die vollen fast höhnisch gekräuselten 
Lippen, gegen die es keinen Widerspruch gibt, wie auch 
keinen Schutz, keine Waffe gegen die Ansprüche ihrer 
Schultern, ihres Nackens und dieser von Lebenshauchen 
beseligten und bewegten Brust. „Sie stieg aus der Tiefe 
der Welt empor und stieg an dem Staunenden vorbei, — 
und sie steigt und steigt in die Ewigkeit, als die, in deren 
gnadenlose Hände Himmel und Hölle überantwortet sind." 
Aus der heroischen Landschaft dieser monumentalen 
Novelle ging Gerhart Hauptmann mit der nächsten Er- 
zählung wieder in die Heimat, aus dem heidnischen Süden 
kehrte er nordwärts unter die Christenmenschen zurück. 
Ist der „Ketzer von Soana" noch irgendwie vom griechi- 
schen Frühling erweckt worden, der ihm die Fortdauer 
antiken Lebens in der Natur und der Natur bis auf den 

311 



panischen Schrecken versicherte, so fand er den Frühling 
jetzt in der eigenen Jugend. Eine alte und treu verwahrte 
Liebesgeschichte drang schon lange auf ihre Gestaltung; 
ursprünglich als Novelle geplant, nannte sich „ A n n a" nun 
ein ländliches Liebesgedicht und wurde in Hexametern 
geschrieben (1921). Hauptmann hat es unter den Schütz 
Virgils gestellt, aber des friedliebenden Sängers der „Bu- 
colica", der den wieder trächtigen Acker, den wieder 
grünenden Wald und das schönste Jahr pries. Das in antiker 
Form besungene Land ist aber Schlesien, und sein Sohn 
empfing die Weihe von der Nymphe des Salzbrunnischen 
oder, wie es hier heißt des Salzbornischen Brunnquells; — 
er war eins mit der Flut des Kastalischen Quells des Par- 
nassos. Wir wissen aus Hauptmanns Lebensgeschichte, wie 
er noch ganz ungewiß gegen seine Berufung bei Onkel und 
Tante Schubert auf ihrer Besitzung im Striegauer Kreise 
als Stoppelhopser diente, wie er von dem pietistischen 
Paare, das sich später Vockerath nennt, bestimmt wurde, 
ihm den früh gestorbenen Sohn zu ersetzen; der ihn, 
den Unentschiedenen, den Langsamen, von der eigenen 
Jugend Bedrückten, schon im Leben verdunkelt hatte — 
durch die Fülle äußeren Reizes und innerer Gaben. Es ist 
die Geschichte von den Berufenen und von den Auserwähl- 
ten, die sich gewöhnlich erst am Ende aufklärt, und wir 
wissen auch, daß der junge Hauptmann in diesen Lehr- 
jahren trotz aller christlichen Liebe unter dem stummen 
Vorwurf von vier Augen gelitten hat: warum gerade er? 
warum nicht du? 

In dieser ländlichen Besitzung, die nun statt Lederose 
schöner Rosen heißt, ist der junge Gerhart, der nun nicht 
schöner Luz heißt, noch einmal eingekehrt; er. besü^t 

312 



Onkel und Tante „Schwarzkopp", jetzt aber ein anderer 
Kerl als der zweifelhafte Stoppelhopser, ein angehender 
Dichter mit dem kühnen Kalabreser über dem Saffian- 
gelock, das bis auf die Schulter herabfällt; und er hat auch 
schon das erste Manuskript, sein Hermannslied, seine Recht- 
fertigung, seine Unsterblichkeit in der Tasche. Die be- 
drückende Stromtid hat er abgeschüttelt nach der ernied- 
rigenden Schulzeit, die ihm das Rückgrat lädierte, die ihm 
die Wahrhaftigkeit und den Freimut nahm. „Welch unend- 
liches Glück", rief er aus, „ist die Freiheit des Geistes!" 
Nicht nur ein schlesischer, ein jungdeutscher Apollo klopft 
bei den biederen Landleuten an; auch ein Weiser, ein 
Tapferer, ein Lebenskenner in allen Lebenslagen läßt sich 
zu den einfachen Menschen herab, um seine Freiheit, wo 
er einmal Knecht war, nun doppelt zu schätzen, um mit 
der egoistischen Wehmut des Überlebenden, des Gerette- 
ten, ihren Schmerz und ihre Trauer mitzugenießen. Und 
nun kommt Anna, und nun — hebt den Liebesgesang, ihr 
Musen, den Liebesgesang an! 

Anna ist als Elevin in die Dachkammer ihres Vorgängers 
eingezogen, von einer herrnhutischen Familie da abgegeben 
worden, und eine feindselige, spannungsvolle Atmosphäre 
geht um sie her, als ob viel an ihr zu retten und noch mehr 
über sie zu schweigen wäre. Meisterhaft und nach dem 
besten ältesten Kunstwissen verteilt Hauptmann die 
schicksalhafte Begegnung. Luz sieht sie zuerst ganz als Bild 
wie eine Gudrun mit dem Korbe am Arm, die dem Ge- 
flügel sein Futter hinstreut. Von der zweiten Begegnung 
erfahren wir- überhaupt erst nachträglich aus einer nächt- 
lichen Unterredung Luzens mit iseinem .Schlaf genossen, 
dem merkwürdigen önkel Just, dem alten Säufer und 

313 



Zyniker, den Oberamtmanns das wievielte Mal schon zu 
seiner Rettung und Besserung in ihr christliches Haus ge- 
lagert haben. Und so geht es in kleinen unwillkürlichen 
Schritten weiter — Lessing hätte da für seinen Laokoon 
noch ein paar klassische Beispiele gefunden — bis zum ersten 
Alleinsein, bis zum Kuß auf die Stirn, bis zur ersten ge- 
meinsamen Träne und bis zu den Stelldicheins im Garten 
und Wald, die von einer wachsamen, heimlichen, boshaften 
Vorsehung immer unterbrochen oder vereitelt werden. 

Das Erlebnis ist von Luz, nicht von Anna aus gesehen, die 
wir selten für uns allein haben, so daß immer Geheimnis 
um sie bleibt. Was Luz aus dem Schweigen um sie erahnt, 
aus dem Geraune zusammensetzt und auch durch die 
Wände erlauscht, das letzte Wort von dem allen haben wir 
wohl schon vor ihm heraus. Anna ist wirklich nicht, wie sie 
sein sollte; ihre Schönheit hat schon einen Gymnasiasten 
das Leben gekostet, und mit ihrer Schönheit hat Onkel 
Just, der räudige Zyniker, der wieder Stellungslose und 
durch die Säuferliste Ausgezeichnete, nicht erfolglos ge- 
buhlt. Und dieser schöne Vampyr bleibt dennoch Gudrun, 
nicht nur für uns, sondern auch für Luz, den Lebenskenner 
in allen Lebenslagen. Der Dichter hat das Mädchen nicht 
auf einmal beschrieben — seine Kunst macht wirklich einen 
neuen Laokoon nötig — er nennt zuerst die märchenhaft 
schillernden die Opalaugen, dann setzt er das Naschen, das 
so spröde und rein im reinen Oval des Gesichts steht, und 
schließlich zieht er die Strenge des Mundes darunter, aber 
doch den Mund eines saugenden Kindes. Doch vor allem 
sind es die abgearbeiteten Hände, die Luz den Apollini- 
schen erschüttern, Heiligtümer und Wundmale aller Er- 
niedrigung. Gudrun hat sechs kleine Geschwister auf- 

314 



gefüttert; sie ist die gefährliche Schönheit, die Mißtrauen, 
Ablehnung, Vorwurf aller guten Christen wie von selbst 
auf sich zieht; sie ist die stolze, spröde, einsame Seele, mit 
aller Schmach buhlend, die ihr angetan werden soll. Luzens 
Liebe befiehlt ihr, daß sie rein sei, und der Weise, der 
Dichter Gerhart Hauptmann gibt seinem Schwärmen 
Recht aus einem tieferen Wissen, obgleich er die eigene 
Jugend mit ironischer Güte ganz außer sich selbst gestellt 
hat. Wer liebt, wird Schöpfer und Geschöpf zugleich, und 
es gibt in der ganzen Weltliteratur wohl kaum ein höheres 
Lied der Liebe, das diese Wiedergeburt, dieses Wiederauf- 
wachen, dieses Augenaufschlagen zu einer neuen jungen 
heiligen Welt vollständiger, ergreifender, brausender aus 
tiefen Urelementen gesungen hätte. — 

Anna, erbarme dich mein! Auf Erden nicht und nicht im Himmel 

warst du je so geliebt. Und bliebst du in ewiger Jugend 

und erlebtest das tausendjährige Reich Jesu Christi, 

nie mehr wirst du, kein zweites Mal, solche Liebe erwecken. 

Sprich ein Ja, wenn ich frage: du Heilige, darf ich dich lieben? 

Dieses Ja, dieses kleine Ja nur, es tilgt von der Erde 

alles Leid, allen Gram, alle Ängste und Nöte und Mühsal, 

und die goldene Zeit, die noch jeder vergeblich herbeirief, 

•ie ist da. Und ich sage noch mehr: dieses winzige Jawort 

tilgt, vernichtet mit einem Schlag die von Sünde verderbte 

Erde, zaubert hervor das verlorene Eden, auf daß wir, 

wie dereinst, uns darin und glückselig und sündlos ergötzen. 

Brot bist du mir und Wein, bist Luft mir, bist Sonne und alles. 
Sieh, ich bebe, ich bin eiskalt, und mir perlt auf der Stime 
etwas, was mir beinah wie Schweiß eines Sterbenden vorkommt. 
Rühr mich an, und ich bin gesund, ja, und lag ich im Sarge, 
tot, und sprächst du zu mir: Geliebter I und nur eine Träne 
tropfte brennend auf mich herunter, nicht würd ich mehr tot sein. 

Man ließe sich leicht hinreißen, das ganze Gedicht zu 
zitieren, an dem die Versfüße nicht immer gezählt und 

31S 



gewogen sind, das aber wegen seiner inneren Vollkommen- 
heit und tadellosen Bildung klassisch genannt werden muß, 
und das uns einen feinen Rausch läßt von dem echten Nek- 
tar der Unsterblichkeit. Unsere Liebenden werden wieder 
in Hexametern sprechen müssen und sie werden von einem 
Sechzigjährigen das Vertrauen zu der großen Passion 
wieder lernen und die Ehrfurcht vor Eros dem Allsieger in 
Streit. Das Herz hat keine Falten, sagt ein in seiner ent- 
zückenden Banalität so gültiges französisches Sprichwort. 
Aber wie hoch sich auch Luz verschwärmt, die Staatstreppe 
des Pathetischen ersteigt sein Dichter doch nicht, der im 
Gegenteil jeden Augenblick die Stufe vom Erhabenen zum 
Lächerlichen herunterzuspringen vermag, wie er sie ebenso 
sicher wieder herauffindet. Über die Liebe, die wir Deut- 
sche immer ein wenig allgemein und im Vertrauen auf ihren 
mystischen Nimbus hinnehmen, ist selten so substantiell 
gehandelt worden, und sie hat sich selten so rein und rund, 
so sehr als episches Geschehnis oder sagen wir ruhig als 
Heldengedicht dargestellt. Hauptmann bemüht die Psycho- 
logie nie für sich in lauernder Beobachtung, er holt die 
Seele nicht aus dem Leibe heraus, er läßt beide hübsch 
zusammen in ihrer sinnlich-übersinnlichen Undurchdring- 
lichkeit. Hauptmann kann nie als Gehirnmensch aus seinem 
warm zeugenden Klima, aus der lieblichen Vegetation 
seines Gemüts heraustreten, und mit der Natur hat er sich 
ja immer einverstanden gezeigt. Wie Luz erst durch Neu- 
gier zu Anna gezogen, durch Mitleid gekuppelt wird, wie 
er sich fühlt im ersten Bewußtsein seiner Manneskraft, 
wie er gleich einem Hirsch durch das Gutshaus röhrt, da- 
mit alle die bangen Christen merken, daß er furchtlos, voll 
hoffender Kraft und auch sonst ganz ein Mann war, — wie 

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der stürmische Frühling zum Sommer wird^ durch den 
liebeszornige Hummeln ihren Baß brummeln, durch den 
Finken geigen, Pirole schmettern, und wie dieses ungeheure 
Naturkonzert aus Tönen, Farben, Düften doch ein süßes 
Schweigen nicht ersticken kann, das fruchtbar und schläfrig 
im Licht liegt: das ist Kapital, wie der Sänger von „Her- 
mann und Dorothea", nun der vorletzte Homeride, zu 
sagen pflegte. 

Hebt, ihr sikelischen Musen, den Sang, den Liebesgesang 
an! Aber man soll diese vierundzwanzig Gesänge nicht 
etwa für ein einziges Liebesduett halten. Bukolica und 
Georgica! Die Musen singen auch die tägliche Arbeit des 
Landmanns, die unbarmherzige Fron, die ihm die Natur 
feindlich macht. Hauptmann kennt diese Kette zu gut, um 
ein Schäfergedicht damit zu bebändern, und seine Musen 
halten sich nicht einmal vor dem Jauchefaß die klassischen 
Nasen zu. Wir werden mit dem Gütchen Rosen befreundet, 
wir wohnen uns in Tantejuliens Zimmer ein, wo die fromme 
Christin für den Herrn Jesus sang, und .wo keines inbrünsti- 
gen Tones Helligkeit das graue Gespenst der Trauer um 
den Sohn zerreißen soll, den der Herr Jesus zu sich ge- 
nommen hat. Hinter diesem alten Pietistenpaare, das die 
Anna und den Onkel Just und überhaupt alle armen Seelen 
retten will, brummelt die ganze Herrnhutische Brüder- 
gemeinde und von ihr kommt endlich auch das Schicksal 
mit den breitwandelnden, den langschäftigen Männern, 
denen der Herr den Glauben so fest und die Kuh so fett 
macht. Und der Bruder Tobler, nachdem Vater und 
Mutter und Onkel imd Tante Nächte lang mit ihr ge- 
brummelt haben, wird dann Gudrun mit sich nehmen, 

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damit sie ihm das Bett warm halt und seinen sechs früh 
verwaisten Kindern die Nase putzt. So wie es ihm der 
Herr im Traume eingegeben hat. 

Hauptmanns Musen halten sich auch vor dem morali- 
schen Jauchefaß die klassischen Nasen nicht zu. Es ist ein 
besonderes Meisterstück, wie ihr Dichter den Onkel Just, 
den Säufer, den Zyniker, den Weiberkenner wachsam und 
tätig im Hintergrunde hält, wie er hinter dem Schauspiel 
der großen Passion mit groteskem Schattenhusch noch ein 
verwegenes Satyxspiel aufführt. Onkel Just, die Schande 
der Familie, an der bisher jedes Gebet und auch die Säufer- 
liste versagt hat, ist wieder einmal verschwunden. Onkel 
Oberamtmann und Neffe Luz suchen nach ihm in der 
Familienkutsche auf allen Landstraßen und in allen Wirts- 
häusern, bis die Pferde mitten auf der Straße vor irgend- 
einem Klumpen scheuen. „*s wird halt a Mensch sein", 
meint der erfahrene Kutscher. Und es ist auch ein Mensch 
oder wenigstens etwas Ähnliches. 

Schnarchend lag er, ein atmender Tod, in dem eignen Gespeie, 
überkrochen und rings umsummt von Dungkäfern und Fliegen. 
Mühsam lud man ihn auf, diesen einen der Sieger, 
den sich Eros gekrönt . . . 

So endet Luzens Liebe oder vielmehr so endet sie nicht; 
denn da der langschäftige Bruder Tobler die ihm verhan- 
delte Braut nach Gottes Willen mit sich führt, begreift 
Luz wohl, daß sie sich ihm versagt hat, weil sie ihn liebte. 
Warum Eros* Ratschlüsse als die eines Gottes besonders un- 
erforschlich sind, das wird er im Leben noch lernen. Aber 
er hat geliebt, er wird ein Liebender bleiben, er hat ein- 
mal mit Ehrfurcht, mit Reinheit die große Stunde der 
mystischen Weihung erwartet, und das Leben, das wir 

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vom Weibe zweimal empfangen, hat für ihn mit Anna 
angefangen. 

Hauptmanns Liebesgedicht ist naiv und nicht sentimen- 
talischy um nach Schiller zu unterscheiden. So sehr der Dich- 
ter in Anna Wendland verliebt ist, und er verführt uns alle 
mit, so jugendlich er mit Luz schwärmt und leidet, er 
hat ihm keine Tragödie gegeben, und er hat keinen neuen 
Werther zu seinem Grabe, nicht einmal zu dem seiner 
Illusionen geleitet. Das Leben hat sich ihm auf getan, und 
es wird ihm so tief, so groß, so fruchtbar werden, wie ein 
Erwachter es erfühlen und erfassen kann. Es braust nicht 
nur Mut durch dieses Gedicht, es lächelt auch Übermut 
hindurch eines Überlebenden, eines Geretteten, den sich 
die Götter nach allen Bänglichkeiten der Jugend statt eines 
Erwin doch schließlich auserwählt hatten. Und sie wußten 
warum, nicht zuletzt der Eros, der dem Apoll die goldene 
Leier stahl. Hundertmal hat ihm der Kuckuck gerufen, dem 
Gerhart oder dem Luz; es ist eine Lieblingserinnerung von 
Hauptmann, — und es schien nicht zuviel ihm. Auch ein 
großes Lachen geht durch das Buch, und Hauptmann han- 
delt so liebenswürdig wie künstlerisch weise, da er die 
anderen zuerst über ihn lachen läßt. 

Sag doch, Lieber, sprach heut Onkel Schwarzkopp über dem Schach- 
brett, 
als er eben die dritte Partie an den Neffen verloren, 
sag doch, bitte, wie stehst du denn eigentlich mit der Dichtkunst? 
Gut gelaunt kam die Frage heraus. Schwarzkopp liebte das Necken. 
Und es lachte der Onkel, es lachte der Neffe, es lachte 
selbst die Tante kurz auf, die am Stickrahmen saß. Es war Abend, 
Schlafenszeit, und es gaukelten rings um die brennende Lampe 
Falter, trunken vom Licht, das ihnen die Flügel verbrannte. 



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