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nr
PAULA CONRAD
der ersten Darstellerin des Hannele und der Frau Flamm
widme ich diese Schrift und wenn meine Frau mich
fragt, warum ihr, so antworte ich: „Denn du büst die
negste dortau." Paul Schienther
Letzte Aufnahme
GERHART HAUPTMANN
L e B e n u n cf W e r R e
von
PAUL gCHLENTHER
Neue Ausgabe
umgearbeitet und erweitert
von
ARTHUR ELOESSER
S. FISCHER/VERLAG/BERLIN
1922
.Z.8
Mit acht Abbildungen
Dritte veränderte und erweiterte Ausgabe
Achte bis dreizehnte Auflage
Alle Rechte,
insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten
Copyright 1922 by S. Fischer, Verlag, Berlin
GERHART HAUPTMANN
Leben und Werke
KINDHEIT. SCHULE. STROMTID
Am 15. November 1862 wurde im schlesischen Kurort
L Obersalzbrunn dem Hotelbesitzer Robert Hauptmann
von seiner Ehefrau Marie, geborenen Straehler, ein Sohn
geschenkt, der am Neujahrstage 1863 in der Taufe die Na-
men Gerhart Johann Robert erhielt. Herr Robert Haupt-
mann besaß in Obersalzbrunn als Erbstück der eigenen
Eltern den stattlichen Gasthof „Zur Preußischen Krone".
Er hatte eine der Töchter des Fürstlich Hessischen Brunnen-
inspektors Ferdinand Straehler geheiratet. So hielten ihn
doppelte Familienbande in dem ländlichen Badeort fest.
Bei seiner strengen Ordnungsliebe leitete er das Haus, das
er beträchtlich ausbaute, so sehr zur Zufriedenheit ver-
wöhntester Gäste, daß ihm die fürstliche Verwaltung eines
Tages auch die Pacht des Brunnenhofs und des Kurhauses
antrug. Nach einigen Jahren aber löste er aus eigenem
Willen dieses wenig ergiebige Pachtverhältnis auf und
begnügte sich mit seiner Preußischen Krone. Der Kur-
ort, dem er 1865 mit Mühe, Kosten und persönlichen
Opfern auch die Gasanstalt gründete, dessen Gemein-
wohl er hob und förderte, wurde nicht bloß vom deut-
schen, sondern noch mehr vom polnischen höchsten Adel
besucht.
Die Gäste, mochten sie hoher oder niedriger Geburt
«ein, fanden in ihren Wirten ehrenfeste, an Bildung des
Geistes und Herzens nie unter ihnen stehende Leute, die
rieh über Welt und Leben eine eigne Meinung gebildet
hatten und ohne Zudringlichkeit, aber auch ohne Unter-
würfigkeit, menr bewirtend als bedienend, im wohlgebau-
ten Hauswesen walteten.
Roberts Vater Karl Ehrenfried Hauptmann, der schle-
sische Weberssohn aus Herischdorf bei Warmbrunn, hatte
zwar in jungen Jahren selbst am Webstuhl gesessen und
die Not der Brüder, wenn nicht geteilt, so doch erlebt.
Aber nachdem er 1815 als Feldwebel aus den Befreiungs«
kriegen heimgekehrt war, hatte er das kärgliche Handwerk
verlassen und war in eine Gastwirtschaft eingetreten, wo
er viele Jahre als Oberkellner diente. Als sein Sohn heran-
wuchs, saß Karl Ehrenfried mit der tugendsamen Haus-
frau, einer Warmbrunnerin, schon unter größeren Ge-
schäftsverhältnissen zu Salzbrunn in der Preußischen Krone,
die er seit 1832 als Pächter, seit 1839 als Eigentümer besaB«
Als Robert die Tertia des Schweidnitzer Gymnasiums er-
reicht hatte, gab ihn der Alte nach Breslau in eine allge-
mein als musterhaft anerkannte Weinhandlung. Der Sohn
des wohlbegüterten Mannes mußte bei der Arbeit im
Keller heran wie der erste beste Küferjunge; aber er
lernte hier Fleiß und Zucht. Beides kam ihm zustatten,
als er Herr im eignen Hause ward, und eine liebe Gattin
ihm half.
Nicht weit von Salzbrunn, wo neben dem Gasthof zur
Preußischen Krone die Töchter des Brunnenwarts Straeh-
1er aufblühten, liegt Gnadenfrei und Herrnhut. Seit langer
Zeit hatte sich hier das Luthertum gegen die eng benach-
barte, unablässig werbende katholische Kirche stark und
streng zu behaupten. In diesem Kampf faßte der Glaube
ans Evangelium tiefer Wurzel als anderwärts. Der Ver-
kehr mit Gott, der Gedanke an ein Leben nach dem Tode
ward zum täglichen, nicht bloß sonntäglichen Bedürfnis
'J
der Seelen. Gerade das nahe Beispiel katholischer Lebens-
führung lehrte, daß der Glaube an ein Jenseits den dies«
seitigen Freuden nicht widerstrebe. Auf dieser ausglei-
chenden Erkenntnis hatte einst die Pietät des philosophi-
sehen Schusters Jakob Böhme zu Görlitz beruht. Sie war
als Fruchtsaat durch die Gärten der pietistischen Gemein-
den Schlesiens gegangen und hatte auch in Salzbrunner
Familien eine Anschauung gedeihen lassen, bei der sich
Weltkind und Prophet vertrugen.
In den Straehlers mußte diese Lebensanschauung beson-
ders fest fußen; denn einerseits stammten sie aus den Nie-
derungen des Landvolkes, das von Kanzel und Altar mehr
oder minder abhängig bleibt; andrerseits standen ihre äl-
teren Generationen im Untertanenverhältnis zum erbein-
gesessenen Grafengeschlecht. Auch die Familie Straehler,
aus der Herr Robert Hauptmann seine Gefährtin holte,
hat sich von einer Generation zur andern im Grafenschloß
aus geringem Stande langsam emporgehoben. Aus Dienern
des hohen Adels wurden Vertraute und Beamte. Der Groß-
vater Straehler fuhr als Respektsperson in der eigenen
Kutsche und lebte durchaus im Stil eines preußischen Ge-
heimrats. Nach norddeutschen Begriffen stieg die Tochter
wohl eine Stufe herunter, wenn sie die Frau eines noch so
angesehenen Gastwirts wurde, und es mag sie einige Über-
windung gekostet haben, bis sie die Beschäftigung ihres
Mannes als eine endgültige respektierte. Der tatkräftige,
etwas verschlossene Eheherr, den man kaum je lachen sah,
ließ sich auch durch seine temperamentvolle Frau nicht
bestimmen, und so wird es auch hier nicht ohne die häus-
lichen Reibungen abgegangen sein, die einer rechten Ehe
endlich den Schliff geben.
X*
Ak jüngstes unter vier Geschwistern wuchs Gerhart
heran. Von der Schwester Johanna und den älteren Brü-
dern unterschied ihn, freilich nur vor Fremden, ein in sich
gekehrtes Wesen. Wenig bedacht auf seinen Anzug, aber
mit natürlicher Anmut, trat er, ein kleiner, schlanker, blon-
der Prinz, unter die Dorf Jugend. Wenn es ans Spielen ging,
so war er mit Leidenschaft dabei; unter den wilden Jungen
ein wildester. Mit den Kameraden, besonders in der engern
Familie, konnte er von ausgelassenster Laune sein. Als er
sieben Jahre alt war, begeisterte ihn die Freude, seine Ge-
schwister nach längerer Trennung wiederzusehen, zu einem
Ballettanz, den er aus eigenster Erfindung wie ein Wirbel-
wind vollführte, und den er dann noch öfter zum besten
geben mußte.
^ Wie die älteren Geschwister, so kam auch Gerhart in die
Obersalzbrunner Dorfschule. Der Lehrer hieß, wie der
Lehrer des Ibsenschen Johannes Rosmer, Brendel. Aber
ein Ulrik Brendel war dieser Salzbrunner Brendel nicht;
er war ein Schulmeister nach dem Lineal. Wohl führte er
die Jungen durch Flur und Wald und Feld, über Berg und
Tal; aber bei diesen Spaziergängen wies er sie nicht nur
auf den Sang der Vögel hin, auf Blumen und Saaten, auf
Käfer und Schmetterlinge, sondern zum Entsetzen des
armen Gerhart paukte er ihnen auch in Gottes freier Natur
die Versregeln der lateinischen Grammatik ein. Für diese
Art von Poesie hatte Gerhart Hauptmann nie Verständnis.
Von jeher war er das, was man einen schlechten Schüler
zu nennen pflegt. Mehr als Lexikon und Grammatik reizte
ihn der schöne Glasschrein seines Vaters, der mit Reihen
goldbedruckter Bände den Kindern ein Heiligtum des Hau-
ses blieb. Dem scheinbar so nüchternen Manne dankte
Gerhart sein erstes Verhältnis zur Poesie. Als er eines Nach-
mittags verzweifelt und tränenüberströmt zu Hause blei-
ben mußte, weil Mutter und Geschwister ohne ihn einen
Ausflug machten, hatte der Vater den ausgezeichneten päd-
agogischen Einfall, mit dem Knaben Schillers „Taucher**
zu lesen und ihn dann mit dem Gedicht allein zu lassen, —
als einen Glücklichen.
Wie wenig ihn das Lernen in der Schule lockte, erwies
sich, als er Ostern 74 zu seinen Brüdern nach Breslau in die
Pension geschickt wurde, um mit ihnen dort die städtische
Realschule erster Ordnung am Zwinger zu besuchen. Der
kleine, freie Prinz aus dem Quellenland fühlte sich hier
wirklich wie im Zwinger. Er verstand die Stadt und das
städtische Leben nicht. Er verstand die Lehrer nicht, die
Lehrer verstanden ihn nicht und taten ihm darum Gewalt
an. Die Mitschüler hätten seine Träumereien verspot-
tet, wenn sie bei deutschen Aufsätzen nicht seine Hilfe
brauchten; denn in diesem Fach war er Oberster. Alles
andere warf ihn auf die Lotterbank. Auch in den Pen-
sionaten, wo Vater Hauptmann seine Jungen unterge-
bracht hatte, ward Gerhart nicht heimisch. Bruder Carl,
dessen wissenschaftlicher Geist zeitig erwacht war, der
früher als andere hinter dem schulscheuen Wesen des Klei-
nen tiefe Anlagen erkannt hatte, sah, wie wenig Gerharts
Geist und Gemüt im Zwinger gediehen. Selbst noch jung
und unerfahren, wußte er nicht, wie dieses Knabenschick-
sal zu wenden sei. Aber während er sann und sorgte,
wandte sich das Schicksal von selbst.
Daheim in Obersalzbrunn war es mit den Jahren bergab
gegangen. Die Zuspitzung nationaler Gegensätze, die zu-
nehmende Bequemlichkeit und Billigkeit des Reisens wies
dier vorteilhaftesten Badekundschaft neue Wege und Ziele.
Salzbrunn verlor seine leistungsfähigsten Sommergäste.
Das Kurpublikum verminderte sich an Zahl, noch mehr
an Zahlungskraft. Statt der polnischen Magnaten kamen
neben armen deutschen Adligen sparsame, um den Pfennig
feilschende polnische Handelsleute. Die Pekesche ver-
drängte der Kaftan. Man wollte nicht mehr gut, sondern
billig leben. Das Haus war nicht mehr zu halten; wohl
stand es über einem kostbaren Schatz, aber der blieb un-
gehoben. Die heilkräftige Kronenquelle, die den spätem
Besitzer des weitläufigen Grundstücks zum Millionär ge-
macht hat, für die jetzt durch ganz Europa die Reklame
dringt, die Kronenqu^lle, die schon für Hauptmanns zum
Quell des Wohlstandes hätte werden können, war damals
eine Pferdetränke. Später läßt Gerhart seinen Fuhrmann
Henschel zu Siebenhaar sagen: „Unsere Quelle ist die
beste." Das blieb damals noch unverwertet.
Während die Gäste von einem Umschwung der Verhält-
nisse in der Preußischen Krone nichts ahnen konnten, und
kaum die Ortsinsassen etwas merkten, sah sich Vater Haupt-
mann genötigt, sein schönes, treu gehegtes Erbgut, das
vom Gericht damals auf 250 000 Mark geschätzt wurde, in
die Hände der Hypothekengläubiger abzugeben. Nur mit
einem kargen Notgroschen, aber mit wohlbehüteter Bür-
ger- und Kaufmannsehre zog er 1877 vom Hofe weg. Wer
jetzt in diesen Hof tritt, findet im großen Festsaale zwi-
schen zwei deutschen Kaisern das Bildnis Gerhart Haupt-
manns, und an der Einfahrt die Kutscherkneipe heißt „Zum
Fuhrmann Henschel". Wie aber würde Vater Hauptmann
erst staunen, wenn er nicht weit von seiner alten Preußi-
schen Krone, nur durch den Kurgarten getrennt, jetzt
dnen allermodemstcn Hotelpalast sähe, der an Größe und
Glanz in Berlin seinesgleichen sucht. Die Herzogin von
Pleß ließ ihn bauen, um Bad Salzbrunn als Sommer- und
Winterfrische ipvieder in Schwung zu bringen.
Durch Vermittlung des Realschuldirektors Kletke in
Breslau erhielt Vater Hauptmann in dem damals neu ein-
gerichteten Bahnhof, der jetzt Niedersalzbrunn heißt, die
Gastwirtschaft zur Pacht. Aber der Erwerb an dieser klei-
nen Stelle war gering, und es galt, sich einzuschränken. Am
wenigsten freilich sollte nach des Vaters Willen die standes-
gemäße Erziehung der beiden jüngeren Söhne darunter
leiden. Der älteste, Georg, hatte die Realschule mit dem
Zeugnis der Reife verlassen, hatte längere Zeit daheim dem
Vater in kaufmännischen Geschäften zur Seite gestanden
und war nun zur Zeit der Krisis in einem großen Hambur-
ger Handelshause tätig. Der mittlere der Brüder, Carl,
sollte seine wissenschaftUchen Fähigkeiten noch weiter auf
der Schule ausbilden, um sich durch akademisches Studium
forthelfen zu können. Das Angstkind blieb Gerhart, der
Jüngste. Da er auf der Schule nicht mitkam, so ward er,
noch lange bevor er das Recht zum einjährigen Militär-
dienst hätte erwerben können, aus der Schule genommen.
Das Abgangszeugnis, das Direktor Meffert und der Ordi-
narius der Quarta B, Dittrich, am 29. April 1878 unter-
zeichneten, nennt Betragen gut, Fleiß genügend, macht
aber durch die Aufmerksamkeit einen dicken verschwie-
genen Strich. Unter den Leistungen fehlt bei Religion die
Zensur. Gut ist nur das Zeichnen. Am wenigsten befrie-
digt das Rechnen. Alle übrigen Fächer halten sich auf der
Durchschnittshöhe des Genügenden. Auch Naturgeschichte
und Deutsch, die man als Lieblingsfächer Gerharts vor-
aussetzen darf, erreichen keinen höhern Grad. Was sollte
aus dem Jungen werden ? Unter seinen freien Ausarbei-
tungen hatten gute Urteile gestanden. In seinen Heften
standen lyrische Gedichte und Märchen, die den Einfluß
Andersens verrieten. Bruder Carl las diese stillen Sünden,
die von der goldnen Mittelstraße der richtigen Schularbeit
so weit abwichen. Der Beruf des Kleinen zum Dichter
dämmerte ihm auf. Aber wie sollte ein fünfzehnjähriger
Bursch, bei dem die Schulweisheiten so locker saßen, von
Unterquarta aus deutscher Schriftsteller werden? Auf
diese Zweifelsfrage wußte auch der ratende, fördernde
Bruder keine Antwort. So kam Gerhart zu Verwandten
aufs Land.
Auch die Eltern auf ihrer kleinen Bahnstation, die da-
mals noch den ominösen Namen Sorgau führte, mögen
nicht ohne Zweifel in die Zukunft des Knaben geblickt
haben, der so vorzeitig aus dem regelrechten Bildungs- und
Erziehungsgange deutscher Jugend verschlagen wurde.
Aber der Vater pflegte in schwierigen Lebenslagen um so
zuversichtlicher und tatkräftiger zu werden; es sollte ihm
überdies eine pekuniäre Last abgenommen werden, und
— das wußten die Eltern — ihr Kind kam in liebevolle
Hände. Der Einzige jedoch, der dieses Wechsels ganz froh
wurde, war Gerhart selbst. Nun lagen Schulbank und
Schulbücher hinter ihm, und vor ihm lag das offene
Land. Hinter ihm Staub und Stubendunst, vor ihm
Luft, Licht, Leben. Hinter ihm die Zucht, vor ihm die
Freiheit. So wenigstens hoffte er, als er in seine „Strom-
tid" eintrat.
Dem treuen Vater, der ihn hat geleitet,
Gibt er die herben Grüße in die Hand.
8
Er kam in den Striegauer Kreis, wo sein Oheim Gustav
Schubert zwei Landgüter bewirtschaftete, das Freiherrn
V. Tschammer abgepachtete Rittergut Lohnig und eine
eigene bäuerliche Besitzung in Lederose. Gustav Schubert
war, ebenso wie Robert Hauptmann, mit einer von den
Töchtern des Obersalzbrunner Kurinspektors Straehler
verheiratet. Gustav und Julie Schubert hatten einen ein-
zigen Sohn, ihren Georg, in strenger Gottesfurcht heran-
gezogen, und der Segen des Himmels schien an diesem
begabten Kinde das fromme Tun der Eltern, ihr Gebet
und ihre Arbeit, zu lohnen. Georg war der Stolz der enge-
ren und weitern Familie. Man erwartete Großes von ihm.
Da plötzlich bewies Gott seinen Getreuesten, daß alles
Irdische eitel sei. Eines Tages standen die Eltern am Sarg
ihrer Freude. Zugleich standen sie ratlos vor der Uner-
forschlichkeit des götthchen Willens. Ihr gläubiges Herz
hielt fest zum Himmel, darin sie ihr Kind wußten. Aber
ihr Haus hienieden war verödet, und so suchten sie für
den seligen Knaben eine Art Statthalter auf Erden. Das
sollte kein anderer sein als Georgs junger Vetter und Ueb-
ster Freund Gerhart Hauptmanh, der nun in eine streng
religiöse Geistesrichtung kam.
In den Jahren der Entwicklung drückte diese Geistes-
richtung dem lebhaften Knabengemüt, welches ohnehin
zur transzendenten Spekulation neigte, einen so starken
Stempel auf, daß Gerhart Hauptmann seither kaum was
Größres gedichtet hat, ohne die Macht dieses Gepräges
irgendwie und irgendwo spüren zu lassen. Vielleicht hat
er in „Emanuel Quint", wo er selbst als Kurt Simon und
seine Tante Julie als die „temperamentvolle Christin" —
Frau Oberamtmann Julie Scheibler — erscheint, über diese
letzten Dinge sein Letztes gesagt. Überall ist zu fühlen,
wie tief und auch wie ungestüm Glaubenssachen den Geist
und das Herz des Jünglings aufgeregt haben. Schon im
Elternhause war Gott mehr gewesen als ein guter Mann.
Aber herrnhutische Traktätchen an Berliner Gepäckträger,
wie der alte Vockerat, hätte Herr Robert Hauptmann nim-
mermehr verteilt. Vom Vater hatten die Kinder nie reli-
giöse Äußerungen gehört, sondern nur in ganz entschei-
denden Augenblicken des Lebens sein stilles Gottvertrauen
bemerkt. Seinem Schwager Gustav Schubert, dem Pflege-
vater Gerharts, dem Urbilde des alten Vockerat, wäre jene
Handlungsweise eher zuzutrauen gewesen, obwohl seinem
kindlich ringenden Gemüt, das alle Welt beglücken wollte,
seiner „natürlichen Milde" jeder Zug des Eiferers fehlte;
und seine Frau, die herzensgute und herzensfrische Tante
JuUe, der Liebling der ganzen Verwandtschaft, sorgte in
ihrer resoluten und werktätigen Art dafür, daß dem christ-
lichen Geist ihres Hauses Zelotisches und Zionswächteri-
sches fernblieb. „Es war," heißt es von Julie Scheibler,
„in ihrer Natur neben allerlei ideellen Rumoren eine nicht
gerade derbe, aber gesunde Sinnlichkeit." Wie in Herrn-
hut selbst, an das die Bauerntochter Helene aus „Vor
Sonnenaufgang" so liebliche Erinnerungen bewahrt, lag
auch in Lohnig und Lederose das Hauptgewicht des gott-
gefälligen Lebens auf der Gemütsseite.
Das Schubertsche Haus war eine weltliche Domäne
herrnhutischen Geistes. Hier erholten sich an schönen
Sonntagsnachmittagen in traulicher Geselligkeit, wohl auch
beim Schachbrett, das Onkel Schuberts irdische Leiden-
schaft war, die Dorfpastoren der Umgegend von ihrer
Morgenpredigt, der die Hausherrschaft zuvor andächtig
IG
gelauscht hatte. Und wie sich fromme, reine Christenherzen
immer am höchsten, am heiligsten, am freudigsten auf den
Schwingen der Musik über die Zeitlichkeit erheben, so war
auch für die schlanke Tante Julie und deren älteste Schwe-
ster, die Respektsperson der Familie, für das kluge Fräu-
lein Auguste Straehler, die ihren verwachsenen Körper am
liebsten in Herrnhuter Tracht kleidete, die Musik der herr-
lichste Lebensgenuß. Beide waren tief musikalisch begabt
und gebildet. Frau Juliens Stimme „war von Schmerz und
Inbrunst geheiligt, und niemals, so weit Emanuel Quint
sich erinnern konnte, war der verehrte Name des Heilands,
der Name Jesus, wie hier, auf so vollen, reinen und zärt-
lichen Liebeswellen zu seinem Ohr herabgeschwebt". So
schön wie Tante Julie sang, so wunderschön spielte Tante
Auguste auf dem Fortepiano. Neben den kirchlichen Cho-
rälen, wie „O Jesus, süßes Licht", durchschwirrten dann
alte liebe Lieder des Volkes das Haus. Neben Bach und
Haendel fehlten auch weltlichere Meister nicht. Allgemei-
ner Liebling war Beethoven. Der junge Gerhart schwelgte
in diesen erhabenen lüängen, die ein Zauber der Unschuld
umgab, und in denen sich eine freudige Klarheit der musi-
zierenden Frauen aussprach.
Aber nach dem Tode des kleinen Georg wurde das Haus
stiller und stiller, und auf Gerhart lastete die unmögliche
Mission, daß er den Eltern den entrissenen Liebling wenig-
stens auf Erden ersetzen sollte. Wie Kurt Simon mag er
über Tantens Evangelienbuch „in heimlichen Stunden oft
und mit Inbrunst" gebetet haben, ohne daß „sich die Wirr-
nis seines Innern durch seine Gebete in Klarheit gelöst
hatte". Die Selbstqual und Sündenangst seiner verschlos-
senen Seele ergoß sich in Verse. „Es weinte in diesem
II
Gedicht von Selbstanklage, von Abkehr und Überwindung
der Welt, die dem heißen, in Liebe überwallenden Herzen
nur Kalte und Gleichgültigkeit entgegenbrachte." Ger-
hart hat seine Tante und seinen Onkel herzlich verehrt,
und er bewahrt sie im dankbaren Gemüt. Aber heimisch
ist er auf ihrer Scholle nicht geworden, und ein vollkom^-
mener Landwirt ward er in Lederose so wenig wie ein
vollkommener Christ. Er nahm von diesen guten Menschen
mit sich den läuternden Kampf um Gott, darin seine Seele
ehrlich und glühend rang. Er nahm mit sich Tante Juliens
Lieder. Und das Werk des Landmanns, der zweckhafte
Verkehr des Menschen mit der Natur, war ihm in seinem
ungeheuren Ernst nahegetreten. Aber alles führte doch
nicht zu den Zwecken seines Daseins. Das empfand er.
Darum ward er auch des Landwirtberufes nicht froh. Und
darum ging er neuen Wegen und Zielen nach. Als er nach
Jahren wieder bei Tante Julie zum Besuch war, schrieb
er ihr ins Stammbuch:
Ich kam vom Pflug der Erde
Zum Flug ins weite All —
Und vom Gebrüll der Herde
Zum Sang der Nachtigall.
Die Welt hat manche Straße,
Und jede gilt mir gleich;
Ob ich ins Erdreich fasse,
Ob ins Gedankenreich.
£s wiegt in gleicher Schwere
Auf Erden jedes Glied. —
Ihr gebt mir Eure Ähre,
Ich gebe Euch mein Lied.
II
KUNSTSCHÜLER IN BRESLAU. STUDENT IN
JENA. BILDHAUER IN ROM. DIE JUNGFERN
VOM BISCHOFSBERG. DICHTER UND EHE-
MANN IN ERKNER
Einstweilen stand das Lied noch nicht im Sterne seines
Lebens. Zunächst winkte ihm eine andere Kunst. Ge-
legentlich hatten sich Anlagen zum Bildhauer gezeigt. Wie
sein ältester Bruder, der temperamentvolle, leichtlebige,
in Wort und Witz überaus bewegliche Georg beim Kari-
katurenzeichnen ein gewisses Genie dilettantisch entfal-
tete, so hatte auch Gerhart in Lehm oder Wachs an aller-
hand possierlichen Figürchen nicht unglücklich geknetet
und mit umgekehrten Stahlfedern in grobe Kreidestücke
hineingemeißelt. Die zufällige Bekanntschaft seines Vaters
mit einem Maler und Bildhauer brachte ihn auf den Ge-
danken, diese spielerische Fertigkeit systematisch auszu-
bilden. Er erreichte das um so eher, als auch der künst-
lerisch wohlerfahrene Vater an Gerharts kleinen Arbeiten
sein stilles Vergnügen fand und sie guten Freunden mit
einigem Stolz zeigte. So kam Gerhart wieder nach Breslau
zurück. Diesmal nicht auf die Realschule am Zwinger, son-
dern auf die dortige Königliche Kunstschule. Er trat am
6. Oktober 1880 in die Vorbereitungsklasse ein, ließ sich
eine Künstlermähne wachsen und belegte beim Direktor
der Anstalt, Baurat Lüdecke, omamentales Zeichnen, bei
Alwin Schultz Kunstgeschichte, beim Bildhauer Michaelis
Modellieren. Gegen die Schulregeln dieses Vorbereitungs-
13
Unterrichts lehnte sich der herangewachsene Jüngling in-
nerlich bald auf.
Ein Volk von Krämern schleift des Marmors Decken,
Ein Volk von Bäckern bäckt den braunen Ton,
Statt heU'ger Priester Lumpen nur und Gecken,
Statt stiller Wahrheit Lug und Leid und Hohn.
Schon am 26. Oktober zog er sich wegen „seines Beneh-
mens" eine direktoriale Verwarnung zu. Mit dem Model-
lierlehrer, bei dem er am meisten zu tun hatte, kam es zum
Bruch. Desto mehr Verständnis und Ermutigung fand er
im Bildhaueratelier Robert Haertels, den er später in
freundschaftliche Beziehung zu „Michael Kramer" setzte.
Haertel erteilte ihm Privatunterricht, als Gerhart Anfang
1881 zusammen mit einem Kameraden namens Urban elf
Wochen lang von der Kunstschule ausgeschlossen war, weil
sie laut Konferenzbeschluß vom 5. Januar „hinsichtlich
ihres Betragens und ganzen Wesens, bei mangelhaftem
Stundenbesuch, geringen Fortschritten und bösem Beispiel
für die andern Schüler sich nicht mehr für die Anstalt eig-
neten." Auf Haertels Betreiben aber wurde der störrische
Scholar bereits am 23. März wieder zu Gnaden angenom-
men, ohne daß der Vater von dem ganzen Zwischenfall
erfuhr. Bei Haertel blieb Gerhart noch ein Jahr, bis er
am 15. April 1882 die Anstalt „wegen Krankheit" für im-
mer verließ. Die Lehrer hielten ihn für schwindsüchtig.
Da der sogenannte Künstlerparagraph der Wehrordnung
Akademikern ein Recht zum einjährigen Militärdienst gibt,
so setzte es Haertel durch, daß sein Lieblingsschüler das
Zeugnis für den Dienst als Einjährig-Freiwilliger erhielt,
Haertel hatte aber nicht bloß sein bildnerisches Schaffen
gefördert und eine in rotem Wachs modellierte, durch die
14
Wolken dahinjagende Gottheit anerkannt, sondern er ließ
sich auch Gerharts Dichtungen vorlesen, die ebenso wie
jenes Bildwerk der germanischen Sage entstammten. Vom
Dänen Andersen war der junge Dichter zum Schweden
Tegnir gelangt, aus dessen Frithjofsage er ein Drama
„Ingeborg" schuf. Wie Wilhelm Jordan, den er unter
starkem Eindruck las, wie Felix Dahn, der Gerharts und
Carls Freunde zu einem pangermanischen Geheimbund
etwas unbestimmten Zieles begeistert hatte, wollt er es
„wagen, zu wandeln verlassene Wege zur grauen Vorzeit
unseres Volkes". Er plante ein Hermannsepos in zwölf Ge-
sängen, von denen anderthalb im Stile Jordans fertig wur-
den. Derselbe Stoff sollte auch zum Gegenstand eines
Dramas werden. Die Tragödie sollte heißen : „Germanen
und Römer". Der Held war wiederum Hermann der Che-
rusker. Neben ihm sollte ein alter Sänger Sigwin hervor-
treten, dessen Tochter von einem Römer verführt und dann
verlassen wird. Der Dichter ließ seinen Sigwin in dem
Augenblicke sterben, da man ihm die Botschaft vom Siege
der Germanen über die Römer bringt, und diesen Augen-
blick stellte der Dichter später auch bildnerisch in einer
kleinen Statuette Sigwins dar.
Sein Kunstlehrer merkte, daß diese Jünglingsseele ein
andres Land suchte. Bruder Carl hatte inzwischen seine
Reifeprüfung bestanden und studierte in Jena bei Ernst
Haeckel Naturwissenschaften. Mit mannigfaltiger Gewalt
zog es die Brüder damals noch zueinander. Was Gerhart
auf der Schule versäumt hatte, sollte und wollte er im freien
Getriebe der Universität nachholen. Haertel und der gute
Zechbruder Professor James Marshall, das Urbild des Col-
legen Crampton, hatten Beziehungen zum Weimarer Hof.
15
Sie erreichten es, daß auf Veranlassung des Großherzogs
Karl Alexander der Breslauer Kunstschüler Ostern 1882
an der Jenaischen Universität als Studiosus historiae imma-
trikuliert wurde. Er belegte nach junger Füchse Art für
den Winter eine Überfülle der unterschiedlichsten Col-
legia, nur keine historischen. Er belegte nicht bloß bei
Rudolf Eucken und Otto Liebmann Philosophisches, son-
dern auch bei Haeckel Zoologie und bei Chr. Ernst Stahl
Botanik. Am meisten aber interessierte ihn eine Vorlesung
über Pompeji von Professor Gaedechens. Im nächsten
Sommer war sein Wissensdurst wesentlich vermindert. Er
belegte nur noch die Vorlesungen seines Tischgenossen
Arthur BoehtUngk über das Revolutionszeitalter und über
Goethe. Lieber jedoch ging er zu einem Steinmetzen, griff
eine Hand voll Ton auf und formte zum Vergnügen der
Freunde allerhand Sächelchen draus: einige Köpfe und
auch jenen sterbenden Sänger. Diese Art der körperlichen
Gestaltung schärfte seinen dichterischen Blick für das Cha-
rakteristische und Individuelle der Menschen. Die eine
Kunstübung kam der andern zugute.
In Jena lernte er auch den Segen junger brüderlicher
Kameradschaft näher kennen. Schon auf der Breslauer
Kunstschule war er mit dem spätem Landschaftsmaler
Hugo Ernst Schmidt, dem Urbilde Gabriel Schillings, und
mit dem jetzigen Rassenhygieniker Alfred Ploetz, der da-
mals in Breslau Nationalökonomie studierte, innig befreun-
det gewesen. Aber ein rechtes Studentenleben konnte sich
in Breslau nicht entfalten. Das fand er erst in Jena im
Akademisch-naturwissenschaftlichen Verein bei seinem
Bruder Carl und dessen Kameraden. Es war ein Kreis
junger Leute, die, vorwiegend mit reaHstischer Bildung
16
tQ^erastet, zur Unirersitat gingen und in den beiden
Mächten der modernen Entwicklung, den Naturwissen-
schaften und der Sozialpolitik, das Heil der Welt suchten.
Darwin war der Heros dieses Bundes. Naturwissenschaft-
liehe und philosophische Ideen wurden bei den taglichen
Studien und den abendlichen meist sehr leidenschaftlichen
Debatten am Biertisch ausgetauscht. Gerhart Hauptmann,
der Jüngste, der Ungelehrteste, der Poet in diesem ELreise,
hielt wacker mit im Kneipen wie im Streiten. Seine Freunde
wissen nichts ron jener stillen Schweigerart, die in frem-
der förmlicher Gesellschaft bei ihm zu jener Zeit auffiel,
als er anfing berühmt zu werden, die sich aber dann
wieder verloren hat. Am engsten schloß er sich in Jena
einem jungen, musikalisch fein empfindenden, wunder-
Y<J1 Klavier spielenden Wagnerianer, Max Müller, an.
Von Müller und Gerhart ging das Künstlerische jenes
Elreises aus. So oft Kunstfragen oder auch Fragen der
Menschlichkeit aufgeworfen wurden, vermochte Gerhart
seinen Standpunkt ebenso lustig wie hartnäckig, ebenso
selbstbewußt wie beredt zu verteidigen. Von Inhalt und
Gangart dieser Debatten bekommt einen Begriff, wer in
einem der Breslauer Schlußkapitel des Quintromans den
„blauäugigen, blonden verstandestüchtigen" Arzt Hülse-
busch (Alfred Ploetz) diskutieren hört.
Allmählich trieb es ihn aber von den Freunden weg in
Im Frühling 1883 besuchte er seinen Bruder
der eine von den fünf Töchtern des Großkaufherm
geheiratet und in Bergedorf bei Hamburg
jungen I nd ein Geschäft begründet
ir Gerhart auf einem Kauf-
te Küste entlang ins Mittel-
er
ländische Meer. Er fuhr denselben Wasserweg, den einst
Byrons Harold gepilgert war, und wie das Buch von Harolds
Pilgerfahrt während dieser Reise oft in seiner Hand lag,
60 lebten in seiner Seele Harolds Schmerzen, Den ersten
Ungern Aufenthalt nahm er in Malaga, wo teils lockend,
teils widrig die Sünde auf ihn zutrat, und ihn im Anblick
entweihter Frauenreize der Menschheit ganzer Jammer
anfaßte. Ihn überkamen Empfindungen des Grauens und
des Grams, Empfindungen aber auch, wie sie Jesus Chri-
stus jener Sünderin darbrachte, gegen die andre den Stein
hoben. In Marseille verließ er das Schiff, um die Riviera
entlang nach Genua zu fahren. Hier traf er seinen Bruder
Carl, der inzwischen über die Alpen gewandert war. Beide
reisten selbander nach Neapel. Sechs Wochen verlebten
sie auf Capri, von der Schönheit dieser Insel nicht mehr
bezaubert als von der realistischen Poesie dieses Volks-
lebens, Tom Reize dieser Volksgestalten. Abends pflegte
sich um die beiden hchtblonden deutschen Jünglinge ein
kleines Lumpengesindel schwarzgeäugt er Lausebübchen zu
sammeln. Die junge italienische Volksseele klang und sang.
Als endlich die Brüder Abschied nahmen, vergoß Jung-
Capri bitterliche Tränen.
Aber Gerhart Hauptmann war schon damals nicht der
Mann, sich wie Gottfiied Kellers Schöngeist an den ro-
mantischen Fetzen der Armut in ästhetischer Kaltherzig-
keit zu vergnügen. Wie in Malaga der Anblick gemeiner
Unzucht, so ergriff ihn in Neapel das soziale Elend mit
herbem Weh. Klagend ruft er aus: „Schafft mir Neapel
aus Neapels Welt!"
Im Juni kehrte Carl zu einer militärischen Übung z
rück. Gerhart blieb zunäc in :mi. rauiro iha bald die
i8
Malaria ebenfalls nach Hause hetzte. Unterwegs hatte ihn
das Heimweh oft übermannt. Zumal wenn er in Gesell-
schaft kalter, fader, vernünftlerischer Dutzendmenschen
sein volles Herz nicht gewahrt hatte und statt auf Verständ-
nis nur auf Spott und Schimpf gestoßen war. Dann
wünschte er sich, wie Goethes Faust, den Fittich der Vögel:
Was Solls? Ich wandre heim euch zu vergessen,
Zu sitzen dort, wo selig ich gesessen,
Wo stiller Wiesen duft'ge Blumen sprießen,
In meiner Liebe zu der Liebsten Füßen.
Trotzdem befand er sich ein Jahr später wieder in Ita-
lien. Diesmal aber war es weniger die Natur, die ihn anzog,
als die große alte Kunst. Unter dem Eindruck Michel-
angelos hatte sich die Bildhauerei das Vorrecht bei ihm
verschafft. Er richtete sich in Rom ein Atelier ein und
bosselte an einem Relief. Aber wieder war ihm das römi-
sche Klima nicht zuträglich. Mit einem Typhus ward er
ins deutsche Krankenhaus geschafft. Hier schwebte er lang
in Lebensgefahr. An seinem Lager saß ein guter Engel:
seine Braut.
In demselben alten festen „Hohen Haus", unter dem-
selben hohen roten Giebeldach, in demselben weiten, dicht
belaubten Haine von Linden, Kastanien und Nußbäumen,
wo ihr ältester Bruder Georg sein Glück gefunden hatte,
suchten es auch Carl und Gerhart. Vater Thienemann war
mittlerweile gestorben. Den aufrechten Mann hatte ein
Herzleiden ergriffen; da er dessen nicht achtend ein kaltes
Seebad nahm, so warf es ihn aus vollster Lebensfrische aufs
Totenbett. Seine fünf Töchter, jung, schlank, hübsch,
saßen, wie „die Jungfern vom Bischofsberg", zur Winters-
zeit als verwaiste, trauernde Burgfräulein im weiten Saale
2» 19
des alten Bischofssitzes auf altem Gestühl, neben hohen
Kaminen, am runden Eichentisch, zwischen gediegenen Sil-
berr und Goldgefäßen, unter nachgedunkelten alten Ge-
mälden beisammen und spannen vom schnurrenden Rad-
chen die langen Abende weg und auch ihren Herzensgram
um den Papa und um die früh verlorene Mutter, deren
liebliches, sommerlich freundliches Bild in bleibender Ju-
gend an der Wand des Prunkzimmers hing. So fand eines
Abends Carl Hauptmann diese Mädchen vor, als er auf der
Weihnachtsreise von Jena nach Schlesien auf Hohenhaus
Halt machte, um der Braut und den vier Schwägerinnen
seines Bruders Georg, die dort unter der Obhut eines alten
Onkels hausten, den Beileidsbesuch abzustatten. Der Gast
brachte Fröhlichkeit ins Trauerhaus. Die schwermütigen
Spinnrädchen der schwarzen Schwestern standen still, und
als der Gastfreund schied, war er ein verliebter, als er zur
Frühlingszeit wiederkam, ein Verlobter Mann. Hatte es
Carlen die braune Martha angetan, so liebte Knabe Ger-
hart die vollere, südlich prangende, dunklere Schönheit
Mariens. Als ich mit ihm im Dezember 1891 von Berlin
nach Wien reiste, die „Einsamen Menschen" im Burg-
theater aufführen zu sehn, und wir kurz vor Dresden in
den Bahnhof von Kötzschenbroda einfahren sollten, sprang
mein Reisegefährte, der mir bis dahin bei einem vom
Schaffner geliehenen Stearinstümpfchen die ersten Akte
des eben vollendeten „Collegen Crampton" vorgelesen
hatte, vom Polster auf, wischte eifrig den Frostschweiß vom
linken Fensterglas weg, starrte eine Weile ins Dunkel der
Nacht und rief dann in Unternehmungslust: „Wenn ich
mal einen Sommemachtstraum schreiben sollte, so kann er
nur dort oben spielen!" Dabei wies er zum Fenster hinaus«
20
Auf dieses unverhoffte Geständnis hin gaffte auch ich
sofort ins Dunkel der Nacht, sah nur ein paar Lichter durch
die Elälte blitzen und empfing die Aufklärung: ^^Denn dort
oben liegt Hohenhaus!" An jenem Tage lasen wir den
„CoUegen Crampton" nicht weiter. An Hohenhaus blie-
ben Gedanken und Gespräche hangen. Er hat seinen Som-
mernachtstraum bisher nicht geschrieben. Sein 1905 flüch-
tig und doch breit hingestelltes Lustspiel „Die Jungfern
vom Bischofsberg" ist nur eine schwache Abschlags-
zahlung. Ein Dummer Jungenstreich, dümmer als der nette
frische Junge, der ihn verübt, löst eine unerquickliche Ver-
lobung, die in sich selbst keinen Bestand hatte. An Ge-
stalten, die mit Liebe gesehen sind, ist doch nicht die
rechte Liebe verwandt worden. Die steife, konventionelle
Karikatur des Oberlehrers und Tantensöhnchens braucht
man nur mit Ibsens Jörgen Tesman zu vergleichen, um zu
erkennen, wie weit Hauptmann gerade hier hinter Ibsen
zurückgeblieben ist. Auch die jüngste der vier Schwestern
vom Bischofsberg, der Backfisch Ludovike, Lux genannt,
erinnert an Ibsens rundlichere Hilde Wangel; aber sie ist
wohl eher ein kindliches Vorstadium der Lude Heil aus
„Gabriel Schillings Flucht", wie diese eine Geigenfee. Mit
ihr scheint in das Leben auf Hohenhaus der Strahl eines
neuen Lebens hineinzublitzen. Vielleicht erklärt sich ge-
rade aus dem Zwiespalt des alten und neuen Lebens eine
gewisse Hilflosigkeit und Gewaltsamkeit in diesem miß-
lichen Stück.
Auf Hohenhaus bei Zitzschewig in der Lößnitz gab es
hoch oben in des Parkes Mitte eine kleine Kapelle. Darin
hing ein Glöcklein. Es hallt auch auf dem Bischofsberg wider.
Dies Glöcklein wußte von einem jungen Glück zu sagen:
21
Die Glocke klingt, still rauscht die Eiche;
Wer hat das kleine Haus erstiegen,
Vor dem lebend'ge Zauberreiche
In sanfter Pracht entfaltet liegen?
Wem quillt die volle Seele über,
Daß er das helle Glöcklein läutet?
Denn klingt ihr Ton zu mir herüber.
So weiß man, daß es Glück bedeutet.
Zuerst ist Hohenhaus 1894 in einem Romanfragment be-
schrieben. Halbtausendjähriges graues Gemäuer, hohe ehr-
würdige Räume, enge Steintreppen, seltsame Kämmer-
chen, unheimliche Dachstuben, ungeheure Kamine mit
ganz ungeheuerlichen Bildwerken verziert, Elreuzgewölbe:
„Ein ernster strenger Geist hatte hier Stein auf Stein ge-
türmt, hatte gezimmert und gewölbt für die Ewigkeit, aber
ein heiterer, lichter Geist der Gegenwart hatte das Aus-
gestorbene in Besitz genommen und es ausgeschmückt,
farbig und launisch, reich, licht und modern." Dieser
heitere Geist war Papa Thienemann gewesen, der, seinem
Wahlspruche treu, fröhlich gelebt hatte und selig gestorben
war. Er war ein begüterter Herr, der Winter über in Berlin
sein Bank- und Wollkommissionsgeschäft leitete, im Som-
mer aber draußen auf der waldigen Höhe in seinem schönen
Asyl, dem nur die Hausfrau fehlte, flott und behaglich um
sich her spielen und tanzen, zechen und schwärmen ließ,
der seine jungen blühenden Töchter am liebsten sah, wenn
sie tizianische Fruchtkörbe auf die reich besetzte Tafel
stellten und den goldenen Wein, freilich nicht den ein-
gebornen „Hohenhäuser", kredenzten, und der in all dieser
Weltlust doch für gut fand, seine Töchter herrnhutisch
erziehen zu lassen, teils in Herrnhut selbst, wo Marie und
Martha anfangs waren, teils in der thüringischen Gemeinde
22
Neudietendorf . Hier lebten alle fünf Schwestern in stren-
ger klösterlicher Zurückgezogenheit. Ihr weltfrohes Herz
aber zog sie fernhin zum heimisch heitern Hohenhaus, wo
,,eine anachronistische SüBe in der Luft lag^% wie es in den
, Jungfern vom Bischof sberg^^ heißt: ^Etwas Stilles, Un-
schuldvoUes, Verwunschenes, das durch die alten be-
moosten Steine der Parkmauer von dem gellenden Lärm
des europäischen Kulturparozysmus geschieden ist/^
Hierher nach Hohenhaus kam von Rom im Frühling
1884 ^^ ^^^ Thienemanntöchtem, unter denen eine die
Braut war, ein schwach genesender Elranker. Von hier aus
beschäftigte sich Gerhart im Juni und Juli in der Dresdner
Akademie der bildenden Künste sechs Wochen lang metho-
disch mit Aktzeichnen. Noch immer rangen um seine
Künstlerseele die beiden Musen: „die Frau mit Stein und
Meißel", „die Frau mit Kranz und Leier".
Naiv suchte er nach einer hohem künstlerischen Einheit,
in der sich Poesie und Plastik zu einem neuen Ganzen ver-
schmelzen. Der Tod Richard Wagners hatte die Bayreu-
ther Gedanken einer Kunst der Künste vollends zum Siege
geführt. In der Luft, die das neu erwachsende und erwa-
chende Künstlergeschlecht einsog, lag nicht Abgrenzung,
sondern Verschmelzung der Künste. Unbewußt schien
Hauptmann einen Vereinigungspunkt für Plastik und Poesie
erreicht zu haben. Wie, mag er damals mehr empfunden
als überlegt haben, wie, wenn das steinerne oder tönerne
Bild unter dem Kusse der Künstlerliebe lebendig würde!
Wie, wenn es eratmete, die Augen aufschlüge, das Ohr den
Lauten der Welt liehe, der Fuß den Boden fühlte, die
Hand nach einem erwidernden Druck suchte! Diesen
Dichterbildhauer bewegte der Pygmalionwunsch. Damals
23
vielleicht dichtete er ,^as Märchen Tom Steinbild'^
das in etwas wirrer und trüber Symbolik, aber mit staiker
Anschauung ein Mannesstreben darstellt, dessen Ziel es ist,
die Marmorjungfrau seines Ideals liebend zu beleben.
Mochten in dieses Steinbild Lebensideale oder Kunstideale
hineingemeißelt worden sein, jedenfalls trat im Klampf der
beiden Musen an Gerhart Hauptmann die Frage heran:
Gibt es eine solche Kunst, in der aus Plastik Poesie empor-
steigt ? Naiv begriff er so den höchsten Sinn der Schau-
spielkunst und gedachte zum Theater zu gehn; zu einem
Theater zwar, wie es, außer in Bayreuth, nirgends exi-
stierte.
Dem Theater, wie es wirklich war und ist, stand er noch
ziemlich fern. Vor dem kleinen Kurbühnchen in Salz-
brunn, an das ihn später Lauchstedt erinnerte, hatte er
seine ersten Eindrücke empfangen. Sie mögen schmieren-
haft genug gewesen sein. In Breslau hatte der Schüler die
Meininger bewundert; Shakespeare und danach Kleist hat-
ten ihn am stärksten bewegt. In Jena gab es keine stehende
Bühne; nach Weimar wurde nur einmal zu Fuß eine Wall-
fahrt zur „Walküre" unternommen. In Dresden füllten
ihn Interessen und Neigungen, die vom Theaterbesuch ab-
lagen. Nun aber ging er im Mai 1885 nach Berlin. Hier
fand er einen dramaturgischen Unterricht beim frühern
Direktor des Straßburger Stadttheaters, Alexander Heßler,
an den er sich noch erinnerte, als er die „Ratten" schrieb.
Seiner Stimme, in die er beim intimen Vorlesen eigener
Werke so viel Natur, so viel Seele, so viel Stimmung zu
legen weiß, haftet ein Lispelton an, der seinem Lehrmeister
für die bezweckte Ausbildung eines sogenannten schönen
Organs hinderlich war. Aber er war vor die rechte Schmiede
24
der landläufigen Theaterspielerei geraten und gab seinen
abenteuerlichen, nur einer Unkenntnis der tatsächlichen
Verhältnisse und nur der Vorstellungeines selbstgeschaffe-
nen Ideals entsprungenen Plan, Schauspieler zu werden,
bald wieder auf.
Aber er war nun dort, wo sich alle strebende Jugend im
Deutschen Reich zu ihren entscheidenden Taten sammelte.
Er fand sich in der jungen Hauptstadt dieses Reiches; noch
ein Jüngling, aber kein Junggeselle mehr. Ein halbes Jahr
früher hatte Bruder Carl die Schwester Martha heimge-
führt. Jetzt, im Mai 1885, führte Gerhart, erst zweiund-
zwanzigeinhalb Jahr alt, die Schwester Marie in das junge
Heim, das ihm ihre Liebe bestellt hatte. Die Trauung fand
in Dresden statt. Von der Johanniskirche fuhr das Paar
hinauf nach der Brühischen Terrasse, wo im Belvedere
wenigen Gästen das Hochzeitsmahl gerichtet war.
In jenem „Romanfragment^^ hat Gerhart Hauptmann
mit tragikomischer Selbstironie die Geschichte dieser Hy-
menäen erzählt. Aus den handelnden Personen erkennt
man den blonden Kopf, das blasse Gesicht des Dichters,
der sich noch als Bildhauer hinstellte mit kolossalischen
Schöpferplänen („König Lear auf der Heide, wie er hüpft
und davonrennt^^. Man sieht, wie am Hochzeitstage der
knabenhafte, schwächliche Bräutigam in Onkels hohem
Hut, ohne Frack, an den er sich spät gewöhnt hat, zur Ver-
mählung schleicht und einen kleinen Stoßseufzer über das
Strapaziöse dieser Festlichkeit nicht unterdrücken kann.
Neben ihm die junge Frau im glänzend schwarzen Haar
mit dem lautlosen Gang, den einfachen Bewegungen, warm
und doch zurückhaltend und leis melancholisch gestimmt.
Ab sie auf der Terrasse stehn, und die unentwickelte
25
Dürftigkeit des jungen langmähnigen* Ehegatten dem Hohn
eines vorüberflanierenden und flirtenden Leutnants preis-
gegeben ist, als es beinah zum EUndgemenge gekommen
wäre, mag ein banger Blick über den Eibstrom nach jener
Waldeshöhe hingewandert sein, wo dieser jungen Frau im
alten Hohenhaus die Mädchenzeit vergangen war. „Es ist
als würde man heimatlos, wenn man diese Scholle mal auf-
geben müßte^^, sagt die empfindsamste der „Jungfern vom
Bischofsberg".
Niclit hier ward dem jungen Paar das Heim bestellt.
Das Ziel ist Berlin, wo sie zunächst eine Stadtwohnung
aufnimmt. Der junge Gatte jedoch kränkelt und kann die
Luft in den „Steingräbern der Großstadt" nicht vertragen.
Als es Sommer wird, gehen sie mit dem Geschwisterpaare
Carl und Martha und mit Freund Hugo Ernst Schmidt
nach Rügen, wo Gerhart die Ostsee und die pommersche
Küste fürs Leben lieb gewinnt. Noch legt er nicht „Ga-
briel Schillings Flucht" hierher, aber er lauscht dem Volk
seine Sagen und Märchen ab und dichtet einige in balla-
desken Formen nach. G. A. Bürger ist Vorbild. Nach
Bürgers Manier besingt er etwas holprig „Die Jungfrau
am Waschstein", „Die schwarze Frau in der Stubben-
kammer" und „Den Teufelsdamm im Naugarder See".
Die Darstellung, die ihren Stoff aus Temmes Volkssagen
von Pommern und Rügen schöpfte, verrät noch den An-
fänger. Formvollendeter, anschaulicher, poetischer erzählt
er, mehr in der Art des getreuen Eckart und des Hochzeit-
liedes von Goethe, ein reizendes Pudminer Märlein von den
„sieben Mäusen", die einst ebenso viele kleine Mädchen
waren und durch einen übereilten Zornesfluch ihrer eignen
Mutter so arg verwandelt wurden. Nun kommen sie um
26
AGttemacht aus des Teiches Grund hervor und tanzen und
singen gar kläglich: y^9fir wollen fein erlöset sein, wir
Mauslein und wir Maide^.
Nach diesem sagen- und sangesreichen flitteifrohen
Sommer auf Rügen lenkte der Herbst 1885 das junge Ehe-
paar doch wieder gen Berlin. Man will die Weltstadt mei-
den, aber nicht missen. Man folgt dem Zug in die Vororte,
der damals unter den BerUnem b^ann. Man mietet sich
eine hübsche, helle kleine GartenwcJmung in Erkner beim
Rentier Lassen, der wohl mit dem biberpelzbestohlenen
Rentier Krüger Ähnlichkeiten hatte. Dieser östUche Vor-
ort, vcm Berlin in einer Bahnstunde erreichbar, an See und
Eaef emwald belegen, ist das echte märkisch-melancholi-
sche Idjll. Vier Jahre lang haben Gerhart und Marie
Hauptmann diesen Ort als ihren Stammsitz betrachtet.
In Erkner wurden ihnen drei Knaben geboren. Der sand-
und mückenreiche Ort bot allerdings nur einen schwäch-
lichen Ersatz für das immerdar aufgegebene Hohenhaus
in den Lößnitzer Weinbergen. Thienemanns Erben hatten
den alten Bischofssitz mit seinem großen terrassenförmigen
YsA verkauft. Der zu späten Reue gibt Gerhart in jenem
Romanfragment einen leidenschaftlichen Ausdruck: ,Ja
freilich, das Paradies war hin. Aus dem Paradies waren sie
vertrieben. Das Paradies war verschleudert worden. Das
Paradies ihrer schönen, schönen Brautjahre. Man hatte
es verkauft und imter viele Geschwister die Beute verteilt,
jedoch es war Blutgeld." Der Anteil der Beute, der auf
Frau Marie fiel, ging bald darnach durch den Bankrott
des Depothüters verloren. So war den drei Hauptmann-
paaren ihr Liebeshain spukhaft entschwunden. Aber als sei
durch diese Sühne die Vorsehung schon vneder begütigt
27
worden, fügte es ein Zufall, daß genau dieselbe Summe,
die sie verloren hatten, ihnen aus der Hinterlassenschaft
einer Verwandten wieder zufloß. Gerhart blieb in der
Lage, mit Frau und Eündem bescheiden, aber standes-
gemäß leben zu können, ohne literarische Frondienste an-
nehmen zu müssen. Dem Literatenproletariate seiner Be-
kanntschaft galt er als Leihanstalt, ohne immer Dank da-
von zu ernten. Ein böser Zahler streute, empört über
wohlberechtigte Mahnungen, sogar die alberne Lüge um-
her. Gerhart Hauptmann leihe Geld auf Wucherzinsen
aus. Erfahrungen solcher Art fanden, ebenso wie andere
tragikomische Erknererlebnisse und Erknergestalten, später
im „Biberpcj^" und im „Roten Hahn" ihren humoristi-
schen Niederschlag.
Die vier Erknerjahre setzten den jungen Dichter in
langsame und allmähliche Beziehungen zur literarischen
Jugend. Da er solche Anknüpfungen nie gesucht hat,
da es ihm auch nie in den Sinn kam, sich unter den
anerkannten Schriftstellern einen Schutzpatron zu er-
werben, so blieb er in den ersten Jahren auf den Ver-
kehr mit seinem Breslauer Schulfreund Hugo Ernst
Schmidt und mit seinem Jenaer Universitätsgenossen Fer-
dinand Simon, dem späteren Schwiegersohn August Bebeis,
angewiesen.
Wieder stand er zwischen einer Künstlernatur und einem
Weltverbesserer. Simon interessierte sich besonders für die
Frauenbewegung, wie sie durch Ibsens Nora angebahnt
war. Mit diesen Freunden besuchte Gerhart öffentliche
Abendvorlesungen Du Bois-Reymonds, Treitschkes und
anderer akademischer Redner und ließ den Eindruck einer
*
starken Persönlichkeit auch hier auf sich wirken. Aber
28
zusammen mit den Freunden stand er innerlich in einer
gereizten Kampfstimmung gegen alles Zünftige, Akade-
mische, Methodische und Systematische. Er ist mehr mit
den andern mitgebummelt, als daß er sich aus eigner Be-
flissenheit akademische Bildungsquellen erschlossen hatte.
FreiUch begann er die Schaden eines ungeordneten Er-
ziehungsganges zu empfinden. Er vertiefte sich in reli-
gionsgeschichtliche Studien, las wissenschaftliche Werke
von F. Max Müller und andern Gelehrten und trug sich
mit dem Gedanken, ein Leben Jesu zu schreiben. Was von
diesem Gedanken bisher Tat geworden ist, liegt in „Ema-
nuel Quint^^ und seinem durchgeführten Parallelismus zu
den Evangelien.
Mit der Zeit ward es lebhafter in der gemütlichen Villa
von Erkner. Eine Weile verkehrte er mit Max Kretzer,
dem ersten modernen Berliner Naturalisten, und mit Ädal-
bert V. Hanstein, einem ILainsdichter. Mit Hanstein mag
der damalige „Promethide", mit Kretzer der spätere „kon-
sequente Realist'^ umgegangen sein, obwohl Hanstein es
war, der ihm gerade für sein Sonnenaufgangsdrama den
Verleger besorgte. Eine größere Zahl junger, neuerungs-
lustiger, zukunftstolzer Literaten und Studenten hatte sich
im Frühjahr 1886 unter dem Vorsitz des kleinen, lahmen
und verwachsenen, aber tapfern und gesinnungstüchtigen
Leo Berg zu einem Vereine zusammengetan, den sie
„Durch" nannten. Im ersten Winter, den dieser „Durch"
erlebte (er erlebte nicht viele Winter), war Gerhart Haupt-
mann öfters mit dabei, und im Frühjahr 1887 wurde das
erste Stiftungsfest bei ihm in Erkner gefeiert. Trotzdem
blieb seine Verbindung mit den meisten dieser Vereinsbrü-
der ziemlich lose. Dauerhafter und vertrauter gestaltete
29
sich die Freundschaft mit zwei uneigennützigen, hohen
menschlichen Idealen zugewandten Sozialisten, die den
philosophischen, naturwissenschaftlichen und politischen
Interessen des jungem Klameraden entgegenkamen und
dann zu den Ersten gehörten, welche in ihm freudig und
neidlos das überragende dichterische Talent erkannten. Es
waren Bruno Wille und Wilhelm Bölsche, die den Sommer
1887 in Fangschleuse bei Erkner zubrachten. Mit ihnen,
mit Schmidt und Simon kamen auch die neuen literari-
schen Anreger des Auslandes, Tolstoi, Zola, Ibsen aufs Ta-
pet der häufigen scharfen Wortgefechte, an denen Bruder
Carl, so oft er sich in Berlin oder Erkner einfand, durch
Widerspruch fördernd, durch Kampf klärend lebhaft be-
teiligt war.
Wanderlustig und etwas unstet, wie er von jeher gewe-
sen und geblieben ist, hielt auch Gerhart es in diesen vier
Jahren nie lang bei den märkischen Kiefern aus. So ging
er für den Sommer 1888 auf Monate nach Zürich, wo sich
Carl an Forel und Richard Avenarius angeschlossen hatte.
An diesen Studien, aus denen später Carl Hauptmanns
Werk über die Metaphysik in der modernen Physiologie
hervorging, nahm auch Gerhart Anteil, soweit seine wis-
senschaftliche Vorbildung es zuließ. Er holte sich aus die-
sen biologischen Untersuchungen für die künstlerische Er-
fassung der menschlichen Natur das Seinige heraus. Die
alten Freunde Ploetz und Simon hielten mit, und es mochte
scheinen, als würde nun der zwischen zwei Künsten Hin-
und Hergeworfene im wissenschaftlichen Fahrwasser ver-
schwinden. Aber gerade in Zürich fing er wieder zu dich-
ten an und las bei Avenarius Kapitel aus einem autobio-
graphischen Romane vor, von dem nur jenes Fragment
30
erschienen ist. Bald trennte er sich von den Zürichern und
fuhr zur Herbstzeit bis nach Frankfurt am Main auf dem
Rade, wo ihm in wechsehiden Bildern Lander imd Leute
wieder nahe Icamen. Als er in Erkner eintraf, hatte ,,die
Frau mit Kranz und Leier" gesi^.
III
POETISCHE VORSPIELE: DAS ERBE DES TIBE-
RIUS. DAS PROMETHIDENLOS. DAS BUNTE
BUCH
In Rom hatte den werdenden Dichter die große Vergan-
genheit der Stadt beschäftigt. Er vertiefte sich in Ran-
kes Geschichte der Päpste und befaßte sich auch mit der
klassischen Zeit. Es entstand in G. A. Bürgers Balladenton
ein Gedicht auf „den Tod des Gracchus^% das schon
vom sozialen Mitleid für die Mühseligen und Beladenen
erfüllt ist, aber auch das tragische Ende des revolutionären
Volksbeglückers bringt, den sein feiges Volk im Stiche läßt.
Auch Adolf Stahrs Rettung des Tiberius, die damals noch
der Rede wert schien, fiel ihm in die Hand. Ein verkann-
ter, zu Unrecht dem Haß und Abscheu der Menge aus-
gesetzter Held war der rechte Gegenstand für das Mitge-
fühl des Weltbeglückers. Er schrieb ein dramatisches Ge-
dicht, „Das Erbe des Tiberius". Es wurde von Hohen-
haus am 25. Oktober 1884 an Adolf L'Arronge nach Berlin
geschickt, damit er es im Deutschen Theater auHühre.
L'Arronge und sein Dramaturg Moritz Ehrlich, der gedacht
haben wird: „Schon wieder ein Tiberius", lehnten ab.
Trotzdem machte der junge Poet Anfang 1885 noch einen
zweiten Versuch, die Bühne schon jetzt zu erobern. Er
sandte die Handschrift Otto Devrient, an den er aus seiner
Jenaer Studienzeit angenehme Erinnerungen hegte. De-
vrient hatte in Jena Vorlesungen über die Geschichte des
Dramas gehalten, wobei er im wesentlichen seine Readta-
tionskunst leuchten ließ; die Brüder Hauptmann bewun-
32
derten die Geschicklichkeit, mit der in bewegten Szenen
die mannigfaltigsten Stimmen charakteristisch auseinander-
gehalten wurden. Den stärksten Eindruck machte auf sie
die Vorlesung der „Frösche" des Aristophanes, die noch in
Nickelmanns populär gewordenen Naturlauten nachwirkt.
Auf diese etwas einseitige Beziehung hin wandte sich Ger-
hart mit seinem Tiberius an den Luthermann, der damals
gerade die Direktion des Hoftheaters in Oldenburg ange-
nommen hatte. Bei Devrient verschwand das Heft. Trotz
Stahr und Hauptmann schien Tiberius rettungslos ver-
loren zu sein. Nach Jahr und Tag aber kam er im Gewahr-
sam des Oldenburger Direktors doch wieder zum Vor-
schein. Unter mancherlei Belobigung lehnte Devrient die
Aufführung ab, da in Ausdruck und Inhalt zuviel vorginge,
was für ein Hoftheater nicht tauge. Seitdem ist Tiberius
wirklich verschwunden. Devrient mag sich des Stückes
kaum mehr entsonnen haben, als drei Jahre später, wäh-
rend seiner Episode im Berliner Hofschauspiel, nun wirk-
lich ein Drama seines einstigen Zuhörers aufs Theater kam.
Unter denen, die damals in Berlin am sittlichsten entrüstet
waren, gehörte Direktor Devrient zu den allersittlichst
Entrüsteten. Devrient ist in sein Grab gegangen, ohne zu
ahnen, eine wie fruchtbare Erinnerung der verschmähte
Sonnenaufgangsdichter an seine Vortragskunst bewahrt hat.
Und wenn er das Epos gelesen hätte, mit dem Gerhart
Hauptmann zum erstenmal vor die Öffentlichkeit treten
wollte, so hätte er in Stoff und Form auch noch keine Ab-
weichung vom poetischen Brauch bemerkt, obgleich von
diesem „Promethidenlos" Karl Bleibtreu verkündigte,
daß es „an Größe der Konzeption, Adel und Schwung der
Sprache das verkrüppelte Knieholz der üblichen Poetaster ei
3 33
titanenhaft überrage^S Der Dichter selbst dachte bald von
dieser Byronimitation nicht so günstig. Er zog das Epoe,
kaum daß es (durch W. Ißleib, Berlin) im Sommer 1885 in
den Buchhandel gekommen war, wieder zurück und ließ
den Vorrat einstampfen.
Nach dieser vernichtenden Kritik des Dichters selbst
steht uns kein. Recht mehr zu, ihm metrische, prosodische
und sonstige sprachliche Mängel der Erstgeburt tadelnd
vorzuhalten. Das Ganze war locker, verschwimmend,
formlos. Es fehlte ihm ein klarer Grundgedanke. Den ma-
gern Stoff für seine Ausgestaltung bot dem Dichter jene
Seereise nach Italien. Im Meere spiegelt sich seine eigne
Stimmung. Er legt sich die Maske eines knabenhaften
Jünglings vor, den er Selin nennt. Vertauscht man die
beiden Silben, so ergibt sich das Wort Insel. Bewußt oder
unbewußt geheimnißte der Dichter das Isolierte seines in-
nern Wesens und Lebeijts hinein, jene seelische Einsamkeit,
die ihm trotz aller Kameradschaften Kindheit und Jugend
bedrückt hat und von der viele Jahre später sein Michael
Kramer sagt: „Das Eigne, das Echte, Tiefe und Kjräftige,
das wird nur in Einsiedeleien geboren. Der Künstler ist
immer der wahre Einsiedler." Was diesen Selin vom Lande
fort über die Meere treibt, waren des Dichters eigne
Schmerzen. Was Selin an Bord und in den südlichen Kü-
stenstädten erlebte, sind des Dichters eigne Reiseerinne-
rungen. Aber die äußern Erlebnisse sind dürftig. Der Ein-
fluß des Child Harold von Byron ist nicht nur in den Vers-
maßen, sondern auch im ganzen Stil, in Stimmung und
Inhalt fühlbar. Nach alter Epikerweise ruft er die Muse an
und den Zaubergeist des Traumes. Die Allegorie macht
unklare Vorstellungen nicht klarer. Dichterisch stark aber
34
ist die Begegnung des Jünglings mit einem jener Wesen,
die am gütigsten dann sind, wenn sie selber vor dem Um-
gang mit sich warnen. Hier zerstreut sich die Achtzahl der
Reknbündel zum tragischen Blankvers und nähert sich dem
dramatischen Dialog. Fast scheint es, als habe sich hier das
Überbleibsel einer Szene jenes gescheiterten Tiberius-
dramas in den epischen Sang hereingeflüchtet. Und man
wird ebenfalls an Tiberius denken dürfen, wenn im „Pro-
methidenlos" (auch der römische Kaiser mag für Haupt-
manns Auffassung ein „Promethide" gewesen sein) im gei-
stigen Hinblick auf Rom die Vision'eines „heimlichen Kai-
sers" empordämmert. Was dieser spricht, ist der dunkle,
in jedem Sinn dunkle Grundtext der ganzen Jugendseelen-
dichtung, durch die sich aber doch erkennbar im Seelen-
leben des jungen Dichters eine große, entscheidende Wand-
lung vollzieht: die Wandlung vom Mitleid mit sich selbst
zu einem Mitleid mit der Menschheit, vom egoistischen
zum altruistischen Weh, vom Seelenschmerz zum Welt-
weh.
Du lerntest lieben und du lerntest hassen,
Jetzt lerne, Jüngling, deine Laute fassen.
Kannst du entsagen, Jüngling? Singe, dichte I
Das ist der Mut, den wir anjetzt bedürfen.
Die Dichter sind die Tränen der Geschichte,
Die heiße Zeiten mit Begierde schlürfen.
Aber erst 1888 ließ Hauptmann eine kleine Sammlung
von Gedichten herstellen, die er „Das bunte Buch"
nannte, und die in einem als Verlagsort fast unwahrschein-
lichen Städtchen des Odenwalds ans Licht treten sollte.
Als der Schriftsatz eben beendigt, aber das Druckpapier
noch nicht angeschafft war, geriet der Verleger in Konkurs,
und der Dichter erhielt von ihm nur eine lose Zusammen-
3' 35
heftung der Korrekturbogen auf schlechtem Papier. Nur
in ganz wenigen behutsamen Freundeshänden werden die
vergilbenden Blätter dieses „Bunten Buchs*^ geheimnisvoll
aufbewahrt. Manches allzu weichlich, allzu tränenselig,
manches hat sich im öffentlichen Vortrage bewährt. Kleine
Lyrika hat Robert Kahn in Musik gesetzt, und Ämalie Joa-
chim nahm diese Lieder in ihr Konzertprogramm auf. Auch
in der Dichtung schon schwingen die sanften Verse wie
Geigenakkorde. Eindrücke der äußeren Natur finden in
kurzen, knappen, oft nur gestammelten, oft nur hingehauch-
ten Lauten einen Widethall im Gemüte des Dichters, der
still seufzend beim Blätterfall durch die Herbstnacht wan-
delt oder im Dämmerlicht des Föhrenwaldes vor einem
Jünglingsgrabe weilt. Der Dichter vertieft sich in die
Stimmungen der Selbstmörder, deren Geisterchor aus dem
Grunewald gegen die nahe Riesenstadt, ihre Verderberin,
flucht. Nacht, Nebel, Herbstwind, ein Schmetterling im
Schnee, eine singende Lerche im Mondschein, schwache
Hoffnungen auf Licht und Lenz, das „alles will zusammen-
stimmen in einen einzigen Sterbelaut". In diese abster-
benden Natureindrücke drängt sich manchmal eine un-
vermittelte literarische Reminiszenz ein. Ein kleines Lied,
worin schon das Motiv der „Versunkenen Glocke" an-
schlägt, fängt mit einem Heinevers an:
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten.
Daß meine Träne rinnt
Zuweilen, wenn ferne das Läuten
Der Glocke, der Glocke beginnt.
Ein Mondlied schließt goethisch:
Meine Seele, schlummerleer,
Wandelt durch die Nacht.
36
Das müde, sanfte Träumen wird visionärer, aufgeregter,
wilder, wenn der Dichter aus Heideland und Föhrenwald
ans Meer kommt, das in Gewittern steht* Man denkt an
jenes rote Götterbildwerk aus dem Breslauer Atelier, wenn
man liest:
Immer schneller und schneller
Jagen die Rosse der Flut;
Immer heller und heller
Bricht aus den Wolken die Glut.
Und man denkt zurück ans „Promethidenlos", wenn
man weiter liest :
Die alte Esche orgelt wild
Und sträubt ihr Blattgefieder,
Und um das dunkle Eiland brüllt
Das Meer Titanenlieder.
Titanenlieder, die kein Spott
Des Spotters kann bezwingen,
Titanenlieder, die kein Gott
Kann zum Verstummen bringen.
Antwort fordert auch die Frage aller Fragen:
Nie noch sah ich unsre Gottheit,
Die uns schützt und die uns führet,
Sage mir, wie denk ich jenen
Gott mir? Zeige mir den Gottt
„Hoch im Bergland von Arkadien" richtet sie der Frager
an einen alten Priester des pelasgischen Zeus. Und die
Antwort lautet:
Siehst du nicht, nun denn, so schweige!
Geh ins Tal und schweige, Jüngling.
Im Tal aber bilden sich die Menschen nach ihren eignen
winzigen Vorstellungen ihre eignen winzigen Götterchen:
Und bald trug ein jeder sorglich
In der hohlen Hand sein Göttlein,
In der hohlen Hand nach Hause.
37
Hoch im Bergland von Arkadien aber geht der pelas-
gische Zeus und „fürchtet die neuen Götter nicht und
zürnt nicht den Menschen". Nur sein alter Priester hört
ihn. Keiner sieht ihn.
Nachdem Gerhart Hauptmann sein „Buntes Buch" der
Vernichtung überlassen hatte, beschäftigte ihn jener auto-
biographische Roman, den er l888 in Zürich begonnen
hatte. Berlin und Umgegend hatten Hauptmanns Kennt-
nis der Welt bereichert. In Zürich sah er das,. menschliche
Leben wissenschaftlich durchforscht. So mochte er sich
gerüstet fühlen, objektiver das Ich zu verstehen. Doch
auch dieses Werk kam nicht zustande. Vieles daraus ist
aber in den späteren Werken verwertet worden. Dieser
totgesagte Roman scheint die Urzelle gewesen zu sein, aus
der nun des Dichters lebendige Poesie entstand.
IV
DIE LITERARISCHE REVOLUTION. BAHN-
WÄRTER THIEL. VOR SONNENAUFGANG.
FREIE BÜHNE
Gegen Weihnachten 1888 ging Hauptmann mit seiner
Familie nach Bergedorf , wo jetzt bei ihrem ältesten
Sohn auch die Eltern lebten und ihn mit ihren Erfahrungen
im Geschäft unterstützten. Hier brütete der Dichter wo-
chenlang weiter über seinem Roman.
In den allerersten Frühlingswochen des Werdejahrs 1889
kam er dann allein zu Besuch nach Berlin, wohnte aber
nicht draußen in Erkner, sondern in der Stadt bei seinem
Freunde Schmidt. In Niederschönhausen lernte er den
fast gleichaltrigen Dichter Arno Holz kennen. Holz las auf
seiner kleinen, rührend und anschaulich von ihm geschil-
derten „Bude" in Hauptmanns Gegenwart eine Reihe klei-
ner Skizzen vor, die er gemeinschaftlich mit seinem etwas
altern Freund und Stubengenossen, Johannes Schlaf aus
Magdeburg, verfaßt hatte. Die wesentlichste dieser Skiz-
zen hieß „Papa Hamlet" und führte mit peinlichster Liebe
zum kleinsten Detail in eine verwahrloste Komödianten-
wirtschaft, die ohne jede Furcht vor den Widerwärtigkei-
ten der Armut, der Liederlichkeit, des Schmutzes in voll-
kommener Naturtreue, der Wirklichkeit gemäß, sehr ta-
lentvoll abgeklatscht war. Mehr noch als diese Skizzen mö-
gen auf Gerhart Hauptmann die eindringlichen Reden ge-
wirkt haben, in welchen Arno Holz seine Kunsttheorie ent-
wickelte, der jener „Papa Hamlet" als Paradigma dienen
sollte. Arno Holz, jung, energisch, im äußern Wesen frisch
39
und erfrischend, Rastenburger Apothekerssohn, früh auf
sich selbst und seine Arbeit gestellt, ein kühl kalkulierender,
auf seine konsequent herausgerechneten Verstandesergeb-
nisse eigenköpfisch trotzender Mittelostpreuße, hatte ein
schönes Talent zur Lyrik seitwärts von hergebrachten, bis
zum Ekel benutzten Mustern schon öfters bekundet. Er
ist ein heller, findiger Kopf, der einen gescheiten Gedanken
fassen kann, aber die gefährliche, nahezu selbstmörderische
Neigung hat, diesen Gedanken bis zur Superklugheit fort-
zutreiben und ihn schließlich im Aberwitz, dem letzten
Ziel aller Einseitigkeit Verstecken zu lassen. Holz ging in
seiner Papa Hamlet-Doktrin vom Naturalismus Zolas aus.
Seine und Schlafs treue Abschriften des scharf beobachte-
ten Kleinlebens waren eine zeitgeschichtliche Notwendig-
keit, weil sie die Dichtkunst fester an den allgemeinen Geist
des modernen Lebens banden. Überall hatte die rauhe
Wirklichkeit stark in die Seelen der Menschheit eingegrif-
fen. Bismarcks Realpolitik, die soziale Forderung des Pro-
letariats, der induktive, detaillierende Grundzug moderner
wissenschaftlicher Forschung, die Lehre von der Entwick-
lung aller Dinge, die gesteigerte Wertschätzung statisti-
schen Materials, die großen Schöpfungen ausländischer
Wirklichkeitsdichter und Seelenergründer — dies alles
wirkte zusammen, um auch in der deutschen Literatur die
Notwendigkeit einer realistischeren Darstellungsweise zur
Geltung zu bringen. Keiner war naiv und instinktiv über-
zeugter davon als Gerhart Hauptmann, der nun das, was
er innerlich bestimmt empfand, durch Arno Holzens schnei-
dige Beredsamkeit in Form und Satzung gebracht sah.
Arno Holz hatte es nicht mehr nötig, diesen neuen Kame-
raden zum Realismus zu bekehren. Er gab ihm aber die
40
letzte entscheidende Anregung. Schon im „Promethiden-
los", 80 wenig realistisch dieses Gedicht sein mag, deutet
sich die radikale Wendung sehr sicher an. Wer seine Laute
stimmt, den Jammer der wirklichen Welt mitleidweckend
zu verkündigen, wird tief hinabsteigen müssen in mensch-
liches Elend, oder er wird ein Phrasenheld sein. Der Dich-
ter des „Promethidenloses" war schon damals zum äußer-
sten entschlossen. Schon die konventionell-allegorisch von
ihm erfaßte Muse der Dichtkunst sprach zu ihm, ihr Tem-
pel sei die Erde. Schon damals fand er das Wort : „So muß
Natur der Kunst die Wege bahnen"; oder das andre
Wort:
Und wollt ihr meines Gottes Namen kennen,
So mögt ihr ihn den Gott der Wahrheit nennen.
Schon mahnt er mitten in diesen ideellen Vorstellungen
sich selbst: „Laßt mich ins Spiel der Welt die Blicke sen-
ken". Was aber hier die Blicke sahen, war trostlos:
Das Elend greift in jeden Menschenhaufen
Und faßt mit Kreischen Kind \md Mann und Greis:
Den treihts zum Hängen^ jenen zum Ersaufen,
Den wirft es lachend in der Laster Kreis.
Schon damals rief er den Elenden verzweifelten Ent*
Schlusses zu:
So laßt in eurem Schmutz mich hocken,
Laßt mich mit euch, mit euch im Elend sein!
Das „Promethidenlos" nimmt zum Schluß eine seltsame
Wendung. Während sich bis dahin der Dichter mit seinem
Helden ganz eins zu fühlen schien, stellt er sich plötzlich
außerhalb dieses „irren Knaben", der das, was er ahnte,
„in hehrer Form, in heiPger Melodie" singen wollte. Der
Dichter selbst aber denkt nun ganz anders als sein Held:
41
Du traust mir nicht ? Dich lockt das süße Tdneii|
Du glaubst, es sei auch in der Menschenwelt
Erlaubt zu singen, und das Arbeitsfeld,
Meinst du, kann milder Dichtersang yerschGnen.
Es fliege leichter dann, meinst du, der Spaten,
Die Sense blinke freudiger darein.
Sei still I — Sie können deines Lieds entraten,
Es muß gepflügt, doch nicht gesungen sein*
Begleite mich durch öde finstre Gassen
Furchtbarer Nacht! — Hörst du's den Weg entlang.
Dies Wimmern? — Sieh, dich will ein Grauen fassen:
Dies wird, mein Kind, in unsrer Zeit Gesang.
Schon 1885, als er von seiner Reise zurückgekehrt war,
stand es für Gerhart Hauptmann fest, wohin ihn seine
Dichtersendung führen würde. Sehnsucht zog zur Schön-
heit, aber der Weckruf der Zeit treibt einem andern Ziel
entgegen. Schon 1888 entstand ein Gedicht, das er seinem
Sonnenaufgangsdrama hätte voransetzen können. Denn in
ihm spricht er aus, wie er seine Mission verstand:
Dir nur gehorch ich, reiner Trieb der Seelei
Des sei mein Zeuge, Geist des Ideales,
Daß keine Rücksicht eitler Art mich bindet.
Ich kann nicht singen, wie die Philomele.
Ich bin ein Sänger jenes düstern Tales,
Wo alles Edle beim Ergreifen schwindet.
Du aber, Volk der ruhelosen Bürger,
Du armes Volk, zu dem ich selbst mich zähle.
Das sei mir ferne, daß ich deiner fluche!
Durch deine Reihen gehen tausend Würger,
Und daß ich dich, ein neuer Würger, quäle,
Verhüt es Gott, den ich noch inuner suche!
Ich darf es dir mit meiner Hand verbriefen, '
Daß, wenn ich zürne, zürn ich deinen Leiden,
Das Gute wollend, dir zum ew'gen Heile.
Ihr, die ihr weilt in Höhen und in Tiefen,
Ich bin ihr selbst, ihr dürft mich nicht beneiden!
Auf mich zuerst zielt jeder meiner Pfeile.
42
Und so schärfte er sein Auge für das Nahe und Nächste.
Schon 1887, bevor er Arno Holz kannte, zeitigte der Auf-
enthalt in Erkner eine kleine novellistische Studie, die in
ihrem Realismus nicht so „konsequent" ist, wie „Papa
Hamlet", aber dichterisch als geschlossenes, rundes Werk-
chen höher steht. Es ist die zuerst in M. G. Conrads „Ge-
sellschaft" abgedruckte Erzählung vom „Bahnwärter
Thiel". Ihr moderner Zug kündigt sich schon im Titel
an. Als die Eisenbahn aufkam, ging ein Jammern durch das
epigonenhafte Geschlecht der Spätromantik. Mit dem
Posthorn schien die Poesie aus der Welt zu schwinden. Mit
dem Pfiff der Lokomotive schien sich der Welt die Prosa
bemächtigt zu haben. Schon Gottfried Keller lachte über
solches kurzsichtige Haften am Überlieferten, über diese
Unkraft, den poetischen Reiz des Neuen zu finden, und
verkündigte frohgemut die Poesie der Luftschiffahrt. Ger-
hart Hauptmann, der in einem dichten Eisenbahnnetz auf-
wuchs, gehört bereits zu denen, die auch aus dem Eisen-
bahnwesen Poesie und realistische Symbolik zu holen ver-
stehen.
Im „Bunten Buch" schildert er die Nachtstimmung
einer kleinen Vorortstation mit dem schwindsüchtigen
alten Wächter, der keuchend, hustend fortwährend hin-
über nach den Rüdersdorfer Kalkbergen sieht und nach
ihren bald gelben, bald roten Grubensignalen. So oft
diese die Farbe wechseln, wechselt die Farbe auch auf
dem Fieberantlitz des ergrimmten Mannes, der sich
dort unten in den Kalkbergen den schleichenden Tod
geholt hat.
Ungefähr gleichzeitig entstand ein Gedicht „Im
Nachtzug":
43
El poltert der Zug durch die MondKheiimacht,
Die Räder dröhnen und rasen.
Still sitz ich im Polster und halte Wacht
Unter sieben schnarchenden Nasen.
Die Lampe flackert imd zittert und zuckt,
Und der Wagen rasselt und rüttelt und ruckt,
Und weit, wie ins Reich der Gespenster,
Weit blick ich hinaus in das dämmrige Licht
Und schemenhaft schau ich mein blasses Gesicht
Im lampenbeschienenen Fenster.
Dem Passagier ist*s nicht wohl in der dumpfen beklem-
menden Enge. Ihn durchklingt
Ein Sehnen hinaus in das Mondscheinreich,
Das fliehend die Drahte durchschneiden.
Sie tauchen hernieder \md steigen zugleich,
Vom Zauber der Nacht mich zu scheiden.
Aber am romantischen Elfenziel jagts den modernen
Reisenden vorüber, und das Rasseln der Räder singt ihm
ihr eigenes Lied, den „Sonnengesang" moderner Zyklopen-
arbeit :
Wir tragen euch hier durch die duftende Nacht,
Mit keuchenden Kehlen und Brüsten.
Wir haben euch güldene Häuser gemacht.
Indessen wie Heiden wir nisten.
Wir schaffen euch Kleider. Wir backen euch Brot.
Ihr schafft uns den grinsenden, rieselnden Tod.
Wir wollen die Ketten zerbrechen.
Uns dürstet, uns dürstet nach eurem Gut!
Uns dürstet, uns dürstet nach eurem Blut;
Wir wollen uns rächen, uns rächen 1
Wohl sind wir ein rauhes, blutdürstend Geschlecht.
Mit schwieligen Händen und Herzen.
Doch gebt uns zum Leben, zum Streben ein Recht
Und nehmt uns die Last unsrer Schmerzen I
Ja, könnten wir atmen in keuchendem Lauf
Nur einmal erquickend tief innerlich auf,
44
So, weil du die Elfen bewundert,
So sängen wir dir mit Donnergetön
Das Lied, das finster und doch so schön.
Das Lied von unserm Jahrhundert!
Vom fahrenden Dichter weicht nun die Sehnsucht nach
Elfentanz in mondbeglänzter Zaubernacht. Ein andrer,
die schöne Welt mit der wirklichen versöhnender Traum
steht vor seiner Seele:
Die Lampe flackert und zittert und zuckt,
Und der Wagen rasselt und rüttelt und ruckt.
Und tief aus dem Chaos der Töne,
Da 'quillt es, da drängt es, da perlt es empor.
Wie Hymnengesänge, bezaubernd mein Ohr,
In erdenverklärender Schöne.
Er träumt von „himmlischen Lenzen auf irdischen
Höhn". Dieser Traum ist der Traum des idealistischen
Weltverbesserers, der nur der Wirklichkeit, nicht den Mög-
lichkeiten gegenüber pessimistisch denkt; diesen Traum
gab dem Dichter die Fahrt auf der Eisenbahn.
Denselben Eindruck schafft ihm auch der vorüberfah-
rende Bahnzug. Phantastisch malt er in der Novelle vom
„Bahnwärter Thiel" den Zug, der im Nu erscheinend, im
Nu verhallend durch das stille Dunkel des Heidelands tost.
Die blauen Nachtsignale dünken ihn wie Tropfen über-
irdischen Lichtes. Aber über dem Hüttlein des Bahnwär-
ters Thiel leuchtet nichts Überirdisches. Er ist einer der
modernen Arbeitszyklopen, wie jener schwindsüchtige
Bahnwärter aus Rüdersdorf. Sein höchster Erdenwunsch
ist der, daß sein Söhnchen Tobias es dermaleinst bis zum
Bahnmeister bringe. Für sich selbst strebt er so stolze Ziele
nicht an. Aber auf dem biBchen Bahndamm und Schienen-
strang, den er zu betreuen hat, kennt er jedes Schräubchen
45
und jedes Stäubchen. Um dieses Streckchen und die nu-
merierte Bude in der Mitte webt sich ihm im Lauf der
Zeiten ein seelisches Gespinst, die Poesie seines Daseins.
Der Fleck Erde wird ihm, einem Vorlauf er und Schicksals-
genossen des Fuhrmanns Henschel, zum Heiligtum, worin
seine tote, sanfte Frau weiterlebt und das von den plumpen
Füßen der zweiten lebendigen Frau, von ihren groben Fäu-
sten nicht berührt werden soll. Die Telegraphendrähte
aber klingen und singen ihm das Lied von der, die er ver-
loren hat : „Er stellte sich vor, es sei ein Chor seliger Geister,
in den sie ja auch ihre Stimme mischte".
Wie leicht war hier die Gefahr, sentimental zu werden.
Nicht bloß die Effekte eines Mord- und Wahnsinnsschlus-
ses schützten ihn davor, sondern auch sein Naturgefühl.
Nicht sentimental ist das Empfinden des Bahnwärters
Thiel, der dann Weib und Kind erschlagt, sondern melan-
cholisch wie der märkische Kiefernwald am märkischen See.
Der Dichter hat die Erknerstimmung auf sich wirken las-
sen. Er hat in die Heide einen Menschen gepflanzt, der
wie sie empfindet, arm an Geist, reich an Seele, sanftmütig,
bescheiden, schüchtern, energielos in der alltäglichen Ruhe,
aber rauh, wild, wüst, grausam bis zur Vernichtung, wenn
Orkane toben. Ein solcher Orkan ist in das Gemüt des
Bahnwärters gefahren, als er argwöhnt, durch die böse Ab-
sicht der Stiefmutter sei sein kleiner Tobias unter die Räder
des Bahnzugs geraten.
Des Dichters Problem war, diesen Stimmungsübergang,
wie in einem epischen Monolog, darzustellen. Er hält sich
dabei ausschließlich an die Mittel der erzählenden Kunst.
Dialoge fehlen fast ganz. Den einzigen längern Sermon
hält die böse Stiefmutter, wenn sie das Prügelknäbchen mit
46
Schimpfworten herunterhudelt. Dramatisch wird die
Aktion nur in den lallenden Lauten, mit denen beim
Vater Thiel der Wahnsinn sich meldet und zum Morde
mahnt.
Die Studie darf als Probe des Stiles gelten, in welchem
Gerhart Hauptmann seinen Roman damals abgefaßt hätte.
Jene Begegnung mit Arno Holz entschied aber nicht nur
für den Naturalismus, sondern auch für das Drama. Wie
das gewöhnliche Volk in seinen mündlichen Erzählungen
die Person, um die es sich dabei handelt, mit Vorliebe selber
sprechen läßt und auf diese direkte Rede so viel Gewicht
legt, daß er möglichst oft ein „sagt er" oder „sagt sie"
dazwischenschiebt, ebenso liegt es im Wesen einer natura-
listischen Darstellung, daß die handelnden Personen mög-
lichst viel selber sprechen, und daß uns möglichst viel aus
ihren eignen Worten von den Geschehnissen kund werde.
In dieser Konsequenz lag es, die Erzählung aufzugeben und
das Dramatische zum Drama zu vollenden.
Erfüllt von Arno Holzens Theorie, angespornt von sei-
nem Zuspruch, machte sich Gerhart Hauptmann sofort an
einen Stoff, der für diese extrem naturalistische Behand-
lung geeignet war. Wie in den westlichen und nördlichen
Vororten Berlins die sogenannten Millionenbauern, so gab
es auch in nächster Nähe von Obersalzbrunn, in Weißstein
und Hermsdorf Bauern, die plötzlich zu Reichtum da-
durch gelangten, daß man unter ihren Äckern mächtige
Kohlenlager entdeckte. Ein solcher Umschwung materiel-
ler Verhältnisse konnte im ungebildeten Stande nicht ohne
Einwirkung auf Sitte und Sittlichkeit des überschnell und
übermäßig reich gewordenen Volkes bleiben. Diese Ju-
gendeindrücke sollten im autobiographischen Roman nach-
47
wirken. Nun wollten sie sich zu einem sozialen Drama ge-
stalten.
Auch Holz fühlte sich durch das eigene Prinzip zum
dramatischen Schaffen hingedrängt. Für Kompagnie-
arbeit eingenommen, wie er war und blieb, durch die Füg-
samkeit des sanften, sinnigen Johannes Schlaf daran ge-
wöhnt, schlug er vor, mit Hauptmann gemeinschaftlich
ein Drama nach allen Regeln der neuen Kunst abzufassen.
Vor diesem dämonischen Antrag, dem er anfangs entgegen-
kam, den er wohl gar herausgefordert hatte, bewahrte den
andern sein guter Stern. „Der Künstler ist immer der
wahre Einsiedler." Mit Respekt vor dem Kunstverstande
des strammen Rastenburgers teilte er seinen Stoff nicht,
wie er von Hamburg aus brieflich zugesagt hatte, dem
neuen Kameraden mit, sondern flüchtete sich wieder nach
Bergedorf zu Eltern und Geschwistern. In kürzester Zeit,
noch war es Frühling, brachte er das Drama ziemlich fertig
nach Erkner. Mit den Freunden Bölsche und Wille, mit
dem Bruder Carl, der ihm noch immer der beste, auch in
Rat und Tat förderlichste Freund war, zog er in die Klie-
fernheide des „Bahnwärters Thiel", und während die
Nadelhölzer hellgrüne Spitzen ansetzten, erwachte hier in
freier, etwas öder Natur der Frühlingssang des neuen
deutschen Naturalismus.
Frühlingssang ist Nachtigallenschlag und Lerchenjubel.
Schon im „Promethidenlos" aber hieß es:
Du fragst nach Lerchenjubel. — Lerchenjubel I
Wir haben alles Jubeln längst verbannt.
Und doch trillern auch in dem neu erstandenen Drama
„Vor Sonnenaufgang", das ursprünglich „Der Sämann"
heißen sollte, die Lerchen in der Morgenröte. Ihr Lied
48
tönt unverdrossen jenseits von Gut und Böse, jenseits der
moralischen Gegensätze, in denen sich dieses soziale Drama
kraß und schroff bewegt. Der Dichter nimmt persönlich
einen leidenschaftlichen Anteil an den moralischen Dingen.
Er zeichnet Personen und Zustände entweder mit Liebe
oder mit Haß. Von einem objektiven Naturalismus, wie
ihn die Natur selbst ihren Geschöpfen gegenüber beob-
achtet, ist hier noch weniger die Rede als beim Moralisten
Zola oder in Tolstois „Macht der Finsternis". Was Werke
wie „Die Macht der Finsternis" und „Vor Sonnenaufgang"
erst naturalistisch werden läßt, ist die von keiner konven-
tionellen Rücksicht befangene, unverfrorene Darstellung
sittlicher Zustände, in denen sich der Mensch wieder der
Naturverfassung des Tieres nähert. Die naturalistische
Kunstform klebt noch am naturalistischen Stoff. Die Be-
deutung des jungen Werkes, welches von Tolstoi vielfach
abhängig ist, liegt vor allem darin, daß es der Dichter wagte,
unpolierte und unarrangierte Wirklichkeit, und zwar häß-
liche Wirklichkeit in einer gewissen Kunstform auf die
Bühne zu bringen. Als Arno Holz, der auch die Titelände-
rung durchgesetzt haben will, das Stück las, erklärte er es
von seinem Standpunkt aus „für das beste Drama, das je
in deutscher Sprache geschrieben sei". Später dachte er
nicht mehr so enthusiastisch davon, sondern beklagte das
Vorhandensein einer Tendenz.
Lag während der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhun-
derts der Wert des französischen Dramas in der Gesell-
schaftssatire, so lag der Wert des deutschen Dramas im
Volksstück. Was wir mit höherm Stolz all den Scribe und
Feuillet, Augier, Dumas und Sardou entgegenstellen, das
U^;t in jenem Bereich des deutschen Volkes, wo Hebbel
4 49
seine Maria Magdalene, Otto Ludwig seinen Erbförster,
Änzengruber seine Bauernkomödien fand. Dort hat auch
der junge Gerhart Hauptmann sein erstes soziales Drama
gefunden. Wie Änzengruber übte auch er eine mundart-
liche Sprache. Wie Ludwig schildert auch er den Nieder-
gang einer landlichen Familie. Wie Hebbel zeigt auch er
das tragische Schicksal eines verratenen Weibes aus dem Volk.
Und doch hat ihn keiner seiner Vorgänger beeinflußt.
Er verlegt den Schauplatz der Handlung in die Gegend,
die er von Kindesbeinen an kennt. Freilich sagt er Jauer
statt Waidenburg, Witzdorf statt Weißstein. Seine Land-
leute reden die schlesische Mundart. Ihr Schicksal steht
im engsten Zusammenhange mit den besondem sozialen
Verhältnissen jener Gegend. Ein Bauernhof, auf dem man
von Austern und Hummern lebt und seinen Durst in Cham-
pagner (nicht mal in Grüneberger Champagner) löscht,
wo Kühe und Pferde aus marmornen Ejippen und neu-
silbernen Raufen fressen, während das Gesinde darbt und
sich rackert, kommt in all seinen Zuständen und Gestalten
zur lebendigsten Anschauung. In einer solchen Bauem-
familie ist der Vater ein wüster Trunkenbold, der sein La-
ster nicht bloß auf die älteste Tochter, sondern sogar auf
deren dreijähriges Söhnchen vererbt hat. Sein Schwieger-
sohn ist ein eitler, unreeller Wicht, der trotz aussaugeri-
schen Manipvdationen das angeheiratete Geld über kurz
oder lang verspekuliert haben wird. Die jüngere Tochter
hat hermhutische Erziehung genossen, und dadurch ist ihr
gutes ehrliches Wesen in einen konfliktreichen Zwiespalt
geraten, an dem sie, fremd im Vaterhaus, zugrunde geht.
Die Stiefmutter ist ein rohes Weib, dessen abgeschmackter
Eitelkeit eine städtische Tartüffin frönt, dessen Wollust
50
ein junger dummdreister Vetter vom Nachbarhof befrie-
digt, während der Hausvater bis vor Sonnenaufgang hinter
dem Schnapse vertiert.
Man wird es dem jungen idealistischen Volksbeglücker,
der zum Studium der sozialen Verhältnisse in jenen Koh-
lenbezirk kommt, nicht verargen, wenn er alsbald wieder
seine Schritte wendet. Aber er nimmt das Lebensglück der
Bauemtochter mit, die an den verstiegenen Prinzipien-
reiter ihr junges Herz verlor, das in allem Schmutz und,
was mehr sagen will, bei gründlichster Einsicht in die un*
saubersten Dinge keusch geblieben ist. Er war im Hand-
umdrehen ihr heinJich Verlobter geworden und dachte
mit dem frischen und gesunden Mädchen seinen erbkräf-
tigen Stamm fortzupflanzen. Da erfährt er, der prinzi-
pielle Mäßigkeitsapostel, der angehende Rassenhygieniker,
daß sie aus einer Potatorenfamilie stammt, und macht sich
verstohlen davon. Man erfährt nicht recht, wie tief ihn
der Verzicht auf diese Liebe innerlich berührt. Das Mädr
chen aber ersticht sich. Sie ist die eigentliche Heldin dieser
Dorftragödie; denn sie steht geistig und seelisch über Ver-
hältnissen, von denen sie physisch nicht los kann. Es ist
ausgezeichnet, wie sie mit ihrer Einschränkung ringt, wie
sie unter der geilen Trunksucht des Vaters, unter der Ro-
heit der Stiefmutter, unter der lüsternen Lafferei des
Schwagers, unter der Rüdigkeit eines aufgezwungenen
Freiers leidet, ohne doch zu verleugnen, daß sie von Natur
zu diesen Leuten gehört. Erst als der Mann ihrer Liebe
kommt, gehen ihr die letzten Lichter über alles auf, und
diese Erkenntnis schlägt sie zu Boden.
Die Fülle der Personen teilt sich in zwei Kategorien, in
dit Eingebomen und in die Zugewanderten, in diejenigen,
4' 51
die in ihrem Urzustände mehr oder minder vegetieren, und
in diejenigen, die diesem Zustand mehr oder minder fremd
gegenüberstehen. Jene bringen das naive, diese das reflek-
tierende Element in die Tragödie hinein. Zu jenen zahlt
der Bauer, die Bäuerin, deren Liebhaber, zahlen Knechte
und Mägde. Zu diesen gehören vor allem drei junge Man-
ner: der Ingenieur Hoff mann, der Arzt Schimmelpfennig
und der Nationalökonom Alfred Loth. Hoffmann und
Schimmelpfennig sind Loths Jugendbekannte. Durch
einen theatralischen Zufall treffen sich alle in jenem Koh-
lenwinkel. Der Dichter hat die Modelle aus seiner eignen
Jugendbekanntschaft hergeholt, aber in jedem der drei
steckt etwas vom alten französischen Raisonneur, der die
Dinge um sich her betrachtet und beurteilt, ohne persön-
lich stark dran beteiligt zu sein. Am fernsten steht der
Handlung Doktor Schimmelpfennig. Er hat die Aufgabe,
dem Freunde die potatorischen Familienverhältnisse Idar
zu machen, und bringt ihn so zu dem harten Entschluß,
sein eben erst eingegangenes Verlöbnis zu brechen. Das
entwickelt sich in einer meisterhaft geführten Szene des
letzten Aktes, während Scjiimmelpfennig, zur Geburtshilfe
bereit, im Hause weilt. Er ist ein gutherziger Mensch ohne
Vorurteile, mit einer bewegten Vergangenheit, der nun
hier ist, um unter den Millionenbauern genug Geld zu er-
werben, damit er mal seiner Idee leben kann. Diese Idee
ist die Lösung der Frauenfrage. Als Gegner der Ehe will
er die Frauen selbständig und den Männern gleichberech-
tigt machen. Aber über das Wie ist er sich noch nicht
klar. Einflüsse des Bebeischen Buches über die Frau wirken
hier neben Ibsen mit. Praktisch verwendet Schimmelpfen-
nig seine Feindschaft gegen die Ehe dazu, den Freund von
52
der Geliebten zu trennen. Er wird damit einer jener Dä-
monen, die aus Prinzip das Gute wollen und das Böse
schaffen. Sein Prinzip befruchtet hier das Prinzip Loths,
das Prinzip der Rassenzüchtung durch Abstinenz. Diese
Prinzipien spuken gelegentlich sehr fleisch- und blutlos in
ihrer dürren Blöße umher. Daneben aber steht doch in
Schimmelpfennig eine ausgeprägte Menschengestalt vor
uns, die freilich mit einem Fuß weit außerhalb des Dramas
tritt. Der Dichter, wie es auch sonst seine Art ist, hat ihm
vom Modell her allerlei Züge beigelegt, die dann für das
Stück selbst nicht verwertet sind.
Weniger glaubwürdig erscheint die wichtige Figur Alfred
Loths. Gegen ihn sind auch von Freunden des Stücks Be-
denken erhoben worden. Der Dichter selbst hat einmal
lächelnd gesagt, man habe ihm seinen Loth so oft zu ver-
leiden gesucht, daß er selbst nicht mehr recht an ihn glau-
ben wolle. Man hat diesen Loth sogar mit dem Dichter
identifizieren wollen; den Haß gegen Alkohol hatten zwar
beide damals gemein, und Loths Verliebtheit mag der
Dichter aus dem eignen Herzensleben geschöpft haben.
Aber ein Selbstporträt ist Loth nicht. Er stellt nur den
Einfluß dar, den ein volkspädagogischer Studienfreund auf
den Dichter auszuüben suchte. Wenn Loth die Leiden des
jungen Werthers für ein dummes Buch erklärt, wenn er
Dahns „Kampf um Rom" seiner Schönfärberei halber über
Zola und Ibsen stellt, wenn er von der Kunst nicht das
Seiende, sondern das Seinsollende verlangt, so sind das nie-
mals Gerhart Hauptmanns eigne Ansichten gewesen. Es
sind nur Punkte, über die er in Jena oder Zürich mit un-
künstlerischen Freunden heftig wird gestritten haben. Auch
daß Loth aus seinem Prinzip die grausamste Folgerung
53
zieht, hat der Dichter nirgend entschuldigt oder gar ge-
rechtfertigt. Der Dichter ist ganz anders als sein Held«
Aber der Dichter hätte tiefer und klarer motivieren kön-
nen. Loth verläßt sein Lenchen, wie Faust sein Gretchen
und so mancher andere sein Mädchen verlassen hat. Loth
verläßt sie nach einer jungen warmen Liebschaft von kaum
zwölf Stunden. Auch das soll oft genug vorkommen. Man
kann dazu mit Mephisto sagen: ,ySie ist die Erste nicht!*'
Und man kann dazu mit dem reumütigen Faust sagen:
, Jammer, Jammer, von keiner Menschenseele zu fassen!**
An Loth und Helene offenbart sich der Unterschied von
Verliebtheit und Liebe. Loth ist bis über die Ohren in das
reizende, sinnige Geschöpf an seiner Seite verliebt; er rührt
an den Stengel einer schönen Blume, sie zu pflücken, zieht
aber sofort die Hand weg, sobald er merkt, daß der Sumpf,
aus dem sie wuchs, die Hand beschmutzt. Für Helene da-
gegen ist die Liebe zum Manne nicht bloß ein Sinnenreiz;
sie ist ihr Rettung aus Not, Erlösung vom Übel, Freiheit,
Licht, Luft. Für ihn ist diese liebliche Begegnung ein Er-
lebnis, für Helene ist sie das Leben. Es gehört zu den
menschlichsten Irrtümern, nachdem Grade des eignen Emp-
findens den Grad des Empfindens anderer zu messen. Loth
redet sichs ein, daß der Seufzer des Scheidens und Meidens
bei Helenen nicht tiefer geht als bei ihm selbst. Loths
Treubruch hat auf den Zuschauer um so überraschender
und empörender gewirkt, als gerade dieser hübsche, freund-
lich blickende, blau- und strahläugige, blondbärtige ger-
manische Mensch durch eine Liebesszene vom Dichter
in das anmutigste Licht gestellt worden war.
Diese Liebesszene, die fast den ganzen vierten Akt füllt,
ist' Gegenstand besonderer Streitigkeiten geworden. Bei
54
der Vorstellung im Theater hat sie entzückt, ergriffen,
hingerissen. Aber die Vorurteile, die damals im flotten
Schwange waren, rieben sich auch an ihr. Man konnte sich
über sie nicht, wie über so manches andere im Stück, sitt-
lich entrüsten. Daher versuchte man, sich über sie lustig
zu machen. Ich höre noch das blöde Lachen, womit bei
der ersten Aufführung Skandalmacher den holden Frieden
dieses Idylls stören wollten, und wie sie von der Mehrheit
der innerlich beteiligten Zuhörer energisch zur Ruhe ver-
wiesen wurden. Jemand nannte dann die Szene mit einem
Lieblingsworte Theodor Fontanes „dalbrig" und ahnte
nicht, daß er diesem Liebesgestammel damit ein Aner-
kenntnis süßer Wahrheit machte. Andere warfen dem
„konsequenten Naturalisten" Inkonsequenz vor und ver-
meinten, diese Szene sei viel zu poetisch, um naturalistisch
sein zu können. Diesen Mißverständigen hat der Dichter
einmal das Scherzwort erwidert: „Kann ich dafür, daß die
Natur auch schön ist ?"
Mit Bewußtsein hat Gerhart Hauptmann dem Stoff sei-
nen Stil gegeben. Er hat ihn scharf und bestimmt in einer
so lebendigen Charakteristik der Personen ausgeprägt, wie
wir dies im deutschen Drama nicht gewohnt waren. Mag
diese Charakteristik bei Loth anfechtbar sein, so steht sie,
wie beim Doktor Schimmelpfennig, auch beim dritten der
Eingewanderten, beim Ingenieur Hoffmann, über aUem
Zweifel. Bei allen dreien ist neben lebendigen Vorbildern
ein Einfluß der „Wildente" von Henrik Ibsen nicht zu ver-
kennen; Loth, Hoff mann und Doktor Schimmelpfennig
stehen ungefähr so zueinander, wie Gregers Werle, Hjal-
mar Ekdal und Doktor Relling. Bei Hoffmann aber hat
sich das Hj almarisch- Allzumenschliche zur bewußten und
55
berechneten Gemeinheit der Gesinnung kristallisiert. Er
ist mehr als der traurige Zwitter, für den ihn Schimmel-
pfennig hält. Er ist, ganz diesseits von Gut und Böse ge-
sprochen, ein Gesinnungslump, dem die beiden andern,
besonders Loth, etwas gesinnungsprotzig gegenüberstehen.
Loth und seine beiden Jugendfreunde sind nicht die ein-
zigen, die ins Kohlendorf zuwanderten, um eine schwer-
flüssige Masse, jeder nach seiner Art, in Bewegung zu brin-
gen. Es ist auch noch ein Berliner Kellner da, der sich als
Kammerdiener verdungen hat und auf den schönen Namen
Eduard hört. Es ist ferner die liebedienerische, zwischen-
trägerische Frau Spiller da. Zwei köstliche, mit wenig Stri-
chen lebenskräftig gezeichnete dienstbare Geister, von de-
nen Er sich redlicher, Sie sich unredlicher vom Überflusse
derer nährt, die hier heimisch sind. Aber auch unter den
Einheimischen klafft ein starker Gegensatz. Es ist der
schreiende Gegensatz von Reich und Arm. Neben dem
schlemmenden Bauernpöbel die darbenden, geplackten Ar-
beiter. Einer, ein Greis, der Vater Beibst, hat sich philo-
sophisch mit seinen Schicksalsschlägen fast abgefunden und
für seine alten Tage als Andenken nur eine Brummigkeit
zurückbehalten und eine Art versteinerten Grolls. Aber in
den jungen Gutsdirnen kocht noch wild das Blut. Und von
allen der unglücklich-glücklichste ist Hopslabär, der Dorf-
trottel, eine Figur, die an Falstaffs Aufgebot heranreicht.
Es sind nur landwirtschaftliche Arbeiter, die im Stück
auftreten. Die Bergleute, die schwarzen, rußigen Gestal-
ten, die der Dichter während seiner Kinderzeit rings um
den Heimatort in dunklen Massen auf allen Wegen traf,
zeigt er nicht im Stück. Wie ein tiefes, finstres Verhängnis
durchwühlen und durchlockern sie das Erdreich. Denen
56
Schatze grabend, die zugleich durch dieses Grubenwerk
auf ihrem Grund und Boden wankend werden. Auch ohne
daß der Dichter einen Repräsentanten dieses Mavdwurfs-
geschafts erscheinen läßt, fühlt mandie düstre soziale Macht
und ihre unterirdische Massenarbeit.
Zwischen den Einheimischen und Zugewanderten
schwebt das lieblich lebendige Bild Helenens, die von sich
schon hätte sagen können, was nachmals Rautendelein, die
Elfe, empfinden lernt: „Fremd und daheim". Sie fühlt
sich als die Tochter des Trunkenbolds, der viehisch an
ihren Leib tastet, und sie fühlt sich auch als die berufene
Gefährtin des idealistischen Kämpfers für eine physische
Ädlung der Menschheit. An diesem Zwiespalt geht sie zu-
grunde; ein tragisches Schicksal, gegen dessen Fügung Ari-
stoteles kaum etwas einzuwenden gehabt hätte.
Auch gegen die Komposition des Dramas könnte Aristo-
teles kaum Einwände erheben. Die Einheit des Orts und
der Zeit ist streng gewahrt. In einem einzigen Zimmer des
Wohnhauses und auf dem Hofraum davor trägt sich wäh-
rend der Zeit von einer Nacht zur andern, ohne technische
Zwangsmaßregeln, ohne Monologe, Beiseites und ähnliche
unrealistische Eselsbrücken der Theaterspielerei mit einer
fast nachtwandlerischen Bühnensicherheit die ganze Bege-
benheit zu. Noch nie zuvor ist auf natürlichere Art ein in
sich geschlossener Vorgang auf die Bühne gebracht worden,
ohne daß die Gesetze des Lebens irgendwie verletzt wären.
Wo aber Gesetze der Kunst verletzt worden sind, da han-
delt sichs stets um leicht vertilgbare, überschüssige Einzel-
heiten. Wenn mitten in einer meisterhaften, höchst leben-
digen und abwechslungsreichen, vollkommen dramatischen
Tischszene plötzlich eine lehrhafte Abhandlung, sogar mit
57
genauen statistischen Daten, vorgetragen wird, wenn in
einem Äugenblick der Spannung zwei an der Spannung zu-
meist beteiligte Personen einander allerlei Unglücksfälle
fremder Leute erzählen, so sind das nur Beweise dafür, wie-
viel mehr Interesse der junge Dichter an seinem Stoff nahm
als an der Ausgestaltung dieses Stoffes. Aber um so be-
wunderungswürdiger ist es, daß daraus doch ein künst-
lerisches Ganzes entstand.
Im Publikum der ersten Vorstellung sind Vielzuviele
dem Beispiel des Dichters gefolgt. Auch sie sahen mehr
auf den Stoff als auf die künstlerische Gestaltung. So kam
das Werk zu seinem sonderbaren Schicksal. Als es im Hoch-
sommer 1889 fertig war, erschien „Vor Sonnenaufgang^* in
C, F. Conrads Buchhandlung zu Berlin. In der Zueignung,
die aus Erkner vom 8. Juli datiert ist, dankt der Dichter
den Verfassern des „Papa Hamlet" für die „entscheidende
Anregung", die er durch dieses Buch des „konsequentesten
Realismus" erhalten habe. Als Hauptmann es unterließ,
mit Holz zusammen an die Arbeit zu gehen, wollte er seine
tiefen Eindrücke von „Papa Hamlet" wenigstens in einer
öffentlichen Anzeige des Buches kundgeben. Das Bücher-
besprechen ist aber seine Sache nicht. Nur drei oder vier-
mal hat er sich 1887 in den Akademischen Blättern an die-
sem Metier versucht. So rettete er Dank und „freudige
Anerkennung" in jene Widmungszeilen.
Als das schlecht und auf schlechtem Papier gedruckte
Büchlein erschienen war, sandte der Verleger, Herr Acker-
mann, ein Exemplar an den damals siebzigjährigen Theo-
dor Fontane, der zwei Jahre vorher durch seinen lebens-
wahren Meisterroman „Irrungen Wirrungen" bei Schön-
geistern und Philistern so manches droUige Ärgernis erregt
58
hatte. In seiner höflich graziösen Art antwortete der alte
Herr alsbald mit einem Dankschreiben an den Verleger.
Fontane beglückwünschte ihn, ein so bedeutendes Werk
ediert zu haben. Er nannte dieses Werk ^^die Erfüllung
Ibsens^* und sprach den Wunsch aus, es aufgeführt zu sehen.
Er erklärte sich bereit, es der „Freien Bühne", die eben
damals ins Leben trat, dringlich anzuempfehlen. Dieser
Brief machte auf Gerhart Hauptmann und alle, die ihm
nahe standen, einen ergreifenden Eindruck. Gerhart war
27 Jahr alt geworden. Es war das dritte Söhnchen ge-
kommen. Eltern, Geschwister, Frau Marie, nicht am
wenigsten er selbst, waren voller Erwartung. Aber die
Jugendjahre verstrichen, und das reiche innere Leben
suchte noch immer den rechten Ausdruck, zerrieb sich
in wechselnden Plänen. Nun kam ein Etwas, vor dem
die Tanten und entfernten Verwandten baß erschrecken
mußten. Man denke nur, wie sich die alten Vockerats
über das Drama „Vor Sonnenaufgang" äußern würden!
Noch schlimmer als damals große Berliner Zeitungen.
Fest zur Sache des jungen Dichters hielten die Getreuen,
die das Werk schon vor dem Druck kannten: Bölsche,
Wille, die Geschwister Carl und Martha, die Gattin. Als
Bruder Carl das erste Exemplar der Buchausgabe mit
dankbaren Widmungsworten ins Manöver nachgeschickt
erhielt, telegraphierte er dem Dichter neckend-ernsthaft
zurück: „Tausend Freuden über Deinen ersten Schritt in
die Unsterblichkeit", So fühlten die Nächsten. Nun aber
kam ganz von außen her unerwartet eine Bestätigung die-
ser Freundeszuversicht. Und diese Bestätigung kam von
einer Seite, die ehrwürdiger und ehrender, sachkundiger
und zuverlässiger nicht sein konnte.
59
Fontanes Brief hatte wohl die nächste praktische Folge,
daß der Dichter Anfang September an den Vorsitzenden
des Vereins „Freie Bühne", Otto Brahm, ein Exem-
plar des Dramas sandte, begleitet von einem kurzen Schrei-
ben, woraus den Empfänger „trotz seinen wenigen Zeilen
eine Persönlichkeit anzusprechen schien". Zur selben
Frühlingszeit wie dieses Drama war dieser Verein entstan-
den. Während draußen im Kaefemwald von Erkner der
Dichter den Freunden das Stück vorlas, hockte drinnen in
einem Wirtshause Berlins ein ganz anderer Kreis von Lite-
raturbeflissenen nicht sehr einträchtig beisammen, beriet
die Vereinssatzungen, wählte einen Vorstand, entwarf einen
Aufruf. Hüben und drüben wußte man nichts voneinan-
der. Es vergingen Wochen, bevor man voneinander erfuhr.
Wie Bölsche schon damals in einer biographischen Skizze
richtig hervorhob, kamen die Begründer der Freien Bühne
aus einer ganz andern Ecke des ästhetischen Kriegsschau-
platzes als der Dichter der schlesischen Bauerntragödie. Im
lockeren Zusammenhang zu beiden Gruppen standen höch-
stens die Brüder Hart, die dem Dichter ihre kräftige An-
erkennung nicht vorenthielten. Erst diese Tragödie führte
beide Gruppen fester zusammen.
Als Brahm das Stück las, hatte er Fontanes Empfehlung
noch nicht erhalten. Er war bald entschieden, das Stück
aufzuführen. Erst nachdem dieser Beschluß endgültig ge-
faßt war, erfuhr er zu seiner Freude, daß damit zugleich
ein Wunsch seines alten Gönners und Freundes erfüllt wer-
den sollte. In der Tat wäre die Freie Bühne ohne Daseins-
recht gewesen, wenn sie, nach den damals noch verbotenen
„Gespenstern" Ibsens, nicht vor allen andern Stücken die-
ses verheißungsvolle Erstlingsdrama eines jungen unbe-
60
kannten Deutschen dem Publikum und nicht am wenig-
sten dem Verfasser selbst vorgestellt hätte.
Schon durch die Aufführung der „Gespenster" am
30. September war die Freie Bühne in den Mittelpunkt
des künstlerischen Interesses getreten. Schon die Wahl der
„Gespenster" hatte erhitzte Anhänger und Gegner geschaf-
fen. Begierig fragte man in beiden Lagern: was wird das
Nächste sein ? Dieses Nächste lag im Buchhandel vor. Je
mehr davon bekannt ward, desto mehr ward es gelesen.
Schon lang vor der Aufführung stritt man bei allen Bier-
und Kaffeetischen nicht so sehr über den Wert des Stücks
als über seine Auff ührbarkeit. Sollte man wirklich die Drei-
stigkeit haben, derartige Szenen, wie sie hier ein Anfänger
wagte, auf eine noch so freie Bühne zu bringen ? Was kam
nicht alles an Greueln in den fünf Akten vor! Im ersten
Akt ging es noch! Da sollten wir bloß zur Enthaltsamkeit
bekehrt werden, damit unser Nachwuchs kräftig werde.
Jedoch schon im zweiten Akt : ein betrunkener Bauer ver-
greift sich auf offener Szene an seiner eigenen Tochter, und
der Verlobte dieses Mädchens schleicht vor Tagesgrauen
unvollständig bekleidet aus der Schlafstube ihrer Stief-
mama. Im dritten Akt will der Mann einer Wöchnerin
seine junge Schwägerin kirren, und wir erfahren, daß die
Wöchnerin samt ihrem Söhnchen durch Vererbung dem
Trunk ergeben ist. Im vierten Akt macht ein Kretin Luft-
sprünge. Und nun gar im fünften! Da hört man aus der
Nebenstube das Wimmern einer Gebärenden! Und das
alles sollte auf die Bühne ? Wenn das geschah, dabei sein
mußt' ein jeder. Aber jeder mußte auch seine gehörige
Tracht sittlicher Entrüstung und ästhetischer Empörung
mitbringen. Zugleich suchte man durch anonyme Droh-
61
und Wambriefe die mutigen Schauspieler, vor allem die
treffliche Else Lehmann, einzuängstigen. Während dieser
Vorbereitungszeit machte auch ich die persönliche Be-
kanntschaft Hauptmanns, von dem ich bis zum September
1889 höchstens den Namen gehört hatte. Er war damals
von einer scheuen Schweigsamkeit durchdrungen. Die
Worte lösten sich nur schwer von der Zunge. Auf jeder
Probe wurden mit Zustimmung des Dichters Längen be-
seitigt und die gewagtesten Kraßheiten gemildert, ohne
daß der Grundcharakter des Dramas und seiner „handeln-
den Menschen*^ dadurch beeinträchtigt war. So konnte
es geschehen, daß die Wöchnerin überhaupt nicht gewim-
mert hatte, als im Parkett das Sinnbild der Empörung, eine
Geburtszange, durch die sengende Luft des Lessingthea-
ters geschwungen wurde.
Diese Aktion in der Aktion war der Höhepunkt wilder
und wüster Lärmszenen. Denn zu einer Ablehnung des
Stückes kam es nicht. An den Protesten der Gegner er-
wärmte und erhitzte sich der Beifall derer, die in diesem
neuen Werk Jugend, Kraft, Mut und eine große dichte-
rische Gabe begrüßten. Diese Freunde tobten schließlich
ebenso wild wie die Gegenpartei. Und nach den Aktschlüs-
sen auf der Bühne mußte der junge Dichter dem tollsten
Hexensabbat standhalten.
Damals sah auch Theodor Fontane seinen Proteg6
zum erstenmal von Angesicht zu Angesicht, und er schrieb
der Vossischen Zeitung über diesen persönlichen Eindruck:
„Statt eines bärtigen, gebräunten, breitschvdterigen Man-
nes mit Schlapphut und Jägerschem Klapprock erschien ein
schlank aufgeschossener, junger, blonder Herr von untade-
ligstem Rockschnitt und untadeligsten Manieren, verbeugte
62
sich mit einer graziösen Anspruchslosigkeit, der wohl auch
die meisten seiner Gegner nicht widerstanden haben. Einige
freilich werden aus dieser Erscheinung, indem sie sie für
höllische Täuschung ausgeben, neue Waffen gegen ihn ent-
nehmen und sich gern entsinnen, daß der verstorbene Ge-
heime Medizinalrat Casper sein berühmtes Buch über seine
Physikats- und gerichtsärztlichen Erfahrungen mit den
Worten anfing: Meine Mörder sahen alle aus wie junge
Mädchen." Fontane hat den „Mörder" mit ungeschwäch-
ter Teilnahme, wenn auch nicht immer mit gleicher Zu-
stimmung (für „Hanneles Himmelfahrt" empfand er zu
berlinisch-rationalistisch) bis an die „Versunkene Glocke"
begleitet, also bis er starb. Kurz vorher hatten wir mit Ger-
hart Hauptmann an des Alten Tische noch einmal f ein-
stens gespeist, getrunken und geplaudert. Die erste Vor-
stellung der „Versunkenen Glocke" stand unmittelbar be-
vor. Da apostrophierte er seinen Gast in huldigender Paro-
die durch den Vortrag seines im Texte leicht geänderten
Jakobitenliedes:
• Sie ließen Weib und Kind zurück,
Wohlan, so. tun auch wir.
Wir baun auf Gott und gutes Glück
Und auf den Kavalier;
O Charlie ist mein Liebling,
Mein Liebling, mein Liebling,
O Charlie ist mein Liebling,
Der junge Kavalier.
Wenn Hauptmann literarisch bewanderter gewesen
wäre, so hätte er sich sagen müssen, daß, seitdem es ein
Theater gibt, nur ganz wenige Dramatiker in einer so krie-
gerischen Situation die Feuertaufe empfangen haben. Die-
sel Toben der Menge konnte seiner Zukunft bloB zwei
Wege weisen. Brüllte man ihm dort unten ziun Sieg oder
63
zum Untergang? Ein dritter Weg, die talmine Mittel-
straße, war nicht mehr zu gehen. Sieg oder Untergang!
Diese Frage stand auch in zwei großen dunklen Äugen,
deren prüfender Blick aus der Loge heraus klug und ge-
spannt bald auf die Bühne, bald in den Kampf und Streit
spähte. Das Haupt der jungen Frau hob sich seitwärts.
Ihre Seele schien ruhig. Sie sah Sieg. Sie sah den Weg
zum Ruhm. Einen Weg, auf dem es nicht leicht ist, Hand
in Hand zu bleiben.
Der junge Gatte dieser stillen Frau trug sein Schicksal
getrost. Vielleicht war es Glück für ihn, daß er Stimmun-
gen, in die ihn sonst diese Hetze hätte treiben können, be-
reits vorher durchlebt und, wie es scheint, überwunden
hatte. Stellen im „Promethidenlos" deuten darauf hin.
Schon damals war er auf Streit gefaßt gewesen:
Beim Saitenspiele muß die Waffe blitzen,
Und weh dem Sänger, der den Frieden singt I
Auf seinem Schilde muß die Wahrheit sitzen,
Die er im Kampfe selbst dem Feinde bringt.
Er wußte schon vorher, wie weit der Weg, auf den ihn
das Mitleid mit dem Elende der Welt sendet, vom Wege
der Menge entfernt ist, die im Theater vor allem das sucht,
was sie Vergnügen nennt.
Er martert sich und wälzt in trüben Qualen
Sich hin und her und fragt zu tausend Malen:
Ob er denn wirklich solch ein Unhold wäre,
Der nur der Menschen stillen Frieden störe.
Und wies zu Ende geht, da wills ihn dünken.
Als sei er wert, im Meere zu versinken.
Nach dem 20. Oktober 1889 hatte Gerhart Hauptmann
kein solch verzweifeltes Bedenken mehr. Aus allem Zank
und Lärm zog sich der „Friedenstörer" hinter eine neue
Arbeit zurück, die er „Das Friedensfest" nannte,
64
DAS FRIEDENSFEST. DER APOSTEL. EINSAME
MENSCHEN
Schon Anfang 1890 erschien „Das Friedensfest" in
der kurz vorher von Otto Brahm begründeten Wochen-
schrift „Freie Bühne für modernes Leben". Im Juni ward
es im Verein Freie Bühne als letzte Vorstellung des ersten
Spieljahrs aufgeführt. Es geschah an einem hellen Sommer-
tage, der im größten Kontraste stand zu der trostlosen
Winterstimmung des Dramas, das dem Publikum weniger
Abscheu als Scheu einflößte. Bereits im November des-
selben Jahres las der Dichter in Charlottenburg sein drittes
Drama vor. Es hieß mit einer Kakophonie im Titel „Ein-
same Menschen". Ich habe es seither oft aufführen
sehen; es sind hervorragende Schauspieler darin aufgetre-
ten, der interessanteste war Ermete Zacconi; aber ich habe
von dieser zarten Dichtung nie einen tief ern Eindruck emp-
fangen als damals, da der Dichter selbst vorlas. Das Werk
erschien zu Neujahr ebenfalls in der Zeitschrift Freie Bühne
und kam auch sofort im Verein Freie Bühne zur ersten Auf-
führung. Durch dieses Stück eroberte sich Gerhart Haupt-
mann schon große, vornehme öffentliche Theater. Adolf
L'Arronge Heß es, freilich um den mittelsten der fünf Akte
schmählich verkürzt, im Deutschen Theater, Max Burck-
hard Ueß es im Hofburgtheater zu Wien aufführen.
Wer vom „sozialen" Drama „Vor Sonnenaufgang" zu
diesen „Familienkatastrophen" gelangt, hat das Gefühl,
aus Feldern, Hof und Garten ins Innere eines Hauses zu
treten. Dort war die Familie des Bauern Krause ein Typus.
» 65
Die vier Wände aber, in denen „Das Friedensfest" began-
gen wird, die vier Wände, in denen „Einsame Menscben"
leben, lieben und leiden, umschließen ein eigentümliches,
absonderliches Menschenschicksal. Hier wie dort drängen
sich im engen Raum nur wenige Personen, sechs oder acht,
an, auf, gegeneinander. Gerade durch die Enge der Ver-
hältnisse, durch Gleichartigkeit des Bluts bei Altersunter-
schieden entstehen Reibungen, Erbitterungen, Quälereien,
die sich bis zur Unversöhnlichkeit, bis zur Verzweiflung
steigern.
„Einfach furchtbar", wie Doktor Schimmelpfennig von
den Zuständen des Witzdorfer Bauernhofes sagte, sind
auch im „Friedensfest" die Zustände der Familie Scholz.
Der Vater und die beiden Söhne haben sich jahrelang
in der weiten Welt umhergetrieben. Sie konnten die See-
lenlast, die sie an heimische Vorgänge drückend mahnt,
nicht los werden. Zu Hause sitzen Mutter und Tochter.
Beide quält die gleiche Last. Die Selbstqualen arten in
Zank und Vorwurf aus. Jeder sucht im andern die Schuld.
Jeder ist bereit, sich gegen den andern mit dem dritten und
dann wieder gegen den dritten mit dem andern zu verbün-
den. Und doch gelingt es keinem, sich selbst ganü: frei zu
sprechen. Alle fünf verbeißen sich im Glauben an eine
Schuld und fühlen nur dumpf, wie abhängig sie allesamt
von heimlichen Gewalten sind, die in ihrem Fleisch und
Blut leben, gegen die ihr Wille nicht ankann, in denen die
Unabänderlichkeit ihrer Naturen besteht. So gewähren sie
das Bild von Fliegen, die sich im Spinnennetz zu Schanden
zappeln. Der sogenannte „gute Wille" zum Familienglück,
zum Friedensfest lockt oft genug. Hier schüttelt der Bru-
der dem Bruder die Hand. Hier schließt der Vater den
66
Sohn in seine Arme. Dort hii^ die Toditer am Halse des
Vaters, and bald Ton dem, bald Ton jenem wird Mütter-
chen gehätschelt. Aber immer wieder legt sich mit schwe-
rem, unsichtbarem Drack eine Gctsteihand auf diese ban-
genden Seelen, und im Handumdrehen ist alles wieder
beim schlimmen Alten. Unselige Menschen gehen hoff-
nungslos durch ihr Schicksal, das an ihre Familienart ge-
bunden ist.
Der alte Vater ist schon nah am Zid., Unverhc^ kehrt
er heim, um sich zu übeizeugen, daß alles noch beim Selben
ist, und unter dem Eindruck, Altes werde wieder neu, stirbt
er. Die Mutter wird sich weiter durdi ihr elendes Dasein
quangeln, und in ihr beschränktes Gehirn wird sich die
Frage: „Wer hat Schuld ?^^ so lange einbohren, bis auch
sie nicht mehr sich und andere umjammem kann. Der äl-
tere Bruder geht verdrossen und zynisch an irgend ein
gleidi^ültiges Tagesgeschäft. Er wird leben, weil er ohne
Hoffnung und ohne Ächtung vor sich selbst, ohne Glücks-
gefuhl und ohne Glücksvedangen leben kann. Die Toch-
ter, schon recht säuerlich, ein Geschöpf ohne Anmut des
Körpers und der Seele, wird ganz versauern, und ihr dürf-
tiges Herz wird den Trost finden: „Die andern hatten
Schuld". Von allen der Unglücklichste aber ist der jüngere
Sohn. Denn er hat den frdesten Blick, das zarteste Gewis-
sen. In il^tn liegen Keime zum Glücklichsein und Glück-
lichmachen. Was in der Natur der Eltern Gutes war, hat
sich auf ihn gesteigert vererbt: geniale Züge des Vaters,
die musikalische Begabung und Neigung der Mutter. Aber
eben darum, weil er feiner fühlt als die anderen, ist auf ihn
die schlimmste Erbschaft gdcommen. Ihn quälen und reuen
knabenhafte Verirrungen zumeist. Er ist der Einzige,
5* 69
der sich zu einer Tat moralischer Empörung aufgerafft
hatte, und auch diese Tat, edel in ihren Motiven, frevel-
haft in ihrem Ziel, muß er bereuen: er züchtigte mit eige-
ner Hand den Vater, weil dieser die Mutter beschimpft
hatte. Gerade in ihm wiederholt sich das Wesen des Va-
ters. An der Vergangenheit des Vaters sieht er das Bild
seiner eigenen Zukunft.
Es liegt in diesem jungen Menschen so viel zur schönen
Entwicklung bereit, so viel, was nach Hilfe, nach Rettung
ruft, daß es wunderbar wäre, wenn nicht auch Rettungs-
versuche angestellt würden. Zwei Frauenherzen sind ihm
gut. Sie lieben sein zartes, feines, künstlerisch angelegtes
Wesen; was dumpf auf ihm lastet, jenes Unheimlich-Heim-
liche glauben diese naiven Optimisten mit guten, sanften
Händen wegstreicheln zu können. Mit milder Gewalt lei-
ten sie ihn am Weihnachtsabend zum Friedensfest ins
Elternhaus zurück. Aber ihre Nächstenliebe ist machtlos.
Mit Entsetzen sieht die Frau, die dem Geliebten ihrer
Tochter mehr als schwiegermütterlich zugetan ist, wie sich
ihr treues, reines Kind in fremde Schicksale gefährlich ver-
strickt. Den zappelnden Fliegen im Spinngeweb flattert
ein junges Libellchen zu. Die kleine Ida Buchner handelt
anders als Alfred Loth. Sein männischer Egoismus ließ
lieben lieben sein und ging beizeiten aus der Luft, die er
für verseucht hielt. Idas weibliche Hingegebenheit hängt
sich, je kränker sie ihn findet, desto inniger an den Lieb-
sten; und in dieser Situation müssen wir am Totenbett des
Vaters, dem der Sohn so ähnlich wird, das junge Paar ver-
lassen. So wenig Hoffnung der Dichter gibt, so läßt er doch
zuletzt die Frage offen, ob Idas starkem, demütigem Glau-
ben an den GeUebten nicht doch das Rettungswerk glücken
68
wird, das die kleinmütige Zweifelsucht der alten Mutter
Scholz nie hat vollbringen können. Vater Scholz ist dem
Verfolgungswahn erlegen: schon gaukeln die Gespenster
dieser Erbschaft auch durch das Hirn des Sohnes. Wird es
einer Frauenhand glücken, sie von dort zu verscheuchen ?
Der Dichter sagt weder Nein noch Ja.
Eine düstere und dicke Wolke liegt wie über den Vor-
gangen, so über den Gemütern in diesem Familiendrama.
Der psychiatrische Eindruck waltet vor. Es ist kein Zufall,
daß beinah in derselben Zeit, als er dieses Drama schrieb,
der Dichter zugleich eine novellistische Studie aufzeich-
nete, die durchweg aus dem Psychologischen ins Psychiatri-
sche übergreift und mit sicherer Hand das Wesen eines
starken, eigenwilligen, aber schwer erkrankten Geistes ge-
staltet. Es ist auch kein Zufall, daß dieser „Äpostel^^, der
skizzenhafte Vorläufer Emanuel Quints, gerade in Zürich
seinem unvermeidlichen Schicksal, dem Irrenhaus, ent-
gegengeht; denn Züricher Eindrücke, der Verkehr mit
August Forel und seinen Schülern, haben Hauptmanns In-
teresse für anormale Geistes- und Seelenzustände gestei-
gert und durch Erfahrungen bereichert. Jener Apostel,
der sich auch äußerlich vom Gros der Menschen unter-
scheiden will, der sich kleidet wie der Münchner Maler
Dieffenbach, der ein Gegner der animalischen Kost ist, der
auch die Sitten und Gewohnheiten der Menschen auf den
einfachsten und reinsten Zustand der Natur zurückführen
will, sucht mit einer krankhaften, abnormen Begier das Na-
türliche und Gesunde, und je mehr er sich in diesem Stre-
ben von den Übrigen getrennt sieht, desto mehr wächst
ihm das Selbstgefühl; er dünkt sich wie Jesus Christus; ihm
ist vor seiner Gottähnlichkeit nicht mehr bange. Wie hier
69
den Größenwahn, so hat der Dichter im „Friedensfest"
die Kehrseite des Größenwahns, den Verfolgungswahn, ge-
schildert, nicht wie dort in einem ausgeprägten, entwickel-
ten klinischen Fall, sondern als das nahende Unglück, das,
nur halb gefühlt und halb verstanden, wie eine gefürchtete
Epidemie die Gemüter der Beteiligten umlauert.
Aus den psychiatrischen Abgründen steigt Gerhart
Hauptmann in seinem nächsten Drama „Einsame Men-
schen" wieder zu der sogenannten normalen Gesundheit
der Seelen empor. Aber so wenig wie die Natur in dieser
monistischen Welt, so wenig gelangt auch der Dichter an
das ideale Ziel solcher Normalität. Ein Nebelstreif aus je-
nem Abgrund hängt sich vor allem an die Gestalt des Hel-
den dieser neuen Dichtung, des jungen Forschers Johannes
Vockerat. Wie Helene Krause in „Vor Sonnenaufgang", so
endet auch er durch Selbstmord. Das Drama seines Le-
bens hat also den vielbegehrten „Schluß". Haben auf „Das
Friedensfest" in seiner strengeren Orts- und Zeiteinheit,
seiner festem Geschlossenheit, seiner Einheitlichkeit dump-
fer, trüber Stimmung, der Unentrinnbarkeit seines Schick-
sals, der knechtischen Gebundenheit des menschlichen Wil-
lens, in seinem Fluch von Alters her Henrik Ibsens „Ge-
spenster" eingewirkt, so stehen die „Einsamen Menschen"
unter dem Einflüsse von Ibsens „Rosmersholm". Auch hier
sind, wie in „Rosmersholm", die Einheiten des Orts und
der Zeit nur wenig gelockert. Aber es öffnet sich hier nicht
wie im „Friedensfest" und in den „Gespenstern" bloß der
eine schmale Schicksalspfad, der durch Nacht und Nebel
notgedrungen beschritten werden muß. In diesen späteren
Werken der Dichter ist das Leben farbiger und weiter ge-
worden. Freilich ist eben darum die Entwicklung der Vor-
70
gange nicht mehr so zvöngcnd, nkht mdir so übeneugend
wie dort. Ibsen wie Hauptmann haben das MotiT der Ver^
erbnng jetzt zurückgesetzt. Dafür treten erworbene g^-
stigeMädite hindernd und Terstiidcend in den Weg. Nicht
mehr Famüienblut, sondern Famifiengdst führt durch Kon-
flikte zum tragischen Ausgang. Es geschieht kein plumpes
Unrecht; es sind lauter gute und anstandige Menschen, die
hier einander quälen Ihs auf den Tod. Der Zwiespalt li^
weniger in den Charakteren als in der yerschiedenen Auf-
faissung des Lebens. Eltern und Kinder, Mann und Frau,
ja sogar die beiden Rivalinnen haben einander von Herzen
lieb, aber sie verstehen einander nicht. Und nur weil der
durch Sohnespflichten, Gattenpflichten, Vaterpflichten an
den engsten Daseinskreis gebundene Mann in seinen tief-
sten Empfindungen und höchsten Ideen von einem frem*
den Mädchen gut verstanden wird, wächst ohne Rücksicht
auf den Unterschied der Geschlechter eine Freundschaft
auf, die dem kurzen Blick der andern verdächtiger scheint,
als sie ist. Aber erst die Furcht vor der Gefahr beschwört
die Gefahr herauf. Erst das Warnzeichen weist auf den Ab-
grund. Ein nur durch sich selbst erklärliches Seelenbünd-
nis wird vor den allgemeinen Sittenkodez gestellt und ver-
liert dadurch seine unbefangene Reinheit. Die Tugend-
wacht, die auch etwas Zionswacht ist, bläst Feurio, und
erst dadurch, daß in die sanften Dämmerungen zweier See-
len ein grelles Licht getragen wird, steht alles in Flammen.
Erst als das Herz vom Herzen weggezerrt wird, fangen diese
Herzen an zu bluten, und das eine bricht. Aber alles, was
so brutal, so blind lärmend, so heimtückisch wirkt, ist aufs
beste gemeint; Liebe wird vernichtet durch Liebe. Die
Dichtung durchzittern dunkle Gewalten, die von Mensch
71
zu Mensch herüberwirken, ohne böse Absicht, im besten
Glauben, im Namen Gottes.
Der Schauplatz der „Einsamen Menschen" liegt von dem
des „Friedensfestes" nicht weit ab. Spielte „Das Friedens-
fest" in einem imaginären Landhaus auf dem Schützen-
hügel bei Erkner, so spielen die „Einsamen Menschen" in
einer Villa zu Friedrichshagen, wo damals die Bölsche und
Wille, die Brüder Hartu. a. ihre zigeunerhaft leichten Zelte
aufschlugen. Von der Veranda übersieht man den Müggel-
see. Aus der Ferne hört man bei günstigem Wind das Läu-
ten der Bahnhofsglocke, das Pfeifen des Zuges. Ein junger,
begabter, nicht unbemittelter Naturforscher, Johannes
Vockerat, hat sich in diese nervenstärkende Ländlichkeit
zurückgezogen, um sein Erstlingswerk über psychophysi-
sche Probleme abzuschließen.
Dort draußen am Müggelsee gebar Frau Käte Vockerat
den Stammhalter. Vockerats Eltern sind von ihrem Gut
zur Taufe gekommen. Auch noch ein anderer Tauf gast ist
da, der Maler Braun, ein Studienfreund des jungen Vocke-
rat. Kein größerer Gegensatz als zwischen ihm und den
beiden Alten! Alle drei gute Seelen, stehen sie sich gegen-
über wie „die liebe alte Zeit", an die man sich lächelnd
erinnert, und die Verdrießlichkeit des Augenblicks, den
man just erlebt. Die Alten gehen in herrnhutischer Le-
bensweisheit und Lebensweise auf. Sie lieben die Welt um
Gottes und Gott um der Welt willen. Ohne Muckerei,
Starrheit und Duckmäuserei haben sie ihr „Vergnügen in
Gott". Sie beten und arbeiten und sind nicht ängstlich,
auch mal auf einem dummen Witzchen oder sonstiger klei-
ner WeltUchkeit ertappt zu werden. Denn ihr lieber Gott
ist ein leutseliger Herr, der den Gläubigen eins durch die
72
Finger sieht: freüich — merk dir das Johannes — nur den
Glaubigen!
Frisch, froh und fromm haben die alten Vockerats bei
Gottes Wort und gutem Landschinken ihr einziges Kind
erzogen, ihren Johannes. Aber dieser Knabe wuchs mit
eigenem Sinn in eine neue Zeit und in neue Gedanken
hinein. Von Geroks Palmblattem ging er zum Darwin-
deuter HaeckeL Und in derselben Sphäre, wo das harm-
lose Faultier Braun ohne viel Federlesens ein platter Got-
tesleugner wurde, rang sich Johannes Vockerat in peinvol-
lem Seelenkampf den Glauben der Väter vom Herzblut
weg. Er ward ein gewissenhafter Evolutionist und Monist,
der sich auf seinem angenommenen Standpunkt noch nicht
heimisch fühlt und darum desto hitziger streitet, je weni-
ger er in sich selbst sicher ist. Die Wunde blutet fort, da
er sein Weib nahm, ein indifferentes liebes Wesen, und
sein Kind bekam. Auch jetzt, da er das Söhnchen nach
dem Wunsche der Großeltern kirchlich taufen läßt, findet
er zwischen Lebensgewohnheit und Weltanschauung kei-
nen Ausgleich. Dieser Mangel an geistiger Überlegenheit
und ethischer Freiheit verstimmt ihn selbst. Wie an seiner
Stubenwand neben Priestern im Talar moderne Forscher
hängen, so hängen in seiner Brust durcheinander anerzo-
gene Gefühle und selbsterworbene Ansichten. Das macht
den Reizbaren innerlich krank. Wer aber am tiefsten dar-
unter leidet, ist die kleine, vom Wochenbett noch angegrif-
fene Frau, die sich nur auf ihn stützt und mit der wanken-
den Stütze selber wankt.
Es ist Stickluft in dieser nur von guten Menschen be-
wohnten Stube. Wenn aber die Tür aufschlägt, wer weiß,
ob der Zugwind beleben oder erkälten wird ? Die Tür geht
73
auf. Herein zieht im Herbstwind von ungefähr, wer weiß
woher, ein fremder Gast. Fräulein Anna bleibt zum Ge-
vatterschmaus, sie bleibt über Nacht, sie bleibt tagelang,
wochenlang. Sie hilft der Mama Vockerat in Hausgeschäf-
ten, sie schließt mit Frau Käte Duzfreundschaft; mit Jo-
hannes rudert sie auf dem See, wandelt sie durch den Wald,
durchprüft sie seine Arbeit, plaudert und diskutiert sie.
Er fand endlich einen Widerhall seines Innern und ist
glückselig. Nicht nur sein Geist, auch seine Nerven erfri-
schen sich. Sein Herz aber schweigt noch. Beide denken
nichts Schlimmes. Es bleibt bei „Fräulein Anna^^ und
„Herr Doktor" auch im Zwiegespräch und in der Dunkel-
stunde, bis zuletzt. Und als sie eines Tages merken, daß
Braun in den Bart brümmelt, daß Mama Vockerat ihren
ehrlichen Altweiberkopf schüttelt, daß Frau Käte sich
härmt, daß „die Leute schon darüber reden"; daß Gale-
Otto unterwegs ist, — da sind sie schwer betroffen. Die
Notwendigkeit einer Trennung zeigt ihnen erst, wie nah
sie sich getreten sind. Und je angstvoller sie's vor einander
verbergen wollen, desto schmerzlicher brichts hervor. Der
Mann wird reizbarer, launischer, ungemütlicher denn je;
das Mädchen hält ihr tapferes Herz krampfhaft fest. Aber
auch sie kann nicht hindern, daß sichs immer schwerer und
immer dichter über ihnen wölkt. Sie vermag nicht ganz
ihre stürmische Brust der Gattin des Freundes zu ver-
schließen, und dem kurzsichtigen Kleinmut der guten
Mutter zeigen sich sündhafte Gespenster. Aus dem un-
rechten Glauben sieht diese „alte erfahrene Frau" in der
Befangenheit ihres Herzens unrechte Werke kommen; sie
ruft sich ihren Mann zu Hilfe, und die das Unglück ver-
hüten wollen, führen es herbei. Der Argwohn der andern
74
erst bringt etwas Gefährliches in dieses Verhältnis. Aber
Fräulein Anna geht nach einigem Zögern wirklich. Die
Trennung besiegelt der erste und einzige, der „brüder-
liche" Kuß. Das Mädchen geht, woher sie kam, ins un-
gewisse Weite. Wird ihr starker Sinn überwinden ? Wer
weiß es ? Ihr Wille war freier in der Einsamkeit ihrer Seele.
Der Wille des Mannes dagegen war gebunden an Verhält-
nisse, die ihn mit dem stärksten Kitt, dem Herzen, halten:
durch Eltern, Weib, Kind. So kommt er, äußerlich ge-
trennt von der geliebten Freundin, innerlich getrennt von
seinen Nächsten, gebrochen durch Sehnsucht und Eltern-
gram, in eine Seelenverfassung, die ihn zum Selbstmord
treibt. Er stürzt sich in den Müggelsee. War das, wie Papa
Vockerat deuten wird, der unerforschliche Ratschluß eines
strafenden Gottes ? Oder war es, wie Anna in der Ferne
denken wird, der zarte, vom Kampf der heiligsten Emp-
findungen zerriebene Lebensnerv, den keine Willenskraft,
keine Willensfreiheit stählte ? Der Dichter löst diese ewige
Frage nicht; aber er zieht doch aus seinem Drama einen
Schluß. Die kleine verlassene Frau, die einfältigste von
allen, hat plötzlich die klarste Vorstellung, wie es kam. Ihre
reine Neigung zeigt ihr plötzlich alles deutlich. In ihrer
Herzensangst um den Verlorenen, dem sie „nichts zu ver-
zeihen hatte", rafft sie sich zum erstenmal zu einer ent-
schlossenen eignen Meinung auf und ruft, doch wohl mit
des Dichters Stimme: „Mutter! Vater! Ihr habt ihn zum
Äußersten getrieben! Warum habt Ihr das getan?" Der
Vorwurf kommt zu spät. Johannes liegt draußen im See.
In der Widmung des Buches erklärt Gerhart Hauptmann,
er lege sein Drama in die Hände derjenigen, die es gelebt
haben. Die meisten kommen mit blauem Auge davon;
75
denn die meisten trösten sich und überwinden, resignieren
und kompromittieren. Aber unter Hunderten ist immer
einer, der dran glauben muß, der die Schlußfolgerungen
seines Schicksals zieht. Das ist dann, so individuell und be-
sonders sich dieses Schicksal auch gestalten mag, der typi-
sche Fall, das von der Natur statuierte Exempel, die große
einzige dichterische Eins, welche all die vielen Zufallsnullen
der Wirklichkeit hinter sich her führt und ihnen erst den
hohen Nennwert gibt. Auch der sogenannte Naturalismus,
sofern er poetische Rechte besaß, mußte über die Nullen
fort auf die große Eins losgehen. Das hat Gerhart Haupt-
mann von allem Anfang seiner steigenden Dichterkraft ge-
fühlt und durch sein drittes Drama in freier Herrschaft
über die natürliche Kunstform erreicht. In den „Einsamen
Menschen", aus dem Wiegenliede des kleinsten Vockerat,
aus dem Abschiedsliede des fliehenden Mädchens konnte
schon ein Ton der „Versunkenen Glocke" herausklingen.
Die Empfindung, die dort im Wohllaut gebundener Worte
üppig daherrauscht, tritt hier schlichter, reiner, näher,
menschlicher ans Herz. Die Verse und Bilder des Märchen-
dramas tragen den, dem sie sich einmal geneigt haben,
leichtern Flugs über sich selbst empor. Viel schwerer
scheint es, und von Zeit zu Zeit ist es verdienstvoller, das
Gold der Poesie in der Sprache des Lebens, in den Wesens-
zügen der Nächsten, in den Schicksalen des Alltags zu fin-
den. Das ist dem Dichter der „Versunkenen Glocke" in
den „Einsamen Menschen" schon sechs Jahre früher ge-
glückt. Ohne seinen Schritt metrisch zu beflügeln, trat er
vor die Tür des eigenen Hauses, aufs eigene Gartenland, im
Hausrock und ungespornt, und grub dort mit seinem Spaten
das Schicksal ringender Menschen unseres Lebens ans Licht.
76
Hier wie dort, im Märchen wie im Leben, dasselbe
Schicksal, aus ähnlichen Naturen geboren! Ein jüngerer
Mann, der (Künstler oder Forscher) zu Höherem geistig
aufstrebt, wird durch seine liebevolle, auch von ihm herz-
lich wieder geliebte Umgebung gewaltsam seinem Ziel ent-
zogen. Seine Hausfrau bleibt nicht auch die Gefährtin sei-
nes seelischen Lebens. Ein anderes Frauenbild tritt an ihn
heran, aus einer fremden Welt, und öffnet ihm die Äugen
für weitere Fernen. In der Berührung mit ihr fühlt er sich
seinem Ideal entgegenwachsen. Wäre er frei, so würde
sie vielleicht sein guter Engel. Dem Gebundenen aber,
dem Verpflichteten, wird sie zum Dämon. Im Steigen, im
Folgen stürzt er und geht zerrieben unter.
Wer von diesem gemeinsamen Grundmotiv aus das Mär-
chendrama wie das Lebensdrama ansieht, für den wird das
Lebensdrama viel gewinnen. Denn es ist leichter, an der
Hand mythischer Überlieferungen störende Naturkräfte
von außen her körperlich wirken zu lassen, als unsichtbare
Mächte, die im eigenen Busen walten, nur aus ihrer inneren
Seelenkraft heraus unkörperlich zur dramatischen Anschau-
ung zu bringen. Sinnbilder, auch wenn sie einer Fabelwelt
gehören, nehmen die Formen des menschlichen Leibes an
und bringen so ihre eigene Plastik mit sich. Innere Zu-
stände und Vorgänge der Seele, die dieses bequemeren
Hilfsmittels entbehren, bedürfen einer feineren, zarteren
Kunst, um verstanden und nachempfunden zu werden.
Die Gewissensqualen Heinrichs des Glockengießers wer-
den uns sehr deutlich, wenn ihm Nickelmann im Traum
erscheint, wenn die Seelchen seiner Kinder den Krug mit
Mutters Tränen zu ihm heraufschleppen. Einen so wun-
dervollen Zauber durfte der Dichter seinen beiden ein-
77
Samen Menschen, der Züricher Studentin und dem Dar-
winisten, nicht aufbauen. Hier mußte er sich seine poetischen
Stimmungsmittel aus der Älltagswirklichkeit holen, wo sie
schwerer zu finden sind, weil sie gekettet tief im Grunde
der Seelen liegen, und nicht schon die äußere Situation sie
verklärt. Hier werden die Menschentränen nicht im Krüg-
lein gesammelt und über Berg und Tal getragen. Man muß
sie einzeln in ihrer Verlorenheit blinken und perlen sehen;
aber wer auch nur eine einzige davon erlauscht und weh-
mütig einfängt, den dünkt sie das Poetischste von allem;
poetisch wie Tropfen Tau am Grashalm.
Eine solche Tautropfenpoesie zittert und schimmert
durch die „Einsamen Menschen". Wenn Anna Mahr „das
dünne Hälschen" der armen Frau Käte halb häßlich be-
höhnt, halb liebevoll vertröstet, und Elätchen der geistig
überlegenen Rivalin antwortet: „Es hat nicht viel Ge-
scheits zu tragen, Anna!", wenn die unfrommen Arbeits-
menschen zwar die Wespe, aber nicht das Bienchen vom
Frühstückstische scheuchen, so ist dies nicht minder poe-
tisch als Rautendelein, das elbische Wesen.
In der dramatischen Konstruktion könnten hinter dem
fest und knapp gefügten „Friedensfest" her die „Einsamen
Menschen" als künstlerischer Rückschritt gelten. Wie un-
ruhig und unwillkürlich in dem Friedrichshagener Garten-
zimmer die Türen geöffnet und geschlossen werden, fiel
mir am störendsten bei einer holländischen Vorstellung
auf, wo die Sprache einige Schwierigkeit machte und durch
das, was sich dem Ohr entzog, das Auge desto schärfer und
achtsamer wurde. Ein Theaterroutinier, der auf Schlag
und Gegenschlag sinnt, ist Gerhart Hauptmann nicht.
Man schiebt das gewöhnlich auf Mangel an sogenannter
78
Handlung. Auf diesen Vorwurf erwidert im Motto zum
„Friedensfest" der Dichter selbst mit Worten Lessings aus
dessen Abhandlung über die Fabel.
So wenig die moderne Ästhetik mit Recht auf Defini-
tionen ausgeht, so sehr sie sich gerade durch die Mißach-
tung der Definition auch von Lessing unterscheidet/ so
möchte ich doch gegenüber dem Vorwurf der Handlungs-
losigkeit, der auch noch späteren Werken Hauptmanns ge-
macht worden ist, an Lessings Definition der poetischen
Handlung nicht ganz vorübergehen. Handlung nennt Les-
sing „eine Folge von Veränderungen, die zusammen ein
Ganzes ausmachen". Zur Handlung genügt für Lessing
nicht eine Veränderung, genügen nicht mehrere Verände-
rungen, die nur nebeneinander, sondern bloß solche Ver-
änderungen, die auf einander folgen. Wervon dieser Doktrin
aus die beiden Familienkatastrophen Hauptmanns durch-
nimmt, wird finden, daß sie der Lessingschen Forderung
entsprechen und im Sinne des großen Kritikers eine Hand-
lung haben. Im „Friedensfest" das Erscheinen der Buch-
nerschen Familie, die unerwartete Rückkehr des Vaters,
die Rückkehr des jüngeren Sohnes, die Abbitte dieses Soh-
nes und ihre seelische Einwirkung auf dessen physische Na-
tur, die plötzlich aufwachende Sorge der Vaterliebe um das
Leben dieses scheinbar gehaßten Kindes, das Heraufsteigen
alter schlimmer Leidenschaften in allen, der durch die Auf-
regung darüber entstandene Schlaganfall und Tod des Va-
ters, der Eindruck, den dieser Tod auf die drei Kinder
macht, alles das ist ein Ganzes, in welchem die Verände-
rungen nicht nur zeitlich und räumlich, sondern auch ur-
sächlich aufeinanderfolgen. In den „Einsamen Menschen"
fehlt es sogar an einer eigentlichen Vorgeschichte, wie sie
79
im „Friedensfest" erst analytisch herausgewickelt wird.
Das völlig unerwartete, zufällige Erscheinen des fremden
Fräuleins wühlt alles auf, was verborgen lag, und wandelt
alles um, was gewesen ist. Die Dinge verändern sich stetig
und unaufhaltsam. Eins folgt unmittelbar aus dem an-
deren. Wie weit ist beispielsweise der liebevolle, heitere
Papa Vockerat des Taufschmauses vom streng strafenden
Vater entfernt, dessen heiliger Eifer den Sohn vernichtet!
Und doch zieht sich von einem zum anderen innerhalb der-
selben Menschenseele eine Kette natürlicher Folgen.
An der von Hauptmann herangezogenen Stelle fragt
Lessing: „Gibt es aber doch wohl Kunstrichter, welche
einen noch engeren, und zwar so materiellen Begriff mit
dem Worte Handlung verbinden, daß sie nirgends Hand-
lung sehen, als wo die Körper so tätig sind, daß sie eine
gewisse Veränderung des Raumes erfordern ? Sie finden in
keinem Trauerspiele Handlung, als wo der Liebhaber zu
Füßen fällt, die Prinzessin ohnmächtig wird, die Helden
sich balgen; und in keiner Fabel, als wo der Fuchs springt,
der Wolf zerreißet und der Frosch die Maus sich an das
Bein bindet. Es hat ihnen nie beifallen wollen, daß auch
jeder innere Kampf von Leidenschaften, jede Folge von
verschiedenen Gedanken, wo eine die andere aufhebt, eine
Handlung sei; vielleicht weil sie viel zu mechanisch denken
und fühlen, als daß sie sich irgendeiner Tätigkeit dabei be-
wußt wären. — Ernsthafter sie zu widerlegen, würde eine
unnütze Mühe sein."
Auch wir wollen uns diese Mühe nicht geben, alle jene
Zweifel, ob Hauptmanns Werke „wirkliche" Dramei\, wirk-
liche „Theaterstücke" seien, ernsthaft zu widerlegen. Aber
mit dem vieldeutigen Wort Handlung wird soviel Miß-
80
braucli getrieben, daB idi darauf Kinweisen wfll, wie wenig
es in Hauptmanns baden Famifiendramen auch an jenen
äußeren y^Veranderungen des Raumes^^ fehlt, die für Les<*
sing durchaus keine Vorbedingung einer Handlung waren.
Man denke z. B. an die Szene im ,,Friedensfest^*, wo Robert
Scholz unter dem Weihnachtsbaum Idas Geschenk zurück-
weist, und sein Bruder, der diese Verlegenheit für Gefühls-
roheit hält, wütend auf ihn losfahren will. Man denke an
die Szene in den „Einsamen Menschen^^, wo Johannes
nach dem Abschied vom Fräulein zum See läuft, dann wie-
derkehrt, die Scheideworte schreibt und ins Boot rennt,
den Tod zu suchen. Solcher äußerlich, raumlich, „mate-
riell" bewegten Szenen gibt es in beidfti Stücken genug.
Aber darauf kann es bloß denen ankommen, die „mecha-
nisch^^ denken und fühlen und von dem „inneren Kampf
der Leidenschaften", der in beiden Stücken tobt, nichts
merken. Wer von diesem Kampfe nicht ergriffen wird,
den wird „Das Friedensfest" peinigen, den werden die
„Einsamen Menschen", die allerdings von technisch un-
beholfenen Retardationen und Wiederholungen nicht frei
sind, ermüden. Die „Einsamen Menschen" sind oft und
in verschiedenen Sprachen gegeben worden. Aber zu einer
großen literarischen Tat sind auch sie noch nicht geworden.
Das blieb dem nächsten Werke Gerhart Hauptmanns vor-
behalten, das wie kein anderes zuvor aus den starken Wur-
zeln seiner Ejraft entstanden ist.
VI
DIE WEBER
Den Mahnruf des Schillerschen Ättinghausen hat nie-
mand bisher treuer befolgt als der Dichter der
„Weber". Aber wenn Ättinghausen, der Politiker, mahnt :
„Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an," so hat sich's
unser Dichter in sein eigenes Gefühl umgesetzt. Nicht im
Vaterlande, sondern in der Heimat liegen für diesen Dich-
ter die starken Wurzeln seiner Kraft, die ihn vermögen,
den ganzen Weltraum zu umfassen.
Gerhart Hauptmann hat an seiner schlesischen Erd-
scholle festgehalten. Er hat sich seit Jahren wieder in den
Bergen der Heimat unter den Dorfbewohnern des Riesen-
gebirges auf eigenem Grund und Boden häuslich nieder-
gelassen. Zuerst in Mittelschreiberhau, wo sich die innigen
Be:^ehungen von Hohenhaus noch fortsetzten, dann mit
der zweiten Gemahlin, Margarete geb. Marschalk, und dem
goldlockigen, pagenhaften Sohne Benvenuto auf seiner
Villa Wiesenstein in Agnetendorf . So weit und so oft ihn
der Wandertrieb auch in die Feme zog, dort in den grünen
Tälern ist sein Herd und sein Hof, sein Hort und sein Halt.
Dort träumt er sich sein Festspielhaus. So wird er auch
als Dichter von manchen Ausflügen in Raum und Zeit im-
mer wieder heimkehren. Im Sonnenaufgangsdrama hat er
seine Landsleute nicht glimpflich behandelt. Aber nie ist
von einem Dichter der Naturlaut des Heimatvolks treuer
erlauscht worden. Uns allen hat er diese rauhen Töne mit
ihren dumpf und dunkel ausklingenden Vokalen, ihren ge-
preßten Konsonanten wert und vertraut gemacht. In bei-
den Familiendramen reden die Mütter, Mutter Scholz und
82
Mutter Vockeraty in mehr als einem Sinn des Dichters
eigene Muttersprache. Bei der Diebin des „Biberpelzes",
bei Hanneles Dorfgenossen, bei Rautendeleins Buschgroß-
mutter, beim Fuhrmann Henschel und bei Rose Bernd
wird sich das gleiche wiederholen. Aber in diesen oft zu-
fälligen, oft sogar eigensinnigen Abweichungen zum schle-
sischen Dialekt erschöpft sich nicht das Heimatgefühl des
Dichters. Ihn ergriff auch die Tragödie seines Stammes.
Den Weberenkel ergriff das düsterste Kapitel aus der so-
zialen Geschichte seiner Provinz.
Zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts war sein Urgroß-
vater als armer Weber aus Böhmen über das Gebirge ge-
kommen und hatte sich in Herischdorf bei Warmbrunn zur
Handarbeit festgesetzt. Von den vier Söhnen dieses Alten
war auch Gerharts Großvater, Karl Ehrenfried, bis er 1813
in den Krieg zog, Weber gewesen. Als dieser bereits im
Wohlstande war, wußte er aus frühen armen Tagen dem
eigenen Sohne Robert manches zu erzählen. Und Herr Ro-
bert Hauptmann hat dies alles seinen Knaben weitergemel-
det. Der jüngste horchte dann achtsam auf. Früh prägte
sich seinem Gemüte das Mitleid ein mit diesem hundert-
jährigen Todeskampf ums tägliche Brot. In der Erinne-
rung an die alte Familienüberlieferung hat er darum sein
Weberdrama dem Vater gewidmet.
Die Zeit dieses Dramas ist weder die gegenwärtige noch
die, in der des Dichters Vorfahren hinter dem Webstuhl
saßen. Sie liegt zwischen heute und dazumal. Das Drama
ist „ein Schauspiel aus den vierziger Jahren". „Die Weber"
oder, wie das Werk in der eigentlichen und ursprüng-
lichen Dialektausgabe heißt, „De Waber", sind ein ge-
schichtliches Drama, dessen Stoff mit großer Treue aus
«• 83
historischen Quellen geschöpft ist. Alfred Zimmermanny
aus der Schule Schmollers, veröffentlichte 1885 bei Korn
in Breslau ein Buch über „Blüte und Verfall des Leinen-
gewerbes in Schlesien". Es beginnt mit den Anfängen
der schlesischen Dorfweberei, die noch vor dem Dreißig-
jährigen Kjriege liegen, und führt bis zu den Wirkungen
des Zolltarifs von 1885. Schon aus diesen wissenschaft-
lichen Erörterungen schaut von Zeit zu Zeit immer
wieder dasselbe bleiche, spitznäsige, wundäugige, abge-
zehrte Menschenangesicht hilfesuchend hervor; eine ma-
gere, zittrige Menschenhand scheint sich langend auszu-
strecken. Es ist die Hand und das Angesicht des alten
Weberelends. Alle Wandlungen der Zeit, weder das öster-
reichische Regiment noch das preußische, weder günstige
noch ungünstige Handelsverhältnisse, weder Zölle noch
Verordnungen waren fähig, die Lage der Weber und Spin-
ner anders als vorübergehend zu bessern. Immer wieder
stand in den Türen dieser Armen die Not. Sie war das
Erbe, das eine Generation der anderen zurückließ. Und von
den Vätern vererbte sich auf die stets erstaunlich zahl-
reichen Kinder auch die Geduld, mit der jene Not ertragen
wurde. Nur einmal im Verlauf eines Viertel Jahrtausends
hob sich die Hand der Armut drohend zum Himmel, und
auf den Zügen der Not zuckten Haß und Wut. 1844, im
Sommer, kam es im Eulengebirge zum Weberaufstand.
„D'r Mensch muß doch a ennzichts Mool an Auchablick
Luft kriechen", läßt Gerhart Hauptmann einen alten We-
ber sprechen, der sich bald im Taumel dem Troß der jun-
gen Aufrührer anschließen wird.
Diesen Augenblick Luft, diesen Weberaufstand hat Zim-
mermann in seinem Buch ausführlich behandelt. Zimmer-
manns Schilderung der äußeren Vorgänge beruht zum Teil
auf den Berichten, die sich damals die ,, Vossische Zeitung^^
von Dr. Leopold Schweitzer aus dem Eulengebirge nach
Berlin schicken ließ.
Über das „Blutgericht" jenes plötzlich aus unbekann-
tem, nie erkanntem Ursprung aufgetauchte Weberlied heißt
es hier: „Es ist ein offenes Manifest aller der Klagen und
Beschwerden, welche bis dahin nur verstohlen und leise von
Mund zu Mund wanderten. In seinen größtenteils wohl-
lautenden und regelmäßig gebauten Versen bricht sich eine
drohende Verzweiflung, ein wilder Haß und Grimm be-
sonders gegen das vierte, zuerst angegriffene Handlungs-
haus aus, welches man offenkundig zu immer höherem
Reichtum und Glänze neben der steigendsten Not auf-
blühen sah. Dieses in jeder Beziehung merkwürdige Doku-
ment enthält neben der Schilderung der Trübsal und des
Jammers auf der einen, und der Pracht und Üppigkeit auf
der anderen Seite überraschend verständige Ansichten und
Anschauungen . . . Das Lied eilte wie ein Aufruf von Haus
zu Haus; es fiel als Zündstoff in die gärenden Gemüter."
Wir finden in diesen Berichten auch eine Schilderung, wie
man die Wohnhäuser der Fabrikanten plünderte und zer-
störte; Gerhart Hauptmann hat sich bei der Demolierungs-
szene im vierten Akt seines Dramas ziemUch treu an diese
Schilderung gehalten.
Aber mit einer Wiedergabe der äußeren Vorfälle nach
Zeitungsberichten konnte sich der historische Forscher
nicht begnügen. Um die Ursachen der Not und des Auf-
standes festzustellen, mußte Zimmermann EinbUck in amt-
liche Aktenstücke gewinnen. Die Staatsarchive und statisti-
schen Ämter haben seiner Arbeit zur Verfügung gestanden,
85
und das Ergebnis ist eine scharfe, zuweilen vernichtende
Kritik, die Zimmermann nicht nur an den Fabrikanten,
sondern noch mehr an den damaligen zuständigen Staats-
behörden übt. Verglichen mit der Darstellung des Histo-
rikers kommt im Drama des Dichters sowohl der Fa-
brikant als auch die Dorfpolizei noch ziemlich gnädig weg.
Und in Hauptmanns Drama findet sich kein Zeichen der
Not, kein Ausdruck der Klage, kein Zustand des Hungers
und auch keine Äußerung der Rebellion, die nicht ge-
schichtlich belegt wären.
Diese Zustände entwickelten sich bis zur Unerträglich-
keit, und weil der Bedrängte nirgends Recht finden konnte,
so griff er verzweifelt zur Gewalt. Der Aufstand war nichts
anderes gewesen als ein Augenblick des Luftschöpfens. In
einem knappen, herben Satze stellt der Geschichtsforscher
das Ergebnis fest: „Der Mut der Weber war ebenso plötz^
lieh erloschen, als er aufgeflammt war, geduldig fügten sie
sich wieder in ihr altes Elend.^^
Diese Vorgänge und dieser Ausgang lagen dem Dichter
als Rohstoff vor. Ein Volksbefreiungsdrama, wie Schillers
„Teil", konnte er aus diesem Stoff ohne Verletzung der
historischen Treue nicht schaffen. Einem Tellschuß, der
in dieser besten der Welten alles zum Besten wendet, hätte
unter den schlesischen Webern sowohl der Schütze wie das
Ziel gemangelt. Die Flinten preußischer Soldaten schös-
sen ein paar armselige Hungerleider aus der Welt; dann
blieb alles beim alten. Der Dichter konnte daher den dra-
matischen Entwicklungsgang nicht in der sozialpolitischen
Aktion finden. Er fand ihn im menschlichen Schicksal. Man
hat „Die Weber" ein Drama ohne Helden genannt. Man
könnte sie dafür ein Schicksalsdrama nennen. Nicht ein
86
romantisches, sondern ein modernes Schicksalsdrama. Die-
ses Schicksal schreibt nicht aus höherer gespenstischer Will-^
kür dem einzelnen seine unabänderliche Bahn vor, son-
dern es bändigt und bricht mit Naturgewalt die freie Wil-
lenskraft einer Gesamtheit. Durch diese Gesamtheit geht
vielgestaltig und wandelbar ein geisterhafter, tragischer
Held: als seien alle diese spitzen, abgemagerten Weberpro-
file mit dem Blick auf ihre gemeinsame Not nach ein und
demselben Ziel gerichtet; als würfen sie auf das Land ihres
Jammers gemeinsam einen einzigen Riesenschatten, das
große Profil des Webertypus.
Ergriffen von der inwendigen Gewalt des Dramas suchte
Friedrich Spielhagen für seine Ergriffenheit nach einem
konventionellen Kunstausdruck und rief: ihr sucht einen
Helden? Ich habe den Helden! Der Held ist die Not!
Aber ein solches Abstractum pro concreto ist doch nur im
eigentlichen Sinn ein Notbehelf. Auf jene Frage nach dem
Helden antworten wir: der Held ist das Webervolk, das
wahrlich wie ein Held leidet, streitet und fällt. Und doch
sieht Hauptmann in jedem dieser Weber auch das beson-
dere Geschöpf; aus zahllosen kleinen Individuen, die sich
auf verschiedene Körper verteilen, setzt sich ihm der Volks-
typus, der Weberheld, zusammen. Im Vater Baumert
klagt und wimmert, im Vater Hilse betet und arbeitet die-
ser Weberheld. Im roten Bäcker flucht er und schlägt um
sich, im jungen Hilse schwankt er zwischen Pflicht und
Selbstbefreiung, im entlassenen Reservemann Moritz Jäger,
der sich in der Welt auskennt, steigt die trotzige Wagelust
auf. Sein Heldenmut überschlägt sich. Durch die viel-
gestaltige Seele dieses Leidensheldentums zieht weckend
und werbend die Macht jenes Liedes, das sagt, wie groß
87
ihr Leiden ist. Wie eine Flamme springt das Lied von
Dach zu Dach, von Hirn zu Hirn, und endlich lodert das
ganze Land in der Feuersbrunst. Doch die Flammen des
Aufruhrs werden niedergetreten. Am Webstuhl des from-
men Greises, der seine Not zum Himmel schrie, aber auf
Erden von keiner Blutschuld beladen sein wollte, stirbt
betend und arbeitend der Weberheld. Vor dem Erschos-
senen steht fragend, im bangen, ahnenden Zweifel verzagt
aufschluchzend ein unschuldiges Kind. Es verstummt vor
der halb verstandenen Größe dieses Ahnenschicksals und
zögert, den Weg in die Zukunft, den alten Weberweg,
weiterzugehen.
Wer heute durch den wirklichen Schauplatz des Dramas
wandert, merkt auf den ersten Blick nichts mehr vom Not-
stand eines bestimmten Gewerbes. Wie zwei meilenlange
schmale Zeilen recken sich diese Dörfer, Langenbielau und
Peterswaldau, von den Vorhügeln des Eulengebirg^s un-
absehbar in die weite, wald- und bergumsäumte Ebene
herunter, aus deren Mitte die schlanken weißen Türme des
alten, malerischen Städtchens Reichenbach aufsteigen.
Durch beide Riesehdörfer fließt ein murmelnder, grün-
umbuschter Gebirgsbach, der von der Hohen Eule her die
Weistritz sucht. Rechts und links von diesem freundlichen
Bächlein ist je eine Häuserstraße angebaut, die strecken-
weise höchst vornehm und großstädtisch wirkt. Prächtige
Villen der Fabrikanten und Fabrikdirektoren, mitten in
alten, schönen Parkanlagen, davor stolze Blumenbosketts,
erinnern an einen eleganten Badeort. Der Kontrast hierzu,
die elende Weberhütte, fehlt heute schon fast ganz. Erst
wenn man oberhalb Peterswaldau höher ins Gebirge hin-
einsteigt, und wenn sich hinter einem wildromantischen
Waldgrunde der Blick auf die weit und breit über das
Hügelland vereinzelten Strohdächer von Kaschbach öffnet,
merkt man, daß in diesen verlassenen, öden Sitzen noch die
Armut kauert. Hier könnte man wohl noch heute dem
Vater Baumert begegnen, dessen ausgehungerter Magen
kein gebratenes Hundefleisch mehr vertragen kann, oder
seinen abgemagerten Töchtern, oder den kleinen Barfüß-
chen seiner unehelichen Enkel. Aber ob Vater Baumerts
Urenkel heute noch Weber sind ? Ob sie nicht vielmehr
südlich von ihren Heimatbergen im Waldenburger Kreise
die Kohle muten ? Wer durch jene drei Dörfer wandert,
die den Schauplatz des Dramas bilden, durch Peterswaldau,
Kaschbach, Langenbielau, hat nicht den Eindruck, dem
Weberhelden gehe es jetzt besser, sondern der Weberheld
sei ausgestorben.
Dennoch hat man das„Schauspiel aus den vierziger Jah-
ren**, als es erschien, mit der Gegenwart in Beziehung ge-
bracht und ihm vorgeworfen, es predige den Aufruhr, es
reize die unbefriedigten Massen zur Empörung gegen Recht
und Gesetz, es sei umstürzlerischer Tendenzen voU. Der-
artige Einwände, die häufig zu polizeilichen Verboten der
Theateraufführung verleitet haben und erst durch eine
weise Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts vom
2. Oktober 1893 widerlegt werden mußten, sind nur aus
dem Stoff heraus begründet worden. Niemals konnten sie
einen Anhaltspunkt in der künstlerischen Gestaltung fin-
den. In den „Webern" gibt es kein Wort, das irgendeiner
bestehenden Partei das Recht gäbe, den Dichter auf ihre
Fahne einzuschwören. Es findet sich auch kein Wort, das
aus dem Zwange der Situation herausfiele und von der
Person des Dichters gesprochen wäre. Als das Stück auf
89
der Neuen Freien Voltsbühne vor einem Berliner Arbeiter-
publikum aufgeführt wurde, konnte man beobachten, wie
wenig gerade dieses Publikum von den Vorgängen unmittel-
bar erregt wurde. Erst im dritten Akt bei einigen Boshei-
ten gegen die Polizei wurde die lange vergeblich erhoffte
„Tendenz" unter Heiterkeit begrüßt, und erst die Demo-
lierung am Schluß des vierten Aktes tat ihre unmittelbare
Schuldigkeit. Aber gerade dieses Publikum schien die zün-
denden Schlagworte zu vermissen; die Brandreden, deren
unverblümte Wörtlichkeit auf die Massen weit stärker wirkt
als eine plastische Darstellung menschlicher Vorgänge.
Schon im Februar 1892, als das Drama eben beendigt war,
hatte es Adolf L*Arronge für das Deutsche Theater in Ber-
lin zur Aufführung angenommen. Aber so lange er am
Ruder stand, konnte in Berlin das Polizeiverbot vom 3. März
1892 nicht rückgängig gemacht werden, und so blieb es
wieder dem Verein Freie Bühne vorbehalten, am 26. Fe-
bruar 1893 ein wuchtiges Hauptmannwerk aus der Feuer-
taufe zu heben. Als dann Otto Brahm die Leitung der
Freien Bühne mit der Direktion des Deutschen Theaters
vertauschte, konnte er auf selbst gemauertem Grunde wei-
terbauen. Der große Berliner Erfolg mag dadurch noch
verstärkt worden sein, daß das Drama immer wieder zum
Gegenstand öffentlicher Streitigkeiten wurde und das
„aktuelle" Interesse immer neue Nahrung fand. Bald gab
das Stück den Anlaß, daß dem Besitzer des Deutschen
Theaters das Abonnement auf die königliche Hofloge ge-
kündigt wurde; bald eiferte im Abgeordnetenhause der
Staatsminister v. KöUer gegen die Umsturztendenzen des
Stücks, ohne daß diesem unliterarischen und kunstfremden
Standpunkt einer der damaligen Landboten nach Gebühr
90
entgegengetreten wäre ; bald kam aus einer oder der anderen
Proyinzstadt wieder mal die Nachricht von einem neuen
Polizeiverbot, das stellenweise zu wilden Beamtenkriegen
Anlaß gab. Aber die Hauptwirkung lag doch im Drama
selbst, in seiner inneren Kraft, die nie versagen wird.
VII
KOLLEGE CRAMPTON, DER BIBERPELZ.
DER ROTE HAHN
Als Gerhart Hauptmann im Herbst 1891 „Die Weber"
x\nach Berlin brachte, besuchte er im „Berliner Thea-
ter" eine Vorstellung des Moli^reschen „Geizigen". Unter
dem Eindruck dieser tragikomischen Figur drangen alte
Pläne, alte Bekanntschaften wieder auf ihn ein. Es nahte
sich ihm wieder eine schwankende Gestalt. Er reiste in
den Schnee seiner Berge zurück und dichtete in wenig
Wochen die fünfaktige Komödie vom „KollegenCra mp-
ton", die mit dem „Geizigen" manche technische Ver-
wandtschaft hat. Hier wie dort eine überragende Haupt-
person, um deren moralische Schwäche sich alles übrige
dreht. Hier wie dort mitten aus komischen Situationen
ein kühner Zug in die Tragik der menschlichen Seele. Denn
hier wie dort, nicht zu weit von Narretei und Torheit, das
drohende Gespenst des Wahnsinns! Dort freilich im Mittel-
punkt des Ganzen ein menschlicher Typus, der nur von
einer einzigen, ebenso lästerlichen wie lächerlichen Charak-
tereigenschaft beherrscht wird, hier eine menschliche Na-
tur, die in ihrer individuellen Vielfältigkeit lebt. Dort eine
moralische, hier eine psychologische Komödie.
In der Kunstschule einer großen Provinzialhauptstadt
(die Dienstmänner dort reden den schlesischen Dialekt)
hat Professor Crampton ein Meisteratelier. Eines Tages
bricht über ihn viel Unglück herein, das ja selten allein
kommt. Ein fürstlicher Gönner gibt ihn auf. Seine Woh-
nung wird ausgepfändet und versiegelt. Seine Frau verläßt
92
ihn. Die Akademie enthebt ihn seines Lehramts. Er ginge
zugrunde, wenn sich nicht ein paar Seelen fänden, die ihn
lieben. »»Die kleine Trude, das ist ihm sein Höchstes/^ Sie
ist sein jüngstes Töchterchen, sein „Polizistchen", das frei-
willig beim armen Papa ausharrt, während Mutter und
Schwestern zu den reichen, adhgen Großeltern flüchten.
Ein wohlhabender, junger Schüler ihres Vaters ist dem
Mädchen gut. Diesem glückhaften Umstand ist zu danken,
daß der Professor nicht ganz untergeht. Die blutjungen
Leute richten ihm ein Nest her. In dieser Glücksatmo-
sphäre faßt der arme Kerl neuen Mut und — vielleicht —
auch neue Kraft.
Ist Professor Crampton seines Unglücks eigner Schmied ?
Die Komödie gibt sich nicht viel damit ab, seinen gegen-
wärtigen Zustand aus seiner Vergangenheit zu begründen.
Es wird nicht in Ibsens Weise durch gelegentliche Ausein-
andersetzungen das Vergangene aufgehellt. Wenn er selbst
zuweilen auf Erinnerungen zurückgreift, so geschieht das
in seiner konfusen Art und ist bezeichnender für seine
gegenwärtige Seelenbeschaffenheit als für sein vergangenes
Leben. Er steht fertig vor uns, wie ein Porträt. Seine gei-
stige Entwicklung ist abgeschlossen. Sein Weltlauf stoppt.
Er kann nur noch versinken oder von treuen Händen recht-
zeitig im Hafen geborgen werden. Eins so möglich wie das
andere. Der Abgrund allerdings wahrscheinlicher als der
Hafen. Der Dichter aber wollte seinen Mann retten und
entschied für den Hafen.
Bei Rettungsversuchen geht es selten ohne kleine List
und Hinterlist ab. Hier ist der Punkt, wo auch diese Ko-
mödie an Intrigenspiel erinnert. Aber die spinnwebzarten
Fäden werden nicht, wie bei Scribe und seiner deutschen
93
Schule, von einem ränkevollen Verstand gelenkt, sondern
von der natürlichen, gesunden Empfindung der helfenden
Menschlein, die im Gegensatz zur massiven Hauptfigur
etwas Diminutivisches haben* Gehen die beiden ersten
Akte mit der Charakteristik der Hauptfigur und der Dar-
legung ihres unglückseligen Zustandes hin, so beginnt im
dritten das Rettungswerk. Dort ist der Professor aktiv,
hier passiv. Durch diesen Wechsel der Zustande erhält und
steigert sich das Interesse. Die Frage bleibt, welche Ge-
fühle sich im Zuschauer mit diesem Interesse verknüpfen,
wie man sich zu dem Professor persönlich stellt. Man wird
das erstemal mehr ergriffen, das zweitemal mehr belustigt
werden. Die Gewißheit des guten Ausgangs entscheidet.
Wenn jemand ins Wasser fällt, so zittern ringsumher alle
Herzen. Kommt er dann pudelnaß und mit einem festen
Schnupfen ans Ufer, so gesellt sich gerne zum Schaden der
Spott. Die Kunst des Dichters besteht dar^n, und darin
liegt auch die reiche Erfindung dieses scheinbar so erfin-
dungsarmen Werkes, daß sich Mitleid und Spott, Rührung
und Lust zu ein und demselben Eindruck vermischen; des-
halb ist das Stück in seinem Humor eine Komödie besten
Schlages. Der Eindruck wird dadurch erzielt, daß die
Hauptgestalt in jedem Augenblick naiv bleibt und niemals
unsere Sympathie verliert. Man sieht ein altes Kind. Da-
bei schillert diese Gestalt wie ein Opal, man könnte auch
sagen; wie die Nase des guten Professors, in allen Farben.
Die ganze lebendige Mannigfaltigkeit dieser Charakteristik
tritt für Augen, die sehen können, zutage. Gewiß ist der
Professor im Grunde immer derselbe, mag er im Atelier
gegen die Schulpedanten wettern oder in der Bumskneipe
^ch mit den Stubenmalem anfreunden oder endlich im
94
Glück der Tochter selber froh werden: die Einheit der In-
dividualität ist festgehalten. Die gute Seele und das jähe
Blut; das bis zum Dünkel gesteigerte Selbstbewußtsein und
die bis zur Zerknirschung sinkende Bescheidenheit; der
feine, ironisch das schlagende Wortspiel und Gleichnis fin-
dende Kunstsinn und der aufbrausende Grobianus; die
freie, hochstrebende Künstlernatur, voll Phantasie und
Schwärmerei, und das wüste Sumpfhuhn — alles und noch
viel mehr springt eins aus dem anderen, spielt herüber und
hinüber. Dazu das allmähliche Sinken der ganzen Existenz :
die zunehmende Dumpfheit, die auf Willen und Gedächt-
nis lagert, die Spuren des Verfolgungswahns und seines
feindlichen Zwillingsbruders, des Größenwahns, die Krank-
haftigkeit des Durstes, alles wehmütig verklärt vom Son-
nenglanz eines goldnen Herzens, das seinen Zauber nicht
bloß auf die eigene Tochter und den dankbaren Schüler,
sondern auch auf einen treuherzigen Mann aus dem Volk
und auf die gutmütige ordinäre Schenkmamsell ausübt.
Wird nun in seiner Geborgenheit dieses Herz den Frieden
finden?
Wie aus Rembrandtschem Dunkel ein Rembrandtscher
Charakterkopf vorleuchtet, so beherrscht die Hauptfigur
des Kollegen Crampton den Hergang und drängt alle an-
deren in den Schatten. Auch wo er nicht auftritt, im mittel-
sten der fünf Akte und in der ersten EEälfte des letzten Aktes,
dreht sich alles nur um ihn. Wo aber die Hauptfigur der
Bühne fernbleibt, hat der Dichter für Ersatz gesorgt. Im
dritten Akt entfaltet sich eine Kontrastfigur: Herr Adolf
Straehler, „der dicke Ejrämer^^, der seinem Bruder, dem
jungen Maler, lachend hänselnd, aber tatkräftig beim Ret-
tungswerke hilft; ein urgemütlicher Kerl, immer fidel,
95
immer gleichmütig, ewig auf dem Neckfuß, kein Spielver-
derber und auch kein Machtwortsprecher, sanguinisch wie
der Professor, aber einer, der seinen Mann steht und in der
Welt etwas erreicht hat: Gerhart Hauptmanns früh ver-
storbener ältester Bruder Georg. Die erste Hälfte des fünf-
ten Aktes bringt statt der Person des Helden ein reizendes
Capriccio, ein junges himmelhoch aus jüngsten Herzen
jauchzendes Liebesglück, das um so heller strahlt, je mehr
es ein Glück wird auch für andere. Diese Szene zwischen
der kleinen Trude und dem nicht viel größeren Max wird
von jener anderen Liebesszene zwischen Alfred Loth und
Helene an Reinheit und Echtheit natürlichen Empfindens
nicht übertroffen. Auch hier neckt sich, was sich liebt, in
der entzückendsten Weise; mitten im unschuldigen Minne-
spiel steigen auch hier wehmütige Gedanken an Vergäng-
lichkeit und Abschied auf; aber doch wie ganz anders alles
dort, wie ganz anders alles hier! Dort die Schicksalswolke
nah und schwer über ahnungsvollen Gemütern, hier klar-
ster, leuchtendster Sonnenschein. Gleichmäßig sind die
Wangen dieser hebenden Jugend frisch gerötet von der
hellen Winterluft draußen und vom Frühling in ihren
Herzen.
Im übelsten Humor stößt Kollege Crampton auf dieses
Jugendglück, das zugleich sein eigenes Altersglück werden
soll. Aber dieses Glück leuchtet so tief und so zart in sein
eigenes verdumpftes und versumpftes Innere herein, daß
der wetterwendische Sinn des alten Burschen sofort wieder
umgewandelt ist. Lebensfreude, sogar Arbeitslust sprudelt
wieder in ihm auf, und froh erschüttert fällt er seinem alten
hundetreuen Faktotum, seinem „lieben Löffler", dem
Dienstmann, um die blaue Bluse.
96
So sehr ist er gewöhnt, sich in allen Dingen an den „Her-
ben Löffler" zu wenden, daß er auch in Fragen der Kunst
und des Familienglücks zunächst an das Herz hinter der
Bluse appelliert; denn das ist seine nächste Instanz; —
einer der kleinen, feinen Meisterzüge, an denen dieses
Werk reich ist.
In den Breslauer Schlußkapiteln des Quintromans, in
der wüsten Verbrecherkneipe läßt der Dichter das Urbild
seines Professor Crampton noch einmal am Kneiptisch auf-
tauchen. Malerisch in einen leichten römischen Mantel
drapiert, mit schwarzem Faunsgesicht und roten feuchten
Faunslippen hing ihm ein schwarzer Schopf wild über die
düster funkelnden Augen. Es ist Professor Cramptons, des
Rettungslosen, letztes Säuferstadium, kurz vor dem Deli-
rium. So E. T. A. Hoffmannisch ist der Kollege Crampton
noch nie auf der Bühne dargestellt worden. Georg Engels
bot eine glänzende Leistung und entschied, wohin er damit
kam, den Erfolg des Stücks. Aber er spielte ihn doch ab-
seits der Gestalt, die tiefer und weniger pompös, weniger
atelierhaft ist.
Ein Jahr nach dem „Kollegen Crampton", im November
1892, brachte Gerhart Hauptmann ebenfalls unerwartet
eine zweite Komödie aus Schreiberhau nach Berlin und las
sie den Freunden vor. Es war eine „Diebskomödie" und
wurde nach dem Gegenstand des Diebstahls „Der Biber-
pelz" genannt. Schon uns ersten Hörern fiel eine tech-
nische Ähnlichkeit mit dem Meisterlustspiele Heinrichs
v. Kleist, dem „Zerbrochenen Krug", auf.
Hier wie dort ist nächtlicher Weile in einem Dorf eine
lichtscheue Missetat begangen. Die Frage nach dem Täter
gelangt an die Dorf Justiz. Wer zerbrach den Krug ? Wer
7 97
Stahl den Pelz ? Dort eilt die Besitzerin des zerbrochenen
Kruges zum Dorfrichter, hier eilt der Besitzer des gestoh-
lenen Pelzes zum Amtsvorsteher. Beide Kläger, ansässig
und angesehen im Dorf, finden an der Seite des Unter-
suchungsrichters eine dürftige, unterwürfige Schreiberseele,
die mit ihrem subalternen Strebersinn bei Kleist deutlicher
hervortritt als bei Hauptmann, und einen Büttel, der wie-
derum von Hauptmann als dienstunfähiger, sanfter Süffel
genauer charakterisiert wird. Wichtiger aber als Schreiber
und Büttel ist in beiden Fällen jener Adamssohn selbst, der
vom Amts wegen die Untersuchung einzuleiten und den
Verbrecher zu entdecken hat. Daß diese Untersuchung
und diese Entdeckung hier wie dort mit den größten
Schwierigkeiten verbunden ist, daß immer wieder, hart vor
dem Ertappen, in die Kreuz und Quer abgeirrt wird, und
über jeden klareren Einblick in das kriminelle Rätsel gleich
wieder Nebel fallen, daß sich die Sache ins Dunkel und in
die Länge zieht, ist hier wie dort Schuld des Untersuchungs-
richters.
Weder der altholländische Dorfrichter Adam noch der
neupreußische Amtsvorsteher v. Wehrhahn haben Neigung,
diesen Prozeß aufzuhellen. Beiden ist gerade dieser Prozeß
fatal. Der Amtsvorsteher ist ein persönlicher und politi-
scher Gegner des Bestohlenen; der Dorfrichter ist noch in-
teressierter an der nächtlichen Missetat; denn der, der den
Kjug zerbrach, ist er selbst. Die Hauptperson der Komö-
die ist bei Kleist enger und bänger mit dem Vorgang ver-
knüpft als bei Hauptmann. Für den Dorfrichter hängt am
zerbrochenen Krug Existenz und Ehre. Dem Amtsvor-
steher hingegen kann der Biberpelz des Rentiers Krüger
ruhig gestohlen bleiben; sein persönliches Gewissen wird
98
nicht betroffen, seine Ehre steht nicht auf dem Spiel. Und
nur darin ist er dem Dorfrichter Adam ähnlich, daß sich
beide als unfähig erweisen, die Prozeßverhandlung zu füh-
ren. Sie richten, der Dorfrichter wissentlich, der Amts-
vorsteher unwissentlich, in kürzester Zeit eine solche Ver-
wirrung an, daß es in der Amtsstube einen Heidenlärm gibt,
bei dem Beamte und Zeugen hart aneinander geraten.
Hier wie dort sind Zeugen aufgetreten. Und wenn der
Dorfrichter aus triftigem Grunde diese Zeugen durch An-
schnauzen und Dreinreden ins Bockshorn jagt, so verfährt
auch der Amtsvorsteher nicht viel anders, als hätte er selbst
den Pelz gestohlen. Ohne Nebenabsichten, ohne Ansehen
der Person sitzt auch er nicht zu Gericht. Der Dorfrichter
Adam hatte seine eigene Nichtswürdigkeit zu vertuschen;
denn statt des Kruges war er ausgegangen, eine Mädchen-
ehre zu zerbrechen, und aus dem Lustspiel hätte leicht eine
Tragödie werden können. Harmloser an Gemüt ist der
Amtsvorsteher von der Oberspree in seinem Treiben nicht
viel ungefährlicher als der Dorf richter. Er will den Herrn
spielen und Karriere machen. Dazu mißbraucht er sein Amt.
Wer den Pelz gestohlen hat, kümmert ihn nicht; aber wer
in seinem Amtsbezirk freigeistige Bücher kauft und demo-
kratische Schriften liest oder gar verbreitet, wer bei Kai-
sers Geburtstag nicht illuminiert, welcher Gastwirt seinen
Saal den fortschrittlichen Gesinnungsgenossen des bestoh-
lenen Rentiers Krüger vermietet — das alles will er genau
wissen. Dazu benutzt er seine Untergebenen, dafür ver-
brüdert er sich mit Spitzeln, die vor dem Meineid nicht
erschrecken. Ein stiller, scheuer Privatgelehrter kann ihn
auf die rechte Diebesspur führen, aber er hört ihn gar nicht
an, weil dieser gewissenhafte Zeuge ihm „politisch" ver-
;• 99
dächtig ist, auch erhofft er sich durch dessen Maßregelung
Lohn von oben.
Dieser moderne Strebertypus ist an sich weder tragisch
noch komisch, sondern gemeinschädlich; eine Dichtung,
die ihn rein als Typus hinstellen wollte, unterschiede sich
nicht von guten polemischen Leitartikeln oder Flugschrif-
ten. Zu seiner künstlerischen Bewertung muß der Typus
in eine Individualität gesteckt werden. Wie Kleist sinn-
reich andeutet, daß nicht nur in Huisum, sondern auch in
Holla und Hussah „lüderliche Hunde" sitzen, die „Recht
so jetzt, jetzo so erteilen", so wird das von Hauptmann aufs
Korn genommene Strebertum der Beamten außer an der
Oberspree auch sonst im Lande gefunden. Aber es gibt je
nach individueller Veranlagung Schlauköpfe und Dumm-
köpfe unter den Strebern. Hauptmann hat sich den Spaß
gemacht, einen Dummkopf aufzuzeichnen.
Er hat die Komödie der streberhaften Dummheit ge-
dichtet. Ihr Held entwickelt eine wahrhaft bezaubernde
Borniertheit. Wenn sich der Charakter des Amtsvorstehers
langsamer auswickelte, würde es klarer, daß der Held der
Komödie weniger der Pelzdieb ist, als der, der dieses Pelz-
diebes habhaft werden soll. Die Diebesgeschichte vertritt
das, was bei Moliere, Holberg und anderen Komikern der
Tradition die Intrige war. Wie dort die Intrige dazu diente,
den Heuchler als Heuchler, den Geizhals als Geizhals ad
absurdum zu führen, so dient hier die Diebesgeschichte
dazu, den streberhaften Dummkopf als blitzdummen Stre-
ber zu blamieren. Und wie könnte seine Blamage größer
sein als da, wo ihn der Dichter entläßt, wo Wehrhahn,
im traulichen Beisammen zwischen Hehler und Stehlerin
stehend, beide miteinander in aller gesellschaftlichen Form
IOC
bekannt macht, und wo er die Diebin nicht nur für eine
fleißige Waschfrau, was sie ist, sondern auch für eine „ehr-
liche Haut" erklärt.
Nach der Größe dieses innerlichen Schlußeffekts, was
schiert uns da noch der Biberpelz und sein Geschick ? Wer
ihn stahl, wissen wir. Daß man dem Dieb auf der Spur ist,
wissen wir auch, und ganz wohl in der eigenen „ehrlichen"
EEaut wird sich weder der Hehler noch die Stehlerin füh-
len, trotz der Menschenkenntnis des tiefblickenden Herrn
V. Wehrhahn. Alles Psychologische ist mithin klar. Was
übrigbleibt, ist Sache des Gerichtsreporters, nicht des Dich-
ters. Wenn aber das gesamte Publikum der ersten Berliner
Aufführung über das unerwartete Ende verblüfft war und
die Gescheiten erst beim Warten auf die Garderobe über
den Schlußwitz lachten, so ist der Dichter nicht ganz
schuldlos. Schuld daran ist ein Vorzug und ein Mangel
seiner Arbeit. Der Vorzug liegt in der Charakteristik, der
Mangel in der Komposition. Der Vorzug liegt in der pracht-
vollen Gestalt der Diebin, der fleißigen Waschfrau Mutter
Wolff, einer Person, mit der man gern zusammen ist, einer
dichterischen Saft- und Kraftschöpfung, die den schema-
tischen Rahmen der Traditionskomödie fast ebenso sprengt
wie Shakespeares Shylock. Der Mangel liegt darin, daß
man durch diese prachtvolle Gestalt in seinen verschiede-
nen Interessen geteilt wird und zuletzt noch hinter der
Blamage des Amtsvorstehers sie, die besagte Wolffin mit
ihren Schicksalen, sehen will. Hinter der boshaften Ironie,
mit der der Dummkopf im Amte belassen wird, verlangt
man noch vom Dichter ein moralisches Endurteil über
Mama Wolff. Sie war von je ein Bösewicht, drum treff sie,
wenn schon nicht Wehrhahns, so doch Gottes Strafgericht!
lOI
Ein solches moralisches Endurteil, worauf unsere Ästhetik
einen alten Gewohnheitsanspruch geltend macht, ist in
Kleists „Zerbrochenem Krug" zu finden. In der Person
des Revisors, der wie ein Blitz aus heiterem Himmel kam,
geht durch das Drama eine höhere Gerechtigkeit, die den
Dorfrichter seines Amtes entsetzt; während unser armes
Publikum über die Schicksale des Pelzes ganz im Dunkeln
bleibt, ist dort Aussicht vorhanden, daß in Utrecht dem
Kruge doch noch soll sein Recht geschehen.
So schließt geschlossen die einheitlichere Komödie Kleists.
Hauptmanns Komödie ist zwiespältig. Wie der Schauplatz
der vier Akte zwischen Wehrhahns Amtsstube und dem
Wohnraum der Wolf fin wechselt, so verteilt sich das Inter-
esse auf beide. Bei Kleist waren Richter und Missetater
vereinigt in einer Person. Und wie sich im Amtsvorsteher
mancher Vergleichspunkt mit dem Dorf richter Adam fand,
so findet er sich auch in der Mutter Wolffin. Wie den
Adam ein ganz menschlicher Zug, der Hang zum süßen
jungen Blut, in den Bereich des Kruges lockte, so lockt
auch sie ein rein menschlicher Zug zum Biberpelz hin. Es
ist die Sorge um ihre Familie. Sie ist in ihrer Art das, was
man eine gute Mutter nennt. Sie beweint mit treuen Trä-
nen ihr heimgegangenes Söhnchen. Mit ihren beiden Töch-
tern will sie hoch hinaus. Sie sollen auf Gummirädern fah-
ren und auf dem Theater gefeiert werden. Darum sind
sie auch Adelheid und Leontine getauft. Zu ihrem duß-
lichen Vater sagen sie Papa und geben Gutenachtkuß. Für
diese Kinder und ihren Papa arbeitet Mutter Wolffin un-
ermüdlich. Für sie raubt sie sich den Schlaf der Nächte.
Für sie raubt sie Rehböcke, Knüppelholz und den Biber-
pelz. Sie ist ein Gemütsmensch. Man gewinnt diese naive
102
Niedertracht so lieb, daß man ihr zuletzt nichts Böseres
wünschen möchte als einen Amtsvorsteher, der nie hinter
ihre Schliche kommt.
Aber man möchte noch länger bei Mutter Wolffin blei-
ben. Der Dichter selbst fühlte dieses Bedürfnis. Sechs
Jahre später ist er noch einmal auf sie und ihren Wehrhahn
zurückgekommen. Er hat uns dann in wundersamer Weise
ihre letzte Lebensstunde gezeigt, in der sie es durch die
naive Kraft ihres Wesens wieder dahin bringt, daß ihr ge-
fährlichster Todfeind Versöhnung mit ihr trinkt. Wir er-
leben auch ihr seliges Ende, wo sie, ohne Schmerz, die
Hände jubelnd nach ihrem vorangegangenen Julian langend,
plötzlich nicht mehr da ist. Diesen schönen Schlußakt war
sich der Dichter schuldig. Er hat uns darüber beruhigt,
daß der Wolffin nun doch Gefängnis und Zuchthaus er-
spart blieb, daß sie im Gedanken an ihr kleines durch den
Tod verklärtes Söhnchen dahinging und nun ganz geborgen
ist. FreiKch war sie auch als JuUan Wolffs Witwe, als Frau
des Flickschusters Fielitz, der im Nebenamt Wehrhahns
Spitzel ist, ihren Weg weitergegangen. Sie hatte sich sogar
entwickelt. Sie gibt sich nicht mehr mit Kleinigkeiten ab,
wie Wildfrevel, Holz- und Pelzdiebstahl. Sie verübt Grö-
ßeres. Auf die baufällige, aber hochversicherte Hütte ihres
Flickschusters setzt sie „den roten Hahn" und richtet es
so ein, daß der Verdacht dieser Brandstiftung auf einen
blödsinnigen Jungen fällt. Im Vater dieses Kretins er-
wächst ihr jener rachsüchtige Feind, den sie aber doch noch
in letzter Stunde beim Glase Wein begütigt, weil er selbst
ein verbrauchter, lebensmüder armer alter Hund ist, der
nur noch bellen, nicht mehr beißen kann, und — weil noch
immer die undurchdringliche Dummheit des Herrn v.Wehr-
103
hahn auf dem Dorfrichterstuhle sitzt. Der irdischen Ge-
rechtigkeit entgeht sie. Aber geholfen hat ihr die ganze
Betriebsamkeit ihres unverfrorenen Strebens auch gar nicht.
Sie stirbt als arme Frau. Abgesehen von der Schlußszene
und einem großartigen Zusammenprallen aller Gegensätze
im Gerichtsakt ist „Der rote Hahn" (so heißt die Fort-
setzung) ein loseres Stück als der „Biberpelz". War es schon
im „Biberpelz" eine überflüssige Wiederholung, daß zuerst
Holz und dann erst der Pelz gestohlen wird, so zeigt sich
auch die Brandstifterin in keinem anderen Lichte als die
Diebin. Wir wissen schon genau, wie sie so etwas anstellt.
Daher erwacht das Interesse an ihr erst wieder gegen Ende.
Eine Anzahl neuer Personen, die ziemlich verworren auf-
treten, wie der jüdische Arzt Boxer, ein weibstoller Schmied
und sein weltphilosophisch-mephistophelisch lächelnder
Geselle, auch Adelheid Wolffs Mann, ein kratzbürstiger
Bauspekulant, sie können sich nicht mit den lebensvollen
humoristischen Nebengestalten des Biberpelzes verglei-
chen. Nur der alte Racheengel Rauchhaupt, der Gegen-
part unserer Wolffin, könnte in seiner hilflosen Verzweif-
lung und in seiner Liebe zum trottelhaften Jungen, die erst
mit der Gefahr erwacht, in ergreifendsten Lebensszenen
stehen.
Während sich der „Biberpelz" immer weiteren Raum
auf den Bühnen eroberte (der Sieg ging diesmal vom Wie-
ner Deutschen Volkstheater aus), konnte ihm „Der rote
Hahn" auf diesem Wege nicht folgen. Der Dichter hat ihn
mit zu lockerer Hand aufs Dach gesetzt.
VIII
HANNELES HIMMELFAHRT
Wie eine Windesharfe sei deine Seele, Dichter! Der
leiseste Hauch bewege sie. Und ewig müssen die Sai-
ten schwingen im Atem des Weltwehs ; denn das Weltweh
ist die Wurzel der Himmelssehnsucht. Also steht deiner
Lieder Wurzel begründet im Weh der Erde; doch ihren
Scheitel krönet Himmelslicht." Mit diesen schönen, sein
ganzes dichterisches Wesen durchleuchtenden Worten
wollte Gerhart Hauptmann 1885 „Das bunte Buch" er-
öffnen. Wo in diesem „Bunten Buch" die ,47rische Form"
allmählich von der „epischen Form" abgelöst wird, steht
ein langes Gedicht, das „Die Mondbraut" heißt und
den Kontrast zwischen Weltweh und Himmelssehnsucht
aus der Seele des Dichters in die Seele eines phantasie-
begabten Volkskindes überträgt. Ein armes, verwaistes
Bettelkind, Bergliese genannt, hat unter den Fäusten und
Flüchen ihres grausamen Pflegevaters bitterlich zu leiden.
Er jagt sie bei Nacht aus dem Hause hinaus in Sturm und
Schnee. Sie irrt über Feld. Ermattet sinkt sie beim Reisig-
sammeln vor einer hohen, schlanken Fichte nieder, die im
Mondschein himmelan strebt. Bergliese schläft vor Müdig-
keit ein. Aber sie ist mondsüchtig und „wandelt durch die
Nacht". Sie klettert dem Mond entgegen zum Fichten-
wipfel empor, sie will weitersteigen, tritt in leere Luft,
und —
Was dröhnte der Grund, was scholl durch die Nacht?
Mir schien es ein klagender Ton:
Sie liegt an der Föhre, sie hat es vollbracht,
Auf ewi^ dem Jammer entflQhn«
Soweit behandelt das Gedicht einen ganz realen Vorgang,
über den alltäglich „Der Bote aus dem Riesengebirge**
berichten könnte. Der Dichter aber legt dem realen Vor-
gang ein seelisches Motiv unter. Dieses seelische Motiv ist
die Sehnsucht, die ein vom Weltweh schwer belastetes
Menschenkind nach dem Himmel empfindet. Je jammer-
voller das Dasein, desto höher und schöner die Hoffnung
aufs Jenseits. Des Kindes Phantasie hält sich zunächst an
das, was aus der Himmelswelt sichtbar entgegenglänzt, an
den Mond. Mehr und mehr aber verwandelt sich den
schwärmenden Sinnen des Mädchens der Mond in den
himmlischen Bräutigam, neben dem der tote Vater, der
hienieden als Lump galt, die tote Mutter, die hienieden
als Dirne galt, auf ihr verlassenes Kind warten. Das lockt
und zieht himmelwärts. Der Mond hebt sie liebend in
seinen Sichelkahn; ihrem verzückten Auge tut sich alle
Herrlichkeit des Himmels auf:
Und MQtterlein steht auf der Schwelle und winkt,
Und Väterlein auch, und der Nachen — er unkt.
Er sinkt in die duftenden Gärten.
Für Bergliese war die Erfüllung ihrer Himmelssehnsucht
nur ein Traumglück. Aber nun liegt sie am Fuße der
Fichte, befreit von allem Weltweh.
Mehrere Jahre später ist der Dichter auf dasselbe Motiv
noch einmal zurückgekommen. Mit seiner gereifteren Büh-
nenkenntnis wagt er, den Vorgang auf das Theater zu
bringen. Sein „Hannele" ist eine Schicksalsgefährtin der
Bergliese. Vom bösen Stiefvater geplagt und geprügelt,
vernimmt auch sie den Lockruf der toten Mutter, den
Weckruf des himmlischen Bräutigams. Aber jener Ruf er-
schallt ihr nicht aus den Wipfeln des Waldes; er kommt
io6
aus den Tiefen des Wassers, in das die Mutter ihr voran-
gegangen ist. Und der himmlische Bräutigam erscheint ihr
nicht mehr, wie der Bergliese, als unpersönliches ungreif-
bares Himmelslicht, sondern wie den ersten Christen in
menschlich vertrauter Gestalt.
Als Gerhart Hauptmann im Spätsommer 1895 das Drama
aus Schreiberhau fertig nach Berlin brachte und den Freun-
den vorlas, hieß es noch „Hannele Matter ns Himmel-
fahrt". Später wurde der Titel in „Hannele" verkürzt,
weil vorsichtige Hoftheater alles meiden mußten, was über-
frommen Gemütern als Entweihung der Heilandsgestalt
und der Heilandsgeschichte gelten könnte. Inzwischen ist
man halbwegs zum Urtitel zurückgekehrt und gönnt dem
„Hannele" wenigstens seine „Himmelfahrt". Nun
drückt sich die Doppelwelt des Stücks, das Diesseits und
das Jenseits, schon in der Überschrift aus. „Hannele" war
nur das verlassene BetteUdnd, das abgerissen und zerprügelt,
hungrig und frierend sein fieberndes Elend endlich in den
Dorfteidi schleppt; war nur die Lumpenprinzessin, wie sie
ihre Mitschüler schimpften, nur das störrische Mädel, wie
sie die gedankenlose Exaktheit des Amtsvorstehers schilt,
der etwas heller als Wehrhahn ist. „Hannele" war nur das
hilflose EEäuflein Menschenjammers und Weltwehs. Erst
durch die „Himmelfahrt" befriedigt sich die Himmels-
sehnsucht, weidet sich der innere Gesichtskreis : „Millionen
Sternchen" blinken nun am Firmament auf; die Stimme
Gottes ruft aus den Tiefen des eiskalten Gewässers ; freund-
liche Engel trösten im Traum; der liebe Herr Lehrer ver-
wandelt sich in den lieben Herrn Jesus, der die Kindlein zu
uch kommen läßt und den Sünderinnen vergibt. Zugleich
weckt in der unschuldigen Kindesbrust sein Name das erste
107
Ahnen einer Leidenschaft. Sinnlichkeit und Seligkeit wer-
den eins. Im sterbenden Kind erregt sich das werdende
Weib. Die Himmelssehnsucht empfindet bräutlich.
Hannele liegt zuletzt verendet auf dem Strohsack des
Armenhauses. Aber in der Todesstunde hat sie ihr Kinder-
glaube selig gemacht. Aus dem Religionsunterricht des
Lehrers, aus den geistlichen Liedern, die sie im Kloster ge-
sungen hatte, aus den Heiligenbildern der Dorfkirche, aus
den Volksmärchen, die sie von der Mutter gehört hatte,
war der Phantasie des träumerischen Kindes eine überirdi-
sche Welt aufgegangen. Sie sieht nun diesen Himmel of-
fen. Ihr Herr und Heiland hält sie bei der Hand. Alles,
was hienieden „ihren armen Blick" entzückt hatte, alles
was sie entbehrt und erhofft hatte, hilft diese Herrlichkeit
wie eine wunderschöne Stadt aufbauen. In ihrem Him-
mel wird nicht bloß gesungen und geliebkost und gebetet,
sondern auch rechtschaffen gegessen und getrunken. Ihr
Himmelstischlein deckt sich mit allen den guten, appetit-
lichen Sachen, die das darbende Kind auf Erden nur vom
Hörensagen kannte. Nicht bloß „die Milch der weidenden
Rinder", „das goldene Brot auf den Äckern", wird dar-
gereicht, sondern auch der Purpursaft der Reben. Auch
einen gewandten und galanten Dorfschneider gibt es im
Himmelreich. Hannele wird nicht nur eine reine Seele
sein, sondern auch eine schön geputzte kleine Himmels-
braut, in Seide glänzend. Das fromme Kind ist in seiner
natürhchen Unschuld Weltkind geblieben : alle kleinen Lü-
sternheiten und Eitelkeiten des Weibes nahm es mit in seine
heilige Hoffnung. Alles dreht sich allein um sie, niemand
kümmert sich um sonstwen. Das eigene Begräbnis — Han-
nele Mattern erlebt es im Traum.
Io8
Sterbend sieht sie sich tot. Sie sieht die zahlreiche Betei-
ligung von alt und jung. Sie hört die gute Nachrede, von
der die Selbstmörderin sogar heilig gesprochen wird. Die
kleinen Schulkameraden müssen ihr manches abbitten, und
die Himmelskinder tragen ihren Leib dahin, „sanft, daB
sein krankes Fleisch der Druck nicht schmerze*'. Sie lauscht
besonders freudvoll auf, wenn die barmherzige Schwester
Martha und der liebe Lehrer Gottwald, so herzerquicklich
um sie trauernd, miteinander, als ob kein Drittes horte,
von ihr sprechen. Sie erkennt, daß es nun doch auf Erden
eine Gerechtigkeit gibt; während sie selbst so hoch geehrt
wird, nimmt der Stiefvater, der sie mißhandelte, das
schimpflichste Ende; denn der liebe Herr Lehrer hat es
ihm endlich einmal tüchtig gesagt; so tüchtig, daß sich der
trunkene Bösewicht vor Schmach und Reue erhangt.
Auf der Bühne sehen wir das träumende, sterbende Kind
in seiner ganzen klaglichen Existenz vor uns liegen. Wir
hören ihr leibhaftiges Wehklagen, ihr Geplauder ; wir hören,
wie das Fieber aus ihr spricht ; wir verfolgen, wie ihr kran-
ker Zustand wechselt, wie Bewußtsein und Fieberwahn in-
einander übergehen. Jede Schwankung im körperlichen
Befinden der Sterbenden macht sich bemerkbar; wird der
Zustand fiebriger, so kommen böse Träume; tritt etwas
Ruhe ein, so tauchen lieblichere Bilder auf. Um sie her
walten hilfreiche Hände. Sie verkehrt wachend mit leben-
digen Menschen. Zwischendurch aber tritt ihre schwär-
mende Seele immer wieder in eine andere Welt. In schrof-
fen, mächtigen Kontrasten erscheint der rohe Stiefvater im
Traum, erscheint tröstend der Geist ihrer toten Mutter.
Es kommen Engel mit Notenblättern, wie das Kind sie auf
dem Altarbild mag gesehen haben. Es erscheint, wie der
109
schwarze Mann, den die Kinder fürchten, der stumme Tod
und richtet das Schwert gegen ihr Herz. Engel tragen
einen Sarg und legen das tote Hannele selbst hinein. Einige
dieser Traumgestalten sind uns vorher als lebendige Men-
schen bekannt geworden. Der Waldarbeiter Seidel, der das
Kind aus dem Wasser zog, die halb vertierten, aber zum
Teil doch gutmütigen Armenhäusler, die Diakonissin, die
vom fiebernden Hannele mit ihrer toten Mutter verwech-
selt wird, der Lehrer, den sie für den Erlöser hält; — sie alle
haben wir leibhaftig vorher gesehen und sehen sie dann in
Hanneles Träumen wieder. Wir nahmen sie zuerst mit un-
seren eigenen klaren Sinnen wahr und müssen sie dann mit
dem verwirrten Sinn eines anderen Wesens wahrnehmen.
Manchmal geht Hanneles wechselndem Fieberzustand
gemäß das Wirkliche jählings in die Einbildung über.
Schwester Martha war eben noch eine reale Person, und
schon ist sie ein verklärtes Traumbild, verquickt mit Han-
neles Mutter. Diese Schwester Martha, die dem Kranken-
bett am nächsten steht, wirkt wie eine Vermittlerin zwi-
schen den Fieberphantasien der Sterbenden und der leben-
digen Außenwelt. Mit welcher Meisterschaft vom Dichter
durch sie unmittelbar auf das Visionäre hingedeutet wird,
hat zuerst Otto Pniower sehr fein bemerkt („Dichtungen
und Dichter", Berlin, S. Fischer, S. 355).
So wenig das frommgläubige Hannele mit seiner Him-
melssehnsucht eine Rationalistin ist, so wenig wäre dieses
kleine Dichtergenie, das vom Himmel her so wunderschöne
Verse hört. Anhängerin des sogenannten Naturalismus. Ihr
Herzchen schlug höher, wenn die erhobene Stimme des
Pfarrherrn den Segen sprach, wenn ein Choral erklang,
wenn sie beim Lehrer Gottwald biblische Geschichte hatte,
HO
wenn ihr die Mutter dn Marcken erzählte« Schneewitt-
chens gläserner Sarg, Aschenbrodels gläserne Pantoffelchen
b^leiten sie in ihren ICmmeL Gemischt mit jenen
feierlichen Tönen, ist es dieser naiv getragene Ton der
Mirchenerzählerin, den sie aus ihren Traumbildern wie-
derhört. Diesen Ton hat die Schauspielkunst zu finden
und zu treffen. Es ist ein Ton der Dämmerung. Man
möchte an ,,die blauen Blitze der Nacht** denken» von
denen Hanneles selige Mutter raunt. Im Wiener Burg-
theater traf Josef Lewinsky als spukhaftes, buckliges
buckelndes Dorfschneiderlein diesen Ton. Und auf der
Berliner Hof bühne, der dieses Wunderwerk nur allzu rasch
entwunden ward, wurde das Verschwommene schaurig
schön getroffen durch die leidtragenden Dorfweiber, die
auf stillen Sohlen schattenhaft ineinander huschend und
mit tonloser Scharfe flüsternd Hanneles Lager umschwirr-
ten. Ist auf diesen Ton einmal das Ganze gestimmt, so läßt
sich aus jedem einzelnen eine volle Gestalt schaffen. Am
wichtigsten ist für die Bühnendarstellung neben Hannele
selbst ihr vergötterter Lehrer, der Weib und Kinder hat,
der von des fremden Kindes stiller Schwärmerei nicht das
mindeste ahnt, der bei all seiner Menschenfreundlichkeit
doch nicht opferfähig genug ist, das sterbende Stückchen
Elend in der eigenen Wohnung zu bergen, sondern es von
dort ins Armenhaus trägt. Nur in ihrem Traum erscheint
er als Hauptleidtragender, der Hanneles keusche Neigung
zart erwidert, und als Ministrant beim Begräbnis, der den
Schulkindern die Seite des Gesangbuchs angibt, worauf der
Text des Grabliedes steht. Dann tritt er, wieder nur im
Traum, schon halb verwandelt, als Mahner und Warner
ihrem bösen Stiefvater machtvoll entgegen. Zuletzt
III
erweckt er das Hannele von den Toten, wie Jesus Christus
des Jairi Töchterlein, und öffnet ihr in Heilandsgestalt mit
Mutterchens Himmelsschlüsselblume den herrlichsten Him-
mel, gütig bedeutend, wundervoll redend. Und nun Han-
nele selbst ! Um diese Gestalt schauspielerisch ganz zu ver-
derben, dazu gehört schon ein vollgemessenes Maß von Ta-
lentlosigkeit; um ihr ganzes Innere zu zeigen, dazu bedarf
es einer dem Dichter und gerade diesem Dichter kongenia-
len Naturkraft, die kindhaftes, tiefes, phantasievolles Emp-
finden mit vollendeter künstlerischer Reife und auch mit
Humor vereinigt.
Unter den ersten, die vom Dichter selbst das wunder-
same Traumstück hörten, befand sich der damalige Chef
der königlichen Bühnen in Berlin, Graf Hochberg, des
Dichters engster Landsmann. Er stand sofort im Bann
dieser heimatlichen Poesie. Es war für ihn kein Zweifel,
daß dieser Poesie die Bühne bereitstehen müsse. Und am
14. November 1893, am Abend vor Hauptmanns 31. Ge-
burtstag, ward „Hannele" im königlichen Schauspielhause
in Berlin zum erstenmal auf eine Bühne getragen. Erst jetzt
mußte Graf Hochberg erkennen, wie verschieden über das
Werk geurteilt werden konnte. Wie hat man um dieses
Kind gezankt und gezetert! Die Frömmler wollten es den
Sozialdemokraten, die Sozialdemokraten den Frömmlern
unterschieben. Die einen ärgerte aufwiegelnde Kritik so-
zialer Zustände, die anderen ärgerte „Mystizismus" und
„Kirchlichkeit". Sogar hygienische Gründe wurden ins
Feld gerückt; weil der Gestalt des stummen Todes einige
überreizte Frauennerven nicht standhielten, verleugnete
man die sonstige Gegnerschaf t gegen Theaterzensur und rief
schlankweg nach der Polizei. An das Ohr des Monarchen
112
drängten sich flosterstimmen, die von Gotteslisterung
raunten, weil sich dem kleinen Hannele das Bild des
angebeteten Schulmeisteis mit dem Bilde des Heilands im
Fieberwahn verwebt. Der Hof- imd Gamisonprediger
Emil Frommel soll eigens ins königliche Schauspielhaus ent-
sandt worden sein, um über den blasphemischen Charakter
des Stückes ein vertrauliches Gutachten abzugeben. Aber
man war bei der Wahl des Begutachters an den Unrechten
gekommen; denn man war an einen Dichter gekommen.
Frommel ging tief ergriffen und poetisch gehoben aus der
Vorstellung, die er noch einigemal mit steigender Liebe für
das arme Hannele besucht haben soll. Vom Angstschrei
dieser gequälten Kreatur schien man, wie vorher von den
„Webem^^, ein tausendfaches Echo in den Scharen der sozial
Unzufriedenen zu befürchten, während umgekehrt Nicolais
geistige Nachkommenschaft den Dichter einen Frömmler
schalt, der uns ins finstere Mittelalter zurückführen wollte.
Wie der fromme alte Weber Hilse in Langenbielau, der
auch sein Weltweh nur aus Himmelssehnsucht trug, kommt
das kleine Hannele von den pietistischen Gärten Schlesiens
her. Die Armenhäusler, die Hanneles Sterbelager umlär-
men und umlungern, reden den Dialekt der schlesischen
Berge. Aber das Schlesiertum liegt nicht bloß im Arme-
leutedialekt. Wie tief schlesische Volksart in diese Dich-
tung versenkt ist, hat vor allen andern der Schlesier Gustav
Freytag erkannt, der ein Jahr vor seinem Tod die Traum-
dichtung des jungen Stammesgenossen besprach. Freytag
rühmte die Bühnenkenntnis, mit der Hauptmann hier „et-
was geschaffen hat, was nur ein echter Dichter, vielleicht
nur einer aus dem Regierungsbezirke des Berggeistes Rübe-
zahl ersinnen konnte." Während sich ein Teil der Tages-
8 113
presse über den „naturalistischen" Anfang ebenso erboste,
wie über das „symbolistisch-mystische" Ende des Stücks,
sah in Übereinstimmung auch mit Spielhagen der alte, die
poetischen Mittel des Kontrastes genau kennende Verfas-
ser einer „Technik des Dramas", daß „erst auf der Grund-
lage der gemeinen, harten Wirklichkeit des Daseins, des
Kampfes mit der Not, der Schwäche und sittlichen Ver-
derbnis die Poesie des idealen Inhalts, welchen frommer
Glaube dem Kinde des Volks zuteilt, verständlich und er-
greifend wird."
„Hanneles Himmelfahrt" ist ein Ergebnis des Aufent-
halts, den Gerhart Hauptmann seit 1891 wieder in Schle-
sien genommen hatte. Hier traten dem gereiften Dichter
heimatliche Kindeseindrücke mit gesteigerter und gerei-
nigter Kraft wiederum vor die Seele. Wer bei dem lang-
gestreckten, am Fuß einer hügelan steigenden, bewaldeten
Wiese gelegenen Bauernhause, das damals Carl und Ger-
hart Hauptmann mit ihren schwesterlichen Frauen noch
gemeinsam bewohnten, vorüber ins meilenweit hingela-
gerte Dorf Schreiberhau wandert, kann auf der Landstraße
den Armenhäuslern begegnen, dem stottrigen, schlottrigen
Vater Pleschke, der fromm gewordenen Zuchthäuslerin
Tulpe, der Straßendirne Hete, die noch nicht Betschwester
geworden ist, dem Flegel Hanke; auch wohl dem Maurer
Mattem, der im Stück nur Schreckgespenst des Traums
ist. Am Verkehr mit Volk und Natur hat sich auch hier
des Dichters Kunst gestärkt. Auch diese Dichtung wurzelt
im Weh der Erde. Doch ihren Scheitel krönt Himmelslicht.
Dieses aus Lust und Schmerz gefügte Werk widmete der
Dichter der Frau Marie Hauptmann, gebornen Thiene-
mann, mit Worten, auf denen Abschiedsstimmung liegt.
114
IX
FLORIAN GEYER
Seit dem Tiberiusdrama hatte sich Gerhart Hauptmann
in der Wahl dramatischer Stoffe nicht wieder aus seinem
Land und seiner Zeit entfernt. Denn die drei Stücke, die
in der östlichen Umgebung Berlins spielen (Das Friedens-
fest, Einsame Menschen, Der Biberpelz) stehen noch unter
schlesischem Einfluß, und das „Schauspiel aus den vierziger
Jahren" führte in eine Zeit, die noch nicht hinter lebender
Menschen Gedenken lag. Jetzt erst wagte der Dichter wie-
der einen Sprung in andere Zeit und anderes Land. Bei
seiner Beschäftigung mit den sozialpolitischen Bewegungen
der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit war ihm ein
Buch in die Hände gefallen, das den großen deutschen
Bauernkrieg behandelt, und dessen Verfasser ein alter vor-
märzlicher Demokrat, der schwäbische Pfarrer Dr. Wilhelm
Zimmermann, ist. In seinem wissenschaftlichen Wert wird
dies Buch von der Geschichtforschung für abgetan erklärt.
Aber es ist mit populärem Schwung geschrieben. Als
Hauptmann dieses Buch las, steckte ihn der Enthusiasmus
an, womit Zimmermann die Gestalt des ritterlichen Bauern-
führers Florian Geyer hervorhebt. Und noch unter dem
Eindruck sozialpolitischer Weberstimmung, noch bevor er
an den „Biberpelz" und „Hannele" ging, entschloß er sich,
Florian Geyer zum Helden eines historischen Dramas zu
wählen.
Während des Sommers 1894 war er von einem mehr-
monatigen Aufenthalt in Newyork und Umgegend, wo er
Gattin und Söhne bei alten Freunden aufgesucht hatte,
8* 115
eben heimgekehrt. Nun hielt er sich längere Zeit in Rothen-
burg ob der Tauber auf, kam auch nach Würzburg und
Schweinfurt, und in Nürnberg ergriff ihn aufs tiefste die
alte, starke, deutsche Kunstgewalt der Adam Kraft, Veit
Stoß und Peter Vischer, Dann ging er nach Schreiberhau
zurück, um seine Arbeit vorläufig abzuschUeßen. Während
des Frühlings 1895 brachte er seinem Freund Brahm, der
sein erstes Direktionsjahr im Deutschen Theater durch den
Erfolg der „Weber" geborgen hatte, ein starkes Manuskript
nach Berlin. Auch dies Werk las er uns vor, erklärte aber
gleich anfangs, es eigne sich von allen seinen Stücken am
wenigsten zur Vorlesung, weil es sich von allen seinen Stük-
ken am meisten fürs Theater eigne. Die Vorlesung gab
kein klares Bild und auch keine rechte Hoffnung auf Ge-
lingen der Bühnenaufführung. Aber der Dichter selbst
blieb seiner Sache so sicher, daß er im Herbst 1895 daran
dachte, mit Felix Hollaender zusammen das Theater des
Westens in Charlottenburg zu übernehmen und hier zu-
nächst ganz nach seinen eigensten Intentionen den „Flo-
rian Geyer" aufzuführen. Er ging dabei vom richtigen Ge-
fühl aus, daß ein Bühnenwerk nicht im Buche schon fertig
sei, sondern erst wenn der Vorhang über dem letzten Akt
fällt, und daß der Verfasser bis zu diesem letzten Punkt die
Oberhand im Spiel haben müsse. Alte Ideale poetisch-
plastischer Schauspielkunst wurden wieder lebendig, aber
für diesmal scheiterte der Plan. Am 5. Januar 1896 kam
„Florian Geyer" in Berlin aufs Deutsche Theater. Das
weitschichtige Werk, nicht zum besten dargestellt, erfuhr
eine sehr stürmische Aufführung, der dann nur wenige Vor-
stellungen folgten. In dem Sturm jener ersten Aufführung
kam es zu drolligen Szenen. So rief ein werter Mann, der
116
sich mehr auf Witz als auf Wissenschaft verstand: „Das ist
doch nicht der Florian Geyer, den wir alle kennen und lie-
ben !** Der Brave hatte keine Ahnung, wie wenig auch die
gelehrtesten Kenner des Bauernkrieges von Florian Geyer
wissen.
Daß er Franke war, ist sicher. Seine Burg Giebelstatt
ragte unweit des Würzburger Bischofssitzes in dieses schöne
Land hinein. Er war aus altem Rittergeschlecht. Sein Va-
ter und mehrere Brüder überlebten ihn. Zum Weibe ward
ihm ein Fräulein von Grumbach angetraut, deren Sippe
ganz in der Nachbarschaft auf Schloß Rimpar saß. Durch
diese Ehe bekam er zum Schwager den glänzend begabten
Abenteurer Wilhelm von Grumbach, der nach einem Leben
voll kühner Eroberungsgelüste und wilder Händel endlich
1567 in Gotha hingerichtet wurde. Die Sage geht, zu den
vielen Gewalttaten dieses Herrn gehöre auch die hinter-
listige Ermordung seines eigenen Schwagers Florian Geyer.
Soviel ist gewiß, daß die beiden Schwäger Todfeinde wa-
ren, als Florian Geyer 1525 fiel. Sein früher Tod nach
einem ritterlichen Leben, von dem auch bauernfeindliche
Chroniken und Volkslieder nichts Nachteiliges zu melden
wissen, läßt seine Gestalt in einem reineren Lichte erschei-
nen, als jenen Götz von Berlichingen, dessen treuloses, räu-
berisches Verhalten weder die ahnenstolze Pietät später
Enkel noch die dichterische Verklärung durch Goethe vor
dem Richterspruche historischer Forschung retten durfte.
Nicht so erkenntlich den Augen des Historikers steht mit
seiner dunklen Schar Florian Geyer. Desto mehr muß
es dichterische Phantasie reizen, von ihm ein deutliche-
res Bild aus dem Grunde des Zeitalters aufsteigen zu
lassen.
117
Gerhart Hauptmanns Drama teilt sich in ein Vorspiel
und fünf Akte. Die Zeit der Handlung Uegt zwischen Ostern
und Pfingsten 1525. Würzburg, Rothenburg, Schweinfurt
sind die drei Hauptorte der Handlung. Das Vorspiel be-
ginnt vor der Schlacht bei Weinsberg auf dem Würzburger
Bischofsschloß. Wir sehen die bedrängten Umstände der
bauernfeindlichen Ritterschaft. Der fränkische Adel ist
versammelt und erwartet den Bescheid seines bischöflichen
Herzogs. Das Vorspiel scheidet sich in zwei Teile. Im
ersten Teile werden durch ein Schreiberseelchen des Rit-
ters die „Zwölf Artikel" bäuerlicher Ansprüche vorgelesen,
die hier teils empörend, teils beängstigend wirken, wie das
Weberlied in Fabrikantenkreisen. Im zweiten Teile spricht
der Bischof-Herzog zu den Rittern. Dem Bischof -Herzog
ist es auf seinem Schlosse nicht mehr geheuer; der ebenso
kluge wie feige Kirchenfürst trägt, wie sein Zeitgenosse
Eck sich ausdrücken würde, „einen Hasen im Busen", aber
er weiß dieses Hasenpanier so diplomatisch und wohlred-
nerisch zu drapieren, daß die große Mehrheit der Ritter
nichts merkt, und die Zurückbleibenden dem entweichen-
den Herrn Hab und Haus hüten werden. Unter den Rit-
tern, den „festen Junkern", die in den aufgestandenen Bau-
ern nur Gesindel, in der Bauernbewegung nur den Um-
sturz von Recht, Sitte, Ordnung sehen, heben sich mit
kleinen, feinen Zügen, anfangs nicht leicht zu sondern,
dann sehr unterschiedlich, Typen ab, wie sie auch in den
politischen Kämpfen unserer Gegenwart wiederkehren.
Aber dieser Schar fehlt auch der Opponent nicht : der frei-
gesinnte Edelmann, der offen und kühn die gerechten Be-
schwerden des Bauernstandes anerkennt und aus seiner Ab-
neigung gegen Junker und Pfaffen kein Hehl macht. Unter
118
einfältigen Haudegen, großmäuligen Emporkömmlingen,
geistlichen Fanatikern, geschmeidigen Höflingen ist Wolf
von Hanstein der geistige Nachfahr Ulrich von Hutten's
und Franz von Sickingen's. Er ist in dieser Ritterrunde
der Stellvertreter und Sachwalter Florian Geyers. Der gilt
diesem Junker- und Pfaffenkreis als die Seele aller Feind-
seligkeit. Sein Geist geht schreckhaft und gehaßt durch die
Versanmilung. Körperlich muß ihn daher ein anderer ver-
treten. Dieser andere leitet unser Interesse am Helden aus
dem parlamentarisch gehaltenen Vorspiel ins Drama selbst
über.
Der ersteAkt hält uns noch in Würzburg auf. Wir sind
in der Kapitelstube der Neumünsterkirche. Nebenan ist
Dankgottesdienst. Die Kapitelstube schmückt sich mit
grünen Reisern. Unter Führung Florian Geyers haben die
Bäurischen .Würzburg in Besitz genommen. Der Sieges-
taumel ist gewaltig. „Das Glück schneiet mit großen Flok-
ken", jubelt im Übermut Florian Geyers Feldschreiber
Lorenz Löffelholz. Aber bald darauf muß derselbe Lorenz
Löffelholz klagen: „Bös Ahnen nestelt sich an mich." Die
stolzen Ritter vom Bischofssitz müssen unten in der Ka-
pitelstube antreten, um mit der bäuerischen Übermacht zu
unterhandeln. Die kecken Spötter und Schimpfer aus dem
Vorspiel finden sich murrend bereit, jene „Zwölf Artikel",
die sie so feindlich glossierten, für Recht und Gesetz anzu-
erkennen. Die Bäurischen lassen es dabei ihrerseits an hoch-
fahrender Schadenfreude nicht fehlen; ihre Begehrlichkeit
steigt. Die mannigfaltigsten Interessen der Einzelnen ge-
raten in Wirrwarr. Den Siegern gebricht es an Eintracht.
Quot capita, tot sententiae! könnte der humane und huma-
nistische, gegen die Scholastik aufgebrachte Rektor Besen-
119
meyer, der freudig zu Florian Geyer steht, in seinem Hei-
denlatein sagen. Das bäurische Element selbst tritt fast
zurück hinter all den Rittern und Bürgern, Geistlichen
und Gelehrten, Schreibemund Klriegsknechten, die irgend-
ein wirklicher oder eingebildeter Vorteil der eigenen Person
auf diese Seite geschlagen hat. Es hallt wider von Worten
wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, aber jeder legt
in diese Worte seinen besonderen Sinn. Äußerhch ent-
wickelt sich ein farbiges bewegtes Bild. Noch ehe die Ein-
zelnen in das ehrwürdige Kirchengemach eintreten, sehen
wir mit den begierigen Augen derer, die zum Bogenfenster
auf die Straße hinabschauen, das Getriebe draußen vor dem
Dome. Da hebt sich schwer von seinem Rößlein der volle
Wanst des Odenwälder Bauernhäuptlings Jakob Kohl.
Dann reitet auf seiner Schindmähre Götz von Berlichingen
heran; er hat mit Goethes biederm Helden kaum mehr als
den Namen, die eiserne Hand und etliche Schicksale ge-
mein ; sonst ist er ein kurzes „Nußknackerlein", voller Un-
fried und Tücke. Wir sehen Florian Geyers Schwager in
die Tür treten, den äußerlich glänzenden, innerlich rohen
Ritter Wilhelm von Grumbach, der im Trüben dieser Hän-
del nach bischöflichem Gut fischen möchte. Endlich tönt
Jubel die Gassen herauf. Sie grüßen draußen den Helden
des Tages, den Einzug Florian Geyers in Würzburg. Nun
sitzt er ab, nun tritt er ins Gotteshaus, nun erscheint trun-
ken von Wonne und Wein sein treuer verwilderter und ver-
welschter Kriegsgesell Tellermann, und endlich, nach Pre-
digt, Gebet und Segen, ist er selbst im Zimmer, der
schwarzgeharnischte Sieger.
Gleich seinen ersten Worten merkt man*s an, daß ihn
zuvor Rektor Besenmeyer richtig beurteilt hat: „Ein bren-
120
nendes Recht fließt durch sein Herz." Auch der bürger-
lich gewordene Ritter von Menzingen, der Schultheiß Be-
zold, der junge Diakonus im Dom und vor allem Teller-
mann und Löffelholz hangen an diesem Helden. Aber
schon mußte Löffelholz sorgend bekennen: ,,Sie denken
nit alle so wie wir"; und je dichter sich die Stube füllt,
desto bedenklicher zeigt sich's, daß Florian Geyer über
diese buntscheckige Siegerschar „in keinem Weg" die un-
bestrittene Herrschaft hat. In diesem Durcheinander von
Wünschen und Meinungen hebt am ruhmvollsten Tage
seines Lebens der Held schon den Fuß auf zum Schritt ins
tragische Verhängnis. Ein feiner Diplomat, ein weiser
Staatsmann, ein gewalttätiger Tyrann hätte dieser zügel-
losen Schar den Herrn gezeigt, mit dem überwundenen
Feind paktiert und sich die Führerschaft erzwungen. Denn
je verrannter der Haufe, desto günstigere Zeit für die Des-
poten. Von alledem aber lag in Florian Geyers Natur so
wenig, und alles Tragische ist entweder ein Zuviel oder ein
Zuwenig; meist ist es beides. Er ist, modern gesprochen,
kein RealpoHtiker, sondern ein Idealist. Florian Geyer, ein
ganzer Mann, ist doch nur einen halben Weg gegangen.
Den verbündeten Rittern galt er als Bauer, den Bauern
blieb er trotz der Lockenschur ein Ritter, und die Geist-
lichkeit sah in ihm den Ketzer. Er hat nach eigenem
Rechtsgefühl gehandelt, aber schon wuchs aus seiner Saat
etwas hervor, was seinen Willen überwucherte. Draußen
in der Stadt tobt noch der Siegesjubel. Das Volk schlägt
aus. Man will an den Überwundenen sein Mütchen küh-
len. Weinsbergs böses Beispiel wirkt nach. Die Unter-
händler des Bischofs finden nicht das freie Geleite durch
die Stadt, das Geyer ihnen zugesichert hat. Weiber möchten
121
zu Hyänen werden, und alle diese Rechtswidrigkeiten
geschehen unter dem Feldgeschrei: ,Vivat Florian Geyer!*
Geyer aber handelt nun nicht, sondern redet. Er wirft sich
nicht zum alleinigen Herrn der Situation auf, sondern plä-
diert für einen vielköpfigen Kriegsrat. In ehrlichem Pathos
leitet er die Wut in eine symbolische Handlung ab, zu der
sich nun die Getrennten vereinigen. Ein Stoß des Messers
in die Kirchentür bedeutet für sie einen Stoß „mitten ins
Herz" des Feindes. So findet jeder, der Soldat wie der
Ffaff, der Anarchist wie der Bürger, der Bauer wie der
Gelehrte, der Feste wie der Schwankende irgendein
Herz, in das er ohne Blutvergießen mitten hinein stechen
kann. Statt des festen einen Herrenwillens waltet ein
Vielerlei.
Der zweite Akt spielt in Rothenburg. Geyer ist in der
Stadt. Wenn im Vorspiel die äußere Handlung in zwei
Teile, Verlesung der Artikel und Ansprache des Bischofs,
zerfällt, wenn im ersten Akt die Stimmung von der Sieges-
freude zu heißer Zwietracht umschlägt, so sind auch im
zweiten Akt zwei Teile zu unterscheiden. Der erste ist
wieder zuständlicher Art. Der zweite bringt die tragische
Wendung. Dieser Akt erinnert, nicht nur durch anschau-
liche, breite, den Fortgang der Aktion hemmende Schilde-
rung von Zuständen, sondern auch durch die Szenerie zu-
nächst an den dritten Akt der „Weber". Auch hier sind
wir in einer Schenkstube : am Marktplatz von Rothenburg
beim Gastwirt Kratzer, der zur Bauernpartei gehört und
ihr stiller Vertrauensmann ist. Weinselige Bürger plärren
die großen Schlagworte der Zeit her wie Bundschuh und
Evangelium. Die Reformationsstimmung ist so stark, daß
sie sich schon zu Spott und Hohn entschließt. Ein anti-
122
papistischer Hausierer ruft die neuesten Flugschriften aus,
und in dieser Marktschreierei vergegenwärtigen sich alle
Gewalten des Zeitlaufs: Äblaßkram und päpstliche Welt-
herrschaft, der Opfertod von Hus und Savonarola, Huttens
letzte Tage und Thomas Münzers Streit mit Luther. In
glücklichster Weise dient die Episode zur Charakteristik
der Zeit^ der Zeitstimmung wie der Lage des Augenblicks.
Unter diesen bunten Gestalten, die nur als episodische
Merkmale der Zeit erscheinen, begegnet uns so mancher
Bekannte aus der Würzburger Klapitelstube. Auch Rek-
tor Besenmeyer, der Humanist, ist dabei; er hat unter-
wegs eine todmüde, zigeunerhafte Dirne aufgegriffen und
schafft ihr barmherzig bei Kratzer Unterschlupf. Der
Dichter wurde auf die unheimliche, heimatlose Gestalt
der „schwarzen Marei" durch die schwarze Hofmännin aus
Böckingen bei Heilbronn geführt. Diese Petroleuse des
Bauernkriegs war mannhafter als alle Männer. Ihre Zau-
bersprüche hatten fortreißende Macht. Ihr Segen, der ein
Fluch war, tat das Seinige, um die Bauern durch jene Weins-
berger Greueltaten ins sittliche Unrecht zu setzen. Ger-
hart Hauptmanns schwarze Marei ist freilich nur ein Schat-
ten dieser Gestalt. Sie ist zahmer und scheuer. Der Dich-
ter hat die Böckingerin dem BLäthchen von Heilbronn an-
genähert. Wie das Käthchen in hündischer Treue ihrem
Ritter folgt, so die schwarze Marei dem Florian Geyer.
Wie sich das Käthchen mit dringlicher Kunde den Atem
ausläuft, so kommt über Nacht die schwarze Marei mit
Hiobsposten von Würzburg nach Rothenburg gerannt. Am
Ziel sinkt sie übermüdet in todesähnUchen Schlaf, und
während beim Kratzer an den verschiedenen Wirtstischen
die „Laufte" beredet werden, während durch wimmelnde
123
Gestalten die damalige Welt im Kleinen erscheint, liegt
hinten, unbemerkt und ungestört, wie sein schlafendes,
schwarzes Verhängnis, Florian Geyers schwarze Marei.
Aber die schwarze, treue Marei ist nur das Scheinbild
seines Schicksals. Leibhaftig verkörpert sich dieses Schick-
sal in einer Männergestalt. Gleichfalls in Kratzers Wirts-
haus zu Rothenburg tritt er zur selben Stunde ihm entgegen.
Wie den Wallenstein sein Buttler umkreist, so umkreist
den Florian Geyer sein Schäferhans. Der Schäferhans, ein
einfältig frumber Landsknecht, der sich gegen seine bäue-
rischen Brüder nicht will brauchen lassen, aber ein in der
Soldateska verrüdeter Rauf- und Saufbold, wollte in der
Glut des Branntweins dem verhaßten Bilderstürmer Karl-
statt, der ebenfalls bei Kratzer untergekrochen ist, ans Le-
ben, wird aber von dessen Mut der Demut abergläubisch
gebannt, dann jedoch durch Lärm und Spottlied gegen den
eingetretenen Florian Geyer, mit dem er schon vor Pavia
Händel hatte, so aus der Maßen frech, daß dieser ihn mit
einem Faustschlag ins Gesicht niederwirft.
Florian Geyer trifft mit diesem sinnbildlichen Faust-
schlag die ganze Wildnis und Wüstheit des Zeitalters und
beweist, daß sein Herz dem niedern Volk, aber nicht dem
verrotteten Pöbel gehört. Zwar liegt der Schäferhans jetzt
bewußtlos am Boden. Aber es kommt ein Tag, da er den
Florian Geyer zum zweitenmal treffen wird. Jetzt hat
Florian nur seinen verräterischen Schwager Wilhelm von
Grumbach zur Seite, und hinten im Dunkeln auf der Bank
schläft noch immer, durch keinen Schäferhans zu erwecken,
und auch nicht zu erwecken, als das Volk seinen Helden
um jauchzt, und der Held zu seinem Volke spricht, die
schwarze Marei. Man hatte ihrer und ihrer Hiobsposten
124
lange vergessen. Nun aber wird sie doch geweckt, und sie
bringt stockend, unbeholfen, mavdfaul vor Müdigkeit, mür-
risch aus Ohnmacht, mühsam hervor, was sie weiß, und
was ihr mitgegeben ist. Auf einen Ruck sind wir damit in
die seit Würzburg fortgeschrittene Aktion hineingerissen.
Wir erfahren mit Florian Geyer und den andern, wie sich
seit jenem Siegestag alles gewendet hat, wie verzweifelt es
um die bäurische Sache steht. In der Böblinger Schlacht
fielen gegen den Truchseß von Waldburg zwanzigtausend
Bauern. Aber auch in Würzburg selbst steht es schlimm.
Während sich Florian Geyer unheilvollerweise hierher nach
Rothenburg „verschicken" ließ, wurde dort gegen seinen
Willen und wider Versprechen* beschlossen, die bischöf-
liche Burg anzugreifen. Nur Teilennann hatte sich wider-
setzt. Er wurde für diese Treue zum Herrn ins Eisen ge-
legt. Die andern samt Geyers schwarzem Haufen wagten
den Angriff und wurden schmählich niedergemetzelt. Als
Geyer diese Nachrichten von der schwarzen Marei emp-
fängt, verläßt ihn sein Vertrauen zur Sache. Solange er nur
von der Übermacht des Feindes bei Böblingen hörte, er-
scholl immer wieder sein ermunternder Ruf: „Gen Würz-
burg". Als er aber vom Wortbruch der Freunde hört, ver-
stummt sein Ruf; anstatt die Rothenburger Geschütze zu
fordern, legt er selbst Stück für Stück seine eigenen Waffen
ab. Er denkt ans Kloster. Dieser Akt, in allen Tonarten
spielend, endigt mit einem elegischen Akkord. In der ent-
scheidenden Stunde, vom Orte der Entscheidung weit ent-
fernt, hält sich Geyer damit auf, einem einzelnen Mann die
Faust ins Gesicht zu schlagen und zum Fenster hinaus eine
schöne Volksrede zu halten. Ist das sein Charakter oder sein
Schicksal? Statt frischer Tat Sinnbild und Worte!
125
Der dritte Akt führt nact Schweinfurt. Die tiefe Nie-
dergeschlagenheit, in der wir Florian Ge7er verließen, hat
inzwischen alle Beteiligten ergriffen. Die Lage ist für die
Bauern schlimmer geworden. Jetzt, da es zu spät ist, ge-
schieht, was Geyer schon in der Würzburger Kapitelstube
gewollt hatte, jetzt, da der rechte Augenblick bereits ver-
paßt ist, hat der bäurische Kriegsrat einen Landtag aller
Genossen nach Schweinfurt berufen. Aber alle Schwachen
und Schwanken sagen ab, und der Festen bleiben nur we-
nige. Wir sehen unsre alten Bekannten aus der bäurischen
Gruppe nacheinander in die Schweinfurter Ratsstube tre-
ten. Jeder weiß was Neues, keiner was TröstUches. Einer
gibt dem andern die Schuld am Unglück. Aus allen diesen
Vorwürfen, dieser eigensinnigen Borniertheit, diesem
Schimpf und Groll und Zank entrollt sich eins der trüb-
sten Gemälde deutscher Vergangenheit, deutscher Zer-
klüftung und Zerfahrenheit: im Dienst für eine Sache das
vielspältigste Wesen. So verläuft vom dritten Akt der erste
Teil.
Den zweiten Teil beherrscht Geyer selbst: still gefaßt
und ohne Vertrauen, ein Besiegter in der Größe des Sie-
gers. Er ist gütig gegen seine Getreuen, nimmt für seine
Gleichheitsbestrebungen gelassen den naiven Dank eines
hausierenden Juden hin, zerschneidet mit einem kurzen,
messerscharfen Wort das Tischtuch zwischen sich und sei-
nem Schwager Grumbach und ignoriert verächtlich jenen
Jakob Kohl, der bei Würzburg den Hauptkarren verfahren
hatte. In dieses wartende Rumpfparlament bricht eine
gräßliche Szene ein, die auch Geyers Blut wild aufrührt.
Ein altes Weib führt ihren zu Kitzingen beim Einzug der
Markgräflichen mit zahllosen andern Bürgern geblendeten
126
Sohn herein. Im Irrsinn ist sie bekehrt zum ältesten Glau-
ben; alle Menschen, besonders aber den Luther und den
Geyer verflucht sie; Gott und allen Heiligen singt sie Lob.
Der Wut uijd dem Wahn ihres Wehs begegnet Geyer sanft,
ergeben und mildtätig. Dann aber feuert es, wie aus einem
langverhaltenen Ejrater, flammenspeiend hervor, und sehr
verschieden von den Hadereien, Nörgeleien und Ärgereien
der andern, hält er ein Strafgericht über alle die Halben,
Ungetreuen, Unverträglichen, Habgierigen, Eigenmächti-
gen, Eitlen, die ihm seine Sache verdorben haben, „eine
Sache, die Gott einmal in eure Hand gegeben hat und viel-
leicht nimmer." Es ist wieder bloß in Worten ein Straf-
gericht, aber die ganze derbe Ausdruckskraft des lutheri-
schen Zeitgeistes steht diesem ritterlichen Helden zu Ge-
bot, und auch das welterschütternde Hohngelächter, in das
Goethe seinen Götz vor den Heilbronner Ratsperücken
ausbrechen läßt. Die Macht seiner Persönlichkeit wirkt
durch diesen emphatisch ausgeschrienen Seelenschmerz
stärker als bisher. Er beugt sie alle nieder. Am erschüt-
terndsten wirkt er auf den armen dicken Jakob Kohl, der
nun ganz zerknirscht ist. Und doch! So hoch Geyer über
den andern steht, so bestätigt und bestärkt sich der erste,
aus der Würzburger Kapitelstube geholte Eindruck: Geyer
ist nicht der Mann, diese tobenden Zeiten zu führen. Noch
eh er, zum letzten Verzweiflungskampf um Leben und
Tod, begleitet von den Treugebliebenen und einem wieder
Treugewordenen, dem reuigen, rührend lächerlichen Jakob
Kohl, davon schreitet, umfaucht ihn sichtbar schon ein
Hauch des Todes. Er läßt seinen Löffelholz im Sterben
zurück. Er rückt in ein Feld, wo er eines Feldschreibers
nicht mehr bedürfen wird.
127
Während des vierten Aktes sind wir wieder in Krat-
zers Herberge am Markt zu Rothenburg. Der Ort ist der-
selbe, aber wie anders die Stimmung! Ringsher brennen
die Dörfer. Der Glutschein steigt über die nächtlichen
Dächer der Stadt. Unter den Bürgern Rothenburgs herrscht
eine reaktionäre Strömung. Die kleinen selbstischen Inter-
essen kommen zum Vorschein. Man will Fried im Land
und sich ducken. Nur eine Minderheit vertraut noch auf
den Götz und den Geyer und läßt sich von herumziehen-
den Spielleuten die neuen Volkslieder auf diese Helden vor-
bänkeln. Die Gegenpartei antwortet mit Spottliedern auf
Thomas Münzer und Martin Luther.
Der Standhaftgebliebenen Hoffen richtet sich auf den
Schweinfurter Landtag. Als Geyer von Rothenburg nach
Schweinfurt geritten war, scheint die schwarze Marei in
der Herberge zurückgeblieben zu sein. Während Gevatter
Schuster und Schneider sich , ^kleines Lauts" zur Ruhe trol-
len, liegt sie wieder hinten auf ihrer alten Bank und schläft.
Aber ihre Träume stehen in der Feldschlacht bei Geyer
und seinem Tellermann. Sie ist nicht das einzig Unheim-
liche in der jetzt so unwirtlichen Herberge. Wie aus der
Nachtluft gebildet, steht plötzlich vor dem erschreckten
Wirt sein gefährlichster Gast, Andreas Karlstatt, der Bil-
derstürmer. Eine ganz gescheiterte Existenz! Mutlos und
unwillkommen kehrt er von Würzburg zurück, das sicht-
bare Gespenst einer verlorenen Sache. Er spricht jetzt das
Wort aus, worin sich die ganze Tragödie spiegelt : „Hat ein
Aussehen gehabt, als sollte der Frühling hervorkeimen, al-
lenthalben, ist aber alles wiederum verfaulet in Finsternis!"
Karlstatt ist nicht der einzige, der in dieser düstern Nacht
die Herberge des armen Kratzer heimsucht. Von Marei
128
sofort aus dem Schlaf e heraus von weitem erkamit, kommt
Geyer mit anderen Abgeordneten, darunter Menzingen
und Rektor Besenmeyer, vom Schweinfurter Landtag zu-
rück. Unverrichteter Sache! Gegen Würzburg, wo nach
Karlstatts Äußerung die Hölle ist, Leute anzuwerben, um
seinen schwarzen Haufen wieder herzustellen, ist auch ver-
gebliche Mühe gewesen.
Still in sich gekehrt sitzt er wieder an Kratzers Tisch,
auf den seine verlorene Hand Kreidefiguren hinmalt, wäh-
rend seine Gedanken um das deutsche Schicksal kreisen.
Wir kennen diese Situation schon, aber wir sehen jetzt tie-
fer in sein Inneres. Sein Lebenszweck schwindet. Sein
Traum verschäumt: „Der heimliche Kaiser muß weiter-
schlafen, die Raben sammeln sich wieder zu Haufen. ^^ Sein
weit und frei gebliebener Blick, der nur manchmal das
Nächste nicht sah, sucht über den großen Wassern das neu
entdeckte Land, und während sich die Propheten um ihn
her, der Humanist und der Bilderstürmer, durch gelehrte
Disputationen über das Seinsollende die ängstliche Zeit
vertreiben, erwacht in ihm das Weltkind. Er begehrt Mu-
sik und Tanz. Tändelnd scherzt er mit seiner hundstreuen
Dirne, deren lange Strähnen dem Ketzer lieber sind als das
Haar der allerseligsten Jungfrau. Da plötzlich unterbricht
ein anderer Ton dieses ganze müßige Brüten über ein ge-
suchtes und nicht gefundenes Glück. Der schwerverwun-
dete, sterbende Tellermann, den Stumpf einer schwarzen
Fahne in der Hand, stürzt taumelnd im irren Fieberwahn
herein. Bei Königshofen ging wieder eine Schlacht ver-
loren. Götz hat Verrat geübt. Dieser Todeskampf Teller-
manns mitten unter denen, mit denen er zusammenhielt,
ist die mächtigste Szene im Drama. Es ist, als müsse nun
9 129
jeder Einzelne in sein Grab steigen. Wir werden keinem
von ihnen mehr begegnen. Nur Geyer nimmt ncxdi einmal
den stummen Dienst seiner Dirne in Anspruch. Er läßt
sich noch einmal den schwarzen Harnisch umlegen und
trägt sein Letztes in den letzten Kampf. Jetzt, da er einer
göttUchen Sache gedient hat, will er keinem König mehr
dienen. Er ist schon dem Grab vertrauter als dem Dies-
seits. „Wo ist man die erste Nacht nach dem Tode ?" fragt
er. „Bei Sankt Gertrauden", antwortet Marei. „Wo ist
man die zweite Nacht nach dem Tode ?" fragt er wieder.
„Bei Sankt Michel", antwortet Marei. „So will ich über-
morgen Sankt Gertrauden und über drei Tagen Sankt
Michel von euch grüßen."
Vom alten Bänkelsänger läßt er sich eins der Volkslieder,
die über ihn durchs Land zogen, als Nänie singen. Er
weint. „Ihr Herren, ich schäme mich nit vor euch. Ich
habe nit um mich geweint !" Er lächelt bitter seines Ruhms,
seines Segens für Deutschland: „Ich hab gedacht, ich wollt
Wandel schaffen. Wer bin ich, daß ich's gewagt." Er selbst
fällt in den Ton der Lieder, die das Volk von ihm singt. Er
denkt huldigend der Großen, die ihm vorangegangen sind,
des Sickingen und des Huttea. Sein Feuer flackert noch
einmal auf. „Lustig Brüder! Warum sollen wir nit lustig
sein? Die heilige Agathe ging zum Märtyrertod als wie
zum Tanz. Das heilige Mädchen Anastasia verachtete den
Tod, und wir sind Mannskerle." Mit so grimmem Humor
nimmt er Abschied von den Brüdern. Er nimmt Abschied
vom toten Tellermann, der noch immer den Fahnenstumpf
fest umklammert hält: „Willst sie nit hergeben? Ei, Bru-
der, gib dich zufrieden. Auf Bauemehr, Bruder! Ich will
ihr so treu sein wie du." Wie zu Schweinfurt mit seinem
130
Löffelholz, so ist jetzt mit seinem Tellennann ein Stück
des eigenen Selbst von ihm abgestorben. Löffelholz war
freilich nur sein Federkiel. Tellermann ist der Griff seines
Schwertes gewesen. Von Geyers schwarzem Haufen, seinen
„Dunkelknaben", bleibt nur noch Geyer selbst übrig.
Im fünften Akt sind wir im Schloß zu Rimpar, unweit
Würzburgs, auf dem Herrnsitz Wilhelms von Grumbach.
Die Grumbachischen sind in großer Ängstlichkeit. Mit den
Bauern und Florian Geyer ist es aus, und der Schloßherr
hat sich in seiner Gier, vom besiegten Bischof Land und
Leute zu erschnappen, so weit bloßgestellt, daß nun vom
Zorn der Sieger Übles zu befürchten steht. Frau Anna von
Grumbach, die harte und doch feige Huttentochter, ein
Kind ihrer wilden Zeit, leidet an bösen Traumen, und ein
altes Weib vermag ihr mit seinem Aberglauben nur wenig
Trost zu schaffen. Der Schreiber Sartorius wird höchst
übel aufgenommen, und wie bedenklich jetzt die Verschwä-
gerung mit dem berüchtigten Geyer ist, tritt der Schloß-
frau in unheimlicher Körperlichkeit vor Augen.
Die schwarze Marei sollte der uns unbekannt gebliebe-
nen Gemahlin Geyers eine letzte Botschaft bringen. Sie
sucht diese ängstliche Dame, eine Schwester Grumbachs,
vergeblich im Schloß ihres Bruders und steht nun trotzig,
doppelt trotzig, weil sie von ihr mißhandelt wurde, vor
Anna von Grumbach. Wieder ist Marei der schwarze
Schatten, der dem Schicksal ihres Helden voranzieht. Denn
hier auf Grumbachs Schloß wird sich das Schicksal Geyers
erfüllen. In nächster Nähe, beim Dörfchen Ingolstadt,
haben die Bäuerischen ihre letzte Schlacht verloren. Geyer
war dabei gewesen. Ist er gefallen oder lebt er ? Ein hoher
Preis steht auf seinen Kopf. Ins Schloß des Schwagers
9* 131
stürmt ein Rudel Ritter, ihn zu suchen. Es sind jene Rit-
ter, die wir in ganz anderer Stimmung zu Würzburg beim
Bischof und dann in der Kapitelstube kennen gelernt ha-
ben. Sie mißtrauen ihrem Freunde Grumbach und kehren
bei ihm zu einer regelrechten Haussuchung ein. Durch
Speise und Trank setzt sich Grumbach bei seinen Standes-
genossen wieder in besseren Kredit. Rasch, für so geübte
Frühstücker zu rasch, herrscht allgemeine Bezechtheit, und
sie treiben mit dem armen, gefangenen, aufs ärgste miß-
handelten Bauernvolk ein so schnödes Spiel, daß die Zu-
schauer im Deutschen Theater diese grausame Szene nicht
ertrugen. Während nebenan bis zur Bewußtlosigkeit ge-
bechert wird, schleicht auf heimlichen Wegen, zu Tod er-
mattet, allein, Geyer herauf. Wie er gerade hierherkommt,
wo ihn am allerehesten das Verderben treffen kann, weiß
er selbst nicht. Er ist nun auch so weit, wie vor ihm sein
Löffelholz und dann sein Tellermann. Er hält sich schon
für tot. Auf der Stelle, die ihm zum Sterben bestimmt ist,
trifft ihn sein Schatten, die schwarze Marei. Derselbe Wein,
der nebenan seine Todfeinde aus den Siegesbechem be-
rauscht, erlabt ihm noch einmal die ausatmende Seele. Vom
entsetzten Schwager, der nun doch den Vogelfreien her-
bergt, erbittet er nichts anders als „ein Stündlein Schla-
fes". Es ist der letzte Lebenswunsch dessen, der sich selbst
schon für tot gehalten hat. Grumbach kann diese Bitte
nicht weigern: er versteckt ihn, aber er dvddet, daß ihn
sein Weib, die entartete Huttentochter, den Rittern ver-
rät. Und nun erhebt sich ein tragisches Possenspiel, eine
Szene von weltgeschichtUcher Diabolik. Nur schwer er-
nüchtert die betrunkenen Ritter der Anblick des einen,
dem sie den Tod geschworen haben. Und der sterbende
132
Mann schreckt sie noch ebenso wie ehedem. Seine Dirne,
die Marei, in ihre gezückten Schwerter fallen zu lassen, war
im Nu getan. Aber gegen des einen eignes Schwert die
Klingen zu heben, wagt keiner dieser Kavaliere. Statt ge-
gen ihn loszuschlagen, redet man ihm gut zu, sich zu er-
geben. Nun fühlt er noch einmal die Lebenskraft in sich:
Einer gegen viele, die ihn fürchten. Kein Ritter kann ihn
mehr verraten, kein Bauer kann ihn mehr verlassen. Noch
einmal stößt ihm aus der Brust das donnernde Feldgeschrei
seines verwehten schwarzen Haufens, der Heerruf, den
auch die Ritter verstehen, der Heerruf „Her!" Die Ritter,
die sich kurz zuvor über ein zusammengelesenes, schlot-
terndes Häuflein eingefangenen Bauemgesindels so mutig,
so tierquälerisch belustigt hatten, denen das Niederstechen
eines wehrlosen Weibsbildes gar nichts gewesen war, stecken
die Köpfe zusammen, und Florian Geyer müßte wohl
am eignen Kummer sterben, wäre nicht der Schäferhans
da, jener frumbe Landsknecht, der jetzt im Solde Grum-
bachs steht. Er hat die Stunde von Rothenburg nicht ver-
gessen und läßt sich das verhaßte Haupt seines Züchtigers
gern bezahlen. So fliegt über die ratlosen Schädel der Rit-
ter hinweg, geräuschlos, unverhofft, in die Brust des Ge-
fürchteten der Mordpfeil eines gemeinen Söldlings, der sich
diesen Meisterschuß mit Gold bezahlen läßt. Und während
die Ritter noch der erlegte Löwe ängstigt, macht sich Schä-
ferhans wie ein Schlächtergesell, der sein Handwerk ver-
steht, über den Toten her. Den opferwilligsten Freund des
Volks hat ein Pöbelknecht umgebracht. Und nun geht ein
Aufschrei der Befriedigung durch die ritterliche Runde.
Nun schachert man um das Schwert des Ermordeten. Und
der die frohe Botschaft: Florian Geyer (der Bauer
133
gewordene Ritter) ist tot, am frühesten und lautesten in
die Weite schrie, ist ein lacherlicher Kunz von der Mühlen
(der Ritter gewordene Bauer).
Hier ist die Stelle, an den großen Menschengestalter zu
denken, der seit dem Jägermoritz seinem oberschlesischen
Landsfreunde Gerhart Hauptmann immer die besten
Dienste geleistet hat. Vor vielen Jahren haben wir den
Amerikaner Edwin Booth bewundert, wie er es verstand,
in ein und derselben gewaltigen Szene heute als Jago das
Gift der Verleumdung zu spenden, morgen als Othello es
zu empfangen. So hat in dieser großen Szene des Geyer-
dramas während jener ersten Vorstellungen Rudolf Rittner
den mordenden Schäferhans verkörpert und zehn Jahre
später, als Otto Brahm wieder einen Versuch mit diesem
Stück machte, dem gemordeten Florian Geyer selbst Blut
und Leben, Geist und Herz und Seele gegeben. Als Schä-
ferhans hatte Rittner den Florian Geyer getötet, später hat
er ihn lebendig gemacht. Wer diesen Florian Geyer mit
dem Schwert in der Faust, eine Heldenkraft im Letzten,
sah und hörte, wird es nie vergessen. Wer es nicht sah,
bekommt eine Ahnung davon aus dem Gemälde Lovis
Corinths.
Mit seinem Helden endet der Bauernkrieg. Der Krieg
aber war doch größer als sein Held. Es ist nicht so unrich-
tig, wenn ihm sein Schwager Grumbach zvdetzt sagt: er
habe sich vermessen, den Fürsten und Pfaffen aufzuspie-
len, daß sie sollten das Tanzen lernen; aber er kunnt nit
recht spielen und so schlug man ihm die Laute am Kopfe
entzwei. Darin Hegt in Geyers Leben die Tragik. Aber
auch woran es ihm fehlte, führt ihn uns nah. Jene Zeit be-
durfte eines Bismarck, und Florian Geyer war eine Kaiser-
134
Friedrich-Natur, wenigstens wie sie in der liberalen Le-
gende fortlebt.
Die Zeit hat sich ohne Geyer weiter entwickelt. Es konn-
ten über das erste Viertel des i6. Jahrhunderts gründliche,
gediegene und gerechte Geschichtswerke verfaßt werden,
ohne daß Geyers Name darin genannt wurde. Das Drama
Gerhart Hauptmanns straft diesen historischen Standpunkt
nicht Lügen. Aber wie der historische Florian Geyer im
Dunkeln bleibt, so tritt auch im Drama seine Gestalt nie
ganz in den Vordergrund. Wir sind nie ganz allein mit ihm ;
Gerhart Hauptmann haßt im realistischen Drama die Mo-
nologe und hat ein anderes Äusdrucksmittel für das, was
im „einsamen" Menschen vorgeht, noch nicht gefunden.
Aber er zeigt seinen Helden auch nicht einmal im vertrau-
lichen Zwiegespräch. Der Held steht immer vereinzelt un-
ter vielen; er soll immer im Umrisse seiner Zeit erblickt
werden, und es ist kaum zu bezweifeln, daß seinen Dichter
die Zeit mehr interessierte, als der Held selber. Auf sein
Weberdrama ließ er sein Bauerndrama folgen. Wie dort,
so geht auch hier durch das ganze Stück der große Zug des
sozialen Mitleids. Soziales Mitleid erweckt man nur durch
Wahrhaftigkeit in der Darstellung mitleidswürdiger Zu-
stande. Auch im historischen Drama ist Gerhart Haupt-
mann seinem konsequenten Realismus treu geblieben, und
hier mehr als je hat er bewiesen, wie unendlich reich der
konsequente Realismus sein kann, und daß er auch ein so
romantisches Wesen wie die schwarze Marei in sich begreift.
Gerade in ein so insubstanzielles Wesen kann sich der kon-
sequente Realist verlieben. Im historischen Drama ist der
konsequente Realismus nichts anderes als historische Treue,
und wenn man gegenüber modernen Naturalisten zwischen
135
niederer Wirklichkeit und höherer Wahrheit einen Unter-
schied zu machen beliebte, so hat Hauptmann hier bewie-
sen, daß dieser Unterschied nicht stofflich, sondern formal
zu verstehen ist. Die niedere Wirklichkeit beschränkt sich
auf das, was wirklich geschehen ist, auf die zufällige Tat-
sächlichkeit. Die höhere Wahrheit aber greift in die weite
Fülle von Möglichkeiten hinein und stellt sich nur selbst
die prüfende Frage, ob dieses und das so und so hätte ge-
schehen können. Die exakte, pragmatische Geschichtsfor-
schung muß sich in diesem Sinne mit der niedrigen Wirk-
lichkeit begnügen. Den Dichter hindert sein konsequenter
Realismus nicht, in jenem Sinne die höhere Wahrheit
zu suchen. Neben historische Wirklichkeiten, wie den
Bischof von Würzburg, Grumbach, Götz, Karlstatt, stellt
er andere, deren Namen er zwar in Chroniken fand,
denen er aber das Fleisch und Blut selber geben muß,
wie Tellermann, Kratzer, Anna von Grumbach, Jakob
Kohl und zum großen Teil auch Florian Geyer. Was
sich seiner Beobachtung entzieht, gestaltet er frei im
Sinne dieser Beobachtung. Was er findet, verwendet
er, und wo er nichts findet, erfindet er im Sinne des
Gefundenen.
Bauern, Bürger, Ritter, Mönche, Landsknechte, fah-
rende Leute — es gibt ein Getümmel und ein Gewimmel,
und zunächst geht, wie bei einem richtigen Volksauflauf,
alles wirr durcheinander. Wer aber näher hinsieht, unter-
scheidet immer deutlicher die einzelnen Gesichter. Aus
jedem Gesicht schaut ein Wesen heraus. Der anfangs so
mühsame Gang durch diese sechs Räume des Dramas be-
lohnt mit der Bekanntschaft von einem halben Hundert
lebendiger Menschen,
136
Mit der Menschengestaltung aber begnügte sich der
Dichter nicht. Er hat auch den unsichtbaren Geist der
Zeit getroffen, in die sich sein Interesse versenkte, die Luft
der Zeit. Dazu braucht er allerdings eine sehr breite Aus-
malung, ein liebevolles Arbeiten ins Einzelne, die ganze
Buntheit einer nicht nur äußerlich, sondern auch im tief-
sten Wesen bewegten Welt. So scharf der Dichter den Ein-
zelnen ins Auge faßt, so leicht läßt er ihn laufen, weil ihm
das Ganze mehr gilt als der Einzelne. Das Individualisie-
rungsbedürfnis Gerhart Hauptmanns ist hier zu einer typi-
schen Kunst zurückgekehrt, die schon in den „Webern"
vorhanden war. Aber dadurch, daß wir an die Webertypen
näher herangeführt wurden, mehrten sich dort die indivi-
duellen Züge, und wir hatten mit den Personen ein inti-
meres Mitgefühl. Die Mehrzahl der Vierundsechzig um
oder gegen Florian Geyer wird uns nur durch das Ganze,
zu dem sie gehören, interessant. Schauspieler, auch gute
Schauspieler, können nicht allzuviel damit beginnen, und
auf solcher Höhe steht unsere Schauspielkunst nicht, daß
sie aus sechzig bis siebzig Atmungsorganen die Temperatur
und den Dunst einer bestimmten Welt sichtlich, hörbar,
greifbar darstellte.
Es ist ein parlamentarischer Grundzug in diesem „Flo-
rian Geyer". Eine Debatte löst die andere ab. Wirtshaus-
gespräche, Disputationen, Landtagsverhandlungen erör-
tern immer dasselbe Thema: die schwere Not der Zeit.
Botenberichte melden, was geschehen ist oder was ge-
schehen wird. Das Wichtigste und Entscheidendste er-
fahren wir nicht durchs Auge, sondern durchs Ohr. Zwei-
mal werden wichtige Vorgänge dem Publikum erst durchs
Fenster vermittelt. In der Würzburger Kapitelstube sieht
man durchs Fenster den Eintritt Geyers in die Stadt,
und in Rothenburg redet Geyer durchs Fenster der Wirts-
stube zum Volk, das unsichtbar auf der Straße steht.
Das ist auch für das Verhältnis des Publikums zu diesem
Drama charakteristisch. Die dramatischen Vorgänge selbst
tragen sich auf der Straße zu, das Publikum sieht nur in
eine Stube hinein und soll den Leuten, die durchs Fenster
gucken, alles aufs Wort glauben. Dieses dramatische Grund-
gebrechen zu heilen, wird die Fülle lebensvoller, tief
menschlicher Details vielleicht erst fähig sein, wenn die
Bühne die tragische Beseeltheit dieses vielgliedrigen
Organismus empfinden läßt.
ELGA. DIE VERSUNKENE GLOCKE
Wider alles Hoffen des Dichters versagte beim ersten
Erscheinen des „Florian Geyer" die Bühnenwirkung.
Das zyklopische Werk versank. Tief erschüttert sah der
Dichter ihm nach in den Abgrund. Wie düster diese
Stunden der Enttäuschung waren, blieb kein Geheimnis.
Mit der Aufrichtigkeit, die dem Manne ziemt und den
Künstler ziert, hat der Dichter seinen Schmerz eingestan-
den, als ihm unmittelbar nach „Florian Geyers" Sturz am
15. Januar 1896 für „Hanneles Himmelfahrt" der Grill-
parzerpreis zuerkannt wurde. Von Wien kam diese Huldi-
gung, für die sich besonders Max Burckhard eingesetzt
hatte, ebenso unerwartet wie kurz zuvor der Berliner
Mißerfolg. Sie warf in des Dichters bewölkte Brust einen
Sonnenstrahl. Erst dadurch gewann er Freiheit, den seeli-
schen Stimmungen jener Zeit künstlerische Gestalt zu
geben. Dieser Preis hat nicht nur ein Meisterwerk be-
lohnt, er hat auch geholfen, ein Meisterwerk zu ent-
binden. Er gab dem Dichter den freien Mut, zu sagen,
was er htt. Dieser Mut hob die alte Kraft empor, und so
erstand, während eines langen Aufenthaltes am Luganer-
see noch im selben Jahre 1896 „Die versunkene Glocke".
Vorher vertiefte er sich jedoch in die Werke desjenigen
Dichters, dem jener Preis zu danken ist. Er las Grill-
parzer und kam dabei zu der weniger bekannten Novelle
„Das Kloster bei Sendomir". Sie ist 1828 entstanden,
zwischen „König Ottokars Glück und Ende" und dem
„Treuen Diener seines Herrn". Beide Stücke halten sich
139
in einer gewissen sarmatischen Sphäre; in ihr bewegt sich
durchaus auch jene Novelle. Ein Schauerhistörchen, er-
zählt von einem Dichter. Graf Starschenski, der als dienen-
der Klosterbruder das Verbrechen des Gattenmordes ab-
büßt, vertraut zwei zugereisten Fremden eine bitterböse
Lebens- und Ehegeschichte an. Die Geschichte ist eine
romantisch aufgeputzte, in polnisches Starostenkostüm ge-
wickelte Ehebruchsaffäre. Ein älterer Mann hat ein junges,
begehrenswertes Weib aus dem Elend aufgelesen und ge-
heiratet. Das Weib aber hält zum Jugendliebsten, und ihr
Kind ist nicht des Gatten Künd. Das enthüllt sich allmäh-
lich dem Manne, er setzt das Künd aus und tötet das Weib.
Dann entsagt Graf Starschenski der Welt, baut bei Sendo-
mir ein Kloster, darin er dienend büßt, und erzählt dreißig
Jahre später fremden Menschen sein Schicksal.
Was konnte hieran Gerhart Hauptmann zur Dramatisie-
rung reizen ? War es nur Dankbarkeit gegen den großen
Wiener Dichter, der auf der Grenzscheide zwischen klassi-
scher und moderner Poesie steht ? Man tut einem Dichter
keinen Gefallen, wenn man das, was er sich selbst für die
epische Form vorbehalten hatte, ins Dramatische über-
trägt. Gerhart Hauptmann fühlte sich offenbar hier nach
längerer Zeit wieder durch das Problem des Verhältnisses
zwischen Weib und Mann getroffen. Seine vier letzten
Werke, so verschieden sie unter sich sind, die „Weber",
die beiden Komödien, „Hannele", „Florian Ge7er" liegen
alle diesem Probleme fern. Nun drang es mit aufgespei-
cherter, abenteuerlicher Gewalt auf den Dichter ein, der
selbst in einer Seelenkrise stand. Er hatte von Altgewohn-
tem, Liebgewesenem Abschied zu nehmen. Denn ein neues
junges, strahlendes Leben lockte. Er stand mitten im
140
„Rinascimento des vierten Jahrzehntes" und empfand eine
Erneuerung seiner ganzen Existenz als Vorbedingung wei-
teren Glücks. Nun sah er in GriUparzers Erzählung die
Gefahr, die einen solchen Schritt begleitet. Er las, wie
Starschenski, ,,von Jugend auf an Einsamkeit gewöhnt, die
Freuden des Hofes und der Stadt nur in der Freude, die
seine junge Gattin daran zeigte, mitgenoß"; wie Star-
schenski „bald sich in Geräusch und Glanz fügen lernte, ja
wohl gar daran Vergnügen finden konnte, wenigstens inso-
weit Elga es darin fand, deren Geschmack für rauschende
Lustbarkeiten, jung und schön wie sie war, sich immer be-
stimmter aussprach". Er las ferner, wie dieser schranken-
lose Aufwand den Vermögensstand des Grafen erschütterte
und schleunige Vorsorge heischte. Er las noch manches
andere, und das Problem, wie ein stiller, einsamer, älterer
Mann mit einer weltfrohen, jungen Gemahlin lebt, ging
ihm näher. Es war wohl ein innerer Trieb, der ihn auch
zu den sechs Szenen der „Elga" zwang.
Wie Grillparzer legt auch er um den Vorgang einen Rah-
men. Der fremde Ritter, der zur Nachtzeit ins Kloster
kommt, wird vom Mönch Starschenski bedient, aber der
ist kein redsehger Autobiograph, sondern unheimlich ge-
rade in seiner Einsilbigkeit und Zurückhaltung. Seine Ge-
stalt beschäftigt die Phantasie des einschlafenden Fremden,
der im Traume des andern Schicksale sieht. Eine waghal-
sige dichterische Idee, die sich auf der Bühne in starke sug-
gestive Kraft umgesetzt hat. Solange die sechs Szenen in der
geschickten Einrichtung des Brahmschen Theaters spielten,
saß man in einem narkotischen Bann, und Begleitmusik
tat das übrige, die Nerven spukhaft zu kitzeln. Über diesen
angenehmen Alpdinick geht die Wirkung nicht hinaus.
141
Hauptmann hatte da, wo er von Grillparzer abweicht,
nicht immer die beste Hand. Der Graf tötet hier nicht die
Frau, sondern den an sich gleichgültigen Nebenbuhler, den
Grillparzer entfliehen ließ. Vielleicht hätte er auch die
Frau getötet, aber — der, der das alles träumt, wird gerade
„im schönsten Moment" geweckt. Recht peinlich wirkt die
alte, fadenscheinige Gräfin-Mutter, die ohne Rat und Tat,
ja ohne Leib und Seele ihres Sohnes Vertraute ist in seinen
Zweifeln und Qualen. Bei Grillparzer hat Starschenski das
alles mit sich allein abzumachen. Das Bedenklichste ist aber
der Träumende. Wie kommt er zu diesem Traume, was
geht er ihn an ? Ist dieser träumende Ritter der verkleidete
Dichter ? Derselbe Dichter, der die Technik des Traumes
in „Hanneles Himmelfahrt" mit meisterhafter Kunst ver-
wendete, macht hier ein äußerhches Kunststück, einen Vir-
tuoseneffekt. Er hat das Stück lange genug verborgen ge-
halten. Als er es dann aber doch hergab, überraschte ihn
ein flüchtiger Sensationserfolg, wie er manchem seiner gu-
ten Werke bisher nicht beschieden war,
„Elga" ist kein genügender poetischer Ausdruck für das,
was in des Dichters Seele mit doppelter Macht damals
kämpfte: für den Konflikt zwischen alter und neuer Liebe
und für den Schmerz um ein gestürztes großes Werk. Von
diesen beiden Gewalten tönt erst „Die versunkene
Glocke".
Das Symbol der Glocke war und blieb dem Dichter, der
so tief in christlichen Vorstellungen steckte, ein vertrautes
poetisches Motiv. Noch Michael Kramer hört aus Glocken-
geläute das heraus, was auf seiner Seele liegt, und sagt: „Die
Glocke ist mehr als die Kirche . . . Der Ruf zum Tische
i^t mehr als das Brot." Schon im Hohenhauser Liebeshain
142
hörte Gerhart Hauptmann den Klang der Glocke, der ihm
Glück bedeutete. Es war die Geliebte, die mit ihrer bräut-
lichen Hand damals des Glöckleins Klöppel rührte, so daß
es leis hinunter dem Liebsten ans Herz schlug. Neben die-
sem kleinen Gelegenheitsgedicht steht schon im „Bunten
Buch" ein anderes, mit der Überschrift: „Gestorbenes
Erz". Die Glocke ist hier das Sinnbild jener einst so frohen
Botschaft, die niemand auf "der Welt mehr hören wolle:
Es geht, ein verlassener Armer,
Ihr Ton dufchs öde Land;
Er predigt vom großen Erbarmer,
Den Gott aus dem Himmel gesandt.
Auch diese Glocke schon versinkt:
Wohl hast du zu Grabe geleitet
Manch müdes Menschenherz
Nun ist auch dein Hügel bereitet,
Du armes, gestorbenes Erz.
Diese begrabene, ins Erdreich versunkene Glocke fällt
dem Dichter zehn Jahre später wieder ein. Sie tönt ihm
wieder. Sie soll der Welt wieder tönen. Florian Geyers
Freund, den Rektor Besenmeyer, läßt der Dichter sprechen :
„Es ist Sag: von wo unser Herr Jesus aufgefahren gen Him-
mel, im Mittelpunkt der Erden, da, heißt es, hangt eine
große Glocke, die soll einst laut und fürchterlich anschla-
gen, so laut und so fürchterlich soll sie anschlagen, daß
selbst die Tauben sie hören werden. Wohlan! knöpfet die
Ohren auf, ihr Tyrannen und Peiniger Leibes und der
Seele und merket, daß euer jüngster Tag nahet."
Als sich Rektor Besenmeyer und Florian Geyer nach
Jahren wiedersehn, drückt Geyer seine frohe Hoffnung
also aus : „Die Glocke ist gar gegossen und der Pfeifer mag
auf pfeifen; das wollen wir Gott im Himmel danken."
143
Begeistert rufen darauf seine Anhänger: ^^Das danken wir
Gott und dem Florian Geyer." So tönt eine Glocke auch
in Geyers Glück hinein. Aber ihr Ton war falsch. Florian
Geyer unterlag. Er unterlag als Held, er unterlag ak
„Bühnenspiel".
Und nun kommt „Die versunkene Glocke", die den Na-
men ihres Dichters populär gemacht hat.
Wie Meister Gerhart am „Florian Geyer", so hat auch
Meister Heinrich an seiner Kirchenglocke lang gegossen.
Nun ward die Glocke, die heller klingen soll als alle frühem
Glocken desselben Meisters. Aber wie Hauptmanns Geyer-
drama auf dem Weg über die Bühne versank, so geschieht
es der neuen Glocke Meister Heinrichs auf dem Weg von
der Werkstatt hinauf zur neuen Kirche hoch oben imWald-
gebirg. Am achtspännigen Wagen, der die eiserne Masse
auf Bergpfaden hart neben dem Abgrund hinaufschleppen
soll, bricht ein Rad. Die Glocke schießt viele Klafter tief
in ein unergründliches Wasserloch. Der Meister, der sein
Werk versinken und ertrinken sieht, stürzt „wars willig?
widerwillig ?" nach. Freunde aus dem Dorf finden ihn in
der Bergeinsamkeit, vor der Hütte eines verrufnen, alten
Weibes.
Am frühen Morgen desselben festlichen Tags, an dem
die Glocke zum erstenmal läuten sollte, bringen sie auf
einer Tragbahre den Glockengießer seiner Frau ins Haus
zurück. Meister Heinrich liegt auf den Tod. Im Fieber
sucht er nach Ursachen seines Unglücks. Er sucht sie in
seinem verlornen Werke selbst. In eignen Zweifeln an der
Bühnenkraft des „Florian Geyer" mag es gewesen sein, daß
Meister Gerhart den Meister Heinrich klagen, ließ. „Ja,
mein Werk war schlecht: die Glocke, Magda, die hinunter-
144
fiel, sie war nicht für die Höhen, — nicht gemacht, den
Widerhall der Gipfel aufzuwecken ... Im Tale klingt sie,
in den Bergen nicht . . . Noch einmal denn : mein jüngstes
Werk mißlang. Beklommnen Herzens stieg ich hinterdrein
. . . Sie fiel hinab, wohl hundert Klaftern tief und ruht im
Bergsee. Dort im Bergsee ruht die letzte Frucht von mei-
ner Kraft und Kunst. Mein ganzes Leben, wie ich es ge-
lebt, trieb keine bessre, konnte sie nicht treiben: So warf
ichs denn dem schlechten Werke nach ... So Glock als
Leben, keines kehrt mir wieder . . . der Dienst der Täler
lockt mich nicht mehr."
Wie der Dichter der „Einsamen Menschen", der „We-
ber", des „Hannele" im „Florian Geyer" zum erstenmal
den Anstieg aus räumlichen und zeitlichen Engen des eig-
nen Daseins auf die weltgeschichtliche Höhe der Jahrhun-
derte gewagt hatte und scheinbar dabei gestrauchelt war,
80 wollte auch Meister Heinrich fortan „im Klaren überm
Nebelmeere wandeln und Werke wirken aus der Kraft der
Höhen." Weil er das nicht vermochte, will er trotz Weib
und Kindern sterben. Aber er wird auf wunderbare Weise
gesund. Er wird „noch einmal seinen Schritt ins Leben
wenden, noch einmal wünschen, streben, hoffen, wagen —
und schaffen, schaffen." Dies Wunder hat kein tröstendes
Preisgericht vollbracht. Dies Wunder, das Frau Magda zu-
nächst ach! so jubelnd begrüßt, dies Wunder, an dem sie
dann mit ihrem Elnäblein selber sterben soll, vollführt der
junge Zauber eines fremden, weiblichen Wesens. Ein Mäd-
chen küßt ihn gesund.
Kaum erstanden, verläßt Meister Heinrich sein Dorf im
Tal, seine Frau und seine Knaben. Er steigt hinauf zu je*-
ncn Waldeshöhen, wo im Turm des Karchleins, das, kaum
lo 145
erbaut, ein Blitz zerschlug, seine versunkene Glocke erklin-
gen sollte. Dort läßt er sich in einem verlassenen Hütten-
werk nieder und schmiedet Schmuck für sein Liebchen.
Das Heimatdorf ist entsetzt über so unerhörten Frevel.
Der Seelenhirte des Dorfes macht sich auf, „das verstiegne
Lamm zurückzuretten^^ Zunächst kanzelt dieser Pastor
die reizende Verführerin ab:
Du freches Ding!
Nicht mir, dem Weib allein, noch seinen Kindern —
Du nahmst der ganzen Menschheit diesen Mann!
Alsbald tritt ihm dieser Mann selbst entgegen, so frei und
leicht und stark und frühlingsfroh und königlich, wie ihn
der gute Pfarrer nie zuvor gesehn, und auch so schaffens-
freudig und so voller Zuversicht, wie er ihn noch nie gesehn
hatte:
Was in mir wächst, ist wert, daß es gedeihe,
Wert, daß es reife. Wahrlich, sag ich euch! —
Es ist ein Werk, wie ich noch keines dachte:
Ein Glockenspiel aus edelstem Metall,
Das aus sich selber klingend sich bewegt.
Keiner Kirche gilt dies Glockenspiel der Einbildung. Es
gilt einem Tempel der Einbildung. Aus seinem Kunst-
handwerk ist dem Meister das Sinnbild für Höheres, für
Unbestimmtes geworden. Der Realist schwebt zum Ideal
empor. Der Arbeiter wird Künstler, der Schaffende wird
Schöpfer. Selber menschlich-übermenschlich beglückt, er-
füllt ihn ganz einMenschheitsbeglückungstraum. Die Sehn'-
sucht, die den aufgereizten Webern aus dem Eulengebirge
nie gestillt wurde, die Hoffnung, die sich dem sterbenden
Bettelkind nur im Todestraum erfüllt, hier springt und
singt sie aus dem Glauben einer Manneskünstlerbrust
146
hervor und jauchzet dem zu, was vorhin der Pfarrer in so
viel engerm Sinne „die ganze Menschheit" genannt hatte.
Und nun erklingt mein Wunderglockenspiel.
Und wie es anhebt, heimlich, zehrend-bang,
Bald Nachtigallenschmerz, bald Taubenlachen —
Da bricht das Eis in jeder Menschenbrust,
Und Haß und Groll \md Wut und Qual und Pein
Zerschmilzt in heißen, heißen, heißen Tränen.
Das Buhldirnchen an seiner Hand versteht ihn, denn sie
ist in der Freiheit, in Luft und Licht auf den Höhen ge-
boren. Der Seelsorger vom Tal unten, obwohl kein starrer
Eiferer, sondern nur ein milder Mahner, ein geistlicher
Onkel Schubert auf Lederose, kann ihm nicht folgen. Vä-
terlich warnend tritt er vor ihn hin, wie einst der alteVocke-
rat vor seinen Johannes. Er hält dem „Übcrstiegncn" nicht
bloß seine Christenpflicht vor, sondern noch mehr seine
Bürgerpflicht, seine Gatten- und Vaterpflicht. Von jener
Glocke, die unten im Bergsee liegt und nun beiden ein
Symbol des vergangnen Meisterlebens unten im Tale wird,
weissagt der Priester:
Sie klingt euch wieder, Meistert Denkt an mich!
Aber mit dem häuslichen Herd, wo sie entstand, soll für
den Meister auch die versunkene Glocke abgetan sein. Mit
übermenschlichen Kräften arbeitet er, vom Glockengießer
unversehens zum Baumeister geworden, an seinem neuen
Werk (halb Kirche und halb Königsschloß), dessen „hoch-
getürmter Bau in einsam freier Luft zur Sonnennähe seinen
Knauf soll heben". Aber dieselben geheimen Kräfte, die
ihm halfen, versagen sich dem Vollbringen. Dieser Mann
der Tat, der nicht wie Johannes Vockerat die feiernde Däm-
merstunde liebt, der nur entweder wach schaffen oder sich
lO*
147
schlafend zu neuem Schaffen stärken will, fällt in einen
qualvollen Halbschlummer. Was er träumt, ist — der
Pfarrer hatte recht — die alte versunkene Glocke. Tief
niedergeschlagen, ungestärkt zu neuem Schaffen wacht er
auf und sucht bei der Liebsten vergebens müßige Labung.
„Gib meiner Seele den erhabnen Rausch, des sie bedarf
zum Werk!"
Sie will ihn durch die gewohnten Genüsse trösten. Er
aber klebt an seiner unverrichteten Sache. Siefühlt schmerz-
lich, daß sein eingebildetes Werk ihm mehr gilt als ihre
spielenden Reize. Aber als ihm die Nöte des Lebens, die
Rache seiner Schuld auf den Leib rücken, schüttelt er noch
einmal alles ab, im Hoffnungsblick auf die Geliebte: „Du
bist die Schwinge meiner Seele, Kind, zerbrich mir nicht!"
Und nun, da Körper und Geist im Sieg über die Mächte
der Vergangenheit gestärkt sind, ist er wieder zum Spiel der
Liebe bereit. Aber dieMächte der Vergangenheit sind nicht
so ganz besiegt. Zu den Küssen der Geliebten drängt käl-
tende Reflexion, die sich wiederum bis zur Gespenster-
furcht erhitzt. Sein böses Gewissen — der Pfarrer hat es
geweissagt — hört den Klageton seiner versunkenen Glocke,
sieht, von den eignen Kindern im Krüglein dargebracht,
die Tränen der ertrunkenen Frau, die er verließ.
Aus nassen Grüften steigt seine Vergangenheit wider ihn
auf; geängstigt und fluchend stößt er die sündhaft-holde
Gegenwart des schwangeren Liebchens weg. Was er be-
sitzt, verläßt er. Was er verloren hat, findet er nicht wie-
der. Den ungetreuen Hausvater, den schlimmen Christen
empfangen die Nachbarn unten im Dorf mit Steinwürfen
und hetzen ihn wieder hinauf in die Wildnis des Waldes,
wo er seine Bergschmiede und den Bau seiner Zukunft in
148
Flammen aufgehn sieht. Ein Gebrochner schleppt er sich
bis vor die Hütte jenes verrufnen, alten Weibes, wo er
schon einmal zu Tod erschöpft niedergesunken war. Die
Alte ist eine kluge Frau. In ihrer Weltweisheit blitzt noch
einmal sein ganzes Leben an ihm vorüber. Dann gibt sie
ihm den Erlösungstrank. Und dann ist es vorbei.
Dieses Künstlers Erdenwallen hängt nicht ab von Raum
und Zeit. Der Dichter hat Zeit und Raum auch nur flüch-
tig angedeutet. Als Schauplatz sind wieder dieselben schle-
sischen Heimatberge gedacht, wo auch das Hannele her
ist; man denkt am liebsten an das steile, dicht bewaldete
Zackental, das von den Schneegruben nach Schreiberhau
herunterkommt. Die alte Waldfrau spricht (ein großer
dichterischer Gedanke) im Dialekt der Weber. Aber in die
Bergbezirke Rübezahls zog fremde Kultur ein. Was Hein-
rich der Glockengießer in seinen guten Bürgerjahren schafft,
deutet auf Blütezeit und Blüteort des deutschen Kunst-
gewerbes. Als Gerhart Hauptmann zugunsten Florian
Ge7ers jene fränkische Forschungsreise unternahm, bannte
seine entzückten Sinne fast noch mehr als Rothenburg und
Würzburg die alte Stadt Nürnberg mit ihren Kunstschätzen
und Künstlererinnerungen. Schon sein „Florian Geyer"
sprach das Wort: „Gott grüß die Kunst" aus der vollen
Seele Adam Krafts, Veit Stoßens, Peter Vischers. Nun
schmücken Werke Peter Vischers und Adam Krafts auch
die gute Stube des schlesischen Glockengießers, der in sei-
nen Wander Jahren gewiß einmal die Glocken von Sankt
Lorenz und Sankt Sebaldus hat läuten hören. Seine Haus-
frau Magda darf ehr- und tugendsam gekleidet gehn, wie
die Frau des Hans Sachs oder des Dürer, obgleich ihre Kin-
der den Vater Papa nennen, obgleich Tabakspfeife und
149
Schwefelhölzchen sogar für Waldteufel schon im Gebrauch
sind. Aber auch die finstern Seiten jenes glänzenden Zeit-
alters deutscher Kunst treten hervor: ein qualmiger Ab-
glanz der Florian-Geyer-Läufte. Für Ketzer und Sünder
brennen Scheiterhaufen im Land. Die Alte im Walde gilt
den Leuten als Hexe, die man schmoren sollte, und nur ein
rationalistisch angewehter Schulmeister, der wieder aus Ni-
colais achtzehntem Jahrhundert zu stammen scheint, wagt
sich zu der nüchternen These vor: „Hexen gibt es nicht!**
Jener Volksaberglaube und diese Anachronismen schlu-
gen dem Dichter die Brücke, um aus der Künstlertragödie
ins Märchendrama zu gelangen. „Die versunkene Glocke**
ist das erste Märchendrama, das Gerhart Hauptmann für
die Bühne vollendete. „Hannele** wurde fälschlich so ge-
nannt. Bei „Hannele** liegt alles Ereignis in den Grenzen
irdischer Wirklichkeit. Was dort überirdisch erscheint, voll-
zieht sich nur im Fiebertraum des Kindes, der an sich auch
eine irdische Wirklichkeit ist. Die verderblichen Geister
der „Versunkenen Glocke** hingegen führen in ihrer über-
menschlichen Existenz ein reales Leben.
Die Bühnendarstellung, die den Traumgestalten Hanne-
les etwas Subsistenzloses, Schemenhaftes geben muß, darf
hier bei diesem Wald- und Bergspuk fest ins Fleisch und
Blut gehn. Von der Illusion des Zuschauers wird der sichere
Glaube an diese Zauberwesen gefordert, denen der Dichter
Böcklins Farbenfülle und Lebenswärme, denen er auch et-
was von Böcklins Humor gab.
Überall greifen diese Geister leibhaftig ein, wo sich des
Glockengießers Schicksal wendet. Jenes Wagenrad, das er
am liebsten, wie das feurige Sonnenrad der Sage, zündend
durch die Welt triebe, zerbricht der bocksfüßige, ziegen-
150
bärtige Waldschrat, ein urgesunder, munterer Bursch
von strotzender Naturkraft, lustig, genußfroh, unanständig
und stark, in seinem menschenfeindlichen Schabernack von
naiver Grausamkeit, wie ein Knabe, der Fliegen quält; zer-
störend wie ein Orkan, der durch die Baumkronen tobend
bricht, doch ohne Größe. Seinen heidnisch-weltlichen Sinn
ärgert das Glockengebimmel. Die Glocke stürzt daher in
den Bergsee und gelangt so auf das Gebiet eines frosch-
artigen Wasserkönigs, des aristophanischen Nickelmann,
der an die Schwerkraft des Erdmittelpunktes so verhaftet
ist, daß er aus seinen Brunnenbecken und Wassertrögen im-
mer nur auf Nabelhöhe emporsteigen kann. Er hütet die
versunkene Glocke, und er sieht auch, ihm selbst ein schau-
riges Wunder, wie Heinrichs Frau, die vor Gram ins Wasser
ging, mit ihren Totenfingern dort unten der Glocke Klöp-
pel rührt, so daß sie laut herauf dem Meister ans Gewissen
schlägt. Der Wassemiz ist kulturbeleckter, tiefsinniger,
schwermütiger als der Waldneck. Er ist schon ein philo-
sophischer Frosch. Er kennt die Sehnsucht. Ihn plagen die
Grillen seiner Eifersucht. Bedachtsam und betrachtsam,
auch verachtsam blickt er von seinen Brunnenrändern ins
Menschliche hinein. Wenn den Waldschrat die Menschen
stören, so stellt er ihnen ein Bein: er wirkt körperlich gegen
ihre Körper. Nickelmann hingegen macht sich seelisch be-
merkbar. Er quält den Menschen, der ihn ärgert, mit Alp-
druck. In seiner Welterfahrung ist er mit christlichen An-
schauungen so vertraut, daß er wie ein Pfarrer den strafen-
den Gott, das Schreckgespenst von Schuld und Sühne, vor
ein beladenes Gewissen zu zaubern vermag. Mit derselben
Glocke, die der Waldschrat ins Wasser stieß, läßt Nickel-
mann dem Glockengießer ins Gemüt läuten; denn er miß-
151
gönnt ihm das Liebchen. Nickehnann streckt seine f euck-
ten, tausendjährigen Arme nach dem reizenden Kind aus,
das er an eines Menschen Brust glühend erwarmen sieht,
das bald auch ein Menschenkind unter dem Herzen trägt.
Und wirklich, als auch sie vom Glockengießer verstoßen
wird, als sie der Mensch zerbrach, zieht der Wassermann
auch sie herab in seinen Brunnen und in seinen Schlamm.
Berührt von Menschlichkeit sinkt das luftige, leichte Wald-
vöglein schwer in „der Erde moderigen Schlund" zu Krö-
ten und Fröschen. So fällt eine Blüte ins Erdreich zurück,
und aus ihrem Samen wächst dann neues Grün und Blühn.
Auch dieses liebliche Eand, Rautendelein (hochdeutsch
Rot-Annchen), ein Elfchen unter Elfen, ist in seinen Ein-
wirkungen auf menschliche Schicksale kein guter Geist. Sie
kennt sich und erzählt wie Shakespeares Puck selbst von
ihren kleinen Schandtaten. Sie gehört nicht zu denen ihres
Geschlechts, von denen Ariel vor dem Lager des schlum-
mernden Faust sagt:
Kleiner Elfen Geistergrdße
Eilet wo sie helfen kann,
Ob er heilig, ob er böse.
Jammert sie der Unglücksmann.
Als Rautendelein helfen möchte, ist es zu spät. Denfn
sie selber ist es, durch die ihr Unglücksmann, der Glocken-
gießer, entheiligt wird. Ihn verwandelnd, verwandelt sie
sich selbst. Der Waldschrat, mit dem sie auf dem Neck-
fuße steht, war naiv und bleibt naiv. Nickelmann, der mit
ihr äugelt, ist längst sentimental geworden. In Rauten-
delein geht eine Entwicklung vor. Sie war naiv und wird
nun sentimental. Anlage zu dieser Wandlung war im-
mer da. Schon früh beschäftigt sie ihre dunkle Herkunft.
Aber sie ist rasch getrost: ,,Kann es nicht sein, füg ich mich
drein".
Doch als dem Kindersinn dieses unbekannten Wesens
ein Menschenherz nahe tritt, lernt sie, die bisher nur la-
chen konnte, auch weinen. Sehnsucht überkommt sie zu
den Menschen. Sie möchte es ihren Bergbächen, dem
Zacken, der Elbe nachtun:
Da ist kein Wässerlein so dflnn und klein,
Es will und muß ins Menschenland hinein.
Nickelmann warnt:
Laß du die Knechtlein ihrer Wege gehn,
Den Menschen Wäsche waschen, Mühlen drehn,
In ihren Gärten wässern Kohl und Kraut,
Ich weiß nicht, was verschlucken, brrr, mir graut.
Aber Nickelmann warnt und fleht umsonst.
Rautendelein eilet nun wirklich zu helfen. Als heilende
Fee tritt sie an das Sterbelager des Glockengießers. Sein
Leib wird gesund, aber seine Seele bleibt im Banne der, die
seinen Leib genesen ließ. Rautendelein zieht den Sterb-
lichen in ihren Zauberkreis. Unter ihrem Kusse scheinen
sich ihm „alle Himmelsweiten^^ zu öffnen und „ahnungs-
weis ergreift er ihre Welt". Er folgt ihr nicht am Gängel-
band. Gerade an ihr entfaltet sich seine Persönlichkeit
freier. Zwischen Elfchen und Menschensohn entsteht ein
Verhältnis von gegenseitigem Geben und Empfangen. Er
wird Übermensch, wenn auch nur in seinem Willen; sie
wird menschlich, wenn auch nur in ihren Wünschen.
Elaum ist sie ihm nah, so tritt an sie die Auffassung heran,
die von ihr und ihriesgleichen unter Menschen gilt:
Aber wir dienen iroh und bereit,
Weil uns beherrschet, der uns befreit.
153
Sie ahnt etwas von einem Bann, von dem Geister ihrer
Art zu erlösen wären, von einem Fluch, unter dem sie alle
stehn, wissend oder nicht wissend. Sie nähert sich der
christlichen Anschauung, daß in verderblichen Geistern
ihrer Art das Heidentum der alten Gottheiten weiterspukt,
und sie muß sich den Spott des Waldschrats gefallen lassen:
„Den Heiland wirst du nicht gebären". Indem sie aber
den Menschen durch ihre natürhche Wildheit entheiligt,
wird sie selbst durch ihn heiliger. Wie sein Fleisch und
Blut in ihrem Körper zu quiUen beginnt, so geht auch das
Stück Christentum, das er verliert, in sie ein.
Er dagegen ist schon ein halber Heide. Wie die alten
indogermanischen Sonnenanbeter schwört er schon „bei
Hahn und Schwan und Pferdekopf", den Symbolen des
Sonnenkults. Die christliche Legende vom verlornen Sohn
muß sich in seiner Anschauung mit Gott Freir vertragen.
Aus seinem überspannten, von ihr gesteigerten Selbstbe-
wußtsein heraus sieht er in sich eine Einheit von Christus
und dem heidnisch-germanischen Licht- und Frühlings-
gotte Baidur. Der tote Heiland soll „strahlend, lachend,
ew'ger Jugend voll, ein Jünghng, in den Maien niederstei-
gen." Wie dem Fiebergesicht Hanneles der Geist Gottes
in geliebter Menschengestalt erscheint, so bildet sich im
Glockengießer eine heidnisch-christliche Zweieinigkeit von
Geist und Natur aus.
Seines Mädchens Zauberkünste, mit denen sie die äußere,
sinnliche Natur beherrscht, wollen ihm auch die Wege
zur höchsten innern, geistigen Vollkommenheit ebnen.
Heinrich aber kann diese Wege so wenig wandeln, wie Rau-
tendelein ihm diese Wege ebnen kann. Er erwehrt sich:
„Ich aber bin was mehr als solch ein Falter!" Sie jedoch
^54
ist kein Waldschrätlein und darf mit tiefem Ernste fragen:
,,Und ich i bin ich nicht mehr als solch ein Kind V* Diese
beiden, die miteinander ihr Bestes getauscht haben, zer-
brechen aneinander; beiden wird derselbe Zwiespalt ihres
Innern klar : „Fremd und daheim dort unten — so hier oben
fremd und daheim!" Der Ruf der Urheimat zieht jedes
von beiden wieder dorthin, woher es kam. Mit den dump-
fen Schlägen seiner versunkenen Glocke treibt den Men-
schen das Gewissen weg, und Rautendelein sinkt über den
Brunnenrand in Nickelmanns feuchtes Gebiet. Die Elfen-
welt trauert über Baldurs Tod. Aber den sterbenden Bai-
dur umschwebt mit der ganzen Unbestimmtheit des Trau-
mes, bald fern, bald nah, bald unbekannt, bald innig ver-
traut sein blasses, mattes, schon schmerzlich und schwer an
seiner Liebe tragendes Verhängnis. Noch einmal umweht
ihn ihr Uchter Geist, noch einmal fühlt er die alte ELraft
seiner Hände, aber beides flackert zum letztenmal auf, und
dann stirbt Heinrich der Glockengießer in den Armen
seiner Elfe; die Wirklichkeit stirbt am Märchen und im
Märchen.
Dieses Märchen, aus Leben und Phantasie zusammen-
gewoben, hat einen Schluß, in dem sich das Gewebe zu
verwirren droht. Beide Welten fluten schließhch durch-
einander wie im Traume, wo dieses Gewebe allein ReaUtät
hat, wo diese ReaUtät gerade in ihrer Verworrenheit be-
steht. So geht der Dichter des Hannele zuletzt auch hier
auf einen Todestraum aus, und zuletzt steht auch hier wie-
der die Bühne vor der schweren Frage, wie sie das Unbe-
greifliche begreifen, wie sie Symbole realisieren soll.
Zwischen Geisterwelt und Menschenwelt ließ der Dich-
ter eine vermittelnde Gestalt treten. Es ist jene alte Frau,
155
vor deren Hütte der Glockengießer zweimal im Sterben
liegt. Sie hat in beiden Welten ihren Platz. Für die Men-
schen im Dorf ist sie die alte Wittichen, ein Weib wie
andere mehr, die im Hexenrufe stehn; für die Geister ist
sie die „Buschgroßmutter", von der Rautendelein ihre Zau-
berkünste gelernt hat. Diese Alte tritt nur zweimal in den
Vordergrund: ganz zu Anfang und ganz gegen Schluß.
Dort gehört sie mehr zur Geisterwelt, denn sie füttert mit
brummiger Güte die kleinen Kobolde des Waldes, und auch
Waldschrat nennt sie Großmutter; die Menschen aber, die
gegen sie zetern und zagen, läßt sie ihre geistige Überlegen-
heit fühlen, eine unerschütterliche Ruhe der Verachtung;
sie ist unter den Geistern die Einzige, die Größe hat. Was
dem Glockengießer nicht glückt, Mensch zugleich und
Übermensch zu sein, ist dieser uralten Frau gelungen. Sie
weiß all seine Schmerzen und steht über solchen Schmer-
zen. Wie sie ihren kleinen Holzmännerchen und Holzwei-
berchen wohl getan hat, so erweist sie zuletzt, wo sie Mensch
beim Menschen steht, auch ihm eine Wohltat. Sie braut
ihm Tränke, die ihn von den Qualen des Lebens erlösen.
Und in ihre Weine mischt sie Wahrheiten und Weisheit.
Sie ist einsilbig und regt doch mit kargen Worten die Er-
kenntnis seiner selbst breit in ihm auf. Die verrufne Hexe
setzt ihm ein christliches Wort wider die Brust: er ward
berufen, aber nicht auserwählt! Sie weiß es, daß ihm seine
Toten zu mächtig sind. Und sie, die das Leben ihm
nicht gibt, sondern von ihm nimmt, wird ihm wie eine
Mutter.
Die alte Wittichen steht skeptisch über religiösen Din-
gen. Sie kümmert sich weder um Baidur noch um Christus.
Von Freia und Freir, von Loki und dem Meister Thor,
156
die in den Vorstellungen der andern Geister noch leben
und herrschen, will sie so wenig wissen, wie von dem Gott,
mit dessen Kreuz ihr der Priester entgegentritt. Sie hält
es mit der sichtbaren Sonne, die, wie sie selbst, weltlich
ist und überweltlich scheint. Aus der unmittelbarsten Na-
turanschauung, der erhabensten Bedingung alles Lebens,
nimmt sie ihr Gleichnis der Größe. Von dem Menschen-
sohne, der zertreten vor ihr liegt, dem sie raten und helfen
soll, sagt sie das stolz-mitleidige Wort: „Der dort hat die
Sonne nie gesehn". Sie selbst aber sieht die Sonne. Sie
begrüßt sie schon frühmorgens nach altheidnischer Vor-
stellung als das güldne Ei, das dem — Sonnenaufgang ver-
kündenden — Hahn seine Henne gelegt hat.
Auch Nickelmann, der Wassergreis, fühlt sich der Sonne
näher als das arme Menschenvolk, von dem er verächtlich
spricht:
Mit Schmachterarmen langt es nach dem Licht,
Die Sonne, seine Mutter, kennt es nicht.
Baldur ist ihm ein „Sonnenbote", der den Köcher mit
den „Sonnenpfeilen" trägt. Auch in Rautendelein, dessen
goldenes Haar aus Sonnenstrahlen gesponnen ist, lebt die-
selbe Vorstellung. Im Geliebten erscheint ihr Baldur, der
Sonnenheld. Aber Meister Heinrich, der Mensch, sucht in
sich selbst vergeblich den Sonnenhelden. Das mächtige
Gottesauge, um das alle diese Geister schwärmen, wird
auch ihm zum Sinnbild seines höchsten Strebens. Im Fie-
ber schreckt ihn der Gedanke, daß die Sonne flieht. Als er
sterben soll, beglückt ihn der Glaube, daß die Sonne kommt,
daß ihm seine Glocken aus der Sonne klingen. Zeitlebens
sucht er die Sonne. Ihren Untergang begleitet seine
Klage:
157
Die Sonne, allen Purpur um nch hüllend,
Steigt in die Tiefen . . . läßt uns hier allein,
Die wir, des Lichts gewohnt, nun hilflos schauem,
Uns ganz yerarmt der Nacht ergeben müssen.
Die Sonne ist ihm Urmutter. Sie wird ihren verirrten
Kindern das Erlösungsfest geben, das nach alter heidnisch-
christlicher Übergangsvorstellung Baidur und Christus, bei-
den in einem, gelten soll. Für dieses Fest war Heinrichs
Tempel besummt.
Ich bin der Sonne ausgesetztes Kind,
Das heim verlangt; und hilflos ganz und gar.
Ein Häuflein Janmiers, grein ich nach der Mutter,
Die ihren goldnen Arm sehnsüchtig streckt
Und nie mich doch erlangt.
Der Stoff des Märchendramas scheint einen andern Stoff
verdrängt zu haben, von dem nur wenige Szenen fertig
wurden. Das Fragment ist in den „Gesammelten Werken"
gedruckt; ein Beweis, daß es der Dichter nicht fortsetzen
will. Es gibt Ratsei auf, die kaum zu lösen sind. Ein jun-
ger, kranker König läßt sich nachts auf das Meer rudern,
um auf dem Meeresgrund Glocken läuten zu hören, ver-
sunkene Glocken, die jeder hören und wieder hören muß,
der sie einmal gehört hat, vergehend in Sehnsucht nach der
Tiefe. Man denkt an Vineta, man denkt auch an Ludwig
den Zweiten von Bayern. Alles ist mit dem König und um
den König herum krank und matt: der Spielmann und der
Schalksnarr, der alte Koch und sein Lehrjunge; ja sogar der
schöne urgermanische Krieger sieht ein wenig blaß. Ort
und Zeit liegen ganz im Unbestimmten: Wechsel von Hei-
dentum und Christentum, Völkerwanderungsvorstellungen,
orientalischer Menschenschacher, Verfall; alles deutet sich
an, alles spukt hinein ins Kellerloch der Handlung, das an
158
Nickelmanns Schlünde erinnert. Aber in diese Finsternis
bricht plötzlich ein Strahl des Lichts. Ein „Sonnenkind**
erscheint, ein junger, schlanker, kecker, heiterer Knabe mit
goldenem Gürtel. Draußen ist es Nacht. Die Sonne hat
sich im Westen verblutet. Der Mond bescheint den König
im Ruderboot. Der Knabe blickt dem schönen, jungen,
kranken König ins Gesicht und versinkt entzückt ins Schauen.
Was weiter geschieht, wissen wir nicht. Wird dieser König
der Nacht, der auf dem Heidenmeer schwimmt, auch den
Knaben verdüstern wie all sein Volk ? Oder wird der Knabe,
wie der junge Tag, die Sonne wiederbringen ? Der Knabe
heißt „Helios", und seine Sehnsucht geht nach dem tan-
zenden, singenden, spielenden Apoll. Von diesem liegen-
gebliebenen Heliosgedicht scheint der Dichter den Sonnen-
kult und einige Gedanken an die Vinetasage, die ihm auf
Rügen nähergetreten war, in die „Versunkene Glocke" her-
übergeholt zu haben.
Wie Ikaros, fliegt auch Heinrich der Glockengießer zur
Sonne. Er hebt sich von der Niederung, wo ihm Herd und
Werkstatt mäßig gediehen. Sein Denken sucht eine über-
irdische Kunst, sein Fühlen eine übermenschliche Liebe.
Am Übermaße dieses Doppelwollens stürzt er und sinkt
mit allen seinen guten und bösen Geistern der versunkenen
Glocke nach. Der Dichter des „Florian Geyer" aber stand
nun lichtumflossen da, im wundersamen Schein einer hö-
heren Poesie. Er kam durch dieses Werk in Mode. Aber
gerade das, was den Zauber der „Versunkenen Glocke" aus-
macht, das Übersinnliche, Übermenschliche, märchenhaft
Sinnbildliche ist nicht ganz schlackenfrei. So köstlich Nik-
keimann und auch der Waldschrat, so berückend Rauten-
delein in unholdholde Zauberkreise ?ieht, so fein in ihrer
159
schattenhaften Entfemtheit die alte Großmutter über das
Leben gestellt ist, so spukt doch allerhand blecherner Fabel-
kram umher, wie die Zwerge in Meister Heinrichs Höhen-
werkstatt, die Ausweitung des Glockenmotivs zum Tempel-
motiv, die undurchsichtige Symbolik der drei Becher, aus
denen Heinrich Kraft, licht und dann doch den Tod
trinkt.
Der Dichter hatte sich hier starken Eigenwillens be-
geben. Er rief sich den Goethe des zweiten Faustteils und
den schlegelisierten Shakespeare des Sommemachtstraums
zu Hilfe, und diese Muster halfen ihm nun, eine Vers-
sprache schmieden. „Die versunkene Glocke** war das erste
dramatische Werk Gerhart Hauptmanns, worin er nicht
mehr künstlerisch revoltierte. Als man es ihm ohne Vor-
wurf sagte, ward er stutzig und bewies sofort, daß er seine
Urkraft nicht an schöne alte Traditionen verloren hatte.
XI
DAS HIRTENLIED. FUHRMANN HENSCHEL.
SCHLUCK UND JAU. MICHAEL KRAMER
Der große Erfolg, der rasche Ruhm wirkt auf einen
Dichter, dem alles Erlebnis nahe geht, erschütternd.
Gerhart Hauptmann war von Freund und Feind als „kon-
sequenter Naturalist" eingeschrieben. Mit dieser Marke
galt er hier als Vemichter, dort als Erlöser. Und doch er-
rang er seinen Weitsieg erst durch Abkehr vom konsequen-
ten Naturalismus. So fand er in sich selbst ein künstleri-
sches Problem. Er durfte sich nicht auf ein Prinzip fest-
legen; er konnte aber auch nicht sein Naturell verleugnen.
So geht er seitdem als Schätzegräber bald in die Ferne,
bald kehrt er wieder heim.
„Gott grüß die Kunst", rief Florian Geyer zu Zeiten
des Bildersturms. Nun trat vor Hauptmanns selbstprüfen-
der Phantasie Gottes Engel an einen „armen Künstler"
heran, der arbeitmüde und untätig damiederliegt. Vor
Hanneles Bett stand der Todesengel. Vor dem Lager des
„armen Künstlers" steht der Engel seines Lebens. Er wiU
ihn in die „Heimat" führen. Das Wort Heimat wirkt auf
den „armen Künstler" wie Alltäglichkeit, Niedrigkeit, Ge-
meinheit; deshalb lästert er Gott: „Das Brot, das in dem
Kot der Straße liegt, ist mir zum Ekel. Bücke sich, wer
will, es aufzuheben. Weiß mir Gott im Himmel nicht
reinere Speise, meid ich seinen Tisch . . . Wo hat ihm
einer treu wie ich gedient i Ich hab ihm rein bewahrt die
reine Flamme, warum versagt er mir das heilige öl ? Mit
Talg von Schweinen mag ich sie nicht nähren.'
€t
tt
i6i
Schweinetalg oder ähnliche dem Schweinernen entnom-
mene Vergleiche hatte Hauptmann über sein frühstes Dra-
ma und auch über die „Weber", ja sogar über „Hannde"
genug zu hören bekommen. Wollte nun dem Dichter der
„Versunkenen Glocke" selbst vor den Konsequenzen seines
Naturalismus bange werden ? Sein „armer Künstler" sieht
mit Grauen diesen „Heimweg" vor sich: „Durch abgelegne
Gassen muß ich schleichen, in Keller kriechen, die nach
Fusel duften, muß Speise schlingen, die mich ekelt, muß
Gestank, verdorbne Dünste in mich atmen. Dort, wo die
Pest des Lasters ewig frißt, Verworfenheit Gott schändet,
wo der Mensch, ein viehisch Zerrbild, sich im Schlamme
wälzt, ist meine Wohnung; dorthin führt mein Weg."
Solch ein Jammer schrie schon einmal aus dem „Prome-
thidenlos". Den „armen Künstler" fesselt ein Idealwerk,
aber es will ihm nicht glücken. Er sucht es nicht in der
ScheußUchkeit des Realen und Gegenwärtigen; er malt,
an einem Bild aus legendarischer Nomadenzeit: Rahel am
Brunnen. Da lacht ihn sein guter Engel aus : „Armer, armer
Mann! Wie willst du malen, was du nie gesehn?" Und
nun führt ihn dieser seraphische Realist ins biblische Hir-
tenland und reaUsiert ihm das Ideal, vergegenwärtigt ihm
die Ferne. Raheis Anblick („kein Füllen ist so wild und so
gesund in Labans Herden") gibt dem Ermatteten eine wahre
Jakobskraft; er vermag den Stein vom Brunnen zu wälzen.
Rahel heißt diesen starken Fremdling willkommen. Sie hält
ihn für ihren Vetter Jakob selbst, den versprochnen Bräu-
tigam. Nun hätte er auch Kraft genug, Rahel, die „wilde
Blume", zu malen, weil er sie sieht, weil er sie liebt. Aber
weil er für sie Jakob wurde, so hört er auf, Maler zu sein,
und wird auch für sich selbst Jakob. Der Künstler und sein
162
Gegenstand werden Eins. Nur der Romeo in Shakespeare
konnte Juliens Bild, nur der Werther in Goethe Lottens
Gestalt schaffen.
Aus dieser Einswerdung von Kunstobjekt und Künstler,
die der pantheistischen Einswerdung von Schöpfer und
Schöpfung entspricht, die aber auch das künstlerische
Schaffensgebiet über Erfahrung und Beobachtung hinaus
in die Unendlichkeit der Phantasie steigert, hat Gerhart
Hauptmann mitten im jungen Nachruhm der „Versunke-
nen Glocke" einen dramatischen Akt geschaffen, der an
Tiefe und Größe beinahe die ganze „Versunkene Glocke"
übertrifft. Es ist prachtvoll, wie hier jedes Wort eine Seele
hat, jedes Wort nach innen und nach oben weist. Man
möchte diesen einen Akt als Ganzes, Rundes, Abgeschlos-
senes anerkennen.
Aber es ist nur der erste Akt, richtiger nur der Prolog
einer dramatischen Dichtung, die eigentlich erst im zwei-
ten Akte beginnt. Sie heißt „Das Hirtenlied". Jakob,
in dessen Gestalt die des „armen Künstlers" verwandelt
ist, steht mitten im Hirtenland bei Laban und Labans
Töchtern. Laban stellt die bekannte schwere Bedingung:
erst Lea, dann Rahel! Die ersten sieben Jahre sind um.
Lea zehrt sich in Sehnsucht nach Jakob ab. Rahel — „die
Kinder Gottes harren aus der Ferne, wenn sie vorübergeht,
bis sie sich neigt, und Cherubime senken ihre Augen" —
Rahel rechnet auf Jakob. Und es geht anders zu, als in der
naiven mosaischen Legende. Lea und Laban werden senti-
mental. Lea, anstatt rücksichtslos den ihr bestimmten
Mann ins erlaubte, lang ersehnte Ehebett zu ziehn, beklagt
gutschwesterlich die „arme Rahel", die auf ihr Glück noch
sieben Jahre warten soll, und Laban gibt schließlich klein
XI»
163
bei. Am Ende des zweiten Akts entscheidet er tügüntten
Raheis. Es scheint, als hätte Lea das Nachsehen, als hatte
sie sieben Jahre umsonst gewartet.
Hier stockte der Dichter. Der Künstler ließ Raheis Bild
fallen. Hatte ihn sein guter Engel doch irregeführt ? Der
Dichter brach schroff ab, ließ ideale Feme ideale Feme,
Mesopotamien Mesopotamien, das „Hirtenlied^ „Hirten-
lied^' sein und kehrte trotzigen Laufschritts ins BLaus seiner'
eignen Kindheit heim, nach der „Preußischen Krone'' zu
Salzbrunn in Schlesien. Sein guter Engel führte ihn doch
in die „Heimat^^ In dieser jähen Flucht nach Hause lag
etwas wie Angst, den eignen Urboden unter den Füßen zu
verlieren. Oder wollte er nur sich und andere überzeugen,
daß er noch immer fest und stark auf seiner Vatererde
stand? So wurde das „Hirtenlied^^ das leider liegen ge-
blieben ist, durch ein Meisterwerk ganz anderer Art ver-
drängt: durch „Fuhrmann Henschel".
Stofflich steht dieses Schauspiel neben den „Webern*'
und „Sonnenaufgang'^ Aber als es mir der Dichter im
Herbst 1898 in seiner damaligen Grunewaldvilla beim
Abenddämmerschein wunderbar stimmungsvoll aus der
Handschrift vorlas, als beim letzten Lichte des September-
tages durch Dichters Mund Fuhrmann Henschel mit dem
Gespenst seiner toten Frau redete, überliefen uns zwei Hö-
rende Schauer der Unterwelt. Man empfand, daß das große,
gewaltige Schicksal, gepackt durch Dichterfaust, von Zat
und Art, von nah und fem, von alt und neu, von hoch und
niedrig unabhängig ist. Man sah das zweite Gesicht dieses
Dramas.
Für die Erlebnisse Henschels schwebte dem Dichter sdn
Elternhaus vor, da er noch Kind war. Er verlegt die
164
Geschehnisse in einen schlesischen Badeort und in die
sechziger Jahre, als noch keine Eisenbahn dorthin ging, ab
Fuhrleute noch auf ihre Kosten kamen. Er erwähnt die
schlecht ausgenützte Heilquelle im Hof und die mißlichen
Finanzen des Eigentümers, der dem einfachen Fuhrmann,
seinem Mieter, verschuldet ist und deshalb ein um so willi-
gerer Vertrauter seiner Seele wird. Das Stück kommt aus
diesem Gasthofe nicht heraus; nur da ist das enge Zusam-
menrücken beteiligter Menschen möglich, aus dem die tra-
gische Katastrophe entsteht. Im Souterrain die Stube des
Fuhrmanns, der im Hof seine Ausspannung hat. An der
Einfahrt die Schenkstube, wo bei Wermelskirch kleine Leute
verkehren und den Nachbarntratsch schüren, wo das Ohr
Galeottos lauscht. Als unbetretenes, nie zu betretendes
höheres Gefild darüber die herrschaftlichen Zimmer und
Säle des Hotels, aus denen herab zu Henschels Keller sorg-
sames Wohlwollen, aber auch — spaßhaft gestaltet — das
Verhängnis dringt. Lust und Schmerz, Kampf und Hoff-
nung, Leben und Tod stehen unter einem Dach, von vier
Mauern umschlossen.
So zusammengefaßt, wie äußerlich, ist das Drama auch
innerlich. Wenn man der Poetik des Aristoteles jetzt noch
so viel nachfragen wollte, wie zu Lessings Zeit, so ließe sich
beweisen, daß „Fuhrmann Henschel" den aristotehschen
Gesetzen in einem tieferen Sinne entspricht, als alle nach
der Tabulatur konstruierten Trauerspiele deutscher Schul-
meister. Auch beweist „Fuhrmann Henschel" wieder, daß
eine große Dichtung ein gutes Theaterstück sein darf, welches
sich überall durchsetzen kann. In Berlin schien der Erfolg
von Darstellern wie Rittner und Else Lehmann abzuhängen.
Aber in Wien mit Sonnenthal war der Erfolg nicht geringer.
165
Nie zuvor ließ uns der Dichter unmittelbarer in die Vor-
gänge selbst blicken. Wir erleben, wie Henschels erste Frau
auf ihrem Sterbebett ihn und sich mit neurasthenischer
Eifersucht quält; wie ihn gerade das auf den Gedanken
bringt, die kräftige Magd zur zweiten Frau zu nehmen; wie
ihn dieses brutale Weib mißhandelt; wie sie ihn betrügt;
wie er es erfährt ; wie in dem stillen, gütigen, schwerfälligen
Träumer die Wut aufkocht, wie sich die Wut in Selbst-
anklage, in Gespensterfurcht, endlich in Selbstverurteilung
umwandelt; eine ungeheure seelische Entwiddung! Aus
dem Alltagstreiben des ganzen Hauses, belichtet von viel-
gestaltigen Humoren, zwischen Bettstatt, Trockenofen und
Waschtrog, Biergläsern und Billardkugeln, unter zigeuner-
haften, hausierenden, tölpischen Dutzendleuten steigt die
Tragödie eines seelisch tiefen Menschen zartesten Gewissens
in die ewige Nacht hinab. Starke dramatische Gegensätze
prallen heftig aufeinander. Sogar die Faust spricht mit.
Jeder im Stück trägt zum Ganzen nicht nur durch Gerede,
sondern auch durch Handeln bei, und jeder ist eine Figur
für sich, jeder für den Darsteller eine Fundgrube der Cha-
rakteristik. Mächtig steigt die äußere Aktion bis zur stür-
mischen Schlußszene des vierten Akts empor, dann folgt
im Notturno des fünften Akts die schwere innere Lösung.
In der Geisterstunde brütet Fuhrmann Henschel über sei-
nem Schicksal, stellt die Schuldfrage und schafft Sühne. Er
entlastet sein zweites, dirnenhaft brutales Weib. Mit sei-
nem Gotte, der kein Gott des Erbarmens ist, wird er einig,
daß er selbst die Schuld zu tragen habe. Denn er brach ein
Gelübde. Seiner ersten Frau hatte er in die sterbende Hand
geschworen, diese Hanne Schäl nie zu heiraten. Weil er e«
trotzdem getan hat, verfällt er dem Gericht Gottes und
i66
verurteilt sich selbst zum Tode. Sein Glaube wird zum Aber-
glauben durch sein Gewissen. Der redliche Mann hängt
sich auf, als sei er jener Verbrecher aus Hanneles Traum.
In dieser Tragödie g^^bt nicht der Dichter, sondern der
„Held" an gerechten Ausgleich von Schuld und Sühne.
Was für den Dichter Aberglaube wäre, ist für seinen ver-
wirrten „Helden" Gottes Wille. Er fühlt sich als Gottes
Geschöpf und vermag mit seinem irrenden Geist Gottes
Gebot nicht zu erforschen. Gott hat es gewollt! Aber
warum hat Gott es gewollt ? Auf diese Frage findet er eine
Antwort, die man philosophisch als Identität des Guten
und Bösen bezeichnen könnte. Beides kommt von Gott,
wie Gott es selbst ist, der den Satan auf seinen Knecht Hiob
hetzt. Auch dem armen Henschel hat Gott eine teuflische
Schlinge gelegt, und nun muß er sich selbst die Schlinge
um den Hals legen. Gott hat ihm die Hanne Schäl ins
Haus geschickt, und daran geht er zugrunde. Hanne Schäl
aber, das satanische Kraftweib, bleibt leben. Wahrschein-
lich wird sie die einzige sein, die als erb|;^erechtigte Fuhr-*
mannswitwe ihren Platz im Hause behauptet. Denn auch
Herrn Siebenhaar, dem Hotelbesitzer, wird Haus und Hof
verkauft, und mit der Komödiantenwirtschaft im Schank
wird es bald vorbei sein. Bloß Hanne Schäl, die rotwangige
Robustheit, hätte Zukunft und ein Leben, das ihr lebens-
wert erscheint. Man sieht: der Dichter steht nicht auf
Henschels Schuld- und Sühnestandpunkt.
Die Stimmung, in der einst Hauptmanns Eltern ihr Erb-
gut verließen, klingt nur als Nebenton mit. Aber sie fügt
sich zum Grundthema, denn auch sie verließen vor der
Zeit das, was sie für ihre Welt gehalten hatten. Eine fremde
Übermacht trieb sie aus dem kleinen Weltwinkel, von dem
167
erst der dichtende Sohn mit seiner Phantasie wieder Besitz
ergreifen sollte. Die guten Salzbrunner Pfahlbürger woll-
ten ihm nichts zum fünfzigsten Geburtstag schenken, weil
sie von ihm auch noch nichts gek|||^gt hatten. Und doch
schenkte er ihnen keinen Geringern als den Fuhrmann
Henschel zum Einwohner.
Weniger gern brauchten sich die paar Salzbrunner, die
ihren Dichter vielleicht lesen, zwei so lausige Kerle wie
„Schluck und Jau^^ als Landsleute gefallen zu lassen.
Auch sie reden die Sprache des Fuhrmanns Henschel, aber
sie sind betrunkene Bauern, wie sie Hauptmann als ELind
auf Landstraßen im Salzbrunner Gebiet umherlungem und
umhertorkeln sah. Früh empfand er dort den schroffsten
sozialen Gegensatz, wenn an so verlumptem Gesindel gräf-
liche und fürstliche Karossen in vollster Gala vorübersau-
sten, wenn in den hochherrschaftlichen Wäldern das Hift-
horn Halali blies, während Bettelvolk trockne Äste stahl.
Jene Magnaten, die jetzt in Salzbrunn das stolze Hotel-
schloß erbaut haben, herrschen in ihren Revieren wie kleine
Könige. Wohl und Weh der Landbevölkerung hängt von
ihnen ab. Als Knabe konnte sie Hauptmann nur aus der
Ferne, von unten betrachten; sie mögen seiner Kindes-
phantasie als begehrenswertes Blendwerk erschienen sein.
Später sah er sie zwar auch noch von unten an, aber mit
dem scharfen Auge sozialer Kritik im Interesse derer, die
unten bleiben. Als er dann selbst in die Höhe stieg, als er
mit „Hochgeborenen" wie mit seinesgleichen zu verkehren
begann, als ihm die Lebensformen der Aristokratie ein-
leuchteten, als er sich selbst in die Berge der Heimat hinein
sein Schlößchen baute, da trat ihm der Gegensatz von Volk
und Herrschaft in den Schein heitrer Phantasie. Für arme
z68
Weber hatte er gegen die großen Fabrikherren Partei ge-
nommen. Jetzt ist er tendenzlos. Auch das Soziale emp*
findet er ästhetisch. Es gibt ihm keinen tragischen Stoff
mehr. Es erbittert ihn nicht mehr. Er empfindet den Hu-
mor des Kontrastes. Dieser stimmt ihn spielerisch über-
mütig. So entsteht ein „Spiel zu Scherz und Schimpf'^
Zwar gräbt er auch diese beiden Tröpfe ,,Schluck und
Jau'^ aus dem Dreck des heimischen Erdreichs und stellt
sie mit alter naturalistischer Kraft auf festen Boden, wenn
auch nicht auf feste Beine. Dann aber verpflanzt er ihre
Lumpen und ihren Schnapsgestank mit einiger Anstren-
gung, als wollte er alle Grillen sozialen Mitgefühls gewalt-
sam wegtreiben, in literarisches Gefild.
Schon die Namen „Schluck" und „Jau" deuten an, daß
sich in diesem Paar der Shakespearische Kesselflicker
„Schlau" zwieselt; jener Trunkenbold, dem eingebildet
wird, er sei ein Lord, und dem ein wirklicher Lord, „die
Zähmung der Widerspenstigen" vorstellt. Über Petruc-
chio und seinem Käthchen verlor Shakespeare das Interesse
an Christof Schlau, dem Vorspiele fehlt daher das ergän-
zende Nachspiel. Spätere Dichter suchten das Versäumte
nachzuholen, keiner bisher mit soviel Glück wie Ludwig
Holberg in „Jeppe vom Berge". Als altes Märchen geht
der Scherz vom verwandelten Bauer durch die Weltlitera-
tur. Hauptmann kannte ihn wohl nur aus Shakespeares kur-
zem Fragment, aber seine Arbeit wurde das Gegenteil eines
Fragments. Shakespeares Lord nannte diesen Spaß „einen
schön ausbündigen Zeitvertreib, wird er gehandhabt mit
bescheidnem Maß". Diese Mahnung schlug Haupt-
mann fn den Wind. An der Ausführlichkeit, an ungezähl-
ten Wiederholungen, an einer Zersplitterung in fünf
169
Abschnitte, die der Dichter mit Recht „Unterbrechungen"
nennt, an einer Überfülle gespreizter Sätze, in denen sich
die preziösere Art der Adelsgesellschaft widerspiegeln soll,
verweht, verwelkt, verschalt der derbe Ulk. Schon vor
der ersten Aufführung beredete Otto Brahm den Dichter
zu radikalen Kürzungen, aber sie waren falsch und nützten
nichts» Keine Weglassung, höchstens eine Zusammendrän*
gung getrennter Szenen könnte helfen. Von dem Momente,
da sich der Scheinfürst Jau unter Fanfaren an die Festtafel
setzt, bis zu dem Momente, da er in der Wut und Verblen-
dung des Größenwahns morden will, darf kein Vorhang
fallen. Nur so könnte sich in einem einzigen großen Zuge
der Charakter des Bauern entwickeln, der die ihm aufge-
zwungene Fürstenhoheit eigenmächtig in eine Schreckens-
herrschaft steigert; beweisend, wie Plebs zum Terrorismus
neigt.
Dieser jähe Übergang von Spiel zu Ernst ist der tiefere
Sinn der Maskerade. Für den echten Fürsten liegt darin
die Mahnung, daß mit Notdurft und Roheit des Volkes
nicht zu spaßen ist. Der falsche Fürst kommt dadurch am
ehesten wieder zu sich selbst und auf seinen Mist zurück.
Bei Shakespeare fehlte noch das Lebensgefährliche der
Mummerei. Holberg, der sein dänisches Bauemvolk kannte,
deutet schon an, daß plötzliche, traumhafte Standes-
erhöhung den Charakter erniedrigt oder als niedrig eht-
larvt. Auch Jeppe vom Berge ist drauf und dran, in seiner
eingebildeten Machtvollkommenheit alle zehn Gebote über
den Haufen zu werfen. Holberg blieb aber im Stile der mo-
ralischen Komödie, der Komödie überhaupt.
„Schluck und Jau" hingegen verderben die gute Laune.
Jau erregt mehr Furcht, Schluck mehr Mitleid, als ein
170
Schwank vertragen kann. Aus dem Übermute des Dichters
ließ sich das soziale Unterbewußtsein doch nicht wegdrän-
gen. Und etwas säuerlich ist auch der Übermut der Hoch*
gestellten, die mit dem Pöbel Schindluder treiben. Der er-
grauende Fürst wird seiner undinenhaften Buhle, in deren
Reizen ein blasser Schatten vom Rautendelein spukt, nicht
ganz froh. Sein Freund, der eigentliche Spaßmacher, von
des Gedankens Blasse angekränkelt, vergleicht die eigne
windige Höflingsezistenz mit dem Knechtstand der ge-
prellten Bauern.
Das niderläendisch saftige Doppelbild Schluck und Jau
steht, in einem breit überladnen und doch zerbrechlichen
Rahmen, allerdings köstlich da. Schluck ist noch köstlicher
als Jau. Es wird ihm nicht ganz so arg mitgespielt, wie dem
Kumpan. Er wird sogar von schönen Mädchen abgeküßt.
Er bleibt wenigstens er selbst und wechselt nur das Kleid.
Jau glaubt etwas anderes zu sein, als er ist ; Schluck glaubt
nur etwas anderes spielen zu müssen, als er ist. Da er
sich zu Jau verhält, wie Moll zu Dur, so ist sein feminines
Schneiderse eichen wie geschaffen für die Rolle der Schein-
füretin, die bei Shakespeare ein junger Page spielt. Der
junge Page wird sie mit natürlichem Anstand gespielt ha-
ben. Schluck spielt sie im Schweiße seines Angesichts mit
allen „Kinstlichkeiten", die er von herumziehenden Gauk-
lern aufgegriffen hat. Und wie er in langen fürstlichen Ge-
wändern seinen Scheingemahl kokett umäugelt und um-
tänzelt, da wendet sich Jaus Stierwut zuerst gegen ihn.
Früher noch als der echte Fürst gerät der gute Kamerad
in Lebensgefahr, und im Erbarmen mit ihm verlischt das
Gelächter. „Schluck und Jau^* hinterläßt keinen tragikomi-
schen, höchstens einen komitragischen Eindruck. Der Rest
ist Traurigkeit. Man denkt bei Schlucks behender ^^Eonst-
lichkeit'^ an Worte der Hippolyta im MSommemachts-
traum^^: ,,Ich mag nicht gern Armseligkeit bedrückt» Er-
gebenheit im Dienst erliegen sehn/^ Aber bei Schludk
dem Schneider und Zettel dem Weber empfindet man der-
lei nicht. Woran liegt das i
,,Schluck und Jau'^ schlagen eine allzu groteske und doch
zu wenig groteske Brücke von der Größe des ,,Fuhnnann
Henschel" zur Größe des „Michael Kramer", Man
möchte diese beiden Werke, diese beiden Nachtgestalten
dicht beisammen haben. Sie gehören zueinander. Wie
yyFuhrmann Henschel" den Dichter in sein Vaterhaus, so
führte ihn „Michael Kramer" in sein Studienhaus zurück.
Wie College Crampton, ist auch Michael Ejramer Lehrer
an der königlichen Kunstschule in Breslau und steht wie
Crampton im Gegensatze zu jener akademischen Verzopft-
heit, die einst von dort den jungen Kunstschüler wegge-
trieben hatte. Aber sonst hat Kramer mit Crampton
nichts gemein, weder dessen Liebenswürdigkeit, noch dessen
Liederlichkeit, auch nicht seine Genialität.
Michael Kramer ist ein strenger, ernster, finstrer Mann
der Pflicht und der Arbeit, der aber seinen Schülern die
„Kleinbürgerseele" auszuklopfen verstand, wie keiner. In
seinem Innern leuchtet die Flamme eines Ideals, aber seine
Hand kommt nur mühsam nach. Jahre, Jahrzehnte ver-
gehen, und sein Gemälde des Gekreuzigten, das „feieriiche
ruhige Christusbild", will seiner Selbstkritik nie genügen.
Er ist in der Lage jenes „armen Künstlers", der sich in Ja-
kob verwandelt. Er hat Christum nie gesehen, und doch
möchte er mit ihm verschmelzen. So streng wie an die
Kunst ist seine sittliche Forderung ans Leben. Er ist
172
zugleich Künstler und Moralist, äein hausbacknes, bomiet-
teSy quängliches Weib zu verlassen, kam ihm nie in den Sinn,
denn Ehe und Familie gehörten in den Pflichtenkreis des
Mannes. Gerade aus seiner Familie, die ihn niederdrückte,
erhoffte er die Steigerung seiner Kunst, die künstlerische
Äußerung seines Innenlebens. In seinen Kindern sollte die
Kraft des Vaters wachsen. Aber Fleiß und Genie, die bei-
den Vorbedingungen dafür, sind ungleich verteilt. Der
Sohn trägt den Vornamen des vergötterten Böcklin, die
Tochter heißt nur nach dem Vater. Michaline hat Fleiß
ohne Genie. Arnold Genie ohne Fleiß, ist also kein Böcklin.
Die Tochter quält sich, der Sohn verwahrlost. Die Toch-
ter deutet das Verhältnis richtig: „Um Arnolds Vertrauen
hat Vater gebuhlt. Ich mußte um Vaters Vertrauen rin-
gen." Als starker, freier, feiner Mensch errang sie sein Ver-
trauen innerhalb ihrer Begabung, die zur Kunstlehrerin,
nicht zur Künstlerin reicht. Arnolds Vertrauen blieb dem
Vater versagt. Weil er den Vater fürchtete, mied er ihn,
und die dumme Mutter beging das Todverbrechen, die
Furcht vor dem Vater als Erziehungsmittel anzuwenden.
Nicht bloß wegen ihrer Verschiedenheit, auch wegen ihrer
Gleichheit konnten sich Michael und Arnold Kramer nicht
finden. Michael der Künstler sieht in Arnold das Genie;
Michael der Moralist sieht in Arnold den Lump. So stehen
sich Vater und Sohn zum letzten Male unversöhnter denn
je gegenüber. Der Vater ist die Wahrhaftigkeit selbst, und
eine kleine läppische Lüge des Trotzkopfs bringt ihn so auf,
daß er den Sohn verstößt. Als er ihn wiedersieht, ist sein
Junge tot. Ein skandalöser Konflikt mit den gemeinsten
Trieben des um Wein, Weib, Gesang taumelnden Philister-
tums hetzte ihn zum Selbstmord. Und im Schlußakt —
173
auch dieses Drama ist wie ,,Fuhrmann Henschel'* des Schluß-
akts wegen da — hält der Vater beim Sohne die Totenwacht.
Ganz im Gegensatze zu den Weitläufigkeiten von
,,Schluck und Jau^' geht hier alles einen kurzen, knappen,
scharfen Schritt. Wir sehen im trübseligen Licht eines
Wintermorgens die häusliche Misere, wir sehen den ringen-
den alten Künstler in der Werkstatt, seine Dauerarbeit
ängstlich verbergend, wir sehen bei einem sogenannten ge-
mütlichen Frühschoppen die Dutzendmenschen, von Wein
und Weib erhitzt, auf Bosheit und Wut des Einsamen die
Gewalt hetzen und nach all diesem kleinen Jammer dann
den mächtigen Schlußakt, den ein ganz großer Schauspieler
auch zur ebenso mächtigen Bühnenwirkung bringen würde.
An der Leiche des Sohnes wächst Michael Kramer in die
Höhe des alten Propheten, das Leben anblickend mit Äugen
Beethovens, dessen Totenmaske er in der Hand hält. Der
reine Mensch, der andächrige Künstler, der im kleinen Le-
ben nie freigeworden war, erhebt sich jetzt vor der Größe
des Todes. Indem er seine Hoffnungen begräbt, ist er von
aller Kleinheit erlöst. Das tiefe Geheimnis des Todes leuch-
tet ihn an, wie die große Liebe, und für diese Empfindung
findet er den Ausdruck: „Der Tod ist die mildeste Form
des Lebens: der ewigen Liebe Meisterstück." Auf dem
Totenantlitz des Sohnes erkennt er das Genie, das im Leben
nicht aufkam. Aller Hader, aller Gram, alles Mißverstehen
ist vorbei. Zwischen Vater und Sohn, zwischen Gott vmd
Welt ist Friede. Irdisches hat keine Schrecken mehr. Der
yerschlossne, wortkarge, einsame Mann findet für diese Nir-
wanastimmung Worte vom Reichtum einer Symphonie.
Und doch endet diese Symphonie mit einer Dissonanz,
mit der antwortlosen Frage nach dem Ende. Was jenem
174
verträumten Fuhrmann in seinem Wahn ganz klar erschien,
das Hirngespinst von Schuld und Strafe als Gottesfügung,
das schließt bei diesem denkenden Geiste, je weiter er die
Welt anschaut, je tiefer er ins Innere dringt, mit einem
dunklen Rätsel. Beide, Henschel wie Kramer, sind aus dem
realsten Leben geholt, beide enden in Mystik.
Mystik ist die Binnenseite der Realität. Daß Mystik und
Realität keine Gegensätze sind, sondern das Auswendige
und Inwendige ein und desselben Dinges, wußte noch jeder
künstlerische Realismus. Diese Einsicht lag auch im konse-
quenten Naturalismus Gerhart Hauptmanns schon zu der
Zeit, da ihn Arno Holzens Theoreme beherrschen wollten.
Wenn man die Reihe seiner realistischen Werke vom Son-
nenaufgangsdrama an verfolgt, so zeigt sich die fortschrei-
tende Entwicklung des Dichters darin, daß die auswendige
Haut immer durchsichtiger wird, so daß vom Innenleben
immer mehr hervorschimmert, bis man dorthin sieht, wo
sich das Innerste nicht mehr enthüllen will. Auf diesem
Punkte steht die tragische Meditation Michael Kramers,
der seines Dichters erster Denker ist.
Wie dieser Mann zuletzt weit über die Grenzen seines
räumlichen Daseins hinausblickt, so wurden diese Grenzen
auch dem Dichter wieder zu eng, und was sich ihm in der
biblischen Sage nicht vollendet hatte, bot ihm die deutsche
Legende des Mittelalters. Zunächst aber trieb es den Dich-
ter, noch einer alten Lieblingsgestalt den Blick ins unbe-
kannte Land zu gönnen. Bald nach „Michael Kramer"
schrieb er den „Roten Hahn" und zeigte auch der ster-
benden Waschfrau und Biberpelzdiebin in ihrer letzten
schönen Vision ein Engelsangesicht.
XII
DER ARME HEINRICH
Als Gerhart Hauptmann im Schwabenalter stand, zog es
LÜin ins Schwabenland des ,,Armen Heinrich*^, for
den das Bauemmadchen Blut und Leben lassen will. Haupt-
mann lernte die Legende wohl zunächst aus dem Gedichte
Chamissos kennen, das dieser zaghaft den Brüdern Grimm
gewidmet hatte. In fünffüßigen, reimlosen Trochäen er-
zählt Chamisso trocken und reizlos, wie der miselsüchtige
Graf sich und sein Leiden in einem Meierhofe verbirgt,
wie die Meiersleute ihn betreuen, wie ergeben ihm das
Haustöchterchen ist. Als sie den Ausspruch des Salemer
Arztes erfährt, daß ihn nur das Herzblut einer reinen, opfer-
freudigen Magd heilen könne, ist sie entschlossen, ihr Herz
dem Messer des Salemers prebzugeben. Mühsam über-
windet sie den Widerstand der Eltern, mühsamer und doch
zu leicht den Widerstand des kranken Herrn. Nun liegt sie
nackt auf dem Seziertische, trotzt den Widerreden des Arz-
tes, hört, wie er das Messer wetzt, und erwartet freudig zu-
erst den Opfertod, dann aber auch den himmlischen Lohn.
Der arme Heinrich ist es selbst, der im allerletzten Augen-
blicke das Furchtbare verhindert, das nackte Mädchen los-
bindet, ihr Opfer ablehnt. Unverrichteter Sache kehren
beide nach Schwaben heim ; aber unterwegs wird er gesund.
Der „Spectator cordis^' oder, wie Chamisso übersetzt, „der
die Nieren prüft und Herzen^^ begnügt sich mit des Kindes
gutem Willen und macht ihren geliebten Herrn auch ohne
Opfer und Himmelslohn gesund. Nun wird aus dem armen
Heinrich wieder ein glücklicher Heinrich; er führt das
176
Bauernkind als ebenbürtige Gemahlin auf sein Grafen-
schloß.
Vielleicht war es zunächst die Überwindung der Standes-
unterschiede und Standesvorurteile, wodurch sich der
Dichter des „Schluck und Jau" auch zu diesem Stoff hin-
gezogen fühlte. Diese sozialen Schranken sollten winzig
und kläglich erscheinen gegenüber einer Größe der Näch-
stenliebe, der Entsagung, der Todesbereitschaft, wie sie das
kleine Bauerndirnchen bewährt. Der Fürst und das Land-
kind hatten sich im Allermenschlichsten, Allernatürlich-
sten so innig gefunden, daß jede künstliche Mauer fiel.
Schon die Achtjährige nannte der arme Heinrich „sin
gemahele". Chamisso übersetzt „seine kleine Frau" oder
„seine liebe Frau". Hauptmann schließt sich auch
hier, wie so oft, enger an den mittelhochdeutschen Ur-
dichter Hartmann von Aue und findet für das pro-
phetische Liebeswort die trauliche Form: „Mein klein
Gemahl".
Der moderne Dichter fühlt sich dem mittelalterlichen
Dichter so genähert, daß er ihm die Rolle des Vertrauten
in seinem Drama zuwies. Hartmann von Aue ist der erste
Dichter, den Hauptmann in seine Werke eingeführt hat.
Aber er ist in dem Drama mehr dienender Ritter als Dich-
ter. Der historische Hartmann hatte zum niedrigen Adel
gehört und zu den Dienstmannen der Herren von Aue.
Hauptmann macht den legendarischen armen Heinrich
selbst zum Grafen von Aue, und so wird Heinrich der H^rr
seines ritterlichen Dichters, Diskreter Weise bl^bt Haft-
mann im Drama eine episodische Nebenfigur. Er ersch^nt
bloß im zweiten und fünften Akt. Eine phantasievolle An-
schauung der Natur führt ihn als Poeten ein:
13 177
Und nnd die kleinen Vöglein tuch Tentummt:
Et zwitschert unterm Roatethuf der Schnee
Bei jedem Tritt, lo daß ich lausch und spitze
Und horch und mich Ternnn und fast Tertiere,
Wit Petrus Forschegrund, als ihm das V^ein
Des Paradieses sang und tausend Jahre
Gleich einer flüchtigen Stunde ihm Terrannen.
Doch ist Hartmann der erste, der aus Heinrichs eignem
Munde nicht nur Heinrichs Schicksal erfährt, sondern auch
den tiefsten Einblick in Heinrichs Seele empfängt. Der
antipapistische aber gottesfürchtige Ritter muß es erleben,
wie sein Herr von wildem Pessimismus befallen ist, Gott
lästert, seine Weisheiten aus dem Koran schöpft und end-
lich im Verzweiflungsschrei einer Weltanklage bekennt, ihn
habe das Schicksal Hiobs getroffen: „Da fuhr der Satan aus
vom Angesichte des Herrn und schlug Hiob mit bdsen
Schwären von der Fußsohle bis an den Scheitel. Und Hiob
nahm einen Scherben und schabte sich und saß in der
Asche/^ Diese Stelle bezieht Heinrich fast wörtlich auf
sich selbst. Hartmann von Aue verstummt ob solchem Be-
kenntnis, das in gewaltiger dramatischer Steigerung den
zweiten Akt bis dicht vors Ende führt. Wir sehen die
treuherzige Rittergestalt erst wieder, als sein Herr und
Held geheilt und mit dem Gotte der Christenheit ver-
söhnt ist.
Der Jubelruf „Hartmann" ist das erste Wort, das wir
aus dem Munde des heimgekehrten, genesenen Heinrich
hören. Das zweite Wort ist ein freudiges Bekenntnis zu
Gott. Das dritte Wort ist die frohe Botschaft, daß auch
sein klein Gemahl heil und lebendig sei. So erfährt Hart-
mann von seinem Herrn und Helden selbst nicht bloß des-
sen Elend, sondern auch dessen Glück, also Anfang und
178
Ende seines poetischen Stoffes. Auch Hartmanns letztes
Wort im Drama ist das Wort eines Dichters :
Wir wollen an die erzenen Schilde schlagen,
Und dieses alten Schlosses Fenster sollen,
Wie Munde, Freude über die Täler schreinl
Was jedoch im modernen Drama Zwischen Anfang und
Ausgang liegt, vollzieht sich in der Abwesenheit Hartmanns
von Aue, der inzwischen seinem verschollnen Grafen das
Land hütet. Hier geht Gerhart Hauptmann eigne Wege.
Sein Gefährte ist nicht der naive Geschichtenerzähler des
Mittelalters, dem die Oberfläche der Begebenheiten ge-
nügte. Sein Gefährte ist eher der tief grübelnde Verfasser
des Buches Hiob. Der dritte und vierte Akt lösen sich von
der mittelhochdeutschen Dichtung los und erregen deshalb
bei einigen Germanisten Ärgernis.
Gerhart Hauptmann braucht zwei umfangreiche Akte
zur Behandlung der großen Kernfrage des Stoffs: wie
kommt Heinrich dazu, das Opfer des Kindes anzunehmen,
wie wird es ihm möglich, das Kind bis an den Seziertisch
des Salerner Arztes zu führen ? Dem treuherzigen mittel-
hochdeutschen Dichter genügt das Faktum:
Ze jungest d6 bedähte sich
ihr herre, der arme Heinrich
Diese epigrammatische Knappheit zieht Chamisso nur
in schwatzhafte Breite, wenn er erzählt:
Als der arme Heinrich jetzt erkannt,
Daß einmütig doch das Ungeheure
Alle wollten und von ihm begehrten,
Stieg in ihm aufs neue Lebenslust auf,
Sah er schon im Geiste sich genesen.
Andres nicht gedacht er, und mit Grausen
Sprach er leis und langsam: „Also sei es!'*
la'
179
Hauptmann, der tiefste der drei Dichter, braucht die
beiden Hauptakte des Dramas allein zu dieser Ergründung,
der auch die beiden früheren Expositionsakte vorbereitend
zu dienen haben.
Der erste Akt spielt in der Morgenfrühe eines frischen
Herbsttages unter der großen Ulme vor dem Hause, wenig
Stunden nach Heinrichs Einkehr in den Meierhof. Die
Meiersleute wissen nicht, was ihm fehlt. Aus seinem selt-
samen Benehmen, aus seinen andeutenden Worten schlie-
ßen sie auf seelisches Leid. Aber ihr Töchterchen weiß
es schon besser. Den Ausspruch des Salerner Arztes erfuhr
sie nie von Heinrich selbst, sondern von einem plauderhaf-
ten Kriegsknecht, der aus Angst vor Ansteckung durch-
brennt. „Sie lebt von seinem Blick", wie es im „Hamlet**
heißt. Bei Hauptmann ist das Kind nicht mehr achtjährig
wie bei Hartmann, sondern im Alter der Pubertät mit An-
zeichen von Bleichsucht und Hysterie. In diesem krank-
haften Stadium der natürlichen Entwicklung mischen sich
erotische und religiöse Ekstase. Sie denkt nicht anders, als
daß ihr geliebter Herr mit seiner Krankheit für begangne
Sünden büßt, und will das Lamm Gottes sein, das ihn er-
löst. Die großen Wirkungen des zweiten Aktschlusses stei-
gern sich endlich zu ihrem leidenschaftlichen Entschluß:
„Ich hab's gelobt! Du mußt versühnet sein."
Hauptmanns Heinrich beteiligt sich nicht, wie der Hart-
mannsche, an dem kümmerlichen Hin und Her und Für
und Wider, das dieser Entschluß des Kindes bei den Eltern
hervorruft. Auf das Gelübde des Mädchens antwortet
Hauptmanns mannhafter Heinrich mit jäher Flucht. Er
verläßt das freundliche Obdach bei den Meiersleuten und
ist venchoUen.
i8o
Seit jenem ersten Herbstmorgen verging ein Jahr; es vnll
wieder Winter werden. In einer Wildnis von Wald und
Fels ist der arme Heinrich verwildert. Er lebt von dem,
was er findet, er gräbt sich selbst sein Grab, aber er lebt.
Die Lebenslust, die Lebenskraft erhält ihn am gräß-
lichsten Leben. Aber es sucht ihn niemand seiner selbst
wegen auf, außer dem Mädchen. Der Spürsinn ihrer Liebe
hatte ihn schon drei Tage nach der Flucht gefunden ; als er
sie mit Steinwürfen weggetrieben hatte, war sie nochmals
zu ihm in die einsame Wildnis gekommen und hatte den
Ohnmächtigen betreut. Nach seiner hier gewiß zu recht-
fertigenden Manier enthält uns der Dichter diese beiden
Szenen vor. In diesem dritten Akt erscheint das Mädchen
gar nicht. Statt ihrer kommen ihre beiden Väter: Stief-
vater und Beichtvater; auch der Beichtvater, der dieses
übersinnlichsinnlichen Kindes rechter Vater zu sein scheint.
Ihnen erst erzählt der Waldmensch von jenen Begegnungen
mit dem Mädchen. Wie so oft im „Florian Geyer", wird
statt der Ereignisse selbst der Bericht davon gegeben; statt
der Hauptperson des Prozesses sprechen Anwälte. Da-
durch wird die Bühnenwirkung geschwächt; selbst ein so
durchdringender Darleger wie Josef Kainz konnte das Pu-
blikum im Wildnisakte nicht vor Ermüdung schützen.
Selbst seinem dialektischen Genie gelang es nicht, die poeti-
schen Kräfte dieser Reflexszenen dramatisch zu beleben.
Was bei jenen heimlichen Begegnungen zwischen dem sprö-
den, kranken Mann und dem reinen, in Unschuld werben-
den Mädchen geschah und nicht geschah, ersetzt dem Le-
ser Heinrichs wundervolle. Grausigstes und Süßestes ver-
mischende Erzählung. Wie ihn die Verführung packte, wie
er der Verführung widerstand ! Wie er, unrein am ganzen
l8l
Körper, rein in seinem Gewissen blieb! Man müßte das
alles so genau kennen, wie man etwa die Klassiker kennt.
Dann würde man es auch auf der Bühne zu würdigen wissen.
Zufällig entdeckt Heinrichs neues Versteck jener furcht-
same Kriegsknecht, der nun zum zweiten Male vor Hein-
richs Krankheit ausreißt. Von ihm erfahren es die beiden
Väter des Kindes. So kommen sie zu ihm, nie ganz mitein-
ander einig, aber doch einig in der blinden Hoffnung, der
arme Heinrich könne durch seine Rückkehr ihr verwirrtes
Kind zur Raison bringen. Diese besorgten Väter nehmen
sogar die Miselsucht in Kauf, wenn nur das ekstatische Kind
wieder zu sich kommt. Aus dem, was sie erzählen, und aus
dem, was Heinrich von ihr erzählt, wird das holde Märty-
rerbild des abwesenden Mädchens dennoch ganz gegenwär-
tig. Wie die drei Freunde zum duldenden Hiob, so spricht
hier der geistliche Vater zum gottverfluchten und Gott
verfluchenden Heinrich. Nur Heinrich spricht anders als
Hiob. Hiobs „Auge tränet zu Gott", Heinrich hört Gottes
Hohngelächter. Wie Gott seinen Knecht Hiob in Satans
Hände gab, um ihn zu prüfen, so sieht Heinrich in allem,
was Gott ihm schickt, „des Teufels schlimmstes Buben-
stück". Das süße, reifende Kind schickte ihm der höllische
Versucher in die Waldwildnis; denselben „verfluchten En-
gel, der ritterlich die Blöße Gottes schont" erkennt er nun
aus der Bitte wieder, mit der sich die beiden Väter an ihn
wenden. Er möge doch zu ihrem Kinde kommen! Sie bit-
ten ihn, als wäre er ein Arzt. Auch dieser Versuchung wider-
steht er noch. Er verschmäht das dargebotene Obdach. Er
will in der Wildnis überwintern. Er will sein Grab weiter gra-
ben. Aber seine Sinne verwirren sich, sein Geist schwärmt,
sein siedendes Blut sieht hoch aufgerichtet über allem
182
Heldentume und Heiligtume nur noch das rettende Kind.
Heinrich ist am Ende aller seiner physischen und morali»
sehen Kräfte, also auch am Ende seiner Entsagungskraft.
Den Zustand des Mädchens zeigt erst der vierte Akt.
Der Dichter nennt sie 1 1 e ge b e. Dieser gute altdeutsche
Name fehlt bei Hartmann, aber er klingt wie aus volksety-
mologischem Eandermund an einen Vers an, worin der
mittelhochdeutsche Dichter von ihr sagt:
iedoch geliebte irz aller meist
von gotet gebe ein tüezer gebt.
Das heißt, als Gottes Gabe war in ihr ein Geist der Liebe.
Ottegebe ist nicht mehr bei den Eltern, sondern d«r
Sicherheit wegen in ihres geliebten Beichtvaters Wald-
kapelle. Dort hält man sie verborgen, denn zur Nachtzeit
um den Meierhof herum klappert die Klapper eines Misel-
süchtigen. Nun sitzt das Kind in der Waldkapelle, geißelt
seinen jungen opferfreudigen Leib, und das aufgeregte Blut
spritzt. Sie geht und spricht wie eine Nachtwandlerin, aber
wachsam wie die klugen Jungfrauen wartet sie auf ihren
Herrn. In ihrer frommen Verblendung ist sie Hellseherin.
„Pater, heut wird er kommen!" sagt sie. Und wirklich
kommt er heute. Aber sie sieht nicht bloß den armen Kran-
ken, der nach ihrer Heilkraft schreit, sondern auch die
Gnade Gottes, die des Richterspruches Härte bricht. Hart-
manns Motiv vom Himmelslohn ist hier innerlicher gefaßt.
Nicht um Gottes Lohn für sich, sondern um Gottes Gnade
für den Geliebten zu erlangen, geht Ottegebe-Gottesgabe
ihren schweren Gang.
Heinrich, der Gotteslästerer, tritt in die Waldkapelle.
Sein Gebet mißlingt. Ihm fehlt Hiobs Geduld. Auch seine
unverwüstliche „Lebenslust", seine Scheu vor dem Selbst-
X83
xnord macht er Gott zum Vorwurf und doch bittet er mit
trotzigen Worten Gott um Vernichtung. Aber „die Schlan-
gen der Sonne rasen ihm im Haupt^^, sein kranker Geist
verfällt wieder in eine wilde Wollust zu leben. Wie ein
zweiter Aussatz, wie ein Aussatz des Gemüts packt ihn das,
was Qiamisso so glatt und artig ,,Lebenslust*^ nannte. Und
nun schreit er aus kränkster Seele heraus nach dem Eande,
das ihn erlösen, das ihn versühnen wollte; überzeugt, daß
sein Schrei nicht gehört wird. Nun erst schreit er nach
Ottegebe, da er glaubt, daß sie tot sei. Der Verbrecher,
das Raubtier erwacht in diesem standhaften Menschen erst,
als er glaubt, daß nichts mehr zu rauben, nichts mehr zu
töten da ist. Schon längst hatte ihm sein Mißgeschick das
eigne Ich zerspalten und ihn für sich selbst zu einem
Doppelwesen gemacht.
Ich nahm den Rest, ich raffte mir zusammen,
Was mir yon mir geblieben war, und lief
Vor mir dayon. Es lief ein Fürst I und der
Ihm folgte in der fürchterlichen Hatz,
War der zertretne Knechtj der annoch lebt.
Er schrie nach mirl Er winselte! Er bot
Mir j\mge Kindesleiber an zum Kauf . . .
Ottegebe ist nicht tot. Ottegebe lebt. Ottegebe ist da.
Wie ein Engel des Himmels erscheint sie ihm. Wie ein
Engel des Himmels spricht sie zu ihm: „Komm, es ist spät
geworden, armer Heinrich." Und wie die Engel Gottes
das träumende arme Hannele in die Stadt der Ewigkeit
führen, so führt „Sankt-Ottegebe" ihren außer sich selbst
gesetzten armen Heinrich aus Vater Benedikts Waldkapelle
nach Salemo. Nicht er zieht sie, sondern sie zieht ihn dort-
hin. Sein Wille ist unfrei, unterworfen einer stärkeiea
Macht, und wer darf entscheiden, ob diese Mtdit
184
außen nach innen oder dennoch von innen nach außen
wirkt ? Nicht darauf kann es dem Dichter ankommen» son-
dern auf die Seelenkampf e, in denen der Mensch gegen sich
selbst zu streiten hat.
Als Heinrich und Ottegebe wieder daheim sind und im
Glück, erfahren wir einiges von dieser märchenhaften Wan-
derung aus dem Schwarzwald nach Salerno. Der Dichter
weiß aus Erfahrung, welch schöner Weg durch Gottes Welt
das seltsame Paar führte, und das ekstatische Schwaben-
madchen blieb nicht unempfindlich gegen die neuen Wun-
der der Landschaft. Aber ihr Ziel blieb der Seziertisch des
Salerners. Natürlich hat der Dichter auf die große Szene
in Salerno verzichtet. Aber Heinrich schildert sie seinem
treuen Hartmann so wundervoll, daß man sich wundert,
warum Hartmann nicht mehr davon für sein kleines Epos
profitiert hat. Auch den bängsten Augenblick schildert er,
als der Arzt das nackte Mägdlein auf den Opfertisch legt:
Da schloß er sich mit ihr in seine Kammer.
Ich aber . . . nun, ich weiß nicht, was geschah . . .
Ich hörte ein Brausen, Glanz umzuckte mich
Und schnitt mit Brand imd Marter in mein Herze.
Ich sah nichts I Einer Türe Splitter flogen,
Blut troff von meinen beiden Fäusten, und
Ich schritt — mir schien es — mitten durch die Wand! —
In diesen Versen steht der geheilte, von Krankheiten des
Leibes und der Seele genesene, der große, starke, edle, rit-
terliche Mann und Held und Fürst leibhaftig so wieder da,
wie wir ihn aus Hartmanns Erzählungen kannten.
In der Zeit, als dieses große Drama entstand, hat man
sich über Heinrichs unappetitliche Leibesbeschaffenheit
entrüstet und über den glücklichen Ausgang lustig gemacht.
Oft wurde über beides dieselbe Nase gerümpft, und der-
185
selbe unweise Mund sprach bald von Lazarettpoesie^ bald
vom Benedixischen ^^Sie kriegen sich^^ Den zweiten Ein-
wand abzuweisen» genügt wieder ein Blick auf Grimms Mär*
eben : »»Und wenn sie nicht gestorben sind» so leben sie noch
heute^^ Der erste Einwand trifft nicht dieses Werk allein,
sondern den ganzen Dichter» dem seit frühester Zeit das
Hiobslos der Menschheit ans mitleidige Herz greift. Nie
aber hat er so gewaltig an diesem Elend gerüttelt wie hier.
Nirgends sonst wurde es so offenbar, wie aus physischem
Jammer seelischer Jammer entsteht» wie äußere Schicksals-
schlage auch den innern Menschen verwandeln. Nie zuvor
auch siegte so triumphierend Gerhart Hauptmanns dich-
terische Sprachgewalt.
Das kleine» schlichte Epos Hartmanns von Aue ist sechs-
hundert Jahre alt. Die Philologen edieren und kommen-
deren es; ab und zu findet es im deutschen Volke sonst
noch einen willigen Leser. Man möchte den Schleier der Zu-
kunft lüften» um zu wissen» wie nach abermals sechshun-
dert Jahren Gerhart Hauptmanns „Armer Heinrich" in
Deutschland geschätzt wird. Wird man im Volke die Kunst
und den Charakter» ja auch nur den Laut seiner Sprache
noch verstehen i Wird zunehmende Gelehrtheit Anachro-
nismen aufmutzen oder lieber jenen Geist verspüren» der
an der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahr-
hundert in seiner besondren Weise der Psyche des Men-
schen auf den Grund zu kommen suchte i Wir ahnen nichts
davon und müssen mit dem Begriffe der Unsterblichkeit auch
unsern Größten gegenüber vorsichtig sein, aber jetzt darf
jeder seine Meinung sagen. Und so sage ich» daß „der arme
Heinrich" 1902 entstanden, die deutsche dramatische Dicht-
kunst des neuen Jahrhunderts in großer Art eröffnet hat.
XIII
ROSE BERND. UND PIPPA TANZT. GABRIEL
SCHILLINGS FLUCHT
Kaum war Gerhart Hauptmann Hand in Hand mit
Hartmann von Aue durch die deutsche Legende ge-
schritten, so wurde er in seinem heimischen Landgerichts-
bezirk Hirschberg als Geschworner einberufen. Aus dem
Weiten rief ihn drängendes Leben wieder ins Nahe. Und
nun wird es dem Dichter zur Gewohnheit, wechselweis in
der eignen Zeit oder in idealen Femen seine schaffende
Phantasie einzunisten. Wie er immer wieder oft zu mo-
natelanger Abwesenheit seine Riesengebirgsstätte verlaßt
und im Süden reist oder wohnt, so lösen sich in seiner dich-
terischen Vorstellung Inland und Weite immer wieder ab.
Eine Weile aber hielten ihn jetzt Eindrücke der Heimat
und der Jugend wieder fest.
Als Hauptmann 1903 in Hirschberg Geschworner war,
standen am 15. April auch Meineid und Kindesmord zur
Verhandlung. Hauptmann votierte mit der Mehrheit des
Schwurgerichtes auf Freispruch der angeklagten und ge-
ständigen jungen Mutter, einer ledigen Landarbeiterin.
Dieser Lebenseindruck vergegenwärtigte dem Dichter wie-
der seine Eleven- und Gutsschreiberzeit im Kreise Striegau.
In die fruchtbaren, blumigen, parkartigen Ebenen dieser
Gegend verlegte er das fünf aktige Schauspiel „Rose
Bernd".
Rose Bernd, die schöne, kräftige, blonde Bauerndirne
wird von drei Mannsen umworben. Den einen liebt sie,
den anderen haßt sie, der dritte soll sie heiraten.
187
Der eine ist ein waidgerechter, kriegstüchtiger Gutsherr
auf der Höhe des Lebens. Er ist mit einer klugen und gü-
tigen Frau verheiratet, die er liebt und verehrt; aber sie
ist älter als er und sitzt im Rollstuhl. Für Rose Bernd war
Herr Flamm schon der Mann der Männer, als sie noch mit
Puppen spielte. Jetzt strahlt am Maiensonntag die Mor-
gensonne. Zwischen den Äckern, aus denen es sprießt und
grünt, wächst bergendes Buschwerk. Während die gottes-
fürchtige Gemeinde (wir wissen, wie fromm es im Ejreise
Striegau zugeht) in der nahen Dorfkirche singt und betet,
nimmt draußen im Freien Herr Christof Flamm seine Rose
auf eigene Art ins Gebet. Das Stück, das mit Eondesmord
endigt, beginnt frühlingsfrisch mit dem Gegenteile von
Kindesmord. Noch dazu unter einem Kruzifix! Als der
Vorhang aufgeht, ist das Tätchen vollbracht. Diese derbe
Minnelust gibt sich ländlich-sittlich oder richtiger ländlich-
sinnlich. Es ist nicht das, was man in Gesellschaftskreisen
ein Liebesverhältnis nennen würde. Es ist alles nur auf
Nimm und Gib gestellt. Flamms Heiratsabsichten, falls er
frei wäre, sind nicht allzu ernst gemeint. In seinen Kreisen
betrügt man die eigne Frau, aber man verläßt sie nicht,
am wenigsten einer Magd zuliebe. Mag man aber über das
Moralische, wie man will, denken, so ist es eine Freude,
zu sehen, wie der Dichter des armen Heinrich und seiner
Ottegebe noch Kraft, Gesundheit, Lebensgenuß in zwei
strotzenden Menschennaturen darzustellen weiß.
Doch während der arme Heinrich aus Kummer zu Wonne
gedeiht, entwickelten sich Rose Bernds Lebenssachen um-
gekehrt. Schon als sich die beiden nach jenem Maienmor-
gen wiedersehen, sind Freud und Lust dahin. Es ist, als
treibe vom Äschenhaufen des armen Heinrich eine Flocke
i88
in dieses lebensfrohe Stück. ^^Du tust ja^ als wenn ich aus-
sätzig wär^^» sagt zur scheu gewordenen Rose Bernd Herr
Flamm^ und Roses Vater^ der jeden Abend ein Fußbad
nimmt, stöhnt, als er von der Schuld seiner Tochter hört:
„Mir ist, als hatt ich die Krätze am Leibe^^ Beide schei-
nen den „armen Heinrich" gelesen zu haben, Herr Flamm
ist nicht aussätzig, er ist gesund und genußsüchtig wie im-
mer, und Vater Bernd bleibt ein sauberer alter Mann. Aber
mit Rose Bernd steht es schlimm.
Jener Zweite, den sie haßt, der aufgetakelte Lokomobi-
list Streckmann, ein berüchtigter Trunkenbold und Wei-
berhengst, hat gesehen, was an jenem Sonntagsmorgen un-
ter dem Kruzifix vorging. Seine Erpressernatur geht dieses
Mal nicht auf Schweigegeld, sondern auf Minnesold. Er
neidet Herrn Flamm sein Glück nicht allzu sehr, aber er
fordert für sich das gleiche. Doch Rose Bernd haßt ihn;
in seiner plumpen Geckenhaftigkeit ist er ihr widerlich.
Sie versagt sich ihm. An sich wäre die Gefahr seiner An-
geberei nicht allzu groß, denn die „Unschuld vom Lande"
besteht meist darin, daß man den Liebesgenuß für keine
Schuld hält. Wie auf der Alm, so gibt es auch unter dem
Landvolk der Tiefebene keine Sund. Auch Rose Bernd
ist an sich nicht zimperlich und spröd. Wenn ihr das Blut
in die Wangen steigt, so nimmt sie den einen, der ihr gefällt,
fest in die Arme, ohne erst nach Standesamt und Traualtar
zu fragen oder nach dem Kruzifix zu sehen.
Auch wenn sich die Liste der unehelich Gebornen im
Dorf um eines vermehrte, so käme sie selbst in ihrer kräf-
tigen Naivität und Animalität schon darüber hinweg. Im
dritten Akt hören wir den neckenden, gemütlich-schand-
mäuligen Tratschton der Landarbeiter und kdnntan uns
189
denken, daß sich die aufrechte Rose Bemd durch solches
Gerede so wenig niederwerfen läBt, wie sie sich an er stw e n
wegwürfe.
Dennoch tritt sie in ein schweres Schicksal ein. Von zwei
Seiten droht ihrem innern Frieden Gefahr. Frau Flamm,
die Dame im Rollstuhl, war der mutterlosen Waise ivie eine
Mutter gewesen. Mit dem kleinen Kurtel Flamm hatte
die kleine Rose gespielt, und als Kurtel starb, blieb sie wie
ein Kind im Hause. Auch jetzt in ihrem Elend findet Rose
bei der grundgescheiten und grundgütigen Frau vorurteils-
freies Verständnis. Um so härter trifft es ihr Gewissen, daß
ihr Mitschuldiger der Mann dieser Frau ist.
Schon darum hat sie Streckmanns Denunziantentum zu
fürchten. Noch mehr deshalb, weil ihr alter, armer, be-
schäftigungsloser Vater zu den Frommen im Striegauer
Kreise, zu den Stillen im Lande gehört, zu denen, deren
Religiosität bei der Moral anfängt, die auch auf der Alm
keine Sünde dulden. Seine ernste, strenge, rauhe Gottes-
furcht begegnet in innigster Seelenbrüderschaft der ebenso
ernsten, ebenso strengen Gottesfurcht jenes Dritten, den
Rose heiraten soll. Das ist der Buchbinder und Traktät-
chenhändler August Keil, ein ofenhockerisches Männchen
mit etwas Veitstanz. Seitdem sie sich Mutter fühlt, wird
Rose der Heirat mit dem kümmerlichen Leimsieder ge-
neigter, der gute Rat der lebensklugen Frau Flamm bestärkt
sie, und es fliegt sogar eine etwas nervöse Heiterkeit und
erzwungne Zärtlichkeit über ihr Wesen. Sie folgt der müt-
terlichen Gönnerin, die sie aus eignem Herzweh ermahnte:
„Freu dich! Man soll sich freuen auf sein Eünd!"
Frau Flamm hält das Kinderkriegen unter allen Um-
ständen für des Weibes größtes Glück, und Roses kern-
190
gesunde Frauennatur wäre auch glücklich darüber^ wenn
Streckmann nur den Mund hielte. Kommt sie aber durch
Streckmann in der Leute Mäuler» so wird sie von ihrem
Vater verstoßen, von ihrem Bräutigam verschmäht und von
Frau Flamm mit der natürlichen Eifersucht des betrognen
Weibes gehaßt und verachtet. Das weiß sie.
Streckmann, der mit seiner Maschine auf allen Höfen ar-
beitet, geht umher und macht Anspielungen. Sie ist vor
ihm wie eine gehetzte Maus. In ihrer Herzensangst läuft
sie zu ihm hin, bittet und bettelt, bietet Geld, soviel sie
hat. Er aber fordert nur eines, und als sie es ihm nicht aus
freiem Willen gibt, holt er es sich mit Gewalt. Nun trägt
sie Flamms Kind in einem geschändeten Mutterleib, wäh-
rend sie vom Vater ihres Kündes in einer wundervollen
Zwiesprach für immer Abschied nimmt. Sie werden sich
noch sehen, aber sie sind geschiedne Leute, denn zwischen
sie hat Streckmanns Teufelei Mißtrauen und Mißverstehen
gestreut. Das Haus Flamm, ihre zweite Heimat, die Woh-
nung ihres Glücks hat sie verloren.
Aber sie verliert auch ihr Vaterhaus, inre wahre Heimat,
die armselige, frostige, reine Stube der väterlichen Zucht.
Streckmanns boshafte Anspielungen führten zur Tätlichkeit
zwischen ihm und Roses Bräutigam. Dem armen August
wird ein Auge ausgeschlagen. Dadurch wird die Sache
gerichtskundig. Flamm und Rose sind Zeugen. Sie wer-
den über ihre Beziehungen zueinander verhört. Flamm, in
jenem berüchtigten Konflikt zwischen Ritterlichkeit und
Eidesfurcht, entscheidet mehr zi; seinen als zu des Mädchens
Gunsten und sagt die Wahrheit. Wäre Rose kein Bauem-
kind, sondern eine Baronesse, so hätte der Landwehrleut-
nant vielleicht falsch geschworen. Rose schwört wirklich
191
falsch. Sie sagt dem Richter so wenig die Wahrheit wie dem
Vater und ihrer Frau Flamm. Wie in Ibsens Nora^ so ist
auch in ihr das Gefühl starker als das Gesetz. Nun ist sie
eine Verbrecherin. In dem furchtbaren Zustand, in dem
sie aus der Kreisstadt ins Dorf zurückkehrt, wird sie unter-
wegs durch vorzeitige Wehen überrascht und tötet auf der
Stelle ihr neugebornes Kind.
Eine doppelte Verbrecherin wankt in die blitzblanke Va-
terstube. Was sie so ängstlich verborgen hatte, erfährt ihr
Vater nun doch. Der fromme alte Mann kommt sich selbst
wie ein doppelter Verbrecher vor. Wie in „Fuhrmann
Henschel" und „Michael Kramer" hebt sich der Dichter
die tiefsten, innersten Dinge für den Schlußakt auf. Aber
Rose Bernd selbst ist vom Schicksal schon erledigt. Den
Akt beherrscht Vater Bernd, dessen harte Strenge nicht so
tief erschüttern kann wie Henschels Kampf mit dem Ge-
wissen oder Kramers Abrechnung mit Himmel und Erde.
Auch zittert hier der schwurgerichtliche Ursprung des
Dramas durch Erscheinen der Dorf polizei nach. Die Sze-
nen vor Gericht selbst hat uns der Dichter erspart; desto
mehr fällt kriminalistischer Meltau auf die Vorgänge des
letzten Aktes. Auch ist das Mitleid mit dem körperlichen
Zustande der armen Entbundenen, die sich hier von Bank
zu Schemel, von Schemel zu Bank schleppen muß, so über-
stark, daß daneben ihr seelisches Leid nicht aufkonmit.
Beim armen Heinrich herrschte das Seelische, hier herrscht
das Physische vor. Aber etwas ganz Großes und Schönes
wächst auch aus diesem Akt empor. Jener duckrige, mück-
rige August mit dem einen Auge sagt sich vom Rigorinnus
seines alten Vorbildes, des Vater Bernd, lot. Mitleid niit
Rose füllt seine Seele ganz. Aus dieser unschönen Gestik
192
strahlt plötzlich die menschlichste» die bräutlichste, die
brüderlichste Liebe, die christlichste Liebe im Sinne des
Heilandes leuchtenden Glanzes hervor, und man denkt an
das Erlöserwort: „Den Armen wird das Evangelium ge-
predigt".
Die Perspektive aus dem Drama ist bedrückend. Rose
Bernd wird, wie jenes Mädchen aus dem Hirschberger
Kreise, vor die Geschwornen kommen, und nur ihr offenes
Bekenntnis wird ihr nützen. Es wäre besser gewesen, der
Dichter hätte den Rest der Gedanken an jenes Schwur-
gerichtserlebnis getilgt. So bleiben das beste des Stücks im
ersten Akt die Naturstimmung eines Frühlingssonntags auf
dem Lande und äie Szenen des zweiten und vierten Aktes,
wo sich Frau Flamms mütterliche Gestalt entfaltet. Wie
die kranke Frau entsagungskräftig ihrem lebenslustigen
Manne nirgends im Wege ist und sich mit der Rolle der ver-
trauten alten Freundin begnügt, so lange ihm gleichgültige
Weibsbilder zu Diensten stehen ! Wie sie allmählich wittert,
ahnt, merkt, weiß, daß auch ihre Rose unter den vielen ist!
Wie sie nun ein Ekel packt! Wie die tapfere Dame aber
doch mit Rose redet, und nicht viel anders redet als zuvor!
Am schönsten, wie sie sich mit August Keil über Himm-
lisches und Irdisches verständigt, die Betrogne mit dem Be-
trognen! Man könnte an Mutter Vockerat denken, aber
Frau Flamms Seelengüte ist nie beschränkt, auch nicht
durch religiöse Vorurteile. Man könnte an Henschels erste
Frau denken, aber ihr Kranksein macht keinen Lärm, und
die Qualen der Eifersucht trägt sie still für sich. Sie geht
auch nicht in den Brunnen, wie des Glockengießers Frau.
Sie sinnt und sorgt und schafft Gutes, soweit von ihrem
Rollstuhl aus die feinen, tätigen Hände reichen. Sähe sie
13 193
zuletzt mit den klugen Äugen ihres Herzens Roses tiefstes
Elend, so stände sie nicht beim alten Zeloten, sondern
spräche mit August dem Einäugigen das Schlußwort : „Was
muß die gelitten han".
Wenn man ein dichterisches Werk durchaus nach seiner
Stofflichkeit beurteilen will, wenn man keinen Sinn für
Rose Bernds sinnliche Gesundheit hat, keine Freude dar-
über, daß der Dichter nach einer stolzen Ausfahrt ins Le-
gendenland wieder heimgefunden hat, so müßten mit allem
„Anstößigen^^ in diesem Stück jene beiden ethisch liebens-
werten Charaktere versöhnen. Das war die Meinung, als
„Rose Bemd'^ neben vielen andern Bühnen Mitte Februar
1904 auch auf das Wiener Hofburgtheater kam, das kurz
zuvor den „Armen Heinrich" gut vertragen hatte. Auch
zur „Rose Bernd" wandte sich das in solchen Fällen immer
etwas beängstigte Wiener Publikum mit lebhaftem Zu-
spruche hin. Dennoch kam es nur bis zur fünften Auffüh-
rung. Ein sittlich entrüsteter Machtspruch setzte sich über
die Ethik dieses Dramas ebenso wie über viele zuständige,
dem Drama günstige Instanzen hinweg, und die weitem
Vorstellungen unterblieben. Der Dichter war an solche
Erfahrung schon gewöhnt und ließ sich nicht weiter da-
durch verstimmen.
Wenn nach „Rose Bernd" trotzdem eine Pause seines
Schaffens eintrat, wenn die Jahre 1904 und 1905 wenig-
stens auf den Markt keine Früchte brachten, so war lange
und schwere Krankheit der Grund. Hanneles schwarzer
Engel stand schon vor des Dichters eigner Tür. Aber seine
innere Gesundheit siegte. Arztliche Kunst und Pflege
sorgten für das übrige, und nach einem ausgiebigen Er-
holungsaufenthalt in der italienischen Schweiz konnte
194
Gerhart Hauptmann mit seinem genesenen Heinrich von
der Aue rufen:
Und 80 ergreif ich wiederum Besitz
Von meinem Gnmd. Gestorben! Auferstanden!
Die zween Schläge schlägt der Glodcenschwengel
Der Ewigkeit. Los bin ich von dem Bann!
Laßt meine Falken, meine Adler wieder steigen!
Wie Heinrich von der Aue zog er mit seinen Falken, sei-
nen Adlern wieder heimwärts. Er stieg hoch in die Schnee-
regionen des Riesengebirges, das der Welt auch seine Win-
terreize entdeckt hatte. Mehr Schnee und Eis kann es nicht
geben, als zu der Zeit, da sich Hauptmanns „Glashütten-
märchen" dort oben zuträgt. Es ist, als wollte der Dich-
ter die weiße Natur zur künstlich aufs äußerste gesteiger-
ten Weißglut der Glasöfen in den schärfsten Gegensatz
bringen. Mehr noch lockten ihn wohl die Verwandtschafts-
züge zwischen Glas und Eis. Die langen Zapfen an den
Bergfichten klingen und klirren ihm wie Glas; aus Wasser
Glaskügelchen fertig zu bringen, ist ein schöner Traum,
und eine Märchenhoffnung läßt in der „schönen Wasser-
und Glasmacherstadt" Venedig das Wasser zu gläsernen
Blumen sprießen.
In dieses zweischichtige, aus Phantasie und Wirklichkeit
seltsam durcheinander gewirkte Riesengebirgsstück kom-
men von der Adria her Erinnerungen, ziehen zur Adria hin
Wünsche. Venedig ist das Land einer Mignonssehnsucht.
Das Reich der Tatsachen liegt unter Schnee und Eis am
Gebirgskamm auf der Grenze von Schlesien und Böhmen.
Dort steht eine Glashütte, die außer Betrieb gesetzt ist.
Wahrscheinlich, weil sie zu hoch im Gebirge steckt. Auch
Gerhart Hauptmann empfing seine Glashütteneindrücke
an kultivierterer Stelle. Freilich flieht vor der Kultur das
13* 195
Märchen, das hier auch dem Dichter nicht so standhält
wie sonst. Dem Dichter besonders bequem für seine Beob-
achtungen lag und liegt am obersten Ende von Oberschrei-
berhau die Josefinenhütte, deren sozialen und merkantil!-
sehen Einfluß man auf der ganzen stundenlangen Wande-
rung durch die drei Schreiberhauer Dörfer verspürt. Man
kommt an Glasmalern und Glashändlem vorbei, man be-
gegnet den hagern bleichen Gestalten der Glasarbeiter in
blauer Bluse, und in eleganter Equipage fährt ein hoher
Hüttenbeamter durch das Tal. Oben in der Hütte selbst
kann jeder zusehen, wie einfach aus dem Fluß einer zähen
Masse das zierliche, wasserklare Kelchglas entsteigt. Man
hat den Eindruck einer frei schaffenden Kunst, einer zau-
bernden Phantasie und erkennt auch, daß das Gelingen des
Werkes sehr wesentlich vom individuellen Können des Ar-
beiters abhängt. Er ist schon ein Kunsthandwerker. Er
muß genau wissen, wie er mit dem langen eisernen Rohr
umgeht; mit dem einen Rohrende greift er äußerst ge-
schickt in die Weißglut, um ein Stück Materie herauszu-
fischen, das andere Rohrende setzt er wie ein Musikus an
den eigenen Mund, um in die Form hineinzuhauchen, als
sei das Instrument ein Pfeifchen, aus dem Seifenblasen em-
porspringen. Wirklich nennt er dieses wundertätige Rohr
die Pfeife, und wirklich steht im Nu wie eine schön gelun-
gene Seifenblase das kristallene Gebild vor unsern Äugen.
Während wir es betrachten, hat der emsige Bläser (er
verdient diesen musikalischen Namen) schon wieder die
Backen voll genommen; seine Lunge hat ein neues Werk
vollbracht. Man betrachtet ihn voll Mitleid und fragt, wie
lang menschliche Ätmungsorgane diese Last in dieser Glut-
hitze ertragen können.
196
Neben das Mitleid aber treten ästhetische Empfindun-
gen. Man denkt an den schöpferischen Odem Gottes. Man
f ühlty daß diese Arbeit einen Dichter zu ähnlichen Lebens-
betrachtungen reizen könnte^ wie Schiller sie an das hand-
werksmäßige Entstehen der Glocke knüpft. Wir sind in der
Heimat Gerhart Hauptmanns des Glockendichters, und
meinen, er wäre der Rechte, auch das Symbol des Glases
zu finden.
Das Feinste, Zarteste, Schönste in der Glasmacherkunst
wurde nicht in Rübezahls Bergen erfunden. Auch dort-
hinauf kam es aus der Märchenstadt an den Lagunen. Wie
sich der Glockengießer Heinrich die Kunst für sein Hand-
werk aus Nürnberg geholt hatte, so holten sich die schlesi-
schen Glashütten ihre Kunst aus Venedig. Aus Venedig kam,
was ihrer heißen, harten, lebensgefährlichen Tagesarbeit
den sonntäglichen Schmuck gab, den leichten Schwung,
die liebliche Form, die künstlerische Freiheit, den poeti-
schen Adel. Diese märchenhafte Herkunft war es vor al-
lem, die der Dichter des Glases im Sinnbild zu gestalten
hatte. Das Sinnbild wird ein Mädchen aus dem Märchen
von Venedig. So entstand Pippa, leicht und frei und zart
und rein wie aus Glasbläsers Rohr in die Welt hineinge-
haucht. So entstand Pippa, wie das edle „Zierglas" ihrer
venetianischen Heimat, eine „schlanke Winde", eine „Blüte
auf biegsamem Stengel". So entstand Pippa der „Spuk",
Pippa, der „kleine Geist" > Pippa, das „zitternde Salaman-
derchen in der Weißglut", das „kleine Fünklein aus dem
Glasofen", die „kleine zitternde Flamme". So entstand
Pippa, wie Rautendelein, eine „kleine rothaarige Nixe".
So entstand Pippa, die „kleine, ans Licht gescheuchte
Motte"; Pippa, „das liebliche Kind von Murano".
197
Den Namen holte sich der Dichter aus Robert Brownings
Drama „Pippa geht vorüber". Er fand hier wenig mehr
ak den Namen. Brownings Pippa ist ein segenbringendes
Engelskind. Hauptmanns Pippa hat außer ihrer irdischen
Tanzlust noch andere sehr weltliche, sehr weibliche Eigen-
schaften. Sie hat gar kein Beglückungsbedürfnis, gar kein
Läuterungsamt. Naiv lebt sie in den Tag und, wenn es
sein muß, auch in die Nacht hinein. Ihr zweifelhafter Va-
ter, ein Glastechniker aus Venedig, hat sie nach Schlesien
mitgenommen und in einem ziemlich unfreundlichen Wirts-
haus hoch am Gebirgskamm untergebracht. Wie alle Ita-
liener scheint er tags fleißig zu arbeiten. Nachts spielt er
Hasard, und zwar mit Vorliebe falsch. Bei solch einer Ge-
legenheit kommt es zum Streit, und er wird erstochen. Nun
hat die kleine Pippa allen Zusammenhang mit der Heimat
verloren. Sie trauert um ihren Vater keinen Augenblick,
aber sie ist allein in der Fremde. Sie bleibt nicht allein.
Wie Rose Bernd hat sie mindestens drei Mannsbilder, die
sich um das kleine flügge Mädchen drängen. Der eine ist
der Hüttendirektor selbst, ein angejahrter Viveur, der sich
ihretwegen im härtesten Winterfrost nach Mitternacht zu
Sekt und Forellen in die Bergschenke setzt; eine etwas ge-
schliffenere Spielart des Herrn Flamm. Der andere ist ein
alter ausgedienter Glasbläser namens Huhn, der seinen Na-
men wohl eher von Hunne oder Hüne als von unserem
friedlichen Federvieh ableiten darf. Der dritte ist Michel
Hellriegel, ein wandernder Glasmachergesell, der von
Schneidern stammt. Am weitesten vom Ziele bleibt der
noble, etwas bedenklich auf Jungfernbraten erpichte Herr
Direktor. Er ist die realste Figur im Stück, und doch hebt
auch er sich mit seiner Bildung, mit seinen Reisen in eine
198
etwas höhere Sphäre und findet, als ihn der Schnee blen-
dete, das dichterische Bild: „Mein Sehorgan kommt mir
vor wie ein Teich, auf dessen Grund ich gesunken bin und
über das oben fortwährend farbige Inselchen schwimmen/*
Er empfindet das Symbolische seiner Industrie, wenn er
auf seinen Dienstfahrten die Arbeit plumper, dunüpf er Ge-
birgsmenschen an Pariser Galatafeln prangen sieht. Aber
er bleibt für Pippa nur der „gute Onkel", der Süßigkeiten
mitbringt; sie vergißt ihn, als sie ihr Herz entdeckt hat.
Etwas weiter kommt der Hüne Huhn. Während ihr Vater
im Streite fällt, verschleppt Huhn das Kind mit Gewalt in
seine einsame Spelunke. Aber von hier wird Pippa wieder-
um entführt, und zwar durch Michel Hellriegel.
Diesmal geht sie gern mit. Michel ist jung, regsam und
ein wahrer Tausendsassa an wunderlichen Einfällen. Wie
jener kleine Berliner Ballettänzer und Schachmeister Max
Harmonist, einer der frühesten und glühendsten Haupt-
mannenthusiasten, ist Michel Hellriegel der „Sohn einer
verwitweten Obstfrau". Er ist auch sonst ein Muttersöhn-
chen mit Mutterwitz. Die Vernunft kam bei ihm zu kurz,
weil die Phantasie alles überwuchert. Wie der Hütten-
direktor, wie Wirt, Kellnerin und Gäste in der Bergschenke,
ist auch Michel ganz Wirklichkeit. Dennoch lebt er wo-
anders. In seinem Hirn fiebert Romantik. Er nährt sich von
Illusionen. Aus einem Bilde Moritz von Schwinds scheint
er herzukommen oder aus dem Märchen von Hans im Glück
oder aus der Handwerksburschenpoesie unsrer Volkslieder
oder aus Gerhart Hauptmanns eigenster dichterischer Be-
schaffenheit. Aber er steht mit zerrissenen Stiefeln und
beschädigtem Lungenflügel auf irdischem Boden. Wie spä-
ter Emanuel Quint mit seinen jenseitigen, so lebt Michel
199
Hellriegel mit seinen diesseitigen Glückserwartungen in
einer andern Welt; aber körperlich befindet er sich auf der
Walze als ein „ergebenst erfrorener Handwerksbursche**,
und seinetwegen brauchte das Stück noch kein Märdien
zu sein.
Dieser urdeutsche Gesell erblickt mit Augen, die lachen
und weinen können, schon in der mittemäditigen Gebirgs-
schenke die kleine Italienerin zusammen mit dem alten
Glasbläser Huhn in einem wilden Naturtanz, der zugleich
Verfolgung und Flucht ist. Auch Huhn kann zunächst noch
als Realität gelten; ins Riesenhafte, Groteske, Wüste ge-
steigert, aber doch ein lebendiger Mensch, dem auf Wald-
wegen des Zackentales unheimlich zu begegnen wäre. Als
Gerhart Hauptmann später in Griechenland reist, erinnert
er sich an einen alten Knecht, der in seinen Delirien die
Welt von schwarzen Ziegen oder Katzen erfüllt sah, wobei
er von alpdruckartiger Angst gepeinigt war. Das war ge-
wiß der existente Doppelgänger des Glasbläsers Huhn.
Huhn hat Glas geblasen, solange in der benachbarten
Glashütte noch die zwei Öfen brannten, und es muß ein
mächtiges Fauchen gewesen sein; vor der wilden Lohe ein
wilder Mensch! Zusammen mit der alten Glashütte wird
auch der alte Glasbläser außer Dienst gestellt, und nun
spukt er ohne Daseinsrechte um sie herum, wie eine ent-
thronte Gottheit. Etwas Titanisches, etwas Gigantisches,
etwas Zyklopisches, etwas Heidnisch-Höllisches setzt die-
sen stumpfen Riesen über die Natur, etwas Vorsintflutlich-
Tierisches stellt ihn hinter Zeit und Kultur. Mit dem Halb-
tiere Waldschratt könnte er sich verstehn, wenn er so rede-
gewandt und geistreich wäre wie jener. Seinen ungeheuren
Lebenskräften scheint das Alter nichts anzuhaben. Er säuft,
200
er tanzt, er streckt mit Gorillagier seinen Arm nach der
Jüngsten aus. Aber daheim mit einer Dohle, einer Ziege,
den beiden einzigen Hausgenossen, lebt er friedlicher als
mit Menschen; nur das Kind, das er bei sidi versteckt, und
für das er gutmütig zu sorgen scheint, ist in Gefahr. Wohl
dem Kinde, daß ein Michel da ist, der es aus dieser Höhle
noch rechtzeitig entführte, denn der alte Huhn hatte hier
anderes im Sinn als zu tanzen. Freilich findet dieser junge
David keine Gelegenheit, dem Riesen Goliath gegenüber-
zutreten. Das besorgt eine höhere Macht.
Eine höhere Fügung brachte auc^ in derselben Nacht,
da Huhn mit Pippa verschwunden war, den Michel her-
bei. Beide vergessen übereinander die Gefahr und halten
in Huhns Hütte ein Zwiegespräch, wie es nur große Dich-
ter schaffen können. Wir sahen den deutschen Jüngling
und das itaUenische Mädchen vorher nur mit andern. Jetzt
sind sie, die sich erst seit einer Stunde kennen, selbander
allein; allein wie zwei verirrte Kinder, allein mit ihrer Ju-
gend, allein mit ersten Regungen ihrer Herzen und ihrer
Sinne. Sie erscheint ihm als das Wunder, das er voller
Vertrauen gesucht hat, er weckt in ihr den Glauben an
seine Träume. Und doch empfinden sie sich als Wirklich-
keit und klammem sich fest aneinander. Trotz der Gefahr,
in der sie sind, kommt eine selige Lust über sie. Sie hören
in der Winternacht die Vögel singen und suchen durch
Schnee und Eis den Frühling. Pippas Vater und Hellriegels
Mutter spuken durch ihr Geschwätz, der Falschspieler als er-
ledigtes Hindernis, die Obstfrau als kopfschüttelnde Sorge.
Mit dem ersten Frühlicht scheint die Macht des Raub-
tiers Huhn gebrochen; ohne es selbst zu wissen, begleitet er
mit einem gewaltigen Naturschrei der Freude den Auszug
201
dieser weinenden, lachenden, küssenden, seligen Kinder.
Durch die ganze Szene zieht ein Ton, als redete Shake-
speares Humor mit einem Märchen des deutschen Volkes.
Mit diesem Bröcklein reinster und kräftigster Poesie sind
wir erst am Schlüsse des zweiten Aktes angelangt und haben
noch zwei Akte vor uns. Wie wird es vms, wie wird es den
Kindern weiter ergehn ? Bisher waren wir in einem Mär-
chen der Wirklichkeit, in der Wirklichkeit eines Märchens,
und nun sollen wir zum alten Wann. Eine neue Erschei-
nung! Zur Not und zunächst kann man sich auch ihn bür-
gerlich konstruieren. Es gibt solche uralte Herren, die sich
irgendwo in die Einsamkeit zurückziehen, um sich mit ir-
gendeiner geistigen oder mechanischen Betätigung die 2^t
zu vertreiben. Ich kannte einen pensionierten Husaren-
oberst mit dem eisernen Kreuz der Freiheitskriege, der wie
ein Obermeister drechselte. Herr Wann — er wird einmal,
nur halb im Scherz, als Major a. D. angesprochen — Herr
Wann hat sich auf dem Kamm eine Baude genommen und
dort eine Sternwarte eingerichtet. Da er offenbar kein
Zunftmensch ist, so würde man es ihm kaum übelnehmen,
wenn er gelegentlich in seine Astronomie auch etwas Astro-
logie einmengte und in den Sternen, die er berechnet und
beguckt, auch zu lesen versuchte. Menschlich kommt man
ihm dadurch näher, daß er, dem Höhenklima gemäß, Sinn
für schweren alten Falernerwein hat. Doch spendet er den
edlen Stoff in edelstem Gefäß, und so bleiben wir auch bei
ihm im Bereich der venetianischen Glasindustrie. Mit dem
allzumenschlichen Hüttendirektor verkehrt er ganz mensch-
lich, zitiert Schillers Wallenstein, philosophiert in anschau-
lichen Beispielen aus dem Tierreich über das Ignoramus
der Menschen und macht sich seine Gedanken über eine
202
musikalisch-kosmische Brüderschaft nach dem sogenannten
Tode. Aber er lebt keineswegs bloß in höhern Sphären.
Daß sein Freund, der Hüttendirektor, der kleinen Pippa
nachstellt, oft in später Nacht durch Schnee und Eis ihr
im wahren Sinn des Worts nachsteigt, weiß der getreue
Nachbar, der gern durch weithin reichende Femgläser zum
Fenster hinaus auch in die Talgründe schaut, ganz genau.
Und nun sehen wir, zum erstenmal, wie der alte Schalk ein
bißchen Charlatanerie treibt. Der Direktor will von seiner
Leidenschaft für das Kind geheilt werden. Wann klatscht
in die Hände, sofort erscheint Pippa und verrät ihre Liebe
zu Michel. Der Direktor, den wohl nur nach dem Jüngf er-
lein gelüstet hatte, schöpft schnöden Verdacht, ist geheilt
und verschwindet auf Nimmerwiedersehen. Man weint
ihm keine Träne nach.
Desto frischer, herzhafter, bewegter ist Pippa, die der
Alte durch sein Fernrohr längst kommen sah. Wie ein
Sturmwind fährt sie herein in die wildfremde Stube zu
wildfremden Leuten : „Ihr Männer helft ! Dreißig Schritte
von hier stirbt der Michel im Schnee!" Wirklich sind die
Kinder wie Hansel und Gretel von früh bis spät umher-
geirrt. Nun kann der „ergebenst erfrorene Handwerks-
gesell" nicht weiter. Und wie er am Morgen Pippa vor
Huhn rettete, so rettet am Abend Pippa ihn zu Wann.
Wie im Reiche Wanns nichts so ganz mit rechten Dingen
zugeht, so springt auch Michel, der Ohnmächtige, der Er-
starrte plötzlich quicklebendig wieder auf, fängt sofort mit
seinen Phantastereien an, und sein Selbstbewußtsein als
Schützer einer Mädchenunschuld entwickelt sich zusehends.
Mit Pippas Glauben an seine Illusionen steigt ein naiver
Größenwahn in ihm auf; er vergleicht sich mit dem
203
flüchtig kennen. Sie heißt Alwine. Otto Pniower gibt ihr das
Zeugnis, daß sie mit einer fast beispiellosen Treffsicherheit
hingestellt, daß jede ihrer Bemerkungen von schlagender
Kraft ist. Obwohl man sofort erkannte, daß Alwine Ihren
Mann unglücklich macht, wirkte sie noch humoristisch,
halb filia hospitalis aus dem Berliner Quartier latin, halb
Kellnerin des Caf6 latin. Die beiden Frauen, die den armen
Gabriel Schilling zur Flucht ans Meer und ins Meer treiben,
wirken kaum noch humoristisch. Sie kommen auch nicht
mehr aus Alwinens Revier, von Alwinens Niveau. Die eine
ist eine Gouvemantennatur, die andre eine Zigeunematur.
Das Stück spielt in frischester Seeluft. Sichtbar sind die
Dünen und der Strand, die man von Stralsund oder von
Rügen aus erreicht. Die Abendsonne, bald sinkend, bald
gesunken, wirft ihren Glanz auf Himmel und schäumende
Wellen. Vom Leuchtturm blinkt das auf- und nieder-
gehende Feuer und wirft magische Schatten. Aus Windstille
entsteht Sturm. Möwen fliegen, Krähen schreien. Ein
Echo hallt schaurig wider. Fischerboote segeln. Ein Ba-
dender springt in die Flut. Alles das empfinden wir wie
in der Natur. Aber außerdem noch den übernatürlichen,
gespenstischen Hauch einer andern Welt, der aus Kloster-
ruinen und Kirchhofsstimmung entgegenweht, jener an-
dern Welt, die hinter der sichtbaren verborgen liegt „mit-
unter bis zum Anklopfen nahe"; jener andern Welt, die
man „durch dunkle Ringe um beide Augen viel genauer
und gründlicher sehen kann". Aus dieser Welt heraus soll
auch das Meer zu uns sprechen. Mit Künsderaugen ge-
sehen, soll es Ursprung und Ziel alles Wesens sein: „Dort
stammen wir her, dort gehören wir hin." Man denkt an
Ibsens Ellida.
208
bezeichnet Wann diesen Zustand Huhns mit der bomba-
stischen Phrase: „Hier keltern typhonische Mächte den
gellenden Qualschrei rasender Gotterkenntnis." Man muß
Sätze wie diesen noch einmal lesen. Michel lästert Gott,
der hier erkannt werden soll, als den „großen Fischblüti-
gen", der nur zerstören kann, was er geschaffen hat. Dabei
sieht er vor der Tür kuriose furiose Gestalten, die offenbar
nach Huhns armer Seele schnappen. Wann geht hinaus,
um, wie einen Arzt, den Tod herbeizuholen. Aber Huhn,
der plötzlich dem alten Wann ähnlich wird und sogar Pip-
pas weiße Mädchenhaut kriegt, beruhigt sich, als auf sei-
nem Herzen samariterhaft Pippas kleine Hand ruht, diese
kleine Hand, die immer wieder auch mit den Extravagan-
zen des Stückes versöhnt. Auf Suggestion und Trance folgt
Handauflegung. Der alte Glasbläser wird nun wieder etwas
menschlich-nachweisbarer. Er verfällt in ein sanftes Deli-
rium. Seine Sucht nach Pippa verwischt sich mit seiner
Trauer um die verlorne Berufsarbeit. Pippa scheint ihm
aus der Weißglut des Glasofens zu kommen wie ein gläser-
nes Gebilde. Das doppelte Verlangen zerrt an allen seinen
Gliedern. Er sieht im Glasofen Funken und Lichter tan-
zen, seine Knochen tanzen, sein Blut tanzt, sein Wahn
tanzt, auch Pippa soll tanzen. Gerade das aber hatte ihr
der alte Wann — ich weiß nicht warum — streng verboten.
Nun ist das Kind im heftigsten Kampfe mit ^ich selbst.
Sie muß tanzen und darf nicht tanzen. Der Zwiespalt in
ihr steigert sich bis zum äußersten, schließlich tanzt sie,
weil Michel Hellriegel es ihr rät. Wann hat es untersagt,
Huhn hat es verlangt, Michel entscheidet. Huhn trium-
phiert. Während er mit seiner Hand ein Glas zerdrückt,
stirbt Pippa in Wanns Armen, der draußen jenen Arzt, den
205
er suchte, gefunden hat. Auch Huhn stirbt sofort nach,
und zwar mit jenem Natursdirei der Freude, der auch dies-
mal, wie das erstemal, dem guten Michel durch Mark und
Bein geht. Michel erblindet, aber seine innem Gesichte
werden immer schöner, immer venetianischer. Wie Huhn
seine Pippa mit einem Glase verwechselte, so verwechselt
der bUnde Michel die tote Pippa mit seiner italienischen
Tonpfeife, nach der Pippa tanzen soll.
„U ndPippatanzt", redet der alte Wann dem Blinden
ein. Ein Stummer aber führt den Blinden mit allen seinen
Einbildungen hinaus ins Weite, Ungewisse. Wie vor sei-
nem Glutofen aus flüssigem Glas feste Kugeln werden, so
will Michel in Pippas Venedig Wasser zu Kügelchen ballen.
Dabei stehn ihm schon geballte Wasserkügelchen unter
seinen Glutaugen auf den Wangen. Mit einer heitern
Schwermut endigt dieses Stück, das voller Schönheit, aber
ohne Klarheit ist, wie ein wundervolles Glas, dem der
Hauch des Bläsers nicht die letzte Reinheit geben konnte.
Mit Recht wollte der Dichter selbst nicht ausdeuten, ist
aber in Andeutungen dunkel gebUeben und den Weg von
der Idee zur Anschauung nicht ganz bis ans Ende gegangen.
Was an diesem Stück wunderbar schön ist, legt sich um
Pippa und besonders um Michel. Was starr und kalt ge-
blieben ist, trifft den alten Wann, der gar keine „mythische
Persönlichkeit" zu sein brauchte. Etwas mehr Major a. D.,
und alles wäre besser!
p Fast gleichzeitig mit dem Glashüttenmärchen beschäf-
tigte sich Hauptmann mit einem andern Drama, das nicht
in der sichtbaren Welt zugleich die unsichtbare vor Augen
stellen will, sondern die unsichtbare Welt aus der sicht-
baren fühlen läßt. Innerhalb seines alten Realismus fand
206
er die geheimen Sinnbilder, und je weniger er sie ausmalte,
desto lebendiger sind sie zu spüren. Wie in „Rose Bernd"
die fruchtbare Ebene, in „Pippa" das winterliche Hoch-
gebirge, so ist diesmal das Meer der große Hintergrund,
den die Natur stellt. Auch hier knüpft Hauptmann, wenn
er diesmal auch schlesischen Boden verläßt, an eignes Er-
lebnis an. Schon früh hatte er mit seinem Malerfreunde
Hugo Ernst Schmidt auf Rügen große Eindrücke geteilt
und genossen. Später besuchte er mit seiner zweiten Gat-
tin, einer flotten, frischen Bade- und Schwimmnatur, meh-
rere Sommer hindurch Hiddensoe, jene Insel, die sich west-
lich von Rügen wie ein langer dürrer Hecht etwas gekrümmt
längs der Küste ins Wasser streckt. Dort mag ihm sein
Freund Schmidt oft genug eingefallen sein, dort dachte er
über das Schicksal des Frühverstorbenen nach, dorthin
legte er den Schauplatz seines Dramas „Gabriel Schil-
lings Flucht", das zusammen mit „Pippa" 1906 ent-
stand, aber erst 191 2 erschienen ist. Wie sich „Rose Bernd"
in Sachen des Milieus an „Fuhrmann Henschel" knüpfte,
so knüpft sich „Gabriel Schilling" an „Michael Kramer".
„Michael Kramer" wurde dem Andenken Schmidts gewid-
met. „Gabriel Schilling" spiegelt Schmidts Schicksal wider.
Der Dichter tritt noch einmal in jenen jungen Kameraden-
kreis, zu dem schon Loth und Schimmelpfennig aus „Vor
Sonnenaufgang", Braun aus den „Einsamen Menschen",
Michael Kramers feiner, mitsinnender Schüler Ernst Lach-
mann gehörten. Gabriel Schillings Arzt Rasmussen wirkt
wie ein Gemisch aus Loth und Schimmelpfennig, Ernst
Lachmann wie eine Vorstudie zu Gabriel Schilling selbst.
Schon Ernst Lachmann war schlimm verheiratet. Wir
lernten seine junge Frau auf einer Visite bei Kramers
207
flüchtig kennen. Sie heißt Alwine. Otto Pniower gibt ihr das
Zeugnis, daß sie mit einer fast beispiellosen Treffsicherheit
hingestellt, daß jede ihrer Bemerkungen von schlagender
Kraft ist. Obwohl man sofort erkannte, daß Alwine ihren
Mann unglücklich macht, wirkte sie noch humoristisch,
halb filia hospitalis aus dem Berliner Quartier latin^ halb
Kellnerin des Caf 6 latin. Die beiden Frauen, die den armen
Gabriel Schilling zur Flucht ans Meer und ins Meer treiben,
wirken kaum noch humoristisch. Sie kommen auch nicht
mehr aus Alwinens Revier, von Alwinens Niveau. Die eine
ist eine Gouvemantennatur, die andre eine Zigeunematur.
Das Stück spielt in frischester Seeluft. Sichtbar sind die
Dünen und der Strand, die man von Stralsund oder von
Rügen aus erreicht. Die Abendsonne, bald sinkend, bald
gesunken, wirft ihren Glanz auf Himmel und schäumende
Wellen. Vom Leuchtturm bhnkt das auf- und nieder-
gehende Feuer und wirft magische Schatten. Aus Windstille
entsteht Sturm. Möwen fliegen, Krähen schreien. Ein
Echo hallt schaurig wider. Fischerboote segeln. Ein Ba-
dender springt in die Flut. Alles das empfinden wir wie
in der Natur. Aber außerdem noch den übernatürlichen,
gespensrischen Hauch einer andern Welt, der aus Kloster-
ruinen und Kirchhofsstimmung entgegenweht, jener an-
dern Welt, die hinter der sichtbaren verborgen liegt „mit-
unter bis zum Anklopfen nahe'^; jener andern Welt, die
man „durch dunkle Ringe um beide Augen viel genauer
und gründlicher sehen kann^^ Aus dieser Welt heraus soll
auch das Meer zu uns sprechen. Mit Künstleraugen ge-
sehen, soll es Ursprung und Ziel alles Wesens sein: „Dort
stammen wir her, dort gehören wir hin.'' Man denkt an
Ibsens Ellida.
208
Aber die künsderischen Seelen lockt noch ein höheres
Ideal. Es ist das Land der Griechen, das sie suchen. Wie
in „Pippa" zum Riesengebirgskamm Venedig, so verhält
sich hier zur Ostsee Griechenland. In dieser Sehnsucht
einigt sich der Glückspilz mit dem Pechvogel. Glück und
Pech aber hängt weder vom Meer ab, noch von Griechen-
land. Glück und Pech kommt von Weibern.
Schon das Motto der Buchausgabe deutet auf den Sinn
des Stückes. „Einige versichern," sagt Plutarch, „Euno-
sthos sei ihnen begegnet, ans Meer eilend, um sich zu ba-
den, weil ein Weib sein Heiligtum betreten habe." Dieser
misogyne Standpunkt bestimmt Gabriel Schillings Flucht.
Vor zwei Weibern flieht er ins Meer. Nicht um zu baden,
sondern um zu sterben. Die Ehefrau und die Geliebte het-
zen ihn wechselweis in den Tod. Sie werden mit Harpyien
verglichen. Die Ehefrau ist eins jener unseligen Wesen,
von denen man nie weiß, ob sie mehr sich oder andre quä-
len, eine Frau, die nie bei wirklich guter Laune ist; für
jeden Mann die Pein, für problematische Künstlernaturen
der Tod. Aber auch die andere, die Geliebte, ist keine
Befreierin von solcher Pein. Aus dieser Jüdin von Odessa,
die geistige Anregung sucht, ist eine Berhner literarische
Nachtcaf&chlampe geworden. Sie ist sehr verlogen. Sie
lockt und lähmt zugleich. Wenn der Mann, der nicht von
ihr loskann, sie haßt, so nennt er sie Vampyr, wenn er sie
liebt, sp nennt er sie euphemistisch seine Braut von Ko-
rinth. Diese Frau Hanna Elias und Gabriel haben ein un-
eheliches Kind; Klein-Gabriel ist gebrechlich und verküm-
mert wie Ibsens Klein-Eyolf. Auch das Kind kann die
Eltern nicht beieinander halten; wie Gabriel vor seiner
rechtmäßigen Eveline zur unrechtmäßigen Hanna floh, so
14 209
flieht er jetzt vor Hanna und Eveline an den Busen eines
Freundes.
So kommt er auf jene kleine, einsame Ostseeinsel, in den
Frieden der Natur, zu friedlichen Menschen. Diese Men-
schen sind edel, hilfreich und gut, wie so oft bei Haupt-
mann die Nebenmenschen, die bisweilen gar kein andres
Daseinsrecht haben, als einem armen körperlich oder see-
lisch Gebrochnen beizustehen. Wer im £Bmmel und auf
Erden bemüht sich nicht alles um Hanneles Fiebertraum,
um Kollege Cramptons Suff, um den Aussatz des armen
Heinrich! In diesem Drama ist es ein Vorzug der Charak-
teristik, daß die Beistände nicht bloß hilfreiche Herzen und
Hände haben, sondern auch für sich selbst etwas bedeuten,
mindestens als Kontraste zur Gabriel Schilling-Seite. Pro-
fessor Maurer und sein „Schusterchen^^ lieben sich, ohne
von Staat und Kirche dafür legitimiert zu sein. Er radiert
und bildhauert, sie geigt und liest; sie leben in geistig ge-
sunder Luft, ihr Dasein hat Heiterkeit, ihre Nähe ist ein
Rettungshafen für Schiffbrüchige. Hier ist Gabriel Schil-
ling auf bestem Wege, sich von seinen Qualen gesund zu
baden, von Todesgedanken, von Reue um verschwendete
Zeit, von Verpfuschungen künstlerisdier Zwecke, vom all-
gemeinen Weltekel, von jener Ideenverfolgung, die ihn an-
gesichts der Gallionfigur eines gestrandeten Schiffes auf-
ächzen läßt: „Überall diese wahnwitzigen Weibsbilder!"
Gabriel Schilling scheint der Mahnung des Freundes zu
gehorchen: „Atme, Mensch, trinke die starke Luft und
laß das Gespenst deines Lebens von gestern dein wirkliches
Leben von heut nicht mattsetzen."
Aber das Gespenst von gestern ist schon über ihm, das
Skelett schon wieder im Hause, der Vampyr lechzt schon
210
wieder nach Blut, Delila greift schon wieder in die Locken
dessen, der in seiner Eigenschaft als moderner Dramenheld
ach! so gar kein Simson ist. Mitten aus einer großen Aus-
tobungs- und Entladungsrede heraus entdeckt plötzlich
Gabriel Schilling dort, wo er noch eben mit den Freunden
leidlich guter Laune gefrühstückt hat, ein kleines, feines
Damenschirmchen. Es ist Hannas Schirm. Hanna Elias
ist da, und — wie es in Goethes „Stella" heißt — „Rinaldo
wieder in den alten Ketten". Ihre erste Waffe ist Appell
an das Mitleid : ihre kranke Lunge, das kranke Rückgrat des
Kindes! Ihre zweite Waffe ist das Bekenntnis ihrer Liebe
und ihrer Unschuld. Ihre dritte, die siegende Waffe, ist
sie selbst, die Macht ihrer Person auf seine Sinne oder auch
nur auf seine Nerven. In der Heimlichkeit der Düne er-
obert sie sich ihn zurück.
Ihr Sieg ist seine Niederlage. Eine dämonische Raserei
kommt ihn an; mit dem Todesgedanken treibt er schauer-
lichen Scherz, die Zerrissenheit des Gemüts wirkt auf das
Nervensystem des Diabetikers, er bricht körperlich zusam-
men, noch bevor auch das andre Gespenst der Vergangen-
heit, die ehelich Angetraute, wieder in seiner Nähe er-
scheint. Sie kommt, weil sie hört, er sei erkrankt. Aber als
sie den Kranken sieht, fehlt ihr das Auge dafür. Sie wühlt
nur im eignen Jammer, den Kranken überhäuft sie mit
Klagen und Anklagen. Und nun dringen die beiden Har-
pyien mit geballter Faust gegeneinander los. Nachdem sich
die Beredsamkeit empörter Weiberseelen genugsam ergos-
sen hat, will es zu Taten kommen, dicht vor der Tür, hinter
welcher der Kranke liegt, um den sie kämpfen ; dann vor dem
Kranken selbst, den der Ekel würgt, der vergebens fragt, wie
das Doppelpech dieses Schicksals über ihn kommen konnte.
x4* 211
Wir sehn ihn nur noch auf seinem Tode^gang» zwischen
Elirchhof smauem und Klostertrümmem, im Gespräch über
die letzten Dinge mit einem schwindsüchtigen Sargtisch-
ler, der sich auf Vorrat Bretter für einen ,^ölzemen Schlaf-
rock'' holt. Das Leuchtturmfeuer, das auf die Gallionfigar
des gestrandeten Schiffes gespenstischen Schein wirf t, weist
ihm den Weg ins Meer, den Ausweg aus allen Elalamitäten.
So ward doch Gabriel Schillings Flucht vor seinen Weibern
eine Zuflucht. So fand er doch auf dem Friedenseiland
seiner Freunde den Frieden.
Durch den düstern Schatten dieser gescheiterten, schon
vor Beginn des Dramas verlornen, physisch erkrankten Exi-
stenz ziehn ein paar liebliche Strahlen. Sie kommen aus
den Seelen der Freunde. Hauptmann war in keinem seiner
frühern Werke, auch nicht im „Friedensfest**, gegen Frauen
so hart wie hier. Man könnte ihn mit Strindberg verwech-
seln, wenn der Gestalter der Ottegebe und Griselda nicht
doch auch hier für den Ausgleich gesorgt hatte. Das ,ySchu-
sterdien'', die klare, freie, sichre Lude Heil, nicht unähn-
lich jener Lüde aus Kellers Sinngedicht, die „Lux, mein
Licht'* genannt wird, ist vom Dichter mit persönlicher
Liebe geschaffen. Daneben steht dne junge Russin, die in
das Verhältnis zwischen Maurer und Lude zwar auch dni-
ges Wirrsal bringt. Was „endgültig** schien, schdnt plötz-
lich nur „interimistisch**, und der wangenrote Professor
droht von einer zur andern ganz sacht hinüberzugldten.
„O diese Männer!** pflegt man in solchem Falle zu sagen;
„Einer ist wie der andre.** Der gesunden Mannesseele droht
dieselbe Gefahr wie der kranken. Aber zum Glück ist dies-
mal das Schicbal überlegnem Frauengeist anheimgegeben.
Sie knebeln das Schicbal nicht, sie fordern keine Rechte,
2X2
mahnen an keine Pflichte n, sie lassen Freiheit und bewah-
ren die eigne Freiheit. Im fünften Akt haben Lucie und
die kleine Russin eine Aussprache, die zum feinsten gehört,
was Hauptmann gedichtet hat, ohne Eifer, ohne Sentimen-
talität, ohne Pathos und doch innig, latent bewegt, voll
verhaltner Wärme. Jede würde der andern den Besitz las-
sen, denn Zwang wäre Entweihung. Sie einigen sich in der
Erkenntnis, daß, wenn ein Mann unstet ist, er noch nicht
der Frau begegnet ist, die ihn bis in die geheimste Regung
der Seele versteht. Angesichts des Schrecklichen, das sie
bei den andern erlebten, sind sie auch darin einig: „Meistens
erschrickt der Mensch vor der Natur, manchmal scheint
die Natur vor dem Menschen zu erschrecken." Und beide
bleiben bei der Natur. Das russische Fräulein geht der er-
schreckenden Menschlichkeit aus dem Wege. Sie erkennt
das Bestehende, das Natürliche im Verhältnis zwischen
Maurer und Lucie an. Sie will nicht verwirren, nicht weg-
nehmen, sie geht ihrer Wege. Lucie aber will nach wie vor
an Maurer durch kein andres Band geknüpft sein, als durch
das Band der gegenseitigen freien Harmonie.
Diese beiden Frauen haben sich gut verstanden, und zu-
letzt hält Maurer wieder sein „Schusterchen" bei der Hand.
Er ist gegen die Ehe, weil das immer für die Männer eine
Klippe sei; aber sie nehmen sich vor, beisammen zu blei-
ben, so lang es in dieser Welt dauert. Sie verstehen sich.
Die andern drei verstanden sich nicht. So kommt es, daß
man jetzt Gabriel Schillings Leichnam aus den Wellen
fischt. Fischer tragen ihn. Inzwischen liegt Eveline im
Morphiumschlaf, durch den sie der hilfreiche, resolut nüch-
terne Arzt Rasmussen bis auf weitres unschädlich gemacht
hat. Dann wird sie einen Witwenschleier kaufen und weiter
213
jammern, aber leben bleiben. Hanna Elias jedoch ist dem
Ertrunknen nachgelaufen; völlig verstört. Sie ist doch et*
was besser als ihr Ruf. In Gabriel Schillings Flucht liegt
auch ihr Schicksal besiegelt. Dieser arme VampTT hat sich
verblutet.
Immer wieder wird man an die ,,Einsamen Menschen"
erinnert. Gabriel Schilling ist der um zehn Jahre älter ge-
wordene Johannes Vockerat. Johannes Vockerats Flucht in
den Müggelsee war die Befreiung des Elnaben, des Jüng-
lings aus gütigen Schlingen von Haus und Heimat. Der
erste Schritt in die Freiheit, ins eigne Land, war sein
Todessturz. Jetzt hat sich der Binnensee zum offenen Meer
erweitert. Seiner eignen Kraft überlassen, stand der Mann
im feindlichen Leben. Die beiden großen Gewalten, Kunst
und Liebe, bedrängen, verwirren, verjagen den Wehrlosen.
Die Vockeratnaturen sind für das große Leben so wenig
geschaffen, wie für den häuslichen Tisch. Auch Johannes
hätte sich getäuscht. Aber es gibt Naturen, die der An-
fechtung widerstehn, die durchdringen. Dazu braucht man
kein Mufflinski zu sein, wie das vertrübte Rauhbein Braun
aus den „Einsamen Menschen"; man muß ein Mensch auf
der Sonnenseite sein, wie Professor Ottfried Maurer, der
für „das Rinascimento des vierten Jahrzehnts" nicht erst
Anregungen brauchte, der in seiner Natur die Kraft fand,
immer wieder von neuem den innern Menschen, den Künst-
ler aus sich heraus zu gebären. Trotz Hanna und Eveline
ist der Optimismus des Dichters seit den „Einsamen Men-
schen" gestiegen.
Die beiden ungleichen Brüder Maurer und Schilling
(manchmal wirken sie wie Klinger und Stauffer) sind beide
siebenunddreißig Jahre alt. Im Jahre 1900, da das Stück
214
spielt, war Gerhart Hauptmann ungefähr auch so alt. Er
erlebte also damals selbst das ,,Rina8cimento des vierten
Jahrzehnts"; vielleicht hat er auch einmal Ottfried Maurers
flüchtige Wirrung erlebt. Von diesen Eindrücken, Stim-
mungen, Erinnerungen, Empfindungen, von diesem Un-
wägbaren und Unsichtbar-Klopfenden, das viel mythischer
ist als Wanns Persönlichkeit, wird das Drama bewegt. Es
ist in seiner gehobnen, fast rhythmischen Prosa voller Ly-
rik. Daß es bei höchst lockrer, kunstloser, zerschnittener
Szenenfolge voller Dramatik, sogar kaum ganz frei von
Theatralik ist, bewies eine nicht alltägliche Bühnenauf-
führung.
Als ich im August 191 1 den Dichter in Agnetendorf be-
suchte, sprachen wir viel von dem kleinen alten Goethi-
schen Theaterchen in Lauchstedt bei Merseburg. Zwei
Monate zuvor war dort mit Erfolg Kleists „Zerbrochner
Krug" und Holbergs „Erasmus Montanus" aufgeführt wor-
den. Hauptmann hatte sich dazu angemeldet, war jedoch
über den Termin falsch unterrichtet, und so mußte sein
höchst willkommener Besuch unterbleiben. Aber er hatte
sich von Lauchstedt ganz richtige Begriffe gemacht; beim
Gespräch über solch ein kleines Bayreuth zog er aus dem
Schreibtisch ein altes Manuskript hervor und meinte, das
wäre etwas für Lauchstedt. Es enthielt „Gabriel Schil-
lings Flucht". Das Stück erschien dann im Januar 191 2 in
der „Neuen Rundschau" mit einem kurzen Vorwort, das
im doppelten Sinn ein Vorsatz war. Es lautete: „Das nach-
folgende Drama wurde im Jahre 1906 geschrieben. Ich
habe die Aufführung mehr gescheut, als gewünscht, des-
halb ist sie unterblieben. Heute würde ich das Werk nicht
auf den Hasardtisch einer Premiere legen mögen. Es ist
keine Angelegenheit für das große PuUikum, sondern für
die reine Passivität und Innerlichkeit eines kleinen Kxeises.
Einmalige Aufführung, YoUkommenster Art, im intimsten
Theaterraum, ist mein unerfüllbarer Wunsch.**
Dieser Wunsch des Dichters wurde ein halbes Jahr spä-
ter in Lauchstedt annähernd erfüllt. Die Schauspieler ka-
men aus verschiednen Theatern Berlins zusammen, das
PubUkum kam zu allen drei Vorstellungen aus allen \'(^d-
richtungen herbei. Seit der „Versunkenen Glocke** hatte
der Dichter nie wieder einen so sichtbaren Triumph erlebt,
und diesmal auf seinem selbeigensten Gebiete des mo-
dernen Seelendramas. Von allen Seiten streckten sich nun
Hände aus, die das wirksame Stück auf die ständige Bühne
ziehn wollten. Und der Dichter gab nach. Mit Recht gab
er nach, ebenso wie jetzt vielleicht in dem müßigen Streit
um „Parsifal^^ Richard Wagner nachgäbe, wenn er noch
lebte. Man soll einen Dramatiker nicht auf das festnageb,
was er in Stimmungen, die überwunden sind, unter Um-
ständen, die sich inzwischen ganz verändert haben, einmal
gefühlt, gedacht und daher auch ausgesprochen hat. Die
erste der dargebotnen Hände, die Gerhart Hauptmann
nach der guten Lauchstedter Erfahrung mit Freuden er-
griff, war die des Dresdner Hoftheaters und seines klugen
Chefs, des Grafen Seebach. Wie sich ein vorsichtiger Tou-
rist, der ins Hochgebirge will, erst allmählich ans höhere
Klima zu gewöhnen sucht, so sollte sich Gabriel Schilling
auf dem Wege von der Lauchstedter Sommerfrische zum
Berliner Wintereis erst in der Dresdner Übergangsluft ak-
klimatisieren.
Dieses tiefsinnige Drama, in welchem die Mystik der
Seele rein und klar zum Ausdrucke kommt, gleich der
2l6
Bühne zu geben, widerstrebte dem Dichter vielleicht nur
deshalb, weil man „Pippas Tanz" nicht recht hatte begrei-
fen wollen, und weil einige mit dem alten Wann nicht zu-
rechtkommen konnten. So entschloß er sich, dem Theater-
publikum lieber einmal mit leichtrer Ware Konzessionen
zu machen, und ihm nicht ohne Ironie zu sagen: Was ihr
wollt, das kann ich auch. Teilt einmal erst gehörig meine
Heiterkeit, dann werdet ihr auch wieder meinen Ernst ver-
stehen. So kam 1907 das Lustspiel „Die Jungfern vom
Bischofsberg", von dem ich schon andeutete, daß es aus
Gerhart Hauptmanns zartesten Liebeserlebnissen geschöpft
ist. Das Stück sollte ihn an frühes Bangen und Hoffen, an
die heiterste, glücklichste Zeit seiner Jugend erinnern. Aber
das Lied aus der Jugendzeit klang nicht mehr rein, die hel-
len freundlichen Gestalten von dazumal gingen im Schat-
ten. So öffnet man bisweilen nach vielen Jahren eine
Schachtel mit Angedenken, möchte noch einmal das, woran
sie gemahnen, durcherleben und findet die alten Liebes-
zeichen eingestaubt; die Bildchen sind verblaßt, die Briefe
vergilbt, das Kettlein verrostet, die Vergißmeinnicht ent-
färbt.
Es ist schade um den guten Stoff, den Gerhart Haupt-
mann so lange im Herzen getragen hatte. Dieses Stück ab-
zulehnen, war die Tageskritik im Recht. Nur hätte sie
daraus nicht den voreiligen Schluß ziehen dürfen, daß sich
der Dichter der Szenen von Pippa und Michel, der Dichter
des „Gabriel Schilling" zum Niedergang wende.
XIV
GRIECHISCHER FRÜHLING. DER BOGEN DES
ODYSSEUS. KAISER KARLS GEISEL.
GRISELDA
Wenn Gabriel Schillings Freunde den armen Lebens-
müden werden begraben haben, wenn Lude Heil und
Ottfried Maurer, solang es dauert, wieder allein beisammen
sind, so werden sie ihren alten Plan aufnehmen; der Künst-
ler, den man für einen Großen seiner Kunst, wie Max Klin-
ger, halten darf, wird die kluge, ruhige Geliebte in „das
Land des goldelfenbeinernen Zeus^^ führen.
Und wirklich stehn im nächsten Frühling, Ende März,
zwei Menschen wieder am Meere, dem die Begleiterin des
Künstlers so sehr zugetan ist. Aber dieses Mal ist es nicht
die Ostsee, sondern Pippas Adria. Im Hafen von Triest
steigen sie auf einen Lloyddampfer; es geht die dalmati-
nische Küste entlang hinüber nach Brindisi. In Korfu wird
längerer Aufenthalt genommen, bis tief in den April hin-
ein; dann erst beginnt die eigentliche Pilgerfahrt: Patras,
Olympia, Athen. Die Stätte, wo „der goldelfenbeineme
Zeus^^ gestanden hat, sucht ein Bildhauer vor allem auf.
Aber der Bildhauer ist zum Dichter geworden. Im Kampf
zwischen zwei Künsten hat er schon längst die „Frau mit
Kranz und Leier" gewählt. Au(^ noch eine andre Frau
hat er schon längst gewählt und sich ihr an^traut, sobald
der Weg freigegeben war. Auch ein blonder f eiger Kn abe
ist schon da, der den griechischen Frühling, d en olym pi-
schen Spielplatz in seine Kinderspiele mitnehmen darf. Denn
diese deutschen Menschen in Griechenland sind Gerhart
2i8
Hauptmann selbst mit Frau und Kind. Ihr „Griechi-
scher Frühling" ist der Frühling des Jahres 1907.
Der Dichter steht mitten im fünften Jahrzehnt seines
Lebens. Mit dieser Reise erfüllt sich sein Jünglingstraum.
Der schulwidrige Schlesier, der verschriene Gegenwarts-
mensch und Plebsbeschauer, der ewige Nager am christ-
lichen Problem, der regellos Erzogne hatte von frühester
Jugend an einen unbezwinglichen Trieb ins Land der An-
tike, nicht wie sie im Lehrbuch steht, sondern wie sie einst
mag lebendig gewesen sein. Schon als sich ihm ganz jung
die Mignonsehnsucht nach Italien erfüllte, lockte ihn eine
Hyperionsehnsucht weiter nach Griechenland. Nun end-
lich ist er da. Es begleiten ihn die Liebsten und Nächsten,
aber es begleitet ihn auch Homer; von Insel zu Insel der
odysseische Homer. Der Philologenstreit, ob Homer ge-
lebt hat, kümmert ihn nicht. Er kennt ihn kaum. Der Dich-
ter fühlt den Dichter; er läßt sich führen, wie Dante von
Virgil durch die Unterwelt geführt wird.
Etwas besitzt der moderne Dichter, was Homer nicht
besaß: einen Bleistift, mit dem er im Gehn Notizen macht.
Wie der Maler sein Skizzenbuch, so führt auch er etwas
Ahnliches bei sich. Eindrücke, die er empfängt, faßt er
gleich in Worte. So macht er nicht bloß eine Reise, son-
dern zugleich auch ein Buch.
Mehrfach ist im Buch von Goethe die Rede. Alles Sin-
nen, Grübeln, Wirken, Dichten und Trachten dieses „Ma-
giers" sei dem Endzweck rastlos Untertan, den Menschen
mit Göttersinn und Menschenhand zu bilden und hervor-
zurufen. Auch Gerhart Hauptmann empfand Goethe durch
Griechenland und Griechenland durch den Dichter der
Iphigenie und der Nausikaa. Verführerisch scheint ihm der
219
Gedanke, Goethes Nausikaafragment zu ergänzen. Den-
noch entdeckt er Griechenland auf seine eigne Art. Der
„Griechische Frühling" ist keine Nachahmung von Goe-
thes „Italienischer Reise". Am wenigsten in seinem im-
pressionistischen Stil. Eindrücke der Natur, Eindrücke des
Lebens in dieser Natur führen zu phantastischen Erwä-
gungen, wie aus diesem Volksboden, aus dieser Natur ein
großer Mythos,* aus dem Mythos eine große Kunst ent-
stehn konnte.
Der Dichter sieht die schwarzen attischen Böcke schrei-
ten, die Tragoi, und begreift den Bocksursprung der atti-
schen Tragödie. Nichts von dem, was er vielleicht erst zur
Vorbereitung für diese griechische Reise gelesen und ge-
lernt hat, ist verkalkter Gedächtniskram. Ihm selber neu
und frisch, verkehrt er damit wie mit einem Lebewesen. Die-
sem Urrealisten wird das Entfernteste real ; er hält es für eine
reale Entdeckung, wenn man eine abgestorbene Empfin-
dung wieder beleben kann. Einmal beklagt er — Wasser
auf die Mühle unsrer Humanisten — daß er den Diodor
nicht im Urtext lesen kann; denn er weiß von seinem Hei-
matsdialekt her, was für Aufschlüsse über den Menschen
seine Sprache gibt. Niemals wird er von etwas, dessen Le-
bensspur er wittert, sagen: „Was ist mir Hekuba?" Mit
Fenelope und ihren Freiern beschäftigt, kommt er zu der
Vermutung, daß Zaudern jchon da mals eine Schwäche des
edlen Weibes gewe sen se i; vielleicht wendet er hier eine
Erfahrung, die er jahrelang im Allerpersönlichsten zu ma-
chen hatte, auf die Königin von Ithaka an, die auch jahre-
lang wartet, ob ihr nicht doch der Gatte wiederkehrt. So
vergleicht der Dichter Vergangenheit mit Gegenwart,
Fremdes mit Eignem, Ferne mit Heimat.
220
Im „Griechischen Frühling** liegen Keime einer „Dich-
tung und Wahrheit". Kaum hat er den Triester Hafen ver-
lassen, kaum ist er auf hoher See, so gedenkt er jener Reise
über den Ozean, die er einst ganz plötzlich von Paris aus
antrat, um Frau und Kinder aus Amerika zurückzuholen:
„Ich erlebte damals stürmische Wochen auf zwei Meeren,
und ich wußte genau, daß, wenn wir mit unserem bremen-
sischen Dampfer auch wirklich den Hafen erreichen sollten,
dies für mein eignes gebrechliches Fahrzeug durchaus nicht
der Hafen sei." Inj^arta i\\h\^ ^x V^h \p Ofllr el Schube rts
Obstgarten versetzt, nach Lederose bei Striegau, wo der
fünfzehnjährige Junge zum ersten Male verliebt war. Im-
mer ergreift es ihn, wenn er im L ande der griechisc hen
Götter an Deutsches erinnert jrird. Sogar bei Lykurg
scheint er an die Rassenhygiene seines Freundes Alfred
Ploetz zu denken. Am Fuße des Parnaß begegnet ihm seine
Rose Bernd: „Sie ist frisch und derb und germanisch kern-
haft. Die Art ihres übermütigen Grußes ist zugleich wild,
verwegen, ungezogen und treuherzig. Sie würde sich von
der jungen und schönen Bauemmagd, wie ich sie auf den
Gütern meiner Heimat gesehen habe, nicht unterscheiden,
wenn sie nicht doch ein wenig geschmeidiger und wenn sie
nicht eine Tochter aus Hellas wäre." Schon in Pelleka be-
gegnete ihm mitten unter brünetten Südländerinnen solch
ein blondes Mädchen, blauäugig und von zarter weißer
Haut; der große, vollkommen deutsche Kopf erinnert ihn
an Leibl, und ihn beschleicht eine Traurigkeit, die er sich
mit dem Verstände nicht recht erklären kann, denn das
Mädchen ist die vergnügteste von allen. Was ist dieses Un-
erklärliche ? Ist es mitten im Genuß der großen Fremde
das alte deutsche Heimweh? Mindestens das Heimats-
221
gefühl verlaßt ihn auch im Lande der Größe nicht; froh
glaubt er dort zu erkennen, daß die Seele des Griechen
auch seinen Gott an den Landboten, an die LandstraBe, an
die Heimat bannte, so wie er, der deutsche Dichter, die
Muse. Hier in Griechenland findet er das Kemwort seiner
ganzen Poesie: „Was wäre ein Dichter, dessen Wesen nicht
der gesteigerte Ausdruck der Volksseele ist ?"
Was Humanisten und Klassizisten griechische Kultur
nennen, empfindet der ungelehrte Dichter auf griechischem
Boden als natürliches Ergebnis nackter Urzustände. Etwas
geschraubt erklärt er Kxiltur als „eine fleischliche Bil-
dung zu kraftvoll gefestigter, heiterer, heldenhaft freier
Menschlichkeit^^ Das Fleischliche bedeutet ihm das Ani-
malisch-Unschuldige, Nackte, Naive, Urwüchsige, Ur-
sprüngliche. Er rühmt sich seines starken und gesunden,
ihm eingebornen Bergglücks, das ihn jene Urzustände eines
Volkes der Hirten und der Jäger finden läßt. Gerade ein
solches Volk aber findet er überall auf klassischem Boden.
Hirten und Götter_wer den ihm ein s. Das Stärkste^ G rößte.
Erhabenste ist zugleich das Einfachs te, das Schlich teste,
das Bedürfnisloseste, also Freiste. Keine home rische H el-
dengestalt interessiert ihn mehr alTHe TISauhirt Eumaio s.
Unter dem Glockengebimmel weidender Ziegen und
Schafe erneuert sich ihm der Mythos, ersteht ihm das grie-
chische Drama, das Drama überhaupt, und wie er nie etwas
gedichtet hat, in das nicht irgendwie der Nazarener hinein-
gezogen wurde, so erscheint dieses Krippenkind, dieser
Sohn der Armut, der unter Hirten geboren ist, der selbst
eine Art Hirt geworden ist, auch unter den HLirten des
Parnaß. Diese Gestalt, die unserm Dichter durchs ganze
Leben überallhin folgt, begegnet ihm hier, wie ihm Rose
222
Bernd und das Mädchen aus Onkels Obstgarten begegnen.
Vor der Bucht von Eleusis denkt er mit einer Art von Sehn-
sucht an das galiläische Meer, und der griechische Demeter-
kult gemahnt ihn an jene a^dre Legende, „die mit einer Kraft
ohnegleichen heute Zweifler wie Fromme beherrscht."
Bisher durfte er über Jesus nur das aussprechen, was drama-
tische Personen von ihm dachten oder fühlten. Jetzt zum
erstenmal kann der Dichter sein persönliches Bekenntnis
ablegen.! Auf demselben klassischen Boden, den „die ver-
derbte Weltanschauung der christlichen Zeit" entgöttert
hat, fällt sein innres Auge immer wieder auf den Schatten
eines einzelnen Mannes : ,>Es ist unum gänglich| d^ß ein bis
ins tiefste religiös erregter, christlichjygoj^ner Mensch
doch immer auf die Gestalt des Heilandes treffen muß ; un d
dies war mir und ist mir noch jetzt jener Schatten. Etwas
Wie Unruhe, etwas wie Hast und Besorgnis scheint ihn den
gleichen Weg zu treiben, und etwas wie der gleiche, immer
noch ungestillte Durst."
Aus diesen Sätzen, die wie so vieles im „Griechischen
Frühling" das seelische Schaffen Gerhart Hauptmanns er-
klären, steigt ein Wegweiser empor, der über Griechenland
hinaus noch östlicher, noch südlicher zeigt. Einen Früh-
ling in Palästina ist Gerhart Hauptmann sich selbst schul-
dig. Dieser Kreuzzug wäre kein Kriechen zu Kreuze vor
dem, was aus den christlichen Bekenntnissen mit der Zeit
geworden ist, aber um jenes Schattens willen wird sein
Kreuzzug zur Pflicht gegen das eigne Selbst. Wenn der
Dichter schon in Athen und Sparta an Eigenstes erinnert
wurde, Eigenstes sich ihm dort neu belebte, so wird er um
Bethlehem und Golgatha den Schwerpunkt seiner Seele
entdecken. Dann scheue er sich nicht, auch in dieser neu
223
erschlossnen Welt sich selbst zu fühlen, wie er es in
Griechenland getan hat.
Man könnte darüber spotten und hat wohl auch gespot-
tety daß der Dichter, als er durch die klassischen Gelände
ging, immer den eignen Puls in der Hand hielt, immer am
eignen Blute die Temperatur der Umgebung maß. Und
doch erhöht es den Reiz und Wert dieses autobiographi-
schen Reisetagebuches, daß er es nur für sich allein scheint
geschrieben zu haben. Wenn ihm Tausende und Abertau-
sende dabei über die Schulter sehen, so ist das Sache der
Tausende, denen dieser Dialog zwischen Hellas und Haupt-
mann eingeleuchtet hat. Ein andrer als Hauptmann dürfte
ähnliches allerdings kaum wagen. Besonders unsere Reise-
feuilletonisten seien gewarnt. Die Außenwelt mit sich selbst
so eng zu verbinden, wird nur einem Dichter gelingen.
Unter den Lebenden aber gibt es niemand, der so eindrucks-
fähig wäre wie Gerhart Hauptmann, der so tief alles er-
leidet, im schlimmen und im schönen Sinn erleidet, was
auf ihn zukommt. Seine Sinne sind der Außenwelt zu-
gänglich wie die Foren unsrer Haut der atmosphärischen
Luft. Es ist ein ganz unmerklicher Vorgang. Er vollzieht
sich ohne jede Bewegung, lautlos. Aber die Luft, die
niemand greifen kann, dringt in den Organismus ein und
stärkt ihn.
Es wäre wunderbar, wenn das Frühlingstagebuch die ein-
zige dichterische Frucht dieser griechischen Reise geblieben
wäre. Schon unterwegs regte sich der Schaffenstrieb wie
ein Fieber. Ein alter Jugendplan fällt ihm wieder ein, die
Tragödie des Lykophron, der seinem Vater Periander da-
hinter kommt, daß dieser sein Weib Melissa, Lykophrons
Mutter, getötet habe. Lykophron, ein umgekehrter Orest,
ein Zauderer wie Hamlet, irrt durch die Gassen seiner
väterlichen Hauptstadt Korinth als obdachloser, verwahr-
loster Bettler, und dieser Eindruck war für Gerhart Haupt-
mann entscheidend, sich für den Stoff zu erwärmen. Die
Probleme, durch die der Mensch ein Bet tler ist oder zu m
Bettler wird, haben ihn immer am t iefsten ergriffen.
Als Bettler kehrt auch Odysseus nach Ithaka zurück. Der
erste, den er trifft, ist ein Schweinehirt. Den König labt
und beschenkt sein eigner niedrigster Knecht. Von der tie-
fen Naivetät dieses Idylls fühlt sich der moderne Dichter
entzückt und angeheimelt. Von dieser Empfindung aus
möchte er dem ewigen Gegenstand ein neues lebendiges
Dasein gewinnen. Im Zusammenhang damit nennt der
griechische Reisende plötzlich den Namen Murillo. Er
wird also aus dem Sauhirten und seinem geheimnisvollen
Gaste gewiß nichts im Stile Corneliusscher Kartons schaf-
fen. Zu Eumaios und Odysseus tritt in seiner nachschaf-
fenden Phantasie der junge, vaterlos aufgewachsene Tele-
mach, und es will scheinen, als ob den Dichter auch hier,
wie bei Lykophron^ das Motiv reizte, das den Sohi^yr\Yi^chfJ?
di eTei3en ^etr^mitea Kit er abteilt .
Indem Hauptmann sich in das Schicksal des Königshau-
ses von Ithaka hineinsinnt, indem er Odysseus, der bisher
nur mit widrigen Winden, Göttern und Ungeheuern
kämpfte, nach der Rückkehr noch durch eine seelische Wirr-
nis leitet, hat der moderne Dichter, der nicht anders, als
psychologisch nachspüren kann, auf homerischem Boden
eine antihomerische Idee gefaßt. Die
fennärchen mit glückhaftem Ende, ist halb orientalisch
in der Gläubigkeit, in der Unbedenklichkeit unstillbarer
Wunderlust. Odysseus kehrt aus Krieg und Irrfahrt als der
15 225
einzig Untragische von den großen Führern zurück, — kein
Agamemnon, kein Äias, kein Philoktetes. Die griechischen
Tragiker haben ihn im Epos, im Märchen gelassen, es sei
denn, daß sie den Vielgewandten als Realpolitiker, als be-
schwichtigenden oder belistenden Unterhändler zur Lö-
sung dramatischer Konflikte brauchten. Nichts bezelch-
nender und reizender als wenn OdTSseus auf Ithaka der
Pallas Athene in Gestalt eines Jünglings begegnet und sich
erst einmal vorsichtshalber einen fakchen Paß ausstellt.
Und nichts familiärer von allem Umgang zwischen Göttern
und Menschen, als wenn die Meisterin der sinnigen Rede
und des listigen Rates ihn gütig und anerkennend auslacht:
Du warst immer der Klügste, aber mir brauchst du wahr-
'- haftig nichts vorzumachen.
Je weiter sich Hauptmann vom griechischen Boden ent-
fernte, desto tiefer mag ihm sein Stoff in eine nordischere
Gefühlswelt hinunter gesunken sein, zumal von einem
Dichter mitgenommen, der von Natur ein Sänger des Leids
sich für den Freiermord und die satten Befriedigungen der
Rache nicht eben begeistern konnte. Es ist ein trauriges
Lied^ das Lied von der Rückke];ir^ sagt Oj^?. ii?^23sl^"
mal. Das sind die Gedanken eines modernen Grüblers,
aber nicht eines Helden und Seefahrers, der obendrein noch
viel von einem orientalischen Kaufmann hat. Qjgijlurt
Hauptmann richtet an den rückkehrenden Odpseus einige
Fragen, die Homer, als er ihn glücklich nach Hause ge-
bracht hatte, nicht die geringsten Beschwerden machten:
Will meine Frau mich noch, will mein Sohn mich noch,
will mein Volk mich noch, und wiU ich selbst mich noch?
Der „Bogen des Odysseus" — Hauptmanns Dra-
men haben oft lange B rutzeite n — kam erst sieben Jahre
226
nach der griechischen Reise heraus. Das Stück wurde zuerst
in Berlin durch die Societät des deutschen Künstlertheaters
aufgeführt, die mit Oskar Sauer, Rudolf Rittner, Else Leh-
mann und anderen Stützen des Brahmschen Ensembles die
Nachfolge ihres großen Erziehers übernehmen sollte. Aber
das Unternehmen ging schon an seiner republikanischen
Verfassung zugrunde, der Hauptmann selbst kaum mehr
als seinen Namen und eine Art Ehrenpräsidium gegeben
hatte. Auch mit der Empfehlung und Bestätigung einer
besseren Aufführung hätte sich die Bühne diesem Stü
wohl nicht inniger und anhänglicher ergeben, das nach der
Verdunkelung der Odysseusfigur in Hauptmanns eigener
Gemütsfarbe durch die Beängstigungen des Tragischen
schreiten mußte, um doch nicht tragisch enden zu dürfen .
Der „Bogen des Odysseus" von Gerhart Hauptmann.
„Fast eine Tragödie" hätte das unbezeichnete Stück heißen
können. Bei Homer wird Odysseus von Pallas Athene aus
bloßer Vorsicht in einen Bettler verwandelt, nachdem beide
als praktische Griechen die kostbaren Gastgeschenke der
Phäaken recht sorgfältig versteckt haben. Man kann das
lustvoll Märchenhafte mit den rein privaten Beziehungen
zu günstigen und ungünstigen Göttern wohl nicht aus der
Odyssee herausnehmen. Goethe wußte, warum er die
Nausikaa nach einiger Verliebtheit im Stiche ließ, wenn er
nicht das Wunder sowohl wie die Resolutheit der folgen-
losen Abenteuer in notwendig sentimentalischer Psycho-
logie aufweichen wollte. Gerhart Hauptmann bestand auf
seinem Vorsatz, weil er sich gerade in dem heimkehrenden
Odysseus einen Bruder herangesonnen hatte, der ihm ahn-
lieh wie der arme Heinrich der mittelalterlichen Legende
zu eigen werden sollte.
«• 227
Diesen Odysseus finden wir als einen wiiUichen Bettler,
entfremdet den Seinen, entfremdet seinem Volke, dessen
Jugend er zur Schlachtbank führte. Der klarste be-
herrschteste Held der griechischen Sage, der Idealmann der
Sophrosyne, spielt nicht nur handetisch den Wahnsinnigen,
sondern der Wahnsinn spielt auch hamletisch mit nun ge-
rade vor seinem letzten und schwersten Erlebnis der Heim-
kehr, der Wiederbesinnung, der Wiedereinsetzung. Laßt
meine Falken, meine Adler wieder fliegen! schlieBt der
Arme Heinrich. Dieser Kampfer überwindet im wesent-
lichsten nicht praktische Widerstände, wie sie in den letz-
ten Gesängen der Odyssee erledigt werden, sondern er muß
die eigenen Hemmungen ausschalten, seelische Schwellen
überschreiten, bis er sich klärt und sühnt. Das über ihn
verhängte Drama bedeutet eine Genesung, es führt die
Fiebertabelle seines in letzter Tiefe heimgesuchten Gemüts
mit auf und nieder gehender Kurve bis zur vollendeten
Heilung, und damit dürfte zugleich gesagt sein, daß es
nicht wie die homerische Erzählung gemächlich vorwärts
fließen kann, daß es sich in allzu bedachten Stauungen
durch fünf Akte hinhalten muß.
In Bettlergestalt kehrt Odysseus bei dem Sauhirten Eu-
maios ein, in einem etwas zyklopischen Gehöft, wie Haupt-
mann sie auf Ithaka gesehen hat, in einer Art Schweine-
burg und von Blutdunst durchzogener Metzgerei, die schon
als einziger Schauplatz geeignet scheint, das ganze Ansehen
des Dramas zu verdüstern. Hauptmann geleitet seinen
Odysseus nicht in den väterlichen Palast und nicht bis zum
Lager der Konigin, wo ihn wohl gerade nach unseren mo-
dernen und durch den Krieg besonders herabgestimmten
Anschauungen noch eine letzte Befremdung und Ausein-
228
andersetzuüg erwarten müßte. Seine erste Begegnung ist
die edle Magd Leiikone, die ihm wie Pallas Athene er-
scheint, eine Art Ersatz des Göttlichen und bei aller aus-
zeichnenden Neigung des Dichters doch keine dramatisch
aktive Figur, da sie als eine männlichere Iphigenie mehr
aus Vernunft als aus Instinkt, stets überlegen und beschwich-
tigend handelt. Leiikone hat ihren Jugendfreund Tele-
mach auf die Erziehungsreise geschickt, von der er als Mann
zurückkehren soll; ihre sehr ungefährdete Tugend gewährt
ihm nichts als mütterlichen Rat und schwesterliche Hilfe.
Hier ist Athene oder ihre Vertreterin wirklich zum Mentor
für die reifende Jugend geworden.
In dem Wesen des verstörten Bettlers ahnt aUgiaXeu-
kone etwas Schicksalhaftes, odejfiijis^gö^^$Ji$:he,^S
die^eiigat, an das Reich nach zwanzigjähriger Entrech-
tung, Erniedrigung und Verwirrung. Bei Homer gibt sich
Odysseus dem Sohne zuerst zu erkennen, wie es sich gehört.
I Hier wird dieser homerische Anagnorismos sowohl gegen
den zurückgekehrten Telemach wie gegen den gastfreund-
lichen Eumaios zu einem innerlichen und sehr langsam ge-
förderten Prozeß von der Bedeutung, daß der Vater, der
König, der Rächende, der Sühnende, der Waltende in der
Folge erkannt wird, in der er sich selbst aus Wahn, Verlas-
senheit, Verzweiflung herausklärt, in der er die Muttererde
mit seinen menschlichsten Pflichten und Rechten zurück-
gewinnt. Was bei Homer der Anfang ist, die rein praktische
Einführung „Ich bin Odysseus", was so einfach und rüh-
rend variiert wird durch den letzten Seufzer des auf seinem
Misthaufen verreckenden Hundes, durch den Freudenschrei
der fußwaschenden alten Eurykleia, das wird von Haupt-
mann zum Ende und Ziel gemacht. /Zu einer Lösung, die
22g
sich immer wieder verdickt, um nicht zu früh ins Fließen
zu kommen. Durch fast vier Akte, und das war nicht ohne
Anstrengung durchzuhalten, lebt, denkt, spricht Odysseus
in einem Wahn, der ihn aus dem halbgespielten des Hamlet
fast in den echten herzbrechenden der Learschen Versto-
ßenheit trägt. Die Freier sind Feinde und Schädlinge; aber
braucht das Volk seinen König, der sich ihm abenteuernd
entfremdete, braucht der Sohn und Prinz den Vater, für
den er schon den Platz einnahm i In diese Verwicklung bt
ein Kronprinzendrama eingesponnen; der Sohn wächst an
den Vater, an den Sohn wächst der Vater heran, der sich
als Erhaltender wieder in den Dienst der Generationen
stellt, der von soviel Wundern und Abenteuern betäubt im
eigentlichsten Sinne wieder zur Vernunft komimt. San
Ruhm ging da draußen bis zu den Sternen^be^j^cineni
Lande ist er fremd, ein Spott, ein TJng(^S3jifX..JtSSeiaxdetiy
der Mann, der in den Hades gestiegen war, der im Kampfe
mit Göttern und Menschen Ungeheuerliches, Übermensch-
liches erlebt hat.
Es ist lyrisch schön, es wiederholt die verführerische
Sprachgewalt des Armen Heinrich, wenn Odysseus die Hei-
mat grüßt, wenn er sich vor der Scholle Muttererde wie
vor dem größten Wunder neigt. Wenn er sich aus dem
Ungeheuerlichen, dem Verstörenden herausringt, das die
Götter keinen Menschen erleben lassen sollten. Aber der
Verkehr des interessanten und aufregenden Bettlers, der in
dem Gehöft des Eumaios bald das Kommando übernimmt,
die vielseitige Auseinandersetzung mit dem Sauhirten, mit
Leukone, mit Telemach und auch mit dem verwahrlosten
Vater Laertes windet sich wie durch eine einzige fieber-
hafte Ekstase, die, um nicht zu erlöschen, in jedem Akt
230
neu angeschürt werden muß. Erst am Ende des vierten
Aktes kommt das seit langem kaum noch vermeidbare ,,Mein
Vater" des Telemach gegen den heiligen Mann, den großen
Dulder, den er i m H erz eiL verra;^gn,Jbtatte. Aber auch. zu
dieser Erkenntnis muß (He schwestei^Kdie I^ej^QAC.ÜWÄ ihr
Auge leihen.
Die Freier sind im Vorwerk des Eumaios eingekehrt, ^e
prassen nicht in dem Festsaal des Königspalastes, sondern
zwischen den hohen Steinwänden einer düstern Halle des
Blockhauses, die sich sonst den Verrichtungen der Land-
wirtschaft, dem Leben und Sterben des hier gebietenden
Schweines widmet. Indem Hauptmann auf das glänzendere
homerische Fest mitvdem edlen Sänger verzichtet, nutzt
er die düstere Atmosphäre dieses Raumes aus, durch den
die trunknen und geilen Freier wie schlachtreife Tiere tau-
meln. Das Tatsächliche des Freiermordes selbst konnte
sich von der homerischen Vorlage nicht weit entfernen.
Hauptmann führt den Kampf mit großer Wucht und er
weiß trotz ihrer Gedrängtheit die einzelnen Freier von der
kultivierten sogar perversen Erotik des Antinous bis zu der
stumpfen Roheit des Ktesippos mit einer ungemein ener-
gischen Charakteristik zu unterscheiden. Der Rächer Odys-
seus, der endlich zu dem mythischen Bogen greift, der die
Trotzigen und die Feigen, die Fluchenden und die Win-
selnden höhnisch abschießt, ist mit dem homerischen Hel-
den wieder eins geworden^ jiachdem^e^mi^ selbst wie-
der eins geworden ist, und wir grüßen ihn zum Abschied
in seiner von keinem Wahn mehr angefochtenen heiligen
Stärke. Sie hat auch ihren Humor wieder.
ß Was wird die Mutter sagen, Telemach,
Daß ich ihr schönstes Spielzeug schon zerschlug ?
231
Mit dieser Frage schließt das Stück, die sich Homer nicht
vorgelegt hat, der den Mann und die Frau mit göttlicher
Hilfe und nach altem Märchenrecht wieder so june und
liebend sein läßt, wie sie gjrli vnr TWAngigjah^ffl jf^fJj^^BAn
hatten.
Im Gedanken an Lykophron mit Telemach beschäftigt,
sprach der Dichter, wie aus selbstdurchlebtem Schmerz,
die Überzeugung aus, daß tiefe Zwiste naher Verwandter
unter die grauenvollsten Phänomene der menschlichsten
Psyche zu rechnen seien. „In solchen Kämpfen kann es
geschehen, daß glühende Zuneigung und glühender Haß
parallel laufen, — daß Liebe und Haß in jedem der Kämp-
fenden gleichzeitig und von gleicher Stärke sind: das be-
dingt die ausgesuchten Qualen und die Endlosigkeit solcher
Gegensätze. Liebe verewigt sie, Haß allein würde sie
schnell zum Austrag bringen. Was köimte im übrigen
furchtbarer sein, als es die Fremdheit der«,^die sich
kennen, ist."
Wer das im Reisetagebuche las, mochte denken, daß der
Dichter nun im größern Stil unter hohem Menschen eine
„Familienkatastrophe" dichten würde, wie es im engsten
Räume das „Friedensfest" und „Michael Kramer" waren;
vielleicht auf dem Hintergrunde Griechenlands, das ihn so
oft an Heimisches und Eignes erinnert hatte.
Als er aber aus Griechenland zurückkehrte, ließ er Anti-
kes ebenso weitab liegen wie Heimisches. Auf der Spur des
„Armen Heinrich" wählte er wieder das Mittelalter und
holte ein paar weltliche Legenden hervor, die nicht von
familiären Konflikten handeln, sondern von zwei sonder-
baren Fällen der Geschlechterliebe. Beide haben etwas
Anekdotisches.
232
Zuerst erschien „Kaiser Karls Geisel", angeregt
durch eine Notiz des Italieners Erizzo aus dem sechzehnten
Jahrhundert.
Es ist bekannt, daß der allerchristlichste Kaiser Karl der
Große einen Harem hatte, wie nur je sein Zeitgenosse
Harun al Raschid. Noch im Greisenalter macht ein ganz
junges, halbwüchsiges Mädchen auf ihn Eindruck. Aber
sie ist weder willig noch keusch. Der kleine Racker hänselt
den großen alten Herrn, den hier zum letzten Male viel-
leicht eine echte reine Liebe erfüllt; etwa wie sie Goethe
zur Ulrike v. Levetzow hatte. Aber Gersuind ist kein zar-
tes züchtiges Edelfräulein wie Ulrike. In ihrem „köstUchen
Goldelfenbeingehäus" wohnt ein Dämon, mindestens ein
Luder. Als sie mit mehr kindischen als weiblichen Ge-
fühlen am Halse des alten Kaisers hängt, muß er sie „kleine
Hure" nennen. Den ersten besten jungen Kavalier ruft
sie an wie eine Straßendirne : „Schöner, nimm mich mit".
Sie, um deren Herz der Kaiser wirbt, gibt ihren Leib dem
ärgsten Schenkenpöbel preis. Dem Pöbel eine Wollust,
wird sie dem Volk eine Plage, denn der große Kaiser ver-
säumt seine Herrscherpflicht. Alles in der Welt geht drun-
ter und drüber, weil ihm das Kind im Sinne liegt. Sie ist
wie eine kleine Stechfliege, die wieder und wiederkehrt,
sich nicht fangen läßt und immer beunruhigt, immer ab-
lenkt. Wie das Tier steht sie jenseits von Gut und Böse.
Scham kennt sie nicht. Aller moralische Einfluß versagt.
Da nimmt sie derselbe Volkshaufe, dem sie sich nackt ge-
zeigt hat, bei den goldenen, von Kaiser Karl so sehr ge-
liebten Haaren und verprügelt das „Königsliebchen". Nun
hat Kaiser Karl über sie Gericht zu halten. Er droht mit
dem Henkerstod; sie aber fragt ihn nach ihrer Schuld,
233
nennt ihm seine Schuld. „Was hebst du Wegwurf auf ?**
Ihrer jungen Begehrlichkeit kam er nicht als Liebhaber
entgegen, sondern halb väterlich als Bildner, als Erzieher;
nicht sinnlich, sondern seelisch; nicht naiv gebend und ver-
langend, sondern sentimental und langsam werbend. Sein
hohes Älter, das zum Jungbrunnen die warmen Quellen
von Aachen braucht, machte wohl aus Not eine Tugend.
Und doch flattern alle seine Sinne um das süße junge Ge-
schöpf. Der weise Fürst, vom weisem Älcuin beraten,
dringt auf den tiefern Grund dieser Dinge. Er gibt sich
selbst die Schuld. Vor sich selbst spricht er Gersuind frei.
Gegen seinen Willen erreicht sie statt des Henkerbeils der
Meuchelmord. Wie einer Ratte ward ihr Gift gestreut.
Des Kaisers eigner Kanzler tat es. Das todkranke Wild
darf bei frommen Klosterfrauen und Krankenschwestern
sterben. Die Oberin hält ihr den Nachruf: »^Der Pöbel
nannte sie eine Hexe! Er, der Kinderfreund, der Heiland,
nur ein Kind.^' Im Sterben wird ihr klar, daß sie den
großen alten Kaiser geliebt hat. Sein hohes Bild verklart
sich ihr über alle Jünglingsschönheit und Jünglingskraft
hinaus. Ihrer Torheit letzter Schluß lautet: ,>Karl ist ein
Gott! Wir andern sind nur Menschen!" Auch der hüb-
sche Junge, dem sie als erstem nachlief, der freilich kein
Geisteskind zu sein braucht, setzt ihr eine etwas verzagte
Grabschrift: „Mag der dies Kind durchschaun, der es er-
schuf."
Graf Ricco von Maine meint damit nicht unsem Dich-
ter, sondern den lieben Gott. Unser Dichter aber halt es
für nötig, dieses Kind durch eine Rede Älcuins zu erklaren.
Alcuin ist in das Drama zu ähnlichen Zwecken eingeführt,
wie Hartmann von Aue im „Armen Heinrich**. Er ist
234
Vertrauter des Kaisers; leider jedoch muß er auch Deuter
des Dichters sein. Die Vorgänge selbst, die Taten, bleiben
hinter legendarischem, weißlichem Nebelschleier zart, aber
unklar liegen. Daher muß einer vortreten und erklären,
wie es gemeint war. Niemand kann das auf bessere Art
sagen als mit Alcuins, mit des Dichters eignen Worten:
War dieses Kind unschuldig, keusch und treu,
War es gegangen, wie es immer ging:
Ein Kaisersöhnlein mehr! imd damit gut!
Was weiter? Nichts! Nun aber kam es so;
Sie blieb ihm fremd, und er bezwang sie nicht!
Und dort, wo seine Sinne bettelten,
Hielt ihn, unbeugsam, eigner Stolz zurück. —
Und eines Tages stieß er sie von sich: sie.
Die jetzt erst recht verderblich in ihm herrscht.
Und nun schlug die verhaltne Glut zurück.
Gepaart mit dem enttäuschten Herrscherwillen,
Und steckte Tenn und Scheuern uns in Brand . . .
Das heißt: ihn selbst, von innen aus, den König.
Daß es dieser langen Erklärung bedarf, daß Älcuin den
Dichter selbst im Drama anwaltschaftlich vertreten muß,
ist eine dramatische Schwäche des feinen und wehevollen
Spieles, das im Balladisch-Lyrischen bleibt, obwohl es von
schroffsten Kontrasten lebt: Karl alt, das Kind jung; Karl,
der große Weltbeherrscher, das Kind eine Gefangene; Karl
ein gebildeter Franke, das Kind ein rohes Sachsenkind;
Karl ein Apostel des Christentums, das Kind ein Heiden-
kind; Karl ein raffinierter Welt- und Lebemann, das Kind
ein Tierchen der Wildnis. Über alle diese Gegensätze,
durch diese Gegensätze haben beide sich geliebt, ohne es
voneinander zu wissen. Auch der Kaiser bekennt es und
erklärt es durch Zwang eines Dämons, durch einen Dienst
der Finsternis. Da er ihren Mord erfährt, tobt noch ein-
mal alles in ihm auf. Das eine Wort Mord rüttelt ihn wie
235
hundert Fieberschauer. Es klingt wie hundertfaches Weh-
geschrei. Dann aber rettet ihn seine Größe, seine Tatkraft,
und er hebt wieder das Schwert Karls des Großen. Im
Leben des großen Frankenkaisers war Gersuind, die Sach-
sengeisel, nur eine Episode, wohl die letzte Episode seines
Herzens. Die Geisel stirbt an diesem Drama, Kaiser Karl
gehört ohne dieses Drama der Weltgeschichte, mit der die-
ses Drama so gut wie nichts zu schaffen hat. Bei der Ber-
liner Aufführung im Brahmschen Theater wurde die Geisel
höchst verständnisvoll dargestellt durch eine junge,
schlanke und geschmeidige Schauspielerin, Ida Orloff, die
schon Hauptmanns gläserne Pippa gewesen war.
Wie Gersuind als eine weitere und kühnere Dämonisie-
rung der tanzenden Pippa zu denken wäre, so sieht „Gri-
s e 1 d a" einer sagenhaften Rose Bernd gleich. Seitdem Ger-
hart Hauptmann seiner Rose von Striegau sogar auf helle-
nischem Boden begegnet war, konnte ihn ihre Versetzung
in eine mittelalterliche Legende nicht schrecken. Diese
Legende zieht durch die Welthteratur noch weitere Kreise,
als jenes Märchen vom verwandelten Bauer. Auch hier be-
gegnen als ihre Interpreten große Dichter. Am unbekann-
ten Ursprung stehen Boccaccio und Petrarca. Bei Boc-
caccio heißt der Name, wie jetzt bei Hauptmann, Grisdda;
bei Petrarca und fast allen späteren heißt er Griseldis.
Dann kam die Sage nach England zu Chaucer und nach
Frankreich zu Perrault. Sie ging bis hinauf nach Island
und bis hinauf nach Rußland. Sie taucht in Böhmen, in
Holland, in Dänemark, in Schweden auf. Sie wird inter-
national und populär, denn sie handelt, wie Petrarca schon
im Titel sagt, von der mythologischen Unterwürfigkeit
und Treue einer Ehefrau.
236
Unsrer modernen f rauenemanzipation muß diese Sage
sehr zuwider sein. Denn hier ist allein der Mann der Herr,
das Weib ist ihm leibeigen. Er kann sie zerbrechen und
wegwerfen wie irgendeine Sache, die er neben ihr besitzt.
Auch wenn er sie mißhandelt, verstößt, ihr die Kinder
nimmt und Magddienste von ihr fordert, bleibt sie gehor-
sam und treu. Alles Erdenkliche tut der Marchese von
Saluzzo — so heißt er schon bei Boccaccio — seiner Gri-
selda zuleide, und er tut ihr auch noch das Äußerste an: sie
muß seiner angeblichen Braut als Kammerfrau dienen.
Alles das geschieht nicht aus angeborner Roheit, sondern
nur um ihre Treue und ihren Gehorsam auf die härteste
Probe zu stellen; um zu sehen, wieweit weibliche Ergeben-
heit in einen männlichen Willen zu kommen vermag. Denn
als Griselda auch noch die letzte, schmerzlichste Bedingung
erfüllt hat, zieht der Markgraf sie an sich, begnadet sie wie-
der, seine GemahUn zu sein, und wenn sie nicht gestorben
sind, so leben sie noch heute.
Je weiter dieser Stoff in die Kunstdichtung vorrückte,
desto dringender wurde die Frage: Was veranlaßte den
Markgrafen zu solchen Forderungen, was veranlaßte die
Frau zu solcher Standhaftigkeit ? Der Antworten auf diese
Frage gibt es die verschiedensten, und je mehr sich ein
Dichter psychologisch in die Motive versenkte, desto freier
gestaltete er den überlieferten Stoff.
Schon Friedrich Halms dramatisches Griseldisge-
dicht, das am Artushofe spielt und der Griseldis den Par-
zival zum Gatten gibt, hat mit den alten Geschichten kaum
noch etwas zu tun. Am wenigsten paßt der Schluß. Denn
zwar bleibt Halms Griseldis gehorsam und treu, aber nur
bis zu dem Augenblick, da Parzival sie wieder zu Ehren und
237
Rechten annimmt. Nun gibt sie ihm den Laufpaß. Er hat
ihre Liebe verscherzt, weil die ganze Quälerei nur das Er-
gebnis einer frivolen Wette war, die er in der Tafelrunde
um jeden Preis gewinnen wollte. Einer so banalen Lust-
spiellösung mit eheschiedlichem Ausgang konnte Gerhart
Hauptmann nicht zustimmen. Der moderne Seelenrealist
mußte tiefer in den Grund der Herzen schürfen als der
seicht-spielerisch-wienerische Romantisierer.
In der „Zähmung der Widerspenstigen", derselben
Shakespearischen Komödie, aus der er sich Schluck und
Jau geholt hatte, konnte er lesen, wie Petrucchios ironi-
scher Hohn sein Kätchen schildert: „Im Dulden kommt
sie gleich Griseldens Vorbild"; und ob nun dadurch ange-
regt oder nicht, Hauptmanns Griselda ward eine gezähmte
Widerspenstige. Aber Hauptmanns Griselda ward auch
Bäuerin, und dafür bot ihm die Überlieferung einen
Halt.
Seit etwa sechzig Jahren kennt man eine volkstümlich-
tirolerische Fassung des Märchens. Hier ist Griseldis die
jüngste und schönste der drei Töchter eines alten Bäuer-
leins. Ihren Namen erklärt die treuherzige Volksetymolo-
gie daraus, daß die Nationaltracht der Landmädchen von
„griselter", d. h. grauer Farbe war. So wird das „Grisel-
dele" eine Art Aschenbrödel. Aber während das Aschen-
brödel des Königssohns Gemahlin bleibt, wird das „Grisel-
dele" wieder in ihre Dürftigkeit zurückgestoßen. Denn
derselbe junge Graf, der sie ihrer Schönheit, ihres Fleißes,
ihrer Sittsamkeit wegen zur Frau genommen hatte, der ihr
„griseltes Kittele" mit den prächtigsten Gewändern ver-
tauscht hatte, nimmt ihr die Kinder weg, läßt sie im Glau-
ben, er habe diese Knäblein im Ziehbrunnen ersäuft, und
238
schickt sie schließlich zu ihrem Vater heim. Der Vater
aber spricht:
Leg nur an das griselte Klttele
.r Und iß mit mir ein Überschüttele.
Auch der Tirolerin bleibt die letzte Prüfung nicht erspart.
Zu den Vorbereitungen einer neuen Hochzeit muß sie als
Aufwaschweib wieder ins Schloß, muß frisch vom Ab-
spülen weg im schmutzigen Gewand Speisen auftragen und
die Schönheit der angeblichen Braut preisen. Dann aber
schlägt ihre Erlösungsstunde. Sie erhält nicht bloß ihre
gräflichen Gewänder wieder, sondern auch ihre Kinder und
den Mann.
Gewiß nicht unbekannt mit dieser urdeutschen Form
des Märchens machte Gerhart Hauptmann aus Griselda
eine widerspenstige Bäuerin, die sich der Markgraf von
Saluzzo erst zähmen muß. Dem Urstoff bricht er damit
ebenso das Genick, wie in seiner anderen Art Friedrich
Halm. Während Halm die geprüfte Frau am Schlüsse nein
sagen läßt, sagt Hauptmanns Griselda am Anfange nein.
Dennoch hat der neue Dichter den Geist und besonders
das Herz des Stoffes im Tiefsten erfaßt.
Die erste der zehn Szenen zeigt Griselda als tüchtige,
kräftige Bauerndirne im Gehöft wirtschaftend. Vater und
Mutter füllen ein stumpfsinniges Alltagsleben mit Alltags-
gespräch, und ihre schöne Tochter kommt über der schwe-
ren Tagesarbeit nicht zu eignen Gedanken und Empfin-
dungen. Der Graf, der ein wunderliches Troglodytenda-
sein führt, fern von Welt und Damen, will mit ihr grade-
hin handeln, als sei sie eine Straßendirne. Sie aber trotzt
den Eindringling kräftig ab, nicht bloß mit Worten. Da
hebt er sie auf und schleppt sie mit Gewalt ins Haus hinein.
239
Ks ist das Haus ihrer Eltern, aber die Eltern sind Hörige
des Adels, und was drinnen geschieht, sagt nachher weder
er noch sie. Die armen guten Alten haben nichts vom Va-
ter Bernd, der mit Gott um die Wette zu richten und zu
strafen kommt. Das starke Weib hat die Übeikraft des
Mannes verspürt. Den übersättigten Mann reizte ein
Weib aus der unmittelbaren Hand der Natur.
In der dritten Szene holt er sie ab. Er bändigt sie körper-
lich, aber als sie wehrlos ist, drückt er ihr den Brautkuß auf
den Mund. Schon in der nächsten Szene ist Hochzeit im
Schloß vor dem gesamten Adel des Landes. Grisdda in
Brokat und Seide. Sie trägt es, als hätte sie nie was „grisel-
tes^^ getragen, und sogar ihr schöner Mund redet schon
Brokat und Seide. Sie scheint die derbe Bauemprosa des
väterlichen Gehöftes verlernt zu haben und weiß schon
ganz genau, wie man mit Fürsten spricht. Weil es ihr neu
ist, übertreibt sie sogar den noblen Ton, und wenn ich ihr
Markgraf wäre, der selber kein derbes Wort scheut, so
würde ich ihr raten, sich weniger geschwollen zu äußern.
Der Gatte will auch durchaus nicht das Urwüchsige an ihr
unterdrücken. Der Damen überdrüssig, war ihm die Volks-
magd gerade recht. Zum Sinnbild dessen gibt er ihr noch
einmal die Sichel in die Hand, damit sie auf der Wiese das
Gras mähe. Mit diesem erquicklichen Eindruck könnte das
Lustspiel schließen, wenn es sich nur um Zähmung einer
Widerspenstigen gehandelt hätte.
Doch diese gezähmte Widerspenstige heißt Griselda. Sie
hat ihren Leidensweg noch vor sich. Auch ihr U^bt die
Prüfung nicht erspart. Aber von dem kalten und rohen
Zuchtmeister der Sage, von dem Manne, der ein Unmensch
wird, damit sich die Frau in ihrer Übermenschlichkeit
240
glorlenhaft entfalten kann, wollte Gerhart Hauptmann
nichts wissen. Sein Markgraf von Saluzzo hat mit jenem
mythologischen Urbilde nur den einen Zug gemeinsam,
daß er sie allein und ganz beherrschen will. Er eifert auf
sein Sonderrecht an sie. Er trennt sie von Vater und Mut-
ter. Niemand sonst darf sie beim Vornamen nennen. Kein
Arzt darf sie besehen. Kein Haustier darf sie anrühren.
Aus übergroßer Liebe ist ihm jeder zuwider, der zwischen
sie kommt. Er leidet an Wahnwitz der Zweisamkeit. Er
duldet kein Drittes.
Nun ist ein Drittes unterwegs. Es kommt ein Kind. Er
spürt mit Argwohn, mit Grauen schon zum Ungebornen
die Zärtlichkeit der Mutter. Zu diesem Ungebornen wütet
er sich in einen blinden Haß hinein. Wie Tolstois Lewin
fühlt er in der schweren Stunde alle Wehen der Mutter
im eignen Leibe. Es gibt gewiß noch Menschen, die bei
dieser wundervollen Szene wieder die Geburtszange heben
möchten. Aber man wird hinter solche Poesie schon kom-
men. Diesem unbekannten Stückchen Menschenfleisch,
das der Geliebten soviel Qual schafft, noch bevor es da ist,
das ihr Leben gefährdet, soll er gut sein ? Mit ihm soll er
die Liebe der Geliebten teilen? Es gibt Menschen, die
nichts teilen können. Darum schafft er seinen neugebor-
nen, wohlgestalteten, kerngesunden Erbprinzen aus dem
Hause. Die Mutter weiß nicht, wohin. Mitten im innig-
sten Allein zwischen Mann und Weib fragt sie ihn nach
dem Kinde.
Damit hat sie ihre Schicksalsfrage gestellt. Nicht wie der
Sagengraf verjagt er sie, aber er selbst läuft auf und davon.
Der Arme Heinrich konnte nicht wilder, nicht unheimlicher
verschwinden. Nun ist sie ohne Mann und Kind in seinem
i6 241
Schloß allein, während er sein altes einsames Troglodyten-
leben weiterführt. Diesen Zustand erträgt sie nicht lange;
während ihre mythische Schicksals- und Namensschwester
alles auf Befehl tun mußte, faßt sie eine Reihe freiwilliger
Entschlüsse. Der angebome Bauemtrotz erwacht. Sie
zieht ,,das griselte Kittele^^ wieder an und geht, wie sie ge-
kommen war, aus freien Stücken, auf freien, festen Füßen
zu den Eltern an die Tagesarbeit. Wieder ist das Drama
bei einem vorläufigen Ende.
Um die Handlung fortzusetzen, knüpft der Dichter an
ein Bild aus der Sage an. Er erinnert sich des Aufwasch-
weibes im schmutzigen Kleid. Seine Griselda schwört, daß
sie nie anders als zu solch niedrigster Dienstleistung der
Hörigen das Schloß wieder betreten werde. Sie kommt mit
Besen, Lappen, Eimern ins Schloß, zwar nicht zur neuen
Hochzeit ihres Gemahls, wohl aber zu seiner angekündigten
Heimkehr. Sie liegt auf den Stufen der großen Eingangs-
stiege und scheuert so heftig, als scheuerte sie die Schnuch
von den Stufen, die sie in diesem Hause erduldet hat. Da
trägt man das Kind an ihr vorüber, da fällt ihr das eigne
Kind in die Arme, da schreit ihr Herz, und diesen Herzens-
schrei seines Weibes hört der Mann. Es war der Schrei
der Lösung von aller Last. Das neue Märchen von Gri-
selda endet so glücklich wie alle frühem.
An vielem Tiefergreifenden mußte dieser Bericht vor-
übergehen. Wie der alte Bauer seiner Gräfin Tochter in
schuldiger Ehrfurcht das Wochensüppchen und Mutten
gute Ratschläge bringt, gehört zum Allerschönsten, was wir
von Hauptmann haben. Diese innige Dichtung zeigt, dafi
er sein deutsches Gemüt an Griechenland nicht verloren
hatte. Der griechische Frühling ist ihm gut bekonmien.
242
Die Rose von Striegau und die Rose von Parnassos sprie-
ßen selbander auf dem ewigen Grunde deutscher Märchen.
Der Dichter aber kehrt gehoben und gefestigt wieder heim
in sein eignes Land und sein eignes Leben. Hieraus ent-
steht etwas, für das alles Frühere nur Vorbereitung zu sein
scheint : der große Roman von Emanuel Quint, dem Narren
in Christo.
XV
DER NARR IN CHRISTO EMANUEL QUINT
Gerhart Hauptmann stand dichterisch nie höher. Viel-
leicht nie so hoch. Aber der Roman gehört nach
keiner Richtung hin zu jenen Phänomenen, die heute blen-
den und morgen für immer im Dunkel verschwunden sind.
Was der Dichter hier auf den Tisch seines Volkes legte, da-
von wird sein Volk langsam vielleicht, aber sicher Besitz er-
greifen. Dieses geistige Besitztum wird nie zu veräußern
sein. Man wird nie aufhören, sich mit dem Romane zu be-
fassen.
Wer die ersten Kapitel las und sich sofort in eine ganz
abgesonderte Welt versetzt sah, dem mag diese Welt fremd
erschienen sein, fremder als Griechenland und Mittelalter,
entfernt vom eignen Kulturleben, das nur gelegentlich
diese wunderlichen Kreise stört. Man denke sich den Schä-
fer Thomas, den Maler Dieffenbach, den armen Peter I£lle,
einen Vegetarier oder „Kohlrabiapostel", jemand von
der Heilsarmee, Antialkoholiker und Antivivisektoren, Mis-
sionare und Sektenbrüder, man denke alles, was sich ab-
sondert und doch zur Vereinigung strebt, in einem Keh-
richthaufen gesammelt, und man wird von Emanuel Quint
und seiner „Gemeinschaft des Geheimnisses" einen unge-
fähren Begriff erhalten. Zu absonderlich, zu entlegen, zu
fremd unsern eigensten Interessen konnte es der gebildete
Weltstädter noch finden, solange Leo Tolstcri sein Leben
nicht beschlossen hatte. Seitdem kann er es nicht mehr.
Gerade als sich dieser Roman des „Narren in Christo^^ an
die ganze große Öffentlichkeit wandte, wurde diese öffent-
244
lichkeit von Ereignissen bewegt, deren tiefrer Sinn oder
Unsinn mitten in die Probleme der kleinen Welt führt, die
um Emanuel Quint liegt. Diesem schlesischen Romane
starb Tolstoi sehr gelegen. Wie vor zwei Jahrzehnten den
jungen Schlesier zu seinem sozialen Drama nichts stärker er-
mutigte, als das Beispiel von Tolstois „Macht der Finster-
nis", so war es jetzt, als legte der abgeschiedne Geist des
russischen Urchristenapostels eine heilskräftig segnende
Hand auf seinen armen, gleichgesinnten Bruder Emanuel
Quint, der das Urchristentum der vier Evangelien und der
Apostelgeschichte hienieden noch einmal durchleben will,
der bei diesem wunderbaren Unternehmen seiner reinen
Seele mit der Folgerichtigkeit eines umf angnen Geistes der-
gestalt bis ans letzte Ende geht, daß ihn die Menge einen
Narren, einen Toren schilt, geradeso wie der alte, der älte-
ste Tolstoi mit dem Gassenausdruck eines Grundwieners
„Tepp" genannt worden ist.
Aber nicht nur die Menge schilt, spottet, tobt oder weh-
klagt über den Toren und Narren; — und diese Menge
würfelt sich aus den verschiedensten Elementen zusammen,
aus Bauernburschen und adligen Gutsherren, aus evange-
lischen Pastoren, katholischen KJerikern und manchem
selbst ganz wunderlichen Heiligen. Sogar der Dichter gibt
sich den Anschein, als sei er vom Narrentum seines Helden,
dieses heldenmütigen Dulders, durchdrungen'. Freilich
scheint der Dichter mit künstlerischer Feinheit und Frei-
heit nicht nur von seinem Dulderhelden, sondern sogar
vom Erzähler dieses Dulderheldentums persönlich abzu-
rücken. Es wird nie auf einen andern Erzähler hingewie-
sen, aber aus dem Stile scheint bisweilen ein andrer spre-
chen zu wollen als der Dichter. Man könnte einen sehr
245
humanen, rationalistischen und doch gef ühUstarken Emeri-
tus imaginieren, der zu seiner eignen Beruhigung auf die
leeren Blätter einer alten Chronik treu und wahrhaftig auf-
regende, ungewöhnliche Vorgänge aus seiner Gegend ver-
zeichnet, manchmal etwas breit wird und besonders zu
liebevoll am biblischen Worte haftet, das im Geist des nar-
rischen Gottsuchers seine tief tragische Parodie findet. Die-
ser imaginäre Chronist steht frei über Quints religiösen
Wahnvorstellungen, mitleidig, ohne Eifer, ohne Zorn; hin
und wieder flicht er eine mehr oder minder weisheitstiefe
Betrachtung ein, im ganzen aber stellt er nur schlicht und
sachlich den Tatbestand fest; denn er weiß, daß gerade
daraus die zwingendste und erschütterndste Seelenkraft
spricht. Man könnte sich weiter einbilden, Gerhart Haupt-
mann habe diesen pfarrherrlichen Chronikenbericht ge-
lesen, und weil er selbst davon auf das tiefste ergriffen
wurde, in der begründeten Meinung, es könnte auch an-
dern so ergehen, nun der Öffentlichkeit übergeben, Was
besonders ihn zu diesem Leben Quints mag hingezogen
haben, ist zweierlei : ein rein persönliches Moment und ein
andres, das geeignet wäre, die Gemüter der ganzen Chri-
stenheit aufzuwühlen.
Das persönliche Moment liegt darin, daß der Dichter
in Emanuel Quint einen Bekannten aus seiner frühen Jur
gend wiedererkennt, einen Menschen, der zeitweilig star-
ken Einfluß auf sein Empfinden hatte. Mit besondrer
Überraschung wird er entdecken, daß der ehrliche Chro-
nist auch ihn selbst nicht vergessen hat; Gerhart. Haupt-
mann findet sich in jenem jungen Landwirt wieder, der
hier Kurt Simon heißt, und nimmt mit Erstaunen wahr,
wie tief der Chronist das Gefühlsleben seiner jugendlichen
246
„Stromtid" durchschaut, die er einst bei Onkel und Tante
als Eleve verbrachte; bei Onkel und Tante, die in Fröm-
migkeit und Güte so hart gegen den „Narren in Christo"
verfuhren.
Der „Narr in Christo" selbst. ist das andre, das aufrüt-
telnde Moment. Gerhart Hauptmann entdeckt — und wir
entdecken es mit ihm — , daß sich nicht nur die Lehre
Christi, sondern fast das ganze Leben Jesu, wie es die
Evangelisten überliefern, in Emanuel Quints Walten und
Wallen wiederholt. Der vaterlose Tischlerssohn aus Schle-
sisch-Giersdorf hat sich in den vaterlosen Zimmermanns-
sohn aus Nazareth mit Leib und Seele so innig hineinge-
fühlt, daß ihm die biblische Welt näher rückt als die wirk-
liche; er redet nicht nur Christi Worte, er zieht nicht nur
aus Christi Weisheit die äußersten Konsequenzen, sondern,
indem er Christi Wort in Tat, Christi Lehre in innres Sein
verwandeln will, gestaltet sich ihm auch das äußere Er-
leben nach dem großen Alterego des Neuen Testamentes.
Es sammelt sich um ihn eine Schar armer Leute, die ihm
jüngerhaft ergeben sind, unter denen aber doch die Ver-
leugner und auch der Verräter nicht, fehlen. Ein Herni-
hutischer Wanderbruder wird ihm zum Täufer Johannas;
Kranke werden unter seiner milden Hand gesund; eine
Magdalena neigt sich über diese Hand; unter denandäch-
dgen, ihm anhangenden Frauen findet sich bald eine Mar^
tha, bald eine Maria ; er teilt das Abendmahl mit den Jün-
gern und wäscht ihre Füße; er läßt die Kindlein zu sich
kommen; er wird gefangen, bespien, gesteinigt, gezüch-
tigt, aber er küßt die Faust, die in sein Gesicht schlug.
Es wäre unschwer und unschön, das heilige Original ab-
zuklatschen. Dieser schlesische Roman au9 dem Ende de&
247
neunzehnten Jahrhunderts ist aber nichts weniger als ein
Abklatsch. Die Kraft und Lieblichkeit der biblischen Bil-
der und Berichte, durch den untheologischen Eindruck
einer jungen Poesie noch gesteigert^ wächst aus des Dich-
ters Heimaterde; so tief der arme entrückte Handwerks-
bursch unter dem Gekreuzigten steht, so hebt ihn auch die
Dauer der zwei dazwischenliegenden Jahrtausende von ihm
ab und gibt ihm eine ganz andere Prägung. Dieser in-
brünstige Gottsucher, der nie etwas andres als die Bibel
gelesen hat, verwirft zuletzt die Vermittlung des Gebetes
und der Bibel, wie er alles Menschenwerk verwirft, und
begrüßt die Offenbarung seines Gottes in der aufgehenden
Sonne. Er sieht Gott im Wunder der Natur und findet
das Gotteswunder überall; diese Wahrnehmung erfüllt ihn
so, daß der sanfte, gütige Mensch unter dem Einfluß einer
persönlichen Erregung (er ist bei seinem leiblichen Vater,
einem Kleriker) zum bilderstürmenden Earchenschander
wird. Diese pantheistische Vorstellung, daß Gott im Welt-
all stecke, tritt ihm von selbst nahe und bestärkt sein naives
Gefühl, sich selbst, als einen Teil des Alls, mit dem Gottes-
sohne zu identifizieren. Hier liegt sogar die Wurzel dieses
Wahns. Aus dem schlichtesten Glauben an einen höheren
Sinn, Zweck und Ursprung des Erdendaseins wird in die-
sem beschränkten Hirn, diesem Herzen ohne Falsch, dieser
Seele voll Andacht und Güte, in diesem Sinnierer, der die
Tagesarbeit scheut, langsam, allmählich, nach und nach
der Wahn, der Heiland lebe in der Menschheit fort, end-
lich zum Wahnwitz, der wiedergekommne, wiedergebome
Heiland sei er selbst; durch die Gläubigkeit der wunder-
süchtigen, ein besseres Dasein erwartenden Jünger, durch
die Verzücktheit anbetender Frauen und andrerseits durch
248
weltliche Gewalten, die ihn bis ins Martyrium hinein-
schleppen, findet dieser herzliche Größenwahn auch von
außen her verderbenbringende Nahrung. Alles das ist vom
Dichter mit einer bildnerischen Meisterschaft entwickelt,
an der man nicht nur das Studium der Bibel, sondern auch
das Studium Homers zu erkennen glaubt. Wir machen
jeden Schritt auf dieser abschüssigen Bahn begleitend mit,
wir folgen dem armen Narren durch Not und Pein und
verweilen nur allzu flüchtig auch in dem irdischen Para-
diese, das sich ihm gerade in der höchsten Not und gerade
durch die höchste Not öffnet. Dieser Erdenfriede schuf
aus dem zerlumpten Landstreicher für ein Weilchen das
freundlich anzuschauende, auch von außen her gesittete,
innerlich heitere, herzgewinnende Menschenbild, dem der
Zugang ins Glück noch frei stände, wenn sich die Mächte
seines heiligen Wahnes noch bezwingen ließen.
Wie Gerhart Hauptmann bei der Schilderung des
menschlichen Elends in Hütten und Höhlen der Berge
seine alte naturalistische Kraft bewährt, wie er zuletzt das
Bohemetreiben einer großen Stadt, in das Emanuel Quint
äußerhch versinkt, aus den Lebenserfahrungen der eignen
Jugend darstellt, so flimmern ihm die lieblichsten Farben
für das mittendrinliegende ländliche, menschlich reine
Idyll, das dem Leser wie dem Dulderhelden einen wohligen
Ruhepunkt, eine Erholung des Auges und des Herzens gibt.
Dieser Ruhepunkt, auf dem sich die realistische Phantasie
des Dichters behaglich ausbreitet, ist um so nötiger, als
sich zum Schluß Furchtbares zusammendrängt. Emanuel
Quint wird eines Lustmordes geziehen, den er bekennt,
obwohl ihn ein abtrünniger Jünger begangen hat. So
jammervoll unterscheidet sich das Schicksal des armen j
249
verwirrten, in Welt und Zeit verirrten Gottsuchers von der
erhabnen Aufopferung dessen, dem er sich naher und naher
fühlte, bis er sich zuletzt eins mit ihm glaubte. Verlassen
von seinen Getreusten, unericannt von denen, die ihn kann-
ten, vergeblich gesucht von Frauenliebe, wandert er, ähn-
licher dem Ähasverus als dem Christus, unstat durch die
Welt, und wenn er zur Nachtstunde irgendwo um Brot
und Obdach bittet, so entzieht sich ihm überall auch die
hilfreichste Hand, sobald er seinen Namen nennt; denn
dieser Name heißt nicht Quint, sondern Christus. Der
Dichter oder vielmehr der „Chronist" gibt über seinen
Ausgang keine Gewißheit, sondern nur eine Vermutung.
Danach sei er auf dem Gotthard bei armen Hirten, denen
es gleichgültig war, ob er so oder so hieß, im Schneesturm
verendet.
So wandelte Emanuel Quint auf Erden. Niemandem
wird es einfallen, ihn an die Seite des Nazareners zu stellen,
so wie dessen Bild in die Jahrtausende wirkt. Dennoch
brennt unter dem greifbaren Bild unseres Altersgenossen
Emanuel Quint eine Frage, die geeignet wäre, alle Ge-
müter nicht bloß der Christenheit, sondern der ganzen
lebenden Menschheit aufzurütteln. Der Dichter wirft die
Frage nirgends auf, aber unsichtbar bewegt sie sich durch
alle Begebenheiten und macht über den Begebenheiten die
Luft erzittern: Wie würde es heute dem echten Jesus
Christus auf unsrer Welt ergehn, wenn er selber mit den
idealen Forderungen seiner Bergpredigt unter die heutigen
Menschen träte? Würde es ihm anders ergehn als dem
armen, überspannten und übergeschnappten Emanuel
Quint, der ihm in der Herzensreinheit und in der schran-
kenlosen Hingebung an den unweltlichen Urgeist seiner
250
Lehre doch ganz nahestand ? Diese Frage zu beantworten,
ist meine Sache noch weniger als die des Dichters. Aber
Theologen, Juristen, Mediziner sollten sie erörtern und
eine Antwort suchen. Keiner der vier FakiJtäten kann es
schaden, sich mit diesem Roman zu befassen.
Dem Dichter haben die philosophischen Fakultäten von
Oxford und Leipzig honoris causa den Doktorhut aufge-
setzt. Den drei andern Fakultäten könnte es nicht schaden,
wenn auch sie ihm und durch ihn der modernen deutschen
Dichtkunst die gleiche Ehre erwiesen. Die Wissenschaften,
die in diesen Fakultäten abgegrenzt sind, hat er freilich
nicht „durchaus studiert mit heißem Bemühn". Aber
ihrem Wissensdurst hat er Quellen des Lebens geöffnet.
XVI
DIE RATTEN. PETER BRAUER. ATLANTIS
Emanuel Quint, ein Höhenzug der modernen deutschen
Dichtkunst, steht auch im Schaffen seines Dichters
so überragend hoch, daß die beiden Werke, die unmittel-
bar darauf gefolgt sind, schon durch diesen Abstand zu
leiden haben. Mit der Berliner Tragikomödie »»Die Rat-
ten" wollte Gerhart Hauptmann 191 1 noch einmal beim
konsequenten Naturalismus seiner Jugend einkehren; bei
jenem angeblich längst übenvundnen, längst abgewirt-
schafteten Naturalismus, der, wie jede andre künstlerische
Daseinsformation, ewig bereitsteht und bloß von der ge-
eigneten Dichterhand aus dem Arsenal geholt zu werden
braucht, wenn man ihn braucht. Man braucht ihn, wenn
man im Nächsten das Höchste, im Gemeinsten das Reinste,
im Niedrigsten das Tiefste finden will.
Es ist nicht gerade das Berliner „Scheunenviertel**, wo
diese mehr tragische als komische Tragikomödie vor sich
geht. Aber es ist einer jener Winkel Berlins, wo ehrbares
Handwerk, Dirnenschaft, Verbrechertum eng beisanunen-
wohnen. Es ist das Milieu einer Anekdote, die Theodor
Fontane seinem Freunde Lucae gern nacherzählte. Ein
junger Arzt hilft der Frau eines armen Kerls. Der Mann:
„Na, Herr Doktor, wat is et denn?" Doktor: „Ein Mad-
chen." Der Mann: „Een Mächen? Na, denn schieben
s' et man wieder rin; et wird doch man ne Hure.** So hätte
auch Hauptmanns Maurerpolier John, eine Art Fuhrmann
Henschel, sprechen können, dessen Frau die Schwester
eines ziemlich schweren Jungen ist. Sie hat ihr Adelbertchen
252
verloren und diesen Verlust des Mutterherzens so wenig
verschmerzt wie ihr Mann, der brave Polier. Nun hatte
sie sich zum zweiten Male Mutter geglaubt, aber ihre und
des Mannes Vorfreude war umsonst. Da faßt sich die herz-
hafte Frau ein Herz und bringt dem Mann, der von aus-
wärtiger Arbeit heimkehrt, ein angenommnes Kind als ihr
eignes dar. John schwelgt im Vaterglück. Vollends der
Frau wird das kerngesunde, kräftige Bübchen wie ihr eignes.
Denn mit Frau Flamm teilt sie das Gefühl, daß es für ein
Weib kein größeres Glück gibt, als Mutter zu sein. Aber
der fromme Betrug rächt sich. Auch in der wahren Mutter
des Kindes, in der Straßendirne regt sich der Muttersinn.
Zuerst will sie das Kind sehn, dann haben. Es kommt da-
zu, daß das Kind auf dem Standesamt doppelt gemeldet
ist; als unehelicher Knabe und als Kind der Johnschen
Eheleute.
Hier steht der Konflikt der beiden Mütter am Scheide-
weg zu Komik und Tragik. Der Dichter wählt den Weg
zur Tragik und wühlt mit der ihm eignen psychologischen
Gewalt und Wärme alles auf, wessen Mütter im Löwinnen-
kampf um ein Kind fähig sind. Vor allem Mutter John!
Ihr ganzes tiefes, heißes, inniges Gemüt beherrscht der
eine Gedanke: das Kind behalten! Dieser Zweck heiligt
die bösesten Mittel. Sie will der rechten, der schlechten
Mutter ein fremdes, degeneriertes, kaum lebensfähiges
Nachbarskind unterschieben; dieser Wechselbalg stirbt
unter den Händen derer, die um ihn streiten. Sie geht
weiter: sie veranlaßt ihren verbrecherischen Bruder, die
Rivalin auf gute Manier zu beseitigen. Er beseitigt sie auf
schlechte Manier: er schlägt sie tot. Nun hat der Mutter-
trieb zum Kind einen Mord bewirkt. Nun beginnt die
253
Kriminalpolizei zu f ozschcn, zu verhöien, und alles kommt
ans Licht der Sonnen.
Aber alles das ist vom Dichter wenig fein gesponnen.
Die gute Absicht, ELriminalistisches im Ifinteigrande zu
lassen und aus seelischen Symptomen, aus dem Verrate des
bösen Gewissens die Tat der Frau ruchbar zu machen, fuhrt
hier zu Unklarheiten im Tatsächlichen. Diese Unklarheiten
steigern sich noch durch etwas Fremdes, das sich breit und
anspruchsvoll in den Gang der Müttertragödie eindrangt.
Der Dichter wollte auf den Weg der Tragik die Komik
zurückzwingen. Zu jener Zeit, da Gerhart Hauptmann
im Übergang von der Bildhauerkunst zur Dichtkunst Schau-
spieler werden wollte, nahm er dramatischen Unterricht
bei Alezander Hessler. Dieser damals in Berlin vazierende
Straßburger Theaterdirektor war „vieux jeu**, und der
junge Naturalist lief bald wieder aus seiner Schule. Aber
der Mann selbst scheint ihn ergötzt zu haben. Vielleicht,
weil er ihn damals nicht weit von den „Scheunen** und
„Ratten'^ Berlins getroffen hatte, setzte er nun sein ge-
lungnes Ebenbild dick ausgepinselt mitten in die Berliner
Tragikomödie vom Muttertrieb zum Kinde. Im dritten
Akt, wo die tragische Heldin, die „tragische Muse** der
Mulackstraße, nur vorübereilt, macht sich sein liebenswür-
diges, aber hohles Komödiantentum besonders breit. Harro
Hassenreuter hätte ein besonderes Lustspiel verdient; er
könnte ein Seitenstück zum „Kollegen Crampton** werden.
In den „Ratten^^ ist er bald Rasonneur, bald Statist, bald
störend. Seine Beziehung zur Familie John ist erkünstelt.
Frau John bewacht seinen Theaterfundus, der in einer
Dachkammer untergebracht ist und dort von den Ratten
angefressen wird. Ratten und Plunder, das ist die Signatur
254
des Milieus der großen Mietskaserne, in der unter vielen
andern auch der kaltgestellte Komödiant und das gute Ehe-
paar John aus der Höhe in die Tiefe, aus der Tiefe in die
Höhe steigen. Harro Hassenreuter hatte bei der Berliner
Aufführung in Brahms Theater das vorletzte Wort. Das
vielumkampfte Wickelkindchen liegt in seinem blühweißen
Steckkissen auf dem Kaffeetisch und schläft; die rechte,
schlechte Mutter fand man ermordet am Spreeufer, die
falsche, gute Mutter stürzt sich gerade zum Fenster hin-
aus. Da spricht der alte Schauspieler, der sonst immer die
Tragik gewöhnlicher Leute leugnete, mit edler Gebärde
im Tone Delobelles das naturalistische Bekenntnis aus:
„Wir haben das Haupt der Gorgo gesehen!" Das letzte
Wort aber hatte damals seine dicke, asthmatische, appetit-
liche weißhaarige Frau, die er gern betrügt: „Was weiß
der Mann, was eine Mutter ist!"
Es war einleuchtend, daß dieses Wort, welches der
Schluß der Buchausgabe nicht kennt, ausgesprochen wurde.
Denn in diesem Worte liegt alles Schöne, alles Dichterische
des Stückes, das schwach, hart, ungefügig gezimmert ist,
mit buckelnden Anbauten und weitläufigen Nebenbauten.
Um Jette John herum stehn viele, zu viele Figuren. Nicht
von jeder führt eine sichtbare Linie nach dem Mittelpunkt.
Das hängt mit der Hyperepisode des Theaterdirektors zu-
sammen, der noch einige Schüler, Kollegen und sogar einen
dicken Landpastor nach sich zieht. Die Komik drängt sich
oft vor, wo sie nicht am Platze ist. Aber in dieser Schwer-
fälligkeit wohnt eine Fülle des Herzens, und gerade hier
hatte sich dem Dichter wieder mit der Wucht ihrer starken
Seele seine älteste und treuste Verbündete in den Arm ge-
hängt: Frau Else Lehmann. Vom strahlendsten Mutter-
255
glück durch alles Bangen, Sorgen und Ängsten, durch seli-
ges Erinnern an längst vergangne schöne Jugend- und Lie-
beszeity aber auch durch eine herbe Anklage gegen den
Mann, dem seine Arbeit näher war als sein Weib, durch
allen Trotz gegen das Feindliche, der auch handgreiflich
werden kann, durch einen bitterzarten Lebensabschied
vom verkommnen Bruder, durch alle Verwirrungen des
Gefühls, die schließlich zur halluzinatorischen VerirruQg
des Geistes führen, bis zum allerletzten Verzweiflung^*
schritt ging diese Frau unentgleisbar den Weg der Wahp«
heit und der Menschlichkeit. Jette John war Else Lel^
mann, und Else Lehmann war wieder eine schöne Didi-
tung Gerhart Hauptmanns.
„Die Ratten^^ stammen aus des Dichters epischer Zeit
Vielleicht wäre auch ihnen die erzählende Kunstfonn er-
sprießlicher gewesen. Alles, was jetzt als unzusammenlifin*
gend empfunden wird, hätte sich enger aneinander ge-
schmiegt, wäre in deutlichere Kontraste getreten. Du
Rattensymbol hätte sich durch breitere Darstellung nod|
gelichtet und doch verdichtet. Die WiUkürlidbkeiteil
der Ortseinheit, die das Drama hier fordert, wären ver-
mieden worden. Gerhart Hauptmann sah vor sich one^
Zolaschen Stoff, der zur Zolaschen Behandlung drängt.
Doch der Dichter wollte es anders. Fast gleichzeitig mit
den „Ratten" entstand eine andere Berliner Tragikomödie^
„Pe terBraue r", die den beiden von Hauptmann in Bres-
lau angesiedelten Künstlerdramen wie ein leichterer Epilog
folgt. Das bis 1921 von dem Dichter zurückgehaltene
Stück ist ein Nachschößling aus Größerem, Tieferem, und
sein Held Peter Brauer ein kleinerer Bruder sowohl von
Michael Kramer wie von Kollege Crampton, aber mit
256
weniger Gewissen als der eine und mit weniger !^ünstlcTtem*
perament als der andere ausgestattet. Der Dichter selbst,
der nocli lange nach seiner Bildhauerzeit eine stilistisch
recht interessante Süste seines Sohnes Benvenuto model-
hert, der sich aus der Ateherzeit eine immergrüne Neigung
zu dem merkwürdigen Menschenschlage mit dem Samt-
jackett, dem Kalabrocer und der wehenden Künstler-
schleife bewahrt hat, läßt uns keinen Zweifel, daß dieser
Berliner Nachfahre sich mehr durch die äußeren als durch
die inneren Beweise seiner Kunst bestätigt. Feter Brauer
hat wirklich kein Talent außer dem des Schwindels, der
jenen beklagenswerten Defektiveffekt vor der gutgläubigen
Menschheit Tersdileiert, bis er schließlich selbst besonders
in alkoholisch erlifiltCea Augenblicken an die Genialität
seiner Künstlerschleife wie seines Pinidschwungs zu glau-
ben vermag. Mit dieser Neigung zu Feuchtigkeiten, mit
seiner Abneigung gegen die Arbeit und mit seiner ganzen
lumpigen Existenz bekennt er sich als einen norddeutschen
Blutsverwandten de» alten biedermeicrlichen Datterich,
nur daß dieser die Erleichterung hat, in einem anspruchs-
losen Volksstück zu stehen und mit Käse, Bier und Heuri-
gem auf natürhche Weise Dialekt zu hauchen.
In einer Berhnei Dachkammer, die sich Atelier nennt,
pinselt Peter Brauer Kaiser-Fricdrich-Bilder zu Dutzenden
und von fünf zu acht Mark aufwärts. Da mißt er mit be-
deutendem Auge und mit imposanter Böcklinhaltung eine
noch immer leere Leinwand; da fertigt er, besten Gewis-
sens, trotz einet für den Staatsanwalt beachdichen Möbel-
verschiebung, einen nicht eben zarten Berliner Althändlei
1 und Gläubiger mit überlegen profcssoraler Würde ab; da
-'-h mit Frau und Tochter herum, die den
Vater Leichtsinn nicht ausstehen können, und für die wir
als Schattengewächse nach dem wurzelhafteren und eigen-
saftigeren FamiUenanhang von Crampton und Kramer
auch nicht viel Neigung aufbringen. Kein Dichter hat sich
vor der Wiederholung gewisser Motive und Gruppen be-
wahren können, als ob aus einer einmal aufgesprungenen
Quelle immer noch etwas nachfließt, um vor dem Verrin-
nen eine letzte wenn auch weniger grüne Vegetation her-
vorzubringen. Peter Brauer hat so gut wie Michael Kra-
mer einen talentvollen Sohn, den gar die Auszeichnung des
Rompreises erwartet. Aber er hat ihn besser als der ewige
Forderer durch die Warnung seines Beispiels erzogen.
Leichtblütige Väter bringen ja meistens ernste und ge-
diegene Söhne hervor. Wir erfahren nicht recht, ob Erwin
unter anderen kindlichen Liebenswürdigkeiten seinem Va-
ter auch den Gefallen erweist, an sein Talent zu glauben.
Jedenfalls sehen wir, wie er allein nach dem erregenden
Kampfe mit dem Gläubiger, nach den höhnischen Zurück-^
Weisungen der Damen dem Vater die Brust bietet, an die
sich Künstlernot und Künstlerstolz tränenreich werfen
können. Und das war der erste Akt.
Endlich erbeutete fünfunddreißig Mark — die Frau hat
eine kleine Rente, die Tochter fast ihr Lehrerindiplom —
führen Peter Brauer in den zweiten Akt, in die Provinz
und zum glücklichsten Abenteuer seines Lebens. Peter
Brauer hat sich in einem Wirtshaus festgepumpt. Ein gro-
ßer Feudalherr und Kohlenbaron, der soviel von Kunst
versteht wie die anderen Stammtischler des schlesischen
Nestes, läßt sich von seiner flunkernden Geschwätzigkeit
zu einem Auftrag überreden. Ein anderer bestellt seinen
toten Vater, und ein dritter seinen toten Hund. Es ist hier
258
wieder zu bemerken, wie witzig Hauptmann so etwas zeich^
net, ohne Witze zu machen, und mit welcher humorigen
Selbstsicherheit diese vornovemberliche, aber auch gut
nachnovemberliche Gesellschaft sich zur Familie des lieben
alten Werhahn bekennt. „Professor Peter Brauer", wohl-
genährt und wohlgetränkt, spreizt sich als ein großer Mann
in der Provinz, bis das Kartenhäuschen seiner schwindeln-
den Faulheit und Unfähigkeit von einem bösen Winde um-
geblasen wird. Hätte er weniger gefrühstückt und sich
seinen talentvollen Erwin zur Zeit geholt, der würde ihm
die Kapelle des Feudalschlosses schon ausgepinselt haben*
Die zur Abnahme berufene Magnatengattin ist schon zu
anspruchsvoll geworden, um sich mit zwei kuttentragenden
Zwergen unten links — oben ist noch gar nichts — zu be-
gnügen; in ihrem Hofstaat hat sie sogar einen schottischen
Maler mitgebracht, weshalb alle englisch sprechen. Das
zehn Jahre zurückgehaltene Stück entstand eben in dem
entlegenen Kunstzeitalter, als das berühmte Telegramm
aus Glasgow kam: Bäume werden wieder grün gemalt.
Ganz reizend der so liebenswürdig stotternde Magnaten-
sohn und Gardeducorpsleutnant, der sich des peinlichen
Auftrags der gnädigen Mama mit so gütiger Simplizität
entledigt. Der junge Mann wurde gewiß im Kriege ganz
zu Anfang und ganz ehrenvoll totgeschossen, weil er einen
Befehl nicht zu rechter Zeit herausbringen konnte.
Das Kartenhäuschen wird also im dritten Akt umgebla-
sen. Die über ihren Meister aufgeklärten Aristokraten
lachen den armen Pfuscher mit seiner komischen Familie
aus. Frau und Tochter lassen ihn höhnisch stehen, und
Peter Brauer, nur noch auf den Sohn gestützt, greift sich
in vorübergehender Verzweiflung an sein Fettherz. Nun,
«7* 259
er wird weiter schwindeln, bis er an irgendeiner Ecke zu-
grunde geht. Und wir wünschen ihm trotz seinen Schin-
ken ein schmerzloses Ende; denn mit seiner Laune, seiner
Schlagfertigkeit, mit der echten Begabung des Schwind-
lers, sich selbst zu beschwindeln, und die Dinge zu sehen,
wie sie im Äugenblick aussehen sollen, hat er sich als aus-
gezeichneten Gesellschafter empfohlen. Der arme Teufel,
der das Chemisett auf dem bloßen Leibe trägt, liat Phan-
tasie genug, hat die nicht tiefe, aber breite sinnliche Exi-
stenz, um das Stück auf seine Schultern zu nehmen und bis
zu einem Schlüsse zu tragen, der allerdings nur einen vor-
letzten Punkt setzt. Womit zugleich gesagt ist, daß die
Wirkung gegen Ende nachlassen muß, weil Hauptmann auf
eine Steigerung so wenig wie auf eine Folgerung abzielte.
Peter Brauer hat kein Schicksal, weil er nie einen Willen
hatte; die Götter haben mit seiner Sache nichts zu tun.
Ein Nebenwerk von Gerhart Hauptmann. Nebenwerk
besonders, weil die Sonne seiner liebenden Gerechtigkeit,
die sonst den schlechtesten Wurm aus der Erde heraus
wärmt, nur auf den Helden scheint, weil alle die anderen
Figuren, Frau und Kinder und Gläubiger und Stasun-
tischler und Aristokraten nur den Äugenblick auf der Büh-
ne, aber keine weiterreichende Existenz für sich haben.
Und wenn der behäbigere und liebenswürdigere Peter
Brauer einmal von unten her, von einem mauKertigen
Wanderphotographen angegriffen wird, der den Herrn
Professor vor den Großen des kleinstädtischen Stammtischs
zu enthüllen droht, so bleibt ihr Schimpfduell auch eine
innerlich folgenlose Plänkelei. Für gegensätzliche Beispiele
oder Typen vermag man die beiden kaum zu halten, und
ihre nur praktische Gegensätzlichkeit weist über die kleine
260
Veranlassung von Eifersucht und Futterneid wohl nicht
hinaus. Dieser Nachschößling einer großen Gestaltungs-
kraft, die schon den Crampton und den Kramer gezeugt
hatte, wäre vielleicht im Jahre 191 3, da man den Naturalis-
mus liquidierte, als Spätling zur Welt gekommen. Zehn
Jahre darauf, da sich die Dinge des Theaters nun einmal im
Kreise drehen, kam das Stück schon viel richtiger an. Die
Leute begannen der redenden Schatten des Expressionis-
mus gerade müde zu werden; sie freuten sich, wieder ein-
mal Menschen zu sehen, die man betasten kann, und sie
fühlten sich recht wohl in dieser Hauptmannschen Wärme,
die auch seine kleineren oder anspruchsloseren Werke zu
einem so menschlichen und herzerfreuenden Aufenthalt
macht. Findet der Peter Brauer einen Kerl voll Saft wie
Jacob Tiedtke, für den der Dichter nach einem alten Ver-
sprechen die Rolle und das Stück aufgespart hatte, so
scheint das Bühnengeschick dieser Tragikomödie vorläufig
gesichert. Das ein glückhaftes hätte werden können, wenn
Gerhart Hauptmann, von anderen Unternehmungen un-
abgelenkt, sich mit einigen Verkürzungen und Lichtern
noch die Mühe genommen hätte, sie auf die Heiterkeit
einer Komödie zu runden.
Als der Dichter die beiden Berliner Tragikomödien ab-
schloß, in denen sich Tragik und Komik im entgegen-
gesetzten Verhältnis mischen, fand er sich durch ein Er-
lebnis heimgesucht, das nach später Gestaltung, und zwar
in der einzig angemessenen Form des Romans verlangte.
Gerade die Reise nach Griechenland mag Hauptmann die
Eindrücke einer Fahrt über den Atlantischen Ozean er-
neuert haben, die er gegen den Ausgang seiner ersten Ehe
unternommen hatte. Und da ihm der griechische Frühling
261
noch in der Seele blühte, so nannte er den Roman, dessen
großes Hauptstück die meisterhafte Schilderung eines
Schiffbruches ist, „Atlantis".
Von der Rieseninsel Atlantis, die im Ozean versunken
sei, fabelten die Griechen. Der moderne Dichter, den
schon früh die Vinetasage bewegte, dem die versunkene
Glocke zum Sinnbild versunkenen Lebens ward, steigt auf
einen der großen Amerikadampfer, sieht darauf eine Welt
für sich, eine fahrende Rieseninsel und träumt von Atlan-
tis. Wie Atlantis, wie Vineta, wie Meister Heinrichs Glocke,
so versinkt, kurz bevor die Titanic auf das dichterische
Exempel eine Probe der Realität geben konnte, der Llo^d-
dampfer Roland, auf dem der gescheiterte Arzt Friedrich
von Kammacher die Überfahrt nach Amerika nuchen
wollte. Auf ähnliche Weise und aus ähnlichen Gründen,
wie 1892 Gerhart Hauptmann selbst, unternimmt Fried-
rich die Reise. Beide zwang eine Herzensangelegenheit,
plötzlich in Paris alles stehn zu lassen, mit erster bester
Gelegenheit nach Southampton hinüberzufahren und dort
auf den fälligen Bremer Riesendampfer zu steigen. Das
Schiff, auf dem Hauptmann fuhr, war damals in Gefahr
und ging später wirklich unter. Das Schiff, auf dem Fried-
rich von Kammacher fährt, scheitert, und nur wenige
werden gerettet. Zu den Geretteten gehört Friedrich.
Hauptmann selbst wurde durch einen Zwang des Schick-
sals über das Meer getrieben. Er hatte Pflichten und
Rechte zu wahren. Er lag im Kampf um den Bestand
seines Hauses. Die Romanfigur Friedrich von Kammacher
hingegen läßt sich durch ein IrrUcht locken. Eine Ver-
wandte Rautendeleins, Pippas, Gersuinds lag ihm in den
Sinnen. Ihr Name klingt an Gersuind an: sie heißt
262
Ingigerd. Sie ist eine jener Kunst-, Poesie- und Programm-
tänzerinnen, wie sie sich seit Isidora Duncan in den be-
rückendsten Formen sehn lassen. Mit Vorliebe und be-
sondrer Begabung geben sie sich kindlich, so daß gereifte
Männer zu ihnen sprechen: „Mir ist, als ob ich die Hände
aufs Haupt dir legen sollt." Auch Friedrich hatte bei
Ingigerds Kunstproduktion die hinreißende Empfindung,
daß dieses arme Kind einen Beschützer, daß Mignon einen
Wilhelm Meister brauchte. Als er hört, sie sei mit dem
Roland unterwegs nach Neuyork, um dort öffentlich auf-
zutreten, kommt es über ihn. Er holt das Schiff in South-
ampton ein. Als das Schiff sinkt, rettet er sie und sich.
Ohne ihn wäre sie mit der großen Mehrzahl der Passagiere,
zu denen auch ihr Vater und ein dicker wienerischer Bra-
kenburg gehörte, untergegangen. Das kleine Weltwunder
nicht für sich, sondern der Welt zu retten, war die höhere
Bestimmung seiner übereilten Reise. Obwohl er immer
wieder, wie Kaiser Karl von seiner Geisel, von ihr neu an-
gelockt wird, so war er doch schon vor dem Schiffbruch
und der Lebensrettung widrigsten Enttäuschungen ausge-
setzt. Statt der „Blume so hold und schön und rein", fin-
det er ein höchst raffiniertes Biestchen, statt des gequälten
Tierchens eine kleine Tierquälerin ; nicht kindlich, sondern
kindisch; in ihrer Lebensart wenig wählerisch; gutherzig,
aber ohne Herzenstakt; ihre eigne angeborne Grazie un-
fein und unzart entstellend. Er, der ihr wie ein girrender
Schäfer nachgezogen war, fühlt sich bald durch sie kom-
promitriert und hängt sich schon gleich auf dem Schiff
eine Jüdin von Odessa an den Hals: Hanna Elias in jungen
Jahren. Das ganze Liebesabenteuer trägt seitens des Man-
nes einen Zug von Albernheit und ist nicht Selbstzweck.
263
Wie Gerhart Hauptmann so etwas ernst nimmt,
„Kaiser Karls Geisel".
Im Romane dient der erotische Handel zum Vorwand,
um einen Schiffbruch zu schildern. Wir erleben ihn mit
Friedrich von Kammacher. Nur was dieser sieht und hört,
fühlt und denkt, findet und träumt, wird von uns nach-
empfangen. Er ist der klassische Zeuge dieses großartig-
jammervollen Elementarereignisses. Deshalb konnte ihn
der Dichter, der ihn durch eine so tragisch-^kosmische''
Situation führt, nicht mit jenem überlegnen Humor be-
handeln, den der dumme Streich eines klugen Menschen
verdient. Dieser ganze Friedrich von Kammacher mit
seiner unwahrscheinlichen Generalsherkunft und bakterio-
logischen Laufbahn, mit seiner geisteskranken Frau und
seiner knabenhaften Leidenschaft für das Tanzweibchen
wäre nur durch sympathisierende Ironie menschlich zu
nehmen gewesen. Doch so, wie er ist, wirkt er nicht als
Person an sich, sondern als Instrument, auf dem der Dich-
ter die gewaltige Symphonie der Ozeane und Orkane zwar
mit höchster Virtuosität spielt, aber nicht ohne an Leder-
strumpf zu denken. Was unsre Jugend bei Robinson Cru-
soe und Masterman Ready so sehr aufregte, das zeigt sich
hier gleichsam im Zustande der Erwachsenheit.
Hauptmanns Kraft der Anschauung und Phantasie, die
aufeinander wirken, verleugnet sich nirgends. Man findet
sich auf dem ganzen Schiffskoloß zurecht und sieht, wie
jeder seiner Teile zerstört wird. Man überblickt das ganze
Gewimmel der Mitreisenden, aller Passagiere aller Klassen,
der Offiziere, Matrosen und Schiffsjungen, der Stewards
und der Heizer. Man nimmt in der Stunde des Endes mit
Schrecken von jedem Abschied, weil mgn ihn auch b^
264
flüchtigen Begegnungen gut gekannt hat. Mit dem Ele-
mentaren und Kosmischen verwirkt sich das Gesellschaft-
liche, das Gemeinsame, das Persönliche, das Berufliche, das
Mechanische einer solchen in sich geschlossenen, von Ge-
gensätzen durchfurchten Welt, der plötzlich der Welt-
untergang droht. Daß sich aus dieser Sintflut eine Hand-
voll guter Bekannter in die Arche Noah rettet, daß dazu
unser Gewährsmann Kammacher gehört, ist ein Zufall, wie
es ein Zufall ist, der diese ganze bunte Menge zusammen-
gewürfelt hat. In den fürchterlichsten Augenblicken er-
schien der Untergang des Schiffes ein Symbol für den Un-
tergang der Welt. Aber die Geretteten bleiben in der
Welt, sogar in der Neuen Welt, in der weltlichsten aller
Welten, und zuletzt kehrt unser verunglückter Amerika-
fahrer Friedrich von Kammacher reumütig in sein altes
Europa zurück. Das ganze war ein Abenteuer, eine Laune
des Schicksals, eine kleine Irrung mit großen, nicht ganz
zur Sache gehörigen Folgen.
Aus dieser Mißstimmung zwischen Wesen und Wirkun-
gen erklärt es sich, daß nach der übermächtigen Sensation
des Schiffbruchs der Menschlichkeitsgehalt des Romans
verblaßt. Diese Geretteten, die auf hoher See ein gigan-
tisches Schicksal gepackt hielt, laufen in Amerika wieder
als Alltagsmenschen durch den Werkeltag, und kaum einer
trägt die Spur der großen Stunde, die er durchlebt hat.
Es ist, als seien sie für eine tragische Erfüllung bestimmt
gewesen, und der Dichter habe sie plötzlich wieder zu
Speise und Trank verurteilt. Man wird ihrer zuletzt über-
drüssig und preist das Los derer, die mit dem Roland, wenn
auch nicht in Schönheit, so doch in Größe starben, wie
jener Kapitän des Schiffes. Ein Schiffsjunge, der ihn
265
vergöttert, bringt ihm auf die Kommandobrücke einen
Rettungsgürtel. Mit stummem Dank lehnt er den Liebes-
dienst des Burschen ab, dann aber wirft er ein paar Bld-
stif tzeilen aufs Papier, den Äbschiedsgruß an seine Schwe-
stern. Damit rettet er zugleich den Jungen, denn nun fühlt
dieser die Pflicht, sich selbst zu retten, um 4en letzten
Wunsch seines Kapitäns zu erfüllen. Wir sind beiden, dem
Kapitän wie dem Schiffsjungen, immer nur im Vorbeigehn
begegnet, und doch gebe ich für diesen letzten Befehl und
Gehorsam den ganzen zu einem Typus aufgebiahten Fried-
rich von Kammacher und seinen Ingigerdrunimel hin.
Auch daß sich Friedrich von Kammacher zuletzt statt des
Tanzmädchens eine jener modernen Frauen heimführt, die
man maskuUnisch als „tüchtiger Mensch'* zu bezeichnen
pflegt, kann seine Werte nicht mehr erhöhen.
In die zweite, überbreite Hälfte des Romans hat der Dich-
ter offenbar viel von seinen amerikanischen Erlebnissen
hineingestopft, aber diese Erlebnisse wachten zu keinem
neuen Leben auf. Der Dichter ist mit diesem Romane zu
schnell fertig geworden, der nicht auf jeder Seite seinem
Ingenium zu gehören scheint. Die große Konzeption der
„Atlantis^^ verrät ihn wohl, und nur die Ausführung läßt
jene nobile officium vermissen, das Gerhart Hauptmann
sich sonst auferlegt hat.
XVII
FESTSPIEL IN DEUTSCHEN REIMEN. HAUPT-
MANN IM KRIEG. DER WEISSE HEILAND.
INDIPOHDI. NACHWIRKUNG ÄLTERER
STÜCKE. DRAMA UND EPOS
Ein Jahr vor dem Weltkrieg wurde in Deutschland die
hundertjährige Erinnerung an die Erhebung gegen die
französische Fremdherrschaft gefeiert. Das Volk spricht
von den Freiheitskriegen, die nicht nur den äußeren
Gegner meinten und die nach seiner Niederwerfung ein
anderes ruhmloseres Ende in den Karlsbader Beschlüssen
fanden. Die offizielle und die besonders für die Schulen
zurechtgemachte Geschichtsschreibung pflegt die zurück-
haltendere Bezeichnung der Befreiungskriege vorzuziehen.
Von seiner schlesischen Heimat und ihrer Hauptstadt
Breslau, aus der Friedrich Wilhelm III. recht widerwillig
den Aufruf zur Bildung der freiwilligen Jägerkorps erließ,
wurde Gerhart Hauptmann mit der Abfassung eines Fest-
spiels beauftragt: der Dichter der „Weber", des „Han-
nele", des „Fuhrmann Henschel", der Anwalt der leiden-
den Kreatur, Schöpfer aus einer religiösen Kraft, von der
vor dem deutschen Zusammenbruch noch die wenigsten
begriffen hatten, wie national sie zugleich im tiefsten Sinne
war, und von der sie noch weniger ahnen konnten, wie sehr
das deutsche Wesen ihrer bedürfen würde in seinen schwer-
sten Prüfungstagen.
In einer noch zurückgehaltenen Geschichte seiner Kind-
heit und ersten Jugend erzählt Gerhart Hauptmann, daß
ihn, dem doch Empfindungen von Schmerz das erste
267
Bewußtsein erweckten, ein früher Traum von Schönheit,
ein zärtliches Verlangen nach Festlichkeit besessen habe.
Die dorische Säulenstellung der Kurpromenade seines
Heimatsnestchens versicherte dem bedrückten Kinde, daß
aus diesem dunklen Dasein irgendwann einmal Helligkeit
und Festlichkeit aufgetaucht sei, und daß er irgendwo ein-
mal im Leben der Schönheit begegnen müsse, die sich von
menschlicher Notdurft losgemacht hat, um selig in sich
selbst zu ruhen. Festivitas ist eine hohe glanzvolle Kiraft,
sagt er später einmal zum Ruhme Friedrich Schillers. Ge-
rade nach der griechischen Reise, als der Dichter das Sta-
dion zu Olympia und das Theater des Dionysos zu Athen
noch in ihren letzten Resten bewundert hatte, mag er wie
der Bürger und Republikaner Gottfried Keller an die er-
ziehliche Macht nationaler Feste geglaubt haben, an die
symbolhafte Vorstellung der Einheit nationaler Kultur,
die sich sonst in der zersplitternden Versachlichung von
Bedürfnis und Zweck ihrer Ganzheit nicht bewußt wird.
Den Sieg über den braunlockigen Perser verherrlichte
Aeschylos durch eine Tragödie, nachdem er ihn mit er-
fochten hatte, und Sophokles, Dichter und Admiral, konnte
die Einsetzung des obersten Gerichtshofs zu Athen als ein
Werk der Götter feiern, die sich freundlich in der frommen
Stadt niedergelassen hatten. Unsere Geschichte wird vom
Mythos nicht mehr genährt und immer wieder gegen-
wärtig gemacht; die Wissenschaft versucht sie unter ihre
sehr wandelbaren Gesetze, die Politik unter ihre sehr wider-
streitenden Tendenzen zu stellen — ein Protokoll ohne
die göttliche Unterschrift, das täglich anders revidiert
werden darf. Wenn nationale Geschichte lebendige Er-
innerung, unbedingt gemeinsames Erlebnis bedeutet, so
268
gewährt gerade dem Deutschen seine Vergangenheit nach
der langen Spaltung und der späten Einigung keine breite
Ruhelage ; sie bleibt in vielen und nicht in den schlechtesten
Fällen persönliches Bekenntnis.
Von dieser Freiheit hat Gerhart Hauptmann Gebrauch
gemacht, als er sein Festspiel schrieb, und sie ist ihm im
offiziellen Deutschland genug verübelt worden, von dem
man überdies die Einsicht nicht erwarten konnte, daß das
persönliche Bekenntnis eines Dichters seherisch, überper-
sönlich national sein mußte, und daß man viel von ihm
hätte lernen sollen, statt es nach seinem ersten Erscheinen
beleidigt zu verstecken. „Im wilhelminischen Deutschland
in mancher Beziehung als Spielverderber verschrien", so hat
Hauptmann in seiner großen Rede vor der Wiener Univer-
sität am II. November 1921 zurückhaltend genug die Stel-
lung bezeichnet, die das kaiserliche Deutschland einem der
mildesten und friedlichsten Schöpfer aller Zeiten anwies.
Man hatte zu ihm im besten Fall geschwiegen, im schlim-
meren die Nutznießung seiner Werke entwandt; er wurde
an der höchsten Stelle, die ja auch den ritterlichen Frei-
mut eines Wildenbruch nicht vertrug, mit allen anderen
wahrhaft produktiven, demnach wahrhaft nationalen Kräf-
ten abgelehnt. So mag aus Gerechtigkeit an dieser Stelle
auch der Legende begegnet werden, die dem damaligen
Kronprinzen die Schuld einer großen Respektlosigkeit zu-
geschrieben hat. Die wirkliche Verantwortung für die Zu-
rückziehung des Festspiels war höher hinauf zu suchen.
Nach all dem darf das Breslauer Festspiel weder über-
schätzt noch als Kunstleistung überhaupt zu den echten
Hauptmannwerken gerechnet werden. Ein Stück kann wohl
nur noch zur Bedeutung eines Festspiels gelangen, gerade
269
wenn es nicht als solches gedacht, wenn es nicht aus der
Trompete geblasen wurde. Den Wilhelm Teil bekam die
Schweiz von Schiller ohne Auftrag geschenkt. Bestellte
Festspiele gelingen nicht mehr, gelangen wahrscheinlich nur
in einer Gemeinschaft, wo das Publikum zugleich Volk, wo
die politische zugleich die religiöse Gemeinde war« Goethes
Epimenedes bleibt ein warnendes Ezempel, das diese Regel
mit der höchsten Autorität bestätigt. Der nationalste
Dichter wird zugleich immer der menschlichste sein» hat
Gerhart Hauptmann später in seiner einfachen Art gesagt«
Mit dieser Gesinnung widmete er sein Werk nicht den
Dynastien auf Erden, nicht dem preußischen Herrgott im
Himmel, sondern dem deutschen Volke als dem Mitglied
der großen europäischen Familie, das zwischen Ost und
West, zwischen Nord und Süd vorurteilslos empfangend,
reich wiedergebend, nicht nur geographisch im Herzen
unseres geprüften Weltteils wohnt.
Noch immer bist du nicht entbunden, und die Lait
des ungeborenen Gottessohnes trägst du noch.
Noch nicht geboren ist Europens Friedensfflnt|
nicht der Erlöser, ob man viele Tempel auch
ihm schon geweiht: wer anders sagt, spricht lügenhaft.
Denn wäre dieser Sohn des höchsten Gottes dort,
wo sie ihm huldigen: Wie hätte Krampf und stille Wut
und Krankheit weiter so der Mutter Leib Tenehrt
und die schmerzbrüllende durch Stein und Dom gehetzt.
Nein, dieser Friedensfürst, dem sie lobsingen, er
hat immer nur des Krieges wilden Brand entfadit.
Und seine Diener sinnen solche Martern aus,
wie sie kein Teufel je erdacht in Fleisch und Blutl
Das graue Altertum kennt solche Qualen nicht.
Man war auf solche Töne nicht gefaßt, die heute schmerz-
lieh prophetisch klingen, noch weniger auf eine Pjrthia, die
270
sie mit antiker Gemessenheit rhythmisiert, am wenigsten
vielleicht auf die anspruchslose sogar leicht humoristische
Form eines Puppenspiels, mit der Hauptmann der nahe-
liegenden Gefahr eines offiziellen und banalen Pathos zu
entgehen wünschte. Der Direktor seines Puppenspiels ist
der hebe Gott als alter Magier und Sternengreis, der selbst
sehr menschUch spricht und sehr menschlich mit sich
sprechen läßt. Aber das Stück bekommt ein GUed zuviel,
fast eine Prothese, wenn sich der Intendant des Welt-
theaters noch einen Hermes ähnlichen Regisseur hält, der
die Puppen aus seinem Ranzen holt und mit manchen Er-
klärungen auf die Füße setzt. Dieser PhiUstiades, an dem
schon der Name künstlich, kommt aus keiner vertrauten
oder geläufigen Vorstellung, und da Hauptmann schon
volkstümlich und primitiv sein wollte, so hätte ich mir in
die Befugnisse des Intendanten und des Regisseurs wohl
einen alten Guckkastenmann und Ausrufer von Moritaten
hineindenken können.
Aus dem Ranzen wird Napoleon ausgepackt oder Ad-
miral Nelson oder Marschall Vorwärts oder Turnvater
Jahn, aber der Erklärer bleibt neben seinen Puppen stehen,
so daß sie von ihren Drähten auch nicht scheinbar zu einer
selbständigen dramatischen Existenz entlassen werden. Ein
Festspiel kann schon seiner gelegentlichen Bestimmung
nach kaum zu einem unabhängigen sich in sich selbst voll-
endenden Drama werden ; was Hauptmann hier an histori-
schen Figuren und Gruppenszenen gibt, sei es Revolution,
Konsulat, Empire, Jena, Moskau oder Leipzig und dann
die um Scharnhorst und Gneisenau, um Fichte, Stein und
Kleist, das wirkt alles halb episch oder wie eine Illustration,
die die vorausgehenden Erklärungen des PhiUstiades oder
271
der Pythia oder sonstiger etwas absichtlich bemühter
Sprecher noch einmal versinnlicht.
Das Wesentliche eines Festspiels wird aber notwendig
der Festzug sein müssen; das Bekenntnis des Dichten ruht
nicht nur im Text, der zuweilen über die Macht einei Li-
brettos nicht hinaus kann, sondern vor allem in den l^no-
nen, die die Kunst des Regisseurs mit allen Schwester-
künsten des Theaters herausfordern, und die ndx in usse-
rem Fall auf die ausgreifende Phantasie von Max Reinhanit
verlassen sollten. Als die Franzosen im Jahre 1900 m ihrer
Weltausstellung einluden, gaben sie als Festspiel Ednond
Rostands Aiglon. Es war wieder, wie schon ein franziödadier
Kritiker von seinem Cyrano gesagt hat, eine Fanfare ton
roten Hosen. Die deutsche Literatur ist durch die Bmmt
der Gloire am wenigsten entzündet worden, anch nicht
von Heinrich von Kleist, dem Roiisseauschwärmer, der ans
Schmerz, Gram, Verzweiflung, auch nicht von dem richtig
verstandenen Wildenbruch, der noch nach unserer politi-
schen Einigung aus der Sorge um unsere innere Einheit
dichtete. Gerhart Hauptmann hat in seinem Fettng' ge-
rade die Soldaten nicht auftreten lassen, nachdem sie rohm-
lich ihre Pflicht getan haben, um allerdings diejenigen
Kreise zu enttäuschen, die sich für eine Apotheose nicho
anderes als eine Parade vorzustellen gewähnt warai« Sebe
Festivitas, es ist die Goethes und Schillers, •*"^^nnlfit sich
mit den bekränzten Werkzeugen der Handweiker, mit
Fruchtkörben und Getreidegarben, die von schönen Frauen
und Landmädchen getragen werden; sein Festzug oidet
allerdings in einer Parade, aber in der des Geistes, mit einer
DefiUercour, aber von Künstlern, Dichtern» Forscfaenii
Philosophen und Erfindern aller Väker und Zeitalter.
272
Der Festzug wird auch keinem Fürsten sondern Athene-
Deutschland dargelwracht. Nicht der hochbusigen Ger-
mania unserer Briefmarke sondern der schmerzenreichen
alten Mutter, die ihre Söhne zum Kampfe für die Freiheit
dahingab und die nun zur Pallas verjüngt, im Geiste
wiedergeboren, die Lebenden und die Künftigen den Wer-
ken des Geistes, den Taten des Friedens weiht.
Die Tat des Friedens ist es, nicht die Tat des Kriegs.
Die Wohltat ist es, nimmermehr die Missetat!
Was anders aber ist des Krieges nackter Mord?
So ruf ich euch dann auf, ihr eines andren Krieges
Krieger I Ihr, nicht todbringend, lebenschaffende!
Was trennt, ist Irrtum, Irrtum, der allein den Haß
entfesselt, ist Unwissenheit, ist nackte Not
des Hungers! Nicht was Göttliches im Menschen wohnt.
Denn dieses Göttliche ist Eros! Eros ist
der Schaffende, der Schöpfer! Alles was da lebt,
ist Eros, ward aus Eros, wird in ihm und zeugt
ihn neu. Und Eros zeugt sie immer neu, die Welt!
Und darum laßt uns Eros feiern! Darum gilt
der fleischgewordenen Liebe dieses Fest, die sich
auswirkt im Geist!
Man könnte hier ein kritisches Bedenken anheften, wie
Eros, wenn auch aus antiker zu christlicher Vorstellung
hinüberwachsend, in ein deutsches Puppenspiel hinein-
kommt, das sonst den Hans Sachsschen Knittelvers braucht,
das mit der mutwilligen Laune und Familiarität des
jungen Goethe zu wetteifern sucht. Und das gewiß eine un-
mittelbare rein gefühlsmäßige Antwort der versammelten
Menge hervorrufen möchte, die nicht Publikum der Ober-
stufe, sondern Volk aller Schichten sein soll. Es wird noch
schwer ein Festspiel denkbar sein, das sich nicht von einer
Konstruktion überkommener Bildungselemente tragen
iS
273
läßt, das nicht eines etwas allegorisch posaunenden Herolds
bedarf. Aber auf die Gesinnung und auf das Vermächtnis
des größten und deutschesten Dichters unserer Tage wer-
den wir ab auf ein unanfechtbares Dokument hinweisen
können. Die Prophetie, die nur auf weite Sicht ins Religiöse
eingeschränkt scheint, hat sich für unsere Zeiten langst in
das dichterische Ingenium hinübergepflanzt.
Der Verfasser dieses Festspiels, der „Spielverderber" im
wilhelminischen Deutschland, dem nun sein Spiel ver-
dorben wurde, hatte sein Ohr an die Muttererde gelegt,
hatte das weltgeschichtliche Erdbeben von weitem kommen
gefühlt. Der Privatmann Gerhart Hauptmann wurde me
wir alle vom Weltkrieg überrascht. Die Haltung Goethes
während der Freiheitskriege, dieser Einzige hatte das
Vorrecht in Jahrtausenden zu denken, war im geeinten
Deutschland nicht mehr möglich:
Denn fQr den Schmerz, den wir empfunden,
Seid ihr auch größer als ich bin.
Gerhart Hauptmann hat sich keinem Schmerze versagt;
er brauchte nicht als Epimenedes zu erwachen. Haupt-
mann gab zwei Söhne in den Krieg, er sandte Fritz von
Unruh ein Reiterlied, er sah rein gefühlsmäßig, ohne diplo-
matische Dokumente, ohne die Stunden von Mobil-
machung und Kriegserklärung nachrechnen zu müssen, den
Krieg als einen Verteidigungskrieg nach langer politischer
Umklammerung an. Als die Vertreter des Geistes auf allen
Seiten noch nachträglich mobilisierten, als Romain Rolland
im Namen Europas von einem „seiner erlauchtesten Stra-
ter^^ Rechenschaft forderte, ob er Enkel Attilas oder
Goethes sein wollte, verbat sich Hauptmaim mit der ge-
botenen Entschiedenheit gegen den noch schlecht Unter-
274
richteten „die ekelhaften und läppischen Werwolfsge-
schichten", mit denen die gegnerische Lügenpresse unsere
Soldaten bewußt und erfinderisch bekämpfte. Wir sind ein
eminent friedliches Volk, sagte der Dichter in einem andern
Manifest, wir haben jede fruchtbare Anregung der Welt-
literatur, der Weltkunst mit einer einzigen Vorurteilslosig-
keit empfangen, und die Idee des Weltbürgertums hat
nirgends tiefere Wurzeln als in Deutschland geschlagen.
Gerade ein Hauptmann, der wie kein anderer Dichter aus
der Muttererde genommen ist, der seine Geschöpfe fried-
lich, kindhaft, unschuldig aus dieser Erde hervorzulocken
wußte, konnte sich auf die eigene Erfahrung und Sicher-
heit berufen, daß das Stärkste im Nationalen auch das
Stärkste im allgemein Menschlichen ist. Hauptmann hoffte
auf eine große Zeit, nicht der Waffen, nicht der äußeren
Macht, nicht der Bereicherung, sondern einer Wieder-
geburt in Freiheit und Brüderlichkeit, wenn wir aus dieser
lebenbedrohenden Prüfung würdig hervorgehen sollten«
Dieser Dichter hatte nichts zurückzunehmen, galt doch
sein ganzes Werk, keinem Machtgedanken schmeichelnd,
kein anderes Gericht als das der Armen und Niedrigen an-
erkennend, einer dauernden Wiedergeburt aus einer Ge-
sinnung, die man trotz aller Diesseitigkeit, Naturnähe und
Erdfrömmigkeit als evangelisch bezeichnen muß. „Von son-
nigen Energien getragen," so heißt es in der Gedenkrede
auf Richard Dehmel, mit dem er ungefähr zur gleichen
Weltstunde in dieses schöne Reich verantwortlicher Geistig-
keit eintrat, „den nationalen Gewinnst in allen Pulsen füh-
lend wandten wir uns dem allgemein Menschlichen zu, in
dem die Gegensätze der Nationen verschwanden und von
jeher verschwunden sind. Und getragen von jener sonnigen
i8» 275
Welle von Energien wurden wir im rein Menschlichen
stark . . ."
Hauptmann hat den Krieg nicht verschlafen, er erlebte
ihn während der Jahre der apokalyptischen Heimsuchung
mit seinem Volke, mit der Menschheit. Und wo sollte er
anders gewesen sein, der mitleidende Dichter, der Sohn
unserer Erde ? Und wo sollten wir nach der 2^rtrümmerung
und Zerstückelung andere Heimat, andere Geborgenheit
finden als in unseren Schaffenden? Wo anders die neuen
alten Lebenskräfte, die unterirdischen unter allem Men-
schenwerk, zu denen keine Zerstönmg und Zerstörtheit
hinabreicht ? Wir müssen es Gerhart Hauptmann danken,
daß er tief er liebend, tiefer leidend als irgendeiner seinHen
zusammengehalten, daß er den Elrieg überstanden und
sich uns für die Zeit der Läuterung, für eine neue Bestim-
mung und geschichtliche Würde aufbewahrt hat. Der
Dichter ist kein Sprachrohr und nicht einmal ein Herold;
gerade wenn er nicht von heute sondern von immer ist,
wird er nur antworten können, wann ihm die Stunde
schlägt, wie lange auch unsere bange Frage zu warten hätte.
Es ist leicht zu verstehen, daß der Dichter im Anfang des
Krieges, wenn ihm nicht gelegentUche Äußerungen ab-
genötigt wurden, in einer tiefen Bedrücktheit und Ver-
zagtheit verstummte, daß er dann eine schwere Henmiung
zu überwinden, vielleicht auch eine lebensgefährliche Läh-
mung zu überstehen hatte, um überhaupt die Sprache
wiederzufinden, um sich seiner Schöpferkraft und ihrer
unveräußerlichen Rechte neu bewußt zu werden.
Gerhart Hauptmann hat während des Krieges und knn
danach drei Dramen herausgegeben, die »^Winterballade'^t
den „Weißen Heiland^^ und „Indipohdi'^ Du.ersteschemt
276
nur angeeignet, die beiden anderen sind mit dem eigenen
Blut geschrieben als Zeugnisse einer tiefen Verzweiflung
an der Menschheit, am Christentum, und einerWeltmüdig-
keit, die sich zum Abschied rüstet, die Mörikes sanftes Ver-
zagen „Welt, o Welt, o laß mich sein" schmerzlicher, in-
grimmiger und fast mit einem Fluche nachspricht. Wie
kam der Dichter dazu, Selma Lagerlöfs Erzählung „Herrn
Arnes Schatz" zu seiner „Winterballade" (1917) zu
dramatisieren ? Wahrscheinlich weil seine Quellen noch ver-
schüttet schienen, weil er die Anregung einer fremden für
sich bestehenden Vorlage brauchte, um die noch zitternde
Hand wieder ans Schreiben zu gewöhnen. Wer je mit einer
Feder umgegangen ist, kennt diesen Widerstand nach einer
auferlegten Brachzeit, nach einer Krankheit, nach einer
Verstörtheit, nach der dumpfen Belastung durch das
vernichtende Gefühl der Zwecklosigkeit.
Selma Lagerlöfs schöne Erzählung, wie Hauptmann sagt,
hat seine Dichtung angeregt. „Herrn Arnes Schatz" ist
wahrscheinlich der schwedischen Dichterin schönste Erzäh-
lung mit ihrer balladenhaft gehaltenen Stimmung, mit
der Gelassenheit einer alten Chronik, mit dem guten
Gewissen einer volkstümlichen Überlieferung, für die sich
schon Generationen einfacher gläubiger Gemüter verbürgt
zu haben scheinen. „Zur Zeit als König Friedrich H. von
Dänemark Bohuslan regierte, wohnte in Marstrand ein
armer Fischkrämer, der Torarin hieß. Er war ein schwa-
cher und geringer Mann . . ." Es wird einer dramatischen
Bearbeitung — man denke sie etwa auf Jacobsens Frau
Marie Grubbe angewandt — schon schwer genug sein,
den primitiven Ton, den Reiz der zeitlichen Entlegenheit
nachzuschaffen und dieselbe Dichtung für die Vergegen-
277
wärtigung und Versinnlichung der Bühne aus einer in
Märchen denkenden Gemütswelt noch einmal herauszu-
heben. Der Dramatiker muß auf manche Stimmung-
gebende Mittel der Erzählung, namentlich die des lyri-
schen Auftaktes, der halben oder aufschiebenden Mittei-
lung, der rückwärts gewandten lUärung verzichten, wie er
auch nicht die Märchenfreiheit hat, die Toten anzurufen
und ihre Rache an einer furchtbaren Freveltat selbst be-
sorgen zu lassen.
Der gewaltige und reiche Pfarrer Herr Arne ist mit allen
den Seinen von drei schottischen Kriegsmännem ermordet
worden; nur die kleine Milchschwester seiner Enkelin ent-
kam dem Gemetzel und der angestifteten Feuersbrunst.
Diese Tat wird von der Lagerlöf nie auf einmal und nie in
zusammenhängender Feststellung erzählt. Wir ahnen
etwas Furchtbares aus der Seele des armen und geringen
Torarin, der bei Arne einkehrend zu seinem von der Bühne
auch nicht zugelassenen Hunde spricht. Wir fürchten schon
etwas Bestimmteres aus der dreimaligen Frage von Arnes
alter einfältiger Hausmutter: Warum schleifen sie Messer
auf Branehög? Die sich im Jambenfluß des Dramatikers
verlieren und von ihrer balladesken Formelhaftigkeit ein-
büßen würde. Wir werden, da die Gerichte versagen, mit
den Ahnungen Torarins immer wieder um die Tat herum-
geführt und schließlich in sie hinein durch die allmählich
wieder zum Bewußtsein erwachende kleine Elsalil, die das
Herz Sir Archies, des Hauptmanns aus großem, schottischem
Hause, gewinnt. Seinem Verlangen, zu lieben, zu sühnen,
an ihr gutzumachen, ihrem Schwanken zwischen Rache
und Liebe mag die tatsächlichere Kunst des Dramatikers
gewachsen sein und auch ihrem Opfertode, wenn der
278
verfolgte Krieger sie wie einen Schild vor sich her trägt, bis
sie der Rache des toten Schwesterleins eingedenk, die Lanze
eines Verfolgers in die eigene Brust senkt. Aber der Dra-
matiker muß zusammenfassen, wo die Märchenerzählerin
hingehalten und aufgelöst hat; er muß Tag und Licht
geben, wo sie aus der Dämmerung modelliert, und er muß
die Toten fernhalten, den Schatten der gemordeten Jung-
frau, der vampyrisch hinter Sir Archie herschleicht, wie
die Gespenster des Herrn Arne und all der Opfer, die weiter
durch die Träume Torarins gehen und die nach altem
Märchenrecht ihren Gerichtstag halten. Bis der stolze Sir
Archie mit seinen drei verbrecherischen Genossen durch
den Geringsten und Schwächsten gefällt wird. Der Dra-
matiker kann auch kaum in dem Grade die Natur beleidigt,
grollend, endlich entsühnt mitspielen lassen, da in dem
merkwürdigen Winter dieser Untat das offene Meer zufror
und alle Schiffe gefangenhielt, bis der tote Arne sein Recht
hatte.
Gerhart Hauptmann hat aus Grillparzers „Kloster von
Sendomir^' ein höchst dankbares Theaterstück gemacht,
aber die Ehebruchsaffäre der Elga bot ihm trotz dem
Rahmen eines Traumes eine geschlossenere, sensationellere,
vor allem diesseitigere Handlung als der Gerichtstag
der toten Familie Arne und die vampyrhafte Buhlschaft
der von Archie ermordeten Enkelin, die sich obendrein
durch ihre Milchschwester Elsalil vertreten läßt. Wenn
Hauptmann auch auf eine Akteinteilung verzichtete, um
seine Szenenfolge in einem balladenartigen Fließen zu hal-
ten, sein Drama braucht doch einen derberen Knochenbau
und eine muskulösere Gliederung. Die drei wilden Ge-
sellen werden uns vor dem Verbrechen vorgestellt, sie
279
erledigen den Mord vor unseren Äugen, nach dem sich Sir
Archie gleich mit seinen Gewissensbissen auszustatten hat,
die ihn zur konflikthaltigen tragischen Figur und zum
tragenden Pfeiler des Dramas bestimmen. Wird die Er-
zählung wie unwillkürlich von geheimnisvollen unirdischen
Mächten belebt, so bekommt das Drama zwei Augen, die
vorwärtssehtn und auf den Weg achten müssen. Statt einer
Balladenseele einen Kopf, in den auch ein bewußterer
Verstand mit der Fähigkeit begrifflicher Rechnungslegung
gehört.
Es ist merkwürdig, daß Gerhart Hauptmann, der Dichter
des Hannele, der Versunkenen Glocke und der Pippa die
Ballade rationalisiert hat, indem er für den toten Herrn
Arne, der seine Sache selbst führt, einen Sohn und Erben
seiner Stärke neu einsetzt. Dieser von Hauptmann erfun-
dene Pfarrer Arnesohn geht vor Gericht als wilder ICläger,
er hadert mit Elsalil, die aus ihrer Stummheit nicht zu er-
wecken, von ihm nicht zu brauchen ist, die sogar die retten-
den Hochländer herbeiruft, da Arnesohn ihren Obersten
in der Schenke zu Marstrand gestellt hat. WahrscheinKch
aus technischen Gründen hat sich Hauptmann den immer-
hin darstellbaren Opfertod der Elsalil entgehen lassen, die
Sir Archie in einer der schönsten Szenen der Lagerlöf über
das Eis zu dem rettenden Schiffe trägt; er sah nicht, daß
sie tot ist. Hauptmanns beide Widersacher treffen sich dort
zu einem nicht sehr wahrscheinlichen und etwas künstlich
aufgesparten Waffengang. Sir Archie langt wahnsinnig bei
dem Schiffe an, er hat den Vampyr auf der Flucht getötet,
der Elsalil oder Berghild oder beide war, und der hat ihn
mit einem kleinen Biß vergiftet. Wir müssen da fast an den
unwürdigen Templer in Walter Scotts „Ivanhoe" denken,
280
den sein schlechtes Gewissen, nicht die Lanze des Gegners
in den Staub wirft. Sir Archie weigert sich der Rettung
durch die Freunde, er sagt nein zu seinem verfluchten
Leben, das er selbst richtet. Pfarrer Arnesohn braucht seine
Bauernwaffe nicht mehr, der Christ hat dieses Nein, diese
mystische Stillegung des Willens zum Leben verstanden.
Es galt dem Schicksal, galt dem Leben, galt
dem nächsten Atemzug, dem nächsten Herzschlag.
Und alles stand im Augenblicke still,
als sich dies ungeheure „Nein** gebar
in eines Menschen Seele. Amen, Amen, Amen!
Hier liegt ein Überwinder ... ein
Entsühnter, Freunde I und wo ist mein Feind?!
Die Verwendung des Arnesohn, die zwei Gegner gleichen
Maßes in Kampfstellung bringt, hat ganz besonders das
Märchentum der Lagerlöfschen Erzählung verweltlicht,
die im Sagenhaften, in der Ahnung, in den dumpfen, ge-
duldigen, unnachgiebigen Gefühlsansprüchen der Ein-
fachen und Geringen wurzelt. Und wenn ihr auch die
ganze Erfindung allein gehören mag, die Lagerlöf hat eine
alte Geschichte wieder- oder weitererzählt, die sich zur Zeit
zutrug, da König Friedrich IL von Dänemark Bohuslan re-
gierte, und die von einem Torarin zum anderen überliefert
den Edelrost des Alters angesetzt haben mag. Dagegen
scheint das Drama gerade in seiner zweckmäßigeren Glie-
derung etwas messinghell und blankgeputzt von ethischer
Reflexion. Kann man überhaupt irgendwelche „Kraniche
des Ibykus" oder „Die Sonne bringt es an den Tag" dra-
matisieren? Märchen und Sagen haben ihre immanente
Gerechtigkeit, nur daß diese sich nicht wie im Drama durch
zweckmäßig handelnde Personen zu exponieren braucht,
281
nur daB sie sich kindlich und wundersüchtig schon mit
Gottes kleinstem Finger begnügt. Hauptmanns Dramati-
sierung nennt sich Winterballade, aber gerade Pfarrer Arne-
söhn ist kaum eine Balladenfigur mehr, trotz altem Widdn-
gerblut uns zu angenähert, zu denkerisch und schließlich zu
ethisch, um nicht über die Märchendammerung oder das
seelische Zwischenreich, um nicht über den heidnischen
Geisterzug der ungesühnt über ihrem Grabe Schwebenden
hinauszusehen. Mit seinen letzten verstehenden Worten
bekommt Hauptmanns Drama ein christliches Gesicht.
Aber da es auf der Höhe des Krieges, nach dreijährigem
Völkerringen oder Völkerbluten abgeschlossen wurde,
sprang wohl das Wort Wo ist mein Feind ? aus dem Herzen
des wahren Dichters, der immer der wahre Friedens-
bringer ist.
In Gerhart Hauptmanns autobiographischen Au&eich-
nungen steht ein wundervolles Wort von der Utopie, die
in jedes Menschen Inneren entsteht und die so natürlich
in ihm wächst wie das Haar auf seinem Haupte. Ein jedes
hat halt a Sehnsucht, —sagt auch der Kindlichste, der De-
mütigste von seinen Webern. Hauptmann wäre kein deut-
scher Dichter und überhaupt kein Deutscher, wenn er nicht
zugleich die Schollenhaftigkeit und den Trieb in die Feme
von Ländern und Zeiten hätte, jenen Trieb, den sich Ibsen,
der größte Ökonom der Dramatik nach der blendenden
Ausschweifung des Peer Gynt und nach der großartigen
Inszenierung des Apostata verbot, um sich, ein für allemal
entschieden, in die Problematik des Häuslichen und Bür-
gerlichen einzuschränken. Ibsen kehrte mit dem genauen
Bewußtsein seiner Bestimmung zum Norden zurück; in
Hauptmanns Geist und Werk hat sich der Süden immer
282
mehr ausgebreitet, und wenn die vielen Pläne, die ihn ab-
wechselnd beschäftigen, zur erwünschten Ausführung ge-
raten sollten, so werden wir ihm auf merkwürdigen Ent-
deckungszügen folgen können nach fernen Inseln, die er
allein besiedelt, die er seiner Sehnsucht, wahrscheinlich
auch seinen Ironien und bitteren Humoren gegen die Zivi-
lisation unterwirft. Es ist die Verzweiflung an unserer Kul-
tur, die Europamüdigkeit, die Auswandererstimmung vor
der letzten unwiderruflichen Weltflucht, es ist die herbst-
liche Resignation des schaffensmüden Prospero, den nach
der Auflösung, nach der Abdankung von der Persönlich-
keit, von der eingebildeten Souveränität verlangt, an der
die Fähigkeit des Leids die wahre Legitimität gewesen ist.
Jeder Dichter, der dies und jenes gekonnt hat, wird in einem
Augenblick aufhören wollen, Künstler zu sein oder der Tor
seiner Zauberei, um eine Lehre zu hinterlassen, um ethisch
zu wirken, um als Weiser Abschied zu nehmen.
In solcher Verfassung mag Hauptmann Heinrich Heines
Bimini wiedergelesen haben, jenes wehmütige Scherzo
eines Sterbenden, der sein Schiff, sein Zauberschiff zur
letzten Fahrt über das blaue Märchenweltmeer Don-
Quichotisch bewimpelt. Wir wissen auch, daß Hauptmann
seit Jahren ein Drama Johann Orth plant, daß er mit dem
verschollenen Prinzen aus altem Herrscherhause, der jede
Verbindlichkeit, Tradition, Rang und Namen hinter sich
ließ, nach einer unentdeckten Südseeinsel forscht, nach
dem Exil der Freiheit, das nur durch eine unwiderruf-
liche Entsagungsurkunde erkauft wird. Heines närrischer
Hidalgo hat unter allen Konquistadoren gefochten, um in
der Neuen Welt nur neue Bestien und neue Weltkrank-
heiten zu finden.
283
Gold war jetzt das erste Wort,
das der Spanier sprach beim Eintritt
In des Indianers Hütte —
Erst nachher trug er nach Wasser.
Juan Ponce de Leon findet das gute Wasser, das alle
Krankheiten und Leiden vergessen macht, aber es war ein
sterbender Dichter, der es brauchte. Im Kriege ist das
Sterben auch hinter der Front leichter geworden ; mancher
gab nach, weil er nicht mehr mitmachen konnte oder wollte.
Hauptmann hat sich aufbewahrt und so hat er auch seine
Utopie noch nicht gefunden, die den Schluß des Schlusses
bringen muß. Als er etwa Bimini wieder las und sich auf
den glitzernden Wellen dieser schaumleichten Trochäen
über das blaue Märchen Weltmeer schaukeln ließ, gelangte
er nochmals in den Krieg, in Völkerringen und Völker-
bluten, gelangte er in die mit Schwert und Kjreuz grausam
gläubige, in die von Blutrausch und Goldgier benommene
Konquistadorenzeit. Ein großer Leser, mag er auch das
Memoire von Fernando Cortez über die Eroberung Mexi-
kos gelesen haben, von dem gerade gegen Ende des Krieges
eine neue Übersetzung erschien.
Kein so ritterlicher Degen,
Auch von g'ringerm Heldensinn,
Doch ein Feldherr sondergleichen
War der Cortez, der Fernando I
So schätzt ihn Heines romanrischer Hidalgo. Statt in
Bimini landete Gerhart Hauptmann, vom Leben, also vom
Leiden nicht entlassen, wieder unter den Menschen, wie-
der in dem Inferno von Krieg, Mord, Zerstörung, Fana-
tismus, und es muß uns natürlich scheinen, daß er sein
Herz zu den Schwächeren, zu den Unterliegenden, zu den
Leidenden trug. Zu den Menschen einer Sehnsqcfat^ vor
284
allem, die sich gerade durch ihren Glauben aufs grausamste
an ihnen erfüllt; die im Zeitlichen unterliegen, um im
Menschlichen zu siegen.
Sein Montezuma Kaiser von Mexiko erwartet den
weißen Heiland und wird es selbst, indem er die Dornen-
krone aller Schmerzen und Demütigungen empfängt.
Hauptmann der Naturalist, der den Geschöpfen seiner
Jugend gleichmäßig von seinem Blute gab und auch
vor dem Geringsten seine Vaterschaft nicht verleug-
nete, ist in seinen späteren Werken mehr und mehr zum
Bekenner geworden. Sein Fuhrmann Henschel etwa und
auch sein Michael Kramer stehen im Drama noch auf der-
selben Erde gleichen Klimas und gleicher Vegetation mit
den anderen Geschöpfen. Aber sein Kaiser Karl oder sein
Armer Heinrich tragen das Drama allein, machen es in sich
allein aus, sind Beklagte, Kläger und Richter in einer Per-
son. Der „Arme Heinrich" könnte nicht auch „Ottegebe"
heißen, selbst Griselda ist nicht die entscheidende Figur
ihres Dramas, und die anderen müssen überhaupt mit einem
geringeren Grade von Wirklichkeit beiseite oder zurück-
stehen. Dieser romantische Typus seiner nicht mehr so erd-
nahen, den Kopf höhertragenden Dramatik hat zugleich
etwas Monologisches und Lyrisches bekommen. Die Ent-
scheidungen werden ausgesprochen oder vorgetragen; es
sind eigenste Selbstbesinnungen, Selbstbekennungen des
Dichters in Flucht und Wiederkehr, es sind seine Rettun-
gen, die er in Versen hinterläßt.
So müssen der Weiße Heiland (1920) und der ihm
eng folgende Indipohdi vor allem als Dokumente von der
Furchtbarkeit unserer Zeit in der schutzlosen Brust des
Dichters gewürdigt werden. Diese beiden Dichtungen des
285
überwindenden Leids und der überwindenden Erkenntnis
werden einmal als Taten der Entsülmung, als priesterliche
Opferhandlungen gelten; das Wesentliche an ihnen ist die
persönliche Haltung des Dichters. Hauptmann hat die Tra-
gödie MontezumaSy die er eine dramatische Phantasie
nennt, in den Bimini-Trochaen geschrieben, jenem ge-
wichtslos eilenden besonders lyrischen Versmaß, das in der
längeren Erzählung leicht der Monotonie verfallt, das im
Drama seinen Mangel an Ruhe, seiner geringen Fähigkeit
der Gestaltung leicht erliegen kann. Für die Zwecke sach-
licher Mitteilung und in dem Augenblick minderer Er-
höhung des Ausdrucks verhüllt die Gleichmäßigkdt der
trochäischen Zeile kaum eine etwas dünne und von keinem
Knochenbau gefestigte Prosa.
Vater, welch ein fürchterlicher
Irrtum herrscht in deinem Innern.
Das ist kein Bild und kein Vers mehr. Um so besser nimmt
dieser Rhythmus das direkte lyrischflieBende Ichbekennt-
nis auf, und die Monologe des Montezuma stellen den
inneren Gang nicht nur seiner Entwicklung sondern auch
des Dramas so vollständig dar, daß man es aus ihnen tllm
fast zusammensetzen könnte.
. . . Nichts vermag ich. Und das heilige
Gottesblut, das in mir rollt,
wenn ich schlummre, wenn ich triume,
stockt wie Blei am wachen Tag.
Helft mir, helft mir: ich bin elend I
Bin ein Bettler nur, kein Kaiser,
und der Leichnam meines Selbst!
In den Schoß und Kern der Sonne
eingegangen, heimgenommen,
ruh ich selig und bewußtlos
nachts, in traumlos tiefem Schlaf,
286
oder wirke in die Träume,
schaffend mit der Lust der Gottheit.
Dann verbreit ich schöpferischen
Winkes Welten, wölbe Himmel,
schleudre, wie der Sämann Kömer,
Stemensaaten in den Raum.
So ins Große, so ins Kleine
wünschend ohne Wunsch, mich wandelnd,
schalt ich über Weltalls Grenzen,
oder bilde diese Erde
frei zum Paradiese aus.
Täler, Ströme treten lautlos
aus dem Äther in ihr Dasein,
Inseln steigen, und ich bilde
glückbeschenkte Menschenvölker,
Vögel, Fisch und Wurm hinein . . .
Montezuma ist ein Einsamer, ein Träumer, ein armer
Dekadent, trübsinniger Abkömmling eines hellen, blau-
äugigen Sonnengeschlechts, aber ein Sehnsüchtiger, Er-
lösungsbedürftiger, der an eine alte Botschaft vom weißen
Heiland glaubt und den Friedensbringer, den liebevollen
Hirten zu sehen gefaßt ist. Allein unter den Kriegern, die
gegen die gewaltigen weißen Eindringlinge fechten wollen,
allein unter den Priestern, die nur mit Menschenopfern
entgegnen, vermag sich Montezuma den Heiland vorzu-
stellen, weil er auch ein Stück Dichter und Künstler ist.
Und gerade mit dieser seherischen Kraft, die nur das nahe
Wirkliche nicht mehr sieht, liefert er sich als schwer Ent-
täuschbarer den SpanieriMus, neigt er sich vor Cortez wie
vor dem ersehnten Bruder. Seine Seele scheint gewoben
aus des Mondes kühlem Lichte, — sagt der einzige Spanier
und Christ, der ihn nicht ohne ehrfürchtige Erschütterung
versteht.
Das eigentliche Drama schreitet nur im Innern des la-
denden Helden von der sehnsüchtigen Erwartung bis zur
287
Enttäuschung und Verzweiflung fort. Aber Hauptmann
hat es von der Masse des Stofflichen, die ihm die Ge-
schichte auflud, andererseits nicht entlasten können. So ist
es seiner äußeren Erscheinung nach im wesentlichen die
Chronik der Eroberung Mexikos, der furchtbaren Prou-
essen einer wilden Soldateska, wie Heine sagt, die oben-
drein für Gott und die Eärche verübt werden. Die Kon-
quistadoren, auch Cortez selbst, nähren sich nicht vom
eigentlich Hauptmannschen Blut, sie bleiben rein tatsäch-
lich, von der Geschichte geliefert, und können deshalb auch
kein Schicksal haben. Nur Montezuma ist symbolische Fi-
gur, aus des Dichters Lebenssaft gewachsen und ihm von
der Wurzel an zugehörig. Als historisches Drama wenn
auch wider Willen leidet der Weiße Heiland an gewissen
Verfallserscheinungen der alternden Gattung, vor allem
an inneren Unmöglichkeiten, wenn Gegner höchst ver-
schiedener Rasse, Kultur und Sprache aufeinanderstoßen.
Es wirkt schon etwas bänglich, wenn die Spanier, — die
Naivität ging an unser historisches Bevmßtsein verloren,
für ihren Verkehr mit den Indianern eine an sich kaum
bedeutsame Dolmetscherin brauchen, die wiederum in den
späteren Akten entbehrlich zu werden scheint. Dramatisch
gegeneinander aufgestellte Figuren müssen schließlich doch
irgendwie von einem Vater oder von einer Mutter stam-
men, müssen sich trotz den schwersten Gegensätzen an eine
vergessene, ehedem gemeinsame Sprache erinnern wollen.
Auf der einen Seite die Spanier mit den unbekannten
Schrecken der Pferde und Feuerwaffen, erobernd, mor-
dend, raubend, auf der andern die Mexikaner in ihrer Ver-
teidigung, im Stich gelassen von dem träumenden Könige;
— das sind wohl Fakten, aber weniger die Glieder einer
288
Handlung, die von demselben in sich gespaltenen Willen
gegeneinander bewegt werden. So reißen die einzelnen
Szenen meistens ab, bevor sie einen im dramatischen Sinn
unwiderruflichen Schritt getan haben, und sie können
sich in ihrer chronikartigen Gleichmäßigkeit und Gleich-
betontheit auch nicht zu Akten zusammenfassen. Trotz den
feindseligen Verhandlungen, trotz Kämpfen, Überfällen,
Belagerungen geraten die beiden Parteien vielleicht nur
einmal in dieselbe sofort gemeinsame und heißere Tem-
peratur, wenn die Spanier gegen den Hauptaltar des Aller-
heiligsten im Tempel der Mexikaner eindringen und der
Oberpriester ihnen ein Kreuz mit der mexikanischen
Schmerzensmutter entgegenhält, die auch ein Kidd auf
dem Arme trägt. Diese Szene schließt mit einer furcht-
baren Ironie, da die Spanier statt der höheren Wahrheit
ein Wunder begrüßen, nur ein Wunder, das sie zu frischem
Bekehren und gottgefälligem Morden neu ermutigt.
Montezuma selbst bleibt auch als dramatische Figur ein
Einsamer, aber seine Passion gibt dem Werke die mensch-
liche Schönheit. Nicht unabsichtlich aber auch nicht un-
würdig führt ihn Hauptmann auf einem Golgathaweg zu
den letzten Stationen der Gefangennahme, der Geißelung
und Verhöhnung durch die Kriegsknechte, nähert ihn mehr
und mehr dem höchsten Vorbild des Menschensohnes, ohne
die Besonderheit des exotischen Kaisers anzutasten, der
als Sterbender sein neues Reich, nicht mehr von dieser Welt
gewinnt.
. . . Und der Kaiser Montezuma
schwebt auf einer goldnen Barke
über blaue Weltgewässer.
Hinter ihm in goldnen Barken
seine sieben Königinnen,
19
289
seine Söhne, seine Töditer,
seine Fürsten, seine Krieger,
seine Jäger, seine Priester
und sein ganzes Gottesrolk.
Oh, wie schön ist dieser König,
oh, wie groß ist dieser Kaiser,
oh, wie herrlich, oh, wie göttlich
wie glückselig und doch wieder
wie unendlich schmerzensreichl •..
Hauptmanns dramatische Phantasie hitte mit dieser
schönen Vision des Sterbenden, des sich Auflösenden, sich
Erlösenden sanft verschweben können. Aber die Christen,
die diese Seele retten wollen, zerren ihn noch einmal
ins Bewußtsein zurück. Die Welt erlaubt ihm nicht einmal,
sie in der Ekstase des Martyriums zu verlassen. Indem sich
der Wundenreiche, der Gemarterte und Verhöhnte beim
letzten Anblick seiner Peiniger alle Verbände abreißt, ver-
strömt er sein Blut noch mit einer Verwünschung gegen
das Raubgesindel, gegen das Gezücht, das unserer Mutter-
erde Antlitz mit dem Unrat seiner Greuel so frech entehrt.
. . . Rauhgesindel 1 Fort! Vertilgt das
Ungeziefer von der Erde!
Legt Giftbrocken! Grabet Gruben!
Stellet Fallen! Leget Schlingenl
Überschleicht sie, wenn sie schlafen,
mordet, mordet ohne Gnade
dies Gezficht, das unsrer Mutter
Erde Antlitz mit dem Unrat
seiner Greuel frech entehrt.
Fort die Binden, laßt mich, laßt mich! . . .
•
Es war wohl Hauptmann, es war wohl dem friedlichsten
aller Dichter nicht möglich, anders als mit Haß gegen den
Haß, mit einer Kriegserklärung gegen den Elrieg zu
schließen. Gesammeltes Leid, Demütigung des Mensch-
290
liehen, rote Scham über unser Christentum verlangte nach
diesem Ausbruch, da auch seine Wunden noch bluteten.
Als Gerhart Hauptmann sein Bimini suchte, verschlug
ihn der Sturm, der in der Welt und in ihm noch raste,
wieder unter die Menschen, und wie einer, der den Blick
noch nicht abkehren kann, den die Welt noch nicht sein
läßt, bot er sich zum Zeugen eines der großen histori-
schen Verbrechen, die das mit seinen Göttern unterliegende
Volk stumm, die das siegreiche beredt und selbstbewußt
gemacht haben. Gegen die dokumentierte Überlieferung
hat sich Hauptmann die nötige dichterische Freiheit schon
dadurch gewahrt, daß er die für Gott und die Kirche ver-
richteten Heldentaten nicht von Seiten derer ansah, die sie
aufschrieben und sich brünstigen Glaubens obendrein im
Himmel gutschreiben ließen. Aber durch die Last des
Chronikalischen, die da abzutragen war, kann der Weiße
Heiland immer noch als eine Art historischen Dramas auf-
gefaßt werden. Wie tief Hauptmann auch in Montezumas
des Leidensmannes Passionsgeschichte den Sinn dieses
furchtbaren Abenteuers hineinsenkt, und wie entschieden
auch unser Ohr diesem Herzschlag des Dramas im Lesen
gehören mag, gerade die Versinnlichung durch die Bühne
wird es nicht vermeiden können, die äußeren Gegensätze
zwischen zwei Rassen und zwei Kulturen hervorzuheben
und die wehmütige Stille der dramatischen Phantasie mit
Kriegsruf und Waffenlärm zu übertönen.
Als Gerhart Hauptmann ein Jahr darauf das drama-
tische Gedicht „Indipohdi" (Niemand weiß es) folgen
ließ, suchte er wohl weiterfliehend wieder die endliche
Stille, das wahre Bimini, und er benahm sich wie einer,
der sein letztes Drama zu schreiben hat, um nur noch eine
i^ 291
Friedensbotschaft zu hinterlassen. In dieser Gemütsver-
fassung hat er dem Träger seines letzten Dramas den Namen
von Shakespeares letztem Helden Prospero gegeben. Auch
der „Sturm'' war eine utopische Elegie, aber sie stammte
aus einer Zeit, da noch unbekannte Inseln, jungfräuliche
Welten aus dem Meere auftauchten, allerdings um nach
Anwendung der nötigen Waffengewalt von einem neuen
nordischen Eroberergeschlecht der jungfräulichen Köni-
gin zu Füßen gelegt zu werden. Auf dieser Geisterinsel
träumt der alte erprobte Staatsmann Gonzalo von einem
wiedergewonnenen Paradies, in dem es keine Gewalt, keinen
Verrat, keinen Betrug, keinen Dienst und keine Gemarkung
gibt, in dem der alte Fluch vergessen ist, mit dem der
Mensch aus dem Paradiese vertrieben wurde. Aber auch
die Weichheit des Abschieds machte Shakespeare nicht
wehmütig; er läßt den alten Staatsmann gerade im Augen-
blick träumen, da Verräterdolche gegen seinen Herrn ge-
zückt werden. Shakespeares Spiel bleibt ein Spiel und seme
Zauberinsel ein Märchen, das glücklich gerettete junge
hoffende Menschen hinter sich lassen. Sie kehren ins Men-
schenland zurück und selbst Prospero verlangt es wieder
nach seinem Reiche, wenn auch nur nach dem Grabe in
seiner Erde, das ihm Kinder und Enkel schmücken sollen.
Den modernen Dichter, der jenseitiger, der 2sugleich
christlicher und pessimistischer denkt, verlangt es nach völli-
ger Abdankung, nach Auflösung der Persönlichkeit, nach der
Rückkehr in das Ein und All, das Hölderlins metaphysische
Liebe sehnsüchtig verehrte. Und so ist dem Prospero
Hauptmanns auch der Empedokles vorangegangen, der
gegen das Göttliche sein letztes Gesetz erfüllt, nachdem
er den Menschen in der Götter Namen Gesetze gegeben
292
hat. Auch dieser neue Prospero ist ein König im Exil, ver-
trieben von dem eigenen wilden Sohne, dann mit seiner
Tochter an einer Südseeinsel gelandet, die gleich dem Volke
Montezumas nach einer alten Botschaft auf neue weiße
Götter wartet. Den alten Göttern galten die Menschen-
opfer, die nun von dem zu den Wilden verschlagenen weißen
und weisen Manne aufgehalten werden. Es spielt also dieser
Prospero auch die Rolle der Goetheschen Iphigenie; er
findet eine Art Thoas an dem ihm ergebenen Oberpriester,
der ihn wie einen Heiland verehrt, er findet an der Tochter
des Priesters, nicht an der eigenen, die mild Verstehende,
die Vertraute seiner Leiden, die als die echte Erbin seines
Geistes das Göttliche in ihm erfühlt und die Sendung,
die ihn aus der Welt herausführt, wenn sie der Welt ver-
bleiben soll.
So steht dieses Gedicht Indipohdi, dem Hauptmann
noch den anderen Titel „Das Opfer" hinzufügte, in seiner
Gefühlslage, in seinem Bedürfnis der Entsühnung von allem
Atridischen des Menschengeschlechts der Iphigenie nahe,
wie es die Geschicke der an der fernen Insel Gescheiterten,
der friedlichen, wie der kriegerischen, der gewissensvoUen
Gedankenmenschen wie der gewissenlosen Tatmenschen
nach Shakespeares Sturm erneuert hat. Aber Hauptmanns
Dichtung versagt sich den einen Vorteil der Anlehnung an
einen geläufigen alten Mythus, wie sie andererseits nicht
mit der shakespeareschen Unangefochtenheit eine wirkliche
Zauberinsel mit den Ungeheuern und den guten Geistern
des Märchens ersinnen darf. Unsere Zeit hat keinen My-
thos, kann ungeheuerliche Schicksale der Volksgemeinschaf t
nicht in den vertrauten Anschauungen zugleich nationaler
und religiöser tiberlief erung darstellen. Der Faust war
293
noch eine Legende, aber Richard Wagners Walhall steht
doch auf philosophischen Luftmauem. Der symbolisch
schaffende Dichter friert in einem leeren Raum, den er
allein zu erfüllen hat, und unsere Dramatik muß sich in je-
dem Fall ihr Klima und die dazugehörige Vegetation yon
neuem herstellen. Um wieviel mehr, wenn sie sich von der
Scholle, wenn sie sich sogar von unserer Kult urwelt loslöst,
um sich Voraussetzungen auf eigenste Verantwortung zu
schaffen.
Dieser neue Prospero wird noch mehr als der geschicht-
lich beglaubigte Montezuma auf die Verständigung mit
sich selbst angewiesen sein, während seine Insel der De-
koration, während sein exodsches Volk der Maskerade yer-
fällt. Als das Stück in Dresden zuerst aufgeführt wurde,
konnte sich die Aufmerksamkeit auf das Bekenntnis, auf
den stillen Gang des inneren Dramas nur schwer gegen die
Tomahawks und Kriegsrufe der Indianer behaupten, die
für Prospero oder für seinen Sohn fechten, gegen das Sicht-
bare des Kampfes um die Krone, die von dem Vater ver-
ächtlich hingeworfen, von dem Sohne begierig aufgenom-
men wird. Gegen Spiele und Tänze der Indianer, gegen
die Kultverrichtungen ihres Opferdienstes, die sich in
ihrer erfinderischen Buntheit doch nicht mit der Würde
beglaubigen können, die im alten, dichtbelaubten heiligen
Hain von Kolchis gebietet.
Wir glauben auch nicht mehr an vertriebene Könige,
wenigstens nicht an ihre Entrückung in ein poetisches Exil
mit den unveräußerlichen Rechten des Gottesgnadentumi.
Allein nach innen gedeutet und aus dem Tatsächlichen ins
Gedankliche gefiltert wird uns die Geschichte Prosperos
wichtig, dem sein wilder Sohn Omnann auch nach
294
märchenhafter Scheiterung folgt, gegen den er die noch wild
gebliebenen Indianer, sogar die eigene Schwester in un-
bewußt blutschänderischem Verlangen aufruft, bis er den
Vater erkennt. Es ist ein Anagnorismos von rein symboli-
scher Bedeutung wie zwischen Odysseus und Telemach.
Der Sohn erkennt die Heiligkeit des Leids, die Gewissen-
losigkeit jeder Tat, die einzige Schaffenskraft der Idee, die
das Opfer des Selbst verlangt, weil sie jenseitig ist. Die Be-
wohner dieser Insel, ob sie sich der Überlegenheit des
weißen Mannes ergeben, ob sie sich ihr sogar mit kaniba-
lischer Primitivität widersetzen, umgeben diesen ideellen
Konflikt recht exzentrisch und auch außerhalb unserer Ge-
fühlssphäre, wie ja die Schilderung primitiver Rassen oder
Kulturen sich bisher etwas höhnisch jedem Versuch wider-
setzt hat, der etwa über die Ansprüche von Coopers Leder-
strumpf hinauszielte. Prinz Orrmann selbst und die wilden
Kumpane seines Beutezuges, die mit ihm scheiterten, wer-
den schon durch eine zugreifendere Charakteristik gepackt
und beglaubigt. Aber ihre Geschicke, an sich selbst unselb-
ständig, fließen doch nur in das des Prospero hinein oder
lassen den Strom schwellen, der ihn aus dieser Welt hinaus-
trägt. Prosperos Situation ist wohl erdacht oder aus alten
Überlieferungen der Weltliteratur wieder zusammenge-
setzt, aber seine innere Verfassung ist durchaus erfühlt, die
Verzweiflung und Selbsterlösung, die Tiefenlage, zu der
des Dichters Seele heruntergedrückt wurde.
Allein wegen seiner Figur möchten wir dieses melancho-
lische Bekenntnis nicht entbehren, diese Stimme De pro-
fundis, die nicht nach einem helfenden Gott ruft, diesen
Triumph des Leids über die Welt der Not, des Zwanges,
der Täuschung, und diese letzte Selbsthilfe durch Selbst-
295
auflösung. Du hast gesiegt, was du gelitten^ — bieB es schon
früher in dem von Gerhart Hauptmann ausgegebenen dra-
matischen Entwurf des T7II Eulenspiegel. Im AugenUick,
da Prospero von seiner indianischen Schülerin Teihnxa noch
einen merkwürdig spät erotischen Abschied nimmt, da er
aus ihren Armen im Nebel über dem feuerspeienden Berge
verschwindet, trägt er statt seiner Elrone, die er einnud er-
erbte und einmal gewann, nur noch eine BettlersduJe in
den Händen. Dieser Epilog zu Hauptmanns dramatiadiem
Schaffen, der aber wieder zu einem Prolog werden kfinntei
bedeutet, wenn auch ungewollt, eine völlige Sjnthflse von
Hölderlins Empedokles, den der Ätna aufnimmt, und
Shakespeares letztem Helden, der seinen Stab zerbricbt und
seine grausen Zaubereien abschwört. Und wenigitena in
der Figur seines neuen Prospero ist Hauptmann diese Ver-
schmelzung in der Glut einer echten Temperamentahand-
lung gelungen.
Mein Leben ward Magie. Ich ward zum Ma|^.
Es lag bei mir, Gestalten aufsorufen,
gastlich sie zu bewirten, oder sie
mit einem Wink zu scheuchen in das Nichts.
Die ältesten Dichter waren Gesetzgeber, und dieSitetten
Gesetzgeber haben Verse auf eherne Tafeln geschrieben.
Auf diese alte mythische Einheit kommt Hauptmann n-
rück, und der bekannten pathetischen Deklamation eines
schwärmenden Lyrikers, daß der letzte Mensch der letzte
Dichter sein wird, gibt er die Geltung und Würde eines
höchst persönlichen und tragischen Erlebnisses. Welche Ver-
messenheit zu dichten, in der Schöpfung noch eine zweite
Schöpfung, in der Täuschung noch eine Täuschung zu
wollen! Was er webt, das weiß kein Weber. Oder das
296
will kein Weber, — scheint Hauptmann nach dem Bimini-
Dichter zu sagen. Jeder hat einmal den Zaubermantel
mit den furchtbaren Zeichen wieder abgelegt im Grauen
über die Gewalt, die immer diesen zweiten Demiurgos
überwältigt.
Noch einmal in dem heiligen Augenblick
des Abschieds, wo der mächtige Webstuhl noch
dröhnt und mein Werk erschafft, was doch nicht mein ist,
grüß ich dich, furchtbare und wundervolle Welt
des Zaubers und der Täuschung. Du gebierst
millionenfachen Fluch, wie Blumen auf
glückseligen Wiesen, und ich habe sie
jauchzend gepflückt und jubelnd mich gewälzt
im Schmerzenstau, im Todesduft der Gräser.
Und als mein inmierwachsendes Geweb
mich enger stets umstrickte und Gestalt,
unzähliger Form, mich, der sie schuf, umdrang,
da würgte mich mein eigener Zauber, drang
mein Volk von Schatten grausam auf mich ein
und legte mich, den Schöpfer, an die Folter . . .
Indipohdi ist Hauptmanns zweite Passion nach dem
Weißen Heiland, die des Denkenden nach der des Träu-
menden, die des Schaffenden nach der des Leidenden cxler
vielmehr die des Leides der Tat nach der Tat des Leides.
Montezumas Königskrone wurde zur Dornenkrone. Pro-
spero hat seine Krone niedergelegt und dafür die Bettler-
schale eingetauscht, aus der eine blaue Flamme empor-
lodert. Und diese Darbietung des Selbst dürfte wohl die
letzte und allein wirksame Magie sein. Der Weiße Heiland
und Indipohdi sind gewissermaßen Vermächtniswerke, aber
es ist nicht der Dichter, sondern es ist eine Dichtgattung,
die die Welt hinter sich läßt, die sich nach einem unver-
gleichlichen Frühling, nach reichem sommerlichen Aus-
bruch in ihm auszuleben scheint.
297
Hauptmanns gesamtes dramatisches Werk, das in diesem
herbstlichen Äusklingen mehr Welt meidet als Welt schafft,
hat gerade in der Kriegszeit, die für uns noch nicht auf-
hören will, eine denkwürdige Auferstehung gefeiert. Eine
Zeitlang stand unser Dichter im Schatten neben Ibsen, um
dann die Sonnenseite zu gewinnen, nachdem wir aus dem
Laboratorium des großen nordischen Magiers und Apo-
thekers etwas lufthungrig und wärmebedürftig wieder ent-
lassen worden waren. Hauptmann war nie ein Rechner,
seine Dichtung hat nicht die Dialektik, die das Erlebnis in
den Kühlraum des Gedankens hinaufführt; dafür hat sie
das stärker pochende Herz. Wie det arbeet! sagte Max
Liebermann in seinem treuen Berlinisch von den Einsamen
Menschen. Wir haben dieses Werk und manches andere,
das Hauptmann mit allen Fäserchen aus poetischer Mutter-
erde ausgegraben hatte, in den letzten Jahren wiederge-
sehen, und sie schienen neue Wurzeln geschlagen zu haben.
Nicht nur die verbreiteten volkstümlich gewordenen Stücke,
sondern auch die der fragmentarischen Schönheiten, die
sich nicht zu dem zweckvollsten dramatischen Körperbau
ausgewachsen haben. Als die „Ratten^^ Anfang 1912 auf
der Bühne zuerst erschienen, wurden sie nur für einen
naturalistischen Spätling gehalten, für den Beweis einer
Kunst der Milieuschilderung, den gerade Gerhart Haupt-
mann nicht mehr zu erbringen brauchte. Der Literatur
war der Weg der Entwicklung vom Naturalismus als einem
ewigen Wiederaufgang aufgegeben worden bis zu einer
Höhenkunst, die sich neuromantisch oder symbolisch nannte
und die nach früheren Mustern in einer neuen Klassizität
des Stils gipfeln sollte. Als die „Ratten^^ nach zehn Jahren
wieder in Berlin und an dem richdgen Platze der „Volks-
298
bühne" erschienen, war ein ungeheuer verstärkter, das
Pubhkum eisern umklammernder Eindruck festzustellen,
wenn sich auch die beiden letzten Akte wieder etwas aus-
einanderzogen. Erst die gesteigerte Empfindlichkeit einer
schwer erschütterten und geprüften Zeit erfühlte jetzt die
Wucht, erahnte die symbolische Bedeutung eines mäch-
tigen sozialen und politisch furchtbar ahnungsvollen dra-
matischen Freskos. Der Anspruch des Titels war nun ge-
rechtfertigt. Wie manches andere hat auch dieses Stück
nachgearbeitet, derweilen es eben ruhte oder derweilen
man es etwas unbekümmert hatte ruhen lassen. Gerade
als unsere Jugend, von dem Schlagwort Expressionismus
geleitet, die Natur zu überspringen sich vermaß, als sie
die diktatorische Gewalt des Subjekts, des gebieterischen
Ich zur einzigen Souveränität und Substanz erheben wollte,
hat allein das stille Walten einer süßen Naturkraft, hat
allein eine unwiderlegbare, unzerlegbare Gemütsgewalt,
die das höchst Persönliche zum Überpersönhchen erhebt,
den ungeheuren Erschütterungen widerstanden, die unsere
Fassungskraft zu sprengen drohten. Hauptmann war wie-
der unser menschlichster und sozialster Dichter, von kei-
nem Ereignis überholt oder erschöpft, wie er auch als der
nationalste anerkannt werden muß, weil er der volk-
hafteste ist. Große Dichtungen zeigen sich auch Mißver-
ständnissen oder Willkürlichkeiten oder tendenziösen Aus-
legungen gewachsen. So hat man nach der Revolution aus
den Webern, deren Stärke ihre Schwäche ist, fauststarke
moderne Proletarier gemacht, die ihren Klassenstand-
punkt haben und morgen die pohtische Herrschaft über-
nehmen werden. Die Weber waren eine Anklage in Per-
manenz gegen die Grausamkeit menschlicher Einrich-
299
tungen, ein mystischer Chor De profundis, wdl der
Ärmste, den es immer geben wird, unser Ankläger und
Richter am Jüngsten Tage sein muß. Man nahm Haupt-
manns Figuren das Lauschige, Eandhafte, das Koboldhafte
ihrer schlesischen Eigenart, man nahm dem seelischen Ge-
spinst die Zartheit, der tragischen Idylle die Anmut, um
eine religiöse Grundstimmung in eine vorübergehende po-
litische Wirkung umzusetzen. Aber die gewalttatigenWeber
werden vorübergehen und die Gewaltlosen werden bleiben.
Manche Stimmen aus seinem Weric sind besser als früher
gehört worden, weil sie erst auf eine furchtbare Bestätigung
durch die 2^it der Not zu warten hatten. So ist gerade der
Florian Geyer, dem der Dichter am tiefsten nachgetrauert
hat, als ein prophetisches Werk wieder auferstanden, wenn
sich auch der gewaltigere Bauernkrieg ihm nicht so rein
aus der Studie ins Symbolische gelöst hat wie der kleine
Weberaufstand. Als Bismarck noch lebte, kam der dunUe
Held dieser deutschen Tragödie zugleich zu spät und zu
früh. Der Florian Geyer vor Weinsberg lag, da nahm er
die schwarze Fahn und sprach . . . Ballade von einem Hel-
den, der eigentlich nichts tut, als daß er einen rohen
Kriegsknecht niederschlägt, ein paar Reden hält, ein paar
Kannen Wein trinkt, den Harnisch abwechselnd auf- und
zuschnallt und nichts lenkt, nichts fördert als seinen ziem-
lich nutzlosen Untergang. Hatte der Verstand früher für
ihn nichts übrig, so jetzt das Gefühl alles. Es zeigte sich,
daß Magie in ihm ist, Dämonie der Liebenswürdigkeit, und
selbst leidend waren wir nun bereiter, ihm unser Mitleid
so gut wie einem Egmont zu schenken. Das Stück hatte
sein Auge neu aufgeschlagen, uns mit einer neuen Stimme,
mit einer tieferen IQage angerufen. Der deutschen Zwie-
300
tracht mitten ins Herz: dieses Wort wurde nun mit einer
leidenschaftlichen Bewegung erwidert. Aber es war nicht
allein die Gunst von dieser Zeiten Ungunst. Die Ballade
vom Ritter, der sich zum Bauern macht, der Bruder
Mensch werden will, ist noch melancholischer geworden
als ein Lied vom Untergang, ein PreisUed auf den Helden
des Herzens ohne Tat, auf einen erschreckend unpolitischen
Stimmungsmenschen, auf unseren unvergänglichen Bruder
Michel mit seinem Besten, seinem Gefährlichsten, was auch
unser Bestes und GefährUchstes ist. Die Florian Geyer
brauchen nicht mehr hoch zu Roß zu kommen, sie können
auch auf einem Schreibstuhl reiten, aber wem von ihnen,
wie dem fränkischen Ritter, ein brennend Recht durchs
Herz fUeßt, der wird wieder seine Tumbheit geerbt haben
oder die Waffenlosigkeit des würdig Vertrauenden und
die Blöße für einen tückischen Bolzenschuß.
Unverführt von dem theatralischen Glanz der wilhelmi-
nischen Epoche — der echte Dichter bleibt immer Spiel-
verderber—hat Gerhart Hauptmann die Heimsuchungen
und Erschütterungen des Weltkrieges und der Weltnot vor-
her gefühlt. Als sie dann eintraten, hat Hauptmann die
furchtbaren Begegnungen mit dem Schicksal in die exoti-
schen Fresken seiner letzten Dramen verwebt, auf denen
aber immer nur eine, nur seine Figur in der hieratischen
Haltung eines Geopferten und Opfernden recht sichtbar
wurde. Darin war Abschiedsstimmung, Weltflucht, utopi-
sche Sehnsucht, und diese Reihe scheint noch nicht ab-
geschlossen, da der Dichter ja noch dem Schicksal des ver-
schollenen Prinzen, der ganz zu verschwinden wußte, zu
symbolischer Ausdeutung nachdenkt. Das Drama, mit dem
er sich in seinem Frühling die grüne Wirklichkeit zu eigen
301
machte, das ihm aus der heimatlichen Scholle so lieblich
wie ernst aufblühte, wird ihm vielleicht immer mehr zu
einem Abgesang, zu einer stillen nach dem jenseitigen
Reiche schwebenden Melodie werden. Aber auf einer er-
höhten Stufe wird der Dichter erwiesenen Könnens zu
einem Weisen, dem jede Form recht ist und der jede
braucht, um der leidenden Menschheit, die er so wenig wie
sich selbst im Stich lassen kann, Richtung und Aussicht zu
hinterlassen. Der große befruchtende Strom teilt die Über-
last seiner warmen Woge in ein vielarmiges Delta, bevor
er sich ins Meer ergießt. Wer je die Gunst gastlicher Tage
in Hauptmanns Haus Wiesenstein über Agnetendorf ge-
noß, der wird sich auf die großen Manuskriptenschranke
verlassen, die der Dichter nur zögernd öffnet, hier auf alte
Pläne weisend, die ihm nach dem Kriege wiederkamen,
dort auf neue, die ihm gerade Krieg und Revolution ein-
gebracht haben. Der wird nicht ohne die fröhliche Sicher-
heit fortgehen, daß dieser Schaffende von der echten Sei-
denwurmnatur sich in eine zweite Jugend — oder ist es
schon die dritte — still hinüberzuspinnen beginnt. Sei
es Roman oder Epos oder autobiographisches Bekenntnis
oder aphoristische Glosse oder auch halb lyrische Erneue-
rung der strengen Terzine, er wird sich auf alle Arten mit
einer neuen Wahlfreiheit zwischen den Formen in Haß und
Liebe bekennen, er wird vielgestaldg auch uns gestalten in
einer vulkanisch aufgewühlten Zeit, da Götzen stürzten und
neue Götter gesucht werden.
So stehen wir wahrscheinlich vor einer unerwarteten und
doch aus innerlichem Bedürfnis zu begreifenden Um-
kehrung, daß Hauptmanns Einsamkeit und Friedenssehn-
sucht sich in der früher kampferischen Form des Dramas
302
anbaut, daß er aber in die Rüstung der ruhigsten und ge-
setztesten Form gehüllt das Lebenwollen und Leben-
müssen der Menschheit mit epischen Gesängen begleitet.
Da wird sein Volk ihn finden und da wird er mitten unter
uns sein.
Deutschland war immer ein etwas unauffindbares Land.
Für die anderen und für uns selbst. War es jetzt in unseren
Massen, in unseren sozialen Aposteln, in unseren politischen
Führern, in unseren rechten und linken Desperados? Es
war wohl im Herzen eines Liebenden, eines Verzagenden
und wieder Hoffenden verwahrt. Wir wissen, daß Haupt-
mann uns wahrscheinlich schon zu seinem sechzigsten Ge-
burtstage mit dem Epos „Tyll Eulenspiegel" beschenken
wird, mit der großen Passion der weltliebenden, der welt-
flüchtigen, der tragischen deutschen Seele. Sollte die
Kunstform des Dramas von der Vorherrschaft seines
Schaffens abdanken oder nur noch die Klagen und Klänge
seiner Herbststimmungen sammeln wollen, so hat sich
der neue Frühling schon in zwei erzählenden Werken
angekündigt, die starken Atems, festen Schrittes, von
neuem Lebenssafte schwellend einer blühenden Nachfolge
Toranzugehen scheinen.
XVIII
NEUE JUGEND: DER KETZER VON SOANA.
ANNA
Eros ist älter als Kjonos, so heißt es in Hauptmanns Er-
zählung „Der Ketzer von Soana", die gegen das Ende
des Krieges (191 8) und noch vor seinen beiden dramati-
schen Passionen erschien. Man hätte ihn fragen können, der
Meister des Westöstlichen Diwans darf nicht mehr gefragt
werden, ob er in der Zeit ungeheurer nationaler Prüfung
an nichts Besseres als an Liebesgeschichten zu denken hatte.
Allerdings hätte man zugleich auch Arthur Schnitzler und
Thomas Mann verhören können, die Hauptmanns meister-
liche Erzählung mit zwei erotischen Stücken hoher stilisti-
scher Prägung flankierten. „Casanovas letztes Abenteuer"
galt dem müden Eros; Schnitzler hat sich von dem größten
Glücksritter der Liebe in seiner Demütigung des Alterns
und Verzichtens inspirieren lassen. „Der Tod in Venedig"
galt dem tragischen Eros, der seit der Aufhebung der von
Plato erschwärmten Einheit der Geschlechter die Grenzen
immer wieder verwirrt, unbekümmert um den Wechsel
sittlicher Anschauungen und Einrichtungen. Hauptmanns
Erzählung hat weniger literarische Voraussetzungen als diese
beiden; das Schicksal seines Priesters, der die Gelübde eines
Weibes willen bricht, spielt sozusagen mehr in der Naturge-
schichte als in der Kulturgeschichte des Menschen; zu-
gleich heutig und zeitlos dehnt sie sich zu einer Spannweite,
die noch die Jugend des alten Adam ergreift und ihn wieder
vor den ersten Sündenfall zurückstellt. Derselbe Bekenner,
den die Verzweiflung an der Menschheit, an ihrem mörde-
rischen Kulturwahn fast aus der Welt treibt, hat auch die
304
Gabe der Erneuerung» des Nachkeimens und NachUähens,
der geheimnisvollen Selbstbefruchtung empfangen, die das
Genie in seiner Zweigeschlechtig^eit am gültigsten beweist.
Die sinnlichen Naturen haben größere Lebenskraft als die
einseitig männischen Geister der Reflexion, der Dialektik
und Rhetorik. Während der Geist ermüdet, treibt das Blut
mit neuen Säften in einem Kreislauf, der auch die Jugend
wiederum umfaßt. Kronos wird alt und Eros bleibt jung.
In Wahrheit wissen wir nie, wo der Dichter steht — das
bringen die Biographen erst nachher in Ordnung; — aber
wir können uns darauf verlassen, daß er immer richtig steht.
Selbst wenn wir von Hauptmann in den letzten Jahren
nichts anderes empfangen hätten als diesen sehr heidni-
schen „Ketzer von Soana*' und das ihm folgende Liebes-
gedicht ,,Änna^% wir brauchten nicht zu zweifeln, daß für
ihn, der nie vom bloß Erlernten und Gedachten, der immer
von seinem Eigensten und Nächsten, Blut und Nerven
gelebt hat, das Geschick seines Volkes nun zu seiner größe-
ren Biographie, zu seinem weiteren Leibe geworden ist mit
der Fähigkeit aller Schmerzen, aber auch mit der ^ück-
haften Fähigkeit jeder Gesundung. In seiner großen Rede
vor der Wiener Universität im Oktober 192 1 hat Haupt-
mann uns zu Füßen des Berges der Läuterung gestellt, den
wir ohne alle schimmernde Wehr mit der Tapferkeit des
Herzens und in froh gläubiger Demut zu erklimmen haben.
Aber Hauptmann ist kein Dante, kein Hasser über alle
Gräber hinaus, kein Höllenrichter, der dem alten Hades
das Richtschwert abnimmt. Als Gesandter des deutschen
Geistes vor unseren zum Pariatum heruntergestoßenen
Brüdern in Österreich sprach er von dem Teller Erde, den
sich Goethe vor seinem Tode zu frommer symbolischer
•• 305
Anschauung reichen ließ. Hauptmann ist gütig wie die Erde
selbst, im tiefsten sogar froh und mutwillig wie ein Ge*
birgsflüßchen seiner Heimaty das die Wiesen grün, das die
Mühlen und Spindeln geschäftig macht, und er hat nie
anders als aus Liebe geschaffen. Auf Eros und Neikos, Liebe
und Haß, hat der griechische Mythos die Entstehung der
Welt gegründet. Hauptmann ist der Dichter des Eros,
wenn je einer war, ein Priester vom Mysterienkult der
Zeugungskraft, der unbefleckbaren Empfängnis; die Natu-
ra naturans entläßt seinen Menschen nicht aus ihrem
Schoß, die alte Mutter Isis stillt seinen Menschen an ihren
Brüsten.
Die Geschichte des Ketzers von Soana ist in einen
Rahmen gefaßt, mit dem die romantische Erzählungskunst
gern ihre Erfindungen schützte; sie wird uns durch einen
Reisenden als eine seltsame Begegnung weitergegeben.
Hauptmann hat den Rahmen sehr schmal gehalten, und
der „Herausgeber dieser Blätter", wie sein Amt sich etwas
steif bezeichnet, läßt sich nur die nötigste Zeit der isolieren-
den und stimmenden Vorbereitung, bis der merkwürdige
brillentragende Hirt oben auf dem Monte Generoso seinen
antiken Steintisch von einer homerischen Mahlzeit abge-
räumt hat, um ihm seine Geschichte vorzulesen. „Francesco
Vela war bleich und zart. Sein Auge lag tief. Hektische
Tupfen glühten auf der unreinen Haut seiner Backen-
knochen." Es ist wohl nicht ganz wahrscheinlich, daß der
frühere Priester, der nicht nur die Kirche, sondern auch
unsere Kulturwelt hinter sich ließ, daß der Herr über diese
Einsamkeit, der lustvoll ergriffene Zuschauer zu den Liebes-
kämpfen seiner Böcke, das Bild der Jugend wie im Spiegel
aufgenommen hat. Aber der zottige MBrte, der doch auch
306
Johannes dem Täufer ähnelt, bewahrt in seiner Hütte die
klassischen Autoren, beweist sich als Kenner der schwarzen
Magien und alten Mysterienkulte von Pan und Dionysos,
von Mithra und Wischnu, und wenn man sich erst an die
Vorstellung gewöhnt hat, daß die Hand, die die Ziegen
melkt, die alte Pansflöte meistert, auch einmal eine Feder
führte, so wird man der ungeheuren rauschvollen Gewalt
seiner Erzählung nicht mehr widerstehen können.
Der junge Priester, der asketisch und weltfremd und
doch mit der Autorität seiner Weihen eine kleine Gemeinde
im Tessinischen lenkt, wird in die höchste Bergeinsamkeit
zur Seelsorge eines verkommenen und verächtlich gemiede-
nen Paares gerufen, eines blutschänderischen Geschwister-
paares, das über den Menschen da unten und über all
ihren Begriffen wie vor der Einführung des Christen-
tums und vor den Anfängen aller Zivilisation lebt. So emp-
fängt Francesco das ihm bestimmte Weib rein aus den
Armen der Natur, die sich in ihrem Geschöpf ihm zum
erstenmal offenbart und mit nie gefühlten Mutterarmen
nach ihm greift. Schon der junge Frühling, durch den
der Priester und Heilsbringer, vermessen zu binden und
zu lösen, ins Hochgebirge emporsteigt, hat etwas Heid-
nisches, Unerlebtes, ihm Ununterworfenes, als ob er mit
einer alten Göttlichkeit vor allen seinen Heiligtümern da-?
gewesen sei. Die freche Unzucht des schmutzigen, des mit
der Kirche handelnden und lügenden Hirtenpaares ver-
wirrt ihn; ihr heidnischer Fetischdienst an einem verlore-
nen Phallusbildchen entsetzt ihn; aber der Anblick ihrer
Tochter, ihrer unschuldigen wilden Schönheit läßt ihm
den leisen Schrecken, der sich nicht fortbeten, der sich
nicht fortkasteien läßt. Schwarze Magie umlauert den
.0* 307
Priester mit Vorstellungen, Wünschen, Traumen, die gar
keinen Ursprung in ihm selbst, in der kindhaften Unan-
gefochtenheit seiner geistigen und geweihten Jugend
haben können. Francescos Sinne erwachen und beginnen zu
lesen; die Natur offenbart sich ihm in Zeichen, Wort,
Schrift, Gedanken, ein ungeheurer, bilderreicher, - töne-
rieselnder, nichts als Leben brausender, nichts als Leben
wollender Psalter.
„Wo alles quoll, wo alles pulsierte, sowohl in ihm
als um ihn herum, wußte Francesco den Platz des Todes
nicht auszumitteln. Er berührte den Stamm eines Kasta-
nienbaumes und fühlte, wie er die Nahrungssäfte durch
sich empordrängte. Er trank die Luft wie eine lebendige
Seele ein und wußte zugleich, daß sie es war, der er
das Atmen und Lobsingen seiner eigenen Seele verdankte.
Und war sie es nicht allein, die aus seiner Kehle und Zunge
ein sprechendes Werkzeug der Offenbarung machte ?" Der
Priester sieht, was er nie gesehen, sieht die braunen Fisch-
adler, die das Wunder des Blutes, das Wunder des pulsieren-
den Herzens in majestärischer Wonne durch den Raum
tragen. Auch die wechselnden Kurven ihres Fluges zeich-
nen auf die blaue Seide des Himmels eine unverkennbare
Schrift, deren Sinn und Schönheit aufs engste mit Leben
und Liebe verbunden sein muß. „Und er gedachte der
zahllosen Augen der Menschen, der Vögel, der Säugetiere,
der Insekten und Fische, mit denen die Natur sich selbst
erblickt. Mit einem immer rieferen Staunen erkannte er sie
in ihrer unendlichen Mütterlichkeit. Sie sorgte dafür, daß
ihren Kindern nichts im allmütterlichen Reich ungenossen
verborgen blieb; sie waren von ihr nicht aUein mit den
Sinnen des Auges, des Ohres, des Geruches, des Geschmacks
308
und des Gefühls bedacht worden, sondern sie hatte, wie
Francesco fühlte, für die Wandlungen der Äonen noch un-
zählige neue Sinne bereit. Was war das für ein gewaltiges
Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen in der
Welt! -
. Gerhart Hauptmann gestaltet den Rausch des Schöp*
fungswunders, und so starker Herzschlag mit solcher All-
gegenwart der Sinne hat wohl selten deutsche Prosa ge-
trieben. Solche Geschichte eines Priesters und eines Mad-
chens, dem er rettungslos zu eigen wird, ist oft und gewiß
auch von recht geringen Leuten geschrieben worden. Aber
jedes Bild gehört hier einem Meister, der noch über den
Rausch gebietet. Die Erscheinung Agatas, der jungen
Hirtin, mit der innerlich garenden, edelreif en Schläfrigkeit,
die die Wimper herabzieht und die Augen in überdrängen-
der Zärtlichkeit feucht macht, diese Schönheit hat nichts
Süßes,nichts Überkommenes, nichtsWiederholtes; es ist, als
ob die Farben eines Tizian wieder fließend würden, um ins
Licht und zum Auge des glücklichen Schauers zurückzu-
kehren, der von der lebendigen Schönheit auf der Leinwand
nur die Kruste lassen konnte. Man fühlt hier besonders,
daß der Bildner dieser in sich ruhenden Schönheit ein
Plastiker war und es immer geblieben ist. Die Rückkehr zur
Natur wird uns seit Rousseau gesungen, aber Hauptmann
ist zu sinnlich, um sie nur zu besingen, um außerhalb ihrer
sein zu können; in die Wunder der Schöpfung wollüstig
hineingerissen wird er Mitschöpfer und Eingeweihter ihres
Mysteriums. So schreitet er von Vollendung zu Vollendung,
und er läßt sich von keinem Rausch die Gelassenheit des
Bildners entführen, wenn er sein Paar, den neuen Adam
und die. neue Eva zur höchsten Liebesfeier vereinigt
309
zwischen den Armen eines Bächleins auf einem Laublager,
über dem Gewölke von Funken, Leuchtkäfern, Glühwürm-
chen, Milchstraßen und Stemenwelten in Garben auf-
steigen, als wollten sie leere Weltenräume neu bevölkern.
„Francesco war nicht Francesco mehr, er war als erster
Mensch soeben vom göttlichen Odem geweckt, als alleini-
ger Adam, alleiniger Herr des Gartens Eden. Es lebte kein
zweiter Mann außer ihm in der Fülle der sündenlosen
Schöpfung. Gestirne zitterten, hymnisch klingend, Glück-
seligkeit . . . aber alles dieses hing doch von Eva ab . . . aller
Gewürze Duft, ihre feinste Essenz hatte der Schöpfer in
Haar, Haut und Fruchtfleisch ihres Körpers gelegt, aber
ihre Form, ihr Stoff hatte nicht ihresgleichen. Ihre Form,
ihr Stoff war Gottes Geheimnis. Die Form bewegte sich
aus sich selbst und blieb gleich köstlich in Ruhe wie in
Wandlung . . . Und was in dieser Schöpfung, in diesem
wiedergewonnenen Paradiese das Köstlichste war, konnte
man wohl aus der Nähe des Schöpfers herleiten. Weder
hatte hier Gott sein Werk vollendet und allein gelassen
noch sich darin zur Ruhe gelegt. Im Gegenteil war die
schaffende Hand, der schaffende Geist, die schaffende
Macht nicht abgezogen, sie blieben im Werke schöpferisch.
Und jeder von allen Teilen und Gliedern des Paradieses
blieb schöpferisch. Francesco-Adam, soeben erst aus der
Werkstatt des Töpfers hervorgegangen, fühlte sich als ein
rings umher Schaffender. Mit einer Entzückung, die außer-
weltlich war, spürte und sah er Eva, die Tochter Gottes."
Das Manuskript des Hirten bricht hier ab, und wir blei-
ben der künstlerischen Weisheit des Dichters verpflichtet,
der für die Schicksale des Paares in der Welt, für seine Ver-
folgung, Verfemung und endliche Rettung in das wilde
310
Hirtenidyll der Pan geweihten Bergeinsamkeit nur Andeu-
tungen übrigläßt. Der Herausgeber dieser Blätter scheidet
von dem Anachoreten, der aber verheiratet sein soll, schei»
det berauscht von der Höhenluft, benommen von seinem
starken Wein und von der Wärme des Tages; absteigend
läßt er eins von den Abenteuern hinter sich, die bald un-
wirklich oder traumhaft werden. Aber der Dichter, die Ge-
schichte schließend und wieder einrahmend, läßt uns noch
einem gewaltigen Bilde begegnen, das ihr über alle roman-
tische Schwärmerei hinaus in seiner plastischen Kraft eine
letzte Festigung und Klassizität gibt. Unter die Men-
schen zurückkehrend begegnet er dem Weibe, den Ton-
krug auf dem Haupte, ein Kind an der Hand, begegnet er
der hochgeschürzten, starken, sicheren, urwesenhaften
Kanephore des Altertums, der syrischen Göttin, der Sün-
derin, die von Gott abfiel, um sich ganz den Menschen zu
schenken. Sie hat die vollen fast höhnisch gekräuselten
Lippen, gegen die es keinen Widerspruch gibt, wie auch
keinen Schutz, keine Waffe gegen die Ansprüche ihrer
Schultern, ihres Nackens und dieser von Lebenshauchen
beseligten und bewegten Brust. „Sie stieg aus der Tiefe
der Welt empor und stieg an dem Staunenden vorbei, —
und sie steigt und steigt in die Ewigkeit, als die, in deren
gnadenlose Hände Himmel und Hölle überantwortet sind."
Aus der heroischen Landschaft dieser monumentalen
Novelle ging Gerhart Hauptmann mit der nächsten Er-
zählung wieder in die Heimat, aus dem heidnischen Süden
kehrte er nordwärts unter die Christenmenschen zurück.
Ist der „Ketzer von Soana" noch irgendwie vom griechi-
schen Frühling erweckt worden, der ihm die Fortdauer
antiken Lebens in der Natur und der Natur bis auf den
311
panischen Schrecken versicherte, so fand er den Frühling
jetzt in der eigenen Jugend. Eine alte und treu verwahrte
Liebesgeschichte drang schon lange auf ihre Gestaltung;
ursprünglich als Novelle geplant, nannte sich „ A n n a" nun
ein ländliches Liebesgedicht und wurde in Hexametern
geschrieben (1921). Hauptmann hat es unter den Schütz
Virgils gestellt, aber des friedliebenden Sängers der „Bu-
colica", der den wieder trächtigen Acker, den wieder
grünenden Wald und das schönste Jahr pries. Das in antiker
Form besungene Land ist aber Schlesien, und sein Sohn
empfing die Weihe von der Nymphe des Salzbrunnischen
oder, wie es hier heißt des Salzbornischen Brunnquells; —
er war eins mit der Flut des Kastalischen Quells des Par-
nassos. Wir wissen aus Hauptmanns Lebensgeschichte, wie
er noch ganz ungewiß gegen seine Berufung bei Onkel und
Tante Schubert auf ihrer Besitzung im Striegauer Kreise
als Stoppelhopser diente, wie er von dem pietistischen
Paare, das sich später Vockerath nennt, bestimmt wurde,
ihm den früh gestorbenen Sohn zu ersetzen; der ihn,
den Unentschiedenen, den Langsamen, von der eigenen
Jugend Bedrückten, schon im Leben verdunkelt hatte —
durch die Fülle äußeren Reizes und innerer Gaben. Es ist
die Geschichte von den Berufenen und von den Auserwähl-
ten, die sich gewöhnlich erst am Ende aufklärt, und wir
wissen auch, daß der junge Hauptmann in diesen Lehr-
jahren trotz aller christlichen Liebe unter dem stummen
Vorwurf von vier Augen gelitten hat: warum gerade er?
warum nicht du?
In dieser ländlichen Besitzung, die nun statt Lederose
schöner Rosen heißt, ist der junge Gerhart, der nun nicht
schöner Luz heißt, noch einmal eingekehrt; er. besü^t
312
Onkel und Tante „Schwarzkopp", jetzt aber ein anderer
Kerl als der zweifelhafte Stoppelhopser, ein angehender
Dichter mit dem kühnen Kalabreser über dem Saffian-
gelock, das bis auf die Schulter herabfällt; und er hat auch
schon das erste Manuskript, sein Hermannslied, seine Recht-
fertigung, seine Unsterblichkeit in der Tasche. Die be-
drückende Stromtid hat er abgeschüttelt nach der ernied-
rigenden Schulzeit, die ihm das Rückgrat lädierte, die ihm
die Wahrhaftigkeit und den Freimut nahm. „Welch unend-
liches Glück", rief er aus, „ist die Freiheit des Geistes!"
Nicht nur ein schlesischer, ein jungdeutscher Apollo klopft
bei den biederen Landleuten an; auch ein Weiser, ein
Tapferer, ein Lebenskenner in allen Lebenslagen läßt sich
zu den einfachen Menschen herab, um seine Freiheit, wo
er einmal Knecht war, nun doppelt zu schätzen, um mit
der egoistischen Wehmut des Überlebenden, des Gerette-
ten, ihren Schmerz und ihre Trauer mitzugenießen. Und
nun kommt Anna, und nun — hebt den Liebesgesang, ihr
Musen, den Liebesgesang an!
Anna ist als Elevin in die Dachkammer ihres Vorgängers
eingezogen, von einer herrnhutischen Familie da abgegeben
worden, und eine feindselige, spannungsvolle Atmosphäre
geht um sie her, als ob viel an ihr zu retten und noch mehr
über sie zu schweigen wäre. Meisterhaft und nach dem
besten ältesten Kunstwissen verteilt Hauptmann die
schicksalhafte Begegnung. Luz sieht sie zuerst ganz als Bild
wie eine Gudrun mit dem Korbe am Arm, die dem Ge-
flügel sein Futter hinstreut. Von der zweiten Begegnung
erfahren wir- überhaupt erst nachträglich aus einer nächt-
lichen Unterredung Luzens mit iseinem .Schlaf genossen,
dem merkwürdigen önkel Just, dem alten Säufer und
313
Zyniker, den Oberamtmanns das wievielte Mal schon zu
seiner Rettung und Besserung in ihr christliches Haus ge-
lagert haben. Und so geht es in kleinen unwillkürlichen
Schritten weiter — Lessing hätte da für seinen Laokoon
noch ein paar klassische Beispiele gefunden — bis zum ersten
Alleinsein, bis zum Kuß auf die Stirn, bis zur ersten ge-
meinsamen Träne und bis zu den Stelldicheins im Garten
und Wald, die von einer wachsamen, heimlichen, boshaften
Vorsehung immer unterbrochen oder vereitelt werden.
Das Erlebnis ist von Luz, nicht von Anna aus gesehen, die
wir selten für uns allein haben, so daß immer Geheimnis
um sie bleibt. Was Luz aus dem Schweigen um sie erahnt,
aus dem Geraune zusammensetzt und auch durch die
Wände erlauscht, das letzte Wort von dem allen haben wir
wohl schon vor ihm heraus. Anna ist wirklich nicht, wie sie
sein sollte; ihre Schönheit hat schon einen Gymnasiasten
das Leben gekostet, und mit ihrer Schönheit hat Onkel
Just, der räudige Zyniker, der wieder Stellungslose und
durch die Säuferliste Ausgezeichnete, nicht erfolglos ge-
buhlt. Und dieser schöne Vampyr bleibt dennoch Gudrun,
nicht nur für uns, sondern auch für Luz, den Lebenskenner
in allen Lebenslagen. Der Dichter hat das Mädchen nicht
auf einmal beschrieben — seine Kunst macht wirklich einen
neuen Laokoon nötig — er nennt zuerst die märchenhaft
schillernden die Opalaugen, dann setzt er das Naschen, das
so spröde und rein im reinen Oval des Gesichts steht, und
schließlich zieht er die Strenge des Mundes darunter, aber
doch den Mund eines saugenden Kindes. Doch vor allem
sind es die abgearbeiteten Hände, die Luz den Apollini-
schen erschüttern, Heiligtümer und Wundmale aller Er-
niedrigung. Gudrun hat sechs kleine Geschwister auf-
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gefüttert; sie ist die gefährliche Schönheit, die Mißtrauen,
Ablehnung, Vorwurf aller guten Christen wie von selbst
auf sich zieht; sie ist die stolze, spröde, einsame Seele, mit
aller Schmach buhlend, die ihr angetan werden soll. Luzens
Liebe befiehlt ihr, daß sie rein sei, und der Weise, der
Dichter Gerhart Hauptmann gibt seinem Schwärmen
Recht aus einem tieferen Wissen, obgleich er die eigene
Jugend mit ironischer Güte ganz außer sich selbst gestellt
hat. Wer liebt, wird Schöpfer und Geschöpf zugleich, und
es gibt in der ganzen Weltliteratur wohl kaum ein höheres
Lied der Liebe, das diese Wiedergeburt, dieses Wiederauf-
wachen, dieses Augenaufschlagen zu einer neuen jungen
heiligen Welt vollständiger, ergreifender, brausender aus
tiefen Urelementen gesungen hätte. —
Anna, erbarme dich mein! Auf Erden nicht und nicht im Himmel
warst du je so geliebt. Und bliebst du in ewiger Jugend
und erlebtest das tausendjährige Reich Jesu Christi,
nie mehr wirst du, kein zweites Mal, solche Liebe erwecken.
Sprich ein Ja, wenn ich frage: du Heilige, darf ich dich lieben?
Dieses Ja, dieses kleine Ja nur, es tilgt von der Erde
alles Leid, allen Gram, alle Ängste und Nöte und Mühsal,
und die goldene Zeit, die noch jeder vergeblich herbeirief,
•ie ist da. Und ich sage noch mehr: dieses winzige Jawort
tilgt, vernichtet mit einem Schlag die von Sünde verderbte
Erde, zaubert hervor das verlorene Eden, auf daß wir,
wie dereinst, uns darin und glückselig und sündlos ergötzen.
Brot bist du mir und Wein, bist Luft mir, bist Sonne und alles.
Sieh, ich bebe, ich bin eiskalt, und mir perlt auf der Stime
etwas, was mir beinah wie Schweiß eines Sterbenden vorkommt.
Rühr mich an, und ich bin gesund, ja, und lag ich im Sarge,
tot, und sprächst du zu mir: Geliebter I und nur eine Träne
tropfte brennend auf mich herunter, nicht würd ich mehr tot sein.
Man ließe sich leicht hinreißen, das ganze Gedicht zu
zitieren, an dem die Versfüße nicht immer gezählt und
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gewogen sind, das aber wegen seiner inneren Vollkommen-
heit und tadellosen Bildung klassisch genannt werden muß,
und das uns einen feinen Rausch läßt von dem echten Nek-
tar der Unsterblichkeit. Unsere Liebenden werden wieder
in Hexametern sprechen müssen und sie werden von einem
Sechzigjährigen das Vertrauen zu der großen Passion
wieder lernen und die Ehrfurcht vor Eros dem Allsieger in
Streit. Das Herz hat keine Falten, sagt ein in seiner ent-
zückenden Banalität so gültiges französisches Sprichwort.
Aber wie hoch sich auch Luz verschwärmt, die Staatstreppe
des Pathetischen ersteigt sein Dichter doch nicht, der im
Gegenteil jeden Augenblick die Stufe vom Erhabenen zum
Lächerlichen herunterzuspringen vermag, wie er sie ebenso
sicher wieder herauffindet. Über die Liebe, die wir Deut-
sche immer ein wenig allgemein und im Vertrauen auf ihren
mystischen Nimbus hinnehmen, ist selten so substantiell
gehandelt worden, und sie hat sich selten so rein und rund,
so sehr als episches Geschehnis oder sagen wir ruhig als
Heldengedicht dargestellt. Hauptmann bemüht die Psycho-
logie nie für sich in lauernder Beobachtung, er holt die
Seele nicht aus dem Leibe heraus, er läßt beide hübsch
zusammen in ihrer sinnlich-übersinnlichen Undurchdring-
lichkeit. Hauptmann kann nie als Gehirnmensch aus seinem
warm zeugenden Klima, aus der lieblichen Vegetation
seines Gemüts heraustreten, und mit der Natur hat er sich
ja immer einverstanden gezeigt. Wie Luz erst durch Neu-
gier zu Anna gezogen, durch Mitleid gekuppelt wird, wie
er sich fühlt im ersten Bewußtsein seiner Manneskraft,
wie er gleich einem Hirsch durch das Gutshaus röhrt, da-
mit alle die bangen Christen merken, daß er furchtlos, voll
hoffender Kraft und auch sonst ganz ein Mann war, — wie
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der stürmische Frühling zum Sommer wird^ durch den
liebeszornige Hummeln ihren Baß brummeln, durch den
Finken geigen, Pirole schmettern, und wie dieses ungeheure
Naturkonzert aus Tönen, Farben, Düften doch ein süßes
Schweigen nicht ersticken kann, das fruchtbar und schläfrig
im Licht liegt: das ist Kapital, wie der Sänger von „Her-
mann und Dorothea", nun der vorletzte Homeride, zu
sagen pflegte.
Hebt, ihr sikelischen Musen, den Sang, den Liebesgesang
an! Aber man soll diese vierundzwanzig Gesänge nicht
etwa für ein einziges Liebesduett halten. Bukolica und
Georgica! Die Musen singen auch die tägliche Arbeit des
Landmanns, die unbarmherzige Fron, die ihm die Natur
feindlich macht. Hauptmann kennt diese Kette zu gut, um
ein Schäfergedicht damit zu bebändern, und seine Musen
halten sich nicht einmal vor dem Jauchefaß die klassischen
Nasen zu. Wir werden mit dem Gütchen Rosen befreundet,
wir wohnen uns in Tantejuliens Zimmer ein, wo die fromme
Christin für den Herrn Jesus sang, und .wo keines inbrünsti-
gen Tones Helligkeit das graue Gespenst der Trauer um
den Sohn zerreißen soll, den der Herr Jesus zu sich ge-
nommen hat. Hinter diesem alten Pietistenpaare, das die
Anna und den Onkel Just und überhaupt alle armen Seelen
retten will, brummelt die ganze Herrnhutische Brüder-
gemeinde und von ihr kommt endlich auch das Schicksal
mit den breitwandelnden, den langschäftigen Männern,
denen der Herr den Glauben so fest und die Kuh so fett
macht. Und der Bruder Tobler, nachdem Vater und
Mutter und Onkel imd Tante Nächte lang mit ihr ge-
brummelt haben, wird dann Gudrun mit sich nehmen,
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damit sie ihm das Bett warm halt und seinen sechs früh
verwaisten Kindern die Nase putzt. So wie es ihm der
Herr im Traume eingegeben hat.
Hauptmanns Musen halten sich auch vor dem morali-
schen Jauchefaß die klassischen Nasen nicht zu. Es ist ein
besonderes Meisterstück, wie ihr Dichter den Onkel Just,
den Säufer, den Zyniker, den Weiberkenner wachsam und
tätig im Hintergrunde hält, wie er hinter dem Schauspiel
der großen Passion mit groteskem Schattenhusch noch ein
verwegenes Satyxspiel aufführt. Onkel Just, die Schande
der Familie, an der bisher jedes Gebet und auch die Säufer-
liste versagt hat, ist wieder einmal verschwunden. Onkel
Oberamtmann und Neffe Luz suchen nach ihm in der
Familienkutsche auf allen Landstraßen und in allen Wirts-
häusern, bis die Pferde mitten auf der Straße vor irgend-
einem Klumpen scheuen. „*s wird halt a Mensch sein",
meint der erfahrene Kutscher. Und es ist auch ein Mensch
oder wenigstens etwas Ähnliches.
Schnarchend lag er, ein atmender Tod, in dem eignen Gespeie,
überkrochen und rings umsummt von Dungkäfern und Fliegen.
Mühsam lud man ihn auf, diesen einen der Sieger,
den sich Eros gekrönt . . .
So endet Luzens Liebe oder vielmehr so endet sie nicht;
denn da der langschäftige Bruder Tobler die ihm verhan-
delte Braut nach Gottes Willen mit sich führt, begreift
Luz wohl, daß sie sich ihm versagt hat, weil sie ihn liebte.
Warum Eros* Ratschlüsse als die eines Gottes besonders un-
erforschlich sind, das wird er im Leben noch lernen. Aber
er hat geliebt, er wird ein Liebender bleiben, er hat ein-
mal mit Ehrfurcht, mit Reinheit die große Stunde der
mystischen Weihung erwartet, und das Leben, das wir
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vom Weibe zweimal empfangen, hat für ihn mit Anna
angefangen.
Hauptmanns Liebesgedicht ist naiv und nicht sentimen-
talischy um nach Schiller zu unterscheiden. So sehr der Dich-
ter in Anna Wendland verliebt ist, und er verführt uns alle
mit, so jugendlich er mit Luz schwärmt und leidet, er
hat ihm keine Tragödie gegeben, und er hat keinen neuen
Werther zu seinem Grabe, nicht einmal zu dem seiner
Illusionen geleitet. Das Leben hat sich ihm auf getan, und
es wird ihm so tief, so groß, so fruchtbar werden, wie ein
Erwachter es erfühlen und erfassen kann. Es braust nicht
nur Mut durch dieses Gedicht, es lächelt auch Übermut
hindurch eines Überlebenden, eines Geretteten, den sich
die Götter nach allen Bänglichkeiten der Jugend statt eines
Erwin doch schließlich auserwählt hatten. Und sie wußten
warum, nicht zuletzt der Eros, der dem Apoll die goldene
Leier stahl. Hundertmal hat ihm der Kuckuck gerufen, dem
Gerhart oder dem Luz; es ist eine Lieblingserinnerung von
Hauptmann, — und es schien nicht zuviel ihm. Auch ein
großes Lachen geht durch das Buch, und Hauptmann han-
delt so liebenswürdig wie künstlerisch weise, da er die
anderen zuerst über ihn lachen läßt.
Sag doch, Lieber, sprach heut Onkel Schwarzkopp über dem Schach-
brett,
als er eben die dritte Partie an den Neffen verloren,
sag doch, bitte, wie stehst du denn eigentlich mit der Dichtkunst?
Gut gelaunt kam die Frage heraus. Schwarzkopp liebte das Necken.
Und es lachte der Onkel, es lachte der Neffe, es lachte
selbst die Tante kurz auf, die am Stickrahmen saß. Es war Abend,
Schlafenszeit, und es gaukelten rings um die brennende Lampe
Falter, trunken vom Licht, das ihnen die Flügel verbrannte.
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