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Full text of "Germania"

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GERMANIA. 


VIERTELJAHRSSCHRIFT 


FÜR 


DEUTSCHE  ALTERTH  UMS  KÜNDE. 

BEGRÜNDET   VON   FRANZ    PFEIFFER. 
FORTGESETZT  VON  KARL  BARTSCH. 

.lETZT  HERAUSGEGEBEN 
VON 

OTTO  BEHAGHEL. 


VIERUNDDREISSIGSTER  JAHRGANG. 
NEUE  REIHE  ZWEIUNDZWANZIGSTER  JAHRGANG. 


WIEN. 

VERLAG  VON  CARL  GEROLD'S  SOHN. 

1889. 


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INHALT. 


Seite 


Über    den  Ursprung    des    höfischen  Minnesanges    und    sein  Verbältniß    zur  Volks- 
dichtung.   Von  Ed.  Theodor  Walter 1 

Einleitung 1 

Capitel   I.     Winileodi,    Liebesgrüße,    trotUliet,    Kürenberglieder,    puellarum 

cantica 3 

Capitel  II.     Der  Versuch  R.  M.  Meyers ,    vermittelst    einer    Sammlung  von 
Parallelstellen  aus  höfischen  Dichtern  den  Minnesang  als  Entwickelungs- 
product    einer    .verloren    gegangenen"   Volkslyrik  hinzustellen     ...        9 
Der  Minnesänger  Albrecht  von  Johansdorf.  Von  J.  Hörn  off.  (Schluß)       •      .      .      75 

V.  Gedankenwelt      ....  75 

VI.   Zeitliche  Anordnung 105 

VII.  Fremde  Einflüsse 109 

Zur  Lautform  des  Alemanischen.    Von  A.  Heusler 112 

Zu  den   „drei  Mareien".    Von  H.  v.  Wlislocki 130 

Über    den  Ursprung    des    höfischen  Minnesanges    und    sein  Verhältniß    zur  Volks- 
dichtung. (Schluß.)    Von  E.  Th.  Walter 141 

Capitel  III.  Werth  des  Aufsatzes  von  A.   Berger  über  „die  volkstliümlichen 
Grundlagen  des  Minnesanges"  für  die  Frage  nach  dem  Zusammenhange 

zwischen  diesem  und  der  Volksdichtung 141 

Capitel  IV.  Die  Carviina  Burana  und  ihr  Zusammenhang  mit  dem  höfischen 

Minnesänge 146 

Capitel  V.  Schluß 153 

Zur  Alexiuslegende.    II.    Von  Max  Fr.  Blau 156 

Zur  Tristansage.    Von  E.  Kölbing 187 

Schwäbisch  e  als  Vertreter  von  a.    Von  K.  Bohnenberger 194 

Über  den  gegenwärtigen  Stand  der  Suchenwirt-Handschriften.  (Forts,  und  Schluß.) 

Von  Franz  Kratochwil 20.3.  .303.  431 

Leute.    Von  O.  Brenner 24o 

Mhd.  iu  und  ü.    Von  O.  Behaghel 247 

Eine  Handschrift  des  Pfaffen  Amis.    Von  G.  Ehrismann 251 

Bemerkungen    zum    deutschen  Wörterbuche    .(Forts,  und  Schluß.)    Von  A.   Gom- 

bert 253.  371.  493 

Messer.    Von  0.  Behaghel 264 

Norddeutsche    und    süddeutsche    Heldensage    und    die    älteste   Gestalt    der  Nibe- 
lungensage.   Von  W.  Golther 265 

Zur  Freckenhorster  Heberolle.    Von  Franz  Jostes 297 


Seite 

Bibliographie  der  Uhland-Litteratur.    Von  Ludwig  Fränkel 345 

Ein  Brief.    Von  O.  Brenner 369 

Zu  mhd.  tu  und  w.    Von  O.  Behaghel.      .      .      .  370 

Zu  S.  370.     Von  0.   B 396 

Zur  Runenlehre.    Von  F.  Losch 397 

Die  Vorfahren  des  Jordanes.    Von  Th.  v.   Grienberger 406 

Eriliva.    Von  Demselben 411 

Die  Sprachbewegung  in  Norwegen.    Von  W.  Golther 41. 

Zu  Gerhard  von  Minden.    Von  R.   Sprenger 419 

Zu  Wolfram.    Von  O.  Behaghel 481 

I.  Die  Zeit  seines  Thüringer  Aufenthalts 487 

II.  Zum  Titurel 488 

III.  Zu  den  Liedern 488 

Fragmente  aus  der  Weltchronik  Rudolfs  von  Ems.    Von  K.  Reißeuberger       .   490 
Jappesstift.    Von  G.  Ehrismann 492 

LITTERATUR. 

H.  Sweet,  A  History  of  English  Sounds.    Von  K.  Schröer 513 

Elias  Steinmeyer,  Über  einige  Epitheta   der   mhd.    Poesie.  Rede    beim  Antritt  des 

Prorectoiats.    Von  O.  Behaghel 520 

Mittheilungen _^140.  396.  520 


ÜBER  DEN  URSPRUNG  DES  HÖFISCHEN  MINNE- 
SANGES UND  SEIN  VERHÄLTNISS  ZUR  VOLKS- 
DICHTUNG. 


Einleitung. 

Wilmanns  stellt  in  seinem  „Leben  und  Dichten  Walthers  von 
der  Vogelweide"  das  Vorhandensein  einer  deutschen  Volksliebeslyrik 
vor  der  Mitte  des  zwölften  Jahrhunderts,  also  vor  dem  Emporblühen 
des  höfischen  Minnesanges  auf  deutschem  Boden  schlechthin  in  Ab- 
rede ^). 

Seine  Ansicht  fand  entschiedene  Gegner;  zunächst  in  Konrad 
Burdach '^),  dann  in  Richard  M.  Meyer^),  welche  beide  eine  weit  ver- 
breitete Liebeslyrik  vor  der  genannten  Zeit  nachzuweisen  bemüht 
sind.  Beide  beantworten  aber  bei  dieser  Gelegenheit  zugleich  auch 
die  Frage  nach  dem  Zusammenhange  der  deutschen  Volkslyrik  mit 
dem  höfischen  Minnesänge  in  der  Weise,  daß  sie  diesen  als  die  oberste 
Stufe  einer  allmählichen  steten  Entwickelung,  als  die  volle  Blüthe 
einer  seit  Jahrhunderten  gepflegten  und  ausgebildeten  Volkslyrik  hin- 
stellen *). 


•)  Wilmanns,  Leben  und  Dichten  Walthers  von  der  Vog^elweide.  Bonn  1882. 
S.  16:  „Daß  es  vor  der  Mitte  des  zwölften  Jahrhunderts  eine  weit  verbreitete  Liebes- 
lyrik gegeben  habe,  glaube  ich  nicht^;  durch  Zeugnisse  ist  sie  nicht  zu.  belegen,  die 
aligemeine  Entwickelung  des  Volkes  spricht  nicht  dafür.« 

')  Burdach,  das  volksthümliche  deutsche  Liebeslied.  Zeitschrift  für  deutsches 
Alterthum  etc.  XXVIL  S.  343—367. 

3)  Meyer,    alte  deutsche  Volksliedchen.  Zs,  XXIX.   121—236. 

■*)  cf.  vor  Allem  Meyer  a.  a.  O.  8.  225:  „Wichtiger  ...  ist  das  Gesammt- 
resultat,  welches  aus  dieser  Betrachtung  sich  ergibt:  ...  weiter  gibt  uns  die  Ver- 
arbeitung der  Verse  und  Lieder  ein  Bild  von  der  Art,  wie  die  Kunstdichtung 
sich  aus  der  bäurischen  Stegreifdichtung  erhob:  zuerst  noch  ganz  die  alte 
Art  fortsetzend,  nur  feilend,  glättend,  viel  mehr  formell  ändernd  als  inhaltlich,  viel 
mehr  vermuthlich  noch  in  der  Melodie  als  im  Text  sich  von  der  einfachsten  Kunst- 
übung absondernd." 

HERMANIA.    Neue  Reihe  XXII.  (XXXIV.)  Jahrg.  1 


2  E.  TH.   WALTER 

Zu  gleichem  Resultate  kommt  auch  Arnold  Berger  in  seiner 
Abhandlung  über  „die  volksthtimlichen  Grundlagen  des  Minnesangs"^), 
wenigstens  erklärt  er  sich  ausdrücklich  einverstanden  mit  den  „scharf- 
sinnigen Untersuchungen  von  Riehard  M.  Meyer",  dessen  Standpunkt 
er  in  allem  Wesentlichen  theile^). 

Ich  meinerseits  halte  diese  Untersuchungen  und  somit  ihr  Resultat 
für  völlig  verfehlt.  Gern  will  ich  zugeben,  daß  der  Standpunkt,  von 
dem  aus  sie  unternommen  sind,  auf  den  ersten  Blick  viel  Verlockendes 
hat;  Berechtigung  jedoch    kann  ich  ihm  in  keiner  Weise  zusprechen. 

Nicht  daß  ich  Wilmanns  beitreten  wollte,  wenn  er  geradezu 
behauptet:  daß  die  Liebe  vor  der  Mitte  des  zwölften  Jahrhunderts 
als  „Ausdruck  persönlicher  Empfindung"  in  der  Lyrik  nirgends  sich 
ausgesprochen  habe;  daß  sie  „wie  alle  andere  Empfindung"  nur  in 
der  epischen  Poesie  laut  geworden  sei^);  solcher  Ansicht  stehe  ich 
fern.  Nur  einen  Zusammenhang  zwischen  dem  höfischen  Minnesänge 
und  der  ihm  vorausgehenden  Volkspoesie,  wie  ihn  Burdach,  vor  Allem 
aber  Meyer  und  mit  ihm  Berger  —  ich  weiß  nicht,  ob  in  Überein- 
stimmung mit  der  allgemein  herrschenden  Ansicht,  jedenfalls  aber  bis 
heute  ohne  wesentlichen  lauten  Widerspruch  —  nachzuweisen  ver- 
suchten, muß  ich  entschieden  in  Abrede  stellen. 

Soll  der  höfische  Minnesang  die  Blüthe  der  Volksdichtung  sein 
—  nach  Meyer  wäre  er  überhaupt  nur  ein  Abklatsch  derselben  — 
so  genügt  es  keineswegs,  eine  solche  vor  den  Jahren  1150 — 1180 
nachzuweisen;  auch  nicht,  wenn  in  derselben  die  Liebe  offenbar  in 
irgend  welcher  Weise  einen  Ausdruck  gefunden  hat;  vielmehr  muß 
gezeigt  werden,  daß  es  bereits  vor  den  ersten  Kundgebungen  der 
höfischen  Minnepoesie  eine  Volkslyrik  und  zwar  Volksliebeslyrik  ge- 
geben habe,  so  geartet  und  ausgebildet,  daß  dieser  auch  wirklich  als 
die  nächste  und  nun  allerdings  höchste  Stufe  der  Weiterentwickelung 
angesehen  werden  könne,  ohne  aber  selbstverständlich  auch  auf  dieser 
Höhe  als  Kind  der  vorigen  Periode  sich  verläugnen  zu  lassen*). 


')  A.  Berger,  die  volksthümlichen  Grundlagen  des  Minnesangs.  Zeitschrift  für 
deutsche  Philol.  XIX.  S.  440—486. 

')  Berger  a.  a.  O.  S.  441  unten. 

')  Wilmanns  a.  a.  O.  S.  16. 

^)  Der  Nothwendigkeit  einer  solchen  Forderung  ist  sich  übrigens  Richard 
M.  Meyer  offenbar  bewußt,  wenn  er  von  der  ältesten  höfischen  Kunstdichtung  — 
allerdings  ohne  einen  Reweis  folgen  zu  lassen  —  behauptet,  sie  habe  sich  aus 
der  „bäurischen  Stegreifdichtung"  erhoben,  „zuerst  noch  ganz  die 
;ilte  Art  fortsetzend." 


ÜBER  DEN  URSPRUNG  DES  HÖFISCHEN  MINNE"^ANGES  etc.  3 

Sind  nun  Burdacb,  Meyer  und  Berger  im  Stande,  eine  solche 
volksthümlicbe  Poesie  als  Vorläuferin  und  Vorbild  des  höfischen  Minne- 
sanges nachzuweisen  und  so  „das  oft  bestaunte  Räthsel  des  plötz- 
lichen Aufbruchs  der  ganzen  mittelhochdeutschen  Lyrik" ^)  zu   lösen? 

Capitel  I. 

Winileodi,  Liebesgrüße,   troutliet,  Kürnberglieder, 
puellarum  cantica. 

Das  erste  Zeugniß,  auf  welches  sich  Meyer  beruft,  sind  die 
Worte  des  Kapitulars  aus  dem  Jahre  789,  durch  welche  den  Nonnen 
verboten  wird: 

winileodos  scribere  vel  mittere. 
Was  in  Wirklichkeit  diese  winileodi  gewesen  sein  mögen,  darüber 
will  ich  mich  hier  nicht  weiter  auslassen,  betonen  möchte  ich  nur, 
daß  es  mir  keinesfalls  darum  zu  thun  ist,  den  „verliebten  Inhalt" 
derselben  in  Abrede  zu  stellen;  von  Liebe,  ja  sogar  meist  und  vor- 
wiegend von  Liebe  ist  gewiß  in  ihnen  die  Rede  gewesen;  was  aber 
die  Aufführung  dieser  Lieder  für  den  Ursprung  des  Minnesanges  in 
ritterlichen  Kreisen  und  für  dessen  Zusammenhang  mit  einer  ihm 
direct  voraufgehenden  Volksliebeslyrik  bedeuten  soll,  ist  mir  nicht 
recht  erfindlich. 

Es  handelt  sich  hier  doch  lediglich  um  den  Nachweis  einer 
unmittelbaren  Vorstufe  zu  der  höfischen  Dichtung.  Eine  solche  in 
jenen  von  den  Nonnen  gesandten  Gedichten  des  achten  Jahrhunderts, 
über  deren  Wesen  und  Inhalt  wir  uns  nur  Vermulhungen  hingeben 
können,  finden  zu  wollen,  erscheint  mir  ganz  und  gar  unstatthaft. 

Einzuwenden:  diese  winileodi  könnten  sich  ja  in  der  Zeit  vom 
achten  bis  zwölften  Jahrhunderte  derartig  weiter  entwickelt  haben, 
daß  sie  unseren  Anforderungen  entsprächen,  wäre  ebenfalls  sehr  wenig 
angebracht.  Wir  wissen  eben  von  einer  solchen  Entwickelung  nichts, 
erfahren  überhaupt  eine  lange  Zeit  hindurch  über  lo'nileodi  nicht  das 
Geringste;  und  in  späterer  Zeit,  da  wir  sie  wieder  genannt  finden, 
treten  sie  uns  in  einer  Bedeutung  entgegen,  die  viel  mehr  auf  Lieder, 
wie    sie    beim  Tanze    oder    bei  Spielen    gebräuchlich    sein    mochten^), 


')  Meyer  a.  a.  O.  S.   225. 

')  cf.  Neidhard  ed.   Haupt  62,  32: 

durch  minen  haz  von  stige  vaste  nach  den  bluomen   spranger  , 
in  einer  hohen  wise  siniu  vvineliet  diu   sanger. 
und  96,   14: 

unde  in  hoher  wise  siniu  wineliedel  sanger. 

1* 


4  E.  TH.  WALTER 

als    auf  Liebeslieder    schließen    läßt    und    damit   für    unseren  Zweck 
jeden  sonderlichen  Werth  verliert. 

Ich  lehne  daher  die  winüeodi  als  nicht  hierher  gehörig  von 
vornherein  ab. 

Auch  dem  aus  dem  elften  Jahrhunderte  stammenden  Liebesgrußo 
im  Ruodlieb^)    kann  ich  keine  Beweiskraft   zugestehen.     Er  lautet: 
Die  sodes  illi  nunc  de  me  corde    fideli 
tantundem  liebes,  veniat  quantummodo   loubes, 
et  volucrum  wunna  quot  sint,  tot  die  sibi  minna 
graminis   et  florum   quantum   sit,   die   et  bonorum. 
Daß    die    den  Vers    hier    durchbrechenden  deutschen  Reimworte 
einem    weit    verbreiteten,     allbekannten    Liebesgruße     zuzuschreiben 
seien,  daß  es  solcher  Liebesgrüße  viele  im  elften,  ja  schon  im  zehnten 
Jahrhunderte  gegeben  habe'^),  räume  ich  ohne  Weiteres  ein.    Jedoch 
—  mögen  diese  Grüße  sangbar  gewesen  oder  gesungen  worden  sein; 
mag    man    sie    nur    als  Formeln    für    die  Einleitung    mündlicher  Bot- 
schaften;   später,  ausgebildet,   für  den  Briefanfang  allenthalben  gäng 
und  gäbe  gehabt  haben  ^):  für  einen  Zusammenhang  zwischen  diesen 
Strophen    und    dem    höfischen  Minnesänge    des  zwölften  Jahrhunderts 
spricht  nicht  das  Geringste. 

Solche  Liebesgrüße  sind  ja  gewiß  ein  Zeichen  von  einer  gewissen 
Lust  am  Überschwänglichen ,  am  poetischen  Vergleichen  und  Über- 
treiben; zugleich  aber  auch  ein  Zeugniß  für  den  noch  herrschenden 
Mangel  an  Beweglichkeit  und  Übung,  der  immer  und  immer  wieder 
das  Zurückgreifen  nach  der  alten  Formel  nöthig  macht  und  sich  mit 
ihr  begnügt.  Von  der  Fähigkeit  zu  einer  über  die  engen  Grenzen 
des  Grußes  hinausgehenden  Entwickelung  ist  gleichfalls  nichts  zu 
finden;  Anzeichen  einer  Dichtungsart,  in  welcher  der  Minnesang  sein 
Vorbild  oder  auch  nur  seine  Vorbereitung  gefunden  hätte,  werden 
nirgends  bemerkbar. 

Auch  die  Berufung  auf  die  troutliet*) ,  die  in  den  Kreisen  der 
österreichischen  Ritter  offenbar  schon  vor  1163  geübt  wurden^),  gibt 
uns  keinen  Beweis  für  das  Hervorwachsen  des  Minnesanges  aus  einer 
„verloren  gegangenen"   Volkspoesie. 

')  Ruodlieb  ed.  Seiler  XVII.  11—14. 

^)  Dümmler,    Mittheilungen    der  Züricher    antiquarischen  Gesellschaft    12,  228. 
3)  Meyer  a.  a.  O.  S.   129. 
")  Burdach  a.  a.  O.  S.  354. 

^)  Heinrich  von  Melk  ed.  Heinzel,  Erinnerung  610—613  und  Priesterleben  670 
bis   671. 


ÜBER  DEN  URSPRUNG  DES  HÖFISCHEN  MINNESANGES  etc.  5 

Zwar  halte  ich  diese  troutliet  nicht  für  „Erzählungen  erotischen 
Inhaltes",  Liebesgeschichten  oder  Gesänge,  „die  dem  epischen  Ge- 
halte den  Ausdruck  einer  augenblicklichen  und  subjectivcn  Stimmung 
beigesellten"  '),  sondern  glaube  in  ihnen  Dichtungen  sehen  zu  dürfen, 
die  weit  mehr  lyrischen  als  epischen  Charakter  trugen;  doch  sind  ja 
alle  diese  Lieder,  so  weit  wir  unterrichtet  sind,  allein  in  ritter- 
lichen Kreisen,  obendrein  nur  Österreichs  gedichtet  und  gesungen 
worden,  haben  also  mit  Volkslyrik  von  vornherein  gar  nichts  zu  thun. 

Den  stärksten  Nachdruck  jedoch  glaubt  Burdach  auf  die  Kürn- 
berglieder  legen  zu  müssen'^). 

Um  dies  zu  können,  ist  er  natürlich  gezwungen,  die  Autorschaft 
eines  einzigen  Mannes  für  die  Männer-  und  Frauenstrophen  in  Ab- 
rede zu  stellen  und  dieselben  verschiedenen  Verfassern:  Männern 
und  Frauen^)  zuzuschreiben. 

Leider  bringt  er  von  neuen  Gründen  für  seine  Behauptung  gar 
nichts. 

Mit  den  widerlegenden  Auseinandersetzungen  Pauls  ^)  befaßt  er 
sich  unbegreiflicher  Weise  überhaupt  nicht,  sondern  begnügt  sich 
damit,  es  für  unmöglich  zu  erklären,  daß  derselbe  Mann,  der  in  den 
Männerstrophen  so  stolz  und  hart,  roh  und  begehrlich  sich  zeige, 
die  zarten  Frauenstrophen  gedichtet  haben  könne.  Aber  wie  steht  es 
in  Wirklichkeit  mit  diesen  so  stolzen,  rohen  und  begehrlichen  Männer- 
strophen, wie  mit  den  so  zarten  Frauenliedern? 

Ich  kann  nur  mit  PauP)  fragen:  ist  eine  Frauenstrophe,  die 
mit  den  Worten 

er   muoz   mir  diu  lant  rümen 

ald  ich   geniete  mich  sin  ^) 
schließt,  wirklich  so  überaus  zart  und  weich;    und  hinwiederum  eine 
Männerstrophe,   in  der  es  heißt: 

wip   vile   schoene, 

nu  var   du  sam  mir. 

lieb  und  leide 

teile  ich   sament  dir  ...  ') 


>)  Wackernagel  a.  a.  O.  S.  291. 

^)  Burdach  a.  a.  0.  S.  355  f.     cf.  Meyer  a.  a.  O.  S.   127. 

3)  cf.  Scherer,  Der  Kürnberger,  Ztschr.  i.  d.  Alt.  XVII,  S.  561—581. 

*)  cf.  Paul  in  P.  u.  Br.  Beitr.  II,  406—418. 

*)  a.  a.  O.  S.  414. 

«)  MF.  8,   7—8. 

')  MF.  9,  21—28. 


6  E.  TH.  WALTER 

SO  hart  und  roh,   daß   man  sie  nicht  beide  einem  Verfasser  zuschreiben 
könnte? 

Oder  ist  es  etwa  als  Thatsache  anzuerkennen,  wie  Scherer  ^) 
behauptet,  daß  die  Männer  im  XII.  Jahrhunderte  wirklich  aller  wei- 
cheren Empfindungen  unfähig  gewesen  wären,  wenn  unter  Dietmar 
von  Eist  der  Ritter  klagt: 

Seneder  friundinne  böte, 

DU   sage   dem   schoenen  wibe, 

daz   mir  tuot  äne   mäze  we, 

daz  ich   si   so   lange   mide: 

lieber  hete  i'r  minne 

dan   al   der  vögele   singen ''). 

Oder  wenn  der  Dichter  das  Verhalten  des  Ritters  folgender- 
maßen charakterisieret: 

Jö   stuont  ich   nehtint  späte 

vor    dinem  bette : 
do   getorst  ich  dich  frouwe 
niuwet   wecken  ...**) 

und  das  der  Dame   mit  den  Worten: 

'des   gehazze 

got  den   dinen  lip ; 
j6   enwas   ich  niht  ein  ber 
wilde.'     so   sprach   das  wip. 
Wer  ist  hier  zaghaft,  zart  und  voller  Rücksicht? 
Ferner!    Haben  wir  in  der  Strophe "*) 
Nu  brinc  mir  her  vil  balde 
min  ros,   min  isengwant. 
wan  ich  muoz   einer  frouwen 
rümen   diu  lant. 
diu   wil  mich   des  betwingen 
daz   ich  ir  holt  si. 
si  muoz   der  miner  minne 
immer  darbende   sin  .... 
wirklich,    wie    Burdach    behauptet^),     das    wälde    Zurückstoßen    des 
Ritters  gegenüber  derselben  Frau  zu  erblicken,  deren  Liebe  und  Hin- 
gebung er  sich  vorher  gewünscht  habe,  oder  nicht  vielmehr  (vielleicht 
mit   humoristischer  Färbung)    das  Fliehen    vor    einem  Weibe,    dessen 


')  a.  a.  O.  S.  577. 
^)  MF.  32,   13. 
3)  MF.  8,  9. 
')  MF.  9,  29. 
*;  a.  a.  O.  S.    356. 


I 


ÜBER  DEN  URSPRUNG  DES  HÖFISCHEN  MINNESANGES  etc.  7 

uugewünschte,  aufdringliche  Liebe  iiim  bereits  unbehaglich  zu  werden 
anfängt? 

Ebensowenig  ist  Burdachs  Behauptung  stichhaltig:  „man  wünscht 
nicht,  was  man  nicht  selbst  kennt",  oder  „Gefühle  lassen  sich  nicht 
darstellen,  wenn  man  sie  nicht  aus  eigener  Erfahrung  kennt".  Er 
spricht  damit  kurzweg  jedem  Dichter  die  Fähigkeit  ab,  Frauen  zu 
zeichnen.  Seine  diesbezüglichen  Auslassungen  eingehender  zu  wider- 
legen, halte  ich  für  unnöthig. 

Diesen  allgemeinen  Betrachtungen  Burdachs  ist  in  Wirklichkeit 
kein  Werth  beizumessen;  nicht  viel  mehr  seinen  folgenden  Auseinander- 
setzungen'), für  deren  Gegenstand  er  übrigens  „sorgfältige  Berück- 
sichtigung'"  in  Anspruch  nimmt. 

Er  verbreitet  sich  in  ihnen  über  die  Thatsache,  daß  „wo  ur- 
sprüngliche, volksthümliche  Liebespoesie  blüht",  „wir  auch  sonst  die 
Frauen  hervorragend  als  Dichterinnen  thätig"  finden. 

Aber  ganz  abgesehen  davon,  daß  wir  in  unserem  Falle  ja  erst 
die  volksthümliche  Natur  der  Kürnberglieder  beweisen  wollen,  er 
also  die  Behauptung  zum  Beweise  als  Voraussetzung  benutzt  —  ab- 
gesehen davon:  kann  er  damit  doch  nur  beweisen  wollen,  daß  es 
überhaupt  dichtende  Frauen  gegeben  habe,  keineswegs  aber,  daß 
diese  Strophen,  die  uns  unter  Kürnbergers  Namen  überliefert  sind, 
Frauen  zu  Verfassern  gehabt  haben  müßten;  zumal  da  ebenfalls  aus 
älterer  Zeit  Frauenstropheu,  von  einem  Manne  gedichtet,  unter  Diet- 
mar von  Eist  überliefert  sind"). 

Wie  Burdach    sich    übrigens    mit    der    oben    erwähnten  Strophe 
MF.  8,  9  glaubt  abfinden  zu  können,  in  der  zuerst  der  Mann  spricht: 
Jö   stuont  ich   nehtint  späte 
vor   dineoi   bette: 
do   getorste  ich   dich,   frouwe, 
niwet  wecken  .  .  . 
dann  die  Frau  antwortet: 

des  gehazze 

got  den   dinen  lip ! 
j6    enwas  ich   niht   ein   ber 
wilde  .  .  . 
und   zum  Schlüsse  der  Dichter  anfügt: 

so    sprach    daz   wip, 

kann  ich  mir    bei  seiner  Ansicht    durchaus    nicht    vorstellen.    Er  läßt 


')  a.  a.  O.  S.  356-367. 
')  MF.  37,  4—17.  18  —  29. 


8  E.  TH.  WALTER 

von  dieser  Strophe  überhaupt  nichts  verlauten:  sie  ist  ihm  offenbar 
im  Wege. 

Endlich  möchte  ich  noch  darauf  hinweisen ,  daß  einige  der  in 
Frage  kommenden  Strophen  schon  ohne  Weiteres  durch  ihren  Inhalt 
der  ritterlichen  Poesie  zugewiesen  werden.  Dazu  gehören  auf  jeden 
Fall  die  Strophen  Ich  stuont  mir  nehtint  späte  \  an  einer  zinnen  ^), 
Ich  zoch  mir  einen  valken  ^) ,  Nu  hrinc  mir  her  vil  halde  \  mm  ros, 
min  isengwant^)  und  die  letzte  der  ganzen  Sammlung  Wtp  unde 
vederspil  \  die  werdent  Ithte  zam:*)',  doch  glaube  ich,  daß  man  wohl 
auch  die  beiden  Strophen  Leit  machet  sorge^)  und  Swenne  ich  stän 
alleine^)  wird  herbeiziehen  dürfen. 

Alles  in  Allem  halte  ich  den  abermaligen  Versuch,  aus  den  Kürn- 
bergliedern  Volksdichtungen  machen  zu  wollen,  für  gründlich  ver- 
fehlt und  betone  ausdrücklich,  daß  ich  außer  Stande  bin,  jene  Lieder 
für  Producte  volksthümlicher  Lyrik  zu  betrachten ,  sie  vielmehr  für 
alte  Zeugnisse  ritterlicher  Poesie  ansehen  muß''). 

Über  die  puellarum  cantica  läßt  sich  bei  den  überaus  geringen 
Nachrichten,  die  wir  von  denselben  haben,  gar  nichts  sagen- 

Daß  sie  mit  dem  höfischen  Minnesänge  in  näherer  Beziehung 
gestanden  hätten,  wird  auch  wohl  kaum  Jemand  zu  behaupten  ver- 
suchen. 

Damit  hätten  wir  den  Kreis  dessen  durchlaufen,  was  von  that- 
sächlich  Überliefertem  oder  sicher  Bezeugtem  für  die  Existenz  einer 
so  gearteten  und  so  weit  verbreiteten  Volksliebeslyrik  vorgebracht 
worden  ist,  daß  der  Minnesang  als  ihre  nächste  Entwickelungsstufe 
angesehen  werden  könnte. 

Einen  Beleg  von  beweisender  Kraft  haben  wir  aber  nirgends 
finden  können. 


»)  MF.  8,  1—8.  ■")  MF.   10,  17—24. 

2)  MF.  8,  33—9,  12.  ^)  MF.  7,   19-26. 

=)  MF.  9,  29—36.  ")  MF.  8,  17—24. 

')  Wegen  des  Weiteren  in  der  Kürnbergfrage,    sofern  sie  hierher  gehört,    ver- 
weise ich  auf  die  oben  citierte  Abhandlung  Pauls  in  den  Beiträgen. 


ÜBER  DEN  URSPRUNG  DES  HÖFISCHEN  MINNESANGES  etc.  9 

Capitel  II. 

Der  Versuch    R.  M.    Meyers,    vermittelst    einer    Sammlung 

von  Parallelstellen  aus  höfischen  Dichtern  den  Minnesang 

als    Entwickelungsproduct    einer    „verloren    gegangenen" 

Volkslyrik  hinzustellen. 

Ganz  abgesehen  von  den  bisher  besprochenen,  entweder  that- 
sächlich  vorhandenen  oder  sicher  bezeugten  dichterischen  Erzeugnissen 
glaubt  R.  M.  Meyer  noch  andere  Belege  dafür  zu  haben ,  daß  der 
höfische  Minnesang  das  unmittelbare  Entwickelungsproduct  einer 
„verloren  gegangenen"    Volksliebeslyrik  sei'). 

Er  stellt  nämlich  über  1000  ähnliche  Verse  aus  den  ältesten 
Stücken  von  des  Minnesanges  Frühling,  den  deutschen  Strophen  der 
Carmina  Burana,  aus  Walther  von  der  Vogelweide,  Wolfram  und 
Neithart  zusammen"),  und  zieht  dann  den  Schluß:  allen  diesen  Versen 
hätten  bereits  poetisch  bearbeitete  Muster  vorgelegen^),  deren  sich 
die  betreffenden  Dichter  bedient  hätten,  die  sie,  gleichsam  als  Bau- 
steine in  ihre  Gedichte  einfügend,  nur  insoweit  behauen  hätten,  als 
es  der  Bau  ihrer  Strophen  erforderte*). 

Damit  macht  er  also  den  höfischen  Minnesang  geradezu  zu  einem 
Abklatsch,  und  zwar  zu  dem  Abklatsch  einer  Poesie,  wie  sie  sich 
einstweilen  nur  in  seiner  Einbildung  findet. 

Und  in  dieser  Einbildung  ist  Meyer  so  befangen,  daß  er  „aus 
einzelnen  Stücken  und  Stückchen"  zwar  „kein  einzelnes  Lied"  wie- 
der so  aufbauen  zu  können  glaubt,  „daß  wir  es  wirklich  in  seiner 
alten  Gestalt  zu  besitzen  überzeugt  sein  könnten;  wohl  aber  „mit 
Deutlichkeit  die  Existenz",  ja  sogar  „klar  den  Charakter  einer  großen 
Zahl   alter  Liedchen"  nachweisen  zu  können  sich  getraut^). 

Er  geht  aber  noch  weiter;  er  unterscheidet  sogar  drei  Abschnitte 
der  Entwickelung: 

eine  Zeit  der  größeren  Abhängigkeit  von  den  Vorbildern, 

eine  Zeit  „des  Aufstrebens  von  den  Anfängen  zur  Blüthe"  mit 
dem  „bemerkbaren  Bestreben,  sich  von  den  alten  Vorbildern  frei  zu 
machen"  ^). 

und    endlich    die    Zeit    der    Erweiterung    und    Verfeinerung '), 


')  Meyer  gebraucht,   wie  schon  sein  Citat  aus  Wilmanns'  Walthers  Leben  zeigt, 
immer  „Lyrik"  in  dem  Sinne  von  Liebeslyrik. 

»)  a.  a.  O.  S.  133—164.  ')  a.  a.  O.  S.  131  u.   132. 

')  a.  a.  O,  S.   167.  *)  a.  a.  O.  S    169  f. 

*)  a.  a.  O,  S.  167—168.  ')  a.  a.  O.  S.   171. 


10  E.  TH.  WALTER 

„welche  Formeln  der  alten  Art,  formelhaft  verwandte  Verse  also 
überhaupt  kaum  noch  hervorbringt  oder  vielmehr  ohne  ältere  Bei- 
spiele kaum  noch  zeigt  und  die  alten  wiederholt  verdichtet  und  bricht." 

Er  schließt  dann  seine  Beweisführung  mit  den  Worten:  „Wir 
haben  nun,  wie  ich  glaube,  die  Existenz  einer  großen  Anzahl  von 
Versen ,  die  in  der  verloren  gegangenen  Volksdichtung  gerade  wie 
noch  in  den  ältesten  erhaltenen  Liedern  zu  neuen  Liedern  zusammen- 
gefügt wurden,  für  alle  an  der  litterarischen  Cultur  Deutschlands  be- 
theiligten Länder  nachgewiesen;  gegen  Wilmanns  also  eine  weit  ver- 
breitete Volkslyrik  (Volksliebeslyrik)  vor  der  Mitte  des  zwölften  Jahr- 
hunderts festgestellt."  '). 

Von  dieser  selben  nach  seiner  Ansicht  nun  erschlossenen  Volks- 
lyrik sagt  er  an  einer  anderen  Stelle,  wie  schon  erwähnt:'^)  aus  ihr 
hätte  sich  die  Kunstdichtung  in  der  Weise  erhoben,  daß  sie  „zuerst 
ganz  die  alte  Art  fortgesetzt",  „viel  mehr  vermuthlich  noch  in  der 
Melodie  als  im  Text  sich  von  der  einfachsten  Kunstübung"  abge- 
sondert hätte. 

Das  heißt,  vom  entgegengesetzten  Standpunkte  aus  betrachtet, 
nichts  anderes,   als: 

Jene  „verloren  gegangene"  Volksdichtung  bot  im 
Großen  und  Ganzen  so  ziemlich  denselben  Anblick,  den 
uns  die  älteren  Zeugnisse  der  höfischen  Kunstdichtung  ge- 
währen. 

Wäre  es  also  Meyer  gelungen,  dies  thatsächlich  zu  erweisen,  so 
wäre  auch  die  Forderung  erfüllt ,  die  wir  am  Eingange  unserer  Ab- 
handlung glaubten  stellen  zu  müssen:  ^)  somit  der  Zusammenhang 
zwischen  höfischem  Minnesang  und  der  Volksdichtung  als  ein  solcher 
dargethan,  wie  ihn  Burdach,  Meyer  und  Berger  annehmen. 

Sehen  wir  nun  zu,  ob  die  Sammlung  Meyers  in  Wirklichkeit 
zu  den  Resultaten  führt,  die  wir  von  ihm  behauptet  fanden. 

I. 

Will  man  aus  einer  Zusammenstellung  von  Versen,  die  gleiche 
oder  ähnliche  Gedanken,  gleiche  oder  ähnliche  Ausdrücke  enthalten, 
auch  nur  irgendwie  auf  den  Umstand  schließen,  daß  die  betrefi'enden 
Dichter,    denen   jene  Verse  entnommen    sind,    vorhandene  Vorbilder 


•)  a.  a.  O.  S,  174. 

')  Vgl.  oben  S.   1,  Anm.  4  und  S.  2,  Anm.  4. 

')  Vgl.  oben  S.  2. 


ÜBER  DEN  URSPRUNG  DEvS  HÖFISCHEN  MINNESANGES  etc.  1 1 

gemeinsam  benutzt  haben:  so  ist  es  vor  Allem  durchaus  unzulässig, 
solche  ähnliche  oder  gleiche  Gedanken  oder  Ausdrücke  desselben 
Dichters  zusammenzustellen. 

Daß  nicht  nur  jeder  Dichter,  sondern  überhaupt  jeder  Mensch 
einen  ganz  bestimmten  Schatz  von  Worten  besitzt,  aus  dem  allein  er 
zu  schöpfen  pflegt,  ist  doch  wohl  Jedem  bekannt. 

P^in  solcher  Schatz  wird,  natürlich  entsprechend  dem  Bildungs- 
grade eines  jeden,  bei  dem  einen  größer,  bei  dem  andern  kleiner 
vorhanden,  an  jedem  aber  bei  einigermaßen  aufmerksamer  Beobach- 
tung bemerkbar  sein;  schon  in  der  Alltagssprache  der  ungebundenen 
Rede.  Wie  viel  mehr  muß  er  sich  zeigen  bei  dem  Dichter,  dessen 
Bewegung,  wenn  nicht  gehemmt,  so  doch  mit  einer  gewissen  Regel- 
mäßigkeit geleitet  und  beeinflußt  wird  durch  die  Rücksicht,  die  er 
dem  Verse:  dem  Rhythmus  und  dem  Reime  schuldig  ist. 

Dazu  kommt  noch  die  allseits  vorhandene  Neigung  zu  ganz  be- 
stimmten Lieblingsgedanken  -Wendungen  und  -Worten  bei  ein  und 
derselben  Persönlichkeit;  oft  nur  zeitweilig,  dann  aber  um  so  auf- 
fallender. 

Beides  können  wir  an  allen  unsern  Dichtern ,  selbst  unsern 
größten  wahrnehmen. 

Solche  Parallelstellen,  einer  Persönlichkeit  entnommen,  beweisen 
selbstverständlich  für  die  Annahme  einer  Entlehnung  aus  „verloren 
gegangenen"  Dichtungen  nicht  das  Geringste.  Ebensowenig  hat  es 
Bedeutung,  wenn  den  Stellen  eines  Dichters  Parallelen  aus  der 
späteren  Volkslyrik  beigefügt  werden, 

Soll  denn  einmal  Entlehnung  angenommen  werden,  so  läge  es 
wohl  weit  näher,  bei  derartigen  Stellen  daran  zu  denken,  daß  sie 
unter  dem  Einflüsse  des  voraufgehenden  Minnesanges  gestanden 
hätten. 

Tritt  zu  solchen,  wie  wir  sahen  ganz  bedeutungslosen,  Zusam- 
menstellungen eine  einzige  irgend  einem  andern  Dichter  entnommene 
Parallele  hinzu,  so  wird  man  dadurch  wohl  kaum  die  Beweiskraft  der 
Gruppe  für  erhöht  halten  können,  denn  eine  einzelne  Entsprechung 
weist  doch  zu  sehr  auf  den  Zufall  hin,  als  daß  man  ihr  Werth  bei- 
legen  könnte. 

Dasselbe  gilt  natürlich  auch  für  die  Fälle,  in  denen  eine  Pa- 
rallele, entnommen  einem  Dichter,  zu  einer  einzelnen  Stelle  aus  einem 
andern  hinzutritt. 

Ich  scheide  also  aus  der  Sammlung  Meyers  von  vornherein  als 
untauglich  zum  Beweise  aus : 


12 


E.  TH.  WALTER 


1.  Gruppen,  deren  Parallelstellen  nur  ein  und  denaselben  Dichter 
entnommen   sind. 

2.  Gruppen,  zu  deren,  einem  Dichter  entnommenen  Parallelen 
nur  Entsprechungen  aus  der  späteren  Volkslyrik  hinzugefügt  sind. 

3.  Gruppen,  zu  deren,  einem  Dichter  entnommenen  Parallel- 
stellen nur  eine  einzige  Stelle  aus  einem  andern  Dichter  gefügt  ist, 

a)  ohne  Volksliedentsprechung, 
h)  mit  Volksliedeutsprechung. 

4.  Gruppen,  in  denen  zu  einer  einzigen  Stelle  eines  Dichters 
nur  Parallelen  aus  späterer  Volkslyrik  gesetzt  sind. 

5.  Gruppen,  die  überhaupt  nur  aus  zwei  Stellen  bestehen,  d.  h. 
in  denen  zu  einer  einzigen  Stelle  irgend  eines  Dichters  nur  eine  ein- 
zige aus  einem  anderen  Dichter  hinzugefügt  ist. 

Hierbei  berücksichtige  ich  zunächst  nur  diejenigen  Fälle,  in  denen 
meine  Ausstellungen  die  ganzen  Gruppen  treffen,  nicht  nur  Theile 
derselben. 

1.  Gruppen,  deren  Parallelstellen  nur  ein  und  demselben  Dichter 
entnommen  sind. 

Kürenbere  :  daz  ist  schedelich 

daz   ist  lobelich 
daz  ist  schedelich 

Meinloh :  Ich  bin   holt  einer  frouwen 

so   weiz  ich   eine   frouwen 
lehn   sach  nie   eine   frouwen 

Walther:  .  .  und   weiz   noch   me 

.  .   so   wist  ichs   gerne  me 
noch    klagte  ich  gerne   me 

Walther:  ob   er  weite 

ob   er  wolde 
swie   er  wolte 
swie   si  wolde 
und  wilt  du  daz 
ob  sis  willen   hat 

und  waerez   al  der  weite  leit 
waere   ez  al  der  werlte  leit 

waz  wil   si  mere? 
waz  wil  dus  me. 


Rein  mar : 
Walther : 


^)  cf.  Meyer  a,  a.  0.  S.   144  u. 
2)  ib.  S,  148  u. 
^)  ib.  S.   162—163. 


MF.   7,  2 

??      7,  4. 
n      8,  30  '). 

MF.    13,  1 

n      15,  3 
w      15,  13  2). 

W.   24,  2. 
n     69,  2 
J7    102,  28^). 

W.   61,  28 
75      105,  28 
«      94,  34 
n      109,  15 
r,      82,  14 
n      121,17*). 

t 

MF.   6,  12 
w      164,  12^) 

ri     59,  35 
n      60,22«) 

■) 

ib. 
ib. 
ib. 

S. 
S. 

s. 

163. 
143. 
163  0. 

ÜBER  DEN  URSPRUNG  DES  HÖFISCHEN  MINNESANGES  etc 


13 


2.  Gruppen,    zu  deren,     einem  Dichter    entnommenen  Parallelen 
nur  Entsprechungen  aus  der  späteren  Volkslyrik  hinzugefügt  sind. 

Kürenberc :  Ich   stuont  mir  nehtint  späte  MF.    8,  1 

lö   stuont  ich   nehtint  späte  n      8,  9, 

dazu  Ausdrücke,    in  denen  neckten  späte  wiederkehrt,    sonst  übrigens 
keine  Übereinstimmung  herrscht,   aus  der  späteren 
Volkslyrik :  es    (ein    kleines   Waldvögelein)    flog 

wol  nechten  späte 

Was  sah   ich   nechten  späte 

ich  fand  si  nechten  späte 

"^er  reit  nechten  ganz  späte 

[mit  hunden  auf  die  jagd'l*) 

Walther:  Ich  hörte   ein  wazzer  diezen 

Wan  daz  daz  wazzer  fliuzet 
Volkslyrik:  Ich  hört  ein   waszer  flieszen 

Neithart :  sol  ich  im   des  niht  danken  .  .  . 

von   Beiern  unz  in   Vranken 

.  .  .  daz   iu   die   Beier   danken, 

die   Swäbe  und   die   Vranken 
Volkslyrik :  ...  ich  solt  euch   danken 

mit   Schwaben   und  mit  Franken 
Desgl. :  Sie   sagt,    sie  war'   aus   Franken  : 

Ich   will   mich   schön  bedanken 
Desgl. :  Jungfrau,  ich   sollt'    euch   danken 

mit   Schwaben  und  mit  Franken ! 
Desgl. :  So   woll'n  wir   euch  nun   danken 

mit  Sachsen   und  mit  Franken 


Uhl.  29,  2 
w  49,  3 
r,      90,   A.  10 

V      123,    A.  5'). 

W.   8,  28 
n      124,  11 
Uhl.   85,  2'^). 

N.   4,  28.   30 

r     16,  2—3. 

Uhl.   3,  9. 

Simrok    VIII,    S.  334. 

Uhl.  Sehr.  III,  S.262. 


Büsching,  der  Deutsch 

Leben  etc,  II,  400, 

Str.    7. 

Wenig  hierher  gehören,    da  ihnen  auch  noch  —  abgesehen  von 

dem    anderen    Zusammenhange  —  das    Band    des    Reimes    fehlt,    die 

Stellen 


Desgl. : 

und  noch  mehr; 


auss   welchem   land  er  kommen  war, 
auss  Franken  oder  aus   Schwaben 

swer  sanc,    daz  der  struz  sie  dri  tage 

an  sin  eier 
der  sanc  unreht,  er  si  ein  Swäbe  oder 

ein  Beier. 


Uhl.    100  B.,   G. 


cf.  Marner  ed.  Strauch 
S.  3  3). 


*)  Ich  werde  an  vielen  Stellen  genöthigt  sein,  die  Citate  Meyers  wieder  in  den 
Zusammenhang  einzufügen;  ich  werde  meine  Zusätze  in  [  ]  einschließen. 
•)  ib.  S.  145.  2)  ib.  S.  162  u. 

'■')  ib.  S.  163.    Auffallend  ist  es  übrigens  gewiß,  daß  gerade  eine  go  echt  volks- 


14 


E.  TH.  WALTER 


3.  Gruppen,    zu    deren,    einem    Dichter    entnommenen    Parallel- 
stellen nur  eine  einzige  Stelle  aus  einem  anderen  Dichter  zugefügt  ist. 

a)  Ohne  Volksliedentsprechung. 


Veldegge : 

Dazu: 

Meinloh : 

Dazu: 
Meinloh : 
Dazu: 


als   siz   gebiut,   ich   bin   ir   töte: 
dan  ich  durch   si  gelige  tot, 
gebiutet  si,   ich  lige  tot. 

er   hat   dur   dinen   willen 
iemer   durch   ir  willen 
gedienet  nach   dem   willen   min 

Swer  werden   wiben   dienen   sol, 
swer  biderber   dienet  wiben, 
der  wol   wiben  dienen   chan 


MF.   67,  1 
n      66,  3 

CB.   94"  (3)  '). 

MF.    11,  24 

J5    12,  38 
n      6,  e'') 

MF.    12,  1 
n      12,  9 
CB.    14.V% 


Dietmar:  frouwe  biderbe   unde  guot  MF.    33,  24 

Man  sol  die  biderben  und  die  frumen        n      33,  31 
Dazu  Meinloh:       Vil   schoene  unde   biderbe,  ^^      15,  l*). 


MF.    15,  2 
n      15,  11 

71      60,  25 

?5      66,  29  5) 

N.  41,  39 
71  79,  31 
77    87,  14. 

MF.   124,  7. 


Meinloh:  dar  zuo   edel   unde  guot, 

sist  edel   und  ist  schoene. 
Dazu  Veldegge :      sie  ist  edel  und   fruot 

der  schoenen  vrowen  und  der  guoten 

Hierher  ziehe  ich  auch  die  Verse  ^) 
Neithart:  den   kinden   singe  ich   niuwen   sanc 

ich  gesunge  ir  niuwen   sanc 
deich    ir   kinden    singe   niuwen   sanc 
Dz.    Morungen :       daz  ich   singe   ir  niuwen   sanc 

Denn  der  noch  angeführte  Vers  des 

Rietenb. :  [noch  ist  min  guot  rät]  daz  ich  niuwe 

minen  sanc 
paßt  weder  im  Sinne  noch  in  der  Form  zu  den 

Kürenberc:  er  muoz   mir  diu   lant  rumen 

rümen   diu   lant 
Dz.  An.  Sperv.:      .  .  so   der  gast  muoz  |  die   herberge 

rümen  .  . 

thümliche  Formel  sicli  außer  bei  Neithart,  der  zugestandenermaßen  sich  der  Volks- 
poesie zuneigte,  unter  den  Minnesingern  nicht  gebraucht  findet.  Dergleichen  Beob- 
achtungen sprechen  recht  gegen  Meyer. 

»)  ib.  S.   135.  ■•)  ib.  S.   151  o. 

')  ib.  S.   147.  ^)  ib.  S.  151. 

')  ib.    S.    147;     für    volksthümlich  «)  ib.  S.  153. 

möchte  ich  übrigens  den  Ausdruck  wiben  ')  ib.  S.  145. 
dienen  nicht  halten.| 


MF.    19,  13. 
übrigen. 

MF.   8,  7 
77      9,  32 
77      27,  9'). 


ÜBEK  DEN   URSPRUNG  DES  HÖFISCHEN  MINNESANGES  etc. 


15 


Dietmar : 

Dazu   Rietenb. : 
Neithart : 

Dazu  Veldegge : 
Walther: 

Dazu  Fenis : 
Reinmar  : 

Dazu   Morungen: 
Morungen  : 

(vierrna 
Dazu   Walther : 

Walther: 


Dazu   Reiumar: 
Walther : 

Dz.   Hartman n: 
Neithart: 

Dazu  Wolfram : 
Neithart : 

Dazu   Meinloh : 


waz   hilfet  zorn  ?  .     . 

Teil   solde   zürnen,   hülfe   ez   iet 

waz   frumte,    ob  ich  von   zorne  jaehe 

,  •  .  daist  diu   wolgetäne 
daz  ist  diu   wolgetäne 
ez  ist  diu   wolgetäne 

si  sint  mir  ze  her: 
so  wirt  er  ze  here 
ja  ist  si    mir   ein   teil   ze   here 

tuot  si    mir  ze  lange  we 
daz  tuot  mir  vil   lange  we 
.  .  . :  ez  tuot  ze  we 
si   tuot  mir  ze  lange   we 

dö  tagete   ez,      .  . 


MF.    35,  30 
n      40,  11 

71      18,  4  '). 

N.   42,  38 
n    52,  33. 
MF.   58,  19-). 

W.    56,  27 

n      81,  25 
MF.   85,  12^) 

MF.    174,  1 
n      174,  29 
n      197,  18 
n      14G,  lO'*). 

MF.  143,29.  37;  144, 

8.  16. 


1  als  Refrain  in  ein  und  demselben  Gedichte!) 
[do    ich     s6    wünnecliche    |    was    in 

troume   riebe] 
du   taget  ez  W.    75,  24^). 

swaz   so   mir  gesehiht  n      42,  30 

.  .   swaz  mir  da  von   gesehiht  '7      84,  4 

.  .  swaz   liebes   dir  da  von   gesehiht       ri      101,  34 
.  .  so   mir  daz    gesehiht  n      113,  38 

swaz   dar  umbe   mir  gesehiht  MF.    202,  10*). 

.  .  .  swie  si   dir  tuot  W.    91,  34 

swaz   si   mir  getuot  n      116,  20 

[swer  für  guot  hat]    swaz   er  tuot  ii      107,  9 

swaz   si   mir  tuot    [ich    hän    mich   ir  MF.    206,  27'). 
ergeben] 

Uf  dem   berge  und   in   dem   tal  N.   4,  31 

in  dem  tal    [hebt  sich  aber  der  vogelc 

schal]  n      tJ,  19 

[nu    wache    abr   ich    und    singe]     iif 
berge  und  in  dem  tal 

ich   hän    vernomen 
.  .  als   ir   wol   habt   vernomen 
.  .  als   ich   hän  vernomen 
Ich   hän    vernomen    ein   maere 


Wolfr.    7,  22^). 

N.   14,  6 
7?    15,  85 
77     31,  8 
MF.    14,  26^). 


•)  ib.  S.  155. 
*)  ib.  S.  158. 
*)  ib.  S.   159. 


')  ib.  S.  161. 
•^)  ib.  S.  162. 
)  ib.  S.  162. 


')  ib.  8.  102. 
«)  ib.  S.  163. 
9)  ib.  S.  16.3. 


16 


E.  TH,  WALTER 


An  dieser  Stelle  führe  ich  auch  noch  zwei  Gruppen  auf,  in  denen 
mehrere  Parallelen  aus  je  zwei  Dichtern  zusammengestellt  sind;  es 
gilt  von  ihnen  dasselbe,  wie  von  den  vorstehenden  Gruppen. 

Guotenburc:  [schone    |    von    ir   min    herze]    swiez      MF.    75,  9 

ergät 
[ichn  singes  alleine]    swiez  mir  ergät        ti      78,  34 
Dazu  Walther:       [.  .  muoz  bi  fröiden   sin  |  durch   die 

lieben,]  swiez  dar  under  mir 
ergät 
[got  der  waldes,]  swies  erge  :  [schoener 
troum   enwart  ni  me. 

Walther:  [der  ie  streit  umb  iuwer   ere  |  wider 

unstsete  Hute,]    daz  was  ich. 

[der  iu   maere  bringet,]    daz  bin  ich 

Dazu   Reinmar:      [war  zuo  sol  ein  unstaeter  man?  daz 

was    ich   e  :]    nu    bin    ichz 
nicht 
[Weste  ich  waz  ir  wille  waere,  |  daz 
taet  ich]  nu  enweiz  ichs  nicht 

Diese  Gruppe  ist  wirklich  ein  sprechendes  Beispiel  für  die  con- 
fuse  Art  Meyers.  Man  betrachte  sich  nur  einmal  die  vier  vorstehenden 
Stellen:  die  ersten  beiden  sind  ein  und  demselben  Dichter  entnommen 
und  enthalten  den  Gedanken  ich  hin  es,  der  ...  in  umgekehrter  Folge; 
die  dritte  Stelle,  Reinmar  entnommen,  hat  schon  absolut  nichts  Über- 
einstimmendes weiter  als  den  Gebrauch  der  Form  &{n;  und  nun  gar 
die  vierte  Reihe  hat  mit  den  beiden  ersten  gar  nichts  mehr,  mit  der 
dritten  nur  noch  das  Wörtchen  nu  gemeinsam.  Und  eine  solche  Zu- 
sammenstellung soll  dazu  dienen  oder  wenigstens  mit  dazu  dienen, 
einen  Zusammenhang  zwischen  Volkslyrik  und  Minnesang  zu  erweisen! 

h)  Mit  Volksliedentsprechung. 
Wolfram :  nu  gib  im  urloup,   süezez   wip 

.  .  urloup   gap   .  . 
Dazu   Meinloh :       [mines    herzen    leide]     si    ein    urlop 

gegeben 
und  Volkslyrik:      gib   mir  urlob,   du   roter  mund! 


w. 

98,  8 

11 

94,  361). 

w. 

40,  30 

■n 

56,  15 

MF 

.    197,  27 

Tl 

202,  8") 

? 

Dazu        ? 
und  Volkslyrik 


er  viench   si  bi   der  wizen  haut 
er  nam   mich  bi  der  wizen  hant 
Er  nam   sie  bei   der  hende, 
bei  ir  schneeweiszen  hand, 


Wolfr.   4,  30 

«        7,  10 

MF.   14,  31 

Uhl.   29,  5=*). 

CB.   145 

::     146,  3 

Uhl.    81,  4; 

90,  10; 

106,  2; 

330,  2 

')  ib.  S.  169. 


'')  ib.  S.  161  —  162. 


^)  ib.  S.    150-151. 


ÜBER  DEN  URSPRUNG  DES   HÖFISCHEN  .AHNNESANGES  etc.  17 

Do  nam   ers  bei   der  heude 

bei   ir  schneeweiszen    band  ULI.    25<),  3 

Er  nabln  sie  bei  ibrer  scbneeweiGon 

Hand  Siiniock   84    u, 
[.  .  er  griff  sie]    Bei    ibrer    scbnec- 

weißen  Hand  :i         121 

mit  iren  scbneweiszen   benden  Uhl.   20,  2.   9 

n      109,  1;  cf.  1  10,  1 
))      2,  1 

an  ir  scbneweisze  bende  n      115,  8 

[Si  rank]   ir  weisse  bende  ^^      123,  18 

si  bot  im  ir  scbneweisze   band  ji      147,  6   etc.') 

Waltber :                  stirbe  ab   ich,   so  bin  ich   sanfte   tot  W.    86,  34 
[ir    leben    bat    mins    lebennes    ere] 

sterbet  sie  micb,  so  ist  si  tot  ri      73,  16 

Dazu   Reinmar:      stirbet  si,   so  bin  icb   tot  MF.    158,  28 

und  Volkslyrik:      Und   stirb   icb    dann,   so  bin   ich   tot  Uhl.    150,  8 

sterbe   ich   nun,   so   bin  icb   todt  Wundh.   I,    77"). 

Neitbart:                  Die   selben   wolden   gerne   mich  vor- 
dringen N.    43,  35 
disen   sumer  babent  si  mich   von  ir 

verdrungen  v    77,  17 
micb    von    minen    vröudeu  und  von 

lieber  stat  verdringen  n     89,  38 
.  .  .   der  micb    hat    von    lieber    stat 

verdrungen  77    91,21 

Dz.  Ps. -AN'altb. :      wirde   ich   hie  verdrungen  W.    182,  60 

und  Volkslyrik:      von   im    bin   icb    verdrungen  Uhl.    50,  1 

er  bleibt  wol   unverdrungen  77      60,  7 

ain  andrer  hat  in  verdrungen.  77      271,  7"*). 

4.  Gruppen,    in    denen    zu    einer    einzigen    Stelle    eines  Dichters 
nur  Parallelen  aus  späterer  Volkslyrik  gesetzt  sind. 
Kürenberc :  got  sende   si  zesamene   |    die    gerne 

geliebe  wellen   sin  MF.    9,  12-) 

•Dazu  Volkslyrik :   schein  uns  zwei   lieb   zusammen,  \  ei 

die  gerne  bei  einander  wollen  sein!      Uhl.   31,  A.  1  "*;. 

Die  Beifügung  der  Verse 

got  bbüt  die  fi'umen  knaben,  |  die 

allzeit  vol  wöln  sein  Uhl.    233,  11 

erscheint  mir  doch  sehr  wenig  berechtigt^). 


*)  Sehr    beliebt    ist    dies    Gedicht    allerdings    und    dadurch  volksthümlich    ge- 
worden; das  Folgende  könnte  unter  seinem  Einflüsse  stehen. 

')  ib.   S.  139.             ')  ib.   S.  161.             ^)  ib.  S.   163—164.  '1  ib.   S.   146. 

'")  Bemerken    möchte   ich    bei    dieser  Gelegenheit,    daß   für  einen  Zweck,    wie 

ÜEEMANIA.    Neue  Reihe.  XXU.  (XXXIV,)  Jahrg.  2 


18  E.  TH.  WALTER 

Meinloh :  [nu    hoehe    im    sin    gemüete]    gegen 

dirre  sumerzit 
Dazu  Volkslyrik  :    [Dat  geit  hir  jegen  den  samer]  jegen 

de  leve  samertit,  Uhl.   37,  1 

Wann    es  get    (Es    get    wol)    gegen 

dem   Sommer  n      116,  4.    6') 

Johansdorf :  Swä  zwei  herzeliep  gefriundent  sich  | 

.  .  .  die  sei  niemen  scheiden,  dunket 

mich  MF.   91,  29.   31 

Dazu  Volkslyrik:  Wo  zwei  herzHeb  beinander  sind  |  die 

zwei   sol  niemant    scheiden  Uhl.    101,  4. 

Geradezu  entgegengesetzt  ist  der  Gedanke  in  den  beiden  folgen- 
den Stellen: 

Wo  nun  zwei  lieb  bei  einander  sein, 
die  scheiden  sich  bald!  Uhl.   80,  1 

und  Wo  nun  zwei  lieb  bei  einander  sein, 

die   scheiden  sich  bald  von  hier!  n      98,  1. 

So  gut  wie  gar  keinen  Werth  hat  endlich  der  Zusatz  der  letzten 
Parallele,    wie  sofort  kenntlich  wird,    wenn  man  die  Stelle  wieder  in 
den  Zusammenhang  einfügt,  aus  dem  sie  gerissen  ist: 
Wo    zwei    herzenliebe    |    an    einem 

danze  gan 
die  laszen  ir  eigelin  schieszen,  ..         Uhl.   36,  5 '^) 

Neithart:  ich  hoere   ein  vogelin   singen  N.    31,  19 

Dazu  Volkslyrik :   ich  hoere  ein  vogelken   singen  Uhl.    164,  5.   35^). 

Ich  komme  endlich 

5.  zu  den  Gruppen ,  die  überhaupt  nur  aus  zwei  Stellen  be- 
stehen, d.  h.  in  denen  zu  einer  einzigen  Stelle  eines  Dichters  nur 
eine  einzige  Parallele  aus  einem  anderen   Dichter  zugefügt  wird. 

Namenl.   L. :  Tougen   minne  diu   ist  guot,  MF.   3,  12 

Dazu :  Swer    tougenlichen     minnet ,    |    wie 

tugentlich  daz   stat,  CB.    144**) 

Namenl.    L.  :  der  sol  man  sich  vlizen  MF.   3,  12 

Dazu  Meinloh:       durch   daz  wil  ich   mich  flizen  MF.    15,  15^) 


der  unselige  ist,   ,,paro  di  stische^  Stellen  vollkommeu  unbrauchbar  sind,    da  ilnieu 
ja  jede  selbständige  Bedeutung  mangelt. 

•)  ib.  S.  150.  ')  ib.  S.  159-1(50. 

/)  it>.  S.  163.  Die  Volksliedstelle  ist  au  dem  angegebeneu  Oite  nicht  zu  fiudeu ; 
doch  sind  Parallelen  häufig,  cf.  Uhl.  16,  2. 

*)  ib.  S.  134.  ')  ih.  S.  134. 


ÜBER  DEN  URSPRUNG  DES  HÖFISCHEN  MINNESANGES  etc. 


19 


Dazu   Neithart: 


Dazu : 

Dazu   Reinrnar: 

Dazu: 

Dazu : 
Dazu : 


[Her   meie ,    iu  ist  der  bris   gezalt,] 

der  winder  si   gehönet  CB.    101' 

der  winder  si  guneret.  [der  brach 
uns  ze  leide  ]  bluomen  an 
der  beide]  N.   21,  37  ') 

[Ib    ban    geseben]    daz    mir  in   dem 

herzen   sanfte   tut  CB.    107" 

[bi  dir   swer  lit]   sanfte  dem   daz   tut 

nach   mine  gesellen   ist  mir  we 
.  .  mir  ist  nach   ir  so  we 

[Vil  reine  wip,  din  schöner  lip  :],  wil 

mich  ze   sere   schiezen 
Venus   wil  mich   schiezen 

[nu    woldih    diner  minne] ,     vil  suzc 

minne,   niezen 
[Nu  la  mih,  chuniginne]   diner  minne 

niezen  t)      124'*) 


n      UO''') 

CB.    112' 
MF.    182,  25^) 

CB.    116' 
n       124*^) 


CB.   116' 


Dazu : 


rosen,  lilien  si  [diu  sumcrzit]  uns  git  CB.  133' 

gras,    blumen,   chle,   loup  uns   si  git        n  143»  **) 

[ein    stolzer  man ,   ]    der   wol  wiben 

dienen   chan  CB.  Ml' 

wie  wol   er  frowen   dienen  kan  MF.  14,  37  ') 


Diu   mich   singen   tut,    [getörste  ich 

si   nennen]  CB.    163' 

Dazu  Veldegge:    Diu  schoene,   diu  mich  singen  tuot,     MF.   60,  21**) 


Dazu   Dietmar: 

Namenl.  L. : 
Dazu   Meinloh: 

Namenl.   L. : 
Dazu : 


[si   bat  mir  min  ungemach] 

mit  ir  gute  gar  benomen 

[waz  bilfet  zorn?  swenn  er  mich  siht] 

den  hat  er  schiere  mir  benomen 

[got  wizze  wol  die  wärheit]   daz  ich  " 
ime   diu  holdeste  bin 

[wan   ob  ich  hän  gedienet]   daz   ich 
diu  liebeste  bin 


CB.    165| 
MF.   35,  31-') 

MF.   4,  8 
77      13,32^") 


Sie    enkunnen    niewan    triegen    [vil 

menegen  kindeschen   man]       MF.    4,  9 
so   sol    man   si    triegen  n      12,  24") 


')  ib.  S.  136.  »)  ib.  S.  136.  »)  ib.  S.  137. 

*)  ib.  S.  136.  ")  ib.  S.  137.  «)  ib.  S.  139. 

')  ib.  S.  139;  für  volksthümlich  möchte  ich  den  Ausdruck   von  vornherein  nicht 


halten. 


«)  ib.    S.   139. 


»)  ib,   S.   UO. 


»)  ib.  S.  141. 


")  ib.  S.   141. 

2* 


20 


E.  TH.  WALTER 


Namenl.   L. :  da  moht  anders  niht  geschehen   [wan 

daz   si  minnecliche  sprach] 
Dazu  Morungeu :   mir  ist  anders  niht  geschehen 

Kürenberc:  Sit    sach    ich    den    valken    |   schöne 

fliegen 
Ps.   Dietmar :  so   gesach    si  valken  fliegen 


Dazu ; 


Ir  röter  rosenvarwer  munt 
Suzer  rosenvarwer  munt 


Namenl.  L. :  swenn  ich   in  umbevangen  hän 

Dz.  Regensburc :   swenn  ich  in  umbevangen   hän 

Kürenberc  I  als   tuo   du,   frouwe   schoene 

Dazu   Meinloh :      weist  du,    schoene  frouwe, 

Kürenberc :  [Wip    unde    vederspil]    die    werdent 

lihte  zam 
Dazu  Husen :  Einer  frowen  was   ich  zam 

Meinloh:  [Do  ich  dich  loben  hörte,]    do   hete 

ich   dich   gerne   erkant. 

Dazu   Dietmar:      gerne  daz  min  herze   erkande,    [wan 

ez  so  bedwungen   stät] 

Meinloh  :  [er  hat  dur  dinen  willen  [  eine   ganze 

fröide  I  gar  umbe  ein  trü- 
ren   gegeben 

Dazu:  [Ir  schöner  lip]    hat  mir  vroude  vil 

gegeben 

Meinloh:  ichn  sach  mit  minen   ougen 

Dazu  Walther:      ich   sach  mit  minen   ougen 

Meinloh :  uu    wizzen    algeliche    [daz    ich    sin 

friundinne  bin] 

Dazu   Rugge;         nu  wünschent  algeliche   [heiles  umbe 

den  riehen  got] 

Meinloh :  Mir  weiten  miniu  ougen  [  [einen  kin- 

deschen man] 

Dz.  Ps. -Dietmar:    [ich    erkös    mir    selbe    man:]    j    den 

weiten  miniu  ougen 


MF. 

6,  22 

J7 

128,  27') 

MF. 

9,  5.    6 

n 

37,  7=) 

CB. 

94%  2 

n 

136'^3) 

MF. 

6,  11 

77 

16,4% 

MF. 

10,  3 

77 

14,3^) 

MF. 

10,  18 

77 

46,  29«') 

MF. 

11,2 

77 

32,2') 

MF.    11,  25 


CB.   127'^^) 

MF.    12,  33 
W.   9,  16^) 


MF.  13,  20 

77  97,  9  '") 

MF.  13,  27 

77  37,  14") 


»)  ib.  S.  144. 

^)  ib.  S.  146.  Auch  diese  Stellen  halte  ich  entschieden  nicht  für  volksthümlich. 

')  ib.  S.  135.  ")  ib.  S.   143.  ')  ib.  S,   146.  <")  ib.  S.  146. 

')  ib.  S.  147.  ^)  ib.  S.  147.  Wie  sich  Meyer  aus  Bwei  derartigen  Parallelen, 

iu  denen  die  Übereinstimmung,  wenn  man  eine  solche  überhaupt  finden  will,  so  äußer- 
lich wie  nur  möglich  ist,  eine  Urstelle  construiren  würde,  wäre  wirklich  interessant 
zu   erfahren. 

s;  ib.  S.  148.  '»)  ib.  S.  449.  ")  ib.  S.  149. 


OHER  den  URSPRUNG   DES  HÖFISCHEN  MINNESANGES  etc 


21 


Meinloh:  daz   ich   vil   staeter  minne   pflege 

Dazu   Neithart :       er  pfliget  niht  staeter  minne 

Regensburc:  und    laegen    si   vor    leide    tot   |    [ich 

wil  im   iemer  wesen  holt] 

Ps.   Reinmar:  stürben  si  von  leide,   [so  enwart  mir 

c  nie  baz] 

Rietenbiirc :  si   fliesent    alle    ir  arebeit  :]    er  kan 

mir  niemer  werden  leit 

Dazu    Dietmar :      si   kan   mir   niemer   werden   leit   [des 

biute  ich   mine  Sicherheit] 

Rietenburc :  sit  ich  hän  von   rehter  schulde   [also 

wol   gedient  ir  hulde] 

Dazu   Dietmar:       Ich   muoz   von   rehten   schulden   ho} 

[tragen  daz  herze  und  al 
die   sinne] 

Dietmar:  [an    ein    ende    ich    des    wol    kocme] 

wan   diu    huote 

Dazu   Morungen :    we   der  huote   [.  .  .  diu   mir  hat  be- 

nomen] 


MF.    14,  33 
N.   3,  10*) 


MF.    IG,  12 
77      301,  6"^) 

MF.   18,  8 

77      3G,  18^) 

MF.   18,  11 

77      38,  5*) 

MF.   32,  3 
77      136,  27^) 


Ps. -Dietmar:  Swer  meret  die  gewizzen   min,   [dem 

wil  ich  dienen,  obe  ich  kan;]      MF.   35,  32 
Dazu   Rugge:  si  meret  vil   der  vröide   min 


77      103,6") 
MF.   38,  11 

77      203,  14') 


MF.   5,  12 


Dietmar:  ich   wil   im   iemer  staete   sin 

Dazu    Reinmar:      ich   wil   im   iemer  holder  sin    [danne 

deheinem  mäge  min] 

Die  Heranziehung  des  Verses 
Namenl.   L. :  unde  bist   mir  dar  zuo   holt 

halte  ich  für  ganz  unberechtigt,  ja  für  unverständHch;  die  Worte, 
welche  die  ersten  beiden  Stellen  gemeinsam  haben,  finden  sich  in 
dieser  Zeile  gar  nicht;  das  Vorkommen  des  Wortes  holt  [zu  holdei'] 
kann  man  unmöglich  als  Grund  gelten  lassen. 

Dietmar:  der  dich  hat  erweit  |  üz  al  der  werlte 

in   sin  gemüete 
Dazu   Husen:         so  hat   iedoch  daz  herze  erweit  ein 

wip  I  vor  al   der  werlt 

Husen  :  min   herze  ist  ir  Ingesinde 

Dazu  Neithart:      si   ist  mines   herzen  ingesinde 


MF.   38,  16.    17 

MF.   47,  12.    13^) 

MF.   50,  15 
N.   56,  13^) 


')  ib.  S.  151. 
')  ib.  S.  151. 
»)  ib.  S.  152. 


*)  ib.  S,  152. 
«)  ib.  S.  154. 
«)  ib.  S.  156. 


')  ib.  S.  156. 
«)  ib.  S.  156. 
9)   ib.  S.   158. 


22  E.  TH.  WALTER 

Morungen :  Mime    kinde  wil  ich   erben   dise  not     MF.    125,  10 

Dz.   Ps.  Wolfr. ;     üf  wen   erbe  ich    danne   diese  not         Wolfr.   XII,  20') 

Morungen:  mäht  du   doch   etswan   sprechen  ja 

[ja  ja  ja  ja  ja  ja  ja?]  MF.    137,  24 

Dazu   Reinmar:      mac  si  sprechen  eht  mit  triuwen  ja, 
[als  si  e   sprach   nein,    so   wirt  min 

Wille   sä,]  n      189,  18^) 

Walther:  so  ist  ouch    min  frowe  wandelbaere      W.    59,  22 

Dazu  Neithart:      Min  vrouwe  ist  wandelbaere.  N.   82,  39'^) 

Damit  bin  ich  ans  Ende  derjenigen  Gruppen  gelangt,  die  ich  schon 
von  vornherein  aus  rein  äußerlichen  Gründen  auszuscheiden  genöthigt 
war;  aus  Gründen,  die  nicht  nur  für  die  vorliegende,  sondern  viel- 
mehr für  jede  derartige  Sammlung  maßgebend  sein  müssen, 
wenn  diese  nicht  —  wie  hier  geschehen  ist  —  ernstlich  Gefahr  laufen 
will,  auf  jeden  Fall  ihre  Beweiskraft  zu  schwächen, 

II. 

Doch  betrachten  wir  die  Sammlung  Meyers  in  ihrem  nunmehrigen, 
nicht  unwesentlich  verringerten  Umfange  noch  einmal,  und  prüfen  wir 
von  Neuem  ihre  Beweiskraft. 

Ich  wiederhole:  es  handelt  sich  darum,  das  Vorhandensein  einer 
Volksliebeslyrik  darzuthun,  die  so  ziemlich  den  Anblick  bot, 
den  der  älteste  Kunstgesang  uns  zeigt:  denn  der  älteste 
Kunstgesang  hat  ja  nach  IVIeyer  „zuerst  ganz  die  alte  Art  fortgesetzt"  "*); 
er  hat  „eine  große  Anzahl  von  Versen"  „der  verloren  gegangenen 
Volksdichtung"  einfach  „zu  neuen  Liedern  zusammengefügt" ;  die  von 
JVTeyer  zusammengestellten  Verse  sind  nicht  Erzeugnisse  der  betreffen- 
den Dichter:  der  höfische  ]\Iinnesang  ist  vielmehr  ein  Abklatsch  der 
„verloren  gegangenen  Volksdichtung"  ^). 

Das  wäre  also  zu  beweisen. 


Soll  man  aus  einer  Zusammenstellung,  wie  die  Meyer'sche  es 
bezweckt,  zunächst  überhaupt  nur  auf  poetisch  verarbeitetes  Material 
mit  nur  einiger  Gewißheit  zu  schließen  im  Stande  sein,  so  dürfen  die 
angeführten  Parallelstellen  weder  allein  in  Bezug  auf  die  Form,  noch 
auch  allein  in  Bezug  auf  den  Gedanken,  den  Sinn  einander  nahe 
stehen;  vielmehr  müssen  sie  in  Form  und  Inhalt  Übereinstimmung 
zeigen. 


')  ib.  S.   160.  =)  ib.  S.   160.  3)  ib.  S.   163. 

*)  cf.  oben  S.  1,  Anm.  4;    S.  2,  Anm.  4;    S.   10.  ^)  cf.  oben  S.  9  u.  10. 


ÜBER  DES  URSPRUNG  DES  HÖFISCHEN  MINNESANGES  etc.  23 

Denn  alleinige  Übereinstimmung  in  der  Form  kann  nur  zu  leieht 
und  wird  meistens  ihren  Grund  im  Walten  der  Sprache  selbst  haben; 
alleinige  Übereinstimmung  des  Inhalts  in  der  wenigstens  innerhalb 
eines  Volkes  [oder  noch  vielmehr  einer  socialen  Gemeinschaft]  sich 
gleich  oder  doch  sehr  ähnlich  bleibenden  Art  des  Geistes-  und  Ge- 
müthslebens. 

Doch  selbst  wenn  Form  und  Inhalt  der  benutzten  Parallelstellen 
übereinstimmen,  so  wird  man  ihnen  einen  wirklichen  Werth  doch 
wohl  erst  dann  beimessen  dürfen,  wenn  die  Übereinstimmung  ganze 
Wendungen,  und  zwar  solche  Wendungen  betrifft,  die  nicht  gerade 
zu  den  alltäglichen  und  jedem  leicht  in  den  Mund  kommenden  gehören. 

Wir  wollen  aber  zweitens  nicht  nur  auf  poetisch  verarbeitetes 
Material  überhaupt  schließen  können;  dieses  Material  soll  einer  Volks- 
liebeslyrik angehört  haben:  die  angeführten  Parallelen  müssen  also 
auch  noch  ein  volksthümliches  Gepräge  tragen  oder  doch  wenigstens 
nichts  an  sich  haben,  was  uns  verwehrt,  sie  der  Volkslyrik  zuzu- 
rechnen; sie  müssen  endlich  auch  noch  an  Liebeslyrik  erinnern,  da 
sie  ja  sonst  —  wenn  überhaupt  —  einer  anderen  Dichtungsart,  deren 
Vorhandensein  niemand  in  Frage  stellt,  entnommen  sein  können. 

Alle  diese  Bedingungen,  deren  Folgerichtigkeit  wohl  für  jeden 
in  die  Augen  springend  ist,  erfüllen  aber  die  Gruppen  der  uns  vor- 
liegenden Stellensammlung   durchaus  nicht. 

Denn  ihre  Entsprechungen  beruhen  einerseits  nur  auf  einem 
einzigen  Worte,  welches  dann  noch  meistens  entweder  ganz  alltäglich 
ist,  oder  an  den  verschiedenen  Stellen  in  verschiedenem  Zusammen- 
hange oder  Sinne  gebraucht  wird;  oder  endlich  wohl  im  Sinne,  nicht 
aber  in  der  Form  sich  mit  den  beigesellten  Parallelen  übereinstim- 
mend zeigt;  —  anderntheils  dienen  als  Bindeglieder  innerhalb  einer 
Gruppe  oft  ganz  alltägliche  Wendungen,  die  entweder  der  Umgangs- 
sprache überhaupt  entnommen  sein  mögen,  oder  doch  bei  einer  den 
Liebesverkehr  behandelnden  Dichtung  kaum  uragehbar  erscheinen. 

Noch  andere  Stellen,  deren  Übereinstimmung  vielleicht  auffallen- 
der sein  dürfte,  lassen  im  besten  Falle  auf  Spruchpoesie  u.  dergl., 
keineswegs  aber  auf  Liebeslyrik  schließen;  oder  sie  tragen  ein  so 
oflfenbar  ritterliches  Gepräge,  dass  man  sie  auf  volksthümliche  Dich- 
tung von  vornherein  nicht  zurückführen  darf,  sondern  ihren  Ursprung 
in  höfischen  Kreisen  allein  zu  suchen  hat. 

Ein  gut  Theil  des  imposanten  Eindrucks,  den  die  Sammlung 
zweifelsohne  beim  ersten  kritiklosen  Anblicke  macht,  geht  übrigens 
bereits  verloren,  wenn  wir  —  wie  es  nothwendig  geboten  ist  —  jetzt 


24  E.  TH.  WALTER 

innerhalb  der  einzelnen  Gruppen  theilweise  dasselbe  Verfahren  an- 
wenden, mit  dem  wir  gleich  Anfangs  an  die  ganze  Sammlung  heran- 
traten; ich  meine:  wenn  wir  die  beigefügten  Parallelen  aus  der 
späteren  Volkslyrik  für  untauglich  zum  Beweise  erklären  und 
ausscheiden;  und  diejenigen,  welche  ein  und  demselben  Dichter 
entnommen  sind,  im  Werthe  einer  einzigen  Stelle  gleichsetzen. 

Auf  den  vorstehenden   Bemerkungen    fußend,    wende    ich    mich 
jetzt  von  Neuem  zu  der  Sammlung,  und  hebe  zunächst  heraus 

1,  diejenigen  Parallelstellen,   deren  Entsprechung  nur  auf  einem 
einzigen  Worte  beruht. 
Aus   dem    3.   lat. 

Liebesbr.:  wände   du   mir  daz  vercheret  linst         MF.   224,  25 

Dazu   Meinloh:       du     ha.st    im    nah    verkcret   |    beidiu 

sin   unde  leben  r>      11,  22 

Dz.  2mal  Husen :   [wan    als    ich    ir    min    angest    sage] 

daz  kan  si  leider  wol  ver- 

keren  75      44,  34 

sus    kan  si  mir  wol   daz   herze  ver- 

keren  v      53,  9 

Dazu  Morungen:   die  verkerent  underwilent  mir  den  sin        ^^      138,  1^) 

Die  Übereinstimmung  beruht  nur  auf  der  Anwendung  des  Wortes 
verkeren. 
Aus  dem    3.  lat. 

Liebesbr.:  diu  nemach   dir  gescaden   nieth  MF.    224,  27 

Dazu  Kürenberc:   fjo    würbe    ichz    gerne    selbe]     waer 

ez  ir  schade  niet  75      10,  14 

Dazu   Morungen:    [ich  fluoche  in]   unde  schadet  in  niht         n       131,  13 
Dazu  Hartmann:    daz   schät  ir  niht   [und   ist  mir  iemer 

gUOt]  55       215,   IS'*) 

Schon  in  den  vorstehenden  Stellen  beruht  die  Übereinstimmung 
nur  auf  dem  Gebrauche  des  Verbums  schaden  (einmal  sogar  nur  das 
Substantivum)  in  den  verschiedensten  Formen  und  dem  verschiedensten 
Zusammenhange.  Welchen  seiner  drei  Perioden  IMeyer  diese  Verse 
zuschreiben  würde,  weiß  ich  nicht;  doch  denke  ich  mir,  nach  seinen 
eigenen  Auseinandersetzungen  müßten  doch  wohl  die  Zeilen  des  lat. 
Liebesbriefes  der  ersten.  Periode  ebenso  wie  die  des  Kürenberg  an- 
gehören; sie  müßten  also  von  dem  zu  erschließenden  Urverse  nur 
insofern    sich    unterscheiden,    an    ihm    nur    so    viel    geändert    haben, 


')  ib.  S.  133. 

*)  ib.  S.  134,  Ich  muß  Anfangs  etwas  ausführlicher  werden,  um  die  Gesichts- 
punkte deutlich  zu  machen,  von  denen  aus  ich  die  einzelnen  Gruppen  betrachtet 
sehen  möchte. 


ÜBER  DEN  UKSPRUNG  DES  HÖFISCHEN  MINNESANGES  etc.  25 

„als  die  Einfügung  in  die  Strophe  verlangt"'),  im  Übrigen  aber  die 
alte  Formel  bewahren:  ich  überlasse  es  Jedem  selbst,  die  beiden 
Verse  dahin  zu  prüfen.  Ich  möchte  meinerseits  es  hier  nicht  unter- 
nehmen, eine  weitere  Periodisicruug  an  den  vorliegenden  und  folgen- 
den Versen  der  Gruppe  nach  Meyers  Vorschrift  zu  versuchen;  doch 
er  selbst  rechnet  wohl  die  mit  „vgl."  oder  gar  mit  „vgl.  auch"  be- 
zeichneten'^) zu  der  dritten  Periode;  dahin  würde  also  auch  die  Stelle 
Dietmars:  mir  wirret  uiht   [sin  boesor  kip]  MF.   41,  5 

gehören;  wie  kommt  aber  Dietmar  in  die  dritte  Periode  der  Zeit  nach? 

Oder  wenn  ich  mich  nach  seinen  Ausführungen  auf  8.  171  richte, 
in  denen  es  heißt  „ebenso  wird  die  Ersetzung  der  alten  volksthüm- 
lichen  Ausdrücke,  schon  vorher  zuweilen  vorkommend,  jetzt  geradezu 
System",  wie  zum  Beispiel  ,^schaden  statt  iverren^^'^  wie  paßt  dazu,  daß 
gleich  in  den  beiden  ältesten  Stücken  diu  nemach  dir  cjescaden  niaih 
(MF.  224,  27)  und  loaer  ez  ir  schade  niet  (Kür.)  das  Wort  schaden 
(resp,  schade),  hingegen  bei  Walther 

[sol    er    mir    büezen]     des    mir    niht 

enwirret  W.   83,  19 

wieder  wirren  steht? 

Der  Vollständigkeit    halber    füge    ich  die    beiden    noch  übrigen 
Stellen  hinzu: 
Meinloli :  [daz   ich   dich   nu   gesehen   han]    daz 

enwirret  dir  niet 
und  Dietmar:         [Ich   solde  zürnen,  hülfe   ez  iet] 

Es  folgen  Stellen  mit  liep'^): 

3.  lat.  Liebesbr. :  wände  wärest  du   mir  nieth   liep 

f  Dz.  Kürenberc:  so   bist  du   mir  vil  Hep 

I  und  mir  wart  nie  wip   also   liep 

(  Dazu  Meinloli :  im   wart  liebers  nie   niet 

l  und  den   du  wilt  frowe  haben  liep 

Dz.   Rietenburc :  daz   mir  si  iemen  alse  liep  ? 

Dazu  Dietmar:  der  ich   gerne  waere  liep 

Gemäß  unserem  Grundsatze  fällt  bei  Seite  die  Stelle  aus  der 
Volkslyrik :  Und  war'   mein  Herr  Vater  mir  nicht 

so  lieb  Talvj,   S.   437*). 

Die  Übereinstimmung  ist  vollständig  auf  das  eine  Wort  liep,  dessen 
Vorkommen  in  einer  ausgesprochenen  Liebeslyrik  mir  eben  nicht  sehr 


MF. 

11,  6 

MF. 

40,  11  (!!) 

MF. 

224,  27 

7) 

9,  26 

V 

10,  IG 

n 

14,  6 

n 

11,  8 

n 

18,  5 

T) 

32,  10. 

')  ib.  S.   171  unten.  ')  ib.  S.    133.  ^)  ib.  S.   134. 

■*)  Daß  ein  solcher  Vers  wie  dieser  überhaupt  als  Parallele  zu  den  voranf- 
gehenden  beigefügt,  zeigt  deutlich,  wie  sehr  ins  Blaue  sich  die  Bemüliungcn  M.'s 
verlieren. 


26  E.  TH.  WALTER 

seltsam  erscheint,  beschränkt;  einen  zu  Grunde  liegenden  Original- 
vers kann  ich  mir  absolut  nicht  vorstellen.  Was  wird  nun  hier  aus 
einer  Periodisierung? 

Auch  in  der  folgenden  Gruppe ')    ist   nur   ein  einziges  Wort  als 
Bindeglied    zu    betrachten;  das    in    den    beiden    ersten  Versen    außer 
pJiUget    sich  findende    triuwen   gewährt    nur  auf  den  ersten  Blick  den 
Anschein  engerer  Übereinstimmung,  denn  in  der  Zeile 
Namenl.   L. :  swer  mit  triuwen   der  niht  phliget        MF.    3,  15 

ist  mit  trmioen  nur  adverbiale  Bestimmung  zu  phligen',  als  Object  zu 
diesem  ist  der^  das  ist  tougen  minni;  beigefügt,  während  in  dem  anderen 
Verse 

Spervogel:  ist  danne   daz   er   triuwen  phliget  MF.    20,  21 

trünven  als  Object  anzusehen  und  in  ganz  allgemeinem  Sinne,  wie  der 
Zusammenhang  der  ganzen  Strophe  lehrt,  aufzufassen  ist. 
Daß  bei  der  dritten  Stelle 

Swer  des  biderben   swaehe  phliget        MF.    245,  25 
eine  innigere  Übereinstimmung  nicht  vorliegt,  ist  offenbar;  man  müßte 
denn    etwa    das    fiioer   aus  diesem    und    dem    ersten  Verse    auffallend 
finden  wollen. 

Desgleichen  mangelt  es  an  engerer  Zusammengehörigkeit  in  der 
Gruppe  mit  dem  Reimworte  ^ü7zen^): 

Namenl.   L. :  dem   sol   man   daz   verwizen  MF.    3,  IG 

Dazu   Meinloh:       der  wil  ich  nu  niht  wizen   [sihe   ichs 

nnfroelichen   stan]  v      13,  38 

Dz.    Rietenburc:     Nu   endarf  mir  nieman   wizen  n      18,  1. 

Auch    haben    die  Verse   speciell    mit  Liebeslyrik  nichts  zu  thiui. 
Nur  das  Wort  güete  weisen  als  gemeinsam  auf  die  Verse: 
[vröde  han  ich  manichvalt]   von  eines 

wibes  gute  CB.   102" 

Dz.   Rietenburc:     [Mir  gestuont  min  gemüete]    nie   so 

hohe  von  ir  güete  MF.    18,  10 

Dazu   Dietmar:      [Ich  bin  ein  bete  hergesant,  frowe] 

üf  mange  dine  güete  n      38,  15 

Dz.  j  Reinmar:       [daz  er  die  rede  vermite]   iemer  dur 

I  sin   selbes   güete  n      187,  3 

I  Ders. :  ...  [daz    sich    sent   |    min    gemüete] 

'  nach   siner  güete,  n      199,  29. 

Von  der  folgenden  Zusammenstellung^)  mögen  die  beiden  ersten 
Verse : 

ich   weiz  wiez  "^ir    gevalle  CB.    103" 

Dazu  Kürenberg:   in  weiz   wiech   ir  gevalle  MF.    10,  15 

*)  ib.  S.  134.  ')  ib.  S.    134.  ^)  ib.  Ö.   136. 


ÜBKR  DEN  URSPRUNG  DES  HÖFIr^CKEN  MINNESANGES  etc.  27 

auffallendere  Übpreinstinimun<2:    zeigen;    sie  stehen  aber  damit  so  ver- 
einzelt da,  daß  wir  ihnen  weiteren  Wertli  nicht  beilegen  können;  die 
übrigen    Verse    haben    außer    dem    Verbum     gevallen    nichts    gemein- 
sam,    cf. 
Meinloh :  [und    sol   die    merkaere    reden    lan], 

swaz  in  gevalle  MP.    14,  IS 

Ps. -Dietmar:  ...[in   dem   walde  |  ein   boum  ,]   der 

dir  gevalle  n      37,  11 

Dazu:  [Seht  mich   an    ,  jungen   man!]    Lät 

mich    eu   gevallen  CB.   S.    97    o. 

Dazu   Neithart:       [sin  (winders)  getwanc  |  wendet  man- 

gen  süezen  sanc  |  uns  allen] 

wem    sol   daz  wol  gevallen     N.    14,  21. 
Auszuschließen  ist  die  Stelle  aus  der  Volkslyrik 
Volkslyrik :  wenn    ich   dir  nit    gefalle  |  [gib   mir 

urlob,   du   roter  mund]  Uhl.    29,  5. 

Es  folgen   Stellen  mit   dem   V^erbum   hau   als  Reimwort  M: 
Nu    suln   wir   alle   froude   han  CB.    103" 

Namenl.    L. :  Ich   wil   weinen   von   dir  h:in  MF.    6,  2(5 

Dz.    Rietenburc :     gedinge  j  den    ich   von   einer   frowen 

hän  n      18,  21. 

In  14  Stellen  finden  wir  ferner')  das  im  Mhd.  überaus  häufige 
(jemezen  lan;  dazu  gefügt  sind  8  Verse  mit  (jeniezen  allein.  Beide  Aus- 
drücke, die  übrigens  durchaus  nicht  auf  Liebeslyrik  ausschließlich 
hinweisen,  tragen  nichts  Auffallendes  an  sich. 

Ebenso  steht  es  mit  der  nächsten  Gruppe,  deren  Verse  den 
Gebrauch  des  Verbums  verdriezen  im  verschiedensten  Zusammenhange 
gemeinsam  haben  ^). 

Es  folgen  4  resp.  3  Verse  (zwei  gehören  demselben  Dichter  an) 
mit  dem   Verbum  singen*): 

Ich  wolde  gerne   singen,    [der  werlde 

vrovde  bringen]  CB.      126* 

Morungen:  Ich   wil    immer    singen    [dine   hohen 

wirdekeit]  MF.    14G,    11 

Kunde  ich  uii  gesingen    [daz  die  jnn- 


Neithart:      '  ^en   gerne   sungen]  N.    33,22 

Ich   wil   aber  singen   [swie   ez  vür  ir 

oren  gej  n    G7,  7. 


>)  ib.  S.  136. 

')  ib.  S.  137;  obendrein  sclnnilzt  die  Gruppe  etwas  zusammen,  da  von  den 
angeführten  Stellen  mehrere  einem  Dichter  angehören;  nämlicli :  ."j  Rugge ,  3  Rein- 
mar,  3  Walther  und   1   der  späteren  Volkslyrik. 

')  ib.  S.   137.  ')  ib.  S.   138. 


28  E.  TH.  WALTER 

Das  Vorkommen  des  Verbums  singen,  obendrein  in  so  verschie- 
denem Zusammenhange,  hat  bei  berufsmäßigen  Dichtern  doch  sicher- 
lich nichts  Befremdendes. 

Bedeutungslos  ist  auch  die  Gruppe  mit  trüric  ') ;  man  wird  wohl 
kaum  zwischen  dem  Verse: 

[Vrowe,  wesent  vro !   Wie  tut  ir  nur 

so,]    daz  ir  so  trürech   sit?      CB    133' 
und 

Dietmar :  also  trüi-ic  wart  ich  nie,   [swenn  ich 

die  wolgetänen    sach  |  min 
senedez   ungemaCh  zergie]        MF.   36,  20 
eine  auf  Entlehnung  deutende  Übereinstimmung  finden  können.  Auch 
der  beigefügte  Vers  Reinmars : 

Reinmar :  Alse    rehte    unfrö     enwart    ich    nie. 

[daz  solte  eht  sin  :  nust  ez 
geschehen]  MF.    185,  20 

darf  nicht  auffallend  erscheinen;  denn  außer  dem  Wechsel  des  Aus- 
drucks —  unfrö  statt  trüric  —  raubt  auch  der  verschiedene  Zusam- 
menhang der  Stelle  den  Werth. 

Horheim:  [.  .  .  üf  minen  eit    ]  noch  niene 

wart  so   trüric  man  MF.    115,  15. 

Ein  ziemliches  Durcheinander  bietet  die  Zusammenstellung  der 
Verse  mit  benemen^  das  in  den  verschiedensten  Verbindungen  aufge- 
führt wird  '^). 

Selbst  bei  den  Stellen,    die  ungefähr  ähnlichen  Sinn  haben,  wie 

Kürenberc:  [eines    hübschen  ritters  |  gewan  ich 

künde]  |  daz   mir  den  benomen  hän 

[die   merker   und  ir  nit]  MF.    7,  23 

Regensburc :  Sin  mugen   alle  mir  benemen  |  [den 

ich   mir  lange    hän    erweit]        n      16,8 

Husen:  [In  minem  troume  ich  sach  ]  ein  harte 

schoene  wip  |  .  .  .  .  do  er- 
wachet ich  e  zit]  dö  wart  si 
mir  benomen  ti      48,  2  7 

und  Wolfram:  du  (wahtaer)  hast  in  dicke  mir  be- 
nomen} [von  blanken  armen, 
und  üz  herzen  nicht]  Wolfr.   5,  4 — 5 

oder: 

Reinmar:  [Der  mir  gaebe    sinen  rät!    |   konde 

ich  ie  deheinen,]  der  ist  mir 
benomen  MF.    194,  34—35 

')  ib.  S.   138—139.  »)  ib.  S.   140. 


ÜBER  DEN  URSPRUNG  DES  HÖFISCHEN  MINNESANGES  etc.  29 

ist  die  Ausdrucksweise  eine  so  verschiedene,  die  Verwendung  des 
benemen  so  mannigfaltig ,  daß  man  an  einen  gemeinsamen  Grundvers 
nicht  wohl  denken  darf. 

Auch  aus  den  ferner  enger  zusammengehörigen  Versen : 
Guotenburc:  din    guote ,     diu  mir  luit  benomen 

Minen  sin  MF.   71,  28 

Riigge:  [daz   tiiot  diu   minne]  :  diu  nimt  mir 

die  sinne  ?i      101,  19 

Morungen  :  swenne  ir  schoene  mir  nimt   so   gar 

minen   sin  n      135,  23 

Namenl.   L. :  [Vil  ist    unstaeter    wibe  :    ]    diu  be- 

ncment  ime  den  sin  n      4,  6 

und   Spervogel:      [So  we   dir    armiiete!]    du    benimest 

dem  man  |  beidiu  witze  und 

ouch  den  sin,    [der  niht  eh- 

kan]  n      22,  9 

—  auch  aus  diesen  Versen  können  wir  nur  auf  eine  der  Umgangs- 
sprache —  vielleicht  ziemlich  fest  —  zu  eigen  gewordene  formelhafte 
Ausdrucksweise,  keinesfalls  aber  auf  einen  der  „eigentlichen  Lyrik" 
zugehörigen  poetisch  bearbeiteten  „Baustein"  schließen,  das  zeigt 
schon  die  Verwendung  des  Verses  bei  Spervogel. 

Geradezu   auffallend   ist   hier   übrigens,    daß    gerade    die  Verse, 
deren  Übereinstimmung  etwas  weiter  geht,  ein  und  demselben  Dichter 
angehören,  wie  dies  der  Fall  ist  mit  den  Zeilen 
Walthers :  die  mir  in   dem    winter    fröide  hänt 

benomen 
und :  die   mir  dicke  fröide  hänt  benomen 

und  in  ähnlicher  Weise  mit  den  Versen 
Neitharts  :  iriancgem  senedem   herzen  trürcn  ist 

benomen 
und:  manegen    herzen  ist  benomen    |   leit 

und  ungemüete  n     23,  8.   9. 

Das  Hinfällige  einer  Gruppe,    wie  die  folgende  ist:  ^) 
Namenl.   L. :  [daz  der  sumer    komen    sol.    ]    seht 

wie  wol  das  menegen  herzen 

tuot.  MF.   4,  16 

Dazu:  [bi  dir  swer  lit]   sanfte  dem   daz  tut      CB.    140" 

und  Johansdorf:    seht  wie  maneger  ez  doch  tuot  MF.   86,  8 

brauche  ich  nicht    erst    auseinanderzusetzen;    es  liegt    auf  der  Hand. 
Von  den  angeführten  zwölf  Stellen  mit  dem  Reimwort  gemuot  '^) 
gehört  die  Hälfte  Walther  an,    hat  also  den  Werth  einer  einzigen 
Stelle;  das  gleiche  gilt  von  den  zwei  citierten  Versen  des  Johansdorf. 

')  ib.  S.   141.  ')  ib.   S.    142. 


w. 

73 

23 

n 

98 

15 

N. 

H, 

7 

n 

23, 

8. 

30  E.  TH.  WALTER 

In  den  übrigen  Stellen: 
Namenl.  L. :  [daz  ist  also   verendet]    daz  ich   bin 

wol  gemuot  MF.    4,  29 

Rugge :  [daz  ich  durch  ieman  si  vermeit]    des 

wirde    ich    selten     wol    ge- 
muot V      105,  21 
Bligger  :                    [ .  .   sweme  da  gelinge ,]     der  si  wol 

gemuot  V      118,  18 

Dazu:  swer  gegen  den   hat  hohen  mut  CB,    132" 

und  Kürenberc  :     [als  ich   daran  gedenke]   so  stet  wol 

höhe  min  muot  MF.    10,  23 

hängt  die  Übereinstimmung  einzig  an  dem  Worte  gemuot-^  ja  in  den 
beiden  letzten  Stellen  sogar  nur  noch  an  dem  Reime  muot-^  obendrein 
wechselt  der  Sinn. 

Bei  Versen  wie 
Namenl.   L. :  [Ich  hän  den  lip  gewendet]   an  einen 

ritter  guot  MF.   4,  27 

Dietmar :  [jii  hoere  ich  vil  der  tugende  sagen] 

von   eime  ritter  guot  n      39,  4 

Dz.   Kürenberc :      [als   warb    ein    schoene    ritter]    umb 

ein  frouwen  guot  n      10,  22  ') 

eine  Entlehnung  annehmen  zu  wollen,  möchte  einem  doch  wirklich 
schwer  werden.  Man  könnte  fast  der  Meinung  werden,  Meyer  trete 
an  die  mittelhochdeutschen  Ausdrücke  und  Wendungen  mit  ganz  neu- 
hochdeutschem Sprachgefühle  heran;  denn  nur  so  läßt  es  sich  eigent- 
lich erklären,  daß  er  in  Stellen  wie  in  den  obigen  irgendwie  Beson- 
derliches finden  kann. 
Die  vierte  Zeile 
Dietmar:  ein  schoene  wip  so  rebte  guot  MF.   36,  26 

fällt  für  uns  obendrein  fort,  da  sie  einem  in  der  gleichen  Gruppe 
schon  citierten  Dichter  angehört. 

Es  folgt  eine  Gruppe  von  drei  Stellen  mit  entstän  als  Reim  wort:  ^) 
Kürenberc :  so  läz   ich  die  Hute  [  harte  wol  ent- 

stän MF.   7,  15 

Dz.   Regensburc:   des  mac  sich  min  herze  wol  entsten        n      17,  6 
und  Guotenburc :   ichn  mac  mich   schiere  niht  entstän        v      76,  14. 
Man  sieht,  eine  nähere  Übereinstimmung  ist  nicht  vorhanden. 

Von    den   fünf  Versen    mit  getan  ^)    sind   es  eigentlich  nur  zwei, 
welche  in  Betracht  kommen  können : 
Meinloh:  ich   hän  in  anders    niht  getan [    wän 

ob  ich   han   gedienet]  MF.    13,  30 

und  Reinmar:         In  habe  in  anders   niht  getan   [wan 

daz  ich  sere  sinne]  ??      194,  4. 

»)  ib.  S.  142.  ')  ib.  S.  144— 14Ä  ')  ib.  S.  149. 


ÜBER  DEN  URSPRUNG  DES  HÖFISCHEN  MINNESANGES  etc.  31 

Die  übrigen  haben  außer  der  Verbalforra  habe  getan  nichts  Ge- 
meinsames; außerdem  fallen  noch  zwei  Stellen  als  unbrauchbar  fort: 
die  zweite  Stelle  Meinlohs  (einem  schon  citierten  Dichter  zugehöiig) 
und  die  der  Volkslyrik  entnommene,  so  daß  eigentlich  überhaupt 
außer  den  oben  angeführten  nur  noch  die  eine  bei 
Dietmar :  [Waz  wizet  mir  der  beste  man  ?]   ich 

habe  im  leides  niht  getan:     MF.   40,  36 
zu  beachten  ist,  und  diese  bezeichnet  Meyer  wohl  sehr  mit  Recht  nur 
als  „entfernteren  Anklang". 

Daß  in  den  folgenden  Versen  ') 
Meinloh:  im   trviret  sin   herze  |  [sit   er  nu  jun- 

gest von   dir   schiet]  MF.    14,  7 

und  Dietmar:         [nu   muoz  ich   von  ir  gescheiden  sin] 

trüric  ist  mir  al  daz  herze 
min  n      32,  20 

die  beiden  betreffenden  Dichter  nöthig  gehabt  haben  sollten,  den  Ge- 
danken: daß  ihr  Herz  durch  das  Scheiden  traurig  geworden  sei, 
{ —  die  Form  ist  ja  verschieden  genug  — )  zu  entlehnen,  wird  wohl 
kaum  Glauben  finden.  Und  noch  viel  weniger  dürfte  dies  der  Fall 
sein  bei  den  Versen: 
Veldegge :  truric    ist    daz    herze    min  :  [wan   ez 

wil   nu  winter   sin,]  MF.    59,  15 

und   Kürenberc:      [Swenne    ich    stän    alleine  j.  •.  und 

ich     gedenke      anc     dich  ' 

so   .  .  .  ] 
.  .  .  gwinnet     mir     daz     herze    |    vil 

manegen   tnxrigen   muot  n      8,  23. 

Am  Schlüsse  des  Verses  die  beiden  zu  einem  Begriffe  verschmol- 
zenen Wörter  ake  laue  weisen  die  folgenden  Stellen  auf:  ^) 
Rietenburc  :  ez  ist  leider  alze  lanc   [daz  die  bluo- 

men  i-öt    |    begunden    liden 

not]  MF.    19,  13 

Dietmar:  [sit    was   mir  min   fröide    kurz]    und 

ouch   der  jämer  alze   lanc  n      34,  18 

Reinmar:  mirst    beidiu  winter  und   der  sumer 

alze  lanc  n      155,  4 

Hartman:  die   swaeren   tage  sint  alze   lanc  n      207,  4 

und  noch  zweimal  bei   demselben. 

Man  sieht,  außer  den  beiden  zusammengehörigen  Wörtern  ver- 
bindet die  angeführten  Verse  nichts;  der  Zusammenhang  und  die  ganze 
Verseinfügung  lassen  an  keine  Entlehnung  denken. 

')  ib.  S.  150.  ^)  ib.  S.  153. 


32  E.  TH.  WALTER 

Ahnlich  verhält  es  sich  mit  ') 
Meinloh :  [im   trüret  sin  herze]   sit  er  nu  jun- 

gest von   dir   schiet  MF.    14,  8 

Dietmar:  do  ich   aller  nachest  von   dir  schiet 

[sit    hat  ich  gröze    swaere]         ?)      40,  13. 
Nur  noch  Gedankenähnlichkeit  liegt  vor  in 
Husen :  Deich  von    der    guoten    schiet     [des 

lide  ich  ungemach]  MF.   48,  32. 

Die  Heranziehung  des  Verses 
Nameul.   L. :  [Ein    vpinken    und   ein  umbe   sehen  | 

wart  mir]  do  ich  si  nähest 
sach  MF.    6,  21 

nur  wegen  des  vorkommenden  nähest  ist  wirklich  recht  unnütz. 

Es  folgen  Stellen  mit  tiuren  ^)  oder  Ausdrücken  ähnlicher  Be- 
deutung ;  von  den  acht  Parallelen  gehören  bereits  vier ,  und  zwar 
darunter  gerade  die  drei  auffallender  übereinstimmenden  einem  Dichter, 
nämlich  Walther  ^)  an.  Die  Ähnlichkeit  der  übrigen  ist  so  wenig 
ausgeprägt,  daß  an  Entlehnung  nicht  gedacht  werden  kann: 
Dietmar  :  du   hast  getiuret  mir  den   muot  MF.    33,  26 

Dazu  Eugge :  si   tiuret  vil   der  sinne   min.  75      103,  24 

Dazu   Morungen:    [dine  redegesellen  |  die  sint  swie  wir 

wellen  j  guoter  worte  und 
guoter  site.]  da  bist  du  ge- 
tiuret mite.  V      146,  26 

und  gar 

Johansdorf  :  daz  ir  desto  werder  sint   [und   da  bi 

hochgemuot]  n      94,  14. 

Die  folgende  Gruppe  "*) 
Fs.   Dietmar:  und  wil   doch   mannen  fremede  sin        MF.    35,  34 

Dietmar:  sol   ich  im  lange  vrömede  sin  n      36,  11 

Ders.  :  [so  höh   öwi]   sol  ich  ir  lange  fi-ömde 

sin  n      39,  17 

Morungen:  [ich  fluoche  in  unde  schadet  in  niht,|] 

dur  die  ich  ir  muoz  frömede 
sin  n      131,  17 

weist  als  gemeinschaftlich  nur  das  Wort  fremede  in  vier  Stellen,  von 
denen  drei  auf  einen  und  denselben  Dichter  kommen,  auf  ^). 


^)  ib.  S.  150.  =)  ib.  S.   155. 

')  Wenigstens  ist  zu  dem  Verbum  tiuren  resp.  einmal  ivirden  jedesmal  derselbe 
Zusatz  Itp  gefügt. 

*)  ib.  S.   155. 

^)  Wieder  gehören  gerade  die  beiden  Verse,  die  größere  Entsprechung  haben: 
sol  ich  im  lange  frömede  stn  (D.  36,  11)  und  sol  ich  ir  lange  frömede  sin  (ib.  39,  17) 
demselben  Dichter  an. 


ÜBER  DEN  URSPRUNG  DES  HÖFISCHEN  MINNESANGES  etc.  33 

Angefügt  sind  drei  weitere  Verse  mit  dem  Zeitwort  fremeden: 

Dietmar:  fsunder  äne  mine   schult  ||   fremedet 

er  mich   manegen  tac  MF.   34,  14 

linsen :  aleine   fromdet   mich   ir  lip,  |  [si   hat 

iedoch    des    herzen    mich  | 
beroubet  gar  für  elliu  wip]         n      42^  7 

Rugge :  sin  langez  fremeden  muoz  ich  klagen        v      107,  23. 

Die  Stellen  haben  außer  dem  noch  dazu  in  verschiedenen  Formen 

gebrauchten  einzigen  Worte  durchaus  keine  weitere  Übereinstimmung. 
Auch  haben    Ausdrücke    mit   fremede    sowohl    als    mit  fremeden 

etwas  Absonderliches    nur   für  den  mit  neuhochdeutschem  Sprach- 

geflihle  an  sie  Herantretenden. 

Ebensowenig   ist  etwas  anzufangen  mit  den  Versen :  ') 

Dietmar:  |h6he   stät  min   muot  :]    wan   al   diu 

werlt  noch  nie  gewan   [ein 
schoene  wip  so  rehte  guot]     MF.   36,  25 

Husen:  got  weiz  wol,    daz  ich   nie  gewan  | 

[in    al    der    werlt    so    liebe 
enkeine]  n      44,  19 

Namenl.  L. :  [du  bist  in  minen    sinnen]    für    alle 

die  ich   ie  gewan  n      5,1. 

Auch  in  den  Parallelen   mit   gedagen  '^)    tritt    zu    dem    einfachen 

Verbum  nirgends    etwas    hinzu ,    was  eine  Entlehnung  wahrscheinlich 

machen  könnte: 

Husen:  |deich    lide    urabe    ir  hulde    seren  {] 

daz    ich    niemer    mac    ver- 
dagen  MF.   44,  39 

Morungen:  [Sin  hiez  mir  nie  widersagen ^  •  •  •] 

desn    mac    ich    langer  niht 
verdagen  n      130,  12 

Hartmann:  nieman   sol  ir  lobes   gedagen  n      214,  8 

Neithart:  Hie  mit  sul  wir  des   gedagen  N.   36,  38 

Rugge:  [unser  leit  daz  ist  ir  spil :]    wir  mugen 

wol  stille  dagen  MF.    97,  34 

die  drei  übrigen  Stellen  gehören  Reinmar,  haben  also  den  Werth  einer 

einzigen. 

Ganz  werthlos  ist    die  Zusammenstellung    der  Verse   mit  guot  ^). 

Von    den    zehn    angeführten    Stellen   sind    allein    sieben  Walther    ent- 
nommen,   zwei  kommen  auf  Neithart,   eine  auf  Horheim,    so  daß  wir 

eigentlich    nur  drei  Parallelen  vor  uns  sehen,    die    nichts  Anderes  als 

das  Wörtchen    guot    mit   einander    gemein  haben.     Es  berührt  höchst 

eigenthümlich ,  wenn  man  bedenkt,  daß  einem  hier  Verse  oder  Vers- 

■)  ib.  S.   155—156.  ')  ib.  S.  158.  ^)  ib.  S.   160. 

GERMANIA.     Neue  Reihe  XXII.  (XXXIY.)  J^hrg.  3 


34  E.  TH.  WALTER 

Stückchen  wie:  sist  guot;  du  enhist  niht  guot;  so  slt  ir  niht  guof ;  daz 
loaei'e  guot  etc.  geboten  werden  in  der  Absicht,  den  Glauben  an  eine 
Entlehnung  aus  alten  Liedern  zu  erwecken. 

Nicht  anders  fühlt  man  sich  berührt  von  der  folgenden  Gruppe'): 
Bligger:  so  ist  aber  menger  sü  gemuot  [daz 

er  der  geste  haz  bejaget]        MF.    119,  23 
Walther:  der  lantgräve  ist  so  gemuot  W.   20,  10 

Neithart :  erst  ein  knappe   so   gemuot  N.   3,  9 

(Ders. :  minne  ist  so   gemuot  57    97,  6) 

Reinmar :  min  muot  stuont  mir  eteswenne  also 

[daz  ich  was  mit  den  andern 
frÖ]  MF.    174,  7. 

Wie  sollte  wohl  hier  etwa  der  Oi'iginalvers  zu  allen  diesen  Variationen 
gelautet  haben? 

Ein  Gleiches  gilt   von  den  Versen    mit   sivachen  ^) ;    zu    den    drei 
Stellen  aus  Walther:')    die  sich  selben  so  verswachent  (23,21);    ...diu 
so  swachet  (47,  5);   ..wie  du  dich  swachest  (51,  37)  treten 
Morungen  :  sä  zehant  bin  ich  geswachet  MF.    135,  22 

und  Neithart:         daz  du  mich   so   swachest  N.   23,  39. 

Es  bedarf  nicht  erst  der  Mühe ,  die  Verse  in  ihren  übrigens 
überall  ganz  verschiedenen  Zusammenhang  einzufügen;  man  wird  ihnen 
auch  so  schon  keinen  Werth  beilegen  können. 

Ganz  dasselbe,  was  ich  oben  über  die  Gruppe  guot  *)  bemerkte, 
muß  ich  von  den  folgenden  beiden  Zusammenstellungen  wiederholen, 
in  denen  die  Verbalform  kan  und  das  Verbum  tuon  als  Bindeglieder 
dienen  ^).  Ein  Blick  auf  die  beiden  Gruppen  genügt;,  um  ihre  Be- 
deutungslosigkeit zu  erkennen. 

Die  im  vorstehenden  Abschnitte  besprochenen  Gruppen  fanden 
oder  suchten  ihre  Übereinstimmung  nur  in  einzelnen  Worten ,  im  fol- 
genden werde  ich 

2.  diejenigen  Parallelstellen  zu  behandeln  haben,  deren  Ent- 
sprechung auf  einem  etwas  umfangreicheren  Ausdrucke  oder  einer 
Wendung  beruht,  wie  sie  die  Umgangssprache  des  täglichen  Lebens 
gewiß  schon  geformt  hatte  und  leicht  dem  Dichter  in  den  Mund  ge- 
geben haben  mag. 


')  ib.  S.   160.  ^)  ib.  S.   160. 

*)  Es  sind  nicht  einmal  ganze  Verse,  die  in  Betracht  kommen. 

')  ib.  p.  5H(,). 

^)  ib.  S.  161.  In  der  Gruppe  kan  fallen  wieder  von  9  Stellen  5  Reinmar  und  2 
Walther  zu:  desgleichen  in  der  Gruppe  tuon  von  9  Stellen  5  auf  Waltber  und  2  auf 
Reinmar,  so  daß  schon  ganz  äußerlich  die  beiden  Zusammenstellungen  an  Werth 
recht  beträchtlich   einbüßen. 


ÜBER  DEN   URSPRUNG  DES  HÖFISCHEN  MINNESANGES  etc.  35 

Fast  mit  in  die  vorige  Abtheilung  hätte  ich  verweisen  können 
die  Zusammenstellung  *) 

3.  lat.  Liebesbr. :   desne   soltu   dun   niemere  MF.    224,  26 

Huseii :  deswär   tuon  in   niht  mere  n      51,11 

Walther:  lätz   iu  geschehen   niht  mere  W.    18,  4. 

Eine  Menge  Stellen  liefert  das  Verbum  zergän,  das  in  verschie- 
deneu Verbindungen  aufgeführt  M^ird  -) 

davon  mag  uns  frovde  nimmer  mer 

zergan  CB.    98* 

Meinloh:  [wan   er  ist    komen    ze  lande,]    von 

dem   min   truren   sol  zergan      MF.    14,  29 

Morungen:  [swer  da  enzwischen  danne  stet  und 

irret    mich ,]    dem  müez   al 
sin  wünne  gar  zergen  :i      126,  35 

Walther:  [mich   müet],   sol   min   tröst  zergan        W.    14,  13 

[so   enwirde  ich   anders    niht  erlost] 

Ders. :  sol   der   (kumhcr)   mit  fröide   an  mir 

zergan],  n      72,  1  "*) 

Ders. :  [der    ist    eht    manger    fröiden    rieh] 

so  jenes    fröide  gar  zei'gät       55      92,  38**) 

Reinmar :  sT»   ist    min   truren   gar  zergan    [und 

bin  die  Wochen  wol  getan]  ^)      MF.   203,21 

Ders.:  [anders  so  gestuont  ez  nie,]   wan  daz 

beidiu  liep  und   leit  zergie        n      172,  29"^) 

Ps.-Neithart:  [der   anger   lit  |  bevangen.]   min  tru- 

ren  deist  zergangen  N.    130,  7^). 

In  allen  diesen  Versen  liegt  die  Übereinstimmung  eigentlich  nur 
darin,  daß  das  Verbum  zergan  zur  Bildung  von  Redensarten  verwandt 
ist.  Was  uns  zwingen  sollte,  Versentlehnungen  anzunehmen,  sehe  ich 
nicht.  Warum  soll  denn  außer  den  vielen  anderen  Ausdrücken,  zu 
denen  sich  das  Wort  mit  Substantiven  auch  sonst  noch  verbunden 
hat,  nicht  auch  ein  frovde  zergan,  truren  zergan,  wunne  zergen,  tröd 
zergen,    leit  zergen   in  der  Umgangssprache  sich  gebildet  haben? 


')  ib.  S.  133.  ')  ib.  S.  135. 

^)  Ich  führe  die.se  Verse,  obschon  sie  bereits  citierten  Dichtern  angehören,  nur 
deshalb  mit  an,  weil  sie  gerade  die  Verschiedenheit  des  Gebrauches  von  zergä/n,  zu 
zeigen  geeignet  sind. 

^)  So  und  nicht  wie  Meyer  schreibt:  sol  nun  fräude  nu  zergan  lautet  der  Wem 
an  der  angegebenen  Stelle. 

*)  Der  am  Schlüsse  der  Gruppe  noch  angefügte  Vers: 
Namenl.  L. :  [Ow§  mir  siner  jugende!]  diu  muoz  mir 

al  ze  sorgen  ergäu  MF.  4,   12 

wäre  besser  weggeblieben. 

3* 


CB. 

lor 

n 

123" 

Tl 

133 

MF. 

6,  24 

36  E.  TH.  WALTER 

Daß  in  den  folgenden  Versen  der  Ausdruck  des  „Frohseins"  *) 
auf  Entlehnung  deuten  soll,  zumal  da  er  in  den  vier  Zeilen  dreimal 
in  verschiedener  Fassung  erscheint: 

[stolze  meide  |]    wesent  palt! 
[grüne    stat    der  schöne  walt  :]     des 

suln  wir  nu   wesen   halt 
Vrowe,   wesent  vro 
Namenl.  L. :  vriunt,   du  wis  vil  hochgemuot 

hat  wenig  Wahrscheinlichkeit   für  sieh. 

Das  Gleiche  gilt  von  den  folgenden  Zeilen ")  •  Wendungen  mit 
tragen  sind  dem  Mittelhochdeutschen  geläufig,  hoher  muot  ist  ebenfalls 
ein  vielgebrauchter  Ausdruck:  warum  sollte  die  Verbindung  hohen  muot 
tragen  sich  also  nicht  hier  und  da  einstellen?  In  den  angeführten 
Parallelen  findet  sie  sich  überhaupt  nur  zweimal: 
Reinmar:  [War    umbe    vüeget    diu    mir  leit  |] 

von  der  ich   höhe   solte  tra- 
gen  den  muot  MF.    162,  17 
und  Regensburc  :   [der  sich  mit  manegen  tagenden  guot  ] 

gemachet  al  der  werlte  liep] 
der  mac  wol  hohe  tragen 
den  muot  »      16,  7. 

An  den  übrigen  Stellen  ziemlich  stark  variiert,   wenn   man  überhaupt 
von  Variation  sprechen  will.     So  bei 
Dietmar:  Ich   muoz  von  rehten   schulden  ho  | 

[tragen  daz  herze  und  al  die 
sinne]  MF.   38,  5 

und  nochmals  bei 

Reinmar :  [guoten    trost    wil    ich     mir    selben 

geben]  |  und  min  gemüete 
tragen  ho  n      185,  30. 

In  beiden  Stellen  ist  nicht  einmal  das  Reimwort  dasselbe  ge- 
blieben, worauf  Meyer  doch  sonst  mit  Recht  Werth  legt.  Der  Vers 
Walthers :  [edel  unde  riche  |  sint  si  sumeliche,]  | 

dar  zuo  tragent  si  hohen 
muot:  W.    51,  3 

will  mir  endlich  seiner  Bedeutung  wegen  nicht  hierher  gehörig  er- 
scheinen; das  hoher  muot  bedeutet  hier  gewiß  nicht  nur  so  viel  wie 
„gehobene  Stimmung  =  Fröhlichkeit",  was  man  bei  den  obigen  Stellen 
MF.  38,  5  und  185,  30  wohl  anzunehmen  hat,  sondern  drückt  aus 
„hohen  stolzen  Sinn"  ^). 


')  ib.  S.  136.  »)  ib.  S.  138. 

')  Für  volksthümUch,  d.  h.  volksthümliclien  Ursprungs  möchte  ich  —  beiläufig 
erwähnt  —  den  Ausdruck  auch  uicht  lialteu. 


ÜBER  DEN  URSPRUNG  DES  HÖFISCHEN  MINNESANGES  etc.  37 

Es  folgen  vierzehn  Stellen  mit  der  Wendung  sanfte  tuot  ^)  (vier 
davon  gehören  Walther  an).  Die  Übereinstimmung  beruht  nur  auf 
diesem  Ausdrucke,  der,  allgemein  gebräuchlich,  Schlüsse  auf  Entleh- 
nung nicht  erlaubt. 

Nicht  mehr  besagt  die  umfangreiche  Sammlung  mit  fri'^),  das 
in  den  verschiedensten  Verbindungen  aufgeführt  wird.  Man  findet 
zusammengestellt:  fri  machen  oder  ß't  tuon,  fri  sin,  fri  beltben,  fri 
tcerden,  fri  läzen,  auch  absolut  fri  in  wechselnder  Verbindung  mit 
leides^  sorgen,  von  leide,  von  seneder  not,  lobes\  dazugefügt  sind  sinn- 
verwandte Wendungen,  wie  von  sorgen  scheiden,  von  sorgen  laere  tuon; 
kurz:  was  wiederkehrt,  ist  meistens  nur  der  Gedanke;  Zusammenhang 
und  Form  sind  verschieden  genug,  jedenfalls  nicht  dazu  angethan, 
einem  die  Annahme  einer  Versentlehnung  aus  vorhandener  Poesie 
nahe  zu  legen  ^). 

Die  Redensart   den  lip  Verliesen    ist  an    sich    eine  ganz  geläufige, 
deren  Anwendung  nicht  befremden   kann;    die  Stellen,    an    denen  sie 
vorkommt,  haben  durchaus  nichts  Formelhaftes,    obendrein  findet  sie 
sich  nur  bei  drei  verschiedenen  Dichtern  *),  nämlich  außer  in  den 
Namenl.   L.  :  [kumest  du  mir  niht  schiere,]  so  ver- 

liuse  ich   minen  Iip  MF.    5,  3 

nur  noch  zweimal  bei 
Morungen:  [ich    mac    mich   langer  niiit  erwern] 

den  lip   muoz    ich   verloren 

hän  n      137,  13 

und  in  demselben  Liede 

[frouwe,   mine   swaere   sich,  j]   e  ich 

Verliese  minen  lip  n      137,  18 

und  zweimal  bei  Neithart: 

ja  verliuse  ich   den  lip  |  [ist  si   mir 

niht  beschert]  N.   61,  34 

[daz  was  ein  henne  guot  |  und  gienc 

staete  unbehuot]  da  von  sie 

verlos   den  lip  n     181,  18^). 

oder  vielmehr  Ps.  N. 


*)  ib.  S.   139.  '')  ib.  S.  141. 

^)  6  Stellen  fallen  übrigens  aus  der  Sammluug  heraus,  da  von  den  angezogeneu 
3  Reinmar,  2  Walther  und  4  Neithart  zukommen. 

')  ib.  S.  142. 

')  Man  könnte  den  Vers  eher  gegen  Meyer  zum  Beweise  dafür  auwendeu,  daß 
die  Redensart  eine  allgemein  verbreitete  war;  sonst  könnte  sie  nicht  hier  in  so  völlig 
verschiedenem  Zusammenhange  stehen. 


38  E.  TH.  WALTER 

In   den   folgenden  Versen  *)    hängt    die   Übereinstimmung    über- 
haupt nur  an  der  ganz  unzweifelhaft  bereits  von  der  Umgangssprache 
geformten  Wendung  al  der  werke]  im  Übrigen  sind  die  Stellen  grund- 
verschieden: 
Narnenl.   L. :  den    möhte    in   al  der    weite    ]    [got 

niemer  mir  vergelten]  MF.    5,  4^*) 

Dietmar:  nu   muoz    ich   al   der  werlte    [haben 

dur   sinen  willen  rät]  v      39,  8 

Namenl.  L. :  [und  waerez  al  der  weite  leit,J  ;?      6,  12. 

Ebenso    gewagt    ist    es,    an  das    zweimalige  Vorkommen^)    von 
7iäch  dem  willen  mm  in  den  Versen: 
Namenl.  L. :  [Mir    hat    ein  ritter  .  .  .  .  j]    gedienet 

nach   dem   willen  min  MF.   6,  6 

und  Dietmar:  [er  kan  wol  grozer  arebeit]   gelönen 

nach   dem  willen  min  n      38,  13 

weitere  Folgerungen  zu  knüpfen,  dazu  ist  Ausdruck  und  Zusammen- 
hang doch  gar  nicht  geeignet.  Die  Zufügung  des  nicht  einmal  gleich- 
lautenden 

Keinmar:  sage  im  durch  den  willen  min  MF.   178,  5 

erhöht  den  Werth  der  Gruppe  nicht. 

Eine  der  reichsten  Zusammenstellungen  gründet  sich  auf  die 
Redensart  rät  tverden  *) ;  sie  wird  in  24  Versen  aufgeführt.  Diese 
schmelzen  nun  allerdings  im  Werthe  zu  9  zusammen,  denn  von  ihnen 
fallen  allein  7  auf  Walther,  4  auf  Reinmar,  4  auf  Rugge,  2  auf  Neit- 
hart,  2  auf  Dietmar,  2  auf  Husen.  Aber  ganz  abgesehen  davon: 
Meyer  kann  doch  unmöglich  im  Zweifel  darüber  sein ,  ob  hier  ein 
Ausdruck  der  Alltagsrede  oder  ein  rein  lyrischer,  ja  überhaupt  lyri- 
scher Vers  zu  Grunde  liegt.  Für  die  letztere  Annahme  bietet  sich 
doch  nirgends  der  geringste  Anhaltspunkt.  Die  Gruppe  ist  bezeich- 
nend für  die  Natur  der  ganzen  Sammlung.  Der  eigentliche  Zweck 
derselben  ist  gänzlich  außer  Acht  gelassen;  Ähnliches  wird  eben 
zusammengestellt,  unbekümmert,  ob  es  die. Sache  fördert 
oder  nicht. 

Die  beiden  Verse:  ^) 
Namenl.  L. :  swie   du   wilt,   so  wil  ich   sin   [lache, 

liebez  fi-owelin]  MF.   6,  30 

und  Walther:         swie   si   sint  so  wil  ich   sin  W.   48,  7 

verlieren  das  auffallend  Übereinstimmende,  das  ihnen  der  erste  Blick 
zuerkennt,  sobald  man  sie  im  Zusammenhange  betrachtet. 


')  ib.  S.  142.  5)  nicht  5,  11.  »)  ib.  S.  143.  ')  ib.  S.   143—144. 

*)  ib.  S.   144. 


ÜBKK  DEN  UKSr'RirNG  DES  HÖFISCHEN  MINNESÄNGE^  v\v.  39 

In  der  Strophe  der  Namenlosen  hat  die  Frau  mit  jenem  Verse 
die  Versicherung  völliger  Ergebenheit  von  Seite  des  Mannes  erhalten; 
bei  Walther  will  die  Wendung  besagen,  daß  er  so  viel  fuoge  besitze, 
die  Leute  nicht  zu  verdriezen,  daß  er  darum  sich  nach  ihnen  richte, 
mit  ihnen  fröhlich  und  traurig  sei.  Der  Ausdruck  ist  an  beiden 
Stellen  ganz  vom  Augenblicke  eingegeben;  seine  Übereinstimmung 
gewiß  eine  zufällige.  Die  dritte  angeführte  Entsprechung 
Rietenburc:  als  wil  ich   iemer  mere   sin  MF.    18,  24 

ähnelt  zu  wenig  dem  Wortlaute  den  beiden  anderen,  als  daß  man  sie 
in  Betracht  ziehen  könnte. 

Nichts  als  einen  ganz  alltäglichen  Ausdruck  haben  wir  auch  in 
dem  die  lotle  *)  ^=  derweile  zu  sehen,  das  uns  in  neun  Versen  ')  (dar- 
unter viermal  Reinmar  und  zweimal  Neidhart,  so  daß  vier  Stellen 
ungiltig  werden)  entgegentritt.  Das  regelmäßig  hinzutretende  ich  lebe 
oder  daz  leben  hän  oder  ich  habe  den  lip  beweist  nichts  mehr,  als  daß 
der  ganze  Ausdruck  im  gewöhnlichen  Leben  eben  gerade  so  gebräuch- 
lich war,  wie  heutzutage  unser  „so  lange  ich  lebe"  oder  „mein  Leben 
lang".    Von  lyrischem  Verse  haftet  an  der  Wendung  nichts. 

Was  die  Stellen  mit  hohe  stau  '^)  in  Verbindung  mit  muot,  gemüete, 
herze  angeht,  so  kann  ich  nur  wiederholen,  was  ich  schon  bei  sanfte 
tuo7i^)  und  anderen  zu  bemerken  hatte:  es  liegt  nichts  als  eine  be- 
nutzte Redensart  der  Umgangssprache  vor,  deren  Verwendung  im 
Verse  Variation  genug  zeigt,  ja  nicht  einmal  ein  bestimmtes  Reimwort 
zu  Tage  treten  läßt,  so  daß  man  dem  Gedanken  an  einen  zu  Grunde 
liegenden  formelhaften  Vers  nicht  Raum  geben   darf^). 

Dasselbe  gilt  in  noch  höherem  Maße  von  der  Zusamraeustellung 
mit  inne  werden^'')  und  inne  bringen,  nur  daß  das  Reirawort  das- 
selbe bleibt. 

Vergleicht  man  ferner  die  Verse  mit    umbe  icaz  ^)    näher    im  Zu- 
sammenhange, so  verlieren  sie  von  ihrer  Ähnlichkeit  wesentlich. 
Meinloh :  [Ich    bin    holt    einer    frouwen  :]     ih 

weiz   vil  wol  umbe  waz  MF.    13,  '2 

Morungen:  [.  .  e  ich  ir  iemer  diende]   ine  wisse 

umbe  waz  n      142,  18. 

Die  übrigen  Stellen,  von  denen  zwei  einander  ähnlicher  lauten, 
gehören  einem  und  demselben  Dichter,  nämlich  Neithart  zu: 


>)  ib.  S.  146.  =)  ib.  S.  146.             3)  oben  S.  et?  0. 

*)  Die  15  Stellen  reducieren    sich   auf  9;    5  gehören  schon  angezogenen  Dicli- 
tern  zu. 

»)  ib.  S.   147.  «)  ib.  S.   149. 


40  K.  TH.  WALTER 

Neithart:  [Si  sint    mir  unwaege]     sine  wizzen 

umbe  waz  N.   68,  17 

[er    ist    dir  gehaz]    ich    enweiz    niht 

umbe  waz  77    75,  22. 

Der  folgende  Vers  erhält  den  Anschein  der  Ähnlichkeit  nur  durch 
die  Verkürzung,  die  ihm  im  Citate  der  Zusammenstellung  zu  Theil 
geworden  ist: 

ich   weiz    rebte    nibt    war    umbe    [si 

daz  liez]  N.   97,  3. 

Doch  wäre  auch  die  Zahl  der  Parallelen  (3)  größer,  ihr  Zu- 
sammenhang gleichartiger,  so  berechtigten  sie  doch  ihrer  Natur  nach 
niemals  zu  dem  Schluß  auf  einen  geformten  Vers,  höchstens  auf  einen 
geläufigen  Ausdruck  der  gewöhnlichen  Rede. 

Es  folgt  eine  Gruppe  mit  hoehen  oder  besser  mit  dem  gemein- 
schaftlichen Gedanken  „einen  in  frohe  Stimmung  versetzen"  ^). 

Größere  Ähnlichkeit  zeigen  von  den   angeführten  Stellen   in    der 
Form  nur  zwei: 
Rugge:  [Ein  wiser  man  vil  dicke  tuot.  [  des 

ein    tumber    nicht    enkan.] 

als    ime  daz    boehet    sinen 

muot,    [so  muoz  ich  leider 

trüric   stän]  MF.    103,  37 

Reinmar:  [sit  daz   er  mir    getriuwet    wol,]    so 

wil  ich  boehen  sinen    muot.        v      151,  28 
allenfalls  noch  '^) 
Meinlob:  im   trüret   sin  herze  |  .  .  .  .]  nu  hcehe 

im  sin  gemüete  [gegen  dirre 

sumerzit]  n      14,  9 

Die  übrigen  Stellen  verdienen  nicht  herangezogen  zu  werden.  Der  Vers : 

er   erfreut  mir  mein  gemüete  Uhl.   61,  3 

kommt  schon  zufolge  seines  Ursprunges  aus  der  späteren  Volkslyrik 
nicht  in  Betracht,   und  die  beiden  übrigen: 

[gelobet    stät    der  grüne  walt,]    des 

froet  sih  min  gemüte  CB.    102"^ 

und  Kürenberc:     s6   stet  wol  hohe  min  muot  MF.    10,  23 

haben  doch  formell  gar  zu  wenig  Ähnlichkeit,  als  daß  man  sie  neben 
die  obigen  stellen  dürfte.  Obendrein  ist  der  Gedanke  (der  in  den 
letzteren  Stellen  auch  durchaus  nicht  genau  mit  den  zuerst  ange- 
führten paßt)  durchaus  nicht  auffallend,  so  wenig,  wie  die  Art  ihn 
auszudrücken  selten  erscheint. 


•)  ib.  S.  150.  ')  Der  Vers 

daz  ir  güete  mich  gehoehet  hat  MF.   110,  32 

gehört  Rugge,   also  einem  schon  verwendeten  Dichter  au, 


ÜBER  DEN  URSPRUNG  DES  HÖFISCHEN  MINNESANGES  etc.  41 

In  der  folgenden  Gruppe:  *) 
Rietenburc:  [taet  ich   selbe    nicht    also]    der  be- 

twungen   stät  MF.    19,  11 

Dietmar :  [gerne  daz   min  herze   erkandej   wan 

ez  so  bedwungen  stät  v      32,  2 

Morungen:  [sit  daz   diu   werlt  mit  sorgen]    also 

gar  betwungen   stät  n      143,  8 

ist  vor  allen  Dingen  die  gleichmäßige  Verbindung  mit  sfdt  als  irgend- 
wie auffällige  Übereinstimmung  zurückzuweisen.  Die  Anwendung  von 
stän  ist  nicht  anders  zu  betrachten  als  die  einer  Kopula;  das  Verbum 
wird  ebenso  häufig  gebraucht  und  ist  in  seiner  Bedeutung  ebenso 
abgeblaßt,  wie  eine  solche. 

Über  den  häutigen  redensartlichen  Gebrauch  von    beticungen   be- 
lehrt   uns    schon    der    Zusammenhang,    in    dem    das  Verbum    in    den 
obigen  Stellen  und  in  der  folgenden  erscheint: 
Kegensburc:  [ich    wil  im   iemer    wesen    holt.]     si 

sint  betwungen  äne  not  MF.    16,  14 

d.  h.   >|Sie  macheu  sich  ohne  Noth  Kummer  und  Sorge". 

Die  Bemerkungen  Haupts  zu  der  letzteren  Stelle  bekräftigen 
nur,  daß  dergleichen  Wendungen  schon  frühe  und  allgemein  gebräuch- 
lich waren. 

Die  Ähnlichkeit  des  Verses: 

der  minne   wil   mich   twingen  CB.    126 

ist  formell  zu  gering,  als  daß  man  auf  ihn  Rücksicht  zu  nehmen 
hätte.     Dietmar  endlich   (40,  15)   ist  bereits  citiert. 

Die  folgende  Gruppe  mit  ze  oder  an  ein  ende  bringen  oder 
komen"^)  hat  ja  an  sich  schon  darum  wenig  Werth,  weil  einmal  von 
den  angeführten  fünf  Stellen  drei  ein  und  demselben  Dichter  entnommen 
sind,  dann  aber  ihnen  nicht  einmal  dasselbe  Reimwort  eigen  ist.  Aber 
davon  ganz  abgesehen,  darf  man  die  Wendung  durchaus  nicht  als 
etwas  vielleicht  nur  der  Liebeslyrik  oder  der  Lyrik  überhaupt  Eigen- 
thümliches  betrachten.  Sie  war  mit  verschiedenen  kleineu  Änderungen 
ganz  gebräuchlich  und  gewiß  nicht  nur  der  poetischen,  sondern  auch 
der  alltäglichen  Umgangssprache  ^). 

Daß  von  guot  dünken  das  Gleiche  gilt  "*),  bedarf  keiner  weiteren 
Erörterung. 

Bei  der  folgenden  Zusammenstellung  mit  nie  (jeschach  ^)  ist  der 
Zusammenhang    in    den    drei    zur  Geltung    kommenden  Versen    doch 


»)  ib.  S.  153.  ^)  ib.  S.  154. 

')  Ich  brauche  nur  auf  das  Mhd.  Wb,  zu  verweisen. 

*)  ib.  S.  154—155.  *)  ib.  S.   155. 


42 


E.  TH.   WALTER 


nicht  derart,  daß  wir  an  einen  zu  Grunde  liegenden  t'estgeformten  Vers 
denken  müßten: 


Dietmar; 


Hiisen : 


Reinmar 


[si  hat  daz    herze  mir  benomen;]   daz 

mir  geschach  von  wibe  e  nie      MF.   35,  4 

[ze  fröiden  muos  ich  urlop  nemen :] 
daz  mir  da  vor  e  nie  ge- 
schach 

[waene  ich  des  daz  mir  diu  unge- 
lonet  läze]  se  geschaehe  an 
mir  daz  nie  geschach 


43,  -27 


"      189,  36. 


Es  folgen  die  Stellen  *) : 


MF.   36,  13 


N.   58,  29 


,1         MF.    116,  20; 


Dietmar :  [ich  weiz  wol  daz  tuet  ime  we]   daz 

ist  diu  meiste  sorge  min  .  . 

Neithart:  doch  ist  daz  diu   meiste  sorge  mine 

[daz  niht  langer  dienest  lie- 
ben Ion   erworben  habe] 

Rute:  [da  manic  man  der  süuden  sin  ver- 

jach,]  dö  was  daz  min  aller 
nieistiu   swaere   [daz 
Die  übrigen  Verse  verdienen    nicht    angeführt    zu  werden;    denn 

der    eine   gehört    dem    schon    oben    herangezogenen   Neithart   zu;    der 

andere   aber 

Husen:  [des   ist  er  min  leitvertrip]   und   diu 

hoahste  wunne  min 

begründet  seine  Zugehörigkeit   nur   dadurch,    daß  er  von  den  obigen 
das  Gegentheil  bedeutet. 

Ob  nun  diese  zu  dem  Schlüsse  auf  Entlehnung  aus  einer  Liebes- 
lyrik, ja  auf  Entlehnung  überhaupt  berechtigen,  erscheint  mir  mehr 
als  zweifelhaft.  Hat  hier  nicht  bloßer  Zufall  gewaltet,  so  könnte  man 
höchstens  an  eine  im  gewöhnlichen  Leben  gebrauchte  Wendung  denken. 
Recht  aus  der  Umgangssprache  herausgegriffen,  aber  nur  durch- 
aus nicht  auf  Lyrik  zurückzuführen,  ist  die  Redensart  mit  ein  heiden, 
wie  sie  sich  in  den  Versen 
Dietmar^):  ja  bin   ich    niht    ein    heiden    [si   sol 

genäde   an  mir  begän] 
[swelch    kristen    kristentuomes    gibt 

an  Worten    und  an   werken 

niht   ]   der  ist  wol   halp  ein 

heiden 


Walther: 


MF.   40,  24 


W.    7,  IS"*). 


findet. 


')  ib.  S.  155.  ')  ib.   S.  157. 

•*)  Auf   eine  Stute    mit  den  übrigen  Versen    läßt  sich  dieser  doch  nicht  stellen, 
deuii  in  ihm  ist  das  Wort  heiden  bedeutungsvoller  als  in  jenen. 


ÜBER  l'KN  URSPRUNG   DES  HÖFISCHEN  MINNESANGES  ote.  43 

Weitere  Parallelen  gibt  Haupt  zu  40,  24: 
Gliers:  ja   enbin    ich    ein    beiden  :     [so   be- 

scheiden    ist  ii-  minuiclicher 

lip.]  MSH.    1,  101''    iZ.    5) 

Winterstetteu :        diu    mich    in    senden    leiden   —   nu 

lange  lät  als   einen    wilden 

beiden  n        1,    152''    (Z.    8 

V.   u.) 
Stretlingen  :  si    tet   als   ich   w«re   ein   beiden  MS.  1,  45'' (Z.  3  v.  u.). 

Der  Vergleich  mit  den  heiden  ist  gewiß  —  wie  ja  auch  in  der 
damaligen  Zeit  der  Kreuzzüge  leicht  erklärlich  —  in  Jedermanns 
Munde  gewesen. 

In  den  beiden  Versen  ^) : 
Reinmar:  daz    ist  an    minen    fröiden    mir    ein 

angeslicher  slac  MF.    197,  21 

Walter:  und  waere  an  fröide   ein  angeslicher 

slac  W.    115,  1 

mag  man  wohl  etwas  Auffallendes  an  ihrer  Übereinstimmung  finden. 
Will  man  hier  aber  auf  Entlehnung  (was  bei  so  geringer  Zahl  von 
Versen  nicht  sehr  rathsam  erscheinen  will)  schließen,  so  wäre  man 
doch  viel  eher  berechtigt,  eine  Benutzung  des  Reinmarschen  Verses 
von  Seite  Walthers  anzunehmen,  als  auf  Nichtvorhandenes  zu   fahnden. 

Wenn   die  Redensart  ez  ist  ein   slac  auch   noch  bei 
Dietmar:  es   waere   an   miner  fröide   ein   slac       MF.    40,  33 

sich  findet,  so  ist  dies  nicht  seltsam,  Wendungen  mit  sine  gehören 
zu  den  sehr  gebräuchlichen.  Das  Wort  findet  sich  in  gleicher  Bedeu- 
tung in  den  mannigfachsten  Verbindungen  ^) ,  warum  soll  es  nicht  auch 
ein  oder  das  andere  Mal  mit  fröide  verbunden  vorkommen? 

Die  Gruppe  mit  schm  tuon  hat  gar  keine  Bedeutung  '*).  Der 
Ausdruck  ist  ganz  verbreitet;  die  Reimübereinstiramung  kann  auch 
nicht  befremden;  denn  —  wie  sich  aus  einigermaßen  sorgfältiger  Be- 
obachtung ergibt  —  wird  bei  Anwendung  zusammengesetzter  Aus- 
drücke in  derselben  Verszeile  gewöhnlich  eines  der  beiden  zusammen- 
gehörigen Glieder  Reimwort;  und  zwar  trifft  dies,  je  nachdem  wir  es 
mit  einem  Haupt-  oder  Nebensatze  zu  thun  haben,  das  Beiwort  oder 
das  Verbura. 

Werthlos  ist  auch  die  Aufzählung  der  wenigen  Stellen  (5,  davon 
3    bei    Neithart)  mit    wol    im  Ausruf*),    umsomehr,    da    es    sich    hier 


')  ib.  S.  157.  ')  cf.  d.  Mbd.  Wb.  S.  351  ^)  ib.  S.   158. 

i  ib.  S.  158. 


44 


E.  TH.  WALTER 


Walther: 

Neithart: 

Bei    dems.: 
Bei   dems.: 


nicht  einmal  um  ganze  Verse,  sondern  nur  um  einen  herausgerissenen 
Ausdruck  handelt.  Daß  derartige  Verbindungen  mit  lool,  unpersön- 
liche Sätze,  namentlich  imperativischer  Natur,  vollkommen  zu  dem 
mhd.  Sprachgebrauche  gehören;  dalj  ihr  Vorkommen  nicht  viel  anders 
zu  betrachten  ist,  als  das  der  gebräuchlichsten  Interjectionen,  sollte 
ich  kaum  zu  erwähnen  brauchen.  Ich  führe  die  betreffenden  Stellen 
nur  an,  um  zu  zeigen,  in  welcher  Weise  zuweilen  die  Gruppen 
der  uns  vorliegenden  Sammlung  zu  Stande  kommen: 
Guotenburc:  Nu   wol    hin     [(ez    muoz    eht    sin)]  \ 

und  Stic  ilf,   daz  herze  min]      MF.    70,  19 
Nu    wol     dan     [weit    ir  die    wärheit 

schouwen !  ]  gen   wir.  .  ,  .]       W.   46,  21 
[Diu  muoter  sprach]   "wol  hin !   ver- 

stü  übel  oder  wol,   sich  daz 

ist  din  gewin  '  N.   21,  27 

[Do    sprachs    ein    alte  in  ir  geile,  } 

trütgespil,]  wol  dan  mit  mir!      N.    3,  16 
'Wol  dan   mit  mir  [  [zuo  der  linden, 

trütgespil]  n     10,  32'). 

Die  Gruppe  mit  war  nemen^)  ist  auf  20  Stellen  gebracht,  von 
denen  sieben  auf  Reinmar,  sechs  auf  Walther  und  vier  auf  Neithart 
kommen,  so  daß  die  ganze  Sammlung  nur  den  Werth  von  fünf  Versen 
besitzt.  Im  Übrigen  gilt  dasselbe,  was  ich  zuletzt  von  schtn  tuon^) 
zu  bemerken  hatte. 

Ebenso  steht  es  mit  der  Stellensammlung  mit  leW^);  sie  schmilzt 
auch  ähnlich  wie  die  vorige  zusammen;  es  sind  angeführt:  Reinmar 
viermal,  Walther  viermal,   Neidhart  fünfmal. 

Auch  folgende  Stellen ,    die  alle  das  Sätzchen   ich  loeiz  wol    auf- 
weisen, haben  keine  Bedeutung: 
Johansdorf :  [Wie  sich  minne  hebt]   daz  weiz  ich 

wol  MF.   91,  21 

Wolfram:  [.  .  .  diu  sorge  ist  mir  ze  vruo]   ich 

weiz  vil  wol,   [daz  ist  ouch      Wolfr.   8,  8 

ime] 
Ps. -Neithart:  ich   weiz  wol,   [und  het  ich  ...J  N.   170,  76 

und  dreimal   bei 
Walther:  [swaz   ir  in  tuot,   daz  rechent  iuwer 

jungen]    daz    weiz    ich  wol 

[und  weiz  noch  me]  W.   24,  2 

etc. 


*)  Wie  ich  schon  mehrfach  zu  zeigen  bemüht  war,  so  tritt  auch  hier  wieder 
zu  Tage,  daß  gerade  nähere  Übereiustimmuugen  meist  nur  bei  demselben  Dichter 
sich  finden. 

')  ib.  S.   158.  ')  oben  S.  43.  ')  ib.  S.   159. 


ÜBER  DEN   URSRPUNG  DES  HÖFISCHEN  MINNESANGES  etc.  45 

Daß  diese  Verse  auf  Entlehnung  deuteten  ,  obendrein  aus  lyri- 
scher Poesie,  läßt  sich  gewiß  nicht  ernstlich  behaupten;  wir  haben 
hier  nur  ein  zufälliges  Zusammentreffen  auch  sonst  gewiß  ganz  ge- 
bräuchlicher Redewendungen,  die  sich  natürlich  jedem  ungezwungen 
zur  Benutzung  darboten. 

Die  zwölf  Verse,  deren  Übereinstimmung  auf  der  Wendung  daz 
herze  ist  vol  beruht  '),  haben  für  uns  nur  den  Werth  von  drei  Stellen: 
achtmal  wird  die  Volkslyrik  der  späteren  Zeit  herangezogen,  und 
zweimal  Neithart  angeführt.  Daß  die  Ausdrucksweise  selbst  etwas 
Befremdliches,  auf  Entlehnung  Deutendes  haben  sollte,  kann  ich 
schlechterdings  nicht  finden.  Das  herze  als  Sitz  des  Gefühls,  und 
demgemäß  mit  leit,  fröiden,  trauren,  unmut,  jämer  angefüllt  zu  denken, 
war  gewiß  eine  sehr  gewöhnliche  Vorstellung. 

Bei  der  Redensart  loaz  dar  umhe?  ^)  was  liegt  daran?  an  Lyrik 
zu  denken,  erscheint  mir  mehr  als  gewagt;  die  Wendung  entstammt 
natürlich  nur  der  Umgangssprache. 

Aus  der  folgenden  Gruppe  mit  dem  Reimworte  getan  ^)  kommen 
nur  die  drei  ersten  angeführten  Verse  in  Betracht.  Die  übrigen  vier 
erhaltem  durch  die  Zufügung  von  lool  eine  so  verschiedene  Bedeutung, 
daß  sie  höchstens  gesondert  berücksichtigt  werden  dürften.  Dies 
jedoch  wäre  unnöthig;  denn  von  den  vier  Stellen  mit  wol  getan  ge- 
hören allein  drei  Walther,  die  vierte  —  mit  guot  statt  wol  —  Neit- 
hart an  *). 

Die  Verse  mit  getan  allein  sind: 
Keinmar:  swer  in  eret  |  unde  im  meret  |  fröide,] 

daz  ist  mir  getan  MF.    200,  13 

Neithart:  [daz  si  da  mit  ir  gerunent]    deist  min 

ungewin]  unde  ist  mir  getan      N.    7  7,  24 
Walther:  [.  .  .  daz  ich   die  getiuret  hän  |  und 

mit  lobe  gekroenet  |  diu 
mich  wider  hopnet]  frouwe 
Minne,   daz   si  iu  getan  W.   40,  2G. 

Auch  in  diesen  Stellen  kann  ich  nichts  finden,  was  den  Schluß 
auf  einen  zu  Grunde  liegenden  Originalvers  erlaubte.  Warum  soll  die 
Wendung  nicht  schon  im  gewöhnlichen   Leben  sich  geformt  haben? 

Eine  für  die  ganze  Sammlung  recht  bezeichnende  Zu- 
sammenstellung ist  die  auf  den  beiden  Ausdrücken  tuot  ice  und  tuof 
wol  beruhende  ^).  Von  den  15  im  Ganzen  aufgezählten  Versen  fallen 
aliein  acht  auf  Walther,  vier  auf  Neidhart,   zwei  auf  Hartmann,  eine 


')  ib.  S.  159.  ^)  ib.  S.  161.  ^)  ib.  S.  102.  ')  cf.  oben  S.  30  (3*) 

^)  ib.  S.  162. 


46  E.  TH.  WALTER 

auf  Morungen :  wir  babeu  also  eigentlich  nur  vier  brauchbare  Stellen 
vor  uns,  und  in  diesen  nichts  als  eine  zweifelsohne  ganz  gewöhnliche 
Redewendung,  die  obendrein  weder  einen  ganzen  Vers  einnimmt  nocli 
einen  solchen  mit  einem  regelmäßig  wiederkehrenden  Reimworte  ver- 
sieht, so  daß  wir  nicht  einmal  von  einem  formelhaften  Eindruck 
reden  können. 

Ganz  dasselbe  gilt  von  dem  Gebrauche  der  Wendung  äne  danc  '), 
sie  kann  nur  für  neuhochdeutsches  Gefühl  etwas  Befremdliches 
haben:  der  mittelhochdeutschen  Sprache  war  sie  offenbar  ganz  zu 
eigen.  Geltung  haben  für  uns  übrigens  von  Vornherein  nicht  die  beiden 
Stellen  aus  der  späteren  Volkslyrik,  so  daß  uns  nur  der  Wert  von 
drei  Parallelen  bleibt  (Neidhart  dreimal  citiert). 


Aus  dem  bisher  Gesagten  wird  wohl  deutlich  und  klar  schon 
die  Natur  der  ganzen  Sammlung  Meyers  zu  Tage  getreten  sein.  Es 
fand  sich  nirgends  auch  nur  eine  Schwierigkeit  bei  dem  Versuche, 
alles  was  uns  als  auffallende  Übereinstimmungen  vorgebracht  war, 
auf  alltäglichen  Wortgebrauch  und  Ausdrucksschatz   zurückzuführen. 

3.  Doch  die  Gruppen  der  Sammlung  haben  wir  erst  zur  Hälfte 
durchlaufen.  Ich  überging  zunächst  noch  diejenigen  Stellen,  in  denen 
die  Übereinstimmungen  einen  etwas  auffallenderen  Eindruck  zu  machen 
schienen ,  insofern  die  den  einzelnen  Versen  gemeinsamen  Worte  oder 
Wendungen  nicht  so  ohne  Weiteres  es  verriethen,  dem  Sprachschatze 
entnommen  zu  sein  ,  sondern  durch  ihren  Gebrauch  in  einer  Liebes- 
lyrik einen  etwas  bestimmteren,  eigenartigeren  Charakter  angenom- 
men hatten. 

Groß  und  häufig  ist  dergleichen  eigenartigeres  Zusammentreffen 
aber  nicht,  jedenfalls  überall  ohne  Bedeutung.  Denn  daß  eine  Liebes- 
poesie sich  an  ihr  eigenes  Lexikon  hält,  ist  doch  nur  natürlich;  und 
daß  Wendungen  und  Worte,  sonst  keineswegs  auffallend,  durch  gleiche 
Verhältnisse  ins  Leben  gerufen,  in  ähnlichen  Zusammenhang  einge- 
fügt einander  ähnlicher  werden  müssen,  wird  wohl  Jedem  einleuchten, 
ohne  daß  ihm  darum  gleich  der  Gedanke  an  die  Nothwendigkeit  einer 
Entlehnung  aus  einer  verloren  gegangenen  Volkslyrik  berechtigt  zu 
sein  scheinen  dürfte. 

Die  folgenden  Gruppen  haben  in  Wirkliclikeit  nicht  größeren 
Werth  als  die  oben  bereits  besprochenen. 

')  ib.  S.  162. 


ÜBER  DEN  URSPRUNG  DES  HÖFISCHEN  MINNESANGES  etc.  47 

Kanu  es  bei  einer  Poesie,  die  den  Fraueudienst  zum  Gegenstande 
hat,  befremden,  wenn  der  Ausspruch  einigemal  sich  findet,  daß  kein 
Weib  dem  Dichter  besser  gefallen  habe,  als  eben  das,  welches  er  be- 
singt; zumal  wenn  der  Gedanke  durchaus  nicht  in  formelhafter  Weise 
zum  Ausdrucke  gelangt? 
So  haben  wir  bei  ^) 
Meinloli :  |sit  ich  ir  gunde   dienen,  |]   si  geviel 

mir  ie  baz   und  ie   baz  MF.    13,  4 

und    Reinmar:         [got  weiz  wol  daz  ich  ir  nie  vergaz  [] 

und  daz  mir  wip  geviel  nie 
baz  77      174,  36. 

Füge    ich    noch    die    Stelle    hinzu,    wo    der    Dichter    die    Frau 
sprechen  läßt 

Rugge:  |sou    sach    ich    nie    deheinen    man  |j 

der  mir  ze  relite  geviele  ie 
baz  MF.    106,  21 

so  sind  wir  eigentlich    mit    den    Parallelen,     deren    jede    noch    immer 
genug  Individuelles  trägt,  zu  Ende.  Was  Meyer  zufügt,   enthält  nichts 
Übereinstimmendes  außer  dem  Worte  gevallen.    Der  Vers 
Walthers  :  [so  läze  ir  mine  rede  .  .  .  .  ]   ein  wenic 

baz  gevallen  W.    71,  9 

hat  dem  Sinne  nach  gar  nichts,  der  Form  nach  wenig  (nicht  einmal 
gleiches  Reimwort)  mit  den  oben  angeführten  Stellen  gemein;  ebenso 
steht  es  mit  dem  Verse : 

[min  vrowe  ist  ganzer  tagende  vol,  |] 

ih   weiz   wiez   'ir    gevalle         CB.    103*. 
Die  Worte  der  Tegernseer  Briefschreiberin   sagen  gerade  das  Gegen- 
theil  zu  jenen: 

icli   mohte  dir   deste   wirs   gevalle  MF.    224,  24 '') 

Daß   zum  Lobe   der  Frau  gesagt  wird  ')   an   einer  Stelle : 
[si  ist    ganzer    tagende   ein   adamas] 
und   schöner  zühte  ist  si  so 
vol,"*)  CB.    94%  1 

und  an  einer  zweiten : 

min  vrowe   ist  ganzer  tugende  vol  77      103* 


')  ib,  S.  133. 

^)  Rechte  Übereinstimmuug  des  Gedankens  herrscht  eigentlich  auch  unter  den 
ersten  drei  Stellen  nicht;  sie  findet  sich  nur  in  den  beiden  Versen  Mehilohs,  dem 
obigen   und   dem  folgenden: 

ie  lieber  und  ie   lieber  |  so  ist  si   7.  allen  ziten  mir,  | 
ie  schceuer  und  ie  schoener  |  :  vil  wol   gevallet  si   mir.  | 
^)  ib.  S.   134. 
■*)  Für  vulksthiinilich   halte  icli   den    Vers  auch  durchaus  uicht. 


48  K.  TH.  WALTER 

und  endlich  mit  gewiß  nicht  der  gleichen  Bedeutung  von 
Walther:  dei*  herze  ist  ganzer  tilgende  vol  W.    115,  15 

wird  doch  wohl  kaum  zur  Annahme  einer  Entlehnung  verführen  können. 
Wenn  ich  die  folgenden  Stellen  mit  tivingen  ^)  erst  hier  anführe 
und  nicht  schon  in  der  ersten  Abtheilung  behandelt  habe,  so  hat  das 
seinen  Grund  darin,  daß  sie  so  ziemlich  ähnlichen  Sinn  haben  und 
dieser  auf  Liebeslyrik  hinweist.  Beweisen  läßt  sich  mit  diesen  Versen 
nichts;  denn  Redensarten  mit  twingen  sind  so  allgemein  gebräuchlich 
in  den  mannigfachsten  Verbindungen  wie  ^) :  Kriemhilde  twanc  groz 
jämer  Nbl.  988,  1;  waz  mich  leides  tivinget  MS.  1.  53";  si  twanc  ein  not 
Trist.  11896;  Sifrit  twanc  des  durstes  nOt  Nbl.  911,  1  u.  a.  m.,  daß  man 
sich  nicht  wundern  darf,  das  Wort  mit  dem  Subject  minne  anzutreffen, 
wie  in  den  Versen  '^): 

[der  ih  diene  alle   mine  tage  |,]   der 

minne  wil  mich  twingen  CB.    126* 

und  diu  minne  twanch   sere   den  man  n      14G 

oder  Veldegge:      [Diu  Minne  twanc  e  Salomone:  .  .  .  .] 

si  twunge  ouch  mich  ge- 
waltecliche  MF.   66,  20. 

Formelhaftes  haben  die  drei  Verse  gewiß  nichts  an  sich;  sie 
weisen  nicht  einmal  das  gleiche  Reimwort  auf. 

Die  anderen  Stellen  bringen  nur  das  einzelne  Wort  ohne  sonstige 
Übereinstimmungen  wieder,  so 

Guotenburc :  äne  die  diu  so  betwungen  mich   hat     MF.    79,  3 

und  Husen:  wie  sere   si  min  herze  twinget  7;      45,  20 

mit  wenigstens  noch  ähnlichem  Sinne  sind  endlich 
Dietmar:  [sit    hat    ich     gi-oze    swaere.  |]     be- 

twungen was  daz  herze  min 
[nu  wil  ez  aber  mit  fi-öiden 
sin]  MF.  40,  15 

Kürenberc:  diu  wil  mich  des  betwingen   [daz  ich 

ir   holt   si]  77      9,  33, 

WO  der  Zusammenhang  im  Grunde  doch  eine  Parallelstellung  mit  den 
obigen  Versen  verbietet. 

Wir  kommen  an  die  Verse  mit  im  herzen,  tragen  ^).  „Einfach 
undenkbar",  sagt  Meyer  *),  „ist  es,  daß  die  Damen  des  zwölften  Jahr- 
hunderts, die  doch  keine  Moliere'schen  Prdcieusen  waren,  oder  gar  die 
„eisernen  Ritter"  in  ihrer  Unterhaltung  gesagt  hätten:   in  mmem  herzen 


')  ib.  S.  138.  153.  157.   159.  "")  ib.  S.  138.  ^)  ib.  S.  1.S8. 

*)  ib.  S.  167. 


ÜBER  DEN  URSPRUNG  DES  HÖFISCHEN  MINNESANGES  etc.  49 

ich  si  trage  oder  sone  wirde  ich  niemer  fro.  Das  ist  nicht  der  Ton  des 
Tagesgesprächs."  Diese  Bemerkung  ist  in  mehr  als  einer  Beziehung 
nicht  stichhaltig.  Der  Ton  des  Tagesgesprächs?  Natürlich  ist  er 
das  nicht.  Das  wird  auch  Niemand  behaupten  v/ollen  ;  gedichtet  wird 
ja  überhaupt  nicht  im  „Ton  des  Tagesgesprächs".  Und  mir,  wenn  ich 
leugne,  daß  der  genannte  Vers  aus  einer  verlorenen  Volksliebeslyrik 
als  „Baustein"  entnommen  sei,  wird  es  durchaus  nicht  einfallen  zu 
behaupten,  der  Vers  sei,  so  wie  er  ist,  aus  der  Umgangssprache 
geholt  worden.  Aber :  die  Umgangssprache  hat  offenbar  vielerlei 
Wendungen  mit  tragen  (in  ganz  anderer  Weise  freilich  als  wir  im 
Nhd.)  gehabt;  sie  hat  auch  das  herze  als  Sitz  der  Gefühle  betrachtet; 
die  Ritter  ihrerseits  —  die  „eisernen  Ritter"  haben  doch  Fähigkeit 
und  weiche  Stimmung  zum  Dichten  gehabt,  sie  waren  sogar  zu  Zeiten 
so  wenig  „eisern",  daß  sie  ihre  Lieder  zum  Saitenklange  vortrugen: 
sollten  sie  nicht  vielleicht  doch  einen  Ausdruck  wie  ich  trage  im  herzen 
selbständig  haben  zu  Stande  bringen  können;  oder  sollte  man  Der- 
artiges wirklich  nur  einem  Bauern  zumuthen  dürfen,  der  das  dann 
freilich  aus  dem  „Stegreife"  fertig  brachte?  Doch  der  Ausdruck  mag 
immerhin  existiert  haben,  er  wird  es  sogar  ganz  gewiß;  es  ging 
ja  der  ritterlichen  Liebespoesie  genug  Sang  und  Klang  voraus;  die 
Wendung  ist  keine  solche,  daß  sie  nur  in  der  Liebespoesie  sich  hätte 
bilden  können:  es  handelt  sich  hier  nur  darum,  ob  die  ganzen  Verse 
einen  volksthümlichen  Original vers  vorauszusetzen  zwingen,  und  das 
wird  man  —  glaube  ich  —  aus  ihnen  nicht  sehließen  können.  Ich 
führe  die  Verse  auf: 

[der    miune    wil    mich    twingen  :]    in  J 

mime    herzen    ich   si  trage,      CB.    126*  '^ 

K.   Heinrich :  Sit    daz    ich   si    [so  gar    herzelicheu 

minne    |    und    si    äue    wanc 
zallen  ziten]   trage  beide  in 
herzen  und   ouch   in  sinne,      MF.   5,  30 
Fenis:  daz    si  mich    hiez    in    deme    herzen 

tragen    |    [diu  mir  wol   mac 
min  leit  ze  vröuden  keren]         n      81,  38 
Reinmar :  sit  ichs   [äne  ir  danc]   in  minem   her- 

zen trage  ri      171,  27 

und  bei  demselben  ') : 


*)  Ich  führe  die  Stelle  nur  an,  weil  sie  Zeugniß  davon  ablegt,  daß  der  Ge- 
brauch des  Ausdrucks  jedesfalls  keiner  gedankenlosen  Entlehnung  zuzusclireiben  ist, 
vielmehr  ein  liebevolles  Ausspinnen  einer  oflFeubar  geläufigen  Vorstellung  von  Seiten 
eines  „eisernen"  Ritters  zeigt. 

GEKMANIA.    Neue  Eeihe  XXU.  (XXXIY.)  .lahrg.  4 


50  E.  TH.  WALTER 

[si  gie  mir  alse  sanfte  dur  min  ougen,  | 

daz  si  sich  in  der  enge  niene 

stiez]    in  minem    herzen  si 

sich  nider  liez  :  da  trage  ich 

noch  die  werden  inne  tougen  MF.  194,  iJ4 — 25'). 
Wo  ist  in  diesen  Versen  Formelhaftes?  Wo  ein  Zeichen  von 
dem  Zugrundeliegen  eines  bestimmten  Verses?  Nur  die  Redensart 
im  herzen  tragen  haben  sie  gemeinsam ;  und  da  wir  es  mit  Liebespoesie 
zu  thun  haben,  tritt  natürlich  in  ein  paar  Stellen  als  Object  auch 
einmal  die  minne  oder  die  froiiive  ein;  andere  Verbindungen  mit  tragen 
sind  übrigens  auch  vorhanden  '). 

Es  folgt  eine  Gruppe  mit  Übereinstimmung  in  der  Anwendung 
des  Wortes  gedinge  ^) : 

[möhte  mir  an  ir  gelingen,  j ] 

noh   lebe  ich  des   gedingen      CB.    12G* 
Kietenburc  :  [Diu  nahtegal  ist  gesweiget  I ] 

doch    tuot  mir  sanfte  guot 

gedinge   [den  ich  von  einer 

frowen  hän]  MF,    18,  20 

Guotenburc:  [Swiech    mich    erhol,]     der    gedinge 

tuot  mir  wol,    [Daz  ich  wol 

weiz  .  .  .]  71      76,  35 

Walther:  doch   tuot  mir  der  gedinge  wol   [der 

wile,   den  ich  hän,    deichz 

noch   erwerben   sol]  W.   92,  7 

Reinmar:  [guot    gedinge    viz     lönes     rehte    nie 

gebrach.]   des  habe  ich  hin 

zir  hulden  ie   gedinge  MF.    189,  39. 

über  diese  Zusammenstellung  gilt  genau  dasselbe,  was  ich  über 
die  vorige  bemerkte.  Meyer  jedoch  legt  offenbar  besonderes  Gewicht 
auf  sie,  denn  er  greift  sie  zum  Beweise  seiner  Ansicht  als  Beispiel 
heraus.  „Sicher  sagte  man  auch  in  Prosa  einmal  diese  Hoffnung 
thut  mir  wohl'",  bemerkt  er  *),  „aber  wenn  Guotenburc  und  Walther, 
die  weder  in  der  Art  noch  in  der  Form  der  Dichtung  vielj  gemein 
haben,  diese  Phrase  beide  anwandten  —  wie  kam  da  fast  genau  der- 
selbe Vers   heraus?     Lag    aber    beiden    derselbe  Vers    schon    vor,    so 

*)  seneliche  swaere  tragen  ...  in  dem  herzen  MF,   12,  6 

bestätigt  mir  das  oben  über  tragen  Gesagte. 

^)  cf.  oben  S.  36. 

')  ib.  S.  138. 

*)  ib.  S.  167.  Natürlich  sagte  man  mbd.  nicht  so,  sondern  der  gedinge  tuot 
mir  tooZ;  das  meinte  Meyer  doch  wohl  auch;  wie  kommt  er  dann  aber  dazu,  ein 
paar  Zeilen  weiter  unten  genau  dns  Gegentheil  zu  behaupten,  indem  er  die  Aus- 
dnicksform  der  gedinge  tuot  ir  vjol  recht  wenig  wahrscheinlich  für  die  Prosa  nennt. 


ÜBER  DEN  URSPRUNG  DES  HÖFISCHEN  MINNESANGES  etc.  51 

erklärt  das  Bedürfniß  des  Liedes  allerdingcs    leicht   die  crerinofe  Modi- 
fication." 

Ich  möchte  der  Frage  Meyers  mit  einer  Frage  meinerseits  ant- 
worten: wenn  Walther  den  Gedanken  „diese  Hoffnung  thut  mir  wohl", 
der  doch  an  sich  nichts  Seltsames  hat,  zum  Ausdruck  bringen  wollte; 
wenn  ihm  seine  Sprache  die  Wendung  wöl  tuon  und  das  Wort  gedingp 
dazu  bot,  wenn  endlich  der  Bau  seiner  Strophe  einen  vierhehigen 
Vers  verlangte:  wie  hätte  er  dann  wohl  mit  aller  Mühe  es  fertig 
bringen  sollen,  einen  von  Guotenburc  mehr  abweichenden  Vers  zu 
liefern,  als  er  es  gethan  hat? 

Er  wundert  sich  dann  darüber,  daß  man  ihm  zumuthen  könnte, 
„jenen  einfachen  Gedanken  ganz  allgemein  etwa  in  der  Form  der  ge- 
dinge  tuot  mir  wol,  wie  einen  regelmäßigen  Vers  von  vier  Hebungen 
ansehen"  zu  sollen.  Dabei  vergißt  er  aber  ganz,  daß  man,  sobald 
man  nicht,  wie  er,  aus  einem  verlorenen  Liede  die  Verse  in  fester 
Gestalt  übernommen  glaubt,  nie  an  eine  Entlehnung  ganzer  Sätze 
aus  der  Umgangssprache  denkt,  sondern  nur  an  die  Benutzung  der 
der  gewöhnlichen  Rede  eigenen  Worte  und  Phrasen;  daß  man  die 
Gestaltung  dieser  aber  ebenso  gut  dem  dichtenden  Ritter  überläßt, 
wie  es  Meyer  doch  jedenfalls  bei  dem  „Stegreif  dichtenden"  Bauern 
thut;  denn  woher  sollten  denn  diese  ihre  Verse  sonst  haben? 

Ebenso  steht  es  mit  den  folgenden  Versen  ') : 
Mir  ist  ein  wip   sere  in  min   gemüte 

chomen  CB.   127* 

Dietniar:  der  ist  mir  äne  mäze  komen  in  minen 

staeten   muot,  MF.   39,  5  ") 

Morungen:  wie  waere  si  mir  danne  also  ze  her- 

zen komen?  r>      124,  34^) 

Reinmar:  mirst  komen  an  daz  herze  min  |  ein 

wip  n      157,  15. 

Dabei  herrscht  weder  Übereinstimmung  im  Reimwort  noch  genau 
im  Ausdruck;  nur  das  Wort  komen  und  der  Sinn  der  Stellen  treffen 
zusammen. 

Im  Folgenden  greife  ich  zwei  Gruppen  zusammen,  da  Meyer 
in  der  ersten  auf  den  Vers  an  der  Spitze  der  zweiten  hinweist  *). 


*)  ib.  S,  138. 

')  iJie  andere  Stelle  lautet: 

der  an  min  herze  ist  nähe  komen  MF.  35,  29. 

^)  Die  andere   Stelle: 

dem  ein  wip  so  nähen  an  stn  herze  ge         »     138,  6. 
')  S.   138  und   141. 

4* 


52 


E.  TH.  WALTER 


[Solde  ich  nach   dem  willen  min  diu 

zit    geleben]    daz   ih   ir  ge- 

lege  bi! 

so  so   güetliche  diu   guote  bi  mir  lit. 

si   getuo    mich    sorgen    vri]    der   ich 

gerne  laege  bi 
[nu    wizzen    algeliche   j    daz    ich  sin 
friundinne  |bin;j    ane   nähe 
bi  gelegen 
[swenn  ich  daran  gedenke  |]   daz  ich 
so  güetlichen  lac  |  [vei'holne 
an   sinem   arme 
daz     diu    künegin     von    Engellant  | 

laege   an  minen   armen 
[Diu  wile  schone  mir  zergat]  swenn 

er  an  minem  arme  lit 
[Den     morgenblic  ,  .  .  .   erkos    |    ein 
freue,]    da  si  tougen   an  ir 
werden  friundes   arme  lac 
daz   diu  guote  an  minem   arme   niht 
enlit 

Daß  in  einer  Poesie,  wie  sie  der  höfische  Minnesang  ist,  Stellen 
wie  die  beigebrachten  in  größerer  Zahl  sich  aufzählen  lassen;  daß  der 
darin  enthaltene  Gedanke  wiederkehrt  —  liegt  gerade  in  dem  Wesen 
des  höfischen  Minnesanges  begründet;  doch  davon  ganz  abgesehen 
bieten  die  Verse  durchaus  nichts  Formelhaftes;  es  ist  immer  wieder 
nur  der  Gedanke  und  mit  ihm  der  nicht  gut  zu  umgehende  gleiche 
Ausdruck,  nie  aber  der  ganze  Vers,  was  uns  entgegentritt,  nicht 
einmal  das  Reimwort  ist  gewahrt. 

Nur  auf  das  gemeinsame  bt  in  Verbindung  mit  wesen  gründet 
sich  die  Zusammenstellung  der  folgenden  Stellen  "*),  und  zwar  kommt 
ein  doppelter  Gedanke  zum  Ausdruck,  in  den  einen  Versen:  das  treue 
Gedenken  an  die  Geliebte;  in  den  andern  das  örtliche  Beisammen- 
sein.    Im  ersteren  Sinne 

Namenl.   L. :  irn  waer  min  staetez  herze  ie  nähe  bi      MF.    4,  25 

Rugge :  min  herze   ist  ir  mit  triuwen  bi  n      110,  23 


Namenl.   L. 
Neithart: 

Meinloh: 


Regensburc : 


Namenl.  L. : 


Reinmar : 


Wolfram 


Neithart : 


CB. 

127" 

MF. 

4,  20  1) 

N. 

52,  32 

MF. 

.   13,  22*0 

n 

17,  3 

Ji 

3,  10  —  11 

v 

203,  18 

Wolfr.   3,  3 

N. 

78,  19^). 

')  Der  mitcitierte  Vers  MF.  4,  25 

irn  waer  min  staetez  herze  ie  nähe  bi 
paßt  doch  wohl  kaum  hierher. 

*)  Die  bisher  angeführten  Stellen  sind  ib.  S.   138  verzeichuet.  Der  andere  Vers 
Meinlohs:  [frö    enwirt  er  nimmer,  |  ]e  er  an  dineni 

arme  |  so  rehte  güetliche  gelit  MF.  14,  13 

^)  ib.  S.  141. 
')  ib.  S.   141—142. 


ÜBER  DEN  URSPRUNG  DES  HÖFISCHEN  MINNESANGES  etc.  53 

Walther:  [Er  saelic  man,    si   saelic  wip]    der 

herze  einander  sint  mit  triu- 
wen  bi  W.  95,  38. 

Ich  kann  mich  nicht  zu  der  Überzeugung  bringen,  daß  es  etwas 
Auffallendes  wäre,  wenn  in  einer  ausgesprochenen  Liebespoesie  drei 
mal  der  gleiche  und  zwar  dieser  gleiche  Gedanke  auch  in  ähnlicher 
Form  zum  Ausdruck  gelangt. 

Ebenso  halte  ich  doch  gewiß  nicht  mit  Unrecht  den  Wunsch, 
bei  der  Geliebten  zu  sein,  für  so  natürlich,  daß  es  viel  eher  befrem- 
den dürfte,  wenn  man  ihn  vergeblich  suchen  müßte.  Daß  die  Verse 
nähere  Übereinstimmung  nicht  haben,  zeigt  ein  einziger  Blick  auf  die 
folgenden  Reihen  : 

Dietmar:  dar  zuo   waere   ich   dir  vil   gerne  bi      MF.    37,  1 

Guotenbiu-c :  ich   solde  ir  ofte  wesen  bi   [waer   ez 

an  mime  heile]  ;;      74,  19 

Morungen:  [hei     wan    solt    ich   ir  noch    so    ge- 

vangen    sin  j]     daz    si    mir 
mit  triuwen  waere  bi   [gan- 
zer tage   dri] 
Bei   dems. :  [waeren  nur  die  hüetaere  algemeine  j 

toup  und  blint,]  swenn  ich 
ir  waere  bi,  75      131,  28 

Neithart:  [getoerste  ich]  ja  waer  ich  ir  zallen 

ziten  gerne  bi  N.   46,  13 

Bei  dems.  •  [herzekünegin]    ich    was    dir    ie  mit 

triuwen  bi  n     66,  26. 

Wenig  hierzu  passen  die  beiden  folgenden  Verse : 
Rute:  [ich  enmac  |  niht  geruowen]  ich  en- 

kome  ir  nähe  bi  [so  daz  ich 
ir  gesagen  müeze  waz  min 
Wille  si]  MF.    117,  10 

und  Eeinmar:         [och    weste    ich    gerne  ....  j  ob   er 

iht  pflaege  wunneclicher 
staete]  diu  sol  im  rehte 
wesen  bi.  n      153,  20. 

Über  die  zwölf  Parallelen  mit  gemeinschaftlichem  holt  brauche 
ich  wohl  nicht  weitere  Worte  zu  verlieren  ').  Die  Versicherung,  daß 
Eins  das  Andere  liebe,  ihm  gut  sei,  liegt  doch  für  eine  Liebeslyrik 
so  nahe,  daß  ihr  häufigeres  Vorkommen  für  eine  Entlehnung  in  keiner 
Weise  sprechen  kann.  Wenn  dazu  noch  Verse,  wie 
Walther:  Ich  bin  dem  Bogenaere  holt  W.   80,   27 

angeführt  werden,  so  kann  das  wirklich  nur  komisch  berühren. 

')  ib.  S.   142. 


54  E.  TH.  WALTER 

Die  Sammlung,  an  deren  Spitze  der  Vers  MF.  6,  13  so  muoz 
sin  wille  an  mir  ergän  steht  ^),  bietet  ein  recht  buntes  Durcheinander, 
aus  dem  einen  zu  Grunde  liegenden  Originalvers  doch  wohl  kaum  einer 
so  leicht  möchte  herausklügeln  können. 

Die  ersten  acht  Stellen  (:=  sechs,  Dietmar  und  Meinloh  sind 
je  zweimal  vertreten)  haben  wenigstens  ungefähr  ähnlichen  Grund- 
gedanken, die  Form  ist  überall  gründlich  verschieden,  bald  heißt  es 
tüüle  ergän,  bald  wille  getan;  die  Reimwörter  wechseln,  man  fühlt  deut- 
lich, daß  es  nur  die  gemeinsame  Anschauung  ist,  die  überall  zu 
Grunde  liegt  —  und  diese  Anschauung  ist  offenbar  in  der  Weise,  wie 
sie  sich  im  Zusammenhange  gibt,  höfisch  conventioneil.  Doch 
gleichviel,  ob  dem  so  sein  mag  oder  nicht,  auf  geformte  Verse  lassen 
diese  Stellen  nicht  schließen,  dazu  bieten  sie  äußerlich  zu  wenig  Über- 
einstimmung. 

Zu  diesen  dem  Liebesverkehre  eigenen  Versen  eine  Stelle  wie 
die  folgende 

Walthers:;  [daz  man  da  ze  himel]   ir  willen  tuot     W.   78,  36 

hinzuzufügen    (es    ist    die   Rede    von    der    Jungfrau    Maria)    erscheint 
mindestens  recht  seltsam,  vielleicht  liegt  ein  Versehen  vor. 

Ebenso  befremdlich  ist^die  Heranziehung  der  Stelle: 
Walther:  [Herzoge  uz   Osterricbe,]     ez    ist  iu 

wol  ergangen  W.    28,  11; 

sowie  der  übrigen  Stellen  mit  ergangen  überhaupt,  von  denen  ich  nur 

noch  erwähne: 

Neithart:  [nü   sage    mir,    liebez    tohterlin]    ist 

anders   iht  ergangen?  N.    17,  28. 

Die   übrigen    fünf  Stellen    sind    der   späteren   Volkslyrik    entnommen, 
somit  für  uns  ohne  Bedeutung. 

Daß  das  Epitheton  saelic  bei  man  und  wip  viel  gebräuchlich  war, 
zeigen  die  mit  diesen  Verbindungen  versehenen  Verse  gewiß ,  weiter 
aber  auch  nichts.  Ich  führe  von  den  dreizehn  Stellen  (von  denen 
übrigens  sechs,  schon  genannten  Dichtern  zugehörige,  in  Wegfall 
kommen)  einige  auf  ^) : 
Husen :  Wol  ir,   si   ist   ein   saelic   wip  |  [diu 

von   Sender  arebeit  nie 

leit  gewan]  MF.   54,  1 

Veldegge:  [Swer    zer  minne  ist  so  fruot  |  .  .  .  .] 

wol  im,  derst  ein  saelic  man        n      61,  36 
Johansdorf :  Wol  si  saelic  wip   [diu  mit  ir  wibes 

güete  daz  gemachen  kan]  n      95,  6 

')  ib.  S.  143.  ^)  ib.  S.  144. 


ÜBER  DEN  URSPRUNG  DES  HÖFISCHEN  MINNESANGES  etc.  55 

Rugge :  und    wirde   ich   uoch   so  saelic   mau, 

[daz  sich  min  leit  verendet]      MF.   109,  33 
Reinmar :  er  saelic  man,   [da  fröit   er  sich]  n      153,  16 

Walther:  er  saelic   man,    [der  iuwer  lere   hat]      W.   46,  34 

Hartman :  [swer    seihen    strit   |    .  ,  .  .    verläzen 

künde  | .  .  •  .  ]  der  waere  ein 
saelic  man  MF.   207,  10 

Neithart:  waer  ich   saelic  man  N.   89,  21. 

Ich  habe  die  übereinstimmendsten  Verse  ausgewählt;  doch  zeigen 
sie  alle  nur  Übereinstimmung  in  der  einfachen  Wendung  saelic  ivq) 
saelic  man;  auf  Entlehnung  von  ganzen  Versen  Avird  der  Schiuli  über- 
haupt nicht  ermöglicht.  Formelhaft  ist  die  Verbindung  jedoch  ganz 
gewiß,  auch  glaube  ich  keinesfalls,  die  Formel  werde  sich  so  in  der 
Umgangssprache  gebildet  haben:  vielmehr  schreibe  ich  sie  —  wenn 
überhaupt  dies  nöthig  sein  sollte  —  der  höfischen  Poesie  in  ihrer 
couventionellen  Art  zu. 

Es  folgen  Stellen  mit  se.l^,en^): 
Nameiil.   L.:  [Ein   winken   und   ein    ambe   sehen 

wart  mir]  do  ich  si  nähest 
sach.  MF.    6,  21 

Kürenberc:  [...  man  in   waz   wir  redeten,]     do 

ich   in  ze  jungest  sach.  ti      7,  9 

Dietmar:  do   du   mich    erst    saehe,     [dö   dühtc 

ich   dich   zewäre  .  .  •  |  n      37,26 

Husen :  [euch    sei   si   min    vergessen     niet,  | 

.  wiech    von    ir    schietj     und 

ich   si  jungest  ane   sach  n      43,  25 

Morungcn :  [sist  noch   hiute  vor   den  ougen  min 

als  si  was  dö  |  do  si  minnec- 
liche  mir  zuo  sprach  []  und 
ich   si   an   sach.  v      132,  33 

Reinmar:  [Min   ougen  wurden  liebes  also  vol,[ 

do  ich  die  minneclichen  erst 
gesach  n      194,  19. 

Außer  in  den  beiden  Versen  von  Husen  und  Morungen  beruht 
die  Übereinstimmung  einzig  auf  dem  Verbum  seheii\  der  Zusammen- 
hang ist  überall  anders,  so  auch  bei  den  beiden  eben  ausgeschlosse- 
nen Stellen,  die  statt  sehen  die  Zusammensetzung  an  sehen  aufweisen. 
Daß  so  oft  von  dem  sehen,  von  dem  an  sehen  die  Rede  ist,  erklärt 
sich  wohl  leicht  aus  der  Natur  der  Liebeslyrik. 

Auch  bei  den  Versen: '^j 
Meinloh :  frö  enwirt  er  nimmer  [e  er  an  dinem 

arme   gelit]  MF.    14,  11 

♦)  ib.  S.   144.  ')  ib.   S.    145. 


56  E.  TH.  WALTER 

Johansdorf:  [verlüre  ich  minen  friunt]    seht,    so 

wurde  ich  niemer  mere  frö      MF.   91,  35 
Reinmar :  [Läze]    ich     mineu     dienest 

so,  .  .]   sone  wirde  ich  nie- 
mer frö 
Walther:  [ja  enwirde    ich    niemer    rehte  frö:         n      171,  34 

[mines  herzen  tiefiu  wnnde.]  W.  74,  13 
erscheint  mir  der  ganze  Gedanke  viel  zu  selbstverständlich,  als  daß 
ich  an  Entlehnung  aus  einer  früheren  Volkslyrik  zu  denken  mich 
gezwungen  sehen  könnte.  Daß  die  Verse  natürlich  nicht  den  „Ton 
des  Tagesgesprächs",  wie  Meyer  meint,  darbieten  sollen,  liegt  auf 
der  Hand.  Ich  wiederhole,  was  ich  schon  oben  sagte:  den  gemein- 
samen Gedanken  mußten  sie  wohl  haben,  da  gleicher  Gegenstand  sie 
beschäftigte;  sehr  viel  verschiedene  Ausdrücke  bot  die  Sprache  ihnen 
nicht:  was  Wunder  also,  wenn  Anklänge  oder  größere  Übereinstim- 
mungen zu  Tage  traten? 

Die  paar  folgenden  Stellen  m'*  andern  man  etc.  ')  verdienen 
weiter  gar  keine  Beachtung;  die  Übereinstimmung  beruht  offenbar 
nur  auf  einem  zufälligen  Zusammentreffen;  man  sieht  dies  gleich, 
wenn  man  die  Verse  im  Zusammenhange  betrachtet. 

Was  hat  das  an  einen  andern  man  in  den  Zeilen: 

Kärenberc :  so  du  sehest  mich,  (  so  lä  du   diniu 

ougen    gen  |]     an    einen 
andern  man.  [son  weiz  doch 
lützel  ieman  |  wiez  undr  uns 
zwein  ist  getan]  MF.    10,  6 

mit  dem  entsprechenden  Ausdrucke  bei 

Meiuloh :  [mir  rätent  mine  sinne]  an  deheinen 

andern  man  n      13,  26. 

zu  thun? 

Was  mit  den  eben  genannten  die  folgenden  Verse  verknüpft,  ist 

wiederum  nur  der  ähnliche  Sinn: 

Guotenburc:  [deich    niemer  me   die    sinne   |   noch 

minen  lip  bekere]  an  dehein 
ander  wip  MF.    76,  33 

Horheim:  [Si  darf    des    niht    denken    daz    ich 

minen  muot  iemer  bekere] 
an  dehein  ander  wip  ?)      113,  13. 

Die  Übereinstimmung   erscheint    leicht    genug,    da  wir   es   eben 

mit  einer  Poesie   zu   thun   haben,    die   immer   und    immer  wieder  um 

denselben  Gegenstand  sich  dreht,  und  zwar  in  um  so  engerem  Kreise, 

')  ib,  S.  145. 


ÜBER  DEN  URSPRUNG  DES  HÖFISCHEN  MINNESANGES  etc.  57 

als  es  sich   um  einen  Gegenstand    handelt,    den   die  Mode   mit   ihren 
Schranken  umgeben  hatte. 

Die  folgende  Gruppe  ^)  bietet  uns  als  Grund  für  ihre  Zusammen- 
stellung nur  das  Vorkommen  des  Verbums  gedenken  in  den  ihr  ange- 
hörigen  Versen:  zu  der  einfachen  Wortübereiustimrnung  tritt  nichts 
sonst  hinzu ,  was  uns  bewegen  könnte  an  Entlehnung  zu  denken. 
Die  Gruppe  ist  werthlos. 

Nicht  mehr  Bedeutung  dürfen  wir  dem  Umstände  beilegen,  daß 
in  einigen  Versen  übereinstimmend  der  Gedanke,  daß  der  Dichter 
seine  Geliebte  lieber  als  alle  andern  Frauen  habe,  Ausdruck  gefunden 
hat '^).  Solche  Gedanken,  solche  Versicherungen  werden  wohl  jedem 
einmal  in  Sinn  und  Mund  gekommen  sein;  nicht  daß  nur  einer  sie 
gehabt  haben  könnte  oder  gar  keiner,  und  sie  alle  aus  alten  Versen 
hätten  schöpfen  müssen.  Die  Form  ist  in  jedem  Verse  eine  verschiedene. 
Kürenberc:  [in  weiz    wiech   ir  gevalle    mir  wart 

nie   wip   also  liep  MF.    10,  IG 

Husen :  [er  hat    gesprochen   dicke  wol ,     ich 

solte  im  sinj  immer  liep  für 
alliu  wip  77      54,  34 

Reinmar:  Wart  ie  manne   ein   wip  so  liep   [als 

si  mir  ist,   so  müez  ich  ver- 
teilet sin]'  77      173,  27'*) 
l's. -Veldegge:         [ir  vil    minneclicher    lip]    der    liebet 

mir  für   elliu  wip.  77      261,  8. 

Die  Gruppe,  deren  Verse  den  Ausdruck  als  der  lip  zur  Bezeich- 
nung des  höchsten  Grades  von  Liebe  enthalten,  führe  ich  erst  hier 
auf  [ich  hätte  sie  schon  bei  Gelegenheit  des  vorigen  Abschnittes  bringen 
können],  weil  vielleicht  der  überschwänglichen  Liebespoesie  ein  sol- 
cher Vergleich  am  nächsten  liegt  *).  Daß  der  Gebrauch  der  Wendung 
nicht  auf  eine  verlorene  Volksdichtung  zurückzuführen,  vielmehr  sprich- 
wörtlich geformt  schon  lange  der  Zunge  eines  jeden  herzlich  Beteuern- 
den geläufig  gewesen  sei:    dessen  wird  man  wohl  gewiß  sein  dürfen. 

Daß    zu   Versen   wie    diu  onir  ist   als  der  llj)    (und    ungefähr    so 
lauten   die  übrigen  alle)   die  Stelle 
Reinmar:  [ein    ritter    minen    willen    tuotj     der 

hat  geliebet  mir  den  lip         MF.   203,  13 
herzlich  wenig  paßt,  leuchtet  wohl  auf  den  ersten  Blick  ein;  dennoch 


»)  ib.  S.  145.  ■")  ib.  S.   146. 

')  Die.  andere  Stelle : 

daz  si  mir  lieber  si,  den  elliu  wip  MF.   197,  4, 

')  ib.  S.  147. 


58  E.  TH.   WALTER 

fügt  sie  Meyer  bei;  sollte  ihn  wirklich  das  Wort  lip  allein  dazu  ver- 
führt haben? 

Es  schließen  sich  an  die  Verse:  ^) 
Meinloh :  [so    muoz   er  under    wilen]    senelihe 

swaere     tragen    |    verholne 

in  dem  herzen  MF.    12,  6  —  7 

Dietmar:  [sit  mich    der    allerbeste    man]    ver- 

holn  in  sime  herzen  minne        »      38,  8 
Neithart:  [daz  ist  mines  lieben  herzen  swaere] 

der    ich    tougenliche  vil  in 

minem  herzen   trage  N.   94,  16. 

Vers  für  Vers  Hudeu  wir  aaderen  Sinn,  anderen  Ausdruck,  anderes 
Reimwort;  das  einzige  Gemeinschaftliche  ist  der  Gedanke,  daß  etwas 
im  Herzen  verborgen  ruht  oder  geschieht.  Eine  Entlehnung  ist  ganz 
undenkbar. 

In  den  Stelion  mit  gähen,  vergällen  und  gäch  '^)  sind  außer  diesen 
Wörtern  weder  formelle  noch  inhaltliche  Übereinstimmungen  vorhan- 
den.    Die  Gruppe  hat  für  uns  keine  Bedeutung. 

Von  den  folgenden  Versen  ^)  sind  zunächst  drei,  welche  der 
Volkslyrik  angehören,  auszuschließen;  die  übrigen  sieben  schrumpfen 
auf  vier  zusammen,  da  Neithart  dreimal,  Fenis  zweimal  citiert  ist. 
Ich  greife  von  diesen  diejenigen  Stellen  heraus,  die  sich  am  meisten 
entsprechen: 
Meinloh:  da  ist  gnuogen  ane  gelungen,    [die 

daz   selbe  hänt  getan]  MF.   12,  25 

Fenis:  [vil    lihte   gefröuwent  si  die  lichten 

tage,]   den  da  vor  ist  nach 

ir  willen  gelungen.  n      83,  30 

Morungen:  deswär    mirn    ist  nach    werde    niht 

gelungen  t>      136,  22 

Neithart:  [.  .  .  nüne  lät  |  jener  Irenber  |]   mir 

niht  wol   an   ir  gelingen  N.    100,  28. 

Was  bei  allen  diesen  Versen  übereinstimmend  zu  Grunde  liegt, 
ist  der  Gedanke:  Glück  bei  der  Frau.  Dieser  Gedanke  aber  — 
ohnedies  höchst  natürlich  in  Anbetracht  des  Vorstellungskreises,  in 
dem  wir  uns  bewegen  —  findet  seinen  Ausdruck  vom  verschiedensten 
Standpunkte  aus  und  im  mannigfaltigsten  Zusammenhange,  so  daß 
an  einen  Originalvers,  der  nachgeahmt  sein  könnte,  von  Vornherein 
gar  nicht  zu  denken  ist.  Das  Wort  gelingen  in  dem  hier  angewandten 
Sinne  ist  unzweifelhaft  schon  in  der  Umgangssprache  gebraucht 
gewesen. 

')  ib.  S.   147.  ^)  ib.  S.   147—148.  3)  ib.  S.   148. 


ÜBER  DEN  UßSPKUNG  DES  HÖFISCHEN  MINNESANGES  etc.  59 

Nur  der  gemeinschaftliche,  aus  dem  Wesen  der  uns  vorliegenden 
Poesie  ganz  ungezwungen    sich    ergebende   Gedanke:    ich   bin    traurig 
—  nur  die  Geliebte  kann  mich  trösten,  findet  sich  in  seinem  zweiten 
Theile  als  Übereinstimmung  in  den  Versen :  ^) 
Meinloh :  [ich    triire    mit  gedanken  :    |   niemen 

kan   erweuden   daz,]   ez  tuo 
ein  edeliu  frouwe  MF.    12,  31 

Regensburc:  [des  ist  min  herze  wunt   [    ez   heile 

mir  ein  frowe  mit  ir  minne        n      16,  21 
Husen:  [Wer     niöhte    mir    den    muot    |    ge- 

troesten,]    wan  ein  schoene 
fiouwe  T!      49,  30. 

Wie  sollte  mau  hier  auf  einen  zu  Grunde  liegenden  Vers,  der 
nachgeahmt  worden  wäre,    denken? 

Über  die  Gruppe  mit  sehen  oder  besser  mit  mm  ouge  oder  7nhie 
ougen,  siht  oder  sehen  oder  ähnlich  ")  verweise  ich  auf  das  schon  oben 
bei  demselben  Verbum  Gesagte  ^).  Der  Zusatz  von  ouge  ändert  nichts 
an  der  Bedeutungslosigkeit  der  Übereinstimmung;  dergleichen  weist 
doch  nimmermehr  auf  Liebeslyrik  hin. 

Was  ich  oben  von  manchen  Versgruppen  schon  bemerkte^),  gilt 
auch  bei  der  folgenden:  ^) 

Meinloh:  stürbe  ich  nach  ir  minne   [und  wurde 

ich  danne  lebende,  so  würbe 
ich  aber  umb  daz  wip]  MF.   13,  11 

Wolfram:  ich   stirb,   mir  werde  ir  minne  Wolfr.    10,  8 

Neithart:  nach   siuer  minne  bin  ich   tot  N.    3,  13. 

Die  formelle  Verschiedenheit  der  Verse  liegt  auf  der  Hand;  nur 
die  Vorstellung  ist  dieselbe. 

Über  die  Verse  mit  nähe  ligen  etc.  ^)  gilt,  was  ich  über  den  ent- 
sprechenden Ausdruck  schon  früher  zu  sagen  hatte ').  Die  Reini- 
wörter  wechseln  obendrein  mehrfach,  und  von  den  elf  Stellen  werden 
sechs  aus  den  schon  mehrfach  angegebenen  Gründen  untauglich. 

Für  den  Gebrauch  des  Ausdrucks  herze  xount  ^)  wird  man  wohl 
kaum  einen  andern  Ursprung  als  die  Sprache  nöthig  haben;  daß  er 
sich  so  oft  findet,  liegt  in  der  Natur  der  Sache. 

In  den  Stellen  mit  miden  haben  wir  nur  Wortentsprechung ''). 
Der  Zusammenhang  ist  immer  ein  anderer,  wie  aus  der  folgenden 
Auswahl  '")   ersichtlich  ist: 


')  ib.  S.  148.  ')  oben  S.  58  u.  ö.  '')  oben  S.  52. 

')  ib.  S.  148.  »)  ib.  S.  149.  »)  ib.  S.  151. 

3)  oben  S.  55.  «)  ib.  S.  149.  »)  ib.  S.  151—152. 

'")  Fortgelassen  sind  je  zwei  Stellen  Dietmars  und  Reinmars. 


60  E.  TH.  WALTER 

Regensburc :  Nu    heizent   si  mich    miden   |   einen 

ritter.  MF.    16,  23 

Dietmar:  Si  wellent  daz  ich  mide  [den  besten 

fi'iunt,   den   ieman  hat]  v      36,  8 

AValther:  [..:    swenn  ich  si   solte   sehen,]    so 

miioz   ich   si  miden  W.    98,  21 

Reiumar:  [mir  waere  |  lip   und  guot  unmaere] 

het  ich   si   vermiten  jNIF.    17  9,  20 

Rugge :  [nu  wil  ich  tniren   iemerme]   die  wile 

ich   si  vermiden   muoz  ::      108,  2. 

Die  Wendung  gerne  sehen  liefert  eine  bedeutende  Gruppe  ^).  Daß 
sie  zu  den  geläufigsten  Redensarten  gehört  haben  wird  und  somit  gar 
kein  Recht  zur  Annahme  einer  Versentlehnung  giebt,  zumal  weitere 
Übereinstimmungen  nicht  hinzutreten,  leuchtet  ein.  Ihr  Vorkommen 
überhaupt  ist  für  eine  Liebeslyrik  besonders  wenig  auffallend  ^}. 

Vollkommen  verfehlt  ist  die  Sammlung  der  Stellen  mit//-ö^). 
Ganz  abgesehen  von  der  Hinfälligkeit  der  Übereinstimmung  —  sie 
hängt  nur  an  dem  einzigen  Wörtchen  fro  —  schrumpft  die  große 
Zahl  von  Versen,  es  sind  einundzwanzig,  auf  sieben  zusammen*). 
Was  soll  nun  das  beweisen,  wenn  wir  bei  sieben  verschiedenen  Dich- 
tern das  Wörtchen  fro  so  verwerthet  finden,  daß  es  das  Reimwort 
abgibt  ? 

Auch  die  Redensart  holdez  herze  tragen  ^)  ist  gewiß  schon  in  der 
Umgangssprache   geformt  vorhanden   gewesen.     Daß    sie   auch  durch- 
aus nicht  etwa  nur  in   den  Minnesang   gehört,     zeigt    schon    die    Art 
ihrer  Verwendung  bei 
Spervogel:  [ob  man  dem   herren  widersage]  daz 

er  im  holdez  herze  trage        MF.   22,  4 

und  wohl  auch  bei 

Husen  [den  {got)  wil  ich   iemer  vor  in  allen 

haben,]  und  in  da  nach  ein 
holdez   herze  tragen  -n      47,  8. 

Die   zwei  Stellen,    welche    wirklich    auffallendere   Ähnlichkeit   zeigen, 
gehören  leider  ein  und  demselben  Dichter  an ,    nämlich 
Reinmar:  deich  im   holdez  herze  trage  MF,    178,  16 

deich  ir   so   holdez   herze  trage  n      104,  24. 

Die  Stellen  mit  vei'gezzen  ®)  würde  ich  schon  bei  Gelegenheit  der 


')  ib.  S.    152.  ^)  Vgl.    oben  S.   55  u.  59.  Fast  die  Hälfte    der  Stellen  gehört 

Keinmar.  ^)  ib.  S.  152. 

^)  Es  kommen  allein  8  Stellen  auf  Waltber,  3  auf  Reinmar,  3  auf  Morungen, 
2  auf  Dietmar,  2  auf  Rietenburc. 

^)  ib.  S.  154.  Vgl.  dazu  das  oben  S.  36  über  tragen  Gesagte. 

«)  ib.  S.   154. 


ÜBER  DEN  URSPRUNG  DES  HÖFISCHEN  MINNESANGES  etc.  Ql 

bloßen  Worteutsprecliungen  behandelt  haben,  wenn  nicht  insofern 
eine  engere  Übereinstimmung  obwaltete,  als  in  allen  den  aufgeführten 
Versen  von  dem  gegenseitigen  Vergessen  oder  Nichtvergessen  im 
Sinne  von  „treu  bleiben"  der  Geliebten  die  Rede  wäre.  Das  ist  aber 
auch  Alles;  formelhaft  sind  die  Verse  nirgends.  Die  mehrmalige 
Wiederholung  des  Gedankens,  der  übrigens  durch  den  jedesmaligen 
Zusammenhang  entsprechend  verändert  wird,  kann  nicht  befremden; 
dazu  liegt  er  dem  den  Liebesverkehr  behandelnden  Dichter  viel  zu 
nahe.  Obendrein  sind  es  nur  fünf  Dichter,  aus  deren  Liedern  Paral- 
lelen beigebracht  sind  '). 

Die  folgende  Zusammenstellung  mit  fröide  stät  oder  lit  '^)  mag 
auf  den  ersten  Blick,  zumal  wenn  derselbe  [mit  den  mittel- 
hochdeutschen Wendungen  weniger  vertraut  ist,  einer  ge- 
wissen auffallenden  Übereinstimmung  nicht  entbehren.  Wenn  man  aber 
bedenkt:  daß  die  Redensarten  mit  stän  und  ligen  in  den  mannig- 
faltigsten Verbindungen  gebräuchlich  sind,  daß  durch  das  Conven- 
tionelle, das  dem  Minnesang  nun  einmal  anhaftete,  der 
Dichter  unwillkürlich  immer  wieder  zum  Ausdruck  ähnlicher  Gedanken 
gedrängt  wurde,  daß  endlich  eine  wörtliche  Übereinstimmung  nir- 
gends vorliegt,  vielmehr  die  Stellen  mit  lit  recht  bedeutende  Ab- 
weichungen zeigen:  so  wird  man  trotz  der  Ähnlichkeit  in  Form  und 
Gedanken  der  Vermuthung  einer  Entlehnung  nicht  viel  Raum  geben 
können. 

Daß  gescheiden  sin  einigemal  vorkommt  ^),  will  doch  gewiß  wenig 
besagen;    man  vergleiche  nur  die  Verse  im  Zusammenhang: 
Dietmar:  riu  muoz  ich  von  ir  gescheiden  siu      MF.    32,  19 

Ders. :  [des    werdent    mir    diu  jär    so   lanc] 

sol  ich  von   der  gescheiden 

sin  »      34,  2G 

Husen :  icli   waene  an  mir  wol   werde   schin| 

daz  ich   von  der  gescheiden 
bin   [die  ich   erkos  für  elliu  wip]  "      43,  13 

Walther :  [und    engets   uns  beiden ,]    wir  zwei 

sin    gescheiden  W.    41.  11 

Reinmar:  [daz   er  iemer    solhes  iht  getuo[    da 

von  wir  gescheiden  sin  MF.    178,  7. 

Die  Übereinstimmung  beruht  in  Wirklichkeit  nur  auf  dem  einen 
Ausdrucke  gescheiden  und  gestattet  gar  keine  weiteren  Schlüsse. 

Betrachten  wir  die  Gruppe  mit  eigen*)  genauer,    so  werden  wir 


')  ib.    S.   154.  ')  3mal  Neithart,  2mal  Walther,  L'nial   Dietmar,  l'mal  Rein- 

mar, Imal  Rugge.  ^)  ib.  S.   154.  •*)  ib.  S.   155. 


ß2  E.  TH.  WALTER 

bei    einigen    Stellen    gewiß    eine  weitergehende    Entsprechung   finden; 

so  bei 

Dietmar:  der    ich    den    lip  |  hän    gegeben  für 

eigen  MF.   40,  20.   21 

Fenis:  Lip  unde  sinne  die  gap  ich  für  eigen 

[ir  vif  genäde]  v      82,  34 

Walther:  eime    sult  ir  iuwern   lip  |  geben  für 

eigen,    [nement  den   sinen]       W.    86,  19.    20. 

Daß  aber  diese  Übereinstimmung  nicht  etwa  auf  einer  Versent- 
lehnung beruht,  sondern  der  Anschauungs-  und  Gemtithswelt  der  be- 
treffenden Dichter  unbewußt  entsprungen  ist,  zeigt  wohl  mehr  noch 
als  der  eben  citierte,  durchaus  nicht  formelhaft  zu  den  beiden  ersten 
Parallelen  stimmende  Vers  Walthers,  die  Stelle  aus 
Reinmar:  Ich    hän    ir    niht    ze   gebenne]    wan 

min  selbes  lip  ;  derstir  eigen.      MF.   182,18,    19. 

So  drückt  man  sich  nicht  aus,  wenn  man  au  eine  alte  feste 
Formel  denkt,  sondern  nur  wenn  die  Vorstellung,  die  in  den  Worten 
sich  zeigt,  einem  ganz  geläufig  ist. 

Eine  Wendung,  die  ebenfalls  in  einer  Liebeslyrik  kaum  ent- 
behrlich scheinen  möchte,  so  wenig  sie  auch  einer  solchen  ausschließ- 
lich eigen  ist,  enthalten  die  Verse  mit  gedanc  ').  Was  ist  natürlicher, 
als  daß  dem  Gedanken  hier  und  da  Ausdruck  gegeben  wird:  all' 
mein  Sinnen  und  Denken  steht  bei  der  Geliebten,  treibt  mich  zu  ihr 
hin;  ich  denke  gern  an  sie,  ich  kann  nur  noch  an  sie  denken  u.  s.  w. 

Auch  die  bei  drei  verschiedenen  Dichtern  gleichartige  Formung 
der  Wendung  aller  min  gedanc  stet  darf  nicht  befremden;  wir  haben 
es  nur  mit  einer  allgemein  üblichen,  gewiß  auch  schon  in  der  Um- 
gangssprache gebrauchten  Redeformel  zu  thun.  Das  zeigt  uns  schon 
der  verschiedenartige,  keineswegs  nur  in  den  Bereich  der  Liebeslyrik 
gehörige  Zusammenhang,  dem  die  Stellen  angehören: 
Dietmar:  [frouwe,  mines  libes  frouwe]   an  dir 

stet  aller  min  gedanc  MF.   36,  35 

Rugge:  ie  noch   stet  aller  min   gedanc    [mit 

triuwen  an  ein  schcene  wip        n      99,  36. 

In  ähnlichem  Zusammenhange  stehen  die  verwandten  Ausdrücke: 
Morungen :  nach   der  min  gedanc  |  sere  ranc  MF.    139,  23.    24 

Husen :  .  .  daz    ich    niene    kan    |    gedenken 

wan  an  si  alleine  v      44,  15.   16. 

Daß  diesen  Versen  mit  den  vorhergehenden  gleiche  Originalverse 
zur  Nachahmung  vorgelegen  haben  sollten,    ist  eine  Behauptung,   die 

■)  ib.  S.  156. 


ÜBER  DEN  URSPRUNG  DES  HÖFISCHEN  MINNESANGES  etc.  63 

Meyer   wohl    selbst    nicht    recht    glauben    wird,    ebensowenig   wie    er 

ernstlich  meinen  kann,  daß  ein  Vers  wie  der  folgende 

Neithart:  von  im  so  treit  mich  aller  min  gedanc      N.   45,  22 

der  genau  den  entgegengesetzten   Sinn  hat,    oder  die  übrigen,    die  in 

ihrer  Anwendung    der   fraglichen  Redensart   nichts    mit  jenen    bereits 

genannten    Stellen    gemein    haben,    in   einem  andern  Zusammenhange 

stehen  als  wie  ihn  die  Sprache  selbst  an  und  für  sich  zu  bieten  pflegt. 

Ich  führe  den  Rest  der  Stellen   auf: 

Rugge:  üf  bezzer  Ion   stet  aller  min  gedanc      MF.    102,  26 

Neithart:  umbe  ein  scheiden,   so  stet  aller  min 

gedanc  N.   87,  17 

Guotenburc :  [bete   ich  funden    deheine   so   guote] 

da    nach     kert    ich     gerne 

minen  gedanc  MF.    78,  18. 

Es  finden  sich  ferner  zusammengestellt:  ') 
Dietmar:  als  wirz   uns   beide  hän   gedäht,  |  so 

hat  erz   an   ein   ende   bräht 

mit  maneger  fröide  und  liebes 

vil.]  MF.   40,  7.   8 

Dazu   Rugge:  [mit   ir  ze  redenne    äne    strit]    nach 

minem  willen  alsen  ich  hän 

gedäht,  V      109,  21 

Walther:  ezn   kome  als  ich   mirz    hän    gedäht 

[umb  ir  vil  minneclichen  lip]      W.    72,  3, 
In    welcher  Absicht    fügt    nun    Meyer    diesen     drei    Stellen    als 
Parallele  bei: 
NIbelungenl. :  du   hast  ez  z'eime   ende   nach    dime 

willen   bräht, 
und  ist  ouch   rehte   ergangen   als  ich 

mir  bete  gedäht  V.    2307,  3.    4. 

Könnte  er  wirklich  meinen,  jenen  drei  Minnesingeiu  und  dem  Dichter 
der  Nibelungenliedesstelle  habe  ein  Vers  aus  der  Volksliebespoesie 
vorgelegen,  den  sie  nun  pflichtschuldigst  nachgeahmt  hätten?  Ich 
möchte  doch  wohl  eher  Recht  haben,  wenn  ich  gerade  im  Hinblick 
auf  die  obigen  Entsprechungen  besondern  Nachdruck  auf  meine  schon 
oft  ausgesprochene  Ansicht  lege ,  daß  die  Sprache  wie  heute  so  da- 
mals dem  Dichter  viel  mehr  an  die  Hand  gab,  als  es  beim  ersten 
Blicke  scheinen  will:  nicht  nur  Wörter,  nicht  nur  Wendungen,  sondern 
oft  genug  ganze  Vorstellungen,  geformt  und  ungeformt;  sprich- 
wörtliche Redensarten  u.  dergl.  so  gut  wie  das  heute  und  jeder- 
zeit geschieht  ^). 


')  ib.  S.   1.5fi.  ')  Dasselbe  gilt  auch  für  die  Stellen  auf  S.   154. 


64  E.  TH.  WALTER 

In  der  folgenden  Gruppe  ')  beruht  die  Entsprechung  auf  den 
beiden  Worten  alliu  lolp  oder  ähnlich  mit  geringen  Abänderungen. 
Bei  einer  Anzahl  von  Stellen  tritt  wenigstens  noch  ein  ähnlicher  Sinn 
hinzu,  nämlich  daß  der  Dichter  der  Geliebten  den  Vorzug  vor  allen 
Frauen  einräumt;  in  anderen  fehlt  diese  Beziehung.  Aber  auch  wo 
sie  vorhanden  ist,  läßt  sich  mit  den  Stellen  nichts  erweisen.  Daß  die 
zwei  nebeneinander  stehenden  Worte  alliu  wip  entlehnt  sein  sollen, 
kann  Niemand  behaupten,  ohne  sich  lächerlich  zu  machen.  Daß  der 
Gedanke  „ich  bin  Dir  vor  Allen  ergeben",  ausgedrückt  in  der  alier- 
verschiedensten  Weise  in  einer  Liebeslyrik  nicht  gerade  mit  Verwun- 
derung aufzunehmen  ist,  wird  mir  wohl  auch  keiner  bestreiten.  Die 
Zusammenstellung  hat  durchaus  keine  Bedeutung.  Ebensowenig 
die  folgende  **),  die  ihre  Übereinstimmung  in  dem  Verbum  erkorn  oder 
erkos  mit  entsprechender  Ähnlichkeit  des  Sinnes  findet.  Wie  in  der 
vorigen  Gruppe,  so  ist  auch  in  dieser  der  Gedanke  durch  die  Art 
der  Poesie,  in  deren  Kreis  wir  uns  befinden,  nothwendig  gegeben. 
Daß  die  Wörter  erkos  oder  erkorn  und  lotp  vorkommen  müssen,  ist 
ja  klar;  im  Übrigen  unterscheiden  sich  die  Verse  sammt  und  sonders 
so  gründlich  von  einander,  als  es  nur  möglich  ist.  An  eine  Versent- 
lehnung kann  gar  nicht  gedacht  werden. 

Den  Schluß    dieser  Abtheilüng   bilde   die   Gruppe    mit    gesach^), 

von  der  zum  Theil   dasselbe    sich    sagen    läßt,    was    von    den    beiden 

vorhergehenden  galt.     Es  sind  die  Stelleu : 

Morungen:  wan  in  gesach   nie  wip  so  rehte  guot     MF.    142,  25 

Keinmar:  Ich  ensach  nie  wip  so  staete   [.  .  .  diu 

so  harte  missetaete,  |  so  si 
tuot]  57      202,  19 

Neithart:  ich  gesach  nie  jungez  wip   so  grim- 

meclich   geslahen  N.   47,  32 

Ders, :  Ich    gesach    nie  jungez  wip   so  lose 

[diu  ir  lip  den  mannen  künde 
baz  versagen]  n    48,  29. 

Daß  bei  den  folgenden  Stellen  blos  die  drei  ersten  Worte 
der  Verse  angeführt  sind,  macht  allein  ihre  Heranziehung  möglich; 
denn  wer  sollte  wohl  auch  nur  einen  Augenblick  an  eine  Beziehung 
zwischen  den  oben  angeführten  Versen  und 


')  ib.  S.  157.  ^)  ib.  S.  157.    Bemerken  will  ich  hierbei  doch,  daß  in  dieser 

Gruppe  drei  Stellen,  die  bereits  in  der  vorigen  ang'eführt  sind  (N.  43,  14;  N.  50,31; 
Mor.   130,  31.  32),  nochmals  voll  citiert  werden.  ^)  ib.  S.  161. 


ÜßER  DEN  URSPRUNG  DES  HÖFISCHEN  MINNESANGES  etc.  ßf) 

Ich   gesacli    don   suiner   uie  ^)  CB.    115" 

oder  Walther:  In  gesach  nie  houbet  baz  gezogen  W.  52,  31 
glauben  wollen,  wenn  er  die  vollen  Verse  zu  Gesicht  bekommen  iiat? 
Eine  Anzahl  von  Gruppen  habe  ich  bisher  von  der  Besprechung 
ausgeschlossen,  weil  mir  die  Übereinstimmung,  die  ihre  Verse  unter- 
einander vorbindet,  weitgehender  erschien,  als  es  für  gewöhnlich  der 
Fall   war. 

Entweder  sind  es  hier  die  ganzen  Verse,  die  eine  formelhafte 
Gleichheit  eines  nicht  gerade  durch  den  Zusammenhang  nothwendig 
bedingten  Gedankens  zeigen,  oder  es  sind  Theile  von  Versen,  die 
oft  nur  wie  zur  Füllung  erscheinen,  oder  auch  nur  regelnuäßig  in 
einigen  Stellen  wiederkehrende  Gedanken,  Vorstellungen  oder  Wort- 
verbindungen, von  denen  man  nicht  so  ohne  Weiteres  vermutiien 
dürfte,  daß  sie  den  verschiedenen  Dichtern  durch  den  Zufall  allein 
eingegeben  worden  seien. 

Gleichwohl    haben    auch  diese  Gruppen  für  uns  keinen  Werth. 

Wir  werden  bei  ihrer  Besprechung  zu  der  Einsiciit  kommen, 
daß  sie  auf  alles  Andere,  nur  nicht  auf  die  nothwendige  Existenz 
einer  Liebeslyrik  schließen  lassen,  die  der  Natur  des  Minnesanges 
entspräche,  ja  nicht  einmal  auf  eine  Liebeslyrik  überhaupt '^). 

Sie  mögen  aus  sprichwörtlichen  Redensarten  der  Umgangssprache, 
festen  Formeln  anderer  Dichtungsarten  hervorgegangen  und  so  in 
ganz  natürlicher  Weise  in  die  Lieder  der  ritterlichen  Poesie  —  ohne- 
liin  nicht  in   bedeutender  Anzahl  —  übergegangen  sein. 

Ich  wende  mich  also  nunmehr 

4.  zu  denjenigen  Gruppen,  die  trotz  größerer  Übereinstimmungen 
doch  nicht  auf  eine  Liebeslyrik  schließen  lassen  infolge  ihres  ent- 
weder nicht  auf  eine  solche  beschränkten  oder  sogar  ihr  fern  stehen- 
den Inhaltes. 

Es  begegnet  mir  zuerst  die  Gruppe  mit  volae  du  miner  lere  ^). 
Die  Wendung,  die  doch  gewiß  den  echt  lehrhaft- spruchartigen  Cha- 
rakter nicht  verleugnen  kann,  findet  sich  in  ziemlich  unveränderter 
Form  nur 


')  Übrigens  hat  Meyer  in  dieser  Stolle  eine  größere  Ähnlitdikelt  dadurch  er- 
reicht, daß  er  —  ohne  es  anzudeuten  —  das  die  Übereinstimmung  störende  Wort 
den  sjimer  einfach  ausgelassen  hat!! 

^)  Damit  wird  natürlich  eine  solche  nicht  bezweifelt;  es  handelt  sich  hier  nur 
um  den  Schluß,  den  uns  die  folgenden  Stellen  erlauben. 

^)  ib.  S.  133-134. 
GEKMANIA.     Nene  Reihe.  XXU.  (XXXIV.)  Jahrg.  5 


66  E-  TH.  WALTER 

3.  lat.  Liebesbr. :   friunt  volge   du   miner   lere  MF.    224,  26 

Spervogel:  [.  .  .  .  neme    ze    wisem     manne    rät] 

und  volge    ouch   siner  lere        r      20,  16 
Walther:  da  von   volge  miner  lere   [leg  üf  die 

wäge   ein  rehtez    löt]  W.   23,  7 

Ders.:  doch   volg  ich   der  alten  lere:  n      65,  12') 

Neithart:  [die  rätent  und  prüevent  daz  ich  äne 

16n  belibe]  niht  envolge  ir  lere  N.  54,  21 
Ist  es  nicht  hierbei  auffallend,  oder  vielmehr  recht  bezeichnend, 
daß  die  Wendung  gerade  bei  den  Vertretern  der  Spruchdichtung 
Spervogel  und  Walther  und  sonst  nur  bei  dem  späteren  Neithart 
in  ihrer  festeren  Form  sich  findet?  Denn  die  Stelle  aus  dem  Liebes- 
briefe ist  ja  auf  keinen  bestimmten  Ursprung  zurückzuführen,  sie  hat 
in  dieser  Beziehung  keine  Bedeutung^).' 

Eine  vollere  Wendung,  deren  Gebrauch  ebenfalls  ganz  unzweifel- 
haft der  Umgangssprache  bereits  eigen  gewesen  ist,  bieten  dann  die 
Verse  ^):  Solde  ih   noh   den  tach  geleben  CB.   99* 

solde    ih   nah    dem    willen    min    die 

zit  geleben  ti     127" 

Johansdorf:  Und   solde   ich   iemer  daz  geleben         MF.    92,  28 

Husen :  Gelebt  ich   noch   die  lieben  zit  n      45,  1 

Walther:  Müeste   ich   noch   geleben   ..  W.    112,  3^) 

Neithart:  Owe,   gelebte  ich   noch   den  tac  N.    80,  9, 

Nicht  eben  auf's  beste  paßt  dazu 

Solde    aver  ich   mit    sorgen  iemmer 
leben  [swenne  ander  lüte  wercn  frö?]      CB.    128° 
Hierher  gehören  auch  die  vier  Stellen,  die  den  Ausdruck  hoher 
Freude  ziemlich  übereinstimmend  wiedergeben  ^) : 

so   wolde  ih   in   wunne  sweben  CB.   99" 

Johansdorf:  so  mües  min  herze  in  fröiden  sweben      MF.    92,  30 

Walther:  [wi    wie    tuont    die   jungen    so]     die 

von    fröiden    solten   in   den 
lüften  sweben  W.   42,  3  4^) 

Neithart:  der  waenet  in   den  lüften   sweben         N.    93,  31. 


')  Die  anderen  beiden  Stellen  schon  ganz  anders: 

[Welt ]  volge  wiser  liute  tugent  W.  60,  25 

min  friunt,  im  volge  mir  n    89,   13. 

^)  Nicht  wörtlich  stimmen  zu   den  aufgeführten  Stellen 
Johansdorf:  volgent  miner  raete  MF.  94,  5 

Neithart:  ja  volge  ich  iuwer  raete  N.  21,    19 

')  ib.   S.   135.  ^)  Die  beiden  anderen  Stellen  Walthers: 

noch  müeze  ich  geleben  W.  31,  27 

doch  müeze  ich  noch  die  zit  geleben  W.  98,  22. 

^)  ib.  S.   135.  «j  Der  andere  Vers: 

min  herze  swebt  in  sunnen  ho  W.  76,   13. 


ÜHKli   DKN    UliSPHUNO   D?:-^   HÖFISCHEN  MINNESANGES  etc.  Ö7 

Auch  mögen   hier  ihren  Platz  finden  die  Verse  ^) : 

lazze   mich   mit  fröuden   werden   alt,      CB.    94* 
Neithart :  mit  vröuden   sul  wir   alten  N.    1<5,  1  <> 

Biigger:  [Er    fände     guoten     kouf   an    minen 

jaren,]  der  äne  vröude  wolte 
werden  alt,   [wan  si  mir  lei- 
der ie  unnütze  wären]  MI'\    118,  20 
Walther:                  [Swer  sich  so  behaltet  |  daz  im  nie- 

men   niht  gesprochen  mac  \] 
wünnecliche    er  altet,     [im 
enwirret  niht  ein  halber  tac] 
Daß  die  Verse  nur  einer  allgemeinen  Redeweise  oder  Vorstelhing 
ihre  Ähnlichkeit  verdanken,   ist  wohl  ebenso  leicht  einzusehen,  als  es 
offen  auf  der  Hand  liegt,  daß  bei  ihnen  an  eine  Entlehnung  aus  einer 
Liebeslyrik  gar  nicht  zu  denken  ist;    an  eine  Entlehnung   überhaupt, 
jedenfalls  wohl  nicht  bei  Biigger  und  Walther.    Verse,  die  so  wie  bei 
diesen  im  engsten  und    keineswegs    formelhaften,    sondern  eigenthüm- 
lichen  Zusammenhange   stehen,  sind  sicherlich   nicht  entlehnt,   sondern 
selbständig  —  höchstens  mit  unbewußter  Anlehnung  an  in  der  Sprache 
liegende  Ausdrücke  oder  Vorstellungen   —  entstanden. 
Dasselbe  gilt  von  den  folgenden  drei  Versen"): 

.  .  wer  were  alt,   [da  sih   diu  zit  so 

schönet?]  CB.    101" 

Nieman   chan  nu   werden   alt,  n     102' 

Walther:  [swar  er  vert  in   siner  wünnc,]    dan 

ist  nieman   alt  W.    51,  20. 

Der  Gedanke  ist  ganz  gewiß  volksthümlich,  aber  beweisen  läßt  sich 
darum  noch  nichts  damit.  Ich  möchte  sogar  geradezu  behaupten, 
daß  er  recht  eigentlich  den  volksthümlichen  Frühlingsliedern  ange- 
höre ,  daß  er  die  Kunde  von  der  Ankunft  des  nieien  gewiß  recht 
regelmäßig  in  dergleichen  Liedlein  begleitet  haben  mag.  Mit  einer 
dem  ritterlichen  Minnesang  als  Vorstufe  dienenden  Liebeslyrik  hat  er 
aber  nichts  zu  thun.  Findet  er  sich  doch  auch  sonst  kaum  wieder 
in  der  höfischen  Poesie  früherer  Zeit;  nur  Walther  hat  ihn,  und  bei 
diesem  dürfen  solche  Anklänge  nicht  befremden. 

Ganz  unpassend  ist  die  Heranziehung  der  Stellen,  welche  eine 
Umschreibung  des  Namens  Gottes  enthalten''');  sie  haben  für  unsere 
Frage  auch  nicht  den  leisesten  Werth  und  geben  nur  ein  Zeugniß 
davon,  wne  unklar  das  Bewußtsein  von  dem  Zwecke  der  ganzen  Samm- 
lung gewesen  ist. 

•)  ib.  S.   135.  ')  ib.  S.   135.  ')  ib.  S    139. 


68  E.  TH.  WALTER 

Es  sind  die  Verse: 

der  al   der  werlt  ein  meister  si,  CB.  165" 

Dietmar:  der  al   die  weit  geschaffen  hat  MF.  38,  23 

Ders. :  der  uns  alle  werden  hiez,    wie  ...         v  36,  28.    29 

Johansdorf:  der  al  der  werlte  fröude   git  ^^  92,  14. 

Was  bei  der  Stelle  ^) 
Namenl.  Lied:  nu  entgilte  ich  des  ich  nie  genöz  MF.  4,  4 
der  Hinweis  auf  Anm.  4,  4  im  Minnes.  Fr.  bedeuten  soll,  ist  mir  höchst 
unklar.  Die  Anmerkung  mitsammt  ihren  mannigfachen  Parallelen  be- 
sagt gerade  gegen  Meyer,  daß  die  ganze  Wendung  allgemein  ge- 
bräuchlich gewesen  sein  muß,  jedenfalls  weder  auf  Liebeslyrik  noch 
auch  auf  Lyrik  überhaupt  beschränkt  werden  darf. 

Die  Gruppe,  deren  Verse  Redensarten  mit  maere  enthalten'^), 
hätte  ihren  Platz  vielleicht  schon  in  einer  der  früheren  Abtheilungen 
erhalten  können.  Nur  der  in  einer  Anzahl  von  Stellen  ziemlich  er- 
sichtliche formelhafte  Charakter  der  Verbindungen  hat  mich  dazu  ver- 
anlaßt, die  Zusammenstellung  erst  hier  zu  erörtern.  Es  gilt  von  ihr 
dasselbe,  was  ich  schon  mehrmals  betont  habe:  einen  Schluß  auf 
Liebeslyrik  erlaubt  sie  nicht,  im  besten  Falle  mag  man  sie  auf  an- 
dere Dichtungsarten  zurückführen. 

Auch  die  Stellen  mit  der  Redensart  sine  arebeit  Verliesen  ^)  hätte 
ich  schon  andernorts   behandelt,  wenn  nicht  bei  zwei  Dichtern  je  ein- 
mal ganz  genau  derselbe  Vers  sich  fände,  nämlich: 
Rietenburc:  sie  fliesent  alle  ir  arebeit  MF.    18,  7 

Reinmar :  sie  fliesent  alle  ir  arebeit  n      184,  27 

und  noch  einmal  bei   demselben  wenigstens  ähnlich: 

der  verliiTset  al   sin  arebeit  n      172,  31. 

Ich  glaube  zwar  durchaus  nichl,  dieser  Übereinstimmung  irgend 
welchen  bedeutenden  Werth  beimessen  zu  müssen;  vielmehr  besteht 
für  mich  gar  kein  Zweifel  darüber,  daß  hier  Zufall  gewaltet  habe; 
bei  einer  Redensart,  die  schon  selbst  aus  drei  Wörtern  besteht,  kann 
ja  naturgemäß  zur  Bildung  eines  vierhebigen  Verses  nicht  viel  mehr 
hinzutreten :  wie  leicht  ist  da  also  eine  Übereinstimmung  möglich. 
Indessen  sind  noch  zwei  andere  Stellen  angeführt: 
Walther:  [daz  er  den   (dorn)  furder  leite]   von 

siner  arebeite  :  sist  anders 

gar  verlorn  W.    103,  27.    28. 

Neithart :  min  verloren  arebeit  .  .  N.   64,  2 

um  derentwillen  ich  die  Gruppe  hier  behandelt  habe.     Daß  mit  ihrer 

')  ib.  S.   140.  0  ib.  S.    150.  ■■)  ib.  8.   1.52. 


ÜBER  DEN   URSIMIUNG   DES  HÖFISCHEN   MINNESANGES  e\c.  [\\) 

ZuliiltfUiihuie  eine  Verseutlelmung  nicht  bewiesen  vverdeu  kunu,  be- 
darf keines  Wortes;  dazu  ist  ihre  formelle  Verschiedenheit  von  den 
oben  angezogenen  Stellen  zu  groß.  Darauf  möchte  ich  hier  nur  noch 
aufmerksam  machen,  daß  auch  die  Redensart  selbst  nicht  etwa  einer 
poetischen  Bildung  zu  verdanken  sei,  sondern  offenbar  in  der  Um- 
gangssprache ihren  Ursprung  hat. 

Unzweifelhaft  eine  feste,  wenn  auch  höchst  einfache  Formel,  liegt 
uns  in  den  Versen  mit  ist  mm  rät  vor  *).  Daß  sie  mit  Liebeslyrik 
nichts  zu  thun  hat,   bedarf  nicht  der  Erörterung. 

Dasselbe  gilt  auch  von  den  Stellen  mit  daz  ist  war  -)  (wenn  man 
nicht  von  vornherein  den  Zufall  will  gelten   lassen). 

Ebenso  ist  die  Wendung  senfter  ivaere  mir  der  tot  ^)  gewiß  als 
spiichwörtliche  Redensart  allgemein  gebräuchlich  gewesen,  um  etwas 
ganz  besonders  Unerträgliches  auszudrücken;  jedenfalls  hat  sie  nichts 
an   sich,  was  sie  nothwcndig  einer  Liebeslyrik  allein  zuwiese. 

Es  folgen  die  Stellen  *) : 
Rugge:  nu  hat  er  beidinthalb  verlorn,  [wände 

er  vorlite  daz  got  im  gebot, 
durch  in  ze  liden    die    not 
und  den   tot]  MF.   98,  39 

Haitmann:  [Die    fi-iunde    habent    mir   ein   spil  \ 

geteilet  vor,]    dest  beident- 
lialp   niht   wan   verlorn  :  75      216,  9 

Ps.-Spervogel :        [Swer  des  biderben  swache  phliget,  | 

da  bi   des   bo'sen  wol]    der 
hat  si   beide  verlorn  ri      245,  27. 

Ich  weiß  nicht,  ob  Meyer  das  Wort  heidinthalp  auffallend  vor- 
kommt, was  es  ja  durchaus  nicht  ist,  oder  ob  er  die  Verbindung  mit 
verlorn  als  etwas  Besonderes  betrachtet:  hätte  er  die  Verse  im  Zu- 
sammenhange betrachtet,  so  würde  er  wohl  kaum  in  einer  offenbar 
zufalligen  Übereinstimmung  —  obendrein  eigentlich  doch  nur  in  zwei 
Stellen  —  den  Grund  für  eine  Entlehnung  haben  finden  können. 
Sollte  übrigens  wirklich  eine  Entlehnung  irgendwoher  stattgefunden 
haben,  so  wäre  man  jedenfalls  weder  auf  Liebeslyrik  noch  auf  Lyrik 
überhaupt  —  fast  möchte  ich  sagen:  noch  auf  poetisch  gestaltetes 
Material  überhaupt  angewiesen,  sondern  dürfte  sich  vielmehr  richtiger 
im   Formelschatze  der  Umgangssprache  umsehen. 

Auffallender  sind  entschieden  die  folgenden  Verse:  ^) 

')  ib.  S.   1.53.  ")  ib.  S.    160. 

")  ib.  S.   153.  ^)  ib.  S.   lüO. 

^)  ib.  S.   154. 


70 


E.  TH.   WAl.TEli 


BHgger:  Min    alte    swaere   die  klage  ich  für 

niuwe  [wan  sie  getwanc 
mich   so  harte  nie   me]  MF.    118,  1 

Morungen  :  [Leitliche  blicke   und |  hänt 

mirdaz  herze verlorn] 

min  alte  not,  die  klagte  ich 

für  niuwe  n      133,  15 

Guotenburc:  [daz  lenget  mir  die  kurzen  tage]  und 

niuwet  mir  die  alten  klage, 
[von  der  ich  wände  sin  er- 
lost] V      70,  35 

Reinmar:  Nu  muoz  ich  ie  min  alten  not  |  mit 

sänge  niuwen  unde  klagen, 
wan   si   mir  also   nähen  lit]         n      18  7,  31.   32 

und   ders. :  ich  klag  iemer   minen  alten  kumber, 

der  mir  iedoch  so  niuwer 
ist  [den  si  mir  gap  dö  si 
mir  fröide  nam]  n      189,  11.    12. 

Eine  feste  Formel  liegt  uns  auch  unstreitig  vor  in  den  Versen  :  ') 
Moiungen:  owe  war  umbe   tuot  er  daz?  MF.    143,  1 

Walther:  we   war  umbe  tuot  si   daz?  W.    112,  33 

Ders.:  [die  kunnen  niuwan  sorgen  :]   we  wie 

tuout  si   so?  n      124,  20 

Neithart:  we  warumbe  tuont  si  daz?  N.   89,  17 

Reinmar:  we  wie  tuost  du  so?  R.    190,  32 

Ders.:  we   warumbe   spiiche  ich   daz?  ti     193,  17. 

Aber  die  Herleitung  dieser  Formeln  aus  der  Liebeslyrik  ist  nicht 
begründet.  Darum,  daß  sie  jetzt  in  einer  solchen  gebraucht  sind, 
darf  man  natürlich  noch  lange  nicht  rückwärts  schließend  sagen,  sie 
wären  darin  entstanden.  Entweder  war  die  Wendung  allgemein 
verbreitet,  oder  sie  hatte  sich  in  irgend  einer  der  vorhandenen  Dich- 
tungsarten geprägt.  Bestimmtes  läßt  sich  über  dergleichen  Vorgänge 
natürlich  selten  sagen,  umsomehr  muß  man  sich  hüten  darauf  Be- 
hauptungen zu  gründen. 

Damit  ist  auch  diese  Abtheilung  geschlossen,  und  es  bleiben  mir 
nur  noch  einige  Stellen  übrig,  welche 

5.  Ausdrücke  enthalten,  die  ich  darum  für  unsern  Zweck  als 
unbrauchbar  zurückweisen  muß,  weil  sie  offenbar  nicht  volks- 
thümlich  sind. 

Hierher  gehört  zunächst  die  Gruppe  mit  hohen  muot^).  Für 
volksthümlich  halte  ich  diesen  Ausdruck,  wie  er  im  Minnesang  vor- 
kommt,   nicht.     Er    ist    durchaus    nicht    etwa    identisch    mit    unserm 


»)  ib.  S.  161. 


')  ib.  S.   134. 


ÜBER  DEN  URSPRUNG  DES  HÖFISCHEN  MINNESANGES  etc.  71 

„Fröhlichkeit"   schlechthin,   vielmehr  bezeichnet  es  den  stolz  gehobe- 
nen   Sinn,    der    den  Uitter    im   Dienste  der  Frau   erfüllte,    wenn    ihm 
Gewährnng  winkte.     Mau  vergleiche  die  Stelle  bei 
Morungen:  liebe   diu   git   mir  huhen   muot,    (dar 

zuo   l'reud  uude   wüuuej  MF.    13'i,  '23. 

Der  Zusatz  freud  unde  wünne  verlangt  nothwendig  eine  andere  Be- 
deutung für  hohen  muot. 

I\Ian   beachte  ferner  die  Stelle  bei 
Walther:  edel  unde  riche  {  sint  si  (d.  frouwen) 

sumeliche,  ]  daz  zno  tragent 
si  hohen    muot  W.    51,  1  —  4. 

Auch  hier  ist  der  Sinn  des  Ausdrucks  deutlich  erkennbar;  edeln,  hohen 
Sinn  rühmt  Walther  an  den  Frauen,  nicht  Fröhlichkeit,  frohen  Sinn 
oder  dergleichen. 

hoher  muot  ist  ein  Ausdruck,  der  wohl  in  dem  höheren  gesell- 
schaftlichen Kreise,  dem  der  Minnesang  zugehört,  seine  Stätte  hatte, 
nicht  aber  in  dem  „bäuerischen  Stegreifdichten",  von  dem  Meyer 
spricht,  seinen   Ursprung  suchen  darf*). 

Dasselbe  urtheile  ich  über  den  Gebrauch  des  Verbums  niidertän, 
das  eine  nicht  geringe  Gruppe  bildet "). 

Ich  fasse  mit  dem  Ausdruck  undertdn  gleich  die  Wendung  sivaz 
sie  gebildet,  daz  allez  si  getan  und  ähnlich  ^)   zusammen. 

Beide  Ausdrücke  halte  ich  in  ihrem  Gebrauche  innerhalb  der 
hölischen  Poesie  für  echt  höfisch  und  von  vornherein  nicht  für 
volksthümlich.  Diese  dienstbare  Ergebenheit  unter  den  Willen  der 
Frau  ist-  ein  charakteristisches  I\Ierkmal  für  den  conventioneUen 
Frauendienst  und  die  denselben  feiernde  Poesie:  den  ritterlichen 
Minnesang.  Volksthümhch  ist  ein  solches  Verhältniß,  wie  es  sich  aus 
jenen  Wendungen  kundgibt,  durchaus  nicht. 

Das  Gleiche  darf  ich  wohl,  ohne  noch  weitere  Worte  zu  verlieren, 
von  den  Stellen  mit  dienen  behaupten  ^). 

Auch  die  Stellen  mit  edel  unde  guot  etc.  ^)  bleiben  der  höfischen 
Poesie  unweigerlich  zu  eigen,  edel  wird  zur  damaligen  Zeit  von  Men- 
schen immer  nur  mit  Bezug  auf  vornehme  Abkunft  gebraucht; 
wir  dürfen  noch  nicht  mit  einer  verallgemeinerten  Bedeutung  des 
Wortes  rechnen.   Dieser  Sinn  des  Wortes  verbietet  aber,  dasselbe  einer 


')  Übrigens  sind  nur  vier  Dichter  mit  dem  Ausdrucke  vertreten:  Naineid.   liied 
einmal,  Morungen  und  Keinmar  je  zweimal  und  Walther  viermal. 

')  ib.  8.   136—137.  ^)  ib.  S.  151.  *)  ib.  S.   149-  150.  *)  ib.  S.   151. 


79  E.  TH.  WALTER 

volksthümlichen  Lyrik    noch    früherer  Zeit    als  Epithetou    für  die 
Frau  zuzusprechen. 

Ebenfalls    der    ritterlichen   Poesie    weise    ich    die  Stellen    mit 
riten  zu  '). 

Jedenfalls  nicht  volksthümlich  sind  endlich  Verse  wie 
Venus   schiuzet  iren   bolz  CB.    111* 

Venus  wil  mi  schiezen  ;?      124* 

die  Meyer  ebenfalls  heranzieht  "). 


Damit  habe  ich  die  Stellengruppen  der  Meyer'sehen  Sammlung 
vollzählig  besprochen.  Nur  zwei  Gruppen  habe  ich  absichtlich  bis- 
lang übergangen,  weil  ich  später  auf  sie  noch  werde  eingehender  zu 
sprechen  kommen.  Es  sind  dies  die  Parallelen  zu  MF.  3,  1  —  4'^) 
und  diejenigen  zu  CB   136"*). 

Es  bleibt  mir  nur  noch  übrig,  kurz  das  Ergebniß  meiner  Unter- 
suchung; zusammenzufassen. 


Fragen  wir  uns  zunächst  noch  einmal:  was  beansprucht  Meyer 
durch  die  vorliegende  Sammlung  bewiesen  zu  haben;  und 
welche  Consequenzen  knüpft  er  an  das  angeblich  erlangte 
Resultat? 

Wir  sind  in  der  Lage,  mit  seinen  eigenen  Worten  zu  ant- 
worten"): „Wir  haben  nun,  wie  ich  glaube,  die  Existenz 
einer  großen  Anzahl  vonVersen,  die  in  der  verloren  gegan- 
genen Volksdichtung  gerade  wie  noch  in  den  ältesten  er- 
haltenen Liedern  zu  neuen  Liedern  zusammengefügt  wur- 
den, für  alle  an  der  litterarischen  Cultur  Deutschlands 
betheiligten  Länder  nachgcAviesen."  Er  sagt  ferner  von  diesen 
Versen®):  die  betreffenden  Dichter  hätten  dieselben  gleichsam  als 
Bausteine  in  ihre  Gedichte  eingefügt  und  sie  nur  insoweit 
behauen,  als  es  der  Bau  ihrer  Strophen  erfordert  hätte. 

Aus  diesen  Worten  folgt  mit  voller  Nothwendigkeit,  daß  die 
„verloren  gegangene"  Volkslyrik  so  ziemlich  den  älteren  Zeugnissen 
der  höfischen  Dichtung  muß  gleich  gewesen  sein;  daß  der  ritterliche 
Minnesang  ein  Abklatsch  der  „bäuerischen  Stegreifdichtung"  sei,  eine 
Folgerung,  die  er  selbst  vollkommen  als  die  seinige  anerkennt,  wenn 
er  äußert  '):  dieKunstdichtuug  habe  sich  zunächst  so  wenig 


')  ib.  S.  1:^6.     ')   ib.  S.  136.     ')  ib.  S.  133.      ')  ib.  S.  139. 

5)  a.  a.  O.  S.  174.  cf.  oben  vS.  10. 

")  Meyer  a.  a.  O.  S.  167—168.  cf.  oben  S.  9. 

')  Meyer  a.  a.  O.  S.  225.  cf.  oben  S.  1,  Anm.  4;  S.  2,  Anm.  4;  S.  10. 


ÜUEK  DEN   URSPRUNG  DES  HÖFISCHKN  MINNESANGES  et.-.  73 

von  der  „bäuerischen  Stegrei  fd  ich  tun  <;••'  entternt,  da(i>  sie 
„zuerst  ganz  die  alte  Art  fortgesetzt"   l)abe. 

Fragen  wir  nun  weiter:  inwieweit  hat  sich  die  Meyer" sehe 
Sammlung  beweiskräftig  erwiesen? 

Wir  haben  zunächst  von  ziemlich  äußerlichem  Gesichtspunkte 
aus  eine  Anzahl  der  Gruppen  von  Parallelen  ausscheiden  müssen, 
nachdem  wir  die  Überzeugung  gewonnen  hatten ,  daß  zum  Beweise 
einer  Entlehnung  von  Versen  aus  früherer  Zeit  von  Seiten  späterer 
Dichter  solche  Stellen  nicht  tauglich  wären,  die  entweder  einem 
Dichter  allein  entnommen  wären  oder  nur  eine  einzige  Paral- 
lele aufwiesen;  das  Gleiche  behaupteten  wir  von  den  Stellen,  die  einer 
Volkslyrik  späterer  Zeit  (also  nach  den  entlehnenden  [Vj  Dich- 
tern)  angehörten  ■'). 

Wir  gingen  dann  auf  die  einzelnen  Gruppen  näher  ein  und 
fanden,  daß  die  Übereinstimmungen  in  den  zusammengestellten  Versen 
entweder  auf  einem  einzigen  Worte  beruhten,  oder  auf  Wen- 
dungen, zusammengesetzteren  Ausdrücken,  die  zweifelsohne 
der  täglichen  Umgangssprache  entstammen;  oder  auf  solchen , 
die  so  nothwendig  dem  Kreise  jeder  Liebeslyrik  angehören,  daß 
ihr  wiederholtes  Auftreten  uicht  befremden  darf. 

Ks  blieben  uns  darnach  noch  eine  Anzahl  anderer  Gruppen 
übrig,  bei  denen  wir  oft  nicht  umhin  konnten,  dem  Gedanken  an  eine 
Entlehnung  Raum  zu  geben.  Suchten  wir  aber  nach  einer  Quelle, 
aus  der  solche  formelhafte  Verse  geflossen  sein  mochten,  so  fanden 
wir,  daß  jede  andere  Dichtungsart  mehr  dafür  zu  gelten 
geeignet  sei,  als  gerade  die  Liebeslyrik;  daß  mau  selbst  der 
Alltagssprache  des  Umgangs  die  P^ähigkeit  zur  Bildung  der- 
artiger   Formeln    nicht   absprechen   dürfe.     Die  lyrische  Form,    in    der 


')  Verwahren  möchte  ich  mich  hier  ge^en  einen  etwaigen  Vorwurf.  Man  könnte 
mir  vorhalten,  ich  hätte  diese  Stellen  ausgeschieden,  weil  sie  aus  den  Minnesingern 
entlehnt  sein  müßten.  Das  aber  zu  behaupten  liegt  mir  ferne.  Icli  würde  nöthigen- 
falls  gerne  zugeben,  daß  die  spätere  Voiksiyrik  aus  der  früheren,  d.  h.  vor  dem 
Minnesänge  vorhandenen,  Allerlei  bewahrt  oder  übernommen  haben  mag  und  wird; 
ich  leugne  nur,  daß  sich  irgendwie  von  bestimmten  Stellen,  die  uns  die  Sammlung: 
bietet,  behaupten  lasse,  sie  müßten  der  Volkslyrik  entstammen;  sie  könnten  nicht 
auch  dem  hötischen  Minnesänge  ihre  Eiitstehuuj?  oder  auch  Anregung  verdanken. 
Dem  gegenüber  zu  sagen:  dann  müßten  diese  Volkslyrikstellen  wenigstens  mit  gleichem 
Rechte  wie  die  späteren  Minnesinger  zugelassen  werden,  ist  werthlos.  Die  späteren 
Minnesinger  haben  natürlich  für  den  Ursprung  der  höfischen  Dichtung  ebenfalls  nicht 
'lie  geringste  Bedeutung;  die  Heranziehung  Neitharts  ist  schon  das  äußerste,  was 
man  sich  gefallen  lassen  kann. 


74       E.  TH.  \VALTP:R,  über  I).  URSPRUNG  D.  HÖFISCHEN  MINNESANGES  etc. 

sie  uns,  wie  Meyer  bemerkt,  entgegentreten  (meist  in  vierhebigen  Ver- 
sen), durfte  uns  natürlich  nicht  anders  stimmen,  l^iegt  uns  doch  eine 
lyrische  Poesie  vor;  was  also  ihr  entnommen  ist,  muß  doch  selbst- 
redend lyrisches  Gewand  tragen. 

Endlich  fanden  wir  auch  die  Sammlung  nicht  trei  von  solchen 
Stellen,  die  ganz  offenbar  nicht  auf  einen  volks  thümlichen  Ur- 
sprung zurückgeführt  werden  durften,  weil  ihr  ganzer  Cha- 
rakter  einer  solchen  widersprach. 

Wir  haben  in  dieser  Weise  die  ganze  Sammlung  durchgeprüft, 
Stelle  für  Stelle,  ohne  anscheinenden  Schwierigkeiten  auszuweichen 
oder  sie  todtzuschweigen;  wir  haben  bei  unserer  Prüfung  noch  nicht 
einmal  den  strengsten  Maßstab  angelegt;  sonst  hätten  wir  Dichter 
der  späteren  Zeit,  die  doch  bereits  mit  dem  vollen  überlieferten  con- 
ventionellen  Materiale  der  höfischen  Poesie  arbeiteten,  die  aber  auch, 
wo  sie  unzweifelhaft  sieh  mit  der  Volkspoesie  berührten,  nicht  für 
den  Ursprung  des  Minnesangs  in  Anrechnung  gebracht  werden 
durften  —  ebenfalls  ausscheiden  müssen  5  wir  hätten  auch  noch  auf 
die  gegenseitigen  Entlehnungen  der  ritterlichen  Sänger  selbst  auf- 
merksam machen,  wir  hätten  ein  Wort  von  der  allmähligen  Bildung 
eines  höfischen  conveutionellen  Kreises,  aus  dem  die  Minnesinger  mit 
wenigen  Ausnahmen  nicht  herauszutreten  vermochten,  mit  einfließen 
lassen  müssen. 

Umsomehr  halten  wir  uns  jetzt  für  berechtigt,  unsere  Ansicht, 
die  wir  durch  die  voraufgegangene  Untersuchung  gewonnen  haben, 
dahin  auszusprechen: 

Die  Meyer'sche  Sammlung  hält  nicht,  was  sie  verspricht. 
Zum  Theil  ist  sie  nur  auf  eine  wenig  berechtigte  Weise  zu 
einer  bedeutenden  Stärke  angewachsen.  Im  Übrigen  be- 
weist sie  auf  keinen  Fall,  daß  die  zusammengestellten 
Verse  einer  Liebespoesie  entstammen:  sie  beweist  also 
nicht  einmal  die  Existenz  einer  Volksliebeslyrik  über- 
haupt^), geschweige  denn  einen  Zusammenhang  zwischen 
einer  solchen  und  d  e  r  h  ö  fi  s  c  h  e  n  M  i  n  n  e  p  0  e  0  i  e ,  w  i  e  e  r  o  b  e  n  ^) 
verschiedentlich  mit  Meyers  Worten  als  Behauptung  auf- 
gestellt worden  ist. 

(Schluß  Iblgt.) 

LEIPZIG.  E.  TH.  WALTER. 


')  Wie  schon  oben  bemerkt,  leugnen  wir  eine  solche  durchaus  nicht. 
^)   Oben  Ö.  9  ff.  nnd  öfter. 


J    HORNOFF.   DHU  MINNK8ÄNGER  ALBRECHT  VON  JOIIANSDOKF.       75 

DER  MINNESÄNGER  ALBRECHT  VON 
JOHANSDORF. 

(Schluß) 


V.   Gedankenwelt. 
1.   Älinne. 

Li  ebesbek  en  n  tn  i  Ü.  Joh.  88,9  Ich  ininae  sie.  vür  allm  icip 
und  swer  ir  des  M  (jofe.  90,  14  Ich  minne.  ein  lo^p  vor  al  der  werlte  in 
mineni  miiote.     81,1    Wtvid  ich  zeiner  vröude  si  mir  hau  erkorn. 

Haus.  45,  27  der  si  vor  al  der  loerlte  hat.  50,  31  icli  häns  er- 
korn uz  allen  loiheii.  Veld.  56,  17  die  ich  zer  besten  hau  erkorn  odr  in 
der  werlte  mohte  schouwen.  Rugge  103,  5  di(r  die  ich  elliu  ivip  verbir. 
103,  12.  do  ichs  üz  al  der  icerlle  erkds.  Mor.  122,  11  daz  ich  die  mine 
für  allixi  andriu  uip  hän  zeinrr  kröne  gesetzet  !<d  ho  und  ich  der  dchein. 
uz  gnomen  hau.  130,  31  Ich  hau  si  für  alliu  wtp  mir  ze  frouioen  und 
ze  liep  erkorn.  147,  6  ...  nnd  iuch  so  herzeliche  minne  zewdre  frouwe 
gar  für  elliu  wip.^  Kein  in.  150,  3  die  sol  mir  ienwr  sin  V(,r  allni  iciben. 
ItJO,  9  got  iceiz  wol,  sit  ichs  erste  sach,  so  het  ich  ie  den  muot,  daz  ich 
vür  si  nie  kein  loip  erkds.  183,  24  diu  mich  troesfen  niac  für  elliu  tvtp. 
197,  4  Waz  unmdze  ist  daz,  ob  ich  des  hdn  gesworn,  daz  si  mir  lieber 
si  dan  tlliu  wtp? 

Joh.  90,16  Ic/t  loil  ge.^ehen,  die  ich  von  kinde  her  geminnet  hdn 
für  alliu  wip. 

Der  Ausdruek  von  kinde  her  minnen  berulit  auf  dichterisciier 
Übertreibung.  Das  beweist  Hartra.  215,  29  si  was  von  kinde  und  muoz 
nie  stn  min  kröne,  verglichen  mit  dem  Anfange  des  Liedes,  wonach 
die  erste  Bekanntschaft  der  bereits  herangewachsenen  Schönen  gilt '). 

Hartm,  206,  17  der  ich  gedienet  hau  mit  stmtekeit  sit  der  sfunt 
deich  üfein  stabe  reit.  Mor.  136,  10  Ich  bin  noch  alse  si  mich  hat 
Verlan  vil  stcete  her  von  einem  kleinen  kinde.  134,  31  si  ist  mir  liep 
•  'iioest  dii  her  von  kinde.     Hausen  50,  11. 

Auch  bei  den  Troubadours,  besonders   Ventadorn   liäutig -). 

Eigenschaften  der  Geliebten.  Mit  welchen  Eigenschaften 
die  Geliebte  von  den  älteren  Minnesängern  dargestellt  ist  ,  hat  Gott- 
schau (Beitr.  7,  380  ff.,    Johansdorf   besonders  S.  388)    gezeigt.  Her- 

*)   Lehfeld,  Friedrich  von  Hausen,   Beitr.  II,  398. 

*)  Vgl.  F.Michel,  Heiniich  vcn  Mormigen  und  dit- Tioubadours.  Stiüßbuig  1880. 
S.    128  f. 


76  J.  HORNOFF 

vorgehoben  zu  werden  verdient  nur,  daß  Johansdorf  die  Güte  seiner 
Dame  mehr  betont  als  die  Schöne.  Der  Ausdruck  schoene  findet 
sich  nur  in  zwei  unechten  Liedern:  *92,  16  der  vil  schoenen  und  *93,  2 
die  vil  schoenen.,  in  den  echten  Liedern  nur  einmal  dm  wolgetdne  87,  13. 
—  wolgeborn  87,  11  heißt  nicht,  wie  G.  Freytag ^)  übersetzt,  „schön", 
sondern   „hohen  Standes". 

Ausdrücke  für  Güte  sind:  91,3  der  guoten.  95,9  ir  vü  giioten  lip. 
95,  7  diu  mit  ir  tvibes  gäete  gemachen  kan,  daz  man  si  vüeret  über  se. 
90,  22  diu  tugende  nie  verde.  Aus  den  unechten  Liedern  kommen  noch 
hinzu:  *93,  14  diu  guote.  *94,  13  frouive  guot.  *93,  4  s ist  aller  güete  ein 
gimme.    *92,  10  locer  sie  vil  reine  niet  und  alles  toandels  fri. 

In  dieser  Hinsicht  steht  Johansdorf  besonders  mit  Rugge  und 
Reinraar  zusammen.  Rugge  101,  15  got  hat  mir  armen  ze  leide  getan, 
duz  er  ein  wip  ie  geschuof  also  guote.  103,  6  si  meret  vil  der  vro'ide 
min  und  kan  mit  güete  sich  erwern,  daz  man  ir  valschheit  niht  engiht. 
V.  17  der  schoenen  der  sol  man  den  strtt  vil  gar  an  guoten  dingen  lau. 
V.  19  mm  lip  vor  liebe  muoz  ertohen,  swenne  ich  daz  allerbeste  loip  so 
gar  ze  guote  hoere  loben.  Die  Güte  wird  über  die  Schönheit  erhoben: 
105,  22  ichn  loeiz,  oh  ieman  schoener  st,  ezn  lebt  niht  lotbes  alse  guot. 
107,  27  nach  frouwen    schoene  nienian  sol  ze  vil  gef ragen,    sint  si  guot. 

Reinm.  151,  19  alse  guoten  lip.  165,  30  ez  icart  nie  niht  so  lobe- 
sam,  swä  duz  an  rehte  güete  kerest,  so  die  bist  (^=  wie  es  deinem  Wesen 
entspricht).  169,  29  ein  wip,  diu  hat  sich  underwunden  guoter  diy\ge 
und  anders  niet.  183,  22  di^ist  an  güete  ein  üzerioelter  lip.  183,  27  loir 
suhl  alle  frouwen  eren  umb  ir  güete.  184,  14  ir  güete  loendet  miniu  leit. 
190,  3  %oie  tuot  diu  vil  reine  guote  so?  v.  9  si  ist  vil  guot.  198,  22  si 
ist  so  guot.    Die  Güte  erscheint  hier  als  das  eigentliche  Wesen  der  Frau. 

Dienst  und  Lohn.  Dienst:  91,5  der  ich  diene  und  iemer 
dienen  teil. 

Den  Ausdruck  ^dienen'  haben  seit  Meinloh  alle  Minnesänger. 

Joh.   88,  12  in  ir  geböte  sten. 

Reinm.   158,  34  von  ir  geböte  wil  ich  niemer  werden  fri. 

Das  Bemühen  um  die  Huld  der  Dame  wird  als  ein  Ringen 
bezeichnet: 

Joh.  90,  24  ich  hän  also  her  gerungen. 

Hausen  46,  19  Mit  grozen  sorgen  hat  min  lip  gerungen  alle  sine  zit. 
Gutenburc  78,  15  daz  er  (=  der  muot)  ie  so  nach  ir  minne  geranc. 
Fenis  85,  17  der  müez  als  unsenfte  ringen,  als  ich  tuon  mit  seneden 


')  Bilder  deutscher  Vergaugenheit  I,   539. 


DER  MINNESÄNGER  ALBRECHT  VON  JOITANSDORF.  77 

dingen.  Horheiin  114,  1  si  icas  ie,  nach  der  mhi  herze,  ranc  und  iemer 
muoz.  Mor.  lHb,9We,  loie  lange  sol  ich.  nagen?  139,23.  27.  Reinm. 
1.58,  18  dar  nach  ich  ie  mit  triuwen  ranc.  190,  2.  Hartm.  209,  7  nach 
der  ie  min  herze  ranc.     218,  27. 

Indem  die  Dame  das  kecke  Werben  abzuwehren  sucht,  ent- 
l>rennt  der  Streit  zwischen  den  Liebenden. 

Joh.  87,  29  icJi  unde  ein  wip  toir  liahen  gestriten  riu  vil  maneqe 
zit,    ich  hän  von  ir  zorne  vil  erliten,     noch  heldet  si  den  sf.rit. 

Hausen  46,  9  mm  herze  nnsanfie  stnen  strit  Idt,  den  ez  nu  maneqe 
zit  behahet  loider  daz  aller  beste  wip.  Gutenb.  75,  36  mir  ist  verseit, 
dar  nach  ich  streit.  Rugge  106,  36.  Reinm.  200,  39.  Ilartm.  207,  7. 
17  etc. 

Die  Dame  gestattet  den  Dienst. 

Joh.  92,  11  Si  sol  mir  erlauben,  daz  ich  von  ir  tilgenden  spreche. 

Gutenb.  76,  35  der  gedinge  tuet  mir  wol,  daz  ich  tvol  loeiz  daz  .si 
mir  gan  ze  dienen  umhe  ir  hnlde. 

Der  Ritter  stellt  seine  ganze  Persönlichkeit  in  den 
Dienst  der  Dame. 

Joh.  88,  11  alle  mtne  sinne  und  auch  der  llp  daz  stet  in  ir 
geböte. 

Horheim  114,  15  sit  ich  ir  gap  beidiu  herze  unde  lip  uf  ir 
aendde.  Fenis  82,  34  lip  unde  sinne  die  gap  ich  für  eigen  ir  v.f 
genäde,  der  hat  si  gewalt.  Reinm.  152,5  ich  hän  vil  ledecliche  bräht 
in  ir  genäde  mtne 71  Itp. 

Der  Dichter  rechnet  dabei  auf  Lohn. 

Joh.  90,  37  noch  gedinge  ich,  der  ich  vil  gedienet  hän  daz  si  mir 
ez  lone. 

Hausen  49,  21  Sit  ich  daz  herze  hän  verläzen  an  der  besten  eine, 
des  sol  ich  Ion  enj)fän.  Gutenb.  70,  17  doch  var  ich  gern  hin  an  daz 
zil,  da  si  da  sol  und  Ionen  luil.  \10,  37  nu  wil  ich  noch  ir  gnaden  trost 
erbeifen.  71,  1  ff.  11,25  da  ich  si  mir  erkos  —  üf  guoten  riche  schoenen 
Ion.  Horheim  114,  18  ich  hoffe  des.,  daz  min  reht  iht  .st  so  guot,  daz  si 
mir  schier  ein  vil  liebez  ende  git.  Reinm.  183,  13  mir  ist  liebes  niht  gesehen  : 
ich  gedinge  ab,  ob  ich  ez  verdiene,  ez  milge  mir  lool  ergen.  189,  37  guot 
gedinge  üz  lönes  rehte  nie  gebrach,  des  habe  ich  hin  zir  hidden  guot 
gedinge.  191,  37  mit  fuoge  ichz  tougenlichen  trage  und  gedenke  es  wirdet 
rät.  also  hab  ich  gelebet  her,  daz  mir  min  dinc  noch  schone  stät. 

Der  Dichter  bittet  um  Lohn. 

Joh.  '^92,  18  scheide   frouwe    disen    strit,    der  in  mineni   herzen  lit, 


7g  J.  HORNOFF 

mit  reines  icibes  güefe.  *93,  36  länt  mich  noch  geniezen,  daz  ich  iu  von 
herzen  ie  loas  holt.    Negativ:  *92,  25  du  lä  gein   mir  den  dineu  haz. 

Rugge  190,  27  frouwe  tuo  des  ich  dich  hite,  daz  ich  iemer  si  dines 
heiles  vro.    v.  37  troeste  mir  den  Up. 

Der  Dichter  ü bei- läßt  sicli  ganz  der  Huld  seiner  Dame. 

Joh.  91,  18  ich  wil  ez  allez  an  ir  güete  län.  ir  genäden  der  be- 
darf ich  wol.     *92,  33  ir  genäde  stänt  dähi. 

Eist  37,  2  du  nim  mich  in  dme  genäde.  38,  14.  40,  25.  Hausen 
46,  35  do  sich  verlie  min  herze  lif  genäde  an  sie.  Gutenb.  71,  22  oh 
si  min  leben.,  deich  hau  gt'peben  an  ir  genäde,  nmme.  11,  32.  Fenis 
82,  34  TÄp  linde  sinne  die  gap  ich  für  eigen  ir  üf  genäde  :  der  hat  si 
gewalt.  Rugge  106,  36  nach  rehte  liez  ich  minen  stril.,  duz  mir  ir  mimw 
lönes  gnäde  tcete.  Horheim  114,  15  s7t  ich  ir  gap  beidin  herze  nnde  lip 
üf  ir  genäde.  Reinm.  158,  31  genäde  ist  endellche  da.  diu  'rzeige  sich 
als  ez  an  mtnem  heile  n.  193,  19.  194,  33.  Mor.  134,  25  ich  darf  vil 
wol,  daz  ich  genäde  vinde.  Hartm.  214,  38  der  ivil  dur  dinen  loillen 
disen  sumer  sin  vil  hohes  mxotes  verre  üf  die  genäde  dln. 

Die  Dame    treibt    ein    falsches  Spiel  mit  dem  Dichter. 

Joh.  86,  9  ich  ivil  ir  raten  bl  der  sele  mm  durch  keine  liebe,  niht 
wan  durch  daz  reht.  waz  möht  ir  an  ir  tagenden  bezzer  shi,  dan  obes 
ir  umberede  lieze  sieht,  toite  an  mir  einvaltecUche^  als  ich  ir  einvaltec  hin. 

Gutenb.  76,  3  si  giht  a^rerst,  loan  Sit  dernäch  versaget  si  mir  in 
spotes  wiz.  V.  12  si  sprichet  dickt',  deich  erschricke  frömdiu  wort  von 
schimpfe,  si  tnot  verirett,  sicaz  si  gerett  vor  liuten  mit  gelimpfe.  Mor. 
128,  25  Lachen  unde  schoenez  sehen  und  guot  gelceze  hat  ertoeret  lange 
mich,  mir  ist  anders  niht  geschehen.  Reinm.  195,  23  nieman  loeiz,  ob  si 
mich  icert  od  wiez  ergät:  nein  oder  ja.  ich  enweiz  emvederz  da.  171,  11 
In  ist  liep,  daz  man  si  stadeclichen  hite,  und  titot  in  doch  so  wol,  daz  si 
versagent.  hei,  wie  manegen  ivunderlichen  site  si  tougenliche  in  ir  harzen 
tragent ! 

Die  Dame  belohnt  den  Dichter  durch  einen  Kuß. 

Joh.  *93,  5  geprüevet  hat  ir  roter  munt,  daz  ich  muoz  iemer  mere 
mit  fröuden  leben  zaller  stuont,  swar  ich  des  landes  kere.  also  hat  si 
geloiiet   mir.    gescheiden   hat  mich   niht  von  ir  fron  Zuht  mit  süezer  lere. 

Der  Lohn  besteht  in  gesellschaftlicher  Veredlung  des 
Ritters. 

Joh.  *94,  11  Ju  sol  wol  gelingen,  dne  Ion  so  sult  ir  niht  bestand 
Wie  meint  ir  daz,  fromce  guot?  Daz  ir  deste  werder  sint  und  dähi 
hochgemuo'.' 


I 


DER  MINNESÄNGER  ALBRECHT  VON  JOHANSDOKF.  79 

Eist  33,26  si  hat  c^efiuret  mir  den  ti,uot.  Keiiiin.  181),  20  mi  lone 
ir  gof,  ich  bin  von  ir  qenäden  wol  gezogen. 

Mag  nun  aber  die  Dame  lolinen  oder  iiiclit  lolinen, 
der  Dichter  lobt  sie  dennoch. 

Joh.  90,  18  und  ist,  daz  ich  genäde  vl.nde,  so  gesach  ich  nie  so 
gnoten  llp.  oh  ah  ich  ^ir  iüa>re  vil  gar  7(niN(rre^  so  ist  si  doch,  (Hk 
tugmiJi'  nie  verlie. 

Hausen  47,  1  Swaz  schaden  ich  da  von  geicunnen  hdn,  so  friesch 
nie  man,  deich  ir  iht  sprrrche  waiie  guot ,  noch  min  munt  von  frowen  nie- 
mer  iuo!.  Gutenb.  76,  8  Straz  si  mir  tuot,  dast  allez  guot,  ichn  mac 
ir  niht  entwenken.  77,  29.  Mor.  140,  27  des  muoz  ich  ringen  mit  der 
kfage  nnde  mit  der  not,  difch  sdhe  mir  geschaffet  hin.  so  ist  siz  doch 
diu  froinoe  min:  ich  hmz,  der  ir  dienen  sol  nnd  wünsche  ir  des,  daz-i 
ierner  sa>lic  ndleze  sin.  Keinm.  184,  8»  ^2  sol.  mich  (Ilanpt  mit  C:  ich) 
allez  dünken  guot,  sioaz  si  mir  luot.  Hartm.  207,  29  SU  ich  mich  rechen 
sol,  desicär  daz  sl  und  doch  viht  anders  wan  also,  daz  ich  ir  heiles 
oan  haz  dan  ein  ander  man,  und  hin  dähi  ir  leides  gräm  ir  liebes  fro. 
208,  4  ich  spriche  ir  nimcan  guot  e  ich  hesiocere  ir  muot,  so  lo'd  ich 
e  die  schulde  zuo  dem  schaden  hän. 

Vergeblicher  Dienst. 

Joh.  87,  29  ich  und  ein  wip  tcir  haben  gestriten  mi  vil  rnanege  zit. 
ich  hdn  von  ir  zorne  vil  erliten.  89,  9  Swaz  ich  nu  gesinge,  deist  allez 
UDibe  niht  :  jnir  iceiz  sin  nicmen  danc  :  ez  loiget  allez  ringe,  dar  ich  hau 
gedienet,  di  ist  min.  Ion  vil  krmc.  ez  ist  hiure  an  genäde  unnwher  danne 
vert ,  und  irirt  über  ein  jär  vil  lihfe  kleines  lones  locrt.  *93,  24  Neinä, 
küneginne!  daz  ndn  dimest  so  iht  si  verlorn! 

Gutenb.  75,  36  Mir  ist  ve/seit,  dar  nach  ich  streit.  76,  1  nun.  Ion 
der  ist  noch  unbereit.  Fenis  81,  2  si  ivil,  daz  ich  iemer  dien  an  sollie 
siat,  da  noch  min  dieneM  ie  vil  kleine  wac.  Rugge  101,  23  knnde  ich 
die  mäze,  so  lieze  ich  den  strit,  drr  mich  da  müeget  und  lützel  verväliet. 
101,  28.  Horheim  114,  3  Mich  hat  daz  herze  und  ein  nnwiser  rät  ze 
verre  verleitet  an  tumplichen  muot,  da  doch  min  dienest  vil  kleine  vervät. 
Mor.  136,  12  desicär  nur  ist  nach  w<rde  niht  gelungen.  133,5  sist  mit 
tagenden  und  mit  werdekeit  so  behnot  vor  aller  slahte  unfröuwelicher  tat, 
I  loan  de^  einen,  daz  si  mir  verseit  ir  genäde  und  minen  dienest  so  ver- 
derben lät  Reinm.  164,  7  ich  diende  ir  ie  :  mim  londe  niemen.  175,  15 
ich  hin  aller  dinge  ein  scbUc  man,  wan  des  einen  da  man  Ionen  sol. 
Hart.  206,  24  daz  kan  mich  niht  vervän  an  einer  stat,  da  ich  noch  ie 
genäden  *bat.  208,  3  si  wil  mich  ungelonet  län.  209,  7  wan,  nach  der 
ie  inin  herze  ranc,  diu  lät  mich  tröstes  äne. 


80  J-   HORNOPF 

Die  Da)ne  weist  den  Dichter  ab. 

Job.  *94,  6  länt  die  hete,  die  niemer  mac  (geschehen.  *93,  23  so 
toil  ich  in  tüsent  jären  niemer  itich  geivern. 

cf.  Gutenb.   75,  31  jo  hat  si  mmes  lönes  zil  gesetzet  an  tvol  tüsent  jär. 

Die  Dame  weist  ihn  an  andere  Frauen. 

Job.  *94,  8  got  der    iver    iuch    ander sioä,    des  ir  an  mich  da  gert. 

Sie  verweigert  dem  Dichter  sogar  den  Grruß. 

Job.  86,  19  nu  hat  mich  gar  ir  friundes  gruoz  vermiten. 

Hausen  53,  7  loäfen,  waz  habe  ich  getan  so  zuneren,  daz  mir  diu 
guofe  ir  gruozes  erhunde?  Fenis  80,  22  ir  schoener  (Haupts  Conjectur 
sioacher)  gruoz  scheidet  mich  von  ir  lihe.  Rugge  102,  5  Nn,  scheidet 
mich  davon  (von  Liebessorgen)  ein  ungemacher  gruoz. 

Der  Dichter  verzweifelt  an  der  Erfüllung  seiner 
Hoffnung.  • 

Job.  86,  23  herre,  wan  ist  daz  nnti  Wien,  daz  mir  niemer  leit  ge- 
schiht?    Der  Lohn   als  Lehen   bezeichnet. 

Ähnliche  verzweifelnde   Ausrufe  bei  Morungen  und  Reinraar. 

Mor.  126,  39  loenne  sol  mir  iemer  liep  gesehen?  135,  9  loe,  wie 
lange  sol  ich  ringen?  128,  1  Owe,  daz  ich  ie  so  vil  gebat  und  geflehte 
an  eine  stat,  da  ich  gnaden  nienen  se!  Reinm.  156,  32  ivenne  sol  mir 
iemer  spilndtu  fröide  Jwmen?  165,  22  getoinne  ah  ich  nu  niemer  gnoten 
tac?  188,  38  tüSj  wanne  kiimt  mir  heiles  tac?  199,  16  loenne  sol  ich 
liehen  tac  an  dem  geleben  ? 

Der  Dichter    sieht    sich   in  seiner  Hoffnung  getäuscht. 

Job.  86,  17  Ich  uidnde,  daz  mm  küme  icoir  erbiten.  dar  fif  het 
ich  ge dingen  manege  zit.  nu  hat  mich  gar  ir  vrinndes  gruoz  vermiten. 
min  bester  trost  der  ivoin  da  nider  gellt.  Ich  muoz  alse  wilen  vlehen  und 
noch  harter,    hülfe  ez  iht! 

Mor.  143,  10  Ich  was  etesioenue  fro,  dö  min  herze  loände  neben 
der  sunne  stän.  diir  die  ivolken  sacli  icJi  ho  :  nu  muoz  ich  min  ouge  nider 
zer  erde  län.  mich  triuget  alze  sere  ein  vil  minnecUcher  wän,  sit  daz 
ich  von  ir  niht  wan  leit  und  herzeswmre  hän.  138,  10  ff.  (besonders 
v.  14).  Mor.  145,  29  Oice  leider,  jo  wand  ichs  ein  ende  hän  ir  vil  wünnec- 
Uchen  werden  minne.  mi.  hin  ich  vil  küme  an  dem  beginne,  des  ist  hin 
mm  lounne  und  ouch  mm  gernder  wän.  Gutenb.  70,  30  Nu  ist  ze  lanc 
ir  hahedavc.  daz  tuot  mich  kranc.  des  hän  ich  mengen  imgedanc.  daz 
lenyet  mir  die  kurzen  tage  und  niuwet  mir  die  alten  klage,  von  der  ich. 
wände  sin  erlost.  Reinm.  153,  36  do  wand  ich  ie,  si  wolt  ez  wenden, 
bat  ich.  si  noch,  ich  künde  ez  niht  verenden.  Reinm.  158,37.  190,  11 
lieber  xcdn  ist  äne  troesten   da. 


DER  MINNESÄNGER  ALBRECHT  VON  JOHANSDORF.  81 

Getheilter  Dienst. 

Job.  89,  16  des  frag  ich,  ob  ez  mit  fuoge  müge  geschehen,  locer  ez 
niJit  unstoete,  der  zw  ein  loihen  loolte  sin  für  eigen  jehen? 

Es  ist  dies  die  einzige  Stelle  in  den  Liedern  der  älteren  Miimo- 
sänger,  wo  der  Dichter  durch  das  Vergebliche  seines  Werbens  um 
die  Huld  der  einen  Dame  sich  veranlaßt  fühlt,  nach  der  Zulässigkeit 
eines  dopp elten  Dienstes  zu  fragen.  Die  übrigen  Minnesänger  spre- 
chen in  diesem  Falle  meist  nur  den  Wunsch  aus,  sich  einer  anderen 
Dame  zuzuwenden,  welchem  dann  häufig  aber  die  Revocatio  folgt. 
So  vor  Allem  Reinmar,  z.  B.  160,  35  möht  ich  mich  noch  bedenken 
baz  unde  nceme  von  ir  gar  den  muot!  Neina,  herre!  jö  ist  si  so  guot. 
173,  1  ff.   194,  15  ff.  etc.  Fenis  81,  5  ff.  v.  14.  v.  22.  Hartra.  208,  37  ff. 

Lust  und  Leid. 

Der  Ausdruck  der  Freude  ist  seltener  als  der  Ausdruck  des 
Schmerzes,  zumal  wenn  wir  die  unechten  Lieder  *92,  14  und  *92,  35 
nicht  berücksichtigen. 

Alle  Freude  geht  von  der  Geliebten  aus. 

Job.  87,  8  loand  ich  zeiner  vröude  si  mir  hän  erkorn. 

Reinm.  175,  29  die  ich  mir  ze  fröuden  het  erkorn.  Meinloh  14,  26 
ican  diu  guote  ist  fröiden  rieh,  des  wil  ich  iemer  fröuwen  mich.  Eist 
32,  11  an  der  al  min  fröide  lU.  Hausen  43,  28  an  der  genäden  al  mm 
fröide  stät.  45,  3.  Veld.  59,  32  ich  wil  frö  sm  durch  ir  ere,  diu  mir 
daz  hat  getan,  daz  ich  von  der  riuice  kere.  Gutenb.  78,  19  si  schuof 
daz  ich  fröiden  mich  underivant,  die  ich  mir  hän  zeiner  frouwen  erkant. 
Fenis  83,  2  diu  mich  sol  niachen  vro,  vroelich  gemuot.  82,  4  diu  mac 
mich  lool  ze  vröuden  hüs  geladen.  Rugge  100,  3  in  der  gewalt  nun 
fröide  stät.  103,6  si  meret  vil  der  fröide  tmn.  110,  31  si  kan  verkeren 
sorgen,  der  ich  loalde.  Moi'.  123,  4  des  ivirde  ich  stoiter  vröide  vil  rieh 
(=  von  ihrer  tugende).  131,  38  und  an  der  ist  al  min  wünne  behalten. 
Reinm.  154,  25  (got)  hat  ze  vröiden  mir  gegeben  an  einem  ivibe  liebes  vil. 
158,  23  daz  beste  gelt  der  fröiden  min  daz  lit  an  ir.  202,  13.  Verall- 
gemeinert: von  den  Frauen  kommt  alle  unsere  Freude.  183,  31  elüu 
fröide  uns  von  in  kumt  und  al  der  werlte  hart  uns  an  ir  trost  ze  nihte 
fruiid.  195,  6  an  in  lit  der  werlte  wunne  und  auch  ir  heil.  Wol  im, 
erst  ein  scelic  man ,  der  lool  an  in  eriolrbet  phliht  der  fröiden ,  der  ir 
güete  lounder  geben  kan. 

Job.  90,  23  vröude  und  sumer  ist  noch  allez  hie  (in  der  Person 
der  Geliebten  vereinigt). 

Gutenb.  69,  12  si  ist  min  sumerioünne.  Namenloses  Lied  6,  9  mich 
dünket    winter    unde    sne    schoene    bluomen    unde    klS,    sivenn  ich   in  nm- 

GEBMANJA.    Neue  Beihe  XXII.  (XXXIV.)  Jahrg.  6 


32  J.  HORNOFF 

hevanqen  hän]  anklingend  an  90,  23.   Die  Frau  empfindet  Sommcrlust, 
wenn  sie  ihren  Ritter  umfaßt  hält. 

Auffallend  reich  sind  in  den  beiden  unechten  Liedern  (*92,  14, 
35)  die  Freudenergüsse.  *92,  16  mm  fröide  an  der  vil  schoenen  lit, 
nach  der  min  herze  ivüetet.  *93,  2  Swenne  ich  die  vil  schoenen  hau,  son 
mac  mir  nie  wer  missegän. 

Die  Erhörung  niit  den  Freuden  des  Himmels  verglichen:  *92,  25 
du  lä  gein  mir  den  dinen  haz,  son  mac  mir  niemer  loerden  haz,  wan  in 
dem  himelriche. 

Die  Gewährung  des  Kusses  ei'scheint  dem  Dichter  als  „eine 
Klönung  durch  die  Sselde".  *92,  35  din  Soilde  hat  gekroenet  mich  gein 
der  vil  siiezen  minne.  *93,  7  geprUevet  hat  ir  roter  nmnt  ^  daz  ich  muoz 
iemer  mere  mit  fröuden  leben  zaller  dunt,  sivar  ich  des  landes  kere. 
*92,  28  Und  solde  ich  iemer  daz  gelehen,  daz  ich  si  umhevienge,  so  miles 
min  herze  in  fröuden  stoehen.  sivenn  daz  also  ergienge,  so  ivurde  ich  von 
sorgen  fri  etc. 

Die  Freude  äußert  sich  im  Gesänge. 

Job.  90,  28    Wol  mich    singe  ich  gerne,  swenn  ichz  gelerne. 

Einen  geradezu  überschwänglichen  Ausdruck  verleiht  der  Dicliter 
seiner  Freude,  indem  er  sich  das  Erscheinen  eines  Liebesboten  vor- 
stellt, 91,  36.  In  drei  analogen  Sätzen  spricht  er  den  Gedanken  aus, 
daß  der  Bote,  wie  auch  immer  er  persönlich  zu  ihm  stehen  möge,  doch 
als  von  der  Geliebten  gesendet  hochwillkommen  sein  solle. 

ScBhe  ich  ieman ,  der  jcehe,  er  wcere  von  ir  homen ,  xccere  ich  dem 
vi))t,  ich  lüolt  in  grüezen.  \  allez,  daz  ich  ie  gewan,  het  er  mir  daz  ge- 
nomen,  daz  möht  er  mir  mit  sinen  mceren  hüezen.  \  swer  si  vor  mir 
nenwt,  der  hat  gar  mich  ze  friunde  ein  ganzezjär,  het  er  mich  jach 
verbrennet. 

Viel  einfacher  geben  die  übrigen  Minnesänger  ihre  Freude  kund, 
wenn  sie  auf  die  mcere,  liebiu  mcere  oder  den  boten  zu  sprechen  kommen. 
Meinloh  14,  26  Ich  hän  vernomen  ein  mare.  nnn  muot  sol  aber  Jtohe 
stein.  Rugge  107,  15  nan  wurde  rat,  luolde  si  mir  künden  liebitt  mcere. 
HO,  17  Mich  fröit  an  alle  siocere  wol.,  daz  ich  so  liebiti  niwre  hän  ver- 
nomen, der  ich  mich  gerne  troesten  sol.  mir  ist  der  muot  von  grozen 
sorgen  komen.  Mor.  147,  19  mt  hat  man  mir  mcere  bräht ,  der  ist  fro 
mm  herze  inbinnen.  Reinmnr  175,  13  geseehe  ich  ivider  äbent  einen  kleinen 
boten,  so  gesanc  nie  man  von  fröiden  baz.  196,  15  weste  ich,  ob  ez  also 
wcere,  so  engehorte  ich  nie  vor  maneger  wile  ein  lieher  moere  (Frauenstr.). 
152,  14  xoan  ir  (=  der  werlte)  niden  moht  ich  nie  so  wol  erliden.  ein 
liebez  ma>re  ist  mir  gesaget.    Hartm.  215,  2  (Bote  zur  Frau:)  daz  solt 


DER  MINNESÄNGER  ALBRECHT  VON  JOHANSDOlir,  83 

dtt  minnecliche  enpfdn,  daz  ich  mit  guoten  mcerea  var,  so  bin  ich  xoille- 
komen   dar. 

Umgekehrt  liegt  auch  die  Freude  der  Frau  an  dem 
Ritter. 

Joh,  94,  38  (Frauenstrophe)  vröuleloser  Itp,  loie  wil  du  dich  ge- 
hären, swenne  er  hinnen  vert,  durch  den  du  tvcere  ie  hochgemuot  ?^ 

Eist  39,  29  (Tagelied)  fiioe,  du  füerst  min  fröide  sament  dir 
(nach  Pfeiffer  Germ.  III,  489).  Hausen  54,35  des  ist  er  mtn  leit- 
vertrip  und  diu  höchste  icunne  mm."  Reinra.  199,  39  ^man  so  guoten, 
haz  gemuoten  hän  ich  selten  noch  gesehen,  im  geliehen  noch  so  gemellichen^ 
hl  dem  vür  die  siocere  hezzer  fröide  ivcere.'  200,  20  wol  dem  Übe,  der 
dem  loibe  seihe  fröide  machen  kan.'  Hartra.  217,  22  do  ich  sm  pflac, 
do  fröite  er  mich.' 

Bedingte  Freude. 

Joh.  91,  5  ich  sol  ze  mäze  lachen,  unz  ich  sin  gendde  erkenne, 
als  ich  danne  bevinde,  wie  ez  allez  stät,  da  nach  lache  ich  denne. 

Reinm.  156,  34  Michn  scheide  ein  idip  von  dirre  klage  und  spreche 
ein  wort,  als  ich  ir  sage^  mir  ist  anders  iemer  we.  168,  32  michn  he- 
swcere  ein  rehte  herzelichiu  not,  mm  sorge  ist  anders  kleine.  So  daz 
danne  an  mir  ei'gät,  so  kumt  aber  hoher  muot,  der  mich  nilit  trüren  lät. 

Leid.  Grund  zu  Trauer  und  Klage  findet  der  Dichter  in  der 
abweisenden  Haltung  der  Geliebten,  in  ihrem  zweideutigen  Benehmen, 
der  Versagung  ihres  Grußes,  der  Trennung  von  ihr. 

Sprödigkeit  der  Geliebten. 

Joh.  *93,  28  frouioe  iur  haz  tuot  mir  den  tot.  —  Der  Entschluß, 
trotz  der  Erfolglosigkeit  seines  Werbens  der  Geliebten  treu  zu  bleiben, 
kostet  dem  Dichter  Überwindung.  86,  1  min  erste  liebe,  der  ich  ie 
began,  diu  selbe  muoz  an  mir  diu  leste  sin.  an  vröuden  ich  des  dicke 
schaden  hau. 

Die  Koketterie  der  Dame  schmerzt  den  Dichter  weniger 
um  seinetwillen,  als  aus  dem  Grunde,  weil  die  Dame  damit  einen 
Verstoß   gegen  Recht  und  feine  Sitte  begeht. 

Joh.  86,  9  Ich  loil  ir  raten  hi  der  sele  min  durch  keine  liebe.,  niht 
loan  durch  daz  reht  :  waz  niöht  ir  an  ir  tvgenden  hezzer  sin,  dan  obes 
ir  umberede  lieze  sieht,  tcete  an  mir  einvaltecliche,  als  ich  ir  einvaltec  bin. 
an  vröuden  wirde  ich  niemer  riche,  es  eniver  ir  beste  sin. 

cf.  Gutenb.  76,  9  ff.  Mor.  123,  29  wie  stet  mtner  frouwen  daz, 
daz  si  sich  vergaz  und  verseite  mir  ir  hulde?  owe  des,  loie  rehte  unsanfte 
ich  dulde  leide  ir  spot  und  ouch  ir  haz. 

6* 


84  J-  HORNOFF 

Reinmar  hat  nicht  den  Muth,  die  Koketterie  der  Damen  geradezu 
zu  tadeln,  er  bezeichnet  sie  nur  als  eine  wunderliche  Sitte.  171,  11 
Jn  ist  liej},  daz  man  si  stcetecHclien  hite,  und  tuot  in  doch  so  tool,  daz  n 
vprsagent.  hei,  wie  manegen  muol  imd  icunderltche  site  si  tougenltche  in 
ir  herzen  tragent!    cf.   187,  9. 

Verweigerter  Gruß. 

Joh.  86,  19  nu  hat  mich  gar  ir  friundes  gruoz  vermifen.  nnii  bester 
röst  der  locen  da  nider  gellt,    cf.  Hausen  53,  7. 

Getrenntsein  von  der  Geliebten. 

Joh.  91,  1  Ez  ist  manic  icile,  da:  ich  niht  von  vröuden  sanc  und 
enweiz  och  rehte  niht,  wes  ich  mich  vröuwen  mac.  daz  ich  der  guoten 
niht  ensac/i,  des  dunket  mich  vil  lanc.  Gleichzeitig  liegt  darin  die  Klage 
über  die  lange  Dauer  des  Dienstes,  die  auch  aus  90,  24  spricht. 
Ich  hdn  also  her  gerungen^  daz  vil  trürecUche  stuont  min  leben,  dicke 
hän  ich  we  gelungen. 

Schmerz  über  die  lange  Trennung  finden  wir  auch  bei  Eist: 
32,  13  Seneder  friundinne  böte,  nu  sage  dem  schoenen  ivibe,  daz  mir  tuot 
äne  mäze  we,  daz  ich  si  so  lange  mide.  34,  25  des  werdent  mir  diu  jär 
so  laue,  sol  ich  von  der  gescheiden  sin.  Reinm.  199,  31  sol  ich  liden 
von  ir  langez  miden,  daz  müei  mich  wol  sere.     Gut.   74,  21. 

Reichlicher  fließt  die  Klage  über  den  allzu  langen  Dienst: 
Gutenb.  70,  30  nu  ist  ze  lanc  ir  habedanc.  daz  tuot  mich  kranc.  des 
hän  ich  mengen  ungedanc.  daz  lenget  mir  die  kurzen  tage  und  niuwet 
mir  die  alten  klage,  von  der  ich  wände  sin  erlost.  Reinm.  185,  35  ich 
icwn  lernen  lebe,  der  n.ir  beneme  ein  trüren,  daz  nu  menegen  tac  in 
minem  herzen  l'it  begraben.  186,  1  Est  nu  lanc,  daz  mir  diu  ougen  min 
ze  fröweden  nie  gestuonden  wol.  Hartm.  207,  4  die  sivceren  tage  sint  alze 
lanc  die  ich  si  gnaden  bite  und  si  mir  doch  verseit.  209,  5  min  dienest 
der  ist  alze  laue  bi  ungeioissem  loäne:  wan,  nach  der  ie  min  herze  ranc, 
diu  lät  midi  trostes  äne.  ich  möht  in  klagen  und  wunder  sagen  von. 
maneger  sioceren  zit.  sit  ich  erkande  ir  strit,  sit  ist  mir  geivesen  vür  irär 
ein  stunde  ein  tac,  ein  tac  ein  ivoche,  ein  ivoche  ein  ganzez  jär. 

Furcht  vor  der  Trennung. 

Joh.  91,  10  da  daz  ende  denne  unsanfte  tuo,  ich  icmne  des  wol,  daz 
ensi  niht  guot.  91,  22  Wie  sich  minne  hebt,  daz  weiz  ich  lool;  wie  si 
ende  nimt,  des  weiz  ich  niht.  ist  daz  ich  es  inne  werden  sol,  wie  dem 
herze?!  herzeliep  geschiht,  so  hewar  mich  vor  dem  scheiden  got,  daz  ivcen 
bitter  ist.  diesen  kumber  fürhte  ich  äne  spot.  91,  34  verlier  ich  mmen 
friunt,  seht  so  wurde  ich  niemer  mere  fro.  *92,  23  unsanfte  mir  daz  tuot, 
und  sol  ich  von  dir  wichen. 


DER  MINNESÄNGER  ALBRECIIT  VON  JOHANSDOKF.  §5 

llorheim  114,  26  der  {=  der  kilnic)  loil  midi  scheiden  von  liehe 
in  die  not,  der  ich  geioiime  vil  michelen  riuioen.  Besonders  liäuHj;  bei 
Reinraar:  150,  7  loaz  darf  ich  leides  mere  loan  swenn  eht  ich  si  miden 
sol.  155,  36  got  helfe  mir,  deiz  lool  erge,  daz  ich  uz  ir  triuicrn  kome 
niemerme.  178,  36  zallen  zlten  fürhte  ich,  daz  si  mich  verge.  so  lüOir  ich 
an  vröicden  tot.    176,  5.    197,  20. 

Die  Dame  beklagt  die  bevorstehende  Trennung. 

Joh.  94,  35  ^Oioe,  sprach  ein  iv/p,  ^loie  vil  mir  doch  von  liebe 
leides  id  beschert!  IVaz  mir  diu  liehe  leides  tuot!  VrüwUlüser  llp,  loie 
loil  du  dich  gebaren,  sivenne  er  hinnen  vert,  durch  den  du  wcere  ie  höch- 
gemuot?     Wie  sol  ich  der  joerlde  und  miner  klagp  geleben  ?^ 

Küienb.  7,  10  ^Wcs  maiicd  du  mich  leides,  min  vil  liebez  liep? 
Unser  ziveier  scheiden  müez  ich  geleben  niet.  Verliuse  ich  dine  minne, 
so  Idz  ich  die  Hute  harte  icol  entstän,  daz  min  fröide  dez  minnist  ist 
umb  alle  ander  man.  Reinm.  200,  22  rntme  heile  ich' gar  verteile,  midet 
mich  der  beste  man.' 

Der  Dichter  fordert  die  Geliebte  auf,  das  Trauern  zu 
lassen. 

Joh.  87,  21  nu  min  herzevrowe  nn  entrüre  niht  scre.  daz  loil  ich 
iemer  zeim  liebe  haben. 

Mor.  131,  1  Oice  des  scheidens,  des  er  iete  von  mir,  da  er  mich 
tenende  lie.  lOol  aber  mich  der  liehen  bete  und  des  weinens,  des  er  dö 
begie,   du  er  mich  früren  Idzen  bat  und  hiez  mich   in  fröiden  sin. 

Aller  frühere  Schmerz  reicht  an  den  gegenwärtigen 
nicht  lieran. 

Joh.  87,  20  e  loas  mir  tve  :  dö  geschach  mir  nie  so  leide. 

Hausen  52,  23  erkennen  xvänd  in  e  (=  den  kumber),  nu  hau  in 
baz  befunden,  mir  iras  ddheime  ive  und  hie  lool  dristunt  me.  Fenis 
83,  34  toan  mtner  sicoire  emoart  nie  mere.  Horheim  112,  9  so  kumber- 
Itche  gelebte  ich  nie.  113,  16  mir  loart  nie  wirs.  114,  34  dö  was  mir 
we  unde  nu  michels  me.  Moi-.  138,  7  ich  erkande  mdze  vil  der  sorgen  e. 
disiu  sorge  gel  mir  über  der  mdze  zil,  hinte  ha  ^  und  aber  d-m  über 
morgen  me.  Reinm.  164,  18  noch  daz  mir  nie  so  loe  geschach.  179,  5 
mir  ist  unsanfter  nu  dan  e.  185,  20  alse  reht  unfrö  emoart  ich  nie. 
188,  5  von  herzeleides  schulden  hat  min  Itp  vil  kumherltche  not,  daz  si 
nien  künde  groezer  sin.  198,  6  von  stner  schulde  ich  hdn  erliten ,  daz 
ich  nie  groezer  not  erleit'  (Frauenstr.). 

Beides,  Freude  und  Schmerz  des  Dichters  liegt  in 
der  Gewalt  der  Geliebten. 

Joh.  91,  20  und  ivil  si,  ich  bin  vrö ,  und  teil  si,  .so  ist  min  herze 
leides  vol. 


86  J-  HORNOFF 

Reinm.  197,  31  viir  enmac  ein  herzeleit  noch  gröziu  liebe  niemer 
äne  si  geschehen.  199,  20  diu  mir  fröide  hat  gegeben  unde  sorge 
manicvalt,  der  dien  ich  die  seihen  tage,  mtniu  jär  diu  müezen  mit  ir 
ende  nemen,  so  mit  fröiden,  so  mit  klage.  Hartm.  215,  32  si  mac 
mir  leben  und  fröide  wol  leiden,  da  bi  alle  mtne  swvere  vertriben  :  an  ir 
lit  beide  mtn  liep  und  mm  leit.  sivaz  si  min  wil,  deist  ir  iemcr  bereit, 
wart  ieh  ic  vrö,  daz  schuof  niht  wan  ir  güete.  cf.  Mor.  138,  33  ich  locene, 
si  ist  ein   Venus  here,  diech  da  viinne,  wan  si  kau  so  vil. 

2.  Außenwelt. 
Es  fällt  auf,  daß  Johansdorf  im  Gegensatze  zu  der  Mehrzahl 
der  zeitgenössischen  Minnesänger  nie  Klagen  über  hiiote  und  merkaire 
laut  werden  läßt.  Das  Wort  huote  findet  sich  nur  in  dem  unechten 
Liede  *93,  12  (v.  12  ich  vant  si  äne  huote) ,  wo  äne  huote  nur  ganz 
allgemein  ^allein'  bedeutet.  Von  merkcere  wird  überhaupt  nicht  ge- 
sprochen. Und  doch  möchte  man  auf  das  Vorhandensein  von  Auf- 
passern und  Zwischenträgern*)  schließen.  Mit  einem  gewissen  Nach- 
druck ist  87,  7  gesagt:  er  ist  min  friunt  nilit,  der  mir  si  wil  leiden 
und  91,  29  Swä  zioei  herzeliep  gefriundent  sich  und  ir  beider  minne  ein 
triuwe  wirt,  die  sol  niemen  scheiden,  dunket  mich,  al  die  wile  unz  si  der 
der  tot  verbirt.  Geradezu  auffällig  aber  erscheint  das  Widerspruchs- 
volle in  den  beiden  Liedern  91,  8  und  91,  22,  welche  darauf  angelegt 
erscheinen,  den  wahren  Sachverhalt,  d.  h.  den  Abschluß  des  Verhält- 
nisses zu  verdecken,  oder  wenigstens  die  Aufpasser  darüber  im  Un- 
gewissen zu  lassen.  Auf  einen  Abschluß  des  Verhältnisses  deutet  der 
Anfang  von  91,  8  Da  gehoeret  manic  stunde  zuo,  e  daz  sich  gesamene 
ir  zweier  muot.  da  daz  ende  denne  unsanße  tuo,  ich  iccene  des  xool,  daz 
ensi  niht  guot.  Lange  st  ez  mir  vil  unbekant.  Es  wäre  doch  merk- 
würdig, wollte  der  Dichter  für  die  Trennung  Sorge  tragen,  bevor 
noch  die  Vereinigung  stattgefunden  hätte.  Der  Gedanke  aber,  daß 
dieselbe  erfolgt  sei,  wird  durch  die  beiden  nächsten  Verse,  wie  durch 
die  folgende  Strophe  zurückgewiesen.  Die  Worte:  und  werde  ich 
iemen  liep,  der  st  stner  triuwe  an  mir  gemant  etc.  rücken  das  Zustande- 
kommen des  Verhältnisses  in  die  Zukunft.  Derselbe  Widerspruch  findet 
sich  in  dem  folgenden  Liede  91,  22.  Wieder  diese  merkwürdige  Sorge 
für  die  Zukunft.  Der  Dichter  fürchtet  den  Bruch  eines  Verhältnisses, 
das  noch  nicht  geknüpft  ist:  Ist  daz  ich  es  inne  werden  sol,  wie 
dem  herzen  herzeliep  geschiht .,  so  beioar  mich  vor  dem  scheiden  got,  daz 
wcen   bitter   ist-    ebenso  in  der  zweiten  Strophe:    sicä  zwei  herzeliep  ge- 


')  Michel  a.  a.  O.  S,   141.  146  ff. 


DKK  MINNESÄNGER  ALBKECHT  VON  JOUAN.SDOHF.  87 

friundent  sich  nnde  ir  beider  minne  ein  triuioe  toirt,  die  sol  niemen 
scheiden  etc.  Dieses  wirt^  aber  ist  sclion  zweideutig,  indem  es  das 
Geschehen  in  der  Gegenwart  wie  in  der  Zukunft  ausdrücken  kann. 
Nimmt  man  nun  noch  das  Folgende  hinzu:  iccer  diu  rede  mhi^  ich  tcete 
also:  verlüre  ich  7n/nen  friuut,  seht,  so  lourde  ich  uiemer  mere  fro,  so 
bleibt  kein  Zweifel,  daß  der  Abschluß  der  frinntschaft  wirklich  erfolgt 
ist;  denn  über  die  Person  des  fr iundes  (=:  der  Freundin)  kann  man 
nicht  im  Unklaren  sein;  verlieren  aber  kann  man  nur  einen  Freund, 
wenn  man  schon  einen  hat.  —  Für  diese  Ansicht  spricht  auch  die 
geflissentliche  Anwendung  von  Bedingungssätzen,  welche  die  Sache 
nur  als  möglich  hinstellen  sollen,  und  das  Bestreben,  die  persönlichen 
Bezüge  durch  allgemeine  Sätze  zu  verwischen.  Wir  werden  also  nicht 
irren,  wenn  wir  annehmen,  das  Ganze  sei  darauf  angelegt,  die  Auf- 
passer über  den  Abschluß  des  Verhältnisses  zu  täuschen.  Gedichtet 
aber  sind  die  Strophen  zu  dem  Zwecke,  die  Geliebte  zum  treuen 
Festhalten  an  dem  Bunde  zu  ermahnen. 

3.  Natur. 

Naturgefühl  ist  bei  unserem  Dichter  vorhanden,  wenn  es  auch 
nur  ganz  vereinzelt  hervorbricht,  dann  aber  auch  mit  großer  Stärke. 
In  dem  zweistrophigen  Liede  90,  32  nimmt  der  Natureingang  fünf 
von  den  sieben  Zeilen  der  ersten  Strophe  ein.  Blumen  unter  der 
Linde  und  Vogelsang  auf  der  Linde,  wie  auch  sonst.  Was  aber  sonst 
nicht  zu  finden  ist,  das  ist  die  hier  geschilderte  Farbenpracht  der 
Blumen:  Wize  rote  rösen,  blmoe  hluomen,  grileue  gras,  hrüne  gel  und 
aber  rot,  dar  zuo  des  kleices  hlat,  von  dirre  varive  tcunder  minder  einer 
linden  was.  dar  Ufe  snngen  vögele,  daz  loas  ein  schoeniu  stat.  kurz 
geicahsen  bi  ein  ander  stuont  ez  schone. 

Ganz  ähnlich  wie  bei  Eist  34,  3  Uf  der  linden  obene  da  sanc  ein 
hleinez  vogelUn.  vor  dem  walde  wart  ez  lilt  :  dö  huop  sich  aber  daz  herze 
min  an  eine  stat,  da  'z  e  da  was.  ich  sach  die  rosebluomen  stau  :  die 
manent  mich  der  gedanke  vil,  die  ich  hin  zeiner  frouwen  hän;  nur  daß 
bei  Eist  die  innere  Verbindung,  die  zwischen  den  Naturerscheinungen, 
eventuell  Vorgängen  in  der  Natur  und  der  Liebesempfindung  besteht, 
auch  äußerlich  hergestellt  ist,  ihren  sprachlichen  Ausdruck  findet. 
Von  dem  Vogelsang  wird  das  Herz  zur  Geliebten  entrückt,  von  den 
Rosen  an  die  Geliebte  gemahnt.  Bei  Johansdorf  fehjt  die  äußere  Ver- 
knüpfung. An  die  Schilderung  der  Natur  schließt  sich  der  Salz:  noch 
gedinge  ich  der  ich  vil  gedienet  hän,  daz  si  mir  es  Urne.  Dieser  Fall 
kommt  sonst  im  älteren  Minnesänge  nur  noch  einmal  vor,  wo  aber 
die  innere  Verknüpfung  eine  stärkere  ist. 


88  J.  HORNOFF 

Namenl.  Lied  4,  1  diu  linde  ist  an  dem  ende  nu  jdrlanc  sieht  und 
blöz.  mich  vehet  min  geselle.  Beide  Thatsachen  lassen  tich  vergleicheu : 
die  Linde  ist  ihres  Laubes  beraubt^  ich   des  Geliebten. 

Auch  in  einer  zweiten  Stelle  bei  Johansdorf  zeigt  sich,  wie  eng 
er  selbst  den  Zusammenhang  zwischen  Natur-  und  Liebesleben  empfindet. 
Der  Sommer  mit  seinen  Freuden  erscheint  ihm  in  der  Geliebten  ver- 
körpert: 90,  23.  31  vröude  und  sumer  ist  noch  allez  hie  (nämlich  bei 
der  Geliebten). 

4.  Gott. 
Religiöse  Anschauungen.  Gott  wird  vom  Dichter  als  heilic 
87,  12    und  als  allmächtig  94,  17  bezeichnet:    der  al  der  werlte  hat 
gewalt. 

Kolmas  120,  24  der  vil  mute  got,  den  ir  Up  unihecie,  der  hat  be- 
vangen  die  loelt  umhe  gar.    sin  kraft  mac  langen    noch   verrer    dan    dar. 

Er  wird  als  gütiger  Herr,  der  uns  die  ewige  Seligkeit  schenkt, 
vorgestellt:  94,  15  guote  liute,  holt  die  gäbe,  die  got  unser  he^'re  seihe  gU\ 
ferner  als  einer,  der  uns  Leib  und  Seele  gegeben  hat,  aber  die  Rück- 
erstattung des  ersteren  zum  Heile  der  letzteren  fordert:  94,  22  got 
hat  iu  beide  sele  und  Up  gegeben,  gebt  inie  des  Ithes  tot  daz  loirt  der 
sele  ein  iemerleben. 

Etwas  verändert  ist  das  Bild  bei  Kolmas  (121,  3).  Er  macht 
Gott  zum  Wirthe  an  der  Landstraße,  der  den  Pilgern  zwar  etwas 
borgt,  dasselbe  aber  bei  der  Wiederkehr  ihnen  wieder  abverlangt: 
Wir  sin  bilgerxne  und  zogen  vaste  hin,  in  der  sünden  Urne  stecket  min 
sin ,  daz  ich  sin  drüz  niht  gebrechen  enmac.  loir  varn  eine  sträze ,  die 
nieman  verbirt.  ivir  sitln  durch  niht  enläzen,  xoir  bereiten  den  icirt ,  der 
uns  liät  geborget  da  her  mangen  tac.    gelt  im. 

Gott  aufgefaßt  als  Kriegsherr,  in  dessen  Sold  wir  uns  zu 
begeben  aufgefordert  werden:  94,  18  dienet  sinen  solt,  der  den  vil 
sceldeha.ften  dort  behalten   lit  mit  vröuden  iemer  mxvnecvalt. 

Das  Verhältniß  zu  Gott  ist  bei  unserem  Dichter  ein 
enges.  Nicht  selten  erhebt  er  den  Blick  nach  oben,  um  bei  Gott 
Beistand  und  Hilfe  zu  erflehen. 

Um  Nachsicht  wegen  seiner  unerlaubten  Liebe  bittet  er  Gott 
90,  14:  icli  niinne'ein  tvip  vor  al  der  werlte  in  minem  muote.  got  herrc) 
daz  verväch  ze  guote. 

Hausen  46,  14  Ich  bin  ir  holt  :  sivenn  ich  vor  gote  getor ,  so  ge- 
denke ich  ir.     daz  ruoch  ouch  er  vergeben  mir. 


DKK  MINNESÄNGER  ALHREOHT  VON  JOHANSDORF.  89 

Als  Beschützer  beider  Liebenden  wird  Gott  angerufen  87,  12: 
heileger  got^  wis  gencedtc  uns  beiden. 

Um  Schutz  vor  Trennung  91,  24:  Ist  daz  ich  es  inne  werden  sol, 
ivie  dem  herzen  herzeliej)  geschiht,  so  beioar  mich  vor  dem  scheiden^  gof, 
daz  tücen  bitter  ist. 

Er  wird  gebeten,  die  Ehre  der  Geliebten  zu  bewahren:  86,27 
mi  helfe  er  mir,  ob  ich  herwider  kome,  ein  wtp,  diu  grozen  kumber  von 
mir  hat,  daz  ich  si  vinde  an  ir  eren:  so  wert  er  mich  der  bete  gar. 
sül  aber  si  ir  leben  verkeren,  so  gebe  got,  daz  ich  vervar.  88,  13  ine 
erwache  nime)',  ezn  si  min  erste  segen,  daz  got  ir  eren  müeze  phlegen  und 
läze  ir  lip  mit  lobe  hie  gesten. 

Horheim  114,  28  ich  loil  bevelhen  ir  llp  und  ir  vre  got  und  da 
nach  allen  engelen  sin.  Hart.  207,  25  so  ruoche  got,  daz  ez  der  sclioenni 
müeze  gän  nach  eren  nnde  ivol.  215,  37  got  st,  der  ir  lip  und  ir  erti 
behilete.  Rietenburc  und  Morungen  bitten  nur  um  das  Leben  der  Ge- 
liebten. Rietenburc  19,  31  swar  ich  danne  landes  var,  ir  Itp  der  hoehste 
got  bewar.    Mor.   122,  19  got  läze  si  mir  vil  lange  gesunt. 

Umgekehrt  läßt  der  Dichter  die  Geliebte  für  sein  Wohl  während 
der  Kreuzfahrt  flehen:  95,  14  ^so  müeze  sin  der  pflegen,  durch  den  er 
süezer  lip  sich  dirre  icelte  hat  bnoegcn. 

Reinmar  187,  24.    201,  1.    Hartm.  217,  23. 

Weiter  erbittet  Johansdorf  für  sich  und  die  Geliebte  die  ewige 
Seligkeit:  88,  16  dar  nach  eioecltche  gip  ir,  lierre,  vröude  in  dime  riche. 
daz  ir  geschehe,  also  müeze  auch  mir  ergen. 

Reinmar  läßt  die  Geliebte  darum  bitten:  168,27  ivis  ime  genmdic^ 
lierre,  gut,  ican  ttigenthafter  gast  kam  in  din  ingesinde  nie.  Kolmas 
(120,  21)  fordert  zu  gemeinsamer  Hitte  auf:  Det  biten  unser  frouioen 
ze  hilfe  an  der  ger,  daz  loirz  beschouwen,  daz  uns  des  {=  das  ewige 
Leben)  geicer  der  vil  miltc  got,  den  ir  lip  umhivie. 

Bei  Versicherungen  und  in  der  Schwurform  wird  der  Name  Gottes 
öfter  gebraucht :  *92,  7  got  u-eiz  wol.  87,  9  sivmne  ich  von  schulden 
erarne  ir  zorn,  so  bin  ich  veroluochet  vor  gote  als  ein  heiden.  87,  35  got 
vor  der  helle  niemer  mich  bewar,  ob  daz  min  loille  st.  88,  10  und,  sw(V 
ir  des  bi  gote. 

Veld.  68,  1  got  loeiz  wol.  Ebenso  Hausen  44,  19.  —  toeiz  got 
Reinm.  161,  14.  175,  25.  181,  11.  203,  33.  —  sem  mir  got  157,  13.  — 
170,  21  daz  loeiz  er  ivol,  dem  nieman  niht  erliegen  kan.  —  173,  19  da 
vor  müeze  mich  got  hüeten  alle  tage.  —  186,  32  so  mich  iemer  got  be/iüete. 

Auch  beim  bloßen  Stoßseufzer  fehlt  der  Name  Gottes  nicht:  Job. 
86,  23  herre,  loan  ist  daz  min  Wien,  daz  mir  niemer  leit  geschiht? 


90  J-  HORNOFF 

Bemerkenswerth  erscheint,  daß  Johansdorf  sieh  stets  direct  an 
Gott  wendet,  sich  nie  der  Vermittlung  der  heiligen  Jungfrau  bedient, 
wie  Kolmas  (120,  21  f.),  Reinmar  (181,  31),  so  hoch  er  auch  dieselbe 
verehrt  (90,  1  ff.)- 

Die  religiösen  Erwägungen,  welche  den  Dichter  zur  Kreuzfahrt 
antreiben,  und  welche  sich  als  sämmtlichen  Kreuzfahrern  gemeinsame 
darstellen,  hat  bereits  Wolfram  in  seinem  schon  angeführten  Aufsatze 
Zs,  f.  d.  Alt.  30,  97  ff.  zusammengestellt  und  zu  den  gleichzeitigen 
Kreuzpredigten  in  Beziehung  gesetzt.  Es  sind  die  folgenden: 
I.  Gott  hat  für  uns  gelitten. 

II,  Wir  müssen's  ihm  vergelten. 

III.  Auch  unsere  Sünden  fordern  eine  Sühne. 

IV.  Wir  erwerben  durch  unseren  Dienst  die  ev^ige  Seligkeit. 
Als  V.  Beweggrund    kommt    bei  Johansdorf    noch    der  Wunsch 

hinzu,  der  Beschimpfung  der  Mutter  Gottes  durch  die  Heiden  ein 
Ende  zu  machen.  90,  1  die  heiden  wellent  einer  rede  an  uns  gesigen, 
daz  gotes  muoter  niht  enst  ein  magst. 

Auch  sonst  läßt  sich  bei  Johansdorf  christliches  Denken  und 
Empfinden  beobachten.  In  dem  Schicksale  der  Völker  und  Menschen 
erkennt  der  Dichter  das  Walten  Gottes.  88,  27  loir  haben  in  eime 
järe  der  Hute  vil  verlorn,    da  ht  so  merket  gotes  zoi^n. 

Die  Welt  sieht  er  als  unbeständig  an.  Die  Treulosen,  die  ihr 
folgen,  trifft  als  Lohn  die  Verdammniß.  88,  30  diu  loerlt  ist  unstcete. 
ich  meine,  die  da  iniunent  valsche  roite,  den  wirt  ze  jungest  schin,  wies 
an  dem  ende  iuot. 

Wie  aber  der  Dichter  Andere  zum  Insichgehen  auffordert  (88,  29 
nn  erkenne  sich  ein  ieglich  herze  guot),  so  arbeitet  er  auch  an  seiner 
eigenen  sittlichen  Vervollkommnung  und  überwindet  die  Regungen 
natürlicher  Schwachheit,  die  sich  seinem  Entschlüsse,  das  Kreuz  zu 
nehmen,  entgegenstellen.  90,5  Mich  liahent  die  sorge  üf  daz  hräht, 
daz  ich  vil  gerne  kranken  mtiot  von  mir  vertrtbe.  des  loas 
mtn  herze  her  niht  fri.  Ich  denke  also  vil  manege  naht:  loaz  sol 
ich  wider  got  nu  tuon,   ob  üh  bel/be,  daz  er  mir  genoidic  si? 

Ein  merkwürdiger  Widerspruch  scheint  sich  in  der  religiösen 
Weltanschauung  Johansdorfs  vorzufinden.  Der  Gott,  dem  er  alle  Ge- 
walt über  die  ganze  Welt  zuschreibt  (94,  17),  dessen  Zorn  die  Men- 
schen hinsterben  läßt  (88,  28),  während  seine  Gnade  im  Stande  wäre 
sie  zu  erretten,  der  die  Ehre  der  Geliebten  zu  hüten  vermag  (86,  27. 
88,  15),  und  unter  dessen  Schutz  er  die  Geliebte  auch  sein  eigenes 
Leben  stellen  läßt  (95,  14),  dieser  Gott  scheint  Johansdorf  nicht  mächtig 


DER  iMINNESÄNGER  ALBRECHT  VON  JOIIANSDORF.  91 

genug,  das  heilige  Land  von  den  Fleidcn  zu  befreien,  er  bedarf  dazu 
der  menschlichen  Hilfe  (89,  27).  Nicht  ist  etwa  der  Gedanke  der,  wie 
bei  Coelestin ')  (1195),  daß  Gott  durch  die  Befreiung  des  heiligen 
Landes  dem  Menschen  ein  Mittel  in  die  Hand  gebe,  für  seine  Sünde 
Vergebung  zu  erhalten,  nein,  Gott  hat  die  menschliche  Hilfe  nöthig. 
Wollte  man  den  ersteren  Gedanken  auch  der  Strophe  94,  15  zu  Grunde 
legen,  was  sehr  wohl  anginge,  so  würde  dieser  doch  in  Widerspruch 
gerathen  mit  89,21  ff.,  wo  Johansdorf  die  Spottreden  der  Daheim- 
bleibenden, der  die  Kreuzpredigt  Bekämpfenden  anführt:  „Wäre  es 
für  Gott  eine  Beschimpfung,  er  würde  dieselbe  ohne  Hilfe  der  Kreuz- 
fahrer rächen."  Johansdorf  widerlegt  diesen  Einwand  nicht,  er  sucht 
vielmehr  andere  Motive  hervor,  um  die  verstockten  Herzen  zu  be- 
wegen, er  sucht  Dankbarkeit,  Mitleid  mit  Gott,  Furcht  vor  der  Strafe, 
christliches  Selbstgefühl  den  Heiden  gegenüber  zu  erwecken.  „Gott 
hat  so,  wie  Ihr  jetzt,  einst  nicht  gedacht,  als  er  Euch  durch  seine 
große  Marter  vom  Falle  errettete.  Wie  wird  es  Euch  an  Euerem  Ende 
ergehen,  wenn  Ihr  Gott  helfen  könnt  und  es  nicht  thut?  Immerhin! 
Laßt  Grab  und  Kreuz,  dann  werden  die  Heiden  mit  ihrem  Spotte 
siegen!"  Die  Thatsache  bleibt  jedenfalls  bestehen:  ohne  die  Kreuz- 
fahrer wird  das  heilige  Land  nicht  befreit,  auch  Gott  vermag  es  nicht 
zu  befreien.  Dazu  stimmen  nun  auch  86,  25  ich  hän  durch  got  daz 
krinze  aii  mich  genomen.  87,23  wir  suln  var)i  durch  des  rtchen  gotes 
ere.  89,  21  die  hinnen  varn,  die  sagen  durch  got,  daz  Jersalem  etc. 
Der  Widerspruch  scheint  indeß  nur  ein  äußerer  zu  sein.  Der 
Dichter  will  sich  offenbar  ein  wirkungsvolles  Motiv  im  Kreuzlied  nicht 
entgehen  lassen.  Denn  wirkungsvoller  ist  die  Aufforderung  allerdings, 
wenn  es  heißt:  „Gott  selbst  in  Noth",  als  wenn  es  heißt:  „Gott  hat 
i  die  Noth  geschaffen  oder  zugelassen,  damit  ihr  durch  Aufhebung  der- 
;  selben  euere  Sünden  sühnt."  Abor  der  Dichter  trägt  auch  kein  Be- 
denken —  und  daran  erkennen  wir  eben,  daß  der  Widerspruch  nur 
ein  äußerer  ist  —  den  letzteren  Gedanken  an  anderer  Stelle,  wo  er 
ihn  gerade  braucht,  wenigstens  verhüllt  auszusprechen.  88,  27  heißt  es: 
wir  haben  in  eime  Jdre  der  Hute  vil  verlorn,  da  hi  so  merket  gotes  zorn. 
Bezieht  sich  der  erstere  Satz,  wie  Wolfram  vermuthet,  auf  die  Schlacht 
i!      von  Hattin,  so  folgt  aus  dem  zweiten  Satze,  daß  Gott  nur  um  seines 


')  Zs.  f.  d.  Alt.  30,   103   verumtanien  misericordiam  in  ira  siia  nou    coutiiieii.s,  qui 
j      nunquam  obliviscitur  misereri  cum  populo  suo  —  multa  fidelium  milia  ....  ad  ageudani 
poenitentiam  de  commissis    plures   eorum  ad  vitam  praesentem  termiiio  laudabili  con- 
cludendam   terre   illius   amissionis    occasione   clementer  invitans  (älinlich  auch  Gregor 
und  Innocenz  1213). 


92  J.  HORNOFF 

Zornes  willen  die  Feinde  der  Christenheit  siegen  läßt,  um  die  Christen 
damit  zu  strafen,  und  daraus  folgt  wieder,  daß  er  sehr  wohl  mächtig 
wäre,  ohne  der  Letzteren  Hilfe  sein  Land  zu  befreien. 

Es  läßt  sich  nun  erwarten,  daß  des  Dichters  tiefes  religiöses 
Empfinden  auch  auf  seine  übrigen  Anschauungen  von  Einfluß  ist, 
vor  allen  Dingen  auf  seine  Auffassung  der  Liebe.  Wir  glauben  diese 
am  besten  darstellen  zu  können,  wenn  wir 

die  sittlichen  Begriffe 
der    älteren  Minnesänger    bis    auf  Walther,    soweit  dieselben  sich  auf 
die  Minne  beziehen,  im  Zusammenhange  untersuchen. 

Die  von  P^rankreich  nach  Deutschland  verpflanzte  Sitte  des 
Frauendienstes,  welche  dem  heimischen  Minnesänge  einen  neuen,  von 
da  ab  ständigen  Charakter  verleiht,  hat  nicht  nur  einen  Wandel  der 
Sitte,  eine  Verfeinerung  der  Umgangsformen  im  Gefolge,  sie  arbeitet 
auch  an  der  Umgestaltung  der  sittlichen  Anschauungen,  allerdings, 
wie  dies  nach  der  unsittlichen  Grundlage  des  Frauendienstes  zu  er- 
warten steht,  nicht  zu  deren  Verbesserung. 

Einen  Anstoß  zur  Umkehr  oder  wenigstens  ein  augenblickliches 
Besinnen  bewirkt  die  Kreuzzugsidee  und  die  Kreuzpredigt,  welche 
die  Seelen  der  Menschen  mächtig  erschüttert  und  auch  im  Herzen 
der  ritterlichen  Sänger  den  Kampf  zwischen  der  conventioneilen  Auf- 
fassung der  Liebe  und  dem  natürlichen  Sittlichkeitsbewußtsein  entfacht. 

Ich  will  versuchen,  zunächst  den  durch  den  Frauendienst  ge- 
schaffenen Wandel  der  sittlichen  Anschauung  und  sodann  den  durch 
die  Kreuzpredigt  hervorgerufenen  inneren  Kampf  mit  seinem  Ausgange, 
wie  derselbe  sich  in  den  Minneliedern  spiegelt,   zu  schildern. 

Da  im  Frauendienst  die  Huldigung  des  Ritters  einer  verheirateten 
Frau  galt,  so  war  Verschwiegenheit  Ehrenpflicht.  Sie  gilt  bereits 
Meinloh,  der  als  einer  der  ersten  die  neuen  Ideen  in  seinen  Liedern 
vertritt,  als  die  vornehmste  ritterliche  Tugend  (MF.  14,  22).  Der  sitt- 
liche Einfluß,  den  die  Liebe  auf  das  Gemüth  des  Menschen  ausübt, 
erscheint  verflacht.  Sie  vermag  den  Ritter  nur  in  gesellschaftlicher 
Hinsicht  zu  veredeln,  ihm  jene  stolze  Fieudigkeit  zu  verleihen,  die 
der  Umgang  mit  feinen  Damen  erfordert  (Eist  33,  26.  Job.  *94,  14. 
Mor.   142,  30.  Reinmar  151,  12.   183,  20  etc.). 

Die  Begriffe  von  Treue  und  Untreue  sind  vollständig 
vertauscht. 

Als  Treue  wird  von  dem  Anbeter  die  ihm  seitens  der  Dame 
bewiesene  anhaltende  Zuneigung  mit  allen  ihren  Consequenzen  be- 
zeichnet, welche  natürlich  die  Treulosigkeit  gegen  den  Gatten  bedingt. 


DER  MINNESÄNGER  ALB  RECHT  VON  JOHANSDORF.  93 

Dagej^en  nennt  derselbe  die  Stand  liattigkeit  s^S*^"^  seine  Liebes- 
werbungeu  Sünde  und  Unreclit  (Eist  38,  30.  Guten b.  78,  25.  79,  4. 
Rugge  100,  18.  Horb.  115,  29.  Mor.  130,  4.  Keinniar  160,  33.  165,  15. 
180,  18.  176,  38),  wenn  er  daneben  aucli  sich  selbst  als  den  Urheber 
seiner  Leiden  ansieht  (Fenis  83,  11.  24.  Mor.  125,  3.  134,  13.  Reinmar 
171,25.  174,  10.  191,23).  Als  Treue  des  Ritters  wird  die  der  D.inie 
gewidmete  andauernde  Verehrung  gepriesen,  wcdche  doch  nach  so 
vielen  Zurückweisungen  und  Deuiüthigungen  als  erbärmliche  Schwäche 
und  als  unmännliches  Gebahren  erscheint.  Reinmar  sieht  dies  ein: 
160,  22  ff.,  besonders  v.  32  tcete  ez  danne  ein  kiid,  deiz  sus  iemer  Uhete 
nach  ic/he,  dem  soU  ich  icol  totzen  daz.  173,  3  ich  warn  mich  sin  ge- 
louhen  loil.  nein,  su  verlür  ich  ake  vil.  ist  daz  also,  seht  loelch  ein 
k indes  spil. 

Einmal  (Reinmar  177,  37)  scheint  stcete  in  doppeltem  Sinne  ge- 
braucht zu  sein,  was  der  geistreichen  Manier  Reinmars  entsprechen 
würde,  zuerst  als  Treue  gegen  den  Gatten,  dann  als  Treue  gegen  den 
Freund:  daz  wir  wip  niht  mugen  gewinnen  f rinnt  mit  rede,  si  enwellen 
dan  noch  nie.  daz  milet  mich,  ich  loil  niht  minnen.'  Begründung:  denn 
■stoiten  tvihen  tuot  unstcete  we,  geht  auf  die  Pflicht  gegen  den  Gatten. 
Nun  aber  kommt  die  Höflichkeit  gegen  den  Freund:  ivcere  ich,  des  ich 
niene  hin,  nnstcete,  lieze  er  danne  mich,  so  lieze  ich  in.  Hier  ist  natürlich 
nur  an  die  Entziehung  der  Neigung,  nicht  etwa  eines  vertraulicheren 
Verkehrs  zu  denken. 

Die  Lage,  in  welche  die  Dame  geräth,  ist  in  der  That  eine  schlimme; 
denn  einerseits  möchte  sie  sich  die  schmeichelhaften  Huldigungen  des 
Ritters  und  die  Verherrlichung  im  Gesauge  nicht  entgehen  lassen, 
andererseits  wünscht  sie  ihre  Frauenehre  zu  bewahren  (Reinniai-  171,  11, 
187,  9).  Sie  verfällt  darum  meist  auf  ein  heuchlerisches  Spiel,  indem 
sie  sich  anfangs  dem  ritterlichen  Säuger  gewogen  zeigt  und  ihm  Lohn 
verheißt,  später  aber,  wenn  derselbe  eingefordert  wird,  die  Ertheilung 
desselben  in  die  Ferne  rückt  oder  gänzlich  verweigert  (Gutenb. 
76,  3).  Daher  dann  die  ungemessenen  Klagen  der  Dichter  über  unauf- 
richtiges Wesen  der  Herrin,  über  getäuschte  Hoffnung  (Joh.  86,  11. 
Mor.  128,25.  138,10.  143,10.  145,29.  Reinmar  158,37.  171,11 
[cf.  187,  9]  195,  23). 

Auch  der  Begrift  der  Ehre  muß  sich  eigenthümliche  Ver- 
änderungen gefallen  lassen,  zunächst  der  Begriff  der  Frauen  ehre, 
wobei  die  Auffassung  des  Mannes  von  der  der  Frau  zu  unterscheiden  ist. 

In  den  Frauenstrophen  ist  gewöhnlich  die  natürliche  und  ur- 
sprüngliche Auffassung  vertreten,    insofern  ere  die  Treue  gegen 


94  J-  HORNOFP 

den    Gatten    und    den    darauf   gegründeten    guten    Ruf    be- 
zeichnet. 

So  Hausen  54,  14  torst  ich  genenden,  so  tvold  ich  im  enden  sine 
klage,  loan   Jaz  ich  vil  sendez  lotp  erfürhten  »moz  der  eren  min. 

Damit  stiramt  auch  die  Auffassung  des  Weibes  bei  Veldegge, 
wenn  er  sich  auch  des  Wortes  ere  nicht  bedient,  57,  5  flf.,  auch  Eist 
40,  35  ff.  Das  Weib  hält  die  völlige  Hingabe  an  den  Freund  für  ein 
Unrecht. 

Rugge  110,  8  dem  ich  alsolher  eren  sol  getriiwen,  ah  ich  her  he- 
halten  hau,  den  muoz  ich  e  bekennen  ivol,  sin  loille  mac  so  Ithte  niht  an 
mir  ergän.    ere  ist  hier  der  gute  Ruf. 

Reinmar  178,  19  meine  er  icol  ynit  triuivm  mich,  swnz  im  danne 
ndlge  ze  fröuden  kamen,  daz  nun  ere  st,  daz  sprich',  sagt  die  Frau  zum 
Boten.  Zur  Erklärung  des  Begriffes  ere  tragen  v.  10  f.  und  v.  24  ff. 
bei.  V.  10  f.  ^siüä  du  mügest,  da  leite  in  abe,  daz  er  mich  der  rede  be- 
gebe .  .  V.  24  ff.  ^s6  hit  in  daz  er  verbir  rede,  die  er  jungest  sprach  ze 
mir.  so  mac  ich  in  an  gesehen,  wes  ivil  er  da  mite  hesioccren  mich,  daz 
doch  niemer  mac  geschehen?'  Die  Frau  wünscht  also  den  Boten  daran 
zu  hindern,  daß  er  dem  Ritter  Aussicht  auf  Lohn  eröffne,  er  soll  nur 
insoweit  freudige  Botschaft  bringen,  als  es  die  Ehre  der  Dame  zuläßt. 
Reinmar  186,  25  ßer  mir  ist  von  herzen  holf ,  dem  versprich  ich  sere 
niht  durch  vngefüegen  ha:,  wan  durch  mtnes  Ubes  ere'.  192,  37  nu  teil 
er  {daz  ist  mir  ein  not),  daz  ich  durch  in  die  ere  wäge  und  auch 
den  Itp  . 

Hartm  217,  19  ^loand  ich  ivägen  teil  durch  in  den  lip ,  die  ire 
und  cd  den  sin. 

Bisweilen  treffen  wir  aber  auch  bei  der  Frau  auf  andere  An- 
schauungen. Die  dem  Gatten  zu  wahrende  Treue  wird  auf  den  Freund 
übertragen  und  dementsprechend  der  Begriff  gewandelt. 

Reinmar  200,  33  er  s-hiet  hinnen  mit  den  sinnen,  daz  ich  niht  ver- 
gizze  srn.  iv'ip  mit  güeten  sol  ir  ere  hileten,  wider  ir  friunt  niht  striten. 
also  wil  ich  s/n  mit  eren  hUen.  Das  Bewahren  der  Ehre  kann  hier 
nur  gleichbedeutend  mit  der  Treue  gegen  den  Freund  sein. 

Öfter  begegnet  uns  die  letztere  Auffassung  beim 
Manne.  Für  ehrenvoll  gilt  die  Hingabe  an  den  Geliebten  bei 
Veldegge  67,  8:  joch  ist  diu  minne  als  si  was  toilen  ere.  Aus  dem  vor- 
hergehenden Verse:  und  tvil  doch  daz  ich  klage  mine  sere  ergibt  sich, 
daß  unter  Minne  die  Entgegennahme  der  Huldigung  einschließlich 
des  Lohnes  zu  verstehen  ist;  denn  durch  diesen  allein  kann  die  sere 
des  Dichters    gestillt   werden.   Auch  59,  32   hat    man  an  keine  andere 


ä 


DER  MINNESÄNGER  ALBRECHT  VON  JOHANSDORF.  95 

Erklärung  zu  deukoD:  ich  lod  frö  sin  durch  ir  ere,  diu  mir  daz  hete 
getan,  daz  ich  von  der  rinwe  leere,  diu  mich  loÜent  irte  sere.  daz  ist 
mich  nu  so  vergdn,  daz  ich  hin  rtch  und  groz  here,  stt  ich  si  mtioste 
al  iimbevun ,  diu  mir  gap  rehte  minne  sunder  wh-li  und  äne  lodn. 

Vgl.  auch  Rugge  105,  6,  wo  die  Erhörung  von  der  tugent  der 
Frau  gefordert  wird.  110,  30  mhi  heil  in  ir  genäden  stät,  si  kan  ver- 
klären sorge,  der  ich  loalde.  ir  gilete  mich  gehoehet  hat.  daz  sol  si  meren 
nach  ir  ere  manicvalde. 

Als  Treue  gegen  den  Geliebten  fassen  Johansdorf  und 
Horheim  den  Ehrbegriff. 

Joh.  86,  27  i\u  JieJfe  er  mir,  oh  ich  hi>rioiJer  käme,  ein  wrp,  diu 
grozen  kumher  von  mir  hat,  daz  ich  si  viwie  an  ir  eren.  88,  13  Ine 
erwache  nimer  ezn  st  min  erste  segen,  daz  got  ir  eren  müeze  pldegen 
(uäralich  während  seiner  Entfernung  auf  dem  Kreuzzuge). 

Horheim  114,  28  Ich  loil  hevelhen  ir  lip  und  ir  ere  got  und  da 
nach  allen  engelen  sin.  si  sol  ivizzen ,  sicar  ich  landes  kere,  daz  ich  ie 
hin  und  muoz  iemer  sin,  als  ich  e  toas.  Das  Gelöbniü  der  eigenen  Treue 
steht  hier  dem  Wunsche,  die  treue  Liebe  der  Dame  zu  behalten, 
gegenüber,  —  Der  Vorwurf  der  Treulosigkeit  gegen  die  Freunde  ist 
mit  eingeschlossen,  wenn  es  Hausen  als  eren  slac  (48,  16),  als  lasier 
(48,  22)  der  Frauen  bezeichnet,  würden  sie  sich  während  der  Ab- 
wesenheit der  Kreuzritter  den  zurückgebliebenen  feigen  Männern  hin- 
geben. 

Aber  nicht  nur  dem  treuen  Freunde  sich  hinzugeben  und  ihrer- 
seits die  Treue  zu  waln-en,  gilt  als  ehrenvoll  für  die  Frau,  sondern 
auch  den  treulosen  Anbeter  zu  verstoßen.  Hartm.  205,24 
groz  xoas  mtn  wandel.  do  si  den  entsaz,  so  rneii  si  mich,  vil  lool  geiohe 
ich  daz,  me  diir  ir  ere,  dan  üf  mhien  haz^). 

Reinmar  macht  eine  Ausnahme.  Wohl  beklagt  auch  er  sich  über 
die  Hartherzigkeit  seiner  Dame,  über  ihr  zweideutiges  Benehmen, 
dann  aber  widerruft  er  plötzlich  und  rechtfertigt  ihr  Verfahren  als 
ein  ehrenvolles.  195,  25  war  umhe  rede  ich  solhen  mt?  si  endähte  an 
mich  ze  keiner  zit,  ivan  als  ein  icip  gedenket,  an  der  iriuioe  und  ere 
IH.  Damit  stimmt  denn  auch  165,  37  Ich  hän  ein  dinc  mir  für  geleit 
und  strite  mit  gedanken  in  dem  herzen  mm  :  ob  ich  ir  hohen  werde- 
keit  mit  mtnem  xcillen  wolte  Idzen  minre  sin,  ode  ob  ich  daz  welle,  daz 
si  groezer  si  und  si  vil    smlic    wip    ste    min    und  aller  manne 


')  Der  Interpretation  Naumanns  (Reihenfolge  der  Werke  Hartmanns  Ztschr.  f.  d. 
Alt.  22,  47),  welcher  die  Ehre  als  Standesehre  faßt,  kann  ich  mich  nicht  anschließen. 


96  J.  HORNOFF 

vri.  die  tuont  mir  hSJe  we.  ine  loirde  ir  lastevs  tricmer  wo  :  verget  si 
mich,  daz  klage  ich  iemer  me.  Einmal  wendet  auch  er  die  eonveutioneile 
Bedeutung  an:  189,  34  an  der  ich  aber  triuwe  und  ere  erkenne,  ivcene 
ich  des,  daz  mir  diu  ungelonet  läze,  so  geschoihe  an  mir,  daz  nie  ge- 
schach. 

Wie  in  den  meisten  der  augeführten  Stellen  der  Begriff  der 
Frauenehre,  so  ist  nun  auch  weiter  der  Begriff  der  Manne  seh  re , 
soweit  diese  sich  auf  die  Minne  bezieht,  verschoben.  Was  das  natür- 
lich-sittliche Bewußtsein  als  unehrenhaft  verurtheilt,  die  ausdauernde 
Liebe  zur  Gattin  des  fremden  Ritters,  das  Hegen  und  Pflegen 
dieser  Liebe  gilt  nach  der  neuen  Auffassung  als  ehrenvoll,  sowohl 
im  Munde  der  Frau,  wie  des  Mannes.  Veldegge  geht  hierin  voran. 
Er  stellt  freilich  diese  Treue  als  eine  alte  gute  Sitte  der  Flatter- 
haftigkeit als  einer  neuen  Unsitte  gegenüber,  ohne  daran  zu  denken, 
daß  die  alte  Treue  der  noch  unverheirateten  Frau  oder  doch  wenig- 
stens nicht  der  Gattin  eines  Anderen  galt.  61,  18  do  man  der  rehten 
minne  pflac,  do  pflac  man  auch  der  eren,  nu  mac  man  naht  unde  tac 
die  boesen  site  leren.  Die  ehrenvolle  Gesinnung  ist  an  die  rehte  minne 
geknüpft.  Was  aber  Veldegge    unter    dieser    versteht,    besagt   59,  30. 

60,  2 :  swer  hat  rehte  minne  sunder  riuwe  und  äne  ivanc,  und :  diu  mir 
gap  reh'e  mitine  sunder  riuwe  und  dne   wanc.    Die  boesen  site  sind  nach 

61,  1.  5  Witekeit  und  losheit\  ihnen  gegenüber  kann  rehte  minne  nur 
„treue  Hingabe"  bezeichnen,  treue  Liebe,  die  sich  auch  durch  Miß- 
erfolge nicht  abschrecken  läßt:  60,  11  diti  mich  durch  rehte  minne 
lange  phie  dolen  liet  (um  die  Treue  zu  erproben).  Danach  würde  auch 
60,  14.  18.  26  ere  auf  treue  Liebe  zu  beziehen  sein:  der  bldschaft 
sunder  riuwe  hat  mit  eren,  he  ist  riche.  —  Swer  mit  eren  kan  gemeren 
sine  bittschaff,  duz  ist  guo'   (Refrain). 

Derselben  Anschauung  huldigt  Reiuniar:  199,  34  (Frauenstropi)e) 
Jch  sprich  im  niht  mere,  2can  daz  er  mich  siht,  daz  sint  sin  ere.  Die 
Ehre  des  Ritters  verlangt  es,  daß  er  der  Dame  nicht  lange  seine 
Gesellschaft  entzieht,  ihr  eine  treue  Pflege  angedeihen  läßt.  cf.  v.  31  ff. 
sol  ich  ltdin  von  im  langez  mtden,  daz  müd  mich  wol  sere. 

Das  Werben  um  Frauengunst  einschließlich  ihres 
letzten  Zieles  ist  gleichbedeutend  mit  der  sorge  umb  ere, 
dem  ^werben  umb  ere. 

Reinmar  198,  30  der  ie  gern  umb  ere  warp  und  dar  an  ist  un- 
verz'igt,  deme  tuot  vil  menegez  we,  des  sich  jener  getroestet,  . . .  der  dir 
ist  verdorbene.  ]\/an  sol  sorgest,  sorge  ist  guo  f,  eine  sorge  ist  nienian 
wert.     Das  ^timb  ere  werben    ist  gleich  ^sorgen,  sorgen  gleich  um   Liebe 


DER  MINNESÄNGER  ALBREOHT  VON  JOHANSDORF.  97 

ringen  trotz  aller  Zurückweisungen,  cf.  199,  8  icer  hat  Uep  an  arebeit? 
192,  20  Mere  umh  ere  sol  ein  man  gesorgen  danne  iimb  ander  guot. 
R.  stellt  sich  in  dem  Liede  seinen  Spöttern  gegenüber,  indem  er 
sich  seines  Werbens  nach  Frauengunst  und  des  Austandes,  mit 
dem  er  seinen  Liebesschraerz  zu  tragen  weiß,  rühmt.  Auch  202,  30 
dürfte  ere  in  dem  bezeichneten  Sinne  zu  fassen  sein.  v.  25  Mir  ist 
der  xoerlde  unsto'te  von  genuogen  dingen  leit.  Swie  gerne  ich  rehte  tcete 
(wände  ez  tvcere  ein  sadekeit) ^  so  enlät  mich  manic  man,  der  umh  ere 
noch  um  fröude  nie  deheinen  muot  gewan. 

die  sorge  umh  ere  bei  Rugge  110,  7  bezeichnet  schon  mehr  die 
Besorgniß,  des  Lohnes  nicht  theilhaftig  zu  werden.  Sioes  muot  iedoch 
zer  loerlte  als  der  mme  stät,  ich  wcene  er  manege  sorge  umh  ere  hat. 
Vgl.  den  Anfang  der  Strophe:  ich  hän  nach  wäne  dicke  lool  gesungen, 
des  mich  andei's  niht  bestuont^). 

Die  entgegengesetzte  Beurtheilung,  welche  dieselbe  Handlungs- 
weise (Gewährung  bez.  Erringen  des  höchsten  Lohnes)  bei  beiden 
Geschlechtern  erfährt,  spiegelt  sich  in  Job.  *93,  25,  wo  die  Dame  zu 
ihrem  Ritter  sagt:  wert  ich  iuch,  des  hetet  ir  ere,  so  wcer  mtn  der  spat. 

Es  handelt  sich  nun  darum,  zu  untersuchen,  ob  dem  Einzelnen 
die  unsittliche  Grundlage  der  Zeitsitte  zum  Bewußtsein  kommt.  Nur 
bei  den  Wenigsten  finden  wir  in  den  Liedern  eine  Andeutung.  Wenn 
auch  anzunehmen  ist,  daß  Viele  in  ihrem  späteren  Leben,  wie  Wal- 
ther, Wolfram  und  Hartmaun  dem  Minnedienste  den  Rücken  zu- 
kehrten, um  wie  Wolfram  (wahrscheinlich  auch  Hartmann) '^)  Befriedi- 
gung im  ehelichen  Leben  zu  suchen,  so  hat  doch  dieser  Wandel  in 
ihren  Liedern  keinen  Ausdruck  gefunden.  Dieser  Gedanke  gehörte 
eben  nicht  in  den  Rahmen  des  conventionellen  Liebesliedes.  Andeu- 
tungen aber,  daß  Einzelnen  die  sittliche  Erwägung  nahegetreten  ist, 
finden  wir  doch.  Gerade  gegen  sie  kämpft  Rute  mit  seinem  trotzigen 
und  leidenschaftlichen  Sinne  an  und  stellt  sich  denen  gegenüber,  die 
in  der  Todesstunde  ihre  Sünde  bereuen  und  beichten:  116,  15  Swie 
mir  der  tot  vast  üf  dem  rugge  wcere  unde  dar  zuo  manic  ungemach,  so 
wart  mm  wille  nie,  deich  si  verheere ,  swie  nähen  ich  den  tot  ht  mir  ge- 
sach.  do  manic  man  der  sünden  sin  verjach,  do  war  daz  mm  allermeistiu 
swcBre,  daz  mir  genäde  nie  von  ir  geschach.  Auch  Adelnburc  hat  sich 
die  Frage  nach  der  Zulässigkeit  der  conventionellen  Liebe  vorgelegt. 
Das  Lied  148,  25  erscheint   als  eine  Antwort   auf  diese  Frage :    Sioer 


•)  Erich  Schmidt   versteht   unter  ^re   hier    Lob  der  Welt'.  Heinrich  von  Rugge 
and  Reiumar  von  Hagenau.    S.  28. 
')  Naumann  Zs.  22,  59  f.  74. 
eUUIAMIA.    Neae  Beih*  XXIL  (IIXTV.)  Jahrg.  7 


98  J.  HORNOFF 

mit  trimcen  umbe  ein  ivtp  wirbst,  als  noch  maneger  tuot,  icaz  schadet  der 
sSle  ein  toerder  Upf  —  Ich  steuere  ivol,  ez  iccere  guot.  ist  aber  ez  ze 
himele  zorn,  so  kommt  die  boesen  alle  dar  und  sint  die  biderben  gar 
verlorn.  Wie  Anderen  scheint  auch  ihm  die  unsittliche  Grundlage  ver- 
deckt durch  die  scheinbare  Tugend  der  Treue,  sodann  aber  durch 
die  Liebe  zu  einem  würdigen  Gegenstande  {waz  schadet  der  sele  ein 
werder  Itp?).  Dieselben  Gedanken,  die  wir  bei  Johansdorf  wiederfinden 
werden!  cf.  auch  Mor.  142,  26  gerne  sol  ein  riter  ziehen  sich  ze  guoten 
loibeny  dest  mm  rät.  boesiu  ivtp  diu  sol  man  vliehen  etc.  Als  dritte  Ent- 
schuldigung kommt  bei  Adelnburc  noch  die  Autorität  aller  trefllichen 
Männer  hinzu,  welche  der  gleichen  Sitte  huldigen  (149,  2).  Wann 
dieses  Lied  abgefaßt  ist,  ob  Adelnburc  vielleicht  im  Ausgange  der 
achtziger  Jahre  unter  dem  Einflüsse  der  Kreuzpredigt  sich  diese  sitt- 
liche Frage  vorgelegt  hat,  läßt  sich  nicht  bestimmen,  wäre  aber 
möglich.  Das  aber  ist  gewiß,  daß  die  für  die  Christenheit  so  er- 
schütternden Vorgänge  im  Morgenlande  vom  Jahre  1187  (Schlacht 
bei  Hattin,  Einzug  Saladins  in  Jerusalem),  die  wiederaufgenommene 
und  aller  Orten  gepredigte  Kreuzzugsidee  Viele  zur  Selbstschau,  zum 
stillen  Insichgehen  veranlaßte.  Suchte  doch  der  Kreuzprediger  die 
Menschen  zur  Kreuznahme  gerade  dadurch  zu  bewegen,  daß  er  sie 
einerseits  an  ihre  Sünden  erinnerte,  anderseits  auf  den  himmlischen 
Lohn  hinwies.  Und  so  werden  wir  eine  ganze  Gruppe  von  Sängern 
kennen  lernen,  in  welchen  diese  Idee  zündend  wirkt,  und  welche  nun 
entweder  einen  Bruch  oder  einen  Ausgleich  mit  ihrer  bisherigen  An- 
schauung herbeizuführen  bemüht  sind:  ich  meine  die  Minnesänger 
Hausen,  Johansdorf,  Rugge,  Reinmar  und  Hartmann. 

Das  diesen  Männern,  etwa  mit  Ausnahme  von  Rugge,  Gemein- 
same ist  das  Bewußtsein,  daß  die  conventioneile  Liebe  eine  Sünde  sei. 

Hausen  46,  14  Ich  bin  ir  holt  :  swenne  ich  vor  gote  getar,  so  ge- 
denke ich  ir.    daz  riioch  ouch  er  vergeben  mir. 

Job.  90,  8  Ich  gedenke  manege  naht  :  waz  sol  ich  tvider  got  nu  tiion, 
ob  ich  beltbe,  daz  er  mir  genoedic  st?  so  v^eiz  ich  niht  vi/,  groze 
schulde,  die  ich  habe,  niuwa'n  eine,  der  enkume  ich  niemer 
ahe.  alle  sünde  lieze  ich  lüol  loan  die  :  ich  minne  ein  totp  vm'  al 
der  werlte  in  mmem  mtiote,  got  herre  daz  verväch  ze  guote. 

Reinmar  181,  35  In  erhübe  in  (nämlich  den  gedanken)  eteswenne 
dar  (nämlich  Ziir  Geliebten)  und  aber  wider  sä  zehant.  sos  unser  beider 
friwent^)   dort  gegrüezen,  sfi  keren  dan  und  helfen  mir  die  sünde  büezen. 


')  So  Becker  S.  139,  Haupt  /Hunde. 


DER  MINNESÄNGER  ALBRECHT  VON  JOHANSDORF.  99 

Hartra.  209,  25  dem  krmze  zimt  lool  reiner  mnof  und  kkische  site.  si)  mar. 
man  scelde  und  cdlez  guot  erioerhen  mite,  ouch  ist  ez  nilit  ein  kleiner  haft 
dem  tumhen  man,  der  sime  Übe  meisterschaft  niht  kalten  kau.  ez  loil  niht, 
daz  man  st  der  merke  drunder  frt.  210,  11  diu  werlt  mich  lachet  trie- 
gent  an  und  winket  mir.  nu  hdn  ich  als  ein  tumhei'  man  gevolget  ir. 
der  [hacken  hnn  ich  manegen  tac  gelaufen  nach,  da  nieninn  stfPte  vhtden 
kan,  dar  loas  mir  gäch.  nu  hilf  mir  lierie  krist ,  der  mtn  da  värend 
ist,  daz  ich  mich  dem  entsage  mit  dhiem  zeichen ,  deich  hie  trage. 
Die  Reue  über  das  weltliche  Treiben  bezieht  sich  natürlich  auf  das 
vorangegan<ijene   erste  Minneverhältniß  Hartinanns  ^). 

Unklar  bleibt  nur  die  »Stelluno^  von  Ruj^oje.  Die  Stelle  im  Kreuz- 
leiche ist  zu  allgemein  gehalten,  als  daß  aus  ijir  ein  Schluß  gezogen 
werden  könnte.  97,  2  ob  ich  verhir  die  hloeden  gir,  die  noch  min  hefrze 
tn'it,  so  loirt  mir  hin  ze  den  fvöweden  gnch.  Die  hUcde  gir  kann  sich 
auf  alles  Mögliche  beziehen.  98, 33  wendet  sich  der  Dichter  nicht 
gegen  die  conventionelle  Liebe  im  Allgemeinen,  sondern  gegen  die- 
jenigen, welche  sie  der  Pflicht  der  Kreuznahme  nicht  opfern  wollen. 
Nach  105,  33  ff.  scheint  er  sie  mehr  für  eine  Thorheit  als  eine  Sünde 
zu  halten :  Jch  hdn  der  werlt e  ir  reht  getan  ie  nach  der  m,äze  als  ez 
mir  stuontj  der  volge  ich  noch  nf  guoten  wän,  alsam  die  toren  alle 
tnont.  Leicht  möglich,  daß  Rugge  zu  der  Zeit,  als  er  den  Leich  dichtete, 
seinen  Minnedienst  beendet  und  so  nicht  mehr  nöthig  hatte,  persönlich 
Stellung  zu  der  F'rage  zu  nehmen,  möglich  aber  auch,  daß  er,  der 
an  leichtem  und  fröhlichem  Muthe  Veldegge  gleicht,  ebenso  wie  jener 
den  inneren  Widerspruch  nicht  empfand. 

Es  handelt  sich  nun  um  die  Stellungnahme,  um  den  sittlichen 
Kampf  der  Übrigen  und  um  dessen  Ausgang.  Herauszuheben  ist  zu- 
nächst Hartmann,  der  allein  von  Allen  mit  seiner  bisherigen  An- 
schauung bricht.  Er  hat  dieselbe  als  unrichtig  anerkannt  und  ver- 
sucht keinen  Ausgleich.  Im  November-December  des  Jahres  1195  hat 
Hartmann  das  Kreuz  genommen'^).  In  demselben  Winter  folgen  die 
Lieder  209,  25  dem  kriuze  zimt  lool  reiner  mnot  etc.  und  210,  35  Mtn 
frö/'de  zvart  nie  sorgelos  etc.,  in  denen  er  seinem  früheren  weltlichen 
Treiben  entsagt.  Wenn  er  nun  im  Frühling  des  folgenden  Jahres  sich 
abermals  verliebt,  so  ist  dies  keine  Inconsequenz,  kein  Rückfall  in 
die  alte  Anschauung,  mit  dem  sich  zugleich  der  Widerspruch  mit 
seiner  Würde    als  Kreuzträger    hätte    einstellen    müssen,    Nein,    diese 


')  Naumann  Zs.  22,  74. 

^)  Naumann  Zs.  22.  60.  43  ff. 


100  J-  HORNOFF 

zweite  Liebe  hat  eine  ernste  Neigung  zum  Hintergrunde,  sie  sucht 
eine  dauernde  Verbindung  mit  der  Geliebten',  die  dann  nach  dem 
Kreuzzuge  wahrscheinlich  auch  erfolgt.  Bei  Hartmann  löst  sich  also 
der  Conflict  klar  und  einfach. 

Nicht  so  bei  den  Übrigen,  Hausen,  Johansdorf,  Reinmar  wollen 
von  ihrer  Liebe  nicht  lassen,  und  sie  suchen  deshalb  einen  Ausgleich 
zwischen  ihrer  Liebesempfiudung  und  ihrem  religiösen  Gefühle  herbei- 
zuführen, jeder  auf  andere  Weise  und  mit  verschiedenem  Erfolge. 

Hausen,  der  von  den  Dreien  am  meisten  weltmännischen  Sinn 
zeigt,  weiß  am  leichtesten  über  den  Conflict  hinwegzukommen.  46,  14 
Ich  hin  ir  holt :  sivenn  ich  vor  gote  getar,  so  gedenke  ich  ir.  daz  rtioch  onch 
er  vergehen  mir;  wan  ob  ich  des  sünde  siile  hnn,  zwiu  schuof  er  si  so 
rehte  wol  getan?  Er  rechnet  auf  Gottes  Nachsicht,  indem  er  ihm  vor- 
wirft, daß  er  ja  die  Geliebte  so  schön  geschaffen  habe,  und  meint, 
daß  damit  eigentlich  seine  Sünde  wegfalle:  eine  mehr  geistreiche 
Wendung,  als  wirklich  ernste  Erwägung.  Am  Schlüsse  trifft  er  den 
Ausgleich,  daß  er  Gott  den  ersten,  den  Frauen  den  zweiten  Platz  in 
seinem  Herzen  einräumen  wolle.  47,  7  den  (nämlich  got)  wil  ich  vor 
in  allen  haben,  und  in  {■=  den  fromven)  da  nach  ein  holdez  herze  tragen. 
Die  Ruhe,  die  er  damit  gewinnt,  ist  darum  keine  nachhaltende.  Er 
hat  sich  getäuscht,  wenn  er  geglaubt  hat,  daß  mit  der  einfachen 
Thatsache  der  Kreuznahme  auch  der  innere  Streit  entschieden  sei 
(47,  17.  23).  Von  Neuem  kämpfen  seine  Empfindungen  gegen  den 
gefaßten  Entschluß  an,  kämpft  sein  herze  gegen  den  Ivp  (47,9).  Er 
ist  nicht  stark  goiug,  die  ersteren  zu  unterdrücken,  und  läßt  ihnen 
darum  freien  Lauf.  Religiöse  Empfindung  und  Liebesgefühl  stehen  unver- 
mittelt nebeneinander,  und  das  letztere  hat  sogar  die  Oberhand  (47,  25  ff.). 

Weit  ernster  nimmt  es  Reinmar  mit  diesem  Widerstreit  der  Ideen.. 
Auch  er  hat  den  kühnen  Entschluß  gefaßt,  das  Kreuz  zu  nehmen 
und  den  Frauen  zu  entsagen,  und  wie  schwer  ihm  dies  auch  gefallen 
ist  (180,28  ff.),  er  sucht  sich  im  Hinblick  auf  die  zu  erwartende 
weltliche  Ehre  und  auf  die  Gnade  Gottes  zur  Freude  durchzuringen, 
wie  er  denn  auch  die  Anderen  zur  Freude  ermahnt  (180,  36  ff.). 
Aber  freilich  der  Wille  ist  zu  schwach,  wie  bei  Hausen  und  vielen 
Anderen  (181,  22),  um  die  einmal  als  unberechtigt  anerkannten 
Gedanken  völlig  zu  bannen.  Und  so  gestattet  auch  er  ihnen  (181,  33), 
weil  ihm  nichts  Anderes  übrig  bleibt,  den  gewohnten  Weg  vom  Herzen 
zur  Geliebten,  aber  —  und  hier  zeigt  sich  der  Unterschied  von 
Hausen  —  während  jener  sie  dort  ruhig  weilen  läßt  (47,  25),  ruft 
sie   Reinmar    gebieterisch    zurück,    damit    sie    die    begangene    Sünde 


DER  MINNESÄNGER  ALBRECHT  VON  JOHANSDORF.  JOl 

büßen  helfen  und  Vergebung  erlangen  (181,  38).  Kleinlaut  schließt 
Reinmar  mit  der  Befürchtung,  daß  ihn  die  Gedanken  noch  recht  oft 
betrügen  werden  (182,2).  Der  Widerspruch  bleibt  also  bestehen,  aber 
die  religiöse  Empfindung  überwiegt. 

Ohne  Beimischung  religiöser  Ideen  wird  uns  der  sittliche  Kampf 
165,  37  ff.  geschildert.  Nachdem  Reinmar  drei  Strophen  hindurch  in 
der  conventionellen  Anschauung  sich  bewegt  hat,  bricht  plötzlich  das 
sittliche  Bewußtsein  durch:  Ich  hän  ein  dinc  mir  für  geleit  und  strite 
mit  gedanken  in  dem  herzen  mm,  ob  ich  ir  hohen  iverdekeit  mit  mineni 
lüillen  loolte  läzen  minre  sin,  ode  oh  ich  daz  tcelle,  daz  si  groezer  si  und 
si  vil  scbUc  wvp  ste  mm  und  aller  manne  vrt.  die  tuont  mir  bede  ive. 
ine  wirde  ir  lasters  niemer  vro.  verget  si  mich,  daz  klage  ich  iemerme. 
Es  handelt  sich  also  um  die  Frage,  ob  Reinmar  seine  Dame  zu  einer 
Handlungsweise  veranlassen  soll,  die  sie  in  seiner  eigenen  sittlichen 
Werthschätzung  herabsetzt,  ihm  aber  Befriedigung  seines  Herzens- 
dranges verschafft,  t)der  ob  er  sie  lieber  sittlich  rein,  befreit  von  seiner 
und  aller  übrigen  Männer  Liebe  zu  sehen  wünschen  soll.  Reinmar 
schwankt,  ohne  zu  einer  Entscheidung  zu  kommen;  ihren  Schimpf 
mag  er  nicht  mitansehen,  aber  ihr  entsagen  kann  er  nicht.  Die  letzte 
Strophe  des  Liedes,  die  nur  in  E  überliefert  ist  (die  übrigen  in  ABC) 
und  mit  der  eben  besprochenen  in  durchaus  keinem  Zusammenhange 
steht,  ist  wahrscheinlich  eine  Zusatzstrophe.  Das  Lied  schließt,  wie 
das  Kreuzlied,  unbefriedigt. 

Auch  die  Revocatio  in  195,  25  weist  diesen  Widerstreit  der  Ideen 
auf.  nieman  loeiz,  ob  si  mich  wert  oder  tviez  ergät,  nein  oder  ja.  ich 
enioeiz  enwederz  da.  warumbe  red  ich  solhen  /itt?  si  endähte  (in 
mich  ze  keiner  zit^  loan  als  ein  ivtp  gedenket,  an  der  triuive 
und  ere  lit. 

Ganz  anders  als  bei  Hausen  und  Reinmar  steht  die  Sache  bei 
Johansdorf.  Auch  er  hat  einen  harten  Kampf  durchzumachen  (90,  5  flF.) : 
schlaflos  wälzt  er  sich  die  Nacht  auf  seinem  Lager  und  überlegt, 
ob  er  das  Kreuz  nehmen  soll;  zwar  drücken  ihn  nicht  viele,  schwere 
Sünden,  aber  die  eine,  die  Liebe  zu  einer  Frau  erfordert  eine  Sühne. 
Nicht  aber,  wie  Reinmar,  beschließt  er  darum,  dieselbe  zu  lassen,  dazu 
ist  seine  Empfindung  zu  mächtig;  er  bittet  Gott  um  Nachsicht  (90,  15), 
wie  Hausen  darauf  rechnet  (46,  16  ff.).  Einmal  (94,  25  ff.)  versucht 
auch  er  die  Minne  von  sich  zu  weisen,  aber  im  näclisten  Augenblicke 
gestattet  er  ihr,  in  seinem  Herzen  die  Reise  nach  dem  heiligen  Lande 
mit   ihm  zu  unternehmen,    und   wagt  es  sogar,    für  die  Geliebte   den 


102  J-  HORNOFF 

halben  Lohn  der  Fahrt  bei  Gott  zu  erbitten.  Nichts  von  Unruhe  und 
Widerspruch  mehr  in  seinem  Herzen.  Noch  mehr  erstaunen  wir, 
wenn  der  Dichter  dieser  Liebe  zuschreibt,  daß  sie  von  Sünden  vor 
Gott  freimache  (88,33  ff.):  Sioer  minne  minnecliche  treit  gar  dne 
valschen  muot,  des  silnde  ivirt  vor  gote  niht  geseit.  si  tiuret  und  ist  guot. 
Johansdorf  muß  einen  Ausgleich  in  seinem  Herzen  getroffen  haben. 
Was  aber  ermöglichte  diesen?  Er  betont  die  reine  Liebe  (siver 
minne  minnecliche  treit  gar  eine  valschen  muot)  und  d  i  e  E  m  p  f i  n- 
dung  für  reine  Frauen  (88,  37  man  sol  mulen  hoesen  kranc  und 
minnen  reiniu  wip).  Sie  veredelt  den  Menschen  nicht  nur  nach  der 
geselligen  Seite  hin,  wie  das  die  übrigen  Minnesänger  hervorheben, 
sie  heiligt  auch  das  Innere  des  Menschen  (v.  88,  35  des  silnde  xoirt 
vor  gote  niht  geseit.  si  tiuret  und  ist  guot).  Dazu  kommt  die  Treue, 
die  starke,  die  anhaltende  Empfindung.  86,1  Min  erste 
liebe,  der  ichiehegan,  diu  seihe  muoz  an  mir  diu  leste  sin.  an  vröu- 
den  ich  des  dicke  schaden  hän;  iedoch  so  ratet  mir  daz  herze  min  :  solde 
ich  minnen  mer  dan  eine,  daz  enwcere  mir  niht  guot,  sone  minnet  ich 
deheine.  seht,  loie  maneger  ez  doch  tuöt!  87,  5  Mich  mac  der  tpt  von 
ir  minnen  ivol  scheiden ,  anders  nieman,  des  hän  ich  gestvorn.  89,  1 
tuo  erz  (=  minne  er  ein  reinez  icvp)  mit  triuiven,  so  hob  iemer  danc 
sm  tugentlicher  Up.  künden  si  ze  rehte  beidiu  sich  hewarn,  für  die  wil 
ich  ze  helle  varn  ....  ich  meine  die  da  minnent  dne  gallen,  als  ich  mit 
triutoen  tuen  die  lieben  frouwen  mm.  91,  29  Swä  zioei  herzeliep  ge- 
friundent  sich  und  ir  beider  minne  ein  triuive  loirt,  die  sol  niemen 
scheiden,  dunket  mich,  al  die  wile  unz  si  der  tot  verbirt.  91,  24  ist 
daz  ich  es  inne  loerden  sol,  loie  dem  herzen  herzeliep  geschiht,  so  heioar 
mich  vor  dem  scheiden  got,  dazwoen  bitter  ist.  Vgl.  auch  91,  13. 
In  89,  15  liegt  eine  Polemik  gegen  die  getheilte  Liebe.  Reine  und 
starke,  anhaltende  Empfindung,  sie  beherrschen  das  Herz  des  Dichters 
in  so  hohem  Grade,  daß  er  über  die  unsittliche  Grundlage  seiner 
Liebe  hinwegsieht,  und  daß  eine  Vereinigung  der  Liebesempfindung 
mit  dem  religiösen  Gefühle  ermöglicht  ist. 

Psychologisch  interessant  ist  es  nun  weiter,  denGründeu  nach- 
zugehen, welche  den  Einzelnen  direct  oder  indirect  zur 
Erkenntniß  seines  unsittlichen  Handelns  und  damit  zur 
Kreuznahme  bewegen.  Zwei  Motive  treten  hierbei  in  den  Vorder- 
grund: einmal  die  Furcht  vor  dem  Tode,  welcher  dem  Gemüthe 
nahegebracht  wird  durch  die  großen  Verluste  der  Christenheit  im 
Orient,  und  sodann  die  Erfolglosigkeit  in  der  Liebe. 

Das  erste  Motiv  erscheint  bei  Hausen,  Rugge,  Johansdorf. 


DER  MINNESÄNGER  ALBRECHT  VON  JOHANSDORF.  103 

Hausen  46,  28  nieman  iceiz,  wie  nähe  im  ist  der  tot.  Rugge  99,  15 
nienian  tveiz,  ivie  lange  er  lebet. 

Johansdorf  wird  erschüttert  durch  das  Massensterben  der  Men- 
schen ;  er  sieht  darin  eine  Folge  des  Zornes  Gottes.  88,  27  Wir  haben 
in  eime  jdre  der  Hute  vil  verlorn,    da  bi  so  merket  gotes  zum. 

Das  zweite  Motiv,  die  Erfolglosigkeit  der  Liebe,  hat  Hausen, 
46,  29  einer  fromven  tvas  ich  zam,  diu  dne  Ion  tum  dienest  nam,  von 
der  sprich  ich  niht  wan  allez  ijuot,  ivan  daz  ir  inuot  zunmilie  ist  loider 
mich  gewesen,  vor  aller  not  ich  ivände  sin  genesen,  do  sich  verlie  min 
herze  üf  genäde  an  sie,  der  ich  da  leider  niene  funden  hdn.  nii 
wil  ich  dienen  dem,  der  Ionen  kan. 

Reinm.  153,  22.  Do  Sprechens  zit  was  wider  diu  wip,  do  warp  ich 
als  ein  ander  man,  do  wart  mir  einiu  als  der  lip,  von  der  ich  niuwan 
leit  geivan.  do  iväyide  ich  ie,  si  wolde  ez  wenden,  bcet  ich  si  noch,  ich 
künde  ez  niht  verenden,  nv,  hdn  ich  mir  ein  leben  genomen, 
daz  sol,  ob  got  von  himele  teil,  mir  noch  ze  staten  komen. 
ludirect  spricht  Reinmar  den  Gedanken  auch   180,  28  ff.  aus. 

Hartm.  211,  8  ff.  Mich  hat  diu  xoerlt  also  getvent,  daz  mir 
der  muot  sich  zeiner  mäze  nach  ir  sent.  dest  mir  nu  guot.  got 
hat  vil  icol  ze  mir  getdn,  als  ez  nu  stät,  daz  ich  der  sorgen  bin  erlän, 
diu  tna^egen  hat  gebunden  an  den  fuoz,  daz  er  beliben  muoz,  swenn  ich 
in  Kristes  schar  mit  fröiden  wünneclichen  var. 

Bei  Hartmann  häufen  sich  die  Motive.  Der  Tod  seines  Herrn 
hat  ihm  alle  irdische  Freude  geraubt,  so  daß  er  nur  noch  an  sein 
Seelenheil  zu  denken  wünscht.  210,  23  Sit  mich  der  tot  beroubet  hat 
des  herrcn  mm,  swie  nil  diu  icerlt  nach  int  gestdt,  daz  Idz  ich  sin,  der 
fröide  min  den  besten  teil  hat  er  dd  hin ,  und  schliefe  ich  nu  der  sele. 
heil.,  daz  wcere  ein  sin.  Freilich  hält  das  erste  Motiv,  wonach  Hart- 
mann auf  die  Liebe  verzichtet,  nicht  nach.  Noch  vor  dem  Kreuzzuge 
(1197)  verliebt  sich  der  Dichter  zum  zweiten  Male,  ohne  daß  freilich 
dies  für  ihn  die  Veranlassung  würde,  in  der  Heimat  zu  bleiben.  Im 
Gegentheil  ist  es  gerade  die  Geliebte,  die  ihn  antreibt,  dem  geleisteten 
Versprechen  nachzukommen,  und  so  für  ihn  ein  neues  Motiv  zur 
Kreuzfahrt  hinzufügt.  217,  20.  Sioelch  frouive  sendet  lieben  man  mit 
rehtem  muot  üf  diso  vart,  diu  . .  .  218,  10  Nu  hat  si  mir  enboten  bi  ir 
liebe,  daz  ich  var.  v.  11  ez  ist  geminnet,  der  sich  dur  die  Minne  eilen- 
den muoz. 

Mit  den  genannten  Dichtern  vergleiche  man  Morungen,  welcher 
durch  die  Erfolglosigkeit  seines  Minnewerbens  nicht  zu  religiösem 
Denken,  sondern  nur  zur  Todessehnsucht  geleitet  wird.     139,  11  ff. 


104  J-  HORNOFF 

A|uch  die  Zwecke,  die  der  Einzelne  durch  die  Kreuzfahrt  zu 
erreichen  hoflft,  sind  nicht  die  gleichen. 

Reinmar  und  Hartmann  betonen  neben  dem  ewigen  auch  den 
zeitlichen  Lohn,  neben  der  Seligkeit  den  irdischen  Ruhm. 

Reinmar  180,  38  wir  sollen  hiure  lüesen  froer  danne  vert.  söne 
(Regel ,  yö  Haupt)  mac  ein  man  erwerben  des  er  gert^  lop  und  ere  und 
darzuo  gotes  hulde. 

Hartm.  210,  7  wan  swem  daz  ist  beschert^  daz  er  da  wol  gevert, 
daz  giltet  beidiu  teil,  der  loerlte  lop,  der  sele  heil. 

Hausen,  Johansdorf,   Rugge  kennen  nur  den  himmlischen  Lohn. 

Hausen  46,  38  nu  tvil  ich  dienen  dem,  der  Ionen  kan.  Er  denkt 
hierbei  gewiß  nicht  an  den  irdischen  Ruhm,  mit  dem  ja  Gott  eben- 
falls lohnen  könnte.  Dafür  spricht  53,  35:  Swerz  kriuze  nam  und  loider 
loarp,  dem  loirt  doch  got  ze  jungest  scMn,  stoann  im  diu  porte  ist 
vor  verspart,  die  er  tuot  ilf  den  Hüten  sm. 

Johansdorf  87,  23  ivir  stiln  varn  durch  des  riehen  gotes  ere  gerne 
ze  helfe  dem  heilegen  grabe,  swer  daz  bestrüchet,  der  mac  icol  be- 
snaben.  ddne  mac  niemen  gevallen  ze  sere,  daz  meine  ich, 
so  die  sele  werden  gevage,  so  si  mit  schalle  ;  ■  limel"  ^~eren. 
94,  15  Quote  liute,  holt  die  gäbe,  die  got  unser  herv'.  dbe  git .  der  al 
der  weite  hat  geioalt.  dienet  sinen  solt,  der  den.  •  ■  >'  scelJy .' aften 
dort  behalten  lit  mit  vrÖuden  iemer  manicvt  i  etc.  V;ri.  auch 
89,  32  ff. 

Rugge  96,  19  ez  wurde  ein  langer  wernder  hört,  swer  got  nu  dienen 
künde,  daz  wcere  guot  und  ouch  mm  rät,  daz  ivizzent  algeliche.  vil 
maneger  drumbe  enphangen  hat  daz  frone  himelriche\  und 
sonst  öfter. 

Bei  Johansdorf  und  Hartmann  kommt  aber  noch  der  Wunsch  hinzu, 
den   halben  Lohn   für   die  Fahrt  der  Geliebten   zukommen  zu  lassen. 

Job.  94,  31  Wilt  ab  du  {=  Minne)  üz  minem  herzen  scheiden  niht, 
. . . ,  viler  ich  dich  dan  mit  mir  in  gotes  lant ,  so  si  er  umbe  halben 
Ion  der  guoten  hie  gemant. 

Hartm.  211,  20  Swelch  frouwe  sendet  lieben  man  mit  rehtem  muole 
üf  dise  vart,  diu  koufet  halben  Ion  daran,  ob  si  sich  heime  also 
bewart,  daz  st  verdienet  kiuschiu  wort,  si  bete  für  st  beidiu  hie,  so  vert 
er  für  st  beidiu  dort. 

Ursprünglich  freilich  hat  Hartmann  den  halben  Lohn  seinem 
verstorbenen  Herrn  zugedacht.  210,  31  mac  iine  (=  dem  herren)  ze  helfe 
komen  min  vart,  diech  hdn  genomen,  ich  wil  irm  halber  jehen,  vor 
gote  müeze  ich  in  gesehen. 


DER  MINNESÄNGER  ALBRECHT  VON  JOHANSDORF.  105 

Überblicken  wir  nochmals  den  Inhalt  der  Gedankenwelt  Johans- 
dorfs,  so  ist  es  das  Sittliche  seines  Denkens  und  Empfin- 
dens, was  vor  Allem  hervortritt,  und  wodurch  er  sich  vor  sämmt- 
lichen'  Minnesängern  der  älteren  Zeit  auszeichnet.  Er  ist  ein  vor- 
zugsweise sittlicher  Charakter.  Die  Unsitte  seiner  Zeit  vermag  auch 
er  nicht  zu  durchbrechen,  aber  die  Stärke  und  Reinheit  seiner  Empfin- 
dung hilft  ihm  darüber  hinweg,  das  Unsittliche  fernerhin  noch  als 
Unrecht  zu  empfinden.  Reinmar  gegenüber,  der  ihm  an  sittlicher  Fcin- 
fühligkeit  am  nächsten  steht,  ist  er  Realist.  Jener  erkennt  sehr  wohl 
das  Unzuträgliche  seines  Handelns.  Er  stellt  sich  (165,  37)  vor  die 
Wahl  zwischen  dem  Rechten  aber  Unangenehmen  einerseits  und  dem 
Unrechten  aber  Angenehmen  anderseits.  Aber  er  entscheidet  sich 
nicht.  An  anderer  Stelle  (181,  13),  wo  er  sich  für  das  Rechte  ent- 
schieden hat,  vermag  er  mit  dem  Unrecht  nicht  vollständig  zu  brechen, 
nicht  Meister  seiner  Gedanken  zu  werden.  Die  Kluft  zwischen  Denken 
und  Handeln  bleibt  bei  ihm  bestehen,  während  Johansdorf  Beides  zu 
verschmelzen  weiß   und  in  sich  befriedigt  ist. 

Was  die  Form  der  Gedanken  anlangt,  so  berühren  sich  natürlich 
einzelne  Ausdrücke  und  Wendungen  in  den  Minneliedern  mit  denen 
anderer  Minnesänger,  und  doch  fehlt  auch  hier  das  Originelle  nicht, 
was  zum  Theil  durch  das  Sittliche  von  Johansdorfs  Empfinden, 
zum  Theil  durch  die  Stärke  seines  Naturgefühles  bedingt  ist.  Auf 
letzterem  beruht  die  Beschreibung  der  Blumenpracht  90,  32  und  der 
herrliche  Refrain  (90,  23.  31):  fröude  und  sumer  ist  noch  allcz  hie^  auf 
ersterem  die  Betonung  des  Unrechts,  was  die  Dame  durch  ihr  falsches 
Spiel  an  dem  Dichter  begeht :  86,  9  Ich  toil  ir  raten  hi  der  sele  min 
durch  keine  liehe  niht  tvan  durch  daz  reht  etc. 

Auch  durch  Entlehnung  aus  fremdem  Gebiete  führt  derselbe 
neue  Wendungen  und  Formen  in  den  Minnesang  ein.  In  den  Schatz 
der  Volkspoesie  greift  er,  um  den  vollklingenden,  im  älteren  Minne- 
sänge einzig  dastehenden  Ausdruck  der  Freude  über  die  vorgestellte 
Ankunft  eines  Liebesbotens  zu  gewinnen.    91,  36  cf.  S.   111. 

Als  den  ersten  Versuch,  die  romanische  Form  des  jeti  parii  in 
freier  Weise  nachzuahmen,  sehe  ich  das  Lied  89,  9  an.  cf.  S.  110. 

VI.  Zeitliche  Anordnung. 
Auf   formelle    und    inhaltliche  Gesichtspunkte  gestützt,    versuche 
ich    eine  Anordnung   der  Lieder  zu  geben,    indem    ich  dabei  von  der 
Voraussetzung  ausgehe,  daß  die  Lieder  eines  Tones  zeitlich  nicht  allzu- 
fern auscinanderliegen    und  vor  oder    nach    denjenigen    eines   anderen 


106  J-  HORNOFF 

Tones  entstanden  sind.  Nur  86,  1  und  86,  2ö  trenne  ich  zeitlich,  da  der 
Ton  der  letzteren  Strophe  eine  Modification  von  dem  der  ersteren  ist. 
Einen  Anhaltspunkt  bei  Bestimmung  der  Reihenfolge  gewinnt 
man  zunächst  durch  den  Kreuzzug,  wodurch  sich  diejenigen  Lieder, 
welche  eine  Andeutung  desselben  enthalten  (=  Kreuzlieder)  von  den 
übrigen  (den  Minneliedern)  als  besondere  Gruppe  abheben.  Man  wird 
sie  zeitlich  hinter  die  Minnelieder  stellen  müssen,  da  sie  der  conven- 
tioneJlen  Formeln,  die  in  diesen  noch  ziemlich  häufig  sind,  entbehren 
und  eine  höhere  Stufe  der  Technik  aufweisen.  Ausschließlich  in  den 
Kreuzliedern  findet  sich  die  Form  der  Ausrufe  (90,  4,  94,  35  flf. 
95,  6  fi".),  der  Anrede  an  die  Dame  (87,  21),  an  die  Minne  (94,  25), 
an  die  eigene  Person  (Rede  der  Frau  94,  38),  die  Schwur-  und  Fluch- 
form (87,  5.  88,  9.  87,  37.  87,  9.  35.  89,  30) ,  Personification  (94,  25), 
Chiasmus  (94,  23.  86,  17),  die  ungemein  kühne  Parenthese  (89,  5), 
die  wirkungsvolle  doppelte  Antithese  (94,  21.  22.  94,  24)  oder  die  in 
zwei  benachbarten  Versen  wiederholte  Antithese  (94,  36  f.),  der  Dialog 
(87,  15  ff".),  die  Einführung  anderer  Personen  als  redend  (87,  14. 
94,  35.  95,  13,  89,  25).  Mit  Absichtlichkeit  wiederholt  der  Dichter 
bestimmte  Satzformen  (88,  19.  94,  15.  Haupt-  mit  Relativsatz  wieder- 
holt oder  einfache  Parataxe),  um  seine  Rede  ernst  und  eindringlich 
zu  gestalten.  —  Auch  die  complicirteren  Töne  gehören  den  Kreuz- 
liedern an  (Stollen  mit  drei  Versen:   89,  21.  94,  15;    mit  vier  Versen: 

87,  29).  —  Was  die  Formelhaftigkeit  der  Minnelieder  anlangt,  so  lese 
man  nur  89,  9.  90,  16.  92,  7. 

Innerhalb  der  Kreuzlieder  werden  die  wenigen  Anspielungen  auf 
die  Kreuzfahrt  und  auf  die  Bulle  Gregors,  welche  Wolfram  in  der 
angeführten  Abhandlung^)  aufgedeckt  hat,  maßgebend  sein.  89,  21 
fällt  mit  seiner  Hindeutung  auf  den  ersten  Zug  der  Kreuzfahrer  unter 
Friedrich  {„die  hinnen  varn"")  in  den  Sommer  1189'^).  .87,  29  (speciell 

88,  19  ff,),  86,  25  und  94,  15  enthalten  Anklänge  an  die  Bulle  Gregors? 
welche  am  27.  März  1188  auf  dem  Reichstage  von  Mainz  zur  Ver- 
lesung kam,  fallen  also  hinter  diesen  Termin.  Weiter  sind  87,  29  und 
87,  5  entstanden ,  nachdem  der  Dichter  das  Kreuz  genommen  hat- 
In  der  dritten  Strophe  von  89,  21  dagegen  schwankt  der  Dichter  noch, 
ob  er  in  der  Heimat  bleiben  oder  sich  am  Zuge  betheiligen  soll.  Ent- 
weder ist  also  die  Kreuznahme  noch  nicht  erfolgt,  oder  sie  ist  erfolgt, 
und  der  Dichter  denkt  trotzdem  an  die  Möghchkeit  des  Zurückbleibens, 


»)  Ztscbr.  f.  d.  Alt.  30,   111. 
«)  Ztscbr.  f.  d.  Alt,  30,  114, 


DER  MINNESÄNGER  ALBRECHT  VON  JOHANSDORF.  107 

Freilich  würde  er  sich  in  letzterem  Falle  eiues  Wortbruchs  Gott  gegen- 
über schuldig  machen.  Dieser  Gedanke  tritt  aber  bei  seinen  nächt- 
lichen Erwägungen  nicht  auf;  es  peinigt  ihn  nur  die  Schuld  seiner 
unerlaubten  Liebe.  Ich  nehme  demnach  das  Erstere  an :  die  Kreuz- 
nalime  ist  noch  nicht  erfolgt.  Dann  aber  lallen  87,  5  und  87,  29  nach 
89,  21,  also  zwischen  den  Sommer  1189  und  den  Aufbruch  Leopolds 
von  Osterreich  Sommer  1190'j,  mit  dessen  Heere  Johansdorf  den  Zug 
antrat.  Innerhalb  dieses  Zeitraumes  muß  der  Dichter  das  Kreuz  ge- 
nommen haben. 

Kurz  vor  dem  Aufbruche  sind  86,  25  und  94,  15  entstanden. 
In  94,  15  (v.  35  ff.)  ist  der  Streit  mit  der  Geliebten  wegen  der  Kreuz- 
nähme  ausgeglichen,  welcher  in  87,5  und  87,29  noch  eine  große 
Rolle  spielt.  Der  Dichter  bittet  die  Minne  (94,25),  ihn  bis  zu  seiner 
Rückkehr  freizulassen.  Die  Geliebte  zittert  vor  dem  nahen  Tage  der 
Abfahrt  (95,  5  ez  nähet,  er  wil  hinnen  varn).  In  86,  25  bittet  der  Dichter 
Gott,  über  die  Ehre  der  Geliebten  bis  zu  seiner  Rückkehr  zu  wachen- 
94,  15  fällt  wohl  noch  etwas  später  als  86,  25,  da  sich  der  Dichter 
in  der   zweiten  Strophe  schon  in  der  Ferne  wähnt. 

Die  Ordnung  der  Lieder  ist  also  folgende: 
89,  21  Sommer  1189. 


87,5.  87,29     Sommer  1189  bis  Sommer  1190. 
86,  25.  94,  15  Sommer  1190. 

Mit  geringerer  Sicherheit  lassen  sich  die  Minncliedcr  ordnen. 

Ich  habe  schon  früher  wahrscheinlich  zu  machen  gesucht,  daß 
die  beiden  Lieder  91,  8  und  91,  22  den  Abschluß  des  Minneverhält- 
nisses zur  Voraussetzung  haben;  sie  würden  wir  demnach  an  das 
Ende  der  Reihe  stellen  müssen. 

89,  9.  90,  16.  90,  32  enthalten  viel  conventionelle  Phrasen: 
Schmerz  über  die  Entfernung  von  der  Geliebten  und  über  ihre  Hart" 
herzigkeit,  Freude  über  den  erhofften  Anblick. 

92,  7  ist  geradezu    stümperhaft    und  erscheint  als  Erstlingswerk. 

91,  36  ist  ein  Virtuosenstückchen,  welches  des  schlichten  Aus- 
diuckes  wahrer  Empfindung,  wie  ihn  die  späteren  Lieder  aufweisen, 
entbehrt.  Alle  die  genannten  werden  wir  aus  den  bezeichneten  Grün- 
den an  den  Anfang  zu  stellen  haben,  etwa  in  der  Reihenfolge:  92,  7. 
-  (89,  9.  90,  16.  90,  32)  —  91,  36. 

86,  1  schlägt  plötzlich  einen  neuen  Ton  an.  Das  conventionelle 
Minnetreiben    scheint   unserem  Dichter  lästig,    das  Kokettieren  seiner 

')  Wolfram  a.  a.  O.  S.  114. 


108  J-  HORNOFF 

Dame  widerlich;  die  Eigenart  Johansdorfs,  der  speciell  sittliche  Cha- 
rakter kommt  zum  Durchbruch,  er  verlangt  nicht  um  der  Liebe,  son- 
dern um  des  Rechten  willen  Offenheit  von  der  Dame,  bestimmte 
Zusage  oder  Absage  ohne  Umschweife  (86,  9).  Das  dürfte  der  Anlaß 
zu  dem  folgenden  Abschluß  des  Verhältnisses  gewesen  sein,  und  so 
schließt  sich  der  Kreis.   Das  Bild  der  Reihenfolge  würde  dieses  sein: 

I.  92,  7.      89,  9.  90,  16.  90,  32.      91,  36. 
II.  86,  1. 

III.  9l78r"9l7~22. 

Prüfen  wir  nun  noch,  wie  sich  die  Strophenzahl  der  Lieder  zu 
der  aufgestellten  Anordnung  verhält. 

Die  Strophenzahl  kann  nur  insoweit  als  Kriterium  gelten,  als 
man  annehmen  darf,  daß  der  Entstehung  mehrstrophiger  Lieder  die 
einstrophiger  vorangegangen  sein  muß,  in  unserem  Falle,  daß  die 
Entstehung  der  dreistrophigen  Lieder  den  Vorgang  mindestens  eines 
zweistrophigen,  die  Entstehung  der  zweistrophigen  den  Vorgang  minde- 
stens eines  einstrophigen  Liedes  voraussetzt. 

Falsch  dagegen  wäre  die  Annahme,  daß  sämmtliche  ein- 
strophigen vor  den  zweistrophigen,  sämmtliche  zweistrophigen 
vor  den  dreistrophigen  gedichtet  seien,  dem  Dichter  mithin  die  Mög- 
lichkeit benommen  gewesen  wäre,  vom  dreistrophigen  Liede  zum  zwei- 
und  einstrophigen  zurückzukehren. 

Die  Strophenzahl  der  Lieder  stellt  sich  nun  folgendermaßen: 

Von  den  Minneliedern  sind  die  meisten  zweistrophig:  89,  9. 
90,  16.  90,  32.  91,  8.  91,  22;  nur  eines  dreistrophig:  86,  1;  zwei  ein- 
strophig:  91,  36.  92,  7. 

Unter  den  Kreuzliedern  finden  sich  zwei  dreistrophige:  87,  5 
und  89,  21,  zwei  zweistrophige:  87,  29.  94,  35.  Die  übrigen  sind  ein- 
strophig:  86,  25.  88,  19.  88,  33.  94,  15.  94,  25.  —  Daß  gerade  unter 
den  Kreuzliedern,  deren  Entstehung  später  angesetzt  wird,  als  die 
der  Miunelieder,  so  viel  einstrophige  erscheinen,  darf  nicht  wunder 
nehmen,  da  drei  von  den  fünf  Liedern  sich  der  Spruchform  nähern, 
zu  deren  Charakter  ja  die  Einstrophigkeit  gehört:  88,  19  (indirecte 
Ermahnung  zum  Kreuzzuge).  94,  15  (directe).  88,  33  (allgemeine  Er- 
mahnung zur  Treue,  an  Liebende  gerichtet). 

Betrachten  wir  nun  die  Aufeinanderfolge  der  Lieder  mit  Rück- 
sicht auf 'ihre  Strophenzahl,  so  beginnt  ein  einstrophiges  die  Reihe 
der  Minnelieder:  92,  7.  Es  folgen  die  z\Yeistrophigeu:  89,  9.  90,  16, 
90,  32,  mit  Unterbrechung   durch   ein  einstrophiges  (91,  36)   das  drei- 


DER  MINNESÄNGER  ALBRECHT  VON  JOHANSDORF.  109 

strophige  86,  1.  Den  Beschluß  bilden  zwei  zweistrophige  Lieder  91,  8. 
91,  22. 

Die  höchste  Strophenzahl  ist  bereits  innerhalb  der  Minnelieder 
erreicht.  Die  Reihe  der  Kreuzlieder  beginnt  gleich  mit  zwei  drei- 
strophigen:  89,21.  87,5  und  wird  fortgesetzt  mit  zwei-  und  ein- 
strophigen.    Ton  87,  29  enthält    ein    zweistrophiges:    87,  29,  und  zwei 

einstrophige  Lieder:    88,  19.    88,  33.  86,  25   ist    einstrophig.    — 

Ton  94,  15  setzt  sieh  aus  zwei  einstrophigen  (94,  15.  94,  25)  und 
einem  zweistrophigen  Liede  (94,  35)  zusammen. 

Wir  haben  also  thatsächlich  ein  Fortschreiten  vom  ein-  bis  zum 
dreistrophigen  Liede  festzustellen.  —  Auch  von  diesem  Gesichtspunkte 
aus  läßt  sich  die  Möglichkeit  wenigstens  der  obigen  Anordnung  nicht 
bestreiten. 

Haben  wir  die  Minnelieder  vor  die  Kreuzlieder  zu  setzen,  so 
sind  sie  etwa  in  der  Zeit  1187 — 1188  entstanden.  In  das  Jahr  1189, 
wo  Johansdorf  der  Entschluß  der  Kreuznahme  nahetritt,  dürfte  keines 
der  Minnelieder  fallen,  da  ja  sonst  ein  Hinweis  auf  den  Kreuzzug 
nicht  zu  umgehen  gewesen  wäre '). 

VIL  Fremde  Einflüsse. 

Am  deutlichsten  tritt  der  Einfluß  der  romanischen  Dichtung  her- 
vor, welcher  durchaus  kein  directer  zu  sein  braucht,  sondern  von  den 
romanisierenden  Standesgenossen  Johansdorfs  übermittelt  sein  kann. 
Dieses  gilt  vor  allen  Dingen  von  den  Phrasen  der  conventioneilen 
Minnepoesie,  die  auch  Johansdorf  im  Anfange  seines  Dichtens  häufig 
verwendet  (89,  9  ff.  00,  16  ff.  91,  l  ff.),  die  aber  später,  je  näher  ihm 
der  Entschluß  zur  Kreuznahme  tritt,  um  so  mehr  verschwinden  und 
einem  warmen  Tone  der  Empfindung  Platz  machen. 

Romanisch  ist  die  Durchführung  zweier  Reime  durch  Stollen  und 
Abgesang  (87,  5)  und  die  Verknüpfung  zweier  Strophen  durch  den 
Reim  (87,  5  erste  und  zweite  Strophe).  Die  Anwendung  vocalischen 
Gleichlautes  in  den  Reimen  der  Stollenverse  und  in  der  Waise  des 
Abgesangs  innerhalb  der  beiden  Strophen  von  90,  32  haben  wir  auf 
eine  freie  Behandlung  des  romanischen  Princips  der  Reimhäufung 
und  Reimentsprechung  zurückzuführen  gesucht.  —  Der  umschließende 
Reim''),  wie  die  Verbindung  kurzer  und  langer  Verse') ,  die  bei  Johans- 
dorf sich  nicht  selten  findet,  deuten  auf  denselben  Ursprung. 


»)  Nach  Becker  (a.  a.  O.  S.  229)  hat  J.  nicht  vor  1189  gedichtet. 
')  Becker  a.  a.  O.  S.   126. 
*)  Bartsch  Germ.  II,   282. 


,110  J-  HORNOFF 

Einen  Ansatz  zu  dem  jeu  parti  {prov.  jocx  partitz,  partimens  oder 
partia^),  dem  geteilten  spil  (cf.  Hai'tm.  216,  8)  möchte  ich  in  89,  9 
finden.  Der  Dichter  richtet  hier,  nachdem  er  über  das  Vergebliche 
seines  Dienstes  geklagt  hat,  an  einen  Standesgenossen  {herre)  die 
Frage,  ob  es  erlaubt  sei,  zwei  Frauen  heimlich  zu  dienen  (oder 
nicht)?  An  die  Antwort  desselben  müßte  sich,  wenn  das  Lied  ein 
durchgeführter  ye?*  par^i  wäre,  eine  Discussion  schließen,  in  welcher 
der  Fragesteller  die  Gegnerschaft  übernimmt.  Diese  Discussion  erfolgt 
nicht,  ist  aber  doch  in  der  Antwort  andeutungsweise  enthalten.  Der 
Gefragte  gibt  die  Zulässigkeit  des  doppelten  Dienstes  stillschweigend 
zu,  läßt  aber  den  zu  erwartenden  Einwand  des  Gegners:  daß  man 
dann  auch  den  Frauen  die  Entgegennahme  mehrseitiger  Huldigung 
gestatten  müsse,  nicht  gelten.  Der  Dichter  erspart  sich  eine  weitere 
Entgegnung,  da  diese  Entscheidung  sich  als  einseitig  und  damit  als 
unzulässig  für  jeden  gerecht  Urtheilenden  ergibt.  Der  Antwortende 
erscheint  somit  gleichsam  als  der  Geschlagene.  Es  ist,  wie  gesagt, 
nur  ein  Ansatz  zum  jeu  parti,  aber  als  solcher  nicht  zu  verkennen. 
Man  vergleiche  hierzu  Rubin  MSH.  I,  314",  vierte  Strophe  des  Kreuz- 
liedes VII,  wo  die  umgekehrte  Frage  an  eine  Frau  gerichtet  ist. 

Das  Lied  *93,  12  mit  einem  der  lang  ausgesponnenen  höfischen 
Wechselgespräche,  deren  Ursprung  bereits  W.  Grimm  (Athis  und  Pro- 
philias  S.  19)*^)  als  romanisch  nachgewiesen  hat,  fällt  als  unecht 
außer  Betracht. 

Eine  zweite  Quelle,  aus  der  Johansdorf  wie  überhaupt  der  ganze 
Minnesang  schöpft,  ist  die  Volkspoesio.  Richard  Meyer ^)  hat  die  in 
Minnesangs  Frühling,  Carmina  Burana,  bei  Walther,  Wolfram,  Neit- 
hart  häufig  wiederkehrenden,  gleichartigen  Wendungen,  wo  nicht  an 
gegenseitige  Entlehnung  zu  denken  ist,  als  volksthümliche  Bestand- 
theile  des  Minnesangs  aufgefaßt.  Es  sind  dies  bei  Johansdorf  die  fol- 
genden: *94,  5  volgent  mmer  rmte.  —  *92,  28  und  solde  ich  iemer  daz 
geleben.  —  *92,  30  so  miles  min  herze,  in  fröiden  swehen.  —  *93,  36 
länt  mich  noch  geniezen.  —  *93,  38  iiich  mac  wol  verdriezen.  —  *92,  23 
unsanfte  mir  daz  tuot.  —  *92,  14  der  al  der  loerlte  fröide  git.  —  86,  8 
seht,  wie  maneger  ez  doch  tuot.  —  *92,  32  so  ivurde  ich  von  sorgen  frt. 
—  95,  1  durch  den  du  locere  ie  hochgemuot.  —  *94,  14  und  dähi  hoch- 
gemuot.  —  *93,  37  daz  ich  iu  von  herzen  ie  toas  holt.  —  95,  6  lool  si 
scbUc  xoip.  —  91,  35  seht,  so  w%irde  ich  niemer  mere  vrö.  —  *94,  14  daz 

')  Diez,  Poesie  der  Troubadours  2.  Aufl.  Ton  K.  Bartsch,  Leipzig  1883.  S.  98  f. 

")  Burdach  a.  a.  O.  S.  82. 

*)  R.  Meyer,  Alte  deutsche  Volkslieder.     Ztschr.  f.  d.  Alt.  XXIX,  134  ff. 


DER  MINNESÄNGER  ALBRECHT  VON  JOHANSDORF  Hl 

ir  deste  werder  sint.  —  89,  19  wurre  ez  iht.  —  86,  22  hülfe  ez  i/it.  — 
88,  9  für  alliu  imp.  —  87,  21  nu  entrure  niht  sere.  —  91,  22  daz  iveiz 
ich  ivol.  —  91,  21  so  ist  mm  herze  leides  vol.  —  91,  29.  31  sicä  zivei 
herzeliep  gefriundeut  sich,   .  .  die  sol  niemen  scheiden  dimket  mich. 

Als  sprichwörtliche  Redensarten  sind  bezeichnet:  86,  5.  7  solde 
ich  minnen  mer  dan  eine,  sone  minnet  ich  deheine.  95,  14  so  miieze  sin 
der  pflegen    (,  durch  den  etc.). 

Berj^er')  fügt  noch  hinzu:  91,  37  wcrre  ich  dem  vhit,  ich  wolt  in 
grüezen. 

Als  gnoniische,  dem  Volksliede  entstammende  Elemente:  87,  f) 
Mich  mac  der  tot  von  ir  minnen  lool  scheiden.  Zu  91,  29  ff.  vgl.  IJhland, 
Volkslieder  80,  1.  98,  1.  101,  4.  Schriften  III,  442.  —  94,  36  f  wie 
vil  mir  doch  von  liebe  leides  ist  beschert,  waz  mir  diu  liebe  leides  tuet. 
—  95,  13  lebt  min  herzeliep  od  ist  er  tot.  cf.  Uhlaud  150,  3.  Schriften 
III,  428.  524.    IV,  179. 

Als  Wünsche  und  Verwünschungen  volksthümlicher  Art  führt  B. 
auf  (S.  453):  88,  13  Ine  erwache  ninier  ezn  st  nnn  er.tte  segert,  daz  got 
ir  eren  müeze  phlegen  und  Idze  ir  Itp  mit  lobe  hie  gesten  etc.  87,  12 
heileger  got,  tvis  gencedic  uns  beiden.  91,  26  so  beioar  mich  vor  dem 
scheiden  got. 

Verwünschungen:  87,  9  sxoenne  ich  von  schtdden  erarne  ir  zorn, 
so  bin  ich  vervluochet  vm^  gotc  als  ein  heiden.  —  87,  35  got  vor  der  helle 
niemer  mich  beicar,  ob  daz  mm  wille  st. 

Die  Umschreibung  der  Negation  durch  Ausdrücke,  die  etwas 
Unmögliches  bezeichnen,  wird  als  volksthümliches  Element  in  An- 
spruch genommen  (S.  455).  92,  3  siver  si  vor  mir  nennet,  der  hat  gar 
mich  zefriimde  ein  ganzez  jär,  het  er  mich  joch  verbrennet.  —  Verglichen 
wird  damit  MSH.  II,  171''  lieber  het  ich  Ronie  und  Engellant  verbrennet. 
Von  der  Volkspoesie  hat  der  Dichter  auch  geborgt,  wenn  er  andere 
Personen  als  redend  einführt  cf.  Germ.  XXXIII,  S.  431. 

Unbedeutender  als  romanische  Kunst-  und  deutsche  Volkspoesie 
wirkt  die  geistliche  Dichtung  auf  Johansdorf  ein.  Das  aus  ihr  ent- 
lehnte Bild  für  die  Geliebte  *93,  4  sist  aller  güete  ein  gimme  fällt  mit 
dem  ganzen,  als  unecht  erkannten  Liede  hinweg.  Die  Form  des 
Gebetes  87,  12.  88,  17.  90,  15.  95,  14,  die  Berger  zum  Theil  zu  der 
volksthümlichen  Grundlage  zieht,  ließe  sich  etwa  noch  hierher  rechnen. 
Besonders  dürfte  der  Schluß  von  87,  29  (88,  18)  daz  ir  geschehe,   also 


')  Arnoli]    Berger,    Volksthiimliche  Grundlagen    des    Minnesangs.    Ztschr.    f.    d. 
Phil.  XIX,  440. 


112  A.  HEUSLER 

miieze  ouch  mir  ergen  an  die  Schlüsse  geistlicher  Epen  erinnern,  wo 
der  Verfasser  für  sein  Seelenheil  bittet,  oder  den  Leser  auffordert, 
dies  zu  thun.  Burdach  findet  weiter  in  der  Neigung  zum  Parallelisnous, 
in  der  Anknüpfung  der  Sätze  mit  7iu,  in  der  Voranstellung  des  Haupt- 
begriffs (ef,  a,  a.  O.  S.  92.  93) ,  in  der  Anwendung  der  rhetorischen 
Frage  mit  negativem  Sinne  (S.  73)  einen  Einfluß  der  geistlichen  Lite- 
ratur, Hinsichtlich  der  Anrede  der  Zuhörer  läßt  er  die  Möglichkeit 
geistlicher  oder  volksthümlicher  Einwirkung  gelten.  —  Die  religiösen 
Anschauungen  und  Empfindungen  aber,  die  Johansdorfs  Lieder  durch- 
ziehen, haben  mit  der  geistlichen  Dichtung  nichts  zu  thun;  sie  sind 
auf  des  Verfassers  Naturell  und  persönliche  Beziehungen  zu  geist- 
lichen Herren  zurückzuführen. 

LEIPZIG,  im  Mai  1888.  J.  HORNOFF. 


ZUR  LAUTFORM  DES  ALEMANISCHEN. 


L  Die  e-Laute 

In  dem  Aufsatze  über  die  umlauthindernden  Consonanten  des 
Ahd.,  Beitr.  4,  542  f.,  549,  hatte  Braune  die  Ansicht  aufgestellt,  das 
eist  im  12.  Jahrh.  an  Stelle  eines  frühern  unumgelauteten  a  auftre- 
tende Umlauts -e  dürfe  nicht  als  ein  auf  rein  lautlichem  Wege  ent- 
standener Laut  aufgefaßt  werden;  „denn  die  Zeit,  wo  der  Umlaut 
des  a  zu  e  lautlich  herbeigeführt  wurde,  war  das  8.  und  9.  Jahrh." 
Jene  später  auftauchenden  e  seien  vielmehr  analogisch  nach  dem 
Muster  der  altern,  echten  Umlauts -e   gebildet  worden. 

Franck,  der  Zs.  f.  d.  A.  25  auf  die  doppelte  Vertretung  des 
Umlauts -e  in  modernen  Maa.  aufmerksam  machte,  geht,  ohne  sich 
doch  zu  Braune's  Auffassung  in  bestimmten  Gegensatz  zu  stellen, 
offenbar  von  der  umgekehrten  Anschauung  aus,  wenn  er  S.  224  sagt: 
„die  Pralle,  in  denen  der  Umlaut  nur  durch  die  Beschaffenheit  der 
zwischen  dem  a  und  dem  i  der  folgenden  Silbe  befindlichen  Conso- 
nanz  aufgehalten  war,  scheinen  den  geschlossenen  Laut  noch  zu 
erreichen."  Auch  seine  Worte  „die  Mouillierung  hatte  nicht  mehr 
die  Kraft,  so  viel  i- Farbe  in  die  zweitvorhergehende  Silbe  abzu- 
geben, als  in  die  unmittelbar  vorhergehende"  zeigen  klar,  daß  er 
auch  in  Fällen  wie  mhd.  raenege,  megede  den  einer  jüngeren  Periode 
angehörenden  Umlaut  des  stammhaften  a  auf  lautmechanischem  Wege 
entstanden  sein  läßt. 


ZUR  LAUTFORM  DES  ALEMANNISCHEN.  113 

Im  Anschluß  an  Franck  spricht  Kauflfmann,  der  die  beiden  zeit- 
lich getrennten  Umlaute  im  Schwäbischen  genauer  nachweist  (Voca- 
lismus  des  Schwab.  §.  9),  von  einem  „Jüngern  Lautwandel"  des  a  >  e. 
Besonders  die  Ortsnamen,  die  er  als  Beispiele  dafür  anführt,  beweisen 
vollkommen,  daß  dieses  secundäre  Umlautsproduct  auf  rein  lautlichem 
Wege  entstanden  sein  muß;  kann  doch  von  analogischem  Eindringen 
des  e  bei  den  außerhalb  jedes  Formensystems  stehenden  Ortsnamen 
nicht  die  Rede  sein. 

Anderseits  bemerkt  jedoch  Franck  a.  a.  O.  S.  224:  „Zugleich 
scheint  sich  das  grammatische  Bewußtsein  für  den  Umlaut  geltend 
gemacht  zu  haben,  und  es  ist  zu  begreifen,  daß  Wörter,  die  ihn  bloß 
der  Analogie  zufolge  bekommen ,  kein  e  mehr,  sondern  nur  e*  er- 
halten." 

Hier  scheint  mir  nun  ein  Irrthum  zu  liegen.  Wo  das  Sprach- 
gefühl bloß  an  ein  Gegenüber  von  sack  —  secke,  blat  —  bleter  ge- 
wohnt ist,  wird  zweifellos  ein  neugeschaffener  Umlautplural  —  nehmen 
wir  z.  B.  die  im  Aleman.  verbreiteten  secundären  Plurale  zu  Tag, 
Fahne  —  ebenfalls  geschlossenes  e  enthalten  müssen.  Es  ist  ganz 
undenkbar,  daß  die  Aualogieschöpfung  ihr  Muster  nicht  genau  be- 
folgt hätte.  Da  die  in  Frage  kommenden  Maa.  die  Scheidung  ver- 
schiedener e- Qualitäten  mit  völliger  Sicherheit  durchführen,  können 
sie  nicht  aus  irgend  einem  Grunde  bei  den  Neubildungen  nach  der 
Proportion  a  :  e  =:  a  :  x  fehl  gegangen  sein  und  für  x  ein  e  statt 
eines  e  eingesetzt  haben.  Auch  dürfen  wir  doch  nicht  glauben,  der 
Sprechende  habe  ein  Gefühl  davon,  daß  geschlossenes  e  weiter  von 
a  abliege  als  offenes  e,  und  könne  deshalb  bei  jener  jungen  Plural- 
bildung nur  zu  einer  Form  mit  e,  nicht  zu  einer  mit  e  sich  ent- 
schließen. 

Wenn  also  die  erwähnten  Plurale  teg  und  fena  mit  offenem  e 
lauten,  wie  dieß  thatsächlich  der  Fall  ist,  so  müssen  sie  sich  nach 
einem  altern  Muster  a  :  e  gerichtet  haben.  Dieses  Muster  wurde  nun 
eben  dargeboten  von  den  zahlreichen  Substantiven,  deren  einstiges 
Endungs-i  wegen  der  bekannten  hemmenden  Consonanten  und  Con- 
sonantenverbindungen  oder  wegen  einer  zwischenliegenden  Silbe  erst 
in  einer  spätem  Zeit  umlautend  gewirkt  und  demgemäß  lautgesetzlich 
offenes  (j  erzeugt  hatte.  Wörter  wie  mhd.  beche,  nehte,  beige  stellten 
in  den  aleman.  Maa.  lautgesetzlicher  Weise  ein  offenes  e  des  Plurals 
dem  a  des  Singulars  gegenüber.  Diese  häufigen  Wörter  konnten 
naturgemäß  in  eine  Art  von  Concurrenz  mit  jenen  Wörtern  wie  sack 
—  secke,    blat  —  bleter  treten.     Es  war  eine  Maclitfrage,  ob  ein  neu 

GERMANIA.     Neue  Reihe  XXII.  (XXXIV.)  Jahrg.  8 


114  A.  HEUSLER 

gebildeter  Umlauts -Plural   das   geschlossene   e    der  letztern  oder  aber 
das  offene  e  der  erstem  annehmen  würde. 

Bevor  ich  dieß  an  der  Hand  einer  lebenden  aleman.  Mundart 
näher  ausführe,  möchte  ich  die  Frage  berühren:  wie  alt  ist  der  Um- 
laut in  beche  nehte  beige,  menege  megede,  kurz  in  all  den  Stellungen 
vor  umlauthindernden  oder  besser  ,umlautverzögernden^  Consonanten 
bezw.  vor  einer  zwischenliegenden  Mittelsilbe? 

Braune  a.  a.  0.  weist  ihn  dem  12.  Jahrb.  zu.  KaufFmann  a.  a.  O. 
bemerkt:  „In  späterer  (mhd.)  Zeit  ist  hier  ein  neuer  Umlaut  einge- 
treten." Dieß  gründet  sich  auf  das  erste  Auftreten  geschriebener 
Formen  mit  e  in  den  bewußten  Stellungen.  Allein,  sobald  man  an- 
nimmt, daß  auch  diese  spätere  Schicht  umgelauteter  a  lautmechanisch 
entstanden  sei,  stellt  sich  die  Schwierigkeit  entgegen:  im  12.  Jahrh. 
war  das  ahd.  kurze  i  der  meisten  Endsilben  längst  zu  e  geschwächt. 
Wie  konnte  aus  Notker'schem  nahte,  aber,  chalber,  armer,  färeuuen, 
magede  ein  Jahrhundert  später  nehte,  eher,  chelber,  ermer,  ferwen, 
megede  werden?  —  Man  könnte  zunächst  einwenden,  daß  zahlreiche 
Endsilben  jeuer  Schwächung  nicht  unterlagen;  daß  in  mahtig,  chalti, 
haising  auch  im  12.  Jahrh.  noch  das  erhaltene  Endungs-i  Umlaut 
wirken  konnte.  Allein  wie  sollten  von  diesen  Formen  die  Plurale 
oder  die  Comparative  beeinflußt  worden  sein  ?  ^)  Durch  ein  mäht  : 
mehtig,  ehalt  :  chelti  konnte  doch  die  völlig  verschiedene,  unabhän- 
gige Beziehung  von  bach  :  bache  oder  arm  :  armer  unmöglich  den 
Anstoß  erhalten,  einen  neuen  Plural  beche,  einen  neuen  Comparativ 
ermer  zu  formen.  Mit  andern  Worten:  eine  Proportion  mäht  :  mehtig 
=  naht:  nehte  wäre  für  das  Sprachgefühl  ein  Unding.  Das  ,gram- 
matische  Bewußtsein'  für  den  Umlaut  d.  h.  für  den  mit  einem  func- 
tionellen  Wechsel  Hand  in  Hand  gehenden  lautlichen  Wechsel  von 
a  und  e  bezw.  e  ist  nur  innerhalb  der  einzelnen  grammatischen  Reihen 
lebendig.  Der  Plural  der  Substantive,  der  Comparativ,  die  Ableitungen 
auf  -ig  u.  s.  f.  haben  je  ihr  eigenes  selbständiges  ,Bewußtsein  für  den 
Umlaut':  die  eine  Reihe  kann  die  andere  nicht  beeinflussen.  Dieß 
zeigen  uns  klar  die  lebenden  Mundarten  (s.  u.).  So  müssen  wir  auch 
annehmen,  daß  die  Plurale  wie  mhd.  nehte,  die  Comparative  wie  mhd. 
ermer  selbständig,  aus  rein  lautlichen  Bedingungen  erwachsen  sind. 


')  Ein  theilweise  analogisches  Eindringen  des  späteren  Umlauts  wird  auch 
Gramm.  I,  304  (Neudruck)  angenommen;  doch  wird  hier  noch  nicht  mit  der  dopi^elten 
Klangfarbe  der  Umlauts-e  gerechnet,  so  daß  eine  Einwirkung  der  älteren  Umlaute 
auf  die  jüngeren  als  möglich  erscheint.    S.  o. 


ZUR  LAUTFORM  DES  ALEMANNISCHEN.  115 

Zudem  zeigen  uns  die  Dialecte  eine  Anzahl  Wörter  mit  o,  in 
denen  dieser  Umlautsvocal  isoliert  ist,  d.  h.  in  keinem  beweglichen 
Wechsel  mit  dem  unumgelauteten  a  steht;  so  z.  B.  hechel  Hechel 
(mhd.  hechel),  g'schlecht  Geschlecht  (mhd,  geslehte),  werze  Warze 
(mhd.  warze),  viele  Sahst,  und  Verben  mit  -otsch-  (s.  Winteler  S.  49) : 
hier  war  eine  analogische  Einwirkung  von  irgend  einer  Formreihe 
her  nicht  möglich;  der  Umlaut  muß  hier  trotz  der  im  12.  Jahrh. 
längst  geschehenen  Schwächung  des  i  lautmeclianisch  eingetreten  sein. 

Es  bleibt  nichts  anderes  übrig,  als  auch  diesen  secundären  Um- 
laut des  a  in  eine  beträchtlich  frühere  Periode  zu  rücken,  in  eine 
Zeit,  da  das  kurze  i  der  End-  oder  Mittelsilbe  noch  nicht  zu  e  ge- 
schwächt war.  Schon  Notkers  Sprache  muß  diesen  Umlaut  besessen 
haben.  In  dem  a  seiner  nahte,  mähte,  mähtig,  chälber,  chälti,  ärmer, 
raänegi,  mägede  muß  sich  ein  anderer  Laut  bergen  als  in  dem  a  von 
näht,  mäht,  chälb,  ehält,  arm,  mdged.  üiese  Annahme  ist  keineswegs 
abenteuerlich.  Hat  man  doch  für  die  Notker'schen  u,  o  6,  u,  üo, 
ou,  an  deren  Stelle  das  spätre  Alemanisch  die  Umlaute  ae,  ö  ce,  ü, 
üe,  öü  zeigt,  längst  annehmen  müssen,  daß  sie  schon  von  der  i- Fär- 
bung afiiciert  waren,  nur  nicht  genugsam,  um  den  Schreiber  zur 
Wahl  eines  neuen  Zeichens  zu  drängen  (Braune  ahd.  Gr.  §.  51,  auch 
Ivögel  Lit.  Blatt  18b7,  109).  Dem  ä  ist  das  a  vor  umlauthindernden 
Consonanten  durchaus  gleich  zu  stellen.  Inwieweit  hiebei  schon  der 
Vocal  selbst,  inwieweit  bloß  der  folgende  Consonant  die  MouUierung 
angenommen  hatte,  läßt  sich  nicht  entscheiden.  Jedenfalls  war  der 
erst  später  (12.  Jahrh.)  als  e  auftretende  Laut  in  Notkers  Sprache 
dem  a  noch  sehr  nahestehend,  offener  als  sein  e  =  mhd.  e;  sonst 
ließe  sich  die  Schreibung  nähte,  mähtig  etc.  nicht  verstehen.  Wir 
haben  guten  Grund  anzunehmen,  daß  dieses  a  bei  Notker  gleiche 
Qualität  hatte  wie  sein  ä  in  stäte,  sälig,   du  uuäre,  ruzi  (s.  u.). 

Dieses  a*"  des  10.  IL  Jahrh.  muß  sich  nun,  sei  es  spontan,  sei 
es  unter  fortdauernder  Einwirkung  der  folgenden  moullierten  Conso- 
nanz,  zu  etwas  mehr  geschlossener  Qualität  entwickelt  haben,  bis  es 
endlich  im  12.  Jahrh.  den  andern  e-Vocalen  so  nahe  stand,  daß  der 
Buchstabe  e  an  die  Stelle  des  Buchstaben  a  eintreten  konnte.  Doch 
wird  auch  in  jener  Zeit  noch  das  Alemanische  das  e  in  nehte,  beche, 
beige  offener  gesprochen  haben  als  in  reht,  breche,  hell  u.  s.  f. 

Nachdem  auf  diese  Weise  viele  e-Plurale  neben  die  älteren 
e-Plurale  getreten  waren,  konnte  auf  die  Länge  ihr  beiderseitiges 
Gebiet  nicht  reinlich  gesondert  bleiben.  Es  mußte  sich  allmählig 
entscheiden,  ob  das  Gegenüber  von  e  zu  a  oder  aber  von  e  zu  a  von 

'8* 


116  A.  HEUSLER 

dem  Sprechenden  als  das  lebendige,  productive  empfunden  wurde. 
Ganz  dieselbe  Frage  trat  aber  nicht  nur  beim  Subst. ,  sondern  bei 
einer  ganzen  Reihe  anderer  Formsysteme  ein.  Wir  müssen  uns  hier 
ganz  an  die  lebenden  Mundarten  halten.  Dieselben  zeigten  bei  ge- 
nauer Betrachtung  eine  auffallende  Buntscheckigkeit  in  der  Vertretung 
des  mhd.  Umlauts -e.  Es  blieben  trotz  sorgfältiger  Ermittlung  der 
consonantischen  Einflüsse  immer  noch  eine  große  Reihe  von  Aus- 
nahmen übrig.  Dieß  rührt  eben  daher,  daß  der  lautlich  berechtigte 
Zustand  durch  zahlreiche  Analogieschöpfungen  aufgehoben  worden  ist. 
Die  e  und  e  der  aleman.  Mundarten  lagern  sich  in  der  großen  Mehr- 
zahl der  Fälle  nicht  mehr  nach  den  ursprünglichen  lautlichen  Be- 
dingungen, sondern  nach  einem  Jüngern  gruppenbildenden  Formgefühl. 

Man  that  daher  Unrecht,  wo  es  sich  um  Ermittlung  der  direct 
lautlichen  Fortsetzung  von  mhd.  e  handelte,  immer  wieder  mund- 
artliche Beispiele  heranzuziehen,  die  innerhalb  eines  Formsystems 
stehen.  So  sind  die  von  Franck  S.  224  angezogenen  kelber,  kelte, 
wechst  als  nicht  isolierte  Formen  wenig  beweisend.  So  wird  Stickel- 
berger  durch  die  massenhaften  Plurale,  Diminutive,  Comparative,  die 
er  SchafFh.  Mundart  §.  9  anführt,  zu  falschen  Schlüssen  geleitet: 
1  und  r  haben  nicht  Vorliebe  für  den  geschlossenen  Vocal;  Offen- 
heit des  e  vor  Nasalverbindungen  ist  strenges  Lautgesetz.  Kauffmann, 
der  doch  in  der  Anmerkung  zu  §.12  a.  a.  O.  auf  das  Besondere  des 
, angelehnten'  Umlautes  aufmerksam  macht,  bringt  dennoch  §.  11  f. 
zahlreiche  nicht  isolierte  Formen  als  Belege  und  gründet  auf  solche 
(wermr,  ^1^%^,  west,  k'elbr;  ne;^t)  §.14  die  Annahme,  daß  die  Regel 
von  den  umlauthindernden  Consonanten  zu  modificieren  sei;  daß  „meist 
durch  Systemzwang  sich  im  einen  Falle  der  nicht  umgelautete  Vocal 
gehalten  hat,  während  bei  anderen  Kategorien  der  Umlaut  einge- 
treten ist".  — 

Außer  dem  Gegensatze  von  erster  und  zweiter  Umlautsperiode 
und  den  daran  sich  knüpfenden  analogischen  Neubildungen  giebt  es 
noch  einen  Umstand,  der  auf  dem  ganzen  aleman.  Gebiete,  wie  es 
scheint,  auf  die  Quahtät  des  Umlauts -e  einwirkte:  die  dem  e  folgen- 
den Nasale  oder  Nasalverbindungen.  In  entschiedenem  Gegensatze 
zum  Schwäbischen  (Kauffmann  §.  18)  wie  auch  zum  Osterreichischen 
(Luick,  Beitr.  11,  499)  hat  e  in  diesen  Stellungen  ausgesprochen  offe- 
nen Klang  bekommen.  Im  Einzelnen  weichen  die  Mundarten  von 
einander  ab:  in  Baselstadt^  Leerau,  Beromünster  ist  dieses  e  nur  vor 
Nasal  -j-  Cons.  (wozu  aber  auch  n  aus  einstigem  ng,  mhd.  ng  zu 
rechnen   ist)    eingetreten,    in  Ottenheim   und   Schaff  hausen    auch   vor 


ZUK  LAUTFOKM  DES  ALEMANNISCHEN.  117 

bloßer  Nasaltbrtis  (hier  also  bronna,  swomino,  dort  brenne,  swemmo 
resp.  das  daraus  weiter  entwickelte) ;  Kerenzen  endlich  zeigt  den  betr. 
offenen  Laut  auch  vor  Nasallenis. 

Da  sich  so  vor  Nasalen  der  Unterschied  von  älterem  und  jün- 
gerem Umlautproduct  in  dem  einen  offenen  o  verwischt,  könnte  man 
auf  den  Gedanken  verfallen,  das  offene  Umlauts -e  im  Allgemeinen 
sei  überhaupt  bloß  vor  Nasalen  lautmechanisch  erwachsen  und  habe 
von  hier  aus  sein  Gebiet  analogisch  erweitert;  also  etwa  bach  — 
beche  zu  bach  —  bcche  umgeformt  nach  dem  Muster  von  bank  — 
bcnke  u.  s.  f.  Dann  würde  natürlich  die  oben  versuchte  Zurück- 
ftthrung  des  secundären  Umlauts  ins  10.  Jahrh.  hinfällig.  Allein  außer 
den  isolierten  Formen  mit  o,  die  einem  Einfluß  von  bank  —  bonke 
nicht  ausgesetzt  waren,  spricht  mit  entscheidender  Bestimmtheit  gegen 
diese  Annahme  der  Lautstand  der  Toggenburger  und  der  Appenzeller 
Mundart:  hier  ist  nämlich  das  einstige  c  vor  Nasalen  nicht  mit  dem 
secundären  Umlauts -e  zusammengefallen,  sondern  zeigt  eine  geschlos- 
senere Klangfarbe  als  dieses,  z.  B.  k;^en8,  sweme,  henk;^a  gegen 
bre;^t8,  k;uorli,  forbs,  tsena.  Hier  muß  dieser  spätere  Umlautsvocal 
unabhängig,  ohne  Zuthun  des  e  vor  Nasalen,  seine  offene  Farbe  er- 
halten haben.  Dasselbe  dürfen  wir  für  die  übrigen  aleman.  Mund- 
arten annehmen. 

Ich  erwähne  kurz,  daß  es  eine  dritte  Quelle  für  offenes  c  in 
den  aleman.  Mundarten  giebt:  in  der  Lautverbindung  -asch-  (^=  ass) 
wurde  a  regelmäßig  zu  o  (Brandstetter  §.  19)  ') :  osso  Asche,  woss9 
waschen,  dessa  Tasche,  flosss  Flasche.  Dieses  o  hat  seine  eigene 
Genesis,  hat  mit  dem  Umlauts -e  nichts  zu  schaffen.  — 

Das  Nebeneinander  von  c  und  e,  soweit  sie  älteres  und  jüngeres 
Umlautproduct  sind,  hat  nun  in  meiner  eigenen  Mundart,  der  basel- 
städtischen, zu  folgenden  Resultaten  geführt.  Ich  kann  sechs  Pralle 
aufstellen,  in  denen  der  Umlaut  noch  heutzutage  als  productives 
Sprachmittel  im  Dienste  bestimmter  Functionen  empfunden  wird.  Es 
sind  L  der  Plural  von  Substantiven;  2.  die  Diminutive  auf  -11;  3.  die 
abstracten  Feminina  auf  -i;  4.  die  Comparative  und  Superlative; 
5.  Weiterbildungen  von  Adjectiven  durch  das  Suffix  -lig;  6.  diminu- 
tive Weiterbildungen  von  Verben. 

In  der  Reihe  1.  ist  der  offene  Vocal  e  zum  Sieg  gekommen.  Ich 
kann  die  vielen   e-Plurale   hier  nicht  aufzählen.    Bezeichnend  ist  das 


')  In  den  Wörtern  össa  Esche  und  össoba;^;!;  Eschenbach  müht  sich  Brandstetter 
mit  einer  gar  nicht  vorhandenen  Schwierigkeit:  hier  liegt  alter  Umlaut  vor.  Die 
Wörter  lauteten  schon  esche,  eschenbach,  als  die  labialisiereude  Wirkung  des  ss  begann. 


118  Ä.  HEUSLER 

e  der  modernen  Bildungen  wie  wega  die  Wagen,  orm  Arme,  kspess 
Spaße.  Daneben  findet  sich  eine  nicht  ganz  geringe  Zahl  von  e-Plu- 
ralen.  Sie  sind  als  Reste  eines  frühern  formativen  Princips  zu  be- 
trachten, die  von  dem  neuern  Princip  nicht  weggeräumt  werden 
konnten.  Die  Fälle  sind  bletar  Blätter,  stet  Städte,  est  Aeste,  gest 
Gäste,  sek  Säcke,  k;t6ft  Kräfte;  redar  Räder,  gles8r  Gläser,  k^esar 
Gräser,  tsen  Zähne,  negl  Nägel,  sieg  (Baum)schläge,  k^ebar  Gräber  *). 
Es  sind  lauter  Wörter,  die  ihr  e  in  der  ersten  Umlautsperiode  er- 
hielten. Andrerseits  haben  seft  Schäfte  (ahd.  scefti),  steh  Stäbe  (ahd. 
stebi)  ihr  primäres  e  der  neuern  Bildungs weise  aufgeopfert.  Beleh- 
rend ist  der  doppelte  Plural  von  sats  Schatz :  sets  im  Sinne  von 
jthesauri',  sets  im  Sinne  von  ,amores',  deutlich  die  alte  und  die  neue 
Bildung  nebeneinander.  —  Der  Angehörige  der  Mundart  hat  ein  schwer 
zu  beschreibendes  aber  untrügliches  Gefühl,  daß  in  den  e-pluralen 
die  eigentlich  lebendige  Pluralbildung  steckt.  Äußerlich  zeigt  sich 
dieß  daran,  daß  er  zu  einem  ihm  das  erste  Mal  begegnenden  Worte 
mit  a  den  Umlautsplural  auf  e,    nicht  auf  e  bilden  würde. 

In  der  zweiten  Reihe,  den  Diminutiven,  hat  gleichfalls  das  offene 
e  die  Oberhand  bekommen.  Vgl.  die  modernen  Bildungen  benli  kl. 
Eisenbahn,  e;tp8dli  kl.  Handarbeit.  Unter  den  paar  Fällen  mit  be- 
wahrtem e  finden  wir  dieselben  Substantive,  die  auch  den  Plur.  mit 
c  bilden :  gestli  kl.  Gast,  gleslj  kl.  Glas  u.  s.  w. 

Dagegen  ist  in  der  dritten  Gruppe,  bei  den  zu  Ad),  gebildeten 
abstr.  Fem.,  die  Form  mit  geschlossenem  e  vorbildlich  geworden. 
Wir  haben  leiini  Länge,  swe;fi^  Schwäche,  nessi  Nässe,  blessi  Blässe ; 
ste%ki  Stärke,  wermi  Wärme,  swe;^tsi  Schwärze,  he;^tj  Härte;  p;Kefi 
Bravheit,  smeli  Schmalheit.  Formen  mit  e  sind  mir  hier  überhaupt 
nicht  bekannt.  Trotzdem  im  Ahd.  häufig  das  Umlauts -e  dieser  Wörter 
dem  a  des  zugehörigen  Adjectivs  weichen  mußte  (Braune  ahd.  Gr. 
§.  26  Anm.  1),  hat  später  der  primäre  Umlautsvocal  von  den  Wörtern 
aus,  die  ihm  geblieben  waren,  das  ganze  Feld  zurückgewinnen  können. 

Ebenso  zeigen  die  Comparative  und  Superlative  ausnahmslos 
geschlossen  e  dem  a  des  Positivs  gegenüber.  Zu  den  Adj.,  die  wir 
in  der  vorigen  Reihe  fanden,  kommen  noch  elitär  älter,  belldar  bälder, 
erm8r  ärmer.  Hier  wie  bei  den  abstr.  Fem.  ist  besonders  beachtens- 
werth,  daß  das  Formgefühl  für  den  geschlossenen  Laut  sich  stark 
genug  entwickelt  hat,    um    selbst  in  der  Stellung  vor  Nasal  -\-  Cons. 

')  Geschlossenes  e  spaltet  sich  in  Baselstadt  in  die  Kürze  e  und  die  Länge  el 
d.  h.  die  Länge  ist  um  einen  Grad  geschlossener.  Nur  vor  r  hat  die  Länge  den  halb- 
geschlossenen Klang  e.    Für   offenes  e,  Kürze  wie  Länge,    erscheint  gleichmäßig  e  e. 


ZUK  LAUTFORM  DES  ALEMANNISCHEN.  119 

das  lautlich  geforderte  offene  o  zu  verdränpjen.  Es  heißt  lennar  lenfist 
länger  längste,  k;^eririk8r  k.;|jeririk6t  kränker  kränkste.  Dagegen  spricht 
man  eniior  ennst  zu  eM  eng,  weil  hier  der  Positiv  kein  a  zeigt,  das 
Wort  also  nicht  derselben  Gleichung  a  :  e  verfällt. 

Ferner  haben  wir  die  Adj.  auf  -Hg  (rahd.  -lieh) ,  die  ihrerseits 
von  Adjectiven  abgeleitet  sein  müssen.  Nach  dem  ahd.  Stande  der 
Dinge  sollten  wir  hier  das  offene,  secundäre  e  erwarten  (s.  Braune 
ahd.  Gr.  §.  27  Anni.  5).  Statt  dessen  zeigen  uns  swe;^lig  schwächlich, 
lennlig  länglich,  elltlig  ältlich,  swe;|jtslig  schwärzlich,  ermlig  ärmlich 
den  geschlossenen  Vocal  —  also  wiederum  der  ältere  Zustand  von 
einigen  wenigen  AV'örtern  aus  analogisch  umgestaltet.  Doch  sind 
diese  Bildungen  nicht  zahlreich  ^  das  Formgefühl  daher  nicht  völlig 
bestimmt:  neben  k;^eünklig  kränklich  geht  k;|;ennklig  mit  dem  hier 
spec.  durch  die  Nasalgruppe  bedingten  offenen  e.  Nicht  hieher  ge- 
hören die  (übrigens  der  Schriftsprache  nachgebildeten)  Wörter  senntlig 
schändlich,  gleglig  kläglich,  deglig  täglich:  diese  sind  von  Subst. 
abgeleitet,  und  das  begriffliche  Verhältniß  der  Ableitung  zum  Grund- 
wort ist  bei  ihnen  ein  ganz  anderes  als  bei  lennlig  :  laüü.  Darum 
unterliegen  sie  auch  nicht  dem  gleichen  Formgefühl. 

Endlich  kommen  verbale  Wortbildungen  meist  diminutiver  Func- 
tion, z.  B.  Icp8l9  zu  lapo  läppen,  schlürfen,  dcpala  zu  dap8  tappen, 
schleichen,  (üs-)tsekl8  zu  (üs-)tsaka  mit  Zacken  versehen,  seffarls  zu 
saffa  arbeiten,  blemmpörs  zu  blammpa  baumeln  u.  a.  Hier  herrscht 
durchweg  der  oflfene  Vocal  o. 

Was  im  Einzelnen  die  Begünstigung  des  einen  oder  des  andern 
Typus  veranlaßt  hat,  was  insbesondere  beim  Subst.  Plur.  das  offene 
e,  beim  Comparativ  das  geschlossene  e  zur  Geltung  gebracht  hat, 
ist  hier  wie  in  so  manchen  Fällen  analogischer  Neuschöpfung  kaum 
zu  bestimmen.  Doch  glaube  ich,  das  lautlich  nicht  zu  erklärende 
Durcheinander  von  e-  und  e- Formen  in  aleman.  Mundarten  verliert 
bei  obiger  Betrachtung  sein  Auffallendes.  Verkehrt  wäre  es,  wie 
man  beim  ersten  Blick  zu  thun  geneigt  ist,  schriftsprachlichen  Ein- 
fluß heranzuziehen.  Mag  auch  das  eine  und  andre  der  hergehörigen 
Wörter  nach  schriftsprachlichem  Muster  gebildet  sein:  so  lange  die 
betr.  Bildungsweise  der  Mundart  noch  geläufig  ist,  könnte  sie  nicht 
dem  Schriftbild  zu  Liebe  eine  gewohnte  Klangfarbe  durch  eine  andre 
ersetzen.  Überdieß  wäre  es  wunderbar,  daß  gerade  der  Comparativ 
von  all  den  ä  der  Schriftsprache  unbeeinflußt  geblieben  wäre,  und 
daß  all  die  modernen  Bildungen  wie  wega  die  Wagen,  frns  die  Fah- 
nen, e;|jp9dli  kl.  Handarbeit,    denen   im   Nhd.   gar   kein    umgelauteter 


120  A.  HEUSLER 

Vocal  gegenüber  steht,  das  offene  o  bekommen  haben.  Vollends  be- 
weisend ist  der  Umstand,  daß  sogar  auf  die  Aussprache  des  Schrift- 
deutschen in  aleman.  Munde  der  Einfluü  der  Schule,  woselbst  für 
geschriebenes  ä  die  Aussprache  o  gelehrt  wird,  nur  sehr  beschränkt 
ist.  Der  Basler  spricht  meinen  Beobachtungen  nach  für  das  kurze 
nhd.  ä  stets  den  geschlossenen  Laut,  wenn  die  Mundart  dazu  stimmt, 
also  nhd.  Säcke  Säckchen  Blätter  Städte  Äste  Schwäche  länger 
kränklich  als  Secke  u.  s.  f.  Umgekehrt  wird  für  das  e  der  Schrift- 
sprache durchaus  e  gesprochen,  wo  dieser  Klang  den  betr.  mundart- 
lichen Wörtern  zukommt;  also  Stecken  brechen  Wetter  hell  mit  e, 
Weg  stehlen  nehmen  gern  mit  e.  Dagegen  wird  gewöhnlich  beim 
Gutdeutschsprechen  die  mundartliche  Länge  e  durch  e  ersetzt,  wo 
die  Schriftsprache  ä  schreibt;  also  Zähne  Räder  Nägel  Gläs-chen  mit 
e.  Der  Grund  liegt  offenbar  darin,  daß  das  sehr  geschlossene  e  von 
Baselstadt  zu  auffällig  von  dem  unter  ä  gelehrten  Laute  abliegt.  Da- 
mit stimmt,  daß  das  lange  geschlossene  e  vor  r  in  seiner  der  Mund- 
art eigenen  halb  geschlossenen  Qualität  beibehalten  wird:  nhd.  Wärme 
schärfer  ärmlich  werden  mit  e,  dem  Mittellaute  zwischen  e  und  e, 
gesprochen.  Wo  das  schriftsprachliche  ä  keinen  mundartlichen  e- Vocal 
sich  gegenüber  hat,  wird  es  der  officiellen  Aussprache  nach  als  ee 
gesprochen:  so  in  wächst  gräbt  schlägt  fährt  (mundartlich  mit  un- 
umgelauteten  a).  Auch  zählen  schälen  hört  man  häufig  mit  e  ge- 
sprochen; die  mundartl.  tsells  selb,  die  alten  Formen  mit  -11-  fort- 
setzend, liegen  von  dem  Schriftbild  zu  weit  ab.  —  Wenn  also  selbst 
beim  Schriftdeutschsprechen  nur  in  einem  Falle  die  dialectische 
e- Qualität  preisgegeben  wird,  die  kurzen  e  und  e  der  Mundart 
aber,  der  nhd.  Schreibung  e  und  ä  zum  Trotz,  immer  beibehalten 
sind,  so  kann  das  Verhältniß  von  e  und  e,  e  innerhalb  der  Mund- 
art sich  unmöglich  nach  der  ^nhd.  Orthographie  oder  Normalaus- 
eprache  gerichtet  haben.  (Man  vergleiche  die  Behandlung  des  schrift- 
sprachlichen e,  ä  in  anderen  Mundarten,  Braune  Beitr.  13,  579,  Luick 
Beitr.  14,  139  ff.) 

Soviel  ich  aus  den  Darstellungen  alemanischer  Dialecte  ersehe, 
zeigt  die  Vertheilung  des  primären  und  des  secundären  Umlauts -e 
auf  dem  ganzen  Gebiet  große  Verwandtschaft  mit  der  oben  für  Basel- 
stadt kurz  angedeuteten.  Zumal  für  den  Subst.  Plur.  scheint  offen  e, 
für  den  Comparativ  geschlossen  e  überall  Geltung  erlangt  zu  haben. 
Ich  erwähne  hier  nur  aus  Winteler  KM.  S.  181  die  charakteristischen 
Fälle,  die  unserm  sets  —  sets  entsprechen:  neben  dem  altern  Plural 
Tebr,  der  als  geographische  Benennung  erstarrt  ist,  steht  die  jüngere 


ZUR  LÄUTFORM  DES  ALEMANNISCHEN.  121 

Bildung  telar  ,Thäler'  im  Allgemeinen,  deren  späte  Entstchunp;  auüer 
durch  das  offene  e  auch  durch  die  Voeallänge  bezeugt  wird;  ganz 
entsprechend  verhält  es  sich  mit  frd  Pfade  neben  dem  altern  und 
isolierten  feda.  —  Aus  der  beträchtlichen  Übereinstimmung  der  ver- 
schiedenen weit  entlegenen  ]\Iundarten  darf  man  wohl  den  Schluß 
ziehen,  daß  die  Ausgleichung  zwischen  o  und  r  schon  seit  Jahrhun- 
derten zu  dem  Resultat  gekommen  ist,  das  uns  heute  entgegentritt: 
ohne  langedauernden  Verkehr  und  Austausch  zwischen  den  Einzel- 
dialecten  wäre  jene  Gleichheit  nicht  zu  verstehen.  Doch  wäre  die 
Annahme  Avohl  unberechtigt,  daß  schon  in  früh  mhd.  Zeit  die  laut 
gesetzlichen  Verhältnisse  durch  Analogie  in  der  heutigen  Weise  um- 
gestaltet waren. 

Bei  der  obigen  Beschränkung  auf  diejenigen  Umlauts -e,  die  in 
lebendigem  Wechsel  mit  unumgelautetem  a  stehen,  blieben  die  Wörter 
unberücksichtigt,  deren  secundäres  Umlauts -o  außerhalb  eines  Systems 
steht  und  daher  für  jeden  Einzelfall  eine  rein  lautliche  Erklärung 
fordert.  Es  bieten  sich  hier  manche  Schwierigkeiten.  Ich  möchte 
hier  nur  auf  einen  Punkt  hindeuten.  Für  das  häufige  secundäre  Um- 
lauts-e  vor  der  Lautverbindung  ts  (Beispiele  bei  Winteler  S.  41>) 
können  wir  wohl  die  Endung  ahd.  -ezzen  (<;  atjan).  in  welcher  i  von 
dem  a  des  Stammes  durch  eine  Silbe  getrennt  war,  verantwortlich 
machen.  Wo  die  Gruppe  etä  geschlossenes  e  zeigt,  möchte  dagegen 
an  ahd.  -ison  zu  denken  sein.  Offen  o  kann  aber  auch  durch  ein 
einstiges  ch,  das  sich  in  dem  tä  birgt,  gegen  den  primären  Umlaut 
geschützt  worden  sein.   — 

Luick  hat,  Beitr.  14,  127  ff.,  im  Anschluß  an  seinen  frühern 
Aufsatz  Beitr.  11,  497  ff.,  eine  verdienstliche  Übersicht  über  die 
e-Vocale  des  Bairisch-Osterreichischen  gegeben.  Er  zeigt, 
was  sich  für  die  Qualität  der  e- Laute  in  mhd.  Zeit,  zum  Mindesten 
auf  bair.- österr.  Gebiet,  erschließen  läßt.  Da  er  S.  138  f.  über  das 
Aleman.  nur  eine  kurze  Bemerkung  gibt,  und  da  auch  das  Beitr. 
11,  515  f.  über  die  schweizerischen  e-Vocale  Geäußerte  nicht  über- 
sichtlich und  großen  Theils  unzutreffend  ist,  möchte  ich  hier  eine 
Betrachtung  der  verschiedenen  e- Laute  im  Alemanischen  —  aus- 
schließlich des  Schwäbischen  —  folgen  lassen.  Dabei  gehe  ich  nicht 
auf  einzelne  Wortformen  und  specielle  einzelmundartliche  consonan- 
tische  Einflüsse  ein.     Ich  fuße  auf  den  vorliegenden  ')  Dialectdarstel- 

')  Titus  Tobler,  Appenzellischer  Sprachschatz  (behandelt  vier  Dialectgruppen, 
die  hiuaichtlich  der  Vertretung  der  mhd.  e-Laute  unter  sich  nicht  wesentlich  diffe- 
rieren,   vgl.    Einl.  S.  XXIX  ff.);    Winteler,    Kerenzer    Mundart    (behandelt    auch    eine 


122  A.  HEUSLER 

lungen,  die  zum  Theil  selbst  schon  die  e- Laute  etymologisch  grup- 
piert haben,  zum  Theil  aber  durch  das  da  und  dort  zerstreute,  genau 
transscribierte  Wortmaterial  auch  dem  Nichtkenner  der  Mundart  ein 
Aufsuchen  der  Gesetze  ermöglichen. 

So  durchsichtig  im  Großen  und  Ganzen  die  Verhältnisse  inner- 
halb einer  Mundart  liegen,  so  sehr  weichen  die  verschiedenen  unter 
sich  ab.  Man  sehe  z.  B.  die  Statistik  der  hellen  e-Vocale,  die  Joh. 
Meyer  F.  DM.  VII  177  fF.  aus  einem  Theilgebiet  des  Nordostaleraan. 
geliefert  hat.  Ein  klarer  Einblick  in  die  gesammte  aleman.  Entwick- 
lung, eine  geographische  Abgrenzung  der  Verschiedenheiten  ist  noch 
nicht  möglich.  Ich  verhehle  mir  nicht,  wie  sehr  die  folgende  Zusam- 
menfassung Stückwerk  bleiben  muß.  Doch  kann  sich  schon  jetzt 
einiges  Beachtenswerthe  ergeben. 

Inwiefern  die  absolute  Qualität  der  e- Laute  der  verschiedenen 
Mundarten  unter  einander  differiert,  glaube  ich  hier  ohne  Schaden 
außer  Betracht  lassen  zu  dürfen.  So  fehlt  z.  B.  in  Basel  und  in 
Schaff  hausen  völlig  jenes  bekannte,  überaus  offene  o  (vgl.  Rapp,  F. 
DM.  II  481).  Das  offenste  e  dieser  zwei  Mundarten  ist  merklich  ge- 
schlossener als  das  offenste  e  von  Ottenheim,  von  Beromünster  oder 
von  Kerenzen:  es  wird  dort  nicht,  wie  hier,  gleich  dem  engl,  a  in 
bad,  happy  gesprochen  (im  elsäß.  Mttnsterthal  ist  dieser  Laut  sogar 
=  a  in  nhd.  satt,  Hase).  Dennoch  kann  ich  diese  Laute  einander 
gleichstellen  und  mit  demselben  Zeichen  e  versehen,  weil  sie  eben 
innerhalb  ihrer  eigenen  Mundart  eine  analoge  Stellung  einnehmen. 
Sie  bilden  nach  Wintelers  schöner  Darlegung  KM.  S.  92  ff.  die  i- Basis 
ihres  jeweiligen  mundartlichen  Vocalsystems.  Nur  auf  die  proportio- 
nelle  Lagerung  der  ,  gegensätzlich'  (nach  Wintelers  Ausdruck  ,  dyna- 
misch') geschiedenen  e  -  Klangfarben  innerhalb  der  einzelnen  Mundart 
kommt  es  hier  an. 


Mundart  des  Toggenburgs);  Hanziker,  Aargauer  Wörterbuch  in  der  Lautform  der 
Leerauer  Mundart;  Stickelberger,  Schaffhauser  Mundart;  Brandstetter,  Zischlaute  der 
Mundart  von  Beromünster  (im  nördlichen  Kanton  Luzern);  Mankel,  Mundart  des 
elsässischen  Münstertlials  (unweit  Colmar.  Die  Darstellung  des  Etymologischen  bleibt 
hinter  den  bescheidensten  Ansprüchen  zurück;  die  Beobachtung  der  Laute  scheint 
gut  zu  sein,  so  daß  man  sich  dem  Materiale  anvertrauen  kann) ;  Heimburger,  Mundart 
von  Ottenheim  (Baden,  unweit  OfFenburg).  Die  mundartlichen  Darstellungen  von  Schott^ 
Bühler,  Birlinger  lassen  in  ihrer  Transscription  das  Einzelne  nicht  in  der  Genauigkeit 
erkennen,  wie  es  hier  für  uns  erforderlich  ist.  Es  liegen  also,  meine  eigene  Mundart^ 
die  baselstädtische,  dazu  genommen,  neun  verschiedene  Dialecte,  sechs  hochalemanische, 
drei  niederalemanische  vor. 


ZUR  LAUTFÜRM  DES  ALEMANNISCHEN.  123 

Die  jMelirzahP)  der  aleman.  Mundarten  besitzt  drei  verschiedene 
e- Schattierungen  e  —  e  —  c.  Schaff  hausen  und  Ottonheira  ^)  stehen 
mit  ihren  zwei  Schattierungen  c  —  e  allein. 

Allen  gemeinsam  ist,  daß  die  am  meisten  nach  a  hin  liegende 
Nuance  das  mhd.  tc  fortsetzt  '^).  Und  die  nämliche  Lautung  zeigt 
überall  das  secundäre  Umlauts -e. 

Während  nun  ferner,    wie  wir  oben  sahen,    in  fast  allen  Mund- 
arten eben  dieselbe  offenste  Qualität  o  auch  dem  e  vor  Nasalen  (bozw. 
Nasalverbindungen)   zukommt,    sondern  bloß  Toggenburg  und  Appen 
Zell  sicli  hier  ab,  indem  sie  hiefür  ihre  mittlere  Nuance  einsetzen. 

Sodann  treten  Toggenburg  und  Appenzell  mit  Kerenzen  zusam- 
men in  einen  weitern  markanten  Gegensatz  zu  den  sechs  übrigen. 
Diese  letztern  nämlich  lassen  in  dem  gleichen  offensten  c  auch  das 
mhd.  e,  seis  kurz  erhalten,  scis  gedehnt,  zusammenfallen.  App.-Togg.- 
Ker.  dagegen  sprechen  für  mhd.  e  eine  geschlossnerc  Qualität,  und 
zwar  App.-Togg.  durchgängig,  Ker.  theilweise  (s.  u.)  die  mittlere 
ihrer  drei  Klangfarben. 

Beispiele*)  hiefür:  allgemein  wird  gesprochen  n^m  (mhd. 
nseme) ;  ne;ft  adv.  vorige  Nacht  (mhd.  nehte^  Gen.  oder  Dat.  sg.  ?), 
fPl  Fälle  (mhd.  feile); 

dagegen   in  App.-Togg.:  in  den  übrigen: 

ennd  (mhd.  ende),  lenna  r  ennd,  lenfia. 

langen   (mhd.  lengen) : 

endlich  in  App.-Togg. -Ker. :  in  den  übrigen: 

stex^  (mhd.  stechen),  [mel   (mhd.  mel)|^):  ste;ij8,  mel. 

(Die  Mundarten,  welche  mhd.  e  und  sec  Umlauts -e  auseinandei- 
halten,    können  bisweilen   über  fragliche  Wortformen  entscheiden;    so 


')  Hier  wie  im  Folgenden  spreclie  ich  natürlich  bloß  von  den  neun  erwälinteu 
aiemanischen  Mundarten. 

')  Ottenheim  zeigt  eine  dritte,  mittlere  Klangfarbe  vor  r:  da  sie  nur  in  dieser 
.Stellung  vorkoiTiTut,  also  von  speciellem  consonantischem  Einfluß  bedingt  ist,  kann 
sie  hier  unberücksichtigt  bleiben. 

')  Es  gibt  auch  Schweizer  Mundarten,  die  mhd.  se  zu  geschlossenem  e  ge- 
wandelt haben  (s.  Seiler,  Basler  Mundart  S.  94  f.,  Brandstetter  S.  208 j.  Leider  liegt 
keiner  dieser  Dialecte  in  genauer  Einzeldarstellung  vor. 

^)  Man  möge  sie  nicht  urgieren.  Da  und  dort  mag  eines  der  angeführten 
Wörter  in  einer  Mundart  nicht  vorkommen  oder  einem  Speciallautgesetz  unterliegen. 
Ich  möchte  sie  nur  als  ideelle  Vertreter  der  betreifenden  e-Schattierungen  betrachtet 
wissen- 

*)  Das  in  |  ]  stehende  trift't  nur  für  App.-Togg.  zu;  Ker.  weicht  hier  noch 
weiter  ab ;  s.  d.  F. 


124  A.  HEUSLER 

steckt  z.  B.  in  aleman.  mert  Markt  nicht  das  e  von  lat.  raercatus, 
wie  man  wohl  angenommen  hat:  Ker.  mert  beweist,  daß  wir  es  mit 
secundärem  Umlaut  zu  thun  haben,  mhd.  merket  aus  *markit.) 

Umgekehrt  setzt  in  allen  neun  Mundarten  die  am  meisten  nach 
i  hin  liegende  e- Schattierung  das  mhd.  e  fort.  Während  nun  aber 
in  sechs  Mundarten  mit  diesem  nämlichen  e  auch  das  gedehnte  mhd. 
(primäre)  Umlauts -e  zusammenfällt,  hat  der  letztere  Laut  in  Bero- 
münster,  Leerau,  elsäß.  Münsterthal  einen  etwas  offneren  Klang,  den 
mittlem  zwischen  den  zwei  Extremen.  Also  allgemein  ^)  wird  ge- 
sprochen se  (mhd.  se,  sewes)  —  aber  nur  von  dem  größern  Theile 
red  (mhd.  diu  rede),  von  den  drei  genannten  Mundarten  aber  red. 

Ganz  eigenartig,  abweichend  von  allen  andern  Mundarten,  zeigt 
sich  Kerenzen,  indem  es  mhd.  e  mit  dem  (primären)  Umlauts-e, 
mhd.  e,  zusammenfallen  läßt,  mögen  sie  nun  als  Kürze  bewahrt 
oder  gedehnt  worden  sein.  Beispiele;  klegs  (mhd.  gelegen)  —  lega 
(mhd.  legen),  snek  (mhd.  snecke)  —  streka  (mhd.  strecken),  fressa 
(mhd.  vrezzen)  —  bessor  (mhd.  bezzer),  hellffe  (mhd.  helfen)  —  weih 
(mhd.  wellen,  wollen);  weg  (mhd.  wec)  —  red  (mhd.  rede),  berg  (mhd. 
berg)  —  erb  (mhd.  erbe),    sterna  (mhd.  stern)  —  crml  (mhd.  errael). 

—  Nicht  das  ganze  aleman.  Gebiet  hält  also  Brechungs-  und  Um- 
lauts-e auseinander. 

Fassen  wir  endlich  das  Verhältniß  von  Kürze  zu  Länge  ins 
Auge,  so  zeigt  sich,  daß  in  sämmtlichen  Mundarten  das  secundäre 
Umlauts-e,  ob  kurz  oder  gelängt,  gleichen  Klang  besitzt:  ne;^t  vorige 
Nacht  —  fei  Fälle.  Kurzgebliebenes  mhd.  e  stimmt  in  allen  Mundarten 
außer  Kerenzen  qualitativ  zu  gelängtem  mhd.  e,  kurzgebliebenes 
(primäres)  Umlauts-e  in  allen  außer  Kerenzen  und  Baselstadt  zu  ge- 
längtem e.  Basel  gibt  hier  der  Länge  die  geschlossenste  Klangfarbe 
e,  während  dieselbe  als  Kürze  der  Mundart  überhaupt  mangelt  und 
durch  die  mittlere  Schattierung  e  ersetzt  wird;    also    red  (mhd.  rede) 

—  besser  (mhd.  bezzer).  In  Ker.  liegt  die  Sache  einfach  so:  mhd. 
e  und  e,  als  Kürzen  bewahrt,  fallen  in  e,  der  mittlem  Färbung,  zu- 
sammen ;  mhd.  e  und  e,  gelängt,  vereinigen  sich  in  e.  Auch  in  Ker. 
kommt  also  die  geschlossenste  e- Qualität  nur  als  Länge  vor. 

Während  also  im  Österr.  die  Längung  den  Gegensatz  von  e  —  e 
vielfach  aufhebt  (Beitr.  14,  134),  wird  im  Aleman.  jene  Differenz  von 
der    Dehnung   als    solcher    nicht    angetastet.     Denn   in   Ker.    sind  ja 


')  Die    nächsten   Nachbareu    von  Kerenzen    weichen    nach  Wiuteler    S.  124    in 
diesem  Punkte  von  den  uns  vorliegenden  neun  Mundarten  ab. 


ZUR  LAUTFORM  DES  ALEMANNISCHEN.  125 

gleichwie  die  gelängten  e  und  e,    so  auch  die  kurzen  e    und  e  unter 
sich  zusammengefallen. 

Wir  können  die  behandelten  neun  Mundarten  in  folgende  engere 
Gruppen  ordnen. 

I.  Es  stimmen  zu  einander  die  weit  entlegenen  Schaffhausen 
und  Ottenheim,  die  Mundarten  mit  bloß  zwei  Klangfarben.  Sie 
sprechen  ihre  offene  e- Qualität  (e)  für  mhd.  se,  e,  e  vor  Nasal, 
secundäres  Umlauts- e;  die  geschlossene  (e)  erscheint  für  mhd.  e, 
primäres  Umlauts -e. 

II.  Übereinstimmend  sind  die  e- Laute  ferner  vertheilt  in  den 
eng  benachbarten  Beromünster  und  Leerau  und  in  dem  elsäß.  Münster- 
thal. Alle  drei  sprechen  ihr  offenstes  e  (e)  für  die  gleichen  vier 
etymologischen  Fälle  wie  die  Mundarten  unter  I.  Das  geschlos- 
senste e  (e)  gibt  mhd.  e,  die  mittlere  Schattierung  (e)  das  pri- 
märe Umlautsproduct,  mhd.  e,  wieder. 

III.  Appenzell  und  Toggenburg  geben  gleichmäßig  ihre  offen- 
ste Klangfarbe  (e)  dem  mhd.  se  und  dem  secundären  Umlauts -e;  die 
geschlossenste  (e)  dem  mhd.  e  und  (primären)  e;  die  mittlere 
(e)  dem  e  vor  Nasalen  und  dem  mhd.  e. 

Die  zwei  übrigen,  Kerenzen  (IV)  und  Baselstadt  (V),  stimmen 
weder  unter  sich  noch  mit  einer  der  obigen  drei  Gruppen  überein . 
Wir  haben  also  in  dem  uns  vorliegenden  Material  mit  fünf  verschieden 
entwickelten  Typen  zu  rechnen. 

Auf  welchen  mhd.  Lautstand  werden  wir  sie  zurückführen? 
Wollten  wir  annehmen,  daß  all  die  heut  bestehenden  Differenzen  in 
das  ältere  Mhd.  zurückgehen  und  damals  in  einer  nach  dieser  Seite 
hin  einheitlichen,  gemein -alemanischen  Mundart  sich  beisammen  ge- 
funden hätten,  so  erhielten  wir  folgendes  Bild.  Am  meisten  gegen 
i  hin  liegt  mhd.  e.  Einen  Schritt  weiter  nach  a  zu  (so  fordert  es 
Gruppe  II)  liegt  die  Kürze  e,  das  primäre  Umlauts -e.  Dann  folgt 
auf  der  Linie  nach  a  hin  das  ,Brechungs'-e.  Eine  weitere  Stufe 
oJöfener  (nach  Ausweis  von  Ker.)  ist  e  vor  Nasalgruppen.  Und  die 
Grenze  gegen  a  zu  wird  (hiefür  ist  besonders  Gruppe  III  beweisend) 
durch  mhd.  m  und  durch  das  secundäre  Umlauts -e  eingenommen. 
Wir  hätten  also  fünf  verschiedene  e- Klangfarben,  die  sich,  an  ein- 
zelnen Wörtern  veranschaulicht,    in  folgender  Linie  lagerten: 


1. 

2. 

3. 

4. 

5. 

se; 

rede ; 

stechen ; 

ende; 

nteme, 

nehte 

megede 

126  A.  HEUSLER 

Unmöglich  ist  es  nicht,  daß  thatsächlich  einst  das  Gemein- 
aleman.  diese  fünf  verschiedenen  e- Qualitäten  besaß,  und  daß  die 
Einzeldialecte  in  ihrer  Sonderentwicklung  durch  Vermischen  hier  der 
einen,  dort  der  andern  Doppelheit  endlich  zu  ihren  drei  bezw.  zwei 
Klangfarben  gelangten.  Aber  jenes  Additionsverfahren  ist  willkürlich. 
Wir  müssen  vielmehr  fragen,  welche  der  heute  vorhandenen  Doppel- 
heiten  aus  secundärer  Entwicklung  haben  entstehen  können.  Da 
sehen  wir  zunächst,  daß,  solange  die  quantitative  Scheidung  zwischen 
ursprünglicher  Länge  und  ursprünglicher  Kürze  streng  innegehalten 
wurde  (was  bekanntlich  in  keiner  aleman.  Mundart  heute  mehr  der 
Fall  ist) ,  die  Länge  sich  ungehindert  nach  einer  Seite  hin  fortent- 
wickeln konnte,  ohne  die  Kürze  mit  sich  zu  reißen,  und  umgekehrt. 
Mhd,  se  kann  z.  B.  leicht  auf  dem  ganzen  Gebiete  gleiche  e- Schat- 
tierung gehabt  haben  wie  rede,  bezzer;  in  der  Gruppe  II  hat  es  sich 
zu  geschlossenerem  Klange  secundär  entwickelt,  doch  jedenfalls  be- 
vor rede  sein  e  dehnte;  daher  lautet  es  nun  in  dieser  Gruppe 
se  —  red,  bessar.  —  Ebenso  kann  das  e  vor  Nasalen,  als  unter  einem 
bestimmten  combinatorischen  Einfluß  stehend,  seine  Qualität  in  den 
einzelnen  Mundarten  geändert  haben,  ohne  daß  die  nicht  vor  Nasal 
stehenden  e  seiner  Entwicklung  folgen  mußten.  Vielleicht  besaß 
denchen  bei  Notker  noch  gleiche  Geschlossenheit  wie  reda;  erst  im 
Laufe  der  Zeit  erhielt  es  in  den  Mundarten  den  Klang  von  stechen 
bezw.  von   nseme. 

Ziehen  wir  diese  Möglichkeiten  späterer  Entwicklung  in  Betracht, 
so  können  wir  für  die  aleman.  e-Laute  in  mhd.  Zeit  nur  Fol- 
gendes mit  Bestimmtheit  aussagen: 

1.  Es  gab  zwei  Längen,  eine  mehr  geschlossene,  mhd.  e,  und 
eine  mehr  offene,   mhd.  se. 

2.  Es  gab  drei  Kürzen,  eine  geschlossene  in  mhd.  rede,  eine 
offene  in  mhd.  nehte,   eine  mittlere  in  mhd.  stechen. 

Diese  Dreiheit  wird  durch  die  Mundarten  App.,  Togg.,  Ker. 
erwiesen.  Denn  es  ist  klar  und  bedarf  keiner  weitern  Worte,  daß 
der  Unterschied  zwischen  re%t  (mhd.  reht)  —  ne%t  (mhd.  nehte) ;  fei, 
Ker.  fei  (mhd.  fei)  —  fei  (mhd.  feile  pl.  zu  fal),  wie  er  uns  in  diesen 
Mundarten  entgegentritt,  nicht  aus  einer  altern  einheitlichen  Lau- 
tung erwachsen  konnte.  Wohl  aber  konnte  in  den  andern  Mundarten 
die  ursprüngliche  Doppelheit  sich  leicht  in  einem  Laute  secundär 
verschmelzen.  Nur  ist  zuzugeben,  daß  diese  Verschmelzung  sehr  früh 
geschehen  konnte:  möglich,  daß  schon  um  1200  nehte  zu  der  Ge- 
schlossenheit von  reht   gelangt  war  in  all  den  Mundarten,    die   heute 


ZUR  LAUTFORM  DES  ALEMANNISCHEN.  127 

die  beiden  Laute  nicht  mehr  unterscheiden  ').  In  diesem  Falle  konnten 
wir  nur  für  die  früheste  mhd.  Zeit  von  gerne  in- alemanischer  drei- 
facher e- Qualität   sprechen. 

Es  bleibt  endlich  die  Frage,  wie  diesem  dreifachen  Klang  der 
kurzen  e  die  beiden  langen  e- Vocale  (mhd.  se  und  e)  sicii  gegenüber- 
stellten. Daß  86  gleich  secuudärem  Umlauts -e  klang,  also  die  offenste 
Schattierung  e  besaß,  ist  mehr  als  wahrscheinlich;  Kauffmann  a.  a.  O. 
S.  9  weist  mit  Recht  auf  die  gleichen  Bedingungen  ihrer  Entstehung. 
Fraglich  ist  dagegen,  ob  dem  mhd.  e  die  geschlossenste  Qualität,  die 
von  den  lebenden  Mundarten  bezeugt  wird,  schon  zu  Beginn  der  mhd. 
Zeit  zukam;  ob  es  also  qualitativ  =  e  (in  rede)  oder  aber  =  e  (in 
stechen)  anzusetzen  ist.  Nach  Luicks  Bemerkungen,  Beitr.  14,  133, 
wird  man  nicht  mehr  dem  e  gemeinmhd.  geschlossenste  Qualität  zu- 
schreiben wollen.  Auch  im  Aleman.  hat  gese(10en,  gesclie(h)en  den 
gleichen  Laut  ergeben  wie  altes  e.  Wenn  anderseits  mhd.  herre 
aleman.  nicht  durchweg  zu  herre  sondern  zu  herre  gekürzt  wird,  wie 
Martin  Anz.  f.  d.  A.  14,  2ö7  richtig  hervorhebt,  so  mag  dieß  viel- 
leicht nur  auf  eine  spätere  Zeit  dieses  Lautvorgangs  deuten,  als  eben 
e  schon  geschlossen  geworden  war. 

Wenn  wir  annehmen  dürfen,  daß  mhd.  c  im  Aleman.  den  ge- 
schlossenen Klang,  den  die  Mundarten  ihm  zutheilen,  schon  zu  der 
Zeit  erhalten  hatte,  als  noch  das  ganze  aleman.  Gebiet  die  drei  kurzen 
e- Laute  unterschied,  so  können  wir  uns  von  der  Lagerung  der 
e- Vocale  im  Gemein- Alemanischen  der  mhd.  Zeit  folgendes  hypothe- 
tische Bild  entwerfen: 

].  (geschlossener  Klang:  e)  2.  (mittlerer  Klang:  e) 

mhd.  se;  rede,  bezzer.  mhd.  mel,  stechen;   ende, 

3.  (offenster  Klang:   e) 
mhd.  nseme;   nehte,  megede. 
Auf  diese  Gruppierung   lassen    sich    die  vorhandenen   mundart- 
lichen Typen  sehr  leicht  und  ungezwungen  zurückleiten. 

Die  Gruppe  III  (App.-Togg.)  ist  dem  hier  angesetzten  Stande 
der  Dinge  treu  geblieben. 

Von  den  übrigen  verfährt  am  einfachsten  Gruppe  I.  (Schaffh.- 
Ottenh.):  sie  läßt  2.  und  3.,  den  mittlem  Klang  mit  dem  offensten, 
zusammenfallen;  und  zwar  scheint  es,  wenn  wir  nun  die  absolute 
Qualität  ihrer  e- Laute  mit  in  Betracht  ziehen,  daß  Schaff  h.  das  ein- 


')  Doch  ist  zu  beachten ,  dafj  aucli  das  Schwäbische  das  mhd.  ü  von  dem 
seiundären  Umlauts-e  in  manchen  Lautumgebungen  bis  heute  auseinanderhält  (Kautt'- 
mnnn  a.  a.  O.  S.    10  f.). 


128  A.  HEUSLER 

stige  e  dem  e  zunäherte;  denn  ihm  fehlt  heute  jener  bewußte  sehr 
offene  e- Klang,  daß  aber  Ottenh.  umgekehrt  das  einstige  e  in  e  auf- 
gehen ließ;  denn  in  dieser  Mundart  lauten  die  offenen  e  heute  a- ähnlich. 

Auch  Gruppe  II  (Berom.-Leerau-els.  Münsterth.)  ließ  die  Schat- 
tierungen 2.  und  3.  zusammenfließen  und  zwar  unzweifelhaft  in  e, 
dem  prononciert  offenen  Klange  (eis.  Mü.  ging  dann  sogar  weiter  bis 
zu  a) ;  dann  wurde  die  Kürze  e  von  der  Länge  e  geschieden,  indem 
jene  die  mittlere  Klangfarbe  e  bekam,  und  zwar  bevor  ein  Theil 
der  Kürzen  Dehnung  erfahren  hatte. 

Auch  in  Baselstadt  fielen  2.  und  3.  zusammen  (vermuthlich  in 
einer  Mittelnuance  zwischen  e  und  e);  1.  blieb  zunächst  einheitlich, 
bis  rede  zu  red  gedehnt  war;  dann  ließ  die  Mundart  die  noch  als 
Kürze  übrigen  e  (in  bessar  etc.)  eine  Stufe  offener  werden,  also  die 
Mittelstufe  zwischen  se  red  und  mel  ste^a  etc.  einnehmen. 

In  Kerenzen  endlich  entwickelte  e  vor  Nasalen  die  offenste 
Schattierung  e;  außerdem  mischten  sich  1.  und  2.,  nach  Vollzug  der 
partiellen  Vocaldehnung,  in  der  Weise,  daß  alle  als  Kürze  bewahrten 
e  (in  bezzer  etc.,  stechen  etc.)  in  der  mittlem  Klangfarbe,  alle  ur- 
sprünglich langen  oder  später  gelängten  e  (in  se;  rede,  mel)  in  der 
geschlossensten  Klangfarbe  sich  einigten.  — 

Es  würde  dem  Entwicklungsgange,  den  wir  hier  für  die  ver- 
schiedenen Mundarten  angesetzt  haben,  um  ihren  heutigen  e-Vocalis- 
mus  mit  einem  frühern  gemein -alemanischen  Zustande  in  lautgeschicht- 
lichen Zusammenhang  zu  bringen,  zur  Bestätigung  dienen,  wenn  in 
andern  Theilen  ihres  Vocalsystems  ein  ähnlicher  Gang  der  Bewegung 
sich  auffinden  ließe.  Es  fehlt  zum  Theil  nicht  an  derartigen  Über- 
einstimmungen.   Doch  möchte  ich  sie  mit  allem  Vorbehalt  vorbringen. 

Zunächst  die  Parallele  mit  den  o- Lauten.  Sehr  wahrscheinlich 
hatten  im  Aleman.  der  mhd.  Zeit  kurz  o  wie  lang  0  die  gleiche  ge- 
schlossene Qualität.  Nun  finden  wir  in  der  Dialectgruppe  I  (Schaff h.- 
Ottenh.),  welche  den  mhd.  se  —  rede,  bezzer  ihre  geschlossenste  Schat- 
tierung e  bewahrt  hat,  entsprechend  auch  mhd.  o,  ob  kurz  erhalten 
oder  gelängt,  in  derselben  geschlossensten  Klangfarbe  wie  die  Fort- 
setzung von  mhd.  6.  So  hat  auch  Baselstadt  nach  Ablauf  der  Vocal- 
dehnung die  kurzgebliebenen  o  zu  offenerer  Stufe  geführt,  während 
die  ursprünglich  langen  und  die  gelängten  ö  geschlossen  blieben,  ganz 
wie  bei  e;  also  hö%  (mhd.  hoch),  wöl  (mhd.  wol)  —  rpss  (mhd.  ros, 
rosses)  wie  se,   red  —  bessar. 

In  Gruppe  III  (Berom.-Leerau-els.  Münsterth.)  ist  o  gleichwie  e 
um  eine  Stufe  offener  geworden,    bevor    die    partielle  Vocaldehnung 


I 


ZUR  LAUTFORM  DES  ALEMANNISCHEN.  129 

eintrat:  das  secundär  gelängte  wöl  zeigt  daher  mit  dem  kurz  geblie- 
benen ross  die  offenere  Qualität  als  das  ursprünglich  lange  hö;|^. 

Dagegen  trifft  für  Kerenzen  diese  Parallele  nicht  zu.  Wir  sollten 
hier  geschlossene  Länge,  offene  Kürze  erwarten.  Statt  dessen  zeigt 
die  Mundart  nur  noch  geschlossenes  (_) ,  ö.  —  In  App.  -  Togg.  ist  die 
Anordnung  der  o-Laute  complicierter.  Bei  der  Vertretung  von  mhd. 
kurz  o  scheint  sich  der  Gegeosatz  von  gedeckter  und  ungedeckter 
Silbe  geltend  zu  machen,  vgl.  ;t9pf?  sota,  ross,  rok;^,  kst();t;|^8  gegen 
tobl,  ofa,  hqlö,  raolo  (Molch).  Die  Parallele  zu  den  e- Lauten  ist 
also  jedenfalls  keine  vollständige. 

Eine  andere  Erscheinung  tritt  uns  in  der  Gruppe  II  (Berom.- 
Leerau-els.  Münsterth.)  entgegen.  Unsere  Annahme,  dass  diese  Mund- 
arten ihre  einstigen  e  mittlerer  Schattierung  (in  mhd.  mel ,  stechen ; 
ende)  einzelmundartlich  zu  ihrem  heutigen  sehr  offenen  e- Laute  ge- 
wandelt haben,  steht  in  gutem  Einklang  mit  tler  Thatsache,  daß  in 
den  nämlichen  drei  Mundarten  mhd.  i  und  u  eine  Stufe  offener  ge- 
worden sind:  fürs  Gemein- Aleman.  der  mhd.  Zeit  sind  diese  Laute 
als  i  und  u  auzusetzen;  jene  drei  Dialecte  sprechen  sie  heute  als 
e  (e)  und  o  (ö),  d.  h.  geben  ihnen  den  gleichen  Klang  wie  der  Fort- 
setzung von  mhd.  G  und  ö.  Daß  auch  in  dieser  Eigenthümlichkeit 
das  weit  entlegene  elsäß.  Münsterthal  mit  Beromünster-Leerau  sich 
begegnet,    ist  jedenfalls  bemerkenswerth. 

Anderseits  hat  in  Ottenheim,  welches  doch  auch  seine  mittlem 
e  zu  e  gesenkt  hat,  das  mhd.  i  und  u  nicht  diese  Annäherung  an 
e  und  o  erfahren.  Und  umgekehrt  finden  wir  in  dem  großem  Theile 
der  appenzellischen  Dialecte  mhd.  i>e,  u>o,  ü>»ö  entwickelt, 
obwohl  hier  die  mittlere  e- Nuance  unverändert  blieb.  Es  ist  also 
fraglich,  ob  nicht  auch  jene  scheinbar  zusammenhängenden  Lautwan- 
delungen in  den  andern  Mundarten  thatsächlich  ganz  unabhängig  sich 
vollzogen  haben.  Schwerlich  wird  man  a  priori  erwarten  dürfen,  daß 
eine  Bewegung  innerhalb  der  e-Laute  einer  Mundart  andere  Theile 
ihres   Vocalismus  in  Mitleidenschaft  ziehen  müsse. 

Für  die  Reime  alemanischer  Dichter  mhd.  Zeit  ergiebt  sich 
Folgendes.  —  Wo  sich  die  Bindung  e  :  ö  fand,  dachte  man  schon  früh 
an  consonantischen  Einfluß,  der  dem  e,  bezw.  dem  e,  eine  andere 
Qualität  gab,  als  sie  ursprünglich  hatten.  Franck  präcisierte  es  da- 
hin, daß  das  vor  ht  erscheinende  offene  Umlauts -e  liberhaupt  nie  ge- 
schlossen gewesen  war.  Man  setzte  dabei  stillschweigend  voraus,  daß 
jene  offene  Sorte  von  Umlauts -e  gleichlautend  mit  e,  die  betr.  Reime 
also  rein  waren. 

OKRMANIA.     Nene  Reihe.  XXU.  (XXXIV.)  Jahrg.  9 


130  H.  V.  WLISLOCKI 

Oben  hat  sich  nun  gezeigt,  daß  ein  Theil  des  Aleman.  (und  das 
Schwäbische  in  gewissen  Lautumgebungen)  das  secundäre  Umlauts -e 
nie  so  weit  von  a  sich  entfernen  ließ,  daß  es  mit  e  gleichen  Klang 
bekommen  hätte.  Finden  sich  also  bei  aleman.  Dichtern  Reime,  wie 
sie  Gram.  I  279  ff.  (Neudruck)  gesammelt  sind  (frevel  :  wevel,  effen  : 
treffen,  weide  :  velde,  gesiebte  :  knehte,  ehte  :  rehte,  gebrehte  :  knehte, 
ehtent  :  vehtent;  ich  habe  mir  notiert  aus  dem  Lanzelet:  vehten  : 
wehten  [doch  s.  die  Anm.  von  Hahn  zu  V.  1774],  aus  Hadloub:  ge- 
siebte (Schlachten)  :  rehte,  erne  :  gerne,  aus  K.  v.  Ammenhausen: 
tonrslegen  :  regen),  so  müssen  entweder  die  Reime  nicht  völlig  genau 
sein,  oder  aber  das  Theilgebiet  des  Alemanischen,  dem  die  betr.  Ver- 
fasser angehören,  muß  schon  die  Lautschattierungen  2.  und  3.  (s.  o.) 
zusammengeschmelzt  haben.  In  dem  Falle  siegen  :  regen,  wofern  wir 
es  als  genauen  Reim  aufzufassen  haben,  zeigt  sich  auch  schon  ein 
analogisches  Umsichgreifen  des  secundären  offenen  Umlauts -e,  wie  es 
in  den  lebenden  Mundarten  uns  entgegentrat. 

BERLIN,  November  1888.  ANDREAS  HEUSLER. 


ZU  DEN   „DREI  MAREIEN". 


Ernst  Ludwig  Rochholz  hat  in  seinem  trefflichen  Werke:  „Ale- 
mannisches Kinderlied  und  Kinderspiel  aus  der  Schweiz"  (Leipzig 
1857),  S.  139  ff.  unter  den  größeren  Spieltexten  auch  „die  drei  Mareien" 
nach  Abkunft  und  Inhalt  erklärt.  Diese  drei  verhängnißvollen  Spinne- 
rinnen leben  aber  nicht  nur  in  den  Sagen,  Märchen  und  Liedern  der 
germanischen  Völker  fort,  sondern  auch  im  Glauben  anderer 
Völkerschaften  finden  sich  Anklänge  an  diese  mythischen  Vorstel- 
lungen. Ich  erlaube  mir  nun  zu  den  Erörterungen  Rochholz'  einige 
hiehergehörige  Kinderlieder  und  Sagen  aus  Siebenbürgen  und  Ungarn 
mitzutheilen,  die  vielleicht  bei  einer  ausführlichen  Erklärung  nicht 
gerade  unbeachtet  bei  Seite  geschoben  werden  dürfen. 

Daß  diese  drei  spinnenden  Mareien  ursprünglich  die  dem  Men- 
schen bei  seiner  Geburt  den  Schicksalsfaden  spinnenden  Nornen  unserer 
germanischen  Mythen  sind,  das  bezeugen  alle  die  einschlägigen  Kinder- 
lieder aus  Siebenbürgen,  —  aber  was  noch  mehr,  sie  liefern  uns  neben- 
bei auch  den  Beweis,  daß  dieser  Glaube  indogermanisches  Gemein, 
gut  ist.  In  beiden  Beziehungen  interessant  ist  das  folgende  Kinderlied 
der  Siebenbürger  Rumänen,  das  ich  1886  im  Südwesten  Siebenbürgens 


zu  DEN  „DREI  MAREIEN^  131 

gehört    und    aufgezeichnet    habe.    In   genauer    deutscher  Übersetzung 
lautet  es: 

Heida  ihr  Lieben,  Denn    die    dritte    aus    ihrem     dicken 
Wir   reiten   ins   Land!  Pyß 

Haben  ein  gold'nes   Seil  in  der  Hand!  Viel  Kröten    und    Schlangen    gebären 
Zwei   Frauen,    die   haben   es  gemacht,  muß 

Haben   es  gesponnen  über  Nacht;  Auf  jeden   Schritt  wohl   dreißig; 

Aus   der  Nabelschnur  zart  und   klein,  Drum   reiten   wir,   reiten    wir  fleißig, 

Spannen   sie   das  Seil,   so   golden   und  Sonst      kommen      die      Kröten      und 

fein !  Schlangen 

Die     dritte     Frau,     die     will     es     zcr-  Und   nehmen   uns    Bübchen   gefangen! 

schneiden,    — 
Drum    müssen    wir   reiten,    immer   nur 

reiten. 

Wie  es  im  Deutschen    eine    weiße,    schwarze    und    eine    eiserne 
Bertha  gibt,  eine  gute  Spinnerin   und  eine  verfluchte,  eine  Frau  Breite 
mit  der  eisernen  Nase,  im  Französischen  eine  Reine  pedauque,    reqina 
pede  avca,  die  mit  dem  Platsch-  und  Gänsefuß,  Berthe  an  (jrand  pitd 
und  wie  auch  die  drei  Mareien  ein  ähnUches  Maß  von  Körperschönheit 
und  Herzensgute  und  hinwieder  von  Häßlichkeit  und  Hexenhaftigkeit 
einhalten,  so  spinnen  die  beiden   „Guten"   auch  im  rumänischen  Liede 
„aus  der  Nabelschnur'*   des  Kleinen  das  goldene  „Glücksseil",  das  die 
dritte,    .,die  Böse",    die    mit  „ihrem    dicken  Fuß",    zerschneiden  will, 
die    aus    ihrem  Bein  Schlangen    und  Kröten    zur  Welt    bringt    (Über 
Beingeburten  s.   Liebrecht,    Zur  Volkskunde,    S.  490  ff.).    Auch    den 
ungarischen  Märchen  ist  diese  Unholdin  unter  dem  Namen  „«  vasorrü^ 
(„die  mit  der  eisernen  Nase")  bekannt  (s.  Katona,  Zur  Litteratur  und 
Charakteristik  des  ungarischen  Folklore  in  der  Ztschr,  f.  vergl.  Litt, 
und  Renaissance-Litteratur   Bd.  I,    S.  31).    Zwei    dieser    drei    Frauen 
sind,   dem  rumänischen  Volksglauben  gemäß,    auch  bei  Geburten  be- 
hilflich;   die    dritte    aber,    die    „mit    dem    dicken    Fuß",    bewirkt    — 
sobald  sie   sich   der  Gebärerin   nähern  kann  —  den  Tod  des  Kindes. 
Um  sie  daher  von  der  Geburtsstätte  ferne  zu  halten,  wird  Haferstroh 
zu   einem  Bündel   gewunden   ins  Herdfeuer  geworfen.    Dieser  Brauch 
hängt    wohl    mit    dem    deutschen    ., Weidendrehen"     zusammen.     „Im 
Aargau   löst   man   diejenigen  Knoten   sorgfältig  auf,    die  man  an  den 
Ruthen    einer    dem  Wohnhause    zunächst    stehenden  Weide    gewahrt; 
auch    das  Weidenband    einer   jeden    Strohgarbe,    die    man    im  Stalle 
streuen  will,  wird  erlesen  und  aus  gleichem  Grunde  nicht  raitgestreut. 
Es  könnte    ein  Hexenschaden    mit    darin   Verknüpft'    sein"    (Rochholz 
a.  a.  O.  S.  146).   Ein  Strohwisch  war  in  früheren  Zeiten   in   den  säch- 
sischen Gemeinden  das  Schandzeichen  gefallener  Mädchen,  und  noch 

9* 


132  H.  V.  WLISLOCKI 

bis  in  die  Mitte  dieses  Jahrhunderts  wurden  „fremde  Dirnen''  mit 
„Schub"  (Strohschaub)  aus  der  Gemeinde  abgeführt,  d.  h.  auf  einen 
zweirädrigen  Karren  wurde  ein  Strohbund  gelegt,  die  Dirne  hinauf- 
gesetzt und  vom  Wasenmeister  über  die  Grenze  der  Stadt  geschafft. 
Hafer-  und  Erbsenstroh  verscheucht  auch  nach  siebenbürgisch-säch- 
sischem  Volksglauben  die  bösen  Geister,  und  unter  dem  Sterbenden 
wird  dieserwegen  das  Federbett  behutsam  weggezogen,  denn  auf  dem 
Strohsack  stirbt  man  leichter,  namentlich  aber  auf  einem  Polster  mit 
Erbsenstroh  gefüllt,  das  sofort  unter  den  Kopf  geschoben  wird 
(s.  Fronius,  Bilder  aus  dem  sächsischen  Bauernleben  in  Siebenbürgen, 
S.  255)  und  „stin  dekel  kalt  drbes^^  (Steindeckel,  kalt  Erbsen)  klingt 
die  Glocke,  wenn  Jemand  begraben  wird. 

Auffallend  ist  es,  daß  das  rumänische  Kinderlied  zweier,  nicht 
nur  dem  deutschen  Volke ,  sondern  auch  den  Liedern  anderer  Völker 
gemeinsamer  Züge  entbehrt,  nämlich  der  Erwähnung  der  „Weiden"  und 
Anführung  der  Grenzen,  welche  das  „goldene  Seil"  umspannt.  In  den 
deutschen  Varianten  sind  stets  die  Orte  angeführt,  „von  welchen  aus 
und  bis  zu  welchen  das  Wiegenseil  oder  Deichselseil  für  den  Neu- 
geborenen gesponnen  und  gespannt  wird,  damit  dieser  Glücksfaden 
schirmend  um  die  ganze  Heimat  herum  reiche"  (Rochholz  a.  a.  0. 
S.  142).  In  einem  Kinderliede  der  oberungarischen  Slovaken  —  das 
mir  Herr  Krälik  aus  seiner  unedirten  Sammlung  zu  überlassen  die 
Güte  hatte  —  finden  sich  auch  diese  zwei  Züge  wieder.  Das  Lied 
lautet  in  genauer  Übersetzung  also: 

0   du  gold'nes  Halfterband,  Eine  lange  Gerte  flicht 

Führe  uns   durch's  ganze  Land,  Eine  sich   aus   grünen   Weiden,   — 

Führ'   du  uns  von  Dobschau  Schlägt    dich ,     wenn     du    folgst    mir 

Hin  zum  schönen  Kaschau  nicht!   — 

Und  von  da  nach   Leutschau,  Und   die  dritte   spinnt  aus  Seiden 

Wo   drei  Frauen  wohnen,  Dir  ein  schönes,   neues  Kleid, 

Die  uns   strafen  und  belohnen :  Darum  Bübchen  reite,  reit', 

Einen  gold'nen  Apfel  rund  Hopp,   hopp,   hopp,  reite,  reit' ! 

Hält  die  eine  in   dem  Mund ; 

Der  Zug  „mit  den  Weiden"  ist  hier  gänzlich  verwischt,  dafür  aber 
entspricht  die  Frau  „mit  dem  goldenen  Apfel  im  Mund"  der  fünften 
Frau  bei  Rochholtz  a,  a.  O.  S.  140,  wo  es  von  ihr  heißt: 

„de  feuft'   isch  eusi  liebi  Frau, 

sie  sitzt  enuet  a  der  Wand, 

hat  en  Oepfel  i  der  Hand, 

sie   goht  durh-ab  zum   Suunehüs 

und  16t  die  heilig   Sunne  üs, 

und  löt  die  Schatten  ine 

für  ihre  liebe  Chline"   u.  s.  w. 


zu  DEN  „DBEI  MAREIEN".  133 

Daß  überhaupt  den  Nornen  auch  ein  Eintiuß  auf  die  Witterung  zu- 
geschrieben wird,  zeigt  das  rumänische  Lied,  das  die  Kinder  singen, 
wenn  sich  der  Himmel  umwölkt;  es  lautet  deutsch  also: 

Weisse  Mutter,   öfF'ne   Thür  und   Thor, 

Lass'   die   liebe   Sonn'   hervor; 

Vor  der  lieben   Sonne  muß 

Rasch   entfliehen  Frau  Klunapfuß. 
Durch    die  Erwähnung    des    „goldenen    Fadens"    steht    ein  Lied    der 
deutschen   Kinder    in    der  Zips,    das    sie    bei  Regenwetter    zu    singen 
pflegen,    noch   näher  zum  Kreis    „der  drei  Mareien';    es  lautet  also: 

Liabe   Frau,   mach's  Thürl   auf, 

Bring'   die   liabe   Sunu   herauf, 

Lass'   de  Regen   drinne, 

Lass'   de   Schnee   verrinne; 

Komm'   aus   danem   Brünnchen, 

Briang'   dan  goldig  Kindchen, 

Briang'   a  goldnen   Faden 

Behüetc  uns  vor  Schaden ! 
Ganz   verwischt  sind  diese  Beziehungen  im  folgenden  siebenbürgisch- 
sächsischen    Kinderliede    (s.  Schuster  Fr.  W. ,    Siebenb.-sächs.  Volks- 
lieder, S.  337): 

Et  fed  un  ze  renen,  Es  fängt  an   zu  regnen, 

God  kid  enkenen;  Gott  kommt  entgegen, 

dt  de  ren  afhält,  Der  den  Regen  aufhält, 

däd  äs  e  selich  man,  Das  ist  ein  seliger  Mann, 

di  ed  ach  loeder  mäche  kän,  Der  es  auch  wieder  macheu   kann, 

di   ed   lieh   weder  zerdr'emere  kän.  Der  es  auch  wieder  zertrümmern  kann. 

Einen  viel  deutlicheren  Bezug  auf  die  drei  Nornen  und  „das  goldene 
Seil"  finden  wir  iu  den  folgenden  siebenbürgisch-sächsischen  Kinder- 
liedern : 

Ich    länz    mer  a  reszken    guor    ivol      Ich   laaz;    mir  ein  Rößchen    gar    wohl 
beschlo,  beschlagen, 

ich  läsz  et  an  der  sailgasz  go.  Ich   lass'   es   in   die  Seilgass'   gehn. 

Do  et  na  knm  for  Katiche  sai  dir,  Da  es  nun  kam  vor  Käthchens  (seine) 
do  tvör  en  galden  bräk  Thür, 

dö  wör  och  mai  glück.  Da  war  eine  goldene  Brücke, 

Da  war  auch  mein  Glück. 
Bei  Schuster  a.  a.  O.  S.  327  steht  wohl  zailgasz  (Zeilgasse) ;  doch 
glaube  ich  „Seilgasse"  lesen  zu  dürfen,  besonders  da  im  Siebenbürgisch- 
sächsischen  „Zeile"  für  „Gasse"  gebraucht  wird  und  somit  „Zeil- 
gasse" eine  Art  Tautologie  wäre;  „Seilgasse'  hingegen  —  so  wie  ich 
es  im  Volksmunde  hersagen  hörte  —  mag  vielleicht  einen  verwischten 
Bezug  auf  das  „Glücksseil"  haben.  Das  folgende  Lied  der  siebenb.- 
sächs.  Kinder  nimmt  auch  Bezug  auf  die  drei  Nornen;  es  lautet: 


134  H.  V.  WLISLOCKI 

Brä  Ndne'   Jcun  am  rür  eraf,  Drei  Nane   (Nornen)   kommen  im  Rohr 

se  hranjen  e   käinjt  gefangen;  hervor, 

se  lochten  et  an  en  trigeltchen,  Sie   bringen  ein  Kind  gefangen; 

et  schieß  ivä  e  rene  ßgeltchen.  Sie  legten   es  in  ein  Trögelchen, 

Es    schläft  wie   ein  Regen-Vögelchen. 

Vgl.  auch  das  von  Fr.  Fr.  Fronius  a.  a.  O.  S.  34  mitgetheilte  siebenb.- 
sächs.  Kinderlied: 

Si,  si  sigelchen  Si,   si   Siegelchen, 

Der  tuewe  flecht  e  ßgelchen,  Dort  oben  fliegt  ein  Vögelchen, 

Hae  nedde  tli('<igcn  de   Nonnen^  Hier  unten  fliegen   die  Nonnen, 

Se  hatten  e  Kaendj  gefangen,  Sie  hatten  ein  Kind  gefangen, 

Se  schmieszent  en  de  bach,  Sie  warfen's  in  den  Bach, 

Dat  et  alles  zehräch.  Daß   es  Alles  zerbrach. 

Die  nächste  Verwandtschaft  mit  den  deutschen  „Mareien-Liedern"  zeigt 
unter  den  hiehergehörigen  Kinderliedern  der  Siebenbürger  Sachsen 
wohl   das   folgende  —  meines  Wissens  bislang  unedirte  —  Liedchen : 

Zuzu,  zuzu,  reddjen;  Zuzu,  zuzu  reiten; 

De  Baschfrä  af  den  wedjen  Die  Buschfrau  auf  den  Weiden 

Wdl  User  reszken  geht  beschlön,  Will  unser  Rößchen  gut   beschlagen. 

Bat  wer  hedj  nö  Krüne  gön.  Daß   wir  heut'   nach   Kronstadt    gehn, 

Bö  äs  en  hisch  gdlden  brück,  Da  ist  eine  hübsche  goldne  Brück', 

Bo  fandj   Hani  uch  se  gläcJc;  Da  find't  Hanchen   auch   ihr  Glück; 

Baschfrä  git  äs  sejeltcher,  Buschfrau   gibt  uns   Schüchen, 

Uch  en  sedän  kereltchen.  Auch  ein  seid'nes  Kittelchen. 

Nach  dem  Kinderglauben  kommen  die  Kinder  von  der  Baschmoter, 
Baschfrä,  die  sie  unter  einem  großen,  dicken  Baum  im  Walde  hervor- 
gräbt oder  aus  ihrem  Brunnen,  der  unter  einem  großen  Baume  sich 
befindet,  herauszieht  und  oft  —  besonders  wenn  die  Kinder  nicht 
fromm  sind  —  wieder  zu  sich  nimmt.  Darum  werden  auch  die  Heb- 
ammen selbst  häufig  —  wenn  auch  nur  scherzweise  —  Bäschmatter 
(Buschmutter)  genannt.  Das  sind  Alles  auf  Hei  zurückweisende  An- 
schauungen (s.  Fr.  W.  Schuster,  Deutsche  Mythen  aus  siebenb.-sächs. 
Quellen  im  Archiv  d.  Ver.  f.  siebenb.  Landeskunde  Bd.  IX  und  X, 
S.  251  und  281  flf. ;  dies  Werk  ist  für  die  siebcnbürgische  und  ver- 
gleichende Mythenforschung  unentbehrlich.  Über  die  drei  Mareien, 
Nornen  überhaupt,  die  im  Siebenb. -sächsischen  neben  ^,Nane,  Nonne^ 
auch  „Wäiirjken''^  heißen,  s.  ebenfalls  Schuster  a.  a.  0.  S.  76  ff.). 

Der  Ort,  an  dem  diese  Wesen  wohnen,  liegt  nach  dem  Volks- 
glauben in  der  Nähe  einer  Quelle,  eines  Brunnens  oder  Baches.  Diesen 
Zug  finden  wir  auch  in  einem  ungarischen  Kinderliede,  das  unter  den 
Siebenbürger  Szeklern  verbreitet  ist;  es  lautet  in  genauer  Über- 
setzung also : 


zu  DEN  „DREI  MAREIEN".  135 

Heida,  heida  auf  nach    Kronstadt!  Und    ganz   nah'    in   Angyalos 

Haben   unser   Roß   verloren,  Fließt   ein   klares   Brüiinlein,   — 

Wollen   uns   ein   neues    kaufen,  Sitzen    dort   drei    Fräulein, 

Und    dazu    auch    gold'rie   Sporen,  Hält   das   eine   ein   Kindchen, 

Dann   wird's   rascher  laufen  !  Das   andre   schneidet   Weiden 

Heida,   heida  auf  nach    Kronstadt!  Für  den   Hintern,   hopp,   hopp,    hopp! 

Hei !    da   steht   ein   Schlößlein,  Und   das   dritte   spinnet   Seide, 

Und   nicht  weit  in  Sepsi-Szent-György  Spinnt   für   dich    den    neuen    Hock! 

Steht   ein   gold'nes   Häuschen,  Hopp,    hoj)p,    hopp  ! 

Merkwürdig  ist  der  Umstand,  daß  in  der  ungarischen  VolUsdicbtung 
überhaupt  drei  Nornen  als  solche  nicht  erwälint  werden,  und  ich  bin 
geneigt,  obiges  Kinderlied  der  Szekler  eben  deswegen  für  eine  Ent- 
lehnung aus  dem  Deutschen,  resp.  Sächsischen  zu  halten.  Vielleicht 
ist  dies  Lied  einem  verlorenen  sächsischen  nachgebildet  worden. 
Immerhin  bleibt  seine  Zusanimen-stellung  recht  interessant,  der  eben 
nur  der  Zug  vom  „Seil,  goldener  Brücke"  abgeht.  Dieae  drei  Fräulein 
glaube  icii  auch  in  folgender  Sage  der  Siebenbürger  Szekler  wieder- 
zufinden. 

„Vor  vielen,  vielen  Jahren  lebte  ein  Ritter,  der  war  gegen  seine 
Untergebenen  gar  strenge  und  hartherzig.  Seine  eigene  Gattin  hatte 
er  einmal  in  seinem  Zorn  zu  Tode  geprügelt,  und  seine  drei  wunder- 
schönen Töchter  behandelte  er  schlechter  denn  Hunde.  Da  traf  es 
sich  einmal,  dali  der  böse  Kitter  in  eine  gar  ferne  Stadt  zog,  um  sich 
von  da  eine  Gattin  zu  holen.  Bevor  er  abzog,  sprach  er  zu  seinen 
Töchtern :  „Allen  Hanf,  der  sich  am  Aufboden  des  Hauses  befindet, 
mü(>t  ihr  bis  zu  meiner  Rückkehr  gesponnen  haben,  sonst  lasse  ich 
jede  von  euch  an  einen  Baum  binden  und  dann  zersägen."  Also 
sprach  der  Rittersmann  und  zog  von  dannen.  Seine  armen  Töchter 
weinten  nun  Tag  und  Nacht,  denn  sie  wußten  nicht,  wie  sie  den 
vielen  Hanf  aufspinnen  sollten.  Da  traf  es  sich  einmal,  daß  die  drei 
Fräulein  spät  in  der  Nacht  noch  spannen  und  weinten ,  als  sich  die 
Thüre  der  Stube  öffnete  und  ein  riesiger  schwarzer  Stier  hereintrabte. 
Mitten  im  Hanfstoß  ,  der  am  Boden  lag,  blieb  er  stehen ,  nahm  einen 
Bund  nach  dem  andern  auf  seine  Hörner,  und  während  er  seinen 
Hals  von  rechts  nach  links  beständig  bewegte,  verwandelte  sich  der 
Hanf  sofort  in  die  schönste  Leinwand.  Das  eine  der  drei  Fräulein 
stieg  nun  schnell  auf  den  Aufboden  hinauf  und  reichte  ihrer  Schwester, 
die  auf  der  Leiter  stand,  einen  Hanfbund  nach  dem  andern  herab. 
Die  mittlere  Schwester  reichte  den  Hanf  der  Jüngsten,  die  unten  in 
der  Stube  stand,  und  diese  warf  ihn  vor  den  Stier^  der  mit  seinen 
Hörnern  so  rasch  spann ,   daß  die  Schwestern  kaum  Zeit  hatten,  ein- 


136  H.  V.  WLISLOCKI 

ander  den  Hanf  zu  überreichen.  Die  eine  rief  stets  der  andern,  diese 
wieder    der    dritten    zu:    y^Nyujtod-e   mar?''    („Reichst  du  ihn    einmal 
her") ,    um    sich    gegenseitig   zur  Eile   anzufeuern.    Als  es  dämmerte, 
spann  der  Stier   noch   immer.    Aber  er  war   auch    schon    sehr   müde, 
denn  so  oft  er  den  Hals  von  rechts  nach  links  bog,  da  flog  ihm  stets 
der  Speichel  in  langen  Fäden  zum  oflfenen  Fenster  hinaus  und  schwebte 
als  glänzender  Faden  in  der  Luft  fort.    Diese  Fäden  sieht  man  auch 
jetzt  noch  im  Herbste  in  der  Luft  schweben,  und  wir  nennen  sie  eben : 
„ökömydl^  (Ochsenspeichel).    Gegen  Mittag  war   der   gesammte  Hanf 
aufgesponnen,    und  da  stürmte   der  Stier  auf  die  drei  Jungfrauen  los 
und  warf  sie  in  die  Luft;    die  eine  fiel  oben  auf  dem  Gebirge  neben 
einer  Quelle  auf  die  Erde,    die  andere  fiel  auf  einen  Acker,  und  die 
dritte   fiel    auf  einen    hohen  Baum.    Jede  sitzt  nun  seit  vielen  Jahren 
auf  ihrer  Stelle  und  spinnt  den   „Ochsenspeichel";    aus  dem  Gespinst 
verfertigen   sie   dann  Hemden ,    und    wer    ein    solches  findet    und  am 
Leibe  trägt,  der  ist  in  Allem  glücklich.  An  der  Stätte,     wo  das  Haus 
des  Ritters  gestanden ,    hörte   man   lange  Jahre   hindurch  allnächtlich 
den  Ruf  erschallen:  ,,Nyujtod?   nyujtod-e  mdr?^^  Und  als  mit  der  Zeit 
sich  daselbst  Leute  ansiedelten,  nannten  sie  das  Dorf  „Nyujtod"  *)..." 
Diese  Sage    erinnert    uns    an  das  Zauberhemde  und  Nothhemde 
der    deutschen  Mythe,  das  Jungfrauen  woben,    um  Kämpfer  fest  und 
unverwundbar  zu  machen.  In  solchem  Zusammenhange  nennt  man  in 
Deutschland    die   im  Herbste    über    das  Feld    schillernden  Fäden    der 
Feldspinne  noch  den  Marienfaden ,   den  Altenweibersommer,  in  West- 
phalen   Unser    laiwe    Frauen   Suemer,    und    die  Spinneweben    in    der 
Stube    heißen    sogar   Friggers,    der  Göttin    Fria  Gewebe"    (Rochholz 
a.  a.  O.  S.  142;  s.  Woeste  in  Wolfs  Ztschr.  2,  96).  Dem  Volksglauben 
der  Siebenbürger  Armenier  gemäß  webt  die  „Glücksfrau"   dem  Kinde, 
das  in  der  Stunde    geboren    wird,    wo    sie  ihr  eigenes  Kindlein,    den 
„Zufall",  säugt,  aus  ihrem  Speichel  ein  Glückshemd.  Man  legt  daher 
jedes  Kind  vor  der  Taufe  an  einen  Ort,  wohin  der  Mond  scheint,  und 
entfernt   sich   aus  dem  Zimmer,    damit   die  Glücksfrau  ihm  ungestört 
das    „unsichtbare  Glückshemd"    anziehe,    das  es  dann    sein  Lebelang 
unbewußt  an  hat,    um  nun  in  allen    seinen  Handlungen    vom  Glücke 
begünstigt  zu  werden.    Nach  dem  Glauben  der  Siebenbürger  Rumänen 
ist  es  gut,  wenn  man    von  der  Nabelschnur  des  Kindes  ein  Stückchen 
bei  zunehmendem  Mond  in  den  Garten  wirft;    dann   kommen  die  „guten 
Frauen"  und  weben  das  Stückchen  zu  einem  „Glücksfaden";  sie  weben 

*)  Im  Südosten  Siebenbürgens. 


zu  DEN  ^DREI  MAREIEN".  I37 

ihn  so  lange,  bis  daß  ihn  die  „dritte"*  abschneidet:   „dann  ist  es  aus 
mit  dem  Glücke  des  Menschen!" 

Auch  ein  Kinderlied  der  Siebenbürger  Zeltzigeuner  gehört  in  den 
Kreis  der  „drei  Mareien".  Das  „goldene  Seil"  umspannt  auch  hier 
die  Grenzen  der  engeren  Heimat.  Der  unedirte  Originaltext  dieses 
Kinderliedes  lautet  —  so  wie  ich  denselben  1883  in  der  Gegend  von 
Hermannstadt  aufgezeichnet  habe  —  also: 
Andro  häro  Sibineske  Keshdlyi  les  kereläs, 

Stnkdr  cercd  hin  dddeske ;  Rdciye   lisperpelds. 

Andrdl  e  cercd  beshds,  Pdl  sheloro   Orlxiforos 

Vdsh  Reshndre  grdstdrd-t ;  Sdr  e  bdrvdl  grästdrds; 

Pdl  Reshndre  sheloro  Te  0  phdnro  uripen 

Hin  shukdr  somndkuno;  Odoy  yon  den  sik  amen. 

Sheloro  hin  may  shukdr,  Kiyd  sheloro  shukdr, 

Oh  grdiyd,  tu  sitydr!  OIi  grdiyd,  tu  sitydr!^) 

Die  genaue  Übersetzung  desselben  lautet: 
Auf  der  Haid'  von  Hermannstadt,  Keschalyi  hat  es   gemacht, 

Schönes  Zelt  dein   Vater  hat;  Es   gewoben  über  Nacht. 

Vor  dem  Zelte  sitzen  wir,  Auf  dem   Seil   nach   Orlat  hin 

Reiten,  reiten  weg  von  hier,  Mit  den  Winden  wir  dann  ziehn. 

Reiten,   hin  nach   Reschinar,  Kleider  schön  aus   Seiden 

Dort  gemacht  aus   Gold,   so  klar,  Schenkt  man  uns   dort   Beiden. 

Ist  ein  langes,   langes   Seil ;  Wollen  hin   zum   gold'nen   Seil, 

Hopp,   mein  Pferdchen,   eile,   eil' !  Hopp,   mein  Pferdchen,   eile,   eil' ! 

Die  Keschalyi  sind  Feen,  die  verdammt  sind  kinderlos  zu  leben. 
Sobald  eine  Keschalyi  ein  Kind  zur  Welt  bringt,  so  stirbt  dasselbe 
auch  gar  bald.  Dann  flieht  die  trostlose  Mutter  hinauf  ins  Gebirge, 
wo  sie  auf  einsamen  Felsen  in  unzugänglichen  Schluchten  regungslos 
sitzt  und  ihr  meilenlanges  Haar  im  Winde  wehen  läßt,  wodurch  der 
Nebel  entsteht,  der  zigeunerisch  neben  nebulo  auch  y^bdl  Keschdlydkri,^ 
(Haar  der  Keschalyi)  heißt.  Stirbt  ein  Mann,  den  eine  Keschalyi  be- 
günstigt hat,  da  reißt  sie  sich  in  ihrem  Grame  Haare  vom  Kopfe, 
die  dann  als  Sommerfäden  (zig.  brigd  Keschdlydkri,  Gram  der  Keschalyi) 
über  die  Gefilde  schweben.  Kinderlose  Weiber  der  Zigeuner,  die  sich 
Kinder  wünschen,  sammeln  solche  Fäden  und  verzehren  sie  mit  ihrem 
Gatten  zusammen,  und  zwar  bei  zunehmendem  Monde,  wobei  der 
Spruch  gemurmelt  wird: 


')  Was  die  Orthographie  anbelangt,  so  entspricht  c  =  tsch,  o.  =  ch,  j  =  dsch, 
n  =  nj,  sh  =  9cb,  y  =  f  (s.  meine  „Sprache  der  transsilvanischen  Zigeuner",  Leipzig 
1884,  S.  3). 

9** 


138  H.  V.  WLISLOCKI 

Keshdlyiyd  Usperpm,  Ihr  Keschalyi  spinnet,  spinnt, 

Cin  pdm  hin  andre  len  !  Bis  noch  Wasser  in  den  Bächen  rinnt ! 

Mdngävds  pdl  holyipen,  Euch  zur  Kindstauf  wir  einladen, 

Kdnd  lolo  sheloro  Wenn  den  rothen  Glücksfaden 

Mende  turnen  Usperpen  ihr  gesponnen,  ihr  gesponnen 

Vdsh  rdkleske,  ko  dvld  Für  das  Kind,   das  wir  gewonnen 

Mende,  oh  Keshdlyiyd!  Haben  von  eurer  Gnad',  ihr  Keschalyi. 

Der  hier  erwähnte  „rothe  Glücksfaden"  ist  nicht  identisch  mit 
dem  im  vorhergehenden  Kinderliede  erwähnten  „langen,  goldenen 
Seil".  Letzteres  erscheint  nur  dem  Geliebten  der  Keschalyi  und  zeigt 
ihm  den  Weg  zu  derjenigen,  die  in  Liebe  zu  ihm  entbrannt  ist.  Wenn 
aber  eine  Keschalyi  einem  Kinde  „Glück  für  das  ganze  Leben"  ver- 
leihen will,  so  spinnt  sie  den  „rothen  Glücksfaden",  den  sie  dann  als 
rothes  Striemchen  am  Halse  des  Bevorzugten  erscheinen  läßt  (vgl. 
Rochholz  a.  a.  O.  S.  147).  Ein  solches  rothes  Striemchen  brachte 
auch  der  Stammvater  eines  der  vier  Zeltzigeunerstämme  Sieben- 
bürgens, des  Leila-Stammes,  bei  seiner  Geburt  mit  auf  die  Welt, 
woher  er  den  Beinamen  ^Lolo''^  (der  Rothe)  erhielt.  Die  Stammsage 
der  Le'ila,  die  in  mancher  Beziehung  zum  Kreis  der  „drei  Mareien" 
zu  rechnen  ist,  lautet  im  Originaltext,  so  wie  ich  denselben  nach  der 
Erzählung  des  gegenwärtigen  Wojwoden  des  Stammes,  Namens  Paul 
Csutak,  zubenannt  „der  Großfuß",  im  Jahre  1886  gehört  habe,  also: 

y,  Andre  hut  sei  bershd  jideläs  pdl  yek  hes  yekd  mdy  shukdr  räklyi. 
Yoy  rdklyi  bare  thdgdreskro  dvld".  Kdnd  leskre  ddd  merelds ,  leskre  pcrdl 
te  leskro  romni  Id  trädend;  e  romni  nd  kdmelds^  the  andre  them  shitkd- 
reder  romni  the  dvlds  sdr  yoy.  E  shukdr  räklyi  gelyds  ändro  cdtdro 
themdkri,  te  odoy  pdl  yek  häro  hes  andre  eigne  cev  hesheläs.  Bihdctdles 
jideläs  yevensd  hesheskro  te  huter  andre  hokh  mdy  nierelds.  Vucoyes  dnäre 
besh  beshend  trin  Keshalyiyä,  ke  butvdr  pro  besh  dikhenä  te  dikhenä,  so 
e  rdklyi  kerel.  Atunci  penelds  yekd  Keshdlyi  kiyd  leskre  pcenenge:  ^Core 
rdklyäke  hin  misec  jidipen;  yoy  may  bokhdles!  Mire  bald  andre  them 
telebicdv;  yoy  bald  cdl  te  kerel  yek  rdkles,  ko  pro  läke  gindisdreU'"''  Te 
Keshdlyi  bdld  telebiceläs  te  ddd  cdvelas  sik  e  rdklyi;  dtuiici  peneläs: 
duyte  Keshdlyi:  „Me  kereU  hoy  yekd  somndkune  lenori  the  dveläs  dngdl  cen 
te  yek  somnakuno  ruk  odoy  th'  äveUs^  ko  sdke  yevd  limdkri  bdrel!"  — 
„Te  me",  penelds  trite  Keshdlyi,  „me  kerel,  hoy  rdkleske,  kdnd  yov  md- 
nush  hin,  nd  tdysd  bdct  hin!"'  May  voyikereläs  e  core  räklyi,  känd  ävre 
jivese  dngdl  cev  somndkune  lenori  te  yek  somndkune  ruk  dikhelds.  Atunci 
Idke  dvlds  bute  cabend  te  e  päni  somndkune  lenoräkri  dvlds  legfeder  mol. 
Te  atunci  e  rdklyi  kerelds  yek  räkles ,  kdske  pro  kor  yek  lolo  sheloro 
dvlas.     Te  e  rdklyi  jdnelds.    ko  Idke   rdklds   kerdyds!    Kdnd  yoy  rdkles 


zu  DEN  „DREI  MAREIEN".  139 

andre  päiii  somnakune  lenordkri  tovelas,  yekvdr  shukdr  rdklo  ävhis.  Te 
nd  hutvdr  voyipen  dvlds!  0  pcrdl  rdkh/iikri  dshunelds,  hoy  e  pcen  Leila 
heshel  kiyd  somndkune  lenori  te  somndkuno  rnk.  Yov  bicelds  ketdnd  odoy 
te  ddd  pdl  mol  somndkune  lenordkri  mdtovend.  Te  mdtes  muddrend  Leila: 
leskre  rdklo  may  merelds.  Yov  dndre  lime  jidlds  te  romni  lelds  ierdklen; 
yov  dtunci  jyenelds  kiyd  mdmishenc/e :  „Kdmdv,  the  men  Leila  dndphenen, 
hoy  dndvd  ddydkri  tdysd  Jidel!"'  Te  dmen  kdde  kerds  te  djes  dndphe^ien 
men:  e  I^e'ild " 

Die  genaue  deutsche  Übersetzung  lautet: 

„Vor  vielen  hundert  Jahren  lebte  am  Rande  eines  Waldes  eine 
wunderschöne  Maid.  Sie  war  die  Tochter  eines  mächtigen  Königs 
gewesen.  Als  ihr  Vater  starb ,  da  verstieß  sie  ihr  Bruder  und  dessen 
böse  Frau,  die  es  nicht  haben  wollte,  daß  im  Lande  ein  schöneres 
Weib  als  sie  lebe.  Die  schöne  Maid  floh  also  an  die  Grenze  des 
Landes,  wo  sie  am  Rande  eines  großen  Waldes  in  einer  kleinen  Höhle 
wohnte.  Kümmerlich  ernährte  sie  sich  von  den  Früchten  des  Waldes 
und  war  oft  nahe  daran,  vor  Hunger  zu  sterben.  Hoch  oben  im  Ge- 
birge da  wohnten  auch  drei  Keschalyi,  die  oft  ins  Thal  hinabblickten 
und  dem  Treiben  der  Maid  zusahen.  Da  sprach  einmal  die  eine 
Keschalyi  zu  ihren  Schwestern:  „Die  arme  Maid  hat  ein  gar  schlechtes 
Leben;  sie  ist  sehr  hungrig!  Ich  werde  einige  meiner  Haare  zu  ihr 
hinab  ins  Thal  fallen  lassen;  sie  wird  diese  Haare  verzehren  und 
dann  einen  Sohn  zur  Welt  bringen,  der  wird  für  sie  sorgen!"  Wäh- 
rend die  Keschalyi  einige  Haare  hinabfallen  ließ,  welche  von  der 
Maid  sogleich  verzehrt  wurden,  sprach  die  zweite  Keschalyi:  „Ich 
werde  bewirken,  daß  ein  goldenes  Bächlein  vor  ihrer  Höhle  fließe 
und  ein  goldener  Baum  ebenda  wachse^  der  alle  Früchte  der  Welt 
tragen  soll."  —  „Und  ich",  sprach  die  dritte  Keschalyi,  „werde  schon 
sorgen,  daß  es  dem  Kinde,  wenn  es  zum  Manne  erwachsen,  nicht 
immer  gut  ergehe!"  Wie  freute  sich  die  arme  Maid,  als  sie  am 
nächsten  JNIorgen  ein  goldenes  Bächlein  vor  ihrer  Höhle  fließen  und 
einen  goldenen  Baum  stehen  sah.  Nun  hatte  sie  Speisen  in  Fülle,  und 
das  Wasser  des  goldenen  Bächleins  schmeckte  wie  der  allerbeste 
Wein.  Da  gebar  eines  Tages  die  Maid  ein  Knäblein,  das  ein  rothes 
Striemchen  am  Halse  hatte.  Nun  wußte  die  Maid,  wer  ihr  das  Kind 
bescheert  habe!  Als  sie  es  im  Wasser  des  goldenen  Bächleins  badete, 
da  wuchs  es  auf  einmal  zu  einem  schönen  Jüngling  heran.  Doch 
nicht  lange  sollte  die  Freude  der  Beiden  dauern!  Der  Bruder  der 
Maid  hatte  erfahren,  daß  seine  Schwester  Leila  in  einer  Höhle  wohne, 
wo  ein  goldenes  Bächlein    fließe    und    ein    goldener  Baum    stehe.    Er 


140  MITTHEILUNGEN. 

schickte  seine  Soldaten  hin,  und  diese  berauschten  sich  vom  Weine 
des  goldenen  Bächleins.  In  ihrem  Rausche  tödteten  sie  Leila^  deren 
Sohn  nur  mit  Mühe  dem  Tode  entrann.  Er  floh  in  die  Welt,  und  als 
er  geheiratet  hatte  und  Kinder  besaß,  sprach  er  zu  seinen  Leuten: 
^Wir  wollen  uns  Leila  nennen  lassen,  damit  der  Name  meiner  Mutter 
ewig  lebe!**  Und  wir  haben  es  gehalten,   denn  auch  noch  heute  heißen 

wir  die  Leila " 

Dies  die  Stammsage  der  Leila,  die  —  wie  schon  bemerkt  —  durch 
die  Züge,  die  sie  eben  enthält  und  die  sich  leicht  aus  der  ganzen 
Darstellung  herausschälen  lassen,  mit  in  den  Kreis  von  den  „drei 
Mareien"  zu  zählen  ist. 

Zum  Schlüsse  erlaube  ich  mir  nur  noch  eine  kleine  Bemerkung. 
In  den  von  Rochholz  mitgetheilten  Liedern  heißt  es  zum  Schlüsse: 

z'morge-n-am    drü 

chömmet  drei   Mareie, 

die   eint  spinnt  Side. 

die  ander   schnäflet  Chride, 

die   dritt  schnidet  Haberstrau : 

s'hüet  mar  Gott  mis  Chindli  au! 
Rochholz  hat  nun  das  Wort  Chride  als  =  Falschheit  und  Streit  ge- 
deutet (a.  a.  0.  S.  148)  und,  wie  ich  glaube,  wohl  ganz  richtig.  „Die 
Chrideschnatzlerin  bringt  Hader  und  Verdruß  zwischen  die  Freunde.** 
In  meiner  Schülerzeit  am  Honterusgymnasium  zu  Kronstadt  nannten 
wir  einen  feigen,  unverträglichen  Jungen  einen  „Kreidenscheißer"*, 
im  Siebenbürgisch-sächsischen  bedeutet  sech  bekriden  =  sich  ängstigen, 
bekümmern. 

MÜHLBACH  (Siebenbürgen),  20.  Febraar  1888. 

Dr.  HEINRICH  v.  WLI8L0CKI. 


Mittheilungen. 

Karl  Wein  hold  ist  als  Nachfolger  Müllenhoffs  nach  Berlin  berufen, 
Eduard  Schröder  in  Berlin  zum  Nachfolger  Zuche's  in  Starburg  ernannt 
worden. 

Prof.  H.  von  Waldberg  in  Czernowitz  ist  an  die  Univerrsität  Heidel- 
berg übergesiedelt;  ebenda  hat  sich  Herrn.  Wunderlich  als  Privatdocent 
für  deutsche   Sprache  und  Literatur   habilitiert. 

t  am  17.  Januar  zu  Lichtenfelde  bei  Berlin  im  Alter  von  72  Jahren 
Prof.  Dr.  Ludwig  Herr  ig;  am  22.  Januar  in  Halle  Prof.  Dr.  Karl  Elze 
im  Alter  von  67  Jahren;  y  am  31.  Januar  in  Oxford  Prof.  Dr.  Gudbrand 
Vigfusson  im  Alter  von   58  Jahren. 


ÜBER  DEN  URSPPtUNG  DES  HÖFISCHP^N  MINNE- 
SANGES UND  SEIN  VERHÄLTNISS  ZUR  VOLKS- 
DICHTUNG. 

(Schluß.) 


Capitel  IIT. 

Werth    des  Aufsatzes    von  A.   Berger  über  „die  volksthUm- 
lichen  Grundlagen    des  ]\Iinne  sanges"    für    die  Frage    nach 
dem    Zusammenhange    zwischen    diesem     und    der    Volks- 
dichtung. 

Wenn  ich  der  Meyer'schen  Sammlung  eine  so  eingehende  Be- 
handlung habe  zukommen  lassen,  wie  es  geschehen  ist,  so  hat  mich 
dazu  vor  Allem  der  Umstand  bewogen,  daß  ich  fürchtete.  Mancher 
möchte  sich  durch  den  imponierenden  Umfang  derselben  vielleicht 
bei  nachlässiger  Prüfung  der  P^iuzelheiten  dazu  bestimmen  lassen,  der 
Ansicht  Meyers  beizutreten,  ohne  sich  selbst  recht  klar  über  die  Con- 
sequenzen  zu  werden,  die  er  damit  zu  den  seinigen  macht. 

Ich  hatte  zu  dieser  Befürchtung  umsomehr  Recht,  als  es  in 
dem  so  umfangreichen  Aufsatze  Meyers  durchaus  an  einer  Überein- 
stimmung unter  dem  anfangs  Behaupteten,  dem  beim  versuchten  Be- 
weise ins  Auge  Gefaßten  und  dem  Resultate  fehlt. 

Obendrein  zeigte  mir  der  Aufsatz  A.  Bergers ')  bereits  die  ersten 
schädlichen  Folgen  oder  Einflüsse  der  Meyer'schen  Arbeit. 

Berger  sagt  selbst,  er  theile  die  Ansichten,  die  den  „scharf- 
sinnigen Untersuchungen  von  Richard  ]\[.  Äleyer" '^j  zu  Grunde  lägen; 
er  schließe  sich  ihnen  „vollständig"^)  an;  er  theile  den  Standpunkt 
jenes  „in  allem  Wesentlichen""*).  Nun:  zu  „allem  Wesentlichen"  ge- 
hört doch  jedenfalls  auch  das  Gesammtresultat;  welches  dies  ist, 
haben  wir  bereits  mehrfach  bestimmt  zum  Ausdruck  gebracht. 

Daß  Berger  sich  zu  ihm  bekenne,  erfahren  wir  eigentlich  nur 
daraus,  daß  er  uns  dessen  verschiedentlich  am  Anfange  und  Ende 
seiner  Untersuchungen    versichert.     Aus    diesen    selbst,    aus    den  zum 


')  Ztschr.  f.  d.  Phil.  XIX,  S.  440—486.  ')  ib.  S.  441.  ^)' ib.  S.  473. 

*)  ib.  S.  441. 
GERMANIA.    Nene  Reihe  XXII.  (XXXIV.)  Jahrj.  10 


]42  E.  TH.  WALTER 

Beweise  verwandten  Mitteln  müßte  man  auf  eine  andere  Behauptung 
schließen.  Er  vergißt  offenbar  —  ganz  wie  oft  Meyer  —  im  Gange 
seiner  Abhandlung  zu  Zeiten,  was  er  sich  zum  Ziele  gesetzt  hat. 
Er  beweist;  aber  er  beweist  nicht  mehr,  was  er  behauptet  hat. 
Er  gibt  uns  sein  Resultat;  aber  dieses  ist  in  Wahrheit  nicht  dasselbe, 
zu  welchem  ihn  seine  Untersuchungen  geführt  haben. 

Doch  ich  habe  dies  im  Einzelnen  darzuthun. 

Fragen  wir  uns  zunächst  nochmals:  Was  wollte  Meyer  mit  seiner 
Stellensammlung,  was  will  jetzt  A.  Berger,  sich  ihm  „vollständig" 
anschließend,  beweisen?  Nicht  nur,  daß  es  „eine  große  Menge  lyrischer 
Verse,  die  durch  ganz  Deutschland  im  Volke  fortlebten,  'Blumen,  wie 
sie  überall  aus  der  Erde  hervorbrachen  und  nur  zu  Sträußen  zu- 
sammengebunden zu  werden  brauchten'",')  gegeben  habe;  sondern 
auch ,  daß  eben  die  Vertreter  des  Minnesanges  diese  „Blumen"  zu 
den  „Sträußen"  zusammengewunden  haben,  die  wir  in  ihren  Liedern 
besitzen;  daß  also  jene  Sträuße  der  Volksdichtung  denen  der 
ritterlichen  Poesie  ähnlich  oder  gleich  gewesen  seien:  d.  h.  daß 
Charakter  und  Aussehen  der  „verloren  gegangenen  Volksdichtung" 
im  Großen  und  Ganzen  dieselben  gewesen  seien. 

Das  ist  in  bestimmter  Fassung  das,  was  Meyers  Untersuchungen 
und  somit  auch  Bergers  als  Ziel  aufstellen. 

Während  nun  Meyer  in  seinem  Aufsatze  gewöhnlich  von  Liebes- 
lyrik oder  wenigstens  Lyrik,  worunter  er  dasselbe  versteht,  spricht, 
ist  bei  Berger  zum  großen  Theile  nur  von  Volksdichtung  über- 
haupt die  Rede. 

Er  verspricht  „eine  Reihe  von  charakteristischen  Eigenthüralich- 
keiten  der  Volkspoesie,  die  sich  im  Minnesang  wiederfinden"  zu  be- 
handeln, dann  „eine  Anzahl  von  Vorstellungen,  Bildei'n  und  Gleich- 
nissen" zusammenzustellen,  „die  aus  volksthümlicher  Dichtung  stam- 
men" und  endlich  „gnomische  Elemente"  und  eine  Reihe  syntaktischer, 
stilistischer  und  metrischer  Beobachtungen  „uns  vorzuführen,  an  denen 
ein  Einfluß  der  Volkspoesie  deutlich  wird"^). 

Schon  dies  Programm  zeigt  zur  Genüge,  daß  das  anfangs  ge- 
steckte Ziel  bereits  ein  sehr  verschwommenes  geworden  ist,  was  uns 
die  Prüfung  der  einzelnen  Abtheilungen  noch  deutlicher  darthun  soll. 

Zunächst  sehen  wir  die  „Epische  Situation"^),  die  sich  im 
Minnesänge  wieder  findet,  als  Beweis  aufgeführt.  Was  läßt  sich  aber 
damit  anfangen? 

')  cf.  ßerger  a.  a.  O.  S.  472  und  R.  M.  Meyer  a.  a.  O.  S.  208. 
')  Berger  a.  a.  O.  S.  442.  ■')  ib.  443—444. 


ÜBER  DEN  URSPRUNG  DES  HÖFISCHEN  MINNESANGES  etc.  143 

Soll  daraus,  daß  auch  in  unseren  Volksliedersaiumlungen  „die 
episch-lyrische"  Form  als  Lieblingsform  der  Volksdichtung  zur  Gel- 
tung kommt,  etwa  gesell lossen  werden,  dnß  der  höfische  Älinnesang 
eben  dies  aus  volksth  ii ml  ichen  Liebesliedern  geschöpft,  gerade 
solche  in   diesem  Punkte  nachgeahmt  haben  müsse? 

Soll  daraus  dann  weiter  gefolgert  werden  können,  daß  es  eine 
derartige  Volksliebeslyrik  gegeben  haben  müsse,  daß  der  höfische 
Minnesang  als  naturgemäßes  nächstes  Entwickelungs- 
product  zu  demselben  zu  betrachten  sei? 

Beides  sollte  doch  schwerlich  möglich  sein.  Dem  Minnesang 
gaben  natürlich  ebenso  gut  wie  den  späteren  Volksliedern  die  lange 
bestehende  epische  Dichtung  und  ihre  dem  Lyrischen  sich  zuneigen- 
den Weiterbildungen  ein  Mittel  au  die  Hand,  welches  naturgemäß 
in  der  Volkspoesie  wie  der  Kunstdichtung  angewendet,  von  jener 
bevorzugt,  von  dieser  mehr  vernachlässigt  worden  ist. 

Den  höfischen  Epen  ihr  Theil  an  dieser  Einwirkung  abzusprechen, 
haben  wir  natürlich  durchaus  kein  Recht,  ohne  daß  wir  jedoch  bean- 
spruchen wollten,  ihren  Einfluß  in  den  Vordergrund  gestellt  zu  sehen. 

Es  mag  immerhin  die  Volkslyrik  in  diesem  Punkte  vorangegangen 
sein,  durch  ihr  Beispiel  gcAvirkt  haben:  Schlüsse,  wie  Meyer-Berger 
sie  sammt  den  nothwendigen  Folgerungen  zu  einem  Gesammtresultate 
zusammenfassen,  gewinnen  dadurch  keine  Berechtigung. 

Mit  der  Besprechung  dessen,  was  Berger*)  über  die  „Natur- 
eingänge" bemerkt,  darf  ich  wohl  die  der  Auseinandersetzungen 
Meyers  über  den  gleichen  Gegenstand  verbinden. 

Vor  Allem  wiederhole  ich:  „daß  es  Lieder  gegeben  habe  — 
Frühlings-,  Sommer-,  Winter-  und  Tanzlieder  —  habe  ich  nirgends 
bestritten;  daß  in  diesen  Liedern  der  Volkspoesie  Natureingänge 
üblich  gewesen  seien,  gebe  ich  gleichfalls  zu  (sichergestellt  ist  es  aber 
vorläufig  durch  nichts!),  daß  den  Minnesingern  solche  Lieder  bekannt 
gewesen  sein  werden,  läßt  sich  gewiß  nicht  in  Abrede  stellen:  daß 
aber  diese  Lieder  sammt  ihren  Natureingängen  dem  Minnesang  als 
Muster,  als  Vorbilder  gedient  haben  sollen;  daß  durch  sie  der 
„plötzliche  Aufbruch"  der  höfischen  Poesie  sich  sollte  erklären  lassen  — 
daa  leugne  ich  entschieden. 

Wenn  dies  der  Fall  sein  sollte,  so  müßten  es  nicht  gerade  die 
späteren  Dichter  sein,  nicht  gerade  die  Dichter,  die  sich  geflissentlich 


')  a.  a.  O.  S.  444  f.  ')  Meyer  a.  a.  O.  S.  192  f. 

10 


144  E.  TH.  WALTER 

der  Volkspoesie  näherten,    wie  Walther  und  Neithart,    bei  denen  die 
Natureingänge  vornehmlich  sich  fänden. 

Daß  natürlich  dem  Minnesinger,  dem  die  Poesie  des  Volkes  auch 
an  die  Ohren  drang,  die  leichten  Verse,  die  er  gehört  hatte,  im  Be- 
wußtsein blieben;  daß  er  in  gleicher  Weise  gelegentlich  auch  selbst 
einmal  sein  Lied  begann,  obgleich  er  dazu  gewiß  der  Vorlage  nicht 
bedurft  haben  würde,  ist  ganz  denkbar. 

Daß  aber  gerade  in  den  Anfängen  des  Minnesanges,  also  zu  der 
Zeit,  da  er  noch  der  „bäurischen  Stegreifdichtung"  —  wie  Meyer 
will  —  gleich  war;  da  er  ihre  Verse  noch  zu  Liedern  zusammen- 
setzte; da  er  sich,  noch  „die  alte  Art  fortsetzend,  langsam  aus  ihr 
erhob":  daß  gerade  damals  der  Natureingang  selten  genug  ist; 
daß  gerade  dies  als  charakteristisch  für  gewisse  Volkslyriksarten  Be- 
zeichnete nicht  überwiegt,  sondern  gleich  im  ersten  Anbeginn  dem 
Conventionellen  Frauendienste  weicht:  scheint  mir  gerade  ein  Beweis 
dafür  zu  sein,  daß  der  Minnesang  als  Entwickelungsproduct  der  Volks- 
lyrik nicht  zu  betrachten  sei'}. 

Was  Berger  dann  weiter  über  das  „Naturgleichniß" '),  über 
„Mytholo-gisches"  ^) ,  „Liebesgrüße"  und  „Wunschlieder"^), 
„Verwün  schungen^  ^),  „öno  misch  es"  ®),  „Einzelne  Bilder  und 
Anschauungen"")  und  „Rechtsalterthümer*^)  sagt,  führt  uns 
auch  zu  keinem  Resultate. 

Er  beweist  damit  nur,  daß  der  ritterliche  Dichter  ein  Kind 
seines  Volkes  war,  mit  den  herkömmlichen  Anschauungen,  den  Ge- 
bräuchen und  Sitten  des  Volkes,  auch  seinem  Sänge  bekannt;  daß 
in  ihm  auch  der  ganze  im  Laufe  der  Jahrhunderte  gesammelte  Schatz 
von  Wendungen,  Bildern  und  sprichwörtlichen  Redensarten  lebte; 
keineswegs  aber,  daß  der  ritterlichen  Dichtung  eine  ihr  ganz  ähnliche 
Volkspoesie  vorausgegangen  sei  (wie  sie  Meyer  bestehen  lassen  will), 
aus  deren  Versen  die  ersten  Lieder  der  Minnesinger  zusammen- 
gesetzt seien. 

Von  Bergers  sonstigen  Ausführungen  habe  ich  nur  noch  des 
„Metrischen"  zu  gedenken. 

Wir  finden  bei  ihm^)  eine  größere  Menge  von  Versen  der  älteren 


')  Über  die  Entlehnung  der  Natureingänge  aus  classiscben  Mustern  hier  zu 
handeln  würde  mich  zu  weit  führen. 

^)  Berger  a.  a.  O.  S.  446—448, 

3)  ib.  S.  449—451.  ')  ib.  S.  451-453.  '-)  ib.  S.  453.  «)  ib.  S.  457 

bis  464.  ')  ib.  S.  464— 46G.  »)  ib.  S.  467. 

»)  Berger  a.  a.  O.  S.  473  ff. 


ÜBER  DEN  URSPRUNG  DES  HÖFISCHEN  MINNESANGES  etc.  145 

Minnesinger    und    der  CB    als    „stabreimende   Langzeilen    und    Halb- 
zeilen" zusammengestellt. 

Wie  er  selbst  sagt,  will  er  damit  darthun,  daß  der  Sinn  für  die 
Alliteration  noch  nicht  bei  den  ritterlichen  Dichtern  erloschen  war. 
Er  macht  gar  keinen  Anspruch  darauf,  daß  die  angeführten  Zeilen 
als  mit  den  „feineren  Regeln"  der  bewußten  Kuustform  überein- 
stimmend angesehen  werden  sollen;  er  gibt  zu,  daß  solche  allitterie- 
rcnden  Zeilen  sich  dem  Dichter  unbewußt  eingestellt  hätten.  Er  will 
nur,  daß  man  die  Thatsache  bestehen  lasse. 

Ich  muß  gestehen,  daß  es  mir  recht  wahrscheinlich  dünkt,  wenn 
man  annimmt,  daß  nach  der  Jahrhunderte  langen  Übung  das  Ohr 
noch  fernerhin  das  feine  Gefühl  für  den  Stabreim  bewahrt  habe;  daß 
das  Wohlgefallen  an  demselben  gelegentlich  auch  zur  bewußten 
Anwendung  geführt  haben  mag. 

In  den  meisten  Fällen  jedoch  —  denke  ich  mir  —  wird  die 
Allitteration  unbewußt  sich  eingestellt  haben;  recht  oft  auch  nur 
auf  zufäl  ligem  Zusammentreffen  beruhen. 

Doch  selbst  für  den  Fall,  den  wir  übrigens  kaum  für  sehr  wahr- 
scheinlich halten,  daß  die  Anwendung  der  Allitteration  zur  damaligen 
Zeit  wirklich  aus  bewußtem  Streben  hervorgegangen  wäre,  so  würde 
doch  dadurch  nichts  weiter  dargethan,  als  daß  eben  eine  alte,  vor- 
vornehmlich epische  Kunstform  noch  in  der  Sprache  sich  lobendig 
erhalten  hätte. 

Was  hat  aber  dies  mit  dem  „plötzlichen  Aufbruche"  des  höfi- 
schen Minnesanges  zu  thun? 

Mir  scheint',  nicht  das  Geringste.  In  einer  Hinsicht  hält  die 
Berger'sche  Abhandlung,  was  sie  verspricht:  sie  legt  Beziehungen 
zwischen  höfischem  Minnesang  und  volksthümlichem  Denken,  Wesen 
und  Dichten  ganz  im  Allgemeinen  und  ziemlich  ohne  Abgrenzung 
der  Zeit  dar.  Solche  Beziehungen  aber  hat  —  meines  Wissens  — 
noch  Niemand  ernstlich  bestritten. 

In  Bezug  auf  die  P^rage  nach  dem  Ursprünge   des  höfischen 
Minnesanges  bleibt  uns  Berger  dagegen  die  Antwort  schul- 
dig; oder,  wo  er  sie  uns  gibt,  indem  er  sich  Meyer  anschließt 
geschieht   dies   ohne  innere  Begründung   und  erwiesene  Be. 
rechtigung. 


146  E.  TH.  WALTER 

Capitel  IV. 

Die  Carviina  Burana  und  ihr  Zusammenhang  mit  dem 
höfischen  Minnesänge. 

Was  Meyer  sowohl  wie  Berger  durch  ihre  Verszusammenstel- 
lungen —  wie  wir  glauben  nachgewiesen  zu  haben  —  vergeblich  als 
Thatsache  hinzustellen  versuchten:  nämlich  daß  der  älteste  Minnesang 
als  ein  Entwickelungsproduct  der  „verloren  gegangenen"  Volksliebes- 
lyrik, dieser  in  seinen  ersten  Anfängen  also  gleich,  erst  später  all- 
mälig  von  ihr  sich  abwendend,  aufzufassen  sei;  daß  wir  uns  dem- 
nach von  dieser  verlorenen  Volksdichtung,  oder  vielmehr  Volksliebes- 
lyrik ein  richtiges  und  ziemlich  deutliches  Bild  dadurch  machen 
könnten,  daß  wir  eben  den  Minnesang  in  seiner  Anfangsgcstalt  uns 
vor  Augen  führten:  das  alles  soll  sich  endlich  aus  den  Carmina 
Burana  erweisen  lassen. 

In  ihnen  glaubt  nämlich  Meyer  eine  ergiebige  Fundgrube  für 
solche  Liedlein  zu  besitzen'),  wie  sie  ihm  als  Vorstufe  für  den 
höfischen  Minnesang  nöthig  scheinen;  das  heißt:  Lieder,  Liebes- 
lieder ähnlich  oder  gleich  den  Erzeugnissen  des  Minne- 
sanges und  dabei  volksthümlichen  Charakters. 

Von  den  erhaltenen  deutschen  Strophen  weist  er  selbst  als  für 
seinen  Zweck  nicht  brauchbar  eine  Anzahl  zurück^). 

Zunächst  129*,  da  es  nicht  lyrisch  sei')  und  auch  keine  latei- 
nische Entsprechung  habe'*);  ferner  98^  100%  101",  102%  103%  104% 
116%  126%  132%  133%  139%  143%  165%  166"  als  nicht  altvolksthümlich 
wegen  Reinheit  der  Reime  oder  Reimkünstelei;  ferner  109%  117% 
125%  140%  löS"^  als  nicht  formelhaft;  ferner  111%  124%  135%  144''  als 
nicht  volksthümlich  wegen  ihres  Inhaltes;  endlich  105*  gleichfalls 
wegen  seines  Inhaltes. 

Es  bleiben  also  zunächst  noch  folgende  mit  dem  Ansprüche  auf 
Alter   und  Volksthümlichkeit  versehen    übrig    und    kommen    demnach 
zur  Besprechung  ungefähr  chronologisch  geordnet: 
vor  11 60-.  108% 
vor  1180:  112% 
vor  1190:  127%  134; 

')  ib.  S.  177.  ')  ib.  S.  179. 

^)  Wie  Meyer  dieses  Gedicht  —  es  ist  das  bekannte  Swaz  hie  gat  umbe  — 
„nicht  lyrisch"  nennen  kann,  ist  mir  ganz  unfaßbar.  Sollte  er  vielleicht  hier  mit  'lyrisch 
ritterliche  Lyrik  meinen?  Dann  müßte  ich  ihm  allerdings  sehr  Recht  geben. 

*)  Er  prüft  nämlich  die  Strophen  zugleich  auf  ihre  Originalität  gegenüber  dem 
Lateinischen. 


ÜBER  DEN  URSPRUNG  DES  HÖFISCHEN  MINNESANGES  etc.  I47 

unbestimmt  aber  möpjlicherweise  älter  sind  ferner  die  Strophen  107' 
136";  jünger,  aber  nicht  über  den  ßietenburger  hinauszuweisen  sind 
141",   100",  115%  142". 

Ich  beginne  mit  108"  =  MF.  3,  7 ») : 
Were  diu   werlt  alle  min 
von  deme   raere  unze   au   den   Kin, 
des  wolt  ih  mih   darben, 
daz  diu   chünegin  von   Eugcllant 
lege  au   mineu   armen. 
Meyer    hält    diese  Strophe    mit  Martin^)    „wegen    der  Anspielung  auf 
die  Königin  von  England"   und  „der  Frechheit  der  ganzen  Stelle  zwar 
nicht  für  ein  altes  Volksliedchen,    sondern  vielmehr  für  die  Original- 
dichtung eines  Fahrenden^); 

doch  aus  den  darüber  verzeichneten  lateinischen  Strophen  108 
glaubt  er  eine,  108,  4,  als  Umbildung  eines  alten  Liedchens  erweisen 
zu  können. 

Die  Strophe  lautet: 

Latc  paudit  tilia 
frondes,   ramos,   folia, 
thymus   est  sub  ea 
viridi   cum   graminc, 
in    quo    fit  chorea. 
Meyer   reißt   diese  Verse  aus  ihrem  Zusammenhange    heraus,    erklärt 
sie  für  die  lateinische  Umbildung  eines  deutschen  Tanzliedchens,  und 
das  ganze  Gedicht  für  eine  Compilation. 

Stichhaltige  Gründe  für  seine  Behauptung  bringt  er  freilich  nicht. 
Ihm  erscheint  die  Strophenfolge  innerhalb  des  Gedichtes  un- 
richtig. „Auf  Frühlingseingang  und  Aufforderung  zum  Gesänge  folgen 
zwei  Strophen  voll  Nachahmungen  von  Vogelstimmen;  danach  heißt 
es  dann:  Pulchre  cantant  volucres  —  eine  unmögliche  Zusammenfassung 
dieser  zwei  Strophen  in  eine  Zeile.  Die  beste  Ordnung  entsteht  da- 
gegen, wenn  wir  Strophe  4  (Schmeller:  Strophe  3)  an  Strophe  1 
anrücken:  die  formelhafte  Angabe  des  Vogelgesaugs  setzt  den  Natur- 
eingang in  ganz  regelrechter  Weise  fort."  So  sagt  Meyer.  Daß  er 
Recht  hat,  glaube  ich  nicht. 

Ich  halte  die  überlieferte  Strophenfolgc  für  die  einzig  rich- 
tige. Gedanke  schließt  sich  leicht  an  Gedanke:  Kommt,  laßt  uns  singen, 


•)  Meyer  a.  a.  O.  S.   180  ff. 

')  Nach  mündlicher  Besprechung,  wie  er  sagt. 

')  Scherer,  Deutsche  Studieu  II,   7  (441). 


148  E.  TH.  WALTER 

denn  Alles  ist  wieder  grün  geworden*).  Schon  in  der  Moi'genfrühe 
singt  die  Lerche  etc.').  Ja!  die  Vögel  singen  schön,  die  Erde  strahlt 
in  farbigem  Glänze,  von  Wohlgeruch  ist  Alles  erfüllt^),  die  Linde 
breitet  ihre  Aste  aus,  unter  dem  Grase  sprießen  die  Blumen  hervor, 
ein  Tanz  hebt  sich  an") 5  dazu  rieselt  mit  lieblichem  Murmeln  ein 
Bach  durch  das  Gras:  kurz  der  Platz  ist  ganz  herrlich,  zumal  ein 
sanfter  Wind  sich  gerade  recht  angenehm  erhebt^). 

Was  an  diesem  Zusammenhange  nicht  in  Ordnung  sei,  in  wiefern 
man  nach  Strophe  2  (bei  Schmeller)  „Pulchre  cantant  volucres"  als 
„eine  unmögliche  Zusammenfassung"  der  zwei  voraufgegangenen  Stro- 
phen ansehen  soll,  leuchtet  mir  nicht  ein,  urasoweniger,  da  Meyer 
nicht  ein  einziges  beweisendes  Wörtchen  seiner  kurzgefaßten  Be- 
hauptung anzufügen  für  nöthig  hält. 

Recht  klar  ist  mir  dagegen  geworden,  daß  Meyers  Anordnung 
ganz  zwecklos  ist  und  weit  eher  der  Erklärung  bedürftige  Gedankeu- 
sprünge  zumuthet.  Er  will  also  die  Strophe  3  (bei  Schmeller)  an 
Strophe  1  (also  hinter  yrata,  7'us  et  nenms)  angefügt  haben  und  dann 
die  Strophen  mime  garrit  alandula  und  hirundo  jam  finsat  folgen  lassen. 

Was  gibt  aber  das  für  einen  Zusammenhang?  Der  vorhandene 
wird  geradezu  zerrissen: 

Strophe  1 :  Kommt  laßt  uns  singen,  Alles  ist  grün. 

Strophe  2:  Schön   singen   die   Vögel,    die  Erde   steht   in  Farben- 

fracht,    Woklgeruch  überall. 
Strophe  3  u.  4:       Es  singt  die  Lerche  in  der  Frühe  etc. 
Strophe  5:  Die  Linde  breitet  ihre  Aste  aus  etc.  etc. 

Ich  denke,  das  Gezwungene  dieser  Ordnung  liegt  auf  der  Hand.  Das, 
was  zusammengehört,  Naturschilderung  und  Naturschilderung,  Vogel- 
sang und  Vogelsang  sind  glücklich  getrennt;  das  ganze  Gedicht,  um 
seinen  einheitlichen  Charakter  gebracht,  macht  nun  einen  unfertigen 
Eindruck. 

Und  wozu  das  Alles?  Um  die  Strophe  late  pandit  tilia  heraus- 
reißen und  für  Nachbildung  erklären  zu  können.  Die  Strophe  ge- 
hört fest  in  den  Zusammenhang  hinein.  Grund,  sie  für  Neubil- 
dung zu  halten,  ist  nicht  vorhanden. 

So  wenig  wie  viridi  gramine ^)   etwas  beweist,    hat  die  Nennung 

')  Musa  venit  —  rus  et  nemus.    Strophe  1,  Vers  1 — 5. 

')  Mane  garrit  —  nemora  vernata.    Strophe  1,  Vers  6  —  10  und  Strophe  2. 

')  Strophe  3.  *)  Strophe  4.  s)  Strophe  5. 

*)  W^enn  Meyer  übrigens  selbst  weiß,  daß  die  Formel  viride  gramen  sich  ,auch 
in  ursprünglichen  Vagantenliedern  (so  65,  5)"  findet,  so  hätte  er  sie  nicht  erst  zum 
Beweise  für  den  deutschen  Ursprung  anführen  sollen.    Es  ist  doch  völlig  zwecklos. 


ÜBER  DEN  URSPRUNG  DES  HÖFISCHEN  MINNESANGES  etc.  149 

der  tilia  irgend  welchen  Wcrth ,  sobald  dadurch  Nachbildung  darzu- 
thun  beansprucht  wird.  Man  kann  daraus  nur  LM'kennen ,  daß  der 
Vagant  nicht  immer  sklavisch  und  gedankenlos  seinem  herkömm- 
lichen Phrasenschatze  sich  anbequemte,  sondern  daß  er  auch  —  was 
doch  so  ungemein  natürlich  ist  —  gelegentlich  seiner  Umgebung, 
dem  Volksbewußtsein  Rechnung  zu  tragen  verstand'). 

Nun  ist  freilicii  Meyer  auch  nicht  entgangen,  daß  Strophe  2 
(l""  Schmeller)  und  3  (2  Schmeller)  nach  seiner  Umstellung  nicht 
mehr  in  den  Zusammenhang  passen;  darum  müssen  sie  interpoliert 
sein.  Es  würde  mich  viel  zu  weit  führen,  wollte  ich  mich  hier  mit 
den  weiteren  Auseinandersetzungen  Meyers  befassen''),  zumal  dadurch 
im  besten  Falle  nur  bewiesen  werden  könnte,  daß  der  Autor  allerlei 
Keminiscenzen  verwcrthet,  nicht  aber  daß  er  ein  Tanzliedchen  (näm- 
lich V.  4)   nachgebildet  hätte. 

Doch  hätte  selbst  Meyer  in  allen  seinen  Behauptungen  über  das 
Gedicht  108  vollkommen  Recht,  was  ich  bestreite,  so  würde  er  damit 
nur  die  Existenz  eines  alten  Tanzliedchens  zur  Thatsache  gemacht 
haben. 

Solch  ein  Tanzliedchen  bedeutet  aber  nichts  für  die  Behauptung, 
daß  der  Minnesang  aus  der  Volkslyrik  entstanden  sei; 
solch  ein  Tanzliedchen  hat  auch  mit  den  ältesten  erhaltenen  Stücken 
des  höfischen  Minnesanges  nicht  so  viel  gemeinsam,  daß  man  sagen 
könnte,  solche  Liedlein  wären  die  Vorstufe  für  eine  Poesie 
wie  die  ritterliche  Dichtung  gewesen. 

Bestritten  haben  wir,  das  sei  nachdrücklich  bemerkt,  das 
Vorhandensein  von  Tanzliedern  nirgends;  im  Gegentheil, 
wir  legen  auf  sie  einen  ganz  besonderen  Werth,  wie  wir  später  noch 
eingehender  berichten  werden. 

Wir  kommen  zu  dem  zweiten  von  Meyer  behandelten  Stücke 
CB.  112^) 

Refl.      floret  silva  undique, 

nach   mime  gesellen  ist  mir   wc. 

Gruonet  der  walt  allenthalben : 

wa  ist  min   geselle  '^alselange  ? 

Der  ist  geriten  hinnen, 

owi,   wer  sol   mich   minnen? 


')  Deutsche  Tanzlieder  werden  den  Vaganten  wohl  auch  genug  um  die  Ohren 
geschwirrt  sein,  so  dafi  sie  ihnen  die  Linde  geläufig  machen  konnten,  ohne  directe 
Nachahmung. 

')  Ich  gedenke  über  die  Carm.  Bur.  in  Kürze  eingehend  zu  handeln. 

')  cf.  Meyer  a.  a.  O.  S.  185. 


150  E.  TH.  WAiiTER 

Gegen  die  Ursprünglichkeit  der  deutschen  Strophe  gegenüber  dem 
Lateinischen  und  ihren  offenbar  lyrischen  Charakter  habe  ich  nichts 
einzuwenden. 

Für  entschieden  im  Volke  entstanden  kann  ich  die  Strophe  aber 
nicht  erklären;  daran  hindert  mich  sowohl  das  Latein  als  auch  die 
Anwendung  des  Verbums  geviten  in  dem  gegebenen  Zusammenhange '). 

Zum  Beweise  kann  ich  sie  jedenfalls  nicht  gelten 
lassen. 

Es  folgen  die  Strophen  127"  und  134*.  DaLi  sie  hier  nicht  zum 
Beweise  angeführt  werden  dürfen,  hat  Meyer  richtig  erkannt.  Sie 
stehen  beide  bereits  vollkommen  im  Kreise  des  Minnesangs'^). 

Die  Strophen  107  und  107"  fördern  unsere  Untersuchung  eben- 
falls nicht  ^). 

107"  ist  von  Vornherein  aus  demselben  Grunde,  wie  die  vorigen 
127"  und  134"  auszuscheiden. 

Meyers  Beobachtung  aber,  daß  das  lateinische  Gedicht  so  viel 
Formelhaftes  zeige,  daß  man  es  nicht  für  eine  Originaldichtung  halten 
könne,  was  durch  eine  Zusammenstellung  ähnlicher  Verse  darzuthun 
versucht  wird,  läßt,  Alles  zugegeben,  höchstens  auf  einen  gewissen 
Formelschatz  des  Vaganten  schließen,  wie  man  ihn  sich  immerhin 
recht  gut  vorhanden  denken  mag,  ohne  daraus  einen  Vortheil  für 
unsere  Besprechung  nehmen  zu  können. 

In  136"  sieht  Meyer  wieder  ein  altes  Volksliedchen  ^),  und  zwar 
eines  der  ältesten  Art.  Damit  hat  er  gewiß  Recht.  Wenn  er  aber  auch 
diese  beiden  Strophen  zu  Überarbeitungen  stempeln  will,  so  hat  er 
meiner  Ansicht   nach   sich  auf  einen    gänzlich   falschen  Weg  begeben. 

Seiner  Ansicht  nach  hat  das  Lied  ursprünglich  nicht  aus  den 
beiden  Strophen: 

chume,   chume  geselle  min,  Suzer  rosenvarwer  inuut, 

ich   enbite  harte  din,  chum   uii   mache  mich  gesunt, 

ich   enbite  harte   din,  chum  uii   mache  mich  gesunt 

chum,    chum  geselle  min.  suzer  rosenvarwer  munt. 

bestanden;  ihn  stört  die  Wiederkehr  der  Zeilen,  obgleich  er  sich  der 
Analogie  Walthers   (W.  87,  1)   wohl  bewußt  ist. 

Der  Dichter  habe  sich  die  Reime  leicht  gemacht,  sagt  Martin; 
ich  glaube  nicht  darin  den  Grund  der  Verswiederholung  finden  zu 
dürfen ;  vielmehr  scheint  mir  dieser  in  der  Melodie  gelefgen 


')  cf.  oben  S.  122  unten.  Übrigens  bin  ich  mit  der  Fixierung  des  Gedichtes 
auf  die  Zeit  vor  1180  wegen  mangelnder  Scheidung  stumpfer  und  klingender  Reime 
durchaus  nicht  einverstanden.    Ich  halte  das  Gedicht  für  viel  später  entstanden. 

•j  Meyer  ib.  S.  185—186.  "")  ib.  S.  186—188.  ")  ib.  S.  188—189. 


ÜBER  DEN  URSPRUNG  DES  HÖFISCHEN  MINNESANGES  etc.         151 

zu  haben   und  in  der  Bestimmung  des  Liedleins,  beim  Sj)icl  oder 
Tanz  von  Paaren  j^esungen  zu  werden. 

•Gerade  diese  Wiederholung  der  Verse  gibt  dem  Liede  den 
charakteristischen  Reiz,  der  es  zu  einem  unbeschreiblich  anmuthigen, 
schlichten  Erzeugnisse  der  frühen  Volkspoesie  macht. 

Durch    die    unmotivierte    Meyer'sche    Veräudemug     geht    dieser 
Reiz  ganz  verloren.  Was  liegt  denn  wohl  noch  von  der  lockenden   und 
fliehenden  Bewegung  des  Spieles  in  der  einen  Strophe,  die  uns  IMeyer 
läßt,  nachdem  er  beide  Strophen  halbiert  und  die  llältlen   zusammen- 
gesetzt  hat:  Chuinc,   chume  geselle   min 
ich   enbite  harte  diu, 
suzer  rosenvarwer  munt 
chuin   und  mache  mich  gesunt. 

Der  herzige  Schalk,  der  aus  jenen  beiden  Strophen  hervorlugt, 
ist  wenigstens  glücklich  vertrieben. 

Ob  nun  Jemand  sich  dazu  verstehen  dürfte,  zwischen  diesem 
jugendfrischen  Tanz-  oder  Spielliedchen,  dieser  neckischen  Improvi- 
sation einerseits  und  dem  Minnesänge  der  ritterlichen  Kreise  auch 
mit  Rücksicht  auf  seine  ältesten  Zeugnisse  anderseits  einen  der- 
artigen Zusammenhang  zu  sehen  oder  auch  nur  zu  empfinden,  wie 
Meyer  es  verlangt,  und  wie  wir  es  von  seinem  einmal  eingenommenen 
Standpunkte  aus  ja  auch  zu  fordern  für  nöthig  fanden,  erscheint 
doch  sehr  zweifelhaft. 

Ich  kann  das  Gedicht  nicht  für  unsere  Besprechung 
gel ten  lassen. 

Besonderes  Gewicht  wird  auf  141*  gelegt').  Es  soll  wiederum 
ein  altes  deutsches  Volksliedchen  sein"). 

An  eine  Nachbildung  des  lateinischen  Gedichtes  —  wie  Martin  — 
denke  ich  hier  nicht.  Eher  würde  mir  ein  umgekehrtes  Verhältniß 
einleuchten.  Ich  halte  das  Gedicht  gleichfalls  für  ein  Originallied, 
und  auch  der  Zeitbestimmung  1175 — 1180  habe  ich  nicht  gerade  mit 
ausdrücklichem  Widerspruche  zu  begegnen. 

Jedoch  in  einem  Punkte  bin  ich  anderer  Ansicht:  ich  halte  es 
für  entstanden  unter  der  Voraussetzung  der  Einführung  und 
des  Einflusses  des  höfischen  Minnesanges.  Das  zeigt  ganz 
deutlich  der  Schluß   des  Gedichtes: 

daz  sol  tragen  ein  stolzer  man, 
der  wol   wiben   dienen  chan  "*). 
Damit  verliert  das  Lied  aber  für  uns  ebenfalls  seine  Beweiskraft. 


•)  ib.  S.   189—190.  ')  cf.  K.  BuidacL,  Reinmar  der  Alte  und  Walther  von 

der  Vogelweide*S.  163,  •   ')  Vgl.  oben  S.  71. 


152  E.  TH.  WALTER 

Dies  war  die  letzte  der  Strophen,  von  denen  behauptet  wurde, 
daß  sie  in  ihrer  jetzigen  Form  ursprüngliche  Volksliedchen  darstellen 
könnten. 

Von  den  Stücken,  deren  Alterthümlichkeit  in  der  vorliegenden 
Gestalt  nicht  anzunehmen  ist,  muß  ich  das  erste  100'  gleich  zurück- 
weisen'), weil  es  unzweifelhaft  ein  Tanz lied che n  ist.  Beginnt  es  doch 
gleich  mit  den  Worten: 

Springewir  den  reigen. 

Das  folgende  115*^)  ist  ein  einfaches  Frühlingslied  ohne  jede 
Hindeutung  auf  Liebeslyrik.  Es  gehört  jedenfalls  nicht  zu  der  Lyrik, 
als  deren  Entwickelungsproduct  der  Minnesang  gelten  soll. 

Ganz  dasselbe  gilt  von  dem  Herbstliede  142",  es  hat  für  unseren 
Gegenstand  keinen  Werth^). 

Somit  wären  wir  mit  unserer  Besprechung  der  deutschen  Stro- 
phen in  den   Carm.  Buran.  zu  Ende*). 

Ich  fasse  unser  Resultat  zusammen: 

Nr.  108*  blieb  unbeachtet  als  Originaldichtung  eines  Fahrenden; 
108  dagegen  führte  uns  nur  auf  ein  Tanzliedchen;  Nr.  112  glaubten 
wir  nicht  volksthümlich  nennen  zu  dürfen;  Nr.  127"  und  134"  mußten 
wir  als  nicht  alterthümlich,  vielmehr  bereits  unter  Einfluß  des  Minne- 
sanges stehend  ausschließen;  Nr.  107  wies  uns  nur  auf  einen  Formel- 
schatz des  Vaganten  hin;  Nr.  136*  war  ein  Spiel-  oder  Tanzlied;  bei 
dem  letzten  der  von  Meyer  als  alterthümlich  bezeichneten  Strophen: 
Nr.  141*  blieb  uns  wiederum  der  Einfluß  des  Minnesanges  nicht  ver- 
borgen. Von  den  übrigen,  in  der  jetzigen  Gestalt  ofl'enbar  nicht  alter- 
thümlichen  Gedichten  erkannten  wir  in  Nr.  100"  wiederum  nur  ein 
Tanzliedchen;  bei  dem  Frühlingsliede  Nr.  115*  und  ebenso  dem  Herbst- 
oder Winterliede  Nr.  142*  fehlt  jede,  auch  die  leiseste  Hindeutung 
auf  Liebeslyrik. 

Mit  einem  Worte:  wir  haben  auch  nicht  eine  einzige 
Strophe  gefunden,  die  uns  das  geboten  hätte,  was  wir  such- 
ten: ein  Lied,  ein  Liebeslied  ähnlich  oder  gleich  den  Er- 
zeugnissen des  Minnesangs  und  dabei  volksthümlichen 
Charakters  und  "Ursprungs. 


')  Meyer  a.  a.  O.  S.  191 ;  165*  glaube  ich  mit  Hinweis  auf  Meyers  Zugestäudiiiß 
schlechtweg  übergehen  zu  können.  ')  Meyer  a.  a.  O.  S.   216.  ^)  ib.  S.  217. 

*)  Von  den  übrigen  Liedern  sind  98,  103*  (Meyer  a.  a.  O.  S.  218)  und  139* 
(ib.  219)  Tanzlieder;  bei  allen  anderen  liegt  Nachahmung  lateinischer  Muster  vor. 


ÜBER  DEN  URSPRUNG  DES  HÖFISCHEN  MINNESANGES  etc.         153 

Capitel  V. 

Schluß. 

Wir  glauben  im  Laufe  unserer  vorstehenden  Untersuchung  nun- 
mehr gezeigt  zu  haben,  daß  die  Versuche,  den  höfisclien  Minnesang 
alss  ein  Entwickelungsproduct,  als  die  höchste  Blüthe  einer  Volksliebes- 
lyrik hinzustellen,  nicht  zu  dem  gewünschten  Resultate  geführt  haben. 

In  den  xvinileodi,  den  „Liebesgrüßen"  und.  pnellarttm  cnntica  fanden 
wir  keine  directe  Vorstufe  für  eine  derartige  Dichtung,  wie  die  ritter- 
liche es  war:  die  troutliet  begreerneten  uns  nur  in  den  ritterlichen 
Kreisen  Österreichs;  in  den  „Kürenbergliedern"  Volkslieder  zu  er- 
blicken, wollte  uns  nicht  gelingen;  der  Versuch  Meyers,  durch  Vers- 
zusammenstellungen eine  dem  höfischen  Sänge  entsprechende  „bäue- 
rische Stegreifdichtung"  zu  erweisen,  stellte  sich  als  verfehlt  heraus; 
die  Berger'sche  Untersuchung  fiel  einestheils  mit  der  Meyer'schen, 
anderseits  bestand  ein  Widerspruch  zwischen  des  Verfassers  Behaup- 
tung und  Beweisführung;  auch  die  Erörterung  Meyers  in  Betreff  der 
Carmina  Burana  ließ  uns  ohne  Erfolg;  wir  kommen  somit  zu  dem 
Schlüsse; 

Der  höfische  Miunesang  ist  nicht  als  ein  Entwicke- 
lungsproduct der  Volksliebeslyrik  zu  betrachten;  er  hat  sich 
nicht  „zuerst  noch  ganz  die  alte  Art  fortsetzend",  „aus  der 
bäuerischen  Stegreifdichtung"  erhoben;  die  ihm  zugehörigen 
Lieder  sind  nicht  „Sträuße",  die  von  den  höfischen  Dichtern 
einfach  aus  den  „Blumen"  der  Volkslyrik  „nur  zusammen- 
gebunden zu  werden  brauchten"  und  zusammengebunden 
wurden. 


Aus  diesem  Schlüsse  ergibt  sich  unmittelbar  die  Behauptung, 
deren  l^^eweis  zugleich  in  der  vorstehenden  Abhandlung  zu  seheu  ist: 
die  dem  höfischen  Minnesänge  vorausgehenda  Volkslyrik 
trug  nicht  einen  ähnlichen  Charakter,  wie  die  ritterliche 
Dichtung,  vielmehr  war  sie  ihrem  ganzen  Wesen  nach  von 
dieser  verschieden. 

Es  ist  nicht  der  Zweck  dieser  Arbeit,  den  gewonnenen  negativen 
iiesultaten  ausführliche  positive  Erörterungen  folgen  zu  lassen.  Was 
ich  hinzufüge,  soll  nur  dazu  dienen,  meinen  Standpunkt  in  den  hier 
behandelten  Fragen  und  den  sich  nothwendig  anschließenden  weitereu 
deutlich  zu  machen  und  die]Ansichten  über  die  Entwickelung  der  mittel- 
hochdeutschen Poesie  des  vorliegenden  Zeitraumes  so  anzudeuten,  wie 
ich  sie  binnen  Kurzem  ausführlich  darzuthun  Gelegenheit  nehmen  werde. 


154  E.  TH.  WALTER 

Daß  eine  reiche  Volkspoesie  auch  die  Zeit  lange  vor  dem  höfi- 
schen Minnesänge  belebt  habe,  ist  genügend  belegt  und  nicht  zu  be- 
zweifeln. Gebete,  Klage-  und  Spott-,  Lob-  und  Scheit-,  Fabel-,  Räthsel-, 
Wunsch-  und  Gruß-,  besonders  aber  Tanzlieder  werden  hinreichend 
bezeugt.  Sie  geben  Kunde  von  dem  poetischen  Triebe,  von  dem  poeti- 
schen Können  der  Jahrhunderte  und  ihrer  Kinder.  Alle  Empfindungen 
werden  in  der  Dichtung  auch  der  damaligen  Zeit  ihren  Ausdruck 
gefunden  haben;  auch  die  Liebe  wird  selbstverständlich  nicht  stumm 
geblieben  sein.  Wohl  am  meisten  bei  Spiel  und  Tanz  wird 
sie  laut  geworden  sein. 

Daß  unendlich  viel  verloren  gegangen  ist,  unterliegt  keinem 
Zweifel.  Doch  genug  —  meine  ich  —  ist  entweder  vorhanden  oder 
läßt  sich  erschließen,  um  wenigstens  ein  ungefähres  Bild  von  dem 
uns  zu  gewähren,  was  vielleicht  in  reicher  Blüthe  vorhanden  war. 

Ich  muß  hierbei  vor  Allem  auf  die   Carmina  Burana    hinweisen. 

Die  deutschen  Strophen  derselben  haben  wir  bei  Gelegenheit  der 
Meyer'schen  Erörterung  bereits  zu  betrachten  gehabt  und  auf  die 
lateinischen  einen  Blick  geworfen.  Wo  uns  Lieder  entgegentreten,  die 
volksthümlichen  Ursprungs  und  nicht  unter  Einfluß  des  höfischen 
Minnesanges  entstanden  sind,  da  erkennen  wir  in  ihnen  Tanz-  und 
Spiel-  oder  Jahreszeitenlieder;  selbst  wo  uns  aus  dem  lateinischen 
Liede,  ich  will  nicht  sagen  ein  deutsches  Originalgedicht  —  sondern 
auch  nur  das  lebendige  Bewußtsein  des  Vaganten,  ein  Kind  seines 
Volkes  mit  seinem  Wesen  und  Sänge  zu  sein,  eutgegenschaut,  sind  es 
nur  derartige  Lieder,  die  uns  verrathen  werden. 

Ich  erinnere  an  die  Strophe  108,  4,  ferner  an  136*,  ebenso  100*; 
ferner  115*,   142*  und  füge  hinzu  das  bekannte  Gedichtchen  CB.  129*: 

Swaz  hie  gat  umbe, 
daz  sint  allez  megede, 
die  wellent  an   man 
alle  disen  sumer  gän. 
Gewiß    ist    in    dieser  Strophe    eine  Art  Blindekuhspiel    oder    der- 
gleichen zu  sehen. 

Solche  Lieder  mögen  wohl  „wie  Sommerfäden"  auf  den  „grünen 
Wiesen,  auf  denen  die  Bauern  tanzten",  umhergeflogen  sein^);  solche 
Lieder  und  wohl  auch  andere,  wie  das  herzlich  schlichte 
Du   bist  min,  ich  bin  din*^). 


')  Scherer,  Gescb.  tl.  d.  Lit.  S.  202. 

')  Burdach  meint  von  dergleichen  Liedern  Ztschr.  XXVII,  S.  345:  „Sie  bringt 
hervor  und  verweht  der  Augenblick.«  Ich  glaube ,    damit  verkennt  er  das  Wesen  der 


ÜBER  DEN  URSPRUNG  DES  HÖFISCHEN  MINNESANGES  etc.  155 

Wäre  der  Minnesang  aus  solchen  Fäden  gesponnen,  die  an  „den 
Schlüssern  des  Adels"  hängen  geblieben  wären,  so  mUßten  seine  ältesten 
Lieder  dies  verrathen.    Daß   dem  nicht  so  ist,  haben  wir  gesehen'). 

Die  höfische  Dichtung  ist  und  bleibt  mit  ihrem  ganzen 
conventionellenCharaktereinProductder  gesellschaftlichen 
Erhebung  des  ritterlichen  Standes'^). 

Neben  seiner  Entwickelung  und  Ausbreitung  lebte  der  Volks- 
gesang ungestört  weiter  fort:  in  derselben  Art  und  Weise,  denselben 
Gattungen  wie  zuvor,  Spiel  und  Tanz  vor  Allem  bevorzugend. 

Ihr  Einfluß  wird  erst  fühlbar  in  den  Liedern  Walthers,  haupt- 
sächlich aber  Neitharts  und  seiner  Nachfolger.  Und  was  finden  diese 
in  dem  Volksgesange  noch  jetzt,  nachdem  er  sich  ein  Jahrhundert 
lang  hätte  entwickeln  können,  vor? 

Dasselbe,  was  wir  in  den  Carmina  Burana  vertreten  und  lebendig 
sahen:   Spiel-  und  Tanz-  und  Jahreszeitenlieder. 

Ihnen  wandten  sich  die  Dichter  der  sogenannten  höfischen 
Dorfpoesie,  ausgerüstet  mit  dem  überkommenen  höfischen  Kunst- 
material zu. 


Volkspoesie.  Es^ist  eine  von  Bnrdach  selbst  nicht  nur  zugegebene,  sondern  sogar 
(S,  352)  benutzte  Beobachtung,  daß  in  Volksliedern  mehr  die  dritte  als  die  erste 
Person  sich  findet,  cf.  das  oben  erwähnte  Swaz  hie  gat  umhe  (die  „Schnadahüpfle" 
verwenden  freilich  auch  oft  die  erste  Person).  Daraus  folgt  schon,  dalJ  solche  Lieder 
den  Charakter  einer  gewissen  Allgemeinheit  und  zugleich  die  Fähigkeit  an  sich 
tragen,  von  mehreren  verschiedenen  Individuen  angewendet  zu  werden.  Freilich 
aufgezeichnet  auf  Pergament  dürfen  wir  sie  nicht  suchen,  sondern  wir  müssen  ihre 
Gestalt  in  dem  Laufe  der  Zeiten  zu  verfolgen  trachten,  wie  sie  die  mündliche  Tradition 
bewahrt  hat.  [Ich  erinnere  mich  bei  dieser  Gelegenheit  noch  einer  anderen,  dan 
Wesen  des  Volkes  mißverstehenden  Bemerkung  Burdachs:  „Die  culturlosen  Menschen 
haben  wie  die  Kinder  ein  schlechtes  Gedächtniß  für  die  Vergangenheit."  Und  doch 
ist  es  nicht  eine  Behauptung,  sondern  allbekannte  Thatsache,  daß  mit  dem  Wachsen 
der  Cultur,  mit  dem  Überwiegen  der  schriftlichen  Fixierung  die  Abnahme  der  Fähig- 
keit, Thatsachen  der  Vergangenheit  durch  das  Gedächtniß  fcstzuiialten,  Hand  in 
Hand  geht.] 

'j  Ich  komme  hierbei  noch  einmal  auf  die  Meyer'sche  Sammlung  zurück. 
Gerade  zu  den  in  der  späteren  Volkslyrik  so  viel  sich  wiederholenden  schlichten, 
herzlichen  Versen  MF.  3,  1  ff.  fehlen  die  Parallelen  im  höfischen  Minnesänge;  außer 
dem  Verse  bei 

Veldegge:  lä  mich  wesen  din  ]  unde  wis  du  min         MF.   159,  9—10 

bringt  kein  Gedicht  mehr  den  treuherzigen  Vers.     Die  Entsprechung 
Veldegge:  des  sol  si  sin  von  mir  gewis  MF.  64,  15 

kann  man  bei  ihrem  allgemeinen  Sinne  nicht  wohl  auf  Entlehnung  deuten. 

^)  Positives  über  den  Ursprung  des  hüfischen  Minnesanges  zu  erörtern,  behaltt 
ich  mir  vor.    Es  läßt  sich  doch  bei  genauer  Untersuchung  einer  Lösung  nahe  kon.men. 


156  MAX  FR.  BLAU 

Es  beginnt  eine  Zeit  der  Wechselwirkung  zwischen  höfischer 
Poesie  und  Volksdichtung.  Und  wenn  schon  vor  Neithart  der  Einfluß 
des  Minnesangs  auf  die  Volkspoesie  sich  vereinzelt  mag  gezeigt  haben: 
so  wirkt  er  jetzt  allseitig,  hier  und  da  das  Gepräge  dieser  verändernd, 
allinälig  sogar  theilweise  sie  in  neue  Bahnen  lenkend*). 

E.  TH.  WALTHüR. 


ZUR  ALEXIUÖLEGENDE.    II. 


Im  zweiten  Theile  meiner  Arbeif*)  will  ich  mich  mit  der  von 
Maßmann  in  „Sanct  Alexius  Leben  etc."  Quedlinburg  u.  Leipzig  1843 
(Band  9  der  Bibl.  der  ges.  deutschen  Nat.-Lit.)  als  B  herausgegebenen 
Darstellung  der  Alexiuslegende  beschäftigen.  Bisher  war  nur  eine  Hs. 
dieses  mhd.  Gedichtes  bekannt,  die  bei  Maßmann  p.  68 — 76  abge- 
druckte Wiener  Hs.,  die  wir  mit  V  bezeichnen  wollen;  dieselbe  steht 
auf  Bl.  243'^— 253"  der  Papierhs.  Nr.  XC  der  altdeutschen  Hss.  der 
Wiener  Hofbibliothek  (vgl.  Hofimann  v.  Fallersleben:  Verzeichniß  der 
altd.  Hss.  der  k.  k.  Hofbibiiothek  zu  Wien  1841,  wo  p.  176—181 
die  aus  dem  Jahre  1472  stammende  Hs.,  allerlei,  als:  Gebete,  Recepte, 
Legenden,  einen  Lucidarius  u.  s.  w. ,  am  Schlüsse  als  14.  Stück  den 
Alexius  enthaltend,  eingehend  beschrieben  ist). 

Durch  die  Güte  des  Herrn  Prof.  Dr.  Meltzer,  Directors  des  Wettiner 
Gymnasiums  in  Dresden,  habe  ich  eine  von  diesem  Gelehrten  selbst 
genommene  Abschrift  einer  zweiten  Hs.  erhalten.  Über  die  ganze  Hs. 
theilte  mir  Hr.  Prof.  Meltzer  Folgendes  mit: 

„Die  Hs.  gehört  der  Kirchenbibliothek  zu  Annaberg  im  Erz- 
gebirge an  und  trägt  gegenwärtig  die  Signatur  D  187.  Sie  ist  von 
Papier,  in  Folio;  die  Schrift  ist  in  der  zeitüblichen  Minuskel  von 
einer  und  derselben  Hand  sehr  sauber  und  leserKch  ohne  erhebliche 
Abkürzungen  ausgeführt,  und  zwar  per  manus  Johannis  Pauli  notarii 
civitatis  Misne  im  Jahre  1447.  Der  Band  enthält  auf  den  ersten  154 
Blättern  vier  prosaische  Schriften  geistlichen  Inhalts.  Am  Ende  des 
ersten  unter  diesen  Tractaten  ist  der  Name  des  Schreibers  und  die 
Jahreszahl  nebst  Datum  (sabbato  Divisionis  apostolorum  =  15.  Juli), 

')  Ich  habe  absichtlich  bisher  nicht  des  französisclien  Einflusses  Erwähnung 
gethan,  da  ich  nicht  Behauptungen  ohne  Beweise  —  und  zu  solchen  war  hier  nicht 
der  Ort  —  bringen  wollte.  —  Das  was  bereits  über  Nachahmungen  deutscher  Dichter 
aus  der  französischen  Poesie  erörtert  worden  ist,  trifft  im  Grunde  doch  niclit  die 
eigentliche  Frage  nach  dem  Ursprünge  des  höiischeu  Minnesauges,  so  daß  ich  mir 
einen  Hinweis  darauf  glaubte  ersparen  zu  dürfen. 

')  Vgl.  Jahrgang  83  (1888j  dieser  Zeitschrift,  S.  181  [vgl.  dazu  G.  Paris,  Ro- 
maula 18,  299.     O.  B-] 


ZUR  ALEXIUSLEGENDE.    II.  157 

am  Ende  des  vierten  abermals  die  Jahreszahl  und  das  Datum  (feria 
2'  post  Sy.  et  Jude  :=  30.  October)  angegeben.  Drei  Gedichte  bilden 
den  Schluß:        1.  Bl.  löö''— 159''('>  Von  der  messe, 

2.  Bl.  159"— 163"  de  sancto  Cristofero, 

3.  Bl.   163"— 166"  de  sancto  AlJexio." 
Diese  zweite  Hs.  heiße  A. 

Von  einer  dritten  Hs.  erfuhr  ich  aus  Franke:  „Veterbuch  1.  Lfg., 
Leipzig  1880",  wo  wir  auf  p.  38  ff.  eine  eingehende  Beschreibung  der- 
selben finden:  Franke  kommt  zu  dem  Resultate,  daß  die  unseren 
Alexius  als  Anhang  zu  dem  den  ganzen  Band  füllenden  „Väter- 
buch" enthaltende  Pergamenths.  Nr.  900  der  kön.  Universitätsbibliothek 
zu  Königsberg,  im  15.  Jahrhundert  geschrieben,  aus  dem  nördlichen 
Theile  Osthessens  stammt.  Unser  Gedicht,  das,  wie  gesagt,  den  Schluß 
der  Sammlung  bildet,  steht  auf  Bl.  103* — 105".  Da  mir  die  Königs- 
berger Bibliotheksverwaltung  in  zuvorkommendster  Weise  die  Hs.  zur 
\'erfügung  stellte,  so  war  es  mir  möglich,  das  mich  interessirende 
Gedicht  abzuschreiben.  Es  heiße  diese  Hs.  R.  —  Die  Angabe  Walter 
Müllers,  Germania  XXXl,  p.  323,  nach  welcher  man  noch  drei  weitere 
Hss.  unseres  Gedichtes  vermuthen  müßte,  beruht  auf  einem  Irrthurae, 
da  die  Königsberger  Hs.  des  „Buches  der  Väter"  durchaus  nicht  der 
Hamburger,  Hildesheimer  und  Straüburger  nebenzureihen  ist:  die 
von  den  drei  letztgenannten  Hss.  gebildete  Gruppe  des  Väterbuches 
hat  zwar  auch  einen  Alexius,  es  ist  das  aber  der  von  Maßmann  mit 
E  bezeichnete   (vgl.  a.  a.  O.  p.  105 — 117). 

Während  V  und  A  vollständige  Texte  bieten,  haben  wir  in  R, 
entsprechend  der  Eigenart  oder  vielmehr  Unart  des  Schreibers  der 
ganzen  Hs. ')  nur  eine  starke  Verkürzung  desselben  vor  uns:  R  zählt 
265  Verse,  gegen  518  in  A  und  517  in  V.  (Maßmaun  hat  die  in  der 
Hs.  wirklich  fehlenden  Verse  V  144.  164.  232.  242.  426  mitgerechnet, 
vgl.  ebenda  p.  3,  Anm.  1.)  Der  Schreiber  von  R  eilt,  damit  er  sein 
finito  lihro  sit  laus  et  gloria  Christo  hinter  diese  Legende  setzen 
kann.  Übrigens  hat  die  große  Flüchtigkeit  des  Schreibers  wohl  dem 
Inhalte,  aber  nicht  der  Schrift  geschadet,  denn  diese  ist  sauber  und  klar, 
auf  jeder  Abtheilung  der  zweigespaltenen  Seite  stehen  24  Verse  in  schöner 
Schrift,    die  vielleicht  noch  auf  das  Ende  des  14.  Jahrhunderts  weist. 

Da  bereits  Franke  die  naheliegende  Vermuthung,  unsere  Redaction  B 
gehöre  zum  „Väterbuche",  auf  Grund  dichterisch-technischer  Eigen- 
thümlichkeiten,  betreffend  Reim  und  Versbau,  zurückgewiesen  (p.  18) 


')  Ich  verweise  auf  Franke  p.  42. 
GERMANIA.    Nene  Reihe  XXII.  (XXXIV.)  Jahrg.  \\ 


158 


MAX  FR.  BLAU 


und  canderseits  Jos.  Haupt:  „Über  das  md.  Buch  der  Väter,  Wien 
1871"  nachgewiesen  hat,  daß  der  Alexius  E,  wenn  nicht  vom  Dichter 
des  Väterbuches,  so  doch  von  einem  Zeitgenossen  und  Landsmanns 
desselben  stammt  (p.  73),  habe  ich  auf  diese  Frage  nicht  näher  einzu- 
gehen. Der  von  J.  Haupt  (a.  a.  O.  p.  62)  gemuthmaßte  Grund  für  die  Wahl 
von  B  in  der  Königsberger  Hs.  des  Väterbuches  ist  wohl  nicht  zu- 
treffend; warum  sollte  der  kürzende  Schreiber  Skrupel  gehabt  haben, 
in  E  große  Stücke  fortzulassen,  wie  er  es  ja  auch  in  B  that?  Da  „das 
buch  von  sinte  AUexio"  am  Schlüsse  der  Hs.  steht,  so  ist  wohl  eher 
zu  vermuthen,  daß  in  seiner  Vorlage  ein  Alexius  gefehlt  und  er  eine 
zufällig  vorhandene  Darstellung  (eben  unser  B)  vorgenommen  und  nach- 
getragen hat. 

Daß  B  nicht  etwa  zu  der  anderen  großen  Sammlung  von  Hei- 
ligenleben, dem  „Passioual"  gehört,  geht  —  ganz  abgesehen  davon, 
daß  keine  Hs.  des  letzteren  dieses  Alexiusleben  gibt  —  auch  daraus 
hervor,  daß  die  Darstellung  in  B  wesentlich  von  der  des  Jacobus 
a  Voragine  abweicht,  dessen  „Legenda  aurea"  ja  Vorlage  für  dieseu 
Theil  des  Passionais  war  (vgl.  J.  Haupt  a.  a.  O.  p.  45  ff.).  Doch 
zurück  zu  den  Hss.  unseres  B ! 

Alle  drei  Hss.  zeigen  ausgesprochen  md.  Charakter:  ich  ver- 
weise auf  die  Angaben,  die  sich  bei  Maßmann  p.  3  und  bei  Franke 
p.  38  ff.  finden.  Für  A,  dessen  Schreiber  ja  notarius  civitatis  Misue 
ist,  genüge  anzuführen'):  19/20  liyz'.lyz,  21/22  geste  :  wüste,  23/24 
gnug  :  trug,  39/40  mut  :  gut,  49.  lyh  vnd  leit.  Ferner  123/124  seder  : 
weder,  133/134  seten  :  hüten,  183/184  gebin  (conj.  praet.)  :  lehin,  397/ 
398  hlehin  :  heschreben  u.  s.  w. 

Den  Stammbaum  der  drei  Hss.  haben  wir  folgendermaßen  anzu- 
setzen :  O    (Original). 


(verderbte  gemeinsame  Vorlage). 


A 


')  Ich  citire  im  Folgenden  nach  der  beigegebenen  Neuausgabe  von  B,  da  Maß- 
mann zu  gewaltthätig  mit  dem  Gedicht  verfahren  ist  und  die  beiden  neugefundenen 
Handschriften  vieles  zu  ändern  zwingen. 


ZUR  ALEXIUSLEGENDt:.    II.  159 

Also  V  und  R  bilden  die  eine  Gruppe,  A  ist  Vertreter  einer 
zweiten.  Diese  Eintheilung  gründet  sich  auf  folgende  Beobachtungen: 

V  und  R  zeigen  die  gleiche  Verderbniß  des  Namens  Euphemian : 
V.  27.  fennan  V,  feiiüan  R,  171.  li"  fennam  V,  lier  femtan  R,  280.  Ji"  re 
her  femian  V.  f.  R.,  386.  jfemiam  V  (R  liest  den  Vers  anders) ;  A  liest 
immer  Eu femian. 

Ebenso  ist  für  V  R  noch  ein  Fehler  nachzuweisen  in  v.  199,  wo 
beide  daz  sihende  jär  lesen ,  während  es  nach  der  Legende  mit  A 
heißen  muß:  da:  sibenzehende  jär.  Dieser  Fehler  von  y  hat  in  V 
dann  einen  andern  nach  sich  gezogen:  dieses  verböser t  —  entspre- 
chend der  Angabe  in  v.  199.  —  v.  398.  vier  und  drizec  zu  vier  vnd 
czwenczig   (jär).    (Vgl.  auch  noch  unten  zu  vv.   107.  108). 

Eine  andere  Gruppierung  der  Hss.  ist  nicht  möglich:  denn  wenn 
wir  etwa  auf  Grund  dos  v.  10  und  des  Schlußgebetes  v.  511  ff., 
welche  beide  in  V  stark  von  R  A  abweichen,  V  eine  besondere  Stel- 
lung zuweisen  wollten  gegenüber  den  dann  zu  einer  Gruppe  gehören- 
den R  und  A ,  so  ließen  sich  die  gemeinsamen  Fehler  von  R  und  V 
bei  richtiger  Angabe  in  A  nur  dadurch  erklären,  daß  ein  der  Legende 
bis  aufs  Einzelnste  kundiger  Schreiber  in  A  den  gleichen  Fehler  ge- 
tilgt habe.  Nun  beweist  aber  die  Variante  von  A  zu  v.  20ö  (wieder- 
holt V.  332),  daß  der  Schreiber  nicht  einmal  das  sprechende  Mutter- 
gottesbild der  Legende  kennt,  und  wir  haben  demnach  die  oben  ge- 
gebene Anordnung  der^Hss.  als  diejenige  zu  betrachten,  die  bei  mög- 
lichster Einfachheit  des  Stammbaumes  ohne  Mühe  die  verschiedenen 
Abweichungen  und  Übereinstimmungen  der  Hss.  unter  einander  erklärt. 

Für  eine  gemeinsame  verderbte  Vorlage  (x)  aller  drei  Hss., 
welche  also  zwischen  diese  und  das  Original  einzuschieben  wäre, 
spricht  das  ganze  letzte  Drittheil  des  Gedichtes,  wo  die  Hss.  in  auf- 
fallender Weise  auseinander  gehen,  und  um  Einzelnes  anzuführen,  vort 
V.  151  in  allen  drei  Hss.,  während  nur  port  möglich  ist,  und  v.  138  ff., 
wo  die  verschiedenen  Hss.  sichtlich  einen  alten  Fehler  der  Vorlage 
zu  bessern  versuchen.  (Vgl.  auch  zu  v.  140 — 146.  256.  377  ff.  431.  432.) 

Damit  ist  also  für  die  Constituierung  eines  kritischen  Textes 
der  richtunggebende  Grundsatz  geboten :  sobald  A  mit  einem  der 
beiden  Vertreter  von  y  zusammenstimmt,  ist  dieser  Übereinstimmung 
entsprechend  der  Text  anzusetzen. 

Wie  verhält  es  sich  aber,  wenn  y  ^)  gegen  A  steht? 

*)  Es  ist  gleich  vorauszuschicken,  daß  bei  der  kläglichen  Überlieferung  von  R 
öfter  V  für  sicli  als  Vertreter  von  y  wird  zu  gelten  haben:  gebe  ich  nicht  ausdrücklich 
die  Lesart  von  R,  so  ist  die  betreffende  Stelle  in  K  nicht  belegt. 

11* 


IPO  MAX  FR.  BLAU 

Zur  Bestimmung  des  Werthes  der  beiden  Gruppen  gehen  wir 
wohl  am  besten  von  denjenigen  Versen  aus,  die  nur  in  einer  derselben 
nachzuweisen  sind;  je  nachdem  sie  als  dem  Original  gehörig  zu  er- 
kennen sind  oder  nicht,  werden  sie  für  oder  gegen  die  sie  bietende 
Gruppe   sprechen. 

An  Stelle  von  v.  24.  25  finden  sich  in  A  folgende  vor: 

22.  sioenne  der  herre  daz  wol  weste 

23.  daz  si  heten  alle  gnuoc] 

24.  V.  ')  So  gieng  er  hin  an  allen  gefug  A  Daz  man  iceder  von  en  trug 

Er  ging  hen  alz  er  wol  woste 
Noch  alle  syme  luste. 

25.  V.    Vnd  az  mit  dem  aW  erste  den  er  vant      Vnd  az  mit  den  ermesten  dy 

er  fand. 
Die  beiden  Plusverse  von  A  sind  ohne  Zweifel  unecht.  Eben,  d.  h. 
vv.  21.  22  begegnet  der  Reim  geste  :  weste;  wenn  nun  hier  wieder  der 
Reim  mit  dem  gleichen  Worte,  diesmal  aber  in  dialektischer  Form 
vorkommt,  so  kann  das  nicht  Arbeit  ein  und  desselben  Verfassers 
sein:  einen  solchen  Grad  der  Geschmacklosigkeit  dürfen  wir  keinem 
Dichter  ohne  dringendste  Veranlassung  zutrauen.  Auch  inhaltlich 
sind  beide  vv.  durchaus  flach  und  werthlos ,  elendes  Gereimsei;  mit 
ihnen  ist  auch  die  Variante  zu  v.  24  zu  verwerfen,  da  dieselbe,  an 
und  für  sich  ansprechend,  nicht  in  die  Construction  paßt,  wenn  die 
beiden  in  A  folgenden  gestrichen  werden. 

Zum  Verständnisse  der  Lesung  von  v.  24  bei  V  möchte  ich  die 
beiden  Stellen  bei  Maßmann  p.  165')  anziehen:  „sponsa  pectus  et  genas 
indigne  lacerahaV"  und  „sponsa  quoqne  ..  capillos  indecenter  evellens^'' 
u.  s.  w. ,  aus  der  lateinischen  Redaction  21. 

Der  durch  die  ganze  Art  der  Erziehung  besonders  kräftig  aus- 
geprägte Sinn  für  äußere  Wohlanständigkeit  wurde  ebenso  durch  den 
unverhüllten  Ausdruck  mächtiger  Gemüthsbewegungen,  wie  durch  die 
Vernachlässigung  jener  Exclusivität  verletzt,  welche  der  Vornehme, 
der  Ritterbürtige  den  andern  Ständen  gegenüber  zu  wahren  pflegte. 
Gegen  den  Gedanken ,  daß  der  hochgeborene  Herr  mit  dem  ersten 
Besten,  den  er  findet,  sich  zu  Tische  setzte,  empört  sich  die  Wohl- 
erzogenheit des  Dichters. 


')  Ich  gebe  V  nach  der  Schreibung  von  Maßmann  und  ändere  nur  nach  den 
dort  unterm  Drucke  gebotenen  Abweichungen  der  Hs.  selbst;  freilich  fällt  ein  Ver- 
gleich der  Lesarten  der  ersten  21  Verse  mit  dem  auf  p.  3  bei  Maßmann  gegebenen 
buchstäblich  treuen  Abdruck  dieses  Theiles  der  Hs.  nicht  gerade  zu  Gunsten  der  Zu- 
verlässigkeit M.'s  betreffs  der  Einzelheiten  aus.  Ich  selbst  habe  mich  vergeblich  nach 
Wien  wegen  der  Hs.  gewandt.  A  und  R  werdeu  handschriftengetreu  wiedergegeben. 


ZUR  ALEXIUSLEGENDE.     II.  Ißl 

Die  nächste  Stelle,  wo  vviederum  A  zwei  vv.  melir  bietet,  finden 
wir  V.   106  ff. 

106.  V  /Si  sprach,  daz  muoz  vns  A  Si/  sprach  das  maße  vns  kundig  toesin 

czukünß.ec  sei/. 

107.  So  höre  lihe  fratve  viyn 

108.  Du  Salt  kusch  bis  an  dyn  ende  syn 

109.  V.  Den  selbigiu  orden  wil  ich 

tragen  Denselben  orden  loü  ich  tragin. 

Der  Zusammenhang  verlangt  unbedingt  die  beiden  Plusverse  in  A. 
Wenn  wir  mit  Maßmann  v.  109  als  directe  Fortsetzung  von  v.  106  an- 
sehen, so  ist  der  Vers  unverständlich:  welchem  Stande  will  sie  sich 
denn  anschließen?  Erst  durch  v.  107.  108  erhält  er  seine  Erklärung: 
der  Mann,  welcher  von  seinem  Weibe  Keuschheit  verlangt,  verspricht 
ihr  seinerseits  die  gleiche  Enthaltsamkeit. 

Ein  Grund  für  den  Ausfall  der  Zeilen  in  V  ist  leicht  zu  finden. 
V  hatte  V.  106  für  tcesen  sey  geschrieben,  das  Auge  glitt  deshalb  beim 
Hinüberblicken  auf  die  Vorlage  leicht  über  die  folgenden  zwei  vv., 
die  ja  mit  sm  schließen. 

Betr.  V.  117.  118  müssen  wir  auf  die  lateinische  Legende  Bezug 
nehmen;  die  vv.  sind  nur  in  V  überliefert  und  lauten:  (M ')  115.  116j. 
E}'  nam  daz  vingerlin  von  seyrt"  hant 
Vnd  gap  ys  der  juncfroioen  alzehant 
Die  vv.  sind  weder  für  den  Zusammenhang  unbedingt  nöthig,  noch 
zeigen  sie  besonders  glatten  Rhythmus ;  auch  der  hier  allein  belegte 
rührende  Reim  ist  auffallend,  aber  da  es  ja  in  S  lautet :  ,^deinde  tra- 
didit  ei  annulum  suum  aureum'^  (Maßmann  p.  167  Z.  1  v.  u.),  so  wird 
sich  gegen  die  Plusverse  in  V  nichts  einwenden  lassen. 

Es  folgt  nun  eine  Stelle,  bei  welcher  die  Gruppe  y  in  beiden 
Hss.  vertreten  ist. 

135.  do  sie  getrunken  unde  gäzen 

136.  unde  alle  in  fröuden  säzen, 

137.  beidiu  frouwen  unde  man, 

138.  V  Allexius  neig  sein''  liben  braiot     R.  Allexius  neik  syn'  brut  gynk 

Vnd  schit  von  dan  dan 

139.  Das  das  nymant  wart  gewar  daz  des  nymant  wart  gewan  (!) 

140.  Wen7ie  seyne  übe  frato  dar  loen  si*'  Hb  alleyne  gar 

*)  M  bedeutet  im  Folgenden  immer  die  Maßinauu'äche  Ausgabe  von  V  a.  a.  O. 
p.  68—76. 


162  MAX  FR.  BLAU 

138.  A  Do  ging  syne  iwige  hrut  an 

Das  sy  vil  heiß  weynen  began 

139.  Daz  des  nymant  wart  gewar 

140.  Wenn  syn  Üb  alleyne  gar. 

Hier  zeigt  sich,  daß  y  zuverlässiger  ist  als  A.  Was  das  letztere 
bietet,  ist  inhaltlich  ganz  unmöglich:  wenn  die  Braut  beim  Weggange 
des  Bräutigams  angesichts  aller  Gäste  in  Thränen  ausbricht,  so  wird 
doch  die  Flucht  einfach  vereitelt;  warum  sollte  die  Braut  auf  die 
theilnahmsvollen  Fragen,  die  ihre  plötzliche  Trauer  doch  hervorrufen 
würde,  die  Ursache  ihres  Kummers  verschweigen?  Dem  Schreiber  A 
machte  jedenfalls  der  in  seiner  Vorlage,  wie  in  y  schlecht  überlieferte 
V.  138  Beschwerde,  und  so  dichtete  er  keck  bessernd  darauf  los,  was 
ihm  in  die  Situation  zu  passen  schien ,  bekam  dabei  aber  neben  der 
UnWahrscheinlichkeit  des  von  ihm  Erzählten  auch  noch  einen  drei- 
fachen Reim,  deren  sonst  keine  im  Gedichte  zu  finden  sind.  Auch 
der  Anschluß  seiner  Sonderverse  an  das  Folgende  ist  durchaus  ver- 
fehlt. Der  Fehler  liegt  also  in  x,  und  wir  werden  mit  y  eine  Besse- 
rung zu  finden  suchen.  Da  gegen  eine  Lesung:  Er  neic  der  hriute  mit 
gie  dan  spricht,  daß  Alexius  doch  zu  lange  nicht  genannt  ist,  um  ihn 
hier  einfach  mit  er  wieder  einzuführen,  und  auch  der  hriute  wegen 
des  V.  140  folgenden  sin  liep  kaum  brauchbar  erscheint,  so  wird  wohl 
zu  setzen  sein : 

Alexius  neic  und  gie  dan, 
wennschon  der  Rhythmus  bei  der  ersten  Lesung  glatter  ist. 

V.  140  ist  mit  AR  zu  lesen  gegen  V,  das  hier  geändert  hat. 
Das  lih  beider  Hss.  wird  man  wohl  nicht  mit  lip  wiederzugeben  haben, 
denn  es  ist  doch  unsinnig  erzählen  zu  wollen,  daß  Alexius  selbst  sein 
Fortgehen  bemerkt. 

Hinter  v.  140  finden  wir  nun  einige  vv.,  die  nur  in  V  belegt  sind: 

141.  V   Vnt  sines  herzen  grosse  not 

142.  Silber  unde  auch  golt  rot 

143.  Nam  er  vil  ze  siner  zer 

144.  Er  ilde  balde  uf  daz  mer 

145.  Daz  sin  der  vater  ich  loorde  geioar     (bei  M.  v.  139 — 143). 
iö  (Maßmann  p.  168,  Z.  4):   y^post   haec   accepit  de  substantia  sua 

ei  discessit  ad  mare^''  beweist,  daß  die  vv.  für  das  Original  in  An- 
spruch zu  nehmen  sind.  Wir  können  Maßmanns  Lesung  annehmen : 
nur  der  erste  Vers  ist  zu  ändern.  Dieser  könnte  höchstens  eine  Um- 
schreibung für  die  Braut  sein,  aber  diese  ist  ja  im  Verse  vorher  aus- 
drücklich genannt.    Wir  werden  etwa  lesen  müssen : 


ZUR  ALEXIUSLEGENDE.    II.  163 

des  hetwanc  sie  groziu  not, 
oder  in  engerem  Anschluß  an  die  gegebene  Lesart: 
in  sines  herzen  grozer  not. 
Der  Grund,    warum    diese   vv.    in    A  fehlen  —  bei  R  muß  man 
sich  mit  dem  Factum    als    solchem    beirnügen,    das    seine    allgemeine 
Ursache    in    der  Hastigkeit    des  Schreibers   findet  —  ist  mit  einer  ge- 
wissen Sicherheit  anzugeben.     Der   Schreiber    hatte    eben    (jeioar  :  gar 
gehabt,  sein  Auge  glitt  auf  das  nächste  gewar  und  dort  setzte  er  die 
Arbeit    fort.     Dieses  Abgleiten    ist    aber  nur  erklärlich  unter  der  An- 
nahme von  X,    welches  bereits  den  Reimvers  zum  zweiten  gewar  ver- 
loren haben  mußte;    denn  stand  der  entsprechende  Vers  noch    in  der 
allen  geraeinsamen  Vorlage,  so  ist  dessen  Verlust  in  V  und  A  kaum 
erklärlich.    Wir   dürfen   wohl   die  Ergänzung  von  M  (v.  144)    anneh- 
men:   146.  als  er  nu  quam  zeni  iirvar,   oder  etwa  mit  Flore  3512:    als 
er  mi  qtiam  an  daz  var. 

V.  166  hat  in  V  keine  Entsprechung,  aber  da  er  in  R  und  A 
belegt  ist,  so  gehört  er  dem  Originale: 

R    her  duerte  do  leng'  wen  ym  gezcn 

A    Er  truerte  do  lenger  loenn  ym  geczam. 

A  muthet  dem  athleta  (vgl.  Maßmann  p,  163  Z.  11)  eine  Schwäche 
zu .  die  durch  nichts  gerechtfertigt  erscheint. 

R  gibt  dem  Gedanken  Ausdruck,  daß  er  —  der  Sohn  des  ..ge- 
waltigen und  reichen"  Euphemian  — ,  wenn  er  schon,  um  Gott  zu 
dienen,  seiner  hohen  Stellung  in  der  Welt  entsagt  habe,  doch  nicht 
immer  in  solch  schmählicher  Armuth  hätte  verweilen,  sondern  wieder 
in  Glanz  und  Reichthum  hätte  zurückkehren  sollen.  Derselbe  Geist 
spricht  aus  dieser  Zeile,  der  v.  24  dem  Euphemian  den  Vorwurf 
nicht  ersparte,  daß  es  gegen  Sitte  und  Wohlanständigkeit  verstoße, 
mit  den  Bettlern  sein  Mahl  einzunehmen. 

Wie  im  eben  genannten  Falle  fehlt  auch  der  folgende  v.  234 
in  V,  ist  aber  auch  in  R  nicht  überliefert. 

230.  der  Hute  giengen  im  vü  nä 

231.  7mt  truogen  im  also  vil  zuo. 

232.  V  fhis  ys  icz  en  verdrocz  de  A   Daz  en  vordnchte  do 

233.  Er  sprach  W  leip  daz  ist  ze  vil  E-  sprach  leib  es  ist  zcu  vil 

234.  Daz  ich  voyi  dir  nichten  vnl 

235.  Ich  wil  Piich  füre  aiisz  der  vnmnszp.        Ich   teil   dich  füren   nß  der 

maßen. 
V.  232.  lesen    wir   wohl  am  besten  mit   A  ,    dessen  viel  selteneres  vor- 
duclite  —  das  Mhd.  Wb.   gibt  nur  ein,  Lexer  zwei  Beispiele  —  für  diese 
Wahl  spricht:  daz  in  des  verdühte  do  bezw.  duo; 


164  MAX  FR.  BLAU 

freilich  läßt  sich  gegen  die  Lesung  von  V:  daz  es  in  verdröz  dö  nichts 
einwenden.  Und  für  v.  233  werden  wir  wohl  sicher  V's  her  leip  in  den 
Text  aufnehmen.  In  dem  nun  von  A  gebotenen  v.  i34,  den  wir  dem 
Originale  zuzuweisen  haben,  ist  außer  daz  in  des  nichts  zu  ändern, 
wenn  man  nicht  entsprechend  dem  euch  in  V  (zu  v.  235)  auch  hier 
lieber  iu  für  dir  setzen  will,  was  ja  auch  der  förmlichen  Anrede  mit 
lier  mehr  angemessen  ist. 

v.  235  ist  in  A  sicher  schlecht  überliefert,  V  gibt  wohl  einen 
erträglichen  Sinn,  aber  eine  durchaus  unrhythmische  Zeile.  Wir  neh- 
men am  besten  einen  Fehler  in  x  an ,  so  daß  im  Original  gestanden 
hätte;  man  teil  iuch  fiteren  üz  der  mäze. 

Betr.  des  Ausfalles  von  v.  234  in  V  ist  möglicherweise  wieder 
einfach  Übergleiten  des  Auges  von  „üi7"  auf  „?(;i7"  anzunehmen,  umso- 
mehr,  als  ja  im  13.  — 15.  Jahrhundert  im  Mhd.  recht  häufig  im  {w) 
für  v=f  geschrieben  wird  (vgl.  Weinhold:  Mhd.  Gr.^  §.  174). 

Wir  haben  jetzt  die  Stelle  v.  240  &.  zu  betrachten: 
240.  da  wolde  er  sme7i  tot  emiihdn 

241.  V    Vnd  sins  endes  da  erbeiten 

242.  Do  begnde  W  sin  anders  czu  leiten 

243.  A    Seet  das  mochte  nicht  gesehen 
244.  iii  sluoc  ein  ivint  (daz  sult  ir  spehen). 

Die  Vergleichung  mit  S  (Maßmann  p.  169,  Z.  3  u.  4):  ^Deo  itaque 
disfiensante  rapta  est  navis  vento^'  etc.  gibt  zu  gleicher  Zeit  die  Mög- 
lichkeit, den  Sinn  des  nur  in  V  überlieferten  v.  242  zu  bestimmen, 
und  sichert  v.  241.  242  dem  Original.  Schon  M  hat  eine  Besserung 
des  ganz  verderbten  Verses  nach  33  versucht,  und  wir  können  uns 
mit  kleinen  Änderungen  seiner  Lesung  anschließen: 

241.  unt  sines  endes  da  erheiten, 

242.  got  hegunde  ez  anders  leiten. 

V.  243  darf  wohl  ohne  Anstoß  ans  A  aufgenommen  werden;    der  In- 
halt ist  zwar  nicht  bedeutend,  aber  durchaus  passend  und  sinngemäß. 
Die  nunmehr  zu  untersuchenden  vv.  sind  für  y  durch  V  und  R 
gesichert,  fehlen  aber  in  A. 

{einen  hrief)  v.  328  daran  sin  leben  ivart  bekant 

329.  R  wi  daz  eyn  megetyn  syn  brut  war    V  Daz  sin  brut  ein  maget  ivcer 

330.  vnd  er  eyn  degen  unioandel  w\  Vnd  er  ein  dege  vnwande  xoe'. 
Wieder  können  wir  diese  vv.  durch  53  stützen,  wo  es  (Maßmann  p.  169, 
Z.  25  ff.)  lautet:  „scripsit  per  ordinem  omnem  vitam  suamj  qualiter 
respuerit  nuptias  et  qualiter  conversatus  fuerit  in  peregrinatione  qua- 
literque    contra    voluntatem    siiam  redierit    ßomum  et  in  domo  patris  sui 


ZUK  ALEXIUSLEGENDE.    II.  165 

opprobria  multa  susthiuerit.^  Denn  durch  den  Satz  .,qi(aliter  respuerif 
nuptias"'  wurde  ja  die  Erwähnung  der  Braut  als  maget  ganz  direct 
veranlaßt.    Die  vv.  sind  also  zu  lesen : 

329.  daz  sin  hrüt  ein  maget  iccere 

330.  unde  er  ein  degen  tinxoandelhcere. 

Zum  Schluß  führe  ich  noch  die  vv.  427.  428  an,  die  für  y  in 
Anspruch  zu  nehmen  sind,  da  sie  sich  in  V  finden:  (M.  421.  422) 

423.  Si  zestorte  ir  frewlich  gebende 

424.  Ir  ezoppe  beyde  nä  yn  dy  hende. 

Ein  Vergleich  mit  der  Darstellung  in  S  (Maßmann  p.  170,  Z.  11 
V,  u.)  „Mater  vero  ejus  haec  audiens  g^iasi  leaena  rumpois  rete  ita 
scissis  vestihus  exiens  coma  d issoluta  ad  coelum  octdos  levahat"  zeigt 
uns,   daß  die  beiden  vv.  dem  Originale  zuzuweisen  sind. 

Das  bisher  Gebotene  genügt  wohl,  um  darzuthun,  daß  im  All- 
gemeinen y  vor  A  den  Vorzug  verdient:  y  stellt  eine  bessere,  vor 
allem  eine  vollständigere  Hs.  dar.  Freilich  fehlen  einzelne  Verse  in 
V;  das  haben  wir  aber  wahrscheinlich  —  mehr  dürfen  wir,  da  ja  R 
bei  seiner  großen  Lückenhaftigkeit  uns  oft  im  Stiche  läßt ,  nicht 
sagen  —  V  allein  zuzuschreiben  (siehe  o.  zu  v.  166),  für  dessen  Aus- 
lassungen sich  zumeist  ein  bestimmter  Grund  angeben  läßt. 

A  hat  sich  nicht  l'rei  von  Interpolationen  und  von  —  wenig 
glücklichen  —  Besserungsversuchen  gezeigt:  ich  führe  hier  noch  eine 
recht  auffallende  Stelle  dafür  an.  v.  208  und  dementsprechend  v.  332 
lesen  die  beiden  Vertreter  von  y,  bezw.  V  allein: 
208.  R  do  rief  eyn  bilde  hit'  styvie.  V  Do  rief  ein  bilde  mit  lawter  styiTie. 
332.  V    Vnt  icy  ym  des  bildes    halle  ivas, 

also  entsprechend  dem  Codex  der  Legende,  in  die  bereits  der  byzan- 
tinische Bearbeiter  das    sprechende  Muttergottesbild   eingeführt   hatte. 
A  verwässerte  diese  directe  Beziehung  auf  die  Legende  zu  den  vv. 
Do  rijf  dy  gotis  siymme,  bezw. 
Wy  em  gotis  hnlffe  loart  bereit. 
Außerdem  aber  zeigt  A  auch  einige  Lücken. 

Ehe  wir  zu  der  Frage  übergehen,  welcher  Hs.  wir  bei  völligem 
Auseinandergehen  der  Lesungen  zu  folgen  haben,  ist  noch  auf  einige 
Sonderverse,  bezw.  wohl  besser  Sonderzeilen  in  V  und  in  R  hinzu- 
weisen. 

Die  in  V  nach  v.  426  Si  sprach:  nu  ist  mm  ungemach 
stehende  Zeile  Vil  gur  czu  irgangin 

ist  nur  hier  belegt  und  ermangelt  auch  in  V  selbst  des  entsprechen- 
den  Reimverses.    Wenn   wir  nun  nicht  wegen  dieser  einen  Stelle  — 


166  MAX  FR.  BLAU 

bei  A  erwies  sich  die  eine  Stelle  nach  v.  24  von  selbst  als  Inter- 
polation —  annehmen  wollen ,  daß  in  V  interpoliert  oder  doch  herum- 
gebessert sei,  so  müssen  wir  sie  in  eine  brauchbare  Form  zu  bringen 
suchen.    Es  wäre  also  etwa  zu  lesen: 

harte  gar  ergangen. 
Schon  X  muß  dann  den  zugehörigen  Reimvers  verloren  haben. 

Für  R  haben  wir  allerdings  nur  im  letzten,  überhaupt  stark  ver- 
derbten Drittel  des  Gedichtes  die  Thatsache  festzustellen,  daß  es  eine 
Reihe  von  Sonderversen  bietet,  die  aber  entweder  sicher  unecht  oder 
höchst  verdächtig  sind:  Für  den  bereits  angegebenen 
V.  328  daran  sin  lehen  wart  hekant, 

—  V  und  A  lesen  fast  gleich  —  hat  R  gesetzt: 

d'  hrief  d)  waz  geschriben  so, 
was   natürlich,    da   der  Reim  fehlt  und  V  und  A  zusammenstimmen, 
zu  verwerfen  ist.     Die  ganze  Stelle  in  R: 
d*  brief  d''  waz  geschriben  so  vnd  ouch  diz  alwar 

ivi  daz  eyn  megetyn  syn  brut  war        ganczer  vier  vnd  drisic  iar 
vnd  er  eyn  degen  vmoandel  w'  hatte  er  di  almuze  numen 

biz  zcu  dem  tode  waz  kumen, 
ist    aus    zwei  verschiedenen  Theilen  des  Gedichtes,    v.  328—330  und 
V.  397—400,  zusammengesetzt  und  nach  Wortstellung  und  Rhythmus 
für  Prosa  zu  halten. 

Statt  V.  366.  der  luwern  tranc  unde  iuwer  brot 
367.  sibenzehen  iär  hat  gnomen, 
wie  A  und  —  mit  unwesentlichen  Abweichungen  ~  V  liest,  steht  in  R: 

der  sibenczen  almtize  gemiü  hat, 
was  natürlich  ganz  verderbt   ist,  zumal  der  Schreiber  hot  mit  tot  von 
V.  365  reimen  zu  wollen  scheint. 

Einen  eigenen  Zusatz  (zwei  vv.  für  einen  des  Originals)  finden 
wir  an  der  Stelle  von 

V.  394.  dirre  heilec  man  ist  iuwer  kint 

—  so  im  Wesentlichen  nach  V,  A  stimmt  bis  auf  das  fehlende  man 
mit  V  überein  — ;    R  liest  hier : 

iz  ist  Allexi  di  liber  dy  son 
dem  dyn  alemuze  ist  geton; 
der  Reim  son  :  geton  sagt  genug ! 

Einfach  Unsinn  ist  die  Zeile  nach  v.  408: 
408.  er  hete  leide  imt  nnsinne 

—  nach  V,  R',  A  weicht  etwas  ab  — .  R  fährt  dann  fort: 

durch  den  lieblich  mynne. 


ZUR  ALEXIUSLEGENDE.    IL  167 

Gegen  Ende  des  Gedichtes  faßt  also  den  kürzenden  Schreiber 
von  R,  bezw.  seine  Vorlage,  die  Laune,  das  Gedicht  noch  zu  erwei- 
tern.    Auch  nach  v.  434: 

daz  ir  beginnet  mit  mir  weinefi, 
dem  in  V  und  A  auch  ein  Reimvers  mit  gutem  Sinne  nicht  fehlt,  liest 
R  wieder  ganz  unverständig: 

meynes  Üben  kyndes  reynen 

den  tot  vnd  elenedeschaft  (!) 

d"  hat  v'  lorn  syne  croft. 
Der  erste  Vers,  der  an  sich  brauchbar  und  gut  ist,  wird  durch  das 
Zusammenstimmen  von  V  und  A  dem  Originale  mit  Erfolg  streitig 
gemacht ,  der  2.  und  3.  bilden  wieder  eine  ganz  unglückliche  Zu- 
dichterei  eines  Schreibers,  der  denn  auch  noch  nach  v.  522,  am 
Schlüsse  des  Gebetes,  eine  Probe  seiner  poetischen  Begabung  liefert 
mit  den  folgenden  vv. ,   die  eine  Beachtung  nicht  verdienen: 

521.  der  ein  ungemachez  leben 

522.  kan  um  lange  fröude  geben] 
als  dirre  selig  mensche  tet 
syn  livlfe  keyn  goie 

loegen  syn  heileges  gebet. 
—  Der  Rubricator  hat  diesem  Zusätze  dadurch  eine  treffende  Censur 
ertheilt,  daß  er  den  letzten  Vers  roth  ausgestrichen  hat.  — 

Also  R's  Plusverse  sind  sammt  und  sonders  werthlos  und  dem 
Originale  abzusprechen. 

Von  V  ist  noch  eine  Stelle  nachzutragen : 
v.  490.         darzuo  half  der  habest  *ere; 

491.  V  Daz  ez  also  lool  czam,     (falls  M  mit   Recht   die  Va- 

492.  V  Daz  ez  dem  heiligen  zam,  riante  zu  V  489  gibt). 
491.  492  fehlen  in  A  und  R,  geben  aber  einen  ganz  verständigen 
Sinn  —  mit  der  Änderung  von  M.  ^)  — ,  und  so  sind  sie  wohl  dem 
Originale  zuzuweisen. 

An  Stelle  dieser  zwei  vv.  finden  wir  in  A  wieder  einen  Besse- 
rungsversuch : 

Das  noch  alldo  gecziret  steet, 
Do  manch  hundert  menschen  hen  geety 
und  alsdann 

493.  Do  lyt  syn  heiliger  lip  begraben. 

*)  Vielleicht  lesen  wir  besser: 

daz  ea  also  vollequam, 
daz  ez  dem  heiligen  zam. 
Der  Sinn  wird  dadurch  etwas  weniger  flach  und  die  Verse  glatter. 


168  MAX  FR.  BLAU 

Die  ersten  beiden  vv.  sind  nicht  nöthig,  und  der  zweite  mit  seinem 
Singular  des  Verbs  nach  manch  hundert  menschen  wenig  ansprechend, 
außerdem  unrhythmisch :  da  wir  bei  A  bereits  einmal  eine  Interpolation 
fanden  (vgl.  Variante  zu  v.  24) ,  so  setzen  wir  am  besten  diese  beiden 
vv.  dem  Interpolator  auch  auf  die  Rechnung.  Anders  verhält  es  sich 
mit  dem  dritten  v.,  der  freilich  auch  nur  in  A  belegt  ist,  aber  dessen 
Reimvers  494: 

welch  Ion  sol  nu  diu  sele  haben 
auch  in  V  vorliegt.    Wir  haben  bei  V  Auslassungen   constatiert;  hier 
verlangt    der  Gegensatz    zu   sele    dringend    den  in  A  erhaltenen  Vers, 
der  also  dem  Originale  angehört. 

Es  ist  nun  noch  die  Frage  zu  untersuchen,  welcher  Hs.  wir  den 
Vorzug  zu  geben  haben,  wenn  keine  Übereinstimmung  unter  den 
dreien,  bezw.  unter  zweien  von  ihnen  herrscht.  Nach  dem  bisher 
Gefundenen  ist  es  klar,  daß  es  sich  dabei  nur  um  V  oder  R  handeln 
kann;  A  hat  ja  nachweislich  den  mindest  getreuen  und  zuverlässigen 
Text,  was  natürlich  nicht  ausschließt,  daß  ihm  in  einzelnen  Fällen, 
wie  z.  B.  in  v.  160.  161,  der  Vorzug  vor  V  R  gegeben  werden  darf. 

Trotz  der  ausführlicher  dargelegten  Mängel  von  R  ist  nun  sicher 
diese  Hs.  diejenige,  die  in  vielen  Fällen  noch  Älteres  bietet,  während 
in  V  und  A  öfter  moderne  Formen  eingedrungen  sind;  so  z.  B.  ist 
R  noch  völlig  frei  von  dem  Gebrauch  von  ze  (bezw,  zu)  beim  Infinitiv, 
das  bei  V  und  A  nicht  selten  begegnet,  wo  der  Rhythmus  deutlich 
zeigt,  daß  es  fehlen  muß,  vgl.  zu  v.  110  (V),  216  (V,  A),  224  (V), 
268  (V,  A),  besonders  auch  zu  v.  183,  wo  A  den  bloßen  inf.  der  Vor- 
lage als  conj.  gefaßt  und  demnach  den  Vers  gebildet  hat: 

Daz  sy  em  das  almosin  gebin  :  lebin. 
V  ist  gerade,  was  Syntax  betrifi't,  noch  weniger  treu  als  A;  ich  ver- 
weise dazu  auch  auf  v.  84: 

Der  herre  seyne  sune  hiez, 
wo  sune  wohl  deutlich  für  den  dat.  spricht,  den  Maßmann  auch  in  den 
Text  aufgenommen  hat  —  R  und  A  haben  richtige  Lesung  ^)  — ,  ferner 
auf  V.  251 :  Ich  wente  ich  sulde  also  irsterben, 

wo  A  und  R  den  einfachen  inf.  bieten  5  auf  v.  299: 

Vil  manege  schände  die  er  leit, 
statt  dessen  in  A  steht: 

Vil  mancher  schände  er  da  leyt. 
Von  einzelnen  Wörtern  und  Wendungen,  die  in  R  erhalten  sind, 

»)  heizen  mit  dat.  ist  unanstößig,  vgl.  Ztschr.  f.  d.  Phil.  XII,  217.  O.  B. 


ZUR  ALEXIUSLEGENDE.    II.  169 

während  sie  in  A  oder  V,  oder  in  beiden  durch  jüngere,  den   Schrei- 
bern geläufigere  ersetzt  wurden,  führe  ich  folgende  an  : 
V.  46:  daz  icart  also  vletic  synt    gegen 
A  Daz  wart  en  also  lohelich  sind    und 
V  Daz  wart  in  gegeben  sint. 
V.  89:  ze  bette  quam  mit  A  gegen  für  daz  bette  in  V. 
V.   127.  128:  nu  enicl  ich  nytn'me  gedagen 
ichen  welle  schrien  vü  clagen. 
V  und  A  haben  in  v.  128  den  nicht  verneinten  ind.  wil,  und  man  muß 
zugeben,   daß  derselbe  durchaus  gut  und  richtig  ist.    Indeß  hat  doch 
gerade  die  eigenthüniliche  Construction    in  R   ihren  Reiz,    wennschon 
sie  wohl  zu  den  allerseltensten    gehört.     Kinzel    füiirt    in  seinem  Auf- 
satze:    „Zur  Charakteristik  des  Wolfram'schen  Stils"   Zs.  f.  d.  Ph.  V 
p.  5  ff.    gedagen  zwar  nicht  unter  denjeuigen  Verben    auf,    bei    denen 
Wolfram  antiphasis  liebt,    aber  es  ist  wohl  nicht  schwer,    dieses   ge- 
dagen so  zu  erklären,    daß   die    specielle   Beziehung,    welche  ein  ver- 
miden,  verbern^  vergezzen  u.  s.  w.  hier  auf  das  Reden  hat,  durch  gedagen 
ausgedrückt  ward.     Daß  unserm  Dichter  die  antiphasis  durchaus  ge- 
läufig war,  geht  besonders  aus  v.  294.  295  hervor: 
sin  'phlegeman  des  niht  vergaz 
er  enbrcehte  im  sine  phründe  dar, 
wo  freilich  auch  wieder  nur  R  den  negierten  conj.  bietet  gegen  A  und  V. 
V.  131  :  des  morgen^  do  der  tag  uf  brach  gegen  anbrach  in  A  und  V. 
V.   159:    den  lichtenlozen  syn  rotes  golt  gegen  blinden  in  A  und  V. 
V.   170:  her  volgete  syn  seiden  strazen\  V  liest  auch  ganz  gut  Vnt 
volgete  einer  tiuren  sirazPM,    aber  R   ist  unvergleichlich  besser.     A  hat 
die  Stelle  ganz  verwässert:    Er  volgete  syuer  straßen. 

V.  208:  do  rief  eyn  bilde  Inf  styme  gegen  V  mit  lawler  styiJie,  A 
hat  wieder  geändert. 

V.  268:  do  begonde  er  loeyn  sa  czuhant  gegen  V  und  A.  In  den 
folgenden  sechs  Stellen  bietet  R  mit  V,  also  y,  gegen  A  das  Richtige : 
V.  72:  holte,  v.  204:  ruogte,  v.  276:  aenic,  v.  290:  leides  vil,  v.  341: 
karfritage,   v.  468:  icie! 

Wir  haben  demnach  als  Grundsätze  für  die  Gewinnung  eines 
kritischen  Textes  von  B  die  folgenden  erhalten : 

1.  Stimmt  A  mit  einem  Vertreter  von  y,  sei  es  V  oder  R,  über- 
ein, so  ist  diese  gemeinsame  Lesung  anzunehmen  (doch  s.  4.). 

2.  Stehen  sich  die  beiden  Gruppen  y  und  A  gegenüber,  so  ver- 
dient fast  durchgängig  y  den  Vorzug;  die  Annalune  des  Textes  von 
A  in  solchem  Falle  bedarf  besonderer  Begründung  z.  B.  durch  das 
lateinische  53. 


170  MAX  FR.  BLAU 

3.  Liest  jede  der  Hss.  verschieden,  so  ist  in  erster  Linie  auf 
den  Text  von  R  Rücksicht  zu  nehmen. 

4.  Die  Übereinstimmung  von  V  und  A  beweist  noch  nichts  gegen 
R,  wenn  es  sich  um  in  jenen  beiden  vorliegende  Modernisierungen  des 
Ausdruckes  u.  dergl.  handelt. 

5.  Alle  vv.  in  V  sind  echt;  R  zeigt  einige  unbrauchbare  Reim- 
versuche eines  Schreibers  im  letzten  Drittel  des  Gedichtes  und  A  ein 
paar  leicht  erkennbare  Interpolationen. 

6.  In  allen  Fällen,  wo  y  nur  durch  V  vertreten  wird,  ist  zuerst 
mit  der  Lesung  von  V  ein  Versuch  zu  machen:  oft  bietet  allerdings 
auch  A  in  einem  solchen  Falle  den  bessern  Text. 

Vergleichen  wir  den  so  gewonnenen  Text  mit  dem  bei  M  gebo- 
tenen, so  fällt  die  außerordentlich  starke  Zahl  viermal  gehobener 
klingender  Reimpaare  auf.  Maßmann  ging  von  der  Meinung  aus,  daß 
die  beiden  in  der  Darstellung  der  lateinischen  Redaction  51  folgenden 
deutschen  Gedichte  A  und  B  in  der  ungefähren  Zeitfolge  vor  die- 
jenigen zu  stellen  seien,  die  den  Text  der  lateinischen  Redaction  S 
bieten  (vgl.  a    a.  0.  p.   1). 

Ich  muß  es  mir  versagen,  an  dieser  Stelle  den  Nachweis  zu  ver- 
suchen, daß  das  deutsche  A  mit  seinen  vocalisch  unreinen  Reimen 
(besonders  zwischen  langem  und  kurzem  Vocal  im  klingenden  Reime), 
mit  seinen  starken  Apokopen,  mit  seiner  großen  Anzahl  viermal  ge- 
hobener klingender  Verse  wohl  schwerlich  dem  12.  Jahrhundert  an- 
gehört, sondern  eher  der  zweiten  Hälfte  des  13.  zuzuweisen  ist: 
jedenfalls  aber  kann  man,  auch  ohne  diesen  Beweis  erbracht  zu  haben, 
behaupten,  daß  Maßmann  sich  von  seiner  einmal  vorgefaßten  Ansicht 
auch  bei  der  Construction  des  Textes  von  B  hat  leiten  lassen.  Da- 
her erklärt  sich  die  unbedingte  Scheu  vor  dem  viermal  gehobenen 
Verse  mit  klingendem  Ausgange,  den  ihm  seine  Wiener  Hs.  oft  genug 
nahe  legte:  ß  sollte  möglichst  den  Stempel  des  Alterthümlichen  oder 
doch  des  Nichtjungen  erhalten. 

Wenn  wir  ohne  Voreingenommenheit  jeder  Art  an  die  Gewinnung 
des  Textes  gehen,  zeigt  sich,  daß  ungefähr  ein  Fünftel  aller  Reimpaare 
bei  vier  Hebungen  den  von  Maßmann  verpönten  ^)  klingenden  Aus- 
gang haben;  hingegen  sind  für  den  dreimal  gehobenen  Vers  mit  klin- 
gendem Ausgange  nur  sehr  wenige  sichere  Beispiele  zu  erbringen, 
nämlich  nur  vv.  163/164.    177/178.    219/220.    251/252.    427.    479/480. 


')  Schon  Franke   hat  in  seiner  Arbeit   (p.  18  und   19)   auf  die  von  M.  gewagte 
Vergewaltigung  des  Textes  hingewiesen. 


ZUR  ALEXIURLEGENDE.    II.  171 

Die  Reime  des  Gedichtes  sind  verhältnißmäßig  rein:  einzig  auf- 
fallend ist  wirklich  nur  13/14  geviel  :  enthielt  —  denn  vv.  14.  15,  die 
beide  nur  in  V  und  A  und  nur  in  mangelhafter  Gestalt  überliefert 
sind,  können  doch  allein  einen  Sinn  geben,  wenn  wir  mit  antiphasis 
lesen:  ouch  pßac  er  daz  er  sich  ni/tt  entliiel{t) 

erne  machte  die  armen  dicke  fro  — . 
Da  nun  Abfall  des  auslautenden  t  im  md.  beliebt  ist  (vgl.  Weinhold 
Mhd.  Gr.**  §  200  —  p.  194  zwei  Beispiele  dafür  nach  l  — ),  so  ist  uns 
bereits  ein  Anhalt  für  den  Dialekt  des  Dichters  gegeben  ').  Md.  ist 
auch  das  zweimal  im  Reime  auf  gezogen  belegte  gepflogen  (v.  73/74  und 
V.  363/364)  leichter  zu  erklären.  Denn  die  Analogieform  gepflogen  ^) 
ist  entschieden  in  Mitteldeutschland  früher  und  öfter  nachweisbar  als 
in  Oberdeutschland  (vgl.  Weinhold  a.  a.  0.  §  348);  das  mhd.  Wb.  bietet 
freilich  nur  drei  o  b  d.  Beispiele  dafür. 

Aus  md.  Dialekt  erhalten  auch  die  Reime  gehet  :  anetrit  201/202 
und  gcbete  :  anetrite  217/218  ihre  Berechtigung,  anetrit  stm.  Tritt,  Stufe, 
Schemel  ist  im  Mhd.  Wb.  als  in  Ehingen  belegt  angegeben,  bei  anetret 
stehen  unsere  beiden  Stellen:  wir  haben  hier  den  im  md.  so  häufigen 
Wechsel  zwischen  e  und  i  anzunehmen. 

Die  Reime  gen  :ßcn  83/84^),  gän  :  emphän  57/58,  stän  :  emphän 
239/240,  empha  :'dä  187/188,  {al)dä  :  na  229/230,  315/316  und  513/514 
sprechen  sicherlich  nicht  gegen  einen  md.  Verfasser,  in  dessen  Dialekt 
solche  Contractionen  viel  häufiger  waren,  als  im  obd.  Aus  dem  Vers- 
innern  führe  ich  noch  an:  79.  trCde  für  trüiveie,  303.  spUen  für  sphten, 
489.  bün  für  büwen;  diese  drei  contrahierten  Formen  sind  wir  durch 
den  Rhythmus  gezwungen  anzusetzen.  Ebenso  sind  die  Bindungen 
stiUe  :  loillen  95/96  und  263/264  und  ende  :  henden  453/454  bei  einem 
md.  Dichter  eher  zu  vermuthen,  als  bei  einem  obd.,  freilich  könnte 
henden  (für  hende)  454  erst  vom  Schreiber  stammen. 

Von  sonstigen  Reimen  ist  noch  bemerkenswerth :  gap:  ap  167/168, 
ferner  ruht  :  gesieht  69/70,  man  :  hdn  269/270,  an  :  Eufemiän  279/280, 
Lateran  :  man  347/348,  aus  denen  allen  sich  nichts  Weiteres  schlie- 
ßen läßt. 

Der  Reim  herren  :  eren  31/32  ist  md.  durchaus  ohne  Anstoß, 
freilich  begegnet  er  auch  im  obd. 


*)  Ein  hiel  für  hielt  scheint  mir  äußerst  zweifelhaft,  so  lange  nicht  andere  als 
Eeimbelege  vorliegen.     O.  B. 

')  Sollte  dies  nicht  die  alte  lautgesetzliche  Form  sein?     O.  B. 

'j  Aus  dem  Schlußgebet  ist  noch  nachzutragen,  v.  617/518:  erg&n'.fl^  mit  R, 
während  A  ^e#cAen  :  fltn  bietet.  V  hat,  wie  wir  sehen  werden,  ein  anderes  Schlußgebet. 


172  MAX  FR.  BLAU 

Die  Form  duo  für  do,  im  Reime  auf  zuo  (231/232.  261/262. 
287/288)  ist  md.  ebenfalls  beliebt  (vgl.  Weinhold  a.  a.  O.  §  139). 
vv.  335/336  sind  wohl  am  besten  mit  Apokope  zu  reimen  nach  V, 
denn  intervocalisch  reimen  s  und  z  im  md.  nicht,  also  spts  :  fltz. 

Zum  Schlüsse  führe  ich  aus  dem  Gedichte  selbst  noch  eine  Reihe 
von  Ausdrücken  an,  die  entweder  speciell  md.,  oder  doch  md.  häufiger 
als  obd.,  für  den  md.  Ursprung  des  Gedichtes  sprechen,  das  uns  ja 
auch  nur  in  drei  md.  Hss.  überliefert  ist. 

V.  70.  frlete.  nach  dem  Mhd.  Wb.  nur  in  md.  Denkmälern  be- 
legt, ebenso  nach  den  im  Lexer  gegebenen  Stellen,  vgl.  auch  DWB 
IV,  I  105. 

V.  79.  trüte;  die  für  dieses  Wort  ')  im  Mhd.  Wb.  gegebenen 
Beispiele  stammen  aus  dem  md.  Passional  und  Hermann  v.  Fritslar; 
der  Beleg  aus  M.  S.  H.  3,  75''  beweist  nichts  für  obd.  Gebrauch,  denn 
die  das  Wort  bietende  Strophe  nr.  38  ist  als  Randschrift  bezeichnet, 
und  Zingerle  spricht  in  seiner  Ausgabe  des  Friedrich  von  Sonnenburc 
dem  Dichter  auch  diese  —  nur  in  der  Jenaer  Hs.  überlieferte  — 
Strophe  ab. 

V.   129.  anderioeide  (vgl.  z.  B.  Weinhold  a.  a.  0.  §  339). 

V.  499.  erkreic. 

v.  502.  giioter  im  Reime,  also  durchaus  gesichert,  st.  Form  des 
masc.  für  das  ntr.  (vgl.  dazu  z.  B.  Das  hohe  lied  des  Brun  v.  Schone- 
beck von  Arwed  Fischer  (Germanist.  Abhandl.  v.  K.  Weinhold  VI) 
p.  41).    [Vgl.  Literaturblatt  1877,  Sp.  7.     O.  B] 

Aus  allem  Angeführten  ergibt  sich  wohl  so  viel,  daß  wir  das 
Gedicht  mit  Recht  in  das  Gebiet  des  Md.  weisen  werden;  eine  ge- 
nauere Localisierung  ist  nicht  möglich,  ebensowenig  wie  eine  genauere 
Datierung.  Jedenfalls  dürfte  der  Dialekt  des  Verfassers  dem  ost- 
fränkischen nicht  zu  ferne  gestanden  haben.  (?  0.  B.)  Unmöglich 
freilich  ist  es  auch  nicht,  daß  wir  ihn  mehr  nach  Norden,  unter  den 
Einfluß  niederdeutscher  Sprachgesetze,  zu  verlegen  haben.  Ich  verweise 
auf  die  interessanten  Formen  in  R:  70.  siecht  für  gesieht.  217.  bete 
für  gehete  (auch  344.  schach  für  geschach) ,  durch  die  allerdings  der 
Versbau  an  den  betreffenden  Stellen  bedeutend  gewinnt,  und  nach 
deren  Analogie  man  dann  etwa  auch  in  73.  pflogen  für  gepflogen.  201. 
bei  für  gehet.  359.  bot  für  gebot.  380.  staü  für  gestalt  zu  setzen  ver- 
sucht sein  könnte,  um  die  Überlastung  der  letzten  Senkung  zu  ver- 
meiden. \bit  306  ist  wohl  =  bit  d.  h.  biret,  weist  also  auf  das  Nd. 
0.  B.] 

')  In  der  Bedeutung  „ehelich  zusammenleben". 


ZUR  ALEXIUSLEGENDE.    II.  173 

Gleich  im  Anschlüsse  hieran  bemerke  ich,  daß  der  Rhythmus 
sonst  im  Allgemeinen  ein  glatter  ist.  Ausfall  der  Senkung  begegnet 
noch  öfter  (vgl.  9.  stdm.  34.  trüren.  55,  199.  jär  quam.  63.  geistliche. 
65.  zwtinzigest  jär  trat.  138.  Alexius  neic  üut  gie  ddn.  158.  krütuhen. 
346.  ein  ander.    348.  heiligen  u.  s.  w.). 

Synkope  findet  sich  in  den  gewöhnlicheren  Formen  gar  nicht 
selten,  so  z.B.  fällt  das  e  der  Vorsatzsilbe  ge-  und  he-  vor  n,  »n,  l,  w 
häufig  aus  (vgl.  23.  gnuoc.  54.  80.  gnant.  105.  gnesen.  145.  gioar. 
157.  ywant.  352.  gmeine.  395.  hlihen  u.  s.  w.  Auch  in  Flexionssilben 
finden  wir  bei  Nachbarschaft  von  n,  r  Synkope  des  e  vgl.  8.  16.  29. 
icärii.  180.  sinn.  265.  inhin.  411.  mms.  496.  mert.  Vgl.  auch  79.  377. 
443.  hobst.  258.  phennings.  306,  kriucht.  352.  fragten.  355.  ^r/^/i'. 
380.  endlich  u.  s.  w. 

Apokope    begegnet    in  den  Formen    wie    207.   zittert.    215.    350. 
tvundert.    342.  minnert.    Ferner  in  stm  173.    217.    379.    eim   341.    und 
in  der  adv.-Endung  Uche:  418.  bermltch.    505.  stcetecUch.  520.  kluocUch. 
Für  Überfüllung  der  Senkung  sind  die  schwersten  Fälle 
195.  järe  ze  järe, 
198.   quceme  ze  güote. 
wo  man  auch  an  Apokope  denken  könnte,  ferner  die  oben  erwähnten 
Fälle  (v.  70  u.  s.  w.),   dann  etwa 

2.  wUen  ein  herre  ze  R.     25.  dz  mit  den  ersten. 
108.  kinsche  hiz  an.     (unz  begegnet  nie  im  Gedichte,    deshalb  ist 
auch  wohl  hier  die  naheliegende  Besserung  nicht  gestattet.) 

176.  quämen  (He  knehte.  188  liezen  in  da.  201.  kirchen  an  shi. 
216.  sliezen  hegdn.  271.  ere  so  iz.  274.  vergizzestxi  diner.  276.  Idnge 
sol  ich  (vgl.  442).  286.  dntlitzes  hilde  (wo  vielleicht  auch  sin  im  Verse 
zu  streichen  ist).  291.  treppen  hegünde.  303.  xif  in  mit  spieten.  323. 
sterhen  am  dritten.  353.  möhte  gesm.  375.  kiinde  mit  allen.  508.  viere 
ze  himel.    514.  lihe  die  sele. 

Man  sieht,  die  meisten  dieser  Fälle,  die  ich  vollzählig  gegeben 
habe,  sind  durch  die  Annahme  von  leichten  Synkopen  u.  dergl.  ohne 
Mühe  zu  entfernen  [aber  unnöthig.    O.  B.] 

Über  den  viermal  gehobenen  Vers  mit  klingendem  Ausgange 
habe  ich  bereits  oben  gehandelt:  Beispiele  finden  sich  so  zahlreich, 
daß   es  nicht  lohnt,  einzelne  aufzuführen. 

Ebenso  macht  der  Dichter  ausgiebigen  Gebrauch  vom  zwei- 
silbigen Auftacte,  der  einige  Dutzendmal  begegnet,  ich  verweise  auf 
Fälle,   wie  v.  65.  199:   do  er  anz.   85.  92.  102.  108.   163.   178.  u.  s.  w. 

GERMANIA.     Neue  Reihe  XXII.  (XXXIV.)  Jahrg.  12 


174  MAX  FR.  BLAU 

Zum  nachstehenden  Texte  habe  ich  zu  bemerken,  daß  ich  in 
den  Lesarten  selbstverständlich  nicht  alle  orthographischen  Abwei- 
chungen der  Handschriften  gegeben  habe.  Im  Übrigen  ist  bei  der 
späten  Entstehung  der  Hss.  nicht  zu  verwundern,  daß  in  der  Flexion 
durchaus  nhd.  Formen  herrschen,  auch  in  R,  das  freilich  sonst  noch 
einiges  Altere  erhalten  hat,  z.  B.  v.  99  swaz,  ferner  einige  Male  da^ 
während  in  V  und  A  do  und  da  ungeschieden  als  do  geht. 

Im  letzten  Drittel  habe  ich  mich  zu  einigen  Anmerkungen  ver- 
anlaßt gesehen,  da  die  betreflfenden  Stellen  im  zweiten  Theile  meiner 
Arbeit  —  um  ihn  nicht  zu  breit  werden  zu  lassen  —  keine  Bespre- 
chung finden  konnten. 

Über  die  Beibehaltung  des  auslautenden  e  (vgl.  3/4.  29/30.  71/72. 
209/210.  227/228.  311/312.  329/330.  351/352.  389/392.  418/414.  449/ 
450.  461/462)  ließe  sich  vielleicht  streiten,  zumal  ich  v.  335/336  spis : 
fliz  (dat.)  angesetzt  habe  und  auch  101.  102  relit  (adv.)  :  hneht  steht 
(69.  70  könnte  man  ebenso  gut  rehie  :  geslehte,  wie  reJd  :  gesieht  lesen) ; 
indeß  glaube  ich,  würde  die  Streichung  des  auslautenden  e  nach  langer 
Silbe  dem  Gedichte  einen  so  jugendlichen  Anstrich  geben,  wie  er  ihm 
nach  allem  Übrigen  (vgl.  nur  die  nicht  geringe  Zahl  der  Fälle,  wo 
wir  Ausfall  der  Senkung  feststellten)  nicht  zukommt-,  und  ich  habe 
deshalb  mich  nicht  zur  Streichung  des  e,  das  in  den  Hss.  bald  er- 
halten ist,  bald  nicht,  entschließen  können. 

Über  die  Hss.  selbst  ist  noch  nachzutragen,  daß  die  einzelnen 
Versanfänge  in  allen  durch  große  Buchstaben  hervorgehoben  werden. 

In   eime  buoche  man  uns   las,  al  ir  gewant  was   sidin, 

daz     wilen     ein     herre    ze    Rome  10   er  tete  in  lön  mit  triuwen   schin. 

was,  da  bi  hete   er  solhe  tugent, 

gewaltec  unde   vollen  riebe,  daz  sin  alter  unt  sin  jugent 

er  lebete   scböne  unt  tugentlicbe.  den  gerehten   wol   geviel. 

5   driu   tiisent  dienten  ime  für  ouch  pflae  er  daz  er  aich  nibt  ent 

nach  sines  berzen  willekür,  biel(t), 

swaz  er  si  biez   unt  gebot.  15   Qvne  macbte  die   armen  dicke  frö : 
ir  gürtel  warn  von  golde  rot,  dri   tiscbe  warn  gesazt  also, 

Überscbrift :   f  V,.    daz  buch   von  sinte  AUexio  B^   de  sancto  AUexio  A. 
1    icb    daz    laß    A.  2    [wilen]    A.        d.  by  vor    czu    rome   ey  b.   w.   F. 

3    [vollen]   AV .  4   des    lebins    seh.   V.        [scböne    unt]    toguntlicben   A. 

5   man   dinten  yn  v.    V.      man   di  R.      dry  hundert  A.  7    en  gebot  F. 

8  w.  en  vor  g.  F.  9  w.  edil  vnd  s.  F.  10  1.  vnd  bulffe  scb.  A.  do 
worn  sy  gepreyset  eyn  F.  11 — 26  f.  B.  13  d.  g.  lüten  A.  14  ouch 
pbag    b*   das    das    h^    nicbt    bil   F.        o.  tat    er    [sieb]  A.  15    [ne]   VA. 

16  beleyt  A. 


ZUR  ALEXIUSLEGENDE.    II. 


175 


daz    man  die  spise   muose  reisen, 

(mit  M) 

der  ein  der  diente  den  armen  weisen, 

der  ander  den  witewen,  als  er  hiez, 

20   der  dritte  des  rehten  niht  enliez : 
dar  sazte  er  pilgerin  unt  geste. 
swenne   der  herre  daz  wol  weste, 
daz   sie  heten   alle   gnuoc, 
so  gienc   er  hin  äne   allen  fuoc 

25   unde   az    mit    dem  ersten,    den    er 

vant : 
dar  was   sin  diemuot  gewant. 
Eufemiän  hiez  er  mit  dem  namen, 
Aglais  sin  wip  mit  grözen  schämen, 
geistlicher  liebe  warn   si  riche, 

30  sie  lebeten  beide  tugentliche. 
sin  hof  stuont  mit  grözen  eren, 
iedoch  gebrach  dem  selben  herren 
eines  Schatzes,   des  er  leit  gewan. 
wie  dicke  er  trüren  began 

3.5   unt  sin  schcene  frouwe  angespart, 
daz   ein  kindlin  in  niht  wart! 
des    bete   er  dicke    swaeren    muot. 
er  sprach :  ..waz  sol  mir  al  min  guot, 


Silber,   golt  unt  richiu   wät, 

40   sint   unser  ger  nilit  enhät 

eines  erben,  der  daz  guot  besitze." 
des  trüreten  alle  sine  witze 
unt  siner  frouwen  euch  alsam. 
sie  bäten   dicke,    als   in  wol  zam, 

45   daz  in  got  bescherte   ein  kint; 
daz  wart  in   also   vlretec   sint. 
daz  si  liebe  unt  leide  an  im  sähen, 
dö   die   ammen   des  verjähen, 
daz   daz  kindlin  wart  geborn, 

50   do  zegienc  sin  trüren  unt  sin  zorn 
unt  siner  frouwen  ouch   also : 
ir  beider  herze   daz  wart  fro. 
er  liez  ez  toufen   alzehant, 
Alexius   wart  sin  name  gnant. 

55   do   er  in  daz   sehste   iär  quam, 
daz  im  diu  lere  wol  anzam, 
er  liez  in  zuo   der  schuole  gän. 
dö  begunde  er  an  sin  herze  emphän 
so  grözen  sin   al  ungespart, 

60  daz  er  der  schrift  so  wise  wart, 
daz  er  die  werlt  begunde  hazzen 
unt  solhe  liebe  zuo  im  vazzen, 


17   setczin  V.      neysen  A.        18   dem  a.  weysze  V.      eyne  [der]  A. 

21  dorob^  satczte  her  dy  pilgerä  v.  g.  V.      der  erste  der  p.  v.  der  g,  A. 

22  wenn  denn  das   d.  b.  wüste  A.     23   alle  hatten  A.  24  gefug  F,    für 
diesen  Vers  liest  A :   daz  man  weder  von   en   trug    |    er  ging   hen  alz  er  wol 
woste   I   noch    alle    syme  luste.          25   d.  all*   e.  V.     den    ermesten    dy  A. 
26    dorczu  w.   em   s.   mut  §■  A.       '21   fennan   V,      femian  li.      by  d.  n.  A. 
28  Agles  V.     Aglas  A.     Agalest  s.  w.  genamen  R.     31 — 36   f.  Ä.      32  ydoch 
zo  g.   d,  selbigy  h.   V.         33   syns  seh.  daz  A.         34  vil  d.  A.         35   [unt] 
....  al  ungesp.   F.          36   daz    in  nie    kein    kint    w.   V.  37   [hete]  li. 
hatten  sy  A.       37.   38  in  R  timgestcUt.       38   [al  min]  li.     m.  groz  g.  A. 
39    s.   unt  g.   u.   r.   war  F.      40   sint  daz  R.      sit  daz  er  vnser  nichten  h.  F. 
sint  mir  got  nicht  gefiiget  \x.  A.      41    eyn  erbe  72.     ein  e.  d.  d.   riche  b.  F. 
eynen   e.   d.   min  g.  b.  A.          42   witczin  F.      trüren  mir  alle  myne  w.  A. 
43   min  fr.  A.      [ouch]  F.      44   baten  beide  als  F.     als  dicke  boten  als  R. 
geczam  A.         46   [in]  R.      in  gegeben  s.   F.     also  lobelich   s.  A.         47   leit 
vh  lib  R.         48   daz  v.  F.     das  vernamen  A.         49   do  daz  AV.        50  daz 
vorging  s.  tr.  unde  z.   F.       51   rehte  also   F.       52   herze  warn  A.      53   tew- 
fin?  F  {nach  JSI).        hyß    touflfen    den    son    zcuh.  A.      54   w.  her  gen.  R. 
was  VA.     Allexius  alle  drei  Ess.,  und  so  immer.     55  an  daz  A.      57  zcur 
seh.  R.     do  liez   ern  F.           58  in  sin  h.   F.     begondee  an  R.      so  begunde 
a.n  A.      59  gross  synnö  F.     syn  so  ung.  .4.      60   daz  is  JB.      61   czuh.F^. 
daz  is  gegunde  di  w^lt  h.  R.          62   [unt]   al  sulche  R.       1.  ym  czu  f.   F. 
an  sich  v.  A, 

12* 


176 


MAX  FR.  BLÄ.U 


die  man   heizet  geistliche  minne. 
got  gap  im  solhe   sinne. 

65  Do  er  anz  zweinzigest  jär  trat, 
sin  vater  in  mit  Worten  bat: 
„sun,   du  seit  ein  megetin  nemen, 
diu   dir  künne  wol   anzemen 
unt  dir  an  eren  füege  reht''. 

70  do  friete  er  im  ein  keisers  ge- 
sieht, 
schoene,  züchtec  unde  riche, 
unt  holte  si  im  tugentliche, 
daz  groezer  fröude  nie  wart  ge- 
pflogen, 
Alexius  was  also  gezogen, 

75   er  wolde  den  vater  niht  betrüeben 
noch   sinen  willen  an   im   üeben. 
er  liez  sie   dö   zesamene   geben, 
daz  sich  fröute  ir  beider  leben, 
sie  trüte  ein  bäbst  mit  siner  hant, 
Innocentius   was   er  gnant. 
dö   diu  naht  den  tac   verstiez, 
der  herre  sinen   sun  hiez: 
„Alexi,  du  solt  släfen  gen, 
du  solt  triuten   unde  flen 
dine  brüt,   daz   ez  ir  wol  behage, 
daz  gibet  iu  fröude  äne  clage. 


80 


85 


dis   ist  zit  an   dirre   stunt." 
er  ensträfte  niht  des  vater  munt. 
do   er  mit  ir  ze  bette  quam, 
90   als   in  beiden  wol  gezam, 
unt  bi  ir  aleine   saz, 
sine  lere  er  mit  dem  munde  maz : 
er  sprach  :  „vil  liebiu  frouwe  min, 
wilt  du   also  mit  mir  sin, 
95   daz  du  tuost  al  minen   willen? 
si  sprach    Ja"    sunder  stille: 
„herre,   swaz   so   dir  behaget, 
ich  bin  din  frouwe  unt  din  maget. 
ich   sol   dir  undertaenic  sin, 

100  daz  gebietent  mir  die  sinne  min." 
Alexius  sprach  :  ,.sö  redest  du  reht, 
ja  bin  ich  din  herre  unt  din  kneht. 
frouwe,  ich  bitte  dich  niht  me, 
wan   alles,   daz  dir  wol  anste, 

105  daz  lip  unt  sele  müeze  gnesen." 
si  sprach  :  „daz  müeze  uns  künftec 
Wesen." 
„so  hoere,  liebiu  frouwe  min, 
du  solt  kiusche  biz  an  din  ende  sin, 
denselben  orden  wil  ich  tragen." 

110   daz    begunde    der    frouwen    wol 

behagen. 


63   d.   m.    nu    heiseit    g.    libe  V.        daz  m.  A.  64   al    sulche  R. 

synnen  V.        gap   ich  em  A.  65   daz   er  A.  67   mayt  T^.        wyb  A, 

68   kume  R.      dir  wol  kan  an   cz.  V.      dir  wol   mag  gecz.  A.      69   fuget  A. 
LR.        70  eynes  k.   siecht  R.      des  k.   V.      er  vreyte  em  A.        71    dy  was 
seh.  A.  72   er  holte  im   si   t.   V.       dy  gap  man  ym  gar  t.  A.  73   ge- 

bort F.      groze  R.        74   so  ^.         75   seynen  v.    F.      f.  R.         76   noch  keyn 
em  s.  w.  üb.  A.     {.  R.  77   do   liez   er  si  z.   F.      dazcus.  R.      [dö]  A. 

78   [ir]  R.     so  daz  F.         81   also   F.     vorlyß  A.         82   do  her  syn  s.  R. 
seyns  sune  F.  81.   82  in  A  umgestellt.  83   Allexius  VA.         84   vnd 

du  .4.        85   [ez]  F.      br.   das  ir  b.  A.      din  V  R.        86   daz    is   uch   vr.   sund'' 
cl.  R.      87   daz  A.     das  ist  nu  z.  an  der  st.  F.       88   [en-]  VA.      syns  A. 
89  für  daz  b.   F.         90  anzam   F.     Dahinter  in  R  nochmals:  vn  yn  beide 
wol  ge.      91   unt  er  b.  F,     al.   do  was  A.      92   die  1.  F.     sin  1.  R.       94  by 
mir  R.      95   den  w.   mey  F.     alle  m.   w.  A.     [al]  R.      96   [ja]   s.  stillen  R. 
alsunder  F.         97   hVe  wy  so    ys  d.  behayt  F.     swaz  ....  behalt  R.     herre 
was  uch  b.  A.        98  di  vr.  v.  d.  mait  R.        99.   100  f.    R.        99  wil  A. 
100    gernenoch    dem    willen    dyn  A.  101   nv  redistu   F.     spr.    du    redest 

r.  A.       102   so  bin  R.     ich  b.   d.  h.  u.    ouch  d.  k.  A.       103  ich  b.  d.  frawe 
n.  m.   A.       104   [wan]  R,  wan  waz  F.        105—118  i.R.        105    [müeze]  F. 
106   muoz  unsczukünftec  sey   F.     kundig  A.        107,  '108  f.   F,        108   etwa 
unz  für  biz  su  setzen?     109  selbigin  F,      110   fr.   czu  b.   F. 


ZUR  ALEXIUSLEGENDE.    II. 


177 


si  sprach  ze  ime  al  überlut: 
„min   sele  werde  gotes   briit 
unt  din  alsam,   als  wir  verschei- 
den." 
daz  wart  gelobet  von  in  beiden. 

115  daz  gelobete  ir  beider  inunt  also, 
daz  brähte  in  sorge  uut  fröude  dö. 
er  nam'z  vingerlin  von  siner  hant 
unt  gap  ez  der  juncfroun  alzehant. 
er  sprach  :  „vil  liebiu  frouwe  min, 

120   so   nim   daz  güldin  vingerlin, 

wan  ich   morgen   von  dir  scheide, 
ez   si   mit  liebe   oder  mit  leide; 
kume    ich    niemer  zuo   dir  sider, 
so  gip  mir'z  in  dem  himel  wider." 

1  25   si  sprach  „gerne"  und  weinte  sere, 
als   ir  gap   ir  herzen  lere: 
„nu  enwil  ich  niemer  me  gedagen, 
ich  enwelle   schrien  unde  klagen, 
biz  ich   dich    anderweide  ersehe 

130   oder  dinen  tot  genzliche  erspehe. " 
des  morgens  dö  der  tac  üf  brach, 
daz  alte  reht  aldä  geschach: 
man  begienc  mit  in  der  briute  siten, 
man  begunde  alt  unt  junge  biten. 


135   Dö   sie  getrunken   unde  gäzcn 
unde   alle   in  fröuden   säzen, 
beidin   frouwen   unde   man, 
Alexius   neic  unt  gie   dan, 
daz   des   nieman  wart  gewar, 

140   wan   sin   liep   aleine  gar 

in   sines   herzen   grozer  not. 
Silber  unde  ouch  golt  rot 
nam   er  vil  ze  siner  zer. 
er  ilte  balde  üf  daz  mer, 

145    daz  sin  der  vater  iht  wurde  gwar. 
[als  er  nu   quam   an  daz  var], 
(nach  31) 
ze  eime  schiffe  er  da  stiez, 
daz  in  beliben  niht  enliez: 
ez  truoe  in  in  ein  ander  laut, 

150   darinne   er  niemen   was  bekant, 
fürbaz  in  einen  grözen  port. 
daz  was   sin  wille  unt  sin  wort, 
dö   sach   er  eine  gröze   stat, 
da  er  sint  daz  almuosen  bat, 

155   unt  mitten  dinne  ein  münster  sten, 
dar  quam  er  für  die  tür  gen. 
er  gap  sin  gwant  der  armen  diet, 
daz  Silber  den  krumben  beschiet, 


en]   .  .  .    [mc]    yl. 
anderweit  s.  A. 
do   des  m.  A. 
brut  R.       134   das 


111   vnd  spr.  weder  en  obirlut  A.      112   trut  A.      113   wenn  w.  A. 

115.  116  in  A  umgestellt.         115  es  g aldo  A.      [ir]  V.         116  fr. 

u.  surge  nv  F.      so  A.         117.   118   f.  A.         119   [vil]  Ä.         120   [so]   V. 

[so]    nim    hen  A.  121    wen    ich   v.   d.    scheide    morne   V.  122   übe  vn 

mit  ß.      123   ich   czu   dir  niht   sedir  V.      ich   nicht  zcu  A.       125   vil   z*e  V. 

126    also  V.      ires  R.      eres  V.     irs  A.  127    [me]   V. 

128   ich   wil  V.      ich    wil   weynen  A.      129   andirwit  s.  V. 

130   vnt  V.        genczlichen   spee  A.  131    anbrach    VA 

132   alda  reht  ß.      do  A.      133   begunde  F.      de"  brutal. 

junge  vnd  aide  F.     jung  v.  ald  A.     zuo  b.  in  allen  drei  ITss.,   tvohl  Fehler 

in  X.        135 — 137   f.   R.        135   aßen  A.        138  n.  syn*  br.  gynk  dan  R. 

n.   seyn*   liben   brawt  |  vnd   schit  von   dan   V.      do   ging  sjne  iunge  brut  an  | 

das  sy  vil  heiß  weynen  began  yl.      139   gewan  R.      das  das  V.      140  üb  RA. 

wenne   seyne  übe  fraw   dar  F.      141  — 145   f.  A.      141  — 150   f.  R.      141    vnt 

s.  h.  grosse  n.  F.      1  45  ich  worde  F.     146  f.  in  allen  drei  Hss.      147  lyff  A. 

148   nichtö  hys  F.      en  do  nicht  bl.   1.  yl.      150   do  ynne  bek?   (nach  M)  V. 

151    vort  alle  drei  Hss.        vnt  fürbaz   V.       her  gync 

R.       unde   wort   F.  153   guote   st.    F.         154   do   synt 

A  155    [unt]    F.       dorinne  A.       stet    V.       da  vant  er 

stan  :  gan   in   A.       do   alle  drei  Hss,         157    den 


do   er  nymande  A. 
in  R.         152    [was] 
er  R.       dorynne   er   yl 
ynne   R.         156   türe   F. 


armen   F.       s.   gew.   gap   er  den   a.   d.   A. 
h'  d.   kr.   F. 


158    [er]   d.   kr.   gi't  R.       teilt. 


178 


MAX  FR.  BLAU 


den  liehtelösen'z  rote  golt: 

160   alsus  verzerte  er  sinen   solt 
unde   er  von   der  richeit  liez. 
in  einen  hader  er  sich  stiez, 
der  was  boese   unt  gar  unguoter. 
do   enweste  vater  noch  muoter 

165  noch  sin  brüt,  war  er  quam, 
da  dürte  er  lenger,  wan  im  zam. 
swaz  man  ime  durch  got  da  gap, 
da  schiet  er  ie  daz  halpteil  ap 
unt  gap'z  den  armen,  die  da 
säzen: 

170   er  volgete  siner  sselde  sträzen. 
Vil  trürec  was  her  Eufemiän, 
er  hiez  üz  riten  unde  gän 
üf  alle   sträzen   nach  sim  kinde. 
unt  sin  muoter  weinte  swinde, 

175   ouch  sin  schoeniu  junge  brüt. 
do  quämen  die  knehte  überlüt 
dar  da  sie  in  funden 
unt  sin  niht  erkennen   künden, 
vor   einer  kirchen,   da  er  saz 

180  unt  sinn  dienst  gegen  gote  maz. 


sie  giengen  für  in  unbekant  (sie  ')> 
er  racte  gegen  in  sine  haut 
unt  bat  im  daz   almuosen  geben, 
dö  lobete  er  sin  selbes   leben: 

185    „ich  lobe  dich,   herre,  durch  den 

sin, 
daz  ich  da  zuo   worden  bin, 
deich  miner  knehte  gäbe  emphä. " 
sie  gäben  im  unt  liezen  in   da 
unt  grififen  an   ein  ander  pfliht, 

190   er  kantes  wol    unt  sie  sin  niht! 
sie  schiften  in  ein  ander  lant, 
da  er  ze  sehenne  wart  genant, 
da  leit  er  tac  unde  naht, 
er  diente  gote   mit  ganzer   mäht 

195  von  järe  ze  järe  manege  zit. 

er  hete  müede  unt  grözen  strit. 
daz  dolte  er  allez  in  dem  muote, 
daz  ez  der  sele  quseme  ze  guote. 
Do  er  anz  sibenzehende  jär  quam, 

200   do   gienc   er  hin,    als  im  gezam, 
für  die  kirchen  an   sin   gebet. 
da  kniete  er  an  der  swelle  antret 


159   sin  r.   g.  RV.        blinden  VA,        bl.  gap  er  daz  A.  160  ver- 

teilte RV.       [er]  E,      also   VA.       s.  reichin  s.   F.  161   reichit  V.       daz 

er  VB.  163   [gar]   V.       vnuuget^  ß.        das    w.    eyne    g.    boze    war  A, 

164  mu  enw.  noch  v.  V.  syn  v.  noch  syn  m.  B.  daz  enw.  weder  v.  n.  m. 
zwar  A.  165  wa  ß.  wo  h^  hy  qw.  V.  wo  er  hen  qu.  A.  166  her  d. 
do  1.  w.  i.  gezcä  B,  ebenso  A,  nur  truerte  für  durete.  f.  V.  167  was 
her  V.       [da]   VA.       daz  man  B.  168  yo   sneid  her  ys  yo  halp  ap   V. 

das  sneyt  er  das  A.  169  gap  den  armen  A.  dy  by  ym  s.  VR.  170  syii 
seiden  B.        unt  v.    einer    tiuren    str.  V.        [saelde]  A.  171   femiän  B. 

fennam  F.     wart  F.     waz  der  vater  E.  A.        172  liez  VA.       174  so  w.  diu 
m.   gar  sw.  F.      ouch  w.   s.  m.   sw.  A.        175 — 178   f.  B.       175   unt  s.  F. 
176   oberlant  A.        sine    kn.    in   VA    ist    vjoJil  Fehler    in    x.  177    [dar] 

do   sy   F.        [dar]   do   hen   do  ^.  178   vnd  en   F.        sy  en   erk.    nicht  en- 

kunden  A.  179  k.  her  do  s.  A.  180  [unt]  sin  d.  key  g.  was  F.  syn 
^.  BA.  l82  [gegen]  F.  reichte  A.  183  czu  g.  F.  daz  sy  em  d.  a. 
gebin^.  184  seynes  F.  syns  J^.  185  — 198  i.B.  185  dur  minen  s.  F. 
herre  ich  lobe  dich  A.  187  [knehte]  A.  daz  ich  VA.  188  sy  gobins 
en  v.  lissen  ys  yn  do  F.  189  yn  für  ein  F.  sy  gr.  ^4.  190  [unt]  sy 
en  nichts.  189.  190  in  A  umgestellt.  191  vnde  ritten^.  192  in  ze 
suochene  was  ben.   F.  193   daz  1.   F.         194  gantz  seyn^  m.  F.         193. 

194  Allexius    dynete   mit  aller  macht    1    vil  manchen  tag  vnd  nacht  in  A, 

195  vil  manche  A.       196   h.   leit  v.   gr.  A.      197   daz  tat  A.      199   sibende 
VB.     yn  das  A.     200   em  wol  g.  A.      201   kirche  A.     202   als  di  sw.  B. 
nedir  an  der  kirche  antrit  F.     vnd  kn.  vor  d.  A. 


ZUR  ALEXIUSLEGENDE.    II. 


179 


von   mitternaht  biz  gegen  tage, 
dö  ruogte  er  siner  Sünden  klage 

205   iint  tete   dem   libe  sere  we, 
dö   quam   ein  regen  unde   sne, 
daz  er  zittert  von  grimme, 
dö   rief  ein  bilde  lüter  stimme: 
„stant  üf,   du  trseger  glockenaäic 

210   unt    ringe     dem    menschen     sine 

swKre, 
der  üzen   üf  der  swelle  liget, 
e  im  die  kelte  angesiget 
unde   da  ersterbe  tot. 
läz   in   hin   in,   es   ist  im   not." 

215   daz  wunderte  sere  den  huoteman, 
die  tür  er  üf  sliezen  began. 
dö  vant  er  in  Ligen  an  sime  gebete 
üf  der  swelle  anetrete. 
er  sprach   im  zuo   mit  ginoze 

220   unt  viel  im   dö  ze  fuoze: 

„wol  her  in,   du   sajlec  man, 
da  dirz  weter  niht  geschaden  kan. 
ein  bilde  hat  für  dich  gebeten." 
dö    begunde    er    in    daz    münster 

treten 


225   ze  Winkel,   da  in  nieman   sach, 
da  er  aber  sin   gezit  sprach, 
daz    merkte  dö   der  gIocken;T)re, 
er  sagete  s  morgens  niuwe  majre, 
ein  heilec   mensche   wicre  aldä. 

230   der  liute  gieugen   im    vil   nä 
unt  truogen   im   also  vil  zuo, 
daz  in  des   verdühte  duo : 
er  sprach  :    ..her  lip,  des  ist  ze  vil, 
des   ich   von   iio  niht  enwil. 

235   man  wil  iuch  füeren  üz  der  mäze." 
er  kerte  üf  eine   ander  sträze, 
üf  daz  mer  al  ungewant ; 
er  wolde  in   Cilicien  lant: 
da  hete  santPaul  ein  münster  stän, 

240   da  wolde  er  sinen  tot  emphän 
unt  sines   endes   da  erbeiten. 
Got  begunde   ez   anders   leiten, 
seht,   daz   mohte  niht  geschehen: 
in  sluoc  ein  wint,  daz  sult  ir  spehen, 

245    daz   er   quam  ze   Röme  wider, 
daz  beweinte   er  harte  sider. 
do  er  wider  gegen  Röme  quam, 
eine  rede  er  ze  munde  nam: 


vor  ra. 
205  er 
das  A. 
ner  A. 
len  F. 
ang.  V 
in  V. 
man  R. 


203.  204   in  A  umgestellt. 
biz  hin  gein  t.   V. 
tet  V.      tat  er  d.  1. 


203   von    der  m.   R.        zcu    dem  A. 
204   sunde   V.        vnd  rurte  s.   sunde  cl.  A. 
so  w.  A.       206    [ein]  RV.      reyn  VA.       207    so 
mit  gr.   V.       208   mit  1.   st.   A.      riff  dy  gotis  st.  ^.        209   kirche- 
210  ring?  V  {nach  31).     lychte  den  m.  ^.        211    duze  .  .  .  swel- 
d.   draußen  vor  der  kirche  lyt  A,  212   kaltheit  7^.        dy  k.   ym 

213   V.   her  erstorbe   t.   V.      v.   eer  denn   erstirbet  t,   A,      214   her 
laz    es   hen,   es  A.      iz   ist  R.         215    [sere]  V.    denselbin  m.  A.      hut- 
21G   czu   süssen  V.      [er]    uf  beslisen  gan  R.      do   er  zcu   slyssen  uf 
began  A.        217    bete  R       do   er  in  vant  an   F.         218   swellen  antrit  F. 
swellen  an  tret  A.      antrete  R.       219 — 246   f.   E.       219    [mit]  A.       220   ai- 
de  F.         221    gang  h.   F.       seliger  VA.         222   daz  dyr  d.   F.         223   eyne 
stymme  A.      224   czu   fr.    F.      225   in   ein   winkel  daz   F.       227    marcte  F. 
offenbarte  d.   kirchener  ^1.      228   markte  F.      e.   s.   den  luten  gute  mere  A. 
229    heiliger  F.  230   do   g.    em   dy  lute    alle   na  A.        (aldo  :)   noe  F. 

231    so  A.       232  das  ys  isz   en  verdrossz  de   F.      [des]  A.       233   daz   F. 
[her]   leib   es  A.       234   daz   ich   von   dir  A.      f.    F.       235   tvoM  Fehler  in  X; 
ich   w.  i.  f.  u.  d.    vnmosze  F.      ich    w.    dich   A.      236   do   körte  her  sich  F. 
sich  A.       237    off  F.        238    cecilian   V.      Cecilien  A.        239   synte  p.    F. 
sente  pawel  A.      241.   242  i.  A.      242    do   begiide  h'   sin   anders   czu   1.  V. 
243  f.   F.      245   d.   der  q.   keyn  R.   w.  A.      246   dicke  A.      247.   248  in  R 
umgestellt.        247   keyn   r.    weder   qu.   A.      daz   e.   w     zu   r.   qu.   R.       24  8   zu 
fyne  nam  R. 


180 


MAX   FR.  BLAU 


herre,    daz   ist  äne  mine  schult, 

250   din  wille  werde  an   mir  erfiilt! 
ich  WEente  also   ersterben, 
deich  niht  endurfte  werben 
ze   Rome  um   keine   spise  me. 
ditz  widerkomen  tuot  mir  we. 

255   sint  ez  niht  anders   mac  gesin, 
so  muoz  ich  suochen  die  phründe 

min 
ze  minem  vater  als   ein  man, 
der  phennings  wert  nie  gewan. 
er  gienc  üf  eine  sträze  sten, 

260   do   quam  sin  vater  für  in  gen. 
er  rief  im   eine   stimme  zuo 
mit  jämerlichen   worten   duo 
offenbare  unt  niht  ze   stille: 
„herre,  gip  mir  durch  Alexi  willen 

265   din  brot  biz  an  minn  lesten  tac." 
der  vater  do  sere  erschrac, 
do   er  den   sun  hete  genant; 
do  begnnde  er  weinen  sä  zehant. 
er     sprach:      „vil     gerne,     lieber 

man, 

270   die     wile     ichz     von     gote     mac 

hän, 


275 


durch   sine   ere   so  iz   min  bröt, 
er  si  lebende    oder   tot. 
Alexi,   min  vil  liebez   trut, 
wie  vergizzest  du  diner jungen  brüt 
des  vater  unt  der  muoter  din ! 
wie  lange  sol  ich  din  senec  sin." 
ditz   clagete   er,   daz   sin   s^^n   an- 
hörte, 
der     im     sin     truren     doch     niht 

störte, 
da  muget  ir  wunder  prüeven  an, 
daz   der  herre   Eufemiän 
sines  kindes   niht  erkante, 
bleiche  unt  armuot  daz  verwante, 
langer  hart  unt  horwege  kleider: 
also  verstalt  was   er  leider, 
daz   er  dem  vater  was  ze  wilde, 
als  gel  was  im  sin  antlitzes  bilde, 
er  sazte  im   einen   schaffer  zuo, 
der  fuorte  in  ze  huse  duo 
unde   schuof  im   solch   gemach, 
290   daz  im  leides  vil  geschach. 

under   einer  treppen  begunde  er 

ligen, 
er  hete  sich  fröuden  gar  verzigen. 


280 


285 


249   dis   ist  R.      er  sprach,  h.   A.        250   deruult  R.        251    wente   ich 
sulde   a.  F.         252   erwerben  R.     dorfte  niemer  w.   V.     [en-]  Ä.         253   in 
r.   R.   [um]  V.      deheine?  F.      254   das  w.  das   tut  w.  A.      255  gewesi  E. 
niht  nu   mac   V.        sint  das   n.    m.    anders    gesyn   A.  256   freunde  AR. 

spise  F.    Wohl  in  den  verschiedenen  Hss.  verderbt,   noch  wahrscheinlicher 
bereits  in  x  durch  friunde  ersetzt.        257   e.  ander  m,  F.         258  ph.  w.   er 
nie  g.  F.      260   zu  ym  R.      gegan  A.      261    her  sp'ch  ym   myneclichen  zu  R, 
r.   em  in   einer  st.  F.      eyne    st.   em  A.        262  ju  A.      du  R.       263    [ze]  A. 
264   gebet  R.     allexius   VA.     wille  VA.        265   <m  br.  R.        266   sin  R. 
d.  herre  [do]   F.      do  vil  s.  A.         267   daz  er   V.        268   czu  w.  alzeh.   F. 
er  b.  zcu  w.   alczuh.  A.       269   spr.   gerne  vil  guoter  m.    F.      vnd  spr.   g.   du 
vil  1.  m.  ^.         270   mac  von  gote  h.   F.     gehan  A.  271    [so]   F.      sinen 

willen  VA.      so   iß   durch   s.   w.   myn  br.  A.       272   er  lebe  ader  sey  t.  A. 
273   Ach  Allexius  F.     Allexius  A.     274   [jungen]  R.     lieben  F.      275  vaters 
VA.       276    enic  R.      eynig  F.      ene  A.       271   son  horte   F.      der   son  A. 
278    [sin]  R.      der  nie   doch   trurens   st.   F.      s.    leit  d.  n.   eust.  A.  279 — 

286  f.  R.  279  da  merket  alle  wunder  an  V.  280  hVe  her  femian  F. 
282  irwante  A.  vorwante  F.  283  clengir  b.  höre  cl.  F.  bofe  cl.  A. 
285   dws  her  F.       [vater]  A.  286   also   F.       vil  bleich  w.   em  syns  A. 

287  suchte  A.  288  her  R.       du  R.     ju  A.  290   do  ym  R.      zculeide 
vil  ^.       291   unde  e.   tr.  muste  er  1.  R.     her  begude  czu  1.  F.     czu  ].  A. 
292   fröudc  g.   vorcz   egin   F.      der  frawen   hatte   er   sich   v.  A. 


ZUR  ALEXIUSLEGENDE.    II. 


181 


swen   sin  vater  ze  tische   saz, 
sin  pflegeman   des   niht   vergaz, 

295   er  enbraehte  im  sine   pfründe  dar. 
er  was   gar  jämerliche  var, 
als  mcTezliche   az  er  unde  tranc: 
gegen  gote  stuont  al  sin  gedanc. 
vil   maneger    schände    er  do  leit 

800  von  boeser  knehte  kündekeit: 
swenne  sie  die  schüzzeln  lif  ge- 
nämen 
unt  für  sin  gemachelin  quämen, 
sie  guzzen  üf  in  unt  spieten  an. 
daz  leit  der  vil  sselige  man 

305  rehte  als   man    einen    wurm  trit, 
der  da  kriucht  unt  niemen  bit. 
vil  dicke   sach   er  für  in  gän 
sinen  vater  unt  sine   muoter  stän 
unt  sine   schoene  junge   brüt. 

310  doch  wart  der  munt  des  nie  lüt, 
daz   er  iht  sagete    wer  er  waere. 
nu   merket'z  jämerliche   maere: 
also  liep  als   er  in   was, 
daz   er  die  herte  zuo   im   las. 

315   daz  leit  er  also    lange   da, 


biz  im   ein   siuche  volgte   nä. 
Als  uns  sin  biiechlin  hat  gelesen, 
daz   er  zem   ersten   was   gewesen, 
da  er  sibcnzen  iärz  almuosen  nam, 

320   ze  Röme  als   lange,   biz  daz  vol- 

quam 
nach  sines   herzen  willekür . 
do   quam  im   eines    nahtes  für, 
er  solde  sterben  am  dritten   tage, 
got  wolde   kürzen   sine   clage, 

325   daz   er  des   wurde  wol   gewar. 
dö    quam    ein    engel    unt    brähte 
im   dar 
einen  brief  unt  legete  in  in  die 

hant, 
daran  sin  leben  wart  bekant, 
daz  sin   brüt  ein   megetin  w.'ere 

330   unde  er  ein  degen  unwandelbaere, 
unt  waz  er  dort   sibenzen  jär  leit, 
wie  im's  bildes  helfe  wart  bereit 
unde  allez   daz   er  ie  begienc 
unt  wie  er  ze  Röme  sint  emphionc 

335   sines  vater  tranc  unt  spis. 

euch  was  daran  geschriben  mitfliz 


293   wen  RA.       wan   F.      294   syner  pflege  man  do  n.   v.  A.      295   er 
brahtem  VA.      296   so  iemMich  waz  er  geuar  7?.      yemmerlichen   czworcz  V. 
[gar]   yemmerlicher  v.  A.      297 — 314   f.  R.      297   also   F.      so  A.      298   kein 
gote    stunden    ym    alle    seyne    g.   F.        czu    g.    stunden    alle    syne    g,  A. 
299   manege   seh.  die  er  1.  F.      300   v.  snoder  kn.  boßheit  A.      301    wan  F. 
wenn  A.  302   gemach  A.  303    speit''    en   an   F.      do    begossen    sy  en 

vnd   A.  305   als   eyn   worm    den   man   tretit  A.  .305   vnd   nymant  nicht 

en    bitfit  A.  307    vnt    d.   h''   vor    en   sach    g.    F.        v,   d.     weynende  s.    e. 

geen  A.      308    sin  ...   sin  F.      steen  A.      309   u.   ouch  F.      310   das    syn   m. 
do    n.   A.  311    d.    er  s.   ny   w.   A,  312   hie    hoert    d.   yömerliche   F. 

deze  A.       313    so   als   lip   er   en   allen  w.  A.        314   syn   hercze  A.       315 — 

322  in   A  folgendermaßen  geordnet:    317.    318.   319.   320.   315.   316.   322. 

321.       315    ditz   F.      treib dar  ^.       316    daz  ym   R.      dy  sycheit  A. 

do  :  noe  F.       317    eyn   b.   V.      buch  A.       318   genesyn   R.      319   di  allemuse 
[nam]   R.      320   rome   alz   do   qw.  F.      r.    ouch   das   also   v.  A.      322    [doj  R. 

323  an   dem  R.        daz    er    sulde     st.    an    dem     mittage  A.  324   ym     kur- 
czen  S.      325   er  daz  F.      daz   wol   worde  g.  .1.          326   brach  ym   [dar]   R. 

0  A.  327    en  ym  in  F.       1.   ym    yn   d.  Ä.      [unt  legete  in]  R.  328   der 

asn  was  s.  1.   b.   F.     d^  brief  d^  waz  geschriben   so   R.         329.    330  f.  A. 
3? 9   wi   daz   e.   megetyn    s.   br.   w.   R.  330    dcgc   vnwande   we'    F.  vn- 

wandcl     w'  R.  331—340   f.   R.  3.51    u.    alles     daz    e.   y.    gelcid   A. 

3."32   viit  w.    i.   d.   b.  hülle    was    [bereit]    V.        em   gotis   h.    w.    h.    A.  334 

[sint]   F.       335  u.   sine  speise  :  fleisse  F.      speyse  A.        336   ouch   stund  do 
geschreben   vil  leyse  A. 


182 


MAX  FR.  BLAU 


sin  name  unde  ouch   sin  kumber 

groz. 
sin  hant  den  biief  zesamene  slöz, 
biz  daz  in  der  tot  zefuorte, 

340  daz  sich  sin  leben  niemer  ruorte. 
An  eim  karfritage  daz  gesehach, 
daz   sich   minnert  sin  ungemach, 
daz   got  die  sele  von  im  nam. 
dö  gesehach  ein  zeichen,   daz  wol 

zam : 
345   dö   lüten   sich   die  glockeu  alle 

gegen   einander  mit  schalle 

in  Röme  unt  ouch  ze  Lateran 

umme  disen  beilegen   man, 

daz  nieman  die  strenge  zöch. 
350   daz  wundert  manegen  herren  hoch. 

rieh  unde  arme,   gröz  unt  kleine, 

die  fragten  um  ditz  wunder  gmeine, 

waz   daz  lüten   mohte  sin. 

dö   sprach    ein  kleinez  kindelin : 

355  „ir  grift  ein  tumbez  fragen   an, 
ez  ist  lihte   ein   heilec   man, 
den   die  glocken   baz  erkennen, 
wan  die  liute,   die  in  mit  namen 

nennen. 

337   [ouch]   A.        339   [daz]  A. 

341  an  eyn  k.  R.  fritage  A.  343  zuo  im  V.  344  schach  e.  z.  [daz] 
w.  z.  R.  z.  lobesam  A.  345  das  sich  dy  gl.  1.  a.  A.  346  weder  e.  m. 
großem  seh. -<4.  dez  quamen  di  rom*  m.  seh.  i?.  347  —  351  f.  R.  347  czu 
Rome  A,  349  d.  dy  glocken  n.  geczoch  A.  350  hern  ouch  A.  351  riebe 
arm  V.  352  si  fr.  al  um  disiu  mser  V.  si  fr.  mittenand^  di  sache  R. 
353    daz  wunder  V.      w.    d.   bedute   m.  s.   R.      gesin  VA.      354—362   f.  R. 

356  heiliger  V.      ist  eczwa   e.   heiliger  m.   A.       358   [mit  namen]   do   n.   A. 
359   d.   keyser  v.   d.  babist  g.  A.  361    der  er   V.      das   er  den  luten  qu. 
V.  A.        362    syn   scheffer  gnug  balde  dar  A.      363   syn   seh.   d.  da  h.   geflogn 
syn  R.      [der  schaffer]  A.      364  h*  gienc  wolgezogen  hyn  R.      Vnd  sprach  vil 
wol  gecz.   A.      365   d^  armensch  ist  t.   R.      366    der  sibenczen  almuze  genun 
bot  R.       367—369   f.  R.       367   bot  zo  lange   hie  g.  F.       368   yn   s,   h.  A. 
czu  k.   F.           369   ich   sehe  in  zcuh.   A.  370   er  in  tot  vant  unde   unge- 
want  V.       want  den  t.   v.   want  A.        er  gienc  zu  ym  vn  vant  yn  tot  R. 
371—375   f.  R.         371    unt  bi  V.      synen  br.   gar  w.  g.  A.         372   dy  von 
\.  A.       373   R.   als  in  gezam  F.        374   adir  wer  ob*   en  qwä  F.       375   allen 
erin  s.   F.      alle  s.   s.   A.         376   d.  b.   ny  ausz  s.   h.  g.   F.     her  künde   den 
brief  nie  g.  R.         311   [noch]  A.     duo  /'.   in  allen  drei  Hss.         377'')  dy 
waren    alle   sulcher  gäbe  heyßer  nur  A.          378 — 380  f.  R.  378*')  den 
waz   der  brif  vil  tuer  ju  nur  A. 


der  habest  unt  der  keiser  gebot, 
360   daz  man  in  suohte  durch  die  not, 

daz   er  der  werlde  quaeme  für. 

dö  stuont  für  sines  vater  tür 

der    schaffer,     der    sin    bete    ge- 
pflogen. 

der  gie  für  in  gar  gezogen : 
365    „herre,   der  arme   der  ist  tot, 

der  iuwern  tranc  unde  iuwer  bröt 

sibenzehen  jär  hat  gnomen." 

daz    begunde    im    an    sin    herze 
komen, 

er  sprach:    „ich  wil  in  sehen  ze- 
hant. " 
370   er  vant  in  töten   unde  vant 

bi  im   einen  brief  vil  wol  getan. 

daz  vernämen  die  ze  Lateran 

unt  die  Römer  alsam. 

swer  über  in  gienc   oder   quam, 
375   der  künde  mit  allen  sinen  sinnen 

den    brief    üz    siner     hant     niht 
gwinnen. 

vater,  muoter,   bäbst  noch  keiser 

duo^) 

unt  alle,   die   da  liefen  zuo, 

340   vnd  sich   s.   1.   nichten  r.   A. 


')  Nach  Allem,  was  wir  von  A  wissen,  liegt  für  die  in  y  unbelegten  Verse  der 
Verdacht  der  Interpolation  vor,  und  ich  kann  mich  deshalb  nicht  entschließen,  diese 


ZUR  ALEXIÜSLEQENDE.    H.  183 

in  ze  gwinnen   üz  sim  gwalt,  395   Alexius,   der  hie  tot  ist  hüben. 

380   als   endlich   was  nieman  gestalt:  sin  leben  ist  hie  ouch  beschiiben 

biz  sin   raegetin  zuo   im   quam,  unt  sin  name,   daz  ist  war. 

diu  greif  dar,   als  ir  wol  zam,  ganzer  ')   vier  und  drizec  jär 

der  viel  der  brief  in   die  hant  hat  er  die  almuosen  gnomen, 

Eufemiän  lie  in  lesen  zehant  400   biz   er  zuo   dem   töde   ist  komen. 

385   einen    man,    der  da    zuo    witscc  daz  jämert  mich  an  disme  lesen, 

was,  min  rehter  herre  ist  er  gewesen." 

der  sin  leben  dar  an  las  «Owe  mir,  unde  ist  daz  war", 

unde  allez,   daz   er  ie  geleit  sprach  der  vater  unt  roufte'z  här, 

iif  von  siner  kintbeit.  405   er  zarte  diu  kleider  von  der  siten, 

du  weinte  der  schriber  harte  sere  er  künde  der  stunde  niht  erbiten, 

390   Eufemiän  bat  in  durch   sine  ere,  er    enpflucte    den    bait    an    sime 

daz  er  im  sagete,  waz  dran  wicre.  kinne. 

„herre,  ez  sint  diu  leitsten  masre,  er  hete  leide  unde  unsinne. 

diu   alhie  verjehen  sint.  mit  den   nageln  reiz  er  sine   hüt : 

dirre  heilcc  man  ist  iuwer  kint  410    „Alexi,  min  vil  liebez  trüt, 

379  im  z.  VA.  siner  hant  VA.  380  also  V.  so  erlich  was  er  ein 
gewant  A.  381  juncfrowe  über  in  k.  V.  syne  brut  ^.  382  sy  gr.  also  i.  w. 
an  czam  A.  f.  R.  383  do  vil  ir  d.  b.  i.  ire  h.  A.  384  ffemiam  V.  her 
wart  gelezen  so  zcuh.  E.  alzeh.  VA.  385 — 396  f.  B,  wo  nur  etiva  v.  394. 
395  entsprechend  stellt:  Iz  ist  AUexi  di  über  dy  son  |  dem  dyn  alemuze 
ist  geton.  385   do   so  wise  V.      e.   schriber  d.   d.   z.  nutze  w.  A.      Fehler 

in  X?  389  keiser  F.  schriber  sere  A.  390  h^  femiam  V.  390.  391 
Eufemiän  fragete  waz  daran  were  A.  392  lengsten   V.        er  sprach  e.   s. 

leydige  m.  A.  393   d.   mir  ie  für  komen  sint  V.      vernuwet  A.       Fehler 

in  X?  394  disir  heiüger  m.  V.  der  heilige  [man]  A.  395  blieben  F? 
{nach  M).  396   s.  name  steet  alhy  b.   A.  397'^)  gantz  unt  F?   (nach 

M).     s.  leben  A.      vnd  ouch  diz  alwar  R.        398   vier  vnd  czwenczig  ^''. 
399   daz   alm.    F.      hatte   e.   d.   a.   nunien  R.       400   biz   daz   F.      b.    [er]  .... 
waz  k.   R.      401 — 407   f.  R.  401    lebin  A.  402   syn  recht  heymet  ist 

hy  gewefin  A.  Dahinter  in  A^)  vnd  dy  em  habin  getan  |  leyt  vnd  aller 
slachte  wan.  404  do  spr.  sin  v.  v.  roffte  sey  hör  F.  405.  406  in  A 
umgestellt.  405   d.   cl.   reiß   er  A.  406   ny  irbeitin  F.      irbeiten  A. 

407   [en]  VA.     roufte  d.  b.  uß  A.      408   leit  RV.      u.   gar  grosz  F.      I.   ußen 
vnd  jnne  A.     (R  setzt  fort:  durch   den   lieblich   mynne).      409 — 433  f.  R. 
409   nelyn  F.      m.   [den]   n.   r.   e.    dy   h.   ^.      410  Allexius    VA. 


Verse  in  den  Text  aufzunehmen.  Ich  schlielie  mich  an  dieser  Stelle,  die  uns  ganz 
besonders  die  UnvoUständigkeit  von  K  bedauern  läßt,  der  Lesung  von  M  au.  Im 
Übrigen  ist  gerade  diese  Stelle  geeignet,  die  Ansetzung  von  x  im  Stamme  zu  recht- 
fertigen. Die  verderbten  Verse  besserte  A  in  seiner  Weise  auf,  während  V  sie  jedenfalls 
ziemlich  getreu  und  ohne  bessern  wollende  Änderungen  wiedergab. 

*)  Wohl  einer  der  ältesten  Belege  für  diesen  Gebrauch  von  ganz  im  gen.  plur. 
mit  einer  Zahl. 

')  Die  Verse  397—400  stehen  in  R  unmittelbar  hinter  v.   330. 

')  Wohl  wie  Vers  377*.  378"  als  wenig  branchbfire  Interpolation  von  A  zu  be- 
trachten. 


184 


MAX  FR.  BLÄU 


min    ougen     lieht,    mina    herzen 

trost, 
wie   hästu   dich   von  mir  erlöst, 
daz  du   so  lange  bi  mir  wsere 
unt  nie  dich  machtest  offenbaere 

415   durch  armuot  dinem  vater,   kint! 
des  muoz   ich  lange   trüren  sint 
unt  leidec  sin  biz  an  min  ende!** 
er  want  gar  bermlich   sine  hende 
unt  viel  von  ämaht  üf  die  erden, 

420   do  muose  er  gelabet  werden. 
Do  sin  muoter  daz  vernam, 
wer  er  was  unde   über  in  quam, 
si  zestorte  ir  frouwelich  gebende 
unt    sefuorte    ir    zöpfe    mit    ir 
hende. 

425  daz  golt  si  von  den  brüsten  brach, 
si  sprach:  „nu  ist  min  ungemach 
harte  gar  ergangen. 

ein  kint,  geborn  von  minem  libe ! 


430  wie  hästu  mir  armen  wibe 
alsus  betrüebet  mine  witze!" 
si  twuoc  im  sin  schoene  antlitze 
mit    den    zehern    unt    kusten  üf 
sine  brüst. 
„ir  Romer,    habet  al  die  gelust, 

435   daz  ir  beginnet  mit  mir  weinen." 
do   enliez  si  siner  vinger  keinen, 
si  enlegete  in  sundern  an  ir  munt. 
si  tete  dö  groz  jämer  kunt. 
81  sluoc  sich  ze  dem  herzen  dicke 

440  unt  viel  üf  in  mit  manegem  blicke 
unt  trüte  in,  als  ez  ir  behagete, 
so  lange  biz  daz  si  gar  verzagete, 
daz  si  der  bäbst  hiez  danne  leiten. 
Dö   quam  mit  grözen  arbeiten '), 

445   diu  dannoch  was  ein  megetin. 
si  sprach:    „friunt  unt  herre  min, 
waz    hat    din    herte    an    uns    ge- 
rochen?^) 
min  ougen  Spiegel  ist  zebrochen, 

411   minr  o.   V.         417   von  m.   warist  A.     werist  F.         414   mochtist 
offinbarn   V.     v.   du   dich   mir  nicht  oflfenbarist  A.  415   dinr  a.   unt  deyn 

v.  k.  F?   {nach  M).     vmme   ermut  myn  vil  libes  k.  A.      416   triurec  sin  F. 
417   ymer   bis    an  das    ende    meyn  F.  418  zo  yemerlich   F.  419  vor 

amechtikeit  F.  unmacht  zcu  der  e.  A.  423.  424  f.  A.  424  Ir  czoppe 
beide  nä  yn  dy  h.  425  der  brüst  A.  426  ist  F.  was  A.  427  vil  gar 
czu    irgangin   F.        f.  A.  428   f.  in    allen    drei  Hss.  429   [ein]   F, 

431    alsis -4.     betrüebet  also  m.  w.  itcze  F.      432  wuosch  F,     beschawte  ^. 
433   ire  trene  vylen   em  uf  s.  br.  A.         434   [die]   F.         435  ir  mit  m.  beg. 
czu  w.   F.       beg.  alle  m.  m.  zcuw.  A.  436  —  448  f.  J2,    das    aber  nach 

435   folgende  Fortsetzung  gibt:    meynes  üben  kyndes    reynen  |  den  tot  vnd 
elenedeschaft  |  d^   hat  v^lorn   syne   craft.         436   keyne  F.      [do]   sy  lyß   A. 
437    [en]   1.   en  bes.   a.  eren  m.  F.      [en]   1.  en  besunder  a.   den  m.  A.       438 
tet  vil    groz  A.  440  mit    ganczem  bl.   A.  441    trewgete    en    alz  h*  ir 

b.   F.     druckte  en  als  irs  b.   A.        442   das  ir  gar  v.  F.        [so  lange]  A. 
443  von    danne  F.       h.  von    em  1.   A.  444 — 446   in  A  geordnet:    445. 

446.  444.  444  sin  brut  m.  gr.  erbeiti^  F.  syne  brut  m.  großem  ir- 
bebin  A.         445    do   noch   A.      dene    noch    [was]  F.  446   herre  unt  friunt 

m.  F.  447  heil  F.  herlyn  A.  gebrochin  F.  448  ein  sp.  minr  owgen 
ist  nu   czubrochin   F.       mynn  A. 


*)  Hier  ist  wohl  wieder  eine  iSpur  von  x,  dem  die  Beziehung  zu  undeutlich 
war,  da  ja  das  Subject  erst  durch  den  Relativsatz  gegeben  wurde;  x  setzte  sin  brül 
ein,  was  einen  ungeschickten  Vers  (grdzjen  (ir[beiten  in  der  letzten  Senkung!)  gab. 
Vielleicht  könnte  man  auch  lesen :  do  quam  sin  brüt  ä/ne  erbeiten. 

')  Zu  lesen:  waz  hat  min  herre  an  uns  gerochen,  wie  ich  ursprünglich  wollte, 
hindert  wohl  das  gerade  vorhergehende  herre. 


ZUR  ALEXIUSLEGENDE.    II.  185 

den  ich  verwinde  niemer  mere.  wie  daz  sin  heilekeit  zefuorte !  — 

450   ich  bitte  dich,  min  schepfer  here,  er  waere  lam   oder  krump 

läz   mich    alhie  bi  im    ersterben,  470   unt  wa>re  blint   oder   stump, 

e  mine   sinne  gar  verderben,  die  wurden  alzehant  gesunt. 

daz  min   swa^re  habe   ein   ende."  daz  tete  die  gotheit  durch  iu  kunt 

der  bähest  nam  si  bi  den  henden :  unde  durch   sin   heilet;   leben. 

455    „juncfrouwe,   lät  die  ungehcere,  ')  sint    wart  im   grözer  wünsch   ge- 

wir  Silin   den  toten  üf  gebiBren.  geben, 

als  siner  heilekeit  gezeme ;  475   wir  suln  des  jämers  nu  verdagen! 

got  sinen   diener  zuo   im  neme."  man  liez  in  in  daz  münster  tragen, 

Do   daz   schone  aldä  geschach,  da  der  bähest   über  im   sanc 

4G0   der  bähest  unt  der  keiser  sprach,  unt  manec  phatfen  zunge  erklanc 

dar  zuo   die   Römer  algemeine:  unde  ouch   der  kardenäle. 

ezwoere  ein  mensche  Sünden  reine.  480   die   Romer  alzemäle, 

man  truoc  in  hin  mit grözem  sänge,  die  lebeten   got  um   disen   man. 

im  volgete  eine  werlt  mit  gange,  der  bähest  selber  daz  began, 

465   als   siner  heilekeit  wol  zam.  daz  er  in  bestate  zuo   der  erden, 

du   er  für  daz   münster  quam,  sint    muose     den    liuten    von    im 

swer  siech  was  unde  an  in  ruorte,  —  werden 

449  daz  F.  450  schepp*  V.  [min]  schefiFer  sere  B.  sy  sprach  seh. 
über  herre  A.  451  [alhie]  Ti.  hy  irsterben  ^1.  452  [gar]  RV.  anders 
m.   s.  v.   V.  453—464   f.   R.  453   unt    m.    'fröude    nimt    e.   e.    V. 

455.    456    juncfrouwe  ir   sult    iuch    niht    verwern    |    biz    daz     wir    in  uf    ge- 
bern.  V.      er  sprach:   frawe  ir  sult  nicht  verczagen  |  bis  wir  en  begraben  Ä. 
457   zimt  r.      wol  angeczeme  ^.      458   sine  d.  z.  i.   nimt  F.      wil  nemen  ^. 
459   do  allis   das  do  y  g.   A.  461    vnd   d.   r.   alle  g.   A.         462  von   s.   r. 

VA.        463   den  trug  man  hen  A.  464   werlit    noch   m.  F.      pnd  volgeten 

em   mit  reynem   g.   A.  465  —  466    in   B  umgestellt.  465  wirdikeit    wol 

ancz.  A.  als  ym  wol  gezam  B.  467  wer  sich  w.  V R.  an  ym  B.  Vnd 
wer  sich  do  an  e.  r.  A.  468  syne  h.  das  zcu  fürte  A.  469.  470  waz 
er  stum  waz  er  krüm  |  waz  er  blynt  waz  er  tum'^)  B.  er  were  hokericht 
ader  krump  |  vnd  were  blint  ader  stump  A.  er  waere  blint  oder  lam  |  adir 
mit  weichin    siuchen   er  dar  kam.  471    w.    alle  gemeynlich    sunt  B.       der 

wart    aldo    alcz.    g.  A.  47'2— 500  f.   R.  473   heiligis  A.  474   gr. 

fröude   F.  475  w.   s.   nw  des  y.  vord.  F.        w.   wollen    syn  y.   nicht   ver- 

dagen  A.         47  7    sang  A.      gesang  F.  478   m.   herren  z.    F.      manch   pf. 

czunge  ober  em  ircl.  A.  479  dar  zuo  die  k.  F.  480  ouch  dy  romer  czu 
mole    F.  481    [die]    V.     vnde  desin  ra.   A.      483   d.  sy  en  beataten  A. 

484   do  für  eint  A. 


')  Eine  ganz  verzweifelte  Stelle I  Was  M  bietet,  ist  doch  auch  gänzlich  un- 
brauchbar. Man  sieht  wieder  das  verderbte  x,  und  ich  gebe,  um  nicht  zwei  Zeilen 
ganz  fortzulassen,  einen  Versuch ,  der  sich  —  wie  dies  das  Verhältniß  der  Hss.  ver- 
langt —  mehr  an  V  anschlielit,  wenigstens  in  dem  Reime,  denn  gebern  bei  M  kann 
doch  nur  gebceren  sein,  das  „auf  die  Bahre  legen"  bedeutet  (vgl.  Mhd.  Wb.  I,  145'' 
bare).  Für  v.  455  könnte  man  auch,  um  den  rührenden  Reim  zu  meiden,  lesen  junc- 
frouwe, wir  »uln  des  sin  gevctre,   '=   eifrig  bedacht)  daz  wir  den  t.  u.  s.  w. 

»)  Unter  dem  jüngeren  tum  sind  Spuren  eines  fortradirten  Wortes  wahrzunehmen, 
aber  nicht  mehr  zu  bestimmen. 


186 


MAX  FR.  BLAU,  ZUR  ALEXIUSLEGENDE.    II. 


485   gnaden   smac  unde   edel  ruch 

üz  sime  grabe  äne  allen  bruch  '), 
daz  hiuteges  tages  ze  Roma  wert, 
von  sime  vater  wart  begert 
ein  münster  büwen  in  siner  ere, 

490   dar  zuo   half  der  bäbest  sere, 
daz   ez   also   volle   quam, 
daz   ez   dem  heiligen  zam : 
da  liget  sin  heilec  lip   begraben. 
Welch  Ion  sol  nu  diu  sele  haben? 

495   da  von  wil  ich  iu  iezuo    sagen: 
ir  fröude  mert  sich   alle  tage, 
si   hat  des   himelriches   smac, 
da  si   niemer  getrüren  mac. 
daz    erkreic     sin    herter    kumber 

groz, 

500   daz   er  ist  den   engein  gnöz. 

sint  gwan  sin  vater  unt  sin  muoter 
ein  reinez  leben   so   vil   guoter 
unt  sin  liebiu   trutin. 


daz   si  gotes   dierne  wolde  sin 

505   ßtaeteclich  biz  an  ir  ende. 

si  wurden  heilec  äne  wende, 
daz  erwarp  der  zweier  liute  kint, 
daz   die  viere  ze  himel   sint. 
Uten   si  jämer  üf  der  erden, 

510   daz   muose  in  ze  fvöuden  werden. 
Nu  mane  wir  den   guoten  man, 
der  dises  lebens   so   began,''') 
daz  er  für  uns   bitte  da, 
sint  sie  für,   daz  wir  hin  nä 

515   mit  gotes   helfe  müezen  komen, 
so    dem    libe    die    sele    wirt    be- 
nomen. 
Amen !   daz  daz  müeze  ergen, 
darumme  suln  wir  gote  flen. 
er  ist  ein  wiser  koufman, 

520   der  also    kluoclich  wehsein  kan, 
der   ein  ungemachez  leben'*) 
kan   um  lange  fröude  geben ! 


485  gnade  swag  ....  räch  V.     v.   guter  grüß  Ä.         486  brach  V. 
das  werde  vns  allen  büß   Ä.         487   hüte  des  tagis  A.         488  gewert  V. 
489   seyn  m,   gebawt  yn  V.     zcu  b.  Ä.     490  half  em  Ä.     491    wol  czam  V? 
(nach  M).  491.   492  sind  in  A  ersetzt   durch:    das  noch   aldo    gecziret 

steet    I   do   manch   hundert  menschen  hen  geet.  493   f.  V.       heiliger  A. 

495 — 498    {toohl    infolge    eines    alten  Fehlers   in  x)    in  VA    so   geordnet: 
495.   497.   498.   496,  495   itczüt   V.        do   wil  ich    nicht    sagin  von   A. 

496   sich   nacht  vnd  tag  Ä.  497    hymelreich  sm.  V.        den  hymmelischen 

won  A.  498   do   V.      das   A.  499   irkrigke   V.      irwarp   A.         500   der 

engel  V.      502   leben  do   hatte   T^.      lebin  gut  A.         503   und  euch   sin  brut 
czarte  F.      504   dyn^  wurden  s.  2i.      brut  ist  wordin  V.     weide  A.      505   stetec- 
lichen  R.     bas  V.     vil  stetlich  A.       506  f.  V.     a.  alle  w.  RA,  wohl  Fehler 
in  X.     507   daz  der  warp  R.      508  zcu  dem  h.  R.     509   [der]  V.     deser  il. 
510   czu    zelikeit  w.   V.     vreude  R.     in  dort  ze  A.      511   f.  R.     bete  V. 
512   sey  lebin    also  V.     synes  A.     Dahinter  in  A:    daz  er  zcu   einem  guten 
ende    brachte  |  wenn    er  sich    selber    daran    bedachte.     Wohl    interpoliert. 
514  vor  hen  daz  wir  darna  A.      515   muzen  w^  mit  g.  h.  k.  -R.      516   wen  dy 
zele  d.  1.  vf.h.  A.      517    das  vnd  das  allen  muße  gesehen  A.      519   clug^  -ß. 
520  welschen  R.      so  kl.  geuolgen  A.     Dahinter   in  R  nochmals:    w*  also 
cluclich   welschen  kan.        521    kusch   gemachsam  1.  A.      vngemaches  1.  R. 
52  2   vmme   eyne  1.   fr,   kan  g,   A.     v.   1.   m.   kan  g.  R. 


•)  M  liest  Hich  :  brück. 

'■^)  Hieran  schließt  sich  in  V  ein  anderes  Gebet,  das  ich  weiter  unten  gebe. 

^)  Dann  ist  also  das  ungemache  leben  der  Entgelt  für  die  laiige  fröude. 


E.  KÖLBING,  ZUR  TRTSTANSAQE.  187 

In    F  finden   wir  nach  512  folf^ende  Verse'): 

das  wir  sey   miTsseu  genissen  vnd   mit  ym  lebin  an   e.... 

an  allis  wedir  drissen  an  allis   misse  wende 

also   das   wir  an   arge  list  das  vns   das  gesehen   mu .  .  . 

morgen  kömi^  do   hyn 253'      das   helfe   vns   Alexius   der  ... 

vnde  besitzen   das   ew in   allir   heiligen  namen 

das   ym   got  hat  gege nu   sprechit  allir  Amen. 

Nach  522  folgt  in  R: 

als  dirre  selig  mcHSche   tet 
syn  hülfe  keyn  gote 
wegen  syn  beileges  gebet. 

li\  A  steht  nach  eben  diesem  Verse: 

hy  endit  sich   daz  lyde  von  sente  Allexio 
got  mache  vns   armen  sunder  fro 
daz  vns   das   allen  muße   gesehen 
nu   sprechet  alle  Amen. 
Wir  haben    wohl    keinen  Grund,     diese   Verse   von  yl    für  das   Original 
in  Anspruch   zu    nehmen,   aber  Entscheidendes   dagegen  lälit  sich   auch   nicht 
anführen,   wennschon  freilich   der  dritte  Vers    erst    v-    517,   wenigstens   in   A 
selbst,  begegnete. 

BERCHTESGADEN.  MAX  FR.  BLAU. 


ZUR  TRISTANSAGP]. 


In  dieser  Zeitschrift,  Jahrg.  XXXIII,  p.  17fF.,  hat  0.  Glöde 
einen  Aufsatz  veröffentlicht  u.  d.  T. :  „Der  nordische  Tristanroman 
und  die  ästhetische  Würdigung  Gottfrieds  von  Straßburg",  vi'elcher' 
gegen  meine  Auffassung  von  Gottfrieds  Veriiältiiiß  zu  seiner  altfrz. 
Vorlage  gerichtet  ist.  Es  ist  das  die  erste,  angebliche  Widerlegung 
der  Resultate,  welche  ich  vor  nunmehr  elf  Jaliren  in  meiner  Abhand- 
lung: „Zur  Überlieferung  der  Tristansage"  (Die  nord.  und  die  engl. 
Version  der  Tristansage.  Erster  Theil.  Heilbronn  1878,  p,  IX  ff.) 
gewonnen  hatte.  Sicherlich  wäre  ich  nun  meinerseits  der  erste  gewesen, 
der  freudig  zugestimmt  hätte,  wenn  es  Herrn  Glöde  wirklich  gelungen 
wäre,  zu  zeigen,  daß  Gottfried  in  der  Tliat  „Unebenheiten  des  Ori- 
ginals bessert  oder  ausgleiciit,  die  Darstellung  modernen  Verhältnissen 
näher  bringt,  sich  volksthümlicher  zeigt,  aus  bewußter  Welt-  und 
Menschenkeuutniß  ändert,  Charaktere  veredelt  u.  s.  w.";  ich  muß 
aber  energisch  bestreiten,  daß  dies  der  Fall  ist;  den  Wissenden  brauche 


')  Vgl.  Maßmann  p.  3,  der  auch  angibt,  daß  ßl.  2:")3'  rcehts  abgerissen  ist 


188  E.  KÖLBING 

ich  das  freilich  nicht  erst  zu  sagen ;  bei  flüchtigeren  Lesern  jedoch 
mag  das  sichere  und  selbstbewußte  Auftreten  Glödes  den  Eindruck 
erwecken,  als  ob  das  Recht  auf  seiner  Seite  wäre,  und  darum  darf 
ich  im  Interesse  der  Sache  wohl  nicht  ganz  schweigen. 

Die  zehn  Seiten  lange  Abhandlung  ist  ein  literarisches  Curiosum. 
Die  Erwartungen,  die  der  Verf.  selbst  über  seine  Leistung  erregt, 
werden  auf  das  Kläglichste  enttäuscht;  so  heißt  es  p.  18*):  „Über 
Heinzel's  Arbeiten  werde  ich  später  sprechen".  Wo  geschieht  das? 
p.  21 :  „Ich  will  nun  in  der  folgenden  Untersuchung  Kölbing's  Einlei- 
tung genau  (!)  durchprüfen  und  sehen,  ob  seine  Resultate  als  endgiltig 
entscheidende  anzusehen  sind."  „Kölbings  Urtheil,  das  er  sich  durch 
gründliches  philologisches  Studium  erworben  hat,  ist  da,  es  muß  von 
allen  Seiten  angesehen  werden."  p.  23*.  „Im  Folgenden  will  ich  die 
Vergleichung  der  (!)  Prosabearbeitung  mit  dem  (!)  Gedicht  Gottfried's 
vornehmen  und  die  Schlüsse  Kölbings  prüfen,  die  dieser  aus  der  Ver- 
gleichung gezogen  hat."  ')  Danach  wird  doch  Jedermann  eine  gründ- 
liche und  detaillierte  Erörterung  meines  ziemlich  compreß  gedruckten, 
140  Seiten  langen  Aufsatzes  erwarten;  Herr  Glöde  beschäftigt  sich 
mit  demselben  aber  nur  auf  circa  3 — 4  Seiten  und  zieht  nicht  mehr 
wie  15  Verse  Gottfried's  und  vier  Zeilen  der  nordischen  Prosa,  nach 
meiner  Ausgabe  gerechnet'^),  zu  genauerer  Vergleichung  heran.  Was 
diese  anlangt,  so  muß  ich  sein  Verfahren  wenigstens  ganz  kurz  be- 
leuchten. Glöde  geht  nämlich  nicht  ganz  redlich  zu  Werke;  um  den 
nordischen  Text  dürftiger  erscheinen  zu  lassen,  wie  er  in  Wirklichkeit 
ist,  druckt  er  ein  kürzeres  Stück  davon  ab,  als  wie  thatsächlich  dem 
dazu  in  Parallele  gestellten  Abschnitt  aus  G.'s  Gedicht  entspricht. 
Gottfrieds  mute  entspricht  S.  p.  5*^:  hinn  vildasti  i  gjöfum.  Zu  seinen 
Worten:  Er  was  der  werlde  ein  wunne  stellt  sich  etwa  das.  dstsamasti 
i  sinum    medferdum;    zu:    Der   rüterschefte    ein    lere:  fuUgerr  at  öllum 


*)  Hieher  gehört  auch  folgender  Satz  auf  p.  21:  „Es  soll  darum  hier  eine  Dar- 
legung folgen,  inwieweit  auch  die  Form,  in  der  uns  Gottfried  sein  Gedicht  hinter- 
lassen hat,  sein  individuelles  Gepräge  trägt."  Diese  aus  Lüth  und  Bechstein  zusammen- 
gestoppelte 'Darlegung'  ist  netto  21  Zeilen  lang. 

*)  Glöde  bemerkt  p.  25'):  „Ich  gebe  den  Text  hier  ganz  genau  nach  Kölbings 
Ausgabe  ;  einzelne  Bemerkungen  über  Stellen,  wo  meiner  Ansicht  nach  anders  zu 
lesen  ist,  werde  ich  am  anderen  (sie!)  Orte  bringen."  Wirkliche  Besserungen  meines 
Sagatextes  werde  ich  jederzeit  mit  aufrichtigem  Danke  acceptieren;  aber  nach  der 
Probe,  die  der  Verf.  in  dem  bei  ihm  abgedruckten  Satze  von  seiner  Kenntniß  des 
Altnordischen  geliefert  hat  {viangrar  für  margrar  und  die  Abtheilung  rid\dara8kap 
und  nun  gar  all  skonar) ,  wird  er  mir  es  nicht  übel  nehmen  können,  wenn  ich,  vor- 
läufig wenigstens,   von  seinen   „Bemerkungen''   nicht  allzu  hohe  Erwartungen  hege. 


ZUR  TRISTANSAGE  189 

atgervum.  yfir  alla  menn,  er  i  Jiann  Irma  vdru  i  pvi  riki.  Außerdem  wird 
er  aber  von  dem  Sagaschreiber  noch  genannt:  vi(r  o/c  varr  i  raäa- 
gerdum,  forsjdll  ok  framsf/nn  .  .  .  hinn  harctasti  höräum  ok  hinn  grimm- 
asti  grimmum.  Daß  die  in  gebundener  Rede  verfaßte  Version  denselben 
Gedanken  ein  anderes  Gewand  gibt,  wie  die  Prosadiehtung,  versteht 
sich  ganz  von  selbst,  wie  denn  ja  der  mhd.  Dichter  der  Blütheperiode 
bei  der  Vergleichung  mit  einem  Producte  aus  der  Zeit  der  Naeh- 
blüthe  nordischer  Sagaschreibung  von  Anfang  an  im  Vortheil  ist. 
Das  führt  mich  auf  einen  zweiten  Punkt  in  Glödes  Argumentation; 
es  heißt  dort  p.  23:  „Der  nordische  Prosaroman  ist  1226  aus  dem 
Französischen  übertragen,  uns  nur  in  wenigen  Bruchstücken  in  einer 
Membrane  des  15.  Jhd.  erhalten,  während  die  Sage  vollständig  nur 
in  einer  Papierhs.  des  17.  Jhd.  aufbewahrt  ist.  Diese  Thatsache  hat 
Kölbing  nicht  berücksichtigt,  aber  bei  der  Wichtigkeit  der  Frage  .  .  . 
darf  man  sie  nicht  aus  den  Augen  lassen,  um  gerecht  zu  urtheilen." 
Und  dabei  habe  ich  mich  p.  XIV  f.  über  diesen  Sachverhalt  wörtlich 
so  ausgesprochen:  ..Freilich  dürfen  wir  uns  eines  dabei  nicht  ver- 
schweigen, was  den  Werth  dieser  Quelle  (sc.  der  Saga)  etwas  herab- 
mindert: wir  besitzen  dieselbe  nicht  in  ihrer  ursprünglichen  Gestalt, 
wie  etwa  die  Elissaga  und  die  Strengleikar,  sondern  nur  in  einer  durch 
die  mehrfachen  Abschriften  nicht  unbedeutend  verschlechterten,  nicht  nur 
was  die  Sprache  anlangt  ....  sondern  auch  was  den  Inhalt  betrifft, 
der,  wie  eine  Vergleichung  mit  den  Membranfragmenten  ergibt,  zwar 
keine  directen  sachlichen  Änderungen,  wohl  aber  vielleicht  nicht  unbe- 
deutende Kürzungen  erlitten  hat.  Immerhin  müssen  wir  noch  sehr 
froh  sein,  dal.>  von  diesem  werthvollen  Denkmal  überhaupt  eine  Hs. 
auf  uns  gekommen  ist."  p.  21  f.  stellt  Glöde  es  so  dar,  als  ob  ich 
die  Form  von  Gottfrieds  Dichtung,  die  derselben  ihr  individuelles 
Gepräge  gebe,  dem  Stil,  der  zu  solcher  Vollendung  nur  durch  jahre- 
lange Übung  heranreife,  keine  Beachtung  geschenkt  habe:  „Dies 
alles  erwähnt  Kölbing  mit  keiner  Silbe,  als  ob  jeder  beliebige  Mensch 
der  mhd.  Periode  dies  auch  hätte  ausführen  können."  Gewiß  spreche 
ich  darüber  im  Verlaufe  meiner  Untersuchung  nicht,  weil  ich  es  dort 
nur  mit  den  sachlichen  Momenten  seines  Berichtes  zu  thun  habe; 
leider  aber  hat  mein  Gegner  in  der  Hitze  des  Gefechtes  einen  von  ihm 
selbst  (p.  18)  citierten  Passus  aus  dem  Schlüsse  meines  Aufsatzes  ver- 
gessen, wo  ich  dazu  mahne,  in  Zukunft  bei  Vergleichung  von  mhd.  Epen 
mit  ihren  afrz.  Quellen,  das  Augenmerk  in  höherem  Grade  wie  bisher 
auf  die  stilistischen  Unterschiede  zu  richten,  wodurch  die  Vorzüge 

GEKMANIA.    Neue  Reihe  XXU.  (XXXIV.)  Jahrg.  13 


190  E.  KÖLBING 

wie  die  Schwächen  der  deutschen  Dichtungen  in  ein  neues  und  helleres 
Licht  treten  würden. 

Für  welche  Gattung  von  Lesern  der  Verf.  G-ottfrieds  Einleitung 
hervorhebt  (p.  23  f.)  und  sogar  Citate  daraus  abdruckt  und  weiter  die 
Schwertleite  und  die  Minnegrotte  als  sein  dichterisches  Eigenthum 
bezeichnet,  ist  mir  nicht  recht  klar;  das  Publicum  der  Germania  dürfte 
sich  ob  dieser  geringen  Taxierung  seines  Wissens  schwerlich  sehr 
geschmeichelt  fühlen.  Brauche  ich  den  daraus  gezogenen  Schlüssen 
gegenüber  noch  besonders  zu  betonen,  daß  ich  geradeso  wie  Heinzel  in 
seinem  Aufsatz  in  der  Ztschr.  f.  d.  A.  XIV  einzig  und  allein  auf  die 
Theile  des  Gedichtes  Rücksicht  nehmen  wollte  und  konnte,  zu  denen 
sich  in  den  anderen  Versionen  der  Sage  Parallelen  fanden,  und  daß 
auf  sie  allein  das  am  Schlüsse  ausgesprochene  Gesammturtheil  sich 
bezieht? 

Ich  will  nicht  entscheiden,  ob  Leichtfertigkeit  oder  Böswillig- 
keit Herrn  Glöde  bei  seinen  Behauptungen  und  Argumentationen  die 
Feder  geführt  hat.  Nur  einen  Grundirrthum  von  ihm  möchte  ich  noch 
betonen:  „Daß  Gottfrieds  feinfühlige  Art  der  Darstellung  und  sein 
poetischer  Sinn  überall  die  Sage  übertreffen",  worauf  Glöde  besonderes 
Gewicht  legt,  ist  mir  nie  eingefallea,  zu  bestreiten.  Worauf  es  mir 
vielmehr  ankam,  war  dies.  Heinzel  ging  seinerzeit  von  der  Ansicht 
aus,  die  vielen  Unebenheiten,  welche  die  Darstellung  der  Tristansage  in 
dem  englischen  Sir  Tristrem  aufweist,  hätten  schon  der  gemeinsamen 
Vorlage  des  englischen  Dichters  und  Gottfrieds  angehört  und  es  sei 
dem  Letzteren  als  Verdienst  anzurechnen,  daß  er  sie  getilgt  habe.  Die 
Hinzunahme  der  nordischen  Saga  lehrt  dagegen,  daß  diese  Schwächen 
fast  ausnahmslos  nur  dem  Sir  Tristrem  anhaften,  während  Gottfried 
das  Richtige  bereits  in  seiner  Quelle  fand  und  somit  zu  geschmack- 
vollen Besserungen  keine  Veranlassung  hatte.  Dann  erscheint  aber 
seine  ganze  Persönlichkeit  als  Mensch  und  Dichter  in  einem  erheblich 
weniger  idealen  Lichte,  wie  nach  Heinzel's  Ausführungen.  Dies 
Ergebniß  aber  hat  Glöde  durch  seinen  Aufsatz  nicht  im  Allermindesten 
umgestalten  können  ^). 

Um  jedoch  die  Leser  dieses  Blattes  nicht  nur  mit  Wiederholung 
von  Bekanntem  zu  langweilen,  benütze  ich  diese  Gelegenheit,  um  auf 
eine,  bisher,  so  viel  ich  sehe,  unbeachtet  gebliebene  Parallele  zu  einem 
interessanten  Zuge  in  Tristans  Zweikampf  mit  Morolt  hinzuweisen.   Dali 


')  Vgl.   auch  Golthers  Urtheil    über  Glödes  Aufsatz,    Ztschr.   f.  rom.  Phil.  XII, 
363  =>). 


I 


ZUR  TRISTANSAGK.  191 

derselbe  das  Abbild  eines  skandinavischen  Holiuganga  ist,  haben  in 
neuester  Zeit  Sarrazin  (Ztschr.  f.  vergl.  Litt. -Gesch.,  1.  Band,  p.  263) 
und  Golther  (Die  Sage  von  Tristan  und  Isolde,  München  1887,  p.  24) 
mit  Recht  betont.  Auf  zwei  Parallelen  dazu  innerhalb  der  englischen 
romantischen  Dichtung  hat  E.  Adam  (Torrent  of  Portyngale.  London 
1887,  p.  107,  Anm.  zu  V.  1268)  hingewiesen:  den  Kampf  zwischen 
den  Riesen  Gate  und  Torrent  und  den  zwischen  Colbrond  und  Guy 
of  Warwick;  Beide  haben  vor  Allem  das  Motiv  gemeinsam,  daß  der 
Riese  es  ablehnt,  zu  Pferde  zu  kämpfen,  weil  er  zu  schwer  ist,  als 
daß  ein  Reitthier  ihn  tragen  könnte. 

Was  die  Localisierung  beider  Kämpfe  auf  einer  Insel  im  Meere 
anlangt,  so  findet  sie  sich  ausdrücklich  erwähnt  in  der  jüngeren,  in 
Reimpaaren  verfaßten  englischen  Version  des  Guy  of  Warwick  (ed. 
Zupitza,  London  1875/76  =  Guy  B)  v.  10133  f.:' 

In  a  place,  where  pey  schulde  hee. 

Yn  an  yle  wythynne  thee  see. 
Im  weiteren  Verlaufe    des  Berichtes    freilich    wird    dies  Moment 
auffailenderweise    gar    nicht    mehr    betont;    Guy    gelangt  an  den  fest- 
gesetzten Platz  zu  Pferde,  v.  10188  ff.:j 

And  towarde  the  batell  was  rydande. 

When  he  into  pe  place  come, 

Of  hys  stede  he  lyght  anone. 
In  der    älteren  Fassung,    enthalten    in    der  Auchinleck-Hs.    (ed. 
Turnbull,  Edinburgh   1840  =  Guy  A)  fehlt  diese  Angabe  p.  390  über- 
haupt. In  Sir  Torrent  werden  beide  Kämpfer  in  Booten  nach  der  Insel 
übergesetzt,  deren  Führer  dann  sofort  wieder  zurückkehren;  v.  1284  ff.: 

Whan  sir   Torrent  in  to  the  ile  was  brought 

The  shvpmen  lengei'  wold  tary  nought, 

But  Med  hem  sone  ageyn. 
Nach  Tödtung  des  Riesen  wird  Torrent   dann    wieder  mit  dem  Boote 
abgeholt  und  an  das  Festland  zurückgebracht. 

Dagegen  möchte  ich  aufmerksam  machen,  auf  eine  bisher  über- 
haupt wenig  beachtete^)  Darstellung  des  Zweikampfes  zwischen  Guy 
und  Colbronde,  in  Bishop  Percy's  Folio  Mauuscript,  Edited  by  Haies 
and  Furnivall,  Vol.  II,  p.  509  ff.,  ein  Gedicht  in  der  12zeiligeu 
Sehweifreimstrophe ;  dort  heißt  es  v.  202  flf. : 


')  A.  Tanner,  Die  Sage  von  Guy  von  Warwick,  Bonn  1877,  p.  52  f.  erwähnt 
diese  Fassung  ganz  kurz  als  enthalten  in  einem  MS. ,  „das  sich  im  Besitze  Percy's 
befand  und  wie  es  scheint  (!)  varia  enthielt"  —  eine  etwas  merkwürdige  Umschrei- 
bung des  bekannten  Percy  Folio  MS. 

13* 


192  E.  KÖLBING 

Then  the  gyant  loud  did  crye, 

To  tJie  king  of  Denmarke  ihese  words  says  hee: 

„Behold  &  take  good  lieede! 
205     Yonder  is  an  Hand  in  the  sea: 

From  mc  he  can  not  scape  aioay 

Nor  passe  my  hands  indeed; 

But  I  shall  either  slay  him  xoüh  my  brand 

Or  drowne  him  in  yonder  salt  Strand, 
210    Fro  me  he  shall  not  scape  away. 

Then  I  will  with  my  owne  hand 

Crowne  thee  king  of  litle  England 

For  euer  and  for  aye. 

That  loas  irue,  as  the  king  of  Denmarke  thonght, 
215     Comanded  ,2  barges  forth  to  he  bronght, 

And  either  into  one  loas  done. 

The  palmer  tvas  the  first,  that  ore  did  passe, 

And  as  soone  as  hee  to  the  Hand  come  loas, 

His  bärge  there  he  thrust  him  from. 
220    With  his  foote  and  loith  his  hand 

He  thrust  his  bärge  from  the  land, 

With  the  water  he  lett  itt  goe, 

He  let  itt  passe  from  him  downe  the  streame. 

Then  att  him  the  gyant  luold  freane, 
225     Why  he  wold  doe  soe. 

Then  bespake  the  palmer  anon  right: 

„Hither  loee  be  come  for  to  fight^ 

Till  the  tone  of  vs  be  slaine: 

2  botes  brought  vs  hither 
230    And  therfore  came  not  both  togeiher, 

But  one  loill  bring  vs  home. 

For  thy  böte  thou  hast  yonder  tyde, 

Ouer  in  thy  böte  I  trust  to  ryde^ 

And  therfore,  gyant,  be  wäre!'"'' 
235     Trumpetts  blew  and  bade  them  goe  toote, 

The  one  on  horsbacke,  the  other  on  foote^ 

But  Guy  to  god  was  darre. 


217  palmer]  gyant  Ms.  236  on]  om.  Ms. 


ZUR  TRISTANSAGE.  193 

Zu  diesem  Zuge  stimmt  inhaltlich  ganz  genau  Sir  Tristrom 
(Heilbronn  1882)  v.  1013  ff.: 

Pai  seylden  into  pe  icide  „Our  on  schal  here  ahide, 

Wi'p  her  schippes  tvo;  No  he  poti  neuer  so  jiro, 

Moraunt  hond  his  biside  Yiois! 

And   Tristrem  lete  his  go;  Wheper  our  to  liue  <jo, 

Moraunt  seyd  pat  fide:  He  hap  a7iou:^  of  jns.^ 
y^Tristrem,  lohi  dos  fow  so?^' 

Die  genau  entsprechende,  bekannte  Stelle  aus  Gottfrieds  Tristan 
(v.  6795  ff.)  brauche  ich  nicht  erst  auszuschreiben. 

Nun  geht  aber  das  oben  erwähnte  strophische  Gedicht,  welches 
diese  Zweikampfepisode  aus  dem  Ganzen  der  Guysage  iierausgreift, 
unzweifelhaft  auf  eine  Quelle  zurück,  welche  mit  derjenigen,  die  dem 
Dichter  des  Guy  der  Auchinleck-Hs.  vorlag,  nahe  verwandt  war;  man 
vgl.  z.  B.  Guys  Gebet  vor  der  Schlacht  in  beiden  Texten: 

Guy  A  V.  9903  (Turnb.  p.  391  f.:)  Guy  and  Col.  v.  157  ff.: 

Lord,  seyd  Gii,  pat  rered  Lazeroun      Crist,  that  suffer ed  tvounds  5 
And  for  man  poled  ])assioun  And   raised  Lazarus  froni   deth    tu 

Aiid  an  pe  rode  gan  hlede,  ^ff^j 

rat  saued  Sussan  from  the  feloun  To  (1.  Do)  grant  me  speech  and  sight, 
And  halp  Daniel  from  pe  lyotin,  And  saued  Danyell  the  lyons  froe, 
To  day  loisse  me  and  rede  etc.  And  borroived  Susanna  out  of  looe, 

To    (1.  Do)    grant    vs   sirength   and 
viight  etc. 

Ähnlich  auch  Guy  B  v.  10193  ff. 

Aus  alledem  möchte  ich  folgern,  daß  in  der  frz.  Guydichtung 
ursprünglich  die  Scene  so  dargestellt  war,  wie  wir  sie  in  der  Fassung 
der  Percy  Fol.-Hs.  finden.  Die  Tendenz  eines  Abschreibers  oder  Uber- 
arbeiters  —  was  bekanntlich  oft  auf  dasselbe  herauskommt  —  ging 
nun  dahin,  die  Localisierung  dieses  Holmganges  auf  einer  Insel  zu 
beseitigen;  was  für  eine  Erwägung  ihn  dabei  leitete,  ist  freilich  schwer 
zu  sagen*).  Dabei  ließ  er  jedoch  aus  Versehen  ein  Verspaar  stehen"), 


')  Ein  merkwürdiger  Parallelfall  ist,  daß  die  altnordische  Tristramssaga  oder 
ihre  französische  Vorlage  an  der  betreffenden  Stelle  dasselbe  Moment  gestrichen  hat ; 
vgl.  Zur  Überlieferung  etc.  p.  XLVII. 

^)  Dergleichen  ist  in  der  Geschichte  der  Überlieferung  der  französischen  Epen 
keineswegs  unerhört;  in  der  des  Partonopeus  of  Blois  habe  ich  einen  ähnlichen  Fall 
nachgewiesen,  Germanistische  Studien,  herausgegeben  von  K.  Bartsch.  Zweiter  Band, 
p.  104. 


194  K.  BOHNENBERGER 

welchem  m  der  jüngeren  englischen  Übertragung  v.  10133  f.  (s.  o. 
p.  191)  entsprechen.  Ein  weiterer  Überarbeiter  entfernte  auch  noch 
diesen  letzten  Rest,  und  eine  Hs.  dieser  Classe  lag  dem  Verf.  von 
Guy  A  vor.  Zu  ihr  gehören  —  wie  ich  einer  freundlichen  Mit- 
theiiung  von  O.  Winneberger,  der  uns  soeben  mit  einer  dankens- 
werthen  Arbeit  über  das  Handschriftenverhältniß  des  frz.  Guy  erfreut 
hat,  entnehme  —  ferner  sämratliche  auf  uns  gekommene  frz.  fls. 
des  Epos. 

Ob  der  frz.  Dichter  diesen  echt  skandinavischen  Zug  von  Todes- 
verachtung aus  der  Tristansage  entnommen  hat  oder  ob  beide  aus 
einer  gemeinschaftlichen  Quelle  schöpften,  bleibt  vorläufig  eine  offene 
Frage.  Sicherlich  wird  man  hier  nicht  von  „zufälliger  Änlichkeit" 
sprechen  können. 

BRESLAU,  den  18.  April  1889.  E.  KÖLBING. 


SCHWÄBISCH  p.  ALS  VERTRETER  VON  a. 

< 

Nach  den  Arbeiten  von  Franck  (Ztschr.  f.  d.  A.  25,  218  ff.), 
Luick  (Beiträge  11,  492  ff.)  und  besonders  Kauffmann  (Der  Vocalism. 
d.  Schwab,  in  d.  Mundart  v.  Horb,  Marb.  Habil.-Schr.  1887),  sowie 
meinem  eigenen  Aufsatze  (Corresp.-Bl.  f.  d.  Gel.  u.  Realsch.  Württem- 
bergs 1887,  502  SS.)  bleibt ')  für  eine  Untersuchung  über  schwäbisch  c 
als  Vertreter  von  älterem  a  noch  die  Vervollständigung  des  Materials 
und  die  Einzelerklärung.  Dabei  mag  zuvor  daran  erinnert  sein,  daß 
vor  Nasalen  sämmtliche  f-Laute  geschlossen  erscheinen. 

Bei  Aufführung  des  Materials  ergeben  sich  nun  folgende  Kate- 
gorien: 1.  Plural  von  Substantiven;  2.  Adjective  auf  i^,  lieh, 
ern,  e?-;  3.  die  Deminutive;  4.  die  Nomina  agentis  auf  er; 
5.  schwache  Verba;  6.  eine  Anzahl  Nomina,  welche  zunächst  in 
keinem  näheren  Zusammenhange  zu  stehen  scheinen,  7.  gewisse  Orts- 
namen. 

Im  Einzelnen  gilt  in  Betreff  des  Plurals  der  Substantive, 
daß,  abgesehen  vom  neutralen  Plural  auf  er  und  einigen  wenigen  For- 
men mit  ursprünglichem  Umlaut  des  a  zu  ^  (wie  k>eft,  n<igl,  espif),  im 
Plural  der  starken  Declination  der  Übergang  des  a  in  ^  Regel 
geworden  ist.     Die  Ausnahmen    verschwinden    ganz.     Es    sind  in  der 


')  Heuslers  Aufsatz  in  Heft  I  d.  B.  konnte    begreiflicher  Weise  nicht  mehr  be- 
rück.sichtigt  werden. 


SCHWÄBISCH  e  ALS  VERTRETER  VON  a.  195 

Tübinger  Gegend:  hag  (aber  in  Firn.  Plural  heg)^  halfter,  harn,  viarter. 
In  der  schwachen  Declination  sind  die  Plurale  mit  c  bei  Weitem 
in  der  Minderheit,  Regel  ist  hier  die  Erhaltung  des  a.  Es  weisen  r: 
lade^)   (msc),  krage,  mage,   loage,   balke. 

Die  Adjective  auf  ig,  wie  die  auf  lieh,  zeigen  mehr  Bei- 
spiele mit  a  als  solche  mit  r,  doch  sind  die  letzteren  ebenfalls  zahl- 
reich. Eine  ganz  durchgehende  Eintheilung  ist  hier  nicht  zu  gewinnen 
weder  nach  dem  Gesichtspunkte  der  folgenden  Laute,  noch  mit  Be- 
ziehung auf  den  Plural  der  zugehörigen  Substantive.  Zwar  wiegen 
unter  den  Adjectiven  mit  e  solche  vor,  bei  welchen  dem  Vocale  Laute 
folgen,  welche  nach  Braune  im  Oberdeutschen  den  Umlaut  des  a  auf- 
hielten (schwechlich,  mechtig,  neclitig,  pr/xhtig,  trrchtig,  liAsig,  drrniig, 
f-rschig,  hertig,  zertlich,  fericig  —  daneben  schnrbelich,  frdig,  teglich 
[kaum  volksthümlich],  eschig,  frschig,  loeßerig),  aber  mehrere  unter 
diesen  zeigen  auch  a  {halkig,  kalkig,  halmig,  harzig,  warzig).  Und 
mehrfach  fallen  zwar  die  Plurale  und  die  zugehörigen  Adjective  in 
Anwendung  oder  Nichtanwendung  des  Lautwandels  zusammen,  aber 
gegenüber  Plural  mit  e  steht:  saftig,  kragich.  Geschlossenes  e 
haben:  kreftig^  negelig,  gefMig,  fckixj,  und  vor  Nasal:  scheniig,  ivemsig, 
glenzig,  schwenzig.  Von  den  Adjectiven  a,\xi -ern  zeigen  <•:  ß.<'[Q\x\sern, 
wechsern,    von  denen  auf  -er:    heller  und  in  Ortsnamen  -rcher,    hecher. 

Die  Deminutive,  jetzt  auslautend  auf  ^e,  haben  ohne  Ausnahme 
e-Laut,  und  zwar  haben  e  die  zu  kraft,  nagel,  asp  und  die  zu  Sub- 
stantiven, welche  selbst  e  zeigen,  alle  übrigen  aber  e.  Neben  neg'Ae 
(kleiner  Nagel)  steht  riegele  (Nelke). 

Bei  den  Nomina  agentis  auf  er  wiegt  e  bei  Weitem  vor: 
Viecher,  pechter,  wechter,  leder,  scheffer,  hefner,  kleger,  seger^  schleger, 
tregevy  wegner,  heiter,  ferwer.  Dagegen  haben  a:  lacher,  Schnarcher. 
Geschlossenes  e  weisen  auf:  greber,  s-pelter,  Schmelzer,  setzer. 

Schwache  Verba  mit  e  durch  die  ganze  Conjugation  sind: 
ernen,  fei^wen,  gerwen,  ezen,  schetzen,  schwetzen,  heweren,  dazu  aus  der 
starken  Conjugation  loeschen.  Im  Praesens  zeigt  e:  derf  zu  dürfen. 

Die  Nomina  mit  /',  welche  sich  nicht  unter  die  schon  genannten 
Kategorien  stellen  lassen,  sind:  echte  (octo),  gelechter,  dreck,  necket, 
gescheft,  eile  (omnes),  eis,  kelter,  reps,  rrw9t  (Arbeit),  herb,  pferd,  kei-l, 
leiin,  er{^=  ahir),  ernt,  meii'e,  scherrets,  gfrte,  e[r]sch  (=  anvi:^),  sperwer, 


')  Eiüfachheitshalber  siud  gewöhnlich  die  Formeln  der  Unagangssprache, 
mehrfach  auch  die  des  mhd.  bei  Beispielsangabe  gesetzt  und  ist  nur  der  in  Betracht 
kommende  Laut  in  der  Dialectform  gegeben. 


196  K.  BOHNENBERGER 

esche,     ilesch,    iescli    (sumpfige  Bodenversenkung,    und    in    mauUfsch), 
meßer,  grter,  geschivctz,  letz,  vetz,  heweret. 

Unter  den  Ortsnamen  erscheint  f  besonders  bei  denen  auf 
-ingen,  und  zahlreich  vor  Umlaut  aufhaltender  Consonanz,  wie  (mit 
Belegen  aus  dem  württembergischen  und  fürstenbergischen  Urkunden- 
buche): G(>chingen,  Hechingen  (Hahingun  786,  Hech.  1333),  Elchingen 
(Neresh.:  Alchingen  1140;  Grünsb.:  Alichingen  1234,  Elchingin  1220), 
Melchingen  (Malechingen  1154),  Elfingm  (Elv.  1252,  Frank.?)  Nellingen 
(Eßl.:  Nall.  12.  u.  13.  Jh.  häufig),  Nellingsheim  (Nall.  c.  1243),  Der- 
dingen  (Tard.  1153,  Terd.  1181),  Ersingen  (Ers.  1194),  Erti,>gen  (Ert. 
1248),  Erz  (Arz.  und  Erz.  1246);  durch  eine  Zwischensilbe  vom  Suffixe 
-Ingen  getrennt:  Eclderdingen  (Ahttert.  1226),  Schrlklingen  (Schalkel. 
1248,  Schelkel.  1291),  Dellmensingen  (Talmezz.  1237),  Derendingen{^ axodi. 
1098,  Tered.  c.  1204),  Ergenzingen  (Argaz.  1228,  Ergoz.  neben  Argoz. 
c.  1150),  Merklingen  (Marchel.  861,  Merkel.  1275).  Vor  anderweitiger 
Consonanz  findet  sich  e  bei  ingen:  Bcsigheim  (Basenkain  1 231, Frank. ?), 
Detzingen  (Däz.  1263),  Hedelfingen  (Hadelv.  und  Haedelv.  1246),  Pf^f- 
fingen  (PfafF.  c.  1243,  PfefF.  1229),  Rexingen  (Ragges.  1150,  Bachs. 
1228).  Vor  der  Silbe  -in  zeigen  f :  Ellenweiler  (Aglinsw.  1245),  Mecken- 
beuren  (Mechinburren  1155).  Dazu  kommen  sonst  noch:  Sperioerseck 
(Sparewarisegge  c.  1050,  Sperw.  1192),  Heslach,  Vfsperiveiler  (Vasburw. 
1150).  Mit  e  vor  Nasal  scheinen  erst  in  der  Zeit  des  f-Umlauts  (s.  u.) 
umgelautet  zu  sein:  Emerkingen  (Anemarch.  1241),  Gemrigheim  (Gamer- 
tinch.  1150,  Frank.?) ,  Memmmgen  (Manm.  1223,  Memm.  1247),  Schiven- 
ningen  (Suuan.  1225,  Swenn.  1212),  Entringen  (Anthr.  1240,  Enthr. 
1245),  Benzingen  (Banz.  1237).  Vollständig  ist  diese  Zusammenstellung 
nicht,  da  mehrfach  die  Etymologie  unsicher,  oder  die  Aussprache  des 
Namens  mir  unbekannt  ist.  Von  den  Personennamen  muß  wohl 
abgesehen  werden.  Als  Vornamen  sind  sie  verschwunden,  und  ihre 
Verwendung  als  Geschlechtsnamen  zu  verfolgen,  würde  zu  weit  führen. 

Handelt  es  sich  nun  darum  zu  bestimmen,  wann  der  in  den 
angeführten  Beispielen  zu  Tage  tretende  Lautwandel  sich  vollzog, 
so  ist  zu  beachten,  daß  sich  vielfach  darunter  Formen  mit  einer 
Lautfolge  finden,  welche  nach  Braune  im  Oberdeutschen  den  Umlaut 
bis  ins  12.  oder  13.  Jahrh.  aufhielt.  Da  nun  nicht  anzunehmen  ist, 
daß  diese  Beispiele  zunächst  in  e  umlauteten  und  dann  in  e  zurück- 
gingen, so  wird  für  diese  wenigstens  der  Wandel  des  a  in  f  ins  12, 
und  13.  Jahrh.  zu  setzen  sein.  Das  Gleiche  ergibt  sich  aber  auch  für 
die  aufgeführten  Ortsnamen  auf  -ingen.  Berechnet  man  durch  Schluß 
aus  den  folgenden,    bezw.  vorangehenden  Jahren  sämmtliche,    für  die 


SCHWÄBISCH  e  ALS  VERTRETER  VON  a. 


197 


einzelnen  Jahrzehnte  nachzuweisenden  Formen,    so  ist   auf   die  Jahre 
1150 — 1260  das  Ergebnis  folgendes: 


a 

e 

a 

e 

1150  .  .  . 

14 

1 

1210  . 

.    .    11 

5 

1160  .  .  . 

11 

1 

1220  . 

.11 

rr 

7 

1170  .  .  . 

11 

1 

1230  . 

.  .  8 

7 

1180  .  .  . 

11 

2 

1240  . 

.  .  5 

11 

1190  .  .  . 

11 

3 

1250  . 

.  .   1 

12 

1200  .  .  . 

11 

4 

Weiter,  als  es  geschehen  ist,  kann  die  Zusammenstellung  nicht 
geführt  werden,  da  das  wiirttembergische  Urkundenbuch  mit  1252  ab- 
bricht. 

Für  alle  übrigen  Formen  mit  c  im  Einzelnen  die  Zeit  des  Laut- 
wandels nachzuweisen,  wäre  sehr  schwierig  und  durch  mancherlei 
Voraussetzungen  bedingt.  Gelingt  es  aber  darzuthun,  daß  die  ganze 
Erscheinnng  eine  einheitliche  ist,  so  ist  mit  der  Zeitbestimmung  eines 
Theils  der  Formen  auch  die  der  übrigen  gegeben.  —  Doch  lassen  sich 
noch  einige  allgemeine  Gesichtspunkte  beiziehen.  Die  neutralen  Plurale 
auf  -er  zeigen  stets  geschlossenes  e.  Haben  wir  es  nun,  wie  sich  unten 
zeigen  wird,  bei  dem  Übergänge  von  a  zu  e  ebenfalls  mit  einem 
Umlaute  zu  thun,  so  ist  kaum  anzunehmen,  daß  beide  Arten  des- 
selben gleichzeitig  neben  einander  her  gingen.  Dürfen  wir  somit  den 
Übergang  in  c  nicht  zu  weit  hinaufsetzen,  so  kommt  dazu,  daß  das 
aus  a  entstandene  <\  wo  es  gedehnt')  ist,  sich  unterscheidet  von  dem 
alten,  bezw.  durch  Brechung  entstandenen  c,  sofern  ersteres  als  f, 
letzteres  als  ra  (Jy)  erscheint.  Somit  mußte  ii  sich  schon  zu  ra  hin 
entwickelt  haben,  als  a  in  <•  gewandelt  wurde.  Auf  der  anderen  Seite 
liegt  aber  auch  ein  Grund  vor,  nicht  zu  weit  herabzugehen.  Es  konnte 
das  unbetonte  i  noch  nicht  ganz  mit  e  zusammengefallen  sein,  wenn 
es  noch  in  specifischer  Weise  auf  die  vorhergehenden  Laute  wirken 
sollte.  Nun  ist  i  nach  Behaghel'')  (z.  Frage  n.  einer  mhd.  Schriftspr., 
in  Basler  Festschrift  für  Heidelberg  p.  48)  zum  Mindesten  tief  ins 
13.  Jahrh.    hinein    erhalten.     Unter    dem   Schutze    des    nachfolgenden 


')  Im  schwäbischen  Neckargebiete  von  Tübingen  an  abwärts  ist  die  alte  Kürze 
nur  erhalten  vor  Geminata,  Affricata  (und  deren  Vertreter  cA),  sonstiger  Doppcl- 
consonanz  außer  ht,  m,  rs,  rst  (dafür  rsch),  rt,  r^,  rz,  weiter  zum  Mindesten  in  einem 
Theile  des  Gebietes  auch  vor  t,  p  {epae  =  ebehöu,  lenis  vor  h  zu  fortis)  —  k  findet 
sich  nicht  nach  ursprünglicher  Kürze. 

^)  Wozu  übrigens  zu  bemerken  ist,  daß  im  Schwäbischen  t  heute  noch  nicht 
irrationaler  Vocal  (»)  geworden,  sondern   als   e  erhalten  ist. 


198  K.  BOHNENBERGER 

Consonanten  ist  auch  i  bis  heute  noch  erhalten  im  Adjectiv  auf  -ig. 
Aber  wir  werden  bei  Erklärung  des  Lautwandels  zu  f  auch  die  An- 
setzung  des  Einflusses  selbst  von  auslautend  i  (z.  B.  in  der  i-Decl.) 
nicht  entbehren  können.  —  Diese  allgemeine  Umgrenzung  stimmt  zu 
der  oben  gegebenen  Zeitbestimmung. 

Was  aber  die  Frage  nach  der  Art  und  dem  Grunde  dieses 
Lautwandels  betrifft,  so  hat  Kauffmann  denselben  als  späteren,  vom 
ersten  geschiedenen  Umlaut  bezeichnet.  Daß  es  sich  um  einen  Um- 
laut handelt,  ist  für  die  Formen,  welche  unter  Braunes  oberdeutsches 
Umlautgesetz  fallen,  schon  gegeben,  und  daß  dieser  Umlaut  vom 
ersten  geschieden  ist,  geht  aus  der  oben  gegebenen  Zeitbestimmung 
hervor.  Somit  ist  Grund  genug  vorhanden,  von  Kauffmanns  Bestim- 
mung aus  die  Einzelerklärung  zu  versuchen.  Aber  dabei  genügt  es 
dann  nicht,  die  ganze  Erscheinung  direct  aus  der  immer  größer 
werdenden  Unsicherheit  und  aus  Analogiebildung  zu  den  entsprechen- 
den ursprünglich  umgelauteten  Formen  abzuleiten.  Damit  ließe  sich 
nicht  verstehen,  warum  e  und  nicht  e  auftritt.  Bei  organischer  Ent- 
wicklung liegt  wohl  r  auf  dem  Wege  von  a  zu  «,  für  Analogiebildung 
aber  ist  r  ein  eigener,  von  e  geschiedener  Laut.  —  Nun  bilden  das 
nöthige  Mittelglied  für  die  meisten  der  in  Betracht  kommenden  Er- 
scheinungen die  Formen  mit  ursprünglich  i  nach  Umlaut  aufhaltender 
Consonanz. 

Im  Einzelnen  ist  so  für  die  Plurale  der  starken  Declina- 
t  i  o  n  mit  r  auszugehen  von  Formen  wie  mhd. :  backe,  nahte,  bälge. 
Die  hier  im  12.  und  13.  Jahrh.  durchdringende  Palatalisierung  ist 
wegen  des  Widerstandes  der  Consonanz  nur  bis  r  gegangen.  Sind 
aber  hiemit  einmal  einige  Formen  mit  f  erklärt,  so  lassen  sich  die 
übrigen  als  Analogiebildungen  zu  diesen  ansehen,  zumal  eine  Differen- 
zierung im  Slammvocal  gegenüber  dem  Singular  wünschenswerth 
wurde,  als  die  unterscheidende  Endung  schwand  (vgl.  Kauffmann, 
§.  12  An.)  Daher  blieben  nur  wenig  gebrauchte  Plurale  zurück.  Von 
der  starken  Declination  aus  ist  der  Umlaut  durch  Analogie  auch  in 
die  schwache  eingeführt  worden.  Dabei  bleibt  offen,  wie  frühe  die 
einzelnen  Formen  der  Analogie  unterlagen.  Die  Bewegung  kann  noch 
in  Zukunft  weiter  gehen.  Die  oben  gegebene  Zeitbestimmung  ist  also 
für  die  Plurale  nur  als  terminus  a  quo  anzusehen. 

Die  Erklärung  des  e  in  den  Adjectiven  auf  ig  scheint  inso- 
fern schwieriger,  als  in  der  ersten  Umlautzeit  im  Allgemeinen  auch 
ohne  Umlaut  hindernde  Consonanz  der  Umlaut  unterblieb.  Aber,  wie 
oben  aufgeführt,    gibt  es  doch  auch  Formen,    welche    seit  der   ersten 


SCHWÄBISCR  p  ALS  VERTRETER  VON  a,  199 

ümlautzeit  Umlaut  zeigen,  oder  bei  denen  dieser  wenigstens  aus  dem 
geschlossenen  e  folgt.  Und  zwar  geht  aus  den  Beispielen  hervor,  daW 
oberdeutsch  die  Adjective  auf  irj  in  der  ersten  Umlautszeit  umgelautet 
wurden,  wenn  ihnen  ganz  oder  in  der  Mehrheit  ihrer  Formen  um- 
gelautete  Substantive  zur  Seite  standen.  Als  dann  vor  Umlaut  auf- 
haltender Consonanz  im  Plural  Umlaut  zu  <•  eintrat,  wurden  die  zu- 
gehörigen Adjective  mitumgelautet.  Daher  wiegen  gerade  diese  unter 
denen  mit  <■  vor.  Weiterhin  vollzog  sich  die  Ausdehnung  auf  die 
übrigen  Adjective  auf  i()  in  Analogiebildung.  Wie  hart  :  brrliy,  so 
sc/mabel  :  schncheUg,  und  vor  Nasal  glänz  :  glenzig.  So  läßt  sich  dieser 
Umlaut  im  Adjective  analog  dem  der  Substantive  erklären  und  Ein- 
fluß des  Zwischenvocals  braucht  nicht  angenommen  zu  werden,  wenn 
auch  zuzugeben  ist,  daß  bei  Beispielen  wie  schncbelig,  xcrfserig  darauf 
zurückgegriffen  werden  könnte  (so  Kauffmann,  §.  12,  Anm.  für  das 
Deminut.).  Aus  dem  Wechsel  von  Suffix  ich  =  lg  mit  ^t  erklärt 
sich,  daß  auch  nacket  umgelautet  wurde  zu  neckH. 

Ganz  das  bisher  Gesagte  gilt  auch  von  den  Adjectiven  auf 
lieh.  An  schivechlich  schließen  sich  die  übrigen  mit  f  an.  Über  die 
Adjective  auf  -ern  läßt  sich  wegen  der  geringen  Zahl  der  Beispiele 
nicht  mit  voller  Bestimmtheit  urtheilen.  Die  beiden  ßf[ch]sern,  iccchsem 
zeigen  <•  vor  Umlaut  aufhaltender  Consonanz.  Hier  sei  auch  über  die 
Adjective  auf  -eu,  schwäbisch  -e,  nihd.  -hi,  obwohl  sich  unter  den- 
selben keine  Formen  mit  <•  finden,  bemerkt,  daß  der  Umlaut  bei  ihnen 
nicht  weit  durchgedrungen  zu  sein  scheint  und  jetzt  offenbar  zurück- 
geht. Ohne  Umlaut  erscheint  stets  tanneu,  in  Tübinger  Gegend  vor- 
herrschend houchen,  neben  ^spen  häufiger  aspen,  neben  hilze.n  mehrfach 
holzern,  nur  eschen  ist  allgemein  gehalten  durch  die  Substantivform 
esche.  Über  die  Adjective  auf  -er  s.  bei  den  Substantiven  gleicher 
Endung. 

Den  gleichen  Weg,  wie  bei  den  bisher  erklärten  Formen,  hat 
der  Umlaut  zu  e  wohl  auch  bei  den  Deminutivis  gemacht.  Auch 
hier  haben  wir  kreftle,  negdle,  eckle,  esple  und  dann  vor  ch  als  Aus- 
gangspunkt für  die  übrige  Bewegung  mit  c  hechle.  Nur  ist  für  die 
Derainutiva  aus  dem  Sprachschatze  des  mhd.  noch  weniger  zu  ersehen, 
da  in  diesem  überhaupt  wenig  Deminutiva  enthalten  sind.  Will  man 
den  Umlaut  zu  <■■  bei  den  Deminutiven  auf  einen  Mittelvocal  zurück- 
führen, so  stößt  man  bei  Erklärung  des  Unterschiedes  zwischen 
kreftle  und  negdle  einerseits  und  hechle  anderseits  auf  Schwierigkeiten 
Die  Form  n('g<>le  (Nelke)  zeigt  gegenüber  negdle  den  jüngeren  Umlaut 
und    erweist    sich    damit  auch  als   jüngere  Bildung,    wobei    aber  auf- 


200  K-  BOHNENBERGER 

fallend  bleibt,    daß  im  gleichen  Worte    eine  solche  neben  der  älteren 
soll  aufgekommen  sein. 

Verwickelter  wird  die  Frage  bei  den  Nomina  agentis  auf 
•er,  alt  ari.  Es  stehen  hier  wohl  auch  neben  Verbis  mit  e  Nomina 
mit  solchem,  wie  decker,  speüer,  Schmelzer,  setzer,  aber  man  kann  doch 
fragen,  ob  die  wenigen  Beispiele  mit  Umlaut  aufhaltender  Consonanz 
und  offenem  e  {gerher,  fptver)  für  sich  allein  den  Ausgang  zur  allge- 
meinen Umlautsbewegung  zu  c  gegeben  haben.  Es  empfiehlt  sich  hier 
auch  die  Bildungen  mit  anderweitigen  Vocalen  beizuziehen,  welche 
von  umgelauteten  Verben  abgeleitet  sind  und  denen  Substantive  mit 
umgelautetem  Plurale  und  Singular  ohne  Umlaut  zur  Seite  stehen, 
wie  ßötzer  :  ßotz  :  flötze,  iräumer  :  träum  :  träume»  Waren  nun  einmal 
die  Plurale  hefen  und  torgen  gebildet,  so  entstehen  die  Reihen  hefner  : 
hafen  :  hefen,  ivcgner  :  loagen  '.  wegen.  Dann  folgten  die  übrigen  nach, 
auch  die,  welchen  kein  umgelauteter  Plural  zur  Seite  stand,  wie 
mecher,  scheffer.  Die  zurückgebliebenen  lacher  und  Schnarcher  sind 
wenig  gebraucht.  Bei  anderweitigen  Vocalen  außer  a,  bei  welchen 
der  Umlaut  im  Plural  nicht  so  weit  ausgedehnt  ist,  finden  sich  auch 
Bildungen  auf  -er  ohne  Umlaut  in  verhältniß mäßig  größerer  Zahl.  — 
An  die  Substantive  mögen  sich  die  Adjective  auf  -er  anreihen.  Hier 
findet  sich  aus  der  Zeit  des  Umlautes  zu  e  stetter  als  Ableitung  von 
Ortsnamen  auf  -stetig  -stetim  (nicht  auf  -stat).  Somit  ist  hier  der  Um- 
laut nicht  erst  durch  das  Suffix  -er  gewirkt.  Nach  Analogie  dieser 
Derivate  von  alten  Ortsnamen  werden  nun  auch  solche  von  neuen 
gebildet:  Weilrstetr  (Weil  der  Stadt)  gebildet,  wie  Mögsteir  {Mögstet 
^=  Magstadt).  Als  dann  in  der  zweiten  Umlautszeit  vor  dem  Suffix 
-er  der  Nomina  agentis  Umlaut  zu  e  eintrat,  bildete  man  von  Orts- 
namen auf  -ach^  -buch  die  Derivate  auf  echer,  hecher.  Bei  anderen 
Vocalen  tritt  der  Umlaut  auf  in  -hefr  (-hof),  -derfr  (-dorf),  -aer  (-au), 
-haisr  (-hausen).  Seit  die  Endsilbe  der  Ortsnamen  verflüchtigt  ist, 
sind  keine  Neubildungen  dieser  Art  mehr  möglich,  darüber  sind  auch 
alte  Bildungen  mehrfach  vei-loren  gegangen,  und  wo  bei  erhaltenem 
Vocal  der  Schluß  silbe  neue  Derivate  auf  -er  gebildet  werden,  fehlt 
ihnen  vielfach  der  Umlaut.  —  Hierher  gehört  auch  heller,  bei  dem  aber 
fraglich  bleibt,  ob  es  als  selbständige  schwäbische  Bildung  anzusehen, 
oder  aus  dem  Fränkiscken  überkommen  ist.  —  Endlich  schließt  sich 
noch  an  das  Substantiv  speriver  {sperwl)  gegenüber  älterem  sparwcere, 
welches  dem  Umlaut  der  Nomina  agentis  und  der  Adjective  auf  er 
sich  angeschlossen  hat. 


SCHWÄBISCH  e  ALS  VERTRETER  VON  a.  201 

Unter  den  schwachen  Verben  zeigt  der  größere  Theil  derer 
mit  umlautaufhaltender  Consonantenfolge  dennoch  e  und  muß  also  in 
Zusammenhang  mit  der  ersten  Umlautszeit  umgelautet  sein :  verkAten, 
Spelten,  schmelzen^  scherfen,  sterken,  verderben.  Zurückgeblieben  sind  in 
der  ersten  Zeit  und  zeigen  e  nach  der  oben  gegebenen  Zusammen- 
stellung je  eines  mit  rf  und  rn,  dann  zwei  mit  ric,  wie  auch  nach 
Braune  riv  den  Umlaut  ganz  besonders  aufhielt.  Als  späte  Bildung 
erklärt  sich  he.weren  :  hawer  =ft;noen  :  fariü[e].  Aber  auffallend  bleiben 
die  Verba  mit  r  vor  z  und  seh.  Sie  scheinen  überhaupt  die  einzig 
gebräuchlichen  zu  sein,  in  welchen  diese  Consonanten  auf  ursprünglich 
a  folgen.  Ihnen  gegenüber  ist  die  Menge  der  übrigen  schwachen  Verba 
zurückgeblieben  und  hat  a  erhalten.  So  kann  man,  zumal  noch  eine 
Anzahl  Substantive  mit  e  vor  seh  hinzukommen  und  umsehen  zur 
starken  Conjugation  gehört,  an  Einfluß  der  dentalen  Consonanten 
denken.  Aber  dem  steht  wieder  das  methodische  Bedenken  gegen- 
über, daß  sonst  dieser  Lautwandel  zu  e  stets  auf  vocalischen  Einfluß 
zurückzuführen  ist. 

Erproben  muß  sich  die  bisher  angewandte  Erklärungsweise  an 
dem  Reste  der  Nomina.  Nun  finden  sich  unter  diesen  wie  unter  den 
Verben  eine  ziemliche  Anzahl  Formen  mit  e,  also  älterem  Umlaute 
trotz  umlautaufhaltender  Consonantenfolge.  Es  sind  dies  außer  den 
Abstracten  auf  alt  i  (s.  Braune,  Beitr.  4,  555)  er6[e],  msc.  und 
ntr.,  der  Positiv  hert,  sämmtliche  Comparative  und  Superlative 
und  mit  letzteren  auch  herbst.  Dagegen  haben  vor  ursprünglich  umlaut- 
aufhaltender Consonanz  organisch  gewirkten  Umlaut  zu  f.  echte  (octo, 
nach  Kauffraann,  Beitr.  13,  394  neutr.  plur.,  jedenfalls  nicht  zurück- 
zuführen auf  msc.  mit  /,  wie  sibuni,  weil  das  i  des  Nom.  plur.  der 
i-Decl.  als  kurz  im  schwäbischen  abgefallen  ist,  z.  B.  gest,  das  erhaltene 
e  im  Auslaut  aber  frühere  Länge  oder  früheren  Diphthong  voraus- 
setzt) ,  zivrlf  hrrb,  ernt,  merr,  gerte,  e[v\sch,  wobei  in  dioahila  und 
mariha  einfaches  h  und  r  in  der  ersten  Umlautszeit  den  Umlaut  auf- 
gehalten haben.  In  Analogiebildung  schlössen  sich  an  mit  r  -\-  Cons. 
kerl  (zugleich  auch  unter  dem  Einflüsse  des  Deminutivs),  und  rriodt 
(lautend  wie  h^wdrdt).  Wenn  weiter  in  sämmtlichen  Formen  von  al-, 
auch  in  als  e  erscheint,  so  mag  der  Umlaut  hier  vom  Neutr.  plur. 
ausgegangen  sein  (Kauffmann,  Voc.  §.  12),  wie  bei  echte.  Solche  Aus- 
breitung ist  wohl  denkbar  in  einer  Zeit,  in  der  sich  f  weit  aus- 
dehnte. Bei  letz,  fetz  kann  die  inlautende  Affricata  nach  Vocal  als 
aus  doppelter  Fortis  verschoben  auf  geminierendes  i  hinweisen,  und 
dann  hat  z,    wie  im  Verbum,    so  auch  in  diesen  Nomina  den  Umlaut 


202       K.  BOHNENBERGER.  SCHWÄBISCH  e  ALS  VERTRETER  VON  a. 

ZU  e  gehindert.  Aber  nachzuweisen  sind  keine  Formen  mit  zu  Tage 
tretendem  i.  Über  die  Substantive  mit  folgendem  seh,  s.  oben 
beim  Verbum.  Das  etwa  mit  a  übrig  bleibende  masche  ist  nicht  volks- 
thümlich  (dafür  schlaufe).  Auch  bei  mefier  ist  das  Ausbleiben  des  Um- 
lautes in  der  ersten  Uralautszeit  höchst  merkwürdig.  Sollte  das  Wort 
in  alter  Zeit  im  schwäbischen  nicht  volksthümlich  gewesen  sein,  oder 
ist  von  der  bei  Kluge  Wb.  angeführten  P^orm  maz-sahs  auszugehen  und 
der  f-Laut  später  aus  dem  Fränkischen  herübergenommen?  Bei  dreck 
fehlt  noch  sichere  Bestimmung  der  germ.  Form.  Wird  geter^  wie  das 
schriftdeutsche  Gitter  auf  gegattr  zurückgeführt,  so  ist  damit  noch 
nicht  alles  erklärt.  Die  alten  neutralen  collect! ven  j'a-Stämme  mit 
Fraefix  ge-  zeigen  regelrechten  Umlaut  zu  e:  gffell,  gelieg,  geheck. 
Somit  muü  geter  eine  Form  jüngerer  Bildung  sein.  Mit  Umlaut  auf- 
haltender Consonanz  und  Umlaut  zu  e  gegenüber  einer  Grundform 
ohne  Umlaut  gibt  es  aber  keine  völlig  gleichartige  Bildung,  nur  das 
ähnliche  gelechter,  in  welchem  die  Länge  des  Vocals  vor  ch  beweist, 
daß  dies  =  germ.  h  und  die  Form  alt  ist.  Will  man  diese  einzige 
und  nicht  einmal  ganz  gleichartige  Form  nicht  als  Anlaß  zur  Analogie- 
bildung ansehen,  so  kann  man  aber  auch  weiter  ausholen  und  davon 
ausgehen,  daß  bald  e  und  nicht  mehr  e  dem  Bewußtsein  als  Umlaut 
von  a  erscheinen  mußte,  als  einmal  der  Umlaut  zu  e  sich  ausgedehnt 
hatte.  Denn  die  Bildungen  mit  e  lagen  äußerlich  betrachtet  so  weit 
ab  von  den  zu  Grunde  liegenden  Formen  mit  a,  daß  deren  Zusammen- 
gehörigkeit viel  weniger  nahe  lag,  als  der  Wandel  von  a  zu  e.  Nun 
konnte  der  Umlaut  anderweitiger  neutraler  Collective  mit  Praeüx  ge- 
veranlassen,  daß  das  Collectiv  zu  gater  mit  dem  damals  als  Umlaut 
zu  a  geltenden  e  gebildet  wurde.  Dem  läßt  sich  anreihen  geschwez  zu 
swaz,  welches  aber  sein  e  auch  unter  dem  Einfluß  des  zugehörigen 
Verbums  erhalten  haben  kann,  wie  hew^r9t.  Nicht  volksthümlich  ist 
er  =  ahd.  ahir  (wofür  fese,  kolbe,  kife)  und  geschqft.  Über  spqrwer 
und  hqller  s.  oben  bei  den  Nomina  agentis,  über  necket  bei  den  Ad- 
jectiven  auf  ig.  Unter  den  Fremdwörtern  geht  keller  zurück  auf  kalter, 
und  es  wird  wohl  die  Endung  er  Anlaß  zu  Umlaut  aus  Analogie 
gegeben  haben.  Bei  ff^rd  erklärt  sich  die  Erhaltung  des  a  in  der 
ersten  Umlautszeit,  wenn  das  Wort  erst  im  8.  Jahrh.  entlehnt  wurde 
(Kluge,  Wb.)  und  als  Fremdwort  zunächst  dem  Umlaut  widerstand. 
Das  Gleiche  wird  gelten  für  krett  =  mhd.  kratte  (Korb),  wofür  übrigens 
in  Tübingen  heute  noch  kraft.  In  r^ps  muß  das  i  der  Form  rapic[mm\ 
den  Umlaut  veranlaßt  haben.    Dies  bleibt  aber  auffallend,    wenn  das 


FRANZ.  KRATOCHWIL,  ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  etc.     203 

Wort,  wie  Kluge  will,  erst  nhd.  entlehnt  ist.  Für  hym.  ist  voraus- 
zusetzen lerman  aus  allerman. 

Einfacher  liegt  die  Sache  zum  SchhiLi  wieder  bei  den  Orts- 
namen. Die  mit  Umlaut  aufhaltender  Consonanz  vor  i,  sowie  Sper- 
icefi'seck  sind  durch  das  bisherige  erklärt.  Bei  HMelfingen,  Rfxingen  ist 
in  der  ersten  Umlautszeit  der  Umlaut  durch  die  dazwischen  liegende 
Silbe  aufgehalten,  wobei  dahingestellt  sein  mag,  ob  bei  solchen  Formen 
der  Umlaut  ein  organischer  ist,  oder  durch  Analogie  gewirkt.  Nöthig 
ist  die  erstere  Auffassungsweise  nicht.  Für  B^sigheim  könnte  d  anzu- 
setzen sein,  in  Pfeffmgen  wurde  das  a  zunächst  noch  gehalten,  weil 
pfafjo  als  Bestandtheil  deutlich  zu  Tage  lag.  Der  gleiche  Grund  mag 
lür  Alemviingen,  Schivenningen  gelten.  In  Detzingen  hat  wie  auch  sonst 
z  in  der  ersten  Umlautszeit  den  Umlaut  aufgehalten.  Bei  Iledich  er- 
scheint der  Umlaut  vor  der  Endung  ich  =  acli  =  ahi,  wie  auch 
sonst  in  jüngerer  Zeit  (z.  B.  steckich  =  stockach).  Vqnpei'xveÜHr  ver- 
dankt seinen  Umlaut  erklärender  Umbildung. 

TÜBINGEN,   VA.  December  1888.  K.  BOHNENBERGER. 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER 
SUCHEN  WIRT  -  HANDSCHRIFTEN. 

Mit  zweln  großen,   bisher  uubekannten  Ergänzungen  zu  Suchenwirta  Gedichten. 


Seit  Jahren  war  ich  bemüht,  die  in  verschiedenen  Bücher- 
saramlungen  zerstreuten  Suchen wirt- Handschriften  kennen  zu  lernen, 
zu  besehreiben  und  kritisch  zu  vergleichen,  um  so  eine  breite  Basis 
lür  eine  möglichst  vollständige,  kritische  Ausgabe  der  Gedichte 
Suchenwirts  zu  sciiaffen.  Daß  ich  bei  diesem  Streben  nicht  wenig 
auf  das  Wohlwollen  der  Bibliotheksverwaltungen  angewiesen  war, 
leuchtet  ein;  ich  bin  in  der  angenehmen  Lage,  berichten  zu  können, 
daß  ich  freundliches  Entgegenkommen  nahezu  überall,  wo  ich  anklopfte, 
gefunden  habe.  Ich  danke  hiefür  öffentlich  auf  das  Wärmste,  besonders 
dem  Vorstande  der  kaiserlichen  Hofbibliothek  in  Wien,  Herrn  Hof- 
rath  Dr.  fernst  Ritter  von  Birk,  und  dem  Scriptor  daselbst,  Herrn 
Dr.  A.  Göldlin  von  Tiefenau  ,  dem  Herrn  Dr.  G.  E.  Friess,  Pro- 
fessor am  Gymnasium  des  Benedictinerstiftes  Seitenstetten,  dem  hoch- 
würdigen  Herrn  P.  Florian  Schininger,  Vorstand  der  Cistercienser- 
abtei    Schlierbach",    dem    Herrn    Bibliothekar    des    Benedictineratifte 


204  FRANZ  KRATOCHWIL 

Kremsmünster,  P.  HugoSchmid,dera  geehrten  Verwaltungsausschusse 
des  Böhmischen  Museums  in  Prag,  dem  Geheimen  Hofrath  Professor 
Dr.  W.  Pertsch,  Oberbibliothekar  der  herzoglichen  öffentlichen  Biblio- 
thek zu  Gotha,  und  Herrn  Dr.  Bender,  Vorstand  der  Universitäts- 
bibliothek zu  Heidelberg  [lange  todt.  O.  B.].  Den  ehemaligen  Ober- 
bibHothekar  der  königlichen  öffentlichen  Bibliothek  zu  Dresden,  Ge- 
heimen Hofrath  Professor  Dr.  E.  W.  Förstemann  erreichen  meine 
Dankesworte  nicht  mehr  im  Amte,  der  frühere  Director  der  königlichen 
Hof-  und  Staatsbibliothek  zu  München,  Professor  Dr.  Karl  Halm 
vernimmt  sie  gar  nicht. 

Auch  allen  Freunden  und  Bekannten,  die  mich  in  irgend  einer 
Weise  gefördert  haben,  danke  ich  hiemit  bestens,  besonders  den 
Herren  Universitätsprofessoren  Dr.  Richard  Heinzel  in  Wien,  Dr. 
Hermann  Paul  in  Freiburg  im  Breisgau  und  Dr.  K.  A.  Barack, 
Oberbibliothekar  der  Universitäts-  und  Landesbibliothek  zu  Straßburg. 
Es  würde  mich  freuen,  wenn  durch  die  Veröffentlichung  dieser 
Arbeit  eine  Anregung  gegeben  würde,  den  Spuren  Suchenwirtischer 
Gedichte  nachzugehen  und  etwa  gefundene  auf  dem  kürzesten  Wege 
bekannt  zu  machen.  Ich  glaube,  es  ließe  sich^  besonders  in  Miscellan- 
handschriften,  hie  und  da  noch  etwas  finden.  So  habe  ich  erst  jüngst, 
freilich  für  diese  Untersuchung  zu  spät,  aus  den  Beiträgen  zur  Quellen- 
kunde der  altdeutschen  Literatur  von  K.  Bartsch  ersehen,  daß  trotz 
fleißiger  Suche  mir  doch  zwei  Recensionen  [Suchenwirtischer  Gedichte 
entgangen  sind. 

WIEN,  im  Juli  1888. 

L  Handschriften. 

L  A. 

Aus  Katalogen  und  durch  zahlreiche  Anfragen  auf  verschiedenen 
Bibliotheken  sind  mir  einundzwanzig  Handschriften,  welche  Gedichte 
Suchenwirts  enthalten,  bekannt  geworden.  Die  bedeutendste  von 
allen  ist  A,  eine  Papierhandschrift  der  k.  k.  Hofbibliothek  in  Wien, 
Nr.  13045,  8".  Durch  den  erst  in  neuester  Zeit  erfolgten  Einband 
(rother  Juchten,  im  Geschmacke  des  14.  Jahrhunderts  gepreßt,  mit 
schön  bronzierten  stilvollen  Schließen,  auf  dem  Rücken  mit  Gold- 
buchstaben „Peter  Suchen  wir  t")  erhält  die  Handschrift  ein  quart- 
förmiges  Aussehen.  Die  drei  leeren  Blätter  nach  dem  vorderen  sowie 
vor  dem  rückwärtigen  Deckel  sind  eine  Zuthat  des  außerordentlich 
geschickten  (bereits  verstorbenen)  Buchbinders  Fr.  Kraus s  in  Wien; 
er  hat  es  auch  verstanden,  die  stellenweise  an  den  Blattenden  sehr 
abgegriffene   und   ausgefranste  Handschrift   aufs  Beste  zu   reparieren. 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHENWIRT-HSS.       205 

Die  Haudsclirift  selbst  besteht  aus  zweihundertzweiuudfünfzig 
Blättern.  Die  mit  Blei  angebrachte  fortlaufende  Paginierung  ist  bis 
pag.  48  richtig,  da  aber  die  nächste  Seite  auch  mit  48  bezeichnet 
ist,  so  ist  von  hier  an  jede  Zahl  um  eins  zu  niedrig.  Um  einerseits 
den  Fehler  auszugleichen ,  anderseits  aber  nicht  in  dauernden  Wider- 
spruch mit  der  nun  einmal  vorhandenen  Zählung  zu  gerathen,  citiero 
ich  in  der  Folge  48*  und  48".  Die  Paginierung  stammt  aus  unserer 
Zeit;  jedenfalls  war  sie  schon  vorgenommen,  bevor  die  Handschrift 
gebunden  wurde;  denn  dadurch  wurden  die  Zahlen  von  421  ab  mehr 
oder  minder  weggeschnitten.  Höchst  wahrscheinlich  rührt  sie  von  Alois 
Primisser^)  her,  gewesenem  Gustos  des  k.  k.  Münz-  und  Antiken- 
cabinetes  und  der  k.  k.  Ambrasersammlung  zu  Wien ;  dafür  spricht 
auch,  daß  sie  nur  bis  Seite  483  (richtig  484)  reicht,  denn  Seite  1  bis 
483  bringen  ausschließlich  Suchenwirtische  Gedichte.  Sie  sind  schon 
1827  in  seiner  bekannten  Ausgabe  der  Werke  Peter  Suchenwirts  ver- 
öffentlicht worden,  jedoch  abweichend  von  der  in  der  Handschrift 
eingehaltenen  Aufeinanderfolge.  Diese  zu  kennen,  ist  aber  aus  meh- 
reren Gründen   nöthig;    sie   ist  aus  nachstehender  Tabelle    ersichtlich. 


»  fc- 

■ä-So 

Pri- 

Von  Seite   . . .    der 

1 

missers 
Zählung 

Handschrift  bis 
Seite   . . . 

Überschriften 
der  Gedichte 

Geschrieben  vom 

1 



1,   Z.  1—7 

Titel  fehlt 

'2 

I 

1,Z.8— 9,Z.10 

Von     Chünik     ludwig     von 
Ungerlant 

3 

II 

9,     Z.    11  —  12, 
Z.    20 

Von  der  Kayserin  von  Payrn! 

1 .    Schreiber 

4 

xxni 

12,    Z.    21  —  17, 
Z.    12 

Ein   red    von   der   Minne 

5 

IX 

17,    Z.    13—27, 
Z.   24 

Di      von     Elrwach     vö     hn 
puppli 

6 

XLV 

28   bis  Ende  der- 

Ein red    von    liübscher  lug 

7 

XXIV 

selben  Seite 
29,     Z.     1—42, 
Z.    12 

Die   Minne  vor  Gericht 
NB.  Der  Titel  stammt  von  P 

2.   Schreiber 

1 

8 

XI 

42,     Z.    13  —  54, 
Z.   10 

VonGrafl"  vlreich  von  Phfan- 
berg 

')  Dafür    sowie    für  seine  Sucbeuwirt-Ausgabe  steht  im  Nachfolgenden  gewöhn- 
lich P. 

GERMANIA.     Nene  Reihe.  XXII.  (XXXIV.)  Jahrg. 


14 


206 


FRANZ  KRATOCHWIL 


I  ®  in     I 


Pri- 
mis  sers 
Zählung 


Von    Seite   . . .    der 

Handschrift  bis 

Seite  . . . 


Überschriften 
der  Gedichte 


Geschrieben  vom 


9 
10 
11') 
12 

13 

14 
15 
16 

17 


19 
20 
21 

22 


X 

XII 

III 
xni 

XIV 

VII 

VI 

XXI 

XXV 

XXVI 
XXVII 

XV 

vm 


54,    Z.  11  —  64, 

Z.  19 

64,    Z.  20—70, 

Z.  19 

70,    Z.  20—80, 

Z.  18 

80,    Z.  19—89, 

Z.  14 

89,    Z.    15  —  99, 
Z.   3 

99,    Z.    4—114, 

Z.   3 
114,    Z.    4—124, 

Z.  13 
124,  Z.  14—134 

Z.   7 

134,    Z.    8—142, 
Z.   20 

143,    Z.    1  —  156, 
Z.   22 

157,    Z.    1—159, 

Z.  16 
159,  Z.  17—163 

Z.  14 
163,  Z.  15—171, 

Z.   25 

171,  Z.  26—182, 
Z.   5 


Von  h^n  puppily  von  Elrwach 

NB.  Zweite  Bede 
Von      her      herdegen     von 

PetAw 
Von  h^rn  vireich  von  wallsse 

NB.  Erste  Fassung 

Von     h'tzog     Albrecht     vö 

Ostereich   (II.  f) 

Von      hn     vir     von     walse 
NB.  Zweite  Fassung 

Von    h'rn    fridreichen    dem 

Chreuzzpekch 
von  purgf   Albrechten    von 

Nurnberch 

von    kernden    h'^czog    hain 

reich 

Die  reD   haist  D    brief 


2.   Schreiber 


3.   Schreiber 


4.   Schreiber 


Die  schon  abeutewr 

Daz  geiaiD 

D*^   Rat  von  Dem  vngelt 

von  Leutolten  von  Stadekk 


Vo     b-er    pvrcharten     eller 
bach  Dem  alten 


5.    Schreiber 


6.    Schreiber 


7.    Schreiber 


8.    Schreiber 


9,   Schreiber 


')  Den  Text  dieses  Gedichtes  begleitet  am  linken  Rande  der  Handschrift  eine 
mit  Blei  angebrachte  Verszählung  (von  fünf  zu  fünf  Versen).  Sie  stammt  wahr- 
scheinlich von  derselben  Hand  wie  die  Paginjerung  und  findet  sich  auch  in  Nr.  14, 
17,  20,  21,  24,  25,  27,  31,  35,  39  und  44, 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHENWIRT-H8S.       207 


9    h 

f  »'S 
fms) 

Pri- 
misse rs 
Zählung 

Von 
Ha 

Seite   . . .   der 
iidschrift  bis 
Seite    . .  . 

Überschriften 
de  r   Gedichte 

Geschrieben  vom 

23 

XXVIII 

182, 

Z.    6—193, 
Z.   28 

die  haist  d'  widertail 

24 

XVI 

193, 

Z.  29  —  203, 
Z.   20 

von     Graff    vireichen     von 
Tzili 

25 

XXIX 

203, 

Z.  21—213, 
Z.    16 

Von   Dem  phenig 

.     10. 

Schreiber 

26 

XXX 

213, 

Z.  17  —  223, 
Z.   20 

Von   D*^   mynn   slaff 

27 

xvn 

223, 

Z.  21—231, 
Z.   25 

Von    hern   Fridreichen   von 
lochen 

, 

28 

XXXI 

232, 

Z.    1—241, 
Z.   20 

Das    ist  Di   verlegenhait 

.      11. 

Schreiber 

29 

XXXIX 

242, 

Z.    1—252, 
Z.   20 

Daz    sind  Di   tzelien   gepot 

1" 

Schreiber 

30 

XXXII 

253, 

Z.    1—255, 
Z.   20 

Daz   ist  Di   geitichait 

1 
1 

31 

xxxm 

256, 

Z.    1  —  262, 
Z.    10 

Daz  ist  Der    getrew  rat 

Schreiber 

32 

XIX 

262, 

Z.  11  —  266, 
Z.   15 

Daz  ist  Di  red  vom  Teichner 

14. 

33 

IV 

267, 

Z.    1—299, 
Z.   7 

Von  HHzog  Albr'  Ritt^schaft 

Schreiber 

34 

XXXIV 

299, 

Z.    8—305, 
Z.   7 

Von   Der  tursten    tailung 

i- 

Schreiber 

35 

xvin 

305, 

Z.    8  —  330, 

Von  h'^n  Hansen  Dem  Trawn*^ 

16. 

Schreiber 

Z.    12 

36 

XL 

330, 

Z.  13—342, 
Z.   9  0 

Daz  sint  Die  l'yben  tod  sünd 

17. 

Schreiber 

')  S.  342,  Z.   10—343  Ende  unbeschrieben. 


14* 


208 


FRANZ  KRATOCHWIL 


fMtS9 

Pri- 

missers 
Zählung 

Von   Seite     .  .    der 

Handschrift  bis 

Seite    . . . 

Überschriften 
der   Gedichte 

Geschrieben  vom 

37 

XLI 

344, 

Z.    1  —  418, 
Z.    7') 

Die   siben  frewd   Mariae 
NB.   Vgl.  S.  209. 

y      18,   Schreiber 
1 

38 

XLII 

420, 

Z.    1—428, 
Z.   4 

Die  red  von  Dem  Jüngsten 
gencht 

1 

39 

XXXV 

428, 

Z.    5—432, 
Z.   24 

Von   Zwain   Päbsten 

40 

XXII 

433, 

Z.    1—442, 
Z.   14 

Die  reD   haizzt  D^  new  rat 

41 

XLIU 

442, 

Z.  15—445, 
Z.    17 

Die  reD  haizzt  D^  frömD  sin 

.      19.   Schreiber 

42 

XLIV 

445, 

Z.  18—450, 
Z.   21 

Die   reD    ist   Equiuocum 

43 

XXXVI 

451, 

Z.    1—454, 
Z.   21 

Die  reD'  haizzt  D'  vmbchert 
wagn 

44 

XXXVII 

455, 

Z.    1—460, 
Z.   3 

Von  Der  fürstn  chrieg  vnD 
von  Des   reiches   stetn 

45 

XXXVIII 

460, 

Z.    4—477, 
Z.   4 

Daz   sinD   aristotiles   ret 

46 

V 

477, 

Z.    5—483, 

Von  h'rtzog  albo  säligen  in' 

1 

Z.   9 

öst'reich 

1     20.   Schreiber 

Der  Raum  nach  der  9.  Zeile  auf  Seite  483  ist  unbeschrieben, 
ebenso  die  nächsten  15  Seiten  (vgl.  S.  230) ;  dann  folgt  auf  zwein  Seiten 
ein  Tobias  Segen  **),  die  letzten  drei  der  Handschrift  selbst  ange- 
hörigen  Seiten  sind  hie  und  da  mit  bereits  abgeblaßten  Wörtern  be- 
kritzelt. 

Die  Schrift  des  Tobiassegens  stammt  wohl  noch  aus  dem 
15.  Jahrhunderte,   jedenfalls  ist  sie  jünger   als  die    von    A.    Volumen 

')  S.  418,  Z.  8—419  Ende  unbeschrieben. 

')  Er  ist  mit  keiner  der  beiden  in  der  Ztschr.  f.  d.  Alt.,  24.  Bd.  (1880),  S.  182  ff. 
mitgetheilten  Fassungen  identisch,  doch  zeigt  er  mit  V.  1—50  des  ersten  dort  ange- 
führten Segens  einige  Ähnlichkeit. 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUOHENWIRT-HSS.      209 

VII.  (erschienen  1875)  der  Tabulae  codi  cum  manu  scriptorum 
praeter  graecos  et  orientales  in  bibliotheka  palatina  vindobonensi 
asservatorum  setzt  (pag.  180)  ganz  allgemein  A  in  das  15.  Jahr- 
hundert; ich  möchte  die  Handschrift  dem  Ende  des  14.  oder 
doch  sp.ätestens  dem  Anfange  des  15.  Jahrhundertes  zu- 
weisen. 

Freilich  ist  die  Schrift  in  A  nicht  eine  durchgehend  gleich- 
mäßige: es  haben  eben  mehrere  Hände  daran  geai'beitet.  Für  den  in 
einer  Coluraue  mit  abgesetzten*)  Versen  —  ihre  Zahl  ist  auf  keiner 
Seite  höher  als  dreißig  und  sinkt,  wenn  man  von  den  in  der  Tabelle 
Nr.  36,  37  und  46  berührten  Fällen  absieht,  nur  selten  bis  fünfzehn 
—  gegebenen  Text  der  Gedichte  wurde  ausschließlich  schwarze  Tinte 
verwendet,  nur  in  Nr.  41  sind  die  vier  letzten  Zeilen  mit  rother 
Tinte  geschrieben.  Roth  sind  auch  die  Überschriften  der  Gedichte 
bis  auf  Nr.  23,  deren  Titel  schwarz  ist.  Bei  drein  Gedichten  fehlen 
die  Überschriften:  bei  Nr.  1  und  7  wegen  Lückenhaftigkeit  der 
Handschrift,  bei  Nr,  37  durch  den  Schreiber,  welcher  den  für  den 
Titel  auf  S.  343  reichlich  vorhandenen  Raum  zu  benützen  unterließ. 
Da  aber  Suchenwirt  im  fünften  Verse  vor  Schluß  dieses  Gedichtes 
sagt :  Di  sihen  freicd  haizzt  Daz  getichf, 

so  läßt  sich  mit  ziemlicher  Sicherheit  die  fehlende  Überschrift  er- 
setzen. —  Als  Gegenstück  dient  das  Gedicht  Nr.  44,  dessen  Titel 
zweimal  geschrieben  wurde:  Ende  der  S.  454  und  zu  Anfang  der 
S.  455. 

Roth  ist  auch  sehr  häufig  die  Initiale  der  einzelnen  Gedichte, 
und  zwar  in  sechsunddreißig  von  sechsundvierzig  Gedichten  der 
Handschrift,  in  Nr.  31,  33  und  35  ist  sie  roth  verziert;  nur  in  wenigen 
Gedichten  (Nr.  18,  22,  23,  34  und  36)  entbehrt  sie  ganz  der  rothen 
Farbe. 

Der  Anfangsbuchstabe  jedes  ersten  Verses  ist  groß^) 
bei  den  Anfangsbuchstaben  der  übrigen  Verse  ist  es  meistens  der 
Fall;  klein  (mit  nur  wenigen  Ausnahmen)  sind  sie  blos  in  Nr.  19  und 
21;  in  Nr.  35  beginnen  (doch  mit  einzelnen  Ausnahmen)  die  ungeraden 
mit  großen,  die  geraden  Verszeilen  mit  kleinen  Anfangsbuchstaben, 
in  Nr.   18,    20,    34  und  36  wechseln  sie  ohne  Regel,    doch  so,  daß  in 

18  und  34  die  großen,    in  20    (stammt    von    demselben  Schreiber  wie 

19  und  21)  die  kleinen  Anfangsbuchstaben  vorwiegen. 


')  Einige  Ausnahmen  zeigen  sich  in  Nr.   18  und  zu  Anfang  von  Nr.  37. 
')  In  den  Nummern  38 — 45  ist  er  sogar  auffällig  groß. 


210  FEANZ  KRATOCHWIL 

Unbekannt  ist  mir,  wie  P  in  der  Besehreibung  von  A  (dieselbe 
reicht,  von  einigen  Zeilen  der  Einleitung  auf  S.  XLIII,  XLIV,  LII 
und  LIII  abgesehen,  von  S.  XLV — XLVIII)  zur  Behauptung  kam: 
„Die  Verse  sind  alle  abgesondert  geschrieben,  jeder  mit  einem  roth 
durchstrichenen  Anfangsbuchstaben"  (S.  XLVI).  Ein  Blick  in  die 
Handschrift  zeigt  die  Unrichtigkeit  der  letzteren  Behaup- 
tung. Nur  die  vom  ersten  und  vorletzten  Schreiber  herrührenden  elf 
Gedichte  (Nr.  1-4  und  38—44  auf  S.  1—17  und  420—460)  zeigen 
die  großen  Buchstaben  am  Anfange  der  Verse  roth  durchstrichen,  und 
zwar  vertical  oder  wagrecht  die  ersteren,  die  letzteren  von  oben 
nach  unten.  In  allen  anderen  Gedichten  sind  die  Anfangsbuchstaben, 
abgesehen  von  jedem  ersten  Verse  und  ganz  vereinzelten  Ausnahmen, 
einfach  schwarz ;  nur  in  Nr.  37  wechseln  schwarze  Anfangsbuchstaben 
ziemlich  regelmäßig  mit  von  oben  nach  unten  roth  durchstrichenen. 
Ganz  allein  in  diesem  Gedicht  begegnen  auch  rothe  Anfangsbuch- 
staben, fast  auf  jeder  Seite  einer,  und  zwar  zu  Beginn  der  Darstel- 
lung einer  jeden  der  sieben  Freuden,  gewöhnlich  zu  Anfang  eines 
Citates  oder  nach  einem  größeren  Abschnitte. 

Am  Anfange  der  Verse  herrscht  somitder  große  Buch- 
stabe ziemlich  unbestritten.  Seine  Anwendung  ist  aber  auch 
im  Innern  der  Verse  ausgedehnter  als  in  mhd.  Zeit,  aber 
ganz  inconsequent;  letzteres  ist  schon  aus  den  in  der  Tabelle 
S.  205 — 208  angeführten  Überschriften  ersichtlich,  desgl.  aus  dem  Texte 
der  Handschrift^  welcher  häufig  genug  (so  in  Nr.  2,  5,  9,  20,  22,  24 
bis  27,  29,  33,  36—39,  41,  43—46)  nicht  einmal  alle  Orts-  und  Per- 
sonennamen mit  großen  Anfangsbuchstaben  bringt,  wohl  aber  nicht 
selten  wenig  bedeutende  Wörter  (besonders  in  Nr.  36  und  37) ;  so 
begegnet  in  Nr.  15  der  Vers  239: 

0  Edler  purgraf  albrecht 

u.  s.w.  Anders  in  Primissers  Ausgabe:  denn  diese  ist  kein  diplo- 
matisch treuer  Abdruck  von  A;  P  hat  sich  vielmehr  bezugs  der 
großen  Anfangsbuchstaben  für  den  Druck  eine  feste  Norm  gebildet 
und  schrieb  alle  Personen-  und  Ortsnamen,  sowie  alle  persönlich  oder 
allegorisch  gebrauchten  Ausdrücke  (DerPhenning  sprach  XIX  140, 
in  XXIV  der  Mai,  der  Winder,  die  Minne,  Staete,  Gerechti- 
kait  u.  s.  w.)  mit  großen  Anfangsbuchstaben,  desgl.  den  Anfang  der 
directen  Rede  nach  einem  Doppelpunkte. 

Letztere,  sowie  alle  Anführungs-  und  Bindezeichen,  kurz  nahezu 
sämmtliche   Unterscheidungszeichen    gehören    dem  Herausgeber 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHENWIRT-HSS.      21  1 

an.  Nur  die  wenigsten  der  hier  in  Betracht  kommenden  Zeichen  der 
Handschrift  lassen  die  Deutung  eines  mit  Absicht  gesetzten  Unter- 
scheidungszeichens zu ;  die  meisten  erscheinen  als  Spielereien  der 
Schreiber.  So  trifft  man  den  Punkt  nach  dem  Titel  eines  Ge- 
dichtes nur  sehr  selten  (Nr,  2  und  6),  zuweilen  aber  einem  latei- 
nischen c  ähnliche  Zeichen  (Nr.  5  und  6)  oder  eine  Kritzelei  (Nr.  11), 
meist  mit  zwein  oder  drein  vorgesetzten  Punkten  (Nr.  33,  35,  39  und 
nach  dem  ersten  Titel  von  44).  Der  Punkt  findet  sich  auch  am  Ende 
eines  Gedichtes  nur  ausnahmsweise  (Nr.  21),  desgl.  der  Strich- 
punkt (Nr.  13,  hier  wie  in  21  vor  dem  Worte  amen),  öfter  aber 
Kritzeleien  (Nr.  11,  12,  18,  26,  36,  37,  40  und  45),  oder  Doppel- 
punkte mit  einem  Striche  oder  Schnörkel  (Nr.  4,  33 — 35).  Durch 
Verbindung  von  Doppelpunkten,  Strichen  und  Schnörkeln  bilden  die 
Schreiber  ganze  Zeilen;  so  unter  dem  letzten  Verse  von  Nr.  21 
(während  in  Nr.  41,  42,  44  und  45  auf  den  letzten  Vers  ein  rother 
Strich  in  der  Länge  einer  Zeile  folgt),  aber  auch  innerhalb  von 
Nr.  37,  und  zwar  roth  nach  V.  502,  mit  dem  S.  367  schließt,  und 
einmal  schwarz  nach  V.  1473  (Ende  der  S.  414).  Am  Ende  der 
Verse  setzt  der  vorletzte  Schreiber  gerne  einen  schiefen  Strich,  be- 
sonders in  Nr.  38  und  39,  nicht  so  häufig  in  den  gleichfalls  von 
seiner  Hand  stammenden  Gedichten  40—45;  belanglose  Punkte  finden 
sich  in  Nr.  21  nach  den  Versen  123,  199  und  220,  in  Nr.  36  fast 
nach  jedem  Vers;  in  Nr.  22  nach  V.  221  steht  der  Punkt  am  richtigen 
Platz.  Punkte  oder  wagrechte  Striche  setzt  öfter  am  Ende  der  Verse 
der  Schreiber  von  Nr.  28,  der  von  Nr.  5 — 9  mehr  oder  minder  häufig 
fast  durchaus  unberechtigte  Doppelpunkte;  Punkte,  Doppelpunkte 
oder  Schnörkel  (öfter  Mehreres  zugleich)  begegnen  an  den  Versenden 
von  Nr.  13  hie  und  da,  von  Nr.  37  aber  ungemein  häufig. 

Durch  die  ganze  Handschrift  jedoch  ausgedehnt  ist  der  Ge- 
brauch der  Abkürzungszeichen.  Hieher  gehört  1.  ^  a)  für  in- 
und  auslautendes  er  :  vgl.  die  Überschriften  von  Nr.  5,  9,  13  u.  s.  w. ; 
besonders  gerne  wird  so  die  Vorsilbe  ver  gekürzt.  In  dieser  Ver- 
wendung nimmt  das  Zeichen  auch  häufig  die  Gestalt  an  "^  (so  in  den 
Überschriften  zu  den  Nummern  23,  26,  35  u.  s.  w.),  weit  seltener 
erscheint  dafür  ^  (Überschrift  zu  Nr.  33) ;  b)  für  e  vor  ?' :  vgl.  die 
Überschrift  von  Nr.  46 ;  für  auslautendes  r  :  Vo^  A  S.  93  =  P  XIII, 
103;  d)  für  iu-  und  auslautendes  ?-e  :  tw  A  S.  3  =  P  I,  70;  e)  für 
-echt  und  -recht:  vgl.  die  Überschriften  von  Nr.  33  und  46; 
f)  für  -reich  und  -eich  :  Frid',  himelro  A  S.  482  und  483  ^^-  P  V, 
123  und   147.     In    den    beiden    letzten  Fällen  wird  das  Zeichen  öft<r 


212  FRANZ  KRATOCHWIL 

verschnörkelt;    g)    ausnahmsweise    i'ür  ur  :   antioH   A  S.  445  =  P 
XLIII,  71. 

2.  In  Verbindung  mit  p  wird  -er,  -re  und  -ro  öfter  mit  g)  gegeben : 
plein  A  S.  144  =  P  XXV,  38;  einige  Mal  begegnet  suchen  und  in 
Nr.  37  ^pheten;  nur  einmal  findet  sich  p  =  pre  :  rübpcht  A  S.  430 
=  P  XXXV,  57. 

3.  "  =  inlautendem  ra  :  vgl.  Überschrift  zu  Nr.  15,  tib,  pcht 
A  S.  20  und  22  =  P  IX,  71  und  108,  ähnlich  in  Nr.  18,  22,  24 
und  37. 

4.  Ganz  ausnahmsweise  wird  inlautendes  re  und  ro  durch 
einen  e-förmigen  Haken  oder  durch  zwei  Punkte  bezeichnet  :  betgen 
=z  betrogen,  spchen  =  sprechen  A  S.  139  und  140  =  P  XXI, 
115  und  145,  twen  und  tivri  =  treioen  A  S.  170  =  P  XV,  176 
und  188. 

5.  und  zwar  a)  für  fehlendes  e  vor  n  '.  chrenchn  :  bedenchen 
A  S.  4  =  P  I,  73;  b)  für  in-  und  auslautendes  n  oder  m  :  gi'üt  :  munt 
A  S.  4  =  P  I,  77,  ungemein  häufig  vö,  vrüpt  :  chumpt  A  S,  189  =z 
P.  XXVIII  239,  de  A  S.  295  =  P  IV,  509;  c)  für  inlautendes  en  : 
ti^t  A  S.  186  =  P  XXVIII,  143,  TrTsch  öfter  in  Nr  36;  d)  allgemein 
vn  =■  und  oder  tmde;  e)  ausnahmsweise  für  fehlendes  g  in  samptzta- 
nacht  (Nr.  46,  V.  86) ;  /)  nur  in  Nr.  37  zur  Abkürzung  der  Namen 
Johannes  (Johes)  und  Jerusalem  (Jrlm). 

6.  9  :==  US  :  Jeronimo)  u.  s.  w.,  aber  nur  in  Nr.  37. 

7.  Durch  Combinierung  des  ersten  und  fünften  Zeichens  entsteht 
'^- :  pdm  =  prechen  (prehen)  A  S.  8  =  P  I,  183,  kommt  nur  ver- 
einzelt vor. 

8.  Durch  Verdoppelung  des  fünften  Zeichens  entsteht  :  phe- 
fjjg  ■=!  phenning,  nur  in  Nr.  25.  Allerdings  erscheint  dieses  Zeichen 
auch  häufig  in  Nr.  37,  aber  dessen  Schreiber  verwendet  es  in  allen 
denjenigen  Fällen,  wo  die  anderen  Schreiber  das  fünfte  Zeichen  ge- 
brauchen. 

Gewissermaßen  lassen  sich  als  Abkürzungszeichen  auch  die 
Haken  betrachten.  Sie  erscheinen  oberhalb  der  Buchstaben  (entweder 
unmittelbar  über  denselben  oder  etwas  seitlich)  geradezu  über- 
raschend häufig,  doch  nicht  immer  in  derselben  Form. 
Seite  1  der  Handschrift  zeigt  allein  folgende  fünf  Formen:  1.  '; 
2.  "  ;  3.  ""  ;  4.  '^  und  5.  :' ;  sonst  begegnen  noch  6.  •  oder  •  •  (sehr 
häufig  über  ?/);  7.  ^  (nicht  sehr  oft  und  dann  meist  über  e);  8.  ^-  ein 
deutliches  e;  9.  ausnahmsweise,  z.  B,  in  Nr.  36  die  Form  '  ,  endlich 
10.  ein  Punkt,    aber    nur    über    e    und    y    und    allein  in  Nr.  33;    am 


ÜBER  DEN   GEGENWÄRTIGEN  STAND  DEK  SUCHENWIKT-HSS.      213 

häufigsten  findet  sich  die  1.  und  4.  Form,  am  wenigsten  (abgesehen 
von  9  und  10)  die  2.,  3.  und  5. 

Die  Form  ist  übrigens  gleichgiltig  für  die  Bedeutung  des 
Hakens.  Diese  erhellt  aus  seiner  Verwendung  «)  zur  Bezeichnung 
der  Vocale,  Diphtonge  und   deren  Umlaute. 

So  wird  der  Umlaut  des  kurzen  a  auf  mhd.  Weise  gegeben  und 
auch  durch  d  :  täqeleich  A  S.  107  =  P  XIV,  197,  ferner  durch  e  : 
chlegleichen  A  S.  457  =  P  XXXVII  56;  daneben  aber  —  S.  455  — 
in  V.  4  des  nämlichen  Gedichtes  von  derselben  Hand  chaegleich. 

ae  ist  die  gewöhnliche  Bezeichnung  für  den  Umlaut  des  a,  doch 
wird  ae  (auch  ce  geschrieben)  nicht  selten  durch  e  vertreten  :  an 
evaer  :  siver  (swcer)  A  S.  13  =  P  XXIII,  13,  chem  =^  kcem  A  S.  293 
N^  =  P  IV,  470;  in  dem  letzten  Gedichte  (A  S.  267  ff.)  erscheint  das- 
selbe Wort  auch  so  geschrieben  :  chem;  P  schreibt  IV,  519  dafür 
ehem.  Allerdings  findet  sich  diese  Form  des  Hakens  über  einem  e  zur 
Bezeichnung  von  ce  zuweilen,  z.  B.  A  S.  456  sioere  :  Icjere  =  P 
XXXVII,  36  oder  A  S.  470  werst  {locerst)  =  P  XXXVIII,  216  und 
öfter,  zumal  in  IV,  aber  gerade  nicht  an  jener  Stelle.  —  AS.  169  = 
P  XV,  175  begegnet  e  :=  o;  in  reten  :  steten  (statten),  doch  sind  die 
Fälle  gar  nicht  häufig.  Ausnahmsweise  findet  sich  e  und  e  ^  ce  :  A 
S.  87  =  P.  III,  148  lar  (leere)  :  siver  und  A  S.  334  f.  =  P.  XL, 
84  und  101  iver  und   treger. 

d  erscheint  zuweilen  auch  für  mhd.  e  :  geioärt  A  S.  1  =  P  I,  16. 

Mhd.  e  wird  ausnahmsweise  durch  e  gegeben  :  er  :  mer  A  S. 
334  =  P  XL,  79,  und  vereinzelt  durch  e  :  ern  A  S.  7   =  P  I,    171. 

Die  Flexions-«^  werden  häufig  —  besonders  vom  achten  Schreiber, 
dessen  Text  schön  und  genau  ist  —  nur  durch  Haken  angedeutet  : 
A  S.  57  hörn  =  P  X,  80  (unrichtig  hörn  für  koren  oder  hoeren),  A 
S.  216  ivarn  =  P  XXX  75. 

o'  =  oe  und  ö  :  höret  und  vromdeii  (adj.)  A  S.  4  =  P  I,  86  f. ; 
das  letzte  Wort  begegnet  A  S.  445  auch  in  der  Schreibung  frbmd, 
wofür  P  XLIII,  51  froind  liest. 

au  wird  oft  durch  ah  gegeben  (ungemein  oft  aw^),  sehr  häufig 
durch  aw  (wie  denn  überhaupt  v  und  tv,  wenn  sie  als  u  zu  lesen 
sind,  gewöhnlich  den  Haken  tragen),  nur  ganz  ausnahmsweise  durch 
ü  im  Reime  pr'üt  :  hat  A  S.  235  =  P  XXXI,  71  von  dem  elften 
Schreiber,  der  auch  noch  durch  andere  Anzeichen  seine  alemanni- 
sche Abkunft  verräth. ') 

')  Er  hat  eine  unschöne,  nicht  besonders  genaue  Hand  und  gebraucht  immer 
och  (=  auch),  fröden  (V.    154  frölein)  und  haust  (=  hast);  er  liebt  auch  Consonaiiten- 


214  FRANZ  KRATOCHWIL 

eu  =^  ew,  sehr  häufig  ew,  seltener  ew  (der  19,  Schreiber  hat 
dafür  Vorliebe);  nicht  so  oft  erscheint  dio  {Idwt  A  S.  258  =  P 
XXXIII,  44),  du  {vrduden  A  S.  216  =  P  XXX,  75)  oder  eu  (Mchtet 
:  veüchtet  AS.   11   =  P  II,  65  [letzteres  Wort  hier  ohne  Haken]). 

öa  =  oü  und  da  :  vroüdenreich,  vrduden  A  S.  215  und  219  =: 
P  XXX,  52  und  143. 

w  mit  und  ohne  Haken  steht  1.  für  gewöhnliches  u  (A  S.  86  = 
P  III,  135  rübein  :  doch  sind  diese  Fälle  im  Ganzen  nicht  zahlreich, 
wenn  man  von  denjenigen  absieht,  die  bei  den  Halbdiphthongen  zu 
besprechen  sind). 

2.  Für  ü,  wo  sich  solches  in  Eigennamen  und  Fremdwörtern 
erhalten  hat,  z.  B.  lasur  :  figur  A  S.  183  =r  P  XXVIII,  27,  vtrich 
(Ü^trieht)  A  S.  21  =  P  IX,  97. 

3.  Für  w,  uo  (sehr  häufig  durch  ue  gegeben)  und  üe  :  sioürn  : 
ftürn  (mhd.  wo  :  w)  A  S.  95  =  P  XIII,  151,  hingegen  ftirte  :  spurte 
(mhd,  uo  :  u  oder  ü)  A  S.  169  =  P  XV,  153,  ebenso  P  VI,  89,  90 
und  XXX,  49,  50;  stühel  :  übel  (mhd.  üe  :  ü)  A  S.  440  =  P  XXII, 
176;  wuffen  :  rueffen  (mhd.  üe  :  üe)  A  S.  165  ^  P  XV  53;  chuele  : 
gestüele  A  S.  215  =  P  XXX,  53,  seltenere  Schreibweise,  ebenso 
früe  :  rue.  (ruowe)  A  S.  217  =:  P  XXX,  89,  frw  =  vruo  A  S.  337  = 
P  XL,  143  (A  S.  477  =  P  V,  13  ohne  Haken  tiv)  und  pehwtt  (behüet) 
A  S.  482  =  P  V,  134.  Ausnahmsweise  begegnet  bei  dem  aleman- 
nischen Schreiber  von  Nr.  28  iü  für  ü  und  üe  :  hitilff,  eiu,  hetriühen 
V.  29,  135  und  132  (vgl.  S.  213). 

Für  ei  {=  mhd.  t)  findet  man  auch  i  mit  darüber  gesetztem 
Haken;  dieser  wird  links  oder  rechts  von  i  angebracht,  wobei  das  i 
seinen  Punkt  in  der  Regel  verliert  (rnm  :  vein  A  S.  2  =  P  I,  22). 
Daneben  begegnen  nicht  selten  inconsequente  Schreibweisen,  wie 
preisen  :  hufeysen  A  S.  8  ^=  P  I,  195,  ja  sogar  chleine  :  staine  (mhd. 
ei  :  ei)  A  S.  260  =  P  XXIII,  82,  obwohl  A  das  alte  organische  ei 
sonst  gewöhnlich  mit  ai  bezeichnet  (vgl.  alem.  chW^    0.  B.). 

Der  Haken  ober  i  steht  sehr  häufig  auch  für  den  Diphthong  ie, 
wobei  i  meistens  seinen  Punkt  verliert  :  geschidt  (=  geschiet)  :  beriet 
A  S.  10  =  P  II,  39. 

Der  Haken  über  i  vertritt  auch  zuweilen  die  Stelle  des  I-Punktes, 
auffallend  häufig  in  Nr.  22  :  meines,  chüntg,  aln  u.  s.  w. ;  anderseits 
wird  der  I-Punkt  (abgesehen  von  i  =  ei  und  ie)  oft  weggelassen,  wie 


häufungen  wie  thisch,  tzhier ,  zoffph  u.  s.  w  ,  dagegen  schreibt  er  wieder /rwÄ^,  z%iht 
(V.  161);  die  Adjectivendung  m  wendet  er  gerne  an,  aber  auch  im  Acc.  sing.  fem. 
V.  72,  92  u.   s.  w.)  und  im  Nom.  plur.  masc.  (V.  64). 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHENWIRT-HSS.      215 

aus  manchen  Überschriften  der  Gediclite,  besonders  aber  aus  den 
Gedichten  Nr,  23—27  zu  ersehen  ist,  deren  Schreiber  die  Eigenthüm- 
lichkeit  hat,  die  I-Punkte,  falls  er  sie  anbringt,  meistens  etwas  rechts 
von  i  zu  setzen. 

b~)  Die  Haken  dienen  aber  auch  oft  zur  Bezeichnung 
der  Svarabhakti  (vgl.  Johannes  Schmidt,  Zur  Geschichte  des 
indogermanischen  Vocalismus  1875,  2.  Abtheilung,  S.  382  ff.),  sowohl 
wenn  sie  metrisch  gerechnet  wird  {Die  arm  leid  di  sten  da  vor  A  S.  337 
=  P.  XL,  148),  als  wenn  dies  nicht  der  Fall  ist  (armbrusf  A  S.  166 
=  P  XV,  65,  zorii,  genoorn  A  S.  217,  wofür  P  XXX,  87  tzore7i  : 
gesworen  schrieb). 

Übrigens  gibt  die  Handschrift  die  Svarabhakti  nicht  selten  durch 
i,  zuweilen  durch  e  (vgl.  J.  Schmidt  a.  a.  0.);  hie  und  da  fehlt 
auch  jede  graphische  Bezeichnung  der  Svarabhakti,  selbst  wenn  sie 
metrische  Geltung  hat,  so  in  P  XXXVIl,  34,  39,  54  und  102  {=  A 
S.  456  ff.),  wo  statt  arm  zu  lesen  ist  arm  (=  XL,  148)  oder  armen, 
ebenso  P  XXXVHI,  85  und  294  (=  A  S.  464  und  474).  P  XXXIX, 
41   (AS.  243)   begegnet  dem  loerige  :  herberge. 

c)  Interessant  ist  die  ziemlich  ausgedehnte  Verwen- 
dung der  Haken  zur  Bezeichnung  der  Halbdiphthonge  a", 
a'  oder  d",  e%  o"  oder  o',  i',  u"  oder  u'',  W  besonders  vor  r  mit  fol- 
gendem Consonanten,  aber  auch  vor  anderm  Stammschluß  (J.  Schmidt 
a.  a,  O.  S.  375,  384  f.;  hingegen  findet  Weinhold  in  den  a%  o%  u^ 
unechten  Umlaut:  Bairische  Grammatik  §.  9  und  42,  25  und  57, 
32  und  109). 

Nicht  alle  diese  Laute  waren  den  Schreibern  in  der  Bezeichnung 
gleich  geläufig,  am  wenigsten  die  aus  a  entstandenen:  da^ 
und  dä^  AS.  116  und  267,  wofür  P  VII,  51  de^  und  IV,  10  da^ 
setzt,  lassen  sich  hier  mit  Sicherheit  nicht  anführen.  Vgl.  übrigens 
verlaern  =  verldrn  aus  verlorn  im  Reime  auf  hochgeporn  A  S.  47  = 
P  XI,  124,  vaern  =  vd^m  aus  vären  im  Reime  auf  jarn  A  S.  41  = 
P  XX,  316  und  getzaemt  =  gezdmt  aus  gezamt  gereimt  auf  erlamt  A 
S.  51  =  P  XI,  255. 

Zahlreicher  und  in  verschiedenen  Theilen  der  Handschrift  finden 
sich  Beispiele  für  e%  am  häufigsten  im  Gedichte  Nr.  29.  er  (subst.)  • 
.s-eV  (adv.)  A  S.  248  und  251  =  P  XXXIX,  151  und  203;  loer ') 
(Abwehr)  :  her  (exercitus)  A  S.  307;  308;  312,  315;  323;  326  =  P 
XVIII,  51;  77;  159,  221;    413;   479  :  mer  (mare)  A  S.  309;    310  = 


')  Die  Schlierbacher  Handschrift  schreibt  V.  93  loeer,  V.  413   Heer. 


216  FRANZ  KRATOCHWIL 

P  XVIII,  93;  119;  UHze  A  S.  83  =  P  III,  65  und  68,  phert  A  S. 
434  =  P  XXII,  32,  sivert  (schwört);  hercz  und  werben  :  sterben  A  S. 
247,  250,  252  =  P  XXXIX,  121,  177  und  219;  swemt  A  S.  278, 
292  =  P  IV,  194,  448;  ent,  mensch,  A  S.  336  =  P  XL,  125,  128, 
streben  :  leben,  das  recht  A  S.  248,  251  =  P  XXXIX  131,  208;  sb 
(pron.)  A  S.  308,  316  =  P  XVIII,  76,  246.  Vgl.  übrigens  auch  see 
(subst.)  A  S.  109  =  P  XIV,  231,  249  (Weinhold,  Bair.  Gr.  §.  75  b) 
:  ee  (adv.)  A  S.  321  =  P  XVIII,  364  :  ich  gee  A  S.  89  f.  =  P  XIII, 
7,  ee  (adv.)  A  S.  152  =  P  XXV,  257  und  ee  (adv.)  A  S.  86  f.  = 
P  III,  139,   162. 

Belege  für  die  übrigen  Halbdiphthonge  finden  sich  in  den  ver- 
schiedensten Gedichten  der  Handschrift  und  sind  sehr  zahlreich,  so 
tzorn  :  ho7m,  geporn  :  dorn,  ivdrten  :  orten  A  S.  55,  82,  248  =  P  X, 
29,  III,  33,  XXXIX,  133;  in  der  chron  :  schon  A  S.  8  =  P  I,  189; 
des  todes  A  S.  81  =  P  III,  22,  guten  trdst  :  hat  erlost  A  S.  10  = 
P  II,  43  (hingegen  A  S.  49  =  P  XI,  193,  derselbe  Reim  ohne  Haken), 
gr62,2,e  flust  A  S.  48"  =  P  XI,  155;  das  in  demselben  Gedicht  oft 
wiederkehrende  chldster  (sing.)  ist  nur  in  V.  21  und  35  ohne  Haken 
geschrieben,  not  :  tot  A  S.  13  =  P  XXIII,  15;  in  hochem  mfit  A  S.  2 
=:  P  I,  27 ;  bei  sämmtlichen  hier  angeführten  Belegen  für  o'  fehlt  in 
P  der  Haken. 

gecziert  :  suchenwirt  (der  Haken  wurde  im  zweiten  Wort  ver- 
gessen), vir  :  begir  A  S.  299  und  160  =  P  IV,  569  und  XXVII,  13, 
überdies  ungemein  viele  ähnliche  Fälle  außerhalb  des  Reimes;  hieher 
gehören  auch  die  ohne  Haken  geschriebenen  Belege:  daz  viech  :  siech 
(mhd.  i  :  ie)  A  S.  252  =  P  XXXIX  221,  niender  :  toinder  A  S.  237 
=  P  XXXI,  109  (vgl.  K  I '),  S.  22),  ich  siech  (video)  A  S.  38  =  P 
XXIV,  246. 

durch  A  S.  111  =  P  XIV,  287  u.  o.,  churizen  (adj.)  A  S.  37  = 
P  XXIV,  222  u.  ö.;  P  ließ  in  beiden  Fällen  den  Haken  weg';  nicht 
selten  haben  ihn  auch  die  Schreiber  vergessen,  z.  B.  snur  :  verlur 
(mhd.  uo  :  u)  A  S.  440  =  P  XXII,  170  (vgl.  auch  S.  214);  uns 
A  S.  10  f.  :=  P  II,  25,  50,  64  (bei  P  an  allen  drei  Stellen  ohne 
Haken)  und  sonst  ungemein  oft,  desgl.  untz  und  ünder,  letzteres  auch 
in  Zusammensetzungen;  hieher  gehört  auch  tun  (inf.)  :  sun  (=  Sohnes) 
A  S.  44  z=:  P  XI,  53;  prmst  (sing.)  und  czücht  (subst.)  A  S.  86  und 
250,  beide  Fälle  bei  P  III,  133  und  XXXIX,  184  ohne  Haken. 


')  K  I  hier    und    im  Folgenden    für  A.  Koberstein,    Über    die  Sprache    des 
österreichischen   Dichters  Peter  Suchenwirt.    Lautlehre. 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHEN WIRT-HSS.       217 

chum  he>^  ßir  :  du  mich  für  (mhd.  ?7  :  ne)  A  S.  448  =  P  XLIV, 
55,  erfür  :  vei'lür  (mhd.  üe  :  «)  A  S.  155  =  P  XXV,  325;  vgl.  auch 
S.  214. 

Einen  verläßlichen  Einblick  in  diese  mannigfache  Anwendung 
des  Hakens  erhält  man  aus  dem  schon  S.  210  angegebenen  Grunde 
aus  P  nicht,  am  ehesten  noch  über  die  Gruppe  a.  Doch  hat  er  aus 
Verseheu  zuweilen  die  Form  des  Hakens  geändert  {frewden  XLIV^ 
109  und  118,  wo  A  frewden  hat  u.  s.  w.)  und  den  Haken  ganz  weg- 
gelassen (I,  13  mir,  II,  2  dir,  35  ir,  XXIII,  66  diiier,  IX,  173  lichte 
u.  s.  w.,  wo  A  den  Haken  hat),  wodurch  manchmal  das  Metrum 
leidet  (so  II,  12,  wo  trawrn  =  trauern  zu  lesen  ist  u.  s.  w.).  Ander- 
seits hat  er  Haken  gesetzt,  wo  A  sie  nicht  hat,  so  II,  53  gebeut, 
während  er  dieselbe  Form  I,  147  und  204  mit  A  gebeut  schrieb. 
Wichtiger  ist  die  principielle  Änderung,  uo  und  ue  mit  ü,  hingegen 
ü  mit  u  zu  geben  (Einleitung  S.  LII).  Ein  Blick  jedoch  in  Primisser's 
Text  genügt,  zu  zeigen,  daß  er  sein  Princip  leider  nicht  strenge 
durchgeführt   hat. 

Das  P  mehrere  durch  Haken  angedeutete  Svarabhakti  in  seinen 
Text  aufgenommen,  kann  uns  ebenso  sehr  Wunder  nehmen,  als  es 
uns  begreiflich  erscheint,  daß  er  sich  gegenüber  der  Gruppe  c  ab- 
lehnend verhielt:  er  erklärt  derlei  Haken  durch  die  Nachlässigkeit 
der  Schreiber   (Einleitung  S.  LIII). 

Halten  wir  auch  derzeit  diesen  Vorwurf  nicht  für  gerechtfertigt, 
so  könnte  man  doch  geneigt  sein,  ihn  aus  einem  andern  Grunde  zu 
erheben,  wenn  uns  nämlich  Formen  begegnen,  wie  suchen,  muteSj 
süssen  (AS.  1,  5,  9  =  P  I,  5,  104  und  II,  8)  u.  s.  w.,  die  noth- 
w endig  den  Haken  verlangen,  oder  wenn  wir  den  Haken  ungleich- 
mäßig angewendet  finden  {vor  :  tor,  erchorn  :  gepwn,  vor  sünden  und 
vor  schänden  A  S.  2,  3,  4  =  P  I,  43,  44,  47,  48,  88  u.  s.  w.).  Unser 
Urtheil  wird  aber  milder  ausfallen,  wenn  wir  bedenken,  daß  diese 
Erscheinungen  im  Verhältniss  zu  dem  bedeutenden  Umfang  der  Hand- 
schrift nicht  zu  zahlreich  sind,  dann  daß  an  dieser  großen  Hand- 
schrift mindestens  zwanzig  Schreiber  gearbeitet  haben,  und  zwar  zu 
einer  Zeit,  wo  nicht  nur  die  Quantität  in  starkem  Schwanken,  son- 
dern die  gesammten  sprachlichen  Verhältnisse  in  mehr  oder  minder 
lebhaftem  Flusse  waren,  so  daß  für  die  schriftliche  Fixierung  mancher 
neuen  oder  doch  erst  jetzt  zum  sichern  Bewußtsein  gelangenden  Er- 
scheinungen (z.  B.  der  Halbdiphtonge  a",  e')  den  Schreibern  bereits 
geläufige  Behelfe  nicht  zur  Verfügung  standen. 


218  FRANZ  KRATOCHWIL 

Aus  denselben  Gesichtspunkten  werden  auch  die  oft  von  einem 
und  demselben  Schreiber  herrührenden  inconsequenten  Schreibungen 
der  Consonanten,  besonders  der  Geminationen  und  Con so- 
tt an  tenverbindungen  zu  beurtheilen  sein  {sei  und  seil  {==  sele)  A 
S.  245  und  251  =  P  XXXIX,  79  und  197 ;  Ev^n  und  Efen  A  S.  388  f. 
=  P  XLI,  922  und  933,  phfat  und  phat  AS.  139  und  142  z=  P 
XXI,  126  und  189;  ivardt  (verb.) :  ze  widerpart  A  S.  21  =  P  IX,  85, 
gesait  :  laid  (acc.)  A  S.  262  ==  P  XXXIII,  117,  unverslunten  :  über- 
wunden A  S.  451  =  P  XXXVI,  22,  geritten  :  versniten  A  S.  120  = 
P  VII,  153,  das  sehr  oft,  so  A  S.  143  ff.  (P  XXV),  hingegen  wa^ 
(verb.)  :  graz,  (subst.)  V.  33,  V.  129  wieder  was,  V.  123  wa2,^pr,  V. 
361  wasser,  fleis  :  xvei^  V.  219,  aber  weis  V.  186  und  208,  Hessen  : 
sfte^^m  V.  335,  wie  denn  unter  allen  Schreibern  gerade  der  siebente 
die  größten  Inconsequenzen  in  der  Schreibung  der  S-Laute  zeigt; 
erschrikchet  :  unvertzwichet  A  S.  259  =  P  XXXIII,  58,  drukte  :  ver- 
ruchte A  S.  280  =  P  IV,  225,  gejechen  (inf.)  :  gesehen  (part.)  A  S. 
57  ^  P  X,  83;  hingegen  begegnen  beide  Formen  von  demselben 
Schreiber  mit  ch  A  S.  31  ==  P  XXIV  50  und  mit  Ä  A  S.  65  =  P 
XII,  25  u.  s.  w.;  vgl.  K  I,  12  und  IIP),  Note  11,  I,  20,  34—37,  39, 
42  und  II,  Note  8,  ferner  I,  50  und  51  u.  s.  w.);  desgl.  die  ungemein 
zahlreichen,  oft  recht  auffälligen,  zuweilen  geradezu  den  Eindruck 
von  Willkür  machenden  Apocopen  und  Syncopen  (z.  B.  reichs 
und  reiches  im  zweimal  geschriebenen  Titel  zu  Nr.  44),  Erscheinungen, 
welche  selbst  wieder  auf  die  Schreibung  der  Vocale  wie  der  Conso- 
nanten  vom  großen  Einflüsse  sein  mussten  (vgl.  Weinhold,  Bair.  Gr. 
§.  14  und  15  und  K  I,  53,  2),  aber  wie  schon  aus  Koberstein's 
Untersuchungen  (besonders  I,  53 — 55,  11,  §.  11 — 22,  49,  75  Punkt  1 
und  2,  77  Punkt  3  und  4,  III,  §.  1—9,  36—39  u.  s.  w.)  erhellt, 
sicherlich  nicht  durchaus  auf  Rechnung  der  Schreiber  zu  setzen 
sind.  —  Wenn  wir  überdies  unsere  Handschrift  in  Bezug  auf  genaue 
Schreibung  mit  gleichzeitigen  Urkunden  und  anderen  größeren  Schrift- 
stücken vergleichen,  dann  wird  unsere  anfängliche  Neigung  zu  einem 
etwas  abträglichen  Gesammturtheil  über  die  Schreiber  von  A  bald 
weichen,  ja,  wir  werden  ihnen  sogar  das  Lob  einer  verhältniß- 
mäßigen  Sorgfalt  nicht  vorenthalten. 

Dieses  wird  auch  nicht  geschmälert  durch  die  in  A  vorkom- 
menden   Schreibfehler    und    Lücken.     In  Bezug  auf  erstere  ver- 


*)  II   für    die    zweite,    III    für    die    dritte  Abtheilung    von   Koberstein's  Unter- 
suchungen über  Suchenwirt's  Sprache. 


ÜBBR  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHENWIRT-HSS.       219 

halten  sich  die  verschiedenen  Theile  der  Handschrift,  je  nach  Be- 
schaffenheit der  Schreiber,  sehr  ungleichmäßig.  Selbst  in  den  einem 
Schreiber  angehörigen  Gedichten  zeigt  sich  nicht  immer  der  gleiche 
Grad  von  Sorgfalt;  das  beste  Beispiel  bietet  der  19.  Schreiber:  er 
erscheint  in  Nr.  39,  40,  43  und  45  ziemlich  genau,  in  41  genau,  in 
38  und  42  sehr  genau,  hingegen  in  44  nicht  genau;  in  den  vom 
zehnten  Schreiber  herrührenden  Gedichten  hingegen  ist  eine  immer 
mehr  zunehmende  Genauigkeit  nicht  zu  verkennen. 

Die  meisten  Schreiber  haben  den  von  ihnen  gelieferten  Text 
revidiert  und  so  manche  Irrthümer  verbessert');  so  hat  der  14.  Schreiber 
an  seiner  Arbeit  (572  Verse)  nahezu  vierzig  Correcturen  vorgenommen  ; 
leider  blieben  noch  über  zwanzig  Fehler  in  dem  ebenso  schön  als 
deutlich  geschriebenen  Gedichte  zurück.  —  Hie  und  da  (P  XVI,  200, 
XXX,  181   und   182)  findet  sich  auch  eine  Rasur. 

An  ungefähr  60  Stellen  merkt  man,  daß  die  Verbesserungen 
nicht  vom  Schreiber,  sondern  von  anderer  (aber  alter)  Hand  her- 
rühren; die  meisten  derartigen  Correcturen  entfallen  auf  die  nicht 
besonders  deutliche,  wohl  aber  recht  fehlerhafte  Abschrift  des  siebenten 
Schreibers,  fast  ebensoviele  kommen  dem  zehnten  und  zehn  dem 
vierzehnten  Schreiber  zu  Gute. 

Trotzdem  finden  sich  noch  über  zwei  und  ein  halbes  Hun- 
dert Verstöße.  Aber  die  weitaus  größere  Hälfte  davon  ist 
nicht  nur  gleich  als  Fehler  erkennbar,  sondern  auch  von  dem  halb- 
wegs bewanderten  Leser  unschwer  zu  corrigieren.  Bei  mehr  als 
dreißig  sinnlosen  Stellen  ist  das  nicht  so  leicht;  verhältuißmäßig 
participieren  daran  am  meisten  außer  dem  neunten  Schreiber  der 
fünfte,  der  sich  überdies  durch  lange  wagrechte  Striche  auszeichnet, 
die  er  seinen  g  und  t   anfügt,    mit  Nr.   15'^)    und    der  19.  mit  Nr,  44, 

')  P  hat  solche  Änderungen  auch  dort,  wo  sie  Beachtung  verdienen,  nicht 
immer  gewürdigt;  so  schrieb  er  IX,  32  reyffea ^  obwohl  in  A  das  s  durchgestrichen 
und  über  e  ein  wagrechter  Strich  gesetzt  ist,  III,   128 

Unwerleich  und  ummütea  par, 
trotzdem    der  Schreiber    das  sinnlose    dritte  Wort    in    mütes    geändert  hat  ,    XVI,   191 
gealacht,  wiewohl  an  das  a  ein  e  angehängt  worden  ist  u.  s.  w.' 
*)  Für  die  auffällige  Schreibung  im  Verse : 

Was  er  der  iaer  helen  schar 
setzt  P  VII,   101  laerhelen,  richtig  würe  larahelen,  entsprechend  XXXIX,  .31  und  34; 
die  unsinnigen  Verse : 

aein  edel  hertz  im  vier  geriet 
Von  manhait  noch  von  milde 
hat  P  VII,    124  zu  bessern    gesucht,    indem  er  nivier  setzte;  das  Richtige  ist  im  nie, 
was  auch  der  Schlierbacher  Codex  hat. 


220  FRANZ  KRATOCHWIL 

An  circa  achtzig  Stellen  wurde  durch  nicht  beseitigte  Schreib- 
fehler der  Reim  getrübt,  zuweilen  auch  gestört.  Die  Fälle  vertheilen 
sich  durch  die  ganze  Handschrift;  doch  größeren  Antheil  haben  der 
11.  Schreiber,  der  19.  mit  Nr.  43,  der  10.  mit  Nr.  27  (vrowden  :  ver- 
hawen  wurde  von  P  XVII,  32  in  vrowen  geändert,  kommt  somit  nahe 
dem  richtigen  frawen)  und  der  siebente  (über  lamme  :  tamne,  das 
auch  P  XXI,  85  aufgenommen  hat,  vgl.  K  I,  9  und  29,  dann  II, 
Note  45;  gewolkent  im  Keime  auf  gecziri  P  XXV,  48,  läßt  sich  nach 
cgm.  4871  leicht  in  geivolkeniert  bessern,  was  auch  schon  K  III,  §.  67 
angesetzt  hat).  —  Nur  zweimal  (XXIV,  195  und  XV,  107)  trat  Stö- 
rung des  Reimes  ein,  weil  die  Schreiber  das  Reimwort  anzubringen 
vergaßen,  und  dreimal,  weil  sie  einen  ganzen  Vers  übersahen, 
nämlich  in  P  XXXH  nach  V.  18,  in  XXH  nach  V.  169  und  in  V 
nach  V.  41. 

Im  Innern  der  Verse  fehlen  einzelne  Wörter  öfter,  aber  auch 
nicht  häufig;  neun  von  den  sechzehn  Fällen  rühren  allein  vom  fünften 
Schreiber  her.  Neben  diesen  geringfügigen  Lücken  hat  die 
Handschrift  leider  auch  größere;  vier  davon  waren  schon  dem 
Herausgeber  bekannt.  Gleich  die  erste  Seite  beginnt  mit  den  sieben 
Schlußzeilen  eines  satirischen  Gedichtes  (vgl.  S.  238) ;  mit  S.  28 
endet  in  A  Vers  23  von  Nr.  6;  auf  S.  29  ganz  oben  beginnt  V.  2 
von  Nr.  7,  es  fehlen  somit  vom  ersteren  Gedichte  91  Verse,  vom 
letzteren  der  Titel  und  mindestens  der  erste  Vers,  somit  im  Ganzen 
zwei  Blätter;  desgl.  zwischen  dem  letzten  Verse  auf  S.  85  und 
dem  ersten  auf  S.  86  (=  P  IH,  116  und  117):  es  sind  nämlich 
(vgl.  S.  238)  89  Verse  abgängig,  doch  ist  äußerlich  nur  der  Mangel 
eines  Blattes  zu  erkennen.  Ein  Blatt  fehlt  nach  S.  121:  zwischen 
V.  185  und  186  von  P  VII  ist  eine  Lücke  von  41  Versen  (vgl.  S.  238). 
Außer  diesen  bemerkte  ichnoch  zwei  größere  Lücken  von 
je  52  Versen:  in  Nr.  9  nach  S.  55  (P  X.  34)  und  in  Nr.  27  nach 
S.  225  (P  XVH,  52);  beide  sind  äußerlich  nicht  auffällig  (vgl.  S.  238). 
Keine  dieser  sechs  größeren  Lücken  fällt  den  Schreibern  zur  Last, 
sie  erklären  sich  vielmehr  aus  der  Geschichte  der  Handschrift. 

Leider  lässt  sich  dieselbe  mit  Sicherheit  nicht  einmal  bis  in  das 
vorige  Jahrhundert  verfolgen.  1820  erfuhr  P  von  der  Existenz  derselben 
durch  Hofrath  Josef  von  Hammer  (nachmals  Freiherrn  von  Hammer- 
Purgstall),  der  ihn  seinem  Freunde,  dem  Fürsten  Prosper  von 
Sinzendorf,  dem  Besitzer  der  Handschrift,  empfahl,  P  sagt  in 
der  Einleitung  zu  seiner  Ausgabe  nur,  daß  die  Handschrift  „seit 
langer  Zeit  unerkannt"    unter  den  Büchern  des   kenntnißreichen 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCnENWIRT-TTSS.       221 

P^ürsten  Prosper   von  Sinzendorf    gelegen,    der    sie    ilnn    mit    größter 
Bereitwilligkeit  zur  literarischen  Benützung  überließ  (S,    XLIII). 

Dieses  hervorragende  österreichische  Adelsgeschlecht  (vgl,  Dr.  C  o  n- 
stant  von  Wurzbach,  Biograj)hisches  Lexikon  des  Kaiserthunis 
Österreich,  35.  Theil.  Wien  1877.  S.  12—27)  reicht  bis  in  das  11. 
Jahrhundert  zurück.  Heinrich,  welcher  um  1044  lebte,  nannte  sich 
nach  dem  in  Ob  er  ö  st  erreich  gelegeneu  Orte  Herr  von  Sinzen- 
dorf); das  Geschlecht  erhielt  zu  Anfang  des  17.  .lahrhundertes  den 
Freiherrn-,  16.53  den  Reichsgrafenstand.  Zu  Anfang  des  Iß.  Jahr- 
hunderts erscheint  es  in  zwei  Hauptlinien  gespalten:  in  die  jfingere, 
nach  dem  untersteierischen  tSchlol.>  und  Städtchen  Friedau  benannte 
Fridauische  oder  Neuburgische  Linie,  welche  1767  im  Mannesstamme 
ausstarb,  und  in  die  ältere  Feyereggische  Linie,  welche  sich  später 
nach  dem  niederösterreichischen  Schlosse  Ernstbrunn  nannte.  Der 
letzte  männliche  Sprosse  dieser  Linie  und  des  ganzen  Geschlechtes 
ist  der  früher  genannte  Prosper  von  Sinzendorf,  welcher  1<S03  die 
Würde  eines  Reichsfürsten  erhalten  hatte.  Er  liebte  die  Wissenschaften 
und  den  Umgang  mit  gelehrten,  geistreichen  Personen  und  legte  eine 
ansehnliche  Bibliothek  an,  zu  welcher  auch  unsere  Handschrift  ge- 
hörte. Ob  diese  der  Fürst  erst  erworben  oder  —  was  höchst  wahr- 
scheinlich ist  —  schon  als  altes  Erbstück  seines  Geschlechtes 
überkommen  habe,  hätte  P  leicht  in  Erfahrung  bringen  können ;  aber 
er  berichtete  darüber  nur  die  oben  angeführten  Worte:  ihn  interes- 
sierte vielmehr  der  Inhalt  der  Handschrift. 

Bereits  1821  war  er  mit  der  Durcharbeitung  der  Handschrift 
fertig,  und  noch  im  selben  Jahre  machte  er  von  dem  reichen  Inhalte 
derselben  den  Freunden  der  alten  Literatur  und  Geschichtskunde  um- 
fassende Mittheilung  im  14.  Bande  der  Wiener  Jahrbücher  der 
Literatur,  Anzeigeblatt  S.  10 — 51.  Der  Aufsatz  erschien  gleichzeitig 
bei  Carl  Gerold  in  Wien,  auch  als  Separatabdruck  (aber  nur  in  zwölf 
Exemplaren)  unter  dem  Titel:  Nachricht  von  einer  neuent- 
deckten Handschrift  mit  deutschen  Gedichten  aus  dem 
14.  Jahrhunderte,  verfasst  von  Peter  Suchen  wirt  aus 
Osterreich.  Mitgetheilt  von  Alois  Pr  im  isser.  44  Seiten  8". 
Am  ausführlichsten  sind  die  Auszüge  aus  den  historischen  Ge- 
dichten im  engeren  Sinne   (den  sogenannten  P^hrenreden) ;  sie  umfassen 

')  Das  Dorf,  in  welchem  .sich  das  Stammiiaus  dieses  Geschlechtes  bef;ind,  liegt 
im  Traunviertel ,    in  der  Nähe  des  Cistercienserstiftes  Schlierbacii    ntid   »ehört  zu  der 
(1784   selbständig  gewordenen)  Pfarre  Nnlibach,  vgl.   B.  Pill  wein.  Geschichte,  Geo- 
graphie und  Stati.sUk  des  Erzherzogthums  ob  der  Enns  (1827—18:59),    '2,  Bd.,  S.  409. 
liEBUANIA.    Neue  Eeihe  XXU.  (XXXIV.)  JaLrg.  15 


222  FRANZ  KRATOCHWIL 

nahezu  dreißig  Seiten;  ungefähr  acht  Seiten  sind  den  Sittengeraälden 
und  Lehrgedichten  gewidmet,  eine  Seite  den  geistlichen  Dichtungen 
und  Reimkünsten.  Bemerkungen  über  des  Dichters  Leben  und  sonstige 
dem  Berichterstatter  bekannt  gewordene  Handschriften,  welche  einzelne 
G-edichte  Suchenwirt's  enthalten,  erfüllen  die  drei  letzten  Seiten  der 
umfangreichen  Anzeige. 

Hat  P  gleich  seit  seiner  ersten  Kenntniß  der  Handschrift  diese 
vor  Allem  als  eine  wichtige  geschichtliche  Fundgrube  betrachtet  und 
dem  Nachweise  dieser  Anschauung  den  größten  Theil  seiner  Mit- 
theilungen gewidmet,  so  erscheint  uns  nicht  auffallend,  daß  seine  An- 
zeige besonders  bei  Historikern  das  regste  Interesse  wachrief  und 
gerade  von  diesen  zuerst  der  Wunsch  geäußert  wurde,  P  möge  den 
spannenden  Inhaltsangaben  der  Gedichte  Suchenwirt's  ehebaldigst  eine 
vollständige  Ausgabe  dieser  selbst  folgen  lassen.  P  erklärte  sich  be- 
reit; aber  bald  wäre  die  Ausführung  in  Frage  gestellt  worden:  Fürst 
Prosper  von  Sinzendorf  war  auf  einer  Reise  nach  Karlsbad  aus  dem 
Wagen  gestürzt  und  in  Folge  davon  im  August  1822  gestorben.  Er 
war  unvermählt  geblieben;  durch  testamentarische  Verfügung  fiel  mit 
seinem  Besitz  auch  die  Bibliothek  und  somit  auch  unsere  Handschrift 
an  den  Sohn  seiner  Schwester  Maria  Anna,  den  Grafen  Georg  von 
Thurn  (Wurzbaeh  a.  a.  O.).  P  sagt  nur,  daß  er  auch  von  ihm  wie 
von  dem  früheren  Besitzer  bezugs  Benützung  der  Handschrift  das 
größte  Wohlwollen  erfuhr.  Kr  rechtfertigte  dasselbe  vollkommen; 
bereits  1827  erschien  bei  Wallishauser  in  Wien  Primisser's  Ausgabe: 
„Peter  Suchenwirt's  Werke  aus  dem  vierzehnten  Jahrhunderte.  Ein 
Beitrag  zur  Zeit-  und  Sittengeschichte".  LIV  und  392 
Seiten  8"^). 

Unstreitig  hat  sich  P  dadurch  ein  wahres  Verdienst  erworben: 
eine  nicht  unbedeutende  Lücke  der  Literaturgeschichte  ward  hiemit 
ausgefüllt  und  literarische  Denkmäler,  für  die  Geschichtsforschung 
nicht  weniger  wichtig  als  für  die  Sprachwissenschaft,  dadurch  allge- 
mein zugänglich  gemacht.  Daß  P  die  historische  Bedeutung  der 
Suchen  wirtischen  Gedichte  gleich  bei  der  ersten  Durchnahme  der 
Handschrift  richtig  erkannte  und  in  seiner  Anzeige  entsprechend 
würdigte,  ward  bereits  hervorgehoben.  Es  ist  auch  aus  seiner  Ausgabe, 


')  Leider  starb  der  unermüdlich  thätige  Mann  bald  nach  dem  Erscheinen  seines 
Werkes  im  32.  Lebensjahre;  vgl.  Bergmanns  Aufsätze:  „Alois  Primisser  und  sein 
literarisches  Wirken"  in  Nr.  99  der  Blätter  für  Literatur,  Kunst  und  Kritik 
vom  13.  December  1837  und:  „Die  fünf  Gelehrten  Primisser"  im  5.  Bande  (1861)  der 
Berichte  und  Mittheilungen  desAlterthumsvereins  zu  Wien  S.  177 — 244. 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHENWIRT-IISS.       223 

aus  dem  Titel  sowie  aus  der  ganzen  Anlage  derselben  ersichtlich. 
Denkt  er  doch  zunächst  „den  Freunden  der  Geschichte"  hiemit  zu 
dienen  (Einleitung  S.  XLIV).  Daü  diese  Dichtungen  auch  als  Sprach- 
denkmale einen  bedeutenden  Platz  in  Anspruch  nehmen,  hat  P 
(S.  XLIV)  zwar  behauptet,  aber  weder  in  der  Anzeige  noch  in  der 
Ausgabe  bewiesen.  Man  darf  annehmen,  daß  er  den  sprachlichen 
Werth  wohl  geahnt,  aber  keineswegs  klar  erfaßt  hat.  Zu  dieser  An- 
nahme berechtigt  nicht  nur  das  in  der  Einleitung  S.  LIII  Gesagte, 
sondern  auch  die  im  Anhange  S.  389  und  390  gegebenen  ,, Gram- 
matischen Bemerkungen",  nicht  minder  das  Wörterbuch  und  vor 
Allem  der  Text. 

Wären  unsere  mittelalterlichen  Schreiber  immer  und  allerorten 
vollkommen  getreue  Copisten  gewesen,  dann  wäre  es  bei  Ver- 
öffentlichung einer  Handschrift  unnöthig,  besondere  Aufmerksamkeit 
dem  Schreiber  zuzuwenden.  Da  aber  die  Avirklichen  Verhältnisse 
anders  waren,  kann  sich  der  Herausgeber  nicht  der  Mühe  entschlagen, 
Antheil  und  Zuthat  des  Schreibers  zu  sondern  von  dem,  was  des 
Dichters  ist.  Von  einer  solchen  Arbeit  findet  sich  bei  P  keine  Spur, 
denn  daß  er  zweimal  angibt,  es  seien  an  der  Handschrift  mehrere 
Hände  thätig  gewesen,  oder  daß  er  einige  der  gröbsten  Schreibfehler 
anmerkt,  kann  man  wohl  nicht  als  solche  gelten  lassen.  Es  hat  viel- 
mehr den  Anschein,  daß  er  die  Sprache  der  von  verschiedenen 
Schreibern  herrührenden  Gedichte  für  eine  und  dieselbe  hielt  und 
überdies  für  identisch  mit  der  Sprache  des  Dichters.  Allerdings  zeigt 
die  Sprache  der  einzelnen  Gedichte  nicht  solche  Unterschiede,  wie  sie 
zwischen  dem  Ober-  und  Niederdeutschen  bestehen,  denn  die 
Schreiber  von  A  gehören  alle  dem  süddeutschen,  und 
zwar  bis  auf  eine  einzige  nennenswert  he  Ausnahme  (vgl. 
S.  213  u.  214)  dem  bairisch-öster reichischen  Sprachgebiete 
an.  P  beachtete  nicht  die  auffälligen,  die  großen  süddeutschen  Dialecte 
charakterisierenden  Kennzeichen,  noch  weniger  die  minder  aufdring- 
lichen Nuancierungen')  in  den,    verschiedenen  Theilen    des  öster- 


')  So  gebraucht  der  zweite  Schreiber  (deutlich,  aber  nicht  besonders  genau) 
mit  Vorliebe  die  Adjectivendung  ew  und  scu  im  Noniin.  plur. ;  der  dritte  liebt  b  für  tf, 
da  für  do,  die  Ableitungssilbe  lieh  (wo  der  vierte  Schreiber  -leich  hat),  gebraucht 
lieber  /  als  v,  ist  kein  großer  Freund  der  Haken,  die  er  besonders  über  u  und  j, 
wenn  sie  Diphthonge  vertreten,  oft  wegläßt,  wohl  aber  macht  er  gerne  an  den  t  lange 
Querstriche,  an  h  und  c/t  lange  Schnörkel.  Der  zehnte  Schreiber  unterläßt  oft  die 
Bezeichnung  des  Umlautes  bei  u  und  au.  Der  17.  Schreiber  (unschön  und  wenig 
genau)    setzt  gerne  w  für  u,    o  für  a  (wie  der  siebente)  und  a  für  o,  er  hat  Vorliebe 

15* 


224  FRANZ  KRATOCHWIL 

reichischen  Sprachgebietes  entstammenden  Gedichten,  oder  er  wollte 
sie  nicht  beachten,  wie  man  nach  seiner  Äußerung  (S.  LI):  „Bloße 
Schreibeformen  und  mundartliche  Verschiedenheiten  sind  ein  schlechter 
Gewinn,  wenn  weiter  nichts  Neues  von  Bedeutung  gefunden  wird", 
anzunehmen  vielleicht  berechtigt  ist.  Daraus  erhellt  jedoch,  daß 
Primisser's  Text  nicht  auf  einer  kritischen  Bearbeitung 
beruht;  er  ist  aber  auch  kein  diplomatisch  getreuer  Ab- 
druck wegen  der  bereits  (S.  210  u.  217)  angeführten  Gründe  sowohl 
als  auch  wegen  Auflösung  sämmtlicher  Abkürzungszeichen  und  ge- 
sonderter Anwendung  des  u  und  v,  des  Gebrauches  von  z  und  tz  für 
cz  und  zz  (Einleitung  S.  LH),  wegen  mancher  Lesefehler,  sowie  endlich 
wegen  Änderungen,  die  er  im  guten  Glauben  zu  bessern,  hie  und 
da  vornahm,  die  aber  den  Text  nicht  selten  thatsächlich  verschlech- 
terten. Immerhin  —  und  das  steht  außer  Zweifel  —  hat  P  selbst 
durch  diesen  Abdruck  der  Sache  mehr  gedient,  als  wenn  er  einen 
kritisch  bearbeiteten  Text  gegeben  hätte;  um  eine  solche  Aufgabe 
richtig  zu  lösen,  dazu  fehlten  ihm  die  Kräfte. 

So  urtheilte  bald  nach  dem  Erscheinen  der  Ausgabe  der  damalige 
Professor  zu  Pforta,  August  Koberstein,  in  der  Einleitung  (S.  2  u.  3) 
zu  seinem  Werke:  „Über  die  Sprache  des  österreichischen  Dichters 
Peter  Suchenwirt",  das  er  auf  Grundlage  dieser  Ausgabe  begonnen 
und  von  dem  1828  als  erste  Abtheilung  die  Lautlehre  erschien 
(Naumburg,  56  Seiten  4*^).  Das  Jahr  1842  brachte  als  zweite  Abthei- 
lung (lateinisch)  die  ganze  Lehre  von  der  Declination  (Naumburg, 
68  Seiten  4");  die  Conjugation  behandelte  er  in  der  1852  erschie- 
nenen dritten  Abtheilung  (Naumburg,  45  Seiten  4").  Koberstein  hatte 
sich  überdies  viel  mit  Vorarbeiten  beschäftiget,  um  in  gleicher  Weise 
auch  die  Lehre  von  der  Wortbildung  und  Syntax  zu  behandeln,  und 
zuletzt  sollte  ein  vollständiges  System  der  metrischen  Gesetze  folgen, 


für  Wörter  mit  Svarabhakti,  welche  er  häufig  durch  i  ausdrückt;  dadurch  ist  er  ein 
Seitenstück  zum  zwölften  (nicht  besonders  sorgfältigen)  Schreiber  und  auch  darin, 
daß  wie  dieser  ".  und  ',  er  '  und  •  oder  '  ungemein  oft  über  e,  zuweilen  selbst  in 
der  Flexion  setzt.  In  Bezug  auf  den  letzten  Punkt  bildet  der  18.  (sehr  genaue)  Schreiber 
einen  Gegensatz,  indem  er  außer  i*"  keinen  Halbdiphthong  bezeichnet;  er  stimmt 
aber  mit  seinem  Vorgänger  darin  überein,  daß  er  gleich  ihm  h  für  ch  schreibt,  selbst 
im  Reime;  er  behält  li  vor  <,  wo  die  anderen  Schreiber  durchaus  ch  haben.  Auch 
dadurch  unterscheidet  er  sich  von  allen  anderen  Schreibern,  daß  er  im  Gebrauche 
der  Haken  einer  bestimmten  Regel  folgt:  er  verwendet  "  über  m  für  wo  (we)  und  "  für 
alle  Umlaute  und  ie;  an  den  16.  Schreiber,  der  in  seinem  ebenso  schönen  als  rich- 
tigen Text  sehr  fleißig  die  Halbdiphthonge  bezeichnet,  erinnert  er,  daß  er  noch  häu- 
figer wie  dieser  im  Anlaute  1c  gebraucht  u.  s.  w. 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  ÖUCHENWIRT-HSS.       225 

an  die  Suclieuwirt  sich  fifehaltcn  (vgl.  K  III,  S.  1);  leider  hat  Kober- 
stein  diesen  Plan  nieht  ausgeführt.  Hingegen  schrieb  er  1843  als  An- 
hang zur  ersten  und  zweiten  Abtheilung  die  Abhandlung:  Über 
die  Betonung  m  c  h  r  s  i  1  b  i  g  e  r  W  ö  r  t  e  r  i  n  S  u  c  h  e  n  w  i  r  t  's  V  e  r  s  e  n 
(8  Seiten  4"),  Damals  wäre  er  der  richtige  Mann  gewesen,  einen 
ordentlich  kritischen  Text  von  Suchenwirt's  Gedichten  zu  liefern; 
denn  wenn  auch  zu  keiner  Zeit  zu  besorgen  war,  daß  Koberstein 
unsern  Dichter  in  die  Schnürjacke  mhd.  Reime  gezwängt  hätte,  wie 
dies  später  Karajan  mit  Teichner  wirklich  that,  das  läßt  sich 
doch  nicht  leugnen,  daß  Koberstein  in  dem  Bestreben,  möglichst  genau 
zu  bestimmen,  was  dem  Dichter  und  was  den  Schreibern  gehört,  noch 
in  der  ersten  Abtheilung  einem  etwas  strengen  Purismus  gehuldigt 
hat.  Beispielsweise  erinnere  ich  nur  daran,  mit  welchem  Aufgebot  von 
Scharfsinn  und  Überredung  Koberstein  (I,  S.  17  f.)  unsern  Dichter 
vor  dem  Vorwurfe,  er  habe  einige  klingende  Verse  mit  vier  Hebungen 
verbrochen,  zu  retten  suchte.  In  II,  pag.  7,  zeigte  er  sich  in  diesem 
Punkte  schon  weit  weniger  rigoros  u.  s.  w. 

Wer  wie  Schreiber  dieser  Zeilen  jedes  einzelne  von  den  Tau- 
senden von  Beispielen,  die  Koberstein  in  langen,  oft  ganze  Seiten 
füllenden  Reihen  zusammenstellte,  in  P  aufschlug,  der  kann  eigentlich 
erst  ermessen,  was  Koberstein,  ganz  abgesehen  von  seinem  Wissen, 
an  Geduld  und  Ausdauer  geleistet  hat.  Diese  seltene  Akribie 
wirkte  auf  mich  derart,  daß  ich  auch  nach  absolvierter  Universität 
mich  gerne  mit  Suchenwirt  beschäftigte  und  als  Gymnasiallehrer  zu 
Krems  den  Gedanken  faßte,  ein  allseitiges  getreues  Bild  von  Suchen- 
wirt's Leben  und  Wirken  zu  entwerfen,  seine  Bedeutung  mit  Rück- 
sicht auf  seine  Zeitgenossen  zu  bestimmen  und  seinen  absoluten  Werth 
festzustellen.  Die  Abhandlung  sollte  im  Jahresberichte  1871  veröffent- 
licht werden,  da  sie  aber  für  eine  Programmarbeit  zu  umfangreich 
war,  konnte  nur  die  erste  Hälfte  gedruckt  werden.  Sie  erschien  auch 
als  Separatabdruck  im  Selbstverlag  unter  dem  Titel:  Der  öster- 
reichische Didaktiker  Peter  Suchenwirt,  sein  Leben  und 
seine  Werke.    54  Seiten  8". 

Trotz  mehrerer  wohlwollenden  Besprechungen  konnte  ich  mich 
nicht  entschließen,  auch  die  zweite  Hälfte  zu  veröffentlichen:  ich 
dachte  vielmehr  daran,  eine  neue  Ausgabe  der  Suchcnwirtischen 
Dichtungen  zu  veranstalten.  Ende  1874  versuchte  ich,  mit  dem  Be- 
sitzer der  Handschrift  durch  gütige  Verraittelung  des  bairischen  Ge- 
sandten am  Wiener  Hofe,  des  Herrn  Grafen  Otto  Bray-Stcinburg, 
in  Verbindung  zu  treten.  Im  Jänner  1875    erfuhr  ich,  daß  der  frühere 


226  FRANZ  KRATOCHWIL 

Besitzer  Graf  Georg  Thurn  bereits  1866  gestorben  sei;  sein  gleich- 
namiger Sohn  besitze  aber  die  Handschrift  nicht,  sie  sei 
schon  bei  Lebzeiten  seines  Vaters  gestohlen  worden,  sei 
darauf  in  der  Ankündigung  eines  Antiquars  aufgetaucht; 
wohin  sie  gekommen,  sei  ihm  unbekannt.  Alle  meine  Pläne 
waren  zerronnen. 

Doch  gab  ich  nicht  Alles  verloren  und  veröffentlichte  darauf 
gleichlautende  Anfragen  in  Nr.  62  des  Jahrganges  1875  des  Leip- 
ziger Börsenblattes  für  den  deutschen  Buchhandel  und  im 
Literarischen  Centrnlblatt  (Nr,  12)  sowie  im  vierten  Hefte  der 
Zeitschrift  für  österreichische  Gymnasien  (S.  330);  aber  es 
kam  keine  Antwort  —  auch  nicht  auf  eine  nochmalige  Anfrage  im 
Leipziger  Börsenblatt  (Nr.  7  des  Jahrganges  1876). 

Da  erhielt  ich  von  meinem  Freunde  Dr.  G.  E.  Friess ,  Professor 
am  Obergymnasium  zu  Seitenstetten,  im  März  1877  einen  Brief,  worin 
er  mir  mittheilt,  er  sei  durch  eine  Notiz  im  Nachlasse  des  ehemaligen 
k.  k.  Staatsarchivars  Dr.  von  Meiller  auf  einen  im  oberösterreichischen 
Stifte  Schlierbach  befindlichen  Codex  gelenkt  worden,  welcher  außer 
dem  Gesuchten  auch  eine  bedeutende  Anzahl  Suchenwirtischer  Ge- 
dichte enthalte,  darunter  auch  solche,  welche  in  Primissers  Ausgabe 
sich  nicht  finden.  Über  letztere  machte  er  mir  einige  Angaben  mit 
der  Bitte,  ihm  bekannt  zu  geben,  ob  und  wo  diese  ediert  seien.  Ich 
schrieb,  daß  dies  nicht  der  Fall  sei,  worauf  er  sich  entschloß,  einen 
Abdruck  derselben  für  die  kaiserliche  Akademie  der  Wissenschaften 
in  Wien  zu  besorgen. 

Dieser  Brief  spornte  mich  an,  noch  einen  Schritt  bei  dem  Grafen 
Georg  Thurn  zu  thun.  Da  ich  nicht  ganz  gewiß  wußte,  ob  Graf  Bray 
die  Nachforschung  auch  mit  dem  nothwendigen  Nachdruck  geführt 
habe,  so  bat  ich  meinen  damaligen  CoUegen  am  Franz  Joseph-Gym- 
nasium in  Wien,  den  in  vielen  aristokratischen  Kreisen  wohlbekannten 
Professor  Dr.  Franz  Weihrich,  in  dieser  Angelegenheit  Schritte  zu 
thun.  Er  war  so  freundlich,  sich  der  Sache  eifrig  anzunehmen;  der 
Herr  Graf*)  übergab  ihm  ein  an  mich  gerichtetes,  vom  18.  April  1877 
datiertes  Schreiben,  worin  er  mir  mittheilt,  daß  die  Bibliothek  seines 
Vaters,  bevor  sie  nach  Blei  bürg  in  Kärnten  übertragen  ward,  sich 
durch  viele  Jahre  zu  Wien  in  einer  eigens  zu  diesem  Zwecke  ge- 
mietheten  Wohnung  befunden  habe.  Dorthin  wurde  1827  die  durch 
Primisser's    Ausgabe    berühmt    gewordene    Handschrift    gestellt.     Das 

*)  Er  ist  im  Juui  1879  gestorbeu. 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHENWIRT-HSS.       227 

erfuhr  ein  Schreiber  des  gräl'lichen  Wirthschaftsrathes  Pfusterschmied 
Ritter  von  Hartenstein,  der,  da  der  Graf  in  Folge  seiner  militärischen 
Stellung  von  Wien  abwesend  war,  den  Schlüssel  zur  Bibliothek  in 
Verwahrung  hatte.  Der  Schreiber  wußte  sich  Zutritt  zur  Bibliothek 
zu  verschaffen  und  entwendete  die  Handschrift;  doch  kam  man  zur 
Kenntniß  des  Diebstahls  erst  1846,  als  die  Handschrift  in  einer  Zei- 
tung zum  Verkaufe  angeboten  wurde.  Lange  vorher  war  aber  der 
Dieb  wegen  anderer  Unredlichkeiten  bereits  entlassen  worden. 

Ich  war  nicht  weiter  als  im  Jänner  1875:  die  Handschrift  ist 
gestohlen;  aber  wo  wird  sie  verwahrt?  —  Bald  sollte  auf  unerwartete 
Weise  die  Frage  gelöst  werden.  —  Als  der  seither  verstorbene  IJni- 
versitätsprofessor  Plofrath  KarlTomaschek  in  der  am  6.  Juni  1877 
abgehaltenen  Sitzung  der  philosophisch-historischen  Classc  der  kais. 
Akad.  d.  Wiss.  die  Arbeit  des  Professors  Friess  vorlegte  und  betonte, 
daß  der  Schlierbacher  Codex  um  so  höher  im  Werthe  stehe,  da  die 
Sinzendorf-Thurn'sche  Handschrift  seit  langer  Zeit  verschollen  sei,  er- 
klärte Hofrath  Dr.  Ernst  Ritter  von  Birk,  Vorstand  der  k.  k.  Hof- 
bibliothek zu  Wien,  dieselbe  sei  nicht  verschollen,  sie  befinde  sich 
seit  1846  in  der  Wiener  Hofbibliothek. 

Also  dahin  war  sie  gekommen!  Aber  um  des  Himraelswillen, 
wie  kann  ein  Laie  in  juridischen  Dingen  jemals  auf  den  Gedanken 
kommen,  daß  eine  in  Wien  gestohlene,  noch  dazu  einem  alten 
Adelsgeschlechte  gestohlene  Handschrift  von  der  Wiener  Hof- 
bibliothek angekauft  werde?  Das  geschah,  wie  Herr  Hofrath  Ritter 
von  Birk  mir  mitzutheilen  die  Güte  hatte,  so.  —  Der  entlassene  Schreiber 
getraute  sich  mit  seiner  Beute  nicht  an  die  Öffentlichkeit;  bald  wäre 
dieselbe  gänzlich  vernichtet  worden.  Er  hatte  sich  nämlich  nach 
Wiener-Neustadt  gezogen;  daselbst  war  am  8.  September  1834  bei 
heftigem  Sturmwind  ein  ungelieuercr  Brand  ausgebrochen,  wel- 
cher über  350  Scheunen  und  500  Häuser  zerstörte.  Über  vier  Millionen 
Gulden  Conv.-Münze  betrug  der  Schaden,  47  Menschen  —  nach  anderen 
Berichten  51  —  verloren  ihr  Leben  in  den  Flammen!  Diese  wütheten 
derart,  daß,  wie  ein  gleichzeitiger  Bericht  (Darstellung  der  k.  k. 
Stadt  Wiener-Neustadt,  Wien  1834,  S.  172  f.)  sagt,  „selbst 
Kellergewölbe   bis    auf  den  Grund  ausbrannten!"^)   —   Und 

')  Vgl.  darüber  auch  Sebastiau  Bruiinor,  Wiener -Neustadt.  Wien  1842, 
S.  40  f.,  ferner  Rückblick  auf  den  Brand  von  Wiener-N  eustadt.  Von  einem 
Augenzeugen  im  3.  Bande  der  österr.  Zeitschrift  für  Geschichts-  und  Staatskunde 
Nr.  36  und  37.  —  Die  Wiener-Zeitung  vom  10.  September  1834  spricht  nur  vun 
einem  Gerüchte,  daß  die  Stadt  abgebrannt  sei;  erst  am  13.  September  brachte 
sie   eine  Darstellung  des  Brandes ! 


228  FRANZ  KRATOCHWIL 

damals  lag  die  gestohlene  Handschrift  in  einer  dünnen 
Cartonschachtel  in  einem  Keller  von  Wiener -Neustadt! 
Was  mag  sie  da  gelitten   haben! 

P,  der,  was  Beschreibung  und  Geschichte  der  Handschrift  betrifft, 
sich  stets  der  äußersten  Kürze  befleißt,  gedenkt  nur  (Einleitung 
S.  XLHI)  „ihres  unscheinbaren  und  schadhaften  Äußeren",  das 
ihm  schon  damals,  als  er  sie  zum  ersten  Male  sah,  auffiel.  Hätte  er 
doch  gesagt,  worin  letzteres  bestand!  Es  muß  schon  sehr  schad- 
haft gewesen  sein;  offenbar  war  damals  bereits  die  Handschrift  mehr 
oder  minder  in  einzelne  Lagen  aufgelöst:  wie  ließen  sich  sonst 
die  verschiedenen  bedeutenden  Lücken  zu  Anfang  und  im 
Innern  erklären?  Herausgerissen  wurden  die  fehlenden  Blätter 
nicht,  sie  können  nur  herausgefallen  sein,  denn  diese  Lücken 
waren  alle  schon  zu  Primisser's  Zeit,  wenn  er  auch  nicht  alle  er- 
kannte. —  Zu  seiner  Zeit  schon  war  ferner  die  Handschrift  fast 
unleserlich  an  manchen  Stellen,  weil  sie  verbl aßt  oder  v erlös ch  t 
waren,  ganz  besonders  S.  1  und  2,  wahrscheinlich  auch  S.  153  (Nr.  18, 
V.  280  ff.)  in  der  unteren  Hälfte,  besonders  in  den  Anfängen  der 
Verse.  Ob  die  oberen  Hälften  der  Seite  42  (Nr.  7,  V.  330—341  und 
der  Seiten  450—461  (Schluß  von  Nr.  42,  43,  Anfang  von  45)  schon 
damals  (wahrscheinlich  durch  eingedrungene  Feuchtigkeit)  verblaßt 
waren,  oder  ob  dies  später  geschah,  läßt  sich  ebensowenig  entscheiden, 
als  die  Frage,  aus  welcher  Zeit  die  ur  •  .nein  zahlreichen  Flecken 
der  Handschrift  (am  Rande,  aber  au  im  Innern,  z.  B.  S.  1  — 12, 
15-17,  38,  42,  51,  86,  89,  113,  125,  ■  -4,  140,  144,  149—156,  175, 
176,  203,  218—220,  231,  256—258,  oOO,  315,  322,  344,  367,  382, 
398,  415 — 418  u.  s.  w.)  sowie  die  Risse  S.  211  und  305  stammen. 
Gewiß  ist  nur,  daß  der  Zustand  der  Handschrift  während  der  Ver- 
borgenheit sich  verschlechterte. 

Endlich  —  es  waren  fast  zwei  Decennien  seit  der  Entwendung 
vergangen  —  faßte  der  Dieb  Muth  und  näherte  sich  dem  Wiener  Anti- 
quar Johann  Schratt.  Dieser  stellte  dem  Unterhändler  Wilhelm 
Gram  er  Städter,  dem  Sohne  des  Diebes,  einen  Revers  aus,  worin 
er  ihm  bestätigte,  die  von  P  1827  herausgegebene  Handschrift  am 
10.  Februar  (?)  1846  zum  Commissionsverkaufe  übernommen  zu  haben, 
und  verspricht,  diese  durch  die  Wiener-Zeitung  um  100  Stück  Ducaten 
feilzubieten,  das  Manuscript,  falls  der  Verkauf  nicht  gelinge,  in  dem- 
selben Zustande,  wie  er  es  übernommen,  zurückzustellen,  im  Verkaufs- 
falle aber  50  Gulden  nebst  den  für  die  Ankündigung  ausgelegten 
Geldern  zu  beanspruchen.   —   Schratt  that  seine  Schuldigkeit ;   er  ließ 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHENWIRT-HSS.       229 

eine  aiibt'ührlichc,  im  Verj^lciche  zum  Ivcvers  uiifrcwöliniicli  sjut  j,'e- 
haltene  Ankündigung  der  Handschrift  am  17.  März  in  die  Wiener- 
Zeitung  einrücken. 

Das  genügte.  —  Trotzdem  die  in  ein  zelne  Lagen  atifgelöste 
Handschrift,  welcher  eine  gewö  h  nli  clic  Schachtel  aus 
Pappe  als  Aufbewahrungsort  diente,  nicht  im  Mindesten  einen 
imponierenden  Eindruck  machte,  fanden  sich  doch  Kauflustige;  be- 
sonders Ungarn,  für  dessen  König  Ludwig  den  Großen  8uchenwirt 
so  viele  Worte  des  Lobes  hatte,  strebte  nach  dem  Besitze  der  Hand- 
schrift. In  diesem  entscheidenden  IMomente  griff  die  Wiener  llof- 
bibliothek  ein  und  erwarb  um   den  verlangten  Preis  die  Handschrift '). 

Und  Graf  Georg  ThurnV  Dieser  lebte  damals  als  Feldmarschall- 
lieutcnant  und  Divisionär  in  Pest  (vgl.  Wurzbach  n.  a.  O.  45.  Theil, 
8.  120)  und  erfuhr  erst  aus  der  Wiener  Zeitung,  daß  ihm  seine  werth- 
volle  Handschrift  entwendet  worden  war;  bevor  er  noch  Schritte 
thun  konnte,  war  sie  schon  verkauft.  Aber  auch  der  Kecurs,  den 
er  später  wirklich  ergriff,  fiel  nicht  zu  seinen  Gunsten  aus;  die  llof- 
bibliothek  hatte  mit  der  Handschrift  auch  den  von  Schratt  aus^-c- 
stellten  Revers  und  einen  Abdruck  seiner  Ankündigung  in  der  Wiener- 
Zeitung^)  erworben,  und  diese  für  einen  rechtsunkundigen  Menschen 
höchst  unbedeutenden  Dinge  schützten  die  Hofbibliothek  in  ihrem 
kostbaren  Erwerbe.  Doch  führte  der  Recurs  zur  Bestrafung  des  Diebes, 
Schratt  kam  um  seine  Provision.  —  Dies  die  wahre  Geschichte 
einer  verlorenen  Handschrift. 

Wäre  die  Handschrift  nicht  gestohlen  worden,  so  befände  sie 
sich  schon  längst  im  fernen  BIciburg.  Daß  sie  aber  an  ihrem  jetzi- 
gen Orte  leichter  zugänglich  und  ungleich  besser  ge- 
borgen ist,    unterliegt  keinem  Zweifel.    Und  dies  ist  bei  dem  sehr 


')  Und  zwar  noch  im  Monate  März,  wie  icli  aus  dem  Zettelkataloge  der  Hand- 
schriften ersah.  Herr  Scriptor  Dr.  A.  Göldlin  von  Tiefenan,  wie  immer  liebenswürdig 
und  gefällig,  gestattete  mir  nämlich  einen  Einblick  in  denselben.  Dadurch  wurde  es 
erst  möglich,  die  Ankündigung  der  Handschrift  in  der  Wiener-Zeitung  zu  finden  und 
das  Datum  des  Reverses  richtigzustellen.  Jedermann  liest  dieses  mit  10.  April.  Das 
kann  es  aber  nicht  bedeuten:  Schratt  kann  nicht  Anfangs  April  die  Übernahme  der 
Handschrift  zum  Verkaufe  bestätigen,  nachdem  dieselbe  am  17.  März  bereits  von  ihm 
in  der  Wiener-Zeitung  zum  Verkaufe  angeboten  und  balil  darnach  von  der  Hof- 
bibliothek angekauft  worden  war.  Es  kann  somit  die  für  den  Munat  gesetzte  riimische 
Zahl  nur  II  mit  einem  Schnöikel  oder  einen  unvollendeten  III  bedeuten. 

')  Beide  wurden  später  der  Handschrift  vor  dem  rückwärtigen  Deckel  bei- 
gebundeu. 


230  FBANZ  KKATOCHWIL 

hohen  Wert  he  der  Handschrift  nicht  gleichgiitig.  Ihr  Verlust  wäre 
unersetzlich  selbst  jetzt  noch;  sie  ist  die  Suchenwirt-Hand- 
schrift xar'  s^oi}]v.  Ihr  Werth  wird  erst  klar  durch  die  Betrachtuog 
der  übrigen  Handschriften. 

II.   af. 

Die  Tabulae  codicum  erwähnen  nichts  davon,  daß  A  eine 
andere  Handschrift  beigelegt  ist,  nämlich  a,  eine  Abschrift  des 
Suchenwirtischen  Gedichtes  Von  Der  mynn  slaff  von  unbekannter 
Hand  des  vorigen  Jahrhun  dertes,  wie  schon  nach  der  Schrift 
anzunehmen  ist.  Die  Abschrift  bestand  ursprünglich  aus  einem 
halben  und  einem  Viertelbogen;  man  denke  sich  einen  ganzen  Papier- 
bogen von  oben  nach  unten  in  vier  gleich  breite  Streifen  zerschnitten 
und  jeden  derselben  auf  beiden  Seiten  mit  46 — 50  abgesetzten  Versen 
beschrieben.  Der  halbe  Bogen  hatte  zwei  solche  Columnen,  er  wurde 
Ende  1878  auf  meine  Anregung  von  dem  seither  verstorbenen  Custos 
J.  Haupt  in  zwei  Streifen  zerschnitten;  somit  umfaßt  jetzt  die 
Abschrift  drei  Streifen.  Um  sie  vor  Verlust  zu  sichern,  wurden 
dieselben  auf  den  drei  ersten  leeren  Blättern  nachdem  letzten 
Gedichte  in  A  (vgl.  S.  208)  befestigt. 

Da  das  Gedicht  Von  Der  mynn  slaff  nur  in  A  erhalten  ist 
so  liegt  die  Annahme,  daß  diese  Handschrift  als  Vorlage  für  a 
gedient  habe,  sehr  nahe.  Unterstützt  wird  dieselbe  noch  durch  V er- 
gleich ung  des  Gedichtes  in  beiden  Fassungen:  sie  zeigt 
Übereinstimmung,  oft  sogar  in  den  kleinsten  Kleinigkeiten. 
Abweichungen  kommen  wohl  in  a  vor,  doch  erklären  sie  sich 
fast  sämmtlich  aus  dem  Drange  des  Abschreibers,  Schreibweisen  und 
Sprachformen  der  alten  Fassung  zu  modernisieren.  So  hat  er 
Anfangs  eine  regelrechte  Interpunction  eingeführt  und  s'ämmtliclie 
Hauptwörter  groß  geschrieben,  aber  bald  fügt  er  sich  mehr  und  mehr 
der  alten  Schreibweise.  Nur  die  f  oder  i  gibt  er  durchaus  mit  i  und 
schreibt  ie  nur  dort,  wo  es  schon  das  Original  bringt;  u  mit  dem 
Ilaken  •  drückt  er  durch  Umlaut  des  u  aus  {tut  :  gilt  :  müt  V.  163,  241 
u.  s.  w.) ,  die  durch  den  Haken  angedeuteten  Flexions-e  ignoriert  er 
gewöhnlich.  V.  6  schreibt  er  ihrer  für  ir,  17  und  191  Das  für  des^ 
18  Hofmaisterin  für  hofma  ister  ine,  83  cioahi  für  tioalm,  128  um  für 
iimb  u.  s.  w. 


f  Dieses  Zeichen    zeigt   an,   daß  P   die  Handschrift    nicht  gekannt   oder   doch 
in  seiner  Ausgabe  der  Gedichte  Suchenwirt's  nicht  benützt  hat. 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHENWIRT-HSS.       231 

Anderungeu  wie  sie7,^er  für  51162,%^)-  V.  13,  iciste  für  iceste  V.  23, 
gorten  für  garten  V.  5,  Z^c»r  für  dar  V.  54  und  55,  Auflösungen  von 
Abkürzungen  wie  in  meine  puech  V.  188  (ebenso  in  V.  5)  mit  dem 
Accusativ  mag  weniger  der  Drang  zu  modernisieren  als  des  Schrei- 
bers   österreichische  Mundart  veranlaßt  haben. 

Einige  Abweichungen  sind  durch  unrichtiges  Lesen  entstan- 
den, so  V.  7  chrellCel,  8  S2>rechen,  31  niemaniler  wekchen  (A  hat 
niema/i  D'  icekchen) y  76  tat,  91  no;  alters  ain  in  V.  109  iieli  er  ganz 
weg;   offenbar  war  es  ihm  unverständlich. 

Erscheint  somit  a  im  Ganzen  für  die  Textkritik  belanglos, 
so  kann  man  dieser  jungen  Handschrift  als  Beleg,  daß  8uchenwirt's 
Dichtungen  auch  im  vorigen  Jahrhundert  nicht  ganz  vergessen  waren, 
ein  historisches  Interesse  nicht  absprechen. 

III.  Bf. 

Anders  verhält  es  sich  mit  B.  Diese  Papierhandschrift  gehört 
der  oberösterreichischen  Cistercicnserabtei  Schlierbach,  trägt  dort 
die  Signatur  I,  27  und  wurde  mir  durch  die  Güte  des  hochwürdigen 
Herrn  Stiftsvorstandes  Florian  Schininger  unter  Bürgschaft  des  Pro- 
fessors G.  Friess  in  Seitenstetten  (vgl.  S.  226)  zur  Benützung  über- 
lassen. Sie  stammt  aus  dem  ersten  Viertel  des  17.  Jahrhunderts  und 
zählt  Alles  in  Allem  403  Blätter  in  Folio,  von  denen  54  unbe- 
schrieben sind. 

Ihre  Entstehung  verdankt  sie  dem  -gelehrten  Job  Hart  mann 
Enenkel  von  Albrechtsberg'),  Freiherrn  auf  Hoheneck  und 
Goldeck.  Das  besonders  in  Niederösterreich  begüterte  Geschlecht  läßt 
sich  bis  1009  zurück  verfolgen;  es  wurde  1477  ritterlich,  in  der  zweiten 
Hälfte  des  16.  Jahrhundertes  freiherrlich.  Der  letzte  des  Mannesstammes, 
der  oben  genannte  Job  Hartmann,  1576  geboren,  wurde  kaiserlicher 
Räth  und  Kämmerer,  Landrath  von  Oberösterreich,  1613  Regent  der 
niederösterreichischen  Lande  (d.  i.  n.  ö.  Regimentsrath)  und  starb  in 
seinem  50.  Jahre  am  9.  Februar  1627  zu  Wien.  Vgl.  Hoheneck, 
Genealogische  und  historische  Beschreibung  der  löblichen  Stände  in 
dem  Erzherzogthum  Österreich  ob  der  Enns,  3.  Band  (1748),  S.  122  bis 
154  und  Zeitschrift  f.  d.  Alt.  28.  Band  (1884),  wo  Philipp  Strauch 
in  der  Abhandlung:  Studien  über  Jansen  Enikel  S.  35 — 64  die  Frage, 
ob  der  Verfasser  der  Weltchronik  und  des  Fürstenbuches 
aus  demselben  Gesclilecht  wie  der  Schreiber  vonB  stamme» 


')  An  der  Bielach  bei  Melk. 


232  FKANZ  KRATOCHWIL 

verneint  und  die  Literatur  ttber  Letzteren  zusammenstellt.  —  Enenkel 
war  selbst  dichterisch  thätig;  die  Gelegenheitsdichtung  war  sein  Feld 
(vgl.  unter  andern  die  Nummern  21 — 25,  29  und  oS  der  Handschrift 
10100  der  Wiener  Hofbibliothek);  er  war  ein  warmer  Liebhaber  deut- 
scher Literatur,  großer  Bücherfreund  und  besaß  eine  reichhaltige 
Sammlung  von  Handschriften,  die  aber  nach  seinem  Tode  nach  allen 
Richtungen  zerstreut  wurden.  Vieles  kam  in  die  Wiener  Hofbibliothek 
(vgl.  Strauch  a.  a.  O.),  zwei  Bände  Genealogien  in  das  n.  ö.  Landes- 
archiv, anderes  in  das  Museum  Francisco-Carolinum  in  Linz  u.  s.  w. 
Auf  welche  Weise  B  in  das  vom  Kaiser  Ferdinand  H.  1620  den 
Cisterciensern  übergebene  Stift  Schlierbach  kam,  ist  mir  nicht  bekannt. 

Ein  Jahrhundert  darnach  benützte  wahrscheinlich  Freiherr  von 
lloheneck^)  diese  Handschrift  zu  seinem  oben  angeführten  Geschichts- 
werke  (vgl.  S.  244  f.);  gewiß  ist,  daß  sie  Dr.  von  Meiller's  Aufmerksam- 
keit erregte  und  durch  dessen  Nachlaß  das  Interesse  des  Professors 
G.  Friess,  welcher  in  seiner  Abhandlung:  Fünf  unedierte  Ehren- 
reden Peter  Suchenwirt' s,  Wien  1878,  30  S.  (Separatabdruck 
aus  dem  Octoberhefte  des  Jahrganges  1877  der  Sitzungsberichte  der 
philos.-histor.  Classe  d.  kais.  Akad.  d.  Wiss.,  LXXVIIL  Bd.,  S.  99  ff.) 
der  gelehrten  Welt  nebst  Mittheilungen  aus  dem  Codex  auch  eine 
kurze  Beschreibung  desselben  gab. 

Es  sind  in  demselben  zwei  Zäh  lungen  angebracht.  Eine  alte, 
vom  Schreiber  Job  Hartmann  Freiherrn  von  Enenkel  her- 
rührende, die  beim  Einbinden  des  Codex  in  Pergamentdeckel  durch 
das  Beschneiden  des  Papiers  ganz  oder  theilweise  wegfiel,  zählt  nach 
Seiten,  erreicht  Seite  819  und  rechnet  die  zwei  letzten  Blätter,  die 
zum  Deckel  gehören,  nicht  mit,  wohl  aber  die  zwei,  die  zum  Vorder- 


')  Ausdrücklich  beruft  sich  Freiherr  von  Hoheneck  an  sehr  zahlreichen 
Stellen  seines  Werkes  auf  in  seinem  Archive  befindliche,  aus  Baron  Eneukers  Feder 
stammende  genealogische  Manuscripte.  —  Möglich  ist  es,  daß  unsere  Handschrift 
schon  in  der  ersten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  von  Valentin  Preuenhueber  sen. 
benützt  wurde.  Dieser  handelt  unter  Nr.  12  seines  Catalogus  supremorum  capitaneo- 
rum  Austriae  superioris  von  Hans  von  Traun  und  beruft  sich  dabei  auf  ein  Manu- 
script  de  rebus  gestis  D.  Joan,  Baronis  a  Traun  (Preuenhueber,  Annal. 
Ötyr.  S.  416).  Er  gibt  aber  den  Inhalt  desselben  leider  nur  in  ganz  allgemeinen 
Zügen,  die  zwar  zur  höchst  wahrscheinlichen  Annahme,  daß  unter 
dem  angeführten  Manuscript  nichts  anderes  als  Suchenwirt' s  Kede 
auf  Hans  von  Traun  gemeint  sei,  völlig  ausreichen,  nicht  aber  zur 
Entscheidung,  ob  Preuenhueb  er  das  Gedicht  in  der  Fassung  vonA 
oder  B  vor  sich  gehabt  habe.  Bis  auf  das  Todesjahr  passen  seine  An- 
gaben eben  zu  beiden. 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHENWIRT  ITSS.       233 

deckel  gehören,  von  denen  aber  nur  nocli  ein  Blatt  vorhanden  ist. 
Gegen  den  Schluß  ist  in  Enenkels  Zählung  ein  Ftdder  gekommen: 
er  sollte  804  Seiten  erreichen.  Stellenweise  (wie  bei  den  Gedichten 
Suchenwirt's)  ist  die  zum  Theile  weggeschnittene  Zählung  von  neuerer 
Hand  mit  Tinte  angebracht.  Außerdem  findet  sich  eine  Zählung  nach 
Blättern;  sie  stammt  aus  neuester  Zeit,  ist  mit  Blei  hie  und  da 
angebracht,  namentlich  wenn  ein  neues  Stück  in  der  Handschrift 
anfängt.  Das  eine  noch  vorhandene  Blatt  nach  dem  Vorderdeckel  ist 
eingerechnet.  Dort,  wo  200  steht,  sollte  201  stehen,  es  ist  somit  die 
Zählung  von  hier  an  bis  zum  Schlüsse  unrichtig. 

Der  Deckel  ist  namentlich  au  den  unteren  Ecken  durch  Wurm- 
stich schadhaft;  auf  dem  Rücken  steht  von  älterer  Hand  geschri(!bon  : 
Historia  de  Sancto  Severino. 

Diese  Vita  nimmt  aber  nicht  vielleicht  den  größten  Kaum  der 
Handschrift  in  Anspruch,  mit  ihr  beginnt  die  Handschrift,  von  ihr  hat 
sie  die  Aufschrift.  Die  übrigen  Stücke  sind  gleichfalls  historisch,  stehen 
mit  der  Geschichte  Österreichs  in  engerer  oder  weiterer  Beziehung 
und  sind  nach  den  in  der  Wiener  Hofbibliothek  befindlichen  Hand- 
schriften geschrieben.  Das  größte  Stück  darunter  und  überhaupt  der 
Handschrift  ist  Fürstenbuch  von  Oesterreich  und  Steyerland  \  ßeschriben 
vor  mehr  als  350  Jahren  \  von  \  Herren  Jansen  dem  Enencheln.  Der  Ab- 
schreiber macht  unterhalb  dieses  Titels  die  Bemerkung,  daß  diese  Ab- 
schrift von  Hieron.  Megiser,  dem  er  sie  1613  nur  zum  Anschauen 
gegeben,  1618  zu  Linz  in  Druck  gelegt  worden  sei,  erst  1623  habe 
er  sie  wieder  zurückerhalten^).  Viereinhalb  Blätter  nach  dem  Fürsten- 
buche, von  Seite  434 — 485  nach  Enenkel's  Zählung,  folgen 
Gedichte  Suchenwirt's,  jener  Theil  des  Codex,  auf  dem 
allein  aus  später  ersichtlichen  Gründen  der  wahre  Wert h 
dieser  umfangreichen  Handschrift  beruht. 

Der  Titel  steht  S.  434  und  lautet:  Dises  Heldenbuech  oder  beschrei- 
bung  ATX.  Oesterreichischer  umb  die  1300.  1330.  1350  1380  berümbten 
helden  Ritterlicher  Thaten  Ist  abgenommen  vnd  geschriben  mit  meines 
vnderschribnes  handen ,  aus  dem  alt  vor  200.  Jahren  geschribnen 
buech  bei  herren  Wolf  Chr  ist  offen  Velderndorfer  zum  Neiden- 
stein"^)  Zu  befinden:  vnd  miers  mitgetheilt  Im  1G2Ö,  Jar.    Dabei  noch 


')  Megiser  eiwälmt  in  der  Vorrede  zu  seiner  Ausgabe  des  Fürstenbuehes  nichts 
von  dem,  wolil  aber  beruft  er  sich  auf  zwei  alte  auf  Pergament  geschriebene  Exem- 
plare des  Fürstenbuehes  in  der  kaiserlichen  Bibliothek  zu   Wien. 

"*)  Wolfgang  Christoph  Freiherr  von  Velderndorf  (geboren  1&72)  gehört  einem 
niederösterreichischeu  Adelsgeschlechte  an,  das  sich  bis  in  das  elfte  Jahrhundert  ver- 


234 


FRANZ  KRATOCHWIL 


andere    mehr    Poetische    beschreihung    oder    getichte,    samt    eingemischten 
historien  von   Oesterreichen  Sach,   absonderlich  in  ein  buech  geschriben. 

Die  nächste  Seite  ist  leer.  Von  Seite  436  an  folgen  21  Gedichte 
Suchenwirt's  in  nachstehender  Ordnung: 


n3  «> 


Zählung  nach 
Fri  ess  und 
P  r  i  m  i  s  s  e  r 


Von  Seite  . . . 

der  Handschrift 

bis  Seite   . . . 


Überschriften  der  Gediclite 


10 
11 
12 
13 
14 


ab  In 


II 
III 

IV 
V 

I 
II 

IX 
XIV 

XVIII 

XI 

X 

XII 

XIII 


430'"") 

430'^— 438' 
438"— 439'' 


439"- 
44r- 


-441" 
-442" 


442"— 444" 

445"— 447" 
447'— 450" 

450"— 456" 
45G"-4G0'' 
460'— 403' 
463'  — 464" 
464" -407' 


Lobgedicht  auf  Moriz   von  Hawnfeld. 

NB.   Titel  fehlt 

Von  Hern  Hansen  von   Chappell 

Von  Herzog  Albrechten  von   Oester- 

reich 

Von  Hern  Albrechten  von  Rawchenstein 

Von  Hern   Sumolf  Lappen   von  Ern- 

wicht 

Von  Cbünig  Ludweigen  von  Ungernland 

Von   der  Chaiserinn  von   Payern 

Von   Hern  PuppH  von  Eilerbach 

Zum  Lobe  Friedrichs  von  Chrewspekch. 

NB.  Titel  fehlt 

Von  Herren  Hansen  von   Traun 

Von  GrafF  Ulreichen   von  Phannberg 

Von   Hern   Puppli  von   Ellerbacii 

Von  Hern   Hertweigen  von   Pettau 

Von  Hern   Ulreichen  von   Waise 


folgen  läßt.  Den  Namen  hat  es  von  dem  kleinen  Orte  Velderndorf,  ehemals  auch 
Völlerndorf,  Völderndorf,  Felderndorf,  jetzt  Feilendorf,  in  der  vom  n.  ö. 
Landesausschusse  1882  herausgegebenen  Übersichtskarte  der  Flußgebiete  von  Nieder- 
österreich Fall  endorf  genannt;  es  liegt  9  Kilometer  westlich  von  St.  Polten  zwischen 
der  Sirning  und  Bielach.  1613  kam  Wolf  Christoph  von  Velderndorf  auch  in  den 
Besitz  der  kleinen  Herrschaft  Neidenstein  (auch  Neutenstein  genannt),  die  aus 
dem  Schlosse  Neidenstein  und  dem  Orte  Unter-Grafendorf  (am  rechten  Ufer  der  Persch- 
ling zwischen  Jeutendorf  und  Böheimkirchen)  besteht.  Seit  Anfang  des  vorigen  Jahr- 
hunderts hat  Neideustein  zu  wiederholtenmalen  seinen  Besitzer  gewechselt,  so  daß  leider 
„von  dem  alten  Buch"  keine  Spur  mehr  zu  finden  ist.  Vgl.  J.  Fr.  Gau  he.  Des  Heil. 
Rom.  Reichs  genealogisch-historisches  Adelslexikon,  1740,  1.  Bd.,  S.528f.;  J.Seifert, 
Hoch-Adeliche  Stammtafeln,  1721,  1.  Theil,  Nr.  19,  und  Fr.  Seh  wei  ckhardt  Ritter 
vonSickingen,  Darstellung  des  Erzherzogthums  Österreich  unter  der  Enns.  Viertel 
ober  dem  Wienerwald,  3.  Bd.  (1836),  S.  15—17  und  S.  100— lOl. 
■)  a  =  linke,  b  =;  rechte  Spalte. 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHENWIRT-HSS.       235 


c-w®   IZählune:  nach    Von   Seite    ... 
^■^     Friess  und    der  Handschrift 
Primisser      bis  Seite   ... 


Ü  b  e  r  s  c  in-  i  f  t  e  n  der  G  e  d  i  c  li  t  e 


15 

16 

17 
18 
19 

20 
21 


(VI)'),  Pill'     467"— 470" 
(VII)  ^),    VII     470"— 472*^ 


VI 
XV 
VTII 

XVI 
XVII 


473"— 475» 
475"— 477" 
477"_480" 

480"— 482"^ 
482"— 485'^ 


Von  Herczogen  Albrechten   von  Oester- 

reich 
Von   Purchgraff  Albrechton    von    Nürn- 
berg 
Von  Herczog  Hainreichen   von  Kernden 

Von  Ilern  Lewtolden   von   Stadekk 

Von  Herren   Purkharten   von  Ellerbacli 

dem  alten 

Von  Graven  Ulreichen  von   Cyli 

Von  Hern  Pridreichen   von  Lochen 


Während  der  erwähnte  Titel  eine  undeutliche,  verzogene  Current- 
schrift")  zeigt,  sind  die  Gedichte  in  schöner,  gut  lesbarer  lateinischer 
Schrift  des  17.  Jahrhunderts  geschrieben,  auf  jeder  Seite  zwei 
Columnen,  jede  zu  ungefähr  fünfzig  Zeilen.  Die  Verse  sind  abgesetzt 
und  beginnen  bald  mit  großen  bald  mit  kleineu  Buch- 
staben. Die  Überschriften  sind  in  größerer  Schrift  geschrieben;  es 
ist  durchaus   nur    schwarze  Tinte  verwendet. 

Bei  dem  ersten  Anblicke  fallen  die  großen  Anfangsbuch- 
staben im  Innern  der  Verse  auf^,  deren  Verwendung  weit  aus- 
gedehnter, aber  schon  consequenter  ist  als  in  A.  Im  Übrigen  ist  jedoch 
die  Schreibweise  der  Handschrift  mit  der  von  A  im  Ganzen  über- 
einstimmend. Beide  Handschriften  sind  nicht  frei  von  Inconsequenz: 
dasselbe  Wort,  sogar  in  demselben  oder  nächstem  Verse,  zeigt  zu- 
weilen verschiedene  Schreibung.  Unter  den  Buchstaben  ist  nur  sS  neu, 
wechselt  aber  häutig  mit  zz.  Das  Dehnungs-A  nach  dem  t  begegnet 
öfter,  so  B  S.  463  =  P  X,  242  thet,  Friess  VI,  52  that.  Während 
in  A  ebenso  oft  tz  wie  cz  verwendet  wird,  ist  in  B  Vorliebe  für  cz 
bemerkbar. 

Von  den  in  A  zur  Bezeichnung  von  Vocalen  und  Diphthongen 
üblichen  Haken  kommen  häufiger  vor  ",  dann  •'  und  ",  selten  ', 
ausnahmsweise      ;    hingegen  liebt  unsere  Plan  d seh  rift  beson- 


»)  Vgl.  S.  238. 

')  Sie  gleicht  ganz  Enenkel's  Autograph  in  der  Ilaudsclirift  der  Wiener  Ilof- 
bibliothek  Nr.  10100",  welche  f.  165"''  ein  Gedicht  von  ihm  bringt  „für  Herrn  Poter 
von  .Scherenberg  auf  sein  Dama  einer  Poplin  zu  Siena  in  Toscana". 


236  FRANZ  KRATOCHWIL 

ders  das  Zeichen  '"'.  Dieses  vertritt  alle  Haken  von  A,  und  zwar 
in  der  Seite  213 — 217  dargelegten  dreifachen  Verwendung  derselben. 
Doch  fehlt  in  B  der  Haken  als  Zeichen  der  Diphthonge  öfter 
als  in  A;  so  begegnen  nicht  wenige  u  für  iio,  tie  und  ^  =  ?'e.  Dar- 
nach wird  uns  das  häufige  Fehlen  des  Hakens  in  B,  wo  es  sich  um 
Halbdiphthonge  oder  gar  um  S  varabhak  ti-handelt,  nicht  so  sehr 
wundernehmen;  sind  doch  selbst  in  A  die  durch  Haken  bezeichneten 
Svarabhakti  nicht  besonders  zahlreich.  Immerhin  ist  aber  nicht  zu 
leugnen,  daß  der  Schreiber  von  B  nur  geringe  Vorliebe  für  Formen 
mit  Svarabhakti  zeigt;  denn  selbst  die  in  A  durch  e  oder  i  ausge- 
drückten gibt  B  nicht  immer.  Der  Punkt  ober  ^  fehlt  oft,  doch,  wenn 
er  gesetzt  wird,  befindet  er  sich  meist  über  dem  i  und  nicht  (wie  in 
A  oft)  seitwärts  davon,  so  daß  die  Schrift  lesbarer  ist. 

Die  Unterscheidungszeichen  sind  nur  selten.  Am  Ende 
des  letzten  Verses  von  Nr.  1,  2,  4  und  5  begegnet  ein  Punkt,  desgl. 
nach  dem  Titel  von  Nr.  3,  15  und  16;  in  Nr.  5  V.  96,  Nr.  15  V.  25, 
37,  42  und  in  Nr.  16  V.  3  finden  sich  auch  Beistriche,  in  Nr.  9,  118'' 
(dieser  Vers  fehlt  in  A)  ein  Ausrufungszeichen.  Ich  glaube,  selbst 
diese  wenigen  Zeichen  dürften  von  Enenkel  herrühren. 

Der  Abkürzungszeichen  sind  zwei:  ~  und  s.  Wie  in  A  steht 
ersteres  bisweilen  unnöthig,  wird  aber  sonst  nicht  nur  oft,  sondern 
auch  in  ausgedehnterer  Weise  verwendet  als  in  A  (vgl.  S.  212), 
indem  es  nicht  selten  für  auslautendes  e  (iteüid  Nr.  1,  193,  Nr.  8,  127), 
einmal  auch  für  auslautendes  s  (Nr.  14,  158  de)  steht.  B  S.  468'^  be- 
gegnet ds  (=  des),  was  Friess  VI,  60  irrig  mit  das  aufgelöst  hat.  n 
=  nn  und  m  =  mm  findet  sich  oft  (danen  Nr.  19,  183  und  185, 
Hawhtman  in  einem  nach  448  eingeschobenen  Verse  von  Nr.  10,  czil- 
sawie  10,  271  u.  s.  w.),  12,  166  u.  ö.  Ihu  =  Jesu.  __  ^  hat  eine  etwas 
engere  Bedeutung  als  ^  in  A  (vgl.  S.  211  f.);  es  bezeichnet  in  der 
Regel  er,  doch  auch  ur  (sehr  häufig  d'ch),  ganz  ausnahmsweise  ar,  ir 
{bewH  :  art  Nr.  14,  169,  wde  =  wit-de  Nr.  5,  3)  und  ert  {hund\  dorffer 
in  Nr.  21,  18  Ergänzungsvers.  Häufig  begegnet  Osterr''  oder  Oesterr\ 
selten   Oster^^. 

Was  die  Schreibfehler  (im  Sinne  von  Versehen  durch  Eile 
oder  Vergessen)  betrifft,  so  sind  dieselben  verhältnißmäßig  häufiger 
als  in  A.  Höchst  wahrscheinlich  hat  Enenkel  seine  umfangreiche  Ab- 
schrift, nachdem  er  sie  fertig  gebracht:  nicht  mehr  mit  der  Vorlage 
verglichen;  manche  Versehen  hat  er  gebessert:  sie  mögen  ihm  gleich 
beim  Schreiben  aufgefallen  sein.  Übrigens  konnte  ja  auch  seine  Vor- 
lage hie  und  da  fehlerhaft  sein. 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHENWIRT-  IISS.       237 

Unzweifelhaft  ist  es,-  daß  durch  manclie  solche  Verstöße  der  Text 
leidet;  an  nahezu  dreißig  Stellen  erscheint  dadurch  der  Sinn  gestört. 
In  den  Reimen  begegnet  selten  Auffälliges.     Von  den  zwanzig 
hieher  gehörigen  Fällen  zeigen  fast  alle  nur    ganz  unbedeutende  Ver- 
schen,   wie    sie    leicht    beim  Abschreiben    unterlaufen-,    sie  lassen  sich 
auf  den  ersten  Blick   corrigieren,    aber  auch  die   paar  anderen  bedeu- 
tenderen Reimstörungen  sind  unschwer  zu  beheben.     Eine    derselben: 
voglsaiich  noch  mayen  Lust 
den  /terczen  gaben  wenig  gust 
in  Nr  18,  85  möchte  ich  auf  Enenkel's  Rechnung  setzen;    seine  Vor- 
lage wird  gleich  A  gehabt  haben  luft  :  guft.     Da  ihm  letzteres  Wort 
vielleicht    unverständlich  war,    hielt  er  es  für  Verderbniß    und  suchte 
zu  bessern  ;   er  hat  aber  nur  den  Text  verschlechtert.  Dasselbe  glaube 
ich    von    einigen    anderen    verderbten  Stellen    .".uuerhalb    des   Reimes. 
So  heißt  es  in  Nr.   10,  508: 

do  icaa  dfr   Winter  recht  so  ehalt] 
es  stand  schon  (wie  in  A)   nicht\  dieses  wurde  aber,  da  Enenkel  den 
Sinn  nicht  verstand,  in  recht  geändert.  Nr.   14,  56  schreibt  er: 

er  icas  ein  uher  holdes  Kraft 
(A  über  heldes),    14,  212  darin  falsch    (A  vasch),    15,  31   Unschulden 
A  von  schulden),    16,   184    Senuise  graben  (A   Gen  muse),    21,  89  be- 
trogt (A  bevogt). 

Wie  viel  von  all  den  Ungenauigkeiten  auf  Flüchtigkeit  oder 
Mißverständniß  Enenkel's,  wie  viel  auf  Unlesbarkeit  oder  Fehler- 
haftigkeit seiner  Vorlage  zu  setzen  kommt,  läßt  sich  nicht  entscheiden. 
Immerhin  ist  ihre  Gesammtzahl  im  Verhältnisse  zum  Um- 
fang der  Handschrift  gering.  Eine  sorgfältige  Vergleichung  zeigt 
nicht  nur  Übereinstimmung  unserer  Handschrift  mit  A  im 
großen  Ganzen,  sondern  oft  in  den  kleinsten  Details;  ja,  sie  ist  mit- 
unter geradezu  überraschend.  So  hat  P  XI,   158  f.: 

Da  von  mein  vrewd  vergellet, 

Ir  su^z,ikait  ist  loorden  sawer, 
hingegen  B  mit  A  in,  und  V.  322  Got  vater  setze,  B  und  A  aber  Got 
herre  vater;  P  VII,  51  leben,  dez,  A  dd^  (vgl.  S.  215),  B  das,  V.  139 
P  Chriehen,  AB  chriechen,  V.  190  P  Waegen,  AB  wegen;  P  VI  45 
X>e?  ist  daz,  leben,  kB  der;  P  XV,  184  Getrewer,  AB  getrewn;  P 
VIII,  32:  Mit  wort,  gedanchen,  guter  tat, 

AB  mit  vorgedankchen,  V.  84  P  erslagen,  A  hatte  wie  B  geslagen, 
doch  hat  der  Schreiber  in  A  nachträglich  die  erste  Silbe  geändert, 
V.   137:  Die  flucht  pracht  er  ze  wal  hemider, 

GERMANIA.    Neue  Reihe  XXII.  (XXXIV.)  .lahrft.  16 


238  FRANZ  KRATOCHWIL 

A  zemal,  B  zumal-  P  XVII,  85  An  der  Oder;  AB  Ader,  V.  127  De>n 
von  Maekelhurch,  B  mit  dem  Meklhurg,  A  hatte  mit  dem^  aber  mit 
sieht  verlöscht  aus,  V.  131  P  gewunn^  B  gewunnen,  desgl.  A,  aber  en 
ist  ausgestrichen.  —  Diese  Stellen,  die  sich  sehr  leicht  bedeutend  ver- 
mehren ließen,  bezeugen  nicht  nur  die  große  Übereinstimmung 
zwischen  B  und  A,  sondern  lassen  auch  die  Annahme  zu,  d  a  IX 
Enenkel  seiner  Vorlage,  wo  sie  ihm  keine  Schwierigkeiten 
bereitete,  in  der  Regel  getreu  gefolgt  ist.  Es  ist  also  zu 
sehließen  erlaubt,  daß  die  oben  berührten  üngenauigkeiten  größten- 
theils  auf  Rechnung  der  Vorlage  zu  setzen  seien. 

Dazu  stimmt,  daß  die  Sprachformen  fast  ausnahmslos  mit 
denen  von  A  congruent  sind.  Doch  zeigt  unsere  Handschrift  keine 
Vorliebe  für  den  in  A  häufigen  Wechsel  von  h  und  w,  hingegen  findet 
sich  fast  durchaus  die,  wo  A  di  hat,  auch  gebraucht  Enenkel  nie  die 
Formen  schol,  scholde,  sondern  immer  mit  dem  einfachen  Anlaute  s; 
sonst  steht  seh  statt  s  ganz  vereinzelt  in  Nr.  12,  49  und  129,  auch 
die  Form  mancher  b<;gegnet  nur  ausnahmsweise. 

Überhaupt  macht  EnenkePs  Abschrift  der  Suchenwirtischen 
Gedichte,  von  den  Schriftzügen  abgesehen,  ganz  den  Eindruck  einer 
alten  Handschrift,  obwohl  sie  erst  1625  angelegt  wurde.  Früher  kann 
sie  nach  Enenkel's  Angabe  auf  dem  schon  beregten  Titel  nicht  ent- 
standen sein,  aber  auch  nicht  viel  später,  da  Enenkel  1627  starb; 
andere  Theile  des  Codex  sind  freilich  schon  bedeutend  früher  (1613) 
geschrieben  worden.  Wenn  nun  Jemand  die  Handschrift,  auf  deren 
unbedeutendes  Alter  reflectierend,  geringschätzig  beurtheilen  möchte, 
so  würde  dies  dem  Werthe  derselben  widersprechen. 

Dieser  ist  nach  dem  bisher  Glesagten  trotz  ihrer  Jugend  sehr 
bedeutend.  Er  wird  noch  dadurch  erhöht,  daß  sie  fünf  neue  Ge- 
dichte bringt,  von  denen  besonders  vier  historisch  verwerthbar  sind; 
dadurch  wird  die  große  Lücke  am  Anfange  von  A  nahezu  ganz  aus- 
gefüllt. Aber  auch  vier  andere  Lücken  in  A  fanden  durch  B 
ihre  Ergänzung;  davon  waren  zwei  schon  P  bekannt,  die  eine  von 
89  Versen  in  A  Nr.  12  nach  dem  V.  116,  die  andere  von  41  Versen 
in  A  Nr.  15  nach  dem  V.  185.  Professor  Friess  veröffentlichte  zugleich 
mit  den  fünf  Ehrenreden  unter  Nr.  VI  und  VII  auch  die  Ergänzungs- 
verse zu  diesen  beiden  Lücken  ^)  (a.  a.  O.  S.  26 — 30).     Zwei    andere 


•)  Zu  ändern  sind  folgende  Stellen,  und  zwar  in  I,  17  frumde  in  fromde,  20  wer- 
den in  werdem,  25  mullen  in  viüllen,  45  so  in  do,  84  manigen  in  maniger;  in  II  ist  zu 
lesen:  1  pitt  mit  u.  s.  w. ,  4  helffe,  8  inn.  imd,  in  V.  18  hat  B  gemawre,  in  25 
loillen  :  pillen,  48  wo.    swert,  68  mendleicJi ,  85  was,  100  der,  104  geslagen,    in  51  hat 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHENWIRT-HSS.       239 

Lücken,  jede  zu  52  Versen,  sind  bisher  unbemerkt  geblieben,  die 
eine  in  A  Nr.  9  nach  V.  34,  die  andere  in  A  Nr.  27  nach  V.  52: 
die  Ergänzungsverse  beider  Lücken  gebe  ich  im  Anhange 
zu  dieser  Untersuchung. 

Daß  aber  diese  fünf  Gedichte  und  vier  Ergänzungen 
wirklich  von  Suchenwirt  herrühren,  unterliegt  keinem 
Zweifel,  Allerdings  sagt  Enenkel  ausdrücklich  mit  keinem  Worte, 
daß  die  von  ihm  abgeschriebenen  Gedichte  dem  Suchenwirt  ange- 
hören ;  aber  am  Ende  seiner  Abschrift  (S.  485  b)  hängt  er  dem 
Schlüsse  des  letzten  Gedichtes   noch  die  Bemerkung  an:     Hie    habent 

die  rede  uon  den   Wappen  ein  ende. Hier  bringt  also  Enenkel 

ein  Ganzes,  die  fünf  fraglichen  Gedichte  erscheinen  in  Verbindung 
mit  16  anderen,  welche  unbestritten  längst  als  Suchenwirt's  Eigen- 
thura  allgemein  gelten.  Zudem  steht  das  fünfte  dieser  Gedichte  wenig- 
stens mit  seinem  Schlüsse  in  A,  in  jener  Handschrift,  welche  aus- 
schließlich Gedichte  Suchenwirt's  enthält.  Es  ist  aber  mehr  als 
wahrscheinlich,  daß  nicht  nur  der  Anfang  des  fünften  Gedichtes, 
sondern  auch  die  vier  anderen  Gedichte  einmal  in  A  gestanden  haben 
(vgl.  S.  228  f.).  Daß  Suchenwirt  sich  in  den  fünf  Gedichten  nicht 
nennt,  ist  kein  Einwand;  das  Gegentheil  wäre  sogar  auffällig, 
da  er  dieses  in  keiner  seiner  Ehrenreden  thut,  diesen  aber  sind 
die  fünf  Gedichte  in  allen  Stücken  conform.  Wie  dort  han- 
delt es  sich  auch  hier  um  das  Lob  österreichischer  Edlen:  er 
preist  Moriz  von  Haunfeld ,  Jans  von  Chappell,  Herzog  Albrecht  U. 
den  Lahmen  und  Albrecht  von  Raulieustein.  Alle  bis  auf  den  Herzog 
sind  todt;  das  fünfte  Gedicht  ist  satirisch.  —  Auch  die  Ausführung 
des  Themas  ist  um  kein  Haar  anders:  er  beginnt  mit  dem  Bekennt- 
nisse seiner  poetischen  Ohnmacht  und  der  Anrufung  der  göttlichen 
Hilfe  und  endet  mit  der  Empfehlung  der  Seele  des  Verstorbenen  an 
die  Gnade  Gottes  und  mit  der  Beschreibung  des  Wappens  seines 
Helden.  Auch  was  Dietion,  Sprache  und  metrischen  Bau  be- 
trifft, gleichen  die  fünf  Gedichte  ganz  den  anderen  Ehrenreden. 
Letzteres  gilt  auch  von  den  Ergänzungen.   Daß  sie  echte,  wesentliche 


zu  entfallen  der,  in  87  er;  in  III  ist  zu  lesen:  10  yicalt,  11  mein,  6.^  trewen,  65  chrümbe, 
109  snödeni  116  in,  in  47  liat  auszufallen  die  vor  weisen;  in  IV  ist  zu  le.sen :  2.5  ir, 
öifrovid,  61  heldes,  82  mugd,  133  nagel,  135  helle,  141  under;  in  V  hat  B  V.  2 
uemünst,  28  nu,  30  der,  43  erd,  48  dem,  73  do  er,  87  gürtel,  92  einen,  93  im,  102 
öphltrank,  105  geschehen,  110  glider,  111  warn,  142  Am«;  in  VI:  21  gesach,  Si  frewden- 
reiches,  44  armew,  48  uö  jugent,  57  nu  dar,  60  dea,  67  viir  (nicht  nm-),  80  achilde, 
88  was;  in  VII:   13  von  dem,  24  selbes  und  39  den  (nicht  der). 

16* 


240  FRANZ  KRATOCHWIL 

Theile,  keine  müßigen  Erweiterungen  der  Gedichte  sind,  sieht 
Jeder,  der  nur  aufmerksam  die  Nummern  12,  15  und  27  in  A  mit 
ihren  Ergänzungen  in  B  liest;  dasselbe  gilt  von  der  Ergänzung  zu  A 
Nr.  9  (Rede  vom  verstorbenen  jungen  Ellerbach) ,  deren  Echtheit 
und  Nothwendigkeit  am  deutlichsten  aus  A  Nr.  5  (Rede  auf  den 
lebenden  jungen  Ellerbach),  V.  58  —  113  erhellt. 

Der  Werth  von  B  zeigt  sich  auch,  wenn  in  A  Wörter  fehlen, 
wie  z.  B.  A  Nr.  15,  75,  192;  Nr.  16,  72,  75,  214;  Nr.  27,  51,  178; 
ferner  wo  A  schwer  leserlich  oder  unlesbar  ist,  wie  A  Nr.  1 , 
18,  43;  Nr.  9,  144;  Nr.  13,  111,  117  (zweite  Recension);  endlich 
wo  A  fehlerhaft  oder  sinnlos  ist,  z.  B.  A  Nr.  15,  199;  Nr.  16, 
66;  Nr.  22,  182,  231,  243;  Nr.  27,  53.  —  Es  hat  sich  nämlich  als 
unzweifelhaft  herausgestellt,  daß  unsere  Handschrift  nicht  selten  dem 
Sinne  nach  Besseres  bietet  als  A. 

Das  Urtheil  über  den  Werth  der  Handschrift  wird  keineswegs 
dadurch  umgestoßen,  daß  B  zuweilen  Verse  versetzt,  einen  Vers 
etwas  früher  oder  später  als  A  oder  statt  eines  Verses  in  A 
einen  neuen  bringt;  so  ist  V.  119  von  Nr.  13  in  B  =  V.  120  von 
Nr.   10  in  A,  V.    120  in  B: 

derselb  mit  sterk  un  ehren  geuast 
ist  ein  neuer  Vers,  der  in  A  nicht  vorkommt.  Letzteres  gilt  auch  von 
folgenden  Versen  in   B : 

Nr.   14,  30       wan  er  ye  lobes  chunde  warten 
V      14,  172     darnach  der  degeyi  here 
7)     19,  152    si  chomen  ungeladen 
Ti     21,  lOß    die  was  enuallen  swer 
•n     21,    107    loie  wid""  in  wer  daz  gancz  lant. 

Der  Werth  der  Handschrift  wird  selbst  dadurch  nicht  beein- 
trächtigt, daß  sie  hie  und  da  Lücken  hat.  Von  den  größeren  gibt 
Enenkel  selber  Rechenschaft.  So  schreibt  er  B  S.  436  vor  Beginn 
von  Nr.  1:  Diser  Helden  heschreihung  ist  ein  abgang.  wegen  etlicher 
nher  nit  gar  uiler  heransgeris3ner  hletter-^  B  ist  also  gleich  A  zu  Anfang 
lückenhaft,  von  Nr.  1  fehlt  Titel,  Einleitung  und  ein  Theil  des  Mittel- 
stückes. Und  nach  V.  138  von  Nr.  8  bemerkt  er  S.  447*  der  Hand- 
schrift: Hier  ist  auch  ein  ahgang  xoegen  eines  oder  zioaier  herausgerissener 
bletter.    Die  zweitnächste  Zeile  lautet: 

do  wart  er  zu  derselben  stunt, 
und  es  geht  so  fort,    daß  es  für    den  oberflächlichen  Beobachter   den 
Anschein  hat,  als  ob  nach  der  Lücke  das  Gedicht  vom  jungen  Eller- 
bach   fortgesetzt    werde.     Aber    das,    was  nach   Enenkel's  Bemerkung 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHENWFKTHSS.       241 

folgt,  ist  ein  ganz  anderes  Gedicht:  es  handelt  von  Kreuspeck.  Somit 
fehlt  von  Nr.  8  nach  V.  139  alles  bis  zum  Schlüsse,  das  sind  104 
Verse,  und  von  Nr.  9  der  Anfang,  nämlich  V.   1 — 40. 

Von  den  kleineren  Lücken  ist  die  größte  in  Nr.  10  nach  V.  124: 
sie  erstreckt  sich  auf  zehn  Verse.  In  Nr.  3  läßt  die  Unterbrechung 
des  Reimes  nach  V.  41  den  Ausfall  von  mindestens  einem  Verse  er- 
kennen; ganz  dasselbe  zeigt  sich  noch  an  fünf  anderen  Stellen:  in 
Nr.  9  fehlt  V.  80,  in  11  V.  150,  in  12  V.  164,  in  14  V.  28  ')  und  in 
20  V.  136.  —  Andere  Lücken  umfassen  nicht  einmal  einen  ganzen 
Vers.  So  sind  die  Verse  64 — 73  von  Nr.  1  an  ihren  Enden  mehr 
oder  weniger  unvollständig.  Enenkel  hat  das  fehlende  Stück  des 
Originals  gezeichnet  und  in  die  Umrisse  hineingeschrieben:  War 
hinweg  gerissen.  Dieselbe  Zeichnung  und  die  gleichen  Worte  darin 
finden  sich  S.  436''  der  Handschrift  zu  Beginn  von  Nr.  2;  hier  sind 
die  Verse  1 — 10  zu  Anfang  mehr  oder  minder  verstümmelt.  In  Nr.  9 
fehlt  das  letzte  Wort  (und  damit  der  Reim)  des  V.  311,  desgleichen 
im  V.  206  von  Nr.  16;  in  Nr.  18  V.  226  fehlt  amen.  —  Die  Gesammt- 
zahl  der  ganz  oder  theilweise  fehlenden  Verse  in  den  verschiedenen 
Lücken  dieser  Handschrift  erreicht  noch  lange  nicht  die  Höhe  derer 
in  A. 

Dieser  Handschrift,  welche  nach  Alter,  verhältnißmäßiger 
Sorgfalt  in  Sprache  und  Vers  und  in  erster  Linie  durch  den  Umstand, 
daß  sie  von  allen  Suchenwirt-Handschriften  die  größte  Anzahl 
von  Gedichten  enthält,  den  ersten  Platz  unter  allen  unbestritten 
einnimmt,  reiht  sich  zunächst  dem  Werthe  nach  B  an.  Es 
ist  dies  gerechtfertigt  durch  das  hohe  Alter  des  Originals  von  B,  durch 
die  im  Ganzen  vertrauenswürdige  Wiedergabe  desselben,  durch  sorg- 
fältige Schonung  der  Sprachformen  und  metrischen  Verhältnisse,  sowie 
endlich  dadurch,  daß  sie  die  zweitgröß  te  Anzahl  Suchenwirtischer 
Gedichte,  darunter  bisher  unbekannte  Dichtungen  und  wichtige  Er- 
gänzungen zu  den  Lücken  von  A,  bringt. 

Ja,  es  ist  begreiflich,  daß  bei  so  engen  Beziehungen  zwischen  A 
und  B  der  Gedanke  auftauchen  könnte,  es  sei  das  von  Enenkel  auf 
dem  Titel  zu  Suchenwirt's  Gedichten  erwähnte  „alte  huech'^^  das  ihm 
als  Vorlage  diente,  kein  anderes  als  die  Handschrift  A.  Nehmen  wir 
diesen  Gedanken  als  erwiesen  an  —  daß  in  A  die  fünf  ersten 
Gedichte    von  B  fehlen   und  A  vier  Lücken  aufweist,    die  B  ausfüllt, 


')  Hier  ist  keine  Unterbrechung  des  Reimes,  wohl  aber  eine  Störung  der 
Reimordnung,  insoferne  durch  den  Ausfall  des  V.  28  drei  Verse  aufeinander 
leimen,  während   sonst    in   den   Ehrenreden   die   Reime  gepaart  sind. 


242  FRANZ  KRATOCHWIL 

würde  ihm  am  wenigsten  widerstreben:  die  fünf  Gedichte  können  ja  in  A 
gestanden  haben  (gewiß  ist  dies  in  Bezug  der  Nr.  5  von  B)  und  nach 
Enenkel's  Benützung  erst  weggefallen  sein,  wie  ja  auch  die  Lücken 
erst  später  entstanden  sein  können  —  so  wäre  damit  die  Frage  nach 
dem  Original  von  B  gelöst  und  für  A  das  gewonnen,  daß  ihr  bisher 
aus  verschiedenen  Kriterien  erschlossenes  Alter  nun  bis  1425  zurück- 
geführt und  belegt  wäre,  und  es  würde  sich  dann,  wie  sich  später 
zeigen  wird,  dasselbe  noch  bis  1402  documentarisch  hinaufrücken 
lassen.  Soviel  dabei  A  gewänne,  ebensoviel  würde  B  dadurch  ver- 
lieren; B  würde  nicht  mehr  eine  verlorene  sei  bst|ändige 
Handschrift  von  1425  oder  1402  repräsentieren,  sondern 
zu  einer  Copie  vonA  herabsinken,  die  nur  dadurch  Werth 
hätte,  daß  sie  die  in  A  im  Laufe  der  Zeit  entstandenen 
Schäden  zu  reparieren  geeignet  ist. 

Doch  der  Gedanke,  daß  A  die  Quelle  von  B  gewesen, 
ist  gar  nicht  haltbar; 

a)  denn  in  A  ist  ja  die  erste  Rede  von  Eilerbach  dem  Jungen 
vollständig,  während  Enenkel  nicht  weiter  als  bis  V.  138  schreiben 
konnte,  weil  danach  in  seiner  Vorlage  eine  Lücke  war  von  einem 
oder  zwein  Blättern,  wie  er  meint.  Da  nun  in  B  104  Verse  fehlen, 
so  käme  das  in  A  einer  Lücke  von  zwein  Blättern  gleich. 

b)  In  A  ist  die  Rede  von  Kreuspeck  vollständig,  während  in  B 
die  Überschrift  nebst  den  ersten  40  Versen  fehlt.  Dabei  bleibt  es 
in  hohem  Grade  auffällig,  daß  der  Titel  der  Handschrift 
von  zwanzig  Österreichischen  Helden  spricht,  während 
die  Sammlung  21  Gedichte  zählt.  Es  hat  für  das  erste  auf  mich 
den  Eindruck  gemacht,  als  ob  Enenkel  die  Verse  nach  der  Lücke 
für  eine  Fortsetzung  des  vorausgehenden  Gedichtes  gehalten  hätte- 
dann  allerdings  wären  es  20  Gedichte.  Aber  es  heißt  einem  Enenkel 
doch  viel  zumuthen,  wenn  man  ihn  eines  solchen  Irrthums  fähig  hält. 
Konnte  Enenkel  diesen  mit  der  Anzahl  der  Gedichte  dis- 
harmonierenden Titel  nicht  schon  in  seiner  Quelle  vor- 
gefunden haben? 

c)  Es  ist  auch  in  A  eine  andere  Folge  der  Gedichte. 
Es  muß  in  der  Vorlage  für  B  auf  die  erste  Rede  von  Ellerbach  dem 
Jungen  gleich  die  Rede  von  Kreuspeck  gefolgt  sein,  während  in  A 
die  nächste  Ehrenrede  von  Ulrich  von  Pfannberg  handelt,  der  die 
Reden  von  Ellerbach  dem  Jungen  (zweite  Rede),  Herdegen  von 
Pettau,  Ulrich  von  Waise,  Herzog  Albrecbt  H.,  Ulrich  Waise  (zweite 
Recension)  sich  anreihen.  Jetzt  erst  kommt  die  Rede  von   Kreuspeck. 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  .^UCHENWIRT-HSS.       243 

d)  Nicht  so  zwin;^end  wie  das  Vorhergehende  ist,  daß  in  B  auf 
die  Rede  von  Kreuspcck  die  über  Hans  von  Traun  folgt,  welche 
in  A  die  vorletzte  Ehrenrede  ist.  Die  Folge  der  übrigen  Ehrenreden 
ist  genau  so  vj^ie  in  A. 

e)  Fraglich  bleibt  es,  ob  bei  den  großen  Unterschieden  zwischen 
A  und  B  in  der  Rede  über  Hans  von  Traun  (zehn  Verse  von  A  fehlen, 
dagegen  weist  B  24  neue  Verse,  an  sieben  verschiedenen  Stellen  ein- 
geschoben'), auf,  sonstiger  zahlreicher  Abweichungen  nicht  zu  ge- 
denken) A  hieftir  die  Vorlage  gewesen  sein  konnte.  An  sich  schon; 
man  v/eiß  ja  —  und  auch  Siichenwirt-Handschriften  bieten  hiefür 
Belege  —  wie  die  Abschreiber  verfuhren.  Aber  bei  der  sonstigen 
Grenauigkeit  Enenkel's  ist  es  —   selbst  bei  seiner  oahen  Beziehung 

')  Und  zwar  nach  dem  Verse  431: 

eu  Herczog  Rudolf,  iih  sich  ergeii 
171  sein  schirm  mit  gut  und  hab; 


nach   dem  Vers  434: 

nach  dem  Verse  448: 

nach  dem  Verse  486: 
nach  dem  Verse  487: 


savil  Ölten  dem  Ilaslauer  fruet 
und  Hezlein  den  Enenchel  guet 
uil  laidig  uon  irevi  leben  hie 
dan  also  ez  im  stürm  ergie; 

der  Bischolf  ivolt  in  nicht  erlan 
er  lourd  des  chrieges  Hawbtman; 

rait  mit  uirczig  Pferdten  allez  ßeis; 

als  der  chrieg  wid''  mit  Frächreich 
angieng,  czog  er  gar  tugentleich 
czu  keif  dem  uon  Engellant 
chiinig ,  d''  in  darczu  mit  bet  besant 
der  in  schikcht  Kaieis  zentschütten 
darzu  er  sich  nicht  lang  lies  bitten 
er  half  der  stat,  den  Franczoys  jagt 
des  manheit  manig  loernd''  chlagt 
Do  er  nacher  mit  sighafter  hant\ 


nach   dem  Verse  498: 


ein  guidein  chetten  an  halz  im  hankcht 
darzue  secJishundH  march  im  schankcht 
Sein  zu  denken  der  Princz  im  gab 
ein  chostleich  Ring  und  ander  hab; 
Vers  445  ist  durch  folgende  drei  Verse  ersetzt: 

viit  zicaihitndert  auf  sechshüdH  rait 

sbjg  si  un  jagt  deio  unu'<zait 

zum  land  hinaus,  wart  aber  wunt. 


244        FR.  KRATOCHWIL,  ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  etc. 

ZU  dem  Hause  Traun*)  —  sehr  zweifelhaft,  daß  wenn  ihm  A  vor- 
gelegen, er  so  geändert  hätte. 

Wenn  nun  A  die  Quelle  fürB  nicht  gewesen  sein  kann, 
was  hat  es  dann  mit  dem  y^alten  buech''^  für  einBewandtniß? 

(Fortsetzung  folgt.) 

FRANZ  KRATOCHWIL. 


Manche  dieser  Zusätze  geben  für  die  Geschichte  des  Helden  erwünschte  Details, 
sie  wurden  auch  von  dem  Freiherrn  von  Hoheneck  in  dem  1732  erschienenen  zweiten 
Bande  seines  Werkes  in  der  Geschichte  des  Hauses  Traun  (S.  678 — 717)  verwerthet ; 
ob  nach  dem  „alten  buech'^  auf  dem  Neidenstein  oder  —  was  mich  viel  wahrschein- 
licher dünkt  —  nach  Enenkel's  Abschrift,  darüber  berichtet  er  nichts.  Hoheneck  sagt 
S.  687  nur,  er  finde  es  angezeigt,  ein  „uraltes",  nach  Hans'  von  Traun  Tod  „ver- 
faßtes Leichengedicht",  wenn  auch  „zum  Theil  nur  summariter"  aufzunehmen.  Er 
gibt  dann  S.  687  f.  die  Verse  1  —  14  und  37—40,  die  ebenso  wie  die  S.  690  und  691 
angeführten  Verse  521 — 526,  543 — 553  (Beschreibung  seines  Wappens)  und  560  —  570 
(Schluß)  mit  B  übereinstimmen.  Der  von  Hoheneck  S.  688 — 690  gebrachte  Aus- 
zug des  Gedichtes  harmoniert  vollständig  mit  den  Varianten  und  Zu- 
sätzen von  B  bis  auf  zwei  Stellen.  B  und  A  nennen  (V.  117)  den  Namen  der 
Festung,  welche  Traun  während  der  Sperrung  von  Calais  dem  englischen  Könige 
wiedergewann,  nicht,  beide  erzählen  die  Hilfe,  welche  Traun  dem  Bischöfe  von  Passau 
gegen  seine  unruhigen  Bürger  leistet,  fast  mit  denselben  Worten  (A  V.  446—470, 
B  hat  mar  um  zwei  Verse  mehr).  Hoheneck  aber  nennt  S.  688  den  Namen  derselben 
Cadamum,  ob  aufGrund  seiner  Quelle  oder  nur  als  eigenen  erklärenden 
Zusatz,  ist  nicht  zu  ersehen;  ebenso  verhält  es  sich,  wenn  er  S.  690  anführt, 
der  Bischof  von  Passau  habe  Albrecht  von  Winckl  geheißen;  von  den  Auf- 
ständischen, welche  700  Pferde  gehabt  haben,  aber  von  der  Feste  Georgenberg  hart 
bedrängt  wurden,  seien  300  gefangen  genommen  worden.  —  In  beiden  Fällen, 
glaube  ich,  hat  Hoheneck  die  erwähnten  Angaben  nicht  dem  Gedichte 
entnommen;  die  auf  Passau  bezughabenden  Details  wenigstens  konnte  er  sehr 
leicht  aus  den  Annalen  von  Garsten  in  dem  1727  erschienenen  ersten  Bande  der  Ger- 
mania Sacra  (S.  475)  von  Hansiz  erfahren  haben. 

')  Er  hatte  sich  1617  in  zweiter  Ehe  mit  Barbara  Herrin  von  Abens- 
berg und  Traun  vermalt;  vgl.  Wissgril  1,  Schauplatz  des  landsäßigen  niederöster- 
reichischen Adels  (5  Bände  1794—1804)  2.  Bd.,  S.  410  ff. 


O,  BRENNER,  LEUTE.  245 


LEUTE. 


Nicht  alle  rahd.  in  sind  überall  gleich  ausgesprochen  worden. 
Darauf  weist  die  jetzige  Aussprache  des  alten  iu  in  schwäbischen 
Gegenden.  Behaghel  hat  mich  gesprächsweise  darauf  aufmerksam 
gemacht,  daß  der  Unterschied  durch  den  Ursprung  bedingt  sei.  Ich 
war  durch  Formen  wie  nui,  drid,  hruier  und  durch  das  längere  Fort- 
bestehen der  Schreibung  tu  in  den  entsprechenden  Formen  in  bairi- 
schen  und  Würzburger  Urkunden  zu  der  Ansicht  gebracht  worden, 
Stellung  im  Auslaut  und  vor  Vocal  sei  Ursache  der  besonderen  Aus- 
sprache. An  der  richtigen  Erkenntniß  hinderte  mich  vor  Allem  ein 
Wort:  Hute.  Ich  glaube  nun  allerdings,  daß  das  umgelautete  ü  im 
Oberdeutschen  seine  eigenen  Wege  gegangen  ist,  und  daß  die  alten 
iu,  nachdem  sie  beim  Eintritt  der  neuen  Diphthonge  getrennt  wurden, 
sich  schließlich  wieder  meist  zu  einer  Gruppe  einigten.  Die  Unter- 
scheidung zwischen  u  (so  will  ich  den  Umlaut  des  n  hier  der  Ein- 
fachheit halber  bezeichnen)  und  iu  erhellt  aus  verschiedenen  Um- 
ständen. Einmal  ist  {i  an  einzelnen  Stellen  eher  eu  geworden  als  iu, 
oder  eher  als  eu  aufgefaßt  worden  denn  iu,  so  in  Kaiser  Rudolfs 
Landfrieden  für  Baiern  vom  Jahre  1281,  wo  päul,  hovser,  drwvheu 
steht,  aber  frivnt,  div,  iriv,  diup  u.  s.  f.  Sodann  wird,  nachdem  eu 
für  iu  durchgedrungen,  sehr  oft  scharf  zwischen  altem  vi,  nun  (cu, 
und  altem  iu,  nun  eu  unterschieden  s.  u.  Endlich  findet  sich  noch 
zur  Zeit  des  Monophthonges  die  Schreibung  u  für  den  Umlaut  (im 
oben  erwähnten  Landfrieden  noch  ein  verspätetes  hiisei;  1286  in  einer 
Urkunde  von  Ried  chridzes,  in  den  Carmina  burana  im  jüngeren  Theil 
fol.  110  V.  lut  reimend  mit  müt),  wo  m  für  den  alten  Diphthong  steht. 
Doch    fehlen    mir   für  letztere  Thatsache  genügend  zahlreiche  Belege. 

Nur  ^in  Wort  fügt  sich  der  durch  obige  Auseinandersetzung 
gebotenen  Trennung  nicht:  das  Wort  leute^).  Niemand  hat,  soviel  ich 
weiß,  bisher  bezweifelt,  daß  dasselbe  zu  den  m-Stämmen  zu  zählen, 
und  doch  stellt  es  sich  selbst  ganz  unzweifelhaft  zu  den  umgelauteten 
w-Stämmen.  In  den  ober-  und  niederbairischen  Urkunden  von  1284 
bis   1349,  in  denen  ich  das  Wort  gefunden  habe,    ist  es  nur  in  3 — 4 

')  Anf  das  einmalige  Vorkommen  von  dcevtsch  im  Landfrieden  von  1281 ,  ge- 
rcBvtte  Urk.  von  1297*  lege  ich  so  lange  kein  Gewicht,  als  ich  keine  weiteren  Belege 
finde.  Die  mit  *verseheDen  Jahreszahlen  weisen  auf  Urkunden,  die  ich  selbst  ge- 
sehen, **  anf  zwei  verschiedene  solche  Urkunden  des  gleichen  Jahres. 


246  O-  BRENNER,  LEUTE. 

nicht  von  eu  gesondert,  was  kein  Beweis  für  die  Gleichheit  des  Lautes 
ist.     Sonst  haben  wir 

1.  leute\  für  altes  iu  aber  hi,  so  1291*  gezivch,  nivnzich,  1295* 
(Hv,  gezivk,  nivntzic,  ebenso  1296*,  1307*,  1309*  (hier  letvt,  leit,  da- 
gegen triuzehen,  nivntem,  aber  auch  ncevn),   1313*. 

2.  Ivte,  Ivte  oder  Ivte  gegenüber  iu  1300*,  1306*,  1307*,  1309*, 
1310*,  1314*    1314**,  1316*,  1318*    vielleicht  auch  1315*,  1323*. 

3.  laut  gegenüber  iu  1307*,  lote  und  leut  neben  Heuserer  einer- 
seits, div,  neinzckik  (!)  anderseits. 

4.  Iceut,  Icevte,  Iceiit,  laeut,  läwt  gegenüber  iu  oder  eu  1293,  1294, 
1295*,  1304*,  1306**,  1307**,  1309*,  1315*  (ebd.  hau/hm),  1316*, 
1318*,  1323*,  1324  (ebd.  chraeuz,  Maeujel),  1326**,  1331*,  1335*,  1338*, 
1349  u.  s.  w. 

5.  Einzeln  1297*  laut,  pcevren  :  gerceute,  1328*  levt  :  frievnt,  alliev, 
haidiev. 

Genug  Beispiele  dafür,  daß  sich  letäe  von  den  übrigen  Worten 
mit  iu  sondert;  wo  Umlaute  von  ü  neben  leute  belegbar  sind,  stellt 
unser  Wort  in  so  gut  wie  allen  Fällen  zu  diesen.  Auch  noch  in 
späteren  Urkunden  ist  das  Verhältniß  dasselbe;  um  1500  freilich  ist 
hievon  nichts  mehr  erkennbar,  da  heißt  es  leite,  durchlaichtiger,  frain- 
din,  vertrailich,  Praisen. 

Die  Scheidung  ist  aber  nicht  bloß  bairisch  im  engeren  Sinn 
gewesen.  Freilich  so  zahlreiche  Belege  wie  aus  München  und  Um- 
gebung (die  sich  künftig  noch  vermehren  lassen  werden)  weiß  ich  sonst 
nicht  beizubringen,  aber  doch  genügende,  um  das  Vorhandensein  im 
Süden  und  Norden  zu  beweisen.  In  zahlreichen  Urkunden  von  Ober- 
und  Niederösterreich  und  Steiermark  *)  wird  durchaus  iu  oder  eu  ge- 
schrieben, also  chreutz  wie  freiint  und  gezeuk,  aber  schon  1274  (Reins- 
berg)  levte  :  triiven,  geziuge,  1278  (Wilden)  laeut  :  vriviit,  niwen,  1278 
(ebd.)  laevt  (oft)  :  vriuntlich,  geziuge,  lewen-,  ebentiuren ,  1281  (Kaiser 
Rudolf,  aber  in  Regensburg)  Icevt,  faul,  hovser,  hvser,  drcevhen  und 
dcevtsch  :  frivnt,  driv,  diup  u.  s.  w.,  1292  (Wien)  levte  :  geziuge,  diu  1293 
(Aychsperg)  levt  :  getziugen,  1293  (Weidhouen)  leut'.niun,  diu,  1292 
(St.  Paul  in  Kärnten)  lande  :  sev  (eas),  nevntzich,  1293  (Wien)  leute: 
ziug ,  1295  (Lack)  lauten  :  geziug,  1297  (Wien)  laute,  belaeuttet  :  ge- 
ziugen,  neunzigist  u.  s.  w. 

Im  Schwäbischen  habe  ich  alte  Belegstellen  nicht  gesammelt. 
In  der  Gegenwart    stellt    sich'^)  in  der   Memminger  Gegend,    wie  ich 


')  Belege  in  den  Fontes  rer.  Austr.  II.  bes.  Band   1  und  31. 
^)  [H.  Fischer    theilt    mir    gütigst    mit,    daß  in  ganz  Schwaben    leute,    denf-ch 
und  gereute  sich  zu  häuser  stellen.] 


O,  BEHAGHEL,   MHD.  iu  UND  ü.  247 

selbst  gehört,  lait  zu  haiser;  auch  nach  den  Proben  bei  Firmenich  ist 
weithin  lait,  leut  von  den  übrigen  iM-Stämmen  getrennt.  In  einem 
fliegenden  Blatt  des  vorigen  Jahrhunderts  (Froinmann,  Mundarten 
VII,  488)  aus  Schwaben  finde  ich  :  leit,  sew  aber  tuiffel,  frvind,  uyer 
u.  s.  w.  Das  alem.  lut  =  finget  muß  durchaus  nicht  ursprünglicher 
sein  als  die  älteren  bairischcn  und  die  ostschwäbischen  Formen. 

Es  wird  also  wohl  neben  liidi  im  Ahd.  auch  lüti  anzusetzen  sein. 
Während  man  bei  'd{dscK  wohl  Einfluß  der  niederrheinischen  Form 
annehmen  könnte,  ist  es  doch  gewagt,  bei  lüte  das  Gleiche  zu  thun. 
Es  müßte  denn  —  was  noch  zu  beweisen  wäre  —  das  Wort  in  Baiern 
und  Schwaben  einmal  verloren  gegangen  sein.  Die  Namen ,  die  mit 
Hut-  gebildet  sind,  stellen  sich  zu  den  iw-Stämmen;  Liutold,  Leutold 
findet  sich  zugleich  mit  Iccute.  Rein  lautliche  Entwicklung  ist  wohl 
ausgeschlossen  (trotzdem  man  wegen  dcevtsch  und  gercevtte  an  Einfluß 
des  t  glauben  könnte).  Anlehnung  an  den  Stamm  lüt  ist  ganz  un- 
wahrscheinlich.   Woher  kommt  dann  die  Form  *lnti? 

MÜNCHEN,  Juni  1889.  O.  BRENNER 


MHD.  iu  UND  ü. 


Um  die  interessante  Thatsache,  auf  die  Brenner  im  Vorstehen- 
den hinweist,  richtig  beurtheilen  zu  können,  wird  es  sich  empfehlen, 
die  Untersuchung  noch  auf  etwas  breitere  Grundlage  zu  stellen. 

Daß  der  alte  Diphthong  itc  und  der  aus  u  vor  i  entstandene 
Laut  keineswegs  überall,  wie  man  bis  jetzt  annahm,  in  einem  Laute 
zusammengefallen  sind,  ist  zweifellos.  Zu  dieser  Überzeugung  bin  ich 
schon  vor  einiger  Zeit  geführt  worden,  als  ich  meinen  Beitrag  für 
Paul's  Grundriß  bearbeitete,  und  zwar  durch  den  Thatbestand  in  den 
heutigen  Mundarten: 

L  Schmeller  verzeichnet  aus  dem  von  ihm  bearbeiteten  Gebiete 
sieben  verschiedene  Entsprechungen  für  nhd.  du,  d.  h.  für  den  Umlaut 
von  ü,  dessen  ältere  Stufe  ich  mit  Brenner  durch  ü  wiedergeben  will ; 
für  den  alten  Diphthong  iu  zählt  er  16  mundartliche  Vertretungen 
auf;  vgL  die  Mundarten  Baierns  N°  164—170  und  246—261.  Von 
diesen  lasse  ich  N*  168  bei  Seite,  das  ich  nicht  recht  zu  beurtheilen 
weiß;  ferner  N"  251  und  256,  weil  u  kaum  unter  den  gleichen  Bedin- 
gungen auftreten  dürfte,  unter  denen  hier  iu  erschien.  Dann  bleiben 
für    iu    14,    für    u    6  Entsprechungen.     Theilweise    nun    fallen    diese 


248  O-  BEHAGHEL 

beiden  Reihen  zusammen:  alle  die  Laute,  die  altes  ü  fortsetzen,  be- 
gegnen auch  als  Vertreter  von  altem  m;  vgl.  N°  164  mit  247, 
165  mit  249,  166  mit  250,  167  mit  252,  169  mit  253,  170  mit  255 
und  261.  Dagegen  sind  sieben  heutige  Laute  nur  Nachkommen  von 
iu,  nicht  von  m;  vgl.  N"  246,  248,  254,  257,  258,  259,  260. 

2.  Aus  den  Darlegungen  von  Kauffraann  (der  Vocalismus  des 
Schwäbischen  in  der  Mundart  von  Horb  S.  23  und  24)  ergibt  sich, 
daß  altes  ü  im  Schwäbischen  durchaus  zu  ei  geworden,  während  iu 
theils  als  ui,  theils  als  ei  erscheint. 

3.  In  einem  Theile  des  Westmitteldeutschen  —  keineswegs  im 
ganz-en  Mitteldeutschen,  wie  meist  gelehrt  wird  —  ist  iu  mehrfach 
zu  ü  geworden  und  wird  heute  durch  au  vertreten;  daneben  erscheint 
es  in  den  gleichen  Mundarten  auch  als  äu  {ai,  ei).  Für  u  begegnet 
nur  äu  mit  seinen  Nebenformen. 

2.  und  3.  ergeben  sich  theilweise  schon  aus  dem  von  Schmeller 
Gesagten. 

Daß  aus  den  Reimen  der  mhd.  Dichter  sich  irgend  ein  Anhalt 
gewinnen  lasse,  um  das  Verhältniß  von  iu  und  il  zu  beurtheilen, 
möchte  ich  bezweifeln.  Zur  Probe  habe  ich  darauf  hin  die  ersten 
10000  Verse  Gotfrieds  durchgesehen.  Hier  finden  sich  nur  zwei  Reime 
von  «<  Ruf  u  (w),  nämlich  stiure  :  aventiure  2419,  tiure  :  aventiure  8660. 
Daraus  kann  aber  nichts  geschlossen  werden,  denn  Wörter  mit  iu 
und  M  sind  im  Reime  überhaupt  selten:  il  begegnet  nur  in  dem  Aus- 
gang -luj'e,  und  zwar  wird  dieser  fast  ausschließlich  durch  Substantiva 
mit  der  französischen  Endung  -ure  gebildet,  vgl.  v.  919,  1607,  1991, 
1997,  3267—70,  4185,  4271,  4339,  4577,  665P).  Mit  altem  m  be- 
gegnet der  Ausgang  -iure  nur  1115,  8989,  9023.  Ferner  findet  sich 
-iu  V.  1459,  2945,  7151;  -iuhet  3431;  -tute  2695,  2775,  6779,  8803, 
9523;  -iuwe  219,  1789—92,  4155,  5034,  9559. 

Dagegen  hat  nun  Brenner  gezeigt,  daß  eine  Scheidung  von  iu 
und  w  auch  aus  mittelalterlichen  Schreibungen  deutlich  hervorgeht. 
Schon  vor  ihm  aber,  was  Brenner  entgangen  ist,  hat  Leitzmann  die 
gleiche  Wahrnehmung  für  das  Alemanische  des  badischen  Oberlandes 
gemacht:  in  Grieshabers  Predigten  wird  altes  iu  durch  iu,  altes  il 
durch  u'  dargestellt  (Beitr.  14,  493).  Ich  verweise  ferner  auf  zwei 
umfangreiche    bairische  Texte.     Erstens    die    von   Schönbach    heraus- 


*)  Wie  vorsichtig  man  sein  muß,  wenn  man  fremde  Eigennamen  für  laut- 
geschichtliche Untersuchungen  verwerthen  will,  zeigt  der  Gebrauch,  den  Gotfiied 
von  dem  Namen  Blanchefleur  macht:  es  reimt  meist  auf  -iure  (919,  1607,  1991,  4185, 
4217,  4329);  daneben  wird  es  gebunden  auf  amur  1359,  auf  erfuor   1383. 


MHD.  »M  UND  M.  249 

gegebenen  Oberaltacher  Predigten.  Hier  wird  in  durch  das  Zeiclien 
iu  wiedergegeben,  seltener  durch  eu,  dies  letztere  meist  im  Pronomen 
der  2.  Pers.  Plur. :  es  mag  sein,  daß  im  einsilbigen  Worte  sich  in 
früher  zu  eu  gewandelt  als  im  mehrsilbigen.  Für  ü  erscheint  in  dem 
von  mir  durchgeprüften  Stücke  (S.  121  — 173)  das  Zeichen  iu  nur  in 
diuchten  153,  3,  gediuht  153,  40,  eu  nur  in  cheusch  129,  38;  chreutz 
153,  4;  sonst  werden  für  den  Umlaut  die  beiden  Zeichen  u  und  mu 
verwendet;  einmal  begegnet  ?/:  bedutet  125,  26.  Zweitens  die  von 
Keller  veröffentlichten  Gesta  Romanorum:  iu  erscheint  hier  als  eu 
{eio),  tl  als  ceu. 

Als  Störenfried  tritt  nun  das  ^^'ort  Leute  auf.  Es  wird,  wie  in 
Brenners  Quellen ,  so  auch  in  den  von  mir  genannten  stets  mit  dem 
Zeichen  geschrieben,  das  sonst  dem  Umlaut  gilt.  Es  gibt  aber  noch 
einige  andere  Wörter,  die  in  der  älteren  Sprache  den  Diphthong 
iu  aufweisen  und  doch  die  gleiche,  anscheinend  regelwidrige  Schrei- 
bung zeigen  wie  Leute.  Leitzmann  nennt  aus  Grieshabers  Predigten 
die  Wörter  hetu'ten,  eniti'schen,  erlu'htet.  Für  diutsch  bietet  Brenner 
selber  einen  Beleg  der  Schreibung  dceutsch,  ohne  freilich  Gewicht 
darauf  zu  legen;  beduten  bezw.  bedamten  ist  in  Schönbachs  Predigten 
oft  genug  belegt  (z.  B.  121,36;  122,21;  122,24;  122,27;  122,36. 
37.41;  125,27;  129,20;  130,38;  139,16;  142,30),  ebenso  in  den 
Gesta  (S.  7,  Z.  2  v.  u.  ;  8,  3;  16,  15  v.  u.;  31,  16  v.  u.);  auch  lüch- 
t9n  :  Iceuhten  begegnet  in  beiden  Quellen:  Predigten  144,27,  Gesta 
S.  2,  Z.  19  V.  u.;  8,  3  v.  u.;  9,  21.  Dazu  kommt  noch  aus  Brenners 
Belegen  gercevtte.  Eine  eigenthümliche  Stellung  nimmt  das  Zahlwort 
neun  ein:  Leitzmann  gibt  zwei  Belege  für  die  Schi'eibung  niune,  zwei 
für  nu'ne\  Brenner  bietet  ein  nceun  neben  zahlreichen  Belegen  für  den 
alten  Diphthongen;  die  Oberaltacher  Predigten  haben  sieben  Beispiele 
mit  iu  {eu),  zwei  mit  ii  (6u)  s.  unten;  die  Gesta  bieten  nm'otden  (S.  17), 
nmcnzehenden  S.  31 ;  also  Belege  für  iu  wie  u.  Ich  bemerke  noch,  daß 
in  den  von  mir  durchgesehenen  Proben  mitteldeutscher  Mundart  ich 
weder  für  Leute  noch  für  ein  anderes  der  genannten  Wörter  Formen 
mit  au  begegnet  bin  'j.  Wie  sind  nun  diese  auffallenden  Abweichungen 
zu  erklären? 

An  Entlehnung  aus  irgend  einer  anderen  Mundart  kann  unmög- 
lich gedacht  werden;  ebensowenig  ist  anzunehmen,  daß  u  für  in  ein- 
getreten   nach    Analogie    irgend    welcher    danebenstehenden    Wörter 


')  Durchlaucht,     erlaucht    können  Analogiebildungen    »ein    so  gut    wie    karte  — 
lärte,  gekärt  —  gelärt. 


250  O-  BEHAGHEL,  MHD.  in  UND  n. 

mit  ü.  Daß  der  dem  Vocal  nachfolgende  Consonant  nicht  die  Ursache 
der  Veränderung  sein  kann,  wird  für  bedeuten^  deutsch,  Leute,  Gereute 
durch  heute  bewiesen,  das  stets  mit  dem  Zeichen  erscheint,  das  dem 
alten  Diphthong  zukommt  (vgl.  Oberaltacher  Predigten  121,  3;  124,  8; 
131,23;  132,8;  132,20;  133,8;  144,5.  37;  156,23;  160,16;  161,6; 
173,  24).  Für  neun  durch  Freund,  von  dem  das  Gleiche  gilt  (vgl.  Ober- 
altacher Pred.  124,  27;  125,9.  13.  14.  15.  24;  126,9.  11;  127,  16; 
129,  7.  9).  Für  leuchten  freilich  stehen  mir  keine  Gegenbeweise  zu 
Gebote.  Daß  das  Nebeneinander  von  ein-  und  mehrsilbigen  Formen 
keinen  Einfluß  auf  die  Entwicklung  des  alten  m  gehabt  haben  kann, 
zeigt  wieder  die  Form  Mute  neben  heduten.  Es  bleibt  anscheinend 
nur  der  von  Brenner  vorgeschlagene  Ausweg.  Man  müßte  dann 
überall  ahd.  Nebenformen  mit  ü  annehmen,  die  zu  den  Formen  mit 
iu  im  Ablautsverhältniß  stünden.  Aber  auch  dieser  Auffassung  stehen 
große  Bedenken  im  Wege.  Graff  verzeichnet  über  200  Belege  für 
den  Stamm  Hut-,  für  die  Stämme  diut-  und  ninn-  je  etwa  30,  gegen 
50  für  den  Stamm  liuht- ,  gegen  20  für  den  Stamm  riut-,  zusammen 
also  etwa  330  Belege  für  m-Stämme.  Dem  gegenüber  steht  ein  Beleg 
von  lut- ,  den  ich  nicht  nachprüfen  kann,  ein  Beleg  von  dut- ,  zwei 
Belege  für  nun-,  einer  für  luht-,  zwei  für  rut- ,  von  denen  ich  einen 
wieder  nicht  nachprüfen  kann.  Drei  weitere  Beispiele  von  luht-  ge- 
hören dem  12.  Jahrh.  an;  für  luhterit,  das  Graff  aus  Willeram  anführt, 
bietet  Seemüller  nur  die  Lesart  luihtent.  Macht  zusammen  5 — 7  Bei- 
spiele für  u  als  Stammvocal.  Hätten  nun  im  Ahd.  wirklich  die  'ä- 
Formen  bestanden,  die  später  die  zw -Formen  gänzlich  verdrängt 
hätten,  so  wäre  es  ein  unbegreiflicher  Zufall,  daß  sie  in  unseren 
Quellen  nicht  häufiger  Bezeichnung  gefunden  hätten.  Dazu  kommt 
ein  eigenthümlicher,  von  mir  bis  jetzt  übergangener  Umstand,  der 
bei  Brenners  Annahme  keine  Erklärung  findet:  in  den  Oberaltacher 
Predigten  werden  die  Casus  des  Plurals  Leute  stets  mit  ü  oder  oeu 
geschrieben;  in  dem  von  mir  geprüften  Stück  zähle  ich  69  Belege. 
Dagegen  der  Sing,  erscheint  stets  mit  iu:  148,36;  151,  15;  156,  25; 
157,23.  26;  162,39;  165,17;  172,  31  =  8  Beispiele;  doch  wohl  genug, 
um  die  Annahme  eines  Zufalls  auszuschließen.  Gerade  so  vertheilt 
sind  die  m-Formen  und  die  M-Formen  bei  der  Zahl  neun',  es  heißt 
niune,  niunzic:  124,24;  124,31;  125,4  (je  zwei  Beispiele);  125,29. 
Dagegen  die  nbun  158,  3;  die  nüne  158,  6. 

Wollte  man  ti  in  den  beiden  Wörtern  auf  ahd.  ü  zurückführen, 
so  müßte  ein  uralter  Wechsel  des  Accents  zwischen  Singular  und 
Plural  von    Hut    und  niwi  angenommen  werden.    Einen  solchen  kennt 


G.  EHRISMANN,  EINE  HANDSCHRIFT  DES  PFAFFEN  AMIS.  251 

ja  nun  allerdings  das  Indogermanische  beim  Neutrum  (Joh.  Schmidt, 
die  Pluralbildungen  der  indogermanischen  Neutra  S.  147).  Allein 
erstens  ist  nicht  erwiesen,  daß  Hut  im  Indogerm.  Neutrum  war; 
zweitens  ist  zweifelhaft,  ob  es  schon  im  Indogerm.  einen  Plural  Leute 
gab,  da  das  Wort  als  Collectiv  ursprünglich  wohl  nur  einen  Singular 
besaß  (Schmidt  a.  a.  O.  S.  28);  drittens  wäre  es  höchst  merkwürdig, 
wenn  jener  vorgeschichtliche  Wechsel  sich  bis  in's  Mhd.  hinein  be- 
wahrt hätte,  während  im  übrigen  Germanischen  keine  Spur  davon 
erhalten  ist. 

Welche  Eigenschaft  ist  denn  nun  den  Wörtern  bedeuten,  deutsch, 
Gereute,  leucliten  gemeinsam,  welche  Eigenthümlichkeit  lag  in  Leute 
und  neune  vor,  während  sie  bei  neun  und  dem  Sing,  von  Leute  fehlte? 
Nichts  Anderes  als  das  ursprünglich  der  Stammsilbe  folgende  i  (j): 
dnitjan,  diutisc,  cjarmti  etc.  Und  wir  müssen  ofl'eubar  annehmen,  daß, 
wie  nicht  nur  m  zu  o  gebrochen  wurde,  sondern  auch  iu  vor  folgendem 
n  sich  zu  io  w-andelte,  so  auch  nicht  nur  u  zu  il,  sondern  auch  iu  zu 
iü  umlautete.  Daß  aber  m  sehr  leicht  zu  il  werden  und  so  mit  il  aus  ü 
vor  i  zusammenfallen  konnte,  liegt  auf  der  Hand. 

Es  kann  nicht  verwundern,  wenn  der  lautgesetzliche  Stand  der 
Dinge  mehrfach  durch  Ausgleichungen  zerstört  ist.  Z.  B. "'sollte  es 
heißen  ziuhu,  aber  ziühit,  also  bair.  ziuhe  —  zcBuhet;  es  hat  aber 
der  Vocal  von  ziuJie  und  vom  Imperativ  ziuh  den  Sieg  über  den  Vocal 
von  ziühes  —  ziühet  davongetragen.  Ebenso  hat  sich  etwa  iiilri  nach 
tiures,  tiuro  umgestaltet. 

GIESSEN,  Juli   1889,  O.  BEHAGHEL. 


EINE  HANDSCHRIFT  DES  PFAFFEN  AMIS. 

Die  Perg.-Hs.,  deren  Eingang  durch  ein  Versehen  schon  in  Band  33, 
S.  46  abgedruckt  worden  ist,  wurde  von  den  Herren  Rector  Schmid 
und  Professor  Einert  in  Arnstadt  gefunden  als  Umschlag  einer 
Rechnung  des  Amtes  Clingen,  Schw^arzburg-Sondershausen,  vom 
Jahre  1513 — 14.  Die  genannten  Herren  hatten  die  Güte,  mir  eine 
Abschrift  zuzusenden.  Mit  ihrer  Erlaubniß  gebe  ich  die  folgenden 
Bemerkungen. 

Der  Dialect  ist  nd.  Schon  die  Übertragung  in  eine  andere 
Mundart    veranlaßte    eine  Menge  Änderungen    des    ursprünglich    obd. 


252  ö.  EHRISMANN,  EINE  HÄNDSCHRIFT  DES  PFAFFEN  AMIS. 

Textes.  Der  Schreiber  verfuhr  aber  auch  sonst,  wo  jener  Grund  nicht 
vorlag,  mit  der  Überlieferung  sehr  willkürlich  und  hat  diese  nach 
Belieben  umgestaltet.  Die  auffallendsten  Änderungen  bilden  die  drei- 
fachen Reime,  welche  er  da  anbrachte,  wo  ihm  in  der  Darstellung 
eine  Pause  geboten  schien.  Zu  dem  vorhandenen  Reimpaare  machte 
er  einfach  einen  neuen  Vers  hinzu,  den  er  entweder  zwischen  die 
beiden  ursprünglichen  einfügte  oder  auf  sie  folgen  ließ.  Es  sind  nur 
bedeutungslose  Flickverse,  die  nicht  für  die  dichterische  Fähigkeit 
ihres  Verfassers  sprechen. 

Da  die  Außenseite  der  Blätter  mehrfach  verwischt  ist,  auch  der 
Verfertiger  des  Umschlags  diese  für  seine  Zwecke  vielfach  zerschnitten 
und  dann  zusammengeklebt  hat,  so  sind  nur  etwa  900  zum  Theil 
verstümmelte  Verse  vorhanden,  die  zwischen  V.  1  und  2237  fallen. 
Den  Schwank  von  der  Messe,  Nr.  X  bei  Lambel,  hat  der  Abschreiber 
wahrscheinlich  schon  in  der  Vorlage  nicht  mehr  vorgefunden,  da  diese 
Geschichte  in  der  Gruppe ,  welcher  unsere  Hs.  angehört,  übergangen 
wurde.  Die  Hs.  gehört  nämlich  zu  jener  Umarbeitung,  welche  Lambel 
in  der  Einleitung  (Erzählungen  und  Schwanke^,  S.  15)  bespricht. 
Das  ergibt  sich  schon  aus  der  Stellung  der  Erzählung  Nr.  VIII,  welche 
auf  Nr.  V  folgt.  Ferner  fehlen  wie  in  GHK  (Benecke's  Bezeichnung): 
V.  277  und  278,  709—714,  913  und  914;  es  stehen  =  GHK  gegen 
R:  V.  227  und  228  sowie  1552''"'.  Auch  die  Übereinstimmungen  im 
Wortlaut  zwischen  unserer  Hs.  mit  GHK  gegen  R  sind  so  zahlreich, 
daß  an  einer  gemeinsamen  Vorlage  nicht  gezweifelt  werden  kann. 
Dagegen  ist  ihr  Verhältniß  innerhalb  der  Gruppe  GHK  nicht  mit 
Sicherheit  zu  bestimmen.  An  einigen  Stellen  stimmt  sie  mit  R  gegen 
GHK;  ein  paarmal  hat  sie  mit  HK  gemeinsame  Fehler.  Von  Wichtig- 
keit ist  die  Entscheidung  dieser  Frage  nicht,  da  die  Hs.  überhaupt 
für  die  Kritik  entbehrlich  ist;  Lambels  Text  wird  durch  ihre  Bei- 
ziehung nirgends  geändert.  Mit  der  Straßburger  Hs.  (v.  d.  Hagens 
Grundr.  S.  353)  und  den  Drucken  (Zs.  9,  400  und  30,  376)  steht  sie 
in  keinem  Zusammenhang. 

PFORZHEIM.  GUSTAV  EHRISMANN. 


A.  GOMBERT,  BEMEEKUNGEN  ZUM  DEUTSCHEN  WÖRTERBUCHE.     253 

BEMERKUNGEN  ZUM  DEUTSCHEN  WÖRTER- 
BUCHE. 

Bd.  Vn,  Lief.   10  {Pflasterung  bis  riatz). 


Die  folgondon  kleinen  Bemerkungen  zu  einer  der  neueren  Lieferungen 
des  Grimmschen  WörterbuchcH  bedürfen  um  so  weniger  einer  längeren  Recht- 
fertigung, als  eine  gleichartige  der  folgenden  l-iieferung  desselben  Bandes 
gewidmete  Betrachtung,  zu  Neujahr  1889  im  Anzeiger  der  Zeitschrift  für 
deutsches  Alterthum  veröti'entlicht,  über  Ziel  und  Zweck  dieser  Bemerkungen 
das  Erforderliche  ausspricht.  Beide  Zusammenstellungen  sind  nach  gleichen 
Gesichtspunkten  und  unter  Benutzung  etwa  derselben  Quellen  gemacht ;  sie 
werden  sich  daher  in  ihrem  Werthe  nicht  von  einander  unterscheiden  und 
sich  auch  darin  gleichen,  daß  sie  neben  erwünschten  Ergänzungen  oder 
Berichtigungen  manches  Entbehrliche  bringen.  Daß  in  den  Bemerkungen  den 
Fremdwörtern  viel  Platz  eingeräumt  ist,  liegt  hauptsächlich  an  dem  Buch- 
staben P.  Man  wird  aber  finden ,  daß  ich  nur  auf  solche  Fremdwörter  ein- 
gegangen bin ,  die  entweder  bei  Lexer  selber  Erwähnung  gefunden  haben 
oder  eine  Beachtung  aus  dem  Grunde  zu  verdienen  .scheinen,  weil  sie,  wenig- 
stens nach  meiner  Überzeugung,  dem  weiteren  Kreise  der  Gebildeten  ge- 
läuGger  sind  als  andere  sprachlich  oder  begriÜ'lich  naheliegende,  welche 
Lexer  übergangen  hat.  Die  mehrfach  hervortretenden  Hinweise  auf  den  nord- 
deutschen Sprachgebrauch  wird  man  mir  so  wenig  übel  nehmen,  wie  ich 
Lexer  einen  Vorwurf  daraus  mache,  daß  er  diesen  Sprachgebrauch  weniger 
eingehend  behandelt.  Mit  dem  Landschaftlichen  hängt  das  Volksmäßige  eng 
zusammen,  und  wenn  dies  letztere  ohne  Schminke  vorgeführt  werden  sollte, 
so  war  einiges  Derbe  oder  auch  Schwankhafte  nicht  wohl  zu  vermeiden. 
Abweichend  von  früheren  Besprechungen  des  DWb.  habe  ich  diesmal  mehr- 
fach auf  Sanders  hingewiesen,  der  im  Grimmschen  Werke  wohl  kaum 
genannt  wird.  Seine  und  seiner  Gehilfen  Sammlungen  sind  oti'enbar  zum 
deutschen  Wörterbuche  ebensogut  zu  benutzen  wie  die  anderer  Sammler, 
und  es  erscheint  sogar  als  Pflicht,  das  in  seinen  Wörterbüchern  enthaltene 
Brauchbare  auch  für  das  Grimm'sche  Wörterbuch  zu  verwerthen.  Am  wirk- 
samsten würde  dies  natürlich  in  der  Art  auszuführen  sein,  daß  für  die  noch 
nicht  im  DWb.  bearbeiteten  Buchstaben  des  Alphabets  ein  einfach  nach 
den  Anfangsbuchstaben  geordnetes  Verzeichnis  der  bei  Sanders  aufgenom- 
menen zusammengesetzten  Wörter  angelegt  würde,  die  sich  ja  wegen  der  von 
Sanders  gewählten  Anordnung  nach  dem  Anlaut  der  Stammsilbe  leicht  verstecken. 
Wem  aber  sollte  man  diese  zeitraubende  und  vielfach  durch  dürres  und  werth- 
loses  Gestrüpp  führende  Wanderung  zumutben?  Die  Bearbeiter  des  Deutschen 
Wörterbuches  haben  in  der  That  Besseres  zu  thun.  Aber  man  beklagt  ja, 
wenigstens  in  Preußen,  die  Überzahl  von  jungen  Philologen,  die  bei  einem 
halben  Dutzend  wöchentlicher  Lehrstunden  immer  noch  viel  Muße  haben, 
selbst  wenn  sie,  wie  ich  annehmen  will,  daheim  mit  Eifer  in  die  großen 
Geheimnisse  der  Ziller-Stoyschen  Lebrweisheit  einzudringen  suchen.  Würde 
QEBMANIA.     Neue  Beihe  XXII.  (XXXIV.)  Jahrg.  17 


254  A.  GOMBERT 

die  bezeichnete  Arbeit  auf  ein  halbes  Dutzend  geeignete  angehende  Gym- 
nasiallehrer vertheilt,  so  könnte  sie  rasch  ausgeführt  sein,  vielleicht  unent- 
geltlich ,  vielleicht  gegen  eine  in  diesem  Falle,  wie  ich  glaube,  ebenso  will- 
kommene wie  wohlverdiente  Entschädigung.  Am  Riemen  lernt  der  Hund  be- 
kanntlich Leder  fressen;  es  ist  daher  nicht  unwahrscheinlich,  daß  einer  oder 
der  andere  der  so  zunächst  in  Handlangerdiensten  für  das  Deutsche  Wörter- 
buch Beschäftigten  später  auf  gleichem  Felde  selbständig  fortai-beiten  würde. 
Doch  das  sind  weiterführende  Gedanken.  Näher  liegt  es,  daß  ich  mich 
wegen  der  Breite  entschuldige,  die  in  der  Vorführung  mancher  Belege  herrscht. 
Durch  kurze  Angabe  von  Stichwort  und  Fundstelle  würde  sich  der  Inhalt 
der  folgenden  Bemerkungen  auf  sehr  viel  kleinerem  Räume  geben  lassen ; 
aber  es  ist  doch  gewiß  manchem  Leser  erwünscht,  einen  gebotenen  Beleg 
gleich  im  Zusammenhange  zu  sehen,  und  die  Wenigsten  werden  alle  hier 
genannten  Quellen  bequem  zum  Nachschlagen  bei  der  Hand  haben.  Ich 
wenigstens  habe  nicht  selten  bei  ähnlichen  mir  zugegangenen  Sammlungen 
den  Zusammenhang  einer  kurz  angedeuteten  Stelle  mit  Bedauern  vermißt, 
zumal  da  sich  gegen  die  richtige  Auffassung  und  begriifliche  Einordnung  eines 
Wortes  öfters  Bedenken  erheben,  die  ohne  Kenntniß  des  Zusammenhanges 
nicht  zu  lösen  sind.  Ein  Beispiel  für  diesen  Fall  findet  man  später  unter 
Pichelei  gegeben.  Daß  endlich  allen  im  Folgenden  gemachten  Ausstellungen 
die  vollste  und  dankbarste  Anerkennung  der  auch  in  der  besprochenen  Liefe- 
rung des  Wörterbuches  vorzüglichen  Leistung  Lexers  zu  Grunde  liegt,  sei  für 
mit  der  Sache  weniger  bekannte  Leser  hiermit  ausdrücklich  ausgesprochen ; 
für   Lexer  selbst  bedarf  es   solcher  Versicherung  nicht  mehr. 


Pflaume.  Sachs  im  Encycl.  Wb.  2,  1320^  erinnert,  daß  das  Wort 
bei  Soldaten  so  viel  wie  Erinnerungszeichen  oder  Medaille  bedeute. 
Dieser  Sprachgebrauch  ist  mir  aus  früherer  Zeit  allerdings  sehr  be- 
kannt, doch  eben  nur  in  Anwendung  auf  die  Denkmünzen  für  1813, 
1814,  1815;  die  entsprechenden  Zeichen  seit  1864  habe  ich  nicht  mehr 
so  nennen  hören.  Pflaume  im  weiteren  Sinne  von  Obstfrucht  steht 
in  Fröhlichs  Gedicht  Ellengröße: 

Die  Pappel  sprach  zum  Bäumchen: 

Was  machst  du  dich  so  breit 

Mit  den  geringen  Pfläumchen? 
Pflaumenbauer  (fehlt)  ist  eine  in  ganz  Schlesien  übliche  als 
beleidigend  geltende  Bezeichnung  des  Bauern.  Dieselbe  muß  aus- 
gegangen sein  von  den  selbstbewußten  Groß-  oder  Getreidebauern, 
welche  auf  ihre  geringeren  Standesgenossen,  die  anstatt  ausgedehnter 
Getreidefelder  nur  einen  beschränkten  Fleck  um  ihr  Haus  zum  Obst- 
oder Gemüsebau  besaßen,  die  sog.  Gärtner  (DWb.  4,  1,  1,  1422), 
spottend  herabsahen.  Vgl.  die  entsprechenden  Ausdrücke  Kraut- 
junker, Putenjunker  (dies  wird  von  Sanders  nicht  richtig  erklärt) 
und  Zwiebeljunker  (J.  6.  Müller  Emmerich  6,  330). 


BEMERKUNGEN  ZUM  DEUTSCHEN  WÖRTERBUCHE.  255 

Pflaumen  kern  als  Sinnbild  des  Wcrthlosen  bei  Jean  Paul 
Hesperus  98  (Hpl.):  Dürfen  mir  denn  die  Kantianer  ansinnen,  daß  ich 
das  kleine  Bild  der  schönsten  besten  Gestalt  ....  zum  Fenster  hinaiisioerfe 
loie  Apfelschalen  und  Pflaumenkerne?  Das  mit  Pflaumenkcrn 
gleichbedeutende,  in  niederdeutscher  Gegend  sehr  übliche  und  dem- 
entsprechend auch  bei  Campe  (desgl.  bei  Heinsius,  Heyse,  Sanders, 
Sachs -Villatte)  verzeichnete  Wort  Pflaumenstein  wird  übergangen. 
Hierbei  sei  auch  erwähnt  der  in  einfach  ländlichen  Verhältnissen 
Norddeutschlands  vorkommende  Pflaumensteinbeutel  oder,  wie 
man  ihn  auch  abkürzend  nennt,  Pflaumenbeutel,  d.  h.  ein  leinenes 
Säckchen  mit  Pflaumenstoinen,  das  erhitzt  alten,  kranken  oder  frie- 
renden Leuten  in  Ermangelung  oder  anstatt  der  Wärmflasche  ins 
Bett  gelegt  wird.  Übergangen  ist  auch  der  Pflaumenschmeißcr, 
die  Bezeichnung  für  einen  derben  ungezogenen  Jungen;  ich  habe  das 
Wort  in  der  Provinz  Sachsen  und  im  westlichen  Theile  der  Provinz 
Brandenburg  (Westhavelland)  gehört,  gedruckt  nur  bei  Sachs -Villatte 
gefunden,  der  es  übrigens  mit  bretailleur,  fanfaron  wiedergeben 
will;  ich  müßte  es  hingegen  durch  polisson  oder  butor  übersetzen. 
Ob  mit  dem  Worte  ursprünglich  der  unbefugterweise  in  die  Pflaumen- 
bäume Werfende  bezeichnet  werden  soll  oder  eine  andere  Beziehung  zu 
Grunde  liegt,  weiß  ich  nicht  zu  sagen.  Pflaumenschütteln  gebraucht 
Stoppe  Parnaß  im  Sattler  384  (1735)  in  einem  Gedicht  'auf  die  Ein- 
weihung eines  neuerbauten  Zeltbettes  eines  guten  Freundes* ,  als  Bild 
des  sinnlichen  Liebesgenusses : 

Kein  Wunder  war  es,  daß  dir  hie 
Von  lauter  Pflaumenschütteln  träumte. 
Die  voraufgehenden    und    folgenden  Worte    Stoppes    lassen  über  den 
Sinn  der  Wendung  keinen  Zweifel;    ihm    ist    das  Bild  überhaupt  ge- 
läutig: vgl.  Teutsche  Gedichte  1,  9  (1728): 
ja  /liehet  immerhin 
In  den  vergnügten  Stand,  um  den  ihr  euch  so  dränget, 
Der  eurer  Rechnung  nach  voll  süßer  Pflaumen  hänget. 
Der  Pflaumentoffel,  aus  Stoppes  Parnaß  belegt,    findet    sich  auch 
einige  Jahre  vorher  in  dessen  Teutschen  Gedichten  2,  21 : 
Ha!  Pflaumentoffels  Butte 
War  viel  zu  eng  und  schioach,  von  meiner  Fröligkeit 
Auch  nur  den  vierdten   Theil  in  ihren  Raum  zu  nehmen. 
Pflegamt,  aus  Hederich  (1729)  belegt,  steht  schon  bei  Schotte! 
495*  (1663):  Pflegamt,  so  ein  Reichspfleger  oder  Reichsvogt  vor  diesem 
in  den  Reichsstädten  gehabt.    Das  Wort   wird  wohl  in  die  älteste  nhd. 

17* 


256  A-  GOMBERT 

Zeit  zurückreichen,  während  im  mhd.  dafür  das  auch  später  noch 
übliche  einfache  pflege  gebraucht  wird.  Zu  pflegen  mit  d.  Gen. 
im  Sinne  von  treiben,  womit  umgehen  (I  P  Sp.  1738)  vermißt  man 
neben  der  Stelle  aus  Aventin  die  weit  bekanntere  aus  1  Mose  18, 
12:  nu  ich  alt  bin,  sol  ich  noch  woUust  pflegen,  und  mein  Herr 
auch  alt  ist? 

Vermißt  wird  Pfleg[el statt  oder  Pfleg[e] statte,  ein  heute 
sehr  beliebtes  Wort,  das,  wie  es  scheint,  ganz  unentbehrlich  ist,  wenn 
eine  höhere  Schule  eingeweiht  oder  ein  rückblickendes  Erinnerungs- 
fest  solcher  Anstalt  gefeiert  wird;  vgl.  Zs.  f.  Gymn.  Wesen  40,  700 
(1887):  Pflegstätte  königstreuer,  deutscher  und  christlicher  Gesinnung ; 
Pflegstätte  ernster  Wissenschaftlichkeit;  ebd.  701:  Pflegstätte 
geistiger  Bildung  und  Gesittung  und  704  Pf  leg  statte  der  Bildimg  und 
Wissenschaft.  Ebenso  örenzboten  1887,  4,  125  (vom  13.  Oct.  1887): 
Wenn  noch  Jemand  daran  zweifeln  wollte,  daß  die  deutschen  Gymnasien 
wahrhafte  Pflegstätten  des  deutschen  Geistes  sind,  so  würde  es  erlaubt 
seiM,  sich  auf  das  Ansehen  des  Reichskanzlers  zu  berufen,  der  mehr  als 
einmal  der  deutschen  Jugend,  und  ganz  besonders  der  studierenden,  das 
glänzendste  Zeugniß  ausgestellt  hat.  Pflegeschwester  fehlt  in  beiden 
mir  bekannten  Bedeutungen:  1.  eine  zur  Pflege  von  Leidenden  verordnete 
Schwester  (eines  geistlichen  Ordens  oder  eines  entsprechenden  Vereins). 
2.  ein  neben  einem  Sohne  angenommenes  weibliches  Pflegekind;  vgl. 
Immermann  Epigonen  201  (Recl.)  Ihr  Vetter  Ferdinand  hat,  ohne  es  zu 
wissen,  sein  Pflegeschivesterchen  geliebt.  Pflegewirth  steht  in 
Günthers  Lebensbeschr.  70  (1732):  Mei)i  neuer  Pfleg e-Wirth  erwieß 
mir  alle  Güte.  Zu  pflegsweis  wäre  auch  die  übergangene  von 
Schottel  461*  aus  Goldast  angeführte  Form  pflegersweis  hinzuzu- 
fügen. 

Zu  Pflicht  im  neueren  Sinne  des  Wortes  werden  sehr  reich- 
liche Beispiele  gegeben,  mit  Recht  auch  aus  Kant;  umsomehr  ver- 
misse ich  Hauptsätze  wie  Kant  Krit.  d.  pr.  Vern.  108  (Kehrbach): 
die  Ehriüürdigkeit  der  Pflicht  hat  nichts  mit  Lebensgenuß  zu  schaffen; 
desgl.  Goethe  19,  20  (Spr.  in  Prosa  2  u.  3):  Versuche  deine  Pflicht 
zu  thwi,  und  du  loeifU  gleich  icas  an  dir  ist.  Was  aber  ist  deine  Pflicht? 
die  Forderung  des  Tages.  Die  volksmäßigen  Wendungen  von  der  ver- 
dammten oder  verfluchten  Pflicht  und  Schuldigkeit  sind 
vielleicht  mit  Absicht  fortgelassen  und  dem  Buchstaben  V  überwiesen; 
wenigstens  finde  ich  sie  in  dem  bis  jetzt  neuesten  Hefte  des  Wörter- 
buches (Bd.  12,  2,  Sp.  193  u.  344)  von  Wülcker  verzeichnet,  worauf 
gelegentlich  wird    zurückzukommen  sein.    Auffällig  aber  ist,   dali  die 


BEMERKUNGEN  ZUM  DEUTSCHEN  WÖRTERBUCHE.  257 

Verbindung  eine  I*/l,  ich  t  abstatten  nicht  erwähnt  wird;  (Icmenlsprcchend 
fehlt  auch  das  Wort  Pflichtabs  tat  tung,  das  wir  1732  in  J.  U.  Königs 
Widmung  vor  seiner  Ausgabe  der  Schriften  Bessers  finden:  weniger 
tin  Geschencke,  ivelches  hier  Euer  Excell.  von  mir  (jewiedmet  wird,  als 
vielmehr  eine  Pfl ichtahstattung.  Das  unbelegte  Pflichtb eflissen- 
hcit  steht  bei  Hermes  Manch.  Hermäon  2,  16().  Pflichtarbeit  ist 
wohl  ein  neues  Wort,  doch  heute  zumal  in  der  Mehrzahl  nicht  selten 
im  Sinne  von  Dienst-  oder  Amtsgeschäften.  Ein  Beleg  bei 
Wiese,  Lebenserinnerungen  und  Amtserfahrungen  2,  126:  Nach  langer 
Pflichtarbeit  durfte  ich  mich  noch  eine  <fnte  Weile  frei(jeivählten 
Studien  und  Beschäftigungen  hingeben.  Pflichtbar,  das  aus  d.  J.  1653 
nachgewiesen  wird,  steht  auch  in  einer  aus  d.  J.  1616  herrührenden 
Schi'ift  bei  Londorp  Acta  publica  2,  270'':  so  sey  der  I'fall?:(ir([ff 
pflichtbar  sich  des  liichterlichen  Atnpts  zu  vnternemmen.  Pflicht- 
brüchig wird  aus  Ludwig  (1716)  und  Frisch  belegt;  Pflicht- 
brüchigkeit  fehlt,  hndet  sich  aber  schon  161*J  in  einem  Schreiben 
des  Grafen  Matth.  von  Thurn  bei  Londorp  2,  803:  hat  mir  gebiinn 
loollen,  die  Frag  auszugeben,  loer  an  solcher  Pflicht  IJrilchiigkrit 
(so  im  Druck)  schuldig.  P flieh  tbruch  und  p  flieh  tl>rüch ig  vor 
Stieler  und  Ludwig  schon  bei  Schottelius  517".  Pflichteifer  (Ger- 
vinus,  G.  Freytag)  Niemeyer  Grunds,  der  Erz.  3',  378  und  411  (1819): 
Möge  die  beßer  gewordene  äujhre  Lage  vieler  En-zieher  und  Lehrer  sie 
nur  nicht  träger  und  bequemer  machen,  statt  jenen  unbedingten  Pf  licht- 
eifert der  auch  die  Arbeit  im  Schtveiße  des  Angesichts  nicht  scheut, 
desto  mehr  zu  beleben;  das  fehlende  Pflichtenkunde  bei  Jahn  Ges. 
Wke.  1,278  =  Volksthum  263  (1810):  Schriften,  die  ztir  Selbstbelehrung 
und  Bildungsvollendung  oder  zur  weiblichen  Pflichtenkunde  gehören; 
ebd.  2,  553:  die  Gottesgelahrtheit  war  auf  die  Glaubetislehre  ...  verküm- 
mert, auf  Knifflichkeitslehre  (Casuistik)  und  auf  Pflicht  enkuiide  nach 
ihrem  /Sm/i.  Pflichtergeb  en  (Tiecks  Übers,  von  Shakespeares  Cym- 
beline)  in  einem  Gedichte  Bessers  aus  d.  J.  1687  S.  685: 

Du  hast  sie  erst  erzeugt  aus  Pf  licht- er  y  ebner  Treu, 
Auf  daß  nicht  dein  Geblüt  dem  Tjande  möchte  fehlen. 
Daß  das  wohl  erst  in  unserer  Zeit  von  Lehrern  oder  Schulaufsehern 
gebildete  Pflichtfach  fehlt,  ist  kaum  ein  Mangel,  wenn  auch  die 
Absicht  löblich  ist,  hier  wie  in  anderen  Verbindungen  das  fremde  Wort 
obligatorisch  durch  Pflicht  zu  ersetzen.  Beispiele  wären  zahl- 
reich zu  linden  in  den  Schriften,  die  sich  mit  der  angeblich  dringend 
nothwendigen  Umgestaltung  unserer  Gymnasien  beschäftigen ;  im  Hin- 
blick  auf  solche  Schriften   wird  das  Wort   dann  auch  in  den  Grenz- 


258         '  ^-  GOMBERT 

boten  1888,  Nr.  9  (1.  Viertel].,  S.  466)  gebraucht:  Zeichenunterricht 
his  Ohersecunda  als  Pflichtfach,  in  Prima  nach  freier  Wahl;  ebd. 
Nr.  21  (2.  Viertel]'.,  S.  384  u.  385) :  indem  die  Mathematik  noch  uner- 
heblich verstärkt,  Englisch  in  den  oberen  Classen  icnd  Zeichnen  loenigstens 
bis  Obersecunda  als  Pflichtfach  eingeführt  werden  muß.  Vgl.  später 
Pflichtstunden.  In  diesem  besonderen  schulmäßigen  Sinne  haben 
Avir  auch  das  Wort  Pflichtleistungen  (unerläßliche  Leistungen  in 
den  sog.  Pflichtfächern),  das  von  Lexer  nur  in  seiner  allgemeinen 
Bedeutung  aus  Haltaus  angeführt  wird,  in  den  Grenzboten  1887  (4.  Viertel- 
jahrsschr.,  S.  125):  Sicher  ist  es  doch^  daß  Anregung,  Gelegenheil  und 
Muße  wie  für  die  Pflichtleistungen,  so  auch  für  die  Pflege  besonderer 
Neigungen  gewährt  xvird.  Pflichtgehorsam  und  pflichtgehorsamst 
als  ein  früher  üblicher  Ergebenheitsausdruck  am  Schluße  von  Briefen 
hätte  Aufnahme  verdient;  vgl.  auch  Wieland  Horazens  Br.  l'^  71 
(1782):  als  eine  Art  von  unterthänigen  pflichtgehorsamsten  Freunden. 
Pflichtgemäß  (Rabener,  Scheffel,  G.  Freytag)  sollte  nach  dem  Plane 
des  Wörterbuches  auch  aus  Goethe  belegt  werden:  pflichtgemäß, 
befehlgemäß  zu  handeln,  befördern  das  gemeine  Glück.  Maskenzüge, 
Bd.  11,  1,  325  (Hpl.)  Pflichtgeschäfte  ist  wohl  ein  nicht  zu  seltenes 
Wort;  ich  begnüge  mich  mit  einem  Beispiel  aus  Johannes  v.  Müller, 
Bd.  30,  182  der  Ausg.  v.  1834  (Brief  vom  3.  Juni  1788):  Daß  ich 
die  Briefe  nicht  emsiger  beantivortet ,  kommt  soioohl  von  P flieh l- 
geschäften,  als  von  der  Nothwendigkeit,  mich  mit  einer  neuen  Lauf  bahn 
bekannt  zu  machen.  Pflichtgrundsätze  fehlt,  obwohl  es  Goethe  in 
Hans  Wursts  Hochzeit  gebraucht: 

Hab'  ihn  gelehrt  nach  Pf  licht  grün  ds  ätzen 
Ein  paar  Stunden  hintereinander  schwätzen. 
Pflichtlich,  zwar  auch  aus  dem  Mittelniederdeutschen  belegt,  ist 
jetzt  dem  Norden  Deutschlands  fast  fremdartig,  im  Süden  aber,  beson- 
ders im  Schwäbischen,  wie  die  Beispiele  aus  S.  Frank,  Lavater,  ühland, 
Kurz,  Mörike  und  der  Schwäbischen  Chronik  (Sanders)  zeigen,  ganz 
üblich.  Ich  füge  hinzu  Palmer  Evangel.  Pädagogik  "275:  Menschen, 
die  pflichtlich  auch  in  das  schlechteste  Lustspiel  gehen  zu  müssen 
meinen.  Zu  Pflichtliebe  wäre  auch  pflichtliebend  zu  fügen 
aus  J.  G.  Müller  Emmerich,  5.  Theil,  372  (1788):  loenn  die  etlichen 
Dutzend  Menschen  auf  den  Thronen  sammt  und  sondern  gnügsame, 
pflichtliebende  Menschen  loären.  Zu  pflichtlos  wäre  auch  das 
freilich  seltene,  doch  schon  von  Adelung  verzeichnete  Wort  Pflicht- 
losig  keit  zu  fügen,  das  Scherer  in  der  Litteraturgeschichte  3  ge- 
braucht: die  Freiheit  ihres  Lebens,  ihre  Pflicht-  und  Zuchtlosigkeit, 


BEMERKUNGEN  ZUM  DEUTSCHEN  WÖRTERBUCHE.  259 

ihre  Unfähigkeit  den  eigenen   Willen    zu    verleugnen.     (Freie  Übers,   von 
Cäsar:    Cum  a  pueris  nullo  officio  aut  disciplina   assuefacti  nihil  om- 
nino  contra  voluntatem  faciant.)    Fflicli tmiißii^  wird  von  Lexei- aus- 
drücklich bis  zum  J.  1731  aufwärts  belegt;  darum  sei  auf  l^asilius  Fabers 
Thesaurus  aus  d.  .1.   1710,  S.  1522  verwiesen,  wo  das  Wort  al.s  Über- 
setzung von  obnoxie  auftritt;  ob  es  schon  in  den  früheren  Auflagen 
des    Buches     steht,    ist     mir    unbekannt.     Pflichtmäßigkei t     (aus 
Schillers    philos.  Sehr.  u.  W.  v.  Humboldts  Briefen  an  eine  Freundin 
belegt)   steht  1763  bei  Kant  Träume  eines  Geistersehers  03  (Kehrbach): 
die  Annehmlichkeit,    icelche    die    Erweiterung  des  Wissens    Itegleifei,    vlrd 
sehr    leicht    den  Schein    der  Pflichtmäßigkeit   annehmen.     Pflicht- 
rücksicht   fehlt;    vgl.    Hippel    Ehe    159  (Brockh.):    wenn    ihr    keine 
Pf  Hellt  rück  sichten    zu  heobachten    habt.     Pflichtschuldig:    unter 
den  Wendungen    kanzleimäßigen  Briefstils    wäre    aus    dem    17.  Jhdt. 
auch  schon  zu  nennen:    ich  verharre    pflichtschuldigst,    was   wir 
z.  B.  am  Schluße    der    aus    dem    April   1688    herrührenden  Zuschrift 
Ph.   J.   Speners    zu    seinen    Evangelienpredigten    des    J.   1G87    finden. 
Pflichtstrenge:  Dahn,  Kampf  um  Rom  2'',  311:  Antonina  üherhietet 
alle  Frauen  an  Pf  licht  strenge.  Pflicli  ts  tun  den ,  neues  Schuhvort, 
bedeutet  die  Anzahl  von  Stunden,    welche    ein  Lehrer   Avährend  einer 
Woche  zu  ertheilen  verpflichtet  ist.     Man    sagt   also:    In  Preußen  hat 
ein   Oberlehrer  20,    ein    ordentlicher  Lehrer    22   Pf  lichtstund  e)i.     Das 
Wort    wird    in   neueren  amtlichen  Verfügungen  als  allgemein  bekannt 
gebraucht,  z.  B.  Centralblatt  für  die  Unterrichtsvervvaltung  in  Preußen 
1878,  S.  488:  sofern  über  die  Anzahl  der  Pf  licht  stunden  nichts  ent- 
halten, so  treten  selbstverständlich    die    allgemein    geltenden  Bestimmungen 
ein;  ebenso  Circularverf.  vom  6.  April   1880:   tvenn  sämmtiiche  übrigen 
Lehrer  zur  vollen  Maximalzahl  der  Pf  licht  stunden  herangezogen  sind. 
Ebenso    steht    bei  Wiese  Höheres  Schulwesen,    3.   Aufl.,    besorgt  von 
O.  Kubier,   das  Wort   als   allgemein   bekanntes  Stichwort  im  Schluß- 
verzeichniß   und   im  Buche   selbst  Bd.  1,  34;   2,  260,  261,  263;    aber 
in  der  2,    261  angezogenen  Verfügung  vom  13.  Juli  1873    (Centralbl. 
1873,  S.  457)    wird    der  Ausdruck  Pflichtstunden    noch    nicht  ge- 
braucht.   Die  Prägung  und  der  häufige  Gebrauch  des  Wortes  ist  be- 
zeichnend für  unsere  Zeit,  in  welcher  Rechte  und  Pflichten  der  Lehrer 
bestimmter    umgrenzt    worden    sind    als    früher.     Herbere  Beurtheiler 
werden  vielleicht  schließen,    daß    seit   dieser  Zeit  die  Lehrer  viel  von 
der  ruhigen    und  behaglichen  Berufsfreudigkeit   eingebüßt   haben    und 
ihre    Thätigkeit     vorzugsweise    als    eine    nicht    gerade    gern    geübte 
Pflicht    betrachten.     Pflichttheil    im    übertr.  Sinne    wird  nur  aus 


260  A.  GOMBERT 

Gutzkow  belegt;  früher  steht  es  so  bei  Jahn  2,  629  (Volksthum  220)  : 
Jedermann  im  Volk  muß  sein  PflicTittlieil  an  der  Landesehre  haben, 
Lust  nach  Last  und  Freud  nach  Leid.  Zu  Pflichttreue  (drei  Beisp. 
aus  G.  Freytags  Bildern)  war  doch  zu  bemerken,  daß  das  Wort  von 
Adelung  noch  nicht  verzeichnet,  von  Campe  als  ein  neues  aus  Wolke 
belegt  wird.  Pflichtverkennung  gebraucht  Vilmar  Schulreden  ^^2 15 
als  gelinderen  Ausdruck  gegenüber  der  Pflichtvergessenheit: 
Zeugte  es  schon  von  Beschränktheit  und  Pflichtverkennung,  tüenyi 
er...:  von  weit  schlimmerer  Beschränktheit  imd  Pflichtvergessen- 
heit vnlrde  es  zeugen,  ivoUte  er...  Auffallend  ist  das  Fehlen  von 
Pflichtversäumniß,  da  das  Wort  heute  doch  häufig  von  Lehrern 
mit  Beziehung  auf  ihre  Schüler,  von  Behörden  mit  Beziehung  auf 
Beamte  gebraucht  wird.  Die  Instruction  zum  preuß.  Kirchengesetz 
vom  30.  Juli  1880  unterscheidet  ausdrücklich  und  richtig  an  mehreren 
Stellen  zwischen  kirchlichen  Pflichtversäumnissen  und  Pflicht- 
verletzungen. Von  Pflichtwegen  verdiente  immerhin  Aufnahme, 
sollte  es  auch  nur  eine  Nachbildung  des  gewöhnlichen  von  Rechts- 
wegen sein.  s.  Kortum  Jobsiade  1,  104:  iveiin  sie  nicht  etwa  von 
Pflichtswegen  den  alten  Herrn  mußte  wärmen  7md  pflegen.  Auch 
Pflichtwidrigkeit  verdiente  Erwähnung;  es  scheint  in  unserer  Zeit 
wenigstens  häufiger  gebraucht  zu  werden  als  das  aus  Schiller  und 
W.  V.  Humboldt  belegte  Gegentheil  Pflichtmäßigkeit.  Ein  Beispiel 
bietet  eine  in  Löpers  Anmerkungen  zu  Goethes  Dichtung  und  Wahr- 
heit (Bd.  20,  368  der  Hempelschen  Ausg.)  abgedruckte  Mittheilung 
Kriegks:  ge^visse  Pflichtwidrigkeiten,  welche  bei  Concurssachen  vor- 
gekommen waren;  desgl.  Sclileierraachers  Predigt  am  Neujahrstage  1807 
(Predigten  '^l,  282:  daß  er  nichts  zu  besorgen  hätte  von  der  Rache  derer, 
die  im  Genuß  ihrer  Pf  licht  Widrigkeit  d^irch  seine  geivissenhafte 
/Strenge  gestört  wenden. 

Zu  pflücken  entbehrt  man  ungern  Usteris  einst  allgemein  ge- 
sungenes und  noch  jetzt  nicht  verklungenes 

Fretd  euch  des  Lebens,  iveil  noch  das  Lämpchen  glüht, 

Pflücket  die  Rose,  eh  sie  verblüht! 
Rückerts  Vers:    Pflücke  Lust,    eh    sie    verblüht!    ist    sicher  nur  eine 
Erinnerung  an  Usteri  und  konnte  eher  fehlen. 

Pflug.  Bei  der  Angabe  der  mehrfachen  Verwendung  des  Pfluges 
hätte  es  auch  Erwähnung  verdient,  daß  in  früherer  Zeit  über  die 
Stätte  eines  völlig  zerstörten  Ortes  der  Pflug  gezogen  wurde  zum 
Zeichen,    daß    ein  Wiederaufbau    des   Ortes    nicht    stattfinden    sollte. 


BEMERKUNGEN  ZUM  DEUTSCHEN  WÖRTERBUCHE.  261 

Beispiele    dazu    wären    reichlich    vorhanden;    eins    der    schönsten    ist 
sicher  das  bekannte  aus  Chamissos  Schloß  Boncourt: 
So  stehst  du,  o  Schloß  meiner  Väter, 
Älir  treu  und  fest  in  dem  Sinn, 
Und  bist  von  der  Erde  verschwunden, 
Der  Pflug  geht  über  dich  hin. 
Die  Wendung    hinter    dem    Pfluge   wird    durch  mehrere  passende 
Beispiele  belegt,  doch  für  Rückerts  in  seiner  Allgemeinheit  zu  wenig 
besagendes    Hinterm    Pflug    der   Bauer   sähe  ich    lieber  die  bekannten 
Zeilen  aus  Uhlands  Döffinger  Schlacht: 

Noch  lange  traf  der  Bauer,  der  hinterm  Pfluge  ging, 
Auf  rostge  Degenklingen,  Speereisen,  Panzernng. 
Pflug art  bei  Bahrdt  Lebensbeschr.  2,  331:  Salis  versuchte  eine 
leichtere  Pf  lug  art  ihnen  (den  Graubündnern)  bekannt  zu  machen,  aber 
sie  fuhren  fort,  mit  ihrem  centner  schweren  Geschirr  und  vier  Pferden 
zu  ackern.  Pflugleine  (übergangen)  nennt  man  die  zur  Leitung  des 
Pfluggespannes  gebrauchte,  etwa  16  Meter  lange  Leine,  von  der 
Dicke  einer  schwächeren  Zeug-  oder  Wäschleine.  Sie  unterscheidet 
sich  von  der  beim  Fahren  üblichen  Kreuzleine  theils  durch  ihre  größere 
Länge,  theils  durch  die  Art  der  Befestigung  am  Gebisse  des  Leit- 
thieres.  Da  das  jedem  Landmann  oder  Kenner  ländlicher  Verhältnisse 
bekannte  Wort  auch  bei  Adelung,  Campe,  Heinsius,  Heyse,  Sanders 
fehlt,  so  mag  auf  ein  Beispiel  hingewiesen  werden.  F.  W.  Ziegler 
Ges.  Novellen  1,  189,  schildert,  wie  Jemand  in  einem  brandenburgi- 
schen Fenn  dem  Ertrinken  nahe  ist,  und  läßt  einen  Dazukommenden 
ausrufen:  Hat  denn  nicht  einer  einen  Strick  oder  eine  Pf  lug  leine,  die 
man  ihm  um  den  Hals  schlingen  und  womit  man  ihn  dann  herausziehen 
könnte'^  Pflug  mann  als  dichtei'ische  Bezeichnung  des  Pflügers  wird 
aus  neuerer  Zeit  nur  durch  eine  Stelle  Gleims  belegt;  vgl.  Görres 
Athanasius  '*157  (1838):  Erkennt  ihr  nicht  den  starken  Pflugmann, 
der  die  Pflugschar  über  seinen  Äcker  in  Mitte  all  dieses  Unheils  führt, 
und  ihn  bestellt,  damit  er  tauglich  werde,  auch  dort  die  neuen  Saaten 
atifztinehmen,  die  er  ihm  bestimmt?  Hier  ist  natürlich  Gott  der  Pflug- 
mann. Pflugschar  zur  Bezeichnung  der  Friedensarbeit  im  Gegen- 
satze zum  Schwert,  als  dem  Sinnbilde  des  Krieges,  wird  mit  passen- 
den Beispielen  belegt;  ungern  aber  vermißt  man  Körners  bekannte 
und  schöne  Zeilen: 

Zerbrich  die  Pflugschar,   laß  den  Meißel  fallen, 
Die  Leier  still,  den  Webstuhl  ruhig  stehn! 


2ß2  ^-  GOMBERT 

Pflugwagen  (fehlt)  ist  eine  andere  Bezeichnung  des  Pfluggestells; 
s.  Voß  zu  Vergils  Landbau  '25  (1789):  Die  buchene  Stelze  führte  der 
Pflüqer  zur  Lenkung  des  Pflugivagens,  durch  loelchen  die  Pflugschar 
flach  und  tief  gestellt  werden  konnte.  Pf  lug  zeit  (aus  Voß  und  Stolberg) 
steht  schon  1663  bei  Schottelius  440*.  Pflugziehen  wird  aufgeführt, 
doch  ohne  Beleg;  ein  solcher  findet  sich  auch  nicht  unter  Pflug  4, 
Sp.  1777,  wohin  verwiesen  wird.  Unter  den  Arten  des  Pflugziehens 
wünscht  man  auch  das  als  Strafe  verhängte  verzeichnet  zu  sehen. 
Vgl.  Jahn  Ges.  Wke.  2,  370:  Das  Schwert  mußte  erst  entscheiden.,  und 
als  der  Landgraf  Sieger  blieb,  die  Vornehmsten  der  Befehlshaber  gefangen 
nahm,  da  bestrafte  er  sie  durch  das  Pflugziehen. 

Ein  Wort  wie  Pforte  findet  natürlich  sehr  mannigfache  Anwen- 
dung, so  oft  nur  in  eigentlichem  oder  übertragenem  Sinne  von  einem 
Zugange  oder  Eingange  (gelegentlich  auch  vom  Ausgange)  geredet 
wird.  Neben  Uhlands  goldner  Pforte  des  Lebens  (d.  h.  dem  glück- 
verheißenden Eingange  in  das  Leben)  würde  passend  die  dunkle 
Pforte  ihren  Platz  finden,  eine  nicht  seltene  Bezeichnung  für  Grab 
und  Tod.  Besonders  passend  erscheinen  hier  die  Zeilen  von  Salis 
aus  seinem  einst  vielgesungenen  Liede  Mas  Grab'  (1783): 

Sonst  an  keinem  Orte 
Wohnt  die  ersehnte  Ruh; 
Nur  durch  die  dunkle  Pforte 
Geht  man  der  Heimat  zu. 
Unter    den    Beispielen    für  Pforte  im  Aligemeinen    fehlt  es  nicht  an 
bedeutungsschwachen;  für  dieselben  böte  besseren  Ersatz  Geibel  Spät- 
herbstbl.  151: 

Wollt  ihr  in  der  Kirche  Schoß 
Wieder  die  Zerstreuten  sammeln, 
Macht  die  Pforten  weit  und  groß, 
Statt  sie  zu  verrammeln. 
Desgleichen    würde    ich    für    Pförtnerin    anstatt    des    einzigen    aus 
Platens  Abbassiden  entnommenen  nichtssagenden  Beispiels  das  inhalt- 
reichere aus  Geibels  Gedenkblättern  '^198  gewählt  haben: 
Soll  denn  ewig  als  Pförtnerin 
Am  Kirchthor  die  Dogmatik  stehen? 
Gönnt  endlich,  jedem  einzugehen, 
Der  sich  bekennt  zu  seines  Heilands  Sinn. 
Wenn  übrigens  gegenüber  dem  aus  dem  J.  1482  belegten  unumgelau- 
teten    pfortner    das    umgelautete    pförtner    ausdrücklich    erst   aus 
Stieler  bezeugt  wird,    eo   ist  an  Helber  (1593)  24,    5  (Neudruck  vom 


BEMERKUNGEN  ZUM  DEUTSCHEN  WÖRTERBUCHE.  263 

J.   1883)   zu  erinnern,    der  uns   'pförtner,   sonst  j) ortner    bietet.    In 
seiner  Bedeutung    nicht    klar    ist   mir  das    übergangene  Wort  Pfort- 
stube,   das    ich    im  Ergänzungswörterbuch    von    Sanders  537   in  der 
Form    portstube    aus    Stumpf    nachgewiesen    und    auch  mit    einem 
Fragezeichen    versehen    finde.     Es  kommt  auch  in  neuerer  Zeit  noch 
vor,    so  bei  J.  G.  Müller   in  den  Straußfedern  2,   21  (1790) :    Röschen 
ließ  die   Ohren  hängen    und    schlich  hin  icie  der  Bauer,    tvenn   er  in  die 
Pfortstube  kriechen  soll.    Das  in  Zusammensetzungen  vorkommende 
-pfortig    erscheint    nicht    bloß    in  Verbindung   mit    einem  Zahlwort; 
vgl.  bei  Geibel  Gedenkbl.   ^263  die  freilich  kühne  Bildung: 
hildwerkp fortige  Giebel  entlang 
mein  Fuß  die  Stätten  der  Jugend, 
die  veriüitternden,  sucht. 
Pfosten  ist   auch  der  Pfahl,  an  den  der  zur  Züchtigung  Ver- 
urtheilte  gebunden  wird: 

Arme  Bauern,  an  dem  Pfosten 
TVei'den  blutig  sie  gestrichen. 

Herder  Volksl.  2,  99  (1779). 
Pfote.  Die  Diphthongierung  in  Pfaute  (aus  Bebel  1589)  findet 
sich  auch  bei  Londorp  2,  696^  (um  1621):  Teuschland  in  seine  Pf auten 
gänzlich  bringen.  Die  Form  Pfate  ist  über  1569  und  1572  hinaus 
noch  im  J.  1598  zu  finden  bei  Sebiz  Feldbau  ^739:  wenn  der  Wolf 
mit  seiner  Pfaten  und  Klaioen  irgends  ein  Thier  schlägt,  muß  es  gleich 
dahin  fallen. 

Pfriem  wird  als  Geräth  des  Schneiders  erwähnt,  doch  auf- 
fälliger Weise  nicht  als  das  des  Schusters;  eines  Beleges  hierfür  be- 
dürfte es  eigentlich  nicht,  zumal  da  man  ja  auch  die  Fortsetzung 
Schusterpfriem  (-pfriemen)  hat:  doch  möge  hingewiesen  werden 
auf  R.  Reinicks  hübsche  Legende  von  der  Berufung  der  Künstler, 
Z.  42—44: 

Der  König  sah  nur  an  sein  Scepter, 
Grammaticam  mir  der  Präcepter, 
Der  Schuster  seinen  Pfriem  und  Leist, 
Der  Kriegesknecht  sein  Schicert  zumeist. 
Pfropf  bildet  auch   gelegentlich  die  umgelautete  Mehrheitsform 
Pfropfe,  so  bei  H.  P.  Sturz  M,  199  (aus  d.  J.  1768):  die  Akademie 
der  Wissenschaften  untersucht  nicht  immer  Maschinen.,  um   Pfropfe   ans 
Bouteillen    zu    ziehen,    desgl.    Pröpfe    bei    Raabe  Horacker  34:    roth- 
belackte  Pröpfe,    doch  ebd.  35:    der    Pfropfen    wich.     Zu  den  sehr 
spärlich    gegebenen  Wendungen    mit    Pfropf   und    Pfropfen    wäre 


264  O-  BEHAGHEL,  MESSER. 

hinzuzufügen:  am  Pfro'pfen  riechen  oder  am  Pfropfen  riechen  lassen. 
Kinder  nämlich,  die  unbescheidener  Weise  Antheil  am  Weine  der 
Erwachsenen  begehren,  werden,  gelegentlich  unter  wirklicher  Dar- 
reichung des  Pfropfens,  mit  der  scherzenden  Erinnerung  abgefertigt: 
Du  kannst  am  Pfropfen  riechen.  Dann  wird  die  Wendung  überhaupt 
gebraucht,  wo  von  scheinbarer  Betheiligung  an  einem  Genüsse,  doch 
thatsächlicher  Ausschließung  von  demselben,  gesprochen  wird.  In  ihrem 
Ursprünge  undeutlich  ist  mir  die  in  Norddeutschland  wenigstens  häufige 
Wendung:  auf  den  Pfropfen  setzen  =  in  schwere  Verlegenheit 
setzen,  beschämen.  So  setzt  der  Lehrer  den  Schüler  auf  den 
Pfropfen,  wenn  er  durch  eindringendes  Fragen  dessen  Unwissenheit 
nachweist;  dieser  sitzt  dann  auf  dem  Pfropfen.  Beide  hier  ver- 
mißte Wendungen  bringt  Sanders  im  Ergänzungswörterbuch.  Unter 
Pfropfenzieher  wird  auf  Pfropfzi  eher  verwiesen.  Soll  damit 
die  letztere  Form  als  die  üblichere  bezeichnet  sein ,  so  muß  wenig- 
stens für  Norddeutschland  das  umgekehrte  Verhältniß  behauptet  werden. 
In  der  heutigen  Zeit  verdiente  übrigens  neben  dem  althergebrachten 
Pfropfenzieher  auch  der  neuere  Pfropfenheber  Aufnahme. 

(Fortsetzung  folgt.) 
GROSS-STBELITZ.  Ä.  GOMBERT. 


MESSER. 


Oben  S.  202  denkt  Bohnenberger  daran,  Messer  sei,  wegen  des 
offenen  e,  dem  Schwäbischen  vielleicht  ursprünglich  fremd.  Aber  da- 
mit ist  nichts  gewonnen.  Allerdings  hat  z.  B.  das  Pfälzische  hier 
offenes  e  (Lenz,  Handschuchsheimer  Mundart) ,  ebenso  das  Hessische. 
Aber  hier  ist  die  Schwierigkeit  der  Erklärung  die  gleiche.  Zudem 
bietet  auch  das  Aleman.  c,  so  in  Ottenheim  (Beitr.  13,  220),  in  Leerau 
(Hunziker,  Aargauisches  Wörterbuch  S.  180),  in  Basel  (Seiler  S.  204), 
während  für  das  Bairische  allerdings  e  bezeugt  wird  (Beitr.  11,  499). 
Verdankt  das  e  sein  Dasein  einer  Angleichung?  Jedenfalls  nicht  an 
metzgen,  denn  dieses  hat  in  Leerau  andern  Vocal  als  Messer. 

O.  BEHAGHEL. 

S.  213,  9  1.  chlaegleich  statt  chaegleich. 


NORDDEUTSCHE  UND  SÜDDEUTSCHE  HELDEN- 
SAGE UND  DIE  ÄLTESTE  GESTALT  DER  NIBE- 
LUNGENSAGE. 


In  meinen  Bemerkungen  zur  Wielandsage  (Germ.  33,  S.  480) 
habe  ich  die  Wanderung  der  meiner  Ansieht  nach  in  ihrem  letzten 
Grunde  fränkischen,  für  gewöhnlich  als  deutsch  bezeichneten 
Heldensage  zu  bestimmen  versucht.  In  dem  aufgestellten  Schema  trat 
bereits  meine  Auffassung  des  Verhältnisses  zwischen  süddeutscher  und 
norddeutscher  Heldensage  zu  Tage:  die  letztere  gründet  sich  auf 
süddeutsche  Spielmannslieder,  die  im  11.  und  12,  Jahrhundert  ge- 
sungen wurden  und  in  derselben  Zeit  nach  Niederdeutschland,  d.  h. 
Westphalen  und  Hannover  gelangten,  aus  welchen  auch  unsere  mhd. 
Dichtungen  hervorgingen.  Im  Folgenden  will  ich  es  versuchen,  die 
nur  in  Kürze  gegebenen  Andeutungen  etwas  weiter  auszuführen  und 
mit  Beweisgründen  zu  stützen,  und  die  daraus  mit  Nothwendigkeit 
sich  darbietenden  Folgerungen  zu  ziehen.  Die  erste  Frage  ist  die 
nach  dem  Vorhandensein  einer  niederdeutschen  Heldeusaee. 
d.  h.  von  Liedern,  welche  in  Niederdeutschland  umgingen  und  in 
niederdeutscher  Sprache  verfaßt  waren ,  gleichviel  aus  welchen  Vor- 
lagen sie  auch  stammen  mögen.  Der  Beweis,  daß  die  Behauptung 
des  Prologes  der  ridrekssaga,  Dänen  und  Schweden  hätten  längst 
nach  den  sächsischen  Vorbildern  eigene  Lieder  gedichtet,  vollkommen 
zu  Recht  besteht,  darf  als  sicher  erbracht  gelten.  Am  meisten  ein- 
leuchtend ist  er  von  Svend  Grundtvig  und  Bugge  geführt  worden  '). 
Wenn  dänische  Volkslieder  dieselben  Stoffe  behandeln  wie  die  t^idreks- 
saga,  dabei  aber  die  letztere  an  eigenartigen,  echten  und  alten  Sagen- 
zügen übertreffen,  so  ist  klar,  daß  sie  nicht  in  der  norwegischen  Saga 
ihre  Quelle  haben  können,  vielmehr  erster  Hand  auf  dieselben  Vor- 
lagen zurückweisen,  aus  denen  auf  der  anderen  Seite  die  ridrekssaga 
entstammt.  Es  erwächst  hieraus  die  Aufgabe,  durch  Vergleichung  der 
beiden  nordischen  Quellen  den  Sageninhalt  der  zu  Grunde  liegenden 
niederdeutschen  Lieder  zu  erschließen.  Weder  die  l*idrekssaga  noch 
die  dänischen  Lieder  (natürlich  auch  die  aus  ihnen  geflossenen  schwe- 


')  Danmarks  gamle  folkeviser  IV,  p.  586—600;  602—678. 
GERMANIA.    Nene  Reihe.  XXU.  (XXXIY.)  Jalirg.  18 


266  -  W.  GOLTHER 

dischen,  norwegischen,  fseröischen  und  isländischen,  die  ja  nur  als 
Übertragungen  zu  betrachten  sind,  als  solche  jedoch  sehr  bedeutsam 
für  die  Wiederherstellung  des  ursprünglichen  dänischen  Originales 
werden,  wie  dies  Grundtvig  in  seinen  ausgezeichneten  Untersuchungen 
mehrfach  darthut) ,  dürfen  einseitig  zur  Vergleichung  mit  der  süd- 
deutschen Sage  herangezogen  werden,  sondern  immer  nur  alle  zu- 
gleich im  Hinblick  auf  ihre  gemeinsame  Quelle.  Diese  also  gewonnenen 
nds.  Lieder  zeigen  in  ihrem  Inhalt  einen  genaueren  Anschluß  an  die 
süddeutschen,  als  man  von  einer  gesonderten  Betrachtung  der  ridreks- 
saga  aus  anzunehmen  gewillt  ist.  Durch  die  Beachtung  dieser  That- 
sache  wird  die  Auffassung  des  Verhältnisses  süddeutscher  und  nord- 
deutscher Heldensage  sehr  wesentlich  beeinflußt.  Was  von  einzelnen 
Sagen  gilt,  insbesondere  von  der  Nibelungensage,  wo  sich  diese  Er- 
scheinung am  deutlichsten  verfolgen  läßt'),  das  zeigt  sich  auch  bei 
mehreren  anderen  und  ist  überhaupt  auf  die  ganze  Masse  der  in  der 
tidrekssaga  vereinigten  Gedichte  auszudehnen,  da  dieselben  zusammen 
als  Sagenkreis  von  Dietrich  von  Bern  eingewandert  sind,  nicht  etwa 
einzeln  losgelöst  und  zu  verschiedenen  Zeiten.  Das  Alter  deutscher, 
d.  h.  nds.  Heldensage  läßt  sich  vorläufig  jedenfalls  für  die  erste  Hälfte 
des  12.  Jahrhunderts  (1131)  durch  die  viel  citierte  Stelle  des  Saxo^) 
als  gesichert  annehmen.  Um  diese  Zeit  müssen  zum  Mindesten  die 
Vorläufer  der  in  die  t'idrekssaga  und  in  die  Volksweisen  aufgegan- 
o-enen  nds.  Lieder  in  Norddeutschland  eingewandert  gewesen  sein.  Zwei 
Möglichkeiten  bieten  sich  dar,  um  das  Vorhandensein  nds.  Lieder  zu 
erklären :  entweder  hat  sich  im  8.  oder  9.  Jahrb.,  als  die  fränkischen 
Sagen  nach  Deutschland  wanderten,   die  nds.  Sage  abgezweigt,  also: 

y     fränkisch-deutsch  8./9.  Jh. 
südds.  nds. 


hürnen  Seyfrid.  Nibllied.  fidrekss.  dän.  Lieder. 

In  diesem  Falle  wären  die  nds.  Lieder  geradeso  wie  die  südds.  aus 
der  gemeinsamen  Ursage  entwickelt ;  oder  es  sind  süddeutsche  Spiel- 
mannslieder nachmals  wieder  nach  Norddeutschland  zurückgewan- 
dert   also:  y'     fränkisch-deutsch  8./9.  Jh. 

y*     süddeutsche  Weiterbildung.  lO./ll.  Jh. 

südds,  nds.      (spätestens    im    Anfang    des 

I  I  13.  Jhs.) 


hürnen  Seyfrid.  Nibllied.  fidrekss.  dän.  Lieder. 


')  Bugge  in  Daumarks  gamle  folkeviser  IV,  p.  600. 

=)  Lib.  XIII,  bei  Müller,  p.  638  [bei  Holder  427,  33.     O.  B]. 


NORDDEUTSCHE  UND  SÜDDEUTSCHE  HELDENSAGE  etc.  267 

Wir   haben   die  Gründe  für  und  wider  einen  der  beiden  Wege  abzu- 
wägen und  danach   die  Entscheidung  zu  treffen. 

Bei  Betrachtung  der  in  der  I^idrekssaga  tiberlieferten  Ge- 
schichten ist  zunächst  zu  beachten,  daß  dieselben,  soweit  sie  zur 
Nibelungensage  gehören,  nicht  in  vollem  Umfange  auf  niederdeutsche 
Quellen  zurückgeführt  werden  dürfen.  Die  Sagen  von  Sigurd  und 
den  Niflungen  Avaren  seit  lange  in  isländisch-norwegischer  Überliefe- 
rung vorhanden.  Daraus  ergab  sich  natürlich  von  selber  eine  Ver- 
einigung des  einheimischen  mit  dem  zugewanderten').  In 
die  Darstellung  der  norwegischen  Saga  gingen  nordische  Züge  über, 
welche  in  den  nds.  Liedern  nicht  vorhanden  waren.  Wenn  man  den 
Inhalt  der  letzteren  gewinnen  will,  müssen  diese  Bestandtheile  aus- 
geschieden werden^  was  sich  zum  Theile  mit  der  größten  Leichtigkeit 
bewerkstelligen  läßt.  Als  nordisch  ist  zu  bezeichnen  die  Bemer- 
kung in  Cap.  163,  daß  der  Drache,  den  Sigurd  erschlägt,  Regiu  heißt 
und  ein  Bruder  des  Schmiedes  Mimir  ist;  Cap.  166,  daß  sich  Sigurd 
beim  Kochen  der  Fleischstücke  des  Wurmes  die  Finger  verbrennt, 
daraufhin  die  Vogelstimmen  versteht  und  in  Folge  dessen  Mimir 
tödtet;  Cap.  167,  daß  das  Schwert  Sigurds  Gram  genannt  wird  und 
das  Roß  Gräni;  ebenso  Cap.  168,  daß  sich  Sigurd  bei  Brynhild  das 
Roß  Grani  holt.  In  Folge  des  in  isländisch- norwegischer  Sage  be- 
richteten Rittes  durch  den  vafrlogi  war  man  gewohnt,  das  Roß  mit 
Brynhild  in  Zusammenhang  zu  bringen ;  nur  hieraus  erklärt  es  sich, 
daß  man  Grdni  in  die  Sage  einführte  in  einer  Weise  und  an  einer 
Stelle,  die  im  Zusammenhang  des  Ganzen  geradewegs  widersinnig 
sind*^).    Cap.  227  ist  nordisch,    daß   Sigurd   und  Brynhild  einmal  mit 


*)  Storm,  Aarböger  for  nordisk  oldkyndighed  1877,  p.  320—21;  Klocklioff, 
Studier  öfver  Thidrekssaga  af  Bern  (Upsala  universitets  ärsskrift  188ü)  p.  4.  Auf 
diesen  Punkt  ist  darum  Gewicht  zu  legen,  weil  man  ihn  auch  anders  zu  erklären 
versucht  hat,  freilich  mit  ziemlicher  Erfolglosigkeit,  ßaszmaun  hält  in  seinen  Schriften 
Westplialen  für  die  Urheimat  der  Nibelungensage.  Von  dort  seien  im  9.  Jahrhundert 
die  Eddalieder  ausgegangen,  aber  ein  Grundstock  blieb  zurück.  Damit  vermischten 
sich  die  später  in  Niederdeutschland  eingewanderten  süddeutschen  Sagen,  und  darum 
reten  uns  in  der  f*s.  scheinbare  Entlehnungen  aus  der  nordischen  Sagenform  ent- 
gegen. Diese  Auffassung  vertritt  Easzmann  in  seiner  Schrift:  Die  Niflungasaga  und 
das  Nibelungenlied  (1877),  namentlich  p.  35  flF.,  66  flf.,  79  S.,  81  ff.  Nicht  überall  liegt 
die  Entlehnung  aus  dem  Nordischen  so  klar  am  Tage  wie  in  den  hier  aufgeführten 
Fällen.  Es  bedarf  oft  sehr  genauer  Sichtung,  die  Zudichtungen  des  theilweise  völlig 
frei  schaffenden  Verfassers  der  f  s.  loszulösen,  um  nicht  ungerechtfertigter  Weise  diese 
Neuerungen  der  nds.  Sage  zu  unterschieben. 

^)  Abhandl.  d.  I.  Cl.  d.  Akad.  d.  Wies,  zu  München,  Bd.  XVIII,  Abtli.  II,  p.  454  f. 

18* 


268  W.  GOLTHER 

einander  verlobt  waren') 5  Cap,  226,  daß  Sigurds  und  Grudrüns  Hoch- 
zeit gefeiert  wird ,  ehe  Sigurd  und  Gunnar  nach  Brynhild  ausfahren ; 
Cap.  348,  daß  Sigurds  Leiche  auf  Gudruns  Bett  geworfen  wird  und 
sie  so,  wie  in  der  isländischen  Version,  neben  dem  todten  Gemahl 
erwacht;  Cap.  383,  daß  Gunnar  in  den  Wurmgarten  geworfen  wird; 
Cap.  170  hat  Oda  vier  Söhne,  außer  Gunnar,  Gernoz  und  Gisler  auch 
noch  Guthormr,  der  natürlich  aus  dem  Berichte  der  Edda  übernommen. 
Diese  hier  erwähnten  nordischen  Sageneinflüsse  sind  äußerlich  und 
von  sehr  untergeordneter  Bedeutung;  sie  haben  kaum  eine  wesentliche 
Änderung  an  der  überkommenen  deutschen  Form  hervorgerufen  und 
stehen  darin  der  ebenfalls  rein  äußerlichen  Wiedergabe  der  über- 
nommenen deutschen  Namen  durch  die  entsprechenden  nordischen, 
also  Gunnar  statt  Günther,  Gudrun  statt  Grimhild,  Sigurd  statt  Sig- 
froedr.  Gram  statt  Balmunc,  Mimir  statt  Mime  vollkommen  gleich. 
Solche  nordische  Einwirkungen  konnten  sich  nur  bei  der  Nibelüngen- 
sage  und  bei  der  Wielandsage  bemerkbar  machen,  wo  nordische  Gegen- 
stücke vorhanden  waren.  Die  letztere  scheint  jedoch  völlig  davon  frei 
geblieben  zu  sein;  es  wurde  auch  kein  Versuch  gemacht,  die  nordi- 
schen Namen  der  Volundarkvida  einzusetzen.  Bei  den  übrigen  Stoffen 
der  Pidrekssaga  sind  wir  also  der  Mühe  enthoben,  einzelne  Züge,  die 
in  Norwegen  eindrangen,  vor  der  Zurückführung  auf  die  nds.  Vor- 
lagen auszuscheiden.  Fremdartige  Neuerungen  können  aber  auch  in 
anderer  Hinsicht  sich  entwickelt  haben.  Dies  gilt  vornehmlich  bei 
Bestimmung  der  geographischen  Verhältnisse  in  der  ridrekssaga. 
Hiebei  ist  zu  unterscheiden  zwischen  dem,  was  bereits  in  den  nieder- 
deutschen Vorlagen  stand,  und  dem,  was  erst  die  norwegische  Dar- 
stellung verschuldet.  Für  das  Vorhandensein  einer  niederdeutschen 
Heldensage,  welche  in  volksmäßigen  Liedern  lebte,  spricht  entschieden 
auch  der  Umstand,  daß  Niederdeutschland  selbst  zum  Schauplatz  der 
Ereignisse  geworden  ist'*).  Hunaland  und  Susat,  Attila's  Königssitz, 
sind  meistens  als  Westphalen  zu  verstehen,  außer  in  der  Nibelungen- 
sage, aus  deren  Darstellung  mit  Sicherheit  hervorgeht,  daß  unter 
Hunaland  und  Susat  in  diesem  einzelnen,  bestimmten  Falle  nur  Ungarn 
und  Ofen  entsprechend  den  süddeutschen  Quellen  verstanden  sein 
kann^).  Hieraus  ist  aber  zu  entnehmen,  daß  einmal  in  den  niedei-- 
deutschen  Liedern  die  Geographie  gerade  so  wie  in  den  süddeutschen 


*)  W.  Grimm,  Heldensage  p.  84. 

^)  Storm,    Nye  studier   over  Thidrekssaga   (Aarböger   for  nordisk  oldkyndighed 
1877,  p.  329  flf.    Zur  Frage  überhaupt:    Holthausen,    Studien  zur  Thidrekssaga.  1884. 
*)  Döring,  Ztschr.  f.  d.  Phil.  II,  p.  22  ff.    Holthausen  a.  a.  O,  p.  33. 


NORDDEUTSCHE  UND  SÜDDEUTSCHE  HELDENSAGE  etc.     269 

beschaffen  war,  daß  von  Anfang  an  kein  Unterschied  bestand,  sondern 
erst  nachmals  ein  solcher  geschaffen  wurde  dadurch,  daß  Nieder- 
deutschland als  Schauplatz  der  Sage  galt  und  deshalb  dort  mehrfache 
Änderungen  vorgenommen  wurden.  Sind  diese  Neuerungen  zum  großen 
Theile  der  nds.  Sagenentwicklung  zuzuschreiben,  so  hat  aber  auch 
die  norwegische  Saga  einige  Änderungen  in  dieser  Richtung  ver- 
anlaßt, welche  aus  ungenügender  Kenntniß  der  deutschen  Ortlichkeiten 
entsprangen.  Doch  sind  auch  diese  nur  äußerlicher  Art  und  berühren 
die  Handlung  der  Sage  wenig. 

Wenn  wir  die  in  Form  und  Inhalt  den  süddeutschen  so  nahe 
stehenden  norddeutschen  Nibelungenlieder  mit  den  ersteren  vergleichen, 
so  müssen  sich  hiebei  Anhaltspunkte  auffinden  lassen,  welche  auf  die 
ursprüngliche  Heimat  der  Sage  und  damit  wohl  auch  auf  das  Ab- 
hängigkeitsverhältniß  der  Lieder  hinweisen.  Als  die  fränkische  Sage 
im  8.  oder  9.  Jahrhundert  nach  Deutschland  kam ,  erfuhr  sie  dort 
nachmals  im  10.  und  11.  Jahrhundert  in  den  süddeutschen  Gegenden 
namhafte  Zuthaten,  welche  unter  dem  Eindruck  der  Kämpfe  an  der 
Ostmark  mit  ungarischen  Stämmen  sich  vornehmlich  auf  die  zweite 
Hälfte,  die  Fahrt  der  Nibelungen  zum  Hunnenkönig  und  ihren  Unter- 
gang erstreckten.  Anerkanntermaßen  enthält  die  Darstellung  des 
Nibelungenliedes  viele  Züge,  die  sich  erst  in  jenen  Zeiten  bilden 
konnten ,  und  die  mit  dieser  Ausführlichkeit  in  der  ursprünglichen  Sage 
des  6.  Jahrhs.  und  überhaupt  bei  den  Franken  nicht  als  vorhanden 
gedacht  werden  dürfen.  Mit  sichtlicher  Vorliebe  und  Sachkenntniß 
ist  die  Reise  der  Burgunden  von  Worms  den  Main  entlang  durch 
Ostfranken  zur  Donau  und  durch  das  Donauthal  über  Bechelarn 
nach  Etzelnburg  geschildert.  Natürlich  setzt  diese  Beschreibung  vor- 
aus, daß  die  Sage  in  jene  Gegenden  gedrungen  war.  Dem  ersten 
Dichter  der  Nibelungen  standen  diese  genauen  örtlichen  Angaben 
nicht  zu  Gebote.  Nun  finden  wir  die  Einzelheiten  der  Fahrt  auch  in 
der  Pidrekssaga  vor,  dort  allerdings  entstellt  durch  einen  Fehler  des 
norwegischen  Verfassers,  der  aber  deutlich  erkennen  läßt,  daß 
in  der  Vorlage,  dem  nds.  Liede,  Alles  in  Ordnung  war').  Bereits 
hieraus  ist  zu  entnehmen,  daß  die  norddeutsche  und  süddeutsche  Sage 
unter  einander  näher  verwandt  sind,  und  daß  zur  Erklärung  dieser 
Verwandtschaft  der  Hinweis  auf  ihre  alte  gemeinsame  Quelle  in  der 
fränkischen  Sage   nicht   ausreicht.    Eine   der   anziehendsten  Gestalten 

*)  Rhein  und  Dynau  fließen  zusammen  Cap.  362 ;  ein  Wasser  heißt  Moere,  d.  i. 
Möringen. 


270  "^'  GOLTHER 

des  zweiten  Theiles  ist  Markgraf  Rüedeger ;  dieser  wurzelt  aber  gänz- 
lich in  den  süddeutschen  Verhältnissen.  Die  Markgrafen  im  Nibelungen- 
lied entstammen  aus  der  Ottonenzeit,  wo  es  sich  um  die  Festigung 
der  Grenzen  handelte;  sie  sind  undenkbar  für  die  Zeit  der  Entstehung 
der  Sage.  Mit  Recht  hat  Thausing*)  darauf  hingewiesen,  daß  in  den 
Hunnenkämpfen  eine  Erinnerung  an  die  Kriege  Heinrichs  HI.  in 
Ungarn  1042 — 1044  lebt;  Vieles  in  diesen  Schilderungen  ist  auf  die 
nationale  Erhebung  jener  Zeiten  zurückzuführen.  In  Volker,  dem 
ritterlichen  Spielmann  und  Kampfgenossen  Hagens,  ist  auch  unschwer 
eine  später  erdichtete  Gestalt  zu  erkennen,  für  welche  in  der  alten 
Sage  kein  Platz  war.  Betrachten  wir  die  Nibelungensage  im  Ganzen, 
so  zeigt  sich,  daß  sie  ebenso  getreu  die  geschichtlichen  Ereignisse 
des  5.  Jahrhs.  und  die  Ortlichkeit  des  Rheines  bewahrt  hat,  als 
anderseits  Widerspiegelungen  späterer  Zeiten  und  genaue  Kenntniß 
süddeutscher  Gegenden  hervortreten.  Dadurch  werden  wir  zur  An- 
nahme einer  doppelten  Hauptbearbeitung  der  Sage  geführt,  oder  jeden- 
falls zu  der  einer  tiefgreifenden  Umarbeitung  des  Überkommenen  in 
Süddeutschland.  Daß  die  alte  fränkische  Sage  nichts  von  alledem 
wußte,  läßt  sich  aus  ihr  selber,  soweit  sie  in  isländisch-norwegischem 
Gewände  sich  erhielt,  nachweisen.  Die  Eddagedichte  sind  von  allen 
diesen  Ausführungen,  welche  nur  die  nach  Deutschland  ausgewanderte 
Sage  betrafen,  völlig  frei  geblieben.  Aber  die  ridrekssaga  faßt  die- 
selben in  vollem  Umfange  in  sich;  und  noch  mehr  als  bei  dieser 
selbst  oder  ihren  unmittelbaren  niederdeutschen  Quellen,  in  denen 
sich  ja  das  Bestreben  der  Localisation  auf  norddeutschem  Boden  kund- 
gibt, war  dies  bei  den  älteren  niederdeutschen  Liedern  der  FalP). 
Es  ergibt  sich  hieraus  mit  zwingender  Noth wendigkeit  die  Abhängig- 
keit der  nds.  Heldensage  von  der  süddeutschen,  die  dem- 
nach in  späterer  Zeit  unter  den  lebhafter  gestalteten  Wechselbezie- 
hungen wiederum  nordwärts  zurückwanderte.  In  der  ersten  Hälfte 
des  12.  Jahrhs.  ist  sie  dort  bezeugt;  früher  als  in  der  zweiten  Hälfte 
des  11.  Jahrhs.  kann  aber  die  Rückwanderung  kaum  erfolgt  sein, 
somit  ergibt  sich  rund  1100  für  die  wahrscheinliche  Zeit  der  Über- 
nahme süddeutschen  Heldensanges  in  Norddeutschland.  Mit  dieser 
Zeitbestimmung  vereinigt  sich  recht  wohl,  was  wir  von  einheimischen 
niederdeutschen    Sagen   wissen.    Storm^)    hat   nachgewiesen,    daß    ein 


*)  Germ.  4,  p.  435 — 436.    Die  Nibelungen  in  der  Geschichte  und  Dichtung. 
*)  Storm,  Aarböger  386;    die  Dichtung,   welche  der  Saga  zu  Grunde  liegt,   ist 
in  ihrem  Ursprünge  süddeutsch. 
')  Aarböger  p.  341  ff. 


NORDDEUTSCHE  UND  SÜDDEUTSCHE  HELDENSAGE  etc.     271 

Theil  des  SagenstofFes  nicht  süddeutscher,  sondern  norddeutscher  Ent- 
stehung ist.  Die  Kämpfe  der  Hunnen  (d.  h.  der  Sachsen  und  West- 
phalen  nach  der  Ausdrucksweise  der  Saga)  mit  Friesen  und  Wilkinen 
(d.  h.  Wilzen,  Wenden,  Dänen)  stammen  aus  den  Kriegen  der  Ottonen 
gegen  jene  Völker  im  10.  Jahrhundert;  Heinrich  H.  kriegt  Anfang 
des  11.  Jahrhunderts  im  Osten  von  „Saxland"  mit  Polen  und  Russen. 
Attila  der  Hunnenkönig  trat  an  Stelle  der  deutschen  Kaiser;  d.  h.  der 
einheimische  nds.  Heldensang  schloß  sich  an  den  zugewanderten  sild- 
deutschen  an,  und  das  dort  bemerkbare  Bestreben,  die  Vereinigung 
aller  Sagen  um  einen  gemeinsamen  Mittelpunkt,  König  Dietrich  von 
Bern,  kam  im  Verlaufe  der  Zeit  immer  mehr  zur  Geltung.  Nieder- 
deutsche Heldenlieder  wurden  gerade  damals  gesungen ,  als  süd- 
deutsche einwanderten.  So  trafen  die  letzteren  auf  einen  wohl  vor- 
bereiteten Boden,  was  ihre  rasche  Annahme  und  Ausbreitung  durch 
ihr  Verwachsen  mit  dem  bereits  vorhandenen  Grundstock  wesentlich 
erleichterte. 

Die  Nibelungensage  in  der  ridrekssaga  entspricht  dem  Lied  vom 
hürnen  Seyfrid ')  und  dem  Nibelungenlied.  Die  Ubereinstin)mung  mit 
letzterem  beginnt  Cap.  228  mit  Gunnars  Brautnacht.  So  ist  auch  in 
der  t'idrekssaga  scheinbar  eine  Trennung  dieser  beiden  Denkmäler 
anzuerkennen,  und  Döring**)  versuchte  die  Benützung  der  beiden  mhd. 
Quellen  nachzuweisen.  Daß  unser  zwischen  1190  und  1205  entstan- 
denes Nibelungenlied  der  ridrekssaga  und  den  dänischen  Liedern 
vorlag ,  verbietet  sich  von  selber  durch  die  Erwägung  der  Zeitver- 
hältnisse. Die  Frage  darf  also  nur  so  gestellt  werden,  ob  bereits  in  den 
nach  Norddeutschland  gewanderten  Liedern  eine  ähnliche  Scheidung 
des  Stoffes  eingetreten  war,  wie  nachmals  in  den  genannten  zwei 
mhd.  Gedichten.  Im  Nibelungenliede  ist  die  Spielmannsdichtung  in  höhere 
und  feinere  Kreise  emporgehoben;  äußerliche  und  innerliche  Vorzüge 
zeichnen  es  demnach  vor  den  übrigen  Spielmannsgedichten  aus. 
Sigfrid  wird  in  ritterlich  höfischer  Art  erzogen,  er  wirbt  um  Kriem- 
hildes  Minne;  glänzende  Hoffeste  und  Trauerfeierlichkeiten  im  kirch- 
lichen Sinne  sind  ausführlich  beschrieben ;  die  Charakteristik  der 
Personen  ist  psychologisch  vertieft  und  die  Handlung  dadurch  ab- 
gerundet; nicht  wie  in  der  Spielmannsdichtung  herrscht  die  bloße 
Freude  am  Erzählen  vor.  Rohe  Züge  sind  getilgt  oder  wenigstens 
derartig    verfeinert,    daß    sie   für    eine  gesittetere  Anschauung    nichts 

')  Über  das  Alter  der  Sagenform  des  h.  S.  vgl.  meine  Ausgabe  [Braunes  Neu- 
drucke Nr.  81  u.  82]  S.  XIX  ff. 

')  Ztschr.  f.  d.  Pbil.  2,  p.   1—79;  256—292. 


272  W.  GOLTHER 

Verletzendes  enthalten.  Es  ist  klar,  daß  die  meisten  derartigen  Ände- 
rungen dem  mhd.  Denkmal  als  solchem  angehören  und  erst  in  diesem 
auftraten,  dagegen  in  den  vorhergehenden  Liedern  nicht  vorhanden 
waren.  Wenn  uns  der  Unterschied  zwischen  dem  hürnen  Seyfrid  und 
dem  Nibelungenlied  in  ihrer  heutigen  Gestalt  allerdings  sehr  groß 
erscheint,  so  kommt  dies  bei  ihren  Quellen  in  Wegfall,  weil  das  Nibe- 
lungenlied auf  dem  Boden  der  älteren  Spielmannsdichtung  begreiflicher- 
weise von  allen  den  unterscheidenden  Merkmalen  wenig  enthielt.  Beim 
hürnen  Seifrid  ist  die  rohe  Form  der  späten  Überlieferung  in  Abzug 
zu  bringen.  Dann  aber  wird  die  Überlieferung  in  beiden  Gedichten 
eine  einheitlichere  sein  und  nicht  mehr  eine  entschiedene  Trennung 
derselben  nothwendig  erscheinen  lassen.  Unter  diesem  Gesichtspunkte 
muß  die  Nibelungensage  in  der  tidrekssaga  aufgefaßt  werden.  Der 
Bericht  der  Saga  und  die  ihr  zu  Grunde  liegenden  nds.  Lieder  sind 
durchaus  einheitlich,  die  Spielmannsdichtung  von  den  Nibelungen. 
Ebenso  verhielt  es  sich  mit  der  süddeutschen  Sage  im  IL  und  12.  Jahr- 
hundert; nur  das  Nibelungenlied  ist  aus  ihrem  Kreise  herausgetreten. 
Zwischen  der  Jugendgeschichte  Sigfrids  und  den  letzten  Kämpfen 
der  Nibelungen  ist  in  der  Darstellung  der  Spielmannslieder  und  der 
ridrekssaga  keine  Verschiedenheit  bedingt.  Die  Vergleichung  mit 
der  nds.  Sage  gibt  ein  vortreffliches  Hilfsmittel  an  die  Hand,  den 
Stand  der  älteren  süddeutschen  Sagenüberlieferung  uns  wieder  zu  er- 
schließen und  die  eigenartige  Kunst  des  Nibelungenliedes  namentlich 
auch  in  ästhetischer  Hinsicht,  insoferne  es  am  Inhalte  änderte,  zu 
bemessen.  Es  ist  begreiflich,  daß  Sigfrids  Abenteuer  beim  Schmied 
als  dessen  Lehrling  unmöglich  war,  sobald  seine  Erziehung  den  An- 
sprüchen des  höfischen  Anstandes  entsprechen  mußte.  Die  Scene,  wie 
Sigfrid  Brünhilde  bezwingt,  ist  im  Nibelungenlied  offenbar  umgebildet: 
Sigfrid  ringt  mit  ihr,  nimmt  ihr  einen  Ring  und  Gürtel  ab,  ohne 
jedoch  ihre  Minne  zu  genießen').  Dagegen  berichtet  die  ridrekssaga 
Gap.  229:  oc])a  teer  hann  til  Brynüldar  oc  fear  skiott  hennar  mmydom. 
Das  Aufgeben  dieses  in  der  rohen  Auffassung  der  Spielmanns- 
dichtung vorhandenen  Zuges  ist  bedeutungsvoll  für  das  ethische 
Urtheil  über  Sigfrids  Schuld  oder  Unschuld.  Die  Kämpfe  bei  den 
Hunnen  sind  in  den  älteren  Liedern  viel  wilder  als  im  Nibelungen- 
lied ;  das  letztere  hat  die  furchtbare  Grausamkeit  Krierahildes,  die  nach 
der  älteren  Sage  (Ps.  Cap.  392)  die  Verwundeten  zu  Tode  quält,  mit 
richtigem  Gefühl    getilgt.    Daß    in  Süddeutschland  Lieder    vorhanden 


•)  Bartsch  Str.  649—681. 


NORDDEUTSCHE  UND  SÜDDEUTSCHE  HELDENSAGE  etc.     273 

waren,  ganz  im  Geiste  der  Quellen  der  Pidrekssaga  gehalten,  von 
denen  sich  aber  das  Nibelungenlied  unterschied ,  zeigt  sich  anläßlich 
des  Auftritts  zwischen  Hagen  und  Ortliep,  dem  Kinde  der  Krienihilt, 
über  welchen  der  Bericht  der  Saga  (Cap.  379)  und  des  prosaischen 
Anhanges  zum  Heldenbuch  (Heldensage  p.  298  f.)  gegen  das  Lied 
zusammenstimmen;  ebenso  am  Schlüsse,  wenn  Dietrich  die  Krienihilt 
erschlägt,  während  im  Nibelungenlied  dies  von  Hildebrand  erzählt  wird. 
Auch  die  Betrachtung  der  übrigen  in  der  f'idrekssaga  vorhan- 
denen Sagen  läßt  erkennen,  daß  die  norddeutsche  und  süddeutsche 
Heldensage  gegenüber  einer  älteren  süddeutschen  des  8.  und  9.  Jahr- 
hunderts im  Allgemeinen  und  im  Besonderen  zusammengehen,  und 
zwar  so,  daß  jeder  Gedanke,  als  hätten  wir  es  mit  einer  jeweiligen 
Weiterbildung  einer  gemeinschaftlichen  Ursage  im  Norden  und  Süden 
zu  thun,  von  Vorneherein  ausgeschlossen  wird.  Wären  süddeutsche 
und  norddeutsche  Sagen,  vom  gleichen  Ausgangspunkte  beginnend, 
ihre  eigenen  Wege  gewandelt,  so  könnten  nicht  die  im  13.  Jahr- 
hundert erfolgten  Aufzeichnungen,  die  also  400  oder  500  Jahre  von 
der  entlehnten  fränkischen  Sage  entfernt  sind,  so  genau  überein- 
stimmen, namentlich  nicht,  wenn  es  sich  um  auf  beiden  Seiten  gleich- 
mäßig durchgeführte  Neuerungen  handelt.  In  Bezug  auf  diese  muß 
natürlich  die  eine  vorangegangen,  die  andere  nachgefolgt  sein.  Unter 
den  in  die  Pidrekssaga  übergegangenen  süddeutschen  stehen  an  erster 
Stelle  diejenigen,  welchen  mhd.  Dichtungen  entsprechen,  wie  Ecken- 
lied und  Rother;  die  Berührungen  gehen  vielfach  bis  zu  wörtlicher 
Übereinstimmung  *),  was  darauf  hinweist,  daß  theilweise  der  Wortlaut 
der  Originale  des  11.  Jahrhunderts  gewahrt  blieb  und  in  die  nord- 
deutschen und  süddeutschen  Dichtungen  überging.  Dies  wäre  eben- 
falls unmöglich  aus  gemeinsamen  Quellen  des  8.  oder  9.  Jahrhunderts 
zu  erklären.  Die  sprachliche  Entwicklung  zwischen  dem  8.  und 
13.  Jahrhundert  hätte  tiefgreifende  Änderungen  veranlaßt.  Die  Über- 
einstimmung muß  aber  sich  sehr  weit  erstreckt  haben,  wenn  sie  noch 
so  deutlich  selbst  aus  der  norwegischen  Prosa'^)  heraus  an  die  mhd. 
Werke  anklingt.  Von  anderen  Sagen  läßt  sich  nachweisen,  daß  sie 
im  11.  Jahrhundert  in  älterer  einfacherer  Form  vom  Süden  nach  dem 
Norden  wanderten,  aber  nachmals  eigenartige  Ausbildung  erfuin*en, 
z.  B.  von  den  Gedichten,    aus  denen  der  Kampf  der  Dietrichsrecken 


■)  Edzardi  Germ.  23,  p.  99  ff.;  25,  p.  48—67. 

')  An  einigen  Stellen  erkennt  man  noch  deutlich  den  p.ietischen  Stil  der  iids. 
Lieder,  der  an  den  unserer  mhd.  Heldendichtung  sich  anschließt;  einiges  bei  Edzardi, 
Germ.  25,  p.  66  Anm. 


274  W.  GOLTHER 

mit  Isungs  Söhnen  (Ps.  Cap.  45 — 56)  einerseits,  der  große  Rosen- 
garten (wohl  auch  Dietrichs  siegreicher  Zweikampf  mit  Sigfrid  in  der 
Rabenschlacht  Str.  672 — 683)  anderseits  hervorgingen.  Nur  sehr 
Weniges  von  der  älteren  deutschen  Sage,  welche  den  Stand  des 
Fränkischen  bewahrte,  wo  also  jene  süddeutschen  Zuthaten  noch  nicht 
vorhanden  waren,  hat  sich  erhalten,  das  Bruchstück  des  Hildebrands- 
liedes aus  dem  8.  Jahrhundert.  Aber  auch  aus  dem  Wenigen  läßt 
sich  entnehmen,  daß  damals  die  Sage  noch  in  anderen  Bahnen  lief. 
Odovakar  ist  Dietrichs  Gegner,  ein  Zug,  der  später  gänzlich  schwand, 
dadurch,  daß  Sibich,  welcher  zu  Ermenrich  und  den  Harlungen  ge- 
hört, überhaupt  die  Verrätherrolle  übernahm,  und  somit  Dietrich 
nachmals  seinem  Neide  entfloh').  Die  fränkische  Sage  hat,  wie  auch 
aus  der  nordischen  Gestalt  des  zweiten  Theiles  der  Nibelungensage 
ersichtlich  ist,  die  geschichtlichen  Grundzüge  wohl  gewahrt,  welche 
nachmals  in  der  deutschen  Fortbildung  mehr  und  mehr  zurücktraten. 
Völlig  verschieden  vom  alten  Hildebrandslied  ist  die  Darstellung  der 
ridrekssaga  (Cap.  406—409).  Damit  stimmt  aber  auch  das  deutsche 
Hildebrandslied  des  Kaspar  von  der  Roen  zusammen.  Edzardi**)  be- 
hauptet für  das  letztere  zwar  niederdeutschen  Ursprung,  doch  sind 
die  angeführten  Gründe  nicht  völlig  bestimmend,  die  Möglichkeit  der 
süddeutschen  Herkunft  ist  nicht  ausgeschlossen.  Jedenfalls  ist  die  Sage 
auf  einem  ganz  anderen  Standpunkt  als  im  alten  Lied.  In  gleicher 
Weise  hat  sich  norddeutsche  und  süddeutsche  Überlieferung  vom  Alten 
entfernt,  nicht  jede  gesondert  für  sich. 

Nachdem  wir  erkannt  haben,  daß  die  t'idrekssaga  und  die  mhd. 
Gedichte  auf  gemeinsame  Quellen  zurückzuführen  sind,  darf  der  Ver- 
such gewagt  werden,  den  Stand  der  hochdeutschen  Sage  während 
dem  11.  Jahrhundert  zu  ermitteln.  Natürlich  ist  das  den  nord-  und 
süddeutschen  Liedern  Gemeinsame  ohne  weitere  Fragen  als  alt  zu 
betrachten;  dagegen  ist  bei  allen  eigenartigen  Abweichungen  auf  der 
einen  Seite  zu  bestimmen,  ob  dieselben  bereits  in  der  alten  Sage 
standen  und  nur  zufällig  sich  hier  erhielten,  dort  aber  vergessen 
wurden,  oder  ob  wir  es  mit  Neubildungen,  beziehungsweise  mit  Doppel- 
berichten zu  thun  haben.  So  müssen  einige  Vorfragen  zunächst  ent- 
schieden werden.  Sehr  wichtig  ist  Cap.  165  der  l*idrekssaga:  Sigurds 
Besuch  bei  Brynhild.  Wie  ist  überhaupt  das  Verhältniß  Sigurds 
und  Brynhilds    in    der  t^s.    aufzufassen?    Eine  Verlobung    fand    nicht 


')  Ähnliche  Auffassung  bei  Storm,  Sagnkredsene  om  Karl  den  störe  og  Diderik 
af  Bern  p.  72. 

')  Germ.  19,  p.  315 — 326:  zum  jüngeren  Hildebrandsliede. 


NORDDEUTSCHE  UND  SÜDDEUTSCHE  HELDENSAGE  etc.     275 

statt;  die  Worte  in  Cap.  227  stammen  aus  der  nordischen  Sage. 
Wenn  dagegen  Sigurd  wenigstens  bei  Brynhild  war,  ehe  er  sie  Gunnar 
zur  Frau  vorsehhig,  also  sie  kannte,  ohne  daß  jedoch  ein  innigeres 
Verhältniß  sich  daran  angeknüpft  hätte,  so  könnte  man  diesen  Zug 
als  deutsche  Sage  auffassen  und  für  die  letztere  wenigstens  eine 
vorhergehende  Bekanntschaft  Hrünhildes  und  Sigfrids  behaupten,  wenn 
auch  eine  Verlobung  mit  aller  Entschiedenheit  geleugnet  werden  muß. 
Nach  der  rs.  weiß  Sigurd  nichts  von  seinen  Eltern.  Er  nennt  Bryn- 
hild seinen  Namen ^  aber  vermochte  über  sein  Geschlecht  keine  Aus- 
kunft zu  ertheilen;  da  sprach  Brynhild:  ef  fw  veitz  ceigi  at  scegia  mer, 
pa  kann  ec  at  scegia  per,  at  pv  ert  Sigin'är  Sigmundar  son  konungs  oc 
Sisibe.  Wenn  etwas  echt  und  sinnvoll  ist  bei  dieser  Begegnung,  so 
ist  es  diese  Mittheilung  über  Sigurds  Herkunft.  Sic  wird  als  sagen- 
mäßig bestätigt  durch  zwei  Strophen  des  Seyfridliedes: 

47  nun  was   der  held   Seyfride  gewesen  seyne  jar, 

das   er  vmb  vatter  vnd  müter  nicht  west  als  vnib   ein  har. 

er  ward  vil  ferr  versendet  inn   eyneu  finstern   than, 

darinn  zoch  jn   ein  meyster,  bisz   er  ward  zu   eym  man. 

48  er  gwan  vier  vnd  zwentzig  stercke  vnd  yegklich  sterck   ein   man. 
do   sprach  zu  jm   das   zwerge:           will   dir  zu  wissen  thon, 

deyn  muter  hiesz   Siglinge  vnd   was  von  adel  geporu, 

deyn  vatter  künig   Sigmunde  von   den   so   bist  du   wordn. 

Diese  Strophen  setzen  dieselbe  Sage  voraus,  wie  die  niederdeutschen 
Lieder.  Jedoch  ertheilt  der  Zwerg  Eugel  Seyfrid  Auskunft,  nicht  wie 
in  der  rs.  Brynhild.  Was  sonst  im  Cap.  168  enthalten  ist,  bedarf 
einer  genaueren  Prüfung.  Sigurd  holt  sich  Gräni  aus  dem  Gestüte 
der  Brynhild;  als  er  zu  ihrer  Burg  kommt,  hat  er  mit  den  Wacht- 
männern  einen  Kampf  zu  bestehen.  Das  Roß  Grani  ist  eine  Zuthat 
der  nordischen  Sage;  aus  dieser  ist  es  in  die  rs.  eingedrungen,  die 
niederdeutschen  Lieder  wußten  so  wenig  von  ihm  als  die  süddeutschen. 
Die  norddeutsche  Sage  erzählte,  Studar ') ,  des  Heimir  Vater,  habe 
ein  Gestüt  verwaltet,  aus  dem  die  berühmtesten  Helden  und  Dietrich 
selber  ihre  Rosse  bezogen,  daher  stammten  Falka,  Skemmingr  und 
Rispa.  Es  ist  wahrscheinlich,  daß  auch  Sigfrid  nicht  zurückgesetzt 
werden  sollte  und  darum  aus  demselben  Gestüt  ein  Roß  bezog;  natür- 
lich konnte  dies  nach  der  ridrekssaga  nur  Grdni  sein.  Die  schwedische 
Saga    berichtet    auch  Cap.   16:    i  then  skog ,  sora  Brynnilla    ägher   ther 


*)  In  J>s.  steht  allerdings  Studas ,  aber  die  schwedische  Bearbeitung  hat  die 
richtige  Namensform  Studar  (68,  18),  sonst  Studder  oder  Studer  =  ahd.  stnotäri,  der 
Stüter,  Verwalter  eines  Gestüts,  gewahrt. 


276  W.  GOLTHER 

äre  im  hästa,  en  heter  Grane,  oc  annar  heter  Skimling  oc  tridie  heter 
Falke  oc  IUI.  heter  Rispa  (das  in  fs.  entsprechende  Cap.  188  hat 
diesen  Satz  nicht).  Brynhild  besitzt  das  Gestüte,  aus  welchem  jene 
Rosse  stammen.  Cap.  18  berichtet  von  ihr:  ßrir  nordan  ßall  i  Svava 
Par  er  su  borg  er  heitir  /Scegard.  par  red  ßrir  hin  rika  oc  hin  fagra 
oh  hin  mikilata  Brynhilldr,  er  fegrst  er  kvenna  i  Sudrlondum  ok  sva 
nordr  af  speki  ok  storvirkium  er  gor  verda  ßrir  hennar  sakir  ok  seint 
mnnu  fyrnaz;  ähnHch  Nibelungenlied  326: 

ez  was   ein  küneginne  gesezzen   über  se : 

ir  geliche  enheine  man  wesse  ninder  me. 

diu  was  unmäzen  scoene,  vil  michel  was  ir  kraft. 

si  scöz  mit  snellen  degenen  umbe  minne  den  scaft. 

Der  Hinweis  auf  die  großen  Thaten,  welche  um  Brynhildes  willen 
geschehen,  spricht  dafür,  daß  auch  in  Bezug  auf  ihre  Gewinnung  in  der 
nds.  Sage  Ähnliches  berichtet  wurde,  wie  im  Nibelungenlied,  obwohl 
die  rs.  diese  Dinge  ausfallen  ließ.  Dann  fährt  die  ts.  fort:  i  einum 
skog  eigi  ])adan  langt  stendr  hu  mikit,  er  atti  Brynhilldr  ok  red  ßrir 
sa  madr  er  Studas  het.  Der  Gestüthof  wird  dann  ausführlich  be- 
schrieben. Es  fragt  sich,  ob  die  nds.  und  damit  früher  auch  die 
süddeutsche  Sage  wirklich  Brünhilt  zur  Besitzerin  einer  Pferdezucht 
gemacht  haben.  Auch  nicht  der  geringste  Anlaß  dazu  liegt  in  ihrer 
Geschichte  selber  vor.  Aber  eben  ihr  Gestüt  ist  der  Grund,  weßhalb 
Sigurd  sie  aufsucht.  Auch  Cap.  168  ist  völlig  auf  nordische  Sage 
gegründet;  es  beruht  auf  einer  Einmischung  nordischer  Züge.  Die 
Einwirkungen  der  nordischen  Sage  sind  hier  etwas  tiefer  gehend  als 
in  den  oben  namhaft  gemachten  Fällen;  sie  haben  eine  eigene  neue 
Scene  veranlaßt.  Des  Studar  Sohn  ist  Heimir;  Brynhild  nach  der 
jungen  nordischen  Sage  ist  Heimirs  Pflegetochter,  und  lebt  auf 
Heimirs  Hofe.  Dies  war  dem  Verfasser  der  rs.  natürlicii  bekannt. 
So  brachte  er  auch  einzig  und  allein  in  Folge  der  Namensgleichheit 
Heimir,  den  Gesellen  Dietrichs,  mit  Brynhild  in  Verbindung;  er  und 
sein  Vater  standen  in  ihrem  Dienste,  und  so  wurde  Brynhild  zur 
Besitzerin  des  Gestüts.  Als  solche  wird  sie  ja  gerade  in  Cap.  18, 
wo  von  Heimir  zum  ersten  Male  die  Rede  ist,  erwähnt.  Ein  weiterer, 
ebenso  äußerlicher  Grund  lag  in  Sigurds  Geschichte.  Es  ist  nicht 
unmöglich,  daß  bereits  nds.  Lieder  ihm  wie  dem  Dietrich  ein  Roß 
aus  der  edelsten  Zucht  zuschrieben.  Dieser  Zug  wäre  aber  dann 
bereits  ein  neugebildeter,  nicht  der  alten  deutschen  Sage  zugehöriger, 
welcher  entstand,  als  die  übrigen  Sagen  immer  mehr  nur  als  Episoden 
der  Geschichte  Dietrichs    aufgefaßt    wurden    und    sich    deshalb    auch 


NORDDEUTSCHE  UND  SÜDDEUTSCHE  HELDENSAGE  etc.     277 

allerlei  Änderungen  gefallen  lassen  mußten.  Die  Pictrekssaga  wies 
ihm  das  Roß  Gräni  zu.  Gräni  aber  steht  in  unlöslichem  Zusammen- 
hang mit  dem  Ritt  durch  den  vafrlogi,  den  die  jüngere  nordische 
Sage  auf  Brynhild  übertrug.  Also  auch  auf  diesem  Wege  brachte  die 
ts.  Brynhild  und  die  Pferde  mit  einander  in  Verbindung.  War  einmal 
Brynhild  die  Besitzerin  der  Rosse,  so  lag  es  für  den  Sagaschreiber 
nahe,  Sigurd  den  Gräni  bei  Brynhild  selber  holen  zu  lassen,  also  die 
in  Gap.  168  erzählte  Begegnung  zu  erfinden,  da  ja  die  ihm  geläufige 
nordische  Sagenform  von  einer  Verlobung  und  einem  Zusammentreffen 
Sigurds  und  Brynhilds  wußte.  Was  die  Kämpfe  mit  den  Waehtmännern 
anlangt,  welche  Sigurd  zu  bestehen  hat,  so  erinnere  ich  an  Oddrünar- 
grätr   17: 

pä,  var  vig  vegit  volsku   sverdi 

ok  borg  brotin  sü   er  Brynhildr  dtti  — 

wo  die  Werbung  um  ßrynhild  mit  Kämpfen  verknüpft  ist ').  Somit  ist 
Gap.  168  die  Begegnung  Sigurds  und  Brynhilds  Erfindung 
des  Verfassers  der  l^'s. ;  die  nds.  Lieder  wußten  nichts  von 
einer  solchen  zu  erzählen;  Gap.  168  stammt  nicht  aus  der  deut- 
schen Sage  und  darf  unter  keinen  Umständen  verwendet  werden,  um 
nachzuweisen ,  daß  auch  die  deutsche  Sage  einmal  berichtet  habe, 
Sigfrid  und  Brünhilt  hätten  sich  gesehen,  ehe  Sigfrid  mit  Günther  zu 
ihr  zog.  Die  deutsche  Sage  hat  niemals  etwas  von  einer  Verlobung 
erzählt,  aber  auch  nicht  einmal  von  einer  Begegnung.  Was  sich 
irgendwo  davon  vorfindet,  ist  nordische  Erfindung  und  darf  nicht 
in  die  deutsche  Sage  zurückgetragen  werden.  Auch  die  letzte  schein- 
bare Stütze  der  fidrekssaga  für  diese  Annahme  erweist  sich  als  hin- 
fällig. Allerdings  bleibt  ein  Zug  des  Capitels  als  echt  und  alt  be- 
stehen, nämlich  daß  Sigfrid  über  seine  Herkunft  Kunde  erhält.  Jedoch 
war  Brünhilt  nicht  von  Anfang  an  dazu  bestimmt,  und  es  ist  ein  reiner 
Zufall,  daß  die  ts.  sie  dazu  ausersah,  wahrscheinlich  auch  wiederum 
auf  Grund  der  nordischen  Nibelungenlieder,  in  denen  Brynhild  mehr 
als  alle  übrigen  durch  langathmige  Weissagungen  und  Reden  sich 
auszeichnet,  die  ihrem  ursprünglichen  Charakter  wenig  anstehen. 
Sobald  die  Sage  voraussetzte,  daß  Sigfrid  nichts  von  Vater  und  Mutter 
wußte,  so  mußte  ihn  einmal  später  Jemand  darüber  aufklären,  wie 
Eugel  in  dem  Seyfridsliede,  Brynhild  in  der  ^s.  Die  fränkische  Sage 
berichtete  aber  einmal  ebenso,  und  die  alte  nordische  Sage  folgte  ihr 


*)  Weiteres   hierüber  in   meiner  Abbaudlung  über    die  Nibeluugensage  (Abb.  d. 
Akad.  d.  Wiss.  zu  München,  Bd.  XVIII,  p.  453). 


278  W.  GOLTHER 

darin.  Die  Person  des  Gripir  zeugt  noch  dafür.  Man  hat  bereits  mehr- 
fach auf  eine  Ähnlichkeit  zwischen  Gripir  und  Eugel  hingewiesen  und 
dieselbe  mythologisch  zu  erklären  versucht.  In  Wirklichkeit  verhält  sich 
die  Sache  so,  daß  nach  der  fränkischen  Sage  ein  Mann  den  Sigfrid 
über  seine  Herkunft  aufklärte,  vielleicht  sein  Oheim.  So  lange  er  ihm 
diese  Mittheilung  zu  machen  hatte,  war  seine  Stellung  in  der  Sage 
sehr  wohl  begründet.  Nachmals  aber  fiel  dieser  Zug  weg,  indem  die 
Jugendgeschichte  Sigurds  im  Norden  gänzlich  umgestaltet  wurde; 
Gripir  jedoch  blieb  stehen  und  erhielt  die  unmotivierte  Aufgabe,  dem 
Sigurd  in  proj)hetischer  Weise  sein  Lebensschicksal  aufs  Genaueste 
her  zu  erzählen.  Die  ridrekssaga  hat  die  im  Nordischen  als  Gripir, 
im  Deutschen  als  Eugel  erhaltene  Gestalt  überhaupt  fallen  lassen 
und  ihre  Rolle  an  Brynhild  übertragen.  Cap.  168  ist  lehrreich  für 
die  Beurtheilung  der  Thätigkeit  des  Sagaschreibers,  die  doch  nicht 
überall  eine  bloß  mechanische  Übersetzung  war,  sondern  stellenweise 
in  selbständiger  Erfindung  hervortritt,  aber  vielleicht  nur  da,  wo  er 
die  zwei  sehr  verschiedenartig  lautenden  Berichte  des  Isländisch-nor- 
wegischen und  des  Niederdeutschen  zu  vereinigen  suchte.  Cap.  168 
löst  sich  somit  befriedigend  und  einfach  in  seine  Bestandtheile  auf, 
und  damit  ist  für  die  Forschung  festgestellt,  wie  sie  dasselbe  aufzu- 
fassen hat.  —  Aus  einer  Vergleichung  der  faeröisch-dänischen  Lieder 
und  der  ridrekssaga  läßt  sich  die  norddeutsche  Sage  in  vollkommenerer 
Weise  wiederherstellen,  als  aus  der  letzteren  allein.  Aber  bereits  die 
Auffassung  der  Handschriftenfrage  bei  der  ridrekssaga  trägt  wesent- 
lich dazu  bei.  Treutiers ^)  Ansicht,  die  isländischen  Handschriften 
und  die  schwedische  Übersetzung  seien  insgesammt  auf  die  norwegische 
Membrane  (M)  zurückzuführen ,  ist  durch  Storm  ^) ,  Edzardi ')  und 
KlockhofF^)  berichtigt.  Das  Wesentliche  beruht  darin ,  daß  alle  auf 
uns  gekommenen  Handschriften,  zuweilen  durch  Zwischenstufen  ver- 
mittelt, auf  eine  alte  norwegische  Bearbeitung  der  ridrekssaga  zurück- 
gehen. In  der  alten  I'idrekssaga  waren  alle  die  Berührungen  mit  der 
deutschen  Sage  bereits  vorhanden,  welche  in  den  verschiedenen  Hand- 
schriften nicht  immer  gleichmäßig  häufig  auftreten  und  die  man  darum 
zum  Theil  auch  als  spätere  neue  Einwirkung  deutscher  Sagen  aufzu- 
fassen geneigt  war.  Daraus  erhellt,  daß  im  Ganzen  der  Anschluß  der 


»)  Germ.  20,  p.  151-189. 
')  Nye  studier  over  Thidrekssaga. 
=)  Germ.  25,  p.  47  ff. ;  p.   142  ff. ;  257  ff. 

^)  Studier  öfver  Thidrekssaga.    Upsala  universitets  aarskrift  1880.    Zustimmend 
zu  dieser  vortrefflichen  Schrift  Edzardi,  Germ.  26,  p.  242—248. 


NORDDEUTSCHE  UND  SÜDDEUTSCHE  HELDENSAGE  etc.     279 

norwegischen  Bearbeitung  an  ihre  niederdeutschen  Vorlagen  ein  ziem- 
lich genauer  war,  und  daß  diese  nds.  Lieder  unseren  süddeutschen 
nahe  standen  und  vielfach  geradewegs  gleich  lauteten. 

Bereits  die  alte  rictrekssaga  enthielt  Parallelbelichte;  eine  und 
dieselbe  Scene  wird  zweimal  erzählt.  Zum  Tlieil  mögen  die  nds. 
Quellen  Schuld  daran  tragen,  wie  bei  König  Osantrix  Tod  (Cap.  144 
und  292),  zum  Theil  aber  auch  die  Darstellung  der  Saga  (in  Cap.  169 
und  170).  In  den  beiden  letztgenannten  wird  H9gnis  Geburt  erzählt 
und  seine  Erzeugung  durch  einen  Alben.  Der  wirkliche  Bericht  der 
nds.  Vorlage  wird  nur  durch  Zusammenziehung  der  zwei  Capitel 
zu  öinem  und  mit  Hilfe  der  deutschen  Quellen  erlangt.  Die  zwei 
Berichte  ergänzen  sich  mit  Nothwendigkeit  zu  einem  einzigen;  für 
sich  allein  genommen  ist  jeder  unvollkommen.  Die  ^s.  und  damit 
die  nds.  Sage  hat  allein  den  alten  Zug  gewahrt,  der  bereits  der 
fränkischen  Sage  eignete,  dali  Hagen  der  Sohn  eines  Alben  war. 
Ursprünglich  war  er  der  Stiefbruder  der  Gibichunge,  denn  nur  so 
erklärt  es  sich,  daß  die  nordische  Sage  und  die  deutsche  Spielmanns- 
dichtung Hagen  als  Bruder  der  Nibelungen  auffaßt.  Damals  natürlich 
kam  auch  der  Albe  zu  Gibichs  Gattin.  Bereits  im  10.  Jahrhundert, 
im  Waltharius  aber  ist  Hagen  Günthers  Oheim;  und  so  auch  späterhin 
Hagen  Aldrians  Sohn.  Da  auch  die  rs.  Aldrian  als  Hognis  Vater 
kennt,  so  ist  klar,  daß  die  nds.  Sage  auf  derselben  Stufe  stand  wie 
die  süddeutsche,  d.  h.  Hagen  als  Aldrians  Sohn  und  demnach  den 
Oheim  der  Burgunden  betrachtete.  Cap.  169  berührt  sich  überdies 
ganz  auffallend  mit  dem  Nibelungenlied  1734.  Nun  aber  berichtete 
die  nordische  Sage,  Hogni  sei  Gunnars  Bruder;  der  Verfasser  der 
rs.  half  sich  dadurch,  daß  er  einmal  Aldrian  auch  zum  Vater  der 
Burgunden  machte  (Cap.  169),  das  andere  Mal  aber  Hagen  zum  Sohne 
der  Oda  (Uote)  und  damit  zum  Stiefsohne  des  Nibelungenkönigs  Irung 
(=:  Dancrät,  d.  h.  für  Gibich  ist  ein  anderer  Name  eingesetzt) 
Cap.  170.  Es  ist  in  diesem  Falle  deutlich,  daß  die  Thatsachen  der 
Quellen  unter  nordischem  Sageneinfluß  geändert  wurden;  diese  Ände- 
rung ist  leicht  und  einfach.  Wenn  also  Hagen  wiederum  zufällig 
dieses  Mal  mit  vollem  Recht  in  seine  alte  Stellung  trat,  so  hat  nicht 
die  nds.  Sage  darin  einen  uralten  Zug  erhalten,  von  dem  aus  wir 
Weiteres  schließen  dürfen.  Wir  stünden  sonst  auf  dem  sehr  schwanken 
Boden  der  Erfindung  des  norwegischen  Verfassers,  und  natürlich  ist 
es  rein  unmöglich,  so  lange  man  auf  solche  Voraussetzungen  baut, 
zu  einem  befriedigenden  Ergebniß  zu  kommen.  In  der  nds.  Sage 
verhielt    sich    also    die   Sache    folgendermaßen:    Aldrians   Frau    hatte 


280  W.  GOLTHER 

von  einem  Alben  einen  Sohn.  Das  aber  wußte  Niemand,  und  darum 
hieß  Hagen  auch  Aldrian's  Kind  (Cap.  169).  Dieser  Hagen  war  der 
Oheim  der  Nibelunge.  Irung  und  Oda  waren  die  Eltern  des  Günther, 
Gislher,  Gernot  und  der  Grimhilt  (Cap.  170). 

Wenn  bereits  die  älteste  ridrekssaga  in  vielen  Einzelheiten  sich 
genauer  an  die  nds.  Sage  anschloß ,  so  ist  dies  bei  den  dänischen 
Liedern  und  ihren  Übersetzungen  noch  weit  mehr  der  Fall.  Um  Ein- 
sicht in  den  Stand  der  nds.  Sage  zu  gewinnen,  müssen  also  auch  sie 
berücksichtigt  werden.  Auf  der  Fahrt  zu  den  Hunnen  haben  Hagen 
und  Dancwart  mit  Gelpfrat  von  Bayern  einen  Streit  zu  bestehen 
(XXVI  äventiure,  wie  Gelfrät  erslagen  wart  von  Danewarte).  Die 
I'idrekssaga  weiß  nichts  davon,  wohl  aber  das  dänische  Lied  von 
Grimhilds  Rache  ^);  demnach  fand  sich  diese  Scene  auch  in  den  nds. 
Liedern,  und  gerade  dieser  Zug,  die  Erwähnung  eines  bayerischen 
Herrn,  der  die  durchziehenden  Burgunden  belästigte,  zeigt  wiederum 
deutlich  die  enge  Verwandtschaft,  beziehungsweise  die  Abstammung 
norddeutscher  von  süddeutscher  Sage.  Der  Rath  Hagens ,  das  Blut 
der  Erschlagenen  zu  trinken,  fehlt  zwar  in  rs.,  aber  im  fseröischen 
Högni  140,  sowie  in  dän.  B  32  findet  er  sich.  Rüedeger  ist  in  der  I*s. 
etwas  zu  kurz  gekommen;  wir  vermissen  die  ausführliche  anziehende 
Charakterzeichnung,  welche  im  Nibelungenlied  ihn  in  so  schöner 
Weise  hervortreten  läßt.  Über  seine  letzten  Kämpfe  und  seinen  Fall 
geht  die  t*s.  sehr  rasch  hinweg.  Aber  sie  kürzt  auch  hier  die  Quellen, 
in  denen  beschrieben  war,  wie  Rüedeger  und  die  Nibelungen  mit  ein- 
ander reden  und  wie  Rüedeger  seinen  eigenen  Schild  Hagen  für  dessen 
zerhauenen  hinbot '^).  Auch  die  nds.  Sage  kannte  das  Idealbild  des 
edlen  und  milden  Markgrafen.  —  Es  ist  klar,  daß  in  den  nordischen 
Ländern  nur  die  niederdeutschen  Lieder  und  die  niederdeutsche  Sage 
bekannt  sein  konnte  und  daß  hochdeutsche  Gedichte  nicht  hinauf- 
drangen. Man  darf  sich  zu  dieser  Annahme  nicht  durch  die  Gleich- 
heit norwegisch -isländischer  und  süddeutscher  Sagenzüge  verleiten 
lassen.  Wenn  die  Liedersammlung  von  1240  [„Ssemundar-Edda"]  von 
deutscher  Sage  spricht  {en  Pydverskir  menn  segja  svd,  Brot  af 
Sykv.),  so  kann  damit  nur  die  niederdeutsche  Sage',  dieselbe,  die  in 
die  ridrekssaga  und  in  die  dänischen  Lieder  aufging,  gemeint  sein'). 


')  Bugge  in  Danmarks  gamle  folkeviser  IV,  p.  596/97. 

0  a.  a.  O.  p.  598/99. 

^)  Wenn  in  einigen  Strophen  der  Edda  Sigurds  Tod  geschildert  wird,  und  zwar 
in  einer  dem  Berichte  der  deutschen  Spielmansdichtung  (von  Hans  Sachs  erhalten) 
entsprechenden  Weise,    so  kann   dieser  Zug  unmöglich  als  späterer  deutscher  Sagen- 


NORDDEUTSCHE  UND  SÜDDEUTSCHE  HELDENSAGE  etc.     281 

Nun  finden  sich  in  den  Eddaliedern  vereinzelte  Spuren  vor,  die  mau 
als  erneute,  zweite  deutsehe  Sageneinflüsse  zu  erklären  ])flegt^).  Aus 
ihnen  kann  unter  Umständen  auch  hie  und  da  etwas  für  den  Stand 
der  nds.  Sage  Belangreiches  erschlossen  werden.  Gripisspa  43  be- 
richtet deutscher  Sagendarstellung  gemäß,  welcher  natürlich  auch  die 
nds.  folgte,'  Sigurds  und  Gunnars  Hochzeit  sei  zusamnicn  in  Gjükis 
Sälen  gefeiert  worden.  Auf  Grund  hievon  darf  das  Cap.  22G  der  ^s. 
als  unter  nordischen  Einwirkungen  entstanden  betrachtet  werden. 
Die  Träume  der  Kriemhilt  im  Nibelungenlied  av.  I  sind  zwar  von 
der  rs.  weggelassen  worden,  aber  fanden  sich  höchst  wahrscheinlich 
in  den  nds.  Liedern  vor,  was  aus  Volsungasaga  Cap.  25  zu  ent- 
nehmen ist. 

Wenn  so  die  nordischen  Quellen  (ridrekssaga)  einer  kritischen 
Sichtung  bedürfen,  ehe  sie  zur  Gewinnung  des  Inhaltes  der  nds.  Lieder 
verwerthbar  werden,  so  können  anderseits  auch  die  rahd.  Werke 
nicht  ohne  Weiteres  als  Repräsentanten  der  im  11.  Jahrhundert  leben- 
den süddeutschen,  nach  Norddeutschland  verpflanzten  Sage  gelten. 
Eigenartige  Neuerungen  sind  in  Abzug  zu  bringen.  Als  eine  solche  ist 
zu  betrachten  die  Geschichte  vom  Hort  der  Nibelunge  undfseiner 
Erwerbung,  wie  sie  im  Nibelungenlied  und  im  Biterolf  dargestellt  wird. 
W.  Müller')  hat  überzeugend  nachgewiesen,  daß  die  Sage  von  Nibe- 
lunc  und  seinen  Söhnen  Schilbunc  und  Nibelunc  und  damit  von  dem 
Volke  der  Nibelungen,  das  Sigfrid  beherrscht,  späterer  Bildung  ist. 
Nibelungen  heißt  das  fränkisch-burgundische  Königsgeschlecht  der 
Gibichungen,  und  daher  leitet  sich  der  Ausdruck:  Hort  der  Nibe- 
lungen. Dazu  ist  ein  Heros  eponymos  und  sein  Volk  gebildet  worden. 
Die  Erwerbung  des  Hortes  durch  Sigfrid  ist  ein  indisches  Märchen^), 
das  ziemlich  spät  in  die  Sage  Eingang  fand,  und  zwar  in  die  süd- 
deutsche im  11.  oder  12.  Jahrhundert,  nicht  schon  in  die  altfränkische. 
Die  rs.    und    wahi'scheinlich    auch  die  niederdeutsche  Sage  erwähnen 


einfluß  bezeichnet  werden;  denn  die  dabei  allein  in  Frage  kommende  nds.  Spielmanns- 
dichtung deckte  sich  ja  mit  dem  Nibelungenliede,  und  demnach  müßten  wir  den 
Bericht  des  letzteren  in  den  nordischen  Quellen  wiederfinden.  Die  Berechtigung, 
Sigurds  Tod  draußen  im  Freien,  beim  fingritt  als  sehr  alt  in  der  Edda  annehmen 
zu  dürfen,  ist  hiedurch  erwiesen.  Von  späterer  deutscher  Entlehnung  kann  keine 
Rede  sein. 

')  Meine  Abhandlung  über  die  Nibelungensage  p.  486  ff. 

')  Mythologie  der  deutschen  Heldensage  56/60. 

')  Im  Tuti  nameh  (Papageienbuch)  ed.  Rosen  II,  249 ;  Weiteres  Kathä-sarit-sägara, 
übersetzt  von  Tawney  I,  p.  14  Anm. 

GERMANIA.    Nene  Eeihe  XXII.  (XXXIV.)  Jahrg.  19 


282  W.  GOLTHER 

zwar  nichts  davoD.  Trotzdem  scheint  für  die  letztere  bereits  dieselbe 
vorausgesetzt  werden  zu  müssen,  wie  unten  ausgeführt  wird. 

Als  eine  Abweichung  des  Nibelungenliedes  ist  bereits  der  Um- 
stand geltend  gemacht  worden,  daß  Sigfrid  Brünhilt  in  Worms  für 
Günther  bezwang,  ohne  sie  zu  berühren,  obwohl  dies  eigentlich  wider- 
sinnig ist.  Denn  an  Brünhildes  Jungfrauenthum  ist  ihre  Stärke  ge- 
knüpft. Doch  bricht  im  Nibelungenlied  auch  eine  ältere  Auffassung 
in  halbvei'wischten  Spuren  hervor.  Beim  Zanke  sagt  Brünhilt,  als  sie 
Sigfrid  und  Günther  zum  ersten  Male  gesehen  habe,  also  auf  ihrer 
Burg  Isenstein  selber,  sei  des  Königs  Wille  an  ihrem  Leibe  geschehen 
(Str.  820): 

ich  liort'   si  jehen  beide,  do   ih   s'   aller  erste   sach, 

und  da  des  küneges  wille  an  mime  libe  gescach. 

Damit  stimmt  rs.  Cap.  228  u.  229  überein.  Der  Stammvater  der  Bur- 
gundenkönige  hieß  Gibich;  daher  führten  die  Nibelungen  auch  den 
Namen  Gibichungen  (im  Altnord,  und  in  der  deutschen  Spielmanns- 
dichtung). Dagegen  nennt  das  Nibelungenlied  an  Gibichs  Stelle 
Dancrät,  die  Ps,  Irung  und  Aldrian.  Also  beide  stimmen  darin  überein, 
daß  sie  den  richtigen  alten  Namen  durch  einen  jüngeren  und  unrich- 
tigen ersetzen.  Dieser  Zug  kommt  bereits  ihren  gemeinsamen  Vor- 
lagen zu.  Das  Lied  vom  hürnen  Seyfrid'  ist  hochwichtig,  weil  es 
über  Sigfrids  Jugendschicksale  in  den  Strophen  47 — 48,  1 — 11  jeden- 
falls die  alte  Sage  gewahrt  hat,  die  sonst  in  hochdeutschen  Quellen 
gänzlich  verschollen  ist.  Dagegen  ist  der  übrige  Inhalt  auf  seinen 
Werth  zu  prüfen ').  Daß  Sigfrid  Herr  des  Zwergenvolkes  wird  und 
ihren  Hort  gewinnt''),  geht  auf  die  jüngere  Sjige  von  den  Nibelungen 
als  dem  hortbesitzenden  Zwergvolke  zurück.  Nybling  hinterläßt  drei 
Söhne,  von  denen  nur  der  dritte,  Eugel,  bei  Namen  genannt  ist.  Sie 
entsprechen  Nibelunc,  Schilbuuc  und  Alberich,  der  sich  ihnen  als 
Bruder  zugesellt.  Wie  Alberich  besitzt  Eugel  die  Tarnkappe;  wie 
dieser  greift  Eugel  allein  thatkräftig  in  die  Handlung  ein,  während 
von  den  anderen  nur  die  Namen  genannt  werden.  Doch  ist  diese 
„Nibelungensage"  im  Seyfridsliede  umgebildet.  Ungeschickt  stehen  die 
Strophen  13 — 15  und  38  im  Zusammenhang.  Überhaupt  wird  bereits 
von  Anfang  an  das  Zwergenvolk  als  Seyfrid  unterthänig  gedacht, 
obwohl  er  erst  mit  dem  Gewinn   des  Hortes   (134 — 138)   Gewalt  über 


')  Vgl.   nunmehr  hierüber  meine  Ausgabe  des  Hürnen  Seyfrid  S.  XIX  ff. 
nach  einzelnes  von  hier  Bemerktem  zu  berichtigen  ist. 

')  Vgl.  namentlich  Strophe  1.3—15;  38;    134—138. 


NORDDEUTSCHE  UND  SÜDDEUTSCHE  HELDENSAGE  etc.  283 

dasselbe  gewinnt.  Wir  haben  es  demnach  mit  einer  in  Verwirrung 
gerathenen  Anwendung  der  Sage  des  Nibelungenliedes  zu  thun.  Trotz- 
dem liegt  derselben  eine  alte  richtige  Auffassung  zu  Grunde:  der 
Gewinn  des  Hortes  knüpft  sich  noch  an  den  Drachen- 
kampf, nicht  an  das  im  Nibelungenlied  verwerthete  indische  Mär- 
chen.   Vgl.  Strophe  165  (ähnlich  auch  140): 

nun  het  er  zwen  gedancken,  den  ein  aufF  Kuperan, 

den  andern  auff  den  wurme,  welcher  den  schätz  het  glan. 

er  meynt  in  het  gesamlet  der  wurm  nach  menschen  witz, 

wenn   er  würd  zu   eym   menschen,   thet  er  den   schätz  besitz. 

Dieser  alte  Sagenzug  veranlaßte  für  das  Seyfridslied  die  Umgestaltung 
der  späten  Hortsage.  Die  Lieder  im  11.  Jahrhundert  haben  jedenfalls 
noch  den  Hergang  in  dieser  Weise  berichtet.  Die  Ps.  weiß  allerdings 
in  Cap.  166  nichts  mehr  davon,  so  wenig  wie  das  Seyfridslied  1  — 11. 
Der  Satz  rs.  Cap.  359  „Sigvrdr  sveinn  atte  mikit  gull,  })at  fyrst  er 
hann  toc  vndan  [jeim  mikla  dreka"  dürfte  sich  eher  aus  der  nordi- 
schen Sage  erklären  als  aus  den  niederdeutschen  Liedern.  —  Nach 
den  Strophen  107,  108,  130,  131  des  Seyfridliedes  gibt  es  nur  ein 
Schwert,  mit  welchem  der  Wurm  überwunden  werden  kann.  Dieser 
Zug  gehörte  bereits  der  ältesten  fränkischen  Sage  an;  auch  im  Nor- 
dischen erhält  Sigurd  das  Schwert  Gram  zu  dem  bestimmten  Zwecke, 
Fäfnir  zu  tödten.  Nachmals  aber  ging  dieses  Schwert  unter  die 
Wunschdinge  über,  welche  Sigfrid  mit  dem  Horte  erhielt').  Wie  der 
Hort  vom  Drachenkarapfe  getrennt  ward,  so  verlor  auch  das  Sciiwert 
seine  besondere  Bedeutung.  Die  Sage  des  Nibelungenliedes  weiß  von 
keinem  Schwert  mehr  zu  erzählen,  das  dazu  nöthig  war.  Auch  im 
Seyfridsliede  zeigt  sich  beim  ersten  alten  Wurmkampfe  (Str.  6 — 11) 
keine  Spur  mehr  davon,  da  ja  die  neue  Hortsage  bereits  Eingang 
fand.  Die  ridrekssaga  Cap.  166  schließt  sich  genau  an  die  Darstellung 
im  hürnen  Seyfrid  au;  zum  Kampfe  braucht  Sigurd  kein  Schwert. 
Wohl  berichtet  Cap.  167,  Mimir  habe  ihm  Gram  gegeben,  aber  darin 


')  Bereits  in  der  ältesten  Sagenform  war  vielleicht  beim  Dracheuhort  ein 
Schwert  und  ein  Helm  (Hrotti,  cegishjälmr,  gullbrynja  in  den  Fafnismäl).  Das  Schwert 
war  aber  da  ganz  bedeutungslos,  es  zählte  eben  unter  die  Kleinodien  des  Hortes. 
Um  so  leichter  war  nachmals  die  Anknüpfung:  unter  dem  Schwerte  des  Hortes  wurde 
das  Sigfridsschwert  (Gramr  oder  Balmunc)  verstanden.  Übrigens  läßt  das  Erscheinen 
von  Schwert  und  Helm  beim  Horte  auch  eine  andere  Deutung  zu,  nämlich  daß  wir 
in  dieser  so  vereinzelt  stehenden  Prosastelle  zu  dem  Fäfuismäi ,  die  durch  nichts  als 
alt  erwiesen  wird,  eine  späte  deutsche  Eutlehuung  anzuerkennen  haben,  wodurch 
wiederum  das  Vorhandensein  der  jüngeren  Hortsage  für  die  uds.  Lieder  eine  Stütze 
erhält. 

19* 


284  W.  GOLTHER 

zeigt  sich  nordische  Sageneinwirkung,  gerade  so  ungeschickt  und 
äußerlich  herbeigezogen  wie  das  Roß  Gräni.  Gramr  hätte  Sigurd  genützt, 
den  Kampf  zu  bestehen,  Gräni,  um  zu  Brynhild  zu  reiten.  Aber 
der  Verfasser  der  Saga  erzählt  zunächst  die  Thaten  seines  Helden,  und 
erst  nachher  erhält  derselbe  Schwert  und  Pferd.  Es  liegt  auf  der  Hand, 
daß  eine  halbwegs  vernünftige  und  organisch  entwickelte  Sage  der- 
artige Verkehrtheiten  nicht  zu  Tage  gefördert  hätte,  daß  wir  also  die 
nds.  Quellen  nicht  dafür  verantwortlich  machen  dürfen.  Die  nds.  Sage 
hatte  wie  die  des  Nibelungenliedes  beim  Drachenkampf  die  Bedeutung 
des  Schwertes  vergessen,  die  nordische  Sage  dagegen  hatte  das  Richtige 
gewahrt,  und  dieses  ist  unverständig  vom  Verfasser  der  Saga  am 
unrechten  Orte  wieder  eingefügt  worden.  Wenn  aber  die  nds.  Quellen 
der  I's.  sich  in  diesem  einen  Zuge  an  die  Form  des  Seyfridliedes  an- 
schlössen, so  müssen  sie  auch  in  den  übrigen  dadurch  bedingten 
Änderungen  mit  dem  letzteren  übereingestimmt  haben.  Das  Fehlen 
des  Schwertes  setzt  das  Vorhandensein  der  jüngeren  Hortsage  voraus, 
obwohl  in  der  Ps.  selber  die  letztere  sonst  nirgends  erwähnt  wird. 
Das  indische  Märchen  war  also  bereits  in  die  nach  Norddeutschland 
gewanderten  Lieder  eingedrungen.  In  Bezug  auf  den  Hort  ist  aber 
auch  in  der  nds.  Sage  eine  eigenthümliche  Weiterbildung  erfolgt. 
Die  älteste  Sage  (Atlakvida  28)  berichtete,  daß  der  Nibelungen  Hort 
in  den  Rhein  versenkt  ward,  und  ebenso  das  Nibelungenlied  und 
das  Seyfridslied  (Str.  167).  Dem  gegenüber  weiß  die  I*s.  Cap.  393. 
423 — 427  Anderes  über  den  Verbleib  desselben  zu  melden.  Er  wurde 
in  Sigfrids  Keller  verborgen,  und  Attila  starb,  indem  er  dort  ein- 
creschlossen  wurde.  Nach  Ausweis  der  dänischen  (die  Hven'sche 
Chronik  vermittelt  den  Inhalt  eines  solchen)  und  fseröischen  Lieder^) 
gehört  diese  Erzählung  der  nds.  Sage  an,  nicht  etwa  der  ts.  Wir  haben 
es  also  mit  einer  späten  Neuerung  zu  thun,  die  wahrscheinlich  nicht 
auf  die  süddeutschen  Lieder  zurückgeführt  werden  darf,  wenigstens 
nicht  in  ihrem  gesammten  Umfang.  —  Die  Handlung  des  Seyfridliedes 
ist  sonst  ganz  klar  und  gibt  zu  keinen  weiteren  Bemerkungen  Anlaß. 
Sie  stimmt  in  der  Hauptsache  zu  dem,  was  wir  auch  aus  dem  Nibe- 
lungenlied erfahren:  Sigfrid  kennt  seine  Eltern;  er  gewinnt  den  Hort 
von  den  Zwergen;  er  wird  erschlagen,  als  er  sich  zur  Quelle  nieder- 
beugt. Ausführlicher  ist  nur  die  Jugendgeschichte  behandelt;  neu 
hinzugetreten  ist  die  Befreiung  der  Jungfrau  aus  der  Gewalt  des 
Drachen  und  damit  einige  Änderungen  an  der  Geschichte  des  Hortes. 


')  Über   die   nordischen  Sigurdlieder    vgl.  Ztschr.   für   vergleichende  Litteratur- 
geschichte,  N.  P.  II,  269—297. 


NORDDEUTSCHE  UND  SÜDDEUTSCHE  HELDENSAGE  etc.     285 

Dagegen  ist  in  dieser  Spielmannsdichtung  von  Sigfrid  noch  eine  ältere 
Sagenform  in  vereinzelten  Überresten  erhalten,  nach  welcher  Sigfrid 
seine  Eltern  nicht  kannte  (Str.  47—48),  Sigfrid  ein  Schwert  erhielt, 
um  den  schätzehütenden  Drachen  zu  tödten  (Str.  107 — 108  und  165), 
endlich  Sigfrid  erschlagen  wurde,  als  er  im  Walde  unter  einer  Linde 
ausruhte  (so  in  dem  Seyfridsliede,  das  dem  Hans  Sachs  vorlag)  ^). 
In  Bezug  auf  das  erste  dieser  drei  Merkmale  folgten  die  nach  Nord- 
deutschland gewanderten  Lieder  der  alten  Sagenform:  Sigfrid  wuchs 
auf,  ohne  seine  Eltern  zu  kennen  (t*s.  Cap.  154 — 161);  in  den  zwei 
letztgenannten  dagegen  enthielten  sie  die  jüngere  Sage.  Daß  das 
Nibelungenlied  und  von  ihm  beeinflußt  wohl  auch  das  Seyfridslied 
Sigfrids  Jugend  in  der  Weise  einer  Umgestaltung  unterzogen,  daß 
er  wenigstens  sein  Geschlecht  weiß,  hängt  mit  dem  Bestreben  zu- 
sammen, die  Geschichte  des  jungen  Helden  den  Anschauungen  eines 
feineren  Zeitgeschmackes  gemäß  darzustellen.  Aber  alt  imd  echt  ist 
nur  der  Bericht  der  rs.  und  der  beiden  Strophen  des  Seyfridliedes^). 
Wir  können  demnach  den  Stand  der  Nibelungensage  in  Süddeutsch- 
land für  die  zweite  Hälfte  des  11.  Jahrhunderts  aus  einer  Vereinigung 
der  mhd.  und  der  nds.  in  dänischer  und  norwegischer  Sprache  auf 
uns  gekommenen  Quellen  nach  Abzug  der  auf  beiden  Seiten  anzu- 
erkennenden eigenartigen  Neuerungen  mit  ziemlicher  Sicherheit  be- 
stimmen: Sigmund,  König  im  Frankenland,  hatte  eine  schöne  Frau, 
Siglind,  Sighers  Tochter.  Als  er  einst  auf  einer  Heerfahrt  abwesend 
war,  da  suchten  zwei  Grafen  Siglind  zur  Untreue  zu  verführen.  Da 
ihnen  dieses  nicht  gelang,  verleumdeten  sie  Siglind  bei  ihrem  Gemahl, 
als  er  heimkehrte,  sie  habe  sich  mit  einem  Knechte  vergangen.  Im 
Zorne  befahl  er,  sie  in  einen  wilden  Wald  zu  führen  und  dort  um- 
kommen zu  lassen.  Der  eine  der  Grafen  wollte  sie  retten;  da  ent- 
brannte ein  Kampf  unter  ihnen.  In  diesem  Augenblick  gab  die  Königin 
einem  überaus  schönen  Knaben  das  Leben;  sie  wickelte  ihn  in  Tücher 
und  verschloß  ihn  in  ein  Glasgefäß,  das  sie  mit  sich  führte.  Beim 
Kampfe  stieß  der  eine  der  Grafen  mit  dem  Fuße  nach  dem  Glas- 
fasse,  so  daß  es  hinab  in  den  Rheinstrom  rollte.  Die  Königin  Siglind 
aber  starb  vor  Schrecken  (ts.  Cap.  252 — 161).  Nun  trieb  das  Gefäß 
mit  dem  Kinde  den  Fluß  hinab;  an  einer  Klippe  am  Ufer  zerbrach 
es,  und  der  Knabe  weinte.    Da  kam  eine  Hindin   und  säugte  ihn  und 


')  Vgl.    meine  Abhandlung  p.  478  ff.    und  ^  meine  Ausgabe   des  Hürnen  Seyfrid 

s,  xxni  f. 

')  Auch  Edzardi,    Germ.  23,    p.  88   hält   die  Darstellung    der  ps.    von  Sigurds 
Geburt  für  die  ursprünglichste,  hat  aber  die  Begründung  nicht  mehr  ausgeführt. 


286  W.  GOLTHER 

trug  ihn  heim  zu  ihrem  Lager  (rs.  163).  Mime  der  Schmied  fuhr 
eines  Tages  zum  Wald,  um  Kohlen  zu  brennen.  Da  lief  ein  wunder- 
schöner Knabe  auf  ihn  zu,  der  konnte  nicht  sprechen.  Mime  nahm 
ihn  bei  sich  auf,  da  er  keine  Kinder  hatte,  und  beschloß,  ihn  als 
seinen  Sohn  aufzuziehen,  und  gab  ihm  den  Namen  Sigfrid.  Sigfrid 
war  wild  und  unbändig  und  schlug  die  Schmiedgesellen.  Bei  der 
Lehre  erwies  er  sich  so  überkräftig,  daß  er  den  Amboß  in  die  Erde 
schlug.  Da  sann  Mime  nach,  wie  er  seiner  ledig  würde.  Er  sandte 
ihn  in  den  Wald,  um  Kohlen  zu  holen,  und  hoffte,  der  dort  hausende 
Wurm  werde  ihn  tödten.  Aber  Sigfrid  erschlug  den  Wurm  und  ver- 
brannte ihn;  aus  dem  Fette,  das  davon  floß,  gewann  er  seine  Horn- 
haut (t*s.  Cap.  164 — 166,  Seyfridslied  4 — 11).  Nun  zog  Sigfrid  in  die 
weite  Welt.  Auf  seinen  Fahrten  vernahm  er,  woher  er  stammte,  und 
wer  sein  Vater  und  seine  Mutter  sei  (Seyfridslied  47 — 48;  rs.  168; 
als  uralt  bezeugt  durch  die  Gripisspa).  Da  gewann  er  auch  den  Hort, 
den  der  alte  Nibelunc  seinen  Söhnen  hinterlassen  hatte,  das  Schwert 
und  die  Tarnkappe.  An  dem  Hofe  zu  Worms,  im  Nibelungenland, 
entspann  sich  sein  Verhältniß  zu  Grimhild  und  ihren  Brüdern.  Diese 
waren  Günther,  Gislher,  Gernot,  ihr  Oheim  Hagen,  der,  übernatür- 
licher Herkunft,  von  einem  Alben  erzeugt  war.  Sigfrid  zog  mit 
ihnen  aus,  um  die  Königin  Brünhilt  für  Günther  zu  gewinnen.  Er 
bestand  die  Kämpfe  für  Günther  (Nibelungenlied) ;  in  der  Nacht  brach 
er  Brünhildes  jungfräuliche  Stärke,  daß  sie  Günther  völlig  willfährig 
war  (ts.  Cap.  229;  Nibllied  Str.  820).  Ein  Fest  zu  Worms  beschloß 
Günthers  und  Sigfrids  Hochzeit.  In  der  Königshalle  brach  der  Streit 
der  Königinnen  aus,  und  so  ward  Sigfrid  von  Hagen  erschlagen,  als 
er  sich  zum  Trinken  zu  einer  Quelle  niedergebeugt  hatte.  Was  den 
zweiten  Theil,  der  Nibelunge  Not,  anlangt,  so  ist  es  unnöthig,  den 
Hergang  zu  besprechen.  Das  Nibelungenlied  und  die  nds.  Lieder 
befinden  sich  hier  in  allen  wesentlichen  Punkten  in  völliger  Überein- 
stimmung. —  Bemerkenswerth  an  dieser  Sagengestalt  ist,  daß  König 
Sigmund  am  Leben  bleibt,  obwohl  er  in  die  Handlung  gar  nicht  mehr 
eingreift.  Übrigens  ist  seine  Theilnahme  an  den  Ereignissen  im  Nibe- 
lungenlied auch  auf  äußerliches,  völlig  bedeutungsloses  Auftreten  be- 
schränkt. Wir  könnten  ihn  leicht  missen,  ohne  daß  dadurch  der 
geringste  Eintrag  geschähe.  Von  einer  Verlobung  Sigfrids  und  Brün- 
hildes oder  auch  nur  von  einer  Begegnung  weiß  die  Sage  von  1100 
nichts.  Es  ist  also  ganz  falsch,  wenn  man  annimmt,  daß  im  Nibelungen- 
liede eine  frühere  Begegnung  vorausgesetzt  werde  und  diese  in  den 
Vorläufern  des  mhd.  Gedichtes   noch  in  ungeschmälertem  Umfang  zu 


NORDDEUTSCHE  UND  SÜDDEUTSCHE  HELDENSAGE  etc.     287 

Tage  getreten  sei.  In  der  vorhergehenden  Dichtung  fand  sich  nicht 
eine  Spur  davon.  Brünhilt  überlebte  Sigfrid  (1*8.  Cap,  427;  auch  in  der 
Klage  empfängt  sie  die  Trauerbotschaft).  Die  niederdeutschen  Lieder  und 
die  mhd.  Gedichte  haben  an  der  Sage  nur  Weniges  geändert,  am  meisten 
jedenfalls  das  Nibelungenlied  durch  das  Fallenlassender  Jugendgeschichte. 
Einer  älteren  süddeutschen  Sage  gegenüber,  die  noch  trümmerhaft  in 
Spielmannsliedern  hervortritt,  geht  die  norddeutsche  und  süddeutsche 
Form  in  Bezug  auf  gemeinsame  Neuerungen  zusammen.  In  die  Thätig- 
keit  des  Verfassers  der  I'idrekssaga  eröffnet  sich  uns  ein  lehrreicher 
Einblick.  Sicherlich  hat  er  stellenweise  seine  niederdeutschen  Vorlagen 
fast  wörtlich  übersetzt.  Dies  läßt  sich  namentlich  dort  erkennen, 
wo  dieselben  Lieder  in  dänische  Weisen  übergingen,  wie  bei  Dietrich 
und  seinen  Gesellen*).  An  anderem  Orte  dagegen  verfuhr  er  auf  die 
freieste  Weise,  und  vornehmlich  bei  der  Nibelungensage.  Im  zweiten 
Theil  kürzte  er  vielfach,  weßhalb  seine  Darstellung  im  Vergleich  zu 
der  des  Nibelungenliedes  lückenhaft  erscheint.  Nach  Ausweis  der 
dänischen  Weisen  fällt  dieser  Vorwurf  nicht  auf  die  nds.  Quellen. 
Daß  er  im  Aligememen  norwegische  Sitten  schilderte  und  sich  in 
dieser  Hinsicht  freier  den  letzteren  gegenüberstellte^),  ist  klar.  Döring 
räumte  ihm  auch  ziemlich  viel  Freiheit  ein.  In  besonderem  Maße 
aber  trifft  dies  bei  der  Geschichte  Sigurds  zu.  Hier  ließ  er  nicht 
bloß  Vieles  weg  (z.  B.  die  Kämpfe  um  Brynhild,  die  Sage  vom  Hort), 
sondern  er  versuchte  die  einheimische  norwegisch-isländische  Sage 
mit  der  niederdeutschen  zu  verschmelzen,  iheils  dadurch,  daß  er  nur 
in  äußerlicher  Weise  nordische  Züge  einflociit,  iheils  aber  auch,  in- 
dem er  ganz  neue  Scenen  erfand,  wie  Sigurds  Begegnung  mit  Bryn- 
hild. Die  Verhältnisse  liegen  hier  scheinbar  veiwickelt;  sie  lösen  sich 
aber  leicht,  wenn  man  mit  aller  Strenge  sich  bemüht,  einerseits  die 
nordische  und  anderseits  die  deutsche,  d.  h.  nord-  und  süddeutsche 
Sage  sich  vorzuhalten.  Von  diesem  Standpunkt  aus,  der  einzig  und 
allein  zur  Lösung  der  Geschichte  unserer  Heldensage  führt,  zeigt  sich 
aber  sofort,  was  auf  einer  Vermischung  der  beiden  beruht,  die  einstens 
freilich  von  derselben  Wurzel,  der  altfränkischen  Sage,  entsprungen, 
nach  so  verschiedenartigen  Schicksalen  und  Wanderungen  nach  Norden 
und  Süden  im  13.  Jahrhundert  in  der  fidrekssaga  wieder  zusammen- 
trafen. In  Betreff  der  eigenartigen  Darstellung  der  Nibelungensage  in 
der  ts.    kommt   auch   der  Umstand  in   Betracht,    daß  ihr  Zusammen- 


')  ^g'«  Svend  Grundtvig,  Danmarks  gamle  folkeviser  IV,  p.  623-678. 
*)  Stoim,  Nye  studier  p.  317. 


288  W.  GOLTHER 

hang  zerrissen  wurde  und  ihre  Abschnitte  stückweise  an  verschiedenen 
Stellen  berichtet  wurden,  wodurch  natürlich  die  Einheit  und  der  ruhige 
Fluß  der  Erzählung  merkliche  Einbuße  erlitt.  Man  denke  sich  in  ent- 
sprechender Weise  im  mhd.  die  Handlung  des  Nibelungenliedes  in  die 
Dielrichsdichtungen  als  eine  Episode  eingerückt;  Lieder  wie  die  vom 
Rosengarten  nehmen  einen  festen  Platz  in  Sigfrids  Geschichte  ein. 
Auch  hier  würden  gewiß  Unzuträglichkeiten  genug  entstehen  und  die 
Klarheit  der  Geschichte  empfindlich  getrübt  werden;  und  zumal,  wenn 
ein  solches  Unternehmen  nicht  einmal  von  einem  auf  diesem  Gebiete 
wohlgeübten  Dichter  ausgeführt  wird,  sondern  von  einem  Ausländer 
die  Gesammtmasse  des  Stoffes  zu  einer  umfassenden  Erzählung,  theil- 
weise  mit  eigener  Erfindung  ausgeschmückt,  verai'beitet  wird.  Der 
Schöpfer  der  ridrekssaga  erhielt  die  nds.  Stoffe  etwa  in  ähnlicher 
Art,  wie  unsere  mhd.  Spielmannsdichtungen  geordnet.  Dietrich  war 
der  Mittelpunkt;  aber  nur  lose  schließen  sich  die  einzelnen  Sagen  an 
ihn  an.  In  der  Absicht  der  ridrekssaga  lag  es ,  alles  Einzelne  unter 
diesem  Hauptgesichtspunkte  zu  vereinigen.  Wenn  man  aus  der  t*s. 
die  nds.  Quellen  loslösen  will,  so  müssen  diese  Eigenthümlichkeiten 
des  norwegischen  Verfassers  zunächst  in  Abzug  gebracht  werden; 
hierauf  ist  die  niederdeutsche  Sage  auf  ihren  Inhalt  mit  Rücksicht  auf 
etwaige  Zuthaten  zu  prüfen;  dann  erst  wird  sich  die  Zusammen- 
stellung mit  dem  mhd.  Gegenstück  fruchtbringend  erweisen.  Gewiß 
wird  aus  einer  genaueren  Einzelbetrachtung  der  übrigen  Stoffe  auch 
noch  manches  Licht  auf  die  Arbeit  des  Sagaschreibers  fallen,  die  sich 
jedenfalls  in  der  Nibelungensage  am  eigenartigsten  bewährt. 

In  meiner  Abhandlung  über  die  nordische  und  deutsche  Gestalt 
der  Nibelungensage  habe  ich  im  Nordischen  mehrere  Schichten  von 
einander  geschieden.  In  der  ältesten,  nur  noch  trümmerhaft  vorhan- 
denen Form,  die  im  9.  Jahrhundert,  gleich  nach  der  Entlehnung, 
herrschend  war,  zeigte  sich  sehr  große  Übereinstimmung  mit  der 
unserer  süddeutschen  Quellen ,  während  später  die  Neuerungen  platz- 
griffen, welche  der  jüngeren  Form  in  den  isländisch-norwegischen 
Quellen  ein  so  verschiedenes  Aussehen  verliehen,  welches  man  fälsch- 
licherweise als  uralt  und  einstens  auch  den  deutschen  Quellen  zu 
Grunde  liegend  betrachtete.  Auch  im  Deutschen  bemerken  wir  in 
vereinzelten  Spuren  noch  eine  ältere  Überlieferung,  welche  sich 
von  der  unserer  ausführlichen  Berichte  des  13.  Jahrhunderts  in  nordi- 
scher und  deutscher  Sprache  sehr  wesentlich  unterschied,  dagegen 
vielfach  mit  den  ältesten  nordischen  Zügen  sich  deckt.  Natürlich  ist 
die  Annahme  ausgeschlossen,  als  hätten  wir  es  auf  beiden  Seiten  mit 


NORDDEUTSCHE  UND  SÜDDEUTSCHE  HELDENSAGE  etc.     289 

Ansätzen  und  Keimen  zu  neuer  Entwicklung  zu  thun.  Vielmehr  be- 
weist gerade  diese  merkwürdige  Übereinstimmung  die  Richtigkeit  unserer 
Auffassung.  Meine  früheren  Ausführungen  waren  negativer  Art;  sie 
bezweckten  an  erster  Stelle  den  Nachweis,  daß  die  sogenannte  nordische 
Form  nicht  die  Quelle  unserer  süddeutschen  sein  kann.  Nun  soll  Positives 
beigebracht  werden,  nänilicii  wie  die  altfränkische  Sage  beschaffen  war, 
welche  die  Grundlage  für  die  nordische  und  die  deutsche  Sagenentwick- 
lung abgab,  und  wie  sie  sich  im  Laufe  der  Zeit  verändert  liat.  Die 
fränkische  Sage  kann  am  ehesten  und  sichersten  aus  einer  Ver- 
gleichung  der  ältesten  nordischen  und  deutschen  (d.  h.  natür- 
lich hier  süd-  oder  hochdeutschen,  im  Gegensatz  zur  ursprünglichen 
altfränkischen)  Form  erschlossen  werden.  Zu  diesem  Behufe  war  es 
nöthig,  zu  bestimmen,  was  auf  beiden  Seiten  jüngere  Bildung  ist. 
Da  wir  bereits  mehrfach  an  der  Sage  des  11.  Jahrhunderts  ent- 
schiedene Neuerungen  bemerkten  und  auch  für's  10.  Jahrhundert 
solche  in  einer  besonderen  Richtung  anzuerkennen  hatten,  so  wird 
es  nicht  sehr  schwer  halten,  mit  Hilfe  des  in  der  Spielmannsdichtung 
Überlieferten  und  nach  Abzug  eben  dieser  Neuerungen  zu  einer  älteren 
deutschen  Sage  vorzudringen.  Die  Jugendgeschichte  Sigfrids  war 
ebenso  geschildert  wie  in  der  Sage  von  1100,  d.  h.  Sigfrid  kannte 
seine  Eltern  nicht,  bis  ihm  später  auf  seinen  Fahrten  Kunde  von 
seinem  Geschlechte  ward').  Der  Schmid  Mime  zog  den  Knaben  auf. 
Er  schmiedete  ihm  ein  Schwert  (Balmunc  oder  Gram),  damit  er  einen 
Wurm  erschlüge,  der  einen  unermeßlichen  Schatz  hütete  (Seyfridslied 
Str.  107—108,  165  =  nordische  Sage.  Vgl.  auch  Be6wulf  888,  wo 
der  Wurm  liordes  hyrcle  genannt  wird).  Hierauf  erfuhr  er,  daß  er 
aus  dem  Geschlecht  der  Wälsunge  stamme  (Seyfridslied  Str.  47 — 48 
=  Gripisspä).  Trotzigen  Muthes  zog  Sigfrid  an  Gibichs  Hof,  um  ihm 
sein  Reich  abzugewinnen,  das  jener  als  Preis  eines  Zweikampfes  aus- 


')  Die  Berechtigung,  den  Bericht  der  J>s.  und  der  Sage  von  1100  über  Sigfrids 
Jugend  als  uralt,  bereits  der  fränkischen  Sage  angehörig  zu  betrachten,  ergeben  auch 
allgemeine  Erwägungen.  Ist  es  wahrscheinlich,  daß  einmal  Sigfrid  seine  Eltern  kannte, 
daß  in  einer  späteren  Zeit  ohne  Grund  die  Darstellung  der  ps.  entstand,  nachmals 
aber  wieder  fallen  gelassen  wurde?  Dagegen  begreift  man  leicht,  wie  die  Sage  dazu 
kam  ,  den  ältesten  Bericht  zu  verändern.  Außerdem  spricht  der  Umstand  entschieden 
für  unsere  Annahme,  daß  gerade  auf  fränkischem  Boden  die  Genovefa-Legende  ganz 
besonders  verbreitet  war  und  mehrfach  in  der  afz.  Dichtung  in  den  verschieden- 
artigsten Werken  oft  vielfach  umgebildet  zum  Vorschein  kommt,  z.  B.  in  Berte  aux 
grand  pieds  und  im  Tristan  (Brangaene);  vgl.  Weiteres  bei  Svend  Grundtvig,  Dan- 
marks gamle  folkeviser  I  in  der  Einleitung  zu  Ravengaard  og  Memering,  besonders 
p.  197  ff.;  und  Zacher,  die  Historie  von  der  Pfalzgräfin  Genovefa  p.  27  ff. 


290  W.  GOLTHER 

gesetzt  hatte').  An  Gibichs  Hofe  am  Rhein,  bei  den  burgundisch- 
fränkischen  Nibelungen,  den  Königen  Günther,  Giselher,  Godomar  und 
ihrem  von  einem  Alben  erzeugten  Stiefbruder  Hagen  wurde  er  mit 
Guntrun  vermählt.  Er  zog  aus,  um  für  Günther  die  Brtinhilt  zu  ge- 
winnen. In  diesem  Abschnitte  der  Sage  ist  die  jüngere  Form  der 
älteren  ziemlich  getreu  geblieben.  Von  Hagen  ward  Sigfrid  erschlagen, 
als  er  unter  einer  Linde  ruhte.  Seine  Gattin  eilte  auf  die  Kunde  hin- 
aus zum  Todten  und  klagte  um  ihn  (Hans  Sachs  =:  Brot  af  Sigurdar- 
kvida  5 — 7,  9;  Gudrünarkvida  II,  4—12).  In  der  ältesten  deutschen 
Sage  vor  dem  10.  Jahrhundert  fielen  für  den  zweiten  Theil,  den  Unter- 
gang der  Nibelunge,  alle  die  in  Süddeutschland  entstandenen  Neue- 
rungen weg,  also  Rüedeggr,  Volker,  die  Einzelheiten  der  Fahrt  zu 
Etzels  Hofe.  Damit  sind  wir  denn  auch  mit  ziemlicher  Sicherheit  zum 
Stande  der  altfränkischen  Sage  vorgedrungen.  Als  eine  spätere  Ände- 
rung, die  vielleicht  bereits  auf  fränkischem  Boden  stattfand,  wäre  die 
Umgestaltung  des  zweiten  Theiles  der  Sage  anzuerkennen,  wenn 
Guntrun-Grimhild  dort  sich  an  ihren  Brüdern  rächte,  wogegen  die 
auf  fränkischem  Gebiet  verbliebene  Sage,  welche  im  9.  Jahrhundert 
von  den  Nordleuten  übernommen  wurde,  die  ursprüngliche,  mit  den 
sagengeschichtlichen  Verhältnissen  sich  deckende  Form  beibehielt. 
Doch  ist  nicht  ausgeschlossen,  daß  Grimhild  als  Sigfrids  Rächerin 
eine  spätere  deutsche  Dichtung  ist  und  der  fränkischen  Sage  stets 
ferne  blieb.  Besondere  Berücksichtigung  erfordert  noch  die  Bezwin- 
gung der  Brünhilt  für  Günther,  wie  sie  von  der  ältesten  Sage  etwa 
aufgefaßt  wurde.  Es  läßt  sich  erwarten,  daß  die  Sage  von  1 100  keine 
Änderungen  vornahm;  Brünhildes  Stärke  mußte  zuerst  in  den  Wett- 
kärapfen,  dann  in  der  Brautnacht  gebrochen  werden.  Erst  dann  wurde 
sie  zur  fügsamen  Frau.  Beide  Thaten  kamen  nach  der  Spielmanns- 
dichtung Sigfrid  zu.  Und  dieser  Zug  entspricht  wohl  auch  dem  Ur 
sprünglichen.  Gerade  darin  liegt  der  ärgste  Trug,  der  Brünhilde  an- 
gethan  wird,  und  so  erklärt  sich  ihr  tödtlicher  Haß  Sigfrid  gegen- 
über. Auch  die  älteste  nordische  Sage  wußte,  daß  Brynhild  durch 
Kämpfe  bezwungen  wurde.  Doch  in  der  Brautnacht  legt  Sigfrid  sein 
Schwert  zwischen  sich  und  Brynhild.  Die  Sitte  des  Schwertlegens 
begegnet  in  Märchen,  und  vornehmlich  in  Dichtungen,  die  auf  fränki- 
schem Boden  erwuchsen,  so  im  Tristan  und  in  Amis  et  Amiles.  Die 
Möglichkeit  ist  nicht  ausgeschlossen,  daß  erst  im  Norden  dieser  Zug 

')  Vgl.  Edzardi,  Germ.  26,  p.  172 — 176,  welcher  aus  Stellen  im  Rosengarten, 
dem  Nibelungenlied  und  in  einzelnen  Spuren  der  nordischen  Sage  einen  solchen  Her- 
gang vermuthet. 


NORDDEUTSCHE  UND  SÜDDEUTSCHE  HELDENSAGE  etc.     291 

in  die  Sigfridsage  gekommen  ist;  aber  walirscheinliclier  gehörte  er 
der  entlehnten  fränkischen  bereits  an.  Das  Verhältniß  der  deutscheu 
Sage  zur  fränkischen  ist  damit  bereits  bestimmt.  Das  Alte  ist  ziemlich 
treu  gewahrt  geblieben.  Zwar  traten  mit  der  Zeit  natürlich  Ände- 
rungen ein;  im  11.  Jahrhundert  sieht  schon  Vieles  ganz  anders  aus 
als  im  9.  oder  10.  Jahrhundert;  und  noch  weiter  stehen  die  Gedichte 
des  13.  Jahi'hunderts  ab.  Jedoch  ist  niemals  eine  von  Grund  aus 
umbildende  Umgestaltung  eingetreten.  Dazu  fehlt  die  Veranlassung. 
So  sind  die  hochdeutschen  Heldendichtungen  treue  Widerspiegelungen 
der  fränkischen  Lieder.  Wenn  dem  so  ist,  so  fragt  sich  nur,  was  älter 
ist:  daß  Sigfrid  die  Knmpfjungfrau  bezwang  und  zum  Beweis  seiner 
Erwerbung  mit  ihr  das  Lager  theilt,  ohne  sie  zu  berühren,  oder  ob 
auch  diese  letzte  Bezwingung  ihm  zukam,  wie  es  im  Deutschen  er- 
zählt wird.  Im  einen  Fall  wäre  ein  ursprünglich  edler  gedachter  Zug 
verwildert  und  verroht,  im  anderen  dagegen  zu  Gunsten  einer  höheren 
Denkart  gemildert  worden,  und  Beides  ist  möglich.  An  sich  betrachtet 
ist  es  etwas  befremdlicii,  wenn  Sigfrid  Günthers  Rolle  spielt  uml  ihm 
gänzlich  gleichen  soll ,  und  dabei  das  Schwert  zwischen  sich  und  die 
Braut  legt,  deren  Verdacht  hierdurch  doch  jedenfalls  wachgerufen 
werden  mußte,  was  gewiß  im  Sinne  der  Handlung  eher  zu  vermeiden 
gewesen  wäre.  Doch  ist  darin  kein  vollkommen  zwingender  Beweis  für 
die  spätere  Entstehung  der  Sage  vom  Schwertlegen  bedingt.  Ich  ver- 
mag vorerst  hier  kein  bestimmtes  Urtheil  zu  fällen;  doch  ist  vielleicht 
etwas  anderes  aus  dieser  Scene  zu  lernen,  nämlich  daß  bereits  im 
Fränkischen  Doppelberichte  vorhanden  waren,  wie  dann  auch  in  Be- 
zug auf  den  zweiten  Theil  der  Sage,  Grimhildes  oder  Guntruns  Rache; 
bei  einer  mehr  als  hundertjährigen  Entwicklung  ist  das  kein  Wunder; 
und  weiterhin ,  daß  dadurch  auch  einzelne  Abweichungen  der  deut- 
schen und  nordischen  Sage  erklärt  werden,  welche  bis  in  die  älteste 
Gestalt  auf  beiden  Seiten  zurückzuverfolgen  sind.  Denn  die  fränkische 
Quelle,  aus  der  die  süddeutsche  Sage  floß,  war  nicht  genau  eben 
dieselbe,  aus  der  die  nordische  stammt,  vielmehr  sind  sie  wohl  zeitlich 
und  örtlich  getrennt  gewesen  und  dadurch  eröffnet  sich  nicht  bloß 
die  Möglichkeit,  sondern  auch  die  Wahrscheinlichkeit,  daß  Einzel- 
heiten, eventuell  auch  ganze  Scenen,  wie  der  Schluß  verschieden 
waren,  während  jedoch  das  Gesammtbild  und  namentlich  die  Auf- 
fassung der  Sigfridsage  völlig  gleichartig  war  und  nur  die  nachmaliji^e 
Entwicklung  auf  oberdeutschem  und  isländisch-norwegischem  Boden  die 
bis  in  die  tiefsten  Grundlagen  der  Sage  eindringenden  Umwandlungen 
hervorrief,  die  uns  aus  einer  Vergleichung  der  beiderseits  im  13.  Jahr- 
hundert   und    noch    später    niedergeschriebenen  Quellen    hervortreten« 


292  W.  GOLTHER 

In  Island  und  Norwegen  waren  die  Schicksale  der  fränkischen  Sage 
völlig  verschieden.  Das  neue  Aufblühen  des  altheidnischen  Glaubens 
im  9.  Jahrhundert,  die  Mythen  und  Dichtungen,  welche  die  Wikinger- 
zeit hervorgerufen,  zogen  Alles  in  ihren  Bannkreis,  und  so  prägte 
sich  ein  neuer  Geist  allem  dorthin  Gewanderten  mit  unwiderstehlichem 
Zwange  auf.  Zumal  die  isländischen  Helden-  und  Götterlieder  sind 
Beispiele  dafür;  sie  sind  in  ihrer  Gesammtheit  eigentlich  vollkommene 
Neuschöpfungen,  und  die  verschiedenartigsten  Elemente  sind  darin 
aufgenommen.  Man  würde  fehl  gehen,  wollte  man  eines  der  darin  ent- 
haltenen Bestandtheile  allein  betonen  und  für  die  Erklärung  und  Deu- 
tung maßgebend  werden  lassen.  Die  nach  Island  gewanderten  Nor- 
weger sind  die  Schöpfer  jener  Werke;  so  sind  sie  rein  norrön  in  der 
Auffassung  und  Ausführung,  aber  von  wesentlichstem  Einfluß  sind 
die  Eindrücke  und  die  Entlehnungen ,  welche  die  westfahrenden 
Wikinger  in  Hülle  und  Fülle  in  sich  aufnahmen.  So  finden  wir  in 
den  isländischen  Sagen,  vornehmlich  den  Eddaliedern,  alte  nor- 
wegische Sagen,  die  aus  der  Heimat  hinübergeführt  wurden,  aber 
daneben  auch  deutsche,  englische,  keltische  (gaelische),  und  Bestand- 
theile antiker  und  christlicher  Anschauungen  und  Werke.  Eine  Dich- 
tung, aus  so  viel  verschlungenen  Wurzeln  erwachsen,  verdient  unsere 
Aufmerksamkeit  in  hohem  Maße;  aber  man  muß  sich  ihre  Entstehung 
und  Entwicklung  immer  vor  Augen  halten,  um  davor  bewahrt  zu 
bleiben,  falsche  und  unhaltbare  Schlüsse  auf  ein  derartiges  isländisches 
Werk  zu  bauen,  was  bisher  immer  geschehen  ist.  Die  altfränkische 
Nibelungensage  ist  auf  Island  einer  durchgreifenden  Umgestaltung 
unterzogen  worden,  theils  durch  Vermischung  mit  norwegischen,  älteren 
Sagen,  theils  durch  das  Eindringen  des  Odin-  und  Valhollglaubens; 
und  diese  Umarbeitung  hat  stetig  bis  ins  13.  Jahrhundert  zugenommen, 
so  daß  schließlich  die  alte  Gestalt  in  einer  Weise  verändert  wurde, 
daß  es  überhaupt  schwer  hält,  sie  wieder  aufzufinden,  indem  vor- 
sichtig die  neu  hinzugekommenen  Stücke  entfernt  werden.  Sigfrids 
Geschichte  hat  vornehmlich  solche  Zuthaten  in  Menge  erhalten.  Die 
Geschichte  seiner  Geburt  ist  aufgegeben ,  auch  in  der  ältesten  für 
uns  erreichbaren  Form.  Wie  bereits  bemerkt,  blieb  jedoch  Gripir 
stehen,  der,  ursprünglich  bestimmt  Sigfrid  über  seine  Herkunft  auf- 
zuklären, am  Ende  ein  langweiliges  Inhaltsverzeichniß  seiner  Lebens- 
geschichte vorzutragen  hatte.  Sigmunds  Tod  und  einzelne  Züge  in 
Sigurds  Jugend  sind  das  Ergebniß  einer  Vermengung  der  Sigfridsage 
mit  der  von  Helgi.  Die  beiden  Helgi  der  nordischen  Sage,  Helgi 
HJ9rvardsson  und  Helgi  Hundingsbani  sind  mit  der  Sigurdsage  ver- 
mischt worden.  Des  ersten  Helgi  Mutter  heißt  Sigrlinn  (Siglint),  wo- 


NORDDEUTSCHE  UND  SÜDDEUTSCHE  HELDENSAGE  etc.     293 

gegen  die  Sigurds  Hjordis;  der  andere  Helgi  ist  ein  V9l8ung,  Sig- 
munds Sohn  und  damit  Sigurds  Bruder.  Helgi  Hjorvardsson  ist  der 
Rächer  seines  Muttervaters;  daß  Sigurds  Zug  gegen  die  Hundings- 
söhne  eine  Entlehnung  aus  der  Helgisage  ist,  wird  kaum  Jemand 
leugnen  wollen.  Falls  aber  dieses  anerkannt  wird,  muß  nothwendig 
auch  noch  Weiteres  in  Betracht  gezogen  werden.  Sigurd  rächt  an 
den  Hundingssöhnen  den  Tod  seines  Vaters  Sigmund.  In  der  ältesten 
süddeutschen  Sagenform  wurde  nicht  erzählt,  daß  Sigmund  im  Kampfe 
gefallen  sei;  Sigmund  trat  gar  nicht  mehr  auf,  in  die  Geschichte  Sig- 
frids  griff  er  nirgends  thätig  ein.  Es  ist  kein  Grund  vorhanden,  anzu- 
nehmen, in  der  fränkischen  Sage  sei  Sigmunds  Fall  und  Sigfrids 
Rache  jemals  dargestellt  worden,  die  deutsche  habe  diesen  Zug  fallen 
lassen,  die  nordische  bewahrt.  Im  letzteren  Falle  müßte  für  das  Nor- 
dische jedenfalls  Umgestaltung  der  Geschichte  Sigmunds  unter  dem 
Einfluß  der  Helgisage  zugegeben  werden.  Wahrscheinlich  ist  Sig- 
munds Fall  und  Sigurds  Rache  nordische  Neüdichtung:  wie  Helgi 
den  Tod  eines  Ahnen  (später  Siglindes  Vater)  rächte,  so  wurde  Sigurd 
zum  Rächer  seines  Vaters  (Sigmund  ist  Siglindes  Gatte,  Sigher  viel- 
leicht ihr  Vater  gewesen,  danach  rächt  Sigurd  seinen  Vater,  nicht 
wie  Helgi  seinen  Muttervater),  den  Hundings  Söhne  erschlagen  hatten. 
Gerade  an  denjenigen  Stellen,  welche  wir  als  nordische  Zudichtungeu 
in  Sigmunds  und  Sigfrids  Geschichte  erkennen,  greift  Odin  selber  ein. 
Der  deutschen  und  fränkischen  Sage  war  die  Theilnahme  der  Götter 
gänzlich  unbekannt.  Also  muß  zum  Mindesten  ihr  Auftreten,  meistens 
aber  auch  die  damit  zusammenhängende  Scene  nordische  Neudichtung 
sein.  Der  Bericht  der  Volsungasaga  von  Sigmunds  Tod  geht  auf 
Lieder  zurück,  die  reich  an  ausschließlich  nordischen  Zügen  sind. 
Sigmunds  Werbung  um  eine  reiche  und  schöne  Königstochter  stammt 
allein  aus  der  fränkischen  Sage  und  vergleicht  sich  Pidrekssaga 
Cap.  152 — 154.  Sein  Nebenbuhler  ist  Lyngvi,  Hundings  Sohn;  mit 
Wikingschiffen  macht  er  einen  Einfall  in  Sigmunds  Land.  Sigmund 
fällt,  weil  Odin  ihm  seinen  Speer  entgegenhält,  woran  das  alte  Götter- 
schwert zerspringt  (Vols.  Cap.  11).  Da  fahren  dänische  Wikinger  an 
und  nehmen  Hjordis  mit  sich;  in  Dänemark  bei  Alf  wird  Sigurd  ge- 
boren. Man  merkt  der  Dichtung  deutlich  an,  daß  sie  zur  Zeit  des 
Odinglaubens  und  der  Wikingerfahrten  entstanden  ist,  also  jedenfalls 
so,  wie  sie  in  der  Überlieferung  steht,  unmöglich  fränkisch  sein  kann. 
Ebenso  verhält  es  sich  mit  Sigurds  Wikingfahrt  gegen  die  Hundings - 
söhne,  bei  welcher  ihm  Odin  erscheint.  Die  fränkisch-hochdeutsche 
Heldensage  wußte  von  Schwertern  und  Waffen  zu  rühmen,  daß  Schmiede 


294  W.  GOLTHER 

von  ausgezeichneter  Bedeutung,  wie  Weland  und  Mime,  sie  geschaffen 
hätten.  Dagegen  wurde  in  der  nordischen  erzählt,  daß  sie  von  den 
Göttern  stammten').  So  stand  in  der  fränkischen  Sage,  Mime  habe 
dem  Sigfrid  ein  Schwert  geschmiedet,  damit  er  den  Drachen  tödte. 
Die  nordische  Sage  blieb  dabei  nicht  stehen.  Gramr  wurde  ein  Erb- 
stück des  Volsungengeschlechtes,  gleichwie  das  Tyrfingschwert  der 
Hervararsage,  das  Odin  ihm  verliehen  hatte.  Von  der  Vorgeschichte, 
Sigurds  Ahnen,  sind  nur  die  Abenteuer  Sigmunds  und  Sinfjotlis  frän- 
kischer Sage  angehörig,  wie  aus  dem  Beowulf  hervorgeht.  Das  Übrige 
ist  fast  durchweg  nordisch.  Es  wird  ja  auch  besonders  viel  von  Odin 
erzählt.  So  ist  die  fränkische  Gestalt  der  Sigfridssage  im  nordischen 
Gewände  kaum  wiederzuerkennen.  Aber  wir  sehen  deutlich,  wo  die 
Umdichtung  eingesetzt  hat,  während  auf  der  anderen  Seite  es  fast 
unmöglich  wäre,  die  fränkisch-deutsche  Form  aus  der  nordischen 
abzuleiten.    —    Die  Geschichte    des    Hortes    ist    im  Norden    ebenfalls 

r 

gänzlich  erneuert  worden;  von  den  Wanderungen  Odins,  Hoenirs  und 
Lokis  konnte  die  alte  Sage  nichts  wissen.  Dieser  Theil  ging  gerade- 
wegs in  die  nordische  Mythologie  des  9.  und  10.  Jahrhunderts  über. 
Die  alte  fränkische  Sage  wußte  nur,  daß  Sigfrid  dem  Wurme  einen 
Hort  abgewann.  Das  Nibelungenlied  sagt  vom  Horte  noch  1124: 

der  wünsch   der  lac   darunter,  von  golde   ein  rüetelin. 

der  daz  het  erkunnet,  der  möhte   meister  sin 

wol  in  aller  werlde  über  ietslichen  man. 

Die  goldene  Wünschelruthe,  die  den  Schatz  mehrte  und  vor  dem 
Schwinden  bewahrte,  ist  wohl  mit  Recht  mit  dem  Andvaranautr  zu- 
sammengestellt worden^).  Auch  von  diesem  sagt  Snorra  Edda:  Uz 
mega  oexla  ser  fe  af  hauginum.  Grimm  meint,  die  Wünschelruthe  sei 
an  Stelle  des  Ringes  getreten.  Ebenso  leicht  kann  das  Umgekehrte 
der  Fall  gewesen  sein.  Dem  Nordischen  liegt  ein  schätzemehrender 
Ring  besonders  nahe,  da  Odin  den  Ring  Draupnir  besitzt,  von  wel- 
chem jede  neunte  Nacht  acht  ebenso  schwere  Ringe  abtropfen.  Ethisch 
vertieft  wurde  die  Sache  dadurch,  daß  der  Ring,  welchen  Sigurd  der 
Brynhild  gibt,  der  Andvaranautr  ist.  Was  den  Fluch  anlangt,  so  ist 
die  Möglichkeit  nicht  ausgeschlossen,  daß  der  Hort  von  Alters  her  ver- 


•j  Vgl.  z.  B.  Hyndluljdd  2: 

bidjum  Herjafodr         i  hugum  sitja; 
bann  geldr  ok  gefr         guU  verSungu: 
gaf  hann  Hermödi         hjälm  ok  bryuju, 
en  Sigmund!         sverd  at  })iggja. 

')  W.  Grimm,  Heldensage  p.  386. 


NORDDEUTSCHE  UND  SÜDDEUTSCHE  HELDENSAGE  etc.     295 

wünscht  war;  sicherlicli  ist  aber  dieses  Motiv  erst  von  der  nordischen 
Sage    recht    ausgebildet    worden,    wie    auch    sonst  in  uoidischen  Ge- 
schichten   der    einmal     auf    einen    Gegenstand     gelegte    Fluch,    z.  B. 
beim  Tyrfingschwert   sich    durch  Geschlechter  hindurch  erstreckt.    Auf 
zweierlei  Art  kam  Odin  in  die  Sage,  mit  dem  Schwerte  und  mit  dem 
Hort,    endlich    auch  mit  der  Valkyrje.    Jede  Gelegenheit,    welche  die 
Sage  für  den  Mythus  zur  Anknüpfung  darbot,   wurde  ausgenützt,    so 
daß    die    nordische  Form    der  Nibelungensage    durchaus  mythisch  ist. 
Aber   alle    die  Mythen    sind    wiederum  so  ausschließlich  nordisch,    so 
daß    sie,    abgesehen    von  allem  Übrigen,    unmöglich  in  die  alte  frän- 
kische Form    zurückgetragen    werden   können    und  damit  das  mytho- 
logische Halbdunkel    und    alle    darauf   aufgebauten  Folgerungen    von 
der  letzteren  ganz  ferne  gehalten  werden  müssen.   Daß  die  nordische 
Dichtung  mit  dem  überkommenen  Stoffe  in  freiester  Weise  geschaltet 
hat,   zeigt  sich  auch  sonst,  z.  B.  in  der  Verbindung  der  Ermanarich- 
Sage  mit  der  Nibelungensage,  einer  ausschließlich  isländisch-norwegi- 
schen Neuerung,    zu  welcher   in    den   zu  Grunde  liegenden    Vorlagen 
nicht    der    geringste  Anlaß    gegeben    war.    —   Die  Vergleichung    der 
nordischen  Nibelungensage  mit  der  fränkischen  lehrt  wieder  recht  ein- 
dringlich  den  Satz,   der  nicht  genug  betont    werden  kann,   der  die  Vor- 
aussetzung   einer    richtigen  Einsicht  in  die    gesammte    deutsche    und 
nordische  Mythen-  und  Sagengeschichte  recht  eigentlich  begründet,   daß 
die  Nordleute  aus  einfachen  Keimen    glänzende,    neue  und  phantasie- 
reiche Gebilde    schufen.    Es  soll    durchaus    nicht  in  Abrede    gezogen 
werden,  daß  bei  dieser  Umwandlung,  die  alten  Vorlagen  zum  Theile 
sehr    gewonnen    haben    und    viel    schöner   und    erhabener    wirken   als 
zuvor;  nur  muß  mit  voller  Offenheit  und  Klarheit  anerkannt  werden, 
daß    dieses  Neue    eine    eigene  Schöpfung    des    nordischen  Geistes  ist 
und    nicht    des    germanischen,    und    daß  nimmermehr  das  ältere  Ein- 
fache aus  dem  Späteren,  Großartigeren  abgeleitet  werden  darf.    Man 
verwirrt   mit   einem  solchen  Versuche  die  Möglichkeit  der  klaren  Er- 
kenntniß    der    wirklichen  Verhältnisse    im  stärksten  Maße.     Mit  Recht 
hat  JMüllenhoff ')  bemerkt,  die  wissenschaftliche  deutsche  Mythologie  sei 
die  unumgängliche,  noth wendige  Vorbedingung  der  nordischen;    das- 
selbe gilt  von  der  Heldensage.    Aber  der  Grundsatz  muß   mit  voller, 
rücksichtsloser  Entschiedenheit  überall  durchgeführt  werden,  die  Aus- 
scheidung des  nordischen  Elementes  in  größerem  Umfang  vorgenommen 
werden,  als  Müllenhoff  selber  sich  hiezu  verstehen  konnte.  Wenn  der 


')  Deutsche  Literaturzeitung  11,   1224  f. 


296  W.  GOLTHER,  NORDDEUTSCHE  UND  SÜDDEUTSCHE  HELDENSAGE  etc. 

also  vorgezeichnete  Weg  eingehalten  wird,  so  leiten  uns  auch  all- 
gemeinere Erwägungen  zu  der  Ansicht,  daß  er  der  richtige,  zur  Lösung 
führende  sein  muß.  Man  hat  fast  immer  in  der  Ursage  möglichst  viel 
unterzubringen  versucht,  so  daß  sich  das  Erhaltene  eigentlich  nur  als 
trümmerhafter  Überrest  herausstellte.  Eine  Sage,  eine  Dichtung  ist 
aber  keineswegs  allezeit  in  beständig  fortschreitendem  Verfalle  be- 
griffen, vielmehr  hat  sie  Leben,  Blühen  und  Wachsthum,  zumal  so 
lange  sie  in  mündlicher  Überlieferung  sich  erhält  und  noch  nicht  zu 
dem  von  Abschrift  zu  Abschrift  übergehenden  Literaturwerk  erstarrt 
ist.  So  liegt  unsere  Aufgabe  darin,  den  Kern  herauszufinden,  und 
weiterhin  zu  untersuchen,  wie  er  sich  im  Verlaufe  veränderte  durch 
vielfache,  in  Zeit  und  Umständen  belegene  Anwüchse.  Dadurch 
gelangen  wir  zu  einem  Einblick  in  die  wirkliche  geschichtliche  Ent- 
wicklung. Es  wäre  sicherlich  auch  verkehrt,  wollte  man  alles  Schöne 
und  Ergreifende  einer  Sage  allein  in  ihrer  ältesten  Fassung  suchen 
und  damit  die  Möglichkeit  ausschließen ,  daß  bei  späteren  Weiter- 
bildungen Verbesserung  und  Vertiefung  des  Gedankens  ebensowohl 
einmal  glücklich  gelang,  als  dieser  anderseits  auch  verschlechtert 
und  verflacht  werden  konnte.  Nordische  Dichtungen  aus  deutschen 
Stoffen  verhalten  sich  wie  künstliche,  oft  auch  glänzend  und  schön 
ausgeführte  Paraphrasen  eines  einfachen  Themas.  Weiterhin  ist  eine 
genaue  Berücksichtigung  jeder  einzelnen  Quelle  von  höchster  Wichtig- 
keit. Es  genügt  nicht,  vom  Inhalt  allein  auszugehen,  diesen  zusammen- 
zustellen und  so  Wiederherstellungsversuche  zu  machen.  Jede  Quelle 
muß  zunächst  sorgfältig  für  sich  allein  geprüft  werden  in  Rücksicht 
auf  die  Umgebung,  der  sie  entstammt.  Von  welch  großer  Bedeutung 
dies  ist,  lehren  die  nordischen  Quellen  auf  Schritt  und  Tritt.  Erst 
dann  darf  mit  dem  also  kritisch  gesichteten  Inhalte  gearbeitet  werden. 
Die  Kenntniß  der  einzelnen  Quellen  ist  aber  heutzutage  in  ungleich 
besserer  und  verlässigerer  Weise  ermöglicht;  und  daraus  ist  natürlich 
Vieles  für  das  Ganze  richtigzustellen,  und  oft  sind  neue  Erklärungsver- 
suche an  Stelle  älterer,  verfrühter  zu  setzen.  —  Für  die  hier  vertretene 
Auffassung  über  die  Entwicklung  der  Nibelungensage  darf  wohl  auch 
der  Umstand  sprechen,  daß  die  Geschichte  der  Verwandlungen,  welche 
die  alte  Sage  erfuhr,  in  logisch  richtiger  Gliederung  uns  vor  Augen 
tritt.  In  den  meisten  Fällen  sehen  wir,  warum  und  auf  welche  Art  die 
Veränderungen  erfolgt  sind,  und  wie  sie  das  ältere  umgebildet  haben. 
Auf  diese  Vorgänge  fiel  bei  der  Ansicht,  welche  die  deutsche  Form 
aus  der  nordischen  erklärte,  kein  Licht.  Räthselvoll  blieb,  warum 
dieser  oder  jener  Zug  auf  einmal  verschwand,  diese  oder  jene  Zuthat 


FRANZ  JOSTES,  ZUR  FRECKENHORSTER  HEBEROLLE.  297 

hinzukam.  Sicherlich  beruht  bei  der  lebendigen  Dichtung  Vieles  auch 
auf  reinem  Zufall  und  bloßer  Willkür  eines  einzelnen  Sängers,  und 
wir  wUrden  zu  weit  gehen,  wenn  wir  für  Alles  und  Jedes  den  Grund 
ausfindig  machen  wollten.  Aber  so  ganz  blindlings  ist  darum  das 
Walten  der  in  der  Dichtung  schöpferischen  Kraft  denn  doch  nicht, 
und  wo  sich  ungezwungen  aus  Zeit-  und  Orts  Verhältnissen  eine  aus- 
reichende Erklärung  darbietet,  wie  in  unserem  Falle  die  Wikingerzeit 
im  besonderen  Maße  dies  vermag,  da  ist  sie  gewiß  auch  die  richtige; 
die  beste  Gewähr  für  die  Richtigkeit  der  Gesammtheit  ist,  wenn  sie 
durch  das  Einzelne  Bestätigung  findet,  wobei  unter  Umständen  auch 
verschiedene  noch  nicht  völlig  klare  Punkte  aufgehellt  werden. 
MÜNCHEN,  December  1888.  WOLFGANG  GOLTHER. 


ZUR  FRECKENHORSTER  HEBEROLLE. 


Es  ist  schon  früher  versucht  worden,  mit  Hilfe  einer  Urkunde 
des  Bischofs  Erpho  von  Münster  vom  Jahre  1090 ')  das  Alter  der 
Freckenhorster  Heberolle  zu  bestimmen.  Der  Versuch  ist  als  miß- 
lungen von  J.  Grimm  sofort  abgewiesen  worden^).  Wenn  ich  nun 
auch  der  Ansicht  bin,  daß  Grimm  im  Rechte  war,  wenn  er  die  bei- 
gebrachten Gründe  für  nicht  stichhaltig  erklärte,  so  glaube  ich  doch 
anderseits  auch,  daß  die  Urkunde  an  und  für  sich  wohl  mehr  Licht 
auf  die  Heberolle  werfen  könnte,  ja  daß  sie  durchaus  die  Ansicht 
von  Grimm's  Gegnern  über  das  Alter  der  Handschrift  bestätigen  würde, 
wenn  man  sie,  was  noch  nicht  geschehen  ist,  mit  dem  Abschnitte 
504 — 534  der  Heberolle  in  Vergleich  stellte^).  Ich  habe  diesen  Ver- 
such durchgeführt,  allein  je  näher  ich  dem  Ende  kam,  desto  mehr 
überzeugte  ich  mich  davon,  daß  ebenso  wie  die  Stiftungsurkunde 
auch  diese  eine  Freckenhorster  Fälschung  sei  und  ich  somit  in  die 
Luft  gebaut  hatte.  Herr  Archivar  Dr.  Ilgen  hatte  die  Güte,  daraufhin 
das  Original  zu  untersuchen  und  kam  dabei  zu  dem  Ergebnisse,  daß 
die  äußeren  Verdachtsgründe  ebenso  stark  seien  wie  die  inneren. 
Anordnung,  Schrift,  Pergament  und  Siegel  stimmen  nicht  zu  den 
übrigen    Erpho'schen  Urkunden    und  weisen    eher    nach   Freckenhorst 


*)  Erhard,    Cod.  diplom.  bistoriae  Westfaliae  I,  S.   129  flf. 
')  Kleine  Schriften  V,  S.  1  ff. 

')  Ich  citiere  die  Heberolle  nach  der  Ausgabe  von  Heyne:    Kleinere  altnieder- 
deutsche Denkmäler.    2.  Aufl.    Paderborn   1877. 

GERMANIA.     Neae  Reihe  XXII.  (XXXIV.)  Jahrg.  20 


298  ■  FRANZ  JOSTES 

hin.  Damit  verliert  sie  zunächst  jede  Bedeutung  *)  für  die  Datierung 
der  Heberolle.  Aber  da  sie  immerhin  noch  in  die  erste  Hälfte  des 
12.  Jahrhunderts  fällt,  so  ist  sie  doch  nicht  ganz  unbrauchbar,  viel- 
mehr gibt  sie  uns  einen  Fingerzeig  für  die  richtige  Erklärung  des 
Abschnittes  505 — 534,  des  dunkelsten  in  der  ganzen  Heberolle^).  Ich 
hebe  hier  gerade  die  Stelle  heraus,  welche  sämmtliche  drei  dunkeln 
Worte  in  sich  schließt: 

In  anniversario  sancte  T/nedhüdis  tö  then  neppenon,  anJe  to  then 
almdson  ande  to  themo  inganga  thero  iungerono  tive  malt. 

Der  Abschnitt  505 — 545  fällt,  um  das  zunächst  zu  bemerken, 
aus  dem  Charakter  einer  Heberolle  insofern  heraus,  als  hier  nicht 
Einkünfte,  sondern  Ausgaben,  und  zwar  außerordentliche  Ausgaben 
{äne  the  rehton  pravendi)  der  Abtei  zum  Besten  der  Stiftsmitglieder 
verzeichnet  werden. 

Jacob  Grimm  hat  sich  mehrfach  über  die  angeführte  Stelle  aus- 
gesprochen^), ohne  zu  einer  bestimmten  Entscheidung  zu  gelangen: 
„Wüßte  man  deutlich ,  was  hier  ^Jungeron''''  und  was  ihr  .^ingang^^ 
bedeutet!  ..  Sind  das  Novizen,  ihr  ingang  die  Reception?"  .... 
Friedländer  nimmt  dies  an^  Heyne  dagegen  erklärt  im  Glossare: 
„jungero  Jünger,  Schüler,  Klosterschüler"  und  „ingang,  Eingang, 
Antritt". 

Grimm  hat  schon  bemerkt,  daß  bei  einem  Damenstifte  höchstens 
an  Schülerinnen  gedacht  werden  könne.  Ob  wir  dann  weiter  aber 
„Schülerinnen"  oder  „Novizen"  übersetzen,  ist  bei  der  Identität  der 
Begriffe  gleichgiltig.  Allein  auch  diese  Übersetzung  trifft  das  Richtige 
nicht;  ich  glaube  nur  das  Wort  „Junfer"  nennen  zu  brauchen,  um 
wenigstens  die  Möglichkeit  einer  dritten  Übersetzung  darzuthun.  Sie 
ist  indeß  nicht  nur  möglich,  sondern  die  einzig  mögliche.  Schüler 
können  nicht  gemeint  sein,  Schülerinnen  oder  Novizen  ebensowenig; 
denn  der  ingang  thero  iungerono  fand  ungefähr  dreißig  Male  im  Jahre 
statt.    Nun    gab  es  aber   im   15.  Jahrhundert    erst   neun  Pfründen  für 


')  Den  schulgerechten  Nachweis  für  die  Unechtheit  beizubringen  muß  ich  den 
Diplomatikern  von  Fach  überlassen. 

*)  Eine  kleine  Berichtigung,  welche  die  Untersuchung  ergab,  möge  hier  doch 
eine  Stelle  finden.  Friedländer,  Codex  Traditonum  Westfalicarum  I,  8.  21,  und  ihm 
folgt  Heyne,  nimmt  eine  dreifache  Entstehungszeit  der  Handschrift  an.  Das  ist  irrig; 
bis  De  imperatore  Heinrici  hat  dieselbe  Hand  geschrieben,  von  da  ab  eine  andere, 
nicht  viel  jüngere.  Wilmaus  (Kaiserurkunden  S.  404)  hat  die  ganze  Handschrift  dem 
12.  Jahrhundert  zugewiesen,  dabei  muß  es  auch  nach  der  Ansicht  Ilgens  sein  Bewenden 
haben. 

^)  a.  a.  O.  V,  S.   1  fiF.;  VI,  S.  352  ff. 


ZUR  FRECKENHORSTER  HEBEROLLE.  299 

haushaltende  Stiftsdamen  '),  und  mehr  hat  auch  die  frühere  Zeit  nicht 
gekannt^).  Demnach  liönnen  unmöglich  dreißigmal  im  Jahre  neue 
Mitglieder  aufgenommen  worden  sein.  Ziehen  wir  aber  zunächst  das 
Wort  ingang  in  die  Untersuchung  hinein  ! 

Der  „Eingang"  fand  an  folgenden  Tagen  statt:  in  Adventu^ 
Nat.  Dom.,  Joh.  Evang.,  in  Octava,  in  Epiphania  Doniini,  in  anni- 
versario  abbatisse  Thiedhiidis,  in  Puriüc.  8.  i\Iarie,  in  Coena  Domini, 
in  Pascha,  in  Invent.  S.  Crucis,  in  Ascens.  Dom.,  in  Pentecoste, 
Bonifatii,  Joh.  Bapt.,  Petri  et  Pauli,  assumptionis  et  nativitatis  Sancte 
Marie,  Michaelis,  Aeonii  et  Antonii,  Cosmt^^  et  Damiani,  Maximi, 
Omnium  Sanctorum,  [MartiniJ,  Andree^). 

Diese  Anordnung  nach  dem  Kalenderjahre  rührt  nicht  von  mir 
her;  ich  habe  sie  aus  der  angeblichen  Urkunde  Erphos  entlehnt,  die 
in  der  Angabe  der  Feste  bis  auf  Martini  mit  der  Heberolle  (wo  es 
fehlt)  übereinstimmt.  Es  ist  interessant  zu  sehen,  wie  diese  Feier 
hinzugekommen  ist.  In  einem  Verzeichnisse  des  Goldenen  Buches 
(14.  Jahrh.)  *)  heißt  es:  „/u  vigilia  heati  Martini  per agetur  memoria 
episcopi  Erponis,  qui  dedit,  ut  dicitur,  conventui  officium  de 
Warfenhorst.'^  ^)  In  Wirklichkeit  war  dieser  Tag  der  Todestag  des 
Bischofs*'),  aber  ihn  im  Jahre  1090  zu  bestimmen,  liätte  doch  wohl 
schwer  fallen  dürfen! 

Er  ist  der  einzige  Bischof,  dessen  Gedächtniß  feierlich  mit  einem 
Schmause  begangen  wurde,  und  er  hatte  das  wahrhaftig  um  die  Nönnchen 
verdient ! 

Bei  der  Übereinstimmung  der  Festtage  darf  man  schon  ver- 
muthen,  daß  auch  die  übrigen  näheren  Angaben  zu  einander  stimmen, 
d.  h.  daß  dieser  Theil  der  Urkunde  den  betreffenden  Passus  der  Hebe- 
rolle in  anderer  Form  bietet. 

Nun  handelt  es  sich  in  der  Urkunde  um  eine  Erleichterung  der 
Lebensweise  der  adeligen  Dämchen,  die  von  der  Äbtissin  gar  zu  strenge 
behandelt    wurden.    Bei  dem    immer    mehr    anwachsenden  Reichthum 

1)  Friedländer  n.  a.   0.  S.   182,  Anm.  2. 

^)  Nordhofif,  Die  Kunst-  und  Geschichtsdenkmäler  der  Provinz  Westphalen  II, 
S.  101.    Nordhofif  gibt  als  ursprüngliche  Zahl  der  Stiftsdamen  zwölf  an. 

')  Von  den  sonst  wenig  bekannten  Heiligen  Maximus,  Aeonius  und  Antonius 
hatte  das  Stift  im  Jahre  861  durch  Schenkung  des  Bischofs  Liutbert  von  Münster 
Reliquien  erhalten. 

■•)  Herausgegeben  von  Friedländer  a.  a.  O.  S.  63  ff. 

*)  ibid.  S.  102. 

*)  Er  starb  am  9.  November  1097;  vgl.  Erhard,  Regesta  historiae  Westfaliae. 
S.  210.    Charakteristisch   ist   der   in  „ut  dicitur"    liegende  Zweifel  an  der  Schenkung. 

20* 


300  FRANZ  JOSTES 

des  Stiftes  fühlten  diese  die  Einfachheit  der  Beköstigung  um  so  drücken- 
der. Mit  Hilfe  des  guten  Bischofs  Erpho,  der  eine  Mitleid  erregende 
Schilderung  ihrer  erbärmlichen  Lebensweise  gibt,  wurde  dem  ab- 
geholfen und  Alles  in  Bezug  auf  Speise  und  Trank  bis  in  die  Einzel- 
heiten geregelt.  In  Bezug  auf  die  oben  genannten  Tage  heißt  es  nun 
in  der  Urkunde: 

Unde  inito  in  commune  consilio  tempora  constituimus ,  videlicet  in 
Adventu  etc.  cum  plenum  datur  servicium  septem  fercida,  cum 
pleniter  non  datur  qtdnque  dari,  ad  C^nam^)  vero  genus  cihi  quod 
vulgo  struna  dicitur. 

Es  werden  hier  zwei  verschiedene  servicia  unterschieden,  plena 
und  non  pJena.  Auch  die  Heberolle  unterscheidet,  insofern  sie  bald  4 
bezw.  6  Müdde,  bald  l'/a  oder  2  Malter  Korns  ansetzt. 

Was  ist  nun  unter  servicium  zu  verstehen?  Es  ist  das,  was  der 
Convent  an  jenen  Tagen  „awe  the  rehton  pravendi"'  von  der  Äbtissin 
zu  beanspruchen  hatte.  Präbenden  sind  nach  klösterlichem  Sprach- 
gebrauch die  Bezüge  aus  Küche  und  Keller;  diese  waren  an  jenen 
Tagen  besonders  reichhaltig  und,  was  hier  noch  wichtiger  ist,  sie 
wurden  in  der  Abtei,  am  Tische  der  Äbtissin  verabreicht.  Ein  Ver- 
zeichniß  aus  der  Mitte  des  16.  Jahrhunderts^),  in  dem  die  einzelnen 
Speisen  und  Getränke  genau  vorgeschrieben  sind,  zeigt  deutlich  genug, 
daß  an  diesen  Tagen  die  Äbtissin  die  Junfern  zu  sich  in  die  Abtei 
lud  und  sie  dort  bewirthete^).  Was  auf  diesen  ingang  thero  iungerono 
verwendet  werden  mußte ,  das  ist  es,  was  die  Heberolle  feststellt. 
War  es  zu  wenig  oder  wurde  Abbruch  daran  gethan?  Genug,  die 
Tendenz  der  Urkunde  ist  es,  hier  ein-  für  allemal  genaue  Bestim- 
mungen zu  geben. 

')  So  ist  zu  schreiben,  nicht  cenam. 

^)  Abgedruckt  bei  Friedländer  a.  a.  O.  S.  149  fif.  Der  Herausgeber  setzt  das 
Stück  ins  16.  Jahrhundert;  dagegen  spricht  schon  die  Schrift.  Die  Sprache  aber  — 
es  ist  ein  Mischmasch  von  Hoch-  und  Niederdeutschem  —  läßt  eher  auf  die  zweite 
als  auf  die  erste  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  schließen. 

^)  Daß  im  Laufe  der  Zeit  mannigfache  Veränderungen  vorkamen,  liegt  auf  der 
Hand.  Der  Grund  dafür,  der  in  dem  Aufkommen  neuer  kirchlicher  Feste,  in  neuen 
Stiftungen,  in  Verlegungen  u.  s.  w.  liegt,  ist  fast  überall  noch  zu  erkennen.  Bis- 
weilen ist  die  Abweichung  nur  scheinbar  und  findet  ihre  Erklärung  in  der  Kürze  der 
alten  Aufzeichnung,  welche  mit  der  Zeit  immer  mehr  ins  Einzelne  geht.  Der  Heraus- 
geber hat  freilich  den  Zusammenhang  der  einzelnen  Stücke  nicht  erkannt,  aber  auf- 
merksam gemacht  kann  ihn  doch  keiner  verkennen.  Daß  in  der  Urkunde  ebensowenig 
wie  in  der  Heberolle  der  Kirchweihetag  genannt  ist,  läßt  wohl  darauf  schließen,  daß  sie 
vor  Einweihung  der  jetzigen  Stiftskirehe  (1129)  entstanden  sind.  Der  frühere  Tag  ist 
nicht  bekannt,  steckt  aber  doch  wohl  in  einem  nach  dem  Heiligen  bezeichneten  Tage. 


ZUR  FRECKENHORSTER  HEBEROLLE.  301 

Nachdem  nun  festgestellt  ist,  daß  ingang  die  Bewirthung  der 
Junfern  bedeutet,  und  da  das  Almosen  der  Bewirthung  der  Armen 
diente,  so  liegt  es  nahe,  bei  to  thai  neppenon  an  eine  ähnliche  Be- 
stimmung zu  denken.  Gegen  wen  konnte  die  Äbtissin  sonst  noch  Ver- 
pflichtungen haben?  Gegen  die  „Herren",  Canoniker,  Pastoi-e,  Vicare. 

Heyne  erklärt  im  Glossare:  „Die  /mippena,  welche  zum  Weih- 
nachtsabend, am  Feste  der  heil.  Thiadhildis,  der  Schutzpatronin  des 
Stiftes,  zu  Ostern  und  zu  Pfingsten  stattfanden,  können  nur  geistliche 
Spiele  und  Umzüge  gewesen  sein,  für  die  die  Zinspflichtigen  Gerste 
zur  Bierbereitung  lieferten."  Von  diesen  Worten  steht  kaum  eines 
auf  festem  Fuße.  Zunächst  ist  die  Zahl  der  Tage  falsch  angegeben; 
es  sind  Coena  Domini,  Inventio  S.  Crucis ')  und  Omnium  Sanctorum 
übersehen  (vgl.  Heyne  S.  82,  Z.  516  f.).  Die  Spiele  müßten  also  nicht 
vier-,  sondern  siebenmal  im  Jahre  stattgefunden  haben.  Dann  steht 
nirgends,  daß  die  Zinspflichtigen  dieses  Korn  lieferten,  und  ebenso- 
wenig irgendwo,  daß  es  zur  Bierbereitung  verwendet  wurde').  End- 
lich sehe  ich  auch  nicht  ein,  weßhalb  hnippena  nicht  auch  Näpfe  sein 
können.  Ich  bin  im  Gegentheil  sogar  der  Ansicht,  daß  es  nur  Näpfe 
sein  können,  freilich  Näpfe  in  einer  anderen  Form  als  unsere  jetzigen. 

Das  unserem  Abschnitte  der  Heberolle  entsprechende  Verzeichniß 
des  16.  Jahrhunderts  hat  zu  all  jenen  Tagen,  wo  dort  to  tken  nep- 
penon sich  findet,  den  Zusatz  „Heildienst".  Die  weniger  ausführliche 
Aufzeichnung  des  14.  Jahrhunderts,  wie  auch  die  Erpho'sche  Urkunde, 
unterscheiden  nicht  im  Besonderen;  es  war  das  ja  auch  allgemein 
bekannt.  Aber  nach  der  Urkunde  gab  es  zu  den  Heildiensten  zwei 
Gänge  mehr  als  zu  den  Halbdiensten,  und  im  16.  Jahrhundert  wurde 
zu  diesen  Festen  ein  Ochse  geschlachtet,  während  man  sonst  ein 
Rindchen  (risehiter)  nahm,  oder  gar  sich  mit  Fleisch  „aus  der  Peckel" 
begnügte.  Was  hier  aber  wichtiger  ist:  an  jenen  Tagen  erhielten 
nach  der  Aufzeichnung  des  14.  Jahrhunderts  die  Junfern  una  crathera 
vini^)\  an  den  Halbdiensten  mußten  sie  sich  mit  dimidia  crathera 
begnügen.  Doch  auch  hiermit  dürfte  die  unverhältnißmäßig  große 
Ausgabe  noch  nicht  genügend  erklärt  sein.  Aber  in  eben  dieser  Auf- 
zeichnung   ist    vorher   (Friedländer  S.  101)    bemerkt:    „Quandocunque 


')  Im  14.  Jahrhunderte  finden  sich  statt  dessen  zwei  Halbdienste,  für  die  Vigil 
und  den  Tag  selbst.  An  der  Vigil  wurde  das  Gedächtniß  des  Stifters  Everword  be- 
gangen. Die  Theilung  hat  demnach  wohl  der  Ausbildung  der  Stiftungslegeude  ihren 
Ursprung  zu  verdanken. 

')  Es  sind  bloße  Werthbestimmungen. 

')  Friedländer  a.  a.  O.  S.  103  f. 


3Ö2  FRANZ  JOSTES,  ZUR  FRECKENHORSTER  HEBEROLLE. 

conventui  dahitur  plenum  servicium,  tunc  canonici  dehent  procurari  lauta 
et  honesta  procuratione  in  mensa  domine  ahhatisse''^ ;  und  in  der  Auf- 
zeichnung des  16.  Jahrhunderts  heißt  es  zu  allen  Heildiensten  „Heren 
zu  gaste^^.  Da  nun  die  Zahl  der  Herren  mindestens  sechs  betrug,  also 
hinter  der  der  Junfern  nicht  weit  zurückblieb,  so  kann  man  sich 
wohl  denken,  daß  an  diesen  Tagen  das  Weinfaß  der  Äbtissin  ein 
Loch  bekam,  zu  dessen  Ausfüllung  es  wohl  eines  Malter  Korns  be- 
dürfen mochte. 

Ich  glaube  demnach,  daß  wir  in  den  cratherae  des  14.  Jahrhs. 
die  neppena  des  12.  Jahrhs.  zu  sehen  haben.  Freilich  wird  im  Mnd. 
Wb.  keine  Stelle  angeführt,  in  der  nap  Becher,  Pocal  bedeutet,  allein 
damit  ist  nicht  bewiesen,  daß  das  Wort  im  Niederdeutschen  die  Be- 
deutung auch  nicht  gehabt  habe.  Es  möge  hier  eine  Stelle  für  das 
Gegentheil  angeführt  sein.  Röchell  erzählt  in  seiner  Chronik  (c.  1600) 
von  dem  Bischof  Werner  von  Münster  [1132 — 1151J,  daß  er  jährlich 
ein  Fuder  Wein  für  die  Domherren  und  Andere  und  einen  „silberen 
7iap  uberhen  verguldet'"''  gestiftet  habe.  „Daruf  steidt  die  historie  von 
S.  Pauioel  mit  verheben  bilderen;  und  wordt  noch  heuthe  zu  dage  ge- 
nompt  S.  Paulus  nap;  man  Jean  darin  gedoen  ungeferlich  vif  orth  tveins. ') 
Dieser  Pocal  ist  verschwunden,  aber  auch  der  Pocal  des  hiesigen 
Großen  Kalands,  den  jedes  Mitglied  bei  seiner  Aufnahme  stehend  in 
einem  Zuge  leeren  muß,  führt  noch  jetzt  den  Namen  „A'ap".  Der 
Deutung  der  neppena  als  Poeale  dürfte  demnach  kaum  noch  etwas 
entgegenstehen.  Daß  die  Ausgabe  speciell  zur  Weinspende  für  die 
„Herren"  bestimmt  war,  möchte  ich  auch  noch  daraus  schließen,  daß 
in  der  Heberolle  auch  der  Grtinedonnerstag  angeführt  ist;  im  14.  Jahr- 
hunderte bekamen  an  diesem  Tage  die  Junfern  noch  keinen  Wein, 
während  es  von  den  Herren  heißt:  „In  cena  Domini  ad  mandatum 
(Gastlocal)  domina  abbatissa  ministrabit  canonicis  et  clericis  suis  species 
propinando  eisdem  dabit  e^c."^)  Für  die  Schwestern  wurde  die  Wein- 
frage auch  erst  nach  der  Entstehung  der  Heberolle  durch  die  Urkunde 
geregelt;  bis  dahin  hatten  sie  ,^minus  quam  indigerent^^  erhalten,  dafür 
yjVilissima  cerevisia,  nulli  fere  quam  indigentissimo  potabilis''^ .  Doch 
kommt  es  darauf  auch  so  sehr  nicht  an.  Meine  Übersetzung  der 
oben  angeführten  Stelle  würde  also  folgendermaßen  lauten: 

„Am  Gedächtnißtage  der  heil.  Thiadhild  für  die  Weinpoeale  (der 
Herren)  und  für  Almosen  und  für  den  Besuch  der  Junfern  zwei  Malter." 

MÜNSTER  in  Westfalen,  FRANZ  JOSTES. 


')  Geschichtsquellen  des  Bisthumes  Münster  III,  S.  199  fl". 
')  Friedländer  S.   105. 


FRANZ  KRATOCHWIL,  ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  etc.     303 

ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER 
SUCHENWIRT  -  HANDSCHRIFTEN. 

Mit  zwein  großen,  bisher  imbekannten  Ergänzungen  zu  Suchenwirt's  Gedichten. 

IV.   c. 

Vielleicht  kann  uns  C,  die  Papierhandschrift  der  Wiener  Ilof- 
bibliothek  Nr.  10100'  (Rec.  2201  nach  der  Eintragung  auf  der  Innen- 
seite des  Vorderdeckels)  darüber  Aufschluß  geben.  —  Die  Ecken  der 
beiden  Deckel  und  der  Rücken  sind  mit  Pergament  überzogen ;  letz- 
terer trägt  ein  ächwarzes  Schild  mit  der  Inschrift  in  Goldbuchstabcn  : 
Varia  Poetica  Coli.  A  O  ^)  A.  Fernberger. 

Christoph  Adam  Freiherr  von  Fern b er g  gehörte  dem 
aus  ölittelfranken  stammenden  Geschlechte  der  Fernberger  an;  der 
Name  rührt  von  dem  in  der  Nähe  von  Ansbach  gelegenen  Stanim- 
hause  Fernberg.  Ulrich  Fernberger  trat  um  1470  in  die  Dienste  des 
Erzherzogs  Sigismund  von  Tirol ;  sein  Sohn  Johann  ging  nach  Oster- 
reich und  kaufte  sich  1531  Herrschaft  und  Schloß  Egenberg  in 
Oberösterreich,  wonach  er  und  sein  Geschlecht  sich  in  der  Folge 
nannte.  1535  wurde  er  mit  seinem  ganzen  Mannesstamme  von  König 
Ferdinand  I.  mit  dem  Erbkämraereramte  in  Osterreich  ob  der  Enns 
belehnt.  Sein  Enkel  ist  Karl  Ludwig  Fernberger  zu  Egenberg,  Hoch- 
haus und  Messenbach,  Herr  der  Herrschaften  Sitzenberg  (im  politi- 
schen Bezirke  St.  Polten,  also  nicht  sehr  weit  von  Neiden- 
stein) und  Fahrafeld  in  Niederösterreich.  Obwohl  Lutheraner  wurde 
er  1615  Regimentsrath  in  Niederösterreich.  Aus  seiner  ersten  1594 
geschlossenen  Ehe  stammten  zwei  Söhne ;  der  ältere  ist  der  Urheber 
dieser  Handschrift,  Christoph  Adam  Fernberger  von  und  zu  Egenberg, 
Herr  zu  Wiernitz  (jetzt  Wüinitz  im  Gerichtsbezirke  Korneuburg)  in 
Niederösterreich.  Die  Nachrichten  über  ihn  lauten  dürftig.  Er  lebte 
der  Wissenschaft  und  Kunst;  dafür  spricht  deutlich  genug  sein  hand- 
schriftlicher Nachlaß.  Audi  dichterisch  versuchte  er  sich,  wie  u.  A. 
aus  C  f.  164"  zu  ersehen  ist.  1650 — 1656  war  er  niederösterreiehischer 
Ritterstands-Verordneter;  obwohl  zweimal  vermählt,  hinterließ  er  keine 
Kinder.  Sein  Bruder  Christoph  Karl  war  schon  vor  ihm  aus  dem  Leben 
geschieden;  mit  seinem  Stiefbruder  Christoph  Ferdinand,  der  General 
und  Oberst  eines  kaiserlichen  Regimentes  war,  starb  1671  der  letzte 
männliche  Sprosse  dieses  Geschlechtes  (vgl.  Hoheneck  a.  a.  O.  3.  Bd., 
S.  159—164  und  Wissgrill  a.  a,  O.  3.  Bd.,  S.  31-36). 

•)  Es  soll  richtig  heißen  C,  wie  schon  aus  pag.  139  des  6.  Bandes  der  Tabulae 
codicum  zu  ersehen  ist. 


304 


FRANZ  KRATOCHWIL 


Christoph  Adam  Freiherr  von  Fernberg  ist  der  Urheber  von  C 
oder,  nach  dem  Schilde  und  6.  Bande  der  Tabulae  codicum,  der 
Sammler.  Diese  Bezeichnung  ist  aber  keineswegs  dahin  zu  ver- 
stehen, als  ob  die  sechsundvierzig  Theile  der  Handschrift,  nahezu 
ausschließlich  Dichtungen^)  des  Mittelalters  und  der 
Neuzeit  in  deutscher,  aber  auch  in  lateinischer  Sprache, 
durchaus  Originale  wären,  welche  Fernberg  gesammelt  und  zu 
einem  Bande  vereinigt  hätte.  Gleich  die  ersten  zwölf  Nummern  sind 
es  nicht,  sondern  sie  sind  Abschriften  einer  umfangreichen 
Handschrift  aus  dem  Jahre  1402,  die  ich  im  Folgenden  N 
nenne.  Aber  gerade  sie  erregen  unser  Interesse,  'da  unter  ihnen 
zehn  Suchenwirtische  Gedichte  vorkommen;  es  sind  folgende: 


P  r  i  m  i  s  s  e  r's 
Zählung 


Von  Blatt   .  . . 

der  Handschrift 

bis  Blatt   .  . . 


Überschriften  der  Gedichte 


IV 


XXXIV 


XX 


f.   1"— 6''' 


f.   6"— 7' 


f.   7''— 10" 


Von  Herczog  Albrechts  Ritter]  ^)schaflft 
in    Prewssenland  |  Anno   Dni  M'CCCL 

XXVII  {SclmörM). 
Von    der  Fürsten    taylüng    in    |    Oster- 
reich   Herzog   Albrecht    |    vnd    Herzog 

Lewppolt. 
Von  Fünf  Fürsten  von  dem  von  Maylan  | 
Von  Marchgraf  Sigmund  von  Karlur  | 
Von  Herczog  wilhalm  von  Osterreich  | 
vnd  von  Herczog  Lewppold  von  Oster- 
reich {ScJmörkeT}. 


')  Die  Prosa  ist  nur  durch  wenige  Stücke  vertreten.  —  Zu  den  jüngsten  Theilen 
des  Codex  dürfte  wohl  Nr.  32  (f.  178'')  gehören:  „Chürzweilige  Soldatenlieder  .... 
so  deß  Herrn  Oberst  (?)-Leidenambt  Fernbergerß  Musterscbreiber  gesungen  hat  .... 
1645."  Diese  Mittheilung  wird  sich  auf  Adams  Bruder  Christoph  Karl  beziehen, 
welcher  kaiserlicher  Oberst  und  wn  1636  bis  an  seinen  Tod  im  Jahre  1653  General- 
Landoberstlieutenant  im  Erzherzogthum  Österreich  unter  der  Enns  war. 

')  Die  Handschrift  zählt  242  Blätter  in  Folio.  Eine  Blattzählung  ist  oben 
rechts  mit  Blei  angebracht  und  stammt  aus  neuester  Zeit;  a  bezeichnet  die  vordere, 
b  die  rückwärtige  Seite.  Allerdings  finden  sich  hie  und  da  oben  Zahlen  von 
alter  Hand,  aber  diese  beziehen  sich  nicht  auf  die  Paginierung,  sondern  sind 
Nummern,  womit  einzelne  Theile  der  Handschrift  schon  vor  ihrer  Vereinigung  zu 
diesem  Bande  bezeichnet  waren,  die  somit  nicht  immer  gerade  fortlaufend  sind. 

')  Die  senkrechten  Striche  bezeichnen  die  Brechung  der  Überschrift  in  zwei 
oder   mehrere  Theile. 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHENWIRT-HSS.       305 


Primi  sser's 
Zählung 


Von  Blatt  .. . 

der  Handschrift 

bis  Blatt   . . . 


Übers  chriftcn  der  Gedichte 


10 


XXXV 
XXXVII 

XIX 

XLV 
XLIII 


XXXVI 


f.    10*— 11"^') 

f.   23''— 25"") 
f.   25"  — 26'^ 

f.   26''— 27'' 

f.   27^^—29" 
f.   29"— 29'' 


f.   30"— 30'' 


Von  Hl  i  brecht    seeligeu  •  |  Von 

Österreich. 

Von  zwayn  Päbsten. 

Von  der  Fürsten  Chrieg  |  vnd  von  Reich- 

stetten. 
Daz    ist  die  Red    uon  dem  |  Teychner 
darnach   und   er  |  gestorben   ist 
Ein  Red  uon   der  hübschen   Lug. 
Die    red    haii;t  der  fromd    Siii    |  Vn   ist 
mit    vercherten     worten    |    da<     merkht 
ye  an  der  leczten   Silben ,   die  antwort 
irm  genoi;!?en  hinder  sich  vnd  für  sich 

vnd  I  ist  geticht  chrewczweys. 
Die  Red  haii^t  der  vmbgecherte  Wagen 


38  bis  56  abgesetzte  Verse,  die  meisteu  mit  großen 
Buchstaben  beginnend,  bilden  eine  Columne  auf  jeder  Seite. 
Sowohl  der  Text  wie  die  Überschriften  sind  mit  schwarzer  Tinte 
geschrieben,  die  Überschriften  durchaus  mit  größeren  Zügen,  und 
zwar  hat  eine  Hand  die  Überschrift  zu  Nr.  1  und  die  sechs  ersten 
Verse  dieses  Gedichtes  lateinisch  cursiv,  von  f.  23'" — 30*"  die  Über- 
schriften lateinisch  cursiv,  den  Text  nahezu  ausschließlich  deutsch 
cursiv  geschrieben;  eine  zweite  Hand  schrieb  von  V.  7  auf 
f.  1' — ll**  Text  und  Überschriften  gothisch.  So  schön  diese 
Schrift  ist,  gar  Manches,  namentlich  die  großen  Buchstaben,  lassen 
die  jüngere  Hand  leicht  erkennen.  —  Während  aber  bis  f.  11 
undeutlich  geschriebene  Wörter  äußerst  selten  begegnen,  läßt  die 
Schrift  von  f.  23''  an^  was  Deutlichkeit  betrifft,  viel,  stellenweise 
wie  in  Nr.  8,  sehr  viel  zu  wünschen  übrig:  nicht  nur  a  und  e, 
auch  r  und  t,  p  und  /  sind  zuweilen  mit  Sicherheit  nicht  zu  unter- 
scheiden. 


*)  Darauf  folgt  f.  11°— 17*":  Die  Chünigiu  von  Frankreich  |  hat  ge- 
ticht ein  varunder  man  |  der  hie?  Schöndoch  und  f.  17''  — SS*":  Die  Redt 
hai^t  Ots  vnd  hat  |  geticht  maister  Chunrad  von  Wircz  |  purckh. 

')  Fol.  24'''  wurde  durch  Versehen  zwischen  f.  30  und  31  gebunden. 


306  FRANZ  KRATOCHWIL 

Die  Schreibweise  der  Handschrift  erinnert  vielfach 
an  B,  wenn  auch  C  im  Ganzen,  besonders  von  f.  23^  an,  einen 
Jüngern  Eindruck  macht.  Was  S.  235  über  den  Gebrauch  der  Ma- 
juskel im  Innern  der  Verse,  die  Anwendung  des  Dehnungs-Ä.  {hegehrt, 
loerthen-C  3"  und  6"^  =  P  IV  278  und  567  u.  ö.)  und  die  Vorliebe  von 
z  und  cz  für  tz  gesagt  wurde,  gilt  auch  von  C.  An  Inconsequenz 
lassen  es  auch  die  Schreiber  von  C  nicht  ganz  fehlen ;  so  begegnen 
unter  Andern  in  Nr.  1  V.  131,  133,  180,  187,  240,  241,  249  und  487, 
in  Nr.  4,  V.  33  u.  s.  w.  die  Eigennamen  mit  kleinen  Anfangsbuchstaben. 

Im  Gebrauche  der  Haken  jedoch  zeigt  unsere  Hand- 
schrift  einen  auffallenden  Unterschied  im  Vergleiche  zu 
B.  Wie  in  unserer  Schreibart  findet  sich  in  C  ober  dem  u  ein  Ring- 
lein ("  ^  '^)  und  die  Umlaute  des  kurzen  und  langen  a  ^),  o  und  u 
werden  durch  zwei  darüber  gesetzte  Punkte  oder  Striche  ("  '  "  auch 
^)  angedeutet  und  dies  so  allgemein,  daß  man  dort,  wo  in  einem 
der  beiden  Fälle  die  Bezeichnung  unterblieb  (z.  B.  chunig  in  Nr.  3, 
fursten  C  25"^  =  P  XXXVU,  13  u.  ö.,  fromd  C  29^  im  Titel'  von  Nr.  9) 
ein  Versehen  der  Schreiber  annehmen  darf  Sonst  finden  sich  Haken 
nur  sporadisch  angewendet,  z.  B.  geschlechte  C  7"  =:  P  XX  2, 
set  =  scet  C  S''  =  F  XX  75  (ähnlich  im  V.  167),  chrum  C  6"  =  P 
XXXIV  11,  tüilchs  (A  lauechs)  C  29"^  =  P  XLIII  59,  stdrt  C  30"  =  P 
XXXVI  67,  wuchsen  (=  üe)  C  26*  =  P  XXXVII  71,  wymel  0  2"  = 
P  IV  187  u.  ö.  (die  Punkte  auch  schief  übereinander).  Man  sieht 
daraus,  daß  die  Schreiber  es  geflissentlich  unterließen,  ihrer  alten 
Vorlage  in  der  Wiedergabe  der  Haken  getreu  zu  folgen.  Wo  letztere, 
wie  in  den  obigen  Beispielen,  sich  dennoch  finden,  sind  sie  ihnen  bei 
dem  mechanischen  Abschreiben  gegen  ihren  Willen  raitunterlaufen. 
Daraus  erklären  sich  umgekehrt  aber  auch  Fälle,  in  denen  wohl  der 
Haken  weggelassen,  aber  das  Zeichen  für  den  Vocal  nach  der  den 
Schreibern  geläufigen  Art  zu  transscribieren  vergessen  ward,  wie  be- 
ruren  {=  üe)  C  P  =  P  IV  33,  ivtichsen  {=  uo,  ue)  C  28'^  =  P  XLV  27 
usw.,  yder  C  4*  =  P  IV  320  u.  ö.  Geradezu  störend  ist  in  Nr.  9,  65 
die  Schreibweise  Süchenwirt,  da  nach  dem  ausgesprochenen  Plane 
dieses  Gedichtes  die  Umkehrüng  der  letzten  Silbe  auf  treib  reimen  soll. 

Darnach  kann  es  nicht  Wunder  nehmen,  daß  sich  in  C  Bezeich- 
nungen von  Halbdiphthongen  durch  Haken  auffallend  wenig,  von 
Svarabhakti    gar    nicht    finden.    Für    erstere   ließe   sich    anführen: 


')  Vereinzelt  findet  sich  wele  :  schrete  (=:  05)  C  8*"  =  P  XX,  98   und   ee  =  ce: 
seeligen  C  10*  im  Titel  zu  Nr.  4. 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHENWIRT-IISS.       307 

ü  =  u'  C  7*^  und  8"  =  P  XX  11  und  101  chümer  und  lyürg,  vielleiclit 
noch  e*  =  e*  C  2''  =  P  IV  183  glesein  (das  nach  A  richtig  cjlefen 
heißen  soll).  Bezugs  der  Svarabhakti  macht  es  für  das  erste  den 
Eindruck,  als  ob  die  Schreiber  sich  vollkommen  ablehnend  dagoi:;en 
verhalten  hätten,  denn  in  C  vermißt  man  selbst  Svarabhakti,  die  in 
A  durch  e  oder  i  gegeben  sind,  so  C  2»  =  P  IV  104  Cherg,  C  27"  = 
P  XIX,  71  Kirchen,  sogar  solche,  die  metrische  Geltung  haben,  wie 
C  3"  =  P  IV  264  gern,  C  7"  und  9"  =  P  XX  14,  158  ernst  und  sfern, 
C  2"''  =  P  IV  133,  192  perchtold  und  arbeit.  Aber  dagegen  linden  sich 
in  C  einige,  wenn  auch  wenige  Svarabhakti,  die  A  nicht  hat,  so 
Marschalich  C  4"  —  P  IV  317,  und  in  Nr.  8  V.  27  Mar  ichfeit  mit  metri- 
scher Geltung.  Statt  arm  (richtig  arem)  in  A  hat  C  Nr.  6  =  P 
XXXVII  34,  39,  54,  102  armen. 

Ebenso  sparsam  sind  die  Unterscheidungszeichen  ange- 
wendet; acht  von  den  zehn  Überschriften  folgt  ein  Punkt  (vgl. 
S.  304  f.),  desgl.  dem  letzten  Wort  in  der  Schlußzeile  von  Nr.  5 — 10. 
Der  Schreiber  der  ersten  vier  Nummern  hingegen  setzt  nach  dem 
letzten  Worte  zwei  Punkte  und  dazwischen  einen  Strich  (•/.). 

Der  Gebrauch  der  Abkürzungszeichen  ist  nicht  nur  gegen- 
über A,  sondern  selbst  im  Vergleiche  mit  B  sehr  beschränkt.  ^  wird 
nur  für  auslautendes  er  gebraucht  (zuweilen  vergessen ,  wie  in  Nr.  1 
V.  34  gancz,  131  dain  =  der  ain  u.  s.  w.),  ~  für  e  vor  l,  n  und  r  (C  7'' 
=  P  XXXIV  123  manchn,  C  IP'  =  P  V  Ul  himlreich ,  C  26"  =  P 
XXXVII  80  Eier),  für  fehlendes  w  und  m  (dieste  C  27"  :=r  P  XIX  45, 
Sitt.  im  Titel  von  Nr.  9;  in  manige  C  2''  =  P  IV  155  wurde  das  Ab- 
kürzungszeichen für  auslautendes  m  vergessen);  vm  noch  nach  alter 
Weise  für  und.  oder  unde. 

Nach  alledem  erscheint  es  nicht  auffällig,  wenn  in  C  auch  die 
Sprachformen  vom  Drange  zu  modernisieren  nicht  ganz  unberührt 
geblieben  sind.  So  sucht  man  Formen  mit  auslautendem  t  in  der 
3.  Person  Pluralis  im  Indicativ  des  Präsens  vergebens;  neben  loas 
zeigt  sich  auch  C  ll^'rrrP  V  144  icar;  die  gut  österreichische  Form 
des  Präteritums  leioff^)  von  A  wurde  in  C  29"  ==  P  XLIU  47  durch 
lief  ersetzt,  hingegen  wurde  C  28''  =  P  XLV  83  leuffet  beibehalten. 
Die  2.  Person  der  Einzahl  im  Ind.  des  Prät.  starker  Verba  muß  sieh, 
so  schwer  dies  geht,  Umänderungen  gefallen  lassen;  so  hat  C  in  der 


')  Vgl.  Antou  Schönbach,  Erstes  Stück  der  Mittheihingen  aus  altdeutschen 
Handschriften,  Wien  1878,  Separatabdruck  S.  7  und  Zeitschrift  für  deutsches  Alter- 
thum  und  deutsche  Literatur,  20.  Band  (1876):  Über  einige  Breviarien  von 
St.  Lambrecht  S.   187  ff. 


308  FRANZ  KRATOCHWIL 

Rede  vom  Teichner  V.  84  du  gepört  (A  gepaer).  Veraltet  scheinende 
Präterita  starker  Verb a  sollen  schwache  Form  annehmen;  so  heißt  es 
in  der  Rede  auf  den  verstorbenen  Herzog  Albrecht  III: 

Silber  und  gold  er  ringe  wagt 

und  gab 

manigem  Eitler,  der  da  p  klagt 

der  rai:^.  V.  65  ff. 
seh  für  anlautendes  s  begegnet  noch  nicht  häufig  (schlecht,  schlug  C  3*" 
=  P  IV,  209,  295  u.  s.  w.) ;  von  soln  werden  stets  Formen  mit  anlauten- 
dem s  verwendet;  mancher  findet  sich  nur  vereinzelt  (C  ö'"  ;=  P  IV  452). 
In  diesen  drei  Punkten  zeigt  sich  Übereinstimmung  mit  B  (vgl.  S.  238), 
desgl.  auch  in  der  Abneigung,  b  für  w  zu  setzen;  Beispiele  finden 
sich  allenthalben,  besonders  auffällige  in  Nr.  9.  Von  zehn  Reimstö- 
rungen in  diesem  Gedichte  rühren  sieben  von  dieser  Abneigung.  So 
lautet  V.  4  geb  :  iveg,  V.  8  sib  :  tvis,  V.  30  wag  :  gab,  V.  53  tvar :  Rab, 
V.  57  iver  :  reb,  V.  65  Süchenwirt  :  treib  und  V.  66  wol  :  lob.  —  P. 
IV  131  hat  nach  A  Hainreich,  C  2"  Hainrich,  für  das  in  A  durch  den 
Reim  auf  pran  gesicherte  prewtigan  bringt  0  3*"  =  ?  IV  264  prewtigam, 
T  =  'P  XXXIV  105  leczten  (A  lesten)  und  2V'  =  P  XIX  92  nühn  (A 
nu).  Nebenbei  erwähne  ich  den  ausgedehnten  Gebrauch  von  k  (kk) 
im  Anlaut,  besonders  aber  im  In-  und  Auslaut  für  das  in  A  so  häufige 
ch  (kch,  chk) ,  den  Übergang  von  a  in  o  (morner  C  2*'  =  P  IV  190, 
volsche  C  6*'  =  P  XXXIV,  11)  und  von  i  in  ü  =  u  {C  1' =  F  IV,  7 
Zieht  ig). 

Daß  N  der  Sprache  nach  identisch  mit  A  war,  er- 
sieht man  deutlich  aus  C  trotz  der  eben  besprochenen 
Änderungen;  diese  berühren  somit  den  eigentlichen 
Sprachcharakter  von  C  nicht.  Sie  konnten  und  wollten 
ihn  gar  nicht  alterieren,  denn  sie  gingen  von  Leuten  aus,  deren 
Sprache,  wie  selbst  mehrere  der  Änderungen  bezeugen,  dem  öster- 
reichischen Sprachgebiete  angehörte,  die  aber  manche  alte 
Formen  des  österreichischen  Dialects,  als  nicht  mehr  zeitgemäß,  durch 
andere  ihnen  passendere  ersetzen  zu  müssen  glaubten.  Damit  hängt 
es  zusammen,  daß  durch  diese  Änderungen  der  Sinn  der  Hand- 
schrift nicht  oder  doch  nur  unbedeutend  entstellt  wurde. 

Ganz  verschieden  von  diesen  Änderungen  bezwecken  andere  eine 
Besserung  des  Versbaues,  namentlich  einen  regelmäßigen  Wechsel 
von  Hebung  und  Senkung,  so  durch  Einsetzung  einzelner  Wörtlein: 
Nr.  7  V.  67  er  nach  hiet  (dadurch  Unsinn!)  und  V.  68  und  nach  nain, 
Nr,  10  V.  8  eins  nach  ich;  durch  Weglassung  einsilbiger  Wörter,  z.  B. 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHENWIRT-HSS.       309 

und  in  Nr.  1  V.  25  und  364,  die  nach  ßtrsten  in  Nr.  (5  V.  13  und  dm 
in  demselben  Gedichte  V.  28  u.  s.  w. ;  durch  Unterdrückung  des  Vocals 
in  der  Vorsilbe  ge-  :  glauben  C  23"  =  P  XXXV,  13  u.  a.  w.;  durch  Ab- 
werfung des  Präfixes  ge-  :  schriß  C  10''  =  P  V  29;  durch  AusstolMuig 
von  Silben:  Nr.  1  V.  171  inanig''Hay\  durch  Apokope  Nr.  1  V.  356 
guf'l  und  388  lügend'"',  in  Nr.  5  V.  114  soll''"  toir  u.  s.  w. ;  aber  auch 
durch  Einführung  der  vollen  Formen,  besonders  statt  der  syn- 
kopierten, so  0  6*»  =:  P  XXXIV,  25  armes,  C  10^  =  P  V  8  und  11 
seinem  (A  seim)  und  fronen,  C  26"  =  P  XXX VIF,  63  edlen  u.  s.  w.  — 
Alle  diese  Änderungen  erfüllen  fast  ausnahmslos  ihren 
Zweck. 

Leider  finden  sich  nicht  selten  ganz  zwecklose  Ände- 
rungen gleicher  Art;  so  begegnen  in  Nr.  1  allein  14  Verse,  in  wel- 
chen ein  kurzes  Wort  fehlt  (V.  8  auch,  33  mer,  132  den,  172  ir, 
234  und  471  die  nach  pferd,  295  und  469  das  zweite  da^,  400  und 
406  das  zweite  der  und  dem,  499  sowie  536  und,  endlich  510  so;  in 
Nr.  4,  93  der,  in  Nr.  5,  5  nicht  [dadurch  die  Stelle  sinnlos],  in  Nr.  7, 
15  wann,  in  Nr.  8,  103  in,  in  Nr.  10,  10  in  und  V.  37  der),  auch 
sonst  Verse,  in  welchen  Vorsilben  ganz  unterdrückt  werden  (Nr.  5,  22 
'Tirret,  Nr.  7,  65  ''.pracht) ,  ferner  Synkopen  (Nr.  1,  12  und  490  ed.l 
u.  s.  w.)  und  besonders  Apokopen  {und^.  in  Nr.  1,  7,  267  und  Nr.  2,  5, 
tisch'^^  Nr.  1,  392  u.  s.  w.),  aber  auch  Einsetzung  des  unterdrückten 
Vocals  im  Präfix  he-  {helaib  Nr.  9,  53),  Zusatz  von  Silben  zu  Anfang 
oder  am  Ende  der  Wörter  {gestain  Nr,  1,  251,  geschriß^)  Nr.  7,  64, 
meinem  Nr.  1,  265,  hnheti  ivir  Nr.  5,  19,  ähnlich  Nr.  6,  69),  sowie 
Einfügung  von  überflüssigen  einsilbigen  Wörtlein  (Nr.  7,  31  Allen 
den,  51  e?:5en  an,  Nr.  9,  54  des  todes,  ähnlich  Nr.  10,  28  und  53). 

Manches  dürfte  auf  Rechnung  von  N  zu  setzen  sein; 
denn  mag  dieselbe,  was  Verläßlichkeit  des  Textes  betrifft,  selbst  A 
gleich  stehen  ^),  so  kann  man  doch  mit  Sicherheit  annehmen,  daß  sie 
von  ungleichmäßigen  Schreibungen,  mancherlei  Versehen  und  Schreib- 


»)  Vgl.  Schönbach  a.  a.  O.  S.  9,  Anm.  3. 

')  Die  Übereinstimmung   zwischen  A  und  C  ist  oft  wirklich  über- 
raschend.   So  hat  C  in  Nr.   1,  V.   116: 

Chlar  Rainfal  schancht  man  ein, 
A  hat  Chlarn,   es  stand  aber  ursprünglich   Chlar;    V,   128  ain,   auch  A  hatte  anfäng- 
lich so,  dann  wurde  noch  ein  n  über  n  geschrieben,  daß  es  ainn  heißt.    V.  471 : 

Die  pferd  wurden  heilich, 
A  hatte  ebenfalls  wtirden,  der  Schreiber   änderte  es  aber  in  wom;  V.  473  gründen, 
ebenso  A,    der  Schreiber    besserte    aber    in  gravden  (Graudenz);    V.  487    hat  P  den 


310  FRANZ  KRATOCHWIL 

fehlem,  Willkürlichkeiten  und  verderbten  Stellen  nicht  ganz  frei  war, 
zumal  bei  ihrem  großen  Umfange  mehrere  Schreiber  daran  gearbeitet 
haben  werden.  Auch  konnten  einzelne  Theile  schon  ursprünglich 
undeutlich  geschrieben  worden  sein,  wahrscheinlich  aber  hatte  die 
Vorlage  im  Laufe  von  mehr  als  200  Jahren  allerlei  Schaden  ge- 
litten. —  Daraus  erklären  sich  Schreibfehler  ^) ,  Trübungen  und  Stö- 
rungen des  Reimes'^),  sowie  sinnlose  Stellen^)  in  C,  von  denen 
freilich  ein  guter  Theil  den  Schreibern  dies  er  Handschrift^ 
die  auch  in  ihrem  Drange,  ihnen  Unverständliches  zu  bessern,  nicht 
immer  eine  glückliche  Hand  hatten,  zur  Last  fällt. 

Das  glaube  ich  auch  von  den  Lücken  in  C,  die  allerdings  zu- 
sammen nur  sieben  Verse  betragen;  es  fehlen  nämlich  ohne  äußere 
Unterbrechung  in  Nr.  1  die  Verse  197  und  198,  in  Nr.  9  die  Verse 
25 — 27  und  in  Nr.  10  die  Verse  75  und  76.  Vielleicht  stammt  auch 
von  ihnen  die  Umstellung  der  Verse  in  Nr.  1,  wo  ohne  jede 
Reimstönmg  auf  V.  308  die  Verse  311,  312,  377,  378,  309,  310,  313 
und  314  folgen,  dann  geht  es  mit  V.  315  in  der  Ordnung  von  A 
weiter.  Nr.  9  schließt  mit  V.  68,  die  in  A  noch  folgenden  vier  Zeilen 
stehen  in  C  unmittelbar  nach  dem  Titel,  wohin  sie  auch  mit  Recht 
gehören  (vgl.  S.  209). 


Has,  A  und  C  der  und  V.  495  Der  zehent,  A  und  C  Da%.  P  schreibt  XXXIV,  55 
sighaft ,  C  sigehaft,  A  desgleichen,  aber  das  e  ist  durchgestrichen,  doch  steht  ein 
Punkt  darunter;  es  dürfte  also  doch  das  e  gelten.  C  hat  in  Nr.  9,  V.  4  weg  und 
V.  53  war,  A  ursprünglich  auch  so,  der  Schreiber  änderte  aber  dann  in  beg  und 
har  um. 

')  Z.  B.  in  Nr.  1,  65  den  fursten,  120  reichart,  188  pogenscM:^^es,  200  an  statt 
ain,  372  lehen  für  leben,  476  sprtlch,  Nr.  2,  24  drünen  (A  Drümen),  in  Nr.  3,  8  Da;;, 
in  Nr.  6,  47  schroten,  53  vergo^^en,  in  Nr.  8,  4  Die  anstatt  Do,  11  ober,  31  Singen 
für  Giengen  (vgl.  KU,  §.  5  und  III,  §.  8),  in  Nr.  9,  4  chiinstes,'  und  45  in  für  im, 
ferner  in  Nr.  10,  V.  42,  67  u.  88. 

^)  In  Nr.  1,  45  veracht  (N  verlach  :  gesach) ,  412  lobesan  {:  navi) ,  in  Nr.  3,  191 
gedan  (:  davon),  238  hitte  (:  gute),  in  Nr.  4,  33  paris  (A  Pareis  :  weis),  in  Nr.  6,  86 
erden  (:  werde),  112  hat  der  Schreiber  anstatt  des  Reimes  auf  gemaine  dieses  Wort 
nochmals  geschrieben,  in  Nr.  8,  29  eselgarten  {'.narren),  wofür  wohl  eselkarren  zu 
setzen  ist  (vgl.  Lex  er  I,  S.  709,  III,  S.  167  und  die  zweite  Ausgabe  (1881)  des 
Taschenwörterbuches  unter  O  und  K)  und  101  er  gaioen  (:  khann),  wofür  P  mit  Recht 
gewan  setzt  (vgl.  seine  Ausgabe  170),  in  Nr.  9,  3  der  frewden  jach  (A  chor  :  roch),  17 
niemen  (:  mein)  und  20  og  (:  ge). 

8)  In  Nr.  1,  57,  76,  98,  127,  138,  141  (!),  146,  166,  167,  178,  187,  207  (!),  216^ 
239,  256,  282(!),  284  (!) ,  304  (!!),  308,  317,  321  (dadurch  auch  Reimstörung),  435, 
474  (!!)  und  567,  also  24  Fälle  (vgl.  PS.  154),  in  Nr.  2,  123  (vgl.  PS.  162),  in  Nr.  3, 
167  (vgl.  PS.  155),  in  Nr.  5,  5  (vgl.  PS.  162),  in  Nr.  7,  5  u.  6  (vgl.  PS.  159),  in  Nr. 
10,  38  u.  84  (vgl.  PS.  162  f.). 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHENWIRT  HSS.       311 

Immerhin  erscheint  C,  trotz  aller  KücksichtualunQ 
aufN,  nicht  mit  ganz  gleicher  Sorgfalt  abgefaßt  wie  B 
(vgl.  S.  237).  Dieses  sowie  ihr  unbedeutendes  Alter  ist  keineswegs 
geeignet,  ein  günstiges  Vorurtheil  bezugs  ihres  Werthes  zu  erwecken: 
in  Wirklichkeit  aber  ist  derselbe  durchaus  nicht  gering. 
Sie  hat  zwar,  wie  wir  gesehen,  selbst  mancherlei  Gebrechen,  aber 
diese  sind  meist  leicht  oder  doch  durch  lleranziehuug  von  A  zu  be- 
seitigen. Im  Allgemeinen  bringt  C  einen  sehr  guten  Text. 
Den  besten  Beweis  liefert  ein  Blick  in  die  Ausgabe  von  Suchouwirt's 
Gedichten,  wo  P  S.  154  ff.  die  verbesseruugsbediirftigeii  Stellen  aus 
A  anführt.  Soweit  diese  Gedichten  angehören,  die  auch  in  C  vor- 
kommen, sind  sie  fast  ausnahmslos  durch  C  zu  bessern').  Und  diese 
Stellen  ließen  sich  noch  leicht  vermehren,  wie  denn  überhaupt 
C  in  einer  neuen  Ausgabe  eine  größere  Beachtung  finden 
muß.  —  Im  Gedichte  auf  den  verstorbenen  Herzog  Albrecht  III.  fehlt 
in  A  V.  42;  C  hat  diesen  Vers,  und  dadurch  ist  die  Reimstörung 
in  A  behoben.  Nichts,  weder  ein  äußeres  Zeichen  noch  der  Sinn, 
läßt  in  A  erkennen,  daß  im  Gedichte  von  Herzog  Albrechts  Ritter- 
schaft nach  V.  366  etwas  fehlt:  C  bringt  aber  an  dieser  Stelle 
sechs  inhaltlich  durchaus  nicht  bedeutungslose  Verse, 
die  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  echt  sind  und  daher  von  P  mit 
Recht  in  seiner  Ausgabe  als  Verse  367 — 372  in  den  Text  aufgenommen 
sind.  —  In  Bezug  auf  die  Zahl  der  Gedichte  wird  diese  Handschrift 
nur  von  A  und  B  übertroffen,  aber  unter  den  zehn  Gedichten  von  C 
findet  sich  das  Gedicht  von  fünf  Fürsten,  das  in  A  gar  nicht 
vorkommt").  Von  dem  Gedichte  von  hübscher  Lug  besitzt  A  bloß 
den  Anfang  (V.  1 — 23),  in  C  nur  allein  findet  sich  das  Gedicht  ganz^). 


')  Abgesehen  von  den  Nummern  .S  und  8  liefern  besonders  1,  2,  b,  fi  und  10 
für  die  Textkritik  recht  Brauchbares. 

')  Dieser  Umstand  mag  mit  dazu  beigetragen  haben,  daß  P  noch  vor  dem 
Erscheinen  seiner  Ausgabe  in  Hormayr's  Archiv  (Jahrgang  1822,  S.  188 — 191)  dieses 
Gedicht,  sowie  das  auf  den  verstorbenen  Herzog  Albrecht  III.  abdrucken  ließ. 
P  setzte  nicht  einmal  seinen  Namen  darunter,  wohl  aber  unter  den  Titel  die  Bemer- 
kung: „Nach  einer  Handschrift  der  k.  k.  Hofbibliothek.''  Natürlich  ist  diese  Hand- 
schrift C.  Später  (aber  noch  in  demselben  Jahrgange  des  Archivs  S.  218 — 221)  hat 
er  aus  geschichtlichem  Interesse,  das  bei  ihm  immer  vorwog  (vgl. 
S.  221  f.),  aus  derselben  Handschrift  noch  drei  andere  historische  Gedichte,  nämlich 
von  zwein  Päpsten,  der  Fürsten  Theilung  und  der  Fürsten  Krieg  veröflentlicht. 

')  Ein  ähnliches  Quodlibet  bietet  das  Liederbuch  der  Hätzlerin  in  Haltaus' 
Ausgabe  S.  201 — 203  mit  dem  Titel:  Ain  aubentewrliche  rede  vnd  veilt  von 
ainem    czu  dem    andern,    ferner  Lassberg    im  Liedersaal  S-  383  f.  des  zweiten 


312  FRANZ  KRATOCHWIL 

C  ist  aber  in   Bezug   auf   dieses  Gedicht    ein  Unicum,    da 
die  Vorlage  von  C  gänzlich  verschollen  ist. 

Von  dieser  gibt  C ')  auf  f.  31"  folgende  Nachricht:  In  disem 
alten  buechj^)  daraus  dise  Reimen  geschriben  sein  |  dise  getichte 
zu  finden  samt  der  Tichter  Neraen  ^) : 

1.  Zwainzig  Oester reichischer    Helden  Ritter  Thaten, 

das  in  ein  absonderlich  buech  vnder  meinen  histo- 
ricis  sub  ,lit^)  ....  loc.  .  .  lib...  da  Eitel  authores 
Manuscripti,   eingeschriben  worden 

2.  Die   schön  Abentewr.     Des  Peter   Suchenwirt 

3.  Von   der  mynne  und  seim   vrteil  vnd  slaff 

4.  Der  Rat  von  dem  Vngelt.     Eiusd. 

5.  Von  der  geuticheit.     Eiusd. 

6.  Von  zweien  Bäbsten    Eiusd 

7.  von  dem  Würfelspil     Eiusd 

8.  von  der  Fürsten  chrieg  und  den   Reichstetten     Eiusd. 

9.  von  der  hübschen  lug     Eiusd 
10.    11.    12.   von   dem  Prief,  Jagd,   Widertail.     Eiusd. 
13.    14.  von  dem   Phenning,   Verlegenheit     Eiusd 

15.  von  zehen  geboten     Eiusd 

16.  Der  getrewe   Rat.     Eiusd 

17.  von  dem  Teychner    Eiusd. 

18.  von  herzog  Albrecht  Ritterschaft  in   Preissen    1377.   Eiusd. 

19.  von  herzog  Albr.   vnd  Leupolt  Tailung.     Idem 

20.  von  unser  lieben  Frauen    7.   frewden     Id 

5.  fürsten  von  Mailan,  von  Marchgraf  Sigmund  von  Carlur, 
von  herzog  Wilhelm  vnd  Lewp[olt]  von   Oesterreich 

21.  von  den   7.  todsünden 


p- 

66. 

Jl 

5. 

Tl 

9. 

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2. 

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2. 

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6. 

11 

3. 

11 

2. 

n 

H 

n 

8. 

11 

2 

V 

21. 

11 

4 

n 

3. 

Bandes   miter   der  Überschrift   «Luderei".    Das  Gedicht  ist  aber  hie  und  da  anstößig, 
es  fängt  an:  Ich  bin  kamen  an  die  stat 

Da%  man  rot  snecken  wat  u.  s.  w. 
und  endet: 

Der  hielt  mir  den  win  her 

So  trincJc  ich  nach  mins  hertzen  ger     (128  Verse). 
')  Dieselbe  Hand,    welche   f.  6*    unten    am  Rande    rechts  bemerkte:    Peter 
Suchenwiert   hujus    descriptionis   author,    wahrscheinlich  identisch  mit  dem 
Schreiber  von  V.  1—6  f.  1^  und  f.  23"— SO*". 
^)  So  ist  die  Überschrift  gebrochen. 

*)  Die  gesetzten  Unterscheidungszeichen  sind  in  der  Handschrift. 
■*)  Fernberger    hat    vergessen,    die  Signaturen    an  den    leer  [gelassenen  Stellen 
nachzutragen. 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHENWIRT-HSS.      313 

22.  Der  fromb   sinn   mit  vercherten   Worten     Eiusd. 

23.  Der  vinbgecherte  wagen     eiusd. 

24.  25.   von  dem  jüngsten  gericht,   Neuen   Rath   eiusd. 

26.  von   Aristotelis  reden.     Idem 

27.  Von  Herzog  Albrechten  von   Oesterreich   Id 

28.  Vnsers  Herrn  Wapen   anthore   Versweigseinnicht 

29.  von   der  Chunigin  von  Frankreich   des   Schundoch 

30.  von   Chaiser  Ott  Maister  Chunra?  von  Wirzburg 

31.  von  vnser  Fraiien  die  gülden   Smitte.     Eiusd. 

32.  vnser  frawen   Wappen   des  Härder')   von   Frankh   (Franken?) 

33.  legend    vom  heiligen   Chreuz   Maister  Heinrichs  von  Freiberg 

34.  Von   2.  S.  Johansen  Euangelisten  vnd   Baptisten  geticht  Chlein 

Hansen    von   Chostniz 

35.  von   7.  färben  geticht  Jacoben   Peterswald 

36.  Der   Ritter  mit  dem  Herzen   Maister  Grotfrid  von    Strasbnrch 

37.  Vom   chunig  im   Pade 

38.  Von   Stet  vnd   Vnstette  auth.   Verschweigseinnit 

Vnd  dises  alles  geschriben  Anno  domini  mcccc" 
secundo  InVigilia  SS.  VitiModesti  etCrescentiae 
mar  ty  rum. 

39.  Von  unser  frauen  Marien  lob,   geticht  genant  die   guldin  Arch, 

Heinrich   hunder  Pfundts  n    41. 

40.  Vom   cheuferen  (?)  von   Orient  :^      5. 

Für  diese  Mittheilungeii  über  Inhalt  und  Zeit  der  Abfassung  von 
N  sind  wir  Fernberg  zu  großem  Danke  verpflichtet:  wir  erhalten 
dadurch  werthvoUe  Anhaltspunkte  für  die  Beurtheilung  von  C, 
aber  auch  von  B.  Denn  wem  fiele  nicht  gleich  bei  der  Leetüre  der 
ersten  Nummer  dieses  Inhaltsverzeichnisses  der  Titel  ein,  welchen 
Enenkel  (vgl.  S.  233^f.)  B  vorangestellt  hat?  Der  Anfang  des- 
selben: „Dises  Heldenbuech  oder  beschreibung  XX.  Oesterreichischer 
umb  die  1300.  1330.  1350  1380  berümbten  beiden  Ritterlicher  Thatten 
Ist    abgenommen"  u.  s.  w.    führt    nur    umständlicher    aus,    was 


p- 

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24- 

^)  Vgl.  Germania  3.  Bd.,  S.  .308—313  und  K.  Bartsch,  Meisterlieder  der 
Kolmarer  Handschrift,  Stuttgart  1862,  S.  182,  192  —  198  und  628.  Bartsch'  aus  den 
Reimen  erschlossene  Annahme,  Härder  habe  noch  dem  14.  Jalirliunderte 
angehört,  findet  durch  Nr.  32  des  Inhaltsverzeichnisses  volle  Be- 
stätigung. Härder  kommt  auch  in  der  Wiltener  Meistersänger-Hs.  vor,  ferner  in 
der  von  K.J.  8chröer  im  zweiten  Bande  der  Germanistischen  Studien  (von  K.  Bartsch, 
1875),  S.  206  ff.  behandelten,  in  der  Privatbibliothek  des  Kaisers  von  Österreich  be- 
findlichen Mei!^tersänger-^s.  aus  Steier. 

GERMANIA.     Nene  Reihe.  XXU.  (XXXIV.)  Jahrg.  21 


314  FRANZ  KRATOCHWIL 

die  erste  Nummer  dieses  Inhaltsverzeichnisses  kurz  sagt. 
Was  Enenkel  unter  diesem  Titel  lieferte,  ist  nun  bekannt.  Aber  schon 
1827  schrieb  P,  ohne  irgend  eine  Ahnung  von  B  gehabt  zu  haben, 
in  der  Einleitung  seiner  Ausgabe  pag.  LI  über  den]|Anfang  des  Inhalts- 
verzeichnisses: „Die  erste  Nummer  mit  den  Heldenthaten 
zwanzig  österreichischer  Ritter  ist  offenbar  die  Samm- 
lung historischerGedichte  unseres  Suchenwirt,  welche  ...., 
wenngleich  nicht  mit  Suchenwirt's  Namen  bezeichnet,  doch  durch 
unverkennbare  Ähnlichkeit  der  Sprache  sowie  durch  Andeutung  eines 
Zeitgenossen,  der  Suchenwirt  als  den  Dichter  von  den  Wappen 
rühmt,  ihren  Verfasser  bestimmt  genug  verrathen."  Es  ist  somit 
kein  Zweifel,  daß  B  und  C  aus  derselben  Quelle  geflossen 
sind^). 

Auch  die  (schon  S.  242  beregte)  Dissonanz  zwischen  den  ein- 
undzwanzig Gedichten  von  B  und  Enenkel's  Titel,  der  von  zwanzig 
Helden  spricht,  erhält  ihre  Lösung:  er  fand  eben  den  Fehler 
schon  in  der  ersten  Überschrift  von  N.  Dieser  Fehler  entstand 
offenbar  zu  einer  Zeit,  als  N  bereits  schadhaft  geworden  war.  Ein 
flüchtiger  Leser,  der  die  gefeierten  Helden  zusammenzählen  wollte, 
mag,  der  Lücke  am  Ende  des  Gedichtes  auf  den  jungen  EUerbach 
und  zu  Beginn  der  Rede  von  Kreuspeck  nicht  achtend,  über  das 
erste,  gleich  zu  Anfang  mangelhafte  Gedicht  diesen  zusammenfassen- 
den, aber  mit  der  Zahl  der  gefeierten  Helden  nicht  übereinstimmen- 
den Titel  geschrieben  haben. 

Dazu  stimmt,  daß  keines  von  den  21  Gedichten,  welche 
B  bringt,  in  den  späteren  Nummern  des  Inhaltsverzeich- 
nisses vonN  erscheint.  Die  Nummern  3  und  15  in  B  lassen 
sich  dagegen  nicht  anführen,  denn  erstere  verherrlichet  den  lebenden, 
letztere  den  bereits  verstorbenen  Herzog  Albrecht  IL  von  Österreich, 


')  Dazu  stimmt  auch  die  räumliche  Ausdehnung  von  Enenkel's 
Abschrift  und  der  ersten  Nummer  in  N.  Allerdings  umfaßt  erstere  50,  letztere 
66  Seiten ;  vergleicht  man  aber  die  den  einzelnen  Gedichten  in  N  beigefügten  An- 
gaben über  ihren  Umfang  mit  dem  Kaume,  den  sie  in  A,  C  u.  s.  w.  einnehmen,  so 
ergibt  sich  die  Nothwendigkeit,  daß  in  N  auf  eine  Seite  durchschnittlich  76  Verse 
(wahrscheinlich  in  zwei  Spalten  vertheilt)  kamen.  B  hingegen  hat  auf  jeder  Seite 
ungefähr  100  Verse;  demnach  kämen  auf  ß  5000  Verse,  auf  die  erste  Nummer 
von  N  5016.  —  Daß  in  Wirklichkeit  auf  dem  von  B  eingenommenen  Räume  nicht 
viel  über  4800  Verse,  somit  um  fast  200  Verse  weniger  stehen,  ist  nicht  befremdend, 
da  ja  die  Überschriften  der  Gedichte  in  großer  Schrift  gegeben  sind  und  zwischen 
dem  Schluß  der  einen  und  der  Überschrift  der  nachfolgenden  Rede  häufig  Raum  frei 
gelassen  wurde. 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHENWIRT-HSS.       315 

Nr.  27  des  Inhaltsverzeichnisses  von  N  dagegen  enthält  einen  lobenden 
Nachruf  an  Herzog  Albrecht  III.  von  Österreich. 

Wenn  überdies  Enonkel  sagt,  daß  in  seiner  Vorlage  außerdem 
„noch  andere  mehr  Poetische  beschreibung  oder  getichte,  samt  ein- 
gemischten historien  von  Oesterreichen  Sach"  zu  finden  seien,  so 
stimmt  das  zu  den  folgenden  Nummern  des  Inhaltsver- 
zeichnisses von  N  so  vollkommen  wie  seine  Angabe,  das 
alt  buech,  welches  ihm  1625  zur  Benützung  überlassen 
worden,  sei  vor  200  Jahren  geschrieben  worden,  mit  der 
in  Nr.  38  des  Inhaltsverzeichnisses  beigefügten  Zeit- 
bestimmung, welche  N  in  das  Jahr  1402  setzt. 

Durch  Enenkel's  Bemerkung,  die  Handschrift  gelKire  dem  Wolf 
Christoph  Velderndorfer  zum  Neiden  stein,  wird  es  erklär- 
lich, daß  bei  der  geringen  örtlichen  Entfernung  Enenkel  leicht  mit 
dem  Hause  Velderndorf  verkehren  und  so  auf  die  werthvolle  Hand- 
schrift aufmerksam  werden  konnte.  Vorausgesetzt,  daß  nicht  ohnehin 
schon  freundschaftliche  Verhältnisse  auch  zwischen  Fernberg  und 
Velderndorf  bestanden,  konnten  diese  unschwer  durch  Enenkel  her- 
gestellt werden.  Man  muß  sich  gegenwärtig  halten,  daß  zwischen 
den  Häusern  Enenkel  und  Fernberg  enge  Beziehungen 
schon  lange  herrschten.  Besonders  gilt  dies  zur  Zeit  des 
Job  Hartmann  Enenkel,  der  an  allen  Vorfällen  des  Hauses 
Fernberg  den  regsten  Antheil  nahm'). 

So  konnte  Fernberg  das  „alte  buech"  benützen,  und  er  that 
es  auch.  Fernberg  besorgte  nicht  nur  von  Nr.  1  eine  Ab- 
schrift, sondern  auch  von  den  Nummern  6 — 9,  17 — 19,  20  (aber 
nur  vom  zweiten  Theil) ,  22,  23  und  27.  Wäre  uns  erstere  er- 
halten, so  besäßen  wir  durch  ihn  allein  31  Abschriften 
von  Suchenwirt's  Gedichten,  deren  N  im  Ganzen  50  ent- 
hielte^). 


')  So  dichtet  Enenkel  1593  „Plialeucium  scriptum  funeri  Jani  Fernbcrgii 
Austriaci"  und  1597  Epitaphia  duo  inGeor<,'ium  C  ristophornm  a  Fernberg 
(vgl.  die  Handschrift  der  Wiener  IlofbiblioUiek   10100,  Nr.  21   u.  25). 

^)  Diese  Zahl  erhält  man,  da  die  erste  Nummer  21,  die  dritte  3  Gedichte  um- 
faßt; letztere  sind  die  in  A  als  Nummer  4,  7  und  26  angeführten  Gedichte:  „Die 
Rede  von  der  Minne",  „Die  Minne  vor  Gericht"  und  „Der  Minne  Schlaf".  —  Dodi 
enthält  N  nicht  alle  Dichtungen  Suchenwirt's,  wie  P  in  der  Einleitung  pag.  XLI.X 
seiner  Ausgabe  angibt,  denn  es  fehlt  nicht  nur  Nr.  42  von  A:  Equiuocum,  sondern 
auch  das  letzte  Gedicht  in  P:  Gar  ain  Schöne  Rede  uon  der  Liebin  vnd  der 
Schonin,  wie  sie  kriegten  mitt  ainander. 

2r'- 


316  FRANZ  KRATOCHWIL 

Glücklicherweise  besitzen  wir  Enenkel's  Aufzeichnung.  B  und  C, 
welche  durch  eng  befreundete  Männer  nahezu  um  die 
gleiche  Zeit  aus  derselben  Quelle  entstanden,  repräsen- 
tieren mehr  als  drei  Fünft  heile  der  Suchenwirtischen 
Dichtungen  in  N,  sie  ergänzen  sich  zu  einer  Abschrift, 
zu  einer  im  Ganzen  ziemlich  treuen  Copie  eines  großen 
Theiles  von  N,  einer  Handschrift,  die  nicht  nur  durch 
ihren  reichen  Inhalt  und  die  Güte  der  Überlieferung 
hohen  Werth  besaß,  sondern  auch  dadurch,  daß  ihre  Ab- 
fassung den  letzten  Lebenstagen  Suchenwirt' s  nicht 
ferne  war. 

V.    s. 

Dem  15.  Jahrhunderte  angehörig,  aber  jünger  als  N 
is  t  s,  eine  Papierhandschrift  in  Quart,  Eigenthum  des  n.  ö.  Benedictiner- 
stiftes  Seitenstetten,  wo  sie  die  Nr.  286  führt.  Herrn  G.  Friess, 
Professor  am  dortigen  Gymnasium,  verdanke  ich  es,  daß  ich  dieselbe 
in  meiner  Wohnung  bequem  benutzen  konnte. 

Die  Handschrift  ist  durch  dicke,  auswendig  mit  Leder  überzogene 
Holzdeckel  geschützt,  welche  durch  zwei  Schließen  zusammengehalten 
werden.  In  das  Leder  sind  auf  beiden  Deckeln  je  sechs  Vierecke 
gepreßt,  welche  ein  Thier  mit  steinbockartigem  Kopf  und  vorge- 
streckter Zunge,  eigenthümlichen  Pranken  und  geringeltem  Schweife 
umgeben.  Inwendig  sind  beide  Deckel  mit  beschriebenem  Pergament 
beklebt.     Die  Handschrift  stammt  von  verschiedenen  Händen. 

Sie  enthält:  1.  Homiliae  variorum  Doctorum;  2.  Legenda  trium 
Magorum;  3.  Aelredi  tractatus  de  Jesu  duodenni;  4.  Exegetica  V. 
et  N.  Testamenti;  5.  Carmen  de  Equite  Chreui^pekchn  (idio- 
mate  teutonico)  et  de  laude  mulierum:  Da^  ist  der  vrawen  lob^); 
6.  Jacobi  de  Cessolis")  liber  Schachorum;  7.  Theologica  miscellanea 
cum  paraphrasi  orationis  Dominicae  und  8.  Stella  clericorura. 

Mehrere  Blätter  sind  unbeschrieben,  so  vor  Suchenwirt' s 
Gedicht,  das  so  ziemlich  in  der  Mitte  des  dicken,  nicht 
paginierten  Codex  auf  sechs  und  einer  halben  Seite  steht. 


')  Anfang:      Wa^  hoher  wird  und  ere         Oot  hat  geleif,  an  raine  loeib, 
Ende:      Wa%  slaffet  oder  wachet         daroh  swebt  eins  weibes  nam 
die  vorcht  hat  und  schäm. 
Es  sind    drei  Strophen;    vgl.  Altdeutsche  Blätter  von  Haupt  und  Hoffmann   1,  .383 
und  K.  Bartsch,  Meisterlieder  S.  486—487  u.  693. 

')  Französischer  Dominikaner  am  Ende  des   13.  und  zu  Anfang  des  14.  Jahrhs. 


ÜbEU  DEN  GEGENWÄRTIGEN  ÖTAND   DEK  81ICI1EN\V1KT  IISS.       317 

Hier  ist  kein  Buchstabe  lutli,  nicht  ciuiual  die  Überschrift.  Die  Verse, 
ungefähr  fünfzig  auf  jeder  Seite,  sind  fortlaufend  geschrieben,  aber 
von  einander  meist  durch  zwei  schiefe  Striche  (^)  getrennt;  sie  be- 
ginnen bald  mit  großen,  bald  mit  kleinen  Buchstaben. 
Die  Schrift  ist  der  in  A  sehr  iihnlich,  doch  gebraucht  der 
Schreiber  im  Anlaute  nur  z  (;;),  wo  A  cz  oder  tz  hat.  Die  gewöhn- 
liche Form  der  Haken  ist  *,  sehr  selten  begegnet  ^  und  \  nur 
einmal  ""  (V.  298  zypper)^  über  y  steht  meistens  ein  runkl.  Die 
Verwendung  der  Haken  entspricht  ganz  der  in  A;  dasselbe 
gilt  vom  Gebrauche  der  Abkürzungszeichen;  nam  :::=  namen 
erinnert  an  den  18.  Schreiber  in  A  (vgl.  S.  212),  hingegen  ist  "  -= 
eich  (V.  202  vlei^i;,ichl)   neu. 

Auch  die  Sprach  formen  sind  dieselben  wie  in  A,  doch 
findet  sich  in  s  immer  edeln  (A  edlen),  meist  die,  wo  A  di  oder  dy, 
ze,  wo  A  czu  oder  czu  hat;  auch  zeigt  sich  häutig  Neigung  lo  für  h 
zu  setzen,  besonders  im  Präfix  he-,  hingegen  erscheint  nur  zweimal 
b  für  10 :  308  siben  buryen  und  322  gehert.  Fast  ausnahmslos  hat  s 
(in  Übereinstimmung  mit  B)  da  (A  do) ,  auch  sonst  läßt  sich  oftmals 
Übergang  von  o  in  a  beachten:  14  tvarten,  215  erbarben,  13  und  317 
ica,  105  daclt  {A  doch).  Letzteres  läßt  auf  alemannischen  Dialect 
schließen  (vgl.  Weinhold,  Alem.  Gr.  ^.  11)  [Nein!  O.  B.].  Dasselbe 
gilt  von  dem  fast  durchstehenden  Gebrauche  des  ouch  (Weinhold  a.  a.  0. 
§.  51)  und  folgenden  vereinzelten  Stellen:  17  sclnimpfuniuni  :  (jesticrn 
und  117  schumpfetior  (Verengung  von  iu  zu  ii,  a.  a.  O.  §.  47),  339 
stiwr  :  kobertiwr  und  352  yetiwrten  (B  getewrten,  A  getewerteu,  a.  a.  O. 
§.  61  und  67),  139  prises  {i  =  ei,  a.  a.  O.  §.  57),  236  schale  (Nom. 
masc,  a.  a.  O.  §.  20).  Weniger  Gewicht  lege  ich  auf  heneyow  :  pow 
V.  279  (a.  a.  O.  §.  70)  und  auf  einige  Fälle  von  Widerstand  gegen 
den  Umlaut:  6  lourd,  7  osterreich  und  (wie  in  B)  fast  immer  fünf  (a.  a.  O. 
§.  29),  aber  in  Verbindung  mit  den  übrigen  Erscheinungen  sind  sie  nicht 
ohne  Bedeutung;  ebensowenig  351  der  Imperativ  xounschent  (a.  a.  0. 
§.  342)  und  332  ich  tun  bechant  (a.  a.  O.  4j.  354).  Die  Form  tuon  ist 
in  der  1.  Person  sing.  ind.  des  Präsens  bei  Suchenwirt  allerdings  sehr 
häufig,  aber  vor  der  Partikel  be-  gebraucht  er  jedesmal  tuo  (tue),  vgl.  K 

m,  §.  63. 

An  15  Stellen  (vgl.  die  Lesarten  von  s  in  P  S.  157  f.)  lauten 
die  Orts-  und  Ländernamen  in  s  mehr  oder  minder  abweichend 
von  A;  vielleicht  ist  Einzelnes  auf  Schreibfehler  zurückzuführen, 
so  47   pabst    (da  66  das  richtige  ^>a6-<  steht),    wahrscheinlich  auch  20 


318  FRANZ  KRATOCHWIL 

gestel,  wohl  aber  nicht  in  demselben  Verse  purm^)   (:  dürm,  A  Göltet, 
Prünn  :  dünn). 

Es  ist  möglich,  daß  ein  österreichischer  Schreiber  s  nach 
einer  alemannischen  Vorlage  schrieb  und  Einzelnes  daraus  (viel- 
leicht weil  unverstanden)  im  alemannischen  Dialect  wiedergab,  aber 
der  fast  durchstehende  Gebrauch  des  ouch  macht  es  mir  wahrschein- 
licher, daß  s  ein  Alemanne  geschrieben,  der  durch  langen 
Aufenthalt  in  Osterreich  (Seitenstetten?)  der  österreichischen  Sprache 
mächtig  war,  dem  aber  unwillkürlich  beim  Abschreiben  seiner  öster- 
reichischen Vorlage  manches  Alemannische  in  die  Feder  floß. 

Ob  diese  Vorlage  A  oder  N  war,  läßt  sich  nicht  entscheiden. 
Allerdings  stimmen  die  Abweichungen  der  Handschrift  s 
von  A  vielfach  mit  B,  öfter  geradezu  überraschend;  so  ist 
ein  Drittheil  der  oben  beregten  Orts-  und  Ländernamen  in  s  und  B 
gleich  (V.  64,  89,  186,  238  [Norwegen]  und  248),  aber  daneben 
bestehen  denn  doch  solche  Unterschiede  zwischen  s  und  B, 
daß  die  Annahme,  s  sei  aus  N  geflossen  (natürlich  bevor  dort  die 
Rede  auf  Kreuspeck  verstümmelt  worden) ,  wieder  etwas  wankend 
wird.  Jedenfalls  ist  der  Text  von  s  dem  von  B  (in  Bezug  auf 
Kreuspeck)  vorzuziehen,  denn  s  ist  der  alten  Schreibweise  getreu 
und  von  Schreibfehlern  freier  als  B. 

Solcher  (35  ei-en  :pern,  241  Egellant  u.  s.  w.)  kommen  in  s  acht 
vor,  außerdem  fehlt  278  ein  in,  342  er  und  wohl  durch  Schuld  des 
Schreibers  die  Verse  220—225.  —  Verderbt  sind  nur  wenig  Stellen: 
215,  218,  241,  332  (vgl.  P  S.  157  f.)  und  166  da^  (A  des);  hingegen 
erscheint  der  Rhythmus  einigemalgestört  durch  volle  Formen  (statt 
der  apokopierten  und  synkopierten  in  A) :  4  und  74  hertze,  31  veste, 
b?tnamen,  ISl  geivalf,  196helaif>,  2i6  hai^^et-^  noch  mehr  durch  22  Fälle 
von  Apokopen*)  und  12  Synkopen^),    die  in  A  nicht  vorkommen. 

')  Ist  es  vielleicht  durcii  Umstellung  des  r  und  unechtes  m  für  n  am  Ende 
(a.  a.  O.  §.  197  u.  168)  aus  Priinn  zu  erklRieu  und  dürm  aus  dünn  durch  Einschie- 
bung  eines  unechten  »•  (a.  a.  O.  §.  197)  und  Eutwickelung  eines  unechten  m  am  Ende? 
Oder  steht  es  für  dürnin  (Lexer  I,  S.  496):  er  machte  der  Feinde  Freude  zu 
Dornen?  Oder  für  türm  aus  türmen  =  türmein  schwindeln,  taumeln  (Lexer  II,  S.  1582)  ? 
Vgl.  M.  J.  Chr.  von  Schmid,  Schwab.  Wörterbuch,  zweite  Ausgabe  (1844),   S.  149. 

')  P  gibt  nur  an  90  und,  112  havf,  141  voJchomen  uud  182  tag,  die  übrigen 
sind:  18  frevmd,  19  veind  fräwd,  27  gantz ,  73  und  97  veint,  110  rant,  119  gro^^, 
143  veld,  146  tümyrt,  \b%  flucht ,  166  u.  211  rüterscheß,  197  taegleich,  263  land,  265 
auf  dei'  ainn  vert  :  hert,  334  golt  und  347  sei. 

^)  Da  P  in  den  Lesarten  nur  178  Eatreyn  anführt,  gebe  ich  die  übrigen  an: 
55  Streits,  97  tailn  :  maiin,  131  stiirms,  136  stürmt,  159  geschrirn,  189  halbs,  191  ainn, 
330  gots  und  348  rosenvarbs. 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHEN WIRT-HÖS.       319 

Wenn  auch  nach  dem  Gesagten  s,  trotzdem  diese  Ilaudschiift 
nach  Schrift  und  Sprache  nicht  viel  jünger  als  A  ist,  nicht  auf 
gleiche  Stufe  mit  A  zu  setzen  ist,  so  ist  sie  doch  immerhin 
eine  gute  Handschrift:  sie  liefert  an  nahezu  20  Stelleu 
mehr  oder  minder  erhebliche  Verbesserungen  zu  A. 

VI.  h'. 

Von  weit  minderem  Belang  für  die  Textkritik  ist  h', 
Papierhandschrift  Nr.  182  (vormals  355)  in  Quart,  der  Universitäts- 
Bibliothek  in  Heidelberg  gehörig.  Dankbar  erwähne  ich,  daß  der 
damalige  Bibliothekar,  Herr  Dr.  Bender,  mit  Bewilligung  des  groß- 
herzoglichen  badischen  Ministeriums  des  Innern  diesen  Codex  sowie 
h**  und  h^  mit  großer  Bereitwilligkeit  nach  Wien  zur  Benützung  auf  der 
k.  k.  Hofbibliothek  übersandt  hat. 

Alle  drei  gehören  zu  jenen  Handschriften,  welche 
1622  aus  der  kurpfälzisehen  Bibliothek  nach  Rom  gewan- 
dert sind.  Als  man  1815  von  Frankreich  die  geraubten  Kunst- 
schätze,  Handschriften  und  werthvollen  Bücher  zurückverlangte,  wollte 
auch  Rom  jene  500  Manuscripte  (darunter  38  pfälzische),  welche  es 
im  Frieden  von  Tolentino  (19.  Februar  1797)  an  Frankreich  abtreten 
mußte,  zurückbekommen.  Durch  Unterstützung  der  Verbündeten  gelang 
dies  Rom  vollständig,  weßhalb  die  Curie  das  Ansuchen',  die  38  pfäl- 
zischen Handschriften  Heidelberg  zu  überlassen,  1816  bereitwillig 
erfüllte.  Die  Hoffnung  jedoch,  Rom,  das  durch  die  Verbündeten  so 
viele  äußerst  werthvoUe  Handschriften  zurückerhalten,  werde  auch 
der  weiteren  Bitte,  den  andern  Theil  der  pfälzischen  Bibliothek  der 
Universität  Heidelberg  zurückzugeben,  willfahren,  war  trügerisch: 
nur  die  deutschen  Handschriften  und  einige  andere ,  zusammen  890, 
wurden  restituiert  (vgl.  Friedrich  Wilken,  Geschichte  der  Bildung, 
Beraubung  und  Vernichtung  der  alten  heidelbergischen  Bücher- 
sammlungen. Nebst  einem  meist  beschreibenden  Verzeichnisse  der 
im  Jahre  1816  vom  Papste  Pius  VII.  der  Universität  Heidelberg  zurück- 
gegebenen Handschriften.  Heidelberg  1817). 

Das  Äußere  von  h'  ist  sehr  schön;  die  beiden  durch  Schließen 
zusammengehaltenen  Deckel  sind  mit  gepreßtem  braunen  Leder  über- 
zogen und  an  den  Ecken  beschlagen.  Der  vordere  Deckel  zeigt 
Otto  Heinrichs  Bildniß  in  Gold;  zu  Häupten  steht  0.  H. ,  unten 
R  a  und  die  Zahl  1558. 

Die  Handschrift  zählt  161  beschriebene  und  fünf  unbeschriebene 
Blätter    und    enthält  f.  1'' — 12''  Suchenwirt' s  Räthc    des  Aristo- 


320  FRANZ  KRATOCHWIL 

teles;  von  sonstigen  Stücken  erwähne  ich  f.  19 — 23''  Das  güldin 
jar  von  Hans  Zukunft  und  f.  28'' — 114''  Dichtungen  von  Meister 
Altswert  und  zwar:  Die  Minnennot  —  f.  33'',  der  Kittel  —  f.  74,  der 
Schatz  {ettliche  Reimen  von  dem  hiolen)  f.  75 — 106"  (1469  Verse)  und 
der  Spiegel  (366  Verse)  f.  106"— 114'.  Vergl.  Karl  Bartsch:  Die  alt- 
deutschen Handschriften  der  üniversitäts-Bibliothek  in  Heidelberg. 
Heidelberg  1887,  S.  103  f. 

Suchenwirt's  Gedicht  trägt  die  lange  Überschrift:  Hienach  stett 
geschrihen  loie  der  wifi  aristottelle^  ßinem  herreu  Dem  grossen  küng  al- 
lexandern  sin  getriiioen  Rät  loisfi  vnd  ler  liinder  ihm  geschriben  ließ  als 
er  von  dieser  weit  scheiden  müst  <f  —  Jede  Seite  hat  nur  eine  Coluinne, 
diese  besteht  aus  ungefähr  20  Versen;  jeder  ist  abgesetzt  und 
beginnt  mit  einem  großen,  roth  durch strichenen  Buch- 
staben. Die  Schrift  ist  gothisch,  weicht  von  der  in  A  ziem- 
lich stark  ab  (so  durch  die  /.t),  weist  aber  noch  in  das  15.  Jahr- 
hundert. Abkürzungen  (durch  '^  und  gegeben)  begegnen  nicht 
häufig,  Unterscheidungszeichen  im  Texte  gar  nicht.  Die  ge- 
wöhnlichste Form  des  Hakens  ist  ',  daneben  '  (so  immer  kang), 
^  ",  seltener  '  und  vereinzelt  '  (241  schlichen  =  schiuhen).  Sie  werden 
nicht  nur  zur  Bezeichnung  der  Vocale  (auch  in  der  Flexion:  321  bühh 
u.  ö.),  sondern  auch  der  Halbdiphthonge  verwendet;  aber  während 
in  A  am  seltensten  die  aus  a  entstandeneu  Halbdiphthonge  begegneten 
(vgl.  S.  215),  sind  sie  hier  die  zahlreichsten  (341  zwar,  475  uff  der 
wäge,  431  rät  ich,  310  dissem  rät  (ebenso  31  u.  o.),  312  an  menger  statt, 
52  cläfen  (:  schaffen).  Svarabhakti  (durch  e,  i  oder  Haken  aus- 
gedrückt) finden  sich  nicht. 

Was  ich  in  S  als  vereinzelte  Spuren  des  alemanni- 
schen Dialcctes  bezeichnete,  findet  sich  hier  ganz  all- 
gemein; überdies  fast  durchgehends  an  =  ä  261  schlau  ff,  A  slaff, 
305  haut,  A  hat  (vgl.  Weinhold,  Alemann.  Grammatik  §.  52),  ie  =  e 
in  244  niemen  und  298  niem  (a.  a.  0.  §.  64),  immer  och,  frSivt  (verb.) 
und  frod  (subst.),  116  der  löff  (A  lauff),  257  höpt  (A  haubt),  vgl.  a. 
a.  O.  §.  42  und  45;  immer  ü  =  au  (43  tusent,  114  uff,  a.  a.  0.  §.  51); 
513  vmer  und  433  numer  (a.  a.  O.  §.  32). 

Immer  hriß  (a.  a.  0.  §.  153  und  189  Ende);  s  in  den  Verbin- 
dungen sp,  sw,  st,  sl,  sm  und  sn  wird  im  Anlaut  zu  seh  (4  verschioinden 
u.  s.  w.,  a.  a.  O.  §.  190);  Einschiebung  von  n  (a.  a.  O.  §.  201)  erscheint 
74,  359  geschenhen  :  gesenhen  und  292  senhent  (3.  Person  pl.  praes.), 
142  begegnet  momentz  (A  morgen,  a.  a.  O.  §.  277).  Vortritt  eines  un- 
echten h  (a.  a.  O.  §.  230)  zeigt  sich  in  der  Vorsilbe  er-  (184,  502  her- 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHENWIinMISS.       321 

härmen,    395  /terßiiden,    'SViJ  /tcikcntien,    4'Ji)  Iici werben),    neben    iiiht  er- 
scheint meistens  ?iit  (a.  a.  O.  §.  322). 

In  der  2.  Person  pl,  des  Präsens  ist  das  Fehlen  des  t  fast  all- 
gemein, selbst  im  Keime,  so  410  ir  hahiit  :  Jie  kuahcn,  ähidieh  437 
(a.  a.  0.  §.  342);  in  der  3.  sing.  ind.  präs.  und  im  Plural  des  Imperativ 
zeigt  es  sich  nur  vereinzelt  (267  kreugk,  374  (jedenck  ir  /icrrcii,  a.  a.  <  ). 
§.  341),  desgl.  der  Abfall  des  71  im  Infinitiv  (118  truie,  a.  a.  (>. 
§.  370).  In  17  erscheint  bereits  die  Form  schrieb  (A  hat  noch  nc/mdb, 
a.  a.  O.  §.  333).  Von  shi  finden  sich  die  Conjunctivformcn  :  lOU  i'V/.s7, 
153  e^  sie,  294  6<  si(/ent  (a.  a.  O.  §.  353),  von  sidu  214  sitUt  (a.  a.  O. 
§.  379).  V.  32  hat  A  seic,  h'  sie  (Accus,  pl.  masc,  a.  a.  O.  §.  416); 
durchgängig  schreibt  h'  disse,  diases  usw.  (a.  a.  O.  §.  191);  das  starke 
Adjeetiv  endet  im  Plural  des  Accus,  neutr.  auf  11  --^  ü  (241  ndiniidii 
ivip,  a.  a.  O.  §.  424);  stets  begegnet  7neitk  (A  104  manik) ,  35  mentjein 
u.  s.  w. 

Zu  dem  jüngeren  Alter  der  Handschrift  stimmen  nicht  nur  die 
graphischen  und  sprachlichen  Verhältnisse,  sondern  auch  die  Ver- 
wilderung des  Versbaues,  h'  zeigt  bis  V.  314  zahlreiche  Ab- 
weichungen, weniger  durch  Umstellung  und  Auslassung  als  durch 
Einschieb ung  von  Wörtern  herbeigeführt.  Häufig  sind  derlei 
Änderungen  überflüssig,  nicht  selten  dem  Satz-  oder  Versbau  sogar 
schädlich,  aber  aus  Allem  macht  sieh  doch  das  Bestreben  be- 
merkbar, dem  Verse  einen  jambischen  oder  a  n  a  p  ä  s  t  i  s  c  lum 
Anfang  zu  geben  *),  „eine  Rücksicht",  von  der  P  in  seiner  Aus- 
gabe S.  163  in  den  Lesarten  zu  XXXVIII  sagt,  „daß  sie  dem  Dichter 
gewiß  fremd  war".  —  Diese  Behauptung  ist  vollständig  falsch,  denn 
eine  genaue  Beobachtung  der  Suclienwirtischen  Vei'se  zeigt,  ilaß 
das  VerhältnilJ  der  mit  Auftact  beginnenden  zu  den  tro- 
chäisch  a  nfangen  den  Versen  durchschnittlich  wie  10:1  ist. 
Es  wäre  somit  die  in  h'  sich  kundgebende  Tendenz  dem  Dichter  gerecht 
zu  nennen;  nur  darf  dies  nicht  so  aufgefaliit  werden,  als  ob  iSuchenwirt 
nur  Verse  mit  Auftact  gedichtet  hätte,  oder  gar  vielleicht  lauter  rein 
jambische  nach  unserer  Auffassung.  Dieser  entsj)rechen  übrigens  die 
Verse  in  h*  gewiß  in  sehr  vielen  Fällen  auch  nicht. 

80  findet  sich  als  Auftact  häufig  verwendet  Lang,  imd  (137,  150, 
245,  295  u.  s.  av.),  so  (146,  236),  icenn  (187  u.  ö.),  denn  (211,  239  u.  s.  w.), 
vil  (222)  und  dergleichen  mehr,  im  Innern   eingeschoben,  um  Auftact 


')  Vgl.   über  die  Bedeutung  des  Auftactes  in  dieser  Zeit  Bartscli,    Mcistorlieder 
Ö.   155. 


322  FRANZ  KRATOCHWIL 

zu  erhalten,  och  (41,  241,  242  u.  s.  w.) ,  all  (249),  dick  (275)  u.  s.  w. 
Mehrere  dieser  Änderungen  (so  in  150,  222,  236,  239,  241,  275) 
sind  gut  und  ohne  Bedenken  in  eine  neue  Ausgabe  auf- 
zunehmen. Zu  verwerfen  sind  sie,  wenn  dadurch  Verse  mit  vier 
Hebungen  und  klingendem  Schluß   entstehen 

(wie  158:   Und  hör  toa^  ich  dir  furhaz,  schreibe, 
168:  mit  leih  und  och  mit  gut  nü  schawe, 
254,  264,  274,  288  u.  ö.),  mehr  als  vier  Hebungen,  mehrsilbiger  Auf- 
tact  oder  gar  Mehreres  zugleich,  z.  B. 

65:  küng  hiß  erengitig  und  rechter  milt, 
89:  Aller  hübischen  wiß  der  hiß  du  gram, 
93:  Den  armen  und  die  sin  notdurfftig  sind, 
208:   Gerechtichait  die  trag  in  dinem  munt, 
273:   Und  halt  dich  als  ain  kung  und  herre  sol, 
297:   0  herre  Allexander  ich  hah  sorg  u.  s.  w. 
Denn  in  304  ist  wohl  auf  einen  Irrthum  zurückzuführen,    denn    der 
Vers  bekommt  dadurch  trochäischen  Anfang. 

Aus  Willkür  oder  durch  Versehen  wurden  häufig 
auch  Wörter  weggelassen;  nicht  selten  entstanden  dadurch  Verse 
mit  nur  drein  Hebungen  und  stumpfem  Schluß  (118  fehlt  varn,  120 
geren,  IdO  paide,  114,  178,  281  u.  s.w.),  desgleichen  durch  Contraction 
der  vollen  Formen  des  unbestimmten  Artikels  und  des  Possessivpro- 
nomens. Sicherlich  ist  es  nur  ein  Versehen,  wenn  1  79  du  fehlt  oder 
203  vil,  denn  diese  Verse  bekommen  dadurch  trochäischen  Rhythmus, 
dem  der  Schreiber  abgeneigt  ist.  Man  sieht,  dieser  kennt  für 
Verse  mit  stumpfem  und  klingendem  Schluß  keinenUnter- 
schied  in  der  Anzahl  der  Hebungen. 

In  den  Reimen  begegnet  nicht  viel  Auffälliges;  einige  Unge- 
nauigkeiten  kommen  vor,  so  98  pflichten  :  gericht,  109  sigst  :  frist, 
133  kamen  :  frömen,  321  wiß  :  hrissen,  330  verniem  :  ungestem,  422  fro- 
men  :  vernümen,  435  enden  :  erkennen.  Nach  den  Versen  314  und  320 
zeigt  sich  Reimstörung  und  zwar  keineswegs  zufällig.  Während 
das  Gedicht  in  A  352  Verse  hat,  zählt  es  in  h^  fünfhundert- 
fünfzehn. Bis  314,  also  bis  gegen  den  Schluß  der  eigentlichen 
Räthe  des  Aristoteles  (diese  enden  in  A  mit  V.  324),  ist  zwischen  A 
und  h^  wenigstens  eine  leidliche  Übereinstimmung,  die  allerdings  um 
so  kleiner  wird,  je  weiter  das  Gedicht  fortschreitet.  So  folgen  in  h^ 
nach  V.  111  drei  eingeschobene  Verse  (vgl.  P  S.  164,  nur  sind 
die  dort  angegebenen  Verszahlen  unrichtig),  dann  geht  es  mit  V.  112 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHENWIRT-HSS.   323 

von  A  weiter;  ganze  Verse,  wenn  auch  dem  Sinne  nach  verwandt, 
lauten  anders  als  in  A: 

A  140:  Ir  Zungen  die  chan  pieten  schach 
h^  140:  /;•  munf  der  stiftet  jiiein  und  ach, 
ebenso  171,  172,  200,  229,  249,  250,' 253,   254,   260,   265,   309  —  311. 
Man    sieht    daraus,    wie  Haltaus    in   der  Einleitung  zum   Liederbuche 
der  Hcätzlerin  pag.  XXXIII  sagt,  daß  die  Gedichte  jener  Zeit  von   den 
Abschreibern  oder   Dichterlingen  völlig  paraph  rasiert  wurden. 

Recht  anschaulich  wird  dies  vom  V.  314  ab;  obwohl  in  h'  noch 
über  200  Verse  folgen  (vgl.  P  S.  165—168),  umfnlit  dieser  Theil  in- 
haltlich doch  nicht  mehr  als  in  A  die  Verse  315 — 324;  hier  hört 
der  Parallelismus  zwischen  A  und  h'  auf.  Dieser  Theil  ist 
wahrhaft  holperig;  einigemal  (V.  446  und  464)  wird  die  in  diesem 
Gedichte  eingehaltene  gekreuzte  Reimstellung  verlassen.  Es  ist  ein 
ewiges  Wiedei-käuen  eines  und  desselben  Gedankens,  oft  in  den  plat- 
testen Ausdrücken,  das  Ganze  ein  elendes  Machwerk.  Es  wird 
einem  ekel,  den  Aristoteles  durch  200  Verse  so  erbärmlich  winseln 
zu  hören.  Um  dieser  geistlosen  Reimerei  willen  müssen  wir  auf  die 
Schlußverse  von  A  (325—352),  in  welchen  Suchenwirt  die  Zeit  der 
Abfassung  und  das  secret  secretorum  ^)  als  seine  Quelle  angibt ,  auf 
König  Wenzels  Gefangennahme  hinweist  und  seine  Autorschaft  be- 
zeugt, verzichten. 

Trotz  aller  dieser  Abweichungen  und  einiger  sinnlosen  Stellen 
(V.  16  der  faric,  102  zweimal  die  für  dich,  67,  106,  251)  könnte  h' 
aus  A  geflossen  sein,  doch  ist  es  nicht  wahrscheinlich.  Für  die 
Herstellung  des  Textes  liefert  diese  Handschrift^)  bloß 
unbedeutende  Besserungen  und  dies  nur  an  wenigen 
Stellen. 


')  Vgl.  W.  To  ischer  ,  Aristotilis  lieimlicbkeit.  Separatabdruck  aus  dem  Jabres- 
bericbte  des  k.  k.  Gymnasiums  zu  Wiener-Neustadt  1882.  VI  und  42  S.  %^,  und  von 
demselben:  Die  altdeutschen  Bearbeitungen  der  pseudo-aristotelisclien  Secreta-secreto- 
lum.  Separatabdruck  aus  dem  Jahresberichte  des  k.  k.  Gymnasiums  Prag-Neustadt 
1884.  36  S.  Vgl.  noch  S.  91  f.  im  11.  Bande  des  Anzeigers  für  deutsches  Alterthum 
und  deutsche  Literatur  (1885). 

')  S.  167  der  Nachrichten  von  altdeutschen  Gedichten,  welche  aus  der  Ileidel- 
bergischen  Bibliothek  in  die  Vaticanische  gekommen  sind  (Königsberg  1796),  sagt 
Friedrich  Adelung  bei  Besprechung  unserer  Handschrift,  daß  von  den  Räthen 
des  Aristoteles  eine  Abschrift  zu  Straßburg  sich  befinde.  Auf  eine  diesbezügliche 
Anfrage  hatte  der  dortige  Oberbibliotbekar  Herr  Professor  Barack  die  Güte,  mir 
zu  antworten,  daß  von  dieser  Abschrift  —  falls  Adelung's  Angabc  überhaupt  richtig 
war  —  derzeit  keine  Spnr  vorhanden  ist. 


324  FRANZ  KRATOCHWIL 

Yll  h\ 

Ein  wenig  besser  steht  es  mit  h'',  der  Papierhandschrift 
Nr.  215  (vormals  393)  in  Quart  aus  dem  15.  Jahrhunderte,  Eigen- 
thum  der  Heidelberger  Universitäts-Bibliothek.  Auf  dem  Rücken 
des  in  Pergament  gebundenen  Codex  steht:  Foenia  in  laudem  Dei  et 
B.  Virginia.  88  Blätter  sind  beschrieben,  9  unbeschrieben.  Von  den 
12  Stücken,  welche  die  Handschrift  enthält  (vgl.  Wilken  a.  a.  0.  S.  463 
und  [Friedr.  Adelung,  Fortgesetzte  Nachrichten  von  Heidelbergischen 
Handschriften  in  der  Vaticauischen  Bibliothek,  Königsberg  1799, 
k5.  305 — 309]  Bartsch  a.  a.  O.  S.  128  f.)  ist  das  erste  das  jüngste 
Gericht^)  von  Suchenwirt  f.  1* — 4''.  Das  neunte  mit  der  Über- 
schrift (roth):  Der  mijnne  gericlit  (Bl.  60 — 65),  ein  Gedicht  von  222 
Versen ,  beginnend : 

Do  der  sumnter  ivas  da  hin 
Vnd  do  des  lointer  vngeioin 
Wolt  pringen  den  Ilain  vogelin 
und   mit  den  Schlußversen  : 

Vrloh  mir  da  gegeben  loard 
Vnd  ließ  die  andern  all  clagen 
Aber  man  sol  der  lieben  von  mir  sagen 
Rieht  sie  sich  nit  myt  mir  von  dem  tag 
Das  ich  es  fürbaß  clagen  mag 

nahm  P  im  14.  Bande  der  Wiener  Jahrbücher  der  Literatur  (Anzeige- 
blatl  S.  51)  ebenfalls  für  Suchenwirt  in  Anspruch.  Es  hat 
aber  mit  allen  bei  einer  Vergleichung  hier  in  Betracht  kommenden 
Gedichten  Suchenwirt's:  Rede  von  der  Minne  (124  V.),  die  Minne  vor 
Gericht  (342  V.),  die  schöne  Abenteuer  (372  V.),  der  Widertail  (364  V.) 
und    der  Minne  Schlaf  (266  V.)  nicht  einmal    entfernte  Ähnlichkeit  ^). 


')   Der  Titel   des  Gedichtes  fehlt  in  li'. 

')  Auch    nicht  Der  Minne  Gericht    (318  V.)    im    Liederbuche    der   Hätzlerin 
Bl.   143'— 14«"  (in  Haltaus'  Ausgabe  Nr.  55,  S,  226  ff.)  mit  dem  Anfange: 
Ich  stund  an  ainein  morgen  frü 
TJff  in  grosser  vnrü, 
Ende:     Sag  ditz  allen  guten  weiben 

Das  sy  es  in  ir  hertz  schreiben 

Vnd  hüten  sich  vor  diser  not 
Sag  jn  das  sey  mein  ratt. 
Dieses  Gedicht  ist  gleich  dem  12.  Stücke  in  h'  von  Blatt  82  bis  Ende,  welches  Wilkeu 
(a.  a.  0.  S.  463)  unter  dem  Titel  „Gespräch  eines  Gesellen  mit  einer  Frau,  die  ihren 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  RÜCIIENWIRT-IISS.       32;') 

Auch  nennt  sich  Suchenwirt  darin  nicht  als  Autor.  Offenbar  hat  P 
sich  eines  Besseren  besonnen,  denn  er  nalim  das  Gedicht  in  seine 
Ausgabe  nicht  auf,  aber  er  widerrief  dort  auch  nicht  mit 
einem  Wörtchen  seine  frülier  in  den  Wiener  Jahrbücliorn  gemachte 
Behauptung.  Sie  ist  daher  wohl  geeignet,  Jemanden  irrezuführen,  der 
die  ganze  Suchenwirt-Literatur  durcharbeitet,  um  sämmtHche  Hand- 
schriften kennen  zu  lernen. 

Das  Gleiche  gilt  von  dem  Gedichte:  Der  ern  gericht  zwischen  der 
gerechfygkeit  imd  der  minn  und  fjeicint  die  minn  da^  recht  von  Bi.  72 — 78 
der  Heidelberger  Handschrift  Nr.  149  (vormals  314,  vgl.  Bartsch 
a.  a.  O.  S.  72 — 75)  mit  dem  Anfange: 

Ich  ersach  an  der  selben  stund, 
Als  ich  nach  mventür  reyten  hegvnd 
Durch  da^  hag  ain  enge  tur 
Da  hett  ich  e  geritten  für  u.  s.  w. 
Auch    dieses  Gedicht    schrieb  P.  a.  a.  O.  Suchenwirt  zu,    in 
seiner  Ausgabe  aber  lehnte  er  es  stillschweigend   ab,    und    zwar    mit 
Recht;    denn  wie   mir  der  Herr  Bibliothekar  Dr.  Bender   freundlichst 
mittheilte,   stimmt  es  mit  keinem  Suchenwirtischen  Gedichte  ähnlichen 
Inhaltes    auch    nur    im    Entferntesten    überein;     überdies    nennt    sich 
Suchenwirt  darin  nicht.    Nebenbei  bemerke  ich,  daß  P  bei  Anführung 
dieses  Gedichtes  im  Anzeigeblatt  S.  51   sich  auf  Adelung's  altdeutsche 
Gedichte  in  Rom,  II,  S.  313  und  316    bezieht.     Dort    macht    aber 
Adelung    nirgends    die    leiseste    Bemerkung,     daß     dieses 
Gedicht  von  Suchen wirt  herrühre. 

Jede  Seite  bringt  in  einer  ungespaltenen  Columne  ungefähr  24 
Verse.  Die  Schrift  ist  der  in  A  noch  ähnlich,  nicht  schön,  aber  meist 
deutlich.  Was  über  d  ie  Schreib  weise,  die  sprachlichen  und 
metrischen  Verhältnisse  in  h*  gesagt  wurde,  gilt  fast 
ganz  auch  von  h'^. 

Als  Haken  findet  sich  hier  auch  vereinzelt  ".  Bezeichnung  von 
Halbdiphthongen  fiel  mir  nicht  auf. 

An  einer  Stelle:  25  eschen  :  icdschen  zeigt  sich  unechter  Umlaut 
(Weinhold,  Alemann.  Gramm.  §.  12  und  15),  dreimal  Verdumpfung 
von  tt  zu  o  (a.  a.  O.  §.  44):  61  gon  :  rinderton  und  66  on,  je  einmal  i 
in  der  Flexion   (48  liehin  kind,  a.  a.  0.  §.  23),  ou  =  u  (95  houch,  a.  a. 


Liebhaber  kalt  behanrlelt"  anführt,  und  von  dem  Adelung  II,  S.  W'i  Anfanrj  mnl 
Ende  gibt,  die  mit  der  Recensioii  der  Ilätzlerin  ziemlich  gleichlautend  sind.  Vgl. 
Hartsdi   a.  a.  O.  S.  128  f. 


326  FRANZ  KRATOCHWIL 

O.  §.  71)  und  0  =  w  =  w  (86  ir  forchtend,  a.  a.  O.  §.  24  und  27),  end- 
lich zweimal  Ausstoßung  von  n  (114  tuset  und  193  tugei^  a.  a.  O. 
§.  200).  —  Sonst  bieten  die  Reime  wenig  Bemerkenswerthes  (31 
nacht  :  krafft,  175  du  verst  :  haust  verzert)\  am  meisten  auffällig  ist  105 
du  syest  :  dii  leist.  Letzteres  ist  (wie  1  Ursprung  :  dink)  ohne  Zweifel 
bloß  Schreibfehler,  da  aber  auch  2  weishait,  100  leyd  (praes.),  3  durch- 
faucht und  161  ungeheivr  vorkommt,  so  darf  man  diese  Stellen  als 
Fingerzeig  betrachten,  daß  dem  Schreiber  zur  Abschrift  eine  Vorlage 
im  bairisch- österreichischen  Dialecte  diente,  aus  welcher  durch  Ver- 
sehen einige  Wörter  ohne  Anpassung  an  den  alemannischen  Lautstand 
stehen  blieben.  —  V.  172  fehlt  ohne  äußere  Unterbrechung;  dadurch 
entsteht  eine  Reimstörung;  daß  V.  34  vor  33  kommt,  hat  auf  den 
Reim  keinen  Einfluß. 

Die  in  h'  berührten  metrischen  Verhältnisse  werden  in  h' 
fast  nur  durch  Umstellung  und  Einschiebung,  nahezu  gar  nicht  durch 
Ausfall  von  Wörtern  ')  herbeigeführt.  Auch  begegnen  weit  weniger 
Apocopen  und  Syncopen  als  in  h*.  Da  zudem  verhältnißmäßig  nicht 
so  viele  Verse  paraph rasiert  sind  wie  in  h',  so  schließt  sich  h'' 
auch  inhaltlich  mehr  an  A  an:  es  ist  nicht  nur  möglich, 
sondern  sogar  wahrscheinlich,  daß  A  zur  Vorlage  von  h*^ 
gedient  hat. 

Außer  einigen  Schreibfehlern  (9  clare",  60  dein,  IIQ  jamers, 
132  schrit  für  schrib,  wahrscheinlich  101  dem  [nach  richter,  wenn  nicht 
dein  =  din  zu  lesen  ist]  und  109  andrun)  finden  sich  auch  verderbte 
Stellen:  V.  4,  7,  92,  95,  122,  152  (vgl.  darüber  in  P  S.  169  die 
Lesarten  zum  jüngsten  Gericht)  und  138  IVol  gemüt  zu  hymel  var. 
Diesen  gegenüber  bietet  h'^  an  nahezu  zehn  Stellen  Besse- 
rungen zu  A. 

VlIL  m'f. 

Suchenwirt's  jüngstes  Gericht  kommt  auch  in  m'  vor, 
der  Papierhandschrift  Nr.  393  der  königlichen  Hof-  und  Staatsbiblio- 
thek zu  München.  Der  leider  zu  früh  verstorbene  Director  dieser 
Bibliothek,  Dr.  Karl  Halm,  gestattete  bereitwillig  die  Übersendung 
dieser  und  vier  anderer  später  zu  besprechenden  Codices  nach  Wien 
zur  Benützung  auf  der  kaiserlichen  Hof  bibliothek. 

m'  ist  durch  Holzdeckel,  welche  mit  rothem  gepreßten  Leder 
überzogen  sind  und  ehemals  durch  zwei  Schließen  zusammengehalten 

')  Es  fielen  aus:  2  gar,  121  da,  187  du,  98  wie  dann  und   143  seihen  —  der. 


ÜBER  DEN   GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHENWIRT-FISS.       327 

waren,   geschützt.     Die  vier  Ecken  der  Deckel  sind  beschlagen;    der 
Rücken  trägt  ein  weißes  Schild  mit  folgender  Inschrift: 
(Leonis   Taich  chronicö) 
Der  geistliche  Wagen. 
Sibyllen  Weissagung,    etc. 

Die  Handschrift  zählt  319  Blätter  in  Quart  und  oiitliält  13  Num- 
mern verschiedenen  Inhaltes,  darunter  Bl.  20—44  eine  (ünonik  von 
den  Herzogen  zu  Baiern,  Bl.  96 — 112^  den  j^eistliciien  \Va;;eii 
mit  einer  gereimten  Vorrede  des  Suclienwirt,  Bl.  127 — 136 
Aristoteles'  Lehr  an  Alexander  (durchaus  nicht  identisch  mit 
Suchenwirt's  gleichbetiteltem  Gedichte)  und  Bl.  136 — 210  das  grüßte 
Stück  der  Handschrift,  Bruder  Philipps  j\Iarienleben. 

Bl.  96*  heißt  es:  Hie  hebt  sich  der  geistlich  wagen  Vntl  ist  gar 
nutz  ze  hören  oder  lesen  dem  menschen  czue  vnderioeystmg  ( —  Bl,  108''). 
Das  Ganze  ist  eine  geistliche  Allegorie,  in  der  die  vier  Räder  den 
Tod,  die  Hölle,  das  Gericht  (genau  in  dieser  Ordnung!)  und  den 
Himmel  bedeuten,  die  zwei  Gestelle  die  Betrachtung  des  Leidens 
Christi  und  das  Mitleid  mit  dem  Menschen,  die  drei  Pferde  Glauben, 
Hoffnung  und  Liebe;  der  Leiter  aber  ist  Christus,  die  Deichsel  stellt 
die  Gerechtigkeit  vor.  Den  Schluß  macht  die  Anrufung  Gottes  und 
Mariens.  So  der  Gang  dieses  geschmacklosen,  aber  dem  15.  Jahr- 
hunderte sehr  zusagenden  ')  Machwerkes,  das  in  Prosa  abgefaßt,  öfter 
aber  auch  mit  Reimen  durchspickt  und  mit  zahlreichen  Belegstellen 
aus  Bibel  und  Kirchenvätern  ausgestattet  ist.  Der  Verfasser  nennt 
sich   nicht. 

Daran  schließt  sich  Bl.  109":  Ein  vorred  diß  geistlichen  wagens 
(roth).  Dieses  Stück  entpuppte  sich  bald  als  Suchenwirt's 
Jüngstes  Gericht,    nur  beginnt  es  gleich  mit  V.  23: 

0  (roth  und  groß)  mensch  gedenck  das  du  pist. 
Die  Verse,  ungefähr  27  auf  jeder  Seite,  sind  nicht  abgesetzt,  aber 
häufig  durch  rothe  Querstriche  von  einander  geschieden,  freilich  oft 
ganz  fehlerhaft.  Die  Schrift  ist  weder  schön  noch  deutlich,  beson- 
ders die  r  sind  stark  verschnörkelt.  Doch  gehört  sie  noch  dem  15. 
Jahrhunderte  an;  damit  stimmt  auch  am  Ende  dieser  rojvecZ  (Bl.  112') 
die  Bemerkung  :  L.  T.  Anno  als  man  zn.lt  nach  christi  gepurt 
MCCCC'IXVIII  jar  an  samb^tag  nach  Katherine  virginis.  Doch  stammt 
nicht  der  ganze  Codex  aus  dem  Jahre  1468,  wie  man  nach  dem 
Katalog  der  deutschen  Handschriften  der  königlichen  Hof-  und  Staats- 


')  Unter  Anderen    hat  auch  Cod.  germ.  mon.   Nr.  690  f.  244 — 252cincn    'jais/lich 
Wayen. 


328  FRANZ  KRÄTOCHWIL 

bibliothek  zu  München  nach  J.  A.  Schmeller's  kürzerem  Verzeich- 
nisse, 1.  Theil,  München  1866,  S.  63  annehmen  muß,  denn  Bl.  131*  hat 
Leonhard  Taichstetter  aus  München,  der  Schreiber  dieser 
Handschrift,  angemerkt:  A7ino  Christi  1469  (roth)  und  Bl.  282": 
geendt  ä  domini  1470. 

Die  Schreibweise  weicht  nicht  unbedeutend  von  A  ab;  Haken 
begegnen  wenig  und  nur  über  ^l  =  no,  ue,  üe  und  öfter  auch  über 
einfachem  ?t.  In  der  Regel  werden  die  Umlaute  durch  zwei  neben- 
oder  übereinander  gesetzte  Punkte  bezeichnet,  nur  selten  (155  schaffiin) 
mittelst  Haken.  Einmal  findet  sich  durch  e  ausgedrückte  Svarab- 
hakti:  96  hören  {:  geporen).  Abkürzungen  werden  äußerst  selten 
angewendet. 

Sprachlich  herrscht  zwischen  m^  und  A  Übereinstim- 
mung. Sehr  gerne  gibt  Taichstetter  h  zwischen  zwein  Vocalen  durch 
ch  (vgl.  Weinhold,  Bair.  Grammatik  §.  183) :  27  zacheren^  40  kochen, 
14:  zechen,  und  134  gefliechen,  hingegen  setzt  er  für  nächsten  im  V.  62 
(und  so  immer)  nagsten,  145  hat  A  zu  der  linkclien  hant,  h^  zit  der 
glinken  hant,  m*  zue  der  dencken  hant  (vgl.  über  das  letzte  Adjectiv 
Schmeller,  Bairisches  Wörterbuch  1*^,  S.  524  f.).  104  nemht  (A  nie- 
mant,  h^  niempt)  ist  wohl  ungenaue  Schreibung  für  niemht.  —  Etwas 
auffällig  —  wie  ein  leiser  Anklang  an  den  alemannischen 
Dialect  —  erscheint  es,  daß  alle  Adjectiva,  welche  in  A  auf  -leich 
endigen,  in  m^  auf  -lieh  ausgehen,  ferner  4:3  spänglin:  wangl in  {a  ist 
nur  ein  Schreibfehler)  und  155  schaffiin  (vgl.  jedoch  Weinhold  a.  a.  O. 
§.  19).  Bei  der  großen  Übereinstimmung,  die  dem  Inhalte 
nach  zwischen  m^  und  h^  herrscht^),  liegt  nämlich  dieVer- 
muthung  nahe,  daß  h^  dem  Taichstetter  als  Vorlage  ge- 
dient habe. 

Damit  stünde  auch  der  verwilderte  Versbau  im  Einklänge. 
Er  schreibt  nicht  nur  nicht  sorgfältig^),  sondern  er  läßt  einzelne 
Wörter  weg,  z.  B.  32  auch,  61  du,  136  daz,,  170  grimm,  so  daß  dieser 
stumpf  schließende  Vers  nur  drei  Hebungen  hat;  164  fehlt  gar  mit 
allen  teufein,  so  daß  als  Vers  nur  zwei  Füße:  ist  berait  übrig  bleiben, 


')  Beide  haben  33  schätz  :  satz ,  52  hoffart,  63  lesus,  69  dir,  90  losaphat,  134 
gefliehen,  153  des,  159  da  zu  Anfang  des  Verses,  162  ewig  vor  fewr,  174  weder  vor 
ritter,  180  gelrew,  181  dem  zu  Anfang  des  Verses;  94  all  nach  müe:^%en,  131  ir  nach 
teuffei',  143  fehlt  der  nach  weg. 

')  27  sele  (:  q^iel),  37  leivmbt  (A  lewt) ,  57  mit  zürnen  in  (dadurch  Reimstörung) 
für  mit  in  zürnen,  141  widerstellen  :  helle,  Reime,  wie  den  letzten,  erklärt  jedoch 
Weinhold  a.  a.  O.  §.  167  aus  dem  durch  Näselung  bewirkten  Abfall  des   n. 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHENWIRT-HSS.       329 

54  fehlt  ganz.  Er  schaltet  aber  aiuh  mit  ebenso  störender  Wirkuu}^ 
Wörter  ein,  so  35  auch  ,  66  und,  80  doch  nach  stund,  90  selbs  nach 
da,  122  hat  nach  dich  u.  s.  w.  DieVer.se  werden  dadurch  oft  überfüllt, 
so  lautet  V.  75 : 

die  nam  und  die  loappen  verswindent  zu  haut, 
71   (soll  vor  75  stehen!) 

als  sy  10  er  de  nt  dein  frewnt  des  halt  vil  geschieht, 
89:  da^  er  an  dem  jüngsten  tag  haben  loil  u.  s.  w. 

Paraphrasierte  Verse    finden    sich    wie    in    h^    nicht    häufig; 
übrigens    geht  Taichstetter  mit  den  Versen  auch    sonst  willkürlich 
genug  um;  so  lauten  die  Verse  104  und   105  in  A: 
Du  hast  auch  niemant  der  da  swei' 
Für  dich  da^  du  7inschuldig  seist, 
in  m*:  Du  hast  auch  nemht,  der  da  für  dich  swer 
Da:^  du  tmsckuldig  seist; 
in  A   122  f.:    Der  plütvar  stvai:^^  für  dich  gesioitzt 

Hat  in  seiner  gro2,2,en  not, 
m^  setzt,  wie  früher  für  dich,  jetzt  hat  aus  123  in  V.  122,  so  daß  123 
nur    drei    Hebungen    mit    stumpfem    Schlüsse    hat.     In  166   läßt   der 
Schreiber    das    nicht    am    Ende    weg    (dadurch  Störung  des  Reimes), 
setzt  es  aber  in  den  nächsten  Vers,  so  daß  dieser  überfüllt  wird. 

Auch  an  sinnlosen  Stellen  fehlt  es  nicht.  So  sagt  der 
Dichter  V.  73 — 76:  Ganze  Geschlechter  vergehen,  Namen  und  Wappen 
schwinden  so  schnell,  wie  ein  Gemälde  an  der  Wand;  statt  des 
letzten  Gedankens  schreibt  Taichstetter  V.  76  : 

als  düT,  mel  an  einer  tvant! 
V.  92  sagt  A,  bei  dem  jüngsten  Gerichte  sei  es  mit  dem  Glücke  (A 
saeld)  der  Ungerecliten  zu  Ende;  in  m^  heißt  es: 

und  aller  ir  solt  ist  gar  verzert. 
In  128  steht  zweimal  werdent  (A  wem)  u.  s.  w. 

Aus  dem  Ganzen  ist  ersichtlich,  daß  m^  der  Hand- 
schrift h^  sehr  nahe  steht,  text kritisch  aber  noch  gerin- 
geren Werth  besitzt  als  diese.  Für  den  Text  von  A  or- 
geben sich  aus  m'  nur    einige    unbedeutende  Besserungen. 

IX.   wf. 

Zwei  andere  Suchenwirtische  Gedichte  religiösen  Inhaltes  finden 
sich  in  w,  einer  Papierhaudschrift  des  15.  Jahrhundertes  Nr.  2U69 
(Novi  243)    der   k.  k.  Hofbibliothek  in  Wien    (vgl.  Hoff  mann  von 

GERMANIA.    Neue  Reihe  XXII.  (XXXIV.)  Jahrg.  22 


330  FRANZ  KRATOCHWIL 

Fallersleben,  Verzeichniß  der  altdeutschen  Handschriften  der  k.  k. 
Hofbibliothek  zu  Wien,  Leipzig  1841,  S.  352  f.).  Der  Einband  be- 
steht aus  dicken,  auswendig  mit  Leder  überzogenen  Holzdeckeln; 
innen  sind  dieselben  zum  Theil  mit  Pergament  beklebt.  Die  Außen- 
seiten zeigen  Überreste  von  sehr  schöner  Pressung,  aber  das  Leder 
ist  stark  gebräunt,  fast  schwarz:  das  Buch  scheint  einem  Brande  aus- 
gesetzt gewesen  zu  sein;  noch  jetzt  wird  man  beim  Befühlen  etwas 
rußig.  Die  Schließe  fehlt.  Beim  Einbinden  wurden  manche  an  den 
Rändern  einzelner  Blätter  angebrachte  Bemerkungen  durch  das  Be- 
schneiden des  Papiers  verstümmelt.  Nach  dem  2.  Bande  der  Tabulae 
codicum,  pag.  164  f.,  zählt  die  Handschrift  304  Blätter  in  Quart:  es 
sind  aber  306;  es  sollte  da,  wo  20  und  110  geschrieben  wurde,  21 
und  112  stehen. 

Über  die  Herkunft  des  Codex  läßt  sich  vollkommen  Sicheres 
nicht  angeben;  gewiß  aber  entstand  er  in  einem  Kloster 
(wahrscheinlich  in  Österreich).  Dafür  spricht  der  Inhalt. 
Gleich  das  erste  Stück  (Bl.  1' — 192*")  ist  ein  deutsches  florilegium 
asceticum.  Daran  reiht  sich  ( —  Bl.  262")  die  Summa  virtutum  da:^  ist 
ein  hoch  der  lügend  (in  diesem  Theile  kommen  wiederholt  Perga- 
mentblätter vor);  den  Schluß  des  Buches  machen  zwei 
Gedichte  Such  en  wir t's.  Das  erste  (fernerhin  Nr.  1  benannt) 
reicht  von  Bl.  269* — 274*;  die  Überschrift  lautet:  Da:^  sind  Die  czehen 
pot  vnsers  herren;  nach  dem  letzten  Vers  folgt  in  der  nächsten 
Zeile:  amen  amen  amen.  Bl.  274''  nimmt  eine  Federzeichnung  ein: 
sie  stellt  die  h.  Maria  mit  dem  Jesusknaben  und  der  h.  Katharina 
dar.  Bl.  275''  beginnt  das  zweite  Gedicht  (im  Folgenden  =  Nr.  2) 
mit  dem  Titel:  Daz,  sind  Die  sihen  freiod  unser  liehen  froivn,  es  reicht 
bis  Bl.  306\ 

Beide  Überschriften  sind  mit  rother  Tinte  geschrieben ;  die  A  n- 
fangsbuch  Stäben  der  Verse  (meist  über  20  auf  einer  Seite)  sind 
groß;,  die  Initiale  ist  größer  und  ganz  roth.  Wie  in  Nr.  37  von  A 
(vgl.  S.  210)  sind  in  Nr.  1  und  2  von  w  auch  andere  Verse  auf 
gleiche  Weise  ausgezeichnet,  wenn  sie  eine  Bibelstelle  oder  einen 
größeren  Abschnitt  beginnen.  Auffällig  genug  sind  es  in  Nr.  2 
sehr  häufig  dieselben  Verse  wie  in  Nr.  37  von  A.  —  Die  in 
der  Regel  sehr  deutlichen  Schriftzüge  wie  die  ganze  Schreib- 
weise gemahnen  an  A.  Als  Haken  werden  gewöhnlich  zwei 
neben-  oder  schief  übereinander  stehende  Punkte  gebraucht,  seltener 
'^  *"  und  vereinzelt  '''  (2,  1134  chunig);  i  finden  sich  verhältnißmäßig 
wenig;    Halbdiphthonge    werden    seltener   als   in  A  durch  Haken  be- 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SÜCHENWIRT-HSS.       ,^{31 

zeichnet,  Svarabhakti  nur  durch  i  ausgedrückt,  bego_£;non  aber  hiiulig, 
selbst  im  Reime. 

Die  etwas  flüchtige  Art  des  Schreibers  zeigt  sich  in  dem 
häufigen  Weglassen  des  I-Punktes  sowie  in  dem  Fehlen  einzelner 
Wörter,  wodurch  Sinn  oder  Rhythmus  in  Nr.  1  an  acht,  in  2  an 
17  Stellen  gestört  und  einige  stumpf  schließende  Verse  (1,  15,  57; 
2,  709,  965)  auf  drei  Hebungen  reduciert  werden.  In  2,  1196  wurde 
das  Reimwort  auf  herren  ganz  vergessen,  wie  denn  die  übrigens  nicht 
zahlreichen  Schreibfehler  gerade  in  Reimen  vorkommen  (1,  112 
vncMusch".  :  geteusche,  2,  23  ßorif  :  Sitchemcuf ,  420  uindl  :  chuidel  und 
1384  rawen  ipusaunen'^  vngreiißeichaii  in  2,  252  halte  ich  für  kein  Ver- 
sehen, sondern  für  absichtlich,  freilich  recht  übel  angebrachte  Ände- 
rung des  Schreibers,  hingegen  beruhen  zwei  sinnlose  Stellen  in  den 
sieben  Freuden  (596  smekchen  und  1312  daz)  offenbar  auf  Sclireib- 
fehlern. 

Die  vielen  ?(,  ne,  o,  für  welche  A  w,  üe,  ö  oder  oe  schreibt, 
möchte  man  auf  den  ersten  Blick  auch  auf  die  Flüchtigkeit  des 
Schreibers  zurückführen,  sie  sind  aber  vielmehr  aus  dessen  Dialect 
zu  erklären;  im  Allgemeinen  jedoch  sind  die  sprachlichen 
Unterschiede  zwischen  A  und  w  gar  nicht  erheblich,  w 
liebt  0  =  «  und  d;  fast  immer  begegnet  froroe  (2,  1503  frowen  :  ge- 
paiven),  wann  (A  loenn)  und  do\  in  mirkchet  (2,  462)  steht  i  r=  ;/ =  ia 
(vgl.  Weinhold,  Bair.  Gramm.  §.  88  und  117).  Besonders  beliebt  ist 
h  für  w  (1,  232  ehig,  2,  1004  hebeiset,  585  imhirdig)  und  w  für  h  (2, 
562  Walchasar,  173  ^c^s,  827  icegund,  955  iceheist,  vgl.  a.  a.  O.  §.  124 
und  136).  Regelmäßig  setzt  unser  Schreiber  p  zwischen  stammschlie- 
ßendem  m  und  der  Endung  t  (2,  924  zimpt,  a.  a.  O.  §.  122);  Einsehtib 
des  lingualen  Nasals  erscheint  nur  1,  183  \xx  jungent  (:  tugeni,  a.  a.  O. 
§.  168),  Ansatz  von  t  öfter,  so  1,  19  dennocht,  56  u.  ö.  aptgot  (a.  a.  ( )• 
§.  133),  Abfall  des  g  nur  2,  989  in  hpylitum  (a.  a.  O.  §.  176).  Immer 
schreibt  er  tumnie,  werlt  (2,  911  im  Reime  auf  gelt),  wertleich  und  dif, 
(A  di)'^  in  1  zieht  er  die  Endung  -e,  in  2  die  Endung  -ew  (en)  vor, 
selbst  im  Accus,  sing.  fem.  (141  icareiv,  213  liebexo.  372  swangereic, 
a.  a.  0.  §.  368  und  370).  sölher  wechselt  mit  soüiev'  die  Grundzahlen 
endigen  auf  -czig  (A  37,  767  sibenzk).  Mit  ge-  zusammengesetzten  Sub- 
stantiven ist  der  Schreiber  von  w  nicht  hold,  hingegen  zeigt  er  Vor- 
liebe für  t  in  der  3.  Person  pl.  ind.  des  Präsens, 

Aus  dem  Gesagten  würde  die  große  Menge  von  Unterschieden 
zwischen  w  und  A  erklärlich  sein.  Die  meisten  Abweichungen  — 
und   das   ist   das  Charakteristische  für  w  —  rühren  aber  von 

22* 


332  FRANZ  KRATOCHWIL 

der  Neigung  des  Schreibers  zu  Synkopen  und  Apokopen.  Durch  er- 
stere  fällt  in  1  an  15,  durch  letztere  an  20  Stellen  die  Senkung, 
meistens  vor  der  letzten  Hebung,  aus  (wo  sie  in  A  bewahrt 
wird);  in  2  stehen  circa  20  den  Ausfall  der  Senkung  bewirkenden 
Synkopen  nahezu  viermal  soviel  Apokopen  gegenüber.  Mehr  als  die 
Hälfte  der  letzteren  finden  wir  vor  der  letzten  Hebung;  einen 
großen  Beitrag  dazu  liefert  und  für  unde  in  A.  Durch  Apocope  im 
Reime  erhalten  in  1  die  Verse  41,  42,  105,  106,  112,  137  und  138 
stumpfen  Schluß  mit  nur  drein  Hebungen,  in  2  die  Verse  685  und  686. 
1409  und  1410. 

Weitaus  weniger  häufig  sind  die  Fälle,  wo  w  die  volle  Form  her- 
stellt. Doch  kann  man  sagen,  es  zeigt  sich  in  w  Neigung  für  die 
volle  Form  des  Possessivpronomens,  des  unbestimmten 
Artikels  und  des  Infinitivs.  Eine  verhältnißmäßig  geringe 
Zahl  von  Abweichungen  wird  herbeigeführt  durch  Um- 
stellung d  erWörter  und  durch  inhaltliche  Verschiedenheit. 

Immerhin  ist  w,  wenn  auch  in  Bezug  auf  die  beiden  Gedichte 
nicht  gleichwerthig  mit  A,  ein  Gewinn  für  die  Textkritik: 
manche  der  von  P  in  seiner  Ausgabe  S.  168  berührten  Mängel  in  A 
werden  durch  w  behoben  und  viele  von  Koberstein  in  seinen  Abhand- 
lungen gemachte  Besserungsvorschläge  erhalten  durch  w  Bestätigung. 
w  könnte  aus  A  entstanden  sein. 

X.    in-f. 

Die  beiden  Gedichte  finden  sich  auch  noch  in  einer  dritten,  aus 
dem  15.  Jahrhundert  stammenden,  der  königlichen  Hof-  und  Staats- 
bibliothek in  München  gehörigen  Papierhandschrift.  Sie  führt  die 
Nr.  1113  und  zälilt  134  Blätter  in  Folio.  Die  Handschrift  ist  in  Holz- 
deckel gebunden,  welche  mit  rothem  Leder  überzogen  sind;  die  bei- 
den Schließen  fehlen.  Der  Rücken  trägt  ein  Schild  mit  der  Inschrift: 
Das  Burgerrecht  zu  Wienn.  —  Thatsächlich  enthält  der  Codex  Bl.  1 — 42 
verschiedene  Rechte  und  Satzungen,  magistratische  Anordnungen  u.  s.  w. 
der  Stadt  Wien  (aus  dem  Jahre  1375)  und  Bl.  43—74  das  Stadt- 
recht von  Wien.  Von  den  übrigen  Stücken  (vgl.  Schmeller's  Katalog 
der  deutschen  Handschriften,  1.  Theil,  S.  169  f.)  erwähne  ich  die 
Ungeltordnung  Rudolfs  vom  Jahre  1359  und  eine  Fischmarkt- 
ordnung (Bl.  80 — 83).  Bl.  93*  befindet  sich  folgendes,  mit  rother 
Tinte  geschriebene  Register:   Hie  hebent  sich  an  siben  püch. 

Von  erst  hebt  sich  an  das  puech  und  sagt  die  heiligen  stet  und 
genad   und   den   antlas  in  dem    heiligen   lant  czü  Jerusalem  und  darnach 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHENWIRT-IISS.       ;3;}3 

Die  czehen  gepot  unsers  herren  (Sucheuwii-rs  Gedicht  beginnt  131.  96' 
linke  Spalte  mit  der  Überschrift:  Das  dud  die  zehen  pot  unsers 
herren  Jesu  Christi  und  endet  Bl.  97''  rechte  Spalte;  dem  letzten 
Verse  folgt  Amen  [mit  rothverzierten  großen  Buchstaben],  i-in  Doppel- 
punkt  und  ein  Schnörkel.) 

Das  ander  puech  sagt  Die  sihen  freicd  unser  fraiven  und  die  neion 
chör  loie  sij  Darinn  enphangen  ist  (Sucheuwirt's  Gedicht  folgt  unmittel- 
bar den  zehn  Geboten  Bl.  98'  linke  Spalte,  hat  dort  die  Überschrift: 
Das  ist  das  ander  puech  die  siben  freiod,  uns  fräxoen  Vnd  Die  neum  chur 
Der  engel  und  reicht  bis  Bl.  112''  linke  Spalte.) 

Das  dritt  puech  sag  von  den  ßhiß  fürsten\  von  de  von  Maijlan  tind 
von  Margraf  Sigmund  vnd  von  kern  charlnr  Vnd  von  herczog  ivilhalm 
vnd  herczog  leitpolten  seinem  vater  paid  fürst en  in  Österreich  (das  Gedicht 
schließt  sich  an  die  sieben  Freuden  Bl.  112''  linke  Spalte  mit  dem 
Titel:  Das  ist  Das  Dritt  puech  Vnd  ist  von  den  fUrsten,  es  endet  Bl.  114** 
rechte  Spalte;  alle  drei  Überschriften  sind  roth,  dosgleichen  der  An- 
fangsbuchstabe jedes  ersten  Verses,  aber  auch  anderer  Verse,  meist 
zur  äußeren  Bezeichnung  der  logischen  Gliederung.  Die  übrigen  An- 
fangsbuchstaben sind  groß  und  roth  durchstrichen.) 

Das  vierd  puech  ist  die  reget  der  heiligen  christenhait  vnd  lert  uns 
rechten  christenleichen  gelawhen  und  bechennen  unser  s^'ind  (Bl.  115 — 125 
befindet  sich  ein  Gewissensspiegel ,  aber  nicht  mit  der  Bezeichnung 
vierd  puech.) 

Das  fünft  puech  sagt  den  antlas  den  man  vint  und  verdient  zu 
ram  vnd  wer  ram  gepäwt  hat  und  von  alter  auf  chomen  ist  mit  swi- 
pogen  vnd  mit  säiollen 

Das  sechst  puech  pliiemster  chunst  czi'i  steicr  genannt  Die  schon 
Auentewr 

Das  sibent  puech  ist  hern  fridreichs  Des  khreio^pekchen 
rays  Sechs  veldstreit  Die  er  geföchten  hat  an  ander  Auentewr  Die  im 
geschehen  sind 

Das  sechste  und  siebente  Buch  beziehen  sich  ohne  Zweifel  auf 
die  bekannten  Gedichte  Suchenwirt's,  sie  finden  sich  aber,  gleich 
dem  fünften  Buche,  leider  in  der  Handschrift  nicht  vor;  denn 
Bl.  126  ist  unbeschrieben,  dann  folgen  Bl.  127  — 130  lateinische  Hymnen, 
Bl.  131  — 132  ein  Gedicht  Jacob  Vetter's  auf  König  Ladislaus 
von  Böhmen  1452  und  Bl.  132  chronologische  Notizen  über  Wiener 
Begebenheiten  aus  den  Jahren  1450 — 1463.  Daran  reihen  sich 
26  leere  Blätter;  Bl.  ISS*"  enthält  Nachrichten  über  einen  Kometen 
vom  Jahre  1402  und  Bl.  134  Namen,  die  Osterreich  gehabt.  Höchst 


334  FRASfZ  KRATOCHWIL 

wahrscheinlich  waren  die  unbeschriebenen  Blätter  für  die  drei  letzten 
Bücher  bestimmt.  Da  m'^  den  Text  in  zwein  Spalten  bringt,  jede  durch- 
schnittlich 25  abgesetzte  Verse  enthält ,  so  würden  auf  das  sechste 
und  siebente  Buch  7,  höchstens  8  Blätter  gekommen  sein,  so  daß 
noch  18  Blätter  für  das  fünfte  Buch  übrig  geblieben  wären. 

Aus  dem  bisher  Gesagten  ergibt  sich  mit  größter 
Wahrscheinlichkeit,  daß  m''  in  Osterreich  entstanden  und 
auf  unbekannte  Weise  (vielleicht  aus  einem  Kloster  in  ein  anderes 
desselben  Ordens)  nach  Baiern  kam  und  zwar  nach  Regensburg,  wie 
Docen  in  der  Sammlung  für  altdeutsche  Literatur  und  Kunst,  1.  Band, 
1.  Stück,  Breslau  1812,  S.  152 — 160  angibt,  und  von  da  nach  München. 
Docen  nennt  das  Gedicht  von  den  zehn  Geboten  unbedeutend,  wohl 
aber  gefällt  ihm  der  Anfang  von  den  sieben  Freuden  Mariens,  den 
er  auch  nach  m'^  mittheilt.  Die  ganze  Anzeige  dieser  Handschrift 
macht  den  Eindruck  des  Überstürzten  und  rasch  Hingeworfenen.  — 
P  kannte  sie,  wie  aus  pag.  LII  der  Einleitung  und  einer  Bemerkung 
S.  159  seiner  Ausgabe  zu  ersehen  ist,  aber  m''  selbst  benützte  er 
nicht,  gewiß  nicht  zum  Vortheile  der  Ausgabe.  Da  er  (gleich  a,  B 
und  m')  w  nicht  kannte,  hätte  er  für  letztere  Handschrift  in  m^  Ersatz 
gefunden,  denn  zwischen  w  und  m*^  herrscht  große  Überein- 
stimmung. 

Nicht  nur  kehren  die  in  w  vorkommenden  Synkopen  und  Apo- 
kopen  sowie  die  vollen  Formen  statt  der  in  A  synkopierten  und  apo- 
kopierten  in  m'^  fast  regelmäßig  wieder,  sondern  es  zeigt  sich 
auch  in  anderen,  oft  ganz  unbedeutenden  Details  nicht 
selten  eine  geradezu  überraschende  Übereinstimmung. 
Zum  Beweise  des  zweiten  Theiles  dieser  Behauptung  führe  ich  nur 
einige  Stellen  an,  und  zwar  aus  den  zehn  Geboten:  15  fehlt  schulden 
in  w  und  m*^,  32  w  die  fürten  auT,  egippen  lernt,  tnP-  die  fürten  a.  e.  L, 
34  wm"  czogten,  wm"  pot  im  Titel,  V.  44,  53,  71;  42  w  toas  an  her- 
herg,  m"  iv.  a.  herioerg ,  wm"  52  im  der,  56  apfgot,  100  erparm  und 
107  niemafi,  115  w  chüfifte,  m"  chünfft,  wm"  116  merch  da^  ist,  141 
nickte,  142  clianst,  165  vrte{ä) gleichen ,  172  in  deinen,  188  hab,  190 
chains,  197  fehlt  auch,  200  merkcht ,  202  sein  gilt,  218  simd  ver- 
meideii,  222  fehlt  tmd]  ferner  aus  den  sieben  Freuden  Mariens:  13  w 
lüOricht,  m.^  loorcht,  wm**  16  Saffir  charfunchel  seh.  e. ,  57  ßinse, 
65  ew,  81  peste,  111  (und  sonst)  teuf  eis,  152  alle:^{s)  sein(e)s  gepotes, 
155  henden,  292  muemen,  324  loovon  chü(it)mpt,  339  gewOricht,  223 
der  vers  der,  238  volloben,  252  heg  und  ye,  256  u.  1214  heschermf, 
272  fehlt   gro2,2,n,    290  hie    nahent,    370  do  pei  ez,,    404    schön    umh- 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DHK  SUCHENWIKT-HSS.   335 

lüunden,  442  achs,  443  alle':,  471  u.  562  walchase{a)r,  4U1  snelleichen, 
497  tüO  lesm,  525  leiccht ,  574  zioainczig,  501  Äew?  wwit,  622  vergehend, 
687  truchent,  689  a//  fehlt,  701  schilich  :  mi/iV/?,  855  dennoch,  963 
losophat,  973  Ninivet,  1040  b{2J)eschribcn ,  1048  ncmunder,  1090  </e- 
sete«,  1108 /reii^e^cm,  1203  «am'!',  1256  söllch ,  1264  register,  1276 
pwcÄ  an  vnderlas,  1282  gotes  müter,  1289  ■•<eind,  1322  y*^?*«^  nach, 
1324  Uligen,  1325  hestrSwt,  1349  (Z<'//n  (A  tZan«),  1362  salmon,  1403 
yedie,  1418  w  statichleich,  m'^  stätleichj  1475  wm'-  vorlcht  :  «r/iu^r- 
b{iv)0richt,  1513  wann,    1529  m/i  /tiZ/  s?t  steior. 

Zudem  gilt  Alles,  was  ich  über  die  Schreibweise  in  w  gesagt, 
von  m'^.  Es  liegt  daher  die  Annahme,  daß  av  und  m'^  von  einem  und 
demselben  Schreiber  herrühren,  sehr  nahe,  aber  derselben  widerspricht 
die  Ungleichheit  der  Schrift.  Auf  die  zunächst  sich  aufdrängende 
Frage,  wie  es  komme,  daß  zwei  verschiedene  Schi-eiber  so  auffallend 
gleiche  Abweichungen  sich  erlaubten,  gibt  es  nur  die  Autwort,  daß 
eine  der  beiden  Handschriften  aus  der  anderen  geflossen  sein  muß, 
und  zwar  halte  ich  w  l'ür  die  Vorlage  von  m*^.  Denn  dieser 
Codex,  welcher  im  letzten  Viertel  des  15.  Jahrhunderts  ent- 
standen sein  mag,  zeigt  nicht  nur  jüngere  Schriftzüge  als  w> 
es  fehlen  in  nx^  auch  ganze  Verse,  so  in  Nr,  1  die  Verse  48, 
98,  112,  in  Nr.  2  die  Verse  335  und  336. 

Überhaupt  scheint  mir  m"  etwas  weniger  sorgfältig  abgefaßt  zu 
sein  als  w;  es  sind  viele  einzelne  Wörter  abgängig,  in  Nr.  1 
an  elf  Stellen,  in  Nr.  2  fast  zweimal  so  viel  wie  in  w,  wobei  in  Nr.  1 
die  Verse  15,  91  und  197,  in  Nr.  2  die  Verse  946,  978,  1181  und 
1317  nur  drei  Hebungen  bei  stumpfem  Schlüsse  haben.  Ferner  linden 
sich  in  Nr.  2  von  m"  folgende  Reime:  11  magt  (A  maii)  :  herait,  175 
märbel  :  hermel ,  309  siten  :  mit  und  1504  gepaivet  :  fraiven.  Aus  der 
Sorglosigkeit  des  Schreibers  erklären  sich  daselbst  auch  die  sinn- 
losen Stellen:  110  erhört  (A  der  hört),  124  gepot,  834  glauben,  1310 
er  (A  mer),  1344  ist  (A  ich),  1423  hiet  (A  hie). 

Bestünden  aber  auch  die  gegen  die  Identität  des  Schreibers  er- 
hobenen Einwände  nicht,  man  könnte  doch  nicht  w  und  m^  dem- 
selben Schreiber  zuweisen,  da  m"  einige,  wenn  auch  ganz 
unbedeutende  sprachliche  Eigen  thümlichkeiten  zeigt. 
So  gebraucht  der  Schreiber  von  m'^  die  und  di,  wie  solch,  solch  und 
solich,  immer  zxvelif  (Weinhold,  Bair.  Gramm.  §.  258)  und  v)Glt,  nahezu 
ausnahmslos  fraio ,  in  Nr.  1  immer  da,  in  Nr.  2  auch  häufig  do,  wie 
denn  daselbst  viel  öfter  als  in  Nr.  1  Vertauschuug  von  a  mit  0  be- 
gegnet. Widerstand  gegen  den  Umlaut  zeigt  in  ra**  zuweilen  a  (2,   182 


336  FRANZ  KßATOCHWIL 

den  swaren  last),  in  Verbindung  mit  einem  Lingualen  finden  wir 
h  für  w  in  2,  236  sbebt  —  eine  Erscheinung,  die  besonders  in  Tiroler 
Denkmälern  (a.  a.  0.  §.  124,  S.  128  unten)  zu  treffen  ist.  In  Tirol 
namentlich,  aber  auch  in  den  anderen  österreichischen  Alpenländern, 
wird  gerne  in  der  3.  Person  sing.  ind.  des  Präsens  das  t  abgestoßen: 
2,  630  schreib  (a.  a.  O.  §.  122);  2,  1036  begegnet  örnleicher  (A  orden- 
leicher). 

Im  Allgemeinen  darf  man  wohl  w  und  m*^  in  Bezug  auf 
die  zwei  besprochenen  Gedichte  als  gleich  betrachten, 
es  gilt  daher  auch  das  über  den  Werth  und  die  Bedeutung 
von  w  für  die  Textkritik  Gesagte  im  Ganzen  von  m^. 

Zum  Schluß  muß  noch  erwähnt  werden,  daß  im  Gedichte 
von  den  sieben  Freuden  die  Verse  1 — 358  in  derselben 
Weise  aufeinanderfolgen  wie  in  A,  somit  nicht  in  der  Anord- 
nung, die  ihnen  P  in  seiner  Ausgabe  S.  123 — 127  gegeben.  In  Awm' 
verkündet  der  Erzengel  Gabriel  der  heil.  Maria,  daß  sie  die  Mutter 
Jesu  und  ihre  Muhme  Elisabeth  einen  Sohn  gebären  werde.  Maria 
besucht  sie,  Elisabeth  preist  Maria  selig,  diese  bleibt  bei  Elisabeth, 
bis  Johannes  geboren  wird  und  kehrt  dann  nach  Nazareth  zu  Joseph. 
Der  Dichter  schildert  umständlich  des  Letzteren  Traurigkeit,  die  ihm 
Marions  Zustand  verursacht.  Aber  ein  Engel  erscheint  ihm  in  der 
Nacht  und  klärt  ihn  auf.  Da  wird  der  alte  Joseph  freudenreich  und 
sagt  zu  Maria:  Mir  ist  Alles  kund  geworden,  worauf  Maria  mit  den 
Worten  des  Magnificat  antwortet.  Nun  kam  die  Zeit,  wo  Joseph  und 
Maria  in  Folge  des  kaiserlichen  Gebotes,  das  Land  zu  beschreiben, 
sich  nach  Betlehem  begeben  u.  s.  w.  —  Dieser  Gang  stimmt  insoferne 
nicht  mit  dem  biblischen  Bericht,  als  dort  Maria  das  Magnificat  nicht 
vor  Joseph,  sondern  bei  dem  Besuche  Elisabeths  spricht.  P,  dem  zur 
Veröffentlichung  dieses  Gedichtes  nur  A  vorlag,  glaubte  nun  daß 
diese  Verschiedenheit  vom  Abschreiber  herrühre,  „der  ein  paar  Blätter 
früher  abschrieb,  als  sie  der  Folge  nach  eingeschaltet  werden  sollten" 
(PS.  168).  Er  stellte  daher  die  Verse  um,  während  in  A  auf 
218  die  Verse  291—358  und  dann  219—290  folgen.  Primisser's 
Verfahren  ist  begreiflich.  Wir  aber,  die  jetzt  denselben  Gang  wie  in  A 
auch  in  w  und  m^  wiederfinden,  müßten  glauben,  daß  die  Schreiber 
von  w  und  m^  durch  einen  an's  Wunderbare  grenzenden  Zufall  gerade 
dieselben  Blätter  zu  früh  abschrieben,  oder  daß  w  aus  A  entstanden 
und  m"  aus  w.  Nun  ist  das  zweite  Glied  der  Disjunction  allerdings 
wahrscheinlich,  aber  nicht  zu  beweisen.  Daher  könnte  ich 
mich  als  Herausgeber  zu  der  obigen  Umstellung  der  Verse  im  Gegen- 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHENWIKT-HSS.       337 

satze  zu  allen  Handschriften  nur  dann  entschließen,  wenn  diese 
wirklich  nothwendig  ist.  Das  ist  sie  aber,  wie  wir  gesehen  haben, 
nicht.  An  sich  ist  es  ja  gar  nicht  auffällig  und  gewiß  ebenso  berech- 
tiget, wenn  Maria,  als  sie  die  Traurigkeit  Josephs  weichen  sieht,  in 
die  Dankesworte  des  Magniticat  ausbricht.  Ich  halte  daher  die 
handschriftliche  Anordnung  der  Verse  1 — 358  für  die  ur- 
sprüngliche, von  Suchenwirt  selbst  herrührende').  Warum 
er  vom  biblischen  Bericht  abwich,  läÜt  sich  nicht  sagen;  an  einen 
Irrthum  ist  nicht  zu  denken.  Gewiß  hat  er  die  alttestamentliche  Reihen- 
folge der  zehn  Gebote  gekannt,  und  wie  verschieden  ist  seine  An- 
ordnung der  zehn  Gebote!  Übrigens  finden  wir  solche  Abweichungen 
auch  anderv.'ärts,  ich  verweise  hier  nur  auf  den  geistlichen  wagen 
(vgh  S.  327). 

Das  dritte  Suchen  wirtische  Gedicht  in  m^  führt  uns 
zu  Nr.  3  in  C  Die  sprachlichen  Unterschiede  zwischen  beiden 
Fassungen  dieses  Gedichtes  erklären  sich  durch  das  höhere  Alter  von 
m^,  die  metrischen  durch  Neigung  in  C,  im  Verse  gleichmäßigen 
Wechsel  von  Hebung  und  Senkung  herzustellen  (vgl.  S.  308).  —  Eine 
Vergleichung  beider  Handschriften  fällt  entschieden  zu 
Gunsten  von  m**  aus.  Trotz  mancher  Fehler,  von  denen  bei  anderer 
Gelegenheit  die  Rede  sein  wird,  liefert  m**  im  Vergleiche  zu  C  nahezu 
dreißig  recht  brauchbare  Lesarten.  Anderseits  sind  die  Ver- 
schiedenheiten zwischen  m'^  und  C  keineswegs  derartig, 
daß  nicht  N  die  gemeinsame  Quelle  beider  gewesen  sein 
könnte. 

XL    gf. 

Höchst  wahrscheinlich  stammt  aus  derselben  Quelle 
auch  g,  ein  der  herzoglichen  öffentlichen  Bibliothek  zu  Gotha  ge- 
höriger Papiercodex  B,  Nr.  271.  Dankbar  rühme  ich  hier  die  große 
Liberalität,  die  mir  der  Herr  Oberbibliothekar  Geheimer  Hofrath  Pro- 
fessor Dr.  W.  Pertsch  durch  Übersendung  der  werthvollen  Pland- 
schrift  nach  Wien  bewiesen  hat. 

Diese,  mittelquart,  in  starken  Hulzdeckeln,  welche  mit  roth- 
braunem, feingepreßtem,  einstmals  reich  vergoldetem  Leder  überzogen 
sind,  hatte  Schließen  und  zählt  gegenwärtig  201  Blatt.  Da  aber  die 
an  dem  Codex  in  jüngster  Zeit  mit  Tinte  angebrachte  Blattzählung 
das  erste  Blatt  nach  dem  Deckel  nicht  zählt,  so  kann  mit  demselben 


*)  In  die.ser  Untersuchung    bin    ich    aber    überall,    wo    aus  den  sieben  Freuden 
Verse  citiert  werden  oder  auf  welche  verwiesen  wird,  der  Zählung  Priinisser's  gefolgt. 


338  FRANZ  KRATOCHWIL 

Rechte  auch  das  letzte  nicht  gerechnet  werden,  und  es  sind  dann 
199  Blätter.  Übrigens  ist,  da  das  dritte  Blatt  aus  Versehen  nicht 
eingezählt  ward,  die  angebrachte  Zählung  von  incl.  3  bis  incl.  164 
unrichtig;  da  aber  nach  Bl.  164  statt  165  gleich  166  gezählt  ward, 
so  ist  das  frühere  Versehen  ausgeglichen  und  die  Zählung  von  incl. 
166  bis  Ende  correct. 

Die  Handschrift  enthält,  von  dem  letzten  Stücke  abgesehen,  nur 
Poetisches,  und  zwar  von  Teichner  Bl.  9 — 94''  Liher  Sapientie  (dieser 
Titel  stammt  von  dem  ehemaligen  Eigenthümer  der  Handschrift, 
Augustinus  von  Hamer  steten;  er  selbst  schreibt  sich  H  am  er- 
st etenn,  vgl.  S.  339  ff.)  und  Bl.  94*" — 136''  Von  unser  frawen  en- 
phenknuss,  136'' — 177"  von  Konrad  von  Würzburg  die  Guidein  Smyt, 
178* — 183*  von  Suchenwirt  spruch  von  fünff  fursten  (vollständig  lautet 
die  rothe  Überschrift:  Den  'spruch  hat  gemacht  peter  der  Suchen\wirt 
von  fünf  fursten),  183" — 188''  von  Teichner:  In  der  Römer  puch  man 
las  (Hamersteten  bemerkt  daneben:    von  ainer  edlen  Kaiserin). 

Während  die  goldene  Schmiede  an  das  zweite  Stück  so  un- 
mittelbar sich  fügt,  daß  an  dessen  Ende  gleich  der  Titel  von  Kon- 
rads Gedicht  sich  reiht,  obwohl  auf  dieser  Seite  nur  mehr  ein  Raum 
von  einigen  Zeilen  frei  war,  also  (und  so  überall)  die  größte  Aus- 
nützung des  Raumes  sich  zeigt:  folgte  auf  das  oben  zuletzt 
angeführte  Stück  Teichner's,  obwohl  noch  die  halbe  Seite  frei  war, 
ursprünglich  nichts  als  die  zwei  Verse: 

Also  hat  da^  puch  ein  ende 

Got  hehiit  vns  vor  missewende  — 

Es    haben    nämlich    diese   Stücke    einmal    für    sich    allein 

einen  Codex    gebildet,    welcher   nicht    vor  1386  beendet    worden 

sein   kann,  wohl    aber   auch  nicht  viel  später:    also    zu  Ende    des 

14.  Jahrhundertes    oder  im  äußersten  Falle  zu  Anfang  des 

15.  Jahrhundertes. 

Das  sagt  uns  die  Schrift,  die  nur  auf  einen  Schreiber  hinweist 
und  in  den  Zügen,  der  Gefälligkeit,  Reinlichkeit  und  leichten  Lesbar- 
keit nach  an  die  besten  Theile  von  A  erinnert.  Auffallend  ist,  daß 
in  den  meisten  Fällen  die  Punkte  über  i  fehlen.  Als  Abkürzungs- 
zeichen erscheinen  '^  =  ?■  und  er,  um  inlautendes  e  anzuzeigen, 
und  r^  =  reich  in  Osterreich]  als  Haken  gebraucht  der  Schreiber 
gewöhnlich  '  ",  sehr  selten  '  und  nur  über  u  (33  fnr  z=  für),  über?/ 
einen  Punkt;  über  aus  d  entstandenem  e  (=  m)  findet  sich  häufig 
^  oder  ^  Svarabhakti  werden  durch  Haken  nie  bezeichnet,  Halb- 
diphthonge nur  vereinzelt  (31  recht,  34  gepürd,  200  schemleich),   aber 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHEN WIKT-IISS.       339 

auch  die  Diphthonge  nicht  consequent;  besonders  bei  den  vf-Lauton 
fehlt  der  Haken  oft,  so  steht  ü  =  n,  m,  vo,  ue,  dann  kommt  wieder 
für  alle  diese  Laute  ein  bloßes  u  vor.  Sonstige  Schreibfehler  hin- 
gegen (wie  58  smaikchen  :  czaichen)  sind  ganz  selten. 

Die  äußere  Anordnung  der  Verse  ist  sehr  gleichmäßig:  jede  Seite 
ist  von  vier  schwarzen  Strichen  eingesäumt  und  enthält  in  einer  un- 
gespaltenen Columne  24  abgesetzte  Verse.  Zwischen  der  ersten  und 
zweiten  Zeile  befindet  sich  ein  schwarzer  Strich.  Jeder  Vers  beginnt 
mit  einem  großen  Buchstaben,  die  der  ungeraden  Verszcilen  sind 
überdies  roth  durchstrichen.  Dort,  wo  dem  Sinne  nach  ein  Ab- 
schnitt beginnt,    steht  eine  bedeutend  größere  ganz  rothc  ^lajuskel. 

Sprachlich  herrscht  volle  Übereinstimmung  mit  C 
(wenn  man  von  einigen  unbedeutenden  Änderungen  der  Schreiber, 
wie  schl  =  sl  u.  s.  w.  absieht)  und  m"  (nur  liebt  g  nicht  den  Wechsel 
von  b  und  ic),  und  dies  ist  nicht  auffällig,  da  g  gleichfalls  aus 
()ster  reich  stammt,  und  zwar  höchst  walir  seh  ein  lieh  aus 
Wien.  Schon  der  Inhalt  läßt  das  vermuthen :  drei  Viertheile  der 
Handschrift  kommen  auf  den  Wiener  Dichter  Teichner,  fünf  Blätter 
auf  den  in  Wien  ansäßigen  Suchenwirt,  40  auf  Konrad  von  Wllrz- 
burg.  Aber  auch  die  Zut baten  zu  Anfang  und  Ende  des 
Codex  stammen  aus  Wien,  wenn  auch  aus  späterer  Zeit. 

Die  Handschrift  war  nämlich  zu  Ende  des  15.  Jahrhundertes 
Eigenthum  des  Augustinus  von  Harne r steten  in  Wien.  Dr.  J.  G. 
Tb.  Gräße  nennt  ihn  S.  1166  des  Lehrbuches  einer  Literärgeschichte 
der  berühmtesten  Völker  des  Mittelalters,  2.  Bd.,  2.  Hälfte  der  3.  Ab- 
theilung', 1843,  einen  österreichischen  Meistersänger;  Belege  hie- 
für bringt  er  nicht.  In  Ritter's  geographisch-statistischem  Lexikon 
(1.  Bd.,  6.  Aufl.,  1874)  findet  sich  unter  allen  hier  in  Betracht  kom- 
menden Orten  nur  ein  Hammerstetten,  und  zwar  in  Baiern,  Kreis 
Schwaben,  Bezirksamt  Günzburg.  In  Zedler's  Universallexikon  bei 
gegnet  S.  395  des  12.  Bandes  (1735)  ein  Hammerstaettl  oder 
Hamry,  Marktflecken  im  Czaslauer  Kreise  in  Böhmen  mit  gutem 
Eisenbergwerke.  —  Sicher  ist,  daß  A.  von  Hamersteten  sich  14'.)6  in 
Torgau  aufhielt.  Hier  vollendete  er  seine  Histori  vom  Hirs  mit  den 
guldin  ghurnVnd  der  Füratin  vom  pronnen.  Zu  Ende  derselben  schrieb  er: 
^4.  de  Hamersteten  Cancellarius.  Finitum  Torga  Sabato  vüji"-  ijahnarunt 
A"  1496.  Dieser  auf  36  Blätter  Papier  in  üctav  geschriebene  und 
aufs  Schönste  gebundene  kleine  Roman  behandelt  die  Liebschaft  des 
Kurfürsten  Friedrich  des  Weisen  von  Sachsen  mit  der  Gräfin 
Amalia    von    Schwarzburg,    Gemahlin    des    Grafen  Günther  XXXIX. 


340  FRANZ  KRATOCHWIL 

Das  Büchlein  widmete  Hamer steten  dem  genannten  Kur- 
fürsten, der  es  nach  einer  am  Schlüsse  desselben  von  jüngerer  Hand 
angebrachten  Bemerkung  sehr  lieb  hatte.  Jetzt  befindet  sich  dasselbe 
als  Handschrift  M  279  auf  der  königlichen  Bibliothek  zu  Dresden 
(vgl.  Dr.  Franz  Schnorr  von  Carolsfeld,  Katalog  der  Hand- 
schriften der  königlichen  öffentlichen  Bibliothek  zu  Dresden,  2.  Bd., 
Leipzig  1883,  S.  518  f.).  Der  Bibliothekar  Heinrich  Jonathan 
Clodius  ließ  nebst  einigen  einleitenden  Bemerkungen  das  Büchlein 
imDresdnischen  Magazin,  Bd.  1  (Dresden  1760),  S.  18 — 31  und 
131 — 152  abdrucken.  Auffällig  ist,  daß  der  Verfasser  des  Büchleins 
sowohl  S.  23  als  152  Haramersteiw  genannt  wird,  ebenso  bei  Ben- 
jamin Gottfried  Weinart,  der  diesen  Aufsatz  aus  dem  Dresd- 
nischen  Magazin,  das  nach  20  Jahren  ziemlich  vergriffen  war,  im 
zweiten  zu  Leipzig  1784  erschienenen  Theil  der  Neuen  sächsischen 
historischen  Handbibliothek  S.  1 — 43  abgedruckt  hat.  In  dem- 
selben Jahre  wurde  zu  Leipzig  Hamerstetens  Erzählung  in  der  Sprache 
modernisiert  und  mit  Anmerkungen  versehen,  herausgegeben  im  dritten 
Stück  des  ersten  Jahrganges  des  Sammelwerkes:  Für  ältere  Lite- 
ratur und  neuere  Leetüre  S.  107 — 138  von  Ganz  1er  und  Meißner. 
Leider  bieten  die  genannten  drei  Werke  keinerlei  Aufschluß  über 
Hamersteten's  Lebensverhältnisse. 

Im  Jahre  1497  ist  Hamer  steten  in  Wien.  Hier  überreicht 
er,  unbestimmt  ob  zum  Ankauf  oder  —  was  viel  wahrcheinlicher  ist  — 
als  Geschenk  dem  damals  mit  seinem  Bruder  Johann  in  Wien  weilen- 
den Kurfürsten  von  Sachsen,  Friedrich  dem  Weisen,  einen  Papiercodex, 
der  nunmehr  in  der  herzoglichen  öffentlichen  Bibliothek  zu  Gotha 
unter  der  Bezeichnung  B  Nr.  50  verwahrt  wird.  Die  Handschrift  be- 
steht aus  277  Blättern  in  Quart;  jede  Seite  zählt  24  Verse  (vgl.  S.  339 
oben) ;  die  Schrift  ist  sauber  und  stammt  aus  dem  Ende  des  15.  Jahr- 
hunderts. Auf  der  Rückseite  des  ersten  Blattes  heißt  es:  Dises  Puch 
sagt  von  der  Zioitracht  vnnsers  Herrn  Kaisers  vnd  seinem  Bruder  Her- 
czog  alhreclit  vnd  der  lantschaft  Osterreich  vnd  abfal  der  von  wien  vnd 
stet  das  man  es  lesen  mag  als  einen  spricch  oder  singen  als  ein  lied  vnd 
Michel  Beham  hat  es  gemacht  vnd  es  haisst  in  seiner  Angst  loeiss  wan 
er  fieng  es  an  zu  wien  In  der  purg  do  er  In  grossen  Ängsten  loas  iver 
es  singen  woll  der  lieb  es  in  diesen  noten  hie  also  an.  Auf  der  folgenden 
Seite  beginnt  das  Gedicht  mit  sechs  Reihen  Musiknoten.  Wir  haben 
es  also  mit  Michael  Beheim's  Buch  von  den  Wienern  zu 
thun.  In  diesem  erscheint  aber  Augustinus  von  Hamer- 
steten    selbst   als  handelnde  Person,    als  Begleiter  des  kaiser- 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHENWIRT-HSS.       34] 

liehen  Obersten  von  Uraveneck,  den  die  Wiener  im  Jaliro  1462 
niedergeworfen  hatten;  er  vertheidigte  ihn  mit  noch  vier  Anderen, 
die  Beheim  mit  Namen  anführt: 

Aiiier  (jenant  u-as  Asani  schraniz 

Des  manheif  die  wass  vest  vnd  aontz 

Der  stund  neben  dem  Hern  sein 

Von  Hammerstetten  Augustein 

Neben  seinem  Hern  stunde 

Ein  Arm  ward  Im  verivunde. 

Die  andern  drey  loaren  vor  dem  Thor  u.  s.  w. 
Vgl.  Th.  Gr.  V.  Karajan,  Michael  Beheim's  Buch  von  den  Wienern. 
W^ien  1843,  S.  LXXX  f.  und  S.  53,  Vers  7  ff.,  ferner  Fr.  Jacobs 
und  F.  A.  Ukert,  Beiträge  zur  älteren  Literatur  oder  Merkwürdig- 
keiten der  herzoglich  öffentlichen  Bibliothek  zu  Gotha,  3.  Bd.,  1838, 
S.  94 — 98.  —  Die  Handschrift  hat  Haraersteten  mit  mancherlei  Rand- 
bemerkungen versehen,  so  schrieb  er  auf  der  ersten  Seite  am 
oberen  Rande:  1496.  Soli  altissimo.  Idem  vi  infra.  Ar^  daneben: 
4.  feria  post  palmarum  in  Torga  (vgl.  S.  339).  A.  .  .  .x  A/uio  1496 \ 
zu  S.  53,  V.  5  u.  6  (Ausgabe  Karajan's):  V  nobiles  stipendidrii  Impera- 
toris,  wodurch  er  sich  nach  Karajan's  Meinung  als  kaiserlicher  Söldner 
bezeichnet.  Zum  Vers  31  der  Seite  33  machte  Hamersteten  am  unteren 
Rande  der  Seite  folgenden  auch  mit  Ebendorfer's  Angaben  (Pez 
II,  974)  stimmenden  Zusatz: 

An  hohen  markt  hin  dazumal 

Der   Wiener  Henker  Maister  pal 

Hett  Ein  längs  swert  an  der  seiten 

Snell  richten  on  alles  peiten 

Schryen  die  pluthund  alle 

Daz  tet  gar  vhel  gevalle 

Den  gefangnen  mitsambt  Grafneken 

Zesterben  loaz  ser  erschrecken. 

Daz  schreibt  A  von  Hamersteten 

Vil  lieber  iver  Er  getreten 

Frey  hin  durch   Doriv ger  xoarde 

Daz  solt  Ir  Im  glauben  pa/de 

Von  gotz  q)iaden  ward  nichtz  darauss 

HoUtzer  Hess  füren  in  sein  Haivs. 
Im  October  1497   —  also    wahrscheinlich    bei  Gelegenheit  der 
Überreichung    des  Buches    von    den   Wienern   —  geschah  es,    daü 
Hamersteten    die  Handschrift  g,    der  er  eine   gereimte  Wid- 


342  FRANZ  KRATOCHWIL 

mung  —  wahrhaftig  kein  poetisches  Meisterstück  —  vorangestellt 
hatte  (Bl.  1 — 8),  dem  genannten  Kurfürsten  von  Sachsen  anläßlich 
des  bevorstehenden  Jahreswechsels  zum  Geschenke  machte. 
Gegen  den  Schluß  seiner  Zueignung  sagt  Haraersteten: 

Ewr  gnad  nemhs  hin 

Z%i  c^ef allen,  das  pitt  ich  ser 

Dann  mecht  ich  has,  so  tet  ich  mer 

Seidmal  ich  Aurum  ivenig  hob, 

So  geet  mir  auch  Argentum  ab. 
Über  den  Inhalt  des  Codex  spricht  er  auf  den  zwei  letzten 
Blättern  der  Widmung');  hiebei  nennt  er  Teichner  einen  „berümbten 
Tichter  wol  bekannt".  An  seinen  Dichtungen  bringt  er  auch  aller- 
hand Änderungen  an,  während  er  Konrad  von  Würzburg  und 
Suchen wirt  glücklicherweise  verschont.  Ja,  er  bemerkt  rechts  von 
den  neun  ersten  Versen  des  Suchen  wirtischen  Gedichtes  ausdrücklich : 

Ich  hah  die  ding  nit  corrigirt 

Von  dem  peter  süchemvirt 

Laß  beleihen  in  Irem  lo'firdt 

Als  man  dauon  sagen  h'ert  seil,  audit. 
Zum  letzten  Gedichte  Teichner's  schreibt  er  Bl.  ISS"": 

Was  der  teichner  hat  gesetzt 

Daz  ist  gut  vnd  vnuerlefzt 

In  Syben  vnd  auch  in  Acht 

Der  Sillelb  zal  wol  gemacht 

Collatinirt,  durch  yettenn 

Hat:^  A.  von  Hamerstenn  (offenbar  Schreibfehler!) 

Vberal  gerichtet  gleich 

Hie  Zu   Wienn  in   Osterreich. 
Darauf  Bl.  189"  wieder  eine  Vorrede  Hamersteten's  zu  dem  letzten 
Stücke    der   Handschrift,    der  Zuthat    am  Ende,    Clenodium   genannt 
(Bl.   190"— 199*').     190''  unten  steht  mit  rother  Tinte: 

Anno  Domini  zc.  XLII1°  zc 

per  me  —  lo  —  p.  scriptum  ~ 
und  Bl.  199''  unten  ein  Wappen,  daneben:    Clenodium  venerahilis  viri 
Domini    icolfgangi  Clementis    plebani   Noueciuitatis    et  Canonici  Ecclesie 
Collegiate  Sancti    steffany    wienn   zc  Sub  Anno    domini   zc  XLIII".    Die 
Schrift  ist  eine  andere  als  in  der  Vorrede  und  älter,  aber  jünger  als 


')  Einige    auf   den  Inhalt    des  Codex    bezüglicbe  Stellen    dieser  Zueignung  hat 
Tentzel  in  den  Monatlichen  Untersuchungen  1691,  S.  928  f.  veröffentlicht. 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCnENWIRT-HSS.       343 

die  des  Codex:  sie  kann  nur  aus  dem  Jahre  1443^)  stammen; 
nicht  von  1543,  da  die  Handschrift  schon  1497  nach  Sachsen  kam, 
und  aus  dem  Jahre  1343  nicht,  weil  es  damals  eine  (Jollegiat- 
kirche  St.  Stephan  noch  nicht  gab.  Das  Jahr  1443  stimmt  auch 
ganz  gut  mit  dem  Lebensgange  des  genannten  Wolfgang.  Die  Hand- 
schrift Nr.  100 '')  des  k.  und  k.  Haus-,  Hof-  und  Staatsarchivs  enthält 
in  Tora.  4,  Bl.  278" — 325''  die  Series  Canonicorum  Ecclesiae  S.  Ste- 
phani,  Viennae  1365—1783  (vgl.  Dr.  Const antin  Edler  von 
Böhm,  Die  Handschriften  des  k.  und  k.  Haus-,  Hof-  und  Staats- 
archivs, Wien  1873,  S.  32).  Bl.  286"  findet  sich  zum  Jahre  1424  be- 
merkt: Dominus  Wolfgangus  Clementis^)  Canonicus  instnlkitus  i)i  die 
Sancti  Jeronimi.  29""  {siel)  Septembris.  Ohiit  1445.  Während  Wolfgang 
sein  Canonicat  in  Wien  versah,  war  für  ihn  Pfarrverweser  in 
Wiener-Neustadt  Niki as  von  Wien.  Derselbe  wird  1439  urkundlich 
genannt;  vgl.  Ferd.  Karl  Boeheim,  Gesammelte  Schriften.  Wien 
1863,  2.  Bd.,  S.  101  u.  210. 

Was  den  Werth  dieser  Recension  gegenüber  C  und  m'^  betrifft, 
so  ist  er  so  bedeutend,  daß  diese  Handschrift  des  Gedichtes 
von  fünf  Fürsten  einem  künftigen  Neudrucke  zu  Grunde 
zu  legen  sein  wird. 

Durch  die  Bekanntschaft  mit  der  Gothaer  Handschrift  hat  sich 
gezeigt,  daß  m'^  und  g  auf  das  Engste  verwandt  sind.  Icli  ver- 
weise nur  auf  m'g  7  in  hoh(ch)en  lo irden,  'S  des,  11  grossen  irnvdel, 
25  seim,  29  m'^  edierst,  g  allrerst,  m-g  39  vil  ser,  43  da  vil,  49  und 
fehlt,  79,  141  u.  184  edlen,  87  gefueget,  89  mord.r,  94  wnjeheft ,  101 
end  er  nam,  110  fleisch  da:;,  vmrt ,  113  treicen,  125  und,  des  loerder, 
129  tcann,  131  eim,  133  und  urnb  daz,,  146  g  la^  si,  m"^  la  seic,  m'^g 
151  kroniken,  160g  aine:^  suU,  m^  aine  schüU,  m^g  162  oder  teic- 
riing,  168  nahent  euch,  167  mort  (C  maet),  169  chlage{n)nder  (C  cJdxtg 
mid"),  176  der  man,  182  do  seio{si) ,  200  sche{e)nileich ,  204  dem 
rechten,    205  vieln,  211  veinden  do(da)  zu,  215  do  wart,   238  huetie). 

So  lange  m'*  allein  mit  C  verglichen  wurde,  standen  die  Ab- 
weichungen der  Münchener  Handschrift  von  C  der  S.  337   ausgespro- 


')  Jacobs'  und  Ukerfs  Beiträge  zur  älteren  Literatur  ii.  s.  w.  enthalten  im 
zweiten  Bande  8.  312 — 318  manch  Irrthümlichcs  über  diese  Handschrift.  So  trans- 
scribieren  die  Herausgeber  die  Zahlenangaben  Bl.  19u'  und  199''  in  g  auf  folgende 
Weise:   nC.XLM^TC.   und   HCXLM^^! 

^)  Einst  Eigenthum  des  Wiener  Canonicus  l'ranz  Paul  Edlen  von 
S  m  i  t  m  6  r. 

*)  Seil,  ßliua. 


344        FR    KRATOCHWIL,  ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  etc. 

ebenen  Annahme ,  daß  m"  aus  derselben  Quelle  wie  C  geflossen, 
durebaus  niebt  binderlicb  im  Wege.  Ganz  anders  gestaltet  sich  das 
VerbältniÜ ,  nachdem  sich  gezeigt,  daß  auch  g  an  denselben  Stellen 
von  C  abweicht  wie  m^.  Denn  soll  der  Zufall  wirklich  möglich  sein, 
daß  der  Schreiber  von  g  und  der  um  mehr  als  ein  halbes  Jahrhundert 
später  thätige  Schreiber  von  m'-'  gerade  an  denselben  Stellen  von  N 
abänderten,  ja  noch  mehr,  daß  sie  sich  die  gleichen  Abänderungen 
erlaubten  ? 

Allerdings  unterscheidet  sich  m*^  auch  hie  und  da  von  C,  wäh- 
rend g  und  C  übereinstimmen.  Dies  erklärt  sich  daraus,  daß  m^  wie 
schon  früher  bei  Vergleichung  von  m''  mit  w  gesagt  wurde,  weniger 
sorgsam  abgefaßt  wurde;  so  fehlt  in  m*^  2  a/5,  33  jar,  46  mul,  207 
veint  und  165  utid  freud,  so  daß  dieser  Vers  nur  drei  Hebungen  mit 
stumpfem  Schlüsse  hat.  Dieselbe  Erscheinung  wurde  durch  Apokope 
im  Reime  in  den  Versen  126,  128,  162,  238  und  240  herbeigeführt. 
Störung  durch  Apokope  findet  sich  auch  144  daucht  und  154  halb, 
durch  Synkope  206  tratn^  durch  Verschreiben  2  geslachte,  16  mit 
ernst  und  94  ""gepunden,  endlich  durch  Sinnlosigkeit  57  osterreich, 
58  u.  59  in  anstatt  sey. 

Es  stimmen  aber  auch  einige  Mal  C  und  m^,  während  g  allein 
steht;  so  hat  g  31  recht,  60  weibes,  64  suUen,  122  untretin,  147  alle, 
156  und  prinnt  recht  als  ein  cherzen,  181  dem  lannde,  194  wellen,  204 
beleiben,  211  veinden  da  zu,  213  do  si,  228  tu  sew,  201  fehlt  und. 
Diese  wenigen  Stellen  ausgenommen,  bietet  g  fast  immer  das 
Richtige  sowohl  in  Bezug  auf  den  Inhalt  und  Ausdruck, 
als  auch  in  metrischer  Hinsicht. 

Trotz  dieser  Verschiedenheiten  ist  die  Übereinstimmung  zwischen 
g  und  m*^  eine  in  die  Augen  fallende;  sie  zwingt  zur  Annahme,  daß 
g  die  Vorlage  für  m'*  gebildet  habe.  Und  g?  g  kann  sehr 
wohl  nach  N  geschrieben  worden  sein.  Dafür  spricht,  daß 
beide  in  Osterreich  entstanden  sind  und  der  Zeit  nach  einander  nicht 
ferne  stehen.  In  diesem  Falle  wäre  g  der  Vorlage  treuer  gefolgt, 
während  C  hie  und  da  modernisierte;  vielleicht  war  auch  für  den 
Schreiber  von  C  seine  Vorlage  bereits  öfter  schwer  leserlich,  oder  er 
las  flüchtig,  wie  dies  bei  V.  51  winken  für  kroniken  der  Fall  gewesen 
sein  dürfte.  Dagegen  spricht  weniger  der  Einwand,  warum,  wenn 
N  die  Vorlage  war,  der  Schreiber  von  g  daraus  nur  die  goldene 
Schmiede  und  das  Gedicht  von  fünf  Fürsten  wählte,  warum  er  nicht 
noch  andere  zu  dem  Inhalte  der  bereits  aufgenommenen  vollkommen 
passende  Gedichte  Suchenwirt's  (z.  B.  religiösen  Inhalts)  abgeschrieben 


L.  FRÄNKEL,  BIBLIOGRAPHIE  DER  UHLAND-LITTERATUR.  345 

liabe;    vieiraehr    aber   der  Gedanke,    da(.>  g    der  Schrift    nach    höchst 
wahrscheinlich  .noch  vor  1402  zu  setzen  ist. 

Doch  schwerlich  wird  sich  die  Schrift  bis  auf  ein  Jahrzehnt 
mit  Sicherheit  bestimmen  lassen.  Wer  sich  aber  trotzdem  darüber 
nicht  beruhigen  kann,  für  den  bleibt  nur  die  Annahme,  daß  g  nach 
des  Dichters  Autograph  oder  nach  einem  zu  dieser  Zeit  schon 
üblichen  fliegenden  Blatte  geschrieben  worden  sei. 

Zum  Schlüsse  noch  die  Bemerkung,  daß  im  Gedichte  von  fünf 
Fürsten  weder  in  C  noch  in  m^  und  g  eine  Andeutung  strophischer 
Gliederung  zu  finden  ist. 

(Fortsetzung  und  Schluß  folgt.) 

FRANZ  KRATOCHWIL. 


BIBLIOGRAPHIE    DER   UHLAND  -  LITTERATUK. 


Ludwig  Uhland,  dem  zweifellos  volksthümlichsteu  Dichter  deutscher 
Zunge,  dem  erfolgreichen  Erforscher  unserer  Vorzeit,  dem  rüstigen  Vertreter 
alter  guter  Sitte  und  Satzung  und  wackeren  Streiter  für  des  Gesamnitvater- 
landes  Freiheit  und  Größe  ein  seiner  würdiges  litterarisches  Denkmal  zu 
errichten ,  darin  gipfelt  mein  in  absehbarer  Zeit  zu  verwirklichender  Plan. 
Um  nun  für  diese  Aufgabe  in  ihrem  vollen  Umfange  einen  sicheren  Boden 
zu  gewinnen,  hielt  ich  es  für  angebracht,  vorerst  eine  Bibliographie  der 
gesammten  mir  erreichbaren  Uhland-Litteratur  zu  entwerfen ,  deren  Fehlen 
ich  bei  Abfassung  meiner  Studie  über  Uhland  als  Romanist ')  empfindlich 
verspürt  hatte.  Die  bescheidene  Sammlung  wuchs  mir  aber  unversehens 
unter  der  Hand  und  entwickelte  sich  zu  einer  so  beträchtlichen  Ausdehnung, 
daß  sie  einen  gewissen  selbständigen  Werth  wohl  beanspruchen  darf.  Ich 
lege  dieselbe  hier  den  Fachgenossen  vor,  indem  ich  zwar  bitte,  sie  nicht 
bloß  als  Vorstufe,  sondern  als  einen  Ausschnitt  der  Arbeit  selbst  zu  be- 
trachten, jedoch  mit  dem  Geständniß  nicht  zurückhalten  will,  daß  die  mannig- 
fache Unvollkommenheit  des  Ergebnisses  auf  vielseitige  Ergänzung  durch 
Kenner  der   Sache  rechnen  muß. 

Einige  Erläuterungen  über  die  Anlage  des  Verzeichnisses  seien  voraus- 
geschickt. Die  rein  durch  die  Zeitfolge  bestimmte  äußere  Anordnung  erwies 
sich  unter  Anderem  auch  dadurch  als  die  geeignetste,  weil  allein  sie  ge- 
stattet, der  wechselnden  größeren  oder  geringeren  Zuneigung  der  Kritik  eine 
Art  Maßstab  für  die  in  verschiedenen  Zeiten  ungleiche  Beliebtheit  und 
Werthschätzung  Uhland's  zu  entnehmen.  Was  den  Inhalt  des  Katalogs,  wel- 
cher vermöge  der  beigegebenen  Andeutungen  über  Stoff  und  Seitenzahl  der 
angeführten    Nummern    und    der    Hinweise    auf    sachkundige    Besprechungen 


*)  Archiv   für  das  Studium  der  neuereu  Sprachen  und  Litteraturen,    herausgeg. 
von  L.  Herrig,  80.  Band  (1888),  S.  25—11.3,  und  82.  Band  (188<)),  S.  233—235. 
GERMANIA.    Neue  Reihe  XXII.  (XXXIV.)  Jahrg.  23 


346  L.  FRÄNKEL 

zugleich  ein  Wegweiser  durch  die  zerstreute  Litteratur  sein  möchte ,  hin- 
sichtlich des  Maßes  des  darin  aufgenommenen  Materials  betrifft,  so  sei  be- 
merkt, daß  nur  für  selbständig  erschienene  Bücher  und  Abhandlungen  größt- 
mögliche Vollständigkeit  angestrebt  wurde.  Von  Aufsätzen  in  Zeitschriften 
und  Tagesblättern,  namentlich  von  den  zahlreichen  Nekrologen  der  Jahre  1862 
und  1863  und  den  Jubiläumsartikelu  von  1887,  fanden  hingegen  meist  nur  die 
Aufnahme,  welche  durch  Hervorhebung  eigenartiger  G-esichtspunkte  Anspruch 
auf  bleibende  Bedeutung  erheben  dürfen.  Aus  letzterem  Grunde  werden  auch 
eine  Anzahl  von  Einzelstellen  aus  Werken  genannt,  deren  Absehen  zunächst 
nicht  auf  eine  Würdigung  Uhlands  gerichtet  ist.  Anfänglich  beabsichtigte 
ich  auch  eine  möglichst  erschöpfende  Liste  aller  hervorragenden  Charakte- 
ristiken Uhlands  in  allgemein  litterarhistorischen  Schriften  mitzutheilen.  Aber 
dies  Vorhaben  zeigte  sich  einerseits  undurchführbar  —  denn  wenn  eine 
Kategorie  des  deutschen  Büchermarktes  Legion  ist,  so  ist  es  die  Zahl  der 
litterargeschichtlichen  Handbücher  großen  und  kleinen  Kalibers  —  anderer- 
seits kaum  zweckmäßig.  Entweder  nämlich  wird  an  gedachter  Stelle  Uhland 
nur  ganz  flüchtig  berührt  oder  sonst  sein  Bild  meist  bloß  in  leichten  Umriß- 
linien gezeichnet,  so  daß  die  Erkenntniß  seines  menschlichen  und  schrift- 
stellerischen Wesens  hier  keine  Förderung  empfangen  kann;  die  wenigen 
bemerkenswerthen  Schilderungen,  welche  auf  wirklich  individueller  Anschauungs- 
weise beruhen,  wie  bei  Gervinus,  J.  Hillebrand,  Jul.  Schmidt,  Scherer,  von 
den  Freunden  Uhland's  auch  ohne  besonderen  Hinweis  aufgesucht,  bieten 
dem    Specialisten  kein  neues  Licht. 

Von  Vorarbeiten  kann  eigentlich  nicht  die  Rede  sein.  Dankbar  wurde 
benutzt,  was  Bartsch's  mit  1862  einsetzende  Bibliographien  in  der  „Ger- 
mania", Strauchs  Jahresübersichten  in  den  letzten  Bänden  des  „Anzeigers 
für  deutsches  Alterthum  und  deutsche  Litteratur''  und  einige  andere  ähnliche 
Zusammenstellungen  allgemeinen  Charakters  ')  gewährten ,  wenn  mir  auch 
nur  sehr  selten  ein  Titel  oder  eine  Notiz  entgangen  war.  Den  einzigen 
bibliographisch  wie  immer  musterhaften  Überblick  gab  (bis  1881  reichend) 
K.  Goedeke  im  Grundriß  zur  Geschichte  der  deutschen  Dichtung  IH,  S.  338  If., 
woselbst  er  auch  S.  320  flF.  einen  alles  Wissenswerthe  knapp  zusammen- 
fassenden Bericht  über  die  gesammte  Thätigkeit  Uhlands  geliefert  hat ; 
Fasold's  'Verzeichniß  der  Uhland  -  Literatur'  in  Herrig's  Archiv  Band  72, 
S.  411 — 414  ist  eine  unmethodisch  angelegte,  kritiklos  durchgeführte  und 
im  Einzelnen  ungenaue  und  unzuverlässige  Skizze,  der  Abriß  Hassenstein's  in 
der  Einleitung  seines  unten  zu  188  7  genannten  Buches  im  engsten  Rahmen 
gehalten.  Daß  sich  die  Fasold'schen  Mängel  bei  mir  nirgends  fühlbar  machen, 
wage  ich  nicht  zu  behaupten,  wo  so  manches  Citat  nicht  nach  eigener  An- 
schauung gegeben  werden  konnte ,  einige  wenige  Belege  aber  überhaupt 
unzugänglich   blieben.   Möge  jedoch  diesem  Versuche  wenigstens  das  Verdienst 


')  Z.  B.  der  Jahresbericht  über  die  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  ger- 
manischen Philologie ,  herausgeg.  von  der  Gesellschaft  für  deutsche  Philologie  in 
Berlin  (9  Bände  1880—1888),  das  zur  Bibliotheca  philologica'  gehörige  'Verzeichniß 
aller  neuen  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  Philologie'  von  Heyse  und  Blau  u.  A. 
Dankbar  erwähne  ich  für  1863  auch  R.  Goscbe's  Übersicht  in  seinem  Jahrbuch  für 
Littgesch.  (1865)  .379  ff. 


BIBLIOGRAPHIE  DEK  UHLAND-LITTERTUR.  347 

nicht  abgesprochen  werden,  den  Grund  zu  einer  Sammlung  von  allem  über 
Uhland  Geschriebenen  zu  legen  und  dies  hier  an  einer  Arbeitsstätte ,  in 
deren  erste  Anbauzeit  noch  sein  berathendes  Wort,  von  eigener  wackerer 
That  begleitet,    verheißungsvoll   hineingeklungen   ist. 

1783.  Auf  die  Uhlandische  und  Hoserische  Verbindung  am  20.  März 
1783.  Tübingen.  4  Bl.  (Diese  ungemein  seltene  Festschrift  zur  Hochzeit  von 
L.  Uhland's  Eltern  ist  bisher  sämmtlichen  Bio-  und  Bibliographen  entgangen; 
mit  dem  Druckfehler  'Hofcrische'  ist  sie  im  Antiquarkatalog  178,  S.  47  der 
Berliner  Buchhandlung  S.   Calvary  und   Co.    [I88tj]   verzeichnet.) 

1807.  Morgenblatt  für  gebildete  Stände  (Stuttg.)  13.  Jan.,  Nr.  11, 
S.  43  zur  Veröffentlichung  von  U.'s  lyrischen  Erstlingen;  vgl.  Intelligenz- 
blatt zum   Morgenblatt    1808,   Nr.    3,   S.    12. 

1815.  Uhland's  Gedichte  (l.Aufl. ')  Stuttgart,  Cotta  1815)  besprochen 
in  den  Heidelbg.   Jahrb.   Bericht  S.    168. 

1818.  U.'s  "Ernst,  Herzog  von  Schwaben  (Heidelberg,  Winter  1817), 
besprochen:  Wünschelruthe  S.  43  f.,  Leipziger  Litteraturztg.  Nr.  250  (vgl. 
Wiener  Jahrb.   der  Litteratur  VII,    11    u.   VIII,   255). 

Studien.  Ein  Beitrag  zur  neuesten  Dramaturgie,  oder  über  Müllner's 
Schuld,   Uhland's  Ernst  und  Kotzebue's   Rehbock  (München). 

1819.  U.'s  Gedichte,  besprochen  in  Kotzebue's  Literar.  Wochenblatt, 
October,  4,  31,  S.  246;  desgl.  in  der  AUgem.  Litteraturztg.,  August,  Nr.  205, 
S.  785—789. 

U.'s  Vaterländische  Gedichte',  besprochen  in  der  .\llgem.  Litteraturztg., 
October,  Nr.    114   (Ergänzungsbl.   S.    912). 

Ernst,  Herzog  von  Schwaben  :  Bericht  über  die  erste  Aufführung  in 
Stuttgart  am   7.   Mai  im  'Gesellschafter'  Nr.    124. 

U.'s  Ludwig  der  Baier  (Berlin,  G.  Reimer,  1819),  besprochen:  Litte- 
raturblatt  zum  Morgenblatt  für  gebildete  Stände  Nr.  37;  desgl.  Kotzebue's 
Literar.  Wochenblatt  Nr.   39. 

1821.  Ludwig  der  Baier  ,  besprochen  in  der  Leipziger  Litteraturztg. 
S.   2001. 

Gedichte.  Zweite  verm.  Aufl.  (1820)  besprochen:  Leipz.  Litteraturztg. 
S.    2129. 

1822.  Walther  von  der  Vogelweide,  ein  altdeutscher  Dichter,  ge- 
schildert von  L.  Uhland,  besprochen  Allgem.  Litteraturztg.  2,  481;  Leipz. 
Repertorium  4,  269.  (Vgl.  Wiener  Jahrbücher  der  Literatur  XXV,  70; 
XXX,    46;   XCII  A,   Bl.    3.) 

1823.  L.  Uhland,  de  constituenda  re  publica  carmina,  latine  edidit 
G.    Schwab  (Stuttgart)   4. 

1826.  Gustav  Schwab,  'Ludwig  Uhland  als  Dichter'.  Mit  U.'s  Porträt. 
Moosrosen,  Taschenbuch,   herausgegeben  von  W.  Menzel,   S.  1 — 37   (Schwab's 


')  Die  Ergebnisse  einer  von  mir  angestellten  Vergleichung  der  verschiedenen 
Ausgaben  veröffentliche  ich  nicht,  so  lange  noch  die  von  Professor  W.  L.  Holland, 
dem  die  reichlichsten  und  gedieojensten  Quellen  fließen,  angekündigte  kritische  Abschluli- 
ausgabe,  mit  vollständigem  Variantenapparat  ausgestattet,  in  Aussicht  steht.  Doch  soll 
eine  ausreichende  Bibliographie  sämmtlicher  litterarischen  Leistungen  Uhland's  bald 
folgen. 

23* 


348  L.  FRANKE  L 

'^ Kleine  prosaische  Schriften,  herausgegeben  von  Klüpfel  [Tübingen  188J] 
S.    1   ff.) 

Bericht  über  die  Aufführung  von  Ludwig  der  Baier'  in  München :  Abend- 
zeitung Nr.    287. 

Fr,  Diez,  Die  Poesie  der  Troubadours,  S.  195,  A.  1  'über  das  alt- 
franz.   Epos'    [2.   Aufl.   von  Bartsch,    lb83.    S.    172,   A.    1]. 

1827.  Gedichte,  3.  Aufl.  (1826),  besprochen:  Allgem.  Litteraturztg. 
I.   Halbband   des  Jahrgangs   S.   335. 

'Bericht  über  die  Aufführung  von  Ernst  von  Schwaben  in  Wien:  Abend- 
zeitung Nr.    128. 

Wilhelm  Müller,  Die  neueste  lyrische  Poesie  der  Deutschen.  Ludwig 
Uhland  (und  Justinus  Kerner) :  Hermes  oder  Leipziger  kritisches  Jahrbuch 
der  Literatur  28.  Band,  S.  94 — 114;  vgl.  W.  Müller,  Vermischte  Schriften, 
herausgeg.   von  G.    Schwab   (Leipzig   1830),   IV,    95   ff. 

W.  Grimm  in  den  Gott.  Gel.  Anzeigen  IH,  S.  202Ö  (über  U.'s  'Wal- 
ther  V.   d.  V.'):  Abdruck  in  W.  Grimm,   Kleinere  Schriften  H  (1882),   S.  386. 

1829.  Fr.  Diez,  Leben  und  Werke  der  Troubadours'  (Zwickau)  S.  (313  f. 

1830.  'Ludwig  Uhland  unser  Lebewohl'.   (Gelegenheitsgedicht.)  Stuttgart. 

1831.  M.  W.  Götzinger,  Deutsche  Dichter  erläutert.  I.  (Leipzig.)  S.351  — 
414  (2.  Aufl.  [1844],  S.  471—545).  (Ludwig  Uhland  nebst  Erklärung  von 
10  bez.    16   Balladen.) 

G.  Schwab,  Besprechung  der  5.  Aufl.  von  U.'s  Gedichte'  (besonders 
über:   der  Mohn,  Münstersage,   Ver  sacrum). 

1833.  K.  Lachmann,  'Wolfi-am  von  Eschenbach'  (Berlin)  p.  XL,  Note 
(U.    über  das   altfranzösische  Epos). 

K.  Simrock,  Walther  von  der  Vogelweide  übersetzt',  Vorrede  S.  IV 
u.   VI    (6.  Aufl.    S.  XXXIV  f.). 

Notiz  über  die  6.  Auflage  der  Gedichte  (1833)  in  Menzels  Literatur- 
blatt Nr.   52    (20.   Mai). 

1834.  (Goethe  im)  'Briefwechsel  zwischen  Goethe  und  Zelter  (Berlin) 
VI,   306   (Äußerung  vom   4.   October    1831). 

1835.  H.  Viehoff",  Programm  des  Gymnasiums  zu  Emmerich  S.  13 
(Des   Sängers  Fluch). 

G.  Schwab,  Die  deutschen  Volksbücher  wiedererzählt  S.  VI  (Notiz  zum 
Fortunat). 

1836.  L,  Börne,  Beranger  et  Uhland  in  seiner  'La  Balance.  Revue 
allemande  et  fran9aise'  (Paris)  I,  17 — 46  (Abdruck  in  der  Hamburger  Aus- 
gabe der  Gesammelten  Schriften  VII,  314  ff.  [Eine  Stelle  aus  S.  19,  sowie 
S.  23  f.  theilt  Börne  in  deutscher  Übersetzung  mit  in  Menzel  der  Franzosen- 
fresser'.  New- Yorker  Ausg.  von  Jos.   Wieck  III,   37   f.]) 

Goethe's  Gespräche  mit  Eckermann  (Leipzig)  I,  65  f.  (Gespräch  vom 
21.  October  1823);  vgl.  II,  358  f.  (von  18J1;  inhaltlich  stimmt  damit 
genau  die  unter   1848   angeführte  Äußerung   Eückert's). 

K.  Gutzkow,  Beiträge  zur  Geschichte  der  neuesten  Literatur  (Stuttg.) 
I,   S.   57  —  66. 

H.  Heine  in:  Die  romantische  Schule  (Hamburg):  Sämmtliche  Werke, 
Hamburg   1861,   VI,   254  —  270. 


BIBLIOGRAPHIE  DER  UHLAND-LITTERATUK.  349 

H.  Viehoft',  Ausgewählte  Stücke  deutscher  Dichter  erläutert  und  auf 
ihre  Quellen  zurückgeführt  (Emmerich):  I,  248  Das  Schloß  am  Meere,  251 
Des   Sängers   Fluch,    2G1    König  Karl's   Meerfahrt. 

1837.  G.  Pfizer,  Uhlaud  und  Kückert.  Ein  kritischer  Versuch  (Stutt- 
gart und   Tübingen). 

1838  (?).  Uhland'sche  Lieder  und  Balladen ,  übersetzt  von  Margaret 
Füller  bei  George  Ripley,  Specimens  of  Foreign  Literature  (14  vols).  Boston 
1838—1842   (s.  Goethe-Jahrbuch  V,   232). 

1838.  C.  C.  Heuse:   Ludwig  Uhland,   Halle'sche  Jahrbücher   S.    893   flF. 
Melch.   Meyer,    Die   poetischen   Richtungen   unserer  Zeit   [Heine.   Platen. 

Uhland.   Rückert.   Das    „junge"'    Deutschland.]   (Erlangen.^   S.   87  —  1 1 G. 

A^arnhagen  von  Ense,  Denkwürdigkeiten  und  vermischte  Schriften 
(Mannheim)  II,  53  ff.,  198;  vgl.  in  der  zweiten  Auflage  (Leipzig  1843  ff.) 
All,  65  u.  77,  IX,  232  ff,,  415,  426  f.  (schon  1808  und  1810  geschrieben), 
auch  m,   96   f.   98  und   121. 

W.  Grimm  in  den  Gott.  Gel.  Anz.  1,  S.  491  f.  (U.  "^Über  das  altfran- 
zösische Epos').   Abdruck  in  AV.  Grimm,   Kleinere  Schriften  II    (1882),    S.  474. 

1839.  A.  V.  Chamisso,  Sämmtliehe  AA'crke  (Leipzig)  V,  287,  291  u.  31«  f. 
(schon    1810    niedergeschriebene   Charakteristik   Uhlaml's    und    seiner  Lyrik). 

Th.  Echtermeyer,  Auswahl  deutscher  Gedichte  (Halle)  S  XXI  f.  (die 
Uhland'sche  Rhapsodie),  S.  XXX,  Note  („Sängerfluch"),  zuerst  in  „Hallische 
Jahrbücher  für   deutsche  AA'^issenschaft  und  Kunst"    1839,   Nr.    9(5   ff. 

H.  Heine,  der  Schwabenspiegel  im  Jahrbuch  der  Literatur,  I.  (einziger) 
Jahrgang  (Hamburg),  S.  335  — 3G2  (Sämmtliche  Werke,  XIV,  81  — 108;  1862). 

K.   Gutzkow,   Jahrbuch   der   Literatur   S.    4G    ff. 

R.  H.  Hiecke,  Über  den  Ideengehalt  in  Uhland's  Ballade  „Des  Sängers 
Fluch".   Gymnasialprogr.   Älerseburg  (26    S.). 

W.  B.  Mönnich,  Über  L.  Uhland's  Herzog  Ernst  von  Schwaben  (Nürn- 
berg). 

D.  Fr.  Strauß,    Zwei   friedliche  Blätter  (Altena)   S.  31  ff.   (U.  und  Kerner). 

L.  AVienbarg,  Die  Dramatiker  der  Jetztzeit  (Altona)  Nr,  1  (vgl.  unter 
1867   Hebben. 

Vangerow ,  Leitfaden  der  Pandektenvorlesungen  (Marburg)  I,  S.  G44 
(über  U.'s  Doctordissertation). 

J.  A.  X.  Michiels,  '^Etudes  sur  I'Allemagne'.  Darin  (?)  u.  A.  'Des  Sängers 
Fluch'   als  '  la  malediction  du  chanteur  . 

1842.   A.,   Dem   deutschen   Sänger  L.   Uhland   (Braunschweig). 

R.  H.  Hiecke,  Der  deutsche  Unterricht  auf  deutschen  Gymnasien  S.  153  f. 
(Schwäbische   Kunde)    und   S.    155   u.    159   f.  (die   Rachel. 

Fr.  Notter  in:  Schwaben  wie  es  war  und  ist,  herausgeg.  von  L.  Bauer 
(Karlsruhe).  I.   Abtheilung,    4.   Aufsatz. 

C.  C.  Hense ,  Deutsche  Dichter  der  Gegenwart.  Erläuternde  und  kri- 
tische  Betrachtungen  (Sangerhausen)  I,    S.    1   ff. 

F.  de  Roisin  in  der  Notiz  zu  seiner  in  den  Mcmoires  de  la  Societe 
des  Antiquaires  de  la  Morinie  abgedruckten  Übersetzung  Les  Romans  en 
Prose  des  Cycles  de  la  Table  Ronde  et  de  Charlemagne'  (s.  E.  Stengel,  Bei- 
träge zur  Geschichte  der  roman.  Philologie  in  Deutschland  188G,  S.  17). 
p.    4    (U.   als   Romanist). 


350 


L.  FKANKEL 


1843.  Kellner,  Vorbereitungen  auf  höheren  Sprachunterricht  (Erfurt) 
S.  140  (Das  Glück  von  Edenhall),   149  (Tell's  Tod),   157   (Des  Sängers  Fluch). 

1844.  R.  H.   Hiecke  in  Viehoff's  Archiv  für  den   deutschen  Unterricht 

I,  40  ff.  (U.'s  'Einkehr').  Vgl,  ebenda  II,   199. 

W.  B.  Mönnich ,  Ludwig  Uhland  und  seine  Gedichte.  Separatabdruck 
aus   dem  Album   des  literarischen  Vereins  zu  Nürnberg. 

Joh.  Scherr,  Poeten  der  Jetztzeit  (Stuttgart);  der  (zweite)  Aufsatz  über 
schwäbische  Dichter  behandelt  besonders   Uhland. 

1845.  Mönnich,  Über  Uhland's  Schauspiel  Ludwig  der  Baier  (Nürnberg). 

1846.  Chr.  Oeser  (Schröer),  Weihgeschenk  für  Frauen  und  Jungfrauen 
(Leipzig)   S.   447 — 452    (U.  als  Balladendichter). 

Poesies  allemandes  par  J.  P.  Hebel,  Th.  Körner,  L.  Uhland,  H.  Heine 
traduites  par  Max  Buchon  (Salins,  Cornu);  u.  A.  Le  comte  des  greiers, 
le  jardin  des  roses,    trois  jeunes  filles,   la  Faucheuse. 

1847.  J.  V.  Eichendorff,  Über  die  ethische  und  religiöse  Bedeutung 
der  neueren   deutschen  Poesie  in  Deutschland   (Leipzig)   S.    198   ff. 

R.  Hiecke,  Ästhetische  Erläuterungen  zu  U.'s  Bertran  de  Born.  (Vie- 
hoff-) Herrig's  Archiv   für  das  Studium  der  neueren  Sprachen  und  Litteraturen 

II,  303—317. 

Ludwig  Bauer's  Schriften  (Stuttgart)  p.  XLVII  (Brief  von  1830:  U. 
als   Professor). 

Poesie  di  Luigi  Uhland  e  di  altri  autori  tedeschi,  imitate  da  Nie. 
Negrelli,   con  note   e  prose  (Venezia,   Münster). 

1848.  Uhland's  „Sängers  Fluch",  englisch:  Herrig's  Archiv  f.  d.  Stud. 
d.   neueren   Sprachen  IH,   247. 

Briefe  Uhlands  in:  Briefe  an  Friedrich  Baron  de  la  Motte  Fouque. 
Herausgeg.  von  Albertine  de  la  Motte  Fouque  (Berlin)  S.  493 — 500;  Äuße- 
rungen Rückert's  über  Uhland  aus  den  Jahren  1814 — 1817  in  seinen  Briefen 
S.   316   ff. 

Alexander  Platt,  The  Poems  of  Ludwig  Uhland.  New  for  the  first  time 
translated  from  the  German.  Together  with  a  biographical  notice  of  the 
author  and  necessary  notes   [Leipzig). 

1849.  R.  Foß,  Zur  Erklärung  deutscher,  vorzüglich  Uhland'scher  Ge- 
dichte. Progr.  d.  Friedrich -Wilhelms-Gymnasiums  zu  Berlin.  (I.  Elfenlieder. 
II.   Das   Märchen.) 

R.  H.  Hiecke,  Ästhetische  Erläuterungen  zu  zwölf  Uhland'schen  Ge- 
dichten in:  F.  Low  und  F.Körner,  Pädagogische  Monatsschrift  III.  (Abdruck 
1864  in  Hiecke's  Aufsätzen  s.  u.) 

1850.  Th.  Kriebitzsch,  Deutsche  Dichtungen,  erläutert  (Erfurt-Leipzig) : 
[S.  5  des  Sängers  Fluch,  S.  20  Klein  Roland,  S.  22  Roland  Schildträger, 
S.  25   König  Karls   Meerfahrt,   S.  26    Schwäbische  Kunde,    S.  63   Die  Rache]. 

1851.  M.  Hertz,   Karl  Lachmann  (Berlin)   S.  239   (L.'s  Verhältniß  zu  U.). 
J.   Schenkel,    Deutsche  Dichterhalle  des    19.   Jahrhunderts   (Mainz)  III, 

S.  327   bis   339   Ludwig  Uhland. 

1852.  A.  Steudener,  Zur  Beurtheilung  von  L.  Uhland's  Dichtungen. 
Progi-.   d.   Gymnasiums   zu  Brandenburg  a.   d.  Havel. 

1853.  Nicolaus  Lenau's  Briefe  an  einen  Freund.  Heiausgegeben  mit 
Erinnerungen  an  den  Verstorbenen  von  K.  Mayer  (Stuttgart)  S.  12,  30,  35  f., 
37,   40   f.,    129   u.  ö. 


BIBLIOGRAPHIE  DER  UHLAND-LITTERATUR.  351 

Emma  von  Niendorf,  Lenau  in  Schwaben  (Leipz.)  S.  129  (U.'s  Volkslieder). 

K.  A.  V.  Reichlin-Meldegg,  K.  E.  G.  Paulus  und  seine  Zeit  (Stuttgart) 
II,   271    f.   (Brief  U.'s   an   Paulus  vom    18.   Dec.    1818.) 

Sanders  in:  Der  praktische  Schulmann,  herausgegeben  von  F.  Körner 
(Leipzig)   II,    S.    218   (Schwäbische   Kunde). 

Ludwig  Uhland.  Eine  Biograi^hie  (Cassel,  Bälde/  in :  Moderne  Classiker. 
Deutsche  Litteraturgeschichte   der  neueren  Zeit  (von  W.   Neumann). 

(A.  Tellkampf)  Phantasus.  Eiue  Auswahl  aus  erzählenden  Dichtungen 
der  Romantiker.  Mit  einleitenden  Bemerkungen  über  die  romantische  Schule 
'^Haunover;    Neudruck,   Erfurt    1883)   S.   47. 

1854.  J.  Grosse,  Über  die  Bedeutung  der  modernen  Romantik  mit 
Rücksicht  auf  die  bildende  Kunst  (^Berlin)   S.  4  u.  9    (vgl.    auch   S.  22  u.  3Ü). 

Wt'udt,  Die  dramatischen  Dichtungen  von  Uhland:  Herrig'a  Archiv 
15,    1  —  16. 

A.   Steudener,    (U.'s)   Scheiden  und  Meiden:    Herrig's  Archiv   l5,   412. 

1855.  Weimarisches  Jahrbuch  für  deutsche  Sprache,  Literatur  und 
Kunst,  herausgeg.  von  Hotfmann  v.  Fallersleben  und  Oscar  Schade  (Han- 
nover)  III,    215   f.   Brief  U.'s   an   Gustav   Anton  vom   27.   Nov.    1842. 

A.   X.   Schurz,   Lenau's   Leben   (Stuttgart)  I,    124   u.    347. 

Aus  dem  Leben  von  Johann  Diederich  Gries.  Nebst  seinen  eigenen 
und  den  Briefen  seiner  Zeitgenossen.  Als  Handschrift  gedruckt  o.  0.  (Leipzig, 
Brockhaus)   S.    174  f.   (Schwab  über  U.). 

1856.  K.  Mayer,  Das  Sonntagsblatt.  Eine  Erinnerung  aus  der  roman- 
tischen   Literaturperiode:     AVeimar.     Jahrbuch   V,    33 — 51     (vgl.     in    Mayer's 

Ludwig  Uhland  und  seine   Zeitgenossen*    1867,   I,    16    ff.). 

R.   Foß,   Erläuterungen  zu   Uhland's    Eberhard   der   Greiner  (Berlin). 

Job.    Scherr,   Dichterfürsten   (Leipzig)  Nr.   3.   Uhland. 

Herrig's  Archiv  f.  d.  Studium  d.  neueren  Sprachen  19,  123  u.  125 
(U.'s   Verdienste  um  die  Popularisierung  der  älteren  deutschen  Literatur). 

1857  G.  Liebert,  Ludwig  Uhland.  Eine  Skizze  (Hamburg).  [2.  Aufl. 
1863]. 

Uhland's    „Einkehr"    englisch:   Herrig's  Archiv    22,    221. 

1858.  K.  Klüpfel,  Gustav  Schwab.  Sein  Leben  und  Wirken  (Leipzig) 
S.   30,   49,    108   f.,   203   f.,   226   f.,    275   ff.,   324  u.   ö. 

Seydel  in:  Der  praktische  Schulmann  (Leipzig)  VI,  S.  90  (Der  blinde 
König). 

C.  Gude,  Erläuterungen  deutscher  Dichtungen  (Leipzig).  Erste  Reihe 
(3.  Aufl.  1870)  S.  177  Des  Sängers  Fluch,  239  Klein  Roland,  247  Der 
blinde  König,  251  Roland  Schildträger,  262  Schenk  von  liimburg,  269  Lied 
eines  Armen,  277  Schäfers  Sonntagslied.  Dasselbe,  dritte  Reihe  (2.  Aufl.  1869) 
S.  176  Des  Knaben  Berglied,  186  Schwäbische  Kunde,  204  Bertran  de  Born, 
211    Graf  Eberhard  der  Rauschebart. 

1859.  K.  Th.  Kriebitzsch,  Musterstücke  mit  Erläuterungen  (Glogau): 
S.  41  Lied  eines  Armen,  93  Des  Knaben  Berglied,  99  Der  gute  Kamerad, 
201   Der  weiße  Hirsch. 

Rob.   Prutz,    1.   Auflage  des   unter    1860   genannten   Buches  (s.   d.j. 
Sachs,   Herrigs'   Archiv    26,    139   f.    (U.   und   das   Altfranzösische). 
Jul.   Schwenda,   Schiller  und  Uhland.   Eine  Dichterparallele  (Wien). 


352  1^-  FRANK  EL 

1860.  0.   Eiben,   Das   Schiller-Fest  in   Schiller's   Heimat  S.   53. 

R.  Foß,  Erklärung  Uhland'scher  Gedichte  (Das  Nothemd,  Das  Schwert, 
Siegfried's   Schwert,   Die   drei  Lieder):  Herrig's  Archiv    28,    187 — 208, 

H.   E.,   Ludwig  Uhland:   Gartenlaube  Nr.   41. 

Rob.  Prutz,  Die  deutsche  Literatur  der  Gegenwart.  1848  — 1858  (Leipzig) 
I,   S.    71    u.    83    (2.   Aufl.). 

1861.  K.  Mayer,  Ludwig  Uhland  :  Album  schwäbischer  Dichter  (Tübingen) 
1.   Lief.    (32    S.). 

Julian  Schmidt,  Ludwig  Uhland  (Biographie  und  Charakteristik):  Illu- 
strirte   Zeitung  (Leipzig)   Nr.    9^9   (9.   Febr.). 

G.  Köhler,  Die  Vertreter  der  schwäbischen  Dichterschule  nach  ihren 
ethischen   und  religiösen   Gesichtspunkten.    Progr.   (14   S.) 

1862.  I.   vor   dem    Tode: 

J.  V.  Laßberg,  bei   Sulpiz  Boisseree  (Stuttgart,   Cotta)  I,   570. 

W.   Petsch,  Ludwig  Uhland.   Jubelschrift  (Berlin). 

A.  Wolf  im  Jahrbuch  für  romanische  und  englische  Literatur,  heraus- 
gegeben von  Wolf  und   Ebert   4,   227   (U.   und   das   altfranz.   Epos). 

G.  Zimmermann,  Uhland  als  lyrischer  und  epischer  Dichter  (Progr. 
Darmstadt). 

L.  Schücking,  Annette  von  Droste.  Ein  Lebensbild  (Hannover)  S.  139 
(U.    und  Freih.  von   Laßberg) '). 

H.   nach   dem   Tode : 

M.   Georgii,   Zum   Andenken   an   Uhland   (Leichenrede.    Tübingen). 

W.  L.  Holland,  Chrestien's  Chevalier  au  lion  (Neuauflagen  187  9  und 
1885):   Anmerkungen   zu  V.    2185,   4088,   5188,    5933   f.  u.   ö. 

Otto  Müller,  An  Uhland's  Grab:  Didaskalia  (Frankfurt  a.  M.)  Nr.  319 
u.   320   (18.  November). 

Die  Uhland-Feier  des  Liederkranzes  :  Didaskalia  Nr.  319  u.  320,  Nr.  326 
u.  327  (K.  W.  25.  November)  und  'Feuilleton  der  Neuen  Frankfurter  Zeitung 
Nr.    277    (25.   November). 

Theod.  Creizenach,   Gedächtnißrede   auf  L.  Uhland:   Didaskalia  Nr.  328 
bis  330"). 

(Fr.  Notter),  Ludwig  Uhland,  Nekrolog:  Schwäbischer  Merkur,  Dec. 
(Sonderabdruck   von   12   S.). 

Franz  Pfeiffer,  Ludwig  Uhland.  Ein  Nachruf  (Wien).  Sonderabdruck 
aus  der  'Wiener  Zeitung'  vom  29.  November,  Nr.  44,  Beilage.  (Wiederabdruck 
in  Fr.  Pfeiffer,   Freie  Forschung.   Wien   1867,    S.    397  —  412). 


*)  Vgl.  L.  Schücking's  Gedicht  Die  Meersburg  2.  Str.  6  —  11  (s.  z.  B.  Echter- 
meyer's  Auswahl  deutscher  Gedichte  ^*  S.  698  f.).  Einzelne  Mittheilungen  der  A.  von 
Droste-Hülshoff  über  U.  in  den  neuesten  VeröÖ'entlichungen  über  sie,  z.  B.  in  den 
1887  erschienenen  Biographien  von  Hüffer  imd  von  Kreiten.  Eine  Probe  aus  ihrem 
Tagebuche  ergänze  den  oben  gegebenen  Hinweis:  „Auch  Uhland  war  hier  [bei  Laß- 
berg]; Gott,  was  ist  das  für  ein  gutes,  schüchternes  Männchen." 

')  Die  letzten  drei  Notizen  verdanke  ich  Prof.  Th.  Creizenach's  Witwe  in  Frank- 
furt a.  M. ,  der  ich  d.adnrch  ebenso  verpflichtet  bin  wie  Herrn  Prof.  W.  Creizenach 
in  Krakaix  für  seine  freundliche  Benachrichtigung. 


BIliLlÜCJKAl'lIlK  DKK  UlILAND  LITTHlJATLi:.  353 

(Gust.  Pfizer),  Ludwig  üliland:  Allgemeine  Zeitung  (Augsburg)  Nr.  338 
bis   345   des  Jahrgangs. 

A.  Ruperti,   Ludwig  Fhland:   Zeitung    ..Telegraph"    vom   31.   Deceniber. 

L.  Scherk,  Erinneiungen  an  L.  Uhland:  Weserzeitung  (Bremen)  Nr.  5904, 
vom    18.   November. 

Ludwig  Uhland:   Gedenkbliitter  auf  das  Grab  des  Dichters  (Tübingen)  32  S. 

Ludwig  Uhland:   Grenzboteu   (Leipzig)  TL  Theil  des  Jahrgangs  S.  400  ff. 

Der  Uhlaud'sche  Stamm:  Tübinger  Chronik  Nr.  228.  S.  931  und  Nr.  234, 
S.    956. 

1863.  Berthold  Auerbacli,  Rede  zum  Gedächtnisse  Ludwig  Uhland"s: 
Jac.  Grimm's  Deutsche  Blätter,  October  (Abdruck  in  Auerbach's  Deutschen 
Abenden  N.  F.,  Stuttg.  1867,  S.  121  — 140).  Vgl.  auch'Voßische  Ztg.'  Nr.  26  , 
Beil.  1  (Die  Uhland-Feier  in  Berlin)  und  'Berliner  Allgem.  Ztg.'  Nr.  53  (  Die 
Ühland-Feier  im   Victoria-Theater'    zu   Berlin,  mit  Auerbach's   Festrede). 

Adolf  Bacmeister,  Rede  zu  Uhland's  Todtcnfeier  (Reutlingen).  Vgl. 
Ad.    Bacmeister,   Abhandlungen   und   Gedichte    1886. 

(Reinhold  Bechstein),  Unsere  Tage  (Braunschweig)  Heft  50,  S.  686 — 7Ü4. 

Auguste  Beranger,  L.  Uhland:  (Genfer)  Bibliothrque  universelle, 
20.  Januar. 

Ludwig  Eckardt,  L.  Uhland.  Gedächtnißrede  (Karlsruhe).  Abdruck  in: 
Eckardt,  Wandervorträge  aus  Kunst  und  Geschichte  (Stuttg.  1868)  S.  159 — 178. 

R.   Foß,   Ludwig   Uhland.   Ein   öffentlicher  Vertrag  (Berlin)   38    S. 

Ludwig  August  Frankl  in:   Die   Presse   (Wien)   Nr.    2.3,    27,    36. 

Joh.  Gihr,  Uhland's  Leben.  Ein  Gedenkbucli  für  das  deutsche  \'olk 
(Stuttgart)   381    S.  '). 

Otto  Jahn,  Ludwig  Uhland.  Vortrag.  Mit  literarhistorischen  Beilagen 
(S.  217 — 231  'chronologisches  Verzeichnis  der  Gedichte'  von  Michael  Beinays) 
231    S.   (Bonn)   Vgl.  Literar.   Centralblatt,   herausgeg   von   Zarncke ,   Sp.    597. 

{\y.  Jordan),  Uhland  als  Sagenforscher:  Deutsche  Vicrtcljahrsschrift 
XXVI,  S.  172  —  198  (vgl.  die  Berichte  des  Frankfurter  Freien  deutschen 
Hochstifts  von   demselben  Jahre). 

Ad.  V.  Keller,  Urkundliches  zu  Uhland's  Leben:  Staatsanzeiger  für 
Württemberg  Nr.   25. 

(K.  Klüpfel),  Johann  Ludwig  Uhland:  Unsere  Zeit  (Leipzig)  Bd.  VII, 
74.   Heft,   S.   81—108. 

C.   Koch,   Gedächtnißrede   auf  L.    Uhland   (Braunschweig). 

A.  F.  Krannhals,  Ludwig  Uhland:  Baltische  Monatsschrift  VII,  S.  392 
bis   408. 

Herm.  Marggi-aff,  Blätter  für  literar.  Unterhaltung  (Leipzig  Nr.  28, 
S.    513   f.   (über  Notter,  Jahn,   Gihr,   Foß). 

K.   Mayer,   Ludwig  Uhland.    Gedenkblätter  (Tübingen)   [2.  Aufl.  1873")]. 


')  Nach  der  Angabe  der  BufliliäiKlloi-N'aeli.sclilageweike ,  der  meisten  Litterar- 
liistoriker  und  der  mir  vorliegenden  Exemplare  zu  urtbeilen,  e.xistiert  wohl  nur  eine 
Ausgabe  von  1864.  Es  ist  möglich,  daß  der  Zahlenfehler  aus  einer  Quelle  stammt 
und  sich  durch  eine  Reihe  von  abhängigen  Schriften  forterbte 

')  Unter  dem  Titel :  Ludwig  Uhland,  geschildert  von  seinem  F'reniifle  Kail  .Mayer. 
Festschrift  zur  Feier   der  Enthüllung  des  Ubland-Denkmals. 


354  L.  FRÄNKEL 

Nägele,  Ludwig  Uhland  (Rede  im  Murrhardter  Liederkranz) :  Der  Beob- 
achter  (Stuttgart)  Nr.    48. 

Friedrich  Notter,  Ludwig  Uhland.  Sein  Leben  und  seine  Dichtungen. 
Mit  zahlreichen  ungedruckten  Poesien  aus  dessen  Nachlaß  und  einer  Auswahl 
von  Briefen   (Stuttgart).   (Vgl.   Literar.   Centralblatt   Sp.    1076.) 

Th.  Paur,  Zu  Uhland's  Gedächtniß  (Görlitz)  10  S.  Sonderabdruck  aus 
dem  Neuen  Lausitzischen  Magazin. 

E.  Petzholdt,  Graf  Eberhard  der  Rauschebart.  Rhapsodie  von  Uhland: 
Herrig's  Archiv   3321—3344. 

Franz  Pfeiffer,  Germania  8,  6ö  f.  (Kurzer  Nachruf  und  Notiz  über  seine 
letzten  Arbeiten.) 

R.  Prutz,   Deutsches   Museum   (Leipzig)  XIII,   Nr.    1. 

Jos.  Rank,  Aus  meinen  Wanderjahren  (Wien).  Vgl.  Fr.  Bornmüller, 
Biographisches  Schriftstellerlexikon  der  Gegenwart  (1882)  S.  584;  auch  Jos. 
Rank,  Erinnerung  an  Berthold  Auerbach:  Saale-Ztg.  (Halle)  vom  22.  April 
1887. 

Arnold  Rüge,   Aus  früherer  Zeit  II,   S.    108   ff. 

J.W.Schäfer,  Zur  Biographie  Ludwig  Uhland's:  Bremer  Sonntagsblatt, 
Nr.    25,   S.    209—211. 

Ad.  Scholl,  Erinnerungen  an  Ludwig  Uhland:  Orion,  Monatsschrift  für 
Litteratur  und  Kunst,  herausgeg.  von  Ad.  Strodtmann  (Hamburg)  I,  122 — 132. 
(Abdruck  in:  Ad.  Scholl,  Gesammelte  Aufsätze  zur  classischen  Literatur  alter 
und  neuer  Zeit.   Berlin    1884,    S.   353—368.) 

Heinrich  v.  Treitschke,  Zum  Gedächtniß  Ludwig  Uhland's:  Preußische 
Jahrbücher,  herausgeg.  von  R.  Haym  XI,  S.  323—348  (vgl.  S.  15  ff.  Treitschke's 
Charakteristik  Wangenheim's);  Abdruck:  Tr.,  Historische  und  politische  Auf- 
sätze (Leipzig    1865)   S.    278  —  312. 

Fr.  Vischer,  'Ludwig  Uhland'  in  seinen  Kritischen  Gängen,  N.  F.  (Stutt- 
gart) IV,    97—169. 

W.  Wackernagel,  Gedächtnißrede  auf  Ludwig  Uhland:  Gelzer's  Prote- 
stantische Monatsblätter  XXI,  S.  1 — 20  (Abdruck:  W.  Wackernagers  Kleine 
Schriften  II  (1873),   S.   481—503). 

Franz  Weber,  Ein  Besuch  bei  L.  Uhland :  Bremer  Sonntagsblatt  Nr.  35, 
S.   289  —  291. 

Heinr.  Weismann,  L.  Uhland's  dramatische  Dichtungen.  Für  Schule 
und  Haus   erläutert  (Frankfurt  a.  M.).   Vgl.   Grenzboteu    1864,   S.   442. 

Derselbe,   Über  Uhland's  Ernst  von   Schwaben:   Progr.   Frankfurt  a.  M. 

— 1 — ,  Uhland-Literatur  (über  Jahn,  Notter,  Gihr,  Vischer):  Österrei- 
chische Monatsschrift  für  Wissenschaft,  Kunst  und  öffentliches  Leben  (Nr.  45) 
S.    594—598. 

Über  Ludwig  Uhland:  Evangelische  Kirchenzeitung,  herausgeg.  von 
Hengstenberg  Nr.    9,  Nr.    33   (S.    388—397). 

Ludwig  Uhland  der  Dichter  und  der  Mensch:  ebenda  Nr.  46,  Beilage 
S.   564  f. 

Noch   eine   Stimme  für  Uhland:  ebenda  Nr.   67,  Beilage.   S.    798  f. 

Ludwig  Uhland,  ein  deutscher  Sänger.  Des  Dichters  Leben  und  Wirken. 
Nach   den  zuverlässigsten   Quellen.   (Mehrere  Abdrücke.   Meppen.    15    S.) 

L.   Uhland:   Blackwood's   Magazine,    may  Art.    3. 


BIBLIOGRAPHIE  DER  UHLAND-LITTERATUR.  355 

L.   Uhland:   Quarterly   Review,  july  Art.    2,   p.    34 — 59. 

Allgemeine  Zeitunp;  (Augsburg)   22.   Februar,   Beilage. 

Charles  Bielefeld,  Ballads  of  Uhland,  Goethe,  Srhillor.  With  intro- 
duction  to  each  poem ,  copious  explanatory  notes  and  biograpliic;il  noticca 
(London.   Bell  and   Daldy.    Foreign   Classics   XII,    197). 

1864.  R.  Foß,   Über  Uhland's   Gedichte:   Herrig's   Archiv    35,    129    iV. 
Karl  Frenzel,   Büsten   und  Bilder   (Hannover)    S.    13G — 149. 

R.  H.  Hiecke,  Gesammelte  Aufsätze  zur  deutschen  Literatur,  herausgeg. 
von  G.  Wandt  (Hamm);  S.  1  —  27  Abdruck  aus  der  Pädagogischen  Monats- 
schrift III  (s.  1849),  Erläuterungen  zu:  Schäfers  Sonntagslied,  Lied  eines 
Armen,  Zimmersprucb,  des  Knaben  Berglied,  das  Schwert,  Siegfrieds  Schwert, 
der  blinde  König,  Klein  Roland,  Roland  Schildträger,  König  Karls  Meer- 
fahrt, Graf  Richard  ohne  Furcht,  Schwäbische  Kunde;  S.  27 — 42  Bertran 
de  Born  (s.  1847),  S.  42  f.  Einkehr  (s.  1843),  S.  55—80  des  Sängers 
Fluch   (s.    1838). 

Ed.  Hobein,  Über  Uhland's  Dramen:  Schaubühne,  herausgeg.  von 
F.  Wehl,  Heft  5— G. 

Alex.  Kaufmann,  Herrig's  Archiv  35,  476  f.  (mit  Brief  U.'s  über  die 
Quellen    seiner   Rolandsgedichte). 

Lüben  und  Nacke ,  Einführung  in  die  deutsche  Literatur  (Leipzig)  III 
(3.'Aufl.  1869)  [S.  333  Einkehr,  335  Des  Knaben  Berglied ,  341  Der  weiße 
Hirsch,  342  Die  Rache,  343  Das  Glück  von  Edenhall,  349  Schwäbische 
Kunde,  360  Der  gute  Kamerad,  363  Klein  Roland,  370  Schenk  von  Lim- 
burg,  373   des  Sängers   Fluch,   38  7    Graf  Eberhard  der  Rauschebart]. 

Frz.    Sandvoß,    Rede  auf  Uhland   (Friedland   i.   M.). 

F.  Scholl,  Reden  zur  Erinnerung  an  zwei  Heroen  im  deutschen  Licdc, 
Franz    Schubert  und   Ludwig  Uhland   (Stuttgart). 

Jos.  Strobl ,  Quellen  zu  drei  Romanzen  Uhlands  (Wien),  Beilage  zur 
AViener-Ztg.   (über  den   Cyklus    'Sängerliebe  ). 

W.W.  Skeat,  The  songs  and  ballads  of  Uhland  (vgl.  cbenders,  in  (Jold- 
schmidt's    'German  poetry  ). 

Challemel-Lacour :   s.   unter    1866. 

1865.  Rieh.  Gosche,  Jahrbuch  für  Litteraturgeschichte  I,  379  —  381 
'Die  Uhland-Literatur  von    1863) 

Fritz  Ohnesorge,  Ludwig  Uhland.  Biographisch  -  litterarische  Skizze 
(Dresden). 

(Emilie  Uhland)  Ludwig  Uhlnnd.  Eine  Gabe  für  Freunde  zum  26.  April 
1865.  Als  Handschrift  gedruckt  (s.  unter  1874),  Stuttgart.  [Vgl.  Gott  Gel. 
Anz.    1865,   Nr.   24,    S.    959   f.] 

Uhland's  Schriften  zur  Geschichte  der  Dichtung  und  Sage  (Stuttgart) 
I,  S.  m— Vm  Vorwort  von  Holland,  Keller  und  Pfeiffer;  S.  XI— XIV  Vor- 
wort von  Keller. 

1866.  K.  Bartsch,  'Uhland's  Schriften  zur  Geschichte  der  Sage  und 
Dichtung.  Erster  Band':  Germania,  herausgeg.  von  Pfeiffer  iWien)  11,  453 
bis   467. 


356  L-  FRÄNKEL 

P.  Challemel-Lacour,  Jean  Louis  Uhland:  Novelle  biographie  generale 
(Didot-Hoefer,  Paris)  45,  773 — 777  (vgl.  auch  den  Artikel  eben  desselben: 
Revue  germanique,   totne    31    (1864)   p.    451  —  477)^). 

A.W.  Grube,  Ästhetische  Vorträge  IL  (Iserlohn)  Deutsche  Volkslieder. 
Vom  Kehrreim   des  Volkslieds.   Der  Kehrreim  bei  Goethe,   Uhland  und  Rückert. 

H.  Prutz,  Ludwig  Uhland  als  Literarhistoriker:  Deutsches  Museum 
Nr.   47   u.   48. 

D.  Fr.  Strauß,  Kleine  Schriften  N.  F.  (Berlin),  S.  303—313  (Uhland  und 
Kerner):  abgedruckt  aus   dem  Nekrolog  auf  Kerner  im  Schwab.   Merkur  1862, 

Uhland's   Schriften  u.    s.   w.   II,    S.   IIT  f.   Vorwort  von  Holland. 

Uhland's   Schriften   u.   s.   w.   III,    S.   V— XII  Vorwort  von  Pfeiffer. 

1867.  R.  Bechstein,  Ludwig  Uhland's  gelehrte  Werke  I — III:  Blätter 
für  literarische  Unterhaltung  (Leipzig)  Nr.    7,    14,   27. 

(3)  Briefe  J.  Grimm's  an  Ludwig  Uhland:  Germania,  herausgeg.  von 
Pfeiffer  12,    115  f. 

Friedrich  Hebbel,  Sämmtliche  Werke  (Hamburg)  XII,  214  (vgl.  208 
ein   Urtheil  Wienbarg's   über  IThland).    Vgl.   auch  unter   1888. 

K.  Mayer,  Ludwig  Uhland,  seine  Freunde  und  Zeitgenossen.  Erinne- 
rungen. 2  Bde.  (Stuttgart).  („Vgl  Deutsches  Museum  1867,  Nr.  25;  AUgem. 
Ztg.,  Beil.  Nr.  180;  Wiener-Ztg.  142;  Hamb,  Nachrichten  133;  Kölnische 
Ztg.  241;  „Über  Land  und  Meer"  Nr.  52;  Dohm ,  Sonntagsblatt  Nr.  36; 
Volksblatt  für  Stadt  und  Land  Nr.  94;  Blätter  für  literar.  Unterh.  Nr.  52; 
Weserzeitung   7444".   Bartsch,   Germania    13,   321.) 

Ludwig  Uhland  und  die  deutsche  Dichtkunst  im  15.  und  16.  Jahr- 
hundert:  Magazin  für  die  Literatur  des   Auslands  Nr.    13. 

Aufzeichnungen  des  schwedischen  Dichters  P.  D.  A.  Atterbom  über 
berühmte  Männer  und  Frauen.  Übersetzt  von  Frz.  Maurer  (Berlin)  S.  163, 
173,    204,    216    (U.   bei   seinen   Zeitgenossen   1817  —  1819). 

1868.  Dyckhoff,  Die  Bildsäule  des  Bacchus  von  Uhland,  Nadowessische 
Todtenklage  von  Schiller,  Hochzeitlied  von  Goethe,  für  die  Schule  erklärt. 
Progr.   des  Progymn.   zu   Rietberg  (13    S.). 

A.  Freybe,  Klopstock's  Abschiedsrede  über  die  epische  Poesie  be- 
leuchtet, mit  einer  Darstellung  der  Theorie  Uhland's  über  das  Nibelungenlied 
(Halle). 

C.  Gude,  Erläuterungen  deutscher  Dichtungen.  Vierte  Reihe  (Leipzig). 
S.    139   Einkehr,    224   Das   Glück  von  Edenhall. 

Uhland's   Schriften  u.   s.   w.   VI,   S.   III  f.   Vorwort  von  Keller. 

Uhland's   Schriften  u.   s.   w.   VII,   S.   III  f.   Vorwort  von  Keller. 

Desire  Corbier,  französische  Übersetzung  von  U.'s  'Ständchen'  (Serenade) 
und  der  Wirthin  Töchterlein^  (La  fille  de  l'Hötesse) :  Herrig's  Archiv  f.  d. 
Studium   d.  neueren   Sprachen   43,    463. 

1869.  Diez,  Etudes  litteraires  sur  l'Allemagne  contemporaine  (Paris, 
Hachette):   Uhland  (Körner.   Les   freres   Grimm.  Goethe). 


')  Vor  Ch.  L.  urtheilten  über  Uhland  den  Gelehrten:  Victor  Ledere  in  'Dis- 
cours sur  l'etat  des  lettres  au  14'=  siecle',  S.  K  T.  in  der  Biographie  universelle, 
nouv.  ed.  42,  338 — 342  (1864)  und  Lomenie  in  der  Galerie  des  coutemporains  illustres 
par  im  homme  de  rien  t.  IX. 


BIBLIOGRAPHIE  DER  UHLAND-LITTERATUR.  357 

R.  Fuß,  Zur  Cailö-Sage:  Progr.  der  Nictoria-Schule  zu  Berlin  ^3l  S.); 
behandelt  Klein  Koland,  Roland  Schildträger,  König  Karl's  Meerfahrt  (nament- 
lich  hinsichtlich   der   Quellen). 

A.W.  Grube,  Biographische  Miniaturbilder  (Leipz.)  2,  Auti.  I,  278 — 303, 

Gustav    Hauff,    Über  Uhland's    Konradin:    Ilerrig's  Archiv    44,   382    f. 

Fr.  Notter,  Ungedruckte  Briefe  von  Ludwig  Uhland :  Westermann's 
Illustrierte  deutsche   Monatshefte,   November-Nummer. 

E.  Paulus,  Ludwig  Uhland  und  seine  Heimat  Tübingen.  Eine  Studie 
(Berlin)  52  S.  (Neue  Ausgabe,  Stuttgart  1887,  48  S.)  Vgl.  Kettner,  Ztschr. 
f.  deutsche  Philol.  20,  37lj,  Magazin  f.  d.  Lit.  d.  Ausl.  Nr.  10,  Schwab. 
Chronik  303,  Wiener-Ztg.  208,  Badische  Landeszeitung  18(J8,  Nr.  292  u.  a. 
(s.   Bartsch,   Germania   15,   4G4). 

L.  Uhland,  Poems  translated  into  English  verse  with  a  short  biogra- 
phical  memoir  of  the  poet,   by   W.    C.   Sandars   (London). 

A.  F.  C.  Vilmar,  Lebensbilder  deutscher  Dichter  (Frankfurt  a.  M.) 
S.  149 — 158.  Neuauflage  von  M.  Koch,  L.  d,  D.  und  Germanisten  (1885), 
Marburg,    15.  Aufsatz:   Uhland. 

Feodor  Wehl,  Am  sausenden  Webstuhl  der  Zeit  (Leipzig)  H,  162  — 171. 

W.  Wilmanns,  Walther  von  der  Vogelwcide  herausgegeben  und  erklärt 
(Halle)   S.   2  7. 

Tuiskon  Ziller,  Jahrbuch  des  Vereins  für  wissenschaftliche  Pädagogik 
1.  Jahrg.    (Leipzig)   S.    107    (Das   Schwert). 

Uhland's   Schriften  u.   s.  w.   IV,   S.   III — VI.   Vorwort  von   Holland. 

1870.  A.  Goerth,  Über  Uhland's  'des  Sängers  Fluch',  'Bertrand  de  Born', 
'die  verlorne  Kirche,  'Ich  hatf  einen  Kameraden':  Herrig's  Archiv  4G, 
390—397. 

R.  V.  Raumer,  Geschichte  der  germanischen  Philologie  (München) 
S.    566 — 579   und   671. 

K.  Simrock,  Walther  von  der  Vogelweide,  herausgegeben  und  erläutert 
(Bonn)   S.   22    (1828   in    1822  zu   ändern!). 

Weichelt,  Uhland  als  Liederdichter:  Progr.  Demrain  (vgl.  Herrig's 
Archiv   47,    344). 

Briefwechsel  zwischen  Joseph  Freih.  von  Laßberg  und  Ludwig  Uhland, 
herausgegeben  von  Franz  Pfeiffer.  Mit  Biographie  Pfeiffers  von  K.  Bartsch 
(Wien).  Nachtrag  Germania  30,  221  f.  [Besprochen  von  Sachse  in  Herrig's 
Archiv  46,  316 — 323;  Magazin  f.  d.  Lit.  des  Ausl.  32;  Athenaeum  vom 
12.   Febr.] 

Rieh.  Gosche,  Archiv  für  Literaturgeschichte  I,  561  (zu  Uhland's  Sagen- 
forschung; vgl.   ebd.  II,  590). 

Uhland's   Schriften  u.   s.   w.   V,   S.  III  f.   Vorwort   von   Keller. 

1871.  Paul  Eichholtz,  Beiträge  zur  Erklärung  Uhland'scher  Balladen: 
Zeitschrift  f.   d.   Gymnasialwesen  (Berlin)    25,    1  — 10. 

Fahle,  Uhland's  Balladendichtung:  Masius'  Jahrbücher  für  Pädagogik 
104,    422. 

W.  Hoffner,  Ludwig  Uhland :  Westermann's  lllustrirte  deutsche  Monats- 
hefte,  October,   S.   94 — 99. 

Karl  Janicke,  Joseph  von  Laßberg  und  Ludwig  Uhland:  Historisch- 
politische  Blätter  4.   Heft  des  Jahrgangs,   S.    236 — 256. 


358  L.  FRÄNKEL 

Derselbe,  Zur  Geschichte  der  deutschen  Philologie:  Ergänzungsblätter 
zur  Kenntniß  der  Gegenwart  S.  209  —  216  (knüpft  an  den  Laßberg-Uhland- 
schen  Briefwechsel  an). 

A.  V.  Wurzbach,  Ludwig  Uhland  (Wien);  Abdruck  aus  :  Die  Zeitgenossen  I. 

F.  G.  Sintenis,  Goethe  und  Uhland  (Dorpat).  Vgl.  Gott,  Gel.  Anz.  1872, 
S.    278. 

187  2.  Michael  Bernays ,  Ludwig  Uhland  als  Forscher  germanischer 
Sage  und   Dichtung:  Im  neuen   Reich,   herausgeg.   von   A.   Dove  II,   81 — 96. 

F.  Sintenis,  Goethe's  Einfluß  auf  Uhland:  Neue  Jahrbücher  für  Philo- 
logie und  Pädagogik    lOG,   369—388   und    108,   386   f. 

Rob.  Boxberger,  Die  Quelle  von  U.'s  Gedicht  Schwäbische  Kunde  : 
Archiv  für  Literaturgesch.   II,    270  —  2  72. 

1873.  Uhland's  Schriften  u.  s.  w.  VIII,  S.  III— VI   Vorwort  von  Holland. 
H.   Dederich,    Uhland    als    episch-lyrischer  Dichter    besonders    im   Ver- 
gleich  mit   Schiller  (Paderborn 

K.   Mayer,   s.   unter   1863. 

P.  Eichholtz,  Uhland's  schwäbische  Balladen  auf  ihre  Quellen  zurück- 
geführt  (Progr.   des  Berliner  Gymn.   zum   grauen  Kloster,    28    S.). 

Das  Uhlanddenkmal    (in  Tübingen) :   Im  neuen  Reich  III,    2,    112 — 115. 

Enthüllung  des  Standbildes  von  Ludwig  Uhland  in  Tübingen,  nebst 
den   Reden  und  Gedichten   (v.  Gerok,   Notter,   A.  v.  Keller  u.  A.  I.   Tübingen. 

L.  Tobler  (in  'Mythologie  und  Moral):  Im  neuen  Reich  III,  2,  168  f. 
(zu  U.'s    Ruhethal'  und    die   verlorene  Kirche'). 

W.  Wackernagel,  Poetik,  Rhetorik  und  Stilistik.  Herausgegeben  von 
L.  Sieber  (Basel).  S.  99  f.  (U.'s  Balladen  und  Romanzen),  123  (Lieder), 
127  ('mimische  Poesie'  in  U.'s  Lyrik),  141  (Epigramme,  besondei-s  'Ruhe- 
thaO,  170  (einstrophige  Lieder),  407  und  413  ('der  Räuber'),  4l4  (Ernst 
von  Schwaben  1289  ff.),  424  ("Wir  sind  nicht  mehr'),  434  (der  gute  Kamerad) 
[2.   Ausg.    1888]. 

1874.  P.  Eichholtz,  Uhland's  französische  Balladen  auf  ihre  Quellen 
zurückgeführt.  (Abdruck  aus  der  Festschrift  zur  dritten  Säcularfeier  des  Ber- 
liner Gymn.   zum  grauen  Kloster). 

Joseph  von  Görres,  Gesammelte  Briefe  2  und  3  Freundesbriefe  (1802 
bis  1845),  herausgeg.  von  Franz  Binder  (München;  Der  'Gesammelten  Schriften' 
8.   und   9.   Band):   enthält  auch  Briefe  von  Uhland. 

W.  L.  Holland,  Über  Uhland's  Gedicht:   Die  Mähderin   (Tübingen)   8  S. 

H.   Kämmel,   Ludwig  Uhland  (Zittau). 

Emilie  Uhland,  Ludwig  Uhland's  Leben.  Aus  dessen  Nachlaß  und  aus 
eigener  Erinnerung  zusammengestellt  von  seiner  Witwe.  (Stuttgart).  Abdruck 
des  Manuscriptdi-ucks  von  1865.  (Eine  größere  Anzahl  Besprechungen  siehe 
bei  Bartsch,   Germania   20,   451). 

Ludwig  Uhland.  Studien  zu  seinem  Leben:  Allgemeine  Zeitung  (Augs- 
burg)  213,  Beilage. 

H.  Weismann,  U.'s  Ludwig  der  Baier.  Schulausgabe  mit  (Einleitung 
und)  Anmerkungen  (Stuttgart). 

1875.  (J.  A.  M.?)  Schaepman,  B.  von  Meurs  over  Ludwig  Uhland, 
Onze  Wächter,  Juli,   S.   55—64. 


BIBLIOGRAPHIE  DER  UHLAND-LITTERATUR.  359 

F.  Sintenis,  Über  Immermann's  Münclihausen  (ein  Vortragt  und  Goethe 
und  Fürst  Pückler-Muskan  (eine  Studie).  Dorpat,  S.  3  (U.'s  Verhältniß  zu 
seiner  Gattin). 

1876.  Uhland's  Gedichte  und  Dramen  (Stuttgart,  Cotta'r  textkritische 
Vorreden  von  W.  L.  Holland.  I,  p.  III  f.  und  III,  p.  III  f.  nebst  chrono- 
logischen und  alphabetischen   t'bersichten  II.   p.    316 — 340. 

W.  L,  Holland,  Über  U.'s  Ballade:   Merlin,   der  Wilde  (Stuttgart). 

Derselbe,  Wettgesang  zwischen   ühland   und   Rückert  (Tübingen). 

Oskar  Jäger,  Ludwig  ühland.  Vortrag.  (Sonderabdnick  ,  identiäcli  mit 
dem   unter  1879   genannten)  gehalten   zu   Koblenz.     Manuscript.) 

A.  V.  Keller,  Ein  Gedicht  Ludwig  Thland's,  Freunden  zum  Gruß  mit- 
getheilt  (Tübingen). 

Reinhold  Köhler,  Archiv  für  Literaturgeschichte  5,  4  t'.  (*Ach ,  .Mm' 
in  U.'s   Schlacht  bei  Reutlingen). 

Reuter,  Die  Natur  im  Bereiche  der  dichterischen  StoftVelt  (Progr.  der 
höheren   Bürgerschule    zu    Saarlouis)    S.    15   U.'s     Dichterwald'. 

A.  Schleusinger ,  Klein  Roland,  der  sterbende  Roland,  der  getreue 
Eckart  auf  Quarta   erklärt  (Programm   Ansbach,   28    S.). 

W.  Schleusner,  über  die  Nothwendigkeit  und  den  Plan  der  ühland- 
Lectüre  auf  der  höheren  Schule  (17  S.  Progr.  Hö.xter).  Bielefeld.  Vgl.  unter 
1878. 

Ed.  Schmidt-Weißenfels,  Ferdinand  Freiligrath.  Ein  biographisches  Denk- 
mal  (^Stuttgart)   S.   45   f.  (U.   und   Freiligrath). 

H.  Weismann,  U.'s  Herzog  Ernst  von  Schwaben.  Schulausgabe  mit 
(Einleitung  und)  Anmerkungen   (Stuttgart). 

1877.  K.  Frenzel ,  Berliner  Dramaturgie  (Hannoverj  II,  S.  .07  —  65 
(Ernst  von  Schwaben"  auf  der  Berliner  Ilofbühne  am  31.  Januar  1863). 
S.   378   u.    415    (Grillparzer  mit  U.   verglichen). 

A.  V.  Keller,  ühland  als  Dramatiker.  Mit  Benutzung  seines  handschrift- 
lichen  Nachlasses  (Stuttgart). 

J.  W.  Schäfer,  Ludwig  Uhland's  ausgewühltc  Gedichte  mit  Anmer- 
kungen (Stuttgart). 

Th.  Ziegler,  Studien  und  Studienköpfe  aus  der  neuen  und  neuesten 
Litteratur   (Schaflfhausen)  S.    193    ff. 

1878.  Rob.  Boxberger,  ühland  als  Dramatiker.  Zu  A.  v.  Kellcr's 
gleichnamigem   Buche:   Archiv   für  Literaturgesch.    7,    216 — 224. 

Derselbe,   Briefe  von   ühland:   ebenda   225  —  235. 

J.  Hense,  Romanze  und  Ballade  I.  (Jahresbericht  über  das  Gymnasium 
zu    Warburg),    S.    7    (Das   Typische  in    'Des   Sängers   Fluch'). 

Ad.  Rümelin,  L.  ühland  als  Dramatiker:  Preußische  Jahrbücher  42, 
S.    121—159. 

W.   Schleusner,   Zur  ühlandlectüre  (Leipzig). 

Erich  Schmidt,  Der  Text  der  ühland'schen  Gedichte  nach  Holland's 
Revision:  Anzeiger  für  deutsches  Alterthum  und  deutsche  Litteratur,  heraus- 
gegeben  von   Steinmeyer   4,    224  —  231. 

1879.  Rob.  Boxberger,  Die  Quellen  von  Uhland's  Romanze  'Don  Mas- 
sias':   Archiv  für  Literaturgesch.   8,    137  —  142. 

H.  Düützer,   Uhland's   Balladen  und   Romanzen,   erläutert  (Leipzig). 


360  L.  FRÄNKEL 

P.  Eichholtz,  Quellenstudien  zu  Uhland's  Balladen  (herausgeg.  von 
G.  Hinrichs,  Berlin)  enthält  auch  die  unter  1871,  1873,  1874  aufgeführten 
Aufsätze  [besprochen  von  Bellermann:  Zeitschr.  f.  d.  Gymnasialwesen  34, 
147—154]. 

J.  Hense,  Romanze  und  Ballade  II.  (Jahresbericht  über  das  Gymnasium 
zu   Warburg),   S.    15  —  18,   'ühland'. 

0.  Jäger,  'Ludwig  Uhland'  in  der  Festschrift  zur  Begrüßung  der  34.  Ver- 
sammlung  deutscher  Philologen   und  Schulmänner  zu  Trier   (Bonn),    S.  31 — 52. 

A.  E.  Philipps,  Zur  Theorie  des  neuhochdeutschen  Rhythmus  (Leipzig. 
Diss.)  S.  37  A.  2,  39  A.  3,  41  A  ,  4  9  A.,  60  f.,  82  A. ,  87—89  (zum 
Rhythmus   Uhland's). 

F.  J.  Scherer,  Die  Kaiseridee  des  deutschen  Volkes  in  Liedern  seiner 
Dichter  seit  dem  Jahre  1806  (Jahresbericht  des  Laurentianum  zu  Arnsberg), 
S.  XVII  f.  (ü.'s   deutsch-patriotische   Gedichte). 

Felix  Liebrecht,  Zur  Volkskunde  (Heilbronn)  S.  54  ff.  Die  Todten  von 
Lustnau. 

J.  Schulzen,  Mittelhochdeutsche  Anklänge  bei  Uhland  (17  S.)  :  Progr. 
des  Real-Progymn.   in  Thann  i.  E. 

Camillus  Wendeler,  Fischartstudien  des  Freiherrn  von  Meusebach  mit 
einer  Skizze  seiner  literarischen  Bestrebungen  (Halle  a.  d.  S.)  S.  1  ,  4 — 8, 
10,  14,    26—29. 

1880.  K.  L.  Leimbach,  Ausgewählte  deutsche  Dichtungen  erläutert 
(2.  Aufl.  Kassel)  IV,  280  Schwäbische  Kunde,  286  Eberhard  der  Rausche- 
bart, 306  Des  Sängers  Fluch,  315  Bertran  de  Born,  271  das  Schloß  am 
Meer,    274    Der  blinde   König. 

Anton  lUrlinger,  Uhland's  Schwäbische  Kunde:  Wochenschrift  Im  neuen 
Reich  XI,   S.   193  —  196. 

Rob.  Hein,  Archiv  für  Literaturgeschichte  9,  244  (zu  Uhland's  'Auf 
das   Kind    eines  Dichters'). 

E.  Koch ,  Die  Sage  vom  Kaiser  Friedrich  im  Kiffhäuser  (Abhandlung 
zum  Jahresbericht  Grimma)  S.  23  A.  57  (Zu  U.'s  'Am  15.  October  1816^ 
und  Rückert's  Verhältniß  zu  U.).  Vgl.  auch  S.  30  A.  86  (schon  1875  ge- 
schrieben). 

Ed.  Koschwitz,  Karls  des  Großen  Reise  nach  Jerusalem  und  Constan- 
tinopel  (Alt-französische  Bibliothek,  herausgeg.  von  W.  Förster.  II.  Heil- 
bronn); Excurs    10:   Dramatische  nachgelassene   Bearbeitung  von  Uhland. 

H.  Schults,  Der  Einfluß  des  Volksliedes  und  der  älteren  Dichtung  auf 
die  Uhland'sche  Poesie:   Herrig's  Archiv   64,    11  —  24. 

H.  Steinthal,  Zeitschrift  für  Völkerpsychologie  und  Sprachwissenschaft 
11,   32 — 36    (U.'s   Der  gute   Kamerad). 

1881.  K.  Bartsch,  Romantiker  und  germanistische  Studien  in  Heidel- 
berg 1804—1808  (Heidelberger  Prorectoratsrede)  S.  13  (U.  und  Des  Knaben 
Wunderhorn). 

J.  G.  Fischer,  Die  Natur  in  der  Kunst  (Jahresbericht,  Stuttgart)  S.  14  f. 
(U.'s   Naturanschauung). 

H.  Fischer,  Eduard  Mörike.  Ein  Lebensbild  des  Dichters  (Stuttgart) 
S.   17   und   27—29. 

K.  Fulda,  Chamisso  und  seine  Zeit  (Leipzig)  S.  102  (vgl.  S.  70  f.): 
U,  und  Chamisso's  Fortunat. 


BIBLIOGRAPHIE  DER  UHLAND-LITTERATUR.  361 

K.  Goedeke ,  Grundriß  zur  Geschichte  der  deutschen  Dichtung  III, 
S.    320—339    (vgl.   auch   S.    341,    879,    1019,    1401). 

K.  Klüpfel ,  Gustav  Schwab  als  Dichter  und  Scliriftsteller  (Stuttgart) 
S.   6,    10,    14   f.,   22,   28   f.,   31—33,   39. 

Anibros  Mayr,  Die  Häupter  des  schwäbischen  Dichterbundes  I.  Ludwig 
Uhland:   Programm   des  Gymnasiums  zu   Kommotan. 

Chr.  Oeser,  Briefe  an  eine  Jungfrau  über  die  Hauptgegenstände  der 
Ästhetik.    23.   Aufl.   (vgl.    184Ü)   S.    .'"i20— 531    Uhland. 

H.  Stöhn,  Literarische  Skizzen  für  die  deutsche  Frauenwelt  (Leipzig) 
S.   202-22G   L.   U. 

1882.  Rob.  Boxberger,  zu  U.'s  ..Der  Wirtliin  Töchterlein":  Archiv 
f.   Literaturgesch.    11,    175   f. 

Hermann  Paul,  Die  Gedichte  Walther's  von  der  Vogelweide  (Halle)  S.  24. 
W.  Wilmanns,   Leben  und  Dichten  Walther's  von  der  Vogelweide  (Bonn) 

s.  xn-xvn. 

E.  G.  Fasnaclit,  Selections  from  Uhlands  Ballads  and  Romances  With 
biographical  notices  ;ind  historical  and  grammatical  notes  (London,    Macmillan). 

H.  J.  Wolstenholme ,  L.  Uhland,  Ernst  von  Schwaben.  Trauerspiel  in 
fünf  Aufzügen.  With  a  Biographical  and  Historical  Tnlroduction ,  English 
Notes,   and   an  Index   (London,   Cambridge  Warehouse). 

.1.  Häußner,  Die  deutsche  Kaisersage.  (Progr.  Bruchsal)  S.  4  f.  (U.'s 
Ansicht   über   die   Sage   von   Kaiser   FriedrichV 

1883.  G.  E.  Barthel,  N.  Lenau's  siimmtlichc  Werke  (Leipzig)  S.  XLVI 
und   CXCVIl. 

P.  Holzhausen,  Zacher's  Zeitschrift  für  deutsche  Philologie  15,  343  f. 
(Uhland's  romanische   Balladen). 

Fr.  RudlofF,  Über  Uhland's  dichterischen  Entwicklungsgang  (19  S.): 
Programm    Coburg. 

K.  Strackerjan,  Zur  Feier  deutscher  Dichter.  Abend  13  und  14:  Die 
schwäbischen  Dichter.  Rückert  (Progr.  der  Realschule  zu  Oldenburg)  S.  2  f. 
und    15. 

H.  Fischer,  Sieben  Schwaben.  Biographische  Charakteristiken  (München). 
G.  Uhland. 

A.  Goerth,  Einführung  in  das  Studium  der  Dichtkunst.  1.  S.  18() — 195 
(U.   als   Baliadendichter). 

Franz   Muncker,    Ludwig  Uhland:    „Vom   Fels   zum   Meer"    II,    556. 

Ottiker  von  Leyk,  Die  deutsche  Lyrik  in  der  franzö.'sisclien  Übersetzungs- 
litteratur   I.   Uhland:   Herrig's   Archiv    71,    49  (51)  — 72. 

Zur  Erinnerung  an  Adelbert  von  Keller  (Tübingen)  S.  G  f.,  17,  20,  22,  24. 

Chamisso's  Werke,  mit  Einleitung,  herausgeg.  von  Max  Koch  (Stutt- 
gart)  I,    33   u.    55   (Ch.   u.    U.). 

Goethe-Jahrbuch,  herausgeg.  von  L.Geiger,  IV,  351  (Hinweis  auf  von 
U.   beigebrachtes   Material   zu   einigen   volksmäßigen  Wendungen   bei  (ioethe). 

1884.  A.  Birlinger,  'Akademische  Blätter.  Beiträge  zur  Literaturwissen- 
schaft, herausgeg.  von  0.  Sievers  (Braunschweig)*  S.  293  (zum  Junker  Rech- 
b erger). 

Rob.  Boxberger,  Schnorr's  Archiv  für  Literaturgesch.  12,  638 — G40 
(zu   Schwab's  Aufsätzen   über   U.). 

ÖEBMANIA.     X»np  Rpihp  XXII.  (XXXIV.)  Jalir»;.  _  24 


362  L.  FRANKE L 

Eich.  Fasold,  Altdeutsche  und  dialektische  Anklänge  in  der  Poesie 
L.  Uhland's  nebst  einem  Veizeichniß  der  Uhland-Litteratur.  Eine  Skizze : 
Herrig's  Archiv    72,   405 — 414. 

L.   A.   Frankl,   Zur  Biographie  Friedrich   Hebbel's    (Wien)   S.    32   ff. 

J.  Lautenbacher,  Ludwig  Uhland:  Zeitschrift  für  allgemeine  Geschichte, 
Cultur-,   Literatur-   und   Kunstgeschichte    (Stuttgart)    4.    Bd.,    286  '). 

Siegm.  Levy,  zu  Uhland's  Klein  Roland:  Archiv  für  Literaturgeschichte, 
herausgeg.    von   Schnorr    12,   481   f. 

G.  V.  Loeper,  Goethe's  Werke.  Mit  Einleitung  und  Anmerkungen  III^, 
S.  XVI   (U.'s.   'Gespräch'). 

Der  deutsche  Stil,  von  Dr.  Karl  Ferdinand  Becker.  Neu  bearbeitet  von 
Dr.  Otto  Lyon.    3.  Aufl.    S.    137    u.    161    (Uhland's   alterthümliche  Ausdrücke). 

Marc-Monnier,  Histoire  generale  de  la  litterature  moderne  (Paris)  p.  241 
(U.   und  Hans   Sachs). 

H.  Steinthal,  Zeitschrift  für  Völkerpsj-chologie  und  Sprachwissenschaft 
15,    479    (zu  U.'s   Der  gute   Kamerad). 

H.  Welti,  Geschichte  des  Sonettes  in  der  deutschen  Dichtung  (Leipzig) 
S.    223   f.   und    228. 

Zeitschrift  für  die  österr.  Gymnasien    S.  438  f.   (vgl.  ebd.  1886,   S.  920). 

Goethe-Jahrbuch   V,    357    f.   (A.   v.   Keller's   Verhältniß   zu   U.). 

Kleinere  Schriften  von  Jacob  Grimm  (Berlin)  VII,  556  (U.  in  Frank- 
furt a.   M.    1846). 

1885.  Wilh.  Scherer,  Jacob  Grimm  (2.  Aufl.;  l.Aufl.  1865)  S.  83  —  85, 
87    f.,    112   f.    (vgl.   auch   S.    71,    79,    253,   307). 

Ein   Brief  U.'s   an  Laßberg:   Germ.    30,    221    f. 

Abraham  a  Sancta  Clara,  Quelle  für  Uhland's  'Schwäbische  Kunde' 
(Notiz)  :   Wiener   Zeitung   Nr.    244. 

Eine  bisher  ungedruckte  politische  Äußerung  Uliland's:  poetische  Zu- 
schrift (fünf  Strophen)  an  den  Baron  von  Voerst,  Berichterstatter  der  Militär- 
und  Budgetcommission  von  1862  (27.  August  1862,  Darmstadt).  Aus  der 
Königsberger  Hartung'schen  Zeitung  wiederholt  in  der  Frankf.  Ztg.  Nr.  227 
(Morgenblatt)  sowie  im  Berliner  Tageblatt  Nr.  4  03,  1.  Beiblatt  (dagegen  ebenda 
Nr.  409  das  1816  verfaßte  'An  die  Volksvertreter  ,  s.  Gedichte  und  Dramen 
1876,   I,    HO). 

Friedr.  Hebbel's  Tagebücher,  herausgeg.  von  Bamberg  (Berlin)  I,  301 
(H.   und  U.). 

Biographische  Einleitung  zu  Uhland's  Gedichten  und  Dramen  :  U.'s 
Gedichte  und  Dramen    (Stuttgart,   Cotta)   1,   Theil,   p.   V — XXIV. 

0.  Böckel,  Deutsche  Volkslieder  aus  Oberhessen  (Marburg)  p.  CXXVIII 
(Übergang  Uhland'scher  Lieder  in   den   Volksnmnd). 

1886.  Herrn.  Dederich,  Ludwig  Uhland  als  Dichter  und  Patriot.  Nebst 
einem  Anhang:  Quellennachweise  zu  den  episch-lyrischen  Dichtungen  und 
litterar-historische  Beilagen  und  Bemerkungen  (Gotha).  2.  Band  von  Perthes' 
Biographien  deutscher  Dichter.  [Vgl.  dazu  K.  Geiger  im  Literarischen  Merkur 
7,   59    (10.   December    1886)]. 


')  Nicht,  wie  Strauch  Anzeiger  für  deutsches  Alterthum  und   deutsche  Literatur 
15,   132  angibt,  erst  1887  erschienen. 


BIBLIOGRAPHIE  DER  UHLAND-LITTERATUR.  363 

W.  L.  Holland,  Zu  Ludwig  Uhland's  Gedächtnib.  Mittheilungen  aus 
seiner  akademischen  Lehrthätigkeit  (Leipzig").  Inhaltsreiche  Besprechungen: 
R.  Bechstein,  'Aus  Uhland's  akademischer  Lehrthätigkeit*  in  der  wissen- 
schaftlichen Beilage  der  Leipz.  Ztg.  Nr.  Ott  des  .lalirgangs,  und  Schwäbische 
Chronik    S.    2017    desselben. 

A.  Landenberger,  Pädagogische  Studien  (Ludwigsburg).  6.  Capitel : 
Uhland. 

Ambros   Mayr,   Der  schwäbische  Dichterbund    (Innsbruck)    S.    1    ff. 

Caroline  Michaelis  de  Vasconcellos,  Uhland's  „Lied  aus  dem  Spanischen" 
und   sein   Original:    Schnorr's  Archiv   für  Literaturgeschichte    14,    189   f. 

Erich  Schmidt,  Charakteristiken  (Berlin)  S.  403  (U.  und  das  alte 
Volkslied). 

Edm.  Stengel,  Beiträge  zur  Geschichte  der  romanischen  Philologie  in 
Deutschland.  (Marburg)  S.  15  [Ausgaben  und  Abhandlungen  ;uif  dem  Gebiete 
der  roman.   Philologie,   Heft   (53]. 

'Hamburger  Nachrichten'  22.  December,  Sonntagsbeilage  (U.'s  Ballade 
Junker  Rechberger'   und  ihre   Quellen). 

Herrn.  Ullrich,  Archiv  für  Literaturgeschichte  14,  Ol  f.  und  102  (zu 
U.'s   Königstochter). 

G.  Marengo,  Ver-sioni  poetiche  da  Chamisso,  Bürger,  Kerner,  Uhland  etc. 
nova   ediz.    (Firenze,   Le   Monnier). 

A.  Pariselle,   'Taillefer,   d'aprcs  Uhland  :   Herrig's  Archiv  75,    234  —  236. 

Derselbe,     L  ormeau   de  Hirsau,   d'aprrs   Uhland  :   ebenda   236. 

J.  H.  Ward,  Ballads  of  life.  (Salt  lake  city,  Utah.  Hyrum,  Parry  and 
oie) :    Übersetzungen   aus   Goethe,    Schiller,   Uhland   u.   A. 

1887.  R.  Bechstein,  Zu  Ludwig  Uhland's  Gedächtniß.  Festrede  ge- 
halten  am    2G.  April    1887    in  der  Aula   der  Universität  zu  Rostock    (Rostock). 

Herrn.  Baumgart.  Handbuch  der  Poetik  (Stuttgart)  S.  74  (U.'s  Romanzen). 

Oscar  Erdmaun,  Jubiläumsfeuilleton   der  Breslauer  Zeitung  zum  26.  April. 

Herm.  Fischer,  Ludwig  Uhland,  Zur  Jahrhundertfeier  seiner  Geburt: 
Allgemeine  Zeitung   (München),   Beilage  vom   26.  —  29.  April   (Nr.  115 — 118). 

Derselbe,  Uhland's  Beziehungen  zu  auswärtigen  Litteraturen  nebst  Über- 
sicht der  neuesten  Uhland-Litteratur :  Koch's  Zeitschril't  für  vergleichende 
Litteraturgeschichte   I,    365  —  ^91. 

Derselbe,  Ludwig  Uhland.  Eine  Studie  zu  seiner  Säcularfeier  (Stutt- 
gart) *).     Vgl.   Kettner  in   der  Zeitschrift    für  deutsche  Philologie   20,   374   ff. 

Ferd.  Ginzel ,  Ludwig  Uhland  und  die  altfranzösische  Poesie :  Grenz- 
boten  46.  Bd.     II.   Xr.    18    (vom    28.   April)   S.   206   ff. 

Herm.  Grimm,  Zu  Uhland's  hundertjährigem  Geburtstage:  Deutsche 
i\undschau,   Ai)rilheft,    S.    62  —  69. 

Derselbe,  Goethe -Vorlesungen.  4.  Aufl.  (Berlin)  S.  XXIX.  (U.'s  Jubi- 
läum stag). 

Fr.  W.  Grimme,  Ludwig  Uhland.  Ein  Gedenkblatt  zu  seinem  100.  Ge- 
burtstage (Frankf.  a.  M.)  Bildet  'Frankfurter  zeitgemäße  Broschüren  Bd.  8, 
Heft    7. 


')  Eine  Aiizalil     kürzerer  Anzeigen    werden    angeführt  von  Strauch,     Anz.    f.   d. 
Alt.   und  deutsche   Lit.    15,    LSI    luiter  Nr.    1489. 

24* 


364  ^-  FRANKEL 

Rieh.  Gosche,  Jubiläumsfeuilleton  der  Saale-Zeitung  (Halle)  zum  21.  April. 

Georg  Hassenstein,  Ludwig  Uhland.  Seine  Darstellung  der  Volksdich- 
tung und  das   Volksthümliche  in   seinen   Gedichten   (Leipzig)  ')• 

Mor.  Heyne,  Jubiläumsfeuilleton  der  Weser-Ztg.  (Bremen)  zum  26.  April 
(Nr.    14493). 

Chr.  Hönes,  Ludwig  Uhland  der  Dichter  und  der  Patriot  (Hamburg): 
Virchow-HoltzendorfF,  Sammlung  von  Vorträgen  N.  F.  2.  Serie,  Heft  3  (Vgl. 
Liter.    Centralbl.   Nr.   49   vom   3.   Dec). 

Julius  Klaiber,  Zur  Uhlandfeier.  Eine  Festrede:  Schwäbische  Kronik 
vom   27.   April   (Nr.    98). 

Ad.  Kohut,  L.  Uhland.  Lichtstrahlen  aus  seinen  Werken.  Nebst  einer 
biographischen   Charakteristik  (Dresden). 

Derselbe,  Professor  Ludwig  Uhland  und  seine  Schüler:  Die  Gegen- 
wart,   herausgeg.   von   Th.   Zolling,   31.    Band,   Nr.    17. 

Derselbe,  Ludwig  Uhland  in  memoriam ;  Magazin  f.  d.  Literatur  des 
In-  u.  Auslandes   Nr.    17. 

Derselbe,  Ludwig  Uhland  und  sein  Verleger:  Börsenblatt  für  den 
deutschen   Buchhandel,   Nr.    93    (des  Jahrgangs)   S.    218   f. 

A.  Landenberger ,  Uhland's  Gedichte  nach  ihrer  religiösen  Seite  be- 
trachtet:  Beweis   des   Glaubens,   Aprilnummer  (23.    Bd.,    S.    121). 

Derselbe,  Der  Charakter  der  Uhland'schen  Dichtung:  Didaskalia  (Bei- 
lage zum  Frankfurter  Journal)   Nr.    97    u.    98. 

Fr.  Muscogiuri ,  Nel  centenario  del  poeta  Luigi  Uhland:  Nuova  Anto- 
logia  3.  s.  7.  Fase.  5  —  29.  (Vgl.  Mahrenholtz  in  Herrig's  Archiv  78.  Bd., 
475:   Ein  italienisches  Urtheil   über  Uhland.) 

Otto  Neumann-Hofer,  Ludwig  Uhland  der  Sammler  und  Forscher: 
Deutsches  Montagsblatt  (Berlin)   vom   25.   April. 

Ant.  Ohorn,  Ludwig  Uhland.  Zum  hundertjährigen  Gedächtnißtage  seiner 
Geburt.  (Sammlung  gemeinnütziger  Vorträge,  herausgeg.  vom  deutschen  Verein 
zur  Verbreitung  gemeinnütziger  Kenntnisse  in   Prag,    Nr.    119). 

Pleibel ,  Ludwig  Uhland ,  der  Dichter  für  die  deutsche  Jugend ,  zum 
26.  April  1887  dargestellt:  Neue  Blätter  aus  Süddeutschland  für  Erziehung 
und  Unterricht,   herausgeg.   von  Burk  und  Pfisterer  (Stuttgart)    16,    130  — 151. 

Ad.  Rümelin ,  Ludwig  Uhland.  Zum  hundertsten  Gedenktage  seiner 
Geburt.    (Württembergische   Neujahrsblätter,    herausgeg.   von   Hartmann.   IV.) 

Ludwig  Salomon,  Ludwig  Uhland.  Eine  Biographie  (Stuttgart):  Aus 
S.'s   Geschichte   der  deutschen   Nation al-Litteratur  des    19.  Jahrhunderts. 

Jos.  Seemüller,  akademische  Festrede  zum  26.  April  bei  der  Uhland- 
feier der  Universität  Wien  (ungedruckt;  Referat  in  der  Neuen  Freien  Presse 
vom   28.   April). 

Ed.  Sievers ,  Festrede  zur  Uhlandfeier  der  Universität  Tübingen  am 
26.   April   (ungedruckt;   Referat  im   Schwäbischen   Merkur  vom    27.  April). 

Ant.  E.  Schönbach,  Jubiläumsfeuilleton  der  (Wiener)  Deutschen  Ztg. 
vom  28.  April,  Nr.  5503.  (Rede  zur  Uhland-Feier,  gesprochen  zu  Graz  am 
26.  April.) 

Edm.  Stengel   in  den  Frankfurter  neuphilologischen  Beiträgen  (Festschrift 


')  Über  Referate  vgl.  Strauch  ebenda  unter  Nr.    1501. 


BIBLIOGRAPHIE  DER  UHLAND-LITTERATUF{.  365 

zur  Begrüßung  des  zweiten  allgem.  deutschen  Neuphilologentages)  S.  69  (ver- 
schiedene  Mitthcilnngen    über   U.'s    Charakter   und   wissenschaftliche   Pläne). 

J.  Stöckle,  II.  W.  Longfellow,  der  Uhland  Nordamerikas.  Eine  literar- 
historische Parallele:    Rheinische   Blätter    für   Erziehung  u.    Unterricht   61,    6. 

Phil.  Strauch,  Zwei  Briefe  Uhlands  an  Ad.  v.  Keller  und  ein  Brief 
U.'s  an  Professor  Joachim  Meyer:  Anzeiger  für  deutsches  Alterthum  und 
deutsche   Litteratur    13,    392-398. 

Derselbe,  Briefe  Uhland's:  'Deutsche  Dichtung',  herausgeg.  von  K.  E. 
Franzos  (Stuttgart)  III,    126.    (Auch  in  erweitertem  Separatabdruck  erschienen.) 

Ad.  Tobler  über  U.  als  Romanist  in  der  Uhlandfestsitzung  der  Berliner 
Gesellschaft  für  neuere  Sprachen  am  26.  April:  Bericht  in  Herrig's  Archiv 
Archiv  79,  91  (ebenda  auch  M.  Rödiger's  kurze  Bemerkungen  über  U.  als 
Germanist  bei  derselben  Gelegenheit  gesprochen  und  ein  Referat  Zupitza's 
über  Holland's   obgenanntes   Buch). 

E.  Du  Bois-Reymond.  Reden,  Zweite  Folge.  (Leipzig.)  S.  43  (Castellan 
von   Coucy).    336   (Merlin   der   Wilde),    474   (Jagd  von   Winchester). 

Wiersz  Uhlanda  do  Mickiewicza  (U.'s  Mickiewicz)  von  R.  M.  Werner: 
Pamietnik  towarzystwa  literackiego  imienia  Ad.  Mickiewicza  pod  redakcya 
Romana   Pilata  (Lemberg)   I,    S.    138   f.   und    Zipper   S.    253. 

Deutsche  Wochenschrift  (Wien)  23.  April:  Ludwig  Uhland  von  Armin, 
25.   Juni:    'Uhland's    Charakter'   von   Ad.    Kohut. 

Rob.  König,  Zu  Uhland's  lOOjährigem  Geburtstage:  Daheim  (Leipzig) 
Nr.    29. 

Ein  Stammbuchvers  von  Uhland  (vom  19.  August  1861):  Daheim  (Leipzig) 
Nr.   32,  S.   511. 

Briefe  von   Uhland:    Schwäbische   Chronik   S.   605. 

H.  Bauer,  Zur  Uhland-Feier.  Uhland  und  die  Neugestaltung  Deutsch- 
lands.   Anecdoten   und   Reminiscenzen :   Nationalzeitung   (Berlin)   Nr.    233. 

Uhland  und  Hebbel  von  H.  Fischer:  Neue  Zürcher  Zeitung  Nr.  64,  66 
u.  67  (in  einer  Besprechung  der  von  Bamberg  herausgegebenen  Tagebücher 
Hebbel's). 

'L.  Uhland  und  F.  Hebbel    von  K.  Werner:  Wiener  Zeitung  Nr.  94  u.  95. 

K.  V.  Gerok,  FestgrulJ  zur  Uhland-Feier  am  26.  April:  Protestantische 
Kirchenzeitung   Nr.    19. 

Rud.   von   Gottschall,   Ludwig   Uhland:   Gartenlaube   Nr.    17. 

Th.    Kerner,   L.   U.  im   Kernerhause:   ebenda. 

Martin  Greif,  Ludwig  Uhland:  Deutsche  Zeitung  (Wien)  Nr.  5499 
(Feuilleton).    Vgl.   ebenda   5501. 

Gust.  Karpeles,  Ein  moderner  Sängerkrieg  [zwischen  U.  und  Rückert; 
vgl.    1876   unter  Holland]:    Über  Land   und   Meer  Nr.    30. 

K.   Köstlin,   Zum    100jährigen   Geburtstag   L    Uhland's  (Tübingen). 

Heinr.  Löbner,  Ludwig  Uhland.  Ein  Gedenkblatt  zur  Säculnrfeier : 
Litterar,   Merkur,   herausgeg.    von   Ebner,  VII,    165. 

F.  Martin,  Ludwig  Uhland  der  Classiker  der  Volksschule :  Pädagogische 
Blätter   16,   273. 

E.  Peschier,  zum  100jährigen  Geburtstage  L.  Uhland's.  Festgedicht  bei 
der  Gedächtnißfeier  des  Gesangvereins  Frohsinn  zu  Cannstadt  a.  N.  (Cann- 
stadt).    Vgl.    Strauch   in  Franzos'  Deutsch.  Dichtung  II,   244. 


366  L.  FRÄNKEL 

Rud.   Pfleiderer ,    Ludwig  ühland:     Deutsches   Literaturblatt  X,    Nr.    4. 

Joh.  Prölß,  Zu  L.  Uhland's  Gedächtniß :  Frankf.  Ztg.  Nr.  116  u.  117 
(Feuilleton). 

Jul.  Riffert,  Zu  L.  Uhland's  lOOjährigem  Geburtstage:  Leipz.  Zeitung 
wissenschaftl.   Beil.   Nr.    32, 

Ludw.  Saloraon,  Zu  Uhland's  100.  Geburtstage:  Illustr.  Ztg  (Leipzig) 
Nr.    2286. 

L.  Schwabe,  Prolog,  gesprochen  bei  der  Feier  des  100.  Geburtstags 
Ludwig  Uhland's  in  der  Tübinger  Sonutagsgesellschaft  am  19.  Februar  1887 
(Tübingen;   Manuscriptdruck). 

Ludw.  Speidel,  Ludwig  Uhland  (zu  seinem  100.  Geburtstag):  Neue 
Freie  Presse,  Nr.   8140   (Feuilleton). 

Franz  Violet,  Ludwig  Uhland,  Vossische  Ztg.  (Berlin),  Sonntagsbeilage 
Nr.    17. 

F.  Th.  Vischer,  Festspiel  zur  Uhland-Feier.  Aufgeführt  im  kön.  Hof- 
tbeater  zn   Stuttgart   24.   April    1887    (Stuttgart). 

(Frl.  L.  Weißer)  Zur  Erinnerung  an  L.  Uhland.  Von  einer  Verwandten 
des   Dichters:    bes.  Beil.    des   Staatsanzeigers   f.   Württemberg  Nr.    7,    S.   97. 

K.  Weitbrecht,   L.   Uhland:   Neue   Zürcher  Ztg.   Nr.    112,    114,    115. 

Willibald,   L.    Uhland:   Die   Presse  (Wien)   Nr.    114. 

R.  Wolkan,   L.   Uhland:  Bohemia   (Prag),   Beil.   zu  Nr.    115. 

Rieh.   Wulckow,  L.   Uhland:   Didaskalia   (Frankfurt  a.   M.)  Nr.    97. 

Zu  Uhland's  hundertjährigem  Geburtstage  :    Leipziger  Tageblatt  26.  April. 

Rieh.  Gosche,  Festrede  gehalten  bei  der  Uhland-Feier  im  alten  Gewand- 
haus zu   Leipzig:   Leipziger  Tageblatt  vom   4.   Mai,    1.   Beilage. 

Zum   Säculargedächtniß   an   L.  Uhland :    Schorer's  Familienblatt  Nr     17. 

Zu  Uhland's  Gedächtniß:  Die  kleine  chron.  Frankf.  Wochenschr. ,  her- 
ausgegeben von  Holthof  IX,   Nr.    44   u.    45. 

Bericht  über  die  Uhland-Feier  zu  Tübingen:  Tübinger  Chronik  Xr.  97 
und   98. 

Bericht  über  Uhland-Gedächtnißfeiern:  Schwäbische  Chronik  Nr.  96 — 
101;   Blätter  für  litterarische   Unterhaltung  Nr.    19,   S.    303. 

Über  die  Uhland-Ausstellung  in  Stuttgart  und  die  Uhland-Feier  in 
Württemberg:   Die  Presse  Nr.    116   u.    117. 

Ludwig  Uhland  und  die  Schwaben :  Zeitung  für  Literatur,  Kunst  und 
Wisenschaft',   Beilage  des   Hamburgischen   Correspondenten   Nr.    6. 

Ludwig  Uhland:   Schlesische   Zeitung  (Breslau)  Nr.    286   u.    289. 

Ludwig  Uhland:  Evangelisch -lutherisches  Gemeindeblatt,  herausgeg. 
von  Rade,  Nr.    18. 

Etwas   über  Uhland:   Tübinger  Unterhaltungsblatt  Nr.    20,   S.    79. 

Ein  Beitrag  zur  Erinnerung  an  Ludwig  Uhland:  Sonntagsblatt,  her- 
ausgegeben  von   A.   Philipps   (Berlin)   Nr.    17. 

Zwei  bisher  unbekannte  Anecdoten  über  Ludwig  Uhland:  Universum, 
herausgeg.   von    Seemann   und   Puttkamer   (Dresden)  Nr.    24. 

Uhland  über  biblische  Dichtungen:  Evangelisch-lutherisches  Gemeinde- 
blatt,  herausgeg.  von  Rade,   Nr.   30. 

Uhland's  Beziehungen  zu  Lena«.  Nach  Briefen  geschildert:  D.  Buch- 
händler-Akademie IV,   8   (vgl.    1853  unter  Mayer). 


BIBLIOGRAPHIK  DKR  UHLAND-LITTERATUR  3(^7 

Ludwig  Uhland's  Reden  in  der  1848er  Nationalversammlung.  Ein 
Gedenkblatt  zum  26.  April  1887:  Deutsche  Worte,  hcrausgeg.  von  E.  Perner- 
storfer   VII,    14;)   ff. 

Ludwig  Uhland  und  die  Deutschen  in  Österreich:  Deutsche  Zeitung 
(Wien)  Nr.   5490. 

Jean  Fastenrath,  Figures  de  l'Allemagne  contemporaine  (Paris):  enthält 
p.  321 — 333  einen  Aufsatz  'Le  centenaire  de  Louis  Uhland*  (vgl.  Schwäbische 
Chronik   S.    1462). 

Jacob  Nover.  L.  Uhland:  Berichte  des  freien  deutschen  Hochstiftes  zu 
Frankfurt  a.   M.   N.  F.   3.   (1886—87)   S.    172   ff. 

Goethe's  Willkommen  und  Abschied.  Herrn  Wilh.  Hertz  zum  1  Januar 
1887  gewidmet  von  Eichard  Maria  Werner.  Als  Handschrift  gedruckt  (^Lem- 
berg,  14  S.):  Vergleich  mit  einigen  den  Kitt  behandelnden  Liedern  von 
Uhland,   Heine,   Geibel. 

Deutsche  Dichtung,  herausgeg.  von  K.  E.  Franzos  (Stuttgart)  II,  38: 
Uhlandnummer  im  2.  Aprilheft  (enthält  verschollene  und  unbekannte  Ge- 
dichte U.'s.  Mittheilungen  Karl  Mayer's  jun.  u.  A.).  Ebenda  II,  55  Aus  L.  U.'s 
Briefwechsel.   Mitgetheilt  von   K.   E.   Franzos. 

Allgemeine  Zeitung  vom  28.  März  S-  1276  theilt  einen  Brief  U.'s,  aus 
Paris  vom  29.  Juni  1810  an  eine  junge  Verwandte  gerichtet,  mit  (aus  dem 
Staatsanzeiger  für  Württemberg  Nr.  70,  Beil.):  Abdruck  im  Litterar.  Merkur, 
herausgeg.   von   Ebner  VII.    172. 

Ebenda,  Nummer  vom  21.  Februar:  Zu  L.  U.'s  Gedächtniß  (Besprechung 
von  Holland's    obgenannter  Schriftl. 

Unsre  Uhlandfeier:  Korrespondenzblatt  des  Vereins  für  siebenbürg. 
Landeskunde    10   (4),   58   f. 

Nachlese  zu  den  Uhlandbiographien  (zusammengestellt  von  J.  Hartmann): 
Württemberger  Vierteljahrshefte  für  Landesgeschichte    10   (l),    1  — 16. 

Zwei  Uhlandische  Gedichte,,  erläutert  für  den  Schulgebrauch:  Neue 
Blätter  aus  Süddeutschland  für  Erziehung  and  Unterricht,  herausgeg.  von 
Burk  und  Pfisterer  16,  174  —  190  (Einkehr  175—180.  Schwäbische  Kunde 
180—190). 

J.  Clark,  Poesias  liiicas  alemanas  de  Heine,  Uhland,  Zedlitz,  Rückert, 
Hoffmann,  Platen,  Hartmann  y  otros  autores,  vertidas  en  castellano  I^Paris, 
Bouret,    158   p.). 

1888.  Ludwig  Fränkel,  Ludwig  Uhland  als  Romanist  1.:  Herrig's 
Archiv  80,  25  —  113  (Darin:  S.  82 — 87  Excurs  zu  U.'s  Königstochtor,  S  87  — 
Hi9   Uhland  in   seinem   Verhältniß   zur  Romantik,     namentlich   als   Romanist). 

Friedrich  Hebbel  in  seinem  Verhältniß  zu  Uhland  (Referat  aus  seinen 
Tagebüchern):    Deutsche   Rundschau.  Januarheft  (14.   Bd.,  H.    4)   S.    155. 

H.  Hormel,  Uhland  s  Graf  Richard  Ohnefurcht  und  seine  altfranzösische 
Vorlage:    Franco-Gallii),    lierausgfg.    von   Kreßner  V,    S     10 — 15. 

Franz  Kern,  Zur  Würdigung  von  Uhland's  Gedichten:  Vossische  Ztg. 
(Berlin)  Nr.    6   u.    7    der   Sonntagsbeilage  (6.   und    12.   Februar). 

Friedr.  Rückert  über  Uhland  1835:  Brief  an  Gustav  Kühne,  mitgetheilt 
von  Ad.  Kohut,  Die  Gegenwart  vom  14.  Januar,  S.  26  (mit  dem  merkwür- 
digen Versehen,  daß  diese  Äußerung  als  eine  ^Heinrich  [sie!]  Rückert's, 
der  damals  Professor  in  Erlangen  war"   gegeben  wird;. 


368  L.  FKÄNKEL 

Philipp  Strauch,  Briefe  von  Jacob  und  Wilhelm  Grimm  an  Adelbert 
von  Keller:  Anzeiger  f.  deutsches  Alt.  u.  deutsche  Litt.  14,  97  ff.  (Darin  auf 
S.    98   f.,    104,    107    f.,    113   u.   ö.   interessante  Beiträge   über  Uhland). 

R.  M.  Werner,  Neuere  Uhlandlitteratur:  Anzeiger  f.  deutsches  Alt.  u. 
deutsche  Litt.  14,  153 — 202  (Eingehende  kritische  Besprechungen  der  vor- 
stehend genannten  Jubiläumschriften  von  Holland ,  Fischer ,  Hassenstein, 
Dederich,   Paulus   [s.  unter   1869],   Ohorn,   Kohut  und  Mayr). 

R.  M.  Werner,  Des  Sängers  Fluch  von  Uhland:  SeufFert's  Vierteljahr- 
schrift für  Litteraturgeschichte  I,   508 — 511    (S.    510   auch   zu    der  Ring'). 

A.  Biese,  Die  Entwickelung  des  Naturgefühls  im  Mittelalter  und  ia 
der  Neuzeit  (Leipzig)  S.  1 1 5  (U.'s  'Frühlingsglanben  und  Heinrich  von  Vel- 
deke)  und  S.  453  (U.'s  Naturlyrik).  Vgl.  R.  M.  Werner's  Recension :  Deutsche 
Literaturztg.   9,   596   (21.   April). 

K.  Fulda,  Ludwig  Uhland  ein  deutscher  Dichter  (Barmen) :  Wiemann's 
Sammlung    Aus   dem   Reiche  für  das   Reich',   Heft   8. 

Felix  Liebrecht,  in  der  Germania  (herausgeg.  von  0.  Behaghel)  33, 
252   ('Schlößlein    in  Uhland's    „Graf  Eberstein"). 

P.  Ludwig,  Eine  Uhland-Reliquie  t  Allgemeine  conservative  Monats- 
schrift für  das  christliche  Deutschland,  herausgeg.  von  v.  Oertzen  und  Müller 
45,  28  6 — 290  (über  U.'s  Gedichtschema  vom  heimkehrenden  Wanderer  bei 
Holland,   Zu  Uhland's   Gedächtniß   S.   51.) 

K.  Strackerjan,  Zur  Feier  deutscher  Dichter:  Progr.  der  Realschule  zu 
Oldenburg:    S.    11  —  16   'Uhland'. 

Deutsche  Rundschau,  herausgeg.  von  J.  Rodenberg  54,  399  (U.  über 
Berthold  Auerbach). 

Die  Gesellschaft.  Monatsschrift  für  Literatur  und  Kunst.  Jahrg.  1888, 
S.    1174  (Zu  Uhland's   Rudello). 

G.  Gröber  im  'Grundriß  der  roman.  Philologie'  T,  S.  57  f.  (U.'s  Stel- 
lung  in   der    Geschichte   der  roman.   Philologie  ). 

A.  Birlinger,  Das  Hunno -Weisthum  von  Bodmann:  Alemannia  14,  237 
(Berichtigungen  zu   Uhland's   Aufsatz   Germ.   4,    50   ff). 

Jahrbuch  der  deutschen  Shakespearegesellschaft  23,  291  (Zupitza  zu 
U.'s    'In  Gras  und  Blumen   lag  ich   gern  ), 

1889,  Felix  Bamberg,  Hebbel's  Briefwechsel  mit  Freunden  und  hervor- 
ragenden Zeitgenossen:  Beilage  zur  „Allgem.  Zeitung"  (München)  1.  Januar 
(auf  S.    10   über  Hebbel's   Verhältniß   zu   U.). 

Ludwig  Fränkel,  Uhland  als  Romanist.  Nachträge  und  Berichtigungen. 
Herrig's   Archiv   f.    d.    Studium   d.    neueren    Sprachen   und   Lit.    82,    233  —  235. 

Frisch,  über  ein  Originalnianuscript  von  Ernst  von  Schwaben  :  Zeit- 
schrift für  vergleichende  Literaturgesch.   u.   Renaissancelit.   N.  F.   II,    103. 

0.  Knoop.  Das  Glück  von  Edenhall.  Eine  polnische  Sage:  Zeitschrift 
für  Volkskunde  I,    S.   392. 

K.  Knortz,  Die  deutschen  Volkslieder  und  Märchen  (Zürich)  S.  57  f. 
(vgl.   auch    S.    56   u.    59)   U.   als   Schüler  des    Volkslieds. 

Karl  Lucae.  Aus  deutscher  Sprach-  und  Literaturgeschichte.  Gesammelte 
Vorträge   (herausgeg.   von   Max   Koch).    S.    217    (U.   als    Balladendichter). 

Pfeiffer,  L.  Uhland  und  seine  Stellung  im  deutschen  Geistesleben: 
Correspondenzblatt    für  die  Gelehrten-  und   Realschulen  Würtembergs   36,   6. 


o.  bkp:nner.  kin  hrief.  369 

Johann  Schmidt,  Die  Apokope  beiden  neueren  deutschen  Dramatikern: 
Zeitschrift  f.    d.    österr.   Gymn.    40   (59*J  — GOf)),    «04. 

Phil.  Strauch  in  seiner  Übersicht  der  Flrscheinungen  des  Jahres  1887 
über  neuere   deutsche  Literatur:   Anzeiger   f.   d.    Alt.    15,    130 — 133. 

Ludwig  Fränkel,  Neuere  Uhlandliteratur:  Literaturblatt  f.  german.  u. 
roman.  Philologie  X,  Nr.  4,  Sp.  125 — 134  (bespricht  die  oben  unter  188G, 
1887  u.  1888  genannten  Schriften  von  Holland,  Kechstcin,  Ohorn,  Salomon, 
Rümelin,   Fulda,   Strackerjan). 

Da  ich  mir  wohl  bewußt  bin ,  daß  vorstehendem  Verzeichnisse  trotz 
der  größten  Mühewaltung,  der  ich  mich  behufs  möglichster  Vollständigkeit 
desselben  unterzogen  habe,  mannigfache  Mängel  anhatten,  richte  ich  hiermit 
an  die  Fachgenossen  sowie  an  alle  Freunde  und  Kenner  IJhland's  die  Bitte, 
mich  auf  die  Fehler  und  Lücken  aufmerksam  zu  machen.  Erst  dann  kann 
meine  Arbeit  werden,  wozu  ich  sie  vergebens  zu  machen  strebte,  ein  wirklich 
vollständiges  Repertorium  der  gesammten  Uhlandlitteratur,  würdig  des  großen 
und  verehrten  Mannes,  auf  den  es  sich  bezieht.  In  diesem  Sinne  suchte 
ich  auch  einer  rein  schematischen  Anordnung  des  Stotfes  auszuweichen.  Sie 
ist  nirgends  eine  willkürliche,  sondern,  wo  nicht  durch  alpliabetische  Zu- 
sammengehörigkeit,   durch   gewisse   innere   Griiude  bedingt. 

LEIPZIG  (PoniatowskystrHsse   13),  Frühjahr  1889. 

LUDWIG  FKÄNKEL. 


EIN  BRIEF. 


Ich  elspet  von  pseierbrvne  enpivt  d'r  lieben  vn  d'r  getriwen  d'r 
chastenjBrein  |  gotrawelich  mine  driwen  dienst  vn  wizct  duz  mich  gar 
hart  nach  ivch  |  petraget  an  mine  mveterlin  daz  ich  niemen  walze 
daz  mvnch  da  mich  |  als  hart  nach  pelange  als  nach  dir  licbiv  diemvt 
der  en  zwai  prach  mir  |  daz  herze  mine  d'n  lieze  ich  ivch  vile  liebiv 
miten  trine  sehen  mit  iwern  |  pelzen  vri  mit  iwer  chvrsen  allen  vü 
mit  iwern  grozen  schvhen  si  mvzen  |  aver  schon  gewischet  sin  da  mit 
plege  iwer  d'r  svzc  got  grvzet  mir  div  mvlhaus  serciu 

(Rückseite) 
der  lieben   sol  der  ]  prief. 

Obiger  Brief,  wohl  einer  der  allerältesten  deutschen  Privatbriefe, 
liegt  unter  den  Urkunden  des  Münchner  Angerklosters  in  fasc.  9 
J.  1303 — 1306  im  Münchner  Reichsarchiv.  Er  steht  auf  einem  kleinen 
Pergamentzettel  (14^  Ctm.  br. ,  5  Ctm.  hocii) ,  der  ganz  schwache 
Spuren  der  Faltung  aufweist.  Ein  kleiner  Schnitt  könnte  zum  Durch- 
ziehen der  Siegelschnur  gedient  haben.  Die  Orthographie  zeigt,  daß 
die  Schreiberin  nicht  eben  sehr  geübt  in  deutscher  Briefstellcrei  war. 


370  O.  REHAGHEL,   ZU  MHD.  iu  UND  «. 

Die  Schriftzüge  sind  äußerst  zierlich  und  meist  vollkommen  deutlich; 
auch  die  unrichtigen  v  statt  v  in  mveterlin  und  mvnch  sind  unver- 
kennbar. Die  Form  mvnch  ist  mir  in  keiner  der  zahllosen  Münchener 
Urkunden  begegnet;  prach  sollte  nach  der  Schreibgewohnheit  der  Zeit 
prcech,  präch  geschrieben  sein  (das  übergeschriebene  e  fehlt  auch  in 
mvzen  ,  grvzet,  mvlhavscerein,  denen  nach  guten  Münchner  und  Bayer- 
brunner  Urkunden  durchweg  v  zukommt).  Die  Mutter  der  Elsbet, 
Irmgart,  erscheint  1309  als  Wohlthäterin  des  Klarnklosters  (Mon.  boic. 
XVIII,  57  f.),  Diemüt  die  Kastnaerin  schon  1302;  1307  wird  sie  in 
einer  Urkunde  der  Äbtissin  'vnser  sermciaV  genannt;  1309  wird  sie 
als  Zeugin  nocii  einmal  erwähnt;  1302  war  sie  schon  Witwe;  später 
war  sie  wohl  Pfründnerin  des  Klosters. 

O.  BRENNER. 


ZU  MHD.  iu  UND 


u. 


Wilmanns  macht  mich  freundlichst  darauf  aufmerksam,  daß 
bereits  Sebastian  Helber,  der  1593  sein  Syllabirbüchlein  veröffentlicht, 
den  noch  heute  in  Theilen  des  Oberdeutschen  bestehenden  Unter- 
schied zwischen  den  genannten  Lauten  beobachtet  hat.  Helber  gibt  — 
S.  32  von  Roethes  Ausgabe  —  ein  Verzeichniß  von  Wörtern  „mit 
jenem  EV,  welliches  sonst  aber  eü  gedrucket  wirdt"  und  er  setzt 
„zwei  punctlein  zu  denen  Worten,  die  bei  den  gemeinen  Donawischen 
auf  jre  eigne  weis  ausgesprochen  werden,  [gleichsam  oi  bei  meererem 
teil,  bei  andern  it«]".  Unter  Donauischen  versteht  er  „alle  in  den  Alt 
Baierischen  und  Schwebischen  Landen,  den  Rein  vnberürt"  (S.  24). 
Mit  dem  Doppelpunkte  nun  versieht  er  52  Wörter,  von  denen  43  ein 
eu  aus  dem  alten  Diphthong  iu  enthalten;  bei  sechs  Belegen  geht  ett 
auf  Umlaut  von  ü  zurück  (s.  Roetlie,  Einl.  S.  XVI;  Preußen  rechne 
ich  nicht  hierher);  bei  zweien  liegt  mhd.  i  zu  Grunde  (Plenen  (?) 
durchgeraüttert) ;  bei  einem  ist  der  Ursprung  des  eu  zweifelhaft  (Preußen). 
In  74  Wörtern  folgt  ein  Komma.  Von  ihnen ')  haben  neun  ein  eu 
aus  mhd.  ?;  zu  ihnen  gehört  als  zehntes  gewiß  auch  verheürathen. 
Umlaut  von  mhd.  ou  zeigen  kleuheln,  tenglich;  altes  üe  liegt  vor  in 
Neuchtland  ('?).  Fremdwort  ist  abenteürlich,  dunkeln  Ursprungs  das  eü 
in  reüsperen,  Rot  -  Reüssen,  scheüren,  treiisch.  Von  den  noch  bleiben- 
den   56  Beispielen    besitzen   43    den  Umlaut  von  i2,    12  altes  iu.    Die 


')  Bei  einzelnen  Wörtern  ist  iiicht  mit  Sicherheit  zwischen  Homonymen  zu  unter- 
scheiden. 


A.  GOMBERT,  BEMEEKUNGEN  Zl'M   DEUTSCHEN  VVÖRTERBUCHE.     371 

letzteren  sind  deuten,  heulen,  vorleuchten,  liienstleut ,  verleumdet,  Reu, 
misgereuttet  ßpreur,  scheuheii,  schenslich,  teutsch,  also  mit  Ausnahm«'  vom 
verleumdet  und  Reu  lauter  Wörter,  wo  der  Staniinvocal  ursprUnixlicli 
vor  i  {j)  stand,  also  nach  meinen  Krörterunj^en  oben  S.  2öl  mit  dem 
Umlaut  von  il  zusammenfallen  mußte.  Beute  kann  auf  *hfJja  oder 
*hiutja  zurückgehen.  Es  ist  somit  unrichtig,  daß  Helber  der  Aiit- 
gabe,  die  beiden  eu  zu  scheiden,  erlegen  sei  (Roetlie  S.  XV):  anl 
105  Beispiele  kommen  nur  acht  falsche  Zuweisungen. 

GIESSEN,   4.  October   188'.».  O.  HEH.UillEL. 

BEMERKUNGEN  ZUM   DEUTSCHEN   WÖHTKR- 

BUCHE. 

Bd.   VII,  Lief.   10  {Pflasterung  bis  Platz). 
(Fortsetzung.) 

Pfrundbuch  gebraucht  Joh.  v.  Müller  in  einem  Briefe  vom 
10.  Juli  1778  Wke.  29.  250  (Ausg.  von  1834);  der  Herausgeber  hält 
es  aber  für  nöthig,  zu  dem  allerding.s  nicht  allgemein  verständlichen 
Worte  die  Erklärung  zu  fügen:  Ein  Msc,  icorin  alle  Geistlichen,  und. 
welche  Stellen  sie  bekleidet  haben,  aufgeschrieben  tverden.  Pfrundkauf 
(fehlt)  ist  etwas  Anderes  als  der  mit  Simonie  gleichbedeutende  Pfründe  n- 
kauf,  nämlich  eine  Art  Leibrente,  wie  aus  Schottel  528  (Beleg  aus 
Besold)  hervorgeht:  quando  Fiscus  certani  pecuniae  summani  a  pvivnfo 
occipit  eique  pensionem  usuris  vulgaribus  maiorem  ad  dies  vitae  concedit. 
Daß  der  Inhaber  solcher  Nutznießung  neben  Pfründner  auch  Pfrün- 
der heißt,  weist  Lexer  aus  Maaler  nach.  Auch  Schottel  339"  hat 
das  Wort  mit  der  Erklärung,  icelcher  eine  pf runde  oder  pfründ- 
recht (nicht  im  Wb.)  hat.  Dazu  kommt  ebenda  der  Zusatz:  Eine 
pfründe  ist  confracfus  emptionis  aiinvi  reditns  ad  vifain  ementis.  Zu 
Pfründe  im  Sinne  von  4  (geistliches  Amt  und  damit  ver- 
bundene Einkünfte)  gehört  das  gegenwärtig  in  der  preußischen 
Kirchenverwaltung  häufig  gebrauchte  Wort  Pfrün  den  abgäbe,  d.  h, 
der  Abzug  aus  den  Einkünften  einer  evangelischen  Pfarre,  den  ein 
neu  anzustellender  Geistlicher  an  den  Staat  oder  eine  öffentliche  Gasse 
auf  eine  Reihe  von  Jahren  zahlen  mu(> ,  weil  er  noch  nicht  die  für 
den  Bezug  des  ganzen  Einkommens  bestimmte  Anzahl  von  Dienst- 
jahren hat. 

Pfuhl  ist  auch,  wie  das  aus  Wiedemann  beigebrachte  Beispiel 
zeigt,  der  Inhalt  der  Pfütze,  die  Jauche  u.  dgl.    Das  Wort  wird  in 


372  A.  GOMBERT 

besonderem  Sinne  mehrfach  genannt  bei  der  Düngerlehre,  wo  Pfuhl 
oder  Pfui  eine  künstlich  gesammelte,  gehörig  vergohrene  und  mit 
Wasser  versetzte  Mistjauche  bedeutet.  Schwerz,  Prakt.  Acker- 
bau^ 1,  116  verbreitet  sich  behaglich  über  den  Pfui:  Diese  Brühe, 
ivelche  wir  hier  [an  dieser  Stelle  im  Buch  oder  in  Hohenheim  bei 
Stuttgart?]  unter  dem  Namen  Pfui  bezeichnen,  ist  darin  von  dem  bloßen 
Harne  verschieden,  daß  sie  atißer  letzterem  noch  einige  der  feineren  Theile 
der  festen  Auswurf e  enthält'^  ebenda  Pfulbehälter  und  S.  117  Pful- 
düngung:  eive  Pfuldüngung  ist  icirksamer  als  eine  Düngung  mit 
Stallmist,  allein  sie  ist  nicht  so  nachhaltig  wie  diese-^  ebd.  pfulen  und 
das  Pfulen,  z.B.:  Man  pfult  auch  die  zu  Runkeln  bestimmt  en  Felder  ; 
auch  auf  Klee,  Luzerne,  Wiesen  thut  das  Pfulen  die  herrlichste  Wir- 
kung-^ ebd.  2,  134  wird  pfulen  erklärt  durch  die  Worte:  mit  Jauche 
überfahren;  ein  magerer  Acker  wird  durch  das  Pfulen  zu  einer 
reichlichen  Kartoffelernte  gebracht.  Das  Wort  Pfuhl  überhaupt  ist  nach 
Lexer  den  oberdeutschen  Mundarten  fremd;  Schwerz  aber  scheint  es 
nach  1,  116  doch  in  Hohenheim  entweder  vorgefunden  oder  wenig- 
stens dort  gewöhnlich  gebraucht  zu  haben;  auch  am  Mittelrhein  muß 
es  in  der  besonderen  Bedeutung  =  Jauche  üblich  sein;  vgl.  National- 
zeitung vom  11,  Mai  1879,  Nr.  217  in  einer  Mittheilung  aus  Darm- 
stadt: Ein  Heppenheimer  Einwohner  ...  wurde  für  überführt  erachtet, 
einem  Nachbar  3  Ohm  Wein  dadurch  ungeniefsbar  gemacht  zu  haben, 
daß  er  in  den   frisch    gekelterten  Most    eine  Quantität  Pfuhl   schüttete. 

Pfudel,  die  mundartliche  Nebenform  von  Pfuhl,  ist  vereinzelt 
auch  weiblich,  z.  B.  in  einer  Anmerkung  Wenzel  Scherffers  zu  seinen 
Gredichten  S.  428:  Es  haben  böse  Buben  im  nechsten  Kriege  arme  Leute 
zu  martern  auf  die  Erde  gelegt  und  aus  der  Mistpfudel  ihnen  den 
Leib  mit  Geicalt  angefilllet  und  sie  also  bis  zum  Tode  getrenket.  Dieß 
haben  sie  den  Schwedischen   Trunk  genewiet. 

Das  Hauptwort  Pfuidichan  steht  schon  bei  Schottel  667,  wahr- 
scheinlich   in    der  Bedeutung    unfläthiger  Geselle:    Das  wird  ein 
Pfuidichan    werden    und    Ich    habe    mich   für    solchem  Pfuidichan 
alzeit  gehütet.   Rachel  S.  80  (Ausgabe  von   1742)  gebraucht  das  Wort 
in  besonderer  Bedeutung  bei  der  Schilderung  des  unanständigen  Poeten: 
Wenn  nun  ein  grobes  Holtz  ein  Eulenspiegels-gleichen 
Last  einen  Pf  uy- dich-  an  mit  gutem   Willen  streichen 
Bringt  kahle  Zoten  vor,  verschluckt  ein  gantzes  Ey, 
Und  rültzet  ins   Gelach  und  schivätzet  in  den  Brey. 

Unter  pfünder  4  ist  doch  zu  erinnern,  daß  auch  schon,  ehe 
die  Geschütze    nach    der   in  Centimetern    ausgedrückten  Weite    ihres 


BEMERKUNGEN   ZUM  DEUTSCHEN   WÖRTKKIU'CHE.  373 

Calibers  benannt  wurden,  die  verschiedenen  Ausdrücke  mit  pf'ündor 
nicht  mehr  ein  Geschütz  bezeichneten,-  das  ein  (jreschoß  der  bezeich- 
neten Schwere  schleuderte.  Mit  erklärlichem  Batteriewitz  wurde  ehe- 
dem auch  das  preußische  Viergroschenstück  als  Vierpfünder, 
das  Achtgroschenstück  als  Ach t pfün der  bezeichnet:  D>i  humst 
einen  Vierpfünder  abladen  (d.  h.  vier  Groschen  zum  licsten 
geben);   mit  einem  Acht  pfün  der  vorfahren  u.  dgl. 

In  Pfuscher,  Pfuscherei  und  pfusciien  (pfusch er n)  ist 
heute  der  Begriff  des  Unberechtigten  vor  dem  des  8tiimi)erhaftpn 
zurückgetreten.  Früher  zeigt  sich  der  erstere  Begriff  mehrfach  ohne 
jede  Beimengung  des  letzteren ;  so  wird  in  Günthers  Lebensbeschrei- 
bung S.  33  (1732)  der  verbotene  Umgang  mit  einer  Frau  als  Ehe- 
stands-Pfusch er  et  und  der  Thäter  als  Pfuscher  in  der  Liehe  be- 
zeichnet. Unter  den  Belegen  für  Pfuscher  fehlt  neben  weniger  be- 
deutenden die  classische  Stelle  aus  Goethes  Divan:  Doch  wer  keinen 
Leisten  kennt,  wird  ein  Pfuscher  bleiben.  (Man  findet  sie  übrigens  im 
sechsten  Bande  des  Wb.  unter  Leisten.)  Die  selbstverkennende 
Überhebung  als  etwas  für  den  Pfuscher  gerade  Bezeichnendes  drückt 
auch  Platen  4,  86  (Schlußparabase  zur  Gabel)  gut  aus:  Und  der 
Pf  US  eher  meint,  e?-  könne  das  auch;  doch  irrt  sich  der  Gute,  so 
scheint  ex.  Daß  die  norddeutsche  Aussprache  oft  Fuscher  u.  s.  w. 
statt  Pfuscher  bietet,  ist  bekannt.  Ein  Beispiel  sei  angeführt,  weil 
es  uns  zugleich  eine  andere  von  Lexer  nicht  hervorgeliobcne  Seite 
des  Pfuschers  zeigt:  Für  Stümper  und  Ungeübte  gehet  es  wohl  hin,  daß 
sie,  loie  es  die  Fuscher  unter  den  Handwerkern  machen,  sich  mit  was 
geringem  und  ivenigem  beheißen;  aber  ein  Mann,  der  seine  Sache  ver- 
steht, kan  sich  damit,  ohne  Verdacht  seiner  eigenen  Tugend,  nicht  al>- 
loeisen  lassen.  Besser  Staats-  und  Lobschriften  S.  161  in  der  Ausgabe 
von  1732,  vgl.  auch  fuschern  bei  Claudius  im  Liede  für  Schwind- 
.süchtige  bei   Gödeke,  Elf  Bücher  1,   735": 

r>ie  Ärzte  thun  zwar  ihre  Pflicht 

Und  fuschern  drum  und  dran; 

Allein  sie  haben  leider  nicht 

Das,  was  mir  helfen  kann. 
Pfuscherei  war  bekanntlich  Goethen  in  allen  ihren  Erscheinungs- 
formen verhaßt,  und  zu  dem  aus  den  Briefen  an  Zelter  genommenen 
Belege  für  diese  Stimmung  würde  passend  zu  fügen  sein  die  Mit- 
theilung bei  Eckermann"*  2,  243:  ich  hasse  alle  Pf  uscherei  wie  die 
Sünde,  besonders  aber  die  Pfuscherei  in  Staatsangelegenheiten, 
ivoraus  für  Tausende  und  Millionen    iiichts  als  Unheil  hervorgeht.    Pfu- 


374  A.  GOMBERT 

Sehern  wird  etwas  kurz  (in  sechs  Zeilen)  behandelt.  Die  Form  ist 
die  in  der  norddeutschen  Haus-  und  Umgangssprache  bei  Weitem 
üblichere,  während  pfuschen  dort  buchmäÜiig  klingt;  insbesondere 
nennt  man  das  sonst  unter  der  Bezeichnung  Mogeln  bekannte  Be- 
trügen beim  Kartenspiel  (öfters  nach  Verabredung  erlaubt)  pfus ehern. 
Lexer  bringt  zwei  Beispiele  für  pfuschern  mit  der  Präp.  in  und  dem 
Dativ;  natürlich  kommt  so  auch  in  mit  dem  Acc.  vor  (~  hinein- 
pfuschen), z.  B.  Jahn  1,  229  (Volksthum):  Erziehung,  die  jedem 
Menschen  am  nächsten  liegt ,  von  der  Jedermann  spricht,  in  die  Jeder- 
mann pfuschert,  ist  das  Allerunhekannteste.  Endlich  wäre  hinzuweisen 
auf  pfuschern  mit  dem  Acc.  =  pfuschend  herstellen  bei  F.  W. 
Schmidt.  Gedichte  304  (Berlin  1797): 

Rolle,  eitler   Thor,  auf  Schivanenhälsen 
Stolz  zu  Prunkvisiten  fern  und  nah, 
Laß  dir  pf  tisch  er  n  einen  Park  mit  FeUen 
Schön  auf  Holz  gemahlt,  und  —  gähne  da! 
Verpfuschern    anstatt    verpfuschen    hat    Hermes,    Für    Töchter 
edler  Herkunft   1,   15   (1787):  Ich  hätte  es  vielleicht  in   Üherweisheit  sein- 
gut    machen    wollen    und    hätte  es  dann    mir  verpfuschert.    Unter  den 
Zusammensetzungen  sei  nachgetragen  Pfuscherstrich  aus  Neukirchs 
Sammlung  ),  210  (Ausgabe  von  1697): 

Welch  Momus  hat  iemahls  hier  fehler  ausgesetzt. 
Und  iver  will  der  natur  noch  pfuscher-s  triche  weisen? 
Neben    dem    aus    Rückert    belegten    Pfusch  werk    sehen    wir    auch 
Pfu  seh  er  werk: 

Da  flohen  sie  vor  ihm  wie  Eulen  vor  dem  Lichte, 
Und  dieses  Pfuscher- Werk  ward  auf  einrnal  zu  nichtc. 
Poesie  der   Franken   1,   105  (1730). 

Phänomenologie.  Herder  4,  (59  spricht  im  Jahre  1768  schon 
von  einer  ästhetischen  Phänomenologie.  Erwähnung  verdiente 
auch  das  Wort  phänomenal,  das  eine  Reihe  von  Jahren  (wie  vor- 
her pyramidal)  ein  Modewort  zur  Bezeichnung  des  Außerordent- 
lichen  geworden  war. 

Zu  Pfütze  2,  das  im  Sinne  von  See  und  Meer  aus  Diefenbach 
und  besondere  Stellen  aus  dem  16,  Jahrh.  belegt  wird,  könnte  Jahn 
2,  735  {jenseit  der  großen  Pfütze)  und  ebd.  841  {iiber  die  große 
Pfütze)  gefügt  werden,  da  hier  die  große  Pfütze  das  Amerika 
von  Europa  trennende  Meer  bedeutet.  Vielleicht  aber  hat  Jahn,  ob- 
wohl er  sonst  mit  Vorliebe  seine  Wendungen  an  gesprochenes  und 
von  ihm  gehörtes  Deutsch  anknüpft,    hier  nur  den  Versuch  gemacht, 


BEMERKUNGEN  ZUM  DEUTSCHEN   VVÖKTEKMUJCHE.  375 

einen    ihm    aufgestoßenen    älterneuhochdeutsclien   Ausdruc-k   wieder  zu 
verjüngen. 

Phantasie  in  der  Bedeutung  Ton  spiel  aus  dem  Stegereif 
wird  erst  aus  Millers  Siegwart  belegt,  wofür  leicht  ein  früheres  Bei- 
spiel, etwa  aus  Zachariäs  Scherzhaften  Poesien  403  (aus  dem  Jahre 
1754)  zu  geben   war: 

JSttn  jauchzt  das  yanze  Ciavier  und  feifrct  holte  Gesänge 
hl  Phantasie  voll  Anmuth  und  Pracht. 
Phantasieren  als  trans.  wird  aus  Wieland  und  Bürger  belegt. 
Da  dieser  Sprachgebrauch  selten  ist,  möge  ein  weiteres  Beispiel  aus 
den  Frankf.  Gel.  Anzeigen  vom  Jahre  1772,  S.  479  (Neudruck)  ge- 
geben werden,  zumal  da  nach  Scherers  Einleitung  LXXIX  u.  LXXXIII 
die  bezügliche  Stelle  vielleicht  von  Goethe  herrührt:  .So  hnige  die 
Wissenschaften  in  phantasierten  Welten  auf  /Seifenblasen  herumfahren. 
Von  Zusammensetzungen  mögen  einige  nachgetragen ,  einige  auch 
aus  früherer  Zeit  nachgewiesen  werden,  als  dies  im  Wb.  geschieht. 
Phantasiebegabung  gebraucht  Wiese  Lebenserinnerungen  und 
.4ratserfahrungen  2,  141 :  in  keiner  der  anderen  Provinzen  siml  mir  so 
viele  Spuren  von  Phontasiehegahung  vorgekomnten  [wie  in  Schlesien!. 
Phantasieberauscht  (fehlt):  phantasirberauschte  Fülle  Platen 
1,  41.  Phantasiebild  (fehlt).  Goethe,  Spr.  in  Prosa  932  (Bd.  19, 
201  Hempel):  Der  denkende  Mensch  hat  die  ivunderliche  Eigenschaft,  daß 
er  an  die  Stelle,  too  das  unauf gelöste  Problem  liegt,  gerne  ein  Phan- 
tasiebild  hinfabelt,  desgl.  28,  166  (Über  den  Dilettantismus): 
[Zweck  der  Dilettanten,]  J'hantasie- Bilder  unmittelbar  vorstellen 
::a  wollen.  Ebd.  S.  725  (1815):  Franz,  Weislingens  Knabe,  kommt  von 
Bamberg  und  erregt  alte  Erinnerungen  sowie  ein  neues  Phantasiebild 
dei'  gefährlichen  Adelheid  von  Walldorf.  Der  physische  '/'heil  dieses 
wilden  Phantasiebildes  [der  Protogaea  von  Leibnitzj  Humboldt, 
Kosmos  2,  391.  Überweg  in  der  Gesch.  der  Philos.  übersetzt  (fuvzdo- 
aara  durch  Phantasiebilder;  Vi  scher,  Ästhet.  0,  2,  5,  1182:  die 
Unbestimmtheit  und  Undeidlichkeit  des  Phant as iebildes,  das  sich  noch 
gar  nicht  erschlossen  hat.  Hase,  Kirchengescliichte'"*  614  (1868):  JJa 
legitime  Fürsten  der  Gewalt  tveichen  mußten  und  der  Sieg  gewonnen 
ivurde  im  Bunde  mit  dem  "^ Kronenräuber  jenseits  der  Alpen,  verschivand 
das  geistliche  Phantasiebild  des  Herrschers  von  Gottes  übernatürUchen 
Gnaden.  Früher  steht  schon  Phantasieenbild  bei  Eberhard,  Hand- 
buch der  Ästhetik  3,  13  (l>i04):  die  Idee^  nach  welcher  ich  mir  die 
äußere  Darstellung  der  Phantasiebilder  durch  die  wesentlichen  Zeichen 
der  Ktinst    denke.     Phantasiebildung    (fehlt):    In    der    gegenwärtigen 


376 


A.  GOMBERT 


Zeit  warnt  man  vorzugsweise  vor  der  einseitigen  Phantasiethätiykeit  und 
versäumt  darüher  die  normale  Fhantasiehildung ,  die  doch  ebenso 
nothwendig  ist  als  die  Bildung  jeder  anderen  Geistesthätigkeit.  Deinhardt 
in  Schmids  Encykl.  d.  Erziehung^  5,  782.  Phantasie  form  (fehlt) 
bei  Vischer,  Ästhetik  3,  2,  5,  1177:  Poesie  als  Kunst  der  Darstellung 
des  hetüußten  Lehens  in  Phantasieform..  Deinhardt  a.  a.  0.  5,  789 
unterscheidet  dreierlei  Phantasie  formen  (zurückzuführen  auf  Ge- 
stalten, Töne  und  Worte).  Phantasiefrisch  (fehlt):  Die  besten  Eigen- 
schaften des  Poeten  (W.  Raabe)  treten  uns  aus  den  phantasie- 
frischen Geschichten  entgegen.  A.  Stern,  die  deutsche  National- 
litteratur  seit  Goethe,  S.   154.    Phantasiegelispel:  O verbeck 

Ufid  blinkt  denn  noch  der  Mond  herein 

Mit  dämme rlichem  Silberschein, 

Und  Phantasiegelispel  sich 

Herab  ergießt  so  zauberlich 
in  Vossens  Musenalmanach  für  1782,  S.  111  bei  Gödeke.  Elf  Bücher 
1,  790*".  Phantasiegemälde  (fehlt)  ist  wohl  ein  nicht  seltenes  Wort; 
ein  Roman  unter  diesem  Titel  erschien  von  G.  Döring  im  Jahre  1833. 
Phantasiegestalt  (Humboldt,  Sonette)  findet  sich  auch  bei  Goethe 
28,  383  Hpl.  (Verein  der  deutschen  Bildhauer.  1817).  Phantasie- 
kranz und  Phantasiestrauß  werden  in  Goethes  Faust  2.  Theil, 
Hempel  13,  18  genannt.  Phantasiekönig  bei  H.  Leo,  Nominalistische 
Gedankenspäne  57 :  Alle  Eide  der  conservativen  Männer  in  ganz  Preußen 
gelten  dem  icahren  lebendigen  Könige  von  Preußen  .  .  und  nicht  jenem 
Phantasiekönig e,  meinetwegen  im  Monde.  Phantasielos  (über- 
gangen) ist  ein  nicht  eben  seltenes  Wort;  in  etwas  ungewöhnlicher 
Verbindung  hat  es  Rumohr,  Geist  der  Kochkunst  36  (Reclam):  Wer 
seine  Geschmacksiierven  nicht  durch  häufiges  Tabakrauchen  abgestumpft 
hat  oder  überhaupt  ganz  phantasielos  ist,  dem  wird  schaudern  vor 
dieser  Verbindung  des  Lieblichen  und  Widrigen.  Mehrfach  gebraucht 
es  Vischer  in  seiner  Ästhetik,  z.  B.  3,  2,  5,  1463,  ebenso  das  gleich- 
falls übergangene  Hauptwort  Phan  tasielosigkeit  ebd.  1232: 
Manche  Bilder  Shakespeares,  loelche  die  Phantasielosigkeit  von  heute 
für  geschmacklos  erklärt,  .  . .  verdienen  die  höchste  Beiotmderung ;  ebd. 
1439:  die  breite  Phantasielosigkeit ,  die  keinen  ganzen  Humor  ver- 
steht und  nichts  zu  greifen  meint,  ivenn  ihre  plumpen  Finger  nicht  ein 
solides  Stück  nackter  Wahrheit  fassen.  Phantasiemäßig  (fehlt):  Soll 
das  Anschauen  —  sei  es  ein  sinnliches  oder  ein  phantasiemäßiges  — 
gut  und  ganz  gelingen,  so  dürfen  die  neuen  Vorstellungen  nicht  als  etwas 
gänzlich  Neues  im  Geiste  Platz  nehmen.  Dörpfeld,  didakt.  Materialismus  '^ 


BEMERKUNGEN  ZUM  DEUTSCHEN  WÖRTERBUCHE.  377 

121  (1886);  ebd.  21S:  Von  d(n-  phantasiemäßigen  Ansclxtniinqs- 
vermittehmg.  Phantasiemensch  fehlt:  ein  j^utes  Beispiel  böte 
6.  Schwab,  Deutsche  Prosa '^  2,  3G  mit  dem  trefifenden  Urtheil  über 
Börne:  Verstandesmensch  als  Kritiker.  Phantasiemensch  als  Politiker. 
Phantasiereich  (Adj.)  ist  vor  Klinger  bei  Herder  1,  83  (ÖuphJ 
aus  dem  Jahre  1765  zu  finden:  die  Phantasiereichen  Araber:,  vgl. 
auch  ebd.  13,  308  (1785,  Ideen):  Überhanpt  sind  bei  allen  Phantasie- 
reichen  Völkern  die  Träume  icunderbar  mächtig.  Natürlich  spricht  man 
auch  von  Phantasiereicht  hu  m,  doch  habe  ich  augenblicklich  für 
das  Wort  keinen  besseren  Gewährsmann  als  D.  Stern,  Gesch.  d.  deut- 
schen Nationallitteratur  seit  Goethes  Tode  137  u.  152.  Phantasie- 
reich  als  Hauptwort  wird  durch  eine  Stelle  aus  Gervinus  belegt, 
dem  wohl  das  gleichbedeutende  Schillersche  Reich  der  Phantasie 
(Ihr  loildes  Reich  behauptet  Phantasie)  vorschwebte.  Phantasie- 
spiel brauchte  nicht  erst  aus  Auerbach  belegt  zu  werden;  am  An- 
fange des  Jahrhunderts  tinden  wir  es  in  Eberhards  Handbuch  d.  Ästh. 
2,  41  (1803):  Das  gibt  ihr  [der  christl.  Religion]  ihren  hohen  Werth, 
nicht  ihre  Poesie,  nicht  ihr  Phantasiespiel:,  ebd.  4,  338  (1805):  bald 
starkes,  bald  liebliches  Phayitasiespiel  [der  deutschen  lyrischen  Poesiel. 
Das  Wort  wird  wohl  schon  im  18.  Jahrh.  vorkommen;  vgl.  Wieland 
Agathon  1,  234:  Das  Spiel  der  Phantasie  und  des  Witzes.  Phan- 
tasiestück. Wenn  als  Beleg  nur  der  Titel  der  Weisflog'schen  Er- 
zählungen (seit  1824)  gegeben  wird,  so  mußte  eher  an  HofFmanns 
zehn  Jahre  früher  erschienene  und  nicht  bloß  im  Titel  von  Weisflog 
nachgeahmte  Phantasiestilcke  in  Callots  Manier  (Leipz.  1814) 
erinnert  werden.  Phantasiethätigkeit  ist  ein  häufig  von  Deinhardt 
gebrauchtes  Wort;  seine  Abhandlung  über  Phantasie  in  Schmids 
Encykl.  d.  Erziehung '^  5,  782 — 798  enthält  es  mehr  als  dreißigmal. 
Vischer  in  der  Ästhetik  gebraucht  es  ebenfalls  nicht  selten.  Hegel, 
Ästhet.'^  1,  417  hat  TJiätigkeit  der  Phantasie.  Phantasievoll 
ist  wohl  unter  den  von  Lexer  übergangenen  Zusammensetzungen  mit 
Phantasie  die  in  unserer  Zeit  am  häufigsten  gebrauchte  und  seheint 
bei  der  Bearbeitung  von  Dichterwerken  und  Tonstücken  gar  nicht 
mehr  entbehrt  werden  zu  können,  doch  kenne  ich  es  erst  aus  Vilmars 
Litteraturgesch.,  z.  B.  "*  301:  Friedrich  von  Spee,  der  herzliche,  an- 
muthige  und  phantasievolle  Lieder  dichtete.  Hettner  und  Scherer 
brauchen  das  Wort  häufig ;  es  fehlt  aber  bei  Sanders  in  beiden  Wörter- 
buch ern.  Phantasiewerk  (fehlt  1 :  Bea les  wird  als  ein  Ph antas ie- 
werk  behandelt  Goethe  28,  179  (Über  den  Dilettantismus).  Phantas- 
magorie    und    auch    phantasmagorisch    verdienten    wohl    eher 

QBRMANIA.    Neue  Eeihe.  XXII.  (XXXIV.)  Jahrg.  25 


378  A.  GOMBERT 

Aufnahme  als  Ph an tasmist  und  Phantomist;  man  denkt  zunächst 
an  Goethes  Helena,  classisch-romantische  Pliantasmagor ie,  und  einen 
Beleg  zu  phantasmagoriseh  gibt  Kehrein  aus  einem  Briefe  Goethes 
an  Reinhard.  Wurden  aber  einmal  die  Phantasmisten  erwähnt, 
so  durfte  auch  als  hervorragender  Vertreter  der  Gattung  der  aus 
Goethes  Faust  bekannte  Proktophantasmist  nicht  fehlen,  in  dem 
wir  wohl  einen  älteren  Vetter  des  in  den  Vierziger  Jahren  auftauchen- 
den und  dann  durch  die  Fliegenden  Blätter  rasch  bekannt  gewordenen 
Staatshämorrhoidarius  erblicken  dürfen.  Phantasma  ist  wohl 
als  ganz  griechische  Form  übergangen,  doch  verdiente  die  in  der 
Endung  deutsch  gemachte  Mehrheit  Phantasmen  wohl  aufgenommen 
zu  werden,  da  das  Wort  in  dieser  Form  seit  dem  Ende  des  vorigen 
Jahrhunderts  häufig  begegnet.  Ein  Beispiel  Goethes  28,  170  (Dilettantis- 
mus). Kehrein  im  Fremdwörterbuch  gibt  für  Phantasmen  eine  Stelle 
aus  Wieland  37,  56  in  der  Gruberschen  Ausgabe,  die  mir  nicht  zur 
Hand  ist.  Phantastik  (übergangen)  ist  ein  Lieblingswort  Hettners 
und  bei  ihm  Dutzende  von  Malen  zu  finden,  vielleicht  eine  Hegeische 
Bildung,  bei  dem  es  u.  A.  Ästhetik '^  1,  402  vorkommt.  Die  ganze 
Phantastik  und  Verwirrung,  alle  Gährung  und  wild  umhertaumelnde 
Vermischung  der  symbolischen  Kunst.  Phantom.  Daß  für  die  Mehrzahl 
aus  Schiller  nur  die  schwache  Form  belegt  wird,  könnte  irreleiten; 
es  wäre  darum  aus  ihm  auch  ein  Beispiel  der  starken  Form  zu 
geben,  etwa  das  bekannte  aus  Ideal  und  Leben: 

Wie  des  Lehens  schweigende  Phantome 
Glänzend  ivandeln  an  dem  stygschen  Strome. 
Pharisäer,  Pharisäerthum,  pharisäisch  sind  lange  und 
häufig  gebrauchte  Ausdrücke  für  das  Wesen  der  Leute,  die  sich  selbst 
vermessen,  daß  sie  fromm  seien.  Luther  hat  phariseisch  Gute 
Werke  B  ij''  (1520):  von  den  falschen,  p haiiseischen  vnglanhigen 
guten  wercken\  ebenso  H.  Emser,  Annotationes  zu  Luthers  Neuem 
Testament  F  iij*  (1525):  dise  Phariseisch  ent schuldig ung.  J.  Jonas 
in  der  Übersetzung  von  Melanchthons  Apologie  (1525)  schwankt  zwi- 
schen pharisäisch  (7'',  9%  12%  142"  u.  ö.)  und  phariseisch 
(145%  149%  167"^  u.  ö,).  phariseyer  hat  H.  Emser  a.  a  O.  G  vij% 
übrigens  im  eigentlichen  Sinne:  schrifftgelerten  und  phariseyer. 
Pharisäerei  bietet  Bode  im  Tristram  6,  35  (1774):  'ch  glaube,  daß 
'n  Soldat,  wenn  fr  Zeit  zum  Beten  geivinnen  kann,  wohl  ebenso  herzlich 
betet  als  'n  Pastor,  obschon  nicht  mit  so'n  Haufen  Handgebärden  und 
Pharisäerey. 


BEMERKUNGEN  ZUM  DEUTSCHES  WÖRTERBUCHE.  379 

Philanthrop  sollte  in  seinen  beiden  Bedeutungen,    sowohl  der 
allgemeinen    wie    der    besonderen    (Anhänger    der  Rousseau-Basedow- 
schen Erziehungsgrundsätze)  verzeichnet  sein;  beide  Bedeutungen  hat 
auch  das  Eigenschaftswort  philanthropisch,  doch  linden   wir  nach 
der  Einrichtung  des  Dessauer  Ph  ilantropins   (1774)  und  der  gleich- 
namigen Anstalten   (Marschlins.    Heidesheini,    Schnepfonthal)   zur  Be- 
zeichnung   des    engeren  Begriffes    auch    vielfach    philantropinisch 
und    philantropinistisch,    wie    auch  der  Deutlichkeit  wegen  Phi- 
lantropist    und    Philanthropinist     von     Philanthrop,     desgl. 
Philantropinismus     von     Philanthropie      unterschieden     wird. 
Vgl.    Goethe    22,  159    Hempel    (Dichtung    und  Wahrheit    14.  Buch)  : 
Basedoio  hatte  die  Absicht,  das  Puhlicum  durch  seine  Persönlichkeit  für 
sein  philanthropisches  Unternehmen  zu  geivinnen.  Niemeyer,  Grund- 
sätze d.  Erz.'  3,  368:  philanthropische  Unternehmungen',  ebd.  371: 
die  philanthropischen  Institute.    Philantropinisch    erscheint  als 
ein  Lieblingswort  Bahrdts  in  dessen  Lebensbeschreibung,  z.  B.  2,  305 
(1790):    Nach    den    großen   Ideen,    die    ich    von  Pliilantr  opinis  eher 
Feierlichkeit   hatte;    ebd.  271:    Ich    sähe  den  glänzendsten    Wirktmgskreis 
eines  Directors  philantropinischer  Anstalten]    ebd.  275:  Ich    bekam 
auch  nicht  ein   Tropf  lein  des  pädagogisch-philantro'p  in  i  sehen   Geistes, 
den  der  große  Basedoio    über   mich    hätte   ausströmen   sollen^    ebd.  276: 
Ich    machte    mich  ..  mit    der    philantropini sehen    Lehr-    und   Erzie- 
hungsart vertraut.    Ebd.  290:    Salis  einzahlte  von  Basedoios   Thafen   und 
Philantropinischen  Herrlichkeiten;  ebd.  305:  Ein  Wirthshaus,  welches 
Herr    von  Salis    erbaut    hatte  und  welches  nun  der  philantropini  sehe 
Gasthof   hieß.    Hettner,    Litteraturgesch.    d.    18.   Jahrhs.'    3,  2,  321: 
Keine    dieser    philantropini stischen  Anstalten   ist    von   langer  Dauer 
gewesen]  ebd.  322:  Der  tüchtigste  und  kräftigste  Förderer  dieser  philan. 
fropinistischen    Erziehungsrichtung    war    Campe.     Vgl.     auch    J.    G. 
Müller,    Emmerich    2,  267:    Lieber    philantropinisierender    Leser. 
Philantropin Wäldchen  Jean  Paul,    Unsichtb.  Loge  III    (Hpl.)  — 
Für  den  Philister  verweist  Lexer  auf  einige  von  mir  gegebene  Nach- 
weisungen, die  doch  das  große  Thema  der  Philisterei  nur  eben  streifen. 
Ich  muß  es  mir    aber    auch    hier    versagen,    durch  Vorführung  reich- 
licher Beispiele  den  Philister  in   seinen  so  außerordentlich  zahlreichen 
Erscheinungsformen    und   oft  täuschenden  Verhüllungen    darzustellen; 
es  möge  nur  gestattet  sein,  eine  Vermuthung  über  den  Urs[)rung  der 
Übertragung  des  Wortes  auszusprechen.  Die  von  Lexer  nach  Weigand 
mitgetheilte  Behauptung  Wiedemanns,  daß  ein  besonderer,  dem  letzten 
Drittel  des  17.  Jahrhunderts  zuzuweisender  Vorfall  auf  der  Universität 

25* 


380  ^-  GOMBERT 

Jena  die  Bezeichnung  des  nichtstudentischen  Bürgers  durch  Philister 
veranlaßt  habe,  halte  ich  jetzt  wie  schon  1877  für  sehr  zweifelhaft, 
doch  mag  in  ihr  nach  Ort  und  Gedankeninhalt  ein  Kern  von  Wahr- 
heit stecken.  Daß  die  Studenten  sich  als  Musensöhne  bezeichneten, 
konnte  bei  streng  christlich  biblischer  Weltanschauung  für  heidnischen 
Unfug  gelten,  und  zumal  für  die  Theologen  der  ausdrücklich  als  Ver- 
treterin des  reinen  biblischen  Lutherthums  gegründeten  Universität 
Jena  lag  vielleicht  der  Gegensatz  von  Israeliten  und  Philistern 
näher.  Dann  mögen  die  Studenten  nach  biblischer  Sprechweise  sich 
als  das  auserwählte  Volk,  als  Kinder  Gottes  im  Gegensatze 
zu  dem  unbegnadeten  Volke  der  Heiden  oder  Philister  gefühlt  und 
bezeichnet  haben.  Leicht  konnte  sich  solcher  Sprachgebrauch  noch 
im  17.  Jahrhundert  über  die  drei  schon  bestehenden  sächsischen  Uni- 
versitäten und  das  seit  1694  hinzutretende  preußische  Halle  ver- 
breiten, wie  ja  in  der  That  die  Übertragung  des  Wortes  Philister 
sich  zuerst  in  der  geistig  von  diesen  vier  Hochschulen  beherrschten 
obersächsischen  Gegend  zeigt.  Hierzu  stimmt  es,  wenn  ein  in  den 
Neunziger  Jahren  des  18.  Jahrhunderts  erfolgter  Auszug  der  Halli- 
schen Studenten  in  gleichzeitigem  Bericht  als  Auszug  der  Kinder 
Israel  aus  Ägypten  dargestellt  wird;  hierzu  stimmt  es  nicht  weniger, 
wenn  Goethe,  vielleicht  in  bewußter  Erinnerung  an  überlieferten  stu- 
dentischen Sprachgebrauch,  bald  ausdrücklich,  bald  andeutend  Phi- 
lister und  Kinder  Gottes  einander  gegenüberstellt,  so  am  deut- 
lichsten Bd.  2,  290  Hempel  ('Gedichte  sind  gemalte  Fensterscheiben') 
und  erkennbar  auch  ebd.  2,  298  im  Gedichte  vom  Regen  und  Regen- 
bogen. So  läßt  sich  die  Sache  wohl  denken ;  doch  bleibt  die  Ver- 
muthung  unsicher,  und  wer  sie  zurückweist,  kränkt  mich  nicht.  Von 
Zusammensetzungen  und  Ableitungen,  die  freilich  zum  Theile  nicht 
viel  lehren  und  die  zu  erschöpfen  nicht  beabsichtigt  wird,  mögen  hier 
noch  folgende  Platz  finden:  Philisterbart  (bestehend  aus  Backen* 
bart  und  Kinnbart,  soweit  letzterer  sich  unter  dem  Kinn  hinzieht» 
während  das  Kinn  selbst  wie  die  Theile  um  den  Mund  rasiert  sind) 
steht  gelegentlich  im  Gegensatz  zum  1848er  Demokratenbart, 
dem  heute  allgemein  üblichen  sog.  Vollbart;  vgl.  Fontane,  Wande- 
rungen' 1,  462:  Lange  genug  habe  ich  einem  hochlöhlichen  Publicum 
gedient  und  einen  Philisterbart  getragen;  nun  will  ich  frei  sein  und 
einen  Demokraten  bart  tragen.  Philisterbrut  H.  Leo,  Volksbl.  f. 
St.  u.  L.  1856,  S.  821:  Bekehre  dich  ordentlich,  innerlich  in  Geist  und 
Wesen.,  theure  Philisterhrut  —  oder  laß  es  ganz  bleiben  —  aber 
mache   keinen  Seifenschaum  mit  bunten  Bilderchen  drin.,    und  vor  Allem 


BEMERKUNGEN  ZUM  DEUTSCHEN  WÖRTERBUCHE.  381 

mache  dir  nicht  weiß,  du  seist  auch  etwas,  wenn  du  dich  in  deyi  Seifen- 
blasen als  ein  leidliches  Kerlchen  ahspie()elst.  Philisterdasein  Scherer, 
Lit.- Gesch.  646:  Der  Klempnermeister  Konr.  Griihel  in  Nürnberg  hafte 
städtisches  Philisterdasein  poetisch  abgeschildert.  Philisterdumm 
gebraucht  Hoffmann  v.  Fallersleben,  Ged.  256;  ebenderselbe  auch 
PhiHstergeschmeiß   (Spitzkugeln  S.  30): 

Besser  du  stirbfit  für  eine  Idee,  als  daß  du  bewußtlos 
Lebst  in  den   Tag  hinein  wie  das  Philistergeschm ei ß. 
Ph  ilisterhaus.    Wer    denkt    nicht    an    G.  Schwabs    viel-gesungenes 
Lied:  Bemooster  Bursche  zieh   ich  aus, 

Behüi  dich  Gott,  Philisterhaus? 
Philisterhimmel  nennt  H.  Leo  imVolksbl.  f.  St.  u.  L.  1858,  S.  1069 
den    einem    Philister    erwünschten    Zustand:    zu    dv'sem.   l'hilister- 
h  im  m  e  l  wären  wir  sicher  angelangt !  Philisterjoch  Strachwitz,  Ged.  4 1 : 
Eh  ziüängt  der  Alaulivurf  in  sein  Loch 
Den  Adler  stolzbeschwingt, 
Eh  Philisterwitz  und  Philisterjoch 
Den  Dichternacken  zwingt. 
Philisterkanngießerei    bei   Jahn    1,  255    (Volksthum) :    Der    Ge- 
schichtschreiber,   wenn    er    nicht    Kindermärchen    schivatzen,    Philister- 
kanngießereien   auf  stutzen,    Altioeiberwäsche   putzen    loill,    ist    nichts 
ohne    Vaterland,   Volksthum    und   Muttersprache.    Philisterland.    Der 
aus  Börne    beigebrachte  Beleg    klingt    stark  an  eine  Stelle    des    viel- 
gesungenen Liedes  „0  alte  Burschenherrlichkeit"  an: 
Sie  zogeil  mit  gesenktem  Blick 
Sich  ins  Philisterland  zurück. 
Philisterlich  steht  in  der  Zusammensetzung  das  Unphilisterliche 
bei  Heine  7,  68  der  Campischen  Ausgabe  von   1887   (Deutschland  von 
Luther  bis  Kant).   Philisterlein  bei  Strachwitz,   Ged.   16: 
Kann  mir  nichts  die  Harfe  stimmen, 
Nicht  die  Liehe,  nicht  der   Wein, 
Sei's  das  zornige  Ergrimmen 
Über  die  Philisterlein. 
Philistermann  für  Philister  hat  Kopisch,  Ges.  W.   1,  247: 
Stirbt  im  Hansjochemwinkel  ein  Philistermann, 
Ins  Himmelreich  er  nicht  so  bald  gelangen  kann. 
Philistermoral:  die  gewöhnliche  hausbackene  Philistermoral.    Phi- 
listerpferd  {=^  Miethsgaul  oder  Ge wo h nhei tsthier)  ist  durch 
ein  wenig  bezeichnendes  Beispiel    aus  Kotzebue  belegt.    Vgl.  Gaudys 
Gedicht  „Führ  uns  nicht  in  Versuchung": 


382  Ä-  GOMBERT 

Da  stund  ich  wieder  an  der  Ecke  (nämlich  dem  Wein- 
haus gegenüber) 

Höchst  wunderbar!   Wie  kam  es  nur? 

Die  Beine  wollen  nicht  vom  Flecke, 
.  Recht  nach  Philisterpferds  Natur. 
Philisterrotte  bei  Strachwitz,  Ged.  61  (Recl.) :  Laßt  uns  zerbrechen 
die  Philisterrotte!  Philisterseele:  Was  kann  aus  so  platter  Phi- 
listerseele [Brockes]  Hohes  kommen?  Hettner,  D.  Litt.  3,  1,  342, 
Philisterschaden  bei  Eichen dorf,  Krieg  den  Philistern  161: 
Erhalt  der  Herr  euch  lang  erklecklich  dumm., 
Behüt  die  Blüthen  vor  Geschmeiß  und  Maden, 
Maifrösten,  Türken-  und  Philisterschaden. 
Ebd.  51 :  Philisterschaar  und  101:  Philisterfähnlein.  Philister- 
staaten. Novalis  2,  237  unterscheidet  genialische  und  Philister- 
Staaten.  Philisterunglück  nennt  H.  Leo  im  Volksbl.  f.  St.  u.  L. 
1857,  S.  774  ein  solches,  das  dem  ersten  besten  Philister  begegnen 
kann.  Philisterthum  ist  durch  das  etwas  phrasenhafte  Beispiel 
aus  Bettinas  Briefen  nicht  ausreichend  belegt.  Statt  vieler  Belege 
diene  einer  aus  Wienbargs  ästhetischen  Feldzügen  79  (1835):  Sie 
werden  entweder  die  Leibpoeten  des  Philisterthums ,  das  unmittelbar 
über  dem  Volk  lagert,  oder  sie  teer  den  die  Poeten  der  Gebildeten,  d.  h. 
verschiedener  unter  sich  streitiger  Cliquen,  icelche  die  gesellschaftlichen 
Culminationen  der  Macht,  des  Geistes,  der  Gelehrsamkeit  u.  s.  w.  repräsen- 
tieren, Philisterium  steht  wohl  wegen  seiner  lateinischen  Endung 
an  der  Grenze  der  Aufnahmefähigkeit,  doch  ist  es  einmal  in  studen- 
tischen Kreisen  häufig  gebraucht,  theils  als  sinnverwandt  mit  Phi- 
listerthum, theils  als  Sammelname  zur  Bezeichnung  der  Philister; 
vgl.  in  letzter  Bedeutung  H.  Leo,  Volksbl.  1857,  S.  774.  Ein  paar 
hundert  tolle  Excesse  von  müßig  gewordenen  Fabrikarbeitern  würden  unser 
süßes  deutsches  Philisterium  weit  rascher  wieder  ernüchtert  wid  zu 
einigem  Conservatismus  bekehrt  haben.  Philisterverstand  W.  Raabe, 
Deutscher  Adel  in  Westermanns  Monatsheften  1878,  November,  S.  162: 
Vögel  aus  demselben  Nest  der  Lebensharmlosigkeit,  nur  daß  den  einen 
sein  phantastisches  Gefieder  allzu  leicht  zu  hoch  über  den  gesunden  Men- 
schen- und  Philist  er  verstand  hinaustrug. 

Philisterweisheit:  Prinz  Zerbino  ist  gegen  die  hausbackene 
Avfklärungsmoral  und  Philist  er  lo  ei  sheit  gerichtet.  Hettner  Litgesch. 
3,  3,  2,  434.  Philister  weit  ist  verzeichnet,  doch  ohne  Beleg  ge- 
lassen; man  denkt  zunächst  an  die  bekannten  Zeilen  von  Klamer 
Schmidt: 


BEMERKUNGEN  ZUM  DEUTSCHEN  WÖRTER  BUCHE.  383 

Ich  Iahe  mich  lieber  an  Wein  und  am  Kuß, 

Bev(yr  ich  hinunter 

Ins  traurige  Reich  der  Philisterioelt  muß  (Hier 
sitz  ich  auf  Rosen  mit  Veilchen  bekränzt). 
Vgl.  auch  Wienbarg  Asth.  Feldz.  135  (1835):  In  dieser  roilsten  küsten- 
losen Litteratur,  in  welcher  die  Schriftsteller  ohne  Polarstern  schiffen  und 
ihre  großen  und  kleinen  Bären  nicht  am  Himmel,  sondern  in  der  Phi- 
listerwelt haben.  Philisterwitz:  Es  steht  mancher  Weise  in  Erz 
und  Bronze  auf  unseren  Märkten,  aber  Regenschauer,  Philisterwitz 
und  üble  Nachrede  gehen  an  keinem  von  ihnen,  so  inachtlos  vorüber  wie 
an  meinem  Freiind.  W.  Raabe,  Deutscher  Adel  a.  a.  O.  S.  2(S7.  Phi- 
listern (und  zwar  trans.,  also:  in  Piiilister weise  bebandeln) 
war  durch  das  bei  Sanders  und  Kehrein  stehende  Beispiel  aus  E.  M. 
Arndt  zu  belegen.  Phil  is  tri  eren  in  der  Bed.  zum  Philister 
(einer  studentischen  Vereinigung)  machen  ist  doch  wohl  seltener 
Sprachgebrauch;  ich  kenne  es  mehr  in  dem  intr,  Sinne:  sich  vom 
Verbindungswesen  fern  halten.  Philiströs  wechselt  mit 
philiströs;  letzteres  wird  von  H.  Leo  bevorzugt,  z.  B.  Volksbl.  f. 
St.  u.  L.  1856,  S.  548:  dies  geistig  armselige  und  philiströse  Lumpen- 
gesindel. Die  schlechte  Form  Philiströsität  aber  ist  doch  sicher 
weniger  üblich  als  das  übergangene  Philiströsität;  übrigens  wird 
man  leicht  zugeben,  daß  beide  fehlen  könnten. 

Philosoph  und  Philosophie  verdienten  eine  eingehendere 
Erklärung  als  ihnen  bei  Lexer  zu  Theil  wird ;  wenigstens  sollte  aus- 
drücklich an  den  eigenthUmlichen  Gebrauch  erinnert  werden,  den 
diese  Wörter  etwa  seit  der  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  erleiden. 
Dazu  genügte  schließlich  ein  Hinweis  auf  das  7.  Buch  von  Goethes 
Dichtung  und  Wahrheit,  Wke.  21,  57  (Henipel),  wo  v-on  dem  Gegen- 
satze des  sich  innerlialb  des  protestantischen  Theils  von  Deutschland 
und  der  Schweiz  lebhaft  regenden  sogenannten  Menschenverstandes 
einerseits  und  der  Schulphilosophie  anderseits  gesprochen  wird:  Man 
glaubte,  icenn  man  in  seiwm  Kreis  richtig  urtheile  und  handle,  sich  auch 
wohl  herausnehmen  zu  dürfen,  über  Anderes,  was  entfernter  lag,  mit- 
sprechen zu  dürfen.  Nach  einer  solchen  Vorstellung  war  nun  jeder  be- 
rechtiget, nicht  allein  zu  philosophieren,  sondern  sich  auch  nach  und 
nach  für  einen  Philosophen  zu  halten.  Die  Philosophie  loar  also  ein 
mehr  oder  iceniger  gesunder  und  geübter  .^fenschenver stand,  der  es  loagte 
ins  Allgemeine  zu  gehen  und  über  innere  und  äußere  Erfahrungen  abzu- 
sprechen ....und  so  fanden  sich  zidetzt  Philosophen  in  allen  Facul- 
täten,  ja  in  edlen  Ständen  und  Hantirungen.     Damit  werden  wir  in  die 


384  A-  GOMBERT 

Zeit  der  sogenannten  Popularphilosophen  geführt,  die  der  Gefahr 
nicht  entgingen  den  Begriff  der  Philosophie  zu  verflachen,  indem  sie 
gern  jede  von  den  überlieferten  Vorstellungen  freie  oder  sich  frei 
dünkende  Betrachtung  der  Dinge  als  philosophisch  bezeichneten 5 
man  vergleiche  nur  in  J.  J.  Engels  Philosophen  für  die  Welt  den 
Titel  des  Buches  mit  der  Mehrzahl  der  in  demselben  stehenden  Ab- 
handlungen. Goethe  selbst  bezeichnet  im  8.  Buch  a.  a.  O.  S.  99 
seinen  Gastfreund,  den  Dresdener  Schuster,  mit  gutmüthigem  Scherze 
als  praktischen  Philosophen  imd  bewußtlosen  Weltiveisen.  Wie  sich 
diese  Popularphilosophie  allmälig  überlebte  und  nicht  zum  wenigsten 
durch  das  absprechende  Wesen  Nicolais  an  Ansehen  verlor,  gehört 
freilich  nicht  ins  Wörterbuch ,  ließe  sich  aber  auch  ohne  große  Er- 
örterung an  einigen  wohlgewählten  Beispielen  klar  machen.  Philo- 
sophaster, ein  im  18.  Jhdt.  anscheinend  nicht  seltenes  Wort,  [Vgl. 
Kritikaster,  Poetaster,  Theologaster,  Medicaster,  letzteres 
in  Günthers  Lebensbeschreibung  76]  (1732)  gebraucht  Joh.  v.  Müller 
in  einem  Briefe  vom  12.  August  1770  (Wke.  29,  79  der  Ausg.  v. 
1831  ff,),  ferner  Wieland  Horazens  Sat.  "1,  33  (1786);  andere  Bei- 
spiele bringt  Kehrein  aus  Herder.  Verwandt  mit  dem  Philoso- 
p  ha  st  er  ist  der  Philosoph  ant,  den  Sanders  und  Kehrein  aus 
Lichtenberg  nachweisen;  desgl.  der  Philosophist,  den  Jean  Paul 
Hesperus  281  (Hpl)  vom  Philosophen  unterscheidet  {so  viele  Phi- 
losophen lind  Philosophisten).  Philos  ophis  tisieren  hat  No- 
valis 2,  177:  Das  Universalisieren  und  Philosophist isieren  eines 
specißschen  Begriffs  oder  Bildes  ist  nichts  als  ein  Ätherisieren^  ein  Ver- 
luftige)i,  Vergeistigen  eines  Specificums  oder  Individuums;  ebd.  2,  117 
auch  Philosophismus:  Philosophismus  ist  ein  höheres  Analogon 
des  Organismus;  der  Organismus  loird  durch  den  Philosophismus 
completiert  und  umgekehrt.  Philosophin.  Zu  dem  Beispiele  aus 
Zimmermanns  Einsamkeit  füge  man  ein  früheres  aus  Gellerts  Lust- 
spielen 130  (1748): 

Ihr  seid  gelehrt, 

Recht  sehr  gelehrt  in  allen  Sachen, 

Und  loollt  Lucinden  gern  zur  Philosophin  machen. 
Philosophenbart  bei  Wieland  Hör.  Sat.  %  73:  er  hat  natürlich 
auch  nach  Art  dieser  Leute  den  Philosophenhart  (sapientens  bar- 
bam);  vgl.  ebd.:  des  Stertinius,  eines  philosophischen  Marktschreiers, 
dem  sein  stoischer  Bart  und  Mantel  (s.  später  Philosophen- 
mantel) ...  eine  Art  von  Becht  gaben;  kürzer  zu  Horaz  Sat.  1,  3, 
133:  [der  stoische  Tugendschwätzer]  hat  natürlich  auch  nach  Art  jener 


BEMERKUNGEN  ZUM  DEUTSCHEN  WÖRTERBUCHE.  385 

Leute  den  Philosophen  hart.  Vgl.  Friedländer  Sittengesch.  Roms  3, 
559  (1871):  ein  langer  Bart,  hinanfgezogeite  Augenbrauen,  ein  grober 
Mantel  und  hloße  Füße  seien  einem  genug,  vm  sich  für  weise,  mannhaft 
und  gerecht  auszugeben.  Philosophenbraten:  Eine  am  Spieß  gebratene 
und  mit  Petersilie  bedeckte  Hammelbrust  ist  ebenfalls  kein  verächtliches 
Gericht:  es  ist  dies  der  sogenannte  Philosophenbraten.  La  Reyiiiere 
Küchenkalender,  übersetzt  und  herausg.  v.  Habs  (Reclain).  Philo- 
sophenkönig bei  Gregorovius  Athenais  121.  Philosophenkaiser 
bei  Friedländer  a.  a.  O.  zur  Bezeichnung  des  Kaisers  Julian.  Der 
Philosophenmantel  wird  im  Altertiium  und  dem  entsprechend 
auch  häufig  in  deutschen  Schriften  erwähnt,  thcils  im  eigentlichen 
Sinne,  theils  übertragen.     Vgl.  Poesie  der  Franken   1,  215  (1730): 

Hiermit  ließ  er  die  guten  Alten 

Die  Philosophenmäntel  falten. 
Wir  finden  diesen  Ausdruck  desgleichen  in  einem  docli  für  weitere 
Kreise  berechneten  Buche,  das  im  Jahre  1786  zu  Breslau  unter  dem 
Titel  Liebe  und  Ehe  in  der  Narrenkappe  und  im  Philoso jjhenm an  tel 
erschien  (s.  Verzeichn.  des  antiq.  Bücherlagere  von  K.  Th.  Völcker 
141,  Nr.  67).  Daß  auch  in  unseren  Tagen  der  Ausdruck  als  allge- 
mein bekannt  vorausgesetzt  wird,  sehen  wir  aus  den  Grenzboten,  Jahrg. 
1887,  Nr.  52,  S.  635,  wo  eine  Abtheilung  von  Gedichten  Albert  Gehrkes 
die  zusammenfassend'^  Überschrift:  Im  Prophetenmantel  trägt. 
Arndt  Geist  der  Zeit  ^1,  46  (1807):  Selbst  die  Theologie  ließ  sich  so 
weit  hei^ab,  den  Philosophenmantel  umzunehmen;  nun  ward  sie  be- 
thört, und  die  Philosophie  stutzte  und  zierte  und  glättete  an  ihr,  so  lange 
es  eticas  zu  stutzen,  zu  zieren  und  zu  glätten  gab.  Friedländer  a.  a.  O. 
602:  Ist  es  erforderlich,  daß  tausend  Bänke  aufgestellt,  Zuhörer  einge- 
laden werden,  daß  du  in  eleganter  Kleidung  oder  im  schäbigen  Philo- 
so phenmänt  eichen  auf  das  Katheder  trittst  und  den  Tod  AchiUs  be- 
schreibst? Vgl.  ebd.  569:  Die  Gegner  ließen  es  sich  nicht  nehmen.,  gerade 
auf  den  Lebensioandel  dieser  bloßen  Bart-  und  Mantelphilosophen 
hinzuweisen,  um  die  Unfruchtbarkeit  der  Philosophie  Jür  sittliche  Ver- 
vollkommnung darzuthun.  Wieland  Agathon  10,  3  (Sämmtl.  Wke.  2, 
273  der  kl.  Ausg.  von  1794  fF.) :  Alan  mußte  Metaphysik  in  geometri- 
schen Ausdrücken  reden,  um  sich  dem  Fürsten  angenehm,  zu  machen.  Man 
trug  also  am  ganzen  Hofe  keine  andere  als  philosophische  Mäntel. 
Frkf.  Gel.  Anz.  1,  147  (1772):  So  rathe  ich  keinem  Dichter,  in  dem 
Mantel  der  Philos ophen  aufzutreten,  dessen  Löcher  so  vielen  ärgei'- 
lich  an  denjenigen  sind,  die  keinen  besseren  Mantel  haben  U7id  ihn  aus 
Caprice  auf  einige  Stunden  von  sich  legen,    um    zu   sehen,    wie    sie    der 


386  A.  GOMBERT 

andere  kleidet  und  wie  weit  er  ihnen  reicht.  Philosophenbart  und 
Philosophenmantel  findet  man  auch  in  mehreren  deutsch -latein, 
Wörterbüchern,  wie  von  Georges.  Philosophenmaske  bei  Fried- 
länder a.  a.  O.  573:  dies  bequeme  und  einträgliche  Bettlerlehen,  das 
ihnen  zugleich  die  Möglichkeit  gewährte,  unter  der  Philosophenmaske 
iliren  hestialen  N'-igungen  zu,  fröhnen;  ebd.  561,  577  u.  oft,  übrigens 
schon  viel  früher,  Philo s  ophen schule,  559:  Philosophentracht. 
Philosophensecte  bei  Seume  8,  200  (Weinlese):  Professor  und 
Verfechter  einer  Philo sophe7isecte.  Philoso phenthum  bei  Gre- 
gorovius  Athenais  80:  fakirhaftes  Mönchthnm  und  das  Bettelphiloso- 
ph enth  um   Griechen  lands. 

Phiole  wird  einfach    als    kugelförmige  Glasflasche   mit   langem 
Halse    bezeichnet.     Es    wäre   hinzuzufügen,    daß    nach    dem  heutigen 
Sprachgebrauche    das  Wort    ein    ungewöhnliches    und    vornehmes   ge- 
worden ist,  daher,  so  viel  ich  weiß,    nicht  zur  Bezeichnung  von  all- 
täglichen Gebrauchsgeräthen    verwendet    wird ,    sollten    sie    auch    der 
sonst   richtig  von  Lexer   gegebenen    Begriffsbestimmung    entsprechen ; 
man   versteht   vielmehr    unter    der    Phiole    die   in    der    angegebenen 
Weise    gestaltete    Glas f lasche    des    Chemikers,    der  ja   dem  ge- 
wöhnlichen Sterblichen    leicht  wie    ein    Hexenmeister    erscheint,    oder 
ein  als  Heiligthum    gezeigtes    oder   kirchlichem    Gebrauche    dienendes 
Gefäß.     Hierzu    stimmen    die    von    Lexer    gegebenen    drei    Beispiele, 
denen  noch  beizufügen  wären  zunächst  die  schon  von  Kehrein  ange- 
führte Stelle  aus  Faust  2.  Theil  (Hempel,  13,  69): 
/Schon  in  der  innersten  Phiole 
Erglüht  es  wie  lebendge  Kohle; 
ferner  aus  Lenaus  Faust  (S.  386  der  Gesammtausgabe  von  Barthel) : 
Er  riefs  und  hatte  mit  den  Worten 
Phiolen,  Flaschen  und  Retorten 
Zerschmettert  schnell  in  tausend  Scherben. 
Diese  Scherben  heißen  zum  Überfluß  ebd.  385 

die  Splitter 
Vom  alchymist' sehen  Apparat. 
Und  wenn  Rückert  in  dem  von  Sanders  gebotenen  Beispiele  aus  den 
Makamen  eine  Trinkflasche  als  Phiole  bezeichnet,  so  mag  dies  der 
morgenländischen  Einkleidung  zuliebe  geschehen  sein,  wird  aber  wohl 
eher  eine  durch  das  vorhergehende  Reirawort  Viole  nahe  gelegte 
unübliche  Verwendung  des  Wortes  Phiole  sein,  wie  dergleichen  bei 
Rückert  häufig  zu  finden  ist.  Dahn,  im  Kampf  um  Rom  ^1,  277,  ver- 
wendet bei  der  Schilderung  eines  Gastmahls  und  Trinkgelages  wieder 


BEMERKUNGEN  ZUM  DEUTSCH KN  WÖRTERRICflK.  ;}87 

die  ursprüngliche  griech.  Form  Filiale,  ich  denke,  weil  ihm  die 
Phiole  zu  alchymistisch,  apothekerhaft  oder  kirchlich  vorkam:  Laji 
die  Amphora  hereinbringen ;  dazu  die  Phialru  von  rjelheni  Bernslein. 
Hedio  in  der  Übersetzung  von  Baptista  Piatinas  Papstgeschichte  32* 
(1546)   hat  Phiel:  ein  guldin  Phiel  odei'  schal. 

Phlegmatiker  und  phlegmatisch  werden  erst  aus  Kants 
Anthropolo2;ie  belegt.  Wann  ersteres  Wort  aufgekommen  ist,  weilJ  ich 
nicht,  will  aber  doch  bemerken,  daß  die  lateinische  Form  ])hleg- 
maticus,  die  ja  noch  heute  neben  Phlegmatiker  gebraucht  wird, 
schon  von  Sim.  Roth  (1572)  als  Fremdwort  aufgenommen  und  erklärt 
ist:  ein  rotziger,  pfntziger,  tostiger  mensch.  Phlegmatisch  aber  im 
Sinne  der  alten  Anthropologie  ist  schon  im  IG.  Jhdt.  ganz  gewöhn- 
lich, z.B.  1532  bei  Fries,  Spiegel  der  Arznei  106:  von  ßigmaiischan 
Unwillen  [Übelkeit];  Sebiz  vom  Feldbau  233  (1580):  die  Phlegma- 
tische tuid  Wasser  ige  feucht  igkegf.  ebd.  p  hlegvidf  ische  heulen;  auß 
Vermischung  des  phlegmatischen  und  Biliosi  gehlüts.  New  Distülir- 
buch  2*  u.  ö*»  (Fkft.  1597):  ein  rohe  ungedäioete  Flegmatische  feuchte; 
ebd.  3^^:  die  Flegmatische  vngeschviackte  wässerigkeif.  Cureus  Schles. 
Chron.  übers,  v.  Rättel  2,  50  (1585):  die  Pituita  und  Flegmatische 
Materi.  Im  übertragenen  Sinne  habe  ich  mir  phlegmatisch  erst  aus 
Abbt  Liebe  zum  Vaterlande  (1761),  Vermischte  Werke  2,  47  der  Ausg. 
von  1770  angemerkt:  Wir  werden  Stützen  des  Vaterlandes  durch  unsern 
Fall,  anstatt  demselben  durch  unsere  phlegmatisJie  Lage  zur  Last  zu 
gereichen. 

Pho  s  p  hör  in  der  Bed.  Morgenstern  findet  sich  vor  Fr.  ]\Iüller 
bei  Uz   1,  50  (Ausg.  v.  1768): 

Wie  Phosphor  glänzt,  der  um  den  Morgenthau 
Aus   Thetis  Armen  sich  entziehet, 
Und  ans  gestirnte  Blau 

Mit  heitrem  Lächeln  tritt  und  vom  Olympe  stehet. 
In  Phosphor  wird  die  Abstammung  nicht  mehr  gefühlt,  und  so  bildet 
man  auch  Phosphorlicht: 

JJilnste,  mein  Junge,  nur  Phosphorlicht, 
Vermoderte   Quallen  und  Schnecken. 

A.  V.  Droste  HülshofF  1,  247. 
Ihr  [der  Sterne]  Phosphorlicht  ivandelt  die  grünliche  Fläche  des  uner- 
meßlichen Ocaans  in  ein  Feuermeer  um  Humboldt,  Ans.  der  Natur  175 
(kl.  Ausg.  V.  1871);  ebd.  139:  zahllose  Insecten  gössen  ihr  röthliches 
Phosphorlicht  über  die  krautbedeckte  Erde.  ebd.  204:  ein  sihicaches 
Phosphor  licht.    Vgl.   auch   in   Alfr.  Meißners  Gedicht  Venezia:    du 


388  A-  GOMBERT 

blasser  Phosphorschimmer.  Phosphorisch  wird  aus  Wielands 
Cielia  (1783)  belegt;  etwas  früher  sehen  wir  es  bei  Kant  in  Engels 
Philosophen  für  d.  Welt  2,  151  (1777):  die  Ausdünstung  des  phos- 
porisch  Sauren,  wornach  alle  Neger  stinken,  ebd.  156.  Auch  wäre 
ein  Beispiel  aus  Goethe  11,  1,  260  (Hempel)  vom  J.  1821  (Theater- 
reden) beizubringen: 

Und  unter  dem  Kopfschmuck  pho sphärischer  Schlangen 
Weiß  glühen  die  Augen  mid.  rothhravn  die  Wangen. 
Gephosphortes    Wasserstoffgas  Humboldt,  Ans.  d.  Natur  216. 

Phrase.  Zu  den  geschraubten  Phrasen  (Platen)  wären  auch  die 
gewundenen  Phrasen  anzuführen,  z.  B.  aus  Goethe  13,  22  (Faust, 
2.  Theil);  ferner  Phrasen  drehen  und  Phrasen  drechseln.,  auch 
Phrasendrechsler ;  die  geschwollene  Phrase,  z.  B.  bei  Geibel  Ged. 
u.  Gedenkbl.  103: 

Wann  der  Verfall  anhebt?   Wenn  die  Zeit  die  geschwollene  Phrase 
Von  des  empfundenen  Worts  Fülle  zu  scheiden  verlernt. 
Dazu    gehört    denn    die    nicht    seltene    Zusammensetzung    Phrasen- 
schwall,     Phrasenflor    Goethe    2,    382    Hempel    (Zahme    Xenien 
5.  Abth.) :  So  zerret  Lesers  dürftig  Ohr 

Mit  vielgequirltem  Phrasen-  Flor. 
Von  weiteren  übergangenen  Zusammensetzungen  seien  genannt  Phra- 
sengewebe Vilmar  Litgesch.  ^^444:  Nocli  länger  bekannt  und  beliebt 
ivar  das  Phrasengewebe:  die  Fürstengruft;  Phrasenheld  Vilmar 
Schulreden  ^217  (aus  d.  J.  1845);  Phrasenherrschaft  ebd.  336 
(1849):  die  Begriffs-  und  Phrasenherrschaft  hat  zu  einer  Trägheit 
und  Feigheit  geführt,  die  noch  nie  in  >o  auffallenden  Formen  hervoi^- 
getreten  ist,  wie  in  unserer  neuesten  Zeit;  ebd.  337  wird  der  Ausdruck 
wiederholt ;  S.  335  dafür  Phrasendespotismus:  die  Begriffe  werden 
zu  Phrasen,  und  die  Begriffsherrschaft  wird  zum  Phrasendespotis- 
mus'., Phrasentausch  H.  Leo,  Gedankenspäne  115:  den  Dingen, 
vor  allen  Dingen  den  Persönlichkeiten  und  deren  Handlungen  fest  auf 
die  Nähte  zu  fühlen,  haben  xvir  uns  in  diesem  öden  langioeiligen  Traum- 
leben unseres  Phrasentausches,  den  ivir  Unterhaltung  und  Belehrung 
nennen,  fast  ganz  entwöhnt.  Phraseologie  ist  übergangen.  Im  Jahre 
1610  gab  J.  R.  Sattler  zu  Basel  seine  Teutsche  Orthographey  und 
Phraseologey  heraus.  Seit  wann  das  Wort  auch  im  tadelnden 
Sinne  gebraucht  wird,  habe  ich  nicht  angemerkt;  ein  Beispiel  aus 
dem  Jahre  1790  gäbe  J.  G.  Müller,  Herr  Thomas  2,  379:  also  konnten 
seine  Lieder  nicht  viel  mehr  enthalten  als  Gemeinplätze  und  abgenutzte 
erotische  Phraseologie;    ebd.  4,  353   (1791):    er  erschöpfte  seine  ganze 


BEMERKUNGEN  ZUM  DEUTSCHEN  WÖRTERBUCHE.  389 

poetische  Phraseologie.  Bekannter  ist  Platens  Vers  aus  der  Gabel 
(Werke  4,  30  der  Ausg.  von  1854):  Phraseologie,  die  im  Kopfe  mir 
hlv'h  ans  einem  TragödienrUhrei.  Phraseologisch  steht  1719  in  Math. 
Krämers  Nider-Hoch-Teutsehen  Wörterbuche,  Vorrede,  Bl.  V' -.  gute 
phraseologische  Dictiojiarien  und  ebd.  3":  ohnn  Nachtheil  der  zu 
einem  rechtschaffenen  phraseol og  isch  en  Lexico  ei'fonlerten  Vullstäiidigkeit. 

Physik.  Auf  Wolframs  fisike  folgt  sogleicli  ein  Beispiel  aus 
Kant,  während  man  doch  einige  Belege  aus  den  zwischenliegenden 
Jahrhunderten  wünschte.  Für  das  16.  Jhdt.  wäre  auf  den  doch  häufig 
von  Lexer  angezogenen  S.  Roth  zu  verweisen:  Physic  Wisticn  nid 
kiuist  oder  verstandt  der  natürlichen  dingen\  dann  etwa  auf  Pistorius 
Anatomie  Lutheri  3,  47  (1593):  Daß  Luther  ein  grober  Saw  Theologtis 
ist  und  in  seiner  Theologia  allzeit  seicische  Physich  vnd  stinckemlen 
Mist  vnderfnischen  muß.  Physisch  (belegt  aus  dem  Jahre  1664)  steht 
1593  in  Seb.  Helbers  Syllabierbüchlein  16,  28;  ein  zusammenhängendes 
Beispiel  bietet  Harsdörffer  in  dem  von  ihm  verfaßten  3.  Theil  von 
D.  Schwenters  Mathematischen  und  Philosophischen  Erquickstunden 
S..  227  (1653):  Diese  Strahlen  aber  sind  keine  Mathematische  und  künst- 
liche, sondern  vielmehr  Physische  und  natürliche  Linien. 

Physiognomik.  Die  gegebene  umfassende  Erklärung  wird 
leider  durch  das  Beispiel  aus  Kant  getrübt,  welcher  nur  den  Menschen 
ins  Auge  faßt;  längst  aber  redet  man  doch  auch  von  einer  Physio- 
gnomik der  Gewächse,  wie  ja  in  Humboldts  Ansichten  der  Natur 
ein  Abschnitt  sich  als  Idee7i  zu  einer  Physiognomik  der  Gewächse  be- 
zeichnet (S.  173  ff.  der  kleinen  Ausgabe  von  1871);  ebd.  155:  auf- 
fallend sind  in  altcastilischen  Idiomen  die  melen  Ausdrücke  für  die 
Physio gnomik  der  Gebirgsmassen ,  für  diejenigen  ihrer  Gestaltungen, 
welche  unter  allen  Himmelsstrichen  loiederkehren  und  schon  in  weifer  Ferne 
die  Natur  des  Gesteins  ojfenbaren.  liehen  dem  Physiogn o misten  ver- 
diente auch  der  Physiognomiker  Aufnahme;  letzteres  Wort  ist  heute 
sogar  das  üblichere.  Das  Wort  wurde  wohl  durch  Lavatcrs  bezügliche 
Schriften  (seit  1772  und  besonders,  seit  1775)  üblich.  Vgl.  auch 
H.  P.  Sturz '^  2,  205;  wir  sind  Alle,  mehr  oder  iveniger,  empirische 
Physiognomiker. 

Piano  als  Adv.  (Bürger)  kommt  schon  1702  vor  bei  Thomasius, 
Auserlesene  Sehr.  2,  36  (Ausgabe  von  1714):  So  lange  fridericus  Sapiens 
und  Spalatinus  Luthers  allzu  hitzigen  Eyfer  mit  Glimpff  supprimierten, 
vnd  der  Churfürst  Gott  reformieren  und  alles  fein  piano  gehen  ließen, 
ivenngleich  Luther  noch  so  sehr  scholt. 


390  A.  GOMBERT 

Pi  chel  (als  Geiferläppchen  kleiner  Kinder)  zeigt  auch  die  Weiter- 
bildung Pichelschürze,  d.  h.  Latzschürze,  nur  daß  die  Pichel- 
schürze ebensogut  von  Erwachsenen  getragen  wird  und  in  unserer 
Zeit  überhaupt  die  gewöhnliche  Form  der  Schürzen  ist.  Das  Wort  gilt 
für  berlinisch,  gilt  aber  jetzt  auch  anderswo  und  wird  wohl  in  ganz 
Norddeutschland  verstanden. 

Pichelei  wird  von  Lexer  mit  Sanders  nur  im  Sinne  von  Sau- 
ferei gefaßt  und  durch  eine  Stelle  aus  der  Karschin  belegt.  Ich  habe 
schon  im  Jahre  1877  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  die  mir  damals 
nur  aus  Sanders  bekannte  Stelle  keinen  Sinn  gäbe,  wenn  mau  sie  auf 
das  Trinken  bezöge,  daß  sie  vielmehr  auf  harte  Arbeit  ginge,  wozu 
ich  auch  picheln  ::=  schwer  arbeiten  aus  Butschkys  persianischem 
Rosenthal    anführte.     Genaue  Einsicht   in   die    genannte  Stelle    nimmt 
jeden  Zweifel  an  meiner    damaligen  Behauptung.    In  dem  bezüglichen 
Gedichte  (Schlesisches  Bauerngespräch,  Gedichte  von  Luise  Karschin, 
Berlin  1792  [Titelauflage  von  1797],  S.  376—388)  schildert  Bauer  Hans 
S.  380  und  381   sein  einfaches  Tagewerk   vom   frühen  Morgen  an,  gibt 
dabei  an,  wie  seine  Frau  zuerst  das  Bette  verläßt  und  fährt  dann  fort: 
Ich.  fahr  ihr  huriig  nach,  und  bet  a  Morgen- Seegen, 
So  kurz  als  möglich  iß;  denn  unser s  Herr-Goots  wegen 
Verioendt  man  nicht  viel  Zeit.    Verzeih  mirs  Gott!  icir  seyn 
Zum  Flegel  nur  gemacht  und  zu  den  Picheleyn. 
Der  Bauer   sagt   also   ganz   einfach,    daß  er  bei  seiner  harten  Arbeit 
keine  Zeit  zu  einer  längeren  Morgenandacht  habe;  er  wirft  nun  einen 
Seitenblick   auf  den  Städter,    der    wohl  den  Schein  der  Frömmigkeit 
annehme,  dabei  jedoch  an  seinen  Wucher    denke,    und  kehrt  schließ- 
lich zu  sich  zurück: 

Wir  Bauersleute  thun,  loas  unsre   Väter  thaten : 
Wir  beten  kurz  und  gut  und  geh?!  zur  Arbeit  hin. 
Das  Mißverständniß  der  Stelle  rührt  wohl  daher,    daß   Lexer  sie  auf 
Treu  und  Glauben  aus  dem  Wörterbuche  von  Sanders  entnahm;  dar- 
auf  deutet    auch    die    nach  Sanders    gegebene  Abtheilung   der  Zeilen, 
aus  der  die  Alexandriner  der  Karschin  nicht  zu  erkennen  sind. 

Pickel  in  der  Bed.  Eiter bläschen  auf  der  Haut,  Blatter 
wird  ganz  übergangen,  während  es  doch  wenigstens  in  ganz  Nord- 
deutschland ein  alltägliches  Wort  ist  und  außer  dem  Adj.  pick(e)lig 
in  mancherlei  Zusammensetzungen  auftritt.  Fontane  Wanderungen 
4,  345  erzählt  vom  alten  Schade w,  daß  zwei  in  Wachsmasse  aus- 
geführte Modellfiguren  in  der  Nähe  des  warmen  Ofens,  weil  das  Wachs 
an  der  Oberfläche    schmolz,    eine    wie   mit  Pickeln    übersäete  Haut 


BEMERKUNGEN  ZUM  DEUTSCHEN  WÖRTERBUCHE.  ;i91 

bekommen  hätten.  Ein  Tausendkünstler  will  den  Schaden  beseitigen, 
führt  dies  aber  so  mangelhaft  aus,  daß  Schadow  sagt  (a.  a.  0.  346): 
Ja,  die  Pickeln  sind  wea ,  aber  die  Pelle  ooch.  Pickel  als  eine  Art 
Kraftwort  zur  Bezeichnung  eines  festen,  seiner  Arbeit  gewachsenen 
Mannes  wird  aus  Schöpf,  tirol.  Idiot  belegt.  In  Norddeutschland  habe 
ich  diese  Anwendung  des  Wortes  nie  gehört;  daß  sie  im  Süden  auch 
aul>erhalb  Tirols  vorkommt,  sieht  man  aus  J.  Gotthelf,  Ges.  Sehr. 
20,  175  (Berlin  1861.  Käserei  i.  d.  Vehfr.):  Das  ist  ein  Buch,  das  ist 
eins!  Das  muß  Einer  sein,  ders  geschrieben  hat,  e  ganze  Kerli,  e  ver- 
buchte Pickel!  Pickel  hart  wird  nur  aus  Wörterbüchern  belegt; 
vgl.  darum  Berlepsch,  Alpen*  407  (1871):  u-enn  drunten  im  'Thal  Alles 
picke l hart  gefroren  ist.  Pickelhaube.  Es  wird  richtig  angegeben, 
wie  das  Wort  allmälig  seine  Bedeutung  gewechselt  hat  und  heute 
fast  ausschließlich  den  metallbeschlagenen  und  mit  einer  Spitze  ver- 
sehenen Helm  bezeichnet.  Man  vermißt  aber  einen  bestimmten  Hin- 
weis darauf,  daß  seit  der  Einführung  des  griechischem  Vorbilde  ent- 
lehnten mit  der  Spitze  versehenen  Helmes  durch  König  Friedrich  Wil- 
helm IV.  das  Wort  Pickelhaube  nicht  bloß  stehende  Bezeichnung 
des  preußischen  Helmes,  sondern  auch  der  preußischen  Heeres-  und 
Staatsmacht  geworden  ist.  Bei  den  Wahlen  zum  Zollparlament  (1867) 
wurde  in  süddeutschen  ultramontanen  Blättern  die  schreckliche  An- 
klage erhoben ,  man  wolle  in  Berlin  ganz  Deutschland  unter  die 
Pickelhaube  bringen.  Gleichmüthiger  empfand  man  es,  daß  vor 
nicht  langer  Zeit  durch  Abschaffung  des  sogenannten  historischen 
Raupenhelmes  und  die  Einführung  des  preußischen  auch  Baiern  unter 
die  Pickelhatihe  gebracht  wurde.  Für  die  von  Lexer  erwähnte  unrichtige 
Ableitung,  nach  der  man  unter  Pickel  so  viel  wie  Spitze  verstand 
und  versteht,  bietet  H.  Heine,  Deutschland,  Cap.  3,  ein  bezeichnendes 
Beispiel : 

Nicht  übel  gefiel  mir  das  neue  Kostüm  Ja,  ja,  der  Helm  gefällt  mir,  er  zeugt 
Der  Reiter,  das  muß  ich  loben,  Vom  allerhöchsten   '[Vitze ! 

Besonders    die  Pickelhaube,    den      Ein  königlicher   Einfall  wars! 

Helm  Es  fehlt  nicht  die  Pointe,  die  Sp  itze ! 

Mit  der  stählernen  Spitze  nach  oben. 

Nach  dem  Gesagten  bedeutet  Pickelhaube  natürlich  auch  den  Helm 
der  preußischen  Polizei  und  den  Polizeibeamten  selber;  vgl.  Raabe, 
Deutscher  Adel  in  Westermanns  Monatsheften,  Dez.  1878,  S.  311": 
Ist  das  eine  Polizei!  Keine  Pickelhaube  zu  sehen,  so  iceit  das  Auge 
tmd  der  Tumidt  reicht.  Pickel  st  ein  wird  als  gefrorner  Erden- 
kloß   bezeichnet;    besser  ist  die  Erklärung  Jahns  1,  536:    Erde,    die 


392 


A.  OOMBERT 


steinhart  mit  scharfen  Spitzen  gefroren  ist.  Übrigens  gebraucht  man 
das  Wort,  wie  Danneil  an  der  von  Lexer  angezogenen  Stelle  bemerkt, 
kaum  anders  als  in  der  Wendung:  es  friert  Pickelsteine.  Vgl.  Jahn 
1,  478:  Biermährte  ißt  man  in  den  Hundstagen;  loenn  es  Pickelsteine 
friert,  kann  man  sie  nicht  gebrauchen.  Pickelstock  wird  nur  im 
Sinne  von  Pickel  =  Spitzhacke  aus  Rädlein  beigebracht,  be- 
deutet aber  auch  den  mit  metallener  Spitze  versehenen  Wanderstock; 
vgl  Hoffmann  v.  Fallersieben  Ged.^  298: 
Ein  Paar  gute  Sohlen  Ein  Paar  weite  Hosen 

Und  ein  heiler  Rock,  Und  ein  Pickelstock, 

Dichtes   Wachstuch  überm  Hut 
Ist  in   Wind  und   Wetter  g%it. 

Picker  steht  bei  Lexer  nur  im  Sinne  von  Pickenarbeiter 
und  von  dem  Vogel  Steinhauer  oder  Steinpicker.  Schottel  jedoch 
334"  führt  den  Pick  er  an  als  denjenigen,  der  seinen  Nutz  von  eines 
Anderen  Abgang  und  Schaden  suchet,  und  ebenda:  Pikken,  abpikken 
das  ist  jhm  vortheilhaftig  zuheimschen.  Pieken  ist  in  Norddeutschland, 
besonders  im  .Brandenburgischen,  das  gewöhnliche  Haus-  und  Kinder- 
wort für  stechen  (nd.  peken)  und  wird  von  picken  bestimmt 
unterschieden.  Floh  und  Nadel  pieken;  letztere  heißt  daher  auch  in 
der  Kindersprache  die  Pieknadel,  so  daß  diese  Bezeichnung  nicht 
etwa  auf  die  Stecknadel  beschränkt  ist.  Vgl.  auch  Kopisch,  Ges. 
Sehr.  2,  231: 

Wird  dir  hei  Nacht  die  Ruhe  gerauht  durch  hüpfender  Flöhe 
Piekende  Schar  und  sanft  anschleichende   Wanzen. 
Piekentief  (übergangen)  führt  Campe  nach  Frisch  2,  59"  als  gleich- 
bedeutend mit  zwei  Klafter  tief  an.     Denselben  Sinn  hat  offenbar 
das  in  Bessers  Schriften   1,   198  der  Ausgabe  von   1732  vorkommende 
Picken-hoch: 

Bey  Landen  hat  es  Carln,  o  strenge  Schlacht  hey  Landen! 

Viel  eher  an   Geschütz,  als   Gegemoehr  gefehlt, 

Der  mit  dem  Degen  nur,  als  mehr  kein  Kraut  vorhanden, 

Die  Feinde  Picken-hoch  dem  Tode  zugezehlt. 
Erwähnt  sei  auch  das  aus  dem  Osten  Deutschlands  weiter  gedrungene 
piekfein  (auch  pick  fein),  das  im  Munde  von  Handlungsreisenden 
und  sonst  in  gewöhnlicher  Rede  eine  sehr  übliche  Verstärkung  von 
fein  bedeutet.  Es  hängt  schwerlich  mit  der  Pieke  oder  Spitze  zu- 
sammen (obgleich  es  auch  ein  nadelfein,  nähnadelfein  gibt); 
der  erste  Theil  wird  das  polnische  piekny  (=^  schön)  sein,  so  daß 
piekfein  denselben  Begriff  doppelt  ausdrückt,  vgl.  Guerillakrieg 


BEMERKUNGEN  ZUM  DEUTSCHEN  WÖRTERBUCHE.  393 

imd  ähnliche  Bildungen.  Dem  piekfein  ganz  nahe  steht  wienerisch 
pieksüß  (picksüß);  vgl.'  Pötzl,  Rund  um  den  Stephansthurm  111 
fReclam,  Universalbibl.  2-iIl,  2412)  •.  der  Vogel  singt  Ihna,  daß  d'Leiif 
<iuf  der  Gass'n  stehen  hleih'n.  Aiifn  ganzen  Ginind  nennens'n  mir  'spick- 
.«üße  Hölzel  [Nach  Pötzl  ein  Dialectwort  für  die  Clarinette  ]  An  den 
ebenfalls  übergangenen  Piek  seh  litten  will  ich  hier  nur  erinnern, 
um  das  Wort  als  ein  allgemein  norddeutsches  in  Anspruch  zu  nehmen, 
das  auch  Sanders  verzeichnet,  während  die  Anführung  bei  Frischbier 
den  Gedanken  erwecken  könnte,  als  sei  es  auf  die  Provinz  Preußen 
beschränkt. 

Piepbock  (eigentlich  piepender  Bock)  als  passende  Bezeich- 
nung des  Dudelsacks  oder  der  Sackpfeife  finde  ich  nur  bei 
Sachs- Villatte  2,  1327^  während  das  Wort  doch  Avohl  in  weiten  Stri- 
chen Norddeutschlands  nicht  bloß  volksmäßig  (nd.  in  der  Form 
Pibuck)  für  Dudelsack,  sondern  auch  verächtlich  für  andere  Ton- 
geräthe,  so  insbesondere  für  ein  schlechtes  sog.  Positiv  gebraucht 
wird.  Adektng,  Campe,  Heyse  bringen  für  Sackpfeife  die  Bezeichnung 
Piep  sack.  Der  Piepbock  erscheint  selten  in  Druckwerken;  einen 
Beleg  bietet  die  Schles.  Zeitung  vom  23.  October  18b5,  Nr.  743  in 
einem  von  einem  Ungenannten  aus  dem  Französischen  übersetzten 
Roman:  JJer  Dudelsackpfeifer  gab,  seinen  Pipbock  aif blasend,  dos 
Zeichen  zum  Aufbruch. 

Piephahn  kommt  in  der  ersten  von  Lexer  angegebenen  Be- 
deutung kaum  noch  vor,  desto  mehr  norddeutsch  in  der  zweiten, 
und  darum  wird  das  Wort  überhaupt  in  anständiger  Rede  ganz  ge- 
mieden. Ein  Beispiel  für  die  erste  Bedeutung  bietet  Joh.  Helwig, 
Nymphe  Noris  bei  Gödeke  Elf  Bücher  deutscher  Dichtung  1,  34b'': 
es  gottert  und  klottert  und  schlottert 
Der  Piphan  für  Stoliz. 
!\Iit  dem  P.  ist  hier  nach  den  lautmalenden  Zeitwörtern  der  Truthahn 
gemeint;  man  vergleiche  auch  das  von  Lexer  nicht  verzeichnete  Wort 
Piephenne  bei  HarsdörfFer,  Frauenz.£Gespr.  5,  469  (1645):  Dalier 
hat  jener  eine  Pipphenne,  deme  [lies  dtr^  eine  Hand  ein  rothes  Tuch 
vorhält,  in  einem  Siniibild  vorgeführt  mit  diesen  Worten:  der  Wahn  be- 
trügt. Weil  besagter  Vogel  über  die  rothe  Farbe,  die  ihn  doch  nicht  be- 
leidiget, zörnet.  Piepmatz  wird  nur  aus  Albrechts  Buch  über  die 
Leipziger  Mundart  beigebracht,  ist  aber,  so  weit  meine  Kenntniß 
reicht,  überall  in  Norddeutschland  Bezeichnung  eines  kleinen  Vogels 
(in  Berlin  insbesondere  des  Haussperlings)  oder  eines  kleinen,  ängst- 
lichen oder  weinerlichen  Kindes,  das  man  ja  auch  Vögelchen  nennt. 

GEUMANIA.    Neue  Keihc  XXII.  (XXXIV.)  Jahrg.  26 


394  ^-  GOMBERT 

Piepmeier  (übergangen)  war  in  den  Jahren  1848 — 1850  ein  hcäufig 
gebrauchter  Ausdruck  zur  Bezeichnung  einer  Art  von  ängstlichen  und 
unentschlossenen  Politikern,  die  indessen  das  lebhafte  Bedürfniß  hatten, 
sich  bei  jeder  Gelegenheit  mit  ihrer  Meinung  hören  zu  lassen. 
Vgl.  Jahn  2,  1061  in  einem  Briefe  vom  20.  März  1849:  Nun  gibt 
es  noch  Leute,  man  nennt  sie  Piep  m  ei  er  s,  icahre  Prachtkerle,  die  des 
Abends  mit  einer  anderen  Meinung  zu  Bette  gehen  und  des  Morgens  mit 
einer  anderen  zum  Vorschein  kommen.  Man  bildete  auch  weiter  Piep- 
meierei und  Piepmeier thum.  Ein  Beispiel  für  ersteres  bietet  Bis- 
marck  in  seinem  Petersburger  Schreiben  vom  12.  Mai  1859  an  den 
Minister  von  Schleinitz,  abgedruckt  bei  Hahn,  Fürst  Bisraarck  1,  52: 
Es  ist  so  lüeit  gekommen,  daß  kaum  noch  unter  dem  Mantd  allgemeine^' 
deutscher  Gesinnung  ein  preußisches  Blatt  sich  zu  i^reußischem  Patriotismus 
zu  bekennen  icagt.  Die  allgemeine  Piepmeierei  spielt  dabei  eine  große 
Rolle,  nicht  minder  die  Zwanziger,  die  Osterreich  zu  diesem  Zwecke  nie- 
mals felden.  Bei  Sachs -Villatte  wird  Piepmeier  verzeichnet  und 
durch  Prudhomme  wiedergegeben.  Piepstückel  (übergangen) 
steht  bei  Rumohr,  Geist  der  Kochkunst  (Reclam):  Brüste  von  großem 
Geflügel,  ah  indianischen  Hühnern  {Kalekuten,  Kühnen  oder  Piepstückeln) 
.  .  gerathen  vorzüglich  am  Baumelspieß  toie  auf  dem  Roste.  Auch  Campe, 
Heyse,  Sanders  und  Sachs -Villatte  im  Encykl.  Wb.  führen  Piep- 
stückel in  der  Bedeutung  von  Pute(r)  auf.  Daß  Piepvogel  auch 
den  preußischen  rothen  Adlerorden  bedeutet,  brauchte  kaum  aus 
Albrecht  belegt  zu  werden,  da  doch  die  Bezeichnung  unzweifelhaft 
nicht  aus  Sachsen,  sondern  aus  Preußen,  bez.  aus  Berlin  stammt. 
Im  Übrigen  ist  sie  mehr  gemüthlich  als  spöttisch  zu  fassen.  Der 
Brandenburger  verbirgt  gern  seine  Neigung  und  selbst  Verehrung  für 
Dinge  wie  Personen  unter  einer  dem  Fremden  achtungswidrig  oder 
spöttisch  klingenden  Bezeichnung,  und  so  nennt  dort  gelegentlich 
auch  der  unbedingteste  Anhänger  des  Preußen-  und  Hohenzollernthums 
den  bewußten  Orden,  den  er  stolz  als  wohlerworbenen  trägt,  einen 
Piepvogel. 

Pieraas  (Regenwurm)  wird  in  der  Berliner  Volkssprache  und 
auch  sonst  im  Brandenburgischen  in  Piere  sei  verwandelt;  in  der 
Ukermark  ist  die  stehende  Bezeichnung  Pier  atz,  auch  Pier  atze, 
pl.  Pieratzen,  was  mit  der  von  Frischbier  verzeichneten  Angabe 
des  Westpreußen  Treichel  übereinstimmt. 

Pietät  wird  erst  aus  Goethe  belegt,  während  es  doch  schon 
Sim.  Roth  M  7*  (1572)  als  ein  gebräuchliches  Fremdwort  aufnimmt. 
Rietet   vnd  Pietantz   Trewe    pflicht ,    lieb   vnd  gehorsam,    fürnemblich 


BEMERKUNGEN  ZUM  DEUTSCHEN  WÖRTERBUCHE.  'Süö 

gegen  Gott,  darnach  gegen  Vatter  vnd  Matter,  Kinder  vnd  Gffreunden, 
Gottsforcht,  icarer  Gottsdienst.  Vgl.  auch  Micrälius,  Vorrede  zum 
«rsten  Buche  Vom  alten  Pommerlande:  meine  liietait  gegen  vnser  all- 
gemehies  Vaterland:,  Philander  6,  65  (Frankfurt  1646,  Itinerarium» : 
so  vnerhörte  kindliche  pietet  vnd  Treice.  Einer  Dichterstelle  für  das 
Fremdwort  bedurfte  es  eigentlich  nicht;  die  einzige  gegebene,  aus 
Heinrich  Heines  letzten  Gedichten,  ist  höchst  unglücklich  gewählt. 
Sie  lautet:  Der  Deutsehe  wird  die  Majestät 

Behandeln  stets  mit  Pietät} 
Für  denjenigen  nämlich,  welcher,  unbekannt  mit  Heine,  sie  ernst 
nimmt,  klingt  sie  ziemlich  nichtssagend;  wer  aber  Heine  kennt,  weil:, 
daß  wenige  Zeilen  darauf  diese  Pietät  darauf  hinausläuft,  einst  den 
deutschen  Monarchen  in  sechsspänniger  Hofcarosse  auf  den  Richtplatz 
zu  kutschieren  und  unterthänigst  zu  guillotinieren  .  Das  ist  nicht  mehr 
geraüthliches  Scherzen,  wie  wir  es  vorhin  beim  Piepvogel  sahen; 
das  ist  herzlos  grinsende  Frechheit,  über  welche  Lexer  sicher  genau 
so  denkt  wie  ich.  Ihm  also  mache  ich  wegen  dieser  Stelle  keinen 
Vorwurf;  es  ist  ja  unmöglich,  bei  der  fiir  jedes  Heft  des  Wb.  sich 
ergebenden  Arbeit  mit  vielen  tausend  Belegen  jeden  derselben  nach 
seinem  Zusammenhange  zu  kennen  und  darnach  über  Aufnahme  oder 
Übergebung  stets  mit  unanfechtbarem  Urtheil  zu  entscheiden.  Eher 
nehme  ich  Anstoli  daran,  da(.^  die  seit  Jahrzehnten  so  häufig  ge- 
brauchten und  fast  zu  Modewörtern  gewordenen  Ausdrücke  pietät- 
los, Pietätlosigkeit,  pietät(s)voll  übergangen  sind.  Von  Zu- 
sammensetzungen vermisse  ich  vorzugsweise  Pietätspflicht  und 
Pietätsrücksicht;  vgl.  G.  Baur,  Grundzüge  der  Erziehungslehre* 
XIX  (Vorrede):  ich  empßnde  eine  gewisse  Pietät. '^pf licht  gegen  die 
tirsprUngl'uhen  Grundzüge  einer  Jugendschrift \  G.  Curtius,  Rede  auf 
Friedrich  VII.  von  Dänemark  (1861)  bei  P.  Cauer,  Deutsches  Lesebuch 
für  Prima  376:  Man  ist  es  gewohnt  geioorden,  die  Pflichten,  icelclie  in 
dem,  Gebote,  du  sollst  deinen  Vater  und  deine  Mutter  ehren,  begriffen 
sind,  als  die  ausschließlichen  Pietätspflichten  zu  betrachten^  Palmer, 
Evang.  Pädagogik^  651  (1855):  daß  eine  aufrichtige  Geschichtsdar- 
stellung aus  Pietätsrüiksichten  oft  unmöglich  loerde  (angeführt  aus 
Curtmann,  Lehrbuch  der  Pädagogik).  Pietist.  Aus  Gervinus  ist  die 
Angabe  aufgenommen,  da(i  die  Bezeichnung  Pietist  zuerst  1689  in 
Leipzig  in  Umlauf  gekommen  sei,  während  doch  schon  Weigand  2,  350 
ausdrücklich  unter  Bezugnahme  auf  Ph.  J.  Spener  den  Frankfurter 
Ursprung  des  Wortes  seit  1674  behauptet.  Mir  sind  Speners  Schriften 
nicht  zur  Hand,  so  daß  ich   die  Wahrheit  von  Weigands  Angabe  nicht 

26* 


396     A.   GOMBERT,  BEMERKUNGEN  ZUM  DEUTSCHEN  WÖRTERBUCHE. 

erweisen  kann;  Spener  aber  gebraucht  den  Ausdruck  in  einem  Briefe 
aus  dem  Jahre   1680,    mitgetheilt  bei  Wackernagel,   Leseb.  3,   1,  954 
als    einen    damals    schon    üblichen:     Was    zicar    die  Namen    der  neuen 
Christen^    pietisten    tind    dergleichen    anlangt,  .  .  .  hoffe  ich  nicht,     daß 
jemand  von   uns   oder  von  uvseren   hekanten  freunden  solchen  jemahl  von 
sich   seihst   iverde   gehraucht    haben ,  .  .  .  sondern   solche   nahmen  sind  von 
den  icied  er  ich- gesinnten  und  ühel- wollenden  uns  zum  schimpff  auffgehracht 
luorden.   Man  bildete  im  Anfange  des   18.  Jhdts.  auch,  doch  wohl  nur 
vereinzelt,    das  Wort  Impietist,    vgl.   Neukirchs  Sammlung  4,  200: 
Die  Frommeil  weiß  ich  wohl,  ich  kenne  deines  gleichen, 
Wo  lehr  und  leben  stets  in  gleicher  waage  gehn. 
Da  loohl  vor  diesem  rühm  der  gröste  teil  muß  iveichen. 
Und  manch  impietist  beschämt  zurücke  stehn. 
Pietistisch    (belegt    aus    Nicolais    Sebaldus    Nothanker)    wird    bald 
nach  Pietist  entstanden  sein;  einen  Beleg  aus  dem  Jahre  1698  haben 
wir  bei  Leibniz ,  Deutsche  Schriften ,   herausgeg.  von  Guhrauer  2,  80 
(Brief  an  Jablonski) :    iceil  man  es  nicht  nur  als  einen  Pietistischen 
Streich,    sondern   auch   gar   als   eine  Oppression   der  Evangelischen  auf- 
nehmen würde. 

(Fortsetzung  und  Schluß  folgt.) 
GROSS-STRELITZ.  A.  GOMBERT 


Zu  S.  370. 


Auch  V.  Bahder  verweist  mich  auf  Helbers  Litteraturbüchlein,  sowie 
auf  Literaturblatt  1888,  Sp.  340,  wo  er  es  ausgesprochen,  daß  in  dem 
Dialect  Ulrichs  von  Liechtenstein  der  Zusammenfall  von  in  und  u  nicht 
eingetreten. 

Mitthei  hingen. 

Professor  Dr.  Fr.  Vogt  in  Kiel  ist  als  Nachfolger  Weinhold's  nach 
Breslau  berufen;  Vogt's  Nachfolger  in  Kiel  wird  0.  Erdmann,  bis  jetzt 
in  Breslau. 

An  die  neu  gegründete  Universität  in  Freiburg  i.  S.  sind  berufen 
Dr.  Fr.  Jostes  in  Münster  und  Dr.  W.  Streitberg,  der  sich  eben  erst 
in  Leipzig  habilitiert. 

Dr.  A.  Hauffen  hat  sich  an  der  deutschen  Universität  in  Prag  für 
deutsche   Sprache  und  Literatur  habilitiert. 


ZUR  EUNENLEHRK. 


Das  neueste  Werk  über  Kiiiyen  ist  dasjenige  vuu  Lndv.  F.  A. 
Winimer,  dänische  Kuneskriftens  oprindelse  etc.,  1874,  und  deutscli: 
Die  Runenschrift  etc.,  übersetzt  von  Dr.  F.  Holtliausen,  Berlin  1887. 
Die  Kuuenschritt  ist  hier  genau  und  ausführlich  behandelt,  Ursprung 
und  Entwickelung  des  Runeualphabets  wird  überzeugend  dargelegt 
und  an  der  Hand  vieler  Abbildungen  die  Erklärung  und  chrono- 
logische Bestimmung  der  Runenschrift-Denkmäler  gegeben.  Aber  mit 
dem  Titel:  „Die  Runenschrift"  ist  diesem  Werke  auch  die  Grenze 
gesteckt. 

Über  ein  anderes  Gebiet  der  Runenlehre  hat  schon  W.  Grimm, 
„Über  deutsche  Runen",  Anhang  II,  S.  296 — 320  unter  der  Über- 
schrift „Weissagung  aus  Baumzweigen"  wichtige  Winke  gegeben; 
besonders  aber  gebührt  Liliencron  und  Müllenhoff  das  Verdienst,  hier 
tiefer  eingedrungen  zu  sein  und  die  mystische  Bedeutung  der  Runen 
in  den  Vordergrund  gestellt  zu  haben  in  den  zwei  Abhandlungen  zur 
Runenlehre  im  XVI.  Berichte  der  Schleswig-Holstein-Lauenburgischen 
Gesellschaft  etc.  1852. 

Jedoch  auch  von  ihnen  ist  nur  die  Hälfte  eines  Feldes  bebaut; 
neben  den  mystischen  Zeichen  nehmen  die  persönlichen  einen  bedeuten- 
den Rang  und  Raum  ein.  Über  diese  ist  bis  jetzt  wohl  das  Beste  die 
Abhandlung  von  Dr.  A.  L.  J.  Michelsen,   Die  Hausmarlce.  Jena  1853. 

Alle  drei  Gebiete,  Runenschrift,  mystische  Zeichen  und  Haus- 
marken unserer  Vorfahren  von  einem  einheitlichen  Gesichtspunkte 
aufzufassen  und  gegenseitige  Beziehungen  derselben  aufzudecken ,  ist 
der  Zweck  der  folgenden  Arbeit. 

So  einleuchtend  auch  Wimmer  das  Runenalphabet  aus  dem 
lateinischen  hergeleitet  hat,  so  läßt  er  die  selbständigen  Eigenthümlich- 
keiten  desselben,  auf  die  er  S.  140 — 143  kurz  eingeht,  doch  so  ziemlich 
auf  der  Seite  liegen.  Es  sind  1.  die  abweichende  Gestalt  mancher 
Zeichen,  2.  ihre  die  bloße  Lautbezeichnung  überragende  Function, 
3.  die  abweichende  Ordnung  des  Futhorks,  4.  die  deutschen  Namen 
der  Buchstaben.  Diese  Eigenthümlichkeiten  treten  schon  in  den  älteren 
Runen denkmälGru  zu  Tage   und   haben  sich  im  Ganzen  so  einheitlich, 

GERMANIA.     Neue  Keihe  XXII.  (XXXIV.)  Jahrjf.  27 


398  ^'  LOSCH 

im  Einzelnen  so  organisch-mannigfaltig  bei  den  verschiedenen  deut- 
schen Völkern  entwickelt,  daß  nach  dieser  Seite  hin  die  Annahme 
einer  willkürlichen  Umgestaltung  des  lateinischen  Alphabets  von  Seiten 
eines  Erfinders  der  Runenschrift  verfehlt  ist.  Denn  weder  im  lateini- 
schen Alphabet,  noch  in  der  deutschen  Sprache,  noch  in  der  geringen 
Anwendung  der  Runenschrift  zu  kurzen  und  litterarisch  unbedeuten- 
den Inschriften  läßt  sich  ein  zwingender  oder  auch  nur  hinreichender 
Grund  für  eine  so  durchgreifende,  planmäßige  Umgestaltung  des  ent- 
lehnten Alphabets  nachweisen.  Der  zureichende  Grund  muß  deshalb 
in  einer  bestimmten  Richtung  gesucht  werden.  Diesen  Weg  haben 
Liliencron  und  MüUenhoff  eingeschlagen.  Ersterer  sagt  in  der  oben- 
genannten Abhandlung  S.  17:  „Alle  Runenschriftsteller  seit  dem  Mittel- 
alter sind  darüber  einig,  daß  es  eine  eigene  Classe  der  Runen  gab, 
welche  zum  Schreiben,  d.  h.  zum  buchstabierenden  Zusammensetzen 
der  Worte  aus  ihren  Lautbestandtheilen  gebraucht  werden.  Man  pflegt 
sie  Malrunen  zu  nennen.  —  Wenn  sie  also  zum  Schreiben  dienten, 
so  ward  mithin  mit  anderen  Runen,  welchen  sie  entgegengesetzt  sind, 
nicht  geschrieben.  Diese  Folgerung  ist  so  bescheiden,  daß  Niemand 
widersprechen  ward;  und  dennoch  ist  sie  nirgends  gehörig  festgehalten. 
Jene  eine  Art  bildet  ein  Runenalphabet  in  unserem  heutigen  Sinn, 
die  andere  eine  Reihe  von  —  sagen  wir  getrost  mystischen  Zeichen." 
Es  wird  auch  zugegeben  werden,  daß  der  Gebrauch  mystischer  Zei- 
chen nicht  vom  lateinischen  Alphabet  abzuleiten  ist,  und  doch  hat 
die  Rune  diesen  Sinn  in  erster  Linie.  MüUenhoff  sagt:  „das  Etymon 
des  Wortes  hat  Grimm  (Myth.  1174)  zuerst  aus  dem  altnord.  raun, 
experimentum ,  reyna ,  temptare  jrichtig  erkannt" ;  das  ist  aber  zu  be- 
richtigen, denn  Grimm  vermuthet  an  jener  Stelle  als  ursprüngliche 
Bedeutung  „das  leise,  feierlich  Gesprochene,  hernach  erst  Geheimniß" 
und  sagt:  „im  ahd.  Verbum  rünen,  susurrare,  rünazan,  murmurare, 
mhd.  rünen,  nhd.  raunen,  -ags.  rünian  dauert  die  Urbedeutung  des 
geheimen  Flüsterns,  ahd.  orrüno  ist  ein  Vertrauter,  der  ins  Ohr  raunt." 
Bei  Ulfilas  hat  rüna  die  Bedeutung  von  iivgttjqiov'  sonst  im  Deut- 
schen, Angelsächsischen  und  Nordischen  die  eines  geheimnißvoll- 
bedeutsamen  Zeichens.  Die  lateinischen  litterae  erhielten  also,  indem 
sie  zu  Runen  wurden,  eine  Bereicherung  ihrer  Bedeutsamkeit  in  dem 
Maße,  als  der  deutsche  Begriff  den  lateinischen  übertrifft.  Das  Be- 
dürfniß  mystischer  Zeichen  kann  nicht  erst  mit  der  Übernahme  des 
lateinischen  Alphabets  erwacht  sein,  ebensowenig  als  das  Wort  Rune 
erst  bei  diesem  Anlass  entstanden  sein  kann;  also  ist  anzunehmen, 
daß   die  Deutschen    schon   vorher  sowohl  mystische  Zeichen ,   als  das 


ZUR  RUNENLEHKE.  399 

Wort  Rune  hatten,  und  daß  sie  mit  diesem  jene  bezeichneten.  Lilien- 
cron  wirft  die  von  ihm  bejahte  Frage  auf:  „ob  es  wirklich  eine  Zeit 
gab,  wo  bei  den  germanisch-nordischen  Stämmen  die  mystischen  llunen- 
zeichen  im  allgemeinen  Gebrauche  waren,  ohne  daß  mau  mit  ihnen 
den  Gedanken  eines  eigentlichen  Alphabetes  und  den  des  Schreibens 
verband?"  Diese  Frage  ist  folgerichtig,  nur  bleibt  sie  auf  halbem 
Wege  stehen;  denn  Liliencron  und  ]\lüllenhofF  haben  trotz  der  Uuter- 
scheidung  von  Malrunen  und  mystischen  liunen  doch  diejenigen  Runen 
im  Auge,  welche  in  den  überlieferten  Ruuenalphabeten  vorliegen. 
Es  muß  noch  eine  weitergreifende  Unterscheidung  gemacht  und  der 
Schluß  gewagt  werden,  daß  zwischen  Rune  und  Alphabet  einmal  zu 
trennen  und  analphabetische  Runen  anzunehmen  seien.  Wimmer  sagt 
S.  141:  „Damit  diese  Verschiedenheiten  zwischen  dem  Runenalphabet 
und  dem  lateinischen  Alphabet  hinsichtlich  der  Reihenfolge  und  Be- 
nennung der  Buchstaben  in  irgend  welcher  Beziehung  das  Ergebniß 
unserer  Untersuchungen  erschüttern  könnten,  müßte  man  auf  jeden 
Fall  ein  anderes,  älteres  Alphabet  nachweisen,  welches  besser  als  das 
lateinische  den  Grund  dieser  Abweichungen  zu  erklären  vermöchte; 
aber  ein  solches  Alphabet  findet  sich  nicht."  Hier  ist  nur  die  Forde- 
rung verfehlt,  ein  älteres  Alphabet  nachzuweisen,  denn  ein  solches 
findet  sich  freilich  nicht,  sondern  analphabetische  Zeichen;  darum 
erschüttert  aber  auch  unser  Ergebniß  nicht  im  Geringsten  dasjenige 
Wimmers,  sondern  ergänzt  es.  Waren  analphabetische  Runen  vor  der 
Bekanntschaft  mit  dem  Alphabet  vorhanden,  so  ist  erklärlich,  wie 
aus  dem  bekannt  gewordenen  Alphabet  ein  Runenalphabet  entstand, 
indem  es  dem  alten  Systeme  angepaßt  wurde  und  dasselbe  mit  dem 
neuen  Principe  der  Lautbezeichnung  bereicherte;  umgekehrt  ist  damit 
auch  die  Umgestaltung  des  übernommenen  Alphabets  natürlich  uud 
hinreichend   begründet. 

Es  erhebt  sich  nun  die  Frage,  wie  man  sich  die  mystischen 
Zeichen  vor  Einführung  des  Alphabets  zu  denken  habe.  Zur  Ver- 
anschaulichung derselben  dienen  eben  die  wesentlichen  Unterschei- 
dungsmerkmale des  Futhork  vom  lateinischen  Alphabete.  1.  Es  waren 
Zeichen  mit  einem  senkrechten  Hauptstrich,  welchem  schräge  Seiten- 
striche angefügt  wurden;  2.  sie  bezeichneten  nicht  Laute,  sondern 
Sachen;  3.  zu  besonderen  Zwecken  bildete  eine  bestimmte  Anzahl 
solcher  Zeichen  eine  dreitheilige  Gruppe;  4.  jedes  Zeichen  trug  den 
Namen  der  Sache,  die  es  bezeichnete,  wodurch  es  belebt  wurde. 
Mystische  Zeichen  sind  demnach  solche,  deren  Name  mystische  Be- 
deutung hatte. 

27* 


400  F.  LOSCH 

Das  Ganze  wird  klarer  bei  Betrachtung  der  Losung,  zu  welcher 
solche  Zeichen  verwendet  wurden.  Die  Belege  hat  Müllenhoff  zusam- 
mengestellt; wir  brauchen  nur  die  zwei  hauptsächlichsten. 

Tacitus  Germania  X:  Sortium  consuetudo  simplex.  Virgam  frugi- 
ferae  arbori  decisam  in  surculos  amputant,  eosque  notis  quibusdam 
discretos  super  candidam  vesteui  temere  ac  fortuito  spargunt.  Mox, 
si  publice  consuletur,  sacerdos  civitatis,  sin  privatim,  ipse  pater 
familias  precatus  deos  coelumque  suspiciens  ter  singulos  tollit,  sub- 
latos  secundum  impressam  ante  notam  interpretatur. 

Hrabanus  Maurus  de  inventione  linguarum  (zum  Runenalphabete): 
Cum  quibus  [litteris  Marcomanui,  quos  nos  Nordmannos  vocamus] 
carmina  sua  incantationesque  ac  divinationes  significare  proeurant,  qui 
adhuc  paganis  ritibus  involvuntur. 

/Sortes  und  divinatio  mit  Runen  ist  dasselbe.    Wimmer  bestreitet, 
Müllenhoff  behauptet,    daß  die  notae  des  Tacitus  Runen   waren.    Die 
Frage   ist  eigentlich  nur  die,    ob  die  Germanen  zur  Zeit  des  Tacitus 
schon  das  Alphabet  hatten  oder  nicht.    Runen  waren  die  notae  jeden- 
falls,   nur  ist  nicht    sicher,    ob  es  alphabetische  oder  analphabetische 
waren.  Nimmt  mau  mit  Wimmer  an,  daß  das  Alphabet  am  Ende  des 
zweiten    oder  zu  Anfang   des    dritten  Jahrhunderts  n.  Chr.   eingeführt 
worden  ist,  so  erhellt  aus  obigen  Belegen,   daß  zur  Zeit  des  Tacitus 
die    analphabetischeu  Runen    zu  dem   gleichen  Zwecke,   wie   zur  Zeit 
des  Hrabanus  die  alphabetischen  gebraucht  wurden.    Die  Hauptsache 
ist   die  Beschreibung   der   surculi  notis  quibusdam  discreti,    d.  h.  der 
Runstäbe.  Wort  und  Begriff  des  Runstabes  war  den  deutschen  Stämmen 
gemein;    er  heißt   altn.    rünastajr ,    ags.    rünstcef,    ahd.  rünstah.    Wenn 
W.  Grimm  S.  72  sagt:  „stob  wird  nur  aus  dem  Wesen  und  der  Ent- 
stehung des  Schriftzeichens  selbst  zu  erklären  sein",  so  ist  die  Stelle 
des  Tacitus    hiefür    höchst    willkommen.    Man   scheute    sich    bis  jetzt, 
dieselbe    auf  Runen    auszulegen,    weil    man    das  Wort  Rune    nur  von 
den  bekannten  alphabetischen  Runen  gebrauchte^;  nunmehr  aber  ladet 
uns  Tacitus    förmlich    ein,    aus    seiner   Stelle  j  weitere  Ergebnisse    zu 
schöpfen.    Die  Runstäbe    oder    surculi   notis    quibusdam  discreti    sind 
zum  Auswerfen  (spargere)  bestimmt.    W.  Grimm    sagt  zur  Stelle  des 
Tacitus  S.  296:    „Es  scheint,    daß  jedem  Zweige  vorher  ein  Zeichen 
eingedrückt  wurde,  die  einzelnen  aber  nach  der  durch  das  Ausstreuen 
zufällig  entstandenen  Lage  herausgewählt  und  die  darauf  befindlichen 
Zeichen    von    dem  Priester    als   zusammenhängend    betrachtet  und  er- 
klärt  wurden."    Er  mischt    hier   eine  Vorstellung  ein,    gegen  welche 
der  Wortlaut    der  Stelle    (singulos    und    notam    sing.)    spricht.    Aber 


ZUR  RUNENLEHRE.  401 

doch    ist    anzunehmen,    daß    durch    das  Hinwerfen   die  Lage  des  ein- 
zelnen Runstabes  irgendwie  entschieden  werden  sollte,  worüber  Grimm 
S.   298    treffend    sagt:     „Es  liegt    die    Idee    zu    Grunde,  daß    in    der 
lebendigen    und    zitternden    Bewegung    des    niederfallenden    Zweiges, 
weil  sie  frei  von  aller  menschlichen  Einwirkung  ist,  der  göttliche  Wille 
thätig  sein  und  sich  offenbaren  müsse."    Soll  nun  der  einzelne  Zweig 
durch    das  Auswerfen    eine    entscheidende  Lage    bekommen    können, 
so  muß    er    auch    die  in  diesem  Falle    einzig    vorhandene  Bedingung 
dazu  an  sich    haben,    er  muß  durch   die  Mitte    gespalten    sein;    dann 
fällt  er  entweder   auf  den  Rücken  oder  auf  die  Spaltseite.     Die  Spal- 
tung   gibt    zugleich    auch    die    Möglichkeit,    ein  Runenzeichen    ilurch 
bloße    notae,    got.  vrits,    nord.  kännestrek  herzustellen,    indem  der  zu 
Tage    tretende  Älarkstrieh    des  Zweiges    von    selbst    den    senkrechten 
Hauptstrich  des  Zeichens  bildet.    Und  wie  genau  drückt  sich  Tacitus 
aus!    Was    eingekerbt    wurde,    waren    bloße    notae]    nur  der  Kundige 
erfaßte  im  verbindenden  Markstriche  die  Einheit  des  Zeichens.  Durch 
den  Markstrich  ist  nunmehr  auch  das  Princip  des  senkrechten  Haupt- 
striches der  Runenzeichen,   wodurch  sie  sich  vom  lateinischen  Alpha- 
bet unterscheiden,  erklärt  und  begründet.   Diejenigen  Zeichen,  welche 
ihn  aufweisen,  reihen  sich  der  Form  nach  den  analphabetischeu  Run- 
stäben gleichartig  an  ;  ja  es  ist  anzunehmen,  daß  die  einfachsten  alpha- 
betischen Runen  nach  ihrer  Form  schon  vor  dem  Alphabete  da  waren 
und    man    ihnen    nur    den    Lautwerth    des    entsprechenden  Alphabet- 
zeichens zu  geben  brauchte.  Theilweise  haben  sich  aber  auch  Alphabet- 
runen ohne  den  Markstrich  und  zwar  oft  neben  der  Form  mit  jNIark- 
strich  erhalten:  A  und  f>,  X^,<K,H+i<>'^,HNr>    M  Y  (uord.), 
5^  <f .    Der  Übergang  der  Formen   H  ^  M  io    -f  "f  und  nord.  Y  erklärt 
sich  in  ihrer  Darstellung  auf  dem  Stabe  von   selbst:    @   @    @,  je  nach- 
dem   die    beiden  Kantenlinien    oder    der  Markstrich    zum  Zeichen  ge- 
rechnet   wurden.    Zufällig    oder    absichtlich    konnte    bei    der  Spaltung 
des  Zweiges    der  Markstrich    auch    verdeckt    bleiben    oder    ganz  ab- 
getrennt  werden.    Für  die  Malruuen   war  jedoch  die  Darstellung  der 
Stabform   nicht   immer   nöthig  und    oft    eine  Unterscheidung  der  stab- 
losen  Rune    für    die    Lautbezeichnung    zweckmäßig,    z,  B.    A  und  f^. 
Wer   sich   für  Formen   wie  D  A  H  M  PI  $    H   ^^^  Stäben    ohne  Mark- 
strich nicht  beruhigen  will,  dem  ist  zu  erwiedern,  daß  wir  die  Runen 
nur  in  Form    von  Malrunen   kennen   und    eben    keine    alten  Runstäbe 
mehr    haben,    und    daß    für  Zeichen    ohne  Slabform   einst   doch    eine 
solche  von  besonderer  Art  vorhanden  sein  konnte;  nur  wäre  es  müßig, 
sie  ohne  hinlängliche  Anhaltspunkte  zu  reconstruieren. 


402  F.  LOSCH 

Die  zweite  EigenthümlicLkeit  des  Ruuenalphabets,  daß  der  Run- 
stab nicht  bloße  Laute,  sondern  Begriffe  bezeichnete,  geht  schon  aus 
Tacitus'  Worten  hervor:  sublatos  secundum  impressam  ante  notam 
interpretatur.  Ein  der  Auslegung  fähiges  Zeichen  ist  mehr  als  bloßes 
Lautzeichen.  Darauf  weist  auch  die  Stelle  in  Skirnismäl  36:  Thurs 
rist  eh  ther  ok  thriä  stafi,  ergi  ok  oetti  ok  öpola.  Zugleich  erhellt  hier- 
aus ein  weiterer  Umstand:  es  gibt  Glücksrunen  und  Unglücksrunen. 
Auch  bei  der  Losung  handelt  es  sich  darum ,  den  glücklichen  oder 
unglücklichen  Ausgang  einer  Sache,  dazu  auch  das  beste  Mittel  und 
die  Bedingungen  zur  Ausführung  zu  erforschen.  Hiefür  ist  eine  Nach- 
richt Cäsars  lehrreich:  de  bello  Gallico  I,  50:  Quum  ex  captivis  quae- 
reret  Caesar,  quamobrem  Ariovistus  proelio  non  decertaret,  hanc  re- 
periebat  causam:  quod  apud  Germauos  ea  consuetudo  esset,  ut  matres 
familias  eorum  sortibus  et  vaticinationibus  declararent,  utrum  proe- 
lium  committi  ex  usu  esset,  necne.  Eas  ita  dicere:  non  esse  fas, 
Germanos  superare^  si  ante  novam  lunam  proelio  contendissent. 
Die  Hausmütter  erforschten  also  nicht  bloß,  ob  das  Gefecht  günstig 
oder  ungünstig,  sondern  auch,  unter  welcher  Bedingung  es  günstig 
oder  ungünstig  ausschlagen  werde.  So  mußten  auch  die  zur  Losung 
verwendeten  Runstäbe  solche  Auskunft  geben  können.  Zur  Erforschung 
von  Glück  oder  Unglück  brauchte  man  nur  zwei ;  zur  Erforschung  der 
Bedingung  aber  mehrere.  Besonders  zu  diesem  Zwecke  mußten  Stäbe 
von  ganz  bestimmter  sachlicher  Bedeutung  benützt  werden. 

Die  dritte  Eigenthümlichkeit  des  Runenalphabets,  die  besondere 
Anordnung  des  Futhorks,  bietet  der  Erklärung  viele  Schwierigkeit. 
An  die  Dreitheilung  desselben  erinnert:  ter  singulos  tollit  bei  Tacitus; 
und  da  es  sich  um  Erforschung  des  Schicksals  handelt,  so  dürfen 
auch  die  drei  Schicksalsgöttiunen  verglichen  werden.  Auch  Wimmer 
bezieht  S.  142  die  Reihenfolge  in  drei  Abtheilungen  auf  einen  magischen 
Gebrauch  der  Runen,  fügt  aber  hinzu:  „Weiter  als  zu  dieser  ganz 
allgemeinen  Einsicht  können  wir,  glaube  ich,  nicht  gelangen."  Bei  der 
Eintheilung  sind  die  ersten  Runen  der  drei  Reihen  von  besonderer 
Wichtigkeit,  denn  nach  ihnen  wurden  im  Norden  und  entsprechend 
sicher  einst  auch  bei  uns  die  Reihen  benannt:  Freys  aett,  Hagais  aett, 
Tys  aett.  Freyr  oder  Fehlst  eine  Glücksrune;  Hagal  wohl  eine  Uuglücks- 
rune;  über  Tyr  spricht  Grimm,  Myth.  S.  166:  T  =  Ttjr  scheint  ein 
höchst  feierliches  Zeichen,  der  Name  dieses  Gottes  besonders  heilig 
gewesen  zu  sein;  beim  Einritzen  der  Sie  grünen  auf  das  Schwert 
sollte  Tyr  zweimal  genannt  werden  —  und  in  dem  ags.  Gedicht  über 
die  Runen  steht  ausdrücklich:    tiv  biet  täcna  sum  {tir  ist  ein  gewisses 


ZUR  RUNENLEHKE.  40o 

Zeicheij).  Verschiedentlich  reden  die  Dichter  von  tire  tdcnian  und 
tires  tö  täote;  man  darf  es  auslegen:  (jloria,  decore  insifjnire,  in  qloriae 
Signum  und  doch  an  das  heidnische  Zeichen  des  Gottes  denken,  etwa 
wie  es  auch  bei  feierlichem  Besegnen  der  Becher  vorkam."  Der 
Gedanke  in  den  ersten  Zeichen  der  drei  Reihen  des  Futhorks  scheint 
zu  sein:  Glück  —  Unglück  —  Sieg,  wonach  sowohl  die  Glücks-  hIs 
die  Unglücksrune  unter  der  Herrschaft  der  höchsten  Rune,  der  Sieg- 
rune des  Gottes  Tfjr  oder  Ziu  stünden.  Damit  stünde  das  Futhork 
im  Gegensatz  zur  Weise  der  Nornen,  von  denen  Grimm  S.  338  sagt: 
„Das  scheint  gerade  charakteristisch  in  Nornen-  und  Fecnsagen,  dali, 
was  vorausgehende  Begabungen  Günstiges  verheißen,  durch  eine  nach- 
folgende zum  Theil  wieder  vereitelt  wird."  Umgekcdu't  scheint  mir 
im  Futhork  alles  Unglück  überwunden  werden  zu  sollen.  Damit 
glaube  ich  die  Untersuchung  der  Ursache  der  Futhorkordnung  auf 
eine  zur  Lösung  führende  Bahn  zu  leiten,  besonders  wenn  ich  frage, 
wozu  sieh  das  Futhork  auf  den  ältesten  Denkmälern  wie  dem  Brak- 
teaten  von  Vadsteua,  der  Spange  von  Charnay  und  dem  Themse- 
messer befinde?  Einen  bestimmten  Zweck  muß  es  doch  gehabt  haben, 
und  ich  finde  ihn  in  dem  persönlichen  Schutze  des  Trägers  solcher 
Stücke.  Dann  ist  weiter  zu  schließen,  daß  die  Glücksrunen  im  Futhork 
80  geordnet  sein  werden,  um  alle  Uuglücksrunen'zu  binden,  damit  der 
Träger  schon  zum  Voraus  vor  allen  schlimmen  Zufallen    gesichert  sei. 

Über  die  vierte  Eigenthünilichkeit,  die  Namen  der  Runen,  geben 
die  vorhandenen  Runenlieder  nähere  Auskunft,  ein  altnorwegisches 
und  isländisches.  Wimmer,  S.  275 — 288,  und  ein  angelsächsisches, 
W.Grimm,  S.  217  ff.,  wo  auch  das  norwegische  zu  finden  ist.  Wimmer 
faßt  diese  Lieder  als  bloße  Runenreimerei  auf;  ich  glaube,  daß  darin 
die  interpretatio  der  Stäbe  bei  den  uicantationes  und  divinationes  oder 
sortes  angegeben  ist.  Im  Futhork  geben  die  Namen  der  Runen  im 
Anfangsbuchstaben  zugleich  den  Lautwerth  ihres  Zeichens  an.  Das 
ist  Einfluß  des  Alphabets;  denkt  man  sich  diese  Rücksicht  auf  den 
Anlaut  oder  Buchstabenwerth  weg,  so  dürfen  noch  mehrere  Namen 
für  die  einzelnen  Zeichen  angenommen  werden.  Das  geht  auch  deut- 
lich aus  den  Runennamen  des  isländischen  Runeuliedes  hervor,  welche 
Wimmer  S.  287  f.  zusammenstellt.  Diese  Namen  stehen  unter  dem 
Gesetze  der  Synonymität:  Aiirum  <jull,  gull  er  /«',  fe  er  rilnastafr 
u.  s.  w.  Hier  ist  leicht  erkennbar,  daß  die  Bedeutung  des  Namens  in 
erster  Linie,  der  Anlaut  erst  in  zweiter  maßgebend  war. 

Ein  weiterer  Gesichtspunkt  ist  der:  die  Runennamen  gelten  nur 
mittelbar  dem  Zeichen,    denn  sie  besagen  zunächst,    welchem  Gegen- 


404  F.  LOSCH 

Stande  das  Zeichen  zukommt,  und  wurden  so  erst  auch  Namen  des 
Zeichens:  je  er  rünastafr.  Dies  muß  beachtet  werden,  um  die  Stelle 
von  den  hugrünar  in  Sigrdrifumdl  13 — 19  zu  verstehen,  die  Wolzogen 
richtij^  als  die  Bezeichnungen  aller  Dinge  erklärt.  Es  ist  der  Gedanke, 
wie  alle  Dinge  einen  Namen  haben,  so  haben  sie  auch  ihre  Rune, 
an  der  sie,  in  ihrer  Gesammtheit  freilich  nur  von  Wenigen,  wie  Odhin 
und  Mimr,  erkannt  werden.  Das  war  wohl  auch  das  Ursprünglichste, 
daß  den  Dingen  oder  Personen  ihr  bestimmtes  Zeichen  ganz  so  zu- 
kam, wie  ihr  bestimmter  Name. 

Hiemit  kommen  wir  auf  das  Gebiet  der  Hausmarken.  Michelsen 
sagt  in  seiner  grundlegenden  Abhandlung  S.  11  f.:  „Beschaut  man 
diese  Zeichen  (die  Hausmarken)  als  solche  genauer,  so  drängt  sich 
sofort  die  Wahrnehmung  auf,  daß  es  ursprünglich  sehr  einfache,  gerad- 
linige Figuren  waren,  die  leicht  eingeschnitten  oder  eingegraben  werden 
konnten.  Sie  erinnern  dadurch  stark  an  die  Runen,  welche  ja  ebenfalls 
sehr  einfach  und  geradlinig  waren,  und  zwar,  wie  die  älteren  Haus- 
marken durchweg,  mit  einer  senkrechten  Linie,  die  bei  der  Rune  der 
Stab  ist,  und  mit  Kennstrichen  nach  den  Seiten  hin,  die  in  verschie- 
denem Winkel  sich  ansetzen.  Deßungeachtet  ginge  man  entschieden 
viel  zu  weit,  wollte  mau  die  Hypothese  wagen,  sie  wären  aus  den 
Runen  hervorgegangen:  wozu  Finn  Magnusen  in  seinem  umfänglichen 
bekannten  Runenwerke,  seiner  Liebhaberei  für  die  Binderunen  zu  sehr 
nachgebend,  sich  gar  sehr  hinneigt.  Allein  dabei  ist  freilich  auch  nicht 
zu  leugnen,  daß  in  schwedischen,  norwegischen,  isländischen  Haus- 
marken, älteren  und  neueren,  manchmal  wirkliche  Runen  uns  entgegen- 
treten. Es  kann  das  theils  ein  zufälliges  Zusammentreffen  sein,  theils 
aber  auch  Aufnahme  des  literaleu  Elementes  in  die  Haus-  und  Personen- 
zeichen, wie  bei  uns  in  Deutschland  die  Marke  mit  Buchstaben  in 
einen  Ductus  sich  zusammenzog  oder  durch  diese  ganz  verdrängt  ward, 
indem  die  monogrammatische  Namenscliiffer  an  die  Stelle  der  ehe- 
maligen Simpeln  Marke  trat.  Jedenfalls  sind  die  Hausmarken  ur- 
sprünglich kein  Alphabet,  sie  gehören  vielmehr  originär  einem  analpha- 
betischen Geschlechte  an.  Was  das  dänische  und  das  preußische 
Gesetzbuch  in  dieser  Beziehung  für  analphabetische  Individuen  vor- 
schreiben, das  galt  gewissermaßen  einst  im  grauen  Alterthum  für  das 
gesammte  lebende  Geschlecht,  welches  des  Schreibens  ganz  oder 
großentheils  unkundig  war.  Jenes  Gesetzbuch  verordnet,  die  Analpha- 
beten sollen  ihre  Verschreibungen  durch  ihr  Siegel  oder  nöthigenfalls 
durch  ihre  bomaerke  (Hauszeichen)  bekräftigen;  ebenso  sprechen  noch 
das  Landrecht  und  die  allgemeine  Gerichtsordnung  Preußens  in  Rück- 


ZUR  RUNENLEHRE.  405 

sieht  auf  den  Analpliabeleii  von  seinem  ^evvolmliehen  Handzciclion 
und  bestimmen,  daß  er  mit  Kreuzen  oder  mit  seinem  sonsticfen  ge- 
wöhnlichen Handzeichen  unterschreiben  solle.  Solchergestalt  vertritt 
im  hohen  Alterthiim  die  ]\larke  als  Personenzeichen  den  Namen,  sie 
dient  als  chirographum,  sie  vertritt  Namensunterschrift  und  Wappen." 

Alan  ginge  natürlich  zu  weit,  wollte  man  die  Hypothese  wagen, 
die  Hausmarken  seien  aus  den  alphabetischen  Kunen  hervor- 
gegangen. Nachdem  wir  aber  den  analphabetisciien  Hausmarken  an- 
cil])habetische  mystische  Zeichen,  d.  h.  Runen  zur  Seite  stellen  können, 
erhellt  die  Verwandtschaft  beider  ziemlich  deutlich.  Der  Unterschied 
war  nur  der,  daß  die  mystischen  Zeichen  für  Götter,  Elemente  und 
Natur,  die  persönlichen  aber  für  die  Leute  und  ihr  Ei^'cnthum  fest- 
gesetzt waren.  Die  Hausmarke  scheint  mir  die  ältere  Schwester  der 
analphabetischen  Runen  zu  sein,  und  diese  vielleicht  aus  den  Zei- 
chen für  die  den  Göttern  geweihten  Gegenstände  zu  Zeichen  der 
Götter  und  göttlichen  Wesen  geworden,  an  welche  sich  dann  nach  und 
nach  eine  größere  Anzahl  religiös-bedeutsamer  Zeichen  anschließen 
konnte.  Die  spätere  alphabetische  Rune  bereicherte  wieder  die  Zahl 
der  mystischen  und  persönlichen  Zeichen.  Die  Hausmarke  steht  mit 
der  Rune  in  übereinstimmender  Beziehung  zum  Stabe.  Beim  Verkaufe 
von  Haus  und  Hofgut  wurde  zum  Zeichen  der  Übergabe  u.  A.  die 
festuca  notata  samrat  Äicsser  eingehändigt,  welche  ein  mit  der  Haus- 
marke bezeichnetes  Stäbchen  ist,  Michelsen  S.  4G  ff.  Auch  zur  Losung 
dient  die  Hausmarke,  worüber  eine  Stelle  aus  dem  Gesetze  der  Friesen, 
Michelsen,  S.  14  f.,  W.  Grimm,  S.  301  f.,  aufklärt:  tali  de  virga 
praecisi,  quos  tenos  vocant,  müssen  von  den  Männern,  über  welche 
gelost  wird,  mit  ihrer  Hausmarke  versehen  werden:  unusquisque 
illorum  septem  faciat  suam  sortem,  id  est  tenum  de  virga,  et  signet 
signo  suo,  ut  cum  tam  ille  quam  caeteri,  qui  circumstant,  cognoscere 
possint.  Der  talus  weist  noch  entschiedener  als  der  surcuhis  des 
Tacitus  auf  den  gespaltenen  Zweig  hin.  Nun  erklärt  sich  auch  das 
Wort  „IMarke"  dadurch'),  daß  der  ]\Iarkstrich  einen  wesentlichen  Be- 
standtheil  der  Marke  bildete,  welchen  Charakter  die  vorhandenen  Haus- 
marken wirklich  erweisen.  Eine  spätere  Abzweigung  von  den  Haus- 
marken sind  die  Steinmetzzeichen,  vgl.  die  Arbeit  von  Klemm 
im  V.  und  dessen  Bemeikungen  zu  meinem  Aufsatz  im  VIII.  Jahrg. 
d.  württemb.  Vierteljahrshefte  f.  Landesgeschichte. 

Schließlich    ist    noch    ein    Bauernkalender    vom    Jahre   139H    im 


')  Unrichtig;   die  Wörter  hatten  ursprünglich  verschiedenen  Staniinaii.slaut,  O.  li. 


406  TH.  V.   GKIENBERGER 

germanischen  Museum  zu  Nürnberg  mit  eigenthümlichen  Zahlzeichen 
zu  erwähnen.  Ein  Theil  desselben  war  in  der  vierten  Auflage  von 
Königs  Litteraturgeschichte  S.  5  abgebildet.  Die  „runenartigen"  Zei- 
chen sind  römische  Zahlen,  an  senkrechte  Striche  gefügt,  indem 
X  durch  f ,  V  durch  \i ,  I  durch  f-  bezeichnet  ist,  z.  B.  XVII 
=  "^ ,  XIX  =  I^ .  Ohne  Zweifel  beruht  diese  Art  der  Zahlen  auf 
alter  Überlieferung  und  bildet  ein  willkommenes  Seitenstück  zu  der 
Art,  wie  das  lateinische  Alphabet  zu  Runstäben  umgestaltet  wurde. 
Denn  auch  hier  wird  der  Ursprung  solcher  Formen  durch  einen  Stab 
mit  Markstrich,  das  alte  Kerbholz,  am  einfachsten  erklärt,  besonders 
da  in  der  ältesten  Zeit  solche  Stäbe  wirklich  zu  Kalendern  benützt 
wurden. 

Der  Ausdruck  „Stab"  wurde  für  die  Runen,  „Marke"  für  die 
Haus-  und  Personalzeichen,  „Zein"  (got.  tains,  altn.  teinn,  ags.  tan, 
ahd.  zein,  plattd.  teen)  für  die  Loszweige,  „Kerbe"  für  die  Zahlstäbe 
gebraucht;  allen  aber  liegt  der  Abschnitt  einer  Rute  zu  Grunde. 

F.  LOSCH. 

DIE   VORFAHREN  DES  JORDANES. 


Die  Stelle,  an  welcher  Jordanes  von  seiner  Abstammung  nähere 
Kunde  gibt,  lautet  nach  der  Ausgabe  von  Mommsen  Mon.  Germ,  bist.; 
Auetor.  V,  p.   126: 

Scyri  vero  et  Sadagarii  et  certi  Alanorum  cum  duce  suo  nomine 
Candac  Scythiam  minorem  inferioreraque  Moesiam  acceperunt.  cuius 
Candacis  Alanoviiarauthis  patris  mei  genitor  Paria,  id  est  meus  avus, 
notarius,  quousque  Candac  ipse  viveret,  fuit,  eiusque  gerraanae  filio 
Gunthicis  (Gunthigis),  qui  et  Baza  dicebatur,  mag.  mil.,  filio  Andages 
(Andagis)  fili  Andele  de  prosapia  Amalorum  descendente,  ego  item 
quamvis    agramatus  Jordannis    ante    conversionem    meam  notarius  fui. 

Der  Name  des  Vaters,  im  Texte  als  Genitiv,  wäre  also  Alanovii- 
amuth,  woran  Mommsen,  Vorrede  VI  und  Index  p.  146,  festhält, 
indem  er  glaubt,  Paria  habe  seinem  Sohne  etwa  zu  Ehren  des  alani- 
schen Fürsten,  dem  er  diente,  einen  Namen  beigelegt  „cum  Alanorum 
vocabulo  nescio  quomodo  compositum".  MüllenhofF  aber,  welcher 
wohl  sah,  daß  Alanoviiamuth  ganz  unmöglich  'ein  gotischer  Name 
sein  könne,  hat  an  der  bezogenen  Stelle  des  Index  zur  Mommsen- 
schen  Ausgabe  denselben  in  zwei  Genitive,  Alanovii  und  Amuthis, 
zerlegt,  von  denen  der  erste  auf  Candac  bezogen,  während  der  zweite 
als    der  Name    des  Vaters    erklärt   wird.    Alanovius  mit  Verwendung 


DIE  vorfahrem  des  jordanes.  407 

des  ölavisclien  8uttixes  ovtt ,  welches  als  avit  ins  Kumäuischc  Uber- 
Domraen  wurde  und  hier  wie  dort  Adjective  bildet ,  wäre  demnach 
„der  aus  alanischem  Geschlecht  Entsprossene"  und  Amuth  erinnert 
Müllenhoff  an  (jahamoths  äifövödusvog ,  wogegen  Mommscn  einwendet, 
daß  eine  Ableitung  Alane  vi  us  selbst  in  irgend  einem  verdorbenen 
Voikslatein  unmöglich  sei. 

Die  Frage  nun  nach  dem  wahren  Namen  des  Vaters  Hudct  ihre 
gedeihliche  Lösung  weder  mit  Mommsen  noch  mit  MülleuhofF,  denn 
es  ist  zu  trennen  alano  uiiamuthis,  und  Uiiamuth ,  d.  i.  got.  Veiha- 
moths,  hat  der  Sohn  des  Paria  geheißen. 

Der  erste  Theil  dieses  Namens,  in  welchem  das  lange  i  mit 
seltener  Treue  durch  ii  gegeben  ist,  während  das  schwache  gotische  h 
ausfiel,  gehört  ohne  Zweifel  zu  got.  veihan  stv.  kämpfen,  genauer  zu 
einem  Nomen  entsprechend  dem  germ.  vtha  n.  Kampf,  Streit  bei  Fick' 
III,  303,  ein  Element,  welches  in  ahd.  und  ags.  Namen  so  bekannt 
ist,  daß  ich  keine  Beispiele  vorzuführen  brauche;  der  zweite  Theil 
aber,  bei  Jordanes  selbst  in  den  gotischen  Namen  Beremud,  Evermud, 
Thorismud  wiederkehrend,  ist  augenscheinlich  nichts  Anderes  als  ein 
dem  ahd.  -r/,dt  (Graff  II,  687  ff.),  as.  -mod  in  (jeli/iöd  Ubermüthig  u.  a. 
entsprechendes  Adj.  vioths  gemuthet,  erregt,  von  Leidenschaft  bewegt, 
und  Veihamoths,  dem  bei  Goldast  Alaman.  Antiqu.  II,  151  eine  weib- 
liche Uuihmuot  gegenübersteht,  bedeutet  mithin   „der  Kami)fmuthige". 

An  der  Lesung  uiiamuthis  ist  nicht  zu  zweifeln.  Vier  der  von 
Mommsen  benützten  Handschriften  gewähren  sie,  darunter  die  drei 
ältesten,  nur  ein  i  unterdrücken  die  drei  Handschriften  der  dritten 
Gruppe  nach  Mommsens  Eintheilung,  Vorrede  LXXII,  und  bieten 
uiamuthis  gleich  der  ersten  Niederschrift  des  Codex  Palatinus,  welche 
aber  vom  Schreiber  selbst  noch  in  uiiamuthis  corrigiert  wurde,  die 
beiden  ii  in  u  verlesen  haben  der  Cod.  Breslaviensis  uuamuthis  und 
der  Atrebatensis  mit  einer  weiteren  Verderbung  uuamocthis. 

Das  vorausgehende  alano  ist  einstimmig  dargeboten,  nur  der 
Breslauer  Codex  hat  alani,  und  es  ist  klar,  daß  der  Schreiber  des 
letzteren  mit  seiner  Form  entweder  einen  selbstverschuldeten  Fehler 
oder  eine  Correctur  auf  eigene  Rechnung  überliefert,  denn  der  Codex 
Ottobonianus,  welcher  nach  ]\Iommsen  von  derselben  Vorlage  abge- 
leitet ist  wie  der  Breslauer,  besitzt  alano. 

Um  dieses  alano  zu  erklären,  muß  ich  mich  auf  das  beziehen, 
was  iMommsen,  Vorrede  XLV  über  die  Jordanes-Hss.  mittheilt. 

Sämmtliche  Handschriften,  sowohl  diejenigen,  welche  das  ]\Iittel- 
alter    kannte,    als    auch  die  uns  heute    vorliegen,    gehen    auf    einen 


408  TH.  V.  grienbI:rger 

Archetypus  zurück,  welcher  bereits  Fehler  enthält,  die  von  ihm  in 
alle  Abschriften  übergingen  und  nachweislich  allen  geraeinsam  sind. 
Diese  Lesefehler  sind  zum  Theil  aus  den  Verwechslungsmöglich- 
keiten der  Uncialis,  zum  Theil  aus  denen  der  schottischen  (irischen) 
Schrift  zu  erklären.  Der  Archetypus  war  in  der  scriptura  continua 
angelegt  und  enthielt  einige,  wenn  auch  nicht  gerade  zahlreiche  Ab- 
kürzungen, welche  sich  im  Heidelberger  Codex  und  den  übrigen  besseren 
Handschriften  wiederfinden. 

Eine  derartige  Abkürzung  muß  alano  sein. 

Berücksichtigen  wir  nun,  daß  bei  der  Uncialis  die  Buchstaben 
D  und  0  verwechselt  werden  können,  weßhalb  schon  Dietrich,  Aus- 
sprache des  Gotischen  den  Anführer  Thuruaro  bei  Jordanes  als 
Thuruard  erklären  wollte,  so  dürfen  wir  statt  ALANOUiiAMUThiS  ein 
ursprüngliches  ALAN .  5 .  uilAMüThiS  herstellen,  d.  i.  aufgelöst  Alanorum 
ducis,  eine  Apposition,  welche  zum  vorausgehenden  Genitiv  Candacis 
gehört  und  wohl  nur  deshalb  gekürzt  alän.  d.  geschrieben  wurde,  weil 
die  Bezeichnung  des  Candac  als  alanischen  Herzogs  schon  in  dem 
unmittelbar  vorausgehenden  Alanorum  cum  duce  suo  ausgedrückt  ist. 
Daß  noch  in  demselben  Satze  die  Kürzung  mag.  'ml.  für  magistro 
militum  folgt,  darf  für  diese  Annahme  als  eine  erwünschte  Befestigung 
in  Anspruch  genommen  werden. 

Ist  nun  der  Name  des  Vaters  gotisch  und  entfällt  nach  meiner 
verbesserten  Lesung  jedweder  Grund,  wie  noch  Mommsen,  Vorrede 
VI,  VIT  geneigt  ist,  aus  dem  Wortungethüme  Alanoviiamuthis  auf  eine 
alanische  Abstammung  des  Jordanes  zu  schließen,  entgegen  seiner 
bestimmten  eigenen  Aussage,  mit  welcher  er  sich  bekanntlich  am  Ende 
der  Getica  zur  gotischen  Herkunft  bekennt,  so  werden  wir  uns  an- 
geregt finden,  auch  den  Namen  des  Großvaters  für  das  Gotische 
gewinnen  zu  suchen. 

Der  Name  des  Großvaters  lautet  in  den  Handschriften  der 
ersten  Ordnung  nach  Mommsens  erwähnter  Gruppierung  paria  und 
so  auch  bei  denen  der  zweiten,  welche  nur  eine  falsche  Zusammen- 
ziehung parialdemeus  für  paria  id  e.  meus  gewähren,  bei  den  drei 
Handschriften  der  dritten  Ordnung  ist  er  in  patria  entstellt. 

Soll  nun  paria  ein  gotischer  Name  sein,  so  muß  abermals  ein 
Fehler  im  gemeinsamen  Archetypus  angenommen  werden,  denn  paria 
läßt  sich  im  germanischen  Namenschatze  kaum  unterbringen. 

Ich  bin  der  Ansicht,  daß  der  Name  in  faria  herzustellen  sei 
und  verlege  auch  hier  den  Ursprung  des  Fehlers  in  das  Gebiet  der 
Uncialis,  wo  F  und  P  verwechselt  werden  können.  Möglich  wäre  frei- 


DIE  VORFAHREN  DES  JORDANES.  409 

lieh  aucli ,  daß  der  Name  ursprünglich  pluiria  gt'.schrieben  war  und 
nur  sein  h  verloren  hat,  aber  Jordanes  schreibt  Romana  p.  48  den 
herulischen  Feldherrn  Fara  mit  /,  nicht  mit  pli,  und  somit  darf  auch 
der  Name    des  Großvaters    mit  /  in   Uncialis  FAUIA    erwartet    werden. 

Faria  ist  aber  offenbar  ein  swra.  noni.  agentis  zu  got.  farjan, 
ahd.  ferren,  ubarferran  transfretare  und  entspricht  genau  dem  ahd. 
ferjo,  swm.  nauta  der  ferge.  Viiamuth  ist  ein  voller  germanischer 
Name,  Farja  aber  nur  ein  Beiname,  den  der  Großvater  neben  einem 
anderen  unbekannten  Eigennamen  geführt  liaben  muß,  sowie  der 
Gote  aus  dem  amalischen  Stamme,  bei  welchem  Jordanes  als  Notar 
bedienstet  gewesen,  zwei  Namen  führt:  Gunthigis  qui  et  Baza,  von 
denen  der  componierte  der  eigentliche  ist. 

Sehr  wahrscheinlich  ist  es,  daß  auch  Jordanes  vor  seiner  con- 
versio  einen  nationalen  Namen  geführt  hat,  den  wir  nicht  kennen, 
wie  ,z.  B.  die  geistlichen  Minnulus  und  Danihel  der  gotischen  Kirche 
Anastasia  zu  Ravenna  in  der  bekannten  Neapler  Urkunde  auch  die 
nationalen  Namen  Uuillienant  und  Igila  führen  und  mit  diesen  Namen 
die  Urkunde  fertigen.  Für  diesen  nationalen  Namen  einen  Anhalt  in 
der  Form  Jornandis  zu  suchen,  welche  au  unserer  Stelle  die  Hand- 
schriften der  zweiten  Gruppe  darbieten,  wäre  verfehlt,  denn  wenn 
schon  -nandis  an  das  got.  -nanths  erinnert,  so  ist  doch  jor-  nicht  er- 
klärbar, am  allerwenigsten  gewiß  aus  „Eber",  wie  Grimm  gewollt  hat. 
In  welcher  Form  dieses  Wort  erscheinen  müßte,  wenn  es  als  erster 
Theil  vorläge,  das  zeigen  ja  aufs  deutlichste  die  gotischen  Namen 
Evermud  und  Euervulfus  bei  Jordanes  selbst. 

So  merkwürdig  auch  der  Irrthum  sei,  es  kann  jornandis  schließ- 
lich doch  nichts  Anderes  sein  als  eine  Buchstabenversetzung  aus 
jordannis,  bei  welcher  die  Zahl  der  Lettern  die  gleiche  blieb  und 
nur  das  d  und  das  zweite  n  ihre  Plätze  vertauscht  haben.  Ich  möchte 
dem  noch  hinzufügen,  daß  ich  das  quamvis  agrammatus  der  aus- 
gehobenen Stelle  nicht  mit  Mommsen,  Vorrede  VI  als  den  Ausdruck 
einer  in  Anbetracht  seines  mangelhaften  Lateins  hinlänglich  gerecht- 
fertigten Bescheidenheit  des  Jordanes  betrachte,  denn  ich  beziehe  das 
quamvis  agrammatus  nicht  auf  die  Zeit,  da  er  seine  Romana  und 
Getica  schrieb,  sondern  auf  jene,  da  er  Notarius  war  und,  so  wie 
ich  den  Passus  verstehe,  Avill  Jordanes  mit  demselben  nichts  Anderes 
sagen,  als,  daß  er  vor  seiner  conversio,  welche  ihm  erst  eine  höhere 
Bildung  vermittelte,  trotz  seiner  damaligen  geringen  Kenntnisse  das 
Amt  eines  Notarius  bei  Gunthigis  versah. 

.SALZBURG,  18.  Jänuer  1889.  THEODOR  V.  GRIENBERGER. 


410  TH.  V.  GRIENBERGER,  feRILlVA. 

ERILIVA. 


Dem  Urtheile  Müllenhoffs  nomen  esse  germanicum  nemo  pro- 
babit',  womit  er  im  Index  zur  Mommsen'schen  Jordanesausgabe  den 
Namen  der  Mutter  Theoderiks  des  Großen  bei  Seite  schob,  steht  die 
bestimmte  Aussage  des  Anonymus  Valesianus  c.  58  gegenüber:  mater 
Ereriliva  dicta  Gothice  catholiea  quidem  erat,  quae  in  baptismo 
E^usebia  dicta  est. 

Bei  Jordanes  heißt  die  Kebse  Thiudimers,  welche  ihm  den  Theo- 
derik  gebar,  Ereheua,  und  nur  die  zwei  Handschriften  der  dritten 
Ordnung  nach  Mommsens  Eintheilung,  der  cod.  Cantabrig.  und  Berolin. 
bieten  dazu  die  Varianten  hei'ilieua  und  herili  sua,  von  denen  die 
erste  bloß  um  ein  wohl  unorganisches  h  vermehrt  ist,  die  zweite  aber 
einer  falschen  Auffassung  (d.  i.  adj.  herilis  -\-  pron.  suus)  der  schlecht 
gelesenen  Stelle  quam  vis  de  herilieua  concubina  ihre  Entstehung  verdankt. 

Besehen  wir  uns  die  Angabe  des  Anon.  Vales.,  so  wird  uns  so- 
fort klar,  daß  die  Verdopplung  des  er  von  dem  vorhergehenden  Worte 
mater  herrührt,  und  daß  wir  mit  Beseitigung  dieser  graphischen 
Wucherbildung  mater  Eriliva  zu  lesen  haben,  wozu  auch  des  Paulus 
diac.  Arileua  stimmt.  Wir  erhalten  demnach  als  Vocal  des  zweiten 
Theiles  den  Wechsel  von  i  und  e  und  werden  dadurch  in  den  Stand 
gesetzt,  die  Form  Erelieua  der  Jordanes-Hss.  auf  ein  ursprüngliches 
ereiiua  zurückzuführen,  bei  welchem  der  Tilgungspunkt  übersehen 
und  das  übergeschriebene  e  in  das  Wort  heruntergenommen  wurde. 
So  entstand  bei  Keinz,  Indicul.  Arnonis  ein  p.  n.  heraliant  aus  dem 
heralint,  d.  i.  heralant  der  Hs.,  die  ich  selbst  eingesehen  habe. 

Es  ist  also  Ereleva  mit  Wechsel  zu  i  Eriliva  der  authentische 
Name  der  Kebse  Thiudimers. 

Was  den  ersten  Theil  des  Namens  anbelangt,  der  doch  wohl 
auch  in  Erarius  rex  Gothor.  a.  541  bei  Jordanes,  Aerarius  im  catalog. 
imperatorum  etc.  Farfensis.  Mon.  Germ.  Scriptor.  rer.  Langobard. 
p.  521  vorliegt,  so  wird  eine  andere  Anknüpfung  als  germ.  aira 
f.  Ehre,  Fick^  III,  4  kaum  möglich  sein,  und  des  Paulus  diac,  Ari- 
leua wird  dem  Aerarius  gemäß  als  Aerileua  aufzufassen   sein. 

Das  di  ist  bei  Jordanes  in  ä  verengt  und  das  r  wird  wohl  auch 
schon   dem   späteren  Got.  gemäß   gewesen  sein').    Wenn  Förstemann, 


')  Vgl.    die    Glosse   gairu    im    cod.  Ambros.    zu    2.  Cor.    12,  7    gegen   gaetum, 
Qaeaatea, 


W.  GOLTHER,  DIE  SPRACHBEWEGUNG  IN  NORWEGEN.  411 

Sprachstaram  II,  199  für  ahd.  em  ein  got.  aiza  vcrrauthet  uuJ  diebe 
Annahme  auf  den  burgundischen  Frauennamen  Aisaberga  vom  Jahre 
491  stützt ,  so  brauelite  man  dies  als  zwingend  zwar  nicht  anzuer- 
kennen, denn  Aisaberga  ließe  sich,  wie  schon  Wackernagel  gethan 
hat,  ganz  leicht  aus  atz,  Erz  erklären.  Aisaberga,  die  das  Erz  birgt, 
wäre  ja  ein  trefflicher  Frauenname,  sei  es,  daß  er  in  kriegerischer,  sei 
es  in  friedlicher  Weise  bezogen  werde,  aber  allerdings  kann  mit  Hin- 
sicht auf  die  Wurzel  a/i?  Fick'  III,  5,  zu  welcher  <n-a  offenbar  gehört, 
an  seiner  germanischen  Grundform  aiza  nicht  gezweifelt  werden,  und 
Ficks    aira   ist    demgemäß  zu  berichtigen. 

Der  zweite  Theil  ist  als  sicheres  gotisches  Namenselement  nach- 
weisbar bei  dem  Diacon  Gudilebus  (dreimal),  Gudiliuus  (einmal)  der 
Urkunde  von  Arezzo,  welcher  in  der  eigenhändigen  Fertigung  des 
lateinischen  Urkundentextes  sich  nach  Rlaßraanns  Lesung  schreibt 
ik  Gudilaib.  dkn,  sowie  bei  dem  uatiaiius  der  Gotenkirche  S.  Anastasia 
zu  Ravenna  Gudeljuus  (zweimal),  welcher  in  der  bekannten  Neajjler 
Urkunde  erscheint.  Die  gotischen  Wörterbücher,  so  z.  B.  das  von 
Heyne  zu  seiner  Ulphilasausgabe,  5.  Auflage,  führen  den  Diakon  fälsch- 
lich als  Gudilub. 

Dieses  Gudilaib  (*gudei  swf.  pietas?)  kann  aber  nicht  das  be- 
kannte Element  -Idifs  enthalten,  sondern  in  Ansehung  der  lateinischen 
Transscription  -Uhus,  -limis  nur  ein  Element  laihs,  und  eben  dieses 
wird  auch  in  ereleva  anzusetzen  sein.  Gewiß  gehört  auch  dieses 
zum  Verbum  *leiban  und  darf  vielleicht  vivus,  vigens  bedeuten, 

SALZBURG  1889.  THEODOR  v    GRIENHERGER. 


DIE  SPRACHBEWEGUNG  IN  NORWEGEN. 

Germania  25  (1880)  S.  1 — 33  hat  mein  hochverehrter  Lehrer 
Konrad  Mai;rer  in  seiner  gewohnten  gründlichen  und  klaren  Dar- 
stellungsweise über  die  Sprachbewegung  in  Norwegen,  das  „j\I  aal  s  trte  v", 
berichtet.  Im  Anschluß  an  diesen  Artikel  sollen  hier  einige  Nachträge 
gegeben  werden,  welche  diejenigen  Erscheinungen  hervorzuheben 
beabsichtigen,  die  im  Verlaufe  der  letzten  Jahre  sich  herausbildeten, 
und  die  dazu  geeignet  sind,  das  Urtheil  über  das  Maalstrsev  wesentlich 
zu  bestin)raen.  Ich  nehme  auf  Maurers  Ausführungen  Bezug  und  sehe 
darum  billigerweise  davon  ab,  die  Entstehung  der  Sprachbewegung 
nochmals  zu  schildern.  —  Norwegen    gebraucht   die   dänische  Schrift- 


412  W.  GOLTHER 

spräche  als  Verkehrssprache;  seit  seiner  politischen  Loslösung  von 
Dänemark  hat  sich  das  Nationalgefühl  lebhaft  mit  dem  Gedanken 
getragen,  eine  eigene  norwegische  Schrift-  und  Umgangssprache  zu 
schaffen,  wodurch  das  Dänische  völlig  verdrängt  werden  sollte.  Diese 
Landessprache,  das  Landsmaal,  versuchte  Ivar  Aasen  in  Wirklichkeit 
festzustellen,  indem  er  auf  Grund  der  lebenden,  reichen  norwegischen 
Dialecte  (bygdemaal)  die  denselben  zu  Grunde  liegende  ideale  Ein- 
heit, gleichsam  eine  Normalsprache  wiederzugewinnen  suchte  und 
in  seinen  Schriften  zur  Anwendung  brachte.  Obwohl  Aasen  ein  be- 
wundernswerthes,  auf  tiefgehender  Kenntniß  beruhendes  Kunstwerk 
in  seinem  Landsmaal  zu  Stande  brachte,  so  kann  man  sich  doch  nicht 
verhehlen,  daß  eine  solche  Sprache  zu  künstlich  und  unnatürlich  sein 
muß,  um  ins  Leben  überzugehen,  in  Schi'ift  und  Rede  benutzt  zu 
werden.  Die  Entstehung  einer  Schriftsprache  ist  äußeren  Zufälligkeiten 
unterworfen;  sie  gründet  sich  stets  auf  einen  bestimmten  Dialect, 
nimmt  von  anderen  allenfalls  Einzelheiten  herüber;  ihre  Schöpfung 
liegt  in  der  Zeit  selber  begründet.  Umstände  besonderer  Art  wirken 
zusammen,  daß  die  in  ihr  verfaßten  Schriften  tonangebend  werden 
und  die  weitesten  Kreise  des  Volkes  durchdringen,  das  sich  dadurch 
gewöhnt,  litterarische  Werke  auch  in  einer  anderen  als  der  engen 
heimatlichen  Sprachform  zu  verstehen  und  gegebenen  Falles  selber 
in  dieser  Form  thätig  zu  werden.  Zum  Anderen  muß  der  erkorene 
Dialect  auch  ein  überall  verständlicher  sein,  d.  h.  z.  B.  auf  deutsche 
Verhältnisse  übertragen,  wäre  bayerisch  oder  alemannisch  ebenso- 
wenig wie  niederdeutsch  dazu  geeignet  gewesen,  den  Kern  einer 
lebensfähigen  Schriftsprache  abzugeben,  wohl  aber  vermochte  dies  ein 
Dialect  des  mittleren  Deutschlands,  der  den  beiden  Enden  in  der 
Verständlichkeit  entgegenkam.  Ein  Volksschriftsteller  in  des  Wortes 
wahrer  und  edler  Bedeutung,  sei  er  nun  Dichter  oder  Gelehrter,  kann 
zum  Schöpfer  einer  für  alle  anderen  maßgebenden  Sprache  werden; 
ob  dies  aber  heutzutage  noch  ebenso  möglich  wäre  wie  in  den  ver- 
gangenen Jahrhunderten,  dürfte  fraglich  erscheinen.  So  lange  der 
litterarische  Verkehr  ein  beschränkter  ist,  hält  es  nicht  schwer,  das 
gesammte  Gebiet  zu  beherrschen;  doch  bei  der  unermeßlichen  Viel- 
heit der  litterarischen  Erzeugnisse  unserer  Tage  dürfte  es  schlechter- 
dmgs  unmöglich  sein,  ein  ausschließliches  Übergewicht  zu  gewinnen 
und  zu  behaupten. 

Die  Schule  vermöchte  allerdings  ein  Machtwort  zu  sprechen  und 
eine  neue  Sprache  einfach  zwangsweise  durchzuführen.  Doch  würden 
sich    für    eine  Reihe    von  Jahren    die  unerquicklichsten  Unzuträglich- 


DIE  SPRACHBEWEGUNG  IN  NORWEGEN.  413 

keiten  ergeben,  indem  die  geistigen  Ausdrueksmittel  der  jungen  Gene- 
ration von  denen  der  alten  verschieden  wären,  die  mittlere  aber  vor- 
aussichtlich der  willkürlichsten  Regellosigkeit  anheimfiele.  Man  denke 
sich  etwa,  daß  die  Sprache  unserer  Reichshauptstadt  plötzlich  zur 
alleingiltigen  Schriftsprache  erhoben  würde  und  die  seither  gebrauchte 
verdrängen  müßte!  —  Aasens  Landsmaal  gründet  sich  aber  auf  ge- 
lehrte Abstraction;  die  norwegischen  Dialecte,  deren  es,  die  feineren 
Unterschiede  mit  veranschlagt,  über  400  gibt,  haben  allerdings  einen 
gemeinsamen  Grund,  schließlich  sogar  eine  gemeinsame,  fest  bestimmte 
Ursprache,  aus  der  sie  hervorwuchsen.  Wollten  wir  aber  diese  Einheit 
wiederherstellen,  so  müßten  wir  folgerichtig  geradewegs  in  vorhisto- 
rische Zeiten  zurückgreifen;  dann  ließe  sich  eine  Normalform  auf- 
finden, von  welcher  alle  Dialecte  in  genau  bestimmbaren  Übergangs- 
stufen  sich  ableiteten.  Um  nun  diese  Form  für  den  heutigen  Gebrauch 
zurecht  zu  machen,  müssen  die  Lautverhältnisse  der  betreffenden  Ur- 
formen in  der  jetzt  herrschenden  Umbildung  angesetzt  werden,  wobei 
aber  Worte  entstehen  können,  die  völlig  unverständlich  sind.  Eigent- 
lich müßte  überall  ein  solches  Verfahren  strenge  eingehalten  werden, 
damit  man  mit  Recht  und  Fug  behaupten  könnte,  das  norwegische 
Landsmaal  vereinige  alle  Dialecte  als  die  über  ihnen  stehende  Einheit 
in  sich.  Es  liegt  auf  der  Hand ,  daß  aber  in  weitaus  den  meisten 
Fällen  das  Verfahren  in  der  gedachten  Weise  rein  undenkbar  ist, 
da  die  älteren  Belege  für  viele  Worte  fehlen;  ferner  in  Bezug  auf 
Syntax  und  Bedeutungswandel  sich  unübersteigbare  Schwierigkeiten 
erheben;  mit  anderen  Worten:  die  Einheit  der  norwegischen  Dialecte 
in  einer  norwegischen  Gesammtsprache  bleibt  stets  eine  rein  wissen- 
schaftliche Abstraction,  genau  so  wie  das  Urgermanische  oder  Ur- 
arische, deren  Richtigkeit  zwar  nicht  dem  geringsten  Zweifel  unter- 
steht, die  aber  nie  in  die  Wirklichkeit  übersetzt  werden  kann,  zumal 
nie  in  Bezug  auf  die  zusammenhängende  Rede,  weil  die  einfachsten 
Grundbedingungen  hiezu  fehlen.  Angenommen  aber,  es  gelänge  wirk- 
lich, die  norwegische  Einheitssprache  in  allseitig  befriedigender  Art 
aus  den  Dialecten  heraus  zu  gewinnen  und  sie  von  dem  eben  dadurch 
mit  Nothwendigkeit  bedingten  alten  Entwicklungsstand  auf  den  gegen- 
wärtigen herunter  zu  führen,  so  daß  die  Grammatik  nirgends  mehr 
auf  Anstände  stieße,  so  würde  ein  solches  Landsmaal  merkwürdig 
genug  und  abgesondert  neben  den  übrigen  Schriftsprachen  der  Erde 
sich  ausnehmen,  da  es  nicht  auf  natürliche  Weise  ins  Leben  gerufen 
ward.  Zu  der  principiell  anfechtbaren  Grundlage  des  Landsmaal 
Aasens  tritt  aber  der  Umstand  hinzu,   daß  die  Einheit  eine  willkürliche 

GERMANIA.     Neue  Reihe.  XXII.  (XXXIV.)  Jubrg.  28 


414  W.  GOLTHER 

ist,  d.  h.  trotz  aller  Bemühung  eben  doch  nicht  auf  allen  norwegischen 
Dialecten  beruht,  sondern  auf  dem  von  Söndmöre.  So  ist  es  nicht  zu 
verwundern,  wenn  bei  den  verschiedenen  Verfassern,  welche  selbst- 
thätig  in  die  Frage  eingriffen,  das  Landsmaal  Ivar  Aasens,  auch  wenn 
sie  von  Hochachtung  für  dasselbe  erfüllt  sind  und  ihm  zu  folgen  die 
Absicht  haben ,  allerlei  Veränderungen  erleidet.  Fjortoft  sprach  sich 
dahin  aus,  daß  die  Sprachstreber  sich  so  gut  als  möglich  an  Ivar  zu 
halten  hätten;  aber  er  wolle  kein  Czar  und  kein  Papst  sein,  sondern 
Jeder  dürfe  nach  dem  Rechten  suchen.  Ivar  Hoyem  äußerte  sich  in 
ähnlicher  Weise  in  seiner  Norsk  mällsere  (Nidaros  1880):  „Es  versteht 
sich  von  selber,  daß  Ivar  Aasens  norwegische  Sprachlehre  und  Wörter- 
buch bei  der  Ausarbeitung  eines  solchen  Buches  die  Hauptquellen 
für  mich  gewesen  sind ;  und  wenn  ich  in  einzelnen  Fällen  etwas  ab- 
seits trete  von  dem  Wege,  den  Aasen  abgesteckt,  so  geschieht  es  in 
der  Hoffnung,  daß  der  Menge  damit  besser  gedient  wird."  Aasmund 
Vinje  schloß  sich  Aasen  an,  doch  treten  bei  ihm  die  Sprachformen 
von  Thelemarken,  seiner  Heimat,  so  stark  hervor,  daß  das  Gesammt- 
bild  seines  Landsmaal  eine  ausgeprägte  thelemärkische  Färbung 
trägt.  Aasen  hatte  eine  Orthographie  angewandt,  welche  auf  der 
Etymologie  der  Wörter  beruhte,  wie  in  den,  meisten  Schriftsprachen, 
und  auf  die  Phonetik  keine  Rücksicht  nahm.  Dem  gegenüber  verlangt 
Fjartoft  engeren  Anschluß  an  die  wirklich  gesprochenen  Dialecte; 
alles  Künstliche,  Fremde,  Todte,  Altnordische  soll  aus  der  Schreibweise 
verschwinden.  Obwohl  Fjartoft  wie  Aasen  aus  Söndmöre  stammt, 
unterscheidet  sich  sein  Landsmaal  in  Folge  davon  doch  bedeutend 
von  dem  Aasens.  Die  Consonanten  im  In-  und  Auslaute  sind  vielfach 
weggefallen,  so  daß  allerdings  der  Aussprache_^ damit  ihr  Recht  ein- 
geräumt wird,  aber  schwerlich  zu  Gunsten  der  Deutlichkeit.  Man 
denke  sich  das  Dänische  phonetisch  geschrieben  und  entsprechend 
norwegische  Lands-  oder  Bygdemaal,  so  würde  es  sehr  schwer  sein, 
überhaupt  nur  noch  die  Verwandtschaft  der  beiden  Sprachen  zu  er- 
kennen. Die  phonetische  Schreibart  sollte  thunlichst  ausgeschlossen 
bleiben;  denn  die  Schriftsprache  ist  einmal  zum  Verkehrsmittel, 
selbst  mit  dem  Ausland,  bestimmt.  Phonetische  Schreibung  darf 
angewendet  werden ,  wo  es  sich  um  die  Darstellung  eines  leben- 
den und  gesprochenen  Dialectes  handelt.  Außerdem  wird  sie  fast 
immer  von  der  subjectiven  Sprechweise  des  Einzelnen  beeinflußt, 
eignet  sich  also  wohl  für  diejenigen  Fälle,  wo  er  seinen  Dialect 
niederschreibt,  kann  aber  nicht  maßgebend  für  Landesangehörige  aus 
anderen  Gegenden  sein.  An  die  ostländischen  Dialecte  macht  Fj^rtoft 


DIE  SPRACIIBEWEGUNG  IN  NORWEGEN.  415 

einige  Zugeständnisse,  da  diese  natürlich  der  bislang  auf  das  West- 
land eingeschränkten  Sprachbewegung  ziemlich  fremd  gegenüber- 
gestanden waren.  Ähnlich  verfuhr  Steinur  Schjott  in  einer  Über- 
setzung der  Heimskringla.  Die  i)eiden  Genannten  nähern  sich  un- 
streitig mehr  einer  wirklichen  lebenskräftigen  Sprache,  indem  sie  in 
den  Dialecten  ihre  Stützen  suchen,  aber  sie  entfernen  sich  im  selben 
Verhältnisse  vom  Laudsmaal,  der  historisclu'n  Einheit  aller  Bygdamaal, 
auf  welcher  die  norwegische  Spraclic  sich  aufbauen  soll.  Arne  Garborg 
und  Ivar  Mortenson  verfaßten  im  Jahre  1885  eine  „Lesebok  i  det 
norske  folkemal  for  hogre  skular".  Auch  sie  entfernen  sich  von  Aasens 
Normalform  und  suchen  einzelne  Annäheruugspunkte  an  das  Ostland. 
Ein  hervorstechender  Zug  des  neuen  Laudsmaal  ist  die  Incousequenz 
in  Hinsicht  auf  die  Rechtschreibung  und  die  Grammatik,  die  aller- 
orts zu  Tage  ti'itt.  Neben  einander  werden  dieselben  Wörter  in  ver- 
schiedener Form  gebraucht,  z.  B.  moyer  und  moyar,  menn  und  menner, 
arbeid  und  arbeide  und  zahllose  andere  Beispiele.  Die  Schriftsprache 
muß  aber  vor  Allem  auf  ein  strengstens  durchgeführtes  einheitliches 
System  dringen,  sonst  zerfällt  sie  in  sich  selber.  Die  nordländische 
Sprache,  der  trondheimische  Dialect  hat  nun  unterdessen  auch  in  den 
Streit  eingegriffen  durch  die  beiden  Hoyem,  gebürtig  aus  ßynses, 
westlich  von  Trondheim.  Ivar  Hoyem  verfaßte  eine  Norsk  mullaere 
(Nidaros  1880)  und  O.  J.  Hoyem  eine  biblische  Geschichte,  „den 
heiige  Saga  og  Kjorkjesaga"  (Nidaros  1881),  welche  letztere  mit 
öffentlicher  Unterstützung  unter  dem  tröndischen  Volke  vertheilt  wurde, 
aber  trotzdem  wenig  Anklang  fand.  Es  stand  zu  erwarten,  daß  von 
Trondheim  die  Landsmaalfrage  jedenfalls  vielfach  neu  beleuchtet  wer- 
den müßte,  und  in  der  That  hat  eine  so  wichtige  Dialectgruppe  wie 
die  tröudische  bei  der  Schaffung  einer  gemeinsamen  Schriftsprache 
eine  gewichtige  Stimme.  Da  zeigt  sich  nun,  daß  Aasens  Landsraaal, 
überhaupt  die  gesammte  seitherige  wesentlich  westländische  Richtung 
den  tröndischen  Dialecten  sehr  ferne  steht;  bei  allem  Bestreben  der 
Hwyem,  Anschluß  an  das  erstere  zu  gewinnen,  ergibt  sich  doch  mit 
Deutlichkeit,  daß  der  Trönder  nur  ein  auf  seinen  Dialect  begründetes 
Laudsmaal  annehmen  kann,  daß  also  das  Landsmaal  von  diesem 
Standpunkt  aus  betrachtet  durchaus  kein  allgemein  giltiges  wird, 
sondern  ein  stets  an  verschiedenen  Theilen  des  Landes  auch  ver- 
schieden aufgefaßtes.  Mit  demselben  Rechte  natürlich,  wie  der  Trönder 
auf  dem  seinigen,  besteht  der  Bergenser  und  Thelemärker  auf  dem 
westländischen ,  und  keiner  dürfte  sich  geneigt  finden,  zu  Gunsten 
des  anderen  Verzicht  zu  leisten.   Dem  Trönder  Landsmaal  kommt  in 

28* 


41ß  W.  GOLTHER 

diesem  Sinne  negative  Entscheidung  über  die  Mögliclikeit  eines  all- 
gemeinen Landsmaal  zu.  O.  J.  Hayem  machte  den  originellen  Versuch, 
auf  Grund  des  neuen  Landsmaal  eine  deutsche  Grammatik  zu 
schreiben  unter  dem  Titel:  „Tysk  gjort  let  ved  norsk  Bygdamäl  og 
Landsmäl"  (Nidaros  1889).  Er  betont  im  Vorwort  des  kleinen,  101  Seiten 
umfassenden  Büchleins,  daß  vom  Norwegischen  aus  die  Erlernung 
des  Deutschen  leichter  sei  als  vom  Dänischen  und  Schwedischen,  in- 
dem die  beiden  letzteren  Sprachen  vieles  Altere  verloren,  das  im 
Norwegischen  noch  lebendig  ist  und  darum  mit  dem  Deutschen  über- 
einstimmt, wo  jene  nichts  Entsprechendes  mehr  aufweisen.  So  besitzt 
das  Norwegische  noch  drei  Geschlechter  gegenüber  den  zweien  im 
Dänischen  und  Schwedischen;  verschiedene  Casusformen  (Dativ) 
haben  sich  im  Norwegischen  erhalten  [freilich  ging  dafür  der  Genitiv 
verloren  und  muß  sich  das  Landsmaal  mit  umständlichen  Umschrei- 
bungen behelfen].  Diesen  praktischen  Vortheil  hat  aber  der  Norweger 
in  seinem  Dialecte,  und  er  vermag  ihn  auch  von  hier  aus  zu  benutzen, 
ohne  daß  er  der  Zwischenstufe  des  Landsmaal  bedarf,  so  daß  also 
dieser  Umstand  gerade  nicht  sehr  schwer  in  die  Wagschale  fällt. 

Wenn  wir  das  Landsmaal,  seitdem  es  durch  Aasen  in  die  Wirk- 
lichkeit übersetzt  wurde,  überblicken,  so  stellt  es  sich  als  ein  keines- 
wegs klarer  und  fester  Begriff  dar,  sondern  als  ein  wechselnder  und 
veränderlicher,  der  sich  bei  den  verschiedenen  Vertretern  immer  neu 
gestaltet.  Johan  Storm,  dessen  Ansichten  wir  auch  in  den  vorher- 
gehenden Erörterungen  zum  großen  Theil  folgten,  hat  in  einer  kleinen, 
höchst  werthvoUen  und  lesenswertlien  Schrift  „det  nynorske  Landsmaal" 
Kjebenhavn  1888,  8",  116  Seiten,  die  ganze  Frage  nochmals  zusammen- 
fassend beleuchtet,  und  erweist  an  vielen  Beispielen  nach,  wie  richtig 
sein  alter  Satz  ist,  daß  das  Landsmaal  eine  Sprache  sei,  „qui  a  le 
malheur  de  ne  pas  exister".  Von  einer  Einheit  der  grammatikalischen 
Form  ist  gar  keine  Rede,  und  doch  betonen  die  Maalstrsever  immer 
mit  besonderem  Nachdruck,  daß  es  gerade  auf  die  Form  ankomme, 
nicht  auf  ein  paar  Norwagismen,  welche  man  in  die  dänisch-nor- 
wegische Schriftsprache  einführe.  Nicht  einmal  der  Artikel  hat  eine 
einheitliche  Form  bei  den  verschiedenen  Schriftstellern;  die  gewöhn- 
lichsten Begriffe  erscheinen  überall  anders.  Z.  B.  schreibt  Aasen  für 
Hand  (manus)  Iiandi,  Vinje  hande  und  haanda,  O.  J.  Hayem  handa; 
für  Braut  (sponsa)  Aasen  brudi,  Vinje  hrudri  und  brude  und  brura, 
O.  J.  Hoyem  brudra.  Bei  den  selteneren  Ausdrücken  ist  die  Regel- 
losigkeit noch  ärger.  Nicht  einmal  ein  und  derselbe  Schriftsteller, 
Aasen    nicht    ausgenommen,  hält  an  einer  strengen  Einheit  fest.    Wie 


DIE  .SPKACIIHEWEGUNCt  IN  NOKWEGEN.  117 

kanu  man  aber  von  einer  derarti;^eu  Sprache,  die  in  iln-en  allerein- 
fachsten  Grundzügen  nicht  zur  rechten  Khirheit  vorzudringen  vermag, 
verlangen,  sie  solle  dem  gesammten  Volke  als  Verkehrsmittel  dienen? 
Sie  kann  eigentlich  schlechterdings  nicht  einmal  gelernt  werden,  son- 
dern immer  nur  die  individuelle  Auffassung  einzelner  Verfasser,  denen 
es  selbst  an  manchen  unerläßlichen  Vorbedingungen  gebricht.  Aasen 
hat  sicher  verhältnismäßig  das  denkbar  Beste  geleistet;  ihm  stand 
ja  auch  die  gründliche  philologische  Schulung  und  geschichtliche 
Sprachkenntniß  zu  Gebote,  ohne  welche  ein  Urtheil  in  sprachlichen 
Sachen  eben  unmöglich  ist.  Trotzdem  erwies  sich  sein  Landsinaal 
als  ungenügend,  weil  es  eben  ein  todtgeborenes  Kind  ist,  dem  keine 
andere  Macht  den  belebenden  Herzschlag  verleihen  kann,  als  eben  die 
Natur  selber,  die  hier  versagt.  Von  den  Nachfolgern  Aasens  läßt 
sich  das  Gleiche  nicht  behaupten.  Trotz  des  patriotischen  Eifers  ver- 
mögen viele  Maalstrsevere  nicht  einmal  Danismeu  und  Germanismen 
zu  vermeiden,  was  zur  Genüge  bekundet,  daß  es  ihnen  an  einer 
sicheren  geschichtlichen  Auffasung  entschieden  fehlt.  Man  darf  bei 
solchen  Dingen  nicht  zu  einseitig  vom  idealen  patriotischen  Stand- 
punkte ausgehen ,  sondern  muß  der  nüchternen  Betrachtung  und  Er- 
wägung Gehör  schenken,  um  sich  nicht  in  reine  Unmöglichkeiten  zu 
versteigen.  Storm  urtheilt  sicher  als  der  berufendste  Richter,  und  jeder 
Unbefangene  und  Urtheilsfähige  muß  seinen  Ansichten  vollkommen 
beipflichten.  Von  der  praktischen  Seite  aus  besehen  ist  das  Landsmaal 
hinfällig,  und  der  Bauer  wird  sich  nicht  damit  befreunden  können. 
Es  dürfte  sein  Bewenden  dabei  haben,  daß  die  norwegisch-dänische 
Schriftsprache  fortfährt,  sich  am  nationalen  Element  zu  kräftigen  und 
dadurch  eigenartig  genug  dem  Dänischen  sich  gegenüberzustellen. 
So  kommt  das  charakteristische  Norwegische  zu  Recht,  ohne  daß  das 
äußerst  nutzbringende  gemeinsame  sprachliche  Ausdrucksmittel  der 
beiden  nordischen  Staaten  aufgehoben  zu  werden  braucht.  Nicht  zu 
unterschätzen  beim  Landsmaal  ist  der  Umstand ,  daß  im  täglichen 
Verkehr  und  im  litterarischen  jedweder  Gattung  durch  das  letztere 
sehr  beträchtliche  und  durchaus  unnöthige  Schwierigkeiten  geschaffen 
würden.  Die  nordischen  Sprachen  stehen  ohnehin  schon  außerhalb 
der  allbekannten  und  allgekannten  europäischen,  und  es  ist  eine  ver- 
hältnißmäßig  geringe  Anzahl,  zu  der  jene  schönen  Idiome  unmittelbar 
reden.  Diese  wird  um  ein  Ziemliches  vermindert,  sobald  wir  mit  drei 
ausgesprochenen  Einzelsprachen,  statt  wie  bisher  mit  zweien  zu  rechnen 
haben.  Die  modernen  Zustände  drängen  aber  zum  Wechselverkehr 
hin,  nicht  zur  einseitigen  Isolierung,  durch  welche  ein  Volk  vielleicht 


418  W.  GOLTHER,  DIE  SPRACHBEWEGUNG  IN  NORWEGEN. 

nicht  unerheblich  geschädigt  werden  würde.  Man  könnte  davon  gerne 
absehen,  wenn  es  sich  darum  handelte,  eine  ursprüngliche  Sprache 
zu  erhalten.  Denn  die  Erhaltung  germanischer  Eigenart,  und  sei  es 
im  Geringsten  nur,  ist  wichtig  genug,  um  mit  Opfern  erkauft  zu 
werden.  Aber  im  gegebenen  Falle  handelt  es  sich  um  willkürliche 
künstliche  Sprachgebilde,  bei  denen  solche  Rücksichten  überhaupt  gar 
nicht  zum  Zuge  kommen.  Das  Maalstrsev  kann  demnach  nur  als 
dansk-norsk,  d.  h.  als  die  naturgemäße,  nicht  gewaltsam  vorwärts 
getriebene  Norwegisierung  der  bestehenden  Schriftsprache  thatsäch- 
liche  Bedeutung  gewinnen^).  —  Etwas  Anderes  als  das  künstliche  Lands- 
maal  wäre  die  Heranbildung  eines  besonderen  Dialectes  zur  Schriftsprache ; 
eine  derartige  Erschaffung  der  letzteren  ist  die  natürliche,  organische 
Entstehung,  wie  sich  auch  sonst  Schriftsprachen  entwickelten.  Jedoch 
fehlen  die  äußeren  geschichtlichen,  zwingenden  Umstände,  welche  gerade 
einen  bestimmten  Dialect  zur  Schriftsprache  erheben,  vollkommen,  und 
sind  in  der  Gegenwart,  wie  bereits  bemerkt,  nimmer  recht  denkbar.  Die 
willkürliche,  etwa  auf  sprachgeschichtliche  Gründe  gestützte  Auswahl 
eines  norwegischen  Dialectes  würde  bei  der  praktischen  Durchführung 
auf  gerechtfertigte  Widersprüche  stoßen ;  der  Trönder  würde  sich  fürs 
Bergensische  bedanken  und  umgekehrt.  Dagegen  kann  die  eingehende 
Beschäftigung  mit  den  einzelnen  Bygdemaal  aufs  angelegentlichste 
empfohlen  werden.  Gewiß  bleiben  diese  in  ihrer  ßeinheit  um  Vieles 
ungestörter,  wenn  in  der  Schule  und  im  öffentlichen  Leben  die  dänische 
Schriftsprache  herrscht,  weil  diese  nirgends  das  Einheimische  ver- 
drängt oder  verbessert,  sondern  als  eine  zweite,  gänzlich  verschiedene 
Sprache,  wie  im  Grunde  jede  Schriftsprache,  daneben  steht.  Wohl 
aber  könnte  das  unnatürliche  Landsmaal  die  Dialecte  empfindlich 
stören,  und  darüber  hätte  der  Patriotismus  mehr  Ursache  zu  klagen, 
als  über  das  Bestehen  einer  dänischen  Schriftsprache.  Die  moderne 
Sprachwissenschaft  ist  mehr  denn  je  geneigt,  dem  Dialect  volle  Be- 
rechtigung einzuräumen;  der  letztere  gibt  das  reichste  Material  für 
die  Geschichte  der  Gesammtsprache  an  die  Hand  und  lehrt  noch 
heutigen  Tages  die  morphologischen  Gesetze  kennen,  die  vor  Urzeiten 
herrschend  waren.  Der  norwegischen  Sprache  würde  unendlich  mehr 
Förderung  erwachsen,  wollten  sich  die  Bemühungen  statt  auf  das 
unfruchtbare  Landsmaal  auf  die  Bygdemaal  selber  und  ihre  genaue 
Erforschung    richten.    Unstreitig    sehr   richtig    ist    auch   der  Gedanke, 

*)  Es  verdient  angemerkt  zu  werden,  wie  sich  norwegische  Schriftsteller  zur 
Frage  stellen.  Vgl.  die  Kritik,  welche  Ibsen  im  „Peer  Gynt"  durch  die  Gestalt  „des 
Sprachverbesserers  Huhu"   über  die   Sache  ausspricht. 


R.  SPRENGER,  ZU  GERHARD  VON   MINDEN.  410 

den  Sturm  andeutet,  die  Schule  solle  neben  der  Erlernung  der  däuiseli- 
norwegischen  Schriftsprache  Gewicht  darauf  legen,  daß  die  Schüler 
aus  einer  entsprechend  eingerichteten  Chrestomathie  die  Bygdemaal 
lesen  und  verstehen  lernen.  Nicht  nur  in  Norwegen,  sondern  auch  in 
Deutschland  wäre  es  von  Werth ,  wenn  die  Schule  weniffstens  ciniije 
Andeutungen  und  Winke  dem  Schüler  über  das  Verhältnis  der  Schrift- 
sprache und  des  Dialectes  zukommen  ließe,  von  dem  die  Wenigsten 
auch  nur  die  leiseste  Ahnung  haben;  zumeist  M'ird  in  Laienkreisen 
der  Dialect  als  Elntartung  der  Schriftspraclu!  heutigen  Tages  noch 
aufgefaßt.  Diesem  Übelstand  wäre  so  leicht  abzuhelfen ,  wenn  anders 
nur  der  Unterricht  in  der  Muttersprache  auch  überall  endlich  zu 
gebührenden  Ehren  erhoben  würde. 

MÜNCHEN,   1.  Mai   1889.  W.  GOLTHER. 


ZU  GERHARD  VON  MINDEN. 

Bemerkungen  zu  Seelmanns  Ausgabe  der  Gedichte  Gerhards 
theilte  ich  zuerst  im  Osterprogramm  des  hiesigen  Realprogymnasiums 
vom  Jahre  1879  mit,  worauf  ein  zweiter  Aufsatz  im  Jahrbuche  des 
Vereins  für  niederdeutsche  Sprachforschung  IV,  S.  98  folgte.  P^inen 
längeren  Aufsatz  zur  Kritik  und  Erklärung  der  Gedichte  ließ  sodann 
Damköhler  im  Niederd.  Jahrb.  XIII,  75  erscheinen,  nachdem  er  schon 
vorher  seine  Meinung  über  einzelne  Stellen  im  Korrespondenzblatt  des 
Vereins  mit  mir  ausgetauscht  hatte.  Hieran  schließen  sich  die  nach- 
stehenden Bemerkungen,  welche  bei  wiederholter  Lesung  im  Laufe 
der  letzten  Jahre  niedergeschrieben  sind. 

NORTH EIM.  R.  SPRENGER. 

Prol.  54  in  dumheit  tit  ist  unverständlich.  Es  ist  wohl  in  tlt  zu 
lesen  =  'zu  rechter  Zeit';  rahd.  enzite.  Darauf  führt  aucli  die  an- 
geführte Stelle  des  Cato:  Insipiens  esto  quum  terapus  postulat.  Vgl. 
in  half  'zur  Hälfte'  IV,  50. 

2,  21     De  xoulf  s-prak:   'Dat  i'.s  schult  genöch 

van  dl,  dat  dm  drank  mi  geroch, 

de  mit  di  moste  sin  verJomel; 

dut  vlet  drovet  unde  tclomet, 

dat  ik  if  drinken  nicht  enmach. 
Die  Verse    sind    unverständlich ,    und  auch  der  Herausgeber    hat  sich 
vergeblich  um  ihre  Deutung  bemüht.  Zunächst  ist  es  der  Form  nach 


420  K.  SPRENGER 

unmöglich,  daß  geroch  zu  geruken,  riechen  gehören  soll,  wie  er  in  der 
Wortlese  annimmt;  auch  würde  diese  Bedeutung  nicht  in  den  Zu- 
sammenhang passen.  Sodann  ist  es  auffällig,  daß  wlomen  nur  an  dieser 
Stelle  in  intransitiver  Bedeutung  vorkommen  sollte,  während  es  sonst 
stets  'trübe  machen'  bedeutet.  Dies  ist  um  so  auffälliger,  als  auch  in 
der  entsprechenden  Fabel  des  Wolfenbüttler  Aesop  II,  13  der  Hand- 
schrift das  Lamm  spricht:  ive  mochte  ich  wlomen  dinen  drank?  Auch 
für  droven  ist  die  Bedeutung  'trübe  sein'  durch  keine  weitere  Stelle 
belegt,  seitdem  es  in  v.  Kellers  Fastnachtspielen  967,  10  durch  Seel- 
mann richtig  in  doven  gebessert  ist.  Ich  glaube,  daß  die  Stelle  ver- 
derbt und  folgendermaßen  zu  bessern  ist: 

De  wulf  sprak:  Dat  is  schult  genoch 
van  di,  dat  dm  drank  mi  gedroch, 
de  mit  di  moste  sin  ver dornet; 
dut  vlet  he  drovet  unde  iclomet, 
dat  ik  it  drinken  nicht  enmach. 
Dadurch,  daß  das  Lamm  angeblich  das  Wasser  getrübt  hat,  will  der 
Wolf  um  seinen  Trank  betrogen  sein.  Er  sagt  von  dem  Lamme  auch 
V.  13  du  dregest  wulle  unde  hörn  dorch  drogene. 
3,   100    unde  loorden  vast  aldus  gebunden 
mit  einem  vaden,  den  se  vunden 
daraf  geneget  was  ein  hot  (:  vlot). 
Ich  bleibe  bei  der  handschriftlichen  Lesart  und  übersetze:  Mit  einem 
Faden,  womit  ein  Hut  genäht  gewesen  war.  Seelmann  hat  dafür  das 
landschaftlich    begrenzte    bot  'Endchen*   gesetzt,    das    sich  im  älteren 
Niederdeutsch  nicht  belegen  läßt,    denn  17,  13,    wo  der  Herausgeber 
dieses  Wort   ebenfalls   finden   will,    ist  verderbt.     Was   geneget  heißen 
soll,    hat  er  uns    nicht   gesagt.    Man  wird  zunächst  an  neien,    neigen, 
neggen    nähen'  denken,  und  dies  ist  denn  auch  das  Richtige,  während 
Damköhler   sich   durch  Seelmanns  Conjectur   verleiten   läßt,    ein,  wie 
er  selbst    gesteht,    im  Mnd.    nicht    belegtes    nagen  =  gnagen,    knagen 
'nagen'    anzusetzen,    was    um  so  bedenklicher    ist,    als    auch  für  das 
hochdeutsche  nagen  der  Umlaut  nicht  erwiesen  ist. 

6,   15    de  xoeder  sprak  der  bute  vro. 
Statt   bitte   hat    die  Hs.    hude  'Hut',    welches  richtig  ist,    da  hude  und 
warde  (V.  9),    wie  das  Mnd.  Wb.  2,  276  zeigt,    synonym  sind.    Vgl. 
die  im  Mnd.  Wb.  citierte  Stelle  Niederd.  Rechtsb.  f.  181:  unde  holden 
de  hoede  unde  warde. 

6,  14    Na  sinem  rechte  he  do  on  wrachte. 
Die  Hs.  hat:  to  on,  und  zu  lesen  ist:  he  to  om  ivrachte  'that  er  mit  ihm'. 


zu  GERHARD  VON  MINDEN.  421 

7,   13     De  toise  man  sprak  dnsse  rneie, 
dat  it  da-  sunnen  tcille  wcre 
ök  wis,  dat  he  loolde  iiemen 
ein  echte  tvtf  .  .  . 
Über  diese  Stelle  hat  zuletzt  Damköhler  im  Niederd.  Jahrbmli  Xlll,  7;") 
j^esprochen.  Er  wendet  sich  daselbst  Regen  meine  frühere   iMklariin^, 
welche  in  dem    handschriftlichen    icisr    eine  Verbform    sah,    und  halt 
dagegen  an  des  Herausgebers  wis  fest,  von  dem  er  aber  leider  eben- 
sowenig wie  Jener  sagt,  was  es  bedeuten  soll.   Auch  seine  Auflösung 
in   lüis  en,   indem  er  en  =  'und'  falit,  scheint   mir   nicht  annehmbar. 
Ich  vermuthe,  daß  zu  schreiben  ist  ok  wes  en  'und  gab  ihn   (den  Willen) 
zu  erkennen  .    wes    ist  starkes  Praeteritum    zu  wiscu ,    welches    selten 
ist  '),    wodurch  die  Veranlassung  zur  Verderbniß  gegeben   wurde. 
7,  31     Dit  hispel  wil  de  jene  leren, 
de  geiifie  hedden  vele  heren, 
dat  se  sik  vorivandeln  mochten 
vnd  ere  des  jdres  vele  besuchten. 
Diese  Stelle    scheint  mir  auch  von  Damköhler  noch  nicht  richtig  ge- 
deutet.   Im  Aesop.   moral.    heißt  es:    Jsta  fabula  docet,    quo  melius  est 
habere    unum   principtm    quam    plures.    nam  si  plures  sinl,    quilibei   sibi 
vindicat   servitium  et  honorem,    quibus  su/ßcere   nequeiint  subditi.    Das 
läßt    doch    wohl    darauf  schließen,    daß  en'   nicht   als  Pronom.  poss., 
auch  nicht  als  Gen.  Plur.  des  Pronom.  personale  zu  fassen  ist,    son- 
dern  =  honor.    Ich    übersetzte:    'Diese  Fabel    will  Diejenigen  lehren, 
die  gern  viele  Herren  hätten:  daß  sie   (die  Herieo)   sich  in  da.s  Gegen- 
theil    (von    dem    was    man    erwartete)    verkehren    und   das  Jahr  über 
viele  Ehre    von    ihnen    beanspruchen    möchten.'    Auch    die    folgenden 
Verse:  Ein  here  is  ok  beter  denne  twe, 

went  men  gelike  jo  nicht  se 
ne  mach  mit  denste  moden. 
dürften  mit  näherem  Anschluß  an  die  Vorlage  zu  erklären  sein:  'Ein 
Herr  ist  auch  besser  als  zwei,  weil  man  ihnen  nicht  in  gleicher  Weise 
(wie  einem)   mit  Dienst  Genüge  leisten  kann.'   moden  muß  hier  etwas 
Ahnliches  bedeuten,  wie  sufficere  'zu  Willen  sein',   worauf  ja  die  Glosse 
im  Mnd.  Wb.  III,   106  moden  vel  ayinioden,   insinuare  führt. 
8,    1     Ein  wulf  dorch  sin  girichede 
grot  let  to  etiem  male  dede 


')  Doch    .siehe  die  im  Mnd.  Wb.    angeführte  Stelle  aus  den   Monum.  Jjivi.n    4', 
195  unde  wes  uns  alle  segel  unde  breue. 


422  R-  SPRENGER 

Da  let  dön  nur  heißen  kann  „Leid,  Schmerz  zufügen",  so  glaubt  Dam- 
köhler Jahrb.  XIII,  76,  daß  die  Stelle  entstellt  sei.  Ich  glaube,  daß 
nichts  zu  ändern  ist,  und  erkläre  dorch  als  contrahierte  Form  von 
dorich  „thöricht".  Ein  muti  dann  unflectierte  Form  des  Dativs  sein, 
wie  sie  sich  nach  dem  Mnd.  Wb.  z.  B.  in  der  Münster  Chron.  1,  277 
findet.  Es  ist  also  zu  übersetzen:  „Einem  thörichten  Wolfe  fügte 
einst  seine  Gier  großes  Leid  zu". 

9,  19    Darna  tvol  over  seveit.  iveken 

begtmde  se  darumme  spreken 

unde  hat  se  harde  gunstliken, 

dat  se  ore  loolde  untwiken, 

als  an  der  not,  se  let  darinne. 
V.  23  erklärt  Seelmann,  indem  er  Ausfall  des  Relativums  annimmt: 
'in  Anbetracht  der  Noth,  welche  sie  darin  litte'.  Dies  ist  aber  schon 
deshalb  falsch,  weil  die  Hündin  der  Schwangeren  ja  ihre  ganze  Wohn- 
stätte eingeräumt  hat  und  erst  jetzt  wieder  Einlaß  verlangt.  Es  ist 
zu  schreiben: 

dat  se  ore  wolde  untwiken, 
alse  all  der  not  se  let  darinne. 
„Daß  sie  ihr  jetzt  weichen  möchte,   da  sie  sie  in  der  Noth  darin  ge- 
litten liatte.  alse  steht  für  a'se  se,  wie  öfter;  vgl.  Mnd.   Wb.  I,  61. 
9,  31   ff.  ist  zu  lesen: 

Darumme  en  schal  gi  nicht  vorderven 

mi  nu.    tatet  mi  hliven 

Iiir  so  lange,  of  it  ju  geteme, 

dat  dusse  winter  ende  neme, 

dat  doch  unlanges  ioes(-n  mot. 
Die  Hs.    hat  V.  35  dat  er  it  doch.    Es  ist  zu  übersetzen:    'Was  doch 
bald  geschehen  muß',  unlanges  wird  auch  von  der  Zukunft  gebraucht, 
was  aber  aus  dem  Mnd.  Hdwb.  nicht  zu  ersehen  ist. 
11,   18    unde  it  enhlift  ok  nicht  dat  leste, 

went  se  alle  darna  moten  varen, 

dat  gi  vil  arme  scolen  hewaren. 
Die  in  der  Wortlese  angegebene  Bedeutung  von  heioaren  =  verhüten 
paßt    nicht    für    unsere    Stelle,    es  ist  hier  vielmehr  =  'behüten,  be- 
wahren'. Der  Sinn  ist  demnach:  „Es  bleibt  Euch,  ärmste,  auch  nicht 
das  letzte  Junge  zu  beschützen." 

11,  27  ff.    sind    in    der  Ausgabe    unverständlich    und    folgender- 
maßen zu  bessern : 


zu  GERHARD  VON  MINDEN  403 

unde  hastliken  ein  blas 

van  vure,  dat  dar  hernede  was 

he  in  dat  droge  holt  do  stak. 
„Und   scbnell  nahm  er  ein  Scheit  von  einem  Feuer,    das  da  brannte, 
und  steckte  es  in  das  trockene  Holz."  herneda  =  heini-nde,  wie  »Sünden- 
fall 2054. 

14,  ob    De  /lOgen  werden  landesheren 

de  mögen  sik  tein  hi  dünnen  meren, 

dat  se  mit  gnedelikfu  dingen 

jo  ore  underdanen  dwingen, 

dat  se  mit  vrede  nicht  hestän, 

oft  it  on  schulde  missegän. 
V.  39   ist   zu   lesen:    dat  se  mit    vreden    icht    bestän    daß    sie    etwa  in 
Frieden    bleiben'.    Vgl.    mit   vrede   laten  9,  54.    80,  37    und    nnd.   med. 
freen  laten  Schambach  s.  v. 

15,  18     Do  sin  her  van  kerken  gink 

tö  hüs  mit  sinen  besten  kleden, 

icolde  de  esel  ummescheten, 

mit  sinem  speie  em  to  untmoten 
V.  20  nmmescheten  erklärt  der  Herausgeber  durch  'sich  überschlagen', 
welche  Erklärung  auch  in  das  Mnd.  Wb.  übergegangen  ist.  Es  ist 
aber,  wie  schon  der  Reim  beweist,  entstellt  aus  unbescheden  'unbe- 
scheiden'. Es  ist  dann  auch  nichts  weiter  an  der  handschriftlichen 
Lesart  zu  ändern,   und  zu  schreiben: 

wolde  de  esel  umbescheden 

mit  sinem  speie  eme  do  entinoten. 
'Da  wollte    der   unbescheidene  Esel   ihn  mit  seinem  Spiele  begrüßen'. 

16,  56.  dat  (starke  strik)  stof  f-e  entwe.  stöf  wird  in  der  Wortlese 
erklärt  =  zerbiß.  Diese  Bedeutung  kann  aber  stoven  nicht  haben; 
es  ist  wohl  zu  lesen  scof  —  mhd.  schtiof  S^erursachte,  bewirkte'. 

17,  10  ff.  ist  zu  lesen: 

darmede  xoe  scholen  in  der  vlucht 

gefangen  unvorwändes  werden, 

beslagen  ane  ivater,  up  der  erden 

unde  ok  an  allen  holten  gestricket. 
Statt  holten  hat  die  Hs.  holen,  woraus  der  Herausgeber  unpassend 
boten  gemacht  hat.  stricken  hat  hier  die  Bedeutung  'mit  Stricken 
fangen'.  Vgl.  Wolf  Aesop.  17,  16  {wi  loille)  uns  nit  in  der  vögele  schar 
halden,  die  vil  dicke  gevangen  icirt  mit  stricke  an  allen  holten  in  allen 
Wäldern'. 


424  K.  SPKENGEK 

18,  51   Dus  möt  ore  vriheit  sik  vorkeren, 

de  under  enem  guden  heren 

jo  wonet,  de  al  mit  duldichede 

on  IS  in  allen  dingen  mede, 

unde  dan  na  enem  vromden  stdt. 
Statt  vromden  hat  die  Hs.  vrede,  d.  i.  icrede  'böse';  der  letzte  Vers  ist 
also  zu  schreiben: 

unde  dan  na  enem  wreden  stdt. 
Die  Frösche    verlangen   ja  V.  37    einen  Herren,    „dem  se  dor   angest 
mosten  denen.''^ 

19,  6.  Nach  diesem  Verse  ist  eine  größere  Lücke,  in  welcher, 
wie  die  Vergleichung  mit  Wolfenbüttler  Aesop  19  zeigt,  gesagt  war, 
daß  der  Habicht  die  Alten  verfolgte,  und  daß  diese  dann  die  Jungen 
im  Neste  verließen. 

20,  11.  hrotwert  ist  wohl  als  Compositum  zu  fassen,  wie  jjenninc- 
wert  gebildet. 

20,  29  ist  besser  zu  ergänzen:  dat  tvas  ome  hl  dem  tun  nnt- 
vallen.  Die  Auslassung  erklärt  sich  so  leichter;  auch  ist  in  V.  26 
von  einem   tun,  nicht  von  einer  lüaiit  die  Rede. 

21,  1  ist  zu  interpungieren : 

Ein  verkenmoder  scholde  w  innen 

ir  jungen,    dar  se  lach  enbinnen, 

quam  ein  ivtdf  to  ir 

dar  ist  zeitlich  zu  fassen,  wie  R.  V.  2346,  3544.  iuue  ligen  oder  kindes 
inne  ligen  bedeutet  'im  Kindbett  liegen';  vgl.  Lexer  I,  1915. 

22,  13    ist  zu  interpungieren: 

ik  bringe  di  dar  sunder  leide 

ik  loeit  se  stän  an  guder  weide. 
'Ich  bringe  dich  ohne  Leid  dahin,  wo  ich  sie  auf  guter  Weide  stehen 
weiß.' 

23,  31    Darna  hegunde  an  tornen  dagen 

de  koninc  den  sulven  lowen  jagen. 
Daß  tornen  nicht,  wie  die  Wortlese  angibt,  Verbform  sein  kann,    be- 
merkte ich  schon  im  Programm.  Altsächsisch  und  angelsächsisch  findet 
sich  ein  Adjectiv  in  der  Bedeutung  'bitter*.  Dies  in  übertragener  Be- 
deutung :=  'unangenehm'  könnte  hier  vorliegen. 
27,  37    Do  lüönde  dar  ein  kotse  fer, 

ein  ridder,  junk  stolt  unde  her, 

de  was  von  art  wol  or  geltke, 

al  ne  loas  he  nicht  so  rike. 


zu  GERHARD  VON  MINDEN.  425 

Gegen  diesen  Text  erhebt  sich  das  Bedenken,  daß  ein  lütter,  der 
wegen  seiner  Armuth  eine  einfache  Kotstelle  bewohnen  muß,  deshalb 
noch  nicht  ein  kotse  'Kossä,the'  genannt  werden  kann ,  womit  durch- 
weg ein  Angehöriger  des  kleinen  Bauerstandes  bezeichnet  wird.  Die  Hs, 
hat  statt  „kotse  fer^  y,botzever"  ,  doch  so  geschrieben,  „daß  der  Anlaut 
durch  Zusammenfluß  der  Tinte  aus  k  entstanden  sein,  das  v  auch  als  h 
gelesen  werden  könnte".  Das  von  Wiggert,  2.  Scherflein  43  gelesene 
kotzcher  wollte  J.  Grimm  erklären  als  „einer,  der  eine  kotze  (eine  Art 
Mantel)  trägt".  Erinnern  wir  uns,  daß  wonen  im  Mnd.  auch  transitiv 
in  der  Bedeutung  'bewohnen'  sich  findet,  so  ergibt  sich  leicht  die 
Verbesserung:     Do  wonde  dar  ein  koteioere 

ein  riJder,  junk,  stolt  unde  here. 
koteivere     ist  eine  Kotstelle,  der  Besitz  eines  Kossäten. 

28,  36  mit  niden  mit  Hassen',  wie  der  Herausgeber  übersetzt, 
paßt  nicht.  Die  Hs.  hat  mit  syden,  das  ist  wohl :  mit  tiden  —  „mit  der 
Zeit".  Vgl.  nhd.  'beizeiten'. 

28,  45  ist  vom  Herausgeber  der  Frau  zugetheilt,  gehört  aber 
zur  Rede  des  Mannes,  wie  auch  Wolfenb.  Aes.  64,  24:  hie  sprach  'noch 
»prech.  ein  t^eisze  iccere,  dar  mit  der  loisch  gemeyet  wart  beweist.  Es  ist 
danach  zu  schreiben: 

'A'och  sprek,  dat  it  ein  segede  were  . 

Se  sprak,  alse  se  do  mochte  schere 

'ein  chere,  ein  chere\ 
schere  in  V.  46  ist  nicht  =  forpix,  sondern  mhd.  schiere  'alsbald',  und 
de.'^halb  ist  auch  das  Komma  zu  tilgen. 

29,  32  lies  dicke  st.  dicker. 

31,  30.  Die  Hs.  hat  richtig:  de  (nämlich  der  Sang)  mi  vul  na 
was  genomen. 

32,  57  lies:  loeder  den  wulven, 

33,  20  ist  zu  übersetzen:  'Das  thäte  er  ganz  nach  ihrem  Rathe'. 

34,  5  lese  ich  jetzt:  De  versmähede  he  genoch.  Ein  Substantiv 
versma  ist  immer  noch  nicht  nachgewiesen. 

34,  7.  Der  Bauer,  dem  seine  häßlichen  Hände  und  breiten  Füße 
Schande  däuchten,  vernachlässigte  sie: 

de  hande  he  io  nicht  ne  dwoch, 

De  vote  he  vel  seiden  stode. 
St.  stode  schreibt  Seelmann  scrode  und  denkt  dabei  an  das  Absciineiden 
der  Nägel  an   den  Füßen,    schroden  hat  aber  die  Bedeutung  von  'zer- 
kleinern, in  kleine  Stücke  schneiden',  z.  B.  Getreide  zu  grobem  Mehl. 
Lübben  im  Wb.  4,  418  bleibt  deshalb  bei  der  handschriftlichen  Lesart 


426  R-  SPRENGER 

und  erklärt  stode  durch  'stieß,  setzte  nieder'.  Auch  diese  Erklärung 
ist  unmöglich.  Es  ist  zu  schreiben  scode  versah  er  mit  Schuhen  .  Über 
schoen,  schoten   s.  Mnd.  Wb.  4,   HO. 

37,  35  lies:  tei-  (==  to  der)  st.  der. 

38,  80  lies:  valsch  man;  ebenso  42,  29.  65,  124  wts  man,  59,  70 
loert  man. 

39,  70  lies:  ichtes  wat. 
41,  57  ist  zu  lesen: 

<nnn  lif  is  vaster  den  ju  icorde 
klein  oder  grot  ei  in  der  horde. 
'Mein  Leib    ist  fester   als  je  ein  kleines  oder  großes   Ei  wurde.'    Der- 
selbe Reim  48,  20. 

46,  24  ff.  lese  ich  jetzt  folgendermaßen: 
Se  sin  der  morgenroden  sunnen 
alse  se  erst  upgeit,  an  done 
geltk  van  schöner  rode.    Jedoch  ik  xcone  . . . 
Das  heißt:  „Sie  (die  Federn)  sind  der  Morgenröthe,  wenn  sie  aufgeht, 
an  Aussehen  gleich  in  Bezug  auf  ihre  schöne  Röthe." 
49,  195    do  louste  he  vorwär  dat  wol, 
dat  dar  de  lorede  tcevel  was. 
Dem  Zusammenhange  entspricht  ivunde  Vermuthete'. 

50,  6.  dat  lange  vort  em  klene  droch  ist  zu  übersetzen:   'was  ihm 
ange  wenig  nützte'. 

56,  11     so  wanne  komet  ein  derve  regen, 

tce  schal  di  danne  to  schüre  dregen. 
dregen  ist  in  der  Wortlese  nur  in  den  beiden  Bedeutungen  'tragen    und 
trügen'  angeführt,  hier  kann  es  nur  =  drogen,  drugen  'trocknen'  sein, 
wie  die  Form  noch  jetzt  mundartlich  vorkommt. 
59,   1     Ein  vet  schone  ors  van  hogem  prise 
geziret  ivol  na  siner  wise 
mit  hreidele  unde  mit  gereide 
lep  ledich  sunder  jenich  geleide., 
dat  wol  dem  rede  mochte  schaden. 
Der  letzte  Vers  ist  unverständlich  und  statt  dessen  zu  lesen :  das  wol 
dem   rede   mochte   staden   'das    wohl  zum  Ritte  passen  mochte*,    staden 
und  scaden  konnte  vom  Schreiber  leicht  verwechselt  werden. 

61,  94.  xoänlik  'vermuthlich',  wie  die  Hs.  hat,  war  nicht  in  wärlik 
zu  ändern. 

61,  123  ist  das  handschriftlich  überlieferte  anden,  wohl  weil  ande 
im  Mnd.  Wb.    nicht    verzeichnet  war,   in  vianden  geändert;    doch  ist 


zu  GERHARD  VON  MINDKN  227 

die  bekaunte  Redensart  shien  cuiclen  icnken  nun  auch  l'ui  das  Mittel- 
niederdeutsche beleiht  in  Strauchs  Glossar  zur  Sachs.  Weltchronik 
(s.  auch  den  Nachtrag  zum  Mnd.  Wb.  S.  16).  Schon  im  Programm 
S.  8  behandelte  ich  die  Verse,  lese  dieselben  aber  jetzt  etwas  ab- 
weichend: dan  it  mach  lichte  so  gereken 

dat  se  mit  schaden  mögen  wreken 

als  sunder  stade  oren  andea 

al  oren  vrunden  to  schänden. 
Stade  mhd.  staie  =  „alles,  was  zu  Statten  kommt,  Hilfe,  Nutzen." 
Die  Hs.  hat  statt  dessen  den  leicht  zu  erklärenden  Fehler  schaden. 
6G,  9  ist  entweder  den  raven  zu  lesen,  oder  rave^  wie  es  im  Mnd. 
und  noch  mundartlich  vorkommt,  als  Femin.  zunehmen;  dann  mülUe 
aber  V.  6  he  in  sc  geändert  werden.  Die  Interpunktion  ist  wohl  folgen- 
dermaßen zu  ändern: 

Wie  heff  he  dus  gut  se  nu  gevunden, 

dat  se  de  hunde  latet  slapen, 

de  dar  ligget  hi  den  schapen. 

dat  se  de  raven  nicht  vorjayet, 

dat  si  dem  duvele  geklaget, 

de  mi  so  gerne  jaget  na, 

so  icor  ik  in  dem  velde  ga. 
V.   11   ist  natürlich  auf  die  Hunde  zu  beziehen. 
G7,  27  f.   schreibe  ich : 

Doch  weit  ik  icol,  icat  bestreiket 

din  zagel,  dat  dar  jo  vorwiket 

de  der 
Ich    weiß,    daß,    was    dein  Schwanz    bestreicht  (wohin   du  kommst), 
die  Thiere    stets    entfliehen.'    Statt  vonclken  schreibt  der  Herausgeber 
getrennt  vor  wiken. 

67,  30     Mit  stempne  ök  lüt  nnde  unbehande 

dot  al  de  der  ök  sere  vlein 

de  nii  gehören  ofte  sein. 
Durch  die  Änderung  von  Mit  in  Mhi  wird  die  Stelle  verständlich, 
unbehande  ist  ''incomitus,  grob'  und  nicht  mit  Damköhler,  Niederd. 
Jahrb.  XIII,  79  in  behandt;  zu  ändern.  Ebenso  bedeutet  umbehmde 
öO,  25  auf  grobe  Weise',  nicht  'unklug',  wie  der  Herausgeber  meint. 
69,  36  ist  zu  trennen  vor  (vorüber)  gegän. 
09,  04  f.  ist  zu  lesen: 

nnde  segge,  wtr  de  loice  wesen 

dutdcet  di  wreder,  ofte  de  man. 


428  R-  SPRENGER 

„Sage,    ob    dir    der  Löwe    böser  zu  sein  dünkt,    oder    der  Mensch." 
Vgl.  V.  10  f. 

72,  15  ist  nach  der  Hs.  mit  folgender  Interpunktion  zu  schreiben: 
gi  scholen  weten:  dat  vorivär 
gedregen  hehbe  ik  ein  jdr 
unde  is  mi  leides  also  sivär  u.  s.  w. 
Die  Verbesserung  von  Seelmann  Indes  st.  des  handschriftlichen  It^yder 
scheint  geboten,    drege^i  (Mnd.  Wb.  I,    503)    auch    vom    ertragen  von 
Leid  und  Krankheit. 

73,17  lies:  dede  vele  an  aller  schalkheit  dornet  'die  in  aller  Schalk- 
heit  schwelgen'. 

80,  57  ff.  lese  ich: 

Do  sprak  de  lowe:  ''It  mach  ivol  toesen! 

prove  anders,  wo  ek  möge  genesen, 

—  De  arzedie  de  is  hin  — 

loent  ik  nein  vrunt  van  herten  hinJ' 
„Versuche,  wie  ich  auf  andere  Weise  genesen  möge  (Diese  Arzenei  ist 
verloren),  weil  ich  kein  Freund  von  Herzen  bin  [mir  nichts  aus  Herzen 
mache]. 

81,  9.  Statt  minschen  hat  die  Hs.  weverschen  'Weberfrauen',  was 
wohl  richtig  ist. 

81,  70  lies:    qfte  de  modink  der  truwe  love  'wenn  der  Nichtsnutz 
seine  Treue  gelobt'.    Vgl.  V.  48  ff. 

83,  19.  Die  Hs.  hat  mer  st.  mor,  und  ersteres  ist  richtig. 

91,  52  lies:    in  or  Iqfte  dachten  se  vulherden  'bei   ihrem  Gelübde 
gedachten  sie  zu  verbleiben'.  Vgl.  Mnd.  Wb.  5,  552. 

92,  76  ist  mi  st.  mm  zu  lesen.    Über  den  Reim  hin  :  mi  s.  Einl. 
95,  29  lies: 

Na  des  mules  degedingen 
al  de  dummen  schevelingen 
heginnen  doven  unde  hagen 
van  den  besten  magen 
unde  de  hogest  sin  to  allen  ttden. 
95,  40    ist    mit    der  Hs.    dede  zu  schreiben,    don    steht    hier  an 
Stelle  des  vorhergehenden  Verbs. 

95,  36    lies:    Dat  is  dicke  an   on  enket    'das    wird    oft   an  ihnen 
offenbar . 

100,  43  leggen  Verleihen'. 

100,   107    lies    We  schippen    hiran  enen    voch.  'Wir  wollen  hieran 
vmsere  Schicklichkeit  zeigen.* 


zu  GERHARD  VON  MINDEN.  429 

101,   17     mit  giricheit  hehbe  ek  nenen  gaden. 
kume  mochte,  mi  geschaden 
ein  grot  osse  edder  ein  fiert. 
Das  unverständliche  geschaden    ist  in  gesaden  'sättigen'  zu   vorhessorn. 

101,  109,  110  seilen  aus  wie  eine  ungeschickte  Interpolation. 
Ich  glaube,  daß  es  ursprünglich  gelautet  hat: 

To  voren  kau  ek  ök  tcol  makcn 
sivindicheit .     Dnrch   lives  not 

so  late  ek,    To  voren  =  'besonders',  s.  Mnd.  Wb.  4,  601 ; 

als  ek  ivere  dot. 
V.  126  f.  lauten  in  der  Hs.: 

we  IS  so  hose,  de  ok  gunde 
den  jungen,  dat  se  vorderven  unde  vorheren. 
Die  Stelle  ist  offenbar  entstellt.  S.  schreibt:  dat  se  vordorven  teeren. 
Ich  glaube  nicht,  daß  der  Schreiber  daran  Anstoß  genommen  hätte, 
glaube  vielmehr,  daß  er  ein  Wort  gefunden  hat,  welches  ihm  nicht 
mehr  geläufig  war.  Ich  schreibe:  dat  se  vorworden  iceren.  voricorden 
entspricht  nhd.  Verkommen'. 

V.  132  hat  die  Hs.  hrunsheren  st.  krvnsheren  wie  S.  schreibt. 
Ich  glaube  nicht,  daß  Kronsberen  (mnd.  krdns-here  Icrdnshere'  Kranirh- 
heere)  gemeint  sind,  sondern  hrüsheren  'Wachholderbeeren'.  Ich  hörte 
das  Wort  vor  etwa  zwölf  Jahren  von  einem  Märker.  Vgl.  auch  bros- 
heeu  im  Mnd.  Hdwb. 

V.   156  fehlt  das  Verbura,  dieses  findet  sich  aber,  wenn  wir  die 
Interpunktion  ändern  und  folgendermaßen  lesen : 
Ichtu  enen  ossen  ofte  ein  perf 
tagest  üt  crem,  stalle 
unde  ore  schap  alle, 
dat  scholdestu  mit  one  herden. 
Der  Wolf  meint,    da  der  Fuchs  mit  den  Menschen  in  offener  Fehde 
lebe,    so  sei  er  auch    berechtigt,    ihnen    allen  möglichen  Abbruch  zu 
thun.   Und  wenn  er  ihnen  einen  Ochsen  oder  ein  Pferd  und  alle  ihre 
Schafe  aus  dem  Stalle  zöge,  so  vermöchte  er  das  wohl  als  sein  Recht 
gegen  sie  zu  erweisen.    Vgl.  unser  'erhärten'. 

102,  63  lauten  im  Text: 

Wo  mochte  tom  konninge  de  gevogen, 

den  de  lüde  also  dot  slogen? 
In  der  Hs.  steht  dem  st.  tom  und  dat  st.  de. 

Wo  mochte  dem  konninge  dat  gevogen. 
Daß    dies    richtig    ist,    beweist    außer    dem  Zusammenhang   die   ent- 

GERMANIA.     Neue  Reihe  XXII.  (XXXIV.)  Jabrg.  29 


430  R-  SPRENGER,  ZU  GERHARD  VON  MINDEN. 

sprechende  Stelle  des  Wolfenb.  Aesop  93,  27:  wo  mochte  dass  eyme 
koninge  voegen,  dat  ome  (lies  ene)  sine  keirle  slogen?  Es  ist  also  zu 
schreiben:  Wo  mochte  dem  konninge  dat  gevogen, 

dat  en  de  lüde  also  slogen? 
gevogen  heißt  'angemessen,  passend  sein",  und  diese  Bedeutung  hat  es 
auch  79,  18;  nicht  die  in  der  Wortlese  angegebene. 

102,  69   busch  =  Buchsbaum,    wofür    noch   jetzt  landschaftlich 
huschhom, 

102,  70  de  ek  lool  gem.    gein  kann  nur  Infinitiv  sein,    daher  ist 
zu  lesen:  des  mach  ek  wol  gein:^  vgl.  V.  103. 

102,  96  ist  das  handschriftliche  hekande  nicht  zu  ändern. 

102,   147  lies:  dzner  schalkessede. 

102,  173  lies:  Den  (Guten)  dusse  (die  Dunkelguden)  grofe  husheit 
deit.    overgän  ist  =  betrügen. 

103,  1  ist  zu  lesen: 

In  dem  mere  ligget  ein  woltj 

darinne  hebhet  ein  holt 

de  wilden  apen  ende  sik  vodtt. 
'Darin  haben  die  Affen  einen  Aufenthalt  und  nähren  sich  darin.' 
103,  48  ist  zu  lesen: 

de  ander  dor  nicht  ne  hrak, 

wente  he  se  gerne  spreken  wolte,, 

de  wdrheit,  wat  dat  kosten  scholde. 
'Der    andere    brach    durch    nichts    die  Wahrheit,    weil   er    sie    gerne 
sprechen  wollte,  was  es  auch  kosten  mochte.' 
103,  100     Gode  levet  de  wärheit  ane  twivel 

de  logene  jaget  jo  den  duvel. 
jaget  Verjagt'  gibt  keinen  Sinn.  Es  ist  haget  'behagt'  zu  lesen. 


FR.  KRATOCHWIL,  ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  etc.        431 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER 
SUCHEN  WIRT  -  HANDSCHRIFTEN. 

Mit  zwein  großen^  bisher  unbekannten  Ergänzungen  zu  Suchenwirt's  Gedichten. 


XII.     (If. 

In  dem  schon  S-  324  angezogenen  14.  Bande  der  Wiener  Jahr- 
bücher der  Literatur  (Anzeigeblatt  S.  50)  behauptete  P,  daß  von  der 
Gothaischen  Recension  des  Gedichtes  von  fünf  Fürsten  eine  Absclnift 
auf  der  Wiener  Hofbibliothek  sich  befinde.  Daselbst  ist  das  genannte 
Gedicht  nur  in  C  vorhanden,  für  diese  Handschrift  war  aber  N  die 
Vorlage.  Primissers  Angabe  ist  somit  falsch;  sie  wurde  auch 
in  seiner  Ausgabe  nicht  wiederholt,  wohl  aber  noch  später  von  Jacobs 
und  Ukert  im  dritten  Bande  ihrer  Beiträge  zur  älteren  Literatur  etc. 
(S.  V  u.  VI). 

Nicht  zu  Wien,  sondern  in  der  königl.  öffentlichen  Bibliothek 
zu  Dresden  findet  sich  eine  Abschrift  des  Gedichtes  von 
fünf  Fürsten  nach  g  und  zwar  in  dem  Miscellancodex,  der  vor- 
mals die  Nr.  105  hatte,  jetzt  aber  die  Nr.  M  203  führt  (vgl.  Falkeu- 
stein,  Karl,  Beschreibung  der  königl.  öffentl.  Bibliothek  zu  Dresden, 
1839,  S,  398  und  Prof.  Dr.  Franz  fcschnorr  von  Oarolsfeld  a.  a.  0. 
zweiter  Band,  Ö.  494  f.).  Der  damalige  Herr  Oberbibliothekar  Ge- 
heimer Hofrath  Professor  Dr.  E.  W.  Förstemann  gestattete  in  be- 
sonderer Güte  bereitwilligst  die  Übersendung  diesei"  Papierhandschrift 
nach  Wien.  Sie  zählt  83  Blätter  in  Quart  ^j,  ist  in  steile,  mit  grauem 
Papier  überzogene  Deckel  gebunden  und  hat  auf  dem  Kücken  die 
Aufschrift:  Von  den  heil,  drey  Königen.  Diese  entspricht  dem  ersten 
Stücke  der  Handschrift,  das  von  der  Überbringung  der  Körper  der 
heil,  drei  Könige  handelt;  wie  das  Titelblatt  dazu  besagt,  wurde 
dieses  Gedicht  aus  einem  Manuscript  (der  Dresdner  Hands  chrift 
M  42)  der  königl.  öffentl.  Bibliothek  in  Dresden  „abgeschrieben  und 
mit  der  Urschrift  verglichen  von  Job.  Christ.  G  o  ttscheden",  dem 
auch  dieser  ganze  Band  gehörte,  wie  aus  der  an  der  Innenseite  des 
Vorderdeckels  angebrachten  Vignette  zu  ersehen  ist.  Nach  seinem 
Tode    kam    der  Codex  in    die  Bibliothek    der  Gesellschaft   der  freien 


')  Im  Jahre  1879    war   weder    eine  Blatt-  noch  eine  Seitenzählung  angebraclit. 

29* 


432  FRANZ  KRATOCHWIL 

Künste  und  schönen  Wissenschaften  in  Leipzig  und  von  dort  1793  mit 
132  gedruckten  Büchern  und  85  altdeutschen  Handschriften  (früher 
Eigenthum  des  Professors  Gottsched)  für  300  Thaler  in  die  königl. 
Bibliothek  zu  Dresden  (vgl.  Dr.  Julius  Petzholdt,  Adreßbuch  der 
Bibliotheken  Deutschlands  mit  Einschluß  von  Österreich-Ungarn  und 
der  Schweiz.  Dresden   1875,  S.  107). 

Wie  das  erste  sind  auch  die  neun  anderen  Stücke  von  d 
sämmtlich  Abschriften  von  Manuscripteu  in  Gotha,  Dres- 
den etc.  Die  Anzahl  der  Verse  auf  je  einer  Seite  wechselt,  aber  stets 
sind  dieselben  abgesetzt,  immer  in  einer  Columne,  die  Anfangs- 
buchstaben der  Verse  groß,  Unterscheidungszeichen  nur 
spärlich.  Für  einige  Stücke  wurde  lateinische,  für  andere  deutsche 
Schrift  gebraucht;  ich  glaube,  daß  mindestens  drei  Hände  daran 
geschrieben  haben.  Ob,  wie  Falkenstein  (a.  a.  O.)  bemerkt,  Nr.  7  („Ein 
verliebter  Traum",  Bl.  61* — 64*)  und  9  („Gedicht  vom  Edelstein", 
Bl.  66* — 77'')  von  Gottscheds  eigener  Hand  geschrieben  wurden,  ob 
nur  diese  und  nicht  auch  andere,  ist  hier  nicht  Gegenstand  der  Unter- 
suchung; doch  bemerken  will  ich,  daß  die  Schrift  des  sechsten  Ge- 
dichtes (Bl.  54* — QÖ^)  mit  den  Anfangsversen: 

Ach  mynne  wie  creftig  ist  dine  craft 
Wo  man  schief t  adir  loacht 
ganz  genau  dieselbe  ist  wie  die  des  siebenten,  das  statt  nach  Falken- 
stein „Ein  verliebter  Traum"  wohl  besser  mit  den  Worten  der  viert- 
letzten Zeile  des  Gedichtes  überschrieben  würde:  Des  kranich  hahes 
nun  (9)  grad.  Darnach  schon  erweist  sich  Falkensteins  Behauptung 
nicht  stichhältig.    Vgl.  auch  Schnorr  a.  a.  O.  S.  495,  f,  g  und  i. 

Von  den  Stücken  in  d,  die  nach  Gotha  weisen,  hebe  ich  das 
vierte  hervor,  das  von  Bl.  42* — 47*  reicht.  Es  hat  die  Überschrift: 
Abschrift  eines  alten  MSCti,  de  anno  1397.  aus  der  gothaischen  Bihliothec. 
Den  Spruch  hat  gemacht  peter  der  Süchemoirt  von  fünff  fürsten.  —  Das 
alte  Manuscript  aus  der  gothaischen  Bibliothek  ist  die  uns  wohl- 
bekannte Handschrift  Nr.  271  oder  g;  doch  befremdet  in  der  obigen 
Überschrift  die  Bemerkung,  daß  die  Gothaer  Handschrift  aus  dem 
Jahre  1397  stamme.  Woher  wußte  das  der  Schreiber?  Schon  früher 
wurde  betont,  daß,  von  den  Zusätzen  zu  Anfang  und  Ende  abgesehen, 
die  Schrift  der  ursprünglichen  Theile  von  g  höchst  wahrscheinlich 
noch  vor  1402  zu  setzen  sei.  Aber  ein  bestimmtes  Jahr  für  die  Ent- 
stehung von  g  anzugeben,  dazu  reicht  die  Schrift  allein  nicht  aus; 
andere  Anhaltspunkte  fehlen.  Es  drängt  sich  aber  die  Erklärung  auf 
daß    der  Schreiber    von   d    die    auf   dem    ersten  Blatt    in  g 


ÜBER  DEN  GEGENWÄKTKJEN  STAND  DER  8UCHENWIKT-HSS.       433 

angebrachte  Zahl  14U7  falsch  gelesen  habe.  Es  stand  übrigens 
in  d  ursprünglich  nicht  1397;  wo  jetzt  der  Dreier  ist,  war  radiert 
worden,  doch  scheint  er  von  derselben  Hand  zu  sein,  welche  das 
Gedicht  von  fünf  Fürsten  schrieb.  Da^^  Falkenstein  und  Schnorr  die 
Zahl  1397  unbedenklich  nachschrieben,  kann  man  begreiflich  finden. 

Die  Abschrift  selbst  zeigt  vielcAbweichungen  von  g, 
doch  erklären  sich  manche  durch  geänderte  Orthographie  (Anwendung 
des  Dehnungs-Ä  und  des  stummen  e) ,  durch  Einführung  des  Um- 
lautes (l  fütsten,  desgl.  79,  95,  141,  1G3,  185,  192,  215,  224  und  234, 
8  glUkk,  15  prüfen^  41  ßühen,  109  mörder,  169  fügen),  andere  durch 
Unterlassung  des  Umlautes  (73  chonigs,  124  und  171  osterreich),  durch 
Älodernisierung  einzelner  Wörter  (56  chönik,  69  Karins,  78  und  85 
icent ,  105  monad ,  123  wil/iebn,  167  mansch  leckt  ig,  177  Scliweinczer 
u.  s.  w.),  sowie  durch  Schreibfehler  (4  starkets ,  35  sech'^.  u.  s.  w.). 
^Manches  war  dem  Schreiber  offenbar  schwer  leserlich  oder  unver- 
ständlich; so  schrieb  er  (statt  verschriet  :  da  ze  miet)  89  versöhnet: 
91  Daz  ennet,  98  ivere,  100  schtcere,  189  Ma7i  net,  191  gehon  (g  ge- 
don)  und  193  helt  im  (=  mt).  Öfter  wurden  die  Abkürzungen  nicht 
berücksichtigt:  daraus  erklärt  sich  14  ivordn,  17  yed  man,  41  da^ 
tvaz^  u.  s.  w.  Nur  selten  hat  der  Schreiber  den  Text  willkürlich  ge- 
ändert und  das  sehr  unbedeutend:  101  g  zu  der  piirg,  d  in  der  pärg, 
104  g  geh,  d  gab.  Im  Übrigen  stimmt  g  mit  d,  selbst  die  in  g  ge- 
machten Absätze  sind  beibehalten;  im  Ganzen  kann  man  die 
Abschrift  somit  eine  ziemlich  leidliche  nennen.  Für  die 
Textkritik  selbst  ist  sie  aber  belanglos,  da  ja  ihr  r)riginal 
vollständig  erhalten  ist. 

Anders  verhält  es  sich  mit  dem  dritten  Stücke  von  d  mit  der 
Überschrift:  Abschrift  eines  alten  Manuscripts  ans  der  Dreßdner  Biblio- 
thec.  Peters  des  Suchenioirths  —  Bl.  36" — 4P.  Falkenstein  sagt  dar- 
über (a.  a.  0.):  „Peters  des  Sucheuwirt  Lobsprucii  auf  die  Liebe". 
Damals  war  Primisser's  Ausgabe  längst  erschienen;  ein  Blick  in  die- 
selbe hätte  Falkenstein  belehrt,  daß  dieses  Gedicht  die  schöne  Aben- 
teuer ist '). 


')  Die  von  Falkenstein  gebrauchte  Benennung  ist  übrigens  schon  alt,  sie  findet 
sich  bereits  in  Adelung's  Fortgesetzten  Naciirichten.  Bei  Besprechung  der  Handschrift 
Nr.  215  (vormals  393  =  h')  führt  dort  S.  305  Adelung  das  jüngste  Gericht  von 
Suchenwirt  an,  „einem  Österreicher,  wie  er  sagt,  oder  vielmehr  Meistersänger,  der 
um  1386  reimte.  Von  ihm  befindet  sich  ein  Lobspruch  auf  die  Liebe  in  der 
kurfürstlichen  Bibliothek  zu  Dresden".  Gar  manche  Irrthümer  befinden  sich  in  diesem 
wie  in  dem  ersten  von  Adelung  herausgegebenen  Bändchen  über  altdeutsche  Gedichte, 


434  FRANZ  KRATOCHWIL 

Die  Vorlage  für  das  3.  Stück  von  d  war  die  Dresdner  Hand- 
schrift M  42,  Daß  das  3.  und  4.  Stück  von  d  —  das  eine  in  lateini- 
scher, das  andere  in  deutscher  Cursivschrift  abgefaßt  —  von  derselben 
Hand  geschrieben  sind,  ist  nicht  unmöglich,  ich  halte  es  aber  für 
unwahrscheinlich.  Stammen  beide  Abschriften  von  demselben 
Schreiber,  dann  dürfen  wir  uns  das  Verhältniß  zwischen  d  und 
M  42  so  vorstellen,  wie  es  zwischen  d  und  g  früher  dargelegt  wurde; 
rühren  aber  beide  Abschriften  nicht  von  derselben  Hand,  dann  sind 
wir  außer  Stande,  dieses  Verhältniß  bestimmt  anzugeben.  Denn 
eine  Vergleichung  der  Abschrift  mit  dem  Original  wie  bei  dem  Ge- 
dicht von  fünf  Fürsten  ist  nicht  möglich,  weil  bereits  gegen  die  Mitte 
des  vorigen  Jahrhunderts  M  42  eine  bedeutende  Spoliierung  erlitt, 
wobei  auch  die  schöne  Abenteuer  verschwunden  ist.  Über 
die  Verstümmelung  der  Handschrift  ist  zu  vergleichen  Adelung,  Alt- 
deutsche Gedichte  in  Rom,  S.  XVI,  über  die  früher  vorhanden  ge- 
wesenen Stücke  der  literarische  Grundriß  von  v.  d.  Hagen  und 
Büsching,  S.  105,  126,  341  und  444.  Nach  einer  Bemerkung  Ebert's 
in  dem  Manuscripte  der  königl.  Bibliothek  zu  Dresden  R  174,  S.  186 
sind  diese  Stücke  „noch  vor  Canzler's  Zeit"  abhanden  gekommen^). 
Als  Götze,  Merkvvürdigkeiten  der  königlichen  Bibliothek  zu  Dres- 
den, 1744,  2.  Band,  S.  233  f.  diese  Handschrift  beschrieb,  war  sie 
noch  bis  auf  einige  wenige  zu  Anfang  fehlende  Blätter  complet.  — 
Am  Ende  des  Gedichtes  von  der  Überbringung  der  Körper  der  heil, 
drei  Könige  hat  sie:  Expliciunt  dicta  Eolandi  trislrandi  et  trium  regum 
per  manus  Nicolai  siaertfegir  de  Jhamis  anno  domini  M''CCCC°XXXII1 
feria  quarta  post  andres.  Darauf  folgten  nach  Götze  a.  a.  O.  II,  S.  234 
„drei  kleine  Gedichte  von  Träumen,  und  der  Liebe,  die  nicht  viel  zu 
bedeuten  haben";  da«  wären  also  die  Stücke  3,  6  und  7  in  d,  die  in 
M  42  jetzt  fehlen'^).    Die  oben  angeführten  Worte  finden  sich  genau 


welche  aus  der  heidelbergischen  Bibliothek  in  die  vaticanische  gekommen  sind.  Schon 
Docen  hat  im  ersten  Jahrzehent  unseres  Jahrhunderts  in  seinen  Miscellaneen  zur 
Geschichte  der  deutschen  Literatur  Adelung  zu  berichtigen  gesucht.  Aber  Irrthümer 
haben  ein  zähes  Leben.  Aus  Adelung  gingen  nicht  wenigein  den  Literarischen  Grundriß 
zur  Geschichte  der  deutschen  Poesie  von  der  ältesten  Zeit  bis  in  das  16.  Jahrhundert, 
von  Fr.  H.  von  der  Hagen  und  J.  G.  Büsching,  Berlin  1812,  über;  manche 
sind  wohl  geeignet,  irrezuführen  oder  tagelange  nutzlose  Mühe  zu  verursachen. 

')  Canzler  kam  1768  in  die  kursächsische  Bibliothek  zu  Dresden. 

^)  K.  Bartsch  hingegen  behauptet,  das  6.  und  7.  Stück  von  d  stammen  aus 
dem  codex  eh.  A  985  (15.  Jahrh.)  in  Gotha;  vgl.  Bartsch's  ausführliche  Besprechung 
des  von  Schnorr  von  Carolsfeld  herausgegebenen  Handschriftencataloges  der  königl. 
Bibliothek  zu  Dresden  in  Germania  .Sl.  Jahrgang  (1886),  S.  233—238. 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND   DER  SUCIIENVVIRT-HS8.       435 

in  d  nach  Vollendung  der  ersten  Nummer  und  zu  dem  Worte  tristrandi 
noch  die  Bemerkung:  In  demselben  Bande  des  dresdenischen 
MSpts  waren  auch  die  groszen  Gedichte  von  Karl  dem 
Großen  oder  Rolanden,  und  von  Tristranden,  und  zwar 
von  eben  derselben  Hand  dieses  Nicol.  Swertfegirs,  ge- 
schrieben: wes  wegen  er  diesen  Schluß  beygefüget  hat. 
Dem  Titel  des  7.  Stückes  in  d  ist  die  Bemerkung  angehängt:  „Aus 
einem  Dresdener  MSpte",  und  am  Ende  des  Gedichtes:  Anno 
Christi  1439  haec  finita  sunt.  Ist  nun  dieses  i\Iauuscript,  wie 
man  bisher  annahm,  M  42,  so  wäre  die  Vollendung  der  Handschrift 
M  42  in  dieses  Jahr  zu  setzen.  Der  jetzige  Inhalt  derselben  wird 
genau  von  Schnorr  a.  a.  O.  II,  S.  442 — 444  angegeben. 

Durch  die  Spoliierung  der  Handschrift  M  42  ist  die  Abschrift 
von  Suchenwirt's  schöner  Ahent euer  in  d  in  den  Rang  einer 
Handschrift  vorgerückt,  sie  repräsentiert  für  ihren  Theil  M  42. 
Was  hat  nun  d  für  einen  Werth?  Das  3.  Stück  in  d  ist  dem 
Inhalte  nach  ein  Mixtum  compositum :  wir  hören  zwei  Frauen  dar- 
über streiten,  ob  man  der  Liebe  Leiden  im  Hinblick  auf  ihre  Freuden 
ertragen  oder  der  Liebe  das  Herz  verschließen  solle.  Mitten  in  ihrer 
Unterredung  stört  sie  ein  Jüngling,  von  dem  man  bisher  nichts  gehört 
und  gesehen;  er  ist  derjenige,  welcher  das  Ganze  uns  erzählt  und 
selbst  von  Liebespein  geplagt  wird.  Eine  der  beiden  Frauen  gibt  ihm 
Auskunft,  wie  er  weiter  gehen  solle.  So  kommt  er  in  der  Folge  zur 
schönen  Abenteuer;  das  Übrige  ist  aus  Suchenwirt's  schönem  Gedicht 
bekannt. 

Schon  Bartsch  hat  a.  a.  O.  die  Bemerkung  gemacht:  „Das  (der 
schönen  Abenteuer)  vorhergehende  Gedicht  soll  nach  Gottsched  auch 
von  Suchenwirt  sein,  findet  sich  aber  unter  seinem  Namen  sonst  nicht." 
Das  ist  richtig,  die  Sache  verhält  sich  folgendermaßen.  Die  beiden 
Theile  im  3.  Stück  von  d  sind  nur  äußerlich,  ganz  lose  mit 
einander  verbunden.  Der  erste  Theil  besteht  aus  108  Versen, 
sie  sind  der  Schluß  eines  allegorischen,  Suchenwirt  nicht  ange- 
hörigen  Gedichtes,  das,  abgesehen  von  einigen  anderen  Hand- 
schriften^), auch  in  dem  umfangreichen  Codex  I.  G.  8  des  böhmischen 
Museums  in  Prag  Bl.  39* — 4^  vorkommt  unter  der  Überschrift:  Ain 
Krieg  von  zwain  fraioen  ob  pesser  sey  Lieh  ze  haben  oder  on  Lieb  zu 
beleiben;  es  beginnt  mit  den  Versen: 


*)  Vgl.  K.  Bartsch,    Beiträge    zur  Quellenkunde   der   altdeutschen  Literatur. 
Straßburg  1886,  S.  177,  Nr.  3. 


436 


FRANZ  KKATOCHWIL 


Ich  ivas  ains  iags  also  frey 
Das  meines  hertzen  Awiey  u.  s.  w,  *) 
Der    dialectischen    Besonderheiten 
ersten  Theil  vollständig  caus  d  hieher'^): 


wegen     setze    ich    diesen 


Bl.  36*. 
Es  ist  doch  der  beste  anevang 
AUir  vroudin  wer  libes  plegit, 
Alle  Sache  he  geringe  wegit, 
Wie  mag  der  hogin   mut  gehan 
5   Der  kein  hercze  ny  lip   gewan 
Wen  reiner  vrauwin   gute 
Brengit,      eyme    Jczlichen     hoch- 
gemute 
Wie  mochte   mir  vmir  bas  gesin 
Denne  wen  ich  sehe  den  gesellin 
myn 
10   Der  mynn   herczin   wol  behalt, 
Vnd  he  mir  synen   kumer   clait, 
So   wirt  vnsir  vroude   alzo   gros 
Das   sie  had   keinen  wedir  stos 
Manch  liblich   zcüchtig  worden 
15   Wird  von   vns  beidin   gehorden 
Das     süst     nymanden     konde     ir- 

denkin 
Man  sihet  vns  äuge  blicke  schen- 
kein 
Sich   der  vroudin  bistu   ein   gast 
Wen  du  keinen  sünderlich  lip  hast, 
20   Daz  du  redest  weder  mich, 
Daran  betrigestu  selbir  dich 
Du   Salt  vorbas   dine  rede   lau 
Die     ane     Übe     sprach     nu     horc 
mich  an 

Bl.  36\ 
Du  hast    wol  vroude  daz  ist  war 
25   Adir  es  ist  seidin  in  dem  Jar 
Wen  du  bie   dyme  libe  bist, 
Vnd  uch  allir  best  ist, 
So   geschit  von  lich    ein  scheidin 
Hy  mede  wirt  üch  beidin  leide 


30   Nod  vnd  clage 

Dabie   manche  tage 
Ein  iczlich  hercze  sich  darna  senet. 
Was   man   es  vor  hat  gewenet, 
Wen  ich   mir  genügen   laße 

35n7in77«nrnn 
Ich   bin  von  nichte  andirs   vro 
Wen  myn  gemiite  streit  alzo 
ffrolich  stete  in   einer  achte 
Wen  ich  andirs  nicht  betrachte 

40   Wen  ich   vroude  irdenkin  möge 
Die   myme  herczin   wol  tögen 
So   ist  dir  we  und  leide 
Wen  dich  diu  hercze  irmanet  beide 
An   die  vnd  gedenckest  do   hen 

45   Do   din   hercze   vnd  din   syu 
Czumale  ist  vorborgin 
So   müstü   doch  besorgin 
Din  lip   wo   is  in  dem  lande  vert 
Du   weist  nicht,   wie  is  seine  tage 
vorczert 

Bl.  37», 
50   Mit  vrouden   vnd  mit  leide 

Süst  lebet  ir  in  Jammer  beide 
So   bin  ich  vro   daz  gancz  jar 
So   müstü   dich   senen   dar 
Nach   dyme  libe  mit  stetir  pin 
55   Die  libes  plag,   die   sprach  la  sin 
Dine  rede   wedir  mich 
Wen   sie  ist  vnvorfenglich 
Ich   sage  dir  werlichen   das 
Das  mir  ist  eines  tagis  bas 
60   Wen  myn  lip   an  sehe  ich 
Czu  hant,   so  vro   werde  ich 
Das   ich   vorgesse  myner  nod 
All  myn   trüren  daz  ist  tod 


»)  Vgl.  Haltaus,  Liederbuch  der  Clara  Hätzlerin,  Nr.  9. 

^)  Vgl.  auch  J oh.  Joach.  Eschenburg,  Denkmäler  altdeutscher  Dichtkunst, 
Bremen  1799,  S.  257:  Gespräch  in  plattdeutschen  Reimen  über  Glück  und  Unglück 
der  Liebe,  besonders  S.  260,  6.  Zeile  von  unten  —  S.  264. 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SU('HKN\VIKT-118S.       -I;j7 


Das   ich   lange   gehad   hau 

65   Wen  ich   myn   lieb  sehe  au 
So   ist  myu   leit  geletczit 
Wie  schire  he   mich   irgetczit 
Alle   inyner  sorgin   swere 
Und  thut  mir  allir  sorgen  lere 

70   So  hastii   doch    myr  dycke    gescit 
Du  weist  nicht  vnie  lip  noch  vinc 

leit 
Ich   woldc   eczwan   leides  plegiu 
Er  ich   mich    libes    wolde   irwegiu 
Do  bleib  ich  stete  an  mynen   mute 

75   Do    von    weistü    nicht,    vme   edil 
adir    vme   gut 
Idoch   brengit  eine   gewonlieit 
Beide   lip   und   leit, 
Der  wolle  wir  vnsir  rede   lau 
Wen  ich  mich    wol  gewissen   kan 

80   Welch  lebin  bessir  sy 

Idoch  ist  lip   min  rechtir  gü 

Bl.  37". 
Bis   an   myn   ende   stetlich 
Hie   mede   wordin   sie  glich 
Mit  en   andir  voreynt, 

85   Ich   armer  vorborgen   leit. 


Daz   mich    ir   kein    cn   sadi 
Czu   mymc  herczin  ich  do  spracii 
Nu   rat   mir   waz   ich   möge    thuii 
Is  ryt   mir  daz  ich  ginge   liinzuu 
1)0   Ich  (pvcme   iii'hte   myncs    trürens 
ai)c 
Ich  gruötc  sie   vil   tummcr   knabc 
De   begunden   sie   sich   sciicidin 
Lliplich   nach   ircs   herczin   gir 
Di(!   eine    IVauwe   sprach   zcu   mir 
Ü5    Vil    tummei-    kiialie,    waz    sciiaft 
ir   hie 
Ich  sprach  gnade  frauwe  ich  vorgee 
Mich    eines   tagis   also   Ee 
Dorcli    myuer    vroudiu   gewinnen 
Bin   ich   kommen   aldo   her 

lOÜ   Do  sprach  zcu  mir  die  wuiien  her 
Nu  gang  ein   wenig   vorbas 
So  kufnestu  uff  eine  rechte  stras, 
Der  volge,   sie  treit  dich  nicht  ab 
Gar  togentlich   sie  mir  gab 

105    Orlob   zcu   der   seibin   stunt 

Daz  mir  scheidin  ny  wart  kunt 
Daz  clagc  ich  gote  ich  sondir  man 
Werne   icii    noch    allir    eren   gan. 


Hiermit  schließt  Bl.  37''.  —  Im  Vorstellenden  wurde  die  Handsclirift 
mit  größter  Treue  wiedergegeben;  sämintliclie  Abkürzungs-  und  Unter- 
scheidungszeiclien  rühren  aus  derselben.  Auffällig  sind  die  ungenauen 
Reime  40  :  41,  44  :  45,  74  :  75,  80  :  81  und  84  :  85,  noch  mehr  die 
Unterbrechungen  des  Reimes.  Schon  der  erste  Vers  ist  reimlos;  nach 
den  Versen  34,  92,  95  und  ÜB  fehlt  ebenfalls  der  Reim,  doch  ist  nur 
nach  V.  34  eine  äußere  Lücke  wahrnehmbar.  Wahrscheinlich  konnte 
der  Abschreiber  den  V.  35  der  Vorlage  nicht  lesen,  denn  er  schrieb 
vom  V.  36:  Ich  bin  v,  radierte  das  zum  Theil  weg  und  setzte  als 
V.  35  die  Häkchen. 

Nicht  weniger  mangelhaft  ist  der  an  den  ersten  Theil  sich 
unmittelbar  anschließende  zweite  Theil  des  3.  Stückes  in  d:  die 
schöne  Abenteuer,  ßl.  38"— 4r.  Es  fehlen  die  Verse  16—19,  49  u.  50, 
61,  62,  89,  90,  101—104,  155,  156,  208-211,  219,  220,  239-244, 
249,  250,  267-352,  360—368  u.  370.  Der  Text  ist  somit  sehr  mangel- 
haft, da  er  13  Lücken  aufweist,  von  welchen  die  kleinste  einen, 
die  größte  86  Verse  beträgt,  so  daß  von  den  372  Versen,  welche 
das  Gedieht  in  A  zählt,  in  d  126  fehlen.  Vermindert  wird 
letztere    Zahl     durch    eine     eigen  th  Um  liehe     Erscheinung. 


438  FRANZ  KHATOCHWIL 

In  dem  schon  erwähnten  6,  Stücke  von  d,    „Abschrift  eines  ver- 
liebten  Gedichtes,    aus    einem  Dresdener  Mspte"    von  einem 
ungenannten    Verfasser    kommen    nämlich,    wie    G ol dtheilchen 
in  Quarz    eingesprengt,    einzelne  Verse    aus  Suchenwirt's 
schöner  Abenteuer  vor^);  so  Bl.  öi*"  die  Verse'*): 
267     Is  kumet  zcu  hofe  ein  rytter  gut, 
Der  mit  eren  hat  sin  Blut 
Grereret  mit  rytterlichen  syt 
270     Deme  wichet  nymanden  ein   tryt, 
(gleich  daran  mit  Weglassung  von  V.  271   u.  272) 
273     Sie  wenen  sie  sin  vulkoffien  gar 

Vnd  nemen   keines   Beddirmannes   war 
275     {nachgebildet)   Do   sprach  fraw   ere  mit  gedolt 

278  (276   w.   277   fehlen)   Sin  sie  abir  uflF  dem  ffelde  dort 

279  So  rysch   alz  bie   den  fFrawin 

280  Wo   man   die  rotten   sal  zcu  hauwin 
(nun  folgen  zwei  fremde  Verse,  darauf) 

283  Die  ich   bie   ffrawen  han  gesehn 

(nach  zwein  anderen  Versen  und  einer  angedeuteten  Lücke  von  einem 
Verse ) 

287  Wo   man   der  vinde  solde  nemen   war 

288  Do  karten  sie  den  rucken  dar 

290  Darnach  man  sie  zcu  hoffe  sach 
(nun  kommt  ein  fremder  Vers,   dann) 

291  Vnd  hylt  sie  al?  die  veddriwe  lute 

292  Die  do   etczen  können  uff  der  hüte 
(jetzt  folgt  gleich  ein  Sprung  auf  Vers) 

')  Ein  Seitenstück  von  Verwendung  Suchenwiitischer  Verse  in  anderen  Dich- 
tungen liefert  G.  Sarrazin  in  „Wigarnur,  eine  literarhistorische  Untersuchung" 
(Quellen  und  Forschungen  Nr.  XXXV.  Straßburg  1879).  Er  wies  nach ,  dali  der  vor- 
liegende Text  interpoliert  sei,  daß  (mit  Ausnahme  von  vieren)  die  Verse  4905—4944 
verschiedenen  Versen  (zwischen  166  und  222)  in  Suchenwirt's  schöner  Abenteuer  voll- 
kommen entsprechen,  und  nimmt  an,  daß  der  letzte  Schreiber  des  Wigamur  die  ihm 
aus  Suchenwirt  bekannte  Stelle  zur  Schilderung  weiblicher  Formenschönheit  wahr- 
scheinlich aus  dem  Gedächtnisse  (da  er  sonst  die  Reihenfolge  der  Suchenwirtischen 
Verse  wohl  besser  eingehalten  hätte')  eingeflickt  habe.  Sarrazin  bezeichnet  diese  Verse 
schon  aus  inneren  Gründen  als  verdächtig;  den  Beweis  hiefür  erbringt  Ferd.  Khull 
im  Anzeiger  f.  deutsches  Alt.  u.  deutsche  Litt.,  5.  Band,  S.  358 — 363.  In  der  von 
Rieh.  M.  Werner  in  der  Zeitschrift  f.  deutsches  Alt.  u.  deutsche  Lit.,  XXXIII,  S.  100  ff. 
abgedruckten  Salzburger  Fragmenten  des  Wigamur  kommt  denn  auch  diese  Interpolation 
nicht  vor.  —  In  der  Schilderung  weiblicher  Schönheit  ist  Suchenwirt,  auf  dem  von 
ihm  hochverehrten  Konrad  von  Würzburg  fußend,  wirklich  sehr  gewandt;  so  erscheint 
das  Gedicht:  Von  guldin  stain  im  Liederbuche  der  Hätzlerin  (Haltaus,  S.  219 — 221) 
geradezu   matt  gegenüber    der  Suchenwirtischen  Darstellung  in  der  schönen  Abenteuer. 

^)  Säramtliche  Unterscheidungs-  und  Abkürzungszeichen  stammen  aus  d. 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHENWIRT-HSS.       439 

315  Werd   in   sie  uÖ'  der  flucht  gevangin 

316  So   ist  in   schedelich   irgangin, 
(Sprung  auf  Vers) 

319  Mit  schandin   haldin  si   den   lip 

320  Sie  mochten  libir  sin   die  wip 
(Sprung  auf  Vers) 

323     Do   sprach   fFraw   ere   mit  gedult 

Ich  gebe   iczlichir  frauwen   solt 
325     Vnd  melde  (!)    welche   frauwe   daj;  irfure 

Da/,  ir  bule   sin   ere  vorlore 

Die  solde  den  zcagin  hassin 

Vnd  US  irem  herczin  laßin 
Bl.    55*  Vnd  mit  ihm  redin   nymer  wort 

330     Vnd  sencket  in  ires  herczin  hört 

Einen  werdin  beddirman 

Der  falscher  zcagheit  ny  gewan 

Wo   die   fforsten  vnd  die  frauwin 
334     Sich  also  lißen  schauwin 
(Sprung  auf) 

841     So   dinte  In   beide   dorch  guten  mut 

Vnd  lißen   den   lip   vnd   da',  gut 

In  frauwen   dinste  al   uflf  die  wage 
344     Y  ba^  y  ba<^)  zcu  tage  zcu  tage 

339  Ein  herr  mit  gäbe   ein  frauwe  mit  gunst 

340  Die  zcwei  die  rürten  ritters  kunst 

Dies  sind  zusammen  38  Verse,  sie  fehlen  im  3.  Stücke 
von  d,  so  daß  in  der  elften  Lücke  (V.  267 — 352)  nur  mehr 
48  Verse  fehlen  und  im  ganzen  Gedicht  88  Verse. 

Die  immer  noch  bedeutenden  Lücken  beeinträchtigen  natürHcii 
den  Werth  dieser  Recension;  sie  stehen  mit  den  sprachlichen 
Verhältnissen  der  Vorlage  von  d  im  engsten  Zusammenhange.  — 
A.  Lübben,  welcher  zu  seiner  Ausgabe  des  Zeno  (Bremen  18*39)  auch 
M  42  (das  Gedicht  von  der  Überbringung  der  Körper  der  h.  drei  Könige 
=  L  Stück  in  d)  benützt  hat,  zählt  in  der  Einleitung  seines  Buches 
die  Handschrift  42  nicht  zu  den  niederdeutschen;  er  sagt,  sie  sei  in 
einem  Mischdialecte  geschrieben.  —  Dasselbe  gilt  aucii  von  der  schönen 
Abenteuer \  die  Sprache  dieses  Gedichtes  ist  ein  Mischdialect,  da  der 
Vocalismus  mehr  dem  niederdeutschen  ähnlich  ist,  während  der  Con- 
sonantismus  dem  Süddeutschlands  näher  steht,  kurz  es  ist  die  mittel- 
deutsche Sprache,  wie  sie  im  15.  Jahrhunderte  in  den  öst- 
lichen   Gegenden   ^Mitteldeutschlands    gesprochen    wurde. 


')  Es  steht:    Y  baz)  y  baz),    vielleicht    soll    damit   der  Wegfall  des  einen  i/  baz 
angedeutet  werden. 


4-10  FKANZ  KRATOCHWIL 

So  steht  vereinzelt  a  in  d  =:  hochd.  6  \  141  sal,  228  ab ,  desgl. 
für  hochd.  ex  288  karten  sie;  allgemein  e  =  hochd.  «i  (171  mere)  und 
(besonders  vor  d,  t,  tt,  vi,  r,  s)  =  hochd.  /:  40  gesnetin,  124  ge- 
sedell,  140  desir ,  135  czemit,  vereinzelt  für  hochd.  ä  (207  weren,  224 
ehinture,  desgl.  159  u.  253 j  und  hochd.  ö  (45  geioercht,  aber  176  ge- 
loorcht).  In  allen  Conjngations-,  Flexions-  und  Ableitungssilben  ist  e 
durch  i  verdrängt  (stets  kegln),  desgl.  in  den  meisten  Präfixen;  immer 
i  =  hochd.  ei  (?)  und  ie  (69  ging)\  im  letzteren  Falle  steht  in  d 
häufig  y\  sehr  oft  o  =  hochd.  ü  (70  togentlich^  80  orkunde,  immer 
dorch) ,  allgemein  =  hochd.  ce,  vereinzelt  =  hochd.  ort,  au  (66  knojf)', 
immer  it  =  hochd.  au  (180  truren) ,  hochd.  eu,  ew  (9  nuwe,  63  dutze 
[A  dtutsche]) ,  hochd.  üe  (1  grünen  loalt  und  hochd.  uo ,  ue  (47  stunf, 
immer  zcu);  fast  immer  ei  =  hochd.  ai  {11  heißen),  häufig  ie  =  hochd.  i 
=  ei  (79  hie),  stets  ou  für  hochd.  au  (203  ougin,  immer  ouch).  Ab- 
neigung gegen  Umlaut  ist  erkennbar.  —  In  Bezug  auf  die  Con- 
sonanten  zeigt  sich  allgemein  d  für  hochd.  t  im  Auslaut  (225  ich 
sand,  264  tlmd,  355  had)  und  öfter  Verdoppelung  des  d  im  Inlaut 
(274  BeJdirmannes  und  331),  aber  kein  ivat,  dat,  dit  für  loa^,  da-;,  und 
di2,\  p  =  hochd.  ph  (39  placke)-^  öfter  g  fUr  hochd.  h  (67  sag  ich, 
128  trogsesse,  143  in  hogin  icerdin)  und  für  k,  ch  (94  7narg  [medulla], 
135  smag  (acc.)  :  so  riehen  hehag^),  160  sie  zcoitg  =  hochd.  zoch) ; 
h  wird  abgeworfen  in  her  vor  lüciper  237.  Vgl.  Weinhold,  Mhd.  Gr., 
2.  Ausgabe,  1883,  und  zwar  §.  30  u.  67,  101,  46  u.  56,  93,  67,  81, 
108,  103  u.  134,  63,  116,  112,  108,  122  u.  132,  144,  140,  107,  124, 
127,  27;  171,  190,  188,  152  u.  221,  226,  endlich  243. 

Aber  noch  in  einem  anderen  Sinne  ist  die  Sprache 
der  schönen  Abenteuer  ein  Mischdialec t.  Lübben  fragte  sich, 
üb  der  Zeno  ursprünglich  in  hoch-  oder  niederdeutscher  Sprache  ab- 
gefaßt worden  sei.  Eingehendes  Studium  der  ihm  vorliegenden  Hand- 
schriften brachte  ihn  dahin,  der  niederdeutschen  Aufzeichnung,  trotz 
mancher  für  die  Priorität  der  hochdeutschen  Fassung  sprechenden 
Umstände,  den  Vorzug  zu  geben,  und  zwar  mit  Recht.  Anders  bei 
der  schönen  Abenteuer;  hier  war  die  Vorlage  von  M  42 
gewiß  nicht  nieder-,  sondern  oberdeutsch.  Abgesehen  davon, 
daß  Suchenwirt  in  der  österreichischen  Sprache  schrieb  und  uns 
keine  nieder-  oder  mitteldeutsche  Kecension  seiner  schönen  Abenteuer 
bekannt  ist,  sprechen  für  den  hochdeutschen  Charakter  der 


')  Also  behac  stm.;  im  Mhd.  Wörterbuch  und  bei  Lexer  war  bisher  nur  behage 
stf.  belegt  und  in  Lexers  Nachträgen  behac  als  Adjectiv. 


ÜRER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  .«^rCHENWIRTHSS.       44  ] 

Vorlage  niclit  wenige  im  Innern  dei'  Verse  stehen  ge- 
bliebene Stellen  derselben,  welche  mit  dem  mittel-  oder 
niederdeutschen  L  a  u  t  s  y  s  t  e  m  durchaus  n  i  e  h  t  h  a  r  m  o  n  i  e  i-  e  n  , 
so  26  hlumelein,  34  u.  42  grüne,  91  frauwe,  ebenso  105^  115,  117  und 
immer,  126  zeit,  137  vrafnvete,  159  ebinteure  (224  aber  ehiiüure)^  174 
hauhtlin,   196  die  xoeiße. 

Auch  in  den  Reimen  begegnet  derlei:  9  behamciix  :  auwe,  107 
zceü  :  nyt  (A  nett),  147  viü  neyge  (mitteld.  Infinitiv  ohne  ?/)'):  swigin 
(A  neigen  :  siceigen).  1 88  lang  hlanck.  Deutlich  sieht  man,  daß 
zwischen  der  Sprache  der  Vorlage  von  iM  42  und  des 
Schreibers  ein  bedeutender  Unterschied  war,  der  leicht  zu 
ungenauen  Reimen  führte,  so  59  irliobin")  \  Imchsiahin ,  ll'd  ge- 
loullin^)  :  gedrollen,  231  mit  hotschaßten'*)  :  in  krefftin.  Die  Vorli^ljc  der 
mitteldeutschen  Sprache  für  volle  Formen  (vgl.  Weinhold  a.  a.  O. 
§.  80)  erklärt  93  iren  :  gehijrne  (A  iem  :  hiern) ,  sie  führte  sogar  zu 
Fehlerhaftem,  wie  97  zu  der  stunte  (A  stunt)  :  do  danckte  mir  ir  roter 
munde  (Weinhold  a.  a.  O.  §.  85).  Umgekehrt  ist  auch  die  Neigung 
zu  Reimen,  wie  165  gesehn  :  Jen  {A  jehen)  aus  dem  Charakter  des 
Mitteldeutschen  sehr  begreiflich'').  —  Andere  Unebenheiten  mögen 
durch  bloße  Nachlässigkeit  des  älteren  (von  M  42)  oder  jüngeren 
Schreibers  (von  d)  sich  eingeschlichen  haben,  so  83  reiger  :  snnder 
wegir  (A  waiger)',  197  gemenget -.  dringet ,  199  teil :  ane  mall,  215  ir- 
czetterten  :  icettern.  Vielleicht  gehört  hieher  auch  die  163  und  175  vor- 
kommende Assonanz  g//t  (A  chlug)  :  trag. 

Manche  Stellen  seiner  Vorlage  verstand  der  ältere  Sc  1j reiber 
gar  nicht,  oder  es  war  ihm  unmöglich,  sie  in  seiner  heimatlichen 
Sprache  genau  wiederzugeben,  so  die  Ausdrücke  getzindelt  (V.  15), 
gechrispet,  gechrindelt  (V.  16)  und  überliaupt  die  nächsten  Verse. 
Er  schrieb  also  statt  des  Reimes  getzindelt  in  V.  15  den  Reim  von 
dem  V.  19  in  hlumen,  ließ  die  Verse  16  —  19  weg,  so  daß  auf  hlumen 
reimt  grünen.  Ähnlich  kann  man  sich  den  Ausfall  der  meisten  Verse 
erklären,  so  der  Verse  155  und  156  u.  s.  w.  Daß  das  b'ehlen 
dieser  und  anderer  Verse  nicht  auf  Zufall  beruht,  sieht 
man  schon  daraus,  daß  die  Reimordnung  nirgends  unter- 
brochen   ist'^j.    Daß    der  Schreiber   von   M  42    (und    diesem    folgt 


')  Vgl.  Weinhold  a.  a,  O.    §.  372.  «;  Umstellungen      von      Versen 

')  Vgl.  Weinhold  a.  a.  O.    §.  30.  treffen    wir   in  d    allerdings    an,    so    stellt 

'j   Vgl.  Weinhold  a.  a,  0.   §.  63.  V.  88  vor  87,   100  vor  99,   140  vor  i:?;»  und 

*)  Vgl.  W^einbold  a.  a.  O.  §.  27.  246  vor  245. 

»;  Vgl.  Weinhold  a.  a.  O.   §.  52. 


442  FRANZ   KRATOCHWIL 

ja  d)  eine  ihm  schwer  verständliche,  also  oberdeutsche  Vorlage  hatte, 
erhellt  aus  den  Versen  53  und  54,  wo  er  statt  gilbet  :  gehilbet  schreibt 
giebet  :  gebildet,  besonders  aber  aus  den  Versen  166 — 168.  Er  schreibt: 

Ir  jfußelin  (chlain  fehlt)  böge  ryste  holl 

Ein  wenig  (A  tzeisel  sich)  vorborgen  lool 

Harte  (A  Jiiet)  vndir  iren  rysten. 
In  A  heißt  es  174,  es  sei  ir  hufel  zart  ged^^ollen^  d  aber  schreibt 
haubtlin\  V.  194  lautet  in  d:  Ir  mundelin  bin  es  (A  feuers)  ßamen 
flocket.  —  Die  Verse  235  u.  236  verursachten  ihm  viele  Mühe;  in 
236  war  dem  nach  bairisch-österreichischer  Art  verkürzten  Reimworte 
leicht  die  volle  Form  zu  geben:  sinen  samen,  aber  wie  paßte  es  dann 
auf  den  Nominativ  schäm?  Der  Schreiber  änderte  also: 

Den  forsten  zcemit  wol  trwe  vnd  zcame 

Nu  hat  geworffin  sinen  samen! 
So  verursachten  mangelhaftes  Verständniß  der  Vorlage,  die  Schwierig- 
keit der  Wiedergabe  derselben  in  der  heimatlichen  Mundart  selbst 
sinnlose  Stellen;  besonders  vom  Auftreten  der  Abenteuer  an  (V.  150  ff.) 
häufen  sich  Textverderbnisse*)  und  Störungen  des  syntak- 
tischen Zusammenhanges'^).  Möglich  ist,  daß  die  Vorlage  selbst, 
wenigstens  stellenweise,  schon  einen  corrupten  Text  bot. 

Da  ist  es  nun  nicht  zu  wundern,  daß  unter  solchen  Verhältnissen 
auch  der  metrische  Bau  der  Verse  mitunter  erheblich  litt.  Dazu 
trägt  nicht  wenig  der  ausgedehnte  Gebrauch  der  vollen  Deminutiv- 
endungen bei,  so  160,  172,  184  u.  o.;  statt  der  bairisch-österreichischen 
Formen  hendel,  prustel  u.  s.  w.  erscheinen  die  ungekürzten  hendelin, 
brusteliuy  helselin,  neckelin  u.  s.  w.  Sträubt  sich  der  Vers  dagegen,  so 
unterläßt  d  die  Verkleinerung  lieber  ganz,  z.  B.  183  dirne  :  birne. 
Der   Einführung   der    ungekürzten   Formen^)    in    der   Flexion 

')  V.  24  u.  25:     AU  kegin  de:;  außen  tauwes  thor  (A  tror) 
Kegin  tal  sich  us  lißen, 
43:     die  remsumme  (A  rennsail),     55:  manch  lust  (A  leisten), 
78:     Nach  lust  und  nach  ebuttin  es  (r)  setin  (A  axventeior), 
115:     Eine  June  frawe  rut  ir  wiße  hant  (A  mit), 
218:     Ir  ho  übt  loa:^  manch  edil  gesteine  (A  harpant), 
247  u.  248:     Der  ouff  rede  vnd  ouch  sin  louff 
Sulchein  kommet  hie  den  hern  uff. 
^)  Ich  führe  nur  den  Schluß  an: 

Der  rede  eine  bluende  kunst  zcu  sture 
Genant  schone  ebinture. 
')  Im    V.    149    begegnet    sogar    der  Acc.    nymande    {Ich    horte   nymande),    ent- 
sprechend dem  Acc.  iemande  :  lande ,   Jeroschin  19208;  V.  151    Werne  erUphaet  ir  ist 
wohl  Schreibfehler?    A  bat  wen. 


ÜRER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SrCHENWIRT-HSS.       443 

und  Conjugatiou  statt  der  oberdeutschen,  die  durch  Synkope 
oder  Apokope  nicht  selten  ganz  auffälhg  zusammengeschrumpft  sind, 
ist  es  besonders  zuzuschreiben,  daß  in  d  nur  wenige  Verse  sich  finden, 
die  nicht  an  überschüssigen  Senkungen  leiden.  Hätten  wir 
gar  keinen  anderen  Anhaltspunkt  für  den  oberdeutschen 
Charakter  der  Vorlage  von  M  42,  eine  aufmerksame  Beob- 
achtung der  oben  berührten  metrisclien  Erscheinungen 
müßte  uns  daraufführen,  daß  ein  schon  ursprünglich  in 
mittel-  oder  niederdeutscher  Sprache  abgefaßtes  Gedicht 
nicht  zur  Nachschrift  gedient  haben  könne.  Da  hätten  wir 
diese  Überfülle  von  Senkungen  nicht.  Diese  aber  führte  vielfach  zu 
Versen  mit  vier  Hebungen  und  klingendem  Schluß  und  zwar  ge- 
bunden auf  solche  mit  vier  und  drei  Hebungen.  Beispiele  der  ersten 
Art  sind : 

161     Daz  loas  von  vyiiem  golde  reine 
Darinne  lag  ein  edel  steyne, 
ferner  die  Verse  95,  96,   169,  170,  177,  178,  193,  194,  217,  218,  223, 
224,  235,  236,  253,  254.  Hingegen  reimt  der  Vers 

74    Der  knabe  waz,  antwort  nicht  zcu  tereqe ') 
auf  einen  Vers  von  drei  Hebungen  mit  klingendem  Schlüsse,    ebenso 
26,  106,  112,  216,  358   u.  s,  w.    Selbst  zu  überlangen  Versen  führt 
dies,  so 

114     Wo  man  sihet,  do  nians  gerne  thiit 

154    Ingastis  xvise  vor  der  taffein  stan 

200    Ir  neselifi  was  ane  allis  mall. 
Daß    durch    diese  überschüssigen  Senkungen  sowie  durch  Einsetzung 
unnöthiger  Wörtchen  auch  der  Rhythmus  leidet,  beweisen  Verse,  wie 
93    Iczliche   die  esete  den  iren 

253    Berichte  mich  Juncfraw  ebinture 
ferner  113,   119  u,  a.  — Weitaus  seltener  finden  sich  Verse,  die  durch 
Weglassung  von  Wörtern  verstümmelt  sind,  wie 

122     Wilpret  vnd  ffische 
oder  175,  176,  212,  230;  Verse  von  drei  Hebungen   mit  stum- 
pfe|m  Schlüsse  begegnen  nur  sporadisch,  so 
41     Manch  strick  geioundin  loas 

129    Ffraw  zeucht  loas  sie  genannt. 
Vereinzelt  kommt  es  vor,  daß  in  d  die  Senkung  ausfällt,   während  sie 
in  A  steht,  meistens  geschieht  dies  durch  manch,  wofür  A  manik  hat. 


•)  Vgl.  Weinhold  a.  a.  0,  §.  86. 


444  FRANZ  KRATOCHWIL 

Daß  die  so  beschafifene  Fassung  dieses  Gedichtes  in  M  42  unter 
den  Händen  des  Schreibers  von  d  mindestens  nicht  gewonnen  hat, 
ist  selbstverständlich,  auch  wenn  man  des  früher  dargelegten  Ver- 
hältnisses zwischen  Suchenwirt's  Gedicht  von  fünf  Fürsten  in  d  zum 
Original  in  der  Gothaer  Handschrift  B  271  nicht  gedächte.  Für  die 
Herstellung  eines  guten  Textes  hat  somit  die  Recension 
der  schönen  Ah e  nt euer  in  d  nur  einen  sehr  untergeordneten 
Werth,  sie  ist  aber  inso ferne  von  Bedeutung,  als  sie  unter 
allen  bisher  bekannt  gewordenen  Suchenwirt-Handschriften  die  ein- 
zige ist,  welche  ein  Gedicht  Suchenwirt's  in  mittel- 
deutscher Einkleidung  uns  überliefert. 

xm.  m^f. 

Nicht  günstiger  steht  es  mit  Suchenwirt's  schöner 
Abenteuer  in  m^  Diese  in  der  Münchner  Hof-  und  Staatsbibliothek 
befindliche  Papierhandschrift  mit  der  Nummer  4871^)  umfaßt  146  Seiten 
in  Quart  und  enthält  nur  zwei  Stücke:  eine  im  Jahre  1461  für  Ortolf 
vonTrenbach  durch  dessen  Gerichtsschreiber  Johann  Fritz  von 
Passau  gefertigte  Abschrift  des  Lohengrin'^)  und  darnach  (S.  137 
bis  146)  von  späterer  Hand  die  schöne  Abenteuer. 

Die  Trenbach  führten  ursprünglich  den  Namen  Wackber  und 
waren  in  Ungarn  ansäüig.  Von  dort  zogen  um  900  vier  Brüder  dieses 
Geschlechtes  nach  Baiern,  einer  derselben,  Azelius,  nannte  sich  und 
seine  Familie  von  dem  in  der  neuen  Heimat  angekauften  Schlosse 
Trenbach  (in  Niederbaiern,  Bezirksamt  Eggenfelden;  ehemals  zum 
Landshut'schen  Pfleggerichte  Dingelfing  gehörig^).  Zu  diesem  Zweige 
gehörte  der  genannte  Ortolf.  Er  ist  wohl  derselbe,  der  sich  in  der 
Handschrift  des  Lucidarius  der  Wiener  Hofbibliothek  (Nr.  2808) 
als  Ortolf  Trenbekch  der  Elter  —  zum  Unterschiede  von  seinem 
gleichnamigen  Sohne  —  unterschreibt  und  mittheilt,  daß  er  die  Hand- 
schrift 1459  mit  eigener  Hand  geschrieben  habe  (vgl.  Hoffmann  von 
Fallersleben  a.  a.  O.  Nr.  CXXl).  —  Der  in  der  schönen  Abenteuer 
anstatt  Suchenwirt's  genannte  Hans  vonTrenbach  (V.  131) 
kann  Ortolfs  des  Alteren  Neffe  oder  —  was  mich  weit  wahrscheinlicher 


')  Vgl.  Schmeller's  Katalog  der  deutschen  Handschriften,  2.  Theil,  S.  493. 

')  H.  Eückert  hat  diese  Handschrift  in  seiner  Ausgabe  des  Lohengrin  (Quedlin- 
burg 1858)  nicht  berücksichtigt. 

^)  Vgl.  Vollständiges  Ortschaften-Verzeichniß  des  Königreichs 
Baiern.  München  1877,  und  J.  M.  Einzinger  von  Einzing,  Baierische  Adels- 
historie, 2.  Band  (1768),  S.  653. 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHENWIRT-HSS.       445 

düukt  —  sein  Eükel  sein,  welcher  (nach  Bucelinus,  Sacri  roiuaui 
iniperii  principum,  comitum  etc.  stcmata  et  probatioues,  MDCLXXll, 
paj^.  190)  als  Doiuprobst  von  Passau  1552  gestorben  ist.  Die  Nieder- 
schrift der  schönen  Ahenten er  wird  demnach  in  die  erste 
Hälfte  des   16.   Jahrhunderts  zu  setzen  sein. 

Nicht  h'inge  darnach  dürfte  die  Handschrift  nach  Oberösterreich 
in   die  Bücherei   des   Hauses  Fernberg  geivomnien  sein,    denn  auf  der 
ersten    Seite    von    m^    steht    oben:    lI    1588    llanli    Fereuberg    zu 
Egenberg.     Es  ist   dies  wohl  Johann  Christoph  Fernberg,     der  sich 
am    12.  Juni    1588    vermählte,    aber     kinderlos    starb     (vgl.    IS.  315, 
1.  Anm.) ,    ein  Enkel   jenes  Johann  Fernberg,    der  1531   Öciiloß    und 
Herrschaft  Egenberg  erworben  hat.  —  Darunter  aber  steht  seitwärts : 
Enenkel    vidit.    Bezieht   sich  diese  Bemerkung  auf  das  Jahr  1588, 
dann    dürfte    sie   nur    schwer    auf  Job  Hartmann  Enenkel    zu    deuten 
sein,    da  dieser  1576  geboren  ward,    wohl  auch  nicht  auf  seinen  um 
drei  Jahre  älteren  Bruder  Georg  Achaz,  den  Hoheneck  a.  a.  ü.  S.  151 
„einen    sehr    gelehrten    Herrn"    nennt.    Mit    mehr  Wahrscheinlichkeit 
könnte  man  an  deren  Vater  Freiherrn  Albrecht  Enenkel  denken,  wel- 
cher 1547  geboren  wurde,    viele  Reisen  gemacht  und  fremde  Länder 
gesehen    hat.     Da   aber    gar    kein    zwingender  Grund    vorliegt,    diese 
Notiz  in  das  Jahr  1588  zu  verlegen,  ist  man  nach  Allem,   was  bei  B 
und  C  über  Job  Hartmann  gesagt  wurde,   wohl   berechtigt,  diese  Be- 
merkung   auf   ihn  zu  beziehen.  —  Wie    die  Handschrift    nach  Baiern 
zurückkam,    ist    unbekannt,    auch    nicht    aus    dem  Auüeren    zu    ent- 
nehmen,   da  der  alte  Emband    durch    einen    modernen    ersetzt    ward, 
wobei  die  Überschrift  des  Suchenwirtischen  Gedichtes  weggeschnitten 
ward,    so  daß  nur  die  Worte   übrig   blieben:    hat  Vise  Red  gemuchtt. 
D,i  e  sprachlichen  Verhältnisse  in  m"^  weisen  nachBaiern 
und  widersprechen  der  Annahme,  die  schöne  Abenteuer  sei  in  der  ersten 
Hälfte  des  IG.  Jahrhunderts  aufgezeichnet  worden,  nicht.  Flexion  und 
Conjugation    verrathen    die  jüngere  Zeit  (vereinzelt  begegnet  259  der 
Nomin.  fem.  sing,  andrew),  nicht  nur  in  sc,  auch  in  den  Verbindungen 
sl,  sm,  sn,  sw  ist  die  breite  Trübung   fast  vollständig  durchgedrungen 
(Weinhold^  ßair.  Gr.  §.   154) :  22  schicüngell  u.  s.  w. ,  aber  323  ayrach 
u.  ö.,  2U6  gestrichen.    Adjective  und  Adverbien    endigen  nur  auf  -lieh, 
statt    -i   und    -el    wendet    der  Schreiber    zur  Verkleinerung    -lebt    an: 
167  fuesslein  u.  s.  w.,    einigemal  auch  -len:    172  härnden,  265  händlen 
und  266  freiolen    (a.  a.  O.    §.  244) ;    293    bgegnet    bereits    hirsch.  — 
Im  Übrigen    findet    sich    nebeneinander  da  und  do,    die  und  di,    fast 
durchaus  zu ,   immer  durch   (A  durich),  gein   (A  gt^n)   und  nitt  (A  nicht, 

QEKMANIA.    Nene  Reihe  XXII.  (XXXIV.)  Jalirg.  3(J 


446  FRANZ  KRATOCHWIL 

vo-1.  a.  a.  0.  §.  11);  über  149  nembt  vgl.  S.  328.  —  Apokope  und 
Synkope  erscheinen  in  nahezu  unbeschränkter  Freiheit,  und  daraus 
erklären  sich  einerseits  die  sehr  häufigen  Störungen  durch  Mangel 
der  Senkung  (V.  34,  179,  207,  211,  312  u.  s.  w.),  besonders  vor  der 
letzten  Hebung  (V.  29,  33,  34,  46,  63  u.  s.  w.) ,  anderseits  das  Vor- 
kommen vieler  Verse  mit  stumpfem  Schluß  und  drein  Hebungen 
(V.  39,  40,  65,  66,  121,  275  u.  s.  w.). 

Für  die  Aufzeichnung  des  Gedichtes  in  der  ersten  Hälfte  des 
16.  Jahrhunderts  sprechen  auch  die  Schriftzüge.  Dieselben  sind 
lateinisch  (nicht  cursiv) ,  aber  sehr  undeutlich  und  schleuderhaft  ^). 
Dadurch  werden  auch  die  Schreibfehler  (280  durchschawen,  A  durich- 
hawen),  die  selbst  in  den  Reimen  zu  finden  sind  (20  aus  jun  [:  blumen\)j 
leicht  begreiflich,  desgleichen  der  Ausfall  vieler  einzelnen  Wörtchen : 
38  auch  und  das  Reimwort  vein,  41  gewunden,  59  vein,  96  ie,  175  do, 
176  auchf  254  die,  257  ee,  301  und  und  machen  u.  s.  w.  Überall 
zeigt  sich  Mangel  an  Sorgfalt,  dafür  aber  dasWalten  der 
Schreib  er  Willkür.  Manche  Verse  sind  so  stark  geändert,  daß  sie 
den  entsprechenden  in  A  kaum  mehr  ähnlich  sehen;  so  lautet  V.  33: 

Der  Ritterlich  heczeugt  was, 
die  Verse  206—211: 

Jr  augpra  schon  gestrichen 
Vnd  warn  darnach  prawn  gevar 
Als  obs  mit  einem  pemsel  dar 
Dar  czu  hat  dy  magt  rain 
Zwey  örlein  geschmückt  und  Main 
Noch  tüunsch  wol  geioachsm   dar, 
V.  353    /Sag  an  viel  lieber  Trenbeckk^ 
ähnlich  59,  121,  199,  240,  311,  312,  318.  —Ja,  es  sind  ganz  neue 
Verse  für  solche  in  A  eingesetzt;  so  für 
V.     32    Als  ob  ein  kayser  lag  zu  veld 
V.  294     Vnd  bei  ritter  spil  verczagt 
V,  302    Sij  das  in  kain  fürst  meit 
V.  314    stirbt  er  sunst  des  %oirt  wol  wett 
V.  354    an  adel  vest  an  eren  kechk; 
die  Verse   131   u.  132  in  A  gibt  m^  durch  folgende  drei  Verse: 
Viel  lieber  hanns  von  Trenbach 
der  nie  von  frawen  vbell  sprach 
Bett  sy  zu  mir  zu  hant. 

')  Die  Verse  sind  abgesetzt,  die  Aufangsbiichstabaii  der  Verse  bald  groß, 
bald  klein. 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND   DER  SUCHENWIRT-HSS.       447 

Njich  Vers  314  von  A  fiudet  sich  iu  vi^  folgender  Zusatz: 
Wirt  er  an  der  flucht  lountt 
er  ist  zu  klagn  als  ein  hundt\ 
als  Gegenstück    dazu    fehlen  in  nv*    die  Verse   183 — 186,    und  221   u. 
222  ohne  jede  äußere  Unterbrochung.    Es  sind,    abgesehen  von  Apo- 
kopen  und  Synkopen   oder  Auflösungen  von   solchen,  kaum  20  Verse 
zu  finden,   in  denen  nieht  geringere  oder  größere,  oft  sehr  bedeutende 
Änderungen    vorkommen.  Viele    derselben    sind    schlecht,    viele    zwar 
nicht,  aber  ganz  willkürlich,  nur  wenige  bieten  wirklich  Besse- 
rung  {4S  geicolkeiiirt^  Q9  fragten,  Ib'd  frawen^  161  veinem,  "239  et le ecken). 

Aber  nicht  sämmtliche  Änderungen  kommen  auf  Rechnung  der 
Schleuderhaftigkeit  und  Willkür  des  Schreibers,  viele  fanden  sich 
gewiß  in  seiner  Vorlage.  Diese  war  nicht  A,  das  ergibt  sich  aus 
einer  Vergleichung  von  m^  mit  d,  welche  in  folgenden  Stellen. 
übereinstimmen:  8  zu  ainem  (eyme) ,  66  m.^  kiiopf,  d  knoff,  67  m^  sach 
d  sag,  m^d  70  tu[o) gentlich,  87  dem,  88  als  noch,  96  ie  fehlt,  100  m' 
recht  als  ob,  d  recht  ab,  m^d  107  ivol,  111  loeini,  114  mans,  110  icli, 
142  da,  144  man  fehlt,  148  lenge(i)r,  161  vei{y)nem,  165  nyemant,  175 
do  fehlt,  176  auch  fehlt,  181  massen,  245  nemen,  258  mer  wenn,  274 
pidermans  {Beddirmannes) ,  323  do  sprach,  328  irem,  372  ist  fehlt.  — 
d  kann  nicht  von  m^  abgeschrieben  worden  sein,  weil  die  Vorlage 
von  d,  die  Dresdner  Handschrift  M  42,  schon  1433  oder  doch  1439 
fertig  wurde,  m^  aber  erst  nach  1461.  m^  kann  aber  auch  nicht 
aus  M  42  geflossen  sein,  denn  läßt  man  auch  die  Verschiedenheit 
des  Dialectes  unberücksichtigt,  so  sprechen  doch  dagegen  vor  Allem 
die  zahlreichen  Lücken  in  M  42,  während  in  m'  nur  sechs  Verse 
fehlen.  Aber  aus  derselben  Quelle  stammen  M  42  (d)  und  m^, 
und  diese  —  derzeit  unbekannt  —  war,  wie  schon  S.  440 — 443  dar- 
gethan  wurde,  eine  oberdeutsche. 

XIV.    iu*t. 

Aus  dieser  Quelle  schöpfte  auch  m"*.  Die  in  der  Münch- 
ner Hof-  und  Staatsbibliothek  unter  der  Nummer  270  aufbewahrte 
Papierhandschrift*)  hat  Holzdeckel,  die  mit  gepreßtem  schwarzen  Leder 
überzogen  sind,  doch  ist  der  Überzug  auf  jedem  Deckel  zur  Hälfte 
weggeschnitten;  die  Schließen  fehlen.  Auf  388  Blättern  in  Folio  ent- 
hält sie  Sprüche,  Abenteuer  und  Mären,  darunter  von  Teichner  und 
drei  Gedichte  Suche nwirt's,  rückwärts  wieder  Dichtungen  Teich- 


')  Vgl.  J.  A.  Schmeller's  Katalog  der  deutscheu  Handschrifteu,  1.  Theil,  S.  31  —  37. 

30* 


448  FRANZ  KRATOCHWIL 

ner's  und  „Freidank's  Sprüche".  Die  Verse  sind  abgesetzt  und  be- 
ginnen meistens  mit  großen  rothdurchstrichenen  Buchstaben;  jede 
Seite  enthält  durchschnittlich  31  Verse  in  einer  Columne.  Die  Schrift 
ist  außerordentlich  deutlich  und  noch  der  in  A  ziemlich  ähnlich,  ob- 
wohl m*  um  mehr  als  ein  halbes  Jahrhundert  jünger  ist.  Die  Hand- 
schrift stammt,  wie  auf  der  letzten  Seite  bemerkt  ist,  aus  dem 
Jahre  1464  und  war  zufolge  der  Eintragung  auf  der  ersten  Seite: 
Sunt  B.  V.  ÄJariae  in  Rottenbuech  Eigenthum  eines  Klosters  im  schwäbi- 
schen Sprachgebiet*). 

Dahin  führt  nämlich  die  Sprache,  die  unverkennbare  Zeichen 
des  schwäbischen  Dialectes  aufweist.  Das  letzte  (f.  124^ — 130") 
der  drei  Gedichte  Suchenwirt's  hat  die  Überschrift:  Die  schön  Aubenteür 
(roth)'^).  Wie  im  Titel  begegnet  auch  sonst  au  für  ä:  236  haut  u.  s.  w. 
(vgl.  Weinhold,  Alemann.  Gramm.  §.  96),  zuweilen  äu:  71  fräugt, 
ebenso  99  (a.  a.  O.  §.  97).  Adjective  und  Adverbien  zeigen  nur  das 
Suffix  -lich'^  in  -lin^)  und  pi/  wurde  i  bewahrt,  sonst  aber  ist  dessen 
Diphthongisierung  fast  allgemein:  38  u.  Ö9  fein,  66  rubein,  191  mein, 
236  sein,  265  weissen,  270  weicJit,  299  veinden,  342  leib^  194  sogar 
tnündlein  (a.  a.  O.  §.  90  u.  99) ;  ie  für  üe:  170  geschniert  (a.  a.  O.  §.  102), 
oe  für  üe:  34  grön  und  so  immer  (a.  a.  O.  §.  92);  u  für  iu  (eu)  ver- 
einzelt: 33  erzugt,  357  creahir  ;  stur,  ebenso  ül  für  eu:  251  u.  252  ge- 
hiur,  hingegen  häufig  eu:  213  treubel,  259  newe,  260  newes,  344  u.  ö. 
euch  (a.a.O.  §.  lÖOu.  103);  ü  hat  sich  nur  selten  erhalten:  60  durch- 
hccht,  gewöhnlich  steht  au  für  rt  und  ou:  67  auf  \x.  s.  w.,  immer /ra?ü, 
210  hauyt,  £60  lauf  (a.  a.  O.  §.  93  u.  96).  In  183  dierel  :  pirel  (A 
dirnl  :  pirid)  zeigt  sich  Abstoßung  von  auslautendem  n  (a.  a.  0.  §.  202)^ 
sehr  häufig  ist  s  diphthongisiert  in  den  Verbindungen  sl,  sm,  sn,  aber 
27  entspriessen  ,  105  sprach,  desgleichen  112,  275  u.  s.  w. ,  27  u.  368 
stund  (subst.),  55,  57  stund  (verb.),  262  stock,  188  sioanck,  aber  191 
schwär  (a.  a.  O.  §.  190);  gg  =  kk:  288  ruggen  (a.  a.  O.  §.  209).    Be- 


•)  Ich  denke  hier  nicht  so  sehr  an  Raitenbuch  im  bairischen  Regierungs- 
bezirke Schwaben  (Bezirksamt  Znsmarshausen),  als  vielmehr  an  Rottenbuch  im 
Regierungsbezirke  Oberbaiern  (Bezirksamt  Schongau),  wo  seit  dem  11.  Jahrhunderte 
ein  Augustiner-Convent  bestand,  einst  auch  ein  Nonnenkloster  und  Hospital  (vgl. 
Universallexikon  aller  Wissenschaften  und  Künste,  30.  Band  (1741),  S.  712,  und  Ein- 
zinger  a.  a.  O.  2.  Band,  S.  457).  Daß  Rottenbuch  im  Volksraunde  auch  Raitenbuech 
heißt,  ist  nebensächlich,  da  a,  verdumpft  zu  o,  für  ai  (ei)  nicht  nur  im  Alemannischen, 
sondern  auch  im  Schwäbischen  vorkommt  (Weinhold,  Alemann.  Gramm.  §.  34,  44, 
87  und  94). 

*)  In  der  Folge  als  Nr.  3  citiert. 

')  Die  Verkleinerung  unterbleibt  sehr  häufig,  so   185,  187,  193,  200  u.  s,  w. 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHENWIRT-HS.S.      44«) 

merken  will  ich  noch  die  nasalierte  Form  der  2.  Person  im  Plural 
des  Präsens  ind.:  151  enpfachent  u.  s.  w.,  das  Präsens  101  ich  gen 
und  die  nasalierten  Präterita  gieng  und  vieng  (a.  a.  0.  §.  342  u.  336), 
die  Deminutive  im  Plural:  38  perlach  (A  -perlein)  und  210  armlach 
(a.  a.  O.  §.263),  die  Nominative  sing,  fem.:  325  ivelchu  (entsprechend 
dem  disu,  a.  a.  0.  §.  420)  und  127  edh  u.  s.  w.  (a.  a.  O.  §.  423),  den 
Accus,  neutr.  plur.  216  meimi  und  den  Accus,  fem.  sing.  102  dis.'iu 
(a.  a.  O.  §.  424,  letzterer  ein  Seitenstück  zu  w  Nr.  2,  141  icarew, 
213  liebew  u.  s.  w. ,  vgl.  S.  331).  —  Sonst  findet  sich  nur  durch  (A 
durich)  und  die,  fast  ausschließlich  zu,  unterschiedslos  da  und  do, 
neben  menig  auch  manig.  —  Apokopen  und  Synkopen  treten  noch 
ungezügelter  auf  als  in  m^,  daher  der  störende  Mangel  so  vieler  Sen- 
kungen (5,  54,  63,  68,  172,  174,  187,  193,  195,  240,  262,  319,  331, 
341  u.  s.  w.),  zumal  vor  der  letzten  Hebung  (1,  29,  34,  86,  119,  185, 
236,  265,  369  u.  s.  w.),  daher  nicht  selten  Verse  mit  drein  Hebungen 
und  stumpfem  Schlüsse  (21  u.  22  [Umbildungen  von  19  u.  20  in  A|, 
47,  121,  180,  198,  231,  232,  261,  262  u.  s.  w.). 

Von  den  letzteren  Erscheinungen  beruhen  viele  auf  sprachlichem 
Grunde 5  nicht  wenige  aber  sind  auf  die  Schi eud er haftigkei  t  und 
Willkür  des  Schreibers,  der  in  diesen  ungünstigen  Eigenschaften 
noch  den  von  m^  überbietet,  zurückzuführen:  daher  die  häufigen 
Schreibfehler  (10  da  für  der,  86  pald  [A  hayde]  u.  s.  w.)  und  oftmaligen 
Störungen  des  Rhythmus  durch  fehlende  Wörter:  63  zu,  73  al,  74  ze, 
78  nach,  154  vor,  202  u.  352  gar,  257  ee,  268  hat,  272  nu.  —  Die 
Verse  15 — 20  von  A  sind  in  m^  fast  bis  zur  Unkenntlichkeit  ver- 
ändert.   Statt  A  44  hat  m**: 

Waren  von  guldin  porten 
statt  A     68  hat  m*:  Dem  ich  gar  recht  chost  trüg 
n      „136     v     n   :  Min  herz  noch  nie  so  reich  hehak    (Unsinn!) 
n       n    167      n     v  :  Ir  ciain  füß  por{c)   ist  hol 
r)       n    168     n     V   :  Aain  tail  sich  verporgen  icol 
n      T)    169     n     n   :  hett  under  im  rist    (Unsinn!) 
r       n    210     n     n   :  zwai  armlach  nnd  ain  haupt  ciain 
ri      n    260     71     n   :  J^ie  ist  neives  laufs  erkür    (Unsinn!). 
Ähnlich  54—61,  121,  170,  211,  213,  243,  299,  321,  333  (dadurch  die 
ganze  Stelle  sinnlos),  337,  338.    Die  beiden  Schlußverse  lauten : 
Die  red  Die  plündent  gunst  stür 
Genad  ist  Die  schon  auhentnr. 
Die  Verse  67,  188,  306  und  344  in  A  werden  durch  folgende  neue 
Verse  ersetzt: 


450 


FRANZ  f<:ratochwil 


Des  ich  auf  den  zeit  slüg 
Ir  zö'pf  warent  von  manigem  sioanck 
Nach  prisz  und  nicht  verzagen 
für  war  ich  euch  das  sag. 

Aus  den  Versen  251 — 253  in  A  macht  m*  die  zwei  Verse: 
Da  sprach  fraiv  lieh  die  gehiur 
Beschait  mich  fraw  auhentwr ; 
die  Verse  254  u.  255    in  A  verschmelzen    in  m*  zu  dem    monströsen 
Verse : 

wie  lehent  die  da  sitzent  in  der  liehe  glitt. 

Durch  diese  willkürliche  Behandlung  des  Textes  wird  auch  der 
Reim  getrübt;  so  steht  45  hand  :  umhehank,  190  liehin  für  minne  ').  — 
Auf  194  folgen  die  Verse  197,  198,  195,  19ß  u.  199,  von  da  an  in 
der  Ordnung  von  A  weiter.  Nach  V.  270  folgen  273,  274,  271,  272, 
dann  275,  276  u.  s.  w. ;  an  V.  360  reihen  sich  362,  361,  363  u.  s.  f.  — 
Von  den  Versen  in  A  fehlen  hier  in  acht  Lücken  folgende  20  Verse: 
21—26,  49,  50,  103,  104,  155,  156,  161,  162,  303,  304,  335,  336, 
345  u.  346. 

„Es  war  das  Schicksal  der  deutschen  Dichter  aus  dieser  Zeit, 
daß  sich  die  Abschreiber  mit  ilinen  mehr  als  mit  anderen  Schriften 
erlaubten.  Jeder  schaltete  ein  und  änderte,  wie  es  ihm  gutdünkte  oder 
aus  der  Feder  fiel.  Es  würde  eine  unendliche  Arbeit  für  die  Kritik  sein, 
die  wahre  Lesart  des  Verfassers  wiederherzustellen,  und  oft  wüßte  ich 
gar  nicht,  wie  sie  es  anfangen  wollte,  wenn  sie  nicht  das  Autographon 
des  Verfassers  bei  der  Hand  hätte."  Diese  Worte  Lessing's*^)  gelten 
nicht  nur  von  Boner's  Edelstein,  sondern  auch  von  m*.  Aber  die 
Kritik  verzagt  nicht,  selbst  wenn  nicht  das  Autograph  zur  Verfügung 
steht,  wie  in  unserem  Fall.  Wir  haben  ja  A  —  ein  Vergleich 
mit  d,  m^,  m*  zeigt  erst  ihren  großen  Werth;  die  drei  letzt- 
genannten aber,  so  gering  ihre  Bedeutung  ist,  sind  selbst  wieder  nicht 
gleichwerthig.  d  gebührt  trotz  der  vielen  Lücken  der  Vorrang 
vor  m^,  m*  aber  steht  zu  unters t.  Und  trotzdem  liefert 
auch  m*  einige  gute  Lesarten,  wie  33  gar,  112  sprachen ,  123 
gechülef,  170  geschniert  und  mehrere,  welche  auch  m^  hat. 

Überhaupt  herrcht  zwischen  diesen  beiden  Recen- 
sionen    trotz    vieler  Verschiedenheiten    doch    eine    gewisse  Über- 


')  In  dem  vorausgehenden  Gedichte  Suchenwirt's  in  dieser  Handschrift  wurde 
V.  180  ff.  der  Raum  für  das  Wort  minne  leergelassen  und  nachträglich  von  anderer 
Hand  mit  liehin  ausgefüllt. 

')  Ausgabe  Lachmann's,  Band  10,  S.  336. 


ÜBEi;  DEN  OEOENWÄRTIGKN  STAND  DER  SUCFIENWIRT-IISS.        4r>l 

einstiramung,  wie  aus  folgenden  Stelleu  erhellt:  29  der  hist, 
42  als  (Aalsam),  41  sammat  (aamaf),  52  lasur,  66  knöpf,  70  ttigentlich, 
74  ze  fehlt,  84  Der  ander  ainen  {m*  nin)  waujer  (Unsinn!),  96  re  fehlt, 
111  wenn,  114  mafis  (ra^  mangs),  121  :  Vnd  salzte  {mtzent)  sich  zu  fisch, 
144  man  fehlt,  148  lenger,  153  f rate en,  165  vyeniani ,  175  do  fehlt. 
229  vordem  (vodern)  haben,  239  ettlei{i)chen ,  242  andern  su{o)ll  lan, 
245  nemen,  257  f:;e  fehlt,  290  hei  fraioen,  291  pider ,  310  schant  Idain 
ist,  315  gefangen ,  SIQ  schä(a)7itlich  ergangen ,  SM  als,  323  do{a)  sprach, 
347  eucÄ,  368  schied.  —  Diese  Übercinstinmiung  wird  nicht  dadurch 
erklärt,  daß  mau  m*  als  Vorlage  von  ra''  annimmt,  denn  in  m^  fehlen 
ja,  von  allem  Anderen  abgesehen,  20  Verse,  die  in  m''  vorhanden  sind. 
Es  kann  auch  nicht  m*  von  m''  abgenommen  worden  sein,  weil  letztere 
Handschrift  erst  im  16.  Jahrhundert  abgefaßt  wurde,  m*  aber  schon 
1464,  Und  wäre  auch  nicht  diese  Zeitdifferenz,  so  ließe  sich  doch 
nicht  absehen,  Avie  der  Schreiber  von  m^  an  den  Stellen,  wo  m^  an- 
statt Suchen wirt's  den  Trenbach  einflocht,  den  richtigen  Text  hätte 
herstellen  können.  Es  bleibt  somit  nur  die  Annahme  einer 
gemeinsamen  Quelle  übrig,  aus  welcher  auch  d  (M  42) 
geflossen  ist')  (vgl.  S.  447). 

Fol.  107*"  beginnt  unter  der  Überschrift :  Ain  ander  spruch  (roth) 
Suchenwirt' s  Widertail  und  endet  fol.  114""),  fol.  68''  fängt  Ain  ander 
uast  guter  spruch  (roth)  an  und  reicht  bis  fol.  71".  Es  ist  jenes  Ge- 
dicht, welches  P  in  seiner  Ausgabe  unter  Nr.  XLVI  als  Krieg  der 
Liehe  und  Schöne  anführt^),  es  wird  bei  späterer  Gelegenheit  seine 
Besprechung  finden.  —  Was  über  Nr.  3  in  m**  vom  sprachlich  metri- 
schen Staudpunkte  gesagt  wurde,  gilt  im  Allgemeinen  auch  von  Nr.  2; 
ich  merke  hier  nur  noch  an  a  =:  o?i  =  au  (Weinhold,  Alem.  Gr. 
§.  87):  315  den  sam,  w  für  anlautendes  v  (a.  a.  0.  §.  160,  S.  125, 
1.  Anm.) :  32  warb,  132  icart ,  endlich  Abfall  von  auslautendem  d 
sammt  Schlußvocal  (a.  a.  0.  §.  183):  241  pnl.  Auch  den  Eindruck 
der  Flüchtigkeit  macht  Nr.  2,  doch  im  minderen  Grade  als 
Nr.  3.  Schreibfehler  begegnen  im  Innern  der  Verse  (114  chumejit, 
279  stat,   321,   329   u.  s.  w.),    aber  auch  im  Reime,    so  31  plaio  :  da, 


')  Daß  m^  und  d  (M  42)  nach  derselben  Vorlage  geschrieben  wur- 
den, beweist  direct  die  Übereinstimmung  dieser  Handschriften  an 
folgenden  Stellen:  48  gefloriert,  112  sprache{i)n.  Wh  junckfraw{e),  i2S  ffechü{i/)let, 
143  vn{e)rden,  160:  Sie  zuckt  {zcoug)  ein  vingerlin  von  der  liant,  164  en  ,  17.3  gewollen, 
177  side  rain,  182  mitten,  218  gestain  (gesteine). 

')  Fol.  108  ist  unbeschrieben. 

')  leb  bezeichne  diese  Gedichte  im  Folgenden  mit  Nr.  2  und   1  in  m'. 


452  FRANZ  KRATOCHWIL 

33  ander  :  wandel,  37  niemant  :  iemarij  183  enzühet  :  fluchet,  269  jähen 
:  wagen,  273  reiti  (A  anrurt)  :  verfürt,  313  6rtzc?e  :  chlaider;  vom  V.  58 
hatte  der  Schreiber  den  Anfang  geschrieben,  war  dann  wieder  in 
V.  57  gekommen  und  schrieb  dessen  Schluß  noch  einmal,  so  daß 
die  Verse  57  und  58  mit  heb  du  an  schließen.  Statt  68  mit  aäuden, 
schrieb  er  mit  genaden,  wodurch  der  Reim  unterbrochen,  die  Stelle 
sinnlos  wird.  Umstellung  der  Wörter  nimmt  er  nicht  selten  vor,  sie 
ist  meist  nutzlos,  in  361  (stan  in  dem  garten  :  gethan)  wird  dadurch 
der  Reim  gestört.  Wörter  fehlen  nur  wenige:  16  der,  18  ich,  126  man, 
Verse  an  sechs  Stellen:  155—158,  203,  204,  245,  246,  297,  302  und 
304 — 307,  im  Ganzen  14,  eigentlich  13,  da  V.  297  durch  einen  neuen 
ersetzt  ist.  Nach  V.  308  findet  sich  der  eingeschobene  Vers: 

Das  ivas  der  plawen  ungemach. 
V.  188  geht  187   vor   und    314   dem  V.  313.    Aber    diese  Umstel- 
lungen und  die  vorher   angegebenen  fehlenden  Verse  kom- 
men   nicht    auf  Rechnung    des  Schreibers,    sie   fanden  sich 
schon  in  seiner  Vorlage. 

XV.    m^f. 

Dazu  diente  ihm  m'',  das  ist  die  Papierhandschrift  Nr.  379 
der  Münchner  Hof-  und  Staatsbibliothek.  An  den  mit  braunem  Leder 
überzogenen  Holzdeckeln  befindet  sieh  eine  Messingschließe;  ^uf  dieser 
ist  noch  zu  lesen  mar.  Der  Rücken  ist  sehr  schadhaft;  auf  der  Außen- 
seite des  Vorderdeckels  ist  ein  alter  Zettel  aufgeklebt:  mancherlei/ 
Spruch  und  gedieht,  und  das  entspricht  dem  Inhalte  der  225  Blätter 
in  Quart.  Bis  fol.  177  folgen  verschiedene  Gedichte,  darunter  die 
als  Nr.  1  und  2  bezeichneten  Gedichte  Suchenwirt's  in  m*; 
fol.  178 — 219  nimmt  Eduard  Wahrens'  Augsburger  Chronik 
der  Jahre  1368 — 1444  ein.  Der  ganze  Codex  stammt  nicht  aus  dem 
Jahre  1454,  wie  man  nach  J.  A.  Schmeller's  Katalog  der  deutschen 
Handschriften,  1.  Theil,  S.  56 — 61  annehmen  könnte;  es  wird  ja  gegen 
den  Schluß  noch  das  Jahr  1478  erwähnt. 

Fol.  31*^  steht  in  der  vierten  Zeile  von  oben:  Sequitur  Alter, 
daneben  mit  blasser  Tinte :  Das  ist  ain  sprvch  vö  der  scheny  uü  vö  der 
liehy:,  derselbe  endet  fol.  34*;  fol.  72" — 74'  befindet  sich  der  Wider- 
tail.  Am  Rande  von  72''  ist  bemerkt:  Der  spruch  vö  den  zwen  farhn 
von  platver  und  von  gemegter  wie ')  sie  ivider  einander  worent.  Die  Verse 


')  Es  steht  nur:     ie  wider  ein 

ndef  worenf,  das  andere  ist  weggeschnitten. 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHENWIKT-HSS.      453 

sind    abgesetzt,    ungefähr  30  auf  jeder  Seite,    die  Anfangsbuchstaben 
derselben    sind    groß    und    roth    durchstrichen.    Die  Besprechung  des 
ersten  Gedichtes    folgt    spcäter,    die  Vergleichung    des    zweiten  mit  A 
führt  zu  demselben  Ergebnisse  wie  bei  m*.    Es  erklärt  sich  dies  dar- 
aus,   daß  beide  Handschriften  bis  auf  wenige,    meist  belanglose 
Dinge  so  vollständig    übereinstimmen,    wie  sich  Ähnliches 
bei    keinem    anderen  Gedichte  Suchen  wirt's    in  zw  ein  oder 
mehreren  Handschriften    auch    nur   annäherungsweise  bis- 
her   gezeigt    hat.    Zum  Beweise    führe  ich   nur    einige  Stellen   nn : 
2  hohen  fränden  (fröden) ,   14  durch,   15  u.  '20S  fehlt  gar,   18   ich  ndch, 
23  tvann  ich,  Sb  als  ich,  36  gemenift  da,  40  das  seih, 
43:  Daz  es  soll  wi^:^en  iemant  vier, 
44:   Wes  ich  in  meinem  hertzen  ger 
45:  Das  ich  mit  treiven  han  vers(ch)lossen, 
52  ob  ich,  56  hoher  er(e)n, 

71:  Das  es  ain  ch{]c)ind  icol  mo{ö)cht  versfan, 
80:  Sein  hau{o)/'t  das  ist  im  worden  schicer  {swär), 
82  p{h)iß  auf,  84  plaio  die,  88  oh  tisch{e)  chan  er,   102  ho(ö)chsti'n 
und,   113  iren, 

115:  Sein  fräu{ö)d  paß  da{e)nn  ain{n)   allain, 
116  er  niedert  (m^  nyndert) ,   117  gelob,   119  mager,   122:   Ich  viain 
py  (bey)  namen  sollich  sach, 

123:    Vnd  sollich  grossu  missetnt, 

125:  Ain  puest  er  an  dem  leib  mit  sucht, 
130  liget,  131  en spart,  132  icer  hie,  136  ir  icol  ir,  13S  Chain  falsch[s) 
noch  sicaches  main,  141  von  fehlt,  144  sich  vieref ,  148  in  hoh{ch)em 
ritterlichem,  149  sioencken,  153  pan  gezogen,  167  sprach  da{o),  168 
chdu  der  dir,  169  gemelich,  175:  Ist  alles  waidenlich  gpstalt,  177 
als  es,  185  vei{i)ntlichen ,  186  und  fürt,  198  ich  wi{ü)rt  so,  199  so 
geit,  210  gehört,  211  man  die,  215  u.  296  fruinen  helt,  227  frn{o)men, 
236  gar  vil,  237  siecht  in  teufe,  240  er  da{e)nn,  241  so  loidei-  umb, 
242  all  {er)  erst  so,  252  preiß  icol  erben,  263  progt,  264  zogt,  268 
der  fordern, 

215:  Er  iat  das  {der)  erst  von  dannen  zeit  (Unsinn!), 

276:    Und.  hebt  sich  hin  pald  {bald  hin)  an  die  iceit, 
277  piß  das,    288  ob  fehlt,    288  mit  im  selb,    308  und  was,    314  au 
den  rock,  318  fraioet,  319  auß  lachedem, 

329:   Ob  du  in  deiner  pläive7'{n)  wa{a)t, 

330:  Leptest  noch  in  gantzer  stät, 
339  die  band. 


454  FRANZ  KRATOCHWIL 

347:  Da{e)nn  das  er  sei  der  fugend  am  chern{p), 
353  eriüirht   und   das    behept,    355  gespila  ich,    360  kert  auch,  364  red, 
die.  Endlich  finden   sich  noch  in  beiden  Handschriften  die  Schreiber- 
verse: Ich  icolt  Das  ich  soll 
Lieh  han  loen  ich  wolt 
Vnd  loem  ich  gelten  solt 
Das  er  sein  nicht  en{t)wolt. 

Beide  Handschriften  stehen  in  Bezug  auf  dieses  Gedicht  in  alier- 
engster  Verwandtschaft:  man  kann  wohl  mit  Ausschluß  jedes  Irrthums 
sagen,  daß  m^  (zum  größten  Theil  1454  geschrieben)  die  Vorlage  für 
m*  (beendet  1464)  gebildet  hat.  Von  demselben  Schreiber  können 
sie  nicht  herrühren,  weil  m'^  eine  ganz  andere,  stark  verschnörkelte, 
auf  den  ersten  Blick  undeutlich  scheinende,  bei  genauerer  Betrachtung 
aber  recht  gut  lesbare  Schrift  aufweist.  Auch  nicht  aus  sprachlichem 
Grunde;  allerdings  herrscht  hier  wie  dort  schwäbischer  Dialect, 
aber  an  vereinzelten  feinen  Unterschieden  fehlt  es  nicht:  102  hat 
m*  nirat,  m^  niemt  (unechtes  ie  für  i,  Weinhold,  Aleni.  Gr.  §.  102), 
183  m'*  eiizühet  -.fluchet,  m^  enziohet  -.fliehet  (also  w  =:  m  =  zw  =  en), 
185  m*  veintlichen,  m^  vintUchen,  226  m*  icir,  m^  mir  (a.  a.  O.  §.  168  b), 
239  m*  fraindeii,  m^  fntnden,  315  m^  sam,  m^  söm  (o  für  ou  =  au, 
a.  a.  O.  §.  91);  der  Schreiber  von  m''  gebraucht  imm^-  fräude,  der 
von  m^  stets  fröde  (a.  a.  0.  §.  92)  und  fast  ausschließlich  da  im  Sinne 
von  da  und  do .  Er  ist  kein  Muster  von  Genauigkeit,  übertrifft  aber 
hierin  gewiß  den  Schreiber  von  m'*.  Die  Schreibfehler  sind  nicht  zahl- 
reich (147  die  für  dein,  223  zo  für  so  oder  ze,  224  herrem,  358  kurchten 
oder  kurchtent),  ungenaue  Reime  selten:  31  hlaio  :  da,  97  verdrußt  :  auß- 
schleiüßt  und  313  baide  :  chlaider;  105  fehlt  sich.  Daß  sich  die  Um- 
stellungen der  Verse  und  Lücken  im  Wiedertail  von  m'*  und  in  m^ 
finden,  wurde  bereits  gesagt,  aber  außer-dem  fehlen  in  m^  die  Verse 
30,  46  und  230,    so  daß  der  Reim  dreimal  unterbrochen  wird. 

Und    trotz     dieser    letzten     drei    Lücken     ist    m*    nach 
unserer  Handschrift    geschrieben    worden?    Allerdings    zeigt 
sich    an  diesen    drein  Stellen    in    m*    keine  Unterbrechung,    aber    die 
Verse  30,  46  und  230  lauten  dort  nicht  wie  in  A,  sondern 
30:  Dar  ein  was  sie  gesprengef, 
46:  Das  ich  mit  treioen  han  Verstössen^ 
230:    Vnd  mit  listen  ah  stritten. 
Man  sieht  sogleich,  daß  diese  Verse  eine  Leistung  des  Schreibers  von 
m*  sind,  der  jene  Lücken  seiner  Vorlage  durch  die  Reimstörung  be- 
merkte   und    nach    seinen  Kräften    ausfüllte.  —  So    viel    demnach 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCFTENWIHT  HS.S.      455 

^e^en  d i e  A n n a h m e ,  daß  m*  und  nr'  von  demselben  Schreiber 
lierr (ihren,  einzuwenden  ist,  so  wenig  läßt  sich  daj^egen 
anführen,  daß  m*  aus  m^  geflossen  ist.  Und  die  Quelle 
von  m''? 

XVI.  und  XVII.    ff.  If. 

Vielleicht  nähern  wir  uns  dorsolbon  in  f,  der  l'apior- 
handschrift  Nr.  .362  der  Frciburgcr  Univcrsitätsbiblioth(^k  *).  Zu- 
weilen kommt  dafür  die  Bezeichnun*;  „Ilu^'scher  Codex"  vor;  derselbe 
gehörte  nämlich  früher  dem  Freiburger  Professor,  Domdekan  und 
Geheimrath  Dr.  Leonhard  11  ug;  nach  dessen  1846  erfolgtem  Ab- 
leben kam  er  mit  anderen  werthvollen  Handschriften  und  dem  ganzen 
Bücherschatze  durch  Schenkung  an  die  Universitätsbibliothek  in  Frei- 
burg, welche  alle  diejenigen  Werke  der  Sammlung,  die  ohnehin  bereits 
vorhanden  waren,  dem  Lyceum  in  Constanz  überließ-).  —  Die  Hand- 
schrift f  umfaßt  93  Blätter  in  Folio,  welche  (zum  Theile  leer  gelassen) 
erst  in  neuester  Zeit  mit  Bleistift  gezählt  worden  sind.  Die  Gedichte 
sind  in  zwei  Spalten  geschrieben,  jede  besteht  durchschnittlich  aus 
mehr  als  40  Versen;  diese  beginnen  mit  großen  Buchstaben.  Nach 
dem  Schlüsse  des  achten  Gedichtes  findet  sich  die  für  die  Alters- 
bestimmung der  Handschrift  wichtige  Bemerkung:  Anno  domini 
mccccxif  In  die  Sande  avffre  jn  kii'chherg '^)  est  hoc  scriptum  pm 
Cfgr^i?).  ■         ■ 

Der  Widertail  beginnt  fol.  2,  Spalte  a  und  endet  auf 
f  o  1.  4  m  it  Spalte  b.  Die  Handschrift  selbst  habe  ich  nicht  gesehen, 
da  Herr  Professor  Hern)ann  Paul  in  Freiburg  mir  boreits  1879 
eine  Abschrift  des  Gedichtes  mit  einigen  die  Handschrift  betreffenden 
Notizen  zu  übersenden  die  Güte  hatte.  Vor  dem  Anfangsbuchstaben 
des  ersten  Verses  v/urde  Raum  für  eine  Initiale  freigelassen,  dann 
ein  S  vorgeschrieben.  Von  den  Haken  gebraucht  der  Schreiber 
^  oder  "  über  u  für  ^^o  und  tie  und  zwei  neben  oder  schräg  überein- 
ander gestellte  Punkte  zur  Bezeichnung  dei-  Umlaute:  fugt,  5  süssen, 
49  hör,  75  möchten,  100  fru  u.  s.  w, ,  aber  auch  für  a'.  121  sprch 
=  sprach    (:  sach) ,    ebenso  308  und  328.    Reine  n  (kurz    oder    lang) 


•)  H.  Amanu,  Praestantiorum  aliquot  Codicum  Mss.  qui  Fiiburgi  seivantur 
notitia.  Fasciculus  I.    Friburgi  Brisigaviae  1836.    Fasciculus  II.     1837. 

')  Vgl.  Dr.  Julius  Petzholdt  a.  a.  O.  S.  87. 

')  Von  den  vielen  Kirchberg  könnten  hier  in  Betracht  kommen  die  in  drr 
alemannischen  Schweiz  und  zwar  im  Canton  Thurgau,  Bezirk  Frauenfeld;  im  Canfon 
St.  Gallen;.  Bezirk  Alt-Togcreuburg;  im  Canton  Aargau  bei  Aarau  und  im  Canfon 
Bern,  Bezirk   Burgdorf;  vgl.  Ritter  a.  a.  0.  I,  S.   778. 


456  FRANZ  KRATOCHWIL 

tragen  keine  Haken,  wohl  aber  kommen  sie  ober  w  vor,  wo  diese 
als  Halbdiphthonge  zu  lesen  sind:  100  gesündert  (:  htinndert), 
140  stund  (nora.  sing.)  {:  grund)  u.  s.  w. ;  dasselbe  zeigt  sich  bei  o: 
77  u.  260  frömt  (:  kompt),  302  not  (accus,  sing.)  (  :  rot)  u.  s.  w.,  und 
besonders  zahlreich  bei  a:  17,  45  hän  (verb.) ,  28  u.  o.  nach,  71  ver- 
stau (:  man),  91  gdt  :  den  rät,  121  in  der  loät  u.  s.  w.  Letztere  Er- 
scheinung wurde  schon  bei  h^  (vgl.  S.  320)  beobachtet,  mit  welcher 
Handschrift  f  sprachlich  übereinstimmt;  die  dort  sowie  bei  s  und  h*^ 
angegebenen  Kennzeichen  des  alemannischen  Dialectes 
finden  sich  im  Allgemeinen  auch  hier  wieder.  Daran  knüpfe 
ich  noch  das  öftere  Vorkommen  von  ä  für  e  (Weinhold ,  Alem.  Gr. 
§.  13):  30  gäl,  149  u.  154  spar,  271  zu  fachten,  von  ä  für  au  (a.  a.  O. 
§.  34):  19  bam  :  sam;  Verengung  von  ou  zu  ö  (a-  a.  O.  §.  42):  immer 
froioen,  Ausfall  von  g  vor  flexi vischem  t  (a.  a.  0.  §.  212):  326  ge- 
mente,  Aus-  und  Abfall  von  t  (a.  a.  O.  §.  174  und  177):  gemenge, 
94  rech,  Verdoppelung  des  t  in-  und  auslautend  (auch  in  Verbindung 
mit  anderen  Consonanten)  nicht  nur  nach  Kürzen,  sondern  auch  nach 
Lcängen  (a.  a.  O.  §.  172  u.  176):  90  zitten,  194  rotti,  244  tötten  u.  o.; 
Abstoß  der  ganzen  Endung  im  Particip  des  Präteritums  (a.  a.  O. 
§.  372):  36  die  gemeng,  sp,  st,  sio  sind  allgemein  ,*-6Z,  sm,  sn  wechseln 
mit  schl,  schm,  sehn  (323  schmugen,  324  smvgen) ,  Vereinfachung  von 
echtem  seh  zu  s  (a.  a.  O.  §.  190)  begegnet  96  in  sympfs. 

Apokopen  und  Synkopen  sind  nicht  besonders  auffällig,  be- 
wirken aber  öfter  den  Verlust  der  Senkung,  so  1,  9,  10,  16,  32,  33, 
30,  88,  115,  122,  123,  129,  168,  178,  233,  237,  289,  301,  314  u.  s.  w., 
selbst  vor  der  letzten  Hebung:  10,  11,  194,  325  u.  ö.  Auch  wird 
der  Rhythmus  durch  den  Ausfall  kleiner  Wörter  gestört,  so  51  u. 
355  nu,  60  dich,  100  u.  247  so,  107  er,  154  von,  198  recht,  202  aigen, 
227  ern,  287  u.  301  er;  oft  aber  auch  durch  Einsetzung  unnöthiger 
Wörtlein:  49  hör  wol,  88  durch  mich  aine,  104  vil  ze,  125  den 
ainen,  150  dir,  222  all,  223  so  gar,  278  man,  282  nit,  289  nu.  — 
Klingend  schließende  Verse  von  vier  Hebungen  reimen  nicht  nur  auf 
solche  mit  vier  Hebungen  (117,  143,  199  u.  s.w.),  sondern  auch  auf 
solche  mit  drei  Hebungen  (33,  37,  75  u.  ö.).  Auch  die  Reime  bieten 
häufig  Anstößiges,  z.  B.  5  stür  :  createur,  17  ich  plick  :  geschickt,  21  hetten 
:  ungebitten,  31  hlaiv  :  da  (begegnet  in  m*  und  m^  ebenfalls  an  dieser 
Stelle!),  37  niemen  :  yemant .^  67  f roden  :  geuden ,  77  frömt :  kompt, 
99  sunderbaur  :  war,  105  scharn  '.  faren,  115  aine  :  kain,  131  spar  :  hin 
fart,  135  begert  :  er  ...  geioei'te,  137  mich  aine  :  noch  böses  maines, 
151  schowen  :  froive ,    153  kompt  :  zerdrimbt ,  161  geschehn  :  gesehen ,  181 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SITCHENWIRT-HSS.       457 

schimpf  :  milt ,  183  enzücket  :  flühet ,  191  erhucket  :  f'dyet ,  205  gernost 
:  ernst,  207  erweit  hast  (A  hast  erchorn)  :  zorn,  213  f nicht  (A  fruet) 
:  m/H,  219  ere  :  mer,  239  frümt  :  kotnpf ,  247  ge/^echeii  :  jehen,  251  fa^r 
^»a^r^,  257  fröde  :  güden,  271  t/rä'<  :  ta(Z<',  275  t?/  zi7^tf/i  :  waitten,  277  oZ>- 
^e^ezV  :  si"^^,  289  7?järe  :  sioär^  291  ^aic^  .  seiVe,  313  claider  :  haidew,  315 
laucht  :  geducht,  359  zarten  :  siichemoirt  (ganz  unuöthige  Reimstörung!), 
361  fehlt  das  Reimwort  sfan  und  362  steht  garten ')  auf  grian.  Man 
sieht  aus  manchen  dieser  Beispiele,  daß  der  Schreiber  in  doii  Reimen 
seiner  Vorlage  hie  und  da  einen  Haken  fand,  der  seinen  sprach- 
lichen Widerstand  anregte;  nicht  immer  hat  er  denselben  aufgegeben. 
Bei  anderen  aber  zeigt  sich  deutlich  Gedankenlosi  gkei  t'*)  als  Ur- 
sache; so  schreibt  er  209  zornayd  statt  ayd  (der  vorausgehende  Vers 
schließt  nämlich  mit  zorn),  und  324  setzte  er  das  Reimwort  von  323 
nochmal;  audere  mögen  auf  Willkür  beruhen  (ganz  unnöthige  Um- 
stellungen der  Wörter,  wie  22  ich  stund  da,  23  haimlich  kamen,  äiiiilich 
77,  80,  235,  317,  343,  355  lassen  dies  vermuthen),  andere  schon  in 
der  Vorlage  gestanden  haben. 

Dort  fand  vielleicht  auch  der  Schreiber  einzelne  Text  Ver- 
derbnisse^) vor,  sowie  die  Lücken  und  Umstellungen  der 
Verse.  Es  sind  genau  dieselben  wie  in  ra"*  (vgl.  S.  452),  nur  fehlt 
in  f  überdies  V.  319  (dadurch  Reimunterbrechung),  224  steht  vor  223 
und  258  vor  dem  Verse  257.  Das  läßt  auf  enge  Verwandtschaft  von  f 
mit  m*  und  m^  schließen,  zudem  stehen  sich  die  drei  Handschriften 
auch  sprachlich  sehr  nahe.  Die  Übereinstimmung  läßt  sich 
durch  das  ganzeGedicht  verfolgen,  wie  aus  nachfolgenden  Stellen 
erhellt:  3  m^m^  ioiinnec{k)lichen ,  f  lounnencUchen ^  7  sich  s{ch)winget, 
8  erde,  9  m^m^  lustic{k)lichen ,  f  lustlich,  10  gart,  11  kriites,  f  kricts, 
12  gilgen.     o[ci)ne,    15  hin    zu,   17  gehag,    18    liep{l>)Uch,    21    entladen, 


')  art  in  gai-len  ist  verkleckst. 

')  Im  Innern  der  Verse  sind  Schreibfelilcr  nicht  häufig,  besonders  nicht  in  den 
ersten  hundert  Versen,  die  nahezu  sorgfältig  geschrieben  sind. 

3)  6  allei' ,    53  main  :  erkaim,    55  haisset  [\) ,  82  slauffen ,    88  fehlt  das  Verbum, 
102  höchsten  (:  ersten),   159  uanckels  hah, 

196:     Der  der  fröden  ain  vhei-  lest; 
27Ö:     So  ist  er  der  demiP,  hy  zitten, 
312 — 314:     Er  graif  mit  baiden  hennda  dar 
In  rock  mantel  die  baidew 
In  die  gemengt  w"  claider", 
345 — 347  :     Den  ich  zu  hulen  erwelet  hett 
Jjer  trih  ald  er  je  verlschriet 
Von  gantzen  lugenden  ain  kern. 


458  FRANZ  KßATOCHWIL 

22  ich  stu{u)nd  da,  27  plaw  g emi sehet,  28  gestalt  toas(z) ,  31:  Dar 
unJer  was  swartz  grö{ü)n  und  pleno  (in  f  fehlt  loas),  32  gemischet,  f  ge- 
müscht,  33  getempert  vnder  ein,  f  getemperiert^) ,  41:  Die  hlaiio)  sprach 
durch  ir  staetichait,  42  sicherlichen ,  47  wanckels,  57  cZie  hlaiv  {die) 
sprach  so  heb,  74  verhaiß{ss)en ,  75  möchten  {ge)laisten,  85:  A/ei(i)ns 
hertzen  iru{au)t  vil  anders  tut, 

89  m*:  i^f^<  züchten  er  schvmpf  waiderdich, 

m^f:  ^t<  zu{u)chten  Schimpfi,  er  icaidelich  (f  ivirdenclich), 

90:  f/ncZ  aZ/e  zi(ei)t   (f  zw  a^^en  zitten)  sicherlich, 

immer  weit  (A  werlt),  107  Was  fräuden  (fröden,  fröwden)  möcht{e),  108 
ww(w)  Aör  WÄ  wil(V)  erst,  109  p{b)ül,  111  er  so  m^Y,  118  p{b)älen, 
119  zsif  doch  kainu  ze  (f  <Zocä  kaine  so),  120:  -B?-  imtrcZ  i'r  eren  bald 
ein  dieb,  121  wat  die  sprach,  124  ni{ü)mer ,  129  schantperlichu ,  m^ 
schamperliche,  i  schamparlich,  130  al(l)s,  i  alles,  142  tuenden,  143  jugent, 
145  und  gewöhnlich  2^^«^<^  für  Stcete,  161:  Dar  ««i6  m^s^  {mt'/sz)  im  gar 
we  beschehen  (f  geschehn),   162  Atm, 

163:  i)ar  wm&  (f  wm)  so  chu{o)mpt  er  mir  gesund, 

173:  In(m)  hertzen  deucht  {dilcht,  f  gedeucht)   er  in  gemait, 
174  tzeug  fehlt, 

179:  >S'o  /er^  er  her  gar  ritterlich, 

182:  In  ritterlicher  milt, 
191  ro/J(ssz), 

192:   Gar  (vil)  ma(e)ngen  voll  er  füget, 
197  in  mei{i)nem,    207  p{h)tilen,    212  wnrf  man,    213  so  ist,  216  szn(^ 
(A  seit),  218  erwerben,  220  A^w  /iir  p(b)as,  221  su(ü)llen  loir  a(o)uch 
heut  (hüt),  222  smcZ  aZ^,  226  ftesete  wiV  (m^  mir), 
232:  Des{z)  hau{a)t  er  sich  da{e)nn  sicher  (f  schier)   versunnen, 
233  schicket  (f  schickt)  er,  236  tüir^.  versert, 

238:  Z)az  inenger  da  muß  ligen  tot, 
239  Az7/e,  243  roß{sz)  muß  (f  müssen),  244  er  tö(o)ten  ojfenbe^m*  a)- 
ren,  250  wns  te,  251  dis{ss)en  tag,  253  auch  {och,  ouch)  selten,  256 
sweig  {und)  lass,  259  so  er,  260  mich,  261  ^?'«<^,  262  mi7,  265  ö?a. 
nw  fehlt,  267 :  Er  mach{e)t  sich  zu{e)  hindro{er)st  an  (m^  in)  die  schar, 
270  tö{o)rlichen,  271  zu  fe{ä)chten  also  t{d)rat,  278  isi  o?as,  219  geruet, 
i geribbt,  gerivbet  m'',  280  iverdu{e)  hand,  281  recht  als.  springen  reimt 
auf  282  gelungen,  284  roß,  285  schrei{y)t, 

286:   0  züie  /w^zeZ  fr  sic/t  (ra'*m^  da{e)nn)  spart. 


')  Zwischen  A  uud    den    drei  Handschriften    zeigen   sich  in  den  Versen  29—33 
bedeutende  Abweichungen,  desgleichen  später  in  den  Versen   121  — 123. 


Ü1?ER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHEN WIKT-HSS.       459 

290  in  sei {{)  n,  291  sicherlichen,  292  ander,  29-i  grossem,  in^( yrösscren- 
nach  V.  298  als  Ersatz  für  den  fehlenden  V.  297: 

Dein  (din)  red  ich  nicht  geli{ei)den   (f  gedulden)    mag, 
303  schuf{t),  nach  308  folgt  der  eingeschobene  Vers: 
Das{z)  was  der  plawen  ungemach, 

309:  Also  stund  {ir)  zu  aller  stund, 
316  lüie,  317  dar  under  sack  si,  321   ir  sint   (m'^  seit),  323:   Cu{e)samen 
si  sich  s(ch)mugen,  324  iüei{i)ß,  327  si  uider,  32S  lian,  335  w<ii{i)iien, 
336  sprach  fra{o)iv,  339  erkant,  349  sich  von  jugent, 

352:  /S'o  lüo^  im  der  (f  cZe/n)  azn  gut  loort, 
363  ward. 

U  n  a  b  w  e  i  s  1  i  c  h  drängt  sich  da  d  e  i-  Gedanke  auf,  ti  a  ß 
wir  in  f  die  Quelle  von  m^  gefunden  haben.  Freilich  U:\\\i  in  f 
V.  319,  m^  hat  abweichend  von  A  an  dieser  Stelle: 

Sjj  sprach  unß  lachedem  sinn:, 
offenbar  hat  die  Reimunterbrechung  den  Schreiber  von  m^  zu  dieser 
dichterischen  Leistiing  veranlaßt.  Aber  vielleicht  erscheint  Jemanden 
auffällig,  daß  im  V.  324,  wo  f  das  Reimwort  der  früheren  Zeile  wie- 
derholt, m^  das  richtige  pugen  hat,  daß,  während  in  f  die  Verse  329 
und  330  au  mangelhafter  Satzconstruction  leiden,  m*'  den  V,  330 
anders  als  f  und  besser  gibt,  wie  denn  auch  die  Verse  345 — 347  in 
m^  lesbarer  sind.  Aber  zu  diesen  Änderungen  oder  dazu,  daß  er  im 
V.  359  das  in  f  fehlende  Reimwort  herstellte,  den  in  f  vorgestellten 
V.  258  an  seinen  richtigen  Platz  setzte,  dazu  gehört  geringe  Ge- 
schicklichkeit, die  wir  dem  Schreiber  von  m^  wohl  zutrauen  können. 
Bedenken  könnte  allenfalls  V.   132  hervorrufen,  der  in  f  lautet: 

Oder  vjf  ein   letzte  hin  fart^ 
während  m^  hat:     Wer  hie  seins  naechsten  er  vart, 

also,  das  Wörtlein  hie  abgerechnet,  dasselbe  wie  A.  Sollte  der  Schreiber 
von  in"',  vom  Reime  geführt,  errathend  das  Richtige  getroffen  haben? 
Unmöglich  wäre  es  nicht,  vielleicht  —  das  Gedicht  war  ja  sehr  be- 
liebt —  stand  ihm  zur  Vergleichung  noch  eine  andere  Handschrift 
oder  ein  fliegendes  Blatt  zu  Diensten.  Wer  dieses  Bedenken  nicht 
zerstreuen,  somit  f  nicht  als  Quelle  von  m^  anerkennen  kann,  für 
den  bleibt  nur  die  Annahme  übrig,  daß  m^  und  f  nach  der- 
selben, uns  unbekannten  Vorlage  geschrieben  wurden.  Da- 
gegen aber,  daß  m^  und  f  von  einander  unabhängig  aus  einer  anderen 
Handschrift  geflossen  sind,  erhebt  der  Zweifel  den  Einwand  mit  Recht, 
daß  dann  schwerlich  zwischen  m*  und  f  sich  eine  so  durch- 
stehende Ü  berei  u  st  i  in  n)  u  n  g    zeigen    würde.   —   Allerdings  ge- 


460  FRANZ  KRATOCHWIL 

stattete  sich  der  Schreiber  von  m^  Abweichungen  von  f  (vgl.  S.  453 
und  454),  aber  dergleichen  waren  für  diese  Periode  nicht  ungewöhnlich; 
erlaubte  sich  nicht  auch  der  Schreiber  von  m*  manche  Freiheiten 
gegenüber  von  ra^?  Und  doch  muß  man  ihm  nachsagen,  daß  er 
seiner  Vorlage   (mit  Rücksicht  auf  seine  Zeit)   ziemlich  treu  gefolgt  ist. 

Eines  ist  unanfechtbar,  daß  nämlich  in  Bezug  auf 
Suchenwirt's  Widertail  m^m^  und  f  gegenüber  A  eine 
Gruppe  bilden,  von  der  die  Freiburger  Handschrift  A 
noch  am  nächsten  steht  und  den  meisten  Werth  besitzt, 
dann  folgt  m^,  zuletzt  m*.  Die  Gruppe  hat  für  die  Herstellung 
eines  guten  Textes  keine  geringe  Bedeutung:  m'^m^f  liefern  jede  an 
denselben  26  Stellen  Besserungen,  ra'^f  und  m^f  an  je  vier,  m*m^ 
an  acht,  für  sich  allein  m"*,  m^  an  je  zweien  und  f  an  acht  Stellen. 
Diese  Besserungen  sind  um  so  mehr  willkommen,  als  der  Widertail  in  A 
(das  erste  Gedicht  des  10.  Schreibers,  vgl.  S.  219)  nicht  fehlerfrei  ist. 
Die  Gruppe  m^m^f  bildet  somit  für  die  Textkritik  einen 
erwünschten  Gewinn. 

Mit  dem  ehemaligen  Besitzer  von  f  war  Josef  Freiherr  von 
Laßberg  auf  das  innigste  befreundet;  beide  hatten  eine  außer- 
ordentliche Vorliebe  für  alte  Bücher  und  Handschriften.  Natürlich 
hielt  keiner  vor  dem  andern  das  Gewonnene  geheim,  sie  thaten  es 
ja  nicht  einmal  gegenüber  der  Außenwelt^).  So  entlieh  Laßberg  von 
seinem  Freunde  die  Handschrift  und  schrieb  aus  derselben  zwölf 
deutsche  Gedichte  ab;  diese  Abschrift  ist  heute  noch  in  der  fürstlich 
Fürstenbergischen  Bibliothek  zu  Donaueschingen  in  einem  Halb- 
lederbande mit  der  Nummer  72  verwahrt,  er  hat  340  Seiten  in  Folio, 
von  S.  289 — 340  stehen  die  oben  erwähnten  zwölf  Gedichte,  das 
zweite  davon  ist  Suchenwirt's  Widertail.  Barack**)  macht 
dazu  die  Bemerkung:  „abgedruckt  im  Liedersaal  IH,  57".  —  f  ist 
also  schon  seit  1825  veröffentlicht?  Wie  erklären  sich  aber  die  be- 
deutenden Unterschiede  zwischen  f  und  ihrem  Abdruck  im  Liedersaal? 
Unnützes  Kopfzerbrechen,  an  welchem  einerseits  Barack's  Bemerkung 
schuld  ist,  die  ja  nur  sagen  will,  daß  f  das  unter  dem  Namen  „Wider- 
tail'*' bekannte  Gedicht  Suchenwirt's  ist,  das  auch  im  Liedersaal  an 
der  angegebenen  Stelle  zu  lesen  ist,  anderseits  Laßberg's  ganz  unbe- 
stimmte Art,  mit  der  er  über  das  den  drei  ersten  Bänden  des  Lieder- 
saales zu  Grunde  liegende  handschriftliche  Material  sich  äußert. 

*)  Vgl.  den  Artikel  von  Franz  Muncker  über  Laßberg  in  der  Allgemeinen 
deutschen  Biographie,  17.  Band  (1883),  S.  780—784. 

')  Dr.  K.  A.  Barack,  Die  Handschriften  der  fürstlich  Fürstenbergischen  Hof- 
bibliothek zu  Donaueschingen.    Tübingen.    1865. 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHENWIRT-HSS.      461 

Den  1820  erschienenen  ersten  Band  widmete  er  in  einer  ale- 
mannisch geschriebenen  Vorrede  (I  — XXVIII)  seinem  Freunde  Pro- 
fessor Leonhard  Hug;  S.  XV  sagt  er,  er  wolle  hiemit  verschiedene 
Lieder  alter  Sänger  abdrucken  aus  einem  großen  alten  Buche,  das 
vor  Aher  und  Unbilden  übel  aussehe,  gegen  Ende  des  14.  Jahr- 
hunderts geschrieben  sei')  und  an  die  3UU  Lieder  enthalte;  diese 
seien  aber  nicht  nur  ]\linnelieder,  sondern  auch  (S.  XXI)  „Mähren, 
Sagen,  geistliclie  und  weltliche  Lieder,  Bispel  uud  allerlei  Schwank". 
Kr  sondere  (8.  XVll)  diese  Gedichte  nicht  nach  dem  Inhalte,  sondern 
gebe  sie,  wie  sie  in  der  Handschrift  folgen;  doch  habe  er  jedem  eine 
Überschrift  uud  Inhaltsangabe  beigefügt,  die  Abkürzungen  (S.  XVIII) 
aufgelöst,  sonst  aber  die  alte  Schreibart  vollkommen  beibehalten,  nur 
habe  er  für  ü  (aus  altem  iu)  ü  gesetzt,  dem  es  in  der  Aussprache 
gleichkomme.  Am  Ende  des  ersten  Bandes  gibt  Laßberg  in  dem 
Format  der  alten  Foliohandschrift  eine  Schriftprobe  des  in  zwei  Spalten 
(jede  ungefähr  zu  40  Versen)  geschriebenen  Textes.  In  der  Einleitung 
des  zweiten  Bandes  sagt  er  S.  XII,  er  habe  gerade  diese  Handschrift 
herausgegeben,  weil  im  Privatbesitz  befindliche  Handschriften  leichter 
zu  Grunde  gehen  können,  als  solche,  welche  der  Staat  verwahrt. 
Er  habe  sie  absichtlich  so  gedruckt,  wie  sie  ist,  selbst  mit  ihren 
Fehlern.  S.  XIV  verspricht  er,  am  Ende  des  dritten  Bandes  über  die 
Handschrift  und  sein  Verfahren  mit  derselben  Auskunft  zu  geben, 
aber  daselbst  findet  sich  nichts  als  ein  Verzeichniß  sämmtlicher  Über- 
schriften der  Gedichte  und  die  alphabetisch  geordneten  Anfänge  der- 
selben. Dem  vierten  Bande  ist  weder  eine  Enleitung  noch  ein  Nach- 
wort beigegeben;  wer  nun  bedenkt,  daß  Laßberg  die  Lücken  der 
daselbst  abgedruckten  Nibelungenhandschrift  C  aus  B  ausfiUlle,  daß 
er,  wie  aus  seinem  Briefwechsel  mit  Uhland  (herausgegeben  von 
Franz  Pfeiffer,  Wien  1870)  erhellt,  im  Liedersaal  auch  die  Wein- 
gartener Handschrift  abdrucken  wollte,  der  wird  einräumen,  daß  auf 
Barack's  obige  Bemerkung  hin  sehr  leicht  Jemand  glauben  könne, 
Laßberg  habe  im  Liedersaal  außer  seinem  alten  Buche  auch  hie  und 
da  aus  anderen  Handschriften  etwas  aufgenommen,  speciell  aus  f,  aus 
der  er  ]a  erwiesenermaßen  viel  abgeschrieben  hatte. 

Dem  ist  aber  nicht  so.  Die  in  den  drei  ersten  Bänden  des 
Liedersaales    veröfl"entlichten  261   Gedichte    sind    thatsächlich    ein  Ab- 


'•)  In  der  Inhaltsangabe  zu  Nr.  CXXXV  sagt  Laßberg  (2.  Band,  S.  384),  das 
Gedicht  stamme  aus  dem  Jahre  1371;  es  ist  aber  nicht  ersichtlich,  ob  diese  Zeit- 
bestimmung von  der  ganzen  Handschrift  gilt  oder  nur  auf  die  erste  Hälfte  derselben 
sich  bezieht. 

QEKMANIA.    Nene  Reihe  XXII.  (XXXIV.)  Jahrgr.  31 


462  FRANZ  KRATOCHWIL 

druck  aus  dem  „großen  alten  Buch" ,  einein  mit  Leder  überzogenen 
Holzdeckelbande,  welcher  unter  dem  Namen  „Liedersaal-Codex" 
(=:  1)  in  der  fürstlichen  Bibliothek  zu  Donaueschingen  aufbewahrt 
wird.  Laßberg  hatte  sich  von  dieser  umfangreichen  Papierhandschrift 
zuerst  eine  Copie  gemacht,  dann  aber  die  Handschrift  selbst  erworben ; 
Original  sammt  Copie  und  allen  anderen  zahlreichen  Handschriften 
kamen  nach  Laßberg's  Tode  in  die  Fürstenbergische  Bibliothek ;  dort 
führt  der  Liedersaal-Codex  die  Nr.  104^).  Er  zählt  269  Blätter  und 
ist  zu  Anfang  und  zu  Ende  lückenhaft; 
Anfang:     Daz  tunt  mir  liebe  frowe  kunt, 

Ende:      Vnd  bin  frisch  vnd  vnuerzagt 

Vnd  waisz  nieman  wer  mich  jagt. 

Der  Widertail  reicht  von  Bl.  196,  1.  Spalte  bis  Bl.  198, 
2.  Spalte.  Die  Vergleichung  geschah,  da  ich  1  selbst  nicht  gesehen, 
auf  Grundlage  des  von  Laßberg  gegebenen  Abdruckes.  Dieser  hat 
gleich  A  364  Verse;  da  aber  in  1  die  Verse  91,  94,  305  u.  306  ohne 
jede  äußere  Unterbrechung  fehlen,  so  entsprechen  von  91  an  die 
Verszahlen  von  1  nicht  mehr  denen  in  A,  sie  sind  um  eins,  von  V.  93 
um  zwei,  von  304  um  vier  niedriger  als  in  A  bis  V.  350  (:=  354 
in  A),  dem  die  interpolierten  Verse 

351 :  Da:^  wirt  got  in  dem  himel  schin 
352 :    Vnd  lost  in  der  E  von  helle  pin 
folgen.  Von  V.  352  ab  in  1  beträgt  die  Differenz  gegen  A  nur  zwei ; 
auch   diese  verschwindet,    da  der  Schreiber  zum  Schlüsse  noch  zwei 
Verse  anfügt: 

363:    Vnd  nimpt  hie  ain  end 
364:  An  alle  mi^^exoend. 
Alle  Zahlen    der   nachfolgenden  Citate    sind  mit  Rücksicht  auf  A  an- 
gegeben. 

Die  Sprache  ist  wie  in  f  alemannisch,  doch  zeigt  sich  in  1 
keine  so  große  Vorliebe  für  umgelautete  Formen  und  den  Gebrauch 
von  au  =  ä',  dafür  aber  begegnet  in  den  Flexionen  sehr  häufig  ?*  für 
mhd.  iu  und  niempt  für  nieman  oder  niemen.  Vereinzelt  findet  sich 
194  mundalin  (Weinhold,  Alemann.  Gramm.  §.  271),  296  bidarben 
(a.  a.  O.  §.  10),  95  vachen  für  wachen  (a.  a.  O.  §.  163),  öfter  in- 
lautendes ch  für  /i,  z.  B.  162  gesechen  (a.  a.  0.  §.  222).  Die  Sprache 
ist  in  den  Reimen  weitaus  einheitlicher  als  in  f;  von  der  langen 
Reihe  der  dort  (vgl.  S.  456  f.)  angeführten  Reimungenauigkeiten  sind 


')  Vgl.  Barack  a.  a.  O.  S,  100—101. 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHEN WIRT-HSS.       4(53 

in  1  nur  31  plaw  :  da  (wie  in  m^'m^f),  67  und  2bl  fröden  :  gtudm, 
241  /rwwjf  :  Ä;?/nj2^/,  ,(immerliin  besser  als  f)  und  251  fng  :  magt  zu 
finden.     Auf  Rechnung    von   1  kommen    83  haut  :  inin    und    345   erzell 

Es  ist  dies  ein  Zeiclien  größerer  Sorgfalt,  die  sieh  auch 
dadurch  verräth ,  daß  die  Apokope  und  Synkope  mehr  beschränkt 
ist  und  daher  die  fehlenden  Senkungen  \M'niger  häufig  sind.  Fa^t 
ausnahmslos  ')  treffen  wir  in  1  dort  das  Richtige,  wo  in  f  ein  Schreib- 
fehler ist,  ein  Wort  fehlt,  eines  zu  viel  steht  oder  der  Text  sinnlos  ist. 
Die  in  f  nachgewiesenen  Lücken  und  Umstellungen  der  Verse  suchen 
wir  hier  vergebens. 

Aus  all  dem  erhellt  im  Zusammenhalte  mit  dem  S.  456  f.  Gesagten, 
daß  wir  1  als  Vorlage  von  f  nicht  ansehen  dürfen.  Für  die  Zugehörig- 
keit zur  Gruppe  m*m^f  würde  sprechen:   10  gart,  109  huol, 

132:  An  siner  nechsten  herfarf, 
142  iceitden,  191  u.  284  ros:^,  212  Vnd  man,  218  erwerben,  237  sieht 
in  tief,  243  muo:^,  270  torlich,  271  ze  fechten  und  363  ivard.  —  Da- 
gegen aber  ließe  sich  mehr  anführen,  zunächst  die  Übereinstimmung 
mit  A  gegen  m*m^f  (vgl.  S.  457 — 459):  9  fruchticklichen,  11  kruter, 
12  sunder,  17  hag,  18  zärtlich,  21  geladen,  22  stuont  ich,  27  gesmelze, 
28  gestellet,  32  Getempert,  33  Gemischet,  52  Wann,  57  stett,  85  Min 
buol,  111  gar,  124  nit,  129  schemliche,  153  gezieret,  163  haim,  197 
im  hercen,  256  sprach,  271  gerad,  281  sprung  :  gehing,  289  selber,  294 
solichen,  318  frot,  327  baide,  336  dii,  339  beckant,  349  sicJi  in\  15  hin, 
das  m^m^f  haben,  fehlt  wie  in  A,  ebenso  75  möchten,  121  die  sprach, 
130  alls,  221  u.  253  ouch,  222  a/Z;  die  Verse  89,  90,  108,  119,  120, 
123,  173,  179,  182,  192,  213,  220,  227,  232,  233,  236,  244,  250,  259, 
260,  267,  278,  280,  284,  290,  309,  313—316,  321,  329,  330  u.  352 
stimmen  mit  A  und  nicht  mit  der  Gruppe  ra^ni^f. 

All  das  macht  die  Annahme,  daß  faus  1  geflossen  sei, 
nicht  wahrscheinlich.  1  kann  aber  gar  nicht  die  Vorlage 
für  f  gebildet  haben,  denn  es  fehlt  in  1  im  V.  56  hoher,  und  doch 
hat  es  f  gleich  Am''m^;  60  schreibt  1  zert,  f  mit  Am"* m''  treit,  ii^  Sizt, 
f  mit  den  anderen  Handschriften  sind !  V.   78  lautet  in  1 : 

Dez  nachte:^  er  selb  ändert  kumpt, 
und  den  soll  f  zufällig  so  verbessert  haben,  wie  er  in  Am^m''  lautet? 


')  Von  auffälligen  Schreibfehlern  habe  ich  angemerkt:  127  holden^  159  Wvn- 
schex  halb,  196  De?-  sorgen,  228  kert;  störend  ist  ain  vor  lieb  im  V.  39  und  h(U  nach 
Bestelt  im  V.  226. 

31* 


4g4  FRANZ  KRATOCHWIL 

Das   wäre  eine  Kette  von  wunderbaren  Zufällen.    Dasselbe  zeigt  sich 
an  den  nachfolgenden  Versen: 

261 :  Min  buol  vü  anders  ist  gemuot 

273:    Wenn  man  du  vient  erblicket 

274:    Vnd  man  du  huffen  schicket 

288:  Recht  als  e^  sy  ain  loetturny 

350:  Wie  wol  er  sich  da2,  frowen  mag  — 
ganz  besonders  aber  an  V.  360,  welcher  in  1  lautet:  Ich  ylt  von  dan 
mit  sneller  giert '^  woher,  wenn  f  aus  1  stammt,  nahm  denn  der  Schreiber 
von  f  den  Namen  Suchenwirt?  —  Die  Verse  91  u.  94  fehlen  ganz 
in  1,  f  hat  aber  die  Verse  gleich  mit  A!  —  Wäre  1  die  Vorlage  ge- 
wesen, dann  ist  doch  schwer  anzunehmen,  daß  der  Schreiber  von  f 
in  den  Versen  313 — 316,  die  in  1  einen  lesbaren  Text  bieten,  einen 
solchen  Unsinn  zusammenschrieb.  Dasselbe  gilt  von  den  Versen  343 
bis  354,  die  in  f  mehr  oder  minder  verderbt  sind. 

f  stammt  somit  nicht  aus  1,  1  gehört  nicht  zur  Gruppe  m'^m^f; 
möglich  ist,  daß  f  aus  N  entstand.  1  aber  schließt  sich  enge 
an  A  und  übertrifft  f  an  Werth;  1  kommt  zwar  an  Güte  des 
Textes  A  nicht  gleich,  liefert  aber  doch  eine  Reihe  guter  Lesarten 
(für  sich  allein  an  ungefähr  18  Stellen,  zugleich  mit  m^m^f,  mit 
zwein  derselben  oder  der  ganzen  Gruppe  an  mehr  als  20  Stellen). 
1  kann  aus  A  entstanden  sein:  der  Widertail  ist  nach  der  Reihenfolge 
der  Gedichte  in  A  (vgl.  S.  207)  zu  schließen,  am  Ende  der  Sechziger 
Jahre  des  14.  Jahrhunderts  entstanden ;  dessen  Abschrift  in  A  gehört 
zu  den  älteren  Theilen  dieser  Handschrift. 

XVIII.    h^. 

Schon  bei  h'  wurde  von  dreien  heidelbergischen  Hand- 
schriften gesprochen,  zwei  davon  sind  uns  bereits  bekannt,  die  dritte 
ist  h*,  ein  in  Pergament  gebundener  Codex  in  Folio,  der  auf  dem 
Rücken  die  Aufschrift :  Astronomicum  calendarium  trägt,  früher 
die  Nummer  4  hatte,  jetzt  aber  die  Nr.  3  führt  (vgl.  Bartsch,  Hand- 
schriftenkatalog S.  4  f.)  und  aus  230  beschriebenen  und  sechs  leeren 
Blättern  besteht.  Zu  Anfang  befinden  sich  drei  Pergamentblätter,  auf 
dem  dritten  beginnt  Rudolfs  Wilhelm  von  Orlens  (mit  wundervollen 
Initialen  und  schönen  Bildern)  und  reicht  bis  fol.  197,  wo  Conrad 
Schreyber  von  Otingen  bemerkt,  daß  er  das  Werk  in  H  och- 
st etten  1458  beendet  habe.  Das  nächste  Stück:  Der  Borte  schrieb 
er  1478  (er  hielt  sich  damals  zufolge  einer  Bemerkung  auf  Bl.  208 
in  Augsburg   auf),    das   vierte:    Rede  von  dem  Studenten  zu  Pareyß 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHENWIRT-HSS.       465 

vnd  der  Schönen  Junck  frawen  etc.  (f.  211" — 225')  1466;  beim  dritten 
{Die  Rede  von  ainer  graseryn  f.  208'' — 210")  ist  nur  angegeben,  daß  es 
1479  geschrieben  ward.  Beim  fünften  (Der  kriecie  J)es  p/tlers  und  des 
Spilers  etc.  f.  225"— 228")  fehlt  jede  Bemerkung  über  die  Zeit  der 
Abfassung  und  den  Namen  des  Schreibers.  Fol.  228*  unten  beginnt 
Gar  ain  Schöne  Rede  uon  der  Liebin  vnd  der  Schonin  ivie  sie  kriegten 
mitt  ainander  (roth)  und  reicht  bis  f.  230''.  Dieses  Gedicht  wurde 
von  P  in  seiner  Ausgabe  der  Gedichte  Suchenwirt's  als  Nr.  XLVI 
mit  einigen  Änderungen  abgedruckt. 

Der  Raum  für  die  Initiale  ist  freigelassen,  die  Verse  sind  fort- 
laufend geschrieben,  aber  meistens  geschieden  durch  das  Zeichen  (j"; 
nach  V.  53  ist  ein  Raum  von  22  Zeilen  leergelassen  (wahrscheiulicii 
für  eine  nachträglich  anzubringende  Illustration).  Auf  V.  160  folgt: 
Amen  (J*  ßnitum  est  qiiinta  feria  ante  Dominicam  Innocauif  A)ino  Ihmini 
Millesimo  CCCCLXXIX.  Gewiß  stammt  auch  das  letzte  Stück 
der  Handschrift  aus  der  Feder  Schreybers;  es  ist  dieselbe 
schöne,  sehr  deutliche  Schrift,  die  aber  in  einigen  Buchstaben,  be- 
sonders r,  5  und  ß  die  spätere  Zeit  verräth;  das  Jahr  1479  bildet 
kein  Hinderniß,  rührt  ja  doch  die  'dritte  Nummer  der  Handschrift 
auch  aus  dieser  Zeit.  Auch  die  sprachlichen  Verhältnisse  im  letzten 
Stücke  stehen  mit  dieser  Annahme  im  Einklänge. 

Stammt  Schreyber  aus  Ottingen  an  der  Wörnitz,  dann  liegt 
seine  Heimat  hart  an  der  Scheide  des  schwäbischen  und  bairischen 
Dialectes,  überdies  wissen  wir  bereits,  daß  er  sich  zeitweilig  an  Orten 
aufhielt,  die  entschieden  dem  schwäbischen  Sprachgebiete  angehören. 
Dem  entspricht  in  h^  der  herrschende  bairische  Laut- 
stand einerseits  und  die  hie  und  da  auftretenden  schwä- 
bischen Anklänge  andrerseits.  So  begegnet  schon  in  der  Über- 
schrift Liebln,  Schonin,  erstere  Form  auch  in  V.  86,  letztere  in  100, 
sonst  immer  Liebe  und  Schöne;  80  ouch  neben  aitch,  durchaus  nit, 
gewöhnlich  das  Suffix  -lieh,  aber  59  taugenleych  (:  reich);  Verschie- 
bung des  d  nach  o  (Weinhold,  Aleman.  Gramm.  §.  91):  127,  129, 
150  hon  ich,  7  hondt  (3.  Fers.  pl.  präs.)  und  41  plon;  Antritt  von 
unechtem  e  an  das  Präteritum  des  Indicativ  (a.  a.  O.  §.  345:  57  ich 
Hesse)  und  den  Nomin.  des  Sing.  (137  der  kriege),  sowie  von  unechtem  t 
an  Pluralformen  des  Zeitwortes  (a.  a.  0.  §.  178,  346  u.  348):  41  si 
ziertent,  43  u.  60  loärent,  44  ei^klungent,  75  kdment  (conjunct.)  und 
146  giengent.  Einmal  (V.  84)  findet  sich  auch  der  Sing,  des  Imperativs 
gang  und  58  ich  stondt  (a.  a.  0.  §.  336  b  und  332  b).  Einiges  ist  auch 
in  die  Reime  gedrungen :  9  gefaren  :  gepOren,  33  kom  :  benam,  49  qnart 


466  FRANZ  KRATOCHWIL 

:  man  erhart  (a  =  ö,  a.  a.  O.  §.  79  u.  87),  63  prysen  :  wisen  {i  =  ei), 
77  aine  sprach  :  ach  (=  auch),  129  erleucht :  verflucht,  131  gepott :  mi<  ro<<. 
Die  zwei  ersten  Fälle  und  der  vierte  beruhen  auf  Sorglosigkeit 
des  Schreibers,  die  sich  auch  sonst  in  Schreibfehlern  zeigt  (18 
fröndt,  34  ir,  41  so,  78  nem  ich,  Id  klement,  127  baide'^^).  Sie  lassen 
sich  leicht  beheben,  ebenso  der  letzte  und  drittletzte  (wo  zwei  andere 
Handschriften  Abhilfe  gewähren'^),  desgleichen  der  vorletzte,  der  einer 
nicht  ganz  sicheren  Stelle  angehört/*).  Somit  bleibt  nur  der  dritte  Reim; 
dieser  ist  allerdings  eine  Incidenz  gegen  Koberstein's  allgemeinen 
Satz:  „Von  einer  Berührung  des  ä  und  o  findet  sich  keine  Spur  im 
Reim:  ebensowenig  darf  man  einen  Übergang  des  o  in  a  annehmen" 
(I,  S.  20).  Unser  Gedicht  erscheint  demnach  Koberstein  „wenn  auch 
nicht  geradezu  unecht,  doch  in  einer  Überarbeitung  auf  uns 
gekommen,  welche  in  Versmaß  und  Reimbindung  zu  sehr  von 
den  in  den  übrigen  Stücken  beobachteten  Regeln  abweicht,  als  daß 
man  mit  Sicherheit  von  den  darin  vorkommenden  Formen  auf  Suchen- 
wirt's  Sprachgebrauch  schließen  künnte"   (I,  S.  3). 

Diese  Behauptung  geht,  wenigstens  was  die  Reime 
betrifft,  sicherlich  zu  weit;,  aber  auch  bezüglich  des  Vers- 
maßes*). Fehlende  Senkung  stört  in  89,  91,  115,  131;  in  38,  70, 
149  und  150  vermißt  man  die  Senkung  vor  der  letzten  Hebung. 
Öfter  begegnet  zweisilbiger  Auftakt;  im  Innern  der  Verse  wäre  zwei- 
silbige Senkung  nur  zu  beanständen  in  5,  33,  82,  116,  117,  139  und 
146.  —  Dieses  kann  nicht  den  Stein  des  Anstoßes  gebildet  haben 
(denn  Ähnliches  kommt  in  A  auch  vor) ,  vielmehr  wird  er  in  den 
Versen  mit  vier  Hebungen  und  klingendem  Schlüsse  (17,  18,  23,  24, 
29,  30,  45,  46,  51,  52,  73,  74,  97,  98,  147,  148),  sowie  in  den  klingend 
reimenden  Versen  von  drei  und  vier  Hebungen  (27,  28,  41  und  42) 
zu  suchen  sein.  Nach  dem  Standpunkte,  den  Koberstein  zu  Anfang 
seiner  Untersuchungen  einnahm,  ist  sein  Verdict  begreiflich;  später 
dachte  er  auch    über    klingend   reimende  Verse   milder   (vgl.  S.  225). 


')  V.  62  schreibt  P  Tzunt  frawen,  h'  bat  aber  zum ;  nach  seinem  Text  erscheint 
V.  37  der  Reim  unterbrochen,  aber  h'  hat  erzaigten  Da  :  pla. 
')  Diese  haben: 

77     Nu  nenn  dich  mir  vnd  ich  Dar  nach, 

131  Das  er  in  mein  {mim)  gep(h)otte  stat, 

132  Ich  drinck  bilUchen  vor  mit  rat. 

^)  Auch  der  Anfang  bis  V.   16  ist  hie  und  da  unklar  und  verderbt. 
*)  Der  stumpf  schließende  V.   136   mit  fünf  Hebungen  entspricht,    sobald  man 
die  vom  Schreiber  zugesetzten  Änfangsworte:  Sie  sprach  wegläßt. 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHENWIRT-HSS.       457 

AVir  haben  an  Beispielen,  wie  h'  oder  Nr.  3  in  m*,  gesehen,  was  sich 
die  Schreiber  dieser  Zeit  zuweilen  erlaubten;  ihre  Thätiefkeit  konnte 
mit  Recht  eine  Überarbeitung  genannt  werden;  bei  Ir'  scheint 
mir  aber  dieser  Ausdruck  etwas  zu  stark,  wobei  nicht  ge- 
leugnet werden  soll,  daß  der  Schreiber  sich  seiner  Vorlage  gegenüber 
gewiß  allerlei  Freiheiten  gestattet  haben  wird.  Den  Vorgang  Kober- 
stein's  aber,  das  Gedicht  für  unecht  zu  erklären,  dem 
Suchenwirt  die  Autorschaft  abzusprechen,  halteich  für  ungerecht- 
fertigt. Gerade  solche  Stoffe,  in  solcher  Einkleidung  liebte  Suchen- 
wirt, auch  die  stilistischen  Wendungen  stechen  nicht  von  denen  seiner 
anderen  Gedichte  ab.  Daß  sich  Suchen wirt  als  Autor  nennt,  halte 
ich  nicht  für  ausschlaggebend,  wenn  uns  das  Gedicht  in  h^  allein 
überliefert  worden  wäre:  denn  es  gibt  Fälle,  wo  Gedichte,  deren 
Urheber  mit  aller  Bestimmtheit  feststehen,  mittelst  einiger  angehängter 
Verse  einem  anderen  Dichter  beigelegt  wurden.  Aber  in  dieser  Lage 
sind  wir  nicht.  Unser  Gedicht  findet  sich  ja  auch  in  ra* 
und  m^  (vgl.  S.  451  f.);  auch  hier  nennt  sich  Suchenwirt 
als  Dichter,  und  damit  ist  seineAutorschaft  wohl  gerettet. 
Das  im  Allgemeinen  über  m*  und  m^  Gesagte  hat  auch  von  der 
Nr.  1  dieser  beiden  Handschriften,  dem  Krieg  der  Liebe  und  Schöne, 
Geltung.  Die  beiden  Recensionen  dieses  Gedichtes  zeigen 
eine  durchgreifende  Übereinstimmung,  wie  aus  nachfolgenden 
Stellen  überzeugend  erhellt:  2  die  f{v)err(e).  zu,  4  mag  nicht,  5  mit, 
6 :  We{a)nn  es  der  (iceysen)  maister  mund,, 
7 :  Durchit)  suchet  (habent)  uher  all, 
9  und  fehlt,  gearn,  10  ich  dan  dar  under  faren,  12  nymmer  Die  yelaß, 
13  heriz  sich  sent, 

17:  hin  in  ain  awe{oic)  zu  aine  jn'unnen, 
19  menigfalt,  20  so  fehlt, 

21 :    Vnd  dang  (Da)  ü(v)her  herten  ßins, 
22  edle7i,  23  er  fehlt  und  24  alle, 

25:  Die  lüchten  auß  ir  plüenden  gruf(t), 
26  da  fehlt,  27  gesprentzet, 

28 :  Der  p{h)lümen  Dolden  glentzet ; 
für  die  Verse  29 — 31  von  h^  folgen  fünf  Verse: 

(29)  fr(o)ölich  gen  der(n)  sannen  p(h)i-ehen, 

(30)  Als  a(^)m')  kai7i  laid  nie  war  beschehen, 

(31)  Vnd  erchucket  Den  im  {erkukte  gen  ir)  glast, 


')  OT»  =:  im,    vgl.  Weinhold,  Alemanu.  Gramm.  §.  415,  S.  455;    bieher  gehört 
auch  das  Possessivpronomen  ar  =  ir  iu  m*  71. 


468  FRANZ  KRATOCHWIL 

(32)  wann  (was)  des  tawes  ü{v)berlast, 

(33)  So  sere  menge{n)  nider  zioang, 

dann  weiter  mit  V.  32  von  h*  ;  33  kam,  34  in,  36  plümen  Hecht  Die 
durch,  37  sie  fehlt,  38  gel  rot  gr'ö{e)n  prun  und\  die  Verse  39  und  40 
fehlen;  41  jplan  si,  42  sie  fehlt,  44  la{ä)nkten,  47  die  sungen,  47  plü- 
(ti) enden  iverden  tal,  49  mit  ain,  52  ziüo,  53  gar  hesunder,  55  loes, 
56  &ar^,  57  ich  ließ  mich  nicht  (nich),  57  vnd  stund  vnder  ainer, 
59  lugt  in  zu  gar,  63   ie.     hoch  gepriset, 

64:  Des  mich  mein  sinn  Da  ivei(i)sset, 
71  dar  oh  gesch. ,    73  gar  fehlt,  74  recht  als  si  zicen,    75  ch{k)omen, 
76:  /S'o  7'zcÄ  was  ir  geioand^), 
80:  7c/i  sag{e)  Dir  auch  Den  namen  mein, 
83  die  fehlt,  84  nttw  wol, 

86:  Z).  ^{e6  spr.  z.  d.  schön  hinw.  (ganz  sinnlose  Umstellung), 

87  ioelch{u)  vnder  uns  pas'^),  88  prunnen  frey{y),  89  sprach  die  lieh, 

90  trenck  ich  mich,  91  na  in  sprach,    96  von  erst,  97  tatitzen  stechen 

und,    98  p/.  singen,    100  nimpt  auch,    101  nwn  ac/i,    102  cZfs  so^/  ich, 

105  ^ar  klainen, 

107:    Weder  weil  noch  k.  fr., 
108  ii;as   <r(e)iüe,    109  ein  fehlt,    110  da  ch{k)an    ich.    und   fehlt,    114 
p(b)illichen  mit,    115  allda,    116  v?7  fehlt,  diser,    117  ?ü«V2;«3  fehlt,   118 
väu(o)h(rin,   119  rcts^  (dadurch  Reimstörung),   123  lieb  die, 

126:  Z)r<s  si  ain  ander '^)  nicht  sind  wild, 
127  haider, 

128:  Z^as  Da  hie  uor  f.  lo., 

130:  Das  sich  menger  in  mir  vertücht, 

131:  Das  er  in  mein   (mm)  gep{h)otte  stat], 
132  billichen.    rat,   133  gedingen,    134  ch{k)a>n, 

135:  i)«e  tüar^Z  entpfangen  und  hiess  äie  fein^^(mynn); 
nun  folgen  die  eingeschobenen  Verse: 

(136)  Die  nam  (m^  mam?)  ir  Disputieren  ein  (yn), 

(137)  Fan  in  paiden  on  gewerr  (m^  ougener,  Schreibfehler), 

(138)  Welchu  pas  zu  preisen  (ze  hriessent)*)  loer; 

')  Hat  nur  drei  Hebungen;  dergleichen  begegnet  in  beiden  Haudschriften  öfter, 
so  in  m*  V.  6  u.  7,  in  m*  79: 

Sag  mir  den  namen  dein. 

')  m^  hat  geadlot;  vgl.  a.  a.  O.  §.  372,  S.  380. 

')  m^  hat  an  ainder,  dies  muß  nicht  Schreibfehler  sein:  a  für  ei,  ai  kommt 
ebenso  wie  ai  für  a  auch  im  schwäbischen  Dialect  vor;  vgl.  Weinhold  a.  a.  O.  §.  87 
und  94. 

*)iÜber  solche  flectierte  Infinitive  vgl.  a.  a.  0.  §,  371. 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DKIJ  SITCHENWIRT-MSS.       4H0 

darauf  186:    Die  vein   (minn)   dip  sprach  legert  ir  mein, 

137  krieg  hie,     138  fehlt:    zweite  Lücke;    139  si  p{h)niien  pai'l,    142 

da  geivan,   147  nicht  fehlt. 

149:   und  cha(k6)men  im{o)ch  da  nit  h.  ic.^ 

152:    Vnd  auch  dusselhig  w.  pr., 
153  sfien,   154  h'rtz  lieb  hob,   156   und  feiilt. 

160:  Also  rett  petter  s{sch)uchemoivH . 
Aus  denselben  Gründen,  die  ich  schon  bei  anderer  Gele{2;enheit 
vorgebracht  (vgl.  S.  454  und  459)  ist  die  Annahme,  daß  beide  Fas- 
sungen von  der  Hand  desselben  Schreibers  herrühren,  ausgeschlossen, 
die,  daß  beide  Schreiber  von  einander  unabhängig  aus  einer  und 
derselben  Quelle  geschöpft,  sehr  unwahrscheinlich.  Man  geht  nicht 
fehl,  wenn  man  m^  nicht  nur  als  Quelle  von  Nr.  2,  sondern 
auch  von  Nr.  1  in  m'*  betrachtet.  Daß  zwischen  beiden  Hand- 
schriften Abweichungen  sich  zeigen,  ist  nicht  auffällig;  sie  sind 
weniger  zahlreich  als  im  Widertail,  aber  etwas  belangreicher.  Das 
erklärt  sich  aus  zweien  Gründen.  Schon  früher  wurde  bemerkt,  daß 
Nr.  2  in  m^  nicht  diesen  argen  Eindruck  der  Flüchtigkeit  maciie 
wie  Nr.  3  dieser  Handschrift.  Im  Krieg  der  Liebe  und  Schöne 
zeigt  sich  noch  eine  größere  Sorgfalt  als  in  Nr.  2,  so  daß 
der  Schreiber  von  ra^  ein  vollkommenes  Gegenstück  zum  10.  Schreiber 
von  A  bildet.  —  Der  gut  lesbaren  Schrift  in  m^  wurde  bereits  ge- 
dacht, der  Krieg  der  Liebe  und  Schöne  aber  ist  von  V.  37  an 
elend  geschrieben  und  minder  genau.  Man  sieht  dies  aus 
Schreibfehlern,  von  denen  ich  nur  anführe:  25  gruf,  37  da  :  blaio, 
49  quart  :  erhört,  84  mir,  127  verspradt ,  156  (jefrawet.  Ganz  fehlen 
sie  auch  nicht  in  ra**;  1  cluge,  21  herzen,  .51  zirieng,  120  umieruorren 
und  145  die  für  der  fallen  auf.  Im  Übrigen  hat  der  Schreiber  von 
m*  manche  Gebrechen  seiner  Vorlage  glücklich  gebessert.  Daß  in 
m*  die  Verse  11 — 16  zu  Anfang  verstümmelt  sind,  trifft  nicht  den 
Schreiber;    das  untere  Eck  von  fol.  68  ist  nämlich  weggerissen. 

Gegen  einander  gewogen,  scheint  m'*  den  Vorzug  vor 
m''  zu  verdienen:  im  Ganzen  sind  sie  wohl  gleichwert h ig. 
Die  Quelle  von  m^  ist  unbekannt,  h^  kann  es  nicht  gewesen  sein  schon 
wegen  der  nicht  unbedeutenden  Textverschiedenheiten; 
überdies  ist  h''  erst  1479  geschrieben  worden,  m"*  aber  1464'  und  m^ 
1454.  An  Brauchbarkeit  kommen  sich  alle  drei  Hand- 
schriften ziemlich  gleich;  P  benützte  nur  h'^,  eine  neue  Aus- 
gabe wird  die  Gruppe  m*m^  nicht  übergehen  dürfen,  sie  liefert 
an  ungefähr  25  Stellen,  m^  und  m-^  an  je  zwein  Verbesserungen  zu  h'. 


470  FRANZ  KRATOCHWIL 

Zu  den  guten  Handschriften  gehören  m*,  m^  und  h"^  nicht, 
sie  weisen  metrische  und  sprachliche  Ausartungen  und  Sinnlosigkeiten 
genug  auf.  Ihr  Werth  aber  liegt  darin,  daß  durch  sie  ein 
Gedicht,  ein  sicheres  Eigenthum  Suchenwirt' s,  welches 
in  A  leider  fehlt,  uns  erhalten  wurde. 

XIX-XXI.    kt-    pt-    rf. 

Auch  kpr  bilden  wie  h^m*m^  insoferne  eine  Gruppe, 
als  sie  uns  ebenfalls  ein  Gedicht  Suchenwirt's  überliefern, 
das  in  der  Reihenfolge  seiner  Gedichte  in  A  nicht  vorkommt: 
das  Würfelspiel.  Daß  Suchen wirt  ein  Gedicht  unter  dieser  Über- 
schrift dichtete,  war  schon  aus  dem  Inhaltsverzeichnisse  von  N 
bekannt,  daß  es  noch  existiere,  erfuhr  man  erst  1829.  Damals 
berichtete  Graff,  Diutiska,  3.  Bd.,  S.  267  ff.  „über  altdeutsche  Denk- 
mäler in  Kloster-Neuburg  bei  Wien,  in  Melk,  St.  Florian,  Kremsmünster 
und  Linz",  S.  277  erwähnte  er  unter  den  handschriftlichen  Schätzen 
Krerasmünsters  „ein  Gedicht  vom  Würfelspiel,  von  Suchenwirt  aus 
dem  15.  Jahrhunderte".  Auf  mein  Ansuchen  wurde  mir  der  Codex 
Nr.  69,  welcher  das  Würfelspiel  *)  enthält,  in  wahrhaft  liberaler  Weise 
nach  W^ien  zur  häuslichen  Benützung  geschickt. 

Äußerlich  ist  diese  Papierhandschrift  mit  ihren  dicken  über- 
zogenen Holzdeckeln  und  eisernen  Schließen  sehr  unansehnlich;  sie 
besteht  aus  173  Blättern  in  Quart.  Auf  der  Innenseite  des  Vorder- 
deckels ist  ein  Pergamentstreifen  aufgeklebt  mit  der  Inschrift:  Iste 
liher  est  Sancti  Agapiti  mariyris  in  Krems miister y  quem  nobis  dedit 
honorabilis  presbyter  Johannes  Seid  De  lewbs  .  . .;  bei  dem  letzten  Worte 
ist  offenbar  an  Leihen  in  Niederösterreich  zwischen  Dürrenstein  und 
Stein  zu  denken.  Der  genannte  Priester  hat  nicht  nur  diese,  sondern 
auch  mehrere  andere  Handschriften  dem  Kloster  Kremsmünster  in 
den  Jahren    1440   und  1441    übergeben'').  —  Die  Schlußworte  des 


')  üas  Gedicht  im  Liedersaal,  3.  Band,  S.  231  f.,  mit  dem  Anfange: 

Mich  hell  ains  tages  dar  zu  bracht 

Der  Würfel  das  ich  was  verdacht 
und  am  Schluß:  Vnd  an  den  wurfel  beliben 

Durch  sine  valschen  vii:^:^etat 

Du  er  begat  mit  valschem  rat, 
(im  Ganzen  82  Verse)  ist  von  dem  Suchenwirt's  verschieden,    wenn  es  auch  dieselbe 
Tendenz  hat,   die  Schädlichkeit  des  Würfels  darzustellen. 

')  Vgl.  über  Seid  und  die  üblichen  Todtenverbrüderungen  P.  Hugo  Schmid, 
Catalogus  codicum  manuscriptorum  in  bibliotheca  monasterii  Cremifanensis  ord. 
S.  Benedict!  asservatorum.    Tomi  I.  fasc.  I.  (1877)  pag.  24. 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUrHENWIUT-Hss;,       .|V1 

Pergamentstreifens  .  ...  et  continet  colleclionem  tabularum  de  equationibus 
motuuvi  Solls  et  lune  compüatam  ex  tahulijs  alphoncy  regis  hysponie 
charakterisieren  den  Inhalt  der  Handschrift;  dieselbe  handelt  that- 
sächlich  zum  größten  Theile  von  astronomischen  und  astrologischen 
Dingen. 

Die  Handschrift  ist  an  mehreren  Stellen,  namentlich  nach  dem 
S  u  c h  e  n  w  i  r  t'  s  c  h  e  n  Gedichte  stark  schadhaft.  Dasselbe  b  e- 
ginnt  fol.  167'  oben  ohne  Überschrift  und  i-eicht  bis  170*. 
Die  Schrift  ist  ziemlich  deutlich,  weist  in  die  erste  Hälfte  des  15.  Jahr- 
hunderts und  gemahnt  an  die  Züge  in  w,  doch  dürfte  letztere  Hand- 
schrift älter  sein.  Es  wurde  ausschlielMich  schwarze  Tinte  verwendet; 
auf  jeder  Seite  steht  nur  eine  Columne,  die  Verse  (durchschnittlich 
28  auf  jeder  Seite)  sind  abgesetzt  und  beginnen  meist  mit  großen 
Buchstaben.  Die  zwei  ersten  Verse  wurden  mehr  nach  rechts  ge- 
schrieben, um  Raum  für  eine  größere  Initiale  zu  reservieren,  die 
übrigens  nicht  nachgetragen  wurde.  Als  Abkürzungszeichen  gebraucht 
der  Schreiber  '\  ^  und  ^  letzteres  ist  zuweilen  unnöthig  gesetzt, 
dagegen  fehlen  häufig  die  i-Punkte';  zur  Vocalbezeichnung  verwendet 
er  ganz  vereinzelt  *,  sonst  *  und  ',  gewöhnlich  aber  '  .  Fast  regel- 
mäßig finden  sich  diese  Punkte  über  y,  hingegen  werden  Halb- 
diphthonge damit  nur  selten  angedeutet:  20  er  let  {■=  ä  =  ae), 
59  ich  tummer,  81  (jät  (=  «)  und  163  der  zehen  pot,  Svarabhakti  nie. 
Diese  werden  vielmehr  durch  e  und  i  gegeben ;  metrisch  nicht  ge- 
rechnet ist  sie  in  58  czaren ,  129  czoiii  und  dem  öfter  vorkommenden 
durich;  metrischen  Werth  hat  sie  in  85  icerichstat  und   155  icerich. 

Das  Lob  der  Sorgfalt  kann  man  dem  Schreiber  von  k 
nicht  er t heilen.  Es  kommen  Schreibfehler  im  Innern  der  Verse 
und  in  den  Reimen  vor,  so  35  .set  (die  Prager  Handschrift  p  hat 
schneidt),  41  se  (p  seiti),  52  und  128  wymt  (p  nymht),  52  iveil  (p  loeih), 
57  fer  (p  ser) ,  85  eicicht  (p  entivicJd:  Antritt  von  unechtem  t  nach 
lingualem  Auslaut,  vgl.  Weiuhold,  Alemaun.  Gramm.  §.  178),  87  da;; 
dem  (p  czu  dem)  und  109  tugenchaften  (p  tug entliehen) ;  1  ampt  :  schampt, 
19  versiahen  :  v'sTiiachen,  29  vart  :  span  (p  spart),  61  emvicht :  7iit  (p  nicht), 
69  p-awtet  (p  praittet)  :  laitet,  125  v'nvft  :  czuchunft,  143  fraivn  :  ge- 
trawen\  25  j>rnefet  (p.  prewet)  :  vernewet,  39:  Er  siez  Den  tag  vnd  The 
nacht  :  icag  (p  hingegen :  Er  sitzt  die  nacht  bis  an  den  lag) ,  9\  hat 
:  stet  (p  statt),  109  vor  :  spar  (p  spor),  113  ir  habet  :  icaldet  (p  halten 
:  lüalten),  121  schulln  :  schulln  (p  fällen  :  süllen)-,  in  V.  128  fehlt  auch,  in 
71  spil,  121  dn\  Neben  stumpfschließenden  Versen  mit  drei  Hebungen, 
wie  Vers 


472  FRANZ  KEATOCHWIL 

3:  DaT;  phligt  nicht  chlug'  sinn 
4:  De^  pin  ich  loarden  ynn 
89:  Noch  ains  Da^  mt'it  mich  ser 
finden  sich  überladene  Verse,  z,  B. 

37 :  De:^  nachtz,  so  hat  oft  ein"  guten  müt 
62:  Marl  geit  yem  Das;,  gelt  hin  wid''  nit 
64:  ivann  er  mit  ainem  füe^^  stet  auf  //  pankch', 
V.   151   mit  vier  Hebungen: 

Mit  fumf  augen^)   czu  den  stunden 
reimt  auf  V.  152  mit  nur  drein  Hebungen: 

Spott  er  Der  fumf  lounden    u.  s.   w. 
Die  Verse  19  und  20  von  p  sind  in  k  umgestellt  (20  geht  19  voraus), 
desgleichen  101  und  102,  beidemale,  wie  ich  glaube,   nicht  zum  Vor- 
theile  des  Sinnes.  Nach  V.  49: 

ffleiist  er  Dann  Daz  ist  ein  spot 
fehlt  ein  Vers,  p  hat  darnach: 

So  schilt  er  dann  vnd  swert  hy  gott'^ 
nach   117:        Frawen  priest''  ritterschaft 

weist  die  Unterbrechung  des  Reimes  auf  den  Ausfall  eines  Verses  hin; 
p.  hat  als  V.   118: 

Den  krencket  er  Lohes  crafft. 
Nach  V.   144  folgen  die  zwei  nicht  reimenden  Verse: 

Mit  tauz,  e^  Die  Driualtichait 

Der  vier  eioangelisten\ 
vor  dem  ersten  hat  p  als  V.  145: 

Er  verlaugent  als  man  saitt, 
vor  dem   zweiten  als  V.  147: 

Das  merckt  ir  edeln  cristen. 
Auf  den  ersten  Eindruck  hin  ist  man  leicht  geneigt,  den  häu- 
figen Mangel  des  Umlautes  durch  die  Leichtfertigkeit  des  Schrei- 
bers zu  erklären.  Aber  dieser  schreibt  nicht  nur  1  snodes,  33  phlag, 
74  mocht,  122  vppichait^  175  schant,  sondern  auch  17  und  21  vher, 
100,  124  und  160  sunt^  119  und  122  sunden  und  stets  wurfel.  Wir 
haben  es  also  hier  mit  einer  Eigenthümlichkeit  der  Sprache 
des  Schreibers  zu^thun  (vgl.  S.  331),  diese  aber  hat  unver- 
kennbar alle  Merkmale  des  österreichisch-bairischen 
Dialectes.  Ich  erwähne  (um  nicht  bereits  Gesagtes  zu  wiederholen) 
nur  den  Einschub  des  lingualen  Nasals  in  das  Suffix:    heiling  (Wein- 


*)  äugen  fehlt  in  p. 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHENWIRT-HSS.       473 

hold,  Bair.  Gramm.  §.  168),  den  Aus-  und  Abfall  von  d  in  127  arii 
(p  ordeyi)  und  160  fröm  (p  främd,  a.  a.  0.  §.  148  u.  149),  sowie  die 
Vertretung  von  ü  durch  i  in   180  cJnnnd  (p  künd,  a.  a.  O.  §.   19). 

Die  Papierhandschrift  p,  deren  bereits  im  Vorstehenden  öfter 
gedacht  wurde,  hat  die  Signatur  I.  G.  8  (früher  325)  und  ist  Eigen- 
thum  des  Böhmischen  Museums  in  Prag,  dessen  Verwaltungs- 
ausschuß die  Güte  hatte,  mir  die  Handschrift  zur  Benützung  nach 
Wien  an  die  k.  k.  Universitätsbibliothek  zu  übersenden.  —  Sie  war 
ohne  Zweifel  einmal  eine  der  schönsten  Handschriften ;  die  starken 
Deckel  sind  mit  rothem  feingeprelUem  Leder  überzogen  und  waren 
an  den  Ecken  und  in  der  Mitte  mit  schön  gearbeiteten  Messing- 
buckeln versehen,  von  denen  bereits  vier  fehlen,  desgleichen  eine 
der  Lederschließen,  während  die  andere  verstümmelt  ist.  Die  auf 
den  Deckeln  eingepreßten  Worte  lauten  „ave  maria",  auf  den 
Messingbeschlägen  des  Vorderdeckels  zum  Einklappen  der  Schließen 
„avet  mariat  gracia'',  auf  jenen  des  rückwärtigen  Deckels,  mit  wel- 
chen die  Schließen  befestigt  waren  „vns",  auf  den  Eckbeschlägen 
„mariat  graciat  plenaf  a".  Der  Rücken  ist  etwas  schadhaft;  er  trägt 
oben  ein  Schild  mit  den  Worten  „Versus  germanici  Script!"' :  darunter 
ein  kleineres  mit  der  Zahl  271  und  darunter  ein  Zettelchen  mit  der 
jetzigen  Signatur. 

Der  Codex  enthält  zu  Anfang  fünf  ungezählte  Blätter  in  Folio, 
denen  353  gezählte  folgen;  die  Blattzahlen  von  1 — 60  scheinen  mir 
in  neuerer  Zeit  mit  schwarzer  Tinte  aufgefrischt  worden  zu  sein. 
Die  Überschriften  sind  mit  rother  Tinte  geschrieben,  der  Anfangs- 
buchstabe des  ersten  Verses  ist  roth  und  bedeutend  größer  als  die 
der  anderen ,  welche  mit  einem  rothen  Striche  durchzogen  sind. 
Während  in  der  kleineren  zweiten  Hälfte  der  Handschrift  nur  die 
Strophen  abgesetzt  sind,  sind  die  Gedichte  der  ersten  Hälfte  in  einer 
Columne  so  geschrieben,  daß  mit  jedem  Vers  eine  neue  Zeile  beginnt; 
deren  sind  auf  einer  Seite  ungefähr  30 — 34.  Der  beschriebene  Raum 
ist  mit  vier  auf  einander  senkrecht  stehenden  Linien  eingesäumt,  so 
daß  nach  allen  vier  Richtungen  breite  Ränder  frei  bleiben. 

Die  Schrift  verräth  nur  eine  Hand  und  weist  uns  in  die  zweite 
Hälfte  des  15.  Jahrhunderts.  Die  i-Punkte  —  ich  habe  hier  und  im 
Folgenden  vor  Allem  Suchenwir  t's  Gedicht  im  Auge,  das  fol.  113'' 
unten  mit  der  Überschrift:  Was  vbels  ainem  yeglichem  uß  Spil  choJn 
beginnt  und  fol.  116'  endet  —  fehlen  häufig.  Abkürzungszeichen 
finden  sich  nicht,  außer  einem  wagrechten  Striche,  um  die  Verdoppe- 
lung   des  m  oder  n  anzuzeigen.    Die    zur  Bezeichnung    des  Umlautes 


474  FRANZ  KRATOCHWIL 

üblichen  Punkte  oder  "  werden  auch  über  w  häufig  gesetzt,  wenn 
sie  als  u  gelesen  werden  sollen,  z.  B.  V.  27  heivt.  Doch  kommen  die 
Punkte  statt  auf  iv  auch  auf  das  diesem  vorausgehende  e  zu  stehen, 
80  25  prewet,  56  reioßt.  Um  uo,  ue  auszudrücken,  wird  das  Zeichen  <* 
angewendet  oder",  welches  manchmal  einem  Kreise  ähnlich  ist,  wie 
denn  Dr.  Karl  Haltaus,  welcher  diese  Handschrift  unter  dem  Titel 
„Liederbuch  der  Clara  Hätzlerin"  {^=  dem  achten  Bande  der  Bibliothek 
der  gesammten  deutschen  Nationalliteratur  von  der  ältesten  bis  auf 
die  neuere  Zeit)  im  Jahre  1840  veröffentlicht  hat,  immer  dafür  einen 
kleinen  Kreis  setzt;  s  steht  viel  häufiger  als  in  k  dort,  wo  wir  es 
jetzt  schreiben,  ss  auch  für  2,2,,  so  98  essens,  102  ysset\  5  (in  k  noch 
öfter  als  hier  nach  mhd.  Weise  an  rechter  Stelle)  für  z  (namentlich 
im  Worte  zu)  und  %.  \  55  ist  nicht  beliebt ,  dafür  wie  auch  für  5 
(64/tt/3,  184  laßt)  und  ss  (94  tnißewend)  kommt  besonders  häufig  JJ 
vor.  In-  und  auslautend  hat  die  Handschrift  immer  t^  (k  cz),  nur 
anlautend  einigemal  c^,  so  67  c:^ucJit;  k  und  ck  begegnet  viel  öfter 
als  in  k,  so  10  kan,  16  kunst,  63  kranck,  120  vppikaü  u.  s.  w.  Unter- 
scheidungszeichen finden  sich  nicht,  der  Gebrauch  der  Majuskel  inner- 
halb des  Verses  ist  nicht  häufig. 

Zu  obiger  Altersbestimmung  der  Schrift  stimmen  die  an  dem 
unteren  Rande  des  letztgezählten  Blattes  (353'')  von  derselben  Hand 
angebrachten  Worte:  Änno  Dm  Augspurg  ic'^*  LXXI,  darunter:  Clara 
Hät:^lerin.  Wir  haben  es  also  mit  einem  Autograph  der  Hätzlerin  zu 
thun,  das  sie  1471  zu  Augsburg  beendete,  wahrscheinlich  für  Jörg 
Roggenburg  daselbst.  Es  steht  nämlich  auf  der  Innenseite  des  Vorder- 
deckels :    Item   da2,    buch  ist  H.  . .  .^)   Roggenburg  \  zu  Augspurg   wer   e^ 

+ 
hab   der   lass  jms   ivider   werden,    darüber  H,    noch    höher:    Jhus  1470 

Christus.  Auf  dem  leeren  ungezählten  Blatte  vor  dem  rückwärtigen 
Deckel  steht  oben:  Jhus  Maria  1470  Christus,  tiefer:  Item  dac^  püch 
jst  Jörg  Roggenburg  wer  eß  hab  der  laß  Ims  wyder  werden  Anno  Vom 
M"CCCC"LXX  Jar,  daruntes  H,  was  sicherlich  der  Namenszug  Roggen- 
burgs  ist,  dessen  Wappen  auf  der  Innenseite  des  rückwärtigen  Deckels 
unter  dem  Namen  ROGENBURG  in  primitivster  Federzeichnung  an- 
gebracht ist.  Daß  die  Hätzlerin  die  Handschrift  1471  beendet,  Roggen- 
burg aber  an  drei  Stellen  sie  im  Jahre  1470  schon  als  sein  Eigen- 
thum    erklärt,    ist  insoferne   vereinbar,    als   sie  von  ihm  den  Auftrag 


')  Die  punktierte  Stelle  ist  nicht  mit  Sicherheit  zu  lesen;  beide  Zeilen  sind, 
hie  und  da  sogar  mehrere  Mal,  mit  Tinte  durchstrichen.  —  Die  Hätzlerin  hält  Haltaus 
für  eine  Nonne  zu  Augsburg  (S.  IX);  einen  Beweis  für  diese  Annahme  bringt  er  nicht. 


ÜBKR  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER    SUCHENWIRT  ITSS.      475 

zur   Abfassung    1470    erhalten    haben    mag,    damit    aber    erst    U71 
fertig  ward. 

Jedenfalls  ist  die  Schrift  jünger  als  in  der  Handschrift  von  Krenis- 
münster,  welche  auch  ältere  Sprachforuien  und  zwar  österreichi.sch- 
bairischen  Charakters  aufweist,  während  der  Prager  Codex  im  schwä- 
bischen Dialect  geschrieben  ist.  Im  Gedichte  kommt  immer  1;//' 
(meist  mit  zwei  /)  vor;  184  iiß,  V.  öO  h>/,  hingegen  1G'>  hcy,  nie 
durich,  sondern  stets  ilnrcli\  im  Innern  der  Verse  nit ,  mit  Ausnahme 
des  V.  35,  wo  wie  auch  im  Reime  V.  62,  67,  86  nicht  begegnet. 
In  den  Verbindungen  sl,  sm,  sn  herrscht  im  Gegensatze  zu  k  der 
breite  Laut  «cA,  hingegen  werden  die  Formen  des  Verbums  sollen  nie 
mit  seh  geschrieben.  Während  in  k  die  Bezeichnung  des  Umlautes 
sehr  häufig  unterbleibt,  wird  er  hier  regelmäßig  durch  zwei  Punkte 
angedeutet;  diese  finden  sich  auffallender  Weise  auch  über  uihd.  i' 
öfter,  so  29  mainsioern,  50  sivert,  wie  sich  auch  über  mhd.  (2  häufig 
ein  Zeichen  zeigt,  das  zuweilen  wie  das  über  w  {^=  uo,  ne:  30  w7ir- 
hait),  meist  aber  so  aussieht  "  oder  so  '  (60  hdn,  179  ivärhaif).  Haltaus 
macht  ein  v  =  y  daraus  ^),  was  allerdings  dem  schwäbischen  Dialect 
entspräche,  welcher  au  =:  ä  setzt;  mir  scheint  aber  wahrscheinlicher, 
daß  dadurch  eine  Verschiebung  des  ä  nach  ö,  ein  Mittellaut  n  an- 
gedeutet werden  soll  (vgl.  Weinhold,  Alemann.  Gramm.  §.  91). 

Im  Ganzen  ist  diese  Recension  für  die  Textkritik  ein 
bedeutender  Gewinn;  denn  wenn  auch  die  Handschrift  k  ihres 
Alters  und  Dialectes  wegen  dem  Texte  zu  Grunde  gelegt  werden  mag, 
so  kann  dies  doch  nur  geschehen  unter  sorgfältiger  Beachtung  der 
Prager  Recension,  welche  die  Lücken  von  k  ausfüllt  und  an  Stelle 
von  deren  Fehlern  fast  immer  das  Richtige  bietet.  Nur  an  einigen 
Stellen  zeigt  diese  sauber  und  deutlich  geschriebene  Handschrift 
Textverderbni  ß.  Ungenaue  Reime  sind:  3  synne  :  ynnen ,  11  er- 
hangen :  lange  (k  erhäng  :  lang) ,  55  verllußt  (k  vHmst)  :  rkofit ,  Ib  tat 
:  latt,  165  holt  (k  held)  :  erweit,  179  verpirgt  (k  v''pirt)  :  Suechenwirt.  — 
In  V.  5  fehlt  vtY,  15  auch,  54  der,  88  so;  die  Verse  89  u.  90,  93  u.  94 
haben  drei  Hebungen  mit  stumpfem  Schluß,  desgleichen  V.  105,  mit 
dem  der  stumpf  schließende  V.  106  mit  vier  Hebungen  durch  Reim 
gebunden  ist. 

')  Sonsst  siud  die  Unterschiede  zwischen  p  und  dem  Abdruck  unseres 
Gedichtes  bei  Haltaus  nicht  zahlreich:  V.  4  fehlt  ganz  bei  Haltaus  (es  ist  auch 
in  den  rückwärts  angehängten  Bemerkungen  S.  365  darüber  nichts  gesagt);  V.  18  h.it 
p  lerent  (Haltaus  lernet),  29  viainswem  (der  Druck  maimwere),  35  nicht  (Haltaus  nU), 
126  Zukunft  (das  Buch  Zukunft),  152  der  der  (Haltaus  ser  der,  er  schlügt  vor  tr  der  zu 
le.sen,    k   hat   wirklich   suy. 


476  FKANZ  KRATOCHWIL 

Eine  ursächliche  Beziehung  zwischen  k  und  p  ist 
wohl  nicht  anzunehmen;  die  Entstehung  von  k  ist  spätestens  1441, 
die  von  p  1471  anzusetzen;  p  könnte  aus  k  geflossen  sein,  aber  es 
spricht  außer  der  Zeit  gar  nichts  für  eine  solche  Annahme.  Verwandt- 
schaft aber  herrscht  zwischen  pundr,  einer  Liederhandschrift, 
welche  der  Dichter  Ludwig  Bechstein  bei  einem  Antiquar  1835  er- 
worben hat.  Ich  habe  die  Handschrift  nicht  gesehen,  besitze  leider  auch 
keine  Abschrift  des  Suchenwirtischen  Gedichtes,  das  dort 
Bl.  138''  steht;  wohl  aber  war  Haltaus  in  der  Lage,  die  Handschrift 
für  die  Ausgabe  seines  Liederbuches  vergleichen  zu  können;  er  nennt 
sie  eine  „sehr  nutzbare",  mit  p  „auffallend"  übereinstimmende  Hand- 
schrift, welche  aber  etwas  jünger  als  p  und  in  der  Orthographie  ver- 
derbter sei.  An  bedeutenden  Unterschieden  zwischen  p  und  r  fehlt 
es  nicht;  als  solche  verzeichnet  Haltaus  S.  XLVII  f.:  16  vil  fehlt, 
17  er  füllt  ^  19  er  lösts,  20  verschahen,  21 — 24  i'ehlen,  25  laster^ 
44  leydt,  85  entwuest,  98  nach  esses  woll  er,  102  also,  104  obersten, 
110  das  statt  der,  113  haltend  :  waltend,  159  verleugent  acht. 


Von  den  21  Handschriften,  die  bisher  beschrieben  und  verglichen 
wurden,  hat  P  in  seiner  Ausgabe  der  Gredichte  Suchenwirt's 
sechs  verwendet;  wo  und  inwieferne  die  übrigen  15  Hand- 
schriften für  eine  neue  Ausgabe  heranzuziehen  sind,  wurde 
in  der  vorstehenden  Untersuchung  bereits  angegeben.  Die 
Hälfte  aller  Handschriften  (darunter  die  bedeutendsten),  nämlich 
A,  a,  B,  C  (N),  w,  m'',  g,  k,  m^  und  m^  gehört  dem  österreichisch- 
bairischen  Sprachgebiete  an;  österreichisch-bairischer  Dialect  mit 
schwäbisch-alemannischen  Anklängen  zeigt  sich  in  h^  und  s;  ale- 
mannisch ist  die  Sprache  in  h^,  h'*,  f  und  1;  schwäbisch  in  m^,  m^, 
p  und  r  (?);  mitteld.  in  d. 

Die  ältesten  von  allen  sind  A,  1  und  g;  sie  gehören  dem 
Ende  des  14.,  A  und  g  spätestens  dem  Anfange  des  15.  Jahrhunderts 
an;  N  datiert  aus  dem  Jahre  1402,  etwas  jünger  sind  s  und  w; 
k  wurde  spätestens  1440  oder  1441  geschrieben,  f  1445.  Der  zweiten 
Hälfte  des  15.  Jahrhunderts  gehören  neun  Handschriften  an:  m^  (1454), 
m*  (1464),  m'  (1468),  m'^  (1470),  p  (1471),  h^  (1479),  \x\  h^  und  r. 
Aus  der  ersten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  stammt  m^,  aus  der  ersten 
Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  B  und  C,  aus  dem  18.  Jahrhundert  a  und  d. 

A  übertrifft  alle  anderen  durch  die  Zahl  der  Gedichte; 
rechnet  man  das  nur  mit  den  letzten  Versen  in  A  erhaltene  Gedicht 
auf  Gumolf  Läpp  mit,   zählt  aber  die  beiden  Recensionen  auf  Ulrich 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHENWIRT-HSS.      477 

von  Waise  nur  als  eine  Nummer,  so  liefert  A  allein  45  Gedichte. 
Keine  der  übrigen  Handschriften  kommt  auch  nur  entfernt  dieser 
Zahl  nahe;  B  bringt  21,  C  zehn,  m*^  und  m^  je  drei,  w,  d  und  m^  je 
zwei,  von  den  übrigen  13  Handschriften  hat  jede  ein  Gedicht  von 
Suchenwirt.  Den  45  Gedichten  in  A  allein  stehen  somit  56  Gedichte 
gegenüber  in  den  übrigen  20  Handschriften  zusammen.  Sämmt- 
liche  Handschriften  enthalten  demnach  hundert  und  eine 
Suchenwir tische  Dichtung. 

Der  Widertail  kommt  allein  fünfmal  vor,  die  schöne  Abenteuer 
und  das  Gedicht  von  fünf  Fürsten  treffen  wir  in  je  vier,  die  Rede 
auf  Kreuspeck,  die  zehn  Gebote,  die  sieben  Freuden  Mariens,  das 
jüngste  Gericht,  den  Krieg  der  Liebe  und  Schöne,  endlich  das  Würfel- 
spiel in  je  drein  Handschriften,  die  Reden  auf  Gumolf  Läpp,  den 
König  Ludwig  von  Ungarn,  die  Kaiserin  von  Baiern,  auf  Elierbach 
Vater  und  Sohn  (letzterer  zweimal  verherrlicht),  auf  die  Edlen  von 
Pfannberg,  Pettau  ,  Waise,  Stadeck,  Cilli,  Lochen  und  Traun,  auf 
die  Herzoge  Albrecht  H.  und  Albrecht  HL  von  Osterreich  (beide  todt) 
und  Heinrich  von  Kärnten,  auf  Albrecht  von  Nürnberg  und  den 
Teichner,  die  Gedichte  von  der  ]\Iinne  Schlaf,  Albrechts  Ritterschaft 
und  der  Fürsten  Theilung,  von  zwein  Päpsten  und  von  hübscher 
Lug,  vom  umgekehrten  Wagen,  dem  Kriege  der  Fürsten  und  Städte, 
von  den  Räthen  des  Aristoteles,  endlich  der  „fremde"  Sinn,  also  zu- 
sammen 27  Dichtungen  begegneten  uns  in  je  zwein  Handschriften; 
nur  einmal  finden  wir  die  Reden  auf  Haunfeld,  Chappell ,  Herzog 
Albrecht  H.  von  Österreich  (noch  am  Leben)  und  Albrecht  von  Rauhen- 
stein, das  Gedicht  von  der  Minne,  der  Minne  Gericht,  den  Brief,  die 
Jagd,  den  Rath  vom  Ungelt,  den  Pfennig,  die  Verlegenheit  und  den 
Geiz,  den  getreuen  Rat  und  die  sieben  Todsünden,  den  neuen  Rath 
und  Equivocum,  das  sind  IG  Gedichte.  Wir  besitzen  somit  unter 
den  die  Zahl  hundert  übersteigenden  Suchen  wirtischen 
Dichtungen  der  einundzwanzig  Handschriften  zweiund- 
fünf z^ig  verschiedene  Gedichte  Such en wir t's. 

Schon  einmal  (vgl.  S.  466  f.)  kam  die  Rede  auf  den  Versuch, 
Suchenwirt  ein  Gedicht  abzusprechen.  Aber  auch  gegentheilige  Be- 
strebungen können  wir  bemerken  (vgl.  S.  324  f.  und  4o5  ff.) ;  so  sieht 
Dr.  Anton  Mayer  S.  235  f.  seiner  Geschichte  der  geistigen  Cultur 
in  Niederösterreich  von  der  ältesten  Zeit  bis  in  die  Gegenwart,  1.  Band, 
Wien  1878,  in  Suchen wirt  den  Autor  des  Gedichtes  auf  die  Schlacht 
an  der  Leitha  (1246);  Gründe  hiefür  gibt  der  Verfasser  nicht  an, 
er  bezieht  sich  bloß  auf  die  Stelle: 

ÜEKMANIA.    Neue  Reihp  XXII.  (XXXIY.)  Jahrg.  32 


478  FRANZ  KRATOCHWIL 

Den  strit  tiht  ich  iu  gerne  gar, 

wie  da  hestuont  diu  schar  di  schar 

und  wie  man  kom  übr  di  Leittä 

und  lüie^  di  biderben  täten  da 

und  wie  der  und  der  wart  erslagen; 

wan  da^  ich^  dar  umb  wil  verdagen 

e^  ist  getihtet  e  vor  mir, 

da  von  ich  der  niioe  lool  enbir 
im  Frauendienst  des  Ulrich  von  Liechtenstein  (S.  527,  3  der  von 
Karajan  mit  Anmerkungen  versehenen  Ausgabe  Lachmann' s, 
Berlin  1841).  Aber  Mayer  mag  selbst  in  dieser  Annahme  sich  nicht 
ganz  sicher  fühlen,  denn  er  verweist  auf  W  ackern a gel,  der  in 
seiner  Literaturgeschichte  (2.  Auflage,  1879,  S.  285)  das  fragliche 
Gedicht  dem  Liechtenstein  selbst  zuschreibt:  vor  (in  ^5  ist  getihtet  e 
vor  mir),  sagt  Wackernagel,  bessert  sich  gleichsam  von  selbst  in  von.  — 
Schwer  in  die  Wagschale  fällt  der  Umstand,  daß  die  Schlacht  an  der 
Leitha  als  dichterischer  Vorwurf  dem  Suchen wirt,  -wie  eine  Unter- 
suchung seiner  Dichtungen  -vom  historischen  Standpunkte  ergibt, 
zeitlich  viel  zu  ferne  liegt. 

Anders  verhält  es  sich  mit  der  in  Laßberg's  Liedersaal,  2.  Band, 
S.  321 — 326  abgedruckten  Ehrenrede  auf  einen  verstorbenen  Grafen 
Wernher  von  Hon(m)berg  (194  Verse),  von  der  Laßberg  an- 
nimmt, daß  sie  von  einem  der  edlen  ßurgmänner  des  dahingeschiedenen 
Grafen  herrühre,  während  sie  Ko  b  er  st  ein  in  seinem  Grundriß  der 
Geschichte  der  deutschen  Nationalliteratur,  S.  308  des  ersten  Bandes 
(5.  Auflage)  „mit  Zuversicht  Suchenwirt  zusprechen  zu  dürfen"  glaubt. 
Diese  Annahme  beruht  offenbar  auf  der  Ähnlichkeit  dieses  Gedichtes 
in  Anlage  und  Durchführung  (weniger  im  Stile)  mit  einzelnen  Dich- 
tungen Suchenwirt's ;  darnach  könnte  die  Rede  vielleicht  von  Suchen- 
wirt sein.  Auch  über  die  Persönlichkeit  des  Grafen  Wernher  von  H. 
gehen  die  Ansichten  auseinander.  Laßberg,  Koberstein  und  Wacker- 
nagel (a.  a.  O.  S.  288)  sehen  in  ihm  den  um  1360  verstorbenen  letzten: 
Grafen  dieses  Stammes;  von  der  Hagen  (Minnesinger  IV,  S.  88 — 95) 
setzt  das  Gedicht  in  die  erste  Hälfte  des  14.  Jahrhunderts;  fürBartsch 
(Deutsche  Liederdichter  des  12. — 14.  Jahrhunderts,  Leipzig  1864, 
Nr.  LXXXVl)  ist  der  in  dieser  Ehrenrede  Gefeierte  identisch  mit  dem 
Dichter  Wernher  von  Honberg,  der  am  21.  März  1320  vor  Genua 
sein  Leben  beschließt  und  den  der  Verfasser  des  Gedichtes  von  den 
sechs  Farben  (Müller,  Sammlung  deutscher  Gedichte  3,  XXIV)  als 
Gewährsmann    nennt.    Vgl.  Wackernagel    a.  a.  0.   S.  374  a    und  Dr. 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHENWIRT-HSS.       479 

G.  von  Wyss,  Graf  Wernher  von  Hombcr-;  in  den  Mittheilungen 
der  antiquarischen  Gesellschaft  zu  Zürich  (1860)  13,  2.  1.  —  Der 
Gedanke  der  Autorschaft  Suchenwirt's  fand  keine  offenen  Gegner,  aber 
auch  nicht  ausgesprochene  Anhänger.  In  dor  That  läßt  sich  derselbe 
nicht  mit  gleicher  Bestimmtheit  wie  die  Annahme  Mayer's  ablehnen, 
aber  faßt  man  alle  in  dieser  Frage  in  Betracht  kommenden  Momente 
ins  Auge,  so  findet  man.  daß  sie  doch  nicht  derart  ausreichende  An- 
haltspunkte geben,  um  zu  mehr  als  einem  problematischen  Urthcil  zu 
kommen.  Daraufhin  aber  das  Gedicht  in  eine  künftige  Suchenwirt- 
ausgabe  aufzunehmen,  halte  ich  nicht  für  angezeigt. 

Es  bleibt  somit  bei  52  Gedichten;  von  diesen  besitzt  A  allein  45! 
Da  aber  zu  Anfang  von  A  einst  auch  die  vier  ersten  Gedichte  von  B 
standen,  so  fehlen  in  A  von  allen  Gedichten  Suchenwirt's  nur  drei: 
von  fünf  Fürsten,  das  Würfelspiel  und  der  Krieg  der  Liebe  und  der 
Schöne.  Das  erste  hat  244  Verse,  das  zweite  184,  das  dritte  in  h'"' 
160  Verse;  alle  drei  Gedichte  zählen  somit  588  Verse.  Da  dem  letzten 
Gedichte  in  A  ursprünglich  zwanzig  unbeschriebene  Seiten  folgten, 
auf  eine  Seite  aber  in  A  29 — 30  Verse  gehen,  so  würden  diese  zehn 
leeren  Blätter  —  ganz  abgesehen  davon,  daß  auch  der  größere  Theil 
von  S.  483  zur  Verfügung  stand,  vollkommen  für  die  Aufnahme  der 
erwähnten  drei  Gedichte  ausgereicht  haben.  Da  diese  Gedichte  zu 
jenen  gehören,  die  gerade  am  häufigsten  vorkommen  —  und  zudem 
die  beiden  ersten  in  österreichischen  Handschriften  — ,  so  ist  wohl 
die  Annahme  gestattet,  daß  die  zehn  Blätter  am  Schlüsse  von  A  zur 
Aufnahme  dieser  drei  Gedichte  bestimmt  waren,  die  aber  aus  einem 
uns  unbekannten  Grunde  nicht  mehr  zu  Stande  kam.  Wäre  sie  aus- 
geführt worden,  dann  hätten  wir  in  A  eine  vollständige  Samm- 
lung der  Gedichte  Suchenwirt's!  Ich  meine  Sammlung  im  wört- 
lichen Sinne:  denn  ohne  Zweifel  verdankt  die  Handschrift  A  ihre 
Entstehung  einem  Verehrer  der  Suchenwirtischen  Muse,  aber  nicht  in 
der  Art,  wie  das  Liederbuch  der  Clara  Hätzlerin,  das  auf  einen  be- 
stimmten Antrag  hin  von  einer  Person  in  einem  Jahre  geschrieben 
wurde.  Bei  A  haben  wir  es  vielmehr  mit  einer  nach  und  nach  an- 
wachsenden Sammlung  zu  thun ,  daher  die  erweislich  große  Anzahl 
Schreiber,  die  sich  daran  betheiligten,  daher  die  so  sehr  verschiedene 
Schreibweise  und  äußere  Ausstattung  der  Gedichte  (vgl.  S.  209 — 220j ; 
von  S.  1 — 28  inclusive  steht  jede  Columne  zwischen  zwein  von  oben 
bis  unten  reichenden  schwarzen  Strichen;  der  14.  Schreiber  faßt  jede 
Seite  seiner  Abschrift  von  Herzog  Albrechts  Ritterschaft  (bis  S.  280) 

32* 


480  FRANZ  KRATOCHWIL 

mit  vier  aufeinander  senkrechten  Linien  ein,  daß  nach  allen  Richtungen 
ein  freier  Raum  bleibt.  Ähnliches  that  nur  noch  der  18.  Schreiber, 
von  dem  die  Abschrift  des  umfangreichsten  Gedichtes,  der  sieben 
Freuden  Mariens,  herrührt.  Dieses  Gedicht  zeigt  auch  deutlich,  wie 
die  Sammlung  entstand;  nicht  vielleicht  so,  daß  wir  uns  den  Codex 
schon  gebunden  denken,  in  welchen  die  einzelnen  Schreiber  die  Ge- 
dichte eintragen,  sondern  er  setzte  sich  allmählich  aus  einzelnen 
Heften  zusammen.  Gewöhnlich  fiel  die  Leistung  eines  Schreibers  mit 
dem  Ende  eines  solchen  Heftes  (einer  oder  mehrerer  Lagen)  zusammen ; 
blieb  aber  gegen  das  Ende  des  Heftes  etwas  unbeschrieben,  so  be- 
nützte in  der  Regel  der  nächste  Schreiber  den  freien  Raum.  Aber 
nicht  immer.  So  sah  sich  der  18.  Schreiber  das  Format  der  bisherigen 
Hefte  an,  arbeitete  zu  Hause  an  seiner  Abschrift,  unbekümmert  darum, 
daß  vor  derselben  über  anderthalb  Seiten  unbeschrieben  blieben;  er 
achtete  nicht  der  Gewohnheit  der  anderen  Schreiber,  jedem  Gedichte 
eine  Überschrift  zu  geben,  ja  er  trug  sie  nicht  einmal  auf  dem  freien 
Räume  vor  seinem  Hefte  ein,  —  und  doch  ist  er  von  allen  Schreibern 
einer  der  sorgfältigsten.  Auch  sein  Nachfolger  begann  seine  Arbeit 
mit  dem  jüngsten  Gericht,  ohne  Rücksicht,  daß  in  dem  Hefte  seines 
Vorgängers  nahezu  zwei  Seiten  unbeschrieben  waren.  Lieferte  doch 
der  4.  Schreiber  noch  einmal  eine  Abschrift  der  Rede  auf  Ulrich  von 
Waise,  trotzdem  von  dem  3.  Schreiber  20  Seiten  vorher  bereits  die- 
selbe geschrieben  stand.  Und  doch  haben  beide  Recensionen  ')  die- 
selbe Anzahl  Verse,  behandeln  den  Stoff  in  gleicher  Ordnung,  kurz 
es  ist,  von  einzelnen  Abweichungen  im  Ausdrucke  abgesehen,  dem 
Inhalte  und  der  Form  nach  zwischen  beiden  kein  wesentlicher 
Unterschied. 

A  war,  wie  sich  bisher  ergab,  ausschließlich  zur  Aufnahme  Suchen- 
wirtischer  Dichtungen  bestimmt;  es  war  somit  gerechtfertigt, 
A  die  Suchenwirt-Handschrift  ocaT'  i^oxrjv  zu  nennen  (vgl. 
S.  230);  die  Handschriften  a,  h^,  h*^,  m',  w,  m''  und  1  lassen  sich  mit 
größerer  oder  geringerer  Sicherheit  darauf  zurückführen.  A  zunächst 
durch  hohes  Alter,  reichen  Inhalt  und  Güte  der  Überlie- 
ferung steht  N;  in  ihr  standen  50  Gedichte  Suchen wirt's;  davon 
sind  uns  glücklicherweise  in  B  und  C,  welche  aus  der  nun  leider 
ganz    verschollenen  Handschrift   unmittelbar    schöpften,    31  erhalten. 


')  P  hat  die  zweite  Fassung  in  seiner  Ausgabe  zu  Grunde  gelegt  und  von 
der  ersten  mehrere  Lesarten  abgedruckt;  S.  167  seiner  Ausgabe  lautet  es  aber  gerade 
umgekehrt.  B  stimmt  mit  der  ersten  Recension  in  A. 


ÜBER   DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND   DER  SUCHENWIRT-HSS.       4SI 

Andere  Handschriften,  wie  s,  g  (?),  ra^'und  m^  (für  die  schöne  Abenteuer), 
M  42  (d),  f  mit  m^  und  m"*,  k,  vielleicht  auch  p  und  r  weisen  auf  N 
zurück,  während  h^  und  m^  (Krieg  der  Liebe  und  Schöne)  mit  m* 
eine  selbständige  Stellung  einnehmen.  Daß  die  aus  N  stammenden 
Handschriften,  z.  B.  B  in  der  Rede  auf  Hans  von  Traun,  im  Texte  öfter 
von  A  abweichen,  ist,  selbst  wenn  man  von  den  Schreibern  ganz 
absieht,  nicht  besonders  auffällig.  Zeigt  sich  nicht  in  A  sogar  Ähn- 
liches? Man  vergleiche  doch  die  beiden  Fassungen  der  Rede  auf 
Waise!  —  Gerade  in  den  Ehrenreden  mögen  am  frühesten,  vielleicht 
selbst  zur  Zeit  Suchenwirt's  schon,  hie  und  da  Änderungen  vor- 
genommen worden  sein.  Solche  Reden  entstanden  aus  einem  bestimmten 
Anlaß;  wurden  sie  bei  einer  späteren  Gelegenheit  wieder  benützt, 
so  konnte  ja  von  Seite  der  Angehörigen  des  Gefeierten  vielleicht  ge- 
wünscht werden,  daß  diese  oder  jene  That  in  der  Rede  etwas  mehr 
in  den  Vordergrund  trete  u.  s.  w. 

Ich  erinnere  an  die  zweite  Rede  auf  den  jungen  Ellerbach  und 
Albrecht  II.  von  Osterreich. 

Behufs  Anordnung  undNummerierung  der  52  Gedichte 
Suchenwirt's  stehen  drei  Wege  offen.  Es  können  die  Gedichte 
nach  den  Haupthandschriften,  in  denen  sie  vorkommen  und 
die  dem  Texte  besonders  zu  Grunde  gelegt  werden,  geordnet  werden. 
Darnach  kämen  die  fünf  ersten  Gedichte  aus  B,  die  ja  einmal  auch 
zu  Anfang  von  A  standen,  zuerst,  dann  die  Gedichte  von  A,  dann 
das  von  fünf  Fürsten  nach  g,  der  Krieg  der  Liebe  und  Schöne  nach 
h^m*m^  und  endlich  das  Würfelspiel  nach  kpr.  Dieser  Vorgang  er- 
schiene als  zu  äußei-lich. 

Oder  es  könnten  die  Gedichte  nach  der  Zeit  ihrer  Ent- 
stehung aufeinander  folgen.  So  berechtigt  eine  solche  Anordnung 
auch  wäre,  es  steht  als  Hinderniß  der  Ausführung  der  Umstand  im 
Wege,  daß  nicht  bei  allen  Gedichten  sichere  Anhaltspunkte  für  die 
Zeit  ihrer  Abfassung  vorhanden  sind,  bei  einigen  dieselbe  nur  ver- 
muthet,  bei  anderen  gar  nichts  über  die  Zeit  ihrer  Entstehung  gesagt 
werden  kann. 

Es  empfiehlt  sich  somit  der  dritte  Weg,  die  Gedichte  nach 
ihrem  Inhalt  zu  gruppieren,  in  jeder  Gruppe  aber  die  ein- 
zelnen Gedichte,  so  viel  dies  möglich,  nach  derZeit  ihres 
Entstehens  aufeinander  folgen  zu  lassen.  Ähnliches  hat  schon  P 
versucht,  aber  nicht  genau  durchgeführt  (denn  sonst  hätte  wenigstens 
dem  Gedichte  von  fünf  Fürsten  das  von  zwein  Päpsten ,  vom  um- 
gekehrten Wagen  und  der  Krieg  der  Fürsten  und  Städte  folgen  müssen  ; 


482  FRANZ  KRATOCHWIL 

der  Krieg  der  Liebe  und  Schöne  wäre  den  anderen  allegorischen  Ge- 
dichten eingereiht  worden). 

Nach  dieser  Anordnung  sind  in  der  nachfolgenden  Tabelle  die 
dem  Lobe  (oder  der  Geißelung)  einzelner  Personen  gewidmeten  Ge- 
dichte an  den  Anfang  gesetzt  (24)  und  ihnen  diejenigen,  welche  Ge- 
schichtliches ohne  allegorische  Einkleidung  bieten,  angereiht  (10), 
worauf  die  allegorischen  (9),  didaktischen  (2)  und  religiösen  Dich- 
tungen (4)  und  zum  Schlüsse  die  possenhaften  Gedichte  (mit  Aus- 
nahme der  Rede  auf  Gumolf  Läpp)  und  die  Reimkünsteleien  folgen  (3). 

Von  der  in  A  eingehaltenen  Anordnung  der  Gedichte  weicht 
diese  Reihenfolge  nur  zweimal  ab ;  einmal,  indem  die  Rede  auf  Ulrich 
von  Pfannberg,  welche  in  A  zwischen  beiden  Reden  auf  den  jungen 
Eilerbach  steht,  vor  die  erste  Rede  auf  diesen  gesetzt  wurde,  damit 
der  Rede  auf  den  lebenden  Eilerbach  sogleich  die  auf  den  todten  folge, 
dann  indem  die  Rede  auf  Hans  von  Traun  der  vom  Teichner  vor- 
gestellt wurde,  obwohl  sie  ihr  in  A  folgt.  Da  aber  beide  so  ziemlich 
um  dieselbe  Zeit  gedichtet  worden  sind,  glaubte  ich  das  thun  zu  können, 
zumal  es  vom  praktischen  Werthe  ist:  es  entsprechen  dann  die  Num- 
mern 1 — 24  der  nachfolgenden  Tabelle  genau  den  in  B  befindlichen 
Gedichten,  nur  daß  diese  Handschrift  zweimal  eine  andere  Aufeinander- 
folge des  Gedichtes  hat. 

Die  Zählung  von  Friess  und  P  ist  beigefügt  und  angegeben,  wie 
oft  und  in  welchen  Handschriften  ein  Gedicht  vorkommt.  In  den 
Nummern  22 — 37  und  39 — 52  nennt  sich  der  Dichter  mit  Namen. 


ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND   DER  SUCHENWIRT-HSS.      483 


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ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  DER  SUCHENWIKT-HSS.   48Ö 


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486     FRANZ  KRATOCHWIL,  ÜBER  DEN  GEGENWÄRTIGEN  STAND  etc. 


2.  Texter  g  ä  n  z  u  n  g  e  n. 
Zur  zweiten  Rede  auf  Ellerbach  den  Jungen. 

A  hat  nach  V.  36  dieses  Gedichtes  eine  Lücke  von  52  Versen, 
die  ich  nach  B  unverändert  folgen  lasse. 


B,  S.  460,  linke  Spalte. 

und  rangk  nach   Gottes   hulden 

ich  muz  von   waren  schulden 

urchund  geben  seiner  tat 

die  er  in  Frawen  dienste  hat 
5   mit  Ritterschafft  uollendet 

der  Mailheit  ungeblendet 

füer  er  uon  erst  durch  preys  bejag 

für  Landaw  da  czu  felde  lag 

der   chaiser  Ludweig  genant 
10   und  wolte  nemen  reiche  phant 

dem  Edlen  Herzog  Heinreich 
S.  460,  rechte  Spalte. 

mit  Streites   ernst  chrefftichleich 

den  Ritters   Orden   do   enphie, 

der  hochgetewrt  nu   merket  wie 
15    es  wart  uerslicht  das  nicht  geschach 

der  streit  des  maniger  sich  v  sach 

darnach   der  Edel  was  berait 

mit  Chunig  Johan  gan  unu^zait 

gen  Frankreich  do  mang  hund  t  lag 
20    Ze  tod  erslagen   auf  ein  tag 

für  tod  belaib   er  auf  dem  wal 

uon  wunden  was  sein  leben  smal 

daz  man  in   sunder  chreffte    uand 

daz  leben  waz  des  todes  phant 
25    die  pheyl  man  aus  im  sueiden  müst 

Ach  tod  waz  du  czu  laide  tust 

Zur  Rede  auf  Friedrich  von  Lochen. 
Nach  Vers  52   dieses  Gedichtes    fehlen  in  A  52  Verse,    die  ich 
nach  B  unverändert  wiedergebe. 


der  hochgetewrten  Ritterschaft 
an  leib   und  auch  an  lebens  chraft 
Maria   Muetter  und  maid 

30  in   deinem   dinst  was   er  berait 
drey  stund  in  Prewßen  landen 
da  man   gar  sund*   schänden 
der  uerte  zwo   czu   schaden  czoch 
den    haiden   daz   si   chlagent   noch 

35    Er  tet  nach    Christenleicher  ee 
mit  wer  dem   ungelauben  we 
daz  manig*   wart  des   lebens  par 
er  nam   der  haidenschaffte  war 
mit  wernden   henden   als  im  zam 

40  In   Holland  für  der  Lobesam 
mit  manigem   Ritter  auserwelt 
uor  Utrecht  uacht  er  als  ein  helt 
uncz   er  uier  wunden   do   enphie 
wann   es   im   Ritterleichen  gie 

45   daz  man   im  hohen  preises  jach 
in  Brabant  man  den  werden   sach 
uor  Lüttich  do   der    neinde    schar 
nam   schänden  uii   schaden  war 
ainer  floch   der  ander  uiel 
in   ern  glut  sein  hercze  wiel 
daz  es  uon    schänden  nie  erlasch 
der  ueinde  schaden  er  do   drasch 


50 


B,  S.  483,  rechte  Spalte, 
gen  Lubigk  czu  d^  guten   Stat 
die   auch   mit  den  Holczen  hat 
zu   chriegf?   chreftichleich    gemaint 
mit  der  Stat  er  sich   ueraint 
5   un     rüst    die     schef    mit    frischer 

kost 
Westen,   norden,   Süden,   Ost 
die  wind  im   wurdn  wol  bekant 
er  für  hin  in  Holczen  lant 


in  den  Rosengarten 
10   der  neind   si  nicht  sparten 
"in  wurdä  uest  gewunen  an 
nu  merkt  was  ein  pid^   man 
durch  wird  un   er  geleidä  mag 
daz   im  uncz    an   den  dritte  tag 
15   nie  haubn  ab  dem  hawbt  cham 
zu  slaffen  im  gar  übel  czam 
die  gegent  wart  gewunnen 
uir  hund^   dörffer  uerprunnen 


O.  BEHAGHEL,  ZU  WOLFKAM. 


487 


Lewt  un   gut  was   gar  u^lorn 

20   die   weil  was  uö  d^  Holcze  czoru 
der  Clumig  in  Denenmarch  v4riben 
die   Chunigin  was   chawm  beliben 
auf   eiuer  uest  erpawen 
mit  allen  Landes   vrawen 

25  gesafnet  auf  der  fluchte   spor 
da  lagf^  auch   die  neindo  uor 
mit  starken  heeres   chrefften 
die   Chunigin   mit  potschefften 
entbot  dem  Held   uil  gute 

30   ob   er   uon  guter  müter 
ye  bechomen   were 
daz   er  aus   großer  swere 
in  hulf  un  rette   si   zehant 
der  chunig  auch  zu  im  pottii   sant 

35  man  seit  sein  selbs  peiten 
die   Chfinigin   an   den   czeiten 


sant  aber  ander  poten   dar 
daz   man   recht  oder  ewen   war 
rett   man    si   nicht   si   wer   vMorn 

10   von   lande  stiez   der  wolgeporn 
mit  achczeh""   koken   wolgeladen 
und    sigilt  auf  der  ueinde   schadii 
der   chunigin  um   dn  fiaw'^  zu  trost 
di   wurdü   uö   d"   besazz   e^lo!^t 

45   die  Holcz"?  czoge   her  gegen   im 
S.  484,  linke  Spalte 
daz   cham   in   da  czu   ungewin 
waz   einer  suecht  daz   uand   er 
si   lagen  gegen   einander 
bis   an   den    czehenden    morge    fni 

50   di   Heer  do   grififö  baide  czü 

do   hüb   sich  ein  uil  grozz*   streit 
der  werte   biz   auf  Vesperzeit 

FRANZ  KRATOCHWIL. 


ZU  WOLFRAM. 


I.  Die  Zeit  seines  Thüringer  Aufenthalts. 
Die  bei  Wolfram  so  häufigen  Reime  wie  stuont  :  funt ,  stuonden 
'.gebunden  werden  von  Lachmann  dadurch  zu  reinen  Reimen  gemacht, 
daß  er  faont  und  gebuonden  schreibt.  Die  gleiche  Anschauung  vertritt 
Weinhold:  er  meint,  es  sei  u  vor  Liquida  in  Wolframs  Dialekt  zu  uo 
geworden  (Bair.  Gr.  §.  114,  mhd.  Gramm. '^  S.  353).  Es  ist  mir  jedoch 
nicht  bekannt,  daß  heutige  Mundarten  diese  Auffassung  bestätigten; 
ein  stKont  (hora),  ein  gebuonden,  gefxionden  ist  mir  nirgends  begegnet. 
Aber  noch  aus  einem  andern  Umstand  geht  hervor,  daß  die  Reim- 
bindung Wolfram  nicht  durch  seine  Mundart  an  die  Hand  gegeben 
wurde.  Dieselbe  liegt  nämlich  in  folgenden  Stellen  des  Parcival  vor: 
180,  7;  181,  11;  185,  25;  218,  17;  237,  13;  242,  17;  282,  1;  288,  25; 
326,  13;  352,  29;  379,  29;  385,  13;  398,  21;  405,  15;  417,  9;  437,  21; 
446,  1;  4.56,  25;  461,  3;  468,  21;  471,  15;  489,  25;  490,  23;  493,  17; 
516,  7;  560,  25;  565,  5;  568,  19;  581,27;  589,  29;  595,  25;  648,  15; 
741,11;  752,21;  798,7.  Mit  andern  Worten:  in  den  drei  ersten 
Büchern  des  Parz.  mit  ihren  5352  Versen  kein  einziges  Beispiel;  auf 
die  19458  Verse  der  folgenden  Bücher  35  Belege,  also  auf  je  555 
Verse    einer.     Wären    diese   Reime  Wolfram    von   Haus    aus    geläufig 


488  O.  BEHAGHEL 

gewesen,  so  wäre  diese  merkwürdige  Vertheilung  ein  unbegreiflicher 
Zufall.  Es  bleibt  nur  die  Annahme,  daß  irgend  ein  fremder,  während 
der  Abfassung  des  Parzival  sich  geltend  machender  Einfluß  Wolfram 
auf  diese  Reime  geführt  hat.  Und  was  liegt  näher,  als  die  Ursache 
in  Wolframs  Aufenthalt  in  Thüringen  zu  suchen,  wo  derartige  Bin- 
dungen durchaus  gebräuchlich  waren?  Die  drei  ersten  Bücher  des 
Parzival  wären  somit  vor,  die  späteren  nach  dem  Thüringer  Aufenthalt 
gedichtet. 

Was  man  sonst  noch  in  Wolframs  Sprache  auf  thüringischen  Einfluß 
zurückführen  möchte,  steht  damit  nicht  im  Widerspruch.  Ich  glaube 
allerdings  mit  Kinzel  (Ztschr.  f.  d.  Gymnasialw.  1877,  587),  daß  die 
=  der  für  Wolfram  anzuerkennen  ist,  aber  keines  der  mir  einiger- 
maßen sicher  erscheinenden  Beispiele  fällt  in  die  drei  ersten  Bücher 
(in  Bezug  auf  P.  139,  16  kann  ich  Kinzel  nicht  beistimmen).  Zweifel 
erregt  das  Verbum  trecken  ,  das  schon  P.  62,  29  steht.  Seine  heutige 
Verbreitung  ist  mir  unbekannt.  Lexer  weist  seinen  Gebrauch  bei  Meister 
Eckart  nach,  der  es  doch  schwerlich  aus  Wolfram  entlehnt  hat. 

II.  Zum  Titurel. 
Im  Titurel  fehlen  derartige  Reime  von  uo  :  m.  Daraus  läßt  sich 
natürlich  beim  geringen  Umfang  derselben  nicht  schließen,  daß  er 
vor  den  Thüringer  Aufenthalt  fällt.  Anderseits  ist  es  kaum  mehr 
nöthig,  noch  weitere  Beweise  dafür  beizubringen,  daß  der  Titurel 
nicht  vor  dem  Parzival  geschrieben  ist.  Ich  will  aber  doch  noch 
einen  kleinen  Nachtrag  geben  zu  Stosch's  Bemerkungen  Ztschr.  f.  d.  A. 
32,  471.  Er  weist  darauf  hin,  daß  der  Baruc,  der  im  Parzival  des 
Namens  entbehrt,  im  Titurel  Akherin  genannt  wird  nach  Bat.  d' Alis- 
cans V.  1653.  Das  gleiche  Verhältniß  liegt  aber  auch  vor  bei  Ehkunat. 
Er  wird  im  Parzival  dreimal  erwähnt:  178,  19;  413,  15;  503,  16, 
jedesmal  ohne  irgendwelche  nähere  Bezeichnung.  Dagegen  im  Titurel 
hat  Wolfram  eine  Heimat  für  ihn  gefunden,  die  er  ihm  bei  seiner 
bekannten  Neigung  für  Namengebung  gewiß  auch  im  Parz.  beigelegt 
hätte,  wenn  dieser  dem  Titurel  nachgefolgt  wäre:  Tit.  42,  1  Eh/mnates 
swester,  den  man  nant  uz  der  starken  Berhester.  Und  zwar  stammt 
auch  dieser  Name,  wie  schon  Bartsch  bemerkt  hat,  aus  der  Quelle 
des  Willehalm,  bat.  d'Aliscenus  v.  5404. 

III.    Zu  den  Liedern. 
1.  Das  Lied,    das  Lachmann  in  der  Einleitung  S.  XII  mittheilt 
und  aus   metrischen  Gründen   ohne  Weiteres  Wolfram  abspricht,  hat 
seitdem    allgemein,    so  viel  ich  sehe,    unter  Acht  und  Bann   gelegen. 


zu  WOLFRAM.  489 

Ich  möchte  aber  doch  darauf  hinweisen,  dali  Lachmanns  Verwerfungs- 
urtheil  auf  sehr  schwachen  Füßen  steht.  Er  nimmt  Anstoß  an  dem 
Reimwort  du  mäht,  das  im  Reime  sonst  nicht  wiederkehre  bei  Wolfram. 
Das  ist  der  Irrthum,  der  in  Lachmanns  metrischen  Ansichten  eine  so 
große  Rolle  spielt:  daß  er  etwas  mit  Bewulitsein  gemieden  glaubt, 
das  bei  der  Beschaffenheit  des  Sprachmaterials  sich  dem  Dichter  gar 
nicht  oder  nicht  leicht  darbot.  Auch  in  nhd.  Versen  würde  man  lange 
nach  Versen  suchen  können,  die  mit  du  magst  schließen,  wenn  auch 
die  Reime  darauf  nicht  so  selten  wären.  So  steht  denn  auch  bei 
Hartmann  du  mäht  niemals  im  Reime,  wie  schon  das  rahd.  Wb.  be- 
merkt. Ich  füge  hinzu,  daß  es  auch  in  Minnesangs  Frühling  am  Vers- 
schluß j.gemieden  wird",  d.  h.  nicht  vorkommt.  Es  wäre  also  bei 
jedem  andern  Dichter  die  gleiche  Rarität  wie  bei  Wolfram. 

Das  Hauptverbrechen  des  Liedes  ist  aber  der  Versschluß  spriv/ie 
ah  ich  V.  18.  Den  hartnäckigsten  Verehrer  von  Lachmanns  Versrej^eln 
dürfte  der  Nachweis  stutzig  machen,  daß  auch  Goethe  und  Schiller 
die  nach  Lachmann  verpönten  Versausgänge  „gemieden"  haben  (Litbl. 
1881,  426).  Was  insbesondere  den  vorliegenden  Fall  betrifft,  so  be- 
gegnet das  Wörtchen  ich  bei  Wolfram  überhaupt  nur  lOmal  im  Vers- 
ausgang, wenn  Moldaenke  (der  Ausgang  des  stumpf  reimenden  Verses 
bei  W.)  und  San  Marte  (Reimregister  zu  Wolfram)  nichts  übersehen 
haben  (P.  238,  8;  272,  19;  342,  27;  369,  17;  440,  19;  554,  18;  747,  29; 
749,  26.  W.  67,  22;  224,  17).  Da  müßte  es  schon  ein  ganz  besonderer 
Zufall  sein,  wenn  darunter  sich  ein  Ausgang  ab  ich  befände,  dessen 
Entsprechung  wir  auch  in  nhd.  Versen  wieder  lange  vergeblich  suchen 
würden.  Daß  das  Fehlen  dieses  Ausgangs  mit  Lachmanns  Regel  nichts 
zu  thun  hat,  geht  schon  aus  dem  Umstände  hervor,  daß  auch  aber 
ich  nicht  vorkommt,  das  nach  Lachmann  zulässig  wäre. 

Im  Übrigen  ist  das  Lied  zwar  nicht  besonders  originell,  aber 
ein  anderer  Grund,  es  Wolfram  abzusprechen,  liegt  nicht  vor.  Zu 
Wolframs  Weise  stimmt  der  Reim  mahf  :  bräht  v.  22,  das  starke  En- 
jambement V.  23,  das  Fehlen  des  Artikels  bei  baut  v.  23,  das  Band 
der  Sorge  und  das  Hinken  der  Freude  v.  23.  Unsinnig  ist  allerdings 
v.  17,  aber  auch  ein  Anderer  würde  nicht  so  geschrieben  haben. 
Vermuthlich  ist  zu  lesen:  icei'  sol  mich  uu  mieten,  vgl.  die  bei  Lexer 
unter  mieten  verzeichneten  Beispiele. 

2.  In  3,  25 — 26  ist  Lachmanns  wie  Pauls  Änderung  (Beitr.  1,  202) 
unnöthig,  wenn  man  so  schreibt: 

sus  der  tac  erschein: 

weindiu  ougen,  silezer  frouwen  kus. 


490  K.  RETSSENBERGER 

Das  von  mir  zu  En.  5260  belegte  Fehlen  des  Verbs  zeigt  sich  zwar 
meist  dann,  wenn  der  Satz  aus  Subject  und  Prädikat  gebildet  ist; 
aber  auch  eingliedrige  Sätze  ohne  Verbum  kommen  vor:  vgl.  P.  44,  20; 
681,  29. 

3.  Betreffs  des  Liedes  9,  3  theile  ich  Pauls  Ansicht  (Beitr.  1, 
203),  daß  die  drei  ersten  Strophen  Wolfram  zugehören.  Wenn  Müller 
(Ztschr.  f.  d.  Alt.  25,  50)  gegen  die  Echtheit  geltend  macht,  daß  die 
Strophen  im  Abhängigkeitsverhältnis  zu  7,  11 — 40  stünden,  so  könnte 
man  ziemlich  ebenso  gut  behaupten,  daß  das  Lied  6,  10  ff.  von  dem 
Lied  4,  8  ff.  abhängig  sei;  vgl.  4,  28  mit  6,  40;  5,  14  mit  7,  6.  Über- 
haupt ist  es  ein  Irrthum  Müllers,  daß  Wolfram  sich  nicht  selbst 
wiederhole,  vgl.  z.  B.  P.  101,  9  mit  Tit.  81,  2,  P.  387,  2  mit  T.  583,  8. 
Aus  den  metrischen  Düfteleien  Müllers  wird  wohl  schwerlich  Jemand 
einen  Grund  gegen  die  Echtheit  der  Strophen  entnehmen. 

GIESSEN.  O.  BEHAGHEL. 


FRAGMENTE  AUS  DER  WELTCHRONIK 
RUDOLFS  VON  EMS. 


Die  nachfolgenden  Fragmente  aus  der  Weltchronik  Rudolfs  von 
Ems  sind  auf  einem  Pergamentstreifen,  der  dem  Einbände  eines  Quar- 
tanten  diente,  im  steiermärkischen  Landesarchive  in  Graz  erhalten 
und  wurden  mir  durch  die  Freundlichkeit  des  Herrn  Landesarchiv- 
directors  Regierungsrath  Dr.  J.  von  Zahn  zur  Veröffentlichung  über- 
lassen. Der  Streifen  ist  36  Ctm.  lang  und  7  Ctm.  breit  und  gehörte 
zwei  Blättern  der  Handschrift  an.  Doch  ist  der  zweite  Theil  schmäler 
als  der  erste,  da  von  jenem  ein  Stück  abgeschnitten  ist.  Die  Schrift 
ist  nur  hie  und  da  etwas  verblaßt  und  unleserlich,  im  Ganzen  deut- 
lich und  sauber.  Nach  dem  Charakter  der  Schrift  wäre  der  Codex 
dem  13.  Jahrhunderte  zuzuweisen. 

Aus  dem  Vorliegenden  zu  schließen,  enthielt  jede  Seite  drei 
Reihen  Verszeilen,  doch  war  der  Text  mannigfach  von  größeren  und 
kleineren  bunten  Bildern  unterbrochen. 

Auf  der  zweiten  Seite  ist  das  initiale  D  in  der  Bemerkung  Daz 
ander  kvnige  hvch  hat  hie  ane  farbenreich  und  kunstvoll  behandelt, 
jedoch  nur  in  seiner  unteren  Hälfte  erhalten.  Auf  der  dritten  Seite, 
die  ganze  Breite  entlang,  ist  die  Überreichung  der  Krone  und  des 
Armgeschmeides    durch    den   Amalekiter    an    David    (2  Sam.    1,  10) 


FRAGMENTE  AUS  DER  WELTCHRONIK  RUDOLFS  VON  EMS. 


491 


abgebildet.     Auf   der    vierten    endlich 
meist  Köpfe    darstellend.    Wahrschein 
bung  Davids  (2  Sara.  2,  4)  behandelt. 

')   Do   dranc   an   der  selben  zit 
Div   groze  beidenschaft 
Mit  ir  werlicben  kraft 
Hin   vf  Savlen  da  er  streit 
Vnd  mit  wlieher  manbeit 
Bi  im   siner  svne   dri 
Die  manlicbe  im   striten   bi 
Amminadab   vnd  Jonatbas 
Melcbisve   der  dritte  was 
Die   mit  so   frevelicben   siten 

Mit  leidem  wider  kere 
Fflohe   er  im  was  gach 
Sebwtzen   iagten   im   do   )i!ieb 
von   den  ward   er  vaste  wunt 
vnd  von  den  scbvzzen  vngesunt 
Nv  was  savl  gescheiden 
Mit  fliehen  von  den  beiden 
vf  monte  Gelboe  bin   dan 
Vnd  mit  im   sin   man 
D'   mit  namen   als   icb   ez   las 

Slahen  er  s'pch   icb   tvn   sin  niht 
Daz  icb  den  gotes  gewibten  man 
Grife  also  frevelicb  an 
Daz   er  von  mir    lege  tot. 
Do   twanc   des  iamers  not 
Savlen   daz   er   da  fvr  sieb 
Stiez  sin  swert  vnd  einen   stieb 
Mit  dvhen  durcb   sieb  selben  treib 
Daz  swert  gie  durcb  in   er  beleib 
Tot  von  sin  selbes  bant  alda 
Daz  tet  sin  geselle   ocb  iesa. 

Durcb   ir  manlicb   manbeit 
Gingen  si   mit  ir  mabt 
Von  Jabes   Galaat  die  nabt 


.sind    vinten  Reste  eines  Bildes, 
lieh    war  in    demselben  die  Sal- 

\ 

Gern    Bereaui   der  vcsfc   bin') 
dar  komen   si   vnd  stigen   in 
Vnd  namen  da  die  toten 
Ane  bübt  vnd    vscbroten 
Die  si   fvrten   an   der  zit 
von   danncn   vnd   si   begrvben   sit 
In  Jabes   Galaat  mit  klage 
lebten   si  siben  tage. 


Wan  ez  bedencke  gotes  r\cb 
Hie  ist  daz   erste  kvnige   bvch 
Ffollesprocben   voUegeseit 
Mit  vngelogener  warbeit. 

Daz  ander 

kvnige 

bvch   hat 

hie  ane 
Wer  bistv   wie  bistv   genant 
Daz    dir  diz   ist  so   rebt  erkant 
Flr  spch  von   geschiht  ich  kam 
Do   d*   strit  ein   ende   nam 
vf  monte  Gelbo  da  sähe        ich  saeii 
Do  div  groze  flvbt  geschach 
Säulen  vf  dem   schilte  sin 
Ligen   d^  leit  vil  grozen  pin 
Von  des  todes  vngemach 
Do   er  gen  im   do   nahen   saeli 

■•)   e  vnwandelbere. 
e  ob  got  wolde 
dannen   solde 
oder  war  got  wolde. 
r  varn   solde 
gote  wart  im  do  ")  geseit 
gütlicher  warbeit 


')  Vgl.  Schütze,   Die  historischen  Bücher  des  alten  Testamentes  etc.    1.    Il.-im- 
bnrg   1779.     S.  2.36  f. 

^)  Die  ganze  Zeile  verschmiert,  festeJi  bei  Schütze, 
=)  Schütze  a.  a.  O     IL    Hamburg  1781.  S.   112. 
*)  Schütze  a.  a.  O.  S.  116  f. 
*;  Ein  Loch. 


492  G.  EHRISMANN,  JAPPE8STIFT. 

Er  solde  varn  iu  Juda  In  ebron  vnd  beleih  alda 

In   ebron  do   kerte   sa*')  Sin  gesiebte    von  Jvda 

D''   Menthafte   degen   dar  kam  mit  grozer   mäht  da  hin 

vnd  fvrte  mit  im   sine   schar  zv  im  ?;')nd  wiht  in 

Beidiv   kint  wib  und  man  ze  kvnige  vber  al  div   diet 

Ffurt  er  allez  mit  im   dan  Die  sins  gesiebtes  namen  vz  schiet. 

vnd  lie   des   niht  beliben 

Er  füre  mit  sinen  wiben 

BIELITZ  in  Oest.-Schlesien.  KARL  REISSENBERGER. 


JÄPPESSTIFT 

(König  Tirol  ed.   Leitzmann   9,   5  und  43,   4). 


Kinzel  in  seiner  Recension  von  Leitzmanns  Ausgabe  (Ztschr. 
f.  d.  Philol.  22,  242—244)  vermuthet  in  jappe,  indem  er  die  Über- 
setzung des  mhd.  Wb.  und  Lexers  „Fußangel"  mit  Recht  ablehnt, 
einen  Pflanzennamen.  Ohne  Zvv^eifel  jedoch  wird  damit  eine  Schlangen- 
art bezeichnet.  An  beiden  Stellen  ist  von  dem  Gift  der  Vipper  die 
Rede,  und  es  ist  eine  geläufige  Vorstellung  des  Mittelalters,  daß  der 
Schwanz,  bezw.  der  Stachel  (st/ift)  der  Schlangen  Gift  enthalte  (z.  B. 
bei  Megenberg  S.  260,  23,  MSH.  2,  174").  Dies  paßt  auch  gut  zu  dem 
Bilde  in  Strophe  43,  denn  der  Schlangenzagel  gilt  als  ein  Zeichen 
der  Falschheit,  vgl.  die  von  Lexer  unter  slangenzagel  angeführten 
Stellen:  Renner  V.  14126,  Teichner  Laßb.  L.  S.  3,  383,  14;  ferner 
MSH.  2,  174"  und  2,  367'.  —  Eine  Schlangenspecies  Jappes  (9,  5)  oder 
Jappe  (43,  4)  habe  ich  nicht  finden  können.  Ahnlich  lautet  ipnappe 
bei  Megenberg  S.  272,  3,  entstellt  aus  hypnale.  Aber  am  nächsten 
kommt  Jaspis,  Nebenform  von  aspis,  welch  letzteres  auch  von  Wolfram 
im  Parzival  481,  8  erwähnt  wird.  Da  nun  Str.  42  des  Tirol  sicher 
aus  jener  Partie  des  Parzival  geschöpft  ist  (Leitzmann  S  .4),  so  wird 
man  auch  in  jappes,  bezw.  jaspes  eine  Reminiscenz  an  aspis  des  Par- 
zival annehmen  dürfen. 

PFORZHEIM.  G.  EHRISMANN. 


®)  Über  diese,    die  vorhergehende  Zeile   und   das  darüber   befindliche  Spatium 
ist  ein  großer  Buchstabe,  der  aber  halb  abgeschnitten  ist,  gedruckt. 
')  Ein  Loch. 


A.  GOMRI^.RT.  BEMERKUNGEN  ZUM  DEUTSCHEN  WÖRTERBUCHE.     493 

BEMERKUNGEN  ZUM  DEUTSCHEN  WÖRTER- 
BUCHE. 

Bd.  VII,  Lief.   10  {Pflasterung  bis  Platz). 
(Schluß.) 


Piez  (vorquellende  Weiberbrust)  ist  wohl  absichtlich  über- 
gangen, weil  im  Wb.  2,  7—8  unter  Biez  (Bietz)  erledigt.  Zu  den  An- 
gaben a.  a.  O.  habe  ich  einmal  hinzuzufügen,  daß  mir  das  Wort  in  der 
märkischen  Volkssprache  sehr  wenig,  im  Mitteldeutschen  aber  (Halle 
und  ganz  Thüringen)  häufig  begegnet  ist,  dann  aber,  daß  ich  es 
durchweg  mit  anlautendem  p  gehört  habe,  so  weit  nicht  die  ober- 
sächsische Verwechslung  zwischen  P  und  B  jede  Sicherheit  über  den 
Anlaut  vernichtete.  Mit  diesem  Worte  hängt  nicht  zusammen  das  in 
Zieglers  Gesammelten  Novellen  vorkommende  und  deutlich  erklärte 
Piezloch;  s.  dort  1,  137:  In  der  gininen  iJecke,  in  dem  Nafzfy  das 
avf  dem.  grundlosen  Moder  nuflieqi,  ist  zuiccilen  hier  und  da  eine  Manche 
gerissen,  nur  ist  ein  solches  einen  halhen  bis  ztoei  Fuß  im  DurcJtmi'sser 
große.''  Loch  gar  nicht  zu  bemerken ,  iceil  das  überhängende  Gras  und 
Schilf  es  bedecken  ....  Noch  loenigen  Monaten  ivälzen  sich  die  Wogen 
über  das  Fenn,  und  schon  im  nächsten  Frühjahr  loeiß  der  Jäger  nicht 
mehr  genau  anzttgeben,  wo  das  Loch,  das  in  de?'  Landessprache  Piez- 
loch heißt,  sich  befand,  in  ivelchem.  sein  Freiwd,  versank.  Ebenda  138: 
Im.  Volke  ist,  ivenn  Jemand  unter  dem  Verdachte ,  daß  er  er.'^chlagen 
toorden,  verschwindet,  gleich  feststehend ,  daß  der  Mörder  die  Leiche  in 
ein  Piezloch  gesteckt  habe.  Eine  haltbare  Ableitung  dieses  Piez  weiß 
ich  nicht  zu  geben.  Der  Ausdruck  scheint  übrigens  auf  die  Mittel- 
mark oder  gar  das  Havelland  beschränkt  zu  sein ,  wenigstens  habe 
ich  ihn  in  der  Ukermark  nicht  gefunden,  obgleich  dort  die  von  Ziegler 
beschriebenen  Fenne  und  die  Löcher  in  ihnen  so  gut  wie  in  der  Mittel- 
mark vorkommen. 

Pik  als  Bergspitze  ist  wohl  mit  Recht  dem  Fremdwörterbuche 
überlassen;  erwähnt  sei,  daß  im  17.  Jhdt.  dafür  auch  die  Pique 
vorkommt  bei  Erasmus  Franciscus,  Ost-  und  Westindischer  Lust-  und 
Staatsgarten,  Vorbericht  116"  (1668):  Umere  Leute,  so  die  Neue  Welt 
besuchen,  geben  die  Cannrische  Pique  für  den  höchsten  Berg  aus,  den 
man  bißhero  in  der  ganfzen    Welt  gesehni. 

Pikant  wird  erst  aus  dem  Briefwechsel  zwischen  Schiller  und 
Goethe   beigebracht,    während  es  nach   Weigand    bereits  im   17.  Jhdt. 

GERMANIA.    Neof.  Reihe  XXD.  (XXXIV.)  Jahrg.  33 


494  A-  GOMBERT 

aufgenommen  ist.  Für  solche,  welche  etwa  Weigands  bloßer  Behaup- 
tung nicht  glauben,  verweise  ich  auf  Joh.  Christoph  Nehring,  Manuale 
Juridico-Politicum  675  (1694),  wo  piquant  durch  stachelhaft, 
stechend,  stichelnd  erläutert  wird.  Die  gleiche  Erklärung  gibt 
Sperander  472^  (1728)  und  führt  dabei  das  Wort  auch  zur  Bezeich- 
nung des  sinnlichen  Geschmackes  an:  ein  piquant  er  Wein  heist,  der 
einen  scharfen  auf  die  Zunge  fallenden  Geschmack  hat.  Daß  Pi k an- 
ter ie,  wie  Lexer  aus  Heynatz  anführt,  von  Personen  mit  Handwerks- 
burschengeschmack im  Sinne  von  Feindschaft,  oft  auch  von  Stichelei 
gebraucht  wird,  ist  bekannt;  diese  Bedeutung  scheint  früher  noch 
allgemeiner  gewesen  zu  sein ,  da  Sperander  a.  a.  0.  473"  es  ebenso 
durch  Groll,  Anstechung,  Beschimpfung  erklärt.  In  der  Ber- 
liner Volkssprache  verwandelt  sich  das  Wort  in  Pinkaterie,  eine 
Form,  deren  häufige  und  zwar  ernsthafte  Verwendung  in  den  ange- 
deuteten Kreisen  ich  bezeugen  kann. 

Piket  spiel  wird  nur  aus  Stieler  (1691)  belegt,  doch  haben 
wir  den  substant.  Inf.  piketspielen  schon  aus  dem  Jahre  1625  bei 
Londorp  2,  1207":  seine  Landsleuth  haben  ihn  drey  Wochen  in  Pariß 
aufgehalten,  da  er  die  Zeit  mit  Pickhetspielen  zugehracht;  ebenso 
1,  1559\ 

Pilger.  Zum  Begriffe  des  Pilgers  gehört  die  mancherlei  Noth 
und  Beschwerde,  die  er  auf  seinem  Wege  erduldet.  Vgl.  Geibel,  Spät- 
herbstbl.  9: 

Laß  den  sc hw ergeprüften  Pilger  (Odysseus) 
Nicht  am  Ziel  noch  untergehn. 
Noch  deutlicher  spricht  dies  F.  L.  Jahn,  Ges.  Werke  2,  403  (Neue 
Runenblätter ,  aus  dem  Jahre  1828)  bei  der  Erklärung  des  Wortes 
pilgern  aus:  Pilgern  ist  mit  selbstauferlegter  Beschioerde,  Mühe,  An- 
strengung und  Entbehrung  verbunden;  gewählt  als  eine  heilige  Arbeit,  um 
drückende  Gefühle  loszuwerden,  Leiden  zu  vergessen  und  das  sturmbewegte 
Lebensgeicoge  in  einen  Ruhhafen  zu  retten.  Von  Zusammensetzungen 
mit  Pilger  ist  etwa  ein  Schock  gegeben;  ich  füge  einige  hinzu,  die 
wohl  ebenso  berechtigt  zur  Aufnahme  sind  wie  das  verzeichnete 
Pilgerbill  et.  Pilgerbahn  kommt  sicher  in  geistlicher  Dichtung 
mehrfach  vor,  so  in  der  15.  Strophe  von  Gerh.  Terstegens  Liede 
Kommt  Kinder,  laßt  uns  gehen;  doch  finde  ich  in  dem  mir  vor- 
liegenden Abdruck  des  geistlichen  Blumengärtleins  (Stuttgart  1884) 
S.  331  die  Lesart  Liebesbahn  statt  Pilgerbahn.  Pilgerbrot 
nennt  in  leicht  verständlicher  Anwendung  der  Stuttgarter  Prälat  Gerok 
eine  Sammlung  seiner  Predigten.  Pilgerflor  bei  Goethe  11,  1,  322 
Hempel  (Maskenzüge  zum   18.  Deceraber  1818): 


BEMERKUNGEN  ZUM   DEUTSCHEN  WÖRTERBUCHE.  495 

Treuer  Genius  der  Zeiten 
Leicht  gehüllt  in  Pilperflor. 
Pilger  Herberge  findet  sich  neuerdings  nicht  selten  in  Beschrei- 
bungen von  Reisen  ins  Morgenland,  so  wiederholt  bei  Ninck,  Auf  bib- 
lischen Pfaden.  Pilger  leben  ist  seit  Klopstock  belegt,  zum  Theil 
durch  wenig  hervortretende  Beispiele:  man  vermißt  neben  dem  aus 
Hölty  gegebenen  Belege  den  bekannteren  aus  dem  Liede  Üb  immer 
Treu'  und  Redlichkeit  Z.  .')  fg.: 

Dann  kannst  du  wie  auf  grünen  Aun 
Durchs  Pil  geriehen  gehn. 
Ferner  aus  demselben  Dichter: 

Die  Freude  tvinkt  aiif  allen    Wegen, 
Die  durch  dies  Pil gdr leben  gehn   (Wer  wollte  sich 
mit  Grillen  plagen  Z.  5  fg.). 

Neben  der  Form  Pilgerleute  (zwei  Belege  aus  dem  16.  Jahrhundert) 
war  auch  die  andere  Pilgersleute  (vgl.  Pilgers  mann)  zu  ver- 
zeichnen : 

Ein  Fahrzeug  dort  im  Meere  hält, 
Darauf  ist  mir  ein  Platz  bestellt 

Nebst  andern  icackern  Pilgers leuten.    Tieck,    Kaiser 

Octavianus  119. 
Pilgerort:  Constantin  und  Helena  hatten  das  verfallene  Jerusalem  zu 
der  Bedeutung  des  heiligsten  Pilgerortes  [üblicherer  Ausdruck :  «Wall- 
fahrtsort] der  Christenheit  erhoben.  Gregorovius  Athenais  161.  Pilger- 
pfad bei  G.  Terstegen  a.  a.  O.  328: 

Es  soll  uns  nicht  gereuen 
Der  schmale.  Pilgerpfad. 
Pilgerschritt    bei    Goethe    11,   1,  256    Hempel    (Theaterreden    aus 
dem  Jahre  1821): 

Entsagung  heiligt  Kriegs-  und  Pilgerschr  itt  ; 
Sie  treibts,  zu  leiden,  weil  der  Höchste  litt. 
Pilger  Stätte:  Der  Weg  zu  den  großen  Pilgerstätten  hat  noch  immer 
durch  die  Wüste  geführt.  Fontane,  Wanderungen  3,  45.  Pilger  stecken 
ist  zwar  seltener  als  Pilgerstab,  findet  sich  jedoch  mehrfach,  z.  B. 
Dingelstedt,  Am  Grabe  Chamissos  (1838),  abgedruckt  in  Echtermeyers 
AuswahP^  694: 

Nun  schläfst  du  in  der  fremden  Erde  schon, 
Und  die  den    Wandernden  nicht  konnte  wiegen, 
Brut  ihm  ein  Grab  mit  Lorbeer  und  mit  Mohn, 
Ih-auf  soll  gekreuzt  sein  Pil ger.ttecken   liegen 

33* 


496  ^-  OOMBERT 

Und  unser  Banner,  das  dem   Sängerheer 
Voran  er  trug. 
Vgl.    auch  Vilmar  Schulreden    über  Fragen    der  Zeit'*  297:    mit   dem 
Hirtenstahe  weiden  und  am  Pilgerstecken  wandeln.  Pilgerthum  bei 
Goethe  28,  383  Hempel  (1817):     Obgleich   ein  jeder  Künstler,    der  sich 
zum  Plastischen  bestimmt  fühlt,  sich  diese  Wallfahrt  nach  London  [zu  den 
Elginschen   Marmoren]    zuschwören    und    mit  Gefahr   des  Pilger-    und 
Märtyrihums  ausführen  muß.   Pilgertracht  bei  Goethe   11,   1,  316: 
Genius  in  Pilgertracht  (Bemerkung  und  Erklärung  zum  Maskenzuge 
vom   18.  Dec.  1818).    Vgl.   auch  Scherer,    Gesch.   d.  deutschen  Litt. ^ 
219:  In  späteren  Jahren  lauert  ihr  Hadlaub  in  Pilgertracht  des  Mor- 
gens auf.  Sicher  würden  sich  für  dies  gewöhnliche  Wort  viele  bessere 
Belege  finden  lassen,  wenn  es  auch  wie  im  DWb.  bei  Adelung,  Campe, 
Heinsius,  Heyse  und  Sanders  übergangen  wird.  Pilger  ziel  hat  Gre- 
gorovius  Athenais  157:  Hellas  war  das  gelobte  Land  und  AtheM  das  Pi lg  er- 
ziel der  Heiden.    Zu  Pilgrim    wird    mit  Recht   bemerkt,    daß  es  als 
alterthümlich  edel  gilt  und  besonders  in  gehobener  Rede  Verwendung 
findet.   Dazu  wäre  ergänzend  zu  fügen,  daß  Pilgrim  mit  seinen  Zu- 
sammensetzungen in  der  Sprache    der  Erbauung    und    des    geistlichen 
Liedes    sehr  beliebt  ist.    Einer  Häufung  von  Belegen  bedarf  es  nicht. 
Es  sei  nur    bemerkt,    daß    der    erst  nach    einer  Anführung  bei  Jung- 
Stilling   aus  Fr.  A.  Lampe    gegebene  Beleg   für  Pilgrimstand   den 
Anfang  eines  in  vielen  evangelischen  Gesangbüchern  stehenden  Liedes 
des  im  Jahre  1729  gestorbenen  Lampe  bildet.  Bekannter  noch  als  diese 
Stelle  ist  die  in  Gedanken  und  Wortlaut  mit  der  genannten  fast  ganz 
übereinstimmende  aus  B.   Schmolkes  Liede  Himmelan  geht  unsre 
Bahn:  Hier  ist  unser  Pilgrimstand. 

Droben  unser    Vaterland, 
Wurde    das    Pilgrimsjahr    verzeichnet,    so    konnte    auch    der  Pil- 
grim s  tag  Erwähnung  finden: 

Ein  Pilger  muß  sich  schicken, 
Sich  dulden  und  sich  bücken 

Den  kurzen  Pilgrimstag,  G.  Terstegen  a.  a.  O.  329. 
Pilgrimsväter  oder  Pilgerväter  ist  die  ehemals  von  evangelischen 
Nordamerikanern  mit  Stolz  gebrauchte  Bezeichnung  ihrer  unter  Jacob  I. 
zuerst  nach  Holland  geflüchteten  und  seit  1620  in  Massachusetts  ge- 
landeten puritanischen  Vorfahren.  Pilgrimszeit  bei  Uz  1,  224: 
Von  Misgunst,    Unruh,  Müh  und  Streit, 
Den  Plagen  unsrer  Pilgrimszeit, 
Flieh  ich  dir  freudig  zu  (Ode  an  die  Weisheit). 


BEMERKUNGEN  ZUM  DEUTSCHEN  WÖRTERBUCHE.  497 

Pille  wird  nicht  selten  als  Arznei  neben  dem  klan^verwandten 
Pulver  genannt,  z.  B.  Immermann.  Epigonen  008  Recl. :  Wir  (Ärzte) 
tverdcn  uns  dm-  antiken  Richtung  wieder  nähtr  an.-<chließ,N.  Lange  oemtg 
haben  wir  mit  Pulvern  und  Pillen  die  Natur  zu  zwingen  geioähni 
odtr  den  lebendigen  Leih  an  das  Kreuz  des  Systeinis  geschlagen,  in  Zukunft 
werden  wir  mein-  beobachten.  Neben  Pillendreher  war  auch  Pillen- 
drechsler aufzuführen;  das  entsprechende  Pillen  drechseln  bringt 
ja  Lexer  selbst  wie  schon  W.  Grimm  2,  13:31  aus  Günther,  ebenso 
hat  es  Liscow  450:  Da  man  ohne  Vernunfl  ganze  Völker  regierm,  Länder 
erobern,  Schlachten  geioinnen,  Seelen  bekehren,  Rechtshändel  entscheiden, 
Pillen  drechseln,  Reeepte  verschreiben  und  ein  Weltioeiser  sein  lann: 
so  möchte  ich  ivohl  icissen,  ivantm  es  nicht  erlaubt  sein  sulllr,  ohne  Ver- 
nunft ein  Buch  zu  schreiben?  Pillenheld  als  höhnische  Bezeichnung 
des  ungeschickten  Arztes  in  Neukirchs  Sammlung  6,  242  (1709): 

Du  armer  tod,  so  wirst  du  eoujoniert! 

Gelt!  solche  pillen-helden 

Die  können  dir  den  Abschied  melden, 

Der  dich  von  uns  in  ferni'  grentzen  führt. 
Pillenschachtel    als    ein  im  Apothekerverkehr    sehr    gewöhnliches 
Wort  sollte  nicht  fehlen.  Wer  noch  einen  Beleg  für  dasselbe  begehrt, 
sei  verwiesen  auf  Annette  von  Droste-Hülshoff  1,  229: 
Wie  Abendroth  zog  ins   Gemach 
Ein  frischer  Jugendodem 
Und  überhauchte  nach  und  nach 
Der  Pillen  Schacht  ein  Brodem. 
Endlich  möge  noch  der  Pillenstaub  erwähnt  werden,  den  der  Apo- 
theker  nöthig   hat,    um  die  in  die  Schachtel   gethanen  Pillen  am  Zu- 
sammenkleben zu  hindern. 

Pilot.  Daß  das  Wort  im  17.  Jhdt.  aufgenommen  sei,  ist  wohl 
auf  die  Gewähr  Weigands  behauptet.  Am  Schlüsse  des  16.  Jhdts.  linden 
wir  es  bei  Ägidius  Albertinus  Übers,  von  Guevaras  Güld.  Sendschr. 
1.  62"  (1598):  Die  jenige  Jioben  Gott  höchlich  zu  dancken  die  er  nicht 
gibt  unter  die  Händt  eines  hoffertigen  Hauptmanns^  eines  frechen  Piloten, 
einis  iin geschickten  Rechtfsgelehrten,  eines  ein f eltigen  Medici  vnd  eines  vn- 
erfarenen  Richters;  vorher  steht  es  bei  Mathesius  Sarepta  (15(32): 
darnach  sich  die  Piloten  im  wilden  Meere  zu  richten  haben.  Für  Pilot 
in  der  Bedeutung  Leitfisch  steht  gelegentlich  auch  Pilotenfisch 
(naucrates  ductor)  bei  J.  J.  Engel,  FürstenspiegeP  242  (1802):  die 
Matrosen,  die  bei  Benenmmg  dieser  dirigirenden  Fische  im  Kreise  ihrer 
gewohnten    Begriffe    blieben,    haben    sie    Pilot en fische    genannt;    man 


498  A.  GOMBERT 

könnte  sie  sonst,  mit  gutem,  Fug  und  Recht,  auch  Ministerfische  nennen. 
Pilotieren,  freilich  ein  sehr  entbehrliches  Wort,  findet  sich  bei 
H.  P.  Sturz '^  2,  301:  Da  fuhr  ich  herum  auf  dem  Sündenmeer,  ohne 
Ruder  und  Kompaß ,  und  wäre  sicherlich  untergegangen  im  Strudel  der 
Verzioeiflung,  hätte  mich  der  ehrioürdige  Herr  nicht  in  den  Hafen  der 
Gnade  pilotirt.  Piloten schaft  steht  bei  J.  G.  Müller,  Herr  Thomas 
2,  380  in  einer  vom  Verfasser  selbst  als  veraltete  Phrase  bezeichneten 
Wendung:    Unter  der  Pilotenschaft  ihrer   Compassion. 

Pilz.  Entsprechend  der  ungewöhnlichen  von  Lexer  angeführten 
Nebenform  die  Pilze  hat  Herder  auch  den  (von  Lexer  aus  Zachariä 
beigebrachten)  Plural  die  Pilzen,  z.  B.  7,  304  Suph.  (Fünfzehn 
Provinzialblätter) :  alle  Pilzen  auf  einem  Miste.  Pilz  nennt  man  auch 
eine  luftige  Baulichkeit  im  Freien,  die  hauptsächlich  aus  einem  starken 
Mittelpfosten  und  einem  von  dessen  oberem  Ende  nach  allen  Seiten 
schräg  oder  rundlich  wie  ein  Zeltdach  oder  ein  Pilz  sich  herab- 
senkenden, doch  noch  etwa  auf  Mannshöhe  vom  Boden  fernbleiben- 
den Dache  besteht.  Kleinere  Pilze  der  Art  errichtet  man  auf  vor- 
springender Waldhöhe,  um  den  Genuß  einer  schönen  Aussicht  zu  ver- 
mehren; größere  Pilze  bekommen  einen  gedielten  Boden,  auch  wohl 
Bänke  rundum,  und  das  Ganze  dient  als  Tanzplatz  bei  Waldfesten. 
Einen  Pilz  der  ersten  Gattung  hat  Jalin  2,  973  (Brief  aus  dem  Jahre 
1840)  im  Auge:  Ihr  Franzosen  seid  schnell  fertig  geivorden  [mit  dem 
Staatsgebäude  oder  der  Verfassung],  habt  auf  hohen  Siehdichum  einen 
schlanken  Pilz  gestellt  mit  loohlklingendem  Schellengeläute,  too  die  Luft 
nach  der  Windrose  durchstreicht.  Von  sprichwörtlichen  Wendungen  mit 
Pilz  führt  Lexer  nur  aufschießen  wie  ein  Pilz  an  und  verweist 
für  andere  auf  Wanders  Sprichwörterlexikon.  Das  wird  nicht  nach 
Jedermanns  Meinung  sein,  da  die  üblichen  Wendungen  doch  auch 
in  das  allgemeine  Wörterbuch  gehören;  man  will  wohl  eine  Begrün- 
dung einer  sprachlichen  Erscheinung  gern  anderswo  suchen,  nicht  aber 
den  SprachstofF  selbst.  Die  Wendung  in  die  Pilze  gehen  (belegt 
DWb.  2,  514  unter  Bülz)  bedeutet,  wie  schon  Campe  angibt,  nicht 
bloß  verloren  gehen,  sondern  auch  zu  einem  Liebesabenteuer 
oder  Stelldichein  gehen.  Diese  zweite  Bedeutung  finde  ich,  und 
zwar  in  der  Fassung  nach  Pilzen  gehen,  zuerst  bei  Londorp  2, 
771''  (aus  dem  Jahre  1619):  Eben  dieser  Priester  ist  auch  bald  darauf 
mit  der  fürnemsten  Klosterjungfraiven  in  den  Wald  nach  Piltz en  ge- 
gangen., und  ebenda  772":  es  were  ja  leider  darzu  kommen.,  daß  soviel 
Nonnenklöster  so  viel  Hurenhäuser  weren,  da  gehet  dann  der  Pf  äff  mit 
der  Äbtissin,  wie  oben  erwehnt,  in  Wald  nach  Piltz  en.    In  Kinds  Ge- 


RKMERKUNGEN  /UM   DEUTSCHEN  WÖRTERBUCHE.  499 

dicht:  Der  Gang  in  die  Pilze  wird  mit  der  Wendung  gespielt,  indem 
die  ränkevolle  Geliebte  den  arglosen  Liebhaber  zuerst  zu  einem  Stell- 
dichein verlockt  mit    den  Worten: 

Doch  werd  ich  abends  nach   Pilzen  ansifehen 
Zur  güldenen   Ane, 

dann    ihn    aber    schimpflich   behandelt   und  der  Verhöhnung  aussetzt, 
so  daß  er  nach  dem  Erlebten  dergleichen  Gänge  zu  meiden  beschlielH: 
Drum  einmal  in  die  Pilze  gegangen 
Und  —   hol  mich!  nicht  wieder. 
Auch    der    Pilz    als    Mauerschwamm    verdiente    Erwähnung;    vgl. 
Annette  v.  Droste  Hülshoff  2,  246: 

in  diese  öden  pilzhewachsnen  Maxiern. 
Von  Zusammensetzungen  bringt  Lexer  nur  Pilzenge  ri  cli  t  und 
Pilzgeschlecht,  die  wenigstens  nicht  die  zwei  üblichsten  sind; 
häutiger  ist  sicherlich  Pilzsammler  (auch  ein  die  Pilze  behandelndes 
Buch  nennt  sich  der  kleine  Pilzsammler),  noch  häufiger  das  Adj. 
pilz artig,  theils  im  allgemeinen  Sinne,  theils  mit  Beziehung  auf  das 
schnelle  Wachsen  der  Pilze.  Vgl.  Humboldt  Ansichten  der  Natur  274 
(Ausg.  V.  1871 :  Sie  [eine  Pflanze  auf  Sumatra]  riecht  pilzartig  thierisch 
nach  Rindfleisch'^  Strack,  Süd  und  Ost  263  (1885):  die  Stadt  Hermu- 
polis  hat  sich  pilzartig  geschwind  und  doch  mit  sichtbarer  Solidität  ent- 
wickelt. 

Pimpeln  ist  schon,  wie  L.  mit  Recht  bemerkt,  ein  Frequeu- 
tativum .  doch  wird  dieser  Begriff  gelegentlich  noch  durch  Wieder- 
holung verstärkt;  vgl.  Edelmann,  Lebensbeschr.  96:  darüber  erhöh  sich 
dann  ein  continuierliches  Pimpeln  und  Pimpeln  der  Madame  bey  dem 
Herrn  Lerchen,  daß  er  mich  doch  zu  einem  eingezogenen  Leben  ermahnen 
möchte.  Das  nicht  verzeichnete  Pimplich  (g)  keit  ist  wenigstens  in 
Norddeutschland  ungleich  üblicher  als  das  aus  Heine  beigebrachte 
Pimperlich  keit.  Ein  Beispiel  für  jenes  in  E.  M.  Arndts  Erinnerungen 
bei  Schwab  und  Klüpfel,  Deutsche  Prosa''  2,  87:  Der  Vater,  noch  jung 
und  kräftig,  fühlte  mit  unserer  Pimperlichkeit  kein  weichliches  Mitleid. 
Für  Pimpelhans  sagt  man,  um  das  Weibische  des  Pimpeins  noch 
mehr  hervorzuheben,  auch  Pimpelhanne  und  Pimpelhenne,  zur 
Bezeichnung  des  pimpelnden  Mädchens  Pim  pell  lese.  (Gedruckte 
Belege  dafür  vermag  ich  nicht  zu  geben,  nur  daß  ich  ich  die  Pimpel- 
liese auch  bei  Frischbier  angeführt  finde. 

Pink  pink!  ist  natürlich  auch  die  Bezeichnung  für  den  Ton 
des  Feueranschlagens :  Pink,  pink!  der  Zunder  glimmt,  die  Glut  wird 
aufgeblasen  Stoppe,   Parnaü   i.   Sättl.  26Ü.  Pink  und  pank  ahmt  den 


500  ^-  GOMBERT 

Schlag    der   Schmiedehämmer   nach;    vgl.    Annette   v.  Droste-Hülshoff 
1,  231   (Die  Schmiede): 

Und  draußen  geht  es  Fink  und  Panh, 

Man  hört  die  Flammen  pfeifen, 

Es  keucht  der  Balg  aus  hohler  Flank' 

Und  bildet   Aschen  streifen. 

Pinkel  für  Harn  scheint  in  Oberschlesien  wenig  üblich  zu  sein; 
sonst  könnte  nicht  in  Groß-Strelitzer  Judenfamilien  die  kosende  und 
keineswegs  spöttische  Bezeichnung  für  Pinkus,  Pinkel  lauten  (vgl. 
Vattel,  Muttel,  Hetel  [Hedwig],  Ketel  [Käthe]).  Ferner  redet 
man  ebenda  von  gepinkeltem  Kleiderstoff,  indem  man  gepünk- 
telten  meint.  Über  die  von  Frau  H.  Davidis  in  ihrem  Kochbuch ^^ 
561  beschriebene,  von  Lexer  nicht  erwähnte  Pinkelwurst  vergl. 
Sanders  Wb.  2,  55P.  Die  hier  genannten  Ausdrücke  würden  im 
Brandenburgischen  anstößig  oder  unmöglich  sein,  da  dort  Pinkel 
und  pinkeln  ausschließlich  Harn  und  harnen  bedeuten.  Daß  der 
Harn  in  der  alten  Heilkunde  und  Zauberweisheit  vielfache  Verwen- 
dung fand,  lehren  zahlreiche  Arzneibücher.  Einen  besonderen  hier  zu 
erwähnenden  Aberglauben  verhöhnt  Chr.  Weise,  Überfl.  Gedanken, 
9.  Dutzend  Nr.  7,  Str.  4: 

Die  Leut6  mögen  nun 

Durch  unsern  Trauring  Pinckeln, 

So  wollen  wir  doch  lulm, 

Und  alle  die  Quacksalherey 

Soll  uns  hei  unsrer  Löffeley 

Doch  keinen  Schaden  thun. 

Bei  Pinscher  wäre  eine  Hindeutung  darauf  erwünscht,  daß 
das  Wort  im  übertragenen  Sinne  etwas  verhältnißmäßig  Kleines  oder 
Geringartiges  ausdrückt.  Vgl.  Tenorpinscher  bei  Sanders  im  Er- 
gänzungswörterbuch. Der  berittene  Soldat  nennt  in  mitleidigem  Selbst- 
gefühl die  auf  strengen  Märschen  ermüdeten  Fußsoldaten  arme  Pin- 
scher, da  sie  zu  aller  Bewegung  auf  die  eigenen  Beine  angewiesen 
sind.  Beim  Kartenspiel  heißen  die  geringen  Karten  gegenüber  den 
hohen  oder  Trümpfen  die  kleinen  Pinscher.  Pinschern,  das 
Lexer  übergeht,  führt  Frischbier  in  der  Bedeutung  jagen  an.  Ich 
habe  das  Wort  häufig  gehört,  doch  ohne  Beziehung  auf  die  Jagd, 
lediglich  als  herabsetzendes  Kraftwort  für  herumlaufen  oder  auch 
als  Fußsoldat  marschieren:  Ich  bin  durch  halb  Frankreich  gepin- 
schert    und    habe    nicht    viel  Schönes    gesehen;    er  muß    einmal   überall 


BEMERKUNGEN  ZUM  DEUTSCHEN  WÖRTERBUCHE.  501 

herumpins ehern  u.  dgl.     Heine  braucht  bekanntlich   in   den   Hel)rai- 
schen  Melodien  vom  Allta^sjuden  das  entsprechende  allgemeine  kütern: 
Hund  mit  hündischen   Gadanken 
Eötert  er  die  ganze   Woche 
Durch  des  Lehens  Kolk  und  Kehricht. 
Pinsel.  Ein  eilfertiges  und  achtloses  Malen,  besonders  aber  die 
auffällige  Buntheit  eines  Gemäldes  bezeichnet  man  mit  der  Wendung: 
Hier  hat  der  Maler  (alle)  seine  Pinsel  anf!(jeicisc hl :,  vgl.  aucii  Castellis 
Gedicht  Der  Stieglitz: 

So  hat  der  liebe   Gott 
Mit  Farh  den  Stieglitz  aufgefrischt, 
An  ihm  die  Fi n sei  aus g e w  ischt. 
Pinsel  in  der    unter  4  gegebenen  Bedeutung    wird    gelegentlich    von 
Förstern   und   mehr   noch  in  der  Kraftsprache  städtischer  Jäger  auch 
auf    den    Menschen    angewendet.     Pinselei    im    übertragenen    Sinne 
wird  aus  Bürger,  Knigge,  Klopstock  belegt;    ein  etwas  früheres  Bei- 
spiel   bietet    Ch.    D.    v.  Böhlau,    Poet.    Jugendfrüchte  39U    (in    einem 
Gedichte  des  Jahres  1730j: 

So  sitzest  du  zu  Haus  und  schmierest  ein   Gedicht 
Und  willst  des  Abends  dich  nicht  vor  der  [so!]   Thiire  trauen, 
Um  dich  zur  hlosen  Lust  einmal  herum  zu  hauen. 
Ist  dies  nicht  Finseley? 
Auf  Zusammensetzungen  mit  Pinsel  ist  Lexer  nicht  gerade  ängstlich 
bedacht    gewesen.     So  hat    er    das    heute  so  häufig    gebrauchte  Wort 
Pinselführung   nicht  aufgenommen,    obwohl  er  es  auf  Sp.   1862  in 
der  dort  gegebenen  Erklärung  selber  gebraucht.  Neben    Pinselstiel 
und  Pinselstock    hätte    sonst    auch    der  Pinselstecken    genannt 
werden  können;  s.  Forster,  Ansichten  vom  Niederrh.  3,  83  (Anhang): 
er  malte  in  ein^'m  halhdunkeln  Zimmer  mit  sehr  langen  Pinselsteckeit., 
iceit    von   der  Staffelei,    und   daher    ivirkten   seine  Gemälde   erst  in  einer 
geicissen  Entfernung.    Ebenda  3,  67  auch  Pinselspitze:    der  Zauber, 
der  in  Correggios  Fi n seispitz  e  entzückt. 

Pionier  sollte  nicht  fehlen,  zumal  da  das  Wort  über  seinen 
engeren  Begriff  hinausgewachsen  und  zur  Bezeichnung  eines  Bahn- 
brechers oder  Pfadweisers  überhaupt  geworden  ist.  Das  auch 
von  Weigand  übergangene  Wort  findet  sich  schon  bei  Nehring  (1694) 
und  darnach  bei  Sperander  (1728)  mit  der  Erklärung  Schantz- 
graber.  Spielhagen  nennt  bekanntlich  eine  seiner  früheren  Erzäh- 
lungen Pioniere  des  Westens;  Pioniere  der  Bildung,  des 
Deutschthums  u.  dgl.  sind  uns  heute  geläufige  Ausdrücke;  vgl.  auch 


502  A.  GOMBERT 

Ziegler,  Novellen  1,  90:  Wo  ich  immer  gekonnt,  habe  ich  mich  auf 
Reisen  an  diese  Pioniere  der  Cultur  [die  Handlungsreisenden]  an- 
geschlossen, 

Pipi    wird  übergangen,    sowohl  als  Lockruf  für  Vögel  (Goethe 
1,  169  Hempel)    wie    als    die    der    norddeutschen  Kinderstube    ange- 
hörende,   jedoch  in  Schlesien    weniger    übliche   und  in  Oberschlesien 
zum  Theil  nicht  einnoal  bekannte  Bezeichnung  für  Harn.  Diese  letztere 
Bedeutung  hat  das  Wort    (häufig  in  der  Verbindung  Pipi  machen) 
im  Norden  Deutschlands  so  überwiegend  und  fast  ausschließlich,  daß 
hier  der  in  Goethes  Gedichten  1,  14  erwähnte  Prinz  Pipi  über  die 
Absicht  des  Dichters    hinaus   komisch   wirkt.    Da  man  nun  in  Nord- 
deutschland die   ganz    kleinen  Kinder  abrichtet,  für  den  Fall  des  an- 
gedeuteten Bedürfnisses  zu  rufen:  Pipi,  Pipi!  so  ist  es  auch  für  ein 
ernsthaftes    und    der    Jagd    auf    Zweideutigkeiten    abholdes    branden- 
burgisches   oder    pommersches  Gemüth    befremdlich  und  störend,    in 
der  zuerst  genannten  Stelle  Goethes  zu  lesen : 
Aber  der  Blick  auch,  der  Ton, 
Wenn  sie  ruft:  Pipi!  Pipi! 
Zöge  den  Adler  Jupiters  vom  Thron. 
Man  durfte    die  Aufnahme    des  Wortes  Pipi    um   so  eher    erwarten, 
als  Jac.  Grimm  das  entsprechende  Aa  der  Kindersprache  nicht  bloß 
verzeichnet,  sondern  ziemlich  ausführlich  erörtert  hat. 

Pips  (die  bekannte  Hühnerkrankheit)  findet  sich  auch  in  der 
Nebenform  Pnips  bei  Valentin  Apelles  (Apel)  in  der  deutschen  aus 
dem  Jahre  1580  herrührenden  Bearbeitung  eines  Terenzischen  Stückes, 
herausg.  v.  Fr.  Straumer  in  der  Beigabe  zum  Progr.  des  Gymn.  zu 
Chemnitz  vom  J.  1888,  S.  30\- 

darzu  weyß  sie  ein  sunder e  tveyse 
den  sichen  henen  den  pnips  zu  reyssen. 
Die  hier  gebrauchte  Wendung  (seit  Adelung  in  den  Wbb.)  hätte  ver- 
zeichnet werden  sollen,  zumal  da  sie  in  weiten  Strichen  Norddeutsch- 
lands auch  übertragen  gebraucht  wird  und  so  viel  bedeutet  wie 
Jemandem  in  empfindlicher  Weise  seine  Fehler  oder  Un- 
arten abgewöhnen. 

Pirat  wird  aus  der  Zimmerschen  Chronik  belegt;  vgl.  auch 
Niclas  V.  Wyle  307  (1470):  der  andern  schiffung  vnd  parthie  houptman, 
nämlich  der  pirraten'^  ebd.:  von  den  birraten  zu  allen  orten  bekriegt 
und  angegriffen.  Damit  will  ich  für  Lexer  nichts  Neues  sagen,  der  ja 
in  den  Nachträgen  zu  seinem  mhd.  Handwörterbuch  selber  aus  Hein- 
rich von  Neustadts  Apollonius   (um  1300)   den  (allerdings  erst  aus  dem 


BEMERKUNGEN  ZUM  DEUTSCHEN  WÖHTERBUCHE.  503 

handschriftlichen  beratten  von  Strobl  herg;estellten  ^  Pliir  pi  raten 
bringt.  Von  den  leicht  zusammenzubringenden  Zusammensetzungen 
sei  hier  nur  die  Piratenflagge  erwähnt  und  aus  Ziegler  3,  94  (Brief 
aus  Florenz  vom  J.  1861)  durch  ein  auch  heute  noch  der  Erinnerung 
werthes  Beispiel  belegt:  die  Impertinenz  Eut/lands,  die  sie  [die  dreifarbige 
Flagge  Deutschlands  1848]  als  Piratenflagge  behandeln  wollte,  stuht 
noch  aufrecht  da. 

Pirr   gebraucht  Kopisch   (Des    kleinen  Volkes  Überfahrtj 
als  Naturlaut  vom  Getrippel  vieler  kleinen  Füße: 
Tück,  tück!  ßels  in  den  Krug  hinab, 
Wie  jeder  seinen  Heller  gab. 
Pirr!  trippelts  heran 
Und  stapft  zum   Kahn. 
Übrigens    finde  ich  hier  Kopisch  nicht  gerade  glücklich;    denn   pirr! 
würde  (etwa  in  Stellvertretung  von  burr!)   besser  das  Aufsteigen  eines 
Fluges  Lerchen  oder  eines  Volkes  Rebhühner  andeuten. 

Pissen  wird  nach  Kehrein  als  weidmännische  Bezeichnung  des 
Tones  der  Haselhühner  angegeben;  vgl.  dazu  Harsdörffer,  Frauenz. 
Gesprechsp.   1,    Schutzschrift  S.   13:    es  rissen    imd   pissoi  die   Vögel. 

Pistazie.  Über  die  Einführung  des  Baumes  in  Frankreich  meldet 
Sebiz,  Vom  Feldbau  273  (1580):  Der  Pistacienhaum  ist  inn  unseren 
Landen  gar  seltzam  gewesen,  eh  das  er  durch  die  zween  Ehrivilrdigen 
Herren,  den  Herrn  Cardinal  von  Bellay  [j  1560]  und  Herrn  Renato 
Bischof  von  Mans  [bis  1546]  bcyde  gehrüder  .  .  zum  aller  ersten  inn 
unser  Franckreich  ist  gebracht,  vnnd  in  disen  Landen  nit  allein  sein 
Name,  ivelcher  vns  ganlz  vnbekant  geivesen;  sondern  auch  die  pßantzung, 
die  gestalt  als  eines  fremden  geivächß .  dessen  wir  vns  hoch  vei-wundern, 
vn  so  hoch  vnd  inn  grossen  ehren  halten,  aber  doch  von  seinem  herkommen 
gar  loenig  icissen,  vns  ist  bekant  gemacht  looi'den. 

Pistolet  als  Goldmünze  findet  sich  vor  Bürster  schon  bald  nach 
1610  bei  Londorp  2,  116":  die  Pfältzische  Baicren  allein  seynd  nnn  ein 
lange  Zeit  hero  in  Kriegssachen  abgerichtet  worden  vnd  erwarten  etver 
doppel  Pistolletten  mit  verlangen.  Daß  die  Bezeichnung  nicht  erst 
im  17.  Jahrhundert  in  Deutschland  aufgekommen  ist,  sehen  wir  aus 
Fischart,  Gegenbadstub  (1568,  Kurz  3,  368):  mit  jhren  Pistolet- 
Kronen. 

Pitsch(e)naß  kommt  neben  dem  von  Lexer  verzeichneten 
platschnaß  wie  im  Preußischen  (s.  Frischbier)  auch  in  der  Berliner 
Haussprache  vor;  noch  nachdrücklicher  und  malender  ist  da.s  dort 
ebenfalls  übliche  pitsche-patsche-pladdernaß. 


504  A.  GOMBERT 

Pitschel  führt  F.  L.  Jahn  1.  448  (Denknisse  42)  als  ein  Gubener 
ßiermaß  an:  In  Guben  an  der  Neiße  in  der  Niederlausitz  war  sonst 
Pitschel  ein  gewöhnliches  Biermaß.  Das  Wort  ist  mir  unbekannt: 
Jahns  Zusamenstellung  desselben  mit  dem  englischen  pitcher  (Krug) 
erscheint  als  verfehlt,  eher  ist  wohl,  schon  wegen  der  Gegend,  an 
das  slav.  pic  =  trinken  zu  denken. 

Pitzeln  (=  schnitzeln)  bes.  in  der  Zusammensetzung  ver- 
pitzeln  (s.  Weinhold,  Beiträge  70**)  ist  nicht  aufgenommen.  Ver- 
pitzelung  in  Rättels  Übersetzung  von  Cureus  2,  24  (1585):  in  solcher 
vielf eltigen  zertheilung  und  verpitzelung  der  Fiirstenthümher.  Das  bei  Wein- 
hold a.  a.  O.  aufgeführte  Pitzel  (abgeschnitzeltes  Stück)  das 
in  Schlesien  neben  dem  dort  noch  gewöhnlicheren  Brinkel  auch  in 
der  Verkleinerungsform  Pitzerle  vorkommt,  lautet  im  brandenb. 
Niederdeutsch  Pritzel  und  dementsprechend  auch  das  Zeitwort  ver- 
pritzeln. 

Plackerei.  Der  aus  Liliencrons  histor.  Volksliedern  gegebene 
Beleg  gehört  nicht  in  das  Jahr  1572,  wie  in  Folge  eines  Druck-  oder 
Schreibfehlers  angegeben  wird,  sondern  in  das  Jahr  1512. 

Plageteufel  (aus  Hederich  1729)  steht  schon  bei  Londorp 
2,  86":  haben  auch  newlich  in  abgedachte  Länder  die  schändlichen  vn- 
ruhigen  Plageteuf  fei  die  Jesuiter  geschickt,  die  den  Weg  bereiten  sollen. 

Plaid    fehlt,    während    es  doch    sicher    heute    weiteren  Kreisen 
geläufig  ist  als  das  aufgenommene   stets    gelehrt   klingende  Plagiat. 
Geibel  gebraucht  Plaid  unbedenklich  auch  in  der  Dichtung,    freilich 
wo  er  uns  nach  Schottland  führt;  so  Gedichte  u.  Gedenkbl.^  59: 
Schön  Ellen  lehnt  auf  des  Feldstücks  Rand 
Vom  bunten  Plaid  iimflossen. 
und  ebd.  52:   Und  da  kams  in   Geschioadern  gezogen 

Mit  geioürfeltem  Plaid  und  mit  Federn  vom  Aar, 
Und  Englands  Banner  ßogen. 

Plagge  wird  von  Lexer  als  männlich  bezeichnet;  ich  kenne  es 
mit  Adelung,  Campe,  Heinsius,  Heyse,  Sanders  nur  als  weiblich,  mei- 
stentheils  aber  steht  das  Wort  in  der  Mehrzahl,  so  daß  das  Geschlecht 
nicht  erkennbar  ist.  Ausführlich  über  den  Plaggendünger  spricht 
Schwerz,  prakt.  Ackerbau  1,  140  ff.,  der  auch  folgende  nicht  bei  Lexer 
stehenden  Zusammensetzungen  bietet:  Plaggendung,  Plagge Ur 
mist,  Plaggeneinstreuung,  Plaggenstreu,  Plaggenlager, 
Plaggensch  icht. 

Plakat  ist  vor  Stieler  nachzuweisen  aus  Erasmus  Franciscus, 
West-  und  Ostindischer  Lust-  und  Staatsgarten  3,  1631"  (1668):  Hie- 


BEMERKUNGEN  ZUM  DEUTSCHEN  WÖRTERBUPHE.  f^ö 

henebenst  werden  öffentliche  Placafpii  ang »schlagen \  ebd.  1632":  alle 
durch  das  kaiserliche  Placat  citirte  grosse  Ufrren.  Plakatenpresse 
gebraucht  Bismarck  am  21.  März  1849  als  Abgeordneter  der  zweiten 
Kammer:  Wenn  das  Feuer  der  Berliner  Straßen pnlifik  durch  den  Wind 
der  Plakatenpresse  und.  der  Kluhs  angefacht  wurde,  so  gab  t>s  Auf- 
tritte, die  zu  den  schmachvollsten  in  der  preußischen  (leschichte  gehUren. 
Plan  als  Kampfplatz  wird  mit  mancherlei,  auch  wonig  be- 
deutsamen Beispielen  belegt,  doch  vergebens  sucht  man  die  bekannten 
Zeilen  aus  Luthers  Hauptliede: 

Fh'  ist  hei  uns  wohl  auf  dem.  Plan 
Mit  seinem   Geist  und  Gaben. 
Auch  durfte  man  wohl  erwarten,  aus  E.  M.  Arndts  inimfr  nocli  frischem 
Liede  vom  Feldmarschall  die  Verse  zu  finden: 

Bei  Leipzig  auf  dem  Plane,  o  herrliche  Schlacht! 

Da  brach  er  den  Franzosen  das  Glück  und  die  Macht. 
Im  Anschluß  an  Weinhold  wird  besonders  hervorgehoben,  daß  Plan 
im  Schlesischen  auch  eine  Ackerstrecke  bedeute.  Dieser  Sprach- 
gebrauch wird  wohl  in  der  Volkssprache  ziemlich  verbreitet  gewesen 
sein,  wenigstens  ist  er  mir  aus  meiner  ukermärkischen  Heimat  als 
ganz  gewöhnlich  bekannt.  Die  Bezeichnung  Plan  stößt  dort  mit  der 
nach  dem  Westen  Deutschlands  hin  häufigeren  Kamp  zusammen, 
so  daß  nach  Lage  und  Beschaff"enheit  der  Ackerbreiten  kein  Unter- 
schied zwischen  dem  Kamp  und  dem  Plan  zu  finden  ist;  indessen 
wird  der  Ackerbesitz  Jemandes  durchweg  als  Plan  mit  dem  voran- 
gesetzten Namen  des  Eigen thümers  bezeichnet,  also  etwa  Eberts 
Plan,  wogegen  das  dem  Dorfschulzen  für  seine  Mühewaltung  überlassene 
Ackerstück  dort  nd.  stets  Schultenkamp  heißt,  nie  Schulten- 
plan.  Schwerz,  Prkt.  Ackerbau  1.  344,  346,  347,  348  bezeichnet  die 
zur  Überrieselung  bestimmten  Wiesenflächen  als  Rasen  stücke  oder 
Plane.  Auffallend  ist  das  Fehlen  von  Plankammer,  das  man 
freilich,  zu  geschweigen  der  früheren  Wörterbücher,  auch  bei  Campe, 
Heinsius,  Heyse,  Sanders  nicht  findet.  Nach  Müllers  Verdeutsch- 
wörterbuch der  Kriegssprache  279  (1814)  ist  das  Wort  zuerst  in 
Sachsen  aufgekommen:  Topographisches  Bureau  ist  P lankannner, 
eine  in  Dresden  gebräuchliche  Benennung  dieses  Bureatis.  In  Berlin 
gehört  die  Plankammer  zum  Nebenetat  des  Großen  Generalstabes. 
Die  in  dieser  Abtheilung  mit  der  Landesaufnahme  und  anderen  Ver- 
messungsarbeiten beschäftigten  Officiere  geben  einen  Theil  ihrer  Karten 
für  den  Verkauf  heraus,  so  daß  es  wenigstens  früher  einen  Verlag 
der  Plankammer    gab.    Planwagen    wird    durch  Albrechts  Buch 


506  A-  GOMBERT 

über  die  Leipziger  Mundart  gestützt.  Das  Wort  ist  doch  in  ganz 
Norddeutschland  üblich,  wenn  es  auch  gelegentlich  noch  durch  Be- 
schreibung verdeutlicht  wird,  wie  Spielhagen,  Angela  216:  Der  Wagen, 
der  ein  mit  einer  Plane  bedeckter  und  zwei  tüchtigen  Gäulen  bespannter 
Karren  ivar^  dann  ebd.  264  heißt  es  einfach:  der  Planwagen  war 
davongefahren.  Fontane,  Wanderungen  4,  166  traut  die  Kenntniß  des 
Wortes  jedem  seiner  Leser  zu".  Krippen  lehnen  sich  an  die  Wand,  ein 
Planwagen  steht  zur  Seite,  daratif  ein  Spitz  die    Wache  hält. 

Pläne  für  Ebene  oder  Fläche  hätte  durch  die  Bemerkung 
gekennzeichnet  werden  sollen,  daß  es  zu  denjenigen  Fremdwörtern 
gehöre,  welche,  in  der  edleren  Sprache  absterbend,  jetzt  nur  noch  oder 
wenigstens  vorzugsweise  in  den  niederen  Kreisen  der  Bevölkerung 
üblich  sind  (vgl.  retour,  Parasol,  BouteiUe  u.  a.). 

Der  Planet  ist  genau  entsprechend  seiner  Grundbedeutung,  auch 
ein  Sinnbild  der  Unbeständigkeit,  vgl.  v.  L.  in  Neukirchs  Sammlung 
2,  111  (Leipzig  1697): 

Wundre  dich  nicht,  daß  die  liebe  meistens  unbeständig  ist; 
Venus  die  hat  eine  stelle  beyn  plan  et en   ihr  erkiest. 
Zu  den  Beispielen,   welche   den    ehemals  mächtigen  Wahn  der  Stern- 
deuterei   veranschaulichen,    wäre  des  Gegensatzes   halber  der  Spruch 
aus  Neukirclis  Sammlung  6,  315  (1709)  zu  setzen: 
Christen  führet  kein  planete, 

Gott  allein  ist  ihr  prophete    [Überschrift:    Christen    kann    man 

keine  Nativität  stellen]. 
Die  Verse  sind  wohl  nur  eine  Abänderung  aus  Logau,  Zugabe  zum 
zweiten  Tausend,  Nr.  195: 

Christen  dörffen  nicht  Planeten, 

Ihre   Wercke  sind  Propheten, 

Jetzt  zu  Segen,  jetzt  zu  Aöthen. 
Statt  Thümmels  wortreicher  Umschreibung  für  Erde  {der  frostige 
Planet,  den  tvir  bewohnen)  wird  später  in  geschmückter  Rede  das 
kürzere  unser  Planet  gebraucht,  so  bei  Wieland  37,  136  Eutha- 
nasia,  zweites  Gespräch),  ferner  bei  Humboldt,  Ans.  d.  Natur  1,  7, 
42,  132,  185,  186  u.  ö.).  Planetarisch  wird  nur  aus  Humboldts 
Kosmos  und  aus  Börne  belegt,  kommt  jedoch  schon  früh  im  17.  Jhdt. 
vor,  z.  B.  1622  bei  Jac.  Böhme^  Sign,  rerum  38  (Ausg.  v.  1682): 
darumb  ist  die  Sonne  das  Centrum  in  dem  planetarischen  Rade  [in 
dem  Kreise,  den  die  Planeten  in  ihrer  Bahn  um  die  Sonne  beschreiben] 
und  in  allen  loachsenden  und  lebendigen  Dingen.  Aus  Humboldt  wäre 
besonders    die   Verbindung    planetarisches    Licht    zu    bemerken; 


■  BEMERKUNGEN  ZUM  DEUTSCHEN  WÖRTEUBUCHE.  507 

vgl.  außer  der  von  Kehrein  angeführten  Stelle  Kosmos  1,  S  auch  Ans. 
d.  Nat.  13 :  seihst  die  scheitelrechten  Gestirne  des  Adlers  und  des  Schüiugen- 
trägers  leuchten  mit  zitterndem,  minder  planetarischem  Lichte \  ebd. 
175:  wenn  ans  der  duftigen  Himmelshläue  Jas  hohe  Sternbild  dts  Schi(j'es 
und  das  gesenkt  untergehende  Kreuz  ihr  mildes  planctur inches  Licht 
ausgössen;  ebd.  3,  4"20:  die  Planeten  haben  im  ganzen  eine  schwache 
Scintillation ,  loeil  sie  von  reflectiniem  Sonnenlichte  leuchten  und  ihr 
planetarisches  Licht  aus  Scheiben  emaniert.  Das  erst  aus  Aler  (1728) 
belegte  planetisch  bietet  Jac.  Böhme,  Signat.  rerum  3U:  wif  das 
planetische  Rad  sein  Insiehen  hat,  also  ist  auch  die  Geburt h  jedes 
Dings;  desgl.  steht  das  Wort  Aurora  im  Aufgang  7,  44  (in  der  Ausg. 
V.   1780)  und  sonst  bei  Böhme. 

Planieren.  Daß  das  Wort  vor  Stieler  vorkommen  muLJ,  weiß 
Lexer  selber,  da  er  das  Hauptwort  Planier  er  aus  den  Jahren  1429 
und  1445  belegt.  Für  das  Zeitwort  wäre  anstatt  auf  Stieler  schon 
auf  Sim.  Roth  (1572)  M  7"  zu  verweisen:  Planirn  Eben  vnd  hdl 
machen.  Item  die  Bücher  ivaschen,  schlaaen  und  einpressen,  das  sie  ge- 
leytiget  werden,  das  nennen  die  Buchbinder  Planirn.  Laur.  Müller 
Übers,  von  Cureus  C  iij"  (1585):  ivie  die  Buchbinder  ihr  Papier  pla- 
niren.  Duez,  Nomenciator  163  (1662):  laver  planieren. 

Plänkeln  ist  allerdings  weitaus  üblicher  als  plänkern,  das 
nur  durch  eine  Stelle  aus  Musäus  belegt  wird;  doch  findet  sich  letzteres 
auch  sonst,  namentlich  bei  Schriftstellern  norddeutscher  Sprachfär- 
bung; vgl.  Jahn,  2,  371:  die  Franzosen  kamen  bis  zu  dem  Engpaß  von 
Rothenstein ,  wo  sie  mit  ein  Preußen  plänkerten;  K.W.  Krüger  in 
seinem  Wörterbuch  zu  Xenophons  Anabasis  übersetzt  dxQoßoUt,i(Jd-ai 
durch  plänkern,  desgleichen  dxQoßöhaig  Plänkergefecht.  Rost 
im  deutsch-griech.  Wörterbuch  hat  plänkeln  oder  plänkern,  Plän- 
keln oder  Plänkerei.  Plänklergefecht  hn  eigentlichen  und  im 
übertragenden  Sinne  ist  wohl  häutig  genug,  um  Aufnahme  im  Wb. 
zu  verdienen;  vgl.  Hettner,  D.  Litt.^  3,  1,  371:  die  ersten  Plänkler- 
gefechte gegen  Gottscheds  unbedingte  Oberherrschaft  gingen  von  derselben 
Frau  Neuberin  aus,  ivelche  u.  s.  w. 

Planket  (nicht  aufgenommen)  wird  bei  Schottel  285  ohne  nähere 
Erklärung  verzeichnet,  doch  wohl  im  Sinne  von  Blankett  (planchette). 
Duez,  Nomenciator  61   (1663)   hat:  die  planschett,  das  Jischbein. 

Plapperdipapp  ist  der  Ton  der  Windmühle  (Plappermühle) 
bei  Kopisch,  Ges.  Wke.  2,  245: 

Am  Arendsee  eine   Windmühle  stund. 
Die  ging  da  plapperd i papp 


508  A.  GOMBERT 

Plapperdeutsch  gebraucht  Jahn  2,  604  fg.:  Rechnet  man  zur  Voll- 
kommenheit  einer  Sprache,  loenn  sie  viel  Fremdes  hat  und  immerfort 
welschen  kann,  so  muß  die  Rede  des  schahigen  Betteljuden  über  Luther 
und  Klopstock,  über  Schiller  und  Goethe  stehen,  und  icir  müssen  alle  noch 
in  die  polnische  Judenschule,  um  Pia  pp  er  deutsch  zu  lernen.  Derselbe 
1,  237  hat  auch  Plappermäulig keit:  Fremde  Sprachen  sind  für 
den,  der  sie  nur  aus  Liebhaberei  und  Plappermäuligkeit  treibt,  ein 
heimliches  Gift  (Volktshum).  Pia pper werk  steht  in  der  Cabinets- 
ordre  an  Wöllner  vom  7.  Januar  1798:  ich  weiß,  daß  sie  [die  Religion] 
Sache  des  Herzen^i ,  des  Gefühls  und  der  eigenen  Überzeugung  sein  und 
bleiben  muß  und  nicht  durch  einen  methodischen  Zwang  zu  einem  gedanken- 
losen Plapperwerk  herabgewürdigt  werden  darf,  loenn  sie  Tilgend  und 
Rechtschaffenheit  unter  den  Menschen  befördern  soll. 

Zu  Pläntern  vgl.  auch  Plänterschlag  bei  Berlepsch,  Alpen 
'*76:  Durch  diesen  improvisierten  Natur-Plänterschlag  rceiter  vorzu- 
dringen ist  unmöglich.  B.  meint  eine  durch  Lawinensturz  gelichtete 
Waldstraße  im  Hochgebirge. 

Pläsir    wird  erst  aus  Goethes  Mitschuldigen,    pläsierlich 
nur  aus  Albrecht,   Leipziger  Mundart  belegt,  doch  steht  das  Hauptwort 
bei  G.  Arnold,  Kirchen-  und  Ketzerhistorien  1,  236*'  der  Ausg.  v.  1740: 
alle  weltlichen  plaisiren-^  ferner  niederdeutsch  schon  1593  bei  Herzog 
Julius    von  Braunschweig  239:    guden  Plesier   maken.    Auch  Pläsir 
gehört  zu  den  vorhin  bei  Pläne  bezeichneten  ehemals  edleren,   jetzt 
heruntergekommenen  Fremdwörtern.  Gh.  Terstegen  gebraucht  es  noch 
in  ernster,  frommer  Dichtung,  Geistl.  Blumengärtl. "  326: 
Die  Welt  mag  traurig  leben, 
Wir,  die  uns  ganz  ergehen 
Dem   Vater  zum  Pläsir, 
Wie  selig  leben  wir! 
und   ebd.  380:    Solch  kränkeln  ist  mir  schlecht  Pläsir.    Pläsierlich 
linden    wir   Döbel,    Jägerpractica  4,  103"    (1754):    Mit    den   Klitzsch- 
Ang ein  zu  angeln  ist  auch  plaisirlich,  und  früher  bei  Erasmus  Fran- 
ciscus  1,  427",    496%    506"    (1668).    Den  Gegensatz    des    älteren'  und 
neueren  Sprachgebrauches   in  dem  Worte  Pläsir   bringt  Immermann 
gut  zur  Anschauung,  wenn  er  im  Münchhausen  4,   117  fg.   (Berl.  Ausg. 
V.   1858)  dem  alten  Hofschulzen,  wo  dieser  ernst  und  nachdrucksvoll 
redet,  dieses  Wort  in  den  Mund  legt,  während  es  doch  für  den  Leser 
schon  etwas  fremdartig  klingt:    Wie  ein  ordentlicher  Mensch  dem~ lieben 
Gott    nicht   um  jede  Bagatelle  Molesten    macht,  ...  also   .soll    der  König 
nicht    angeschrieen    werden  um  jeden   Groschen,    der  mangelt,    sondern  in 


BEMERKUNGEN   ZUM  DEUTSCHEN  WÖRTERBUCHE.  509 

der  rechten  echten  Not  allein,  und  zti  allen  übrigen  Tagen  soll  mitn  nur 
sein  Herze  erfreuen  und  erquicken  an  dem  Könige;  dnxn  er  ist  das  Ab- 
bild. Gottes  auf  Erden.  Zum  Pläsir  ist  tms  hauptsächlich  der  König 
gesetzet  und  nicht  zum  Hans  in  allen  Ecken.  In  dem  uns  heute  pjeliiutijien 
Sinne  steht  das  Wort  in  K.  A.  Mayers  Gedicht  Spatz  und  Spätzin, 
mitgetheilt  bei  Bernd,  Deutsche   Lyrik'^  350  (1886): 

Spricht  der  Spatz:  ich  will  dich  hier 

Mit  zioei   Worten  kurz  berichten : 

Für  den  Spatz  ist  das  Pläsir, 

Für  die  Spätzin  sind  die  Pflichten. 
Plesirlijjkeit  und  plesirlich  bei  Nehring  a.  a.  O.  676  (1694). 
Wenn  Pläsirvergnügen  mit  Berufung  auf  Kehrein  als  nassauisch 
und  das  sprichwörtliche  Jedes  Thim-chen  hat  sein  Pläsierchen  unter 
Hinweis  auf  Albrecht  als  sächsisch  angegeben  werden ,  so  kann  ich 
das  nicht  widerlegen,  muß  jedoch  bemerken,  daß  ich  beide  Wen- 
dungen seit  meiner  Knabenzeit  in  der  Ukerraark  und  zwar  von  Leuten 
gehört  habe,  die  keinerlei  sprachliche  Einwirkung  aus  Nassau  oder 
Obersachsen  erfahren  hatten.  Pläsieren  hat  die  Nebenform  plesi- 
nieren  nicht  bloß  im  späten  mhd.,  sondern  auch  noch  1565  bei 
Mathesius,  Psalm  130,  Bl.  xiiij*:  das  die  andern  nicht  drüber  in  der 
faust  lachen  vn  solches  hey  menniglich  ausplesiniren  vnd  verun- 
glimpffen  helffen.  Man  sieht  zugleich,  da(i  hier  ausplesiniren  nicht 
in  dem  sonst  üblichen  lobenden  Sinne  des  Wortes,  sondern  im  herab- 
setzenden gebraucht  wird. 

Platonisch.  Im  scharfen  Gegensatze  dazu,  daß  das  Wort  vor- 
zugsweise den  Begriff  des  Unsinnlichen,  rein  Geistigen  enthält,  steht 
H.  Müller,  Übers,  von  Cureus  2,  36  (1585);  [Widertäufer]  begaben  sich 
hernach  in  Mehren,  allda  haben  sie  vnderschleijf  kriegt  vnd  eine  sonder- 
liche Platonische  Policey  voller  vnsauhrigkeit  vnd  vnreinigkeit  auß- 
gerichtet.  Gemeint  ist  hier  wohl  die  von  Cureus  mit  der  von  Plato 
vorgeschlagenen  Weibergemeinschaft  der  höheren  Stände  zusammen- 
gebrachte praktische,  schon  von  Münster  her  bekannte  Vielweiberei 
der  Widertäufer,  schwerlich  die  Ausartung  der  platonischen  Knaben- 
liebe. Platonische  Philosophie  finde  ich  zuerst  bei  Hedio,  Übers,  von 
Bapt.  Piatina  53"  (1546),  doch  wird  die  Verbindung  sicher  früher 
vorkommen.  Platonischer  Wohlklang,  H.  P.  Sturz '^  1,  161  (1768) : 
[In  Italien]  ivard  ihr  [der  Angelika  Kaufmann]  empfänglicher  Geist, 
unter  Kunstwerken  und  in  dei'  guten  Gesellschaft,  ganz  zum  platoni- 
schen Wohlklang  gestimmt.  Platonisieren  im  allgemeinen  Sinne 
steht  bei  Herder  1,  41   Suph.   (1764):   Die  Machtsäzze  Johannen  erklärt 

GERMANIA.     Neue  Reihe.  XXU.  (XXXIV.)  Jahrg.  34 


510  A.  GOMBERT 

man  aus  der  Bedeutung  der  Platonisirenden  Christen^  mit  Beziehung 
auf  die  platonische  Liebe    bei  Wieland  9,  125  (Aspasia): 
Wenn  ihr  je  hei  MoiidenKckt  im.    Grünen 
Platonisieren  loollt,  platonisiert  allein! 
ebd.    36:    Zu    den  Zeiten    der    Gnostiker    und    der  Platonisierenden 
ersten  Christen;    ebd.  38:    Welch  ein  Jude  kann  diese  Piatoni sir ende 
Erklärung    ausstehen?    Pia  tonist    steht    ebenfalls    bei    Herder  3,   115 
Suph.    im    allgemeinen  Sinne    von  Platoniker,    d.  h.  Anhänger    der 
Lehre  Plato's:    solche   feine  Metaphysik    üher    die  Natur  der   Götter  ge- 
hört in  den  Kreis    der    späteren  Platonisten  und  Pythagoräer    und  in 
das    heilige    Murmeln    ihrer    GeJteimnisse;    Wieland    wieder    nennt    den 
Kombabus  mit  Beziehung  auf  seine  Entsagung  in  der  Liebe  den  armen 
Platonisten  (10,  274);  vgl.  auch  9,  93  (Musarion  3):  die /Schwärmerei 
der  Platonisten. 

Plätschern  gebraucht  Jean  Paul  Quintus  Fixlein  61  Hempel 
mit  Übertragung  auf  den  Ton:  damit  er  durch  ein  plätscherndes 
Murki  den  Kirchensprengel  tanzend  die  Treppe  niederführte.  Zu  dem 
Belege  aus  Harsdörffer  für  das  unumgelautete  platschern  füge  man 
einen  zweiten  aus  demselben  Schriftsteller,  abgedr.  in  den  Älathemat. 
Erquickst.  3,  351  (1653):  der  platschrende  hach.  Platschig  wird 
erst  aus  Weinhold  und  Hegel  beigebracht,  doch  haben  wir  ein  ent- 
sprechendes platschecht  schon  bei  Sebiz  Feldbau  754:  die  Wölffin 
macht  ihren  kath  mitten  in  den  weg,  ist  darzu  loeich  und  platschecht. 

Platte.  Eine  besondere  und  wenn  auch  selbst  bei  Sanders  nicht 
verzeichnete,  so  doch  wohl  in  ganz  Deutschland  vorkommende  Ver- 
wendung erfährt  das  Wort  zur  Bezeichnung  der  zur  Aussaat  ge- 
schnittenen Kartoffel;  vgl.  Schwerz,  Prakt.  Ackerbau  2,  447:  Man 
pflanzt  ganze,  halbe,  viertel,  einäugige  Würfel,  Platten  {Kartoffel- 
köpfe), ausgebohrte  Äugen,  Schaben. 

Plätte  (Wasserfahrzeug  mit  plattem  Boden)  ist  ein  in  Nord- 
deutschland weniger  bekannter,  in  Österreich  dagegen  um  so  häufigerer 
Ausdruck,  der  auch  schon  früh  seinen  Weg  nach  Schlesien  gefunden 
hat.  Die  Plätte  wird  öfters  gleichbedeutend  mit  Fähre  gebraucht. 
Vgl.  in  der  Schles.  Ztg.  vom  20.  Juni  1887  (Abendbl.)  den  aus  der 
Wiener  Presse  entnommenen  Bericht  über  ein  kurz  vorher  auf  der 
Donau  vorgekommenes  Unglück:  Bei  der  Donau  angelangt,  bestiegen 
etwa  150  Wallfahrer  die  bereitstehende  Plätte,  um  über  die  Donau  zu 
setzen.  Kaum  hatte  die  Fähre  das  Ufer  verlassen,  ...  verlor  das  Fahrzeug 
in  Folge  der  heftigen  Bewegung  (Orkan)  das  Gleichgewicht  Und  kippte 
um.    Es    haben    sich    280—300    Menschen    auf   der    Plätte    befunden. 


BEMERKUNGKN  ZUM  DEUTSCHEN  WÖRTERBUCHE.  öl  1 

Pötzl,  Rund  um  den  Stephansthurm  l'!6  (Reclams  Universalbibl.  1*41 1 
und  2412)  scheint  unter  der  Plätte  nicht  gerade  die  Fähre  zu  ver- 
stehen: Anden  PH (j er,  icdche  den  edlen  Sport  des  Anyelns  freiheu,  sitzen 
reihenweise  auf  Flößen  und  leeren  Fladen.  Man  v<;l.  auch  das  bei 
Sanders  Ergänzungswb.  S^O""  vorzeichnete  absichtlich  unterscheidende 
Wort  Überfuhr -Plcätte.  Die  übergangenen  und  auch  sehr  entbehr- 
lichen Zusammensetzungen  Plattenabsonderung,  Plattenart, 
Plattenbildung  und  Plattenbasalt  seien  hier  genannt,  weil 
sie  bei  Goethe  vorkommen:  s.  Goethes  Werke  33,  417,  436,  437. 
Platten  ab  druck  steht  ebenfalls  bei  Goethe  23,  63  Herapel  (Dich- 
tung und  Wahrheit,  Ruch  18)  und  das  nur  aus  Dannenberg-Frantz 
belegte  platten  förmig  bei  Goethe  33,  448  (1824).  Neben  Platten- 
hengst kommt  auch  Plattenpriester  vor;  vgl.  Luther,  Ref.-hist. 
Sehr.  1,  215:  So  St.  Fefrus  Spruch,  da  er  zu  allen  Christen  sagt:  Ihr 
seid  ein  koniklich  Friesterthicm,  kann  den  Vorstand  geben,  daß  er  leiblich 
heschorne  und  geschmierte  Priester  bedeute .  daß  aUo  alle  Christen,  zu 
denen  es  saget  ist  Mann,  Weib,,  Kind.  Jung  und  Alt  Platten  und  ■  Ole- 
priest er  sind:  loarumh  sollt  niJd  auch  jemand  dem  Spruch  St.  Pauli 
ein  solche  Nusen  stellen  ktmnten  [so]?  Plattform  steht  früher  als  bei 
Eggers  (1756)  in  Duez.  Nomenciator  237  (1663):  Une  platte  forme 
eine  plafform,  ima  piatta  forma,  plana  forma]  desgleichen  Platformer 
bei  Schotelius  532.  Im  Sinne  von  Hochfläche  belegt  es  Lexer  aus  Oken; 
vgl.  darum  Kant  bei  Engel,  Philos.  f.  d.  Welt  2,  163  (1777):  Die 
Länder  in  diesem  Striche  sind  das,  loas  Biiache  Platte  form  nennt, 
nehmlich  hohe  ^ind  mehreidheils  loagerecht  gestellte  Ebenen,  in  denen  die 
daselbst  befindlichen  Gebürge  nirgend  einen  weitgestreckten  Abhang  haben, 
indem  ihr  Fuß  unter  horizontal-liegendem  Lande  vergraben  ist. 

Plattheit.  Von  den  Belegen  gehen  drei  in  das  18.  Jahrhunder 
zurück;  der  älteste  ist  der  Wielandische  (Bunkliade  aus  dem  Jahr- 
gange 1778  des  deutschen  Merkur),  sofern  der  angeführte  Satz  nicht 
ernt  1798  in  der  Gesamtausgabe  seine  jetzige  Fassung  erhalten  hat. 
Da  nun  Wieland  das  Wort  Plattheit  im  geistigen  Sinne  auch  im 
Jahre  1782  (Hör.  Epist.  1.  S.  69)  hat,  Adelung  aber  (1777)  dasselbe 
noch  nicht  verzeichnet,  so  werden  wir  es  einstweilen  auf  Wieland 
zurückführen  müssen.  Unter  Plattkammer  wird  auf  Kammer  im 
fünften  Bande  des  Wb.  verwiesen,,  wo  Hildebrand  Sp.  IM  darauf 
aufmerksam  macht,  daß  es  in  herrschaftlichen,  fürstlichen  Haushalten 
eine  besondere  Platt  kämm  er  gebe,  wo  Wäsche  geplättet  werde. 
Solche  Plättkammer  (denn  aul.^erhalb  Leipzigs,  bez.  Obersachseos 
spricht  man  das  Wort  mit  dem   Umlaut)  kommt  doch  auch  in  durch- 

34* 


512     A.  GOMBERT,  BEMERKUNGEN  ZUM  DEUTSCHEN  WÖETERBUCHE. 

aus  unfürstlichen  Haushaltungen,  z.  B.  in  geräumigen  ländlichen  Pfarr- 
häusern vor,  oft  freilich  muß  auch  der  Flur  zur  Aushilfe  dienen; 
vgl.  Fontane,  Wanderungen  4,  235:  Der  Pfurrflur  war  in  eine  große 
Plättkammer  umgewandelt  worden.  Plattkopf  im  übertragenen 
Sinne  als  Gegensatz  zu  Spitzkopf  gebraucht  Seume  mit  Vorliebe; 
man  vergleiche  außer  den  drei  von  Lexer  beigebrachten  Stellen  noch 
Werke  2,  1 58 : j  Demut  und  die  mit  ihr  verwandte  Geduld  sind  Esels- 
tugenden, die  die  Spitzköpfe  den  Plattköpfen  gar  zu  gern  ein- 
prägen- 2,  212:  Zeitvertreibe  )iind  die  Erfindung  der  S pitzköpfe  für 
die  Plattköpfe.  Plattköpfig  wird  nur  aus  Oken  belegt.  Hier  denkt 
man,  auch  wenn  man  kein  Verehrer  Heines  ist  und  dessen  häutige 
Anführung  im  Wörterbuche  nicht  billigt,  doch  sogleich  au  die  bekannten 
Verse  aus  dem  Buche  der  Lieder: 

In  Lappland  sind  schmutzige  Leute, 
Plattköpfig ,  hreitDtäulig  und  klein. 
Plattnasig,  das  übergangen  wird,  steht  bei  Bode,  Tristram  Schandy 
2,  61:  Stellen  Sie  sich  eine  kleine  quappelichte  platnasig e  Figur  von 
einem  Doctor  Slop  vor.  Plattnasicht  findet  sich  schon  bei  Schottel 
347*.  Plattschnur  (im  Gegensatz  zur  rundgeflochtenen  Schnur)  ist 
heute  ein  bei  Schneidern,  Schneiderinnen  und  Posamentierern  gewöhn- 
liches Wort,  das  aber  in  den  Wörterbüchern  vor  Sanders  nicht  vor- 
kommt. Sanders  bietet  auch  die  entsprechende  Plattlitze.  Plätt- 
stein als  Stellvertreter  des  gewöhnlich  eisernen  Plättbolzens  haben 
wir  bei  Jean  Paul,  Quintus  Fixlein  60,  Hempel  (Werke  Bd.  3):  Sie 
konnte  vor  Vergnügen  den  Plättstein  nicht  in  die  Plätte  schütteln. 
Platz  fehlt  als  Übersetzung  des  lat.  locus^Stelle  in  einem 
Buche;  vgl.  Belustigungen  des  Verstandes  und  Witzes  1,  S.  23 
(1741):  Daß  diese  gelehrten  Helden  an  der  Poesie  und  Beredsamkeit  einen 
Geschmack  finden  sollten^  weil  sie  große  Plätze  aus  den  alten  Dichtern 
und  Rednern  ausioendig  können,  das  wäre  falsch  geschlossen.  Daß  diese 
Übersetzung  von  locus  wenig  Anklang  gefunden  hat  und  eigentlich 
nur  noch  in  dem  Worte  Gemeinplatz  (früher  auch  mit  Gemeinort 
wechselnd)  fortlebt,  ist  bekannt.  Übrigens  braucht  der  Gemeinplatz 
nicht  unmittelbar  aus  dem  Lateinischen  herzurühren,  sondern  kann 
aus  dem  Holländischen  entnommen  sein ,  da  in  L.  Meijers  Woorden- 
schat'  452  (Amsterd.  1698,  wann  zuerst  erschienen?)  für  loci  com- 
munes  ghemeene  plaatsen  gegeben  wird.  Oder  ist  umgekehrt  der 
holländische  Ausdruck  nur  die  Übersetzung  eines  noch  älteren,  nur 
bisher  nicht  nachgewiesenen  deutschen?  Zu  Platze  wird  nur  in  der 
Wendung    zu    Platze    legen  =  erlegen,    niederstrecken    vor- 


LITTERATUR:  H.  SWEKT,  A   FTISTORY  OF   FA'GLIsn   SOUNDS.         51;^ 

geführt;  doch  sind  mir  aus  norddeutscher  (vielleicht  auch  weiter  ver- 
breiteter) Umgangssprache  die  Verbindungen  etwas  zu  Platze 
bringen  oder  womit  zu  Platze  kommen  geläufig  in  dem  Sinne 
des  lat.  in  medio  proponere,  also  zu  Markte  bringen,  öffent- 
lich mittheilen.  Vgl.  Wb.  4,  1,  90  (unter  fräuleinen)  den  nd. 
Beleg  aus  Fr.  Reuter. 

GROSS-STRELITZ.  A.  GOMBERT. 

Berichtigung  zu  S.  259:  Der  Ausdruck:  Pflich  ts  tuiiden 
in  der  S.  259  angegebenen  Bedeutung  findet  sich  schon  1868  in  der 
amtlichen  Instruction  für  die  Lehrer  an  höheren  Schulen  der  Provinz 
Brandenburg  §.  4:  Die  Zahl  der  Pflichtstunden  heträijt  u.  s.  w. 

Gbt. 

r>ITTEIlATÜR. 


A  History  of  English  Sounds  from  the  earliest  period  with  füll  word-lists. 
By  Henry  Sweet,  M.  A.  Balliol  Coli.,  Oxford;  Hon.  Ph.  D.  Heidelberg. 
Oxford,    Clarendon   Press    1888.   XVI  u.   409    S.    8".    14   eh. 

Als  der  junge  englische  Gelehrte  Henry  Sweet  in  den  Transactions 
der  Londoner  Philological  Society  für  1873 — 74  einen  Aufsatz  von  163  Seiten 
unter  dem  Titel  ..The  History  of  English  Sounds"  erscheinen  ließ,  ahnte 
er  wohl  kaum  den  Erfolg,  den  das  unscheinbare  Schriftchen  haben  sollte, 
das  auch  noch  für  die  English  Dialect  Society  ausgegeben  und  aulierdein 
bald   in   einer   Sonderausgabe  rapid   ausverkauft  wurde. 

In  Deutschland  verdanken  wir  u.  A.  der  Anregung,  eine  Anzeige  des 
Buches  zu  schreiben,  dem  schwerwiegenden  Aufsatz  ten  Brinks  „Zum  eng- 
lischen Vocalismus"  im  19.  Bande  der  Zs.  f.  deutsches  Alt.  und  deutsche 
Litt.    1876   (1875j. 

Seither  hat  die  englische  Philologie  manchen  Schritt  weiter  gethan, 
und  immer  noch  spielte  das  Büchlein  eine  wichtige  Rolle  auch  in  der  lebenden 
Forschung;  doch  auch  Sweet  selbst  war  indessen  nicht  nur  mit,  sondern 
auch  vielfach  bahnbrechend  vorangegangen,  und  dieser  gewaltige  Fortschritt 
in  unserer  Erkenntnis  der  englischen  Sprachgeschichte  tritt  uns  deutlich  aus 
einem  Vergleiche  des  nun  vorliegenden  neuen  Werkes  mit  seinem  ersten 
Entwürfe   entgegen. 

Die  „historische  Grammatik  der  englischen  Sprache",  und  zwar  zunächst 
Laut-  und  Flexionslehre,  hatte  seit  der  vor  mehr  als  einem  Vierteljahrhundert 
erschienenen  bist.  Gramm,  d.  engl.  Spr.  von  C.  Friedr.  Koch  keine  wissen- 
schaftlich befriedigende  Gesammtdarstellung  gefunden;  da.**  Bedürfniß  nach 
einer  solchen  mußte  ein  um  so  größeres  sein,  als  einerseits  den  Germanisten, 
denen  das  Altenglische  (Angelsächsische)  ein  mit  jedem  Jahre  bedeutsameres 
Arbeitsfeld  wurde,  der  weitere  Verlauf  desselben  von  zunehmender  Wichtig- 
keit wurde,  und  andererseits  die  zahllosen  sogenannten  „Neuphilologen"  einer 
wirklich  wissenschaftlichen  Aufhellung  des   Neuenglischen   dringend  bedurften. 


514        LITTEEATUR:  H.  SWEET,  A  HISTORY  OF  ENGLISH  SOUNDS. 

Das  Altenglische  oder  Angelsächsische  wurde  zuerst  im  Jahre 
1882  durch  Sievers  epochemachende  Angel  sächsische  Gram  matik  in 
helleres  Licht  gerückt;  wohl  waren  in  Zeitschriften,  besonders  in  Paul-Braunes 
Beiträgen,  eine  Reihe  grundlegender  Untersuchungen  namentlich  von  Paul  und 
Sievers  selbst  niedergelegt  worden,  die  eine  Menge  Fragen  der  vergleichend- 
germanischen Grammatik  in  wesentlich  neuem  Lichte  erscheinen  ließen.  Die 
Verwerthung  dieses  vielfach  zerstreuten  Materiales  aber  zu  einer  zusammen- 
hängenden Darstellung  des  Angelsächsischen  war  ein  nicht  hoch  genug  anzu- 
schlagendes Verdienst  Sievers',  was  man  aus  den  Wirkungen  auf  die  Arbeiten 
der  Folgezeit  ersehen  konnte.  Von  dem  Standpunkte  der  neuen  Erkenntniß 
des  Altenglischen  mußten  die  Ausblicke  auf  die  darauf  folgenden  Perioden 
der  englischen  Sprachentwicklung  zwar  auch  wesentlich  neue  sein,  doch  war 
für  diese  das  Dunkel  noch  lange  nicht  gelichtet,  und  die  Dinge  lagen  hier 
deshalb  meist  sehr  im  Argen,  weil  viele  Forscher  den  mannigfach  räthsel- 
haften  graphischen  Erscheinungen  kritiklos  gegenüberstanden ,  anstatt  festen 
Gesetzen  lautlicher  Entwicklung  einerseits  und  graphischen  Traditionen  anderer- 
seits nachzuspüren.  So  entstand  vielfach  die  Anschauung,  die  Zwischenstufen 
zwischen  Altenglisch  und  Neuenglisch,  das  Mittelenglische,  seien  ein 
buntes  Chaos,  aus  dem  alles  Mögliche  werden  konnte,  so  entstand  u.  A. 
Stratmanns  Mittelenglische  Grammatik,  so  noch  in  jüngster  Zeit  die  ein- 
schlägigen Partien  in  dem  unglücklichen  Buche  „Encyklopädie  und  Methodo- 
logie der   englischen  Philologie"   von   G.   Körting. 

Daß  das  Mittelenglische  kein  Chaos  von  sprachlichen  Zufällen  und 
Willkürlichkeiten  ist,  zeigte  außer  einigen  feinen  Einzelarbeiten  im  Zusammen- 
hange einer  Gesammtdarstellung  der  Sprache  des  größten  mittelenglischen 
Dichters  ten  Brink  in  seinem  grundlegenden  Werke  über  Chaucers 
Sprache  und  Verskunst,   1884. 

Mit  Sievers  einerseits  und  ten  Brink  andererseits  waren  Ausgangs- 
und Mittelpunkte  geboten,  an  die  die  Einzelforschung  sich  zielbewußt  und 
erfolgreich  anschließen  konnte,  und  die  letzten  Jahre  haben  auch  auf  dem 
Gebiete  des  Mittelenglischen  ganz  andere,  dauernde  Ergebnisse  gebracht  als 
vordem;  namentlich  sei  hier  Lorenz  Morsbachs  trotz  der  mindestens  an- 
fechtbaren Grundanschauung  lehrreiches  Büchlein:  „Über  den  Ursprung  der 
neuenglischen   Schriftsprache"    1888   genannt. 

Wenn  nun  weitgehende  methodische  Einzelarbeit  auf  dem  Gebiete  des 
Mittelenglischen  und  den  verschiedenen  Stufen  des  Neuenglischen  das  drin- 
gendste Erforderniß  für  die  Zukunft  ist,  so  war  eine  Zusammenfassung  der 
lautlichen  Entwicklungsreihen  nach  großen  Gesichtspunkten,  und  die  Dar- 
stellung dieser  selbst  nicht  weniger  ein  Bedürfniß.  Eine  solche  wird  uns  in 
der  vorliegenden  neuen  Bearbeitung  der  „History  of  English  Sounds"  geboten, 
einer  „histor.  Gramm,  d.  engl.  Spr,  erster  Theil",  die  Lautlehre  um- 
fassend, aus  der  begreiflicherweise  eine  Fülle  werthvoller  Streiflichter  auch 
auf  flexivische   Erscheinungen  fallen  muß. 

Die  erste  Auflage  von  1873^ — 74  ist  dem  neuen  Werke  gegenüber  ein 
kühner  Entwurf,  der  nun  nur  mehr  historisches  Interesse  hat;  das  neue 
Werk  ist  ein  abgeschlossenes  Lehrbuch,  das  sowohl  dem  Germanisten 
und  Studierenden  der  englischen  Philologie,  als  auch  dem  Schulmann,  sofern 
er  Lehrer  des  Englischen  ist,   unentbehrlich   sein  wird. 


LITTERATUR:  n.  SWEET.   A  HISTORY  OK  ENGLISH  S0UND8.        515 

Der  Plan  des  Werkes  ist  ein  äußerst  glücklicher,  indem  der  Dar- 
stellung der  einzelnen  englischen  Sprachperioden  einige  Capitel  sprach- 
geschichtlicher Principienlehre  vorangeschickt  werden .  die  Sweet's,  Sievere', 
Paul's  u.  A.  Forschungen  in  der  bei  Sweet  bekannten  klaren  und  einfachen 
Ausdrucksweise  auch  Anfängern  und  Fernerstehenden  näher  bringen  werden. 
Es  umfaßt  diese  Einleitung  folgende  Abschnitte:  l.Phonetics;  2.  Sound- 
Chan  ge,  und  zwar  Internal-Isolative,  InternalCombinative,  Acoustic  Changes, 
External  Changes,  General  Principles;  3.  Origin  of  Speech-Sounds; 
4.  Origin  of  Dialects;  5.  Sound  Representation.  Es  ist  von  diesen 
einleitenden  Cajjiteln  ein  weit  und  tiefgreifender  Einfluß  auf  die  apraeh- 
geschichtlichen  Studien  zu  erwarten,  und  wenn  vielleicht  auch  Manche  jetzt 
glauben  werden,  sie  hätten  all  das  längst  vorher  schon  gewußt,  so  wird  es 
wenigstens  erfreulich  sein,  daß  man  in  künftigen  einschlägigen  Arbeiten 
diese  Principien  verwerthet  finden  wird,  die  vorher  in  der  Regel  nicht 
vorwalteten. 

Nebenbei  bemerkt  wird  es  Vielen  willkommen  sein,  hier  in  Kürze  und 
doch  mit  nöthiger  Vollständigkeit  Sweet's  phonetisches  System  uud  sein 
Organic  Alphabet,  das  im  Verlaufe  des  Buches  beständig  zur  TrauBscription 
verwendet  wird,   dargestellt  zu  finden. 

Den  Inhalt  der  eigentlichen  History  of  English  Sounds  mögen  die 
Überschriften   der  einzelnen  Abschnitte  veranschaulichen. 

Arian  Sounds.  Germanic  Sounds,  kurze,  klare  Übersicht  auf 
Grund  der  neuesten  grammatischen  Forschungen.  Runes.  Old  English 
Sounds,  hierin  die  Sievers'schen  metrischen  Untersuchungen  mitverwerthet. 
Scandinavian  Sounds,  sehr  werthvoU,  doch  leider  nur  vier  Seiten", 
der  Einfluß  des  Skandinavischen  auf  das  Englische  und  zwar  namentlich  das 
Mittelenglische  ist  ja  bekanntlich  noch  eines  der  peinlichsten  Probleme,  deren 
Lösung  immer  dringlicher  wird.  (In  gleicher  Weise  gilt  dies  vom  nieder- 
deutschen Einflüsse,  beziehungsweise  Einflüssen,  die  Sweet  nicht  besonders 
heranzieht,  deren  Bedeutung  aber  namentlich  durch  Skeat  und  ten  Brink 
eindringlichst  nahegelegt  wurde.  Am  besten  sind  wir  bekanntlich  mit  den 
romanischen  Lehnwörtern  daran,  die  im  englischen  Spraeiikörper  am 
leichtesten  als  fremde  An-  und  Einwüchse  erkannt  wurden  und  deren  Durch- 
forschung von  Seite  hervorragender  Romanisten  schon  deshalb  nicht  ver- 
säumt wurde,  weil  die  rührige  romanische  Sprachwissenschaft  ihrer  nicht 
entratben  konnte.  Sweet  geht  nur  nebenbei  auf  die  romanischen  Laute  im 
Englischen  ein,  und  zwar  bei  Besprechung  der  inittelenglischen  Orthographie. 
Soviel  läßt  sich  fi-eilich  für  das  Englische  daraus  nicht  gewinnen,  wie  um- 
gekehrt aus  dem  Englischen  für  das  F"'ranzösische,  doch  wären  einige  wenige 
Seiten  nach  den  trefflichen  Arbeiten  von  ten  Brink,  Sturmfels,  Behrens  ebenso 
leicht  einer  nächsten  Auflage  einzufügen,  als  sie  unentbehrlich  sind.  Die 
bunten  Doppelformen,  in  denen  französische  Lehnwörter  je  nach  Stamm-  oder 
Endungsbetontheit  im  Französischen  ins  Englische  treten,  spiegeln  sich  im 
Mittel-  und  Neuenglischen  zwar  mehr  in  der  Orthographie,  die  sich  auch 
auf  Einheimisches  übertrug,  als  in  der  Aussprache  wieder,  doch  erscheint  mir 
ein  zusammenhängendes  französisch-lautgeschichtliches  Capitel  vor  dem  ortho- 
graphischen wünschenswerth,  zumal  da  ja  Sweet  gerade  die  seltene  G:ihc 
besitzt,   scheinbar  Verwickeltes  in  treffender  Kürze  klarzulegen.   Fälle,  wie  z.  B. 


516        LITTERATÜR:  H.  SWEET,  A  HlbTORY  OF  ENGLISH  SOUNDS. 

revengc  von  den  endungsbetonten  Formen  des  Verbs  gegenüber  dem  frz. 
revanclic  können  gewissermaßen  als  feste  Werthe  übernommen  werden,  nicht 
so  z.B.  die  Resultate  von  frz.  o  vor  und  nach  dem  Tone  u.  A.  m.)  Middle 
English  Sounds.  Hier,  sowie  bei  den  Old  Engl.  Sounds  als  Einleitung: 
Dialects  und  Texts,  Orthography,  Metre  and  Stress,  Qnantity.  Beachtens- 
werth  ist  die  Periodisierung :  1050  —  1150  Old  Transition,  — 1300  Early 
Middle  English,  1300-  Late  Middle  Engl.,  1450—1500  Middle  Transition. 
Dabei  scheidet  Sweet  jene  Gruppe  von  Denkmälern,  für  die  ich  kürzlich 
(in  der  Einleitung  zu  meiner  Ausgabe  der  Winteney -Version  der  Regula 
S.  Benedicti)  den  Ausdruck  „Neuangelsächsisch"  zu  vindi eieren  versuchte, 
treffend  ab:  „such  texts  do  not  represent  any  actual  language''.  Bei  den 
Modern  English  Sounds  tritt  begreiflicherweise  das  dialectische  Moment 
zurück ,  und  auch  eine  Übersicht  der  Denkmäler  macht  der  Aufzählung  der 
Phonetic  Authorities,  der  Orthographisten ,  Orthoepisten  und  Grammatiker 
von  Palsgrave  bis  Sheridan  (nach  Ellis'  großem  Werke  On  Early  English 
Pronunciation)  Platz.  Das  Modern  English,  was  wir  auf  deutsch  meist 
„Neuenglisch"  nennen,  periodisiert  Sweet  folgendermaßen:  1500 — 1600  First 
Modern  English,  1600—1700  Second  Mod.  Engl.,  1700—1800  Third  Mod. 
Engl.,    1800  —  1850   Early  Living  English,    1850—1900  Late  Liv.   Engl. 

Schon  bei  der  Besprechung  der  Middle  English  Sounds  wurden  die 
nordenglischen  Dialecte  zu  Gunsten  der  süd-  und  mittelländischen  zurück- 
gesetzt ;  bei  Sweet,  der  praktisch  und  klar  e  i  n  Ziel  vor  Augen  hat,  handelt 
es  sich  zunächst  darum ,  das  was  wir  heute  englische  Schriftsprache  oder 
besser  Gemeinsprache  nennen ,  geschichtlich  in  seinen  Hauptzügen  zu 
begründen ,  und  so  stehen  für  das  Mittelenglische  die  südenglischen  und 
mittelländischen  Quellen ,  soweit  sie  für  die  Bildung  der  kolvtj  in  Betracht 
kommen,  im  Vordergrunde.  Es  ist  keineswegs  versucht,  die  altenglischen 
Laute  durch  alle  litterarisch  bezeugten  Dialecte  gleichmäßig  zu  verfolgen 
oder,  was  in  diesem  Falle  gleichbedeutend  wäre,  Parallelgrammatiken  der 
einzelnen  Dialecte  zu  liefern.  Für  das  Modern  English  treten  naturgemäß 
die  nordenglischen  Dialecte  gänzlich  zurück,  und  ihr  litterarischer  Reprä- 
sentant, das  sogenannte  „Schottische",  wird  überhaupt  nicht  weiter  berück- 
sichtigt. Nicht  als  Tadel,  sondern  nur  als  Wunsch  für  eine  nächste  Auflage 
des  Buches,  das  doch  bestimmt  ist,  in  Aller  Händen  zu  sein,  sei  dem  Ver- 
fasser nahegelegt,  ein  Capitel  über  das  „Schottische"  anhangsweise  beizu- 
fügen. Das  bahnbrechende,  doch  leider  immer  noch  einzig  dastehende  Werk 
über  die  schottischen  Dialecte,  Murray's  Dialect  of  the  Southern  Counties 
of  Scotland  ist  lange  vergriffen  und  so  selten,  daß  die  Wenigsten  Gelegenheit 
haben ,  sich  über  die  richtige  Sachlage  bezüglich  des  Schottischen  zu  be- 
lehren ,  über  das  die  abenteuerlichsten  Ansichten  noch  nicht  ausgestorben 
sind.  Wenn  nun  aber  auch  das  Nordenglische  zur  Zeit,  wo  es  sich  „Schot- 
tisch" anstatt  ,,Inglis'"  nannte,  viel  mehr  vom  Südenglischen  beeinflußt  wurde 
wie  vorher,  so  sind  dennoch  eine  Reihe  namentlich  orthographischer  Sonder- 
entwickelungen zu  wichtig,  um  von  einer  History  of  English  Sounds  aus- 
geschlossen zu  werden ;  beispielsweise  sei  nur  auf  Eigennamen  wie  Laing, 
Dalziel,   Mackenzie  u.   A.   hingewiesen. 

Living  English  Sounds,  nur  wenige  Seiten,  weil  in  dem  Vorher- 
gehenden  eine  Menge   vorweggenommen,   doch  trefflich  ;  beachtenswerth  dabei 


LITTERATUR:  H.   SWEET,   A   HISTORY  OF  ENGLISH  SOUNDS.        5l7 

u.  A.   die  Andeutungen   über  In^el-stress,   und   unter  Quantity  der  fiuantitativc 
Ausgleich   zweier   Silben,  wie  in   bcttcr. 

Es  folgen  nun:  First  Word-List  (OldMiddle-Modern  und  Second- 
Word-List  (Living-Old).  Erstere  Liste  enthält  2143  (gegen  17f)l  der  ersten 
Auflage)  Wörter,  nach  den  altenglischen  Vocalen  angeordnet,  in  alteuglischer, 
bez.  skandinavischer  Form  mit  ihren  mittelenglischen  und  ncuenglischen  Ent- 
sprechungen, die  ueuenglischen  in  moderner  Orthographie  und  daneben  in 
phonetischer  Transscriptiou.  Hiebei  sind  die  Ansätze  nicht  etwa  —  was  bei 
der  ersten  Auflage  für  das  Mittelenglische  mit  Recht  beanstandet  wurde  — 
bloü  theoretisch  construiert,  sondern  reichlich  für  alle  Perioden  mit  Belegen 
versehen.  Man  kann  da  wieder  sehen,  was  Sweet  seit  der  ersten  Auflage 
gearbeitet  haben  muß.  Die  Anlage  ist  außerordentlich  praktisch,  wie  .Teder 
aus  dem  Gebrauche,  der  durch  den  Index  to  first  Word-List  wesentlich  er- 
leichtert wird,  ersehen  wird.  Mit  einem  Blicke  sind  die  lautlichen  und  gra- 
phischen Entsprechungen  klar  zu  übersehen,  und  die  vierte  Colnmne,  die 
phonetische  Transscription  des  Modernenglischen ,  wird  sich  nicht  nur  für 
sprachgeschichtliche  Zwecke,  sondern  auch  allen  denen,  die  sich  über  die 
moderne  Aussprache  belehren  wollen ,  nützlich  erweisen.  Mit  unbarmherziger 
Consequenz  werden  nämlich  die  Wörter  dargestellt,  wie  sie  wirklich 
lauten,  und  so  enthält  diese  Liste  thatsächlich  das  beste  und  erste  phone- 
tische Pronouncing  dictionary,  soweit  es  sich  um  „the  majority  of 
the  words  of  Old  English  or  Scandinavian  origin  still  in  common  use"  handelt. 
Ebenso  dankenswerth  ist  die  Second  Word- List,  die,  den  umgekehrten 
Weg  einschlagend,  die  neuenglischen  Wörter  voranstellend,  drei  Coluninen 
enthält:  die  phonetische  Transscription,  die  moderne  Orthographie  und  die 
altenglische  Entsprechung  (das  Mittelenglische  und  die  Belege  brauchten  hier 
nicht  wiederholt  zu  werden).  Die  Anordnung  geschieht  hier  nach  den  Vocalen 
der   lebenden   Aussprache. 

Zum  Schlüsse  finden  sich  Tables  über  L  Sound  Change,  IL  Form  of 
Letters,  III.  English  Vowels  (Alt-,  Mittel-,  Neuenglisch),  ebenso  übersichtlicli 
IV.  Old-English  Dialects,  V.  Middle-Engiish  Dialects  (doch  nur  Südlich. 
Ostmittelländisch,  Kentisch,  Chaucer,  dem  Altenglischen  gegenübergestellt, 
entsprechend  der  oben  angedeuteten  Behandlungsweise  im  Texte),  VI.  Modern 
English   Vowels.  —  Contractions. 

Dies  der  Inhalt  des  in  seiner  Behandlungsweise  durchaus  originellen 
Werkes.  Es  ist  echt  englisch,  nicht  nur  in  der  energisch  und  praktisch 
auf  die  Hauptsache  losgehenden  Methode,  sondern  auch  in  der  etwas  an- 
fechtbaren Kühnheit,  nicht  viel  links  noch  rechts  zu  sehen,  sondern  aus 
dem  Ganzen  selbständig  zu  gestalten.  Die  hauptsächlichsten  Leistungen 
Anderer,  besonders  aber  Derer,  die  ihm  congenial  erschienen,  hat  Sweet 
verwerthet,  wie  er  ja  auch  zum  Schlüsse  der  Vorrede  seine  bescheidene  Dank- 
barkeit gegenüber  fremder  Forschung  in  die  schöne  Huldigung  ausklingen 
läßt:  „If  I  had  to  dedicate  this  book,  it  would  receive  on  its  title-page  the 
four  names  of  Bell,  Ellis,  Paul,  and  Sievers."  Ja,  man  wird  sieh  oft 
fragen  müssen,  ob  man  da  und  dort  einen  Paul'schen  oder  Sweet'schen  Ge- 
danken wieder  zu  erkennen  hat.  Im  Einzelnen  aber  wird  mau  gewiß  Manches 
vermissen ,  was  anderswo  schon  gesagt  worden  ist.  Freilieh  dürfte  Niemand 
es   Sweet    verargen,    wenn   er  über    die    zahllosen    deutschen  Einzelarbeiteu 


518        LITTERATUR:  H.  SWEET,  A  HISTORY  OF  ENGLISH  SOUNDS. 

abermals  wie  in  seiner  Vorrede  zu  den  Oldest  English  Texts  in  Unmuth 
ausgebrochen  wäre,  denn  die  Art,  wie  dieselben  in  die  Öflfentlichkeit  dringen 
oder  vielmehr  häufig  lange  verborgen  bleiben,  ist  eine  unsägliche  Misere. 
Am  ehesten  sollten  die  Docenten  an  deutschen  Universitäten  doch  in  der 
Lage  sein,  über  wirklich  Erschienenes  oder  im  Erscheinen  begriffenes  orien- 
tiert zu  sein.  Doch  wie  es  damit  steht,  dürfte  bekannt  sein.  Wie  viele 
Specialarbeiten  müssen,  nahe  der  Vollendung,  aufgegeben  werden,  weil 
plötzlich  das  gleiche  Thema  anderswo  bearbeitet  erscheint!  Wie  viel  ver- 
lorene Arbeit  und  Verdruß  wäre  alljährlich  da  zu  ersparen,  wo  doch  das 
Arbeitsfeld  noch  genügend  Raum  für  alle  hat!  Wenn  dies  an  deutschen 
Universitäten  der  Fall  ist,  wie  mag  es  dann  Dr.  Sweet  in  Bath  damit  er- 
gehen! So  darf  man  sich  nicht  wundern,  wenn  er  endlich  auf  diese  Einzel- 
heiten verzichtete  und  entschlossen  seinen  eigenen  Weg  ging.  Freilich,  was 
Sweet  ten  Brink  verdankt,  wird  nicht  gesagt,  und  wo  er  dessen  Arbeiten 
nicht  verwerthet,  ist  es  für  sein  Buch   gewiß   nicht  von   Vortheil. 

Sweet  ist  durch  und  durch  Engländer  und  mit  Bewußtsein ;  aus  seiner 
Eigenart  heraus  wollte  er  seine  History  of  English  Sounds  darstellen  ,  und 
wer  sich  der  daraus  erwachsenden  Vortheile  erfreut,  muß  sich  eben  auch 
damit  zufrieden  geben.  Er  hat  einmal  bei  Besprechung  von  Joh.  Storm's 
englischer  Philologie  (in  den  Gott.  Gel.  Anz.  1881,  St.  44,  p.  1407)  diesen 
Gelehrten  folgendermaßen  charakterisiert:  „Storm's  Geist  ist  vor  Allem 
praktisch  und  conservativ;  auch  darin  ist  er  echt  englisch,  daß  er  sich 
öfter  scheut,  seine  eigenen  Principien  vollständig  durchzuführen." 
Es  ist  merkwürdig,  wie  diese  Charakteristik  auf  Sweet  selbst  anzuwenden 
ist,  vor  Allem  eine  Scheu,  alle  Consequenzen  seiner  Aufstellungen  selbst 
zu  ziehen. 

Wir  Deutsche,  die  wir  leicht  in  den  umgekehrten  Fehler  verfallen, 
Theorien  und  Systeme  aufzustellen,  ehe  uns  die  Beobachtung  der  Thatsachen 
die  volle  Berechtigung  dazu  gibt,  werden  in  Sweet's  Buch  die  zusammen- 
hängende Darstellung  mancher  Lautgesetze  vermissen,  mit  denen  Sweet  an 
verschiedenen  Stellen  operierte ,  ohne  ihren  Umfang  fest  abzugrenzen.  So 
wäre  es  beispielsweise  von  Interesse,  über  die  Frage  der  Vocaldehnung  und 
Vocalverkürzung  Sweet's  Ansicht  im  Z  us  ammenhange  zuhören.  W.  Fick's  i 
Aufsatz:  Vocalverkürzung  in  englischen  Wörtern  germanischen  Ursprungs 
(Engl.  Studien  VIII,  502 — 510),  Ferd.  Brück's  Dissertation  „Die  Consonanten- 
doppelung  in  den  mittelenglischen  Comparativen  und  Superlativen  (Bonn  1886) 
haben  werthvolle  Zusammenstellungen  ergeben;  die  Hauptschwierigkeit  liegt 
hiebei  freilich  in   der  Chronologisierung  der  Lautgesetze. 

Oder  die  wichtige  Erscheinung,  die  Sweet  group-lengthening  nennt, 
namentlich  die  Längungen  und  späteren  Kürzungen  vor  nd,  ng.  Sweet  berührt 
diese  Punkte  an  verschiedenen  Stellen  verstreut,  ohne  daß  man  ein  klares 
Bild  darüber  gewinnt,  welche  Vocale  vor  nd  und  ng  gelängt  wurden,  welche 
gekürzt  wurden,  und  in  welche  Zeit  die  einzelnen  Erscheinungen  zu  setzen  sind. 
In  §.  694  erklärt  er  ö  in  ^png,  hönd,  comb  entstanden  aus  group-lengthened 
Angl.  ä;  warum  haben  wir  aber  heute  hand.  land,  sand,  lamh  u.  s.  w.  gegen- 
über strong,  long,  wrong,  comb?  Die  lebend-englische  Lautform,  die  einzige 
über  die  wir  mit  völliger  Sicherheit  urtheilen  können,  bietet,  als  die  Resul- 
tierende   der    verschiedensten   Kräfte,     meist    den    sichersten   Ausgangspunkt 


LITTERATUR:  G.  SWEET,  A  HISTORY  OF  ENGLISH  SOUNDS.        519 

besonders  iu  Fällen  wie  der  vorliegende,  in  denen  heute  der  Unterschied 
zwischen  a  und  0  weit  größer  ist  als  zu  einer  Zeit,  wo  a  noch  a  lautete. 
Der  im  Wesentlichen  durchgeführte  Gegensatz  von  Jand  :  long  u.  s.  w.  dürfte 
doch  wohl  auf  alte  Quantitätsunterschiede  zurückgehen,  indem  die  «-Formen 
die  Kürze ,  die  o-Formen  die  Länge  wiederspiegeln ;  warum  wir  dement- 
sprechend aber  z.  B.  lamh  auf  kurze  oder  verkürzte  Vocalform  zurückzuführen 
haben,  ergibt  sich  aus  der  Analogie  der  dem  Verkürzungsgesetze  unter- 
worfenen Composita  (Deminutiva)  wie  lamhkin,  lambswool  u.  a. ,  wogegen 
comb  zugleich  als  Verb  dem  Einfluß  etwaiger  Compositionen  widerstehen 
konnte  und  tvonib  auch  kaum  viel  componiert  erscheinen  dürfte.  Aus  dem 
Verkürzungsgesetze  in  Compositis  erklärt  sich  ebenso  havg  {hangman  u.  a.) 
statt  hong ;  nicht  hieher  gehört  trotz  dem  Anscheine  seines  Zusammenhanges 
mit  band  das  Wort  bond,  bondman  a.  a.  m. ,  denn  dies  ist  etymologisch 
davon   zu   scheiden. 

FHir  die  Frage,  wie  lange  die  Lautgruppe  -cnd  lang  war,  könnte  das  Ver- 
bum  AE  iTenan,  NE  Icnd  vielleicht  einen  branchbaren  Wink  geben,  ten  Brink 
(Chaucers  Sprache  und  Vk.  §.  50)  erwähnt  bei  Besprechung  AE  schw.  Verba 
mit  a-  im  Stammvocal,  deren  Prät.  und  Particip.  neben  seltenerem  e  ein  a 
zeigen,  ..nur  mente,  Icnte,  weil  in  der  ersten  Hälfte  der  ME  Periode 
7)1  ende,  lende  mit  langem  oder  doch  schwebendem  e  galt."  Aus  diesem 
Jende,  hnäe  muß  sich  mit  Nothwendigkeit  ergeben,  daß  NE  lend  nicht 
nach  Analogie  der  Präterita  sphite,  ^vente ,  btnte ,  sente  oder  des  Partie. 
ent  sich  zu  seinem  Icnte  einen  Infinitiv  lende  bilden  konnte,  wenn  nicht 
auch  noch  nach  der  ersten  Hälfte  der  ME  Periode  die  Infinitive  spende, 
iven  e,  hende,  sende,  ende  dem  Inf.  lene  auf  halbem  Wege  entgegen- 
gei-o.nmen  wären,  d.  h.  also  langes  e  bewahrt  hätten.  Nur  nach  langem  be- 
tonten Vocal  wird  nämlich  die  Lautverbindung  -nd  unfest,  d.  h.  wechselt  in 
Folge  flexivischer  Einflüsse  (s  des  Genitivs ,  des  Plurals,  der  3.  Sing.  Präs. 
bei  Verben  u.  ähnl.)  mit  /»,  wie  schon  fi-üh  ME  in  spene  für  spende,  Owl 
a.  Night.  1549,  u.  a.  m.  und  in  NE  tine,  tvoodbine ,  line  :  Urne,  Imvn  und 
hind,  round  (Verb,  neben  rotin),  sound,  astound  gown{d)  u.  a.  m.  Unbetontes 
and  oder  Composita  wie  handkerchief,  brannew  zählen  natürlich  nicht  mit. 
Es  konnte  also  ein  lene  nur  an  Formen  wie  wände,  hende,  ende  sich  an- 
schließen ;  es  würde  demnach  nicht,  wie  früher  meist  behauptet  wurde,  lend 
sein  d  und  damit  seine  Kürze  seinem  Prät.  und  Partie,  lent  verdanken,  welches 
nach  bent,  went  u.  a.  den  Infinitiv  mit  einem  gewaltigen  Sprunge  von  lene 
zu  lende  gemacht  haben  müßte,  sondern  umgekehrt  der  Inf.  len{d)e ,  nach- 
dem er  einmal  sich  hende,  wende  u.  a.  angeschlossen,  mit  weit  weniger 
Schwierigkeit  sein  ünt  zu  lent  angeglichen  haben.  Wenn  dies  richtig  ist, 
und  da  sich  Und  neben  dem  älteren  lene  erst  recht  spät  festzusetzen  scheint 
—  nach  Stratmann  und  K.  Oliphant,  The  New  English,  erst  im  Promptorium 
Parvulorum  um  1440  —  würde  die  ganze  Lautgruppe  -end  noch  um  diese 
Zeit  als  -end  anzusetzen  sein,  während  man  sich  meist  mit  dem  Hinweis  auf 
einige  Doppelschreibungen    (eende)  bei  Wiclif  begnügte. 

Ich  muß  gestehen,  daß  mir  die  Fragen  nach  dem  Umfang  und  den 
Zeiten  der  Längungen  und  späteren  Verkürzungen  vor  Consonantenverbin- 
dungen  .  über  die  ich  noch  manche  Vermuthungen  und  Zweifel  vorbringen 
könnte,   die   aber  besser  diese  Anzeige  nicht  belasten,    noch   sehr  der   syste- 


520     E.  STEINMEYER,  ÜBER  EINIGE  EPITHETA  D.  MHD.  POESIE-REDE  etc, 

matischen  Untersuchung  bedürfen.  Wie  weit  Sweet  selbst  darüber  zu  festen 
Ergebnissen  gelangt  ist,  läßt  sich  aus  seinem  Buche  aus  den  genannten 
Gründen  durchaus  nicht  erkennen.  Es  liegt  mir  auch  ferne,  ihm  daraus  einen 
Vorwurf  zu  machen ,  denn  sein  Buch  enthält  so  massenhafte  Anregungen 
und  kurze  Hinweise ,  die  zur  Einzelarbeit  anreizen ,  daß  man  dafür  allein 
dankbar  sein  muß.  Welche  Streiflichter  fallen  nicht  auf  die  Flexionslehre! 
So  sei  nur  beispielsweise  darauf  hingewiesen,  daß  Sweet's  feine  Functions- 
theorie  der  stimmlosen  und  stimmhaften  Consonanten  als  starke  und  schwache 
Formen  eine  Reihe  von  flexivischen  Erscheinungen  naturgemäß  erklärt ;  so 
haben  wir  auch  im  Obigen  die  t  in  lent^  tvent  u.  a.  aufzufassen.  Vgl.  Sweet 
§.  45,   754. 

Auf  weitere  Einzelheiten  einzugehen,  gestattet  der  Raum  hier  nicht,  und 
es  ist  auch  hier  nicht  nöthig.  Mit  freudiger  Dankbarkeit  sei  das  Buch  dem 
Sprachforscher  und  Schulmanne  empfohlen,  nicht  weniger  den  Studenten, 
denen  allen  es  hoffentlich  gar  viel  des  „tedious  toil  and  groping  after  light", 
das   der  berühmte  Verfasser  daran  gewendet,   ersparen  wird. 

FREIBURG  i.  Br.,  Januar  1889.  A.  SCHRÖER. 


Elias  Steinmeyer,  Über  einige  Epitheta  der  mhd.  Poesie.  Rede  beim  An- 
tritt des  Prorectorats.     Erlangen   1889.   '20   S.   4. 

Eine  trotz  ihres  geringen  Umfangs  sehr  lehrreiche  und  anregende 
Abhandlung.  St.  zeigt,  daß  manche  Adjective  in  der  mhd.  Dichtung  zn 
gewissen  Zeiten  vornehmlich  im  Reime  vorkommen.  Sie  gehören  somit  nicht 
dem  lebendigen  Sprachschatze  des  betreffenden  Dichters  an,  sondern  **iind 
entweder  im  Veralten  oder  erst  im  Aufkommen  begi'iffen.  Die  erstere  (.  ..sse 
führt  zur  Erörterung  der  sogenannten  ixnhöfischen  Wörter,  die  St.  im  Ganzen 
wie  Bötticher  beurtheilt  (Germ.  XXI,  27  7).  Von  Vertretern  der  zweiten  Classe 
behandelt  St.  hauptsächlich  die  Adjectiva  idar,  kluoc,  icert,  gehkire.  Er  macht 
es  wahrscheinlich,  daß  sie  aus  dem  Md.  in  den  oberdeutschen  Sprachschatz 
eingedrungen,   und   daß  insbesondere  Wolfram   den  Vermittler  gespielt. 

Warum  wird  Veldekes  Dichtung  immer  wieder  als  Eneit  citiert,  während 
sie  doch  Eneide  hieß   (vgl.  v.   13510  und  meine  Einl.   S.   88)? 

GIESSEN,   den  .31.  December  1889.  O.  BEHAGHEL. 


Mittheilung. 

Die  Fortführung  von  Bartsch's  Bibliographie  durch   Dr.  Gustav  Ehris- 
mann   wird  im  ersten  Hefte  des  nächsten  Jahrgangs  ihren  Anfang  nehmen. 


I 


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2 .  rtb   1^  lyoö 


PF 
3003 


Germania 


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