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Full text of "Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie"

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Gesammelte  Aufsätze 


zur 


Religionssoziologie 


von 


Max  Weber 


III 


Das  antike  Judentum 


o 


^^    ,  V  7 


Tübingen 

Verlag  von  J.  C.  B.  Mohr  (Paul  Siebeck) 
1921 


Alle    Rechte    vorbehalten. 


Druck  von  H.  Laiipp  jr  in  Tübingen. 


ELSE  JAFFE-RICHTHOFEN 

zugeeignet. 


n 


Vorwort  zum  dritten  Band. 

Der  Verfasser  hat  die  im  ersten  Band  dieser  Schriften  zu- 
sammengefaßten Aufsätze  noch  überarbeitet  und  namentlich 
die  Abhandlung  über  die  chinesischen  Religionsformen  erheb- 
lich ergänzen  können.  Die  im  zweiten  und  dritten  Band  ent- 
haltenen Schriften  sind  dagegen  fast  unverändert  wie  in  der 
ersten  Fassung  geblieben.  Die  Vollendung  dieses  Werkes  war 
dem  Verfasser  nicht  vergönnt.  Er  wollte  das  antike  Juden- 
tum noch  durch  die  Analyse  der  Psalmen  und  des  Buches  Hiob 
ergänzen  und.  dann  das  talmudische  Judentum  darstellen.  Ein 
fertiger  Abschnitt  über  das  Pharisäertum,  der  dazu  überleitet, 
fand  sich  im  Nachlaß  und  ist  diesem  Bande  als  Nachtrag  bei- 
gefügt. Dann  sollten  Abhandlungen  über  das  Früh  Christentum 
und  den  Islam  den  Kreis  schließen.  Die  Vorarbeiten  dafür 
waren  längst  gemacht. 

Max  Weber,  zu  dessen  Wesen  die  souveräne  und  ent- 
sagungsvolle Gelassenheit  gegenüber  dem  eignen  persönlichen 
Schicksal  gehörte,  würde  vielleicht  auch  jetzt,  wie  häufig  früher, 
sagen : 

»Was  ich  nicht  mache,  machen  andere.« 

München,    Oktober  1920. 

Marianne  Weber. 


vir 


Inhaltsübersicht 


Seite 


Vorwort  zum  dritten  Band V 

Die  Wirtschaftsethik  der  W^eltreligionen. 

Das  antike  Judentum i — 400 

I.  Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe  i — 280 

Vorbemerkung:  das  soziologische  Problem  der  jüdischen  Reli- 
gionsgeschichte I.  —  Allgemeingeschichtliche  und  klimatische  Be- 
dingungen 8.  —  Die  Beduinen  13.  —  Die  Städte  und  die  gibbo- 
rim  16.  —  Die  israelitischen  Bauern  27.  —  Die  gerira  und  die 
Erzväterethik  34.  —  Das  Sozialrecht  der  israelitischen  Rechts- 
sammlungen 76.  —  Die  Berith  81.  —  Der  Jahwebund  und  seine 
Organe  86.  —  Heiliger  Krieg,  Beschneidung,  Nasiräer  und  Ne- 
bijim  99.  —  Rezeption  und  Charakter  des  Bundeskriegsgottes 
126.  —  Die  nicht  jahwistischen  Kulte   149.  —  Der  Sabbat   159. 

—  Baal  und  Jahwe.  Die  Idole  und  die  Lade  165.  —  Opfer 
und  Sühne  173.  —  Die  Leviten  und  die  Thora  181.  —  Die  Ent- 
faltung des  Priestertums  und  das  Kultmonopol  von  Jerusalem 
186.  —  Der  Kampf  des  Jahwismus  gegen  die  Orgiastik  200.  — 
Die  israelitischen  Intellektuellen   und    die    Nachbarkulturen  207. 

—  Magie  und  Ethik  233.  —  Mythologema  und  Eschatologien 
240.  —  Die  vorexilische  Ethik  in  ihren  Beziehungen  zu  der 
Ethik  der  Nachbarkulturen  250. 

II.  Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes  .  .  281 — 400 
Die  vorexilische  Prophetie.  Politische  Orientierung  der  vor- 
exilischen  Prophetie  282.  —  Psychologische  und  soziologische 
Eigenart  der  Schriftpropheten  292.  —  Ethik  und  Theodizee  der 
Propheten  314.  —  Eschatologie  und  Propheten  336  —  Die  Ent- 
wicklung der  rituellen  Absonderung  und  der  Dualismus  der 
Innen-  und  Außenmoral  351.  —  Das  Exil.  Hesekiel  und 
Deuterojesaja  370.  —  Die  Priester  und  die  konfessionelle  Re- 
stauration nach  dem  Exil  397. 

Nachtrag. 

Die  Pharisäer 401 — 442 

Der  Pharisäismus  als  Sektenreligiosität  401.  —  Die  Rabbinen 
408.  —  Lehre  und  Ethik  des  pharisäischen  Judentums  417.  — 
Der  Essenismus,  sein  Verhältnis  zur  Lehre  Jesu  423.  —  Zu- 
nehmende rituelle  Absonderung  der  Juden  434.  —  Proselytismus 
in  der  Diaspora  436.  —  Propaganda  der  christlichen  Apostel  439. 


Die  Wirtschaftsethik  der  Weltreligionen. 

Das  antike  Judentum*). 

I.     Die    israelitische    Eidgenossenschaft    und    Jahwe    S.  i. 

—  Vorbemerkung:  das  soziologische  Problem  der  jüdischen  Religionsgeschichte 
S.  I.  —  Allgemeingeschichtliche  und  klimatische  Bedingungen  S.  8.  —  Die 
Beduinen  S.  13.  —  Die  Städte  und  die  gibborim  S.  16.  —  Die  israelitischen 
Bauern  S.  27.  —  Die  gerim  und  die  Erzväterethik  S.  34.  —  Das  Sozialrecht  der 
israelitischen  Rechtssammlungen  S.  76.  —  Die  Berith  S.  81.  —  Der  Jahwebund 
und  seine  Organe  S.  86.  —  Heiliger  Krieg,  Beschneidung,  Nasiräer  und  Nebijim 
S.  99.  —  Rezeption  und  Charakter  des  Bundeskriegsgottes  S.  126.  —  Die  nicht 
jahwistischen  Kulte  S.  149.  —  Der  Sabbat  S.  159.  —  Baal  und  Jahwe.  Die  Idole 
und  die  Lade  S.  165.  —  Opfer  und  Sühne  S.  173.  —  Die  Leviten  und  die  Thora 
S.  181.  —  Die  Entfaltung  des  Priestertums  und  das  Kultmonopol  von  Jerusalem 
S.  186.  —  Der  Kampf  des  Jahwismus  gegen  die  Orgiastik,  S.  200.  —  Die  israeliti- 
schen Intellektuellen  und  die  Nachbarkulturen  S.  207.  —  Magie  und  Ethik  S.  233. 

—  Mythologema  und  Eschatologien  S.  240.  —  Die  vorexilische  Ethik  in  ihren  Be- 
ziehungen zu  der  Ethik  der  Nachbarkulturen  S.   250. 

I. 

Das   eigentümliche   religionsgeschichtlich-soziologische   Pro- 
blem des  Judentums  läßt  sich  weitaus  am  besten  aus  der  Verglei- 

*)  Die  Relip[ion  Israels  und  des  Judentums  ist  Gegenstand  einer  Literatur, 
deren  wirkliche  Beherrschung  mehr  als  die  Arbeit  eines  Menschenlebens  erfor- 
dert. Vor  allem  auch,  weil  sie  qualitativ  überaus  hoch  steht.  Für  die  altisraeli- 
tische Religion  ist  dabei  die  moderne  protestantische  Forschung,  insbesondere 
die  deutsche,  anerkanntermaßen  führend  gewesen  und  bis  heute  geblieben. 
Für  das  talmudische  Judentum  ist  die  bedeutende  Ueberlegenheit  der  jüdischen 
Forschung  im  ganzen  nicht  zweifelhaft.  Wenn  hier  eine  Darstellung  der  für  un- 
sere Problemstellung  wichtigen  Seiten  der  Entwicklung  versucht  wird,  so  müs- 
sen die  Hoffnungen,  dabei  selbst  irgend  etwas  Wesentliches  zur  Förderung  der 
Erörterung  beitragen  zu  können,  von  vornherein  auf  ein  äußerst  bescheidenes 
Maß  herabgestimmt  werden.  Allein  abgesehen  davon,  daß  sich  an  der  Hand  des 
Quellenmatcrials  hie  und  da  auch  jetzt  vielleicht  noch  manche  Tatsachen  in 
der  Art  der  Betonung  anders  einordnen  lassen,  als  es  zu  geschehen  pflegt,  ist 
naturgemäß  auch  die  Fragestellung  in  Einigen  Punkten  eine  etwas  andere  als, 
Max    Weber,   Religionssoziologie  III.  I 


2  Das  antike  Judentum. 

chung  mit  der  indischen  Kastenordnung  verstehen.    Denn  was 
waren,  soziologisch  angesehen,  die  Juden  ?   EinPariavolk. 


berechtigter-weise,  bei  den  alttestamentlichen  Forschern.  Eine  wirkliche  Schä- 
digung hat  bisher  die  rein  historische  Betrachtung  hier,  wie  überall,  wo  das  gleiche 
der  Fall  ist,  nur  durch  das  Hineintragen  von  Werturteilen  in  die  rein  objektive 
Analyse  erlitten.  Fragen  wie  die:  ob  die  mosaische  Gotteskonzeption  oder  die 
mosaische  Ethik  (gesetzt,  wir  könnten  ihre  Inhalte  eindeutig  feststellen)  »höher« 
stehen  als  die  der  Umwelt,  kann  jedenfalls  eine  rein  empirische,  historische  oder 
soziologische,  Disziplin  nicht  beantworten.  Sie  sind  nur  von  gegebenen  reli- 
giösen Prämissen  aus  überhaupt  aufzuwerfen.  Ein  nciht  ganz  unerheblicher  Teil 
auch  der  rein  empirischen  Arbeit  an  den  Problemen  der  israelitischen  Religions- 
geschichte aber  ist  in  der  Methode  der  Behandlung  dadurch  stark  beeinflußt. 
Die  Frage  kann  natürlich  so  gestellt  werden:  ob  bestimmte  israelitische  Kon- 
zeptionen I.  gemessen  an  den  sonst  in  der  Entwicklung  der  Religionen  zu  finden- 
den Stufenfolgen  mehr  oder  weniger  altertümlich  (»primitiv«),  oder  2.  mehr  oder 
weniger  intellektualisiert  und  (im  Sinn  des  Abstreifens  magischer  Vorstellungen) 
rationalisiert,  oder  3.  mehr  oder  weniger  einheitlich  systematisiert,  oder  4.  mehr 
oder  weniger  gesinnungsethisch  gewendet  (sublimiert)  erscheinen  als  die  ent- 
sprechenden Konzeptionen  der  Umwelt.  Es  können  die  Anforderungen,  welche 
z.  B.  die  dekalogische  Ethik  stellt,  mit  denen  andrer  entsprechender  Gebilde 
verglichen  und,  soweit  beide  im  einzelnen  unmittelbar  parallel  laufen,  festge- 
stellt werden,  welche  Anforderungen  dort  fehlen,  die  anderwärts  gestellt  sind  und 
umgekehrt.  Ebenso  kann  die  Gotteskonzeption  und  die  Art  der  religiösen  Be- 
ziehung zum  Gott  auf  den  Grad  des  Universalismus,  der  Abstreifung  anthro- 
pomorpher  Züge  usw.  bei  der  ersteren,  der  Vereinheitlichung  und  gesinnungs- 
mäßigen Wendung  bei  der  letzteren  geprüft  werden.  Dabei  ergibt  sich  z.  B.  leicht, 
daß  die  israelitische  Gotteskonzeption  weniger  universalistisch  und  anthio- 
pomorpher  ist  als  die  ältere  indische  und  daß  die  dekalogische  Ethik  in 
wichtigen  Anforderungen  nicht  nur  gegenüber  der  indischen  (vor  allem  der 
jainis tischen)  und  zarathustrischen,  sondern  auch  gegenüber  der  ägyptischen, 
bescheidener  ist,  daß  ferner  gewisse  zentrale  Probleme  (z.B.  die  der  Theodizee) 
in  der  israelitischen,  gerade  der  prophetischen,  Religiosität  nur  in  einer  relativ 
höchst  »primitiven«  Form  auftreten.  Aber  mit  schlechthin  unbestrittenem 
Recht  würde  sich  ein  gläubiger  Jude  (oder  Christ)  dagegen  entschieden  verwahren; 
daß  damit  auch  nur  das  allergeringste  über  den  religiösen  »Wert«  jener  Konzep- 
tionen ausgemacht  sei.  Jede  rein  empirische  Arbeit  behandelt  selbstverständlich 
die  Tatsachen  und  Urkunden  der  israelitisch-jüdisch-christlichen  Religionsent- 
wicklung ganz  genau  so  wie  die  irgendeiner  anderen,  sucht  die  Urkunden  zu 
interpretieren  und  die  Tatsachen  zu  erklären  nach  schlechthin  den  gleichen 
Grundsätzen  wie  jene  andern,  weiß  daher -von  »Wundern«  und  »Offenbarungen 3 
hier  so  wenig  etwas  wie  dort.  Aber  im  einen  wie  im  anderen  Fall  ist  es  gleich  aus- 
geschlossen, daß  sie  irgend  jemandem  verwehren  wollte  oder  auch  nur  könnte, 
die  Tatsachen,  welche  sie  empirisch,  so  weit  dies  nach  Lage  der  Quellen  möglich 
ist,  zu  erklären  sucht,  als  »Offenbarungen«  zu    bew;erten. 

Alle  alttestamentliche  Arbeit  fußt  heute,  auch  wo  sie  noch  so  weit  von 
ihm  abweicht,  auf  den  großartigen  Arbeiten  J.  Wellhausen  s  (den  »Pro- 
legomena  zur  Geschichte  Israels«,  der  »Israelitischen  und  jüdischen  Geschichte« 
und  von  den  andern  Arbeiten  vor  allem  der  »Komposition  des  Hexateuch«), 
der  seinerseits  die  seit  de  Wette,  Vatke,  Graf  nie  wieder  verlassenen,  von 
Dillmann,  Reuß  u.  a.  fortgeführten  Methoden  zu  höchster  systematischer  Vollen- 
dung brachte  und  virtuos  handhabte.  Seine  zentrale  Vorstellung  von  der  Art 
der  Entwicklung  der  jüdischen  Religion  dürfte  wohl  mit  dem  Ausdruck  »immanent 


I.     Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  ^ 

Das  heißt,  wie  wir  aus  Indien  wissen :  ein  rituell,   formell  oder 
faktisch,  von  der  sozialen  Umwelt  geschiedenes  Gastvolk.  Alle  we- 


evolutionistisch«  am  ehesten  zu  kennzeichnen  sein.  Die  eigenen,  inneren  Ent- 
wicklungstendenzen der  Jahwereligion  bestimmen,  wenn  auch  natürlich  unter 
dem  Einfluß  der  allgemeinen  Schicksale  des  Volks,  den  Gang  der  Entwicklung. 
Die  auffallende  Leidenschaftlichkeit,  mit  welcher  er  sich  gegen  die  glänzende 
Arbeit  Ed.  Meyers  (Die  Entstehung  des  Judentums  Halle  i^c6)  wehrte, 
obwohl  dieser  Schriftsteller  ihm  in  hohem  Maße  gerecht  geworden  ist,  erklärt 
sich  aus  dieser  letztlich  doch  wohl  religiös  bedingten  Prämisse.  Denn  die  Arbeit 
Ed.  Meyers  stellt  wie  bei  einem  Universalhistoriker  der  Antike  zu  erwarten, 
das  konkrete  historische  Schicksal  und  Ereignis  (in  diesem  Fall :  eine  bestimmte 
politische  Maßregel  der  persischen  Politik)  in  den  Vordergrund  der  kausalen  Zu- 
rechnung und  bevorzugt  also  eine,  in  diesem  Sinn,  »epigenetische«  Erklärung. 
Für  die  zwischen  beiden  erörterte  Frage  dürfte  heute  Ed.  Meyer  nach  der 
so  gut  wie  allseitigen  Meinung  im  Recht  geblieben  sein.  Eine  »evolutionistische« 
Behandlung  der  israelitischen  Religionsgeschichte  kann  namentlich  dann  leicht 
auf  den  Boden  von  Voraussetzungen  treten,  welche  die  unbefangene  Erkenntnis 
trüben,  wenn  sie  — -was  übrigens  gerade  bei  Wellhausen  nicht  zutraf —  die  Er- 
gebnisse der  modernen  Ethnographie  und  vergleichenden  Religionswissenschaft 
für  die  konkrete  Religionsentwicklung  Israels  dogmatisiert  also  annimmt: 
jene  magischen  und  '  animistischen«  Vorstellungen  welche  fast  über  die  ganze 
Welt  hin  bei  »primitiven«  Völkern  beobachtet  werden,  müßten  auch  in  der  Re- 
ligionsentwicklung Israels  am  Anfang  stehen  und  erst  in  deren  weiterem 
Verlaufe  den  »höheren«  religiösen  Konzeptionen  Platz  gemacht  haben.  Die 
Schriften  von  Robertson  Smith  (deutsch:  Die  Religion  der  Semiten«)  und  die 
zum  Teil  glänzenden  Arbeiten  sowohl  alttestamentlicher  wie  anderer  Gelehrter 
haben  zwar  zweifellos,  wie  übrigens  zu  erwarten,  namentlich  innerhalb  der  ri- 
tuellen Gebote  und  der  Mythen  und  Legenden  Israels  auf  Schritt  und  Tritt  die 
Analogien  mit  zahlreichen  sonst  beobachteten  magischen  und  animistischen 
Vorstellungen  dargetan.  (Daß  man  freilich  auch  Beweise  für  »Totemismus« 
in  Israel  hat  finden  wollen,  darüber  hat  sich  Ed.  Meyer  mit  Recht  lustig  ge- 
macht.) Allein  darüber  wurde  zuweilen  vergessen,  daß  Israel  zwar  als  eine  bäuer- 
liche Eidgenossenschaft  sein  geschichtliches  Dasein  begann,  aber  (ähnlich  etwa 
der  Schweiz)  inmitten  einer  Umwelt  mit  längst  entwickelter  Schriftkultur, 
Städteorganisation,  See-  und  Karawanenhandel,  Beamtenstaaten,  Priester- 
wissen, astronomischen  Beo*bachtungen  und  kosmologischen  Spekulationen. 
Dem  ethnographischen  Evolutionismus  trat  daher  der  kulturgeschichtliche 
Universalismus  vor  allem  der  assyriologischen  Gelehrten  in  radikalster  Form 
der  sog.  »Panbabylonisten',  entgegen.  Die  Vertreter  dieser  Geschichtsauffas- 
sung, Gelehrte  vom  Range  Schraders  (vor  allem:  Die  Keilmschriften  und  das 
Alte  Testament,  neue  Auflagen  von  H.  Winckler)  und  H.  Wincklers  (vor 
allem:  Geschichte  Israels  in  Einzeldarstellungen,  2  Bde.)  und  der  noch  radi- 
kalere Jensen,  in  vorsichtigerer  Art  gelegentlich  auch  der  weit  maßvollere  aber 
immerhin  das  »Prinzip«  dieser  Betrachtung  wahrende  A.  Jeremias  (außer  dem 
»Handbuch  der  altonental.  Geisteskultur«,  1913  vor  allem:  »Das  Alte  Testament 
im  Lichte  des  alten  Orients«  2.  A.  1916)  gingen  hier  sehr  weit.  Es  hat  an  Ver- 
suchen nicht  gefehlt,  die  Mehrzahl  z.  B.  aller  Pentateuch-Erzählungen  als  astral- 
theologischen Ursprungs  nachzuweisenoder  etwa  die  Propheten  zu  Parteigängern 
einer  internationalen  vorderasiatischen   Priesterpartei  zu  stempeln. 

Die  Vorträge  und  Aufsätze  von  Fr.  Delitsch  trugen  dann  den  sog.  >^  Babel- 
Bibel-Streit«  in  breite  Kreise.  Von  ernsthaften  Forschern  dürfte  nun  heute 
wohl  kaum  noch,  Avie  es  zeitweise  geschah,  versucht  werden,  die  israelitische  Re- 


A  Das  antike  Judentum. 

sentlichen  Züge  seines  Verhaltens  zur  UmWelt,  vor  allem  seine 
längst  vor  der  Zwangsinternierung  bestehende  freiwillige  Ghetto- 


ligion aus  babylonischen  Astralkulten  und  babylonischem  priesterlichem  Geheim- 
wissen abzuleiten.  (Von  ägyptologischerSeit  wäre  als  eine  extremeParallele  soicher 
Exzesse  etwa  die,  wie  mir  scheint,  gründlich  verfehlte  Schrift  von  D.  Völter , 
Aegypten  und  die  Bibel  Leiden  190  j,  zu  nennen,  mit  welcher  die  sehr  vorsichtigen 
Arbeiten  W.  Max  Müllers,  vor  allem  »Asien  und  Euiopa«  und  die  später  teil- 
weise zu  zitierende  Spezialliteratur  zu  vergleichen  sind.)  Wenn  in  der  nachfolgen- 
den Darstellung  auch  von  den  als  iinbe zweifelbar  anzuerkennenden  Ergebnissen 
der  »panbabylonistischen«  Arbeiten  wenig  die  Rede  ist,  so  keineswegs  aus  Gering- 
achtung, sondern  lediglich  deshalb,  weil  für  uns  die  praktische  Ethik  Israels 
im  Vordergrunde  steht  und  für  das  Verständnis  dieser  jene  kulturhistorisch 
wichtigen  Beziehungen,  welche  die  Panbabylonisten  interessieren,  wie  sich  zei- 
gen wird,  nicht  die  ausschlaggebenden  sind.  Die  Wirkung  ihrer  Thesen  auf  die 
Forschung  war  aber  eine  sehr  bedeutende.  Durch  sie  wurde  die  israelitische 
Religion  zu  einer  Abwandlung  der  benachbarten  Kulturreligionen  gestempelt. 
Das  mußte  auf  die  Fragestellungen  der  Alttestamentier  zurückwirken.  Da  sich 
starke  Einwirkungen  vor  allem  babylonischer,  aber  auch  ägyptischer  Kultur  auf 
Palästina  unmöglich  in  Abrede  stellen  lassen,  hatte  die  alttestamentliche-  For- 
schung, unter  der  Führung  namentlich  G  u  n  k  e  1  s  ,  inzwischen  schon  ihrer- 
seits an  dem  Entwicklungsschema  Wellhausens  erhebliche  Korrekturen  vor- 
genommen. Die  Tatsachen  der  Durchsetzung  der  israelitischen  Religiosität  mit 
magischem  und  animistischem  Vorstellungsmaterial  einerseits,  die  Zusammen- 
hänge mit  den  benachbarten  großen  Kulturkreisen  andererseits  traten  nun  aeut- 
licher  hervor  und  die  Arbeit  konzentrierte  sich  auf  die  in  Wahrheit  entscheidende 
Frage:  worin  denn  nun  die  schließlich  doch  unbezweifelbare  E  i  g  e  n  a.r  t  der 
israelitischen  Religionsentwicklung  gegenüber  jenen  teils  allgemein  verbreiteten, 
teils  durch  konkrete  Kulturzusammenhänge  bedingten  Gemeinsamkeiten  be- 
ruhe und  weiter:  wodurch  diese  historische  Eigenart  bedingt  sei.  Aber  alsbald 
begann  wieder  die  Verflechtung  mit  den  durch  eigne  religiöse  Stellungnahme 
bedingten  Wertungen.  Die  »Einzigkeit«  wurde  bei  einem  Teil  der  Forscher 
alsbald  wieder  zum  einzigartigen  Wert,  und  der  Nachweis  galt  z.  B.  etwa  einer 
These  wie  der:  daß  schon  die  Leistung  des  Mose  eine  an  religiösem  und  sittlichem 
Wertgehalt  alle  Gebilde  der  Umwelt  »überragende«  Schöpfung  gewesen  sei  (Bei- 
spiele dieses  Typus  dürften  am  besten  manche  Arbeiten  des  übrigens  sehr  ver- 
dienten Baentsch  darbieten,  denen  namentlich  Budde  entgegengetreten 
ist).  Wenn  so  die  Forschung  im  einzelnen  gelegentlich  durch  Wertungen  von  der 
rein  historisch -empirischen  Feststellung  des  Tatbestandes  abgelenkt  wurde, 
so  sind  die  Ergebnisse  der  glänzenden  Arbeit  der  Alttestamentier  für  die  Kritik 
der  Ueberlieferung  doch  derart  gewesen,  daß  auch  die  konservativsten  Gelehrten 
sich  ihnen  nicht  mehr  haben  entziehen  können.  Die  Schwierigkeit  einwandfreier 
positiver  Feststellungen  liegt  namentlich  in  den  für  einen  Nichtphilologen  in 
aller  Regel  nicht  nachprüfbaren  Kontroversen  über  den  oft  gerade  in  den  wich- 
tigsten Partien  verderbten  oder  in  unbekannten  Zeiten  interpolierten  und 
emendierten  Text  der  Quellen.  Oft  hängt  die  Entscheidung  auch  an  dem  größe- 
ren oder  geringeren  Radikalismus  des  Zweifels  an  der  Authentizität  jener  Nach- 
richten, an  deren  Verfälschung  irgendein  Interesse  der  priesterlichen  Redaktoren 
sich  knüpfen  konnte.  Der  Nichtfachmann  wird  im  ganzen  gut  tun,  alle  jene 
Nachrichten,  für  die  nicht  entweder  nach  der  übereinstimmenden  Ansicht  der 
maßgebenden  philologischen  Fachleute  aus  sprachlichen  oder  aber  nach  ihrem 
eigenen  Inhalt  aus  zwingenden  sachlichen  Gründen  eine  Verfälschung  anzunehmen 
ist,  zunächst  einmal  hypothetisch  daraufhin  anzusehen:  ob  sie  nicht  trotz  allem 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  5 

existenz  und  die  Art  des  Dualismus  von  Binnen-  und  Außenmoral 
lassen  sich  daraus  ableiten.  Die  Unterschiede  gegenüber  indi- 
schen Pariastämmen  liegen  beim  Judentum  in  folgenden  drei 
wichtigen  Umständen:  i.  Das  Judentum  war  (oder  vielmehr 
wurde)  ein  Pariavolk  in  einer  kastenlosen  Umwelt. 
—  2.  Die  Heilsverheißungen,  an  welchen  die  rituelle  Beson- 
derung  des  Judentums  verankert  war,  waren  durchaus  andere 
als  diejenigen  der  indischen  Kasten.  Für  die  indischen  Paria- 
kasten galt,  sahen  wir,  als  Prämie  rituell  korrekten,  d.  h.  kasten- 
gerechten, Verhaltens  der  Aufstieg  innerhalb  der  als  ewig  und 
unabänderlich  gedachten  Kastenordnung  der  Welt  im  Wege 
der  Wiedergeburt.  Die  Erhaltung  der  Kastenordnung  wie  sie 
war  und  das  Verbleiben  nicht  nur  des  Einzelnen  in  der  Kaste, 

als  Mittel  historischen  Verständnisses  brauchbar  sind.  Das  Maß  von  in  diesem 
Sinn  »konservativer«  Behandlung  der  Quellen  ist  bei  den  einzelnen  alttestament- 
lichen  Forschern  ein  sehr  verschiedenes,  neuerdings  aber  in  Reaktion  gegen 
extreme  Skepsis  in  einem  vielfach  wohl  schon  etwas  zu  weitgehenden  Steigen  be- 
griffen. Auf  einem  ganz  extrem  konservativen  Standpunkt  steht  z.  B.  das  üb- 
rigens ganz  ausgezeichnete,  ausführlichste  Werk  von  Kittel,  Geschichte 
des  Volkes  Israels  (2  Bde.  in  2  Auflage  1909  bzw.  1912).  Von  anderen  modernen 
Darstellungen  sei  zur  Einführung  etwa  die  kurzgefaßte  »Geschichte  des  Volkes 
Israel«  von  H.  Guthe  (2.  Aufl.  1904),  der  gute  Abriß  von  Valeton  in 
Chantepie  de  la  Saussaye's  Lehrbuch  der  vergl.  Rel.  Gesch.  (1897)  und  das  die 
außenpolitische  Entwicklung  sehr  übersichtlich  gliedernde  "Werk  von  C.  F.^L  e  h- 
mann-Haupt:  »Israel.  Seine  Entwicklung  im  Rahmen  der  Weltgeschichte« 
(Tübingen  T 911)  genannt.  Neben  dem  Werk  von  Kayser-Marti  wird  man 
die  Religionsgeschichte  von  S  m  e  n  d  dankbar  benützen.  Für  die  wissenschaftliche 
Forschung  auf  dem  Gebiet  der  altern  israelitischen  Geschichte  besonders  unent- 
behrlich ist  aber  bei  aller  Kritik  Ed.  Meyers  Schrift  (mit  Einlagen  von  Luther): 
Die  Israeliten  und  ihr s  Nachbarstämme  (Halle  1906).  Für  die  inneren  und  Kultur- 
verhältnisse ist  neben  den  Kompendien  der  hebräischen  Archäologie  von  B  e  n- 
zinger  (1893)  u"<i  Nowack  (1894)  auch  die  Schrift  von  Frants  Buhl 
(Die  sozialen  Verhältnisse  der  Israeliten)  brauchbar.  Zur  Religionsgeschichte 
ist  neben  B.  S  t  a  d  e  s  im  einzelnen  oft  anfechtbarer,  aber  überaus  gehaltvoller 
und  gedrängter  »Biblischer  Theologie  des  A.  Test.«  (1, 1905,  II,  von  Berthe  let,  191 1) 
beachtenswert,  weil  ebenfalls  sehr  präzis  formuliert,  das  posthume  Werk  von 
E,  Kautzsch  (Die  bibl.  Theologie  des  A.  T.  191 1).  Zur  Religionsvergleichung 
die  von  G  r  e  ß  m  a  n  n  in  Verbindung  mit  Ungnad  und  Ranke  heraus- 
gegebene Sammlung:  Altorientalische  Texte  und  Bilder  zum  Alten  Testament 
1909  (war  mir  während  der  Durchsicht  des  Manuskripts  leider  nicht  zugänglich). 
Von  den  zahlreichen  Kommentaren  zum  A.  T.  ist  für  den  Nichtfachmann  der 
von  K.  Marti  in  Verbindung  mit  Benzinger,  Bertholet,  Budde,  Duhm,  Holzinger, 
Wildeboer  herausgegebene  besonders  angenehm  zu  benutzen'  Sehr  verdienst- 
lich und  zum  Teil  ganz  ausgezeichnet  ist  die  auch  auf  weitere  Kreise  berechnete, 
(daher  teilweise  etwas  zu  freie,  vor  allem  auch  nicht  vollständige,  nach  Quellen- 
schriften, Gegenständen  und  chronologisch  gegliederte)  moderne  kommentierte 
Uebersctzung  der  »Schriften  des  A.  T.«  von  Greßmann,  Gunkel,  Haller,  H. 
Schmidt,  Stärk,  Volz  (1911  — 14,  noch  in  Fortsetzung  begriffen).  —Einzelzitate 
anderer  Arbeiten  nachstehend  an  den  betreffenden  Stellen.    Die  Literatur  und 


5  Das  antike  Judentum. 

sondern  der  Kaste  als  solcher  in  ihrer  Stellung  zu  den  anderen 
Kasten:  dieses  eminent  sozialkonservative  Verhalten  war  Vor- 
bedingung alles  Heils;  denn  die  Welt  war  ewig  und  hatte  keine 
»Geschichte«.  Für  den  Juden  war  die  Verheißung  die  gerade 
entgegengesetzte:  die  Soziälordnung  der  Welt  war  in  das  Gegen- 
teil dessen  verkehrt,  was  für  die  Zukunft  verheißen  war  und  sollte 
künftig  wieder  umgestürzt  werden,  so,  daß  dem  Judentum  seine 
Stellung  als  Herrenvolk  der  Erde  wieder  zufallen  würde.  Die 
Welt  war  weder  ewig  noch  unabänderlich,  sondern  sie  war  er- 
schaffen und  ihre  gegenwärtigen  Ordnungen  waren  ein  Produkt 
des  Tuns  der  Menschen,  vor  allem:  der  Juden,  und  der  Reaktion 
ihres  Gottes  darauf :  ein  geschichtliches  Erzeugnis 
also,  bestimmt,  dem  eigentlich  gottgewollten  Zustand  wieder 
Platz  zu  machen.  Das  ganze  Verhalten  der  antiken  Juden 
zum  Leben  wurde  durch  diese  Vorstellung  einer  künftigen 
gottgeleiteten  politischen  und  Sozialre- 
volution bestimmt.  Und  zwar  —  3 :  in  einer  ganz  bestimmten 
Ric-itung.  Denn  die  rituelle  Korrektheit  und  die  dadurch  be- 
dingte Abgesondertheit  von  der  sozialen  Umwelt  war  nur  eine  Seite 
der  ihnen  auf  erlegten  Gebote.  Daneben  stand  eine  in  hohem  Grade 
rationale  ,  das  heißt  von  Magie  sowohl  wie  von  allen  Formen 
irrationaler  Heilssuche  freie  religiöse  Ethik  des  in- 
nerweltlichen Handelns,  innerlich  weltenfern  ste- 
hend allen  Heilswegen  der  asiatischen  Erlösungsreligionen. 
Diese  Ethik  liegt  in  Weitgehendem  Maße  noch  der  heutigen  euro- 
päischen und  vorderasiatischen  religiösen  Ethik  zugrunde.  Und 
darauf  beruht  das  Interesse  der  Weltgeschichte  am  Judentum. 

Die  weltgeschichtliche  Tragweite  der  jüdischen  religiösen 
Entwicklung  ist  begründet  vor  allem  durch  die  Schöpfung  des 
»Alten  Testamentes«.  Denn  zu  den  wichtigsten  geistigen  Lei- 
stungen der  paulinischen  Mission  gehört  es,  daß  sie  dies  heilige 
Buch  der  Juden  als  ein  heiliges  Buch  des  Christentums  in  diese 
Religion  hinüberrettete  und  dabei  doch  alle  jene  Züge  der  darin 
eingeschärften  Ethik  als  nicht  mehr  verbindlich,  weil  durch  den 
christlichen  Heiland  außer  Kraft  gesetzt,  ausschied,  welche  gerade 


zwar  auch  die  qualitativ  erstklassige  Literatur  ist  derart  umfangreich,  daß  im 
allgemeinen  nur  da  zitiert  ist,  wo  ein  besonderer  sachlicher  Grund  dazu  voilag. 
Es  schien  mir  in  diesem  Fall  die  Gefahr  nicht  groß,  daß  durch  eine  Unterlassung 
der  Anschein  erweckt  würde,  als  beanspruchte  ich,  hier  »neue«  Tatsachen  und 
Auffassungen  vorzutragen.  Davon  ist  keine  Reds.  In  gewissem  Umfang  neu  sind 
einige  der  soziologischen  Fragestellungen,  unter  denen  die  Dinge  bebandelt  werden. 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  7 

die  charakteristische  Sonderstellung  der  Juden:  ihre  Paiiavolks- 
lage,  rituell  verankerten.  Man  braucht  sich,  um  die  Tragweite 
dieser  Tat  zu  ermessen,  nur  vorzustellen,  was  ohne  sie  eingetreten 
wäre.  Ohne  die  Uebernahme  des  Alten  Testamentes  als  heiligen 
Buches  hätte  es  auf  dem  Boden  des  Hellenismus  zwar  pneumati- 
sche Sekten  und  Mysteriengemeinschaf^-en  mit  dem  Kult  des 
Kyrios  Christos  gegeben,  aber  nimmermehr  eine  christliche  Kirche 
und  eine  christliche  Alltagsethik.  Denn  dafür  fehlte  dann  jede 
Grundlage.  Ohne  die  Emanzipation  von  den  rituellen,  die  kasten- 
artige Absonderung  der  Juden  begründenden  Vorschriften  der 
Thora  aber  wäre  die  christliche  Gemeinde  ganz  ebenso  wie  etwa 
die  Essener  und  Therapeuten  eine  kleine  Sekte  des  jüdischen 
Pariavolks  geblieben.  Aber  gerade  in  dem  Kern  der  ans  dem 
selbstgeschalfjnen  Ghetto  befreienden  Heilslehre  des  Christen- 
tums knüpfte  die  paulinische  Mission  an  eine  jüdische,  wennschon 
halbverschüttete  Lehre  an,  welche  aus  der  religiösen  Erfahrung 
des  Exils  Volks  stammte.  Denn  ohne  die  höchst  besöndersartigen 
Verheißungen  des  unbekannten  großen  Schriftstellers  der  Exils- 
zeit, der  die  prophetische  Theodizee  des  Leidens  Jes.  40 — 55 
verfaßt  hat,  insbesondere  die  Lehre  vom  lehrenden  und  schuld- 
los freiwillig  als  Sühnopfer  leidenden  und  sterbenden  Knecht 
Jahwes  wäre  trotz  der  späteren  Menschensohn-Esoterik  die 
Entwicklung  der  christlichen  Lehre  vom  Opfertod  des  göttlichen 
Heilands  in  ihrer  Sonderart  gegenüber  andern  äußerlich  ähnlichen 
Mysterienlehren  nicht  denkbar  gewesen.  Auf  der  anderen  Seite 
ist  aber  das  Judentum  ausgesprochenermaßen  Anreger  und  teil- 
weise Vorbild  der  Verkündigung  Muhammeds  geworden.  Wir  be- 
finden uns  also  bei  Betrachtung  seiner  Entwicklungsbedingungen, 
ganz  abgesehen  von  der  Bedeutung  des  jüdischen  Pariavolks 
selbst  innerhalb  der  Wirtschaft  des  europäischen  Mittelalters  und 
der  Neuzeit,  vor  allem  aus  diesen  Gründen  der  universalhistori- 
schen Wirkung  seiner  Religion  an  einem  Angelpunkt  der  ganzen 
Kulturentwicklung  des  Occidents  und  vorderasiatischen  Orients. 
An  geschichtlicher  Bedeutung  kann  ihm  nur  die  Entwicklung 
der  hellenischen  Geisteskultur  und,  für  Westeuropa,  des  römischen 
Rechts  und  der  auf  dem  römischen  Amtsbegriff  fußenden  römi- 
schen Kirche,  dann  Weiterhin  der  mittelalterlich-ständischen 
Ordnung  und  schließlich  der  sie  sprengenden,  aber  ihre  Insti- 
tutionen fortbildenden  Einflüsse,  auf  religiösem  Gebiet,  also  des 
Protestantismus,  gleichgeordnet  werden. 


g  Das  antike  Judentum. 

Das  Problem  ist  also :  wie  sind  die  Juden  zu  einem  Paria- 
volk mit  dieser  höchst  spezifischen  Eigenart  geworden?  — 

Das  syrisch-palästinische  Bergland  war  abwechselnd  meso- 
potamischen  und  ägyptischen  Einflüssen  ausgesetzt.  Die  erste- 
ren  waren  durch  die  Stammesgemeinschaft  der  in  alter  Zeit  in 
Syrien  ebenso  wie  in  Mesopotamien  herrschenden  Amoriter, 
dann  durch  den  politischen  Aufstieg  der  babylonischen  Macht 
Ende  des  3.  Jahrtausends  und  dauernd  durch  den  Einfluß  der 
kommerziellen  Bedeutung  Babylons,  als  des  Entstehungsgebiets 
der  frühkapitalistischen  Geschäftsformen,  bedingt.  Die  ägypti- 
schen Einflüsse  beruhten  zunächst  auf  den  Handelsbeziehungen 
schon  des  alten  Reichs  zur  phönizischen  Küste,  auf  dem  ägypti- 
schen Bergbau  auf  der  Sinaihalbinsel  und  auf  der  geographischen 
Nähe  als  solcher.  Eine  dauernde  und  feste  politische  Unterwer- 
fung war  in  der  Zeit  vor  dem  17.  Jahrhundert  v.  Chr.  von  keinem 
jener  beiden  großen  Kulturzentren  her  möglich,  Weil  die  damalige 
militärische  und  administrative  Technik  eine  solche  ausschloß. 
Das  Pferd  fehlte  zwar  wenigstens  in  Mesopotamien  nicht  gänzlich, 
aber  es  war  noch  nicht  zum  Instrument  einer  eigenen  Militär- 
technik geworden.  Das  geschah  erst  in  jenen  Völkerwanderungen, 
Welche  in  Aegypten  die  Hyksosherrschaft,  in  Mesopotamien 
die  kassitische  Herrschaft  begründeten.  Nunmehr  erst  ent- 
stand die  Wagenkampftechnik  und  damit  Möglichkeit  und  An- 
reiz zu  großen  Eroberungsexpeditionen  in  ferne  Gebiete.  Palä- 
stina wurde  zuerst  von  Aegypten  her  als  Beuteobjekt  gesucht. 
Mit  der  Befreiung  von  den  Hyksos  —  unter  deren  Herrschern 
anscheinend  der  Name  »Jakob«  zum' erstenmal  auftaucht  —  be- 
gnügte" sich  die  18.  Djmastie  nicht,  sondern  drang  erobernd  bis 
an  den  Euphrat  vor.  Ihre  Statthalter  und  Vasallen  blieben  in 
Palästina,  auch  als  die  Tendenz  zur  Expansion  aus  innerpoli- 
tischen Gründen  erlahmte.  Die  Dynastie  der  Ramessiden  mußte 
den  Kampf  um  Palästina  schon  deshalb  wieder  aufnehmen,  weil 
inzwischen  das  starke  kleinasiatische  Reich  der  Hethiter  nach 
Süden  vorgedrungen  war  und  Aegypten  bedrohte.  Durch  ein 
Kompromiß  unter  Ramses  II.  wurde  Syrien  geteilt,  Palästina 
blieb  in  ägyptischer  Hand  und  war  es  nominell  bis  nach  dem 
Ende  der  Ramessiden,  also  Während  eines  großen  Teils  der 
israelitischen  sog.  »Richterzeit«.  Tatsächlich  sank  aber  die  Macht 
sowohl  des  ägyptischen  wie  des  hethitischen  Reichs  vor  allem  aus 
innerpolitischen  Gründen  so  stark,  daß  Syrien  und  Palästina  vom 


1 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  C) 

13.  Jahrhundert  an  mehrere  Jahrhunderte  im  Wesentlichen  sich 
selbst  überlassen  blieben,  bis,  seit  dem  g.  Jahrhundert,  die  in- 
zwischen neugeschaffene  Militärmacht  der  Assyrer,  seit  dem 
7.  die  der  Babylonier  und,  nach  einem  ersten  Vorstoß  im  10.  Jahr- 
hundert, im  7.  Jahrhundert  auch  die  ägyptische  Macht  wieder 
eingriffen  und  vom  letzten  Drittel  des  8.  Jahrhunderts  an  die 
Selbständigkeit  des  Gebietes  Stück  für  Stück  an  die  assyrischen, 
teilweise  und  zeitweise  an  die  ägyptischen,  definitiv  dann  an  die 
babylonischen  Großkönige  verloren  ging,  deren  Erbe  die  Perser- 
herrschaft antrat.  Nur  in  jener  Zwischenzeit,  welche  einen  weit- 
gehenden allgemeinen  Rückgang  aller  internationalen  politischen 
und  kommerziellen  Beziehungen  bedeutete  und  im  Zusammenhang 
damit  in  Griechenland  die  sog.  dorische  Wanderung  sah,  konnte 
auch  Palästina  sich  unabhängig  von  fremden  Großmächten 
entwickeln.  Die  Phönikerstädte  und  die  in  jener  Zeit  der  Schwäche 
Aegyptens  von  der  See  her  einwandernden  Philister  von  der 
einen,  die  Beduinenstämme  der  Wüste  Von  der  anderen  Seite, 
dann  im  10.  und  9.  Jahrhundert  das  damaskenische  Reich  der 
Aramäer,  waren  Palästinas  stärkste  Nachbarn.  Gegen  die  letzt- 
genannte Macht  rief  der  israelitische  König  die  Assyrer  ins  Land." 
In  jene  Zwischenperiode  fällt,  wenn  nicht  die  Entstehung,  so 
doch  die  militärische  Höhe  des  israelitischen  Bundes,  des  Reichs 
Davids  und  dann  der  Königreiche  Israel  und  Juda. 

Wenn  die  politische  Macht  der  großen  Kulturstaaten  am 
Euphrat  und  Nil  damals  gering  war,  so  hat  man  sich  doch  sehr 
zu  hüten,  diese  Epoche  in  Palästina  sich  als  primitiv  und  bar- 
barisch vorzustellen.  Nicht  nur  blieben  diplomatische  und  auch 
kommerzielle  Beziehungen,  wenn  auch  erschwert,  bestehen, 
sondern  auch  der  geistige  Einfluß  der  Kulturgebiete  dauerte 
fort.  Durch  Sprache  und  Schrift  war  Palästina  dauernd,  auch 
während  der  ägyptischen  Herrschaft,  dem  geographisch  entfern- 
teren Euphratgebiet  verbunden  geblieben,  und  tatsächlich  ist 
dessen  Einfluß  vor  allem  im  Rechtsleben,  aber  ebenso  in  Mythen 
und  kosmischen  Vorstellungen  unverkennbar.  Ägyptens  Ein- 
fluß auf  die  Kultur  Palästinas  scheint,  rein  äußerlich,  angesichts 
der  geographischen  Nähe  auffallend  gering.  Dies  hatte  seinen 
Grund  zunächst  in  der  inneren  Eigenart  der  ägyptischen  Kultur, 
deren  Trägern:  Tempel-  und  Amts-Pfründnem,  jeder  Proselytis- 
mus  fernlag.  Starke  Beeinflussung  der  palästinischen  geistigen 
Entwicklung  durch  Aegypten  ist  in  manchen  für  uns  wichtigen 


JO  Das  antike  Judentum. 

Punkten  dennoch  wahrscheinlich.  Aber  sie  erfolgte  teils  auf 
dem  Umweg  über  Phönizien,  teils  blieb  sie  me'ir  ein  nicht 
ganz  leicht  zu  fassender  und  meist  wesentlich  negativer  »Entwick- 
lungsreiz«. Denn  jene  scheinbar  geringe  direkte  Beeinflussung 
folgte  außer  aus  sprachlichen  GriJnden  auch  aus  den  tiefgehen- 
den Unterschieden  der  natürlichen  Lebensbedingungen  und  der 
auf  ihnen  ruhenden  sozialen  Ordnung.  Der  aus  der  Notwendig- 
keit der  Bewässerungsregulierung  und  aus  den  königlichen  Bauten 
erwachsene  ägyptische  Fronstaat  stand  den  Existenzformen  der 
Bewohner  Palästinas  als  etwas  tief  Fremdartiges,  ein  »Dienst- 
haus«, das  sie  als  »eisernen  Ofen«  verabscheuten,  gegenüber. 
Und  die  Aegypter  ihrerseits  betrachteten  alle  nicht  an  dem  gött- 
lichen Geschenk  der  Nilüberschwemmungen  und  der  königlichen 
Schreiberverwaltung  teilnehmenden  Nachbarn  als  Barbaren. 
Die  religiös  einflußreichen  Schichten  in  Palästina  aber  lehnten 
vor  allem  die  wichtigste  Grundlage  der  ägyptischen  Priester- 
macht: den  Totenkult,  als  eine  schauerliche  Entwertung  ihrer 
eigenen,  in  der  bei  nicht  hierokratisch  reglementierten  Völkern 
typischen  Art,  durchaus  innerweltlich  gerichteten .  Interessen 
ebenso  ab,  wie  sich  die  ägyptische  Dynastie  selbst  unter  Ameno- 
phis  IV.  zeitweilig,  aber  gegenüber  der  schon  fest  verankerten 
Macht  der  Priester  vergeblich,  ihnen  zu  entziehen  suchte.  Der 
Gegensatz  gegen  Aegypten  war  letzt Uci  in  den  natürlichen 
und  sozialen  Unterschieden  begründet,  obwohl  auch  innerhalb 
Palästinas  die  Lebensbedingungen  und  sozialen  Verhältnisse 
recht  verschiedene  waren. 

Palästina  birgt  erhebliche  klimatisch  bedingte  Gegensätze 
der  Wirtschaftsmöglichkeiten  ^).  In  den  Ebenen  namentlich 
des  mittleren  und  Nordgebiets  war  neben  Getreideanbau  mit 
Rind  Viehzucht  schon  bei  Beginn  unserer  Nachrichten  auch  Obst-, 
Feigen-,  Wein-  und  Oelbau  heimisch.  In  den  Oasen  der  angren- 
zenden Wüste  und  auf  dem  Gebiet  der  Palmenstadt  Jericho  auch 
Dattelzucht.  Bewässerung  aus  den  starken  Quellen,  in  den  pa- 
lästinischen Ebenen:  Regen  machte  den  Anbau  möglich.  Die 
sterile  Wüste  im  Süden  und  Osten  war  und  ist  nicht  nur  den 
Bauern,  sondern  ebenso  den  Hirten  ein  Ort  des  Schreckens  und  der 

^)  lieber  die  Naturbedingungen  Palästinas  sind  neben  den  allgemeinen 
Werken  über  Palästinakunde  die  zahlreichen  Aufsätze  in  der  »Zeitschrift«  und 
den  »Mitteilungen  und  Nachrichten  des  Deutschen  Palästinavereinr«  zu  verglei- 
chen. Ueber  das  antike  Klima  (Talmudzeit)  H.  Klein  Z.  D.  P.V.  37  {1914) 
S.  127.  ff. 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  1 1 

Sitz  der  Dämonen.  Nur  die  vom  periodischen  Regen  bestriche- 
nen Randgebiete,  die  Steppen,  waren  und  sind  als  Kamel-  oder 
Klein  Viehweide  und  daneben  in  günstigen  Jahren  zum  nomadi- 
sierenden Gelegenheitsanbau  von  Getreide  brauchbar.  Aller- 
hand Uebergänge  bis  zur  Möglichkeit  regelmäßigen  seßhaften 
Anbaus  fanden  und  finden  sich  ').  Insbesondere  war  und  ist  die 
Art  der  Weiden  verschieden.  Zuweilen  lassen  sie  sich  als  örtlich 
festbegrenzte  Weidebezirke  von  einer  Ansiedelung  aus  ent- 
weder nur  für  Kleinvieh  oder  daneben  auch  für  Großvieh  benutzen. 
Häufiger  aber  müssen  gemäß  dem  jährlichen  Wechsel  zwischen 
winterlicher  Regenperiode  und  sommerlicher  regenloser  Zeit  die 
Weiden  gewechselt  werden  ^).  Entweder  derart,  daß  Sommer- 
und  Winterdörfer,  die  letzteren  oben  an  den  Berghängen  liegend, 
von  den  Viehzüchtern  abwechselnd  benutzt  werden  und  leer- 
stehen — ,  was  übrigens  auch  bei  Ackerbauern  auf  weit  ausein- 
anderliegenden Feldern  mit  Verschiedenheit  der  Vegetations- 
periode vorkommt.  Oder  aber  so,  daß  die  Weidereviere  der 
verschiedenen  Jahreszeiten  so  weit  auseinanderliegen  oder  in 
ihren  Erträgen  so  wechseln,  daß  feste  Ansiedelungen  gar  nicht 
möglich  sind.  Die  Kleinviehzüchter,  denn  nur  sie  kommen  in 
diesem  Fall  in  Frage,  leben  dann  nach  Art  der  Kamelhirten  der 
Wüste  in  Zelten  und  treiben  im  periodischen  Weidewechsel  ihre 
Herden  über  weite  Entfernungen  teils  mehr  Von  Ost  nach  West, 
teils  mehr  von  Nord  nach  Süd,  wie  sich  dies  in  Süditalien,  Spa- 
nien, der  Balkanhalbinsel  und  Nordafrika  ganz  ebenso  findet^). 
Beim  Weidewechsel  pflegt  je  nach  Möglichkeit  die  Naturweide 
mit  Brachweide  und  Stoppelweide  auf  den  abgeernteten  Feldern 
kombiniert  zu  werden.  Oder  so,  daß  mit  Zeiten  der  Dorfsässig- 
keit  Zeiten,  des  Nomadisierens  oder  der  auswärtigen  Arbeitssuche 
abwechseln:  dorfsässige  Bauern  im  Gebirge  Juda  wohnen  teil- 
weise die  Hälfte  des  Jahres  in  Zelten.  Die  Grade  der  vollen 
hausgesessenen  Bodenständigkeit  einerseits,  des  Zeltnomaden- 
tums  andererseits  sind  also  durch  alle  denkbaren  Uebergänge 
miteinander  verbunden  und  labil.   Wie  in  der  Antike  sind  noch 

^)  Im  Josua-Biicb  (13,  19)  gibt  Kaleb,  der  Hebron  zugeteilt  erhalten  hat, 
seiner  Tochter  als  Mitgift  »Mittagsland«  (erez  ha  negeb)  und  fügt  auf  ihre  Bitte 
»Quellen  oben  und  unten«  hinzu.  —  Das  anbaufähige  Land  im  Gegensatz  zur 
Steppe    heißt    »sadch«. 

2)  S.  dazu  namentlich  die  Beobachtungen  Schumachers  in  seinem  Reise- 
bericht aus  dem  Ostjordanland,  abgedr.  in  den  Mitt.  u.  N.  d.  D.P.  V.  1904  ff. 

^)  Darüber  jetzt  die  vortreffliche  Arbeit  von  R.  Leonhard:  dieTrans- 
humanz  im  Mittelmeergebiet  (in  d.  Festschr.  für  L.Brentano,  München  1916). 


j2  Das  antike  Judentum. 

in  der  Gegenwart  Uebergänge  sowohl  vom  Nomadentum  zum 
Ackerbau  infolge  Zunahme  der  Bevölkerung  und  damit  des 
Brotbedarfs,  wie  auch  das  gerade  umgekehrte :  Uebergang  vom 
Fellachentum  zum  Nomadentum  infolge  von  Versandung,  vor- 
gekommen. Mit  Ausnahme  des  immerhin  eng  begrenzten  aus 
Quellen  bewässerten  Landes  hängt  eben  das  ganze  Schicksal 
des  Jahres  von  dem  Maß  und  der  Verteilung  des  Regens  ab  ^). 
Von  diesem  gibt  es  zweierlei  Art.  Den  einen  bringt  der  Scirocco 
von  Süden  in  oft  ungeheuer  starken  Gewittern  mit  Wolkenbrüchen. 
Ein  starker  Blitz  bedeutet  den  Fellachen  und  Beduinen  starken 
Regen.  Kommt  kein  Regen,  so  ist  heute  wie  in  der  Antike  »Gott 
in  der  Ferne«  und  dies  gilt  heute  wie  damals  als  Folge  von  Sün- 
den, besonders  solchen  der  Schechs  '^) .  Für  die  Ackerbaukrume 
namentlich  des  Ost  Jordanlandes  oft  verhängnisvoll,  füllt  dieser 
Platzregen  in  der  Steppe  die  Zisternen  und  ist  also  namentlich 
den  Kamelzüchtern  der  Wüste  erwünscht,  für  die  deshalb  der 
regenspendende  Gott  ein  jähzorniger  Gott  des  Wettersturms  war 
und  blieb.  Für  die  Dattelpalmen  und  die  Baum  Vegetation  über- 
haupt ist  dieser  starke  Regen  nicht  nachteilig,  bei  nicht  allzu 
großem  Uebermaß  nützlich.  Den  milden  Landregen  dagegen, 
bei  welchem  die  Ackerkrume  und  die  'Bergweiden  gedeihen, 
bringt  jener  Südwest-  und  Westwind,  den  Elia  auf  dem  Karmel 
vom  Meer  her  erwartete.  Für  den  Ackerbauer  ist  also  jener 
Regen  der  erwünschteste,  bei  Welchem  der  regenspendende  Gott 
nicht  im  Gewitter  oder  Sturm  —  die  auch  ihm  freilich  oft  voran- 
gehen — ,  sondern  »in  stillem,  sanftem  Sausen«  naht. 

Im  eigentlichen  Palästina  ist  die  »Wüste  Juda«,  die  Ab- 
flachung des  Berglands  vom  Toten  Meer,  von  jeher  wie  heute 
ein  Gebiet  fast  ohne  feste  Siedelung.  Innerhalb  des  mittel-  und 
nordisraelitischen  Berglandes  dagegen  fällt  im  Winter  (Novem- 
ber bis  März)  so  viel  Regen  wie  in  Mitteleuropa  im  ganzen  Jahres- 
durchschnitt. Daher  ist  in  guten  Jahren,  d.  h.  wenn  starke  Früh- 
regen (in  der  Antike  oft  schon  vom  Laubhüttenfest  an)  und  Spät- 
regen (bis  Mai)  eingetreten  sind,  gute  Getreideernte  in  den  Tälern 
und  starker  Blumen-  und  Graswuchs  an  den  Berghängen  zu  er- 
warten, während  allerdings  beim  Ausbleiben  der  Früh-  und  Spät- 
regen die  absolute  Dürre  des  Sommers,  die  alles  Gras  verdorren 

^)  Beste  meteorologische  Beobachtungen  jetzt  von  F.  Exner  Z.  D.  P.  V.  33 
(1910)   S.  107  ff. 

2)  Fellachensprichwörter  und  Gebete,  gesammelt  von  Dr.  Cana*an,  Z.  D. 
P.V.  36  {1913)   S.  285,  291. 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  I  2 

läßt,  sich  Über  mehr  als  zwei  Drittel  des  Jahres  erstrecken  kann 
und  dann  vor  allem  die  Schafhirten  auf  auswärtigen  Zukauf 
von  Getreide,  in  der  Antike  aus  Aegypten,  oder  auf  Fortwande- 
rung angewiesen  waren.  Die  Existenz  namentlich  dieser  Hirten 
ist  also  meteorologisch  prekär,  und  nur  in  guten  Jahren  war 
Palästina  für  sie  ein  Land  wo  »Milch  und  Honig«  —  es  ist  offen- 
bar Dattelhonig,  den  die  Beduinen  schon  in  der  Thutmose-Zeit 
kannten,  vielleicht  auch  Feigenhonig  und  daneben  Honig  von 
wilden  Bienen  gemeint  —  »fließen«^). 

Die  naturgegebenen  Kontraste  der  Wirtschaftsbedingungen 
haben  von  jeher  in  Gegensätzen  der  ökonomischen  und  sozialen 
Struktur  sich  ausgedrückt. 

Am  einen  Ende  der  Skala  standen  und  stehen  die  Wüsten- 
Beduinen.  Der  eigentliche  bedu,  der  sich  auch  innerhalb 
Nordarabiens  streng  vom  seßhaften  Araber  unterscheidet,  ver- 
achtete von  jeher  den  Ackerbau,  Verschmähte  Haus  und  be- 
festigte Orte,  lebte  von  Kamelmilch  und  Datteln,  kannte  keinen 
Wein,  bedurfte  und  duldete  keine  Art  von  staatlicher  Organi- 

^)  Ueber  die  Frage,  ob  das  Land  Kanaan  diese  Bezeichnung  verdient  haben 
kann  und  was  sie  bedeutet,  herrscht  Streit.  S.  darüber  aus  der  letzten  Zeit 
z.  B.  Kraus  Z.  D.  P.V.  32,  S.  151,  der  das  «»Fließen«  nach  seiner  Interpre- 
tation talmudischer  Quellen  buchstäblich,  als  Zusammenlaufenlassen  von  Zie- 
genmilch mit  Fruchthonig  aus  Datteln,  Feigen,  Trauben  verstehen  wollte.  Da- 
gegen S  i  m  o  n  s  o  n  ebenda  33,  S.  44,  der  mit  Recht  es  als  bildlieh  gemeint 
ansieht.  Ebenso  Dal  man  M.  u.  N.  D.  P.  V.  1905  S.  27:  »Kuchen  so  süß 
wie  Honig«,  im  Anschluß  an  die  heutige  Interpretation  der  palästinischen  Juden. 
Dalman  hält  Palästma  für  von  jeher  vieharm.  Hiergegen  (die  m.  W.  beste  Ab- 
handlung) L.  Bauer  (ebenda  S.  65),  der  auf  den  Milchreichtum  noch  in  der 
Gegenwart  hinweist  (Butter  und  Milch  die  wichtigsten  Nahrungsmittel)  und  den 
Honig  auf  Traubenhonig  deutet,  welch  letztere  Annahme  abei  Dalman 
(ebenda  1906  S.  81)  als  für  das  Altertum  irrig  nachweist:  damals  sei  Dattelhonig 
die  wichtigste  Honigart  gewesen.  Häusler  (Z.  D.  P.V.  35,  1912  S.  186) 
zweifelt,  ob  der  Reichtum  an  Honig  immer  bestanden  habe.  Allein  auch  in  den 
Amarnabriefen  (Nr.  55  von  Knudtzons  Ausgabe)  findet  sich  Honig  als  Deputat 
einer  ägvptischen  Garnison.  Der  Honig,  welchen  der  flüchtige  Aegypter  Sinuhe 
in  der  Zeit  Sesostris  I.  neben  Feigen-,  Oel-  und  Weinanbau  als  im  Retenuland 
reichlich  vorhanden  erwähnt,  war  vielleicht  ebenfalls  Dattelhonig.  Das 
Manna  schmeckt  (Ex  3,  13)  wie  Brot  mit  Honior.  Wenn  Palästina  nach  der  Ver- 
wüstung durch  die  Assyref  wieder  wie  die  Steppe  sein  wird,  wo  statt  der  Wein- 
stöcke Dornen  und  Hecken  stehen,  dann  werden  die  übrig  gebliebenen  Frommen 
R?hm  und  Honig  essen,  wie  einstmals,  verkündet  Jesaja  (7,  22.  23).  Deshalb 
wird  auch  das  Heilandskind  Immanuel  Rahm  und  Honig  essen  (7,  15).  Das  er- 
innert an  die  Nahrung  des  Zeusknaben  auf  Kreta:  Rahm  und  Honig.  Deshalb  wird 
die  rein  eschatologische  Deutung  des  Ausdrucks  als  Götterspeise  von  Greß- 
mann  (Die  israelit.  Eschatologie  S.  207  f.,  s.  auch  die  das.  unten  angeführte 
Literatur)  bevorzugt.  Immerhin  ist  die  Götterspeise  eben  doch  wohldie  ideale 
Menschenspeise    der    Reichen    in    einem    Steppengebiet. 


JA  Das  antike  Judenium. 

sation.  Wie  neben  anderen  namentlich  Wellhausen  ^)  es  für  die 
epische  Zeit  der  Araber  geschildert  hat,  ist  neben  dem  Muchtar, 
dem  Haupt  der  Familie  (d.  h.  der  Zeltgemeinschaft)  das  Sippen- 
haupt, der  Schech,  die  einzige  normalerweise  perennierende 
Autorität.  Zur  Sippe  zählt  der  Komplex  von  Zeltgemeinschaften, 
welche  sich,  gleichviel  ob  mit  Recht,  von  einem  Ahn  abstammend 
wissen  und  deren  Zelte  deshalb  benachbart  stehen.  Sie  ist  der  durch 
strenge  Blutrachepflicht  am  festesten  zusammengekittete  Verband. 
Gemeinschaften  mehrerer  Sippen  bilden  sich  durch  Gemeinsam- 
keit des  Wanderns  und  Lagerns  zu  gegenseitigem  Schutz.  Der 
dadurch  entstehende  »Stamm«  umfaßt  selten  mehr  als  einige 
tausend  Seelen.  Ein  ständiges  Oberhaupt  hat  er  nur,  wenn  ein 
Mann  sich  durch  kriegerische  Leistungen  oder  schiedsrichterliche 
Weisheit  so  ausgezeichnet  hat,  daß  er  kraft  seines  Charisma 
als  »Sayid«  anerkannt  wird.  Sein  Prestige  kann  dann  als  Erb- 
charisma  auf  die  jeweiligen  Schechs  seiner  Sippe  übergehen, 
namentlich  wenn  diese  vermögend  ist.  Auch  der  Sayid  ist  aber 
nur  primus  inter  pares.  Im  Palaver  des  Stammes  (bei  kleinen 
Stämmen  oft  allabendlich)  führt  er  den  Vorsitz,  gibt,  wo  sich 
die  Meinungen  die  Wage  halten,  den  Ausschlag,  bestimmt  Auf- 
bruchszeit und  Lagerungsort.  Es  fehlt  ihm  aber  ebenso  wie  den 
Schechs  jede  Zwangsgewalt.  Sein  Beispiel  und  Schiedsspruch 
werden  von  den  Sippen  befolgt,  solange .  sich  sein  Charisma  be- 
währt. Auch  alle  Teilnahme  an  Kriegszügen  ist  freiwillig  und 
wird  nur  durch  Spott  und  Beschämung  indirekt  erzwungen.  Die 
einzelne  Sippe  begibt  sich  nach  Belieben  auf  Abenteuer.  Ebenso 
gibt  sie  Fremden  eigenmächtig  ihren  Schutz.  Beides  kann, 
das  erstere  durch  Repressalien,  das  letztere  durch  Rache  bei 
Verletzung  des  Gastrechts,  auf  die  Gemeinschaft  zurückwirken. 
Diese  selbst  greift  aber  nur  ausnahmsweise  ein.  Denn  jeder  Ver- 
band, der  über  die  Sippe  hinausgeht,  bleibt  höchst  labil.  Die 
Einzelsippen  schließen  sich  nach  Gelegenheit  anderweit  an  und 
trennen  sich  vom  bisherigen  Stamm.  Und  der  Unterschied  zwi- 
schen einem  schwachen  Stamm  und  einer  zahlreichen  Sippe  ist 
flüssig.  Allerdings  kann  die  politische  Zusammenfassung  eines 
Stammes  auch  bei  den  Beduinen  unter  Umständen  zu  einem 
relativ  festen  Gebilde  werden.  Dann  nämlich,  wenn  es  einem 
charismatischenFürsten  gelingt,  sich  und  seinerSippe  eine  dauernde 

^)   »Ein  Gemeinwesen    ohne  Obrigkeit«,   Göttinger  Kaiser-Geburtstagsrede 
1900. 


I.     Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  I  5 

militärische  Herrenstellung  zu  schaffen.  Das  ist  indessen  nach 
der  Natur  der  Sache  nur  dann  möglich,  Wenn  der  Kriegsfürst 
entweder  aus  den  intensiv  angebauten  Oasen  Bodenrenten  und 
Tribute  oder  aus  den  Zöllen  und  Geleitgeldem  der  Karawanen 
feste  Einnahmen  erlangt  hat,  mittelst  deren  er  eine  persönliche 
Gefolgschaft  in  seinen  Felsenburgen  unterhalten  kann  ').  Sonst 
sind  alle  Machtstellungen  Einzelner  sehr  labil.  Alle  Notablen 
haben  letzlich  nur  »Pflichten«  und  werden  nur  durch  soziale  Ehre, 
allenfalls  durch  einen  gewissen  Vorzug  bei  der  Beurteilung,  ent- 
golten. Trotzdem  kann  die  soziale  Ungleichheit  durch  Besitz 
und  Erbcharisma  unter  den  Sippen  eine  erhebliche  sein.  Anderer- 
seits besteht  aber  die  strenge  Pflicht  der  brüderlichen  Nothilfe, 
zunächst  innerhalb  der  Sippe,  unter  Umständen  aber  auch 
innerhalb  des  Stammes.  Der  Nichtbruder  dagegen  ist  recht- 
los, wenn  er  nicht  durch  Speisegemeinschaft  in  den  Schutzver- 
band- aufgenommen  ist.  Die  Weidegebiete,  Welche  die  lockere 
und  labile  Stammesgemeinschaft  in  Anspruch  nimmt  und  schützt, 
werden  aus  gegenseitiger  Furcht  vor  Rache  innegehalten,  wechseln 
aber  je  nach  Machtlage,  die  namentlich  im  Kampf  um  das  wich- 
tigste Objekt:  die  Brunnen,  zum  Austrag  kommt.  Appropriiertes 
Bodeneigentum  gibt  es  nicht.  Krieg  und  Raub,  vor  allem  Straßen- 
raub, den  gelegentlich  auszuüben  als  Ehrensache  gilt,  stempeln 
den  typischen  beduinischen  Ehrbegriff.  Berühmte  Abstammung, 
eigene  Tapferkeit,  Freigebigkeit  sind  die  drei  Dinge,  die  am  Mann 
gerühmt  werden.  Rücksicht  auf  den  Adel  seiner  Familie  und  die 
soziale  Ehre  seines  guten  Namens  galten  dem  vorislamischen  Ara- 
ber als  die  ausschlaggebenden  Motive  alles  Handelns. 

Oekonomisch  gilt  der  heutige  Beduine  als  phantasieloser 
Traditionalist  ^)  und  dabei  als  friedlichem  Erwerb  abgeneigt. 
Das  wird  insofern  nur  bedingt  generalisiert  werden  dürfen,  als 
hohe  Zwischenhandels-  und  Geleitgelderverdienste  die  an  die 
Karawanenstraßen  der  Wüste  angrenzenden  Stämme  zu  Inter- 
essenten an  diesem  Handel  zu  machen  pflegten,  wo  immer  er  be- 
stand. Die  hohe  Heiligkeit  des  Gastrechts  beruht  zum  Teil  auch 
auf  diesem  Interesse  am  Wanderhandel.    Wie  auf  dem  Meere 

^)  So  ma(ht  ein  Retenenuschech  im  Lande  östlich  von  Byblos  (dort  scheint 
nach  den  neueren  Annahmen  der  Schauplatz  zu  suchen  zu  sein),  der  Gebiete  mit 
Wein-,  Ool-  und  Feigenanbau  beherrscht,  den  flüchtigen  Aegypter  Sinuhe  zu 
^seinem  Beamten  und  belehnt  ihn  mit  Land. 

*)  J.  Hell,  Beiträge  zur  Kunde  des  Orients  V.  S.  i6i  ff.  (auch  zum 
Vorhergehenden). 


l5  Das  antike  Judentum. 

Seehandel  und  Piraterie,  so  gehörte  in  der  Wüste  Zwischenhandel 
und  Straßenraub  zusammen,  denn  das  Kamel  ist  das  vorzüglichste 
aller  tierischen  Transportmittel  ^) .  Der  fremde  Händler  wurde 
und  wird  beraubt,  soweit  nicht  entweder  eine  fremde  Macht  die 
Straßen  durch  Garnisonen  militärisch  deckt  oder  die  Kaufleute 
feste  Schutzabkommen  mit  den  die  Straßen  beherrschenden 
Stämmen  selbst  besitzen. 

Von  eigentlichem  Beduinenrecht  zeigen  nun  die  altisraeli- 
tischen. Rechtssammlungen  nichts  und  der  Tradition  ist  der  Be- 
duine der  Todfeind  Israels.  Ewige  Fehde  herrscht  zwischen 
Jahwe  und  Amalek.  Der  mit  dem  »Kainszeichen«,  der  Stam-. 
mestätowierung,  versehene  Ahn  des  Keniterstammes,  Kain,  ist 
als  Mörder  von  Gott  zur  Unstetheit  verflucht  und  nur  die  furcht- 
bare Härte  der  Blutrache  ist  sein  Privileg.  Auch  sonst  fehlen 
beduinische  Anklänge  in  der  israelitischen  Sitte  fast  ganz.  Nur 
eine  wichtige  Spur  ist  da:  das  Bestreichen  der  Türpfosten  mit 
Blut,  als  Abwehr  der  Dämonen,  ist  in  Arabien  verbreitet.  Auf 
militärischem  Gebiet  könnte  jene  meist  als  rein  utopisch-theo- 
logische Konstruktion  der  Prophetenzeit  gedeutete  Vorschrift 
des  Deuteronomium :  daß  aus  dem  Heeresaufgebot  alle  die- 
jenigen, welche  sich  zu  »feig«  fühlen,  ausgeschieden  oder  heimge- 
schickt werden  sollen,  Wohl  mit  der  absoluten  Freiwilligkeit  der 
Beteiligung  an  Beduinenkriegsfahrten  in  historische  Verbindung 
gebracht  werden.  Indessen  ist  dafür  nicht  eine  Uebemahme  von 
den  Beduinen,  sondern  es  sind  wohl  Reminiszenzen  an  die  den 
später  zu  besprechenden  Viehzüchterstämmen  eigenen  Gewohn- 
heiten, die  allerdings  den  beduinischen  entsprechen,  die  Quelle.  — 

Am  anderen  Ende. der  Skala  stand  und  steht  die  Stadt 
(gir).  Wir  müssen  sie  etwas  näher  zu  analysieren  suchen.  Ihre 
Vorläufer  waren  unzweifelhaft  auch  in  Palästina  einerseits  Bur- 
gen kriegerischer  Häuptlinge  für  sich  und  ihre  persönliche  Ge- 
folgschaft, andererseits  Zufluchtsstätten  für  Vieh  und  Menschen 
in  bedrohten,  besonders  in  den  der  Wüste  benachbarten  Gebieten. 
Von  beiden  berichtet  unsere  Tradition  nichts   ausführliches  2). 

1)  »Ismaelitische«,  also:  beduiniscbe.  Händler  kaufenden  Joseph  seinen  Brü- 
dern^ ab.    Gen.  37,  25.  ■  - 

2)  Von  zahlreichen  Burgen  des  Königs  Hiskia,  die  er  gebrochen  habe, 
berichtet  in  seinen  Inschriften  Sanherib.  Von  Burgen  Hiskias  erzählt  auch  die 
Chronislik,  ebenso  von  zahlreichen  Grenzburgen  Rehabeams.  Die  Garnisonen 
werden  Burglehen  gehabt  haben.  Von  den  Städten  der  Amarnabriefe  -waren 
ein  Teil  offensichtlich  nur  derartige  Burgen.  Burgen  besaßen  auch  die  charis- 
matischen Häuptlinge,  so  David  und  in  der  Frühzeit  Abimelech. 


I.     Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  17 

Die  Stadt,  die  sie  kennt,  konnte  ökonomisch  und  politisch  ange- 
sehen, etwas  sehr  Verschiedenes  darstellen.  Entweder  nur  eine 
kleine  befestigte  Ackerbürgergemeinde  mit  Markt.  Dann  war  sie 
nur  graduell  Vom  Bauerndorf  verschieden.  Bei  voller  Entwick- 
lung war  sie  dagegen  in  der  ganzen  orientalischen  Antike  nicht 
nur  Marktort,  sondern  vor  allem  Festung  und  als  solche  Sitz 
des  Wehr  Verbandes,  des  Lokalgottes  und  seiner  Priester  und  des 
je  nachdem  monarchischen  oder  oligarchischen  politischen  Macht- 
trägers. Dies  entspricht  ganz  offenbar  den  Analogien  der  mittel- 
ländischen Polis. 

Die  syrisch-palästinensischen  Städte  zeigen  in  der  Tat  in 
ihrer  politischen  Verfassung  ein  Entwicklungsstadium,  welches 
der  althellenischen  »Geschlechterpolis«  nahesteht.  Schon  in  vor- 
israelitischer Zeit  waren  die  phönikischen  Seestädte  und  die 
Städte  der  Philister  als  Vollstädte  organisiert.  Für  die  Zeit 
Thutmoses  III.  ergeben  die  ägyptischen  Quellen  das  Bestehen 
zahlreicher  Stadtstaaten  in  Palästina,  darunter  bereits  solcher, 
die  auch  in  der  kanaanäischen  Zeit  Israels  weiterbestanden  (so: 
Lakisch)  ^),  In  der  Tell-el-Amarna-Korrespondenz  erscheint 
unter  Amenophis  IV  (Echnaton)  neben  den  Vasallenkönigen 
und  Statthaltern  des  Pharao  mit  ihren  Garnisonen,  Magazinen 
und  Arsenalen  in  den  größeren  Städten,  am  deutlichsten  in  Tyros 
und  Byblos,  eine  stadtsässige  Schicht,  Welche  das  Stadthaus 
(bitu)  in  der  Gewalt  hat  und  eine  eigene  der  ägyptischen  Herrschaft 
oft  feindliche  Politik  treibt  ^).  Sie  muß  offenbar,  gleichviel 
welches  ihre  sonstige  Eigenart  war,  ein  wehrhaftes  Patriziat 
dargestellt  haben  ^).    Ihr  Verhältnis  zu  den  Vasallenfürsten  und 

1)  Vgl.  W.  Max  Müller   Je\v.  Quart.  R.  N.  S.  4  (1913/4)  S.  65. 

2)  Das  bitu  vonTyrus  wird  (Knudtzon  Nr.  89)  von  dem  bitu  des  vom  Pharao 
eingesetzten  Regenten  unterschieden.  Der  Pharao  wird  vom  Briefschreiber 
darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  nicht  der  Regent,  an  den  er  sich  immer«  wende, 
sondern  jene  Kreise,  die  das  Stadthaus  beherrschen,  für  die  Politik  von  Tyros 
maßgebend  seien.    D^r  Regent  wird  später  erschlagen. 

3)  Wenn  (Knudtzon  Nr.  129)  »Große«  einer  Stadt  erwähnt  werden,  so  bleibt 
es  fraglich,  ob  Beamte  oder  patrizische  Sippenälteste  gemeint  sind,  aber  jeden- 
falls beeinflußt  die  stadtsässige  Bevölkerung  die  Politik.  Die  Leute  von  Dunip 
erbitten  (Nr.  50)  vom  König  einen  bestimmten  Mann  als  Stattlialter.  Ihrem 
Statthalter,  einem  Kanaanäer,  sperrt,  in  Gemeinschaft  mit  dessen  abtrünnigem 
Bruder,  die  stadtsässige  Bevölkerung  von  Byblos  die  Tore.  Anderwärts  macht 
sie  gemeinsame  Sache  mit  den  im  Lande  vordringenden  Feinden:  den  Regenten 
droht  der  Tod.  Die  Stadt  geht  verloren,  wenn  die  ägyptische  Garnison  infolge 
Ausbleibens  der  Lebensmitteldeputate  oder  Verweigerung  der  Fron  auf  den 
Dienstlehen  der  Statthalter  und  Soldaten  abzieht  oder  etwa  ihrerseits  revol- 
tiert. So  glaube  ich  die  Nr.  117,  37,  Nr.  138,  Nr.  77,  36,  Nr.  8t,  33,  Nr.  74,  Nr. 

Max    Weber,    Religionssoziologie  UL  2 


lg  Das  antike  Judentum. 

Statthaltern  des  Pharao  war  offensichtlich  schon  ähnlich  wie  später 
das  der  stadtsässigen  israelitischen  Sippen  zu  solchen  Militärfürsten, 
wie  etwa  Abimelech,  Gideons  Sohn,  einer  war.  Und  auch  in  einer 
anderen  Hinsicht  sind  offenbare  Gleichheiten  der  vorisraelitischen 
mit  der  israelitischen  und  sogar  noch  der  spätjüdischen  Zeit 
festzustellen.  Noch  in  den  talmudischen  Quellen  werden  mehrere 
Kategorien  von  Ortschaften  unterschieden,  and  zwar  derart, 
daß  zu  jeder  befestigten  Hauptstadt  eine  Anzahl  Landstädte 
und  zu  beiden  wieder  Dörfer  als  politische  Dependenzen  gehören. 
Der  gleiche  oder  ähnliche  Zustand  wird  aber  bereits  in  den 
Amarnabriefen  ^)  und  dann  ebenso  in  dem  aus  der  Königszeit 
stammenden  Josuabuch '^)    (Jos.  15,  45 — 47;  17,  11;  13,  23.  28; 

125  und  öfter  berührten  Verhältnisse  verstehen  zu  müssen,  in  teilweiser  Abwei- 
chung von  O.  Webers  vortrefflichei  Interpretation  in  Bd.  II  der  von  Knudtzon 
besorgten  Ausgabe.  Daß  es  sich  bei  den  wegen  Lebensmittelmangel  abziehenden 
Leuten  um  »Bauern«  handle,  scheint  mir  ganz  unwahrscheinlich.  Zwar  ist  der 
gebrauchte  Ausdruck  der  gleiche,  der  in  Mesopotamien  den  »Colonen«  (im  Gegen- 
satz zum  vollfreien  Patrizier)  bezeichnet.  Aber  die  [laxtp-oi  des  Pharao  waren 
eben  der  Masse  nach  m.it  sehr  kleinen  Lehen  (»Infanteristenlehen«)  beliehene 
Leute  und  die  »huubschtschi«  der  Urkunden  sind  doch  wohl  damit  leiturgisch 
bewidmete  Militärpfründner,  wie  sie  sich  in  Vorderasien  und  Aegypten 
typisch  finden.  Das  Feld,  d.  h.  das  Lehen,  des  Statthalters  ist  in  Nr,  74  infolge 
von  Verweigerung  der  Fronden  unbestellt  geblieben  und  deshalb  leidet  er  Not. 
Ebenso  geht  es  der  Garnison  und  deshalb  fällt  sie  ab.  Die  Garnisonen  sind  an 
Zahl  offenbar  sehr  klein:  50  und  weniger  Mann  Besatzung  fordern  die  Statt- 
halter gelegentlich  neu  an.  Klein  sind  die  Verhältnisse  überhaupt:  ein' Rinder- 
tribut des  Fürsten  von  Megiddo  beträgt  30  Stück.  Unwahrscheinlich  ist  es,  daß 
unter  den  Leuten,  welche  (Nr.  118,  36)  die  Stadt  den  Feinden  ausliefern,  die  Bauern 
zu  verstehen  seien:  wie  sollten  gerade  sie  das  machen?  stadtsässige  Leute  sind 
es,  die  in  Byblos  und  sonst  den  Abfall  bewerkstelligen.  Ich  kann  auch  dariif 
O.  Weber  (a.  a.  O.  S.  11 78)  nicht  beitreten:  daß  in  Tyros  und  anderen  Städten 
die  Aristokratie  ägyptisch,  der  Demos  aber  der  ägyptischen  Herrschaft  feindlich 
gewesen  sei.  Ein  machtvoller  Demos  hat  damals  selbst  in  den  größeren  Städten 
schwerlich  bestanden.  Es  waren  doch  wohl  die  Patrizier,  d.  h.  stadtsässige 
am  Handel  beteiligte  reiche  Sippen,  welchen  die  Leiturgien  und  Steuern  der  ägyp- 
tischen Herrschaft  lästig  waren.  Erhebliche  Geldzahlungen  kommen  in  den  Ur- 
kunden vor. 

1)  Knudtzon  Nr.  290:  eine  Landstadt  im  Gebiet  von  Jerusalem  ist  abge- 
fallen. Nr.  288  wird  erwähnt,  daß  der  Vizekönig  von  Jerusalem  früher  Schiffe 
auf  dem  Meer  gehalten  habe.  Auf  welchem  ?  Meines  Erachtens  auf  dem  Schilf- 
meer  im  Süden.  (Der  Abfall  von  Seir  in  Edom  wird  erwähnt.)  Die  Karawanen- 
straßen nach  dem  Schilfmeer  haben  die  Jerusalem  beherrschenden  Fürsten  stets, 
in  die  Hand  zu  bekommen  versucht.  Die  Herrschaft  der  Stadt  erstreckte  sich 
also  weit  in  die  Wüste. 

2)  Außer  Jos.  15,  45—47  werden  nur  Dörfer  (zerim),  nicht  außerdem  noch 
Städte,  als  Dependenzen  von  Städten  aufgeführt.  Indessen  wo  von  »Töchtern« 
die  Rede  ist,  ist  sicher  eine  Dependenzstadt  gemeint,  nicht  ein  Dorf.  Vgl.  über 
den  ganzen  Sachverhalt  Sulzberger,  Polity  of  the  ancient  Hebrews,  Jewish  Quar- 
terly  Review  N.  Ser.  (1912/13)  p.17.    Für  die  viehzüchtenden  Ostjordanstämme 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  ig 

Vgl.  Jud.  II,  27  und  Num.  21,  25.  32)  vorausgesetzt.  Er  hat  also 
offenbar  während  der  ganzen  Dauer  der  für  uns  überblickbaren 
Geschichte  überall  da  bestanden,  wo  die  städtische  Organisation 
des  Wehrverbandes  politisch  und  ökonomisch  zur  Vollentwick- 
lung gelangte.  Die  abhängigen  Orte  waren  dann  in  der  Lage 
von  Periökenortschaften,  d.  h.  politisch  rechtlos.  Die  Herren- 
sippen waren  oder  galten  als  stadtsässig.  In  Jeremias  Heimats- 
ort Anathot  gibt  es  »nur  kleine  Leute«,  die  kein  Verständnis  für 
seine  Prophetie  haben  (Jer.  5,  4),  also  geht  er  in  die  Stadt  Jeru- 
salem, wo  die  »Großen«  sind,  in  der  Hoffnung  auf  besseren  Erfolg. 
xMler  politische  Einfluß  liegt  in  der  Hand  dieser  Großen  der 
Hauptstadt.  Daß  unter  Zedekia  auf  Nebukadnezars  Befehl 
zeitweise  andere  als  sie  die  Gewalt,  vor  allem  die  Aemter,  inne- 
haben, gilt  als  eine  Anomalie,  deren  Möglichkeit  Jesaja  als  Straf- 
gericht bei  fortdauernder  Verworfenheit  der  Großen,  zugleich 
aber  als  ein  furchtbares  Uebel  für  das  Gemeinwesen  in  Aussicht 
stellte.  Aber  die  Leute  von  Anathot  galten  weder  als  Metöken, 
noch  als  Sonderstand,  sondern  als  Israeliten,  die  nur  nicht  zu 
den  »Großen«  gehörten  ^).  Hier  ist  also  der  Typus  der  herrschen- 
den Geschlechter-Polis  ganz  in  frühantiker  Art:  mit  politisch 
rechtlosen,  aber  doch  als  Freie  geltenden  Periöken-Orten  entwik- 
kelt. 

Die  Bedeutung  der  Sippen-Organisation  blieb  auch  in  den 
Städten  grundlegend.  Aber  neben  ihre  ausschließliche  Bedeutung 
für  die  soziale  Organisation  bei  den  Beduinenstämmen  tritt  in 
der  Stadt  die  Beteiligung  am  Grundbesitz  als  Grundlage  der 
Rechte  und  überwiegt  schließlich  jene.  Die  Gliederung  pflegte  im 
israelitischen  Altertum  ein"e  solche  nach  Vaterhäusern  (beth 
aboth) :  Hausgemeinschaften  also,  zu  sein,  welche  als  Unterteile 
der  Sippe  (mischpacha)  galten,  die  ihrerseits  Teile  des  Stammes 

(Kuben)  ist  cliarakteristisch,  daß  stets  von  »Geschlechtern,  Städten  und  Töch- 
tern« geredet  wird.  Hier  war  zur  Zeit  der  Redaktion  diese  Organisation  noch 
nicht  voll  durchgeführt. 

^)  Es  scheint  mir  die  einzige  Lücke  in  Eduard  Meyers  (sowohl  in:  »Die  Is- 
raeliten und  ihre  Nachbarstämme«  wie  in  »Entstehung  des  Judentums«)  vorzüg- 
lichen Ausführungen,  daß  diese  durch  die  ganze  Frühantike  bis  zur  »Demokratie« 
sich  hinziehende  Scheidung  nicht  betont  ist.  Nicht  alle  freien  Grundbesitzer 
waren  in  den  antiken  Staaten,  zumal  den  Stadtstaaten,  Aktivbürger  oder  gar 
politisch  gleichberechtigt,  sondern  nur  die  ökonomisch  voll  wehrfähigen;  das 
waren  in  Israel  die  gibbore  chail.  Es  gab  in  den  vollentwickelten  israelitischen 
Stadtstaaten  sicherlich  auch  freie  israelitische  Grundbesitzer,  die  zu  diesen 
nicht  gehörten  und  daher  wie  die  hellenischen  Periöken  und  die  römische 
Plebs  außerhalb  des  Vollbürgerschaft  standen. 


20  ^^s  antike  Judentum. 

(schebat)  waren.  Aber,  wie  wir  sahen:  die  Tradition  des  Josua- 
buchs  läßt  den  Stamm  bereits  in  Städte  und  Dörfer,  statt  in  Sip- 
pen imd  Familien,  zerfallen.  Ob  jeder  Israelit  einer  »Sippe« 
angehörte,  könnte  nach  anderen  Analogien  fraglich  sein.  Die 
Quellen  nehmen  es  an:  jeder  freie  Israelit  ist  wehrfähig.  Aber 
innerhalb  der  Wehrfähigen  entstand  eine  zunehmende  Diffe- 
renzierung. In  der  Tradition  werden  gelegentlich  (in  Gibeon 
Jos.  10,  2)  ausdrücklich  alle  Bürger  (anaschim,  anderwärts, 
z.  B  Jos.  9,  3  josebim)  einer  Stadt  mit  den  gibborim,  den  Krie- 
gern. (Rittern)  identifiziert.  Aber  das  ist  nicht  die  Regel. 
Unter  den  gibborim  werden  vielmehr  regelmäßig  die  bne  chail, 
die  »Söhne  von  Besitz«,  d.  h.  die  Besitzer  von  Erbland  verstan- 
den und  »gibbore  chail«  genannt,  zum  Unterschiede  ^)  Von  den 
gewöhnlichen  Mannen  ('am),  deren  militärisch  ausgebildeter  Teil 
später  (Jos.  8,11;  10,7;  2  Kön.25,  4)  »Kriegsmannen«  ('am  hamil- 
chamah)  genannt  wird.  Ein  gibbor  chail  heißt  Boas  im  Ruth- 
buche. Die  für  die  Auf  bringung  des  assyrischen  Tributs  von  König 
Menahem  mit  einer  Zwangs umlage  Von  je '50  Sekel  belegten 
größten  Besitzer  werden  ebenso  genannt  (2.  Kön.  15,  20,  die 
von  Ed.  Meyer  s.  Z.  mit  Recht  herangezogene  wichtigste 
Stelle),  und  ebenso  werden  zuweilen  scheinbar  ganz  allgemein 
alle  Kriegsleute  bezeichnet.  Aber  ein  »ben  chail«  ist  ebensowenig 
wie   im  spanischen,  wörtlich  gleichbedeutenden  Ausdruck,   »Hi- 


^)  »*Am«  und  »gibborim«  nebeneinander  finden  sich  in  der  ziemlich  verderb- 
ten Stelle  des  Deboraliedes  (Jud.  5,  13).  Vv'enn  man  Kittel's  Lesart  annimmt 
und  am  Schluß  kaggibborim  liest,  wie  Greßmann  vorschlägt,  ergibt  sich  ein  klarer 
Sinn,  der  aber  voraussetzt,  daß  *am  und  gibborim  zweierlei  sind,  letztere  »Rit- 
ter«, erstere  die  israelitischen  Bauern  (cf.  dafür  Vers  ii  und  14),  die  »wie  Ritter* 
gekämpft  haben,  aber  es  eben  nicht  sind.  Dagegen  scheint  die  Stadt  Meros 
(nach  Vers  23)  die  Verpflichtung  gehabt  zu  haben,  dem  Bunde  mit  Rittern 
(gibborim)  zu  Hilfe  zu  kommen  und  es  ist  charakteristisch,  daß  das  Siegeslied 
zwar  diese  Stadt,  aber  nicht  die  doch  ebenso  wie  sie  bundesbrüchigen 
bäuerlichsn  Stämme  verflucht  und  also  des  Banns  und  der  Vernichtung  im 
heiligen  Krieg  für  wert  hält.  Ganz  regelmäßig  ist  gibbor,  wie  in  Gen.  6  oder  in 
den  Listen  der  Paladine  Davids,  der  ritterliche  Recke.  Farblos  ist  der  nament- 
lich im  Josuabuch,  aber  auch  in  den  Königsbüchern  heimische  Ausdruck  *am 
hamilchamah,  »Kriegsvolk«.  Jos.  10,  7  wird  es  n  e  b  e  n  »gibbore  chail«  gebraucht. 
Als  zweierlei  dürften  gibbor  und 'am  hamilchamah  wohl  Jes.  3,  3  nebeneinander 
auftreten.  Als  die  ansehe  chail  erscheinen  aber  die  gibborim  Jes.  6.  22,  und  daß 
keineswegs  alle  Kriegsleute  schon  als  solche  gibborim  sind,  zeigt  Jer,  5, 16,  wo  von 
dem  zur  Strafe  Judas  herbeikommenden  fremden  kriegerischen  Volk  gesagt  ist,  sie 
seien  alle  »gibborim«,  d.  h.  in  diesem  Fall:  trainierte  Krieger.  —  Wie  überaus 
kostspielig  die  Rüstung  eines  gibbor  in  der  Zeit  der  Entstehung  des  Samuel- 
buchs war,  zeigt  die  Goliath-Erzählung.  Er  bedarf  eines  Schildträgers,  wie  er 
auch  für   Saul  erwähnt  wird. 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  2  I 

dalgo«  jeder  Besitzer  von  irgendwelchem  Land.  Sondern  »bne 
chail«  sind  die  ökonomisch  kra,ft-  ihres  ererbten  Besitzes  zur 
vollwertigen  Selbstequipierung  fähigen,  also  die 
ökonomisch  voll  wehrfähigen  und  wehrpflichtigen,  deshalb 
politisch  vollberechtigten  Sippen.  Bei  diesen  Sippen  war  überall 
und  in  allen  Zeiten,  wo  kostspielige  Bewaffnung  und  Ausbildung 
militärisch   ausschlaggebend   war,   die   politische   Macht  ^). 

Auch"  wo,  wie  in  der  frühen  Antike  sehr  oft,  ein  erbcharis- 
matischer Stadtfürst  (nasi)  an  der  Spitze  der  Stadt  stand,  hatte 
er  die  Gewalt  als  primus  interpares  mit  den  Aeltesten  (sekenim) 
dieser  Sippen  zu  teilen.  Außerdem  aber  mit  den  Familienhäup- 
tern (roschi  beth  aboth)  seiner  eigenen  Sippe.  Die  Macht  dieser 
konnte  so  groß  und  zugleich  das  Uebergewicht  der  Fürstensippe 
über  alle  anderen  Sippen  der  Stadt  und  deren  Aelteste  so  bedeu- 
tend sein,  daß  die  Stadt  als  eine  Oligarchie  der  Familienhäupter 
der  Fürstensippe  erschien,  wie  wir  dies  in  der  israelitischen  Ge- 
schichte sehr  regelmäßig  finden.  Die  Verhältnisse  waren  aber 
wohl  verschieden.  Sichern  wird  in  den  Genesiserzählungen  durch 
eine  reiche  Sippe,  die  bne  Chamor,  beherrscht,  deren  Haupt  den 
Titel  Nasi  (Fürst)  führt  und  »Vater  Sichems«  heißt  (Jud.  8,  28). 
Für  wichtige  Angelegenheiten,  z.  B.  für  die  Aufnahme  Fremder 
in  den  Bürger-  und  Bodenrechtsverband  bedarf  dieses  Stadt- 
haupt der  Zustimmung  der  »Mannen«  (anaschim)  Sichems. 
Neben  diese  alte  Herrensippe  trat  nach  dem  Midianiterkrieg 
als  übermächtige  Konkurrentin  die  Sippe  Gideons,  welche  dann 
in  der  Revolte  gegen  Abimelech  wieder  durch  die  Sippe  Chamors 
verdrängt  Wurde.  Die  Sippen  waren,  wie  in  frühhellenischer 
Zeit,  oft  interlokal  angesessen:  zuweilen  hatte  eine  Sippe  die 
Vormacht  in  mehreren,  namentlich  kleineren  Städten.  So  hatte 
in  Gilead  die  Sippe  Jairs  die  Macht  über  eine  ganze  Gruppe 
von  Zeltdörfern,  die  später  gelegentlich  auch  »Städte«  genannt 
werden.  Die  reale  Macht  lag  in  aller  Regel  in  den  Händen  der 
»Aeltesten«  (sekenim).  Diese  erscheinen  in  allen  denjenigen 
Teilen  der  Ueberlieferung,  welche  auf  dem  Boden  der  Stadtver- 
fassung stehen,  also  vor  allem  im  deuteronomischen  Gesetz, 
als  eine  »im  Tor«,  d.  li.  auf  dem  Marktplatz  am  Tor  der  Stadt 
sitzende,  Gericht  haltende  und  die  Verwaltung  regelnde  ständige 
Behörde,  die  Sikne  ha  gir,  deren  Existenz  im  Josuabuch  fürkanaa- 

^)  Daü  die  »40  000«  in  Israel  (Jud.  5,  8)  als  gibbore  chail  gegolten  hätten, 
wie  Ed.  Meyer  annimmt,  erscheint  ausgeschlossen.  Im  Deboralied  werden 
gibborim  gerade  dort  nicht,  sondern  bei  der  .Stadt  Meros  erwähnt. 


22  I^iis  antike  Judentum. 

näische  ebenso  wie  israelitische  Städte  vorausgesetzt  wird.  Für 
die  Stadt  Jesreel  werden  neben  den  Aeltesten  »Edle«  (chorim) 
erwähnt.  Anderwärts  tauchen  neben  den  Aeltesten  die  Häupter 
der  Vaterhäuser  (roschi  beth  aboth)  auf,  die  man  auch  in  der 
Spätzeit  (Esra)  als  Repräsentanten  der  Städte  neben  den  sekenim 
und  den,  damals  offenbar  mit  diesen  identischen,  anders  bezeich- 
neten Stadtvorstehern  findet.  Im  ersten  Fall  scheint  es  sich  also 
um  einen  charismatischen  Dauervorzug  eines  oder  mehrerer 
Geschlechter  zu  handeln,  welche  die  Stadtmagistratur  stellen, 
im  letzteren  um  die  Familienhäupter  aller  wehrhaften  Sippen 
der  Stadt.  Auch  in  den  älteren  Traditionen  finden"  sich  solche 
Unterschiede.  Inwieweit  diesen  terminologischen  Verschieden- 
heiten wirklich  verschiedene  politische  Organisationen  entspra- 
chen, ist  aber  nicht  überliefert  und  nicht  ersichtlich.  Die  charis- 
matische Honoratiorenstellung  einer  Sippe  hing  natürlich  vor 
allem  von  ihrer  militärischen  Macht  und,  was  damit  zusammen- 
hing, von  ihrem  Reichtum  ab.  Die  Stellung  dieser  grundgesesse- 
nen städtischen  Sippen  entsprach  wohl  etwa  derjenigen  Oligarchie, 
welche  aus  der  Darstellung  Snouck  Hurgronjes  für  Mekka  be- 
kannt ist.  Die  gibbore  chail,  die  besitzenden  Kriegshelden,  entspre- 
chen den  römischen  »adsidui«.  Auch  die  philistäische  Ritterschaft 
bestand  aus  trainierten  Kriegern.  Ein  »Krieger  von  Jugend  auf« 
wird  Goliath  genannt:  das  setzt  Besitz  voraus.  Die  altisraeliti- 
schen politischen  Machthaber  der  bergsässigen  Stämme  werden 
dagegen  gelegentlich  »Stabträger«  genannt,  wie  die  homerischen 
Fürsten  auch. 

Beim  Vergleich  der  israelitischen  mit  den  vorisraelitischen 
und  mit  den  mesopotamischen  Verhältnissen  fällt  auf:  daß  an 
Stelle  des  einen  Stadtkönigs  der  Amarnazeit  und  noch  der  späten 
Ramessidenepoche  und  des  einen  Ortsältesten  der  babylonischen 
Urkunden  in  Israel  niemals  nur  ein  Aeltester,  sondern  stets 
deren  mehrere  genannt  werden  ^) :  ein  ebenso  sicheres  Zeichen 
der  Geschlechterherrschaft  wie  die  Mehrheit  der  Suffeten  und  der 
Konsuln. 

Anders  gestaltete  sich  die  Lage,  wenn  em  charismatischer 

1)  Der  Gegensatz  ist  nicht  absolut.  Im  babylonischen  Sintflutmythos 
werden  Volk  und  »Ael teste«  einer  Stadt  vorausgesetzt  (Uebersetzung  bei  Gunkel, 
Schöpfung  und  Chaos  S.  424  Zeile  33)  und  andererseits  heißt  Chamor  der  :> Vater« 
Sichems,  freilich  wohl  nur  als  Geschlechtseponymcs.  Ein  einzelner  Aeltester 
schon  in  den  alten  Texten  aus  Ur:  N.  d.  Genouillac,  Textes  jurid.  d.  l'ep.  d'Ur. 
Rev.  d'Assjrr.  8  (191 1)  p.  2. 


I.     Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  23 

Kriegsfüist  durch  Werbung  einer  persönlichen  Gefolgschaft 
oder  einer  besoldeten,  oft  fremdbürtigen,  jedenfalls  nur  von  ihm 
abhängigen  Leibgarde,  durch  Rekrutierung  ihm  persönlich  er- 
gebener Beamter  (sarim)  aus  jenen  Gefolgsleuten  oder  auch  aus 
Sklaven,  Freigelassenen,  politisch  rechtlosen  Unterklassen,  es 
dahin  brachte,  sich  als  Stadtherr  von  der  Aristokratie  der  Aelte- 
sten  unabhängig  zu  machen.  Stützte  er  seine  Herrschaft  gänz- 
lich auf  diese  Machtquellen,  so  entstand  jene  Form  des  Fürsten- 
tums, welche  die  königsfeindliche  Auffassung  später  mit  dem  Be- 
griff »Königtum«  verband.  Der  alte  legitime  erbcharismatische 
»Fürst«  war  für  sie  ein  Mann,  derauf  dem  Esel  reitet:  auf  diesem 
Reittier  der  vorsalomonischen  Zeit  soll  nach  ihrer  Ansicht  daher 
auch  der  messianische  Fürst  der  Zukunft  dereinst  wiederkommen. 
Ein  »König«  dagegen  ist  ihr  ein  Mann,  der  Rosse  und  Kriegswagen 
hält  nach  Art  des  Pharao.  Mit  seinem  Hort,  seinen  Magazinen, 
seinen  Eunuchen  und  vor  allem  mit  der  in  seiner  Menage  befind- 
lichen Garde  beherrscht  er  von  seinen  Burgen  aus  die  Stadt 
und  die  abhängige  Landschaft,  setzt  seine  Vögte  über  sie,  gibt 
seinen  Gefolgsleuten,  Offizieren  und  Beamten  Lehen,  vor  allem 
wohl  Burglehen  —  wie  sie  vermutlich  die  »Leute  von  der  Burg 
(mill ))«  in  Sichem  hatten  (Jud.  9,  6.  20),  legt  Fronden  auf  und 
erweitert  dadurch  den  Ertrag  seines  eigenen  Grundbesitzes. 
In  Sichem  hat  König  Abimelech  seinen  Burgvogt  sitzen  (Jud.  9, 
26 — 30),  dem  die  alte  erbcharismatische  Autorität  der  bne  Chamor 
hat  weichen  müssen.  Die  altisraelitische  Tradition  sieht  solche 
persönliche  Militärherrschaft  eines  Einzelnen  als  »Tyrannis«  an. 
Das  Gleichnis  von  der  Herrschaft  des  Dornbuschs  und  der 
Fluch :  daß  Feuer  vom  König  Abimelech  auf  die  Patrizier  von 
Sichem  und  ebenso  von  diesen  auf  jenen  ausgehen  möge,  kenn- 
zeichnet den  Gegensatz  zwischen  charismatischer  Tyrannis  und 
erbcharismatischem  Patriziat.  Der  »Tyrann«  stützt  sich  eben, 
wie  in  Athen  Peisistratos,  auf  geworbene  »arme  Leute«  (rekim) 
und  das  sind  »Taugenichtse«  (phichasim«  Jud.  9,  4) :  — wir  werden 
von  ihrer  sozialen  Herkunft  noch  zu  sprechen  haben.  Der  Ueber- 
gang  zwischen  Fürstentum  und  Stadtkönigtum  war  aber  in 
Wahrheit  natürlich  durchaus  flüssig.  Denn  in  der  ganzen  israe- 
litischen Antike  blieben  die  großen  grundsässigen  Sippen  und  ihre 
Aeltesten  in  aller  Regel  ein  auch  Von  dem  mächtigsten  König 
auf  die  Dauer  nicht  zu  ignorierendes  Element.  Wie  es  für  die 
ältere  Zeit  die  seltene  Ausnahme  ist,  wenn  von  einem   »Huren- 


2A  Das  antike  Judentum. 

söhn«,  also  einem  P^mporkömmling  (Jephta)  als  charismatischem 
Führer  berichtet  wird,  so  in  der  Königszeit  bei  den  Beamten  der 
Könige.  Im  Nordreiche  finden  sich  freilich  mehrere  Könige  ohne 
Vatersnamen,  also  ohne  Abkunft  aus  vollwertiger  Sippe;  Omri 
trägt  überhaupt  keinen  israelitischen  Namen.  Das  priester- 
liche Königsrecht  im  Deuteronomium  hält  es  daher  für  nötig, 
israelitische  Blutsreinheit  als  Vorbedingung  der  Königswürde 
einzuschärfen.  Ueberall  aber  hat  der  König  mit  den  gibbore  chail, 
den  voll  wehrfähigen  Grundbesitzern  und  den  Honoratioren- 
Vertretern:  den  Sekenim  der  großen  Sippen,  zu  rechnen,  welche 
für  die  Redaktoren  der  echten  politischen  Tradition  auch  im 
Deuteronomium  (Deut.  Kap.  21,  22,  25  im  Gegensatz  zu  den 
theologisch  beeinflußten  Stellen  16,  18  und  17,  8.  9)  die  allein 
legitimen  Vertreter  des  Volkes  sind.  Die  Machtlage  schwankte. 
Ein  König  kann  es  unter  Umständen  wagen,  im  Notfall  die  gibbore 
chail  zu  besteuern,  wie  Menahem  für  den  assyrischen  Tribut  tat. 
Und  es  ist  allerdings  auch  zu  beobachten^),  daß,  im  Gegensatz  zu 
allen  anderen  Epochen,  die  Stadtältesten  in  der  Zeit  zwischen  Sa- 
lomo  undjosia  in  den  Quellen  stärker  zurücktreten;  ja  es  ist  mög- 
lich, daß  sie  in  ihrer  richterlichen  Stellung  wenigstens  in  denResiden- 
zen,  die  ja  königliche  Festungen  waren,  ganz  durch  die  Vögte 
und  Beamten  der  Könige  verdrängt  wurden  und  nur  in  den  Land- 
gebieten ihre  alte  Stellung  behielten,  Wie  dies  in  fast  allen  Monar- 
chien Asiens  der  Fall  war.  Allein  sobald  die  Machtstellung  des 
Königtums  (z.  B.  infolge  einer  Revolution,  wie  unter  Jehu) 
sank,  vollends  aber  nach  dem  gänzlichen  Wegfall  des  Königs- 
tums  in  nachexilischer  Zeit,  treten  alsbald  die  Aeltesten  in-  den 
Städten  wieder  in  der  alten  Machtstellung  auf.  Was  aber  noch 
wichtiger  war:  nur  ganz  ausnahmsweise  spielten  Königssklaven 
und  Eunuchen  in  der  Wahrnehmung  amtlicher  Funktionen  eine 
Rolle.  Fremdbürtige  oder  aus  niedrigem  Stand  emporgestiegene 
Gefolgsleute,  Offiziere  und  Beamte  finden  sich  allerdings.  Am 
meisten  in  den  Anfängen  des  Aufstiegs  eines  neuen  Fürsten. 
Vielleicht  von  der  Zeit  Davids  and  Salomos  abgesehen,  sind  aber 
in  normalen  Zeiten  die  wichtigen  Aemter  wenigstens  im  judäi- 
schen  Stadtkönigtum  ganz  überwiegend  in  den  Händen  alter 
einheimischer  reicher  Geschlechter.    Einem  solchen  gehörte  z.  B. 

^)  Hierüber  und  über  die  Aeltesten  überhaupt  die  gute  Leipziger  Disser- 
tation von  Seesemann,  Die  Aeltesten  im  A.  T.  (189 1).  Auf  den  Gegensatz 
innerhalb  des  Deuteronomium  hat  zuerst  Puukko  in  der  später  zu  zitierenden 
Schrift  über  dies  Rechtsbuch  S.  237  hingewiesen. 


I,     Die   israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  2K 

auch  Davids  Feldhauptmann  Joab  an,  und  die  Ueberlieferung  (2. 
Sam.  3,  39)  läßt  erkennen,  daß  gegenüber  seiner  mächtigen  Sippe 
König  David  nicht  in  der  Lage  war,  eine  Bestrafung  gegen  ihn 
zu  wagen  und  deshalb  seine  Rache  auf  dem  Totenbett  Salomo  an- 
empfahl. Der  Haß  der  vornehmen  Geschlechter  Jerusalems  spricht 
aus  dem  Orakel  Jesaias  (22,  15)  gegen  den  landfremden  Haus- 
meier Sebea  Normalerweise  hat  kein  König  gegen  den  Willen  der 
Geschlechter  dauernd  regieren  können.  Die  »Sarim  von  Jeru- 
salem« und  »von  Juda«,  von  denen  Jeremia  (34,  19)  spricht,  gelten 
ihm  zugleich,  wie  der  Zusammenhang  ergibt,  als  Vertreter  der 
reichsten  Familien  des  Landes. 

Wenn  so  die  vollentwickelte  altisraelitische  Stadt  ein  Verband 
der  ökonomisch  Wehrfähigen  erbcharismatischen  Sippen  war, 
ganz  ebenso  wie  die  frühhellenische  und  die  frühmittelalterliche, 
so  war  dieser  Verband  auch  hier  ebenso  wie  dort  labil  in  seiner 
Zusammensetzung.  Sippen  wurden  in  der  vorköniglichen  Zeit 
neu  zu  vollem  Recht  in  die  Stadt  aufgenommen  (Jud.  9,  26), 
andere  ausgetrieben,  Blutrache  und  Fehden  zwischen  den  Stadt- 
sippen und  Bündnisse  einzelner  von  ihnen  nach  außen  waren  offen- 
bar nichts  Seltenes.  Die  Einzelsippe  gewährte  auch  hier  Fremden 
ein,  freilich  nach  der  Tradition  oft  prekäres,  Gastrecht. 

Politisch  entspricht  dieser  Zustand  etwa  dem,  was  für  die 
hellenische  Geschlechterstadt  und  für  Rom  in  der  Zeil  der  Auf- 
nahme der  gens  Claudia  in  den  Bürgerverband  gegolten  haben 
muß.  Nur  war  der  Zusammenhalt  eher  noch  lockerer.  Ein  förm- 
licher Synoikismos  ist  erst  die  Stadtgründung  Esras  und  Nehe- 
mias  mit  ihrer  festen  Verteilung  der  Leiturgien  auf  die  zur  Eiri- 
siedelung  in  die  Stadt  sich  verpflichtenden  Sippen.  Wie  dagegen 
die  städtischen  Lasten,  auch  die  Heereslast,  der  Frühzeit  verteilt 
waren,  wissen  wir  nicht.  Im  Verhältnis  zu  den  umfassenderen 
politischen  Verbänden:  Stamm,  Bund,  War  die  Stadt  offenbar 
einem  Aufgebotskontingent  —  wie  es  scheint  einem  Vielfachen 
der  taktischen  Einheit  von  50  Mann  ^),  oft  einer  Tausendschaft 
—  gleichgesetzt  ^) .  Ueber  die  sonstigen  Beziehungen  zwischen 
Stammverband  und  Stadt  lassen  uns  die  Quellen  völlig  im  Dun- 
keln ^).    Der  »Stamm«  war  hier  Vermutlich   eine  Angelegenheit 

^)  »Füntzigern«  gleich  vlVJustcrn«  Exod.  13,  iS;  Jud.  7,  ii;  JOb. 
I,  14;  4,  12  (vgl.  Ed.  Meyer  a  a.  O.) 

2)  Tausendschaften  Orten  gleichgesetzt:    Jud.  6    (für  Ophra). 

')  Ueber  schebatim,  mischpachoth  und  alapl  im  s.  Sulzbergcr,  The  polity 
of  the  ancient  Hebrews,  Jewish  Q.  R.  N.  S.  3  (1912/3)  p.  i  f.  mitmancben  anfecht- 
baren Aufstellungen. 


2(3  Das  antike  Judentum. 

jener  ökonomisch  wehrhaften  Sippen,  die  ihm  traditionell  ange- 
hörten. Die  vollfreien  Plebejer  dagegen  gehörten  wohl  lediglich 
dem  Ort  ihrer  Ansiedelung  an:  darauf  läßt  die  formelle  Behand- 
lung der  plebs  beim  Synoikismos  nach  dem  Exil  schließen.  Die 
Wandlung  der  Militärtechnik  muß  da  mitgesprochen  haben. 
Jedenfalls  beruhte  in  den  philistäischen  und  kanaanäischen 
Stadtverbänden  auf  dem  Aufgebot  der  eisernen  Kriegswagen 
der  Rittersippen  die  militärische  und  politische  Herrschaft  des 
Patriziats  über  das  umliegende  Land  und  seine  Bewohner  und 
ebenso  zweifellos  in  den  israelitischen  Städten. 

Nicht  nur  politisch,  sondern,  wie  in  der  althellenischen  und 
altitalischen  Polis,  auch  ökonomisch  beherrschten  die  stadtsässi- 
gen  Patriziersippen  das  flache  Land.  Sie  lebten  von  den  Renten 
ihres  ländlichen  Grundbesitzes,  den  sie  durch  fronende  oder 
zinsende  Sklaven  oder  Hörige  oder  durch  Colonen  (Natural- 
oder  Teilpächter),  die  in  typisch-antiker  Art  besonders  stark  aus 
Schuldsklaven  rekrutiert  waren,  bewirtschafteten  und 
durch  Bewucherung  der  freien  Bauern  ständig  vermehrten.  Die 
antike  Klassenschichtung:  der  stadtsässige  Patriziat  als  Gläu- 
biger, die  Bauern  draußen  als  Schuldner,  bestand  also  auch  in  den 
israelitischen  Städten.  Die  .Mittel  zur  Bewucherung  des  platten 
Landes  bezogen  die  stadtsässigen  Sippen  auch  dort  teilweise 
zweifellos  durch  direkte  oder  indirekte  Einkünfte  aus  Handels- 
gewinsten. Denn  Palästina  War  in  geschichtlicher  Zeit,  soweit 
wir  zurückblicken  können,  ein  Durchgangsland  für  den  Handel 
zwischen  Aegypten,  den  Orontes-  und  Euphratgebieten,  dem 
Roten  und  dem  Mittelmeer.  Im  Deboralied  tritt  die  Bedeutung 
der  Karawanenstraßen  für  die  Wirtschaft  stark  hervor:  daß  sie 
still  Hegen  und  die  Reisenden  auf  krummen  Pfaden  schleichen 
müssen,  wird  als  Folge  des  Konflikts  zwischen  dem  kanaanäischen 
Patriziat  und  der  Eidgenossenschaft  ebenso  stark  hervorgehoben 
wie  das  Feiern  der  Bauern  auf  dem  Felde.  Sehr  wesentlich 
um  die  Herrschaft  über  diese  Straßen  handelte  es  sich  auch  bei 
den  Versuchen  der  Städte,  das  Bergland  zu  unterwerfen,  und  sicher 
sehr  wesentlich  auch  um  der  Vorteile  willen,  die  dieser  Handel 
bot,  und  nicht  nur  wegen  der  Teilnahme  an  der  politischen  Herren- 
stellung, wurde  die  Stadtsässigkeit  hier  wie  in  der  ganzen  Früh- 
antike von  den  mächtigen  Sippen  gesucht.  Entweder  sie  selbst  be- 
teiligten sich  sei  es  am  Platzhandel  oder,  an  der  Küste,  am  See- 
handel oder,  im  Binnenland,  am  Karawanenhandel,  namentlich 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  27 

wohl  in  der  Form  der  Kommenda  oder  ähnlicher  Rechtsformen 
von  Kapitalvorschüssen,  v^^ie  sie  das  in  Israel  genau  bekannte 
altbabylonische  Recht  darbot.  Oder  sie  hatten  Stapel-  und  Um- 
schlags- oder  Geleitrechte  oder  erhoben  Abgaben.  Wir  wissen 
das  nicht  näher.  Jedenfalls  aber  lieferten  diese  Einkünfte  wohl 
wesentliche  Teile  der  Mittel  sowohl  zur  Landakkumulation  und 
persönlichen  Schuldversklavung  der  bewucherten  Bauern  als 
zur  eigenen  militärischen  Equipierung  und  Ausbildung.  Das 
alles  sind  die  typischen  Erscheinungen  der  frühantiken  Polis. 
Für  sie  blieb  hier  wie  überall  entscheidend,  daß  sie  Trägerin 
der  damals  höchstentwickelten  militärischen  Technik  war.  Denn 
der  stadtsässige  Patriziat  war  in  Palästina  Träger  des  von  der 
Mitte  des  2.  Jahrtausends  an  sich  über  die  ganze  Erde,  von  China 
bis  Irland  verbreitenden  ritterlichen  Wagenkampfs,  dessen  Kosten, 
bei  Selbstequipierung,  nur  die  vermögendsten  Sippen  aus  eigenen 
Mitteln  ökonomisch  gewachsen  waren.  Dem  was  wir  von  der 
Polis  der  Mittelmeergebiete  kennen,  entspricht  es  denn  auch, 
daß  die  Bauern  des  besten,  des  r  e  n  t  e  n  fähigen  Bodens,  es 
vornehmlich  waren,  deren  Landbesitz  dem  Akkumulationsstreben 
in  patrizischen  Händen  am  meisten  ausgesetzt  und  militärisch 
am  wenigsten  zum  Widerstand  in  der  Lage  war.  Wie  in  Attika 
die  fruchtbare  Pedia  der  Sitz  der  patrizischen  Grundherrschaften 
war,  so  auch  in  Palästina  die  Ebenen.  Und  wie  in  Attika  die 
Diakrioi  an  den  militärisch  für  die  Ritterschaft  am  schwersten 
zugänglichen  Berghängen,  auf  dem  rente  losen  Boden,  sitzen, 
so  auch  in  Israel  die  freien  Bauern  und  Hirtensippen,  die  auch 
ihrerseits  abgabepflichtig  zu  machen  der  Stadtpatriziat  mit 
wechselndem  Erfolge  versucht.  — 

Von  diesen  freien  in  der  Frühzeit  Israels  offenbar  zum  größten 
Teil  außerhalb  aller  städtischen  Verbände  lebenden  Bauern 
und  ihrer  sozialen  und  politischen  Organisation  erfahren  wir  nun 
in  den  Quellen  gar  nichts.  Diese  Erscheinung  ist  an  sich  typisch. 
Ebenso  wie  man  infolge  des  Fehlens  ausführlichen  Quellenmate- 
rials über  die  freien  Bauern  für  die  römische  Frühzeit  geglaubt 
hat,  es  habe  außer  den  Patriziern  nur  Klienten  und  für  die  römi- 
sche Spätzeit,  es  habe  nur  Großgrundbesitzer  und  Sklaven, 
für  Aegypten,  es  habe  nur  Beamte  und  unfreie  Arbeiter  oder 
Bauern  auf  Königsland  gegeben,  und  wie  man  für  Sparta  unwill- 
kürlich mit  der  Vorstellung  belastet  ist,  als  habe  es  nur  Spartiaten 
und  Heloten  gegeben,  so  stehen  die  freien  Bauern  des  alten  Israels 


28  Das  antike  Judentum. 

im  tiefen  Schatten  des  Schweigens  der  Quellen,  aus  denen  eigent- 
lich fast  nichts  als  eben  ihre  Existenz  und  ursprüngliche  Macht- 
stellung zu  entnehmen  ist.  Diese  ist  freilich  aus  dem  Deboralied, 
welches  den  siegreichen  Kampf  des  israelitischen  Bauernstandes 
unter  Debora  und  Barak  gegen  den  kanaanäischen  Städtebund 
unter  Siseras  Führung  besingt,  ganz  unzweifelhaft  ersichtlich. 
Ihre  Lebensverhältnisse  aber  sind  sehr  dunkel. 

Ganz  unbekannt  ist  vor  allem  die  Art  ihrer  politischen  Or- 
ganisation. Die  untereinander  verschiedenen  alten  Bezeichnun- 
gen für  ihre  Führer,  z.  B.  im  Deboralied,  sagen  uns  über  die  innere 
Struktur  der  politischen  Verbände  nichts.  Ebenso  nicht  über  Art 
und  Maß  der  sozialen  Differenzierung,  welche  offenbar  auch  unter 
den  Bauern  des  Gebirges  bestand.  Die  militärische  Gliederung  nach 
Tausendschaften  scheint  schon  bei  ihnen  heimisch  gewesen  zu 
sein^)  — die  runde  Zahl  von  40000  Waffenfähigen  im  ganzen  Israel, 
welche  im  Deboralied  genannt  wird,  legt  das  nahe.  Aber  alles  weitere 
ist  unbekannt.  Ebenso  steht  es  mit  den  ökonomischen  Verhält- 
nissen. Von  Feldgemeinschaft  finden  sich  sichere  Spuren  nicht. 
Man  hat  einige  Stellen  darauf  gedeutet  und  zumVergleich  die  heuti- 
gen Verhältnisse  herangezogen,  wo  die  vermutlich  aus  Abgabepäch- 
tern hervorgegangenen  Grundherren  in  einigen  Gebieten  Palästinas 
gelegentlich  Landzuteilungen  vornehmen.  Allein  dies  sind  pol- 
tisch bedingte  Verhältnisse  orientalischer  Sultansherrschaft, 
die  nichts  für  die  bäuerliche  Frühzeit  Israels  ergeben.  Wenn  von 
Jeremia  berichtet  wird,  daß  er  sich  auf  das  Land  begeben  habe, 
um  seinen  Anteil  unter  seinen  »Leuten«  ('am)  zu  empfangen 
(Jer.  37,  12),  so  ist  diese  allein  wichtige,  aber  in  ihrer  Deutung 
unsichere,  von  den  dafür  angeführten  Stellen  wohl  dahin  zu  ver- 
stehen: daß  die  großen  Sippen  unter  Umständen  über  Landbe- 
sitz verfügten,  sei  es  über  dauernd  gemeinsamen  Sippenbesitz, 
der  periodisch  umgeteilt  wurde,  sei  es  über  erbloses  Land  eines 
Genossen.  Jedenfalls  war  Jeremia  kein  »Bauer«.  Die  Stelle  bei 
Micha  (2,  5),  welche  den  Anteil  der  Frauen  in  der  Gemeinde 
(Rahel)  als  chelob  bezeichnet,  zeigt  nur,  daß  die  Anteile  erst  bei 

*)  Die  »Tausendschaften«  scheinen  auch  bei  den  Edomitern  und  im  Ost- 
jordanland heimisch  zu  sein.  Gideon  spricht  von  seiner  »Tausendschaft«,  dagegen 
Abimelech  und  Sau!  von  ihrer  Mischpacha  (Ed.  Meyer),  Allein  die  Gideon-Tra^ 
dition  ist  notorisch  stark  überarbeitet  und  die  Militärverfassung  des  charisma- 
tischen Königreichs  der  Edomiter  würde  nichts  Sicheres  für  die  ursprünglich 
charakteristische  Organisation  der  Nomaden  und  Halbnomaden  beweisen.  Ed. 
Meyer  selbst  bringt  ja  die  Tausendschaft  mit  dem  Kleros  (chelek)  in  Verbindung, 
welcher  der  Stadtsässigkeit  eigen  ist. 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  2Q 

der  Siedelung  mit  dem  Strick  zugemessen  wurden,  beweist  aber 
nichts  für  periodische  Umteilungen.  Ob  das  »Sabbatjahr<< 
irgendwie  mit  einer  feldgemeinschaftlichen  Vergangenheit  zu- 
sammenhängen könnte,  ist  später  zu  erörtern,  bleibt  aber,  wie 
vorweg  bemerkt  sei,  mehr  als  fraglich.  Im  übrigen  läßt  sich 
die  Lage  der  freien  Bauern  nur  indirekt  erschließen.  Daß  der 
altisraelitische  Bund  in  stärkstem  Maße  gerade  ein  Bauernbund 
war,  zeigt  das  Deboralied,  welches  die  Bauern  den  kanaanäischen 
Rittern  des  Städtebundes  entgegenstellt  und  rühmt,  daß  sie  »wie 
gibborim«  gekämpft  haben.  Daß  der  Bund  in  historischer  Zeit 
niemals  nur  Bauernbund  war,  steht  ebenfalls  fest.  In  den  Heeren 
der  späteren  Königszeit  ist  von  »Bauern«  keine  Rede  mehr  oder 
mindestens  sind  diese  nicht  Träger  der  Wehrkraft.  Schon  die 
Wahrscheinlichkeit  spricht  dafür,  daß  ökonomische  und  mili- 
tärtechnische Verschiebungen  hier  die  gleiche  Rolle  gespielt 
haben  wie  überall  sonst.  Der  Uebergang  zur  kostspieligeren  Rü- 
stung schaltet,  bei  Geltung  des  Prinzips  der  Selbstequipierung 
des  Heeres,  die  ökonomisch  dazu  nicht  fähigen  kleineren  Grund- 
besitzer überall  aus  dem  voll  wehrfähigen  Heeresverbande  aus, 
zumal  ihre  ökonomische  »Unabkömmlichkeit«  schon  an  sich 
wesentlich  geringer  ist  als  die  der  Grundherrn,  die  von  Renten 
leben.  Die  Heraushebung  der  gibbore  chail  aus  der  Masse  der 
freien  Krieger,  der  'am,  beruht  zweifellos  auf  diesem  Umstand, 
und  es  ist  anzunehmen,  wenn  auch  im  einzelnen  nicht  greifbar, 
daß  der  Bruchteil,  welchen  die  Schicht  der  ökonomisch  wehr- 
fähigen und  deshalb  politisch  vollberechtigten  Krieger  in  Israel 
bildete,  sich  mit  zunehmender  Kostspieligkeit  der  Rüstung  zu- 
nehmend verminderte.  In  der  nachexilisch  redigierten  Chronistik 
werden  zwar  die  gibborim  und  bne  Chail  gelegentlich  mit  allen 
Männern  identifiziert,  welche  »Schild  und  Schwert  führen« 
und  »den  Bogen  spannen«  ^),  oder  auch  einfach  mit  »Bogenschüt- 
zen« 2).  Allein  die  Chronistik  ist  (in  politischer  Hinsicht)  für  die 
fromme  Plebs  eingenommen  und  deutet  ihr  Material  entsprechend. 
Nach  der  älteren  Ueberlieferung  führten  die  gibborim  als  Waffe 
die  Lanze,  waren  (vor  allem)  gepanzert  und  offenbar  W^agen- 
kämpfer,  im  Gegensatz  zu  dem  bäuerlichen  Fußvolk,  dessen 
Bewaffung  zwar,  nach  dem  Deboralied  (Jud.  5,  8),  ebenfalls  aus 
Schild  und  Lanze,  zuweilen  aber  nur  aus  Schleudern  bestand, 

^)   bo    für    die  ostjordanisclien    damals    längst    verschwundenen    Stämme 
I.  Chron.  6,  18. 

*)  So  für  Benjamin  i.  Chron.  9,  40. 


5Q  Das  antike  Judentum, 

sicher  aber  stets  Wesentlich  leichter  war  und  dem  namentlich  der 
Panzer  fehlte  ^) .  Die  Krieger  des  (damals)  bäuerlichen  Stammes 
der  Benjaminiten  werden  im  Richterbuch  »Schwertträger«  genannt 
(20,  35).  Neben  die  Kosten  der  ritterlichen  Rüstung  trat  aber 
bei  dem  Vollkrieger  die  Notwendigkeit,  für  die  Zwecke  der  krie- 
gerischen Einschulung  ökonomisch  abkömmlich  zu  sein.  Im 
Occident  haben  diese  Umstände  zu  einer  entsprechenden  Stände- 
bildung geführt.  In  Israel  ist  die  Entwicklung  endgültig  in  eine 
ähnliche  Bahn  geraten,  nachdem  die  großen  kanaanäischen 
Städte  der  Eidgenossenschaft  eingegliedert  waren.  Zwar  von  ei- 
nem wirklichen  weltlichen  Adel  als  besonderem  Stande  ist  zu 
keiner  Zeit  in  den  Quellen  die  Rede.  Die  vollberechtigten  Sip- 
pen standen  einander  gleich:  der  König  konnte  offenbar  jede 
freie  Israelitin  heiraten.  Allein  nicht  alle  freien  Sippen  sind  politisch 
gleichgestellt.  Denn  natürlich  bestanden  durch  die  ökonomische 
Wehrfähigkeit,  welche  Vorbedingung  aller  politischen  Rechte  war, 
und  durch  die  auf  Erbcharisma  einzelner  gaufürstlicher  Sippen  ru- 
henden politischen  und  sozialen  Vormachtstellungen  starke 
Uriterschiede.  Die  Bedeutung  einer  Sippe  in  der  vorköniglichen 
Zeit  bezeichnet  die  Tradition  stets  durch  die  Anzahl  der  auf 
Eseln  reitenden  Angehörigen,  die  sie  zählt.  Für  die  Zeit  des  zwei- 
ten Königsbuchs  ist  die  Verwendung  des  Ausdrucks  *am  haarez 
für  die  außer  den  Königen,  Priestern  und  Beamten  vorhandenen 
politisch  ins  Gewicht  fallenden  Leute  typisch.  Gelegentlich  be- 
deutet der  Ausdruck  einfach  »das  Volk  des  ganzen  Landes«, 
nicht  das  »Landvolk«  allein.  Aber  in  manchen  Stellen  steht  es  offen- 
bar anders  ^).  Es  handelt  sich  um  Leute,  von  denen  eine  Anzahl 

^)   David  ist  des  Panzers  ungewohnt,  dagegen  Goliath  ein  gepanzerter  Ritter. 

2)  Im  Gegensatz  zu  Klamroth's  (Die  jüdischen  Exulanten  in  Babylonien, 
Beitr.  z.  W.  v.  A.  T.  10,  1912,  Exkurs  S.  99  f.)  Annahme  kann  ich  nicht  glauben, 
daß  'am  haarez  ursprünglich  nur  entweder  den  »Ortsangesessenen«  oder  den 
»Untertanen«,  und  zwar  teils  P'm  verächtlichem  Sinn«,  teils  jedenfalls  im  Ge- 
gensatz gegen  König,  Hierarchie  und  Aristokratie  bezeichnet  habe,  also:  den 
»Pöbel«.  Richtig  ist,  daß  außer  den  Priestern  der  König  (und  die  Fürsten)  und  die 
Beamten  und  Offiziere  von  ihnen  unterschieden  werden.  Sie  sind  die  »Mannen«, 
und  zwar  die  landgesesaenen,  ursprünglich  wehrhaften  Mannen.  Aber  zu  ihnen 
werden  offenbar  vor  allem  auch  die  landsässigen  Vollsippen  gezählt,  der  »Land* 
adel«  also,  wenn  man  den  Ausdruck  verwenden  will.  Denn  das  —  und  nicht 
beliebige  führerlose  »Bauern«  —  sind  die  Leute,  die  (Esra  4,4)  den  Bau  in  Jeru- 
salem hindern  und  die  Esra  3,  3  als  'amme  haarezoth,  als  Mannen  der  verschie- 
denen Landgebiete,  erwähnt  werden.  Die  vorexilische  und  exilische  Bedeutung 
ist  allerdings  bei  der  ungenauen  Ausdrucksweise  der  Quellen  nicht  leicht 
sicher  festzustellen.  Im  Munde  des  Pharao  in  dem  vermutlich  spätem  Zusatz 
zur  j ab wis tischen'  Darstellung  des  Auszugs  aus  Aegypten  (Ex.  5,  5)  heißt  der  Aus- 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  ^i 

(anscheinend  aber  nicht  viele)  damals  durch  einen  besonderen 
königlichen  Offizier  militärisch  ausgebildet  werden :  Nebukadnezar 
findet  60  solche  in  Jerusalem  und  führt  sie  mit  fort.  Sie  sind 
Gegner  der  späteren  Propheten,  Gegner  der  von  Jeremia  empfohle- 
nen Unterwerfung  unter  Babel  und  später  Gegner  der  zurück- 
kehrenden Exulantengemeinde  Jerusalems.  Ganz  ebenso  em- 
pören sich  die  »bne  chail«  und  deren  Führer,  diesarehachailim 
(2.  Kön.  25,  23)  gegen  den  der  Prophetenpartei  entnommenen 
Statthalter  Nebukadnezars,  Gedalja,  und  erschlagen  ihn.  Mit  den 
in  Jerusalem  zurückgelassenen  einfachen  »Ackersleuten«  (2.  Kön. 
25,  12)  sind  die  fortgeführten  'am  haarez  (das.  V.  19)  nicht 
identisch.  Sie  dürften  vielmehr  zur  Partei  jener  sare  ha  chailim 
gehört  haben.  Wo  der  Ausdruck  »Plebs«  bedeuten  soll,  wird 
dies  durch  einen  besonderen  Zusatz  kenntlich  gemacht  (2.  Kön.  24, 
14).  Es  steht,  angesichts  jener  Nachricht  von  der  militärischen 
Ausbildung  von  'am  haarez,  zur  Wahl:  anzunehmen,  daß  der 
König  damals  zwargsweise  aus  der  politisch  rechtlosen  Flebs  Leute 
aushob  und  drillen  ließ,  daß  also  diese  plebejische  Schicht  mit 
jenem  Namen  bezeichnet  wurde.  Aber  ihre  Beteiligung  an  Königs- 
druck einiact):  »das  Volk«  (Israel).  Sonst  ist  in  der  älteren  Literatur  der  Sitz 
des  Ausdruckes  teils  das  2.  Königsbuchs,  teils  Jeremia  und  Hesekiel.  Bei  diesen 
beiden  Propheten  ist  die  Stellung  zum  'am  haarez  ausgeprägt  unfreundlich. 
Eine  eherne  Mauer  soll  Jeremia  (i,  i8)  gegen  König,  Beamte,  Priester  und  'am 
haarez  sein  wenn  sie  gegen  ihn  sich  wenden  sollten,  lautet  die  Zusage  Jahwes 
bei  seiner  Berufung.  Bei  Hesekiel  (22,  29)  schindet  der  *am  haarez  den  »Armen« 
(ebjon)  und  den  ger;  er  wird  also  als  ein- Mann  von  sozialer  Macht  vorgestellt. 
2.  Kön.  25,  19  wird  ein  Offizier  Zedekias  erwähnt,  der  'am  haarez  zu  drillen 
hat  und  60  von  diesen  finden  die  Babylonier  in  der  Stadt  und  führen  sie  mit  nach 
Babylon  ab  Unmittelbar  vorher,  bei  der  Belagerung  Jerusalems,  heißt  es 
(2.  Kön.  25,  3),  daß  der  'am  haarez  nichts  mehr  zu  essen  gehabt  habe 
—  wie  von  der  Garnison  der  Amarnabriefe  —  und  anschließend  daran  (25,  20),  daß 
die  'am  hamilchamah,  die  Kriegsleute,  aus  der  Stadt  geflohen  seien.  Man  fühlt 
sich  versucht,  in  den  'am  haarez  die  vom  Lande  her  ausgehobene  und  ausge- 
bildete freie  Kriegsmannschaft  gegenüber  den  in  königlicher  Menage  befindlichen 
Kriegsleuten  (Söldnern  vor  allem)  zu  finden.  Dies  bleibt  freilich  unsicher.  Aber  an 
der  berith  unter  Zedekia  wegen  Freilassung  der  Schuldsklaven  war  nach  dem  Be- 
richt Jer.  34  19  neben  Fürsten,  Beamten,  Priestern  auch  »der  ganze  'am  haarez« 
beteiligt,  es  scheint  also  doch  unter  ihnen  Schuldsklavenhalter  gegeben  zu  haben, 
wie  die  Hesekiel-Stelle  nahelegt.  »Der  ganze 'am  haarez«  jubelt  dem  König  Joas 
zu  (2.  Kön.  II,  14),  bricht  die  Baal- Altäre  ab,  der  'am  haarez  erschlägt  Amons 
Mörder  (des.  21,  24)  und  setzt  nach  Josias  Tod  den  Joahas  zum  König  ein  (23,  30). 
Die  Sühnopferordnung  ordnet  nacheinander  das  Sühnopfer  für  die  ganze  Ge- 
meinde, einen  Fürsten,  endlich  einen  'am  haarez  (Lev.  4,  27).  Mithin  ist  der 
Sprachgebrauch  zweifellos  sehr  unp  äzis.  Oft  wird  es  in  der  Tat  nur  »Volk«  heißen 
sollen.  Aber  keinesfalls  ist  'am  haarez  ursprünglich  der  »Untertan«  oder  der 
Pöbel  im  Gegensatz  zum  Vornehmen  oder  gar  der  »törichte  Bauer«.  Die  un- 
wissenden Bauern  heißen  bei  Jeremia  (5,  4)  dallini  und  bei  Jesaja  (2,9)  heißt  der 


■2  2  Das  antike  Judentum. 

akklamationen  und  Contrerevolutionen  spricht  nicht  dafür. 
Sondern  man  wird  in  ihnen  dem  Schwerpunkt  nach  die  nationale, 
aber  den  damahgen  jahw istischen  Puritanern,  den  Gegnern  der 
ländlichen  Kulte,  feindliche  »Squirearchie«  mit  ihrem  bäuerlichen 
Anhang  zu  sehen  haben,  als  welche  sie  nach  dem  Exil  auftreten. 
Die  volle  Wehrhaftigkeit  und  also:  politische  Macht  lag 
aber  in  vorexilischer  Zeit  in  erster  Linie  bei  den  s  t  a  d  t  sässigen 
Sippen.  Die  prophetischen  Quellen  reden  von  den  »Großen«  im  Ge- 
gensatz zum  »Volk«  in  so  typischer  Art,  daß  mit  jenem  Ausdruck 
ein  zwar  offenbar  nicht  rechtlich  geschlossener,  aber  doch  fak- 
tisch begrenzter  Kreis  gemeint  sein  muß.  Die  vorexilischen 
Geschlechtsregister,  welche  bei  Jerem.  (24,  30)  wenigstens  für 
Jerusalem  vorausgesetzt  zu  sein  scheinen,  haben  offenbar  nur 
die  Sippen  dieses  Kreises  umfaßt  und  dienten  bei  den  welt- 
lichen Sippen  zweifellos  der  Evidenthaltung  der  als  gibborim 
Heerespflichtigen:  »Chail«,  »Vermögen«,  heißt  außerdem  auch 
»Heer«  und  (kriegerische)  »Tüchtigkeit«.  Die  »Großen«  des 
prophetischen  Zeitalters  sind  also  ebenfalls  jene  Sippen,  die  in 
Waffen  geübte,  voll  gepanzerte  und  ausgerüstete  Krieger  stellten, 
und  demgemäß  auch  die  PoUtik  des  Staates  entschieden,  weil  sie 
Gerichte  und  Aemter  in  der  Hand  hatten.  Offenbar  ist  mit  zuneh- 
mendem Ausscheiden  der  Bauern  aus  dem  Heer  auch  die  Sippen- 
verfassung bei  ihnen  verfallen.  Denn  dadurch  erklärt  sich  am 
ehesten,  daß  beim  Synoikismos  Esras  so  zahlreiche  nicht  mit 
einem  Geschlecht,  sondern  nach  der  bloßen  Ortsgebürtigkeit 
aufgeführten  Leute  auftauchen:  die  Geschlechtsregister  umfaßten 
eben  nur  die  voll  wehrfähigen  Sippen,  römisch  gesprochen: 
die  »classis«.  — ■  Der  nicht  zu  diesen  vollwertigen  Sippen  gehörige 
freie  Mann  gilt  nun  manchen  angesehenen  Forschern  (so  Ed. 
Meyer)  als  identisch  mit  dem  »ger«  oder  »toschab«  der  Quellen : 
dem    Beisassen,    Metöken  ^).     Allein   gerade    dies    ist    äußerst 

Bauer')  adam«  im  Gegensatz  zum  »isch«  dem  >)Mann<<  im  Sinn  von  isch  hamil  chamah 
dem  »Kriegsmann«.  Sondern  es  sind  VoU-Israeliten,  offenbar  die  wesentlich  land- 
sässigen  alten  Heerbannpfliotigen  (von  denen  die  Grundbesitzer  der  Städte  nicht 
geschieden  werden).  Der  Theorie  galten  sie  nach  wie  vor  als  die  Träger  der  Wehr- 
macht und  daher  der  politischen  Rechte.  In  dem  Rückschlag  gegen  die  vermutlich 
jahwistische  Revolte  gegen  Amon  sind  sie  offenbar  Interessenten  der  länd- 
lichen Kultstätten. 

^)  So  pflegen  die  Ausdrücke  übersetzt  zu  werden.  E.  Meyer  hat  für  toschab 
die  Uebersetzung  »Klient«  vorgeschlagen.  Aber  Klient  setzt  ein  Verhältnis 
zu  einem  einzelnen  Herrn  voraus  und  das  ist  in  den  Quellen  für  toschab  nicht 
sicher  nachweisbar.  In  den  Rechtsbüchern  heißt,  scheint  es,  gerade  der  Klient 
des  einzelnen  Hauses  »ger«  (Ex.  23,  12).   Abraham  wird  mehrfach  ger  we  toschab 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaf i  und  Jahwe.  -2^ 

unwahrscheinlich.  Denn  der  nach  Ausmaß  seines  Besitzes 
nicht  als  Ritter  wehrfähige  israelitische  Bauer  des  Debora- 
heeres  ond  des  Heerbanns  Sauls  kann  schwerlich  jene  ri- 
tuelle Sonderstellung  eingenommen  haben,  welche  den  gerim 
in  älterer  Zeit  eignete  (Fehlen  der  Beschneidung!).  Und  wo 
immer  von  »kleinen  Leuten«  im  Gegensatz  zu  den  »Großen« 
die  Rede  ist  (so  bei  den  Propheten,  vor  allem  bei  Jeremia) 
sind  ja  gerade  sie  die  von  den  Großen  bedrückten  israelitischen 
Brüder  und  gelten  als  Träger  korrekter  Lebensführung  und  Fröm- 
migkeit. Der  ökonomisch  nicht  voll  wehrfähige  israelitische 
freie  Bauer  wird  vielmehr  in\  wesentlichen  jene  Stellung  einge- 
nommen haben,  die  wir  im  ganzen  Altertum  den  Agroikoi,  Perioi- 
koi  und  Plebeji  zugewiesen  sehen  und  die  wir  bei  Hesiod  ziemlich 
deutlich  erkennen  können.  Persönlich  frei,  entbehrt  er  der  ak- 
tiven politischen  Rechte,  vor  allem  der  Teilnahme  am  Richter- 
amt, sei  es  rechtlich,  sei  es  faktisch.  Darauf  eben  beruhte  für  die 
Patrizier  die  Möglichkeit  jener  Bewucherung  und  Schuld- Ver- 
sklavung, der  Rechtsbeugung  und  Vergewaltigung  des  bäuer- 
lichen Demos,  Worüber  die  Klagen  durch  die  gesamte  alttesta- 
mentliche  Literatur  gehen.  Diese  ökonomische  Klassenschich- 
tung ist  Israel  mit  den  Städten  der  ganzen  Frühantike  gemein- 
sam. Die  Schuldsklaven  insbesondere  sind  eine  typische  Erschei- 
nung. Sie  finden  sich  in  der  Tradition  als  Gefolgschaft  und  Reis- 
läufer bei  allen  charismatischen  Führern,  von  Jephtha  (Jud.  ii, 
3),  Saul  (Sam.  13,  ö:  den  Philistern  versklavte  Hebräer),  vor 
allem  David  (i.  Sam.  22,  2)  angefangen  bis  zu  Judas  Makkabäus 
(i.  Makk.  3,  9).  Einst  der  Kern  des  Heerbanns  der  israelitischen 
Eidgenossenschaft  im  Kampf  gegen  den  kanaanäischen  wagen- 
kämpfenden Stadtpatriziat,  wurde  der  freie  Bauer  so  mit  zu- 
nehmender Stadtsässigkeit  der  großen  israelitischen  Sippen  und 
Uebergang  zur  Wagenkampf technik  nun  zunehmend  der  Plebejer 
innerhalb  des  eigenen  Volks. 

Der  Metöke,  ger  oder  toschab,  war  dagegen  etwas  ganz  anderes. 

genannt,  ohne  als  Klient  eines  Einzelnen  gedacht  zu  sein.  Der  toschab  eines 
Priesters  soll  ebensowenig  wie  sein  Arbeiter  Heiliges  essen  (Lev.  22,  10) :  in  dieser 
Ritualbestimmung  läge  an  sich  eine  Deutung  auf  einen  Klienten  nahe.  Allein 
es  scheint  sich  gerade  um  einen  nicht  Haushörigen  zu  handeln  wie  es  der  »sakhir«, 
ein  freier  Tagelöhner  im  Gegensatz  zum  'ebed,  dem  Knecht,  auch  ist,  der  mit  dem 
toschab,  hier  wohl:  deminquilin,  zusammen  genannt  wird.  Lev.  25,  47  ist  toschab, 
hier  mit  dem  ger  zusammen  genannt,  der  reichgewordene  freie  Metöke.  Was 
der  ursprüngliche  rechtliche  Sinn  jedes  der  beiden  in  den  Quellen  oft  kumulativ 
gebrauchten  Ausdrücke  war,  scheint  nicht  mehr  feststellbar. 

Max  We1)cr.    Religionssoziologie  HI.  •? 


34 


Das   antike  Judentum. 


Seine  Lage  mu(3   aus  vor-  und  nachexilischen   Quellen  kombi- 
niert erschlossen  werden. 

In  der  Lage  der  »gerim«  befanden  sich  vor  allen  Dingen  große 
Teile  der  Handwerker  und  Kaufieute.  Dies  war  in  den  Städten 
ganz  ebenso  der  Fall  wie  draußen  bei  den  Beduinen  der  Wüste. 
Innerhalb  der  Stammes  verbände  der  letzteren  war,  nach  den 
arabischen  Verhältnissen  zu  schließen,  für  sie  als  Genossen  über- 
haupt kein  Platz.  Gerade  die  für  den  Beduinen  wichtigsten 
Handwerker,  die  Schmiede,  haben  bei  ihnen  fast  immer  die 
Stellung  entweder  geradezu  rituell  unreiner,  oder  (und  meist) 
wenigstens  vom  Konnubium  und  gewöhnlich  auch  von  der 
Kommensalität  ausgeschlossener  Gast  band  werker  gehabt.  Sie 
bilden  eine  Pariakaste,  die  nur  traditionellen,  meist:  religiösen, 
Schutz  genießt.  Ebenso  die  gleichfalls  bei  den  Beduinen  unent- 
behrlichen Barden  und  Musikanten.  Ganz  entsprechend  ist 
in  der  Genesis  (4,  21.  22)  Kain  der  Stammvater  der  Schmiede 
und  Musikanten  und  zugleich  (4,  17)  der  erste  Städtegründer. 
Danach  darf  man  annehmer,  daß  für  die  Zeit  der  Entstehung 
dieses  Stammbaums  diese  Handwerker  auch  in  Palästina,  ähnlich 
wie  in  Indien,  als  Gastvolk  außerhalb  nicht  nur  der  gibborim, 
sondern  außerhalb  der  israelitischen  Bruderschaft  überhaupt, 
standen.  Daneben  finden  wir  freilich  die  Auffassung  bestimmter 
hochqualifizierter  Handwerke  als  freier  charismatischer  Künste. 
Der  Geist  Jahwes  fährt  (Ex.  31,  3  f.)  in  Bezaleel,  Sohn  Uris, 
Enkel  Hurs,  vom  Stamme  Juda,  also:  in  einen  Vollfreien,  und  lehrt 
ihn  in  Edelmetall,  Stein  und  Holz  zu  arbeiten.  Neben  ihm  tritt 
ein  anderer  Vollfreier  vom  Stamme  Dan  als  Gehilfe  auf.  Sie 
liefern  Kultparamente.  Wir  erinnern  uns  der  rituell  bevorrech- 
teten Stellung  der  Kammalarhandwerker  in  Indien,  welche  die 
gleichen  Künste  ausübten.  Und  die  Aehnlichkeit  geht  weiter. 
Die  Kammalar  sind  in  Südindien  privilegierte,  von  außen  her 
importierte  Königshandwerker.  Dan  ist  nach  der  Tradition 
im  Gebiet  von  Sidon  angesiedelt  und  i.  Kön.  7,  14  wird  Von  dem 
Werkmeister  des  salomonischen  Tempelbaues,  Hiram,  berichtet, 
daß  er  ein  Tyrier,  nach  Bericht  der  Tradition  aber  von  einer 
naphtalitischen  Mutter,  also  ein  Halbblutmann  gewesen  sei,  den 
Salomon  an  seinen  Hof  berief.  Wir  dürfen  annehmen,  daß  die 
für  Königsbauten  und  militärische  Bedürfnisse  wichtigen  Gewerbe 
überhaupt  als  Königshandwerke  organisiert  Waren.  In  der  nach- 
exilischen Chronistik  werden  Byssosweber,  Töpfer  und  Zimmer- 


I.     Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jalnve.  2C 

leute  als  stammfremde,  vielleicht  als  Königshandwerker  der  vor- 
exilischen  Zeit  angeführt,  wie  in  anderem  Zusammenhang  zu 
erörtern  sein  wird.  Bei  der  Zerstörung  Jerusalems  führte  Nebu- 
kadnezar  außer  den  wehrhaften  Geschlechtern  auch  die  Hand- 
werker, vor  allem  wohl  die  Königshandwerker,  aus  der  Stadt  fort. 
Bei  der  Rückkehr  aus  dem  Exil  und  der  Neukonstituierung  des 
Gemeinwesens  unter  Esra  und  Nehemia  finden  sich  die  Gold- 
schmiede, Krämer  und  Salbenhändler  außerhalb  der  alten  Ge- 
schlechtsverbände als  Gilden  organisiert.  Sie  wurden  damals 
zwar  ihrer  Stammfremdheit  entkleidet  und  in  den  jüdischen  kon- 
fessionellen Gemeinde  verband  aufgenommen.  Aber  noch  in  der 
Zeit  des  Sirachiden  und  vermutlich  noch  weit  später  galten  die 
Handwerker  im  Gegensatz  zu  den  altisraelitischen  Geschlechtern 
als  politisch  amtsunfähig.  Sie  bildeten  also  jetzt  einen  spezifisch 
städtischen  »Demos«.  Diese  plebejische  Schicht  umfaßte  aber 
damals,  im  nachexilischen  Stadtstaat,  nicht  nur  Handwerker 
und  Händler.  Sondern,  wie  Eduard  Meyer  überzeugend  nachge- 
wiesen hat,  außerdem  i.  die  zahlreichen  in  der  Liste  der  unter 
Kyros  zurückgekehrten  nicht  nach  der  Sippe,  sondern  als 
Männer  (anaschim)  aus  einem  bestimmten  Ort  des  Bezirks  Je- 
rusalem, also  als  plebejische  Ortsangehörige  einer  von  der  Haupt- 
stadt abhängigen  Landstadt  aufgeführten  Personen  und  ebenso 
2.  die  ohne  eine  solche  Ortsangabe  mit  dem  Ausdruck  »Söhne  des 
zurückgesetzten  Weibes«  (bne  has  senua)  gezählten  mehreren 
tausend  Leute,  welche  Michaelis  und  Eduard  Meyer  sicher  mit 
Recht  als  plebejische  Ortsangehörige  der  Stadtgemeinde  Jeru- 
salem selbst  ansehen.  Beides  sind  offenbar  israelitische,  in  den 
alten  Geschlechtsregistern  der  gibborim  nicht  enthalten  gewesene 
Plebejer.  Die  Angehörigen  dieser  Schicht,  einerlei  ob  sie  in  frü- 
herer Zeit  als  israelitische  Plebejer  oder  (wie  die  meisten  Hand- 
werker) als  Metöken  gegolten  hatten,  Wurden  also  nun,  nach 
Eduard  Meyers  einleuchtend  begründeter  Annahme,  Wenn  sie 
das  Gesetz  auf  sich  nahmen,  mit  den  ihnen  zugewiesenen  Land- 
anteilen wie  ein  nach  dem  Heimatsort  benanntes  Geschlecht 
organisiert  und  so  in  die  neuen  Bürgerregister  eingetragen.  Die  al- 
ten Geschlechtsregister  Wurden  zwar  dem  Synoikismos,  als 
welcher  die  Neukonstituierung  Jerusalems  vollzogen  wurde,  zu- 
grunde gelegt:  als  eine  Quotenvertretung  der  alten  Geschlech- 
ter galten  die  mit  Häusern  in  der  Hauptstadt  sich  ansiedelnden 
Familien.    Aber  diese  Reminiszenzen  an  die  alte  Geschlechter- 


o^  Das  antike  Judentum. 

Verfassung  sind  später  verschwunden,  offenbar  weil  ihr  miü- 
tärischer  Zweck  in  dem  vorerst  ganz  unmihtärischen  Clientelstadt- 
staat  fortgefallen  war.  Die  offizielle  Vorstellung  der  nachexili- 
schen  Chronistik  (i.  Chron.  lo,  2)  kennt  neben  dem  vollfreien 
Israeliten  nur  kultisch  bedingte,  positiv  (wie  die  Priester  und 
Leviten)  oder  negativ  (wie  die  Nethinim)  privilegierte  Geburts- 
stände, aber  keinen  weltlichen.  Selbst  die  bei  der  Rückkehr  noch 
als  existierend  aufgezählte  Davididensippe  ist  später  verschol- 
len, denn  die  Stammbäume  der  Vorfahren  von  Jesus  in  den 
Evangelien  sind  Fabrikate  um  der  alten  Verheißungen  willen. 
Die  theoretisch  fortbestehende  Gliederung  nach  Sippen  und  die 
anfänglich  noch  vorhandene  leiturgische  Gliederung  (von  der 
bald  zu  reden  ist)  traten  an  Bedeutung  völlig  zurück  hinter  der 
rein  persönlichen  Zugehörigkeit  zum  »kahal«  oder  »cheber  haj- 
jehudim«,  dem  jüdischen  konfessionellen  Verbände,  und  diese 
wurde  nunmehr  entweder  durch  jüdische  Abstammung  und  Ueber- 
nahme  der  Ritualpflichten  oder  <iurch  persönliche  Aufnahme 
erworben.  Zwischen  diesen  beiden  Kategorien :  den  Alt  Juden  und 
den  Neujuden,  bestanden  nur  noch  einzelne  Reste  ständischer 
Unterschiede  (vor  allem  im  Konnubium  mit  den  Priestern). 
Sonst  standen  sie  gleich.  Nur  die  ständische  Sonderstellung  der 
Priestergeschlechter  blieb  also  bestehen  und  ist  später  gesondert 
zu  erörtern.  Daß  jetzt  ebenso  wie  die,  sei  es  grundsässigen, 
sei  es  Kleinpacht-Bauern,  auch  alle  Handwerker,  wenn  sie  sich 
zu  Jahwe  bekannten,  zwar  amtsunfähig  blieben,  aber  als  Voll  Juden 
angesehen  wurden,  bedeutete  die  Entstehung  eines  städtischen 
»Demos  «im  Sinne  der  typischen  Ständescheidung.  Vordem  Exil  be- 
stand er  nicht,  weil  damals  das  Prinzip  der  rituellen  Stammfremd- 
heit diese  Ständescheidung  beherrschte.  Aber  auch  nach  dem  Exil 
sind  die  Plebejer  nie  als  ein  wirklicher  »Demos«  im  technischen  Sinn 
der  antiken  klassischen  Polis Verfassung  konstituiert  worden. 
Und  ebenso  nicht  als  ein  »popolo«,  eine  »Bürgerschaft«,  im  Sinne 
des  Mittelalters.  Weder,  wie  in  der  Antike,  eine  Versammlung 
nach  Demoi  oder  Tribus  oder  ähnlichen  lokalen  Abteilungen 
des  politischen  Wehr-  und  Stimmverbandes  aller  ansässigen 
Bürger,  noch,  wie  im  Mittelalter,  eine  Schwurbrüderschaft  und 
Vertretung  der  Bürger  nach  Zünften  trat  jemals,  soviel  bekannt, 
ins  Leben  ^).   Dazu  fehlten  eben  auch  jetzt  die  politischen  Vorbe- 

^)  Man  hat  freilich  geglaubt,  in  den  jüdischen  *am.  haarez  eine  Art  von 
althebräischem  Parlament  sehen  zu  können.  Dafür  wird  (von  Sulzbsrger  und 
besonders  von  Sloush,    »Representative  government  among  the  Hebrews   and 


I.     Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  17 

dingungen:  die  Militärorganisation  des  antiken  Hopliten-  oder 
des  mittelalterlichen  Bürgerheeres,  welche  die  Grundlage  der 
politischen   Macht   der   occidentalen   Plebejer  wurde. 

Die  faktische  soziale  und  ökonomische  Situation  war,  trotz  je- 
ner Aenderung  der  Rechtslage,  auch  nach  dem  Exil  im  Prinzip  der 
vorexilischen  ähnlich.  Die  reichen  Landbesitzer  residierten  meist 
in  Jerusalem  und  verzehrten  dort  ihre  Renten.  Zwar  gab  es  auch 
jetzt  mächtige  Geschlechter,  die  nicht  in  Jerusalem  selbst  ansäs- 
sig waren.  Auch  sie  aber  galten  normalerweise  als  in  einer  Stadt 
eingebürgert.  Das  Geschlecht  der  Hasmonäer  heißt,  obwohl 
ihr  Mausoleum  auf  einem  Berge  nahe  dem  Meeresgestade  auf- 
ragte, doch  das  vornehmste  in  der  Stadt  Modin  (i.  Makk.  2,  17). 
Die  nicht  in  Jerusalem  zusammengesiedelten  vornehmen 
weltlichen  Sippen  waren  in  aller  Regel  Gegner  der  rituell  kor- 
rekten Judengemeinde,  wovon  die  frommen  Hasmonäer,  für 
die  priesterliche  iVbstammung  in  Anspruch  genommen  wird,  eben 
eine  Ausnahme  machten  ^).  Und  die  ökonomisch  und  politisch 
mächtigen  Geschlechter  innerhalb  der  Städte,  namentlich  auch 
innerhalb  Jerusalems,  bedrückten  damals  die  Plebejer  ganz  ebenso 
durch  Wucher  und  Beugung  des  Rechts  wie  dereinst  jene  »Großen« 
gegen  welche  die  vorexilischen  Propheten  sich  gewendet  hatten. 
Furchtbar  hallen  namentlich  die  Klagen  und  das  Rachegeschrei 
der  Psalmisten  gegen  diese  Reichen  oder,  wie  sie  bezeichnend 
genannt  Werden,  »Fetten«,  die  also  auch  im  Namen  ganz  dem 
»popolo  grasso«  der  mittelalterlichen  italienischen  Terminologie 
entsprachen.  Und  wie  nach  der  Tradition  einst  schon  um  Abi- 
melech  und  dann  um  David,  so  scharen  sich  jetzt  um  Judas 
Makkabäus  die  Unterdrückten,  und  zwar  vor  allem :  die  Schuld- 
sklaven, als  seine  Gefolgschaft  und  schlachten  mit  ihm  die  Gott- 

Pheniciens«  Jew.  Quart.  R.  N.  S.  4  {1913)  p.  302  ff.)  die  Analogie  der  *am  Zor, 
'am  Zidon  und  *am  Karthachdeschoth  auf  tyrischen,  sidonischen  und  kartha- 
gischen Münzen  angeführt  und  die  nach  dem  Beginn  der  Herrschaft  der  *am  rech- 
nenden Aeren.  Die  *am  sind  in  diesen  Fällen  Familienhäupter,  wohl  zweifel- 
los aber  Vertreter  nur  der  stadtsässigen  patrizischen  Sippen.  Wie  in  Jerusalem 
nach  Nehem.  10  die  Unterzeichner  des  religiösen  Bundes,  bildeten  sie  anschei- 
nend eine  geschlossene  Zahl,  was  dafür  spricht,  daß  es  sich  um  einen  oligarchischen 
Wehrverband  handelt,  wie  er  in  hellenischen  Städten  vor  der  Zeit  der  Demo- 
kratie ebenfalls  vorkommt. 

1)  Rituell  betrachtet  verhalten  sich  freilich  die  hasmonäischen  Heroen 
von  Anfang  an  ziemlich  inkorrekt.  Im  Gegensatz  zu  dem  frommen  Volk,  welches 
(i.  Makk.  2,  29)  in  die  Wüste  flieht  und  sich  am  Sabbat  abschlachten  läßt  (Vers 
38),  beschließt  Matthatias  mit  seiner  Gefolgschaft,  auch  am  Sabbat  zu  kämpfen 
(Vers  41).  Sehr  schnell  nach  der  Befreiung  galten  die  Hasmonäer  den  eigent- 
lich Frommen  als  verwerfliche  Hellenisten. 


■2g.  Das  antike  Judentum. 

losen,  das  sind,  wie  in  den  Psalmen  stets:  die  »Fetten«,  in  allen 
Städten  Judas  ab  (i.  Makk.  3,  9).  Die  ökonomische  Grundlage  der 
Ständegliederung  war  also  sehr  konstant.  Das  wichtige  Neue  war 
dabei  nur,  daß  im  Verlauf  der  nachexilischen  Entwicklung  der 
städtische  Demos,  das  Kleinbürgertum,  in  steigendem  Maße  als 
eigentlicher  Träger  der  Frömmigkeit,  als  »Gemeinde  der  Chasidim«, 
hervortritt  und  zunehmend  eine  schließlich,  mit  dem  Aufkommen 
der  Pharisäerpartei,  geradezu  ausschlaggebende  Rolle  spielte, 
obwohl  formell  offenbar  seine  politischen  Rechte  kaum  geändert 
waren.  Beides:  faktische  Bedeutung  und  formelle  Rechtlosig- 
keit des  Demos,  hing  mit  der  später  zu  erörternden  theokratischen 
Eigenart  des  spät  jüdischen  Stadtstaates  zusammen.  Diese 
konfessionelle  Grundlage  des  Gemeindeverbandes  bedingte  es  auch, 
daß  die  alten  Ausdrücke  für  den  »Metöken«  nunmehr,  wo  die 
alte  Stammfremdheit  der  Gasthandwerker  gegenüber  den  Israe- 
liten fortgefallen  War,  ihren  alten  Sinn  verloren  und  einen  ganz 
neuen  später  zu  besprechenden  gewannen  (den  des  »Proselyten«). 
Hier  interessiert  uns  vorerst  noch  weiter  der  alte,  vorexilische 
Sinn.  Denn  trotz  Konstanz  der  ökonomischen  Grundlage 
war  die  rechtliche  Position  des  Demos  in  der  vorexilischen 
Zeit    eine  sehr  abweichende  gewesen. 

Der  Vorexilische  Metöke  (ger)  ist  von  dem  gänzlich  Landfrem- 
den, dem  nokri,  durchaus  geschieden.  Der  letztere  ist  rechtlos. 
Der  ger  ist  zwar  stammfremd,  aber  rechtlich  geschützt.  Ein  Stamm- 
fremder konnte  aber  auf  zwei  Arten  zu  einem  Schutz  Verhältnis 
gelangen.  Entweder  er  wurde  als  Schutzgenosse  eines  einzelnen 
Hausvaters  behandelt.  Dann  stand  er  in  dessen  rein  persönlichem 
Schutz,  welchen  ja  auch  der  ganz  fremde  nokri,  etwa  ein  durch- 
reisender Gast,  genießen  konnte.  Der  Schutz  gegen  die  Willkür 
der  Stammesgenossen  des  Schutzherrn  war  aber  dann  nur  eine 
Frage  der  Macht  dieses  letzteren.  Nur  das  Mißfallen  des  Gottes 
oder  die  Rache  seiner  Stammesgenossen  konnte  ihn.  Wenn  diese 
versagte,  schützen:  das  Schicksal  der  göttlichen  Gäste  Loths 
in  Sodom  und  des  Leviten  in  Gibea  zeigen  die  Lage.  Als  in  die- 
sem Sinne  rechtlos  galt  aber  in  einem  israelitischen  Stamm  auch 
ein  in  einem  anderen  israelitischen  Stamm  zugelassener  Metöke, 
wie  wiederum  das  Beispiel  des  Leviten  in  der  Erzählung  von  der 
Schandtat  von  Gibea  zeigt.  Ebenso  geht  daraus  hervor,  daß 
auch  der  vollberechtigte  Angehörige  eines  israelitischen  Stammes, 
der  sich  bei  einem'  anderen  Stamm  niedergelassen  hat,   auch  bei 


I .    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  ^g 

einem   als  nahe  verwandt  geltenden    wie  Benjamin  gegenüber 
Ephraim,  dort  stets  nur  als  Metöke,   nicht  als   Genosse  galt. 
Er  war  fähig,   ein  Haus   zu  erwerben,  wie  der  Ephraimit  jener 
Erzählung  in  Gibea,  der  als  »Hausvater«  bezeichnet  wird.    Ob 
auch  sonstigen   Grundbesitz,   ist  nicht  ersichtlich  und  für  die 
Frühzeit    nicht  wahrscheinlich,    wenn    auch    nicht    unmöglich, 
für  später  aber  sicher:  von  zwei  Erzvätern,  die  als  gerim  galten, 
wird  es  berichtet.    (Es  fragte  sich  ja  nur,  welcher  Verband :  Sippe 
oder  Ortsverband  oder  Stamm,  darüber  zu  befinden  hatte,  und 
welche  sonstigen  Rechte  mit  dem  Grunderwerb  verknüpft  waren)  ^) . 
Die  Wohl  aus  der  Zeit  vor  dem  Exil  stammende  Norm  Lev.  25, 
35  verfügt,  daß  ein  »Verarmter«  d.  h.  grundbesitzlos  gewordener 
Israelit  als  ger  gehalten  Werden  solle:    darnach  war  jedenfalls 
—  und  ganz  begreiflicherweise  —  Grundbesitzlosigkeit  eines  der 
normalen  Merkmale  des  ger,   wenn    es    auch    vielleicht    nicht 
universell  galt.   Welches  aber  auch  seine  Stellung  in  dieser  Hin- 
sicht war,  ein  Beisasse,  der  nicht  nur  unter  dem  privaten 
Schutz  eines  Einzelnen  und  dem  religiösen  des  Gastrechts  steht, 
sondern  dessen  Rechtslage  von  dem   politischen   Verband 
als  solchem  geregelt  und  geschützt  wurde,  war  was  die  Quellen 
regelmäßig  unter  »ger«  meinen.    Dies  Rechtsverhältnis  wird  be- 
zeichnet mit  dem  Ausdruck  »ger  ascher  bisch'arecha«  der  alten 
Rechtssammlungen:    »der  Metöke   in  deinen  Toren«,    d.  h.  der 
zum  Rechtssprengel  der  Stadt  als  solcher  gehörige,  zu  ihr  in 
einem   geregelten  Schutzverhältnis   stehende  Metöke  ^j.    Weder 
also  steht  er  nur  in  einem  bloßen  individuellen  vorübergehen- 
den Gastschutzverhältnis,  wie  es  auch  der  nokri  genießen  kann, 
noch  auch  andererseits  in  einem  persönlichen  dauernden  Klientel- 
verhältnis   zu    einem    einzelnen    Herrn.    Er  scheint  den   Quel- 
len   als    gerichtsstandsfähig    zu    gelten,    denn   Vor   seiner   Be- 
drückung wird  gewarnt:    vielleicht  bedurfte  er  eines  Gerichts- 
patrons.    Die   nachdrückliche    Vorschrift   des    heiligen  Rechts, 
daß  für  den  Israeliten  und  den  ger  das  gleiche  Recht  in  allem  zu 
gelten  habe,   macht  den  Eindruck  einer  Neu'erung:  die  konfes- 

^)  lis  könnte  dies,  soweit  Bauernland  und  nicht  die,  vielleicht  bestehenden, 
Kriegerlose  in  Betracht  kamen,  recht  gut  als  eine  interne  Angelegenheit  des  ein- 
zelnen Dorfs  gegolten  haben.  Man  erinnere  sich,  daß  auch  Hesiods  Familie 
stammfremd  nach  Böotien  kam,  dennoch  aber  der  Dichter  dort  Grundbesitzer 
—  technisch:  ein  »Periöke«    —  wurde. 

2)  Die  Stellung  des  hier  noch  nicht  mit  in  die  Erörterung  einbezogenen 
Priesterstamms  Levi  in  den  »Levitenstädten«  der  Tradition  zeigt  am  besten, 
wie  sich  die  Tradition  die  normale  Lage  eines  Metöken  vorstellte. 


40 


Das  antike  Judentum. 


sionelle  Assimilation  der  gerim  war  im  Gange,  ja  einige  ihrer 
Kategorien  gehörten,  wie  wir  sehen  Werden,  zu  den  Haupt- 
trägern des  Jahwismus.  Ursprünglich  konnten  aber  in  der  Rechts- 
stellung eines  ger  in  diesem  Sinn  sich  genau  ebensogut  Nicht- 
israeliten  befinden  wie  Israeliten  aus  einem  anderen  Stamme. 
Das  erstere  war  die  Regel:  Für  den  ger  galten  die  rituellen 
Vorschriften  der  vollfreien  Israeliten  ursprünglich  nicht. 
Diese  umfaßten  zwar  den  ganzen  Hausstand,  aber  auch  aus- 
schließlich diesen  durch  Hausgemeinschaft  und  häusliches  Kult- 
mahl verbundenen  Personenkreis.  Nur  die  Sabbatruhe  galt 
in  der  Zeit  der  ältesten  vorliegenden  Redaktion  der  Rechts- 
bücher auch  für  den  ger,  vermutlich  zur  Verhütung  der  Kon- 
kurrenz ihrer  Arbeit  gegen  die  des  Israeliten  ^) .  Nicht  aber,  nach 
dem  älteren  Recht,  die  Beschneidimg  —  die  für  ihn  fakultativ 
war  (Ex.  12,  48)  — ,  welcher  dagegen  zur  Zeit  dieser  Satzung 
bereits  jeder  Sklave  unterzogen  werden  sollte.  Deshalb  konnte 
der  Sklave  am  Passahmahl  teilnehmen.  Dieser  Zustand  muß 
sich  freilich  schon  lange  vor  dem  Exil  erheblich  geändert  haben. 
Denn  Wenn  die  Priestergesetzgebung  (Lev.  17,  10;  Num.  9,  14; 
15, 15. 16)  den  Grundsatz  aufstellte,  daß  für  Israeliten  und  Metöken 
in  allem  das  gleiche  Recht  und  die  gleichen  Ritualpflichten  gelten 
sollten,  so  war  dies  zweifellos  die  Folge  davon,  daß  inzwischen  zahl- 
reiche beschnittene  und  rituell  korrekt  lebende  gerim  entstanden 
waren,  und  Wir  Werden  sehen,  daß  und  wodurch  dies  geschah.  Der 
Sklave  scheint  dagegen  nach  vordeuteronomischem  Recht  nicht  der 
Sabbatruhepflicht  unterlegen  zuhaben  (2.Kön.  4, 22 :  dieErzählung 
stammt  aus  den  Prophetenlegenden  der  Zeit  der  Jehu-Dynastie) . 
Die  rechtlichen  und  sittlichen  Gebote  der  heiligen  Schriften 
sprechen  nun  von  dem  ger  regelmäßig  wie  von  einem  isolierten 
Individuum.  Das  entspricht  aber,  wie  die  Tradition  erkennen 
läßt,  nicht  einmal  den  Verhältnissen  des  vollentwickelten  Stadt- 
staates und  keinesfalls  denen  der  Frühzeit.  Hier  sind  die  als 
gerim  politisch  nicht  zu  den  israelitischen  Stämmen  gerechneten 
Bevölkerungsteile '  ebenso  wie  die  politisch  nicht  vollberechtig- 
ten Israeliten  (Bauern)  stets  als  in  Verbänden  organisiert  ge- 
dacht. Die  letzteren  in  Dörfern,  die  gerim  teils  in  Orts  verbänden, 

^)  Nach  der  Art  der  Begründung  des  Sabbatgebots  in  Nehemias  Zeit,  bei 
welcher  die  Unterbindung  des  Wochenmarktverkehrs  die  Hauptsache  ist,  war 
die  Bestimmung  damals  zweifellos  im  Interesse  der  Israeliten  (gegen  unlautere 
Konkurrenz  der  Nicht  Juden)  und  nicht  der  Fremden  selbst  erlassen.  Aehnlich 
schon  Arnos  und  Jeremia,  In  älterer  Zeit,  wo  die  Ruhe  der  Ackerarbeit  der 
allein  entscheidende  Sinn  war,  konnte  dies  freilich  anders  sein. 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  AI 

teils  ohne  solche  in  Sippen  und  Stämmen.  Ganz  ebenso  bleibt 
ja  auch  die  Stammes  Verfassung  bestehen,  wenn  ein  israeli- 
tischer Stamm  sich  einem  fremden  politischen  Verband  ein- 
ordnen muß.  Zwar,  daß  die  Daniten  im  Deboralied  auf  phönizi- 
schen  Schiffen  dienen,  beweist  dafür  nichts,  da  es  sich  hier  wohl 
nur  um  individuelle  Verdingung  Einzelner  als  Lohnarbeiter 
handelt.  Aber  der  Stamm  Issachar  wird  im  Jakobsegen  ganz 
allgemein  ein  »Fronknecht <'  genannt.  Die  Issachariten  waren  also 
offenbar  als  solche  einem  herrschenden  fremden  Stadtstaat  poli- 
tisch unfrei  angegliedert,  hatten  aber  ihre  Stammesorganisation  be- 
halten. Ebenso  kennt  anderseits  die  Tradition  die  kanaanäischen 
GiBeoniten  als  leiturgiepflichtige  aber  autonome  Unterworfene 
Israels,  kraft  eines  mit  ihnen  von  den  Heeresvorständen  bei  der  Ein- 
wanderung geschlossenen  Bundes.  Dies  Verhältnis  ist  wohl  zu 
scheiden  von  der  ständischen  Lage,  in  welcher  sich  nach  dem  Bericht 
über  die  Neukonstituierung  von  Jerusalem  unter  Esra  und  Ne- 
hemia  die  Torhüter,  Sänger  undTempeldiener  (nethinim)  und  außer- 
dem die  »Knechte  Salomos«  befanden.  Denn  diese  waren  erb- 
liche, sippenmäßig  gegliederte  leiturgiepflichtige  Gruppen  von 
Juden,  nicht  aber  gerim.  Die  bne  Korah,  deren  Vorvater 
als  Rebell  gegen  die  Priester  schon  in  der  Mosestradition  eine 
Rolle  spielt,  und  die  bne  Asaph,  beide  Träger  von  Psalmen- 
kunst, waren  derartige  Sängersippen,  die  einmal  gerim  gewesen, 
jetzt  aber  Volljuden  geworden  waren.  Anders  die  altisraelitischen 
gerim.  Im  Gegensatz  zu  den  nach  Geschlecht  und  Stamm  be- 
zeichneten, vollfrei  israelitischen  charismatischen  Künstlern  des 
Stiftshüttenberichts  einerseits  und  dem  ohne  Sippenbezeich- 
nung genannten  fremdbürtigen  Königshandwerker  des  Tempel- 
bauberichts andereiseits  galten,  wie  wir  sahen,  der  Genesis  die 
Eisenarbeiter  und  Musiker  als  den  Israeliten  stammt  r  e  m  d  e  Sip- 
pen mit  einem  Eponymos.  Ebenso  galten  von  den  vermutlich 
leiturgischen  Königshandwerkern  jedenfalls  die  Byssos  we- 
her i)    und  Töpfer  2),   wohl   auch  die  Zimmerleute  3)  als  gerim. 

1)  I  Chron.  4,  21:  >)Haus  der  Byssosarbeit«.  Sie  sind,  in  Sippen  gegliedert 
und  gelten,  neben  anderen,  als  Nachfahren  eines  Sohnes  Judas,  charakteristi- 
scherweise aber  ohne  eigenen  Eponymos.  Die  Abstammung  von  Juda  dürfte 
also  nachexilische  Fiktion  sein. 

2)  I.  Chron.  4,  22.  23:  Joas  und  Saraph,  die  in  Moab  Familienbäupter 
(baalim)  waren  und  »nach  alten  Berichten  Lachern  bewohnten .  Sie  waren  Töpfer 
und  wohnten  in  umzäunten  Gärten  beim  König  für  dessen  Arbeit«.  Sie  hatten 
also  Dienstlehcn. 

^)   Joab,  Serujas  Sohn,  heißt  i.  Chron.  4,  14   »Vater  des  Tals  der  Zinmicr- 


12  Das  antike  Judentum. 

Als  solche  galten  auch  die  bald  zu  besprechenden  Hirten,  die 
im  Stammbaum  (Gen.  4,  20)  neben  den  Eisenarbeitern  und 
Musikern  als  Nachfahren  Kains  aufgezählt  werden:  Kain,  der 
soeben  noch  in  der  Brudermordslegende  (Gen,  4,  2)  im  Gegen- 
satz zu  dem  Hirten  Abel  als  Bauer,  dann,  nach  der  Verfluchung, 
als  Beduine  behandelt  wird  (4,  12),  ist  in  diesem  Stammbaum 
offensichtlich  ganz  allgemein  der  Vater  aller  typischen  Gast- 
stämme innerhalb  Israels,  sein  Bruder  Seth  aber  der  Stammvater 
des  seßhaften  weinbauenden  Israel,  Welches  Noah  vertritt. 
In  der  noachischen  Dreiteilung  der  Stämme  gilt  Kanaan  als  ein 
unfreier  Stamm,  der  einerseits  dem  Sem,  dem  Stammvater 
der  kontinentalen  Herrenvölker  einschließlich  der  Hebräer, 
andererseits  dem  Japhet,  dem  Stammvater  der  nördlichen  und 
westlichen  Küsten-  und  Inselvölker  fronpflichtig  ist.  Japhet 
seinerseits  aber  »Wohnt  in  den  Hütten  Sems<<,  ist  also  zweifel- 
los als  freier  Metöke  und  vermutlich  als  Kaufmann  gedacht. 
Die,  Sage  wird  in  einer  Zeit  scharfer  Gegensätze  gegen  die  Reste 
der  Kanaanäer  und  freundlicher  Beziehungen  zu  den  Phönikern 
entstanden  sein.  Eine  allgemeine  Zinspflicht  sämtlicher  noch  im 
Lande  sitzenden  Kanaanäer  führt  die  Tradition  (i.  Kön.  9,  20) 
auf  Salomo  zurück  ^).  Es  scheint  danach  verschiedene  Arten 
von  gerim  gegeben  zu  haben;  freie  und  fronpflichtige,  über  deren 
Rechtsstellung  im  einzelnen  nichts  auszusagen  ist  ^).  Wie  auch 
immer  aber  die  tatsächlichen  Verhältnisse  gewesen  sein  mögen, 
deren  Ausdruck  oder  Reminiszenz  alle  diese  Konstruktionen  der 
Tradition  waren,  so  bleibt  jedenfalls  sicher:  daß  die  gerim 
nicht  zu  den,  sei  es  als  gibborim  sei  es  als  *am  hamilchama,  heer- 
bannpflichtigen bnejisrael    gerechnet    und  daß  sie  vorgestellt 


leute«,  eines  Stadtteils  von  Jerusalem.  Die  Zimmerleute  scheinen  also  als  Ko- 
loneri  auf  seinem  Grundbesitze  zu  sitzen,  Oder  aber  (und  wahrscheinlicher)  er 
gilt  als  ihr  Patron  und  hat  diese  Patronage  als  königliche  Pftünde.  Bei  ihnen 
fehlt  die  Angabe  über  gentilizi?che  Gliederung. 

1)  Die  Tradition  ist  höchst  fragwürdig.  Die  Notiz  in  Vers  22,  daß  er  im 
Gegensatz  zu  den  Kanaanäern  alle  Israeliten  nur  als  Kriegsleute  (ansehe  hamil- 
chamah)  und  Offiziere  oder  Beamte  verwendet  habe,  ist  tendenziös  im  Interesse 
der  israelitischen  Plebejer.  Die  Fronpflicht  auch  der  gemeinfreien  Untertanen 
ergibt  sich  klar  aus  i.  Kön.  5,  12,  wo  die  Israeliten  30  000  Arbeiter  zu  stellen  ha- 
ben. Jene  Notiz  zeigt  aber  allerdings,  daß  damals  der  nichtwehrfähige 
und  nicht  am  freien  Grundbesitz  beteiligte  Mann  ein  für  allemal  kein  Israelit, 
sondern  ein  ger  war. 

2)  Nach  I  Chron.  23,  i  hätte  David  aus  sämtlichen  gerim  des  Landes  Stein- 
metzen für  den  Tempelbau  ausgehoben.  Wahrscheinlich  waren  umgekehrt  die 
Steinmetzen  Königshandw^erker  und  eben  deshalb  gerim. 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  /j.^ 

wurden  als  s  t  a  m  m  f  r  e  m  d  und  als  organisiert,  teils 
als  bodensässige  Klientelstämme,  teils  aber  als  nicht  bodensässige 
Gaststämme  und  Gastsippen.  Ursprünglich  waren  sie  rituell 
von  den  Israeliten  geschieden  und  dadurch  wenigstens  von 
einem  ebenbürtigen  connubium  ausgeschlossen,  wie  die  Er- 
zählung von  Sichem  und  Dina  lehrt.  —  Die  Erscheinung  rituell 
geschiedener  Gaststämme  kennen  wir  ja  eingehend  aus  Indien. 
Diesem  Typus  des  eigener  Bodenständigkeit  entbehrenden  Gast- 
stamms fügen  sich  nun  auch  die  beiden  für  uns  wichtigsten  und  am 
besten  in  der  Ueberlieferung  erkennbaren  Beispiele  Von  gerim :  die 
Kleinvieh  züchtenden  Hirten  und  die  levitischen  Priester.  Beide 
teilen  miteinander  in  der  Tradition  die  Eigentümlichkeit,  am 
Grundbesitz  des  politisch  Vollberechtigten  Wehrverbandes  nicht 
beteiligt  zu  sein.  Beide  hatten  aber  wie  alle  gerim  ein  festes  Rechts- 
verhältnis zu  der  ansässigen  Bevölkerung.  Beiden  waren  in  den 
Stammesgebieten  Israels  keine  Ackerländereien,  wohl  aber  Wohn- 
grundstücke — ^  meist  zwar:  vor  den  Toren  — und  Weiderechte 
für  ihr  Vieh  angewiesen.  Aus  religionsgeschichtlichen  Gründen 
Werden  wir  gerade  diese  beiden  Kategorien  noch  näher  betrachten 
müssen.  Die  Hirten,  weil  die  Tradition  ihnen  die  »Erzväter« 
zuweist  und  weil  sie  für  die  Prägung  der  prophetischen  Jahwe- 
religiorr  eine  beträchtliche  historische  Rolle  gespielt  haben. 
Die   Leviten  aber  als  Träger  des  Jahwekults.  — 

Ueber  welches  Gebiet  die  oben  geschilderte  städtische 
Organisation  sich  jeweils  erstreckte,  hing  Von  der  politischen 
Machtlage  und  zwar  insbesondere  davon  ab,  in  welchen  Gebieten 
die  Beduinen  im  Zaun  gehalten  werden  konnten.  Daher  war 
sie  in  der  römischen  Kaiserzeit  tief  in  die  Wüstengebiete  Vor- 
gedrungen, um  durch  die  islamische  Invasion  wenigstens  im 
Ostjordanland,  welches,  im  Gegensatz  zum  Westgebiet,  von  den 
bedu  okkupiert  wurde,  wieder  vernichtet  zu  werden.  Der  An- 
sturm der  Beduinen  gegen  die  städtisch  organisierten  Gemein- 
schaften durchzieht  die  ganze  palästinische  Geschichte.  In  den 
Amarnabriefen  erscheinen  die  mit  dem  Ideogramm  Sa  Gaz, 
dessen  Aussprache  bisher  nicht  ermittelt  ist,  bezeichneten  Krieger 
teils,  und  in  der  Regel,  als  Feinde,  mit  denen  die  ägyptischen 
Vasallen  und  Statthalter  zu  kämpfen  haben,  teils  aber  auch  als 
Reisläufer  im  Dienst  von  Vasallen  ^) .  Die  Korrespondenz 
Hammurapis  kennt  die  Sa  Gaz  als  Nomaden  an  der  Westgrenze 

1)   Knu  dtzon   Nr.   196. 


AA  Das  antike  Judentum. 

Mesopotamiens,  wo  sie  unter  einem  königlichen  Vogt  stehen.  Die 
in  Syrien  und  Nordpalästina  einbrechenden  Sa  Gaz  verbrennen 
die  eroberten  Städte  ^).  Oder  aber  sie  Veranlassen  die  ansässige 
Bevölkerung  dazu,  den  ägyptischen  Vasallen  zu  erschlagen,  mit 
ihnen  gemeinsame  Sache  zu  machen  und  >:wie  Sa  Gaz  zu  sein«  2). 
Oder  sie  erobern  die  Städte,  ohne  sie  zu  zerstören,  setzen  sich 
also  offenbar  als  Fronherrn  des  platten  Landes  an  die  Stelle 
der  bisherigen  ägyptischen  Vasallen  und  Parteigänger.  Frag- 
lich bleibt  nun  aber  in  all  diesen  Fällen:  ob  diese  Sa  Gaz^)  wirk- 
lich Beduinen,  also  Kamelzüchter  aus  dem  Wüstengebiet  waren 
oder  vielleicht  etwas  ganz  anderes. 

Zwischen  der  bodenständigen  Bevölkerung,  also  dem  Stadt- 
patriziat  und  den  seßhaften,  teils  freien,  teils  fron-  oder  zins- 
oder  pachtpflichtigen  Bauern,  welche  Korn,  Früchte  und  Wein 
ziehen  und  Rinder  halten,  einerseits  und  andererseits  den  freien 
kamelzüchtenden  Beduinen  in  der  Mitte  steht  nämlich  noch  eine 
für  alle  Länder  der  Mittelmeergebiete  bis  in  die  Neuzeit  charak- 
teristische Schicht:  Die  halbnomadischen  Kleinvieh-  d.  h.  Schaf- 
und  Ziegenzüchter*).  Die  Lebensform  dieser  Schicht 
ist  im  Mittelmeergebiet  überall  bestimmt  durch  die  Notwendig- 
keit und,  für  Kleinvieh  im  Gegensatz  zu  Rindern,  auch  leichte 
Ausführbarkeit  des  Weidewechsels  auf  weite  Entfer- 
nungen hin:  über  die  Abruzzen  hinweg  nach  Apulien,  oder  quer 
durch  halb  Spanien,  und  ähnlich  weit  in  Nordafrika  und  dem 
Balkan.  Diese  in  Spanien  sogenannte  »Transhumanz«  ^)  be- 
dingt zweierlei:  Einmal  gemeinsame  periodische  Wanderung 
und  daher,  im  Gegensatz  zu  dem  formlosen  Zusammenschluß 
der  Beduinen,  eine  nach  innen  etwas  fester  geregelte  Gemein- 
schaft. Dann  aber,  nach  außen,  eine  fest  geregelte  Beziehung 
zu  den  Grundbesitzern  der  betroffenen  Gebiete.  Sowohl  die 
Stoppel-  und  Brachweiderechte  wie  die  Wanderungswege  müs- 
sen fest  vereinbart  sein,  wenn  nicht  die  ohnehin  oft  gewaltsamen 
Beziehungen  zu  dauernden  Fehden  führen  sollen.    Denn  überall 

1)   Knudtzon  Nr.  185. 

^)   Knudtzon  Nr.  74. 

3)  Die  Zugehörigkeit  der  Chabiru  zu  den  Sa  Gaz  ist  nach  dem  Bhogaz 
köi-  Fund  nicht  mehr  fraglich. 

*)  Ueber  die  Bedeutung  der  »Schaf nomaden«  für  den  Jahwekult  s.  jetzt 
Luther    bei  Ed.  Meyer    (Die  Israeliten  u.  ihre  Nachbarst.)   S.  120  f. 

*)  Sie  ist  neuestens  von  R.  Leonhard  (die  Transhumanz  im  Mittelmeer- 
gebiet, in  der  Festschrift  für  Brentano)  in  verdienstvoller  Art  erstmalig 
zusammenfassend  behandelt  worden. 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe,  45 

haben  diese  Hirten  die  Neigung,  die  ihnen  zustehenden  Wege- 
und  Weiderechte  zu  überschreiten,  ihre  Herden  vorzeitig  in 
die  Felder  einbrechen  oder  die  an  den  Wanderstraßen  liegenden 
Aecker  verwüsten  zu  lassen,  wie  dies  Jeremia  (12,  10)  von  seinem 
Weinberg  und  Acker  erzählt  ^).  Das  Bestehen  und  die  erheb- 
liche Bedeutung  dieses  Wanderhirtentums  ist  für  alle  Epochen 
Palästinas  historisch  sicher.  Heute  findet  es  sich  auch  bei  Kamel- 
züchtern, die  aus  dem  Ostjordanland  ihre  Herden  auf  Stoppel 
und  Brache  in  Galiläa  treiben.  Das  war  aber  nicht  das  Typi- 
sche. Die  klassischen  Repräsentanten  der  Klein  Viehzüchter  in 
der  früheren  palästinischen  Antike  waren  die  Rechabiten, 
eine  Genossenschaft,  welche  fast  durch  das  ganze  Land  nord- 
südlich gewandert  sein  muß.  Denn  sie  waren  Keniter,  und  dieser 
Stamm  grenzte  einerseits  an  die  Amalekiter  der  südlichen  Wüste, 
mit  denen  er  gelegentlich  verbündet  war,  andererseits  findet 
man  ihn,  im  Deboralied,  im  Norden.  Das  eigentliche  Weidege- 
biet der  JRechabiten  lag  zu  Jeremias  Zeit  offenbar  im  judäischen 
Gebirge,  von  wo  sie  bei  Kriegsgefahr  ihre  Herden  in  den  Mauer- 
ring Von  Jerusalem  brachten.  2%  Jahrhunderte  vorher,  bei  der 
Revolution  Jehus  im  Nordreich,  wirkten  sie  dort  entscheidend 
mit.  Sie  waren  Kleinviehzüchter.  Wie  die  Beduinen  verschmäh- 
ten sie  Häuser  und  feste  Siedelung,  verpönten  den  festen  Acker- 
bau und  tranken  keinen  Wein  (Jer.  35).  Dies  galt  ihnen  als  durch 
den  Stifter  des  Verbandes,  den  Jahwepropheten  Jonadab  ben 
Rechab,  auferlegtes  göttliches  Gebot.  Aehnlich  weit  wie  sie 
wanderten  andere  Klein  viehzüchterverbände.  Der  alte,  später 
Verschollene  Stamm  Simeon  hatte  nach  der  Tradition  einerseits 
kontraktliche  Verhandlungen  über  Weiderechte  im  Gebiet  von 
Sichem  angeknüpft,  andererseits  galten  in  der  Tradition  südliche 
Teile  der  Wüste  Juda  als  sein  Sitz.  Neben  dem  reinen  Typus, 
wie  ihn  die  Rechabiten  darstellten,  gab  es  natürlich  zahlreiche 
Uebergangsformen.  Irgendwelchen  nach  Maß  und  Stätte  mehr 
oder  minder  unsteten  Ackerbau  für  den  Eigenbedarf  pflegen 
auch  Wanderhirten  oft  zu  treiben  -).  Der  Uebergang  zu  den 
seßhaften  Bauern  war  daher  flüssig.  Nur  konnte  bei  ihnen  die 
Bodenappropriation,  da  das  Land  in  erster  Linie  Weidegebiel 
war,  keine  vollständige  sein  und  der  Schwerpunkt  ihres  Besitzes 

*)  Auch  Jer.  6,  3  werden  die  Feinde,  deren  Kommen  prophezeit  wird, 
mit  Hirten  verglichen,  die  ihre  Zelte  rundum  aufschlagen  und  sich  Weideplätze 
aussuchen. 

2)  Der  ostjordanische  Held  Jerubbaal- Gideon   drischt  Weizen:  Jud.  6,  ii. 


1^  Das  antike  Judentum. 

lag  im  Viehstand.  Die  langsamere  Beweglichkeit  des  Kleinviehs 
hemmte  ihre  Bewegungsfreiheit  im  Vergleich  mit  den  Beduinen, 
deren  Räubereien  sie  daher  ausgesetzt  waren.  Gegen  diese  waren 
sie  also  die  naturgemäßen  Bundesgenossen  der  verstärkt  in 
gleicher  Lage  befindlichen  ansässigen  Bauern :  es  bestand  »ewige 
Feindschaft  zwischen  Jahwe  und  Amalek«.  Kain,  der  tätowierte 
Beduine,  gilt,  dem  Hirten  Abel  gegenüber,  als  verflucht  zur 
ewigen  Unrast.  Aber  daneben  finden  sich  gelegentlich  auch 
Bündnisse  Von  Viehzüchtern  (den  Kenitern)  mit  Beduinen  und 
wurde  die  Verwandtschaft  mit  den  Edomitern  stark  empfunden. 
Naturgemäß  war  der  Uebergang  vom  Beduinentum  zur  halb- 
nomadischen Viehzüchterei  besonders  flüssig,  und  Kombina- 
tionen der  verschiedenen  Arten  von  Vieh  kamen  vor,  bei  den 
Erzvätern  sowohl  wie  z.  B.beiHiob,  der  als  Besitzer  von  Schafen, 
Eseln,  Rindern  und  Kamelen,  als  haussässig  und  wein- 
trinkend vorgestellt  wird.  Die  Abkommen  des  Kain,  der  zu- 
nächst als  Wüstenbeduine  gilt,  die  Keniter  \),  sind  in  histo- 
rischer Zeit  ein  als  ganz  besonders  gottesfürchtig  gelten- 
der Viehzüchterstamm,  wie  die  Genealogie  der  Genesis  zum 
Ausdruck  bringt.  Die  Midianiter  haben  in  der  Zeit  Gideons 
offenbar  nicht  nur  Kamele  als  Vieh.  Ebenso  sicher  dieEdomiter 
und  zweifellos  auch  schon  jener  Schech,  bei  welchem  der  flüch- 
tige Aegypter  Sinuhe  in  der  Zeit  des  Sesostris  gastliche  Auf- 
nahme fand.  —  Aehnlich  flüssig  war  die  Grenze  nach  der  andern 
Seite. 

Die  Beziehungen  der  Kleinviehzüchter  zu  der  ackerbauen- 
den ländlichen  und  ebenso  zu  der  stadtsässigen  Bevölkerung 
beruhten  normalerweise  auf  kontraktlich  festgestellten  Weide- 
und  Wegerechten:  sie  waren  gerim.  Diese  Beziehungen  konnten 
sehr  leicht  zu  einer  Vollen  Einbürgerung  ihrer  ökonomisch 
leistungsfähigsten  Sippen  in  die  Städte  führen,  sei  es  durch  Ver- 
trag, sei  es  nach  gewaltsamen  Konflikten.  Die  Daniten  hatten 
nach  der  Tradition  lange  kein  festes  Gebiet  in  Israel  (Jud.  i8,  i), 
d.  h.  sie  waren  Wanderhirten  auf  judäischem  Gebiet,  bis  sie 
sich  der  Stadt  Lajisch  auf  bis  dahin  sidonischem  Gebiet  bemäch- 
tigten. 

Die  Wanderhirten  unterlagen  nun  aber  ganz  allgemein 
bestimmten  Entwicklungstendenzen.  Epochen  des  Friedens, 
zunehmender    Bevölkerung     und   Besitzanhäufung    bedeuteten 

*)  Für  diese  zu  Unrecht  gelegentlich  bestrittene  Identität:  Num,  24,  21.  22. 


I.     Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  yi 

stets:  Einschränkung  der  Weidereviere  zugunsten  zunehmender 
Benutzung  als  Ackerland  und  nötigten  damit  zu  steigender 
Intensität  der  Ausnutzung  der  verbleibenden  Weidereviere 
selbst.  Beides  führte  in  aller  Regel  zu  steigender  Bindung  der 
Hirten  an  festere  und  kleinere  Weidebezirke  und  dadurch  wie- 
der unvermeidlich  zu  einer  Verkleinerung  ihrer  sozialen  Ein- 
heiten. Diese  waren  dementsprechend  labil.  Die  normale  soziale 
Organisation  der  Kleinviehzüchter  ähnelte  derjenigen  der  Bedui- 
nen: die  Großfamilie  als  Wirtschaftsgemeinschaft,  die  Sippe  als 
Garantin  der  persönlichen  Sicherheit  durch  Blutrachepflicht, 
der  Stamm,  ein  Verband  von  Sippen,  als  Träger  der  militärischen 
Sicherung  der  Weidereviere.  Diese  Verbände  waren,  infolge  jener 
Umstände,  beiden  Klein  Viehzüchtern  nicht  notwendig  dauerhafter 
als  bei  den  Beduinen.  Grade  bei  jenen  scheint  die  Stammesbil- 
dung besonders  oft  nur  durch  charismatische  Führer  geschaffen 
zu  sein :  so  wahrscheinlich  der  später  Verschwundene  Stamm  Ma- 
chir,  ebenso  vielleicht  Manasse  und  doch  wohl  auch  der  Stamm 
der  >>bne  Jemini<<,  alles  Stämme,  die  vom  Gebirge  Ephraim  aus 
sich  in  die  Berg  weidegebiete  nach  Osten  und  Süden  Vorschoben. 
Es  fehlt  diesen  Häuptlingen  aber  normalerweise  an  einer  stabilen 
Machtgrundlage.  Ein  Stamm,  der  aus  reinen  Klein  Viehzüchtern 
zusammengesetzt  ist,  ist  daher  durch  die  Natur  der  Lebensbe- 
dingungen eher  stärkeren  Chancen  des  Zerfalls  ausgesetzt  als 
eine  Beduinengemeinschaft  es  Wenigstens  in  dem  Fall  ist,  daß 
sie  entweder  in  der  Beherrschung  von  Oasen  oder  von  Kara- 
wanensferaßen  einen  Rückhalt  für  die  ökonomische  Stabilität 
ihres  Stammesfürstentums  findet.  Ein  Beispiel  für  die  Labilität 
und  den  rein  charismatischen  Charakter  des  Kriegs fürstent ums 
bei  reinen  Viehzüchterstämmen  ist  die  Vorstellung  der  Tradition 
von  der  Stellung  Jephthas,  eines  ost jordanischen  Kriegshelden, 
dem  von  den  Aeltesten  des  Stammes  Gilead  anfänglich  nur  die 
Würde  eines  »kazir«,  eines  Kriegsführers,  dem  germanischen 
»Herzog«  entsprechend,  für  die  Dauer  des  Befreiungskrieges 
gegen  die  Ammoniter  angeboten  wird  (Jud.  ii,  6).  Er  lehnt  das 
ab  und  das  Heer  (ha*am,  die  Mannen)  überträgt  ihm  nun  auf 
Antrag  der  Aeltesten  die  lebenslängliche,  aber  nicht  erbliche, 
Würde  eines  »rosch«  (Häuptlings,  Fürsten,  Obersten,  Jud.  ii,  ii). 
Eben  dahin  gehören  die  zahlreichen  ephemeren  Richter  (schofe- 
tim)  der  israelitischen  Frühzeit,  teils  nur  charismatische  Kriegs- 
führer, teils  vielleicht  auch  mit  dem  Charisma  richterlicher  Weis- 


j^  Das  antike  Judentum. 

heit  begnadet.  Ihre  Macht  blieb  rein  persönUch.  Der  ostjordani- 
sche Held  Jerubbaal-Gideon,  welcher  mit  einer  rein  freiwilligen 
Gefolgschaft  in  den  Midianiterkrieg  zieht,  lehnt  nach  der  Tra- 
dition die  ihm  von  »Einigen  in  Israel«  angebotene  erbliche  Herr- 
schaft ab  (Jud.  8,  23)  und  begnügt  sich  mit  seinem  Beuteanteil, 
aus  dem  er  eine  religiöse  Stiftung  macht  (welche,  ist  anzunehmen, 
ihm  und  seinen  Nachfahren  Erträgnisse  von  Wallfahrten  abwer- 
fen sollte).  Dauerhafte  politische  Bildungen  fanden  sich  meist 
gerade  auf  den  Zwischengebieten  zwischen  dem  eigentlichen 
Wüstenbeduinentum  und  den  palästinischen  Bergweiden  im 
Osten  und  Süden.  So  das  Königtum  der  Moatiter  in  Ahabs 
Zeiten,  welches  Inschriften  hinterlassen  hat,  ebenso  das  der 
Ammoniter  schon  in  der  Jephthazeit,  namentlich  aber  das  in 
steten  Beziehungen  zu  Juda  stehende,  durch  eine  Reihe  von  zehn 
aufeinander  folgenden  Herrschern  vertretene  Königtum  der 
Edomiter  vor  der  Unterwerfung  durch  David.  Daß  diese  edo- 
mitischen  Könige  off enbar  nicht  erblich  aufeinander  folgen,  scheint 
den  rein  persönlich  charismatischen  Charakter  ihrer  Herrscher- 
stellung anzudeuten.  Bei  Kleinviehzüchtern  waren  dagegen 
rein  politische  Bildungen  sehr  labil.  Bedrohung  durch  Beduinen 
oder  umgekehrt  die  Chance  kriegerischer  Erweiterung  der  Weide- 
reviere führten  zu  festerem  Zusammenschluß  im  größeren  Ver- 
band unter  einem  Kriegshäuptling.  Umgekehrt  bedeutete  in 
friedlichen  Zeiten  die  vorhin  bezeichnete  Entwicklungstendenz: 
Abspaltung  einzelner  Sippen  und  Zerfall  der  Stämme.  Schon 
im  Bericht  über  die  Deboraschlacht  finden  wir  den  Mann  der 
Heldin  Jael,  einen  Keniter,  als  einen  Viehzüchter  erwähnt,  der 
sich  von  seinem  Stamm  gesondert  und  kraft  Freundschaftsver- 
trags seine  Zelte  als  ger  auf  dem  Gebiete  eines  kanaanäischen 
Stadtkönigs  aufgeschlagen  hat^).  Die  alten  Stämme  Simeon 
und  Levi  sind  schon  zur  Zeit  der  Zusammenstellung  des  Jakob- 
segens »zerteilt  und  zerstreut's  im  noch  späteren  Mosessegen 
(Deut.  33)  wird  Simeon  gar  nicht  mehr  und  Levi  nur  noch  als  eine 
Berufspriesterschaft  erwähnt.  Einzelne  simeonitische  Geschlech- 
ter kennt  die  nachexilische  Chronistik  (i.  Chron.  5,  41.  42)  als 
unter  den  Edomitern  in  Seir  ansässig,  der  Rest  hat  »seinen  An- 
teil in  Juda«  empfangen,  d.  h.  ist  in  diesem  Stamm  aufgegangen. 
Der   Stamm   Rüben,   einst  der  Hegemon  des   Bundes,     ist    im 

^)  Jucl.  4,  17.  Der  zweite  Halbvers  kann  freilich,  wie  mehrfach  angenom- 
men wird,  Einschiebung  sein,  beweist  dann  aber  eben  für  die  Zustände  zur  Zeit 
seiner  Entstehung. 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  aq 

Jakobsegen  seiner  Macht  entkleidet,  im  Mosessegen  wird  darum 
gebetet,  daß  er  nicht  ganz  verschwinde,  später  ist  er  verschollen. 
Vom  Josephstamm  spalten  sich  Viehzüchtersippen  ab:  im  De- 
boralied  steht  ein  nachher  verschollener  Stamm  Machir,  später 
ein  in  sich  wiederum  geteilter  Stamm  Manasse  neben  Ephraim. 
Die  Vernichtung  der  Stämme  Simeon  und  Levi  wird  mit  einem 
Verrat  und  gewaltsamen  Konflikt  gegen  die  Sichemiten  in  Zu- 
sammenhang gebracht.  In  der  Tat  kann  ein  kriegerischer  Ver- 
lust des  Viehbesitzes,  ebenso  aber  auch  dessen  Dezimierung  durch 
Viehseuchen  einen  reinen  Viehzüchterstamm  plötzlich  zur  Auf- 
lösung oder  Verknechtung  bei  den  besitzenden  Nachbarn  bringen. 
Aber  schon  die  bloße  Tatsache  des  Drucks  der  zunehmenden 
Seßhaftigkeit  gegen  die  Weidereviere  wirkte  ebendahin.  Der 
allmähliche  Uebergang  Vom  Halbbeduinentum  zur  Kleinvieh- 
zucht, dann  zur  Seßhaftigkeit  und  weiter  zur  Stadtsässigkeit 
unter  der  Wirkung  dieses  Drucks  spiegelt  sich  sowohl  in  den  Sagen 
wie  in  der  historischen  Tradition.  Abraham  hält  in  der  Sage 
außer  Schafen  auch  Kamele  und  trinkt  keinen  Wein,  sondern 
bewirtet  die  drei  Männer  der  göttlichen  Epiphanie  mit  Milch. 
Er  wandert  als  kontraktlich  weideberechtigter  ger  zwischen 
verschiedenen  Orten  und  erst  am  Ende  seines  Lebens  läßt  ihn 
die  Sage  in  Hebron  nach  langer  Verhandlung  ein  Erbbegräbnis 
erwerben  (Gen.  23,  16).  Isaak  zeltet  kraft  Kontrakts  auf  dem 
Gebiet  von  Gerar  und  gräbt  dort  Brunnen,  muß  aber  wieder- 
holt seinen  Sitz  wechseln.  Jakob  gilt  zwar,  im  Gegensatz  zu 
dem  Bauern  Esau,  wesentlich  als  in  Zelten  wohnender  Vieh- 
züchter, wird  aber  als  ger  in  Sichem  seßhaft  und  kauft  Land 
(Gen.  33,  19).  Am  Schluß  seines  Lebens  gilt  es  als  List,  daß  er 
sich  beim  Pharao  als  reinen  Kleinviehzüchter  einführt,  um  so 
als  rituell  gemiedener  ger  ohne  Vermischung  mit  den  Aegyptern 
leben  zu  können.  Er  betreibt  Ackerbau  und  bedarf  Getreide  zur 
Nahrung.  Allen  Erzvätern  wird  Rinderbesitz  zugeschrieben. 
Joseph  vollends  reguliert  als  Wesir  Aegyptens  die  dortige  Grund- 
steuer. 

In  der  politischen  Organisation  und  auch  militärisch 
bedeuten  diese  Verschiebungen  tiefgreifende  Wandlungen. 

In  der  historischen  Tradition  finden  sich  für  die  einzelnen 
israelitischen  Stämme  alle  Uebergänge  vom  Halbbeduinentum 
zur  halbnomadischen  Kleinviehzucht  und  von  beiden  durch 
das   Mittelstadium    des    Gelegenheits-Ackerbaus    (Gen.    26,    12 

Max    Weber,   Religionssoziologie  IIF.  . 


50 


Das  antike  Judentum. 


bei  Isaak)  sowohl  zur  Ansässigkeit  als  städtische  Herrensippen, 
wie  zum  seßhaften  Ackerbau  sowohl  als  freie  wie  als  fronpflich- 
tige Bauern  ^).  Abgeschlossen  tritt  dann  die  weitgehende 
universelle  Wandlung  zur  Stadtsässigkeit  hervor  in  der  poli- 
tischen Geographie  Palästinas,  wie  sie  im  Buche  Josua  gegeben 
wird.  Wie  Josua  selbst  hier  mit  einer  ;>  Stadt ^<  als  Lehen  für  seine 
Dienste  entgolten  wird  (Jos.  19,  50),  so  werden  alle  Stämme,  selbst 


1)  Dan  hatte  nach  der  Tradition  (Jud.  i8,  i)  lange  Zeit  keinen  festen 
Wohnsitz  im  Lande.  Im  Deboralied  verdingen  sich  die  Daniten  den  Phönikern 
als  Ruderknechte.  Die  Tradition  nennt  diesen  Stamm  mehrfach  nur  , Sippe'. 
Dem  Jakobsegen  ist  er  ein  Räuberstamm,  der  »wie  eine  Schlange  auf  den  Kara- 
wanenstraßen liegt  und  das  Pferd  in  die  Ferse  beißt«,  dem  Mosessegen  ein  »auf- 
springender Löwe  in  Basan«,  also  im  Hauran.  Wahrscheinlich  zur  Zeit  des  ersten 
Vordringens  der  Philister,  wohl  schon  vor  der  Deboraschlacht,  haben  die  Daniten 
ihre  damaligen  Zeltstätten,  das  »Lager  Dans«  im  Gebirge  Juda,  mit  ihren  mili- 
tärischen Kräften  (nach  der  Tradition  600  Mann)  nicht  behaupten  können  —  ver- 
mutlich waren  die  Philister,  gegen  welche  der  danitische  Held  Simson  focht, 
die  Gegner,  doch  sind  die  betreffenden  Oertlichkeiten  später  in  judäischem  Be- 
sitz — ;  sie  wanderten  daher  nach  Norden  und  ließen  sich  nach  Einnahme  und 
Ausmordung  der  sidonischen  Bergstadt  Lajis  in  dieser  nieder.  Auf  diese  nach 
ihm  benannte  Stadtgemeinde  ist  Dan  später  beschränkt  und  als  Stamm  nur  noch 
fiktiv.  Daß  die  Stadt  Dan  als  religiös  besonders  korrekt  galt,  macht  es  wahr- 
scheinlich, daß  die  Tradition  über  das  Wanderleben  die  Wahrheit  berichtet. 
Denn  religiöse  Korrektheit  setzt  sie  für  alle  alten  Hirtenstämme  voraus.  Aus 
einem  zweiten  Spruch  im  Jakobsegen  hat  man  wohl  mit  Recht  geschlossen, 
daß  Dan  zeitweilig  seiner  politischen  Selbständigkeit  beraubt  gewesen  sei.  Aus- 
drücklich berichtet  das  gleiche  der  Jakobsegen  von  dem  im  Mosessegen  als  ein 
in  Zelten  wohnender  Stamm  nur  kurz  erwähnten  Issachar  als  Folge  des  Ueber- 
gangs  zur  Seßhaftigkeit:  »Als  er  sah,  wie  schön  die  Ruhe  und  wie  lieblich  das 
Land  sei,  beugte  er  seinen  Rücken  zum  Tragen  und  wurde  ein  Fronknecht«, 
also  zweifellos :  ein  seßhafter  Bauer :  Issachar  saß  wenigstens  teilweise  in  der  frucht- 
baren Ebene  Jesreel.  Der  Stamm  Naphthali  heißt  im  Jakobssegen  »eine  flüch- 
tige Hindin«,  war  also  wohl  ein  Halbbeduinenstamm  (wenn  nicht  ein  bloßes 
Wortspiel  mit  dem  Namen  getrieben  sein  sollte).  Nach  dem  Deboralied  hat  er 
seine  Sitze  auf  den  Bergen,  während  der  Mosessegen  ihn  als  von  Jahwe  gesegnet 
am  Meeresstrande  seßhaft  und  im  Besitz  einer  Stadt  (Merom)  erwähnt.  Der 
gleichfalls  an  der  Meeresküste  sitzende  Stamm  Asser,  dessen  durch  Oelbau  ge- 
wonnener Reichtum  sprichwörtlich  war,  scheint  im  Jakobsegen  einem  phöniki- 
schen  Stadtkönig  für  den  Tafelbedarf  zinsbar  zu  sein.  Im  Mosessegen  werden 
dagegen  seine  Festungen  (Riegel  von  Erz  und  Eisen)  und  sein  starkes  Heer 
gerühmt.  Der  Stamm  Sebulon  muß  in  der  Zeit  zwischen  der  Entstehung  des 
betreffenden  Spruchs  im  Jakobsegen  und  des  Deboraliedes  seinen  Wohnsitz 
gewechselt  haben  (im  Mosessegen  Vers  18  scheint  die  Lesung  verfälscht).  Im 
Jakobsegen  sitzt  er  am  Meer  und  »lehnt  sich  an  Sidon«  d.  h.  doch  wohl:  ist  von 
den  Sidoniern  abhängig,  während  er  im  Deboralied  ein  kriegerischer  Bergstamm 
ist.  Der  Stamm  Benjamin  ist  im  Jakobsegen  ein  Räuberstamm:  »ein  reißender 
Wolf,  der  morgens  Raub  frißt  und  abends  Raub  austeilt«.  Im  Mosessegen  ist^er 
zu  Ruhe  und  Frieden  gelangt.  Der  Stamm  Gad  scheint  später  (zu  Mesas  und 
Ahabs  Zeit)  ein  moabitischer  Stamm  gewesen  zu  sein.  Sein  Name  war  wolil 
der    eines    alten    Glücksgottes. 


I .     Die  israelitische   Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  '  i 

Juda,  als  Inhaber  von  Städten  mit  Dörfern  als  Dependenzen  behan- 
delt (cf.  Jos.  Kap.  15),  in  deren  Bezirke  das  ganze  Land  eingeteilt  er- 
scheint. Selbst  für  die  Zeit,  der  diese  Stelle  vermutlich  entstammt, 
traf  dies  wohl  nur  theoretisch  zu.  Denn  die  judäischen  Südstämme 
sind  politisch  noch  in  historischer  Zeit  nach  Art  der  Beduinen 
vornehmlich  sippenmäßig,  die  Nordstämme  dagegen  außerdem 
(und  für  die  Verwaltung  offenbar:  vor  allem)  nach  Art  der 
mesopotamischen  Staaten  in  Tausendschaften  und  Fünfziger- 
schaften gegliedert.  Die  Tausendschaftskontingente,  als  die 
Aufgebots-Einheiten,  konnten  an  sich  natürlich  auch  auf  die 
Viehzüchterstämme  übertragen  werden.  Man  konnte  einen  ein- 
zelnen Stamm  oder  Stammesteil  einer  oder  mehreren  Tausend- 
schaften gleichsetzen  und  ihm  selbst  die  Art  des  Aufgebots  über- 
lassen. Dies  erfolgte  dann  wohl  in  verschiedener  Art.  Das  De- 
boralied  bezeichnet  die  Führer  der  Stammeskontingente  mit  sehr 
verschiedenen  Ausdrücken,  die  doch  wohl  auf  sehr  verschiedene 
militärische  Struktur  schließen  lassen.  Die  Königsherrschaft 
wird  naturgemäß  nach  Einheitlichkeit  gestrebt  haben.  Wie 
»Fünfzigern«  später  der  allgemeine  technische  Ausdruck  für 
Ausheben  und  Aufbieten  wurde,  so  Werden  in  der  Tradition 
die  Obersten  der  Tausendschaften  und  Fünfzigerschaften  ganz 
allgemein  als  Leute  angesehen,  die  auch  im  Frieden  in  ihren 
Aushebungsdistrikten  Jurisdiktion  haben.  Dies  ist  indessen 
zweifellos  erst  Produkt  der  Königszeit  und  galt  wohl  selbst 
damals  nicht  allgemein  und  dauernd.  Bei  den  viehzüchtenden, 
gentilizisch  gegliederten  Ostjordanstämmen,  und  ebenso  beim 
Stamm  Juda  bestanden  vermutlich  andere  Verhältnisse:  als 
Friedensbeamte  wenigstens  kennen  sie,  scheint  es,  jene  Offiziere 
nicht,    sondern    nur    ihre    Aeltesten. 

Der  nach  Fünfziger-  und  Tausendschaften,  gegliederte 
Bundesheerbann  ist  überhaupt  nicht  die  einzige  und  jedenfalls 
nicht  die  älteste  Art  der  Militärorganisation,  welche  die  Quellen  ken- 
nen .  Zwei  andere  Arten  finden  sich .  Für  den  zwischen  den  Nordstäm- 
men und  Juda  sitzenden  Stamm  Benjamin  läßt  der  Bericht  ( Jud.  21, 
21  f.)  über  die  Vorgänge  nach  dem  Kampf  wegen  des  Gibea- 
frevels,  —  eine  ätiologische  Sage  für  die  bei  den  Benjaminiten  offen- 
bar bekannt  gewesene  Raubehe,  —  es  recht  wahrscheinlich  erschei- 
nen, daß  dieser  Räuberstamm  ursprünglich  eine  straffe  fami- 
lienlose Organisation  der  Jungmannschaft  nach  Art  des  »Männer- 
hauses« besessen  hat:    vermutlich  eben  hierauf  wird  seine  trotz 


C2  l^as  antike  Judentum. 

des  kleinen  Gebiets  zeitweise  große  Machtstellung  beruht  haben. 
Andererseits  wurde  bereits  erwähnt,  daß  die  eigentlichen  Vieh- 
züchterstämme in  der  Regel  die  gleiche  Stellung  zum  Kriege 
eingenommen  haben,  welche  sich  bei  den  Beduinen  typisch  findet : 
absolute  Freiwilligkeit  der  Teilnahme,  also  reiner  Charismatis- 
mus.  Diesen  behandelt  nun  das  Deuteronomium  als  die  eigentlich 
klassische  Art.  Die  Tradition  läßt  Gideon  sein  Aufgebot  zweimal 
sichten:  zunächst  darf  nach  Hause  gehen,  wer  feige  ist.  Dann 
aber  wird  auch  noch  jeder  ausgeschieden,  der  an  einer  Fürth  in 
seinem  Durst  die  Heldenwürde  vergessen  und  wie  ein  Hund  das 
Wasser  geleckt  hat  (Jud.  7,  5^).  Ersteres  ist  ein  Paradigma 
für  die,  dem  später  zu  erörternden  tendenziösen  »nomadischen 
Ideal«  entsprechende,  Konstruktion  des  Deuteronomiums  (Ka- 
pitel 20),  wonach  nicht  nur  die  Jungverheirateten  und  diejenigen, 
welche  einen  Hof  oder  ein  Feld  oder  einen  Weinberg  neu  angelegt 
haben,  sondern  jeder  der  sich  fürchtet,  daheim  bleiben  soll: 
denn  —  das  ist  die  theologische  Begründung  —  das  Vertrauen  auf 
Jahwe  allein  genügt  für  den  Sieg.  Beim  Aufgebot  des  Judas 
Makkabäus  findet  sich  das  Paradigma  wiederholt.  Daß  diese  Vor- 
schriften, wie  Seh  Wally  angenommen  hat,  nicht  theologischer 
Konstruktion,  sondern  alten  magischen  Vorstellungen  entstamm- 
ten, scheint  nicht  sicher.  Dagegen  werden  wir  später  in  der 
freiwilligen  »Weihe«  zum  Glaubenskämpfer  (Nasir)  Formen  der 
religiösen  Heeresbildung  kennen  lernen,  an  welche  diese  Vorstel- 
lungen anknüpfen  konnten.  Aber  der  Ursprung  lag  doch  wohl 
in   Beduinengepflogenheiten. 

Praktisch  angesehen  war  ein  Krieg  in  diesen  Formen  ein 
reiner  Gefolgschaftskrieg.  In  der  Tat  hatten  fast  alle  Kämpfe 
der  israelitischen  Richterzeit  diesen  Charakter.  Im  Grunde 
nur  für  drei  Fälle:  den  Deborakrieg,  die  (wohl  legendäre)  Bun- 
desexekution gegen  Benjamin  und  den  Befreiungskrieg  Sauls 
ist  in  der  Tradition  das  Gesamtaufgebot  des  Bundesheerbanns 
bestimmt  überliefert.  Alle  diese  drei  Fälle  gehören  zum  Typus 
des  später  zu  besprechenden  »heiligen«  Krieges.  Der  gottge- 
fällige König  der  Priestertradition  ist  zwar  David.  Aber  die  Art 
wie  er  seine  Stellung  gewinnt  und  seine  ersten  Kriege  führt, 
ist  in  der  iraelitischen  Geschichte  das  letzte,  zugleich  schon  in  eine 
neue  Zeit  hinüberführende,  Beispiel  des  Gefolgschaftskrieges 
und  des  charismatischen  Fürstentums. 

*)  In  der  heutigen  Lesung  teilweise  verkehrt. 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  53 

Den  Dualismus  von  Bauern  und  Hirten  zeigt  auch  die  Tra- 
dition über  die  ersten  Könige.  Saul  gilt  ihr  als  Bauer,  Da- 
vid als  Hirt.  Saul  läßt  sie  mit  dem  Aufgebot  des  rationalen 
Heerbanns,  David  mit  Freischaarenkampf  die  Befreiung  begin- 
nen. Gewisse  Unterschiede  in  der  Struktur  der  Herrschaft  bei- 
der sind  trotz  des  tendenziösen  Charakters  der  jetzigen  Tradi- 
tion wohl  noch  erkennbar.  Saul  hatte  als  Grundlage  seiner 
Macht  die  eigene  Sippe  und  die  Kriegsmannschaft  des  Stam- 
mes Benjamin  hinter  sich.  Mit  Benjaminiten  besetzte  er  die 
wichtigsten  Aemter.  Immerhin  finden  sich  unter  seinen  Krie- 
gern fremdstämmige  Helden  als  persönliche  Gefolgsleute. 
David  stützte  sich  (i.  Sam.  22,  i  ff.)  zunächst  auf  rein  persön- 
liche Gefolgschaft  und  diese  setzte  sich  nach  der  Tradition  zu- 
sammen: I.  aus  seiner  Sippe,  2.  aus  »Bedrängten«  und  zwar 
vor  allem  aus  Schuldsklaven,  katilinarischen  Existenzen 
also,  und  3.  aus  geworbenen  kretischen  und  phüistäischen  Söld- 
nern iKrethi  und  Plethi  i.  Sam.  30,  5  und  öfter).  Neben  diesen 
Elementen  tritt  nun  aber  bei  David  weit  stärker  als  schon  bei 
Saul  und  den  Sauliden  hervor:  4.  die  Gefolgschaft  seiner  eigent- 
lichen persönlichen  Genossen,  jener  Kreis  von  Paladinen  und 
Rittern,  welche  die  Königstradition  im  einzelnen  bei  Namen 
kennt  und  deren  Taten  sie  aufzählt.  Es  sind  das  zunächst  An- 
gehörige judäischer,  z.  T.  sehr  mächtiger  Sippen  '(Joab).  Neben 
diese  traten,  durch  Uebertritt  von  Paladinen  Sauls  (Abner) 
auch  nichtjudäische  und  ferner  auch  eine  Anzahl  nichtisraeli- 
tischer Ritter:  eine  stattliche  Zahl  rein  persönlicher  »Hetairoi«. 
Der  Stamm  Juda  als  solcher,  zur  Zeit  von  Davids  Abfall  von  den 
Philistern  noch  diesen  Untertan,  stellte  sich  erst  später  geschlos- 
sen hinter  David.  Der  Anschluß  des  Nordlandes  an  David  aber 
erfolgte  erst  nach  Ausrottung  der  Sippe  Sauls,  und  zwar  kraft 
eines  besonderen  Vertrages  (berith)  zwischen  ihm  und 
den  Aeltesten  der  Stämme.  Ein  Vertrag,  ein  Bund  also,  be- 
gründete hier,  und  zwar  erstmalig,  die  nationale  Einheit  aller 
späteren  zwölf  Stämme  Israels  unter  einem  Nationalkönig.  Erst 
durch  einen  solchen  Vertrag  also,  das  ist  der  Standpunkt  der 
Tradition,  wird  ein  charismatischer  Heerführer  zum  legitimen, 
nunmehr  zum  Heerbannaufgebot  berechtigten  Monarchen:  Für- 
stengefolgschaft und  fürstliche  Soldtruppen  stehen  gegenüber  dem 
legitimen  Volksheer  des  durch  berith  eingesetzten  Königs. 
Dies   inmitten   der  judäischen  Viehzüchter  zunächst   mit  Hilfe 


r  I  Das  antike  Judentum. 

einer  persönlichen  Gefolgschaft  und  der  Macht  der  großen  judäi- 
schen  Sippen  begründete,  davididische  Königtum  wurde  nun  aber 
von  Anfang  an  seit  der  Einnahme  Jerusalems  zum  Stadt  könig- 
tum.  Nachdem  in  den  Revolten  unter  den  Sauliden,  dann  unter 
Absalon,  Adonia,  Jerobeam  der  alte  Gegensatz  der  Bauern- 
stämme gegen  die  Stadtherrschaft  sich  erhoben  und  schließlich 
das  Reich  gesprengt  hatte,  Verfiel  das  Nordreich  mit  der  Grün- 
dung von  Schomrom  (Samaria)  unter  den  Omriden  ganz  dem 
gleichen  Schicksal,  an  dem  die  Revolte  Jehus  im  Erfolg  nichts 
änderte.  Das  Südreich  aber  war  seit  dem  Abfall  der  Nordstämme 
schon  fast  ebenso  identisch  mit  dem  Weichbild  von  Jerusalem 
wie  die  theokratische   Polis  nach   dem  Exil. 

Diese  politische  Entwicklung  war  es  hauptsächlich,  welche 
neben  der  mindestens  relativ  sehr  starken  Verminderung  der 
Zahl  der  halbnomadischen  Kleinviehzüchter  auch  den  Zerfall 
ihrer  Stämme  durch  Verkleinerung  der  Weidereviere  her- 
beiführte. Die  für  uns  wichtigste  Folge  war  dabei  die  E  n  t  m  i  1  i  t  a- 
r  i  s  i  e  r  u  n  g  der  Hirten .  Ihre  zersplitterten  Sippen  waren  nunmehr 
sowohl  gegenüber  den  seßhaften  Bauern  wie,  erst  recht,  gegenüber 
dem  wehrhaften  Stadtpatriziat  die  schwächeren  und  nur  gedulde- 
ten. Den  Abraham  betrachtet  die  uns  vorliegende  Form  als  poli- 
tisch rechtlosen  Metöken  der  Hethiter  in  Hebron  und  anderer  Städ- 
te, in  deren  Gebiet  er  weilt,  in  Salem  als  Zehntpflichtigen  des  dorti- 
gen Priesterkönigs.  Jakob  Wohnt  nach  seinem  Ankauf  in  Sichem, 
wie  alle  gerim,  vor  den  Toren  der  Stadt  (Gen.  33,  18).  Zur  Zeit 
dieser  Redaktion  war  sicherlich  die  Mehrzahl  der  noch  vorhan- 
denen Kleinviehzüchter  auch  tatsächlich  in  dieser  Lage.  Den- 
noch gelten  der  Tradition  die  Erzväter,  ebenso  wie  später  Hiob, 
als  schwer  reiche  Männer.  Höchstwahrscheinlich  traf  aber 
auch  dies  für  die  Viehzüchter  der  späteren  Zeit  im  allgemeinen 
nicht  mehr  zu.  Denn  für  Wanderviehzüchter  besteht  im  allge- 
meinen die  Chance  zu  verarmen,  und  jedenfalls  die  Rechabiten 
sind  dem  Jeremia  keine  Großherdenbesitzer,  sondern  kleine 
Leute,  ebenso  wie  der  Judäer  Amos  von  Thekoa  es  War,  der 
von  Sykomorenfrüchten  und  seinem  Vieh  lebte.  Im  ganzen 
Mittelmeerbecken  war  dies  überall  ähnlich,  mit  Ausnahme  ver- 
einzelter und  dann  freilich  unter  Umständen  sehr  großer  Herden- 
magnaten. 

Diese  Tatsachen  sind  zunächst  vielleicht  wichtig  für  die 
Frage,  an  welche  ökonomischen  Kategorien  die  Rechtsquellen, 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  ^; 

Propheten  und  Psalmisten  denken,  wenn  sie  von  den  >  Armen« 
(ebjonim)  sprechen,  wie  dies  so  außerordentlich  oft  geschieht. 
Erst  in  nachexilischer  Zeit  kann  darunter  ein  städtischer  Demos : 
Kleinhändler,  Handwerker,  freie  Kontraktarbeiter  verstanden 
(oder  doch:  mitverstanden)  sein.  In  vorexilischer  Zeit  gehören 
dahin  offensichtlich  vor  allem  die  vom  Patriziat  bewucherten 
Bauern  des  platten  Landes.  Aber  außer  ihnen,  vielleicht  stärker 
als  dies  in  den  Quellen  hervortritt,  auch  Kleinviehzüchter. 
Es  wäre  nun  an  sich  nicht  unmöglich,  daß  eine  Anzahl  von 
sozialethischen  Vorschriften  im  Interesse  der  Armen,  welche 
namentlich  in  spätjüdischer  Zeit,  in  der  rabbinischen  Kasuistik, 
umfangreich  abgehandelt  werden,  mit  dieser  Situation  ursprüng- 
lich zusammenhingen.  Einmal  das  Nachleserecht  und  das 
später  sogen.  Recht  der  »Armenecke«.  Die  israelitische  Karität 
schreibt  vor,  die  Nachlese  der  Stoppeln  auf  dem  Acker  zu  unter- 
lassen und  diesen  nicht  bis  auf  die  letzte  Aehre  abzuernten, 
sondern  für  die  Bedürftigen  etwas  stehen  zu  lassen.  In  der 
älteren  Fassung,  welche  das  Deuteronomium  (24,  19)  bewahrt, 
sollen  vergessene  Garben  nicht  nachträglich  geholt,  sondern 
den  gerim,  Witwen  und  Waisen  gelassen  werden.  Die  jüngere 
Fassung  (Lev.  19,  9  f.)  ritualisiert  in  der  für  die  priesterliche 
Redaktion  typischen  Art  dies  dahin :  daß  Aecker  und  Weinberge 
absichtlich  nicht  voll  abgelesen  und  daß  an  den  Enden 
für  gerim  und  Arme  etwas  stehenbleiben  solle.  Die  ältere 
Fassung  der  Vorschrift  ist  supersJtiöser  Herkunft:  die  numina 
des  Ackerbodens  verlangen  ihren  Anteil  an  dessen  Früchten 
und  daher  gehört,  was  liegen  blieb,  ihnen.  Aber  die  offenbar 
spätere  Wendung  zugunsten  der  » Armen <*  läßt  fragen,  was  unter 
diesen  ursprünglich  Verstanden  war.  An  dem  locus  classicus 
für  die  Praxis,  im  Buch  Ruth,  ist  es  eine  von  einem  Israeliten 
geheiratete,  dann  verwitwete  Stammfremde,  der  die  Stoppel- 
lese zugute  kommt.  Sie  tat,  das  war  wohl  der  ursprüngliche 
Sinn,  unerkannt  Arbeit  auf  dem  Acker  des  mit  ihr  verschwägerten 
gibbor  Boas.  Also  scheinen. die  Kolonen  und  Landarbeiter  des 
Patriziats  in  erster  Linie  gemeint  gewesen  zu  sein  ^).  Es  ist 
aber  wenigstens  denkbar,  daß  auch  das  typische  Verbrüderungs- 

^)  Vgl.  zur  Frage  jetzt:  v.  Gall  Die  Entstehung  der  humanitären  For- 
derungen des  Gesetzes,  Zf.  Altt.  Wiss.  30  (1910)  S.  91  f.,  der  den  (an  sich  unzwei- 
felhaften) superstitiösen  Ursprung  auschließlich  betont.  Die  Frage  ist  aber: 
warum  blieb  die  sonst  in  Kulturländern  verschwundene  Bestimmung  hier  erhalten  ? 


c5  Das  antike  Judentum. 

Verhältnis  mit  den  als  Metöken  auf  die  Stoppelweide  und  Nach- 
lese angewiesenen  grundbesitzlosen  Kleinviehzüchtern  der  typi- 
sche praktische  Anwendungsfall  der  Vorschrift  gewesen  sei,  wie 
sie  auch  in  Arabien,  wo  sie  noch  jetzt  weit  verbreitet  ist,  den 
grundbesitzlosen  Klassen  zugute  kommt.  Und  die  Frage  muß  we- 
nigstens aufgeworfen  werden,  ob  irgendwelche  Zusammenhänge 
mit  solchen  Klein  Viehzucht  errechten  auch  für  eine  vielbesprochene, 
spezifisch  israelitische  sozialethische  Vorschrift:  das  religiöse 
Brachjahr  (»S  a  b  b  a  t  j  a  h  r«)  für  den  palästinischen  Boden 
bestehen  könnten.  In  der  jetzigen  Fassung  der  Bestimmung 
besagt  diese,  daß  alle  sieben  Jahre  Aecker,  Baumpflan- 
zungen und  Weinberge  völlig  unbestellt  gelassen  werden,  die 
freiwachsenden  Früchte  den  Armen  und  eventuell  den  wilden 
Tieren  zugute  kommen  sollen.  In  dieser  schroffen  Form  findet  sich 
die  Vorschrift  in  der  im  allgemeinen  ältesten  Rechts-  und  Sitten- 
gesetzsammlung, dem  sogen.  Bundesbuch  (Ex.  23,  10.  11).  Die 
Vorschrift  ist,  was  wohl  zu  beachten  ist,  keine  Rechtsinstitution 
und  steht  auch  rein  äußerlich  nicht  in  demjenigen  Teil  der  Samm- 
lung, welcher  in  leidlicher  systematischer  Ordnung  präzise  juri- 
stisch angegebene  Tatbestände  regelt,  sondern  unter  den  offen- 
sichtlich der  religiösen  Paränese  entstammenden  Bestimmungen. 
Sie  ist  eine  sittliche  Vorschrift,  kein  rechtliches  Gebot.  Als 
Institution  hat  sie  aber  im  Spät  Juden  tum  zweifellos  nicht  nur 
theoretisch  gegolten,  sondern  praktische  Folgen  gehabt,  wie 
sowohl  die  zahlreichen  Responsen  der  Rabbinen  über  das  Ver- 
halten gegenüber  dem  verbotswidrig  gebauten  Getreide  wie  auch 
andere  Nachrichten  deutlich  zeigen,  und  sie  hat  noch  für  die 
gegenwärtigen  zionistischen  Siedelungsversuche  in  Palästina  eine 
Rolle  gespielt  1).  Die  späteste  Sammlung,  das  Priestergesetz, 
enthält  (Lev.  25,  4 — 7)  die  Vorschrift  mit  ausführlichem  Kom- 
mentar in  der  Form :  daß  man  auf  dem  Land  nicht  arbeiten,  son- 
dern die  freiwachsenden  Früchte  nur  »Speise«  sein  lassen  solle 
für  den  Besitzer,  seinen  Knecht  ('ebed),  Tagelöhner  (sakir), 
Metöken  (toschab)  und  Gäste  und,  wird  hinzugesetzt,  »für  das 
Vieh  und  die  Tiere  seines  Landes  c  Der  Sinn  ist  hier  also  ein 
etwas  anderer  als  im  Bundesbuch:    die  im  persönlichen  Schutz- 

^)  Die  Rabbinen  von  Jerusalem  hatten  sich  für  die  Geltung  des  Gebots 
ausgesprochen.  Das  gleiche  hatten,  wenn  ich  mich  recht  erinnere,  deutsche 
Instanzen  getan.  Dagegen  sollen  die  ostjüdischen  Rabbinen  die  Besiedelung 
des  Landes  für  so  gottwohlgefällig  erklärt  haben,  daß  von  der  alten  Vorschrift 
dispensiert  werden  könne. 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  cy 

Verhältnis  des  Besitzers  stehenden  Personen  sind  diejenigen, 
denen  die  Bestimmung  zugute  kommen  soll.  Das  würde  die 
Deutung  zulassen:  daß  es  sich  ursprünglich  um  ein  Pacht-  und 
Fron-Erlaß  jähr  zugunsten  der  Kolonen  gehandelt  habe.  Damit  würde 
die  Art,  wie  die  Schwur  Verpflichtung  der  Gemeinde  der  Zurück- 
gekehrten unter  Esra  das  siebente  Jahr  erwähnt,  gut  zusammen- 
stimmen: »wir  wollen  das  siebente  Jahreseinkommen  fallen 
lassend  (Neh.  lo,  31).  Die  aus  der  Königszeit,  zwar  interpoliert, 
aber  im  ganzen  doch  in  leidlicher  Redaktion  überlieferte,  deu- 
teronomische  Sammlung  endlich  kennt  —  und  dies  ist  bei  dem 
Charakter  gerade  dieses  Gesetzbuchs  als  eines  Kompendiums 
der  religiösen  Ethik  wichtig  —  das  Sabbat  jähr  des  Ackers  über- 
haupt nicht,  sondern  eine  ganz  andere  Institution:  den  sie- 
benjährigen Schulderlaß.  Die  Wahrscheinlichkeit  einer  Inter- 
polation des  Sabbat  Jahrs  im  Bundesbuch  aus  dem  Priester- 
gesetz liegt  daher  überaus  nahe  angesichts  der  Unwahrschein- 
lichkeit  einer  wirklichen  Durchführung  der  dort  gegebenen  Be- 
stimmungen bei  den  vorexilischen  Ackerbauern.  Wenn  sie 
trotzdem  auf  alte  Gepflogenheiten  zurückgehen  sollten,  könnte 
entweder  eine  Institution  aus  dem  intermittierenden  Ackerbau 
der  W^anderhirten,  also  ein  Rest  alter  zeitlicher  Grenzen  der 
Bodenappropriation:  >: Feldgemeinschaft«  in  diesem  Sinn,  zu- 
grunde gelegen  haben.  Oder  aber  irgendeine  typische  Bestim- 
mung über  die  Art  der  Brachweiderechte  der  Wanderhirten  auf 
dem  Lande  der  seßhaften  Sippen.  —  Zweifellos  ist  freilich  die 
Mitwirkung  theologischer  Konsequenzmacherei  unter  Einwir- 
kung der  Schulderlaßbestimmung  des  Deuteronomiums  und  der 
allgemeinen  Steigerung  des  Sabbatgedankens  in  der  Exilszeit.  Da- 
mals wahrscheinlich  ist  von  der  babylonischen  Exilsgemeinde  diese 
wie  andere  Institutionen  des  Spätjudentums  ritualisiert  und  dann  in 
das  Bundesbuch  interpoliert  worden.  Alles  in  Allem  bleibt  die  Rolle 
des  Wanderhirtentums  für  diese  Vorschriften  problematisch. 

Wichtiger  als  diese  sehr  unsicher  bleibenden  Möglichkeiten 
einer  ökonomischen  Deutung  solcher  einzelnen  sozialethischen 
Institutionen  ist  aber  für  unseren  Zusammenhang  die  allgemeine 
Auffassang,  welche  die  volkstümliche  Tradition  der  Königszeit 
von  der  Lage  der  Kleinviehzüchter  hatte  und  Welche  in  ihrer 
Auffassung  der  Erzväter  zum  Ausdruck  kommt.  Diese  Auf- 
fassung ist  ihrerseits  eine  Konsequenz  charakteristischer 
Verhältnisse    und   ist   für  das   Judentum   folgenreich  geworden. 


[^g  Das  antike  Judentum. 

Die  Erzväterlegende  behandelt  die  Patriarchen  als  ganz  spezifisch 
pazifistische  Erscheinungen  i) .  Ihr  Gott  ist  ein  Gott  der  Fried- 
fertigen (Gen.  13,  14  f.)-  Sie  treten  als  isolierte  Hausväter  auf. 
Von  politischen  Verbänden  unter  ihnen  weiß  sie  nichts.  Sie 
sind  geduldete  Metöken.  Ihre  Lage  ist  die  von  Hirten,  welche 
familienweise  durch  friedlichen  Kontrakt  sich  von  der  ansässi- 
gen Bevölkerung  Weidereviere  sichern  und  nötigenfalls,  wie  Abra- 
ham und  Loth,  friedlich  unter  sich  verteilen.  Es  fehlt  ihnen  jeglicher 
Zug  von  persönlichem  Heldentum.  Eine  Mischung  von  vertrauens- 
voll gottergebener  Demut  und  Gutmütigkeit  mit  einer  von  ihrem 
Gott  unterstützten  geriebenen  Verschlagenheit  kennzeichnet  sie. 
Die  Erzähler  rechnen  darauf,  daß  ihr  Publikum  es  selbstverständ- 
lich findet,  wenn  die  Erzväter  lieber  ihre  begehrenswert  schönen 
Weiber  für  ihre  Schwestern  ausgeben  und  dem  jeweiligen  Schutz- 
herrn preisgeben  2),  es  Gott  anheimstellend,  sie  aus  dessen  Harem 
durch  Plagen  gegen  den  Besitzer  wieder  zu  befreien,  als  daß  sie 
für  ihre  Frauenehre  eintreten.  Es  erscheint  ihnen  direkt  löblich, 
daß  sie,  um  die  Heiligkeit  des  Gastrechts  nicht  verletzen  zu  müssen, 
ihre  eigenen  Töchter  statt  der  Gäste  preiszugeben  bereit  sind. 
Ihre  Verkehrsethik  ist  fragwürdig.  Ein  ergötzliches  Spiel  der 
Uebervorteilung  herrscht  jahrelang  zwischen  Jakob  und  seinem 
Schwiegervater,  sowohl  beim  Feilschen  um  die  begehrten  Weiber, 
wie  bei  dem  vom  Schwiegersohn  durch  Knechtdienst  erworbenen 
Vieh .  Heimlich  geht  schlie  ßlich  der  Stammvater  Israels  dem  schwie- 
gerväterlichen Dienstherrn  durch  unter  Mitnahme  von  dessen 
Hausgötzen,  damit  dieser  seinen  Weg  nicht  verrate.  Sogar  die 
Etymologie  seines  Namens  wird  diesen  Qualitäten  angepaßt 
und  es  scheint,  daß  » Jakobstrug <  eine  zur  Zeit  der  Propheten  sprich- 
wörtliche Wendung  war.  Vollends  unanstö^ig  erscheint  es  der 
Sage,  daß  ihr  ausdrücklich  als  frommer  Hirt  geschilderter  Held 
seinem  hungrig  heimkommenden,  im  Gegensatz  zu  ihm  als  un- 
bedachter    Bauer  ^)     und    Jäger    geschilderten    Bruder  ^)     die 

■)  Ueber  die  Erzväterlegenden  jetzt  (zum  Teil  gegen  Ed.  Meyer)  Greß- 
männ,  Sage  und  Geschichte  in  den  Patriarchensagen  Z.  f.  Altt.  Wiss.  30  (1910) 
S.  91  f.,  der  die  meisten  unter  die  Kategorie  »Märchen«  rückt,  was  angesichts  der 
alten  Kultorte,  mit  denen  sie  verbunden  und  an  denen  sie  lokalisiert  sind,  wohl 
zu  weit  geht.  Aber  ruit  Recht  tritt  er  der  Meinung  entgegen,  daß  die  Namen  not- 
wendig entweder  Heroen-  oder   Stammesnamen  sein  müßten. 

2)  Dreimal:    Gen.  12,  13;  20,  2;  26,  7. 

^)  Denn  so  ist  doch  wohl  »isch  sadeh«  (»Mann  des  Ackerfeldes«  Gen.  25,  27) 
zu  übersetzen  und  nicht,  wie  heut  mehrfach:  »Der  Mann,  der  sich  auf  der  Steppe 
(was  sadeh  nicht  bedeutet)  herumtreibt«. 

*)  Wie  Abel    dem  Bauern  Kain    so  wird  der  sanfte   Jakob  dem    rauhen 


I.     Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  cn 

Erstgeburt  um  etwas  Speise  abfeilscht,  ihn  dann  um  den  väter- 
lichen Segen  mit  Hilfe  der  Mutter  betrügt,  später  vor  dem  Zu- 
sammentreffen mit  ihm  ein  höchst  jämmerliches  Angstgebet  an 
seinen  Gott  richtet  (Gen.  32,  10  f.),  durch  List  und  für  einen 
Kriegshelden  würdelose  Erniedrigung  sich  der  gefürchteten  Rache 
entzieht.  Spröde  Tugend  in  Verbindung  mit  einer  rührsamen 
Großmut  gegen  die  Brüder,  die  ihn  aus  Neid  töten  wollen  und 
in  die  Sklaverei  verkaufen,  weil  er  im  Traum  sich  als  ihren  Herrn 
gefühlt  hat,  ist  die  Eigenschaft  ihres  bevorzugten  Helden  Joseph. 
Seine  fiskalischen  Fähigkeiten  in  der  Ausnutzung  der  Notlage  der 
Untertanen  des  Pharao  qualifizieren  ihn  zu  dessen  Wesir,  was 
nicht  hindert,  daß  er  seine  Familie  veranlaßt,  seinem  Herrn 
halbwahre  Auskünfte  über  ihren  Beruf  zu  geben.  Auch  die  See- 
räuber- und  Kauffahrerethik  des  vielgewandten  Odysseus  und 
sein  in  Notlagen  oft  maßloses  Jammern  zur  Helferin  Athena 
liegt  ja  für  uns  oft  außerhalb  des  Bereichs  der  Heldenwürde. 
Aber  Dinge  wie  die  zuerst  angeführten  werden  von  ihm  doch  nicht 
berichtet.  Es  sind  das  Züge  von  Paria volksethik,  deren  Ein- 
fluß auf  die  Außenmoral  der  Juden  in  der  Zeit  ihrer  Zerstreuung 
als  internationales  Gastvolk  nicht  unterschätzt  werden  dürfen, 
und  die  mit  dem  sehr  ausgeprägten  gläubigen  Gehorsam  zu- 
sammen erst  das  Gesamtbild  der  von  der  Tradition  verklärten 
inneren  Haltung  dieser  Schicht  geben.  Diese  aber  ist  eben  un- 
zweifelhaft eine  Schicht  von,  als  machtlose  Metöken,  zwischen  wehr- 
haften Bürgern  sitzenden  Kleinviehzüchtern. 

Die  moderne  Analyse,  Welche  die  religionsgeschichtliche 
Wichtigkeit  gerade  dieser  Schicht  zunehmend  betont  hat,  neigt 
nun  dazu,  diesen  pazifistischen  Charakter  der  Halbnomaden 
als  etwas  ihnen  naturnotwendig  Eigenes  anzusehen.  Aber  das 
trifft  entschieden   nicht  zu  ^).    Er  ist  vielmehr  erst  Folge  jener 

Bauern  Esau  gegenübergestellt  als  »frommer  Hirt,  der  in  den  Zelten  blieb«. 
Und  wie  Kain  andererseits  zum  Beduinen  wird,  so  ist  Esau  andererseits  ein 
gieriger   Jäger. 

^)  Man  mißver'^tehe  das  Folgende  nicht.  Die  Entstehung  der  einzelneri  heu- 
tigen Erzvätererzählungen  selbst  wird  wohl  mit  Recht  in  ein  hohes  Alter  hinauf- 
gerückt. Manches  spricht  dafür,  daß  sie  teils  unter  der  Herrschaft  der  Cheta 
in  den  Steppen  zwischen  Syrien  und  Mesopotamien,  teils  unter  ägyptischer  Herr- 
schaft in  den  südjudäischen  Steppen  entstanden.  Zu  jeder  Zeit  gab  es  natürlich 
Viehzüchter  in  der  spezifisch  ohnmächtigen  und  pazifistischen  Lage,  welche  sie 
voraussetzen.  Aber  das  Entscheidende:  ihre  Beziehung  auf  die  Stammväter 
des  Jahwebundes  Israels  ist  unbedingt  spät,  weil  ganz  und  gar  unvereinbar 
mit  den  —  gerade  wenn  man  an  die  »Eroberung«  Kanaans  durch  Israel  glaubt  — 
als  althistorisch  vorauszusetzenden  Vorgängen.    Manche   Erzväter-Erzählungen 


^Q  Das  antike  Judentum. 

wehrlosen  Zersplitterung  der  Kleinviehzüchter,  Welche  bei  zu- 
nehmender Seßhaftigkeit  eintritt.  Er  fehlt  durchaus,  wo  immer 
sie  in  machtvollen  politischen  Verbänden  organisiert  sind. 
Die  Erzväter  haben  im  Bewußtsein  der  Israeliten  keineswegs 
immer  ihre  in  der  jetzigen  Redaktion  der  Thora  niedergelegte 
Stellung  eingenommen.  Insbesondere  Abraham  und  Isaak  kennt 
die  ältere  vorexilische  Prophetie  als  Personen  nicht.  Amos  kennt 
die  Erzväter  Isaak,  Jakob,  Joseph  nur  als  Volksnamen  (7,  9. 
16;  3,  13;  6,  8;  7,  2;  5,6.  15).  Abraham  der  mit  Jakob  bei  Micha 
als  Empfänger  der  Verheißungen  Jahwes  erscheint  (7,  20)  tritt  erst 
bei  Hesekiel  (33,  24)  als  der  volkstümliche  erste  legitime  Inhaber 
des  Landes  Kanaan  auf.  Die  theologischen  Literatenkreise, 
speziell  der  sog.  »Elohist«  und  die  deuteronomische  Schule, 
scheinen  den  jetzt  in  der  Redaktion  auf  ihnen  liegenden  Akzent 
geschaffen  zu  haben.  Ihr  Charakter  hat  dabei  offensichtlich 
starke  Wandlungen  erfahren,  welche  eben  mit  jener  sozialen  De- 
klassierung und  Entmilitarisierung  der  Hirten  zusammenhängen. 
In  der  durch  die  Altersfolge  der  Stammväter  ausgedrückten 
alten  Rangfolge  der  Stämme  stehen  Rüben,  Simeon,  Levi  und 
Juda  voran,  lauter  wesentlich  halbnomadische,  zugleich  aber 
höchst  kriegerische  und  als  gewaltsam  bekannte  Stämme,  von 
denen  die  ersten  drei  später  zersplittert  Waren,  Juda  nach  ge- 
waltsamer Erlangung  der  Hegemonie  stadtköniglich  organisiert 
wurde.  Solche  starken  Viehzüchterstämme  waren  keineswegs 
in  der  Lage  geduldeter  Metöken.  Die  kriegerische  Tradition 
kennt  sie  als  Herren  des  Landes  und  die  von  ihnen  abhängigen 
Städte  entweder  als  leiturgiepf lichtige  Schutzverwandte,  wie 
Gibeon,  oder  als  heeresfolgepf lichtig,  wie  im  Deboralied  die  Stadt 
Meros.  Aehnliches  kennt  aber  auch  die  Erzväterlegende:  Isaak 
wird  der  Stadt  Gerar,  deren  Metöke  er  ist,  mit  zunehmendem 
Reichtum  und  steigender  Klientel  zu  übermächtig  (Gen.  26, 
14.  16).  Auch  Jakob  ist  in  der  ursprünglichen  Tradition  ein 
starker  Held,  der  einen  Gott  im  nächtlichen  Ringkampf  bezwingt. 
Das  von  ihm  nach  seinem  Segen  an  Joseph  (Gen.  48,  22)  »mit 
Pfeil  und  Bogen«  erworbene  Stück  Land  hinterläßt  er  dem  füh- 
renden Stamm  als  Vorzugserbe:  es  ist  Sichem,  der  spätere  Mittel- 


machen unhistorische  Voraussetzungen,  so  die  Kamel  Schenkung  des  Pharao 
an  Abraham,  da  das  Kamel  damals  in  Aegypten  noch  nicht  bekannt  war.  Stamm- 
väter des  gesamten  Israel  konnten  die  Erzväter  erst  nach  der  Einigung  des  Reichs, 
also  nach  David,  werden.  Vor  allem  scheint  der  ursprünglich  lokale  Charakter  der 
Vätersagen  durch  ihre  Verknüpfung  mit  je  einer  bestimmten  Kultstätte  gesichert. 


I.     Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  6l 

punkt  Ephraims.  Die  später  rezipierte  pazifistische  Tradition 
(Gen.  33, 19)  aber  läßt  ihn  dies  Grundstück  charakteristischerweise 
nicht  erobern,  sondern  friedlich  kaufen  ^) .  Das  vielbesprochene 
14.  Kapitel  der  Genesis  ^)  endlich  kennt  Abraham  als  kriegeri- 
schen Helden,  der  mit  mehreren  hundert  Klienten  ins  Feld 
zieht  und  den  verbündeten  Königen  Mesopotamiens,  Ham- 
murapi  eingeschlossen,  die  von  ihnen  im  Kampf  mit  den  kanaanäi- 
schen  Stadtkönigen  gemachte  Beute  siegreich  wieder  abjagt.  Sehr 
klar  tritt  der  Gegensatz  von  Kriegerehrgefühl  und  utilitarischem 
Hirtenpazifismus  in  der  entgegengesetzten  Stellungnahme  des  fried- 
fertigen Erzvaters  Jakob  einerseits,  seiner  kriegerischen  Söhne 
Simeon  und  Levi  andererseits,  zur  Schändung  der  Dina  durch 
Sichem  zutage  (Gen.  34,  30.  31).  Die  in  solchen  Fragmenten 
erhaltenen  ganz  andersartigen  Züge  sind  offenbar  erst  unter  den 
Verhältnissen  der  späteren  Zeit  völlig  zurückgetreten  hinter 
jener  pazifistischen  Haltung,  welche  den  nunmehr  bestehenden 
Umständen  entsprach^).  Für  die  unter  solchen  Umständen 
entstandene  oder  rezipierte  pazifistische  Tradition  erst  ist  Ja- 
kob deshalb  fromm,  weil  er  in  den  Zelten  bleibt  und  ebenso 
Abel  der  gute  friedliche  Hirt  und  sein  Mörder  Kain  einerseits 
der  seßhafte  gewaltsame  Ackerbauer,  dessen  fleischloses  Opfer 
der  Gott  Verschmäht  hat,  andererseits  der  zur  Unstetheit  ver- 
fluchte Beduine  und  endlich  der  Städtebauer:  das  sind  die  drei 
typischen  Gegner  der  nunmehrigen  machtlosen  zwischen  sie 
eingekeilten  Klein  Viehzüchter  ^) . 


^)  Die  spätjüdische  Tradition  freilich  glaubt  in  einem  Dorf  bei  Samaria 
mit  dem  »Jakobsbrunnen«  das  Gen.  48,  22  gemeinte  Grundstück  zu  erkennen 
(Ev.  Joh.  4,  5).  Die  jetzige  Redaktion  der  Ueberlieferung  weiß  jedenfalls 
von  Landeroberungen  Jakobs  überhaupt  nichts  zu  berichten.  Dieser  Zug  wurde 
also  getilgt, 

2)  Das  in  seiner  heutigen  Fassung  sehr  späte  Kapitel  trägt  alte  Reminiszen- 
zen zu  einer  historischen  Fabel  zusammen.  Daß  es  aber  geradezu  ein  in  Babylon 
zu  hochpolitisch-legitimistischen  Zwecken  fabrizierter  Staatsroman  sei  (so 
Asmussen  Z.  f.  \.  W.  34,  1914)  erscheint  mir  allzu  unwahrscheinlich.  Archiv- 
studien zur  Eruierung  der  Namensform  elamitischer  Könige  konnten  die  Israeliten 
der  Exilszeit  nicht  wohl  machen.  Und  die  Namensform  Kudur  (Kedor)  Laomer 
ist  echt. 

^)  Ueber  die  Erzväter  und  die  Einwanderungsfrage  jetzt  auch:  "Wein- 
heim e  r  in  der  Z.  D,  M.  G.  1912  (nicht  alle  Aufstellungen  scheinen  annehmbar 
beachtenswert  aber,  was  über  die  Stufenfolge  der  drei  Erzväter  vom  »Nomaden« 
Abraham  bis  zum  »Bauer«   Jakob  gesagt  ist). 

*)  Luther  (bei  Ed.  Meyer,  Die  Israeliten  und  ihre  Nachbarstämme)  nimmt 
an,  daß  erst  der  Jahwist  die  ursprünglich  als  ansässige  Ackerbauern  geschilder- 
ten Erzväter  absichtlich  zu  Halbnomaden  gemacht  habe,  dem  von  Budde  sog. 


^2  Das  antike  Judentum. 

Gegen  den  Ste^-dtpatriziat  und  gegen  die  Beduinen  standen 
aber  beide  Gruppen:  Bauern  und  Hirten,  im  gleichen  Gegensatz 
und  es  entwickelte  sich  den  erstgenannten  beiden  Gruppen 
gegenüber  daher  eine  Interessengemeinschaft  zwischen  ihnen. 
Die  Amarnatafeln  ebenso  wie  das  Deboralied,  der  Spruch 
des  Jakobsegens  über  Ephraim  und  die  Tradition  über 
Gideon,  Jephtha  und  Samuel  geben  diese  Interessenlage  in 
jeweils  Verschiedener  Art  wieder  und  auch  die  Epoche  noch  der 
beiden  ersten  Könige  zeigt  diese  Situation  in  ihren  politischen 
Konsequenzen. 

Starke  Unterschiede  der  Zusammensetzung  zwischen  den 
einzelnen  Stämmen  bestanden.  Asser  und  Dan  scheinen  die  am 
frühesten  stadtsässigen,  Ephraim  und  die  Stämme  Issachar, 
Sebulon,  Naphthali  scheinen  die  am  stärksten  mit  ansässigen 
eigentlichen  Bauern  durchsetzten  Stämme  gewesen  zu  sein. 
Sie  waren  daher  vor  allem  durch  die  phönikischen,  philistäischen 
und  kanaanäischen  Stadtpatriziate  in  ihrer  ökt3Tiomischen  und 
politischen  Unabhängigkeit  bedroht,  die  Issachar  früh  aufgab. 
Die  viehzüchtenden  Ost  Jordanstämme  dagegen  wurden  vor 
allem  durch  die  Streif züge  der  Beduinen  der  Wüste,  der  Midiani- 
ter  und  Amalekiter,  gefährdet,  deren  Angriffe  sie  zwangen,  sich 
wie  in  Gideons  Zeit  in  Höhlen  zu  bergen.  Von  den  Westjordan- 
stämmen  hatte  wesentlich  Ephraim  unter  diesen  »Pfeilschützen« 
zeitweise  zu  leiden.  Noch  die  Kriege  der  Bauern  auf  geböte 
Sauls  gehen  zur  einen  Hälfte  gegen  die  amalekitischen  Beduinen. 
Erst  die  Herrschaft  Davids  stellte  durch  Unterwerfung  Edoms 
und  durch  die  damit  gesicherte  Herrschaft  über  die  Karawanen- 
straße bis  zum  Roten  Meer  für  geraume  Zeit  das  Uebergewicht 
der  Ansässigen  über  die  Wüstenstämme  her.  An  dieser  Pazi- 
fizierung  der  Wüste  waren  nun  Stadtpatriziat,  Bauern  und 
Hirten  im  ganzen  gleichmäßig  interessiert.  Im  übrigen  aber 
bestan4  ein  oft  scharfer  Interessengegensatz.  Zunächst  zwi- 
schen Bauern  und  Viehzüchtern.  Es  werden  zwischen  den  israeli- 
tischen Viehzüchterstämmen  östlich  des  Jordan  und  den  Ephrai- 

»nomadischen  Ideal«  der  Prophetenzeit  zuliebe.  Ausgeschlossen  ist  auch  eine 
solche  Wandlung  an  sich  gewiß  nicht.  Unwahrscheinlich  ist  sie  aber  deshalb, 
weil  doch  viele  charakteristische  Züge  der  Erzählungen,  namentlich  ihre  Ethik, 
offensichtlich  inmitten  von  noch  sehr  unbefangenen  Hirten  entstanden  sind. 
Der  Ackerbau  Isaaks  in  Gerar  ist  als  »nomadisierender«  Anbau  geschildert.  Das 
vielbesprochene  Vorkommen  der  Namen  der  Erzväter  Abraham  und  Joseph 
in  ägyptischen  Inschriften  scheint  ziemlich  zweifelhaft:  W.  M.  Müller,  M.  D.  V. 
A.  G.  1907,  I,  S.  II  u.  23. 


1.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  (5^ 

miten  gewaltsame  Konflikte  erwähnt.  Die  Tradition  berichtet 
namentlich  von  einem  Krieg  Ephraims  gegen  den  siegreichen 
Gideon  (Jud.  8,  i  f.)  und  ein.em  Vergleich,  der  diese  Gegen- 
sätze aus  dem  Wege  räumen  sollte.  Die  Abzweigung  der 
Stämme  Machir  und  Manasse  über  den  Jordan  nach  Osten, 
der  Streit  Ephraims  über  die  Vormacht  zuerst  mit  Gilead,  dann 
mit  Manasse,  den  die  Sage  vom  Segen  Jakobs  über  Ephraim 
und  Manasse  wiedergibt,  ebenso  die  Abzweigung  des  »jüngeren 
Bruders«  Benjamin  nach  Süden  zu,  und  dann  der  von  der  späteren 
Legende  aufgegriffene  Kampf  Ephraims  mit  dem.  Räuberstamm 
Benjamin  stellen  teils  Vorstöße  der  Bauern  in  die  am  leichtesten 
anbaufähigen  Teile  des  von  Viehzüchtern  bewohnten  Berglandes 
dar,  teils  Rückstöße  und  Raubzüge  der  Viehzüchterstämme 
gegen  das  Bauerngebiet.  Die  Kämpfe  Judas  gegen  Benjamin 
und  ebenso  schon  weit  früher  die  territoriale  Ausdehnung  Judas 
auf  vorher  benjaminitisches  und  danitisches  Gebiet  waren  Vor- 
stöße dieses  neu  entstehenden  Viehzüchterstammes  gegen  die 
altisraelitischen  Stämme  im  Norden.  Dieser  Gegensatz  zwischen 
Bauern  und  Viehzüchtern  kommt  in  der  ganzen  frühisraelitischen 
Tradition  zum  Ausdruck.  Auch  in  der  politischen  Haltung  der 
Stämme  nach  außen. 

Der  Feind,  gegen  welchen  sich  gemeinsam  die  bereits  seß- 
haften, vor  allem:  die  bergsässigen  Bauern  und  die  halbnomadi- 
schen Hirten,  Wenigstens  des  West  Jordanlandes,  zu  wehren  hatten, 
war  der  wehrhafte  Patriziat  der  Städte  in  den  fruchtbaren  Ebenen 
und  an  der  Küste.  Männliche  und  weibliche  Sklaven,  Fronden 
und  Abgaben,  nach  dem  Deboralied  namentlich  schönes  Hausge- 
webe, suchen  die  stadtsässigen  Patrizier  im  Kriege  zu  gewinnen. 
Daneben,  wie  schon  früher  bemerkt,  die  eigene  Kontrolle  über 
die  Karawanenstraßen.  Neben  der  Beherrschung  dieser  Straßen 
und  dem  Gewinn,  den  sie  brachte,  erstrebten  die  freien  Bauern 
und  Hirten  der  Berge  die  Sicherung  ihrer  Fron-  und  Abgaben- 
freiheit gegenüber  dem  Stadtpatriziat,  und  suchten  womöglich 
ihrerseits  die  Städte  zu  nehmen,  teils  um  sie  zu  zerstören,  teils 
um  sich  selbst  als  Herrenschicht  darin  festzusetzen.  Es  ent- 
spricht dieser  Gegensatz,  soweit  solche  Vergleiche  Sinn  haben, 
im  Wesen  den  Kämpfen  der  an  der  Gotthardstraße  sitzenden 
Schweizer  Urkantone  gegen  Zürich,  der  Samniten  gegen 
Rom,  der  Aitoler  gegen  die  hellenischen  Städtebünde  und 
die  Makedonenkönige.     Mit  geringer  Ungenanigkeit  kann   man 


Qa  Das  antike  Judentum, 

sagen :  es  kämpfte  dabei  das  Bergvolk  gegen  die  Ebene.  Dieser 
naturgegebene  Gegensatz  nahm  erst  in  der  Zeit  des  judäischen 
Königtums  ein  Ende.  Vorher  beherrscht  er  die  ganze  Geschichte 
Palästinas  von  Anfang  unserer  Kunde  an.  Schon  in  der  Amarna- 
zeit  bedrohen  die  Feinde,  Sa  Gaz  und  Chabiri,  »von  den  Bergen 
her«  die  Städte  in  den  Ebenen.  In  der  Tradition  über  die  Kämpfe 
um  den  Besitz  Kanaans  sind  es  die  mit  eisernen  Wagen  versehenen 
Städte,  welche  die  Israeliten  nicht  nehmen  können.  Alle  israeli- 
tischen Helden  der  sog.  Richterzeit  sind  Angehörige  landsässiger 
Sippen,  die  auf  Eseln,  den  Reittieren  der  Berge,  nicht  auf  Pferden 
reiten  und  deren  Reichtum  und  Macht,  wie  wir  sahen,  nach  dei 
Zahl  der  auf  Eseln  berittenen  Sippengenossen  geschätzt  wurde. 
Noch  Sauls  Residenz  war  ein  Dorf  in  einem  Bergtal  und  noch 
Davids  Heerführer  Joab  weiß  mit  den  Beutepferden  nichts  an- 
zufangen und  läßt  ihnen  die  Fesseln  lähmen.  Aber  das  Maß  des 
Gegensatzes  gegen  die  Städte  War  bei  Bauern  und  Viehzüchtern 
verschieden.  Die  Hauptinteressenten  des  Kampfs  gegen  den 
Städtepatriziat  waren  die  ansässigen  Bauern,  die  der  Fron- 
knechtschaft am  meisten  ausgesetzt  waren.  Der  Deborakrieg 
verläuft  wesentlich  als  ein  Bauernkrieg.  Daß  das  untrainierte 
Fußvolk  der  Berge  doch  wie  Ritter  (gibborim)  gefochten  und  ge- 
siegt hat,  ist  es,  was  ihm  im  Liede  zum  höchsten  Ruhm  gerechnet 
wird.  Einerseits  die  viehzüchtenden,  nicht  bäuerlichen,  Ost- 
jordanstämme Ruhen  und  Gilead,  welche  dieser  Kampf  nicht 
interessierte,  andererseits  die  Bundesstadt  Meros,  vor  allem 
aber  charakteristischerweise  der  an  der  Küste  früh  stadtsässig 
gewordene  Stamrn  Asser  und  der  ebenfalls,  auf  sidonischem  Ge- 
biet, stadtsässige  Stamm  Dan  blieben  dem  Kampfe  fern.  Auch 
gegen  die  Philistäer  haben  die  nordisraelitischen  Bauern  und 
die  Hirten  des  Berglands  Juda  erst  spät  gemeinsame  Sache  gemacht ; 
die  letzteren  blieben  dem  Kampf  zunächst  ganz  fern  und  den 
Philistern  treu.  Der  Ritterschaft  der  Philister  stellt  die  Tra- 
dition daher  in  Saul  den  benjaminitischen  Bauern,  welcher 
vom  Pfluge  weg  König  wird,  und.  dann  erst  ihren  Liebling,  den 
nur  mit  der  Schleuder  bewaffneten  judäischen  Hirten  David 
als  typische  Vertreter  der  beiden  Kategorien  von  Israeliten 
gegenüber.  In  Wahrheit  freilich  war  David  anfänglich  ein  berg- 
sässiger  Gefolgschaftshäuptling  des  üblichen  katilinarischen 
Charakters  und  Lehensmann  der  Philister,  Von  denen  er  sich 
erst    unabhängig    machte,     als    er     Stadtfürst    von    Jerusalem 


I.     Die  israelitische  Eidgenossenschaft   und  Jahwe.  5^ 

wurde:  der  Kampf  eines  seiner  Recken  mit  Goliath   fand   erst 
statt,   als   er  schon   König  war. 

Die  Schaffung  einer  einheitlichen  Militärmonarchie  mit  einem 
Aufgebot  wagenkämpfender  Ritter  entschied  dann  das  Schicksal 
des  Heerbanns  der  freien  Bauern  und  Hirten  Israels.  Die  ben- 
jaminitische  Herrschaft  blieb  wesentlich  ländliche  Stammes- 
hegemonie, obwohl  immerhin  schon  Saul  nach  der  Tradition  sich 
eine  persönliche  Gefolgschaft,  teilweise  von  Stammfremden,  hielt. 
Aber  der  Esel  war  noch  für  Saul  das  charakteristische  Tier. 
Gegen  Davids  Stadtkönigtum  erhoben  sich  stets  erneut  die 
altbäuerlichen  nordisraelitischen  Gebiete.  Unter  Salomo  wurde 
dann  die  königliche  Kriegsmacht  mit  Rossen  und  Wagen  organi- 
siert, die  er  (wenn  die  Lesung  nicht  verderbt  ist)  aus  dem  ihm 
durch  Heirat  Verbundenen  Aegypten  bezog.  Sofort  setzte  — 
wie  später  näher  zu  besprechen  ist  —  die  Opposition  ein, 
welche  bis  in  die  Rabbinenzeit  hinein  Salomos  Beurteilung  zu 
einer  höchst  zwiespältigen  gemacht  hat.  Nach  seinem  Tode 
erhoben  sich  gegen  sein  Stadtkönigtum  die  noch  nicht  städtisch 
organisierten  Stämme,  um  nach  wenigen  Generationen  mit  der 
Gründung  von  Schomrom  (Samaria)  ebenfalls  in  ein,  wiederholt 
von  landsässigen  Usurpatoren  bedrohtes,  Stadtkönigtum  mit 
den  in  der  Tradition  und  in  den  assyrischen  Inschriften  erwähnten 
zahlreichen  Kriegswagen  der  Omridendynastie  auszumünden. 
Die  bisher  wesentlich  nebeneinander  gelagerten  sozialen  Ge- 
bilde: Viehzüchterstämme,  Bauernstämme,  Städte  werden  nun 
in  Eins  geschmolzen,  die  Hauptstadt  und  die  in  ihr  ansässigen 
Herrensippen  politisch  ausschlaggebend.  In  der  Zeit  vor  Salomo 
lag  dagegen  der  eigentliche  Kern  des  alten  Bundes  in  den  an  Zahl 
zunehmend  überwiegenden  Bauern  des  Berglandes  einerseits 
und  den  an  relativer  Bedeutung  langsam  abnehmen  Jen  Viehzüch- 
tern der  Steppengebiete  andererseits,  zu  welchen  einzelne  Markt- 
flecken und  Landstädte  in  den  Bergflußtälern  und  an  den  Paß- 
straßen, erst  sekundär  aber  und  allmählich  zunehmend  auch 
starke  Festungsstädte  hinzutraten.  Eine  starke  Zunahme  der 
Viehzüchter  einerseits,  der  stadtsässigen  Bevölkerung  anderer- 
seits muß  der  Hinzutritt  des  großen  judäischen  Gebiets  unter 
David  gebracht  haben.  Politisch  und  sozial  kam  er  nur  der 
Macht  des  Patriziats  zugute,  welches  nun  ausschlaggebend 
wurde.  Aber  innerhalb  der  plebejischen  Schichten  bestand 
der   alte  innere  Gegensatz  der  seßhaften  Bauern,    die    im  Nor- 

Max    Weber,    Religionssoziologie  IH.  c 


55  ^äs  antike  Judentum. 

den  überwogen,  zu  den  Klein  Viehzüchtern,  die  im  Süden  vor- 
herrschten, weiter  und  hat,  wie  wir  sehen  werden,  auch  für 
die  reHgiöse  Entwicklung  Folgen  gehabt.  Allein  zunehmend 
war  an  Stelle  der  alten  Gliederung  Israels  in  wehrhafte  bäuer- 
liche Grundeigentümer-  oder  Hirtensippen  einerseits,  schutz- 
verwandte Gastsippen  von  Handwerkern,  Tagelöhnern,  Musikern 
andererseits  die  ganz  andere  getreten:  auf  der  einen  Seite  stadt- 
sässiger  grundherrlicher  Patriziat  als  Träger  der  ritterlichen 
Kriegerschulung,  auf  der  anderen  verschuldete  oder  ganz  land- 
los gewordene,  also  proletarisierte,  Israeliten  und  zum  Jahwe- 
Ritual  bekehrte  Metöken,  welche  nun  eine,  rein  mit  den 
Augen  der  Priester  angesehen,  einheitliche  Schicht  Von  »Armen« 
gegenüber  dem  Patriziat  bildeten.  Sie  waren  keine  sozial  oder 
ökonomisch  einheit  iche  Schicht,  sondern  umfassen  alle  nicht 
zu  den  wehrhaften   Sippen  Gehörigen. 

Diese  sehr  komplexe  und  überdies  sehr  wechselvolle,  aber 
allmählich  sich  in  der  Richtung  der  Beherrschung  des  flachen 
Landes  durch  das  Stadtpatriziat  verschiebende  soziale  Zusam- 
mensetzung der  Israeliten  spiegelt  sich  nun  in  eigentümlicher 
Art  in  den  Rechtssammlungen  wieder,  die  uns  aus 
vorexilischer  Zeit  erhalten  sind.  Mehr  in  einzelnen  Symptomen 
und  in  dem  »Geist«:  der  Ait  der  Stellungnahme  zu  den  typischen 
Gegensätzen,  äußert  sich  die  soziale  Umwelt,  als  in  der  formellen 
Eigenart  und  dem.  Inhalt  der  Sammlungen.  Denn  in  diesen  zeigt 
sich  der  maßgebende  Einfluß  des  Umstands:  daß  Palästina  von 
Anfang  an  ein  von  lebhaftem  Handel  durchzogenes,  mit  Städten 
ziemlich  stark  durchsetztes,  dem  Einfluß  der  großen  Kultur- 
länder mit  alter  ökonomischer  Entwicklung  stark  ausgesetztes 
Gebiet  war.  Der  Gegensatz  von  verschuldeten  Bauern  gegen 
stadtsässige  Gläubiger  war  von  Anfang  an  vorhanden.  Dies 
zeigt  sich  schon  in  der  unter  dem  Namen  »B  u  n  d  e  s  b  u  c  h« 
(Ex.  21,  21 — 22,  2o)  bekannten  alten  Zusammenstellung  unbe- 
kannten, aber  sicher  über  die  erste  Königszeit  hinausgehenden 
Alters,  —  einer  systematisch  geordneten  Darstellung  vor- 
wiegend rechtlichen  Inhalts  mit  Anhängen  vorwiegend  paräne- 
tisch- verkehrssittlichen  Charakters/).  Beduinenrecht  findet  sich 
darin  ebensowenig  wie  an  anderen  Stellen  der  uns  erhaltenen 

1)  Darüber  die  bekannte  Schrift  von  Baentsch.  über  das  Bundesbuch,  und 
die  gemeinverständliche  Darstellung  von  Adalbert  Merx  in  den  »Religionsge- 
schichtl.  Volksbüchern«. 


I.     Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  57 

Satzungen.    Weder  Brunnenrechte   noch    das    Kamel   oder   die 
Dattelpalme    kommen    als    Rechtsobjekte    vor.     Die    Zisternen 
spielen  im  »Bundesbuch«  (Ex.  21,  33)  nur  insofern  eine  Rolle, 
als    Vieh    durch    Hineinfallen    verunglücken    kann.     Aber    das 
Recht  des  Bundesbuchs  ist  auch  kein  solches  von  Halbnomaden 
oder    überhaupt    von    vorwiegenden    Viehzüchtern.     Das    Vieh 
kommt  zwar  häufig  vor  als  ein  Hauptobjekt  beweglichen  Ver- 
mögens. Aber :  vor  allem  das  Rindvieh,  erst  hinter  ihm  die  Schafe. 
Archaistisch  ist  es  gewiß,  daß  der  stößige  Ochse  selbst  als  ver- 
antwortlich gesteinigt  wird  ^).   Aber  es  handelt  sich  dabei  ganz 
offensichtlich  um  Viehbesitz  von  Bauern  und  um  Schutz  von 
Bauern  gegen  das  Vieh  anderer.    Schädigung  von  Aeckern  und 
Weinbergen  durch  Vieh  wird  geregelt    (22,  5),  aber  als  Besitzer 
des  schädigenden  Viehs  wird  ein  ansässiger  Landbesitzer,  nicht 
ein  Halbnomade,  vorausgesetzt.    Das  Pferd  kommt  nicht  vor. 
Rinder  und  Schafe   stellen  den  Viehstand  dar.    Die  Interessen 
der  in  Dörfern   und  Städten  seßhaften  Ackerbauern   kümmern 
das  Recht  fast  allein.  Es  wird  vom  Einbruch  in  Häuser  gehandelt 
(22,  2)  ^nd  die  Haftbarkeit  des  Hauswirts  gegenüber  dem  Mieter 
geregelt   (22,   8).    Auch  formell  ist  das  Recht  durchaus  nicht 
primitiv.  Denn  der  Grundsatz  der  Talion,  der  auch  in  Babylon 
bestand  und  keineswegs  ein  an  sich  primitives  Prinzip  ist,  wird 
im  Bundesbuch   (21,  22  ff.  -)   nur  für  den  Fall  der  Schädigung 
bei  einer  offenen  Rauferei  aufgestellt,  dagegen,  was  oft  übersehen 
wird,  nicht  für  Körperverletzungen  anderer  Art  oder  gar  grund- 
sätzlich für  alle  Verbrechen.    Die  Blutrache  besteht,   daneben 
aber  schon  ein  ziemlich  entwickeltes  Wergeid-  und  Bußesystem 
und  zum  Teil  auch   ein  eigentliches  Kriminalrecht  mit  Unter- 
scheidung von  Mord  und  Totschlag,  von  Verschulden  und  Zufall. 
Ebenso  leidlich  rationale  Prinzipien  der  Risikoverteilung.    All 
dies    repräsentiert    ganz   wesentlich    vorgeschrittenere    Stadien, 
als  etwa  dasjenige  der  lex  Salica.  Daß  es  sich  um  eine  von  Baby- 
lonien  sehr  stark  beeinflußte  Kultur  handelt  und  daß  auch  das 
Recht  selbst   von  dort  her  bestimmend  beeinflußt  War,   zeigt 
sich  nicht  nur  in  den  zweifellosen  Parallelen   in  Hammurapis 


1)  Reste  ähnlicher  Auffassung  finden  sich  in  der  altrömischen  actio  de 
paupere. 

*)  Anders  in  den  späteren  Rechtssammlungen,  bei  charakteristischen 
Abweichungen. 


53  Das  antike  Judentum. 

Gesetz  ^),  sondern  vor  allem  in  der  entwickelten  Geldwirtschaft  '^). 
Neben  der  Naturalleihe  (22,  14)  und  der  Viehkommenda  (22,  10) 
steht  das  Gelddarlehen  (22,  25)  und  das  Gelddepot  (22,  7).  Die 
Leistung  der  Wergelder  und  Bußen  erfolgte  in  Geld.  Das  Faust- 
pfand, der  Sklavenkauf,  insbesondere  der  Verkauf  eigener 
Kinder  (21,  i  f.)  und  zweifellos  auch  der  eigenen  Person  ^) 
in  die  Schuldknechtschaft  bestehen.  Auch  die  als  Teil  der  Par- 
änese  an  die  eigentlichen  Rechtssatzungen  angehängte  Fest- 
ordnung (23,  14  f.)  ist  durchaus  die  eines  seßhaften  Ackerbau- 
volkes. Das  später  universell  rezipierte  große  Fest  der  Schaf- 
züchter: das  Passah,  findet  gar  keine  Erwähnung.  Vielmehr 
findet  sich  allein  das  später  mit  dem  Passah  verbundene  Fest 
der  ungesäuerten  Brote,  also  ein  Bauernfest.  Und  auch  die 
übrigen  Feste  schließen  sich  an  Ackerarbeit  und  Ernte  an. 

Besonders  charakteristisch  für  den  »Geist«  der  Sammlung 
ist  nun  das  Prozeß-,  Sklaven-  und  Metökenrecht.  Diese  Teile 
des  Rechtsbuchs  und  seiner  paränetischen  Anhänge  sind  am 
ehesten  zu  vergleichen  mit  den  von  hellenischen  Aisymneten  und 
den  römischen  Dezemvirn  zur  Ausgleichung  der  Kämpfe  zwi- 
schen dem  Patriziat  und  der  Plebs,  ähnlich  aber  von  den  mesopo- 
tamischen  Herrschern,  Welche  priesterlich  beeinflußte  Wohl- 
fahrtspolitiktrieben, über  die  gleichen  Punkte  gegebenen  Gesetzen. 
Die  Weitestgehenden  Bestimmungen  gehören  allerdings  der  Par- 
änese  an.  Es  sollen  keine  Geschenke  genommen  werden  (23,  8), 
es  sollen  weder  (23,  6)  die  Rechte  des  Armen  (ebjon)  zugunsten 
des  angesehenen  Mannes  noch  —  und  dies  wird  vorangestellt 
—  das  geltende  Recht  (23,  2)  den  Wünschen  der  Menge  ent- 
sprechend gebeugt  werden.    Dies  letztere  war  offenbar  nur  mög- 


1)  Die  Art  der  Formulierung  der  Talion  (Hammurapi  §  196),  der  Gefähr- 
dung einer  Schwangeren  (§  210),  vor  allem  aber  die  Behandlung  stößiger  Rin- 
der (§  251)  ist  bei  Hammurapi  so  ähnlich,  daß  ein  Zufall  ausgeschlossen  ist. 
(Auch  die  Behandlung  der  von  der  kinderlosen  Ehefrau  dem  Manne  beigelegten 
Kebse  (§  145)  stimmt  genau  mit  der  Hagar-Erzählung.) 

*  ^)  Nur  ist  gegen  Baentsch  zu  berichtigen,  daß  von  geprägtem  Geld  im 
Bundesbuch  keine  Rede  ist.  Das  Geld  wird  natürlich  dargewogen.  Aber,  daß 
das  kein  »primitiver«  Zustand  ist  (wieProcksch  meint),  daran  sollte,  abgesehen 
von  der  alten,  schon  lange  vor  der  eigenen  Münzprägung  Handelsverträge  init 
Uebersee  abschließenden  Handelsstadt  Rom,  der  Umstand  erinnern,  daß  z.  B. 
eine  Handelsstadt  wie  Karthago  die  Münze  erst  mit  dem  Uebergang  zum  aus- 
ländisch rekrutierten  Soldheer  annahm.  Die  ganze  Handelsexpansion  der  Phöni- 
ker  geschah  ohne  Münze. 

^)  Denn  dies  ist  21,  i  f.  gemeint,  sonst  könnte  die  Bestimmung  ja  durch 
Weiterverkauf  umgangen  werden. 


I.     Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und   Jahwe.  69 

lieh,  wenn  die  Menge  (rab)  eine  an  den  Aemtern  nicht  beteiligte, 
aber  zu  den  Vollfreien  gehörige  Plebs  war.  Der  Metöke  (ger) 
soll  nicht  geschunden  (22,  21),  noch  (im  Prozeß)  ungerecht  be- 
handelt werden  (23,  9).  Der  Sabbath,  der  ja  für  reine  Vieh- 
züchter keinen  rechten  ökonomischen  Sinn  gehabt  hätte,  wird 
ausdrücklich  als  ein  Tag  des  Ausruhens  für  das  Arbeitsvieh, 
die  Sklaven  ('>  Söhne  der  Magd«)  ^)  und  Metöken  motiviert 
(23,  12).  'Es  muß  angenommen  werden,  daß  unter  diesen  Metöken 
hier  außerhalb  des  Stadt  Verbandes  stehende  Kolonen  als  Be- 
arbeiter der  Felder  gedacht  sind.  Von  dem  in  seiner  jetzigen 
Fassung  entweder  interpolierten  oder  in  seinem  Sinn  entstellten 
Sabbat  jähr  war  schon  die  Rede  2).  Am  radikalsten  ist  aber 
das  Schuld-  und  das  Sklavenrecht,  welches  mit  dem  Schuldrecht 
unmittelbar  zusammenhängt.  Denn  der  Sklave  gilt  in  erster 
Linie  als  Schuldsklave,  sei  es  daß  er  sich  selbst  oder  daß  ihn  seine 
Eltern  in  der  Not  veikauft  (römisch:  in  mancipium  gegeben) 
haben.  Zwar  die  paränetische  Pfändungsschranke  (Verbot  der 
Pfändung  der  Kleidung:  22,  26)  geht  in  der  israelitischen  Samm- 
lung ^nicht  soweit,  wie  bei  Hammurapi  (Verbot  der  Pfändung 
des  Arbeitsviehs).  Dagegen  ist  das  in  der  Paränese  enthaltene 
sehr  folgenreiche  Verbot,  beim  Leihen  an  einen  armen  Volksge- 
nossen diesen  zu  Schaden  zu  bringen  und  Zins  (neschech)  ^) 
von  ihm  zu  nehmen  (22,  25)  —  die  Quelle  der  Scheidung  von 
Binnen-  und  Außenethik  im  Judentum  —  dem  babylonischen 
Recht  ganz  fremd.  Es  entstammt  primär  der  alten  Brüderlich- 
keitsethik des  Nachbarschaftsverbandes  mit  seiner  Pflicht  zins- 
loser Nothilfe.  Die  sehr  allgemeine  unpräsize  Fassung  schließt 
es  aus,  daß  die  Vorschrift  dem  praktischen  Rechtsleben  ent- 
stammte.  Sie  war  ein  religiöses  Gebot  und  bildet  die  paränetische 

*)  Juristisch  sehr  korrekt  formuliert,  da  das  Recht  an  der  Mutter  ent- 
scheidet. 

2)  Die  Bestimmungen  über  das  Sabbatjahr  in  ihrer  jetzigen  Fassung  spre- 
chen im  Gegensatz  zu  denen  über  den  Sabbattag  wesentlich  abstrakter  von 
armen  Stammesgenossen  (ebjonej'am,  —  *am  ist  in  den  älteren  Quellen  der  Aus- 
druck für  die  wehrhafte  Mannschaft),  denen  die  Früchte  zugutekommen  sollen. 
Dies  und  die  doktrinäre  Bestimmung:  daß  eventuell  das  Wild  die  Früchte  fres- 
sen soll,   macht  spätere  theologische   Konstruktion  wahrscheinlich. 

3)  Der  später  häufige  Ausdruck  »ribbith«  für  Zins  ist  offenbar  erst  aus 
Babylonien  übernommen  worden.  Dort  war  er  aus  der  Begriffsphäre  »Steuer« 
oder  »Untertanentribut«  in  die  privatrechtliche  Sphäre  eingedrungen,  vermut- 
lich, weil  der  ursprüngliche  privatrechtliche  Zins  auch  hier  in  der  Regel  kein 
fester  Zins  war,  sondern  ein  Anteil  an  der  Ernte  oder  am  Gewinn.  Lev.  25,  36 
37  kommt  »marbit«  für  »Wucher«  vor. 


^O  Das  antike  Judentum. 

Ergänzung  für  diejenigen  rechtlichen  Vorschriften,  welche,  als 
für  die  Tendenz  der  ganzen  Sammlung  besonders  wichtig,  an 
die  Spitze  aller  ihrer  Satzangen  gestellt  sind.  Nämlich  (21,  2  f.) : 

1.  ein  hebräischer  Knecht,  ein  Schuldskläve  also,  muß  nach 
6  Dienstjahren  freigelassen  werden,  es  sei  denn,  daß  er  ein  Weib 
aus  dem  Hausstand  des  Herrn  genommen  hat  und,  um  sie  zu 
behalten,  freiwillig  in  dessen  dauernder  Knechtschaft  zu  bleiben 
wünscht,  was  dann  durch  eine  religiöse  Zeremonie  (Ohrdurch- 
löcherung vor  dem  Hausgötzen)  bezeugt  werden  muß.    Ferner: 

2.  eine  hebräische  Schuldsklavin  wird  frei,  wenn  der  Herr  sie  nicht 
entweder  zu  seinem  Weibe  oder  zum  Weib  seines  Sohnes  macht, 
und  wenn  er  sie  im  ersteren  Fall  gegenüber  später  genommenen 
Frauen  in  Nahrung,  Kleidung  oder  Sexualverkehr  zurücksetzt. 
Diese  durchaus  präsizen  Vorschriften  waren  zweifellos  altes 
praktisches  Recht.  Die  ersterwähnte  Bestimmung  hat  auch  das 
Gesetzbuch  Hammurapis  mit  sogar  noch  kürzerer  Frist  (3  Jahre) 
für  den  Fall,  daß  nicht  Selbstverkauf,  sondern  Verkauf  der  Ehe- 
frau oder  der  Kinder  durch  den  Hausvater  für  dessen  Schulden 
vorliegt.  Einen  Verkauf  der  Ehefrau  kennt  das.  israelitische 
Recht  überhaupt  nicht.  In  ihm  treten  gegenüber  dem  babyloni- 
schen Recht  Bestimmungen  zum  Schutz  der  Person  des  Sklaven 
dazu:  schwere  Körperverletzung  durch  den  Herrn  begründet 
(21,  26.  27)  den  Anspruch  auf  Freilassung,  Totschlag  (21,  20) 
Kriminalstrafe,  Wenn  der  Tod  sofort  eintritt,  während  anderen 
Falls  der  Grundsatz  gilt:  daß  der  Herr  ja  nur  sein  eigenes  Be- 
triebskapital geschädigt  hat  und  der  Sklave  rechtlos  ist  (21,  21). 
In  Hammurapis  Gesetz  (116)  finden  sich  Schutzbestimmüngen 
dagegen,  daß  der  Gläubiger  den  Schuldknecht  —  auch  hier  stets 
als  Sohn  oder  Knecht  des  Schuldners  gedacht  ^ —  durch  Ent- 
behrungen oder  Mißhandlungen  sterben  läßt. 

Alles  in  allem  trägt  diese  Rechtssammlung  den  Stempel 
von  Verhältnissen  an  sich,  welche  zwar  weit  engere  und  dürftigere, 
im  Rahmen  von  Kleinstädten  sich  bewegende  ökonomische  Zu- 
stände darstellen  als  diejenigen  der  altbabylonischen  Gesetz- 
gebung, nicht  aber  prinzipiell  von  diesen  Verschiedene.  Wichtige 
Gegensätze  finden  sich.  Der  Hirt  der  babylonischen  Gesetze 
ist  ein  angestellter  Hirte  des  Königs  oder  ein  privater  Dienstmann 
großer  Herdenbesitzer  (wie  Jakob  in  der  Legende  bei  Laban) ,  der- 
jenige  des  Bundesbuchs  ist  ein  Bauer.  Individualbesitz  an  Land 
wird  (22,  5)  als  selbstverständlich  vorausgesetzt,  im  übrigen  frei- 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  j  \ 

lieh  über  das  Bodenrecht  nicht  gehandelt.  Der  Bauer  ist  in 
Babylonien  im  allgemeinen  Kolon,  Schuldknecht,  Sklave,  Päch- 
ter, besonders  oft  Teilpächter  eines  stadtsässigen  großen  Grund- 
herrn. Kolonen  gab  es  in  Palästina  auch.  Aber  das  Gesetz 
interessiert  sich  für  sie  nicht:  sie  sind  gerim.  Der  Grundbesitzer 
des  Bundesbuchs  ist  dagegen  ein  mit  einigen  Knechten,  Mägden 
und  eventuell  auch  mit  Schuldsklaven  oder  politisch  rechtlosen 
Kolonen  wirtschaftender,  sein  Land  nicht,  wie  sehr  häufig  der 
babylonische  Grundherr,  durch  Administratoren,  sondern  per- 
sönlich verwaltender  Ackerbürger  oder  mittelgroßer  Landwirt. 
Es  fehlt  ferner  der  Großhändler  und  große  Gelddarleiher  Baby- 
lons. Die  Kaufleute  sind  wohl  teils  als  Fremde,  teils  als  Metöken 
zu  denken;  das  Rechtsbuch  erwähnt  sie  nicht.  Alle  diese  Ver- 
hältnisse dürften  von  denen  der  Zeit  des  Deboraliedes  vor  allem 
insofern  prinzipiell  abweichen,  als  die  freien  Bauern  jetzt  Plebejer 
unterhalb  der  sich  entwickelnden  stadtsässigen  Patriziate  ge- 
worden sind.  Eben  auf  den  dadurch  hervorgerufenen  Gegen- 
sätzen innerhalb  Israels  hat  zweifellos  das  Bedürfnis  nach  dieser 
Kodifikation  beruht.  Die  Zustände  der  ost jordanischen  und  der 
zur  ^eit  dieser  Rechtssammlung  vielleicht,  noch  gar  nicht  zu 
Israel  gezählten  Südstämme  bleiben  völlig  außer  Betracht. 
Die  Rechtssammlung  könnte  sehr  wohl  auf  ephraimitischem 
Boden,  etwa  in  Sichem,  entstanden  sein.  Der  Ausdruck  Nasi 
für  den  Fürsten,  den  zu  beschimpfen  verboten  wird  (22,  27) 
—  die  einzige  politische  Paränese  — ,  paßt  ebenso  wie  der 
Gebrauch  von  >  Elohim<<  für  die  Gottheit  eben  dahin  und  die  ganzen 
Zustände  in  die  Zeit  etwa  bei  Beginn  der  Königsherrschaft. 

Nicht  unwesentlich  verschobene  Verhältnisse  setzt  die 
aus  der  Zeit,  als  das  Reich  Juda  in  Wahrheit  schon  nahezu  mit 
der  Polis  Jerusalem  nebst  den  -  von  ihr  politisch  abhängigen 
Kleinstädten  und  Dörfern  identisch  War,  stammende  Um.ar- 
beitung  des  Bundesbuchs  voraus,  welche  in  das  d  e  u  t  e  r  o- 
nomische  »Lehrbuch«  aufgenommen  ist  (besonders  12 — 26). 
Inwieweit  diese  aus  mindestens  zwei  verschiedenen  Bestand- 
teilen (12 — 19  und  20 — 25)  zusammengesetzte  Sammlung  dem 
unter  Josia  (621)  von  den  Priestern  »aufgefundenen«  und  dann 
durch  den  König  auf  ihre  Veranlassung  als  verbindlich  oktroy- 
ierten angeblichen  mosaischen  »Sefer  hattorah«  von  Anfang  an 
zugehört    hat,    kann  hier  dahingestellt  bleiben^).    Wiedergabe 

^)   Darüber    s.   aus  der  neuesten  Literatur   namcntlicli  A.   F.     V  \\  \\  k  k  o  , 


72  Das  antike  Judentum. 

und  Amendierung  praktisch  geltenden  Rechts,  theologische  Lehr- 
haftigkeit  und  sittlicher  Utopismus  sind  in  diesen  Satzungen 
die  gleiche  Verbindung  eingegangen,  wie  in  den  meisten  über- 
lieferten derartigen  Sammlungen  Israels  überhaupt.  Aber  es 
ist  doch  die  Beziehung  zur  realen  Umwelt  eines  lebendigen  Rechts 
fühlbarer  als  in  den  späteren  rein  priesterlichen  Sammlungen  der 
Exilszeit.  Nach  wie  vor  spielt  der  Viehbesitz  (Rinder  und  Schafe) 
eine  bedeutende  Rolle  und  werden  weder  Kameele  noch  Pferde  — 
welche  letztere  vielmehr  nur  als  Kriegspferde  des  Königs  in 
Betracht  kommen  —  als  Gegenstand  des  Privatverkehrs  er- 
wähnt. Reichtum  ist  zwar  in  erster  Linie  Ueberfluß  an  Getreide, 
Most,  Oel,  Feigen,  Granatäpfeln,  Honig,  Vieh  (Deut.  7,  13; 
8,  8)  aber  auch  (8,  13)  an  Silber  und  Gold.  Der  Erzbergbau  im 
Lande  wird  als  einer  von  dessen  Vorzügen  erwähnt  (8,  9).  Die 
Brunnen  bedeuten  in  den  Bergen  von  Juda  zwar  viel  (6,11),  aber 
als  wichtiger,  auch  für  die  Beziehung  zum  Gott  bedeutsamer, 
Unterschied  gegenüber  Aegypten  wird  erwähnt :  daß  man  dort  das 
Land  besäen  und  selbst  bewässern  müsse,  »wie  einen  Gemüse- 
garten« (11,  10),  während  auf  den  Bergen  und  Auen  Palästinas 
der  von  Gott  gesendete  Regen  die  Ernte  gebe  (11,  11).  Die  ge- 
stiegene Bedeutimg  des  Grundeigentums  tritt  in  dem  schweren 
Fluch  gegen  Grenzverrückung  (27,  11  vgl.  19,  14)  hervor,  die 
Abschwächung  sowohl  der  alten  patriarchalen  Stellung  des  Haus- 
vaters wie  der  alten  Geschlossenheit  und  Solidarhaftung  der 
Sippen  nach  außen  in  dem  Verbot  der  Antastung  des  Vorzugs- 
erbteils des  ältesten  Sohns  (21,  16)  einerseits  und  der  Beseitigung 
der  Straf haftung  der  Familienglieder  füreinander  andererseits 
(24,  16).  In  diesem  Punkt  ist  das  Rechtsbuch  ziemlich  modern; 
die  Praxis  selbst  wird  in  einer  (wohl  deuteronomistischen)  Tra- 
dition übrigens  schon  König  Amazia  zugeschrieben  (2.  Kön. 
14,  6).  Die  Blutrache  besteht  nach  wie  Vor  (19,  6),  aber  das 
Prozeßrecht  einschließlich  des  Beweisrechts  ist,  namentlich  durch 
das  (noch  in  unserem  kanonistischen  Krim.inalprozeß  nachwir- 
kende) Gebot  des  Zweizeugenbeweises  verhältnismäßig  weitge- 
hend rationalisiert. 

Das  Deuteronomium  (Beitr.  z.  W.  v.  A.  T.  ),  welcher  gerade  diese  Partien 
davon  ausschließen  möchte.  Ich  halte  diese  Annahme  für  einen  Teil  der  Rechts- 
satzungen, nämlich  für  das  sehr  charakteristische  Königsrecht,  aus  politischen 
Gründen  für  derart  unwahrscheinlich  (s.  später),  daß  mir  auch  für  andere  Be- 
standteile dieses  Abschnittes  die  Zugehörigkeit  zu  Josias  Sefer  hattorah  sehr 
wahrscheinlich  erscheint.  Wellhausen  (Komposition  des  Hexateuch  S.  189  f.) 
hatte   geradezu    Kap.    12—26  als  das  Urdeuteronomium  angesehen. 


I.     Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  7^ 

Das  ethische  Brüderlichkeitsgebot,  welches  im  Bundesbuch 
und  den  angehängten  paränetischen  Ermahnungen  mehrfach 
in  etwas  allgemeinen  (dabei  meist  gerade  in  den  der  Interpel- 
lation am  meisten  verdächtigen)  Stellen  behandelt  wird,  ist  zu 
weitgehenden  sozialen  Schutzbestimmungen  für  Witwen,  Waisen, 
Knechte,  Arbeiter,  Metöken,  Kranken  fortentwickelt,  von  denen 
noch  in  anderem  Zusammenhang  unten  zu  reden  ist.  Der  Fluch 
gegen  das  Ge^chenknehmen  der  Richter  (27,  25),  gegen  das 
Beugen  des  Rechts  der  soeben  genannten  schutzbedürftigen 
Personen  (27,  19)  und  das  Verbot  jeder  Art  von  Bedrückung 
gegen  sie  (24,  17)  steht  neben  dem  Fluch  gegen  die  Irreleitung 
von  Blinden  (27,  18)  und  der  Wiederholung  des  älteren  Gebots, 
das  verlaufene  Vieh  des -Nächsten  ihm  zurückzustellen  (22,  i.  3). 
Von  der  Witwe  darf  gar  nicht  (24,  17),  von  den  Armen  nur  be- 
schränkt Pfand  genommen  werden  (24,  10.  12).  Den  Knecht 
darf  man  nicht  schinden  (23,  17)  und  —  eine  sehr  weitgehende 
Bestimmung:  —  einen  Arbeiter,  der  seinen  Herrn  verläßt,  diesem 
nicht  wieder  ausliefern  (23,  16).  Dem  Arbeiter,  auch  dem  Metöken 
als  Arbeiter,  ist  der  Lohn  am  selben  Tage  zu  zahlen  (24,  15.  16). 
Die  steigende  Bedeutung  freier  Tagelöhner  tritt  in  all  diesen 
Bestimmungen  hervor.  Der  Sabbat  gilt  auch  jetzt  (5,  14)  als 
Ruhetag  im  Interesse  der  Bauern  selbst.  Es  werde,  heißt  es, 
zwar  immer  Arme  im  Volk  geben  (15,  11),  aber  es  sollte  eigent- 
lich keine  israelitischen  Bettler  geben  (15,  4) :  auf  diesem  Grund- 
satz beruhen  die  sozialen  Bestimmungen,  denen  fast  sämtlich 
eine  ziemlich  geringe  Präzision  und  also  die  Herkunft  aus  reli- 
giöser Paränese  nicht:  geltendem  Recht  eignet. 

Das  Brach  jähr  für  den  Acker  kennt  die  Sammlung,  wie  frü- 
her bemerkt,  nicht :  ein  sehr  starker  Beweis  für  dessen  nachträg- 
liche Interpolation  im  Bundesbuch,  auf  welchem  ja  das  Deutero- 
nomium  sonst  fußt.  Dagegen  wird,  und  zwar  im  Interesse 
der  Witwen  und  Waisen  und  der  Metöken,  die  Nachlese  auf  dem 
Acker,  im  Wein-  und  Oelgarten  untersagt  (24,  19  f.)  und  gestattet, 
von  den  Früchten  des  Ackers  und  Weinbergs  eines  anderen 
seinen  Hunger  zu  stillen  (23,  25.  26).  Beides  sind  Reste  alten 
Nachbarschaftsrechts  zwischen  Grundherren  und  Fronpflichtigen, 
vielleicht  auch  ein  Reflex  der  üblichen  Beziehung  zwischen 
ansässig  gewordenen  Bauern  und  nichtansässigen  Kleinvieh- 
züchtern. 

Schon  das  Vorstehende  zeigt,  daß  das  Pfand-  und  Schuld- 


74 


Das  antike  Judentum, 


recht  das  eigentliche  Gebiet  auch  dieses  Sozialrechts  ist,  noch 
weit  mehr  als  schon  im  Bundesbuch.  Statt  des  Brach] ahrs  für 
den  Acker  kennt  das  Deuteronomium  ein  jenem  noch  unbe- 
kanntes radikales  Schuldrecht .  lieber  die  wiederholt  eingeschärfte , 
schon  dem  Bundesbuch  bekannte  sechsjährige  Zeitgrenze  der 
Schuldknechtschaft  hebräischer  Schuldner  (15,  12)  hinaus  sta- 
tuiert es  die  Pflicht,  den  entlassenen  Schuldknecht,  da  er  ja 
»Mehrwert«  erarbeitet  habe,  mit  einem  Zehrpfennig  in  Naturalien 
auszustatten.  Vor  allem  aber  die  Kassierung  aller  Schulden 
eines  Volksgenossen  —  im  Gegensatz  zum  Fremdbürtigen  —  im 
»Erlaß jähr«  (schnath  schmitta,  genauer:  schmitta  kesafim). 
Während  nun  aber  für  das  Sabbat  jähr  (schmitta  karka'oth) 
in  spätisraelitischer  Zeit  Beweise  praktischer  Geltung  vorliegen, 
ist  trotz  der  sehr  nachdrücklichen  Drohungen  des  Gesetzes  gegen 
alle  Umgehungen  und  trotz  der  Einschärfung  im  Schwurbund 
unter  Nehemia  (Neh.  10,  32)  schon  früh,  endgültig  durch  Hillel, 
eine  Form  (der  sog.  Prosbul)  gefunden  worden,  welche  ge- 
stattete, die  Erlaßjahrbestimmung  kontraktlich  außer  Wirk- 
samkeit zu  setzen.  Nie  findet  sich  eine  sichere  Spur  ihrer  An- 
wendung. Sie  war  paränetischen  Ursprungs  und  blieb  utopisch. 
Aber  auch  die  nicht  paränetisch,  sondern  gesetzlich  gebotene 
Freilassung  der  Schuldsklaven,  die  das  Bundesbuch  ebenso  wie 
das  babylonische  Recht  kannte,  ist  nicht  einmal  unter  Zedekia 
innegehalten  worden,  trotzdem  in  der  politischen  Not  damals 
(Jer.  34,  8  f.)  ein  besonderer  feierlicher  Beschluß  (berith),  dies 
zu  tun,  gefaßt  war  (dessen  Bruch  Jeremia  zu  den  schwersten 
Unheildrohungen  ve'ranlaßte) .  Es  ist  also  fraglich,  ob  und  welche 
Tragweite  die  Vorschriften  des  Schuldrechts,  insbesondere 
des  Erlaß  Jahrs,  ursprünglich  gehabt  haben,  und  es  scheint  nicht 
unwahrscheinlich,  daß  hier  eine  gelegentliche  Maßregel  der 
Schuldentlastung  zugrandelag,  die  dann  von  den  theologischen 
Redaktoren  institutionell  festgelegt  und  mit  dem  in  der  Exils- 
zeit steigend  wichtig  gewordenen  Sabbatgedanken  in  Beziehung 
gesetzt  worden  ist.  Denn  der  Sache  nach  handelt  es  sich  um 
eine  »Seisachthie«,  wie  wir  sie  aus  den  antiken  Mittelmeer- 
städten kennen  und  wie  sie  ja  auch  jener  Beschluß  unter  Ze- 
dekia darstellte.  Daß  mit  wachsender  Geldbesitz- Akkumulation 
durch  den  Handel  der  stadtsässige  Patriziat  und  die  von  ihm 
bewucherte  Bauernschaft  als  typische  Klassengegensätze  galten, 
beweist  im  Deuteronomium  besonders  deutlich  die  unmittelbar 


!.■    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  yc 

an  jenes  Gebot  des  Erlaßjahres  anschließende  berühmte  Ver- 
heißung (15,  6) :  >;Du  wirst  vielen  Völkern  leihen  und  wirst 
von  niemand  borgen«,  mit  dem  gleichbedeutenden  Zusatz:  »Du 
wirst  über  viele  Völker  herrschen  und  über  dich  wird  niemand 
herrschen.«  Daß  das  allsiebenjährige  allgemeine  Erlaß  jähr  selbst 
und  diese  im  Zusammenhang  damit  stehende  Stelle  theologi- 
sche Interpolationen  der  Exilszeit  sind,  wird  durch  das  Vorhan- 
densein eines  Doppelgängers  in  der  jetzigen  Redaktion  höchst 
wahrscheinlich.  Nach  Wiederholung  der  Verheißung  (28,  12) 
wird  hier  die  genau  entsprechende  Drohung  (28,  43.  44)  für  den 
Fall  des  Abfalls  von  Jahwe  ausgesprochen :  »Der  ger  bei  dir  wird 
über  dich  steigen  und  oben  sein,  du  aber  wirst  heruntersteigen  und 
immer  unten  sein,  er  wird  dir  leihen,  du  wirst  borgen,  er  wird 
das  Haupt,  du  wirst  der  Schwanz  sein«,  - —  Ankündigungen, 
die  wir  dem  Sinne  nach  bei  den  Propheten  wiederfinden  werden. 
Diese  —  wegen  der  Art  der  Erwähnung  des  ger  —  offenbar 
vorexilischen  Stellen  bestätigen  aber  zugleich  auf  das  deutlichste, 
daß  jener  Klassengegensatz  zugrunde  lag.  Der  mittelalter- 
liche und  moderne  Geld-  und  Pfand wucher  der  Juden,  diese 
Karikatur,  in  welcher  sich  jene  Verheißung  erfüllt  hat,  war 
mit  der  Heilsverheißung  wahrlich  nicht  gemeint.  Nein,  die 
Verheißung  sollte  bedeuten:  Israel  wird,  in  Jerusalem  seßhaft, 
der  Patriziat  der  Welt  sein,  die  anderen  Völker  aber  in 
der  Lage  politisch  untertäniger  und  verschuldeter  Bauern  draußen 
Vor  den  Toren,  genau  so  wie  in  jeder  typischen  Polis  der  gesamten 
Frühantike,  von  der  sumerisch-akkadischen  Zeit  angefangen, 
das  Verhältnis  zwischen  den  Stadtbürgern  und  dem  Lande  war. 
Noch  in  talmudischer  Zeit  wird  dabei  die  ebenfalls  für  die  ganze 
Antike  typische  Lage  vorausgesetzt :  daß  der  verschuldete  Bauer, 
der  seinen  Erbbesitz  dem  Gläubiger  hat  überlassen  müssen,  als 
Pächter,  also  als  Kolone,  auf  dem  früher  ihm  selbst  ge- 
hörigen Acker  sitzt.  So  soll  aber  das  Verhältnis  der  israelitischen 
Stammesbrüder  untereinander  nicht  sein  dürfen:  das  ist  der 
Sinn  des  sozialen  Schuldrechts  und  der  zugehörigen  Paränese. 
Daß  der  Kaufmann  ursprünglich  stets,  und  auch  damals 
noch  oft,  ein  Metöke  war,  zeigt  die  Art  des  Auftretens  des  ger 
in  der  deuteronomischen  Unheilandrohung.  Aber  so  tief  hatte 
doch  schon  die  Entwicklung  zur  Stadtsässigkeit  der  Israeliten 
selbst  gewirkt,  daß  jetzt  die  Klassenlage  des  Stadtpatriziats  als 


-T^  Das  antike  Judentum. 

ihre  selbstverständliche  Zukunftsverheißung  auftritt^).  Israeliti- 
sche, im  Ausland  (Damaskus)  ansässige  Kaufleute,  werden  erst- 
malig in  dem  Vertrag  Ahabs  mit  Benhadad  (i.  Kön.  21,  34) 
erwähnt.  In  den  israelitischen  Städten  selbst  sind  sie  natürlich 
erst  recht  schon  längst  dagewesen.  Auch  heute  bildet  der  Ge- 
treidehandel in,  Palästina  die  Quelle  schwerer  Bewucherung 
der  Fellachen.  — Daß  es  sich  im  Deuter onomium  durchaus  um 
städtische  Verhältnisse  handelt,  zeigt  auch  der  sonstige  Inhalt 
des  Gesetzes.  Bestimmungen  über  die  Sicherung  des  Hausdachs 
durch  eine  Brüstung,  damit  niemand  herabfällt  (22,  8),  Asyl- 
städte für  den  Totschläger  (19,  3),  die  Gerichtsstätte  >  in  den 
Toren«  (16,  8),  das  Gebot  rechten  Maßes  und  Gewichts  (25,  14.  15) 
gehören  alle  dahin.  Den  armen  Bruder  darf  man  nicht  bew^uchern 
(23,  20),  man  soll  ihm  bereitwillig  leihen  (15,  8):  ein  Bestandteil 
des  alten  Nothilfegebots  der  typischen  Nachbarschaftsethik. 
Dieser  arme  Bruder  ist  aber  hier  im  Zweifel  immer  ein  Mann 
in  einer  Stadt  (15,  7),  d.  h.  zweifellos  ein  in  einem  Stadtbezirk 
(der  jetzt  als  selbstverständliche  politische  Einheit  gilt)  und  wohl 
in  aller  Regel  als  Kleinbauer,  ansässiger  Israelit. 

Die  jetzigen  Rechtsnormen  des  Deut  er  onomium  dürften 
zwar  aus  der  vorexilischen  Zeit  des  Stadtkönigtums  stammen 
sind  aber  sicherlich  im  Exil  von  Theologen  überarbeitet  worden 
Vermutlich  ähnliches,  nur  mit  ganz  wesentlicher  Verstärkung 
des  Anteils  der  Arbeit  der  Exilstheologen  gilt  von  dem  sog. 
»Heiligkeitsgesetz«  2).  Die  in  dieser  Sammlang  und  ebenso 
in  der  ganz  im  Exil  entstandenen  sog.  »Priestergesetzgebung«  ^), 
welche  die  Masse  des  Stoffs  des  heutigen  3.  und  4.  und  Teile 
des  2.  Buches  Mose  schuf,  enthaltenen  sozialen  Vorschriften 
sind  teils  ihrem  Alter,  teils  der  Realität  ihrer  Geltung  nach  pro- 
blematisch. Theologische  Konsequenzmacherei  schuf  sie,  unter 
Anknüpfung  an  Reminiszenzen  aus  der  Vergangenheit,  für  ein 

^)  Eine  Stadt  der  Gerechtigkeit  soll  Israel  nach  Jesajas  Verheißung 
(i,  26)  werden. 

'■^)  Dieser  Name  für  die  Sammlung  Lev.  17 — 26  rührt  bekanntlich  von  Klo- 
stermann her.  Vorexilisch  ist  sie,  ■weil  ihr  Grundstock  anscheinend  Priester 
und  Leviten  nicht  scheidet,  nachexilisch  überarbeitet  aber  deshalb,  weil  (Lev.21) 
der  Hohepriester  (mit  gesonderten  kultischen  Reinheitsptlichten)  existiert  und 
mehrfach  eine  kleine  Kultgemeinde  vorausgesetzt  wird  (s.  dazu  aus  neuerer 
Zeit:  Puukko,    Das  Deuteronomium  S.  49). 

^)  Die  Priesterschrift  zeigt  ganz  unverkennbare  Beziehungen  zu  HesekieL 
Da  aber  die  Aaroniden,  nicht  die  Zadokiden  (s.  später)  es  sind,  die  sie  auf  den 
Schild  hebt,  ist  sie  sicherlich  jünger,  dem  Esra  näherstehend,  als  die  Prophetie 
Hesekiels. 


I.     Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  »77 

»Jahwe  heiliges  Volk«,  ein  Volk  von  »Metöken  Jahwes«  auf  dem 
diesem  gehörigen  heiligen  Boden,  auf  welchen  man  von  ihm  zu- 
rückgeführt zu  werden  hoffte.  Wir  begegnen  neben  dem  Wucher- 
verbot und  der  vermutlich  hier  zuerst  in  ihre  jetzige  Form  ge- 
brachten und  von  da  aus  in  das  Bundesbuch  interpolierten 
Sabbat  Jahrsbestimmung  zunächst  einer  Weiteren  Abwandlung 
der  Schuldhaftnormen.  Einen  israelitischen  Schuldhäftling  soll 
man  (LeV.  25, 39. 46)  nicht  wie  einen  Leibeigenen,  sondern  wie  einen 
freien  Tagelöhner  halten,  für  Welchen  (19,  13)  die  deuterono- 
mische  Bestimmung  über  die  Lohnzahlung  wiederholt  wird. 
Als  Leibeigene  darf  ein  Israelit  nur  Heiden  oder  Metöken  be- 
sitzen (Lev.  25,  44.  45),  denn  alle  Israeliten  sind  Leibeigene 
Gottes  (Lev.  25,  42).  Hat  sich  ein  Israelit  einem  Metöken  ver- 
kaufen müssen,  so  soll  ihn  seine  Sippe  oder  er  sich  selbst  jeder- 
zeit auslösen  dürfen  (25,  48).  Alle  iraelitischen  Schuldhäftlinge 
aber  sollen  jedenfalls  alle  siebenmal  sieben  Jahre,  im  sog. 
Halljahr,  frei  werden.  In  diesem  unter  Posaunenschall  auszu- 
rufenden Freijahr  soll  aber  auch  jedes  Grundstück,  welches  — 
es  wird  als  selbstverständlich  angenommen  (vgl.  Lev.  25,  25) : 
aas  Not  —  verkauft  worden  ist,  wieder  frei  an  den  Verkäufer 
zurückfallen  (25,  13  f.),  falls  nicht  der  nächste  Sippenbruder 
es  schon  vorher  einlöst  (25,  25),  wozu  er  jederzeit  das  Recht  hat. 
Denn  ein  Verkauf  von  Land  auf  ewige  Zeiten  soll  nicht  zulässig 
sein,  da  das  Land  Gottes  Eigentum,  die  Israeliten  aber  darauf 
nur  Gottes  Metöken  sind:  auch  ein  Beweis,  daß  als  Kennzeichen 
der  Metöken  das  mangelnde  Bodenrecht  galt.  Nur  Häuser  inner- 
halb einer  ummauerten  Stadt  dürfen  für  ewig  verkauft  werden 
und  sind  nur  innerhalb  eines  Jahres  einlösbar  (25,  29).  Eine 
weitgehende  Kasuistik  regelt  die  bis  zum  Halljahr  anzurech- 
nenden Jahresraten.  — •  Es  steht  fest,  daß  das  Halljahr  selbst 
eine  nie  praktisch  gewordene  theologische  Konstruktion  der 
Exilszeit  War,  und  die  Art  der  Motivierung  der  anderen  Vor- 
schriften läßt  für  sie  das  gleiche  vermuten.  Aber  es  fragt  sich 
immerhin,  ob  nicht  dennoch  im  lebenden  Recht  Anknüpf imgs- 
punkte  vorhanden  gewesen  waren.  Zunächst  läßt  die  Erzäh- 
lung von  der  Schuldsklavenfreilassung  unter  Zedekia  (Jer.  34, 
8  f.)  in  Verbindung  mit  der  bei  Trito-Jesaja  (61,  2)  vorkommen- 
den Prophezeiung  von  einem  »Gnaden jähr  (schnath  razon) 
Jahwes«  erkennen,  daß  die  öffentliche  Verkündigung  eines  »Frei- 
lassungsjahrs« für  alle  Schuld  versklavten  offenbar  nicht  nur  in 


7  g  Das  antike  Judentum. 

jenem  Einzelfall,  unter  Zedekia,  stattgefunden  hatte,  sondern  ein 
typischer  Vorgang  War,  vermutlich  in  Kriegsnot,  wo  man  aller 
Wehrhaften  benötigte  und  wo  ähnliches  auch  bei  den  Hellenen 
vorkam.  Dann  aber  könnte  auch  in  dem  Rückfall  des  Boden- 
besitzes an  die  Sippe  eine  Reminiszenz  alten  Rechts  stecken. 
Denn  es  muß  auffallen,  daß  innerhalb  der  Rechtssamm.lungen 
nur  an  dieser  Stelle  von  Kauf  und  Verkauf  von  Grund  und  Boden 
die  Rede  ist,  von  welchem  sowohl  das  Bundesbuch  wie  das  Deu- 
teronomium  schweigen.  Es  fragt  sich  also,  ob  und  unter  welchen 
Voraussetzungen  eine  dauernde  Veräußerung  Von  Boden  in 
Altisrael  zulässig  war.  Im  babylonischen  Recht  ist  der  alte 
Retraktanspruch  der  Sippe  erst  allmählich  überwunden  worden. 
Aus  Jeremias  Orakeln  wissen  wir,  daß  im  Fall  der  Absicht  einer 
Veräußerung  von  Erbland  ein  Vorangebot  an  einen  Sippen- 
genossen mindestens  durch  die  Sitte  vorgeschrieben  und  daß  es 
für  den  Berechtigten  eine  ungern  abgelehnte  Anstandspflicht 
war,  den  Acker  zu  erwerben,  damit  er  nicht  an  Fremde  falle. 
Der  Himmel  möge  verhüten,  daß  er  seinen  Erbacker  verkaufe, 
erwidert  in  der  Tradition  auch  Naboth  dem  König  Ahab  auf  des- 
sen Kaufangebot.  Das  zeigt,  daß  zur  Zeit  dieser  Redaktion  der 
Geschichte  der  Verkauf  ohne  Befragung  der  Sippe  zwai  an  sich  als 
rechtlich  möglich  galt,  —  wie  dies  übrigens  die  zahlreichen  gegen 
die  Bodenakkumulation  der  Reichen  eifernden  Stellen  der  Prophe- 
ten beweisen,  —  daß  er  aber  für  das  Erbland  durch  die  Sitte 
mißbilligt  Wurde.  Das  Priestergesetz  ist,  abgesehen  von  einer 
schon  erwähnten  Stelle  des  Deuteronomium,  auch  die  einzige 
Rechtsquelle,  welche  das  Bodenerbrecht  erörtert.  Indirekt 
spielte  dieses  freilich  eine  Rolle  bei  der  alten  Institution  der 
sog.  Leviratsehe.  Denn  das  Recht  und  die  Pflicht,  die  kinder- 
lose Witwe  des  Bruders  zu  heiraten,  um  ihm  »Samen  zu  er- 
wecken«, brachte  Recht  und  Pflicht  zur  Uebernahme  eines  Land- 
besitzes mit  sich,  welcher  im  Falle  der  Ablehnung  durch  den 
nächststehenden  an  denjenigen  entfernteren  Anwärter  fiel, 
der  sich  der  Ehepflicht  unterzog.  Oder  vielmehr,  nach  der  Art 
der  Auffassung  der  Tradition  (Ruth  4,  i  f.},  gerade  umgekehrt:  Wer 
aus  der  Sippe  das  Land  des  kinderlos  Verstorbenen  haben  wollte, 
mußte  die  Witwe  heiraten.  Aus  der  gesamten  Tradition  geht 
hervor,  daß  mindestens  in  der  Zeit  der  Redaktion  der  Erzväter- 
legende es  als  üblich  galt,  daß  der  Hausvater  vor  dem  Tode 
oder  wenn  er  sich  (wie  dies  bei  dem  Sirachiden  erwähnt  wird) 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  70 

auf  das  Altenteil  zurückzog,  mit  ziemlich  weitgehender  Frei- 
heit die  Verteilung  seines  Besitzes  unter  die  Kinder  regelte 
und  dabei  offenbar  durch  feierlichen  Segen  und  Fluch  seinen 
Verfügungen  Nachdruck  verlieh.  Daß  als  Erben  des  Landes 
hier  wie  in  allen  militärischen  Verbänden  der  Antike  nur  die 
Söhne  in  Betracht  kamen,  verstand  sich  von  selbst.  Das  Deu- 
teronomium  suchte,  wie  erwähnt,  den  ältesten  Sohn  zu  schützen 
gegen  Antastung  seines  Vorzugsanteils  durch  den  Vater,  der 
ja  sehr  leicht  unter  dem  Einfluß  einer  Lieblingsfrau  die  Kinder 
ungerecht  behandeln  konnte,  wie  sich  das  in  ägyptischen  Er- 
zählungen findet.  Das  Priestergesetz  führte  die  Bindung  weiter. 
Es  statuiert  die  Erbfähigkeit  der  Töchter  am  Grund  und  Boden 
hinter  den  Söhnen  (Num.  27,  8 — -lo)  und  bestimmt  im  Zu- 
sammenhang damit,  daß  solche  Erbtöchter,  damit  das  Land  nicht 
dem  Stamm  entfremdet  Werde,  nur  innerhalb  des  Stammes 
heiraten  sollen.  Diejenigen  Mädchen,  zu  deren  Gunsten  nach 
der  Legende  Moses  die  Bestimmung  erläßt,  heiraten  daraufhin 
Vettern,  also  Sippengenossen.  Stamm  und  Sippe  werden  nicht 
immer  scharf  geschieden  und  es  liegt  nahe  anzunehmen,  daß 
hier  die  Sippe  und  nicht  der  Stamm  gemeint  war.  Denn  wenig- 
stens nach  altem  Recht  scheint,  wie  wir  sahen,  der  Lngenosse 
des  Stammes  überhaupt  als  ger  und  also  als  unfähig  zum  Boden- 
eiwerb  gegolten  zu  haben  ').  . 

Allerdings  wäre  es  möglich,  daß  außer  der  alten  Sippen- 
gebundenheit auch  noch  andere  Gewalten  in  die  Gestaltung  des 
Grundbesitzes  eingegriffen  haben  und  wir  in  diesen  Bestimmungen 
Reste  davon  vor  uns  sehen  ^) .  Wir  finden  in  den  hellenischen 
Städten  den  »Kleros«  teils  durch  Sippenansprüche,  teils  durch 
militärische  Veräußerungsbeschränkungen  gebunden.  Das  alt- 
hellenische Erbtochterrecht  entstammte,  wenn  nicht  allein,  so 
jedenfalls  auch  militärischen  Interessen.  Dem  hellenischen  Aus- 
druck für  Kleros  entsprach  aber,  wie  Ed.  Meyer  mit  Recht 
bemerkt,  der  israelitische  für  Landlos:  »Chelek«,  der  die  Neben- 
bedeutung »Beuteanteil«  hat,  also  keineswegs  agrarkommunisti- 
schen    oder    sippenmäßigen,    sondern    militärischen    Ursprungs 

>■)  JSacii  Ruth  4,  3  beerbten  zur  Zeit  der  Redaktion  dieser  Legende  auch 
Mütter  ihre  kinderlosen  Söhne.  Die  ganze  Erzählung  ist  freilich  juristisch  un- 
präzis. 

2)  Sulzberger  a.  a.  O.  ist,  so  viel  ich  sehe,  der  Einzige,  der  ähnliche  Zusam- 
menhänge vermutet.  Nur  hat  er  meines  Erachtens  eine  ganz  unwahrscheinliche 
Vorstellung  von  der  Macht  des  israelitischen  Bundes  nach  Innen,  der  doch  nur 
intermittierend  reagierte  und  gar  keine  Organe  besaß. 


go  Das  antike  Judentum. 

ist  ^) :  wo  immer  die  Heeresmacht  auf  der  Selbstequipierung 
der  freien  Grundbesitzer  ruhte,  war  der  Landbesitz  Funktion 
der  Wehrhaftigkeit.  Ebenso  hatte  der  bei  der  Leviratsehe  und 
den  -verwandten  Institutionen  maßgebende  Wunsch,  den  »Na- 
men« der  Sippe  in  Israel  zu  erhalten,  neben  später  zu  besprechen- 
den religiösen  wohl  auch  militärische  Grundlagen :  das  Geschlechts- 
register der  ökonomisch  Wehrfähigen  Sippen  war  Grundlage  des 
Aufgebots.  Aus  dem  Deboralied  scheint  hervorzugehen,  daß 
der  Sollbestand  des  Bundesheerbanns  (40  000)  in  runden  Tau- 
sendschaftsziffern festgelegt  war  — wie  dies  der  späteren  Rolle 
der  Tausendschaften  als  der  Normalkontingente  entspricht  — 
und  aus  der  Nachricht  über  das  Aufgebot  gegen  den  Stamm 
Benjamin  ergibt  sich,  daß  man  in  Quoten  dieses  Sollbestandes: 
in  diesem  Falle -z.  B.  (Jud.  20,  10):  einen  von  zehn,  aufbot. 
Da  die  Tausendschaften  zweifellos  auf  die  einzelnen  Bundesglie- 
der fest  verteilt  waren,  so  hatte  schon  deshalb  der  kontingent- 
pflichtige Stamm,  neben  dem  eigenen  Interesse  an  seiner  Wehr- 
kraft, auch  ein  durch  diese  Bundeskriegsverfassung  bedingtes 
Interesse  an  der  Erhaltung  der  Kriegerlose.  Es  ist  also  immerhin 
möglich,  daß  er  zu  ähnlichen  Maßregeln  griff,  wie  die  hellenischen 
Städte,  bei  welchen  es  bekanntlich  nicht  leicht  auszumachen  ist, 
welche  von  den  in  Resten  überlieferten  Bindungen  des  Kleros 
alten  Sippenrechten  und  welche .  vielmehr  Interessen  des  Mili- 
tärverbandes entsprangen.  Die  verschiedenen  Institutionen, 
deren  teils  rudimentäre,  teils  theologisch  entstellte  Reste  uns 
in  den  Quellen  entgegentreten,  von  den  für  uns  ganz  unkennt- 
lichen Sabbat  Jahrs-  und  den  Seisachthiebestimmungen  angefangen 
bis  zum  Levirat  und  Erbtöchterrecht,  dem  Vorzugsanteil  des 
Aeltesten  (als  des  Kleros-Erben)  und  den  Resten  des  Sippen- 
retrakts  bei  Erbgütern,  könnten  dann  in  solchen  militaristisch 
bedingten  Eingriffen  eine  ihrer  Quellen  gehabt  haben.  Eben- 
dahin würde  es  dann  gehören,  daß  in  Ermangelung  von  Leibes- 
erben nach  der  Abraham- Geschichte  (Gen.  15,  2.  3)  der  Groß- 
knecht (in  diesem  Fall  sogar  ein  aus  Damaskus  stammender 
Kaufsklave)  in  das  Erbe  einrückt:  daß  ein  Erbe  für  den  Kleros 
da  ist,  nicht:  wer  es  ist,  daran  ist  diese  Auffassung  interessiert. 
Andererseits:   Wer  verarmt  ist,  d.  h.  wer    meinen   Grundbesitz 

1)  Gerade  die  Derivate  des  Zeitworts  nachal,  welches  »erben«,  »zum  Be- 
sitz erhalten«  und  dessen  Hiphil  »zum  Erben  machen«,  »das  Erbe  austeilen«, 
»in  Besitz  geben«  bedeutet,  werden  vom  kanaanäischen  Lande  gebraucht;  das 
»Erbe«  sowohl  wie  das  »Besitztum«    heißen  nachalah. 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  gi 

in  der  Not  hat  aufgeben  müssen,  verliert  die  Qualität  als  VoU- 
Israelit  und  soll  —  nach  dem  Heiligkeitsgesetz  (Lev.  25,  35)  — wie 
ein  ger  gehalten  werden.  Durch  alle  diese  verschiedenen  In- 
stitutionen sollte  verhütet  werden,  daß  eine  Sippe  aus  der  Schicht 
der  ökonomisch  voll  W  ehrfähigen  in  die  Masse  der  zur  Aufbrin- 
gung der  Kosten  der  Equipierung  nicht  Fähigen  (römisch  gespro- 
chen: der  »proletarii«,  »Nachkömmlinge«)  oder  gar  der  ganz 
Grundbesitzlosen  (gerim)  hinabsank.  Wir  werden  später,  bei 
Besprechung  des  Nasiräats,  noch  auf  einige  mit  solchen  Mög- 
lichkeiten im  Zusammenhang  stehende  andere  Hypothesen 
zu  sprechen  kommen.  Doch  bleibt  dies  alles  unsicher.  Auch 
könnte  es  jedenfalls  schwerlich  universell  gegolten  haben.  Schon 
deshalb,  weil  die  eben  erwähnte  Bundeskriegsyerfassung  des 
Deboraliedes  und  der  historischen  Literatur  für  Nordisrael  ja 
nicht  unbedingt  notwendig  zu  solchen  Einrichtungen  führen 
mußten.  Denn  die  Aufbringung  des  Kontingents  war  vermutlich 
innere  Angelegenheit  des  einzelnen  Stammes  und  dieser  konnte 
darin  vielleicht  verschieden  Verfahren. 

Dem  Gesamteindruck  nach  bedeutet  die  Abfolge  dieser 
Rechtssammlungen  eine  steigende  Theologisierung  des 
Rechts  ^).  Ehe  wir  die  Quelle  und  die  Eigenart  dieses  Prozesses 
näher  Verfolgen,  müssen  wir  die  äußeren  Formen,  in  welcher 
diese  Theokratisierung  der  irsaelitischen  Sozialordnung  sich 
vollzog  und  die  Gewalten,  welche  sie  beförderten,  kennen  lernen. 
Eine  Eigentümlichkeit  der  israelitischen  Sozialordnung  spricht 
sich  schon  in  dem  Namen  des  ältesten  Rechtsbuchs  aus:  Sefer. 
ha  berith,  »Bundesbuch«.  Der  wichtige  Begriff  der  »berith« 
ist  es,  der  uns  daran  interessiert  ^) . 

Ein  »Schwurbund«  von  Gegnern  der  ägyptischen  Herr- 
schaft findet  sich  schon  in  den  Amarnabrief en  erwähnt  ^) .  Auch  der 
Name    »Chabiru«   für   die   Feinde   der   ägyptischen    Statthalter 

^)  Höchst  merkwürdigerweise  hat  noch  ein  so  verdienter  Forscher  wie 
Procksch  den  Versuch  gemacht,  wenigstens  für  das  Deuteronomium  im  Ver- 
hältnis zum  Bundesbuch  das  gerade  Gegenteil  zu  verfechten  (Die  Elohimquelle 
S.  263  ff.). 

2)  Darüber  die  in  vielem  von  Nachstehendem  abweichende  Arbeit  von 
Kraetzschmar,  Die  Bundesvorstellung  im  A.  T.  Marburg  1896  (war  mir 
während  des  Abschlusses  dieser  Arbeit  nicht  zugänglich).  Stade,  der  das  erst 
späte  Hervortreten  der  Bundesvorstellung  behauptet,  will  letztlich  nur  sagen, 
daß  die  berith  des  Mose  nicht  die  Form  einer  G  es  et  z  gebung  gehabt  habe, 
was  sicherlich  zutrifft.  Aber  die  beherrschende  Bedeutung  des  berith- Gedankens 
wird  sich  stets  erneut  zeigen. 

■'')   Knudtzon  Nr.  67. 
Max    Weber     Religionssoziologie  HI."  6 


g2  Das  antike  Judentum. 

in  den  Amarnatafeln,  den  man  mit  'Ibri  (Hebräer)  identifi- 
zieren wollte,  wird,  angesichts  gewisser  sprachlicher  Schwierig- 
keiten, neuerdings  zuweilen  mit  dem  jüdischen  Ausdruck  »Chaber«- 
»Genosse«,  zusammengebracht,  der  in  nachexilischer  Zeit  den 
rituell  korrekten  Volljuden  ebenso  wie  »Cheber«:  »Genossenschaft«, 
auf  den  Münzen  der  Makkabäer  ^)  die  voll  jüdische  Gemeinschaft 
bezeichnet  und  der  auch  in  der  älteren  Tradition  gelegentlich 
(z.  B.  Jud.  20,  ii)  Verwendet  wird  für  die  Bundesarmee  (a.  a.  O. 
in  einem  heiligen  Krieg  wegen  Religionsfrevels)  ^).  Die  Ab- 
leitung von  Chabiru  aus  diesem  Wort  bleibt  freilich  unwahrschein- 
lich 3). 

Daß  die  verschiedensten  unter  göttlichen  Schutz  gestellten 
Verbrüderungen  die  israelitische  Geschichte  durchziehen,  wäre 
an  sich  nichts  ihr  Spezifisches.  Jedes  politische  Bündnis,  aber  auch 
fast  jeder  privatrechtliche  Vertrag  pflegte  ja  in  der  Antike  eid- 
lich, d.  h  durch  Selbstverfluchung  bekräftigt  zu  werden.  Son- 
dern das  Eigenartige  ist  zunächst  die  überaus  weite  Erstreckang 
der  religiösen  »berith«  als  der  wirklichen  (oder  konstruierten) 
Grundlage  der  verschiedensten  rechtlichen  und  sittlichen  Bezie- 
hungen. Vor  allem  war  Israel  selbst  als  politisches  Gemeinwesen 
eine  Eidgenossenschaft.  Ein  Israelit,  auch  ein  Angehöriger  eines 
anderen  Stammes,  der  zu  den  Angeredeten  nur  im  Verhältnis 
eines  ger  steht,  redet  Israeliten  daher  als  »Brüder«  (achim)  an, 
etwa  so,  wie  jeder  Schweizer  Redner  bei  offiziellen  Gelegenheiten 
zu  Schweizer  Landsleuten  als  »Eidgenossen«  zu  reden  hat.  Und 
wie  David  nach  der  offiziellen  Tradition  durch  berith  legitimer 

^)  Die  Münzumschrift  der  makkabäi sehen  Priesterfürsten  heißt:  »kohen 
ha  gedol  w  cheber  hajjehudim«:  »Hoher  Priester  und  Genossenschaft  der  Juden«. 

2)  Im  Krieg  gegen  Benjamin  wegen  des  Frevels  von  Gibea.  Sonst  kommt 
das  "Wort  namentlich  bei  Jesaia  (47,  9.  12)  für  die  Genossenschaften  der  Zauberer 
und  der  Räuber,  bei  Hosea  (6,  9)  für  die  Genossenschaft  der  Priester,  Prov.  21,9 
und  25,  24  für  die  Hausgemeinschaft,  in  den  Psalmen  (119)  für  den  Glaubens- 
bruder vor.  Das  "Wort  wurde  damals  etwa  gleichbedeutend  gebraucht  mit  dem 
in  der  alten  Tradition  benutzten  Ausdruck  für  Freund,  Nächster:  »rea*«,  welches 
charakteristischerweise  von  ra'ah,  )i>weiden«,  Piel:  re'ah,  »zum  Gefährten  nehmen«^ 
gebildet  ist,  also  doch  wohl  von  der  Lagergemeinschaft  der  Beduinen-  oder 
Viehzüchtersippen  abgeleitet  ist. 

^)  S.  jetzt  die  Ausführungen  von  Bohl  (Kanaanäer  und  Hebräer,  Beitr. 
z.  "Wiss.  V.  A.  T.  9.  Lpz.  191 1)  S.  85.  Die  Identifikation  mit  'Ibrim  scheint  dar- 
nach doch  möglich  und  wahrscheinlich.  Jedenfalls  fehlt  aber  der  Begriff  des 
»Glaubensbruders«  der  vorisraelitischen  Zeit  nicht,  wie  ein  später  zu  erwähnender 
Brief  eines  Kanaanäers  aus  dem  15.  Jahrhundert  zeigt.  In  der  Anrede  an  den 
Mitisraeliten  wird  aber  nicht  der  Ausdruck  chaber,  sondern  anscheinend  stets 
»ach«  (Bruder)  gebraucht. 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  33 

König  wird,  so  läßt  diese  auch  mit  seinem  Enkel  Rehabeam  die 
Aeltesten  der  Nordstämme  über  seine  Alierkennung  nach  Art 
einer  Wahlkapitulation  verhandeln.  Aber  auch  die  Einbür- 
gerung von  Viehzüchtersippen  in  eine  kanaanäische  Stadt,  oder 
umgekehrt  die  Angliederung  etwa  der  Gibeoniten  als  fronpflich- 
tiger Gemeinde  an  Israel  erfolgt  stets  durch  eine,  berith  genannte, 
Schwur  Verbrüderung.  Alle  gerim,  auch  die  Erzväter,  befinden 
sich  in  ihrer  Rechtslage  durch  berith  ^) .  Die  Schwurverbrüderun- 
gen läßt  die  Tradition  rituell  unter  Herstellung  der  Speise- 
gemeinschaft der  sich  Verbrüdernden  vor  sich  gehen 
(Gen.  26,  30  vgl.  mit  Jos.  9,  14).  Die  von  Mose  im  göttlichen 
Auftrag  verkündete  Rechtssammlung  wird   (Ex.   24,   7)    »Buch 

*)  Abraham  ist  diirch  berith  ein  ger  in  Beerseba  (Gen.  21,  31.  34):  Isaak 
schließt  einen  Schwurbund  mit  Abimelech  von  Gerar  (Gen.  26,28).  Abimelech 
erscheint  dabei  trotz  der  V.  31  betonten  Beiderseitigkeit  der  Verpflichtung  ganz 
ebenso  allein  als  derjenige,  welcher  die  berith  »macht«  (26,  8)  wie  später  Jahwe  ge- 
genüber Israel,  weil  in  beiden  Fällen  der  andere  Teil  der  schwächere,  minderberech- 
tigte ist  (Israel  ger  Jahwes !).  Ebenso  Israel  gegenüber  Gibeon  (Jos.  9,  6  ff.).  Kraft 
Vertrages  zeltet  in  der  Deboratradition  der  Mann  der  Jae]  als  ger  auf  kanaanäi- 
schem  Königsgebiet.  König  Asa  sendet  kraft  berith  demBenhadad  Tribut  (i.  Kön. 
15,  19) ;  Ahab  und  der  von  ihm  gefangene  Benhadad  schließen  eine  berith  (i.  Kön. 
20,  34)  wie  Jonathan  mit  David  (i.  Sam.  18,  3;  20,  8);  David  mit  Abner  (2.  Sam. 
3,  12);  Jabes  erbittet  eine  solche  von  Nachas  (i.  Sam.  11,  i).  In  allen  diesen  Fällen 
handelt  es  sich  wie  zwischen  Jahwe  und  Israel  um  ein  »foedus  iniquum«  zwischen 
Ungleichstehenden;  dagegen  ist  die  berith  zwischen  Jakob  und  Laban  ein 
»foedus  aequuln«  (Gen.  31,  44),  Das  Völkerrecht^  welches  Tyros  getragen  hat,  heißt 
(Arnos  I.  4)  »Bruderbund«  berith  achim).  Schon  aus  diesen  Beispielen  folgt  aber 
unter  allen  Umständen,  daß  berith  mit  vollem  Recht  durch  »Bund«  übersetzt  wird 
und  Kautzsch  (Bibl.  Theologie  des  A.  T.  S.  60)  durchaus  im  Unrecht  ist,  wenn  er 
diesen^  für  die  ganze  altisraelitische  Religion  absolut  zentralen  Sinn  leugnet. 
David  wird  2.  Sam.  5,  3  genau  im  gleichen  Sinn  durch  berith  mit  den  Aeltesten 
König  von  Israel  wie  früher  Jahwe  dessen  Gott.  Daß  die  Septuaginta  berith  mit 
Stä-9-r^%Yj,  nicht  mit  auvO-y^xYj,  übersetzt,  entspricht  der  Auffassung  ihrer  Zeit, 
nicht  der  althistorischen.  Der  Gotteskonzeption  der  priesterlichen  Redaktion 
(»P«),  wie  sie  z.  B.  bei  der  Darstellung  von  Gottes  Verheißung  an  Noah,  Abraham, 
Pinehas  (Num.  25,  12)  zum  Ausdruck  kommt,  entspricht  allerdings  die  Auffas- 
sung von  berith  als  einer  einseitigen,  nur  durch  besondere  Feierlichkeit  und 
äußere  Zeichen  verbürgten  privilegartigen  Zusage  Gottes  (Gen.  9,  10).  (Vgl. 
dazu  u.  A.  Holzingers  Genesis-Kommentar  S.  129  f.,  vor  allem  aber  die  sehr  ein- 
gehenden Untersuchungen  des  Sprachgebrauchs  von  Valeton  Z.  f.  A.T.  W.  XII.  X 
(1892)  S.  if.  224.)  Für  die  Eschatologie  gab  es  auch  einen  berith  mit  dem 
Tiere  (Hör,  2,  18).  Im  Sinn  von  »Privileg«  steht  berith  Nilm.  18,  19,  im  Sinn 
von  »Vorschrift«  (»Salzberith«)  Lev.  2,  13.  Das  Sinaigesetz  nennt  P  niemals 
»berith«,  während  bei  J  der  Horebbund  und  die  berith  auf  den  Gefilden  Moabs 
typische  bilaterale  foedera  sind.  Den  »ewigen  Bund«  (berith golam)  hat  Israel 
(nach  Jesaja  24,  5)  gebrochen.  Der  Ausdruck  »karah  berith«  entspricht,  wie  oft 
bemerkt  ist,  durchaus  dem  »foedus  icere«,  5pxta  x£|iv£tv  der  Römer  und  Hellenen. 
Bei  Nehemia  ist  der  Sprachgebrauch  verblaßt  und  wird  (Neh.  10,  i)  amanah 
statt  berith  gebraucht. 

6* 


gA  Das  antike  Judentum. 

des  Bundes«  (sefer  ha  berith)  genannt  ^)  und  ebenso  heißen  auch 
jene  religiöben  Vorschriften,  welche  er  nach  göttlichem  Geheiß 
auf  zwei  Tafeln  schreibt  (Ex.  34,  28)  »Worte  des  Bundes«  (dibre 
ha  berith).  Ebenso  wird  der  deuteronomische  sefer  hattorah, 
das  »Buch  der  Lehre«,  als  welches  es  zunächst  (2.Kön.  22)  auftritt, 
in  dem  anschließenden  Bericht  über  seine  Annahme  als  Gesetz 
unter  Josia  (2.  Kön.  23,  2)  »Buch  des  Bundes«,  sein  Inhalt  »Worte 
des  Bundes«  genannt.  Im  Josuabuch  ist  eine  Tradition  aufbe- 
wahrt, wonach  Josua  nach  vollendeter  Eroberung  des  Landes 
einen  Bund  (berith)  mit  dem  Volke  gemacht  und  den  Inhalt  in 
das  »Buch  der  Thora  Gottes«  niedergeschrieben  habe.  An  welche 
der  verschiedenen  Rechtssammlungen  der  Referent  dabei  ge- 
dacht hat,  ist  nicht  feststellbar.  Dagegen  ist  (Jud.  9,  4)  über- 
liefert, daß  in  Sichem  zu  Abimelechs  Zeit  ein  »Haus«  eines  »Bun- 
desbaal« (BaaL  berith)  bestand,  dessen  Tempelschatz  zagleich 
als  Schatz  der  Stadt  benutzt  wurde.  Und  die  deuteronomische 
Tradition  (Hauptstelle:  Deut.  27,  14  f.)  ^)  kennt  eine  feierliche 
Zeremonie,  welche  angeblich  erstmals  bei  Eroberung  des  Landes, 
nach  der  späteren  Vorstellung  unter  Assistenz  von  Vertretern 
von  sechs  Stämmen  auf  dem  Berge  Garizim,  von  sechs  anderen 
auf  dem  Berge  Ebal  (zwischen  denen  Sichem  liegt)  vollzogen  wurde. 
Die  (vier  bis  fünf)  Varianten  der  Erzählung  ergeben  folgendes 
Bild.  Gegen  den  Garizim  hin  oder  auf  ihm  wird  durch  die  Prie- 
ster für  diejenigen,  welche  die  heiligen  Gebote  halten,  ein  feier- 
licher Segen  gesprochen,  gegen  den  Ebal  hin  oder  auf  ihm  ein 
feierlicher  Fluch  gegen  die,  welche  sie  Verletzen.    Von  diesen 

^}  Es  bleibt  freilich  für  das  Bundesbuch  sowohl  wie  für  diese  Bundesworte 
fraglich,  auf  welchen  Bsstandteil  der  Sammlungen  sich  die  Ausdrücke  der  äl- 
testen Tradition  bezogen.  Die  a.  a.  O.  jetzt  Bundesbuch  genannte  früher  be- 
sprochene Rechtssammlung  wird  in  ihrem'  eigenen  Text,  in  welchem  das  "Wort 
»Bund«  gar  nicht  vorkommt,  niemals  so  bezeichnet,  während  dagegen  die  rituellen 
Vorschriften  Ex.  34  sich  ausdrücklich  als  berith  einführen  und  auch  durch  die 
Zweiseitigkeit  der  Versprechungen  dem  Charakter  eines  Bundes  besser  entspre- 
chen als  jene  anderen  Sammlungen,  die  im  wesentlichen  einseitige  Vorschriften 
(mischpatim)  enthalten.  Die  »Worte  des  Bundes«  Ex.  34,  28  identifiziert  der 
vermutlich  spätere  Zusatz:  »Die  zehn  Worte«  mitdem  Dekalog.  Aber  ursprüng- 
lich bezog  sich  der  Ausdruck  offenbar  auf  die  soeben  erwähnten  unmittelbar 
vorhergehenden  rituellen  Vorschriften  (s.  zu  der  ganzen  Frage  Baentsch  a.  a.  O.). 

2)  Das  betreffende  Kapitel  (27)  des  Deuteronomium  gilt  allerdings  für 
eine  junge  Kompilation  und  Einschiebung.  Aber  das  ursprüngliche  Material 
dafür  kann  unmöglich  jungen  Ursprungs  sein.  Die  starken  "Widersprüche  des 
Berichts  und  die  Repräsentation  der  12  Stämme  durch  je  einen  Mann  kommen 
wohl  auf  Rechnung  des  Redaktors,  ebenso  der  unklare  Wechsel  des  Standorts 
(auf  dem  Ebal  oder  unten  im  Tal  bei  Sichem).  Das  Fragment  gilt  wohl 
mit  Recht  als  elohistischen  Ursprungs. 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  85 

Geboten  wird  dabei  (Deut.  27,  2  f.)  erwähnt,  daß  sie  auf  getünch- 
ten Steinen  aufgezeichnet  seien  (was  beweist,  daß  jedenfalls  bereits 
nicht  mehr  die  Keilschrift  herrschte;  im  übrigen  ist  das  Alter 
freilich  problematisch) .  Auf  die  Zeremonie  wird  in  der  Tradition 
an  noch  mehreren  Stellen  Bezug  genommen  (Deut.  11,  26  f.; 
Jos.  8,  30  f.;  23,  I  f.).  Im  Wesen  der  Sache  wird  sie  wohl  trotz 
der  späten  (deuteronomistischen)  Ueberlieferung  schon  in  älte- 
rer Zeit  so  oder  ähnlich  bestanden  haben,  weil  die  dabei  erwähn- 
ten Kultstätten  auf  den  Bergen  gerade  diesem  Redaktor  wenig 
sympathisch  sein  mußten,  zumal  dort  nach  den  Ueberlieferungen 
Malsteine  (ein  von  den  Puritanern  verworfener  Brauch)  und  die 
alten  Orakelterebinthen  (ebenfalls  bedenklich)  standen,  die 
Gebeine  Josephs  (Grabkult)  lagen  und  sogar  (nach  einem  anschei- 
nend babylonischen  Ritus)  Götterbilder  vergraben  waren.  Die 
überlieferte  Fluchformel  (Deut.  27,  15  f.),  der  sog.  »sexuelle 
Dekalog«,  zählt  zwölf  bestimmte  Sünden  auf:  Idolatrie,  Fluch 
gegen  die  Eltern,  Grenzverrückung,  Irreführung  eines  Blinden, 
Beugen  des  Rechts  der  Metöken,  Waisen  und  Witwen,  sexuelle 
Sünden  (Inzest  und  Bestialität),  Mord  (=  heimlicher  Tod- 
schlag), Bestechlichkeit  des  Richters.  Wenn  auch  das  Alter 
unsicher  bleibt,  so  besteht  angesichts  ihres  Zusammenhangs 
mit  den  Vorschriften  des  Bundesbuchs  doch  die  größte  Wahr- 
scheinlichkeit, daß  der  »Bundesbaal«  derjenige  Funktionsgott  war, 
welcher  auf  Grund  der  offenbar  regelmäßig  wiederholten  Ver- 
fluchungen diese  vom  Volk  feierlich  auf  sich  genommenen  Sat- 
zungen schützte  ^).  Sein  Kult  aber  gilt  einer  allerdings  stark 
verunstalteten  Tradition  als  eingeführt  in  Sichem  im  Anschluß 
an  eine  Auseinandersetzung  und  Verständigung  Gideons  und 
der  Ost  Jordanstämme  mit  Ephraim  während  des  Midianiter- 
kriegs  (Jud.  8,  i.  33);  der  Bundesbaal  war  also  doch  wohl  der- 


*)  Die  Schwierigkeit,  daß  der  Bundesbaal  einen  Tempel  hat,  die  Zeremonie 
aber  anscheinend  vom  Hain  (oder  Gottesbaum)  More  ausgeht,  ist  wohl  nicht  un- 
überwindlich. Der  Zusammenhang  mit  dem  Kult  in  Hainen  und  auf  Bergen , 
spricht  für  das  Alter  und  die  Bedeutsamkeit  der  Zeremonie,  welche,  obwohl  sie  zur 
Zeit  des  Deuteronomium  nur  noch  Reminiszenz  sein  konnte,  doch  von  dessen 
allen  jenen  Kulten  feindlichen  Redaktoren  nicht  fortretouchiert  worden  ist. 
Möglich  ist,  daß  ihr  Sinn  sich  inzwischen  dem  Geist  des  Deuteronomium  ent- 
sprechend gewandelt  hatte:  Ursprünglich  wohl  eine  feierliche  Dämonen  Verflu- 
chung in  Verbindung  mit  Anrufung  des  Gottessegens,  dürfte  sie  für  die  Auffas- 
sung der  damaligen  Zeit  die  feierliche  Abwälzung  der  religiösen  Solidarhaftung 
des  Volkes  für  die  Sünder  auf  diese  allein  durch  ihre  feierliche  Verfluchung 
bezweckt  haben. 


^ß  Das  antike  Judentum. 

Garant  eines  jener  Bundesschlüsse,  durch  welche  Israel  neu  kon- 
stituiert wurde. 

In  immer  wiederholten  rituellen  Bundesschlüssen  sehen  wir 
sich  nun  auch  in  historischer  Zeit  die  innerpolitische  Geschichte 
Israels  bewegen:  Die  Herstellung  des  reinen  Jahwekults 
in  Jerusalem  unter  Joas  und  später  die  Annahme  des  deuterono- 
mischen  Gesetzes  unter  Josia  erfolgen  nach  der  Tradition  durch 
berith  ^),  ganz  ebenso  der  Beschluß  unter  Zedekia,  die  Schuld- 
sklaven dem  Gesetz  gemäß  freizulassen  (Jer.  34,  8  f.),  und  dann 
wiederum  die  feierliche  Annahme  der  Gemeindeordnung  unter 
Nehemia,  bei  welcher,  wie  bei  jener  Fluchzeremonie,  eine  Anzahl 
besonders  wichtiger  Satzungen  herausgegriffen  und  der  inzwi- 
schen üblich  gewordenen  Beurkundungspraxis  entsprechend 
von  den  synoikisierten  Geschlechtshäuptern  feierlich  untersiegelt 
wurden  (Neh.  10).  Das  für  unsere  Zusammenhänge  Entschei- 
dende War  nun  aber  dabei  dies :  gerade  die  älteren,  vorexilischen, 
von  diesen  Fällen  Von  Recht  schaffender  berith  des  Gesamt- 
volks  Israel  und  für  dieses  als  solches  sind,  in  deutlichem  Gegen- 
satz zu  den  berith- Schlüssen  unter  Einzelnen  oder  mit  Metöken 
nicht  nur  Kontrakte  und  Verbrüderungen  der  beteiligten  Parteien 
untereinander,  welche  unter  den  Schutz  des  Gottes  als  Zeugen 
und  Rächers  von  Meineid  gestellt  werden.  Sondern  sie  galten 
gerade  der  alten,  vor  allem  der  durch  den  sog.  » Jahwisten«  Ver- 
tretenen, Auffassung  als  Bundesschließungen  mit  dem  Gott 
selbst,  der  also  bei  der  Rache  des  Bundesbruchs  seine  eige- 
nen verletzten  Vertragsrechte,  nicht  nur  die  seinem  Schutz  emp- 
fohlenen Ansprüche  der  Vertragstreuen  Partei  vertritt  ^) . 
Diese  sehr  wichtige  Konzeption  hat  die  Entwicklung  der  is- 
raelitischen Religiosität  überaus  stark  beeinflußt.  Auf  die  Ver- 
letzung der  ihm  persönlich,  als  Vertragsschließenden,  durch  Eid 
angelobten  Vertragstreue  gründet  der  Gott  der  Propheten  seine 
furchtbaren  .Unheilsdrohungen,  wie  er  andererseits  selbst  an  die 
Zusagen  gemahnt  wird,  die  er  den  Vorfahren  durch  Eid  (so 
zuerst  Micha  7,  20)  angelobt  hat.  Die  ganze  Beziehung  schon  der 
legendären  Vorväter  Israels  zu  Gott  hatte  sich  für  die  spätere 


^)  Allerdings  hier  durch  eine  berith  »v  o  r«  Jahwe,  nicht  durch  eine  berith 
m  i  t  Jahwe.  Dies  erklärt  sich  zwanglos  aus  der  Fiktion,  daß  es  sich  nur  um 
erneute  Verpflichtung  des  einen  Vertragsteils:  des  Volkes,  auf  den  alten  Bund 
mit  dem  Gott,  den  es  nicht  gehalten  habe,  handelte. 

*)  Der  einseitige  Treuschwur  des  Volkes  unter  Nehemia  wird  nicht 
berith  genannt,    sondern  amanah   (Neh.   lo,   i). 


I 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  g^ 

durch  die  Exilspriester  bestimmte  Auffassung  von  Anbeginn 
an  in  immer  neuen  Bundesschließungen  realisiert:  in  dem  Bunde 
mit  Noah,  dem  mit  Abraham,  Isaak,  Jakob  und  schließlicß  dem 
Sinaibund.  Zwar  hatte  sich  inzwischen  die  anthropomorphe 
Auffassung  von  einem  zweiseitigen  Pakt  mit  dem  veränderten 
Gottesbegriff  in  die  einer  göttlichen,  nur  durch  besondere  Zu- 
sage verbürgten  Verfügung  abgeschwächt,  aber  auch  die  Zu- 
kunftshoffnung des  Jeremia  geht  letztlich  dahin,  daß  Jahwe  künf- 
tig mit  seinem  Volk  abermals  einen  Bund,  aber  unter  gnädige- 
ren Bedingungen  als  mit  den  Vätern,  abschließen  werde.  — 
Woher  stammt  nun  diese  Besonderheit  der  israelitischen  Kon- 
zeption? Einige  allgemeine  politische  Sachverhalte  und  ein  be- 
sonderes religionsgeschichtliches  Ereignis  trafen  zusammen,  um 
sie  entstehen  zu  lassen. 

Die  Bedeutung  des  »Bundes «-Begriffs  für  Israel  an  sich  hat 
ihren  Grund  darin,  daß  die  alte  Sozialverfassung  Israels  zum 
sehr  wesentlichen  Teil  auf  einer  durch  Kontrakt  regulierten 
Dauerbeziehung  grundbesitzender  Kriegersippen  mit  Gast- 
stämmen als  rechtlich  geschützten  Metöken :  Wanderhirten 
und  Gasthandwerkern,  Kaufleuten  und  Priestern,  beruhte.  Ein 
ganzes  Gewirr  solcher  Verbrüderungen,  sahen  wir,  beherrschte 
die  soziale  und  ökonomische  Gliederung.  Daß  aber  der  Bund 
m  i  t  dem  Gott  Jahwe  selbst  eine  für  Israels  Selbstbeurteilung 
seiner  Gesamtstellung  unter  den  Völkern  grundlegende  Konzep- 
tion wurde,  hing  mit  folgenden  weiteren  Umständen  zusammen. 

Oben  wurde  die  in  den  Lebensbedingungen  begründete  be- 
sonders große  Labilität  aller  politischen  Verbände  bei  den  Be- 
duinen und  Viehzüchtern:  die  Neigung  aller  dieser  Stammes- 
organisationen, sich  bald  in  Sippen  zu  zersplittern,  bald  ander- 
weit neu  zusammenzuballen,  besprochen.  Das  Schicksal  der 
Stämme  Rüben,  Simeon,  Levi,  Machir  einerseits,  Juda  anderer- 
seits bietet  die  Beispiele.  Mit  dieser  Unbeständigkeit  kontrastiert 
nun  auffallend  die  außerordentliche  Stabilität  eines  bestimmten 
Verbands typus,  der  sich  gerade  bei  diesen  nicht  vollseßhaften 
Schichten  findet :  des  religiösen  Ordens  oder  ordens- 
artigen Kultverbandes.  Als  tragfähige  Basis  für  politische  und 
militärische  Organisationen  auf  lange  Sicht  scheint  geradezu 
nur  ein  derartiger  religiöser  Verband  geeignet  gewesen  zu  sein. 
Ein  solcher  waren  die  Rcchabiten:  Durch  Jahrhunderte,  von 
Jehas  Zeiten  bis  auf  Jeremia,  sehen  wir  sie  fortbestehen  und  re- 


33  Das  antike  Judentum.  ' 

ligionspölitisch  wirken,  in  der  Nehemiachronik  wird  ein  Rechabit 
erwähnt,  im  Mittelalter  noch  will  Benjamin  von  Tudela  sie 
unter  einem  »Nasi«  in  der  babylonischen  Wüste  getroffen  haben, 
und  andere  Reisende  glaubten  ihre  Spuren  gar  im  19.  Jahr- 
hundert bei  Mekka  zu  finden.  Wesentlich  religiös  scheint  auch 
der  streng  jahwistische  Keniterstamm,  dem  die  Rechabiten  an- 
gehörten, zusammengeschlossen  gewesen  zu  sein.  Denn  es  ist 
durch  Stade  mindestens  höchst  wahrscheinlich  gemacht,  daß  das 
^Kainszeichen«,  d.  h.  die  kenitische  i)  Stammestätowierung^ 
nicht  nur  Stammesmarke,  sondern,  und  zwar  natürlich  primär, 
Kultgemeinschaftszeichen  War  2) ;  die  indischen  Sektenabzei- 
chen würden  die  Analogie  darstellen.  Das  großartigste  Bei- 
spiel eines  ordensartigen  Verbandes  von  prinzipiell  ganz  der 
gleichen  Art  war  auf  dem  gleichen  Boden  natürlich:  der  Islam 
und  die  ihm  angehörigen  kriegerischen  Orden,  welche  zahlreiche 
und  zwar  die  besonders  dauerhaften  islamischen  Staatsgrün- 
dungen geschaffen  haben.  —  Der  Tatbestand  war  dabei  nun  nicht 
etwa  der :  daß  die  Lebensbedingungen  der  Beduinen  und  Halbnoma- 
den eine  Ordensgründung  aus  sich  heraus  »erzeugt«  hätten,  etwa  als 
»ideologische  Exponenten«  ihrer  ökonomischen  Existenzbe- 
dingungen. Diese  Art  materialistischer  Geschichtskonstruk- 
tion ist  hier  wie  sonst  gleich  unzutreffend.  Vielmehr:  wenn 
eine  solche  Gründung  erfolgte,  so  hatte  sie.  unter  den  Lebens- 
bedingungen dieser  Schichten,  die  weitaus  stärksten  Chancen, 
im  Auslesekampf  die  übrigen,  labileren,  politischen  Gebilde 
zu  überdauern.  O  b  sie  aber  entstand,  das  hing  von  ganz  kon- 
kreten religionshistorischen  und  oft  von  höchstpersönlichen  Um- 
ständen und  Schicksalen  ab.  War  dann  die  religiöse  Verbrü- 
derung in  ihrer  Leistungsfähigkeit  als  politisches  und  ökonomi- 
sches Machtmittel  einmal  bewährt  und  erkannt,  dann  trug  dies 
naturgemäß  zu  ihrer  Ausbreitung  mächtig  bei.  Muhammeds 
sowohl  wie  Jonadab  ben  Rechab's  Verkündigungen  sind  nicht 
als  Produkte  populationistischer  oder  ökonomischer  Bedingungen 
zu  »erklären«,  so  sehr  ihr  Inhalt  durch  solche  mitbestimmt  wurde. 
Sondern  sie  waren  Ausdrücke  persönlicher  Erlebnisse  und  Ab- 


^)  Wie  alt  die  Jahwefrömmigkeit  bei  den  Kenitern  ist,  steht  dahin,  König 
(Z.  D.  M.  G.  69,  191 5)  macht  darauf  aufmerksam,  daß  der  erste  sicher  bezeugte 
kenitische  Jahwe-Name  der  des  Jonadab  b.  Rechab  ist.  Dieser  Prophet  spielte 
also  vielleicht  dort  die  Rolle  des  Mose. 

«)  Das  Kainszeichen.    Z.  f.  A.T.  W.  14  (1894)   S.  250  f. 


,^" 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  30 

sichten.  Aber  die  geistigen  und  sozialen  Mittel,  deren  sie  sich 
bedienten,  und  ferner  die  Tatsache  des  großen  Erfolgs  ge- 
rade dieses  Typus  von  Schöpfungen  sind  allerdings  aus  jenen 
Lebensbedingungen  zu  verstehen.    Ebenso  für  Altisrael. 

Wie  die  Rechabiten  ihre  Bedeutung  dem  Zusammenschluß 
als  Orden,  so  verdankte  vielleicht  J  u  d  a  seinen  Zusammen- 
schluß als  Stamm  zu  einem  machtvollen  politischen  Gebilde 
einer  Verbrüderung  durch  einen  besonderen  Jahwebund.  Der 
Stamm  tritt  erst  spät  in  der  Geschichte  auf.  Das  Deboralied 
kennt  ihn  nicht.  Die  Quellen  bezeichnen  ihn,  in  der  für  Viehzüch- 
ter typischen  Art,  gelegentlich  auch  als :  Sippe.  Er  war  zur  Zeit 
des  Mosessegens  in  politischer  Bedrängnis,  zur  Zeit  Sauls  ein 
Tributärstamm  der  Philister.  Der  Jakobsegen  dagegen  kennt 
ihn  als  Hegemon  in  Israel  und  zugleich  als  Weinbauer,  während  in 
der  aus  Viehzüchterkreisen  stammenden  Erzväterlegende  Abraham, 
obwohl  in  dem  weinberühmten  judäischen  Hebron  ansässig,  sei- 
nen himmlischen  Gästen  keinen  Wein  vorsetzt.  Der  Stamm  hatte 
also — wenn  er  auch  schwerlich,  wie  Guthe  annimmt,  erst  durch 
David  entstand  —  doch  unter  ihm  sein  Gebiet  erweitert 
und  war,  offenbar  unter  Vermengung  mit  Kanaanäern,  seßhaft 
geworden.  Die  nach  den  offiziellen  Aufzählungen  und  Genea- 
logien später  zum  Stamm  Juda  gerechneten  Sippen  sind  zum 
Teil  wohl  kanaanäischen,  zum  Teil  offenkundig  beduinischen 
Ursprungs:  so  die  zeitweise  mit  Amalek  verbündeten  Keniter. 
Der  Stamm  Simeon  ist  teils  in  Juda  aufgegangen,  teils  unter  den 
Edomitern  ansässig  geworden.  Die  früheste  Erwähnung  eines 
Leviten  bezeichnet  diesen  als  einen  Judäer :  offenbar  wurde  auch 
der  Stamm  Levi  dem  Schwerpunkt  nach  von  Juda  aufgesogen. 
Die  noch  unter  Saul  bestehende  Sonderstellung  des  Stammes 
dauerte  in  anderer  Form  auch  unter  den  Davididen  an :  Unter 
Salomo  gehörte  sein  Gebiet  wenigstens  zum  größten  Teil 
nicht  zu  den  Provinzen  des  Reichs,  sondern  war  königliche  Haus- 
macht. Seinen  endgültigen  Umfang  hatte  er  jedenfalls  erst 
durch  das  Kriegs fürstentum  Davids  erhalten  und  vermutlich 
im  Zusammenhang  mit  der  Uebernahme  des  reinen  Jahwekults. 
Schon  die  ihm,  wie  es  scheint  und  wie  namentlich  Luther  an- 
nimmt, als  Besonderheit  eignende  bedeutende  Stellung  der  Prie- 
ster bei  der  Urteilsfindung  (durch  Prozeßorakel)  legt  die  Annahme 
einer  spezifisch  religiösen  Verbrüderung  als  Grundlage  seines 
so  festen  Stammeszusammenhalts  nahe.  Er  wäre  dann  aus  Frag- 


QQ  Das  antike  Judentum. 

menten  verschiedener  ethnischer  Herkanft  durch  Gemeinschaft 
des  Kults  und  der  Priester  zusammengefügt  worden.  Diese 
Annahme  wird  dann  ganz  besonders  wahrscheinlich,  wenn  der 
Name  »Jehuda«  als  ein  Derivat  von  Jahwe  anzusehen  sein  sollte. 

Was  schließlich  die  israelitische  Eidgenossen- 
schaft selbst  anlangt,  so  war  sie  nach  eindeutiger  Ueber- 
lieferung  ein  Kriegsbund  unter  und  mit  Jahwe  als  dem  Kriegs- 
gott des  Bundes,  Garant  seiner  sozialen  Ordnungen  und 
Schöpfer  des  materiellen  Gedeihens  der  Eidgenossen,  insbeson- 
dere des  dafür  nötigen  Regens.  Der  Name  »Israel«,  sei  es,  daß  er 
unmittelbar  »das  Volk  des  kämpfenden  Gottes«  benennen  sollte, 
sei  es  daß  er  (unwahrscheinlicherweise)  ursprünglich  »Jesorel« 
zu  sprechen  war  und  also  den  Gott  bedeutete,  »auf  den  man  ver- 
traut«, bringt  das  zum  Ausdruck.  Ein  Stammesname  war  »Israel« 
jedenfalls  nicht,  sondern  der  Name  eines  Verbandes,  und  zwar: 
eines  kultischen  Bundes  ^).  Zur  Bezeichnung  eines  Eponymos 
hat  erst  die  theologische  Bearbeitung  der  Legenden  vom  Heros 
Jakob  den  Namen  Israel  gemacht :  daher  der  schattenhafte  Cha- 
rakter dieser  Personifikation.  —  Wir  müssen  die  Struktur  des 
Bundes  etwas  näher  betrachten. 

Sein  Umfang  hat  gewechselt.  Als  Verband  muß  Israel  in 
Palästina  schon  zur  Zeit  des  Königs  Memeptah,  des  angeblichen 
Pharao  des  Auszugs,  existiert  haben,  denn  es  wird  damals  in 
einer  bekannten  Inschrift  ^)  erwähnt,  daß  die  Angriffe  des 
königUchen  Heeres  seine  Mannschaften  und  seinen  Besitz  de- 
zimiert hätten.  In  der  Art  der  Erwähnung  tritt  hervor,  daß 
Israel,  im  Gegensatz  zu  den  kleinen  und  größeren  Stadtstaaten, 
als  ein  nicht  stadtsässiger  Verband  galt.  Im  Debora  krieg  bilden, 
wie  wir  sahen,  die  Bauern,  die  zu  Fuß,  und  deren  Fürsten,  die 
auf  weißen  Eseln  in  das  Feld  ziehen,  den  Kern  des  gegen  die 
wagenfahrenden  Ritter  der  Stadtkönige  kämpfenden  Heeres. 
Das  Deboralied  kennt  als  Bundesglieder  außer  den  am  Krieg 
teilnehmenden  Bergstämmen  Ephraim  und  dessen  beiden 
Absplitterungen  Machir  und  Benjamin,  sowie  Sebulon,  Naphtali 
und  Issachar,  noch :  die  seßhaften  Stämme  Asser  und  Dan  nahe 
dem  Meer  und  andererseits :  die  Viehzüchterstämme  Rüben  und 


1)  Den   Namen   »Israel«   erhält   Jakob  im  Mythos  nach  seiner  berith  mit 
Gott  (Gen.  35,  10). 

2)  Spiegelberg   in  den  Ber.  der  Berl.  Ak,  d.  Wiss.  1896.    Steindorf  in  der 
Z.  f.  A.T.W.  16. 


I.     Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  qj 

Gilead  östlich  des  Jordan,  die  sich  aber  der  Bundeshilfe  entzie- 
hen; gesondert  nennt  es  die  Stadt  Meros  als  bundbrüchig.  Die 
beiden  Segensammlungen  kennen  dann  die  übliche  Zwölfzahl 
der  Stämme:  Machir  ist  durch  Manasse,  Gilead  durch  Gad 
ersetzt,  Juda  und  Simeon  sind  hinzugetreten,  und  je  nachdem 
Levi  mitgezählt  oder  wie  im  Mosessegen  als  Priesterstamm  be- 
sonders gerechnet  wird,  sind  Ephraim  und  Manasse  als  zwei 
Stämme  oder  gemeinsam  als  das  »Haus  Joseph«  gezählt.  In 
der  Zeit  des  Deboraliedes  galten  aber  zweifellos  Weder  Juda 
noch  Simeon  noch  Levi  als  zugehörige  Stämme.  Damals  un.d 
später  galt  Ephraim  oder  Joseph  unzweifelhaft  als  Kernstamm 
des  Bundes,  wie  seine  Voranstellung  im  Liede,  seine  Abstam- 
niung  von  der  Lieblingsfrau  Jakobs  und  seine  Kennzeichnung 
als  dessen  Lieblingssohn  (bzW.  -enkel)  beweisen.  Der  Stamm 
erinnert  sich  im  Deboralied  seiner  Kämpfe  mit  den  Beduinen 
und  auch  im  Jakobsegen  ist  von  diesen  »Pfeilschützen«  als  seinen 
Gegnern  die  Rede.  Gerade  für  ihn  wird  im.  Mosessegen  ausdrück- 
lich und  sicher  auf  Grund  alter  Tradition  eine  Beziehung  zu  der 
mosaischen  Dornbuschepiphanie  erwähnt.  Gerade  er  also  war 
zweifellos  an  den  Ereignissen,  welche  zur  Rezeption  Jahwes 
als  des  Kriegsgottes  Israels  führten,  beteiligt.  Der  in  der  Tra- 
dition am  frühesten  einen  Jahwenamen  tragende  Heerführer 
des  Bundes,  Josua,  ist  Ephraimit  und  in  dessen  Gebiet  begraben. 
So  wird  denn  auch  Jahwe,  der  von  Seir  in  Edom  im  Wetter- 
sturm heranzieht  und  die  Kanaanäer  vernichtet,  als  Kriegs- 
gott des  unter  Ephraims  Hegemonie  stehenden  Bundes  im  De- 
boralied gepriesen.  Zu  Ephraims  Gebiet  gehörte  von  Kultstätten 
Jahwes  vor  allem  Sichem  mit  dem  »Bundesbaal«.  Doch  scheint  es, 
daß  die  eigentliche  Kultstätte  außerhalb  der  Stadt  lag, 
welche  der  Tradition  als  lange  kanaanäisch  galt.  Offenbar  ist 
Ephraim  bis  zur  Schaffang  der  nordisraelitischen  Residenz 
Schomron  (Samaria)  mit  am  meisten  ein  Verband  bergsässiger 
freier  Großbauern  geblieben,  auf  deren  Wehrkraft  Israels  Macht 
dereinst  so  sehr  beruhte,  daß  der  Stammesname  später  sehr 
regelmäßig  schlechthin  für  das  ganze  Nordreich  gebraucht  wurde. 
Aber  eine  alte  Reminiszenz  muß  Rüben,  Simeon,  Levi,  welche 
in  den  Segensammlungen  vorangestellt  werden  und  von  der 
älteren  Schwester  Lea  abstammen,  als  Kern  des  Bundes  gekannt 
haben.  Juda  dagegen  taucht  überhaupt  erst  in  verhältnismäßig 
späten  Segensprüchen  auf  und  gewinnt  seine  Stellung  erst  seif 


02  Das  antike  Judentum. 

David.    Dem  Feldherrn  Sauls,  Abner,  galten  die  Judäer  noch 
als  »Hundsköpfe«. 

Dieser  in  seinem  Bestand  labile  israelitische  Bund  verfügte 
bis  zur  Königszeit,  soviel  ersichtlich,  über  dauernde  politische 
Organe  überhaupt  nicht.  Die  Stämme  stehen  in  gelegentlicher 
Fehde  miteinander.  Das  religiöse  Völkerrecht,  welches  z,  B,  das 
Umhacken  der  Fruchtbäume  untersagte,  galt,  wenn  es  überhaupt 
in  alte  Zeit  zurückgeht,  vermutlich  gerade  für  solche  Fehden 
innerhalb  des  Verbandes.  Die  Bundesglieder  versagen  im  De- 
boralied  teilweise  die  Bundeshilfe.  Gelegentlich,  aber  nicht 
immer,  führt  das  zur  Verfluchung  und  zum  heiligen  Krieg 
gegen  den  Eidbrüchigen.  Ein  gemeinsames  Indigenat  besteht 
nicht.  Ein  solches  hatte  anscheinend  nur  der  Stamm.  Schwere 
Verletzung  des  Metökenrechtes,  welches  jeder  Israelit  in  jedem 
anderen  Stamm  genoß,  rächte  allerdings  unter  Umständen  der 
Bund.  Irgend  ein  einheitliches  Gericht  oder  eine  einheitliche 
Verwaltungsbehörde  irgendwelcher  Art  bestand  aber  offenbar 
in  Friedenszeiten  nicht.  Die  Bundeseinheit  äußerte  sich  darin, 
daß  ein  von  Jahwe  beglaubigter  Kriegsheld  oder  Kriegsprophet 
regelmäßig  Autorität  auch  über  die  Grenzen  seines  Stammes 
hinaus  beanspruchte.  Zu  ihm  kam  man  von  weither,  um  Rechts- 
händel schlichten  zu  lassen  oder  Belehrung  über  kultische  und 
sittliche  Pflichten  zu  suchen.  Derartiges  wird  von  Debora 
(Jud.  4,  5)  berichtet,  und  die  heute  vorliegende  Redaktion  der 
Tradition  hat  sämtliche  charismatische  Kriegshelden  der  alten 
Bundeszeit  zu  »Schofetim«:  »Richtern«,  Israels  gemacht,  welche 
in  ununterbrochener  Reihe  aufeinander  gefolgt  wären,  in  ganz 
Israel  richterliche  Autorität  genossen  hätten  und  deren  letzter, 
Samuel,  während  seines  Amts  alljährlich  Bethel,  Gilgal  und 
Mizpa  bereist  habe  (i.  Sam.  7,  15.  16),  um  »Recht  zu  sprechen« 
und  dann,  nach  Erwählung  des  Königs,  sein  Amt  wie  ein  römi- 
scher oder  hellenischer  Polis-Beamter  auf  Grund  eines  öffent- 
lichen Rechenschaftsberichts  und  der  Aufforderung,  etwaige 
Klagen  gegen  ihn  jetzt  vorzubringen,  nach  empfangener  Decharge 
feierlich  niedergelegt  habe  (i.  Sam.  12).  Die  Tradition  über 
Samuel  ist  ohne  Frage  eine  deuteronomistische  königsfeind- 
liche Konstruktion,  welche  das  Verhalten  des  idealen,  Jahwe  wohl- 
gefälligen Fürsten  paradigmatisch  im  Gegensatz  zu  den  Königen 
der  Gegenwart  vorführt.    Wie  aber  steht  es  mit  der  prinzipiellen 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft   und  Jahwe.  gi 

Stellung  der  »Schofetim«?  Während  Stade  die  Ansicht  vertritt  ^), 
daß  die  spätere  Tradition  ganz  einfach  die  alten  Kriegshelden 
Jahwes  nachträglich  zu  friedlichen  »Richtern«  gestempelt  habe, 
hat  Klostermann  in  geistreicher  Art  die  »Richter«  Israels  mit 
den  »Gesetzessprechern«  (lögsögumadr)  der  nordischen,  vor  allem 
der  isländischen  Praxis:  den  Trägern  der  mündlichen  Rechts- 
überlieferung und  Vorläufern  der  schriftlichen  Rechtsfixierung, 
in  Parallele  gestellt  ^) .  Er  sucht  auf  diese  Art  namentlich  die 
Entstehung  und  literarische  Eigenart  der  vor-exilischen  Rechts- 
bücher zu  erklären,  welche  eben  aus  den  öffentlichen  Rechtsbe- 
lehrungen dieser  »Gesetzessprecher«  entstanden  seien.  Die  na- 
mentlich von  Puukko  eingehend  bekämpfte  Hypothese  ent- 
hält nach  zahlreiche;!  rechtssoziologischen  Analogien  einen  ge- 
wissen Wahrheitswert.  Ueberall  entwickelt  sich  das  Recht  zu- 
nächst durch  Rechtsorakel,  Weistümer,  Responsen  charismatisch 
qualifizierter  Träger  der  Rechtsweisheit.  Aber  nicht  überall 
nehmen  diese  die  sehr  spezifische  Stellung  der  nordischen  Ge- 
setzessprecher ein,  deren  Amt  —  denn  das  war  es  —  mit  der  Or- 
ganisation der  germanischen  Gerichtsgemeinde  eng  zusammen- 
hing. Die  von  der  jetzigen  Redaktion  der  Tradition  sogenannten 
»Richter«  hatten  offenbar  ein  untereinander  sehr  verschiedenes 
Gepräge,  waren  aber  im  allgemeinen  weit  davon  entfernt,  die 
eigentlichen  Träger  der  Rechtsweisheit  zu  sein.  Die  normale 
Rechtsweisung  legt  die  Tradition  in  die  Hände  der  sekenim 
( Aeltesten) .  Das  Ordal  andererseits  und  das  reguläre  Prozeß- 
orakel war  Sache  der  Priester  und  das  letztere  wurde,  wie 
später  zu  erwähnen,  in  älterer  Zeit  durch  rein  mechanische  Mittel 
(Los)  erzielt.  Im  übrigen  aber  erwähnt  die  Tradition  sehr  ver- 
schiedene Bezeichnungen  von  Honoratioren,  welche  innerhalb 
der  einzelnen  Stämme  traditionelle  Autorität  genossen.  Für 
eine  charismatisch  geübte  Rechtsweisung  konnte  also  nur  neben 
all  diesen  Quellen  der  Rechtsfindung  Raum  sein.  Die  Gestalten 
der  »Schofetim«  nun,  welche  die  heutige  Fassung  des  sog.  Richter- 
buchs uns  vorführt,  sind  sehr  verschiedener  Art.    Sieht  man  von 


1)   Stade,  Bibl.  Theologie  des  A.  T.  (1905)  S.  285  f. 

*)  Klostermann,  Der  Pentateuch  (1907).  Eingehend' kritisiert  von  Puukko. 
Das  Deuteronomium  S.  176—202.  K.  sucht  durch  seine  Hypothese  den  eigen- 
tümlichen schriftstellerischen  Charakter  des  Deuteronomium  verständlich  zu 
machen.  Es  sei  ein  öffentlicher  paränetischer  Gesetzes  v  o  r  t  r  a  g  gewesen. 
Der  Vergleich  der  oAuffindungs«- Geschichte  mit  den  »Gesetzen«  Numas  ist 
kaum  sehr  fruchtbar  zu  nennen. 


QA  Das  antike  Judentum. 

denjenigen  ab,  von  denen  nur  ihre  Existenz  berichtet  ist  (Jair,. 
Ebzon,  Elon,  Abdon),  so  gilt  Simson  als  ein  rein  individuell 
seine  Fehden  ausfechtender  Held,  Ehud  ebenso,  nur  mit  dem 
Unterschied,  daß  er  den  Bedrücker  Israels  erschlägt,  Othniel, 
Samgar,  Barak,  Gideon,  Jephtha  und  v^ohl  auch  Thola  als  er- 
folgreiche Heerführer  Israels,  in  Wahrheit  offenbar:  ihrer  eignen 
und  benachbarter  Stämme.  Nur  Von  einem  Teil  von  ihnen  wird, 
und  zwar  nur  ganz  allgemein  bemerkt,  daß  sie  Israel  im  Frieden  »ge- 
richtet« hätten.  Aller  Schwerpunkt  liegt  vielmehr  in  ihrer  Lei- 
stung als  »Heilande«,  das  heißt;  Retter  aus  schwerer  Kriegsnot. 
Daneben  erscheint  in  einer  als  »heiliger  Krieg«  vorgestellten 
Bundesexekution  (Jud.  20,  28)  ein  Priester  aus  dem  Elidenge- 
schlecht  (Pinchas)  als  Orakelgeber  des  Heeres.  Reiner  Priester 
ist  Eli.  Seine  Söhne  werden  als  Priester,  aber  zugleich  als  berufene 
Führer  des  Heerbanns  gegen  die  Philister  vorgestellt.  Diese 
letztgenannten  Traditionen  über  die  Eliden  sind  äußerst  Ver- 
dächtig und  spät,  die  Tradition  über  Samuel  aber,  der  bald  als 
Nabi,  bald  als  Seher,  bald  als  Prediger  (i.  Sam.  4,  i),  bald  als 
Nasir,  bald  als  Priester,  bald  endlich  als  Heerführer  behandelt 
wird,  ist  schlechthin  unbrauchbar.  Die  Zeit,  in  der  diese  Dar- 
stellungen redigiert  wurden,  wußte  von  den  wirklichen  Verhältnis- 
sen der  Bundeszeit  ersichtlich  nichts  Sicheres  mehr.  Die  zuverläs- 
sigste Quelle:  das  Deboralied,  zeigt  die  Prophetin  neben  dem 
führenden  naphtalitischen  Kriegshelden  Barak,  der  als  Führer  des 
Heerbanns  eine  ganze  Anzahl  mit  ihm  verbündeter  Honoratioren 
der  andern  Stämme  neben  sich  hat.  Nur  von  Debora  und  von 
Samuel  weiß  die  Tradition  ausdrücklich  zu  berichten,  daß  sie 
regelmäßig  »Recht  gesprochen«  hätten,  d.  h.  auf  Verlangen  Pro- 
zeßorakel gaben.  Das  gleiche  berichtet  die  heutige  Redaktion 
des  Hexateuch  von  Mose.  Von  ihm  und  von  Josua,  außerdem 
nur  von  Samuel  in  einem  sicher  legendären  Fall :  der  Feststellung 
der  Königsprärogative  nach  Sauls  Wahl,  wird  die  Schöpfung 
»objektiver«  dauernd  geltender  Rechtsnormen  und  ihre  schrift- 
liche Fixierung  berichtet.  Für  ein  kontinuierlich  funktionieren- 
des »Gesetzessprechen«  nach  nordgermanischer  Analogie  ist 
beiden  »Schofetim«  jedenfalls  kein  Raum.  Politische  Orakel,  nicht 
Prozeßorakel,  gaben  die  »Propheten«  von  der  Art  der  Debora, 
und  politisch-militärische  Entschließungen,  nicht  Rechts- 
sprüche oder  Weistümer,  Waren  die  spezifische  Tätigkeit  der 
charismatischen   »Schofetim«.    Dabei  ist  durchaus  wahrschein- 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jaliwe  gc 

lieh,  daß  beide:  bewährte  Propheten  ebenso  wie  bewährte 
Kriegshelden,  auch  im  Frieden  fi3r  die  Schlichtung  von  Streitig- 
keiten in  Anspruch  genommen  wurden  und  daß  die  weltlichen 
Kriegshelden  diese,  wie  überall,  als  Herrenrecht  ihrerseits  in 
die  Hand  nahmen,  wenn  sie  da^u  gelangt  waren,  ihre  Herrschaft 
soweit  zu  befestigen,  wie  etwa  Abimelech.  Aber  selbst  die  ersten 
Könige  galten  noch  nicht  in  erster  Linie  als  Träger  oder  gar 
Schöpfer  von  Recht,  sondern  als  Kriegsführer.  Bei  David  setzt 
die  Tradition  (2.  Sam.  14,  2  f.)  voraus,  daß  der  König  sich  in  eine 
Blutfehde  gegebenenfalls  einmischt.  Aber  erst  Salomo  hat  offen- 
bar die  Rechtspflege  systematisch  in  die  Hand  genommen 
(i.  Kön.  3, 16  f.) :  unter  ihm  ist  von  einer  von  ihm  erbauten  Gerichts- 
halle die  Rede  (i.  Kön.  7, 7) .  Vermutlich  wegen  dieser  Neuerung  galt 
er  der  Nachwelt  als  Quelle  richterlicher  Weisheit.  Aber  von  einer 
amtlichen  Fürsorge  für  die  Einheitlichkeit  des  Rechtes  hören 
wir  auch  bei  den  Königen  zunächst  nichts  und  noch  unter 
Ahab  kann  der  Hof  zwar  eine  Rechtsbeugung  durch  Beein- 
flussung der  Richter  herbeiführen^),  aber  nicht  der  König  er- 
scheint als  Richter.  Erst  bei  Jeremia  (21,  12)  erscheint  der  König 
als  vormittags  zu  Gericht  sitzend.  Aber  das  Gericht  über  den 
Propheten  selbst  (Jer.  26)  besteht  aus  Beamten  (Sarim)  und 
Aeltesten  (Sekenim)  mit  den  Mannen  ('am)  als  Gerichtsumstand 
(kahal  ha  'am). 

Die  Tradition  könnte  sich  nicht  so  verhalten,  wenn  die  Rechts- 
schöpfung den  Schofetim  imd  ihren  Nachfolgern  in  der  Macht : 
den  Königen,  als  Hauptattribut  eigen  und  die  Quelle  der  jetzt 
vorliegenden  Rechtssammlungen  gewesen  wäre.  Die  erwähnten 
vereinzelten  unklaren  Angaben  der  Tradition  sind  ersichtlich 
spätere  Eintragungen  einer  Zeil ,  welche  —  wie  wir  sehen  werden 
—  das  »gute  alte  Recht«  und  den  idealen  pazifistischen  Fürsten 
der  verderbten  Gegenwart  gegenüberstellte.  Auch  die  Rechts- 
sammlungen selbst  müßten  anders  aussehen,  wenn  sie  einer 
für  Israel  ursprünglich  einheitlichen  regelmäßigen  amtlichen 
Rechtsweisung  entsprungen  wären.  Dann  müßte  auch  ihre  wirk- 
lich dauernde  praktische  Geltung  zweifellos  sein.  Gerade  das 
Gegenteil  ist  aber  zum  mindesten  für  das  Schuldsklavenrecht, 


^)  Auch  Micha  (7,  3)    eifert  dagegen,    daß  der  Richter    nach  "Willkür  der 
Fürsten  urteile. 


q5  Das  antike  Judentum. 

also  den  praktisch  wichtigsten  Teil  des  ganzen  Sozialrechts,  wie 
wir  sahen,  sicher. 

Das  Recht  konnte  sich  in  Israel  entwickeln  einmal  durch 
die  Rechtspraxis  von  Dingstätten,  wie  in  aller  Welt.  Ein  einmal 
ergangener  Rechtsspruch  galt  als  Präzedens,  von  dem  ungern 
abgewichen  wurde.  »Chuk«  ^)  scheint  der  alte  typische  Aus- 
druck für  die  durch  Präzedenzfall  entstandene  verbind- 
liche Sitte  und  Rechtsgewohnheit  gewesen  zu  sein  (Jud.  11,39). 
Der  nach  der  so  entstandenen  Sitte  Rechtsweisungen  gebende 
Führer  (im  Deboralied  auch  Kriegsführer)  hieß  in  Altisrael  »cho- 
kek«  2) .  In  den  späten  Quellen  werden  gelegentlich  synonym  damit 
Thora,  Gedah,  Mischpat  gebraucht.  Indessen  Thora  war  in  der 
präzisen  Sprache  Orakel  und  seelsorgerische  Belehrung 
durch  die  Leviten,  wie  wir  sehen  werden,  Gedah,  wie  weiterhin 
festzustellen  ist,  eine  durch  Beschluß  der  Heeres  Versammlung 
anerkannte  Anordnung.  Endlich  »mischpat«  war  sowohl 
»Urteil«  wie  Rechtsnorm,  also  der  am  entschiedendsten  rein 
juristische  dieser  Ausdrücke.  Soweit  es  sich  um  Normen  handelt, 
scheint  er  besonders  gern  für  rational  formuliertes  Recht  ge- 
braucht zu  werden^),  im  Gegensatz  zu  chuk.  Die  auf  babyloni- 
schem Einfluß  beruhenden  Bundesbuchnormen  sind  mischpat, 
nicht  chuk^).  Aber  beide  Rechtsquellen  hatten  gemeinsam, 
daß  sie  nur  schon  geltendes  oder  als  geltend  vorausgesetztes 
oder  fingiertes  Recht  anwendeten  oder  feststellten.  Für  die 
bewußte  Neuschaffung  von  Recht  kam  in  Israel  zunächst  das 
mündliche  Orakel  (debar  Jahweh  oder  debar  Elohim)  in  Betracht. 
In  die  kategorische  Form  eines  solchen  Gebotes :  »Du  sollst  .  .  . « 
kleiden  auch  die  Theologen  der  späteren  Zeit  ihre  sozialethischen 
Anweisungen.  Die  zweite  Form  der  bewußten  Neuschöpfung, 
Israel    eigentümlich,    war    die    feierliche    »berith«,    stets:    nach 


1)  Chuk  (undChukah)  bedeutet  außer  traditionellem  Recht  und  traditio- 
neller Sitte  auch:  Naturgesetz  (im  Hiobbuch  und  bei  Jeremia).  Die  priesterliche 
Sprache  besonders  in  Lev.  und  Num.  braucht  es  für  die  göttliche  Ordnung,  oft 
mit  Adjektiven  im  Sinn  von  »ewig«,  unabänderlich«.  Chuk  und  thora  wird  bei 
Arnos  (2,  4)  und   Je?iaja  (24,  5)  zusammen  genannt. 

2)    Der  Chokek  macht  falsche  Urteile  (Chuk) :   Jer.   lo,  i. 

^)  In  der  vorexilischen  prophetischen  Sprache  ist  diese  Bedeutung 
leidlich  rein  festgehalten   (Amos  6,ii  und  später  oft). 

*)  Gelegentlich  findet  sich  neben  mischpat  und  chuk  auch  »mischmereth« 
(Gen.  26,  5),  Das  Wort  bezeichnet  ursprünglich  »Geschäft«  im  Sinn  von:  zuge- 
wiesene Arbeit  und  »Ordnung«,  entstammt  also  bürokratischen  Vorstellungen. 


I.     Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  07 

vorangegangenem  Orakel.  Sie  wurde  natürlich  nur  in  besonders 
wichtigen  Fällen,  dann  aber  sowohl  für  einmalige  Maßregeln: 
so  die  Sklavenfreilassung  unter  Zedekia,  wie  für  die  Anerken- 
nung dauernd  geltender  Normen  verwendet:  so  kam  sie  nach 
der  Tradition  bei  Annahme  des  deuteronomischen  Gesetz- 
buchs in  Anwendung.  Dem  Inhalt  nach  heute  durch  höchst 
widerspruchsvolle  Interpolationen  entstellt,  ist  dessen  vermutlich 
echter  Kern  keinenfalls  Produkt  einer  öffentlichen  Gesetzes- 
sprechertätigkeit oder  überhaupt  von  Rechtskundigen.  Sondern, 
wie  auch  die  Tradition  erkennen  läßt,  Erzeugnis  interner  Arbeit 
einer  spezifischen  Theologen-  Schule,  deren  Charakter 
hier  vorerst  noch  unerörtert  bleibt.  Wieviel  von  den  aus  der 
Rechtsüberlieferung  entnommenen  Mischpatim,  welche  es  (cap. 
12 — 26)  enthält,  dem  publizierten  Kompendium  ursprünglich 
angehörten,  ist  nicht  sicher  auszumachen.  Jedenfalls  aber  sind 
sie  auf  stadtstaatlichem  Boden  gewachsen,  mit  Theologumena 
durchsetzt  und  eine  stark  theologisch  geartete  Fortbildung  der 
im  »Bundesbuch«  vorliegenden  Rechtsnormen.  Auch  die  Misch- 
patim des  Bundesbuchs  aber  könnten  nur  zum  kleinsten  Teil 
gemeines  Recht  des  alten  Israel  darstellen,  passen  für  Viehzüch- 
tergemeinschaften überhaupt  nicht,  sind  auch  keineswegs  spezifisch 
bäuerliches  Recht,  sondern  —  nach  Abzug  der  vermutlich  inter- 
polierten Theologumena  —  ein  Kompromiß  von  Interessen, 
welcher  die  Entwicklung  der  typischen  antiken  Klassengegen- 
sätze voraussetzt.  Formell  ist  die  Struktur  die,  daß  einem,  wie 
Baentsch  und  Holzinger  mit  Recht  darlegen,  ganz  leidlich  syste- 
matisch geordneten  Kodex  von  Mischpatim  (Ex.  21,  i — 22,  16) 
systemlos  Einzel-debarim  angehängt  sind,  die  teils  rechtlichen, 
teils  sittlichen,  teils  kultischen  Charakters  sind.  Materiell  ist 
für  die  Mischpatim  der,  in  hohe  Vergangenheit  zurückreichende, 
babylonische  Einfluß  zweifellos.  Die  formale  juristische  Technik 
und  Präzision  ist  bei  den  rein  profanen  Mischpatim  nicht  gering, 
bei  den  debarim  teilweise  äußerst  mangelhaft.  Die  Redaktion 
der  juristischen  Bestandteile  muß  also  in  den  Händen  erfahrener 
Rechtspraktiker  gelegen  haben,  und  diese  können  —  da  der 
König  und  seine  Beamten  nicht  in  Betracht  kommen  —  wohl 
nur  in  den  Kreisen  der  an  der  Rechtsfindung  beteiligten  sekenim, 
einer  wichtigen  und  zur  Rechtsbelehrung  viel  besuchten  Gerichts- 
stätte Nordisraels  gesucht  werden,  wie  etwa  Sichem  es  war. 
Der  Inhalt  dieser   eigentlichen  Rechtsnormen  —  im  Gegensatz 

Max  Weber,  Religionssoziologie  HI.  7 


Qg  Das  antike  Judentum, 

ZU  der  angehängten  und  eingefügten  Paränese  —  entstammt 
jedenfalls  nicht  priesterlicher  Rechtsfindung.  Inwieweit  der  im 
Deuteronomium  erhobene  Anspruch  der  Priester :  an  der  Rechts- 
findung beteiligt  und  für  zweifelhafte  Fälle  ausschlaggebend  zu 
sein,  in  Vorexilischer  Zeit  geltendem  Recht  entsprach,  ist  durchaus 
fraglich.  In  der  Königszeit  muß  im  allgemeinen  eher  mit  einem 
Zurücktreten  der  Bedeutung  der  alten  Prozeßorakel  gerechnet 
werden,  wie  sie  auch  für  Babylonien  zu  beobachten  ist  ^).  Der 
deuteronomische  Anspruch  entspricht  dem,  was  in  Aegypten 
zur  Zeit  der  Herrschaft  der  Amon-Priester  geltendes  Recht  war. 
Die  offensichtliche  Beteiligung  der  Reflexion  über  die  Gottwohl- 
gefälligkeit und  Billigkeit  des  als  geltensollend  dargestellten 
Rechts  und  die  Beifügung  der  debarim  bestätigen,  daß  es  sich  beim 
Deuteronomium  um  ein  »Rechtsbuch«,  also  eine  private  und 
formell  unmaßgebliche,  aber  nach  J^vt  des  Sachsenspiegels 
oder  der  Sammlung  des  Manu  populär  gewordene  Arbeit  han- 
delte. Welche  unter  dem  Einfluß  theologisch  interessierter  Kreise 
entstand  und  durch  Zusätze  erweitert  wurde.  —  Eine  gemein- 
same, formell  maßgebliche  Rechtsweisungsstätte  Israels  gab  es 
in  der  alten  Bundeszeit  nach  .  alledem  nicht.  Sondern  nur  die 
intermittierende,  verschieden  weit  reichende  Macht  der  charis- 
matischen Kriegshelden,  das  Ansehen  bewährter  Orakelgeber 
und  alter  Kultstätten  des  Bundeskriegsgottes  (vor  allem :  Silo) ,  end- 
lich vielleicht  (aber  unsicher)  auch  einige  periodische  amphiktyo- 
nische  Ritualakte,  wie  möglicherweise  jene  sichemitische  Segens- 
und Fluchzeremonie  und  die  mehrfach  (Jud.  21, 19  und  i.  Sam.  i,  3) 
erwähnten  jährlichen  Jahwefeste  in  Silo.  Formell  wurde  der 
Bund  aktuell  nur  in  Zeiten  eines  Bundeskriegs.  Dann  aller- 
dings übte  diegedah,  wie  vornehmlich  die  ganze  Heeresversamm- 
lung ganz  Israels  genannt  wird,  Justiz  gegen  Frevler  am  Kriegsrecht 
oder  an  den  rituellen  und  sozialen  Geboten  Jahwes.  Wie  der 
Ausdruck  gedah  für  »Anordnung«  zeigt,  konnten  durch  sie  auch 
genereile  Verfügungen  getroffen  werden.  In  beiden  Fällen  be- 
teiligte sich  das  Heer  selbst  Wohl,  wie  meist  in  solchen  Fällen, 
durch  Akklamation  zu  den  Vorschlägen  der  vom  Herzog  aus 
den  Aeltesten  der  Kontingente  bestimmten  Kriegsobersten, 
welche  vielleicht  den  gelegentlich  vorkommenden  Titel  »Aelteste 


1)  Die  altbabylonische  Ziviljustiz  hatte  sich  aus  der  Tempeljustiz  entwickelt. 
Darüber  und  über  die  Mitwirkung  der  Priester  in  neubabylonischer  Zeit  E,  Cuq 
Essay  sur  l'organis.  judic.  de  laChald6e,  Rev.  d'Assyr.  7  (igio). 


I.     Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  gn 

in  Israel«  führten.  Diese  werden  ihrerseits  vorher  ein  Orakel  ein- 
geholt haben. 

Ueber  die  Verteilung  der  Beute,  namentlich  über  die 
Teilnahme  der  Nichtkombattanten  daran,  bestanden  angeblich 
(nach  Num.  31,  27)  feste  Grundsätze,  die  jedoch  in  der  Erzäh- 
lung von  Davids  Beuteverteilung  (i.  Sam.  30,  26)  als  eine  von 
diesem  eingeführte  Neuerung  erscheinen.  Der  Casus  foederis 
eines  Bundeskrieges,  dessen  Heerführer  und  das  Ziel  des  Krieges 
wurden  durchweg  charismatisch  und  prophetisch  durch  Er- 
weckungen und  Orakel  Jahwes  als  des  Kriegsherrn  des  Bundes 
bestimmt.  Als  eigentlicher  Herzog  eines  Bundeskriegs  galt 
Jahwe  selbst.  Ihm  persönlich,  nicht  nur  den  Eidgenossen,  haben 
die  Eidbrüchigen  die  Hilfe  versagt  und  verfallen  daher,  wie  Jabes, 
der  Ausrottung.  Ein  Bundeskrieg  war  daher  ein  heiliger 
Kriegt)  oder  er  konnte  es  doch  jederzeit  werden,  und  wurde 
in  Zeiten  der  Not  sicher  immer  dazu  erklärt.  Die  gedah,  das 
versammelte  Heer,  heißt  im  Deboralied  (Jud.  5,  11)  und  beim 
heiligen  Krieg  gegen  Benjamin  (Jud.  20)  ganz  einfach  die  »Man- 
nen Gottes«  ('am  Jahwe  bzw.  *am  haelohim).  Das  hatte  zunächst 
rituelle  Folgen.  In  der  Philisterzeit  wurde  nach  der  Samuel- 
tradition das  tragbare  Feldheiligtum:  die  »Lade  Jahwes«  in 
das  Heerlager  gebracht  und  nach  einem  in  der  Priestertradition 
erhaltenen  Spruch  der  Gott  rituell  ersucht:  sich,  sei  es  aus  ihr 
als  seinem  Behältnis,  sei  es  von  ihr  als  seinem  Thronsitz,  zu  er- 
heben und  dem  Heer  voranzuziehen,  nach  dem  Kampf  ebenso: 
wieder  Platz  zu  nehmen.  Auch  das  Ephod,  später  ein  priester- 
liches Bekleidungsstück,  erscheint  gelegentlich  (i.  Sam.  14,  3; 
23,  6.  9;  30,  7)  im  Lager.  Durch  Verfluchung  der  Feinde,  Orakel 
und  Gelübde  vor  der  Schlacht,  Segenzauber  während  der  Schlacht 
wurde  gesucht,  Jahwes  Eingreifen  zu  sichern.  Zu  den  Mitteln 
hierfür  gehörten  mindestens  in  Zeiten  großer  Kriegsnot  auch  Men- 
schenopfer, wie  sie  zuletzt  noch  König  Manasse  gebracht  hat. 
Aber  auch  abgesehen  von  jenen  besonderen  Gelübden,  die  sich 
in  der  ganzen  Welt  verbreitet  finden,  mußte  im  heiligen  Kriege 
das  Heer  die  vorgeschriebene  Askese  üben :  vor  allem  Fasten 
und  sexuelle  Abstinenz.  David  und  seine  Gefolgschaft  durften, 
nach  Annahme  der  Tradition,  vom  heiligen  Brot  essen,  wenn 

*)  lieber  die  mit  diesem  Umstand  zusammenhängenden  Einzelerschei- 
nungen hat  in  ausgezeichneter  Art  Schwally,  Semit.  Kriegsaltertümer,  I  (Der 
heilige  Krieg  im  alten  Israel,  Leipzig  1901)  gehandelt. 

7* 


IQQ  Das  antike  Judentum. 

sie  sich,  als  Krieger,  sexuell  enthalten  hatten.  Vergebens  läßt 
David,  als  sich  Folgen  seines  Ehebruchs  mit  Baths  ba  zeigen, 
deren  Mann  Uria  aus  dem  Felde  kommen,  damit  er  selbst  mit  seiner 
Frau  Umgang  pflege  und  so  die  Spur  verloren  gehe:  Uria  ent- 
hält sich,  der  militärischen  Disziplin  gehorchend,  des  Umgangs. 
Der  Bruch  der  Askese,  speziell  des  Fastens,  durch  einen  Einzel- 
nen bedroht  alle  mit  dem  Zorn  Jahwes  und  bedingt  daher  den 
Tod  des  Uebertreters :  nur  durch  Opferung  eines  Ersatzmannes 
wendet  das  Heer  diesen  von  Sauls  Sohn  Jonathan  ab. 

Mit  der  Vorbereitung  zum  Einbruch  in  Kanaan  unter  Josua 
wird  von  einer  Tradition  auch  die  universelle  Beschneidung 
in  Zusammenhang  gebracht.  Sie  war  den  Israeliten  mit  den  um- 
wohnenden Völkern,  mit  Ausnahme  der  von  Uebersee  einge- 
wanderten Philister,  vor  allem  aber  mit  den  Aegyptern  gemein- 
sam, von  denen  sie,  nach  Herodot,  Syrien  und  Phönizien  ange- 
nommen hatten.  Sie  ist  der  einzige  vielleicht  von  Aegypten 
übernommene  Bestandteil  des  israelitischen  Ritus.  Ihr  ursprüng- 
licher Sinn  ist  bekanntlich  Gegenstand  ungeschlichteten  Streits. 
Vielleicht  galt  sie  in  Aegypten  anfänglich  nicht  universell, 
sondern  für  die  Vornehmen  ^)  und  würde  dann  entweder  mit 
der  Jünglingsweihe  der  Krieger  oder  mit  der  priesterlichen  Novi- 
zenweihe im  Zusammenhang  stehen.  Ihr  Vollzug  im  Kindesalter 
ist  sicher  erst  Produkt  späterer  Zeit.  Auch  an  Ismael  vollzieht 
Abraham  sie  im  13.  Jahre  ^).  Die  ätiologische  Sage  von  Moses 
und  Zippora  im  Exodus  zeigt  andererseits,  daß.  sie  jedenfalls 
auch  als  gegen  dämonische  Einflüsse  beim  geschlechtlichen 
Verkehr  gerichtet  galt.  Inwieweit  die  in  der  rabbinischen  Tra- 
dition sich  öfter  findende  Beziehung  zu  der  Verheißung  reich- 
licher Nachkommenschaft  alt  ist,  steht  durchaus  dahin.  Dagegen 
zeigt  sich,  daß  in  der  friedlichen  nachexilischen  Zeit  ihre  Un- 
entbehrlichkeit  für  Proselyten  wenigstens  nicht  absolut  fest- 
stand. In  älterer  vorexilischer  Zeit  waren,  was  wohl  zu  beachten 
ist,  die  nicht  wehrpflichtigen  gerim  —  und  das  war  die  gesamte 

^)  Doch  ist  gerade  neuerdings  Gunkel  mit  starken  Gründen  gegen  Reitzen- 
stein  für  die  Universalität  der  Beschneidung  in  Aegypten  eingetreten  (Archiv 
f.  Pap.  Forschung  II,  i  S.  13  f.).  Die  späte  Notiz  des  Origenes,  wonach  die  Priester 
die  Hieroglyphen  nur  an  Baschnittene  hätten  lehren  dürfen,  ist  wohl  nicht  ver- 
wertbar. Die  Notiz  Jos.  5,  8  ergibt  vielmehr  klar,  daß  dem  Verfasser  die  Be- 
schneidung eine  Angelegenheit  des  Heeres  war:  um  dem  Hohn  der  Aegypter 
zu  entgehen,  habe   Josua  sie  vollzogen. 

*)  Die  Beschneidung  wurde  in  Aegypten  nach  den  Denkmälern  nicht  im 
Kindes-,    sondern  im  Knabenalter  vorgenommen. 


I.     Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  iqj 

nicht  bodenständige  Bevölkerung  des  Landes  —  auch  der  Be- 
schneidung jiicbt  unterworfen.  Dies  könnte  als  ein  Haupt- 
argument für  deren  Herkunft  aus  der  Kriegeraskese  sprechen, 
welche  das  Wahrscheinlichste  bleibt.  Andererseits  aber  soll 
jedes  Mitglied  des  Hausstandes,  nach  einer  Bestimmung  von 
allerdings  unbestimmtem  Alter  ^)  auch  der  Sklave,  beschnit- 
ten werden,  und  dies  gilt  (Ex.  12,  48)  als  Voraussetzung  der  Teil- 
nahme am  häuslichen  Passahmahl.  Die  Spuren  der  Herkunft 
bleiben  also  etwas  vieldeutig.  Daraus,  daß  der  Unbeschnittene 
('arel)  später  in  einen  besonderen  Hades  gelangt  (Hes.  31  18; 
32,  18)  ist  auch  nichts  Sicheres  zu  entnehmen  ^).  Jedenfalls  galt 
der  fremde  Unbeschnittene  in  spezifischem  Sinn  als  ritueller 
Barbar  und  Vorhäute  der  Feinde  wie  in  Aegypten  nach  Art 
der  indianischen  Skalpe  als  Trophäen.  Das  weitaus  Wahrschein- 
lichste ist  alles  in  allem,  daß  sie  ursprünglich  mit  der  Krieger- 
askese und  Jünglings. veihe  der  Jungmannschaft  irgendwie  zu- 
sammenhängt. Ob  außerdem  etwa  mit  irgendwelcher  dabei 
im  Ursprungsland  üblicher  phallischen  Orgiastik,  bleibt  wohl 
für  immer  im  Dunkeln  ^) .  Hygienisch  rationalistische  Deutungen, 
wie  sie  noch  immer  vorkommen,  sind  jedenfalls  hier  wie  meist 
ganz  besonders  unwahrscheinlich. 

Neben  die  Maßregeln  zur  Heiligung  des  Heeres  trat  nun 
im  heiligen  Krieg  das  rituelle  Tabu  für  die  Beute:  deren  Weihung 
an  den  Kriegsgott  des  Bundes,  der  C  h  e  r  e  m  ,  der  zur  Zeit  der 
nachexilischen  Umwandlung  in  eine  befriedete  konfessionelle 
Gemeinde  als  Exkommunikation  inkorrekt  lebender  Gemeinde- 
genossen fortlebte.  Reste  privater  Tabuierung  scheinen  sich 
auch  in  Israel  zu  finden.  Die  Tabuierung  und  Opferung  der 
ganzen  oder  eines  Teils  der  lebenden  und  toten  Beute  an  den 

^)  Die  Sklavenbeschneidung  war  sicherlich  eine  Neuerung,  was  auch  in 
der  späten  Erzählung  vom  Bunde  mit  Abraham  (Gen.  17,  12)  deutlich  erkenn- 
bar ist. 

"j  Ohne  Motivierung,  als  Bundeszeichen  und  als  im  Kindesalter  vorzu- 
nehmen, wird  die  Beschneidung  von  den  pazifistischen  Erzväterlegenden  durch 
einfachen  Befehl  Gottes  an  Abraham  eingeführt. 

^)  Die  Möglichkeit,  daß  das  Passah  ursprünglich  eine  Fleischorgie  beduini- 
scher Krieger  gewesen  sei,  ist  zu  unsicher,  um  für  die  Deutung  in  Betracht 
zu  kommen.  Natürlich  wäre  es  an  sich  wohl  denkbar,  daß  die  Umwandlung 
in  ein  häusliches  Fest  erst  Folge  der  früher  geschilderten  Zersplitterung  der 
Stämme  der  Viehzüchter  mit  steigender  Siedelung  gewesen  sei.  (Aehnlich  E. 
Meyer,  Die  Israeliten  pp.  S.  38  f.)  Aber  die  Bestreichung  der  Pfosten  mit  Blut 
und  das  Verbot  des  Blutgenusses  scheinen  zu  zeigen,  daß  die  Fleischorgiastik 
schon  in  älterer  Zeit  beseitigt  war,  wenn  sie  bestand. 


I02  I^^s  antike  Judentum. 

Gott  aber  war  sehr  universell  verbreitet  und  namentlich  in  Aegyp- 
ten  bekannt,  wo  der  König  kraft  ritueller  Pflicht  die  Gefangenen 
abschlachtete.  Die  Feinde  galten  hier  wie  dort  als  Gottlose: 
von  ritterlichem  Empfinden  findet  sich  in  keinem  Von  beiden 
Fällen  eine  Spur.  Der  Cherem  im  Kriege  konnte  verschieden 
weit  gehen,  und  jedenfalls  zeigen  die  Regeln  über  die  Beute- 
teilung, daß  die  Tabuierung  der  gesamten  Beute:  Männer, 
Weiber,  Kinder,  Vieh,  Häuser,  Hausrat  nicht  die  Regel  war. 
Zum  Teil  wurden  nur  die  erwachsenen  Männer:  »Alles  was  an 
die  Wand  pißt«,  oder  wohl  auch  nur  die  Fürsten  und  Hono- 
ratioren, als  Opfer  geschlachtet.  Außerhalb  des  heiligen  Krieges 
unterschied,  wie  der  Islam,  so  auch  das  altisraelitische  Kriegs- 
recht zwischen  Feinden,  die  sich  freiwillig  unterwarfen  und  sol- 
chen, die  im  Kampf  verharrten  und  beließ  den  ersteren  das 
Leben  (Deut.  20,  11).  Danach  ist  auch  gehandelt  worden,  und 
zwar  innerhalb  sowohl  wie  außerhalb  des  kanaanäischen  Gebiets. 
Erst  die  prophetisch  beeinflußte  Theorie  Von  der  spezifischen 
Heiligkeit  des  von  Gott  verheißenen  Landes,  wie  sie  in  Elias 
Zeit  zuerst  hervortritt,  verlangte  die  absolute  Reinigung  dieses 
Gebiets  von  Götzendienern  (Deut.  7,  2.  3).  Und  nur  die  Theorie 
der  Kriegsprophet ie,  dann  des  Exils  und  die  Entwicklung  des 
Judentums  zur  Konfession  neigte  sich  dem  fanatischen  Grund- 
satz zu,  daß  man  den  Landesfeind  schlechthin  auszurotten  habe^). 
Abgesehen  davon,  daß  bei  weitem  nicht  alle  Kriege,  sondern 
nur  die  des  Bundes  als  solchem,  und  vielleicht  auch  sie  nicht 
immer,  als  heilige  Kriege  galten,  zeigt  der  Gegensatz  im  Ver- 
halten Sauls  gegen  die  Anforderungen,  welche  die  Tradition 
dem  Samuel  in  den  Mund  legt,  die  relative  Jugend  der  letzten 
Konsequenzen  des  Cherem.  Diese  wurden  nun  aber  mit  rück- 
sichtloser Schärfe  auch  in  der  Gestaltung  der  Ueberlieferung 
durchgeführt  und  dieses  wesentlich  theoretische  blutige  Kriegs- 
recht brachte  jene  eigentümliche  Verbindung  einer  fast  wol- 
lüstigen Grausamkeitsphantasie  mit  den  Geboten  der  Milde 
gegen  die  Schwachen  und  Metöken  hervor,  welche  manchen 
Partien  der  heiligen  Schriften  ihr  Gepräge  gibt. 

In  Verbindung  mit  der  allgemeinen  Kriegeraskese  kennt  die 
israelitische  Kriegsführung  auch  die  Erscheinungen  der  Krieger- 

^)  Ein  Widerspruch  gegen  die  humanen  fremdenrechtiichen  Bestimmungen 
der  älteren  Rechtssammlung  ist  dies  natürlich  nicht,  denn  diese  betreffen  den 
ger,  nicht  aber  den  ganz  Landfremden.  Jene  rituell  geschiedenen  Metöken 
sollte  es  aber  eben  jetzt  gar  nicht  mehr  geben. 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  103 

ekstase  in  ihren  beiden  auch  sonst  verbreiteten  Formen. 
Entweder  als  Gemeinschaftsekstase,  wie  sie  der  Kriegstanz 
und  die  Fleisch-  oder  Alkoholorgie  der  Krieger  erzeugen.  Davon 
finden  sich  einige  Spuren  in  der  Tradition,  deren  deutlichste 
das  den  Philistern  unheimliche  Kriegsgeschrei  (Teru'ah  i.  Sam. 
4,  5)  der  Israeliten  nach  dem  Eintreffen  der  Lade  Jahwes  im 
Kriegslager  ist  (vermutlich  doch :  ein  Kriegstanz  um  diese)  und 
das  gelegentlich  (i.  Sam.  14,  32)  erwähnte  Essen  rohen  Fleischs 
und  Bluts  (entgegen  also  dem  normalen  Ritual)  nach  der  sieg- 
reichen Schlacht.  Oder  als  individuelle  charismatische  Helden- 
ekstase, wie  sie  sich  sehr  universell  verbreitet  bei  den  Helden 
vom  Typus  des  Tydeus  oder  Cuchullin  oder  der  »Amok-Läufer« 
und  in  typischer  Art  vor  allem  bei  den  nordischen  »Berserkern« 
findet,  deren  Ekstase  sie  in  einem  Rausch  von  tollwutartigem 
Blutdurst  sich  in  die  Mitte  der  Feinde  stürzen  und  halb  besin- 
nungslos abschlachten  läßt,  was  um  sie  ist^).  Ein  typischer 
Berserker  dieser  Art  ist  der  Simson  der  Sage,  einerlei  ob  er  sei- 
nem Ursprung  nach,  wie  der  Name  (Schamasch)  nahelegt,  aus 
einem  Sonnenmythos  stammt.  Wenn  der  Geist  Jahwes  über  ihn 
kommt,  so  zerreißt  er  Löwen,  steckt  Felder  in  Brand,  reißt 
Häuser  ein,  schlägt  mit  beliebigen  Werkzeugen  beliebige  Massen 
von  Menschen  tot  und  verübt  andere  Akte  wilder  Kriegswut. 
Er  steht  sicher  als  Vertreter  eines  Typus  in  der  Tradition.  Zwi- 
schen dem  als  ekstatischer  Berserker  auftretenden  Einzelhelden 
und  der  nur  akuten  Gemeinschaftsekstase  des  Kriegstanzes 
in  der  Mitte  steht  das  asketische  Training  einer  berufsmäßigen 
Kriegerschaft  zur  Kriegsekstase.  Eine  solche  ist  in  Rudimenten 
wohl  in  den  »Nasiräern«  zu  finden,  den  »Abgesonderten«  2), 
ursprünglich  wohl  sicher  asketisch  geschulten  Kriegsekstatikern, 
welche  —  das  einzig  sicher  Ueberlieferte  —  ihr  Haar  ungeschoren 
ließen  und  sich  des  Alkohols,  ursprünglich  wohl  auch  des 
Sexualverkehrs,  enthielten^).  Auch  Simson  galt  als  solcher 
und  ging  in  der  ursprünglichen  Legende  wohl  deshalb  zugrunde, 

^)  Man  unterhielt  in  Konstantinopel  noch  in  später  Zeit  einige  dieser  nor- 
dischen Wilden,  etwa  so,  wie  man  früher  Kriegselefanten  hielt.  Die  Frage,  ob 
die  Kriegsekstase  bei  den  Berserkern  planvoll  durch  Vergiftung  herbeigeführt 
worden  sei,  wird  jetzt  meist  verneint. 

2)  Der  Talmud  zeigt,  daß  Nasiroth  und  Perischot  (wovon  »Pharisäer«) 
damals  dem  Begriff  nach  identisch  waren. 

^)  Daß  Unterlassung  der  Haarschur  und  Alkoholabstinenz  zwei  ver- 
schiedene Arten  von  Kriegeraskese  repräsentiert  hätten,  wie  teilweise  (Kautzsch) 
angenommen    wird,    scheint   nicht    sicher. 


J04  ^^s  antike  Judentum. 

weil  er  sich  zum  Bruch  des  sexuellen  Tabu  hatte  verführen  las- 
sen. Die  Nasiräer  als  Kern  des  Heeres  finden  sich  in  dem  zwei- 
fellos alten  Segensspruch  des  Mosessegens  über  Joseph  (Deut. 
33,  i6),  und  das  »langwallende  Haar«  (?)  der  Mannen  ('am), 
die  sich  zum  Kriege  weihten  (hithnadeb),  erscheint  im  An- 
fang des  Deboraliedes.  In  der  späteren  pazifistischen  Ent- 
wicklung ist  der  Nasiräat  zu  einer  Kasteiungsaskese  kraft 
Gelübdes  mit  rituell  exemplarischer  Lebensführung,  vor  allen 
mit  Enthaltung  Von  Verunreinigung,  geworden,  —  was  er  ur- 
sprünglich sicher  nicht  War,  denn  der  Simson  der  Sage  rührt 
Aas  (des  Löwen)  an,  gilt  aber  als  Nasir.  Das  überlieferte  Na- 
siräer-Ritual  (Num.  6)  hat  schon  diesen  Charakter.  Ursprünglich 
war,  neben  der  magischen  Vorbereitung  für  die  Ekstase,  wohl 
gerade  die  Erhaltung  der  physischen  Vollkraft  der  Zweck  jener 
Vorschriften.  Graf  Baudissins  Hypothese,  daß  der  in  den 
Rechtsbüchern  durch  eine  Ablösungsgebühr  erseir/te  alte  An- 
spruch Jahwes  auf  alle  menschliche  Erstgeburt  ursprünglich 
die  Verpflichtung  der  Eidgenossen  bedeutet  habe,  ihm  den  Ael- 
testen  als  nasiräischen  Berufskrieger  zu  weihen,  —  womit  man 
dann  noch  die  Vorschrift  des  doppelten  Erbanteils  für  den  Ael- 
testen,  um  ihn  ökonomisch  »abkömmlich«  zu  machen,  kombi- 
nieren könnte,  --  bleibt  eine  ansprechende,  aber  nicht  sicher 
zu  beweisende  Vermutung,  für  welche  vor  allem  der  enge  Zu- 
sammenhang zwischen  den  »Nasiräern«  und  »Erstgeborenen« 
im  Mosessegen  für  Joseph  (Deut.  33,  16.  17)  sprechen  könnte. 
Jedenfalls  macht  es  die  Erwähnung  der  Nasiräer  in  beiden 
Segensprüchen  über  Joseph  wahrscheinlich,  daß  in  diesem 
Stamm  zur  Zeit  dieser  Sprüche  ein  Kern  von  jahwistischen 
Glaubenskämpfern,  eine  Art  jahwistischer  Kriegsorden  also 
(wenn  man  den  Ausdruck  zulassen  will),  der  Träger  der  Kampf- 
kraft gewesen  ist.  Näheres  zu  wissen  ist  unmöglich.  Ebenso 
können  wir  nur  sehr  undeutlich  die  Beziehungen  des  alten  Nasi- 
räats  zu  einer  andern  aus  der  Zeit  des  alten  Bauernheerbanns 
herrührenden  Erscheinung  erkennen :  den  N  e  b  i  j  i  m  ^) .     Beide 

^)  Für  die  Etymologie  pflegt  man  das  arabische  naba':  verkünden  und 
den  babylonischen  Nabu,  den  Schreiber  und  Künder  der  Beschlüsse  des  Götter- 
rats, heranzuziehen.  Vgl.  die  Badeutung  des  Berges  »Nebo«,  dessen  Name  wohl 
mit  Nabu  zusammenhängt.  Mose  sowohl  wie  Elia  werden  auf  ihm  bzw.  in  seiner 
Nachbarschaft  von  Jahwe  fortgerafft.  Ueber  die  Prophetien  der  Zeit  vor  den 
Schriftpropheten  jetzt  zu  vgl.  S  e  1 1  i  n  ,  Der  alttestamentliche  Prophetismus, 
Leipz.  1912,  S.  197  ff..  i«nd  G.  H  Öls  eher.  Die  Propheten  (1914).  Vgl.  Absch.  II. 


I.     Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  105 

hatten  enge  Berührungen.  Samuel  wird  in  der  Tradition  von 
den  Eltern  in  einer  Art  zum  Jahwedienst  geweiht,  die  dem  Nasiräat 
entspricht  und  gilt  einer  allerdings  fragwürdigen  Ueber- 
lieferung  als  Kriegsheld  gegen  die  Philister.  Andererseits 
aber  gilt  er  auch  als  Nabi  und  Haupt  einer  Nebijim-Schule. 
Der  Nasir,  der  Kriegsekstatiker  stand,  wie  immer  man  diese 
Tradition  bewertet,  in  jedem  Fall  dem  Nabi,.  dem  magischen 
Ekstatiker,  nahe.  Daß  Nasir  und  Nabi  ineinander  übergehen, 
entspricht  auch  durchaus  dem  sonst  bekannten  Wesen  Von 
Glaubenskämpferorganisationen. 

Die  »Nebijim«  sind  in  keiner  Art  eine  Israel  oder 
Vorderasien  allein  eigentümliche  Erscheinung.  Daß  weder 
in  Aegypten  (vor  der  Ptolemäerzeit)  noch  in  Mesopotamien 
die  Existenz  ähnlicher  Formen  der  Ekstase  bezeugt  ist,  son- 
dern nur  für  Phönizien,  hat  sicherlich  seinen  Grund  lediglich 
in  der  Diskreditierung  der  orgiastischen  Kulte  und  der  büro- 
kratischen Reglementierung  und  Verpfründung  der  Mantik 
schon  in  der  Frühzeit  der  Großkönigtümer,  wie  in  China.  »Pro- 
pheten« heißen  in  Aegypten  einfach  die  Irhaber  bestimmter  Arten 
von  Tempelpfründen.  In  Israel  aber  wie  in  Phönizien  und 
Hellas  blieb,  wie  in  Indien,  die  prophetische  Ekstase  infolge 
des  Fehlens  der  Bürokrat isierung  eine  lebendige  Macht,  und 
in  Israel  insbesondere  stand  sie  in  der  Zeit  der  Befreiungskriege 
als  Massenekstase  in  Verbindung  mit  der  nationalen  Bewegung. 
Die  israelitischen  Nebijim  unterschieden  sich  im  Wesen  offen- 
bar nicht  von  den  schulmäßigen  Berufsekstatikern,  die  wir  über 
i  die  ganze  Erde  hin  verbreitet  finden.  Ihre  Rekrutierung  erfolgte 
nach  persönlichem  Charisma  und  War,  wie  die  geringschätzige 
Behandlung  durch  die  spätere  Tradition  erkennen  läßt,  stark 
plebejisch.  Sie  tätowierten  sich  offenbar  (i.  Kön.  20,  41),  ähn- 
lich den  indischen  Mendikanten,  an  der  Stirn  und  trugen  eine 
Tracht,  zu  Welcher  vor  allem  eine  besondere  Art  von  Mantel 
gehörte,  durch  dessen  magisch  wirkendes  Ueberwerfen,  scheint 
es,  das  Schulhaupt  (der  »Vater«)  seine  Jünger  oder  Nachfolger 
designierte.  Sie  trieben  gemeinsarn  ihre  Uebungen  in  besonderen 
Behausungen,  anscheinend  zuweilen  auf  Bergen  (so  dem  Kar- 
mel) ;  doch  werden  auch  in  einigen  israelitischen  Orten 
(Gibea,  Rama,  Gilgal,  Bethel,  Jericho)  »Nebijim«  erwähnt. 
Dauernde  Askese  oder  Familienlosigkeit  werden  für  sie  nicht 
überliefert   (2.   Kön.  4,   i).    Musik  und  Tanz  gehörten  hier  wie 


Io6  Das  antike  Judentum. 

sonst  ZU  den  Mitteln  der  Erzeugung  der  Ekstase  (2.  Kön.  3,  15). 
Die  Nebijim  des  phönikischen  Baal,  welche  unter  der  Omriden- 
Dynastie  in  Nordisrael  Eingang  fanden,  verwendeten  einen 
Hinktanz  um  den  Altar  mit  orgiastischer  Selbstverwundung 
als  Regenzauber.  Selbst  Verwundung  und  auch  (i.  Kön.  20,  35  f.) 
gegenseitige  Verwundung  gehörten  neben  der  Erzeugung  kata- 
leptischer  Zustände  und  Irrereden  auch  zu  den  Praktiken  der 
Jahwe-Nebijim,  ohne  daß  wir  über  die  Einzelheiten  Genaueres 
wüßten.  Der  Zweck  war  der  Erwerb  magischer  Kräfte.  Die 
Mirakel,  Welche  (2.  Kön.  4,  i  f.;  4,  8  f.;  4,  18 f.;  4,  38  f.;  4,  42  f.; 
6.  I  f. ;  8,  I  f.)  von  dem  letzten  Meister  der  Zunft,  Elisa,  erzählt 
werden,  tragen  durchaus  das  typische  Gepräge  der  berufsmäßigen 
Zauberei,  wie  sie  in  indischen  und  andern  Magierlegenden  sich 
finden.  .  Und  wie  alle  solche  ekstatischen  Zauberer  wurden  — 
wie  jene  Zaubergeschichten  (und  die  von  Elia  überlieferten) 
erkennen  lassen  —  Nebijim  teils  als  Medizinmänner,  teils  als 
Regenzauberer  in  Anspruch  genommen,  teils  aber  traten  sie 
wie  die  indischen  Naga  und  die  ihnen  am  ehesten  vergleichbaren 
Derwische,  als  Feldkapläne  und  wohl  auch  direkt  als  Glaubens- 
kämpfer in  Aktion.  Als  Kriegspropheten  traten  die  Jahwe- 
Nebijim  in  Nordisrael  beim  Beginn  der  Nationalkriege  auf,  vor 
allem  in  den  Befreiungskämpfen  gegen  die  unbeschnittenen 
Philister,  die  ja  recht  eigentlich  Religionskriege  waren.  Aber 
wohl  damals  nicht  zum  erstenmal,  sondern  in  allen  eigentlichen 
Befreiungskriegen  —  deren  erster  der  Deborakrieg  war  —  ist 
offenbar  auch  die  ekstatische  Prophetie  hervorgetreten.  Sie 
hatte  zunächst  nichts  mit  irgendeiner  »Weissagung«  zu  tun 
(das  Orakel  war  ja  zu  Gideons  Zeit  reines  Losorakel),  sondern 
ihr  Werk  war,  wie  bei  Debora,  der  »Mutter  Israels«  Aufruf  zum 
Glaubenskampf,  Verheißung  des  Sieges  und  ekstatischer  Sieges- 
zauber. Daß  freilich  diese  ekstatische  Kriegsprophetie  Einzel- 
ner mit  der  späteren  schulmäßigen  Nabi-Ekstase  in  direkter 
Verbindung  stand,  ist  nicht  sicher  erweislich:  das  Deboralied 
und  das  Richterbuch  kennt  die  letztere  nicht. 

Aber  Beziehungen  bestanden  wohl  sicher.  Denn  die  Kriegs- 
ekstase war  keineswegs  auf  die  individuelle  Ekstase  der  charis- 
matischen Berserker  und  Kriegspropheten  der  früheren  und 
die  Massenekstase  der  Derwischbanden  der  späteren  Zeit  des 
bäuerlichen  Heeres  beschränkt.  Sondern  es  finden  sich  überall  die 
Verbindungsglieder.    Nicht   nur  wird   von   den  charismatischen 


I.     Die   israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  107 

Kriegsführem  der  sogen.  Richterzeit  sicher  ein  erhebUcher 
Teil,  wenn  nicht  alle,  den  Charakter  von  Kriegsek^tatikern 
gehabt  haben,  sondern  vor  allem  auch  von  dem  ersten  König 
Israels  ist  dies  ausdrücklich  überliefert.  Und  zwar  im  Zusamen- 
hang  mit  Beziehungen  zu  den  Nebijim.  Nach  einer  Tradition, 
die  den  Sachverhalt  nicht  mehr  verstand,  gerät  Saul  angeb- 
lich »zufällig«  nach  seiner  den  »Geist  Jahwes«  vermittelnden 
Salbung  unmittelbar  vor  seinem  öffentlichen  Auftreten  als 
König  in  eine  Gesellschaft  Von  Nebijim  hinein  und  wird  selbst 
von  der  Nabi-Ekstase  erfaßt  (i.  Sam.  lo).  Aber  auch  später, 
noch  während  seines  Kampfs  gegen  David,  erfaßt  ihn  (i.  Sam.  19, 
24)  bei  einem  wiederum  angeblich  zufälligen  Besuch  in  Samuels 
Nabischulen,  die  Ekstase,  so  daß  er  nackt  umhergeht,  irre  redet 
und  einen  ganzen  Tag  in  Ohnmacht  ist.  In  einem  von  Jahwe  ge- 
sandten heiligen  Wutanfall  zerstückt  er  bei  der  Nachricht  von 
den  Kapitulationsverhandlungen  von  Jabes  den  Ochsen  und  ruft 
ganz  Israel  unter  religiösem  Fluch  gegen  die  Säumigen  zum  Be- 
freiungskampf auf.  Seine  Anfälle  von  Wut  gegen  David  wertete 
die  davididische  Tradition  als  Folge  eines  bösen,  aber  ebenfalls 
von  Jahwe  stammenden,  Geistes.  Er  war  offenbar  ein  kriegerischer 
Ekstatiker  wie  Muhammed.  Aber  ebenso  wie  Saul  weilt  auch 
David  in  Samuels  Nabiwohnungen.  Er  tanzt  vor  der  Bun- 
deslade, als  sie  im  Triumph  eingebracht  wird.  Wie  die  Beziehung 
im  einzelnen  ausgesehen  hat,  ist  aus  solchen  Nachrichten  nicht 
mehr  feststellbar,  aber  sie  bestand. 

Wie  die  Ekstasen  Sauls,  so  wird  aber  von  der  späteren  Tra- 
dition auch  dieser  ekstatische  Akt  Davids  halb  schonend  ent- 
schuldigt. Ihr  erschienen  diese  Züge  als  unköniglich.  Michal, 
Davids  Weib,  spricht  es  ausdrücklich  aus,  daß  ein  König  sich 
nicht  benehmen  dürfe  »wie  ein  Plebejer«,  und  der  Spruch:  »Wie 
kommt  Saul  unter  die  Nebijim  ?  wer  ist  ihr  (der  Nebijim)  Vater  ?« 
drückt  das  genau  Entsprechende  aus :  die  Verachtung  dieser  wür- 
delosen Plebs.  Einerseits  die  noch  zu  erörternde  veränderte 
Stellung  der  literarisch  gebildeten  Schichten  der  späteren  Königs- 
zeit zu  den  alten  Ekstatikern  spricht  dabei  mit.  Andererseits 
die  inzwischen  veränderte  Stellung  dieser  Derwische  infolge 
der  seit  Davids  Stadtresidenz,  endgültig  aber  seit  Salomo,  durch- 
aus veränderten  Struktur  des  Königtums.  Vor  seiner  Etablie- 
rung als  Stadtkönig  war  David  ein  charismatischer  Fürst  im 
alten  Sinn,  den  der  Erfolg  allein  als  Gottesgesalbten  legitimierte. 


I08  ^^s  antike  Judentum. 

Als  daher  die  Amalekiter  die  Herden  und  Weiber  seiner  Gefolg- 
schaft geraubt  haben,  gerät  er  in  Gefahr,  von  dieser  kurzerhand 
als  dafür  verantwortlich  erschlagen  zu  Werden.  Anders  wurde 
das  mit  der  endgültigen  Begründung  der  erbcharismatischen 
stadtsässigen  Monarchie  und  der  Aenderung  der  Heeres- 
verfassung, welche  auf  diese  folgte.  Salomo  importierte  Rosse 
und  Wagen  aus  Aegypten  und  schuf  damit  das  Ritterheer.  Die 
königliche  Menage  bestand  mindestens  für  die  Leibtruppen 
und  einen  Teil,  wenn  nicht  alle,  Wagenkämpfer  (i.  Kön.  lo,  26), 
die  unter  Salomo  als  in  besondern  »Wagenstädten«  untergebracht 
auftreten.  Seitdem  vermutlich  heißt  in  der  Redaktion  der  Tra- 
dition das  »Heer«,  z.  B.  das  Wagenheer  des  Pharao,  einfach 
dessen  »Vermögen«  (chail),  der  königliche  Oberst  darüber  der 
»sar  chail  im«.  Dazu  traten  leiturgiepf  lichtige  Königshandwerker 
und  Untertanenfronden  für  die  Festungs-,  Palast-  und  Tempel- 
bauten und  auch  für  die  Bestellung  des  sich  ausdehnenden  Königs- 
landes, königliche  Beamte  mit  Pfründen  und  Landlehen  als 
Offiziere  und  wenigstens  in  den  Residenzen  auch  als  Richter, 
ein  königlicher  Drillmeister  für  die  Heeresmannschaft,  ein  Kron- 
schatz als  Machtmittel  und  für  Spenden  an  die  Getreuen,  zu 
seiner  Speisung  Eigenhandel  des  Königs  auf  dem  Roten  Meer 
und  Abgaben  der  unterworfenen  Fremdgebiete,  aber  auch  regel- 
mäßige Naturalabgaben  der  in  12  Bezirke  eingeteilten  Unter- 
tanen zur  monatlich  reihumgehenden  Versorgung  der  könig- 
lichen Tafel,  schließlich  auch  Arbeitsfronden  nach  ägyptischer 
Art.  Ein  regulärer  Harem,  Verschwägerungen  und  Bündnisse 
mit  den  Herrschern  der  großen  Mächte,  vor  allem  Aegyptens 
und  Phöniziens,  um  Weltpolitik  treiben  zu  können,  im  Gefolge 
davon  Import  fremder  Kulte,  teils  nur  in  der  Form  von  Hof- 
kapellen für  die  fremden  Prinzessinnen,  teils  aber  auch  durch 
Einfügung  der  fremden  Götter  in  die  eigenen  Kulte,  waren  die 
sofort  eintretenden  Konsequenzen  der  Königsmacht.  Das  König- 
tum gewann  so  die  bei  den  großen  Kriegsmächten  des  Orients 
typischen  Züge.  Die  königlichen  Schreiber,  der  Kanzler,  der 
Majordomus,  der  Rentmeister  und  der  typisch  ägyptische  Rang- 
titel »Freund  des  Königs«  (re'eh  hamelech)  treten  auf.  Auch 
weltliche  Stellen  sind  mit  Priestern  oder  Priestersöhnen, 
als  den  Schreibkundigen,  besetzt  (i.  Kön.  4,  i  f .)  und  das  be- 
deutete hier,  wie  überall,  eine  Steigerung  der  Macht  der  schul- 
mäßig gebildeten  Priester  an  Stelle  der  charismatischen  Ekstatiker. 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  JOQ 

Aber  dazu  trat  noch  anderes.  Aus  der  lockeren  Eidgenossen- 
schaft von  Bauern,  Hirtensippen  und  kleinen  Bergstädten  ver- 
suchte durch  alle  jene  Mittel  Salomo  ein  straff  organisiertes 
politisches  Gebilde  zu  schaffen.  Zwölf  geographische  könig- 
liche Verwaltungsbezirke  traten  an  die  Stelle  der  durch  den 
Jahwebund  vereinigten  Stämme:  diese  wurden  jetzt  Phylen, 
wie  sie  in  allen  antiken  Stadtstaaten  für  die  Repartierung  der 
Staatslasten  bestanden.  Der  größte  Teil  des  Herrenstammes 
Juda  scheint  als  Hausmacht  eximiert  gewesen  zu  sein,  wie  in 
den  meisten  monarchischen  Staatenbildungen.  Im  übrigen 
knüpfte  die  Gliederung  wohl  meist  an  die  Grenzen  der  alten 
Stämme  an.  Die  Teilung  Josephs  in  Ephraim  und  die  beiden 
Manasse  hängt  vielleicht  damit  zusammen.  Die  Stereotypie- 
rung der  12  Stämme  Israels  erhielt  wohl  erst  dadurch  ihren  Ab- 
schluß. Der  wiederholte  Abfall  der  Nordstämme  änderte  nach 
der  Gründung  von  Samaria  gar  nichts  daran,  daß  beide  Reiche 
seitdem  diesen  Charakter  behielten.  Damit  aber  und  vor  allem 
mit  dem  steigenden  Gewicht  des  Wagenkämpferheeres  mußten  der 
alte  ekstatische  Heldencharismatismus  ebenso  wie  der  alte 
Bundesheerbann  an  Bedeutung  schwinden.  Das  stehende  Heer: 
die  königlichen  Leibgarden  und  Soldtruppen,  gewannen  auf  Ko- 
sten des  alten  bäuerlichen  Aufgebots  zunehmende  Bedeutung. 
Die  alten  Gibborim  waren  wohl  nur  die  panhopliefähige  »classis« 
(römisch  gesprochen)  des  Eidgenossenheeres  gewesen.  Mit 
der  nunmehr  steigenden  Kostspieligkeit  der  Ausrüstung  aber 
wurden  sie  eine  Ritterschaft,  zu  deren  Gunsten  der  Heerbann 
der  Gemeinfreien  zunehmend  zurücktrat.  Die  Grundlage  der 
königlichen  Heeresmacht  bildeten  in  zunehmendem  Umfang 
die  Magazine  und  Arsenale,  welche  namentlich  für  Hiskia  (2.Chron. 
32,  28)  erwähnt  werden.  Damit  trat  jene  Entmilitarisie- 
r  u  n  g  der  bäuerlichen  Schichten  ein,  von  der  schon  gesprochen 
wurde.  Der  durch  die  Stadtentwicklung  eingetretene  Zustand 
verhielt  sich  an  sich  zu  dem  der  alten  israelitischen  Eidgenossen- 
schaft etwa  so  wie  die  Hegemonie  der  »Großmächtigen  Herren 
von  Bern«  zu  dem  ursprünglichen  Bauernbund  der  Schweizer 
Urkantone.  Wesentlich  verschärfend  aber  trat  dabei  in  Israel 
hinzu  die  Herrschaft  des  Fronkönigtums.  Man  wußte  sehr  gut, 
daß  der  alte  Bund  und  sein  Heer  sozial  anders  ausgesehen  hatten 
und  als  etwas  Neues  wurden  die  Steuern  und  Königsfronden  der 
freien  Israeliten  bitter  empfunden. 


j  jQ  Das  antike  Judentum. 

Die  alten  Vorkämpfer  der  Freiheit,  die  Nebijim,  wurden  von 
der  eingetretenen  Aenderung  stark  betroffen.  Sie  waren  die  geist- 
lichen Lenker  der  alten  Bauernaufgebote  gewesen.  Mirjam, 
Debora,  nach  der  späteren  (fragwürdigen)  Tradition  auch  Samuel, 
die  alten  Berserker-Helden  und  die  Banden  der  Derwische 
galten  der  populären  Erinnerung  als  die  vom  »Geist«  des  Bundes- 
kriegsgotts  ergriffenen  Träger  der  echten  frommen  Heldenge- 
sinnung. Der  Feind  waren  die  wagenkämpfenden  Ritter  gewesen 
—  ägyptische,  kanaanäische  und  philistäische  — ,  gegen  welche 
Jahwe  durch  die  Erweckung  der  Helden- und  Prophetenekstase 
dem  Bauernheer  den  Sieg  verliehen  hatte.  Jetzt  aber  wurde  das 
Heer  der  eigenen  Könige  selbst  ein  Aufgebot  geschulter  Wagen- 
kämpfender Ritter  und  fremdstämmiger  Söldlinge,  in  welchen 
für  die  Nebijim  und  Nasiräer  kein  Platz  mehr  war.  Auch  die 
Nabi-Ekstase  und  die  Nasiräer  -  Askese  wurden  also  —  dies 
war  ein  religionsgeschichtlich  sehr  wichtiger  Zug  dieser  inner- 
politischen Entwicklung  —  entmilitarisiert.  Wir  sahen 
schon,  wie  der  Degout  der  höfischen  Gesellschaft  gegen  Davids 
ekstatischen  Tanz  der  Michal  in  den 'Mund  gelegt  wurde.  Einen 
»Verrückten«  nennt  ein  Offizier  Jehus  jenen  Nabi,  der  von  dem 
Haupt  der  Jahwe-Nebijim,  Elisa,  geschickt  wurde,  um  dem 
Feldherm  die  Salbung  zum  Gegenkönig  anzubieten.  Bei  dieser 
von  den  Rechabiten  unterstützten  jahwistischen  Revolte  Jehus 
gegen  die  Omridendynastie  traten  unter  der  Führung  des  Elisa 
auch  die  von  ihm  geführten  ekstatischen  Nebijim  noch  ein- 
mal als  politischer  Faktor  hervor.  Es  fällt  aber  auf,  daß  in  den 
Berichten  über  die  Nebijim  Elisas  die  ekstatischen  Erschei- 
nungen wesentlich  temperierter  erscheinen  als  in  der  Saul- 
und  Samuel-Tradition:  nicht  vagierende,  dionysisch  ra-ende 
Banden,  sondern  durch  Musik  zur  Ekstase  angeregte  seßhafte 
Schulen  sind  ihre  Träger.  Und  es  ist  überhaupt  das  letzte 
Mal,  daß  wir  in  dieser  Art  von  ihnen  als  einem  politischen 
Faktor  hören.  Die  nächste  Erwähnung  ist  eine  negative:  der 
Prophet  Amos  verwahrt  sich  unter  Jerobeam  H.  dagegen, 
ein  »Nabi«  zu  sein.  Damit  war  offenbar  gemeint:  ein  berufsmäßig 
geschulter  Ekstatiker,  der  daraus  ein  Gewerbe  macht.  Denn 
an  anderen  Stellen  braucht  auch  Amos  den  Namen  Nabi  als 
Ehrentitel.  Aber  immer  wieder  kehrt  bei  den  Schriftpropheten 
die  Klage  über  die  Lügenhaftigkeit  und  Verderbnis  der  Nebijim. 
Damit  sind  stets    B  e  r  u  f  s  ekstatiker  gemeint. 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  i  i  i 

Daß  die  berufsmäßige  Nabi-Ekstase  nur  teilweise  politisch 
orientiert,  im  übrigen  aber  ein  einfacher  Erwerb  als  Magier 
war,  geht  aus  den  Quellen  deutlich  hervor.  Einen  national- 
israelitischen Charakter  hatten  offenbar  diese  freien  Nebijim 
nicht.  Sie  stellen  ihre  Dienste  unter  Umständen  auch  Nicht- 
israeliten  zur  Verfügung.  Elisa  geht  nach  Damaskus  und  der 
Feind  Ahabs,  König  Benhadad,  läßt  ihn  konsultieren.  Auch 
seinem  am  Aussatz  erkrankten  Feldhauptmann  gibt  er  ein  magi- 
sches Heilmittel  an,  durch  welches  dieser  zum  Jahwe- Verehrer 
bekehrt  wird.  Er  verkündet  dem  Feldherren  des  Damaskener- 
königs,  Hasael,  dem  späteren  Todfeinde  Israels,  seine  Bestim- 
mung zur  Krone  des  Aramäerreichs.  Ebenso  steht  er  auch  dem 
eigenen  König  auf  Verlangen  als  ekstatischer  Zauberer  im 
Moabiterkrieg  zur  Verfügung.  Aber  in  festem  Dienst  steht  er 
nicht :  er  gilt  der  Tradition  als  Leiter  einer  Gemeinschaft  freier 
Nebijim.  Die  im  Königsdienst  stehenden  Nebijim  waren  inPhö- 
nizien  alt.  König  Ahab  hatte  Baal-Nebijim  seiner  phönikischen 
Frau  in  seinen  Diensten,  aber,  da  er  seine  Kinder  jahwistisch 
benannte,  sicher  auch  Jahwe-Nebijim.  Beide  in  der  von  jeher 
in  Syrien  typischen  Art :  als  Pfründner,  die  an  der  königlichen  Talel 
lebten.  Offenbar  gab  es  aber  damals  schon  eine  Kategorie  von 
Nebijim,  welche  jede  Verwertung  des  ekstatischen  Charisma 
zu  irgendwelchen  Erwerbszwecken  perhor  res  zierte.  Dieser  Stand- 
punkt wird,  mit  fraglichem  Recht,  dem  Elisa  zugeschrieben: 
Er  schlägt  den  Schüler,  der  Entgelt  nimmt,  mit  Aussatz.  Das 
entspricht  dem,  was  wir  bei  den  Intellektuellenschichten  auch 
anderer  Länder,  bis  zu  den  hellenischen  Philosophen,  als  Gebot  der 
Standesehre  wiederfinden  und  diesen  Anschauungen  entsprang 
auch  die  Ablehnung  des  Nabi-Titels  durch  Arnos.  Sowohl  jene 
berufsmäßigen  Königstiebijim  wie  auch  diese  Schicht  von  freien 
Nebijim  aber,  welche  sich  als  Hüter  der  reinen  Jahwe-Tradition 
fühlten,  sahen  sich,  da  ihre  unmittelbar  militärische  Bedeutung 
als  Glaubenskämpfer  seit  der  Wagenkampftechnik  fortfiel  und 
nur,  für  die  ersteren,  eine  Art  magische  Feldkaplanschaft  blieb, 
jetzt  darauf  hingewiesen,  vor  allem  die  andere,  solchen  Ekstatikern 
eigene    Gabe    zu    pflegen :    die    ekstatische     Weissagung. 

Die  Beziehung  der  Nabi-Ekstase  zur  Weissagung  ist  zweifellos 
alt,  wie  schon  der  Zusammenhang  des  (nicht  hebräischen)  Wortes 
*Nabi«  mit  dem  Namen  des  babylonischen  Orakeigotts  nahelegt. 
Daß   die    phönizischen  Stadtkönige   schon   der    Ramessidenzeit 


112  l)as  antike  Judentum. 

sich  Ekstatiker  als  Propheten  hielten  und  nach  deren  Weisungen 
ebenso  handelten,  wie  die  mesopotamischen  Könige  nach  den 
Orakeln  der  Tempelpriester,  zeiptdie  Reisebeschreibung  des  ägyp- 
tischen Schreibers  und  Abgesandten  des  Amonpriesters  Wen 
Amon,  aus  der  Zeit  etwa  des  Deboraliedes,  für  Byblos.  Einer 
der  Propheten  des  Königs  gibt  in  der  Ekstase  ein  Orakel,  welches 
die  gute  Behandlung  des  Gastes  empfiehlt  und  danach  wird 
gehandelt.  Die  alten  charismatischen  Kriegsfürsten  Israels 
hatten  entweder  ihrerseits  den  Gott  direkt  um  ein  Omen  gebeten 
oder  ihre  Entscheidung  an  ein  bestimmtes  Zeichen  geknüpft: 
so,  nach  der  Tradition,  Gideon  dreimal  nacheinander.  Oder  sie 
waren  von  einem  ekstatischen  Nabi  zum  Krieg  aufgerufen  wor- 
den, wie  vor  allem  Barak  von  Debora.  Zum  erstenmal  von 
Saul  wird  in  der  historischen  Tradition  berichtet,  daß  er  einen 
»Seher«  (Roeh)  ,  der  zugleich  Nabi  War  (Samuel)  ,  von  sich 
aus  um  ein  Orakel  und  um  magisch  wirksamen  Segen  für  das 
eigene  and  Fluch  gegen  das  feindliche  Heer  bat.  Die  gleichen 
Leistimgen  schrieb  dann  die  Legende  für  die  Vorzeit  dem  eben- 
falls als  ein,  politischen  Zauber  bewirkender,  Roeh  und  zwar, 
wie  die  etwas  unklaren  Andeutungen  (Num.  24,  i)  beweisen,  als 
Ekstatiker,  aufgefaßten  Moabiter  oder  Midianiter  Bileam  zu. 
Er  wird  von  der  Legende  eingeführt  als  herbeigeholt  darch  den 
feindlichen  König  und  von  Jahwe  wider  seinen  Willen  gezwungen, 
Israel  zu  segnen.  Indessen  das  entstammt  späteren  Vorstellungen 
Vom  Wesen  der  prophetischen  Berufung.  Bileams  Segenssprüche 
für  Israel  und  Unheilsdrohungen  gegen  Amalek,  Kain,  Edom 
entsprechen  den  überall  typischen  Heilsprophetien. 

Da  die  historische  Situation,  welche  sie  voraussetzen,  der- 
jenigen der  Zeit  der  ersten  Könige  entspricht,  darf  man  in  den 
ih-Ti  zugeschriebenen  Sprüchen  die  ersten  sicheren  Repräsen- 
tanten einer  Heilsprophetie  für  Gesamt  israel  sehen.  Für 
den  Zusammenhang  der  Figur  Bileams  mit  der  gerade  für  Nord- 
israel typischen  Art  von  Ekstatik  sprechen  dabei  die  Vorwürfe, 
welche  ihm  später  (Num.  31,  16;  25,  i)  gemacht  wurden.  Ueber 
diesen  Heilsspruch  zeitlich  rückwärts  führen  einige  der  Segens- 
sprüche in  den  Sammlungen  dieser.  So  vor  allem  der  für  den 
Stamm  Joseph  im  Jakobsegen  (Gen.  49,  22  f.),  in  älterer  Fassung 
im  Mosessegen  (Deut.  33,  13  f.)-  Aber  er  scheidet  sich  dadurch 
von  jenem  Bileamspruch,  daß  er  offenbar  nicht  den  Zweck  ma- 
gischer Beeinflussung  bestimmter  politischer  Ereignisse  hatte. 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  i  i  ^ 

Er  war  keine  Heilsprophetie,  sondern  vermutlich  ein  bei  Stam- 
mesfesten von  Barden  vorgetragenes  Preislied  auf  das  schöne, 
fruchtbare  Land  des  Stammes,  verbunden  mit  dem  Erflehen 
des  Segens  des  Dornbusch-bewohnenden  Jahwe  für  die  tapferen 
Nasiräer  und  Erstgeborenen  des  Stammes.  Aehnlich  fleht  der 
zweifellos  spätere  Mosesspruch  über  Juda  (Ex.  33,  7)  den 
Segen  auf  diesen  Stamm  herab,  der  als  Von  Feinden  bedrängt, 
aber  zum  Hegemon  des  Bundes  designiert  gilt.  Er  scheint  in- 
dessen wesentlich  literarischen  Charakters  zu  sein.  Die  andern 
Stammsprüche  sind  teils  allgemeine  Preislieder  auf  den  Landbe- 
sitz oder  das  Heer  des  Stammes,  oder  umgekehrt  Tadel-  und 
Spottverse  oder,  wie  bei  Rüben,  Simeon,  Levi,  nachträgliche 
Rechtfertigungen  ihres  Untergangs,  sämtlich  aber  ohne  eigent- 
lich prophetischen  Charakter.  Ein  anderes  Gepräge  trägt  nur 
der  Spruch  für  Juda  im  Jakobsegen  (Gen.  49,  9  f.).  Er  enthält 
neben  dem  Lobe  des  weingesegneten  jüdischen  Landes  die 
Zusicherung,  daß  dieser  Stamm  das  Szepter  behalten  und  dal) 
aus  ihm  der  große  Held  Israels  kommen  werde.  Der  Spruch  ist 
ganz  offenbar  ein  Produkt  der  großen  Machtentfaltung  Davids 
und  zweifellos  eine  vaticinatio  ex  eventu.  Aber  er  hat  die  Art 
der  Heils  Weissagung  in  der  Form  einer  Königs  pro- 
phetie  und  ist  das  zeitlich  vermutlich  älteste  erhaltene  Produkt 
dieser  Art  in  Israel.  An  allen  orientalischen  Höfen,  namentlich 
auch  im  benachbarten  Aegypten,  war  diese  Art  von  höfischer 
Heilsprophetie  bekannt  und  sie  ist  seit  David  von  den  israeli- 
tischen Königspropheten  gepflegt  worden.  Im  Judaspruch  gilt 
das  Heil  noch  dem  Stamme  des  Königs  als  dem  Hegemon. 
Bei  den  typischen  Königsprophetien  galt  er  dem  Könige.  Für  die- 
sen handelte  es  sich  dabei  vor  allem  darum,  den  Fortbestand  seiner 
Dynastie  durch  ein  unzweideutiges  und  zugleich  wirkungs- 
kräftiges Orakel  zu  sichern.  Daß  ein  solches  dem  David  persön- 
lich Von  Jahwe  gegeben  worden  sei,  ist  die  Form,  in  welcher  die 
älteste  überlieferte  Heilsprophetie  (2.  Sam.  23,  i  f.)  der  Davi- 
didendynastie  auftritt.  Hier  legt  der  Königsprophet  seinen  Spruch 
zugunsten  der  Dynastie  deren  erstem  König  selbst  in  den  Mund, 
den  die  Tradition  als  einen  von  Jahwes  Geist  ergriffenen  Ek- 
statiker  auf  dem  Thron  behandelt.  Eine  dem  Salomo  und  seinem 
Tempel  freundliche  spätere  Tradition,  wohl  die  gleiche,  welche 
seine  zweifelhafte  Legitimität  zu  stützen  suchte,  indem  sie  den 
sonst  in  der  vorprophetischen  Uebcrlieferung   als  freien  »Seher« 

Max    Wcl)cr,    Rcligionssoziologie    III.  o 


l  JA  Das  antike  Judentum. 

geltenden  Nathan  zu  einem  in  die  Hof-  und  Priester-Intriguen 
nach  Davids  Tod  eingreifenden  höfischen  Parteigänger  machte, 
legt  dagegen  diesem  Propheten  ein  entsprechendes  Heilsorakel 
für  Salomo  und  den  ewigen  Bestand  des  da vididischen  Throns 
in  Verbindung  mit  dem  Tempelbau  in  den  Mund  (2.  Sam  7,  8  f.). 
Dürfte  dem  Orakel  ein  hohes  Alter  zugeschrieben  werden,  so 
wäre  es  die  früheste  erhaltene  Heilsprophetie  des  spätem  Typus. 
Von  den  späteren  Königen  Israels  berichtet  die  Tradition  nament- 
lich für  Ahab  die  Benutzung  seiner  offenbar  ziemlich  zahlrei- 
chen höfischen  Nebijim  als  Orakelgeber  und,  was  stets  damit 
identisch  ist,  als  Spender  magisch  wirkender  Glücksverheißun- 
gen. Unter  der  streng  j ah wistischen  Dynastie  Jehus  wird  dann 
zum  erstenmal  der  Fall  berichtet  (2.  Kön.  14,  25),  daß  ein  Orakel 
des  Jona,  des  Sohnes  des  Amittai  von  Gath  in  Galiläa,  welches 

—  zweifellos  während  des   schweren  Kriegs  gegen  die  Aramäer 

—  einen  König  Voraus  gesagt  habe,  der  die  Grenze  des  da- 
vididischen  Reichs  wieder  herstellen  werde,  durch  die  Kriegs- 
taten Jerobeams  IL  erfüllt  und  daß  dieser  also  der  geweissagte 
König  gewesen  sei.  Hier  tritt  also  die  Weissagung  vom  Retter- 
könig nicht  nur  —  wie  bei  dem  Judaspruch  im  Jakobsegen  — 
als  literarische  Form,  sondern  als  wirkliches  Orakel  auf.  Zweifel- 
los handelt  es  sich  auch  hier  um  einen  königlichen  Heilspro- 
pheten. Ihre  dauernde  Verwendung  in  beiden  Teilreichen  steht 
auch  anderweit  fest  und  ist  durch  die  scharfen  Worte  der  späte- 
ren unabhängigen  Schriftpropheten  gegen  die  Lügenpropheten 
der  Könige  genügend  bezeugt.  — 

Wie  man  aus  dem  Gesagten  sieht,  scheidet  die  heutige  Fas- 
sung der  Tradition  nicht  mehr  zwischen  »Nabi«  und  >^Roeh«. 
Sie  behauptet  vielmehr  gelegentlich  ausdrücklich,  daß  letzteres 
der  ältere  Name  für  den  ersteren  gewesen  sei  —  wobei  sie  unter 
»Nabi«  den  spätem  Schriftpropheten  versteht.  —  Allein  das  trifft 
zweifellos  nicht  zu.  Alle  jene  heillose  Unklarheit,  in  Welcher 
heute  Figuren  wie  Bileam,  Samuel,  Nathan,  auch  noch  Elia, 
vor  uns  stehen,  schreibt  sich  nicht 'nur  daher,  daß  in  der 
Tat  hier  wie  überall  die  Uebergänge  der  Typen  flüssig  waren, 
sondern  aus  der  tendenziösen  Ausmerzung  und  Verwischung  der 
alten  Gegensätze.  Was  der  typische  »Roeh«  ursprünglich  war, 
zeigt  der  Bericht  über  das  zitierte  Heilsorakel  des  Nathan: 
ein  Mann,  der  auf  Grund  von  Traumdeutungen  Ora- 
kel gab,  entweder  also  eigene  oder  (wie  Joseph  in  der  novellisti- 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  11:1 

sehen  Tradition)  fremde  Träume  erfolgreich  deutete  oder  —  und 
das  war  die  Hauptsache  —  in  der  apathischen  Ekstase  Hellge- 
sichte hatte.  Was  ihn  vom  alten  Nabi  unterscheidet,  ist  vor  allem 
die  NichtVerwendung  der  diesem  typischen  orgiastischen 
Rauschmittel  und  also  auch:  der  Massenekstase.  Er  erhält  seine 
Gesichte  einsam  und  wird  von  seinen  Kunden  zum  Zweck  der 
Befragung  aufgesucht.  Nicht  immer  • —  z.B.  dem  Nathan  nicht  — , 
aber  in  aller  Regel  traute  man  ihm  magische  Kräfte  zu.  Es 
scheint,  daß  für  einen  solchen  zugleich  mit  magischen  Kräften 
ausgerüsteten  »Roeh«  der  Name  »Gottesmann«  (isch  haelohim) 
gebräuchlich  war.  Samuels  Stellung  in  der  historischen  Tradition 
erklärt  sich  vielleicht  ursprünglich  daraus,  daß  er  zuerst  in  der  Zeit 
der  Befreiungskämpfe  die  seitdem  als  klassisch  zugelassenen  For- 
men der  Jahwe-Offenbarung:  Traum  und  hellseherische  Ent- 
rückungs Vision,  für  politische  Orakel  gepflegt  hatte.  Nathan 
und  Gad  (2.  Sam.  24,  11)  unter  David,  Ahia'  von  Silo  unter 
Salomo  und  Jerobeam  (i.  Kön.  15,  19),  Jehu  der  Sohn  Hananis 
unter  Baesa  scheinen  diesem  Typus  angehört  zu  haben.  Später 
sind  sie  daher  mit  den  Nebijim  —  freien  oder  Königspropheten  — 
in  einen  Topf  geworfen  worden.  Die  Erteilung  politischer  Orakel 
war  aber  offenbar  nicht  die  ursprüngliche  und  wohl  dauernd 
nicht  die  hauptsächliche  Tätigkeit  der  >> Seher«  gewesen.  Und 
andererseits  waren  die  offiziellen  Orakel  der  angestellten  Jahwe- 
priester, politische  und  .prozessuale,  nich1  Traum-  oder  Visions-, 
sondern    Losorakel. 

Auch  die  Roeh-Ekstase  war  zunächst  privater  Erwerb. 
Die  Tradition  berichtet  noch,  wie  Alltagsfragen  aller  Art, 
z.  B.  nach  dem  Verbleib  von  Eselinnen,  vor  den  Seher  ge- 
bracht und  die  kraft  Hellgesichts  abgegebenen  Orakel  durch 
Geschenk  entgolten  werden  (i.  Sam.  9,  6.  7).  Allerdings:  der 
späteren  Tradition  ist  der  Gottesmann  und  Seher  vor  allem 
ein  Mann,  der  den  Willen  des  Bundesgottes  den  maßgebenden 
Autoritäten :  den  Aeltesten,  oder  dem  König  oder  einem  von  ihm 
zum  charismatischen  Kriegsfürsten  zu  erweckenden  Helden, 
verkündet.  So  verfahren  schon  Samuel  und  Nathan.  Allein 
hier  hat  die  prophetisch  beeinflußte  jetzige  Redaktion  vor  allem 
der  deuteronomischen,  den  Samuel  auf  den  Schild  hebenden 
Schule  offenbar  dem  wirklichen  »Seher«  der  alten  Zeit  eine  ganz 
andere,  von  ihm  verschiedene  Figur  substituiert.  Alle  bisher 
behandelten  Typen  gehören  nämlich  dem  Gebiet  der  seßhaften 


l  iß  Das  antike  Judentum. 

bäuerlichen  Stämme  des  Nordens  an.  Das  ist  kein  Zufall,  wie 
sich  später  zeigen  wird.  Die  Viehzüchterstämme  und  der  ihnen  ge- 
nuine Jahwismus  kannten  dagegen  —  und  ebenfalls  nicht  zufällig 
—  andere  Arten,  in  Welchen  die  Gottheit  ihren  Willen  kund 
tut.  Die  älteste  ist  die  Epiphanie.  Sie  findet  sich  bei  allen  Erz- 
vätern, in  der  historischen  Tradition  zunächst  in  der  legendären 
Versammlung  des  Volks  in  Bochim  (Jud.  2,  i),  zuletzt  aber  bei 
Gideon.  Aus  Jahwe  selbst  ist  dabei  schon  ein  göttlicher  Bote 
geworden.  Denn  der  spätem  Tradition  hat  nur  Mose  Jahwe  von 
Angesicht  zu  Angesicht  gesehen.  Immer  aber  handelt  es  sich 
darum:  daß  derjenige,  welchem  die  Epiphanie  zuteil  wird, 
die  leibhaftige  Stimme  Jahwes  oder  seines  Boten  hört,  nicht 
ein  bloßes  Traum  g  e  s  i  c  h  t  empfängt.  Das  ist  also  wiederum 
ein  anderer  Propheten typus  i).  Seine  Vertreter  behaupten,  den 
»Träumern  von  Träumen«,  deren  Gesichte  unsicher  und  unkon- 
trollierbar seien,  überlegen  zu  sein.  Das  in  ihren  Augen  entschei- 
dende Merkmal  bleibt  auch  in  der  späteren  Zeit  der  klassischen 
Prophetie  das  gleiche :  persönlich  ^luß  man  mit  Jahwe  verkehrt, 
in  der  »Ratversammlung«  des  Gottes  gewesen  sein  und  die  Stimme 
des  Herrn  selbst  gehört  haben,  wenn  das  Orakel  gelten  soll.  Dem 
dadurch  beeinflußten  Zweige  der  Tradition  galten  dem.gemäß 
die  Traumorakel  als  unklassisch  und  trügerisch  und  die  bloß 
Träume  deutenden  Seher  als  verdächtig.  Mochte  auch  die  Traum- 
deutung, trotz  des  rücksichtslosen  Kampfs  namentlich  Jeremias 
dagegen,  noch  in  späterer,  nachexilischer  Zeit  (Joel  3,  i;  Daniel 
2,  I  f.)  Prestige  unter  babylonischem  Einfluß  wiedergewinnen 
und  jedenfalls  nie  gänzlich  abgelehnt  werden,  so  war  doch, 
wenigstens  in  vorexilischer  Zeit,  die  Entstehung  einer  priester- 
lichen Traumdeutungs  lehre  nach  Art  der  mesopotamischen 
Traumbücher  nicht  möglich.  Kombinationen  von  »Sehen«  und 
»Hören«  kommen  vor :  Amos  wird  von  seinem  Gegnern  »Choseh« 
genannt  und  seine  Eingebungen  sind  Verbindungen  von   »Ge- 

1)  Vision  und  Audition  sind  natürlich  nicht  streng  geschieden,  sondern 
in  verschiedener  Art  verknüpft.  Von  Hosea  als  erstem  wird  stets  nur  gesagt, 
daß  das  »Wort  Jahwes«  (debar  Jahwe)  zu  ihm  kam.  Amos  berichtet  von  aller- 
hand Bildern,  die  ihm  dann  durch  Jahwe  gedeutet  werden  (i,  i;  7,  i.  4.  7; 
9,  i).  Aehnlich  gelegentlich  noch  bei  Jeremia  und,  etwas  anders,  bei  Hesekiel. 
Jesaja  dagegen  sieht  nicht  Bilder,  die  zu  deuten  sind,  sondern  er  sieht  und  hört 
das,  was  er  verkünden  soll;  oder  er  sieht  Gottes  Herrlichkeit  und  empfängt  dann 
seine  Befehle.  Jedenfalls  aber  überwog  die  Bedeutung  der  Audition.  Als  »Seher« 
heißt  der  Prophet  choseh  (die  Derivate  von  chasah  bedeuten  später:  »Nacht- 
gesicht«).   Näheres  Abschnitt  II 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  ny 

-ichlen«  mit  auditiven  Deutungen  dieser  durch  Jahwe.  Aber 
es  sind  reale  Wachgesichte.  Das  Uebergewicht  des  »Hörens« 
ist  auch  bei  ihm  bestimmend  für  den  Typus. 

Das  Temperament  eines  auditiven,  nicht  durch  Traumvision 
in  der  apathischen  Ekstase,  sondern  emotional  durch  Stimmen- 
hören inspirierten  Propheten,  ist  naturgemäß  ein  weit  erreg- 
teres and  aktiveres  als  das  eines  Traum visionärs.  Daher  offen- 
bar kam  der  Name  »Nabi«  auch  für  diese  Orakelgeber  auf. 
Ihr  Typus  prägte  nun  die  Tradition.  Ihr  ist  seitdem  der  »Got- 
tesmann« vor  allem  ein  Mann,  der  den  Willen  des  Bundesgot- 
tes teils,  wie  die  Nebijah  Hulda  unter  Josia  oder  wie  Jeremia 
unter  Zedekia  auf  Befragen,  teils  aber  und  zunehmend  gerade 
ungefragt  den  politischen  Machthabern  kündet,  mag  ihnen  das 
Orakel  erfreulich  sein  oder  nicht,  ja  gerade  dann,  wenn  es  ihnen  un- 
erfreulich ist.  Samuel  gilt  der  Tradition  als  'der  erste,  dessen 
Prestige  ihm  dies  zu  tun  erlaubte,  und  die  spätere  Anschauung 
legte  auf  die  Möglichkeit,  daß  ein  amtloser  und  nicht  zu  den 
Priestergeschlechtern  gehörender  Mann  von  diesem  prophetischen 
Geist  Jahwes  ergriffen  sein  könne  —  Was  offenbar  gelegentlich 
von  den  Interessenten  angefochten  wurde  —  solches  Gewicht, 
daß  sie  dafür  in  Eldad  und  Modad  (Num.  ii,  29)  ein  eigenes  mosai- 
sches Paradigma  schuf.  In  der  legendenumwobenen  Figur  des 
Elia  erreichte  dieser  Typus  seinen  Höhepunkt  und  bog  zugleich 
schon  teilweise  in  den  neuen  des  späteren  (Schrift-)  »Propheten«  um, 
der  sich  von  dem  alten  Gottesmann  dadurch  unterscheidet,  daß 
seine  Orakel  mindestens  teilsweise  sich  an  die  Adresse  der  poli- 
tisch interessierten  Oeffentlichkeit  des  »Publikums«  wendet, 
nicht  nur  an  die  verfassungsmäßigen  Gewalten  —  je  nachdem: 
König  oder  Aelteste  —  allein.  Elia,  der  durch  die  tendenziöse 
Tradition  der  Nebijim  Wenigstens  indirekt  mit  der  Nabischiile 
Elisas  —  die  noch  ganz  den  traditionellen  Charakter  trägt  — 
in  Beziehung  gebracht  wird,  ist  die  erste  spezifisch  »klerikale« 
Gestalt  der  israelitischen  Geschichte.  Zu  einem  Magier  vom  Typus 
des  Elisa  hat  ihn  erst  die  Legende  und  die  —  sogar  in  der  Tra- 
dition als  »Streberei«  hervortretende  —  Absicht  dieses  Epi- 
gonen der  alten  Nebijim  gemacht,  sich  als  seinen  Nachfolger 
hinstellen  zu  können.  Im  Gegenteil  war  das  Eindrucksvolle 
seines  Auftretens  offenbar  gerade  darin  begründet,  daß  er  kein 
anderes  Mittel  als  die  einfache  Anrufung  Jahwes  im  Gebet,  im 
Gegensatz    zu    dem    ekstatischen    Zauber    der    Baals-Nebijim, 


j  1  g  Das  antike  Judentum. 

verwendete.  Elisa  ist  nicht  zufällig,  wie  wir  sehen  werden,  der 
Tradition  ein  seßhafter  Bauer,  während  Elia  aus  Thisbe  jenseits 
des  Jordans,  also  aus  dem  Steppengebiet  stammt  und  ein  Wan- 
derleben über  das  ganze  Gebiet  der  Jahweverehrung  hin  bis 
zum  Horeb  führt,  von  der  Königin  des  Nordreichs  mit  dem  Tode 
bedroht,  während  Elisa  als  Kriegsmagier  Ahabs  fungiert.  Elia 
empfängt  seine  Befehle  von  Jahwe  ir  d  r  Einsamkeit  und  ver- 
kündet sie  persönlich,  als  Bote  seines  Gottes,  so,  wie  dies  die 
jahwistische  Anschauung  seiner  Zeit  den  Epiphanien  der  Engel 
Jahwes  zuzuschreiben  pflegte.  Darauf  und  auf  der  bis  dahin 
unerhörten  Rücksichtslosigkeit  seines  Auftretens  gegenüber  den 
politischen  Machthabern  beruhte  sein  beispielloses  Prestige. 
Historisch  aber  ist  er  wichtig  als  der  erste  historisch  leidlich 
sicher  greifbare  Unheilsprophet  und  darin  der  Vorläufer 
jener  Reihe  großartiger  Gestalten,  die  für  unsern  heutigen  lite- 
rarischen Bestand  mit  Amos  beginnt  und  mit  Hesekiel  ein  Ende 
nimmt.  Sie  wurden  die  geistigen  Träger  der  Opposition  gegen  das 
Königtum  und  alle  die  von  ihm  (wirklich  oder  angeblich)  ver- 
schuldeten Neuerungen,  von  den  perhorreszierten  fremden  und 
kanaanäischen  Kulten  angefangen  bis  zum  sozialen  Druck  gegen 
die  einstigen  Träger  des  Bundesheerbanns.  Wie  bei  den  apathisch- 
ekstatischen Traumsehern,  so  ist  auch  bei  ihnen  das  entschei- 
dende Unterscheidungsmerkmal  gegenüber  den  orgiastisch- 
massenekstatischen  Nebijim :  die  Einsamkeit.  Psycho- 
logisch freilich,  wie  schon  angedeutet  und  später  zu  er- 
örtern, aus  gänzlich  andern  Gründen.  Soziologisch  aber  zunächst 
deshalb,  weil  Unheilprophetie  sich  nicht,  wie  Heilsprophetie, 
berufsmäßig  lehren  läßt,  weil  sie  ferner  nicht  erwerbs- 
mäßig verwertbar  ist :  denn  ein  böses  Omen  —  und  das  war 
jedes  Unheilorakel  —  kaufte  man  nicht,  und  weil  endlich  alle 
sozialen  Gewalten  und  Gemeinschaften  dem  Unheilpropheten 
aus  dem  Wege  gehen  oder  ihn  geradezu  als  Verderber  des  Volks 
und  aller  guten  Omina  verfemen.  Die  Einsamkeit  sowohl  wie 
die  hier  zuerst  zum  Grundsatz  erhobene  Ablehnung  des  Erwerbs 
durch  OrakeP)  seitens  der  Unheilpropheten  war  also  in  den 
Verhältnissen  begründet  und  nur    teilweise    freiwillig.     Sie    be- 


^ )  Micha  (3,  5)  wettert  gegen  jene  Propheten,  welche  Heil  weissagen, 
wenn  man  sie  bezahlt  und  Unheil  bei  schlechtem  Entgelt  (wobei  immer  zu  be- 
achten ist:  daß  die  Orakel  als  Omina  mit  magischen  Folgen  galten).  Ebenso 
(3,    11)   gegen   das   Geldnehmen   der   Propheten   überhaupt. 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  i  m 

dingte  es  aber,  daß  in  ihnen  die  großen  Ideologen  des  Jahwismiis  er- 
standen, die  gar  keine  Rücksichten  kannten  und  ebendadurch 
jene  gewaltigen  Wirkungen  erzielten,  die  ihnen  beschieden 
waren.  Den  Elia  bezeichnet  König  Ahab  als  Unheilmenschen 
und  Volksverderber.  Er  hat  in  der  Tat  auch  seelisch  schon  ganz 
den  Typus  der  spätem  Propheten.  Als  einen  von  Jahwes  zornigem 
Geist  Besessenen  der  leidenschaftlichsten  Art,  der  nach  dem  sieg- 
reichen Gottesurteil  gegen  die  konkurrierenden  Baalspriester  vom 
Karmel  hochgeschürzt  vor  dem  Königswagen  her  bis  in  die  Resi- 
denz hinabrennt,  aber  auch  als  Glaubenshelden,  der  mit  meinem  Gott 
wie  Mose  ringt  und  schilt  und  von  ihm  einer  Epiphanie  gewürdigt 
wird,  die  der  des  Mose  zunächstkommt,  als  den  letzten  großen 
Magier  und  den  einzigen  unter  den  von  Jahwe  in  den  Himmel 
Entrückten,  dem  die  jetzige  Redaktion  diese  Ehre  gegönnt  hat, 
kennt  ihn  die  Tradition,  und  so  hat  diese  Figur  die  Phantasie  der 
Gläubigen  mit  Wiederkunfts-Er Wartungen  bis  in  die  späteste 
Zeit  beschäftigt.  Gleichzeitig  mit  dieser  von  der  Legende  ins 
Uebermenschliche  gesteigerten  Gestalt  findet  sich  aber  in  der 
Tradition  eine  rein  geschichtliche  Figur,  welche,  von  allen  solchen 
übernatürlichen  Zügen  befreit,  in  einem  entscheidenden  Punkt 
ebenfalls  bereits  dem  Typus  der  späteren  »Propheten«  entspricht 
und  auch  von  den  Redaktoren  der  Tradition  als  einer  ihrer  Proto- 
typen behandelt  wird:  Micha  der  Sohn  des  Jimla,  der  vor  dem 
Feldzug  den  Hunderten  von  Heilspropheten  im  Dienste  Ahabs 
mit  einer  Unheilsweissagung  entgegentritt,  die  dann  in  Erfüllung 
geht  (i.  Kön.  22,  8  f.).  Dies:  die  politische  Unheils- 
androhung, die  zugleich  magisch  als  böses  Omen  gewertet 
wurde,  schien,  wie  schon  den  Zeitgenossen  des  Elia  (i.  Kön.  21, 
20),  so  auch  denen  des  Micha  und  Jeremia  (Jer.  26,  18)  das 
charakteristische  Merkmal  einer  besonderen  Art  von  Prophetie. 
Sie  war  politisch  gefährlich.  Aber  es  schien  auch  gefährlich,  den 
von  Jahwe  ergriffenen  Unheilskünder  anzutasten.  Das  Merk- 
mal wurde  nun  auch  rückwärts  in  die  halb  legendären  Gestalten 
der  früheren  »Seher«  der  Vorzeit  hineinprojiziert  und  dadurch 
der  (angebliche)  Moabiter  Bileam  zu  einem  den  Israeliten,  Elisa 
zu  einem  dem  Hasael  wider  ihren  Willen  Heil  weissagenden 
Propheten  gemacht. 

Das  erste  Auftreten  der  unabhängigen  politisch  orientierten 
»Seher«,  deren  Nachfolger  diese  »Propheten«  wurden,  fällt  nicht 
zufällig  ziemlich  genau  mit   jener  großen  Wandlung  zusammen, 


1  20  -^^^  antike  Judentum. 

welche  unter  David  und  Salomo  das  K  ö  n  i  g  t  u  m  für  die 
politische  und  dadurch  auch  für  die  soziale  Struktur  Israels 
mit  sich  brachte.  Die  Frage  des  Tempelbaues,  Thronfolgefragen, 
private  Sünden  des  Monarchen,  Kult  und  die  allerverschie- 
densten  politischen  und  persönlichen  Entschließungen  — •  bei 
Elia  zuerst  auch  eine  soziale  Ungerechtigkeit  des  Königs  — 
sind  Gegenstände  ihrer  Orakel  und  ihrer  meist  unerbetenen, 
oft  außerordentlich  scharfen  Kritik.  Diese  Kritik  aber  legt  in 
der  Tradition  ein  für  allemal  einen  Maßstab  zugrunde :  das 
»gute  alte  Recht«  des  altisraelitischen  Bundes,  so,  wie  die  Träger 
der  Kritik  es  verstanden.  Die  Umwandlung  des  Staates  in  einen 
Leiturgiestaat,  in  ein  »ägyptisches  Diensthaus«  im  Zusammen- 
hang mit  dem  Wagenkampf  und  der  Weltpolitik  ist  ihnen  die 
Quelle  alles  Uebels.  Der  ganze  bürokratische  Apparat  ist  ägyp- 
tischer Greuel,  Volkszählungen  ziehen,  selbst  wenn  Jahwe 
selbst  dazu  —  zur  Strafe  für  Sünden  —  die  Anregung  gegeben 
hat,  eine  Pest  nach  sich.  Das  entsprach  der  volkstümlichen  Auf- 
fassung. Die  israelitischen  Bauern  wußten,  daß  sie  einst  für 
Fronfreiheit  gegen  die  Ritter  gekämpft  hatten.  Jetzt  spürten 
sie  die  politische  und  ökonomische  Uebermacht  des  Königs  und 
der  Patrizier  und  ihre  eigene  zunehmende  Schuldverknechtung. 
Die  vom  König  unabhängigen  Seher  und  Propheten,  die  Erben 
der  Volkstümlichkeit  der  nun  außer  Betrieb  gesetzten  kriegeri- 
schen Nebijim,  verklären  daher  die  Zeit,  wo  Jahwe  selbst 
als  Herzog  dem  Bauernheer  voranzog  und  der  auf  dem  Esel 
reitende  Fürst  sich  nicht  auf  Rosse  und  Wagen  und  auf  Bünd- 
nisse verließ,  sondern  ausschließlich  auf  den  Bundeskriegsgott 
und  seine  Hilfe.  Von  hier  aus  kam  zuerst  die  hohe  Wertung  des 
»Glaubens«  an  Jahwes  Verheißungen  in  die  israelitische 
Religiosität  hinein.  Der  Name  »Jahwe  Zebaoth«,  Jahwe  der 
Heerscharen  ^),  welcher  dem  Pentateuch  und  dem  Richter- 
buch fremd  ist,  wurde  nun  erst  die  von  den  Sehern  und  später, 
nach  ihrem  Beispiel,  von  den  Schriftpropheten,  vor  allem  (aber 
nicht:  nur)  den  Unheilpropheten  fast  ausschließlich  gebrauchte 
Gottesbezeichnung.  Die  »Zebaoth«  waren  dabei  zwar  zunächst  die 
himmlischen  Diener  Jahwes,  vor  allem  das  schon  imDeboralied 


^)  Den  viel  umstrittenen  Begriff  deutet  Wellhausen  und  nach  ihm  Hehn 
(Die  biblische  und  die  babylon.  Gottesidee)  relativ  universalistisch:  Jahwe  ist 
Herr  aller  Jener  Geister,  die  in  der  Welt  sind.  Indessen  ist  doch  die  Beziehung 
2U    kriegerischen    »Scharen«  ganz  unverkennbar. 


I.     Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  12 1 

mitkämpfende  Sternengeisterheer  (Zebah)  und  die  Engel.  In 
der  weltlichen  Tradition  aber  bedeutet  Zebaoth,  wie  Kautzsch 
mit  Recht  hervorhebt,  an  allen  jenen  (26)  Stellen,  wo  das  Wort 
ohne  Verbindung  mit  dem  Gottesnamen  vorkommt,  stets  den 
alten  Heerbann  Israels.  Dessen  Gott  war  in  den  Augen 
dieser  Kreise  Jahwe  und  an  diesen  ist  daher  zweifellos  bei  jenem 
prophetischen  Gottestitel  mindestens  mitgedacht.  Und  zwar 
finden  sich  solche  Stellen  auch  in  der  jüngeren  Tradition  aus  einer 
in  der  wirklichen  Politik  pazifistischen  Zeit.  Es  handelt  sich  eben 
um  eine  nachträgliche  ideale  und  tendenziöse  Konstruktion 
der  eidgenössischen  Vergangenheit  Israels.  Die  jahwistische 
Unheilsprophetie  brauchte  den  Ausdruck  nicht  nur,  weil  die 
Prophetie  der  alten,  guten  Zeit  Kriegsprophetie- gewesen  war, 
undnicht  nurumzumAusdrucV  zu  bringen,  daß  Jahwe  allein  der 
legitime  Heerkönig  Israels  sei  (was  zuerst  Jes.  6,  5  vgl.  2.^,  21  be- 
hauptet wird) .  Sondern  auch  deshalb,  weil  die  alten  Verheißungen 
des  Gottes,  wie  wir  sehen  werden,  neben  dem  materiellen  vor 
allem  gerade  das  kriegerische  Heil  Israels  zum  Gegenstand  gehabt 
hatten  und  sie  davon  sich  nicht  lossagen  konnte  und  wollte.  Neben 
die  pazifistische  Gestaltung  der  Erzvätersagen,  welche  im  Kreise 
der  entmilitarisierten  Kleinviehzüchter  ihre  Heimat  hatte,  und 
neben  die  Verklärung  des  alten  Sozialrechts,  vor  allem  des 
sozialen  Schuldrechts  des  Jahwebundes,  an  welchem  die  ent- 
militarisierten Plebejer  hingen,  trat  so  die  spezifisch  glaubens- 
kämpferische Legende  der  tatsächlich  ebenfalls  entmilitarisierten, 
nur  noch  in  ihrer  Phantasie  mit  Jahwe  gemeinsam  kämpfenden 
Propheten,  die  jetzt  statt  kriegerischer  Derwische  und  ekstati- 
scher Therapeuten  und  Regenmacher  als  eine  Schicht  literarisch 
gebildeter  politischer  Ideologen  auftraten.  Nach  einer  gele- 
gentlichen Bemerkung  des  Amos  (2,  11  f.)  scheint  es,  daß 
die  königliche  Bürokratie  die  unbequemen  demokratischen 
Giaubenskämpfer,  die  Nasiräer  und  freien  Nebijiir,  ganz  bewußt 
bekämpft  hat.  Dies  ist,  nach  allen  Analogien  von  anderswoher, 
an  sich  höchst  wahrscheinlich  und  wird  es  noch  mehr  dadurch, 
daß  in  Zeiten  starker  Regierungen  auch  die  Prophetie  schwieg. 
Aber  in  Zeiten  sinkender  Macht  und  äußerer  Bedrohung  regten 
sich  alsbald  die  alten  demokratischen  Erinnerungen.  13ie  uto- 
pische Phantasie  ihrer  Träger  sättigte  sich  um  so  mehr  mit  blu- 
tigen Bildern  kriegerischer  Heldentaten  Jahwes,  je  unmilitäri- 
scher sie  selbst  inzwis('hcn  geworden  waren,  —  ganz  so,  wie  wir 


■'^ 


J22  T>n.s  antike  Judentum. 

ja  auch  heute  in  allen  Ländern  das  Höchstmaß  von  Kriegsdurst 
bei  jenen  Literaten- Schichten  erleben,  welche  vom  Schützen- 
graben am  weitesten  entfernt  und  ihrer  Natur  nach  am  wenigsten 
kriegerisch  geartet  sind.  —  Der  eigentliche  Stein  des  Anstoßes 
für  diese  Literaten  mußte  nun  die  Politik  des  Königstums  sein, 
welche  alle  jene  Umgestaltungen  der  alten  Heeres-  und  Sozial- 
ordnung herbeigeführt  hatte.  In  diesem  Gegensatz  gegen  die  po- 
litischen und  sozialen  Umformungen  fanden  alle :  die  rechabiti- 
schen  und  anderen  von  Jahwepriestern  geleiteten  Hirten,  die 
Bauern,  die  exemplarisch  frommen  Jahweverehrer,  sich  im  Zeichen 
der  Verklärung  der  guten  alten  Zeit  der  reinen  Jahwefrömmig- 
keit und  des  freien  Jahwebundes  zusammen.  Die  äußere  und 
innere  Unabhängigkeit  dieser  Kritik  gegenüber  dem  König  war 
durch  das  Fehlen  eines  hierokratischen  Charakters  des  König- 
tums begünstigt.  Der  israelitische  König  hatte  keine  priester- 
liche Würde.  Zwar  Ansätze  dazu  finden  sich,  wenn  David 
das  Ephod  trägt.  Aber  im  übrigen  war  der  König  zwar  in  der 
Lage,  die  Priester  der  von  ihm  sustentierten  Heiligtümer  an- 
zustellen und  zu  entlassen  ^),  ja  sie  wie  seine  Beamten  zu  behan- 
deln, ebenso  wie  große  Grundherren  (Micha)  dies  an  ihren  Kapellen 
taten.  Er  konnte  opfern,  wie  ursprünglich  jeder  Israelit.  Aber 
er  hatte  nicht  die  Qualifikation,  Orakel  zu  geben,  Weihe  und 
Sühne  zu  spenden.  Dies  war  dem  charismatisch  Qualifizierten: 
dem  Propheten  und  später  dem  geschulten  Leviten,  vorbe- 
halten. Das  relative  Zurücktreten  der  Bedeutung  des  Gemein- 
schaftsopfers in  der  Tradition  der  Jahwereligion,  bedingt  durch 
das  ursprüngliche  Fehlen  einer  perennierenden  Bundesautorität 
und  den  Charakter  der  Beziehung  Jahwes  zur  Eidgenossenschaft, 
kam  der  Selbständigkeit  der  hierokratischen  Machtstellung 
der  freien  Nebijim  (ebenso  wie  später  der  Thoralehrer)  gegen- 
über dem  König  zugute. 

Die  spätere  Tradition  legt  daher  dem  Samuel,  den  sie  zu- 
gleich als  ,»Roeh«  und  »Nabi«  und  als  Vertreter  des  alten  Rechts 
verklärt,  die  Schilderung  des  Inhalts  des  ihr  verhaßten  neuen 
Königsrechts  in  den  Mund.  Weil  das  Volk  trotz  aller  Warnung 
darauf  bestand,  sich  einen  König  zu  küren,  sollte  Samuel  es  schrift- 
lich  (i   Sam.  10,  25),  also,  dem  alles  beherrschenden  Gedanken 

^)  Arnos  7,  lo.  13:  Gegen  den  Proph3ten  klagt  der  Priester  von  Bathel 
beim  König  Jerobeam  wegen  Erregung  von  Aufruhr  an  der  Kultstätte  und  weist 
jenen  dann  aus  »des  Königs  Heiligtum  (mikdasch)  und  Haus  (beth)«. 


I.     Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  123 

der  berith  entsprechend,  nach  Art  einer  Verfassungsurkunde 
im  Archiv  niedergelegt  haben  (i  Sam.  8,  ii):  Der  König  wird 
Hauptleute  über  Tausend  und  Fünfzig  ernennen.  Er  wird  die 
Söhne  der  Israeliten  für  die  Bedienung  seiner  Kriegswagen  pressen, 
andere  zum  Dienst  als  Waffenschmiede  und  Wagenbauer,  ihre 
T()chter  zum  Salbenbereiten,  Kochen  und  Backen  (für  seine  Tafel 
und  den  Heeresbedarf).  Er  wird  Felder,  Wein-  und  Oelgärten 
als  Lehen  für  seine  Beamten  verlangen,  Ackerbestellungs-  und 
Erntefronden,  namentlich  Zwangsdienst  von  Knechten,  Mägden, 
Rindern  und  Eseln  für  sein  Königsland  und  seinen  sonstigen  Be- 
darf, den  Zehnten  von  Wein,  Feld  uiid  Kleinvieh  für  die  Bezah- 
lung seiner  Offiziere  und  Soldaten.  Die  freien  Israeliten  werden 
seine  »Knechte«  (d.  h.  Untertanen  statt  Eidgenossen)  sein^). 
Gegen  diesen  Zustand  wendete  sich  die  politische  Tendenzlegende 
und  redigierte  die  Ueberlieferung  um.  Während  z.  B.  die  echte 
Tradition  (2  Sam.  21,  19)  weiß,  daß  einer  der  Ritter  Davids, 
Elhanan  der  Bethlehemiter,  den  Gathiter  Goliath  erschlagen  hat, 
läßt  die  Tendenzlegende  ihn  von  dem  unbekannten  und  ungepan- 
zerten Hirtenknaben  David  mit  einem  Stein  nach  Bauernart 
getötet  werden.  Massenhafte  Züge  ähnlicher  Art  sind  teils  aus 
der  echten  Tradition  ausgelesen  unter  Unterdrückung  anderer, 
teils  neu  erfunden.  Der  Vorliebe  dieser  Tradition  für  das  alte 
Bauernheer  verdanken  wir  vermutlich  die  Erhaltung  gerade  des 
Deboraliedes  aus  den  alten  Liedersammlungen,  andererseits 
aber  auch  die  Art,  wie  die  Eroberung  Kanaans  und  die  Kriege 
der  Richterzeit  legendär  umgestaltet  worden  sind.  Vor  allem  aber 
kommt  auf  ihre  Rechnung  die  Verklärung  der  brüderlichen  Gleich- 
heit und  Schlichtheit  der  Eidgenossen  in  der  Wüstenzeit,  dieses 
von  Budde  sehr  glücklich  sogenannte  »nomadische  Ideal«.  Daher 
waltet  diese  Tendenz  ganz  offensichtlich  auch  bei  der  Auslese 
der  uns  aus  den  alten  Rechtssammlungen  allein  aufbewahrten 
flüher  besprochenen  sozialrechtlichen  Bestimmungen  und  bei 
deren  vermutlich  ziemlich  weitgehender  Interpolation  mit  uto- 
pischen Theologumenen. 

Aus  der  gleichen  Tendenz  heraus  verlangten  die  Vertreter 
der  alten  Tradition:  der  König  solle  nicht,  um  Rosse  und  Wagen 
zu  halten,  »in  das  ägyptische  Diensthaus  zurückkehren«  (Deut. 
17,  16).     Glanz  und  Pracht  des  salomonischen  Hofs  und  Tempels 

*)  »Im  Zorn«  hat  (Hosea  13,  11)  Jahwe  Israel  den  König  (es  handelt  sich 
allerdings   hier   um  die  illegitimen  Usurpatoren  in  Nordisrael)  gegeben. 


j  24  Das  antike  Judentum. 

verwarfen  sie  zugunsten  der  alten  Bauernfreiheit  und  des  alten 
schmucklosen  Kults  auf  einem  Erdaltar.  Allein  angesichts  dei 
bedeutenden  Interessen,  welche  mit  dem  glänzenden  königlichen 
Tempelkult  verknüpft  waren,  standen  diese  Forderungen  selbst 
in  den  Kreisen  der  frommen  Jabwisten  nicht  ohne  Gegner  da. 
Die  Stellungnahme  zu  Salomos  grundstürzenden  Neuerungen 
und  zum  Königtum  überhaupt  ist  demgemäß  in  den  Quellen 
uneinheitlich.  Ein  Teil  der  Tradition  weiß,  daß  in  der  königlosen 
Zeit  Unordnung  und  Willkür  herrschte  und  entschuldigt  alles, 
was  vom  späteren  rituell  und  ethisch  korrekten  Standpunkt 
aus  als  Frevel  galt,  damit:  daß  damals  kein  König  in  Israel 
war  und  deshalb  jeder  »tat,  was  ihm  gut  schien«,  (Jud.  17,16; 
21,  25,  ähnlich:  18,  i;  19,  i).  Die  gewaltige  Machtstellung  vor 
allem  Davids,  aber  auch  Salomos  als  des  Erbauers  des  Tempels, 
wirkte  naturgemäß  in  der  Richtung  der  Verklärung  gerade 
dieser  Könige  auf  Kosten  sowohl  des  Bauernfürsten  Saul  wie 
der  späteren  Teilkönige.  In  der  Zeit  großer  kriegerischer  Erfolge 
in  den  Befreiungskriegen  und  gleich  nachher  war  eben  das  Prestige 
des  Königtums  gewaltig  i).  Der  König  empfing  durch  die  Sal- 
bung den  »Geist«  Jahwes,  er  hatte  noch  keinerlei  dauernd  wirksam 
konkurrierende  klerikale  Priestermacht  neben  sich,  opferte 
dem  Gott  persönlich-  im  Priestergewand  (nach  der  Tradition 
tat  dies  David)  und  schaltete  über  Priesterstellen  und  Knitorte 
fast  so  frei  wie  manche  mesopotamischen  Großkönige.  Der 
König  gilt  daher  dieser  Tradition  als  »Messias«:  »Gesalbter«  (lia 
maschiah)  Jahwes,  wie  nach  dem  Exil  der  Hohepriester. 
Die  bei  der  normalen  Thronfolge  anscheinend  nicht  erforderliche, 
aber  bei  det  prophetischen  Legitimierung  von  Usurpatoren 
(David,  Jehu,  darnach  vermutlich:  Saul  in  der  einen  der  drei 
Traditionen)  vorkommende  Salbung,  wahrscheinlich  einem  alten 
Brauch  "einheimischer  Stadtfürsten  (vielleicht  Jerusalems)  ent- 
nommen, gewann  eine  rituelle  Bedeutung  ^).  —  Aber  ein  anderer 
Zweig  der  Tradition  stand  unter  dem   Eindruck  der  späteren 

M  Vgl.  dazu  K.  Budde,  Die  Schätzung  des  Königstums  im  A.  T.  (Marb. 
Ak.   Reden  Ni".   8,  Marburg  1903). 

^)  Dagegen  ist  Schwallys  Ableitung  des  Worts  nadib  für  »Fürst«,  »Edler« 
von  dem  Sichweihen  zum  Krieg  sehr  fraglich.  Nadib  heißt  der  Fürst  doch  offenbar 
hier  wie  überall  als  »Gebender«,  »Gabenspender«;  nur  das  Hithpael  könnte  ja  wie 
im  Deboralied  (Jud.  5,  i)  die  Bedeutung  »sich  hingeben«  haben  (so  auch, 
nach  einer  fragwürdigen  Lesart,  an  einer  anderen  Stelle  —  Jud.  5,  9  —  des  D'e- 
bOraliedes). 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  125 

Abnahme  der  Macht  des  Landes  und  des  aufsteigenden  Prestiges 
der  Propheten.  Er  weiß  daher,  daß,  ehe  Israel  sich  einen  König 
setzte,  der  Bundesgott  selbst  und  er  allein  und  unmittelbar  der 
Herrscher  gewesen  war,  daß  dieser  keines  solchen  Amts-,  Steuer- 
und  Fron- Apparats  bedurft  hatte  wie  die  jetzigen  Könige 
\delmehr  seinem  Volke  durch  die  Seher  und  Helden  der  Vorzeit 
seinen  Willen  jeweils  offenbart  und  ihm,  wenn  es  seinen  Geboten 
gehorchte,  stets  erneut  geholfen  hatte.  —  Stärker  noch  als  im 
Südreiche,  wo  die  Nähe  Jerusalems  wirkte,  scheint  diese  Stim- 
mung bei  den  ephrainiitischen  Bauern  geherrscht  zu  haben. 
Von  den  Propheten  gab  zuerst  Hosea  ihr  Ausdruck.  Das  Prestige 
der  davidischen  Dynastie,  der  einzigen  dauernd  sich  auf  ihrem 
Thron  behauptenden,  direkt  durch  die  Forderung  der  Abschaf- 
fung des  Königstums  anzutasten  war  im  Südreiche  kaum  mög- 
lich. Daher  ging  dort  das  Programm  auf 'Beseitigung  der  Neue- 
rungen, welche  das  Königtum  gebracht  hatte.  Auf  politischem 
Gebiet  vor  allem:  des  Militarismus  mit  seinen  Rossen  und 
Wagen,  dem  Kronschatz,  des  Harems  der  fremden  Prinzes- 
sinnen und  ihrer  Kulte  und  der  königlichen  Günstlinge  als 
Beamter,  der  Bau-  und  Acker fronden  der  Untertanen.  Der 
König  soll,  verlangt  das  Deuteronomium,  die  hochmütigen  Sul- 
tansallüren der  Großkönige  abtun  und  wieder  ein  charismatischer 
primus  inter  pares  werden,  ohne  viele  Rosse  und  Wagen, —  also  ein 
auf  dem  Esel  reitender  weiser  Richter  und  Schirmer  der  einfachen 
Leute.  Dann  wird  der  alte  Bundesgott  Jahwe,  wie  einst  mit 
dem  Bauernheer,  auch  gegen  noch  so  übermächtig  scheinende 
Feinde,  mit  ihm  sein,  wenn  er  nur  —  was  Vorbedingung  für  alles 
andere  ist  —  den  Prätensionen  der  Weltpolitik,  die  an  all  jenen 
Neuerungen  schuld  war,  entsagt.  Wir  werden  sehen,  wie  sich 
priesterliche  Machtinteressen  und  Theologen-Ideologien  in  diesem 
Programm  zusammenfanden,  welches  tatsächlich  unter  Josia 
wenige  Jahrzehnte  vor  dem  Untergang  Jerusalems  das  deutero- 
nomische   Gesetz  durchzuführen  versuchte. 

Das  Königtum  war  in  Israel  kein  patrimonialcs  Wohlfahrts- 
königtum, sondern  mit  der  Macht  der  gibborim  verbündet.  Die 
Vertreter  der  alten  Tradition  wendeten  sich  daher  gegen  beide 
zugleich.  Mit  großer  Wucht  tritt  diese  Strömung  in  den  Orakeln 
der  vorexilischen  Schriftpropheten  hervor.  Ueber  ihre  politische 
Stellung  und  Bedeutung  im  ganzen  ist  später  zusammenhängend 
zu  reden.    Hier  kommt  es  auf  die  Vorwürfe  an,  welche  sie  der 


]  20  ^^^  antike  Judentum. 

populären  Kritik  an  den  sozialpolitischen  Zuständen  entnahmen. 
Das  Geschenke  nehmen,  die  Bestechung,  die  Rechtsbeugung 
stehen  an  der  Spitze  (Amos  2,  6.  Jesaja  i,  23;  5,  3),  durch  welche 
»Recht  in  Galle  verwandelt«  wird  (Amos  6,  12),  Blutgeld  wird  ge- 
nommen (Amos  5, 12),  unschuldiges  Blut  vergossen  (Jesaja  i,  15; 
7,6;  22,  3)  das  Volk  geschunden  (Micha  3, 2 — 3)  die  Rechtsprechung 
zum  Vorteil  der  Gottlosen  und  zum  Nachteil  der  Armen,  Witwen 
und  Waisen  (Jesaja  10,  2)  und  der  Gerechten  (Amos  5,  12)  ver- 
kehrt, statt  Recht  Gewaltsamkeit  (Jeremia  7,  6;  22,  3)  und 
Schinderei  geübt  (Jesaja  5,  7),  Acker  an  Acker  und  Haus  an 
Haus  wird  gereiht  (Jesaja  5,  8;  Micha  2,  i.  2),  die  Armen  (Amos 
8,  4),  insbesondere  die  »Armen  im  Tor«  (Amos  5,  12),  d.  h.  die 
von  den  Stadtpatriziaten  beherrschte  Landbevölkerung  unter- 
drückt, Korn  in  großen  Lasten  von  ihnen  genommen  (Amos 
5,  11),  die  Weiber  und*  Kinder  vom  Hof  getrieben  (Micha  2,  9), 
Unrecht  an  den  Dürftigen  verübt  (Amos  4,  i),  von  dem  Ertrag 
ihrer  —  entgegen  dem  Pfändungsverbot  —  gepfändeten  Kleider 
schlemmen  die  Reichen  (Amos  2,  8).  Hochmütig  sind  die  Reichen 
(Amos  6,  4f. ;  vgl.  Jesaja  3,  16),  die  gibborim  saufen  (Jesaja 
5,  22;  vgl.  5,  11),  und  das  Kardinallaster  ist  der  Geiz  (Amos  9,  i, 
so  auch  nach  dem  Exil  Habakuk  3,  9).  Es  sind  die  in  aller  Welt, 
Vor  allem  aber  doch  im  Occident,  in  der  vorkapitalistischen  — 
antiken,  frühmittelalterlichen  —  Epoche,  von  den  plebejischen 
Schichten  je  nachdem  gegen  die  höfischen  Beamten  oder  gegen 
patrizische  Stadtgeschlechter  erhobenen  Vorwürfe,  deren  Mund- 
stück z.  B.  im  hellenischen  Altertum  Hesiod  ist.  In  Israel  waren, 
wie  wir  sahen,  Königtum  und  reiche  ökonomisch  wehrhafte  Sippen 
in  enger  Verbindung,  die  Beamten  der  Könige  meist  den  Patriziern 
entnommen.  Diese  typischen  sozialen  Gegensätze  treten  in  der 
Prophetie  mit  großer  Deutlichkeit  zutage. 

Stets  und  überall  aber  beruft  sich  diese  stadtadels-  und 
königsfeindliche  Tradition  auf  den  alten  Bund,  den  einst 
Jahwe  durch  Mose  mit  Israel  im  Gegensatz  zu  allen  anderen 
Völkern  geschlossen  habe  und  auf  das  ganz  einzigartige  historische 
Ereignis,  welches  dieser  ebenfalls  einzigartigen  Bundesschließung 
zugrundeliege.  Und  in  der  Tat:  das  für  Israel  besondersartige 
Verhältnis:  der  Bundesschluß  nicht  nur  unter  der  Garantie  des 
Gottes,  sondern  mit  dem  Gott  selbst  als  Gegenpartei, 
war  ganz  offenbar  wirklich  das  Produkt  jenes  konkreten  Ge- 
schehnisses, auf  welches  einmütig  die  gesamte  israelitische  Tra- 


I.    Die  israelitisclie   Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  127 

dition  diesen  Vorgang  zurückführt.  Allen  Propheten  gilt  als 
Wahrzeichen  einerseits  der  Macht  des  Gottes  und  der  unbedingten 
Verläßlichkeit  seiner  Verheißungen  und  andererseits  der  dauern- 
den Dankesschuld  Israels  gegen  ihn  die  Befreiung  von  der  ägyp- 
tischen Fronpflicht  durch  die  wunderbare  Vernichtung  eines 
ägyptischen  Heeres  im  Schilfmeer.  Und  zwar  war  das  besonders- 
artige des  Vorganges,  daß  dies  Wunder  bewirkt  w^urde  durch 
einen  in  Israel  bis  dahin  fremden  Gott,  der  nun 
daraufhin  mit  feierlicher  berith  unter  Einrichtung  des  Jahwe- 
kultes durch  Mose  als  Bundesgott  rezipiert  wurde.  Diese  Re- 
zeption erfolgte  aber  auf  Grund  beiderseitiger  Versprechungen, 
welche  durch  den  Propheten  Mose  nach  beiden  Seiten  hin  vermit- 
telt wurden.  Die  Versprechungen  des  Volkes  begründeten  seine 
besondere  dauernde  Verpflichtung  gegenüber  dem  Gott,  und  die 
als  Gegengabe  gebotenen  Versprechungen  des  Gottes  machten 
ihn  in  einem  so  eminenten  Sinne,  wie  keinen  in  der  Weltgeschichte 
sonst  irgendwo  bekannten  Gott,  zu  einem  Gott  der  Ver- 
heißung für  Israel.  Dies  ist  die  unzweideutige  Auffassung 
der  Tradition.  Es  ist  die  ganz  offenbare  Voraussetzung  des 
nirgends  sonst  in  der  Umwelt  sich  findenden,  dagegen  schon  im 
Deboralied  Vorausgesetzten  Begriffs  des  »Abfalls«  von  Jahwe 
als  eines  spezifisch  verderblichen  Frevels  ^) .  Und  es  ist  vor 
allem  die  unentbehrliche  gedankliche  Grundlage  für  die  nirgend- 
wo sonst  erreichte  Bedeutung  der  Prophetie  und  der  Heilsweissa- 
gungen. Zwar  Reichtum,  langes  Leben,  zahlreiche  Nachkommen 
und  ein  guter  Name  war  von  jeher  überall  in  der  Welt  das,  was 
Priester  und  Mystagogen  dem  Verehrer  ihres  Gottes  versprachen 
und  was  die  Könige  sich  Von  ihren  Hofpropheten  verheißen  ließen. 
Und  ebenso  verstand  es  sich  überall  von  selbst,  daß  der  Kriegs- 
gott des  Stammes  oder  der  Gott  des  Königs  mit  ihm  gegen  die 
Fviinde  sein  werde.  So  auch  in  Israel.  Daß  er  zahlreiche  Nach- 
kommen haben  werde,  so  daß  das  Volk  wedren  solle  wie  Sand 
am  Meer,  Sieg  über  alle  Feinde,  Regen,  reiche  Ernten  und  sicheren 
Besitz,  endlich :  daß  der  Name  ^der  legendären  Ahnherren  und  der 
des  gesegneten  Volkes  selbst  ein  Segenswort  sein  werde,  —  dies 
erhoffte  man  von  dem  angenommenen   mächtigen  Bundesgoll. 

1)  Mit  Recht  macht  Helui  (Die  biblische  und'die  babylon.^  Gottesidee) 
S.  272  darauf  aufmerksam,  daß  dieser  Begriff  schon  als  solcher  auf  dem 
Boden  keiner  andern  Religion  Vorderasiens  wiederkehrt.  Fr  ist  oben  nur  nns  dem 
alten  berith- Verhältnis  überhaupt  erklärlich. 


-r?S3 


]  2S  ^^s  antike  Judentum. 

Aber  weil  das  Verhältnis  zu  ihm  auf  einer  berith  beruhte,  gewann 
diese  Hoffnung  eine  äußerst  feste  Grundlage  und  galt  als  auf 
ausdrücklicher  Verheißung:  einem  Schwur  des  Gottes,  beruhend. 
Die  Verheißungen  sind  ursprünglich  nicht  als  an  besondere  Bedin- 
gungen geknüpft  vorgestellt,  und  ihre  ältesten  Formulierungen 
in  der  Tradition  machen  sie  auch  nicht  von  irgendwelchem  be- 
sonderen, etwa  einem  spezifisch  sittlichen,  Verhalten  Israels 
abhängig.  Sondern  sie  sind  —  selbstverständlich  —  nur  an  die 
eine  Bedingung  geknüpft:  daß  Jahwe  eben  Israels  Gott  ist  und 
von  ihm  als  solcher  behandelt  wird:  dann  wird  Jahwe  mit  ihm 
gehen  durch  Dick  und  Dünn.  Darauf  allein  kam  es  an  und  dies 
allein  war  es,  was  die  militaristischen  Träger  des  »Geistes« 
Jahwes,  die  Nasiräer  und  Nebijim,  die  Glaubenskämpfer,  wußten 
und  (wie  schon  das  Deboralied  tut)  dem  Heerbann  einprägten. 
Die  den  antiken  Religionen  sonst  ganz  fremde  Vorstellung 
von  der  »Abgötterei«  als  eines  Frevels  gewann  dadurch  ihre 
penetrante  Bedeutung.  —  Sein  eigener  Eidschwur  und  schlechter- 
dings gar  nichts  anderes  ist  es  —  so  schärft  noch  das  Deuter- 
onomium  (7,  7)  ein  — ,  was  Jahwe  veranlaßt,  Israel  vor  allen 
anderen  Völkern  zu  bevorzugen,  nicht  etwa  dessen  sittlich  höherer 
Wert.  Immerhin:  dies  entsprach  schon  der  volkstümlichen  An- 
schauung nicht.  Diese  wußte  —  wie  bei  jedem  Volk  —  da (3  andere 
Völker  den  Israeliten  ungleichwertig  waren  und  also  auch 
dem  Gott  dafür  gelten  mußten.  Und  zwar  beruhte,  wie  über- 
all, die  Ungleichwertigkeit  darauf,  daß  sie  andere  Lebensgewohn- 
heiten hatten,  Dinge  taten,  die  man  »nie  getan  hat  in  Israel«. 
Da  nun  Jahwe  durch  die  berith  Vertragspartner  der  rituellen 
und  sozialen  Ordnungen  des  Bundes  war,  so  war  der  Grund  der 
Minderwertigkeit  der  anderen  für  Jahwe  eben  der:  daß  sie  seine 
Ordnungen  nicht  kannten  oder  jedenfalls  nicht  hielten.  Dieser 
negative  Grund  der  Unterscheidung,  die  Jahwe  macht,  tritt 
denn  auch,  vereint  mit  jener  Auffassung,  im-  Deuteronomium 
auf.  Aber  die  Auffassung  der  religiös  Interessierten  war  schon 
damals  weiter  gegangen.  In  der  ganzen  Welt  schützen  die  Götter 
der  sozialen  Ordnung  diese,  ahnden  ihre  Verletzung,  belohnen 
ihre  Innehaltung.  Die  Auffassung  der  Beziehung  zum  Bundes- 
gott als  berith  mußte  dies  in  spezifisch  gesteigerter  Art  glauben, 
sobald  man  Anlaß  hatte,  sich  die  Frage  nach  dem  Grunde  des 
Verhaltens  des  Gottes  vorzulegen.  Dieser  Anlaß  entstand  mit 
dem  Rückgang  der  politischen  Machtstellung  Israels.   Man  kann 


I.     Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  129 

deutlich  bemerken,  daß  die  Erinnerung  an  Mose  und  den  Bund 
und  auch  die  Bedeutung  des  »Bundes «-Gedankens  überhaupt 
zeitweise,  nämlich  unter  dem  Einfluß  der  blendenden  Machtstel- 
lung des  Königstums,  zurückgetreten  war,  späterhin  aber,  kurz 
vor  der  Exilszeit  und  während  der  Redaktion  der  Priestertra- 
dition im  Exil,  einen  neuen  Höhepunkt  erreicht:  die  ganz  natür- 
liche Folge  des  Sinkens  des  Prestiges  der  politischen  Gewalten 
und  der  Frage  nach  dem  Grunde  des  Verfalls.  Das  alte  Recht 
des  Bundes  und  die  Bedeutung  der  Innehaltung  von  Jahwes 
Geboten  als  der  Bedingung  seiner  Gnade  trat  nun  mit  großer 
Gewalt  hervor  und  prägte  die  Zukunftshoffnungen :  sie  sind  jetzt 
an  die  Voraussetzung  des  Gehorsams  gegen  die  alten  Gebote 
geknüpft,  und  die  »Bundes «-Vorstellung  wurde  so,  in  einer  Art 
wie  bei  keinem  anderen  Volk,  die  spezifische  Dynamik  der  ethischen 
Konzeptionen  der  Priesterlehre  und  Prophetie.  Die  Vorstellung, 
daß  die  religiöse  Beziehung  Israels  zu  Jahwe  durch  den  Begriff 
eines  mit  ihm  selbst  eingegangenen  »Bundes«  erschöpfend  ge- 
kennzeichnet sei,  fanden  die  Schriftpropheten  als  festes  Material 
vor.  Die  den  Propheten  charakteristischen  Unheildrohungen 
gegen  Israel  fehlen  in  den  als  genuin  »jahwistisch«  und  »elo- 
histisch«  angesehenen  Traditionen  freilich  noch.  Auch  die  vermut- 
lich älteste  der  großen  ausdrücklichen  göttlichen  Heilsverhei- 
ßungen an  Abraham  (Gen.  15,  18—21):  die  Zusage  der  Herr- 
schaft über  das  Land  Kanaan  (nach  einem  Zusatz:  von  der 
Grenze  Aegyptens  bis  an  den  Euphrat!)  gehört  erst  der  von 
Wellhausen  so  genannten  »jehovistischen«  Redaktion,  also  der 
prophetischen  Zeit,  an.  Auch  sie  geschieht  durch  förmliche 
rituelle  berith  Gottes  mit  dem  Erzvater.  Der  göttliche  Schwur  ist 
dabei  die  Folge  des  bedingungslosen  Glaubens  des  letzteren 
an  den  Gott,  welchen  dieser  ihm  »zur  Gerechtigkeit  rechnet«. 
Das  ist  nun  schon  eine  ersichtlich  sekundäre,  weil  sehr  abstrakte 
Fassung.  Sie  entspricht  der  von  der  exilischen  Redaktion  über- 
lieferten Form  (Gen.  12,  2  f.).  Aber  die  Vorstellung  von  der  Be- 
deutung des  Gehorsams  rein  als  solchem  selbst  muß  unbedingt 
wesentlich  älter  sein.  Denn  z.  B.  die  Geschichte  von  der  Opferung 
Isaaks  als  Paradigma  des  echten  bedingungslosen  Glau- 
bens scheint  vorprophetisch  (»elohistisch«)  redigiert,  wenn  auch 
die  ausdrückliche  Erneuerung  der  Schwur  zusage  des  Gottes  aus 
diesem  Anlaß  als  späterer  Zusatz  gilt.  Die  Formulierung 
des  Inhalts  der  berith  in  der  Form  einer  Verheißung  als   Loh  n 

Max    Weber,    Religionssoziologie  III.  n 


j  7Q  Das  antike  Judentum. 

für  Gehorsam  also  ist  in  unsern  Redaktionen  später.  Aber  so 
fest  stand  schon  bei  Beginn  der  Aera  der  Schriftpropheten 
die  Konzeption  der  berith  selbst,  daß  gleich  einer  der  Ersten: 
Hosea,  den  religiösen  Sinn  der  Beziehung  zum  Gott  nach  Art 
einer  Ehe,  jeden  Verstoß  gegen  die  Verpflichtungen  Israels  als 
Ehebruch  gegen  Jahwe  auffassen  konnte.  Und  nichts  spricht 
deutlicher  für  die  bis  in  die  späteste  Zeit  dauernde  völlige  Selbst- 
verständlichkeit dieser  uralten  Grundlage,  als  daß  die  zum  Teil 
höchst  ausgelassenen  Liebeslieder  der  als  »Hohes  Lied«  in  den 
heutigen  Kanon  aufgenommenen  Sammlung  für  eine  freilich 
schon  stark  »pietistisch «-sentimental  empfindende  Nachwelt 
die  Bedeutung  als  ein  adäquater  Ausdruck  des  Verhältnisses 
Jahwes  zu  seinem  Volk  erlangen  konnten.  »Eifersucht«  (kin'ah) 
Jahwes  gegen  die  anderen  Götter  war  daher  eine  seiner  am 
festesten  stehenden  Eigenschaften  bei  allen  Propheten  von  Hosea 
bis  Hesekiel  ^). 

Daß  Jahwe  ein  durch  die  mosaische  Kultordnung  für  den 
israelitischen  Kriegsbund  neu  rezipierter  Gott  war  2),  sagt  die 
gerade  in  diesem  Fall  ältere  der  beiden  Großen  Quellensamm- 
lungen, der  sog.  »Elohist«,  sehr  unzweideutig.  Eine  unerwartete 
Epiphanie  des  Gottes,  nach  der  ältesten  auch  im  Segensspruch 
für  Ephraim  erhaltenen  Ueberlieferung  in  der  Lohe  eines  Dorn- 
buschs  in  der  Wüste  nahe  dem  Horeb,  offenbart  ihn  dem  als  israe- 
litischer Hirte  in  midianitischen  Diensten  aufgefaßten  Mose. 
Der  Gott,  von  ihm  nach  seinem  Namen  gefragt,  antwortet  aus- 
weichend, nach  der  Redaktion  der  Tradition  mit  dem  etymo- 
logischen Wortspiel:  »Ich  bin  der  ich  bin«,  nennt  aber. dabei 
den    anscheinend  nicht    israelitischen  Namen  »Jahwe«  ^).    Der 


1)  Darüber  Küchler,  Z.  f.  A.T.  Wiss.  28  (1908)  S.-42  f.,  der  zugleich  nach- 
weist, wie  seit  der  Zerstörung  Jersualems  dieser  »Eifer«  sich  bei  Hesekiel  nicht 
mehr  gegen  andere  Götter  und  also  gegen  Israel,  wenn  es  diesen  dient,  sondern 
nunmehr  gegen  die  Feinde  Israels  kehrt. 

2)  Dies  ist  namentlich  von  Budde  nachdrücklich  betont  worden  (Das 
nomadische  Ideal  im  alten  Testament,  Preuß.  Jahrb.  Bd.  85,  1896  und  »Die 
altisraelitische  Religion«). 

3)  Die  Etymologie  des  Tetragrammaton  Jhwh  ist  ebenso  bestritten  ge- 
blieben wie  die  Frage,  ob  es  aus  Jah  (in  Eigennamen  vorkommend)  und  Jahu 
(oder  Jao,  —  dem  Namen,  welchen  die  jüdische  Gemeinde  in  Elefantine  im  6.  Jahr- 
hundert braucht  und  der  auch  in  theophoren  Eigennamen  erscheint)  zu  Jahwe 
ergänzt  wurde  oder  ob  umgekehrt  Jahu  und  Jah  Kurzformen  des  letzteren  Namens 
waren.  S.  über  diese  Fragen  und  die  masoretische  Vokalisation  außer  der  gang- 
baren Literatur  auch  J.  H.  Levy  in  der  Jewish  Quart  Rev.  XV.  p.  97-  ^^^  Ab- 
teilung von  dem  babylonischen  Ea  (A.  H.  Krone  ebenda  p.  559)  erscheint  phan- 


I.     Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  j  2  i 

Gott  der  Erzväter,  mit  dem  er  später  identifiziert  wurde,  führt 
in  dieser  älteren  Quelle  den  Jahwenamen  noch  nicht,  sondern 
nur  den  »El «-Namen  in  verschiedenen  Zusammensetzungen, 
deren  höchst  bewertete  in  der  späteren  Tradition  der  Priester 
»El  Schaddaj«  wurde:  —  ebenfalls  ein  etymologisch  wohl  nicht 
israelitisches  Wort.  »Mose«  ebenso  wie  »Pinchas«  sind  ägyptische 
Namen,  seine  »kuschitische«  Frau  wird  in  einer  Tradition  dem 
Mose  von  Mirjam  und  Aaron  vorgerückt:  Reminiszenzen  alter 
Zwiste  zwischen  Priestergeschlechtern,  in  denen  jedoch  wohl 
eine  Kenntnis  davon  fortlebt:  daß  auch  später  noch  Jahwe  und 
seine  Priester  als  ganz  oder  halb  Landfremde  galten.  Die  ägypti- 
schen Namen  beweisen  natürlich  in  einer  Zeit  ägyptischer  Vor- 
herrschaft in  Palästina  und  der  Sinai  wüste  so  wenig  etwas  für 
ägyptische  Herkunft  des  Bundesstifters  oder  vollends  seines 
Gottes,  wie  babylonische  oder  hellenische  Namen  bei  Juden  der 
Spät  zeit  über  deren  Abkunft  etwas  aussagen.  Immerhin  fehlt 
Mose  im  Gegensatz  zu  Josua  ursprünglich  die  (erst  spät  und 
künstlich  konstruierte)  israelitische  Abstammungsbezeichnung 
und  ist  der  levitische  Ursprung  der  auf  ihn  am  wahrscheinlichsten 
zurückgehenden  (elidischen)  Priestersippe  ebenfalls  erst  spätere 
Konstruktion.  Wie  dem  sei,  jedenfalls  zeigt  die  alte  Ueberliefe- 
rung  deutlich,  daß  der  Gott  schon  außerhalb  Israels  verehrt  wor- 
den war,  als  er  rezipiert  wurde.  Offenbar  waren  es  die  an  Israel 
südlich  angrenzenden  Beduinen-  und  Oasen- Stämme,  unter  denen 
er  organisierte  Verehrung  genossen  hatte.  Auf  Bergen  war  von 
Anfang  an  sein  Sitz,  die  Oase  Kades  aber  in  der  Sinaiwüste 
galt  der  ältesten  Tradition  als  sein  eigentlicher  Kultort,  wo  das 
Grab  der  Prophetin  Mirjam  gezeigt  wurde  und  wo  vermutlich 
entscheidende  Akte  der  Konstituierung  Israels  sich  abspielten. 
Am  »Haderwasser«  von  Kades  (Deut.  33,  8),  d.  h.  am  Quell  jener 
Oase,  an  welchem  seine  Priester  Prozeßbrakel  erteilten,  war  der 
für  den  Ursprung  der  Leviten  wichtigste  Ort  seiner  organisierten 
Verehrung.   Sein  Priester  ^)  Jethro,  in  der  Tradition  Schwieger- 


tastisch.  Daß  die  Namen  auf  ja  in  den  Amarnatafeln  oder  die  ähnlichen  Bestand- 
teile babylonischer  Namen  mit  Jahwe  zu  tun  haben  sollten,  ist  im  ganzen  recht 
unwahrscheinlich.  (Vgl.  jedoch  Marti  in  den  Theol.  St.  u.  Kr.  82,  1908,  S.  321, 
und  W.  Max  Müller,  Asien  und  Europa  S.  312/3.)  Den  Namen  mit  Hehn  (Bibl. 
und  babyl.  Gottesidee)  für  ein  Theologumenon  des  Mose  zu  halten  (»er  ist  gegen- 
wärtig«) scheint  nicht  möglich,  da  Jahwe  nicht  nur  in  Israel  verehrt  wurde. 
^)  Jethro  opfert  dem  Jahwe  als  sein  Priester  und  Aaron  und  die 
Aeltesten  Israels  halten  Tischgemeinschaft  mit  ihm. 

9* 


j  ^2  ^^s   antike  Judentum. 

vater  und  Berater  des  Mose,  galt  als  Midianiter.  Ebenso  galt 
die  legenden  verdunkelte  Gestalt  des  Bileam,  der  in  seinem 
Namen  weissagt,  als  fremder,  teils  moabitischer,  teils  ammoni- 
tischer,  nach  der  richtigen  Deutung  aber  wohl  ecjomitischer  oder 
midianitischer  Seher,  den  die  Israeliten  später  im  Kriege  erschla- 
gen. Wie  nun  mit  dem  Vorgang  in  Kades  die  feste  Ansässigkeit  des 
Gottes  auf  dem  Sinai  und  der  von  einer  jüngeren  Tradition  dorthin 
verlegte  Bundesschluß  zu  vereinigen  ist,  bleibt  hier  dahingestellt. 
Die  Edomiter  sind  früh  erobernd  gegen  die  ägyptische  Grenze 
zu  vorgedrungen  und  Edom,  insbesondere  das  Waldgebirge 
Seir,  der  Wohnsitz  Esaus  (Gen.  32,  3),  des  älteren  Bruders  Jakobs, 
wo  später  auch  Geschlechter  des  früh  verschollenen  Stammes 
Simeon  ansässig  waren  (i.  Chron.  5,  41.  42),  galt  noch  Jeremia 
und  Obadja  als  alter  Sitz  der  Jahweweisheit.  Das  levitische  Ge- 
schlecht der  Korachiten  (Ex.  6,  21)  scheint  (Gen.  36,  5)  ursprüng- 
lich auf  Esau,  also  edomitische  Abstammung,  zurückzugehen. 
Aus  Seir  zieht  Jahwe  im  Deboralied  zum  Kampf  heran  und  von 
dorther  hört  noch  der  Dichter  des  schönen  unter  die  Jesaja- 
orakel  geratenen  Wächterlieds  aus  der  Exilszeit,  trotz  der  da- 
maligen bitteren  Feindschaft  gegen  Edom,  den  Ruf:  »Wie  lang 
noch  die  Nacht«?  Die  Keniter,  später  besonders  eifrige  Jahwe- 
verehrer, gehörten  ursprünglich  nicht  einmal  zum  Stamme  Juda, 
geschweige  denn  zu  Israel,  für  welches  ja  Kain  sowohl  in  der  Tot- 
schlaglegende wie  in  dem  einen  der  alten  Bileam- Sprüche  ein 
Verfluchter  war.  Daß  der  Sinai,  später  dem  Horeb  gleichgesetzt, 
ein  Vulkan  an  der  nordwestarabischen  Küste  nahe  dem  Schilf- 
meer östlich  gegenüber  der  heute  sog.  Sinaihalbinsel  war,  begegnet 
manchem  Zweifel.  Niemals  aber  hat  jedenfalls  auch  nur  die  Sage 
behauptet,  daß  er  je  zum  Gebiet  Israels  gehört  habe.  Ebensowenig 
Kades.  Und  ebenso  sicher  galt  Jahwe  der  alten  Tradition  weder 
als  der  ursprüngliche  Gott  Israels,  noch  als  Gott  nur  Israels, 
noch  als  ein  in  Israel  residierender  Gott.  Erst  der  späteren  Schluß- 
redaktion des  Hexateuch,  welche  Jahwe  zum  Weltgott  macht, 
ist  es  selbstverständlich,  daß  auch  die  Erzväter  keinen  anderen 
Gott  als  ihn  verehrt  haben.  Der  alten  Tradition  ist  er  noch  in  der 
Jephthalegende  ein  Gott  neben  anderen ,  nur  ein  besonders 
mächtiger  und  erhabener.  Und  ferner  ist  er  zwar  der  »Gott 
Israels«  und  für  Jephtha  »mein  Gott«,  so  wie  Kamos  der  Gott 
des  Ammoniterkönigs  ist,  aber  doch  in  einem  sehr  besonderen 
Sinne.   Er  war  —  und  das  blieb  eine  folgenreiche  Vorstellung  — 


1.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  133 

ein  »Gott  aus  der  Ferne«,  von  seinem  entlegenen,  dem  Himmel 
nahen  Bergessitz  aus  waltend  und  gegebenenfalls  persönlich 
in  die  Geschehnisse  eingreifend.  Diese  »Ferne«  gab  ihm  von 
vornherein  eine  besondere  Majestät.  Zwar  eine  der  alten  Ueber- 
lieferungen  wußte,  daß  auf  dem  Sinai  die  Aeltesten  selbst  mit 
ihm  zur  Tafel  gesessen  hatten.  Aber  die  überwiegende  Ansicht 
der  späteren  Zeit  war  des  Glaubens,  daß  von  allen  Menschen 
nur  Mose  ihn  von  Angesicht  zu  Angesicht  gesehen  (Num.  12,  6  f.) 
und  daß  danach  selbst  dessen  Antlitz  in  so  übernatürlichem  Glanz 
geleuchtet  habe,  daß  er  es  vor  dem  Volk  bedecken  mußte :  —  dies 
letzte  vielleicht  eine  Reminiszenz  an  die  alten  Teraphim-Masken, 
von  denen  noch  zu  reden  sein  wird.  Und  die  eigentliche  Meinung 
(Ex.  33,  20)  ging  dahin,  daß  auch  Mose  ihn  auf  seine  Bitte  nur 
von  rückwärts  habe  an  sich  vorbeiziehen  sehen  können,  weil 
jedermann,  der  sein  Antlitz  erblickte,  des  Todes  sei.  —  Nicht 
ein  altvertrauter  Orts-  oder  Stammesgott,  sondern  eine  fremde 
und  geheimnisvolle  Gestalt  war  es,  welche  der  israelitischen 
Eidgenossenschaft  die  Weihe  gab. 

Die  Vernichtung  jenes  ägyptischen  Heeres,  auf  welche  das 
gewaltige  Prestige  dieses  Gottes  von  der  Tradition  zurückgeführt 
wird,  geschah  offenbar  durch  eine  nach  plötzlicher  Ebbe  ebenso 
plötzlich  eintretende  Sturmflut  des  Schilfmeers  östlich  der  Sinai- 
halbinsel, ziemlich  wahrscheinlich  —  wie  die  Erscheinung  der 
Feuer-  und  Wolkensäule  und  die  Feuerglut  auf  dem  Berge  an- 
deuten —  im  Zusammenhang  mit  vulkanischen  Erscheinungen 
irgendwelcher  Art.  Sowohl  diese  Schilf meerkatastrophe  wie 
der  ägyptische  Aufenthalt  Israels  sind  mehrfach  bezweifelt  wor- 
den. Aber  daß  Viehzüchter  der  Steppe  bei  Dürre  oder  Bedro- 
hung Schutz  als  Metöken  im  ägyptischen  Grenzlande  suchten, 
war  nach  den  ägyptischen  Quellen  nichts  Ungewöhnliches;  ganz 
selbstverständlich  war  dann  ihre  gelegentliche  Heranziehung 
zu  Fronden  durch  die  Könige  und  ebenso  naheliegend,  daß  sie 
sich  der  Fronbelastung  bei  gegebener  Gelegenheit  entzogen. 
Da  jene  Grenzfestungen,  an  deren  Bau  die  Israeliten  mitgewirkt 
haben  wollen,  unter  Ramses  II.  gebaut  zu  sein  scheinen,  Israel  aber 
unter  dessen  Nachfolger  Merneptah  bereits  in  Palästina  als  Feind 
erwähnt  wird,  bleibt  freilich  die  Chronologie  der  Einwanderung 
und  des  Auszugs  besonders  dann  sehr  schwierig,  wenn  man  die 
weit  früher,  unter  Amenophis  III.  imd  IV.,  als  Feinde  in  Pa- 
lästina   auftretenden    »Chabiru«    identifiziert     mit    den    Ibrim, 


j  ^A  Das  antike  Judentum. 

den  »Jenseitigen«,  d.  h.  wohl  den  Ost  jordanischen,  als  welche 
die  Israeliten  und  andere  mit  ihnen  als  verwandt  geltende  Stäm- 
me 1)  in  der  Tradition  vom  Standpunkt  der  Fremden  aus,  im 
eigenen  Munde  der  Israeliten  aber,  außer  bei  dem  als  Wander- 
hirte  gedachten  Abraham,  welcher  stets  »der  Hebräer«  heißt,  nur 
einmal  im  Bundesbuch  ^)  und  sonst  fast  nur  im  Verkehr  mit 
Fremden  bezeichnet  werden^).  Es  ist  wohl  als  sicher  anzuneh- 
men, daß  die  später  zum  israelitischen  Bunde  zusammenge- 
tretenen Stämme  in  verschiedenen  Wellen  über  das  ^  west- 
jordanische Land  hereingebrochen  sind  und  daß  auch  die  Zu- 
sammensetzung des  Bundes  selbst,  wie  schon  früher  sich  als  wahr- 
scheinlich zeigte,  gewechselt  hat  und  Kanaanäer  einerseits,  frü- 
here Beduinenstämme  andererseits  mit  einbezogen  worden 
sind.  Daß  an  dem  ägyptischen  Aufenthalt  nicht  alle  späteren 
Stämme  Israels  oder  deren  Vorfahren  mitbeteiligt  waren,  ist 
wohl  ebenfalls  sicher.  Den  viel  später  sich  bildenden  Stamm 
Juda  läßt  die  verläßlichste,  weil  natürlichste,  Tradition  von  Süden 
her,  nicht  von  Osten,  in  seine  Wohnsitze  eindringen.  Ob,  wie 
die  Phöniker  angeblich  —  absr  schwerlich  wirklich  —  vom 
persischen  Meerbusen  her  und  ein  Teil  der  Sa-Gaz-Nomaden 
vermutlich  von  der  Grenze  Mesopotamiens  zuwanderten,  so  auch 
ein  hinter  der  Abraham-  (oder  Abram-) Tradition  sich  bergender 
Bestandteil  der  Israeliten  schon  früher,  etwa  in  der  Amarnazeit, 
aus  der  mesopotamischen  Steppe  zugewandert  ist,  bleibt  dunkel. 


i 


^)  Die  Identität  von  Sa  Gaz  und  Chabiru  nehmen  nach  Wincklers  Fund 
in  Bhögazköi  (M.  d.  D.  O.  G.  35,  25)  jetzt  die  meisten  Forscher,  so  Bohl  (He- 
bräer und  Kanaanäer)  als  erwiesen  an.  Immerhin  ist  es  schwerlich  Zufall,  daß 
die  Chabiru  offenbar  von  Südosten,  die  Sa  Gaz  von  Norden  und  Nordosten 
her  angreifen  und  nur  die  letzteren  in  Mesopotamien  genannt  werden. 

")  Dort  wird  der  Schuldsklave  als  »hebräischer  Knecht«  bezeichnet  (Ex.  21,2 
ebenso  im  Seisachthiebeschluß  Zedekias  Jer.  34,  9 — 14  und  Deut.  15,  12).  Der 
Ausdruck  stand  hier  vielleicht  in  Erinnerung  an  den  Sprachgebrauch 
alter  Seisachthie- Verträge  des  Stadtadels  mit  den  Bauern  im  Gegensatz  zum 
nicht  »hebräischen«,  das  hieße  in  diesem  Fall  stadtsässigen,  Patrizier.  Auf  ähn- 
lichen Gründen  könnte  die  an  sich  auffällige  Unterscheidung  der  bei  den  Phi- 
listern verknechteten  Stammesgenossen  als  »Hebräer«  von  »Israel«  i.  Sam.  14,  21 
beruhen. 

^)  'Eber  ist  Stammvater  auch  der  Stämme  in  Arabien  bis  nach  Yemen: 
Gen.  10,  21.  24  f.  (jahwistisch).  Die  in  ältere  Zeit  als  die  Priesterredaktion 
zurückgehenden  Fälle  der  Verwendung  von  'Ibrim  in  der  Genesis  (Kap.  38  f.) 
und  ebenso  beim  Auszug  (Ex.  i,  15  f.;  2,  6  f.)  und  im  Samuelbuch  (4,  6  f.;  13,  3. 
19;  14,  11;  29,3)  betreffen  stets  Beziehungen  zu  Aegyptern  oder  Philistern  (dazu 
Bohl  a.  a.  O.  S.  67).  Auffällig  ist,  daß  Num.  24,  22  (Bileamspruch)  »Eber« 
mit  »Assur«  zusammen  Unheil  prophezeit  wird. 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  it.c 

Es  scheint  aber  nicht  unmöglich.  Der  Name  (Abiram)  ist  in 
Babylon  häufig.  Zwar  enthält  die  dem  Abraham  zugeschriebene 
Religiosität  keine  erkennbaren  babylonischen  Züge.  Indessen  die 
Kedor-Laomer- Tradition  ist  doch  eine  auffällige  Eigentümlich- 
keit. Auch  andere  Züge  der  Tradition  lassen  mehrere  Wellen 
der  Ueberflutung  des  Landes  vermuten.  Als  Kern  des  altisraeli- 
tischen Bundes  aber,  wie  ihn  das  Deboralied  kennt,  galt  den 
Segenspruchsammlungen  und  der  priesterlichen  Tradition  jeden- 
falls der  von  Mose  zum  Zweck  der  Eroberung  und  Behauptung 
des  West  Jordanlandes  gestiftete  Bund  mit  dem  Gott,  der  das 
Schilf  meerwunder  gewirkt  hatte.  An  der  Geschichtlichkeit  der 
Person  des  Mose  i)  zu  zweifeln,  liegt  kein  Grund  vor  2).  Es 
handelt  sich  nur  darum,  welche  Eigenart  seiner  Leistung  zuzu- 
sprechen ist. 

Eine  wirklich  sichere  Feststellung  des  Herganges  erscheint 
historisch  schlechthin  unmöglich.  Die  Vorstellung,  daß  ein  Ge- 
setzbuch (etwa  das  Bundesbuch)  oder  ein  Katalog  ethischei- 
Pflichten  (etwa  der  Dekalog)  den  Gegenstand  der  berith  gebildet 
habe,  ist  ganz  unhistorisch  und  pragmatisch  gedacht,  von  andern 

1)  Ueber  Mose  s.  Volz,  Mose  (Tübingen  1907)  und  Greßmann, 
Mose  und  seine  Zeit  (Göttingen  1913).  Gegen  seine  Deutung  als  »Medizin- 
mann« König   Z.  D.  M.  G.  67  (1913)  S.  660  f. 

2)  Abgesehen  von  der  inneren  Unwahrscheinlichkeit  der  Erfindung  ge- 
rade dieser  in  der  Tradition  rein  menschlichen  Gestalt  an  sich  wird  die  Geschicht- 
lichkeit durch  manche  höchst  auffälligen  Züge  der  Ueberlieferung,  welche  auf  un- 
verstandene Reste  alter  Gegensätze  schließen  lassen,  nur  wahrscheinlicher.  Der 
Name  (Musi)  findet  sich  unter  levitischen  Geschlechtern  wieder  (Ex.  6,  19; 
Num.  26,  58  u.  öfter).  Von  Kindern  des  Mose  weiß  eine  alte  Tradition  (Ex,  2, 
22;  4,  20)  und  die  danitische  Priesterschaft  wurde  von  ihm  genealogisch  abge- 
leitet. Aber  die  gesamte  spätere  priesterlich  redigierte  Genealogie  kennt  Nach- 
fahren des  Mose  gar  nicht.  Nach  Ex.  18,  2  f.  hat  Mose  seine  Kinder  mit  seinem 
Weibe  zu  Jethro  gesandt,  der  sie  ihm  dann  in  die  Wüste  nachbringt,  i.  Chron.  7, 
I.  16.  17  bzw.  3  werden  aber  die  Ex,  2,  22  als  Kinder  des  Mose  genannten  Gersom 
und  Eleasar  als  Kinder  des  Levi  bzw.  Aaron  gerechnet  (Eleasar  ebenso  schon 
Num.  26,  I  und  dann  öfter).  Um  Mose  zum  absolut  reinen  Leviten  zu  stempeln 
wird  seinem  Vater  Amram  (Ex.  6,  20  f.)  dessen  Nichte  Jochebed  zum  Weibe  gege- 
ben. (Die  Verwirrung  in  den  Levitenstammbäumen  zeigt  sich  besonders  deutlich 
Num.  26,  57  verglichen  mit  58.)  Moses  kuschitische  Frau  wird  ihm  vorgerückt. 
Die  Zadokiden  undAaroniden  hatten  eben  ein  Interesse  daran,  daß  ein  auf  Mose 
zurückgehendes  blutreines  Levitengeschlecht  nicht  existierte.  Aegyptische  Namen, 
wie  Mose  selbst  einer  ist,  finden  sich  bei  ihrem  Hauptkonkurrenten,  dem  Eliden- 
geschlecht  (Pinehas).  In  der  ganzen  historischen  Tradition  und  bei  den  Pro- 
pheten sowohl  wie  der  prophetisch  stilisierten  Chronistik  spielt  Mose  freilich 
eine  ganz  auffallend  geringe  Rolle,  was  vielleicht  mit  der  ursprünglichen  Be- 
ziehung nur  der  n  o  r  d  israelitischen  Stämme  (Ephraim)  zur  Dombusch-Epi- 
phanie  zusammenhängt. 


l^ß  Das  antike  Judentum. 

unübersteiglichen  Schwierigkeiten  abgesehen.  Die  Uebernahme 
der  an  den  Orten  seiner  bisherigen  Verehrung  geltenden,  der 
Umwelt  entsprechend  offenbar  überaus  einfachen  Riten 
(bildloser  Kult,  vielleicht  Beschneidung,  sicher  aber:  Losorakel) 
und  gewisse  allereinfachste,  für  einen  erobernden  Heerbann 
von  Steppennomaden  geeignete  soziale  Brüderlichkeits-Ord- 
nungen, schließlich:  das  Prestige  der  Kriegsprophetie  als 
solcher,  sind  die  aus  rein  sachlichen  Gründen  und  nach  allen, 
auch  den  islamischen  Analogien  wahrscheinlichsten  Inhalte 
der  Verbrüderung,  die  ja  vielleicht  nicht  die  erste  ihrer  Art  war. 
Die  besondere  Schärfe,  mit  welcher  der  Gott  Mord  an  Volks- 
genossen und  Verletzung  des  Gastrechts  perhorresziert  und  das 
strenge  Beute-Tabu  passen  ebenfalls  in  diese  Provenienz.  Wir 
werden  ohne  zu  große  Unvorsichtigkeit  annehmen  dürfen,  daß 
dies  etwa  die  (ausdrücklich  oder  der  Sache  nach)  durch  die  berith 
übernommenen  Verpflichtungen  Israels  waren.  Sie  enthalten  an 
sich  keinerlei  Bestandteile,  die  nicht  unter  ähnlichen  Verhält- 
nissen auch  sonst  geschichtlich  vorkämen.  Und  Jahwe  ?  Er  war 
und  blieb  immer  ein  Gott  der  Erlösung  und  Verhei- 
ßung. Aber  das  Wichtige  war :  sowohl  Erlösung  und  Verheißung 
betrafen  aktuelle  politische,  nicht  innerliche,  Dinge. 
Erlösung  von  der  Knechtschaft  der  Aegypter,  nicht  von  einer 
brüchigen,  sinnlosen  Welt,  Verheißung  der  Herrschaft  über 
Kanaan,  das  man  erobern  wollte,  and  ein  glückliches  Dasein  dort, 
nicht  Verheißung  transzendenter  Güter,  bot  der  Gott.  Gerade 
dieser  primitive  ungebrochene  Naturalismus  und  gerade  jene 
auf  primitive  materielle  und  soziale  Kulturverhältnisse  zurück- 
gehende rituelle  Eigenart  wurden  das  Wichtige.  Und  gerade  in  der 
alsbald  nach  der  Einwanderung  iDeginnenden  Verbindung  mit  den 
überall  verbreiteten  Elementen  einer  rationalen  und  geistig 
differenzierten  Kultur.  Denn  ganz  universell  ist  jene  Erschei- 
nung: daß  Kulturrezeptionen  im  allgemeinen  gerade  da  ganz 
neue  und  eigenartige  Gebilde  erzeugen,  wo  sie  Gelegenheit 
haben  und  genötigt  sind,  sich  mit  Vorstellungsreihen  zu  verschmel- 
zen, welche  ihrerseits  noch  unsublimiert  und  nicht  durch  priester- 
liche, amtliche  oder  literarische  Prägung  stereotypiert  sind  und 
also  die  Anpassung  der  alten  rationalisierten  Gebilde  an  ganz 
neue  und  relativ  einfache  Bedingungen  erzwingen. 

Die    israelitischen,    lediglich    auf    die    mosaische    Stiftung 
zurückgehenden  Konzeptionen  stellten  die  in  Kanaan  verbreiteten 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  it^j 

orientalischen  Bildungselemente  vor  diese  Notwendigkeit.  Durch 
welche  eigenen  Qualitäten  aber  geschah  das  ?  Zunächst  also: 
welche  ZügQ  eignen  dem,  nach  der  Tradition,  von  Mose  für  den 
(gleichviel  wie  beschaffenen)  israelitischen  Bund  neu  eingeführten 
Gott   und  dessen  Beziehung  zu  Israel? 

Jahwe  zeigt  in  der  alten  Tradition  verschiedene  charakteristi- 
sche Qualitäten.  Die  hochgradigen  anthropomorphen  Züge  i), 
welche  er  gerade  in  den  älteren  und  namentlich  den  aus  dem 
Süden  stammenden  Teilen  der  Tradition  (des  sog.  »Jahwisten«) 
trägt,  teilt  er  mit  den  althellenischen  und  anderen  Göttern 
kriegerischer  Völker.  Nicht  überall  und  vielleicht  nicht  von  An- 
fang an,  aber  offenbar  sehr  früh  und  dann  sehr  regelmäßig  haftet 
ihm  aber  ein  Zug  an,  der  in  dieser  Stärke  sich  nicht  oft  findet: 
daß  seine  Nähe,  unter  Umständen  selbst  die  Nähe  der  von  seinem 
»Geist«  (ruach)  befallenen  »Gottesmänner«  unheimlich  und  ge- 
fährlich, sein  Anblick,  wie  wir  sahen,  tödlich  ist.  Der  für  Jahwe 
in  besonders  hohem  Grade  spezifische  Begriff  der  Heiligkeit 
besagt,  wie,  anschließend  an  Graf  Baudissins  Untersuchungen, 
jetzt  allgemein  angenommen  wird,  ursprünglich  ausschließlich 
oder  wesentlich  diese  aus  der  Gefahr  jeder  Berührung  und  jedes 
Erblickens  des  Gottes  folgende  Unnahbarkeit  und  Abgesondert- 
heit von  allen  nicht  eigens  für  das  Ertragen  seiner  Nähe  rituell 
qualifizierten  Menschen  sowohl  wie  auch  Gegenständen.  Diese 
wichtige  Qualität  hängt  offenbar  zum  Teil  mit  der  später  zu  bespre- 
chenden alten  Bildlosigkeit  seines  Kults,  zunächst  aber 
mit  seiner  jetzt  zu  besprechenden  Natur  und  der  Art  seiner 
Manifestationen  zusammen.  Er  ähnelt  dem  indischen  Indra, 
denn  wie  dieser  ist  er,  für  Israel  wenigstens,  zunächst  und  vor 
allem  Kriegsgott.  »Einen  Kriegsmann«  (isch  hamilchamah) 
nennt  ihn  eine  Variante  eines  alten  Berichts  (Ex.  i8,  25).  Nach 
Blut,  dem  Blut  der  Feinde,  der  Ungehorsamen,  der  Opfer  lechzt 
er.  Ueber  alle  Maßen  gewaltig  ist  seine  Leidenschaft.  In  seinem 
Grimm  verzehrt  er  die  Feinde  mit  Feuer  oder  läßt  sie  von  der 
Erde  verschlingen,  stürzt  sie,  wie  die  Wagen  der  Aegypter  nach 
dem  alten  Doppelzeiler  des  Mirjamreigens,  ins  Meer  oder  läßt 
ihre  Wagen  wie  die  der  Kanaanäer  in  der  Deboraschlacht  im 
regengeschwollenen  Bach  stecken  bleiben,  so  daß  die  israelitischen 
Bauern  sie  ebenso  abschlachten  konnten,  wie  dies  der  lateinischen 

1)  Die  verschiedensten   Körperteile   Jahwes:   Augen,  Ohren,   Na?e,  Lippen, 
Hand,  Arm,  Herz,  Atem  werden  teils  genannt,  teils  als  vorhanden  vorausgesetzt. 


I  -jg  Das  antike  Judentum. 

Ritterschaft  in  Griechenland  einmal  in  der  späten  Kreuzzugs- 
zeit widerfuhr.  Noch  bei  den  Propheten  ist  die  Furchtbarkeit 
seines  Zorns  und  seiner  Kriegsmacht  der  hervorstechende  Zug. 
Großartig  wie  sein  Zorn  ist  aber  auch  seine  Gnade.  Denn  sein 
leidenschaftliches  Herz  ist  wandelbar.  Ihn  reut  es,  den  Menschen 
Gutes  getan  zu  haben,  wenn  sie  es  ihm  schlecht  vergelten,  und  dann 
wieder  gereut  ihn  sein  übergroßer  Zorn.  Die  späte  rabbinische 
Tradition  läßt  ihn  selbst  beten  (!) :  daß  seine  eigene  Barmherzig- 
keit über  seinen  Zorn  die  Oberhand  behalten  möge.  Im  Wetter- 
sturm zieht  er  persönlich  dem  Heerbann  zu  Hilfe.  Und  seinen 
Freunden  hilft  er,  wie  Athene  dem  Odysseus,  unbedenklich 
auch  in  List  und  Trug.  Aber  man  ist  nie  sicher,  durch  irgend 
ein  unwissentliches  Versehen  seinen  Grimm  zu  reizen  oder  von 
einem  göttlichen  Numen  aus  dem  Kreise  seiner  Geister  ganz 
unerwartet  und  unmotiviert  überfallen  und  mit  Vernichtung  be- 
droht zu  werden.  Der  »Geist«,  die  ruach,  Jahwes,  ist  in  vor- 
prophetischer Zeit  weder  eine  ethische  Potenz  noch  ein  religiöser 
Dauerhabitus,  sondern  eine  akute  dämonisch-übsrmenschliche 
Kraft  verschiedenen,  sehr  oft  und  vorzugsweise  absr  furchtbaren 
Charakters.  Die  wilden  charismatischen  Kriegshelden  der  is- 
raelitischen Stämme,  Berserker  wie  Simson,  Nasiräer  und  ek- 
statische Nebijim,  wissen  sich  von  dieser  Kraft  erfaßt  und  fühlen 
sich  als  seine  Gefolgen.  Alle  Kriegspropheten  und  -prophetinnen 
treten  in  Jahwes  Namen  auf;  auch  die  Träger  eines  anderen 
theophoren  (Baals-)  Namens  wie  Jerubbaal  nehmen  als  Kriegs- 
fürsten einen  neuen  Namen  (Gideon)  an. 

Zum  Kriegsgott  eignete  sich  Jahwe  ebenso  wie  Indra  um 
deswillen,  weil  er  wie  dieser  ursprünglich  ein  Gott  der  großen 
Naturkatastrophen  war.  Erdbeben  (i.  Sam.  14,  15 : 
Jes.  2,  12  f.;  46,  7),  vulkanische  Erscheinungen  (Gen.  19,  24; 
Ex.  19,  II ;  Psalm  46, 7)  unterirdisches  (Jes.  30, 27)  und  himmlisches 
Feuer,  der  Wüstenwind  von  Süden  und  Südosten  (Sach.  9,  14) 
und  die  Gewitter  sind  die  Begleiterscheinungen  seines  Auftretens, 
die  Blitze  wie  bei  Indra  seine  Pfeile  (Ps.  18,  15)  noch  bsi  den 
Propheten  und  Psalmisten.  Zum  Umkreise  der  Naturkatastro- 
phen gehörte  für  Palästina  auch  die  Insekten-,  vor  allem  die 
Heuschreckenplage,  welche  der  Südostwind  ins  Land  brachte. 
Mit  Heuschrecken  plagt  daher  der  Gott  die  Feinde  seines  Volks 
und  Schwärme  von  Hornissen  sendet  er  vor  ihm  her,  die  Feinde 
zu  verwirren,  Massen  von  Schlangen  zur  Bestrafung  des  eigenen 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  j  oq 

Volkes.  Endlich:  die  Seuchen  (Hos.  13,  14).  Mit  Pest  schlägt 
der  Gott  die  Aegypter,  ebenso  die  Philister  und  andere,  die  sich 
an  seiner  heiligen  Lade  vergreifen  (i.  Sam.  4,  8;  6,  6.  19).  Der 
Schlangenstab  seiner  Priester  im  Tempel  von  Jerusalem  deutet 
wohl  auf  diese  einstige  Bedeutung  als  Pestgott  hin.  Denn  als 
»Herr«  der  KranKheit  konnte  er  sie  auch  abwehren  und  war  ihr 
Arzt,  wie  überall  im  gleichen  Fall.  Alle  furchtbaren  und  schick- 
salhaften Naturerscheinungen  also  waren  die  Domäne  des  Gottes : 
er  vereinigte  die  Züge  Indras  mit  denen  Rudras.  Neben  jenem 
Charakter  kriegerischer  und  naturmythischer  Wildheit  zeigt  er 
freundlichere  Züge  schon  in  der  alten  Tradition  als  Herr  des 
Regens.  Nachdrücklich  weist  er  sein  Volk  darauf  hin,  daß  in 
Israel  nicht  wie  in  Aegypten  der  Ackerertrag  durch  die  Bewässe- 
rung bedingt  werde  —  also,  heißt  das,  ein  Produkt  der  büro- 
kratischen Verwaltung  des  irdischen  Königs  und  der  eigenen 
Arbeit  des  Bauern  sei  — ,  sondern  durch  den  von  ihm,  Jahwe, 
nach  seiner  freien  Gnade  gespendeten  Regen.  Die  starken  Ge- 
witterregen, wie  sie  namentlich  dem  an  die  Wüste  angrenzenden 
Steppengebiet  eigneten,  waren  sein  Werk.  Der  Regen  verknüpfte 
ihn  von  Anfang  an  mit  dem  Einzelnen  und  seinen  ökonomischen 
Interessen  und  erleichterte  das  später  immer  mehr  hervor- 
tretende Eindringen  der  Züge  eines  gütigen  Natur-  und  Himmels- 
gottes in  sein  Bild.  Vor  allem  unter  dem  Einfluß  der  in  den  um- 
liegenden Kulturländern  und  auch  in  Palästina  selbst  verbreiteten 
Konzeptionen  höchster  Himmelsgötter  trat  diese  Sublimierung 
und  Rationalisierung  des  Bildes  des  Gottes  zu  einem  weisen 
Weltenlenker  ein.  Daneben  war  auch  der,  wie  wir  sehen  werden, 
bei  den  israelitischen  Intellektuellen  sich  entwickelnde  Vorseh- 
ungsglauben mitbestimmend.  Aber  nie  verschwanden  aus  seinem 
Bilde  die  von  dem  alten  Jahwe  stammenden  Züge  des  furchtbaren 
Katastrophengottes.  In  all  jenen  Mythologemen  und  mytholo- 
gisch beeinflußten  Bildern,  deren  Benutzung  der  Sprache  der 
Propheten  ihre  unvergleichliche  Großartigkeit  verleiht,  spielen 
diese  Züge  die  entscheidende  Rolle.  In  erster  Linie  solche  Macht- 
beweise, nicht  Beweise  weiser  Ordnung,  sind,  bis  tief  in  die 
exilische  und  nachexilische  Zeit,  die  von  Jahwe  gelenkten  Natur- 
vorgänge. Der  Zusammenhang  der  bis  in  die  Zeit  nach  dem  Exil 
stets  festgehaltenen  Qualitäten  Jahwes  als  eines  Gottes  der 
furchtbaren  Natur  katastrophen,  nicht  der  ewigen  Natur- 
Ordnung    war,     außer    in    der    allgemeinen  Verwandtschaft 


IAO  Das  antike  Judentum. 

jener  Vorgänge  mit  dem  Kriege,  eben  rein  historisch  dadurch 
begründet,  daß  der  Gott  sich  dieser  seiner  Macht,  zuerst  gegen 
die  Aegypter,  dann,  in  der  Deboraschlacht,  gegen  die  Kanaanäer 
und  ebenso  später  gegen  Israels  Feinde  in  der  Schlacht  bedient 
hatte.  Der  »Gottesschrecken«  (cherdath  Elohim,  i.  Sam.  14, 
15) :  die  durch  Natureingriffe,  namentlich  Erdbeben  (a.  a.  O.) 
und  schwere  Gewitter  (Deboraschlacht)  erregte  Panik  der  Feinde 
wurde  ihm  zugeschrieben  und  eine  solche,  vulkanisch  bedingte, 
Panik  (der  Aegypter)  hatte  zur  Rezeption  des  Gottes  geführt. 
Das  blieb  unvergessen. 

Praktisch  wichtig  war  nun  aber  vor  allem,  daß  Jahwe 
wenigstens  für  das  alte  Israel  trotz  dieses  Charakters  auch  eir 
sozialer  Verbandsgott  wurde  und  blieb.  Auch  das 
in  besonderem  Sinn.  Er  war,  wie  wir  annehmen  müssen:  seit 
Mose,  der  Bundesgott  des  israelitischen  Bundes  und,  dem  Zweck 
des  Bundes  entsprechend,  vor  allem  der  Bundeskriegsgott.  Aber 
dies  war  er  in  sehr  eigener  Art.  Durch  einen  Bundes  vertrag 
ist  er  dazu  geworden.  Und  dieser  Vertrag  mußte  außer  unter  den 
Bundesgliedern  auch  mit  ihm  selbst  abgeschlossen  werden 
deshalb,  weil  er  nicht  ein  inmitten  des  Volkes  residierender 
oder  schon  bekannter,  sondern  ein  bisher  fremder  Gott  war 
und  ein  »Gott  aus  der  Ferne«  blieb.  Dies  war  das  Entscheidende 
der  Beziehungen.  Jahwe  war  ein  Wahlgott.  Durch  berith  mit 
ihm  hat  sich  ihn  das  Bundesvolk  erwählt,  ganz  ebenso  wie  es  sich 
später  durch  berith  seinen  König  einsetzte.  Und  umgekehrt 
hat  er  dieses  Volk  aus  allen  anderen  nach  freiem  Entschluß 
erwählt.  Das  hält  er  dem  Volk  durch  die  priesterliche  Thora 
und  die  prophetischen  Orakel  später  immer  wieder  vor:  aus  freier 
Gnade  hat  er  dies  und  kein  anderes  Volk  sich  als  sein  Volk  aus- 
ersehen, ihm  Verheißungen  gegeben  wie  keinem  andern  und  dafür 
seine  Versprechungen  entgegengenommen.  Und  daher  war  nun 
überalLr  wo  das  Bundesvolk  als  solches  eine  berith  machte,  er, 
der  Gott,  der  ideelle  Gegenpartner.  Alle  Verletzungen  der  heiligen 
Satzungen  waren  also  nicht  nur  Verstöße  gegen  Ordnungen, 
die  er  garantiert,  wie  dies  andere  Götter  auch  tun,  sondern 
Verletzungen  der  feierlichsten  Vertragsverpflichtungen  gegen 
ihn  selbst.  Ihm  persönlich,  nicht  nur  dem  Bunde,  verweigert  die 
Heerfolge,  wer  dem  Bundesaufgebot  nicht  folgt :  er  ist  »Jahwe 
nicht  zu  Hilfe  gezogen«.  Das  Bundesheer  wird  »Mannen  Gottes« 
(,am  haelohim)   genannt    (Jud.   20,   i  f.). 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe,  iai 

Auf  diese  Art  wurde  er  aber  außer  zum  Bundeskriegsgott 
auch  zum  Vertragspartner  des  durch  berith  festgestellten  Bundes- 
rechts, vor  allem  »der  sozialrechtlichen  Ordnungen.  Da  der  Bund 
als  solcher  ein  Verband  von  Stämmen  zunächst  ohne  alle  staat- 
liche Organisation  war,  konnten  ja  neue  Satzungen  gleichviel 
ob  kultischer  oder  rechtlicher  Art  im  Prinzip  gar  nicht  anders 
als  durch  neue  Vereinbarung  (berith)  auf  Grund  eines  Orakels 
entstehen,  ganz  ebenso  wie  der  ursprüngliche  Bund.  Alle  diese 
Satzungen  standen  damit  auf  der  gleichen  Grundlage  wie  das 
alte  Vertrags  Verhältnis,  welches  zwischen  ihm  und  dem  Volk 
bestand.  Insofern  war  gerade  in  der  Zeit  vor  dem  Königtum 
die  »berith«  staatsrechtlich  durchaus  nichts  nur  Theoretisches. 
Ebenso  aber  auch  nicht  für  die  religiöse  Vorstellung.  Bei  Je- 
remia  (2,  5)  fragt  Jahwe:  welches  Unrecht  denn  die  Väter  an 
ihm  erfunden  hätten?  Und  andrerseits  mahnt  ihn  Jeremia 
(14,  21) :  seinen  Bund  mit  Israel  nicht  zu  brechen. 

Weder  konnte  dieser  als  Vertragspartner  geltende  Bundes- 
gott in  Israel  als  ein  bloßer  Funktionsgott  irgendwelcher  Natur- 
vorgänge oder  sozialen  Einrichtungen  angesehen  werden.  Noch 
war  er  ein  Lokalgott  in  dem  Sinn,  wie  die  orientalischen  Städte 
einen  solchen  überall  kannten.  Auch  nicht  ein  bloßer  Gott  des 
»Landes«.  Sondern  die  Personen  gemeinschaft  des  israeli- 
tischen Bundesheeres  mußte  bei  jener  Auffassung  als  sein  mit  ihm 
durch  die  Bundesgemeinschaft  verbundenes  Volk  gelten.  Dies 
war  die  eigentlich  klassische  Auffassung  der  Tradition.  Die  Ueber- 
tragung  der  Heiligkeit  auf  den  politischen  Landbesitz  als  das 
»Heilige  Land«  ist  erst  eine  spätere,  vermutlich  durch  heterogene, 
teils  dem  Baalkult,  teils  der  Lokalisierurg  Jahwes  als  Gott  der 
Königsresidenz  entstammende  Gottesvorstellungen  vermittelte 
Konzeption,  die  sich  in  der  Königszeit  für  David  in  einer  Tra- 
dition unsicheren  Alters,  dann  im  Nordreich  bei  Elisas  Bekehrung 
des   Naeman   zuerst   bezeugt   findet. 

Jahwe  schützt  als  Garant  der  Bundesordnungen  Sitte  und 
Brauch.  Das,  was  in  Israel  »unerhört«  ist,  ist  auch  ihm  ein  Greuel. 
Er  war  aber  seinem  ursprünglichen  Charakter  entsprechend 
Garant  des  Bundesrechts  und  der  Sitte  nicht  in  dem  Sinne 
wie  Varuna  oder  ähnliche  Götter  es  waren:  Hüter  der  schon  an 
sich  vorhandenen  Heiligkeit  der  unabänderlichen  Ordnung: 
des  Rechts  oder  einer  an  festen  Maßstäben  zu  messenden  »Ge- 
rechtigkeit«.    Nein,    durch   positive    berith  mit  ihm  war  dies 


jj^2  I^^s  antike  Judentum. 

positive  Recht  für  Israel  geschaffen;  es  war  nicht  immer  da- 
gewesen und  es  konnte  sein,  daß  es  durch  neue  Offenbarung  und 
neue  berith  mit  dem  Gott  wieder  geändert  wurde.  Nicht  erst 
Paulus,  sondern,  wenn  auch  nur  gelegentlich,  schon  einzelne 
Propheten  (Jeremia,  Hesekiel)  glaubten,  daß  der  Gott  manche 
Satzungen  dem  Volk  als  ein  hartes  Joch  oder  zur  Strafe  aufer- 
legt habe,  ganz  ebenso  wie  —  nach  dem  volkstümlichen  Mythos 
—  dem  Adam  die  Arbeitsmühsal  und  den  Tod.  Das  Recht  war 
nicht  ein  ewiges  Tao  oder  Dharma,  sondern  eine  positive  gött- 
liche Satzung,  über  deren  Innehaltung  Jahwe  eiferte.  Zwar 
hat  der  ethische  Rationalismus  der  deuteronomischen  Schule 
später  gelegentlich  (Deut.  4,  2)  das  Gesetz  Gottes  als  »ewig« 
bezeichnet  und  die  ursprüngliche  sittliche  Vollkommenheit 
(Deut.  4,  8)  der  gerechten  Ordnungen  des  Gottes  gerühmt,  wie 
sie  kein  anderes  Volk  besitze.  Allein  diese  gelegentlichen  paräne- 
tischen  Argumentationen  enthalten  nicht  die  aus  dem  »berith«- 
Charakter  des  Rechts  unvermeidlich  sich  ergebende  typische 
Stellungnahme.  Die  Verfügungen  des  Gottes  stehen  in  seiner 
Hand  und  sind  an  sich  wandelbar.  Er  kann  sich  durch  berith 
an  sie  binden,  aber  das  ist  dann  Ergebnis  seines  freien  Willens- 
entschlusses. Ewige  Ordnungen  kennt  denn  auch  erst  die 
priesterliche  Redaktion  und  zwar  sind  dies  fast  durch- 
weg kultische  oder  auf  die  Rechte  der  erst  in  der  Exils- 
zeit zum  Kultmonopol  aufgestiegenen  Aaroniden  bezügliche 
Normen,  welche,  gerade  weil  sie  Neuerungen  waren,  pathetisch 
mit  diesem  Ausdruck  (chukath  golam)  belegt  wurden  (Ex.  27, 
21 ;  Lev.  3, 17 ;  16, 31 ;  23, 14. 31. 41 ;  Deut.  12,  i  betreffen  kultische, 
Lev.  7,  37;  24,  3;  Num.  18,  23  priesterrechtliche  Ordnungen 
aus  der  Exilszeit ;  i.  Gen.  9,  14:  berith  golam  die  theologischen 
Konstruktionen  des  noachischen  Bundes).  Die  einzige  weltliche 
»ewige«  Ordnung:  die  Bestimmung,  daß  für  ewige  Zeiten  Israel 
und  die  gerim  die  gleichen  Rechte  haben  sollen,  ist  ebenfalls 
eine  von  den  Priestern  geschaffene  Neuerung  der  Exilszeit. 
Man  kann  solche  Novellen  geradezu  an  der  Verwendung  des  Aus- 
drucks »ewig«  erkennen.  Niemals  wird  in  der  alten  Literatur 
Israels  behauptet,  daß  diese  und  keine  andere  Sozialordnung 
an  sich  die  ewig  unabänderlich  kraft  ihrer  inneren  Voll- 
kommenheit geltende  sei  und  deshalb  von  Jahwe  gehütet  werde. 
Es  ist  im  höchsten  Grade  bezeichnend,  daß  der  Gott,  als  er  dem 
Hiob  auf  dessen  Verlangen,  ihm  Rede  zu  stehen  über  die  Unge- 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  i^^ 

rechtigkeit  der  Ordnung  des  Menschendaseins,  im  Wettersturm 
erscheint,  mit  keinem  Wort  die  Weisheit  seiner  Ordnung  der 
menschlichen  Beziehungen  vertritt,  wie  sie  etwa  dem  Konfuzianer 
selbstverständlich  war,  sondern  ganz  und  gar  nur  seine  souveräne 
Macht  und  Größe  in  den  Naturereignissen.  Bis  in  die  Zeiten 
der  Entstehung  der  alt  christlichen  Naturrechtslehre  hinein 
ist  diese  historisch  bedingte  Eigenart  des,  Gottes  folgenreich  ge- 
wesen. 

Von  Anfang  an  lagen  gewisse  Züge  einer  über  Israel  hinaus- 
greifenden Stellung  und  in  diesem  Sinn  eines  gewissen  Univer- 
salismus in  der  Konzeption  Jahwes,  richtiger:  in  der  eigen- 
artigen Beziehung,  in  der  sich,  aus  rein  historischen  Gründen, 
der  israelitische  Bund  zu  diesem  Gott  befand.  Man  hat  sich  neuer- 
dings darüber  gestritten,  ob  Monolatrie  (exklusive  Verehrung 
nur  eines  von  den  mehreren  Göttern),  Henotheismus  (aktuelle 
Behandlung  des  gerade  angerufenen  Gottes  als  des  einzig  mäch- 
tigen) oder  Monotheismus  (prinzipielle  Einzigkeit)  die  alte 
Jahwe  Vorstellung  beherrscht  haben.  In  dieser  Art  ist  wohl 
schon  die  Frage  falsch  gestellt.  Die  Anschauung  hat  nicht  nur 
gewechselt,  sondern  war  zur  selben  Zeit  je  nach  den  sozialen 
Kreisen  ganz  verschieden.  Für  den  Krieger  war  es  klar :  daß  der 
Gott,  den  er  anruft,  sein  Gott  sei  und  folglich  der  Gott  d,er 
Feinde  ein  anderer:  so  behandelt  das  Richterbuch  (ii,  24)  in 
der  Jephtha-Er Zählung,  das  Königsbuch  (2.  Kön.  3,  27)  in  der 
Erzählung  vom  Moabiterkrieg  die  Götter  Jahwe  und  Kamos  ^). 
Für  den  König  und  die  stadtsässigen,  vor  allem  die  Tempel- 
priester- und  Patrizier- Schichten,  aber  auch  für  den  städtischen 
Massenglauben  war  es  klar:  daß  der  Gott  im  Tempel  der  Stadt 
lokalisiert  sei,  daß  anderwärts  also  andere  Götter  seien,  daß  der 
eigene  Gott  mit  der  Existenz  der  Stadt  stehe  und  falle,  daß,  wer 
aus  der  Stadt  (oder  dem  zugehörigen  Lande)  gehen  müsse,  dem 
eigenen  Gott  nicht  dienen  könne,  sondern  fremden  Göttern 
dienen  müsse  (so  David:  i.  Sam.  26,  19),  daß  dagegen,  wer  aus 
fremdem  Land  kommt,  dem  einheimischen  Gott  zu  dienen 
gut  tue,  weil  dieser  sich  sonst  rächen  könnte  (so  Jahwe  an  den 
assyrischen  Kolonisten  in  Samaria,  2.  Kön.  17,  25.  26).  Dies  ist 
Produkt  stadtsässiger  Kultur.  Für  den  Israeliten  einer  Tempel- 
stadt, zumal  Jerusalems,  war  Jahwe  im   Tempel  ansässig.    Für 

*)  Es  scheint,  daß  auch  Kamos  ein  mehreren  Stämmen  gemeinsamer  Gott 
gewesen  ist. 


J4A  Das  antike  Judentum. 

eine  solche  Lokalisierung  bot  seit  alters  die  Lade  Jahwes  natur- 
gemäßen Anlaß.  Das  überlieferte  Ritual  zeigt,  daß  die  Krieger  im 
Felde  sich  ihn  als  auf  diesem  Lagerheiligtum  anwesend  vorstellten. 
Ganz  anders  war  naturgemäß  der  Standpunkt  der  halbnomadi- 
schen Viehzüchterstämme.  Der  von  ihnen  beeinflußten  Tradition 
versteht  es  sich  von  selbst,  daß  der  Gott  auch  im  fremden  Land 
mit  dem  Israeliten  ist  (Gen.  28, 20) .  Sie  wissen  recht  gut,  daß  Jahwe 
auch  von  nichtisraelitischen  Stämmen  verehrt  wird  und  ihre 
Legenden  setzen  daher  das  gleiche  als  selbstverständlich  nicht 
nur  von  Laban  (Gen.  24,  50 ;  31,  49),  immerhin  einem  Verwandten, 
sondern  auch  für  Abimelech  von  Gerar  (Gen.  20,  11;  21,  23) 
voraus.  In  der  Joseph-Novelle  (Gen.  41,  39)  ist  sogar  jene  Auffas- 
sung spürbar,  die  bei  handeltreibenden  Weltvölkern,  wie  den 
Hellenen  und  den  späteren  Römern,  typisch  war:  die  naive 
Identifikation  bestimmter  fremder  Götter  mit  den  eigenen, 
wie  sie  im  nachexilischen  Judentum  sich  für  den  Gott  des  Nebu- 
kadnezar  (bei  Daniel)  und  des  Perserkönigs  findet.  Im  ganzen 
aber  war  diese  Vorstellungsweise  dem  älteren  Israel  fremd, 
weil  Jahwe  durch  berith  sein  Gott  geworden  war.  Das  schloß, 
nach  der  ursprünglichen  Vorstellung,  zum  mindesten  aus,  daß 
er  im  gleichen  Sinn  wie  für  Israel  auch  der  ganz  persönliche 
Schutzgott  fremder  Könige  sei,  wie  etwa  Marduk  und  Ahura- 
mazda  es  waren.  Die  beruflichen  Jahwepropheten  der  alten  Zeit, 
die  Nebijim  und  Seher,  waren  offenbar  weder  von  der  Einzigkeit 
noch  auch  davon  überzeugt,  daß  gerade  nur  in  Israel  ihr  Gott 
zu  Hause  sei.  Sie  hatten  zum  Teil  internationale  Kundschaft 
und  die  Elia-Tradition  setzt  wenigstens  an  einer  Stelle  (i.  Kön. 
17,  9)  voraus,  daß  auch  die  Witwe  in  Sidon  Gebote  Jahwes 
von  diesem  empfange.  Im  übrigen  war  ihr  Gott  zwar  nicht  der 
einzige,  aber  natürlich  der  stärkste  von  allen,  die  andern  letztlich 
»Nichtse«.  Das  konnte  auch  die  alte  jahwistische  Kriegertradition 
(Jos.  2, 9)  akzeptieren.  Ihr  kam  es  vor  allem  auf  die  Sonderstellung 
Israels  kraft  der  berith  an.  Für  sie  stand  fest :  Mochten  auch  andere 
Jahwe  verehren,  Israel  stand  doch  in  seiner  besonderen  Hut. 
Jahwe  war  ihr  nicht  der  Feind  fremder  Völker ;  —  dieser  Anschauung 
hat  sich  erst  der  nationale  Fanatismus  der  königlichen  Heils- 
propheten und  der  konfessionelle  Fanatismus  der  Priester  nach 
dem  Exil  gelegentlich  genabelt.  Aber,  wie  wir  später  sehen 
werden:  auf  Israel  allein  kam  es  ihm  an,  wie  dies  ja  von  jedem 
Lokalgott  oder  Lokalheiligen  und  jeder  lokalisierten  Madonna 


I .     Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  iac 

aller  Zeiten  auch  erwartet  wurde,  —  nur  daß  bei  Jahwe  eben 
die  im  Resultat  ähnliche  Vorstellung  ursprünglich  nicht 
von  der  Lokalisierung,  sondern  gerade  von  einem  (relativen) 
Universalismus  und  der  partikulären  berith  mit  Israel  ausging. 
Die  verschiedenen  Auffassungen  aber  standen  nebeneinander 
und  ihre  logische  Gegensätzlichkeit  wurde,  wie  üblich,  nicht 
empfunden.  Jedenfalls  l^at  man  sich  zu  hüten,  die  »partikulari - 
stischere«  Gottesauffassung  für  die  notwendig  ältere  zu  halten. 
In  gewissem  Umfang  und  Sinn  trifft  das  Gegenteil  zu,  und  bei 
Jahwe  war  dies  unvermeidlich  so.  In  der  rhythmischen  alten  Gottes- 
rede Ex.  19,  5  nennt  Jahwe  sich,  ehe  er  den  Inhalt  des  za  schließen- 
den Bundes  verkündet,  der  Israel  za  seinem  Eigentum  machen 
soll,  geradezu  den  »Herren  der  ganzen  Welt«.  Auch  diese  Auf- 
fassung fand  sich  also  schon  in  vorprophetischer  Zeit  gelegent- 
lich neben  den  anderen.  »Universalistisch«  in  diesem.  Sinn  treten 
ja  auch  die  Götter  anderer  Völker  auf.  Vor  allem  die  Groß- 
königsgötter der  Hauptstädte  der  Weltreiche.  In  Aegypten  hat 
Amon  unter  der  Priesterherrschaft  der  späteren  Ramessidenzeit 
universelle  Macht  der  Heilsspendung  in  Anspruch  genommen^). 
Aehnliches  werden  die  Berater  und  Hofpropheten  israelitischer 
Könige  in  Erinnerung  an  das  Davidsreich  von  Jahwe  verkündet 
haben  ^j.  Aber  historisch  ruhte  der  basondersartige  (relative) 
Universalismus  Jahwes  nicht  auf  dieser  Grundlage.  Sondern:  auf 
der  Tatsache  seiner  Rezeption .  Jahwe  hatte  eben  in  einem  anderen 
Sinn  als  andere  Götter  bereits  bestanden  and  seine  Macht  be- 
währt, ehe  Israel  ihm  opferte.  Das  hatte  gewichtige  kultische 
Konsequenzen.  Mochten  auch  Opfer  als  ihm  angenehm,  folg- 
lich als  geeignete  Mittel  gelten,  seine  Gunst  zu  gewinnen.  — 
schwerlich  konnte  doch  die  sonst  so  häufige  Vorstell ang  auf- 
kommen: daß  der  Gott  in  seiner  Existenz  davon  abhängig  sei. 
daß  sie  ihm  dargebracht  würden  ^ ) .    Er  thronte  in  der  Ferne  auf 

1)  Wen  Amon  (Breastead  Records  IV,  S.  80)  trägt  dem  König  von  Byblos 
vor:  daß  die  Pharaonen  (deren  Silbersendungen  der  König  von  Byblos  vermißt) 
nicht  das  haben  leisten  könne,  was  der  Gott  Amon  zu  leisten  vermöge  (der 
eben  deshalb  keinen  materiellen  Geschenke  schicke),  nämlich:  Leben  und  Ge- 
sundheit zu  verleihen  (was  freilich  mit  dem  Hofstil  des  Alten  Reiches  nicht 
harmoniert).  Auch  der  König  von  Byblos  »gehöre«  dem  Amon,  dem  zu  gehor- 
chen für  jedermann  Heil  bringe. 

^)  Ueber  die  Unterschiede  der  Göttergestalten  der  Umwelt,  insbesondere 
Mesopotamiens,  von  Jahwe,  ausgezeichnet:  Hehn,  Die  biblische  und  die  baby- 
lonische Gottesidee  Leipzig,   1913. 

ä)   In  Aegypten  bedürfen  die   Götter  im  Gegensatz   dazu   der  Nahrung 

Ma\    \V  r  b  c  r  .    Keligionsso/iologie  HI.  10 


lAiß  Das  antike  Judentum. 

seiner  Bergeshöhe  und  bedurfte  ihrer  nicht,  wenn  er  sie  auch  gern 
genoß.  Dazu  kam  nun  aber,  was  wohl  zu  beachten  ist,  in 
der  Zeit  vor  dem  Königtum  in  Friedenszeiten  das  Fehlen  jeg- 
licher politischen  oder  hierokratischen 
Instanz,  die  im  Namen  des  Bundes  hätte  Opfer 
darbringen  können:  wir  wissen  von  solchen  gar  nichts 
und  ihre  Existenz  scheint  ausgeschlossen.  Das  Opfer  also  konnte 
schlechterdings,  gerade  in  alter  Zeit,  in  der  Beziehung  zu  Jahwe 
nicht  jene  Bedeutung  gewinnen,  wie  anderwärts.  Insofern 
waren  also  die  Propheten  später  ganz  im  Recht,  nicht  nur  für 
die  Wüsten  zeit,  sondern  für  den  israelitischen  Bund  überhaupt, 
wenn  sie  betonten:  damals  habe  man  Gott  nicht' durch  Opfer  gedient. 
Da  die  spezifische  Form,  durch  welche  das  Bundesvolk  immer 
wieder  mit  ihm  in  Berührung  trat,  die  berith  war,  so  lag  es  nahe, 
die  Erfüllung  der  durch  berith  mit  ihm  geheiligten  Gebote 
für  mindestens  so  wichtig  oder  eigentlich  für  wichtiger  zu  halten 
als  die  von  den  Einzelnen  nach  Gelegenheit  und  später  von  den 
Königen  und  Tempelpriestern  dargebrachten  Opfer,  wie  dies  denn 
von  einem  Teil  der  reinen  Jahwe  Verehrer  auch  immer  erneut 
geschah^).  Es  hat  in  der  späteren  Königszeit  immer  in  Israel 
eine  Partei  gegeben  —  und  ihr  haben  gerade  die  gewaltigsten 
Schriftpropheten,  wie  Amos  und  Jeremia  zugehört  — ,  welche 
die  Erinnerung  an  diesen  Zustand  wach  erhielt  und  alle  und  jede 
Opfer  als  Jahwe  letztlich  gänzlich  gleichgültig  hinstellte.  Be- 
greiflicherweise hingen  gerade  die  am  wenigsten  an  festen  Kult- 
stätten seßhaften,  also  die  Kleinvieh  züchterschichten,  am  meisten 
dieser  Auffassung  an.  Genaue  Innehaltung  der  ihm  spezifischen 
Riten  and  im  übrigen  Gehorsam  gegen  seine  Offenbarungen 
war  augenscheinlich  das,  was  der  gewaltige  himmlische  Kriegs- 
fürst in  Wahrheit  verlangte:  diese  folgenreiche  Auffassung 
ist  —  wiederum  politisch  bedingt  —  zweifellos  von  Anfang  an 
in  Israel  gerade  bei  den  eifrigsten  Hütern  der  alten  Tradition  le- 
bendig geblieben.  Mochten  die  ursprünglich  von  ihm  dem  Krieger- 
bunde auferlegten  ethischen  Gebote  noch  so  primitiv  und  barba- 
risch gewesen  sein  (was  heute  nicht  mehr  sicher  auszum.achen 

durch  das  Opfer  der  Menschen  (v.  Bissing,  Sitz.b.  der  Münchener  Ak.  d.  W. 
Phil.-hist.   Kl.  igii  Nr.  6),  ganz  ebenso  wie  die  Totenseelen. 

^)  Zu  allen  diesen  Zusammenhängen  vgl.  besonders  Buddes  Vortrags- 
zyklus über  die  altisraelitische  Religion,  der  wohl  am  schärfsten  die  Bedingtheit 
des  ethischen  Charakters  der  Religion  Israels  durch  den  Charakter  des 
Gottes  als  eines  Wahlgottes  gesehen  und  betont  hat. 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  j  ^j 

ist),  — in  jenem  Sinn  war  er  doch  eben  unvermeidlich  weit  mehr  als 
andere  Götter  ein  ganz  spezifisch  auf  die  Erfüllung  bestimmter 
Gebote  :  ritueller  und  sozial-ethischer  Alltags-Normen,  »eifern- 
der« Gott.  Wohlgemerkt:  nicht  ein  Gott,  der  eine  ewig  gültige 
Ethik  schätzte  oder  selbst  an  ethischen  Maßstäben  gemessen  würde. 
Das  stellte  sich  erst  allmälich  als  Produkt  des  Intellektuellen- 
rationalismus ein.  Nein,  er  verfuhr  wie  ein  König,  in  Zorn  und 
Leidenschaft,  wenn  die  ihm  kraft  berith  geschuldeten  Pflichten 
nicht  erfüllt  werden.  Es  handelte  sich  um  Pflichten,  wie  sie  der 
erkorene  Herr  vom  Untergebenen  verlangt,  um  ganz  positive 
Verpflichtungen,  über  deren  absoluten  ethischen  Wert  man  zu- 
nächst nicht  grübelte  und  nicht  zu  grübeln  hatte.  Das  was 
»in  Israel  nicht  erhört«  war  und  das  positiv  durch  berith  Fest- 
gestellte war  der  Inhalt  des  Gesollten.  Aber  auf  dessen  Erfüllung 
hielt  der  Gott  mindestens  soviel,  nach  einer  schon  früh  ver- 
breiteten Ansicht  sogar  mehr,  als  auf  Opferdienst.  Schon  Tradi- 
tionen von  hohem  Alter  zeigen  ihn  in  gewaltigem  Zorn  nicht  nur 
wegen  ritueller,  sondern  auch  wegen  ethischer  Frevel.  Und  als 
selbstverständlich  wird  vorausgesetzt,  daß  der  heilige  Krieg 
des  Bundes  wegen  schwerer  Verstöße  gegen  ethische  Pflichten 
— ^  wegen  solcher  Dinge,  die  »in  Israel  nicht  gesehen  worden  waren« 
(Jud.  19,  30)  —  über  Bundesglieder  verhängt  werden  konnte. 
Der  Grund  aber  für  ein  Einschreiten  des  Bundes  aus  solchen 
Gründen,  also  für  eine  spezifisch  stark  ethische  Orientierung 
des  altisraelitischen  Bundesrechts,  lag  in  der  religiösen  Soli- 
darhaft  der  Bundesglieder  für  die  Frevel  aller  einzelnen.  Diese 
überaus  wichtige  und  folgenreiche  Voraussetzung  einer  Haftung 
der  Gesamtheit  für  jeden  in  ihrer  Mitte  wissentlich  oder  unwissent- 
lich geduldeten  Frevler  war,  wie  dem  Repressalienrecht  aller 
internationalen  Beziehungen  bis  heute,  so  dem  religiösen  Glauben 
eines  Volkes  selbstverständlich,  welches  wie  Israel  seinem  Gott 
als  ein  Verband  freier  Volksgenossen  gegenüber- 
stand. Während  die  Haftung  des  einzelnen  für  die  Sünden 
seiner  Vorfahren  und  Nächstversippten  sich  in  babylonischen 
Hymnen  findet,  war  jene  Solidarhaft  des  ganzen  Volkes  für  alle 
einzelnen  —  die  Voraussetzung  aller  prophetischen  Unheils- 
vei  kündigungen  —  in  einem  rein  bürokratischen  Staat  natur- 
gemäß gedanklich  nicht  entwickelt.  Die  politische  Struktur 
^pielte  also  auch  hier  eine  entscheidende  Rolle.  Wie  die  Volks- 
genossen füreinander,  so  haften  die  Nachfahren  bis  in  entfernte 


jAg  Das  antike  Judentum. 

Glieder  für  Frevel  der  Vorfahren.  Das  war  bei  der  Blutrache 
ganz  ebenso  und  also  nichts  Auffallendes.  Und  mit  Abschwächung 
der  Blutrache  änderte  sich  das:  die  deuteronomische  Speku- 
lation sah  in  beiden  Arten  der  Haftung  für  fremdes  Verschulden : 
für  den  Genossen  wie  für  die  Voreltern,  eine  Härte,  ohne  doch 
die  Anschauung  wirklich  beseitigen  zu  können.  Für  Israel  war 
sie  eine  Folge  des  berith-Verhältnisses  mit  dem  Gott  selbst. 

Die  Qualität  des  Gottes  als  eines  durch  besonderen  Vertrags  - 
akt  angenommenen  Bundeskriegsgotts  und  Garanten  des  Bundes- 
rechts erklärt  auch  noch  eine  Eigentümlichkeit  von  großer  Trag- 
weite: er  war  und  blieb,  bei  allera  Anthropomorphismus,  unbe- 
weibt und  daher  kinderlos.  Auch  die  bne  Elohim  des  sechsten  Ge- 
nesiskapitels waren  keine  »bne  Jahwe«.  Eine  weibliche  Ergänzung 
konnte  bei  der  Eigenart  seiner  Stellung  gar  nicht  in  Frage  kommen . 
Sie  fehlte  ihm  ebenso,  wie  sie  auch  sonst  gelegentlich  gewissen  Funk- 
tionsgöttern, welche  soziale  Ordnungen  garantieren,  (Varuna, 
Apollon)  und  importierten  Göttern  (Dionysos)  aus  ganz  ähn- 
lichen Gründen  fehlte.  Bei  Jahwe  aber  trug  dieser  Umstand  sicher 
sehr  wesentlich  dazu  bei,  ihn  von  Anfang  an  als  etwas,  anderen 
Göttergestalten  gegenüber.  Besondersartiges,  Weltferneres  er- 
scheinen zu  lassen ;  vor  allem  hemmte  er  —  wie  wir  sehen  werden 

—  echte  Mythenbildung,  die  immer  »Theogonie«  ist.  Auch  diese 
sehr  wichtige  Eigentümlichkeit  war  also  vermutlich  durch 
jene  politische  Besonderheit  der  Entstehung  seines  Kults  bedingt. 

Solche  Züge  von  Präeminenz  des  Bundesgotts  begründeten 
aber,  wie  wir  schon  sahen,  keineswegs  notwendig  einen  Anspruch 
auf  Exklusivität  seiner  Geltung.  Wie  es  nach  außen  den  Göttern 
anderer  Völker  gegenüber  stand,  davon  war  schon  die  Rede : 
Jephtha  behandelt  die  Existenz  und  Macht  des  ammonitischen 
und  später  auch  moabitischen  Gottes  Kamos  als  ganz  selbst- 
verständlich. Noch  unter  Ahab  ist  die  Auffassung  keine  andere: 
der  Moabiterkönig  vermag  durch  das  Opfer  seines  eigenen  Sohnes 
den  Kamos  so  zu  stärken,  daß  sein  Grimm  gegen  Israel  und  dessen 
Gott  die  Oberhand  gewinnt.    Aber  —  worauf  es  hier    ankommt 

—  auch  nach  innen  bestand  der  Tatsache  nach  die  Exklusivität 
nicht.  Hinsichtlich  der  Halbbeduinen  der  Steppe  ist  es  allerdings 
sehr  wahrscheinlich,  daß  der  große  Kriegsgott  des  Bundes  für 
sie  von  Anfang  an  der  einzige  in  Betracht  kommende  Gott  war. 
Diese  Monolatrie  erklärt  sich  sehr  einfach  daraus,  daß  bsi  ihnen 
differenzierte     Kultur,    welche   Funktionsgötter   er- 


I,    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  iaq 

zeugt,  nicht  bestand  und  daß  die  politische  Gemeinschaft 
bei  ihnen  schlechterdings  nichts  als  nur  den  kriegerischen  Schutz 
der  Weidereviere  und  der  Eroberungen  nach  außen  zu  besorgen 
hatte.  Vermutlich  von  Anfang  an  sind  daher  gerade  diese  halb- 
nomadischen Stämme,  vor  allem  die  Südstämme,  die  Vertreter 
der  »Einzigkeit«  Jahwes  im  Sinn  der  Monolatrie  gewesen.  Und 
von  da  aus  ist  diese  Auffassung  auf  die  berufsmäßigen  Vertreter 
derjenigen  Funktion  übergegangen,  welche  Jahwe  von  Anfang 
an  eigentümlich  war:  die  Kriegspropheten.  Das 
älteste  Dokument,  in  welchem  die  Verehrung  »neuer  Götter« 
durch  Israel  tadelnd  erwähnt  wird,  ist  das  Deboralied  (Jud.  5,  8). 
Alle  Kriege  gegen  die  Patriziate  der  StädtC;  der  kanaanäischen 
wie  der  philistäischen,  sind  in  Jahwes  Namen  geführt  worden , 
und  bei  solchen  Gelegenheiten  tauchte  bagreiflicherweise  jedes- 
mal die  Auffassung  auf:  daß  eine  Bundespflicht  der  Israeliten 
die  ausschließliche  Verehrung  des  Gottes  sei,  der  ihnen  im  Kriege 
zu  helfen  verheißen  hatte.  Alle  nicht  weltlichen,  sondern  pro- 
phetischen —  männlichen  oder  weiblichen  —  Führer  in  den  Be- 
freiungskriegen waren  Feinde  aller  anderen  Götter  oder  wurden 
es  im  Kriege.  Aber  im  übrigen  ist  für  die  seßhaften,  Israeliten 
nichts  sicherer,  als  daß  sie  noch  »andere  Götter«  außer  Jahwe 
hatten.  Und  zwar  zunächst  ganz  legaler  Weise.  Der  Besitz 
anderer  Götter  bedeutete  ja  lediglich  den  Bestand  anderer,  dem 
Jahwe  nicht  gewidmeter  Kulte,  und  daß  es  solche,  auch  abge- 
sehen von  den  importierten  auswärtigen  Numina,  gab,  hat  auch 
die  priesterliche  Redaktion  der  heiligen  Schriften  nicht  verwischen 
können  ^). 

Zunächst  berichtet  die  Tradition  von  Sippenkulten  und  Haus- 
heiligtümern. David  entschuldigt  sich  beim  Opferfest  des  Saul 
mit  einem  Kultfest  seiner  Sippe,  von  welchem  die  Kultordnungen 
Jahwes  nichts  wissen.  Nicht  nur  Laban  ferner,  sondern  (nach 
den  Bestimmungen  des  Bundesbuchs  über  die  Erbversklavungs- 
zeremonie  und  nach  der  Erzählung  über  die  Flucht  Davids  aus 
seinem  Hause)  jeder  vollversippte  Israelit  hatte  ursprünglich  eine  > 
heilige  Stätte  im  Haus  und  einen  Hausgötzen.  Was  diese  »T  e  r  a- 
p  h  i  m«  letztlich  gewesen  sind,  ob  sie  vielleicht  identisch  waren 
mit  Masken  oder  Puppen,  welche  das  Sippen-  oder  Familien- 

^)  Ge^cn  die  sehr  prononcierle  Ansicht  von  1£  e  r  d  m  a  n  s  (in  den  Alttest. - 
Studien),  wonach  manche  Teile  des  A.  T.  Jahwe  überhaupt  nicht  kennen  und  spe- 
aifisch   polytheistisch   seien,    s.     Steuer  na  gel     in    der   Theol.    Rundschau 

1908,     S.     2\2  f. 


1  5ü  3)as  antike  Judentum, 

haupt  beim  orgiastischen  Mimus  zu  tragen  hatte,  ist  nach  Lage 
der  Quellen  vielleicht  nicht  sicher  auszumachen  und  soll  hier 
nicht  erörtert  werden.  Wohl  aber  beweist  die  Art,  wie  sie  aus  den 
emendierten  Redaktionen  verschwinden,  daß  sie  nichts  mit 
einem  (ganz unwahrscheinlichen)  »häuslichen  Jahwekult«  zu  schaf- 
fen hatten,  so  wenig  wie  vermutlich  jene  Sippen  feste.  Im  einzelnen 
freilich  bleibt  alles  unsicher. 

Auf  recht  problematischem  Boden  befindet  man  sich  ebenso 
auch  bei  der  wichtigen  Frage,  ob  und  welche  Art  von  Toten- 
kult in  Altisrael  geherrscht  hat  und  inwieweit  dessen  spä- 
teres vollkommenes  Fehlen  mit  dem  Zurücktreten  der  sozialen 
und  kultischen  Bedeutung  der    vS  i  p  p  e  n  zusammenhängt. 

Die  geistvollen  Konstruktionen  eines  ursprünglichen  Ahnen- 
kults in  Israel  von  Stade  und  Schwally  haben  der  eindringenden 
Kritik  namentlich  Grüneisens  nicht  standhalten  können.  Aller- 
dings scheint  die  Totenseele  in  der  altpalästinensischen  Magie 
einmal  eine  sehr  beachtete  Potenz  gewesen  zu  sein.  Aber  in 
der  späteren  Zeit  ist  gerade  sie  eine  sehr  problematische  Figur. 
Daß  die  »Seele«  nichts  notwendig  Einheitliches  ist,  teilt  die 
israelitische  Auffassung  mit  sehr  vielen  anderen,  auch  mit  jener 
ägyptischen  Vorstellung,  welche  zum  mindesten  dem  König  eine 
Mehrheit  von  Seelen  zuschreibt.  Ab3r  die  schon  in  früher  Zeit 
die  ägyptische  Spekulation  beherrschende  einheitliche  Kon- 
zeption des  »Kai«  ist  in  Israel  nicht  übernommen  und  scheint 
auch  keinen  Einfluß  geübt  zu  haben.  Die  spätere,  auf  Verschmel- 
zung v^erschiedenartiger  älterer  eigener  und  einiger  vermutlich 
übernommener  Vorstellungen  zurückgehende  Auffassung  unter- 
schied am  Menschen  dreierlei:  i.  den  Körper  (basar),  2.  die  im 
Blut  sitzende  ^)  Seele  (nefesch)  als  Trägerin  der  normalen 
Affekte,  der  »Individuation«  (wie  wir  sagen  würden)  und  aller 
gewöhnlichen  Lebenserscheinungen  überhaupt  und  3.  den  »Geist«, 
den  »Lebensodem«  (mach).  Ruach  ist  dabei  ein  von  Jahwe 
dem  Menschen  eingeblasener  göttlicher  Windhauch,  durch  dessen 
Vorhandensein  aus  dem  ganz  kraftlosen  oder  nur  vegetativ  be- 
seelten Körper  erst  ein  lebendiger  Mensch  wird:  »von  den  vier 
Winden  her«  läßt  Jahwe  durch  ein  Zauberwort  des  Hesekiel 
in  dessen  Vision  den  Odem  kommen,  der  die  über  Israels  Boden 
verstreuten  Totengebeine  wiederbelebt.  Außerdem  und  vor  allem 
aber  ist  nun  ruach  jene  besondere  göttliche  Kraft,  welche,  der 

^)   Im  Herzen  sitzt  der  Verstand,  in  den  Nieren  die  Affekte. 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  jci 

»mana«  und  »orenda«  entsprechend,  als  Charisma  übsralltäg- 
1  icher  Leistung  im  Helden,  Propheten,  Künstler  und  umgekehrt 
als  dämonische  Besessenheit  in  schweren  Affekten  und  außer- 
alltäglichen Zuständlichkeiten  sich  äußert.  Nefesch  und  ruacb 
sind  in  den  Quellen  nicht  immer  scharf  geschieden.  Es  scheint, 
daß  der  in  der  späten  Redaktion  der  Schöpfungsgeschichten 
(Gen.  i)  sich  findende  Dualismus  von  lebendigem  Gottesodem 
(dem  »Wehen«  der  Gottheit)  und  totem  Chaos  von  phönikischen 
Vorstellungen  her  durch  Vermittlung  der  Intellekt  aellenspeku- 
lation  rezipiert  worden  ist  und  die  Konzeption  eines  Dualismus 
ruach-basar  ermöglicht  hat.  Dieser  kam  den  feindlichen  Ten- 
denzen der  Priester  gegenüber  dem  Totenkult  entgegen.  Nach 
der  späteren  Vorstellung  kehrt  nämlich  die  mach,  als  substantiell 
den  Winden  gleich,  mit  dem  letzten  Atemzug  zum  Odem  des 
Himmels  zurück,  geht  mithin  als  Individualität  unter  und 
ein  Totenreich  der  Individualseelen  fällt  damit  ganz  fort.  Das  ent- 
sprach dem  alten  Volksglauben  keineswegs.  Die  ursprüngliche 
Vorstellung  über  das  Schicksal  der  nefesch  ist  zwar  nicht  immer 
ganz  klar,  ging  aber  offenbar  dahin,  daß  sie  fortbestehe.  Einmal, 
bei  Jeremia,  findet  sich  die  auch  in  Altägypten  ursprüngliche 
Annahme:  daß  die  Seele  im  Grabe  weile.  Dabei  handelt  es  sich 
aber  um  eine  Heroine  (Rahel)  und  der  Grund  jener  Vorstellung 
war  zweifellos,  daß  in  diesem  Fall  ein  alter  Grabkult  existierte. 
Dagegen  ein  »Ahnenhimmel«  der  S  i p  p  e  n  genossen  scheint  nicht 
nachweisbar.  Sippengräber  finden  sich  für  einzelne  vornehme 
Geschlechter,  noch  in  der  Spätzeit  z.  B.  für  die  Makkabäer 
und,  nach  der  Tradition  der  Priester,  für  die  Erzväter.  Nur  bei 
seßhaften  Stämmen  waren  solche  möglich.  Der  vermutlich  alte 
Ausdruck:  »zu  seinen  Vätern  versammelt  werden«  bedeutete 
jedenfalls  eher:  Versammlung  zu  den  gemeinsam  beerdigten 
Sippengenossen  als:  in  einen  besonderen  Ahnenhimmel,  zumal  er 
mit  dem  anderen  Ausdruck :  »zu  seinen  Leuten  ('am)  versammelt 
werden«  abwechselt,  der  sowohl  Sippengenossen  wie  Kriegs- 
kameraden bedeuten  kann.  Auch  ein  Kriegerhimmel  ist  ge- 
schichtlich nicht  nachweisbar.  Besonders  von  ihm  begnadete 
religiöse  Helden  raffte  Jahwe,  nach  der  volkstümlichen  Vorstel- 
lung, hinweg:  sie  existieren  weiter  unter  seinen  himmlischen 
Heerscharen,  d.  h.  (wie  in  Aegypten  nach  einer  Vorstellung) 
im  leuchtenden  Sternenheer  oder  vielleicht  auch  in  seinem  himm- 
lischen Rat,    während    die    korrekte J Ansicht    wohl    die    war: 


152 


Das  antike  Judentum. 


daß  er  sie  in  seinen  Armen  sanft  verlöschen  lasse,  wie  den  Mose. 
Die  nephesch  aller  anderen  aber  führt  ein  Schattendasein  im  Hade.s, 
der   »Scheol«.     Aus  dieser  ist  nicht,  wie  in  Aegypten,    ein  Ort 
seliger  Existenz  der  Begnadeten  ausgeschieden  oder  eine  Chance 
der    Wiedergeburt    eröffnet.     »Schlaff«    (rephaim),   wie  bei  den 
Hellenen,  sind  vielmehr  alle  Totengespenster.    Allerdings  des- 
halb nicht  ungefährlich.    Die  Steinigung  eines  von  einem  bösen 
oder  einem  mit  dem  cherem  belegten  Geist  besessenen  Menschen 
oder  Tieres  hatte  zweifellos  den  Zweck,  seiner  unruhigen  Toten- 
seele den  Weg  so  gründlich  zu  verschütten,  daß  sie  nicht  umgehen 
konnte.     Während   in   Aegypten   aus   ähnlichen   Anfängen   die 
Lehre  vom  »Kai«  entwickelt  wurde  ^),    ist   die   israelitische  Vor- 
stellung von    der    »Seele«  durchaus   widerspruchsvoll    geblieben 
Das  strenge  rituelle  Verbot  des  Blutgenusses  wird  von  der  späteren, 
deuter onomischen    und    priesterlichen,    Auffassung    gelegentlich 
damit  begründet,  daß  man  die  Seele  auch  eines  Tiers  nicht  essen 
dürfe:  das  gibt  bösen  Zauber  und  vielleicht  Besessenheit.    Aber 
eine  Lehre  von  den  Schicksalen  der  Tier-  und  Menschenseelen 
hat  sich  nicht  entwickelt.     Im  Hades  lebte  die  nephesch  nur  als 
schattenhaftes   Abbild    des    Lebenden,    weil    sie    weder    Blut 
noch  Odem  hatte.    Man  erfährt  dort  nach  der  Vorstellung  auch 
der  Psalmisten  nichts  von  Jahwes  Taten  ur.d  kann  ihn  nicht  prei- 
sen: das  Gedenken  ist  erloschen.  Wie  Achilleus  wünscht  man  vor 
diesem  Schicksal  so  lange  als  möglich  bewahrt  zu  werden  und 
empfindet  diese  Existenz  nicht  als    ein    »jenseitiges    Fortleben«. 
Vollends  weiß  man  nichts  von  »jenseitiger  Vergeltung«,  wie  sie 
das   aus  den  chthonischen  Kulten  entwickelte  Totengericht   in 
Aegypten,  die  Grundlage  der  dortigen  priesterlichen  Beeinflussung 
der  Ethik,  darstellte.    Spärliche  Anfänge  einer  Tartaroskonstruk- 
tion für  Uebeltäter  finden  sich  bei  späteren  Propheten  zwar, 
sind  aber  ebensowenig  weiter  ausgebaut  worden,  wie  bei  den 
Hellenen    und    Babyloniern.     Der    verschwommene    Charakter 
all   dieser   Vorstellungen   erklärt   sich   am   einfachsten   daraus, 
daß  Scheol  sowohl  wie  nefesch  alte  Bestandteile  des  Heeres-  und 
Volksglaubens  waren  und  daß  die  Träger  des  Jahwismus  beides 
gleichermaßen  beiseite  ließen,  ihrerseits  dagegen  mit  dem  anfäng- 


^)  In  Aegypten  ist  Kai  die  »Lebenskraft«,  also  »Seele«  und  zugleich  die 
Nahrung,  deren  die  Seele  bedarf,  um  zu  existieren.  Sie  entspricht  der  nephesch 
insofern,  als  sie  es  ist,  die  in  das  Totenreich  geht.  (v.  Bissing,  vSitzb.  der  Münch. 
Ak.  d.  W.  Phil.-hist.  Kl.  1911  Nr.  6.) 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  15^ 

lieh  wohl  aus  der  animistischen  Wiedergeburtsvorstellung  der 
Kriegeraskese  entnommenen,  dann  mit  dem  göttlichen  Welt  ödem, 
dem  Winde  Jahwes,  in  Beziehung  gesetzten  Begriff  der  »mach« 
operierten  ^)  und  kein  Fortleben  einer  »Seele«  in  einem  Jen- 
seits kennen  wollten  ^).  Sondern  was  fortlebte  und  fortleben 
sollte,  war  bei  ihnen  etwas  ganz  anderes:  der  gute  Name  ^) 
des  Helden  bestand  unter  den  Kameraden  und  Nachfahren 
weiter.  Die  Hochschätzung  des  Namens  ist  eine  typische  Beduinen - 
Wertung,  wie  wir  sahen.  Aber  sie  herrschte  auch  in  Aegypten. 
Wie  dort,  so  bestand  auch  in  Israel  die  Vorstellung:  daß  jeder 
Name  etwas,  wie  dem  Ding,  so  der  Person  Wesenhaftes,  irgendwie 
Reales  sei.  Daß  Jahwe  den  »Namen«  des  Frevlers  aus  seinem 
»Buch«  austilgen  werde,  ist  Ausdruck  für  die  ihm  angedrohte 
Vernichtung  für  immer  (Ex.  32,  32.  33  f).  Die  Bedeutung  des 
persönlichen  Charisma  und  des  Kriegsheldenruhms  in  Verbin- 
dung mit  der  herrschenden  Sippengliederung  und  Benennung 
der  vornehmen  Sippen  nach  dem  Ahnen  als  Eponymos  wirkte 
wohl  dahin,  diese  Vorstellung  zu  verstärken.  Der  Name  eines 
Menschen,  den  der  Gott  im  Leben  sichtbar  gesegnet  hat, 
kann  zu  einem  »Segenswort«  werden,  welches  noch  späte  Ge- 
schlechter als  solches  gebrauchen.  Daß  dies  seinem  Namen  ge- 
schehen solle,  ist  die  höchste  Verheißung,  welche  Abraham 
von  Jahwe  erhält.  Denn  in  der  einzigen  alten  (jahwistischen) 
Redaktion  des  später  (Gen.  18,  18;  22,  18;  26,  4;  28,  14)  umge- 
stalteten Wortes  (Gen.  12,  2.  3)  lautet  dies  dahin.,  daß  Abrahams 
Name  »ein  Segenswort  werden«  und  daß  künftig  einmal  »alle 
Geschlechter  auf  Erden  sich  mit  seinem  Namen  segnen  sollen«. 
Das  bedeutete  an  sich  nur :  daß  er  selbst  und  die  Seinen  ein  welt- 
bekannt gesegnetes  Leben  führen  werden.  Irgendeine  »messiani- 
sche«  Deutung  lag  ganz  fern.  Um  dieses  Werts  des  Namens  willen, 
damit  der  Name  in  Israel  nicht  ausgetilgt  werde,  ersehnte  man 
große  Nachkommenschaft  (Deut.  25,  6.  7.  10;  Ruth.  4,  5.  10; 
i^Sam.  14,  22;  2.  Sam.  14,  7)  ^).      Nicht  aber,   wie   anderwärts, 

^)    Jedoch  schwört    Jahwe  bei  seiner  »nephesch«. 

*)  Aus  einer  Vermischung  der  beiden  dichDtomischeii  Vorstellungen  wäre 
also  die  spätere  Trichotomic  entstanden.  Auch  Kautzsch,  der  sich  entschieden 
gegen  die  Trichotomie  wendet,  muß  doch  im  Wesen  der  Sache  ihre  spätere  Exi- 
stenz zugeben. 

^)  Giesebrecht,  Die  alttestam.  Schätzung  des  Gottesnamens  und  ihre 
religionsgesch.  Grundlagen,   Königsberg  1901. 

*)  Wenn  Hieb  seine  Zuversicht  darauf  setzt,  daß  »sein  Bluträcher  lebe«, 
so  meint  er  damit:    daß  Jahwe  seinen  durch  die  Verdächtigungen  der  Freunde 


ICA  Das  antike  Judentum. 

um  der  Totenopfer  willen^).  Zwar  existierten  solche.  Aber  daß 
die  Opfer  für  das  Geschick  des  Toten  oder  für  das  des  Opfernden 
selbst  besonders  wichtig  seien,  ist  wenigstens  in  den  uns  zugäng- 
lichen Quellen  nirgends  angedeutet  -).  Dies  Schweigen  hängt 
wenigstens  ursprünglich  nicht,  wie  man  wohl  glauben  könnte, 
mit  einem  bewußten  Kampf  der  Priester  gegen  eine  bereits  be- 
stehende am  Ahnenkult  verankerte  Macht  der  Sippen  zu- 
sammen. Zwar  für  die  spätere  Zeit  ist  der  Gegensatz  der  Wir- 
kungsrichtung von  Priesterreligion  und  Sippenmacht,  wie  sich 
mehrfach  zeigen  wird,  unzweifelhaft.  Aber  er  blieb  auch  dann 
wesentlich  latent  und  ist  jedenfalls  nicht  der  Ausgangspunkt 
der  vollkommen  fremden  Stellung  des  Jahwismus  gegenüber 
allem  Totenkult  gewesen.  Denn  Sippenmacht  und  Totenkult 
gehen  zwar  oft,  aber  nicht  notwendig  und  immer  zusammen. 
In  Aegypten  hat  der  so  intensiv  wie  nirgends  sonst  gepflegte 
Totenkult  keineswegs   zur   Bildung  von  magisch   oder  kultisch 

augetasteten  guten  Namen  wieder  herstellen  werde.  Den  Eunuchen,  deren 
Zulassung  zur  Gemeinde  —  entgegen  dem  älteren,  auf  dem  Gegensatz  gegen  die 
Königseunuchen  beruhenden  Verbot  —  Tritojesaja  (56,  4.  5)  ausspricht,  stellt 
er  »3inen  besseren  Namen«,  als  durch  Söhne  und  Töchter,  in  Aussicht,  wenn 
sie  die  göttlichen  Gebote  erfüllen. 

1)  Auch  in  Aeg3^pten  ist  es  der  Name,  der  fortleben  muß,  nicht  die 
Nachkommenschaft  des  Toten  als  solche.  Der  Kult  liegt  bei  den  Vermögenden 
nicht  den  Nachfahren,  sondern  den  mit  Pfründen  bewidmeten  Totenpriestern 
ob.  Die  Fortexistenz  des  Namens  aber  bedingt  die  Fortexistenz  der  Seele 
im  Jenseits.  Gerade  diese  nahe  Verwandtschaft  der  Auffassung  von  der  Bedeutung 
des  Namens  in  Israel  mit  der  in  Aegypten  beleuchtet  das  Tendenziöse  der  Ab- 
lehnung aller  Jenseitserwartungen  und  Totenkulte  nur  um  so  stärker.  —  Dem 
Mißbrauch  des  Namens  Jahwes  entspricht  die  Strafe  (Erblindung),  welche 
Ptah  nach  einer  Inschrift  (im  Brit.  Mus.)  wegen  Mißbrauchs  seines  Namens 
verhängt  hat.  (Ermai,  Sitz.b.  der  Berl.  Ak.  d.  Wiss.  Phil.-hist.  Kl.  1911,  p.  1098  f.) 

2)  Ed.  Meyers  oft  ausgesprochene  Ansicht,'  daß  die  Totenopfer  nicht  um 
der  Macht  der  Toten  willen  gebracht  werden,  sondern  umgekehrt  die  Ohnmacht 
der  Toten  zur  Voraussetzung  haben,  die  ohne  sie  nicht  bestehen  können,  ist 
einseitig.  Es  ist  z.  B.  im  Allgemeinen  ganz  richtig,  daß  sowohl  Götter  wie 
Totenseelen  der  Opfer  bedürfen  (wie  die  homerischen  Schatten  im  Hades 
des  Blutes).  Aber  für  Aegypten  ergeben  die  Inschriften  schon  des  Alten  Reichs 
die  Macht  der  Toten.  Der  Tote  stellt  dem,  der  sein  Heil  verletzt,  Rache,  dem, 
der  ihm  Gebete  und  Opfer  bringt,  Fürsprache  bei  dem  großen  Gott  oder  anderen 
Segen  in  Aussicht.  Und  der  ganze  chinesische  Ahnenkult,  vor  allem  gerade 
die  in  ihrem  Sinn  ganz  vergessenen  Trauerbräuche  dort,  haben  die  Macht  der 
Totenseele  zur  Voraussetzung.  Das  Machtverhältnis  ist  also  gegenseitig:  der 
Tote  bedarf  der  Opfer,  aber  er  hat,  wie  die  Götter,  auch  die  Macht,  sie  oder  ihr 
Unterlassen  zu  vergelten.  Durchaus  zutreffend  ist  nur:  daß  der  »Ahnenkult«  als 
solcher  keine  universelle  Durchgangsstufe  der  Religion  ist.  Schon  deshalb, 
weil  —  wie  Aegypten  zeigt  —  Toten  kult  und  Ahnen  kult  in  keiner  Art  not- 
wendig zusammenfallen. 


I.     Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  jc^ 

gebundenen  Sippenverbänden  geführt  ^),  die  dort  vielmehr  so 
vollständig  wie  fast  nirgends  sonst  fehlten,  weil  die  Patrimonial- 
bürok-atie  des  Fronstaates  die  Bedeutung  der  Sippen  bereits 
gebrochen  hatte,  ehe  der  Totenkult  seine  alles  überragende  letzte 
Ausgestaltung  erhielt.  Die  stark  entwickelte  alte  israelitische 
Sippsngliederung  andererseits  hat  doch  keinen  wirklichen  Ahnen- 
kult chinesischen  oder  indischen  und  auch  keinen  Totenkult 
ägyptischen  Gepräges  entstehen  lassen.  Gewiß  hatte  er  sich 
aus  der  hauspriesterlichen  Stellung  des  Familienhauptes  und  den 
Sippenkulten  leicht  entwickeln  können,  und  wenn  er  entstanden 
wäre,  so  würde  er  die  Macht  und  das  rituelle  Prestige  der  Sippen 
außerordentlich  gesteigert  und  dadurch  der  Ausbreitung  des 
reinen  Jahweglaubens  ernstliche  Widerstände  bereitet  haben. 
Die  Gastvölkerorganisation  hätte  dann  vielleicht  zur  Kasten- 
bildung führen  können.  Insofern  war  es  allerdings  von  nicht  ge- 
ringer Bedeutung,  daß  der  Jahweglauben  offenbar  von  Anfang 
an  der  Entstehung  eines  Toten-  oder  Ahnenkults 
ablehnend  gegenüberstand^).  Denn  die  typischen  An- 
sätze zur  Entstehung  solcher  Kulte  scheinen  bestanden  zu  haben. 
Sicher  feststellbar  ist  ein  Kult  von  wirklichen  oder  angeblichen 
Stammesheroen  zwar  nicht,  aber  die  Erwähnung  von  Gräbern 
einiger  von  ihnen  macht  Kulte  wahrscheinlich,  die  dann  von 
der  späteren  Priesterredaktion  sehr  geflissentlich  umgedeutet 
wurden.  Mehr  als  die  hohe  Wertung  der  Leichenpietät  im  (apo- 
kryphen) Tobit-Buch,  die  vielleicht  persisch  beeinflußt  ist, 
zeigen  die  Erwähnung  der  Totenopfer  und  Trauerbräuche  im 
Deuteronomium  (26,  14)  und  die  Reste  der  Totenorakel, 
daß  der  Weg  zum  Totenkult  begangen  war.  Und  noch  weit  mehr 
als  all  diese  Spuren  spricht  dafür  gerade  die  ganz  offensichtlich 
bewußte  schroffe  Ablehnung  aller  dieser  Ansätze  durch  die  Jahwe- 
religion, welche  ihnen  die  Entwicklung  abschnitt.    Denn  diese 

^)  Scnon  die  Toten  des  Alten  Reichs  wenden  sich  in  den  Grabaufschriften 
nicht  an  die  Nachfahren,  sondern  an  jedermann,  der  ihrem  Grabe  naht,  um  GeSete 
und  Opfer  und  versprechen  jedem,  der  ihnen  willfährig  ist,  Fürsprache.  Der 
Totendienst  aber  wird  durch  Priesterpfründen  gesichert,  nicht  durch  religiöse 
Pflicht  der  Nachfahren. 

2)  Die  Ablehnung  der  ägyptischen  Totenkulte  folgte  keineswegs  schon 
an  sich  aus  der  Stammfremdheit  und  der  Verschiedenheit  der  Lebensverhältnisse. 
Die  ebenfalls  stammfremden  libyschen  Beduinen  hatten  das  gesamte  Toten- 
zeremoniell  der  Aegypter  übernommen  (s.  Breastead,  Records  IV,  669,  726  ff.). 
Ebenso  wie  libysche  sind  aber  auch  semitische  Beduinen-SchSchs  sehr  oft  in 
Aegypten  und  auch  am  Hof  zu  finden.  Auch  Syrer  mit  ägyptisclvtheophoren 
Namen    kamon    Anri    vor. 


j  c^  Das  antike  Judentum. 

Gegnerschaft    hat    einen    augenfällig    tendenziösen    Charakter. 
Nicht  etwa  die  Unreinheit  alles  Toten  und  alles  auch  nur  indirekt 
zum  Grabe  in  Beziehung  Stehenden,  wie  etwa  des  Trauerbrots, 
ist  dafür  entscheidend.    Denn  »unrein«,  d.h.:   Quelle  magischer 
Befleckung,  war  der  Tote  und  was  ihn  anging,  auch  da,  wo  er 
Gegenstand  eines  Kults  war,  z.  B.  in  Aegypten.   Daß  dem  Jahwe- 
priester jede  Beteiligung  an  der  Totentrauer  außer  für  die  aller- 
nächsten Angehörigen  unbedingt  untersagt  war,  geht  aber  immer- 
hin über  das  hinaus,  was  dadurch  bedingt  wäre.    Ebenso  die 
absolute  rituelle  Unreinheit  aller  Vorräte,  von  denen  auch  nur 
Teile  für  Totenopfer  verwendet  oder  bei  Totenmahlen  gegessen 
waren :  es  war  geradezu  Gegenstand  des  »negativen  Sündenbekennt- 
nisses«, welches  der  Einzelne,  wenn  er   »vor   Jahwe  erschien«, 
abzulegen  hatte,  daß  das  zu  Opfernde  in  dieser  Hinsicht  rituell 
rein    sei    (Deut.    26,   14).     Nicht   minder   die   Perhorreszierung 
der  Totenorakel.   Denn  sie  erfolgte  nicht  etwa,  wie  bei  manchen 
anderen  verbotenen  Orakelpraktiken,  weil  sie  trügerisch  wären, 
sondern  obwohl  sie,  wie  ja  das  Beispiel  der  Beschwörung  Samuels 
zeigt,  wirksam  waren  und  die  Wahrheit  enthüllten.    Nein:  sie 
waren  eine  Konkurrenz  gegen  die  von  den  Jahwepriestern 
gehandhabten   Orakelformen  und  entstammten  Kulten,    welche 
für  diese  offenbar  eine  gefährliche  Rivalität  bedeuteten.    Neben 
einheimischen  chthonischen  Kulten  war  vor  allen  Dingen  gerade 
der  ägyptische   Totenkult  in  der  unmittelbaren  Nachbarschaft 
offenbar  ein  Feind,  gegen  welchen  die  Verpönung  alles  Totendien- 
stes   sich    richtete^).     Die    in  Palästina    zahlreich   gefundenen 
Skarabäen    dienten  bekanntlich  als  magischer  Schutz  für  den 
Toten  vor  dem  Totenrichter  und  machen  es  sehr  wahrscheinlich, 
daß   die  ägyptische  Art  des  Totenkults  nicht  unbekannt  war. 
Nichts  beweist  aber  deutlicher  das  tiefe  Unbehagen,  mit  welchem 
die  Jahwereligion  aus  diesem  überall  spürbaren  Gegensatz  gegen 
die,    ägyptische    Esoterik    und     chthonische  Mysterien    heraus 
allen  Angelegenheiten   des    »Jenseits«  gegenüberstand,   als   das 
unvermittelte    Abbrechen    aller   scheinbar    unvermeidlich   dort- 
hin  führenden    Gedankengänge  ^)    in   der  ganzen  alttestament- 

1)  Das  ausdrückliche  Verbot  der  Selbstverwundung  bei  der  Totentrauer 
(Lev.  19,  18)  freilich  ist  gegen  Ekstatik  und  ekstatische  Magie  gerichtet  (s.  u). 
Die  Technik  der  Einbalsamierung  aber  war  in   Israel  bekannt:   Gen,   50,   2.  3. 

*)  So  in  der  Vision  Hesekiels  von  den  Totengebeinen,  deren  Wiederbele- 
bung durch  Zauberwort  ausschließlich  als  ein  Machtbeweis  Jahwes  gewertet 
wird.    Auch  dem  'Ebed  Jahwe  Deuterojesajas  ist  nur  ein  ruhmvolles  Zukunfts- 


r.     Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jaluve.  i  ^7 

liehen  Literatur  mit  Einschluß  sämtlicher  Propheten,  Psalmisten 
und  Legendendichter.  Den  Propheten  (Jes.  28,  15)  bedeutet  ein 
politisches  Bündnis  mit  Aegypten  den  Bund  mit  Scheol,  das 
heißt  mit  den  Totengöttern:  das  erklärt  mit  ihre  hartnäckige 
Feindschaft  gerade  gegen  diese  Anlehnung. 

Bei  all  dem  hat  man  nun  aber  doch  den  Eindruck,  daß  der  in 
Babyloii  esoterisch  bestehende,  durch  Astralmythen  bedingte 
Auferstehungsglaube,  der  plötzlich  im  Danielbuch  als  fertige 
Vorstellung  hervortritt  und  nach  der  Makkabäerzeit  (pharisäischer) 
Volksglaube  wird,  auch  in  vorexilischer  Zeit  nicht  etwa  unbekannt 
war  ^).  Die  offizielle  babylonische  Religion  weiß  freilich  von 
solchem  Glauben  ebensowenig  etwas  wie  die  israelitische.  Der 
Tod  ist  ihr  ein  unvermeidbares  Uebel  alles  Menschentums.  Denn  die 
Lebenspflanze  ist  unter  der  Obhut  böser  Dämonen  tief  verborgen 
in  der  Unterwelt,  die  auch  dort  ein  reines  Schattenreich  ist.  Und 
nur  vereinzelte  Sterbliche  sind,  wie  in  Israel,  durch  Göttergnade 
in  ein  seliges  Dasein  entrückt.  Aber  in  Israel  ist  nicht  nur  ein 
Ignorieren,  sondern  Ablehnung  zu  spüren.  Das  ganze  Gebiet 
des  Totenreichs  und  des  Schicksals  der  Seele  blieb  der  offiziellen 
piiesterlichen  und  prophetischen  Religion  unheimlich.  Bis  auf 
die  Zeit  der  Pharisäer,  welche  darin  Wandel  schufen,  operieren 
ihre  Repräsentanten,  gerade  die  größten  unter  ihnen,  niemals 
mit  dem  in  der  ägyptischen  und  der  zarathustrischen  Religion 
heimischen  Gedanken  einer  jenseitigen  Vergeltung.  Die  Pietät 
gegen  die  lebenden  Eltei  n  wird  hoch  gerühmt  und  ihr  Bruch  streng 
verpönt,  aber  von  einem  Jenseitsschicksal  noch  so  glänzender 
Ahnen  ist  niemals  die  Rede,  obwohl  doch  die  Vergeltung  und  der 
gerechte  Ausgleich  das  war,  was  die  Jahwegläubigen  von  ihrem 
Gott  erhofften  und  obwohl  die  Solidarität  der  Sippe  mit  ihrer 
Haftung  der  Nachfahren  für  die  Sünden  der  Väter  feststand. 
In  späterer  Zeit  haben,  wie  wir  sehen  werden,  die  Verheißungen 
der  Propheten  durch  ihre  Eigenart  diese  Ablehnung  aller  indivi- 
duellen Jenseitsvergeltung  zugunsten  dar  kollektiven  diesseitigen 
Hoffnungen  mit  bedingt.  In  der  Frühzeit  aber  ist  diese  für  die 
Rechtssammlungen  wie  die  Geschichtsschreiber  gleichmäßig 
charakteristische   Ablehnung    jeder    Jenseitsspekulation,    zumal 

leben  in  Aussicht  gestellt,  wobei  aber  diese  zwischen  eschato logischer  Persön- 
lichkeit und  Personifikation  gleitende  Gestalt  offenbar  in  der  zweiten  Qualität 
in    Betracht   kommt. 

^)  Ueber  die  ganze  Frage  Beer  in  der  schönen  Abhandlung  über  den  bibli- 
schen  Hades  (Theol.  Abh.  für  H.  Holtzmann  1902). 


j  rg  Das  antike  Judentuin. 

in  der  Nachbarschaft  des  sehr  genau  bekannten  x\egypten,  doch 
wohl  kein  Zufall.  Freilich :  der  nächste  und  unmittelbarste  Gegner 
waren  vermutlich  die  orgiastischen  Kulte  der  chthonischen 
kanaanäischen  Numina.  Die  Aufzählung  der  verpönten  Trauer- 
bräuche (Einritzen  von  Wunden,  Kahlscheren  des  Haupts 
und  Aehnliches)  bei  den  Propheten  (Amos,  Jesaja,  Micha)  und 
inderThora  (Lev.  19,  28;  Deut.  14,  i)  zeigt  auch  keine  spezi- 
fisch ägyptischen,  sondern  allgemein  chthonische  Züge.  Und  mo- 
tiviert ist  das  Verbot  (Deut.  14,  2)  durch  die  Beziehung  zu  Jahwe, 
also:  kultisch.  Jahwe  hat  eben,  so  viel  bekannt,  nie  und 
nirgends  Züge  eines  chthonischen  Gottes 
an  sich  getragen.  Immer  residiert  er  auf  'den  Bergen  oder  im 
Tempel,  nie  in  der  Erde.  Niemals  wird  Scheol,  der  Hades,  als 
von  ihm  geschaffen  hingestellt:  es  ist  die  einzige  unter  allen 
Stätten  des  Weltalls,  von  der  dies  nicht  behauptet  wird.  Niemals 
ist  er  der  Gott  der  Toten  oder  eines  Totenreichs.  Die  Kulte  der 
chthonischen  und  der  Totengötter  haben  eben  überall  sehr  spe- 
zifische Eigentümlichkeiten,  von  denen  sich  keinerlei  Spur  im 
Jahwekult  nachweisen  läßt.  Ebensowenig  ist  er  jemals  ein 
Vegetationsgott  oder  Gestirngott  gewesen:  —  Gottheiten,  deren 
Kulte  die  Auferstehungshoffnungen  zu  erzeugen  pflegen.  Dieser 
kultische  Gegensatz  war  unzweifelhaft  für  die  Stellung- 
nahme der  Jahwepriester  und  Thoralehrer  der  entscheidende. 
Aber  mit  Totenkulten  verbundene  Auferstehungsvorstellungeii 
waren  wohl  auch  in  Palästina  nicht  unbekannt.  Nur  die  Jahwe - 
priesterschaft  hatte  mit  ihnen  nichts  zu  tun  und  wollte  mit  ihnen 
auch  nichts  zu  tun  haben,  weil  ihre  eigenen  rituellen  Gepflogen- 
heiten mit  siderischen  ebenso  wie  mit  chthonischen  Kulten  unver- 
einbar waren .  Und  neben  dem  äußeren  Gegensatz  gegen  Totenprie- 
ster und  Totenorakeldeuter  war  wohl  auch  die  Befürchtung,  bei  je- 
den Konzessionen  an  irgendwelchen  Jenseitsspekulationen  durch 
Kulte  von  der  unermeßlichen  Popularität  des  ägyptischen 
Osiriskults,  sei  es  durch  diesen  selbst  oder  eine  an  ihn  anknü- 
pfende Esoterik  von  Auferstehungsmysterien,  überrannt  oder 
zurückgedrängt  zu  werden,  für  ihr  Verhalten  maßgebend.  Zu- 
statten kam  ihnen  bei  der  Ablehnung  aller  Toten-  und  Ahnen- 
kulte wohl  auch,  daß  die  durch  die  Struktur  der  ägyptischen 
Sozialordnung  gegebene  Verklärung  der  buch  mäßig  fixierten 
Weisheit  der  Ahnen  als  solcher  für  das  alte  Israel  nicht  in 
Betracht  kam.    Ebenso:  daß  eine  eigentliche  Adelsentwicklung 


1.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  159 

mit  individueller  Ahiienverehrung  ausblieb.  Denn  so  wenig  ein 
schon  entwickelter  »Ahnenkult«  Anlaß  der  Feindschaft  der 
Jahwepriester  gegen  die  Trauerbräuche  war,  so  zeigt  doch 
die  Zusammenstellung  des  Verbotes  der  Trauerkasteiung  durch 
Körpereinschnitte  mit  der  Tätowierung  (Lev.  19,  28) : 
zweifellos  einer  Tätowierung  mit  dem  vom  Stammesvater  über- 
kommenen Sippen-  und  Stammeszeichen,  daß  die  Gegnerschaft 
im  praktischen  Effekt  auch  der  kultischen  Bedeutung  der  Sippen 
als  solcher  galt.  Der  Kampf  der  reinen  Jahwegläubigen  gegen 
die  Entstehung  von  Kultverbänden  der  Sippen  hinderte  seiner- 
seits auch  wieder  die  Entstehung  eines  Ahnenkults,  für  den  Sip- 
penverbände ja  die  Stätte  abgegeben  hätten.  Die  Sippenfeste 
sind  denn  auch  später  durchaus  verschwunden. 

Dagegen  hatte  sich  der  Jahwekult  zunächst  damit  abzu- 
finden gehabt,  daß  im  iVckerbaugebiet  Palästinas  die  üblichen 
Götter  der  Ackerbauer:  siderische  und  typische  Vegetations- 
götterkulte, fortbestanden.  Neben  den  schon  vorhandenen  oder 
importierten  phönizischen  Kulten  (vor  allem :  Moloch  und  Astarte) 
und  mesopotamischen  Gottheiten  (Tammuz,  der  Mondgott  Sin), 
die  niemals  von  den  Jahwepriestern  anerkannt  wurden,  scheint 
durch  die  Legende  von  Jephthas  Tochter  der  Bestand  von  jähr- 
lichen Klageriten  um  den  Tod  einer  alten  weiblichen  Vegetations- 
gottheit bezeugt  zu  sein.  Diese  fremden  Götter  haben  aber  auf 
die  Gestaltung  der  Jahwereligion  keine  entscheidende  Be- 
deutung gehabt  und  interessieren  hier  nicht.  Denn  ihr  Einfluß 
wirkte  zwar  in  massenhaften  Einzelheiten,  aber  nicht  in  den  für  die 
grundlegenden  Formen  der  Lebensführung  entscheidenden  Riten 
nach.  Mit  einer  Ausnahme.  Die  überaus  wichtige  Institution 
des  Sabbat^)  hängt  mit  dem  Schabattutage  des  auch  in 
Babylon  herrschenden  Mondkults  offensichtlich  zusammen.  Wie 
die  Etymologie  des  hebräischen  Worts  für  »schwören«:  »sich 
besiebenen«  zeigt,  ist  die  in  Babylonien  eingebürgerte  Heiligkeit 
der  Siebenzahl  und  wohl  auch  der  »Siebengötterschaft«  auch  in 
Palästina  alt.  Aber  die  beiderseitige  Geltung  des  Sabbats  beruht 
schwerlich  auf  eigentlicher  Uebernahme,  sondern  wohl  auf 
gemeinsamer  Ueberliefcrung.    Schon  bei  den  frühesten  Erwäh- 

1)  Ueber  den  Sabbat  vgl.  jetzt  besonders  die  sehr  präzise  Abhandlung 
von  G.  Beer,  Einleitung  in  die  Uebersetzung  des  Mischna-Traktats  »Scliabbath« 
(in  den  Ausgew.  Mischnatraktaten,  herausgeg.  v.  P.  Fiebig,  Nr.  5,  Tübingen  1908) 
S.  IG  f.  Ferner:  Hehn,  Siebenzahl  und  Sabbat  bei  den  Babyl.  u.  im.  A.  T. 
(Leipz.   Semit.   Stud.  II,  5,  1907). 


l5o  ^^^  antike  Judentum. 

nungen  des  Sabbats  treten  die  Unterschiede  hervor. .  In  Meso- 
potamien war  der  Schabattutag  streng  an  den  Mondumlauf: 
Neumond,  Vollmond,  später  die  durch  7  teilbaren  Tage  des  Monats 
und  den  7  X  J.  Tag,  gebunden.  In  Israel  ging  der  jeweilig 
siebente  Tag  als  Feiertag  unbekümmert  um  die  Mondphasen 
durchlaufend  weiter,  obwohl  die  Heiligkeit  des  Neumonds  auch 
dort  alt  war^)  und  anscheinend  auch  für  die  einstige  Heiligkeit 
des  Vollmonds  sich  Spuren  finden.  Vielleicht  hat  der  Name 
Sabbat  ursprünglich  Vollmondtag  bedeutet,  wie  Beer  annimmt 
und  ist  erst  später  auf  den  »siebenten  Tag«  (Ex.  23,  12;  34,  21) 
übertragen  worden.  Gemeinsam  war  mit  Babylonien  nur  die 
Verwendung  der  Siebenzahl,  verschieden  die  Art,  wie  sie  geschah. 
In  Mesopotamien  ferner  war  der  Schabattu  in  historischer  Zeit 
ein  Bußtag.  In  Israel  war  der  siebente  Tag  zunächst  offenbar 
ganz  und  gar  ein  fröhlicher  Tag  der  Arbeitsruhe,  an  welchem 
man  andere  Dinge  als  die  übliche  Berufsarbeit  besorgte,  nament- 
lich auch  die  Gottesmänner  aufsuchte  (2.  Kge.  4, 23).  Wie  vor  allem 
noch  die  Nehemiachronik  (13,  15)  zeigt,  war  ei  aber  auch  der 
Tag  für  die  Bauern,  zur  Stadt,  zum  Markt  und  zur  Kirmeß  zu 
fahren  ^),  ebenso  wie  die  römischen  Nundinae  and  wie  der 
eine  Tag  der,  in  manchen  Gemüseländern  herrschenden,  kürzeren 
5  Tage-Woche  dort.  Die  Anklage  des  Propheten  Amos  (8,  i) 
gegen  diejenigen  Getreideverkäufer,  denen  der  Sabbat,  als  Ge- 
schäftsstörung, zu  lang  ist,  zeigt,  daß  schon  damals  die  Arbeits- 
ruhe wenigstens  für  die  /wie  der  Zusammenhang  ergibt ;  stadt- 
sässigen,  berufsmäßigen)  Händler  durchgeführt  wurde.  Schon 
die  Rücksicht  auf  die  sonst  eintretende  Begünstigung  der  Kon- 
kurrenz der  Gerim  hatte  dies  nötig  gemacht  (y^\.  ganz  analog: 
Neh.  13,  16  f.).  Sklaven  und  Vieh  scheinen  nach  der  aus  der 
Zeit  der  Jehu-Dynastie  stammenden  Prophetenlegende  (i.  Kön. 
4,  22)  damals  noch  nicht,  sondern  erst  in  der  deuteronomischen 
Zeit  einbegriffen  worden  zu  sein.  Wohl  erst  damals  wurde  der 
karitative  Zweck  in  den  Mittelpunkt  gerückt.   Seine  letzte  Stei- 

^)  Neumonde  und  Sabbate  galten  den  frühem  Propheten  als  Fest- 
tage Jahwes. 

2)  Meinholds  Gedanke  (zuletzt:  Z.  f.  A.T.  W^iss.  29,  1909),  daß  der 
Sabbat  erst  im  Exil  zum  Wochentag  geworden  sei,  erscheint  deshalb  nicht  an- 
nehmbar. Gerade  die  in  Palästina  Gebliebenen  kannten  offenbar  den  festen  Wo- 
chensabbat als  Markttag.  Aus  eben  diesem  Grunde  kann  ich  auch  Beer's  An- 
nahme, daß  der  Sabbat  gerade  und  erst  im  Exil  in  Babylon  zum  durchlaufenden 
Wochentag  geworden  sei,  nicht  teilen. 


I.    Die  isiaelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  i5l 

gerung  zu  dem,  neben  der  Beschneidung,  wichtigsten  M'_u-kmal 
Israels  und  einer  absoluten  und  dabei  rein  rituellen  Enthaltungs- 
pflicht von  aller  über  das  rituell  vorgeschriebene  Maß  hinausgehen- 
den Tätigkeit  erhielt  er  erst  in  der  Exilszeit  durch  das  Streben 
der  Priester  nach  absolut  unüb3rsteiglichen  »konfessionellen« 
Unterscheidungspflichten  Israels.  Er  wurde  nun  —  da  die  bloße 
Tatsache  der  Beschnittenheit  ja  keine  Gewähr  der  wahrhaft 
gottgefälligen  Lebensführung  bot  —  zu  einem  der  wiederholt 
und  immer  pathetischer  eingeschärften  rituellen  Hauptgebote 
Israels  und  stand  an  Bedeutung  neben  dem  Verbot  des  Mor- 
des, der  Idolatrie  und  des  Blutgenusses.  Nun  erhielt  er  durch 
die  Redaktion  des  Sechstagewerksmythos  einen  kosmischen 
Hintergrund.  Der  priesterlichen  Auffassung  dieser  Zeit  galt 
die  Verletzung  der  Sabbatruhe  als  todeswürdiger  Frevel 
(Ex.  31,  14  f.).  Der  Ursprung  aber  ist  sicherlich  nicht  bei  den 
Viehzüchtern  der  Wüste  oder  Steppe  —  wo  er  praktisch  undurch- 
führbar oder  ohne  Bedeutung  ist  und  die  Mondphasen  wenig 
wichtig  sind  —  sondern  in  einem  Ackerbaugebiet  zu  suchen, 
wobei  dann  die  Frage,  ob  es  sich  bei  der  Siebenzahl  um  Planeten- 
rechnung oder  Vierteilung  des  Mondumlaufs  handelte,  sicher 
mit  Recht  zunehmend  zugunsten  der  letzteren  Annahme  beant- 
wortet wird  ^) .  Daß  aber  der  Feiertag  in  Israel  im  Gegensatz 
zu  Babylonien  durchlaufend  wurde  (oder :  blieb) ,  erklärt  sich  ein- 
fach aus  dem  stärkeren  Vorwiegen  der  am  lokalen  Stadtmarkt 
orientierten  bäuerlichen  Wirtschaftsinteressen  und  Gepflogen- 
heiten in  Palästina,  dagegen  des  vornehmen  astronomischen 
Priesterwissens  bei  den  Babyloniern.  Hier  war  die  astronomische 
Korrektheit  rituell  wesentlich,  bei  den  Israeliten  dagegen  war  in 
der  Zeit  der  Fixierung  der  Sabbatgewohnheiten  das  Interesse 
der  Bauern  und  Kleinstädter  an  regelmäßiger  Wiederkehr 
des  Markttages  ausschlaggebend.  Endgültig  hat  sich  das  Durch- 
laufen des  Sabbats  wohl  mit  der  Erstarkung  der  Marktwirtschaft 
durchgesetzt:  das  spezifische  Stadtstaatgesetz,  das  Deutero- 
nomium,  erwähnt  die  alten  Mondfeste  nicht  mehr.  Siderische 
Korrektheit  vermochten  die  Israeliten  aus  eigener  Kraft  doch 
nicht  zu  erreirhcn:  man  muß  sich  erinnern,  welche  Poin  eine 

^)  Budde  weist  immerhin  auf  Arnos  5,  26  hin  (assyrische  Namen  des 
Saturn).  Gegen  den  Glauben  an  die  große  Bedeutung  des  Mondkults  (Sinai- 
Name,  Namen  der  Frauen  Abrahams)  für  die  Jahwereligion  jetzt  König,  Z.  D. 
M.  G.  69  (1915)  S.  280  f. 

Max    Wcl.er,    Rcligionssoziologie   III.  H 


]52  -^^^  antike  Judentum. 

korrekte  Feststellung  mancher  an  sich  einfacher  astronomischer 
Tatbestände  noch  den  Rabbinen  der  Spätzeit  gemacht  hat. 
Ließ  sich  der  Sabbatritus  leicht  aus  dem  Zusammenhang 
mit  dem  Mondkult  lösen  und  der  Jahwereligion  einfügen,  ja 
sogar  zu  einem  ihrer  rituellen  Hauptgebote  machen,  so  bereiteten 
auf  die  Dauer  um  so  größere  Schwierigkeiten  andere  Kulte  der 
Ackerbauer,  welche  die  Israeliten  des  Jahwebundes,  durch  Bei- 
tritt ansässiger  Stämme  und  eigenen  Uebergang  zur  Seßhaftig- 
keit in  ihrer  Mitte  teils  vorfanden,  teils  übernahmen.  Wie  in  den 
Amarnatäfeln  die  Götter  der  Chabiru  »ilani«  genannt  werden, 
so  heißen  die  Gottheiten  der  Kanaanäer  und  der  nördlichen 
ansässigen  Israeliten  Elohim,  ein  Name,  der  hie  und  da  viel- 
leicht auch  für  israelitische  Götter  noch  als  Plural  verstanden 
wurde  —  das  Attribut  wird,  öfters  in  den  Plural  gesetzt  — ,  in 
der  gegenwärtigen  Redaktion  aber,  wenn  von  israelitischer 
Religion  die  Rede  ist,  durchweg  als  eine  Einzahl  gedacht  ist. 
Davon  scheint  allerdings  gerade  eine  Stelle  im  vBundesbuch« 
(Ex.  22,  8)  eine  Ausnahme  zu  machen  und  ebenso  scheinen  die 
grammatischen  Verhältnisse  bei  den  Anreden  Abrahams  an  die 
göttliche  Epiphanie  der  drei  Männer  es  wahrscheinlich  zu  machen, 
daß  die  Einzahl  der  Anrede  eine  polytheistische  Auffassung  als 
Quelle  nicht  ausschloß.  Der  Plural  als  Bezeichnung  eines  prä- 
eminenten und  zugleich  abstrakten  in  der  Ferne  des  Himmels 
thronenden  höchsten  Wesens  war  gerade  im  benachbarten 
Phönizien,  aber  anscheinend  auch  in  Palästina  verbreitet  ^) 
und  im  späteren  Sprachgebrauche  Babyloniens  ist  der  Plural 
»ilani«  ebenso  wie  Elohim  in  Israel  Bezeichnung  der  »Gottheit«.' 
Trotzdem  bleibt  wahrscheinlich,  daß  eine  Pantheonbildung 
irgendwelcher  Art  dem  Ausdruck  ursprünglich  zugrundelag. 
Aber  namentlich  Hehn  hat  glaublich  gemacht,  daß  schon 
die  Einwanderung  der  Israeliten  die  Bezeichnung  als  Koliektivum 
für  die  »Gottheit«  oder  den  »höchsten  Gott«  vorfand.  Für  die 
Jahweverehrer  stand  naturgemäß  die   Suprematie  des  Bundes- 


1)  Baumgärtel,  Elohim  außerhalb  des  Pentateuch  (Beitr.  z.  Wiss. 
V.  A.  T.  19,  1914)  weist  nach,  daß  Elohim  als  Gottesname  vom  Richterbuch 
zu  den  Samuel-  und  weiter  zu  den  Königsbüchern  an  Häufigkeit  abnimmt, 
im  zweiten  und  dritten  Psalmen- Komplex  und  im  Koheleth-Buch  durchweg, 
bei  den  Propheten  fast  nie  gebraucht  wird  und  daß  die  offenbar  sprichwört- 
lichen Wendungen  mit  »Elohim«  altkanaanäisches  Sprachgut  sind.  Der  Ge- 
brauch in  späten  Schriften  hat  natürlich  in  der  Scheu  vor  dem  Tetragrammaton 
seine    Ursache. 


I.     Die  israelitische  Eidgenbssenschafl  und  Jahwe.  163 

gottes  Jahwe  fest.  Er  war  ihnen  »Elohim«,  weil  er  ihre  »Gott- 
heit« schlechthin  war^).  Dies  fand  in  der  Stellung  des  höchsten 
Himmelsgottes  in  Babylonien  und  den  von  dort  beeinflußten 
Gebieten  eine  Parallele,  und  der  Brief  des  Kanaanäers  Achijam 
bezeichnet  (15.  Jahrh.)  den  höchsten  Gott  als  »Bei  ilanu«,  »Herr 
der  Götter«.  Mit  solchen  höchsten  Himmelsgöttern  wurde  Jahwe 
naturgemäß  besonders  leicht  verschmolzen.  Er  heißt  noch  in  rela- 
tiv späten  Stellen  ein  »Gott  der  Götter«.  Die  Erinnerung  dar- 
an, daß  dies  einst  ihm  gegenüber  selbständige  Götter  waren >  lebt 
außer  in  zornigen  Bemerkungen  des  Jesaja  gegen  die  Elim  auch  in 
den  Namen  einiger  von  ihnen  und  der  offensichtlich  nachträglichen 
Identifikation  mit  Jahwe  fort.  Den  »höchsten  Gott«,  El  eljon 
—  nach  andern  Nachrichten  wohl  ein  phönizischer  Name  für  den 
Himmelsgott  an  der  Spitze  des  Pantheon  —  läßt  eine  freilich 
in  der  jetzigen  Redaktion  späte  Tradition  zu  Abrahams  Zeit 
in  Jerusalem  (?)  durch  den  Priester könig  Malkisedek  verehrt 
werden  und  den  gleichen  Ausdruck  wendet  Abraham  dann  für 
Jahwe  an  2).  Die  alte  Bezeichnung  El  Schaddaj;  nach  Delitzsch 
mit  Shadu:  (babyl.)  Berg,  zusammenhängend,  bezeichnet 
das  gleiche  ^).  Andere  himmlische  Wesen  galten  der  späteren 
Auffassung  als  ihm  untergeordnete  Boten  und  Helfer.  Aber  ur- 
sprünglich waren  sie  sicherlich  auch  ihrerseits  Götter,  wie  wieder- 
um die  überaus  schwankende  Behandlung  der  drei  Gestalten 
der  Epiphanie  bei  Abraham  im  Hain  Mamre  Und  ebenso  aie  bei 
göttlichen  Ratschlüssen  in  der  Genesis  sich  öfter  findende  Selbst- 
bszeichnung  »wir«  zu  zeigen  scheint.  »Die  Kinder  der  Elohim« 
finden  in  dem  verstümmelten  alten  Titanenmythos  (Gen.  6) 
Gefallen  an  den  Töchtern  der  Menschen  und  zeugen  mit  ihnen 
dieNephilim  (Nuni.4,  13),  die  Giganten  (der  großen  Sternbilder), 
von  denen  die  Enaksöhne  (Num.  ebenda),  und  jene  Ritter  (gib- 
borim)  der  verschollenen  kanaanäischen  Urzeit  abstammten, 
gegen  welche  die  Ahnen  zu  kämpfen  hatten  und  welche  nach 
dem   ursprünglichen   Zusammenhang   der    Himmclsgott    in    der 

^)  Helui  a.  a.  U.  (etwas  abweichend  und  meines  Krachtcns  niclit  ganz  unbe- 
denklich formuliert). 

^)  Späte  Quellen,  so  der  Sirachide  und  gelegentlich  die  Psalmen  und  das 
Danielbuch,  kennen  —wohl  mit  Rücksicht  auf  eine  Proselyten-Umwelt  —  wieder 
den  »höchsten«  Gott.    (Hehn  a.  a.  O.) 

^)  Bei  Hiob  {5,  17;  8,  5)  wird  es  mit  TiavioxpocTcop  übersetzt.  Die 
Priester-Rezension  der  Genesis  verwendet  es  zum  Zweck  der  Identifikation  der 
alten  ephraimitischen  El-Kulte  mit  dem  späteren  Jahwekult. 


ißA  Das  antike  Judentum. 

Sintflut  vernichtete.  Das  Sternenheer,  sahen  wir,  war  im  Debora- 
Hed  in  Nordisrael  der  Kern  jener  himmlischen  Gefolgschaft 
von  der  Jahwe  auch  später  in  den  prophetischen  Visionen  um- 
geban  ist.  Numina,  welche  mit  Jahwe  nicht  identisch  scheinen, 
lauern  den  Helden  auf  und  eine  solche  Gottheit  wird  von  Jakob 
im  Ringkampf  bezwungen.  Direkte  Einwirkungen  der  Echnaton- 
schen  Sonnenreligion  auf  die  Jahwereligion  sind  sehr  unwahr- 
scheinlich, schon  weil  die  ohnehin  unsichere  Propaganda  in  Pa- 
lästina^) sicher  wenig  intensiv  war  und  weit  zurücklag.  Die 
nordisraelitische  abstrakte  Gottesbezeichnung  »El«  ^)  ent- 
spricht dagegen  der  babylonischen  und  die  Verehrung  des  höch- 
sten Gottes  auf  dem  Garizim  und  anderen  Bergeshöhen  dem 
babylonischen  Versuch,  durch  Verehrung  auf  riesigen  Terrassen- 
türmen dem  Himmelsgott  so  nahe  wie  möglich  zu  sein. 

Fast  alle  diese  vorderasiatischen  Götter  hatten  astralen 
und  meist  zugleich  vegetativen  Charakter  und  waren  einander 
sehr  ähnlich  ^).  Wie  überall  war  bei  ihnen  die  Entwicklung 
zur  Personalität  erst  allmählich  eingetreten :  ursprünglich  war 
der  Sternengeist  von  dem  Stern  selbst  nicht  zu  trennen  *) 
und  erst  Funktionsgötter  der  Kultur,  wie  z.  B.  der  babylonische 
Schreibergott  Nabu,  waren  von  Anfang  an  ganz  persönlich  auf- 
gefaßt.     Aber    eine    gewisse   Neigung    zum    Zurückgleiten   ins 

1)  Daß  der  König  (Echnaton)  »seinen  Namen  für  ewig  auf  das  Land  (Jeru- 
salem) gelegt  hat«  (Amarnataf ein),  bedeutet  nicht,  wie  geglaubt  worden  ist,  daß 
dort   solarer   Monotheismus    bestand,  sondern:  politische  Herrschaft. 

2)  Greßmann  (Z.  A.T.  W.  30,  1910,  S.  i  f.).  vertritt  die  Ansicht,  daß  die 
»Elim«  die  Götter  der  halbnomadischen  Stämme  im  Gegensatz  zu  den  Baalim- 
den  Göttern  der  ansässigen  Ackerbauern,  gewesen  seien.  Dafür  spricht  in  der 
Tat  sehr  vieles.  Zunächst,  daß  der  Name  »Baal«  in  den  ganzen  Erzvätergeschich- 
ten, überhaupt  in  der  Genesis,  nie  vorkommt.  Dann  die  Natur  der  Sache,  welche 
Baal  als  »Herrn«  des  Ackerbodens  erscheinen  läßt,  und  die  zweifellose  Beziehung 
zu  den  Baalen  der  Küstenstädte,  vor  allem  Phöniziens,  während  El  nach  Osten 
weist,  wo  die  Nomadenstämme  zwischen  Mesopotamien  und  Syrien  hin-  und 
hcrwechselten.  Die  Bezeichnung  der  Chabiri-Götter  als  »ilani«  läßt  sich  dagegen 
eher  für  das  Gegenteil  anführen:  der  Name  muß  darnach  den  ansässigen  Be- 
wohnern ebenfalls  bekannt  gewesen  sein.  Und  ebenso  ist  »El  eljon«  doch  wohl 
ein  Gott  eines  Kulturvolks.  In  jedem  Fall  aber  scheint  die  These  fachmänni- 
scher Erwägung  wert,  da  sie  der  Konstruktion  des  Priesterkodex  über  die 
vormosaische  Gottes  Verehrung  bei  den  Erzvätern  (El  schaddaj)  ihr  Recht  geben 
würde. 

8)  Luther  bei  Ed.  Meyer  (Die  Israeliten  usw.)  nimmt  an,  daß  zu  Davids 
Zeit  die  Baal- Kulte  kanaanäische  Bauernkulte  (also  wohl  orgiastischen  Charak- 
ters) waren,  die  El-Kulte  an  Bäumen  und  Hainen  hafteten,  der  Jahwekult  in 
Gibeon  ( ?  )  und  Silo  Kult  des  Kriegsgottes  war. 

*)  So  Hehn  a.  a.  O.  in  Uebereinstimmung  mit  D  h  o  m  m  e  ,  La  relig. 
babyl.  et  ass3''r. 


I.     Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  ißc 

Unpersönliche  blieb  an  den  meisten  haften;  gerade  die  höchsten 
Himmelsgötter  (so  Anu  in  Babel)  waren  überall  abstrakt  und 
dem  Volkskult  fremd.  Ueberall  bestand  die  Neigung  zum 
Synkretismus  und  zur  Erhebung  des  Sonnengottes  zum  höchsten, 
in  den  Augen  der  Intellektuellen  im  Grunde  einzigen  Gott.  Davon 
finden  sich  aber  in  Palästina  nur  dürftige  Spuren,  wenn  schon 
die  Elohim-Abstraktion  immerhin  auf  diesem  Wege  gelegen 
hatte. 

Die  wichtigste  mit  Jahwe  wirklich  konkurrierende  Gottes- 
konzeption  war  vielmehr  kanaanäischeU;  stark  phönizisch  be- 
einflußten Ursprungs  und  gehörte  einem  Typus  an,  welcher 
in  der  entwickelteren  babylonischen  Religion  schon  stark  um- 
geformt war.  Es  ist  der  Baal-  Typus.  Der  ursprüngliche 
oder  richtiger :  der  zur  Zeit  der  Okkupation  herrschende  Sach- 
verhalt war  der:  daß  ein  besonderer  Gott  der  »Herr«  über  be- 
stimmte Dinge  oder  Vorgänge  der  Natur  oder  des  sozialen  Lebens 
war,  so  wie  sich  das  in  primitiver  Form  über  die  ganze  Erde 
verbreitet  bei  Naturvölkern  findet  und  so  wie  etwa  der  indische 
»Gebetsherr«  oder  die  altchinesische  Landesgottheit  es  auch  war. 
Dinge  oder  Vorgänge  »gehören«  dem  betreffenden  Baal  sowie 
einem  Menschen  ein  Stück  Land  oder  Vieh  oder  ein  von  ihm 
monopolisierter  »Beruf«  gehört.  Daraus  entstehen  vor  allem 
zwei  Kategorien  von  Göttern.  Einmal  Funktionsgötter,  wie  viel- 
leicht der  »baal  berith«  einer  war.  der  »Bundesherr«,  der  für  Bun- 
desschlüsse »kompetent«  war,  sie  schützte  und  ihre  Verletzung 
rächte.  Oder  der  baal  zebul  von  Ekron,  der  »Herr«  der  Pest 
verbreitenden  Fliegen.  Oder  der  »Herr«  der  Träume  oder  des  Zorns 
usw.  —  Andererseits:  Götter,  denen  der  fruchttragende  Boden, 
gehört:  die  »Lokalgötter«  in  diesem  spezifischen  Sinn.  Während 
der  israelitische  Bundesgott  Jahwe  ein  Gott  der  personalen 
Volksgemeinschaft  war,  ähnlich  dem  Bei  des  assyrischen  Krie- 
gervolkes, aber  noch  mehr  nach  Art  eines  Heerkönigs  geartet, 
war  der  palästinische  Baal  eines  Orts  der  Herr  des  Landes  und 
all  seiner  Erträgnisse  nach  Art  eines  patrimonialen  Grundherrn, 
ähnlicher  dem  babylonischen  Bei,  dem  Herrn  der  fruchtbaren 
Erde.  Wir  werden  später  die  große  rituelle  Bedeutung  dieses 
chthonischen  Charakters  wenn  auch  sicher  nicht  aller,  so  doch 
der  praktisch  wichtigsten  Baal-Kulte  kennen  lernen.  Dem  Baal 
gebühren  die  Erstlinge  aller  Früchte  vom  Boden,  Vieh,  Menschen, 
die  von  diesem  Lande  leben :  —  was  die  Priester  auf  Jahwe  über- 


j55  ^^^  antike  Judentum. 

tragen  haben,  dem  das  ursprünglich  unbekannt  war.  Das  reli- 
giöse Motiv  der  früher  erwähnten  Pflicht,  das  Land  nicht  ganz 
abzuernten  (Lev.  19,  9  und  23.  22)  ist  wie  die  Motivierung : 
»ich  bin  Jahwe  euer  Gott«  beweist,  aus  jenem  Vorstellungs- 
kreis entnommen.  Jene  nicht  unbedingt  gegensätzliche,  absr 
doch  abweichend  gerichtete  Vorstellung:  Gott  der  Personal- 
gemeinde einerseits,  des  Ortsverbands  andererseits,  Himmels- 
gott dort,  Erdgott  hier,  lag  zwischen  den  Konzeptionen  von  Jahwe 
und  Baal.  Im  kanaanäischen  Lande  ist  die  zweite,  aus  der  Stadt - 
sässigkeit  und  patrizischen  Grundherrlichkeit  unmittelbar  fol- 
gende, Vorstellung  sicher  sehr  alt.  Jede  Stadt  hatte  ihre  eigenen 
Lokalgötter  dieses  Gepräges.  In  der  Amarnazeit  klagen  die  Statt- 
halter dem  König,  daß  die  Stadtgottheiten,  durch  deren  Huld 
der  Pharao  Herr  der  Stadt  sei,  die  Stadt  verlassen  haben  und  des- 
halb diese  den  Feinden  verfalle.  Die  Israeliten  scheinen  einer 
ganzen  Anzahl  von  Göttern  mit  Sondernamen,  so  dem  unter 
einem  Stierbild  verehrten  Hadad,  den  Baal-Namen  beigelegt  zu 
haben,  ebenso  dem  unter  der  Omriden-Dynastie  importierten 
phöni zischen  Milk  oder  Melkart.  Jedenfalls  war  die  wichtigste 
mit  Jahwe  konkurrierende,  weil  funktionell  sehr  universelle 
Gestalt  der  Baal  des  Orts,  der  Eigentümer  des  »Landes«  in 
wirtschaftlichem  und  politischem  Sinn.  Bei  friedlicher  oder  ge- 
waltsamer Angliederun g  von  Städten  an  Israel  verblieben  diese 
Baale  natürlich  im  Besitze  der  Stadt  und  ihrer  Heiligtümer. 
Nach  der  ursprünglichen  Vorstellung  tat  das  dem  großen  Bundes- 
kriegsgott keinen  Abbruch.  Irgendwie  freilich  mußte  seine  Stel- 
lung zu  ihnen  mit  seinem  steigenden  Prestige  reguliert  werden. 
Er  konnte  entweder  als  Himmelsgott  an  die  Spitze  eines  Pantheon 
treten,  und  derartiges  scheint  in  der  Elohimbenennung  nachzu- 
klingen. Er  geriet  dann  freilich  in  Gefahr,  wie  alle  solche  höchsten 
Himmelsgötter  zu  verblassen,  wo  imm^r  er  keine  dauernde  Kult- 
stätte für  Alltagsbedürfnisse  hatte.  Die  Baale  blieben  dann 
Herren  der  lebendigen  Kulte.  Oder  er  wurde  einfach  mit  den 
Baalen  identifiziert  oder  in  der.  Verehrung  irgendwie  mit  ihnen 
verbunden.  Bis  in  die  Zeit  nach  dem  Exil  ist  Jahwe  sogar  mit 
ganz  fremden  Göttern  zusammen  in  einem  und  demselben  Tempel 
von  Juden  mit  der  größten  Unbefangenheit  verehrt   worden  *), 

1)  Dies  war  in  Syene  nach  den  Papyri  in  der  dortigen,  nach  den  vielen  ephrai- 
mitischen  Namen  zu  schließen,  aus  Nordisrael  stammenden  Gemeinde  (Bacher 
J.  Q.  R.  XIX,  1907,  S.  441)  der  Fall.  (Näheres  darüber  beiMargolis  J.  Q.  R.  N.  S.  2 
(1911/12)  S.  435:  die  Opfergaben  Averden  unter  Jasu,  einen  Gott  und  eine 
Göttin  verteilt. 


1.     Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jaliwe.  ißj 

Bei  einer  Kombination  mit  dem  Lokalgott  Baal  mußte  dann 
in  Zeiten  friedlichen  Gedeihens  naturgemäß  mehr  der  Baal, 
in  Zeiten  großer  Kriegsnot  mehr  der  Jahwe  in  der  Mischgott- 
heit (oder  in  der  kombinierten  Verehrung)  hervortreten  ^).  Das 
ist  tatsächhch  geschehen  und  erklärt  die  Erscheinung,  daß  die 
später  gegen  Baal  eifernden  puritanischen  Jahwepropheten 
gerade  in  Zeiten  friedlichen  Gedeihens  den  schwersten  Stand 
hatten,  daß  dagegen  jeder  Nationalkrieg  und  jede  fremde  Be- 
drückung und  Bedrohung  sofort  Jahwe,  dem  alten  Gott  der  Schilf- 
meerkatastrophe, zugute  kam.  Für  große  Zeiträume  darf  aber 
ein  friedliches  Nebeneinander  mit  sehr  starkem,  aber  nicht  als 
Gegnerschaft  gegen  Jahwe  aufgefaßtem  Hervortreten  der  Baale 
angenommen  werden.  Auch  bei  gefeierten  Helden  Nordisraels 
finden  sich  Namen  mit  Baal:  So  namentlich  Jerub-Baal,  der 
dann  als  Kriegsheld  Jahwes  ganz  charakteristischerweise  einen 
neuen  Namen  (Gideon)  erhielt;  ähnlich  noch  Söhne  des  gut 
jahwistischen  Königs  Saul,  deren  Namen  die  spätere  Tradition 
charakteristisch  verändert  hat. 

Infolge  der  häufigen  Identifikation  mit  lokalen  oder  funk- 
tionellen Baalen  nahm  der  Jahwekult  auch  deren  kultische 
Attribute  an.  Vor  allem:  die  Kultbilder.  Der  ursprüngliche 
israelitische  Bundeskult  ist  nach  Ausweis  der  Tradition  und  auch 
der  Ausgrabungen  mit  höchster  Wahrscheinlichkeit  als  b  i  1  d- 
1  o  s  anzusehen  und  war  offenbar  in  dieser  Form  übernommen 
worden.  Dies  war  freilich  gewiß  nicht  das  Produkt  irgendeiner 
spekulativen  »Höhe«  der  alten  Gottesvorstellung.  Sondern  ge- 
rade umgekehrt  eine  Folge  primitiver  Kultmittel,  welche,  bei 
der  hohen  Heiligkeit  des  alten  Bundeskriegsrituals,  besonders 
früh  und  definitiv  stereotypiert  wurden.  Der  Gott  blieb  einfach 
deshalb  bildlos,  weil  er  es  in  der  Zeit  seiner  Rezeption  infolge  des 
materiellen  Kulturstandes  der  Gegend,  in  welcher  er  rezipiert 
wurde,  noch  war.  Aus  dem  gleichen  Grund  schreiben  die  ältesten 
Rechtsbücher  einen  einfachen  Altar  aus  Erde  und  unbehauenen 
Steinen  vor,  wie  er  damals  dort  gebräuchlich  war.  Die  Erhal- 
tung dieser  Bildlosigkeit  auch  in  Zeiten  entwickelter  Kunstübung 
ist  durchaus  nichts  dem  Jahwekult  Spezifisches.    Sie  ist  vielfach, 

*)  Für  die  Ausländer  scheint  bei  dem  durch  berith  festgelegten  nationalen 
Charakter  Jahwes  Baal  in  der  Mischgottheit  die  Hauptrolle  gespielt  zu  haben. 
In  Aegypten  findet  er  sich,  wie  W.  Max  Müller  nachweist,  als  kriegerischer  auf 
Bergen  wohnender  fremder  Gott  rezipiert,  also  mit  Zügen,  die  sicherlich 
nicht  seinem  Bild,  sondern  dem  Jahwe ^  entstammen. 


j^^  Das  antike  Judentuin. 

z.  B.  bei  manchen  fiühhellenischen  und  altkretischen  Kulten 
nachweisbar  und  findet  sich  auch  bei  den,  ebenso  wie  Israel, 
von  Babylon  her  beeinflußten  Iraniern.  Entscheidend  für  ihre 
Erhaltung  an  einigen  der  wichtigsten  Kultstätten  waren  zweifel- 
los die  dortigen  althergebrachten  und  um  dieses  Alters  willen 
besonders  heilig  gehaltenen  Kultformen,  welche  die  Rezeption 
von  Ikonen  erschwerten :  die  Scheu  vor  bösem  Zauber  im  Fall 
der  Aenderung.  Der  israelitischen  Entwicklung  spezifisch  oder 
wenigstens  in  annähernd  ähnlicher  Art  nur  noch  der  von  ihr  be- 
einflußten islamischen  und  teilweise  der  zarathustrischen  ähn- 
lich war  nur  die  Penetranz  der  Wirkung,  Anderwärts  beschränkte 
sich  die  Verpönung  der  Bilder  auf  einige  Kult  orte  oder  auf  die 
betreffenden  Götter  und  ließ  der  Kunstübung  im  übrigen  inner- 
halb wie  außerhalb  der  religiösen  Sphäre  freien  Raum.  In  Israel 
wurde  Jahwe  zum  einzigen  Gott  und  haben  die  Vertreter  des 
bildlosen  Kults  nicht  nur,  gleichzeitig  mit  Steigerung  dieser  An- 
sprüche Jahwes  auf  Monolatrie,  die  Verpönung  der  Bilder  Jahwes, 
sondern  die  Verwerfung  aller  bilderartigen  Paramente  vertreten 
und  diesen  Standpunkt  schließlich  bis  zu  einem  Grade  gesteigert, 
welcher  aller  Ausübung  bildender  Kunst  sich  nahezu  prinzipiell 
feindselig  gegenüberstellte,  wie  dies  das  zweite  Gebot  in  seiner 
endgültigen  Formulierung  tat.  Das  ist  für  die  Unterdrückung 
der  Kunst  Übung  und  des  Kunstsinns  im  späteren  Judentum 
von  größter  Tragweite  gewesen.  Diese  letzte  ganz  radikale 
theologische  Konsequenzmacherei  war  indessen*  erst  ein  Pro- 
dukt des  priesterlichen  Strebens  nach  absolut  wirksamen  rituellen 
»Unterscheidungsgeboten«.  Sie  findet  sich  in  den  älteren  Quellen, 
wo  ja  sogar  zweifelhaft  ist,  ob  der  jahwistische  Puritanismus 
nur  Gußbilder,  die  Produkte  städtischer  Kultur,  oder  auch  (oder ; 
gerade)  Schnitzbilder  oder  alle  Bilder  verpöne  —  die  drei  »De- 
al oge«  befinden  sich  da  untereinander  im  Widerspruch  —  und 
wo  die  Kunstfertigkeit  der  Paramentenhandwerker  als  göttliches 
Charisma  galt,  noch  in  keiner  Art.  Sie  wuchs  erst  im  Verlauf 
des  überaus  heftigen  Kampfs,  den  die  Vertreter  des  alten  bild- 
losen Kults  gegen  die  auf  dem  Kulturboden  Kanaans  entstandenen 
Jahwebilder  und  anderen  Kultparamente  zu  führen  hatten,  zu 
dieser  Schärfe  empor.  Die  Art  dieser  Paramente  ist  durch  die 
spätere  Tradition  stark  verwischt.  Insbesondere  nimmt  das 
Ephod^)     eine    unbestimmte     Stellung    ein.     Wie    bei    den 

*)  Unter   den  neueren  Bearbeitungen  vgl.   S  e  1 1  i  n    in  der  Nöldeke-Fest- 
schrift  (1906). 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  i^Q 

Teraphim  ist  bei  ihm  nicht  sicher  auszumachen,  was  es  ursprüng- 
lich war.  Der  gelegentlich  behauptete  phallische  Charakter  ^) 
ist  schwerlich  erweislich.  Manche  Nachrichten  könnten  anneh- 
men lassen:  ein  Bild,  andere:  ein  Umhang  mit  Tasche  für  die 
Orakeltafeln,  noch  andere:  ein  Bekleidungsstück.  Eine  Aende- 
rung  des  Sinnes  unter  dem  Einfluß  der  späteren  Auffassung 
des  bildloscn  Kults  ist  sehr  möglich.  War  es  anfänglich  ein 
bildartiges  Parament,  so  ist  es  dem  ursprünglichen  Kult  Jahwes 
vermutlich  fremd  gewesen.  Die  Nachricht,  welche  am  meisten 
diese  Deutung  nahelegt,  ist  nordisraelitisch.  Ob  das  »Stiftszelt« 
Jahwes  mehr  als  eine  spätere  theoretische  Konstruktion  war, 
kann  hier  dahingestellt  bleiben.  Denn  weit  wichtiger  und  ein 
spezifisches  Parament  des  bildlosen  Jahwekultes  war  die  trag- 
bare »Lade  Jahwe  s«. 

Ob  diese  Lade,  wie  namentlich  Ed.  Meyer  annahm,  ursprüng- 
lich ein  Fetischkasten  und  also  ägyptischen  Ursprungs  oder  ob 
sie,  wie  M.  Dibelius  ^)  wahrscheinlicher  gemacht  hat,  ursprüng- 
lich ein  kastenförmig  aussehender  Himmelthron  und  also  vorisrae- 
litisch-palästinischen Ursprungs  war,  ob  sie,  wenn  dennoch  ein 
Kasten,  ursprünglich  einen  heiligen  Stein,  vielleicht  mit  Runen, 
enthielt  oder  —  wie  das  Schwally  nach  Analogie  eines  islamischen 
Feldheiligtums  (des  Machmal)  annimmt  —  von  Anfang  an  ein  leerer 
Kasten  war,  in  welchen  man  den  Gott  gebannt  hatte,  wird  wohl 
nie  sicher  auszumachen  sein.  Jedenfalls  hat  aber  Dibelius  es 
aus  den  ältesten  Nachrichten  (Num.  lo,  35.  36  in  Verbindung 
mit  I.  Sam.  i,  lo  und  4,  4  und  dem  Bilde  des  Jeremia  3,  16) 
höchst  wahrscheinlich  gemacht,  daß  sie  in  der  Zeit  der  Befrei- 
ungskriege gegen  die  Philister  ein  kerubengeschmückter  Sitz 
sein  sollte,  auf  welchem  Jahwe  unsichtbar  thronte  und  den  man 
in  Kriegsnot  auf  einem  Wagen  in  das  Lager  fuhr.  Jahwe  wurde 
dann  vor  der  Schlacht  durch  eine  rhythmische  Anrufung  auf- 
gefordert, sich  gegen  die  Feinde  zu  erheben,  nach  dem  Siege  eben- 
so, wieder  Platz  zu  nehmen  (Num.  10,  35.  36).  In  der  (späten) 
Samuellegende  erscheint  Jahwe  als  in  oder  wohl  auf  der  Lade 
im  Heiligtum  lokalisiert.  Das  ist  vielleicht  Produkt  späterer 
Auffassung  aus  der  Zeit  der  vollen  Seßhaftigkeit,  —  obwohl  das 
Nebeneinanderstehen   logisch   unvereinbarer  Vorstellungen   vom 

*)  Foote,   Journ.  of  Bibl.  Lit.   21,   1902. 

=•)  Die  Lado  Jahwes  (Forsch,  z.  Rel.  u.  Lit.  des  A.  T.  J.  Gott.  1906).   lieber 
len  bildloscn   Kult  auf  Kreta  A.  f.   Rcl.-W.    VIT   S.    117  f. 


I/O 


Das  antike  Judentum. 


Gott  an  sich  häufig  ist.  Der  Glaube,  daß  Jahwe  im  Krieg  auf  der 
Lade  unsichtbar  throne,  war  mit  der  Ansicht,  welche  z.  B.  da? 
Deboralied  von  seinem  Herbeistürmen  vom  Sitz  auf  dem  Wald- 
ge"birge  Seir  hatte,  nicht  gleichartig,  aber  vielleicht  nicht  absolut 
unvereinbar.  Es  ist  jedenfalls  wohl  kein  Zufall,  daß  die  Perser, 
—  wie  die  Israeliten  ein  bergsässiges  Nachbarvolk  wagenkämpfen- 
der Ebenen  Völker  —  nach  Herodot  (7,  40)  ebenfalls  ihren  unsicht- 
baren Gott  Ahuramazda  auf  einem  Wagen  mit  in  den  Krieg 
führten  ^) .  Man  wollte  ursprünglich  wohl  den  wagenfahrenden 
Kriegskönigen  und  Idolen  der  Feinde  den  wagenfahrenden  Him- 
melskönig entgegenstellen.  Leere  Götterthrone  sind  von  Reiche! 
mehrfach,  auch  im  hellenischen  Gebiet,  nachgewiesen.  Ein  Gott, 
dessen  von  alters  überkommener  Kult  b  i  1  d  1  o  s  war,  mußte 
eben  ein  —  normalerweise  —  unsichtbarer  sein  und  eben 
aus  dieser  Unsichtbarkeit  seine  spezifische  Dignität  und  Un- 
heimlichkeit  speisen.  Auch  hier  war  die  rein  historisch  gegebene 
Form  des  Kults  des  Bundesgottes  der  Anlaß  für  jene  S  p  i  r  i- 
t  u  a  1  i  s  i  e  r  u  n  g  des  Gottes,  die  durch  eben  jene  Qualitäten 
nicht  nur  ermöglicht,  sondern  sehr  nahegelegt  wurde.  Die  Lade 
ist  in  der  Tradition  an  Silo  und  das  alte  elidische  Priestergeschlecht 
dort  gebunden,  also  nordisraelitisch.  Ebenso  ist  sie  sehr  intim 
mit  der  Qualität  Jahwes  als  Kriegsgottes  und  Herren  der  Heer- 
scharen (Zebaoth)  verknüpft.  Indessen  weiß  das  Deboralied 
und  die  Kriegsgeschichte  vor  der  Philisterzeit  nichts  von  ihr 
und  auch  damals  ist  ihr  Auftreten  ephemer,  so  daß  Zeit,  Anlaß 
und  Umfang  ihrer  ursprünglichen  Anerkennung  als  jahwistischen 
Kultparaments  und  Kriegswahrzeichen  unsicher  bleiben.  Zur 
»Bundeslade«,  also  dem  Behältnis  der  Gesetzestafeln,  hat  sie  erst 
die  deuteronomistische  Theologie  gemacht,  welcher  die  an  die  Lade 
anknüpfende,  den  Gott  in  ihr  oder  auf  ihr  lokalisierende  Gottesauf- 
fassung nicht  mehr  zusagte.  Jedenfalls  war  die  leere  Lade  und 
ihre  Bedeutung  ein  Symptom  und  wohl  auch  ein  Anlaß  jener  rela- 
tiven Spiritualisierung  dieser  anthropomorphen  Gottes  Vorstellung, 
•  wie  sie  durch  die  Tatsache  der  Bildlosigkeit  des  Kults  unmittel- 
bar bedingt  wurde.  Der  Sitz  des  Bundesgottes  auf  dem  Waldge- 
birge Seir  war  selbstverständlich  ganz  ohne  Bilder  und  Tempel, 
von  denen  keine  Spur  bekannt  ist.  — Die  Hiskia-Annalistik  ergibt, 
daß  ein  Schlangenstab,   die  sogenannte  eherne  »Schlange«, 

^)  Auch    die    höchsten    babylonischen    Götter  wurden  anscheinend  nicht 
in  Idolform  auf  ihren  Thron  gesetzt,  sondern,  statt  ihrer,  Symbole  (so  Anu,  Enlil). 


I.     Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jalnve.  j*?! 

ZU  den  —  im  Gegensatz  zu  den  salomonischen  Prachtgeräten 
—  auf  Mose  zurückgeführten  und,  weil  unverstanden  und  ätio- 
logisch legendär  gedeutet,  offenbar  wirklich  alten  Paramenten 
des  späteren  jerusalemitischen  Kults  gehört  hat.  Mose  wird  in 
der  Tradition  auch  als  therapeutischer  Wundertäter  behandelt, 
insbssondere  als  Retter  aus  einer  Pestnot.  Das  würde  dazu  gut 
stimmen,  daß  zu  Jahwes  spezifischen  Kampfmitteln  gegen  seine 
Feinde  auch  die  Seuchen  gehörten.  Nach  einer  angesichts  der 
ätiologischen  Sage  naheliegenden,  aber  natürlich  nicht  erweislichen 
Annahme  wäre  der  Schlangenstab  ^)  ein  Emblem  solcher 
Jahwepriester  gewesen,  die  Medizinmänner  waren  und  später 
verschwunden  sind.  —  Damit  sind  aber  die  eigentlich  alten  jah- 
wißtischen   Paramente   erschöpft. 

Als  nun  mit  der  intimen  Vermengung  Jahwes  und  Baals 
der  Bilderdienst  des  Kulturlandes  in  den  nordisraelitischen 
Jahwekult  eindrang,  wurde  Jahwe  namentlich  als  Stier,  also 
wohl  als  der  Fruchtbarkeitsgott  der  Ackerbauer,  dargestellt. 
König  Jerobeam,  der  einen  Jahwenamen  trägt  und  einen  Jahwe - 
Propheten  auf  seiner  Seite  hatte,  wurde  es  zum  Verdienst  ange- 
rechnet 2),  daß  er,  zum  Zweck  der  Emanzipation  von  Jerusalem, 
an  einigen  nordisraelitischen  Kultorten  Jahwes  vergoldete 
Stierbilder  aufrichtete,  eines  davon  in  Dan,  einer  als  besonders 
korrekt  geltenden,  von  einem  angeblich  von  Mose  abstammenden 
Priestergeschlecht  geleiteten  Kultstätte.  Von  den  nordisraeli- 
tischen Propheten  unter  den  Omriden,  Elia  und  Elisa:  rück- 
sichtslosen Gegnern  der  unter  phönizischem  Einfluß  sich  stark 
entwickelnden  Baalkulte,  ist  nicht  die  geringste  Einwendung 
gegen  den  offenkundig  bestehenden  Gebrauch  solcher  Jahwe- 
bilder berichtet.  Aber  allerdings  kann  es  kaum  zweifelhaft  sein, 
daß  von  dem  damals  eröffneten  Kampf  gegen  die  durch  aus- 
wärtige Prinzessinnen  und  Bündnisse  importierten  fremden 
Kulte,  die  sämtlich  Idolkulte  waren,  der  Kampf  gegen  die  Idole 
als  solche  auch  innerhalb  des  Jahwismus  seinen  Ausgang  nahm. 
Er  konnte  anknüpfen  an  jene  im  Lande  bestehenden  Kultstätten, 
an  welchen  Jahwe  ebenso  wie  zweifellos  an  den  alten  außerisraeli- 
tischen Kultorten  der  Wüste,  bildlos  verehrt  wurde.  Die  Priester 


^)  Auch  der  phönikische  Arztgott  Eschmiui  hat  ein   Schlangensymbol. 

^)  Der  angebliche  Zorn  des  Propheten  A'iia  (i.  Kön.  14)  darüber  ist  spätere 
Legende.  Den  wirklichen  Grund  der  Gegnerschaft  der  Leviten  zeigt  i.  Kön.  12, 
31   se'ir  klar:   die  Anstellung  von  Plebejern  als  Priester. 


j  ^2  ^^s  antike  Judentum. 

dieser  Kultstätten  mußten  geneigt  sein,  allein  diese  Form  als 
korrekt  anzusehen  und  konnten  die  mit  steigender  äußerer  Be- 
drängnis steigende  Sorge  um  die  Korrektheit  des  Jahwekultes 
in  der  Form,  wie  sie  in  der  Zeit  der  alten  Siege  Israels  gewesen  war; 
für  sich  mobil  machen.  Wo  die  Lade  Jahwes  das  allerheiligste 
Kultobjekt  bildete,  und  das  war  bis  auf  David  in  Silo,  kann  von 
jeher  nur  bildloser  Dienst  bestanden  haben.  Daß  in  Jerusalem 
seit  der  Ueberführung  der  Lade  dorthin  der  Dienst  zunächst 
ganz  bildlos  war,  ist  ebenfalls  kein  Grund  zu  bezweifeln.  Die 
Tradition  läßt  aber  erkennen,  daß  die  heilige  Lade  vor  der 
Gründung  des  Kultstätte  in  Jerusalem  durch  David  längere  Zeit 
halb  vergessen  in  einem  Privathaus  gestanden  hatte,  nachdem 
die  Philister  sie  in  der  Schlacht  genommen  und  vermutlich  Silo 
zerstört  hatten.  Es  hatte  daher  wahrscheinlich  einen  ersten  ent- 
scheidenden Wendepunkt  zugunsten  der  Machtstellung  des 
bildlosen  Jahwekults  bedeutet,  als  David  durch  Ueberführung 
gerade  dieses  Wahrzeichens  der  bildlosen  Verehrung  des  Bundes- 
kriegsgotts  diese  zur  Kult  form  der  Königsresidenz  machte. 
Ihm  hatte  vermutlich  der  Bund  mit  den  elidischen,  aus  Silo 
vertriebenen,  Priestern  von  Anfang  an  die  Stütze  gegen  den  zwar 
jahwistischen,  aber  nordisraelitisch,  an  der  kombinierten  Jahwe- 
Baal- Verehrung,  orientierten  Saul  gegeben.  Dafür  richtete  dieser 
unter  jenen  Priestern  ein  berüchtigtes  Blutbad  an,  welches  ihm  die 
Tradition  mit  einem  noch  in  der  heute  vorliegenden  Fassung 
nachwirkenden  Haß  vergolten  hat.  Der  Süden  wurde  nun  das 
Zentrum  des  Glaubens  an  die  alleinige  Korrektheit  der  bildlosen 
Verehrung.  Der  salomonische  Tempel  bedeutete  zwar  schon  an 
sich  einen  Rückschlag  *  gegenüber  diesem  puritanischen  Kult. 
Nicht  nur  trug  er,  wie  es  scheint,  einen  Weihespruch,  der  auf 
Sonnenverehrung,  wie  sie  bei  vielen  Dynastien  über  die  Erde  hin 
als  Königskult  verbreitet  war,  schließen  läßt :  —  später  wird  auch 
ein  Sonnenwagen  mit  Rossen  erw  ahnt  — ,  sondern  er  verstieß  auch 
offensichtlich  gegen  die  alte  Vorschrift,  Jahwe  auf  einem  ein- 
fachen Erdaltar  ohne  behauene  Steine  zu  verehren.  Der  späteren 
Forderung  absoluter  Meidung  ikonenartiger  Paramente  hat  er 
zweifellos  in  vielen  Einzelheiten  nicht  entsprochen.  Der  Sturz 
des  Elidenpriesters  Abjathar  hängt  wohl  mit  jenen  Neuerungen 
des  an  Aegypten  und  Phönizien  orientierten  Fronkönigtums 
zusammen.  Aber  damals  standen  offenbar  nicht  sie  im  Mittel- 
punkt des  Interesses.    Der  eigentliche  Kampf  dagegen  begann 


l.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  ly^ 

irst  weit  später.  Als  längst  die  allerverschiedensten  Paramente 
als  Anklänge  an  auswärtige  Kulte  verdächtig  geworden  waren, 
ist  doch  eine  prinzipielle  Opposition  gegen  alle  Bilder  noch  nicht 
bemerkbar.  Sie  begann  in  der  Zeit  des  Hosea  und  erreichte  ihren 
ersten  Erfolg  in  der  Zeit  des  Hiskia.  Damals  schon  machte  sie 
nicht  einmal  vor  dem  auf  Mose  zurückgeführten  alten  Parament 
des  Schlangenstabes  Halt,  welches  von  diesem  König  zertrümmert 
wurde.  Es  wirkte  die  zunehmende  politische  Sorge  um  die  Ab- 
wendung aller  denkbaren  Gründe  des  Zornes  des  alten  einst  bild- 
los verehrten  Kriegsgottes  der  Ueberlieferung  zusammen  mit 
dem  inzwischen  sublimierten  Gottesbsgriff  der  Intellektuellen- 
Kreise,  denen  gerade  die  Unsichtbarkeit  und  Bildlosigkeit 
des  Gottes  für  ihre  Konzeptionen  wertvoll  war  und  die  nun  das 
Menschenwerk  der  Handwerker  in  den  fremden  Idolkulten 
mit  seiner  majestätischen  Uebermenschlichkeit  kontrastierten 
und  verspotteten.  Der  Baalkult  wurde  nun  als  Quelle  des 
Eindringens  dieses  Greuels  in  den  Jahwekult  verfolgt.  Aber  die 
zunehmende  Schärfe  dieses .  Kampfs  gegen  den  Baalkult  hing 
außerdem  allerdings  zusammen  mit  sehr  tiefgehenden  inneren 
Eigentümlichkeiten  der  Gottesverehrung,  welche 
mit  dem  altkanaanäischen  Baalkult  untrennbar  verknüpft,  der 
genuinen  jahwistischen  Religiosität  aber  schlechthin  gegensätz- 
lich war.  Wir  müssen  zum  Verständnis  dessen  etwas  weiter  aus- 
holen und  uns  zunächst  mit. den  Trägern  des  Kultbstriebs:  den 
Priestern,    befassen. 

Es  ist  mit  hinlänglicher  Sicherheit  bezeugt,  daß  die  is- 
raelitische Frühzeit  keinen  von  Bundes  wegen  allgemein  aner- 
kannten Priesterstand  ^)  hatte,  vor  allem  keinen,  der  ein  Mono- 
pol des  Opfers  im  Namen  des  Bundes  als  solchen  für  den  Bundes- 
gott gehabt  hätte.  Der  Beziehung  des  israelitischen  Bundes 
zu  Jahwe  mußte  ja  die  spätere  Bedeutung  des  Opfers  notwendig 
fehlen.  Denn  vor  dem  Königtum  gab  es  wie  schon  gesagt  gar 
keine  Bundesinstanz,  welche  zur  regelmäßigen  Darbringung 
von  Opfern  in  Friedenszeiten  kompetent  gewesen  wäre.  Nur 
im  Kriege  war  eine  Einheit  des  Bundes  vorhanden,  und  dann  war 
nach  der  Tradition  die  teilweise  oder  auch  vollständige  Tabu- 
lierung  der  Beute    das  spezifische  rituelle  Mittel,    dem  Gott 

^)  Grundlegend  Grat  Baudissins  Gosch.  des  alttest.  Priestertums  (Leipzig 
1889).  Manche  Annahmen,  vor  allem  die  zeitliche  Priorität  des  Priesterkodex 
vor  dem  Deuteronomium,  sind  heut  aufgegeben. 


j  <-,  A  Das  antike  Judentum. 

das  Seinige  zu  geben.  Diese  Maßregel  interessierte  den  Gott 
ja  auch  weit  stärker  am  Siege  Israels  als  ein  vorheriges  Opfer. 
Natürlich  wurden  Jahwe  wie  allen  Göttern  wohl  von  jeher 
Opfergaben  dargebracht,  um  sein  Wohlwollen  zu  gewinnen. 
In  Kriegszeiten  auch  von  Bundes  wegen,  in  Friedenszeiten  aber 
von  den  einzelnen  je  nach  Anlaß.  Nach  der  Theorie  der  Tra- 
dition war  jede  Mahlzeit,  jedenfalls  jede  Fleischmahlzeit,  in  dem 
allerdings  sehr  weiten  Sinne  ein  »Opfermahl«, -daß  der  Gott  daran 
durch  Spenden- seinen  Anteil  zu  erhalten  hatte.  Vor  der  Schlacht, 
und  sonst  nach  Bedarf  an  den  alten  Kultstätten,  opferten  ihm  die 
Fürsten  und  ebenso  gegebenenfalls  die  Sippenhäupter.  Nur  die 
Blutbesprengung  des  Altars  scheint  eine  zuverlässige  Tradition 
dem  Mose,  also:  Berufspriestern,  vorzubehalten.  Aber  ob  diese 
Kultform  außerhalb  Silos  verbreitet  und  wie  alt  sie  war,  steht 
nicht  fest.  Die  spätere  priesterliche  Theorie  stellt  freilich  schon 
Sauls  Opfer  ohne  Zuziehung  Samuels  (den  sie  dabei  zum  Priester 
stempalt)  paradigmatisch  als  einen  ihm  zum  Verderben  gereichen- 
den Eingriff  in  die  Priesterbefugnisse  hin.  Dem  geltenden  Recht 
entsprach  dies  aber  noch  viel  später  keineswegs.  David  trägt 
im  Samuelbuch  Priestertracht  und  spricht  den  Segen.  Unter 
König  Ussia  spielt  sich  in  der  priesterlich  bearbeiteten  Königs- 
tradition der  gleiche  Konflikt  wie  angeblich  zwischen  Saul  und 
Samuel  ab  ^).  Als  sicher  ist  freilich  anzunehmen,  daß  Fürsten  und 
große  Grundherren  sich  rituell  geschulte  Priester  hielten.  Aber 
sie  wählten  diese  ursprünglich  gänzlich  frei.  In  der  älteren, 
später  vom  Chronisten  ausgemerzten  Tradition  macht  David 
zwei  seiner  Söhne  zu  Priestern  2).  Das  Entsprechende  tut 
im  Richterbuch  ein  großer  ^  Grundbesitzer  im  Norden,  Micha, 
nach  einer  Tradition,  von  der  in  anderem  Zusammenhang  bald 
zu  reden  sein  wird.  Die  Heiligtümer,  welche  in  dieser  Art  von 
Fürsten  und  Privaten  ausgestattet  waren,  galten  als  ihr  Privat- 
besitz. Sie  hatten  darin  das  Hausrecht :  so  die  nordisraelitisehen 
Könige  in  Jerobeams  Stiftung  in  Bethel  (Amos  7,  13);  was  sie 
befehlen,  führt  der  von  ihnen  angestellte  Priester,  ihr  Beamter, 
aus,  und  zwar  nach  der  Tradition,  z.  B.  in  Jerusalem  auch  Altar- 
bauten nach  fremdem  Muster  (2.  Kön.  16,  10).  Eine  Gesamt- 
> — ^ — . 

^)  Ussias  Opfer  behandelt  auch,  erst  der  (nachexilische)  Chronist  (2.  Chron. 
16  ff.)  als  schwere  Sünde. 

^)  2.  Sam.  8,  18.  Ebenda  20,  26  wird  ein  Jairit  als  sein  Erzkaplan  neben 
den  Ptiestern  Zadok  und  Abjathar  erwähnt.  Die  nachexilische  Chronistik 
tilgte  dann  die  Söhne  Davids. 


I.     Die  israelitische   Eidgenossenschafi  und  Jahwe.  j-c 

Organisation  der  Opferpriesterschaft  fehlte  schon  infolge  der 
Konkurrenz  der  Opferstätten,  bei  welcher  im  Nordreich  begreif- 
licherweise die  privaten  »Eigenkirchen«  gegenüber  den  könig- 
lichen Stiftungen  nicht  in  dem  Maß  im  Nachteil  waren  wie  in 
dem  zentralisierten  jüdischen  Stadtstaat.  Der  Oberpriester  führte 
den  Namen:  »der  Priester«  (ha  kohen);  spät  erst  findet  sich  in 
Jerusalem  (2.  Kön.  25,  18)  der  Titel  Haupt priester  (kohen  ha 
rosch) ;  das  Vorkommen  des  nachexilischen  Titels  »Hoherpriester« 
(kohen  ha  gedol)  ist  unsicher  (2.  Kön.  22,  4.  8  und  23,  4  ist  als 
Glosse  verdächtig,  vgl.  2.  Kön.  11,  9  f.,  wo  für  den  gleichen 
Oberpriestei  Jojada  ^)  der  Titel  ha  kohen  steht).  In  jedem 
Fall  aber  werden  die  Kultpriester  der  Königstempel  als  könig- 
liche Beamte  aufgezählt  (2.  Sam.  8,  16  f.,  20,  23  f.),  begleiten  den 
König  ins  Feld  und  haben  mit  der  einen  Ausnahme  des  Jojada 
unter  Athalja  in  vordeuteronomischer  Zeit  keine  irgendwie  be- 
merkenswerte selbständige  politische  Rolle  gespielt.  Am  aller- 
wenigsten galten  sie  als  Häupter  einer  religiösen  »Gemeinde«. 
Eine  solche  gab  es  nicht.  Der  Heerbann  war  in  alter  Zeit  die 
Gemeinde,  auch  in  religiösen  Dingen,  später  die  Landsgemeinde 
der  Vollisraeliten.  Das  über  Jeremia  urteilende  Gericht  besteht 
aus  den  königlichen  Sarim  und  den  Sekenim,  deren  Rolle  bei 
der  Urteilsfällung  fraglich  bleibt.  Die  'am  (Mannen)  bilden  den 
»Umstand«  dieser  Gerichtsgemeinde  (kahal),  die  Priester  sind 
die  Anklänger,  sitzen  aber  nicht  im  Gericht.  Der  König  (Josia), 
nicht  der  Oberpriester  (Hilkia)  beruft  die  Gemeinde  zusammen, 
auch  wo  es  sich  um  eine  religiöse  berith  handelt.  Wie  es  mit  dem 
alten  Priesterkönigtum  in  Jerusalem  stand,  von  welchem  die  zwei- 
felhafte Tradition  Gen.  14  wissen  will  und  in  wessen  Interesse  diese 
Ueberlieferung  repristiniert  wurde,  bleibe  dahingestellt.  Jedenfalls 
war  der  alten  Tradition  der  Fürst  auch  zum  Opfern  für  seinen  Ver- 
band legitimiert  und  rituell  qualifiziert.  Ebenso  sicher  gab  es  nun 
aber  von  jeher  alte  von  weither  aufgesuchte  Kultstätten,  an  wel- 
chen ganz  ausschließlich  die  dortigen  erbcharismatisch  qualifi- 
zierten Priestergeschlechter  nach  alten  Regeln  sowohl  für  Fürsten 
wie  für  Private  besonders  feierliche  Zeremonien  leiteten.  So  vor 
allem  das  Geschlecht  der  Eliden  an  der  den  Propheten  (Jeremia) 
als  besonders  alt  und  rein  jahwistisch  geltenden  Kultstätte 
in  Silo.   Ueber  die  dortige  sicherlich  alte  Opferpraxis  scheint  die 

^)   Vgl.   Struck,     Das    alttest.    Oberpriestertum,     Taeol.    St.   u.    Kr.   81 
(1908)   S.   i  f. 


]  -(5  ^^^  antike  Judentum. 

Tradition  zu  ergeben:  daß  die  Kunden  im  Zusammenhang  mit 
individuellen  Gebeten  um  Erfüllung  bsstimmter  Wünsche  Fleisch- 
opfer darbrachten,  daß  davon  der  Priester  seinen  Anteil  nahm, 
daß  aber  außerdem  auch  Opfermahle  mit  Trunkenheit  der  Teil- 
nehmer nichts  Seltenes  waren.  Die  Bedeutung  der  Opfermahle 
hat  uns  später  zu  beschäftigen  und  der  sehr  komplizierten  Ge- 
schichte des  altisraelitischen  Opfers  übsrhaupt  soll  nicht  nach- 
gegangen werden  ^) .  Hier  halten  wir  vms  zunächst  an  die  Opf er- 
gaben  und  sehen,  daß  diese  in  Israel  wie  überall  zunächst  als 
geeignete  Mittel  galten,  der  bittenden  Anrufung  des  Gottes 
Nachdruck  zu  verleihen.  Die  ältesten  Kult  Ordnungen,  wie  sie  die 
kultischen  Anhänge  des  Bundesbuchs  erhalten  haben,  schrieben 
nur  allgemein  vor:  daß  der  Israelit  dreimal  jährlich  vor  Jahwe 
erscheinen  solle  und  zwar  »nicht  mit  leeren  Händen«.  Andere 
sicher  alte  Bestimmungen  gibt  es  nicht,  und  wie  weit  die  prakti- 
sche Bedeutung  dieses  Gebots  reichte,  ist  nicht  feststellbar. 

Die  Bedeutung  des  Gabe-Opfers  verschob  sich  zunächst 
quantitativ  mit  zunehmendem  Prestige  des  Bundes-Kriegs- 
gotts,  wie  sie  die  Expansion  mit  sich  brachte,  und  vor  allem  mit 
Errichtung  des  Königtums.  Die  Davididen  und  im  Norden  Jero- 
beam  richteten  königliche  Kultstätten  mit  regelmäßigen  Opfern 
ein. 

Weit  wichtiger  aber  wurde  die  Verschiebung  des  Sinnes 
des  Gabe-Opfers,  welche  mit  zunehmender  Verdüsterung  der 
politischen  Lage  des  Landes  im  weiteren  Verlauf  der  Königs- 
herrschaft eintrat.  Denn  die  Frage  mußte  nun  entstehen:  woher 
denn  diese  ungünstige  Entwicklung  der  politischen  und  mili- 
tärischen Lage  Israels  komme  ?  Die  Antwort  konnte  nur  lauten: 
der  Zorn  Gottes  lastet  auf  dem  Volke.  Der  israelitische  »Sünde «- 
begriff  knüpft,  wie  die  alten  mesit  von  chatah  »verfehlen«  ab- 
geleiteten Worte  zeigen,  an  rein  objektive  Tatbestände  an. 
Ein  Verstoß,  offenbar  zunächst  und  vor  allem  ein  ritueller  Ver- 
stoß, erregt  den  Zorn  des  Gottes.  Furcht  vor  rituellen  Fehlern 
und  ihren  Folgen  war  daher  hier  wie  üb3rall  das  älteste  Motiv, 
Sühne  zu  suchen.  Aber:  Jahwe  war  auch  Vertragspartner  der 
berith  mit  Israel,  und  das  alte  auf  Kameradschaftlichkeit  und 
brüderlicher  Nothilfe  aufgebaute  Sozialrecht  galt  daher  als  ihm 
gegenüber  verpflichtend.  Der  Sündenbegriff  mußte  sich  daher 
früh  auch  auf  inhaltlich  »ethische«,  zunächst:  die  s  o  z  i  a  1  e  t  h  i-. 


*)  Kurzer  (aber  nicht  unbestreitbarer)  Abriß  bei  Stade. 


I.     Die   israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  177 

sehen  Gebote  erstrecken.  Vor  allem  die  jahwistische  Kritik 
an  den  durch  die  Stadtsässigkeit  bedingten  sozialen  Verschiebun- 
gen und  an  der  Haltung  des  Königtums  hat  den  Begrilf  der 
»Sünde«  hier,  wie  unter  ähnlichen  Verhältnissen  auch  ander- 
wärts, z.  B.  in  der  sumerischen  Inschrift  Urukaginas,  über  das 
rituelle  Gebiet  hinaus  auf  das  sozialethische  erweitert.  Der  ge- 
waltige Kriegsgott  knüpfte  —  das  schien  offenbar  —  seine  Gnade 
an  die  Befolgung  seiner  durch  berith  feierlich  angenommenen 
Gebote,  neben  den  rituellen  Vorschriften  ^)  besonders  an  die 
Innehaltung  des  von  ihm  garantierten  alten  Bundesrechts.  Bei 
Mißerfolgen  und  politischer  Bedrängnis  wurde  naturgemäß  die 
Feststellung :  welcher  sozial  relevante  Frevel  wohl  den  Zorn 
des  Gottes  erregt  haben  Und  wie  man  ihn  beschwichtigen  könne, 
eine  immer  allgemeiner  erörterte  Frage.  Schwere  Bedrängnis 
wurde  aber  seit  dem  9.  Jahrhundert  die  chronische  Lage  der  beiden 
Königreiche.  Mit  alledem  trat  die  Bedeutung  des  Opfers  als 
eines  Mittels,  Schuld  zu  sühnen,  wie  die  Quellen  deutlich 
erkennen  lassen,  immer  mehr  in  den  Vordergrund  bis  zu  schließ- 
lich überragender  Wichtigkeit.  Von  den  vermutlich  sehr  mannig- 
faltigen Arten  der  Sühnopfer  der  einzelnen  Kultstätten  sind  zwei., 
chattat  und  ascham,  wohl  durch  rein  zufällige  Umstände  später 
allein  kanonisch  geworden  ^) .  Damit  aber  steigerte  sich  die  Not- 
wendigkeit, ritual- und  rechts  kundige  Jahwepriester  zur  Erfor- 
schurgdes  Willens  des  Gottes  und  der  zu  sühnenden  Verfehlungen 
angehen  zu  können.  Die  mit  steigender  Rationalisierung  des 
Lebens  überall,  auch  in  Mesopotamien,  sich  steigernde  Nach- 
frage nach  Mitteln  der  Sündenfeststellung  und  Sündenabbüßung 

^)  Es  ist  aber  durchaus  fraglich,  ob  außer  der  Beschneidung  und  den 
Vorschriften  für  die  Krieger  (insbesondere  die  Nasiräer)  irgend  welche  all- 
gemein gültigen  Riten  bestanden. 

2)  Chattat  und  ascham,  die  in  der  jetzigen  Redaktion  in  schlechthin  unent- 
wirrbarer Art  ineinandergreifen  und  doch  als  zweierlei  behandelt  werden,  sind 
als  feststehende  gemeinisraelitische  Institution  erst  bei  Hesekiel  erwähnt.  Vor- 
her ist  weder  i.  Sam.  3,  14  (wo  von  Sebach-  und  Mincha-Opfern  als  Sühnemitteln 
die  Rede  ist),  noch  Deut.  12,  wo  ausführlich  von  Opfern  gesprochen  wird,  die  Rede 
von  ihnen.  Das  letztere  zeigt  sehr  deutlich,  daß  die  beiden  Opferarten  nicht  dem 
Jerusalemiter  Tempel  kult  entstammen.  Daraus  aber  zu  schließen,  daß  sie 
sich  überhaupt  erst  in  der  Exilzeit  oder  kurz  vorher  entwickelt  hatten,  wie  hie  und 
da  geschieht  (u.  a.  von  Benzinger),  wäre  sicher  falsch.  Hesekiel  mag  der  Erste 
sein,  der  sie  als  gemeinisraelitische  Opfer  ansah.  Aber  der  Begriff  ascham  findet 
sich  schon  in  der  Samueltradition  (Buße  der  Philister).  Die  beiden  Opferarten 
gehörten  eben  (sozusagen)  der  levitischen  »Privatpraxis«  an,  für  die  sich  das  Deu- 
teronomium  nicht  weiter  interessierte.  Nach  den  Vorschriften  des  Priester- 
gesetze« wäre  chattat  die  umfassendere  der  beiden   O^ferarten. 

Max  Weber,  Beligionasoziologie  HI.  12 


j  7g  Das  antike  Judentum. 

gewann  unter  dem  Druck  des  politischen  Schicksals  Israels 
dort  besondere  Wucht.  Mit  der  wachsenden  Bedeutung 
des  Sühnopfers  und  der  Belehrung  über  Jahwes  Willen  wuchs 
also  die  Nachfrage  nach  Trägern  des  Wissens  von  Jahwe 
und  seinen  Geboten.  Denn  es  war  ja  nicht  in  erster  Linie  die  Dar- 
bringung  des  Opfers  selbst,  so  wichtig  dessen  Korrektheit  sein  moch- 
te, sondern  vor  allem  die  Erforschung  des  göttlichen  Willens  und  der 
vorgekommenen  Verstöße  dagegen  dasjenige,  was  man  begehren 
mußte.  Sowohl  die  politischen  und  lokalen  Verbände  wie  die  Ein- 
zelnen als  solche  kamen  in  diese  Lage.  Angelegenheiten  des  po- 
litischen Verbandes  als  solchen  waren  vor  allem  die  Beeinflussung 
des  Kriegsglücks  und  die  Erzeugung  von  reichlichem  Regen. 
Beides  steht  bei  den  Verheißungen  Jahwes  für  Gehorsam  und 
rechtes  Verhalten  nebeneinander.  Dazu  trat  für  den  einzelnen 
die  Nothüfe  in  persönlicher  Bedrängnis  aller  Art.  Mose  ebenso 
wie  noch  Elia  tun  in  der  Tradition  sowohl  politische,  vor  allem 
Kriegs-,  Regen-  und  Speisewunder,  wie  private  Heilungswunder, 
erforschen  den  Willen  Gottes  und  die  Verstöße  dagegen.  Dies 
letztere  war  und  wurde  immer  mehr  die  eigentliche  Leistung  der 
beruflichen  Träger  des  Jahwismus. 

Die  Quellen  zeigen  nun,  daß  für  die  Erforschung  des  gött- 
lichen Willens  zunächst  fast  alle  Arten  von  Mitteln,  welche  die 
Kulturwelt  ringsum  kannte,  auch  in  Palästina  vorkamen.  Aber 
nicht  alle  galten  der  israelitischen  Tradition  als  gleich  legitim. 
Die  vom  Standpunkt  der  strengen  Jahwereligion  später  (Num.  12, 
6)  als  korrekt  geltenden  Formen  waren  nur  drei:  i.  Verkündi- 
gung durch  Jahwe  an  einen  in  seiner  Vollmacht  redenden  wahren 
Seher  und  Propheten:  woran  man  einen  »wahren«  vom  »falschen« 
Propheten  unterschied,  bleibt  für  später  zu  erörtern;  2.  für 
gewisse  Fälle:  das  Losorakel  der  berufsmäßigen  Orakelpriester 
mit  Hilfe  der  Orakeltafeln  (urim  und  thummim)  und  vielleicht 
ursprünglich  auch  des  Pfeilorakels;  3.  endlich  auch,  aber  mit 
zunehmenden  Vorbehalten  dagegen,  die  Traumvision.  Alle  an- 
deren Formen  von  Erforschung  sei  es  der  Zukunft,  sei  es  prozeß- 
wichtiger oder  sonst  erheblicher  Tatsachen  oder  endlich  und  na- 
mentlich der  Willensmeinung  des  Gottes  galten  einer  zunehmend 
siegreichen  Anschauung  als  fluchens werte,  unter  Umständen 
todeswürdige  Magie  oder  einfach  als  Schwindel.  Nur  für  einige 
wenige  Fälle,  insbesondere  für  Erprobung  der  ehelichen  Treue 
einer  Frau,  hielt  sich  das  Ordal  bis  in  die  deuteronomische  Zeit. 


I.     Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  j^g 

Das  Losorakel,  dessen  alte  Heiligkeit  ganz  ebenso  wie  Jahwes 
Bildlosigkeit  durchaus  auf  seiner  der  Kulturlosigkeit  der  Steppe 
entsprechenden  Einfachheit  beruhte,  hat  bis  in  die  späte  vor- 
.  exilische  Zeit  bestanden,  aber  gegenüber  der    Befragung    von 
Sehern,    Propheten   und   anderen    Wissenden   in    abnehmender 
Bedeutung.    Die  Exilstradition  läßt  es  durch  den  Verlust  der 
Lostafeln  untergegangen  sein.  Ebenso  haben,  trotz  der  Verpönung, 
die  Toten  Orakel  und  alle  andere  Formen  der  Divination  natürlich 
fortbestanden.    Aber  ganz  ersichtlich  mit  abnehmender  Bedeu- 
tung.   An  sich  war  ja  die  Zunahme  der  Befragung  von  Sehern, 
Propheten  und  Ritualkundigen  auf  Kosten  sowohl  der  Losform 
wie  anderer  irrationaler  Entscheidungsformen  eine  ganz  naturge- 
mäße Folge  der  zunehmenden  Kompliziertheit  der  zu  stellenden 
Fragen,  welche  immer  weniger  mit  einem  einfachen  »Ja«  oder 
►>Nein«  oder  durch  einfaches  Los  beantwortet  werden  konnten. 
Aber  dazu  trat  für  den  genuinen  Jahwismus  der  andre,  in  der 
Besonderheit  der  Beziehung  zu   Jahwe  liegende   Grund :  wenn 
Jahwe  zürnte  und  der  Nation  oder    dem  einzelnen  nicht  half, 
so  mußte  daran  eine  Verletzung    der    berith  mit  ihm 
die  Schuld  tragen.    Hier  mußte  also  die  Fragestellung  sowohl 
der  amtlichen  Instanzen  wie  der  einzelnen  einsetzen:  welches 
seiner    Gebote   war  übertreten  worden ?  Darauf  konnten 
irrationale  Divinationsmittel  keine  Antwort  geben,  sondern  nur 
die    Kenntnis  der  Gebote  selbst  und  die  Gewissenserforschung. 
So  drängte  der  in  den  genuin  jahwistischen  Kreisen  lebendige 
Gedanke  der  »berith«  alle  Erforschung  göttlichen  Willens  in  die 
Bahn  einer  mindestens  relativ    rationalen    Fragestellung 
und  rationaler  Mittel  ihrer  Beantwortung.    Mit  großer  Schärfe 
wendete  sich  daher  die  unter  dem  Einfluß  der  Intellektuellenschich- 
ten stehende  priesterliche  Paränese  gegen  die  Wahrsager,  Vogel- 
schauer, Tagewähler,  Zeichendeuter,  Totenbeschwörer  als  gegen 
charakteristische     heidnische     Arten     der     Gottesbefragung  ^). 
Die  Schriftpropheten  und  die  ihnen  nahestehenden  streng  jah- 
wistischen Kreise  haben  dann,  wie  wir  sehen  werden,  auch  die 
Verläßlichkeit    der    Traumwahrsagerei    angegriffen,    was    teils 
mit  der  spezifischen  Berufsqualifikation  dieser  Propheten,  teils 
mit    ihrer    Auffassung    von    Jahwes    Eigenart    und   Absichten 
zusammenhing.    Der  vor   ihrer  Zeit  geführte  Kampf  gegen  die 


1)  Deut.  i8,   lo.  II.   14;  Lev.   19,  21.  26.  28;  Num.  23,  23. 

12  * 


l8o  Das  antike  Judentum. 

irrationalen  Formen  der  Divination  und  Magie  hatte  natürlich 
neben  den  angegebenen  rationalen  auch  einfach  zufällige  histori- 
sche Gründe  in  dem  Ausgang  des  Konkurrenzkampfs  der  ver- 
schiedenen Priester-  und  Wahrsagerkategorien  gegeneinander 
und  in  demjenigen  technischen  Zustand,  in  welchem  sich  die 
Orakelkunst  bei  den  Trägern  der  siegreichen  Form  damals  be- 
fand. Ueberall,  in  China,  Indien  und  in  den  alten  sumerischen 
Stadtstaaten,  finden  wir  ja  den  »Zauberer«  als  den  verketzerten 
und  illegitimen  Konkurrenten  der  aus  oft  sehr  zufälligen  Kon- 
stellationen heraus  rezipierten  legitimen  Priesterschaft  und  diese 
Verpönung  betrifft  dann  auch  seine  Praktiken.  Das  Losorakel 
war  an  sich  gewiß  nicht  rationaler  als  die  babylonische  Leber- 
schau: nur  freilich  gab  es  keinen  Anknüpfungspunkt  für  kos- 
mische Spekulationen  wie  diese.  Daß  gerade  die  erwähnten 
Arten  der  Willenserforschung  rezipiert  wurden,  war  freilich  auch 
insofern  nicht  nur  zufällig,  als  sie  bedingt  war  durch  Ausschei- 
dung aller  mit  chthonischen  Kulten  und  der  ihnen  eigenen  Art 
der  Ekstatik  zusammenhängenden  Praktiken^).  Wir  werden 
diese  Seite  des  Gegensatzes  bald  kennenlernen. 

Wer  war  nun  Träger  der  Befragung  Jahwes? 

Von  der  etwas  schwankenden  Rolle  der  alten  »Seher«  war 
bereits  die  Rede.  Sie  sind  später  ganz  verschwunden.  Aber  da 
der  alte  Jahwismus  des  Kriegsbundes  zwar  die  Kriegsekstatiker 
und  emotionalen  Kriegspropheten  und  ebenso  die  Befragung 
der  apathisch-ekstatischen  Seher  gekannt  hatte,  nicht  aber  einen 
amtlichen  Bundeskult,  so  ist  es  —  und  das  war  wichtig  —  den 
Priestern  nicht  möglich  gewesen,  nun  den  Anspruch  darauf 
zu  erheben,  ihrerseits  das  Monopol  der  Orakelkunst  in  Händen 
zu  haben.  Sie  haben  von  Anfang  an,  zweifellos  ungern  genug, 
zugestehen  müssen,  daß  die  Prophetengabe  auch  außerhalb  ihres 
Kreises  möglich  und  verbreitet  sei.  Die  Spannung  blieb  trotzdem 
bestehen,  zum  mindesten  für  alle  diejenigen  Propheten,  welche 
nicht,  wie  die  Priester  der  großen  Residenzen  selbst,  im  Königs- 
dienst standen.  Daß  der  Kult  königlicher  Kult  war,  diskre- 
ditierte das  »Opfer«  als  solches  in  den  Augen  der  zum  König- 
tum skeptisch  stehenden  Kreise.  Die  Priester  mußten  sich  damit 
begnügen,  alle  diejenigen  Praktiken  auszurotten,  welche  Gegen- 


^)  Die  Bemerkung  Lev.  20,  6  zeigt,  daß  der  Gegensatz  gegen  die  eksta- 
tische  Magie  (s.  u.)  auch  hier  hineinspielte. 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  igi 

stand  eines  eigentlich  zunftmäßigen  und  kultartigen  Betriebes 
waren  und  dadurch  mit  ihnen  in  unmittelbare  Konkurrenz 
traten.  Den  regelmäßigen  Betrieb  des  Jahwekults  und  aller  mit 
ihm  zusammenhängenden  Praktiken  suchten  sie  für  sich  zu  mono- 
polisieren.   Wer  aber  waren  sie  selbst  ? 

Wie  die  Priester  an  den  Kultstätten  der  alten  Zeit  eigent- 
lich geartet  waren,  ist  nicht  sicher  zu  ermitteln.  Das  alte  Prie- 
stergeschlecht der  Eliden  von  Silo  wurde  durch  David  nach 
Jerusalem  verpflanzt,  durch  Salomo  degradiert.  Ein  Mann, 
den  erst  die  spätere  Tradition  mit  einem  von  ihrem  Standpunkt 
aus  korrekten  Stammbaum  versehen  hat,  der  aber  in  der  alten 
Ueberlieferung  nicht  einmal  ein  israelitisches  Patronymikon 
trägt:  Zadok,  wurde  leitender  Priester  in  Jerusalem.  Das  König- 
tum schaltete  sowohl  über  die  Besetzung  dieser  Priesterstellen 
wie  über  die  ökonomische  Versorgung  der  Priester  offenbar 
nach  Ermessen,  nahm  auch  zunächst  noch  das  Recht  eigenen 
Opfems  in  Anspruch.  Noch  unter  Joas  hat  der  König  eine 
Neuordnung  der  Pfründe nversorgüng  der  Jerusalemiter  Priester 
unter  Staatskontrolle  vorgenommen.  Dies  alles  änderte  sich 
formell  erst  mit  der  deuteronomischen  Reform  in  den  letzten 
Zeiten  des  Reiches  Juda.  Die  Priesterschaft  von  Jerusalem 
fühlte  sich  damals  stark  genug,  die  Zehentrechte  und  sonstigen 
Abgabeansprüche  des  Gottes,  welche  das  Vorrecht  einiger  Kult- 
stätten, vielleicht  — nach  der  Malkisedek-Tradition  zu  schließen  — 
gerade  Jerusalems,  auf  beschränktem  Gebiet  gewesen  sein  moch- 
ten, als  universell  für  den  ganzen  Umkreis  Israels,  damals  also: 
des  judäischen  Reiches,  gültig  hinzustellen  und,  wie  wir 
sehen  werden,  gleichzeitig  eine  ungeheure  Steigerung  ihres 
eigenen  Kultmonopols  in  Anspruch  zu  nehmen.  Eine  gewaltige 
Zunahme  des  Prestiges  der  Priesterschaft  mußte  dem  vorange- 
gangen sein.  Diejenige  Jahwepriesterschaft  nun,  welche  dem 
deuteronomischen  Gesetzbuch  als  von  jeher  allein  legitim  gilt, 
wird  in  diesem  Kompendium  als  die  »levitischen  Prie- 
ster« bezeichnet. 

Der  Name  »Levi«  hat  keine  hebräische  Etymologie  ^). 
Es  ist  möglich,  daß  Leviten  auch  außerhalb  Israels  im  Dienste 


*)  Schneider,  Dip  Entwicklung  der  Jahwereligion  und  der  Mosessegen 
(Leipzig  Semit.  Stud.  V,  i.  iqoq)  glaubt  »Levi«  von  der  »Schlange«  herleiten  zu 
können,  beruft  sich  auch  auf  Adonijas  Zug  zum  Schlangenstein  und  auf  den 
Namen  eines  Vorfahren  von  David. 


j  ^2  I^^s  antike  Judentum, 

des  minäischen  Stammesgottes  Wadd  tätig  waren  ^).  Wie  alt 
die  Verbreitung  dieser  gelernten  Priester  eigentlich  ist,  steht  nicht 
fest  2).  Sicher  scheint  nur,  daß  sie  ursprünglich  in  Nordisrael 
wenig  heimisch  waren,  sich  dorthin  durch  Einzeleinwanderung 
verbreitet  hatten  und  jedenfalls  von  Jerobeams  Dynastie,  ver- 
mutlich aber  noch  später,  mindestens  nicht  als  einzig  legitime 
Jahwepriesterschaft  anerkannt  waren.  Schlechthin  alle  Anzeichen 
weisen  auf  einen  südlichen  Ursprung,  in  der  Steppe  am  Wüsten- 
rand, in  der  Oase  von  Kades  und  in  Seir.  Einer  ziemlich  alten 
Tradition  sind  die  Leviten  zuerst  die  ganz  persönliche  Gefolg- 
schaft des  Mose  ^),  die  er  gegen  widerspenstige  und  ungehorsame 
Gegner  aufruft  und  welche  in  einem  Blutbad  unter  den  eigenen 
Nächstversippten  seine  Autorität  sichert.  Diese  Tradition, 
ebenso  aber  auch  der  Mosessegen  ergeben  nach  Eduard  Meyers 
einleuchtender  Interpretation,  daß  jedenfalls  dieser  Zweig  der 
Ueberlieferung  sie  nicht  als  Erbkaste  kannte:  im  Gegenteil 
mußte  man  nach  dem  Mosessegen  Vater  und  Bruder  verleugnen, 
um  Levit-^u  sein.  Sie  waren  für  diese  Auffassung  also  ein  gelernter 
Berufsstand.  Daß  sie  später  gentilizisch  gegliedert  und  als  erb- 
charismatisch qualifizierter  Stamm  auftreten,  würde  nichts  da- 
gegen beweisen:  diese  Entwicklung  findet  man  außerhalb  wie 
innerhalb  Israels  immer  wieder.  Indessen  andere  Teile  der  Tra- 
dition kennen  einen  nicht  priesterlichen  wehrhaften  »Stamm 
Levi«  *)  als  politischen  Genossen  der  Stämme  Israels,  insbe- 
sondere der  Stämme  Simeon  und  Juda,  und  der  Jakobsegen" 
weiß  nichts  davon,  daß  gerade  er  ein  Priesterstand  sei  oder  daß 
es  überhaupt  levitische  Priester  gebe.  Vielmehr  erzählen  die 
Quellen  von  seinen  militärischen  Gewalttaten  gemeinsam  mit 
Simeon,  und  der  Jakobsegen  weissagt  Levi  die  Zerstreuung 
wegen  eines  Frevels:  Männer  haben  sie  getötet  und  »den  Stier 
verstümmelt«.  Sie  sollen  »in  Jakob«  und  »in  Israel«  zerstreut  wer- 
den, wie  Simeon.     Mose  gehörte  der  späteren  Priestertradition 


*)  So "  £d.  Meyer.  Vgl.  die  Inschrift  bei  D.  H.  Müller,  Denkschr. 
d.  Kais.  Ak.  d.  Wiss.  Wien,  Phil.-hist.  Kl.  37  (1888). 

2)  Der  Jakobsegen  kennt  keine  levitischen  Priester.  Erst  der  Mosessegen 
kennt  die  Leviten  und  zwar  als  Thoralehrer  und  Priester.  (Vgl.  Ed.  Meyer, 
Die  Israeliten  usw.  S.  82  f.) 

3)  Isch  chasidecha,  »Mann  deines  Getreuen«,  des  Mose,  im  Mose?segeu 
(Deut.  33,  8)  für  Levit. 

*)  Vielleicht  auch  die  Inschrift  der  Ramessidenzeit,  die  einen  s>Lui-eU  als 
Stammesnamen  zu  kennen  scheint. 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  jg? 

zum  Stamme  Levi  als  Mitglied.  Vielleicht  galt  er  der  älteren, 
später  tendenziös  ausgemerzten,  Tradition  als  Stammvater  oder 
wenigstens  als  Archeget  derjenigen  Sippen  des  Stammes  Levi, 
welche  Leviten  im  rituellen  Sinne  waren  oder  wurden.  Denn 
unbedingt  muß  es  zur  Zeit  des  Jakobsegen  Glieder  eines  Stammes 
Levi  gegeben  haben,  welche  nicht  »Leviten«  im  späteren  Sinne 
waren.  Es  steht  nun  zur  Wahl,  entweder  anzunehmen:  daß  die 
Glieder  eines  durch  politische  Katastrophen  oder  ökonomische 
Wandlungen  zerstreuten  Stammes  Levi  sich  ganz  oder  teilweise 
der  Pflege  des  Jahweopfers  und  Jahweorakels  zugewendet 
und  Jahwepriester  geworden  seien  ^).  Oder:  daß  umgekehrt 
einmal  aus  dem  zuerst  auf  persönlicher  Einschulung  ruhenden, 
dann  erbcharismatischen  Beruf sstand  der  im  Süden,  interethnisch, 
verbreiteten  »Leviten«  Laiensippen,  solche  also,  bei  denen  die 
rituelle  Schulung  und  Tradition  erloschen  war,  als  ein  »Stamm« 
angesehen  wurden  oder  wirklich  als  ein  solcher  sich  konstituiert 
und  mit  Simeon  verbunden  haben,  später  aber  ebenso  wie  dieser 
Stamm  zerfallen  seien.  Bei  den  Brahmanen  in  Indien  finden  wir 
ja  wie  bei  den  Leviten  den  Kampf  der  personalcharismatischen 
und  berufsständischen  mit  der  erbcharismatischen  und  geburts- 
ständischen Qualifikation.  Auch  bei  ihnen  war  und  ist  bei  weitem 
nicht  j eder  geburtsständische  Brahmane  rituell  zu  den  Privilegien 
der  Brahmanen :  Opfer,  Vedalehre,  Pfründen,  qualifiziert.  Sondern 
nur  der,  welcher  das  rituell  vorgeschriebene  Leben  geführt  und 
nach  richtiger  Lehre  die  Weihe  empfangen  hat.  Auch  in  Indien 
gibt  es  ganze  Dörfer,  die  nur  von  damit  belehnten  Brahmanen,  die 
zum  Teil  die  Vedaschulung  ganz  oder  fast  ganz  aufgegeben  haben, 
bewohnt  sind.  Die  Möglichkeit  besteht  also,  daß  es  auch  bei  den 
Leviten  ähnliches  gegeben  hat.  Die  Art,  wie  im  Deuteronomium 
die  Ausdrücke  »Leviten«  und  »Priester«  kombiniert  werden, 
könnte  den  Gedanken  nahelegen,  daß  es  auch  damals  nicht 
geschulte  und  nicht  rituell  reine,  also  zum  Praktizieren  nicht 
qualifizierte  Levitenabkömmlinge  gegeben  hat,  die  nicht  »Prie- 
ster« Avaren  (bzw.  sein  konnten).  Es  ist  diese  Annahme  sogar 
praktisch  fast  nicht  abzu>veisen.  Denkbar  wäre  dann,  daß  das 
Zerstreutleben  dieser  auch  damals  zu  keinem   von  den  anderen 


^)  Ed.  Meyer  (Die  Israeliten  usw.)  hält  es  für  sicher,  daß  der  »Stamm« 
Levi  in  Meriba  (dem  »Prozeßwasser«)  ansässig  war  (also  eine  Art  von  Pandit-Ge- 
schlechtern  indischer  Art  darstellte). 


l^A  Das  antike  Judentum, 

Stämmen  zu  zählenden  »Laien-Leviten«  der  Tradition  den  Anlaß 
dazu  gab,  sie  mit  Simeon  gemeinsam  in  den  Sichem-Frevel  zu 
verstricken. 

In  deuteronomischer  Zeit  waren  die  levitischen  Priester 
erbcharismatisch  in  Sippen  gegliedert  und  ständisch  abgesondert, 
beanspruchten  das  Monopol  bestimmter  Orakelformen,  der  Prie- 
sterlehre und  der  Priesterstellen.  Dies  mit  Erfolg  wenigstens  im 
Süden.  Im  Norden  findet  sich  die  Erwähnung  levitischer  Priester 
nur  zweimal  im  Richterbuch  (Kap.  17  f.  für  Dan  und  Ephraim) ; 
zur  Zeit  der  Redaktion  dieser  Partie  unsicheren  Alters  scheinen 
die  Leviten  noch  ein  Berufsstand,  kein  Geburtstand  gewesen  zu 
sein.  Als  solcher  erscheinen  sie  dagegen  in  den  von  der  priester- 
lichen Tradition  beeinflußten  Darstellungen  der  Wüsten-  und 
Eroberungsgeschichte  und  im  Deuteronomium.  Diese  Tradition 
behandelt  die  Leviten  schlechthin  als  die  geschulten  erblichen 
Jahwepriester.  Dabei  haben  die  einzelnen  Leviten  privaten  Be- 
sitz, auch  Haus-  und  Grundbesitz  aller  Art.  Zugewiesen  ist  ihnen 
das  Monopol  der  Vollziehung  des  Opfers,  soweit  ein  Priester  mit- 
wirkt, ferner  das  ausschließliche  Recht  des  Losorakels  und  der 
Lehre  und  die  für  alles  dieses  zu  leistenden  Abgaben  und  Kasua- 
lien,  in  der  Theorie  der  jetzigen  Redaktion  des  Deuter onomiums 
ferner:  das  Zehntrecht  von  allem  Ertrag  des  Bodens. 

Der  älteren  Tradition  sind  die  Leviten  rechtlich  gerim  ^). 
Ja  sie  sind  geradezu  der  vollendetste  Typus  des  »Gaststammes« 
innerhalb  der  israelitischen  Gemeinschaft.  Sie  haben  diese  Stel- 
lung in  der  jetzigen  Redaktion  am  reinsten  bewahrt.  Wir  finden 
in  der  Erzählung  vom  Frevel  von  Gibea  einen  Leviten  als  Metöken 
der  Ephraimiten.  Zweifellos  lebte  er  von  Kasualien.  Die  Leviten 
standen  außerhalb  des  Verbandes  der  Kriegshufenbesitzer.  Sie 
entbehrten  der  Wehrpflicht  (Num.  i,  49;  2,  33)  und  ihr  Dienst  galt, 
wie  die  Bezeichnung:  *ebed  zeigt,  als  Metökenleiturgie  gegen- 
über der  politischen  Gemeinde.  Ihre  Rechtsstellung  wurde  zu- 
nehmend fest  geregelt  und  ihre  innere  Gliederung  nach  Vater- 
häusern (Ex.  6,  25;  Num.  3,  14  f.)  entspricht  sowohl  der  Art,  wie 
ein  indischer  Gaststamm,  wie  derjenigen,  wie  die  damaligen  israe- 
litischen Stämme  gegliedert  waren.  Die  ^Vorschrift  eines  Zweiges 
der  Tradition    (Num.   35,   2  f.)   über   die   ihnen   zuzuweisenden 


^)   Genau  so,  wie  übrigens  jeder  Israelit  in  dem  Gebiet  eines  anderen  israe- 
litischen Stammes. 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe,  i3c 

Levitenstädte  ^)  muß  nicht  notwendig  fiktiv  sein,  sondern  kann 
darauf  beruhen,  daß  in  manchen  Städten  ihr  Unterhalt  durch 
Zuweisung  von  Hausgrundstücken  und  Weideland  neben  Anteil 
an  den  Steuererträgen  bestimmter  Ortschaften  gesichert  war, 
wie  sich  ähnliches  ja  auch  für  Fürsten  (Josua)  findet  und  wie  es 
auch  manchen  indischen  Analogien  entspricht.  Nach  einer  an- 
deren freilich  noch  fragwürdigeren  Tradition  (Lev.  25,  32  f.), 
welche  von  Feldgrundstücken  der  Leviten  spricht,  wären  diese 
.  ganz  unveräußerlich  —  wohl  deshalb,  weil  leiturgisch  belastet  — 
und  auch  ihre  Häuser  nicht,  wie  bei  andern  Israeliten,  frei  für 
immer  verkäuflich  gewesen  2).  Man  wird  jedenfalls  wohl 
örtlich  recht  verschiedene  Arten  ihrer  Ausstattung  annehmen 
dürfen  ^). 

Die  Analogie  mit  den  Brahmanen  geht  in  manchen  Punkten 
noch  weiter.  Jene  Lage  der  Leviten  als  Gaststamm  mit  fest- 
geregelter Stellung  war  nicht  die  einzige  und  vermutlich  nicht 
die  ursprüngliche  Form  ihrer  Beziehung  zu  Israel.  Die  Tradition 
berichtet,  wie  schon  erwähnt,  von  Fürsten  und  Grundherren, 
daß  sie  entweder,  wie  dies  bei  Jerobeam  mißbilligt  wird  (i.  Kern. 
12,  31),  niedrig  Geborene,  teils  aber  ihre  eigenen  Söhne  oder  Ver- 
wandten als  Priester  an  ihren  Hauskapellen  (»Eigenkirchen«  im 
Stutzschen  Sinn)  anstellten.  Das  letztere  erzählt  eine  alte  da- 
nitische  Tradition  auch  von  dem  Grundherren  Micha  in  Nord- 
israel. Von  diesem  wird  nun  aber  weiter  berichtet,  wie  er  sich 
später  mit  einem  aus  Juda  zuziehenden  Leviten  in  Beziehung 
setzt,  diesen  mit  dem  Dienst  an  seinem  Heiligtum  betraut  und 
zu  seinem  »Vater«  (dem  indischen  Guru  entsprechend)  macht, 
schließlich  aber :  wie  die  auf  der  Wanderung  nach  Norden  begriffe- 
nen Daniten  das  Bild  aus  dem  Heiligtum  und  den  Leviten  mit- 
nehmen und  ihm  die  erbliche  Priesterschaft  ani  Tempel  der  neu- 
gegründeten Stadt  im  Sidoniergebiet  übertragen  »bis  auf  diesen 
Tag«.  Dies  entspricht  genau  der  Art  der  Ausbreitung  der  Brah- 
manen in  Indien.  Ebenso  sind  die  späteren  levitischen  Hofkapläne 
die  Parallele  des  brahmanischen  Purohita.  Man  sieht  hier  deutlich, 
welche  Motive  zur  Ausbreitung  der  Leviten  führten:    offenbar 


^)  Zu  ihnen  gehören  auch  die  Asylstädte. 

2)  Ihr  Vieh  wird  (Num.  3,  41.  45)  als  >Vieh  Jahwes*  bezeichnet. 
^)  Sie  wohnen   (Jos.  14,  i)  wie  alle  gerim,  in  den  »Vorstädten«  (migraschim). 
Anteil  am  Acker  erhalten  sie  nicht:  den  behält  z.  B.  in  Hebron  Kalob  für  sich. 


jgg  Das  antike  Judentum. 

ihre  überlegene  rituelle  Schulung  für  den  Opferdienst,  vor  allem 
aber  für  die  »Seelsorge«,  d.h.  die 'Beratung  über  die  Mittel, 
Jahwe  günstig  zu  stimmen  und  seinen  Zorn  abzuwenden.  Die 
Fürsten  und  Grundherren  stellen  sie  an  nicht  nur  um  ihres  per- 
sönlichen Bedarfs  nach  solcher  Beratung  willen,  sondern  zweifel- 
los auch  um  ihres  Prestiges  als  Herren  der  Kultstätten  und  um 
der  Einkünfte  willen,  welche  der  Ruf  eines  von  einem  geschulten 
Priester  versorgten  Heiligtums  seinem  Besitzer  abwarf:  wir 
sahen  ja,  wie  Gideon  seinen  Beuteanteil  zur  Errichtung  einer 
Kapelle  mit  einem  Bild  verwendete.  Daß  Gemeinden  als  solche 
sie  beriefen  and  ausstatteten,  wird  später  —  wie  bei  den  Daniten 
—  auch  vorgekommen  sein.  Daneben  stand  ihre  freie  Erwerbs- 
tätigkeit. Auf  diese  Art  hatten  die  Leviten  im  Wege  allmählicher 
Ausbreitung  ihr  in  deuteronomischer  Zeit  innerhalb  des  judäi- 
schen  Gebietes  im  wesentlichen  anerkanntes  Monopol  erlangt. 
Das  Deuteronomium  setzt  voraus,  daß  in  jedem  Ort  ein  Levit 
sitzt  und  von  den  Opfern  leben  will.  Ohne  Widerstand  ist  diese 
Ausbreitung  nicht  erfolgt,  wie  der  Fluch  des  Mosessegens  gegen 
ihre  »Hasser«  (Deut.  33, 11)  zeigt.  Es  gab,  wie  in  der  Tradition  die 
Revolte  der  später  als  degradierte  Leviten  erscheinenden  Kora- 
chiten  in  Verbindung  mit  Abkömmlingen  Rubens  gegen  die 
Vormacht  der  Priesterschaft,  in  der  priesterlichen  Redaktion 
beweist,  eine  machtvolle  Schicht  innerhalb  Israels,  welche  sich 
erinnerte,  daß  von  einer  solchen  klerikalen  Vormacht,  insbe- 
sondere von  einem  Opfer-  und  Orakelmonopol  einer  erblichen 
Kaste,  ursprünglich  nichts  bekannt  gewesen  war.  Jahwe  hatte 
durch  Propheten  und  Seher  seinen  Willen  offenbart.  Es  scheint, 
daß  gerade  der  alte  Hegemon  des  Bundes,  der  Steppenstamm 
Rüben,  auf  diesem  Standpunkt  gestanden  hat.  Seine  Zerstreu- 
ung wäre  dann  vielleicht  dem  Fehlen  einer  fest  organisierten 
Priesterschicht  mit  zuzuschreiben,  deren  Existenz  Judas  Stärke 
bedingte.  Die  Schulung  der  levitischen  Orakelgeber  und  wohl 
vor  allem  die  zunehmend  hinter  ihnen  stehende  Macht  des  Königr 
tums  haben  diese  Anfechtungen  zum  Schweigen  gebracht.  Für 
die  Zeit  vor  dem  Untergange  Nordisraels  bleibt  es  trotzdem 
durchaus  problematisch,  welches  Maß  von  Machtstellung  die 
Leviten  und  ihre  Orakel  dort  im  Konkurrenzkampf  eingenommen 
haben. 

Rituell    scheinen  sich  die  Leviten  von  Anfang  an,  wie  die 
Brahmanen,  durch  Innehaltung  bestimmter  Reinheitsvorschriften 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  13? 

von  den  »Laien«  geschieden  zu  haben.  Hier  interessiert  davon 
lediglich  die  besonders  strenge  Meidung  der  Berührung  mit  Toten 
und  allem,  was  mit  Gräberkult  zu  tun  hat:  offenbar  war  diese 
Priesterschaft  die  Hauptträgerin  des  Gegensatzes  gegen  den  be- 
nachbarten ägyptischen  Totenkult,  lieber  die  spezifischen 
Leistungen  der  Leviten  in  der  Zeit  ihrer  universellen  Anerkennung 
gibt  der  Mosessegen  (Deut.  33,  8  f.)  eindeutig  Auskunft.  Gar 
nicht  erwähnt  ist  darin  eine  therapeutische  Funktion  der  Le- 
viten, obwohl  Mose  selbst  therapeutische  Magie  zugeschrieben  wird, 
wie  wir  sahen,  und  der  Schlangenstab  vielleicht  ein  Rest  einstiger 
magischer  Therapeutik  war.  Noch  später  ist  den  Priestern  die 
Feststellung  des  Aussatzes  zugewiesen.  Aber  im  übrigen  hören  wir 
von  Therapie  der  Leviten  gar  nichts  und  der  Aussätzige  gehörte  spä- 
ter vor  ihr  Forum  wesentlich  als  rituell  unrein .  (Wie  es  mit  der  ärztli- 
chen Kunst  in  Altisrael  stand,  ist  Völlig  unbekannt.  Die  Empfehlung 
des  Arztes  und  der  Apotheke  durch  den  Sirachiden  spiegelt  Ver- 
hältnisse der  hellenistischen  Zeit  wider.)  Es  ist  also  anzunehmen, 
daß  eine  eigentliche  magische  Therapie  in  historischer  Zeit  nicht 
mehr  in  ihren  Händen  lag.  Der  Kranke  gehörte  nur  in  ihre  »Seel- 
sorge«,  von  der  später  zu  reden  ist.  Irrationale  therapeutische 
Mittel  scheinen  sie  nicht  angewendet  zu  haben.  Vorangestellt 
ist  im  Mosessegen  (V.  8)  die  Erinnerung  an  das  Losorakel  des 
»Haderwassers«  (der  Prozeßorakelquelle)  von  Kadesch,  dann 
kommt  (V.  10)  die  Pflicht  der  Belehrung  über  mischpatim  und 
thora,  dann  erst,  zuletzt :  Räucherwerk  und  Vollopfer.  Mose  hat 
(nach  V.  8)  dem  Jahwe  das  Orakel  im  Ringen  entwunden:  ge- 
meint ist  dabei  das  Prozeßorakel.  Das  levitenfreundliche  deutero- 
nomische  Gesetz  ermahnt  dazu,  Prozeßsachen  »vor  Jahwe  zu 
bringen«,  und  dieUeberlieferung  läßt  Mose,  außer  in  besondern 
Fällen  als  Magier,  den  ganzen  Tag  durch  Prozeßgeschäfte  in  An- 
spruch genommen  sein,  bis  er  sie  auf  Jethros  Rat  den  Sarim 
der  Königszeit  überträgt,  die  als  ihm  untergeordnet  vorgestellt 
werden.  Aus  Laien  und  Priestern  gemischte  Gerichte  schlägt 
noch  eine  späte  Tradition  vor  (Deut.  17,  8;  19,  17).  Diese  An- 
gaben sind  Spuren  einer  sich  auch  sonst  findenden  Spannung 
zwischen  weltlicher  und  hierokratischer  Rechtsfindung.  In 
Babylon  hatte  die  Generation  vor  Hammurapi  die  Priester 
zugunsten  der  Laien  aus  den  Gerichten  ausgeschaltet  und  auf 
die  bloß  technische  Vollziehung  von  Orakeln  in  dem  von  Laien- 
richtern instruiertem  Prozeß  beschränkt.  Der  Kodex  Hammurapi 


I  38  ^^s  antike  Judentum. 

erwähnt  das  für  den  Verdacht  der  Zauberei  und  des  Ehebruchs 
der  Frau.  In  Israel  ist  das  Orakel  in  den  Rechtssprüchen  auf  den 
zweiten  dieser  Fälle  beschränkt.  Laienrichter:  die  Aeltesten  oder 
die  königlichen  Beamten,  entschieden  wenigstens  in  Nordisrael 
allein  die  Prozesse.  Im  Süden  muß,  wie  schon  früher  angedeutet, 
nach  der  Bedeutung  von  Kadesch  und  der  Prozeßorakeltätig- 
keit im  Mosessegen,  die  Stellung  der  Priester  im  Prozeß  allem 
Anschein  nach  weit  bedeutender  gewesen  sein.  Daß  die  Priester 
dort,  wie  gelegentlich  angenommen  wird,  jemals  wirklich  als 
ordentliche  Richter  fungiert  haben,  ist,  wie  gesagt,  nicht  erweislich. 
Wohl  aber  als  Schiedsrichter  und  Orakelstätte,  an  die  sich 
Parteien  und  Richter  mit  Rückfragen  wenden.  Ihre  stärkere 
Position  im  Süden  ist  an  sich  leicht  erklärlich.  Wie  die  politi- 
schen Verbände  der  halbnomadischen  Stämme  nur  als  religiöse 
Bünde  stabil  zu  bleiben  pflegten,  so  hatte  bei  ihnen  auch  —  gegen- 
über der  an  persönliches  Prestige  gebundenen  Macht  des  Schechs 
— nur  das  priesterliche  Orakel  eine  wirklich  überindividuell  zwin- 
gende Gewalt.  In  den  »mischpatim«des  aus  Nordisrael  stammenden 
Bundesbuches,  kenntlich  an  der  abstrakten  hypothetischen  Formu- 
lierung des  Tatbestandes  mit  »wenn«  .  .  .,  haben  wir,  wie  früher 
erwähnt,  den  Niederschlag  einer  alten  durch  babylonische  Vor- 
bilder beeinflußten  Laienjurisprudenz.  Nur  gelegentlich  kleiden 
sich  rein  profane  Gebote  in  die  Forni  der  »debarim«:'  »du  sollst«  .  . 
oder  »du  sollst  ^icht«.  Nicht  ausschließlich  also,  aber  doch  stark 
vorwiegend  ist  diese  Form  jedoch  jenen  Geboten  und  Verboten 
eigen,  welche  rituellen  oder  religiös -ethischen  Charakters  sind 
und  zweifellos  nicht  auf  profane  Juristen,  sondern  entweder  auf 
Orakel  von  Propheten  oder  auf  priesterlich  gelehrte  Gebote 
zurückgehen.  Wir  werden  über  die  Art  der  Entstehung  dieser 
letzteren,  also  der  nicht  prophetischen,  sondern  priesterlichen 
Vorschriften,  noch  zu  reden  haben.  Jedenfalls  sind  daran  die 
Leviten,  denen  der  Mosessegen  die  Pflicht  des  Unterrichts  des 
Volkes  sowohl  in  den  Rechten  (Mischpatim)  als  in  den  »Thoroth« 
zuspricht,  beteiligt.  Die  an  sich  profanen  Mischpatim  (von  schafat : 
»richten«)  waren  vom  jahwistischen  Standpunkt  aus  religiös  er- 
heblich, weil  und  soweit  sie  als  Teile  der  berith  mit  Jahwe  galten. 
DieChukim,  die  (rituellen)  Traditionen  zu  lehren  wird  den  Leviten 
(lo,  ii)  aufgetragen. 

Der    levitische    Lehrer    hatte    jedenfalls    im    Prinzip    nur 
mit    dem    zu   tun,   was  rituell   für  die  Lebensführung  geboten 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  i3q 

war.  Aber  die  Scheidung  von  »jus«  und  »fas«  ist  hier  noch 
weniger  als  bei  anderen  hierokratisch  beeinflußten  Sozialord- 
nungen durchgeführt  worden.  In  der  praktischen  Tätigkeit 
der  Leviten  hatte  in  der  Zeit  des  Mosessegens  das  Losorakel 
gerade  in  Rechtsstreitigkeiten  (wie  der  Name  Meribath  ergibt) 
in  Tätigkeit  zu  treten,  ynd  nachdem  die  Thora  rationale  reli- 
giöse Unterweisung  geworden  war,  wurde  der  Unterschied  erst 
recht  flüssig.  Denn  darüber:  was  als  Bestandteil  der  von  Jahwe 
garantierten  alten  Bundesordnungen  anzusehen  sei,  entschieden 
ja  die  Leviten  nach  der  Thora.  Ursprünglich  aber  heißt  »Thora« 
nicht,  wie  gelegentlich  noch  immer  übersetzt  wird,  »Ge- 
setz«, sondern:  »Lehre«.  Freilich  knüpft  der  Begriff  ebenfalls 
an  das  alte  Losorakel  der  Leviten  an^).  In  den  Quellen  be- 
zieht er  sich  jetzt  in  aller  Regel  auf  die  Gesamtheit  der  von  Prie- 
stern zu  lehrenden  Bestimmungen.  Im  Mosessegen,  wo  Thora 
von  Mischpat  unterschieden  ist,  bedeutet  sie  aber  offenbar 
speziell  die  rituellen  und  ethischen,  vor  allem  aber  auch:  sozial- 
ethischen, jedenfalls:  nicht  die  rechtlichen  Gebote  des  Bun- 
desgottes. Mag  nun  der  im  Mosessegen  (erst  hinter  Vers  9  und 
getrennt  von  Vers  8)  etwas  nachklappende  Vers  (10)  über  die 
Thora  nachträglich  hineingekommen  sein,  so  lehrt  er  doch  (im 
Zusammenhalt  mit  Vers  8  und  der  sonstigen  Tradition)  deutlich, 
auf  welchen  Leisturgen  die  Ausbreitung  und  Macht  der  Leviten 
beruhte:  auf  der  Beantwortung  nicht  prozessualer  Anfragen 
ihrer  »Kundschaft«.  Orakel  geben  war  zwar  von  Anfang  an 
die  spezifische  Form  ihrer  Leisturg  auch  hier.  Ab^r  für  den 
Privatbsdarf  hätten  das  rein  mechanische  Loswerfen  auch  rituell 
Ungeschulte  erlernen  können,  und  wir  sehen  in  der  Tat  aus  den 
Gideon-  und  Jonathan-Geschichten,  daß  Omina  und  Pfeilorakel 
zur  Ermittlurg  des  Willens  Jahwes  sowohl  wie  zur  Tatsachen- 
feststellung auch  von  Nichtleviten  benutzt  wurden.  Die  rituelle 
Korrektheit  des  Verfahrens  bsi  der  Befragung  Jahwes  war  das 
Entscheidende.  Auf  diese  rituelle  Korrektheit  mußten  vor  allem 
amtliche  Instanzen,  richterliche  und  politische,  bei  Anfragen  un- 
bedingtes Gewicht  legen,  und  für  sie  blieb  daher  das  levitische 
Losorakel  dauernd  wichtig.  Was  aber  die  Privatkundschaft  an- 
langt, so  konnte  ihren  Bedürfnissen  diese  primitive   Form,  bei 


*)  Der  Name    »Thora«    wird  von  »Loswerfen«  abgeleitet.    So  Ed.  Meyer 
(Die  Israeliten  usw.)  S.  95  f. 


IQQ  Das  antike  Judentum. 

aller  offiziellen  Anerkennung  ihres  Prestiges  (noch  :  in  Esras 
Zeit,  als  sie  längst  nicht  mehr  bestand)  unmöglich  auf  die  Dauer 
genügen.  Die  sozialen  Verhältnisse  und  dadurch  die  zu  stellen- 
den Fragen  komplizierten  sich.  Wir  sahen,  wie  in  der  aus  der 
Zeit  der  Blüte  der  Kultstätte  in  Dan  stammenden  Tradition 
(Jud.  17)  der  Grundherr  Micha  den .  zuwandernden  Leviten, 
angeblich  einen  Abkömmling  des  Moses,  zu  seinem  »Vater«  macht, 
d.  h.  ihm  neben  dem  Bildkult  vor  allem  die  Spendung  von  Be- 
lehrung über  seine,  des  Stifters,  Pflichten  gegen  Jahwe  überträgt 
(wie  in  Indien  dem  brahmanischen  Beichtvater).  Ebenso  War 
schon  von  der  stets  zunehmenden  Bedeutung  der  Chattat-  und 
Ascham-Opfer  neben  den  alten  Gabeopfern  (Bittopfern)  die 
Rede.  Diese  steigende  Bedeutung  des  Bedürfnisses  nach  Sünden- 
sühne ging  mit  der  zugunsten  der  rationalen  Beantwortung  ge- 
stellter Fragen  abnehmenden  Bedeutung  der  mechanischen  Los- 
orakel zusammen.  Eben  an  das  Orakejgeben  für  Private 
schloß  sich  naturgemäß  diese  zunehmend  rationale  Belehrung 
an.  Flüssig  war  die  Beziehung  zur  Prophetie  und  zum  Kult- 
priestertum.  Zwar  scheidet  Jeremia  klar  zwischen  der  Thora, 
-die  Sache  der  Priester,  und  dem  dabar  Gottes,  welches  Sache  der 
Prophetie  sei.  Aber  die  Bedeutung  von  »Thora«  als  »Orakel« 
(und  also  insofern  gleichbedeutend  mit  »debar  Jahwe)«  findet 
sich  bei  Jesaja  (i,  10  und  8,  16.  20),  und  einmal  (8,  16)  wird  so 
eine  den  Jüngern  versiegelt  übergebene  Orakelrolle  des  Pro- 
pheten bezeichnet.  »Thora-Lehrer«  (Thosfe  hattora:  Leute, 
die  »mit  der  Thora  umgehen«)  nennt  auch  Jeremia  (2,  8)  n  e  b  e  n 
den  Priestern,  den  Kohanim :  wohl  den  Kultpriestern  des  Jerusa- 
lemitertempels. 

Jedenfalls  aber  gewannen  die  Leviten  ihr  Prestige  nicht 
durch  Schulung  zum  Opferkult  für  die  Gemeinschaft, 
sondern  durch  die  Schulung  im  rein  rationalen  Wissen  von  Jah- 
wes Geboten,  den  rituellen  Mitteln,  Verstöße  dagegen  —  durch  cha- 
kat,  ascham,  Fasten  oder  andere  Mittel  — wiedergutzumachen  und 
dadurch  bevorstehendes  Unheil  abzuwehren,  schon  eingetretenes 
rückgängig  zu  machen.  Das  interessierte  zwar  König  und  Gemein- 
schaft auch.  Aber  vor  allem  doch  die  Privatkundschaft.  Mit 
zunehmender  politischer  Bedrängnis  Israels  nahm  grade  dies  Be- 
dürfnis universell  zu.  Ihm  durch  Belehrung  der  Kundschaft  abzu- 
helfen: das  wurde  nun  ausschließlich  der  Sinn  der  levitischen 
»Thora«.    Sie  wird  gegen  Lohn  gegeben  (Micha  3,  11).   Dem  Le- 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  iqi 

viten  wird  die  Sünde  gebeichtet  (Num.  5,  6)  und  er  »versöhnt« 
dann  den  Schuldigen  mit  Jahwe  (Lev.  4,  20.  31;  5,  10;  6,  7): 
das  ist  seine  für  die  Privatkundschaft  wichtigste  Leistung.  Mit 
dem  Zurücktreten  der  alten  dem  bäuerlichen  Heerbann  ange- 
hörigen  ekstatisch-irrationalen  Kriegspropheten  und  Nebijim 
parallel  geht  dieser  Aufstieg  der  —  mag  man  sich  zunächst 
die  Inhalte  so  primitiv  vorstellen  wie  man  will  —  doch  jedenfalls 
relativ  rationalen,  weil  lehrhaften  Beeinflussung 
durch  die  Leviten. 

In    die  Bahn    rationaler    Methodik  wurde  die  leviti- 
sche  Thora  auch  durch  die  technische  Eigenart  ihres  Orakelmit- 
tels gedrängt.   Gegenüber  der  Eingeweideschau,  der  Beobachtung 
des  Vogelfluges  oder  anderer  Verhaltungsweisen  von  Tieren,  voll- 
ends absr  gegenüber  jeder  Art  von  ekstatischer  Mantik  war  schon 
das   primitive   Auslosen    der    Antwort    auf    konkrete     Fragen 
mit  »Ja«  oder  »Nein«  mit  dem  absoluten  Minimum  von  Esoterik, 
emotionaler  oder  mystischer  Irrationalität  belastet.  Es  gab  keinen 
Anlaß  zur  Entstehung  solcher  Theoreme,  wie  sie  uns  die  baby- 
lonische Omina-Literatur  darbietet.   Vielmehr  erzwang  es  etwas 
ganz  anderes:  damit  durch  einfaches  Losen  der  Tatbestand  und 
der  konkrete  Wille  des  Gottes  festgestellt  werden  könne,  mußte 
die  Frage  richtiggestellt  sein.  Darauf  also  kam  alles  an  und  der 
Levit  mußte  sich  mithin  eine  rationale  Methodik  aneignen,  die 
Probleme,  die  dem  Gott  vorgelegt  wurden,  auf  einen  mit  »Ja« 
oder  »Nein«  beantwortbaren  Ausdruck  zu  bringen.    Zunehmend 
aber  mußten  auch  Fragen  auftauchen,  die  mit  den  Mitteln  des 
Loses   und   mit    »Ja«   oder    »Nein«  überhaupt   nicht   direkt  er- 
ledigt werden  konnten.   Ehe  sie  vor  den  Gott  gebracht  wurden, 
mußten  komplizierte  Vorfragen  erledigt  sein,  und  in  sehr  vielen 
Fällen  war  nach  dieser  Erledigung  gar  nichts  mehr  übrig,  was 
der  Ermittlung  durch  das  Losorakel  bedürftig  gewesen  wäre. 
War  insbesondere  durch  Befragung  festgestellt :  um  welche  Sünde 
des  Kunden  es  sich  handelte,  so  stand  die  Art  der  Sühne  tradir 
tionell  fest.    Nur  wo  die    Person    des  Sünders  fraglich  war, 
mußte,    wie    die    Achan-Erzählung    paradigmatisch    zeigt,    das 
Losorakel  helfen.  Gerade  für  die  privaten  Bedürfnisse  aber  trat 
es  an  Bedeutung  unvermeidlich  immer  mehr  zurück  zugunsten 
der  rationalen    Sünden-Kasuistik,   bis   der   theologische   Ratio- 
nalismus des  Deuteronomium  (18,  9 — 15)  das  Losen  der  Sache 
nach  überhaupt  diskreditierte,  es  mindestens  gar  nicht  erwähnte. 


JQ2  Das  antike  Judentum. 

und  für  die  Fälle,  in  denen  es  bisher  üblich  und  unvermeidlich 
gewesen  war:  —  wo  nämlich  die  Traditionen  der  Thoralehrer 
versagten  — ,  die  Befragung  der  Propheten  als  einziges  Mittel 
übrig  ließ. 

Das  Prestige  der  levitischen  Thora  hat  Wandlungen  durch- 
gemacht. Beginnend,  wenn  den  betreffenden  Erinnerungen 
irgend  zu  trauen  ist,  schon  in  der  Zeit  des  alten  Bundes,  stei- 
gerte es  sich  unvermeidlich  mit  dem  Eintritt  der  judäischen 
Südstämme  in  den  Verband,  wurde  dann  vielleicht  durch  die 
Trennung  der  Reiche  wieder  geschwächt,  stieg  aber  wieder  mit 
sinkendem  Prestige  der  nördlichen  Könige  und  wurde  im  Süd- 
reich zunehmend  alleinherrschend.  In  Aegypten  war  das  Sühn- 
opfer, wie  es  scheint,  nicht  bekannt.  Magier  standen  hier  an  der 
Stelle,  welche  die  Leviten  in  Israel  einnahmen.  Gelegenheit  und 
Anlaß  zu  rationaler  Belehrung  über  die  ethischen  Pflichten 
scheint,  jedenfalls  in  späterer  Zeit,  wesentlich  der  Totenkult 
der  Osirispriester,  der  volkstümlichste  von  allen,  geboten  zu 
haben.  Dagegen  findet  sich  die  Sühne  der  Sünde  durch  Opfer 
in  Mesopotamien,  vor  allem  aus  Anlaß  von  Krankheit,  die  als 
Folge  göttlichen  Zorns  galt.  Der  Sünder  hatte  unter  Leitung 
des  Priesters  die  alten  (zum  Teil  vorbabylonischen)  Bußpsalmen 
zu  rezitieren,  um  die  rituelle  Unreinheit  (assyrisch:  mamitu) 
von  sich  abzuwälzen.  Aber  der  Charakter  des  Vorgangs  war  auch 
hier,  wie  in  Aegypten,  magisch,  nicht  ethisch-paränetisch.  Und  das 
für  Babylonien  zwar  von  Hesekiel  (21,  26)  erwähnte,  aber  aus 
der  Priestertechnik,  soviel  bisher  bekannt,  längst  verschwundene 
Losorakel  war  hier  nicht  durch  rationale  Thora,  sondern  durch 
Sammlung  und  Systematisierung  der  Omina  und  eine  priester- 
liche Fachlehre  ihrer  Deutung  ersetzt,  welche  uns  in  einer  höchst 
monströsen  Literatur  erhalten  ist  ^).  Wir  werden  später  erörtern, 
auf  welchen  Gründen  dieser  wichtige  Unterschied  der  Entwicklung 
beruhte. 

Die  Leviten  paßten  sich  bei  ihrer  Verbreitung  den  vorhan- 
denen Zuständen  an.  Wie  das  Beispiel  des  Micha  zeigt,  hatten 
die  älteren  Leviten  sich  dem  Idolkult  des  Nordreichs  unbedenk- 
lich gefügt;  vermutlich  gehörten  sie  dort  zu  den  Trägern  der 
Vorstellung,  daß  die  Idole  eben  Jahwe-Idole  seien.    Aber  ihr  nach 


1)   S.    dazu    U  n  g  n  a  d  ,    Die  Deutung  der  Zukunft  bei  den  Babyloniern 
und  Assyrem,  Leipzig  1909. 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  jq'? 

der  Tradition  unzweifelhafter  Ursprung  aus  dem  Süden  ließ, 
als  der  Bilderstreit  bsgann,  den  Nachschub  sicherlich  mit  steigen- 
dem Gewicht  in  die  Wagschale  der  Bilderfeinde  fallen.  Sehr 
wahrscheinlich  ist  ein  Teil  der  später,  wie  bald  zu  erörtern,  zu 
priesteramtsunfähigen  Leviten  und  Tempeldienern  degradierten 
Leviten  aus  idolatrischen  Levitengeschlechtern  hervorgegangen, 
wofür  die  Entwicklung  des  Brahmanentums  in  Indien  ja  eben- 
falls Analogie  bieten  würde. 

Wie  bei  den  Brahmanen,  so  lag  bei  den  levitischen  Priestern 
die  eigentliche  Quelle  ihres  Prestiges  im  >> Wissen«  von  den  maß- 
geblichen Vorschriften  Jahwes.  Nur  eben  —  bei  der  aus  politischen 
Gründen  weit  geringeren  Bedeutung  und  größeren  Jugend 
des  Kults  und  dem  Fehlen  eines  heiligen  Buches  vom  Charakter 
des  Veda  —  im  Wissen  von  positiven  rituellen  und  ethischen 
Geboten  und  der  Art,  wie  man  durch  deren  Befolgung  den 
Gott  günstig  stimmt  oder  seinen  durfch  Verstöße  dagegen  er- 
regten Zorn  besänftigt.  Es  war  so,  als  ob  es  in  Indien  nur  gri- 
hyasutras  und  darma^astras  und  überhaupt  an  rituellen  Geboten 
nur  ganz  wenige  einfache  Vorschriften  gegeben  hätte.  Darin  lag 
der  überaus  große  Unterschied  gegenüber  den  Brahmanen. 
Und  dann:  in  dem  Fehlen  jeder  Esoterik  im  indischen  Sinn. 
Weder  ein  magisches  oder  ein  Mystagogen- Wissen,  noch  ein 
Buchwissen,  noch  astrologisches,  therapeutisches  oder  anderes 
Geheimwissen  brachte  diese  von  Süden  her  langsam  das  Land 
überflutende  Welle.  Mystagogie  konnte  sich  nur  auf  dem  Boden 
der  Nabi-Ekstase  entwickeln  und  hat  sich  auch  daraus,  wie  wir 
aus  den  Elisa-Mirakeln  sehen,  entwickelt.  Daß  die  »Gottesmän- 
ner«, Gegenstände  scheuer  Furcht  und  gläubiger  Verehrung, 
als  magische  Nothelfer  nicht  nur,  sondern  auch  als  Fürbitter  bei 
Jahwe  eintreten  und  Sündenvergebung  erwirken,  ist,  von  Gen. 
20,  7  angefangen,  massenhaft  in  der  Tradition  bezeugt.  Aber  es 
hat  sich  daraus  nicht,  wie  in  Indien,  eine  anthropolatrische 
Verehrung  lebender  Heilande  entwickelt.  Die  levitische  Thora 
hat  das  verhindert.  Diese  Männer  des  Südens  und  ihre  rechabiti- 
schen  und  andern  Verbündeten  wußten  nur:  daß  das  alte  gute 
Recht  der  Jahwe-Eidgenossenschaft  durch  berith  Jahwes  mit 
dem  israelitischen  Heerbann  nach  Verkündigung  durch  Mose 
dereinst  festgestellt  war  und  daß  jede  Verletzung  dieser  Sat- 
zungen Jahwes  Zorn  hervorrufen  müsse.    Neben  dem,   wie  das 

Max  Weher,   Religionssoziologie   UI.  '3 


jQ^  Das  antike  Judentum. 

Deuteronommm  zeigt,  schlichten  Ernst  ihrer  Opferpraxis  standen 
bei  ihnen  die  damals  noch  einfachen  Ritualgebote  und  die  r  a- 
tionale    Lehre    der  privaten  und  Sozialethik.  — 

Die  Leviten  werden  sich,  wie  die  Brahmanen,  mancherlei 
alte  örtliche  Priesterschaften  assimiliert  haben.  Andererseits 
kann  es  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  heftige  Kämpfe  der 
Priestergeschlechter  der  einzelnen  Kultstätten  stattgefunden 
haben.  Priester,  die  sich  an  verworfenen  Kulten  beteiligten, 
wurden  deklassiert  ^).  Das  -ursprüngliche  Verhältnis  der  von 
Süden  zuwandernden  Leviten  zu  den  altansässigen  Kultpriester- 
geschlechtern ist  problematisch.  Das  alte  Priestergeschlecht 
der  Eliden  in  Silo,  welches  nach  dem  in  ihm  vorkommenden 
ägyptischen  Namen  (Pinchas)  am  wahrscheinlichsten  auf  Mose 
zurückgeht,  wird  zwar  später  als  ein  Levitengeschlecht  behandelt. 
Ebenso  das  danitische  Priestergeschlecht.  Aber  ursprünglich 
scheinen  die  Eliden  nicht  als  Leviten  zu  gelten,  und  vollends 
undeutlich  bleiben  die  ursprünglichen  Verhältnisse  zu  den  bei- 
den großen  Priestergeschlechtern,  welche,  das  eine  in  der  deutero- 
nomischen  und  frühexilischen,  das  andere  in  der  nachexilischen 
Zeit,  die  entscheidende  Rolle  spielen:  den  Zadokiden  und  den 
Aaroniden.  Die  späteren  levitischen  Stammbäume  beider  sind 
natürlich  gefälscht.  Die  Zadokiden  waren  seit  Salomo  das  füh- 
rende jerusalemitische  Königspriestergeschlecht.  Dem  Deutero- 
nomium  galten  sie  als  levitisch;  sie  müssen  also  —  ein  Beweis 
für  das  damals  schon  als  althistorisch  feststehende  Prestige  der 
Leviten  —  bereits  vorher  mit  diesen  sich  zu  verschmelzen  für 
klug  gehalten  haben.  Am  problematischsten  bleibt  dagegen  die  ur- 
sprüngliche Stellung  der  Aaroniden  und  der  Figur  Aar ons  selbst  2). 
In  den  ältesten  vordeuteronorriischen  Nachrichten  (Ex.  24,  i.  9; 
18,  12)  scheint  Aaron  als  der  vornehmste  der  Aeltesten  Israels 
zu  gelten,  also  nicht  als  ein  Priester.  In  den  späteren,  insbesondere 
den  exilischen,  Redaktionen  ist  er  Priester  und  steigt  fortwährend, 
zuerst  zum  Sprecher  des  Mose,  der  schwerer  Zunge  ist,  dann  zum 
Bruder  der  Prophetin  Mirjam,  dann  zum  Bruder,  und  zwar  zum 
älteren  Bruder,  des  Mose  selbst.  Und  schließlich  kommt  es  in  der 
spätesten  Redaktion  vor,  daß  er  auch  allein  und  direkt  Offen- 

^)  So  die  vermutlich  aus  den  orgiastischen  Kulten  stammenden  »Sängern 
und  »Nethinim«  der  nachexilischen  Zeit. 

^)  Ueber  Aaron  vgl.  Westphal,  Aaron  und  die  Aaroniden,  Z.  f.  A.-T.  W. 
26  {1906). 


I.  Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  iqc 

barungen  über  seine  und  seines  Geschlechts  Rechte  erhält  (Lev. 
10,  8;  Num.  i8,  i.  9.  20)  ^).  Die  Zadokiden  wurden  nun  als  ein 
Teil  der  Aaroniden  behandelt.  Dem  Mose  wird  mit  erstaunlicher 
Dreistigkeit  seine  in  der  alten  Tradition  vorkommende  Nach- 
kommenschaft, zu  der  sich  außer  dem  Priestergeschlecht  der 
Eliden  vor  allem  das  in  Dan  rechnete,  fortkonfisziert  und  dem 
Aaron  zugeschrieben.  Da  die  jahwistische  Renzension  Aaron 
gar  nicht  gekannt  zu  haben  scheint  und  er  mit  dem  Stierdienst 
in  Verbindung  gebracht  wird,  so  hat  man  auf  nordisraelitischen 
Ursprung  geschlossen.  Da  die  aaronidische  Rezension  der  Abra- 
hamsage (Gen.  17)  sich  Gott  dem  Abraham  als  »El  Schaddaj« 
vorstellen  läßt,  so  ist  es  möglich,  daß  die  Aaroniden  ein  altes 
El-Priestergeschlecht  waren  und  deshalb  auf  diese  Feststellung 
der  Identität  ihres  Gottes  mit  dem  im  Exil  zum  einzigen  Welt- 
gott erhobenen  Jahwe  Gewicht  legten.  Die  Notiz  im  letzten 
Verse  des  Josuabuchs  könnte  Beziehungen  zu  Benjamin  vermuten 
lassen,  dem  in  der  spätem  Redaktion  der  Jakoblegende  so  stark 
bevorzugten  Lieblingssohn.  Indessen  bleibt  das  alles  Unsicher. 
Die  heftigen  Kämpfe  unter  den  Priestergeschlechtern  spiegelt 
die  Tradition  neben  zahlreichen  Retouchierungen  der  Fassung 
auch  in  den  gegenseitigen  Fluchsprüchen  wider.  Dem  vermut- 
lich alten  überschwenglichen  Segensspruch  für  Pinchas,  den 
Ahn  des  elidischen  Priestergeschlechts  in  Silo,  steht  nach  dem 
Sturz  der  Eliden  unter  Salomo  die  im  Samuelbuch  verzeichnete 
Unheilsdrohung  gegen  dies  Geschlecht  gegenüber.  Gegner  der 
Priesterautorität,  wie  die  Korachiten,  werden  von  der  Erde 
verschlungen:  später  sind  sie  degradierte  Sängersippen.  Auch 
der  Widerstand  nicht  nur  der  puritanisch  gesinnten  jahwistischen 
Priesterschaft,  sondern  vor  allem  der  Interessenten  der  alten 
Kultorte  im  Norden  gegen  den  salomonischen  Tempelbau  und 
gegen  das  dadurch  gegebene  Uebergewicht  dieser  Kultstätte 
muß,  wie  die  Spuren  in  der  umredigierten  Tradition  ergeben,  sehr 
stark  gewesen  sein.  Und  sicherlich  ist  der  Abfall  des  Nordreiches 
sehr  wesentlich  mitbedingt  gewesen  durch  diese  Gegensätze  der 
Priesterschaften  und  ihrer  Kultregeln,  wie  Jerobeam^  Maßregeln 
zugunsten  von  Dan  und  Bethel,  vor  allem  aber  deren  Motivierung 
durch  den  König  ergeben.    Am  deutlichsten  zeigt  sich  aber  die 


^)  Schneider  a.  a.  O.  will  die  Aaronidon  von  der  Bundeslade  ableiten,  Was 
an  sich  nahe  läge.    Aber  sie  sind  nirgends,  wie  er  annimmt,  mit  Silo  verknüpft. 

13* 


jQ^  Das  antike  Judentum. 

Schärfe  der  Gegensätze  darin,  daß  in  den  gegenseitigen  Tendenz- 
legenden auch  die  Stammväter  des  Jahwekults  nicht  geschont 
werden.  Gegen  Mose  selbst  schreibt  die  Legende  der  aaronidi- 
schen  Priester  dem  Aaron  und  der  Prophetin  Mirjam  schwere 
Vorwürfe  zu,  vor  allem  seine  Mischehe.  Die  Tradition  weiß, 
daß  seine  Nichtbeteiligung  am  Einmarsch  in  das  gelobte  Land 
Folge  seiner  Sünde  war.  Andererseits  wird  aber  Mirjam  dafür 
nach  der  mosaischen  Legende  vom  Aussatz  geschlagen.  Ganz 
schwankend  ist  vor  allem  die  Stellung  Aarons  selbst,  dem  neben 
sonstigen  Irrungen  vor  allem  die  Beteiligung  am  Stierdienst  — 
ein  in  der  Zeit  der  Endredaktion  dieser  Tradition  todeswürdiges 
Verbrechen  —  vorgeworfen  wird,  dem  aber  dennoch  in  der  Tra- 
dition nichts  Uebles  dafür  widerfährt. 

Dieser   Kampf   der   Priesterschaften   untereinander   mußte 
sich  verstärken,  als  diejerusalemiter  Priesterschaft  (damals:  die 
Zadokiden)  nach  der  politischen  Vernichtung    des  Nordreiches 
die  letzte  Konsequenz  zog  und  den,  gegenüber  der  klaren  alten 
Tradition    ganz    unerhörten,  Anspruch   aufstellte;  daß    fortan 
nur    in     Jerusalem     ein    Tempel    und  eine  rituell  voll- 
wertige Opferstätte  bestehen  solle,    die  alte  Verehrung  Jahwes 
auf  Höhen  und  unter  Bäumen  und  an  den    alten    ländlichen 
und  provinzialen  Kultstätten    in  Bethel,  Dan,    Sichem  und  an 
anderen  Orten  aufzuhören  habe.    Die  Forderung  war  wohl  nicht 
absolut  neu,  sondern  entstand  vermutlich  gleich  nach  dem  Unter- 
gang des  Nordreichs.    Denn  es  scheint,  daß  schon  Hiskia  in  der 
schweren  Kriegsnot  gegen  Sanherib  einen  Anlauf  zu  ihrer  Ver- 
wirklichung genommen  hatte.   Aber  der  Widerstand  der  ideellen 
und  materiellen  Interessenten  der  ländlichen  Kultstätten:  der 
Bauern  und  Grundherren,  war  damals  wohl    zu  stark.     Unter 
Manasse,  der  seinerseits  als  assyrischer  Vasall  mesopotamischen 
Sterndienst   in  Jerusalem  pflegte,  war  keine  Rede  mehr  davon. 
Sein  gleichgesinnter   Nachfolger  Amon  wurde,    vermutlich   auf 
Anstiften   der   jahwistischen  Partei,   durch  eine   Militärrevolte, 
ähnlich   wie   seinerzeit   die    Omriden   im    Nordreich,    beseitigt. 
Die  Stärke  der  Widerstände    gegen  die  Priesterforderung  zeigte 
sich  aber  damals  darin,  daß  die  hier  erstmalig  unter  dem  später 
oft  wiederkehrenden  Parteinamen  'amme  ha  arez,  »Landleute«, 
auftretenden  Interessenten  der  ländlichen  Kultstätten  die  Revo- 
lution niederwarfen.    Aber  es  gelang  den  mit  vornehmen,  den 
jahwistischen    Parteien    befreundeten  Adelssippen    verbündeten 


I.     Die  israelitische   Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  iq^ 

Priestern,  auf  den  unmündigen  Josia  Einfluß  zu  gewinnen  und  als 
die  große  Koalition  gegen  das  assyrische  Reich,  die  ihm  den 
Untergang  brachte,  sich  vorbereitete,  tauchte  die  Forderung 
erneut  auf.  Sie  war  die  Kernforderung  des  deute r  onomischen 
Gesetzbuchs,  eines  literarischen  Produkts  der  um  die  Jerusa- 
lemiter  Priesterschaft  gruppierten  Intellektuellenschicht.  Man 
ließ  es  durch  Angestellte  des  Tempels  in  diesem  »auffinden«. 
Die  utopische  Hoffnung,  durch  Erfüllung  der  in  diesem,  angeblich 
den  echten  alten  mosaischen  sefer  hattorah  repräsentierenden 
Fund  enthaltenen  Gebote  Jahwes  Hilfe  gegen  den  durch  Palä- 
stina marschierenden  Pharao  Necho  zu  erlangen,  war  es  offenbar, 
die  König  Josia  veranlaßte,  das  Volk  in  feierlicher  berith  auf 
dies  Gesetz  zu  verpflichten,  die  alten  Kultstätten  zu  zerstören 
und  durch  Totengebeine  rituell  zu  verunreinigen  (621).  Die  Nie- 
derlage und  der  Tod  des  Königs  in  der  Schlacht  bei  Meggiddo 
machte  indessen  allen  diesen  Hoffnungen  ein  Ende  und  war 
überhaupt  ein  furchtbarer  Schlag  für  die  levitische  Jahwe-Partei. 
Der  augenscheinliche  Anspruch  des  Kompendiums,  an  die  Stelle 
aller  anderen  Rechtssammlungen  zu  treten,  war  damit  zunächst 
dahingef allen.  Aber  als  ideale  Forderung  der  damals  allein  fest 
organisierten  Jerusalemiter  Priesterschaft  blieb  er  bestehen. 
In  kluger  Weise  hatten  seine  Redaktoren  mit  jenem  Monopol- 
anspruch andere,  ihrer  eigenen  Machtstellung  zugute  kommende, 
zugleich  aber  sehr  populäre  Forderungen  verbunden.  Zunächst 
den  alten  Protest  gegen  das  salomonische  Fronkönigtum.  Nie 
war  vergessen  worden,  daß  auch  die  an  Prestige  höchststehende, 
davididische  Dynastie  durch  berith  der  Aeltesten  den  Thron 
erlangt  hatte  und  daß  der  alte  israelitische  Führer  ein  auf  dem 
Esel  reitender  charismatischer  Volksfürst  ohne  Kriegswagenpark, 
Hort,  Harem,  Fronden,  Steuern  und  ohne  weltpolitische  Allüren 
gewesen  war.  Das  sollte  nun  im  Ernst  wieder  hergestellt  werden. 
Die  Entscheidung  über  die  Würdigkeit  der  Könige  sollte  das 
alte  Losorakel  der  Priester  geben,  der  König  an  das  deuteronomi- 
sche  mosaische  Gesetz,  das  er  täglich  lesen  sollte,  gebunden  sein. 
Entsprechende  Berichte  über  die  Art,  wie  Saul  von  Samuel  zum 
König  kreiert  worden  sei,  wurden  nun  den  alten  Ueberlieferungen 
eingefügt,  ebenso  die  Legende  vom  Sieg  des  Hirtenknaben 
David  über  Goliath  an  Stelle  der  echten  Tradition.  In  der  Um- 
redaktion  der  Königstradition  erhielt  nun  jeder  König  seine 
Zensur   je   nach    seiner    Stellung    zum    Idol-  und    Höhendienst. 


jgg  Das  antike  Judentum. 

Aus  ähnlichen  Gründen  war  das  alte  Sozialrecht  des  Bundes- 
buchs entsprechend  umgestaltet  in  das  neue  Kompendium 
aufgenommen  worden.  Da  der  babylonische  Lehensherr  des 
Zedekia  ein  Interesse  an  der  Schwächung  der  Königsgewalt 
hatte,  so  ist  durchaus  glaubhaft,  daß  unter  diesem  Fürsten  einige 
Zeit  mit  diesen  Forderungen  wirklich  Ernst  gemacht  wurde. 

Die  Exilszeit  überkam,  neben  den  erst  teilweise  und  unvoll- 
kommen vereinheitlichten  anderen  Sammlungen  von  Legenden 
und  Traditionen,  dies  Kompendium  als  die  einzige  ganz  in  sich 
geschlossene  Theologie.  Die  praktisch  weittragendste  Forderung 
des  deuteronomischen  Gesetzes  war  von  Anfang  an  das  Kult- 
monopol Jerusalems  und  seiner  Priesterschaft.  Zugleich  frei- 
lich diejenige,  welche  die  erheblichsten  Schwierigkeiten  schuf. 
Von  dem  Widerstand  der  nicht  jerusalemitischen  Laieninteressen- 
ten ganz  abgesehen,  —  was  sollte  aus  jenen  Leviten  und 
andern  Priestern  werden,  die  bisher  an  den  andern  Kultstätten 
amtiert  hatten  ?  Das  später  ^ehr  stark  interpolierte  deuter onomi- 
sche Gesetz  enthält  darüber  in  der  jetzigen  Redaktion  zwei  wider- 
sprechende Bestimmungen.  Einerseits  die  Mahnung  an  alle  Israe- 
liten, die  »Leviten  in  ihren  Toren«  nicht  ohne  Nahrung  zu  lassen: 
diese  sollten  also  Rentner  ohne  Kultrecht  werden  und  mit  den 
Priestern  nur  das  Recht  der  »Lehre«  des  Gesetzes  teilen.  Anderer- 
seits die  Bestimmung,  daß -diese  Priester  nach  Jerusalem  über- 
siedeln und  am  dortigen  Kult  teilnehmen  könnten:  —  eine  jeden- 
falls nicht  von  den  Priestern  selbst  in  das  Gesetz  gebrachte  Be- 
stimmung, deren  Ausführung  denn  auch,  als  damit  Ernst  gemacht 
wurde,  die  Jerusalemiter  Priesterschaft  nicht  zuließ.  Darüber 
kam  das  Exil  und  das  hieß :  die  Fortführung  aller  Priestergeschlech- 
ter. Im  zwingenden  Interesse  der  gesamten  Priesterschaft 
lag  es  nun,  sich  zu  vertragen.  Noch  Hesekiel  hatte  das  Monopol 
der  Jerusalemiter  Zadokiden  vertreten  und  von  ihnen  der  deutero- 
nomischen Theorie  entsprechend  die  »Leviten«  als  Priester  zweiten 
Grades,  ohne  Opferrecht,  geschieden.  Aber  das  Monopol  der  Zado- 
kiden war  offenbar  nicht  durchzusetzen.  Das  schließliche  Kom- 
promiß in  der  Perserzeit,  für  dessen  Inhalt  wahrscheinlich  auch 
das  Maß  des  höfischen  Einflusses  der  einzelnen  Geschlechter 
maßgebend  war,  hat  offenbar  der  schriftgelehrte  Priester  Esrä 
gefunden,  indem  er  die  Zadokiden  als  einen  Teil  der  Aaroniden 
behandelte  und  diesen  allen  die  Qualifikation  zum  Opferdienst 
an  der  alleinigen  Kult  statte   Jerusalem  gab,    alle  anderen  als 


I,    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  iqq 

levitisch  anerkannten  Geschlechter  zu  ihnen  unterstellten 
reihum  dienenden  Subalternbeamten  des  Kults  degradierte, 
gewisse  andere  zu  leiturgischen  »Tempelsklaven«  (Nethinim) 
Sängern  und  Türhütern.  Die  Dreiteilung  der  Hierokratie: 
Priester,  Leviten,  Nethinim  und,  nachdem  diese  letzteren  ver- 
schwunden waren:  Priester  und  Leviten,  die  noch  in  den  Evan- 
gelien besteht,  entstammt  dieser  Regulierung.  Das  Mittel,  sie 
annehmbar  zu  machen,  war  die  Ordnurg  der  materiellen 
Verhältnisse:  die  universelle  Zehentpflicht  des  ganzen  heiligen 
Bodens  wurde  durchgeführt  und  der  Ertrag  dieser  und  einiger 
hier  nicht  interessierender  anderer  Gefälle  unter  die  beteiligten 
hierokratischen  Interessenten  verteilt.  Die  besonderen  Verhält- 
nisse einerseits  der  Exilsgemeinde,  andererseits  die  später  zu  er- 
wähnende Art  der  politischen  Beziehungen  zum  Perserhof,  wel- 
che für  die  Neuregelung  maßgebend  waren,  bedingten  diese  Art 
der  Erledigung  der  alten  Kämpfe,  welche  durch  massenhafte 
Interpolation  der  alten  Satzungen  und  Traditionen  und  durch 
die  Neukodifikation  der  Bestimmungen  des  von  Esra  durch  feier- 
liche Verpflichtung  der  synoikisierten  Gemeinde  auferlegten 
sogenannten  »Priesterkodex«  legitimiert  wurde.  Uns  sollen 
hier  die  Einzelheiten  dieser  äußeren  Regulierung  nicht  näher 
angehen.  Wir  kehren  vielmehr  nochmals  in  die  vorexilische 
Zeit  zurück  und  betrachten  die  inneren  Konsequenzen  und  die 
Triebkräfte  der  eigenartigen  Entwicklung. 

Die  Kultmonopolisierung  in  Jerusalem  hatte  zunächst 
eine  sehr  wichtige  Konsequenz:  die  Profanierung  der  bis  dahin 
wenigstens  theoretisch  als  »Opferung«  und  »Opfermahl«  geltenden 
häuslichen  Schlachtungen  und  Fleischmahlzeiten.  Diesen  Cha- 
rakter verloren  sie  jetzt,  wo  nur  in  Jerusalem  Opfer  stattfinden 
konnten,  vollständig.  Und  nur  der  Vorbehalt :  daß  wenigstens  die 
nicht  zu  entfernt  wohnenden  Abgabspflichtigen  ihre  Opfergabe 
in  der  heiligen  Stadt  selbst  als  Opfermahl  verzehren  sollten  — 
den  anderen  wurde  Umwechselung  in  Geld  gestattet  —  blieb, 
in  zunächst  problematischer  Bedeutung,  bestehen.  Jene  Pro- 
fanierung aller  privaten  Mahle  war,  nach  der  Ablehnung  des 
Totenkults,  der  letzte  Schlag,  welchen  der  Jahwismus  der  Mög- 
lichkeit einer  sakralen  Bedeutung  der  Sippe  versetzte :  es 
konnte  fortan  keine  vom  Sippen  haupt  geleiteten  Kultmahle 
mehr  geben.  Denn  das  Passahmahl  war  längst  kein  Sippenmahl 
mehr,  sondern  ein  häusliches  Familienfest.   Das  schnelle  Schwin- 


200  T>Sifi  antike  Judentum. 

den  der  Bedeutung  der  Sippen  in  nachexilischer  Zeit  hängt  wohl 
auch  damit  zusammen.  Als  eine  absichtsvoll  gegen  die  Sippen 
gerichtete  Maßregel  ist  jene  Bestimmung,  welche  diesen  Erfolg 
haben  mußte,  freilich  wohl  kaum  gedacht  gewesen:  sie  war  ein 
Nebenerfolg  der  Kultmonopolisierung,  wie  schon  die  Halbheit 
der  für  das  Verzehren  der  Abgaben  geschaffenen  Bestimmungen 
zeigt.  Die  Bedeutung  der  Kultmahle  als  solche  war  vielmehr  schon 
in  vorexilischer  Zeit  langsam  aber  nachdrücklich  ihres  einstigen 
Sinns  entkleidet  worden.  Ihrem  einstigen  Sinn  und  dem  mit 
dem  Vordringen  der  Leviten  eng  zusammenhängenden  Prozeß 
seiner  Aenderung  müssen  wir  uns  jetzt  zuwenden.  Denn  hier  liegen 
sehr  tiefgehende  Eigentümlichkeiten  der  puritanischen  Jahwe- 
religion, welche  die  Stellungnahme  ihrer  Vertreter  zu  den  an- 
dern Kulten  erst   verständlich  machen. 

Es  ist  Ed.  Meyers  Verdienst,  auf  einen  charakteristischen 
Gegensatz  des  Ritus  bei  der  israelitischen  »berith«  aufmerksam 
gemacht  zu  haben,  der  zwischen  der  Hauptkultstätte  Nord- 
israels, Sichem,  einerseits  und  Jerusalem  andererseits  bestand. 
Der  Bund  in  Sichem  hatte  nach  dem  Josuabuch  den  Charakter 
eines  Kultmahls,  also  einer  Speisegemeinschaft:  einer  »Koi- 
nonia«,  mit  dem  Gott,  so  wie  sie  auch  in  einer  alten  nordisraeli- 
tischen Erzählung  vom  Sinaibunde  berichtet  wird,  wo  die  siebzig 
Aeltesten  ebenso  an  Jahwes  Tafel  Gäste  sind,  wie  umgekehrt  er 
zum  Opfermahl  der  Kultgenossen  zu  Gaste  kommt.  Sehr  anders 
ist  der  überlieferte  Ritus  in  Juda,  der  besonders  eingehend  für 
die  berith  unter  Zedekia  berichtet  und  von  der  Legende  auch 
für  Gottes  berith  mit  Abraham  als  geltend  vorausgesetzt  wird. 
Das  Opfertier  wird  zerstückt  und  zwischen  den  Stücken  gehen  die 
sich  verpflichtenden:  König,  Priester  und,  je  nachdem,  Sippen- 
älteste oder  Mannen  ('am)  sämtlich  hindurch.  In  jener  Legende 
tut  dies  Jahwe  nächtlicherweile.  Eine  sakramentale  Koinonia 
mit  dem  Gott  fand  hier  also  nicht  statt.  Die  Zerstückelung  eines 
Opfertiers  findet  sich  nun  in  einer  anderen  Zeremonie  wieder. 
Der  Held  oder  Prophet,  der  Israel  zum  heiligen  Kriege  gegen 
Fremd  Völker  oder  frevelnde  Eidgenossen  aufrufen  will,  zerstückt 
ein  Tier  und  sendet  die  Stücke  im  Lande  umher.  Das  gilt  als 
Mahnung  an  die  Pflicht,  Jahwe  Heerfolge  zu  leisten.  Diese  Form 
wird  nur  zweimal,  aber  gerade  für  Nordstämme:  Ephraim  und 
Benjamin,  berichtet.  Nimmt  man  irgend  eine  Beziehung  zu  der 
judäischen  Form  der  berith  an,  was  immerhin  nahe  liegt,  so  könnte 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  201 

also  diese  Form  auch  im  Norden  nicht  unbekannt  gewesen  sein. 
Dann  wäre  wohl  anzunehmen,  daß   die  bei  der  f est ar gesessenen 
Bevölkerung  von  Sichem  übliche  Koinonia  die  altkanaanäische 
Form  der  Herstellung  einer  Beziehung  zum    f  r  i  e~d  liehen 
Gott,  dagegen  bei  den  minder  fest  seßhaften  Bauern  und  Hirten 
der    Berge  jene    andere    dem  Bundeskriegsgott   Jahwe  eigene., 
der    Kriegs  Verbrüderung  dienende  Form  ursprünglich  hei- 
misch gewesen   sei.     Dafür  spricht  eine  erhebliche  Wahrschein- 
lichkeit  auch   deshalb,   weil   diese   Zerstückung   des   Opfertiers 
doch    wohl  als  ein  rituelles   Rudiment  der  alten  orgiastischen 
Zerreißung  des  Opfertiers    —  bei  den  afrikanischen  Beduinen : 
eines  Hammels    —  anzusprechen  ist,  wie  sie  sich  namentlich 
bei   Gebirgs-  und  Steppenvölkern  findet,  und  wie  sie  bei  den 
Iraniern  erst  durch  Zarathustra,  vielleicht  unter  dem  Einfluß 
mesopotamischer  Bildung,  ausgerottet  worden   zu  sein  scheint. 
]\Ian  wird  in  der  Annahme  kaum  fehl  gehen,  daß  auch  bei  den 
judäischen  Stämmen  ein  planvoller  Kampf  gegen  die  ursprüng- 
liche, z.  B.  auch  im  Pyonysoskult  sich  findende,  Fleischorgie  diese 
beseitigt  hat.   Vielleicht  bedeutet  das  spätere  rituelle   Verbot 
des    Blutgenusses  eine  Etappe  auf  diesem  Wege,  und 
dann  würde  die  an  sich  späte  Motivierung:  daß  man  »die  Seele 
des  Tiers  nicht  essen  dürfe«,  doch  Spuren  des  einstigen  animisti- 
schen   Sinnes  aufbewahren.    Denn,  wie  wir  gelegentlich  sahen: 
für  das  Heer  im  Kriege  galt  jenes  Verbot  anscheinend  ursprüng- 
lich   nicht.    Es  wäre  die  Entwicklung  dann  so  zu  denken; 
daß  der  Blutgenuß,  der  ursprünglich  nur  in  normalen  Zeiten, 
außerhalb  der  dem  Kriegsgott  vorbehaltenen  Fleischorgie,  unter- 
sagt war,    später,   unter  dem  Einfluß  des  uns  bekannten  Ent- 
militarisierungsprozesses  und  der  Beseitigung  der  Orgien,  als  ein 
für  allemal  verboten  gegolten  hätte.    Doch  kann  dies  nur  als 
unsichere  Hypothese  gelten.    In  der  Ueberlieferung  findet  sich 
schließlich  (Ex.  24,  6.  8)  noch  eine  dritte  Form  der  Eingehung 
einer  berith:  die  Besprengung  der  Jahwegemeinde  mit  Opfer- 
blut, mit  welchem  zugleich  auch  der  Altar  besprengt  wurde. 
Sie  setzt  Mitwirkung  des  Priesters  voraus,  denn  nur  er  kann 
jenen  Akt  vornehmen.   Da  sie  in  die  sehr  alte  Erzählung  vom  ge- 
meinsamen Mahl   Jahwes  mit  den  Aeltesten  eingeflochten  ist: 
—  diese    Tischgemeinschaft  ist  hier  Folge  der  geschlossenen 
berith,    nicht    ihrerseits  Stiftung  der  religiösen  Koinonia  — , 
so  mag  auch  sie  alt  und  in  diesem  Fall  südlichen  Ursprungs  sein. 


202  ^^^  antike  Judentum. 

Auch  dies  ist  unsicher.  Für  uns  ist  lediglich  wichtig:  daß  den 
Südstämmen  eine  Zeremonie,  welche  eine  sakramentale  Koi- 
nonia  mit  dem  Gott  herstellte,  in  historischer  Zeit  unbekannt  war. 
Denn  damit  kommen  wir  zu  einem  wichtigen  Punkt,  der  den  ent- 
scheidenden Gegensatz  des  südlichen  reinen  Jahwismus  gegen  die 
nordisraelitische  Verschmelzung  mit  Baal-  und  verwandten 
Ackerbaukulten  bedingte  und  zu  dessen  äußeren  Zeichen 
jener  an  sich  mehr  formale  Gegensatz  der  berith  gehört. 

Die  Baalkulte,  wie  die  meisten  alten  Ackerbaukulte,  waren 
und  blieben  bis  zuletzt  orgi  astisch,  und  zwar  insbesondere 
a  1  k  o  h  o  1-  und  sexual  orgiastisch.  Die  rituelle  Begattung 
auf  dem  Acker  als  homöopathischer  Fruchtbarkeitszauber, 
die  alkoholische  und  orchestische  Orgie  mit  der  unvermeidlich 
sich  anschließenden  Sexualpromi^^kuität,  abgemildert  später 
zu  Opfermahl,  Singtanz  und  Hierodulenprostitution,  sind  mit 
voller  Sicherheit  als  ursprüngliche  Bestandteile  auch  der  israeli- 
tischen Ackerbaukulte  nachzuweisen.  Die  Reste  liegen  zutage. 
Der  »Tanz  um  das  goldene  Kalb«,  gegen  welchen  nach  der  Tra- 
dition Mose,  die  »Hurerei«,  gegen  welche  die  Propheten  eifern, 
die  kultischen  Reigen,  von  denen  überall  die  Spuren  vorhanden 
sind,  die  in  den  Rechtssammlungen,  in  den  Legenden  (Tamar) 
und  bei  den  Propheten  ausdrücklich  bezeugte  Existenz  der 
Hierodulen  (Kedeschen)  ergeben  den  sexual-orgiastischen  Cha- 
rakter der  alten  fröhlichen  Baalskulte.  Dieser  geht  auch  aus  den 
ausdrücklichen  Angaben  der  Quellen  hervor.  Die  weibliche  Ge- 
fährtin, die  Baalat,  fehlte  den  Baalen  so  wenig  wie  den  indischen 
Fruchtbarkeitsgöttern.  Sie  war  mit  Astarte  und  diese  mit  der 
babylonischen  Istar,  der  Gottheit  der  Sexualsphäre,  identisch. 
Von  den  Baalkulten  her  drang  bei  der  Vermischung  mit  Jahwe 
die  Sexualorgiastik  auch  in  die  Jahwekulte  ein.  Die  Existenz  von 
Hierodulen  auch  am  Tempel  von  Jerusalem  ist  bezeugt. 

Gegen  diesen  orgiastischen,  den  alkohol-  und  insbesondere 
den  sexual  orgiastischen  Charakter  der  Baalkulte  und  der 
durch  sie  beeinflußten  Religiosität  richtete  sich  nun  der  leiden- 
schaftliche Kampf  der  Vertreter  des  reinen  Jahwismus.  Der 
Kampf  der  Rechabiten  gegen  den  Wein  war  keine  bloße  Kon- 
servierung alter  Steppengewohnheiten,  sondern  vor  allem  Kampf 
gegen  die  Alkoholorgiastik  der  seßhaften  Bevölkerung.  Vor 
allem  aber  die  Stellungnahme  des  jahwistischen  Rituals  Und  der 
jahwistischen  Ethik  zum  Sexualleben  sind  Zeugen  dieses  tief- 


I.     Die  israelitische  Eidgenosseiischaft  und  Jahwe.  20^ 

gehenden  Gegensatzes.  Den  Baalen  dienen  heißt  ein  für  allemal 
ihnen  »nachhuren«.  Die  ganze  Reglementierung  der  Sexualsphäre 
hat  von  dem  Kampf  dagegen  ihren  im  Judentum  dauernd 
nachwirkenden  Charakter  erhalten.  Die  religiöse  Verpönung 
der  Verletzung  einer  fremden  Ehe  als  todeswürdigen  Frevels 
entspricht  freilich  lediglich  dem,  was  in  allen  prophetisch  und 
priesterlich  reglementierten  Religionen  wiederkehrt  und  ist 
nur  besonders  streng  in  der  Art  der  Strafe.  Die  Auffassung  der 
Ehe  als  eines  Mittels  zur  Erzeugung  von  Kindern  und  zur  öko- 
nomischen Sicherung  ihrer  Mutter  enthält  natürlich  erst  recht 
nichts  spezifisch  Israelitisches,  sondern  war  universell  verbreitet. 
Ebenso  ist  der  ausgeprägte  Naturalismus  in  der  Art  der  Auffassung 
der  Sexual  Vorgänge  in  keiner  Art  nur  Israel  eigentümlich.  Die 
kultischen  und  kriegerasketischen  Keuschheitsregeln,  Tabuie- 
rungen  und  Unreinheitsvorschriften  für  Menstruierende  usw. 
waren  in  freilich  sehr  verschiedener  Art  ebenfalls  sehr  weit  ver- 
breitet und  lediglich  Ausdruck  der  Betrachtung  der  Sexual- 
sphäre als  eines  spezifisch  dämonisch  beherrschten  Gebiets, 
wie  sie  überall  gerade  durch  den  Eindruck  der  Sexualorgiastik 
den  Trägern  rationaler  Kulte  und  Religiositäten  nahegelegt  war. 
Aber  der  Grad  und  die  Art,  wie  sich  das  israelitische  Ritual  und 
die  israelitischen  Legenden,  gerade  soweit  sie  spezifisch  jahwi- 
stisch  beeinflußt  sind,  mit  dieser  Sphäre  befassen,  zeigt  allerdings 
einen  sehr  radikalen  Grenzfall  dieser  Auffassung,  der  sich  schlech- 
terdings nur  aus  dem  tendenziösen  Gegensatz  gegen  die  Baal- 
orgiastik  erklärt,  ganz  ähnlich  wie  wir  die  Ablehnung  jeglicher 
Jenseitsspekulationen  vermutungsweise  auf  eine  Tendenz  gegen 
den  ägyptischen  Totenkult  zurückführen  mußten.  Auf  dem  Ge- 
biet des  Sexuellen  tritt  diese  Tendenz  gegen  die  orgiastische 
Schamlosigkeit,  als  deren  Träger  die  Kanaanäer  verachtet  und 
verflucht  werden,  vor  allem  in  der  schroffen  ^erhorreszierung 
jeglicher  physischen  Entblößung  hervor.  Die  bloße  Tatsache 
einer  solchen  oder  das  bloße  begehrliche  Anblicken  eines  Ver- 
wandten wird  (Lev.  20,  10)  als  Incest  und  todeswürdiges  Ver- 
brechen behandelt,  und  der  Stammvater  der  /Kanaanäer  gilt 
der  Genesis  als  der  Urheber  all  jener  Schamlosigkeit,  welche 
die  Verfluchung  dieses  Volks  zu  ewiger  Knechtschaft  verschuldet 
haben  soll.  Andererseits  wird  auch  (Lev.  Kap.  18)  jeder  Incest, 
jedes  Anrühren  des  väterlichen  Harems,  aber  auch  jede  andere 
unerlaubte  Geschlechtsverbindung  unter  dem  Bilde  einer  physi- 


204  ^^^  antike  Judentum. 

sehen  Entblößung  bezeichnet.  Die  Zulassung  von  Stufen  am  Altar 
war  im  alten  Ritual  ganz  verboten  (Ex.  20,  26),  weil  sonst  eine 
Entblößung  gegenüber  jenen  Stufen,  die  schon  zum  ideellen  Sitz 
Jahwes  gehörten,  stattfinden  konnte.  Daß  sie  »nackt«  sind, 
ist  bei  den  ersten  Menschen  das  allererste,  was  ihr,  nach  dem  Ge- 
nuß vom  Baum  der  Erkenntnis  erwachtes,  Unterscheidungsver- 
mögen für  das,  was  »gut«  und  »böse«  ist,  dokumentiert.  Die 
gleiche  Anschauung  und  Tendenz  geht  durch  alle  hierher  gehörigen 
Bestimmungen  und  Kasuistiken  hindurch.  Die  Sünde  Onans 
ist  perhorres ziert.  Nach  der  jetzigen  Tradition  allerdings  als  Ver- 
brechen gegen  die  Pflicht,  dem  Bruder  Nachkommenschaft 
zu  erwecken.  Ursprünglich  aber  war  ihre  ausdrückliche  Verwer- 
fung wohl  bedingt  durch  die  Gegnerschaft  der  Jahwisten  gegen 
gewisse  Molochorgien  (Lev.  20,  2),  bei  denen  männlicher  Samen 
geopfert  wurde.  Alle  Arten  verpönten,  weil  orgiastischen  oder 
incestuösen  oder  widernatürlichen  Geschlechtsverkehrs  fallen 
—  zwar  nicht  allein  sie,  aber  sie  doch  in  allererster  Linie  —  unter 
den  spezifisch  jahwistischen  Begriff  der  »Narrheit«  (Gen.  34,  7; 
Deut.  22,  21)  und  dies  Wort  bezeichnete  in  der  Sprache  noch  der 
spätesten  Tradition  und  selbst  noch  der  Evangelien  das  äußerste, 
was  gegen  einen  Israeliten  gesagt  werden  konnte.  Alle  spezifisch 
israelitischen,  hier  nicht  ins  einzelne  zu  verfolgenden  Reglemen- 
tierungen der  Sexual  Vorgänge  haben  daher  nicht  ethischen, 
sondern  rituellen  Charakter.  Die  materielle  Sexualethik 
Altisraels  war  nicht  strenger  als  andere  priesterliche  Reglementie- 
rungen. Der  Ehebruch  des  Dekalogs  war  Verletzung  der  Ehe 
eines  fremden  Mannes,  nicht  Bruch  der  eigenen  Ehe.  Den  Ge- 
schlechtsverkehr des  Mannes  außerhalb  der  Ehe  zu  verpönen 
hat  erst  die  spätere  nachexilische  Zeit  begonnen  und  zwar  — 
ganz  ebenso  wie  die  Konfuzianer  und  die  ägyptische  Spruch- 
weisheit z.  B.  Ptahoteps  —  zuerst  nur  unter  Gesichtspunkten 
der  Lebensklugheit.  Ein  Ausdruck  für  »Keuschheit«  im  ethischen 
Sinn  des  Worts  fehlt  der  alten  Sprache  Israels.  Erst  unter  persi- 
schem Einfluß,  wie  wir  sehen  werden,  ging  die  Reglementierung 
weiter  und  auch  zunächst  nur  in  unkanonischen  Schriften  (Tobit) . 
Nach  altisraelitischer  Auffassung  dagegen  konnte  die  Verführung 
eines  Mädchens  ohne  vorherigen  Kontrakt  mit  ihrer  Sippe  zwar 
deren  Rache  hervorrufen,  wie  der  Fall  der  Dina  zeigt ;  die  Rechts- 
sammlungen schreiben  aber  als  Sühne  nur  die  Heirat  d.  h.  den 
Erwerb  des  Mädchens  durch  Zahlung  des  Kaufpreises  vor,  ähnlich 


I 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  205 

wie  die  angelsächsischen  Gesetze  den  Fall  als  eine  Art  von  Sach- 
bsschädigung  behandeln.  Die  Antipathie  gegen  das,  was  als 
sexuell  schamlos  galt,  hat  auch  nichts  mit  einer  besondern  »Rein- 
heit der  Sitten«  etwa  der  Beduinen  zu  schaffen.  Gerade  den  Ara- 
bern der  Wüste  wirft  Jeremia  (3,  2)  vor,  daß  sie  »Hurerei  an  der 
Straße«  treiben,  d.  h.  —  wie  das  Verhalten  der  Tamar  zeigt  — 
an  den  Stellen,  wo  sich  die  käuflichen  Dirnen  aufzuhalten  pflegten, 
darunter  auch  die  Hierodulen  der  Tempel,  welche  die  Propheten 
mit  allen  anderen  Resten  der  Sexualorgiastik  verwerfen.  Nur 
die  homöopathische  sexuelle  Orgie  war  den  Beduinen  im 
Gegensatz  zu  den  Ackerbaukulten  rituell  fremd. 

Der  spezifisch  rituelle,  nicht  primär  ethische  Charakter  der 
ganzen  Sexualkasuistik  nun,  der  sich  auch  später  immerhin 
weitgehend  erhalten  hat,  gibt  ihr,  weil  er  zwar  nicht  der  Art, 
aber  dem  Grade  und  der  tendenziösen  Penetranz  nach  sich  nur 
hier  findet,  eine  eigenartige  Note.  Die  Verbindung  der  alten 
naturalistischen  Unbefangenheit  in  der  Behandlung  und  Erörte- 
rung der  Sexualvorgänge  an  sich,  verbunden  mit  dieser  ganz 
und  gar  rituellen  Angst  vor  der  rein  physischen  Entblößung 
hat  mit  jener  besonderen  Art  von  Würdegefühl,  welches  sich  mit 
unsren  durch  feudale  oder  bürgerliche  Konvention  hindurchge- 
gangenen Schamgefühlsreaktionen  zu  verknüpfen  pflegt,  gar 
keine  Beziehung.  Sie  erscheint  der  durch  feudale,  bürgerliche  und 
christliche  Vorstellungen  beeinflußten  modernen  Schamempfin- 
dung leicht  wie  eine  Karikatur  eines  echten  Schamgefühls  in 
dem  uns  geläufigen  Sinn.  Die  Quelle  jener  Besonderheit  liegt 
aber  historisch  ganz  und  gar  in  dem  schroffen  Gegensatz  gegen 
die  Orgiastik  der  nordisraelitischen  Ackerbauer,  wie  sie  die  Prie- 
sterschaft pflegte.  Der  Islam  kennt  ja  ähnliches  und  ist  in  allen 
Gebieten  seiner  Verbreitung  wegen  seiner  Antipathie  gegen  die 
Nacktheit  Träger  der  Entwicklung  der  Textilindustrie  oder  doch 
eines  Marktes  für  sie  geworden.  — 

Diese  Gegnerschaft  gegen  die  Orgiastik  und  orgiastische 
Ekstatik  bestimmte  nun  auch  die  Stellungnahme  des  Südens 
zu  den  aus  beiden  hervorgegangenen  ekstatischen  Virtuosen.  Die 
alten  massenekstatischen  Nebijim  waren  unbestreitbar  eine 
wesentlich  nordisraelitische,  teils  aus  phönizischen,  teils  aus  kana- 
anäischen  Baalskulten  hervorgegangene  Erscheinung.  Noch 
Sacharja  nimmt  (13,  5)  als  selbstverständlich  an,  daß  die  falschen 
Propheten  Ackerbauer  seien  und  daß  ihre  angeblichen  Selbstver- 


2o6  ^^^  antike  Judentum. 

wundungen  von  den  Nägeln  von  Dirnen  herrührten.  In  aller 
Welt  haben  sich  ja  die  dem  orgiastischen  Massenkult  dienenden 
charismatischen  Ekstatiker  zu  Zünften  oder  Schulen  zusammen- 
geschlossen. Die  Nabischulen  des  Elisa  und  schon  der  früheren 
Zeiten  entsprachen  nur  dieser  allgemeinen  Erscheinung.  Die 
Orgiastik,  aus  welcher  die  Nabiekstatik  stammte,  war,  sahen 
wir,  vor  allem  homöopathische  Fruchtbarkeitsorgiastik.  Etwas 
Derartiges  kannten  die  Nomaden  und  Halbnomaden  nicht.  Wenn 
sie  wirklich  einmal  die  Fleischorgie  gekannt  haben,  dann  als  Be- 
standteil der  Kriegerekstatik.  Zwar  das  älteste  Israel,  gerade 
auch  Nordisrael,  kannte  die  nasiräische  Kriegeraskese  und  die 
Kriegerekstase  der  Berserker.  Eberiso  waren  die  alten  massen- 
ekstatischen Nebijim,  wie  wir  sahen,  wenigstens  zum  Teil  auch 
Kriegspropheten.  Aber  dreierlei  zeigt  sich:  einmal,  daß  für  die 
nasiräischen  Kriegsekstatiker  im  Gegensatz  zur  kultischen 
Orgiastik  der  Baale  gerade  die  Alkohol  abstinenz  vorge- 
schrieben war.  Dann,  daß  die  klassische  Kriegsprophetie  der  Zeit 
Debora's,  im  Gegensatz  zu  den  Nebijim  E  i  n  z  e  1  prophetie  war. 
Endlich  fällt  auf,  daß  das  Deboralied  von  »anderen  Göttern« 
spricht,  denen  sich  Israel  hingegeben  habe.  Es  können  damit 
schlechterdings  nur  die  Landesgötter,  also  die  Baale,  gemeint 
sein.  Jahrhunderte  später  sehen  wir  wiederum  die  Einzelprophetie 
des  Elia  im  Kampf  gegen  die  gleichartigen  »anderen  Götter« 
und  die  orgiastische  Massenekstatik.  Der  Prophet,  den  Jehu 
auf  seinem  Wagen  mitführt,  ist  ein  Rechabit,  also  Gegner  der 
Alkoholorgiastik.  Immer  wieder  geht  dieser  Kampf  vorwiegend 
von  Männern  aus,  welche  entweder  dem  Süden  oder  doch  vor- 
wiegend den  Viehzüchterverbänden  entstammen.  Der  typische 
Einzelprophet  Elia,  der  Todfeind  der  Baalekstatik,  stammt 
aus  Gilead  und  ist  ein  typischer  Wandernomade.  Elisa,  der  Mas- 
senekstatiker,  war  nach  der  Tradition  ein  Bauer.  Gleich  der 
erste  wiederum  geraume  Zeit  später  gegen  die  Kultpraxis  des 
Nordens  auftretende  Prophet,  Amos,  ist  ein  Hirt  aus  Thekoa. 
Daraus  folgt:  aus  dem  Norden  kamen  unter  dem  Einfluß  der 
kanaanäischen  Orgiastik  und  Ekstatik  die  massenekstatischen 
Nebijim  und  die  irrationalen  und  emotionalen  Formen  der 
Magie,  aus  dem  Süden,  welcher  die  Ackerbauorgiastik  nicht  kannte, 
die  rationale  levitische  Thora  und  die  rationale  ethische  Sendungs- 
prophetie,  die  da  weiß,  daß  diese  Schamlosigkeiten  Jahwe  ein 
Greuel  sind  und  daß  Kult  und  Opfer  überhaupt  dem  alten  Bundes- 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  20/ 

gott  gar  nichts  bedeuten  gegenüber  der  Erfüllung  seiner  alten 
Gebote.  Der  Zwiespalt  zog  sich  also  offenbar  latent  durch  die 
ganze  israelitische  Geschichte  von  der  Einwanderung  angefangen. 
Er  nahm  akute  Formen  an  mit  Zunahme  des  rationalen 
Charakters  der  Gedankenwelt  jener  beiden  Mächte,  welche  der 
Orgie  feindlich  waren:  der  Leviten  und  der  Unheilspropheten. 
Diese  war  wenigstens  zu  einem  Teil  Folge  der  Zunahme  der  lite- 
rarischen Intellektuellenkultur  als  solcher.  Daher  haben  wir 
uns  die  Art  klarzumachen,  wie  die'  miteinander  teils  latent, 
teils  offen  ringenden  elementaren  Grundlagen  jener  unterein- 
ander grundverschiedenen  Religiositäten  innerhalb  der  altisraeli- 
tischen Literaten  sich  auswirkten.  — 

Die  literarische  Produktion  des  vorexilischen  Israel  war 
offenbar  so  reichhaltig  und  vielgestaltig  wie  irgendeine  Literatur 
der  Welt.  Neben  den  teils  nach  Kriegerart  glühend  sinnlichen, 
teils  höfisch  schwülen,  teils  ländlich  anmutigen  Minneliedern, 
die  am  fröhlichen  Königshof  von  Thirza  und  wohl  schon  vorher 
vorgetragen,  später  bis  in  die  Zeit  persischen  Einflusses  hinein 
abgewandelt  und  als  »Hohes  Lied«  gesammelt  wurden,  und  neben 
einigen  übsraus  schwungvollen  " Königspreisliedern,  welche  die 
Psalmensammlung  enthält,  sind  innerhalb  und  außerhalb  dieser 
auch  eine  Anzahl  religiöser  H3niinen  erhalten,  welche  das  Walten 
des  großen  Himmelsgottes  in  der  Natur  nach  babylonischer  Art  in 
nirgends  überbotener  Vollendung  verherrlichen.  Weltliche  so- 
wohl wie  religiöse  Barden  müssen  also,  und  zwar  als  eine  Schicht 
oberhalb  der  Träger  der  rein  volkstümlichen  Dichtung,  mindestens 
in  der  Königszeit  existiert  haben.  Denn  es  handelt  sich  um  ausge- 
sprochene Kunstdichtung.  Und  das  Deboralied,  ein  vorzüg- 
lich gelungenes  Gelegenheitsgedicht,  halb  religiöses  Siegeslied, 
halb  politisches  Spottgedicht  gegen  die  alten  Feinde  in  den  Städten 
und  gegen  säumige  Bundesgenossen,  zeigt  ein  noch  weit  höheres 
Alter  dieser  Gattung.  Die  jedenfalls  —  nach  dem  in  Wen 
Amons  Reisebeschreibung  bezeugten  Papyrus  -  Import  nach 
Byblos  —  in  das  Ende  des  zweiten  Jahrtausends  zurückgehende, 
wenn  auch  dokumentarisch  erst  durch  den  moabitischen  Mesa- 
stein  (9.  Jahrhundert)  belegte  Buchstabenschrift  war  das  bei 
weitem  am  leichtesten  erlernbare  von  allen  Verstiindigungsmitteln 
der  ganzen  damaligen  Welt.  Erfunden  ist  es  wohl  sicher  im  Dienste 
geschäftlicher  Interessen  der  Kaufleute  und  also  vermutlich  in 
Phönizien.    Diese  Schrift  erleichterte  aber  das  Entstehen  einer 


2o8  ^^^  antike  Judentum. 

eigentlichen  zum  Lesen  bestimmten  Literatur  in  Israel  und 
zugleich  die  Verbreitung  der  Schreib-  und  Lesekunst  dort  ganz 
außerordentlich.  Zunächst  freilich  kam  sie  den  Kanzleien  der 
Könige  zugute.  Die  Würde  des  Mazkir  (meist  als  »Kanzler« 
übersetzt,  wohl  zugleich  Reichsannalist  und  »Erinnerer«  des  Kö- 
nigs) und  die  Soferim  am  Hofe  Davids  und  beider  Königreiche 
zeigen,  daß  jedenfalls  seit  David,  vielleicht,  wie  eine  erhaltene 
Liste  (i.  Sam.  14,  49  f.)  nahelegt,  in  den  Anfängen  schon  seit 
Saul,  die  Schriftlichkeit  der  Verwaltung  bestand.  Für  Salomos 
Fronstaat  war  ein  Stand  schriftkundiger,  offenbar  nicht  selten 
aus  den  Priestern,  aber  auch  aus  gebildeten  weltlichen  Sippen 
rekrutierter,  Beamter  unentbehrlich.  Auf  offizielle  Königs- 
annalen  wird  in  den  späteren  pragmatisch  umredigierten 
Königsgeschichten  immer  wieder  Bezug  genommen  und  ebenso 
existierte  wohl  eine  jerusalemitische  Tempelannalistik.  Es  muß 
ferner,  mit  Kittel,  angenommen  werden,  daß  schon  die  ersten 
Redaktionen  der  Geschichten  von  Davids  Königtum  von  einem 
zwar  zu  den  königlichen  Archiven  zugelassenen,  dabei  aber 
doch  unabhängig  nach  seiner  eigenen  Ansicht  über  die  Dinge 
schreidenden  Erzähler  verfaßt  sind. 

Die  große  Freiheit  der  Ueberlieferung  gegenüber  dem  doch 
immerhin  zeitweise  machtvollen  Königstum  überhaupt  hängt 
zusammen  einerseits  mit  der  starken  Stellung,  welche,  wie  wir 
sahen,  im  Gegensatz  zu  den  meisten  anderen  monarchischen 
Staatsbildungen  des  Orients,  die  wehrhaften  großen  Sippen  in 
Israel  sich  bewahrt  hatten.  Andererseits  mit  der  Bedeutung 
der  dem  Königtum  innerlich  unabhängig  und  sehr  kritisch 
gegenüberstehenden,  aber  von  ihm  um  des  Prestiges  des  alten 
Bundeskriegsgottes  willen  nicht  zu  ignorierenden  Gruppen  der 
Träger  seines  »Geistes«:  der  Seher  und  der  berufsmäßigen  Jahwe- 
lehrer. 

Aus  den  Kreisen  der  schulmäßig  organisierten  Nebijim  des 
Nordens  stammen  die  in  das  Königsbuch  hineingenommenen 
Mirakelerzählungen.  Aber  ein  Teil  der  Elia-Berichte  und  ebenso 
die  doch  wohl  vordeuteronomische  erste  Redaktion  der  Erzählungen 
von  den  Sehern  der  Vorzeit,  Samuel  vor  allem,  zeigen,  daß  es 
Kreise  gab,  welche  sich  nicht  nur  dem  höfischen,  sondern  ebenso 
dem  schulmäßig  organisierten  prophetischen  Einfluß  völlig  ent- 
zogen und  daneben  andere,  die  zwar  Beziehungen  zum  Hof,  aber 
auch    zu  dem  gegenüber  dem  Königtum  kritischen  Jahwismus 


I.     Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  20Q 

unterhielten  und  diesen  systematisch  unterstützten.  Dies  konnten 
nur  begüterte  und  poHtisch  einflußreiche  fromme  Laien  sein. 
Wir  finden  denn  auch  in  der  Zeit  des  Jeremia  vornehme  Sippen, 
aus  denen  stets  erneut  Hofbsamte  hervorgshen,  die  aber  offen- 
bar zugleich  durch  Generationen  hindurch  Protektoren  der  dem 
Hof  und  den  Priestern  gegenüber  rücksichtslos  kritischen  großen 
Jahwepropheten  waren.  Derartiges  mußte  sich  einstellen,  so- 
bald einmal  das  Prestige  des  Königtums  durch  äußere  Mißerfolge 
ins  Wanken  geriet.  Diese  unabhäng'gen  Laienkreise  und  die 
von  ihnen  geschützten  reinen  Jahweverehrer  sind  es  nun  offenbar 
gewesen,  welche  sich  schon  früh  der  Sammlung  der  noch  vorhan- 
denen alten  Ueberlieferungen  über  die  vorkönigliche  Zeit  ange- 
nommen haben.  Die  gelegentlich  zitierten  alten  Liedersamm- 
lungen: das  »Buch  der  Kriege  Jahwes«  und  das  »Buch  vom  Bra- 
ven« lagen  wohl  schon  seit  der  ersten  Königszeit  gesammelt  vor. 
Vermutlich  Laien  haben  sich  der  Sichtung  der  volkstümlichen, 
im  Sinne  des  Jahwismus  verwertbaren,  nicht  rein  militaristi- 
schen Dichturgen  zugewendet.  Die  alten  Legenden,  Märchen, 
Gleichnisse  und  Sprüche  haben  zweifellos  zunächst  in  den  Händen 
eines  Standes  volkstümlicher  wandernder  Sänger  und  Erzähler 
gelegen,  die  auf  der  ganzen  Erde  bei  bäaerlichen  und  halbnomadi- 
schen Bevölkerurgen  sich  finden.  Die  alte  Tradition  weiß  aller- 
dirgs  nur  von  ein-em  Gastvolk  der  Musikanten,  der  Abkömmlinge 
Jubais.  Aber  die  Erzähler  haben  nicht  gefehlt:  die  älteren  Erz- 
väterlegenden machen  unbedingt  den  Eindruck  dieser  Herkunft. 
Dagegen  hat  baispielsweise  die  umfangreiche  Josephgeschichte  in 
der  jetzigen  Form  bereits  den  Charakter  einer  von  einem  gebildeten 
Dichter  für  jahwistische  Gebildete  kunstvoll  geformten  erbaulichen 
»Novelle«,  ist  also  Kunstdichtung.  Es  bestanden  also  Zwischen- 
glieder und  vor  allem  wohl  direkt  Beziehungen  zwischen  literarisch 
gebildeten  und  dabei  politisch  und  religionspolitisch  interessierten 
unabhängigen  Laienkreisen  und  den  Trägern  der  volkstümlichen 
Spruch-  und  Legendendichtung.  Diese  ergeben  sich  auch  aus 
dem  Charakter  einiger  erhaltener  Erzeugnisse  der  »Maschal«- 
(Gleichnis-)  Gattung.  An  plastischer  Phantasie  steht  ein  Maschal 
wie  das  Dornbuschgleichnis  der  Abimelechgeschichte  o  er  das 
dem  Nathan  in  den  Mund  gelegte  Gleichnis  vom  Schaf  des  Armen 
den  am  besten  gelungenen  Gleichnissen  der  Evangelien  eben- 
bürtig zur  Seite.    Sie  unterscheiden  sich  in  dieser  Hinsicht  auf- 

Max  Weber,  Religionssoziologie  HI.  M 


2IO  ^^^  antike  Judentum. 

fällig  von  dem  typischen  späteren  rabbinischen  Maschal  i). 
der  fast  stets  ein  Erzeugnis  des  Buchdenkens  ist,  daher  meist  nur 
in  der  Groteske  unmittelbar  plastisch  wirkt  ^) .  Der  Unterschied 
ist  etwa  so,  wie  zwischen  den  Gleichnissen  von  Jesus  und  denen 
des  Paulus,  der  sich  bekanntlich  gelegentlich,  (wo  er  landwirtschaft- 
liche Gleichnisse  wagt)  charakteristisch  im  Bilde  vergreift^). 

Zur  Zeit  des  Jeremia  finden  sich  zuerst  (i8,  i8)  Spuren  jener 
Art  der  Beratung  in  praktischen  utilitarischen  AHtagsproblemen 
durch  Gebildete,  wie  sie  die  späteren  Chokma-(Weisheits-)Lehrer 
und  ihre  Literaturprodukte  bieten.  Aber  diese  Art  Beziehung 
des  Literatentums  zu  plebejischen  Interessen  trat  offenbar  in  vor- 
exilischer  Zeit  noch  weit  zurück  hinter  dem  damals  alles  beherr- 
schenden politischen  und  damit  untrennbar  verknüpften  reli- 
giösen und  religiös  unterbauten  sozialpolitischen  Interesse. 
Die  beiden  vorhin  zitierten  Gleichnisse  sind  dafür  Beispiele. 
Sie  sind  ersichtlich  weit  davon  entfernt,  naive  Produkte  rein 
künstlerischer  iVrt  zu  sein,  sondern  stehen  im  Dienst  königs- 
feindlicher jahwistischer  Tendenzen.  Die  ganze,  nach  den 
Zitaten  und  Resten  zu  schließen,  überaus  reiche  und  vielgestal- 
tige vorexilische  Volksdichtung  und  Literatur  wurde  so  unter 
religionspolitischen  Gesichtspunkten  verarbeitet.  Wenn  aus  ihr 
nur  das  und  nur  in  der  Form  erhalten  ist,  was  und  wie  es  Auf- 
nahme in  den  jetzigen  Kanon  fand,  so  ist  dies  das  Resultat  einer 
höchst  penetranten  geistigen  Arbeit  jahwistisch  interessierter  Intel- 
lektuellenschichten. Zum  Teil  vollzog  sich  diese  erst  in  der  exili- 
schen, zu  einem  wesentlichen  Teil  aber  bereits  in  der  vorexili- 
schen  imd  zwar  teilweise  schon  in  einer  noch  vor  dem  '  i\uf- 
treten  der  Schriftpropheten  liegenden  Zeit.  Die  Leistung  dieser 
Zusammenarbeitung,  mag  sie  uns  heute  in  vielen  Punkten,  auf 
die  zum  Teil  schon  Goethe  hinwies,  literarisch  unbefriedigt  lassen, 
war  dennoch  sehr  bedeutend,  wenn  man  ihre  Schwierigkeiten 
bedenkt.  Zwischen  den  literarischen  Produkten  der  vorexili- 
schen  Zeit  sowohl  wie  zwischen  ihren  Trägern  bestanden  nach 
Tendenz  und  Gesinnung  scharfe  Gegensätze.    Zunächst  standen 


^)  Beispiele  davon  hat  z.B.  Fiebig  (Altjüd.  Gleichnisse  und  Gleich- 
nisse Jesu,  Tübingen  1904)  gesammelt. 

2)  Hiervon  sind  gerade  manche  der  älteren,  der  palästinensischen  Tannaiten- 
Epoche  angehörende,  am  meisten  ausgenommen,  namentlich  einzelne  im  Trak- 
tat Pirke  'aboth.    Ueberhaupt  ist  das  Urteil  natürlich  nur  relativ  gemeint. 

^)  Rom.   IT,   17   das  völlig  falsche  Gleichnis  vom  Okulieren! 


1.     Die  israelitische  Eidgenobsenschafl  und  Jahwe.  2  1  I 

in  dieser  Hinsicht  die  Erzeugnisse  der  königlichen  Heilsprophetie, 
des  nationalen  Bardentums  und  der  nationalen   Geschichtser- 
zählung mit  den  Zweigen  der  vom  Königtum  zurückgedrängten 
Schichten    der    Jahwegläubigen    in    unversöhntem  Gegensatz. 
In  den  im  »Hohenlied«  gesammelten  Resten  der  alten  erotischen 
Dichtun  4  und  ebenso  in  den  nicht  zahlreichen  erhaltenen  alten 
Königspsalmen  weht  eine  völlig  andere  Luft  als  in  den  literari- 
schen Produkten  der  jahwistischen  Ir|,tellektuellen.    Die   Reli- 
giosität der  Könige  stand  natürlich,  wo  sie  sich  ungeschminkt 
äußert,  auch  in  allen  Nachbargebieten  mit  der  Volksfrömmigkeit 
in  starkem  Kontrast.     Zu  essen    bis  er  satt  ist,  zu  trinken  bis 
er  berauscht  ist,  Gesundheit,  langes  Leben,  Herzens-  und  Sinnen- 
freude, den  Nachkommen  ewige  Herrschaft,  jeden  Ta^  Freude 
und  hohen  Nilstand    begehrt  Ramses  IV    im  Gebet  von  Osiris 
als  Gegenleistung  gegen  das,  was  er  ihm  gegeben  hat.    Lebens- 
genuß und  lange  glückliche  Regierung  ist  ganz  ebenso  auch  das 
Gebet  aller  bbaylonischen  Könige  bis  auf  Nebukadnezar.  Anders 
dürfte  es  auch  in  Israel  nicht  gewesen  sein.     Wenn  die  heutige 
Tradition    dem    Salomo    das    früher    erwähnte    fromme    Gebet 
in  den  Mund  legt,  so  entsprachen  dem  die  ebenfalls  oft  sehr  from- 
men Inschriften  Nebukadnezars  und  anderer  Großkönige:   hier 
wie  dort  handelt  es  sich  um  Priesterprodukte.   Die  unglaubliche 
Prahlsucht   der  ägyptischen  ebenso  wie  der  mesopotamischcn 
Großkönige  wird  sicher  auch  den  Königen  Israels  in  der  Zeit 
ihrer  Macht  geeignet  haben  und  stand  hier  wie  dort  in  schroffstem 
Widerspruch  mit  dem  Bedürfnis  der  Plebejer  nach  einem  gnädigen 
Fürsprecher  und  Nothelfer  und  mit  Jah^^es  von  jeher  besonders 
schwerem  Zorn  gegen  die  Hybris  der  Menschen.    —  Jahwe  war 
niemals    ein   Gott  der    Dynastie,  .  wie  Assur,  Marduk 
oder  Nebo,   sondern  von  alters  her  ein  Gott  der  israelitischen 
Eidgenossen.    Aber  immerhin  hatten  die  Dynastien  sich,  seinen 
Kult   zu  eigen  gemacht  und  die   Könige  jahwistische  Barden 
und  Heilspropheten  in  ihrem  Dienst.    Und  neben  den  Jahwe - 
traditionen  liefen  die  mannigfachsten  ätiologischen   Kultsagen 
einheimischer  Götter  und  Heroen  und  zahlreiche  entweder  aus 
Aegypten  und  Mesopotamien,  direkt  oder  über  Phönizien,  im- 
portierte oder  mit  diesen  Gebieten  seit  alters  gemeinsame  Mythen 
und  Vorstellungen  um,  an  deren  einfache  Ausmerzung  nicht  zu 
denken  war.    Die  Aufgabe  der  Zusammenarbeitung  war  schwer. 
Aber   auch  di(^  Produkte  der  eigentlichen   Intellektuellenkultur 

14* 


212  I^as  antike  Judentum. 

in  Palästina  müssen  eine  bedeutende  Rolle  gespielt  haben.  Es 
fragt  sich,  wie  sie  sich  zu  denen  der  benachbarten  Kulturgebiete 
verhielten. 

Die  nominelle  ägyptische  Herrschaft  bestand  bis  fast 
gegen  Ende  der  Richterzeit.  Allerdings  haben  nach  den  Amarna- 
briefen  die  Pharaonen  die  religiöse  Eigenart  des  Landes  nicht 
angetastet  und  eine  effektive  politische  Macht  nach  Ramses  II 
nur  selten  noch  entfaltet.  Aber  die  Möglichkeit  geistigen  Ver- 
kehrs bestand  wie  in  alter  Zeit.  In  der  Zeit  des  Sesostris  kannte 
man  bei  den  halbbeduinischen  Herren  der  Gebiete  östlich  von 
Byblos  einen  lebenden  ägyptischen  Weisen  dem  Renommee 
nach,  oder  der  Erzähler  der  Sinuhegeschichte  durfte  diese  Mög- 
lichkeit wenigstens  voraussetzen.  In  der  Zeit  völligen  Verfalls 
der  Ramessidenherrschaft  (um  iioo)  weiß  allerdings  der  Stadt- 
könig von  Byblos  nichts  von  dem  ägyptischen  Amon  und  seiner 
von  dessen  Abgesandten  Wen  Amon  geschilderten  Macht  ^). 
Wohl  aber  scheinen  seine  Hofpropheten  etwas  davon  gewußt 
zu  haben :  daher  erklärt  sich  vermutlich  das  Orakel  eines  von  ihnen 
zugunsten  jenes  Böten.  Jedenfalls  aber  war  man,  infolge  des 
Karawanenverkehrs,  in  Südpalästina  gut  orientiert  über  Aegypten. 
Nicht  nur  übernahm  Salomo  die  Kriegswagentechnik  und  offen- 
bar teilweise  auch  die  Art  der  Tempelanlage  (das  »Allerhei- 
ligste«)  2)  ägyptischen  Mustern,  sondern  vor  allem  die  Joseph- 
novelle zeigt  eine  immerhin  genaue  Kenntnis  ägyptischer  Zu- 
stände und  deutet  überdies  (einerlei  ob  mit  Grund)  Beziehungen 
zu  der  Tempelpriesterschaft  von  Heliopolis  an,  der  Hauptstätte 
ägyptischer  Weisheit.  Daß  alle  Lehre  und  Kunst  von  Aegypten 
nach  Phönizien  gekommen  sei,  erkennt  der  König  von  Byblos 
dem  Wen  Amon  gegenüber  an  ^) .  Eine  der  Traditionen  über 
Mose  macht  auch  ihn  zum  Träger  ägyptischer  Weisheit.  Die  Be- 
schneidur g  wäre  nach  der  Josua-Tradition  unmittelbar,  nicht 
über  Phönizien,  von  Aegypten  her  übernommen.  In  vielen 
Einzelheiten,  die  teils  nicht  interessieren,  teils  seinerzeit  erwähnt 
wurden,  finden  sich  weitere  Spuren.  König  Merneptah  erwähnt 
Kriege,  die  sein  Heer  in  Palästina  gegen  Israel  geführt  habe.  Daß 


1)  Der  Reisebericht  Wen  Amons  ist  jetzt  in  Breasteads  Records  IV  563  ff. 
bequem  zugänglich. 

*)  Auch  das  ägyptische  Allerheiligste  ist  dunkel  und  darf  nur  vom  König, 
wie  später  in  Israel  nur  vom  gesalbten  Hohenpriester,  betreten  werden. 

^)  Reisebericht,  Breastead  a.  a.  O.  579. 


I.     Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  213 

aber  die  Beziehungen  keineswegs  immer  unfreundliche  waren, 
geht  daraus  hervor,  daß  neban  den  stammverwandten  Edomitern 
später  ausdrücklich  die  Aegypter  als  qualifiziert  zur  Aufnahme 
in  die  israelitische  Gemeinde  bezeichnet  werden,  obwohl  die  Tradi- 
tion, nicht  ganz  korrekt,  voraussetzt,  daß  die  Erzväter  in  ihrer 
Eigenschaft  als  Viehzüchter  in  Aegypten  als  >>unrein«  gegolten 
hätten  ^).  Die  palästinischen  Ausgrabungen  haben,  wie  schon 
erwähnt,  massenhafte  Skarabäen,  die  für  Aegypten  »ebenso 
charakteristisch  sind  wie  das  Kreuz  für  das  Christentum«  (wie 
Erman  sich  ausdrückt)  zutage  gefördert.  —  Angesichts  alles 
dessen  ist  es  nun  eine  der  auffälligsten  Tatsachen :  daß  in  der  ge- 
samten Tradition  diese  ägyptische  Herrschaft  absolut  totgeschwie- 
gen wird  und  daß  spezifisch  ägyptische  Einschläge  gerade  in 
den  älteren  Grundlagen  der  israelitischen  Religiosität  so  gut  wie 
ganz  fehlen,  während  später  solche,  wie  wir  sehen  werden,  viel- 
leicht sich  geltend  machten.  Jenes  Schweigen  hat  Eduard  Meyer 
nur  mit  der  Jugend  der  israelitischen  Tradition  erklären  zu  können 
geglaubt.  Allein  diese  bewahrt  sonst  gelegentlich  Züge  von  hohem 
Alter  auf,  wie  z.  B.  die  verschollenen  Beziehurgen  nach  Meso- 
potamien hin.  Das  Schweigen  über  die  politische  Herrschaft 
ist  wohl  dadurch  zu  erklären,  daß  vom  Standpunkt  schon  der 
Chabiru  und  der  Sa  Gaz  in  der  Amarnazeit  die  Herrschaft 
des  Pharao  gar  nicht  praktisch  in  die  Erscheinung  trat,  da  sie 
ja  lediglich  mit  seinenVasallenfürsten  zu  tun  hatten.  Die  wenigen 
Razzias  abgerechnet,  war  dies  später  erst  recht  so.  Die  sonstige 
Fremdheit  aber  gegenüber  der  ägyptischen  Kultur  erklärt  sich 
ausschließlich,  aber  auch  ausreichend,  aus  ganz  bewußter  Ab- 
lehnung durch  die  Träger  des  Jahwismus.  Abgelehnt  wurde 
der  ägyptische  Fronstaat,  dessen  entscheidende  Züge  ja  gerade 
das  waren,  dessen  Uebernahme  durch  das  einheimische  Königtum 
den  entmilitarisierten  Schichten  am  tiefsten  verhaßt  war.  Ab- 
gelehnt wurde  ebenso  der  charakteristischste  Teil. der  ägypti- 
schen Frömmigkeit:  der  Totenkult.  Neben  der  radikalen  Dies- 
seitigkeit des  alten  Bundeskricgsgotts  mit  seiner  rein  innerwelt- 
lichen  Orientiertheit    war  dafür,  wie  wir  sahen,   der  Umstand 


^)  Die  rituelle  Fremdheit  der  Aegypter  gegenüber  den  Hellenen  beruhte 
nach  Herodot  darauf,  daß  diese  Kuhfleisch  aßen  und  es  deshalb  für  Aegvptei 
unmöglich  war,  sie  zu  küssen  oder  ihre  Eßgeräte  zu  benutzen.  Dies,  nicht  die 
Viehzüchterqualität  als  solche,  könnte  der  Vorstellung  des  Berichts  Gen.  43,  32 
augrunde  liegen. 


2  lA  Das  antike  Judentum. 

maßgebend,  daß  Jahwe  zwar  zu  verschiedenen  Zeiten  verschie- 
denartige Züge  vereinigte,  aber  jedenfalls  niemals  ein  chthoni- 
scher  Gott  gewesen  war,  sondern  zu  diesen  Gottheiten  und  der 
spezifischen  Art  ihrer  Kulte  stets  im  schärfsten  Gegensatz  stand. 
Dazu  trat  nun,  daß  das  Verständnis  der  ägyptischen  Sakralschrift 
und  die  ägyptische  Priesterbildung  überhaupt  Fremden  unzu- 
gänglich war.  Die  ägyptischen  Weisheitslehrer  (Ptahotep)  emp- 
fehlen zwar,  wie  das  Deuteronomium,  den  Volksunterricht, 
aber  ausdrücklich  mit  Ausschluß  der  eigentlich  priesterlichen 
Geheimlehre,  von  der  die  israelitischen  Lehrer  denn  auch  weder 
etwas  wußten,  noch  vermutlich  etwas  hätten  wissen  wollen. 
Ebenso  stand  es  auf  ägyptischer  Seite.  Besiegte  Feinde  mußten, 
wie  überall,  den  siegreichen  Göttern  Aegyptens  Ehre  erweisen. 
Aber  dadurch  wurden  sie  nicht  Aegypter.  Tempel  ägyptischer 
Götter  gab  es  nach  den  Inschriften  in  Syrien,  und  unter  den 
Ramessiden  auch  solche  syrischer  Götter  in  Aegypten.  Aber  an 
dem.  grundlegenden,  durch  die  soziale  Eigenart  der  ägypti- 
schen Schreiberkultur  fest  gegebenen  Verhältnis  änderte  das 
nichts.  Eine  Eingliederung  in  die  ägyptische  Erziehung  und  Weis- 
heit war  nur  für  den  Einzelnen  als  Einzelner  möglich  und  bedeu- 
tete ein  völliges  Aufgeben  der  eigenen  geistigen  Selbständig- 
keit. Sie  wäre  für  das  Volksganze  überdies  von  der  Annahme 
der  verhaßten  Schreiberbureaukratie  untrennbar  gewesen.  Auch 
wurde  der  ägyptische  Tierdienst,  den  die  Priester  in  Aegypten 
erst  ziemlich  spät  und  im  Interesse  der  hierokratischen  Beherr- 
schung der  Massen  systematisiert  hatten,  von  der  jahwistischen 
Religiosität,  nach  der  nur  einmaligen  Erwähnung  bsi  Hesekiel 
(8,  lo)  zu  schließen,  als  ein  besonders  würdeloser  Greuel  ver- 
worfen. Er  entsprach  den  Beziehungen  freier  Viehzüchter  zu 
ihrem  Vieh  in  keiner  Art  und  war  auch  der  überkommenen 
Eigenart  Jahwes  besonders  fremd.  Diese  Ablehnung  aller  ent- 
scheidenden Züge  der  ägyptischen  Kultur  beweist  uns  nun 
immerhin  das  eine:  daß  wir  das  Vorhandensein  selbständiger 
und  b  3 wußter  geistiger  Träger  der  Jahwereligion  in  Palä- 
stina und  ebenso  in  den  Oasen  von  Edom  und  Midian,  wie  sie 
die  Tradition  bszeügt,  als  eine  historische  Tatsache  vor- 
auszusetzen haben.  Denn  während  sowohl  lybische  wie  asiati- 
sche Beduinen  gleichm^äßig  in  fortwährendem  Verkehr  mit  Ae- 
gypten standen,  Palästina  aber  lange  Zeit  von  Aegypten  aus  direkt 


I.     Die  isiaeliiische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  2  I  5 

beherrscht  wurde,  haben  zwar  die  ersteren^),  nicht  aber  die 
letzteren,  jedenfalls  nicht  die  Jahweverehrcr  unter  ihnen,  irgend- 
welche Züge  der  ägyptischen  Religion  übernommen.  Die  eigent- 
liche Priesterlehre  und  vollends  die  schon  im  dritten  Jahrtausend 
entwickelte  spekulative  Theologie  der  Aegypter  —  ursprünglich 
eine  höchst  naturalistische,  später  eine  pantheistische  Speku- 
lation 2)  — •  blieben  denn  auch  den  levitischen  Jahwisten  gänz- 
lich fremd.  Dagegen  in  der  volkstümlichen  Frömmig- 
keit und  religiösen  Ethik  werden  wir  weiterhin  erhebliche  Ver- 
wandtschaftsspuren finden. 

Verwickelter  ist  die  Beziehung  zur  mesopotamischen  Geistes- 
kultur. Einst,  in  der  Amarnazeit,  hatte  die  Keilschrift  und  die 
babylonische  Diplomaten-  und  Handelssprache  ganz  Vorder- 
asien beherrscht  und  wurde  von  gebildeten  Aegyptern  verstanden. 
Die  Vorstellung  von  den  Sternengeistern  und  ihrem  Eingreifen 
in  irdische  Geschehnisse  war,  wie  das  Deboralied  lehrt,  auch  in 
Israel  heimisch.  Und  sogar  der  Schreibergott  Nebo  hatte  an- 
scheinend eine  Kultstätte,  und  zahlreiche  Einzelheiten  aller 
Art  sprechen  von  alten  geistigen  Gemeinsamkeiten  und  Re- 
zeptionen. Vor  allem  waren  Maß  und  Gewicht,  auch  Münzge- 
wicht, ferner  aber  das  Recht  und  wichtige  Teile  der  kosmo- 
gonischen  Mythen  gemeinsam.  Die  Enge  der  Beziehung  scheint 
sich  freilich  verschoben  zu  haben,  als  die  in  der  homerischen 
Zeit  bestehende  Handelssuprematie  der  Phöniker  aufkam.  Die 
alten  in  den  ägyptischen  Inschriften  auftauchenden  Seehandels-, 
Seeräuber- und  Reisläufervölker  des  Mittelmeers  traten  damals, 
wenigstens  relativ,  zugunsten  der  phönikischen  Meerbeherrschung 
zurück:  große  Völkerwanderungen  waren  dabei  mitbeteiligt. 
Die  phönikische  Buchstabenschrift  verdrängte  damals  in  Palästina 
die  Keilschrift,  und  die  Bedeutung  der  babylonischen  Sprache 
nahm  langsam  zugunsten  der  aramäischen  ab.  Winckler  stellt 
zwar  fest;  daß  noch  im  9.  und  selbst  bis  in  das  7.  Jahrhundert 
die  babylonische  Sprache  in  Syrien  gut  gekannt  worden  ist. 
Ihre  endgültige  Bedeutung  als  universelle  Diplomatensprache 
Vorderasiens  hat  die  aramäische  Sprache  erst  in  der  Perserzeit 
erlangt.  Immerhin  trat  Babylon  für  längere  Zeit  in  den  Hinter- 
grund.   Phönikische   Königshandwerker  arbeiteten  an   Salomos 


*)  Wie  wir  sahen,  sogar  den  Totenkult. 

2)   Erman,   Sitzungsber.  der  Berl.  Ak.  d,  Wiss.  Phil. -bist.  Kl.  191 1,  p.  1109. 


2l6  D^s  antike  Judentum. 

Tempel.  Phönikische  Sklavenhändler  begleiteten  die  israeliti- 
schen Heere  zur  Verwertung  der  Gefangenen.  Die  Kulte  der 
phönikischen  Baale,  des  Moloch  und  der  Astarte  wanderten  ein. 
Die  Kosmogonien,  die  in  Palästina  umliefen,  trugen,  nach 
Ansicht  der  Fachleute,  wesentlich  phönikisches  Gepräge.  Ein- 
zelne israelitische  Stämme  gerieten  in  phönikische  Botmäßigkeit, 
andere  schickten  Arbeitskräfte  in  phönikische  Häfen.  Königs- 
nebijim  phönikischer  Art  wurden  in  Nordisrael  gebalten. 

Die  phönikischen  Kulte  hat  erst  Elia  und  die  Revolution 
Jehus  vernichtet.  Die  alten  ekstatischen  Nebijim  wurden  von 
den  Puritanern  verworfen.  Die  phönikischen  Menschenopfer  und 
die  gnostisch  raffinierten  onanistischen  Molochopfer  verpönten 
die  Verbote   des   Deuteronomium   und   des   Heiligkeitsgesetzes. 

Mit  dem  Neuaufstieg  der  mesopotamischen  Großmächte 
steigerte  sich  deren  Einfluß  wieder.  Zeitweise  ist  in  Jerusalem 
von  den  tributär  gewordenen  Königen  (namentlich  Manasse) 
das  babylonische  Himmelsheer:  die  Gestirne  also,  angebetet 
worden.  Mesopotamien  galt  in  den  umlaufenden  Paradies- 
und  Sintfluterzählungen  seit  alters  und  auch  jetzt  wieder  als 
Mittelpunkt  der  Welt,  die  großen  Terassentempel  dort  waren 
als  Versuche,  dem  Himmelsgott  nahezukommen,  bekannt.  Die 
Einzelheiten  interessieren  hier  nicht.  Denn  die  Hauptsache 
steht  fest :  eine  Rezeption  der  Priesterweisheit  fand  nicht 
statt.  Schon  die  babylonische  (sumerische)  Sakralsprache  vieler 
wichtiger  Stücke  schloß  eine  unmittelbare  Uebernahme  dieser 
durch  die  israelitischen  Priester  aus.  Wir  wissen  aber  überhaupt 
gar  nichts  davon,  daß  man  in  Palästina  jemals  Bestandteile  der 
babylonischen  heiligen  Literatur  zu  Kultzwecken  benutzt  hätte. 
Erst  viel  später,  in  der  Zeit  der  Abfassung  der  Psalmen,  zeigen 
sich  Anklänge  an  einzelne  Hymnendichturgen  Babyloniens. 
Vor  allem:  gerade  die  für  die  Gestaltung  der  Religion  entschei- 
denden kultischen  und  theologischen  Grundlagen  der  phöniki- 
schen sowohl  wie  der  babylonischen  Religion  wurden  von  der 
jahwistischen  Religiosität  nicht  nur  nicht  übernommen,  sondern 
gan  z  bewußt  abgelehnt.  Insbesondere  wurden  der  babylonische 
Gestirndienst  und  die  Astrologie  nicht  rezipiert,  also  der  Grundpfei- 
ler dessen,  was  man  neuerdirgs  (A.  Jeremias)  als  »babylonische 
Weltanschauung <t  bezeichnet  hat.  Man  kannte  oder  verstand  die 
eigentliche  Geheimlehre  der  babylonischen  Priester  vom  Makrokos- 
mos und  Mikrokosmos  in  Palästina  vermutlich  ebensowenig  wie  die 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  217 

der  ägyptischen,  mögen  auch  Spekulationen  und  Manipulationen 
mit  heiligen  Zahlen  und  Weltperioden  in  noch  so  viel  Einzelheiten 
eine  Rolle  in  der  jetzt  vorliegenden  Redaktion  der  Ueberlieferung 
spielen,  übrigens  vielleicht  erst  infolge  exilischer  und  nachexili- 
scher  Ueberarbeitung. 

Gerade  eine  Grundlehre:  den  astrologischen  Determinismus, 
hat  man  aber  ersichtlich  recht  gut  verstanden  und  eben  deshalb 
ganz  bewußt  abgele  hnt.  Denn  was  sollte  die  levitische 
Thora  oder  das  Orakel  der  Propheten  nutzen,  wenn  das  Schicksal 
des  Einzelnen  in  den  Sternen  geschrieben  stand  ?  Mit  ihren  seel- 
sorgerischen und  auch  mit  ihren  Machtinteressen  war  dieser 
Determinismus,  der  nur  für  die  Gnosis  von  Erlösungskonventikeln 
Raum  ließ,  ganz  und  gar  unvereinbar.  Man  verwarf  also  diese 
Lehren,  welche  dem  massiv  politischen  jahwistischen  Gottesbegriff 
widerstrebten.  Schon  Jesaja  (24,  23)  und  ebenso  Jeremia  (10,  2), 
von  dem  man  eine  besonders  nahe  Beziehung  zur  babylonischen 
Priesterschaft  voraussetzen  müßte,  versichern  Israel,  daß  vor 
Jahwes  Macht  die  Gewalt  der  Sterne  dahinschwinden  werde. 
In  der  Exilszeit  verhöhnt,  in  Babylon  selbst,  Deuterojesaja 
nicht  nur  die  babylonischen  Magier  im  allgemeinen,  sondern  vor 
allem  auch  (47,  13)  ihre  astronomische  Wissenschaft  und  Astro- 
logie. Auch  in  nachexilischer  und  rabbinischer  Zeit  b?stand 
der  Satz:  In  Israel  gelten  keine  Planeten.  Nicht,  daß  der  Einfluß 
der  Gestirne  auf  die  Vorgänge  der  Erde  bezweifelt  worden  wäre. 
Das  tun  auch  die  Propheten  nicht.  Ebensowenig  wie  die  Priester 
die  Realität  der  Totenorakel  und  also  der  damit  verbundenen 
Jenseitsvorstellungen  bezweifelten.  Im  Exil  hat  man  offenbar 
gelegentlich  babylonische  Astrologen  konsultiert,  und  noch  ein 
Rabbine  wird  im  Privatberuf  als  Astrologe  bezeichnet.  Der  astro- 
logische Glaube  an  sich  bestand  ja  über  die  ganze  Erde  hin, 
von  China  bis  Rom  und  in  die  occidentale  Neuzeit.  Man  glaubte 
an  die  Sterne  auch  in  Israel.  Aber  das  Entscheidende  war:  Wie 
in  China  noch  in  den  letzten  Jahrzehnten  eine  Eingabe  des 
Hanlinpräsidenten  den  regierenden  Kaiserinnen  vorhielt:  nicht 
die  Gestirnkonstellation,  sondern  die  (konfuzianische)  Tugend 
des  Herrschers  bestimme  die  Geschicke  des  Landes,  und  wie 
in  Indien  K  a  r  m  a  n  das  Schicksal  einschließlich  des  Horos- 
kops bestimmt,  so  sind  auch  in  Israel  nicht  die  Sternen- 
geister die  Herren  der  Menschenschicksale.  In  rabbinischer 
Zeit  drückte  sich  das  in   dem  charakteristischen  Glauben  aus, 


2i8  Das  antike  Judentum. 

den  der  Talmud  ausspricht:  daß  zwar  alle  anderen  Völker  der 
astrologischen  Heimarmene  verknechtet  seien,  Israel  aber,  kraft 
seiner  Erwählung  durch  seinen  Gott,  nicht.  In  vorexilischer 
Zeit  waren  die  Sternengeister  die  Zebah  und  wie  alle  Zebaoth 
Diener  des  Gottes  Israels.  Er  allein  war  der  Lenker  aller  Ge- 
schicke: darauf  kam  es  an  und  das  schloß  gerade  die  entschei- 
denden Grundlagen  der  babylonischen  Bildung  von  der  Ueber- 
nahme  aus.  In  der  Exilszeit  finden  wir  demgemäß  in  Babylon  die 
Juden  zwar  in  allen  möglichen  zum  Teil  sehr  angesehenen  Lebens- 
stellungen, aber  mit  der  charakteristischen  Ausnahme  des  Schrei- 
berberufs. Das  konnte  keinerlei  sprachliche  Gründe  haben,, 
denn  die  aramäische  Volkssprache  hatten  die  Israeliten  gelernt, 
und  die  Aneignung  der  offiziellen  babylonischen  Sprache  würde 
ihnen  keine  Schwierigkeiten  gemacht  haben.  Wir  finden  ja  auch 
in  der  späteren  Tradition  vorausgesetzt,  daß  Juden  in  allerhand 
Hofämtern  und  als  Eunuchen  der  babylonischen  Könige  und 
ihrer  Nachfahren,  der  Perserkönige,  zu  Einfluß  gelangten.  Der 
Ausschluß  vom  Schreiberberuf  hatte  also  zweifellos  andere 
und  zwar  vermutlich  kultische  Gründe:  die  Unmöglichkeit, 
diese  durch  Priester  vermittelte  Bildung  sich  ohne  Verstoß 
gegen  die  Gebote  der  jahwistischen  Religiosität  anzueignen. 
Verwandt  blieb  die  israelitische  der  babylonischen  und  ebenso 
der  phönikischen  offiziellen  Religiosität  im  Gegensatz  zur  ägyp- 
tischen in  einem  wichtigen  Punkt:  der  Ignorierung  des  Jenseits 
und  der  sich  daran  anknüpfenden  Spekulationen.  Aber  die  spe- 
zifisch babylonischen  Gotteskonzeptionen:  der  Synkretismus, 
das  Götter-Pantheon,  die  henotheistische  Absorption  von 
Göttergestalten  durch  die  jeweils  als  Hauptgott  angesehene 
Gestalt  als  deren  »Erscheinungsformen«,  die  immer  wieder 
überragende  Stellung  des  Sonnengotts  blieben  der  israelitischen 
Gotteskonzeption  ebenso  fremd  wie  die  andersartigen,  aber  im 
Resultat  vielfach  ähnlichen  ägyptischen  Konzeptionen.  Wo  sich 
in  Babylonien  »monotheistische«  Tendenzen  zeigen,  sind  sie  we- 
sentlich entweder  solar  oder  politisch-dynastisch  bedingt,  meist 
aber  beides,  ähnlich  wie  es  die  Reform  des  Echnaton  in  Aegypten 
war.  Jahwe  aber  war  nun  einmal  weder  ein  Sonnengott  noch  ein 
Gott  der  Dynastie,  sondern  ein  eidgenössischer  Bundesgott. 
Die  in  Babylonien  starke  Tendenz  ferner,  von  den  chthonischen 
und  Vegetationskulten  aus  die  Götter  des  den  Menschen,  Tieren, 
Pflanzen  gemeinsamen  Lebens  und  der  Fruchtbarkeit    zu  Not- 


Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  2  IQ 


hflfergottheiten,  insbesondere  Istar  zur  barmherzigen  Fiirspre- 
cherin  zu  machen,  mußte  dem  Jahwismus  fremd  bleiben.  Jahwe 
selbst  und  allein  ist  der  Heiland.  Nergal,  der  ähnlich  wie  ur- 
sprünglich Jahwe  ein  Gott  gewisser  furchtbarer  Volksgeißeln, 
vor  allem  auch  der  Seuchen  war,  stand  ihm  als  Gott  des  Toten- 
reichs fremd  gegenüb.n-  und  die  in  theophoren  Eigennamen 
auch  in  Kanaan  hervortretende  Verehrung  Adads,  der  als  Gott 
des  Sturms  und  Kriegs  mit  Jahwe  Verwandtschaft  zeigte,  hat 
auf  dessen  Konzeption  keinen  ersichtlichen  Einfluß  ausgeübt. 
Eine  den  babylonischen  Priestern  gleichartige  Bildungsschicht  gab 
es  in  Israel,  eine  den  israelitischen  Thoralehrern  gleichartige  Bil- 
dungsschicht gab  es  in  Babylonien  nicht.  Die  unter  allen  Um- 
ständen, bei  noch  so  vielen  Einzelanklängen,  feststehende  Ab- 
lehnung gerade  der  imponierendsten  Produkte  der  babylonischen 
Gestirnkunde  zeigt  wiederum  deutlich  die  große  Selbstän- 
digkeit der  intellektuellen  Kultur  in  Palästina  gegenüber 
den    Nachbarländern. 

Wir  haben  uns  also  sehr  zu  hüten,  uns  Palästina  als  ein  zu 
irgendeiner  historischen  Zeit  von  eigenen  Bildungsschichten 
entblößtes  Gebiet  vorzustellen,  in  welchem  nur  barbarische  Magie 
und  ganz  primitive  religiöse  Vorstellungen  geherrscht  hätten. 
In  einem  Briefe  eines  Kanaanäers  aus  etwa  dem  15.  Jahrhundert 
an  einen  Fürsten  wird  die  Gnade  des  Herrn  der  Götter  für  diesen 
gewärtigt,  denn  er,  der  Fürst,  sei  ein  »Bruder«,  welcher  »Liebs« 
im  Herzen  trage,  also  doch  wohl:  ein  Glaubensgenosse.  Und  der 
Absender  fährt  fast  im  Missionarstil  fort,  die  Bedeutung  der  Gnade 
dessen,  der  »über  seinem  Haupt«  und  auch  »über  den  Städten« 
sei,  für  den  Erfolg  des  Königs  zu  betonen.  DL^artige  Konzeptionen 
lagen  den  Hirten  und  Bauern  des  altisraelitischen  Heerbanns 
gewiß  fern.  Aber  für  die  bedeutenderen  Städte  sprechen  alle 
Anzeichen  gegen  die  Annahme  ihres  völligen  Schwindens.  Um 
so  erfolgreich,  wie  es  geschah,  die  religiösen  Konzeptionen  großer 
Kulturgebiete,  deren  Einfluß  in  allen  anderen  Sphären  ganz  offen- 
sichtlich ist,  ablehnen  und  eigene,  davon  charakteristisch  ab- 
weichende Konzeptionen  schaffen  zu  können,  mußte  eine  eigene 
Bildungsschicht  vorhanden  sein,  welche  die  in  der  Umwelt 
vorhandenen  alten  Orakel  und  Verheißungen  selbständig  auf- 
nahm und  rational  verarbeitete.  Das  konnten  weder  die  ekstati- 
schen Nebijim,  deren  Schulüberlief erurg  nur  Mirakelerzählungen 
von  der  Art  der  Elisageschichten  produzierte,  noch  die  höfischen 


2  20  ^^^  antike  Judentum. 

Kreise,  welche  jene  verachteten,  noch  endlich  die  Hirten  und 
Bauern  und  ihre  Kriegspropheten  sein.  Zwar  hat  man  keinen 
Grund,  sich  das  israelitische  Landvolk  als  besonders  »stumpf« 
vorzustellen,  wie  gelegentlich  ^)  geschieht.  »Stumpf«  wird 
der  Bauer  überall  erst,  wo  er  in  einen  ihm  fremdartig  gegenüber-* 
stehenden  bürokratischen  oder  leiturgischen  Großstaatmechanis- 
mus eingespannt  oder  grundherrlicher  Verknechtung  preisge- 
geben ist,  wie  in  Aegypten,  Mesopotamien,  den  hellenistischen 
und  dem  spätrömischen  Staatswesen.  Im  Gegensatz  dazu  war 
der  vorexilische  israelitische  Plebejer  zuerst  wirklich,  später 
seiner  Erinnerung  und  seinem  Anspruch  nach,  ein  freier  wehr- 
hafter Eidgenosse,  der  die  Ritterschaft  der  Kulturgebiete  besiegt 
hatte.  Aus  sich  selbst  hätte  er  freilich  die  rationalen  Konzep- 
tionen der  alttestamentlichen  Schriften  nie  zu  schaffen  vermocht. 
Das  mußten  andere  für  ihn  tun.  Aber  für  die  meisten  von  ihnen 
war  er  aufnahmefähig.  Und  gerade  in  dem  Aufeinanderwirken 
einer  begeisterten  Intellektuellenschicht  mit  diesem  Publikum 
von  Schichten,  welche  durch  die  Entwicklung  der  Königszeit 
entmilitarisiert  und  sozial  deklassiert  waren,  liegt  eines  der  Ge- 
heimnisse der  Entfalturg  des  Jahwismus.  Kaum  je  sind  ganz 
neue  religiöse  Konzeptionen  in  den  jeweiligen  Mittelpunkten 
rationaler  Kulturen  entstanden.  Nicht  in  Babylon,  Athen, 
Alexandria,  Rom,  Paris,  London,  Köln,  Hamburg,  Wien,  sondern 
in  dem  Jerusalem  der  vorexilischen,  dem  Galiläa  der  spätjüdi- 
schen Zeit,  in  der  spätrömischen  Provinz  Afrika,  in  Assisi,  in 
Wittenberg,  Zürich,  Genf  und  in  den  Außengebieten  der  hol- 
ländisch-niederdeutschen und  englischen  Kulturzonen,  wie  Fries- 
land und  Neu-England,  sind  rationale  prophetische  oder  refor- 
matorische Neubildungen  zuerst  konzipiert  worden.  Aber  frei- 
lich nie  ohne  den  Einfluß  und  Eindruck  einer  benachbarten 
rationalen  Kultur.  Der  Grund  ist  überall  ein  und  derselbe:  um 
neue  Konzeptionen  religiöser  Art  zu  ermöglichen,  darf  der  Mensch 
noch  nicht  verlernt  haben,  mit  eigenen  Fragen  den  Gescheh- 
nissen der  Welt  gegenüberzutreten.  Dazu  hat  gerade  der  abseits 
von  den  großen  Kulturzentren  lebende  Mensch  dann  Anlaß, 
wenn  der  Einfluß  jener  ihn  in  seinen  zentralen  Interessen 
zu  berühren  oder  zu  bsdrohen  beginnt.  Der  einmal  inmitten 
kulturgesättigter  Gebiete  lebende,  in  ihre  Technik  verflochtene 
Mensch    stellt  solche  Fragen  ebensowenig  an  die  Umwelt,  wie 

1)  z.  B.   von  Klamroth,  a.  a.  O. 


I 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  221. 

etwa  das  Kind,  welches  täglich  auf  der  elektrischen  Bahn  zu 
fahren  gewohnt"  ist,  von  selbst  auf  die  Frage  verfallen  würde: 
wie  diese  es  eigentlich  anfängt,  in  Bewegung  gesetzt  werden  zu 
können.  Die  Fähigkeit  des  Erstaunens  über  den  Gang  der 
Welt  ist  Voraussetzung  der  Möglichkeit  des  Fragens  nach  ihrem 
Sinn.  Jene  Erlebnisse  nun,  welche  die  Israeliten  vor  dem  Exil 
gemeinsam  hatten  und  die  ihnen  Anlaß  zu  solchen  Fra  Bestellungen 
gaben,  waren:  die  großen  Befreiungskriege  und  die  Entstehung 
des  Königtums,  die  Entstehung  des  Fronstaats  und  der  stadt- 
sässigen  Kultur,  die  Bedrohung  durch  die  Großmächte,  nament- 
lich aber:  der  Zusammenbruch  des  Nordreichs  und  das  jedermann 
sichtbar  vor  Augen  stehende  gleiche  Schicksal  des  Südreichs 
als  des  letzten  Restes  unvergessener  Herrlichkeit.  Dann  das 
Exil.  Die  Freiheitskriege  schufen  das  Prestige  Jahwes  als  Kriegs- 
gott. Die  soziale  Deklassierung  und  Entmilitarisierung  der  Träger 
des  alten  Jahweheerbanns  schufen  die  jahwistische  Geschichts- 
legende. Die  ganz  großen  Fragen  der  Theodizee  aber  warf  er^t 
der  drohende  Zusammenbruch  des  Reiches  auf. 

Der  zweiten  Epoche  gehört  nun  offenbar  im  wesentlichen 
jene  geistige  Arbeit  an,  welche  die  beiden  großen  später  zusam- 
mengearbeiteten Redaktionen  des  Hexateuch  schuf,  Erzeugnisse 
zweier  religiöser  Literatengruppen,  die  heute  nach  der  Art  des 
verwendeten  Gottesnamens  als  »jahwistische«  und  »elohistischeo 
unterschieden  zu  werden  pflegen  ^).  Diese  Sammler  und  Schrift- 
steller standen  augenscheinlich  selbständig  neben  den  ursprüng- 
lichen Bearbeitern  der  rein  historischen  Traditionen  und  Le- 
genden in  den  Richter-  und  Königsbüchern.  Denn  alle  Versuche, 
die  Scheidung  der  beiden  Schulen  auch  in  diesen  Schriftwerken 
durchzuführen,  scheinen  mißglückt  zu  sein.  Der  Bildungsgrad 
beider  Sammler  oder  Sammlerschulen  muß  als  erheblich  gelten, 
weil  sie  zahlreiche  Namenetymologien  und  ätiologische  Erzäh- 
lungen bringen,  welche  entschieden  geistreich  und  meist  keines- 
falls volkstümlichen  Ursprungs  sind.  Der  letzten  Epoche  gehört 
die  Jerusalemiter  deuteronomische  Schule  an,  der  Exilszeit  und 

^)  Ueber  die  Verteilung  des  Stoffes  des  Hexateuch  auf  die  beiden  Samm- 
lungen und  auf  spätere  (deuteronomische,  priesterliche,  sonstige)  Einschübe  haben 
seit  de  Wette  Generationen  von  Forschern  gearbeitet.  Die  grundlegenden 
Resultate  sind  unter  dei  großen  Mehrheit  der  Forscher  nicht  bestritten,  so- 
viel Einzelpunkte  zweifelhaft  bleiben.  Nur  die  Versuche,  die  großen  Sammlungen 
immer  weiter  in  Schichten  zu  zerlegen,  haben  als  Rückschlag  den  aussichtslos 
scheinenden  Versuch  gezeitigt,  auch  die  gesicherten  Resultate  wieder  anzufechten. 


222  D^^  antike  Judentum. 

teilweise  der  Zeit  nachher  die  im  engeren  Sinn  priesterliche  Er- 
gänzung und  Ueberarbeitung  der  vorhergehenden  Epochen,  wenn 
auch  deren  Anfänge  in  die  Zeit  vor  dem  Exil  zurückreichen  werden . 
Die  jahwistische  und  die  elohistische  ^)  Sammlung  stehen 
noch  nicht  unter  dem  schweien  Theodizeeproblem,  welches 
durch  den  Niedergang  der  nationalen  Staatswesen  aufgeworfen 
werden  mußte.  Ihr  Monotheismus  ist  maiver«  Monotheismus. 
Ebenso  fehlt  ihnen  noch  die  Kenntnis  des  Kampfs  der  aufsteigen- 
den Priestergewalt  mit  der  prophetischen,  gegen  den  Opferdienst 
indifferenten  Bewegung.  Ebenso  wissen  sie  noch  nichts  von  dem 
späteren  Abscheu  gegen  die  alten  ländlichen  Kultstätten  und 
gegen  die  Kultparamente  und  Bilder.  Dagegen  sind  diese  Samm- 
lungen, von  denen  die  eine  bis  in  Saldmos  Zeit,  die  andere  bis 
mindestens  ins  8.  Jahrhundert  hinaufreichen,  beeinflußt  von  der 
sozialen  Problematik,  welche  das  Königtum  hervorgebracht  hat. 
Daher  bilden  in  beiden  die  Erzväterlegenden — mit  denen  der  Elo- 
hist  überhaupt  erst  beginnt  —  einen  wichtigen  Teil  der  Darstellung 
und  beide  befassen  sich  dann  ausführlich  mit  dem  Auszug  aus 
Aegypten  und  der  Eroberung  Kanaans  unter  Mose  und  Josua, 
mit  den  kultischen,  sittlichen  und  rechtlichen  Geboten,  welche 
Jahwe  damals  dem  Volk  auferlegt  hat.  An  Alter  des  Materials 
dürfte,  wie  in  den  Segensammlungen,  bald  die  eine  bald  die  andere 
in  frühere  Zeiten  hinaufreichen.  Ob  das  Bundesbuch  und  der 
ethische  Dekalog  einen  ursprünglichen  Bestandteil  der  elo- 
histischen  Sammlung,  der  kultische  Dekalog  der  jahwistischen 
Sammlung  gebildet  haben,  ist  in  keiner  Art  sicher,  auch  für  die 
Charakteristik  sachlich  nicht  wichtig.  Denn  beide  Sammler 
wirken  durch  die  Art  ihrer  Erzählung  an  sich  ethisch  paradig- 
matisch und  bezwecken  dies  auch,  so  wenig  es  ihnen  gelungen 
ist,  die  oft  recht  unethischen  Bestandteile  der  alten  Sagen  aus- 
zumerzen. Für  die  Zeit  seit  Abraham  haben  beide  Sammlungen 
annähernd  das  gleiche  Material  verwendet.  Einen  eigentlichen 
Gegensatz  der  »Tendenz«  zwischen  ihnen  zu  konstruieren  wäre 

^J  Ueber  das  Verhältnis  beider  jetzt  sehr  schön  die  Schrift  von  P  r  o  c  k  s  c  h, 
Die  Elohimquelle  (Uebersetzung  und  Erläuterung)  Leipzig  1906.  Procksch 
nimmt  einen  gewissen  Einfluß  des  Elia  auf  die  Redaktion  an  und  sucht  (p.  197) 
in  geistreicher  Art  namentlich  den  Gebrauch  des  Elohim-Namens  von  daher 
(Absicht,  die  Einzigkeit  des  Werts  zu  betonen)  zu  erklären.  Ueber  die  wichtige, 
aber  für  den  Nichtfachmann  ganz  unentscheidbare  Frage  eines  ursprünglich 
rhythmischen  Charakters  der  Erzählung  s.  Sievers,  Abh.  der  Kgl.  Sachs.  G.  d. 
Wiss.  XXI— XXIII  (1901,  1904,  1906),  mit  dem  Procksch  S.  210  f.  sich  ausein- 
andersetzt. 


I.     Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  223 

irreführend.  Beide  verklären,  der  Stimmung  ihres  PubUkunis 
entsprechend,  die  Zeit  der  Entstehung  des  Volks.  Ebenso  läßt 
sich  eine  größere  »Volkstümlichkeit«  von  keiner  von  beiden  oder 
wenn  man  will  bald  von  dieser  bald  von  jener  behaupten.  Schwer- 
lich absichtslos  lassen  sie  beide  die  damals  volkstümlichen  Ver- 
heißungen: —  Israel  zum  großen  Volk  zu  machen,  seine  Freimde 
zu  segnen,  die  Feinde  zu  verfluchen  und  einen  Namen  zu  hinter- 
lassen, mit  dem  sich  noch  in  später  Zeit  alle  anderen  Geschlechter 
der  Welt  segnen  werden,  —  nicht  etwa  einem  König  oder  dessen 
Ahnen,  sondern  den  alten  legendären  Stammvätern  des  Volks 
gegeben  sein.  Vielleicht  ist  diese  Auffassung  der  alten  Legenden- 
helden als  Stammväter  Gesamt-Israels  eine  der  Leistungen  dieser 
Schriftsteller.  Die  ihnen  gegebenen  Verheißungen  aber  sind  bei 
ihnen  noch  unbedingte,  an  keine  Leistung  geknüpfte  Zusagen 
der  Freundschaft  des  Gottes  für  Israel  durch  Dick  und  Dünn., 
was  der  späteren  prophetischen  Anschauung  ganz  ebenso 
stracks  zuwiderlief  j  wie  dies  dieHeilsprophetienderKönigsnebijim 
taten.  Ferner  spielt  die  Verklärung  des  Mose  weder  in  der  poli- 
tischen noch  in  der  hymnischen  noch  in  der  prophetischen  Li- 
teratur, noch  natürlich  in  der  späteren  priesterlichen  Redaktion, 
welche  ihm  nach  Möglichkeit  den  Priester  Aaron  unterschob, 
eine  solche  Rolle  wie  bei  ihnen.  Und  doch  erweisen  dasDeboraUed 
und  die  später  in  das  Deuteronomium  eingefügte  Segensspruch  - 
Sammlung  sein  volkstümliches  Prestige  als  unbedingt  und  alt, 
nicht  erst  nachträglich  konstruiert.  Alte  populäre,  dem  König- 
tum schwerlich  bequeme,  Traditionen  setzten  also  diese  Sammler 
fort.  Und  zwar  jede  von  beiden  Schulen  in  einer  etwas  ab- 
weichenden Art.  Beiden  sind  die  Erzväter  friedliche  Hirten. 
Aber  die  elohistische  Sammlung  betont  stärker  ihre  Stellung 
als  gerim  der  ansässigen  mit  ihnen  durch  berith  Verbrüder- 
ten Bevölkerung,  während  anderseits  die  offenbar  stärker  levi- 
tisch  beeinflußte  jahwistische  Erzählung  (in  der  Geschichte  von 
Isaaks  Brautwerbung)  bereits  die  Abneigung  gegen  die  Misch- 
ehen mit  den  Kanaanäern  kennt.  Daß  die  Ackerarbeit  Folge 
eines  göttlichen  Fluchs  sei,  ist  wesentlich  die  Ansicht  des  Jah- 
wisten.  Ihm  ist  das  Paradies  ein  bewässerter  und  bepflanzter 
Fruchtgarten  nach  Art  einer  Steppenoase.  Der  Elohist,  der  den 
Mosessegen  aufgenommen  hat,  scheint  etwas  von  einem  An- 
spruch des  Stammes  Joseph  auf  die  Königswürde  zu  wissen ,  während 
beim  Jahwisten  im  Jakobsegen  Juda  statt  Rüben    und  Joseph 


224  ^^^  antike  Judentum. 

Träger  der  Verheißung  ist.  Diese  und  ähnliche  spezifische  Züge 
machen  die  von  namhaften  Forschern  vertretene  Annahme 
wahrscheinUch,  daß  im  ganzen  die  elohistische  Redaktion  mehr 
nördlich,  die  jahwistische  mehr  südlich  beeinflußt  ist,  während 
dem  Alter  nach  bald  die  eine  bald  die  andere,  im  großen  Durch- 
schnitt wohl  eher  die  jahwistische  Sammlung  als  die  etwas  ältere 
gelten  darf.  Auch  daß  der  Elohist  den  Abraham  und  überhaupt 
alle  religiösen  Heroen  als  Nebijim,  die  Helden  aus  Joseph  als 
Nasiräer  aufzufassen  geneigt  ist,  zeugt  für  seine  im  ganzen  nörd- 
liche Herkunft.  Ebenso,  daß  in  der  elohistischen  Redaktion  die 
Einsetzung  der  Aeltesten  in  Israel  ätiologisch  begründet  wird, 
während  für  die  jahwistische  Mose,  also:  die  levitischen  Priester, 
die  Rechtsfinder  sind,  wie  es  im  Süden  vermutlich  mindestens 
dem  Anspruch  nach  weitgehend  der  Fall  war.  Puritanische 
Einflüsse  sind  beim  Jahwisten  leicht  zu  finden.  Wenn  in  der 
jahwistischen  Sündenfallerzählung  die  Schlange  eine  so  hervor- 
ragende Rolle  spielt,  so  dürfen  wir  uns  erinnern,  daß  den  ägypti- 
schen Magiern  in  der  Auszugserzählung  ähnliche  Stäbe  zuge- 
schrieben werden  wie  der  mosaische  Schlangenstab  im  Tempel 
von  Jerusalem  und  daß  dieser  Schlangenstab  des  Mose  von  der 
elohistischen  Redaktion  der  Wüstengeschichte  mit  magischer 
Therapie  in  Zusammenhang  gebracht  wird.  Hat  es  also  je,  wie 
teilweise  angenommen  wird,  einen  Schlangenkult  und  levitische 
»Medizinmänner«  gegeben,  so  dürfte  die  schroffe  Ablehnung 
durch  die  jahwistische  puritanische  Tradition,  welche  unter 
Hiskia  zur  Zertrümmerung  des  Idols  führte,  sich  hier  darin 
äußern,  daß  nun  gerade  die  Schlange  und  ihre  an  sich  unbe- 
zweifelte  Weisheit  als  Quelle  alles  Bösen  hingestellt  wurde. 
Ob  dabei,  wie  teilweise  angenommen  wird,  auch  die  häufige  Quali- 
tät der  Schlange  als  Goctestier  für  das  Totenreich  mitspielte., 
scheint  nicht  sicher  auszumachen. 

Der  Unterschied  der  Provenienz  scheint  sich  auch  in  der 
Behandlung  der  Gotteskonzeption  auszudrücken.-  Zwar  für 
beide  Sammlungen  stand  als  Ausgangspunkt  absolut  fest  die 
Qualität  des  Gottes  als  eines  persönlichen  die  Geschicke  der  Men- 
schen in  der  Welt  durch  sein  Eingreifen  bestimmenden,  aber 
mit  Israel  seit  Mose  durch  berith  und  Eidschwur  verbundenen 
und  dessen  Satzungen  garantierenden  Herrn.  Daran  war  nicht 
zu  rütteln.  Der  Jahwe  des  Mose  und  der  alten  Kriegspropheten 
war  eben  niemals  jener  ganz  primitive  Unhold,  zu  dem  man  ihn 


I.     Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  22  5 

im  Interesse  einer  geradlinigen  Entwicklung  gelegentlich  hat 
stempeln  wollen.  Andererseits  konnte  er  nicht  zu  einer  unper- 
sönlichen Weltpotenz  verflüchtigt  werden  wie  in  China  und  In- 
dien. Gewisse  universalistische  Züge  trägt  er,  aus  den  früher 
erörterten  Gründen,  bei  beiden  Sammlern.  Nur  in  verschiedener 
Art.  Die  jahwistische  Auffassung  stellt  ihn,  wie  man  oft  bemerkt 
hat,  in  zuweilen  sehr  drastisch  anthropomorpher  Form  dar. 
Von  den  grandiosen  aber  abstrakten  Konstruktionen  der  Exils- 
priester, wonach  Jahwes  über  dem  Chaos  brütender  Geist  durch 
ein  Zauberwort  das  Licht  aufblitzen  läßt  und  dann  weiter  Tag  für 
Tag  durch  sein  bloßes  Gebot  eins  nach  dem  andern  aus  dem 
Nichts  entsteht  (Gen.  i),  ist  keine  Rede.  Jahwe  hat  (Gen.  2) 
auf  der  bis  dahin  wüsten  und  dürren  Erde  zuerst  Wasser  quellen 
lassen,  dann  den  Menschen  aus  Erde  geformt,  durch  Einblasen 
seines  Odems  belebt  und  dann  erst  Pflanzen  und  Tiere  entstehen 
lassen.  Diese  stellt  er  nun  dem  Menschen  vor  und  überläßt  ihm 
das  nach  Auffassung  seiner  Zeit  und  (ägyptischen)  Umwelt 
höchst  wichtige  Geschäft:  sie  zu  benennen.  Es  will  ihm  zuerst 
nicht  gelingen,  eine  dem  Menschen  zusagende  Gesellschaft  für 
diesen  zu  bieten,  bis  er  aus  einer  Rippe  das  Weib  erschafft, 
welches  der  Mensch  sofort  als  seines  Wesens  erkennt.  In  der 
Abendkühle  spaziert  dieser  Gott  in  seinem  Garten  Eden,  in  den 
er  auch  den  Menschen  hineinsetzt,  wie  ein  Schech  einer  Oase. 
Er  verhört  ihn  persönlich,  als  er  verbotswidrig  an  seine  Bäume 
gegangen  ist  und  jagt  ihn  zur  Strafe  mit  einem  Fluch  hinaus. 
Er  muß  aber  dabei  den  Menschen,  der  sich  versteckt  hat,  erst 
suchen  und  rufen.  Ebenso  muß  er,  um  den  Riesenbau  in  Babylon 
zu  sehen,  erst  dorthin  niederfahren.  Hat  er  etwas  zu  befehlen 
oder  zu  verheißen,  so  erscheint  er  den  Menschen  persönlich.  Noch 
den  Mose  hat  er,  im  Widerspruch  mit  der  späteren  Tradition, 
sein  Angesicht  wirklich  schauen  lassen,  auch  mit  den  Aeltesten 
Israels  zusammen  auf  dem  Sinai  getafelt.  Es  ist  also  ein  Gott 
der  leibhaftigen  Epiphanien,  ganz  und  gar  nach  menschlichen 
Motiven  handelnd,  aber  doch  ein  Gott,  der  die  ganze  Erde  gemacht 
hat  und  auch  in  Babylon,  dem  Mittelpunkt  der  Weit,  seine  Macht 
äußert.  • 

Diese  anthropomorphe  Leibhaftigkeit  nun  war  der  elohisti- 
schen,  bei  aller  Volkstümlichkeit  darin  doch  weit  mehr  unter 
den  alten  im  Norden  stärker  gebliebenen  Kultureinflüssen  ste- 
henden Auffassung  offenbar  peinlich.    Ihr  ist  der  Gott  Israels 

Max  Wehe  r,  Religionssoziologie  HI.  ^5 


220  ^^^^  antike  Judentum. 

der  höchste  Himmelsgott,  der  nicht  auf  Erden  unter  den  Men- 
schen wandelt.  Sie  läßt  in  der  jetzigen  Redaktion  diese  Urge- 
schichte ganz  beiseite  und  beginnt  mit  den  Erzväterlegenden, 
wobei  dahingestellt  bleiben  muß,  ob  dies  ursprünglich  so  war 
oder  ob  vielleicht  die  spätere  Zusammenarbeitung  hier  elohisti- 
sche  Auffassungen  nicht  übernehmen  wollte,  welche  mit  der 
Gottesvorstellung  ihrer  Zeit  sich  nicht  mehr  vertrugen.  Jedenfalls 
läßt  die  elohistische  Redaktion  die  göttlichen  Befehle  und  Ver- 
heißungen mit  Vorliebe  entweder  im  Traum,  oder  durch  einen 
Ruf  vom  Himmel  oder  endlich  durch  einen  Boten  (malak)  oder 
Engel  des  Gottes  erfolgen.  Vereinzelt  (Gen.  15,  6)  kommt  dies 
auch  beim  Jahwisten  vor.  Die  Konzeption  der  Gottesboten  ist 
alt.  Das  nordisraelitische  Deboralied  kennt  ihn  bei  der  Verflu- 
chung von  Meros.  Der  Elohist  verwandelt  aber  alle  überlieferten 
Theophanien  in  ein  Auftreten  solcher  Mittelwesen.  Das  ist  ein 
offenbares  Theologumenon.  Ihm  traten  in  den  späteren  Redak- 
tionen der  Sammlungen  andere,  an  sich  vielleicht  alten  Vorstel- 
lungen entnommen,  zur  Seite.  So  die  unpersönliche  »Herrlichkeit« 
(kabod)  des  Gottes.  Sie  wird  namentlich  dazu  benutzt,  die  bei 
der  seßhaften,  namentlich  der  stadtsässigen,  Bevölkerung  üb- 
liche Vorstellung  von  der  Lokalisierung  des  Gottes  am  Kult- 
ort, namentlich  im  Tempel,  mit  der  Konzeption  des  fernen  großen 
Himmelsgotts  zu  versöhnen.  Nicht  er  selbst,  sondern  seine  kabod 
hat  sich  in  Gestalt  einer  strahlenden  Wolke  an  der  Kultstätte 
niedergelassen  (Ex.  40,  34  f.).  Oder  es  stellt  sich  eine  andere 
unpersönliche  Macht,  das  »Antlitz«  (phanim),  das  »Wort«  (dabar), 
der  »Geist«  (ruach),  besonders  oft  aber  nach  ägyptischer  Art 
der  »Name«  (schäm)  Gottes  als  wirkend  ein.  Die  schwerlich 
feststellbare  Herkunft  all  dieser  Theologumena  soll  uns  hier  nicjit 
interessieren,  nur  von  dem  zuletzt  genannten  ist  bald  noch  näher 
zu  reden. 

Solchen  Spiritualisierungstendenzen  kamen  nun  die  alten 
Erzväterlegenden  insofern  entgegen,  als  in  ihnen  wie  in  allen 
solchen  theologisch  nicht  verarbeiteten  volkstümlichen  Erzäh- 
lungen vornehmlich  die  Menschen  handelten,  und  nicht,  wie  in 
der  jahwistischen  Urgeschichte,  der  Gott.  Zwar  einige  besonders 
alte,  weil  ursprünglich  polytheistische,  Epiphanien  mußten 
beibehalten  werden.  Aber  der  Erzvätergott  wurde  im  allgemeinen 
ein  Gott  mit  geheimnisvollen  Zügen,  den  man  nur  indirekt, 
in  allerhand  Fügungen  des  Schicksals,  erkennt.    Ein  erbaulicher, 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  227 

zuweilen  rührsamer  Zug,  wie  ihn  namentlich  die  künstlerisch 
ausgeführte  religiöse  Novellistik  zu  erzeugen  pflegt,  tritt  öfter, 
am  deutlichsten  in  der  Josephgeschichte  und  in  der  Erzählung 
von  der  Opferung  Isaaks  hervor.  Diese  Art  der  Pragmatik  war 
Quelle  desjenigen  Rationalismus,  der  zum  Vorsehungsglaubeu 
führte.  Andererseits  zeigen  jene  Theologumena  doch  auch 
eine  gewisse  Neigung  zur  Entwicklung  unpersönlicher  göttlicher 
Potenzen:  Vorstellungen,  welche  gerade  mit  der  orgiastisch-ek- 
statischen  Eigenart  der  nordisraelitischen  Gottbesessenheit  ebenso 
wie  überall  sonst  in  innerer  Verwandtschaft  standen. 

Aber  eben  diese  theologische  Tendenz  wurde  später  offen- 
bar bewußt  wieder  verlassen.  Nur  jenes  der  steigenden  Majestät 
des  Gottes  dienliche  und  die  allzugrob  anthropomorphen  Theo- 
phanien  vermeidende,  alte  Theologumenon  vom  Gottesboten 
ist  dauernd  beibehalten,  die  andern  vor  dem  Exil  nur 
rudimentär  entwickelt.  Der  Grund  war  offenbar  rein  praktisch. 
Die  levitische  Priesterthora :  die  Beratung  der  von  Mißgeschick, 
also  von  Gottes  Zorn,  Verfolgten  hatte  an  Bedeutung  gewonnen 
Tmd  der  Kampf  der  puritanischen  Jahwisten  des  Südens  gegen 
die  orgiastische  Gottesgemeinschaft  und  Gottbesessenheit  des 
Nordens  ein.^esetzt.  Das  Interesse  an  rationaler  Belehrung 
über  die  Absichten  und  Befehle  des  Gottes,  übsr  kultische  und 
ethische  Sünden  vor  allem  und  die  Abwehr  von  deren  Folgen, 
hatte  sich  entwickelt  und  dies  Theodizee-Bedürfnis  mußte 
um  so  mehr  an  Bedeutung  steigen,  je  bedenklicher  sich  die 
politische  Lage  des  Volkes  gestaltete.  Diesem  plebejischen 
Bedürfnisse  aber  kam  der  leibhaftige  massive,  dereinst  mit  den 
Menschen  persönlich  verhandelnde  Gott  der  jahwistischen  Re- 
daktion weit  besser  entgegen  als  die  sublimiertere  Auffassung 
der  elohistischen  Schule.  Man  bedurfte  der  verständlichen 
Motivierung  der  göttlichen  Ratschlüsse  und  dazu  der  Möglich- 
keit, sich  auf  persönliche  leibhaftige  Aeußerungen  von  ihm  zu 
berufen.  Die  vorexilischen  Propheten  erhalten  ihre  Befehle 
und  Orakel  nicht  durch  Boten,  sondern  unmittelbar,  obwohl 
sie  im  übrigen  durch  die  elohistische  Auffassung  oft  ganz  offen- 
sichtlich besonders  stark  beeinflußt  sind:  —  Folge  des  nordisraeli- 
tischen Schauplatzes  des  ersten,  stark  nachwirkenden,  Auf- 
tretens der  Prophetie.  Bei  der  Zusammenarbeitung  der  alten 
Sammlungen  durch  die,  nach  Wellhausens  Vorgang,  heute 
meist  als  »jehovistisch«  bezeichnete  Redaktion  tritt  deshalb  der 

«5* 


228  ^^^  antike  Judentum. 

alte  Gott  der  Väter  und  des  Bundes  wieder  sehr  oft  persönlich 
auf.    Und  nunmehr,  dem  rationalen  Bedürfnis  der  Intellektuellen 
entsprechend,  vor  allem:  redend  (Gen.  13,  14  f.)  oder  mit  seinen 
Propheten  argumentierend.    Oder  es  werden  geradezu  seine  in- 
ternen Erwägungen  wörtlich  vorgeführt    (Gen.  16,  17 f.).   Dafür 
bot  schon  die  ältere  jahwistische  Darstellung  jener  Uebsrlegungen, 
welche  Jahwe  zur  Bestrafung  des  Sündenfalls  und  zur  Zerstö- 
rung des  babylonischen  Terrassenturms  veranlaßt  hatten,  das 
Vorbild.  Aber  die  Art  der  Motive  ändert  sich.   In  der  primitiven 
Vorstellung,  die  noch  bei  dem  Jahwisten  nachwirkt,  waren  wie 
in  allen  alten  Mythen  egoistische  Interessen,  vor  allem  die  Eifer- 
sucht des  Gottes  gegen  die  ihn  bedrohende  Hybris:  die  zuneh- 
mende Weisheit  und  Macht  der  Menschen,  für  seine  Entschlüsse 
maßgebend.      In  den  späteren  Redaktionen  dagegen  ist  wohl- 
wollende Fürsorge  für  die  Menschen  das  entscheidende  Motiv. 
In  der  Schlußredaktion  der  Erzählung  vom  Wüstenzug  erwägt 
z.  B.  der  Gott  die  verschiedenen  Möglichkeiten  des  Verhaltens 
der  Israeliten,  zu  deren  Standhaftigkeit  er  geringes  Zutrauen  hat, 
je  nach  dem  Weg,  den  er  sie  führt,  und  entschließt  sich  danach 
lediglich  in  ihrem  Interesse.    Das  Charakteristische  bleibt:  daß 
überall    nach  rein  menschlich    verständlichen    Motiven 
des  Gottes  gefragt  und  darnach  die  Darstellung  gestaltet  wird. 
Deutlich  ist  auch  sonst  zu  sehen,  wie  das  intellektualistische 
Streben  nach  Sublimierung  der  Gotteskonzeption  mit  den  Inter- 
essen der  praktischen    Seelsorge    im  Streit  lag.     Die  alten 
Sagen  ließen  in  unbefangener  Weise  Jahwe  sich  seine  Entschlüsse 
und  Handlungen    »gereuen«.     Schon  ziemlich  früh  schien  dem 
Rationalismus  der  Schriftsteller  zweifelhaft,  ob  dies  der  Maje- 
stät eines  großen  Gottes  angemessen  sei.    Bileam  wird  daher 
der  Spruch  in  den  Mund  gelegt,  daß  Gott  nicht  »ein  Mensch  sei, 
den  etwas  gereuen  könne <<  und  dies  wurde  dann  öfter  wiederholt 
(Num.  13,  19;  I.  Sam.  15,  29).   Allein  das  praktische  Bedürfnis 
der  levitischen  Paränese  stand  der  Durchführurg  dieser  Subli- 
mierung  im    Wege.     Wenn    die    einmal   gefaßten    Entschlüsse 
des  Gottes  endgültig  feststanden,  dann  waren  ja  Gebet,  Gewissens- 
erforschung und  Sühne  nutzlos.   Es  war  dann  die  gleiche  fatali- 
stische für  die  Seelsorgerinteressen  der  Thoralehrer  verderbliche 
Konsequenz  zu  befürchten,  die  man  an  der  astrologischen  Deter- 
miniertheit der  Schicksale  scheute.  Immer  wieder  läßt  daher  die 
spätere  Redaktion  der  Mosegeschichten  den  Propheten  den  Zorn 


I.     Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  220 

Jahwes  durch  seme  Fürbitte  besänftigen.  Jahwe  ändert  seinen 
Entschluß,  entweder  auf  Fürbitte  oder  auf  Reue  und  Buße  hin. 
Das  gleiche  läßt  die  Nathan-Tradition  dem  David  und  die  Elia- 
Tradition  dem  Ahab  widerfahren,  als  sie  Buße  tun.  Dieser 
anthropomorphe  und  daher  verständliche  Gott  kam  eben  da- 
mals geradeso  wie  heute  den  praktischen  Notwendigkeiten  der 
Massen-Seelsorge  besser  entgegen.  Das  de uter onomische  Kom- 
pendium fand  den  Ausweg,  daß  Jahwe  im  voraus  sein  Verhalten 
von  dem  Handeln  der  Menschen  abhängig  macht:  »Seht,  ich 
lege  euch  heute  Segen  und  Fluch  vor«,  —  wählt. 

Aehnlich  und  aus  ähnlichen  Gründen  zwiespältig  blieb  die 
Stellungnahme  in  anderen  Problemen,  vor  ^.llem  in  der  letzten 
Frage :  der  Theodizee.   Die  alte  Grundlage  der  Beziehung  Jahwes 
zu  seinem  Volk  war  die  berith.  Der  Eidschwur  Jahwes,  mit  diesem 
Volk  als  mit  dem  seinigen  sein  zu  wollen,  schien  aber  durch  das 
stete  Unheil,  welches  politisch   teils  drohte,  teils  hereinbrach, 
in  Frage  gestellt  zu  sein.    Der  Jabwist  hilft  sich  gelegentlich, 
in  der  ziemlich  spät  übernommenen  Sintflutsage,  damit,  daß  ein 
für  allemal  alles  Tun  der  Menschen  »böse  von  Jugend  auf«  sei.  • 
Darnach  hatten  die  Menschen  schlechthin  alles  Ueble  verdient. 
Aber  da  Jahwe  trotz  allem  nun  einmal  den  lieblichen  Geruch  des 
Opfers  nicht  entbehren  mag,  beschließt  er  gerade  um  der  Unver- 
meidlichkeit  ihres   üblen  Tuns   halber   in   Zukunft   wenigstens 
nicht  mehr  in  einer  Sintflut  die  ganze  Welt  zu  verderben  (Gen.  8, 
2i):  —  übrigens  ein  Anklang  an  den  Schluß  der  babylonischen 
Sintflutsage,  wie  noch  zu  erwähnen  sein  wird.  Jene  pessimistische 
Beurteilung  der  Menschen  stammte  wohl  aus  der  Beichtpraxis 
der  südlichen  Thoralehrer.  Sie  war  nicht  die  allgemein  rezipierte, 
welche  in  Israel  stets  den  Menschen  als  schwach,  aber  nicht  als 
konstitutionell    verderbt    ansah.       (Nur  die   Unheils-Prophetie 
der  Endzeit  Israels  neigte  wieder  dazu.)    Daß  vor  Jahwe  niemand 
unschuldig  sei,  war  eine  weit  adäquatere  Formulierung  (Ex.  34,  7) 
und  dies  Argument  entsprach  offensichtlich  auch  den  prakti- 
schen Bedürfnissen  der  Seelsorge  gegenüber  schuldlos  Leidenden. 
Indessen  damit  war  das  Problem  des  speziellen  Unheils  Israels, 
welches  doch  immerhin  Jahwes  Volk  war,  nicht  gelöst.    Das  ge- 
gebene Mittel  hierfür  war  natürlich  der  Hinweis  darauf:  Jahwe 
habe  seine  alten  Verheißungen  selbstverständlich  an  die  Bedin- 
gung geknüpft,  daß  das  Volk  seinen  rituellen  und  ethischen  Ver- 
pflichtimg en  nachkomme,  und  das  sei  nicht  geschehen.    Tatsäch- 


2^0  ^^^  antike  Judentum, 

lieh  wurden  denn  auch  allmählich  alle  alten  Verheißungen  aus 
ursprünglich  unbedingten  Versprechungen  Jahwes  in  bedingte 
Zusagen  für  den  Fall  des  Wohl  Verhaltens  umstilisiert.  Auch  das 
entstammte  zweifellos  den  praktischen  Bedürfnissen  nach  einer 
rationalen  Theodizee  und  war  vor  allem,  wie  wir  sehen  werden, 
eine  Grundthese  der  Prophetie.  Indessen  erhoben  sich  Schwierig- 
keiten: Die  alte  Vorstellung  der  Solidarhaftung  der  Gemeinschaft 
für  das  Tun  aller  Einzelnen  und  der  Nachfahren  für  das  der  Vor- 
väter, wie  es  dem  Bluträcher  und  dem  politischen  Feind  gegen- 
über bestand,  war  in  einer  freien  Eidgenossenschaft  ursprünglich 
eine  Selbstverständlichkeit  und  auch  pragmatisch  sehr  brauch- 
bar i).  Dagegen  war  aber  die  Frage  zu  fürchten:  was  nutzte 
dem  Einzelnen  die  Erfüllung  der  Gebote  Jahwes,  wenn  das  Tun 
anderer  ihn  dennoch  schuldlos  in  Unheil  verstrickte  ?  Für  die 
Sünden  der  Mitlebenden  gab  es  das  Auskunftsmittel,  die  Sünder 
durch  Cherem  dem  Gott  zu  weihen  und  zu  steinigen.  Das  geschah 
denn  auch  ganz  ebenso,  wie  man  etwa  einen  alten  Frevel  gegen 
eine  Metöken gemeinde  durch  Auslieferung  der  Frevler  oder  ihrer 
Angehörigen  von  sich  abwendete,  was  unter  David  mit  der 
Familie  Sauls  an  Gibeon  geschehen  sein  soll.  Die  sichemitische 
Fluch-  und  Segenszeremonie  hat  wenigstens  in  späterer  Zeit 
wohl  ebenfalls  dem  Zweck  gedient:  die  Haftung  der  Gemein- 
schaft durch  Abladung  des  Fluchs  auf  die  Person  der  Sünder 
von  ihr  abzuwälzen.  Die  Todesstrafe  gegen  den  Mörder  wurde 
ausdrücklich  als  Reinigung  des  Landes  von  der  Solidarhaft 
für  die  Schuld  gegen  Jahwe  aufgefaßt,  für  Fälle,  wo  der  Mörder 
nicht  auffindbar  war,  besondere  Sühne-Zeremonien  geschaffen. 
Indessen  für  die  Sünden  der  Vorfahren  gab  es  dies  Mittel  nicht. 
Hier  galt  das  bittere,  von  Hesekiel  zitierte  Volkssprichwort: 
»Die  Väter  haben  Herlinge  gegessen  und  den  Söhnen  sind  davon 
die  Zähne  stumpf  geworden.«  Auch  da  drohten  also  fatalisti- 
sche, den  Seelsorgeinteressen  abträgliche  Konsequenzen.  Des- 
halb offenbar  entschloß  sich,  wie  früher  erwähnt,  die  deutero- 
nomische  Schule  unter  dem  Einfluß  der  levitischen  Thoralehrer 
dazu,  die  Haftung  der  Nachfahren  für  die  Väter  überhaupt 
ganz  abzulehnen,  für  die  Rechtspraxis  ebenso  wie  in  der  ethischen 
Verantwortlichkeit.     Jedoch  die  Schwierigkeit  war,    daß  man 

^)  Vgl.  über  die  Entwicklung  der  Vorstellung  namentlich  L  ö  h  r ,  So- 
zialismus und  Individualismus  im  A.  T.  (Beiheft  lo  zur  Z.  f.  A-  T.  W.  1906) 
Die  Schrift  ist  gut,  nur  der  Titel  vielleicht  etwas  irreführend. 


I.     Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  23 1 

den  Gedanken  der  Vergeltung  für  Sünden  der  Vorfahren  schließ- 
lich doch  zum  Zweck  der  Theodizee  nicht  entbehren  konnte, 
da  es  keine  Jenseitsvergeltung  gab  und  die  Beobachtung  immer 
wieder  zu  lehren  schien,  daß  der  Einzelne  eben  nicht  nach  Ver- 
hältnis seiner  Sünden  und  Guttaten  gestraft  und  belohnt  wurde. 
Vor  allem  für  die  politische  Theodizee  war  die  Annahme  unent- 
behrlich und  wurde  es  wohl  namentlich  nach  der  bitteren  Erfah- 
rung der  Schlacht  von  Megiddo.  Die  Propheten  haben  denn  auch 
stets  mit  der  Solidarhaftung  der  Gemeinschaft  und  der  Nach- 
fahren für  die  Väter  gearbeitet.  Der  Solidarhaftsgedanke  ist  da- 
her niemals  wirklich  definitiv  aufgegeben  worden.  Unmittelbar 
nebeneinander  stehen  noch  in  der  priesterlichen  Redaktion 
(Num.  14,  18)  die  Versicherung  von  Gottes  Gnade  und  Barm- 
herzigkeit und  von  seiner  Rache  bis  ins  dritte  und  vierte  Glied. 
Die  Zwiespältigkeit  entstammte  dem  Gegensatz  der  Bedürf- 
nisse der  pragmatischen  politischen  Prophetie  gegen  die  In- 
teressen der  priesterlichen  Seelsorge  und  den  Rationalismus 
der  Bildungsschicht.  Gemeinsam  aber  war  allen  als  Resultat: 
der  Gott  sollte  ein  Gott  der  gerechten  Vergeltung 
sein  und  diese  Qualität  wurde  namentlich  von  der  deuterono- 
mischen  Schule  auf  das  nachdrücklichste  betont. 

Die  Gebote  des  Gottes  selbst  sowohl  wie  die  Sühne  für  Ver- 
stöße wurden  dabei  zunehmend  gesinnungsethisch  sublimiert. 
Der  unbedingte  Gehorsam  als  solcher  und  das  unbedingte  Ver- 
trauen auf  seine,  wie  es  immer  wieder  scheinen  konnte,  proble- 
matischen Verheißungen,  nicht  aber  die  äußere  Art  des  Tuns  waren 
das,  worauf  es  dem  himmlischen  Herrscher  ankam.  Der  Gedanke 
selbst  findet  sich  schon  in  der  jahwistischen  Erzählung  von  Abra- 
hams Berufung  zur  Uebersiedelung  nach  Kanaan  und  der  Ver- 
heißung eines  Sohnes:  blindlings  folgt  Abraham  jener  und  daß 
er  dieser  blindlings  glaubt,  wird  ihm  von  Gott  »^ur  Gerechtigkeit 
gerechnet«  (Gen.  15,  6).  Daß  der  Gedanke  zuerst  in  einer  Erz- 
vätersage sich  findet,  ist  nicht  zufällig.  Denn  innerhalb  der 
pazifistischen  Hal])nomaden  fand  sich  zweifellos  eine  der  Stützen 
jener  Partei,  welche  dem  durch  die  Könige  und  ihre  Priester 
eingerichteten  Opferkult  die  These  entg?genstellte :  daß  der  alte 
Bundesgott  überhaupt  nicht  am  Opfern,  sondern  allein  am 
Gehorsam  gegen  seine  Gebote  Gefallen  finde,  vor  allem  aber: 
daß  die  Gemeinde  selbst  heilig  sei  und  also  der 
Priester    nicht    bedürfe.      Rückhalt    fand    dieser    priesterfeind- 


232  -^^s  antike  Judentum. 

liehe  Glaube  natürlich  in  der  alten  Kriegeraskese  und  Krieger- 
ekstase, überhaupt  in  den  Zuständen  der  alten  Zeit,  welche  ein 
beamtetes  und  vollends  erbliches  Bundespriestertum  nicht  gekannt 
hatte.  Aber  ohne  Zweifel  lag  er  auch  den  intellektuellen  Schichten 
nahe.  Und  schließlich  darf  es  als  sehr  wahrscheinlich  gelten,  daß 
der  Orden  der  Rechabiten,  an  welchem  der  Gegner  der  Priester 
von  Jerusalem,  Jeremia,  ein  solches  Gefallen  fand,  einer  seiner 
Träger  war.  Auch  alle  diejenigen  Leviten,  welche  nicht  an  Kult- 
stätten angestellt  waren ,  ^-sondern  lediglich  durch  Seelsorge 
und  Thoralehre  ihr  Auskommen  fanden,  konnten  sich  ihn  zu 
eigen  machen.  Ihm  entsprach  der  andere  Gedanke:  daß  nicht 
in  den  vom  Sünder  zur  Sühne  gebrachten  Opfern  und  in  ähnlichen 
Handlungen,  sondern  in  der  bußfertigen  Gesinnung  als  solcher 
die  für  Jahwe  entscheidende  Genugtuung  liege,  welcher  wohl 
in  den  gleichen  Intellektuellenkreisen  heimisch  war  und  von  den 
Redaktoren  der  Tradition  den  alten  Sehern  (zuerst  dem  Nathan) 
in  den  Mund  gelegt  wurde.  Ein  anderer  Teil  der  Leviten  frei- 
lich, namentlich  die  der  deuteronomischen  Schule  zugehörigen, 
war  mit  den  Interessen  des  Kults  und  Opfers  zu  eng  verknüpft, 
um  solche  Konsequenzen  ziehen  zu  können.  Gerade  die  jah- 
wistische,  im  ganzen  mehr  südliche  und  von  Leviten  beeinflußte 
Redaktion  hat  die  rein  kultischen  Gebote  (den  sog.  kultischen 
Dekalog)  in  sich  aufgenornmen.  Aber  jener  Gedanke  selbst 
blieb,  vor  allem  in  der  Prophetie,  lebendig,  solange  die  Priester 
mit  dem  Königtum  verbunden  waren.  Auch  die  spätere  priester- 
liche Redaktion  hat  seine  Spuren  nicht  ausmerzen  können. 
Sie  hat  zwar  in  den  Mosegeschichten  das  Strafgericht  Jahwes 
über  die  korachitischen  Leviten  an  eben  jene  ketzerische  Behaup- 
tung von  der  Heiligkeit  der  Gemeinde  und  der  Entbehrlichkeit 
der  Priester  geknüpft,  aber  sie  hat  nicht  hindern  können,  daß 
sie  in  der  Niederschrift  der  Orakel  der  mächtigsten  Propheten- 
gestalten in  höchst  wuchtiger  Form  fortlebte. 

Eine  spezifisch  plebejische  Wendung  nahm  diese 
Gesinnungsethik  des  gehorsamen  Gottvertrauens  nun  durch  die 
Ausgestaltung,  welche  der  alten  mythologischen  Vorstellung 
vom  Neid  und  Haß  des  Gottes  gegen  die  Hybris  der  Menschen 
in  der  Paränese  der  Thoralehrer  gegeben  wurde.  Wenn  ägypti- 
sche Weise  Gehorsam,  Schweigen  und  Mangel  an  Selbstüber- 
hebung als  gottwohlgefällige  Tugenden  rühmen,  so  war  die  büro- 
kratische Subordination  die  Quelle.    In  Israel  war  es  der  plebeji- 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe,  2^^ 

sehe  Charakter  der  Kundschaft.  Der  Stolz  und  Hochmut,  das 
Pochen  auf  die  eigene  Kraft,  wie  es  die  Könige,  und  ihre  Kriegs- 
helden repräsentieren,  war  dem  Gott  jener  Plebejer,  mit  deren 
Beratung  und  Seelsorge  sich  die  Thoralehrer  und  die  Kreise,  aus 
welchen  die  Propheten  hervorgingen,  zu  befassen  hatten,  verhaßt 
und  der  eigentliche  Frevel.  Mißfällig  waren  Jahwe  die  Erotik 
(nach  Arnos)  und  das  fröhliche  Zechen  (nach  Jesaja)  der  Gibborim. 
Dem  Propheten  Zephanja  (3,  12)  steht  fest,  daß  nur  das  arme 
Volk  das  wirkliche,  alles  Gott  anheimstellende  Vertrauen  zu  ihm 
habe  und  deshalb  seinerzeit  allein  von  ihm  mit  dem  Untergang 
verschont  werde.  Das  Mißfallen  Jahwes  an  den  Großen  schienen 
ja  die  Mißerfolge  dieser  hochmütigen  Kaste  gegen  die  auswärtigen 
Feinde,  im  Gegensatz  gegen  die  Zeit  des  alten  Bauernheers,  zu 
beweisen.  Das  unbedingte  demütige  Vertrauen  nur  auf  ihn  allein 
konnte  vielleicht  den  alten  Bundesgott  veranlassen,  wieder  wie 
dereinst  unbedingt  mit  seinem  Volke  zu  sein.  Damit  stehen  wir 
wieder,  wie  schon  wiederholt,  vor  einem  Grundmotiv  der  utopi- 
schen politischen  Ethik  der  Propheten  und  des  darin  von  ihnen 
beeinflußten  Deuter onomiums.  Davon  wird  besonders  zu  reden 
sein.  Hier  machen  wir  uns  nur  noch  einige  der  Umstände  deut- 
lich, auf  welchen  in  Israel  die  formellen  Eigentümlichkeiten 
der  ganzen  Beziehung  der  Menschen  zum  Gott  beruhten,  vor 
allem:  der  gewaltige  Akzent  dieser  rationalen  Gesinnungsethik. 
Es  war  vor  allem  das  Fehlen  der  sonst  üblichen  Macht- 
stellung der  Magie  oder  vielmehr  —  da  die  Magie  in  Israel 
so  wenig  wie  irgendwo  jemals  aus  der  Praxis  der  Massen  wirklich 
ganz  verschwunden  ist  —  ihre  systematische  Bekämpfung 
durch  die  Thoralehrer,  welche  für  ihr  Schicksal  innerhalb  der 
alttestamentlichen  Frömmigkeit  ausschlaggebend  gewesen  ist. 
In  Israel  gab  es  Magier  aller  Art.  Aber  die  maßgebenden  jahwisti- 
schen  Kreise,  vor  allem  die  Leviten,  waren  keine  Magier,  sondern : 
Träger  von  Wissen.  Das  waren  nun,  sahen  wir,  die  Brahmanen 
auch.  Aber  das  Wissen  war  in  Israel  ein  von  dem  ihrigen  grund- 
verschiedenes. Als  in  der  jahwistischen  Paradieseserzählung 
die  Schlange  dem  Weib  anrät,  vom  Baum  der  Erkenntnis  zu 
essen,  stellt  sie  den  Menschen  in  Aussicht,  daß  sich  ihnen  »die 
Augen  auf  tun  und  sie  sein  werden  wie  Gott  selbst  ist«.  Und 
sie  hat  nicht  etwa  die  Unwahrheit  gesagt.  Denn  nachdem  Jahwe 
den  Menschen  und  die  Schlange  verflucht  hat,  fügt  er  hinzu: 
vder  Mensch  ist  geworden  wie  unsereiner«,  also:  wie  ein  Gott, 


2'IA  Das  antike  Judentum. 

—  durch  das  Wissen,  —  und  er  jagt  ihn  aus  dem  Garten, 
»damit  er  nicht  noch  von  dem  Baum  des  Lebens  nehme  und  esse 
und  unsterbUch  werde«.  Also  der  Besitz  zweier  Dinge:  Unsterb- 
lichkeit und  Wissen  macht  zum  Gott.  Welches  Wissen  aber? 
An  beiden  erwähnten  Stellen  heißt  es:  die  Erkenntnis  davon, 
»was  gut  und  böse  ist«.  Dies  also  ist  das  Wissen,  welches  nach 
der  Vorstellung  dieses  vorprophetischen  Schriftstellers  Gott  gleich 
macht.  Freilich:  daß  es  ein  rational  ethisches  und  nicht  ein 
rein  rituelles  oder  esoterisches  Wissen  war,  verstand  sich  auch 
danach  nicht  von  selbst.  Auch  in  Aegypten  wird  der  von  der 
priesterlichen  Schriftbildung  entblößte  Plebejer  als  ein  Mann 
bezeichnet,  der  »nicht  weiß  was  gut  und  böse  ist«.  Und  in  der 
Paradieserzählung  ist  die  rein  rituell  bedingte  Verpönung 
der  Nacktheit,  und  nicht  ein  rational  ethisches  Wissen  das, 
was  der  Mensch,  soviel  wir  sehen,  durch  das  Essen  vom  Baum 
der  Erkenntnis  erfährt.  Aber  schon  Micha,  zu  Hiskias  Zeit, 
betont  (6,  8),  daß  dem  Menschen,  also:  jedem  Menschen,  »gesagt 
sei,  was  gut  ist :  das  Halten  der  göttlichen  Gebote,  Liebe  zu  üben, 
und  vor  Gott  demütig  zu  sein«.  Es  handelt  sich  also  nicht  um 
esoterisches  und  auch  nicht  um  bloß  rituelles  Wissen,  sondern  um 
durchaus  exoterisch  gelehrte  Ethik  und  Rarität.  Die  Pflege 
gerade  dieser  Art  von  Belehrung  war  das  der  levitischen  Thora 
eigentümliche  und  wir  sahen,  daß  die  besondersartige  Beziehung 
zu  Jahwe  als  dem  persönlichen  Partner  der  berith  mit  der  Eid- 
genossenschaft zuerst  diesen  starken  Akzent  auf  das  »Halten  seiner 
Gebote«  gelegt  hatte.  Darin  lag  die  Vorzugsrolle  des  Gehor- 
sams und  der  Ethik  gegenüber  den  bei  der  Struktur  des  Bundes 
notwendig  so  gut  wie  ganz  fehlenden  kultischen  und  den  vermut- 
lich in  älterer  Zeit  nur  in  wenigen  einfachen  Regeln  entwickelten 
rein  rituellen  Geboten.  Bei  der  Solidarhaftung  der  Gemeinschaft 
Jahwe  gegenüber  für  die  Verfehlungen  aller  Einzelnen  war  diese 
ethische  Problematik  ein  eminentes  Interesse  jedes  einzelnen 
Volksgenossen  ^) ,  vor  allem  aber :  der  an  den  Schicksalen  des 
Landes  interessierten  Intellektuellen.  Von  da  aus  hat  diese 
Vorstellung  von  dem  Wesen  des  göttlichen  Wissens  die  Kreise 
der  zunehmend  entmilitarisierten  jahwistischen  Plebejer  und  aller 
jener  Intellektuellen,  die  am  guten  alten  Recht  hingen,  zu  be- 

1)  Andeutungen  über  die  Bedeutung  des,  wie  er  sich  ausdrückt,  »demo- 
kratischen« Charakters  Israels  für  die  Eigenart  der  israelitischen  Ethik  finde  ich 
namentlich  bei  Hehn  a.  a.  O.  S.  348. 


I.     Die   israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  2^5 

herrschen  begonnen.  Seine  Bedeutung  nahm  stetig  zu.  Das 
göttliche  Charisma  hatte  die  alte  Zeit  nur  als  Kriegsekstase  und 
Kriegsprophetie  gekannt.  Beide  waren  verfallen.  Die  Tendenz, 
Mose  zu  einem  Magier  zu  machen,  dessen  Zauber  nach  Art  des 
indischen  Hofbrahmanen  den  Sieg  entschied,  hat,  wie  die  Ansätze 
in  der  Tradition  zeigen,  bestanden.  Aber  dergleichen  gab  es  jetzt 
nicht  mehr.  Einen  Propheten,  dem  Jahwe  von  Angesicht  zu  Ange- 
sicht erschienen  wäre,  hatte  er  seither  nicht  erweckt.  Denn  die 
Zeiten  waren  andere  geworden.  Die  Kriegsorakel  des  Elisa  sind 
der  letzte  in  der  Tradition  zu  findende  Nachklang  dieser  Art 
von  magischer  politischer  Prophetie.  Die  Leviten,  die 
einzigen  kontinuierlichen  perennierenden  Träger  des  Jahwe- 
glaubens, fühlten  sich,  kraft  der  Art  ihrer  sozial  wichtigsten 
Funktionen,  als  Träger  des  Wissens  davon,  durch  welche  Sünden 
man  sich  Unheil  zuziehe  und  wie  man  sie  wieder  gutmachen  könne. 
Wenn  wirklich  der  Name  jide'oni,  der  (Lev.  20,  27;  2.  Kge.  23, 24) 
die  Orakelgeister  bezeichnet,  welche  gewisse  Magier  bewohnen, 
soviel  wie  »kleines«  Wissen  bedeuten  sollte,  so  würde  dies  den 
spezifischen  magiefeindlichen  Wissensstolz  der  Vertreter  des 
Jahwismus  kennzeichnen.  Die  israelitischen  Schriftpropheten 
haben  allerdings  gelegentlich  auch  Königen  Rat  erteilt,  ebenso 
wie  Hofpropheten  und  Magier.  Aber  stets  im  Sinn  der  levitischen 
Thora:  Gehorsam  gegen  Jahwe  und  unbedingtes  Vertrauen 
auf  ihn.  Keiner  von  ihnen  hat  dem  Lande  durch  Zauber  zu 
helfen  gesucht. 

Selbstverständlich  gab  es  Anläufe  zur  Entwicklung  magischen 
Gotteszwangs  auch  innerhalb  der  rein  jahwistischen  Kreise 
von  jeher  und  vielleicht  bis  in  ziemlich  späte  vorexilische  Zeit. 
Neben  anderen,  mehr  nebensächlichen  Spuren  ist  namentlich 
die,  sehr  universell  verbreitete,  Zauberkraft  des  Gottes  namens, 
der  Glaube  also:  daß  der  Gott,  wenn  man  seinen  Namen  kenne 
und  richtig  anrufe,  gehorchen  werde,  ganz  offenbar  in  der  Ent- 
wicklung begriffen  gewesen.  Nicht  ohne  Grund  weicht  Jahwe 
bei  der  Dornbuscherscheinung  der  Nennung  seines  Namens 
zunächst  aus,  und  ebenso  jenes  Numen,  mit  dem  Jakob  ringt. 
Als  später  Mose  als  Gunst  von  Jahwe  begehrt,  ihn  von  Angesicht 
zu  schauen,  weist  dieser  ihn  an,  seinen  Namen  zu  nennen.  Dieser 
also  zwang  ihn.  Die  weitverbreitete  Vorstellung  war,  wie  wir 
schon  sahen,  namentlich  in  Aegypten  heimisch.  Der  Name  Jah- 
wes ist  auch  ebenso  das  Symbol  seiner  Macht,  wie  der  Name  des 


2-1^  Das  antike  Judentum. 

Pharao  für  diesen.  Wie  der  König  in  den  Amarnabriefen  »seinen 
Namen  auf  Jerusalem  gelegt«  hat,  so  ist  Jahwes  Name  über 
Israel  (Deut.  28, 10;  Jer.  14,  9)  oder:  über  Jerusalem  (Jer.  25, 29) 
oder:  über  einen  Propheten  (Jer.  15,  16)  »ausgerufen«,  »wohnt« 
in  Jerusalem,  wo  ihm  »ein  Haus  gebaut  ist«,  »kommt  von  fem« 
(Jes.  30,  27),  »ist  nahe«  (Psalm  75,  2)  und  Jahwe  wirkt  durch  ihn 
(Psalm  30,  27)  zugunsten  aller,  die  »seinen  Namen  lieben«  (Psalm 
5,  12;  69,  37;  119,  32).  Teilweise  handelt  es  sich  um  das  schon 
erwähnte  Theologumenon,  um  Jahwes  anthropomorphe  per- 
sönliche Anwesenheit  auszuschalten.  Aber  teilweise  handelt  es 
sich  auch  um  jene  gerade  in  Aegypten  herrschende  Vorstellung 
vom  Wesen  des  Namens  und  es  ist  schwerlich  Zufall,  daß  fast 
alle  charakteristischen  Stellen  dieser  Art  deuteronomistisch 
sind,  also  der  Zeit  entstammen,  welche  überhaupt  die  größte 
Verwandtschaft  mit  ägyptischen  Frömmigkeitsformen  zeigt. 
Die  spezifische  Heiligkeit  des  Gottesnamens,  wie  sie  auch  in 
Aegypten  galt,  wo  einerseits  Isis  dem  Ra  durch  Kenntnis  seines 
Geheimnamens  seine  Macht  entreißt,  andererseits  Ptah  den 
»Mißbrauch«  seines  Namens  rächt,  stieg  auch  in  Israel,  wo  das 
sonst  vielfach  verbreitete  Tabu  des  Gottesnamens  ursprünglich 
nicht  galt.  Der  späteren  Auffassung  galt  der  Versuch,  durch 
das  Mittel  der  Namensnennung  den  majestätischen  Gott  zu 
zwingen,  als  schwerer  Frevel,  den  er  rächen  werde.  Die  noch 
während  der  prophetischen  Epoche  herrschende  Unbefangenheit 
im  Gebrauch  des  Namens  wich  jener  spezifischen  Scheu,  für  wel- 
che Ansätze  schon  früh  vorhanden  gewesen  sein  müssen.  Das  in 
unbekannte  Zeit  zurückgehende  dekalogische  Verbot  des  Namens- 
mißbrauchs meint  zweifellos  den  Versuch,  magischen  Gottes- 
zwang auszuüben.  Die  Ablehnung  dürfte  auch  hier  auf  bewußten 
Gegensatz  gegen  Aegypten  und  vielleicht  wiederum  gerade  gegen 
den  Totenkult  zurückgehen.  Denn  nirgends  ist  die  Bedeutung 
der  Gottesnamen  in  Aegypten  so  zentral  wie  im  125.  Kapitel 
des  Totenbuchs,  wo  ihr  richtiger  Gebrauch  das  Schicksal  der 
Seele  entscheidet.  An  jeder  Pforte  des  Hades  verlangt  der  be- 
treffende Gott  von  dem  Toten,  daß  er  seinen  Namen  wisse,  ehe 
er  ihn  passieren  läßt.  Schwerlich  sind  einerseits  die  Anklänge, 
andererseits  die  schroffe  Ablehnung  ganz  zufällig. 

Die  Verwerfung  der  Magie  bedeutete  praktisch  vor  allem: 
daß  sie  nicht,  wie  anderwärts,  von  den  Priestern  zwecks  Dome- 
stikation der  Massen  systematisiert  wurde.      In  Baby- 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  237 

lonien  vollzog  sich  ihre  Systematisierung  unter  dem  Druck  des 
Theodizee-  Bedürfnisses,  war  also  rationalen  Ursprungs. 
Die  Erfahrung,  daß  auch  der  Schuldlose  leidet,  schien  mit  dem 
Vertrauen  auf  die  Götter  nur  dann  vereinbar,  wenn  nicht  sie, 
sondern  Dämonen  und  böse  Geister  die  Urheber  des  Uebels  waren : 
die  Theodizee  lenkte  damit  in  die  Bahn  eines  latenten  und  halben 
Dualismus  ein  ^).  Davon  konnte  in  Israel  keine  Rede  sein. 
Daß  auch  alles  Uebel  von  Jahwe  stamme,  war  eine  der  Grund- 
thesen schon  des  ersten  Propheten  (Amos).  Der  Entwicklung  der 
magischen  Dämonenabwehr  stand  daher  in  Israel,  wo  alles  Uebel 
Strafe  oder  Verfügung  des  mächtigen  Gottes  war,  die  Entwick- 
lung der  rein  ethischen  Priesterthora  und  Sündenbeichte 
als  des  eigentlichen  Machtmittels  der  levitischen  Priester  gegen- 
über. Dies  wirkte  durch  das  ganze  Gebiet  der  religiösen  Entwick- 
lung Israels  hindurch.  Zunächst:  wo  bei  den  asiatischen  Reli- 
gionen der  »Zauber«  steht,  da  steht  bei  den  Israeliten:  das  »Wun- 
der«. Der  Magier,  der  Heiland,  der  Gott  Asiens  »zaubert«,  der 
Gott  Israels  dagegen  tut  auf  Anrufung  und  Fürbitte  »Wunder«. 
Ueber  den  tiefgehenden  Gegensatz  wurde  schon  früher  gesprochen. 
Das  Wunder  ist,  gegenüber  dem  Zauber,  das  rationalere  Gebilde. 
Die  Welt  des  Inders  blieb  ein  irrationaler  Zaubergarten.  Ansätze 
einer  gleichartigen  Entwicklung  sind  in  Israel  in  den  Mirakeln 
der  Elisageschichten  zu  finden,  deren  Irrationalität  durchaus  auf 
gleicher  Stufe  mit  den  asiatischen  Zaubereien  steht.  Diese  Vor- 
stellungsart hätte  sehr  leicht  die  Oberhand  gewinnen  können. 
Es  war  offenbar  immer  wieder  der  Kampf  gegen  alle  o  r  g  i  a  s  t  i- 
sche  Ekstatik,  welche  es  bedingte,  daß  in  den  genuinen 
jahwistischen  Legenden,  etwa  in  den  Erzvätergeschichten,  aber 
auch  der  Mose-  und  Samueltradition,  überhaupt  in  den  alttesta- 
mentlichen  Schriften  so  stark  wie  sonst  in  keinem  heiligen  Buch, 
nicht  der  Zauber,  sondern  das  aus  sinnvollen,  verständlichen 
Absichten  und  Reaktionen  des  Gottes  entspringende  Wunder 
herrscht  und  daß  selbst  dieses  gerade  in  vielen  alten  Partien,  am 
meisten  den  Erzväterlegenden,  relativ  sparsam  verwendet  wird. 
Dies  Fehlen  des  Zaubers  vor  allem  drängte  alle  Fragen  nach  dem 
Grunde  des  Geschehens,  der  Schicksale  und  Fügungen,  in  die 
Bahnen  des  Vorsehungs  glaubens :  der  Vorstellung  also 
von  einem    geheimnisvoll  und  doch  letztlich    verständlich   die 

*)  Ueber  den  Dämonen  glauben    als  Produkt   eines  Theodizeebedürfnisses 
hat  J.  Morgenstern  M.  d.  V.  A.  Ges.  1905,  3  einige  Andeutungen  gemacht. 


2^8  ^^^  antike  Judentum. 

Welt  und  insbesondere  die  Geschicke  seines  Volkes  lenkenden 
Gottes:  »ihr  gedachtet  es  schlimm  zu  machen,  aber  Gott  hat  es 
gut  gemacht«,  wie  die  elohistische  Kunstdichtung  der  Joseph- 
legende es  ihren  Helden  prägnant  formulieren  läßt.  Gottes  Wille 
behält  hier  ebenso  das  Feld  gegenüber  menschlichen  Versuchen, 
ihm  zu  entrinnen,  wie  in  indischen  Erzählungen  das  »Schicksal« 
über  alle  Kniffe,  ihm  ein  Schnippchen  zu  schlagen,  triumphiert. 
Aber:  nicht  Karman  wie  dort,  sondern  eine  rationale  Vorsehung 
des  persönlichen  Gottes  bestimmt  in  Israel  dieses  Schicksal. 

Diesem,  bei  aller  Leidenschaftlichkeit  seines  Grimmes, 
dennoch  im  letzten  Grunde  rational  und  planmäßig  handelnden 
Gott  der  Intellektuellen  war  nun  zweierlei  eigentümlich.  Zu- 
nächst :  er  war,  wie  schon  angedeutet,  ein  Gott  von  Plebejern. 
Das  darf  nicht  mißverstanden  werden.  Jahwe  in  dieser  Gestalt 
war  nicht  etwa  der  Gott  der  »Volksfrömmigkeit«  und  kam  voll- 
ends nicht  den  Bedürfnissen  der  »Massen«  entgegen.  Vielmehr 
war  er  gerade  in  seiner  schließlich  siegreichen  Konzeption  stets 
ein  Gott,  den  eine  Schicht  teils  von  Propheten  (Kriegspropheten, 
später  Thorapropheten)  und  Thoralehrern  dem  Volk  zu  o  k- 
troyieren  suchte.  Oft  gegen  Widerstand.  Denn  die  genuinen 
Bedürfnisse  der  Massen  gehen  überall  auf  Nothilfe  durch  Magie 
oder  Heilande  und  so  war  es  auch  in  Israel.  Und  ebenso  sind  auch 
weder  die  Ideale  noch  die  Idealisten  der  Jahwefrömmigkeit 
etwa  dem  Kreise  der  »armen  Leute«  als  solcher  entnommen. 
Der  ökonomisch  gut  situierte  und  dabei  fromme  Israelit  ist  vor 
dem  Exil  der  Held  nicht  nur  der  gesamten  echten  Königstradi- 
tion, sondern  auch  der  alten  Bruchstücke  der  Ueberlieferungen 
aus  der  Richterzeit.  Und  auch  für  die  fromme  Legende  waren 
die  Erzväter  schwer  reiche  Leute.  Reichtum  sollte  ja  nach 
den  alten  Verheißungen  hier  wie  überall  der  Lohn  der  Frömmig- 
keit sein.  Die  literarisch  gebildeten  Träger  des  Jahwewissens 
selbst  waren  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  zumeist  Angehörige 
vornehmer  Sippen.  Aber:  nicht  nur  zeigt  gleich  der  Beginn 
der  Prophetenzeit  (Amos),  daß  dies  bei  weitem  nicht  immer  der 
Fall  war.  Sondern  vor  allem :  die  Kreise,  deren  puritanisch  echte, 
der  Orgiastik,  Idolatrie  und  Magie  abholde  Frömmigkeit 
die  Literaten  züchten  zu  können  hofften  und  tatsächlich 
erfolgreich  züchteten,  v/aren  in  sehr  starkem  Maße  Plebejer- 
schichten mindestens  in  dem  Sinn :  daß  sie  nicht  am  Besitz  der 
politischen    Macht   partizipierten  und  nicht   Träger   des 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  239 

Militär-  und  Fronstaats  der  Könige  und  der  sozialen  Machtstellung 
des  Patriziats  waren.  Das  äußert  sich  deutlidi  in  der  Redaktion 
der  Tradition.  Nirgends,  außer  in  Resten  in  den  Königsgeschich- 
ten, kommt  adeliges  Heldentum  zu  Worte.  Sondern  fast  durch- 
weg ist  es  der  friedlich  fromme  Bauer  oder  Hirt,  der  verklärt  wird 
und  an  dessen  Anschauungskreis  die  Art  der  Darstellung  und  Dar- 
legung angepaßt  ist.  Keine  Rede  freilich  von  demagogischem 
Buhlen  um  die  Masse.  Zugunsten  des  großen  Haufens  soll  der 
Richter  das  Recht  so  wenig  beugen  wie  zugunsten  des  Vornehmen, 
verlangte,  wie  in  Aegypten,  die  levitische  Paränese,  und  für 
Sauls  Unstern  wird  u.  a.  auch  verantwortlich  gemacht,  daß  er 
sich  dem  törichten  Volk  gefügt  habe.  Vielmehr:  das  Wissen  von 
Jahwes  Geboten  entscheidet  über  den  Wert  und  die  Autorität 
des  Einzelnen.  Aber  das  »nomadische  Ideal«  nach  Art  der  Recha- 
biten  und  die  Erinnerung  an  den  bäuerlichen  Heerbann 
beherrschte  die  Ideale  auch  der  Bildungsschicht.  Daß  nur  die 
Erfüllung  der  Gebote  des  Himmels  das  Schicksal  des  Staates 
und  Volkes  gewährleiste,  war  zwar  die  Grundüberzeugung  der 
Konfuzianer  ganz  ebenso  wie  der  radikalen  Jahwisten.  Aber  dort 
war  es  eine  vornehme,  ästhetisch  kultivierte  literarische  Pfründ- 
nerschicht, deren  Tugenden  entschieden,  hier  aber  galt  die  Ver- 
klärung zunehmend  den  Tugenden  eines  idealen  israelitischen 
Plebejers  in  Land  und  Stadt.  Zunehmend  mit  dem  Vorstellungs- 
kreis dieser  ihrer  Kundenschicht  rechnete  die  levitische  Paränese. 
Das  Besondersartige  aber  war  dabei:  daß  hier  und  nur  hier  plebeji- 
sche Schichten  Träger  einer  rationalen  religiösen  Ethik  wurden. 
Das  Zweite,  ebenfalls  höchst  Wichtige  aber  war:  Jahwe 
blieb  ein  Gott  der  Geschichte,  und  zwar  insbesondere : 
der  politisch-militärischen  Geschichte.  Das  unterscheidet  ihn 
von  allen  asiatischen  Göttern  und  hatte  seinen  Grund  in  dem 
Ursprung  seiner  Beziehungen  zu  Israel.  Für  seine  getreuesten 
Verehrer  blieb  er  immer  der  eidgenössische  Bundeskriegsgott. 
Mochte  er  außerdem  der  Regengott  sein  und  mochte  ihn  die 
Spekulation  Nordisraels  zum  Himmelskönig  steigern,  für  die 
eigentlich  jahwistische,  namentlich  auch  die  prophetische  Fröm- 
migkeit blieb  er  der  Gott  politischer  Schicksale.  Kein  Gott  also, 
mit  dem  man  mystische  Vereinigung  durch  Kontemplation 
suchen  konnte,  sondern  ein  übermenschlicher  und  doch  verständ- 
licher persönlicher  Herr,  dem  man  zu  gehorchen  hatte.  Er  hatte 
seine  positiven  Gebote  gegeben,  daran  hatte  man  sich  zu  halten. 


240 


Das  antike  Judentum. 


Man  konnte  seine  Heilsabsichten,  die  Gründe  seines  Zorns  und 
die  Bedingungen  seiner  Gnade  erforschen,  wie  bei  einem  großen 
König.  Aber  darüber  hinaus  gab  es:  nichts.  Die  Entwicklung 
einer  Spekulation  über  den  »S  i  n  n«  der  Welt  nach  indischer 
Art  war  auf  dem  Boden  dieser  Voraussetzung  vollständig  ausge- 
schlossen. Aus  untereinander  verschiedenen  Gründen  ist  sie 
auch  bei  den  Aegyptern  und  Babyloniern  nicht  über  gewisse 
sehr  enge  Grenzen  hinausgegangen.  Im  alten  Israel  war  für  sie 
schlechthin  kein  Boden. 

Wenn  so  nach  der  einen  Richtung  die  Rationalisierung  des 
Weltbildes  in  feste  Schranken  gebannt  blieb  und  gerade  dadurch 
durchführbar  wurde,  so  setzte  auf  der  anderen  Seite  die  Eigen- 
art Jahwes  auch  seiner  Mythologisier  ung  feste  Grenzen. 
Jahwes  Gestalt  war  wie  die  jedes  Gottes  mit  Mythologemen  be- 
haftet. Die  grandiosesten  Bilder  der  Propheten  und  Psalmisten 
von  der  Art  seines  Handelns  und  seiner  Epiphanien  entstammen 
ganz  zweifellos  sehr  altem  und  verbreitetem  Mythenschatz.  Die 
in  Babylonien  und  zweifellos  auch  schon  im  vorisraelitischen 
Kanaan  verbreiteten  Vorstellurgen  vom  Urdrachen,  von  den 
Ungeheuern  und  Giganten,  mit  welchem  der  die  jetzige  Welt 
hervorbringende  Gott  zu  ringen  hat,  lebten  außerhalb  der  prie- 
sterlich redigierten  Kosmogonie  in  Gestalten  wie  Leviathan, 
Behemoth,  Rahab  fort,  innerhalb  ihrer  aber  in  der  Benennung 
des  chaotischen  Urgewässers  mit  dem  gleichen  Namen,  den  der 
babylonische  Urdrache  trägt  (Tehom:  Tiamat).  Der  bewässerte 
Gottesgarten  Eden,  die  Behandlung  des  Urmenschen  als  Acker- 
bauer, die  großen  Weltflüsse,  das  armenische  Gebirge  in  der 
jetzigen  Redaktion  der  Urgeschichte  zeigen,  daß  alle  diese  Mythen 
nicht  ursprünglich  in  der  Steppe  oder  im  palästinischen  Bergland 
zu  Hause  waren.  Der  patriarchale  Pflanzer  des  Gottesgartens 
paßt  mit  dem  Rudiment  der  Gigantomachie  im  6.  Kapitel  der 
Genesis  schlecht  zusammen.  Und  die  von  der  spätesten  priester- 
lichen Redaktion  rezipierte  Vorstellung  von  dem  über  den  Was- 
sern brütenden  Gotteshauch  gehört  wiederum  einer  anders- 
gearteten Vorstellungsreihe  an.  Die  ältere  jahwistische  Kosmo- 
gonie läßt  Jahwe  die  Welt  nicht  »aus  dem  Nichts«  erschaffen. 
Aber  immerhin:  was  auf  der  Erde  entsteht,  bringt  er  allein 
hervor.     Diese  von  Peisker  ^)   glücklich   als  »naiver  Monotheis- 

^)  Die  Bezielmngen  der  Nichtisraeliten  zu  Jahwe  nach  der  Anschauung  der 
altisraelitischen    Quellenschriften  (Beih.  z.  Z.  f.  A.T.  Wiss.  XV,  1907). 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe,  24 1 

mus<<  bezeichnete  Vorstellung  hat  mit  Einzigkeit  und  Universalis- 
mus des  Gottes  nichts  zu  tun.  Denn  in  fast  allen  Kosmogonien 
schafft  ein  Gott  die  Welt  und  an  die  anderen  wird  nicht  gedacht. 
Charakteristisch  aber  ist,  daß  der  in  Versen  gedichteten  babylo- 
nischen Ursage  hier  ein  schlichter  Prosabericht  gegenübersteht, 
ebenso  wie  die  mythologischen  Bilder  der  Propheten  und  erst 
recht  der  Priester  im  Laufe  der  Zeit  zunehmend  abstrakt  und 
immer  weniger  plastisch  sich  gestalten:  die  typische  Folge  der 
Verarbeitung  mythischer  Vorstellungen  durch  theologischen  Ra- 
tionalismus. Das  Endprodukt:  der  unerreicht  majestätische, 
aber  ganz  unplastische  Schöpfungsbericht  im  jetzigen  ersten  Ka- 
pitel der  Genesis  ist  eine  typische  Priesterleistung,  entstanden 
in  der  Exilszeit  im  bewußten  Gegensatz  gegen  die  babylonische 
Umwelt.  Alle  Phantasmen  der  babylonischen  Ursage,  die  Spal- 
tung des  Drachens  vor  allem,  sind  fortgeläutert,  dieser  selbst 
in  ein  Urgewässer  entpersönlicht.  Und  die  Schöpfung  erfolgt 
durch  das  bloße  »Wort«  des  Gottes,  w^elches  das  Licht  aufblitzen 
und  die  Gewässer  sich  teilen  läßt,  so  wie  ja  sein  Wort  es  ist,  wel- 
ches aus  dem  Munde  der  Lehrer  an  die  Menschen  ergeht.  Erst 
damals  vielleicht  sind  aus  dem  unvermittelt  daneben  bestehen 
gebliebenen  älteren  Berichte  die  theogonischen  und  giganto- 
machischen  Reste  fast  ganz  ausgemerzt  worden.  Dann  hier 
war  die  entscheidende  Grenze  für  die  Mythenbildung  des  Jahwis- 
mus.  Jahwe  vertrug  wohl  einzelne  Mythologeme,  aber  er  vertrug 
gerade  die  eigentliche  Krönung  aller  großen  Mythensysteme: 
die  Theogonie,  auf  die  Dauer  nicht.  Innerhalb  Israels,  welches 
ihn  von  außen  rezipiert  hatte,  war  der  Boden  für  theogonische 
Jahwemythen  schon  deshalb  nicht  günstig,  weil  er  ein  unbeweibter, 
bildlos  verehrter  Gott  blieb,  für  den  ein  die  künstlerische  oder 
dichterische  Phantasie  anregender,  aus  Orgiastik  und  mimischem 
Dämonenzauber  geborner  Kult  —  die  normale  Quelle  aller 
Mythensysteme  —  nicht  bestand,  und  der  nüchterne  Opferkult 
überhaupt  nicht  das  für  die  Beziehung  zum  Gott  Wichtigste  war. 
Denn  neben  jenen  persönlichen  Zügen  brachte  auch  seine 
Stellung  als  Garant  der  sozialrechtlichen  Ordnung  ihn  in  Gegen- 
satz zu  den  in  Kanaan  ebenso  wie  in  ganz  Vorderasien  umlau- 
fenden Göttermythologien.  Er  unterschied  sich  dadurch  auch 
von  den  großen  Universalgöttern  der  Religionen  der  Kultur- 
gebiete. Das  Wirkungsfeld  dieser  mit  Einschluß  des  Echnaton'- 
schen  Sonnengottes  war  in  erster  Linie:   die  Natur.    Die  politi- 

M  a  X  Weher,  Relii^ionssozioloßie  HI.  16 


242  I^^s  antike  Judentum. 

sehen  Schicksale  pflegte  der  Lokalgott  der  Residenz,  die  sozialen 
Ordnungen  ein  oder  mehrere  Funktionsgötter  und  erst  sekundär 
der  große  Himmelsgott  zu  garantieren.  Auch  Jahwe  war  nun, 
und  zwar  zweifellos  gerade  ursprünglich,  ein  Naturgott.  Aber 
ein  Gott  bestimmter  Natur katastrophen,  welche  der 
levitischen  Paränese  als  Ausdruck  seines  Grimms  gegen  Un- 
gehorsam galten.  Diese  Verknüpfung  seines  Verhaltens  mit  dem 
größeren  oder  geringeren  Gehorsam  der  Einzelnen  stand  in  Israel 
mit  steigender  Bedeutung  der  Thora  immer  fester.  Damit  aber 
waren  alle  Naturmythologeme  einer  nüchtern  rationalen  Orien- 
tierung des  göttlichen  Handelns  untergeordnet.  Die  für  die  is- 
raelitische Bildungsschicht  unvermeidliche  Rezeption  univer- 
salistischer kosmologischer  Mythen  in  die  Jahwevorstellung 
mußte  infolgedessen  für  die  Gestalt,  welche  diese  Mythen  dabei 
annahmen,  weitgehende  Folgen  haben:  sie  wurden  ethisch 
gewendet.  Andererseits  aber  ist  ein  Einfluß  der  Mythenrezeption 
auf  die  Art  der  Gotteskonzeption  und  auf  die  Soteriologie  nur 
in  sehr  geringem  Grade  zu  finden,  in  geringerem  jedenfalls, 
als  man  erwarten  könnte. 

Die  durchaus  sekundäre  Bedeutung  der  kosmogonischen 
und  anthropogonischen  Mythen  für  die  jahwistische  Religiosität 
tritt  wohl  in  nichts  deutlicher  hervor,  als  in  dem  Fehlen  fast  jeg- 
licher Anspielung  auf  den  für  unsere  heutige  Vorstellung  so  grund- 
legenden Mythos  vom  »Sündenfall«  des  ersten  Menschenpaares. 
Ein  soteriologisch  irgendwie  bedeutsames,  für  Jahwes  Verhalten 
zu  Israel  oder  zu  den  Menschen  überhaupt  entscheidendes  Er- 
eignis ist  er  in  der  ganzen  alttestamentlichen  Literatur  nicht  ge- 
worden. Es  finden  sich  nur  ganz  vereinzelte  und  zwar  nur  para- 
digmatische Anspielungen  (Hosea  6,  7).  Für  die  Heilslehre 
grundlegend  wurde  Adams  Fall  erst  durch  bestimmte  Speku- 
lationen des  alten  Christentums,  und  zwar  auf  Grund  von  Vor- 
stellungen, welche  ihre  Herkunft  aus  der  orientalischen  Gnosis 
nicht  verleugnen,  aber  der  genuinen  israelitischen  Religiosität 
fernlagen.  Adams  und  Evas  Fall  ist  allerdings  ätiologischer 
Mythos  für  den  Tod,  die  Mühsal  der  Arbeit  und  des  Gebarens 
und  die  Feindschaft  mit  der  Schlange,  —  später:  mit  allen  Tieren. 
Aber  darin  erschöpft  sich  seine  Bedeutung.  Wenn  die  Rabbinen 
später  die  Verehrung  des  goldenen  Kalbes  als  ungleich  schwereren 
Frevel  ansehen  als  den  Ungehorsam  Adams:  —  weil  dort  eine 
berith  gebrochen  wurde,  hier  aber  nicht  — ,  so  entspricht  das 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  243 

durchaus  der  alten  uns  bekannten  Ginindlage  der  Stellung 
Jahwes  zu  Israel,  welche  der  Mythos  unerschüttert  ließ.  Zwar 
faßt  schon  Hosea  (a.  a.  O.)  auch  Adams  Frevel  als  Bruch  einer 
»berith«  auf.  Aber  eine  folgenreiche  Konzeption  wurde  dies  für 
die  israelitische  Religiosität  nicht.  Umgekehrt  war  dagegen  die 
Beeinflussung  des  Mythos  durch  die  Eigenart  Jahwes  grund- 
stürzend. Wo  der  schon  in  den  Amarnatafeln  als  Uebungs- 
stück  für  Schreiber  enthaltene  babylonische  Mythos  vom  Ur- 
menschen Adapa  diesen  die  Unsterblichkeit  durch  Befolgung 
eines  falschen  Ratschlags  eines  anderen  Gottes  verscherzen  läßt 
und  ihn  übrigens  als  von  vornherein  »unrein«  und  deshalb  für 
Anus  Himmel  disqualifiziert  behandelt,  gestaltet  die  israeliti- 
sche Konzeption  daraus  das  höchst  eindrucksvolle  Paradigma 
von  den  Folgen  des  Ungehorsams. 

Diese  Wendung  ist  unzweifelhaft  eine  Leistung  der  leviti- 
schen  Thora,  die  dann  erst  in  der  Schlußredaktion  der  Urgeschichte 
endgültig  rezipiert  ist.  Denn  bei  Hesekiel  (28, 13  ff.)  und  im  Hiob- 
buch  (15,  7)  zeigt  sich  noch  die  Spur  einer  ganz  anderen  Auf- 
fassung, welche  in  dem  Urmenschen  eine  Gestalt  voll  Weisheit 
und  Schönheit  sah,  die  in  dem  (nach  babylonischer  Art)  edel- 
steingeschmückten Gottesgarten  auf  dem  auch  den  Psalmen 
bekannten,  der  Berggottnatur  Jahwes  entsprechenden  wunder- 
baren Gottesberg  wie  ein  Cherub  ohne  Makel  lebte,  aber  durch 
seine  Hybris  in  Schuld  verstrickt  und  von  Jahwe  herabgestürzt 
wurde.  Hier  war  also  der  Urmensch  keineswegs  der  »reine 
Tor«  des  jahwistischen  Paradiesesmythos.  Da  Hesekiel  zweimal 
Noah,  Hiob  und  Daniel  (14,  14.  20)  als  drei  weise  und  fromme 
Leute  der  alten  Zeit,  Daniel  sogar  (28,  3)  als  allwissend  schildert, 
so  war  offenbar  hier  die  aller  Priestertradition  naheliegende 
Verklärung  der  übermenschlichen  Weisheit  der  Altvordern 
in  der  Entwicklung  begriffen,  welche  dann  später  von  den  nach- 
exilischen  Chokmalehrern  in  ganz  anderer  Art  wieder  aufgenom- 
men wurde.  Den  eigentlichen  Thoralehrern  blieb  sie  fremd.  Bei 
der  Sintflutsage,  dem  nach  Annahme  der  Fachleute  am  spätesten 
rezipierten  Mythos,  kam  das  babylonische  Vorbild  dem  ethischen 
Bedürfnis  insofern  entgegen,  als  ein  auch  in  den  Erzväterlegenden 
vorkommendes  Motiv  wenigstens  gestreift  war.  Die  Götter  machen 
dem  Enlil,  der  die  Sintflut  losgelassen  hat,  zum  Vorwurf,  daß 
er  alle  Menschen  ohne  Unterschied,  ob  sie  gesündigt  haben  oder 
nicht,  habe  vertilgen  wollen :  nur  Ea's  heimlicher  Rat  hatte  dem 


2AA  Das  antike  Judentum. 

babylonischen  Gegenbild  des  Noah  die  Rettung  ermöglicht. 
Bei  der  Rezeption  der  Sintflutsage  war  nun  die  charakteristische 
Aenderung  die :  daß  Jahwe  die  Sintflut  nicht  wieder  zu  schicken 
beschließt,  weil  aller  Menschen  Trachten  von  Jugend  auf 
verderbt  ist;  ihm  liegt  eben  an  dem  Bestand  und  Schicksal  der 
Menschen  um  deren  selbst  willen.  Es  ist  wiederum  nicht  die 
Tatsache  einer  ungewöhnlich  »erhabenen«  Sittlichkeit,  die  man 
den  Israeliten  zugeschrieben  hat,  welche  die  Erklärung  dieser 
charakteristischen  Aenderungen  bedingte.  Die  alte  israelitische 
Ethik  war  derb  und  schlicht.  Es  war  der  Umstand:  daß  hier  die 
Seelsorge  an  den  plebejischen  Schichten  infolge  der  historisch 
gegebenen  Eigenart  Jahwes  und  seiner  Beziehung  zu  Israel 
ethischen  und  nicht  magischen  Charakter  hatte,  daß  Mythen 
sie  daher  nur  in  paradigmatischer  Funktion  interessierten.  Gött- 
liche rational  bedingte  Wunder,  Macht-,  Straf-  und  Belohnungs- 
Erweise  bedurfte  sie  für  ihre  Zwecke,  nicht  Zauber-  und  Helden- 
geschichten. 

Eine  für  die  spätere  Entwicklung  folgenreiche  Konzeption, 
die  in  Verbindung  mit  den  kosmogonischen  Mythen  aufgenommen 
wurde,  war  das  durch  ethische  Schuld  verscherzte  Paradies 
und  der  in  ihm  herrschende  Stand  des  Friedens  und  der 
Unschuld.  Die  äußerliche  Form  des  Paradieses  hat  offenbar 
gewechselt.  Die  Konzeption  des  »Gottesberges«  im  Exil  (bei 
Hesekiel  28,  11  ff.,  31,  8.  9.  16;  36,  35)  hatte  offenbar  den  Zweck, 
Jahwe  von  der  Lokalisation  in  Jerusalem  zu  befreien  und  seine 
Stellung  als  Universalgott  zu  festigen.  Von  den  Thoralehrern 
war  die  alte  jahwistische  Auffassung  rezipiert.  Ein  eigentlicher 
Paradieses-Mythos  ist  bisher  in  Babylonien  nicht  nachgewiesen, 
obwohl  ein  göttlicher  Zauberpark  mit  Edelsteinbäumen  und  auch 
ein  von  Göttern  gegrabener  Kanal  sich  finden.  Mythen  von  einem 
Urständ  des  Friedens  mit  den  Tieren  sind  von  Usener  ^)  als 
ziemlich  verbreitet  nachgewiesen  und  existierten  anscheinend 
auch  in  Babylonien  (Gilgamesch-Epos),  wo,  wie  es  scheint, 
ebenso  wie  in  der  Genesis  das  Weib  die  Schuld  an  dem  Verlust 
trug.  Der  Mythos  von  einem  durch  Gott  gepflanzten  und  be- 
wässerten friedlichen  Garten  und  dem  aus  ihm  zur  Mühsal  des 
Bodenanbaus  und  Kampf  mit  Schlangen  hinausgestoßenen  Men- 
schen ist  auch  an  sich  am  wahrscheinlichsten  in  einem  Lande 
wie  Mesopotamien  entstanden;  wie  alt  er  in  Kanaan  ist,  läßt 

^)  Relig.-gesch.  Unters.  Bonn  1899,  S.  210  f. 


I.     Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  245 

sich  nicht  sagen.  Den  Ursprung  aus  einem  Gartenbauland  legt 
auch  die  noch  jetzt  hindurchschimmernde  Vorstellung  nahe: 
daß  die  Menschen  ursprünglich,  solange  der  Frieden  mit  den 
Tieren  bestand,  von  vegetarischer  Kost  gelebt  hätten:  auch  da- 
für finden  sich  im  Gilgamesch-Epos  gewisse  Andeutungen.  Einen 
Stand  der  unwissenden  Unschuld  scheint  aber  keine  für  die 
Uebertragung  in  Betracht  kommende  Religion  zu  kennen  ^) 
und  vor  allem  in  der  besonderen  Wendung  der  Unwissenheit 
als  Unkenntnis  von  der  Unzulässigkeit  des  »Nackten«  ist  der 
Einschlag  der  rituellen  Besonderheit  des  Jahwismus  sofort  er- 
sichtlich. Die  zentrale  Bedeutung  des  berith-Gedankens  legte 
die  Israel  eigentümliche  Vorstellung  nahe,  daß  die  friedliche 
Beziehung  der  Urmenschen  zu  den  Tieren  auf  einer  berith  Jah- 
wes mit  den  Tieren  beruht  habe  und  daß  Jahwe  in  Zukunft 
eine  solche  berith  erneut  machen  könne  und  werde:  ein  Gedanke, 
der  schon  bei  den  ersten  Propheten  (Hosea  2,  18;  Jesaja  11,  i) 
auftritt.  Und  hier  lag  eben  das  Wichtige  der  Vorstellung.  Hatte 
man  die  selige  friedliche  Urzeit  einmal  verscherzt,  so  konnte  sie 
vielleicht  bei  entsprechendem  Verhalten  künftig  wiederkehren; 
und  es  scheint  nicht  zweifelhaft,  daß  diese  eschatologi- 
s  c  h  e  Vorstellung,  mit  der  die  Propheten  arbeiten,  bereits  vor 
ihnen  verbreitet  war.  Dieser  Endzustand  wird  wie  Eden  sein 
(Jes.  51,  3),  Frieden  unter  den  Menschen  wird  herrschen,  die 
Schwerter  wird  man  in  Pflugscharen  umschmieden  (Jes.  2,  4) 
und  Bogen,  Schwert  und  Krieg  wird  vom  Lande  fern  bleiben 
(Hos.  2,  18),  die  Erde  wird  durch  Himmelsgnade  Korn,  Most 
und  Oel  in  Fülle  hervorbringen  (Hos.  2,  22).  Das  sind  Heils- 
hoffnungen spezifisch  pazifistischer  unmilitärischer 
Bauern. 

Diese  Friedenserwartungen  waren  nicht  die  einzige  Form 
eschatologischer  Hoffnungen,  welche  auf  die  vorprophetische 
Zeit  zurückgehen,  sondern  neben  ihnen  standen,  entsprechend 
der  Verschiedenheit  der  sozial  bedingten  Interessenlage,  andere. 
Die  volkstümliche  Zukunftshoffnung  der  Krieger  sah  anders 
aus.  Schon  bei  den  ersten  Propheten  (Amos)  finden  wir  die  Er- 
wartung eines  »Tages  Jahwes«  (jom  Jahwe),  der  nach  der  bis 

1)  Für  den  babylonischen  Mythos  vom  Urmenschen  ist  Adapa  keineswegs 
im  Stande  der  Unschuld,  sondern  ein  unreiner  Mensch,  dessen  Eindringen  in 
Anu's  Himmel  bedenklieb  ist  (v.  57  der  Uebersetzung  bei  Gunkel  a.  a,  O.).  Sonst 
sind,  wie  schon  bemerkt,  die  Urmenschen  meist  Träger  hoher  gottverliehener 
Weisheit. 


246  ^^^  antike  Judentum. 

dahin  gangbaren  Vorstellung  ein  Tag  großen  Heils  für  Israel 
ist.  Was  war  sein  ursprünglicher  Sinn  ?  Jahwe  war  ein  Kriegsgott 
und  folglich  war  es  ein  siegreicher  Schlachttag,  so  wie  einst  der 
»jom  Midian«  (Jes.  9,  3),  der  Tag  des  Sieges  Gideons  also,  ge- 
wesen war.  Die  alten  Losorakel  gaben  ja  dem  Kriegshelden, 
wie  wir  bei  Gideon  und  öfter  sehen,  Tag  und  Stunde,  zu  welcher 
Jahwe  die  Feinde  »in  Israels  Hände  geben«  werde,  genau  an: 
daher  wohl  die  Vorstellungsweise.  Und  die  Mittel  des  alten 
Katastrophengottes  waren  bekannt:  der  »Gottesschreck«  durch 
Erdbeben  oder  Wetterkatastrophen.  Der  Tag  Jahwes  war  also 
ein  Tag  des  Schreckens  (jom  mehumah,  Jes.  22,  5),  aber  in  den 
Augen  der  Krieger  natürlich :  für  die  Feinde  Israels,  nicht  für  Israel 
(Amos  5,  18 — 20).  Daneben  scheint  eine  andere,  pazifistischere, 
Vorstellung  ihn  als  ein  Tag  fröhlichen  Opfermahls  angesehen  zu 
haben  (Zeph.  i,  7),  zu  dem  Jahwe  die  Seinen  zu  Gaste  lud. 

Diese  je  nachdem  mehr  pazifistischen  oder  mehr  kriegeri- 
schen Zukunftshoffnungen  verbanden  sich  nun  mit  den  Ver- 
heißungen der  königlichen  Heilsprophetie.  Vor  allem  Greß- 
mann ')  hat  darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  an  den  benach- 
barten Großkönigshöfen  ein  ziemlich  fester  »Hofstil«  für  solche 
bestand.  Jeder  König  wird  von  den  heilsprophetischen  Barden 
als  Bringer  einer  Segenszeit  gepriesen:  Kranke  werden  gesund, 
Hungernde  satt,  die  Nackten  gekleidet,  die  Gefangenen  amne- 
stiert (so  für  Assurbanipal),  den  Armen  ihr  Recht  verschafft 
(so  oft  in  babylonischen  Königsinschriften,  in  Israel:  Psalm  72). 
Der  König  selbst  ist  von  dem  Gott  (in  Babylon:  Marduk)  er- 
wählt (so  David  von  Jahwe  2.  Sam.  6,  21),  zu  seinem  Priester 
gemacht  (so  Psalm  iio),  oder  er  ist  von  ihm  adoptiert  (so  der 
König  Israels  Psalm  2,  7)  oder  geradezu  gezeugt  (ebenda).  Daß 
er  dies  ist,  sein  Charisma  also,  hat  der  König  durch  das  dem 
Volk  widerfahrende  Heil  zu  bewähren  (wie  in  China  und  überall 
bei  genuin  charismatischer  Auffassung) .  Um  ihm  seine  göttliche 
Abstammung  zu  beglaubigen,  wird  schon  in  früher  mesopotami- 
scher  Zeit,  für  den  Sumerer  Gudea,  für  Sargon,  den  Gründer  der 
babylonischen  Macht,  dann  in  der  Spätzeit  Assyriens  für  Assur- 
nasirpal,  dem  König  nachgesagt:  daß  sein  Vater  oder  daß  auch 
seine  Mutter  unbekannt  sei,  daß  er  in  der  Verborgenheit  oder  auf 

^)  In  der  vorzüglichen  Abhandlung:  Der  Ursprung  der  israelitisch- j üdi- 
schen  Eschatologie  (Forsch,  z.  Rel.  und  Lit.  des  A.  und  N.  T.  6.  Götlingen  TQ05. 
Zur  Kritik:  Sellin,  Der  alttest.  Prophetismus,  Leipzig  1912,   S.   105  ff.). 


1.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  247 

den  Bergen,  also  von  einem  Gott,  gezeugt  worden  sei.  Nament- 
lich —  aber  nicht  nur  —  Usurpatoren  greifen  zu  diesem  Mittel 
der  Legitimierung.  Auch  diese  Vorstellung  scheint  in  Israel 
bekannt  gewesen  zu  sein,  denn  Jesaja  bedient  sich  ihrer,  als  er 
dem  glaubenslosen  König  Ahas  den  bald  erscheinenden,  ja  viel- 
leicht schon  jetzt  geborenen  Heilskönig,  den  Immanuel,  entgegen- 
hält, der  ganz  diese  Züge  trägt.  Je  nach  der  mehr  militaristischen 
oder  pazifistischen  Schicht  ist  dann  der  Heilskönig  ein  Monarch, 
der  auf  Rossen  und  Wagen  kommt  (Jer,  17,  25;  22,  4)  oder  ein 
auf  dem  Esel  reitender  Fürst  nach  Art  des  altisraelitischen 
charismatischen  Helden  der  Bundeszeit  (Sach.  9^  9  f.)  und  ein 
Friedensfürst,  wie  der  jesajanische  Immanuel.  Im  Judäerreich 
wurde  naturgemäß  aus  dem  Davididenstamm,  daher  aus  Bethle- 
hem, dieser  »Gesalbte«  (ha  maschiah,  das  heißt  einfach:  der 
König)  erwartet,  der  ein  »Heiland«  (moschua')  sein  wird,  als 
welcher  Jerobeam  IL  von  seiner  Zeit  aufgefaßt  wurde.  Die 
Besonderheit  dieser  Hoffnungen  in  Israel  ist  politisch  bedingt. 
Während  die  starke,  unvordenklich  alte  Stellung  des  König- 
tums in  den  großen  Kulturgebieten  dort  die  soteriologischen  Hoff- 
nungen wesentlich  an  den  lebenden  König  knüpfte  M  und  nur 
ganz  ausnahmsweise  —  wie  unter  Bokchoris  —  eigentlich  »mes- 
sianische«  Heilserwartungen  sich  finden,  lag  dies  in  Israel  anders. 
Zwar  mit  der  erstarkenden  Stellung  des  Priestertums  war  auch 
in  Aegypten  der  König  (so  unter  der  21.  Dynastie)  nur  der 
von  Ammon  anerkannte  und  legitimierte  Herr,  nicht  mehr, 
wie  wenigstens  nach  der  offiziellen  Auffassung  des  Alten 
Reichs,  selbst  lebender  Gott;  und  in  Mesopotamien  war  es  in 
historischer  Zeit  stets  so.  Aber  in  Israel  trat,  zumal  im  Nord- 
reich mit  seinen  steten  Militärrevolten  und  Usurpationen,  das 
Königtum  als  Heilsbringer  stark  gegen  andere  Erwartungen  zu- 
rück. Für  Hosea  gibt  es  einen  legitimen  König  überhaupt  nicht, 
—  was  der  Zeitlage  entsprach.  Und  auch  sonst  stand  der  offi- 
ziellen königlichen  Heilsprophetie  und  Zukunftsweissagung  die 
Hoffnung  gegenüber:  daß  entweder  Jahwe  selbst  dereinst  das 
Regiment  in  die  Hand  nehmen,  die  fremden  Götter  vernichten 
( Jes.  10,  3.  4)   und  die  Welt  neu  gestalten  werde  -)    oder  daß 

1)  Der  Pharao  (Ramses  II.)  als  Fürsprecher  zur  Erwirkung  von  Regen: 
Breastead  Records  II,  426  (sogar  für  das  Land  der  Cheta!). 

2)  Dies:  daß  Jahwe  dereinst  Herr  der  Welt  werden  solle,  nicht:  daß 
er  —  wie  Sch'Jn  a.  a.  O.  es  deutet  —  es  jetzt  schon  sei,  ist  die  alte  Hoffnung, 
auch  des  Schilf meerliedes  Ex  15,    Auch  ist  nicht,  wie  Seilin  annimmt,  ein  »Ge- 


248 


Das  antike  Judentum. 


er  einen  übermenschlichen  Wundertäter  schicken  werde,  dies 
zu  bewerksteUigen.  Dieser  wird  dann  alle  fremden  Bedränger, 
aber  nicht  nur  sie,  sondern  auch  die  Uebeltäter  im  eigenen  Lande 
vernichten :  zu  dieser  spezifisch  ethisch  gewendeten  Hoff- 
nung verdichtete  sich,  unter  dem  Einfluß  der  besondersartigen 
Beziehung  Jahwes  zu  seinem  Volk  kraft  der  berith,  die  Hoff- 
nung in  Israel  und  nur  dort.  Es  finden  sich  von  einer  derartigen 
Wendung  anderwärts  keine  Spuren  und  sie  konnte  auch, 
unter  der  Herrschaft  der  Magie  als  universellen  Heilsmittels, 
sich  anderwärts  nicht  entwickeln.  Daraus  folgte  aber:  daß 
das  Kommen  des  Tages  Jahwes  Unheil  auch  über  die  Sünder 
im  eigenen  Volk  bringen  werde.  Nur  ein  Rest  ^) :  schea- 
rith,  wird  vor  Jahwes  Zorn  bestehen:  mit  diesem  für  alle  Pro- 
pheten grundlegend  wichtigen  »Rest «-Gedanken  arbeitet  gleich 
der  erste  von  ihnen,  Arnos,  als  mit  einer  festen  Vorstellung, 
und  Jesaja  nannte  einen  seiner  Söhne  Schear  jaschub  (»Rest  be- 
kehrt sich«).  Natürlich:  ein  sittlich  qualifizierter  Rest,  —  so 
daß  die  eschatologischen  Naturmythologien  der  Umwelt  auch 
hier  ethisch  gewendet  wurden.  Von  den  beiden  möglichen 
Vorstellungen  über  die  Person  des  eschatologischen  Helden  war 
die  im  allgemeinen  in  den  jahwistischen  Kreisen  herrschende 
offenbar:  daß  Jahwe  selbst  seine  Sache  gegen  seine  Feinde  füh- 
ren werde.  Die  andere:  daß  ein  eschat ©logischer  Held  in  seinem 
Auftrag  handeln  werde,  führte  entweder  in  die  Bahnen  der  könig- 
lichen Heilsprophetie  —  wie  meist  in  Jerusalem,  wo  die  Davi- 
diden  Träger  dieser  Hoffnung  waren  —  oder  sie  führte  zu  eso- 
terischen Mythologemen.  Der  Retter  wurde  dann  eine  über- 
irdische Gestalt.  Wie  ein  »Stern«  geht  er  auf  im  Bileamspruch 
(Num.  24,  17).  Er  ist  ein  »Vater  für  ewig«  (in  der  freilich  zweifel- 
haften üblichen  Lesart  der  Stelle  Jes.  9,  5).  Sein  Ursprung  ist 
in  den  unvordenklichen  Tagen  der  Vorzeit  (Mich.  5,  i).  Diese 
dunkeln  Andeutungen,  die  in  dem  »Gottesknecht«  des  Deutero- 
jesaja  im  Exil  ihre  Fortbildung  erfuhren,  sind  nirgends  näher  aus- 
geführt. In  den  bisher  aus  der  Umwelt  Israels  vorliegenden  Doku- 


richt«  Jahwes,  sondern  das  Entbrennen  seines  Zorns  das,  was  erwartet  wird. 
Der  Gedanke  eines  eigentlichen  »Weltgerichts«  ist  zum  mindesten  nie  wirklich 
ausgeführt,  und  wo  er  anklingt,  ist  es  Jahwe,  der  —  als  Partner  der  berith  — 
einen  Prozeß  hat  mit  den  Einwohnern  des  Landes:  er  ist  Partei,  nicht:  Richter 
(so  bei  Hosea  und  im  Deuteronomium). 

1)  Ueber  diese  Konzeption  s.    Dittmann,   Theol.  St.  u.  Kr.  87  (1914) 
S.  603  f. 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe,  24Q 

menten  finden  sich  keine  unmittelbaren  Analogien;  die  Einwir- 
kung iranischer  Vorstellungen  ist  äußerst  fraglich,  und  es  handelt 
sich  bei  Yima  und  den  anderen  in  Betracht  kommenden  Gestalten 
der  älteren  iranischen  Religion  auch  nicht  um  eschatalogische 
Heilsbringer.  Da  die  entscheidende  Stelle  (Micha  a.  a.  O.)  das 
Davididengeschlecht  als  Träger  der  Heilshoffnung  hinstellt 
und  die  Vorstellung  eines  Fortraff ens  großer  Gotteshelden  in 
Jahwes  Himmel  in  Israel  nicht  fehlte  (Henoch,  Elia),  so  ist  dort 
wohl  an  die  Wiederkehr  Davids  selbst  gedacht.  Das  der  israeli- 
tischen Erwartung  Eigentümliche  ist  dabei  die  steigende  In- 
tensität, mit  welcher,  sei  es  das  Paradies,  sei  es  der  Heilskönig, 
das  erste  aus  der  Vergangenheit,  das  zweite  aus  der  Gegenwart, 
in  die  Zukunft  projiziert  wurden.  Das  geschah  nicht  nur  in 
Israel.  Aber  mit  derartiger  und  zwar  offenbar  stetig  zunehmender 
Wucht  ist  diese  Erwartung  nirgends  in  den  Mittelpunkt  der  Reli- 
giosität getreten.  Die  alte  berith  Jahwes  mit  Israel,  seine  Ver- 
heißung in  Verbindung  mit  der  Kritik  der  elenden  Gegenwart 
ermöglichte  das ;  aber  nur  die  Wucht  der  Prophetie  machte  Israel 
in  diesem  einzigartigen  Maße  zu  einem  Volk  der  »Erwartung« 
und  des  »Harrens«  (Gen.  49,  18). 

Die  Vorstellung  endlich,  daß  die  erwartete  Zukunftskata- 
strophe Heil  und  Unheil  und  zwar  zuerst  Heil,  dann  Unheil, 
bringen  werde,  findet  sich  wenigstens  in  einigen  Ansätzen  im 
ägyptischen  Glauben  bezeugt.  Man  pflegt  sie,  ohne  (bisher) 
genügenden   Beweis  ^),    als    ein    festes    Schema    der   Zukunfts- 

^)  Die  ägyptischen  Unheils-  und  Heilsprophetien  linden  sich  erörtert 
von  J.  Krall  in  der  Festgabe  für  Büdinger  (ein  sprechendes  Lamm  prophezeit 
vor  einem  gewissen  Psenchor  unter  König  Bokchoris  zuerst  ein  vom  Nordosten 
über  Aegypten  hereinbrechendes  Unheil,  dann  eine  Glückszeit  und  stirbt  dann), 
von  Wessely  (Neue  griechische  Zauberpapyri  in  den  Denkschr.  d.  Kön.  Ak. 
d.  Wiss.  Phil.-hist.  Kl.  42)  und  ergänzend  und  abschließend  von  Wilcken  (Hermes 
40:  die  sog.  »Prophezeiung  des  Töpfers«,  Unheil  von  Osten  und  die  Zerstörung  von 
—  anscheinend  —  Alexandria,  vielleicht  nach  einem  älteren  Muster).  Ed.  Meyer 
(Sitz.-Ber.  der  Ak.  d.  Wiss.  31,  1905)  nahm  u.  a.  auf  Grund  eines  von  Lange 
kommentierten  Papyrus,  an,  daß  die  Prophezeiung  eines  Heilskönigs  auch  für 
Aegypten  nachgewiesen  sei.  Indessen  die  neue  Lesung  von  Gardiner  zeigt, 
daß  in  diesem  Fall  ebenso  wie  beim  Pap.  Golenischefi,  der  ähnlich  gedeutet  wurde, 
dies  nicht  zutrifft,  sondern  im  einen  Falle  ein  Gott,  im  anderen  ein  lebender  König 
gemeint  ist.  Die  von  Herodot  erwähnte  Prophezeiimg  an  Mykerinos  und  die  \on 
Manetho  erwähnte  Amenophis-Prophezeiung  (E.  Meyer  a.  a.  O.,  S.  651)  sind  nicht 
hinlänglich  authentisch  überliefert.  Alles  beweist  nur:  daß  Unheils-  und  Heils- 
Prophetie  auch  in  Aegypten  existierten,  ergibt  aber  bisher  nichts  genügend  be- 
stimmtes für  die  behauptete  Uebemahme  eines  in  Aegypten  bestehenden  festen 
»Schemas«  durch  die  israelitische  Prophetie.     S.  Ali  cluiitl  IT. 


2  CO  I^äs  antike  Judentum. 

erwartung  anzusehen,  dessen  Uebernahmc  durch  die  Propheten 
den  charakteristischen  Zug  ihrer  Verkündigung  konstituiert 
habe.  TatsächUch  beherrscht  das  Schema  wenigstens  einen  er- 
heblichen Teil  der  vorexilischen  Prophetie,  ohne  übrigens  rein 
an  sich  deren  spezifische  Eigenart  irgendwie  erschöpfend  zu 
charakterisieren.  Die  Herkunft  aus  kultischen  Eigentümlichkeiten 
der  chthonischen  und  gewisser  siderischer  Götter  läge,  wenn 
dies  »Schema«  tatsächlich  als  solches  existiert  hätte,  nahe:  Nacht 
und  Winter  brechen  erst  vollends  herein,  ehe  die  Gottheiten  der 
Sonne  und  der  Vegetation  ihre  Kraft  wieder  entfalten  können.  In- 
wieweit dabei  die  weithin  über  die  Welt  und  so  auch  in  der  Nach- 
barschaft verbreiteten  Vorstellungen  von  dem  Leiden  eines 
Gottes  oder  Heros,  ehe  er  zur  Gewalt  gelangt,  herstammend  aus 
den  Kultmythen  der  siderischen  und  Vegetationsgötter,  auch  in 
die  volkstümliche  israelitische  Vorstellung  übergegangen  waren, 
muß  dahingestellt  bleiben.  Daß  Israel  namentlich  jene  Kind- 
heitsmythen, wie  sie  sich  daran  anzuknüpfen  pflegten,  kannte, 
zeigt  die  Geschichte  von  der  Jugend  des  Mose.  Die  vorexilische 
Prophetie  .hat  mit  diesen  volkstümlichen  Konzeptionen,  sie  in 
ihrer  Art  abwandelnd,  gearbeitet.  Die  Priesterschaft  und  die 
theologischen  Intellektuellen  überhaupt  haben,  soviel  ersichtlich; 
sie  gemieden  und  statt  dessen  die  nüchterneren  Verheißungen 
materiellen  Wohlstandes,  starker  und  geehrter  Nachkommen- 
schaft und  eines  großen,  als  Segenswort  gebrauchten  Namens 
verwertet.  Vermutlich  mieden  sie  die  volkstümliche  Eschatolo- 
gie  wegen  ihres  Zusammenhangs  mit  fremden  astralen,  chthoni- 
schen oder  Toten-Kulten.  Wo  eine  Verheißung  einer  Zukunfts- 
persönlichkeit auftritt,  ist  es  bei  ihr  nicht  ein  König,  sondern 
ein  Prophet  wie  Mose  (Deut.  i8,  15.  19).  Die  Hoffnung,  daß 
Jahwe  selbst  in  der  Zukunft  die  Herrschaft  wieder  in  die  Hand 
nehmen  werde,  wie  er  sie  —  nach  der  zuerst  in  der  prophetischen 
Zeit  auftauchenden  Vorstellung  der  Samuel-Legende  — ■  einst 
vor  der  Errichtung  des  Königtums  gehabt  habe,  gehört  wohl  im 
wesentlichen  erst  der  Exilszeit  ai>,  wo  (bei  Deuterojesaja)  der 
Heilands-Titel  auf  Jahwe  angewendet  wird. 

Wir  werden  die  Art,  wie  die  Prophetie  diese  Zukunftser- 
wartungen verwertet  hat,  gesondert  zu  besprechen  haben.  Vor- 
her aber  werden  wir  zweckmäßigerweise  die  Leistung  ihrer 
Konkurrentin  in  der  Prägung  des  Judentums  erörtern:  der  vor- 
exilischen   Thoralehre.      Denn    nicht   die  Prophetie  schuf 


I,    Die   israelitische  Eidgenossenschafl  und  Jahwe.  2s  I 

den  materiellen  Inhalt  der  jüdischen  Ethik,  so  wichtig 
ihre  Konzeptionen  für  deren  Geltung  wurden.  Sie  setzte  viel- 
mehr gerade  den  Inhalt  der  Gebote  als  bekannt  voraus 
und  man  würde  aus  den  Propheten  allein  niemals  auch  nur  an- 
nähernd vollständig  die  ethischen  Anforderungen  Jahwes  an  den 
Einzelnen  entnehmen  können.  Diese  Anforderungen  waren  eben 
von  einer  ganz  anderen  Seite  her  geprägt :  durch  die  1  e  v  i  t  i- 
sche  Thora.  Resultat  ihrer  Arbeit  waren  auch  diejenigen 
Gebilde,  welche  wir  heute  als  besonders  bedeutsame  Schöpfungen 
der  israelitischen  Ethik  anzusehen  pflegen:  die  »Dekaloge« 
(eigentlich:  der  eine,  »ethische«,  Dekalog  i)  Ex.  20,  2  f.;  Deut. 
5.  6  f.  und  die  beiden  Dodekaloge  Ex.  34, 14  f.  und  Deut.  27, 18  f.). 
Man  hat  immer  wieder  versucht,  für  diese  Sammlungen  ein  be- 
sonders hohes  Alter,  womöglich  mosaischen  Ursprung,  wahr- 
scheinlich zu  machen.  Vor  allem  mit  dem  Argument:  daß  das 
»Einfache«  an  der  Spitze  der  »Entwicklung«  gestanden  haben 
müsse.  Das  ist  schon  an  sich  auf  diesem  Gebiet  nicht  immer 
richtig.  Unser  »ethischer«  Dekalog  insbesondere  (Ex.  20,  2—17; 
Deut.  5,  6—18)  erweist  die  (relative)  Jugend  seiner  Geltung 
als  gemeinverbindliche  Norm  schon  durch  das  Schnitzbilder- 
verbot ^  welches  dem  gemeinisraelitischen  Brauch  der  älteren 
Zeit  nicht  entspricht.  Ferner  auch  dadurch,  daß  er  vom  »Haus« 
des  Nächsten  und  vom  Gerichtszeugnis  spricht,  also  feste  Häuser 
und  Prozeßverfahren  mit  Zeugenverhör  voraussetzt.  Weiter  durch 
die  sonst  in  vorexilischer  Zeit  nirgends  so  stark  hervortretende 
Scheu  vor  dem  Mißbrauch  des  Jahwenamens.  Endlich  durch  die 
abstrakte  Fassung  des  10.  Gebots:  »laß  dich  nicht  gelüsten«, 
selbst  wenn  der  gesinnungsethische  Sinn  des  Worts  erst  später 
an  die  Stelle  des  ursprünglichen  massiveren  (»betrügerisch  mani- 
pulieren«) getreten  sein  sollte.  Nebenbei  steht  auch  das  all- 
gemeine Verbot  des  »Tötens«  mit  dem  Blutracherecht  in  Wider- 
spruch, Andererseits  enthält  der  etliische  Dekalog  keineswegs 
alle  gerade  dem  alten  Israel  fundamental  charakteristischen 
Vorschriften:  jede  Erwähnung  der  Beschneidung  fehlt  und  von 
den  rituellen  Speisegeboten  ist  keine  Rede.  Abgesehen  von  der 
starken  Betonung  des  Sabbat  könnte  der  ethische  Dekalog 
daher  geradezu  den  Eindruck  einer  von  Intellektuellen  geschaffe- 
nen Formel  einer  interkonfessionellen  Ethik  machen :  und  er  hat 
ja  auch  dem  Christentum  stets  erneut  als  ethisches  Orientierungs- 

1)   Ueber  den  Dekalog  s.  Matthes  Z.  f.  A.  T.  Wiss.  24,  S.   17. 


2C2  ^^s  antike  Judentum. 

mittel  gedient.  Das  ist  weder  bei  den  früher  erwähnten  Ver- 
fiuchungsformeln  der  Sichemer  Zeremonie  (Deut.  27. 14 — 26),  die 
man  als  »sexuellen  Dekalog«  zu  bezeichnen  pflegt,  noch  bei  dem 
einzigen  in  jahwistischer  Fassung  erhaltenen  Gebotenverzeichnis, 
den  im  Text  als  »Wort  des  Bundes«  (debarhaberith)  bezeichneten 
Vorschriften  Ex.  34,  14 — 26  (dem  sog.  »kultischen  Dekalog«) 
der  Fall.  In  dem  erste ren  werden  bei  den  sozialen  Schutzvor- 
schriften die  für  Israel  charakteristschen  gerim  neben  den  Wit- 
wen und  Waisen  genannt.  In  dem  letzteren  aber  wird  neben  der 
Vorschrift  der  Monolatrie  (Verbot  des  Anbetens  eines  anderen 
»El«)  und  der  Gußbilder  das  Verbot  der  Teilnahme  an  den  kanaa- 
näischen  Opfern  und  jeder  »berith«  mit  Kanaanäern  überhaupt 
sehr  nachdrücklich  eingeschärft,  woran  sich  dann  Vorschriften 
über  die  Sabbatruhe  und  die  Feste,  die  jährlich  dreimaligen  Wall- 
fahrten zur  Kultstätte,  die  Erstlingsabgaben  an  Jahwe,  —  alle 
in  ziemlich  allgemeinen  Ausdrücken  gehalten,  —  und  schließlich 
drei  sehr  spezialisierte  und  unzweifelhaft  sehr  alte  rituelle 
Speisebestimmungen,  darunter  eine  über  das  Passah,  schließen. 
Da  in  diesem  »kultischen«  Dekalog  x\ckerbaufeste  und  Passah 
beide  vorkommen,  Fälle  von  berith  mit  Kanaanäern  mindestens 
bis  Salomo  existierten,  andererseits  das  (übrigens  in  -diesem 
Dekalog  nicht  unbedingt  verbotene  ^)  connubium  mit  ihnen, 
wie  die  Legende  von  der  Brautwerbung  für  Isaak  wahrschein- 
lich macht,  bei  den  jahwistischen  Viehzüchtern  am  frühesten 
Bedenken  erregt  hat,  so  kann  diese  Komposition  in  ihrer  jetzigen 
Form  nicht  übermäßig  alt  sein.  Für  den  sog.  »sexuellen  Dekalog« 
gilt  insofern  das  gleiche,  als  er  voraussetzt,  daß  die  Aufstellung 
von  Schnitz-  oder  Gußbildern,  die  Jahwe  ein  Greuel  sind,  nur 
noch  »insgeheim«  erfolge,  —  was  bis  in  die  späte  Königszeit 
selbst  in  Juda  nicht  der  Fall  war.  Die  zweifellose  (relative) 
Jugend  des  jetzigen  Inhalts  würde  nun  das  Alter  von  dekalog- 
artigen  Gebotsammlungen  in  Israel  nicht  ausschließen.  Aber 
schon  die  Unterschiede  der  jetzigen  Dekaloge,  denen  allen 
gerade  die  zweifellos  jüngsten  Bestimmungen  (Bildverbot)  gemein- 
sam sind,  machen  die  ursprüngliche  Form  problematisch  und 
dazu  tritt   die  Erwägung:    daß  jedenfalls   solche   Katechismus- 

^)  Es  wird  nur  als  für  die  Treue  gegen  Jahwe  gefährlich  hingestellt. 
Allerdings  scheint  die  Fassung  zu  zeigen,  daß  gleichgeordnetes  connu- 
bium nur  bestand,  wo  ein  berith  geschaffen  war,  was  anderen,  z.  B.  römischen, 
Verhältnissen  entspräche  und  auch  mit  den  Voraussetzungen  der  Dina-Ge- 
schichte  stimmen  würde. 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  253 

artigen  paränetischen  Gebilde,  wie  der  Dekalog  Ex.  20  eines  ist, 
nach  den  indischen  Analogien  zu  schließen,  nie  am  Anfang  einer 
Entwicklung  zu  stehen  pflegen,  sondern  relativ  späte  Produkte 
lehrhafter  Absichten  sind.  Wir  finden  denn  auch  in  der  vorexi- 
lischen  Literatur,  vor  allem  der  prophetischen,  keine  sichere 
Spur  davon,  daß  den  Dekalogen  irgendw^elche  spezifische  Würde 
und  Bedeutung  zugeschrieben  wäre,  ja  daß  sie  überhaupt  als 
allgemein    bekannt    vorausgesetzt  ^)     worden    wären.      Möglich 


')  Vergleicht  man  die  Ethik  speziell  des  ethischen  Dekalogs  mit  der  Ethik 
der  vorexilischen  Propheten,  so  fällt  auf,  daß  diese  niemals  eine  Anspielung  auf 
die  besondere  Dignität  dieser  Zusammenstellung  machen,  wie  es  zu  erwarten 
wäre,  wenn  sie  schon  damals  gegenüber  anderen  Normen  durch  das  Prestige  des 
Ursprungs  von  Mose  selbst  ausgezeichnet  gewesen  wäre.  Zunächst  fällt  es  den 
Propheten  der  vorexilischen  Zeit  in  keiner  Weise  ein,  ihrerseits  mit  dem  Namen 
Jahwes  sparsam  umzugehen.  Indessen  dies  konnte  als  ihr  Vorrecht  in  ihrer  Ei- 
genschaft als  Propheten  angesehen  werden.  Allein  auch  sonst  finden  wir,  daß 
die  Tugend-  und  Sünden-Aufzählungen  der  Propheten  mit  den  dekalogischen 
im  Ganzen  nicht  viel  gemein  haben.  Sehen  wir  von  den  Vorschriften  der  spezifi- 
schen sozialpolitischen  Paränese  ab,  die  bei  den  Propheten  besonders  stark  in  den 
Vordergrund  treten,  wie  wir  später  sehen  werden,  und  die  im  Dekalog  gar  keine 
Stelle  finden,  so  ist  der  Kampf  gegen  die  »anderen  Götter«  und  gegen  die  Bilder 
freilich  die  eigentlichste  Domäne  der  Prophetie.  Anklänge  an  die  Formulierun- 
gen des  dekalogischen  »i.  Gebotes«  finden  sich  am  ehesten  bei  Hosea  (12,  10; 
13,  4).  Aber  im  übrigen  werden  bei  Arnos  Geiz  (9,  i)  als  Kardinallaster,  daneben 
Kornfeilschen  (8,  5,  am  Sabbat)  falsche  Wage  (8,  5)  und  Betrug  gegen  Arme 
(8,  6),  femer  Unzucht  (2,  7:  Schlafen  von  Vater  und  Sohn  bei  der  gleichen  Dirne) 
gegeißelt.  Die  erstgenannten  Laster  gehören  offensichtlich  mit  der  prophetischen 
Sozialethik  zusammen,  das  letzte  mit  dem  Gegensatz  gegen  das  Hierodulenwesen. 
Zur  Ethik  des  Dekalogs  hat  kein  von  diesen  Propheten  besonders  hervorgeho- 
benes Laster  eine  charakteristische  Beziehung.  Bei  Hosea  werden  (4,  2)  Gottes- 
lästerung, Lügen,  Morden,  Stehlen,  Ehebrechen  als  verbreitete  Sünden  aufge- 
zählt. Das  sind  Dekalogsünden.  Es  fehlt  außer  dem  Sabbat  und  der  Eltempietät 
das  10.  Gebot,  und  das  »Lügen«  ist  im  Dekalog  bekanntlich  nur  vor  Gericht 
verboten.  Immerhin  aber  ist  dies  bis  auf  Jeremia  die  stärkste  Annäherung 
eines  prophetischen  an  den  dekalogischen  Sünden  1< atalog.  Solhe  Hosea  den 
Dekalog -^  was  unsicher  bleibt  —  tatsächlich  gekannt  haben,  so  w.ire  das  viel- 
leicht ein  Hinweis  auf  dessen  Ursprung  im  nordisraelitischen  Gebiet:  Hosea 
nennt  das  Wissen  von  jenen  göttlichen  Geboten:  Kenntnis  (dagath)  von  »Elo- 
him*.  Immerhin  bleibt  alles  ganz  unsicher.  Bei  Micha  (6,  10 — 12)  werden  falsches 
Gewicht  und  Maß  und  unrechtes  Gut  erwihnt,  was  alles  zum  Dekalog  nicht  in 
charakteristischer  Beziehung  steht.  In  den  echten  Jesajaorakeln  und  bei  Ze- 
phanja  ist  keine  zum  Dekalog  in  Beziehung  zu  setzende  Reihe  von  Sünden  auf- 
geführt. Von  eigentlich  privaten  Lastern  erwähnt  Jesaja  das  im  Dekalog  ganz 
fehlende  Saufen  {5,  11),  alle  anderen  Stellen  sprechen  wesentlich  Klagen  aus, 
die  sich  gegen  das  ungerechte  Treiben  der  Vornehmen  richten.  Eine  Anspielung 
auf  das  zehnte  Gebot  könnte  vielleicht  bei  Micha  (2,  2)  gefunden  werden,  doch 
ist  das  Aneinanderreihen  von  Aecker;i  durch  Wucher  eine  allgemeine  sozial- 
ethische Klage  der  Propheten  gegen  die  Reichen.  Erst  bei  Jeremia  findet  sich 
wieder  die  Mehrzahl  der  Dekalogsünden:  Raub  und  Diebstahl,  Mord,  Meineid 
(7,  9),  Ehebruch  (5,  8),  Betrug  gegen  den  Freund  (9,  4),  Sabbatverletzung  (17, 


254 


Das  antike  Judentum. 


scheint,  daß  der  »ethische«  Dekalog  in  der  Zeit  Hoseas  in  Nord- 
israel schon  bekannt  war.  Sicher  ist  auch  das  in  keiner  Weise. 
Allein  in  jedem  Fall  ist  die  angebliche  Sonderstellung  der  drei 
Dekaloge,  von  der  alle  jene  Ansichten  ausgehen,  ganz  unbegründet. 
Ganz  offensichtlich  gilt  das  für  den  »kultischen«  und  den  »sexuel- 
len« Dekalog.  Die  Zusammenstellung  der  Sexualgebote  Lev.  i8, 
die  Sammlung  kultischer,  ethischer,  ritueller  und  karitativer  Sat- 
zungen Lev.  19 :  die  umfassendste,  auch  die  Gebote  unseres  »ethi- 
schen Dekalogs«  einschließende  Sammlung  von  allen,  endlich 
auch  die  Sammlung  Lev.  20,  rituelle  und  sexualethische  Vor- 
schriften enthaltend,  sind,  wie  der  Augenschein  lehrt,  schlechthin 
gleichartig  mit  dem  »kultischen«  und  »sexuellen«  Dekaloge, 
und  mindestens  Lev.  19  geht  auf  eine  Sammlung  zurück,  die 
ihrem  ursprünglichen,  wenn  auch  überarbeiteten  Bestand  nach 
keineswegs  jünger  sein  muß,  als  irgendeiner  der  Dekaloge.  Die 
Frage  des  Alters  hängt  aber  mit  der  anderen  zusammen :  wel- 
chen Ursprung  denn  diese  Sammlungen  vermutlich  ge- 
habt haben? 

Hervorragende  Forscher  haben  geglaubt,  sie  als  alte  Bestand- 
teile kultischer  »Liturgien«  auffassen  zu  sollen.  Die  Analogien 
sprechen  aber  entschieden  gegen  diesen  Ursprung.  Uns  sind  aus 
Aegypten  und  Babylonien  Sündenkataloge  erhalten,  welche 
schon  öfter  mit  den  israelitischen  Sammlungen  in  Parallele 
gestellt  worden  sind.  Woher  stammen  nun  diese  ?  Nicht  aus 
dem  Kultus,  sondern  aus  der  »S  e  e  1  s  o  r  g  e«    der  Magier  und 


22),  also  hier  zuerst  der  Sache  nach  alle  dekalogischen  Sünden  außer  dem  Miß- 
brauch des  göttlichen  Namens  und  dem  10.  Gebot.  Aber  irgend  eine  Bezugnahme 
auf  die  besondere  Heiligkeit  gerade  des  Dekalogs  oder  auf  seine  so  charakteri- 
stischen Formulierungen  oder  auch  nur  auf  die  Existenz  einer  solchen  Samm- 
lung läßt  sich  weder  bei  ihm  noch  bei  anderen  Propheten  erkennen.  Es  sei  denn, 
daß  man  wiederum  bei  Micha  (6,  8)  eine  sehr  allgemein  gehaltene  Betonung  der 
Bedeutung  des  Haltens  der  Mischpatim  darauf  beziehen  wollte;  was  aber  schon 
formell  unzulässig  erscheint,  da  die  Dekaloge  debarim,  nicht  mischpatim  sind. 
Dagegen  findet  sich  namentlich  bei  Jeremia  eine  gegenüber  dem  Dekalog  viel 
weiter  gehende  gesinnungsethische  Sublimierung  und  Systematisierung  der 
jittlichen  Gesamthaltung,  von  der  später  zu  reden  sein  wird.  Und  schon  bei 
Micha  treten  gesinnungsethische  Ansprüche  auf,  wie,  neben  der  »Demut«  vor 
Gott,  die  Uebung  von  »Liebe«  (6,  8),  welche  der  Dekalog  gar  nicht  kennt.  Alles 
in  allem:  die  Prophetie  weiß  nichts  von  einem  »mosaischen«  Dekalog,  vielleicht 
überhaupt  von  keinem  solchen.  Das  alles  scheint  die  hier  vertretene  Annahme 
von  der  relativen  Jugend  und  dem  rein  pädagogischen  Zweck  des  ethischen  De- 
kalogs zu  bestätigen.  Andrerseits  geht  die  Herabrückung  in  nachexilische  Zeit 
nicht  nur  (wie  selbstverständlich)  für  den  sexuellen  und  kultischen  Dekalog 
zu  weit,  sondern  auch  für  den  ethischen. 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  255 

Priester.  Der  von  Krankheit  oder  Unglück  Verfolgte,  der  beim 
Priester  Rat  sucht,  wie  er  den  Zorn  des  Gottes  beschwichtigen 
solle,  wird  von  diesem  nach  Sünden  abgefragt,  die  er  etwa  be- 
gangen haben  könnte.  Dafür  haben  die  Priester  zweifellos  früh 
feste  Schemata  entwickelt.  Für  Babylon  ist  ein  erhaltener  Sün- 
denkatalog ganz  unmittelbar  ein  solches  Schema  und  das  gleiche 
ist  zweifellos  der  Ursprung  des  Sündenkatalogs  des  ägyptischen 
Totenbuchs,  welcher  die  Sünden  angibt,  nach  welchen  die  42 
Totenrichter  im  Hades  den  Toten  befragen  werden. 

Wir  sahen,  daß  die  Thora  der  Leviten  genau  in  dieser  Rich- 
tung lag.  Sündenbeichte  und  gegebenenfalls  Erstattung  unrechten 
Guts  an  den  Geschädigten  mit  20%  Zuschlag  schreibt  die  Prie- 
stergesetzgebung ausdrücklich  vor  (Num.  12,  6) ,  sicherlich 
auf  Grund  alten  Brauchs.  Die  überlieferten  Vorschriften  über 
die  levitischen  Schuld-  und  Sühnopfer  zeigen  auch  die  Gelegen- 
heit, bei  welcher  gerade  diese  »Beichte«  des  Opfernden  vorgenom- 
men wurde:  ein  privates  Opfer,  nicht:  ein  Kultakt.  Mit 
steigender  Bedrängnis  von  außen  und  dadurch  steigendem  Druck 
des  allgemeinen  Sündengefühls  steigerte  sich  die  Bedeutung 
gerade  dieser  Tätigkeit  der  Leviten.  Die  Erklärung,  welche  nach 
dem  Deuteronomium  (26,  13  f.)  in  jedem  dritten  Jahre  der  Is- 
raelit bei  Opferung  des  Zehnten  an  Leviten,  gerim,  Witwen  und 
Waisen  abzugeben  hat:  daß  er  diese  Ablieferung  richtig  besorgt, 
keines  der  Gebote  Jahwes  übertreten  und  insbesondere  nichts  von 
dem  Abgelieferten  in  Unreinheit  oder  Totentrauer  gegessen 
oder  einem  Toten  geopfert  habe,  hat  genau  die  Form  der  ägypti- 
schen Sündenreinheitserklärung.  Man  braucht  aber  einen  zum 
Abfragen  bestimmten  Sündenkatalog  nur  in  positive  Vorschriften 
umzukehren  und  man  hat  eine  Liste  göttlicher  Gebote,  wie  sie 
insbesondere  auch  die  Dekaloge  darstellen.  Daher  stammen  sie 
und  alle  ähnlichen  Sammlungen.  Nicht  aus  dem  gemeinsamen 
Kult,  an  dem  ja  die  von  Unglück  Geschlagenen,  als  von  Gottes 
Zorn  verfolgt,  gar  nicht  teilnehmen  durften, 
sondern  vielmehr  aus  der  Beichtpraxis  der  Leviten  gegenüber 
den  »Mühseligen  und  Beladenen«.  Mit  ihnen  als  »Kunden« 
hatte  sich  der  Levit  in  der  Praxis  fortwährend  zu  befassen :  d  a- 
h  e  r  die  Vorliebe  der  Thora  für  diese  gedrückten  Schichten 
und  der  Zorn  gegen  die  »Hochmütigen«,  die  sich  nicht  geneigt 
zeigen,  sich  vor  Gott,  d.h.  vor  dem  Leviten,  zu  »demütigen« 
(und:  ihn  für  die  Versöhnung  mit  Jahwe  zu  entgelten). 


2Cß  Das  antike  Judentum. 

Indirekt  war  freilich  auch  die  Gemeinschaft  an  der  Sünden- 
beichte interessiert.  Deshalb :  weil  sie  solidarisch  haftete.  Das 
»Erscheinen  vor  Jahwe«,  welches  der  kultische  Dekalog  für  alle 
Israeliten  anordnet,  hatte  vielleicht  den  Zweck,  eine  präven- 
tive Abfragung  der  Erscheinenden  nach  Sünden  zu  ermöglichen, 
damit  sie  und  die  Gemeinschaft  vor  dem  Zorn  Jahwes  bewahrt 
blieben.  Jedenfalls  aber  sollte  es  die  priesterliche  Machtstellung 
sichern.  Die  sichemitische  Zeremonie  verfluchte  namens  der 
Gemeinschaft  diejenigen,  welche  eine  (durch  den  Leviten  unge- 
sühnte !)  Sünde  auf  sich  hatten,  auf  daß  nicht  die  Gemeinschaft 
unter  Jahwes  Zorn  leide:  diesen  Zweck  und  die  Sündenverflu- 
chung selbst  haben  vermutlich  erst  die  levitischen  Thoralehrer 
in  den  ursprünglich  wohl  für  die  einfache  Dämonenverfluchung 
bestimmten  Ritus  nachträglich  hineingebracht.  Dem  gleichen 
Zweck :  Reinhaltung  der  Gemeinschaft  von  Sünden,  um  den  Zorn 
des  Gottes  von  ihr  fernzuhalten,  diente  ja  nach  der  Auffassung 
der  levitischen  Priester  auch  die  von  ihnen  als  Pflicht  und  Recht 
in  Anspruch  genommene  Aufgabe  der  Belehrung  des  Volks  über 
die  Thora  überhaupt.  Die  deuteronomische  Vorschrift,  die  Thora 
alle  sieben  Jahre  öffentlich  verlesen  zu  lassen,  ist  ebenso  jung  wie 
die  Konstruktion  des  »Erlaßjahrs«,  mit  dem  sie  (Deut.  31,  11.  12) 
verbunden  ist;  schon  daß  auch  die  gerim  sie  hören  sollen,  zeigt  das. 
Das  Interesse  der  Gemeinde  an  der  Sündenbeichte  und 
Sündenkatalogisierung  stieg  eben  mit  den  steigenden  Zeichen 
göttlichen  Zorns, 

Die  Abweichungen  der  Sammlungen  und  auch  das  seltsame 
Nebeneinanderstehen  der  im  Wesen  dem  gleichen  Zweck  dienenden 
»Schuldopfer«  und  »Sühnopfer«  (Chattat  und  Ascham)  in  der 
jetzigen  Redaktion  erklären  sich  daraus,  daß  eben  keine  einheit- 
liche Organisation,  sondern  zahlreiche  bekannte  Amtssitze  von 
Leviten  und  bis  zum  Siege  Jerusalems  auch  zahlreiche  leviti- 
sche  Opferstätten  nebeneinander  standen.  (Ein  solcher  alter 
Sitz  levitischer  Weisheit,  an  den  man  sich  mit  Fragen  wandte, 
wird  2.  Sam.  20,  28  erwähnt.) 

Jedenfalls  aber :  Die  drei  sogenannten  Dekaloge  dürfen  nicht 
anders  angesehen  werden  als  die  andern  ähnlichen  Sammlungen. 
Daß  man  ihnen  auch  in  der  wissenschaftlichen  Betrachtung 
bei  uns  jene  Sonderstellung  einräumte,  hatte  außer  in  der  späten 
Legende  von  der  »Bundeslade«  als  dem  Aufbewahrungsort  von 
zwei  die  Gebote  enthaltenden  Steintafeln,  offenbar  auch  in  der 


I.     Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  2^7 

Hoffnung    seinen    Grund :    auf    diese    Art     etwas    greifen    zu 
können,     was   an     inhaltlichen     Geboten     auf    Mose 
zurückgeführt  werden  könnte.   Aber  diese  Hoffnung  ist  doch  wohl 
ganz  vergeblich.    Die  Rezeption  Jahwes  als  Bundesgott  und  des 
levitischen   Orakels    sind   die   beiden    Leistungen,   welche   mit 
gutem  Grund  auf  Mose  zurückgeführt   werden   dürfen.    Das  ist 
nicht  wenig:  aus  der  Eigenart  des  Bundesgotts  und  der  Leviten 
folgte  —  unter  Mitwirkung  bestimmter  historischer  Verkettun- 
gen —  später. alles  andere.  Aber  die  durch  jene  Hoffnung  bedingte 
Sonderstellung  der  Dekaloge  ist  aufzugeben.    Wenn  die  mosai- 
sche berith  über  die  aus  der  Rezeption  ohne  weiteres  folgenden 
rein    rituellen   Verpflichtungen   hinaus   inhaltliche   Gebote 
enthalten  haben  sollte,  dann  sicher  nur  solche,  welche  der  Erhaltung 
des  Friedens  innerhalb  des  Heerbanns  dienten,   über  die  Rache 
vergossenen  Blutes  und  vielleicht  »sozialpolitische«  Schutz- 
bestimmungen  für   verarmende   wehrhafte    Sippen.     Was   aber 
die  inhaltliche  Ethik  anlangt,  so  zeigen  die  Quellen,  daß  im  alten 
Israel  zunächst,  wie  überall,  die   Sitte  der  letzte  Maßstab  des 
»Sittlichen«  war.     Nie   findet   eine   Bezugnahme   auf   »Gebote« 
statt.  Nebalah,  »Ruchlosigkeit«,  war  das,  was  in  Israel  »unerhört« 
war.  Erst  die  levitische  Thora  begann  für  die  Zwecke  der  Sünden- 
beichte    Einzelgebote    zu    formulieren    und    zu    katalogisieren. 
Der  »ethische«  Dekalog  (Ex,  20)  nimmt  unter  ihnen  allerdings 
eine  von  andern  ähnlichen  Sammlungen  kaum  irgendwo  erreichte 
Sonderstellung  ein.   Aber  nicht  weil  er  »mosaisch«  wäre.   Das  ist 
er  am  allerwenigsten.    Sondern  weil  er  wahrscheinlich  den  Ver- 
such  darstellt,   eine   summarische     Jugendlehre    für   die 
Heranwachsenden   —  deren  Unterricht  über  Gottes  Willen  ja 
(Ex.  13,  8.  14  und  öfter)  vorgeschrieben  war  —  zu  bieten,  ebenso 
wie  die  indischen  Dekaloge  dem  Laien-  (und  außerdem  dem  No- 
vizen-) Unterricht  dienten.    Der  Wucht,  Plastik  und  Präzision 
seiner  Formulierung,  nicht  der  Sublimierung  oder  Höhe  seiner 
ethischen   Ansprüche    (die   tatsächlich   recht    bescheiden    sind) 
verdankt  er  seine  Stellung.    Seine  wichtigsten  Eigenarten  aber, 
vor  allem  seine  Aussonderung  aus  der  Verbindung  mit  rituellen 
Vorschriften  einerseits,  sozialpolitischen  andererseits,  verdankt 
er  zweifellos  der  Adresse,  an  die  er  sich  wendete :  es  sind  weder 
die  politischen  Gewalten,  noch  sind  es  die  Angehörigen  einer 
Bildungsschicht,  die  er  belehren  will,  sondern  der  Nachwuchs 
des  breiten  bürgerlichen  und  bäuerlichen  Mittelstandes,  des  »Vol- 

M  a  X  Weber,  Religionssoziulogie  Hl,  17 


2C8  -D^s  antike  Judentum. 

kes«.  Deshalb  enthält  er  nur  das,  was  alle  Altersklassen  im  All- 
tagsleben beobachten  sollen,  nicht  mehr.  Die  »zehn  Gebote« 
dienen  ja  auch  bei  uns  wesentlich  dem  Zweck  der  elementaren 
Jugend-  und  vor  allem :  Volks-  Belehrung.  Weit  entfernt 
also,  daß  der  Gemeinschaftskult,  womöglich  der  Tempelkult,  die 
Quelle  der  zahlreichen  »debarim«und  Thorasammlungen,  darunter 
auch  der  Dekaloge,  gewesen  wäre,  entsprangen  sie  der  levitischen 
Seelsorge  und  dem  Lehrbetrieb,  für  welchen  wir  alsbald 
im  Exil  in  Babylon  das  »Lehrhaus«  antreffen,  also:  dem  histori- 
schen Vorläufer  der  späteren  Synagoge,  der  mit  »Kult « 
ursprünglich  gar  nichts  zu  schaffen  hatte. 

Wie  die  Brahmanen  ursprünglich  aus  der  rituellen  und 
magischen  Seelsorge  für  die  einzelnen,  so  sind  die  levitischen 
Thoralehrer  nicht  aus  Funktionen  im  Gemeinschaftskult,  sondern 
gerade  aus  der  rituellen  und  ethischen  Seelsorge  vor  allem  für 
die  einzelnen  (einschließlich  des  Fürsten)  zu  ihrer  Machtstellung 
und  kulturhistorischen  Bedeutung  aufgestiegen  und  ihre  Be- 
teiligung im  Kult  war  vielleicht  überhaupt  erst  sekundär,  jeden- 
falls aber  nicht  die  Hauptsache.  Gerade  das  Fehlen  einer  Kult- 
Zentralisation  und  eines  amtlichen  Organs  für  einen  Bundeskult 
im  alten  Jahwebunde  gab  sowohl  den  alten  Propheten  und 
Sehern,  wie  den  Leviten  ihr  starkes  Gewicht.  Mit  diesem  Gewicht 
hatten  die  eigentlichen  Kultpriester  auch  in  der  Königszeit  schon 
deshalb  zu  rechnen,  weil  breite  Kreise  der  im  Besitz  der  Rechts- 
überlieferung befindlichen  Laien  den  Leviten  starken  Rückhalt 
gewährten.  Und  zwar  sind  es  anscheinend  gerade  manche  vor- 
nehmen Sippen  gewesen,  deren  Angehörige  im  königlichen  Dienst 
standen  und  dadurch  im  Gegensatz  zu  den  Sippen  der  alten 
Sekenim  zu  einer  rationalen  Betrachtung  des  Rechts  nach  Art 
der  levitischen  Paränese  neigten,  die  innere  Opposition  gegen  die 
sultanistischen  Anwandlungen  der  Könige  aber  mit  den  levistisch- 
jahwisüschen  Kreisen  einerseits,  den  Sekenim  andererseit  teilten. 
Die  Prophetin  Hulda  war  Frau  eines  solchen  Beamten.  Die  gleiche 
Provenienz  tritt  in  einer  deuteronomischen  Sammlung  ziemlich 
deutlich  hervor,  für  welche  »Schofetim«,  offenbar:  Laienrichter 
anderer  Art  als  die  Sekenim,  mit  den  Leviten  gemeinsam  Träger 
der  Rechtsprechung  sind,  während  die  alte  Tradition  durchweg 
die  Sekenim  als  die  eigentlich  legitimen  Vertreter  des  Volkes  be- 
handelt. 

Ursprünglich  als  Losorakelgeber,  dann  als  Seelsorger  und  da- 


1.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  259 

durch  rationale  Thoralehrer,  hatten  die  Leviten  ihre  Machtstellung 
erlangt.  Eine  strenge  Trennung  von  »jus«  und  »fas«  war  mit  ihrer 
zunehmenden  Bedeutung  und  der  steigenden  Berücksichtigung 
ihrer  Anschauungen  durch  die  jahwistisch  interessierten  Laien 
nicht  aufrechtzuerhalten.  Die  alte  nie  vergessene  Bedeutung  der 
»debarim  Jahwe«  für  alle  wichtigen  Entschließungen  kam  ihrem 
Einfluß  auch  auf  die  Rechtsanschauungen  zugute.  Die  Theo- 
logisierung  des  Rechts  einerseits,  die  Rationalisierung  der  reli- 
giösen Ethik  andererseits  Waren  die  Folge  dieser  Zusammen- 
arbeit jahwistisch  frommer  Laien  mit  ethisch  reflektierenden 
Priestern.  Das  wichtigste  Produkt  dieser  Zusammenarbeit,  ent- 
standen unter  dem  beherrschenden  Einfluß  der  Jerusalemiter 
Priesterschaft  nach  dem  Zusammenbruch  des  Nordreichs,  war 
nun:  das  D  e  u  t  e  r  o  n  om  ium.  Es  ist  uns  schon  begegnet 
I.  als  Redaktion  der  Mischpatim,  2.  als  Kompendium  der  jahwisti- 
schen  gegen  den  salomonischen  Fronstaat  und  die  »Weltpolitik« 
gerichteten  Forderungen  nach  Beschränkung  der  Königsgewalt, 
.3.  als  Kompendium  der  kultischen  Monopolansprüche  der  Prie- 
ster von  Jerusalem.  Diesen  kultischen  Monopolansprüchen  trat 
nun  4.  der  Monopolanspruch  auf  die  Thora  zur  Seite.  Der  Israelit 
soll  (Deut.  17,  10)  nach  dem  handeln,  was  an  der  von  Jahwe 
bestimmten  Kultstätte  in  Jerusalem  gelehrt  wird.  Kultpriester 
als  solche  pflegen  im  allgemeinen  nicht  Träger  rational  ethischer 
Lehre  zu  sein,  sondern  sind  in  aller  Regel  rein  ritualistisch  orien- 
tiert. So  war  es  auch  in  der  Zeit  des  zweiten  Tempels.  Damals 
war  das  große  »Beth  Din  in  der  Quaderkammer«  des  Tempels 
von  Jerusalem  —  dessen  Stellung  und  Bedeutung  Büchler  in 
glänzenden  Untersuchungen  aufgedeckt  hat  —  die  Zentralin- 
stanz für  die  Entscheidung  aller  rituellen  Fragen  der  Lebens- 
führung und  zugleich  zur  Abgabe  von  Gutachten  über  Fragen  des 
»fas«  auf  Anfrage  der  weltlichen  Gerichte  zuständig.  Daß  eine 
formal  organisierte  und  anerkannte  einheitliche  Instanz  dieser 
Art  in  vorexilischer  Zeit  in  Jerusalem  bestanden  hätte,  ist  nicht 
überliefert.  Aber  die  gebildetste  Großstadt-Priesterschaft  des 
Landes  wahrte  durch  jene  Bestimmung  den  Anspruch,  maßgeb- 
lich den  Willen  Jahwes  für  die  Gerichte,  Thoralehrer  und  Privaten 
interpretieren  zu  können. 

Das  Deuteronomium  wollte  ein  Kompendium  der  levitischen 
Lehre,  das  maßgebliche  »Sefer  hattorah«,  sein.  Später  wird  uns 
seine  Beziehung  zu  der  Verkündigung  der  Propheten  zu  beschäf- 

17* 


260  Das  antike  Judentum. 

tigen  haben.  Hier  geht  uns  jetzt  sein  Gehalt  an  levitischer  Parä- 
nese  und  an  theologischer  Rationalisierung  der  Ethik  an.  Die  nur 
von  orientalistischen  Fachmännern  zu  entscheidende  Frage, 
ob  etwa  das  unter  Josia  angenommene  Kompendium,  wie  Puukko 
im  Gegensatz  zu  Wellhausen  glaubt,  ursprünglich  nur  aus  diesen 
paränetischen  Teilen  und  den  auf  die  Kult-  (und  wohl  auch :  Thora-) 
Konzentration  und  die  damit  zusammenhängenden  Verhält- 
nisse bezüglichen  Bestimmungen  bestand,  die  übrigen  aber, 
also  nicht  nur  die  unmittelbar  prophetischen,  zum  Teil  sicher 
erst  exilischen  oder  nachexilischen,  sondern  auch  die  Mischpatim 
und  das  Königsrecht  erst  später  damit  verschmolzen  worden  sind, 
kann  hier  dahin  gestellt  bleiben.  Denn  auf  jeden  Fall  entstammten 
auch  in  diesem  Fall  sowohl  das  Königsrecht  wie  auch  die  Bear- 
beitung der  Mischpatim  dem  gleichen  oder  einem  nahe  verwandten 
Theologenkreis  und  verfolgten  die  gleiche  Tendenz.  Die  eigentlich 
paränetischen  Partieen  des  Deuteronomium  sind  das  Werk  eines 
Einzelnen,  offenbar  eines  Thoralehrers  aus  dem  Kreise  der  Tem- 
pelpriesterschaft von  Jerusalem.  Aber  die  Art  der  »Auffindung« 
und  die  dabei  genannten  Personen  gestatten  den  Schluß :  daß  das 
Ganze  ein  gut  vorbereiteter  Akt  einer  bereits  um  eine  entsprechende 
Anschauung  gescharten  Partei  war. 

»Höre  Israel,  Jahwe  ist  unser  Gott,  Jahwe  allein«,  —  der 
Anfangssatz  des  heutigen  jüdischen  Morgengebets,  steht  an  der 
Spitze  der  Paränese.  Er  ist  ein  eifersüchtiger  Gott  (Deut.  6,  15), 
aber  er  ist  treu  (7,  9),  er  hat  den  Bund  mit  Israel,  welches  er  er- 
wählt hat  (7,  6),  beschworen  (7, 12)  und  hält  ihn  durch  tausend 
Geschlechter;  er  liebt  sein  Volk  (7,  11)  und  wenn  er  es  Mühsal 
und  Not  erdulden  ließ,  so  hat  er  das  getan,  um  die  Echtheit  seiner 
Gesinnung  zu  erproben  (8,  2.  3).  Denn  er  knüpft  seine  Liebe  und 
Gnade  daran,  daß  seine  Gebote  gehalten  werden  (7,  13);  wenn 
nicht,  so  wird  er  den  Sünder  und  zwar  ihn  selbst,  ohne  Aufschub 
(auf  andere  Generationen)  strafen  (7,  10) .  Vor  allem  aber  haßt  er 
den  Hochmut  und  das  Selbstvertrauen  (8,  14),  besonders  das 
Vertrauen  auf  die  eigene  Stärke  (8, 17),  welches  zumal  dann  leicht 
eintreten  kann,  wenn  Israel  reich  geworden  ist  (8,  12.  13).  Und 
ebenso  die  Selbstgerechtigkeit  (9,  4) ;  denn  er  hat  Israel  nicht 
erwählt  und  bevorzugt  um  seiner  Tugenden  willen.  Diese  hat  es 
gar  nicht,  es  ist  das  geringste  der  Völker  (Deut.  7,  7.  8),  —  eine 
höchst  nachdrückliche  Ablehnung  alles  kriegerischen  nationalen 
Heldenstolzes.     Sondern  er  erwählte  es  wegen  der  Laster  der 


I,    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  26 1 

anderen  Völker  (9,  5.  6),  worunter  zweifellos  vor  allem  die  Sexual- 
orgiastik  (23,  18)  und  andere  »Landessitten«  Kanaans  (12,  30) 
verstanden  sind.  Nach  solchen  Sitten  des  Landes  soll  man  nicht, 
in  der  Meinung,  dies  den  Göttern  des  Landes  schuldig  zu  sein, 
leben,  sondern  nach  Jahwes  Geboten  allein.  Alle  Magie  und  Zei- 
chendeutung jeder  Art  (18,  10.  11),  alle  Menschenopfer  (18,  10), 
aber  auch  alle  Bundesschließungen  (7,  2)  und  das  connubium 
(7,  3)  mit  den  Kanaanäem  sind  wegen  der  Gefahr  des  Abfalls 
streng  verboten:  alle  Feinde  sind  ein  für  allemal  dem  Cherem 
verfallen.  Jeden,  der  zum  Abfall  von  Jahwe  verleitet  und 
sei  es  ein  Prophet  (13,  6)  oder  der  eigene  Bruder  oder  Sohn, 
muß  man  mit  eigener  Hand  den  Steinigungstod  erleiden  lassen 
(13,  7).  Was  die  Beziehung  des  Frommen  zu  Jahwe  anlangt, 
so  soll  man  ihn  fürchten,  verehren,  nur  bei  ihm  schwören  (6, 13), 
vor  allem  aber:  ihn  lieben  (7,  9)  und  seinen  Verheißungen 
unbedingt  vertrauen:  Jahwe  hat  die  Macht,  Israel  seine  Zusagen 
zu  halten  auch  noch  so  viel  stärkeren  Völkern  gegenüber  (7,  17. 
18)  und  das  Wunder  des  Manna  in  der  Wüste  hat  gezeigt,  daß  der 
Mensch  nicht  von  Brot  allein  lebt,  sondern  von  allem,  was  Jahwe 
geschaffen  hat  (8,  3).  Die  Macht  des  Gottes  wird  ins  Riesenhafte, 
Monotheistische,  gesteigert:  er  ist  allein  der  Gott  des  Himmels 
und  der  Erde  und  kein  anderer  (4,  39) ;  Himmel  und  Erde  und 
alles  gehört  ihm  (10,  14),  er  allein  und  kein  anderer  ist  Gott 
(4>  35)  heißt  es  in  vielleicht  erst  im  Exil  entstandenen  Zusätzen. 
Aber  dieser  Wundermacht  wird  er  sich  für  Israel  nur  dann  be- 
dienen, wenn  es  ihm  gehorcht  und  seine  Gebote  hält.  Dann  —  diese 
Bestandteile  der  später  im  Exil  stark  erweiterten  Verheißungen 
und  Flüche  (Kap.  28)  werden  als  ursprünglich  gelten  dürfen  — 
wird  materielles  Wohlergehen  aller  Art  eintreten,  die  Feinde  wird 
Jahwe,  wenn  sie  kommen,  niederstrecken,  dem  Lande  Regen 
geben  und  Israel  zum  Gläubiger  anderer  Völker,  zum  Patriziat 
also,  machen;  entgegengesetztenfalls  wird  er  in  allem  das  gerade 
Umgekehrte  tun. 

Es  ist  viel  und  in  meist  steriler,  weil  konfessionell-apolo- 
getischer Art  darüber  gestritten  worden,  ob  »Furcht«  das  für  Israel 
im  Gegensatz  zu  andern  Religionen  maßgebende  Motiv 
sittlichen  Handelns  gewesen  sei^).  Nun  lehrt  jede  realistische 
Beobachtung,  daß  dieses  Motiv  für  Massenreligionen  —  im  Ge- 

^)  Vgl.  für  die  vorexilische  Zeit  darüber  jetzt  die  in  ihrer  Art  gute  Abhand- 
lung von    Schultz   in  den  Theol.  Stud.  u.  Krit.  63  (1896). 


202  Das  antike  Judentum. 

gensatz  zu  Virtuosenreligionen  —  überall  in  der  Welt 
(neben  dem  qualitativ  ähnlichen  Motiv  der  Hoffnung  auf  dies- 
seitige oder  jenseitige  Belohnung)  seine  beherrschende  Rolle  ge- 
spielt hat.  Wie  die  levitischen  Thoralehrer  durch  das  Sünden- 
sühneverfahren,  so  hat  die  abendländische  Kirche  durch  die  Buß- 
ordnungen und  nicht  durch  die  Predigt  der  Liebe  die  Domesti- 
kation der  Massen  in  die  Wege  geleitet.  Der  Predigt  der  Gottes- 
und  Nächstenliebe  in  der  christlichen  Kirche  stehen  genau 
gleichartige  und  genau  gleich  ernst  gemeinte  israelitische  (vor 
allem:  rabbinische)  Lehren  gegenüber.  Zutreffend  ist  nur  eins: 
der  ritualistische  Charakter  einer  Religiosität  bedingt 
natürlich,  je  stärker  er  vorherrscht,  desto  mehr,  daß  die  Be- 
sorgnis vor  rein  formalen,  für  die  moderne  Vorstellung 
gesinnungsethisch  irrelevanten,  Verstößen  die  religiöse  Beziehung 
färbt.  Und  zutreffend  ist  ferner:  daß  die  Entwicklung  der  vor- 
exilischen  Ethik  sehr  stark  unter  dem  Druck  der  Angst,  man  ist 
fast  versucht  zu  sagen:  der  »Kriegspsychose«,  angesichts  der 
furchtbaren  Raubkriege  der  großen  Eroberungsreiche  sich  voll- 
zog ^).  Davon  wird  später  zu  reden  sein.  Die  Ueberzeugung ; 
daß  nur  ein  Gotteswunder,  nicht  Menschenkraft,  retten  könne, 
war  die  Grundstimmung  des  deuteronomistischen  Kreises. 

Die  utopistischen  Kriegsregeln  des  Deuteronomium  und  sein 
Königsrecht  stimmen  zu  diesen  prinzipiellen  Grundlagen  auf  das 
beste.  Auch  in  Aegypten  wird  in  dem  Gedicht  des  Pentaur 
gesagt :  daß  Ammon  allein  den  Sieg  bewirke  und  nicht  eine  Million 
Soldaten.  Aber  gehandelt  wurde  darnach  nicht.  Auch  die 
Priestermacht  in  Aegypten  entspricht  den  Anforderungen  der 
Priester  von  Jerusalem.  Aber  in  Israel  mußten  diese  Züge  ganz 
wesentlich  penetranter  wirken.  Sie  alle  beruhten  auf  dem  Pre- 
stige Jahwes,  der  allein,  ohne  Zutun  Israels,  alles  zum  besten 
lenken  kann  und  lenkt,  wenn  man  ihm  nur  vertraut.  Dies  an  den 
Ammonglauben  erinnernde,  aber  weit  stärker  durchgeführte 
Prestige  Jahwes  war  in  Jerusalem  offenbar  durch  die,  Jesajas 
Verheißung  gemäß,  unter  Hiskia  wider  alle  Wahrscheinlichkeit 
eingetretene  Errettung  aus  der  Belagerung  durch  Sanherib  er- 
zeugt. Die  Heils-  und  Unheilsdrohungen  entstammen  zum  Teil 
den    von  der  Heils-  und  Unheilsprophetie  geprägten  Schemata. 


1)  Dennoch  ist  eine  solche  Sündenangst  wie  etwa  bei  Alphons  v.  Liguori 
oder  bei  manchen  Pietisten  in  Israel  sowohl  wie  im  Judentum  nirgends  auf- 
findbar. 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  263 

Aber  nur  zum  Teil:  die  Verheißung  über  das  Geldleihen  ist  spe- 
zifisch bürgerlich-jerusalemitisch.  Die  strenge  Monolatrie  war 
eine  damals  schon  alte  jahwistische  Forderung  und  das  nach 
Innen  gewendete  Korrelat  des  Monopols  der  jerusalemitischen 
Priester  nach  außen.  Der  dem  Wesen  nach  schon  streng  konfes- 
sionelle Abschluß  nach  außen  entsprach  teils  Priester-Interessen, 
teils  der  Frömmigkeit  einer  stadtbürgerlichen,  aber  hierokratisch 
von  Thoralehrem  geleiteten  Intellektuellenschicht.  Dem  Ab- 
schluß gegen  die  »Fremden«  (nakhri)  entsprach  nach  Innen  die 
religiöse  und  sozialethische  Gleichstellung  der  frommen  und  rituell 
korrekten  gerim  mit  den  Israeliten,  das  Produkt  der  Entmili- 
tarisierung  der  Plebejer:  Jeremia  stellte  ja  zur  gleichen  Zeit 
die  Rechabiten,  also  typische  gerim,  den  Israeliten  als  Träger 
exemplarischer  Gottwohl gefälligkeit  hin.  »Plebejisch«  ist  nicht 
nur  die  völlige  Fremdheit  gegenüber  allen  realen  politisch-mili- 
tärischen Bedürfnissen  und  jeglicher  Heldengesinnung;  sondern 
die  ganze  Art  der  gesinnungsethischen  Beziehurg  zum  Gott: 
Demut,  Gehorsam,  vertrauensvolle  Hingabe  —  daher  das  Ver- 
bot, »Gott  zu  versuchen«,  d.  h.  Wunder  von  ihm  als  Zeichen  seiner 
Macht  zu  verlangen  (Deut.  6,  i6:  es  wird  auf  den  Vorgang  in 
Massa  exemplifiziert,  vgl.  Ex.  17,  2.  7)  — vor  allem  eine  pietistisch 
anmutende  »Liebe«  zu  ihm,  die  vorher  nur  etwa  bei  Hosea  (wenig- 
stens nur  bei  ihm  vorher  sicher  datieibar)  als  Grundstimmung 
bezeugt  ist.  Fromme  Stimmung  und  eine  gelegentlich  in  der 
Paränese  pathetische,  aber  doch  von  aller  radikalen  und  gott- 
besessenen Leidenschaft  freie,  gesinnungsethische  Sublimierung 
der  inneren  Hingabe  an  den  Gott  kennzeichnen  die  Gesamt- 
haltung. Durch  die  großen  Propheten  ist  dieses  Kompendium 
zwar,  wie  schon  das  hier  Gesagte  ergibt,  in  seinen  grundlegenden 
utopistischen  Voraussetzungen  ganz  entscheidend  bedingt,  aber 
es  ist  keinenfalls  ihr  Werk,  wie  wir  später  bei  Betrachtung  jener 
leicht  sehen  werden.  Dagegen  wird  von  den  Fachleuten  angenom- 
men —  was  an  sich  wahrscheinlich  ist  — ,  daß  der  Redakteur 
des  Deute ronomium  die  jahwistischen  und  elohistischen  Samm- 
lungen gekannt  und  namentlich  die  letzteren  gelegentlich  be- 
nutzt hat. 

Der  Abschluß  der  deuteronomischen  Arbeit  liegt  wohl  zeit- 
lich nahe  der  (von  Wellhausen  sogenannten  »jehowistischen«) 
Zusammenarbeitung  der  jahwistischen  und  elohistischen  Redak- 
tion der  alten  Erzväter-Legenden  und  levitischen  Mose-Tradi- 


204  ^^^  antike  Judentum. 

tionen.  Es  sind  zahlreiche  an  die  im  Deuteronomium  vertretene 
Rehgiosität  unmittelbar  erinnernde  Einträge  in  diesen  —  später 
durch  priesterliche  Ergänzung,  Interpolation  und  teilweise 
Ueberarbeitung  veränderten  —  Redaktionen  zu  finden,  und  der 
»Jehovist«  hat  vor  allem  die  großen  Verheißungen  an  die  Vor- 
väter teils  neu  eingefügt,  teils  ergänzt.  Gemeinsam  mit  dem 
Deuteronomium  ist  ihm  dabei  das  Absehen  vom  Königtum: 
nicht  dem  Könige,  sondern  dem  frommen  Volk  wird,  in  An- 
knüpfung an  die  alten,  Bileam  zugeschriebenen  Segenssprüche 
aus  der  Zeit  vor  dem  salomonischen  Fronkönigtum,  das  Heil  (an 
die  Adresse  seiner  legendären  Stammväter)  verheißen.  Theolo- 
gisch interessierte  fromme  Laienkreise  in  Gemeinschaft  mit  Le- 
viten dürften  die  Stätten  sein,  aus  denen  beide  Arbeiten  hervor- 
gingen, nur  daß  beim  Deuteronomium  die  unmittelbare  Beteili- 
gung der  Priester  weit  stärker  gewesen  ist,  weil  es  sich  hier  um 
ein  durch  priesterliche  Interessen  bestimmtes,  allerdings  aber 
auf  der  Thorader  Leviten  ruhendes,  paränetisches  Werk  handelt. 
In  religiöser  Hinsicht  eignet  der  Paränese  des  Deuterono- 
mium die  starke  Betonung  des  Vergeltungsgedankens  und  Vor- 
sehungsglaubens, die  erbauliche,  weiche,  karitative,  oft  misera- 
bilistische  Gestaltung  der  inneren  Beziehung  Gottes  zu  den  Men- 
schen und  umgekehrt,  und  der  durchweg  plebejische  Charakter 
der  ganzen  demütig  ergebenen  Frömmigkeit.  Es  sind  das  Züge, 
die  in  ausgeprägtem  Maße  auch  der  ägyptischen  Volksfrömmigkeit 
des  »Neuen  Reichs«  eignen  und  schon  im  Alten  Reich  Anknüp- 
fungsquellen finden.  Schon  dort  liebt,  nach  Ptahoteps  Weis- 
heitslehren, Gott  vor  allem:  den  Gehorsam.  Die  Denksteine 
von  Handwerkern  aus  der  Zeit  der  Ramessiden  fügen  hinzu: 
daß  er  »unbestechlich«  ist.  Kleinen  wie  Großen  seine  Macht  zeigt, 
daß  Ammon  aber  vor  allem  den  Armen  hört,  wenn  er  zu  ihm 
schreit,  daß  er  auch  von  ferne  —  wie  Jahwe  —  herbeikommt 
zu  helfen,  mit  der  »süßen  Luft«  des  Nordwinds,  der  dort  ebenso 
ersehnt  wurde,  wie  das  »stille  sanfte  Sausen«  des  West  in  Palä- 
stina, daß  man  auf  ihn  hoffen  und  ihn  lieben  solle,  daß  er  seinen 
Zorn  nicht  den  ganzen  Tag  über  dauern  lassen  werde.  Der 
Mensch  ist,  wie  in  der  israelitischen  Thora,  nicht  erbsündlich 
verderbt,  aber  töricht  von  Natur,  er  kennt  »gut  und  böse«  nicht. 
Gebet  und  Gelübde  —  die  gleichen  Mittel  wie  in  Israel  —  stim- 
men ihn  gnädig,  vor  allem  aber :  recht  tun.  Denn  der  Vergeltungs- 
gedanke hat  in  der  Frömmigkeit  des  Neuen  Reichs  offenbar 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  265 

stark  zugenommen  und  Krankheit  ist  natürlich  auch  hier  die 
übliche  Form  göttlicher  Strafe.  Man  sieht:  diese  ganz  persönliche 
Frömmigkeit  ist  wesensgleich  der  überall  in  der  Welt  in  plebeji- 
schen Klassen  verbreiteten.  Sie  hat  in  Indien  zur  Heilands- 
Religiosität  geführt.  In  Aegypten  ist  es  der  Pharao,  durch  dessen 
Fürsprache  und  Mittlerschaft  man  Heil  erhofft,  aber:  wesentlich 
politisches  Heil  oder  Regen,  die  Heilsgüter,  für  welche  der  po- 
litische Verband  überall  sorgt.  Das  private  Ergehen  des  einzelnen 
galt  zwar  ebenfalls  als  vom  Charisma  des  Pharao  abhängig. 
Aber :  die  Bürokratie  stand  zwischen  ihm  und  den  Massen.  Und 
die  persönliche  Religiosität  der  Pharaonen  war  die  typische 
rein  materielle  do  ut  des-Moral:  Das  hatte  mit  jener  plebeji- 
schen Frömmigkeit  gar  keine  Beziehung.  Und  unvermittelt  neben 
ihr  stand  die  grobe  Magie  der  Priester,  an  welche  sich  der 
Nothilfsbedürftige  wendete.  Eine  ethische  Belehrung  der  Massen 
lag  eben  nicht  nur  den  auf  ihre  theologische  Esoterik  stolzen 
ägyptischen  Priestern  fem,  sondern  auch  ihre  materiellen  Inter- 
essen verwiesen  sie  auf  das  viel  einträglichere  Geschäft  des  Verkaufs , 
von  Totenbuchrollen  und  Skarabäen.  Es  existierte  also  in  Aegyp- 
ten zwar  eine  plebejische  Frömmigkeit  ganz  gleichartigen  Ge- 
präges wie  im  vorexilischen  Israel  und  bei  den  fortwährenden 
direkten  Beziehungen  sind  Einflüsse  von  dort  nach*  hier  keines- 
wegs unwahrscheinlich,  wennschon  natürlich  nicht  strikt  nach- 
weisbar. Aber  sie  wurde  niemals  Gegenstand  einer  systemati- 
schen Rationalisierung  sei  es  prophetischer  sei  es  priesterlicher 
Art.  Und  ganz  ähnlich  stand  es  in  Babylonien.  Die  alten  Buß- 
psalmen der  stadtbürgerlichen  Zeit  Mesopotamiens,  aus  der 
Bibliothek  Assurbanipals  und  anderen  Quellen  bekannt,  stehen 
an  Stimmungsgehalt  der  israelitischen  Psalmenfrömmigkeit  über- 
aus nahe,  ja  gelegentlich  drängt  sich  der  Gedanke  einer  Be- 
einflussung unmittelbar  auf.  Die  Frömmigkeit  des  Nebukad- 
nezar  und  der  ersten  Perserkönige  stand  ebenfalls  der  israeli- 
tischen nahe  und  dies  war  den  Propheten  ihrer  Zeit  auch  be- 
kannt, die  nicht  ohne  Grund  sie  als  »Knechte«  Gottes  bezeichnen. 
Aber  auch  dort  fehlt  die  systematische  Rationalisierung  zu  einer 
Alltagsethik  der  Massen.  Es  fehlte  außer  der  rationalen  Thora- 
lehre  eben  zwar  nicht  die  Prophetie  überhaupt,  aber :  die  spezifisch 
israelitische  Art  der  Prophetie.  Daß  sie  fehlte  und  nur  in  Israel 
bestand,  hatte  (s.  u.)  in  rein  politischen  Umständen  seinen  Grund. 
Wenn  so  die  Thoralehrer   im  Mittelpunkt  der  Entwicklang 


256  ^^^  antike  Judentum. 

der  religiösen  Ethik  standen,  so  erübrigt  ein  kurzer  Blick  auf 
deren  m  a  t  e  r  i  a  1  e  Anforderungen,  um  noch  die  Frage  auf- 
zuwerfen, ob  sie  etwa  den  Inhalt  ihrer  ethischen  Lehren  von 
anderswoher  übernommen  haben  und  wie  er  sich  überhaupt  zu 
der  politischen  Ethik  anderer  Kulturgebiete  verhält. 

Zur  Würdigung  der  inhaltlichen  Eigenart  der  altisraeliti- 
schen Ethik,  wie  sie  in  den  Dekalogen,  aber  natürlich  ganz  eben- 
so und  zum  Teil  noch  deutlicher  in  den  sonstigen  ethischen 
Debarim  sich  äußert,  interessiert  .im  ganzen  mehr  als  die  viel- 
fachen, aber  im  allgemeinen  rein  ethisch  nicht  sehr  ertragreichen, 
jedenfalls  darin  kaum  über  das  überall  Selbstverständliche  hinaus- 
gehenden Parallelen  mit  babylonischen  Sündenregistern  ^)  die 
Vergleichurg  mit  der  ägyptischen  Sündenliste  des  125.  Ka- 
pitels des  Totenbuchs  ^).  Sie  lag  schon  vor  der  Entstehung 
des  israelitischen  Bundes  fertig  vor  und  gab  zweifellos  die  Anfor- 
derungen der  Priester  so  wieder,  wie  sie  auch  bei  Gelegenheit 
der  Sündenabfragung  an  die  Kundschaft  gestellt  wurden.  Der 
Unterschied  gegenüber  den  Anforderungen  des  ethischen  Dekalogs 
ist  im  einzelnen  zuweilen  erheblich ;  aber  andererseits  finden  sich 
starke  Anklänge.    Dem  dekalogischen  Verbot  des  »Mißbrauchs« 

1)  Von  den  babylonischen  Sündenlisten  ist  die  von  Zimmern  (Beitr.  1) 
edierte,  auch  von  Sellin  a.  a.  O.  S.  225  angezogene  die  der  dekalogischen  Ethik 
am  meisten  verwandte.  Verachtung  der  Eltern  und  Beleidigung  der  älteren 
Schwester,  Ehebruch,  Töten,  Betreten  des  Hauses  des  Nächsten,  Fortnahme  des 
Kleides  des  Nächsten  stehen  dekalogischen  Sünden  am  nächsten.  Grenzver- 
rückung, Festhaltung  oder  Nichtbefreiung  Eingekerkerter  (zweifellos:  Schuld- 
häftlinge), lose  und  unflätige  Reden,  Lüge  und  Unaufrichtigkeit  gehören  zu  den 
zwar  nicht  im  Dekalog,  aber  doch  in  der  levitischen  Paränese  verpönten  Un- 
tugenden, während  die  Verschuldung  von  Streit  unter  Eltern  und  Kindern  oder 
unter  Geschwistern  und  das  Unrecht,  »im  Kleinen  zu  geben,  im  Großen  zu  ver- 
weigern«, keine  direkten  Parallelen  finden.  Daß  damit  rein  rituelle  Fehler  auf 
eine  Stufe  gestellt  werden,  entspricht  dem  »kultischen«  und  dem  »sexuellen«  De- 
kalog Israels.  Auffällige  Parallelen  der  beiderseitigen  Ethik  finden  sich  im  übrigen, 
soviel  bisher  erkennbar,  nicht.  Insbesondere  scheint  es,  daß  der  babylonischen 
(im  Gegensatz  zur  ägyptischen  und  levitischen)  Paränese  die  Betonung  der 
»Nächstenliebe«  gefehlt  hat:  vermutlich  eine  Folge  der  weit  stärkeren  Entwick- 
lung des  kaufmännischen  Geschäftslebens  in  der  Großstadt  Babylon.  Ebenso 
fehlt  (wiederum  im  Gegensatz  zu  Aegypten)  die  gesinnungsethische  Sublimie- 
rung:  die  Bekämpfung  des  »Gelüstens«  wie  im  10.  Gebot.  In  Aegypten  ist  die 
stärkere  Betonung  der  »Gesinnung«  vermutlich  durch  die  besondere  Bedeutung, 
welche  dem  »Herzen«,  als  dem  Träger  des  Wissens  von  eigenen  Sünden,  im  Toten- 
gericht beigelegt  wurde,  zuerst  veranlaßt  worden. 

2)  Es  ist  hier  nach  der  Uebersetzung  von  P  i  e  r  r  e  t  (Le  Livre  des  Morts, 
Paris  1882)  zitiert.  Dabei  sind  mit  »E«  die  Einleitung,  mit  »S«  der  Schluß,  mit 
»A«  und  »B«  die  beiden  je  21  Bekenntnisse  umfassenden  Hälften  des  125.  Kapitels 
bezeichnet. 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  267 

des  göttlichen  Namens  entspricht  dort  die  Versicherung,  nie 
einen  Gott  »beschworen«,  d.  h.  durch  Magie  gezwungen  zu  haben 
(B.  30).  Gegenüber  dem  »keine  anderen  Götter  haben«  (ursprüng- 
lich: »keinen  anderen  Göttern  opfern«)  ist  die  ägyptische  For- 
derung: Gott  nicht  im  Herzen  zu  verachten  (B.  34)  infolge  der 
stärkeren  pantheistischen  Wendung  der  ägyptischen  Frömmig- 
keit stärker  ins  Gesinnungsmäßige  gewendet.  Die  deuteronomi- 
sche  Forderung:  Gott  zu  lieben  ist  in  den  ägyptischen  Kata- 
logen in  dieser  allgemeinen  Form  nicht  ausdrücklich  vertreten. 
Daß  dagegen  Gott  den  Gehorsam  liebt,  weiß  schon  Ptahotep 
(Pap.  Prisse).  (Dieser  Gehorsam  und  das  »Schweigen«  sind  dort 
stark  politisch  orientiert.  Die  ägyptische  Forderung  der  Unter- 
tanenloyalität (B.  22,  27  und  Kap.  17,  1.  3.  48,  Kap.  140)  fehlt 
im  ethischen  Dekalog  ganz  und  ist  auch  außerhalb  seiner  auf  das 
Gebot,  »dem  Fürsten  des  eigenen  Volkes  nicht  zu  fluchen«,  re- 
duziert (Ex.  22,  27,  vgl.  2.  Sam.  16,  9  und  Jes.  8,  21)  ^).  Die 
dekalogische  Eltempietät  und  ebenso  die  vom  Deuteronomium 
unter  Androhung  der  Steinigung  eingeschärfte  Pflicht  des  Ge- 
horsams gegen  die  Eltern  (Deut.  22,  6.  7)  bezieht  sich  wohl  sicher 
ebenso  wie  die  vielen  Bestimmungen  der  babylonischen  Rechts- 
literatur gegen  pietätlose  Kinder  auf  Respekt  gegen  die  alten, 
vor  allem  die  im  Altenteil  sitzenden  Eltern,  mit  denen  sich  noch 
der  Sirachide  befaßt.  Diesem  dekalogischen  und  deuteronomi- 
schen  Pietätsgebot  gegen  die  Eltern  und  den  in  Urkunden 
häufigen  babylonischen  schweren  Strafdrohungen  gegen  den 
Sohn,  der  zu  Vater  oder  Mutter  sich  unehrerbietig  äußert,  steht 
im  Totenbuch  nur  (B.  27)  die  Erklärung  gegenüber:  gegen  den 
Vater  keine  Uebeltat  begangen  zu  haben.  Im  übrigen  freilich 
schärfte  die  Priester-  und  Schreiberethik  der  Aegypter  die  Ehrung 
des  Alters,  der  Lehren  der  Eltern  und  der  Tradition  unablässig 
ein,  wie  denn  auch  in  Israel  geboten  wird:  »vor  einem  grauen 
Haupt  aufzustehen«  (Lev.  19,  32).  Dem  Verbot  des  Tötens  im 
Dekalog  entspricht  im  Totenbuch  die  Versicherung,  nicht  ge- 
tötet und  nicht  zum  Mord  angestiftet  zu  haben  (E7  A18).   Dem 

^)  Dagegen  galt  wenigstens  der  deutcronomischen  Tradition  (i.  Sam.  24; 
26,  9;  31,  4;  7.  Sam.  I,  14)  der  Mord  des  Königs,  auch  des  von  Jahwe  schon  ver- 
worfenen Königs,  wegen  der  magischen  Bedeutung  der  Salbung  als  schwerer 
Frevel,  —  offenbar  im  bewußten  Gegensatz  gegen  die  Usurpationen  und  Blut- 
bäder im  Nordreich,  die,  obwohl  doch  Jehu  gerade  mit  Hilfe  und  auf  Anstiftung 
der  Jahwepartei  die  erste  derartige  Schlächterei  verübt  hatte,  auch  Hosea  scharf 
mißbilligt. 


208  D^s  antike  Judentum. 

»Schinden«  der  Armen  und  der  gerim  (Ex.  23,  9)  steht  im  ägyp- 
tischen Katalog  das  Verbot  jeder  Gewalttat  (A  14)  und  der  An- 
stiftung von  Schaden  (A  20)  gegenüber.    Zahlreiche  Grabinschrif- 
ten ägyptischer  Monarchen  und  Beamten  rühmen,  daß  der  Tote 
die  Armen  nicht  bedrückt  habe.    Das  dekalogische  Verbot  des 
Ehebruchs,  die  Verpönung  des  Incests  auch  in  der  Form  bloßen 
begehrlichen  Anblickens  einer  Verwandten  und  die  Verbote  der 
Onanie  finden   eine  Analogie   in   dem  Verbot  aller  Arten  von 
Unzucht  (Ehebruch,  Hurerei,  Onanie  A  25.  26,  B  15.  16).     Das 
Verbot  des  Stehlens  und  das  zehnte  Gebot  des  ethischen  Deka- 
logs ist  im  Totenbuch  in  dem  Verbot  des  Stehlens  (A  17)  oder 
irgendeiner  Aneignung  von  fremdem  Gut  (A.  23)  ausgedrückt. 
Das  Verbot  des  falschen  Zeugnisses  wird  durch  das  Verbot  jeder 
Art  von  Lüge    (E  7,  A  22)   und   Illoyalität   (A  30)   überboten. 
Die  Ablenkung  eines  Kanals  (E  10)  findet  ihre  Parallele  in  dem 
israelitischen   Fluch    gegen    die    Grenzverrückung,    das   Verbot 
falscher  Wage  (E  9)   gehört  auch  der  levitischen  Paränese  an. 
Das  an  der  Spitze  von  allen  anderen  stehende  ägyptische  Be- 
kenntnis: dem  Nächsten  nichts  Böses  getan  (E  4)  und  die  noch 
weiter  gehende  Versicherung:    »niemanden  Herzensqual   verur- 
sacht«  (A  10)    und   »niemanden  weinen  gemacht«   (A  24),   nie- 
manden »erschreckt«  (B  18)  zu  haben,  hat  ihre  Parallele  in  Israel 
in  der  mehr  formalen  allgemeinen  Vorschrift,  dem  Nächsten  nicht 
unrecht  zu  tun    (Lev.  19,  13),   die  an  karitativer  Sublimierung 
hinter  den  ägyptischen  Vorschriften   zurückbleibt.     Das   allge- 
meine Gebot  der  »Nächstenliebe«  ist  bekanntlich  in  Israel  mit  dem 
Verbot,  Rache  gegen  den  Volksgenossen  nachzutragen,  identisch, 
welches  auch  im  Totenbuch  (A  27)  sich  findet.    Dagegen  fehlen 
im  ägyptischen  Katalog  solche  positiven  Vorschriften,   wie  die 
Vorsorge  für  das  verirrte  Vieh  des  Nächsten  (Deut.  22,  1—4) 
—  es  wird  an  einer  Stelle  nur  Zurechtweisung  des  verirrten  Men- 
schen gelobt  ^  und  vollends  fehlt  das  Gebot  (Ex.  23,  4—5)  der 
Zurückführung  des  verirrten  Viehs  des  »Feindes«  dort  ganz.  In  der 
bekannten  ägyptischen  »Unterhaltung  der  Katze  mit  dem  Schakal« 
wird  vielmehr  die  Vergeltung  von  Bösem  mit  Gutem  kritisiert. 
Gänzlich  fehlen  andererseits  natürlich  im  Dekalog  sowohl  wie  in 
der  altisraelitischen  Ethik  überhaupt  die  aus  den  Schicklichkeits- 
konventionen  der  ägyptischen  Schreiber  entnommenenen  Regeln, 
welche  zum  Teil  in  das  Gebiet  des  guten  Geschmacks,  zum  Teil  aber 
auch  in  das  einer  sehr  sublimierten  Ethik  fallen.    Dahin  gehören 


I,     Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  269 

z.  B.  das  Verbot  der  ägyptischen  Schreiberethik  (Ptahotep) :  den 
Gegner  durch  Ueberlegenheit  im  Disputieren  zu  beschämen  und  die 
auch  im  Totenbuch  wiedergegebenen  Verbote:  sich  überhaupt 
in  Worten  gehen  zu  lassen,  zu  übertreiben,  in  Erregung  zu  geraten 
und  heftig  zu  werden,  vorschnell  zu  urteilen,  zu  prahlen,  gegen  die 
Wahrheit  taub  zu  bleiben  (B  25.  29,  A  34.  33,  B  18.  23  21.  19). 
Derartiges  taucht  erst  im  nachexilischen  Judentum  auf,  als  die 
Träger  der  jüdischen  Lehre  selbst  »Soferim « und  weiterhin  gelehrte 
Rabbinen  geworden  waren. 

Auf  dem   Gebiet  der  eigentlichen    Wirtschafts  ethik 
war  die  ägyptische  Moral  ausgezeichnet  durch  eine  sehr  starke 
Bewertung  der  beruflichen  Pflichttreue  und  Pünktlichkeit  bei 
der  Arbeit:  die  ganz  natürliche  Konsequenz  der  auf  leiturgisch 
gegliederter  und  bürokratisch  geleiteter  Arbeit  ruhenden  halb 
staatssozialistischen  Wirtschaft.     Aehnliche   Züge,   wenn  schon 
weit  weniger  deutlich,  finden  sich  auch  in  Babylonien,  wo  es 
anscheinend  zeitweise  üblich  war,  die  Prinzen  praktisch  die  Bau- 
arbeiten auch  manuell  lernen  zu  lassen.    Darin  spricht  sich  die 
zentrale  Bedeutung  der  königlichen  Bauten  aus.    In  Aegypten 
tritt  ein  starker  Berufsstolz  von  Kunsthandwerkern  (namentlich 
Kunststeinmetzen)  schon  in  der  Zeit  des  alten  Reichs  hervor, 
so  wie  ja  auch  in  Israel  Jahwe  die  Kunsthandwerker  der  mosai- 
schen   Tempelparamente    mit    seinem    Geist    ausgerüstet    hat. 
Die  große  Labilität  des  ägyptischen  Reichtums,  das  (namentlich 
im  Neuen  Reich)  sehr  häufige  Aufsteigen  von  Plebejern  in  der 
Bürokratie  ließ  hier  schon  früh  die  Vornehmheitsvorstellungen 
des  grundherrlichen  Amtsadels  zurücktreten,  und  so  wurde  die 
wirtschaftliche  Aktivität  schon  von  Ptahotep  als  alleiniges  Mittel, 
den  Reichtum  zu  erhalten,  gepriesen.    Aber  der  bürokratische 
Charakter  des  politischen  Verbandes  und  der  strenge  Traditionalis- 
mus der  Religion  setzten  der  Tragweite  dieser  Auffassung  enge 
Grenzen.    Das  Standesgefühl  der  Schreiberklasse,  wie  es  sich  in 
der  Ramessidenzeit  in  einer  höhnischen  Satire  auf  alle  anderen 
Berufe,    militärische    wie    wirtschaftliche,    äußerte,    verachtete 
alle  illiterate  Tätigkeit  als  elendes  Banausentum.    Während  eine 
scharfe   Scheidung  persönlicher  Freiheit  und  Unfreiheit  fehlte, 
war  die  Schranke  zwischen  Literaten  und  Illiteraten  sehr  schroff. 
Wer  Vornehmer   (sar)   war,  darüber    entschied    die   Erziehung 
allein.    Und  die  absolute  hierarchische  Subordination  der  Büro- 
kratie bestimmte  das  Lebensideal.    »Ma«,  die  »Loyalität«,  welche 


^1'^! 


270  Das  antike  Judentum. 

zugleich  »Schicklichkeit«,  »Rechtlichkeit«  und  »Pflichttreue«  war, 
—  ein  etwas  modifiziertes  Gegenbild  der  chinesischen  Bürokraten- 
tugend, des  Li,  —  bildete  den  Inbegriff  aller  Vortrefflichkeit. 
Die  Nachahmung  des  Vorgesetzten,  die  unbedingte  Aneignung 
seiner  Ansichten,  die  strenge  Innehaltung  der  Rangordnung, 
auch  in  der  Lage  der  Gräber  in  der  Nekropole,  waren  Pflichten 
des  loyalen  Untertans.  »Sein  Leben  lang  sich  zu  bücken«  galt 
als  des  Menschen  Schicksal.  Die  Berufskonzeption  blieb  dem- 
gemäß streng  traditionalistisch.  Den  Arbeiter  außerhalb  seines 
gewohnten  Berufs  zu  beschäftigen  war  verboten.  Andererseits 
war  der  urkundlich  bezeugte  Streik  der  Arbeiter  in  der  Nekropole 
von  Theben  nicht  sozial  bedingt,  sondern  erstrebte  nur  die  Liefe- 
rung der  gewohnten  Gebühmisse,  das  »tägliche  Brot«  im 
Sinn  des  christlichen  Vaterunser. 

In  Israel  findet  sich  in  der  Zeit  vor  dem  Sirachiden  eine 
so  starke  ethische  Einschätzung  der  Arbeitstreue  wie  in  Aegyp- 
ten  nicht.  Die  bürokratische  Organisation  fehlte  eben  und  der 
Begriff  der  »ma«  hatte  hier  keine  Stätte,  am  wenigsten  in  der 
religiösen  Ethik,  welche  ja  den  bürokratischen  Fronstaat  als  das 
»ägjrptische  Diensthaus«  verabscheute.  Von  der  Schätzung 
ökonomischer  Aktivität  als  einer  Tugend  spüren  wir  nichts. 
Geiz  ist  im  Gegenteil  das  eigentlichste  Laster.  Darin  zeigt  sich : 
daß  hier  die  Feinde  des  Frommen  die  städtischen  Patrizier  sind. 
Irgendwelche  »innerweltliche  Askese«  vollends  fehlte  dort  wie 
hier.  Wenn  in  Aegypten  vor  den  Frauen  gewarnt  wird,  weil 
ein  kurzer  Augenblick  des  Genusses  durch  schweres  Unheil 
bezahlt  werde,  so  ist  das  eine  Regel  der  Lebensklugheit  nach  Art 
der  konfuzianischen  Ethik  und  findet  in  der  nachexilischen  Zeit 
Analogien  in  der  jüdischen  Literatur.  Aber  im  übrigen  blieb  in 
Aegypten  und  Mesopotamien  Lebensgenuß,  temperiert  durch 
Lebensklugheit,  letztlich  das  Ziel  alles  Strebens.  Davon  unter- 
schied sich  die  israelitische  Gesinnung  vor  allem  durch  die  mehr, 
als  sich  dies  auch  anderwärts,  namentlich  in  Babylonien,  beobachten 
läßt,  zunehmende,  stark  durch  die  politischenSchicksale  mitbedingte 
Sündenfurcht-  und  Bußstimmung.  Der  Grad  der  gesinnungsethi- 
schen Sublimierung  war  ähnlich  der  ägyptischen,  und  im  ganzen, 
wenigstens  in  der  Massenpraxis,  wesentlich  feiner  ausgebildet  als  in 
der  im  praktischen  Leben  stets  wieder  magisch  behandelten  und  da- 
durch  gebrochenen  babylonischen  Sündenkonzeption  ^). 

^)  Ueber  die  Konzeption  der  Sünde   und  ihre  Entwicklung   in  der  babylo- 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  271 

In  einer  wichtigen  Hinsicht  stand  die  israelitische  Ethik, 
bei  allen  Anklängen  im  einzelnen,  im  Gegensatz  zur  ägyptischen 
und  ebenso  zur  mesopotamischen :  in  der  relativ  weitgehenden 
rationalen  Systematisierung.    Denn  dafür  allerdings  kann  schon 
die  bloße  Existenz  des  ethischen  Dekalogs  und  anderer  ähnlicher 
Gebilde  im  Gegensatz  zu  den  ganz  unsystematischen  Sünden- 
registern in  Aegypten  und  Babylon  als  ein  Merkmal  angesehen 
werden.  Aus  keinem  dieser  beiden  Kulturgebiete  ist  femer  irgend 
etwas   überliefert,   was   einer   systematischen   religiös-ethischen 
Paränese  von  der  Art  des  Deuteronomium  gleich  käme  oder  auch 
nur  ähnlich  wäre.    Soweit  bekannt,  gab  es  neben  lehrhafter  Le- 
bensweisheit und  dem  esoterischen  Totenbuch  in  Aegypten,  und' 
neben  Sammlungen  magisch  wirksamer  Hymnen  und  Formeln, 
welche   auch   ethische   Bestandteile   enthalten,   in     Babylonien 
keine  einheitlich  zusammengefaßte  religiös  fundamentierte  Ethik, 
wie  sie  schon  im  vorexilischen  Israel  existierte.  Dort  war  sie  das 
Produkt  der  durch  zahlreiche  Generationen  fortgesetzten  ethi- 
schen Thora  der  Leviten  und,  wie  noch  auseinanderzusetzen: 
der  Prophetie.  Die  Prophetie  wirkte  nicht  sowohl  auf  den  Inhalt 
—  den  sie  vielmehr  als  gegeben  hinnahm  —  als  auf  die  Herstel- 
lung der  systematischen  Einheitlichkeit  durch  Beziehung  des 
Gesamtlebens  des  Volks  und  aller  einzelnen  auf  die  Innehaltung 
von  Jahwes  positiven  Geboten.    Sie  eliminierte  ferner  die  Vor- 
herrschaft des  Rituellen  zugunsten  des  Ethischen.     Die  leviti- 
sche  Thora  ihrerseits  prägte  dabei  den  Inhalt  der  ethischen  Ge- 
bote.    Beide  gemeinsam   aber  gaben   der   Ethik   den   zugleich 
plebejischen  und  rational  systematischen  Charakter.  — 

Ein  charakteristischer  Bestandteil  der  altisraelitischen  Ethik, 
der  ihr  mit  andern  gemeinsam  ist,  bedarf  noch  eines  etwas  näheren 
Eingehens.  Die  oben  besprochenen  ethischen  Vorschriften  zeigen 
zum  Teil  jenes  sehr  ausgeprägt  karitative  Gepräge, 
wie  es  der  heute  vorliegenden  Redaktion  der  Thora  überhaupt 
eignet.  Dahin  gehören  vor  allem  die  zahlreichen  Bestimmungen 
zugunsten  der  Armen,  Metöken,  Witwen,  Waisen,  wie  sie  schon 
in  den  älteren  Sammlungen,  namentlich  aber  im  Deuteronomium 
sich  finden,  dessen  Gott  ein  unbestechlicher,  die  Person  nicht 

uischen  Religiosität  Schollmeyer,  Sumerisch-babylonische  Hymnen 
und  Gebete  an  Samas  (Stud.  z.  G.  u.  Kr.  d.  Alt.  Erg.-Bd.  Paderborn  1912) 
J.  Morgenstern,  The  doctrine  of  sin  in  the  Bab.  ReJ.  (M.  d.  V.  A.  Ges. 
Berlin  1905,  3). 


•272  ^^s  antike  Judentum. 

ansehender  Richter  ist,  welcher  jenen  Schwachen  »ihr  Recht 
schafft«  (Deut.  lo,  i6).  Die  Schuldknechtschaftsbestimmungen 
des  formalen  Rechts  wurden,  wie  wir  sahen,  von  der  Paränese 
durch  weitgehende  Bestimmungen  über  Lohnzahlung,  Schuld- 
erlaß, Pfändungsschranken  und  allgemeine  Karitätsbestimmungen 
ergänzt.  »Den  Armen  die  Hand  aufzutun«  (Deut.  15,  11),  dem 
Elenden,  Armen,  Beraubten  (Jerem.  22,  16),  dem  Unterdrückten 
(Jes.  1, 17)  zu  helfen,  sind  wohl  die  allgemeinsten  Formulierungen 
dieser  Pflichten,  in  deren  Umkreis  auch  die  früher  besprochenen 
Nachlese-  und  Brach]* ahrsbestimmungen  eingegliedert  erscheinen. 
Die  Quellen  lassen  die  stetig  zunehmende  Bedeutung  dieser 
Bestandteile  der  Paränese  mit  steigender  hierokratischer  Be- 
einflussung der  ursprünglich  keineswegs  besonders  sentimentalen 
israelitischen  Ethik  erkennen.    Woher  stammt  dieser  Zug? 

Die  beiden  klassischen  Gebiete  der  Entwicklung  der  Karität 
waren:  Indien  einerseits,  Aegypten  andererseits.  In  Indien  waren 
vor  allem  Jainismus  und  Buddhismus  die  Träger.  Ganz  allge- 
mein aber  das  durch  den  Samsaraglauben  wesentlich  verstärkte 
Gefühl  der  Einheit  alles  Lebendigen.  Wir  sahen  nun,  daß  die 
indische  Karität,  wie  sie  auch  in  den  Dekalogen  der  Buddhisten 
Ausdruck  fand,  sehr  bald  ein  formales  und  fast  rein  rituelles  Wesen 
annahm.  In  Aegypten  war  die  Karität  sehr  stark  durch  die  büro- 
kratische Struktur  des  Staates  und  der  Wirtschaft  mitbedingt. 
Die  Könige  des  »Alten«  und  »Neuen«  und  die  Feudalfürsten  des 
»Mittleren«  Reichs  waren  Fronherren  und  als  solche  interessiert 
an  Schonung  der  Arbeitskraft  von  Mensch  und  Tier,  die  sie  gegen 
die  achtlose  Roheit  der  Beamten  zu  schützen  suchten.  Deut- 
lich tritt  in  den  ägyptischen  Quellen  hervor,  wie  stark  dies  bei  der 
Entwicklung  des  Armenschutzes  mitsprach  ^).  Die  Beamten, 
welche  dem  König  für  den  ökonomischen  und  populationistischen 
Zustand  des  Landes  verantwortlich  und  außerdem  der  jederzeit 
und  wie  es  scheint  unmittelbar  an  den  König  zulässigen  Beschwerde 
der  Untertanen  ausgesetzt  waren,  rühmen  sich  in  den  Inschriften 
schon  des  Alten  Reichs :  daß  sie  in  Hungersnot  geholfen,  nieman- 
den seine  Felder  fortgenommen,  nicht  die  Untergebenen  anderer 
Beamter  mißbraucht,  niemals  einen  Streit  unredlich  geschlichtet, 
niemandem  seine  Tochter  fortgenommen  oder  vergewaltigt, 
kein  Eigentum  verletzt,  die  Witwen  nicht  bedrückt,  oder:  daß 

^)  Z.  B.  Breastead,  Records  III,  51 :  Verbot,  einen  Armen,  der  dem  König 
Frondienste  leisten  muß,  inzwischen  um  seine  Existenz  zu  bringen  (19.  Dynastie). 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  upd  Jahwe.  273 

sie  den  Hungrigen  gespeist,  den  Nackten  gekleidet,  Leute,  die 
kein  Boot  hatten,  über  den  Strom  gesetzt,  die  Ställe  ihrer  Unter- 
gebenen mit  Vieh  gefüllt  haben  ^).  Ueberall  sieht  man,  daß 
es  sich  dabei  um  die  Bevölkerung  des  dem  Beamten  vom  Pharao 
anvertrauten  Verwaltungsbezirks  handelt.  Ganz  allgemein  drük- 
ken  die  Beamten  sich  auch  so  aus:  daß  sie  »niemals  jemanden 
etwas  Böses  zugefügt«,  vielmehr  getan  hätten,  »was  allen  gefiel«. 
Verdacht  und  Verpönung  des  Geschenknehmens  der  Richter 
ist  bei  den  ägyptischen  religiösen  Dichtern  und  Moralisten 
fast  so  allgemein  wie  bei  den  israelitischen  Propheten.  Die  Angst 
vor  dem  König,  der  ja  schließlich  —  wie  der  Zar  in  Rußland  — 
weit  fort  war,  wurde  dabei  ergänzt  durch  die  Angst  vor  Be- 
schwerden bei  einer  anderen  Instanz:  den  Göttern.  Niemand, 
sagt  ein  Monarch  aus  der  Zeit  der  fünften  Dynastie,  habe  er 
geschädigt,  so  daß  er  sich  »beim  Stadtgott  beklagt  hätte«.  Der 
Fluch  des  Armen  wurde  gefürchtet,  unmittelbar  wegen  des  mög- 
lichen Eingreifens  des  Gottes,  mittelbar  wegen  der  Gefährdung 
des  für  die  ägyptische  Vorstellung  so  überaus  wichtigen  guten 
Namens  bei  der  Nachwelt.  Der  Glaube  an  die  magische  Wirk- 
samkeit eines  auf  wirkliches  Unrecht  gegründeten  Fluchs  war 
in  Vorderasien  offenbar  allgemein:  dies  »demokratische  Macht- 
mittel« stand  also  auch  dem  Letzten  und  Aermsten  zu  Gebote. 
Die  ägyptischen  Beamten  verfehlen  daher  nicht  zu  betonen, 
daß  das  Volk  sie  »liebte«,  weil  sie  taten,  was  ihm  gefiel.  Zwar 
irgendeine  Verantwortung  der  Großen  gegenüber  dem  Volk 
ist  der  ägyptischen  Vorstellung  womöglich  noch  fremder,  als 
der  israelitischen.  Aber  ein  Mann  wird  »wie  Gott«  sein,  wenn 
seine  Arbeiter  ihm  Vertrauen  schenken.  Denjenigen  dagegen, 
der  »wie  ein  Krokodil«  gegen  sie  verfährt,  trifft  der  Fluch.  Die 
vornehme  Schreiberethik  des  Ptahotep  betont  daher,  daß 
die  Uebung  der  Karität  vergolten  werde  durch  die  Beständig- 
keit der  eigenen  Stellung  (ursprünglich  wohl :  von  Pharao,  dann : 
von  Gott).  Die  Denksteine  der  kleinen  Leute  (Handwerker) 
des  13.  und  12.  Jahrhunderts  selbst  aber  getrösten  sich  der  Hoff- 
nung, daß  Ammon  auf  die  Stimme  des  »betrübten  Armen«  (im 
Gegensatz    zum    »frechen«    großen    Mann,    Krieger,    Beamten) 


1)  Breastead,  Records  I,  239.  240.  281.  328  f.  459.  523   (durchweg  aus  dem 
alten  Reich,  von  der  1.  Dynastie  angefangen). 

Max  Weber,  Religionssoziologie  HI,  lg 


2  74  ^^^  antike  Judentum. 

ZU  hören  pflege.  Denn  Gott  leitet  und  schützt  alle  seine  Geschöpfe, 
auch  Fische  und  Vögel  ^). 

Ganz  ebenso  wie  die  Beamten  verhalten  sich  die  Könige. 
Nicht  nur  die  ägyptischen,  sondern  ebenso  alle  dem  vorder- 
asiatischen Kulturkreis  angehörigen.  Und  zwar  schon  seit  der 
frühesten  monumental  zugänglichen  Zeit.  Neben  allerhand 
Freveln  gegen  göttliches  Eigentum  und  die  Staatsordnung 
ist  es  die  harte  Bedrückung  der  ökonomisch  Schwachen,  welche 
nach  Urukagina  seinen  Vorgängern  Gottes  Zorn  zugezogen  hat 
und  seine  eigene  Usurpation  legitimiert.  In  diesem  Fall  eines 
Stadtkönigtums  waren  es  die  Härten  des  Uebergangs  zur  Geld- 
wirtschaft: Verschuldung  und  Versklavung,  die,  wie  in  Israel, 
gemeint  sind.  Die  Usurpatoren  regieren,  wie  \Yir  bei  Abimelech 
sahen,  überall  mit  dem  Demos  gegen  die  großen  Sippen.  In 
Aegypten  und  den  späteren  mesopotamischen  Großkönigtümern 
ist  es  die  übliche  patrimonial-bürokratische  Wohlfahrtsstaats- 
legende, welche  den  Charakter  der  formelhaft  gewordenen  Königs - 
karität  prägt.  Ramses  IV.  rühmt  sich,  keine  Waise  und  keinen 
Armen  geschädigt  und  niem.anden  seinen  Erbbesitz  genommen 
zu  haben.  Nebukadnezar  spricht  sich  ähnlich  aus.  Kyros  vermutet, 
daß  die  übermäßige  Belastung  des  babylonischen  Volks  durch 
Nabunahid  Gottes  Zorn  über  diesen  König  verursacht  habe 
und  Darius  in  der  Behistun-Inschrift  stellt  sich  ganz  ebenso 
auf  den  Boden  königlicher  Wohlfahrts-  und  Schutzpolitik  für 
die  Schwachen.  Diese  war  also  Gemeingut  aller  orientalischen 
Patrimonialstaaten,  wie  der  meisten  derartigen  Monarchien  über- 
haupt. In  unmittelbarer  Nachbarschaft  Israels  und  hier  wohl 
unter  ägyptischem  Einfluß  zeigt  eine  phönikische  Königsinschrift 
(die  älteste  phönikische  Inschrift,  welche  bisher  existiert)  ganz  die 
gleichen  Züge  ^).  Von  da  werden  den  Schreibern  der  Könige 
Israels  verm.utlich  diese  schließlich  wohl  überall  formelhaft  er- 
starrten, aber  deshalb  doch  nicht  notwendig  wirkungslosen 
Maximen  zugetragen  worden  sein. 

Diese  aus  der  patrimonialen  Wohlfahrtspolitik  und  ihrer 

1)  Dokumente  der  ägyptischen  Volksfrömmigkeit  der  Ramessidenzeit 
bei  Er  man,  Sitz.-Ber.  d.  Berl.  Ak.  d.  W.  Phil.-hist.  Kl.  ii,  1086  f.  Ueber 
den  zunehmenden  Vergeltungsglauben  im  Neuen  Reich:  Poertner,  Die 
ägyptischen  Totenstelen  als  Zeugen  des  sozialen  und  religiösen  Lebens  ihrer 
Zeit  (Stud.  z.  G.  u.  Kr.  d.  Alt.  4,  3  Paderborn  191 1). 

2)  Ueber  die  Inschrift  Kalumus  s.  Littmann,  Sitz.-Ber.  d.  Berl.  Ak.  Phil.- 
hist.  Kl.  vom  16.  XL  II   (S.  976  f.). 


PT'' 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  27  5 

Projektion  in  das  himmlische  Weltregiment  erwachsene  Karitäts- 
ethik  wurde  in  Aegypten  anscheinend  zuerst  von  den  kleinen 
Patrimonialfürsten  und  Feudalherren  des  Mittleren  Reichs  aus  den 
von  jeher  vorhandenen  Ansätzen  heraus  ganz  bewußt  entwickelt, 
und  dann  später  von  den  Schreibern.  Priestern  und  priesterlich 
beeinflußten  Moralisten,  dem  allgemeinen  Typus  der  hierokrati- 
schen  Sozialpolitik  entsprechend,  systematisiert.  An  der  Spitze 
aller  näher  spezialisierten  Versicherungen,  welche  im  125.  Kapitel 
des  Totenbuchs  der  Tote  im  »Saal  der  Wahrheit«  abzugeben  hat, 
steht  die  Erklärung:  ,  Niemand  über  sein  festgesetztes  Maß 
zur  Arbeit  genötigt  zu  haben  (E  5) .  Die  Herkunft  aus  der  Fron- 
staatsverwaltung ist  offenbar.  Dann  folgen  die  Versicherungen: 
niemand  in  Furcht,  Armut,  Leiden,  Unglück,  Hunger,  Trauer 
gebracht,  nicht  die  Mißhandlung  eines  Sklaven  durch  seinen  Herrn 
verursacht  (E  6),  keinem  Säugling  die  Milch  verkürzt,  das  Vieh 
nicht  mißhandelt  (E  9)  und  keinem  Kranken  Böses  getan  zu 
haben  (B.  26).  Am  Schluß  des  ganzen  Bekenntnisses  aber  (B  38) 
findet  sich  die  Versicherung:  Gott  durch  die  eigene  »Karität« 
(mar)  sich  verbunden,  »dem  Hungrigen  Brot,  dem  Durstigen 
Wasser,  dem  Nackten  Kleider,  dem,  der  des  Kahns  ermangelte, 
einen  solchen  gegeben  zu  haben«.  In  Verbindung  mit  dem  schon 
erwähnten  ethischen  Verbot,  einem  anderen  Schmerz  zuzu- 
fügen, oder  Angst  einzujagen,  dem  Nächsten  überhaupt  Böses 
zu  tun  und  mit  der  in  der  ägyptischen  Ethik  auftauchenden, 
aber  allerdings  bestrittenen,  Vorschrift,  auch  dem  Feinde  Gutes 
zu  erzeigen,  bedeuten  diese  Gebote  rein  inhaltlich  angesehen, 
eine  weitgehende  Vorwegnahme  der  Karität  der  christlichen 
Evangelien. 

Die  altisraelitische  Karität  ist  in  ihrer  Entwicklung  vermut- 
lich, sei  es  direkt,  sei  es  auf  dem  Wege  über  Phönizien,  von  Aegyp- 
ten her  beeinflußt  worden.  Am  stärksten  in  deuteronomischer 
Zeit.  Daß  Jahwe  den  Schwachen  als  solchen  (die  Frau  gegen 
den  Mann,  die  Kebse  gegen  die  Frau,  den  verstoßenen  Sohn) 
schützt,  ist  allerdings  eine  Uebcrzeugung  schon  der  vordeutero- 
nomischen  Epoche  (Gen.  16,5. 7;  21, 14;  i.  Sam.  24, 13).  Sie  findet 
sich  beim  Jahwisten  wie  beim  Elohisten  und  hatte  religiös  die 
gleiche  Grundlage  wie  die  ägyptische :  der  Arme  und  Bedrückte 
»schreit  zu  Jahwe«  (Deut.  24,  15)  und  dieser  als  der  himmlische 
König  kann  dann  Rache  an  dem  Bedrücker  nehmen.  Die  in  der 
israelitischen    Exilsethik    herrschend    gewordene    Vorstellung: 

•    i8* 


2^5  ^^^  antike  Judentum. 

daß  das  Erdulden  des  Drucks  das  richtige,  weil  die  Rache  des 
Gottes  am  sichersten  herbeiführende  Verhalten  sei,  fand  damals 
in  der  sozialen  Ohnmacht  der  bedrückten  Klassen  ihren  Grund, 
geht  aber  wohl  auf  die  alte  Bedeutung  des  bei  den  Nachfahren 
gesegneten  Namens  zurück.  Denn  es  wird,  entsprechend  der 
Wirkung  des  Fluches,  umgekehrt  der  Segen  des  Armen,  gegen 
den  man  sich  den  Karitätsgeboten  entsprechend  verhält,  von 
Jahwe  »zur  Gerechtigkeit  gerechnet«  (Deut.  24, 13).  Die  Paränese 
der  Leviten,  die  von  ihnen  beeinflußte  Sichemitische  Fluch- 
formel und  die  dem  Bundesbuch  angehängten  Debarim,  dann  das 
Deuteronomium  und  die  Priestergesetzgebung  entwickelten  die 
Rarität  immer  systematischer  weiter.  In  den  materiellen  Anfor- 
derungen weicht  die  israelitische  Rarität,  bei  zahlreichen  augen- 
fälligen und  schwerlich  zufälligen  Aehnlichkeiten,  vor  allem  in 
der  allgemeinen  Temperierung  ab.  Nicht  eine  priesterlich  be- 
einflußte Patrimonialbürokratie,  sondern  eine  priesterlich  be- 
einflußte Gemeinschaft  freier  Sippen  von  Bauern  und  Hirten 
war  ihr  Träger,  mochte  vielleicht  auch  die  Wohlfahrtsstaats- 
Ethik  frommer  Rönige  nach  ausländischem  Beispiel  sie  zuerst  im 
Munde  geführt  haben.  Natürlich  kommen  auch  in  Israel  Be- 
drückungen durch  die  königlichen  Beamten  nach  ägyptischer  Art 
vor.  Und  auch  —  was  offiziell  in  Aegypten  unmöglich  ist  — 
durch  den  Rönig  selbst.  Dagegen  lassen  die  Priester  in  ihrer 
paradigmatischen  Redaktion  Jahwe  durch  das  von  den  Propheten 
verkündete  Unheil  reagieren.  Aber  in  erster  Linie  war  doch  die 
Bedrückung  nicht  durch  eine  Bürokratie,  sondern  durch  einen 
städtischen  Patriziat  das  zu  bekämpfende  Uebel  und  die  Verhält- 
nisse waren  weit  einfacher.  Die  gesinnungsethische  Sublimierung 
der  Rarität  geht  daher  in  der  vorexilischen  Ethik  nur  teilweise 
so  weit  wie  in  Aegypten,  während  andererseits  die  Einzel  Vor- 
schriften mehr  dem  patriarchalen  Hausgemeinschaft-  und  Nach- 
barschaftscharakter  der  Beziehungen  entsprechen,  als  die  -Ab- 
straktionen der  ägyptischen  Schreiber.  Erst  die  pazifistisch 
und  städtisch  gewordene  Epoche  der  Thora  unmittelbar  vor 
und  im  Exil  brachte  die  Abstraktionen  des  Heiligkeitsgesetzes. 
So  das  Verbot:  statt  offener  Aussprache  Haß  und  Rachgier  gegen 
den  »Nächsten«,  d.  h.  (Lev.  19,  18)  gegen  die  Rinder  des  eigenen 
Volks  (und,  nach  19,  34,  auch  den  ger)  im  Herzen  zu  tragen  und 
in  Verbindung  damit  den  prinzipiellen  Satz:  »Du  sollst  deinen 
Nächsten  lieben  wie  dich  selbst « (Lev.  19, 18) .  Diese  Verpönung  der 


T,    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  2  77 

Rachgier  könnte  als  Rückschlag  der  levitischen  Paränese  gegen 
die  den  (politischen)  Rachedurst  stark  fördernden  Verheißungen 
mancher  Propheten  erscheinen.  Die  Vorschrift  der  Nächstenliebe 
gegen  die  Volksgenossen  zeigt  indessen  schon  durch  den  ein- 
schärfenden Zusatz:  »Denn  ich  bin  der  Herr«,  daß  es  sich  auch 
hier  um  die  häufig  wiederholte  Vorschrift  handelte:  die  Rache 
Gott  anheimzustellen,  dessen  Sache  sie  sei  (Deut.  32,  35)  und 
der  sie,  wie  man  hoffen  durfte,  dann  um  so  gründlicher  vollbrin- 
gen werde.  Dieses  Gott  anheimstellen  der  Rache,  welches  also 
keine  eigentlich  ethische  Bedeutung  hat,  ist  ganz  aus  dem  Empfin- 
dungskreis plebejischer  und  zwar  politisch  ohnmächtiger  Schich- 
ten geboren.  Als  Paradigma  für  die  dadurch  um  so  befriedigen- 
der gestaltete  Rache  wurde  offenbar  die  Geschichte  von  David 
und  Nabal  (i.  Sam.  25,  24.  29)  komponiert.  Für  die  Thoralehrer 
war  der  Vorbehalt  der  Rache  für  Gott  die  naturgemäße  ethische 
Parallele  der  Beseitigung  der  Blutrache  auf  rechtlichem  Gebiete 
und  das  positive  Gebot  der  »Liebe«  des  Nächsten  eine  Ueber- 
tragung  der  Grundsätze  der  alten  Sippenbrüderlichkeit  auf  den 
Glaubensbruder.  Erst  die  rabbinische  Deutung  hat  aus  ihr 
die  positive  Vorschrift  gemacht:  daß  man  den  Nächsten  auch 
rein  innerlich  nicht  hassen  und  mit  Rachewünschen  verfolgen 
dürfe,  ohne  doch  in  der  Praxis  selbst  des  eignen  Empfindens 
damit  vollen  Erfolg  zu  haben  ^) . 

Neben  den  Schutz  der  Armen  tritt  auch  in  der  israelitischen 
—  wie  gelegentlich  in  der  ägyptischen  —  Rarität  der  Schutz  der 
mit  Krankheiten  und  vor  allem  der  mit  Gebrechen  Behafteten. 
Man  soll  ihnen  nicht  fluchen  und  Blinden  nichts  in  den  Weg 
legen  oder  sie  irreführen  (Lev.  19,  14).  Einem  Verirrten  den  Weg 
zu  weisen  und  Kranken  nichts  Böses  zu  tun  schrieb  auch  die 
ägyptische  Rarität  vor,  die  sich  sonst  mit  jenen  Bresthaften 
nicht  näher  befaßte.  Die  Abwehr  von  Gebrechen,  Krankheit  und 
ähnlichem  Elend  pflegte  die  Heilsprophetie  der  Großkönige  dem 
regierenden  Monarchen  zuzurechnen.  Darin  bewährte  er  sein 
Charisma.  Der  eigentümliche  Spruch  für  David  (2.  Sam.  5,  68) 
bei  der  Einnahme  von  Jerusalem  hängt  wohl  mit  der^gleichen 
Vorstellung  von  der  Wundermacht  des  Regiments  eines  charis- 

*^')  Auch  R.  Chanina,  den  Büchler  (Der  galiläische  Amhaaiez  S.  14,  Anm.) 
gegen  protestantische  Forscher  polemisch  als  Muster  jüdischer  Sittlichkeit 
vorführt,  starb  in  eine  ThoraroUe  gewickelt,  weil  er  so  der  Rache  Gottes 
an  seinen  Peinigern  sicherer  zu  sein  glaubte. 


n 


273  Das  antike  Judentum. 

matisch  qualifizierten  Herrschers  zusammen.  In  der  levitischen 
Thora  ist  der  Grund  des  Bresthaftenschutzes  aber  darin  zu  finden, 
daß  sie  zu  den  vornehmlichsten  Beichtkindern  der  Leviten  ge- 
hörten und  die  Erfahrung  von  ihrer  Frömmigkeit  zu  häufig  war, 
um  die  alte  magische  Vorstellung:  daß  der  Kranke  persönlich 
ein  wegen  Frevel  Gottverhaßter  sei,  unbedingt  aufrechtzuer- 
halten. Er  konnte  für  die  Sünden  seiner  Vorfahren  leiden  müssen 
und  bei  Tauben  und  Blinden  vermochte  die  Annahme,  daß  sie 
unter  einem  geheimnisvollen  göttlichen  Walten  stehen,  leicht 
die  Vorstellung  zu  erzeugen:  daß  sie  auch  über  Kräfte  verfügen, 
die  anderen  abgehen,  wie  dies  die  weite  Verbreitung  der  Schätzung 
der  Blinden  erkennen  läßt.  Ihre  Verletzung  schien  jedenfalls 
geeignet,  den  Zorn  des  Gottes  zu  reizen. 

Endlich  finden  sich  im  Deuteronomium  eine  Anzahl  Tier- 
schutzbestimmungen  wie  die  zum  Schutz  der  Vogelmutter 
(22,  6.  7)  und  das  berühmte  Verbot  (25,4),  dem  dreschenden 
Ochsen  das  Maul  zu  verbinden,  —  während  auf  den  römischen 
Plantagen  die  Sklaven  am  Mühlstein  einen  Maulkorb  trugen. 
Die  Wertung  des  Sabbats  als  eines  Ruhetags  auch  für  das  Vieh 
und  des  Sabbat jahrs  als  Gelegenheit  für  die  Tiere,  sich  frei  zu 
nähren,  tritt  hinzu.  Inwieweit  diese  Theologumena  wesentlich 
mit  dem  in  ganz  Vorderasien  verbreiteten  Glauben  vom  einst- 
maligen und  für  künftig  wiedererhofften  Paradiesesfrieden 
zwischen  Mensch  und  Tier  oder  etwa  auch  mit  irgendeinem  viel- 
leicht aus  Ackerbaukulten  örtlich  erwachsenen  alten  rituellen 
Vegetarismus  zusammenhängen  oder  einfach  als  Konsequenz 
des  Liebesgebots  entstanden  sind,  lassen  die  israelitischen  Quellen 
unerkennbar.  Bileams  sprechender  Esel  ist  einfach  ein  volks- 
tümliches Fabeltier,  wie  es  sich  sonst  auch  findet  (so  in  dem  pro- 
phetischen Lamm  unter  Bokchoris  in  Aegypten) .  In  Aegypten 
beruhte  das  Verbot  der  Mißhandlung  des  Viehs  ursprünglich 
wohl  auf  dem  Interesse  des  Königs  an  seiner  Arbeitsfähigkeit. 
Bei  Ramses  II.  findet  sich  das  charakteristische  Versprechen 
an  die  Pferde,  welche  ihn  aus  der  Schlacht  von  Kadesch  gerettet 
hatten,  daß  sie  fortan  im  Palast  in  seiner  Gegenwart  gefüttert 
werden  sollen,,  ganz  ebenso  wie  er  seinen  Arbeitern  die  richtige 
Leistung  ihrer  Gebühmisse  verspricht:  ein  Ausfluß  der  typischen 
Beziehung  des  Reiters  oder  Stallherren  zu  seinen  Tieren.  Der 
priesterlich  systematisierte,  volkstümliche  Tierkult  und  die  Fähig- 
keit der  Totenseelen,  in  Tiergestalten  einzugehen,  war  wohl  nicht 


I.    Die  israelitische  Eidgenossenschaft  und  Jahwe.  270 

Quelle  der  tierfreundlichen  Gesinnung,  aber  diese  Konzeptionen 
beförderten  naturgemäß  die  Tierkarität.  In  Israel  ist  die  Sabbat- 
ruhe für  das  Vieh,  wie  für  die  Sklaven,  wie  ihr  Fehlen  in  der  Le- 
gende 2.  Kön.  4,  23  ergibt,  erst  Produkt  der  spätköniglichen, 
vermutlich  der  deuteronomischen  Zeit.  Die  Tierfreundlichkeit 
überhaupt  war  möglicherweise  wenigstens  in  ihrer  allgemeinen 
Richtung  ägyptisch  beeinflußt. 

Alles  in  allem  ist  eine  Beeinflussung  der  israelitischen  Ethik 
und  Karität  in  der  späten  vorexilischen  Zeit  durch  das  Beispiel 
der  großen  Kulturgebiete  in  vielen  Einzelheiten  nicht  nur  nicht 
ausgeschlossen,  sondern  namentlich  von  Aegypten  her,  direkt 
und  auf  dem  Wege  über  Phönizien,  recht  wahrscheinlich.  Die  ent- 
scheidenden Züge  dieser  Art  von  Karität  haben  sich  freilich  auch 
ohne  Entlehnung  überall  da  herausgebildet,  wo  eine  hinlängliche 
Stärke  der  priesterlichen  Interessen  an  ihren  mit  Gebrechen  oder 
Unglück  behafteten  Kunden  eine  Rationalisierung  der  Fürsorge 
für  die  Schwachen  als  solche  bedingte.  Immerhin  hat  die  israeli- 
tische Thora  die  Gebote  auch  da",  wo  die  Annahme  einer  Beein- 
flussung naheliegt,  selbständig  abgewandelt. 

Weit  wichtiger  als  alle  Einzelabweichungen  ist  aber  der 
schon  betonte  prinzipielle  Sachverhalt :  die  Abwesenheit  magischer 
Surrogate  für  die  Erfüllung  der  Gebote.  Die  ägyptische  Priester- 
lehre beispielsweise  mochte  ethische  oder  karitative  Gebote 
aufstellen,  welches  Inhalts  immer,  —  was  konnte  sie  ihnen  für 
Nachdruck  geben,  wenn  es  ganz  einfache  magische  Mittel  gab, 
um  den  Toten  zu  befähigen,  im  entscheidenden  Augenblick 
vor  dem  Totenrichter  seine  Sünden  zu  verhehlen?  Und 
das  war  der  Fall.  Der  Bitte  an  das  eigene  Herz^  im  Totenbuch 
(Kap.  30,  L.  i),  nicht  gegen  den  Toten  zu  zeugen,  wurde  später 
durch  Mitgabe  eines  geweihten  Skarabäus  Nachdruck  gegeben, 
welcher  das  Herz  befähigte,  der  Zaubergewalt  der  Totenrichter 
zu  widerstehen  und  die  Sünden  zu  verschweigen.  Die  Götter 
wurden  also  überlistet.  Nicht  ebenso  kraß  lag  es  in  Babylon. 
Immerhin  war  auch  dort  in  neubabylonischer  Zeit  Magie  aller 
Art  das  spezifische  und  populäre  Einwirkungsmittel  auf  die  un- 
sichtbaren Gewalten.  Mit  zunehmender  Rationalisierung  der 
Kultur  hatte  zwar  die  Sündenstimmung  seinerzeit  auch  in  Me- 
sopotamien namentlich  unter  der  pazifistischen  bürgerlichen 
Bevölkerung  zugenommen.  Aber  die  stimmungsvollen  sumeri- 
schen und   altbabylonischen   Bußpsalmon   sind  später   als  rein 


2go  ^^^  antike  Judentum. 

magische  Formeln  und  oft  ohne  Rücksicht  auf  den  Sinngehalt 
verwendet  worden,  nachdem  an  die  Stelle  der  großen  Götter 
im  Volksglauben  die  bösen  Geister  als  Urheber  des  Uebels  ge- 
treten waren.  Im  alten  Jahwismus  dagegen  fehlte  diese  Art  von 
Magie  und  war  schon  deshalb  die  Bedeutung  der  einmal  als  ver- 
bindlich geltenden  ethischen  Gebote  notwendig  wesentlich  realen. 
Dies  hatte  außer  in  der  andersartigen  Wendung  des  Theodizee- 
problems  wiederum  in  dem  uns  schon  oft  begegneten  Umstand 
seinen  Grund:  daß  in  Isarael  als  in  einem  Verband  freier  Volks- 
genossen, welche  aus  der  berith  solidarisch  für  die  Innehaltung 
der  Gebote  des  Bundesgottes  hafteten,  alle  Einzelnen  die  Rache 
zu  fürchten  hatten,  wenn  sie  die  Verletzungen  seiner  Gebote  in 
ihrer  Mitte  duldeten.  Ausstoßung  des  mit  dem  Gott  unversöhnten 
Sünders,  Bannung  und  Steinigung  waren  daher  die  Mittel,  mit  wel- 
chen hier  gegen  die  Sünde  reagiert  wurde.  Die  Vollstreckung  der 
Todesstrafe  ohne  Gnade  war  an  gewissen  schweren  Sündern  Pflicht, 
weil  das  einzige  Mittel  der  Entsühnung  der  Gemeinschaft  als  solcher . 
Dies  Motiv  fiel  in  bürokratischen  Monarchien  und  vollends  bei 
Vorhandensein  von  Berufsmagiern  gänzlich  fort.  Es  findet  seine 
Analogie  an  der  Haftung  der  altchristlichen  und  der  puritanischen 
Abendmahlsgemeinde  für  die  Entfernung  jedes  offensichtlich  Ver-- 
worfenen  vom  Tisch  des  Herrn  im  Gegensatz  zum  Katholizismus, 
Anglikanismus  und  Luthertum.  Die  spezifisch  ethische  Wendung 
der  Levitenthora  mußte  unter  dem  stetigen  Druck  dieses  Inter- 
esses immer  stärkeren  Rückhalt  gewinnen.  Die  Stellung  der 
Leviten  selbst  aber  entstammte  ihrem  Verhältnis  zu  ihrer  Privat- 
kundschaft. Zu  alledem  hatte  die  Stiftung  der  alten  berith  durch 
Mose  und  die  Uebemahme  der  Orakelfunktion  den  ersten  Anstoß 
gegeben.  Insofern  also  gilt  Mose  tatsächlich  mit  Recht  als  Ur- 
heber dieser  wichtigen  ethischen  Entwicklung.  Andererseits 
aber  wäre  die  Entfaltung  der  israelitischen  Religiosität  zu  dem 
gegen  alle  Zersetzung  von  außen  her  widerstandsfähigen  Gebilde, 
als  welches  sie  durch  die  Geschichte  gegangen  ist,  unmöglich 
gewesen  ohne  das  Eingreifen  jener  schon  mehrfach  gestreiften 
eigenartigsten  und  folgenschwersten  Erscheinung,  die  sie  hervor- 
gebracht hat:  der  Prophetie.  Ihr  müssen  wir  uns  jetzt  zu- 
wenden. 


II.     Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  28 1 


n. 

11.  Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  Die 
vorexilische  Prophetie.  Politische  Orientierung  der  vorexilischen  Prophetie. 
S  282.  —  Psychologische  und  soziologische  Eigenart  der  Schriftpropheten. 
S.  292.  —  Ethik  und  Theodizee  der  Propheten.  S.  314  —  Eschatologie  und 
Propheten.  S.  336.  —  Die  Entwicklung  der  rituellen  Absonderung  und  der 
Dualismus  der  Innen-  und  Außenmoral.  S,  351.  —  Das  Exil.  Hesekiel  und 
Deuterojesaja.  S.  379.  —  Die  Priester  und  die  konfessionelle  Restauration  nach 
dem  Exil,  S.  397. 

Nach  jener  Pause  in  der  Eroberungspolitik  der  Großstaaten, 
welche  das  Entstehen  des  israelitischen  Bundes  ermöglichte, 
begannen  seit  dem  9.  Jahrhundert  die  mesopotamischen  Groß- 
könige und  später  auch  Aegypten  ihre  Expansionspolitik  von 
neuem.  Syrien  wurde  nun  einer  der  Schauplätze  bisher  un- 
erhörter kriegerischer  Ereignisse.  Eine  so  furchtbare  Kriegs- 
führung, wie  namentlich  die  der  Assyrerkönige,  war  in  diesen 
Dimensionen  noch  nie  erlebt  worden.  Die  Keilinschriften 
dampfen  von  Blut.  Der  König  berichtet  im  Ton  trockener  Proto- 
kolle von  den  Mauern  eroberter  Städte,  die  er  mit  abgezogenen 
Menschenhäuten  überspannt  habe.  Die  wahnsinnige  Angst  vor 
diesen  erbarmungslosen  Eroberern  spricht  aus  der  erhaltenen 
israelitischen  Literatur  der  Zeit,  vor  allem  auch  aus  den  Orakeln 
der  klassischen  Prophetie,  welche  mit  steigender  Verdüsterung 
des  politischen  Horizonts  ihren  typischen  Charakter   annahm. 

Die  vorexilischen  Propheten^)  von  Amos  bis 
Jeremia  und  Hesekiel  waren,  mit  den  Augen  der  außenstehenden 


1)  Aus  der  neuesten  Literatur,  vor  allem  das,  bei  einzelnen  anfechtbaren, 
Aufstellungen,  sehr  verdienstvolle  Werk  von  G.  Kölscher,  Dje  Propheten  1914, 
welches  die  ganze  Vorgeschichte  mit  Verwertung  moderner  psychologischer  Er- 
fahrung bietet.  —  Für  die  einzelnen  Propheten  die  modernen  Kommentare. 

Ueber  die  ekstatischen  Zuständlichkeiten  der  Propheten  glänzend  wie  immer: 
H.  Gunkel,  Die  geheimen  Erfahrungen  der  Propheten  (Vortrag,  >Suchen  der 
Zeitc  I  1903),  im  Auszug  in  den  >Schriften  des  A.  T.«  II,  2,  der  Uebersetzungen 
und  z.  T.  vortreffliche  Einzelkommentare  von  H.  Schmidt  bringt  (Amos  und 
Hosea  in  II.  i),  nebst  einer  zur  Einführung  sehr  geeigneten  Analyse  der  literari- 
schen Eigenart.  Aus  der  sonstigen  Literatur  :  Giesebrecht,  Die  Berufs- 
begabung der  alttest.  Propheten,  Göttingen  1897.  Cornill,  Der  israelit. 
Prophetismus  (6.  Aufl.  Slraßburg  1906).  Seil  in,  Der  alttest.  Prophelismus 
Leipzig  1912).  Weitere  Literatur  am  gegebenen  Ort.  Ueber  das  »Ethos«  alttest. 
Propheten  vieles  Zutreffende  bei  Troeltsch  im  »Logos«  Bd.  VI  S.  17,  wo 
der  utopische  Charakter  der  >Politik«  mit  Recht  stärker  betont  ist  als  sonst.  —  Hier 
wird  auf  alle  Einzelanalyse  verzichtet. 


2<^2  ^^^  antike  Judentum. 

Zeitgenossen  angesehen,  vor  allem :  politische  Dema- 
gogen und,  gelegentlich,  Pamphletisten  ^) .  Das  kann  zwar 
sehr  mißverstanden  werden.  Richtig  verstanden  aber  ist  es 
eine  unentbehrliche  Erkenntnis.  Es  bedeutet  zunächst:  Sie 
sprachen.  Schriftstellernde  Propheten  kennt  erst  das  Exil. 
Und  zwar  sprachen  sie  öffentlich  zum  Publikum.  Ferner  heißt 
es:  Sie  hätten  weder  ohne  die  Weltpolitik  der  die  Heimat  be- 
drohenden Großmächte  —  von  der  die  Mehrzahl  ihrer  eindrucks- 
vollsten Orakel  handeln  — ,  noch  auch  andererseits  auf  dem 
eigenen  Boden  dieser  Großmächte  selbst  entstehen  können". 
Und  dies  hatte  eben  seinen  Grund  darin,  daß  auf  deren  Boden 
eine  »Demagogie«  unmöglich  war.  Gewiß  läßt  auch  der  assyrische, 
babylonische,  persische  Großkönig,  wie  jeder  antike  und  wie 
auch  der  israelitische  Herr,  sich  durch  Orakel  in  seinen  poli- 
tischen Entschlüssen  bestimmen  oder  doch  den  Zeitpunkt  und 
die  Einzelheiten  seiner  Maßregeln  dadurch  festlegen.  Der  baby- 
lonische König  z.  B.  fragt  vor  jeder  Ernennung  eines  hohen 
Beamten  bei  den  Orakelpriestern  nach  dessen  Qualifikation. 
Indessen:  das  war  eine  höfische  Angelegenheit.  Nicht  auf  den 
Gassen  und  nicht  zum  Volk  sprach  dort  der  politische  Prophet. 
Dafür  waren  weder  die  politischen  Vorbedingungen  gegeben 
noch  wäre  es  gestattet  worden.  Es  liegen  Anzeichen  vor  und 
es  entspricht  den  Verhältnissen  der  bürokratischen  Staaten,  daß 
die  öffentliche  Prophetie  dort  ausdrücklich  verboten  war.  Ins- 
besondere galt  dies  für  die  jüdische  Exil  zeit,  wo  scharfe  Re- 
pressionen durch  Andeutungen  der  Quellen  wahrscheinlich  ge- 
macht werden.  Eine  im  Sinn  der  klassischen  Zeit  politische 
Prophetie  ist  in  Vorderasien  und  Aegypten  wenigstens  bisher 
ganz  unbekannt.  Anders  in  Israel  und  vor  allem  im  Stadtstaat 
Jerusalem. 

Die  alte  politische  Prophetie  der  Bundeszeit  hatte  sich  an 
die  Gesamtheit  der  Eidgenossen  gewendet.  Sie  war  aber  eine 
Gelegenheitserscheinung.  Eine  feste  gemeinsame  Orakelstätte 
wie  Dodona  oder  Delphoi  hatte  die  Eidgenossenschaft  nicht 
gekannt.  Das  priesterliche  Losorakel,  die  einzige  als  klassisch 
geltende  Form  der  Befragung  des  Gcttes,  war  technisch  primitiv. 


^)  So  Jesajas  Pamphlet  gegen  Sebna  (22,  15  f.)  mit  dem  Postskript  gegen 
den  in  der  ersten  Redaktion  lobend  erwähnten  Eljakim.  Ebenso  Jeremias 
schriftlicher  Fluch  gegen  Semaja. 


II.     Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  28^ 

Mit  der  Königsherrschaft  fiel  die  freie  Kriegsprophetie  dahin, 
und  schwand  das  Bundesorakel  an  Bedeutung  gegenüber  den 
Hofpropheten.  Erst  mit  dem  Steigen  der  äußeren  ,  Gefährdung 
des  Landes  und  der  Königsmacht  entfaltete  sich  die  freie  Prophe- 
tie.  Elia  war  dem  König  und  seinen  Propheten  nach  der  Tra- 
dition öffentlich  entgegengetreten;  aber  er  hatte  landflüchtig 
werden  müssen.  Ebenso  noch  Amos  unter  Jerobeam  IL  Unter 
starken  oder  durch  Anlehnung  an  eine  Großmacht  gesicherten 
Regierungen,  z.  B.  in  Juda  unter  Manasse,  schwieg  noch  nach 
Jesajas  Auftreten  die  Prophetie  oder  vielmehr:  wurde  sie  zum 
Schweigen  gebracht.  Mit  sinkendem  Prestige  der  Könige  und 
steigender  Bedrohung  des  Landes  stieg  ihre  Bedeutung  wieder. 
Zugleich  rückte  der  Schauplatz  ihres  Wirkens  immer  mehr  nach 
Jerusalem.  Von  den  ersten  Propheten  trat  Amos  an  der  Kult- 
stätte in  Bethel  auf,  Hosea  im  Nordreich.  Schon  für  Jesaja  ist 
aber  Weideland  und  Oede  identisch  (5,  17;  17,  2.  22  f.) :  er  ist 
ganz  und  gar  Jerusalemiter.  Der  Ort  seines  Auftretens  scheint 
mit  Vorliebe  der  öffentliche  Tempelhof  gewesen  zu  sein.  Dem 
Jeremia  endlich  befiehlt  Jahwe:  »Gehe  auf  die  Gassen  von 
Jerusalem  und  rede  öffentlich.«  In  Zeiten  der  Not  kommt 
es  vor,  daß  ein  König,  wie  Zedekia,  heimlich  um  ein  Gotteswort 
zum  Propheten  sendet.  Aber  in  aller  Regel  tritt  der  Prophet  auch 
dem  König  und  seiner  Familie  öffentlich,  persönlich  auf  der 
Straße  oder  durch  öffentlich  gesprochenes  oder  —  ausnahms- 
weise —  einem  Jünger  diktiertes  ^)  und  dann  ^  erbreite tes  Wort 
gegenüber.  Es  kommi  vor,  daß  einzelne  oder  auch  Deputationen 
der  Aeltesten  vom  Propheten  Orakel  erbitten  und  erhalten  (auch 
von  Jeremia:  21,  2  f.;  37,  3;  38,  14;  42,  i  f.).  Ersichtlich  weit 
häufiger  aber:  daß  er  von  sich  aus,  d.  h.  unter  einer  spontanen 
Eingebung,  auf  dem  Markt  zum  Publikum  spricht  oder  auch  zu 
den  Aeltesten  am  Tor.  Denn  der  Prophet  deutet  zwar  auch  das 
Schicksal  einzelner.  Aber  in  aller  Regel  nur  das  von  politisch 
wichtigen  Personen.  Und  weit  überwiegend  befaßt  er  sich  mit  dem 
Schicksal  des  Staates  und  Volkes.  Und  zwar  immer  in  der  Form 
emotionaler  Invektiven  gegen  die  Machthaber.  Der  »Demagoge« 
taucht  hier   zum  erstenmal  geschichtlich  beglaubigt  auf,  etwa 


^)  Daß  das  vorkam,  zeigt  die  Einsiegelung  eines  Orakels  des  Jesaja  durch 
seine  Jünger  (8,  l6)  und  das  schriftliche  Fluchorakel  des  Jeremia  gegen  Babel 
(51,  59  f.) 


284  ^^^  antike   Judentum. 

in  der  gleichen  Zeit,  wo  die  homerischen  Gesänge  die  Figur  des 
Thersites  prägten.  Aber  in  der  frühhellenischen  Polis  verläuft 
die  Versammlung  der  Notablen,  bei  der  das  Volk  in  aller  Regel 
höchstens  zuhört  und  durch  Akklamation  mitwirkt,  wie  dies  in 
Tthaka  geschildert  wird,  in  geordneter  Rede  und  Gegenrede 
und  wird  das  Wort,  durch  Ueberreichung  des  Stabes  erteilt. 
Der  Demagoge  der  perikleischen  Zeit  andererseits  ist  ein  welt- 
licher, den  Demos  durch  seinen  persönlichen  Einfluß  leitender 
Politiker,  welcher  in  der  staatlich  geordneten  souveränen  Eklesia 
spricht.  Die  homerische  Zeit  kennt  die  Befragung  des  Sehers 
inmitten  der  Versam.mlung  der  Ritterschaft.  Später  ist  das 
verfallen.  Gestalten  wie  Tyrtäos  und  die  soionische  dichterische 
Kriegsdemagogie  zur  Eroberung  von  Salamis  erinnern  wohl  am 
ehesten  an  die  alte  freie  politische  Prophetie  d^^r  israelitischen 
Eidgenossenschaft.  Aber  die  Gestalt  des  Tyrtäos  ist  mit  der 
Entwicklung  des  disziplinierten  spartanischen  Hoplitenheeres 
verwachsen,  und  Solon  war  bei  aller  Frömmigkeit  ein  rein  welt- 
licher Politiker  mit  lichtem  und  klarem,  das  Wissen  von  der 
Unsicherheit  des  Menschenloses  mit  dem  sicheren  Glauben  an 
den  Wert  des  eigenen  Volkes  verbindenden,  im  Innersten  »ratio- 
nalistischen« Geiste  und  dem  Temperament  des  Predigers  vor- 
nehmer und  dabei  frommer  Sitte.  Weit  eher  ist  die  orphische 
Religiosität  and  Prophetie  der  israelitischen  verwandt.  Mit 
diesen  plebejischen  Theologen  suchte  die  plebejerfreundliche 
Tyrannis,  vor  allem  die  der  Peisistratiden,  Verbindung.  Ebenso 
gelegentlich  die  Politik  der  Perser  in  der  Zeit  der  Unterwerfungs- 
versuche. >>Chresmologen«,  wandernde  Orakelgeber,  und  weis- 
sagende Mystagogen  aller  Art  durchzogen  im  6.  und  in  der  ersten 
Zeit  des  5.  Jahrhunderts  Griechenland,  von  Privaten  sowohl 
wie  von  Politikern,  namentlich  Exulanten,  gegen  Lohn  konsul- 
tiert. Dagegen  ist  nichts  davon  bekannt,  daß  jemals  eine  reli^ 
giöse  Demagogie  nach  Art  der  israelitischen  Propheten  in  die 
Politik  der  hellenischen  Staaten  eingegriffen  hätte.  Pythagoras 
und  seine  Sekte,  deren  politischer  Einfluß  sehr  beträchtlich  war, 
wirkten  als  Seelendirektoren  des  unteritalischen  Stadtadels,  nicht 
als  Propheten  der  Gasse.  Die  vornehmen  Weisheitslehrer  von 
der  Art  des  Thaies  verkündeten  nicht  nur  Sonnenfinsternisse  und 
spendeten  Klugheitsregeln,  sondern  griffen  sämtlich  in  die  Politik 
ihrer  Städte  ein,  teilweise  in  leitender  Stellung.  Aber  ihnen 
fehlte  die  Ekstatikerqualität.    Ebenso  Piaton  und  der  Akademie, 


II.    Die  Entstehung  des  jüdischen   Pariavolkes.  28  s 

deren  —  letztlich  utopische  —  Staatsethik  auf  die  Entwicklung 
des  Schicksals  (und  Zerfalls)  des  syrakusanischen  Reiches  von 
großem  Einfluß  war.  Die  ekstatische  politische  Prophetie  aber 
blieb  hierokratisch  organisiert  in  den  offiziellen  Orakelstätten, 
welche  auf  die  offiziellen  Fragen  der  Bürgerschaften  in  geschmei- 
digen Versen  Antwoit  gaben.  Die  feste  militärische  Ordnung  der 
Städte  lehnte  die  freie  emotionale  Prophetie  ab.  —  Dagegen  führt 
in  Jerusalem  eine  rein  religiöse  Demagogie  das  Wort,  deren  Orakel 
finstere  Geschicke  der  Zukunft  blitzartig  aus  düsterer  Schwüle 
aufleuchten  lassen,  welche  autoritär  a  iftritt  und  jede  geordnete 
Verhandlung  meidet.  Der  Prophet  war  formell  reiner  Privat- 
mann. Aber  um  deswillen  wai  er  natürlich  keineswegs  eine  den 
offiziellen  politischen  Gewalten  gleichgültige  Figur. 

Vornehme,  i,m  Königsdienst  stehende  Bürger  sind  es,  die 
Jeremias  gesammelte  Orakel  vor  den  Staatsrat  und  den  König 
bringen;  denn  jedes  solche  Orakel  war  ein  staatlich  wichtiges 
Vorkommnis.  Nicht  etwa  nur,  weil  es  die  Stimmung  der  Masse 
beeinflußte.  Sondern  auch,  weil  es  ganz  unmittelbar  magisch, 
als  Bann  wort,  böses  oder  gutes  Omen  den  Gang  der  Ereignisse 
beeinflussen  konnte.  Angstvoll,  zornig  oder  gleichgültig,  je^nach 
der  Lage,  stehen  die  Gewalthaber  diesen  mächtigen  Demagogen 
gegenüber.  Bald  suchen  sie  sie  in  ihren  Dienst  zu  ziehen,  bald 
handeln  sie  wie  König  Jojakim,  der,  in  seinem  Wintersöller 
sitzend,  mit  ostensibler  Gelassenheit  Blatt  für  Blatt  jener  ge- 
sammelten Unheilsorakel,  welche  die  Hofbeamten  ihm  vorlesen, 
ins  Herdfeuer  wirft,  bald  schreiten  sie  gegen  sie  ein.  Unter 
starken  Regierungen  war  die  Prophetie  verboten,  wie  unter 
Jerobeam  H.  die  Klage  desAmos  darüber  zeigt.  W^enn  dieser 
Prophet  Gottes  Zorn  über  Israel  verkündigt,  weil  man  das  Prophe- 
zeien zu  unterdrücken  versuche,  so  war  das  etsva  das  gleiche, 
wie  wenn  ein  moderner  Demagoge  Preßfreiheit  verlangt.  Tat- 
sächlich war  auch  das  Prophetenwort  nicht  auf  mündliche  Mit- 
teilung beschränkt.  Bei  Jeremia  tritt  es  als  offener  Brief  auf. 
Oder  Freunde  und  Jünger  des  Propheten  zeichnen  das  gespiochene 
Wort  auf  und  es  wird  zur  poHtischen  Flugschrift.  Spät'^r,  oder 
gelegentlich  (wie  ebenfalls  bei  Jeremia)  schon  gleichzeitig,  werden 
diese  Blätter  gesammelt  und  revidiert:  die  früheste  unmittelbar 
aktuelle  politische  Pamphletliteratur,  die  wir  kennen. 

Diesem  Charakter  und  der  ganzen  Situation  entspricht  nun 
auch  die  Form  und  Tonart  der  vorexilischen  Propheten.  Alles  ist 


2  86  ^^s  antike  Judenlum. 

auf  aktuelle  demagogische  Wirkung,  in  aller  Regel  von  Mund 
zu  Mund,  berechnet.  Die  Gegner  der  Propheten  werden  bei 
Micha  redend  eingeführt.  Sie  werden  ganz  persönlich  bekämpft 
und  an  den  Pranger  gestellt,  und  wir  hören  sehr  oft  von  tätlichen 
Konflikten.  Alle  Maßlosigkeit  und  die  rasendste  Leidenschaft 
der  Parteikämpfe  etwa  in  Athen,  oder  Florenz  wird  erreicht  und 
zuweilen  überboten  durch  das,  was  wir  in  den  Zornredsn  und 
Orakelflugblättern  besonders  des  Jeremia  an  Flüchen,  Drohungen, 
persönlichen  Invektiven,  Verzweiflung,  Zorn  und  Rachedurst 
finden.  Unsauberer  persönlicher  Lebenswandel  wird  den  Gegen- 
propheten in  einem  Brief  Jeremias  an  die  nach  Babylon  Fort- 
geführten nachgeredet  (29,  23).  Dem  Gegenpropheten  Chananja 
bringt  Jeremias  Fluchweissagung  den  Tod.  Wenn  Jahwe  seine 
Drohworte  gegen  das  eigene  Volk,  die  doch  er  ihm  in  den  Mund 
gelegt  hatte,  trotz  allen  Frevels  unerfüllt  läßt,  so  gerät  er  in 
Wut  und  verlangt  angesichts  des  Spottes  der  Feinde,  von  seinem 
Gott,  daß  er  den  angekündigten  Tag  des  Unheils  nun  auch  kom- 
men lasse  (17,  18),  daß  er  ihn  räche  an  seinen  Verfolgern  (15, 15), 
daß  er  die  Schuld  der  Gegner  gegen  ihn  ohne  Sühne  bestehen 
lasse  (18,  23),d.  h. :  künftig  um  so  furchtbarer  seinerseits  rächen 
möge.  Er  scheint  oft  förmlich  zu  schwelgen  in  der  Vorstellung 
von  der  Entsetzlichkeit  des  von  ihm  angekündigten,  sicher  kom- 
menden Unheils  des  eigenen  Volks.  Aber  allerdings  auf  der 
andern  Seite  —  und  das  ist  ein  Unterschied  gegen  die  Partei- 
demagogen in  Athen  und  Florenz  — :  nachdem  das  Unheil  bei 
Megiddo  und  später,  nachdem  die  jahrzehntelang  angekündigte 
Katastrophe  über  Jerusalem  hereingebrochen  ist:  keine  Spur 
von  Triumph  darüber,  daß  die  Vorhersage  recht  behalten  habe. 
Und  auch  nicht  wie  vorher  dumpfe  Verzweiflung.  Sondern  neben 
schwerer  Trauer  die  Eröffnung  von  Hoffnung  auf  Gottes  Gnade 
und  bessere  Zeiten.  Und  bei  allem  wilden  Zorn  über  die  Ver- 
stocktheit der  Hörer  läßt  er  sich  durch  Jahwes  Stimme  mahnen : 
nicht  durch  unedle  Worte  das  Recht  zu  verwirken,  Jahwes  Mund 
zu  sein:  er  solle  edle  Worte  reden,  dann  werde  Jahwe  die  Herzen 
der  Menschen  ihm  zuwenden  (15,  19).  Zwar  ungebändigt  durch 
priesterliche  oder  ständische  Konventionen  und  gänzlich  un- 
temperiert  durch  irgendwelche,  sei  es  asketische  oder  kontem- 
plative, Selbstdisziplin  entlädt  sich  die  glühende  Leidenschaft 
der  Propheten  und  öffnen  sich  in  i,hnen  alle  Abgründe  des  Men- 
schenherzens.   Und  dennoch,  trotz  aller  dieser  Menschlichkeiten, 


I 


II.    Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  287 

von  denen  diese  Titanen  des  heiligen  Fluchens  wahrlich  nicht 
frei  waren,  ist  es  dennoch  nicht  die  eigene  Person,  sondern  die 
Sache  Jahwes,  des  leidenschaftlichen  Gottes,  die  über  all  dem 
wilden  Toben  souverän  gebietet.  —  Der  Leidenschaft  des  Angriffs 
entsprach  die  Reaktion  der  Angegriffenen.  Zahlreiche  Verse, 
namentlich  wieder  des  Jeremia,  die  gelegentlich  wie  Ausgeburten 
von  Verfolgungswahn  anmuten,  schildern,  wie  die  Feinde  bald 
zischeln,  bald  lachen,  bald  drohen  und  höhnen.  Und  das  ent- 
sprach den  Tatsachen.  Auf  offener  Straße  treten  die  Gegner 
den  Propheten  entgegen,  beschimpfen  sie  und  schlagen  sie  ins 
Gesicht.  König  Jojakim  läßt  sich  den  Unheilspiopheten  Uria 
von  Aegypten  ausliefern  und  hinrichten,  und  wenn  Jeremia,  der 
wiederholt  in  Haft  genommen  und  mit  dem  Tode  bedroht  wurde, 
dem  entging,  dann  wesentlich  aus  Angst  vor  seiner  Zaabermacht. 
Stets  aber  schwebt  Leben  und  Ehre  der  Propheten  in  Gefahr 
und  lauert  die  Gegenpartei  darauf,  sie  durch  Gewalt,  List  und 
Spott,  Gegenzauber  und  Gegenprophetie  zu  vernichten.  Vor 
allem  auch  durch  Gegenprophetie.  Nachdem  Jeremia  acht  Tage 
lang  mit  einem  Jochbalken  auf  den  Schultern  umhergegangen 
ist,  um  die  Unabwendbarkeit  der  Unterwerfung  unter  Nebukad- 
nezar  handgreiflich  zu  machen,  tritt  ihm  Chananja  entgegen, 
ergreift  und  zerbricht  das  Joch,  um  das  böse  Omen  zu  zerstören, 
vor  allem  Volk.  Worauf  Jeremia  zunächst  betroffen  davongeht, 
dann  aber  mit  einem  eisernen  Joch  wieder  erscheint,  höhnisch 
fordernd,  daß  der  Gegner  auch  an  ihm  seine  Kraft  bewähre  und 
ihm  den  baldigen  Tod  verkündend.  Diese  Propheten  sind  mitten 
hineingerissen  in  einen  Strudel  von  Parteigegensätzen  und 
Interessenkonflikten.  Und  zwar  vor  allem:  in  betreff  der  aus- 
wärtigen Politik.  Das  konnte  nicht  anders  sein.  Um  Sein  oder 
Nichtsein  des  nationalen  Staatswesens  gegenüber  dem  Gegen- 
satz der  assyrischen  Weltmacht  auf  der  einen,  der  ägyptischen 
auf  der  andern  Seite  handelt  es  sich.  Partei  mußte  ergriffen 
werden  und  niemand,  der  öffentlich  wirkte,  kam  um  die  Frage 
herum:  für  wen?  so  wenig  wie  Jesus  die  Frage  erspart  blieb: 
ob  es  recht  sei,  den  Römerzins  zu  zahlen?  Ob  die  Propheten 
wollten  oder  nicht,  sie  wirkten  tatsächlich  im  Sinne  jeweils  einer 
der  sich  wütend  bekämpfenden  innerpolitischen  Koterien,  welche 
zugleich  jede  Träger  einer  bestimmten  Außenpolitik  waren,  und 
galten  daher  als  deren  Parteigenossen.  Nebukadnezar  hat  nach 
dem  zweiten  F'all  Jerusalems  in  seinem  Verhalten  zu    Jeremia 


283  ^^^  antike  Judentum. 

dem  Rechnung  getragen,  daß  der  Prophet  im  Sinn  der  Lebens- 
treue seines  Königs  gewirkt  hatte.  Wenn  wir  die  Sippe  Saphans 
durch  mehrere  Generationen  die  Propheten  ^)  und  die  deutero- 
nomische  Bewegung  stützen  sehen,  so  mag  dabei  recht  wohl  auch 
außenpolitisch .^s  Parteiinteresse  beteiligt  gewesen  sein.  Zu  glau- 
ben aber,  daß  politische  Parteigängerschaft  bei  den  Propheten 
selbst:  etwa  für  Assyrien  bei  Jesaja  oder  für  Babylon  bei  Jeremia 
bestimmend  für  den  Inhalt  der  Orakel  gewesen  sei,  durch  welche 
sie  von  Bündnissen  gegen  jene  Großmächte  abrieten,  wäre  ein 
schwerer  Irrtum.  Unter  Sanherib  hat  derselbe  Jesaja  2),  der 
vorher  in  Assur  das  Werkzeug  Jahwes  sah,  sich  im  Gegensatz 
zu  der  Verzagtheit  des  Königs  und  der  Großen  rücksichtslos 
gegen  den  Großkönig  und  gegen  die  Kapitulation  gewendet. 
Wie  er  anfangs  die  Assyrer  als  Vollstrecker  wohlverdienter  Strafe 
beinahe  begrüßte,  so  verflucht  er  später  dies  gottlose,  übermütige, 
unmenschlich  grausame,  nur  auf  Macht  und  Vernichtung  anderer 
ausgehende  Königsgeschlecht  und  Volk  und  weissagt  ihm  den 
Untergang,  den  dann  später,  als  er  einfrat,  die  Propheten  jubelnd 
begrüßten.  Und  Jeremia  hat  zwar  unablässig  die  Unterwerfung 
unter  die  Macht  Nebukadnezars  gepredigt  bis  zu  einem  Ver- 
halten, welches  wir  heute  Landesverrat  nennen  würden:  denn 
was  ist  es  anders,  wenn  er  (21,9)  beim  Anmarsch  des  Feindes 
denen,  die  überlaufen  und  sich  ergeben  werden,  Gnade  und 
Leben  in  Aussicht  stellt  und  den  andern  Verderben?  Aber  der- 
selbe Jeremia,  welcher  Nebukadnezar  noch  in  seinem  letzten 
Orakel  (aus  Aegypten)  gelegentlich  den  »Knecht  Gottes«  nennt 
(43,  10),  den  der  Vertreter  des  Königs  nach  der  Einnahme 
Jerusalems  beschenkt  und  nach  Babylon  lad,  hatte  dem  Reise- 
marschall des  Königs  Zedekia  für  die  Fahrt  nach  Babylon 
ein  Blatt  mit  einem  prophetischen  Fluch  über  diese  Stadt  mit- 
gegeben, unter  der  Anweisurg,  es  dort  laut  zu  lesen  und  dann 
in  den  Euphrat  zu  werfen  (Jer.  51,  59  ff.),  um  durch  diesen  Zauber 
die  verhaßte  Stadt  dem  Untergang  zu  weihen.  Es  zeigt  sich  in 
alledem,  daß  die  Propheten  zwar  der  Art  ihres  Wirkens  nach  ob- 
jektiv politische,  und  zwar  vor  allem  weltpolitische,  Demagogen 


1)  S.  für  Jeremia:  26,  24;  29,  3;  36,   11 ;  40,  6. 

2)  S.  über  Jesajas  politische  Stellung  insbesondere:  Küchler,  Die 
Stellung  des  Propheten  Jesaja  zur  Politik  seiner  Zeit  (Tübingen  1906).  Bemer- 
kungen darüber  auch  bei  Procksch,  Geschichtsbetrachtung  und  üeschichts- 
überlieferung  bei  den  vorexil,  Propheten  (Leipzig  1902), 


n.     Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  289 

und  PublizibLL'u  Wciven.  aber  subjektiv  nicht  politische  Partei- 
gänger. Sie  waren  überhaupt  nicht  primär  an  poUtischen  In- 
teressen orientiert.  Niemals  hat  die  Prophetie  etwas  über  einen 
»besten  Staat«  ausgesagt  (von  Hesekiels  hierokratischer  Kon- 
struktion in  der  Exilszeit  abgesehen),  niemals  vollends  versucht, 
wie  die  philosophischen  Aisymneten  und  vollends  die  Akademie, 
sozialethisch  orientierte  politische  Ideale  durch  Beratung  von 
Machthabern  in  die  Realität  umsetzen  zu  helfen.  Der  Staat  und 
sein  Treiben .  interessierten  sie  nicht  um  seiner  selbst  willen. 
Vollends  war  ihre  Fragestellung  nicht  die  der  Hellenen:  wie  man 
ein  guter  Bürger  werde?  Sondern  sie  war,  wie  wir  sehen  werden, 
ganz  und  gar  religiös,  an  der  Erfüllung  von  Jahwes  Geboten, 
orientiert.  Was  gewiß  nicht  ausschließt,  daß  wenigstens  Jeremia 
auch  die  realen  Machtverhältnisse  seiner  Zeit  vielleicht  bewußt 
richtiger  einschätzte  als  die  Heilspropheten.  Nnr  war  nicht  dies 
für  seine  Haltung  entscheidend.  Denn  diese  realen  Machtverhält- 
nisse waren  eben  nur  durch  Jahwes  Willen  so  gestaltet.  Er 
konnte  sie  ändern.  Jesajas  Mahnung  zum  Ausharren  gegen  die 
Angriffe  Sanheribs  schlug  jeder  realpolitischen  Wahrscheinlich- 
keit ins  Gesicht,  und  wenn  man  ernstlich  behauptet  hat,  er  habe 
—  vor  dem  König  selbst !  —  Nachricht  von  den  Umständen 
gehabt,  die  Sanherib  zum  Abzug  veranlaßten,  so  ist  dieser  Ratio- 
nalismus in  der  Tat  jenen  Versuchen  gleichwertig,  welche  das 
Wunder  bei  der  Hochzeit  zu  Kana  aus  der  Verwendung  von 
Likören  erklärten,  die  Jesus  heimlich  mitgebracht  habe. 

Ganz  unglaubhaft  bleiben  vollends  die  von  manchen  Pan- 
babylonisten  nicht  ohne  Geist  aufgespürten  Beziehungen  der 
Jahwepropheten  zu  innerpolitischen  Parteien  —  einei  »Priester- 
und  Bürger-Partei <<  —  der  Weltreiche,  vor  allem  der  mesopotami- 
schen.  Natürlich  ist  kein  Zweifel,  daß  dis  jeweiligen  außenpoliti- 
schen Beziehungen,  auch  die  Parteigängerschaften,  fast  stets 
religiöse  Rückwirkungen  im  Innern  hatten.  Die  Parteigänger 
Aegyptens  pflegten  ägyptische,  die  Assyriens  Babylons  und 
Phöniziens  die  dortigen  Kulte  und  im  Fall  einer  politischen 
Allianz  war  die  Verehrung  der  betreffenden  Götter  eine  fast 
unentbehrhche  Bekräftigung,  die  ein  Großkönig  bei  aller  son- 
stigen Toleranz  als  Zeichen  politischer  Obödienz  vermutlich 
geradezu  forderte.  Und  ferner  sprechen  hinlängliche  Angaben 
dafür,  daß  beispielsweise  Nebukadnezar  nicht  abgeneigt  war, 
sowohl  nach  der  ersten  wie  nach  der  zweiten  Einnahme  Jeru- 

M.1X  Weber,   Religionssoziologic  HI.  19 


200  ^^s  antike  Judentum. 

salems  und  der  Wegführung  der  ägyptisch  gesinnten  Partei  den 
Einfluß  der  Jahweverehier  ähnlich  als  Stütze  seiner  Herrschaft 
zu  benützen,  wie  später  Kyros  und  Dareios  es  taten.    Auch  die 
Politik  Nechos  nach  der  Schlacht  bei  Megiddo  scheint  schon  ähn- 
liche Wege  haben  gehen    zu   wollen  ^),    ohne  dadurch  die  Pro- 
pheten für  Aegypten  zu  gewinnen.    Als  erster  Ansatz  zu  dieser 
von   der   altassyrischen   abweichenden  wichtigen   Maxime:    mit 
Hilfe  der  einheimischen   Priester  zu  herrschen,  darf   wohl   das 
überlieferte  Entgegenkommen   der  Assyrer  gegenüber  den   reli- 
giösen Bedürfnissen  von  Samaria  nach  der  Zerstörung  '{2.  Kön. 
17,  27  f.)  gelten.    Mit  dieser  Wendung  der  Religionspolitik  der 
Großstaaten  verlor  die  Fremdherrschaft  für    die  Propheten  viel 
von  ihren  religiösen  Schrecken  und  es  liegt  nahe,  daß  dies  die 
Stellungnahme  vor  allem  des  Jeremia  mit  beeinflußt  hat.    Aber 
die  ursächliche  Bedeutung  solcher  Momente  ist  bei  ihnen  allen 
ganz  offenbar  nicht  zu  vergleichen  mit  der  Tragweite,  welche 
solche  »kirchenpolitischen«  Erwägungen  vermutlich  bei  dem  Ver- 
halten der  hellenischen  Orakel,  vor  allem:  des  delphischen  Apollon, 
den  Persern  gegenüber  gehabt  haben.   Auch  hier  war  die  Ueber- 
zeugung,  daß  das  Verhängnis  mit  den  Persern  sei,  seit  dem  wunder- 
gleichen Aufstieg  des  Kyros  und  Dareios  die  Grundvoraussetzung 
der  Haltung  der  Orakel.    Aber   die   schmeichelhafte   Devotion 
des  Königs  und  des  Mardonios  und  die  ausgiebigen  Geschenke, 
die  sie  darbrachten,  in  Verbindung  mit  der  berechtigten  Erwar- 
tung, daß  im  Falle  des  Sieges  die  Perser  auch  hier  mit  Hilfe  der 
Priester  die  Domestikation  der  entwaffneten  Bürgerschaften  be- 
werkstelligen würden,  waren  doch  höchst  substanzielle  Stützen 
dieser  Stellungnahme.    Diese  materiellen  Erwägungen  fielen  bei 
den  Propheten  völlig  fort.     Jeremia  entzog  sich  der  Einladung 
nach  Babylon,  und   von  seiner  zutreffenden  Einschätzung  der 
Machtlage  bis  zum  Bestehen  einer  internationalen  Parteigänger- 
schaft der  Priester  und  Bürger  einerseits,  des  Militäradels  anderer- 
seits, an  welche  manche  Panbabylonisten  glauben,  ist  denn  doch 
ein  sehr  weiter  Weg.    Derartiges  ist  völlig  unglaubhaft,  und  wir 
werden  sehen,  daß  die  Stellungnahme  zu  den  auswärtigen  Bünd- 
nissen überhaupt  und  insbesondere  die  sehr  beständige  Abneigung 


1)   Dafür    spricht,     daß    dem    von    ihm    eingesetzten    König    ein    theophorer 
(Jahwe-)  Name  gegeben  wurde. 


II.    Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  29I 

der  Propheten  gegen  das  ägyptische  Bündnis  durch  rein  religiöse 
Motive  gegeben  war. 

Ebensowenig  wie  in  dar  auswärtigen  war  die  Stellungnahme 
der  Propheten  in  der  inneren  Politik,  so  prononciert  sie  hervor- 
traten, primär  politisch  oder  sozialpolitisch  motiviert.  — 
Die  Propheten  sind  ihrer  ständischen  Herkunft  nach  uneinheit- 
lich. Es  ist  gar  keine  Rede  davon,  daß  sie  vorwiegend  prole- 
tarischen oder  auch  nur  negativ  privilegierten  ^)  oder  bildungs- 
losen Schichten  entstammten.  Erst  recht  nicht  wurde  ihre 
sozialethische  Stellungnahme  durch  ihre  persönliche  Abstam- 
mung bestimmt.  Denn  sie  war  durchaus  einheitlich  trotz  sehr 
verschiedener  sozialer  Herkunft.  Durchweg  vertraten  sie  leiden- 
schafthch  die  sozialethischen  Karitäts geböte  der  levitischen  Par- 
änese  zugunsten  der  kleinen  Leute  und  schleuderten  ihre  zornigen 
Flüche  mit  Vorliebe  gegen  die  Großen  und  Reichen.  Aber  Jesaja, 
der  dies  unter  den  älteren  Propheten  mit  am  heftigsten  tat,  war 
ein  Abkömmling  aus  vornehmer  Sippe,  vornehmen  Priestern  eng 
befreundet,  verkehrte  mit  dem  König  als  Berater  und  Arzt  und 
war  ohne  Zweifel  in  seiner  Zeit  eine  der  angesehensten  Persönlich- 
keiten der  Stadt.  Zephanja  war  ein  Davidide  und  Urenkel  des 
Hiskia,  Hesekiel  ein  vornehmer  Jerusalemiter  Priester.  Diese 
Propheten  waren  also  begüterte  Jerusalem  iten.  Micha  und 
Jeremia  stammten  der  eine  aus  einer  Kleinstadt,  der  andere  aus 
einem  Dorfe,  Jeremia  aus  einer  landpriest erlichen  Sippe,  die  mit 
Grundbesitz  angesessen  war,  vielleicht  dem  alten  Elidenhause  ^). 
Er  kaufte  verarmten  Verwandten  Land  ab.  Nur  Amos  war  ein 
kleiner  Viehzüchter:  er  nennt  sich  einen  Hirten,  der  von  Syko- 
morenfrüchten  (der  Nahrung  der  Armen)  gelebt  habe,  und 
stammte  aus  einer  Kleinstadt  Judas,  war  dabei  aber  ersichtlich 
sorgfältig  gebildet:  gerade  er  kennt  z.  B.  den  babylonischen 
Tiamat-Mythos.  Aber  wie  Jesaja,  bei  allen  schweren  Fluchworten 
gegen  die  Großen,  doch  die  Herrschaft  des  ungebildeten  zucht- 
losen Demos  als  den  ärgsten  aller  Flüche  verkündet,  so  ist  auch  Jere- 
mia trotz  seiner  immerhin  demokratischeren  Herkunft  und  bei  einer 


*)  Dies  ist  namentlich  für  Amos  (z.  B.  von  Winckler)  behauptet  worden. 
JVTit  Recht  dagegen:    Küchler  a.  a.  O. 

*)  Für  diese  natürlich  unbeweisbare  Annahme  spricht  die  Art,  wie  er 
wiederholt  Silo  als  die  erste  Stätte  der  reinen  Jahwe- Verehrung  erwähnt  und 
die  Zerstörung  Jerusalems  mit  der  zweifellos  halb  vergessenen,  Jahrhunderte 
aurückliegenden,  Verwüstung  von   Silo  vergleicht. 

19  ♦ 


2g2  Das  antike  Judentum. 

noch  schärferen  Tonart  gegen  die  Frevel  des  Hofs  und  der  Großen 
ganz  ebenso  scharf  gegen  die  plebejischen  Minister  Zedekias. 
Auch  er  hält  es  für  selbstverständlich,  daß  kleine  Leute  nichts 
von  religiösen  Pf  Hebten  verstehen.  Von  den  Großen  dagegen 
könnte  man  das  verlangen  und  eben  deshalb  waren  sie  des  Fluches 
wert.  Ein  persönliches  Moment  könnte  bei  diesem  Propheten 
vielleicht  bei  der  besonders  scharfen  Gegnerschaft  gegen  die 
Jerusalemiter  Priester  dann  mitspielen,  wenn  er  wirklich  von 
dem  einst  zugunsten  des  Zadok  von  Salomo  nach  Anathot  ver- 
bannten Priester  Abjathar  abstammen  würde.  Aber  auch  das 
spielt  gegenüber  den  sachlichen  Gründen  höchstens  eine  ver- 
schärfende Rolle.  Jedenfalls  aber  war  kein  Prophet  Träger 
»demokratischer«  Ideale.  Das  Volk  bedarf  in  ihren  Augen  der 
Leitung  und  auf  die  Qualitäten  der  Leitenden  kommt  daher  alles 
an  (Jes.  i,  26;  Jer.  5,  5).  Kein  Prophet  verkündet  vollends  irgend 
ein  religiöses  »Naturrecht«  und  noch  weniger  gar  ein  Revolutions- 
oder Selbsthilferecht  der  von  den  Großen  gequälten  Massen.  In 
etwas  derartigem  würden  sie  zweifellos  den  Gipfel  der  Gottlosig- 
keit erblickt  haben.  Sie  desavouieren  ihre  gewaltsameren  Vor- 
läufer: Jehus  Revolution,  ein  Werk  der  Elisaschule  und  der 
Rechabiten,  verwarf  Hosea  mit  den  schärfsten  Flüchen  und 
kündete  Jahwes  Rache  dafür  an.  Kein  Prophet  war  —  mit  der 
charakteristischen  Ausnahme  der  theologischen  Idealkonstruk- 
tion eines  Zukunftsstaats  bei  Hesekiel  in  der  Exilszeit  --  Ver- 
künder sozialpolitischer  Programme.  Sondern:  was  sie  an  posi- 
tiven sozialethischen  Forderungen  mehr  voraussetzen  als  ihrer- 
seits aufstellen,  entspricht  der  levitischen  Paränese,  deien  Exi- 
stenz und  Kenntnis  bei  allen  als  selbstverständlich  behandelt  ist. 
Die  Propheten  sind  also  nicht  ihrerseits  Träger  demokratischer 
sozialer  Ideale,  sondern  die  politische  Situation:  die  Existenz 
einer  starken  politisch-sozialen  Opposition  gegen  das  Fronkönig- 
tum und  die  gibborim,  gab  ihrer  primär  religiös  bedingten  Ver- 
kündigung den  Resonanzboden  und  wirkte  auch  auf  den  Inhalt 
ihrer  Vorstellungswelt  ein.  Dies  aber  geschah  durch  Vermittlung 
derjenigen  Intellektuellen  schichten,  welche  die  Er- 
innerung an  die  alten  Traditionen  der  vorsalomonischen  Zeit 
pflegten  und  ihnen  sozial  nahestanden. 

Ständisch  einte  die  Propheten  ein  wichtiges  Prinzip:  die 
Unentgeltlichkeit  ihrer  Orakel.  Sie  schied  sie  von  den 
Königspropheten,   die   von   ihnen   als    Landverderber   verflucht 


II.    Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes,  293 

werden  und  von  allem  Eiwerbsbetrieb  nach  Art  der  alten  Seher 
oder  Traumdeuter,  die  sie  verachten  und  verwerfen.  Die  voll- 
kommene innere  Unabhängigkeit  der  Propheten  war  dabei  nicht 
50  sehr  die  Folge,  als  vielmehr  eine  der  wichtigsten  Ursachen 
jener  Praxis.  Sie  kündeten  vorwiegend  Unheil  und  niemand 
konnte  wissen,  ob  er  bei  einer  Anfrage  nicht  wie  König  Zedekia 
eine  Unheilsweissagung  empfing,  und  damit  ein  böses  Omen. 
Ein  solches  bezahlt  man  nicht  und  einem  solchen  setzt  man  sich 
auch  nicht  aus.  Vornehmlich  ungebeten  und  von  sich  aus  ge- 
trieben, selten  auf  Anfrage,  schleudern  daher  die  Propheten  ihre 
oft  furchtbaren  Orakel  der  Hörerschaft  entgegen.  Aber  als  stän- 
disches Prinzip  entspricht  jene  Praxis  der  Unentgeltlichkeit  der 
gleichartigen  Praxis  gerade  vornehmer  Intellektuellenschichten; 
religionssoziologisch  wichtige  Ausnahmen  davon  waren  die  spä- 
tere Uebernahme  dieses  Prinzips  durch  die  plebejischen  In- 
tellektuellenschichten der  Rabbinen,  und  von  da:  der  christlichen 
Apostel.  —  Auch  ihre  )>Gemeinde«,  soweit  man  den  Ausdruck 
gebrauchen  kann  (worüber  später),  fanden  die  Propheten  keines- 
wegs nur  oder  vorwiegend  im  Demos.  Im  Gegenteil:  wenn  sie 
überhaupt  einen  persönlichen  Anhalt  hatten,  so  waren  einzelne 
vornehme  fromme  Häuser  in  Jerusalem  die  Patrone,  zuweilen  durch 
mehrere  Generationen.  Bei  Jeremia  die  gleiche  Sippe,  welche 
auch  bei  der  »Auffindung«  des  Deuteronomium  beteiligt  war. 
Unter  den  Sekenim,  als  den  Hütern  der  frommen  Traditionen  und 
vor  alle.Ti:  des  überlieferten  Respekts  vor  der  Prophetie,  fanden 
sie  am  ehesten  Rückhalt.  So  Jeremia  bei  seinem  Kapitalprozeß, 
ebenso  Hesekiel,  den  die  Aeltesten  im  Exil  konsultieren.  Niemals : 
bei  den  Bauer  n.  Zwar  alle  Propheten  eifern  geger  die  Schuld- 
versklavung, die  Pfändung  der  Kleidung,  überhaupt  die  Verlet- 
zung der  Karitätsgebote,  wfelche  den  kleinen  Leuten  zugute 
kam.en.  In  Jeiemias  letzter  Zukunftshcffnung  sind  Bauern  und 
Hirten  die  Träger  der  Frömmigkeit.  Aber  in  dieser  Art  ist  das 
auch  nur  bei  ihm  der  Fall.  Und  auch  zu  seiner  Anhängerschaft 
gehörten  die  Bauern  so  wenig  wie  die  ländliche  Squirearchie. 
im  Gegenteil  war  der  am  haarez  je  länger  je  mehr  Gegner  der 
Propheten,  speziell  auch  des  von  seiner  eigenen  Sippe  bekämpften 
Jeremia,  weil  sie  als  stienge  Jahwisten  gegen  die  ländliche 
Orgiastik  der  Ackerbaukulte  tind  die  damit  am  stärksten  be- 
fleckten, also  die  ländlichen,  vor  allem:  die  Baalkultstätten. 
eiferten    .n  ,]»^}y^n  die  f  andh-ovölkerung  aus  ökonomischen  sowohl 


2Q4.  T>^s  antike  Judentum. 

wie  aus  idealen  Gründen  hing.  —  Nie  fanden  sie  Rückhalt  beim 
König.  Denn  sie  waren  Träger  der  jahwistischen,  gegen  das 
mit  realpolitisch  notwendigen  Konzessionen  an  fremde  Kulte, 
mit  Trunk  und  Völlerei,  mit  den  salomonischen  fronstaatlichen 
Neuerungen  belastete  Königtum  sich  wendenden,  Tradition.  Bei 
keinem  Propheten  spielt  Salomo  die  geringste  Rolle.  Stets  ist,  wenn 
überhaupL  ein  König  erwähnt  wird,  David  der  fromme  Herrscher. 
Die  Könige  des  Nordreichs  gelten  dem  Hosea  als  illegitime,  weil 
ohne  Jahwes  Willen  zum  Thron  gelangte  Usurpator  ui.  Amos 
nennt  die  Nasiräer  und  Nefcijim  unter  den  Institutionen  Jahwes, 
aber  nicht:  den  König.  Zwar  die  Legitimität  der  Davididen  hat 
kein  Prophet  angefochten.  Aber  der  Respekt  auch  vor  dieser 
Dynastie,  so  wie  sie  war,  war  nur  ein  bedingter.  Jesajas  Immanuel- 
Prophetie  war  doch  wohl  die  Verkündigung  eines  gottgesendeten 
Ursurpators.  Und  doch  war  bei  ihm  am  meisten  Davids  Zeit- 
alter der  Höhepunkt  der  nationalen  Geschichte.  Vollends  die 
Rücksichtslosigkeit  der  Angriffe  gegen  das  Verhalten  der  einzelnen 
zeitgenössischen  Könige  stieg.  Solche  rasenden  Ausbrüche  des  Zorns 
und  der  Verachtung  wie  bei  Jeremia  gegen  Jojakim,  der  wie  ein  Esel 
verscharrt  (22,  19),  und  gegen  die  offenbar  am  Astartekult  be- 
teiligte Königin-Mutter,  der  die  Röcke  über  den  Kopf  gezogen 
werden  sollen,  daß  jeder  ihre  Schande  sehen  möge  (135  18  ff.) 
finden  sich  nicht  oft.  Aber  schon  Jesaja  ruft  sein  Wehe  über 
das  Land,  dessen  König  »ein  Kind  ist  und  von  Weibern  geleitet 
wird«  und  dem  Herangewachsenen  trat  er  peisönlich  schroff 
entgegen.  Von  Elia  hat  die  prophetische  Tradition  absichtlich 
gerade  seine  Konflikte  mit  Ahab  aufbewahrt.  Die  Könige  ver- 
galten diese  Abneigung.  Nur  in  unsicheren  Zeiten  lassen  sie  sie 
gewähren,  fühlen  sie  sich  aber  sicher,  so  greifen  sie,  wie  Manasse, 
zu  blu+iger  Verfolgung.  Den  Zorn  der  Propheten  gegen  die 
Könige  erregte,  neben  der  politisch  bedingten  Pflege  fremder  oder 
unkorrekter  Kulte,  vor  allem  die  in  ihren  Mitteln  und  Voraus- 
setzungen unheilige  Weltpolitik  als  solche.  Insbesondere:  das 
Bündnis  mit  Aegypten.  Obwohl  flüchtige  Jahwepropheten,  wie 
Uria,  in  Aegypten  Zuflucht  fanden,  obwohl  ferner  die  ägyptische 
Herrschaft  sicherlich  die  weit  sanftere  und  religiös  ganz  un- 
propagandistische war,  warfen  sich  die  Propheten  gerade  gegen 
dieses  Bündnis  am  stärksten  in  Harnisch.  Der  Grund  Iritt  bei 
Jesaja  (28,  18)  hervor:  Es  ist  der  »Bund  mit  Scheol«,  d.  h. :  mit 
den    chthonischen    Göttern    des    Totenreichs,    den     sie     \erab- 


II.    Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  295 

scheuen  ^) .  Man  sieht :  sie  stehen  darin  v^ollkommen  auf  dem 
Boden  der  priesterlichen  Tradition,  und  ihre  politische  Haltung 
ist  auch  in  solchen  Einzelzügen  durchaus  religiös  und  nicht  real- 
politisch bedingt.  Wie  gegen  den  König,  so  eifern  die  Propheten 
auch  gegen  die  Großen:  vor  allem  die  Sarim  und  Gibborim. 
Sie  verfluchen  neben  der  Ungerechtigkeit  ihres  Gerichts  vor 
allem  ihre  unfromme  Lebensweise  und  Völlerei.  Aber  es  ist  deut- 
lich zu  erkennen,  daß  der  Gegensatz  von  solchen  Einzellastern 
unabhängig  war.  Der  König  und  die  politisch-militärischen 
Kreise  konnten  mit  den  rein  utopisch  orientierten  Mahnungen 
und  Ratschlägen  der  Propheten  schlechterdings  nichts  anfangen. 
Wenn  schon  die  hellenischen  Staaten  des  6.  und  5.  Jahrhunderts 
zwar  die  Orakel  regelmäßig  konsultierten,  aber  —  obwohl  diese 
dort  durchweg  politisch  orientiert  waren  ■ —  gerade  in  den 
Zeiten  großer  Entscheidungen,  wie  z.  B.  über  den  Perserkrieg, 
schließlich  nicht  befolgten,  so  war  dies  den  Königen  von 
Juda  überhaupt  in  aller  Regel  politisch  unmöglich.  Und  das 
Wardegefühl  der  dem  prophetischen  Glaub3n  hier  wie  überall 
gleich  fernstehenden  Ritterschaft  zumal  mußte  die  Würde- 
loäigkeit  der  Ratschläge  Jeremias  gegenüber  Babylon  ohne 
weiteres  ablehnen.  Ihr  waren  diese  auf  der  Gasse  schreienden 
Ekstatiker  an  sich  verächtlich.  Offensichtlich  ist  andererseits, 
daß  die  von  den  Ititelligenzschichten  genährte  populäre  Oppo- 
sition gegen  die  vornehme  Kriegerschaft  und  den  Patriziat  der 
Königszeit  als  solche  bei  der  Haltung  der  Propheten  mitspielte. 
Der  Geiz  ist  das  vornehmste  aller  Laster,  d.  h. :  die  Bewucherung 
der  Armen.  Und  für  die  königliche  Armee  interessieren  sich  diese 
Propheten  nicht.  Ihr  Zukunftsreich  ist  ein  Friedensreich.  Dabei 
waren  sie  keineswegs  an  sich  so  etwas  wie  »kleinjüdische«  Pazi- 
fisten. Die  Herrschaft  über  Edom  und  über  jene  Völker,  »über 
welche  Jahwes  Name  genannt  ist«,  wurde  Juda  von  Arnos 
(9,  12)  verheißen.  Und  die  alten  populären  Weltherrschafts- 
hoffnun^en  brachen  immer  wieder  durch.  Aber  zunehmend  geht 
die  Ansicht  dahin:  ausschließlich  durch  ein  Gotteswunder,  wie 
einst  am  Schilfmeer,  nicht  aber  durch  eigene  Militärmacht  werden 
die  politischen  Ansprüche  Israels  verwirklicht  werden.  Am  aller- 
wenigsten aber  durch  politische  Bündnisse.   Gegen  diese  richtet 


'^*)  Daß  an   einer  andern  Stelle  unter  den  Göttern,  die  Jahwe  vernichten 
sTird,  geradezu  Osiris  genannt  sei,  ist  eine  Konjektur  Duhms. 


2q6  Das  antike  Judentum. 

sich  der  Zorn  der  Propheten  immer  aufs  neue.  Der  Grund  der 
Gegnerschaft  ist  wiederum  ein  religiöser.  Es  ist  keineswegs  nur 
die  Gefahr  fremder  Kulte.  Sondern  daß  Israel  in  der  berith  mit 
Jahwe  steht,  dem  niemand  Konkurrenz  machen  darf,  keinen- 
falls  das  Vertrauen  auf  menschliche  Hilfe:  das  ist  gottloser 
Unglaube,  der  Jahwe  erzürnt.  Wenn  Jahwe  das  Volk,  wie  Jeiemia 
sah,  zur  Untei werfung  unter  Nebukadnezar  bestim.mt  hatte, 
so  hatte  man  sich  dem  zu  fügen.  Bündnisse  zum  Schutz  gegen  die 
Großkönige  waren  Frevel,  solange  sie  Vollstrecker  seines  Willens 
waren.  Waren  sie  es  nicht  und  wollte  er  also  Israel  helfen,  so 
half  er  allein,  lehrte  Jesaja,  der  aus  diesem  Grund  wohl  als  erster 
unermüdlich  gegen  ausnahmslos  jedes  im  Werk  befindliche  Bünd- 
nis eiferte.  Man  sieht :  alles,  sowohl  in  der  außenpolitischen  wie 
in  der  innenpolitischen  Haltung,  war  rein  religiös  motiviert, 
nichts"  realpolitisch.  Religiös  bedingt  war  schließlich  auch  die 
Beziehung  zu  den    Priestern. 

Kein  Prophet  vor  Hesekiel  nennt  die  Priester  mit  positi\er 
Bewertung.  Amos  kennt,  wie  schon  gesagt,  nur  Nasiräer  und 
Nebijim  als  Jahwes  Werkzeuge,  nennt  aber  die  Priester  nicht. 
Und  schon  die  bloße  Existenz  dieser  Art  von  freier  Prophetie 
ist  für  die  Zeit  ihres  Emporkommens  ein  klares  Symptom  \  on 
Schwäche  der  Priestergewalt.  Wäre  die  Stellung  der  Priester 
schon  die  gleiche  gewesen  wie  in  Aegypten  oder  auch  nur  wie 
in  Babylon  oder  wie  in  Jerusalem  "nach  dem  Exil,  so  wäre  die 
freie  Prophetie  zweifellos,  als  gefährlichste  Konkurrentin,  von 
ihnen  erstickt  worden.  Aber  das  war  infolge  des  ursprünglichen 
Fehlens  einer  zentralen  Kultstätte  und  eines  offiziellen  Opfers 
in  der  Bundeszeit  und  bei  dem  feststehenden  Prestige  der  alten 
Königspropheten  und  Seher  und  dann  des  Elia  und  der  Elisa- 
ächule  nicht  möglich.  Mächtige  Sippen  fromm.er  Laien  standen 
hinter  den  Propheten  und  die  Priester  mußten  sie  daher  gewähren 
lassen,  so  schroff  die  Gegensätze  oft  aufeinanderstießen.  Keines- 
wegs durchgängig  war  dies  freilich  der  Fall.  Jesaja  stand  mit 
Priestern  von  Jerusalem  in  enger  Verbindung,  Hesekiel  war 
durchaus  priesterlich  orientiert.  Andererseits  finden  wir  aber 
die  denkbar  schärfsten  persönlichen  Konflikte  mit  den  Kult- 
priestern gleich  zuerst  bei  Amos  in  Bethel  und  noch  zuletzt  bei 
Jeremia  in  Jerusalem.  Der  Prozeß  des  letzteren  (Jer.  26)  mutet 
fast  wie  ein  Vorspiel  zu  dem  an,  was  600  Jahre  später  am  gleichen 
Ort  geschah,  und  die  Ueberlieferung  der  Vorgänge  hat  vielleicht 


II.    Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  297 

in  der  Tat  irgendwie  darauf  nachgewirkt.    Jeremia  wurde  auf 
den  Tod  angeklagt,  weil  er  dem  Tempel  das  Schicksal  des  von 
den  Philistern  dereinst  zerstörten  Heiligtums  in  Silo  geweissagt 
hatte.    Er  wurde  vor  das   Gericht  der  Beamten  und  Aeltesten 
geschleppt,  und  die  Priester  und  Heilspropheten  fungierten  als 
seine  Ankläger.    Aber  der  Unterschied  der  Zeiten  zeigte  sich  im 
Resultate:  Jeremia  wurde  auf  Veranlassung  der  Aeltesten  trotz 
der  Anklage  der  Priestei    freigesprochen  mit  der  Begründung, 
daß    der    Präzedenzfall   des    Micha   vorliege,    der    unter   Hiskia 
ähnliches    geweissagt    habe^).     Der  Vorgang  ergibt    immerhin, 
daß  Weissagungen  gegen  den  Tempel  selbst  selten  waren.    Und 
vor  allem  enthielten  auch  derartige  Orakel  ja    letztlich    keine 
Anzweiflung  seiner  Legitimität.    Zwar  tröstete  Jeremia  sich  und 
andere  später  über  den  Verlust  der  heiligen  Lade  unter  Nebukad- 
nezar  leicht.    Aber  immerhin  behandelt  jene  Weissagung   den 
Tempelsturz  doch  als  an  sich  ein  Unheil,  welches  nur  bedingt 
als  Sündenstrafe  für  den  Fall  fehlender  Bekehrung,  in  Aussicht 
gestellt  wurde  (26,  13).   In  der  Tat  hat  kein  Prophet  den  Tempel 
geradezu  bekämpft.    Arnos,  der  das  Opfer  in  Bethel  und  Gilgal 
geradezu  ein  »Freveln«  nennt  (4,  4;  5,  5),  meint  damit  vermut- 
lich zunächst  nur  die  bei  allen  Vertretern  der  Hirtenfrömmigkeit 
tief  verhaßten  Kultformen  der  Ackerbauer.    Das  Volk  soll    da 
nicht  hingehen,   sondern   »Jahwe  suchen«   (das.),   und    als    Sitz 
Jahwes  kennt  Amos  den  Zion,  wie  Hosea  Juda  als  einzig  un- 
befleckte Stätte  Jahwes.    Jesajas  Zuversicht  auf  die  Uneinnehm- 
barkeit Jerusalems  in  seinen  Spätorakeln  war  zweifellos  auf  den 
Tempel  gegründet.    In  einer  Tempelvision  hatte  er  ja  in  seiner 
Jugend  den  himmlischen  Hofstaat  gesehen.    Für  Micha  blieb 
trotz  seines  Unheilsorakels  der  Zion  in  Zukunft  die  Stätte  der 
reinen  Thora  und  Prophetie  Jahwes.    Nur  gegen  die  Unreinheit 
auch  des  dortigen  Kults:  vor  allem  die  Befleckung  durch  Hiero- 
dulen,    eiferten  die  Propheten.    Noch  bei  Hosea  erschöpft  sich 
fast  die  ganze  Kraft  des  Propheten  im  Kampf  gegen    die  Baal-- 
kulte,    der    dann    die    vorexilische  Prophetie   durchzieht.    Aber 
allerdings  eifern  sie  nirgends    für    den  korrekten  Priesterkult. 
Jeremia  hat  das  Deuteronomium,  also  die  Zentralisierung  des 
Kults  im  Tempel  von   Jerusalem,  offenbar  anfänglich  begiüßt 
(11,  3),  um  freilich  später  (8,8)  es  als  Produkt  des  »Lügengriffels 


*)  In  der  jetzigen  Fassung  bei  Micha  (j,  55)  stimmt  das  nicht  ganz. 


2q8  Das  antike  Judentum. 

der  Schreiber«  zu  bezeichnen,  weil  seine  Urheber  an  dem  falschen 
Gottesdienst  festhalten  (8,  5)  und  das  Propheten  wort  ver- 
werfen (8,  9).  Was  damit  gemeint  ist,  ergibt  eine  andeie  Stelle 
(7,  4.  II  ff.)  klar:  der  Tempel  an  sich  ist  nutzlos  und  wird  das 
Schicksal  Silos  erleiden,  wenn  nicht  das  Entscheidende:  die 
Wandlang  in  der  Lebensführung,  erfolgt.  Neben  einzelnem 
sozialethischem  Unrecht  wird  hier  vor  allem  das  Vertrauen  auf 
»unnötige  Lügenworte<<  (der  Zionspriester)  hervorgehoben  (7,  8). 
Dies  letzte  war  eben  das  allein  Entscheidende:  der  Ungehorsam 
gerade  der  Priester  gegen  jene  göttlichen  Gebote,  welche  der 
Prophet  als  unmittelbar  von  Jahwe  eingegeben  verkündet.  Und 
außerdem:  ihre  persönliche  Sündhaftigkeit.  In  typischer  Art 
erkennt  so  der  persönliche  Charismatiker  das  Amts-Charisma 
nicht  als  Qualifikation  zum  Lehren  an,  wenn  der  lehrende  Priester 
persönlich  unwürdig  ist.  Für  die,  am  Kult  nicht  beteiligten,  Pro- 
pheten war  natargemäß  die  Lehre  des  göl  tlichen  Wortes  (dabar), 
wie  sie  es  vernahmen,  das  religiös  allein  Wichtige  und  also  auch 
an  der  Tätigkeit  der  Priester  die  Lehre  (thora),  nicht  der  Kult 
(Jer.  8,6;  18,  18),  auch  in  Jerusalem  (Micha  4,  2).  Ebenso  war 
ihnen  naturgemäß  beim  Volk  nur  der  Gehorsam  gegen  die  debarim 
und  die  thora  wichtig  und  nicht  das  Opfer.  Und  ebenso  nicht 
jene  rituellen  Gebote,  welche  später  im  Exil  zu  so  aus- 
schlaggebender Bedeutung  gelangten:  Sabbat  und  Beschneidung. 
Des  Sabbat  des  ungehorsamen  Volks  ist  Jahwe  schon  bei  Amos 
—  einem  Hirten!  —  satt  i),  und  der  äußeren  Beschneidung 
setzt  Jeremia  (9,  24  f.)  die  »Beschneidung  der  Vorhaut  des 
Herzens«  als  allein  wesentlich  entgegen.  Nicht  eine  Ablehnung, 
wohl  aber  eine  starke  Entwertung  aller  Riten  ist  daraus  heraus- 
zuhören. Die  Propheten  haben  auch  hier  die  aus  der  Thora 
erwachsenen  Konzeptionen  der  Intellektuellen  akzeptiert :  Jahwe 
war,  wenigstens  dem  Postulat  nach,  ein  Gott  gerechter  ethischer 
Vergeltung  und  das  (diesseitige)  Glück  des  Einzelnen  — 
von  dem  Jesaja  3,  10  die  Rede  ist  —  galt  ihnen  ebenso  ^Is  un- 
mittelbare »Frucht  der  Werke«,  wie  das  des  Volks:  diese  massive 
ethische  Werkgerechtigkeit  stand,  bei  den  älteren  Propheten 
wenigstens,  dem  ebenso  massiven  Ritualismus  der  Priester  gegen- 
über.    Der    Gegensatz    gegen    die    priesterliche    Bewertung  des 


1)  Daß    Jer.    17,    19  f.    nicht    von   Jeremia    stammt,  ist    mit  Recht    all- 
gemein angenommen  worden. 


II.     Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  200 

Opfers  insbesondere  steigerte  sich,  namentlich  bei  Arnos  und 
Jere.nia,  bis  zu  völliger  Entwertung.  Opfern  ist  von  Jahwe  nicht 
befohlen  und  daher  nutzlos  (Jer.  6,  20;  7,  21).  In  der  Wüste 
habe  man  nicht  geopfert,  argumentiert  schon  Amos  (5,  5).  Wenn 
das  Volk  ungehorsam  ist,  seine  Hände  voll  Blut  sind,  dann  sind 
Jahwe  alle  seine  Opfer  und  Fasten  ein  Greuel,  lehrte  auch  Jesaja 
(i,  II  f.).  Daß  in  solchen  Worten  keine  bedingungslose  Ver- 
werfung von  Kult  und  Opfer  Hege,  ist  bei  Jesajas  Beziehung 
zur  Priesterschaft  und  seiner  Schätzung  der  Tempelburg  als 
sicher  anzunehmen  und  gilt  daher  wohl  auch  für  die  anderen 
Propheten.  Immerhin  ist  die  Haltung  zum  Opfer  in  den  Orakeln 
kalt  bis  zur  Feindseligkeit.  Es  klingt  eben  in  alledem  in  der 
Prophetie  das  »nomadische  Ideal«,  infolge  der  Verklärung  dieser 
königlosen  Vergangenheit  di.rch  die  Literatentradition,  stark  an. 
Zwar  ist  selbst  der  Hirte  Amos,  da  er  Juda  Weiijreichtum  ver- 
heißt (9,  13),  ebensowenig  ein  Rechabit  gewesen  wie  Jeremia, 
der  einzige  Prophet,  der  mit  dem  Orden  in  persönliche  Beziehung 
trat  und  dessen  Frömmigkeit  Israel  als  exemplarisch  vorhielt, 
selbst  aber  noch  im  xA.lter  einen  Acker  kaufte.  Aber  verglichen 
mit  der  üppigen  und  deshalb  hochmütigen  und  Jahwe  ungehor- 
samen Gegenwart  blieb  doch  die  Wüstenzeit  auch  den  Propheten 
die  eigentlich  fromme  Epoche.  Zur  Steppe  wird  Israel  in  der 
Endzeit,  durch  die  Verwüstung,  wieder  werden,  und  der  Heils - 
könig  sowohl  wie  die  Uebriggebliebenen  essen  die  Steppen- 
nahrung: Honig  und  Rahm. 

Man  hat  die  Haltung  der  Propheten,  alles  in  allem,  oft  als 
7 Kulturfeindschaft«  bezeichnet.  Das  darf  nicht  als  persönliche 
'>Kulturlo3igkeit«  verstanden  werden.  Sie  sind  vielmehr  nur  auf 
dem  großen  Resonanzboden  der  weltpolitischen  Bühne  ihrer 
Zeit  und  ebenso  nur  im  Zusammenhang  mit  einem  weitverbreiteten 
Kulturraffinement  und  einer  starken  Bildungsschicht  denkbar, 
wenn  auch  andererseits,  aus  den  erörterten  politischen  Gründen, 
nur  im  Rahmen  eines  Kleinstaates,  ähnlich  wie  etwa  Zwingli 
nur  in  einem  Kanton.  Sie  alle  waren  schriftkundig  und  offenbar 
im  ganzen  zutreffend  orientiert  über  die  Eigenart  der  ägyptischen 
und  mesopotamischen  Kultur,  insbesondere  auch  die  Gestirn- 
kunde, wie  denn  die  Art  des  Gebrauches  der  heiligen  Zahlen, 
z.  B.  der  70  bei  Jeremia,  auf  eine  mehr  als  nur  ungefähre  Be- 
kanntschaft Wohl  schließen  läßt.  Jedenfalls  aber  ist  kein  Zug 
überliefert,  der  auf  irgendwelche  Ansätze    von  Weltflucht  oder 


^OO  ^^^  antike  Judentum. 

KulturablehiiLing  im  indischen  Sinne  schließen  ließe.  Die  Pro- 
pheten kennen  außer  der  Thora  auch  die  chokma  oder  'ezah 
(Jer.  18,  18)  der  Lebensklugheitslehrer  (chakamim).  Aber  frei- 
lich dürfte  andererseits  ihre  Bildungsstufe  mehr  den  Orphikern 
und  Volkspropheten  in  Hellas  als  den  vornehmen  Weisen  von 
der  Art  des  Thaies  entsprochen  haben.  Nicht  nur  allen  ästhe- 
tischen und  allen  Werten  vornehmer  Lebensführung  überhaupt, 
sondern  auch  aller  weltlichen  Weisheit  stehen  sie  mit  ganz  frem- 
den Augen  gegenüber.  Auch  diese  Haltung  wurde  zwar  gestützt 
durch  die  traditionelle  antichrematistische,  dem  Hof,  den  Be- 
amten, den  gibborim  und  den  Priestern  abgeneigte  Haltung 
der  puritanisch  Frommen  ihrer  Umwelt.  Innerlich  bedingt  aber 
war  sie  rein  religiös  durch  die  Art,  wie  sie  ihre  Erlebnisse  verar- 
beiteten.    Diesen  müssen  wir  uns  jetzt  zuwenden. 

Psychologisch  angesehen  waren  von  den  Propheten  der 
vorexilischen  Zeit  die  große  Mehrzahl  —  nach  den  Selbstzeug- 
nissen jedenfalls:  Hosea,  Jesaja,  Jeremia,  Hesekiel  —  zweifellos, 
und  man  kann  ohne  allzugroße  Unvorsichtigkeit  sagen:  nach 
sicherer  Vermutung  alle,  wenn  auch  in  sehr  verschiedenem  Grade 
und  Sinn,  Ekstatiker.  Schon  ihre  persönliche  Lebensführung, 
soweit  wir  davon  etwas  hören,  war  die  von  Sonderlingen.  Jereniia 
bleibt  auf  Jahwes  Befehl,  weil  das  Unheil  bevorsteht,  ledig. 
Hosea  scheint  auf  Jahwes  Befehl  tatsächlich,  vielleicht  wieder- 
holt, eine  Dirne  geheiratet  zu  haben.  Jesaja  verkehrt  auf  Jahwes 
Befehl  (8,  3)  mit  einer  Prophetin,  deren  Kind  er  dann  den  vorher 
ihm  vorgeschriebenen  Namen  gibt.  Seltsame  symbolische  Namen 
der  Prophetenkinder  spielen  überhaupt  eine  große  Rolle.  Patho- 
logische Zuständlichkeiten  und  pathologische  Handlungen  ver- 
schiedenster Art  begleiten  ihre  Ekstase  oder  gehen  ihr  voran. 
Es  ist  nicht  zweifelhaft,  daß  gerade  diese  Zuständlichkeiten 
ursprünglich  als  wichtigste  Beglaubigung  des  prophetischen 
Charisma  galten  und  daß  sie  sich  also  auch,  wenn  schon  in  milderer 
Form,  dann  fanden,  wenn  uns  von  solchen  nichts  überliefert  ist. 
Indessen  berichtet  ein  Teil  der  Propheten  ausdrücklich  von 
ihnen.  Jahwes  Hand  »lastet  schwer«  auf  ihnen.  Der  Geist 
'>packt;>  sie.  Hesekiel  (6,  11;  21,  19)  klatscht  in  die  Hände, 
schlägt  sich  die  Seilen  und  stampft  den  Boden.  Jeremia  (23,  9) 
wird  wie  ein  Trunkener  und  schlottert  an  allen  Gliedern.  Das 
Gesicht  der  Propheten  verzerrt  sich,  wenn  der  Geist  über  sie 
kommt,  der  Atem  versagt,  sie  stürzen  zuweilen  betäubt,    zeit- 


II,    Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  ßoi 

weilig  des  Sehens  und  der  Sprache  beraubt,  zu  Boden,  winden 
sich  in  Krämpfen  (Jes.  21).  Sieben  Tage  lang  dauerte  bei  Hesekiel 
13?  15)  <^i^^  Lähmung  nach  einem  seiner  Gesichte.  Die  Propheten 
vollziehen  seltsame,  als  ominös  bedeutsam  gedachte,  Handlungen. 
Hesekiel  baut  sich  wie  ein  Kind  aus  Ziegelsteinen  und  einer 
eisernen  Pfanne  ein  Belagerungsspiel.  Jeremia  zerschmettert 
öffentlich  einen  Krug,  vergräbt  einen  Gürtel  und  gräbt  ihn  ver- 
fault wieder  aus,  läuft  mit  einem  Joch  auf  dem  Nacken  umher, 
andere  Propheten  mit  eisernen  Hörnern  oder,  wie  Jesaja  während 
län;erer  Zeit,  nackt.  Wieder  andere,  so  noch  Sacharja,  bringen 
sich  Wunden  bei,  noch  anderen  wird  eingegeben,  ekelhafte 
Nahrung  zu  sich  zu  nehmen,  wie  dem  Hesekiel.  Ihre  Verkündi- 
gungen schreien  sie  (karah)  bald  laut  in  die  Welt:  teils  in  un- 
verständlichen Worten,  teils  in  Verwünschungen,  Drohungen, 
Segnungen:  manchem  läuft  dabei  der  Geifer  aus  dem  Munde 
(hittif,  »geifern <'  =  prophezeien),  bald  murmeln  sie  oder  stam- 
meln. Visuelle  und  auditive  Halluzinationen,  aber  auch  abnorme 
Geschmacks-  und  Gemeingefühlsensatioiien  verschiedenster  Art 
berichten  sie  von  sich  (Hes.  3,  2).  Sie  fühlen  sich  schwebend 
(Hes.  8,  3  und  öfter)  und  durch  die  Luft  getragen,  haben  Hell- 
gesichte von  örtlich  fernen  Ereignissen,  wie  an  eblich  Hesekiel 
in  Babylon  zur  Stunde  des  Sturzes  Jerusalems,  oder  von  zeitlich 
entfernten  kommenden  Dingen,  wie  Jeremia  (38,  22)  von  Zede- 
kias  Schicksal.  Sie  schmecken  fremdartige  Speisen.  Vor  allem: 
sie  hören  Töne  (Hes.  3,  12  f.;  Jes.  4,  19),  Stimmen  (Jes.  40,  3  f.) 
um  sich,  einzelne  sowohl  wie  Dialoge,  besonders  oft  aber:  an 
sie  selbst  gerichtete  Worte  und  Befehle.  Sie  sehen  halluzina- 
torisch blendenden  Lichtglanz  und  in  ihm  Gestalten  übermensch- 
licher Art:  die  Herrlichkeit  des  Himmels  (so  Jes.  6,  auch  Amos 
),.  i).  Oder  sie  sehen  real  beliebige  gleichgültige  Gegenstände: 
einen  Fruchtkorb,  ein  Bleilot,  und  plötzlich  wird  ihnen,  meist 
durch  eine  Stimme,  deutlich,  daß  diese  gewaltige  Schicksalsschlüsse 
Jahwes  bedeuten  (so  namentlich  Amos).  Oder  sie  machen,  wie 
namentlich  Hesekiel,  authypnotische  Zustände  durch.  Zwangs- 
handlungen und  vor  allem  Zwangsreden  treten  auf.  Jeremia 
fühlt  sich  gespalten  in  ein  doppeltes  Ich.  Er  fleht  seinen  Gott 
an,  ihm  zu  erlassen,  daß  er  spreche.  Er  will  nicht,  er  muß  reden, 
was  er  als  ihm  eingegeben  und  nicht  aus  sich  selbst  kommend 
fühlt,  ja  was  er  reden  zu  müssen  als  furchtbares  Geschick 
empfindet  (Jer.  17,  16).   Spricht  er  nicht,  so  erleidet  er  furchtbare 


^Q2  Das  antike  Judentum. 

Qualen,  Gluthitze  erfaßt  ihn,  und  er  kann  den  schweren  Druck 
nicht  ohne  Entlastung  ertragen.  Wer  diesen  Zustand  nicht  kennt 
und  nicht  aus  solchem  Zwang,  sondern  »aus  eigenem  Herzen« 
redet,  der  ist  ihm  überhaupt  kein  Prophet.  Eine  solche  ekstatische 
Orakelprophetie  ist  für  x\egypten  und  Mesopotamien  und  auch 
für  das  vorislamische  Arabien  bisher  nicht  nachweisbar,  sondern 
in  der  Nachbarschaft  Israels  nur  (als  Königsprophetie  wie  in 
Israel)  in  Phönizien  und,  unter  strenger  priesterlicher  Kon- 
trolle und  Deutung,  an  den  Orakelstätten  der  Hellenen.  Nir- 
gends aber  ist  eine  freie  Demagogie  von  weissagenden  Ek- 
statikern  von  der  Art  der  israelitischen  Propheten  überliefert. 
Zweifellos  nicht  deshalb,  weil  die  betreffenden  Zuständlichkeiten 
nicht  existiert  hätten.  Sondern  deshalb  nicht,  weil  in  den  büro- 
kratischen Königreichen  wie  bei  den  Römern  die  Reli^ions- 
polizei  eingegriffen  hätte,  bei  den  Hellenen  aber  diese  Zuständ- 
lichkeiten in  historischer  Zeit  nicht  mehr  als  heilig,  sondern 
als  Krankheiten  und  würdelos  galten  und  nur  die  traditionellen 
priesterlich  reglementierten  Orakel  allgemein  anerkannt  waren. 
In  Aegypten  taucht  die  ekstatische  Prophetie  erst  in  der  Ptole- 
mäerzeit,  in  Arabien  in  Muhammeds  Zeit  auf. 

Die  untereinander  teilweise  charakteristisch  verschiedenen 
Zuständlichkeiten  der  Propheten  physiologisch,  psychologisch 
und  eventuell  pathologisch  zu  klassifizieren  und  zu  deuten,  soweit 
dies  möglich  sein  sollte  —  die  bisherigen,  namentlich  an  Hesekiel 
gemachten.  Versuche  überzeugen  nicht  — ,  wäre  hier  nicht  der 
Ort.  Es  böte  auch,  wenigstens  für  uns,  kein  entscheidendes 
Interesse.  Wie  in  der  ganzen  Antike,  so  galten  auch  in  Israel 
psychopathische  Zustände  als  heilig.  Berührung  mit  Irrsinnigen 
wirkte  noch  in  rabbinischer  Zeit  Tabu.  Der  königliche  Aufseher 
über  die  Propheten  wird  (Jer.  29,  24  f.)  >^  Aufs  eh  er  über  W^abn- 
sinnige  und  Propheten«  genannt,  und  ebenso  läßt  die  Tradition 
schon  den  Offizier  Jehus  beim  Anblick  des  Prophetenschülers, 
der  diesem  die  Königssalbung  anbieten  sollte,  fragen:  was  dieser 
Irrsinnige  wolle?  Indessen  nicht  dies  geht  uns  hier  an,  sondern 
etwas  ganz  anderes.  Zunächst  der  emotionale  Charakter 
der  prophetischen  Ekstase  als  solcher,  der  sie  von  allen  indischen 
Formen  der  apathischen  Ekstase  scheidet.  Wir  sahen  schon  früher 
(Abschnitt  I),  daß  der  vorwiegend  auditive  Charakter  der  klassi- 
schen Prophetie,  im  Gegensatz  zu  der  wesentlich  visuellen  apa- 
thischen   Ekstase    der    alten   »Seher«,    zunächst    rein   historisch 


II,     Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  ^03 

bedingt  war  in  dem  Gegensatz  der  südlichen,  jahwistischen  Vor- 
stellung von  der  Art,  wie  Jahwe  sich  offenbart,  gegenüber  dem 
Norden.  Die  leibhaftige  »Stimme«  des  Gottes  trat  an  die  Stelle 
der  alten  leibhaftigen  Epiphanie,  welche  der  Norden  mit  seiner 
andersartigen  Gottesvorstellung  theoretisch  verwarf  und  welche 
der  psychischen  Qualität  der  nordischen,  aus  der  Orgiastik  zur 
apathischen  Ekstase  sublimierten  Frömmigkeit  nicht  entsprach. 
Jene  zunehmend  ausschließliche  Anerkennung  des  auditiven 
Charakters  der  Eingebung  als  des  allein  die  Echtheit  gewähr- 
leistenden Merkmals  hing  mit  der  Zunahme  der  aktuellen  poli- 
tischen Erregtheit  der  Hörer  zusammen,  welcher  der  em.otionale 
Charakter  der  Prophetie  entsprach.  Eine  fernere  wichtige  Eigen- 
tümlichkeit liegt  in  der  Tatsache:  daß  die  Propheten  selbst  diese 
ihre  außeralltäglichen  Zuständlichkeiten,  Gesichte,  Zwangs- 
reden und  Zwangshandlungen  sinnhaft  deuten.  Und  zwar 
trotz  ihrer  offenbar  großen  psychologischen  Verschiedenheit 
immer  in  einer  und  derselben  Richtung.  Schon  das  Deuten  an 
sich  ist,  so  nahe  es  uns  heute  zu  liegen  scheint,  ganz  und  gar  nicht 
selbstverständlich;  denn  es  setzt  zunächst  voraus,  daß  die  ek- 
statische Zuständlichkeit  nicht  schon  an  sich  als  persönlicher 
Heilsbesitz  und  nur  als  solcher  gewertet  wird,  sondern  daß  ihr 
ein  ganz  anderer  Sinn  zugeschrieben  wird:  der  Sinn  einer  »Sen- 
dung«. Und  dies  manifestiert  sich  noch  stärker  in  der  Einheit 
der  Deutung.  Machen  wir  uns  das  etwas  näher  im  einzelnen 
klar. 

Nur  zum  Teil  sprechen  die  Propheten  unmittelbar  in  der 
Ekstase  (Jes.  21,  17;  Jer.  4,  19  f.).  Meist  aber  über  ihre 
Erlebnissein  der  Ekstase:  »Jahwe  sprach  zu  mir«  ist  der 
übliche  Orakelanfang.  Da  gibt  es  mancherlei  Abstufungen: 
Einerseits  Hesekiel,  der,  obwohl  ein  echter  und  zwar  anscheinend 
ein  schwer  pathologischer  Ekstatiker,  aus  manchen  seiner  Visionen 
ganze  Abhandlungen  herauspreßt.  Andererseits  zahlreiche  kurze 
Verse  der  vorexilischen  Propheten,  die  unmittelbar  im  höchsten 
Affekt  und  anscheinend  in  der  Ekstase  selbst  den  Adressaten  ins 
Gesicht  geschleudert  werden.  Die  höchste  ekstatische  Aktualität 
erreichen  im  allgemeinen  solche  Ausrufe,  zu  welchen  der  Prophet 
ungefragt  i),    rein  unter  dem  Druck  der  Eingebung  Jahwes,   in 


*)  Bei  Hesekiel  (8,  i)  tritt  allerdings  die  Ekstase  einmal  in  Anwesenheit 
der  ihn  konsultierenden  Aeltesten  auf. 


OQ^  Das  antike  Judentum, 

besonders  gefahrvoller  Lage  des  Landes  oder  unter  einem  be- 
sonders erschütternden  Eindruck  von  Sünde  hingerissen  wird. 
Ihnen  stehen  als  Gegensatz  jene  bei  den  klassischen  Propheten 
verhältnismäßig  seltenen  Fälle  gegenüber,  in  welchen  er  vorher 
gefragt  worden  ist.  Nur  selten  scheint  er  dann  die»  Antwort 
alsbald  gegeben  zu  haben.  Sondern  wie  Muhammed  grübelte 
er  über  den  Fall  im  Gebet,  Jeremia  einmal  zehn  Tage,  bis  der 
ekstatische  Anfall  eintrat  (Jer.  42).  Aber  auch  dann  wird  das 
Gesehene  oder  Gehörte  offenbar  in  der  Regel  nicht  alsbald  hinaus- 
geschleudert unter  die  harrenden  Hörer.  Denn  es  ist  oft  dunkel 
und  vieldeutig.  Der  Prophet  grübelt  dann  im  G^bet  über  den 
Sinn.  Erst  wenn  er  die  Deutung  hat,  dann  spricht  er.  Er  redet 
teils  in  der  Form  der  Gottesrede:  Jahwe  spricht  unmittelbar 
in  der  e:sten  Person,  teils  in  der  Form  eines  Berichtes  über  seine 
Worte.  Die  Menschenrede  überwiegt  bei  Jesaja  und  Micha, 
die  Gottesrede  bei  Amos,  Hosea,  Jeremia,  Hesekiel.  Endlich 
das  Deuten  von  Begebenheiten,  auch  des  eigenen  Alltagslebens, 
als  bedeutsamer  Zeichen  Jahwes  liegt  allen  Propheten  überhaupt 
nahe  (vgl.  besonders  Jer.  Kap.  32).  —  Wenn  nun  aber  irgend 
etwas,  dann  sehen  wir  dies  den  typischen  Aussprüchen  der 
vorexilischen  Propheten  ganz  allgemein  an :  daß  sie  in  ungeheurer 
Emotion  gesprochen  oder,  wie  es  einmal  von  Jesaja  (5,  i) 
heißt,  gesungen  worden  sind.  Gewiß  finden  sich  einzelne  Verse, 
die  vielleicht  geflissentlich  undeutlich  gehalten  sind,  wie  das 
bekannte  Kroisosorakel  des  delphischen  Apollon,  und  ebenso  ein- 
zelne verstandesmäßige  Ausarbeitungen,  wie  bei  Hesekiel.  Aber 
die  Regel  ist  das  nicht.  Man  glaubt  ferner  wohl  mit  Recht  die 
bewußte  Innehaltung  bestimmter  Stilregeln  der  prophetischen 
Dichtung  zu  erkennen.  (Von  den  in  Betracht  kommenden  sei 
etwa  erwähnt:  das  regelmäßige  Nichtnennen  des  Namens  des 
Gemeinten,  außer  wo  ihm  geflucht  werden  soll.)  Indessen  ändert 
das  an  dem  aktuell-emotionalen  Charakter  der  Prophetie  nichts. 
Allerdings  setzte  die  Gotteskonzeption  dem  Inhalt  des  Erlebens 
Schranken.  Die  Leibhaftigkeit  der  Stimme  Jahwes  bei  den 
Propheten  ist  der  Ausdruck  davon,  daß  einerseits  der  Prophet 
sich  unbedingt  »des  Gottes  voll«  fühlte,  andererseits  die  Art  der 
traditionellen  Majestät  Jahwes  ein  wirkliches  »Eingehen«  des 
Gottes  in  die  Kreatur  ausschloß  und  daß  daher  der  damit  nächst- 
verwandte Ausdruck  gewählt  wurde  ^).     Jedenfalls  aber  reichen 

*)  Mit  Recht  macht   übrigens  Seilin  a.  a.  O.  S.  227  darauf  aufmerksam, 


II.    Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  ^0$ 

alle  uns  bekannten  hellenischen  Orakelsprüche,  die  stets  auf 
Bestellung  geliefert  wurden,  in  ihrer  temperierten  Formvoll- 
endung nicht  von  fern  an  die  Macht  der  Emotion  in  den  spon- 
tanen prophetischen  Versen  des  Amos,  Nahum,  Jesaja,  Zephanja, 
Jeremia  heran.  Selbst  in  der  teilweise  verstümmelten  Ueberliefe- 
rung  wird  die  an  sich  große  Macht  der  Rhythmik  noch  überboten 
durch  die  Glut  der  geschauten  Bilder,  die  immer  konkret,  anschau- 
lich, gedrungen,  schlagend,  erschöpfend,  oft  von  ganz  unerhörter 
Herrlichkeit  und  Furchtbarkeit,  zu  dem  Grandiosesten  gehören, 
was  in  dieser  Hinsicht  die  Weltdichtung  hervorgebracht  hat  und 
nur  da  unplastisch  werden,  wo  die  persönlichen  Großtaten  des  un- 
sichtbaren Gottes  für  Israel  in  phantastischen  aber  unbestimmten 
Zukunftsbildern  aus  der  vagen  Vision  herausgestaltet  werden 
mußten.  Woher  stammt  nun  diese  Emotion,  wenn  doch  in  minde- 
stens vielen  Fällen  die  eigentlich  ekstatische  pathologische  Er- 
regung schon  zurücklag  und  abgeklungen  war  ?  Nun,  sie  stammt 
eben  nicht  aus  dem  Pathos  dieser  psychopathischen  Zuständ- 
lichkeiten  als  solcher,  sondern  aus  der  stürmischen  Gewißheit 
der  gelungenen  Erfassung  des  Sinnes  dessen,  was  der  Prophet 
erlebt  hatte:  daher,  deutlicher  ausgedrückt,  daß  der  Prophet 
eben  nicht  wie  ein  gewöhnlicher  pathologischer  Ekstatiker,  ein 
Gesicht  gehabt,  Träume  geträumt  oder  rätselhafte  Stimmen 
gehört  hatte,  sondern,  daß  er  darüber  klar  geworden  war,  ja  es 
durch  leibliche  göttliche  Stimme  gehört  zu  haben  versichert 
war:  was  Jahwe  mit  diesem  Wachträumen  oder  Gesicht  oder 
dieser  ekstatischen  Erregung  gemeint  und  ihm  in  verständlichen 
Worten  zu  sagen  befohlen  hatte.  Das  ungeheure  Pathos,  in  dem 
er  spricht,  ist  in  manchen  Fällen  eine  sozusagen  postekstatische 
Erregung  von  wiederum  halbekstatischem  Charakter,  hervor- 
gerufen durch  die  Gewißheit,  wirklich  selbst  —  wie  die  Propheten 
es  ausdrücken  —  »in  Jahwes  Ratsversammlung  gestanden«  zu 
haben,  sein  Mundstück  zu  sein,  zu  sprechen  was  er  zu  ihnen  ge- 
sprochen hatte  oder  was  er  sozusagen  durch  sie  hindurchsprach. 
Der  typische  Prophet  befindet  sich  anscheinend  in  einem  steten 
Zustand  der  Spannung  und  des  dumpfen  Brütens,  in  welchem 
il)m  selbst  die  imscheinbarsten  Dinge  des  Alltags  zu  beängstigen- 


daß  die  Art,  .n  welcher  das  göttliche  Wort  an  den  Propheten  gelangt,  in  aller 
Regel  gar  nich  näher  angegeben  wird.  Das  Entscheidende  war  eben:  die  lür 
die  Propheten  evidente  und  also  gelungene   Deutung    seiner  Absichten. 

Max  Weber,  RcHgionssoziologie  TIT.  20 


TQÖ  ^^^  antike  Judentum, 

den  Rätseln  zu  werden  vermochten,  weil  sie  irgend  etwas  be- 
deuten konnten.  Eine  ekstatische  Vision  war  gar  nicht  nötig, 
ihn  in  diese    Spannung  zu  versetzen.    Wenn  sie  sich    löste 

—  und  sie  löste  sich  durch  das  Aufblitzen  der  Deutung,  die 
sich  als  ein  Hören  der  göttlichen  Stimme  einstellte  — ,  dann 
brach  das  Prophetenwort  hervor.  Pythia  und  deutender  priester- 
licher Dichter  waren  hier  nicht  getrennt :  der  israelitische  Prophet 
war  beides  in  einer  Person,  das  erklärt  den  ungeheuren  Schwung. 
Dazu  treten  nun  noch  zwei  weitere  wichtige  Umstände. 

Einmal:  daß  diese  Zuständlichkeiten  der  Propheten  weder 

—  wie  z.  B.  auch  die  Ekstase  der  Pythia  —  an  die  x\nwendung 
der  überlieferten  Rauschmittel  der  Nebijim,  noch  überhaupt 
an  irgend  eine  äußere  Masseneinwirkung,  eine  ekstatische  Gemein- 
schaft also,  geknüpft  waren.  Nichts  von  alledem  findet  sich  bei 
den  klassischen  Propheten  unserer  Schriftensammlang.  Sie  such- 
ten die  Ekstase  nicht.  Sie  kam  ihnen.  Von  keinem  von  ihnen  hören 
wir  ferner,  daß  er  durch  Handauflegung  oder  irgendwelche 
Zeremonien  in  eine  Prophetengilde  aufgenommen  worden  sei 
oder  überhaupt  einer  Gemeinschaft,  gleichviel  welcher  Art,  an- 
gehört habe.  Stets  geht  vielmehr  die  Berufung  direkt  von  Jahwe 
an  ihn,  und  die  Klassiker  unter  ihnen  erzählen  uns  ihre  Berufungs- 
vision oder  -audition.  Keiner  von  ihnen  benutzt  irgendwelche 
Rauschmittel,  die  sie  vielmehr  bei  jeder  Gelegenheit  als  Götzen- 
dienst verfluchen.  Auch  vom  Fasten  —  welches  die  Tradition 
einmal  von  Mose  berichtet  (Ex.  34,  28)  —  hören  wir  bei  vor- 
exilischen  Propheten  als  von  einem  Mittel  zur  Ekstase  nichts. 
Die  emotionelle  Ekstase  tritt  daher  —  und  das  vor  allem  sei 
hier  festgestellt  —  bei  ihnen  auch  nicht  so  auf,  wie  später  inner- 
halb der  altchristlichen  Gemeinde  (und  deren  möglichen  \^or- 
gängern).  Im  apostolischen  Zeitalter  kam  der  Geist  nicht 
oder  doch  in  aller  Regel  und  in  den  von  der  Gemeinde  als  typisch 
bewerteten  Formen  nicht  über  den  einsamen  Einzelnen,  sondern 
über  die  gläubige  Versammlung  oder  in  ihr  auf  einen  oder 
einige  ihrer  Teilnehmer.  Auf  die  »Gemeinde«  wird  »der  Geist 
ausgegossen«,  wenn  das  Evangelium  verkündet  wird.  In  ihrer 
Mitte,  nicht  in  einsamer  Kammer,  entwickelt  sich  das  Zungen- 
reden und  die  anderen  »Gaben  des  Geistes«,  auch  die  damalige 
Prophetie.  Sie  alle  waren,  in  aller  Regel  wenigs+ens,  offenbar 
Folgen  der  Massenwirkung  oder  richtiger  des  Massenzusammen- 
seins, zeigten  sich  an  dies  Zusammensein  als,  mindestens  normale, 


II.     Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  ^o7 

Vorbedingung  gebunden^).  Die  ganze  kulturhistorisch  so  un- 
endlich wichtige  religiöse  Schätzung  der  Gemeinde  als 
solcher,  als  der  Trägerin  des  Geistes,  im  Urchristentum  hatte 
ja  diesen  Grund:  daß  eben  sie,  das  Zusammensein  der  Brüder, 
vorzugsweise,  diese  heiligen  Zuständlichkeiten  produzierte.  Gänz- 
lich anders  die  alten  Propheten.  Gerade  in  der  Einsamkeit 
kommt  der  prophetische  Geist  über  sie.  Und  nicht  selten  treibt 
er  sie  zunächst  in  die  Einsamkeit,  auf  das  Feld  oder  in  die  Wüste, 
wie  das  noch  Johannes  und  Jesus  geschah.  Wenn  aber  die 
Sendung  den  Propheten  auf  die  Gasse,  unter  die  Menge  jagt, 
dann  ist  dies  wiederum  erst  Folge  der  Deutung,  die  er  seinem 
Erlebnis  gibt.  Nicht  aber,  wohl  gemerkt,  ist  dies  Auftreten  in 
der  Oeffentlichkeit  dadurch  motiviert,  daß  der  Prophet  nur 
oder  doch  gerade  dort,  unter  der  Einwirkung  der  Massensug- 
gestion, des  heiligen  Erlebnisses  fähig  wäre.  Die  Propheten 
wissen  sich  nicht,  wie  die  alten  Christen,  als  Glieder  einer  pneu- 
matischen Gemeinschaft,  die  sie  trägt.  Im  Gegenteil.  Un- 
verstanden und  gehaßt  von  der  Masse  der  Hörer  wissen  sie  sich, 
niemals  von  ihnen  getragen  und  gehegt  als  von  gleichgestimmten 
Genossen,  wie  die  Apostel  in  der  alten  christlichen  Gemeinde. 
Nicht  ein  einziges  Mal  sprechen  daher  die  Propheten  von  ihren 
Hörern  oder  Adressaten  als  von  ihren  »Brüdern«,  was  die  christ- 
lichen Apostel  immer  tun.  Sondern  das  ganze  Pathos  innerer 
Einsamkeit  liegt  über  ihrer  gerade  in  der  vorexilischen  Prophetie 
überwiegend  harten  und  bitteren  —  oder  wenn,  wie  bei  Hosea, 
weichen,  dann  wehmütigen  —  Stimmung.  Nicht  Schwärme  von 
Ekstatikern,  sondern  ein  oder  einige  (Jes.  8,  i6)  treue  Schüler 
teilen  ihren  einsamen  Rausch  und  ihre  ebenso  einsame  Qual. 
Regelmäßig  sind  sie  es  offenbar  gewesen,  die  ihre  Gesichte  auf- 
zeichneten, oder  sie  ließen  sich  vom  Propheten  deren  Deutung 
in  die  Feder  diktieren,  wie  Baruch,  der  Sohn  des  Neria,  für  Jeremia 
es  tat.  Gegebenenfalls  sammeln  sie  sie  zum  Zweck  der  Ueber- 
reichung  an  die,  welche  sie  angehen.  Wenn  aber  der  vorexilische 
Prophet  unter  die  Menge  tritt  und  zu  reden  anhebt,  so  hat  er  in 
aller  Regel  das  Gefühl,  vor  Menschen  zu  stehen,  welche  von 
Dämonen  zum  Bösen:  zur  Baalorgiastik  oder  zur  Idolatrie  oder 

*)  Das  »Zungenreden«  durchweg,  aber  auch  die  (damals  Gegenwarts-) 
»Prophetie«.  Aehnl ich  wieder  bei  den  Täufern  und  Quäkern  des  i6.  und  17.  Jahr- 
hunderts, heute  am  ausgeprägtesten  in  amerikanischen  Negerkirchen  (auch  der 
Negerbourgeoisie,  z.  B.  in  Washington,  wo  ich  es  erlebte). 

20* 


TQg  Das  antike  Judentum, 

zur  sozialen  oder  ethischen  Sünde  oder  zur  schlimmsten  politi- 
schen Torheit :  zum  Widerstände  gegen  Jahwes  Ratschlüsse,  ver- 
lockt sind,  jedenfalls  aber:  vor  Todfeinden  oder  vor  solchen,  denen 
sein  Gott  furchtbares  Unheil  zugedacht  hat.  Die  eigene  Sippe 
haßt  ihn  (Jer.  ii,  19,  21;  12,  6)  und  gegen  sein  Heimatdorf 
schleudert  Jeremia  den  Fluch  (11,  22.  23).  Aus  einsamem  Ringen 
mit  seinen  Gesichten  kommt  der  Unheilspiophet,  und  in  die 
Einsamkeit  seines  Hauses  kehrt  er,  mit  Grausen  und  Furcht 
betrachtet,  immer  ungeliebt,  oft  verhöhnt,  verspottet,  bedroht, 
bespien,  ins  Gesicht  geschlagen,  wieder  zurück.  Die  heiligen 
Zuständlichkeiten  dieser  Propheten  sind,  in  diesem  Sinn,  durch- 
aus endogen  ^)  und  wurden  auch  so,  und  nicht  als  Produkte 
einer  emotionalen  aktuellen  Massenwirkung,  von  ihnen  und  den 
Hörern  empfunden:  nicht  irgendeine  Wirkung  von  außen  her, 
sondern  die  eigene  gottgesendete  Zuständlichkeit'  versetzt  die 
Propheten  in  den  ekstatischen  Habitus.  Und  die  überkommene 
hohe  Schätzung  der  Ekstase  als  an  sich  heilig  tritt  gerade  im- 
prophetischen  Zeitalter  sichtbar  immer  weiter  zurück.  Pro- 
phetie  und  Gegenprophetie  standen  ja  gegeneinander  auf  der 
Gasse,  beide  durch  Ekstase  in  gleicher  Art  legitimiert,  einander 
gegenseitig  verfluchend.  Wo  war  da,  mußte  jedermann  fragen, 
Jahwes  Wahrheit?  Das  Ergebnis  war:  die  Echtheit  der  Pro- 
pheten erkennt  man  nicht  an  der  Ekstase  als  solcher.  Diese 
sank  damit,  der  Sache  nach,  wenigstens  in  der  Verkündigung, 
an  Bedeutung.  Es  ist  nur  ausnahmsweise  und  nur  als  Mittel 
zum  Zweck  davon  die  Rede:  was  der  Prophet  in  ihr  an  eigenen 
Gefühlslagen  erlebt.  Denn  darauf  kam  —  im  Gegensatz  zu  In- 
dien —  gar  nichts  an.  Es  verbürgt  die  Echtheit  nicht.  Nur  das 
Hören  der  leibhaftigen  Stimme  Jahwes,  des  unsicht- 
baren Gottes,  gab  dem  Propheten  selbst  die  Gewähr,  daß  er 
sein  Werkzeug  sei.  Deshalb  wird  darauf  der  ungeheure  Nach- 
druck gelegt.  Darauf,  nicht  auf  die  Art  seiner  heiligen  Zuständ- 
lichkeiten, beruft  er  sich.  Die  Propheten  scharten  daher  keine 
Gemeinde  um  sich,  innerhalb  deren  Massen-Ekstasen  oder  massen- 
bedingte Ekstasen  oder  überhaupt  ekstatische  Erweckungen  als 
Heils  weg  gepflegt  worden  wären.    Davon  ist  für  die  klassische 


1)  Es  muß  natürlich  stets  der  Vorbehalt  gemacht  werden,  daß  alle  Gegen- 
sätze durch  Uebergäng3  verbunden  sind  und  auch  bei  den  Christen  Aehnliches 
sich  findet.  Vor  allem  sind  auch  dort  die  Einzelnen  der  psychische  »Ansteckungs- 
herd«. 


II.     Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkeb.  loo 

Jahweprophetie  nicht  das  geringste  bekannt.  Die  Art  ihrer 
Verkündigung  widerspricht  dem.  x\n  keiner  Stelle  wird  der 
Erwerb  oder  Besitz  eines  ekstatischen  Zustandes  oder  der  Fähig- 
keit, Jahwes  Stimme  zu  vernehmen,  wie  der  Prophet  selbst  sie 
hatte,  auch  für  die  Adressaten  seiner  Verkündigung  als  Bedingung 
Iiingestelit,  wie  in  den  altchristlichen  Quellen  der  Besitz  des 
Pneuma.  Das  prophetische  Charisma  ist  vielmehr  das  schwere, 
oft  als  qualvoll  empfundene  Amt  des  Propheten  und  niemands 
sonst.  Niemals  ist  es  ihr  Ziel,  wie  das  der  frühchristlichen  Pro- 
phetie,  den  Geist  über  die  Hörer  kommen  zu  lassen.  Im  Gegen- 
teil: das  prophetische  Charisma  ist  ihr  Privileg.  Und  zwar  ist 
es  ein  freies  göttliches  Gnadengeschenk  ohne  alle  persönliche 
Qualifikation.  In  den  Berichten  über  die  Art  ihrer  Berufungs- 
ekstase wird  diese  erste  Ekstase,  die  den  Propheten  zum  Pro- 
pheten macht,  niemals  als  Frucht  von  Askese  oder  Kontemplation 
oder  etwa  von  sittlichen  Leistungen,  Bußübungen  oder  anderen 
Verdiensten  hingestellt.  Ausnahmslos  ist  sie,  dem  endogenen 
Charakter  des  Zustandes  entsprechend,  gerade  umgekehrt  ein 
plötzliches  unmotiviertes  Geschehen.  Jahwe  ruft  den  Arnos 
von  der  Herde  fort.  Oder  ein  Engel  Jahwes  berührt  mit 
glühender  Kohle  oder  Jahwe  selbst  mit  dem  Finger  den 
Mund  des  Jesaja  und  Jeremia  und  weiht  sie  dadurch.  Teils 
sträuben  sie  sich,  wie  Jeremia,  angstvoll  gegen  die  mit  diesem 
Charisma  auf  sie  gelegte  Pflicht,  teils  bieten  sie  sich,  wie  Jesaja, 
freudig  dem  Gott,  der  nach  einem  Propheten  sucht,  an.  Und 
im  Gegensatz  zu  indischen,  ebenso  zu  den  hellenischen  Propheten 
von  der  Art  des  Pythagoras  und  der  Orphiker,  aber  auch  noch 
den  rechabitischen  Puritanern,  denkt  auch  kein  israelitischer 
Prophet  daran,  einen  die  AUtagssittUchkeit  rituell  oder  asketisch 
überbietenden  Heilsweg  zu  ergreifen.  Nichts  von  alledem.  Hier 
zeigte  sich  die  ungeheure  Tragweite  einmal  der  berith-Konzeption, 
durch  welche  eindeutig  feststand,  was  Jahwe  von  seinem  Volke 
verlangte,  in  Verbindung  mit  der  levitischen  Thora,  welche 
diese  seine  Forderungen  allgemeingültig  festgestellt  hatte.  Der 
Umstand,  daß  die  Thora  nicht  aus  dem  persönlichen  Heilsstreben 
einer  vornehmen  literarischen  Schicht  von  Denkern,  sondern 
iius  der  Sündenbeicht-  und  Sühne-Praxis  praktischer  Seel- 
sorger hervorgegangen  war,  trug  hier  seine  Früchte:  ohne 
Berücksichtigung  dieses  Umstandes  bleibt  die  ganze  Entwick- 
lung völlig  unverständlich.    Auch  in  der  Qualifikation  der  Pro- 


Tjo  D^s  antike  Judentum. 

phetie  selbst  äußerte  sich  das.  Die  Ekstase  als  solche  legitimierte 
nicht  mehr,  wie  wir  sahen.  Sondern  allein  das  Hören  der  Stimme 
Jahwes.  Aber  was  gewährleistete  den  Hörern,  daß  der  Prophet 
wirklich,  wie  er  behauptete,  Jahwes  Stimme  vernommen  hatte  ? 
Darauf  gab  es  teils  zeitgeschichtlich,  teils  religiös  und  ethisch 
bedingte  Antworten.  Zeitgeschichtlich  und  durch  Jahwes  Unheils- 
natur bedingt  war  es,  daß  Jeremia  (23,  29)  den  überkommenen 
Gegensatz  gegen  die  königliche  Heilsprophetie  als  Merkmal 
hinstellte.  Das  erklärt  sich  aus  dem  sozialen  Kampf  gegen 
das  Fronkönigtum  und  die  gibborim.  Der  echte  Prophet  kündet 
diesen  verworfenen  Großen  kein  Heil.  Ethisch  bedingt  aber 
war:  die  Bindung  an  die  Gebote  Jahwes,  wie  sie  jedermann 
bekannt  waren  (23,  22) :  Nur  der  Prophet,  der  das  Volk  zur 
Sittlichkeit  anhält  und  die  Sünden  (durch  Unheildrohung)  straft, 
ist  kein  Lügenprophet.  Allgemein  bekannt  aber  Waren  die 
Gebote  Jahwes  wiederum:  durch  dieThora.  Diese  ist  so  immer 
wieder  die  freilich  selten  ausdrücklich  bezeichnete,  weil  ganz 
selbstverständliche,*  Voraussetzung  der  gesamten  Prophetie.  — 
Auch  die  hellenischen  Weisheitslehrer  des  6.  Jahrhunderts  ver- 
künden die  unbedingte  Verbindlichkeit  des  Sittengesetzes,  und 
zwar  in  der  Sache  selbst  eines  sehr  ähnlichen  wie  das  der  Pro- 
pheten war,  —  wie  die  Sozialethik  der  hellenischen  Aisymneten- 
Gesetzgebungen  derjenigen  des  Bundesbuchs  innerlich,  wie  wir 
sahen,  verwandt  ist.  Aber  der  Unterschied  war,  daß  in  Hellas, 
wie  in  Indien,  die  eigentlich  religiösen  Heilskünder  und  Pro- 
pheten das  Heil  an  spezielle  Voraussetzungen  rituellen 
oder  asketischen  Charakters  knüpften,  überhaupt:  Bringer  von 
»H  e  i  1«,  vor  allem :  von  jenseitigem  Heil,  waren.  Im 
geraden  Gegensatz  dazu  kündeten  die  israelitischen  Propheten 
Unheil,  und  zwar  diesseitiges  Unheil  und  zwar  wegen 
Sünden  gegen  das  a  1 1  g  e  m  ei  n  ,  für  jeden  Israeliten,  gültige 
Gesetz  ihres  Gottes.  Indem  die  Innehaltung  dieser  Alltags- 
sittlichkeit als  Spezialpflicht  Israels  kraft  der  beschworenen 
berith  galt,  wirkte  das  ganze  gewaltige  Pathos  eschatologischer 
Drohungen  und  Verheißungen  auf  die  Innehaltung  dieser  schlich- 
ten Gebote,  die  jedermann  zu  halten  imstande  war  und  die  nach 
der  Ansicht  der  Propheten  auch  die  Nichtisraeliten  in  der  End- 
zeit halten  würden.  Die  große  historische  Paradoxie  war  also: 
daß  so  die  spätere  offizielle  Alltagsethik  des  christlichen  Abend- 
landes, deren  Inhalt  sich  von  der  in  .althellenischer  sowohl  wie  in 


II.     Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  -in 

hellenistischer  Zeit  geltenden  Lehre  und  Lebenspraxis  des  Alltags 
nur  in  Sexuellen  unterschied,  hier  zum  Gegenstand  der 
ethischen  Sonder  pf licht  eines  von  seinem  Gott,  dem  mäch- 
tigsten von  allen,  erwählten  Volkes  gemacht  und  mit  utopischen 
Prämien  und  Strafen  eingeschärft  wurde.  Auf  das  sittlich  richtige 
Handeln,  und  zwar  das  Handeln  gemäß  der  Alltags- 
sittlichkeit,  kam  für  das  besondere,  Israel  in  Aussicht  gestellte 
Heil  alle-3  an.  So  trivial  und  selbstverständlich  das  scheinen 
könnte  —  nur  hier  ist  es  zur  Grundlage  religiöser  Ver- 
kündigung gemacht  worden  und  sehr  besondere  Bedingungen 
führten  dazu.  — 

Kraft  ihrer  Berufimg  nehmen  die  Propheten  spezifische 
Qualitäten  in  Anspruch.  Verhältnismäßig  selten  und  nur  bei 
einem  dieser  vorexilischen  Propheten  (Hosea  9,  10;  Jesaja  30,  i; 
Micha  3,  8)  wird  der  Ausdruck  »Geist«  (ruach)  Jahwes  auf  ihren 
spezifischen  inneren  Besitz  angewendet,  obwohl  gelegentlich 
(Hos.  9,  7)  der  Ausdruck  »Geistmensch«  (isch  haruach)  von 
einem  Schriftpropheten  vorkommt.  Erst  bei  Hesekiel,  dann 
bei  Deuteroje  aja  und  den  nachexilischen  Propheten  tritt  der 
Ausdruck  häufig  auf.  Es  scheint,  daß  der  Gegensatz  gegen  die 
berufsmäßigen  Nebijim  die  älteren  Propheten  veranlaßte,  ihn 
nicht  oder  selten  zu  brauchen.  Außerdem  der  Umstand,  daß 
eben  die  »ruach«  im  Sprachgebrauch  wesentlich  die  irrationalen 
und  aktuell  ekstatischen  Zustände  bezeichnete,  die  Propheten 
aber  ihre  spezifische  Würde  gerade  in  dem  habituellen  Besitz 
des  bewußten  klaren  und  kommunikablen  Verständnisses 
von  Jahw'es  Absichten  fanden.  Erst  bei  Hesekiel  ist  die  ruach 
wieder  eine  geheimnisvolle  göttliche  Kraft,  die  zu  mißachten 
ebenso  frevelhaft  ist,  Wie  in  den  Evangelien,  und  rrst  im  Exil 
(Deuterojes.  40,  13;  42,  i;  48,  16)  wird  der  »Geist«  eine  tran- 
szendente und  schließlich  (Gen.  i,  2)  eine  kosmische  Größe,  für 
welche  Tritojesaja  zuerst  den  Ausdruck  »heiliger  Geist«  (59,  21 
63,  14)  braucht.  Aber  wenn  das  prophetische  Charisma  vor 
allem  die  Fähigkeit  rationalen  Verstehens  Jahwes  be- 
deutet, so  enthält  es  doch  auch  ganz  andere,  irrationale  Quali- 
täten. Zunächst:  magische  Kräfte.  Jesaja,  der  allein  von  allen 
Schriftpropheten  auch  als  ärztlicher  Ratgeber  bei  einer  Krank- 
heit» des  Königs  Hiskia  erwähnt  wird,  fordert  in  einer  politisch 
schwierigen  Lage  den  König  Ahas  auf,  von  ihm  die  Beglaubigung 
für  sein  politisches  Orakel  durch  ein  Wunder  zu  verlangen,  und 


m-^ 


r3 1  2  Das  antike  Judentum. 

als  der  König  ausweicht  und  er  daraufhin  die  berühmten  Worte 
von  dem  »jungen  Weibe«  spricht,  das  schon  jetzt  schwanger  sei 
mit  dem  Heilsfürsten  Immanuel,  da  ist  dies,  wie  die  Situation 
ergibt,  nicht  nur  eine  Weissagung,  sondern  eine  das  verheißene 
Heil  bewirkende  Verkündigung  eines  Entschlusses  Jahwes,  wel- 
cher Folge  des  Unglaubens  des  Königs  ist.  Die  Propheten  haben 
die  Macht,  durch  ihr  Wort  zu  töten  (Hos.  6,5;  Jer.  28,  16). 
Jeremia  gibt  einem  Boten  eine  Fluchformel  über  Babel  mit, 
deren  Verlesung  und  Versenkung  im  Euphrat  das  geweissagte 
Unheil  bewirken  soll.  Stets  aber  ist  es  nicht  irgendeine  sympa- 
thetische oder  andere  zauberische  Manipulation,  sondern  das 
einfache  (gesprochene  oder  geschriebene)  Wort,  welches  das 
Wunder  bewirkt.  Und  vor  allem  tritt  diese  magische  Gewalt, 
die  im  Selbstbewußtsein  von  Jesus  so  wichtig  war,  in  den  Selbst- 
zeugnissen der  Propheten  völlig  zurück.  Sie  erwähnen  sie  nie 
als  Beweis  ihrer  göttlichen  Legitimation  und  nehmen  sie  über- 
haupt nicht  eigentlich  für  sich  persönlich  in  Anspruch.  Gewiß: 
Jeremia  Weiß  sich  (i,  10)  von  Jahwe  über  alle  Völker  gesetzt, 
um  sie  zu  verderben  oder  ihnen  den  »Taumelbecher«  zu  reichen 
(25,15!).  Aber  immer  wieder  lenkt  dies  Selbstgefühl  in  das 
Bewußtsein  um,  nichts  als  Werkzeug  zu  sein.  Nicht  ihr  eigener 
Wille,  sondern  der  ihnen  durch  leibhaftige  Stimme  mitgeteilte 
Entschluß  Jahwes,  sein  »Wort«,  ist  es  (Jer.  23,  29),  welches  das 
Geweissagte  bewirken  wird.  Die  Kenntnis  dieser  Entschlüsse 
und  der  Wundermacht  Jahwes  und  ihres  Wirkens  ist  es  allein, 
die  sie  für  sich  in  Anspruch  nehmen.  »Nichts  tut  Jahwe«,  ver- 
sichert Amos,  »ohne  es  seinen  Propheten  zuvor  zu  offenbaren« 
das  ist  die  Quelle  ihres  Selbstbewußtseins.  In  gewissem  Um- 
fange nehmen  die  Propheten  allerdings  auch  in  Anspruch,  Jahwes 
Entschlüsse  beeinflussen  zu  können.  Gleich  bei  Amos  kommt 
es  vor,  daß  der  Prophet  als  Fürbitter  auftritt,  so  wie  die  Tra- 
dition dies  dem  Mose  und  auch  dem  Abraham  zuschreibt.  Aber 
nicht  immer  ist  Jahwe  zu  erbitten.  Es  kommt  vor,  daß  er  erklärt, 
»selbst  wenn  Mose  oder  Samuel  vor  ihn  treten«,  seinen  Entschluß 
nicht  ändern  zu  wollen.  Und  niemals  rechnete  der  Prophet  auch 
nur  mit  der  Möglichkeit,  seinerseits  Jahwe  durch  Zauber  be- 
zwingen zu  können.  Das  wäre  im  Gegenteil  diesem  furchtbaren 
Gott  gegenüber  ein  tödlicher  Frevel.  Ebensowenig  wird  dei 
Prophet  jemals  auch  nur  seinem  eigenen  Ausspruch  nach  zum 
Heiland  oder  auch  nur  zum  exemplarischen  religiösen  Virtuosen. 


II.    Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  ^  i  3 

Niemals  nimint  ei  hagiolatrische  Verehrung  für  sich  in  Anspruch. 
Niemals  Sündlosigkeit.    Die  ethischen  Ansprüche,  die  er  an  sich 
stellte,  waren  nicht  verschieden  von  denen,  welche  an  alle  ge- 
stellt wurden.   Freilich  erscheint  als  sicheres  Merkmal  der  Lügen- 
propheten, neben  dem  Fehlen  sittlicher  Ermahnung  des  Volkes 
und  der  Unheildrohungen,  auch  ihre  eigene  Unbekehrtheit  und 
ihr  Ungehorsam  gegen  die  göttlichen  Gebote:  ein  dauernd  sehr 
wichtiges  und  für  den  Charakter  der  ReUgiosität  folgenreiches 
Qualifikationsmerkmal.    Aber  daß  er  selbst  sittlich  nie  fehle, 
behauptet  z.  B.  Jeremia  keineswegs.    Daß  er  auf  Veranlassung 
Zedekias    den    Parteigängern    Aegyptens    die    Unwahrheit    sagt 
(38,  28),  um  den  König  nicht  bloßzustellen,  entspricht  der  Erz- 
väterethik —  und  übrigens  dem  Umstand,  daß  Jahwe  selbst  den 
>Lügengeist<<  in  seine  Dienste  nimmt  — :  die  Wahrheitspflicht  der 
altisraelitischen  (auch  der  dekalogischen)  sowohl  wie  der  homeri- 
schen Ethik  ist  nicht  so  unbedingt  wie  die  der  indischen  und 
steht  auch  hinter  den  Anforderungen  z.B.  des  Siraciden  zurück. 
Aber  es  zeigt  jedenfalls,  daß  der  Prophet,  der  als  solcher  auf 
unbedingten  Glauben  Anspruch  macht,  sein  Amt  und  sein  per- 
sönliches Verhalten  scheidet.    Die   für  manche  Propheten  typi- 
schen furchtbaren  Maßlosigkeiten  von  Haß  und  Zorn  gegen  die 
Gegner  würde  die  Thora  schwerlich  gebilligt  haben.    Zwar  die 
Wirkung  seiner  Worte  auf  die  Herzen  des  Volkes  scheint  Jahwe 
gelegentlich  an  die   Bedingung  zu  knüpfen,   daß   der   Prophet 
Gott  wohlgefällige   »edle  Worte  rede«.    Aber  im  übrigen  weiß 
Jeremia  sich   »unrein«  und  schwach.     Kein  Prophet  hat  nach 
seiner    Selbstbeurteilung    etwas  Eigenes    an  Heilsbesitz,    er    ist 
stets   nur   Mittel   der   Verkündung    göttlicher    Gebote.     Immer 
bleibt  er  nur  Werkzeug  und  Knecht  seines  jeweiligen  Auftrags. 
Nie  sonst  ist  der  Typus  der  »Sendungsprophetie«  so  rein  aus- 
geprägt gewesen.    Auch  nicht  in  der  altchristlichen  Gemeinde. 
Keiner  der  Propheten  gehörte  einem  esoterischen  »Verein«  an, 
wie  später  die  Apokalyptiker.    Und  keiner  der  Propheten  hat 
daran  gedacht,   eine    »Gemeinde«   zu   stiften.     Daß   dafür   jede 
Voraussetzung,  insbesondere  die  Schaffung  einer  neuen   kulti- 
schen   Gemeinschaft,  wie  sie  der  Kult  des  Kyrios  Christos 
bot,  fehlte  und  bei  dem  Vorstellungskreis  der  Propheten  fehlen 
mußte,  ist  ein  soziologisch  entscheidender  Unterschied  gegen  die 
altchristliche   Prophetie.    Die   Propheten  stehen  inmitten  einer 
politischen  Volksgemeinschaft,  deren  Schicksale  sie  interessieren. 


7,lA  Das  antike  Judentum. 

Und  sie  sind  rein  ethisch,  nicht  kultisch,  interessiert,  im 
Gegensatz  zu  den  christlichen  Missionaren,  welche  vor  allem 
das  Abendmahl  als  Vermittlung  der  Gnade  brachten.  An  diesem 
Punkte  zeigt  sich  in  der  Tat  ein  den  spätantiken  Mysterien- 
gemeinschaften entstammender  Einschlag  des  alten  Christentums, 
der  den  Propheten  völlig  fremd  war.  Dies  alles  hängt  nun  wieder 
mit  der  Eigenart  der  israelitischen  Beziehungen  zu  dem  Gott 
zusammen,  in  dessen  Namen  die  Propheten  reden,  und  mit  dem 
Sinn  ihrer  Verkündigung.  Beide  aber  lieferte  ihnen  eben  jene 
religiöse  Vorstellungswelt,  welche  durch  die  israelitischen  In- 
tellektuellen, vor  allem  durch  die  levitische  Thora,  vorbereitet 
war.  Sie  haben,  soviel  erkennbar,  weder  eine  neue  Gottes- 
konzeption noch  neue  Heilsmittel  noch  auch  nur  neue  Gebote 
verkündet,  zum  mindesten  keine  verkünden  wollen.  Sowohl  ihr 
Gott  wird  als  jedermann  bekannt  vorausgesetzt  wie  ebenso: 
daß  »dem  Menschen  gesagt  ist,  was  ihm  frommt«  (Micha  9). 
Nämlich:  jene  Gebote  Gottes  zu  halten,  die  er  aus  der  Thora 
kennt.  »Thora  Gottes«  nennt  Jesaja  auch  seine  eigene  Verkündi- 
gung (30,  9).  Auf  die  Uebertretung  dieser  schon  bekannten 
Gebote  nehmen  die  Propheten  durchweg  Bezug. 

Ebenso  aber  lieferte  ihnen  die  Umwelt  die  im  Mittelpunkt 
ihrer  Verkündigung  stehenden  Probleme.  Die  Kriegsangst 
des  Volkes  brandete  mit  der  Frage  nach  den  Gründen  des  gött- 
lichen Zornes,  nach  den  Mitteln  ihn  gnädig  zu  stimmen,  nach 
den  nationalen  Zukunftshoffnungen  überhaupt,  an  sie  heran. 
Panik,  Wut  und  Rachedurst  gegen  die  Feinde,  Angst  vor  Tod, 
Verstümmelung,  Verwüstung,  Exil  (schon  bei  Arnos) ,  Versklavung, 
und  die  Frage:  ob  Widerstand  oder  Unterwerfung  oder  Bündnis 
mit  Aegypten  oder  Assm  oder  Babel  das  Richtige  sei,  bewegten 
die  Bevölkerung,  wirkten  auf  die  Prophetie  zarück.  Bis  ins 
Innerste  ihrer  Vorstellungswelt  wirkte  diese  allgemeine  Erregung 
auch  dann,  wenn  sie  aus  eigenem  Antrieb  an  die  Oeffentlichkeit 
traten. 

Auf  die  Frage  nach  dem  Warum  des  Unheils  war  die  Ant- 
wort von  Anfang  an:  es  war  Jahwes,  des  eigenen  Gottes  Wille 
so.  So  einfach  das  scheint,  war  es  doch  alles  andere  als  selbst- 
verständlich. Denn  so  viel  Einzelzüge  von  Universalismus  die 
Konzeption  dieses  Gottes  auch,  wenigstens  in  der  Vorstellung 
der  Intellektuellen,  schon  in  sich  aufgenommen  hatte,  so  hätte 
der  volkstümlichen  Ansicht  doch  die  Annahme  eher  entsprochen: 


II.    Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  ijt 

entweder,  daß  die  fremden  Götter  zurzeit  aus  irgendwelchen 
Gründen  die  stärkeren  seien,  oder:  daß  Jahwe  seinem  Volk  nicht 
helfen  wolle.  Aber  über  dies  letzte  ging  die  prophetische  Ver- 
kündung hinaus  und  behauptete:  daß  er  selbst,  absichtlich, 
das  Unheil  über  sein  Volk  bringe.  »Geschieht  der  Stadt  ein 
Unglück  und  Jahwe  täte  es  nicht«  fragt  Arnos  (3,  6).  Darüber, 
ob  solche  göttlichen  Entschlüsse  aktuell  bedingt  seien,  wie  die 
meisten  Orakel  voraussetzen,  oder  ob  »von  den  Tagen  der  Vor- 
zeit her«  das  Verhängnis  von  Jahwe  bereitet  sei,  wie  Jesaja  (37, 
26)  behauptete,  wurde  je  nach  den  Umständen,  vor  allem:  je 
nachdem  mehr  der  erzürnte  Bundesgott  oder  mehr  der  erhabene 
Weltmonarch  im  Vordergrund  der  Vorstellungswelt  lebte,  ver- 
schieden geurteilt.  Aber  in  beiden  Fällen  war  jene  für  die  volks- 
tümliche Ansicht  furchtbare  Behauptung  des  Arnos  aus  den 
besonderen  geschichtlichen  Grundlagen  des  Jahwismus  erwachsen. 
Das  Entscheidende  war  dabei:  Jahwe  war  von  jeher,  woran 
Amos  (6,  6  f.)  sehr  ausführlich  erinnert,  vor  allem  ein  Gott  der 
Naturkatastrophen,  welcher  Pest  und  furchtbares  Unheil  aller 
Art  über  die,  welchen  er  zürnte,  senden  konnte  und  oft  gesendet 
hatte.  Vor  allem  kriegerisches  Unheil  hatte  er  wieder  und  wieder 
über  die  Feinde  gesandt  und  Israel  daraus  errettet,  oft  aber 
erst,  nachdem  er  es  lange  Zeit  solches  Unheil  hatte  erdulden 
lassen.  Deshalb,  und  nur  deshalb,  wurden  die  Propheten 
Politiker:  das  politische  Unheil,  und  nur  dies,  stand  jetzt 
drohend  vor  der  Tür,  eben  das,  was  in  Jesajas  eigentliche  Wir- 
kungssphäre fiel.  Seine  Bedeutung,  die  anfänglich  noch  hinter 
den  erwarteten  kosmischen  Naturkatastrophen  zurücktrat,  nahm 
in  der  Unheilweissagung  stetig  zu.  Jahwe  und  keinem  anderen 
Gott  mußte  es  zugeschrieben  werden.  Er  war  aber  andererseits 
der  Gott,  welcher  Israel  allein  aus  allen  Geschlechtern  der  Erde 
erwählt  hatte.  »Eben  darum«,  läßt  Amos  (3,  2)  ihn  mit  gewollter 
Parodoxie  sagen,  »suche  ich  an  euch  heim  alle  eure  Schuld.« 
Israel  allein  stand  eben  in  der  berith  zu  ihm,  deren  Bruch  Hosea, 
der  vielleicht  zuerst  den  Gegensatz  des  Gottesvolkes  gegen  die 
unreinen  »Völker«  festgelegt  hat  (9,  i  f.),  dem  Ehebruch  ver- 
glich. Seinen  Vorvätern  hatte  er  bestimmte  Verheißungen  ge- 
macht und  einen  Schwur  geleistet.  Diese  Verheißungen  hatte  er 
gehalten  und  in  Krieg  und  Frieden  unermeßlichen  Segen  über 
das  Volk  gebracht.  Er  wird  von  den  Propheten  gemahnt,  seinen 
Bund  nicht  zu  brechen  und  er  seinerseits  fragt  ( Jer.  2,  5) :  welches 


Tjg  Das  antike  Judentum. 

Unrecht  —  gemeint  ist:  welches  bundeswidrige  Verhalten  — 
denn  die  Vorväter  Israels  an  ihm,  Jahwe,  gefunden  hätten? 
Aber  die  Erfüllung  der  Verheißungen  war  an  die  Bedingung 
geknüpft,  nicht  nur  daß  sie  ihm  allein  als  ihrem  einzigen  Gott 
die  Vertragstreue  hielten  und  nicht  anderen  Kulten  sich  zu- 
wendeten, sondern  auch  und  zwar  bei  den  meisten  Propheten 
(Amos,  Micha,  Jeremia,  aber  auch  Jesaja)  vor  allem:  an  die 
Innehaltung  jener  Gebote,  die  er  ihnen  auferlegt  hatte.  Und 
zwar  hauptsächlich  der  nur  ihnen-  auferlegten.  Es  gibt  näm- 
lich schon  nach  Amos  Unrecht,  welches  Jahwfe  als  Weltmonarch 
auch  an  anderen,  namentlich  den  Israel  benachbarten,  Völkern 
ahndet.  Dazu  gehört  (Amos  i,  3  ff.)  die  Verletzung  einer  Art 
von  religiösen  Völkerrechts,  dessen  Geltung  unter  den  palästini- 
schen Völkern  vorausgesetzt  wird.  Natürlich  vor  allem  Ver- 
letzungen gegenüber  Israel:  die  barbarische  Verwüstung  Gileads 
durch  die  Damaskener,  der  Raub  und  Verkauf  von  Gefangenen 
an  die  Edomiter  durch  Gaza  und  Tyros,  die  Mitleidlosigkeit 
der  Edomiter  im  Kriege,  Aufschlitzen  schwangerer  Frauen  durch 
die  Ammoniter.  Darin  Hegt  nichts  Besonderes.  Aber  Jahwe 
ahndet  auch  Unrecht  dritter  Völker  gegenüber  Dritten:  so  die 
Verbrennung  einer  edomitischen  Königsleiche  durch  Moabiter. 
Darin  äußert  sich  wohl  die  als  Stammverwandtschaft  gedeutete 
Kulturgemeinschaft  der  palästinischen  Völker.  Vielleicht  auch: 
völkerrechtliche  Verbindungen.  Den  Edomitern  wird  ihr  Unrecht 
als  Verletzung  der  »Bruder «-Beziehung  zu  Israel,  Tyros  geradezu 
als  Mißachtung  eines  »Bruderbundes«,  vermutlich  also  einer 
beschworenen  kriegsvölkerrechtlichen  Abmachung  über  die  Ge- 
fangenenbehandlung vorgehalten;  es  scheint  möglich,  daß  auch 
mit  anderen  Nachbarvölkern  ähnliche  Abkommen  bestanden, 
welche  die  Rache  JaliWes  motivierten.  Die  rein  ethische  Wen- 
dung vollzog  sich  mit  der  universalistischen  Steigerung  der 
Gotteskonzeption.  Gegenüber  den  mesopotamischen  Qroßkönigen 
gilt  bei  Jesaja  deren  maßlos  grausame  Kriegführung  an  sich  als 
Grund  für  Jahwes  Zorn.  Dann  aber  die  Hybris  dieser  Welt- 
monarchen, die  Jahwes  Eifersucht  erregen  mußte. 

Im  Gegensatz  dazu  wird  nun  nach  Amos  Israel  selbst  wegen 
aller  Schuld  gestraft.  Es  zieht  sich  seinen  Grimm  zu  vor 
allem  durch  Verletzung  der  »Gerechtigkeit«,  das  hieß  aber;  der 
ihm  eigentümlichen  sozialen  Institutionen.  Bei  den  meisten 
Propheten  gelten  dafür  jene  Brüderlichkeitsgebote,  welche  die 


II.    Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  T^iy 

levitische  Paränese  im  iVnschluß  an  die  alten  Rechtssammlungen 
entwickelt  hat.  Bei  Arnos  stehen  (2,  6  f.)  charakteristisch  neben- 
einander zunächst:  die  Verleitung  der  Nasiräer  zum  Bruch  ihrer 
rituellen  Pflichten  und  die  Unterdrückung  der  Nebijim  -einer- 
seits und  andererseits  der  Bruch  der  Gebote  des  Bundesbuchs 
über  die  Behandlung  israelitischer  Schuldgefangener  und  über 
die  Pfändung  der  Kleidung:  Bestandteile  der  alten  Kriegs-  und 
Sozialverfassung  also.,  deren  Garant  in  den  Zeiten  der  Eidgenossen- 
schaft .  Jahwe  war.  Die  besondere  Stellung  Jahwes  zu  Israel 
als  Vertragspartner  der  Eidgenossenschaft  tritt  darin  besonders 
klar  hervor.  In  den  Orakeln  anderer  Propheten  wird  neben 
den  groben  (im  wesentlichen  den  dekalogischen)  Privatsünden 
vor  allem  die  Unbrüderlichkeit  in  allen  ihren  Formen,  besonders 
aber,  wie  in  der  gesamten  vorderasiatisch-ägyptischen  Karitäts- 
ethik,  als  Unterdrückung  der  Armen  im  Gericht  und  durch 
BeWucherung  herangezogen.  In  allen  diesen  Motivierungen  von 
Jahwes  Zorn  aber,  schon  in  den  gewollten  Paradoxien  bei  Amos, 
zeigt  sich  die  Wirkung  intensiver  Intellektuellenkultur.  Sozial- 
ethische Motivierungen  göttlicher  Strafen  finden  sich  auch  ander- 
wärts. Die  Patrimonialbürokratie  der  Großkönigreiche  hatte 
überall  in  der  Nachbarschaft  das  patriarchale  und  karitative 
»Wohlfahrtsstaatsideal <t  entstehen  lassen  und  überall  war  dort 
der  Glaube  verbreitet :  daß  gerade  der  Fluch  des  Armen  gegen 
den  Bedrücker  besonders  unheilbringend  sei,  die,  offenbar  durch 
phönizische  Vermittlung,  auch  in  Israel  sich  fand:  Könige  des 
Zweistromlandes  werfen  besiegten  Gegnern  inschriftlich  vor,  daß 
sie  soziales  Unrecht  an  den  Untertanen  verübt  haben  (so  schon 
Urukagina  und  noch  Kyros).  Und  vollends  in  den  chinesischen 
Quellen  findet  sich  beim  Dynastiewechsel  oder  bei  Eroberungen 
eines  Teilstaates  durch  einen  anderen  Herrscher  sehr  häufig  der 
Hinweis  auf  vorschriftswidrige  Behandlung  der  Untertanen  und 
unklassischen  Lebenswandel.  In  allen  solchen  Fällen  ist  diese 
Motivierung  Produkt  priesterlicher  oder  ritualistischer  Intellek- 
tuellenschichten in  bürokratisierten  Staaten.  Das  Besondere  bei 
Israel  war  zunächst  nur :  daß  eben  diese  karitativen  Ansprüche 
an  die  herrschenden  Schichten,  vor  allem  die  königlichen  Be- 
amten, übernommen  wurden,  welche  überall  sonst  der  Ent- 
wicklung eines  nationalen  bürokratischen  Apparates  und  einer 
entsprechenden  Bildungsschicht  zu    folgen    pflegen  i),    während 

*)  Denn  die  Karitätsgebote  der  Thora  waren  selbstverständlich    nicht 


^i8  Das  antike  Judentum. 

eben  diese,  patrimonialkönigliche,  Entwicklung  als  solche  zu- 
gunsten des  alten  Gaufürstenideals  von  den  Frommen  israeliti- 
schen Intellektuellen  abgelehnt  wurde.  Und  ferner:  daß  die 
Motivierung  in  den  Unheildrohungen  von  Propheten  sich  findet 
und  daß  sie  nicht  nur  den  Herrscher  persönlich,  sondern  das 
aus  der  berith  solidarisch  für  die  Sünden  der  Könige  und  Großen 
haftende  Volk  als  solches  mit  Strafe  bedroht.  Dies  hing  eben 
mit  der  Besonderheit  der  politischen  und  religiösen  Konstitution 
Israels  zusammen.  — 

Auch  im  übrigen  finden  wir  bei  den  Propheten  die  Geistes- 
arbeit der  israelitischen  Rechtsprechung  und  Weisheitslehre. 
Die  Propheten  nennen  nebeneinander:  »chuk«  die  (wie  wir 
sahen)  durch  Rechtsorakel  der  Chokekim  festgestellte  alte  Ge- 
wohnheit, und  »thora«,  die  rationale  levitische  Lehre  (Amos  2,  4; 
Jes.  24,  5),  endlich  »mischpat«,  das  in  Urteilssprüchen  (Jes.  16,  5) 
und  Satzungen  der  sarim  und  sekenim  ausgesprochene  Recht 
als  die,  neben  ihren  eigenen  Orakeln:  den  »debarim  Jahwe«, 
maßgeblichen  Quellen  der  Sittlichkeit.  Bei  allem  gelegentlich 
scharfen  Gegensatz  gegen  die  Richter,  vor  allem  die  sarim,  die 
chokekim  und  auch  die  Thoralehrer,  die  das  Wort  nutzlos  nur 
im  Munde  führen,  wird  die  Verbindlichkeit  dieser  Normen  nicht 
angefochten  und  auch  die  chokma,  die  Lebensklugheit  der 
Weisheitslehrer,  nicht  prinzipiell  verworfen.  Allerdings  ist  die 
Stellung  verschieden.  Kein  Prophet  erhebt  zwar,  sahen  wir, 
den  Anspruch,  neue  Gebote  zu  verkünden,  wie  Jesus  es  gelegent- 
lich mit  Nachdruck  tat:  »es  steht  geschrieben,  ich  aber  sage  euch«. 
Sondern  die  Verfälschung  des  längst  offenbaren  wahren  Wülens 
Jahwes  durch  den  »Lügengriffel  der  Schreiber«  und  die  »Trug- 
sprüche«, welche  die  Chokekim  zum  Nachteil  der  Armen  geben 
(Jes.  10,  I  f.),  sind  das  Sündhafte,  ebenso  wie  die  immer  wieder 
gebrandmarkten  ungerechten  Urteile  der  bestochenen  Richter. 
Gelegentlich  freilich  findet  sich  aus  der  Souveränität  des  von 
Jahwe  in  seinen  Rat  gezogenen  Propheten  völlige  Ablehnung 
des  Werts  der  Chokma  sowohl  wie  der  Gebote  (Mizwat),  welche 
die  Lehrer  »nur  im  Munde  führen«  (Jes.  29,  13.  14).  Indessen 
diese   bei   Jeremia  noch    gesteigerte    Skepsis   gegen   die   Lehrer 

mehr  aus  der  bäuerlichen  Nachbarschaftsethik  als  solcher,  welche  von  solcher 
Sentimentalität  wie  alle  Bauemethik  weit  entfernt  war,  sublimiert.  Sie  gehörten 
der  Ideologie  des  vorderasiatisch-ägyptischen  Königtums  und  seiner  Literaten : 
Priester  und  Schreiber,  an. 


II.     Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  :>iq 

persönlich  änderte  nichts  daran,  daß  eben  doch  die  positiven 
Gebote  der  leyitischen  Thora  und  die  der  Propheten  in  der 
Sache  identisch  waren. 

Die  Bedeutung  der  Thora  für  die  Prophetie  geht  aber  über 
die  Darbietung  des  materiellen  Inhalts  der  Gebote  hinaus.  Die 
prophetische  Grund  Vorstellung :  daß  Jahwe  um  sittlicher,  ins- 
besondere sozialethischer  Verfehlungen  willen  furchtbare  Uebel 
verhänge,  hatte  ja  in  der  Beicht-  und  Sühnepraxis  der  Leviten 
und  deren  Entwicklung  durch  ihre  sittlich-rationale  Paränese 
ihre  ursprüngliche  Stätte.  Auch  die  Uebert ragung  des  Gedankens 
von  der  Rache  des  Gottes  gegen  Sünden  und  Verfehlungen  ein- 
zelner auf  solche  des  Volkes  als  einer  Einheit  ist,  gleichviel  wie 
alt  das  in  der  jetzigen  Redaktion  niedergelegte  priesterliche 
Sühnerilual  für  ganze  Gemeinden  sein  mag,  doch  unbedingt 
vorprophetisch.  Denn  diese  wichtige  Vorstellung  folgte  aus  dem 
niemals  vergessenen  Charakter  Israels  als  eines  aus  der  berith 
solidarisch  haftenden  Verbandes  freier  Volksgenossen.  Die  Orakel 
des  Arnos  setzen  diese  Unheilstheodizee  voraus.  Aber  wie  jede 
Theodizee  ist  auch  diese  wohl  zunächst  geistiger  Besitz  nur  von 
Intellektuellenschichten  gewesen.  Daß  sie  von  einem  Visionär 
wie  Amos  der  Oeffentlichkeit  in  dieser  ungeheuren  Wucht  aktuell, 
als  Grund  jetzt  bevorstehenden  Unheils,  verkündet  wurde,  war 
vermutlich  das  noch  nicht  Dagewesene,  was  den  gewaltigen  Ein- 
druck erklärt,  der  in  der  Aufbewahrung  der  Orakel  dieses  Pro- 
pheten als  des  ersten  von  allen  sich  ausspricht.  Außerdem  natür- 
lich das  Eintreffen  des  Unheils,  welches  ja  in  einer  Zeit  politischer 
und  wirtschaftlicher  Blüte  unter  der  Herrschaft  Jerobeams  II. 
geweissagt  war.  Denn  wenn  oben  betont  wurde,  daß  die  Stellung 
der  klassischen  Prophetie  bedingt  war  durch  die  sinkende  Macht 
und  steigende  Bedrohung  der  beiden  Königreiche,  so  darf  das 
nicht  mißverstanden  werden.  Nicht  etwa  das  Auftreten  von 
Unheilspropheten  als  solches  war  dadurch  hervorgerufen.  Als 
ein  Unheilsprophet  gegen  den  König  trat  schon  Elia  auf,  und 
auch  Unheilsprophetien  gegen  das  Volk  hat  es  vielleicht  schon 
vor  Amos  gegeben.  Die  Unheilsvisionen  der  Propheten,  waren 
an  sich  »endogen«  bedingt.  Jeder  Blick  in  ihre  Schriften 
lehrt  ja:  daß  wir  es  mit  Persönlichkeiten  zu  tun  haben,  deren 
harte,  bittere  und  leidenschaftlich  düstere  Temperierung  in  den 
meisten  von  ihnen  selber,  ohne  Rücksicht  auf  die  Augenblicks- 
lage, vorgebildet  war.    Sie  sehen  die  Welt  voll  Unheil  gerade  im 


:^20  Das  antike  Judentum. 

vollen  Sonnenglanz  scheinbaren  Glücks.  Assur  wird  bei  Arnos 
nicht  mit  Namen  genannt :  »der  Feind«  heißt  es,.,  und  »jenseits 
von  Damaskus«  soll  das  geweissagte  Exil  liegen.  Das  war  deut- 
lich genug.  Als  Grund  aber,  das  Unheil  gerade  von  daher  kommen 
zu  sehen,  führt  der  Prophet  die  Verehrung  mesopotamischer 
Gottheiten  an  (5,  27).  Nicht  die  Weltlage,  sondern  die  Verderbnis 
rund  um  sie  her  begründet  ihre  düsteren  Ahnungen,  die  auch 
bei  Jesaja  gerade  in  der  Zeit  nach  Sanheribs  Abzug  sich,  im 
Gegensatz  zu  seiner  Siegeszuversicht  vorher,  wieder  einstellten 
(22,  14).  Das  wirklich  hereinbrechende  Unglück  scheint  die 
Propheten  eher  innerlich  zu  entlasten:  die  Verderbnis,  die  sie 
um  sich  herum  erblickten,  schien  eben  dann  endlich  ihre  Sühne 
zu  finden  und  damit  getilgt  zu  werden.  Es  bleibt  freilich  mehr 
als  fraglich,  wieweit  man  deshalb  von  einem  spezifischen  »Persön- 
lichkeitstypus« der  Propheten  im  Sinne  einer  eindeutigen  Prä- 
disposition zu  jener  Gefühlslage  sprechen  darf.  Denn  selbst  die 
verstümmelten  Reste  ihrer  Orakel  lassen  uns  die  Grundver- 
schiedenheit ihrer  Temperierung  erkennen:  die  stürmische,  heiße, 
ungebrochene  Leidenschaft  des  Amos,  die  Weichheit  und  Wärme 
der  werbenden  Liebe  des  Hosea,  den  stählern  vornehmen  und 
selbstsicheren  Schwung  und  die  starke  und  tiefe  Begeisterung  des 
Jesaja,  die  weiche,  schwer  unter  depressiven  Gefühlslagen  und 
Zwangsvorstellungen  leidende,  aber  durch  den  Zwang  der  Be- 
rufung zu  verzweifeltem  Heroismus  zusammengeraffte  Seele 
Jeremias,  den  ekstatisch  aufgeregten,  aber  innerlich  kalten 
Intellektualismus  Hesekiels  —  alle  diese  Gegensätze  lassen  sich 
greifen  und  ändern  doch  an  dem  Charakter  ihrer  Unheilsprophetie 
nichts.  Vor  allem  beweisend  ist  ein  Umstand:  mit  dem  endgültigen 
Tempelsturz  ist  die  Unheilsprophetie  alsbald  zu  Ende  und 
die  Tröstimg  und  Heils  Weissagung  beginnt.  Die  Unheils  Weis- 
sagung war  also  Produkt  tiefen  Absehens  vor  dem  Greuel  des 
Abfalls  von  Jahw^e  und  seinen  Geboten  und  furchtbarer  Angst 
vor  den  Folgen,  des  felsenfesten  Glaubens  an  Jahwes  Ver- 
heißungen und  der  verzweifelten  Ueberzeugung:  daß  das  Volk 
sie  verscherzt  habe  oder  zu  verscherzen  im  Begriff  stehe.  Mit 
welchem  Grade  von  Wahrscheinlichkeit  aber  das  furchtbare 
Unheil  bevorstehe,  darüberhat  die  Ansicht  auch  ein  und  desselben 
Unheilspropheten  offenbar  gewechselt.  Bald,  namentlich  bei 
Amos  und  Jeremia,  gelegentlich  auch  beim  jugendlichen  Jesaja, 
schien  jede  Hoffnung    eitel.   Bald  gab  es  Möglichkeiten,  Wahr- 


II.    Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  ■221 

scheinlichkeiten,  ja  Sicherheiten  der  Rettung  oder  doch    —  und 
das  ist  die  Regel  —  der  Wiederkehr  besserer  Zeiten  nach  dem 
Unheil.   Kein  Prophet  hat  diese  Hoffnung  dauernd   absolut  be- 
stritten. Und  er  hätte  es  ja,  wollte  er  sich  irgend  eine  Wirkung 
auf  seine  Hörer  versprechen,  auch  nicht  bestreiten  können.  Diese 
Wirkung  aber  war  den  Propheten  trotz  des  endogenen  Charakters 
ihrer  Ekstase  nicht   einfach  gleichgültig.     Sie    fühlten  si^h   als 
»Wächter«  und  »Prüfer«  von  Jahwe  bestellt.  Nur  der  galt  Jeremia 
als  echter  Prophet,  welcher  die  Sünden  des  Volks  geißelt    und 
—  im  Zusammenhang  damit  —  Unheil  kündet.  Dann  aber  durfte 
das  Unheil  nicht  absolut  und  endgültig  sein,  sondern  bedingt 
durch  die  Sünde.    Die  Propheten,  schon  Jesaja,  noch  mehr  aber 
Jeremia,  schwanken  in  ihrer  Haltung.  Wo  sie  pädagogisch  wirken 
wollen,  ist  Jahwe  ein  Gott,  der  sich  seine  Entschlüsse  reuen  läßt. 
Wo  sie  unter  dem  unmittelbaren  Eindruck  der  Verderbnis  reden, 
erscheint  alles  umsonst  und  hoffnungslos.   Wie  schwer  die  prak- 
tischen  seelsorgerisch-pädagogischen    Bedenken    vor    allem    der 
Thoralehrer  wogen,  zeigt  gegenüber  dei  bei  Jesaja  anklingenden 
Vorstellung  einer  Prädestination  der  Unheilsschicksale  die  offen- 
bar  den   Intellektuellenkreisen   entstammende   paradigma  tische 
Erzählung  von  Jona,  deren  eigentliches  Thema  ja  ist:    die  Un- 
wandelbarkeit   der     prophetischen     Unheilsverkündung    auszu- 
schließen und  vielmehr  die  Wandelbar keit  der  Entschlüsse  Jahwes 
zu  rechtfertigen.     Solche  Erwägungen,   welche  für   die   in   der 
Seelsorge  bestehenden  Thoralehrer  und  noch  mehr  für  die  priester- 
lichen Redaktoren  maßgebend  sein  konnten,  haben  die  ihren 
Gesichten   hingegebenen    Ekstatiker    selbst    freilich   nicht    aus- 
drücklich angestellt.    Unbegründet  scheint  es  andererseits,  aus 
diesem   Grunde  anzunehmen,  die  Heils  Verheißungen  seien  den 
Propheten  überhaupt  erst  von  der  priesterlichen  Redaktion  in 
den  Mund  gelegt  worden.    Denn  man  erkennt  deutlich  die  bei 
Amos  nur  einmal  (5,  15),  bei  Hosea  mehrere  Male,  and  noch 
weit  häufiger  bei  Jesaja  und,  trotz  seines  Pessimismus,  am  stärk- 
sten und  ganz  prinzipiell  bei  Jeremia  (7,  23)  sich  einstellende 
pädagogische  Absicht.    Gegen  jene  Annahme  der  Interpolation 
spricht    überdies    das    Vorhandensein    ganz    bestimmter    Heüs- 
kategorien,  wie  des  sich  rechtzeitig  bekehrenden  »Rests«  schon 
bei  den  ersten  Propheten   (Amos).    Vielmehr  die  traditionelle 
Hoffnung  der  Paränese  und  der  eigene  immer  wieder  auftauchende 
Gedanke:    daß   das   Unheil   unmöglich    das   Ende   von    Jahwes 

Max  Weber,  Rcligionssoziologie  HI.  21 


^22  ^^^  antike  Judentum. 

Plänen  mit  Israel  sein  könne,  ließ  das  Heil,  sei  es  auch  in  un- 
bestimmter Art  und  nur  für  jenen  »Rest,  der  sich  bekehrt«, 
immer  neu  erstehen,  und  die  pädagogische  Absicht  half  dabei 
zunehmend,  mochte  auch  im  Einzelfall  die  Beklemmung  nichts 
als  düsteres  Schicksal  geschaut  haben.  Eine  eindeutige  psychische 
Determiniertheit  zur  »politischen  Hypochondrie«  als  Quelle  ihrer 
Stellungnahme    ist    jedenfalls    schwerlich    anzunehmen. 

Wenn  die  Unheüsprophetie  in  starkem  Maße  aus  der  eigenen 
durch  Veranlagung  und  aktuelle  Eindrücke  bedingten  psychischen 
Disposition  der  Propheten  abzuleiten  ist,  so  steht  doch  nicht 
weniger  fest,  daß  es  ganz  und  gar  die  geschichtlichen  Schicksale 
Israels  waren,  welche  dieser  Verkündigung  ihre  Stellung  in  der 
Religionsentwicklung  verschafften.  Nicht  nur  in  dem  Sinne, 
daß  uns  die  Tradition  naturgemäß  gerade  Orakel  solcher  Pro- 
pheten aufbewahrt  hat,  welche  eingetroffen  waren  oder  ein- 
getroffen zu  sein  schienen  oder  deren  Eintreffen  noch  erwartet 
werden  konnte.  Sondern  das  zunehmend  unerschütterliche 
Prestige  der  Prophetie  überhaupt  beruhte  auf  jenen  wenigen, 
aber  für  die  Zeitgenossen  ungeheuer  eindrucksvollen  Fällen,  in 
denen  sie  durch  den  Erfolg  unerwartet  Recht  behielten.  Dahin 
gehörten  zunächst  die  Unheilsorakel  des  Amos  über  das  damals 
mächtige  Nordreich.  Dann  die  Unheüsorakel  des  Hosea  über  die 
Jehudynastie  und  über  Samaria.  Dann  die  Heilsorakel  des 
Jesaja  für  Jerusalem  bei  der  Belagerung  durch  Sanherib.  Aller 
Wahrscheinlichkeit  zum  Trotz  mahnte  er  mit  nachtwandlerischer 
Sicherheit  zum  Ausharren.  Und  wenn  schließlich  der  Enderfolg 
wohl  eine  verhüllte  Unterwerfung  des  Königs  war :  —  daß  die 
Belagerang  Jerusalems  nicht  zu  einer  Kapitulation  führte,  scheint 
sicher,  da  Sanherib  in  seinem  Bericht  darübej-  dies  selber  nicht 
behauptet.  Dann  und  vor  allem  die  Bestätigung  der  furchtbaren 
Unheilsorakel  des  jungen  Jesaja,  des  Micha,  vor  allem  aber  des 
Jeremia  und  Hesekiel  durch  die  Einnahme  und  Zerstörung 
Jerusalems.  Endlich  die  vorhergesagte  Heimkehr  aus  dem  Exil. 
Seitdem  war  die  Autorität  der  Prophetie,  welche  nach  der  schwe- 
ren Enttäuschung  der  Schlacht  von  Megiddo  augenscheinlich 
gelitten  hatte,  unerschütterlich.  Daß  die  überwiegende  Mehr- 
zahl sogar  der  in  die  uns  erhaltene  Sammlung  aufgenommenen 
Orakel  nicht  eingetroffen  war,  wurde  völlig  vergessen.  Denn 
demgegenüber  war  es  für  die  Prophetie  von  Nutzen:  daß  die 
Wandelbarkeit  der  Entschlüsse  Jahwes  von  Anfang  an,  schon 


II.    Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  02^ 

bei  Arnos,  sehr  nachdrücklich  festgehalten  war  und  die  Anhänger 
der  Prophetie  sich  hinter  sie  zurückziehen  konnten,  wie  ja  die 
Bußpraxis  der  Leviten  diese  Wandelbarkeit  gleichfalls  voraus- 
setzte, indem  die  Sündenvergebung  die  Abwehr  des  drohenden 
Unheils  verbürgte.  Auch  bei  den  Propheten  wurde  deshalb 
Jahwe  —  so  sehr  und  in  so  gesteigertem  Maße  er  bei  ihnen  ein 
Gott  des  Zornes  und  der  Rache  blieb  und  so  schroff  er  im  Einzel- 
fall an  seinem  Zorne  festhielt —  doch  immer  wieder  ein  Gott 
der  Gnade  und  Vergebung.  Daß  er  dies  war,  unterschied  ihn 
nach  der  prophetischen  Ansicht  von  allen  anderen  Göttern. 
Ein  weicher  Zug  geht  durch  derartige  Gnadenprophetien,  die 
sich  namentlich  bei  Hosea  und  Jeremia,  aber  auch  in  manchen 
Orakeln  des  Jesaja  finden.  Jahwe  wirbt  um  die  Treue  Israels 
\vih  ein  Liebender  um  die  der  Geliebten. 

Aber  im  ganzen  mußten  Jahwes  Züge,  auch  da  wo  diese 
gnädige  Seite  betont  wurde,  sich  bei  den  Propheten  doch  un- 
gleich majestätischer  gestalten  als  in  den  literarischen  Produkten 
aus  den  Kreisen  der  Thoralehrer,  wie  sie  etwa  das  Deuteronomium 
repräsentierte.  Ein  Gott,  der  die  großen  Weltkönige  als  Mittel 
zur  Bestrafung  israelitischer  Sünden  zur  Verfügung  hatte  und 
mit  ihnen  nach  Belieben  schaltete,  mußte  an  Universalismus 
und  Erhabenheit  zu  einer  ganz  anderen  Höhe  emporsteigen 
als  der  alte  Bundesgott  Israels  und  der  bürgerliche  Gnaden- 
spender der  Leviten.  Die  Propheten  bevorzugen  sämtlich  in 
zweifellos  beabsichtigter  Anknüpfung  an  das  alte  heroische  Zeit- 
alter den  Namen  »Jahwe  Zebaoth«,  also  die  Bezeichnung  des 
Bundeskriegsgottes.  Aber  mit  ihm  verschmolzen  jetzt  die  Züge 
eines  ganz  großen  Himmels-  und  Weltgottes.  Der  Hofhalt  der 
Großkönige,  die  ja  für  Israel  eine  ähnliche  Rolle  spielten  wie 
der  persische  Basileus,  obwohl  auch  er  der  Landesfeind  war, 
für  die  Hellenen  etwa  in  Xenophons  Kyrupädie,  gab  das  Bild 
des  himmlischen  Hofstaates,  in  dem  nicht  mehr  der  alte  Kriegs - 
fürst  seine  Gefolgsleute,  die  »Göttersöhne«,  um  sich  hatte,  son- 
dern eine  Schar  dienstbarer  Himmelsgeister,  welche  sogar  in 
der  Tracht  babylonischen  und  ägyptischen  Mustern  entnommen 
waren.  Sieben  Geister,  den  sieben  Planeten  entsprechend,  um- 
standen seinen  Thron,  darunter  einer  mit  der  Schreibfeder  und 
in  Linnen  gekleidet,  dem  Schreibergott  entsprechend.  Seine 
Späher  reiten  auf  Rossen  in  den  Farben  der  vier  babylonischen 
Windgötter,  durchstreifen  die  Welt  und  erstatten  Bericht.    Auf 


^24  ^^^  antike  Judentum. 

einem  Wagen  mit  Keruben,  offenbar  babylonischen  hieratischen 
Figuren  gleichend,    fährt   der   Himmelskönig   in   überirdischem 
Glanz  daher.    Gewiß  kommt  es  trotzdem  noch  vor,  daß  er  die 
Naturgeister  zu  Zeugen  anruft  gegen  das  Vertragsbrüchige  Israel, 
wie  in  einem  Prozeß.  Aber  in  der  Regel  ist  er  der  souveräne  Herr 
über  die  ganze  Welt  der  Kreaturen.    Die    milde  Gnadenfülle, 
die  ihm  gelegentlich  zur  Verfügung  steht,  hindert  nicht,  daß 
er  auch  wieder,  wie  die  weltlichen  Könige,  gänzlich  amoralische 
Züge  an  sich  trägt.    Wie  die  indischen  Patrimonialkönige   ihre 
agents  provocateurs,  so  sendet  er  seinen  »Lügengeist«,  um  seine 
Feinde  zu  verblenden.   Die  eigenen  Propheten  graut  es  gelegent- 
lich vor  ihm.    Jesaja  nennt  seinen  Ratschluß  gegen  Assur,  das 
er   doch   selbst   als  Werkzeug  berufen,    »barbarisch«.     Hesekiel 
(20,  25),  welcher  an  gleichartigen  Vernichtungsplänen  Jahwes 
gegen  die  von  ihm  selbst  herbeigerufenen  Feinde   Israels  gar 
keinen  Anstoß  nimmt,  glaubte  doch  auch,  daß  er  dereinst  Gesetze 
zum  Verderben  des  eigenen  Volkes  gegeben  habe.    Daß  er  un- 
gehorsamen israelitischen  Königen  absichtlich  falsche  Ratschläge 
sendet,  war  der  Tradition  selbstverständlich.   Nur  Hosea  (11,  9) 
hat  an  solchen  Zügen  Anstoß  genommen  und,  wenn  die  freilich 
zwischen  Wellhausen  und  andern  bestrittene  Lesart  richtig    ist, 
Jahwe  sagen  lassen:  er  handle  nicht  »nach  Leidenschaft«,  weil 
er  »heilig  sei  und  kein  Verderber«.   Aber  auch  den  Jesaja  brachte 
die  Erfahrung,  daß  das  klare  Prophetenwort  von  Israel  dennoch 
verworfen  und  unbeachtet  bleibe,  zu  der*  Ueberzeugung,   daß 
Jahwe  selbst  es  nicht  anders  wolle,  daß  er  das  Volk  geradezu 
verstocke,  um  es  zu  verderben.   Diese  auch  in  der  neutestament- 
lichen  Verkündigung   und   später   im   Calvinismus    wichtig   ge- 
wordene Vorstellung  nahm  hier  ihren  Anfang.   Von  dem  helleni- 
schen Weltgott,  etwa  des  Xenophanes,  blieb  Jahwe  durch  solche 
aktuell-leidenschaftliche  Züge   weit  geschieden.    Er  blieb   also, 
alles  in  allem,  ein  furchtbarer  Gott.    Oft  scheint  letzter  Zweck 
seines  Tuns  lediglich  die  Verherrlichung  der  eigenen  Majestät 
über  alle  Kreaturen.    Das  teilte  er  eben  mit  den  irdischen  Welt- 
monarchen.    Daher  bleibt  sein   Gesamtbild    schwankend.   Ein 
und  derselbe  Prophet  sah  ihn  bald  in  übermenschlicher  heiliger 
Reinheit  und  dann  wieder  als  den  alten  Kriegsgott  mit  dem 
wandelbaren  Herzen.    Wenn  er  dadurch  hochgradig  anthropo- 
morphe  Züge  behielt,  so  wagen  doch  gerade  die  am  stärksten 
erlebenden  Propheten  nicht  mehr,  wie  die  alten  jahwistischen 


II.    Die  Entstehung  des   jüdischen  Pariavolkes.  ^25 

Erzähler,  ihren  Visionen  der  himmlischen  Herrlichkeit  allzu 
krnkrete  Züge  zu  verleihen,  wenigstens  soweit  der  von  alters  her 
unsichtbare  Gott  persönlich  in  Betracht  kommt.  Was  sie  sehen, 
ist  »wie  ein  Thron«,  aber  doch  kein  wirkHcher  Thron:  auch  Jesaja 
erblickt  nur  den  herab  wallenden  Königsmantel,  nicht  den  Gott 
selbst. 

Der  Aufenthalt  Jahwes  blieb  ebenso  mehrdeutig  wie  sein 
Wesen.  Daß  er  Himmel  und  Erde  geschaffen  und  den  Stern- 
bildern ihre  Stätte  gewiesen  hatte,  wie  schon  Amos  sagt,  hinderte 
nicht,  daß  er,  nach  demselben  Propheten,  »vom  Zion  her  brüllte«. 
Jesaja  hatte  seine  Vision  der  göttlichen  Herrlichkeit  als  Tempel- 
vision. Diese  Lokalisierung  hätte  das  Prestige  Jahwes  beim 
Untergang  des  Tempels  gefährden  müssen.  Ungezählte  Heilig- 
tümer sah  man  von  den  Eroberern  verwüstet  und  ihre  Idole 
fortgeschleppt,  ohne  daß  deren  Götter  sich  zu  wehren  vermochten. 
Sollte  das  Jahwe  auch  widerfahren?  Die  Propheten  schwank- 
ten. Jesaja  war  in  manchen  späten  Orakeln,  nach  dem  Abzug 
Sanheribs,  im  Gegensatz  zu  seinen  früheren  Drohungen  felsen- 
fest überzeugt,  daß  Jerusalem  als  Sitz  Jahwes  niemals  fallen 
könne.  Aber  nachdem  Amos  und  Hosea  den  Untergang  des 
Nordreichs  als  von  Jahwe  selbst  beabsichtigt  vorhergesagt  hatten, 
wurde,  wie  schon  in  Jesajas  Frühoiakeln,  seit  Micha  und  end- 
gültig seit  Jeremia  auch  der  Untergang  Jerusalems  selbst  ein 
im  Rat  Jahwes  beschlossenes  Schicksal,  dessen  schließlicher 
Eintritt  also  an  dem  Prestige  des  Gottes  nun  nichts  änderte, 
es  vielmehr  steigerte.  Die  eigenen  Götter  der  siegreichen  Groß- 
könige konnten  nicht  die  Urheber  dieser  Katastrophe  sein.  Sie 
wa  en  besudelt  mit  den  Greueln  des  Hierodulenwesens  und 
Idoldienstes  oder  gar  mit  dem  verächtlichen  Tierdienst  der 
Aegypter.  Alle  solche  Götter  anderer  Völker  konnten  daher 
höchstens  Dämonen  sein  und  wurden  Jahwe  gegenüber  zu 
»Nichtsen«.  Seit  Hosea  setzte  die  Verwerfung  und  Verspottung 
des  Idolkultes  ein  und  wurde  in  zunehmender  Konsequenz  von 
den  Intellektuellen  auf  die  UeVerlegrng  gestützt:  daß  das  Idol 
Menschen  werk  und  deshalb  ohne  religiöse  Bedeutung,  am  aller- 
wenigsten aber  der  Sitz  eines  Gottes  sei.  Daß  die  anderen  Götter 
überhaupt  nicht  existierten,  ist  indessen  nicht  einmal  in  der 
Exüszeit  von  Deuterojesaja  behauptet  worden.  Immerhin  stieg 
Jahwe  der  Sache  nach  durch  die  Unheilstheodizee  der  Propheten 
zum  Range  des  einzigen  für  den  Weltlauf  entscheidenden  Gottes 


■7  2Ö  ^^^  antike  Judentum. 

empor.  Besonders  wichtig  war  nun  dabei:  Einmal,  daß  er  die 
alten  Züge  des  furchtbaren  Katastrophengottes  behielt.  Dann: 
die  Anlehnung  der  Unheiltheodizee  an  die  Sündenbeicht-Praxis 
der  levitischen  Thoia.  Und  schließlich:  die  mit  beidem  zusammen- 
hängende Wendung  des  Berithgedankens  bei  Amos,  welche  ihn 
selbst  zum  Urheber  alles  Unheils  machte.  Denn  die  Folge  von 
alledem  war  eben:  daß  in  der  prophetischen  Auffassung  nie 
irgendwelche  neben  Jahwe  existierende  und  ihm  gegenüber 
irgendwie  selbständige  oder  ihm  feindliche  Dämonen  die  Uebel 
über  den  Einzelnen  und  über  Israel  sendeten,  sondern  er  allein 
alle  Einzelheiten  des  Weltlaufs  bestimmte:  wie  wir  sahen,  war 
dieser  Monismus  die  wichtigste  Voraussetzung  der  ganzen  Pro- 
phetie.  Der  überall  in  der  Welt  volkstümliche  Dämonenglaube 
drang  wenigstens  in  die  Intellektuellenreligiosität  erst  des 
späten  nachexilischen  Judentums  ein,  in  vollem  Umfang  erst 
unter  persischen  dualistischen  Einflüssen.  Den  Propheten  war 
der  babylonische  Dämonenglaube  sicher  nicht  unbekannt.  Aber 
er  blieb  für  ihre  Konzeptionen  ebenso  unbedeutsam  wie  die 
astrologischen,  mythologischen  und  esoterischen  Lehren  ihrer 
Umwelt.  Daß  Jahwe  der  Gott  eines  politischen  Verbandes:  der 
alten  Eidgenossenschaft,  gewesen  und  für  die  puritanische  Auf- 
fassung geblieben  war,  erhielt  ihm  andererseits  jenen  durch  allen 
kosmischen  und  historischen  Universalismus,  den  er  annahm,  un- 
vertilgbaren  Zug:  ein  Gott  des  Handelns,  nicht:  der  ewigen 
Ordnung,  zu  sein.  Aus  dieser  Qualität  folgte  der  ent- 
scheidende Charakter  der  religiösen  Beziehung. 

Schon  die  unmittelbaren  Erlebnisse  der  Propheten  selbst 
werden  durch  die  für  sie  feststehenden  Qualitäten  des  Gottes 
geformt.  Immer  kreist  ihre  Phantasie  um  das  Bild  eines  himm- 
lischen Königs  von  furchtbarer  Majestät.  Dies  betrifft  zunächst 
ihre  visuellen  Erlebnisse.  Die  Rolle  des  Visionären  war,  sehen 
wir,  bei  den  einzelnen  Propheten  verschieden.  Am  größten  bei 
dem  ältesten  Propheten,  Arnos,  der  daher  auch  »Seher«  (choseh) 
genannt  wird.  Aber  auch  bei  den  anderen  Propheten,  vor  allem 
Jesaja  und  Hesekiel,  fehlt  sie  nicht.  Und  die  Propheten  sehen 
auch  anderes  als  nur  die  himmlische  Herrlichkeit.  Sie  erblicken 
hellseherisch  in  der  Ferne  ein  anrückendes  Heer  auf  einer  Paß- 
hohe  oder  von  Babylonien  aus  den  Tod  eines  mit  Namen  ge- 
nannten Mannes  im  Tempel  von  Jerusalem.  Oder  der  Prophet 
wird   von   einem   aus   Feuerglanz  bestehenden   Wesen   an   den 


II.     Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  ^2  7 

Haaren  von  dort  nach  hier  entrückt.  Immer  aber  handelt  es 
sich  dabei  um  ein  unmittelbares  Eingreifen  jenes  göttlichen 
königlichen  Machthabers,  dessen  er  inne  wird.  Oder  wenn  der 
Prophet  einen  Mandelzweig  oder  einen  Korb  mit  Obst  sieht, 
so  hat  das  etwas  zu  bedeuten  und  ist  als  Symbol  von  Gott  ge- 
formt. Bald  sind  es  Träume,  besonders  oft  aber  ist  es  ein  Wach- 
tiäumen,  in  welchem  diese  Visionen  den  Propheten  bedrängen. 
Aber  solche  visuellen  Erlebnisse  werden,  wie  in  anderem  Zu- 
sammenhang schon  erörtert,  bei  dem  Propheten  bei  weitem  und 
in  höchst  charakteristischer  Art  an  Bedeutung  überragt  von  den 
Gehörserlebnissen.  Der  Prophet  hört  entweder  eine  Stimme, 
die  zu  ihm  spricht,  ihm  Befehle  und  Aufträge  gibt,  etwas  zu 
sagen,  unter  Umständen  auch:  etwas  zu  tun  oder,  wie  wir  bei 
Jeremia  sahen,  eine  Stimme  spricht  aus  ihm,  er  mag  wollen  oder 
nicht.  Das  Ueberragen  dieser  Gehörserlebnisse  über  die  Visionen 
war,  wie  schon  einmal  betont,  kein  Zufall.  Es  hing  zunächst 
mit  der  überlieferten  Unsichtbarkeit  des  Gottes  zusammen, 
die  es  ausschloß,  daß  über  ihn  selbst  und  seine  Erscheinung  etwas 
ausgesagt  werden  konnte.  Aber  es  war  auch  Folge  der  für  die 
Propheten  allein  möglichen  Art,  einer  Beziehung  zu  diesem  Gott 
inne  zu  werden.  An  keiner  Stelle  findet  sich  bei  den  Propheten 
jene  mystische  Entleerung  von  allem  Sinnlichen  und  Geformten, 
welche  die  apathische  Ekstase  Indiens  einleitet,  nirgends  auch 
jene  stille  beseligende  Euphorie  des  Gottbesitzes,  selten  der 
Ausdruck  gottinniger  Andacht  und  niemals  des  für  den  Mystiker 
typischen  erbarmend-mitleidvollen  Brüderlichkeitsgefühls  mit 
allem  Kreatürlichen.  In  einer  erbarmungslosen  Welt  des  Krieges 
lebt,  herrscht,  redet,  handelt  ihr  Gott  und  tief  unseÜg  ist  das 
Zeitalter,  in  welches  sich  die  Propheten  hineingestellt  wissen. 
Vor  allem  aber:  unselig  im  tiefsten  Innern  sind  gerade  manche 
der  Propheten  selbst.  Nicht  alle  und  nicht  immer,  aber  oft  ge- 
rade in  den  Augenblicken  größter  Gottesnähe.  Von  den  vor- 
exilischen  Propheten  hat  Hosea  den  Zustand  der  Ergriffenheit 
vom  Geiste  Jahwes  als  beglückenden  Besitz,  Amos  das  Bewußt- 
sein, in  alle  seine  Pläne  eingeweiht  zu  werden,  als  Stütze  stolzer 
Selbstgewißheit  empfunden.  Jesaja  drängt  sich  zu  der  Ehre 
der  Prophetie.  Aber  schon  er  empfindet  sie  angesichts  mancher 
furchtbaren  Verkündungen  des  Gottes  und  der  Härte  seiner 
Entschlüsse  gelegentlich  als  ein  schweres  Amt.  Jeremia  vollends 
bedeutet    sein    Prophetenamt     eine    unerträgliche    Last.      Nie 


•528  ^^^  antike  Judentum. 

jedenfalls  ist  die  Nähe  Jahwes  ein  seliges  Innewohnen  des  Gött- 
lichen, vielmehr  immer  Pflicht  und  Gebot,  meist  jagende  stür- 
mische Forderung.  Wie  ein  Mädchen  vom  Mann  oder  wie  der 
unterlegene  Ringer  fühlt  sich  Jeremia  von  Jahwe  vergewaltigt. 
Auch  dieser  religionsgeschichtlich  wichtige  Tatbestand,  grund- 
verschieden von  aller  indischen  und  chinesischen  Prophetie, 
ergab  sich  nur  zum  Teil  aus  psychischen  Vorbedingungen,  zum 
andern  aber  aus  der  Deutung,  welche  der  jüdische  Prophetis- 
mus seinen  Erlebnissen  zu  geben  gezwungen  war.  Gezwungen 
durch  die  Art  des  Glaubens,  in  den  er  hineingebannt  war  und 
der,  als  unerschütterliches  Apriori  vor  allen  ihren  Erlebnissen 
stehend,  die  A  u  s  1  e  s  e  derjenigen  Zuständlichkeiten  bestimmte, 
welche  als  echt  prophetische  gelten  durften.  Die  beispiellose 
Wucht  sowohl  wie  die  feste  innere  Schranke  dieser  Prophetie 
fanden  darin  ihre  Begründung.  Die  Propheten  konnten  infolge 
jenes  Apriori  nicht  »Mystiker«  sein.  Ihr  Gott  war  —  bis  auf 
Deuterojesaja  —  durchaus  menschlich  verständlich  und 
mußte  es  sein.  Denn:  er  war  ein  Herrscher,  von  dem  man  zu 
wissen  begehrte,  wie  seine  Gnade  zu  erlangen  sei. 

Nirgends  und  niemals  wird  von  den  Propheten  oder  (soviel 
wir  wissen)  ihrem  Publikum  die  Frage  nach  einem  »Sinn«  der 
Welt  und  insbesondere  des  Lebens,  nach  einem  rechtfertigenden 
Grunde  seiner  brüchigen,  leid-  und  schuldbehafteten  Vergäng- 
lichkeit und  seiner  Widersprüche  auch  nur  aufgeworfen,  wie  sie 
in  Indien  aller  heüigen  Erkenntnis  den  entscheidenden  Antrieb 
gab.  Und  was  damit  zusammenhängt:  nie  und  nirgends  ist 
es  das  Bedürfnis  nach  Rettung,  Erlösung,  Vollendung  der  eigenen 
Seele  aus  und  gegenüber  dieser  unvollkommenen  Welt,  was  den 
Propheten  oder  sein  Publikum  zum  Gott  treibt.  Niemals  vcllends 
fühlt  sich  der  Prophet  durch  sein  Erlebnis  vergottet,  mit  dem 
Göttlichen  vereinigt,  entrückt  der  Qual  und  Sinnlosigkeit  des 
Daseins,  wie  dies  dem  indischen  Erlösten  widerfährt  und  für 
ihn  den  eigentlichen  Sinn  religiösen  Erlebens  darstellt.  Niemals 
weiß  er  sich  dem  Leiden  oder  auch  nur  der  Knechtschaft  unter 
der  Sünde  entronnen.  Nirgends  ist  Raum  für  eine  unio  mystica 
oder  gar  für  die  innere  seelische  Meeresstille  des  buddhistischen 
Arhat.  All  dergleichen  gab  es  nicht  und  vollends  eine  meta- 
physische Gnosis  und  Weltdeutung  kam  gar  nicht  in  Betracht. 
Denn  das  Wesen  Jahwes  enthielt  nichts  Uebersinnliches  in  der 
Bedeutung   von   etwas   jenseits   von   Verstehen   und   Begreifen 


II.    Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  32Q 

Liegendem.  Seine  Motive  waren  menschlichem  Verständnis  nicht 
entrückt.  Im  Gegenteil  war  gerade  das  Verstehen  der  Entschlüsse 
Jahwes  aus  berechtigten  Motiven  die  Aufgabe  des  Propheten 
ebenso  wie  die  des  Thoralehrers.  Jahwe  war  ja  sogar  bereit, 
vor  dem  Gericht  der  Welt  das  Recht  seiner  Sache  zu  vertreten. 
Höchst  einfach  und  offenbar  erschöpfend  wird  bei  Jesaja  (28, 
23 — 29)  die  Art  seines  Weltregimentes  in  einem  der  bäuerlichen 
Wirtschaft  entnommenen  Gleichnis  dargestellt;  das  genügte  als 
Theodizee  ebenso  vollständig  wie  in  den  ganz  ähnlichen  Gleich- 
nissen von  Jesus,  die  in  dieser  Hinsicht  von  durchaas  ähnlichen 
Voraussetzungen  ausgehen.  Eben  diesen  rationalen  Charakter 
sowohl  des  Weltgeschehens  selbst,  welches  weder  durch  blinden 
Zufall  noch  durch  magische  Zauberkräfte  bestimmt  ist,  sondern 
verständliche  Gründe  hat,  wie  auch  der  Prophetie  selbst:  daß 
ihre  Orakel  im  Gegensatz  zur  gnostischen  Esoterik  verständlich 
waren  für  jedermann,  empfanden  die  Juden  auch  später  als  das 
ihren  Propheten  Spezifische.  Von  prinzipieller  »Unerforschlich- 
keit«  konnte  keine  Rede  sein,  so  gewiß  Jahwes  Horizont  un- 
vergleichlich war  mit  demjenigen  der  Kreatur.  Diese  prinzipielle 
Verständlichkeit  der  göttlichen  Ratschlüsse  war  es,  welche  jede 
Frage  nach  einem  Sinn  der  Welt,  der  noch  hinter  ihm  gelegen 
hätte,  ebenso  ausschloß  wie  seine  majestätische  Herrscherpersön- 
lichkeit jeden  Gedanken  an  mystische  Gottesgemeinschaft  als 
Qualität  der  religiösen  Beziehung  zu  ihm.  Etwas  derartiges 
oder  vollends  die  Selbstvergottung  konnte  kein  echter  Jahwe- 
prophet und  keine  Kreatur  überhaupt  in  Anspruch  zu  nehmen 
wagen.  Der  Prophet  konnte  nie  zum  dauernden  inneren  Frieden 
mit  Gott  kommen:  das  schloß  dessen  Natur  aus.  Er  konnte  nur 
seinen  inneren  Druck  entladen.  Die  positive,  euphorische  Wen- 
dung seiner  Gefühlslage  aber  mußte  er  in  die  Zukunft  projizieren: 
als  Verheißung.  Das  bestimmte  die  Auslese  der  prophetischen 
Temperamente.  Es  besteht  gar  kein  Grund  zu  der  Annahme, 
daß  auf  palästinischem  Boden  apathisch-mystische  Zuständlich- 
keiten  indischen  Gepräges  etwa  nicht  auch  gefühlt  worden  seien. 
Es  läßt  sich  nicht  einmal  mit  Bestimmtheit  sagen,  ob  nicht 
Propheten  wie  Hosea  und  vielleicht  auch  noch  andere  ihrerseits 
derartigen  Zuständlichkeiten  zugänglich  gewesen  wären.  Aber 
ebenso  wie  emotionale  Ekstasen  des  israelitischen  Typus  in 
Indien  sich  vermutlich  entweder  einer  leidenschaftlichen  Kastei- 
ungsaskese  zugewendet  hätten  oder  ihre  Träger,  wenn  sie  als 


3  -IQ  Das  antike  Judentum. 

Demagogen  aufgetreten  wären,  nicht  als  Heilige,  sondern  als 
Barbaren  gegolten  und  keine  Wirkung  geübt  hätten,  —  so  mußte 
es  umgekehrt  den  apathisch-ekstatischen  Zuständlichkeiten  in 
Israel  gehen.  Sie  wurden  von  der  Jahwereligion  nicht  als  reli- 
giöser Heilsbesitz  gedeutet  und  wurden  daher  nicht,  wie  in 
Indien,  Gegenstand  schulmäßiger  Züchtung.  Vollends  ano- 
mistische  Konsequenzen  des  ekstatischen  Gottbesitzes  wurden 
scharf  abgelehnt.  Ein  Lügenprophet  ist  nach  Jeremia  jeder, 
der  das  Gesetz  Jahwes  mißachtet  und  das  Volk  nicht  zu  ihm 
hinzuführen  trachtet. 

Wenn  so  das  mystische  Haben  eines  außerweltlichen  Gött- 
lichen abgelehnt  wurde  zugunsten  des  aktiven  Handelns  im 
Dienst  des  überweltlichen,  aber  prinzipiell  verständlichen 
Gottes,  so  ebenfalls  die  Spekulation  über  den  Seinsgrund  der 
Welt  zugunsten  der  schlichten  Hingabe  an  die  positiven  gött- 
lichen Gebote.  Irgend  eine  philosophische  Theodizee  wurde 
gar  nicht  zum  Bedürfnis ;  und  wo  sich  dies  Problem,  an  welchem 
in  Indien  immer  erneut  gearbeitet  wurde,  doch  meldete,  wurde 
es  mit  den  denkbar  einfachsten  Mitteln  erledigt.  Ueber  den 
Auszug  aus  Aegypten  zurück  reicht  das  Denken  der  vorexilischen 
Propheten  bis  auf  Hesekiel  nicht.  Nicht  nur  die  Erzväter  spielen 
— •  im  Gegensatz  zum  Deuteronomium  —  eine  sehr  bescheidene 
Gelegenheitsrolle,  sondern  noch  der  »Urmensch«  des  Hesekiel 
(28,  17)  weist  auf  eine  ganz  andere  Abwandlung  des  Adam- 
Mythos  als  die  später  rezipierte  ist.  Die  Legende  vom  goldenen 
Kalb  ist  Hosea  offenbar  nicht  bekannt:  bei  ihm  spielt  der 
Frevel  mit  dem  Baal-Peor  die  entsprechende  Rolle.  Immer  nur 
auf  das  Motiv  des  Bundesschlusses  Jahwes  mit  Israel  als  mit 
einem  Verband,  dessen  Glieder  solidarisch  füreinander  und  auch 
für  die  Taten  der  Ahnen  haften,  nicht  aber  auf  erbsündliche 
Qualitäten  der  Menschen,  auch  nicht  etwa  auf  Adams  Sünden- 
fall, wird  Jahwes  Zorn  zurückgeführt.  Der  Mensch  erscheint 
als  durchaus  zulänglich,  Jahwes  Gebote  zu  erfüllen,  wenn  er 
es  auch  leider  selten  wirklich  dauernd  tut  und  deshalb  des  Er- 
barmens Jahwes  immer  erneut  bedarf.  Auch  handelt  es  sich 
den  Propheten  überhaupt  nicht  in  erster  Lienie  um  die  Frage 
der  sittlichen  Qualifikation  der  Einzelnen,  sondern  um 
die  Folgen,  welche  das  gottwidrige  Tun  der  berufenen  Vertreter 
des  Volks,  der  Fürsten,  Priester,  Propheten,  Aeltesten,  Patrizier 
und  erst  in  zweiter  Linie  auch  das  aller   anderen  Volksgenossen 


II.    Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  ^^\ 

Über  die  Gesamtheit  bringen  konnte  und  mußte.  Zuerst 
bei  Hesekiel  (Kap.  14  u.  18)  wird  das  Problem  ausdrücklich  auf- 
geworfen: warum  eigentlich  die  Gerechten  mit  den  Ungerechten 
leiden  müßten  und  wo  dafür  ein  Ausgleich  sei.  Bei  Jeremia 
(31,  29)  wird  nur  für  das  Zukunftsreich  in  Aussicht  gestellt,  daß 
ein  jeder  nur  für  seine  Missetat  zu  büßen  haben  werde  und 
man  nicht  mehr  sagen  werde:  »Die  Väter  haben  Herlinge  gegessen 
und  den  Kindern  sind  davon  die  Zähne  stumpf  geworden.« 
Das  Deuteronomium  hatte,  wie  wir  sahen,  mit  dem  Grundsatz 
der  Solidarhaft  gebrochen.  Es  ist  charakteristisch  für  die  Eigen- 
art der  gänzlich  an  den  Schicksalen  der  Volks  gesamtheit, 
nicht  des  Einzelnen,  orientierten  Prophetie,  daß  sie  gerade  in 
diesem  Punkt  konservativer  blieb.  Allerdings:  für  das  Endheü 
wird  von  Anfang  an,  schon  bei  Amos,  erwartet,  daß  der  fromme 
»Rest«  vom  Unheil  verschont  und  am  Heil  beteiligt  werde. 
Und  auch  jene  Frage  der  Theodizee  wird  bei  Hesekiel  dahin 
beantwortet  oder  eigentlich  nicht  beantwortet:  daß  Jahwe  die 
Gerechten  am  Tage  des  Unheils  verschone,  diejenigen,  welche 
nicht  gewuchert,  welche  Pfandgut  wiedererstattet,  Wohltätig- 
keit geübt  haben,  belohnen  werde,  und  daß  alle  die,  welche  sich 
rechtzeitig  bekehren  werden,  nicht  sterben  sollen.  Aber  das 
sündige  Volk  soll  um  einiger  noch  so  frommer  Menschen  willen 
nicht  errettet  werden  (14,  18).  Die  Hoffnung  war  lediglich:  dem 
'>Rest  von  Jakob«,  der  ihm  treu  bleiben  würde,  würde  Gott, 
wenn  die  Zeit  der  Rache  vergangen  wäre,  eine  bessere  Zeit  kom- 
men lassen.  Aber  inzwischen  galt  für  die  Prophetie  in  der  Be- 
ziehung zu  Jahwe  wie  bei  Blutrache,  Fehde  und  Krieg:  daß 
der  Einzelne  für  das  einzustehen  hatte,  was  seine  Stammes-  und 
Sippengenossen  taten  oder  die  Vorfahren  getan  und  ungesühnt 
gelassen  hatten.  Verfehlungen  gegen  die  Bundespflicht  waren 
wieder  und  wieder  geschehen  und  auch  in  der  Gegenwart  leicht 
nachzuweisen.  Folglich  war  der  Gott  schlechthin  immer  im  Recht 
und  irgendwelche  Probleme  einer  Theodizee  gab  es  nicht.  Am 
allerwenigsten  schließlich  führten  sie  zu  Jenseitserwartungen. 
Der  Vorstellung,  daß  das  eschatologische  Ereignis  ein  »Gericht« 
sei,  klingt  an,  ist  aber  nirgends  ausgeführt  ^) :  es  genügt  der 
»Zorn«  des  Gottes,  um  alles  zu  motivieren.  Das  Schattenreich 
des  Hades  galt  allen  vorexilischen  Propheten  ganz  ebenso  wie 

»)  Vgl.   Sellin   a.   a.  O.   S.    125. 


-2^2  D^s  antike  Judentum. 

den  Babyloniern  als  unvermeidlicher  Aufenthalt  aller  Toten, 
die  Jahwe  nicht,  wie  einige  große  Helden,  zu  sich  genommen  hatte. 
Das  Sterben  als  solches  galt  als  Uebel,  das  vorzeitige,  gewalt- 
same unerwartete  Sterben  als  Zeichen  göttlichen  Zornes.  Scheol 
sperrt  den  Rachen  auf  bei  Jesaja  (5,  14)  und  die  Rettung  vor 
Scheol,  von  der  Hosea  (13,  14)  spricht,  ist  nicht  etwa  Rettung 
vor  einer  »Hölle«,  sondern  einfach  vor  dem  physischen  Tode. 
Der  prophetische  Horizont  blieb  darin  wie  der  offizielle  baby- 
lonische völlig  diesseitig,  sehr  im  Gegensatz  zu  den  hellenischen 
Mysterien  und  der  orphischen  Religion,  welche  durchweg  mit 
Jenseits  Verheißungen  arbeiteten.  Sie  kümmerte  eben  das  indi- 
viduelle Heil,  die  israelitische  Prophet ie  dagegen,  obwohl 
sie  an  die  Seelsorge  der  Leviten  anknüpfte,  nur  das  Schicksal 
des  Volkes  als  eines  Ganzen:  immer  erneut  zeigt  sich  darin  ihre 
politische  Orientierung.  Auch  die  babylonischen  und  sonstigen 
Hadesfahrtmythen  ließ  die  Prophetie  ganz  beiseite.  Sie  hatten 
ja  mit  dem  Zukunftsschicksal  der  frommen  Gemeinde  nichts 
zu  schaffen  und  paßten  nicht  in  den  Jahwe-Glauben  hinein. 
Erst  in  einem  fälschlich  dem  Jesaja  zugeschriebenen  Gedicht 
der  Exilszeit  finden  sich  Spuren  von  Unterscheidungen  im  Schick- 
sal der  Toten  im  Hades,  zweifellos  unter  dem  Einfluß  spätbaby- 
lonischer Vorstellungen.  Und  auch  da  noch  behält  der  Hades 
ganz  den  homerischen  Charakter:  Alle,  auch  die  großen  Könige, 
sind  kraftlose  Schatten,  nur  werden  bestimmten  großen  Ver- 
brechern besondere  Strafen  zuteil  (Jes.  14,  9  f.,  19  f.).  Ganz 
konkret  und  positiv,  rein  diesseitig,  waren  Jahwes  Gebote, 
ebenso  konkret  und  ebenso  rein  diesseitig  seine  alten  Ver- 
heißungen. Nur  aktuelle  Probleme  konkreten  inner  weltlichen 
Handelns  konnten  auftauchen  und  Antwort  fordern.  Alle  andere 
Problematik  blieb  ausgeschaltet.  Man  muß  sich  die  dadurch 
bedingte  ungeheure  seelische  Kräfteökonomie  ganz  klarmachen, 
um  die  Tragweite  dieses  Sachverhaltes  zu  ermessen.  Wie  etwa 
für  Bismarck  die  Ausscheidung  alles  metaphysischen  Grübelns 
und  statt  dessen  der  Psalter  auf  seinem  Nachttisch  eine  der 
Vorbedingungen  seines  durch  Philosopheme  ungebrochenen  Han- 
delns war,  so  wirkte  für  die  Juden  und  die  von  ihnen  beeinflußten 
religiösen  Gemeinschaften  diese  niemals  wieder  ganz  nieder- 
gebrochene Barrikade  gegen  das  Grübeln  über  den  Sinn  des 
Kosmos.  Handeln  nach  Gottes  Gebot,  nicht  Erkenntnis  des 
Sinns  der  Welt  frommte  dem  Menschen. 


II.    Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  112 

Ihre  spezifische  Eigenart  empfängt  eine  Ethik  nun  nicht 
durch  die  Besonderheit  ihrer  Gebote  —  die  israelitische  Alltags- 
ethik war  derjenigen  anderer  Völker  nicht  unähnlich  — ,  sondern 
durch  die  zentrale  religiöse  Gesinnung,  welche  hinter  ihr 
steht.  Auf  deren  Prägung  war  die  israelitische  Prophetie  von 
sehr  starkem  Einfluß. 

Die  entscheidende  religiöse  Forderung  der  Propheten 
war  nicht  die  Innehaltung  einzelner  Vorschriften,  so  wichtig  diese 
an  sich  war  und  so  sehr  sich  der  echte  Prophet  als  Sittenwächter 
fühlte  und  noch  bei  Jesaja  (3,  10)  gelegentlich  die  massivste 
Werkgerechtigkeit  das  Wort  führt.  Sondern:  der  Glaube. 
Nicht  in  irgendwie  gleichem  Maß :  die  Liebe.  Diese  war 
allerdings  bei  dem  nordisraelitisch  orientierten  Hosea  (3,  i) 
das  religiöse  Grund  Verhältnis  zwischen  dem  Gott  und  seinem 
Volk  und  auch  bei  anderen  Propheten,  vor  allem  bei  Jeremia 
(2,  I  f.)  ist  in  stimmtmgsvoller  Lyrik  die  in  der  Vorzeit  bestehende 
bräutliche  Liebesbeziehung  Jahwes  zu  Israel  geschildert.  Aber 
das  ist  nicht  das  Vorwaltende  und  vor  allem  ist  niemals  eine 
Liebesgemeinschaft  m  i  t  Gott  die  spezifische  heilige  Zuständ- 
lichkeit.    Den  Grund  kennen  wir  schon. 

Die  Forderung  des  Glaubens  nun  ist  innerhalb  Israels  ver- 
mutlich von  den  Propheten,  und  2 war  von  Jesaja  (7,  9),  zuerst 
mit  diesem  ungeheuren  Nachdruck  erhoben  worden.  Das  stimmt 
zu  der  Art  der  prophetischen  Eingebung  und  zu  deren  Deutung. 
Die  göttliche  Stimme  ist  es,  die  sie  hören,  und  diese  verlangt 
zunächst  schlechthin  nichts  anderes  von  ihnen  selbst  und  durch 
sie  vom  Volk,  als:  Glauben.  Der  Prophet  mußte  ja  Glauben 
für  sich  selbst  fordern  und  dieser  hatte  den  ihm  aufgetragenen 
Verkündigungen  seines  Gottes  zu  gelten.  Der  Glaube,  den  die 
jüdischen  Propheten  verlangten,  war  daher  nicht  jenes  innere 
Verhalten,  welches  Luther  und  die  Reformatoren  darunter  ver- 
standen. Er  bedeutete  wirklich  nur  das  bedingungslose  Ver- 
trauen darauf,  daß  Jahwe  schlechthin  alles  vermöge,  daß  seine 
Worte  ernst  gemeint  seien  und  aller  äußeren  Un Wahrscheinlich- 
keit zum  Trotz  in  Erfüllung  gehen  werden.  Diese  Ueberzeugung 
ist  gerade  von  den  größten  Propheten,  vor  allem  Jesaja  und 
Hesekiel,  zur  Grundtatsache  ihrer  Stellungnahme  gemacht  wor- 
den. Gehorsam  und  vor  allem  Demut  sind  die  daraus  folgen- 
den Tugenden  und  auf  beide,  namentlich  aber  auf  die  Demut: 
die  strenge  Meidung  nicht  nur  der  Hybris  im  hellenischen  Sinn, 


^^A  -  Das  antike  Judentum. 

sondern  letztlich  jedes  Vertrauens  auf  die  eigene  Leistung  und 
allen  Selbstruhms  legte  Jahwe  ganz  besonders  Gewicht:  eine 
für  die  spätere  Entwicklung  der  jüdischen  Frömmigkeit  folgen- 
reiche Vorstellung.  Die  alte,  die  Lebensklugheit  der  homerischen 
und  noch  der  solonischen  und  herodotischen  Zeit  durchziehende 
Furcht  vor  dem  Neid  der  Götter  durch  allzugroßes  Glück  und 
ihrer  Rache  gegen  stolzes  Selbstvertrauen  blieb  d  o  r  t  in  der  Wir- 
kung in  den  Schranken  einer  klugen  und  herben  Ansicht  vom 
Menschenlos.  Die  Zumutung  einer  »Demut«  im  Sinn  der  Pro- 
pheten wäre,  der  Helden  würde  anstößig  gewesen  und  ein  eigent- 
licher Vorsehungsglauben  mit  seiner  Forderung,  Gott  allein  die 
Ehre  zu  geben  und  dem  unterwürfigen  Sichfügen  in  seine  Rat- 
schlüsse konnte  nur  in  der  Nachbarschaft  von  Weltmonarchien, 
nicht  in  Freistaaten  die  Herrschaft  gewinnen.  Bei  den  Pro- 
pheten aber  ist  diese  Note  absolut  herrschend  geworden.  Die 
Großkönige  scheitern  und  ihre  Reiche  gehen  zugrunde,  weil  sie 
sich  selbst,  nicht  Jahwe,  die  Ehre  ihrer  Siege  geben.  Und  die 
Großen  im  eigenen  Lande  treiben  es  zu  ihrem  Verderben  nicht 
anders.  Wer  dagegen  in  Demut  und  völligem  Gehorsam  vor 
Jahwe  wandelt,  mit  dem  ist  er,  und  der  hat  schlechthin  nichts 
zu  fürchten.  Das  war  nun  auch  die  Grundlage  der  prophetischen 
Politik.  Die  Propheten  waren  Demagogen,  aber  alles  andere 
als  Realpolitiker  oder  politische  Parteimänner  überhaupt.  Damit 
konimen  wir  auf  das  zurück,  was  eingangs  gesagt  war. 

Die  politische  Stellungnahme  der  Propheten  war  rein  religiös, 
durch  die  Beziehung  Jahwes  zu  Israel  motiviert,  politisch  an- 
gesehen aber  durchaus  utopischen  Charakters.  Jahwe  allein 
\vird  alles  nach  seinen  Absichten  lenken.  Und  diese  Absichten 
sind  angesichts  des  Verhaltens  seines  Volkes  für  die  nächste 
Zukunft  drohend  und  furchtbar.  Die  Großkönige  und  ihre 
Heere  sind,  wie  wir  sahen,  sein  Werkzeug.  Insofern  ist  ihr  Tun 
gottgewollt  und  Jesaja  findet  den  Willen  Jahwes,  sie,  die  er 
doch  selbst  gerufen,  zu  vernichten,  »barbarisch«.  Für  Jeremia 
ist  Nebukadnezar  »Gottes  Knecht«  und  im  spätnachexihschen 
Danielbuch  wird  er  infolge  dieser  Bezeichnung  zu  einem  zu 
Jahwe  Bekehrten. 

In  der  Art  dieser  Konzeptionen  und  vor  allem:  in  ihrer 
Rezeption  durch  die  israelitische  Frömmigkeit  tritt  wieder  die 
Sonderstellung  Israels  hervor.  Unheilsorakel  hat  dem  eigenen 
Volk  in  einer  ganz  ähnlichen  Lage:  beim  Bevorstehen  des  Perser- 


II.     Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  ^^^c 

angriffes,  auch  der  delphische  ApoUon  gegeben:  den  Rat,  zu 
fliehen  bis  an  die  Enden  der  Erde.  Aber  das  war  verhängtes 
Schicksal,  nicht  Folge  von  religiöser  Schuld.  Indessen  auch 
die  Vorstellung,  daß  ein  erzürnter  Gott,  auch  der  eigene  Verbands- 
gott,  Unglück,  insbesondere  auch  kriegerisches  Unglück,  über 
das  eigene  Volk  kommen  läßt,  ist  in  der  ganzen  Antike  weit 
verbreitet  und  findet  sich  namentlich  auch  in  der  frühhellenischen 
Poesie.  Und  auch  die  weit  spezifischere  Vorstellung:  daß  ein 
universeller  Gott  zur  Strafe  für  Schuld  des  Volkes  die  Feinde 
gegen  die  Stadt  heranführt  und  diese  dadurch  entweder  dem 
Untergang  nahe  bringt  oder  wirklich  untergehen  läßt,  ist  nicht 
der  israelitischen  Prophetie  eigentümlich.  Sie  findet  sich  bei 
Piaton,  im  Kritiasfragment  und  im  Timaios,  —  Schriften,  die' 
wohl  unter  dem  furchtbaren  Eindruck  des  Sturzes  der  Macht 
Athens  nach  Aigospotamoi  standen.  Und  auch  hier  gelten 
ähnliche  Untugenden  wie  dort:  Chrematismus  und  Hybris,  als 
Gründe  des  göttlichen  Einschreitens.  Aber  diese  theologischen 
Konstruktionen  eines  phüosophischen  Schulhaupts  blieben  ohne 
alle  religionsgeschichtliche  Wirkung.  Die  Gassen  von  Jerusalem 
und  der  Hain  des  Akademos  waren  sehr  verschiedene  Verkün- 
digungsstätten, dem  vornehmen  Denker  und  politischen  Päda- 
gogen der  gebildeten  Jugend  Athens  und  —  gelegentlich  — 
syrakusischer  Tyrannen  oder  Reformatoren  lag  die  wilde  Dema- 
gogie der  Propheten  ganz  fern,  und  die  geordnete  athenische 
Ekklesia  mit  ihrer  rational  geordneten  Beratung  wäre  bei  aller 
Deisidaimonie  und  emotionalen  Erregbarkeit  doch  keine  Stätte 
ekstatischer  Orakel  gewesen.  Vor  allem  aber  fehlte  durchaus  die 
spezifisch-israelitische  Konzeption  sowohl  der  Katastrophen- 
Natur  Jahwes  wie  der  speziellen  berith  des  Volkes  mit  dem  Gott, 
welche  erst  der  ganzen  Vorstellung  die  pathetische  Resonanz 
einer  Bestrafung  des  Bruchs  eines  Vertrags  mit  diesem  furcht- 
baren Gott  selbst  gab.  Eine  so  beträchtliche  Rolle  daher  Orakel 
ebenso  wie  Omina  in  der  hellenischen  Antike  bei  einzelnen  poli- 
tischen Entschlüssen  gespielt  haben,  so  hat  sich  doch  eine  solche 
prophetische  Theodizee  daraus  nicht  entwickelt,  wie  sie  die 
Schriftpropheten  von  Anfang  an  der  Deutung  ihrer  Unheils- 
geschichte zugrunde  legten.  Zwar  ist  das  Sehen  des  Unheils  nicht 
die  Folge  dieser  Art  der  Deutung.  Wie  Jeremia  sich  von  Jahwe 
bezeugen  läßt:  daß  er  den  Tag  des  Unheils  für  Juda  nicht  gerufen, 
sondern  verkündet  habe,  was  ihm,  zu  seiner  Qual,  befohlen  war, 


2^6  I^^s  antike  Judentum. 

SO  sträubt  sich,  sahen  wir,  Jesaja  innerHch  gegen  gewisse  Un- 
heilsdrohungen gegen  Assur.  Aber  die  Deutung  des  einmal  ge- 
schehenen Unheils  für  Israel  verläuft  dann  in  den  Bahnen, 
welche  die  Konzeptionen  der  israelitischen  Intellektuellen  und 
vor  allem  der  Thoralehrer  auf  Grund  der  alten  berith  -Vor- 
stellung gewiesen  hatten. 

Für  Israel  galten  die  Gebote  der  Paränese.  Gegen  andere 
Völker  schreitet  Jahwe  dann  ein,  wenn  seine  Majestät  frech 
angetastet  wird.  Die  bekannten  Fluchsprüche  Jesajas  gegen 
Assyrien  sind  nach  ihrer  Begründung  ausschließlich  dadurch 
motiviert,  daß  der  nähere  Eindruck  von  dem  Verhalten  dieser 
Könige  es  dem  Propheten  unmöglich  erscheinen  ließ,  daß  Jahwe 
dies  dauernd  gewähren  lasse.  Irgendwelche  realpolitischen  Er- 
wägungen waren  also  bei  dem  scheinbaren  Wechsel  der  Stel- 
lung des  Propheten  zu  Assur  nicht  im  Spiel.  Und  was  Jerusalem 
anlangt,  so  wechselte  seine  Stellung  gleichfalls  aus  rein  religiösen 
Gründen.  Die  verderbte  Stadt  schien  anfangs  dem  Untergang 
geweiht.  Die  Jahwefrömmigkeit  Hiskias  brachte  ihn  zu  der 
Ansicht:  daß  Jerusalem  niemals  fallen  werde.  Trotz  der  Be- 
stärkung dieser  Ansicht  durch  den  Abzug  Sanheribs  führte  ihn 
dann  der  Eindruck  der  unverändert  fortbestehenden  Frevel  zuletzt 
wieder  zum  Pessimismus:  Das  werde  nun  niemals  verziehen  wer- 
den. Ebenso  ist  bei  den  anderen  Propheten  stets  das  jeweilige 
religiöse  Verhalten  der  maßgebenden  Schichten  das  für  sie  Ent- 
scheidende. Zuweilen  scheint  es  fast  bei  jedem  von  ihnen,  daß 
sie  an  allem  Heil  verzweifelten.  Bei  Amos,  Jesaja  und  Jeremia 
muß  dies  zeitweilig  auch  so  gewesen  sein.  Aber  endgültig  hat 
das  bei  keinem  vorgehalten.  —  Utopisch  aber,  wie  ihre  Politik,  war 
auch  ihre  Zukunftserwartung,  die  erst  als  alles  be- 
herrschender Hintergrund  die  ganze  Gedankenwelt  der  Pro- 
pheten innerlich  zusammenhält. 

Die  Phantasie  der  Propheten  ist  gesättigt  mit  kommenden 
kriegerischen  und  teüweise  kosmischen  Schrecknissen.  Dennoch 
aber,  vielmehr:  eben  deshalb,  träumen  sie  alle  von  einem  kommen- 
den Friedensreich.  Schon  bei  Hosea,  dann  ebenso  bei  Jesaja 
und  Zephanja  nimmt  dies  Zukunftsreich  die  üblichen  babylonisch- 
vorderasiatischen paradiesischen  Züge  an.  Daß  freilich  die 
astronomische  babylonische  Lehre  von  der  durch  die  Präzession 
der  Nachtgleichen  bedingten  periodischen  Weltumwälzung  sich 


II.     Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  ^•27 

bei  den  Propheten  finde,  ist  mit  Unrecht  behauptet  worden^). 
Die  damit  keineswegs  notwendig  zusammenhängenden,  irgendwie 
fast  in  der  ganzen  Welt  verbreiteten,  in  der  Antike  noch  inVergil's 
vierter  Ecloge  in  der  typischen  Form  des  nach  der  eisernen 
Zeit  wiederkehrenden  goldenen  Zeitalters  verbreiteten  Urstands- 
vorstellungen und  Zukanftshoffnungen  sind  es,  die  hier  den 
besonderen  Voraussetzungen  der  Beziehung  Israels  zu  Jahwe 
angepaßt  werden.  Eine  neue  b  e  r  i  t  h  mit  Israel,  aber  auch 
mit  dessen  Feinden  und  sogar  mit  den  wilden  Tieren  wird  Jahwe 
aufrichten.  Die  pazifistische  Hoffnung  kehrt  seitdem,  abwechselnd 
mit  Erwartungen  der  Rache  an  den  Feinden,  immer  wieder. 
Der  wunderbare  eschatologische  Königsknabe  Immanuel,  der 
Honig  und  Rahm  ißt,  ist  bei  Jesaja  ein  Friedensfürst,  der  bis 
an  die  Enden  der  Erde  waltet.  Daß  der  Tod  wieder  verschwinden 
wird,  hat  kein  Prophet  zu  versprechen  gewagt.  Aber  (Trito- 
jesaja  65,  20)  ein  jeder  soll  »seine  Jahre  erfüllen«.  Indes  neben 
solchen  Konzeptionen,  welche  offenbar  durch  Uebertragung  volks- 
tümlicher Urstandsmythen  in  die  Intellektuellen- Spekulationen 
vorbereitet  waren,  stehen  die  massiven  Zukunftserwartungen 
der  Bürger  und  Bauern.  Vor  allem:  äußeres  Wohlergehen  aller 
Art.  Daneben  aber:  Rache  an  den  Feinden.  Wenn  diese  voll- 
streckt ist,  dann  werden  Rosse  und  Wagen  und  aller  Apparat 
des  Königtums,  sein  Prunk  und  die  Paläste  seiner  Beamten 
dahinsinken  und  verschwinden  und  ein  Heilsfürst  nach  der  Art 
der  alten  Gaufürsten  auf  einem  Esel  reitend  in  Jerusalem  ein- 
ziehen. Dann  wird  der  Militär apparat  überflüssig  und  aus  den 
Schwertern  werden  Pflüge  geschmiedet. 

Wie  verhält  sich  nun  diese  bald  mehr  bürgerlich,  bald 
paradiesisch  vorgestellte  Heilszeit  zu  der  von  allen  vorexüischen 
Propheten  verkündeten  Unheilsdrohung?  Man  hat  vielfach  ge- 
glaubt, ein  einheitliches  »Schema«:  erst  furchtbares  Unheil,  dann 
überschwengliches  Heil,  als  durchgehenden  Typus  der  Weis- 
sagung feststellen  zu  können  und  angenommen,  daß  dieser  Typus 
aus  Aeygpten  übernommen  worden  sei.  Die  Existenz  eines  solchen 
einheitlichen  Schemas  für  Aegypten  scheint  durch  die  bisher 
dafür  beigebrachten  Beispiele  —  im  Grunde:  nur  zwei  —  nicht 


^)  Am  ehesten  könnte  der  »große«  Tag  Jahwes  bei  Zeph.  i,  14  an  die  großen 
Welttage  erinnern.  Aber  es  zeigt  sich  sofort,  daß  davon  keine  Rede  ist.  Vor 
«lern  Exil  ist  von  alledem  nur  sehr  allgemeine  Kunde  nach  Israel  gedrungen. 

Max  Weber,  Religionssoziologie  UI.  22 


o9g  Das  antike  Judentum. 

hinlänglich  gesichert.  Auch  würde  die  Einwirkung  der  zweifellos 
auch  in  Palästina  verbreiteten  Vegetations-  und  Astralkulte  mit 
ihren  in  Peripetien  verlaufenden  Mythologemen  wohl  ebenso 
naheliegen  (so  besonders  Jes.  21,  4  f.)  Denn  bei  ihnen  galt 
allgemein :  daß  es  erst  völlig  Nacht  oder  völlig  Winter  geworden 
sein  muß,  ehe  die  Sonne  oder  der  Frühling  wiederkehrt.  Daß 
dies  die  Phantasie  über  den  eigentlichen  Kultkreis  hinaus  be- 
einflussen konnte,  ist  zweifellos,  wenn  es  auch  nicht  sicher  ist, 
ob  eine  Einwirkung  auf  die  Propheten  von  da  aus  stattgefunden 
hat.  Denn  zunächst  läßt  sich  das  angebliche  Schema  nicht  all- 
gemein in  der  Prophetie  nachweisen.  Gerade  bei  den  älteren 
Propheten  sind  die  Orakel,  welche  ihm  entsprechen,  keineswegs 
die  Regel.  Bei  Arnos  findet  sich  von  einer  Peripetie  nur  ein  Bei- 
spiel (9,  14).  Sonst  nur  die  Hoffnung,  daß  vielleicht,  aber  nicht 
sicher,  der  Rest,  der  sich  bekehrt,  durch  Jahwes  Gnade  erhalten 
bleiben  werde  und  nur  die  Sünder  sterben  (6, 15 ;  9,  8. 10),  während 
die  meisten  seiner  Orakel  nur  Unheilsdrohungen  enthalten.  Bei 
Hosea  scheint  das  Schicksal  des  Nordreichs  und  dasjenige  Judas 
verschieden.  Bei  Jesaja  finden  sich  Unheilsorakel  ohne  Heils- 
weissagung und  steht  die  Heilsweissagung  vom  Immanuelknaben 
außer  Zusammenhang  mit  einem  Unheilsorakel.  Eine  eigentliche 
Peripetie  vom  Unheil  zum  Heil  findet  sich  bei  ihm  vor  allem 
in  einem  Orakel  (21,  4  f.),  wo  Jerusalem  im  Hades  versinkt, 
dann  aber  gerettet  wird.  Und  dies  erinnert  allerdings  an  kultische 
Mythologeme.  Ebenso  findet  sich  aber  bei  fast  allen  Propheten 
der  von  jenem  Schema  ganz  abweichende  deuteronomische 
Typus  der  Alternative:  entweder  Heil  oder  Unheil,  je  nach 
dem  Verhalten  des  Volkes,  ziemlich  oft  (Amos  5,  4 — 6;  Jes.  i,  19. 
20:  vordeuteronomisch,  Jer.  Kap.  7  and  18,  Hes.  Kap.  18: 
nachdeuteronomisch).  Allgemein  richtig  ist  nur,  daß  kein  Pro- 
phet ausschließlich  Unheilsorakel  verkündet  hat.  Weiter:  daß 
in  einigen  Fällen  die  Heils  Weissagung  mit  der  Unheilsdrohung 
als  Peripetie  nach  der  Befriedigung  von  Jahwes  Zorn  und  als 
Lohn  für  den  frommen  »Rest«  verknüpft  ist,  daß  ferner  das 
Unheil  in  vielen  Orakeln  als  ganz  unabwendbar  und  unter  allen 
Umständen  hereinbrechend  erscheint,  wie  ein  längst  verhängtes 
Schicksal,  und  daß  endlich,  wenn  man  die  Gesamtheit  der  Orakel 
eines  Propheten  überblickt,  allerdings  der  Eindruck  entstehen 
muß:  daß  beides,  Unheü  wie  Heil,  und  natürlich  zuerst  das 
erstere,  unweigerlich  kommen  werde.    Die  Unabwendbarkeit  des 


II.     Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  ^^g 

Unheils  erscheint  als  Folge  der  Sünden  schon  der  Vorväter, 
die  grundlos  den  Bund  brachen  (Jer.  2,  5).  Aber  diese  fatalistische 
Vorstellung  ist  bei  der  Mehrzahl  der  Propheten  ebensowenig 
festgehalten  wie  bei  den  Thoralehrern.  Der  Weg  der  Umkehr 
und  Abwendung  des  Unheils  steht  offen,  wenn  sehen  ihn  nur 
ein  »Rest«  beschreiten  wird.  Eine  Einheitlichkeit  im  Sinne  eines 
Schemas  besteht,  wenn  man  die  einzelnen  Orakel  vergleicht, 
nicht  einmal  bei  einem  und  demselben  Propheten.  Sondern 
je  nach  dem  Sündenstand  und  der  Weltlage  wechselt  das,  was 
geweissagt  wird.  Die  Prophetie  kennt  die  hellenische  Moira  und 
die  hellenistische  Heimarmene  nicht,  sondern  Jahwe,  dessen 
Entschlüsse  wechseln  je  nach  dem  Verhalten  der  Menschen. 
Im  wesentlichen  Gemeingut  waren  nur  die  beiden  Vorstellungen : 
einmal,  daß  »jener  Tag«,  der  »Tag  Jahwes«,  den  sich  die  volks- 
tümliche Hoffnung  als  einen  Tag  des  Schieckens  und  Unheils, 
vor  allem  kriegerischen  Unheils,  für  die  Feinde,  für  Israel  aber 
als  einen  Tag  des  Lichts  vorstellte,  auch  ein  Tag  des  Unheils 
für  das  eigene  Volk,  jedenfalls  für  die  Sünder  in  ihm,  sein  werde. 
Nach  der  Art,  wie  Amos  dies  verkündet,  scheint  es,  daß  diese 
wichtige  Konzeption  tatsächlich  sein  geistiges  Eigentum  war. 
Zwar  blieb  die  Deutung  als  eines  Tages  des  Heils  für  Israel 
weiter  bestehen.  Aber  die  Annahme,  daß  zugleich  oder  vorher 
ein  schweres  Unheil  als  Sündenstrafe  kommen  werde,  blieb 
Gemeingut  der  Prophetie.  Ebenso  die  Konzeption  des  »Restes«, 
dem  das  Heil  gespendet  werde,  wie  er  schon  bei  Amos  sich  findet, 
bei  Jesaja  aber,  der  seinen  Sohn  danach  benannte,  klar  ent- 
wickele, ist.  Da  nun  diese  beiden  Vorstellungen  zusammen  das 
Schcjua:  Unheil  für  das  Volk  (oder  füi  die  Sünder),  Heil  für  den 
Rest,  ergeben,  so  stellt  eine  Peripetie  vom  Unheil  zum  Heil 
oder  eine  Kombination  beider  in  der  Tat  den  Typus  dar,  zu 
welchem  die  prophetische  Verheißung  immer  wieder  gravitiert. 
Dies  lag  indessen  schwerlich  in  einem  übernommenen  Schema, 
sondern  einfach  in  der  Natur  der  Sache  selbst,  sobald  einmal  der 
Charakter  des  »Tages  Jahwes«  als  (wenigstens:  auch)  eines 
Unglückstages  angenommen  wurde.  Denn  da  eine  schlechthin 
hoffnungslose  Unheilsdiohung  keinen  pädagogischen  Sinn  zu- 
gelassen hätte,  mußte  sich  dann  der  Typus  der  Peripetie  zum 
mindesten  bei  der  Auslese  durch  die  Sammler  durchsetzen.  Für 
die  Propheten  selbst  ist  freilich  von  der  Annahme  primär  päd- 
agogischer Zwecke    bei  den  Unheilsdrohungen  im  allgemeinen 


-3  4.0  ^^s  antike  Judentum. 

abzusehen.  Sie  kündeten,  was  sie  schauten  und  hörten.  Eigent- 
liche »Bußprediger«  in  "jenem  Sinne  des  Wortes,  wie  sie  in  der 
Zeit  der  Evangelien  und  im  Mittelalter  auftraten,  waren  sie  nicht. 
Der  Ruf  nach  Buße  und  Einkehr  fehlte  bei  ihnen  natürlich  nicht. 
Im  Gegenteil  gehörte  die  Sündenanklage  ja  nach  Jeremia  geradezu 
zu  den  Merkmalen  des  echten  Propheten:  dieser  wichtige  Grund- 
satz scheidet  sie  von  allen  Mystagogen.  Am  leidenschaftlichsten 
erhob  ihn  gleich  anfangs  Hosea  und  ebenso  findet  er  sich  bei 
Jeremia  (Kap.  7).  Aber  als  unmittelbarer  Inhalt  der  großen 
Visionen  und  Auditionen  wird  allerdings  in  aller  Regel  einfach 
wiedergegeben :  was  Jahwe  an  Unheil  und  Heil  bereits  beschlossen 
hat  und  eventuell:  warum,  und  dem  Volke  hart  und  klar, 
ohne  alle  Vermahnung,  zugemutet:  sich  dem  zu  fügen,  was  es 
oder  die  Vorfahren  verschuldet  haben  ^) .  Die  eigentlichen 
paränetischen  Scheit-  und  Bußreden  und  Mahnungen  der  Pro- 
pheten selbst  werden  dagegen  in  der  Regel  nicht  als  debarim 
Jahwes,  sondern  als  eigene  Reden  der  Propheten,  die  in  seinem 
Auftrag  erfolgen,  eingeführt.  Jedenfalls  war  das  Schema:  Unheil, 
dann  Heil,  durch  die  Natur  der  Sache  gegeben  und  ist  auch 
ohne  Annahme  einer  Uebernahme  verständlich. 

Die  ungeheure  Leidenschaft  der  prophetischen  Anklage, 
Drohung  und  der  meist  in  ganz  allgemeinen  Wendungen  sich 
bewegenden  Mahnung  im  Unterschied  zu  der  im  Deuteronomium 
mehr  erbaulichen,  in  der  älteren  Paränese  wuchtigen,  aber  sach- 
lichen und  die  Anforderungen  spezialisiert  aufzählenden  Thora 
ist  nicht  nur  bedingt  durch  Temperamentsunterschiede.  Sondern 
vor  allem  ist  umgekehrt  die  Temperierung  ihrerseits  bedingt  durch 
die  Aktualität  der  Zukunftserwartungen  der  Propheten. 
Nur  selten  erscheint  das  erwartete  Unheil  oder  Heil  in  eine 
weitere  Zukunf^  gerückt.  Meist  kann  es  jederzeit  hereinbrechen. 
In  aller  Regel  aber  steht  es  mit  Wahrscheinlichkeit  oder  Sicher- 
heit ganz  unmittelbar  vor  der  Tür.  Schon  sieht  Jesaja  das 
junge  Weib  schwanger,  das  den  eschatologischen  Königsknaben 
gebiert.  Jeder  einzelne  Heereszug  der  mesopotamischen  Herr- 
scher, namentlich  aber  Ereignisse  wie  der  Skytheneinbruch,  konn- 
ten das  Heranziehen   jenes  »Feindes  vom  Norden«  —  vermutlich 


*)  Bsi  Arnos  (mit  Ausnahms  einer  Stelle)  und  selbst  an  einer  Stelle  Hoseas 
(5,  4)  tritt  das  Unheil  als  unabwendbar  auf,  offensichtlich,  weil  der  Inhalt  der 
Vision  dahin  ging,  Aehnlich  mehrfach  bei  Jesaja  und  wieder  ganz  überwiegend 
bei  Jeremia, 


II.     Die  Entstehung  des  jüdischen   Pariavolkes.  jai 

einer  Gestalt  der  populär-mythologischen  Erwartung  —  be- 
deuten oder  einleiten,  den  namentlich  Jeremia  als  Bringer  des 
Endes  kommen  sah,  und  die  furchtbaren  Schicksalsperipetien 
der  im  Kampf  begriffenen  Staaten  erhielten  diese  Erwartung 
lebendig.  Gerade  dieser  aktuelle  Charakter  der  Endhoffnung 
war  aber  das  für  die  praktisch-ethische  Bedeutung  der  Prophetie 
absolut  Entscheidende.  Eschatologische  Erwartungen  und  Hoff- 
nungen waren  volkstümlich  offenbar  überall  rund  umher  ver- 
breitet. Aber  ihre  vage  Unbestimmtheit  ließ,  wie  stets  in  ähn- 
lichen Fällen,  das  praktische  Verhalten  so  gut  wie  vollkommen 
unberührt.  Die  Märchenerzähler  oder  der  Mummenschanz  bei 
Kultspielen,  allenfalls  der  intellektuelle  Gnostiker  in  seinem 
esoterischen  Konventikel,  wußte  damit  zeitlich  oder  personal 
eng  begrenzte  Wirkungen  zu  erzielen.  Nirgends  waren  oder 
wirkten  diese  Erwartungen  als  etwas  unmittelbar  Aktuelles, 
bei  der  ganzen  Lebensführung  in  Rechnung  zu  Stellendes.  Ak- 
tuelle Erwartungen  erregte  die  Prophetie  der  königlichen  Heils- 
propheten oder  auch  der,  wie  bei  den  Hellenen,  wandernden 
Chresmologen.  Aber  es  waren  im  ersten  Fall  enge  höfische 
Kreise,  im  anderen  die  einzelnen  Privaten,  welche  sie,  mehr 
oder  minder,  in  Rechnung  stellten.  Hier  aber,  infolge  der  poli- 
tischen Struktur  und  Lage  Israels,  wußte  —  wie  Jeremias  Kapital- 
prozeß zeigt,  —  zum  mindesten  in  den  Kreisen  der  Aeltesten 
jedermann  noch  nach  loo  Jahren  von  einem  Unheilsorakel, 
wie  dem  des  Micha,  und  die  ganze  Bevölkerung  geriet  in  Be- 
wegung, wenn  ein  Prophet  mit  auffallenden  Drohungen  auftrat. 
Denn  das  geweissagte  Unheil  war  ganz  aktuell,  giiff  jeder- 
mann an  die  Existenz  und  nötigte  jedermann  zu  fragen:  was 
zu  seiner  Abwendung  geschehen  könne.  Und  dann:  eine  durch 
die  auffallendste  Bestätigung  einiger  unvergessener  Unheüs- 
Orakel  legitimierte  Prophetie  stand  dahinter,  ihrerseits  gestützt 
durch  die  starke  alte  Opposition  gegen  das  Königtum.  Nirgends 
sonst  war  eine  derart  aktuelle  Erwartung  durch  eine  rück- 
sichtslose öffentliche  Demagogie  vertreten  und  zugleich  in 
Verbindung  gebracht  mit  der  altüberlieferten  Vorstellung  von 
der  berith  Jahwes  mit  Israel. 

Für  die  wahrhaft  Jahwe-gläubigen  Kreise  mußte  natur- 
gem.äß  gerade  diese  Aktualität  der  Enderwartung  entscheidend 
sein.  Wir  kennen  aus  dem  Mittelalter  und  der  Reformationszeit, 
ebenso  aus  der  alten  Christengemeinde,  die  gewaltige  Wirkung 


a^2  Das  antike  Judentum. 

solcher  Erwartungen.  Auch  in  Israel  sind  sie  für  die  Lebens- 
führung jener  Kreise  offenbar  völlig  ausschlaggebend  gewesen. 
Aus  ihnen  allein  erklärt  sich  letztlich  die  utopistische  Welt- 
indifferenz der  Propheten.  Wenn  sie  von  allen  Bündnissen 
abmahnen,  wenn  sie  sich  immer  wieder  gegen  das  eitle,  hoff  artige 
Treiben  dieser  Welt  wenden,  wenn  Jeremia  ledig  bleibt,  so  hat 
das  bei  ihnen  denselben  Grund  wie  die  Mahnung  bei  Jesus: 
Gebet  dem  Kaiser  was  des  Kaisers  ist,  oder  wie  die  Mahnungen 
des  Paulus,  daß  ein  jeder  in  seinem  Beruf  bleibe  und  daß  man 
ledig  oder  verheiratet  bleiben  möge,  wie  man  sei,  und  die  Weiber 
habe  als  hätte  man  sie  nicht.  All  diese  Dinge  der  Gegenwart 
sind  ja  vollkommen  gleichgültig,  denn  das  Ende  steht  unmittel- 
bar bevor.  Wie  in  der  frühchristlichen  Gemeinde,  so  prägte 
auch  bei  den  Propheten  und  ihrem  Anhang  diese  Aktualität  der 
Enderwartung  die  ganze  innere  Haltung  und  war  das,  was  ihrer 
Verkündigung  die  Macht  über  die  Hörer  gab.  Und  trotz  des 
Zögerns  des  Heilstages  fand  jeder  neue  Prophet  den  gleichen 
leidenschaftlichen  —  wenn  auch  vor  dem  Exil  auf  engere  Kreise 
beschränkten  —  Glauben  wieder,  ein  volles  Jahrtausend  lang 
bis  zum  Untergang  Bar  Kochbas.  Es  waren  auch  hier  gerade 
die  Unwirklichkeiten,  welche  wirkten,  deren  Spuren  sich  am 
tiefsten  in  die  Religion  eingruben  und  welche  ihre  Macht  über 
das  Leben  begründeten.  Sie  allein  gaben  dem  Leben,  was  es 
erträglich  machte:  Hoffnung.  Vor  allem  der  völlige  Verzicht 
auf  alle  Jenseitshoffnungen  und  auf  jede  Art  von  wirklicher 
Theodizee  —  trotz  des  steten  Fiagens  nach  den  Gründen  des 
Unheils  und  des  Postulats  eines  gerechten  Ausgleichs  —  konnte 
am  leichtesten  in  einer  Zeit  ertragen  werden,  wo  jeder  Lebende 
erwarten  mußte,  das  eschatologische  Ereignis  noch  selbst  zu 
erleben.  In  einer  Stimmung  steten  Harrens  lebten  diese  leiden- 
schaftlichsten Menschen,  welche  Israel  hervorgebracht  hat.  Un- 
mittelbar nach  dem  Hereinbruch  des  Unheils  erwartete  man 
ja  das  Heil.  Nichts  zeigt  dies  deutlicher  als  Jeremias  Verhalten 
beim  bevorstehenden  Sturz  der  Stadt:  der  Ankauf  eines  Ackers, 
weü  doch  bald  die  erhofften  neuen  Zeiten  kommen  werden,  und 
die  Mahnung  an  die  Exilierten,  sich  auf  dem  Weg  Zeichen  zu 
machen,  um  den  Rückweg  zu  finden. 

Das  erwartete  Heil  selbst  wurde  allmählich  sublimiert.  Die 
nebeneinanderstehenden  Endhoffnungen:  teils  chiliastische  Er- 
wartungen   eines    im    kosmischen    Sinn    paradiesischen    End- 


II.    Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  '^A^ 

zustandes  bei  Hosea  und  Jesaja,  teils  die  ganz  massive  bürger- 
lich materielle  deuteronomische  Hoffnung:  Israel  werde  das 
Jerusalemiter  Patriziervolk  sein,  die  anderen  Völker  die  schuld- 
verknechteten  und  zinsenden  Bauern,  traten  beide  zunehmend 
zurück,  um  erst  in  nachexilischer  Zeit  wieder  aufzutreten,  die 
erste  bei  Joel,  die  zweite  bei  Tritojesaja  (6i,  5.  6).  Neben  der 
politischen  Erwartung  eines  militärischen  Siegs  und  einer  äußeren 
Herrschaft  Israels  über  die  Völker,  wie  sie  namentlich  bei  Micha 
(4, 13)  sich  findet,  und  neben  den  alten  bäuerlichen  Verheißungen 
reicher  Ernten  und  äußeren  Wohlstands  (bei  Amos)  standen  bei 
den  Propheten  die  weit  idealeren  pazifistischen  Zukunftshoff- 
nungen: ein  Friedensreich  mit  der  Tempelburg  als  Mittelpunkt 
(Jesaja),  als  einziger  Sitz  der  Thora,  der  Weisheit  und  Lehre  für 
alle  Völker  (Micha).  Die  schon  bei  Hosea  (2,21)  sich  findende 
Hoffnung,  daß  Jahwe  dereinst  in  einer  neuen  berith  mit  Israel 
ihm  »Gnade,  Erbarmen  und  Erkenntnis«  verbürgen  werde, 
vertiefte  sich  bei  Jeremia  (31,  33.  34)  und  Hesekiel  (Kap.  36) 
gesinnungsethisch:  Jahwe  wird  eine  gnädigere  berith,  als  es 
der  alte  harte  Bund  mit  seinen  schweren  Gesetzen  war,  mit 
seinem  Volk  schließen.  Das  steinerne  Herz  wird  er  ihnen  nehmen 
und  ihnen  ein  Herz  von  Fleisch  und  Blut  geben,  einen  neuen 
Geist  in  sie  legen  und  bewirken,  daß  sie  von  sich  aus  Gutes  tun. 
'/Ich  lege  mein  Gesetz  in  sie  hinein,  in  ihr  Herz  schreibe  ich  es.« 
Dann  »brauchen  sie  nicht  mehr  einander  zu  lehren«,  denn  sie 
kennen  Jahwe.  Und  solange  die  kosmischen  Ordnungen  bestehen, 
werden  sie  dann  nicht  aufhören,  sein  Volk  zu  sein.  Daß  die 
Tatsache  der  Sünde  an  sich  ein  Problem  der  Theodizee  sein  kann, 
klingt  hier  wenigstens  von  fern  an.  Das  Ganze  aber  ist  eine 
hochgradige  ethische  Sublimierung  der  einst,  in  einem  dem  Amos 
(freilich  mit  fraglichem  Recht)  zugeschriebenen  Gedicht,  ent- 
wickelten Hoffnungen  (9,  11).  Die  Idee  dieses  auf  reiner  Gesin- 
nung ruhenden  »neuen  Bundes«  ist  noch  für  die  Entwicklung 
des  Christentums  von  Bedeutung  gewesen.  Die  Sünde  selbst, 
deren  Fortnahme  durch  Jahwe  erhofft  wird,  ist  auch  ihrerseits 
sehr  verinnerlicht,  als  eine  einheitliche,  gottfeindliche  Gesinnung 
aufgefaßt,  die  Beschneidung  der  »Vorhaut  des  Herzens«  ist  bei 
Jeremia  das  Entscheidende,  nicht  irgendwelche  Aeußerlich- 
keiten.  Auch  das  ist  bekannten  evangelischen  Aussprüchen  sehr 
ähnlich.  Nicht  mehr  nur -eine  soziale,  sondern  eine  rein  religiöse 
Utopie  ist  hier  geschaut.    Bei  Jeremia  gestalteten  sich  gleichen 


■2AA  Das  antike  Judentum. 

Schrittes  mit  dieser  Verinnerlichung  und  Sublimierung  der  Zu- 
kunftserwartungen die  äußerlichen  Hoffnungen  ungemein  be- 
scheiden. Während  das  Deuteronomium  den  Stadtstaat  und  die 
patrizische  Stellang  der  Frommen  voraussetzte  und  die  Prophetie 
im  übrigen,  wo  sie  auf  diese  Hoffnungen  zu  sprechen  kommt, 
die  Juden  wenigstens  als  das  geistige  Herrenvolk  der  Erde,  als 
deren  Lehrer  und  Führer  sieht,  ist  bei  Jeremia  auch  das  ver- 
schwunden. Der  Zion  wird  bei  ihm  nur  einmal  (31,  6)  als  Sitz 
der  Jahweverehrung  erwähnt.  Zwar  kennt  auch  er  das  Herren- 
volksideal in  seiner  sublimierten  Form.  Aber  er  wird  mit  dem 
Alter  genügsamer.  Fromme  Hirten  und  Bauern  sind  es  (31,  24), 
welche  Jahwe  künftig  segnen  wird,  und  daß  man  überhaupt 
künftig  einmal  wieder  im  Lande  säen  und  ernten  werde,  damit 
bescheidet  er  sich.  Eine  Art  von  »Glück  im  Winkel«  drohte  die 
großen  eschatologischen  Weltherrschafts-Erwartungen  zu  ver- 
drängen :  wir  befinden  uns  im  vollen  Elend  der  hereingebrochenen 
Verwüstung  und  die  Prophetie  Jeremias  endet  am  Schluß  seines 
Lebens  im  Verzicht.  Fügung  in  dies  von  Jahwe  verhängte 
Schicksal,  Verbleiben  im  Lande,  Gehorsam  gegen  den  baby- 
lonischen König  und  dann  gegen  dessen  Statthalter  empfiehlt 
er  und  warnt  vor  der  Flucht  nach  Aegypten.  Und  während  er 
zuerst  die  baldige  Wiederkehr  der  Exilierten  erwartet  hatte, 
riet  er  ihnen  späterhin,  sich  in  den  neuen  Wohnsitzen  häuslich 
einzurichten.  Nach  der  Ermordung  Gedaljas  und  seiner  eigenen 
Verschleppung  nach  Aegypten  stand  er  offenbar  am  Ende  seiner 
Hoffnungen,  wie  das  erschütternde,  tief  resignierte  Testament 
an  seinen  getreuen  Jünger  Baruch  bezeugt:  »Siehe  ich  bringe 
Unheil  über  alles  Fleisch,  raunt  Jahwe,  dir  gebe  ich  dein  Leben 
zur  Beute  allerorten,  wohin  du  gehst.«  Nach  spätjüdischer 
Tradition  sei  er  in  Aegypten  gesteinigt  worden.  —  Diese  völlig 
pessimistische  und  nichts  als  fügsame  Haltung  hätte  nun  freilich 
unmöglich  die  Unterlage  für  eine  Aufrechterhaltung  der  Gemein- 
schaft unter  den  Exilsverhältnissen  bieten  können.  Schon  wegen 
jenes  Rates  an  die  Exilierten,  sich  in  Babel  einzurichten,  geriet 
er  sofort  in  heftigen  Konflikt  mit  dem  Gegenpropheten  Semaja, 
wie  die  gereizte  Korrespondenz  nach  Babylon  zeigt.  Vor  allem 
die  Aktualität  der  Rückkehrhoffnung  wurde  in  schroffem  Gegen- 
satz zu  ihm  von  Hesekiel,  dem  hervorragendsten  mit  in  das 
Exil  verschleppten  Propheten,  aufrechterhalten.  —  In  der  Tat 
war  sie  unumgänglich  nötig,  um  die  Gemeinde  überhaupt  zu- 


IL    Die  Entstehung  des  jüdischen   Pariavolkes.  ^aC 

sammenzuhalten.  Die  für  die  mächtige  Wirkung  der  Pro- 
pheten ausschlaggebenden  Endhoffnungen  waren  selbstverständ- 
Hch  nicht  die  subUmierten,  sondern  die  neben  ihnen  bei  allen 
Propheten  fortbestehenden  massiven  Formen.  Eschatologische 
Vorstellungen,  die  nicht  aktuell  den  Anbruch  des  jüngsten 
Tages  und  der  Auferstehung  in  Aussicht  stellen,  haben  nach 
aller  Erfahrung  ebenso  selten  starke  Wirkungen  erzielt  wie  irgend- 
welche weit  in  die  Zukunft  hinausgeschobenen  rein  irdische 
Heilshoffnungen.  Gerade  daß  hier  der  »Tag  Jahwes«  als  ein 
Ereignis  verkündet  wurde,  das  jeder  noch  jetzt  zu  erleben  hoffen 
odei  befürchten  durfte  und  daß  höchst  massive  diesseitige 
Umwälzungen  in  Aussicht  standen,  war  das  Entscheidende. 

Der  verschiedenen  Gestaltung  der  Endhoffnungen  entsprach 
auch  die  verschiedene  Formung  der  Vorstellung  von  der  heil- 
bringenden Persönlichkeit.  Bei  Arnos  fehlt  eine  solche  über- 
haupt, der  ganze  Nachdruck  lag  auf  dem  zu  rettenden  »Rest« 
des  Volks.  Aber  bei  den  anderen  Propheten  sättigten  sich  die 
Heilserwartungen  mit  Bildern  eines  Retters,  wie  sie  die  Tradition 
in  den  alten  Bundeshelden,  den  Schofetim,  den  »Heilanden«, 
gekannt  hatte,  und  verband  damit  die  eschatologischen  Vor- 
stellungen, welche  die  Umwelt  darbot.  Freilich  boten  diese 
letztlich  das  nicht,  was  man  hätte  brauchen  können.  Denn  von 
den  Möglichkeiten  der  Gestalt  dieses  rettenden  Heilandes  schieden 
für  die  prophetische  Vorstellung  sowohl  die  Inkarnation  wie  die 
physische  göttliche  Zeugung  und  die  eigentliche  Apotheose  aus, 
da  sie  alle  mit  Jahwes  überlieferter  Eigenart  nicht  vereinbar 
waren.  Daß  einem  fremden  König  (Kyros)  die  Heilandsrolle 
zufallen  werde,  ist  erst  eine  Vorstellung  der  Exilszeit  (Deutero- 
jesaja).  Die  Rettergestalt  mußte  in  Israel  mit  dem  »Tage  Jahwes« 
in  Beziehung  gesetzt  werden,  also  mit  einem  ganz  konkreten 
eschatologischen  Ereignis,  dessen  Natur,  sahen  wir,  aus  der 
überlieferten  Eigenart  des  Katastrophengottes  folgte.  Eine  in 
diesem  besonderen  Sinn  »eschatalogische«  Retterkönigsgestalt 
aber  kannten  die  Kulturreligionen  und  Kulte  der  Umwelt  (und 
übrigens  auch  die  iranische  Religion)  nicht.  Ihnen  konnten  wohl 
am  ehesten  Spekulationen  von  einem  präexistenten  Heiland,  astra- 
len (im  Bileamspruch  Num.  24,  17)  oder  urmenschlicheiji  Charak- 
ters (am  deutlichsten  wohl  Hiob  15,  7  f.,  Anklänge  vielleicht 
Jes.  9,  5,  Micha  5,  i,  Hes.  28,  17)  entnommen  werden.  Aber 
wenn     auch    solche    Kultlegenden    oder    auch    Intellektuellen- 


oAiß  Das  antike  Judentum. 

Spekulationen  in  geheimnisvollen  Andeutungen  der  Propheten 
gelegentlich  anklingen,  so  hat  doch  keiner  von  ihnen  den  Ent- 
schluß gefunden,  sich  auf  den  Boden  derartiger,  notwendig  zur 
Mysterien-Esoterik  führenden  Vorstellungen  zu  stellen,  schon 
aus  Sorge,  daß  dadurch  Jahwes  alleiniger  Majestät  Abbruch 
geschehe.  Die  Gestalt  mußte  kreatürlichen  Charakter  bewahren. 
So  blieb  entweder  die  in  der  Umwelt,  soviel  bekannt  nicht  ver- 
breitete, aber  aus  der  Heilskönigprophetie  sehr  leicht  ableitbare 
Barbarossahoffnung,  in  Israel  also :  die  Wiederkehr  Davids.  Oder 
das  Ei  scheinen  eines  neuen  israelitischen  Retterkö-nigs,  entweder 
als  Sproß  aus  dem  Davididenstamm  oder  als  ein  Wunderkind 
mit  den,  namentlich  in  Mesopotamien  und  zwar  bei  lebenden 
Königen  (namentlich:  bei  Ursurpatoren)  sich  findenden  Zügen 
einer  irgendwie  übernatürlichen,  also  vor  allem:  vaterlosen, 
Zeugung.  Alle  diese  Möglichkeiten  finden  sich,  die  erste  bei  fast 
allen  Propheten,  die  letzte  namentlich  bei  Jesaja  in  der  Weis- 
sagung des  Immanuelkindes,  des  Sohnes  des  »jungen  Weibes«. 
Die  Legitimität  der  Davididen  hat  kein  Prophet,  auch 
nicht  die  im  Nordreich  auftretenden:  Amos  und  Hosea,  ange- 
zweifelt. Der  Zion  ist  für  Amos  Jahwes  Sitz,  für  Hosea  ist 
Juda  von  den  Sünden  Israels  unbefleckt,  vor  allem  auch  von 
der  Schande  der  Ursurpatoren.  Er  scheint  an  einen  Untergang 
Judas  überhaupt  nicht  geglaubt  zu  haben.  Auch  bei  Jesaja 
scheint  der  »Rest«  ursprünglich  Juda  gewesen  zu  sein.  Für  Micha 
kommt  der  Heilskönig  aus  dem  Heimatsitz  der  Davididensippe, 
Bethel  Ephrat.  Bei  Jesaja  ist  es  allerdings  wahrscheinlich,  daß 
die  Figur  des  Heilsknaben  Immanuel  eine  Atsage  an  die  un- 
gläubige Königsfamilie  bedeutete  ^)  und  bei  Jeremia  und  Hese- 
kiel  treten  die  Hoffnungen  auf  die  alte  Königsdynastie  stark 
zurück.  Neben  Davididen  findet  sich  bei  Hesekiel  (21,  32)  auch 
die  Hoffnung  auf  jemand,  »der  das  Recht  hat,  das  ich  (Jahwe) 
ihm  gebe«.  Königsfeindlich  aber  sind  die  Verheißungen  der 
Propheten  nur  im  Sinn  der  volkstümlichen,  von  den  Intellek- 


^)  Merkwürdigerweise  glaubt  auch  Kölscher  (S.  229  Anm.  i),  es  könne  sich 
nicht  um  eine  eschatologische,  sondern  um  eine  reale  und  bekannte  Figur  (even- 
tuell: Jesajas  eigenes  Weib  und  Sohn!)  handeln,  weil  sonst  mit  dem  Wunder- 
zeichen  ja  »nichts  bewiesen«  sei:  allein  es  soll  gar  nichts  »bewiesen«  werden, 
sondern  die  Folge  der  Ungläubigkeit  des  Ahas  ist  die  visionär,  aber  als  a  k- 
tuelle  Erwartung  geschaute  Begebenheit:  seine  Verwerfung  zugunsten  der 
Heilsknaben. 


II.     Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  ^aj 

tuellen  gestützten,  Opposition:  der  Heilsfürst  ist  nicht  aus- 
drücklich ein  Kriegskönig,  der  seinerseits  Israels  Rache  an 
den  Feinden  vollzieht,  obwohl  natürlich  auch  diese  Vorstellung 
gelegentlich  existiert.  Die  Regel  iet  aber,  daß  Jahwe  selbst  die 
Strafe  vollstreckt.  Daß  die  Gestalt  des  Retters  die  Züge  eines 
Propheten  und  Lehrer?  annahm,  war  zwar  schon  in  der  vor- 
exilischen  Zeit  vorbereitet  durch  die  starke  Betonung  der  Thoia 
als  dessen,  was  in  der  Endzeit  Zion  der  Welt  zu  bieten  habe 
und  durch  die  deuteronomische  Weissagung:  daß  Jahwe  Israel 
»einen  Propheten  von  der  Art  des  Mose«  erwecken  werde.  Die 
Prophetie  hat  seit  Hosea  (12,  11)  den  Mose,  neben  ihm  seit 
Jeremia  (15,  i)  und  dem  Deuteronomium  den  Samuel  zu  Arche- 
geten  des  eigenen  Berufs  gestempelt.  Der  wesentlich  rein  religiöse 
Charakter,  der  diesen  Gestalten,  im  Gegensatz  zu  den  Herrschern 
und  Heerführern  gewahrt  w^erden  konnte:  ■ —  sie  sind  Berater 
imd  Mahner,  nicht  Volksführer  —  ließ  beide  dazu  geeignet 
erscheinen.  Ihnen  gesellte  sich  ganz  naturgemäß  die  sagen - 
umsponnene  Gestalt  des  Elia  bei,  von  dem  als  Erstem  bekannt 
war,  daß  er  als  Unheilsprophet  im  späteien  Sinn  dem  König 
entgegengetreten  war.  Aber  die  traditionelle  Vorstellung  vom 
»Tage  Jahwes«  als  einer  politischen  und  Naturkatastrophe  er- 
schwerte es,  an  die  Stelle  des  volkstümlichen  Retterkönigs  eine 
rein  geistliche  Figur  za  schieben.  Die  eigentlich  eschatologische 
Konzeption  eines  rettenden  Lehrers  gehört  daher  erst  der  Exils- 
zeit an,  und  erst  in  der  Spätzeit  hat  die  Hoffnung  auf  die  Wieder- 
kehr des  Elia,  des  königsfeindlichen  Magiers,  jene  Popularität 
gewonnen,  welche  aus  dem  Neuen  lestament  bekannt  ist.  Bei 
den  Propheten  spielt  die  Spekulation  über  die  Art  dieser  eschato- 
logischen  Gestalt  ersichtlich  eine  ganz  geringe  Rolle.  Die  Haupt- 
sache ist  bei  ihnen:  die  durch  ein  imgeheures  Tun  Jahwes 
selbst  herbeigeführte  baldige  gewaltige  Umwälzung:  da- 
durch unterscheiden  sie  sich  vom  Deuteronomium,  welches 
allerhand  Segens-  und  Unsegens  -Weissagungen  nach  Sitten- 
prediger-Art paränetisch  aneinanderreiht.  Das  menschliche  Tun 
bei  jener  Umwälzung  ist  ihnen  letzUch  uninteressant;  die  Vor- 
stellungen darüber  wechseln.  Das  absolute  Wunder  ist 
der  Angelpunkt  aller  prophetischen  Erwartung,  ohne  welchen 
sie  ihre  spezifische  Pathetik  verlieren  würde.  Wirklich  ganz 
klar  oder  auch  nur  beständig  wurde  deshalb  das  Bild  der  Messias- 
gestalt meist  nicht  einmal  bei  einem  und  demselben  vorexilischen 


o^g  Das  antike  Judentum. 

Propheten.  Auch  die  Rolle,  welche  solche  Weissagungen  bei 
den  einzelnen  spielten,  blieb  verschieden  und  sank  auf  einen 
Tiefpunkt  bei  Jeremia,  bei  welchem  wieder,  wie  bei  Arnos,  der 
ganze  Nachdruck  auf  dem  bekehrten  Rest  des  Volkes  als  solchem 
liegt  und  sich  nur  eine  eigentlich  »messianische«  Weissagung 
findet.  Aehnlich  steht  es  bei  seinem  Zeitgenossen  Hesekiel. 
Das  Prestige  der  Davididendynastie  war  tief  in  den  Schatten 
getreten.  Wir  befinden  uns  eben  schon  auf  dem  Wege  jener 
tiefgreifenden  Umgestaltung,  welche  aus  dem  »Volk  Israel«  die 
Gemeinschaft  der  »Juden«  machte.  Juda  tritt  als  Träger  der 
Verheißungen  schon  seit  dem  Verfall  des  Nordreichs,  bei  Hosea , 
dann  aber  bei  den  späteren  Propheten  zunehmend  hervor,  wenn- 
schon die  Hoffnung  auf  die  Wiedervereinigung  des  ganzen  Volkes 
in  der  Endzeit  nicht  aufgegeben  wurde. 

Ehe  wir  dieser  Entwicklung  zum  Judentum  nachgehen,  ist 
nur  noch  kurz  die  Frage  zu  berühren:  welchen  Einfluß  die 
vorexilischen  Propheten  im  Verhältnis  zu  den  anderen  treiben- 
den Kräften  in  der  Entwicklung  der  Ethik  gehabt  haben.  Alle 
inhaltlichen  Gebote  übernahmen  sie  ja,  wie  wir  sahen,  aus  der 
Thora  der  Leviten.  Die  Vorstellung  von  Jahwes  berith  mit 
Israel  und  die  wesentlichen  Züge  der  ihnen  spezifischen  Gottes- 
konzeption fanden  sie  ebenfalls  vor.  Soziale  Schichten,  welche 
dem  Königtum  und  der  materiellen  und  ästhetischen  Kultur 
der  Vornehmen  ähnlich  gegenüberstanden  wie  sie,  hat  es  schon 
vorher  gegeben.  Und  auch  außerhalb  der  rechabitischen  Kreise 
ist  die  skeptische  Stellung  zum  Opfer  höchst  wahrscheinlich 
immer  vorhanden  gewesen.  Die  Frage  ist:  ob  das  als  Stütze  der 
Ethik  dienende  mächtige  Pragma  des  göttlichen  Unheil-  und 
Heilsplanes  einerseits,  die  weitgehende  gesinnungsethische  Subli- 
mierung  der  Sünde  und  des  gottwohlgefälligen  Sichverhaltens 
andererseits  den  Propheten  allein  zuzuschreiben  sind  oder  als 
Erzeugnisse  vorprophetischer  Intellektuellenkultur  anzusprechen 
sind.  Da  spricht  nun  alle  innere  Wahrscheinlichkeit  dafür,  daß 
die  Entwicklung  dieser  Konzeptionen  aus  einer  Zusammenarbeit 
der  Propheten  mit  der  allmählichen  Rationalisierung  der  le- 
vdtischen  Thora  und  dem  Denken  frommer  gebildeter  Laien- 
kreise erwachsen  ist.  Schon  die  zunehmende  Koinzidenz  der 
prophetischen  Sündenregister  mit  den  dekalogischen  Geboten 
spricht  dafür.  Die  Propheten  selbst  waren,  am  Maßstab  ihrer 
Zeit  gemessen,  gebildete  Männer  und   standen  im  freundlichen 


II.     Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  ^aq 

Verkehr,  wennschon  gelegentlich  in  Spannung,  zu  jenen  Kreisen, 
welche  in  die  deuteionomische  Schule  ausmündeten.    Die  syste- 
matische  ethische   Kasuistik   wird   bei   den   Thoralehrern,    die 
Führung  und  Paroleausgabe  bei  der  gesinnungsethischen  Sub- 
limierung   und   Zusammenraffung   aber  bei  den  prophetischen 
Eingebungen  gelegen  haben.    Man  braucht  nur  die  erbauliche 
und  bürgerliche  Vorstellungs-  und  Darstellungsweise  des  Deutero- 
nomisten  mit  Jesajas  Orakeln  zu  vergleichen,  um   die  Vorstel- 
lung abzuweisen   (die  ernsthaft  aufgetaucht  ist),    daß  er  dies 
paränetische    Werk   selbst     verfaßt    und    »eingesiegelt«    seinen 
Jüngern  übergeben  habe.    Das  ist  einfach  undenkbar   und  die 
Alternative:   »Segen  oder  Fluch  je  nach  Verhalten«,    entsprach 
der  Volkspädagogik  der  Thoralehre  ebenso,  wie  sie  den  Visionen 
kommenden  Unheils  gerade  bei  diesem  und  den  späteren  Pro- 
pheten fremd  ist.    Entscheidend  für  den  Gegensatz  war  hier  die 
ungeheure    Aktualität    der   furchtbaren  Erwartungen  der 
durch    und    durch    an     den     politischen     Katastrophen 
orientierten  Propheten,  im  Gegensatz  zu  der  einerseits  die  indi- 
viduelle Vergeltung    der    Sünden  und  der  Frömmigkeit  ihrer 
Kundschaft:  der  Einzelnen,  andererseits  in  der  Zukunft  liegende 
und  dabei  ziemlich  hausbackene  Hoffnungen  und  Befürchtungen 
für  das  Bürgertum  im  vermahnenden  Ton    ausmalender  Sitten- 
predigt des  Deuteronomium.     Dennoch  ist  das  Deuteronomium 
natürlich   nicht   ohne   die   Prophetie  denkbar.     Denn   auf  den 
Propheten  der  Zukunft  hofft  ja  gerade  dies  Werk.  Und  die 
naiven    Kriegsregeln    des    Deuteronomium    sind    ganz    in   pro- 
phetischer Art  rein  utopistisch  und  nur  aus  der  Uebernahme 
der  bei  den  Propheten  unmittelbar  erlebnismäßigen  Glaubens- 
konzeption  zu  erklären.  .  Nur  ist  alles  ins  Alltägliche  und  Stim- 
mungshafte transponiert.    Ebenso  ist  —  was  hier   nicht  verfolgt 
werden  kann  —  die  gesamte  jetzige  Redaktion  der  Tradition  und 
Thora,  soweit  sie  als  vorexilisch  angesehen  werden  darf,  pro- 
phetisch, wenn  auch  in  sehr  verschiedener  Intensität,  beeinflußt, 
wennschon  zweifellos  von  ihrerseits  nicht  prophetischen  Redaktoren 
ausgestaltet.   Voi  allem  aber:  ohne  das  gewaltige  Prestige  dieser 
in  allem  Volk  bekannten  und  gefürchteten  Demagogen  wäre  die 
Autorität  der,  von  jeder  rein  volkstümlichen  ebenso  wie  von  einer 
rein  kultpriesterlichen  Auffassung  der  Beziehung  Israels  zu  seinem 
Gott    gleich  fernen,  Konzeption  Jahwes  als  des  Jerusalem  zer- 
störenden und  wieder  aufbauenden  Weltgottes  schwerlich  jemals 


oCQ  Das  antike  Judentum. 

durchgedrungen.  Es  ist  völlig  undenkbar,  daß  ohne  die  er- 
schütternden Erfahrungen  einer  Bestätigung  der  in  aller  Oeffent- 
lichkeit  gespiochenen,  noch  nach  hundert  Jahren  im  Gedächtnis 
haftenden  (Jer.  26,  18)  prophetischen  Unheilsworte  der  Glaube 
des  Volkes  durch  die  furchtbaren  politischen  Schicksale  nicht 
nur  nicht  zerbrochen,  sondern  in  einer  einzigartigen  und  ganz 
unerhörten  historischen  Paradoxie  gerade  erst  definitiv  gefestigt 
worden  wäre.  Der  ganze  innere  Aufbau  des  »Alten  Testaments« 
ist  ohne  die  Orientierung  an  den  Orakeln  der  Propheten  undenk- 
bar, und  indem  dieses  heilige  Buch  der  Juden  auch  ein  solches 
der  Christen  wurde  und  die  ganze  Deutung  der  Sendung  des 
Nazareners  vor  allem  durch  die  alten  Verheißungen  an  Israel 
bestimmt  wurde,  reicht  der  Schatten  dieser  Riesengestalten 
durch  die  Jahrtausende  bis  in  die  Gegenwart  hinein.  Ohne  die 
großartigen  Deutungen  von  Jahwes  Absichten  und  die  felsen- 
feste Zuversicht  auf  seine  Verheißungen  trotz  alledem,  ja  gerade 
wegen  alles  dessen,  was  er,  der  unheimlichen  Vorhersage  gemäß, 
über  sein  Volk  verhängte,  wäre  andererseits  auch  niemals  jene  in- 
nerisraelitische Entwicklung  denkbar  gewesen,  welche  allein  einen 
Fortbestand  der  Jahwegemeinschaft  nach  der  Zerstörung  Jerusa- 
lems ermöglichte:  vom  politischen  zum  konfessionellen  Verband. 
Vor  allem  wieder  die  gewaltige  emotionale  Aktualität  der 
eschatologischen  Erwartung  entschied  hier  alles.  Gerade  ihrer  be- 
durfte man  im  Exil  am  unbedingtesten.  Mit  der  bloßen  Thoraund 
deren  erbaulichen  Ermahnungen  und  Vertröstungen  der  deutero- 
nomischen  Intellektuellen  wäre  nichts  getan  gewesen.  Rache- 
durst und  Hoffnung  waren  die  naturgemäßen  Triebfedern  alles 
Handelns  der  Gläubigen  und  nur  die  Prophetie,  die  jedem  die 
Hoffnung  gab,  die  Befriedigung  dieser  leidenschaftlichen  Er- 
wartungen noch  selbst  zu  erleben,  konnte  hier  den  religiösen 
Zusammenhalt  der  politisch  zertrümmerten  Gemeinschaft  geben. 
Und  gerade  daß  die  Propheten  keinerlei  Handhabe  für  die  Bil- 
dung einer  neuen  religiösen  Gemeinschaft  geboten  hatten, 
daß  lediglich  die  ethische  und  zwar:  gesinnungsethische,  Sub- 
limierung  der  überlieferten  Religion  den  unmittelbar  praktisch- 
ethischen Inhalt  ihrer  eschatologischen  Verkündigung  bildete, 
machte  es  möglich,  daß  der  neue  konfessionelle  Verband,  indem 
er  sich  rituell  einkapselte,  sich  als  unmittelbare  Fortsetzung 
der  alten  rituellen  Volksgemeinschaft  fühlte:  was  dem  Christen- 
tum nicht  dauernd  möglich  war.   — 


II.    Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  -2  c  i 

Die   Leistung    der   Prophetie   wirkte    zusammen    mit    den 
überkommenen  rituellen  Gewohnheiten  Israels,  um  das  hervor- 
zubringen, was  dem  Judentum  seine  Pariastellung  in  der  Welt 
eintrug.    Die  israelitische  Ethik  insbesondere  erhielt  ihr  dafür 
entscheidendes  Gepräge  durch  den  exklusiven  Charakter,  welchen 
ihr  die  Entwicklung  der  Priesterthora  gab.   Auch  die  ägyptische 
Ethik  war  exklusiv  insofern,  als  sie,  wie  alle  antiken  Ethiken, 
den   Nichtlandsmann   selbstverständlich   ignorierte.      Ein    Aus- 
schluß des  Konnubium  mit  Fremden  scheint  bei  den  Aegyptein 
allerdings    nicht   bestanden   zu   haben,    auch   keine    allgemeine 
rituelle  Unreinheit  dieser.    Dagegen  scheinen  die  Aegypter,  im 
Gegensatz  zu  Israel,   die  Berührung  des  Mundes  und  Geschirrs 
solcher  Völker,   welche   Kuhfleisch   aßen,   ähnlich   den   Indern 
gemieden  zu  haben.    In  Israel  fehlte  ursprünglich  jede  rituelle 
Absonderung    von  Fremden  und  gewann  die  im  wesentlichen 
dem  allgemeinen  Typus  entsprechende  Exklusivität  ihre  besondere 
Note  erst  durch  ihre  Verbindung  mit  der  Entwicklung  zum  kon- 
fessionellen Verband.    Diese  Umgestaltung  der  israelitischen  Ge- 
meinschaft begann  allerdings  unter  dem  Einfluß  der  Thora  und 
der  Prophetie  schon  vor  dem  Exil.    Sie  äußerte  sich  zunächst  in 
der    zunehmenden  Einbeziehung  der  Metöken   (gerim)   in  ihre 
rituelle  Ordnung.    Ursprünglich  hatte  der  ger,  wie  wir  sahen, 
damit  nichts  zu  tun.    Die  Beschneidung  war  eine  nicht  nur  israeli- 
tische Institution,    innerhalb  Israels  aber  obligatorisch  nur  für 
die  Wehrmacht,  der  Sabbat  ein  vermuthch  über  den  Kreis  der 
Vollisraeliten  und  vielleicht  über  den  Kreis  der  Jahweverehrer 
hinaus  verbreiteter  Ruhetag,   der  allmählich  zum  Rang  eines 
paränetischen  Grundgebots  aufgestiegen  war.    Daß  der  ger  sich 
beschneiden  lassen  und  dann  am  Passahmahl  teilnehmen  durfte 
(Ex.  12,  48),  war  zweifellos  bereits  eine  durch  die  pazifistische 
Umformung  der  jahwistisch  frommen  Kreise  bedingte  Neuerung. 
Daraus  wurde  nun  (Num.  9.  14)  eine  Pflicht  des  ger.   Wohl  schon 
vorher  war  auch  den  gerim  der  Blutgenuß  (Lev.  17,  10)    und 
das  Molochopfer  (Lev.  20,  2)  bei  Todesstrafe  verboten  und  vor 
allem  die   Sabbatruhe  auferlegt  worden.    Die  deuteronomische 
und  endgültig  die  exilische  Priesterlehre  (Num.  9,  14;  15,  15.  16) 
machte  dann  allen  rituellen  Unterschieden  zwischen  Vollisraeliten 
und  gerim  ein  Ende:  »ein  Recht«  sollte  für  sie  und  die  Israeliten 
gelten  für  ewige  Zeiten.    (Danach  der  offensichtlich  nachträgliche 
Zusatz  Ex.  12,  49.)    Nach  Deut.  29,  11  gehören  die  gerim  mit 


T^2  Das  antike  Judentum. 

zum  Bunde  mit  Jahwe  und  dies  wird  im  Josuabuch  (8,  33)  sogar 
in  die  sichemitische  Fluch-  und  Segenszeremonie  eingefügt  (die 
späte  Vorschrift  Deut.  31,  12  bestimmt  daher  ausdrückhch: 
daß  die  Thora  auch  für  sie  öffentüch  vorgelesen  werden  soll), 
das  Interesse  der  Priester  an  der  Kundschaft  der  gerim,  unter 
denen  sich  so  exemplarische  Fromme  wie  die  jahwistischen  Vieh- 
züchter befanden,  —  während  die  »Vornehmen«  in  der  Erzählung 
von  dem  Aufruhr  der  Korachiten  mit  diesen  zusammen  als 
Priestergegner  figurieren  — ,  in  Verbindung  mit  der  Entmilitari- 
sierung  der  israelitischen  Bauern  und  Ackerbüiger  waren  die 
treibenden  Kräfte  dabei.  Die  politisch  rechtlosen  oder  minder- 
berechtigten Schichten  waren  hier,  wie  auch  sonst  oft,  ein  zu- 
nehmend wichtiges  Arbeitsfeld  der  Leviten,  und  im  Exil:  der 
Priester.  Wohl  erst  aus  der  Exilszeit  stammen  die  in  die  jetzige 
Redaktion  des  Deuteronomium  (23,  8)  aufgenommenen  Vor- 
schriften über  die  Aufnahme  ganz  Fremder,  zunächst  der  Aegypter 
und  Edomiter,  in  die  volle  rituelle  Gemeinschaft.  An  Stelle  des 
alten  Verbandes  der  ansässigen  Krieger  mit  den  durch  berith 
angeghederten  Gaststämmen  der  gerim  trat  nun  zunehmend  ein 
rein  ritualistischer  Verband,  und  zwar  ein  —  wenigstens  ideeller  — 
Gebietsverband  mit  Jerusalem  als  postulierter  Hauptstadt. 

In  der  Frage  der  Zukunftsgestaltung  der  Jahwegemeinde 
war  anfänglich  die  Stellungnahme  keine  einheitliche.  Bald  nach 
der  ersten  Fortführung  empfahl  Jeremia  den  Exulanten,  sich 
in  Babylon  heimisch  zu  machen.  Nach  der  Zerstörung  Jeru- 
salems trat  er  andererseits  dafür  ein,  daß  die  im  Lande  Gelassenen 
dort  bleiben  sollten.  Es  wäre  dann  ein  ländliches  Gemeinwesen 
mit  Mizpah  als  Mittelpunkt  unter  babylonischer  Hoheit  entstanden. 
Mit  der  größten  Schärfe  wendete  sich  aber  hiergegen  Hesekiel 
(nach  der  vermutlich  richtigen  Deutung  von  33,  25).  Jerusalem 
war  ihm,  dem  Priester,  die  einzig  legale  Kultstätte,  und  ohne 
das  Festhalten  an  den  Verheißungen  für  den  Zion  gab  es  keine 
Zukunftshoffnung.  Praktisch  hatte  er  damit  unzweifelhaft  recht. 
Das  Gebot  der  rituellen  Einheitlichkeit  des  Volkes  einschließlich 
der  gerim  wurde  nun  in  Verbindung  gebracht  mit  der  schon  in  der 
Zeit  des  Amos  behaupteten  spezifischen  rituellen  Reinheit  des 
Landes,  welches  Jahwe  Israel  gegeben  habe,  im  Gegensatz  zu 
andern  Ländern.  Der  zunehmende  konfessionelle  Eifer  der  Exils- 
priester verlangte  daher  theoretisch:  daß  darin  rituell  Unreine 
als  dauernd  Ansässige   nicht  geduldet  werden  sollten.    Fast  in 


IL    Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  ^Cß 

dem  Augenblick  also,  wo  Israel  seine  reale  Gebietsgrundlage 
verlor,  wurde  so  für  das  sich  nunmehr  entwickelnde  international 
ansässige  Gastvolk  der  ideale  Wert  der  politischen  Gebiets- 
grundlage endgültig  rituell  festgelegt:  nur  in  Jerusalem  durfte 
geopfert  werden  und  im  Gebiet  Israels  sollten  nur  rituell  Reine 
dauernd  ansässig  sein.  Alle  rituell  reinen  Verehrer  Jahwes  aber, 
gleichviel  ob  Israeliten  oder  gerim  oder  Neukonvertiten,  waren 
nun  konfessionell  gleichwertig. 

Die  rein  religiöse,  auf  den  prophetischen  Verheißungen 
ruhende  Natur  der  Gemeinschaft  bedingte  nun,  daß  diese  kon- 
fessionelle Absonderung  nach  außen  an  Stelle  der  politischen 
trat  und  sich  wesentlich  verschärfte.  Wir  verfolgen  dies  zunächst 
an  der  Entwicklung  der  materialen  Ethik.  Die  Pflichten  des 
Israeliten  waren  selbstverständlich  von  Anfang  an,  wie  ursprüng- 
lich bei  allen  Völkern  der  Erde,  vei'schieden,  je  nachdem  es 
sich  um  einen  Stammesbruder  oder  einen  Stammfremden  han- 
delte. Die  Erz  Väterethik  behandelte  Ueberlistung  und  Täuschung 
auch  der  ethnisch  nächststehenden  Stammfremden,  wie  der 
Edorhiter  (Esau)  oder  der  Nomaden  des  Ostens  (Laban) 
als  unanstößig.  Jahwe  befiehlt  Mose,  den  Pharao  zu  belügen 
(Ex.  3,  i8;  4,  23;  5,  i)  und  hilft  den  Israeliten,  sich  durch  Unter- 
schlagung beim  Auszug  in  den  Besitz  ägyptischen  Guts  zu  setzen. 
Auch  innerhalb  Israels  selbst  bestand,  wie  wir  sahen,  die  Stammes- 
scheidung mit  ähnlichen  Konsequenzen.  Der  ger  war  rechtlich 
im  Rahmen  der  mit  seiner  Gemeinschaft  bestehenden  berith, 
ethisch  nur  durch  die  levitische  Paränese  geschützt.  Aber  irgend 
welche  »Fremdenfeindschaft«  fehlte  der  älteren  Zeit.  Unter  den 
gerim  befanden  sich,  wie  die  Tradition  weiß,  auch  kanaanäische 
Gemeinden  (Paradigma:  Gibeon).  Erst  der  gegen  die  kana- 
anäische Sexualorgiastik  gerichtete  jahwistische  Puritanismus 
einerseits,  Salomos  nationales  Königreich  andererseits  verschärf- 
ten zunächst  den  Gegensatz  gegen  die  Kaaaanäer  einschließlich 
der  kanaanäischen  gerim.  Alle  Kanaanäer  galten  der  exilischen 
Anschauung  als  Feinde  und  \  on  Jahwe  wegen  sexueller  Scham- 
losigkeit zur  Knechtschaft,  späterhin,  wegen  der  Heiligkeit  des 
Landes  imd  damit  sie  Israel  nicht  zum  Abfall  verführen  (Ex.  23, 
23  L;  34,  15),  zur  Ausrottung  bestimmt.  Eine  berith  mit  ihnen 
war  nach  diesep  Auffassung  unzulässig,  es  sei  denn,  wie  die 
Sichem-Tradition  vorbehält,  daß  sie  durch  Beschneidung  in  die 
rituelle   Gemeinschaft   eintreten:   angesichts   der   wohl   zweifel- 

Max  Weber,  Religionssoziologic   III.  2^ 


^  CA  Das  antike  Judentum. 

losen  Heri schal t  der  Beschneidung  unter  den  Kanaanäern,  wie 
schon  bemerkt,  eine  späte  Eintragung.  Denn  die  Beziehung 
Israels  zu  den  Nichtisiaeliten  war  in  der  älteren  Zeit  umgekehrt 
durchaus  politisch  bedingt  gewesen,  auch  in  kultischer  und 
ritueller  Hinsicht.  Weder  bestand  ursprünglich  Ausschluß  der 
Kommensalität,  noch  —  was  damit  zusammenhing  —  Inkom- 
patibilität fremder  Opfer.  Die  Speisegemeinschaft  mit  den 
Gibeoniten  war  freilich,  wie  der  Wortlaut  der  Stelle  ergibt,  kein 
>>Opfermahl«,  sondern  einfache  Kommensalität  als  Folge  der 
berith.  Aber  immerhin:  die  Israeliten  nahmen  bei  einer  rituellen 
Gelegenheit  fremde  Speise.  Die  Erzählung  von  der  Mahlzeit 
Josephs  und  seiner  Brüder  und  der  Aegypter  (Gen.  34,  32)  zeigt, 
daß  die  Ablehnung  der  Kommensalität  mit  Fremden  durch  die 
Aegypter  zur  Zeit  der  Entstehung  dieser  Tradition  als  deren 
Besonderheit  im  Gegensatz  zu  Isiael  galt.  Die  unter  dem  Ein- 
fluß des  jahwistischen  Puritanismus  zunehmend  sich  verschärfen- 
den Verbote  der  gemeinsamen  Opfermahlzeit  mit  Fremden 
(Ex.  34,  16;  Num.  25,  I  f.)  wären  schwerlich  nötig  gewesen,  wenn 
nicht  auch  solche  ursprünglich  wie  in  aller  Welt,  so  auch  bei  den 
Israeliten  vorgekommen  wären.  Fraglich  mag  bleiben,  ob  der 
mit  Opfern  verbundene  Vertrag  von  Jakob  und  Laban  (Gen;  31, 
53  f.)  dem  Elohisten  (der  den  Laban  als  Diener  anderer  Götter 
behandelt)  als  eine  solche  gegolten  hatte.  Aber  noch  in  den 
Elisageschichten  findet  sich  bezeugt,  daß  ein  Jahwe  Verehrer, 
der  in  fremden  Diensten  steht,  wie  Naeman,  nach  damaliger 
Anschauung  am  Kult  des  Gottes  seines  Königs  teilnehmen  durfte, 
zweifellos  weil  dies  ein  politischer  Akt  war :  eine  Ansicht,  welche 
der  späteren  konfessionellen  jüdischen  Auffassung,  die  gegenüber 
der  Zumutung  des  Königs-  und  Kaiserkults  das  Martyrium 
wählte,  ein  Greuel  gewesen  wäre.  Die  volle  Konsequenz  aus  der 
strengen  Monolatrie,  wie  sie  durch  die  berith  bedingt  war,  ist 
eben  erst  in  der  Zeit  der  Konfessionalisierung  gezogen  worden. 
Auch  Konnubium  findet  sich  unbedenklich  erwähnt.  Eine 
Gefangene,  und  zwar  dem  Zusammenhang  nach  eine  gefangene - 
Kanaanäerin,  darf  man  zum  Weibe  nehmen.  Daß  sie  als  Kon- 
kubine galt  und  daß  der  Grundsatz  aufgestellt  wurde :  der  Sohn 
der  Magd  soll  in  Israel  nicht  erben,  war  hier  wie  überall  erst 
Entwicklungsprodukt  einer  Epoche,  in  welcher  die  begüterten 
Sippen  ihre  Töchter  bei  der  Heirat  mit  einer  Ausstattung  ver- 
sahen und  daher  für  deren  Kinder  das  Monopol  der  Legitimität 


II.     Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  ^cc 

beanspruchten.  Vielleicht  von  hier  aus  begannen  zuerst  die 
Bedenken  gegen  das  Konnubium  mit  Ungenossen.  die  dann  in 
der  Zeit  dei  Prinzessinnen-Heiraten  bei  den  Frommen  sich  aus 
konfessionellen  Gründen  schnell  steigerten.  Erst  die  Exilszeit 
aber  schritt  zu  wirklichen  Mischeheverboten.  Noch  der  Stamm- 
baum Davids  weist  ja  nach  der  Ruth-Erzählung  eine  Fremde  auf  .. 
Die  innei  liehe  Beziehung  zu  den  Nichtisraeliten  spiegelt 
sich  am  deutlichsten  in  der  Entwicklung  der  Stellung  Jahwes 
zu  ihnen  ^).  Für  diese  aber  waren  zunächst  rein  poli- 
tische Motive  n^aßgebend.  Sie  sind  ihm  an  sich  gleichgültig. 
Wenn  Krieg  mit  ihnen  ausbricht,  steht  er  natürlich  auf  Israels 
Seite.  Aber  die  Fremden  sind  ihm,  auch  wenn  sie  andere  Götter 
verehren,  nicht  als  solche  verhaßt.  Wenn  sie  im  Krieg  Israel 
Hilfe  leihen  oder  ihm  sonst  nützen  (Hobab  als  Führer  durch  die 
Wüste  Num.  lo),  vollends  wenn  sie  ihr  Volk  an  Israel  verraten 
(Rahab  und  der  Spion  in  Lu.  5,  Jos.  2,  Jer.  i),  so  erhalten  sie 
das  Privileg,  als  gerim  in  Israel  zu  wohnen.  Daß  fremde 
Völker  um  ihrer  selbst  willen  bekämpft  werden  müßten,  davon 
ist  keine  Rede.  Im  Gegenteil:  Jahwe  mißbilligt  ganz  offen- 
sichtlich ihre  politisch  unkluge  und  vor  allem ;  verräterische 
Schädigung  (wie  bei  Sichem)  und  der  pazifistische  Erzvätergott 
hat  offensichtlich  Freude  an  Abrahams  Güte  gegen  Lot  bei  der 
friedhchen  Landesteilung  (Gen.  13)  und  erhört  Abrahams  Für- 
bitte für  Abimelech.  Die  Güte  Fremder  gegen  Israel  mit  Bösem 
zu  vergelten  erscheint  gelegentlich  als  Jahwe  nicht  wohlgefällig. 
Nie  wird  im  Namen  Jahwes  in  der  alten  Ueberlieferung  anderen 
Völkern  ihre  Verehrung  ihrer  eigenen  Götter  vorgeworfen;  die 
Legitimität  der  andern  Götter  für  sie  wird  andererseits  nur  aus- 
nahmsweise (in  der  Jephtha-Erzählung  und  in  der  ursprüng- 
lichen Fassung  der  Erzählung  vom  Sohnesopfer  des  Königs 
von  Moab)  anerkannt.  Das  alles  sind  allgemein  übliche  Stellung- 
nahmen, leicht  modifiziert  nur  durch  das  besondere  berith- 
Verhältnis  Jahwes  zu  Israel.  Aber  Jahwe  hat  nach  der  Erz- 
väterlegende (Gen.  27,  40)  auch  Edom,  einem  alten  Sitz  seiner 
Verehrung,  eine  Verheißung,  wenn  au'';h  eine  bescheidenere,  ge- 
geben; ebenso  dem  offenbar  gleichfalls  als  der  Jahweverehrung 
zuneigend  angesehenen  Ismael. 

*)  Vgl.  dazu  die  gute  Arbeit  von  P  e  i  s  k  e  r.  Ueber  die  im  einzelnen 
nicht  weiter  feststellbare  Bedeutung  des  palästinischen  Kriegsvölkerrechtsbundes 
ist  .schon  oben  gesprochen. 

23* 


T^  1-5  Das  antike  Judentum. 

Eine  universalistische  Rationalisierung  dieser  Vorstellungen 
begann  mit  dem  theologischen  Theodizee-Bedürfnis,  welches  aus 
der  berith  mit  Jahwe  dessen  Recht,  Israel  im  Falle  des  Ungehor- 
sams zu  züchtigen,  ableitete,  um  die  politische  Bedrohung  und 
die  Niederlagen  zu  erklären .  Jahwe  bleibt  nach  wie  vor  indifferent 
gegen  die  anderen  Völker.  Aber  er  benutzt  sie  als  »Gottesgeißel« 
(Peisker)  gegen  das  ungehorsame  Israel,  um,  sobald  sein  Volk 
sich  wieder  gebessert  hat,  sie  wieder  durch  Israel  niederschlagen 
zu  lassen.  So  in  typischer  Art  in  der  Pragmatik  des  jetzigen 
Richterbuches.  Auf  Israel,  und  nur  auf  Israel,  kommt  es  Jahwe 
an,  die  andern  sind  nur  Mittel  zum  Zweck.  —  Allein,  damit  sie 
das  sein  konnten,  mußte  Jahwe  die  Macht  haben,  sie  zu  seinen 
Zwecken  nach  Belieben  zu  gebrauchen.  Er  mußte  also  mindestens 
teilweise  auch  ihr  Geschick  bestimmen.  Er  tat  das  durchaus 
nicht  nur  zu  ihrem  Nachteil.  Die  Begrenzung  der  Wohnsitze 
Israels,  die  sein  Werk  ist,  geschah  zwar  nicht  im  Interesse  der 
andern  Völker,  aber  sie  kam  doch  ihnen  ?ugute.  Offenbar  der 
Ausdruck  des  damals  gerade  bestehenden  friedlichen  Zustandes 
mit  Moab  und  Edom  sind  die  deuteronomischen  Erklärungen: 
daß  er,  Jahwe,  den  Kindern  Esaus  Seir  und  den  Kindern  Lots 
Moab  zu  bewohnen  gegeben  habe  (Deut.  2,  4.  9)  und  das  darauf 
begründete  Verbot,  sie  mit  Krieg  zu  überziehen.  Seine  Ver- 
fügungen über  die  Fremden  wurden  denen  über  Israel  in  vieler 
Hinsicht  immer  ähnlicher.  In  der  priesterlichen  Redaktion,  der 
Auszugslegende  ist  es  Jahwe,  der  Pharaos  Herz  verstockt  (Ex. 
7, 2)  —  was  dem  deuteronomischen  Vorstellungskreis  entspricht — , 
um  seine  Macht  umsomehr  verherrlichen  zu  können.  Subjektiv 
zwar  kennen  die  Fremden  —  so  der  Pharao  —  Jahwe  nicht 
(Deut.  5,  2,  elohistisch) ,  aber  der  Glaube,  daß  Jahwe  es  sei, 
welcher  die  Philister  und  Aramäer  aus  der  Ferne  herbeigeführt 
habe,  muß  doch  schon  über  die  ersten  Propheten  zurückgehen, 
da  diese  ihn  voraussetzen.  Erst  mit  dem  zunehmenden  Uni- 
versalismus der  Gotteskonzeption  wurde  die  Sonderstellung 
Israels  durch  Jahwe  jene  Paradoxie,  die  nun  zu  motivieren 
versucht  wurde  durch  erneute  Betonung  der  alten  berith-Kon- 
zeption  (jetzt  in  der  Form  einer  einseitigen,  durch  Gehorsam 
bedingten  göttlichen  Zusage  aus  grundloser  Liebe  oder  wegen 
des  ihm  wohlgefälligen  unbedingten  Vertrauens  der  Vorfahren 
oder  wegen  der  —  kultischen  —  Greuel  der  anderen  Völker). 
Aus   einer  historisch  bedingten  sozialen   Form  des  politischen 


II.     Die  Entstehung  des  jüdischen   Pariavolkes.  ^57 

Verbandes  wurde  die  berith  also  nun  ein  theologisches  Kon- 
struktionsmittel. Jetzt  erst,  wo  Jahwe  immer  mehr  der  gött- 
liche Souverän  des  Himmels  und  der  Erde  und  aller  Völker  ge- 
worden war,  wurde  Israel  das  von  ihm  »auserwählte«  Volk. 
Auf  diese  Auserwähltheit  wurden  nun  die  besonderen  rituellen 
und  ethischen  Pflichten  und  Rechte  der  IsraeHten,  wie  wir  bei 
Arnos  sehen,  begründet.  Der  an  sich  überall  urwüchsige  Dua- 
lismus der  Binnen-  und  Außen-Moral  erhielt 
jetzt  für    die   Jahwegemeinde    diesen    pathetischen  Unterbau. 

Auf  ökonomischem  Gebiet  war  er  am  augenfälligsten  und 
ausdrücklichsten  im  Wucherverbot,  demnächst  in  den  sozialen 
Schutz- und  Brüderlichkeits-Bestimmungen  der  karitativen  Par- 
änese  heimisch.  Denn  es  verwarf  ursprünglich  nur  (Ev.  22,  25) 
die  Ausbeutung  des  armen  —  zweifellos  (cf.  Jer.  25,  36)  des 
verarmten  Bruders,  und  bezog  sich  nur  auf  die  Vollisrae- 
Uten  ('am).  Ausdrücklich  gestattete  das  Deuteronomium  den 
Wucher  am  Konfessions-Fremden  (nakhri).  Ursprünglich  war  es, 
wie  die  hierher  gehörigen  deuteronomischen  Verheißungen  und  die 
parallelgehenden  Unheilsdrohungen  (von  denen  letztere  statt  des 
nakhri  noch  den  ger  nennen)  zeigen,  der  Wucher  am  ger.  Wucher 
bleibt  zwar  Wucher.  Aber,  so  ist  Deut.  23,  20  zu  verstehen,  auch 
diesen  Wucher  wird  Jahwe,  wie  alle  anderen  Unternehmungen 
des  Israeliten,  durch  Erfolg  segnen,  wenn  er  nur  an  seinem 
Bruder  nicht  wuchert.  Ebenso  sind  alle  anderen  sozialethischen 
Bestimmungen:  Sabbatjahr,  Armenecke,  Nachlese,  auf  die  gerim 
und  die  ebjonim  des  eigenen  Volkes  beschränkt.  Der  »Nächste« 
ist  immer  der  Volks-  oder  jetzt  der  Konfessionsgenosse.  Nicht 
minder  gilt  dies  für  die  gesinnungsethische  Paränese:  gegen  den 
Angehörigen  des  eignen  Volkes  soll  man  keinen  Haß  im  Herzen 
tragen,  sondern  ihn  »lieben  wie  sich  selbst«,  der  »Feind«,  dessen 
Vieh  man  nicht  irregehen  lassen  soll  (Ex.  23,  4),  ist  nicht  ein 
Landfremder  im  politischen  Sinn,  sondern,  wie  Deut.  22,  i 
zeigt,  der  Volksgenosse,  mit  dem  man  verfeindet  ist.  Wohl- 
wollendes und  rechtliches  Verhalten  eines  Israeliten  gegen  einen 
Fremden  kann  zwar  den  guten  Ruf  Israels  vermehren  und  daher 
Jahwe  wohlgefällig  sein.  Aber  die  sittlichen  Gebote  der  Paränese 
sind  nur  auf  die  »Brüder«  beschränkt.  Das  Gastrecht  blieb  wie  vor 
alters  heilig.  Aber  sonst  wurden  nur  schwere  Greuel  gegen  Fremde, 
die  Israels  guten  Ruf  gefährden,  auch  von  Jahwe  mißbilligt. 

Die  Scheidung  \'on  ()  k  o  n  o  m  i  s  c  h  e  r  Binnen-  und  Außen- 


2tg  Das  antike  Judentum. 

ethik  ist  für  die  religiöse  Wertung  der  Wirtschaftsgebarung  dauernd 
bedeutsam  geblieben.  Niemals  konnte,  in  dem  Sinne,  wie  imPuri- 
tanismus,  die  auf  dem  Boden  der  formalen  Legalität  stebende 
rationale  Erwerbs  Wirtschaft  religiös  positiv  b  e  w  e  r  t  e  t 
werden,  und  das  ist  auch  tatsächlich  nicht  geschehen.  Das  hinderte 
der  Dualismus  der  Wirtschaftsethik,  welcher  bestimmte,  dem 
Glaubensbruder  gegenüber  streng  verpönte  Arten  des  Verhaltens 
dem  Nichtbruder  gegenüber  zuAdiaphora  stempelte.  Dies 
war  das  Entscheidende.  Es  hat  den  jüdischen  Theoretikern 
der  Ethik  Schwierigkeiten  bereitet:  wenn  Maimonides  der  An- 
sicht zuneigte,  daß  das  Zinsennehmen  vom  Fremden  geradezu 
religiös  geboten  sei,  so  ist  das  —  neben  der  zeitgeschicht- 
lichen Lage  der  Juden  — ■  zweifellos  diuxh  die  Abneigung  gegen 
die  für  jede  formalistische  Ethik  gefährliche  Zulassung  von 
solchen  Adiaphora  mitbedingt.  Die  spät  jüdische  Ethik  hat  den 
Wucher  im  Sinn  einer  rücksichtslosen  Ausbeutung  auch  gegen- 
über Nicht  Juden  mißbilligt.  Aber  gegenüber  den  massiven  Worten 
der  Thora  und  der  inzwischen  eingetretenen  sozialen  Lage  mußte 
der  Erfolg  prekär  sein,  und  jedenfalls  blieb  der  Dualismus  in  der 
Zinsfrage  bestehen.  Theoretische  Schwierigkeiten  ethischer 
Denker  sind  natürlich  Nebensache.  Praktisch  aber  bedeutete 
dieser  die  ganze  Ethik  durchziehende  Dualismus:  daß  jener 
spezifische  Gedanke  der  religiösen  »Bewährung«  durch  rationale 
»inner weltliche  Askese«  fortfiel,  der  dem  Puritanismus  eignet. 
Denn  dieser  konnte  nicht  auf  etwas  an  sich  Verwerflichem,  nur 
gewissen  Kategorien  von  Personen  gegenüber  »Erlaubtem«,  fußen. 
Die  ganze  religiöse  »Berufs «-Konzeption  des  asketischen  Pro- 
testantismus fiel  damit  von  vornherein  fort,  und  daran  konnte 
die  überaus  hohe  (aber :  traditionalistische)  Schätzung  der  treuen 
Arbeit  im  Beruf,  die  wir  (bei  Jesus  Sirach)  finden  werden,  nichts 
ändern.  Der  Unterschied  liegt  deutlich  zutage.  Die  Rabbinen 
haben  zwar,  zumal  in  der  Zeit  der  Proselyten-Propaganda,  höchst 
nachdrücklich  ein  rechtliches  und  ehrbares  Verhalten  der  Juden 
gegenüber  den  Wirts  Völkern  eingeschärft,  wie  wir  sehen  werden. 
In  diesem  Punkt  unterscheidet  sich  die  talmudischc  Lehre  in 
nichts  von  den  ethischen  Prinzipien  anderer  Glaubensgemein- 
schaften. Insbesondere  hat  das  antike  Christentum  (Clemens 
von  Alexandrien)  bezüglich  der  Wirtschaftsethik  dem  gleichen 
Dualismus  zugeneigt,  den  das  alttestamentliche  Wucherrecht 
bannte.    Der    puritanische  Glaubenskämpfer   stand   dem   Glau- 


II.     Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  •i^Q 

beiisfremden  mit  dem  gleichen  —  teilweise  durch  die  alttestament- 
liche  Stimmung  gespeisten  —  Abscheu  gegenüber  wie  die  Priester- 
gesetzgebung Israels  dem  Kanaanäer,  und  daß  vollends  ein  nicht 
glaubensverwandter  König  ein  »Knecht  Gottes«  sein  könne,  wie 
dies  die  israelitische  Propheiie  z.B.  von  Nebukadnezar  und  Kyrcs 
ausdrücklich  sagt,  wäre  keinem  Puritaner  je  in  den  Mund  ge- 
kommen. Aber  auf  dem  Gebiet  der  W  irtschafts  ethik  tritt  in  den 
Kundgebungen  der  christlichen  Sektierer  etwa  des  17.  und  18.  Jahr- 
hunderts (vor  allem  der  Baptisten  und  Quäker)  der  Stolz  insbe- 
sondere darauf  zutage,  daß  sie  gerade  im  wirtschaftlichen  Ver- 
kehr mit  den  Gottlosen  Legalität,  Ehrlichkeit,  Billigkeit  an 
die  Stelle  von  Fälschen,  Uebervorteilung,  Un Verläßlichkeit  gesetzt 
haben,  daß  sie  das  System  der  festen  Preise  durchgeführt  haben, 
daß  ihre  Kunden,  selbst  wenn  sie  nur  ihre  Kinder  schicken, 
doch  stets  reelle  Ware  gegen  reellen  Preis  erhalten,  daß  die  Depots 
und  Kredite  bei  ihnen  sicher  stehen,  daß  eben  deshalb  sie,  ihre 
Handelsläden,  ihre  Banken,  ihre  Gewerbetreibenden  von  den 
Gottlosen  als  Kunden  vor  allen  Andren  bevorzugt  werden,  kurz: 
daß  ihr  überlegenes,  religiös  bedingtes  Wirtschaftsethos 
ihnen  die  Ueberlegenheit  über  die  Konkurrenz  der  Gottlosen 
nach  dem  Prinzip  verschaffe:  »honesty  is  the  best  poHcy.«  Ganz 
wie  man  es  in  den  Vereinigten  Staaten  noch  bis  in  die  letzten 
Jahrzehnte  im  Mittelstand  als  Realität  erleben  konnte.  Und 
ähnlich  wie  es  für  die  Jaina  und  Parsen  in  Indien  zutraf :  —  nur 
daß  hier  die  rituelle  Gebundenheit  den  Konsequenzen  für  die 
Rationalisierung  des  Wirt  Schaftsbetriebs  feste  Schran- 
ken setzte.  So  wenig  wie  ein  korrekter  Jaina  oder  ein  Parse 
würde  ein  frommer  Puritaner  jemals  sich  in  den  Dienst  des 
kolonialen  Kapitalismus,  des  Staatslieferanten-,  Steuer-  und 
Zollpächter-  oder  Staatsmonopol-Kapitalismus  gestellt  haben. 
Diese  spezifischen  Formen  des  antiken,  des  außereuropäischen 
und  des  vor  der  modernen  bürgerlichen  Entwicklung  liegenden 
Kapitalismus  waren  ihm  ethisch  verwerfliche  und  Gott  miß- 
fällige Arten  roher  Geldakkumulation.  —  Ganz  anders  die  jüdische 
Wirtschaftsethik.  Zunächst  konnte  es  unmöglich  ohne  Wirkung 
bleiben,  daß  die  Ethik  gerade  der  Erzväter  gegenüber  den  »Un- 
geriossen«  doch  einen  sehr  penetranten  Einschlag  der  Maxime: 
»Qui  trompe-t-on  ?«  enthielt.  Jedenfalls  fehlte  jedes  s  o  t  er  i  o- 
logische  Motiv  zur  ethischen  Rationalisierung  der  ökono- 
mischen Außenbeziehungen:  jede  religiöse  Prämie  darauf.    Das 


-3^Q  Das  antike  Judentum. 

hatte  für  die  Art  der  ökonomischen  Betätigung  der  Juden  weit- 
reichende Folgen.  Gerade  in  den  vom  Puritanismus  perhorres- 
zierten  Formen  des  Staats-  und  Raub-Kapitahsmus  war  —  neben 
reinem  Geldwucher  und  Handel  —  der  jüdische  Paria-Kapitalis- 
mus seit  der  Antike  ebenso  zu  Hause  wie  etwa  derjenige  der 
hinduistischen  Händlerkasten.  Das  galt  in  beiden  Fällen  als 
ethisch  prinzipiell  unbedenklich.  Zwar  wer  als  Zollpächter  gott- 
loser eigener  Fürsten  oder  gar  fremder  Mächte  das  eigene  Volk 
auswucherte,  war  tief  verworfen  und  galt  den  Rabbinen  als 
unrein.  Aber  dem  fremden  Volk  gegenüber  war  —  von  selten 
der  Moralisten  natürlich  mit  dem  Vorbehalt,  daß  eigentlicher 
Betrug  überall  verwerflich  sei  —  diese  Art  des  Vermögenserwerbs 
ein  ethisches  Adiaphoron.  Niemals  aber  konnte  deshalb  öko- 
nomischer Erwerb,  eine  Stätte  religiöser  »Bewährung«  werden. 
Wenn  Gott  die  Seinen  durch  ökonomischen  Erfolg  »segnete«,  so 
nicht  um  ihrer  ökonomischen  »Bewährung«  willen,  sondern 
weil  der  fromme  Jude  außerhalb  dieser  Erwerbstätigkeit 
gottgefällig  gelebt  hat  (so  schon  in  der  deuteronomischen  Wucher- 
lehre). Denn  —  wie  wir  später  sehen  werden  —  das  Gebiet  der 
Bewährung  der  Frömmigkeit  in  der  Lebensführung  liegt  beim 
Juden  auf  einem  durchaus  anderen  Gebiet  als  dem  einer  rationalen 
Bewältigung  der  »Welt«,  insbesondere  der  Wirtschaft.  Welche 
Bestandteile  der  religiös  bedingten  Lebensführung  die  Juden 
befähigten,  eine  Rolle  in  der  Entwicklung,  unsrer  Wirtschaft 
zu  spielen,  wird  später  erörtert  werden.  Jedenfalls  haben 
jene  orientalischen,  südeuropäischen  und  osteuropäischen  Gebiete, 
in  denen  sie  am  längsten  und  meisten  heimisch  waren,  weder  in 
der  Antike  noch  im  Mittelalter  noch  in  der  Neuzeit  die  dem 
modernen  Kapitalismus  spezifischen  Züge  entwickelt. 
—  Ihr  wirklicher  Anteil  an  der  Entwicklung  des  Okzidents 
beruhte  höchst  wesentlich  auf  dem  G  a  s  t  v  o  1  k  charakter, 
den  die   selbstge wollte  Absonderung  ihnen  aufprägte. 

Diese  Gastvolksstellung  nun  wurde  durch  die  rituelle 
Abschließung  begründet,  welche,  in  der  deuteronomischen  Zeit 
wie  wir  sahen,  verbreitet,  in  der  Exilszeit  und  durch  die  Gesetz- 
gebung   des  Esra  und  Nehemia  durchgeführt  wurde. 

Der  Untergang  des  nationalen  Staatswesens  und  das  Exil 
bedeutete  für  Nordisrael  und  für  Juda  verschiedenerlei.  In 
Samaria  hatten  die  Assyrerkönige  im  Austausch  für  die  fort- 
geführten Krieger  mesopotamische  Kolonisten  angesiedelt,  die, 


I 


II.     Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  ^5l 

wie  die  lieber  lieferung  erkennen  läßt,  sehr  schnell  »den  Göttern 
des  Landes«,  also  den  Formen  des  dortigen  Jahwedienstes,  sich 
anbequemten,  angeblich  durch  schreckhafte  Mirakel  Jahwes 
dazu  veranlaßt.  Jerusalem  hatte  Nebukadnezar  offenbar  — •  da 
er  es  gern  als  Stützpunkt  gegen  Aegypten  benützt  hätte  —  sehr 
widerwillig  nach  längerer  Ueber legung,  dann  aber  gründlich, 
zerstört  und  in  wiederholter  Deportation  die  stadtsässigen 
Patrizier-  und  Beamtenfamilien,  also  den  Hofadel,  die  geschulten 
Krieger  und  Königshandwerker,  die  Hierarchie  und  wohl  auch 
landsässige  Honoratioren  fortgeführt.  Es  blieben  wesentlich 
Kleinbauern  im  Lande  und  es  fand  —  da  Babylonien  längst 
nicht  mehr  über  eine  starke  Bauernbevölkerung  verfügte  — 
keine  Besiedelung  mit  mesopotamischen  oder  anderen  Kolo- 
nisten statt  1).  Das  Schicksal  der  Exilierten  in  Babylonien 
scheint  gewechselt  zu  haben.  Sicher  ist,  daß  große  Teile  von 
ihnen  —  wenn  auch  schwerlich  alle  —  zwar  in  der  Nähe  der 
Hauptstadt,  aber  ländlich  angesiedelt  wurden  und  zwar  zweifel- 
los so,  daß  sie,  wie  wir  dies  von  jeher  in  den  Inschriften  der 
mesopotamischen  Großkönige  finden,  einen  Kanal  zu  graben 
(oder  wieder  herzurichten)  hatten,  also  in  eignen  Orten  zusammen- 
wohnten und  dem  König  von  dem  so  gewonnenen  Land  Steuern, 
nach  Bedarf  aber  auch  Fronden  leisteten.  Die  Fronden  werden 
von  den  Propheten  (Jes.  47,  6;  Jer.  5,  19;  28,  14;  Klagel.  i,  i; 
5,  5)  erwährit.  Ueber  Mangel,  in  einem  Fall  geradezu  über  Hunger, 
wird  geklagt  (Jes.  51,  14).  Eine  Zunahme  des  Drucks  unter 
König  Nabunahi  im  Gegensatz  zu  der  Behandlung  unter 
Evil-Merodach ,  wie  sie  Klamroth  als  wahrscheinlich  ansieht, 
wäre  nicht  erstaunlich,  da  aus  den  Inschriften  des  Kyros  hervor- 
geht, daß  jener  König  die  Fronlasten  auch  für  das  eigene  Volk 
gesteigert  hat.  Einzelne  Einkerkerungen,  die  nach  prophetischen 
Stellen  wahrscheinlich  sind,  haben  wohl  in  Renitenz  und  diese 
in  der  Wirksamkeit  von  Heilspropheten  (Jer.  29,  21)  ihren  Grund, 
wie  sie  wenigstens  bis  zum  Sturz  Jerusalems  unter  Zedekia 
vorgekommen  sind.  Immerhin  kann  der  Druck  in  der  Regel 
rein    objektiv   nicht   schwer   gewesen   sein,   da   schon    Jeremias 

1)  Mit  Recht  betont  bei  Klamroth,  Die  jüdibciien  Exulanten  in 
Babylonien  (Beitr  7.  Wiss.  v.  A.  T.  10,  Leipzig  1912).  Die  wertvolle  Schrift 
ist  weiterhin  wiederholt  benützt.  Ihre  einzige  schwache  Seite  ist  vielleicht, 
daß  sie  zuweilen  noch  mehr  Angaben  über  die  tatsächlichen  Verhältnisse  der 
Exilsgemeinde  in  Prophetenstellen  zu  finden  sucht,  als  ihnen  entnommen  werden 
kann  und  daß  sie  die  Schilderungen  vom  Elend  der  Exulanten  allzuwörtlich  glaubt. 


•:>(52  Das  antike  Judentum. 

Brief  an  die  Häupter  der  Exilsgemeinde  voraussetzt,  daß  die 
Exulanten  Erwerbsfreiheit  besaßen  und  in  der  Lage  waren,  sich 
in  Babylonien  im  wesenthchen  nach  Beheben  einzurichten.  In 
zunehmendem  Maße  finden  wir  denn  auch  die  Exiherten  in  der 
Hauptstadt  selbst  und  zwar  in  den  von  der  pennsylvanischen 
Expedition  gefundenen  und  herausgegebenen  Muraschu-Doku- 
menten  in  den  verschiedensten  Berufsstellungen,  mit  einziger  Aus- 
nahme der  durch  Teilnahme  an  der  babylonischen  Schreibe  r- 
Erziehung  (welche  offenbar  den  Juden  ebenso  wie  andern  Nicht- 
babyloniern  verschlossen  blieb)  bedingten  rein  politischen  Amts- 
stellungen ^).  Die  Zahl  der  jüdischen  Namen  in  Babylon  nimmt 
besonders  seit  der  Perserzeit,  zu  und  man  findet  nun  Juden 
als  Landbesitzer,  Rentenkollektoren,  Angestellte  babylonischer 
und  persischer  Notablen.  Endlich  und  zweifellos  zunehmend: 
im  Handel  und  insbesondere  im  Geldverkehr,  der  ja  in  Baby- 
lonien zuerst,  schon  in  Hammurapis  Zeit,  den  Typus  des  »Geld- 
mannes« hatte  entstehen  lassen.  Die  geringe  ethnische  und,  nach 
der  Annahme  des  aramäischen  Volksidioms  durch  die  Exulanten, 
sprachliche  Unterschiedenheit  haben  von  Anfang  an  gehindert, 
daß  wie  in  Aegypten  Verfolgungen  oder  eine  Ghetto-artige 
Existenz,  wie  sie  die  gleichzeitigen  Assuan  Papyri  zeigen,  sich 
entwickelten.  Die  Gemeinde  blühte  zunehmend.  Nächst  den 
Persern  scheint  sie  von  allen  Fremdvölkern  die  erheblichste 
Rolle  zu  spielen.  Die  Vermögens  Verhältnisse  eines  erheblichen 
Teiles  der  Exulanten  haben  sich,  wie  die  bedeutenden  Tempel - 
bauspenden  bei  der  Rückkehr  beweisen,  sehr  günstig  entwickelt 
und  die  Zahl  gerade  der  Reichen,  welche  es  vorzogen,  in  Babylon 
zurückzubleiben,  um  ihren  Besitz  nicht  zu  verlieren,  war  nicht 
gering.  Das  war  freilich  unter  der  Perserherrschaft,  welche 
ausgesprochen  judenfreundlich  war  und  jüdische  Eunuchen,  wie 
Nehemia,  als  persönliche  Vertrauensleute  des  Königs  sah.  Aber 
eine  systematische  Bedrückung  gerade  der  Exilierten  durch 
die  babylonische  Regierung  ist  durchaus  unwahrscheinlich.  Von 
religiöser  Intoleranz  ist  nichts  zu  ermitteln,  und  so  sehr  gegebenen- 
falls die  Großkönige  darauf  hielten,  daß  ihren  Göttern  von  den 
Besiegten  Ehrfurcht  erzeigt  wurde,  so  schritten  sie,  wie  alle  antiken 
Machthaber,   doch   nur   ein,    wo   die    Staatsräson   es   verlangte. 


1)  Vgl.    S.    Daiches,    The  Jews    in  Babyl.  in  the  time    of  Ezra  and 
Nehemia  acc.  to  Bab.  inscr.  (Publ.  Jev.  Con.  No.  2,  London  1910). 


II.    Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  ^ö^ 

Dabei  fehlte  nun  allen  diesen  orientalischen  Monarchien  ein 
eigentlicher  Herrscher  k  u  1 1  von  der  Art  des  späteren  römischen 
Kaiserkults,  denn  der  Herrscher  verlangte  zwar  die  Proskynese 
und  unbedingte  Obödienz,  stand  aber  doch  unter  den  Göttern. 
Dieser  Umstand  erleichterte  die  Toleranz.  Dennoch  war  der 
Haß  gegen  Babel  sehr  stark,  wie  die  jubelnden  Unheilsprophet ien 
Deuterojesajas  beim  Herannahen  des  Perserkrieges  zeigen.  Es 
zeigt  sich:  daß  die  Exilsgemeinde  im  Lauf  des  Exils  fest  zu- 
sammenwuchs. Dies  aber  war  die  Leistung  vor  allem  der  Prie- 
ster, deren  Masse  erst  mit  der  letzten  Deportation  bei  der 
Zerstörung  Jerusalems  fortgeführt  wurde:  vorher  hatte  Nebu- 
kadnezar  offenbar  gehofft,   an  ihnen  eine   Stütze  zu  haben. 

Autorität  hatten  unter  den  Exilierten  zunächst  die  »Ael- 
testen«,  welche  in  Jeremias  Brief  (Jer.  29,  i)  an  der  Spitze 
und  vor  den  »Priestern  und  Propheten«  genannt  werden.  Offiziell 
blieben  sie  vielleicht  dauernd  die  der  babylonischen  Regierung 
gegenüber  verantwortlichen  Vertreter.  Zwar  hatte  König  Evil- 
Merodach  den  vorletzten  judäischen  König  Joj  achin  nach  langer 
Gefangenschaft  begnadigt  und  an  seine  Hoftafel  gezogen.  Die 
Davididen  als  die  Königssippe  werden  damit  in  der  Exulanten- 
gemeinde einen  Ehrenvorrang  gewonnen  haben.  Aber  zunächst 
schwerlich  mehr.  Tatsächlich  traten  vielmehr  —  neben  einigen 
Propheten,  von  denen  später  die  Rede  sein  wird  —  zunehmend 
die  Priester  in  den  Vordergrund.  Aus  ähnlichen  Gründen,  wie 
in  der  Völkerwanderungszeit  die  Macht  der  Bischöfe  stieg.  Man 
erkennt  ihre  starke  Bedeutung  schon  in  der  ersten  Zeit  im  Hese- 
kiel-Buche.  Hesekiel  war  priesterlicher  Abkunft.  Sein  Plan 
eines  israelitischen  Zukunftsstaates  zeigt  die  Diskreditierung  der 
Königsmacht.  Der  Fürst  (Nasi)  ist  im  Grunde  nur  ein  Kirchen- 
patron für  die  theokratisch  gebildete  Gemeinde.  Der  »Hohe- 
priester« des  Tempels  von  Jerusalem  tritt  bei  ihm  .zuerst  als 
zentrale  Gestalt  der  künftigen  hierokratischen  Ordnung  hervor. 
Die  utopischen  und  zugleich  schematischen  Einzelvorschläge 
meines  Projektes  interessieren  uns  hier  nicht.  Praktisch  bedeut- 
sam wairde  davon  neben  der  Figur  des  Hohepriesters  vor  allem 
die  hier  zuerst  durchgeführte  ständische  Scheidung  der  Kult- 
priester, der  Kohanim,  von  den  übrigen,  nicht  zum  Opferkult 
qualifizierten  »Leviten«.  Aber  eben  da  lagen  naturgemäß  die 
Schwierigkeiten:  bei  Hesekiel  spielen  noch  die  Jerusalemcr 
Zadokiden  als  die  alleinigen  Kohanim  die  ausschlaggebende  Rolle. 


-354  ^^^  antike  Judentum. 

Auf  dieser  Grundlage  war  eine  Einigung  der  verschiedenen 
Priestergeschlechter  nicht  möglich.  Erst  der  weitere  Verlauf  der 
Entwicklung  muß  den  Ausgleich  mit  den  nicht  zadokidischen 
Priestern,  den  Aaroniden,  gebracht  haben.  Mit  Beginn  der 
Perserherrschaft  gewannen  die  Priester  die  unbedingte  Führung. 
Dies  hing  mit  der  ganz  konsequent  befolgten  Politik  der  Perser- 
könige zusammen,  welche  überall  die  Hierokratie  in  den  Sattd 
setzten,  um  sie  als  Domestikationsmittel  der  abhängigen  Völker 
zu  benutzen.  Schon  Kyros  bezeugte  zwar  einerseits  den  baby- 
lonischen Göttern  seine  Ehrfurcht,  rühmt  sich  aber  anderer- 
seits, alle  jene  Götter,  w^elche  die  Babylonier  depossediert  und 
deren  Bilder  und  Schätze  sie  nach  Babel  zusammengeschleppt 
hatten,  wieder  an  ihrer  alten  Wohnstätte  installiert  zu  haben. 
Demgemäß  gestattete  er  auch  den  Israeliten  die  Heimkehr. 
Immerhin  war  er  in  seiner  Benutzung  der  Priester  noch  nicht 
so  konsequent  wie  Darius.  Die  persische  Politik  hatte  sich  zu- 
nächst auf  die  legitime  Davididendynastie  zu  stützen  gesucht. 
Nacheinander  finden  sich  zwei  Davididen,  Scheschbazar  und 
Serubbabel,  als  Nasi  der  Zurückgekehrten.  Aber  vermutlich 
weil  die  Stellung  der  Davididensippe  sich  in  den  Wirren  des 
falschen  Smerdes  als  politisch  bedenklich  erwiesen  hatte,  mußte 
davon  abgegangen  werden.  Dem  Serubbabel  war  damals  von 
dem  Propheten  Haggai  die  alsbaldige  Herstellung  der  Krone 
Davids  geweissagt  worden.  Ob  Serubbabel  einen  entsprechenden 
Versuch  gemacht  hat,  ist  ungewiß.  Er  ist  aber  seitdem  ver- 
schwunden und  seine  Sippe  kam  für  die  Perser  nicht  mehr  in 
Frage.  Ganz  allgemein  und  prinzipiell  ging  die  Politik  des 
Darius  von  dem  Bündnis  mit  den  nationalen  Priesterschaften 
aus.  Für  Aegypten  ist  dokumentarisch  die  Herstellung  der 
alten  Priesterschulen  durch  ihn  bezeugt.  Die  kirchenartige 
Organisation  der  ägyptischen  Religion  mit  ihren  Synoden  und 
ihrer  nationalen  Machtstellung  datiert  erst  von  daher.  Für 
kleinasiatische  Apollonkulte  findet  sich  Aehnliches.  Für  Alt- 
Hellas  steht  fest,  daß  die  Perser  sowohl  das  delphische  Orakel 
wie  allerhand  plebejische  Propheten  auf  ihrer  Seite  hatten,  und 
daß  der  Ausfall  der  Schlachten  von  Marathon,  Salamis  und 
Platää  es  war,  der  die  priesterfreie  hellenische  Kultur  davor 
bewahrte,  der  orphischen  Seelenwanderungslehre  oder  anderen 
Mystagogien  und  der  Beherrschung  durch  eine  Hierokratie  unter 
persischer  Protektion  ausgeliefert  zu  werden.    Ganz  entsprechend 


II.     Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  oßc 

und  mit  durchschlagendem  Erfolg  orientierte  sich  seit  ihm,  und 
noch  konsequenter  seit  Artaxerxes,  die  persische  Politik  gegen- 
über den  israelitischen  Priestern.  Die  Priester  hatten  kein 
Interesse  an  einer  Herstellung  der  Königsmacht  der  Davididen,. 
sondern  zogen  es  vor,  nötigenfalls  unter  fremdstämmigen  und 
deshalb  der  Gemeinde  fernstehenden  Statthaltern  selbst  die  für 
alle  sozialen  und  innerpolitischen  Verhältnisse  ausschlaggebende 
Macht  zu  sein.  Dem  Interesse  der  persischen  Politik  kam  dies 
entgegen.  Die  Schaffung  der  vor  dem  Exil  völlig  unbekannten 
Figur  des  »Hohenpriesters«  als  eines,  durch  gesteigerte 
Reinheitsanforderungen,  Privileg  des  Betretens  des  Allerheilig- 
sten  im  Tempel  und  ausschließliche  Qualifikation  zum  Vollzug 
bestimmter  Riten  ausgezeichneten,  Repräsentanten  der  Hiero- 
kratie  war  das  Produkt  der  gemeinsamen  Arbeit  der  priesterlich 
beeinflußten  Exilsprophetie  und  der  priesterlichen  Redaktion 
und  Interpolation  der  Ritualgebote.  Die  priesterliche  Redaktion 
der  Mischpatim  und  der  Thora  erwähnt  den  »Fürsten«  (Nasi) 
nur  im  Verbot,  ihm  zu  fluchen  und  sieht  im  übrigen  von 
ihm  vollständig  ab.  Dies  alles  entsprach  durchaus  den  An- 
forderungen der  persischen  Politik.  Die  Priester  hatten  aber 
auch  im  übrigen  der  Verständigung  mit  dem  persischen  König- 
tum, wie  sie  unter  Artaxerxes  stattfand,  sehr  konsequent  vor- 
gearbeitet. Zunächst  durch  eine  eifrige  Registrierung  der  als 
vollwertig  anzuerkennenden  Sippen  der  Priester  und  der  nunmehr 
von  ihnen  geschiedenen  nicht  priesteramtsfähigen  Leviten  und 
Kultdiener  und  ebenso  der  Gemeindegenossen.  Damals  sind 
jene  umfassenden,  zum  Teil  der  älteren  Tradition  offenkundig 
widersprechenden  Geschlechtsregister  fabriziert  worden,  welche 
einen  so  bedeutenden  Bruchteil  der  jetzigen  priesterlichen  Redak- 
tion der  Tradition  ausmachen  und  für  die  Zukunft  als  einzige 
Beglaubigung  der  rituellen  Qualifikation  gelten  sollten.  Die 
weitere  Arbeit  bestand  in  der  Festlegung  und  schriftlichen  Fixie- 
rung sowohl  der  Kultordnung  wie  der  rituellen  Gebote  für  die 
Lebensführung  und  in  einer  entsprechenden  Ueberai-beitung  der 
gesamten  bis  dahin  schriftlich  vorliegenden  geschichtl.chen 
Ueberlieferung  und  levitischen  Thora.  Sie  erhielt  damals,  im 
5.  Jahrhundert,  n  der  Hauptsache  ihre,  jetzige  Gestalt.  Nach- 
dem diese  Vorarbeiten  geleistet  waren,  gelang  es  den  Priestern 
durch  ihre  höfischen  Beziehungen  unter  Artaxerxes,  durch^iusctzen, 
I.  daß  ein  jüdischer  Eunuche  und  Günstling  des  Königs,  Nehemia, 


1^6  D^s  antike  Judentum. 

mit  der  Vollmacht  eines  Statthalters  das  Gemeinwesen  in  Jeru- 
salem neu  organisierte  und  durch  Ummauerung  der  Stadt  und 
Synoikismos  seinen  Bestand  sicherte  — ,  2.  daß  ein  Priester. 
Esra,  das  von  den  Priestern  der  Exilsgemeinde  in  Babylon  aus- 
gearbeitete »Gesetz«  kraft  königlicher  Autorität  als  für  dies 
Gemeinwesen  verbindlich  verkündete  und  die  Vertreter  der 
Gemeinde  durch  feierliche  Urkunde  darauf  verpflichtete.  Uns 
interessiert  hier  an  diesen  Vorgängen  zunächst  vornehmlich  die 
Durchführung  der  rituellen  Absonderung  der  Gemeinde. 
Sie  wurde  im  Exil  vollzogen,  nachdem  das  annähernd  voll-" 
ständige  Aufgehen  der  von  Assyrien  deportierten  Nordisraeliten 
in  der  aufnahmebereiten  Umwelt  die  Priester  .und  Thoralehrer 
darüber  belehrt  hatte,  welche  entscheidende  Bedeutung  für  ihre 
eigenen  Interessen  die  Errichtung  solcher  rituellen  Schutzwälle 
haben  mußte. 

Das  absolute  Verbot  der  Mischehen  war  der  praktisch 
wichtigste  Punkt.  Endgültig  wurde  es  von  Esra  unter  Zuhilfe- 
nahme sehr  theatralischer  Mittel  durchgesetzt  und  sofort  mit 
voller  Rücksichtslosigkeit  auch  die  Lösung  der  bestehenden 
Mischehen  erzwungen.  Wie  wenig  es  bis  dahin  bestand,  zeigt 
sich  außer  bei  den  älteren  Quellen  (Gen.  34,  38;  Jud.  3.  ;  Deut. 
21,  10)  und  in  dem  Mischblut  der  Davididen  (Ruth!)  darin,  daß 
von  den  in  Israel  Ansässigen  neben  angesehenen  Geschlechtern  und 
nicht  wenigen  Priestern  und  Leviten  die  hohepriesterliche  Familie 
an  dem  Frevel  beteiligt  \var  (Esra  10,  18  f.).  In  der  priester- 
lichen Redaktion  hat  dieser  Kampf  gegen  das  Konnubium  sich 
in  einer  ganzen  Reihe  von  Theologumena  niedergeschlagen.  So 
in  der  Verpönung  der  Vermischung  von  verschiedenerlei  Samen 
auf  dem  Acker,  von  verschiedenerlei  Gespinnst  beim  Weben 
und  von  Bastardtieren.  Daß  diese  Verbote  wenigstens  teilweise 
an  alte  Superstitionen  unbekannter  Herkunft  anknüpften,  ist 
nicht  unmöglich.  Im  allgemeinen  aber  ist  weit  wahrscheinlicher, 
daß  sie  allesamt  späte  Theologumena  formalistischer  Priestei 
aus  Anlaß  der  Perhorreszierung  der  »Vermischung«  mit  Nicht- 
juden  sind.  Denn  z.  B.  die  anstandslose  Benützung  des  Maul- 
esels steht  für  die  vorexilische  Zeit  fest.  Nächst  dem  Konnubium 
kommt  für  den  kastenartigen  Abschluß  nach  außen  die  K  o  m- 
mensalität  in  Betracht.  Wir  sahen,  daß  sie  auch  mit 
rituell  Fremden  anstandslos  geübt  wurde,  natürlich  aber,  wie 
überall,    nur  innerhalb  des  Kreises  der  entweder  durch  berith 


II.     Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  'ißy 

dauernd  Verbundenen  oder  durch  Gastrecht  zeitweüig  Ver- 
bündeten. Bei  der  gesonderten  Mahlzeit  der  Aegypter  und  der 
Hebräer  in  der  Joseph- Geschichte  wird  die  Ablehnung  der 
Kommensalität  den  Anschauungen  der  Aegypter  im  Gegensatz 
zu  den  Israeliten  zugeschoben.  Erst  der  außerordentliche  Nach- 
druck, den  die  Priestergesetzgebung  auf  die  S  p  e  i  s  e  g  e  s  e  t  z  e 
legte,  schuf  praktisch  fühlbare  Schwierigkeiten. 

Weder  im  »kultischen  Dekalog«  —  der  doch  eine  höchst 
spezialisierte,  später  folgenreich  erweiterte  Speisevorschrift  (das 
Böckchen  nicht  in  der  Milch  der  Mutter  zu  kochen)  enthält  — , 
noch  in  anderen  sicher  vorexüischen  Satzungen  sind  die  später 
hauptsächlich  charakteristischen  sonstigen  israelitischen  Speise- 
verbote enthalten  oder  erwähnt,  nämlich  außer  dem  Verbot 
zahlreicher,  zum  Teil  sehr  wichtiger  Tiere  (Lev.  ii),  i.  das 
Verbot  des  Hüftnervs,  welches  in  seiner  späteren  Speziali- 
sierung fast  jeden  Genuß  von  Fleisch  der  Hinterviertel  aus- 
schloß; 2.  das  Verbot  des  Fettes  (Lev.  3,  17;  7,  23.  25),  welches 
später,  interpretierend  auf  Vierfüßler  beschränkt,  die  Israeliten 
zum  Gänsefettverbrauch  zwang;  3.  das  Blutverbot,  welches 
zum  Aussalzen  und  Auswässern  des  Fleisches  nötigte;  4.  das 
Verbot  des  Gefallenen  und  Zerissenen,  welches  (in  Gemeinschaft 
mit  Nr.  3)  die  rituelle  Regulierung  des  Schlachtens  bedingte. 
Einige  von  ihnen  (z.  B.  Lev.  3,  17)  charakterisieren  sich  schon 
durch  die  Form  als  Novellen  der  Priestergesetzgebung.  Der 
Genuß  von  Eselfleisch  wird  2.  Kön.  6,  25  vorausgesetzt.  Das 
Verbot  des  Gefallenen  und  Zerrissenen  wird  bei  Hesekiel  (4,  14 
vgl.  mit  44,  31)  nur  für  die  Priester  als  geltend  vorausgesetzt 
und  bei  Tritojesaja  (66,  3)  nur  das  Opfern  von  S  a  u  b  1  u  t 
als  Greuel  angeführt.  Teils  als  allgemeine  Tabuierungen,  teils 
als  Opf ertabuierungen  zugunsten  des  Gottes  ^) ,  teils  als  priester- 
liche Reinheitstabuierungen  müssen  einige  ihrer  Bestandteile, 
vermutlich  das  Bedenken  gegen  Schweine-  und  Hasenfleisch 
und  das  in  der  Samueltradition  (i.  Sam.  14,  33  f.)  erwähnte 
Verbot  des  Blutgenusses,  in  alte  Zeit  zurückreichen.  Die  ätio- 
logische Sage,  ein  im  allgemeinen  sicheres  Kennzeichen  hohen 
Alters,  findet  sich  nur  für  die  Gepflogenheit,  den  Hüft  nerv  nicht 
zu  essen,  eine  metaphysische,  also  relativ  späte,  Deutung  (aus 
dem  Seelenglauben)    für    das    Blutverbot;  das  in  der   Spätzeit 

*)   Jud.    13,  4  scheint  zu  ergeben,  daß  das  Verbot,    »Unreine«    zu  essen, 
ursprünglich  für  Laien  nur  kraft  Gelübdes  verpflichtend  war. 


■j^H  ^^s  antike  Judentum. 

des  Judentums  auf  jede  Art  von  gemeinsamem  Kochen  von 
Fleisch  und  Milch  erstreckte  Verbot  des  Kochens  junger  Böcke 
in  der  Muttermilch  im  sog.  kultischen  Dekalog  scheint  einem 
örtlichen  Tabu  des  Sichemitischen  Kultes  zu  entstammen  und 
steht  ohne  Motivierung  als  positive  Satzung  da.  Die  Untersagung 
des  Genusses  gefallenen  oder  zerrissenen  Viehs  kann  mit  Opfer- 
vorschriften zusammenhängen.  Für  die  Verbote  bestimmter 
Arten  von  Tieren  findet  sich  nirgends  eine  ätiologische  Legende. 
An  ihrer  Stelle  steht  vielmehr  eine  Art  von  naturwissenschaft- 
licher Distinktion,  die  sicher  nicht  alt,  sondern  Produkt  priester- 
licher Schematisier ung  ist,  sich  in  sehr  ähnlicher,  teilweise  gleicher 
Art  bei  Manu  (V,  §  ii  ff.)  findet  und  vermutlich  den  Kreis  der 
verpönten  Fleischarten  stark  erweitert  hat.  Den  einzelnen  Ver- 
boten in  ihren  Entstehungsgründen  nachgehen  zu  wollen,  bleibt 
vermutlich  ganz  vergebliche  Mühe.  Daß  das  Schwein  in  Palästina, 
auch  herden weise,  gehalten  wurde,  steht  noch  für  die  Zeit  der 
Evangelien  fest.  Die  Borsten  galten  auch  später  nicht  als  un- 
rein, sondern  nur  der  Genuß  des  Fleisches.  Erst  die  talmudische 
Zeit  sah  den  Kleinviehzüchter,  aber  jeden,  auch  den  Ziegen- 
züchter: einst  den  Träger  des  frommen  Jahwismus,  als  unrein 
an,  aber  nicht  wegen  des  Schweinefleischgenusses,  sondern  wegen 
seiner  levitisch  unreinen  Lebensführung.  Das  wahrscheinlichste 
wäre  an  sich,  daß  ebenso  wie  bei  dem  kirchlichen  Verbot  des 
Pferdefleisches  in  Germanien  auch  hier  Verpönung  der  Opfer- 
mahlzeiten fremder  Kulte  zugrunde  lag.  Das  ziemlich  weit 
—  auch  in  Indien  und  Aegypten  verbreitete  —  Verbot  kann 
aber  auch  von  auswärts  übernommen  sein. 

Einschneidender  als  diese  Ablehnung  einer  Reihe  von  immer- 
hin sonst  recht  stark  beliebten  Fleischgerichten  mußten  das  Verbot 
des  Blutgenusses  und  die  zunehmende  Aengstlichkeit  der  Meldung 
allen  nicht  wirklich  durch  Schlachtung  ums  Leben  gekommenen 
Viehs  auf  die  Möglichkeit  der  Kommensabilität  wirken,  sobald 
daraus  die  Notwendigkeit  einer  rituell  kontrollierten'  und  ge- 
regelten besonderen  Methode  des  Schlachtens  (schachat)  aller 
Tiere  abgeleitet  wurde,  wie  es  in  der  nachexilischen  Zeit  geschah. 
Alles  nicht  korrekt  geschlachtete  Vieh  galt  nun  als  »Aas«  (nebelah), 
auch  dann,  wenn  die  Inkorrektheit  etwa  auf  einer  Scharte  im 
Messer  (weil  dann  »gerissen«  worden  war)  oder  auf  anderen 
Versehen  des  Schächters  beruhte,  dessen  Kunst  erst  in  langer 
Uebung   zu   lernen   war.     In   der   Notwendigkeit,-  einen   rituell 


I 


II.    Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  ^50 

korrekten  »Schacht er«  in  der  Nähe  zu  haben,  beruhte  die 
Schwierigkeit  für  korrekte  Juden,  isoHert  oder  in  kleinen  Ge- 
meinden zu  wohnen,  welche  in  den  Vereinigten  Staaten  noch 
bis  in  die  Gegenwart  die  Zusammendrängung  der  rituell  ortho- 
doxen Juden  in  den  großen  Städten  beförderte  (während  die 
Reform  Juden  in  der  Lage  waren,  dem  sehr  einträglichen  Geschäft 
der  isolierten  Bewucherung  der  Neger  auf  dem  Lande  nach- 
zugehen). Die  kasuistische  Ausgestaltung  dieses  Speise-  und 
Schlachtungsrituals  gehört  erst  der  antiken  Spätzeit  an,  geht 
aber  allerdings  in  allen  Grundlagen  auf  die  exilische  Priester- 
lehre zurück.  —  Die  Kommensalität  wurde  durch  diese  Rituali- 
sierung "der  Speisegewohnheiten  sehr  erschwert.  Ein  wirkliches 
Kommensalitätsverbot  hat  das  offizielle  Judentum  niemals  ge- 
kannt. Die  Mahnung  des  (apokryphen)  Jubiläenbuches  (22,  16), 
sich  von  den  Heiden  zu  trennen  und  nicht  mit  ihnen 
zu  essen,  ist  ebensow^enig  rezipiert  worden  wie  jemals  eine 
allgemeine  Unreinheit  der  Häuser  der  Heiden  oder  ihrer  persön- 
lichen Berührung  statuiert  worden  ist.  Nur  für  den  Juden,  der 
eine  Kulthandlung  vornehmen  wollte,  galt  in  späterer  Zeit  das 
Gebot  strengster  Absonderung  von  allem  Heidnischen  (Joh.  18, 
28).  Immerhin  bestätigen  die  Berichte  der  hellenischen  und 
römischen  Schriftsteller,  daß  korrekte  Juden  gegen  jede  Kommen- 
salität mit  Nicht  Juden  naturgemäß  erhebliche  Bedenken  trugen; 
der  Vorwurf  des  »odium  generis  humani«  geht  zweifellos  in  erster 
Linie  darauf  zurück  ^) . 

Als  eines  der  wichtigsten  rituellen  »Unterscheidungsgebote« 
trat  in  der  Exilszeit  die  strikte  Sabbat  heiligung  in  den 
Vordergrund,  einmal  weil  sie,  im  Gegensatz  zur  bloßen  Tatsache 
des  Beschnittenseins,  ein  sicheres  und  jedermann  sichtbares 
Merkmal  dafür  abgab,  daß  der  Betreffende  tatsächlich  seine 
Zugehörigkeit  zur  Gemeinde  ernst  nehme,  dann  weil  die  kul- 
tischen Feste  an  die  Kultstätte  Jerusalem  gebunden  waren  und 
der  Sabbat  die  einzige  von  allem  kultischen  Apparat  unabhängige 
Feier  darstellte.  Die  Sabbatruhe  erschwerte  die  Zusammen- 
arbeit in  der  Werkstatt  mit  Ungenossen  natürlich  sehr  erheblich 

^)  Korrekte  Juden  trugen  infolge  der  Speisegesetze  zwar  im  allgemeinen 
kein  Bedenken,  NichtJuden  bei  sich  Gastfreundschaft  zu  gewähren,  lehnten 
aber  die  Gastfreundschaft  der  Heiden  und  Christen  ihrerseits  ab.  Hiergegen 
eifern  die  fränkischen  Synoden  als  gegen  eine  Erniedrigung  der  Christen  und 
schärfen  ihrerseits  den  Christen  Ablehnung  der  jüdischen  Gastfreundschaft  ein. 
Max  Weber,  Religionssoziologie  TIT.  24 


^ -Q  ^^^  antike  Judenlum. 

und  trug  dadurch  und  durch  seine  große  Auffälhgkeit  tatsächhch 
in  sehr  starkem  Maße  zur  Absonderung  bei.  In  Gestalt  des 
majestätischen  Schöpfungsberichts  der  priesterHchen  Redaktion 
erhielt  der  Sabbat  vermöge  des  göttlichen  Sechstageweikes 
nun  auch  seinen  höchst  eindrucksvollen  ätiologischen  Mythos. 
Die  Ritualisierung  des  Sabbats  äußerte  sich  in  umfassenden 
Einschüben  in  den  Text  des  Dekalogs.  Das  aus  dem  Jahwisten 
stammende  Gebot  der  Unterbrechung  der  Feldarbeit  (Ex.  34, 
21)  und  die  elohistische  allgemeine  Vorschrift  der  Arbeitsruhe 
(Ex.  23,  12)  wurde  nun  erst  zur  Untersagung  jeglicher  Beschäf- 
tigung,  zum  Verbot  des  Verlassens  der  Wohnung  (Ex.  16,  29), 

—  später  durch  die  Begrenzung  des  »Sabbatwegs«  mit  mancherlei 
Möglichkeiten  der  Umgehung  gemildert  — ,  des  Feueranzündens 
(Ex.   35,  3),  so  daß  schon  am  Freitag  gekocht  werden  mußte 

—  für  die  Lampe  durch  Umgehungsmöglichkeiten  gemildert  — , 
des  Lastentragens  und  Begrabens  von  Lasttieren,  des  Gehens 
zu  Markt,  des  Abschlusses  irgendwelcher  Geschäfte,  des  Kämp- 
fens  und  der  lauten  Rede  (Jer.  17,  19;  Tritojes.  58,  13;  Neh.  10, 
32;  13,  15  ff.).  Die  Ableistung  von  Kriegsdienst  w-urde  in  seleu- 
kidischer  Zeit  wesentlich  wegen  des  Sabbats  und  der  Speise- 
verbote für  unmöglich  erklärt:  die  endgültige  Entmilitarisierung 
der  frommen  Juden,  außer  für  Fälle  des  Glaubenskriegs,  wo 
nach  makkabäischer  Ansicht  der  Zweck  die  Mittel  heiligte,  war 
dadurch  besiegelt. 

Ansätze  zur  Schaffung  einer  besonderen  Tracht,  wie 
sie  in  ähnlicher  Art  später  die  »tefillin«  für  die  exemplarisch 
Frommen  darstellten,  finden  sich,  sind  aber,  w^enigstens  zunächst, 
offenbar  nicht  w^eiter  entwickelt  worden. 

Die  im  Spätjudentum  ebenso  wie  im  frühen  Christentum 
praktisch  wichtigen  Bedenken  gegen  jede  Beteiligung  an  Ar- 
beiten, welche  auch  nur  indirekt  heidnischem  Opferkult  zugute 
kamen,  und  gegen  jeden  sozialen  Verkehr,  welcher  die  Gefahr 
einer  indirekten  Beteiligung  an  solchen  Kulthandlungen  be- 
deuten konnte,  sind  erst  von  den  Rabbinen  entwickelt  worden. 
Aber  die  Grundlagen  lieferten  Prophetie  und  Thora.  Und  hier, 
in  der  Ablehnung  der  Gemeinschaft  bei  irgend  einem  Opfer- 
mahl,  lag  das  für  die  politische  Parialage  der  Juden  Entschei- 
dende, in  der  Antike  Einzigartige.  An  diesen  Absonderungsten- 
denzen ist  das  Charakteristische,  daß  ihr  Träger  die  babylonische 
Exils  gemeinde  und  die  von  ihr  aus  maßgebend  beeinflußten 


I 


II.     Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes 


0/ 


Organisatoren  der  Gemeinschaft  der  Zurückgekehrten  in  Palästina 
war.  Im  Gegensatz  zu  der  — ^  nach  den  vorwiegenden  Namen  zu 
schUeßen  —  offenbar  stark  nordisraehtischen,  daher  die  nord- 
israeUtische  synkretistische  Tradition  fortsetzenden  ägyptischen 
Exulantengemeinde  war  die  babylonische  Gemeinde  judäischen 
und  —  wie  auch  die  zahlreichen  Namensneuschöpfungen  der 
Exilszeit  in  Babylon  zeigen,  die  alle  auf  »jah«,  nicht  auf  »el«, 
gebildet  sind  —  streng  jahwistischen  Ursprungs.  Vor  allem 
aber  hatte  sie  die  Kontinuität  der  prophetischen  Tradition 
in  ihrer  Mitte,  im  Gegensatz  zu  Aegypten,  wohin  die  jüdischen 
Gegner  der  Prophetie  sich  gewendet  und  Jeremia  gewaltsam 
verschleppt  hatten,  und  dessen  politisches  Bündnis  von  der  Pro- 
phetie stets  besonders  scharf  abgelehnt  worden  war.  Wenn  man 
die  im  ganzen  meist  viel  günstigere  Lage  der  babylonischen 
gegenüber  den  ägyptischen  Exulanten,  vor  allem  die  weit  geringere 
Ablehnung  durch  die  Umgebung,  erwägt  und  demgegenüber  die 
Tatsache,  daß  dennoch  die  babylonischen  und  nicht  die  ägyp- 
tischen Juden  die  Führung  bei  der  Schaffung  der  entscheidenden 
rituellen  Schranken  nach  außen  und  der  Gemeindeorganisation 
nach  innen  hatten,  ebenso  wie  sie  später  die  Träger  der  Talmud- 
bildung waren,  so  kann  man  daran  die  ganz  überragende  Bedeu- 
tung der  Prophetie  und  der  von  ihr  getragenen  Hoffnungen  für 
die  Bildung  und  Erhaltung  des  Judentums  ermessen.  Priester 
gab  es  natürlich  auch  in  den  ägyptischen  Gemeinden.  Aber  die 
prophetisch  beeinflußte  Priesterschaft  in  Babylon,  welche  die 
deuteronomische  Tradition  lebendig  in  ihrer  Mitte  pflegte,  war 
allein  der  Kern  der  Fortbildung.  In  Palästina  stützte  die  b  ü  r- 
g  e  r  1  i  c  h  e  Bevölkerung  im  Gegensatz  sowohl  zu  den  reichen 
landsässigen  Sippen  wie  zu  den  reichen  Priestern  die  puritanische 
Tradition.  Die  folgenreichen  sozialen  Gegensätze  der  nach- 
exilischen  Zeit  zeigten  sich  gleich  im  Ar  fang.  Gegner  der  Zurück- 
gekehrten waren  von  Anfang  an  die  Samaritaner.  Die 
nach  der  Tradition  (2.  Kön.  17,  24)  aus  mesopotamischen  und 
aramäischen  Städten  eingesiedelte,  mit  den  einheimischen  Israe- 
liten verschmolzene  Bevölkerung  verehrte  unter  Leitung 
nordisraelitischer  Priester  Jahwe,  aber  vielfach  in  Gemeinschaft 
mit  anderen  Gottheiten.  Ihre  einflußreichsten  Schichten  waren 
einerseits  die  an  den  Hof  halt  des  Statthalters,  der  stets  in  Samaria 
geblieben  ist,  sich  anschließenden  Beamten  und  anderen  In- 
teressenten, andererseits  die  reichen  Sippen  des  platten  Landes 


'i^l 2  L)^^  antike  Judentum. 

und  der  Landstädte,  welche  an  den  Landkulten  interessiert  waren. 
Als,  wie  es  scheint  erst  unter  Darius,  der  Tempelbau  in  Jeru- 
salem begann,  erboten  sie  sich  zur  Mitarbeit,  wurden  aber  von 
Serubbabel,  wie  Rothstein  ^)  wahrscheinlich  gemacht  hat,  in- 
folge eines  Orakels  des  Haggai  (2,  10  f.)  abgewiesen  (Esra  4,  3) 
und  setzten  daraufhin  die  Sistierung  des  Tempelbaus  durch. 
Ihre  Feindseligkeit  gegen  die  Jerusalemiten  bestand  weiter  und 
insbesondere  hinderten  sie  jeden  Versuch,  die  Stadt  zu  befestigen. 
Die  Widersacher,  vor  welchen  die  Jerusalemiten  beständig  in 
Angst  lebten  (Esra  3,  3),  wurden  »amme  haarezoth«  genannt. 
Die  Verhältnisse  unter  Nehemia  zeigen  aber,  daß  von  den  be- 
sitzenden Schichten  der  Stadt  Jerusalem  und  des  umliegenden 
Landgebietes  selbst,  sowohl  Laien  wie  Priestern  und  Beamten, 
ein  erheblicher  Teil,  vor  allem  die  hohepriesterliche  Familie  selbst, 
mit  den  Gegnern  des  babylonischen  Puritanismus  verschwägert 
und  teils  im  Einverständnis  teils  in  ihrer  Stellung  schwankend 
war  (Neh.  5,  i;  6,  17  f.)-  So  ist  es  auch  geblieben.  Noch  in 
hellenistischer  Zeit  (wie  es  nach  Josephus  scheint)  ist  ein  Bruder 
des  Hohenpriesters  mit  einem  Samaritaner  Statthalter  verschwä- 
gert und  dorthin  übersiedelt  2).  Nur  die  königlichen  Vollmach- 
ten, welche  Esra  und  Nehemia  besaßen,  veranlaßten  offenbar 
die  Vornehmen,  sich  überhaupt  zu  fügen.  Am  Bau  der  Mauer 
beteiligen  sich  zwar  die  plebejischen  Thekoiten,  aber  die  Großen 
(adirim)  der  Stadt  Thekoa  nicht  (Neh.  3,  5).  Auch  die  besitzenden 
Schichten  der  Jerusalemiten  wuchern  den  Kleinbesitz  genau  so 
aus  wie  vor  dem  Exil,  so  daß  ein  scharfer  Konflikt  entsteht 
(Neh.  5,  7).  Nehemia  seinerseits  stützt  sich  neben  einer  Eskorte 
auf  seine  offenbar  sehr  großen  persönlichen  Geldmittel  und 
wohl  auch  diejenigen  der  babylonischen  Exulanten,  im  übrigen 
aber  auf  die  Massen.  Um  die  Wohlhabenden  Jerusalems  zum 
Schulderlaß  zu  zwingen,  beruft  er  (Neh.  5,  7)  eine  »große  Ge- 
meinde« (kahal  hagedolah).  Ebenso  beruft  Esra  (10,  8)  zur 
Erzwingung  der  Lösung  der  Mischehen  die  »Exulantengemeinde« 
(kahal  hagolah)  und  zwar  unter  Androhung  geistlicher  Strafen: 
der  Ausstoßung  aus  der  Gemeinde  der  golah  und  des    cherem 


>•)  Juden  und  Samaritaner  (Beitr.  z.  W.  v.  A.  T.  3,  Leipzig  1908).  Zu 
Jeremias  Zeit  (41,  5)  kamen  Leute  aus  Sichern  und  Samaria  zur  Teilnahme  am 
Tempelopfer. 

*)  Der  Vorgang  hat  sich  jedoch  vielleicht  schon  in  nehemianischer  Zeit 
abgespielt. 


II.    Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes,  -2  72 

gegen  den  Besitz  des  Nichterscheinenden.  Ob  der  cherem  in 
diesem  Fall  nur  Tabuierung,  also  Boykott,  oder  effektive  Zer- 
störung bedeutete,  muß  dahingestellt  bleiben:  die  Fehde  blühte 
im  Lande,  wie  die  Darstellung  Nehemias  zeigt.  In  den  Esra- 
Annalen  (6,  21)  findet  sich  die  Bezeichnung  »Nibdalim«  (»die  sich 
Absondernden«)  für  die  Gemeinde  der  rituell  korrekten  Exulanten 
und  derjenigen,  die  sich  ihnen  anschlössen.  Diese  Gemeindc- 
bildung  selbst  aber  war  zweifellos  erst  das  Werk  des  Nehemia. 
Formell  lief  die  Leistung  des  Nehemia  hinaus  auf  zweierlei: 

1.  Synoikismos  der  Geschlechter  und  eines  ausgelosten  Teiles 
des  Landvolkes  in  der  nun  befestigten  vStadt  Jerusalem.    Ferner 

2.  Bildung  einer  Gemeinde,  welche  bestimmte  Minimalverpflich- 
tungen durch  eine  von  Nehemia,  den  Vertretern  der  Priester, 
Leviten  und  den  »Häuptern«  (raschim)  des  Volks  (ha  ^am)  unter- 
schriebene und  untersiegelte  Schwurverbrüderung  auf  sich  nahm. 
Nämlich  (Neh.  10) :  i.  Aufhebung  des  Konnubium  mit  den  amme 
haarezoth,  2.  Boykott  allen  Markt  Verkehrs  am  Sabbath,  3.  Erlaß 
jedes  siebenten  Jahreseinkommens  und  aller  Schuldforderungen 
in  dem  betreffenden  Jahr,  4.  Kopfsteuer  von  Y^  Schekel  jährlich 
für   Tempelbedarf,    5.    Holzlieferungen   für   den   Tempelbedarf, 

6.  Erstlinge  bzw.  Erstlings-Ablösung  gemäß  dem  Priestergesetz, 

7.  Naturalienlieferungen  an  die  Tempelpriester  und  Levitenzehnt, 

8.  Unterhaltung  des  Tempels  selbst.  Der  Bericht  des  Chronisten 
läßt  diese  Verbrüderung  an  die  Oktroyierung  des  mosaischen 
Gesetzes,  d.  h.  der  exilspriesterlichen  Redaktion  der  Kult-  und 
Ritualvorschriften  sich  anschließen.  Aber  trotz  der  gerade  in 
diesem  Gesetz  vorgesehenen  bedeutenden  kultischen  Stellung 
des  Hohenpriesters  ist  dieser  auch  an  diesem  Akt  gänzlich  un- 
beteiligt, wie  seine  Unterschrift  auch  nicht  unter  den  Garanten 
der  Gemeindebildung  des  Nehemia  erscheint.  Die  eigentümliche 
Zwitterstellung  der  Neugründung  tritt  in  alledem  zutage  und 
b3stand  fast  im  ganzen  Verlauf  der  weiteren  jüdischen  Geschichte 
fort.  Einerseits  handelte  es  sich  um  eine  formal  freiwillige  reli- 
giöse Gemeindebildung.  Andererseits  beanspruchte  diese  Gemein- 
schaft der  exemplarisch  Korrekten  letztlich  allein  die  Erbin 
der  sakralen  und  deshalb  auch  der  politischen  Stellung  Israels 
zu  sein.  Indes  die  wirklichen  politischen  Vollmachten  ruhten 
stets  in  den  Händen  entweder  des  persischen  Satrapen  und 
später  des  hellenistischen  Statthalters  und  ihrer  Beamten,  oder 
eines   Spezialbevollmächtigten  des  Königs,  wie  Nehemia  es  der 


27  4  l^as  antike  Judenium. 

Sache  nach  war.  Ebenso  beruhte  auch  die  Stellung  des  Esra 
formell  allein  auf  der  vom  persischen  König  ihm  verliehenen 
Autorität.  Ob  der  vom  Chronisten  wiedergegebene  schriftliche 
Auftrag  des  Königs,  das  Gesetz  des  »Gottes  des  Himmels«  durch- 
zuführen (Esra  7,  23)  und  dazu  nötigenfalls  Gewalt  anzuwenden 
(das.  26),  wirklich  authentisch  ist,  mag  dahingestellt  bleiben; 
aber  seine  Stellung  gegenüber  dem  Hohepriester  ist  ohne  eine 
weitgehende  königliche  Vollmacht  nicht  denkbar.  Irgendwelche 
weltliche  Gewalt,  insbesondere  Gerichtsgewalt,  ist  den  Funk- 
tionären der  neuen  Gemeinde  vom  König  offenbar  nicht  ver- 
liehen worden.  Der  in  Samaria  residierende  Statthalter  scheint 
die  Gerichtsbarkeit,  jüdische  lokale  Bezirksbeamte  die  örtliche 
Verwaltung  gehabt  zu  haben,  als  Nehemia  in  Jerusalem  eintraf. 
Darin  und  in  den  Abgabepflichten  an  den  König  ist  offenbar 
keine  dauernde  Aenderung  eingetreten.  Nur  die  Priester,  Leviten 
und  Tempeldiener  befreit  der  (angebliche)  Brief  des  Königs 
von  der  Besteuerung.  Aber  von  einem  eigenen  Regierungsrecht 
der  Gemeinde  hören  wir  nichts.  Ebenso  sind  die  Priester-  und 
Levitenzehnten  wirklich  zwangsweise  wohl  nur  in  jenen  Zwischen- 
epochen erhoben  worden,  in  welchen  ein  rituell  korrekter  jüdi- 
scher Fürst  regierte  und  soweit  seine  Macht  reichte.  Religiöse 
Zwangsmittel:  der  Bann  im  Nehemiabund,  später  die  rituelle 
Deklassierung  der  nicht  Verzehnt enden  als  'Am  haarez  mußten 
den  Eingang  garantieren.  Die  Unklarheit  dieser  Lage,  die  Quelle 
stets  neuer  Konflikte,  spricht  sich  in  den  Dokumenten  deutlich 
aus.  Die  Judenschaft  war  ein  rein  religiöser  Gemeindeverband: 
auch  die  Abgaben,  die  sie  sich  auferlegte,  scheinen  formell  frei- 
willig übernommen  zu  sein.  Der  Brief  der  oberägyptischen 
Juden  aus  dem  Jahre  408/7  mit  der  Bitte  um  Verwendung 
für  den  Wiederaufbau  ihres  Jahwetempels  ist  sowohl  an  den 
Statthalter  in  Samarien  wie  an  den  Statthalter  in  Jerusalem 
gerichtet,  nachdem  sie  vorher  dieserhalb  bereits  —  ohne  Ant- 
wort zu  erhalten  —  »an  den  Hohenpriester  und  die  Priester  in 
Jerusalem,  seine  Kollegen«  geschrieben  hatten.  Offenbar  war 
ihnen  nicht  ganz  klar,  wer  eigentlich  die  zuständige  Instanz 
sei.  Daß  sie  von  den  Jerusalemiter  Priestern  keine  Antwort 
erhielten,  ist  übrigens  nicht  erstaunlich. 

Denn  die  jüdische  Gemeindebildung  bedeutete  die  rituelle 
Trennung  von  den  Samaritanern  und  allen  nicht  formell  in  die 
Gemeinde  aufgenommenen  israelitischen  oder  halbisraelitischen 


I[.     Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  ^j^ 

Landesbewohnern.  Vor  allem  von  den  Samaritanern,  obwohl 
diese  die  gesamte  Thora  in  der  Redaktion  der  Exilspriester  an- 
nahmen und  aaronidische  Priester  hatten.  Das  Kultmonopol 
Jerusalems  war  hier  der  entscheidende  Differenzpunkt.  Auf  dieses 
Kultmonopol  hin  hatten  die  babylonischen  Exulanten  charak- 
teristischerweise entscheidendes  Gewicht  gelegt.  Nur  von  ihrer 
Seite  geschah  dies.  Die  ägyptische  Exulantengemeinde  hat, 
wie  die  Urkunden  aus  Elephantine  zeigen,  sich  einen  eigenen 
Tempel  geschaffen  und  noch  der  in  den  Wirren  der  makkabäischen 
Parteikämpfe  nach  Aegypten  entwichene  Hohepriester  Onias 
hat  keine  Bedenken  getragen,  dort  einen  Tempel  zu  bauen.  Der 
ein  ganzes  Jahrtausend  währende  überragende  Einfluß  der  baby- 
lonischen Exulanten  tritt  in  nichts  deutlicher  hervor,  als  darin, 
daß  schließlich  doch  sie  ihr  von  Anfang  an  festgehaltenes  Prinzip 
durchsetzten.  Daß  die  leitenden  Priestergeschlechter  und  die 
vornehmen  prophetisch  beeinflußten  Kreise,  welche  das  Deuter o- 
nomium  geschaffen  hatten,  dorthin  exportiert  waren  und  die 
Kontinuität  der  Tradition  verbürgten,  war  dafür  wichtiger  als 
die  überragende  ökonomische  Stellung  der  babylonischen  Exu- 
lanten, welcher  diejenige  der  alexandrinischen  Gemeinde  später 
mindestens  ebenbürtig  war.  Dazu  aber  traten  die  ethnischen, 
insbesondere  die  sprachlichen  Verhältnisse:  die  babylonischen 
Juden  blieben  auf  dem  Boden  der  aramäischen  Umgangssprache 
in  voller  Gemeinschaft  mit  dem  Mutterlande,  die  Juden  in  den 
hellenistischen  Gebieten  nicht  —  was  noch  in  dem  Schicksal 
der  christlichen  Mission  bei  den  beiderseitigen  Proselyten  charak- 
teristisch nachwirkte.  Soteriologisch  wurde  die  Etablierung  des 
Opfermonopols  Jerusalems  in  Verbindung  mit  der  Diaspora- 
existenz der  Juden  insofern  eminent  wichtig,  als  jetzt  das  Opfer 
•erstmalig  exklusiv  den  Charakter  des  Gemeinde  Opfers  an- 
nahm. Dem  täglichen  Opferdienst  in  Jerusalem  stand  gegen- 
über :  daß  der  Einzelne  nunmehr  überhaupt  a  u  f  h  ö  r  t  e 
zu  opfern,  chakat  und  ascham  mindestens  für  den  Diaspora- 
juden nur  in  der  Theorie  fortbestanden:  der  Einzelne  zahlte 
eine  feste  Abgabe  nach  Jerusalem,  statt  selbst  zu  opfern.  Prak- 
tisch aber  bot  der  Sieg  dieser  babylonischen  Auffassung  für  die 
internationale  Verbreitung  des  Judentums  die  größten  Vorteile. 
Daß  der  Kult  in  Jerusalem  ordnungsmäßig  stattfand,  war, 
als  von  Jahwe  geboten,  für  die  Diasporajuden  wesentlich.  Aber 
als  Gastvolk  in  fremdem  Lande  gewannen  sie  natürlich  ungemein 


-tyß  Das  antike  Judentum. 

an  Bewegungsfreiheit,  wenn  sie  nicht  mit  der  Pflicht  eigener 
Tempelbauten  im  fremden  Land  belastet  waren. 

Dem  Prinzip  gemäß  lehnte  die  Gola  jeden  andern  Tempel 
als  illegal  ab.  Fortan  verschärfte  sich  der  Gegensatz  gegen  die 
Samaritaner  immer  weiter.  Wir  finden  schon  in  der  Zeit  der 
Ptolemäer  Juden  und  Samaritaner  in  Aegypten  in  bitterer 
Konkurrenz  miteinander.  Das  Schicksal  der  Samaritaner  soll 
uns  hier  weiter  nicht  bekümmern.  Sie  haben  religionsgeschicht- 
lich das  immerhin  wichtige  negative  Interesse:  daß  man  an 
ihrem  Schicksal  im  Vergleich  zu  dem  der  Juden  studieren  kann : 
was  der  nur  an  der  Thora  orientierten  Religion  der  israelitischen 
Priester  fehlte,  um  »Weltreligion«  zu  werden.  Die  bne  JisraeL 
wie  sie  sich  nannten,  blieben  rein  ritualistisch.  Es  fehlte  ihnen 
I.  die  Anknüpfung  an  das  judäische  Prophetentum,  welches 
sie  ablehnten:  ihre  Messiashoffnung  blieb  daher  eine  Hoffnung 
auf  einen  inner  weit  liehen  Fürsten,  den  ta'eb  (»Wiederkehren- 
den«), ohne  das  ungeheure  Pathos  der  prophetischen  Theodizec 
und  Sozialrevolutionären  Zukunftshoffnung.  Es  fehlte  ihnen  2. 
trotz  der  Existenz  von  Synagogen  die  Fortbildung  des  Gesetzes 
durch  jene  plebejische  Schicht  volkstümlicher  Autoritäten,  welche 
•die  Rabbinen  repräsentierten  und  ihr  Produkt:  die  Mischna. 
Deren  Bedeutung  werden  wir  später  kennen  lernen.  Das  Pharisäer- 
tum, aus  dessen  Geist  der  Talmud  geboren  ist,  haben  sie  nicht 
entwickelt,  die  Auferstehungshoffnung  lehnten  sie  ab,  auch  darin 
der  sadduzäischen  Partei  in  Jerusalem  verwandt,  mit  der  sie 
auch  die  freundlichere  Beziehung  zum  Hellenismus  teilten.  Es 
fehlte  also,  kann  man  sagen,  die  konfessionelle  Ent- 
wicklung, die  an  dem  Inhalt  der  prophetischen  und  rabbinischen 
Soteriologie  und  an  dem  eigentümlichen  pharisäischen  Rationa- 
lismus verankert  war.  Sie  haben  noch  im  Mittelalter  revivals 
erlebt  (14.  Jahrhundert)  und  noch  im  17.  Jahrhundert  im  Orient 
verbreitete  Kolonien  (bis  nach  Indien)  gehabt,  aber  eine  na- 
tionale religiöse  Ethik,  die  den  Okzident  hätte  gewinnen  können, 
nicht  entwickelt.  Nur  als  jetzt  sehr  kleine  Sekte  (und  notorisch 
als  die  ärgsten  Gauner  des  Orients,  deren  Fälschungen  auch 
ernste  Gelehrte  zum  Opfer  gefallen  sind),  existieren  sie  bis  heute. 

Als  Resultat  der  Entwicklung  ist  festzustellen:  daß  die 
»Juden«,  wie  die  Gemeinschaft  von  nun  an  auch  offiziell  heißt, 
eine  rituell  abgesonderte  konfessionelle  Gemeinde  geworden  waren, 
die  sich  durch  Geburt  und  durch  Aufnahme  von   Proselyten 


fr- 


II.    Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  ^jy 

rekrutierte.  Denn  parallel  der  rituellen  Absonderung  geht  die 
Begünstigung  des  Eintritts  von  Proselyten.  Der  eigentliche 
Prophet  des  Proselytismus  ist  Tritojesaja  (Jes.  56,  3.  6).  Während 
der  Priesterkodex  nur  von  der  Gleichstellung  des  »ger«  mit  den 
alt  hurtigen  Israeliten  spricht,  den  »Fremden«  (nechar)  aber 
ausdrücklich  vom  Passah  ausschließt  (Ex.  12,  43),  ruft  Trito- 
jesaja den  Fremden  (nechar),  der,  vor  allen  Dingen,  den  Sabbat 
und  überdies  die  anderen  Gebote  Jahwes  hält,  zur  Teilnahme 
Lim  »Bunde«  und  damit  am  Heil  Israels.  Proselyten  sind  anschei- 
nend schon  in  der  ersten  Exilszeit  gemacht  worden.  Das  mußte 
sich  in  der  Perserzeit,  als  die  Juden  zu  Hofämtern  aufstiegen, 
noch  steigern.  Die  Geschichte  von  Elisa  und  Naeman  scheint 
als  Paradigma  für  eine  vermutlich  damals  zugelassene  (später 
als  Rückschlag  gegen  den  römischen  und  hellenistischen  Herr- 
scherkult streng  verpönte)  sehr  laxe  Praxis  in  bezug  auf  die 
Haltung  gegenüber  den  fremden  Reichsgöttern  seitens  der  jüdi- 
schen Höflinge  in  die  Redaktion  der  Königsgeschichten  auf- 
genommen zu  sein.  Vielleicht  gerade  auf  Nehemia  persönlich 
ist  die  Zulassung  der  früher  ausgeschlossenen  Eunuchen  bei 
Tritojesaja  zugeschnitten.  Die  nachexilische  Zeit  hat  dann  den 
allgemeinen  Grundsatz  in  die  Thora  gebracht,  daß  Fremdsippen 
durch  Uebernahme  der  Pflichten  des  Gesetzes  nach  drei  Gene- 
rationen den  Alt  Juden  völlig  gleichgestellt  sind  und  nur  das 
Konnubium  mit  Priestern  nicht  haben.  Man  wendete,  wie  später 
zu  erörtern  sein  wird,. die  alten  Grundsätze  von  der  Behandlung 
der  gerim  auf  diejenigen  Fremden  an,  die  ohne  Uebernahme  der 
vollen  Gesetzespflichten  sich  als  Freunde  zur  Gemeinde  hielten. 
Innerhalb  der  Juden  selbst  kennt  der  Chronist  nur  die  Stände  der 
Kohanim  (Priester),  das  heißt:  der  x\aroniden-x\bkömmlinge, 
der  Leviten  und  der  später  verschwundenen,  kastenartig  de- 
klassierten, Nethinim  (Tempeldiener  nebst  den  sonstigen  Kate- 
gorien des  niederen  Tempeldiensts).  Die  bevorrechtigten  Stände 
standen  aber  mit  allen  andern  Altjuden  in  vollem  Konnubium 
und  voller  Kommensalität ;  sie  waren  ursprünglich  nur  durch 
verhältnismäßig  einfache  spezifische  Reinheitspflichten  belastet, 
die  beim  Hohenpriester  noch  weiter  gesteigert  waren.  Wie  sich 
nun  einerseits  sozial  die  vornehmen  Priestergeschlechter  von  den 
gewöhnlichen  Aaroniden  differenzierten  und  wie  andererseits 
rituell  der  Begriff  des  'Am  haarez,  nach  dem  Exil  zunächst  iden- 
tisch mit  der  außerhalb  des  kahal  hagolah,  der  durch  Verpflich- 


^^yg  Das  antike  Judentum. 

tung  auf  das  Ritual  gebildeten  Gemeinde,  stehenden  Lande- - 
bewohner,  vor  allem  den  Samaritanern,  sich  weiterhin  wandelte, 
ist  später  zu  besprechen.  Jedenfalls  waren  die  Juden  durch  die 
von  der  babylonischen  Exulantengemeinde  herbeigeführte  Ok- 
troyierung des  Ritualgesetzes  und  die  Bildung  der  Golah-Ge- 
meinde  ein  Paria  volk  mit  einem  Kultmittelpunkt  und  einer 
Zentralgemeinde  in  Jerusalem  und  mit  internationalen  Filialge- 
meinden geworden. 

Ihre  folgenreichste  soziale  Besonderheit  bestand  von  Anfang 
an  darin:  daß  eine  wirklich  ganz  korrekte  Innehaltung  des 
Rituals  für  die  Bauern  ganz  außerordentlich  erschwert  war. 
Nicht  nur  weil  der  Sabbat,  das  Sabbatjahr,  die  Speisevorschriften 
an  sich  für  ländliche  Verhältnisse  schwer  einzuhalten  waren. 
Sondern  vor  allem:  weil  mit  zunehmender  kasuistischer  Ent- 
wicklung der  für  das  Verhalten  maßgeblichen  Gebote  eben  die 
Lehre  im  Ritual  zum  Erfordernis  korrekten  Lebens  werden 
mußte.  Die  Priest erthora  aber  reichte  naturgemäß  in  die  Land- 
orte nur  wenig  hinein.  Die  Innehält ung  der  später,  wie  wir 
sehen  werden,  von  den  exemplarisch  Frommen  immer  weiter 
propagierten  eigentlichen  levitischen  Reinheitsgebote  vollends 
war  für  die  Bauern,  im  Gegensatz  zur  Stadtbevölkerung,  über- 
haupt so  gut  wie  ausgeschlossen.  Dieser  Erschwerung  stand 
für  die  Bauern  kein  Gewinn  an  Anziehungskraft  gegenüber. 
Der  Festkalender  der  Exilspriester,  den  Esra  oktroyierte,  hatte 
alle  alten  Feste  ihrer  früheren  Beziehung  zu  dem  Ablauf  dei 
ländlichen  Arbeit  und  Ernte  beraubt.  Vollends  die  unter  Fremd- 
völkern lebenden  Juden  konnten  nicht  leicht  in  ländlichen 
Orten  ein  rituell  irgendwie  korrektes  Dasein  führen.  Der  Schwer- 
punkt des  Judentums  mußte  sich  zunehmend  in  der  Richtung 
verschieben,  daß  sie  ein  stadtsässiges  Pariavolk  wurden, 
—  wie  es  ja  auch  geschehen  ist. 

Niemals  aber  würde  sich  eine  zunehmend  »bürgerliche« 
Glaubensgemeinschaft  in  diese  Parialage  freiwillig  begeben  und 
für  die  Teilnahme  an  ihr  mit  weltumspannendem  Erfolg  Pro- 
selyten  gewonnen  haben  ohne  die  Verheißungen  der  P  r  o  p  h  e- 
t  i  e.  Die  unerhörte  Paradoxie,  daß  einem  Gott,  der  sein  er- 
wähltes Volk  nicht  nur  nicht  gegen  die  Feinde  schützt,  sondern 
in  Schmach  und  Verknechtung  stürzen  läßt  und  selbst  stürzt, 
nur  um  so  inbrünstiger  angehangen  wurde,  findet  in  der  Geschichte 
sonst   kein  Beispiel  und    ist  nur  aus  dem  gewaltigen  Prestige 


II.     Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  -iyg 

der  pioplicLisciiL'H  Verkündigung  erklärlich.  Dies  Prestige  be- 
ruhte, wie  wir  sahen,  rein  äußerlich  auf  dem  Eintreffen  bestimmter 
Weissagungen  der  Propheten,  oder  richtiger  darauf :  daß  bestimmte 
Ereignisse  als  deren  Erfüllung  gedeutet  wurden.  Man  kann  die 
Festigung  dieses  Prestiges  gerade  inmitten  der  Exilsgemeinde 
in  Babylon  deutlich  erkennen.  Während  die  ägyptische  Partei 
den  Jeremia  gewaltsam  mitschleppt  und  trotz  der  furchtbaren 
Erfüllung  seiner  Orakel,  vielleicht  eben  dieserhalb,  haßt  —  angeb- 
lich hat  sie  ihn  gesteinigt  • — ,  schlägt  in  Babylon  Hesekiel  gegen- 
über, den  man  anfänglich  als  Narren  verspottet  hatte,  mit  der 
niederschmetternden  Nachricht  vom  Fall  Jerusalems  die  Stim- 
mung völlig  um.  Wer  nicht  endgültig  verzweifelte,  hielt  sich 
hinfort  an  ihn  als  Berater  und  Tröster  und  suchte  seinen  Rat. 
Und  während  die  Samaritaner  begreiflicherweise  eine  Prophetie, 
welche  dem  alten  Reich  von  Samaria  dauernd  nur  Unheil  ver- 
kündet und  sich  weiterhin  nur  für  Jerusalem  interessiert  hatte, 
ablehnten,  gewann  die  Prophetie  innerhalb  der  Exilsgemeindc 
ihre  endgültige  Stellung  durch  die  Erfüllung  jener  Heilsweis- 
sagungen, welche  die  Heimkehr  aus  dem  Exil  verkündeten,  an 
welche  man  sich  während  der  Exils'zeit  in  Babylon  klammerte 
und  als  deren  Erfüllung  man  die  Errichtung  der  Gola-Gemeinde 
in  Jerusalem  ansah.  Diese  Gemeinde  erschien  als  jener  »Rest«, 
dessen  Errettung  seit  Amos  und  vor  allem  seit  Jesaja  verheißen 
war  und  dessen  Zukunft  im  Exil  den  Gegenstand  der  nunmehr 
zur  Heilsweissagung  umschlagenden  Prophetie  gebildet  hatte. 
Unmittelbar  nach  dem  Sturz  Jerusalems,  der  vollen  Erfüllung 
der  furchtbaren  Drohungen  Jahwes,  vollzog  sich  dieser  Um- 
schlag zur  Heilsprophetie  bei  Jeremia  und  vor  allem  bei  Hesekiel. 
Und  wenn  bei  dem  weichen  Melancholiker  Jeremia  warmherzige 
Tröstung  und  eine  sich  selbst  bescheidende  Hoffnung  darauf, 
daß  noch  einmal  friedlicher  Ackerbau  im  Heimatlande  möglich 
sein  werde,  im  Grunde  den  ganzen  Inhalt  der  Zukunftserwartung 
ausmachte,  so  schwelgte  der  Ekstatiker  Hesekiel  in  Träumten 
von  einer  furchtbaren  Endkatastrophe  der  Feinde,  unerhörten 
Wundern  und  einer  glorreichen  Zukunft.  Unmittelbare  Droh- 
\mgen  gegen  Babel,  wie  sie  bis  zum  Sturz  Jerusalems  von  ek- 
statischen Heilspropheten  noch  verkündet  worden  waren  und 
das  scharfe  Einschreiten  der  Regierung  und  die  Mahnungen 
Jeremias    zur  Geduld    und    Fügsamkeit    hervorgerufen    hatten, 


■jgo  ^^^  antike  Judentum. 

konnte  er  ^)  nicht  wagen.  Die  Perser  wareii  noch  nicht  aut- 
getaucht. Er  bewegte  sich  daher  in  dunklen  Andeutungen  seiner 
Hoffnungen.  Unheilsorakel  gegen  die  schadenfrohen  Nachbarn: 
Tyros,  Sidon,  Ammon,  Moab,  Edom,  die  Philisterstädte  und 
gegen  das  als  unverläßlicher  Bundesgenosse  erprobte  Aegypten 
schaffen  Raum  für  die  Hoffnung  auf  Herstellung  Israels  durch 
die  Macht  Jahwes  allein.  Die  Drohungen  gegen  Aegypten  ver- 
wenden mythische  Motive  einer  Weltkatastrophe.  Gog,  wie  es 
scheint,  ein,  an  die  Person  eines  inner  kleinasiatischen  Fürsten 
(von  Tubal  und  Mesech:  38,  2)  anknüpfend,  phantastisch  zu 
einem  Gebieter  des  Nordlandes,  der  alten  Quelle  aller  Völker- 
wanderungen, gesteigerter  Barbarenkönig,  führt  dereinst  alle 
wilden  Völker  gegen  das  hergestellte  heilige  Volk  Jahwes  und 
in  einem  fürchterlichen  Gemetzel,  bei  dem  den  Israeliten  fast 
nur  die  Aufgabe  der  Aufräumung  des  zu  einem  einzigen  Leichen - 
felde  verunreinigten  heiligen  Landes  verbleibt,  bereitet  Jahwe 
ihm  und  damit  allen  Feinden  Israels,  die  er  selbst  herbeigerufen 
hat,  den  Untergang  (Kap.  38  und  39).  Und  was  dann  ?  Ursprüng- 
lich hatte  Hesekiel  an  die  Wiederkunft  Davids  oder  eines  Davi- 
diden  gedacht  (34,  23).  Aber  das  unbelehrbare  Verhalten  des 
Königsgeschlechtes  und  die  Erkenntnis,  daß  nur  die  Priester- 
gewalt die  Gemeinde  zusammenhalten  könne,  wandelte  seine 
Ideale.  Er  selbst  war  Zadokide  und  so  formte  sich  seine  end- 
gültige Hoffnung,  nach  fünfundzwanzig] ähriger  Gefangenschaft, 
zu  jener  rational  geordneten  Theokratie,  von  der  oben  gesprochen 
wurde.  Die  Königshoffnung  ist  begraben.  Aber  reiche  inner- 
weltliche Wohlfahrt  und  —  wie  schon  bei  Jeremia  —  ein  neuer 
ewiger  Bund  mit  dem  Volk,  dem  Jahwe  ein  neues  lebendiges 
Herz  geben  wird  von  Fleisch  und  Blut  statt  des  steinernen 
Herzens,  das  sie  ins  Verderben  führte  (36,  26.  27),  ein  hoher 
Ehrenplatz  vor  allen  Völkern  zur  Ehre  von  Jahw^es  Namen 
sind  den  treu  Gebliebenen  sicher.  Die  wilden  ekstatischen  Visionen 
und  Auditionen  seiner  Frühzeit  sind  abgeklungen,  in  breit  aus- 
gesponnenem  Bilde  malt  Hesekiel  die  Zukunftsverfassung  und 
münzt  seine  Gesichte  kunstvoll  und  pedantisch  zu  einer  intellek- 
tuell ausgedachten  Utopie  um  (Kap.  40  ff.) :  er  ist  der  erste 
im  eigentümlichen  Sinn  schriftstellernde  Prophet  ^). 


1)  Ueber  Hesekiel  vgl.  Herrmann,  Ezechielstudien,  Berlin  1908. 

2)  Denn  da  das  Zukunftsgericht  den  späteren  kirchenpolitischen  Projekten  J 


II.     Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  ■2gi 

Aber  Hesekiel  war,  wie  schon  erwähnt,  nicht  nur  Schrift- 
steller, sondern  als  Priester  auch  seelsorgerlicher  und  —  sozu- 
sagen — •  »religionspolitischer«  Berater  sowohl  der  einzelnen 
Exulanten  wie  der  im  Exil  maßgebenden  Vertreter  der  Gläubigen : 
der  Aeltesten.  Als  ein  »Wächter«  des  Volkes  erscheint  er  sich 
selbst.  Und  in  den  Erfahrungen  dieser  Seelsorge  mußte  auch 
ihm  das  Problem  der  »Schuld«  an  dem  über  Israel  verhängten 
Unheil,  vor  allem  der  Kollektivschuld  und  Solidarhaftung,  welches 
die  Thoralehre  beschäftigt  hatte,  besonders  nahe  treten.  Man 
bemerkt  deutlich,  wie  er  dazu  Stellung  sucht.  In  der  Qual  seiner 
pathologischen  Lähmungen  fühlt  er  sich  (4,  5)  gelegentlich  als 
bestimmt,  die  alte  Kollektivschuld  des  Volkes  abzubüßen.  Im 
wilden  Zorn  seiner  Unheilsorakel  andererseits  beschuldigt  er 
Nvie  seine  Vorgänger  oft  die  Gesamtheit  des  Volkes  der  hoffnungs- 
losen Verworfenheit  und  kündet  scheinbar  den  allgemeinen  end- 
gültigen Untergang  an.  Aber  das  war  ihm  selbst  unerträglich, 
und  angesichts  des  mindestens  zum  Teil  unverschuldeten  Leidens 
der  Exulanten  im  Gegensatz  zu  der  politischen  Unbelehrbarkeit 
und  dem  ökonomischen  Eigennutz  der  in  Jerusalem  Gebliebenen 
ist  ihm  im  Gegensatz  zu  diesen  allein  die  Gola  Träger  aller  Hoff- 
nung und  künftigen  Heiles  (11,  16),  während  die  Daheimgeblie- 
benen alles  Unheil  verschuldet  haben.  Aber  nach  dem  Sturz 
Jerusalems  fiel  auch  das  für  die  Bedürfnisse  der  Theodizee  fort, 
so  sehr  diese  Ueberzeugung  seither  das  religiöse  Selbstbewußt- 
sein der  Exilsgemeinde  als  solcher  gestützt  und  bestimmt  hat. 
Innerhalb  der  Exilierten  bestand  und  verschärfte  sich  die  öko- 
nomische Differenzierung  und  wuchs  auf  der  einen  Seite  die 
Neigung  der  Gutsituierten  zu  Indifferenz  und  Anpassung,  auf 
der  andern  Seite  das  Ressentiment  der  frommen  Armen  empor. 
Unerträghch  und  nicht  aufrecht  zu  erhalten  war  der  Gedanke, 
auch  jetzt  noch  kollektiv  für  Sünden  der  Väter  in  abgelebten 
Zeiten  büßen  zu  sollen.  Das  Bedürfnis  nach  einer  Prämie  für 
die  Treue  gegen  Jahwe  wurde  gebieterisch,  und  entschlossen 
brach  nun  auch  Hesekiel,  wie  vorher  schon  die  Deuteronomisten- 
schule,  mit  dem  alten  Solidarhaftsgedanken  (Kap.  18  und  33). 


der  Exilspriester  und.  deren  Ausführung  durch  Esra  und  Nehemia  nicht  ent- 
spricht, so  ist  keinerlei  Grund  für  die  Annahme,  daß  diese  Partien  spätere  Zu- 
sätze seien  wie  oft  angenommen  wird.  Der  Umschlag  von  halb  pathologischer 
und  eschatologischer  Apokalyptik  des  Ekstatikers  zum  intellektualistischen 
Ausklügeln  eines  Zukunftsstaatsprojektes  ist  durchaus  nichts  Singuläres. 


^g2  Das  antike  Judentum* 

und  zugleich  mit  der,  vermutlich  durch  die  Eindrücke  des  bab}'- 
lonischen  Sternenglaubens  nahegelegten  Vorstellung,  daß  Jahwe 
unerbittlich  vergelte,  daß  »unsere  Sünden  auf  uns«  seien  wie  ein 
Schicksal,  eine  Ansicht,  die  für  die  Seelsorge  nachteilige  fata- 
listische oder  zur  Magie  oder  Mystagogie  führende  Konsequenzen 
haben  mußte.  Es  gibt  überhaupt  keine  unentrinnbare  Schuld- 
belastung des  Einzelnen,  sei  es  durch  eigene  Sünden  oder  durch 
die  Erbschuld  der  Väter.  Jahwe  vergibt  dem  Einzelnen  nach 
seinem  Wandel:  wer  gerecht  ist,  die  Mischpatim  und  Karitäts- 
gebote  Jahwes  und  sein  chukkot  hält,' der  wird  leben;  die  auf- 
richtige Bekehrung  löscht  auch  schwere  Schuld  aus.  Die.  seit- 
dem herrschende  Buße  Stimmung  der  Gola  wurde  dadurch 
religiös  unterbaut  und  zugleich  jener  Unterschied  der  allein  zum 
Heil  berufenen  demütigen  »Frommen«  im  Gegensatz  zu  der 
Frivolität  der  Reichen  und  Mächtigen  vorbereitet,  welcher  später, 
vor  allem  in  den  Psalmen,  die  jüdische  Religiosität  stempelte. 
Aber  das  Bedürfnis,  die  Gemeinde  durch  Unterscheidungszeichen 
fest  in  der  Hand  der  Priester  zu  halten,  zu  denen  Hesekiel  selbst 
gehörte,  wendete  bei  ihm  die  positiven  Anforderungen  an  das 
Verhalten  durchaus  nach  der  kultischen  und  ritualist ischen  Seite,' 
wie  früher  ausgeführt  wurde.  So  stehen  Gesinnungsethik  —  das 
schöne  Bild  von  der  Umwandlung  des  steinernen  Herzens  in 
ein  Herz  von  Fleisch  und  Blut  —  und  priesterlicher  Formalismus 
scheinbar  unvermittelt  nebeneinander :  erstere  ein  Vermächtnis 
der  alten,  insbesondere  der  jeremianischen  Prophetie  und  auch 
Erzeugnis  des  eigenen  religiösen  Erlebens,  letzterer  der  Nieder- 
schlag der  praktischen  Interessen  des  Priesters. 

Bei  den  Propheten  der  ersten  nachexilischen  Zeit  steht  es 
ähnlich.  Haggai  und  Sacharja,  die  Heilspropheten  der  kurzen 
Periode  der  Hoffnung  unter  Serubbabel,  sind  noch  einmal  rein 
national,  am  Königtum  und  Tempel,  orientiert.  Die  Nacht- 
gesichte Sacharjas,  eines  gebildeten  Priesters,  sind  eine  Kunst- 
komposition: die  Planetengeister  in  den  7  Augen  (3,  9),  der  »An- 
kläger« und  die  Engel  im  Himmel  zeigen  babylonische  Einflüsse, 
das  Zitieren  der  alten  Propheten  (i,  6)  als  Autoritäten  und  der 
Engel  Jahwes  als  Träger  der  göttlichen  Befehle,  statt  der  unmittel- 
baren Eingebung,  den  schriftstellerisch  abgeleiteten  Charakter 
und  die  Scheu  vor  der  alten  naturalistischen  Leibhaftigkeit; 
in  der  Sache  selbst  dreht  sich  alles  um  den  Tempelbau,  nach 
dessen  Vollendung  das  Heil  eintreten  wird.    Umgekehrt   findet 


II,    Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  -g^ 

-ich  auf  fallenderweise  in  den  Orakeln  Tritojesajas  (66,  i  f.) 
^dne  Ablehnung  des  Tempels,  da  der  Himmel  selbst  Jahwes 
Tempel  sei,  eine  modifizierte  Erinnerung  an  die  relative  In- 
differenz gegen  den  Kult  bei  der  alten  Prophetie,  und  ebenso 
die  alte  starke  Betonung  der  sozialen  und  humanitären  Pflichten 
(58,  I  f.)  als  wichtiger  als  alles  Fasten.  Die  Abgötterei  und  die 
fremden  Kulte  sind  wie  vor  dem  Exil  die  entscheidenden  Frevel. 
Andererseits  liegt  gerade  bei  diesem  Propheten  starker  Nach- 
druck auf  der  Erfüllung  der  äußeren  rituellen  Lebensordnungen, 
welche  jetzt  das  einzige  Zeichen  der  Zugehörigkeit -zur  Gemeinde 
waren.  Noch  einmal  entlud  sich  bei  ihm  die  Hoffnung  auf  den 
Tag  Jahwes  (66,  12  f.)  ak  den  Tag  der  Tröstung  für  Israel,  des 
Unheils  für  die  Feinde,  und  furchtbarer  Rachedurst  gegen  die 
Feinde  lebt  in  dem-  großartigen  Bilde  des  wie  ein  Winzer  vom 
Blut  der  Edomiter  geröteten,  über  die  Berge  daherschreit enden 
Gottes  (63,  I  f.).  Ebenso  findet  sich  bei  Joel  (2,  20)  der  jetzt 
schon  schematisch  auftretende  »Feind  von  Norden«  imd  ein 
phantastisch  ausgemaltes  Völkergericht  (4,  i  f.).  Aber  im  ganzen 
hat  sich  die  Verschiebung  vollzogen,  welche  durch  die  Lage  der 
kleinbürgerlichen  Gemeinde  gegenüber  dem  feindlichen  oder 
indifferenten  Patriziat  bedingt  war:  die  Frommen  im  Gegensatz 
zu  den  Gottlosen  sind  bei  Tritojesaja  ebenso  wie  bei  den  andern 
Propheten  der  Zeit,  so  Maleachi  (3,  18),  die  Träger  der  Heils- 
te-Wartungen  und  Gott  ist  ein  Gott  der  Demütigen  (Tritojes.  57, 
15).  Der  Zukunftskönig  reitet  bei  Deuterosacharja  (9,  g  f.)  auf 
einem  Esel,  weil  er  ein  Fürst  der  Demütigen  und  Armen  ist. 
Die  Gerechtigkeit  durch  den  Glauben  bei  Habakuk  (2,  4)  ent- 
spricht den  jesajanischen  Konzeptionen,  ohne  dessen  aktuelle 
utopistische  Großartigkeit  zu  erreichen.  Denn  alles  ist  ins  Klein- 
bürgerliche transponiert.  Eine  schwere  Heuschreckenplage  gibt 
Joel  (2,  12)  Anlaß  zu  einer  eigenartig  konzipierten  Bußpredigt, 
die  aber  doch  lediglich  auf  Fasten,  Opfer,  einen  Büß-  und  Bet- 
tag hinausläuft,  während  Maleachi  die  Mischehen  für  den  Zorn 
Jahwes  verantwortlich  macht.  Zwar  liebt  Jahwe  sein  Volk 
(Mal.  1,1),  aber  der  Fromme  erwartet  Lohn  (Tritojes.  58,  6.  9) 
und  bei  Maleachi  (i,  i  f.)  ist  der  persische  Gedanke  einer  Buch- 
führung des  Gottes  über  die  Taten  der  Menschen  übernommen. 
Andererseits  findet  sich  bei  Deuterosacharja  (11,  4  f.)  scheinbar 
(-'ine  Uebernahme  der  Theorie  von  den  vier  Weltreichen.  Bei 
Joel  dagegen  die  alte  schon  vorprophetische  utopische  Hoffnung 


2 8^  Das  antike  Judentum. 

auf  einen  paradiesischen  Endzustand  sehr  reahstisch  in  einem 
Gemälde  üppigen  Wohlstandes  nach  Art  der  alten  volkstüm- 
lichen Erwartungen.  Eine  eigentümliche  Mischung  von  Literaten- 
bildung mit  zuweilen  eindrucksvoller  religiöser  Wärme,  anderer- 
seits aber:  Anpassung  an  die  hausbackenen  Sitten  und  Bedürf- 
nisse der  bürgerlichen  Angehörigen  einer  im  ganzen  in  fried- 
lichen und  behaglichen,  freilich  kleinen  Verhältnissen  lebenden 
Gemeinde  beherrscht  große  Teile  dieser  Spätlingsprophetie.  Aus- 
drücklich bezeugt  ist  öffentliches  politisches  Auftreten  von 
Propheten  für  die  Zeit  Nehemias,  der  mit  den  Heilspropheten 
seiner  Zeit  harte  Kämpfe  hatte.  Aber  viele  Orakel  und  prophe- 
tische Lieder  dieser  Epoche  tragen  reinliterarischen  Charakter  wie 
schon  in  der  Exilszeit  seit  der  späteren  Periode  Hesekiels  und 
wie  zahlreiche  Psalmen,  von  denen  es  oft  rein  zufällig  ist,  daß 
sie  nicht  zu  den  Prophetenliedern  gezählt  werden  (und  um- 
gekehrt). Damit  ist  nicht  etwa  gesagt,  daß  sie  ohne  Bedeutung 
für  die  religiöse  Entwicklung  gewesen  wären,  wennschon  nicht 
immer  für  die  ihrer  eigenen  Zeit. 

Die  literarische  Exilsprophetie  hatte  vor  allem  die  radikalste 
und  man  kann  sagen :  die  einzig  wirklich  ernsthafte  T  h  e  o- 
d  i  z  e  e  geschaffen,  welche  das  antike  Judentum  überhaupt 
hervorgebracht  hat.  Sie  ist  zugleich  eine  Apotheose  des  Leidens, 
des  Elends,  der  Armut,  der  Erniedrigung  und  Häßlichkeit,  wie 
sie  in  dieser  Konsequenz  nicht  einmal  in  der  neutestamentlichen 
Verkündigung  wieder  erreicht  worden  ist.  Der  heute  als  »Deute - 
rojesaja«    bezeichnete   Schriftsteller   (Jesaja    40 — 55  ^),    welcher 


,  *)  Während  die  Entstehung  dieser  Kapitel  des  jetzigen"  Jesajabuchs  in 
der  Exilszeit  völlig  feststeht  und  auch  die  Nichtidentität  ihres  Verfassers  mit 
der  der  nachfolgenden  Stücke  (Tritojesaja)  zunehmend  anerkannt  ist,  bleibt 
die  Frage,  ob  die  dem  Deuterojesaja  zugerechneten  Kapitel  einem  Verfasser 
zuzuschreiben  sind  oder  die  sog.  'ebed-Jahwe-Lieüer  einem  anderen,  bestritten 
und  sind  jene  Lieder  vom  »Gottesknecht«  selbst  nach  wie  vor  eine  crux  inter- 
pretum.  Aus  der  Literatur  sei  außer  auf  Duhms  Jesaja- Kommentar  auf  Sellins 
Schrift:  Die  Rätsel  des  deuterojesajanischen  Buchs  (1908),  von  anderen  Ar- 
beiten auf  Greßmanns  Erörterung  in  seiner  früher  zitierten  »Eschatologie« 
(1905)  und  Laues  Artikel  in  den  Theologischen  Studien  und  Kritiken  (1904) 
sowie  Giesebrechts  Arbeit:  Der  Knecht  Jahwes  des  Deuterojesaja  (1902)  ver- 
wiesen, namentlich  aber  auf  Rothsteins  sehr  eingehende  Besprechung  der  älteren 
Darlegungen  Sellins  (im  ersten  Band  von  dessen  Studien  zur  Enstehungs- 
geschichte  der  jüdischen  Gemeinde  nach  dem  babylonischen  Exil,  1901)  in 
den  Theologischen  Studien  und  Kritiken  1902  I  S.  282.  Aus  der  neuesten  Litera- 
tur besonders:  Staerk  in  den  Beitr.  z.  Wiss.  v.  A.  T.  14  (1912),  der  zwischen 
den  vier  Liedern  Jes.  42,  i  f.,  49,  i  f.,  50,  4  f.,  52,  13  f.  und  den  sonstigen  Gottes- 


II.     Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  ^^c 

diese  Konzeption  schuf,  schrieb  anonym  offenbar  mit  Rücksicht 
auf  die  babylonische  Zensur^),  welche  er  wegen  seiner  überaus 
leidenschaftlichen  Hoffnungen  auf  die  von  ihm  (zu  Unrecht) 
erwartete  Zerstörung  Babels  durch  Kyros  allerdings  zu  fürchten 
hatte. 

Die  Stellung  zur  Armut  und  zum  Leiden  überhaupt  hat  in 
der  israelitischen  Religiosität  verschiedene  Stadien  durchlaufen 
und  zwar  nicht  derart,  daß  das  ältere  durch  das  jüngere  je  voll 
verdrängt  worden  wäre.  Die  ursprüngliche  Annahme  war  hier 
wie  überall:  daß  der  vermögende,  gesunde,  angesehene  Mann 
in  des  Gottes  voller  Gnade  steht.  Die  Erzväter  sowohl  wie  Boas, 
Hiob  und  andere  Frommen  sind  reiche  Leute.  Vermögensverfall, 
Krankheit,  Elend  galten  als  Zeichen  göttlichen  Zornes.    Hiobs 

knechtsliedem,  in  welchen  der  'ebed  zweifellos  das  Volk  Israel  sei,  scheidet. 
In  jenen  vier  Liedern  sei  er  eine  individuelle  Figur  und  zwar  in  den  drei  ersten 
teils  eine  heroische,  teils  eine  Märtyrergestalt,  vorgestellt  als  ein  präexistenter 
universeller  Erretter,  in  Wahrheit  eine  Uebertragung  der  Davididenhoffnung 
auf  das  Prophetentum.  Die  Kritik  an  Sellin  wirkt  vielfach  überzeugend.  Den- 
noch bleiben  dessen  Aufstellungen  in  wichtigen  Punkten  dauernd  wertvoll. 
Sellin  ist  der  Hauptvertreter  der  Jojachin-Hypothese  und  zugleich  der  Einheit- 
lichkeit des  deuterojesajanischen  Buches.  Von  dieser  Einheitlichkeit  der  Ver- 
fasserschaft des  unter  dem  begeisternden  Eindruck  der  Hoffnungen  auf  Kyros 
vermutlich  stückweise  entstandenen  und  dann  zusammengefaßten  Buchs  legt 
der  Inhalt  «in  bei  unbefangener  und  unvoreingenommener  Lektüre  steigend 
empfundenes  Zeugnis  ab.  Dagegen  scheint  die  Deutung  auf  Joj  achin  schwer 
annehmbar,  namentlich  weil  es  sich  um  einen  Mann  mit  Thora-Lehrgabe,  also 
einen  Propheten,  nicht  einen  König  handelt.  Das  Buch  macht  den  Eindruck 
der  religiösen  Kunstdichtung  eines  geistig  sehr  hochstehenden  enthusiastischen 
Denkers,  der  für  einen  kleinen  Kreis  ähnlich  Gestimmter  schrieb.  Es  ist  daher 
die  Annahme  statthaft,  daß  das  Schwanken  zwischen  individueller  und  kollek- 
tiver Deutbarkeit  absichtsvolle  Kunstform  dieser  prophetischen  Theodizee  ist. 
Der  für  uns  entscheidende  Kernpunkt  der  Hypothese  Sellins  liegt  aber  darin: 
daß  die  bei  der  Entstehung  auf  ein  Individuum  (Joj achin)  bezogenen  Lieder 
nach  dessen  Tod  vom  Verfasser  selbst  auf  das  Volk  Israel  übertragen  worden 
und  deshalb  in  den  Zusammenhang  mit  den  erst  damals,  unter  dem  Eindruck 
des  Anrückens  des  Kyros,  entstandenen  Stücken  verarbeitet  worden  seien. 
Damit  akzeptiert  Sellin  im  Resultat  die  Behauptung:  daß  Deuterojesaja  bei 
der  Schlußredaktion  jedenfalls  nicht  mehr  Joj  achin,  sondern  das  Volk  Israel 
bzw.  dessen  frommen  Kern  als  den  Träger  der  ursprünglich  auf  den  König  be- 
zogenen Qualitäten  ansah.  Nur  philologische  Fachleute  können  das  entscheidende 
Wort  über  die  geistreiche  Konstruktion  sprechen.  In  jedem  Fall  war  auch  dann 
die  Absicht  des  Verfassers  bei  der  Schlußredaktion  die  hier  vorausgesetzte: 
Mehrdeutigkeit. 

*)  Merkwürdigerweise  hat  sich  außer  Duhm  neuestens  auch  Hölscher 
(wegen  Jes.  52,  11  und  43,  14)  für  außerbabylonische  Provenienz  ausgesprochen 
und  auf  Aegypten  (insbesondere  Syene  wegen  49,  12)  geraten.  Allein  dies  scheint 
schon  wegen  des  aktuellen  Interesses  an  Kyros  nicht  annehmbar,  ganz  abgesehen 
von  dem  starken  Interesse  an  rein  babylonischen  Dingen. 

Max   Weber,  Religionssoziologic  UI.  25 


3 86  I^^s  antike  Judentum. 

Freunden  ist  das  selbstverständlich,  und  auch  die  Propheten  dro- 
hen dieses  Schicksal  als  Strafgericht  an.  Wir  sahen  aber,  wie 
sich  die  Stellung  zu  den  sozialen  Schichten  mit  dem  Uebergang 
zur  stadtsässigen  Kultur  verschob,  als  der  wehrhafte  israelitische 
Bauer  und  Hirt  ein  zunehmend  pazifistischer  Periöke  und  von 
Schuldknechtschaft  bedrohter  Armer  (ebjon)  geworden  war, 
an  Stelle  der  Kriegspropheten  fromme  Seher,  an  Stelle  der  patriar- 
chalen  ländlichen  Fürsten  dagegen  der  König,*  die  Fronherrschaft, 
die  Ritter  und  patrizischen  Gläubiger  und  Grundrentner  getreten 
waren  und  als  ferner  die  Karitätsethik  der  benachbarten  König- 
tümer die  Paränese  der  Thoralehrer  beeinflußt  hatte.  Die  Lebens- 
führung der  Reichen  und  Vornehmen  war  ersichtlich  weder 
kultisch  noch  ethisch  einwandfrei.  Ihr  Prestige  sank  überdies 
durch  Abnahme  der  Machtstellung  des  Staates.  Schon  bei 
Zephanja  findet  sich  die  Armut  des  beim  Strafgericht  übrig- 
bleibenden Volks  mit  seiner  Frömmigkeit  in  Beziehung  gebracht. 
Aber  der  Standpunkt  der  vorexilischen  Ethik  war  sonst  eine 
solche  positive  Schätzung  der  Armen  als  der  Frommen  nicht. 
Der  Arme,  Kranke,  Bresthafte,  die  Waisen,  Witwen,  Metöken, 
Lohnarbeiter  waren  Objekte  der  pflichtmäßigen  Karität,  nicht 
aber  selbst  Träger  höherer  Sittlichkeit  oder  einer  spezifischen 
religiösen  Würde.  Die  Herrschaft  der  Plebejer  galt  als  Strafge- 
richt. Immerhin  wurde  unter  dem  Einfluß  der  levitischen  Par- 
änese Jahwe  zunehmend  als  ein  Gott  angesehen,  der  den  Elenden 
und  Bedrückten  zu  ihrem  Recht  verhilft,  ohne  daß  natürlich 
dabei  irgend  etwas  wie  ein  naturrechtlicher  Gleichheitsanspruch 
anklänge.  Aber  allerdings  wurde  bei  der  prophetischen  und 
deuteronomischen  Konzeption  Jahwes  als  eines  Gottes,  der  vor 
allem  die  Hoffart  haßt,  die  spezifisch  plebejische  Tugend  der 
Demut  zunehmend  ausschließlich  geschätzt.  Von  diesen  Vor- 
stellungen aus  und  auf  Grund  der  von  ihm  konsequent  zu  Ende 
geführten  universalistischen  Gotteskonzeption  zog  nun  im  Elend 
des  Exils  Deuter ojesa ja  die  Linien  zu  Ende.  Bei  ihm  ist  der  Reiche 
als  solcher  an  einer  Stelle  (53,  9,  freilich  unsicherer  Lesart)  derart 
mit  dem  Gottlosen  identifiziert,  daß  von  dem  Gottesknecht  ein- 
fach gesagt  wird,  er  sei  (trotz  seiner  Gerechtigkeit)  »wie  ein  Rei- 
cher« gestorben.  Gerade  die  Frommen  des  Exils  sind  oft  von  den 
Feinden  bedrängte  und  mißhandelte  Leute.  Dafür  schuf  Deutero- 
jesaja,  da  die  Begründung  durch  die  Taten  der  Vorfahren  nicht 
mehr  akzeptiert  wurde,   eine  neue  Theodizee.     Jahwe  ist  ihm 


I 


I 


II.    Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  ^gj 

Weltgott.  Die  Existenz  der  anderen  Götter  wird  nicht  unbedingt 
geleugnet,  aber  Jahwe  wird  sie  vor  seinen  Stuhl  fordern  und  ihre 
angemaßte  Würde  zunichte  machen.  Jahwe  allein  ist  der  Welt- 
schöpfer und  Lenker  der  Universalgeschichte,  deren  Gang  sich 
nach  seinen  verborgenen  Absichten  vollzieht.  Das  schmähHche 
Schicksal  Israels  aber  ist  eines  und  zwar  das  wichtigste  der 
Mittel  zur  Verwirklichung  weit  weiser  Heilspläne.  Zunächst  für 
Israel  selbst  ist  es  Läuterungsmittel  (Jes.  48,  10).  Nicht  »wie  man 
Silber  abscheidet«,  läutert  Jahwe  seine  Getreuen,  sondern  »im 
Ofen  des  'Elends«  macht  er  es  zu  seinem  auserwählten  Volk«. 
Aber:  nicht  nur  um  Israels  selbst  willen,  wie  in  der  gesamten 
sonstigen  Prophetie,  sondern  auch  um  der  anderen  Völker  willen. 
Dies  Thema  ist  ausgeführt  in  den  viel  erörterten  Liedern  vom 
»Gottesknecht«  ('ebed  Jahwe).  Die  eigentümliche  Konzeption 
dieser  Figur  schwankt  wenigstens  in  der  Fassung,  welche  der 
Text  endgültig  erhielt,  offensichtlich  zwischen  einer  Einzeigest  alt 
und  einer  Personifikation  des  Volkes  Israel  oder  vielmehr:  seines 
frömmsten  Kerns.  Man  hat  für  jene  Einzelfigur  neben  mancherlei 
unannehmbaren  Persönlichkeiten  an  den  in  jugendlichem  Alter 
nach  Babel  geführten  und  nach  langjähriger  Kerkerhaft  be- 
gnadigten und  an  die  königliche  Tafel  gezogenen  König  Joj  achin 
gedacht,  mit  dessen  Befreiung  aus  der  Gefangenschaft  das  König- 
buch abschließt.  Indessen,  wenn  man  nicht  die  einzelnen  Lieder 
auf  ganz  verschiedene  Träger  der  Gottesknechtsqualität  beziehen 
will,  so  ist  weder  diese,  noch  irgendeine  andere  Annahme  wirk- 
lich zwingend  und  kann  auch  die  Frage:  ob  Einzelperson  oder 
Kollektivpersonifikation,  nicht  einheitlich  beantwortet  wer- 
den. Schicksale  und  Leiden,  die  seinem  Publikum  allbekannt 
und  alltäglich  waren,  vor  allem  die  »durchbohrten«  Knöchel 
der  Gefangenen,  scheint  der  Verfasser  mit  Zügen  einer  eschato- 
logischen  Gestalt  ungewisser  Herkunft  verknüpft  zu  haben 
und  es  ist  offenbar  absichtsvolle  Kunstform,  wenn  er  zwischen 
jenem  persönlichen  Träger  des  Leidensschicksals  und  dem  lei- 
denden Kollektivum  derart  hin-  und  hergleitet,  daß  selbst  im 
Einzelfall  zuweilen  schwer  zu  sagen  ist,  welche  Deutungsmöglich- 
keit vorschwebte.  Israel  ist  der  Knecht  Jahwes,  heißt  es  (49,  3) 
und  schon  vorher  (48,  20)  wird  gesagt,  daß  Jahwe  seinen  Knecht 
Jakob  erlöst  habe.  Aber  unmittelbar  nach  der  ersten  Stelle 
ist  (49,  5.  6)  der  Knecht  Jahwes  dazu  berufen,  Jakob  zu  bekehren 
und  die  Stämme  Israels  wieder  aufzurichten.    Denn  Jahwe  hat 

25* 


^88  Das  antike  Judentum. 

ihm  die  Zunge  eines  Jüngers  gegeben,  um  zu  den  Ermüdeten 
zur  rechten  Zeit  zu  reden  (50,  4) :  und  auch  weiterhin  wird  (53, 11, 
in  freiUch  unsicherer  Lesung)  seine  Erkenntnis  als  Quelle  des 
Heils  hingestellt.  So  pflegte  von  Propheten  oder  Thoralehrern 
gesprochen  zu  werden,  und  man  wird  daher  in  dem  Gottesknecht 
eine  Personifikation  der  Prophetie  zu  finden  geneigt  sein.  Dies 
um  so  mehr,  als  die  Weissagung  des  Schriftstellers,  der  die  Magie 
und  Astronomie  der  babylonischen  Weisen  kennt  und  ablehnt, 
weiter  dahin  geht :  daß  der  Gottesknecht  zum  »Licht  für  die  Hei- 
den« bestimmt  sei  und  zum  »Heil  bis  an  das. Ende  der  Welt.« 
{49,  6.)  Daß  es  das  gewaltige  Selbstgefühl  der  Prophetie  ist, 
welche  sich  angesichts  der  bevorstehenden  Erfüllung  der  alten 
Verheißungen  durch  Kyros  hier  als  übernationale  Universal- 
macht fühlt,  dafür  sprechen  auch  andere  Stellen  und  die  Natur 
der  Sache  selbst.  IJnleugbar  klingen  andererseits  manche  Stellen 
so,  als  handle  es  sich  um  einen  Herrscher,  nicht  einen  Propheten. 
Aber  ein  Hierokrat  und  Volksführer  war  der  Archetypos  der 
Prophetie,  Mose,  auch  gewesen,  und  gerade  die  Exilszeit  hatte  die 
Figur  des  weisen  Priesterfürsten  Melchisedek  wieder  hervorge- 
sucht. Dem  Gottesuniversalismus  entsprach  die  Weltmission. 
Wenn  auch  Deuterojesaja  selbst  sich  mit  ihr  nicht  im  einzelnen 
befaßt,  so  ist  es  doch  nicht  zufällig,  daß  der  spätere  Zusammen- 
steller des  jetzigen  Jesajabuchs  unmittelbar  an  seine  Schrift 
die  jenes  nachexilischen  anonymen  Schriftstellers  (Tritojesaja) 
angeschlossen  hat,  des  energischsten  Vertreters  der  religiösen 
Weltpropaganda  und  der  religiösen  Gleichwertigkeit  aller  Prose- 
lyten,  wenn  sie  sich  Jahwes  Ordnungen  fügen.  (Jes.  56,  6.  7.) 
Aufgabe  und  Ehre  der  Weltmission  ist  in  der  Tat  schon  bei 
Deuterojesaja  ideell  begründet  und  er  ist  zugleich  unter  den 
Heilspropheten  derjenige,  welcher  verhältnismäßig  am  wenig- 
sten von  einer  sozialen  Ueberordnung  der  Juden  über  die  anderen 
Völker  als  Heilsziel  redet  oder  Rache  an  den  Feinden  verheißt, 
wie  fast  alle  anderen  es  tun:  auch  Tritojesaja  wieder  (60,  10. 
14-  15)  j  der  die  Untertänigkeit  der  Heiden  als  Ausgleich  für  die 
lange  Schande  Israels  in  Aussicht  stellt.  Auch  Deuterojesaja 
verkündet  zwar  ausführlich  das  Strafgericht  über  Babel  (Kap.  47) , 
Erniedrigung  und  Vergeltung  gegen  die  Feinde  Israels  (49,  23.  26 
und  sonst).  Aber  dies  ist  nicht  der  Kern  seiner  Heils  Weissagung. 
Auch  bei  ihm  hat  Gott  sein  Angesicht  vor  Israel  verborgen  wegen 
der  Gottlosigkeit  der  Väter  und  er  ermahnt,  den  Herrn  zu  suchen, 


I 


II.     Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  -jgn 

sich  ZU  bekehren  und  gottlose  Wege  und  Gedanken  zu  meiden 
(55,  6.  7).  Aber  diese  Wertung  des  Elends  als  Strafe  für  Sünden, 
wie  ebenso  jene  bei  diesem  Propheten  nur  gelegentlich  ange- 
deuteten Mahnungen  zur  Buße  treten  weit  zurück  hinter  einer 
ganz  anderen  und  positiven  soteriologischen  Bedeutung  des 
Leidens  als  solchen.  Und  zwar  gerade,  im  schärfsten  Gegensatz 
zur  vorexilischen  Prophetie:  des  unschuldigen  Leidens. 
Auch  da  wieder  schwankt  die  Ausdrucks  weise  so,  daß  bald  Israel 
oder  die  Prophetie  als  Träger  dieses  heilsbedeutsamen  Leidens 
gedacht  erscheint,  bald  eine  eschatologische  Einzeigest  alt.  Die 
Leute,  welche  Gerechtigkeit  und  Lehre  (Thora)  kennen,  werden 
ermahnt,  die  Schmähungen  und  Drohungen  der  Welt  nicht  zu 
fürchten  (51,  7),  und  in  der  ersten  Person  rühmt  der  Prophet :  daß 
er,  dem  der  Herr  die  Gabe  der  Lehre  gegeben  hat  (50,  4),  seinen 
Rücken  den  Schlagenden  und  sein  Gesicht  den  Raufern  geboten 
und  sein  Antlitz  »nicht  vor  Schmach  und  Speichel  verborgen«, 
sondern  »zum  Kieselstein  gemacht«  habe  (50,  6.  7),  da  er  ja  wußte, 
daß  der  Herr  mit  ihm  sei  und  ihn  nicht  zuschanden  werden  lasse. 
Hier  scheint  also  unter  dem  Gottesknecht  offenbar  die  Prophetie 
als  solche  verstanden  zu  sein.  Aber  in  den  weiteren  Liedern  wii  d 
die  Gestalt  wieder  ausgesprochen  persönlich  und  soteriologisch 
gewendet.  Viele  entsetzen  sich  über  den  Knecht  Jahwes,  weil 
er  häßlicher  ist  als  andere  (52,  14,  von  manchen  Gelehrten  als 
Glosse  angesehen).  Er  ist  der  aller ver acht etste,  von  allen  Men- 
schen verlassenste,  voll  Schmerzen  und  Leiden,  einer,  vor  dem 
man  sein  Antlitz  verbirgt,  weil  man  ihn  für  nichts  rechnet  (53, 
3.  4)  und  weil  man  ihn  für  einen  von  Gott  zur  Strafe  Gezeichneten 
und  Geschlagenen  hält.  »Wir  hielten  ihn  dafür«,  heißt  es,  — 
so  daß  hier,  je  nachdem,  das  verachtete  Israel  oder  dessen  vom 
eigenen  Volk  verschmähte  Propheten  personifiziert  sein  könnte. 
Daß  der  Gottesknecht  (53, 13)  für  die  Uebcltäter  bittet,  ist  kein 
für  die  Stellung  der  Prophetie  neuer  Gedanke,  (Jer.  15,  i;  Hes. 
14,  14.)  Daß  er  sein  Leben  hingibt,  um  »der  Vielen  Sünden  zu 
tragen«,  könnte  allenfalls,  wenn  auch  mit  großen  Schwierigkeiten, 
noch  an  der  Grenze  dessen  stehen,  was  auch  von  altisraelitischen 
Gottesmännern,  wie  Mose,  geglaubt  wurde,  der  sein  eigenes 
Leben  darbietet,  wenn  seinem  Volke  nicht  vergeben  werden 
sollte  (Ex.  32,  32).  Stellvertretendes  Sühnopfer  war  an  sich  ein 
auch  in  Altisrael  heimischer  Gedanke.  Schon  für  Hesekiels 
ekstatische  Krampfzustände  findet  sich  einmal  (4,  5)  die  Vorstel- 


oQO  Das  antike  Judentum. 

lung,  daß  der  Prophet  die  vielen  Jahre  von  Schandtaten  Israels 
durch  ebensoviel  Tage  der  Lähmung  abbüßen  müsse  für  sein 
Volk,  welches  den  Heiden  zum  Spott  dahingegeben  sei  (5,  15). 
Bei  Deuterojesaja  wird  aber  der  volle  Nachdruck  darauf  gelegt 
(53?  12) :  daß  der  Gottesknecht  um  seines  Leidens  willen  z  u 
den  Sündern  gezählt  und  bei  den  Gottlosen  ver- 
scharrt wurde,  obwohl  er  nicht  zu  ihnen  gehörte.  Dadurch 
eben  trug  er  die  Sünde  vieler,  daß  er  »um  unserer  Sünden  willen 
durchbohrt  und  geplagt«  war,  daß  Jahwe  »die  Strafe  auf  ihn 
legte«  (53,  5.  6)  und  seine  heilbringende  Leistung  wird  darin 
gefunden,  daß  er  bei  den  Martern  »seinen  Mund  nicht  auf  tat, 
wie  ein  Lamm,  das  zur  Schlachtbank  geführt  wird«  und  seine 
Seele  d.  h.  sein  Leben  zum  Schuldopfer  hingab  (53,  7.  10).  Nicht 
daß  er  geopfert  wurde  oder  sich  opferte,  sondern  daß  er  seiner- 
seits noch  dazu  als  Sünder  und  unter  Gottes  Zorn  stehend  galt, 
ist  dabei,  wie  später  bei  Hiob,  das  Höchstmaß  des  Leidens.  Von 
den  einmal  durch  Deuterojesaja  aufgenommenen  Gedanken - 
zusammenhängen  aus  sind  diese  Konzeptionen  nichts  derart 
Heterogenes,  daß  die  Annahme  von  Vorstellungen  fremder 
Provenienz  irgendwie  zwingend  wäre.  Sie  erscheinen  an  sich  nur 
als  konsequente  Zusammenfassung  und  rationale  Umdeutung 
schon  vorhandener  Ansätze.  Die  rein  äußerlichen  Schilderungen, 
namentlich  die  »Durchbohrung«,  legen  an  sich  nur  nahe,  an 
einen  jüdischen  Märtyrertypus  zu  denken.  Aber  gewiß  kann  es 
nicht  als  unmöglich  gelten,  daß  eine  eschatologische  Gestalt 
einer  Volksmythologie  mit  vorgeschwebt  hat,  welche,  wenn  es 
sich  so  verhielte,  ihrerseits  einem  der  verbreiteten  Kulte,  sei  es 
des  Tammuz  (wie  vielfach  angenommen  wird),  sei  es  eines  an- 
deren sterbenden  Gottes,  etwa  des  im  Zusammenhang  mit  dem 
gleichen  Bilde  vom  »Durchstochenen«  bei  Deuterosacharja 
(12,  10)  erwähnten  Hadad  Rimon  von  Megiddo  entstammen 
würde.  Aber  wenn  wirklich  eine  solche  Uebernahme  oder  Be- 
einflussung vorliegen  sollte,  was  durchaus  zweifelhaft 
bleibt,  so  wäre  die  grundstürzende  Umprägung  des  Sinnes  nur 
um  so  eindrucksvoller.  Jede  Beziehung  zu  Sünden  einer  Gemein- 
schaft und  zu  dem  soteriologischen  Zweck,  sie  zu  sühnen,  fehlte 
ja  diesen  sterbenden  Göttern.  Ganz  anders  hier.  Der  aus 
mythologisch  konstruierten  kosmischen  oder  theogonischen  Grün- 
den sterbende  Gott  oder  Gottessohn  ist,  dem  Wesen  des  Jahwis- 
mus  entsprechend,  ein  als  Schuldopfer  sich  selbst  darbringender 


II.    Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  igi 

Gottes  k  n  e  c  h  t  geworden.  Der  Erlöser  ist  nicht  der  sterbende 
Gottesknecht,  sondern  Jahwe  selbst  (54,  8),  der  nun,  den  Verhei- 
ßungen anderer  Propheten  entsprechend,  mit  seinem  Volk  einen 
Friedensbund  schließt  ewiger  als  die  Berge  (54,  10),  die  Gnade 
Davids  erneuernd  (55,  3).  Das  schuldlose  Martyrium  des  Gottes- 
knechts ist  für  Jahwe  das  Mittel,  dies  tun  zu  können.  D  a- 
r  i  n  liegt  das  für  die  überlieferten  Vorstellungen  in  der  Tat 
Fremdartige,  Warum  bedarf  es  dieses  Mittels?  »Nicht  sind 
meine  Gedanken  euere  Gedanken,  noch  meine  Wege  euere  Wege« 
(55,  8).  Also  wohl:  ein  nur  dem  Kreise  der  Eingeweihten  ver- 
ständliches Mysterium,  was  wiederum  für  die  Beeinflussung 
der  Phantasie  des  Propheten  durch  irgendeinen  eschatologischen 
Mythos  spricht  ^).  Allein,  wie  man  oft  hervorgehoben  hat:  die 
ethische  Wendung  dieser  Soteriologie  fehlte  allen  bisher  bekannten 
Mythologemen  von  sterbenden  oder  auferstehenden  Vegetations- 
oder anderen  Göttern  und  Helden.  Sie  alle  pflegten  vollkommen 
unethisch  zu  sein.  Diese  Wendung  war  also,  soviel  ersichtlich, 
geistiges  Eigentum  des  Propheten.  Ihre  Art  und  Weise  will  aber 
richtig  gesehen  werden.  Sie  liegt  nicht  oder  doch  nur  ganz  neben- 
her in  der,  gemäß  prophetischer  Tradition,  auch  von  Deutero- 
jesaja  erwähnten  Funktion  des  Leidens  als  Strafe  früherer  Sünden. 
Vielmehr  wird,  je  mehr  die  Gottesknechtsgestalt  in  den  Vorder- 
grund tritt,  desto  nachdrücklicher  betont,  daß  sein  Leiden  u  n- 
verdient  war.  In  der  Tat  waren  ja  doch  die  anderen  Völker 
und  die  Gottlosen  gewiß  nicht  besser  als  das  leidende  auserwählte 
Volk  Jahwes.  Auch  auf  den  Bruch  der  alten  berith  legt  gerade 
dieser  Prophet  weniger  Gewicht  als  andere.  Er  knüpft  dagegen, 
was  bei  den  früheren  Propheten  seltener  geschah,  an  die  Ver- 
heißungen für  Abraham  (51,  2)  und  Jakob  an.  Aber  auch  das 
ist  peripherisch.  Nicht  die  Verheißungen  und  nicht  die  berith, 
sondern  die  Frage  der  Theodizee  des  Leidens  Israels  unter  ganz 
universellen  Gesichtspunkten  eines  weisen  göttlichen  Weltregi- 
ments ist  ihm  Problem.  Was  ist  unter  solchen  Fragestellungen 
nun  für  ihn  der  Sinn  seiner  Verklärung  des  Leidens,  der  Häß- 


*)  Die  »Berufung  vom  Mutterleibe  an«  {49,  1)  entspricht  babylonischer 
Königsterminologie  einerseits,  der  providentiellen  Berufung  Jeremias  im  Mutter- 
leib ( Jer.  I,  5)  andererseits.  In  der  Diktion  des  Schriftstellers  hat  Sellin  (a.  a.  O. 
S.  loi  ff.)  starke  Anklänge  an  babylonische  Hymnen  und  Klagelieder  überzeugend 
nachgewiesen  (vgl.  übrigens  schon  Kittel  Z.  f.  A.  T.  W.  1898;  Cyrus  und  Deutero- 
jesaja). 


og2  Das  antike  Judentum. 

lichkeit  und  des  Mißachtetseins  ?  Es  ist  selbstverständlich  nicht 
Zufall,  sondern  Absicht,  daß  der  Prophet  die  eschatologische 
Person  immer  wieder  in  eine  Personifikation  Israels  oder  der 
Prophetie  hinübergleiten  läßt  und  umgekehrt,  und  daß  infolge- 
dessen Israel  bald  als  Träger,  bald  als  Objekt  der  Erlösung  er- 
scheint. Der  Sinn  des  Ganzen  ist  eben:  die  Verklärung 
der  Pariavolkslage  und  des  geduldigen  Aus- 
harrens in  ihr.  Dadurch  wird  der  Gottesknecht  und  das 
Volk,  dessen  Archetypos  er  ist,  zum  Heilbringer  der  Welt.  Mochte 
jener  also  als  persönlicher  Heiland  gedacht  sein,  so  war  er  es  eben 
doch  nur  dadurch:  daß  er  die  Parialage  des  Exilsvolks  freiwillig 
auf  sich  nahm  und  das  Elend,  die  Häßlichkeit,  das  Martyrium 
klaglos  und  widerstandslos  duldete:  Alle  Elemente  der  utopischen 
evangelischen  Predigt :  »widersteht  nicht  dem  Uebel  mit  Gewalt«, 
sind  hier  vorhanden.  Die  Pariavolkslage  als  solche  und  ihr  ge- 
horsames Erdulden  wird  dadurch  zur  höchsten  Staffel  der  reli- 
giösen Würde  und  Ehre  vor  Gott  erhoben,  daß  sie  den  Sinn  einer 
welthistorischen  Mission  empfängt.  Diese  enthusiastische  Ver- 
klärung des  Leidens,  als  des  Mittels,  der  Welt  zum  Heil  zu  dienen, 
ist  dem  Propheten  offenbar  die  letzte  und  in  ihrer  Art  höchste 
Steigerung  der  Verheißung  an  Abraham,  daß  sein  Name  dereinst 
ein  »Segenswort  für  alle  Völker«  werden  soll. 

Die  spezifisch  miserabilistische  Ethik  des  NichtWiderstandes 
lebte  in  der  Bergpredigt  wieder  auf,  und  die  Konzeption  vom  Opfer- 
tod des  schuldlos  gemarterten  Gottesknechts  half  die  Christologie 
entbinden  ^) .     Freilich     nicht    diese  Konzeption  allein  ,  sondern 


^)  Die  Perikope  vom  Gottesknecht  ist  besonders  stark  bei  den  Synoptikern 
und  in  der  Apostelgeschichte,  demnächst  im  Römer-  und  ersten  Korinther- 
briefe,  aber  auch  bei  Johannes  benutzt,  i.  Kor.  15,  3  ergibt,  daß  die  Vorstellung 
von  dem  als  Sühnopfer  sterbenden  Heiland  dem  Paulus  schon  durch  Tradition 
vorlag.  Die  Bezugnahme  auf  die  prophetische  Verkündigung  findet  sich  als 
von  Jesus  ausgesprochen  Matth.  26,  24  (=  Jes.  53,  7.  8).  Daß  Jesus  der  Erwählte 
(Luc.  9,  35  =  Jes.  53,  12),  das  Wohlgefallen  Gottes  (Matth.  3,  17  =  Jes.  42,  i), 
sündlos  (Joh.  8,  46=  Jes.  53,  5),  das  Lamm  Gottes  (Joh.  i,  29.  36  =  Jes.  53,  4I.), 
das  Licht  der  Völker  (Joh.  i,  5  =  Jes.  42,  6  f.),  berufen,  die  Mühseligen  zu  er- 
quicken (Matth.  II,  28  =  Jes.  55,  i  f.),  in  Niedrigkeit  gelebt  habe  (Phil.  2,  7 
=  Jes.  53,  2.  3),  Verkennung  (Act.  8,  32  f.  =  Jes.  53,  7.  8),  Anklage  (Math.  26,63) 
und  Mißhandlung  (Matth.  27,  26)  schweigend  wie  ein  Lamm  geduldet,  Fürbitte 
für  die  Frevler  eingelegt  (Luc.  23,  34  =  Jes.  53,  5  f.),  als  Lösegeld  für  die  Sünden 
anderer  gestorben  (Matth.  20,  28  =  Jes.  53,  10  f.)  sei,  dadurch  Sündenvergebung 
erwirkt  habe  (Luc.  24,  47  =  Jes.  53,  5  f.)  und  von  Gott  verherrlicht  worden  sei 
(Joh.  13,  31 ;  14,  13;  Act.  3,  13  =  Jes.  49,  5;  55,  5),  wird  in  oft  wörtlicher  Parallele 
mit  Deuterojesaja  ausgeführt.    Besonders    charakteristisch    ist  Rom.  4,  25  (  = 


II.    Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  393 

in  Verbindung  mit  der  späteren  Apokalyptik :  der  Menschensohn- 
lehre  ^)  des  Danielbuchs  und  anderen  Mythologemen.  Aber 
immerhin:  das  Kreuzeswort:  »Mein  Gott,  mein  Gott,  warum 
hast  du  mich  verlassen«,  bildet  den  Anfang  des  22.  Psalms,  der 
von  Anfang  bis  zu  Ende  Deuterojesajas  Miserabilismus  und  Gottes- 
knechtsprophezeiung verarbeitet  ^) .  Wenn  tatsächlich  nicht 
erst  der  christliche  Gemeindeglaube,  sondern  Jesus  selbst  diesen 
Vers  auf  sich  angewendet  haben  sollte,  dann  würde  dies  nicht 
etwa,  wie  jenes  Kreuzeswort  merkwürdigerweise  oft  gedeutet 
worden  ist,  auf  einen  Tiefstand  der  Verzweiflung  und  Enttäu- 
schung, sondern  gerade  umgekehrt  mit  Sicherheit  auf  ein  im 
Sinn  Deuterojesajas  messianisches  Selbstgefühl  und  die  am  Schluß 
des  Psalms  ausgedrückten  Hoffnungen  bei  ihm  schließen  lassen. 
Dagegen  innerhalb  der  jüdischen  kanonischen  Literatur  ist 
dieser  Psalm  das  einzige  vollinhaltlich  an  Deuterojesajas 
Soteriologie  orientierte  Erzeugnis,  während  allerdings  einzelne 
Zitate  und  Anklänge  an  ihn  in  den  Psalmen  sich  mehrfach  finden. 
Zwar  die  deuterojesa janische  Stimmung,  das  »Wurmge- 
fühl« (41,  14)  und  die  positive  Wertung  der  Selbsterniedrigung 
und  Häßlichkeit  hat  weithin  im  Judentum  nachgewirkt,  wie 
sie  später  im  Christentum  bis  in  den  Pietismus  hinein  ihre  Folgen 
gehabt  hat.  Dagegen  ist  die  Konzeption  des  leidenden  und  für 
die  Sünden  anderer  als  schuldloses  Opfer  freiwillig  sterbenden 
(jottesknechts    im    Judentum    zunächst    gänzlich    verschollen. 


Jes.  53,  12),  wo  Paulus  die  gänzlich  mißverständliche  Uebersetzung  der  LXX 
zugrunde  legt.  Auch  die  Rolle  der  Apostel  wird  übrigens  gelegentlich  (Act.  13, 
47  =  Jes.  49,  6)  mit  deuterojesajanischen  Bildern  bezeichnet.  Alle  Stellen 
sind  sehr  bequem  zusammengestellt  bei  E.  Huhn,  Die  messianischen  Weis- 
sagungen des  israelitisch-jüdischen  Volks  II  (1900). 

*)  Sehr  oft  wird  statt  des  »Gottesknechts«  einfach  der  »Menschensohn« 
eingesetzt,  was  den  Weg  der  Uebernahme  (Mysterien)  kennzeichnet. 

^)  Vers  17,  wo  von  den  »Händen  und  Füßen«  geredet  wird,  ist  in  der 
Lesart  verderbt.  Es  kann  also  fraglich  sein,  ob  dort  von  Einschnürung  oder 
Durchbohrung  der  Knöchel  wie  bei  einem  Gefangenen  die  Rede  ist.  Aber  schon 
'lie  Uebersetzung  der  LXX  scheint  zu  beweisen,  daß  es  der  Fall  war.  Und  das 
gleiche  zeigen  die  folgenden  Verse,  wo  von  der  Verteilung  der  Gewänder  und  dem 
Loswerfen  darüber  gesprochen  ist.  Die  christliche  Gemeinde  aber  muß,  vielleicht 
infolge  der  LXX,  jenen  Vers  unbedingt  auf  eine  Kreuzigung  bezogen  haben, 
denn  die  ganze  Darstellung  der  Evangelien  ist  offensichtlich  durch  Psalm  22 
l)eoinflußt.  Danach  ist  es  doch  recht  wahrscheinlich,  daß  der  »Durchbohrte« 
des  Deuterojesaja  hier  vorgeschwebt  hat,  jedenfalls  aber,  daß  die  übliche  Auf- 
lassung Psalm  22  so  deutete,  wie  denn  die  christliche  Gemeinde  auch  sonst  die 
(k>ttesknechtslieder  und  diesen  Psalm  promiscue  als  Weissagungen  auf  Chiistus 
benutzt  und  die  Darstellung  der  Passion  danach  geformt  hat, 


nQA  Das  antike  Judentum. 

und  zwar  offenbar  sofort.  Das  erklärt  sich  aus  den  Ereignissen. 
Nach  Deuterojesajas  Meinung  sollte  die  Erlösung  und  also  der 
Lohn  des  leidenden  Gehorsams  unmittelbar  bevorstehen.  Er 
sah  (45,  i)  den  Gesalbten  des  Weltgottes,  Kyros,  vor  den  Toren 
Babels,  das  er  vernichten  werde.  Aber  Babel  blieb  stehen  und 
Kyros  verhielt  sich  wie  sein  legitimer  König.  Freilich:  die  Rück- 
kehr aus  dem  Exil  fand  statt.  Aber  die  Verhältnisse  gestalteten 
sich  nicht  so,  daß  man  sie  als  Zustand  der  Erlösung  empfunden 
hätte.  Und  es  war  ja  auch  an  sich  unmöglich,  daß  diese  Theodizee 
eines  theologischen  Denkers  Gemeingut  eines  Gemeindeglaubens 
wurde,  so  wenig  wie  dies  den  Erlösungskonzeptionen  indischer 
Intellektueller  widerfuhr.  Zwar  der  zu  Unrecht  durchstochene 
und  am  Ende  der  Tage  belohnte  Gerechte  als  Bild  für  Israel 
findet  sich  bei  Deuterosacharja  und  in  den  Psalmen.  Im  Daniel- 
buch (11,  33  und  12,  3)  und  vor  allem  in  dem  apokryphen  Weis- 
heitsbuch ist  Deuterojesaja  ausgiebig  benutzt.  Dem  Stande  der 
Verfasser  entsprechend  sind  dort  die  Weissagungen  vom  Leiden 
und  der  dann  wieder  eintretenden  Erhöhung  des  Gottesknechts 
auf  die  Thoralehrer  oder  das  gerechte  Volk  Israel  bezogen  worden. 
Aber  die  Benutzung  ist  ganz  unvollständig  und  vor  allem  findet 
sich  für  die  Annahme  eines  durch  sein  freiwilliges  und  klagloses 
Leiden  die  Sünden  des  Volkes  Israel  oder  gar  der  ganzen  Welt 
sühnenden  Dulders  kein  Anhalt.  Hiob  weiß  von  der  deutero- 
jesajanischen  Art  von  Theodizee  des  Leidens  und  von  dessen 
Gott  wohlgefälligkeit  nicht  das  mindeste  und  vollends  die  naive 
Messiashoffnung  des  Volksglaubens  hat  niemals  daran  angeknüpft. 
Das  gleiche  gilt  von  der  frührabbinischen  Literatur.  Sie  kannte 
wohl  einen  im  Krieg  fallenden,  aber  nicht  einen  als  Heiland 
leidenden  Messias.  Erst  im  Talmud  (b.  Sanh.  98  b)  findet  sich 
eine  solche  Gestalt  und  erst  seit  etwa  dem  3.  Jahrhundert  n.  Chr. 
scheint  die  Lehre  vom  leidenden  Messias  und  von  der  Verdienst- 
lichkeit des  Leidens  rein  als  solchen  unter  schwerem  Druck  wieder 
in  den  Vordergrund  zu  treten  i).  Bis  dahin  blieb  nur  der  na- 
mentlich durch  einige  Psalmen  vermittelte  und  verstärkte  Stim- 
mungsgehalt jener,  wie  sich  aus  den  wiederholten  Zitaten  ergibt, 
wohlbekannten  deuterojesajanischen  Stellungnahme  zum  klag- 


1)  Hierzu  Dalmann.  Der  leidende  und  sterbende  Messias  der  Synagoge 
im  ersten  nachchristlichen  Jahrhundert  (Schriften  des  Inst.  Jud.  IV,  Berlin 
1888).  Das  stellvertretende  Leiden  an  sich  war  dagegen  der  rabbinischen  Zeit 
ein  durchaus  geläufiger  Gedanke  (4.  Makk.  6,  29;  17,  22). 


w 


II.    Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  ^gc 

losen  Leiden  das,  was  nachhaltig  wirkte.  Das  duldende  und  har- 
rende Pathos  der  Parialage  und  die  fremden  Augen,  mit  denen  die 
Juden  durch  die  Welt  gingen,  hatten  an  diesem  außerordent- 
lichen Buch  ihre  stärkste  innerliche  Stütze,  bis  dies  Produkt 
der  Exilszeit  in  dem  werdenden  Christusglauben  als  stärkstes 
Ferment  wirkte. 

Daß  die  Propheten  der  Exilszeit  und  ebenso  ein  beträcht- 
licher Teil  der  nachexilischen,  religiöse  Schriftsteller  und  nicht 
mehr  aktuelle  religionspolitische  Demagogen  waren  und  nach 
den  Zeitbedingungen  sein  konnten,  hat  auf  die  Stilform  nicht 
nur,  sondern  auckauf  die  Auffassung  vom  prophetischen  Charisma 
seine  Konsequenzen  gehabt.  Die  ältere  Prophetie  spricht  im 
allgemeinen  ^)  nicht,  wie  die  Terminologie  der  alten  nord- 
israelitischen Ekstatiker,  von  einer  Innewohnung  des  »Geistes« 
(ruach)  Jahwes  im  Propheten.  Wir  sahen,  daß  ihr  diese  Vor- 
stellung fernlag.  Leibhaftig  redet  des  Gottes  Stimme  zu  ihnen, 
oder  aus  ihnen,  gewissermaßen  durch  sie  als  Instrumente  hindurch, 
die  sich  seinen  Reden  nicht  widersetzen  können,  und  wo  der 
Gott  selbst  ein  »Geist«  genannt  wird,  geschieht  dies,  um  seine 
weite  Distanz  vom  Menschen  zu  kennzeichnen.  Die  »Hand« 
Jahwes  packt  den  Propheten  unmittelbar,  er  redet,  wie  Jesaja, 
die  »Thora  Gottes«.  Das  zwar  nicht  allein  Vorherrschende,  aber 
doch  Charakteristische  bei  ihnen  allen  ist  also  ein  freilich  durch 
bastimmte  Vorstellungen  von  den  Beziehungen  zwischen  Gott 
und  Menschen  in  seiner  Ausdeutung  bestimmter  und  in  seinen 
Aeußerungen  gebändigter  aktuell  und  sehr  emotional  ekstatischer 
Habitus.  Darin  trat  mit  dem  Wegfall  der  politischen  Aktualität 
Wandel  ein.  Schon  in  den  Spät  orakeln  Hesekiels  ist  alle  ursprüng- 
liche Wildheit  von  ihm  abgefallen.  Bei  Deuterojesaja  ist  von 
emotionaler  Ekstase  nichts  zu  spüren.  Bei  Tritojesaja  (6i,  i) 
ist  der  prophetische  »Geist  des  Herrn  Jahwe«  (ruach  adonai 
Jahwe)  als  ein  dauernder  Habitus  »über«  dem  Propheten 
und  treibt  ihn,  zu  lehren.  Aktuelle  emotionelle  Zustände  finden 
sich  immer  wieder  dann,  wenn  politische  Entschließungen  der 
unmittelbaren  Gegenwart  zu  beeinf Kissen  waren  oder  der  Rache- 
durst gegen  die  politischen  Feinde  sich  entlud,  wie  bei  der  Winzer- 
vision Tritojesajas.  Aber  selbst  die  aktuelle  Heilsprophet ie  der 
Serubbabelzeit    unterscheidet    sich    im    prophetischen    Habitus 

^)  Bei  Hosea  ist  der  Prophet  der  >Mann  des  Geistes«. 


•2Q^  Das  antike  Judentum. 

von  der  vorexilischen  Prophetie.  Nachtgesichte,  d.  h.  Traum- 
visionen, welche  diese  abgelehnt  oder  doch  als  minderwertig 
angesehen  hatte,  treten  wieder  in  den  Vordergrund  wie  bei  den 
alten  »Sehern«:  Sacharja  war  eben  ein  Priester  und  kein  Dema- 
goge. Und  der  »Geist«,  der  bei  Haggai,  dann  bei  Joel  und  Deutero- 
jesaja  wieder  eine  Rolle  spielt,  ist  teils  ein  Theologumenon  zur 
Vermeidung  der  alten,  jetzt  peinlich  empfundenen  Leibhaftig- 
keits Vorstellungen,  teils  aber  eine  prophetische  Zukunftshoff- 
nung geworden.  Vor  allem:  Träger  dieses  »Geistes«  ist  die  Ge- 
meinde. Die  (vielleicht  aus  Ueberarbeitung  stammende) 
Erklärung  Jahwes  bei  Hesekiel  (39,  29),  daß  .er  auf  das  Haus 
Israel  seinen  Geist  ergossen  habe  und  deshalb  in  Zukunft  nach 
dem  Kommen  des  Heils  nicht  mehr  von  ihm  abwenden  werde, 
ist  bei  Deuterojesaja  (44,  3)  in  eine  Zukunftsverheißung:  seinen 
Geist,  das  heißt  (wie  42,  i  angibt) :  den  Geist  der  Prophetie,  auf 
den  Samen  Israels  ergießen  zu  wollen,  verwandelt.  Das  gesamte 
»Volk  im  Lande«  ist  Träger  des  Geistes.  Wenn  T^ritojesaja 
(63,  10.  11)  von  der  Verletzung  des  in  der  mosaischen  Zeit  von 
Jahwe  unter  das  Volk  gegebenen  »heiligen  Geistes«  durch  dessen 
Hissetaten  spricht  und  schon  bei  Haggai  (2,  6)  die  Wiederkehr  des 
Geistes  Jahwes,  unter  Bezugnahme  auf  Jahwes  Versprechen  beim 
Auszug  verheißen  wird,  so  ist  nach  dem  Wortlaut  wohl  nicht  an 
das  Ergriffenwerden  der  70  Aeltesten  vom  ekstatischen  Pro- 
phetengeist (Num.  II,  25)  gedacht,  sondern  an  die  spezifische 
Heiligkeit  des  bundestreuen  Volks  (Ex.  19,  5)  als  Dauerhabitus. 
Aber  allerdings  hatte  die  priesterfeindliche  (korachitische)  Theorie 
der  vorexilischen  Zeit  die  gleichmäßige  Heiligkeit  und  charis- 
matische Qualifikation  aller  Gemeindeglieder,  nicht  nur  der  Prie- 
ster, daraus  abgeleitet. 

Bei  den  Propheten  der  nach  exilischen  Spätzeit,  Joel  (3,  i) 
und  Deuterosacharja  (12,  10)  nimmt  dann  auch  die  Geistes- 
konzeption wieder  wesentlich  andere  Formen  an.  Deutero- 
sacharja zwar  stellt  der  Gemeinde,  den  »Bürgern  (joscheb)  von 
Jerusalem « und  denDavididen  an  ihrer  Spitze,  nur  den  Geist  des 
Gebets  für  den  Tag  Jahwes  in  Aussicht.  Aber  dieser  soll  sich 
manifestieren  in  der  leidenschaftlichen,  nach  Art  der  Vegetations- 
kulte gearteten  Klage  um  den  »Durchbohrten«,  offenbar  wieder 
jene  deut er ojesa janische  eschatologische  Gestalt  des  frommen  Got- 
tesknechts und  Märtyrers,  also:  in  ekstatischen  Bußeausbrüchen. 
Bei  Joel  aber  ist  es  der  alte  ekstatische  emotionale  Propheten- 


^■' 


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II.     Die  Entstehung?  des  jüdischen  Pariavolkes.  ^gj 

geist,  der  vor  Beginn  jenes  »Tages  Jahwes«,  an  dem  nur  die, 
welche  Jahwes  Namen  anrufen,  gerettet  werden,  über  alle  Ge- 
meindeglieder, ihre  Söhne,  Töchter,  Knechte  und  Mägde  ergossen 
werden,  Träume  bei  den  Aeltesten,  Visionen  bei  der  Jungmann- 
schaft hervorrufen  und  die  Kinder  weissagen  lassen  soll.  Hier  ist 
zweifellos  auf  die  alten  Traditionen  über  die  Laienekstase  zurück- 
gegriffen und  die  Endhoffnung  also  an  die  Wiederkehr  des  Uni- 
versalismus der  Prophetengabe  geknüpft.  Die  Konzeption  ist 
für  die  Entwicklung  des  Christentums  wichtig  geworden.  Unter 
Berufung  auf  diese  ausführlich  zitierte  Stelle  wird  (Art.  2,  16  ff.) 
über  das  Pf ingst wunder  berichtet.  Auf  dies  Wunder  legte  offen- 
bar nur  um  ihretwillen:  weil  darnach  das  Bevorstehen  des 
(christlich  verstandenen)  Tages  »des  Herren«,  wie  Joel  es  ange- 
kündigt hatte,  sicher  schien,  die  christliche  Mission  so  großes 
Gewicht.  Für  die  urchristliche  Frömmigkeit  war  durch  diese 
und  nur  diese  Stelle  in  der  jüdischen  prophetischen  Literatur 
der  »Geist«  als  eine  ekstatische  Massen  er  scheinung,  wie  sie 
für  die  christliche  Gemeinde,  im  stärksten  Gegensatz  zur  vor- 
exilischen  Prophetie,  charakteristisch  war,  legitimiert. 

Innerhalb  der  jüdischen  Entwicklung  zeigen  solche  Stellen 
nur,  daß  der  genuine  »Geist«  der  alten  Prophetie  im  Schwinden 
war.  Er  schwand  nicht  etwa  kraft  einer  »immanenten«  psychi- 
schen Gesetzlichkeit  geheimnisvoller  Art.  Sondern  er  schwand, 
weil  die  Polizei  der  Priestermacht  innerhalb  der  jüdischen 
Gemeinde  der  ekstatischen  Prophetie  ganz  ebenso  Herr  wurde 
wie  das  bischöfUche  und  Presbyter-Amt  der  pneumatischen 
Prophetie  in  der  altchristlichen  Gemeinde.  Das  ekstatische 
prophetische  Charisma  hat  auch  weiterhin  im  Judentum  existiert. 
Die  Visionen,  welche  Daniel  und  Henoch  zugeschrieben  werden, 
sind  ekstatischen  Charakters  und  ebenso  zahlreiche  Erlebnisse 
anderer  Apokalyptiker,  wenn  auch  der  psychische  Tatbestand 
sowohl,  wie  die  Sinndeutung,  gegenüber  der  alten  Prophetie 
stark  verschoben  sind  und  vor  allem  die  schriftstellerische  Kunst - 
form  stark  über  das  aktuelle  emotionale  Erleben  die  Oberhand 
gewinnt.  Aber  von  all  diesen  späteren  Schriften  hat  nur  das  Paniel- 
buch  sich  offizielle  Anerkennung  und  später  Aufnahme  in  den 
Kanon  zu  erzwingen  gewußt.  Alle  anderen  wurden  toleriert, 
galten  aber  als  unklassische  Privatarbeiten  oder  geradezu  als 
heterodox.  Der  Betrieb  dieses  Sehertums  wurde  damit  Ange- 
legenheit   von    Sekten    und    Mysteriengemeinschaften.     Ebenso 


i3q3  Das  antike  Judentum. 

gab  es  aktuelle  religionspolitische  Prophetie  bis  in  die  Endzeit 
des  zweiten  Tempels.  Der  populären  Meinung  stand  die  Gött- 
lichkeit der  Prophetengabe  fest  und  alle  Propheten  hatten  Zu- 
lauf. Aber  die  Priester  standen  zu  ihnen  stets  im  Gegensatz. 
Der  priesterlichen  Reform  Esras  und  Nehemias  standen  die 
Vertreter  der  politischen  Prophetie  feindlich  gegenüber.  Von 
den  Orakeln  solcher  Propheten  ist  nichts  erhalten:  die  Priester 
rez'.pierten  nur,  was  sich  der  priesterlichen  Gemeindeordnung 
einfügte.  Eine  gewisse  Diskreditierung  des  prophetischen  Charis- 
ma war  dadurch  erleichtert,  daß  die  Orakel  einander  widerspra- 
chen. Schon  der  Gegensatz  der  Orakel  des  Jesaja  und  Micha, 
Jesaja  und  Jeremia,  Jeremia  und  Hesekiel  hatte  den  Glauben 
erschüttern  müssen:  daß  jede  prophetische  Ekstase  als  solche 
die  Gewähr  in  sich  trage,  Trägerin  göttlicher  Verkündigung 
zu  sein.  Woran  sollte  man  nun  die  Echtheit  der  Prophetie  er- 
kennen ?  Die  Wundermacht  hatten  erfahrungsgemäß  auch  falsche 
Propheten  besessen  (Deut.  13,  3).  Seit  dem  Deuteronomisten 
(18,  22)  antwortete  man  auf  jene  Frage;  am  Eintreffen  der 
Weissagung.  Indessen  das  war  für  die  Zeit  bis  dies  sich  entschied, 
also  gerade  für  die  Zeit  auf  die  es  ankam,  kein  Kriterium.  Daher 
hatte  Jeremia  (23,  22)  als  zweites  Merkmal  angegeben  :  daß 
der  Prophet  nur  dann  echt  sei,  wenn  er  die  Sünder  korrigiere, 
also  die  Gemeinde  an  Jahwe  und  sein  Gesetz  binde, 
sonst  sei  er  ein  Lügenprophet  —  was  wiederum  in  der  zunehmen- 
den Rolle  des  ethischen  Kriteriums  in  der  altchristlichen 
Gemeinde  seine  Parallele  findet.  Der  festgefügte  Respekt  vor 
der  Arbeitsleistung  der  levitischen  Thora  trug  hier  seine 
Früchte  in  der  jüdischen  wie  später  die  Rezeption  des  »Alten 
Testaments«  in  der  christlichen  Gemeinde.  Innerhalb  der  nach- 
exilischen  Gemeinde  gelang  es  den  Priestern,  das  Prestige  der 
alten  Nabi-Ekstase  völlig  zu  brechen.  Das  Resultat  liegt  vor  in 
Deuterosacharjas  Verhöhnung -der  Propheten  als  der  Träger  des 
Geistes  »der  Unreinheit«  (13,  i  ff.).  Mit  den  Götzen  werden  am 
Tage  Jahwes  auch  die  Propheten  aus  dem  Lande  getrieben. 
Wer  sich  als  solcher  gebärdet,  den  werden  seine  Eltern  als  Be- 
trüger entlarven  und  erstechen,  er  wird  sich  seiner  Traumge- 
sichte schämen,  kein  Haarkleid  (Prophetenmantel)  mehr  anziehen, 
zugestehen,  daß  er  ein  Bauer  ist  und  daß  seine  angeblichen  Stig- 
mata von  den  Nägeln  von  Huren  herrühren.  In  der  Form  dieser 
schnöden  Selbst  Verspottung  der  Prophetie  zwang  die  priesterliche 


I 


II.    Die  Entstehung  des  jüdischen  Pariavolkes.  -jgg 

Redaktion  diese  gefährliche  Konkurrentin,  sich  selbst  das  Leben 
zu  nehmen.  Wie  in  der  christlichen  Amtskirche,  so  galt  fortan 
auch  im  offiziellen  Judentum  das  prophetische  Zeitalter  als 
geschlossen,  der  prophetische  Geist  als  erloschen:  die  überall 
bei  voller  Entfaltung  der  priesterlichen  Hierokratie  zu  deren 
Sicherung  gegen  religiöse  Neuerer  eintretende  Entwicklung. 
Der  zuerst  bei  Tritojesaja  in  einer  der  nachdrücklichsten  prophe- 
tischen Bußpredigten  (63,  10.  11)  auftretende  Ausdruck  »ruach 
ha  kodesch«  (in  der  LXX  mvevjua  ro  äytov,  »heiliger  Geist«) 
wird  in  einem  tief  pessimistischen  Bußpsalm  (51,  13)  wieder  wie 
dort  als  ein  Habitus  des  in  Jahwes  Gnade  Stehenden  aufgefaßt. 
Die  Taube,  das  Symbol  des  verfolgten  Israel  (Psalm  74,  19), 
wird  von  den  Rabbinen  zugleich  als  Trägerin  dieses  Habitus 
gebraucht,  der  von  dem  christlichen  emotionalen  Pneuma  inner- 
lich ebenso  tief  verschieden  ist,  wie  von  dem  alten  Prophetengeist, 
den  nach  der  späteren  Lehre  seit  Maleachi  niemand  mehr  er- 
langt hat.  Auch  jetzt  noch  kann  zwar,  wenn  Gott  es  will,  eine 
geheimnisvolle  himmlische  Stimme  (bath  kol)  als  lauter  Ruf  oder 
leises  Flüstern  gehört  werden.  Aber  sie  zu  hören  ist  keine 
Prophetengabe.  Denn  sie  ertönt  Sündern  je  nach  den  Umständen 
ebenso  wie  Gerechten  und  Lehrern,  in  der  Art  wie  auch  im 
Neuen  Testament,  Unheil  oder  Glück  und  Größe  kündend  oder 
zur  Bekehrung  rufend.  Sie  zu  hören  ist  kein  Vorzugsbssitz 
Einzelner;  man  kann  sie  gar  nicht  »besitzen«  oder  von  ihr  be- 
sessen werden,  wie  einst  die  Propheten  von  Jahwes  Geist.  Sie 
zu  vernehmen  ist  (Yoma  9  b)  zwar  eine  Gnadengabe  für  Israel, 
aber  eine  mindere  als  der  alte  Prophetengeist. 

Der  zunehmende  bürgerliche  Rationalismus  des  in  die  (re- 
lativ) befriedete  Welt  zuerst  des  Perserreichs,  dann  des  Hellenis- 
mus eingebetteten  Volks  hatte  den  Priestern  diese  Erstickung 
der  Prophetie  ermöglicht.  Daneben  die  schriftliche 
Fixierung  der  maßgebenden  Tradition  und  die  dadurch  bedingte 
Aenderung  der  Lehre  und  Sittendisziplin.  Als  die  politischen 
Ereignisse  der  Makkabäerzeit  wieder  das  Auftreten  von  Leitern 
des  Demos  gegen  die  vornehme  Priesterschaft  und  die  hellenisti- 
sche Indifferenz  der  Reichen  und  Gebildeten  herbeiführte,  hatten 
diese  Demagogen  daher  ein  gänzlich  anderes  Gepräge  als  die 
Propheten  der  Vergangenheit. 

Die  Gestaltung  der  Frömmigkeit  in  der  nunmehr  vom  pr(j- 
phetischen  Charisma  entblößten  jüdischen  Gemeinschaft  wurde 


AQQ  Das  antike  Judentum, 

abermals  sehr  wesentlich  mitbestimmt  durch  jene  soziale  Gliede- 
rung, welche  die  Nehemia-Berichte  erkennen  lassen.  Die  »From- 
men«, die  chasidim,  wie  sie  namentlich  in  der  frühmakkabäischen 
Zeit,  die  'anawim,  wie  sie  daneben  in  den  Psalmen  genannt 
\vurden,  die  Hauptträger  der  nun  beginnenden  Entwicklung 
der  jüdischen  Religiosität,  sind  vornehmlich  (wenn  auch  gewiß 
nicht  ausschließlich)  ein  städtischer  Demos  von  Ackerbürgern, 
Handwerkern,  Händlern  und  stehen  in  der  typisch  antiken  Art 
in  oft  äußerst  schroffem  Gegensatz  zu  den  begüterten  stadt- 
und  landsässigen  Geschlechtern,  weltlichen  sowohl  wie  priester- 
lichen. Das  war  an  sich  nichts  Neues.  Neu  war  nur  der  Grad  und 
die  Art,  in  welcher  dieser  Kampf  sich  jetzt  äußerte.  Schuld  daran 
trug  der  wesentlich  städtische  Charakter  des  Demos.  In  der 
vorexilischen  Prophetie  noch  lediglich  Objekt  der  von  den  pro- 
phetischen und  levitischen,  insbesondere  deuteronomistischen 
Kreisen  gepredigten  Karität,  beginnen  die  Frommen  jetzt  ihrer- 
seits sich  auszusprechen  und  als  Jahwes  erwähltes  Volk  im  Gegen- 
satz zu  ihren  Gegnern  zu  fühlen.  Die  Stätte,  an  welcher  in  unseren 
Quellen  ihre  religiöse  Stimmung  am  deutlichsten  zum  Ausdruck 
kommt,  ist:  der  Psalter. 


1 


40I 


Nachtrag. 

Die  Pharisäer. 

Der  Pharisäismus  als  Sektenreligiosität  S.  401.  —  Die  Rabbinen  S.  408.  — 
Lehre  und  Ethik  des  pharisäischen  Judentums  S.  417.  —  Der  Essenismus,  sein 
Verhältnis  zur  Lehre  Jesu  S.  423.  —  Zunehmende  rituelle  Absonderung  der  Juden 
S.  434.  —  Proselytismus  in  der  Diaspora  S.  436.  —  Propaganda  der  christlichen 
Apostel  S.  439. 

Seit  der  Makkabäerzeit  vollzog  sich  jene  überaus  wichtige 
Umwandlung  im  Judentum,  welche  ihm  schließlich  den  end- 
gültigen Charakter  aufprägte :  die  Entwicklung  des  Phari- 
säismus. Ihre  Vorläufer  reichen  in  die  nationale  Erhebung  der 
Makkabäerzeit  selbst  zurück.  Das  zunächst  im  Mittelpunkt 
Stehende  war  die  Reaktion  gegen  den  Hellenismus  ^),  dem  die 
oberen  Schichten  verfielen.  Die  Psalmen  erwähnen  die  »Chasidim« 
als  die  »Frommen«,  als  diejenigen,  heißt  das,  welche  am  Brauch 
der  Väter  festhielten.  Sie  waren  die  Anhänger  des  Judas  Makka- 
bäus,  die  einerseits  —  entgegen  der  ganz  strengen  Auslegung  des 
Gesetzes  —  auch  am  Sabbat  fochten,  andrerseits  besonders  nach- 
drücklich die  alte  Gesetzestreue  betonten.  Es  scheint  irrig,  in 
ihnen,  den  »Heiligen  der  alten  Zeit«  (Chasidim-ha-Rischonim) , 
wie  sie  der  Talmud  nennt,  eine  besonders  organisierte  Sekte  zu 
vermuten,  obwohl  einige  Stellen  ^)  dies  nahelegten ;  sondern  die 
auvaywyif]  'AatSacwv  der  Makkabäerbücher  ist  wohl  einfach  der 
kahal  chasidim  der  Psalmen,  die  Versammlung  des  frommen, 
antihellenistisch  gesinnten  Volks,  welches  die  Bewegung  stützte  ^) . 
Neben  den  »Zad  'kim«  gedenken  noch  die  i8  Segenssprüche  der 
»Chasidim«,  was  allein  schon  gegen  ihren  Sektencharakter  spricht. 


^)  Die  schwere  Gefahr  der  Hellenisierung  meint  wohl  Psalm  12,  2. 
2)  S.  Makkab.  7,  12. 

^)  Einerlei  ob  ihre  direkt  militärische  Leistung  vielleicht,  wie  Wellhausen 
annimmt,  gering  war. 

Max  Weber,   Religionssoziologie  III.  26 


402  Nachtrag. 

Gewisse  Eigentümlichkeiten :  so  die  Gepflogenheit,  vor  dem  ritu- 
ellen Gebet  sich  eine  Stunde  meditierend  zu  sammeln,  werden 
ihnen  immerhin  zugeschrieben.  Die  Bewegung  starb  ab  ^), 
als  sich  die  Makkabäerherrschaft,  notgedrungen,  den  Bedürfnissen 
eines  weltlichen  Kleinstaats  akkommodierte  und  ausgeprägte 
Züge  eines  hellenistischen  Kleinkönigtums  annahm.  Die  Er- 
kenntnis, daß  dies  politisch  unvermeidlich  sei,  hat  bei  den  From- 
men damals  geradezu  die  Ueberzeugung  entstehen  lassen,  daß 
die  Fremdherrschaft  einem  angeblich  jüdischen,  daher  das  natio- 
nale Prestige  genießenden,  aber  unvermeidlich  dem  strengen 
Gesetz  untreuen  Judenkönig  vorzuziehen  sei,  wie  sie  noch  in  der 
von  den  Frommen  an  Augustus  nach  Herodes  Tode  gerichteten 
Bitte,  nicht  den  Archelaos  zum  Herrscher  zu  machen,  zum  Aus- 
druck kam.  An  Stelle  der  chassidischen  trat  seit  jener  Zeit  die 
»pharisäische«  Bewegung  2). 

Peruscha  (Plural  peruschim,  aramäisch  perixhaya,  darnach 
das  hellenische  ^aptaatot)  heißt  jemand,  der  sich  »fernhält«, 
—  von  unreinen  Personen  und  Sachen  natürlich.  Dies  war  der 
Sinn  auch  der  alten  Chasidim-Bewegung.  Aber  die  Pharisäer 
geben  der  Bewegung  die  Form  eines  Ordens,  einer  »Bruder- 
schaft«, chaburah,  in  den  nur  aufgenommen  wurde,  wer  sich  vor 
drei  Mitgliedern  förmlich  zur  strengsten  levi tischen  Reinheit  ver- 
pflichtete. Nicht  jeder  freilich,  der  als  »Pharisäer«  tatsächlich 
lebte,  trat  auch,  als  chaber,  in  den  Orden.  Aber  der  Orden  bildete 
den  Kern  der  Bewegung.  In  allen  Städten,  wo  Juden  lebten, 
hatte  er  seine  Verzweigungen.  Seine  Mitglieder  beanspruchten, 
weil  sie  in  der  gleichen  Reinheit  lebten,  die  gleiche  persönliche 
Heiligkeit  für  sich  wie  die  korrekt  lebenden  und  eine  höhere  als 
die  unkorrekt  lebenden  Priester.  Das  Charisma  des  Priesters  als 
solchen  wurde  entwertet  zugunsten  der  persönlichen  durch  den 
Lebenswandel  bewährten  religiösen  Qualifikation.  Diese  Wand- 
lung ist  naturgemäß  erst  allmählich  eingetreten.  Noch  im 
2.  Jahrhundert,  zur  Zeit  der  Abfassung  des  Buchs  der  Jubiläen, 
waren  die  Gelehrten  und  Lehrer  die  religiösen  Führer  des  Bürger- 
tums, zum  mindesten  in  aller  Regel  noch  Angehörige  priester- 
licher und  levitischer  Geschlechter.  Die  gegenüber  den  nationalen 
und  religiösen  Erwerbungen  der  Frommen  schwankende  und  oft 


1)  Man  rechnet  ihr  Ende  gewöhnlich  mit  Joshua  Katnuta. 
')  Ueber  sie  jetzt:    Elbogen,    Die  Relig.  Ansch.  der  Pharisäer.    Berlin 
1904. 


Die  Pharisäer.  ^03 

anstößige,  weil  unvermeidlich  zu  politischen  Kompromissen 
genötigte  und  geneigte  Haltung  der  Aristokratie  änderte  diese 
Lage  allmählich  gründlich. 

Das  für  das  Judentum  Entscheidende  an  der  Bruderschafts- 
bewegung war :  nicht  nur  von  den  Hellenen,  sondern  auch  und 
gerade  von  den  nicht  heilig  lebenden  Juden  sonderten  sie  sich 
ab.  Es  entstand  der  Gegensatz  der  pharisäischen  »Heiligen« 
gegenüber  den  'am  ha-arez  ^),  den  »Landleuten«,  den  »Unwis- 
senden«, die  das  Gesetz  nicht  kennen  und  nicht  halten. 
Der  Gegensatz  wurde  auf  das  äußerste  gesteigert,  bis  an  die 
Grenze  der  rituellen  Kastenabsonderung.  Der  chaber  muß  sich 
verpflichten,  einen  Priester  oder  Leviten,  der  kein  rituell  rein 
lebender  Jude,  also  ein  'am  ha-arez  ist,  nicht  in  Anspruch  zu 
nehmen,  keine  Tischgemeinschaft  mit  Heiden 
oder  mit  'am  h  a-a  rez  zu  halten,  Connubium  und 
Assoziation  mit  ihnen  zu  meiden  und  überhaupt  den  Verkehr  mit 
ihnen  aufs  äußerste  einzuschränken.  In  dieser  Schärfe  war 
das  eine  Neuerung.  Wohl  nicht  überall,  aber  selbst- 
verständlich sehr  oft  war  die  Entstehung  furchtbaren  Hasses 
zwischen  den  Chaberim  und  dem  'am  ha-arez  die  Folge :  die  zorn- 
sprühenden Reden  von  Jesus  von  Nazareth  gegen  die  Pharisäer 
geben  davon  Zeugnis  genug.  Hier  also  haben  wir :  die  Sekte. 
Und  zwar  die  interlokale  Sekte,  die  Sekte,  welche  dem  chaber, 
der  in  einen  fremden  Ort  kam,  mit  Empfehlungsbriefen  seiner 
Bruderschaft  versehen,  sofort  Heimatsrecht  in  einer  Gemeinschaft 
Gleichgesinnter  verschaffte,  die  deshalb  zu  seinen  Gunsten  sozial 
(und,  ungewollt,  aber  tatsächlich:  auch  ökonomisch)  genau  so 
wirkte,  wie  Sekten  überall  (am  stärksten  in  den  Gebieten  der 
puritanischen  und  täuferischen  Sekten  der  Neuzeit)  gewirkt  haben. 
Von  den  Pharisäern  hat  Paulus  die  Technik  der  Propaganda  und 
der  Schöpfung  einen  unzerstörbaren  Gemeinschaft  gelernt.  Der 
gewaltige  Aufschwung  der  jüdischen  Diaspora  seit  der  Makka- 
bäerzeit  und  die  völlige  Unerschütterlichkeit  ihres  Bestandes  durch 
die  fremde  Umwelt,  von  der  sie  sich  absonderten,  war  zu  einem 
sehr  wesentlichen  Teile  das  Erzeugnis  ihrer  Bruderschaftsbe- 
wegung.  Ihre  historische  Bedeutung  gerade  für  die  Diaspora  und 


')  Der  Name  'am  ha-arez  ist  seit  der  Redaktion  der  Bücher  Esra  (IX,  i)  und 
Nehemia  (X,  31)  technisch.  Als  eine  religiös  minderwertige  »Masse«  aber  ent- 
standen sie  im  Gegensatz  zunächst  zu  den  Chasidim,  dann  den  Pharisäern,  seit 
der  Makkabäerzeit. 

26* 


404  Nachtrag. 

für  die  Prägung  der  jüdischen  Eigenart  wird  noch  klarer,  wenn 
wir  die  praktischen  Leistungen  der  Pharisäer  betrachten. 

Der  Gegner  der  Pharisäer  war  die  jüdische  Bluts- Aristokratie 
der  großen  patrizischen  Geschlechter  und  vor  allem :  der  Priester- 
adel der  Zadokiden  (»Sadduzäer«)  und  alles,  was  mittelbar  an 
ihm  hing.  Gewiß  nicht  der  Form  und  äußeren  Haltung  nach :  auf 
das  strengste  hält  gerade  der  fromme  Pharisäer  darauf,  daß  alles 
dem  Priestergesetz  entsprechend  richtig  verzehntet  wurde.  Aber 
der  Sache  nach.  Schon  durch  die  Forderung:  daß  der  Priester  im 
pharisäischen  Sinn  korrekt  lebe,  um  Verwendung  zu  finden. 
Dazu  traten  nun  die  von  den  Pharisäern  teils  als  Bruderschaft 
offiziell,  teils  unter  dem  Druck  ihres  Einflusses  geschaffenen  Ge- 
meindeinstitutionen. Denn  die  »Gemeinde«  wird  jetzt  Träger 
der  Religion,  nicht  mehr  das  Erbcharisma  der  Priester  und  Le- 
viten. Abgesehen  von  einer  Reihe  kleiner  ritueller  Differenzen 
trat  dies  in  folgenden  Neubildungen  am  deutlichsten  hervor. 

Die  Bruderschaften  hielten  ihre  Eucharistien  (»Liebesmahl«), 
ganz  ähnlichen  Charakters  und  sicherlich  vorbildlich  für  die  spätem 
christlichen  Institutionen  gleicher  Art.  Auch  die  Segnungen  der 
Mahlzeit  bestanden  schon  ganz  ähnlich.  Die  Pharisäer  schufen 
ferner  die  sehr  populäre  Wasser-Prozession  —  ähnlich  wie  die 
Prozession  der  charitonitischen  Gurus  in  Indien.  Sie  schufen  vor 
allem :  die  Synagoge,  die  bald  zu  besprechende  zentrale  Institution 
des  Spät  Judentums,  welche  dem  Diaspora- Juden  den  priester- 
lichen Kult  ersetzte,  und  den  höheren  und  niederen  Unterricht 
im  Gesetz,  der  für  die  Prägung  des  Judentums  grundlegend  wurde. 
Langsam  aber  tiefgreifend  änderten  sie  ferner  den  Sinn  des 
Sabbat  und  der  Feste.  An  Stelle  des  priesterlichen  Tempelfests 
trat  —  ganz  wie  wir  dies  auch  als  Symptom  der  Emanzipation 
von  den  Brahmanen  in  Indien  bemerkten  —  das  häusliche  oder 
synagogale  Fest  und  damit  eine  unvermeidliche  Entwertung  des 
Opfers  und  des  Priest ertums,  schon  ehe  der  zweite  Tempel  fiel. 
Vor  allem:  man  geht  jetzt  zum  gesetzeskundigen  Lehrer,  nicht 
mehr  zum  Priester,  wenn  man  in  äußerer  oder  innerer  Not  oder 
im  Zweifel  über  rituelle  Pflichten  ist.  Die  Entscheidungen  der 
im  pharisäischen  Sinn  gebildeten  Soferim  galten  dem  Juden  als 
Gesetz,  —  Tod  als  Folge  ihrer  Uebertretung.  Aber  dafür  nimmt 
der  Sofer  auch  das  Recht  in  Anspruch,  von  Gesetz  und  Gelübden 
gegebenenfalls  dispensieren  zu  können,  eine  begreiflicherweise 
höchst  populäre  Funktion.  Und  die  Art,  wie  gerade  der  pharisäisch 


Die  Pharisäer. 


405 


geschulte  Sofer  seine  Entscheidungen  gab,  akkommodierte  sich 
—  bei  aller  Strenge  der  rituellen  Reinheitsforderung  —  ganz 
wesentlich  dem  Interesse  der  bürgerlichen  Schichten.  Insbe- 
sondre der  Kleinbürger,  in  denen  die  Bruderschaften  hier  wie 
stets  vornehmlich  wurzelten.  Die  philosophische  Spekulation 
wurde  naturgemäß  als  gefährlich  und  vor  allem  als  hellenistisch, 
abgelehnt.  Man  soll  nicht  über  die  Gründe  der  Ritual  Vorschriften 
grübeln,  sondern  sie  einfach  erfüllen:  »die  Furcht  vor  der  Sünde 
geht  über  die  Weisheit.«  Aber  dieser  Verwerfung  des  philo- 
sophischen Rationalismus  ging  ein  praktisch-ethischer  Rationalis- 
mus von  jenem  Typus  zur  Seite,  wie  ihn  Kleinbürgerschichten 
zu  entwickeln  pflegen.  Praktische  Alltagsbedürfnisse  und  der 
»gesunde  Menschenverstand«  beherrschen  die  Art  der  Erörterung 
und  Austragung  von  Kontroversen.  Und  diese  waren  gerade  in 
der  für  die  Prägung  des  Judentums  entscheidenden  Zeit :  in  den 
je  zwei  Jahrhunderten  vor  und  nach  Beginn  unserer  Zeitrechnung 
in  überaus  geringem  Umfang  »dogmatischen«  Charakters  (so  daß 
die  Existenz  und  selbst  die  Möglichkeit  und  religiöse  Zulässigkeit 
einer  jüdischen  Dogmatik  bisher  prinzipiell  strittig  blieb),  viel- 
mehr durch  und  durch  auf  die  Fragen  des  Alltags  ausgerichtet. 
Wie  die  Propheten  im  Talmud  wegen  ihrer  »Verständlichkeit« 
für  jedermann  hoch  gewertet  werden,  so  ist  auch  alle  Talmud- 
Lehre  unmittelbar  verständlich,  dem  bürgerlichen  Durchschnitts- 
denken angepaßt  und  in  diesem  Sinn  »rational«.  Ueberall  haftete 
die  sadduzäische  Praxis  am  Buchstaben:  z.  B.  an  der  wörtlichen 
Erfüllung  des  Talion:  »Auge  für  Auge«;  die  pharisäische  Praxis, 
wie  sie  etwa  R.  Simon  ben  Jochai  repräsentierte,  ging  dagegen 
auf  die  »ratio«  der  Vorschriften  ein  und  schaltete  sinnwidrige 
Vorschriften  aus  oder  deutete  sie  um  (es  wurde  z.  B.  statt  der 
Talion  Buße  nach  Einigung  zugelassen).  Die  pharisäische  Praxis 
kam  den  ökonomischen  Interessen  der  Frommen  —  die  an  ihnen 
als  den  Vertretern  verinnerlichter  Frömmigkeit  hingen  —  ent- 
gegen: namentlich  die  Uebernahme  der  Ketubah-Verschreibung 
und  anderer  ehegüterrechtlicher  Schutzmaßregeln  scheint  ihr 
Werk  gewesen  zu  sein.  Der  ethische  Rationalismus  zeigt  sich  in 
der  Behandlung  der  Tradition.  Das  »Buch  der  Jubiläen«,  eine 
spezifisch  pharisäische  Leistung  ^),  retouchicrte  die  gesamte 
Schöpf ungs-  und  Erzväter- Geschichte  im  Sinn  der  Ausmerzung 

*)  Geschrieben  Ende  des  2.  Jahrhunderts  v.  Chr.    Charles,  The  Book 
of  Jubilees  London  1902, 


406 


Nachtrag. 


des  Anstößigen.  Auf  der  andern  Seite  aber  paßte  man  sich  de 
überall  in  der  Welt  urwüchsigen  Geisterglauben  an.  Die  durch 
persische  Einflüsse  mitbestimmte  gemeinorientalische  Angelo- 
und  Dämonologie,  wie  sie  auch  das  antike  Spätjudentum  kennt, 
wurde  ganz  wesentlich  unter  pharisäischem  Einfluß  und  durchaus 
entgegen  den  vornehmen  Bildungsschichten  akzeptiert.  Neben 
der  Akkommodation  an  gegebenen  Massenglauben  auch  aus 
»rationalen«  Gründen:  der  höchste  Gott  wurde  dadurch  von  der 
Verantwortung  für  die  Brüchigkeit  und  Unvollkommenheit  der 
Welt  wenigstens  teilweise  entlastet.  Die  Steigerung  des  Vor- 
sehungsglaubens ^)  und  die  starke  Betonung  der  »Gnade«  Gottes 
entstammt  ähnlichen  Motiven  in  andrer  Wendung  und  entspricht 
den  überall  verbreiteten  religiösen  Tendenzen  plebejischer  Schich- 
ten. Der  bürgerliche  Charakter  der  die  Religiosität  vornehmlich 
tragenden  Schichten  erklärt  auch  die  bedeutende  Verstärkung, 
welche  die  Heilands-  und  Jenseitserwartungen  unter  dem  Ein- 
fluß der  Pharisäer  erfuhren :  die  messianische  Hoffnung  und  der 
Glaube  an  Auferstehung  der  Toten  zu  einem  bessern  Leben 
wurden  durchaus  von  Pharisäern  getragen,  und  mindestens  der 
letztere  wurde  von  den  vornehmen  Sadduzäern  unbedingt  und 
entschieden  abgelehnt. 

Auf  der  andern  Seite  waren  freilich  die  pharisäischen  An- 
sprüche an  den  frommen  Juden  sehr  bedeutende.  Das  »himm- 
lische Königreich«  sollte  verbreitet  werden,  das  »Joch«^)  dieses 
Königreichs  (ol  malkas  schamajim)  oder  das  »Joch  der  Gebote« 
(ol  hamizwoth)  mußte  auf  sich  nehmen,  wer  daran  teilhaben 
wollte.  Das  ist  nur  durch  ein  strenges  Training  möglich,  wie  es 
die  pharisäischen  Rabbinen  in  den  Lehrinstitutionen  des  Spät- 
judentums anstrebten.  »Heiligkeit«  des  Lebens  wird  verlangt. 
Rein  um  Gottes  willen,  nicht  um  Lohn  und  Vorteil,  sollen  seine 
Gebote  gehalten  werden.  Vor  allem  aber:  jene  Gesetze,  welche 
der  strengen  Scheidung  der  Frommen  von  den  Heiden  und 
»Auch- Juden«  dienten.  Beschneidung  und  Sabbatruhe  galten 
nun  um  dieses  ihres  Sondercharakters  willen,  zur  Unterscheidung 
von  den  andren    als   absolut    zentrale   Gebote  und  der    Sabbat 


1)  stets  freilich  hat  wenigstens  die  orthodoxe  heidnische  Prädestination  die 
behirah,  die  ethische  Willensfreiheit:  Wahlfreiheit  zwischen  Heil  oder  Verderben, 
unangetastet  gelassen.  Man  hat  es  gelegentlich  vorgezogen,  Gottes  Allwissen- 
heit als  eine  nur  bedingte  vorzustellen,  als  daran  zu  rütteln. 

^)   So  heißt  es  auch  im  täglichen  Gebet,  der  »Schoma« 


b 


Die  Pharisäer.  407 

wurde,  was  die  Schwere  der  Beurteilung  seiner  Verletzung  an- 
langt, offenbar  ganz  wesentlich  verschärft. 

Und  es  ist  auch  klar  und  für  unsere  Zusammenhänge  wichtig : 
in  welcher  Richtung.  Das  Pharisäertum  war  seinem  Schwerpunkt 
nach  bürgerlich-städtischen  Charakters.  Keine  Rede  davon,  daß 
dies  in  persönlicher  Hinsicht  exklusiv  der  Fall  gewesen  wäre. 
Im  Gegenteil:  eine  ganz  erhebliche  Anzahl  der  bedeutendsten 
talmudischen  Rabbinen  waren  Grundbesitzer.  Aber  die  Art  der 
Heiligkeit,  welche  sie  pflegten,  und  das  Gewicht,  welches  auf 
die  (hebräische,  also :  zunehmend  fremdsprachliche)  Bildung 
gelegt  wurde,  —  wie  wir  noch  sehen  werden  —  und  zwar  nicht 
nur  bei  den  Autoritäten,  sondern  bei  jedermann,  schloß  es  zu- 
nehmend aus,  daß  der  Schwerpunkt  ihrer  Anhänger  unter  den 
Bauern  gefunden  werden  konnte.  Es  ist  kein  Zufall,  daß  'am 
ha-arez,  der  Nicht-Pharisäer,  eben  ursprünglich  der  »Landmann« 
ist,  daß  auch  die  jüdischen  Kleinstädte  mindestens  nicht  führend 
sein  konnten:  »was  kann  von  Nazareth  Gutes  kommen«?  Die 
chabarah,  der  pharisäische  Orden,  war  ja  ein  Ersatz  des  bäuer- 
lichen Nachbarverbands  für  nicht  mehr  bodenständige  Stadt - 
insassen  und  als  solcher  deren  äußeren  und  inneren  Interessen 
adäquat.  Die  Umgestaltung  des  Judentums  zu  einem  inter- 
lokalen wesentlich  stadtsässigen,  jedenfalls  dem  Schwerpunkt 
nach  nicht  bodensässigen  Gastvolk  ist  ganz  wesentlich  unter 
pharisäischer  Führung  erfolgt. 

Die  im  ganzen,  doch  sehr  starke  Verschiebung  der  jüdischen 
Religiosität  haben  die  Pharisäer  nur  zum  Teil  kraft  der  Beherr- 
schung der  traditionellen  Gewalten  vollzogen.  Unter  Johannes 
Hyrkanus  waren  sie  eine  mächtige  Partei,  Salome  Alexandra 
(78 — 69)  lieferte  ihnen  den  Sanhedrin  aus,  Aristobulos  stieß  sie 
wieder  hinaus,  während  Herodes  sich  gut  mit  ihnen  zu  stellen 
suchte.  Ihre  endgültige  Herrschaft  begann  mit  dem  Sturz  des 
Tempels:  nunmehr  wurde  alles  Judentum  pharisäisch,  die  Saddu- 
zäer  eine  heterodoxe  Sekte.  Aber  schon  vorher  hatte  Umgestal- 
tung der  rehgiösen  Autorität  begonnen,  welche  für  ihre  Herr- 
schaft entscheidend  war.  Die  Geburtsaristokratie  hatte  der 
»Bildungs «-Aristokratie  zu  weichen:  Nachkommen  von  Pro- 
selyten  sind  oft  die  allerbesten  Köpfe  der  Pharisäer  gewesen.  Vor 
allem  aber  ist  der  Machtaufstieg  der  Rabbinen  ein  Produkt 
der  pharisäisch-bürgerlichen  Entwicklung  des  Judentums.  Die 
Rabbinen  waren  in  den  entscheidenden  Zeiten  der  Entwicklung 


408  Nachtrag. 

des  Judentums,  eine  Schicht,  wie  sie  nur  im  Christentum  der 
ersten  Zeit  und  in  den  christHchen  Sekten  sich  —  immerhin  nur 
sehr  entfernt  ähnHch  —  wiederfinden. 

Die  Rabbinen  sind  nicht  etwa  eine  »pharisäische  Institution«: 
sie  haben  mit  der  Bruderschaft  formell  nicht  das  mindeste  zu 
tun.  Aber  sie  hängen  im  Anfangsstadium  ihrer  Entwicklung  auf 
das  Engste  mit  jener  Bewegung  zusammen;  die  hervorragenden 
Lehrer  der  Epoche,  in  welcher  die  Mischnah  entstand,  waren, 
wenn  nicht  der  Form,  doch  ihren  Ansichten  nach  Pharisäer  und 
der  »Geist«  des  Pharisäismus  bestimmte  ihre  Lehre.  Vorweg 
zu  bemerken  ist,  daß  der  Name  »Rabbi«  (von  Rab,  groß,  also 
Rabbi  =  »Mein  Meister«),  soweit  jüdische  Quellen  reichen,  erst 
nach  dem  Tempelsturz  ^)  zum  festen  Titel  wurde  ^) .  Vorher  war 
»Sofer«,  Schriftkundiger,  eine  Bezeichnung  mit  festem,  sachlichem 
Inhalt,  der  »Lehrer«  aber  die  Respektsperson.  Es  wird  gleich- 
wohl unbedenklich  sein,  den  Ausdruck  schon  für  die  Zeit  vor  dem 
Untergang  Jerusalems  für  die  schriftgelehrten  Autoritäten  der 
Gemeinde  zu  brauchen,  da  die  Anrede  höchst  wahrscheinlich 
zwar  nicht  nur,  aber  sicher  auch  und  vor  allem  ihnen  schon  damals 
gegeben  wurde.    Was  sind  nun  die  »Rabbinen«  in  diesem  Sinn? 

Eine  formelle  Legitimation  als  »Rabbi«  gab  es  erst  seit  der 
Entstehung  des  Patriarchats,  d.  h.  also  nach  dem  Tempelsturz: 
die  Rabbinen  bedurften  damals  der  förmlichen  Ordination,  und 
die  Entstehung  der  mesopotamischen  und  palästinensischen 
Akademien  schuf  einen  festen  Bildungsgang.  Von  alledem  war 
vorher  keine  Rede.  Eine  offizielle  Legitimation  der  »Rabbinen« 
als  solcher  fehlte,  soviel  bekannt,  durchaus.  Die  Tradition  der 
durch  Schriftkunde  und  rezipierten  Schriftauslegung  ausgezeich- 
neten und  anerkannten  Soferim  war  das  einzige  Merkmal:  ihre 
persönlichen  Schüler  und  wiederum  deren  Schüler  galten  als 
in  erster  Reihe  qualifiziert.  Die  Persönlichkeiten,  deren  Aus- 
sprüche der  Talmud  zitiert,  sind  durchaus  nicht  nur  Soferim 
oder  geschulte  Rabbinen:  im  Gegenteil,  mit  einer  gewissen  Ab- 
sichtlichkeit legt  die  Ueberlieferung  gelegentlich  gerade  besonders 
feine  Interpretationen  der  Thora  und  der  Pflichtenlehre  etwa 
dem  Eseltreiber  eines  Rabbinen  (Jonatham)  in  den  Mund  und 
läßt  geschulte  Rabbinen  bei  einem  als  fromm  und  daher  weise 


• 


^)  Zuerst  für  Gamaliel  den  Aelteren. 

*)  Jüdischerseits  w'rd   deshalb.   Matth.    XXIII,  7,  8   als  »Anachronismus* 
erklärt. 


Die  Pharisäer.  40Q 

bekannten  Feldarbeiter  (wie  Abba  Chilkijat)  sich  Rats  erholen. 
Immerhin  aber  wird  dies  doch  als  etwas  besondres  angesehen. 
Es  beweist,  daß  die  Scheidung  keine  scharfe  war,  aber  jener  Esel- 
treiber wird  doch  ausdrücklich  als  ein  »Unwissender«  von  dem 
Rabbinen  unterschieden.  Er  ist  kein  Rabbi.  Die  Verhältnisse 
welche  die  Evangelien  voraussetzen,  zeigen  ebenfalls,  daß  damals 
wenigstens  eine  nach  außen  fest  geschlossene  Organisation  nicht 
bestand,  sondern  konsultiert  wurde,  wer  sich  tatsächlich  durch 
das  Charisma  der  Gesetzeskenntnis  und  Auslegungskunst  legiti- 
mierte. Es  wurde  offenbar  nur  negativ,  durch  Repression,  einge- 
schritten —  sei  es  von  den  Priestern,  sei  es  durch  Selbsthilfe 
(Lynchjustiz)  der  Massen  unter  Führung  von  einzelnen  oder  (und 
wohl  meist)  der  Pharisäergemeinde  —  wenn  die  Art  der  Auslegung 
anstößig  war  und  eine  hinlänglich  starke  Gegner- 
schaft fand:  die  evangelischen  Erzählungen  zeigen:  wie  stark 
die  Rücksicht  auf  die  Popularität  eines  Lehrers  war.  Die  offiziellen 
Instanzen  scheuen  vor  dem  Einschreiten  selbst  gegen  offenkun- 
dige Irrlehre  zurück,  wenn  »das  Volk«  an  der  Person  des  Lehrers 
hängt  1) .  Die  rein  durch  Schulung  und  daneben  Schule  gestützte, 
formell  charismatische  Autorität  der  rabbinischen  Lehrer  findet 
ihre  Analogien  in  zahlreichen  ähnlichen  Erscheinungen,  von  den 
römischen  respondierenden  Juristen  (vor  der  Zeit  der  Konzessions- 
pflichtigkeit)  bis  zu  den  indischen  Gurus.  Indessen  bestehen 
wichtige  Unterschiede  und  diesen,  also  den  besonderen  Eigen- 
tümlichkeiten der  Rabbinen,  haben  wir  uns  nun  zuzuwenden, 
Sie  waren  zunächst  eine,  dem  Schwerpunkt  nach,  plebeji- 
sche Intellektuellenschicht.  Nicht,  daß  unter  ihnen  vornehme 
und  wohlhabende  Männer  überhaupt  gefehlt  hätten.  Allein  jeder 
Blick  in  die  Personalien  der  im  Talmud  als  Autoritäten  oder  als 
exemplarisch  angeführten  Rabbinen  (und  andern  Gewährs- 
männern) zeigt:  daß  in  weitestem  Umfang  der  Plebejer,  bis  zum 
Tagelöhner  auf  dem  Felde  herunter,  das  Wort  führt  und  daß 
unter  den  Rabbinen  selbst  die  Besitzenden  und  Vornehmen  sich 
in  geringer  Minderheit  befinden.  Daran  besteht  für  die  Zeit  der 
Komposition  des  Talmud  und  vorher  keinerlei  Zweifel.  »Plebejer« 
waren  nun  zahlreiche  Mystagogen  und  Sektenleiter  anderer 
Religionen  auch,  wie  wir  sahen.  Aber  von  ihnen  unterschieden 
sich  die  (alten)  Rabbinen  vor  allem  dadurch,  daß  sie  ihre  Funktion 

^)  Im  allgemeinen  war  dies  freilich  nur  dann  der  Fall,  wenn  der  Betreffende 
nicht  nur  Lehrer,  sondern  ein  durch  Wundermacht  qualifizierter  »Prophet«  war. 


4IO 


Nachtrag. 


als  Berater  und  rituelle  Rechtsfinder  nebenamtlich, 
neben  ihrem  weltlichen  Beruf,  versahen.  Das  war  kein  Zufall, 
sondern  Folge  des  strengen  Verbots,  das  Gesetz 
gegen  Entgelt  zu  lehren  (und  auszulegen)  ^) .  Dies  Verbot 
—  welches  wiederum  in  dem  paulinischen :  »Wer  nicht  arbeitet, 
soll  auch  nicht  essen«,  nur  seine  Fortsetzung  fand,  schloß  erstens 
ihre  Entwicklung  zu  Mystagogen  indischen  Gepräges  völlig  aus 
und  gibt  zweitens  auch  in  immerhin  wichtigen  Punkten  die  Er- 
klärung für  manche  Eigenart  ihrer  Lehre.  Man  hat  die  Berufs- 
stellungen führender  Rabbinen  oft  zusammengestellt.  Wie  be- 
greiflich, finden  sich  zahlreiche  Landbesitzer  darunter.  Sicherlich 
meist  Landrentner,  denn  diese  hatten  die  Muße,  sich  ganz  dem 
Studiuni  hinzugeben.  Es  fällt  aber  auf,  daß  gerade  unter  den 
bedeutendsten  älteren  Autoritäten  des  Talmud  —  also  in  der 
Zeit  vor  dem  Tempelsturz  —  sich  neben  einigen  —  nicht  sehr 
vielen  —  Kaufleuten  vor  allem  gerade  Handwerker:  Schmiede, 
Sandalenmacher,  Zimmerleute,  Schuhmacher,  Gerber,  Baumeister, 
Wasserfahrer,  Weinprober,  Holzschläger  finden  und  daß  u.  a. 
gerade  die  beiden  ersten  berühmten  Schulstifter  und  scharfen 
Kontroversisten,  Hillel  d.  Ae.  und  Shammai,  Handwerker  waren. 
Das  sind  also  Leute  genau  derselben  sozialen  Schicht,  der  Paulus 
und  die  in  seinen  Briefen  erwähnten  Persönlichkeiten  angehörten. 
Richtig  ist,  daß  das  jüdische  Gemeinderecht  der  Talmudzeit 
den  Rabbinen  ^)  Erleichterungen  gewährt :  Freiheit  von  Steuern 
und  von  den  meisten  (nicht  allen)  Fronden  und  das  Recht  des 
Vorverkaufs  seiner  Produkte  auf  dem  Markt  vor  andern  ^) .  In- 
dessen ganz  abgesehen  von  der  Frage,  ob  diese  Privilegien  schon 
in  der  Zeit  des  zweiten  Tempels  bestanden,  so  galt  es  auch  später 
für  durchaus  in  der  Ordnung,  daß  der  Rabbi  seinen  Unterhalt 
durch  Arbeit  verdiene.  Ein  Drittel  des  Tags  soll  er  arbeiten,  den 
Rest  studieren,  oder  er  arbeitet  im  Sommer  und  studiert  im 
Winter.    Auch  gab  es  später  mancherlei  Arten  der  Umgehung: 


^)  Auch  bei  indischen  Gurus  kam  und  kommt  es  gar  nicht  selten  vor,  daß 
sie  im  Hauptberufe  etwa  Händler  oder  Grundbesitzer  und  Rentner  sind  —  aber 
für  die  jüdischen  Rabbinen  der  älteren  Zeit  war  es  notwendig,  ihren  Unter- 
halt aus  andern  Quellen  als  dem  »geistlichen«  Beruf  zu  suchen,  während  der  in- 
dische Guru  in  aller  Regel  mindestens  auch,  meist  vorwiegend,  von  den  Spor- 
tein und  Spenden  lebte,  die  seine  geistliche  Funktion  ihm  eintrug.  Dem  Guru 
entsprach  darin  im  (östlichen)  Judentum  nicht  der  Rabbi,  sondern  der  neu- 
chassidische  charismatische  Mystagoge,    von   dem  später    die  Rede  sein  wird. 

^)  Im  Talmud  heißt  das:  den  ordinierten  Rabbinen. 

3)  B.  B.  22  a. 


Die  Pharisäer. 


411 


€S  wurde  gestattet  sich,  wenigstens  bei  richterlicher  Tätigkeit, 
»Zeitversäumnis«  (lacram  oenans)  ersetzen  zu  lassen  und  Ge- 
schenke werden  naturgemäß  immer  vorgekommen  sein.  Immer- 
hin leisteten  bis  zum  14.  Jahrhundert  etwa  die  jüdischen  Rab- 
binen  alle  ihnen  obliegenden  Arbeiten  im  Prinzip  ohne  Entgelt, 
ursprünglich  aber  im  »Nebenberuf«.  »Besser  ist  Geldverdienst 
durch  eigner  Hände  Arbeit,  als  der  Reichtum  des  Rash  galut« 
—  des  Kirchenhaupts!  —  »der  von  anderer  Geld  lebt«,  galt  für 
die  alten  Rabbinen  als  Maxime.  Erwerbstätige  und  zwar  zum 
immerhin  erheblichen  Teil  dem  Handwerk  angehörige  Leute  also 
sind  es,  welche  wir  hier  als  geistige  Träger  einer  Religiosität 
finden.  Wir  stoßen  —  von  den  wenigen  Ansätzen  im  mittel- 
alterlichen Indien  abgesehen  —  hier  zum  erstenmal  auf  dies 
Phänomen.  Orientieren  wir  uns  über  seine  Tragweite  durch  einen 
Vergleich  mit  anderen  Schichten. 

Die  Rabbinen  ^)  waren  zunächst  und  vor  allem :  keine 
Magier  oder  Mystagogen.  Dadurch  unterschieden  sie  sich  grund- 
sätzlich von  der  großen  Masse  der  indischen  und  ostasiatischen 
plebejischen  Seelenhirten  aUer  Art.  Sie  wirkten  durch  Belehrung 
in  Wort  und  Schrift,  diese  durch  Zauber,  und  ihre  Autorität  ruhte 
auf  Kenntnis  und  intellektueller  Schulung,  nicht  auf  magischem 
Charisma.  Dies  war  zunächst  Folge-  der  Stellung,  welche  die 
Magie  überhaupt  im  nachprophetischen  Judentum  einnahm. 
In  ihm  ist  die  Vorstellung:  daß  man  durch  Zauber  die  Gottheit 
zwingen  könne,  radikal  ausgerottet.  Die  prophetische  Gottes- 
konzeption schloß  diese  Vorstellung  ein  für  allemal  aus.  Die 
Magie  in  diesem  ursprünglichen  Sinn  gilt  dem  Talmud  daher  als 
'  unbedingt  verwerflich  und  gotteslästerlich.  Als  bedenkhch  oder 
verdächtig  galt  letztlich  jede  Form  des  Zaubers  überhaupt. 
Freilich  mit  starken  Einschränkungen.  In  den  beiden  Formen 
des  Exorzismus  und  der  Krankenheilung  durch  Wort- 
zauber bestand  die  Magie  weiter  und  wurde  teils  faktisch  ge- 
duldet, teils  geradezu  als  legitim  angesehen :  hier  handelte  es  sich 
nicht  um  Zwang*  gegen  Gott,  sondern  gegen  die  Dämonen,  und 
diese  spielten  gerade  im  Pharisäismus  eine  anerkannte  Rolle, 
wie  wir  sahen.  Allein  ihr  Betrieb  gehörte  nicht  zu  den  irgendwie 
normalen  Geschäften  der  Rabbinen.   Das  Charisma  des  Wunders 


^)  Gemeint  sind,  wo  nichts  andres  gesagt  ist,  hier  stets  a  priori:  die 
Rabbinen  der  Epoche,  mit  der  wir  es  hier  zu  tun  haben:  der  Zeit,  welche  das 
Material  für  die  Talmud-Komposition  geliefert  hat. 


412 


Nachtrag. 


im  Übrigen  aber  leugnete  das  Judentum,  auch  das  pharisäische 
Judentum,  zwar  keineswegs.  Die  EvangeHen  lassen  wiederholt 
die  Juden,  und  ausdrücklich  auch  die  Schriftgelehrten  und  Phari- 
säer, ein  »Zeichen«  von  Jesus  verlangen.  Aber  die  Wunder  macht 
haftet  an  dem  Propheten,  der  sich  dadurch  als  von  Gott 
gesendet  legitimiert,  wenn  er  nämlich  diese  Gabe  wirklich  von 
Gott  hat,  und  nicht  von  den  Dämonen.  Mit  dem  Prophetismus 
aber  lebt  das  schriftgelehrte  Rabbinentum  in  sehi  naturgemäßem 
Spannungsverhältnis,  welches  jeder  ritualistisch  an  einem  Gesetz- 
buchorientierten Schicht  von  Wissenden  gegenüber  dem  propheti- 
schen Charisma  eignet.  Zwar  wurde  die  Möglichkeit  des  Auf- 
stehens von  Propheten  nicht  geleugnet,  —  wenigstens  ursprüng- 
lich nicht.  Umso  dringender  wird  vor  falschen  Propheten  ge- 
warnt. Entscheidend  dafür  war:  daß  die  jüdische  Prophetie 
ein  für  allemal  daran  gebunden  war :  Sendungs  prophetie 
zu  sein,  im  Auftrag  des  überweltlichen  Gottes,  nicht  aber  kraft 
eigner  Göttlichkeit  oder  Gottbesessenheit  zu  verkünden.  Ein 
solcher  Prophet  ist  der,  der  »ohne  Auftrag«  redet  und  lehrt. 
Woran  aber  erkennt  man  das?  Welches  ist  das  Merkmal 
für  Falschheit  oder  Wahrheit  eines  Propheten  ?  Dafür  war  vor 
allem  Jeremias  (23,  9  ff.)  in  der  rabbinischen  Deutung  maßgebend. 
Nicht  nur  ist  der  Prophet  selbstverständlich  unwahr,  der  falsche 
Götter  lehrt  oder  dessen  Prophezeiungen  nicht  eintreffen  ^) . 
Sondern  jeder  Prophet  ist  an  das  Gesetz  und  Gottes  Gebote 
gebunden  und  wer  davon  abtrünnig  zu  machen  sucht,  ist  ein 
falscher  Prophet.  Vor  allem  also:  nur  wer  das  Volk  von  seinen 
Sünden  bekehrt,  kann  wirklich  von  Gott  gesendet  sein.  Denn 
nicht  Visionen  und  Träume,  sondern  die  Hingabe  an  die  klar  im 
Gesetz  niedergelegten  Befehle  Gottes  gibt  den  Beweis  für  die 
Wahrheit  des  Propheten:  dafür,  daß  er  kein  »Träumer«  ist.  Die 
Visionen  und  Träume  hatte  schon  die  alte  priesterliche  Tradition 
diskreditiert,  weil  sich  zeigte,  daß  es  auch  (und  gerade)  Visionen 
gegeben  hatte,  die  das  Volk  zum  orgiastischen  Baalsdienst  be- 
kehrt hatten.  Ebenso  aber  konnten  Wunder  im  Namen  von 
Dämonen  getan  werden.  Und  deshalb  ist  die  bloße  Wundermacht 
keine  Bewährung  des  echten  prophetischen  Charisma.  Und  selbst 
wenn  der  Prophet  in  seiner  Lehre  die  Zeichen  der  göttlichen  Sen- 
dung an  sich  zu  tragen  schien,  gab  das  Charisma  der  Wundermacht 
rein  als  solches  noch  keine  endgültige  Gewähr  dafür,  daß  dem  wirk- 

^)  Deut.   13,  2 — "3  18,  20  f. 


Die  Pharisäer. 


413 


lieh  so  sei :  auf  Grund  der  bloßen  Wundermacht  kann  auch  den 
korrekt  lehrenden  Propheten  nur  allenfalls  die  Macht  des  Dis- 
penses vom  Gesetz  im  Einzelfall  zugestanden  werden  —  wie  sie 
auch  die  Rabbinen  in  Anspruch  nahmen  —  nicht  mehr.  —  Für 
uns  interessiert  hier  wesentlich:  daß  die  Festhaltung  der  kor- 
rekten gesetzlichen  Ethik  und  der  Kampf  gegen  die  Sünde  die 
letzten  unbedingten  Maßstäbe  waren,  an  denen  die  Echtheit  einer 
Prophetie  gemessen  wurde. 

Die  Rabbinen  leiteten  ihre  Autorität  auch  nicht  aus  in 
ihren  Kreisen  gepflegten  Geheimnissen  ab.  Wenn  eine  ganze 
Reihe  kosmologischer,  mythischer,  magischer  Anschauungen  und 
Praktiken  der  babylonischen,  vielleicht  auch  hie  und  da  der 
ägyptischen  Priester,  mehr  oder  weniger  umgebildet  oder  nicht, 
übernommen  wurden  —  namentlich  für  rituelle  Kalenderzwecke 
— ,  so  doch  gerade  der  entscheidende  höchste  und  esoterische 
Gehalt  der  babylonischen  Priesterweisheit  nicht:  weder  die 
Sternenkunde,  Astronomie  und  Astrologie,  noch  die  Divination 
(Leber-  oder  Vogelschau).  Die  letztere  war  ausdrücklich  ver- 
boten ^),  obschon  sie  gewiß  in  der  Bevölkerung  dennoch  vorkam. 
Auch  findet  sich  einmal  als  talmudischer  Beruf  ein  Astrologe, 
und  das  Horoskop  wird  gelegentlich  hier  wie  in  aller  Welt  gestellt 
worden  sein.  Aber  die  Rabbinenlehre  verbot  ausdrücklich  die 
Befragung  der  Chaldäer:  »für  Israel  gibt  es  keine  Propheten«. 
Die  jüdische  Priesterschaft  hatte  auch  diese  Konkurrenten  mit 
Erfolg  eliminiert  und  die  alte  rabbinische  Anschauung  lehnte 
diese  heidnische  Wissenschaft  und  vor  allem  den  astrologischen 
Determinismus  wenigstens  in  der  alttalmudischen  Zeit  als  Ver- 
letzung der  Majestät  und  Entschlußfreiheit  Gottes  entschieden 
ab,  verfügte  auch^  bei  der  sozialen  Lage  der  Rabbinen,  gar  nicht 
über  die  wissenschaftlichen  Traditionen  und  Hilfsmittel,  sie  zu 
pflegen. 

Wenn  die  Rabbinen  keine  Magier,  Propheten,  esoterische 
Philosophen,  Astrologen  oder  Auguren  waren,  so  auch  nicht 
Träger  einer  esoterischen  Heilslehre,  einer  Gnosis.  Nicht  nur 
die  besondere  Form  der  vorderasiatischen  Gnosis  mit  ihrem  Demi- 
urgen  und  ihrem  Anomismus  war  geradezu  verboten  und  ver- 
worfen, sondern  wenigstens  in  der  klassisch-talmudischen  Zeit 
alle  Gnosis  überhaupt.  Wiederum  war  es  die  Entwertung  des 
Gesetzes  und  des  ethisch  korrekten  Handelns  durch  die  gnostisch- 

*)  Deut.  XVIII,   II. 


414  Nachtrag. 

mystische  Heilssuche,  was  dafür  entscheidend  war.  Nicht  nur  die 
in  vornehmen  Intellektuellenschichten  typischen  Formen  der 
Mystik,  sondern  jede  rein  mystische  Heilssuche  galt  als  bedenk- 
lich, als  ein  »Träumen«,  das  die  Gefahr  der  dämonischen  Irre- 
leitung in  sich  trägt.  Vollends  galt  dies  für  die  ekstatische 
Gottbesessenheit,  dem  alten  Kampf  der  Propheten  gegen  die 
Orgiastik  entsprechend.  Wie  die  »Verständlichkeit«  der  Pro- 
pheten dem  Talmud  zu  den  Merkmalen  ihrer  Bewertung  gehört, 
so  lehnt  die  rabbinische  Auslegung  stillschweigend  aber  ganz 
konsequent  alle  irrationalen  und  enthusiastischen  Mittel,  zu  Gott 
zu  gelangen,  ab.  Dies  ist  nicht  etwa  als  eine  Folge  der  »Klassen- 
lage« zu  erklären:  denn  massenhafte  Mystagogen  im  Orient  und 
Okzident  haben  ihr  Publikum  gerade  im  Kleinbürgertum  ge- 
habt, dessen  Prädisposition  für  die  Stellungnahme  zur  mystisch- 
ekstatischen Religiosität  überall  durchaus  vieldeutig  gewesen  ist. 
Sondern  es  war  Folge  des  historisch  gegebenen  Charakters  der 
jüdischen  Tradition,  wie  er  durch  Priestergesetz  einerseits,  durch 
die  Prophetie  andererseits  fixiert  worden  war.  Für  denjenigen 
Juden  jedenfalls,  der  den  Zusammenhang  mit  dem  Gesetz  nicht 
aufgeben  wollte,  also  für  den  Pharisäer.  Nicht  nur  führte  das 
pflichtmäßige  anhaltende  Studium  des  Gesetzes  rein  an  sich 
ihn,  negativ,  kraft  des  ethisch  rationalen  Gehalts  der  Thora  und 
Propheten,  von  den  irrationalen  Formen  der  Heilssuche  ab. 
Sondern  die  heiligen  Schriften  gaben  ihm  auch  einen  Ersatz 
für  das  Fehlende,  wenn  er  es  als  solches  empfand.  Die  gewaltige 
Pathetik  der  großen  Propheten,  die  begeisternde  Gewalt  und  der 
Enthusiasmus  der  nationalen  Geschichtsschreibung,  der  schlichte 
aber  leidenschaftliche  Ernst  der  Schöpfungs-  und  Menschheits- 
Mythen,  der  starke  Stimmungsgehalt  der  Psalmen,  der  Hiob-  und 
andren  Legenden  und  der  Spruchweisheit  bildete  einen  Rahmen 
für  religiöses  Innenleben  fast  aller  erdenklichen  Gefühlslagen,  wie 
er  in  dieser  Art  nicht  zum  zweiten  Male  gefunden  werden  konnte. 
Das  Einzigartige  bestand  dabei  weniger  in  dem  materiellen 
»Erlebnis «-Gehalt  rein  an  sich,  für  dessen  Einzelbestandteile  sich 
zweifellos  in  den  verschiedensten  heiligen  Schriften  über  die  ganze 
Erde  hin  irgendwelche  Probleme  finden  lassen.  Sondern  einmal 
in  der  Zusammendrängung  dieses  Gehaltes  auf  einen  derart 
knappen  Raum,  dann  aber  und  namentlich  in  dem  volkstümlichen 
Charakter  und  der  absoluten  Verständlichkeit  der  heiligen  Texte 
für  jedermann.     Nicht  daß  babylonische,   mythische  und  kos- 


Die  Pharisäer. 


415 


mologische  Motive  in  die  biblischen  Erzählungen  übernommen 
sind,  ist  das  Wichtige.  Sondern:  daß  sie  dabei  aus  dem  Priester- 
lichen in  das  Volkstümliche  zurücktransponiert  worden  waren. 
Es  war  die  unmittelbar  verständliche  und  zugleich  hochpatheti- 
sche prophetische  Gotteskonzeption,  welche  auch  dieses  Moment: 
die  »spezifische  Verständlichkeit«  der  erzählten  Hergänge  nicht 
nur,  sondern  vor  allem:  der  »Moral«,  die  aus  den  Geschichten 
folgte,  für  jedermann,  auch  für  jedes  Kind,  bedingten  ^).  Ver- 
ständlich waren  dem  hellenischen  Kinde  (und  sind  es  jedem  Kinde) 
die  homerischen  Helden,  dem  indischen  Kinde  die  erzählenden 
Teile  des  Mahabharata.  Aber  der  ethische  Gehalt  des  Bhagavagita 
wird  keinem,  auch  keinem  indischen  Kinde  verständlich  sein  und 
die  echte  Erlösungslehre  des  Buddha  auch  nicht.  Auch  nicht 
deren  Kosmologie  und  Anthropologie,  die  Produkte  intensiven 
Denkens  sind.  Hingegen  ist  der  »Rationalismus«,  vor  allem  der 
moralistische,  aber  auch  der  pragmatisch-kosmologische,  der 
aus  den  jüdischen  heiligen  Schriften  spricht,  so  unmittelbar 
populär  und  gerade  in  den  entscheidenden  Teilen  auf  kindliches 
Verständnis  zugeschnitten,  wie  kein  andres  heiliges  Buch  auf  der 
Welt,  vielleicht  die  Geschichten  von  Jesus  von  Nazareth  aus- 
genommen 2).  Von  allen  kosmogonischen  und  anthropologischen 
Mythologemen  ist  eben  das  Pragma  des  überweltlichen,  teils  wie 
ein  Vater,  teils  wie  ein  bald  gnädiger,  bald  ungnädiger  König  die 
Geschicke  der  W>lt  leitenden,  sein  Volk  zwar  Hebenden  aber  doch, 
wenn  es  ungehorsam  ist  hart  strafenden,  aber  durch  Gebet,  Demut 
und  sittliches  Wohlverhalten  wieder  zu  gewinnenden  Einheitsgott 
diejenige  Konstruktion,  welche  alle  Geschehnisse  der  Welt  und 
des  Lebens  in  einer  Art  rational  verständlich  macht,  wie  sie 
der  unbefangenen,  nicht  durch  philosophische  Spekulation  subli- 
mierten  Auffassung  der  Massen  und  der  Kinder  entspricht.  Diese 
rationale  Verständlichkeit  aber,  welche  die  in  der  Gemeinde  durch 
Lehre,  Predigt,  Lektüre  allgemein  bekannte  religiöse  Heils- 
'pragmatik  der  Mythen,  Hymnen  und  Propheten  auszeichnete, 
zwang  auch  das  rabbinische  Denken  in  ihre  Bahnen.  Ein  esoteri- 
scher gnostischer  Heilsaristokratismus  konnte  wenigstens  pri- 
mär   auf  diesem  Boden  nicht  leicht  wachsen,   oder  wenn  er 

^)  Wo  diese  Selbstverständlichkeit,  wie  etwa  bei  dem  Hiob-Problem  und 
sonst  gelegentlich,  vielleicht  in  Wahrheit  nicht  vorhanden  war,  da  schien  es 
wenigstens  so. 

2)  Oder:  die  chinesische  Jugendlehre,  aber  diese  aus  absolut  andren  Gründen. 


41 6  Nachtrag. 

danach  entstand,  nicht  leicht  um  sich  greifen.  Entstehen  aber 
konnte  eine  Esoterik  am  ehesten  im  Anschluß  an  jene  teils  an 
sich  dunkeln,  teils  in  ihrem  ursprünglichen  Sinnzusammenhang 
vergessenen  Visionen  der  Propheten,  welche  dem  von  Gott  aus 
der  Gnade  gestoßenen  Volk  eine  bessere  Zukunft  verhießen. 
Tatsächlich  haben  denn  auch  hier  die  Spekulationen  religions- 
philosophischer Art  angeknüpft.  Von  ihnen  wird  später  die 
Rede  sein.  Zweierlei  aber  gehört  schon  in  unsern  Zusammenhang. 
Zunächst:  die  eigentlich  spekulativen  Eschatologien,  wie  sie  in 
Anknüpfung  an  die  Daniel-  und  Henoch-Literatur  und  durch 
Uebernahme  von  Heilands- Spekulationen  persischen  und  baby- 
lonischen Ursprungs  entstanden,  die  Lehren  vom  »Menschen- 
sohn«, vom  Matathron  und  ähnliche,  blieben  dem  Kreise  der 
eigentlich  pharisäischen  Rabbinen  im  allgemeinen  zwar  bekannt, 
doch  aber  in  ihm  fremd.  Sie  sind  —  gewiß  nicht  nur,  aber  offen- 
bar in  besonders  starkem  Maße  —  gerade  in  Konventikeln  der 
'Am  ha-arez  gepflegt  worden,  und  auch  Jesus  oder  die  Seinen  ent- 
nahmen ihre  Menschensohn- Vorstellungen  zweifellos  dorther  und 
nicht  aus  der  pharisäischen  und  rabbinischen  Lehre.  Für  diese 
blieb  der  Messias  ein  für  die  Zukunft  verheißener  irdischer  König 
der  Juden,  der  sein  Volk  mit  Hilfe  des  wiederversöhnten  Gottes 
zur  alten  Herrlichkeit  erhöhen  und  seine  Feinde  ihm  entweder 
vernichten  oder  —  wie  in  den  Psalmen  —  ihm  als  Knechte  unter- 
werfen oder  endlich  zum  Glauben  Israels  bekehren  werde.  Oder 
in  Verbindung  mit  der  Auferstehung :  der  König,  in  dessen  Reich 
die  auferstandenen  Frommen  ein  neues  und  reines  Leben  führen 
werden.  Ferner  aber:  alle  diese  zum  Gegenstand  metaphysischer 
und  also  leicht  zur  Esoterik  leitenden  Spekulationen  geeigneten 
Hoffnungen  waren  eben :  Hoffnungen,  Erwartungen  für  die  Zu- 
kunft. Klar  ist,  daß  diese  Erwartungen  eine  gewaltige  Pathetik 
in  die  Frömmigkeit  des  Juden  tragen  konnten  und  mußten,  so  oft 
sich  die  Gedanken  auf  sie  richteten:  in  der  Existenz  solcher  »End«- 
Erwartungen  überhaupt  liegt  einer  der  Grundunterschiede" 
gegenüber  aller  indischen  Heilandsreligiosität.  Schien  vollends, 
angesichts  ungewöhnlicher  Zeichen  und  Umwälzungen  oder  unter 
der  Einwirkung  esch atalogischer  Propheten  ihre  Erfüllung  nahe, 
so  konnten  sie  Quellen  des  mächtigsten,  unter  Umständen  wil- 
desten Enthusiasmus  werden  und  sind  es  gewesen.  Aber  im  All- 
tagsdasein oder  wenn  durch  die  Umstände  der  Blick  von  ihnen 
fortgelenkt  war,  reduzierte  sich  ihre  Wirkung  unvermeidlich  auf 


Die  Pharisäer. 


417 


eine  stimmungshafte,  die  Ordnung  der  Welt,  das  eigne  Volk  und 
den  Frommen  selbst  zugleich  als  unzulänglich  anklagende  und 
auch  wieder  mit  sich  und  dem  Geschick  versöhnende,  Sehnsucht 
nach  einer  Erlösung  von  Leid  und  Not,  welche  dem  »glaubens- 
religiösen« Charakter  der  jüdischen  Religiosität  zugute  kam. 
So  war  es  namentlich  in  der  talmudischen  Zeit  nach  dem  Tempel- 
sturz unter  Hadrian,  als  die  messianischen  Hoffnungen  in  weite 
Ferne  rückten.  Auf  das  praktische  Handeln  konnte  nur  die  Frage 
Einfluß  üben:  welches  Verhalten  der  Menschen  denn  die  An- 
wartschaft auf  ein  baldiges  Kommen  des  Erlösers  und  auf  die 
eigne  Teilnahme  am  Reich  der  Auferstandenen  gewähren  oder 
steigern  könne.  Darauf  aber  antwortete  die  rabbinische  Lehre 
in  Anlehnung  an  die  priesterliche  Paradigmatik  der  heiligen  Ge- 
schichten und  an  die  Propheten  naturgemäß  wiederum  mit  dem 
Hinweis  auf  das  Gesetz,  dessen  Bedeutsamkeit  dadurch  pathetisch 
gesteigert  wurde.  Die  Sünde  der  Gemeinde,  ihrer  amtlichen 
Autoritäten  als  solcher  (der  Abfall  von  Gott  vor  Altem)  war 
in  den  Augen  der  Rabbinen  zweifellos  auch  deshalb  die  schwerste 
aller  Sünden,  weil  sie  das  Kommen  des  Messias  für  weitere  Zeiten 
verscherzte  und  also  alle  Frommen  mit  um  ihre  Hoffnung  betrog. 
Andererseits  waren  die  universalistischen  Verheißungen  der 
Thora  und  der  Propheten,  wonach  alle  Völker  zu  Gott  und 
Israel  gebracht  werden  sollen,  sicherlich  einer  der  entscheidenden 
Antriebe  für  den  Proselytismus,  wie  noch  zu  erwähnen  sein  wird. 
Aber  für  den  einzelnen  kam  nur  das  Gesetz  und  seine  Erfüllung 
in  Betracht.  Einen  andern  Heilsweg  gab  es  überhaupt  nicht. 
Der  vorgezeichnete  Weg  aber  war  jedem  zugänglich. 
Denn  wie  dem  intellektualistisch-mystischen  Heilsaristokratis- 
mus, so  standen  die  Rabbinen  auch  der  Askese  im  letzten 
Grunde  ablehnend  gegenüber. 

Gänzlich  fern  lag  dem  altern  ebenso  wie  dem  pharisäischen 
Judentum  der  ethische  Dualismus  von  »Geist«  und  »Materie« 
oder  von  »Geist«  und  »Leib«  oder  von  »Geist«  und  »Fleisch« 
oder  von  götthcher  Reinheit  und  Verderbtheit  der  »Welt«,  wie 
ihn  der  hellenistische  Intellektualismus  herausgearbeitet,  der 
Neuplatonismus  bis  zu  dem  Gedanken  gesteigert  hatte:  daß 
der  Leib  »Kerker«  der  Seele,  ein  Pudendum,  sei,  und  wie  einzelne 
Kreise  hellenistisch-jüdischer  Intellektueller  (Philo)  ihn  von  da 
übernommen  hatten  und  dann  das  Christentum  des  Paulus 
zur  Grundkonzeption  seines  ethischen  Weltbildes  machte.   Nichts 

Max  Weber,  Religionssoziologic  UI.  27 


41 8  Nachtrag. 

von  alledem  ist  dem  pharisäisch-talmudischen  Judentum  bekannt. 
Gewiß:  Gott  ist  Schöpfer  und  Herr  der  Welt  und  der  Menschen, 
die  Menschen  sind  seine  Geschöpfe,  nicht  seinie  Sprößlinge  oder 
Emanationen.  Er  hat  sie,  auch  das  auserwählte  Volk,  geschaffen, 
nicht  gezeugt.  Das  folgt  für  das  prophetische  Judentum  aus 
dem  Universalismus  und  den  gewaltigen  Machtattributen,  die 
ihm  im  Zusammenhang  damit  zugeschrieben  werden,  um  seine 
absolute  Souveränität  auch  gegenüber  dem  eigenen  Volke  be- 
tonen zu  können:  er  ist  der  >Gott  der  Weltgeschichte. 
Aber  auf  diesem  »Dualismus«,  den  man  als  charakteristiscli 
jüdisch  oder  jeweils  »semitisch«  im  Gegensatz  zu  jenen  andern 
Konzeptionen  hat  ^  hinstellen  wollen,  ruht  für  die  praktische 
Ethik  ein  entscheidender  Akzent  nur  insofern,  als  jede  Theodizee 
dadurch  entbehrlich  gemacht,  die  absolute  Ohnmacht  des  Men- 
schen gegen  Gott,  vor  allem  im  Sinn  des  absoluten  Ausschlusses 
magischen  Gotteszwangs,  festgestellt  und  der  religiöse  »Glaube« 
die  spezifische  Färbung  des  kindlichen  »Gehorsams«  gegen  den 
Weltmonarchen  annehmen  mußte.  Das  war  gewiß  wichtig 
genug.  Aber  »Weltablehnung«  oder  »Welt entwert ung«  folgte 
daraus  in  gar  keiner  Weise. 

Der  jüdische  Gott  ist  ein  patriarchaler  Monarch :  als  gnädiger 
»Vater«  seiner  Kinder  erweist  er  sich,  die  ja  nach  seinem  Eben- 
bild geschaffen  sind.  Die  Welt  ist  nicht  schlecht,  sondern  gut, 
wie  die  Schöpfungsgeschichte  zeigt.  Der  Mensch  ist  schwach, 
wie  ein  Kind,  und  daher  wankelmütig  in  seinem  Willen  und  der 
Sünde,  das  heißt:  dem  Ungehorsam  gegen  den  väterlichen 
Schöpfer,  zugänglich.  Nicht  nur  der  einzelne  ist  es,  sondern 
—  worauf  das  Gewicht  liegt  —  gerade  auch  die  Gesamtheit, 
das  Volk.  Und  dadurch  verscherzt  sowohl  der  einzelne,  wie  auch 
das  Volk  als  Ganzes  sich  dann  seine  Liebe  und  Gnade,  für  sich 
und  die  Nachfahren,  oft  für  lange  Zeit  und  in  manchen  Hinsichten 
dauernd.  So  haben  Adam  und  Eva  durch  Ungehorsam  für  alle 
ihre  Nachfahren  den  Tod,  die  Schmerzen  der  Geburt,  die  Unter- 
werfung der  Frau  unter  den  Mann  und  die  Notwendigkeit  und 
Mühsal  der  Arbeit  verschuldet.  Aber  gerade  die  rabbinische 
Anschauung  war  geneigt,  den  Abfall  des  Volks,  die  Verehrung 
des  goldenen  Kalbes  und  der  Baalim,  welche  den  Sturz  des 
jüdischen  Volks  verschuldet  hatten,  weit  schwerer  zu  beurteilen 
als  Adams  Fall.  Es  fehlt,  so  hart  das  ungehorsame  Volk  gescholten 
wird,  durchaus  der  Gedanke  der  »Erbsünde«  oder  der  kreatür- 


Die  Pharisäer. 


419 


liehen  Verderbtheit  oder  der  Verwurh-niieit  des  SinnHchen.  Und 
vollends  ganz  fern  liegt  der  Gedanke,  daß  die  Abkehr  von  der 
Welt  Voraussetzung  des  religiösen  Heils  sei.  Das  Verbot  der 
»Bildnisse  lind  Gleichnisse«  war  gewiß  eine  höchst  wichtige 
Quelle  der  negativen  Beziehung  des  Judentums  zur  künstlerischen 
Sinnenkultur.  Aber  es  war  ebenso  wie  die  Scheu  vor  dem  Aus- 
sprechen des  Namens  Jehovas  magischen  und  idolfeindlichen 
Ursprungs  und  dann  in  den  Zusammenhang  der  Vorstellungen  von 
(jottes  Majestät  und  Allgegenwart  in  seiner  Schöpfung  hinein- 
gestellt und  wurde  vom  Pharisäismus  vor  allem  auch  als  Unter- 
scheidungsmerkmal gegenüber  den  idolatrischen  Fremdvölkern 
als  bedeutsam  empfunden.  Nicht  aber  war  es  seinerseits  Ausfluß 
von  »Sinnenfeindschaft«  oder  Weltabkehr. 

Fern  liegt  auch  dem  pharisäischen  Judentum  die  Verwerfung 
des  Reichtums  oder  der  Gedanke,  daß  er  gefährlich  und 
sein  unbefangener  Genuß  heilsgefährlich  sei.  Für  gewisse  priester- 
liche Funktionen  galt  Reichtum  geradezu  als  Vorbedingung.  Im 
übrigen  hatten  die  Propheten  und  Psalmen  die  unbrüderliche 
Ausnutzung  der  ökonomischen  Macht  als  Sprengung  der  alten, 
durch  Jahwes  Gebote  geheihgten  Nachbarschaftsethik  und 
Brüderlichkeit  der  Volksgenossen  schwer  gegeißelt.  Darin  folgte 
ihnen  die  pharisäische  Kleinbürgerethik  selbstverständlich  nach. 
Die  alten  Bestimmungen  gegen  den  Wucher  und  zugunsten  der 
Schuldner  und  Sklaven  und  die  priesterlichen  Konstruktionen 
der  Sabbat  Jahrswoche  und  des  Schulderlasses  im  Jubeljahr  wur- 
den nun  kasuistisch  ausgestaltet,  wie  wir  noch  sehen  werden. 
Aber  es  fehlt  gerade  jeder  Ansatz  zu  einer  ökonomisch  geordneten 
Methodik  innerweltlicher  Askese.  Ebenso  aber  zu  einer  Sexual- 
askese. Es  wird  zwar  gelegentlich  für  den  Rabbi  die  Frage  er- 
örtert, ob  er  nicht  besser  unverehelicht  bleibe,  um  sich  ganz  unge- 
stört dem  Studium  widmen  zu  können.  Aber  das  hat  mit  »Askese« 
nichts  zu  schaffen,  so  bemerkenswert  es  ist,  daß  die  für  das  Heil 
der  Gemeindegenossen  wichtige  Arbeitspflicht  hier  das  alte  Gebot 
der  Erzeugung  von  Nachkommen  zu  erschüttern  die  Kraft  hatte. 
Aber  sonst  ist,  von  den  innerhalb  wie  außerhalb  des  Judentums 
bekannten  kultischen  und  magischen  Reinheitspflichten  nichts 
von  Bedenken  gegen  den  Sexualverkehr  und  gegen  die  Freude 
am  Genuß  der  Weiber  zu  bemerken.  Die  unbefangene  Welt  off  en- 
lieit;  daß  dem  altisraelitischen  Krieger  Zeit  gelassen  werden  soll, 
>)sich  seines  Weibes  zu  erfreuen«,  würde  aucli  für  den  talinudisclicMi 


420  Nachtrag. 

Juden  gelten.  Der  rücksichtslose  Kampf  gegen  die  »Hurerei«: 
—  daß  neben  Mord  und  Idolatrie  dies  als  die  dritte  größte  Sünde 
gilt  —  stammt  aus  dem  alten  priesterlichen  Kampf  gegen  die 
Baal-Orgiastik,  und  die  strenge  Einschränkung  des  Geschlechts- 
verkehrs auf  die  legitime  Ehe  entspricht  durchaus  den  indischen 
(und  sonstigen)  Geboten  gleicher  Art,  der  scharfe  Kampf  gegen 
jede  Form  von  Onanie  (einschließlich  des  onanismus  matri- 
monialis)  dem  bibh sehen  Fluch  dagegen,  der  durch  den  scharfen 
Kampf  gegen  die  onanistische  Moloch-Orgiastik  ^)  bedingt  war. 
Die   außerordentlich   nachdrückliche  Anempfehlung  früher  Ehe 

—  es  galt  jeder  als  Sünder,  der  sie  über  ein  bestimmtes  Alter 
verschob  —  entspringt  (wie  bei  Luther)  der  Ueberzeugung,  des 
ungebrochen  sinnlichen  Volks,  daß  sonst  Sünde  unvermeidlich 
sei.  Die  Sexualvorgänge  verharren  in  unbefangener  Naturalistik. 
Die  alte  Perhorreszierung  der  Entblößung  und  aller  Nacktheit 

—  erwachsen  wohl  aus  dem  Kampf  gegen  die  Orgiastik  und  viel- 
leicht verschärft  durch  den  Gegensatz  gegen  das  hellenische 
Gymnasion  —  geht  mit  höchst  unverhülltem  Sprechen  und 
(später)  Reglementieren  über  das  Sexualverhalten  im  Interesse 
teils  der  levitischen  Reinheit,  teils  der  Hygiene  Hand  in  Hand; 
beide  Erscheinungen  kennt  bekanntlich  auch  der  Islam  und  andre 
auf  »Reinheit«  abgestellte  ritualistische  Religionen.  Es  geht 
teilweise  weiter  als  katholische  Beichtspiegel  und  Beichtstuhl- 
praxis und  wirkt  peinlich  und  oft  widerlich  für  unser  modernes 
erotisches  Empfinden  und  ein  feudal  oder  vornehm  bildungs- 
ständisches Würdegefühl,  wie  es  dem  Judentum  ebenso  wie  der 
katholischen  Kaplanokratie  freilich  fremd  war.  Alkohol-  und 
Fleischabstinenz,  wie  sie  für  den  korrekten  Hindu  galt  und  gerade 
von  den  vornehmen  Schichten  praktiziert  wurde,  ist  für  den  Rab- 
binen  und  frommen  Laien  im  Judentum  unbekannt:  die  alte 
von  den  Priestern  und  Propheten  bekämpfte  Baal-Orgiastik. 
war  eben  offenbar  dem  Schwerpunkt  nach  sexuelle,  also  Frucht- 
barkeits-  und  nicht  alkoholische  Rausch-Orgiastik. 

Wie  das  Weib  und  der  Wein  des  Menschen  Herz  erfreut,  so 
der  Reichtum  und  alle  rituell  erlaubten  Genüsse  dieser  Welt, 
und  die  Grundstimmung  der  altrabbinischen  Haltung  zur  W^elt 
drückt  im  ganzen  wohl  das  talmudische  Wort  aus,  daß  das  Para- 
dies dem  gehört,  »der  seinen  Gefährten  lachen  macht«.  Eine 
prinzipiell  asketisch  bedingte  Lebensmethodik  aber  dürfen 
1)  Lev.  XVIII,  2.  3. 


Die  Pharisäer.  42  I 

wir  jedenfalls  unter  keinen  Umständen  auf  dem  Boden  des  phari- 
säischen Judentums  suchen.  Es  verlangte  strengen  Ritualismus, 
wie  die  indische  offizielle  Religiosität  und  war  im  übrigen  eine 
im  Vertrauen  auf  Gott  und  seine  Verheißungen  und  in  der  Furcht 
vor  der  Sünde  als  Ungehorsam  gegen  ihn  und  vor  dessen  Folgen 
lebende  Glaubensreligiosität,  aber  es  bedeutete  sicherlich  nicht 
eine  asketische  Lebensführung.  In  einem  Punkt  freilich  ähnelt  es 
in  der  Art  seiner  Lebensführung  den  rationalen  asketischen 
Prinzipien :  in  dem  Gebot  wacher  Selbstkontrolle  und  unbedingter 
Selbstbeherrschung.  Die  Notwendigkeit  der  erst  er  en  war  die 
unvermeidHche  Folge  der  f ort w^ähr enden  Messung  der  Korrekt- 
heit der  eigenen  Lebensführung  am  Gesetz  mit  seiner  außerordent- 
lichen Vielzahl  der  rituellen  Gebote  und,  namentlich,  Verbote, 
auf  die  zu  achten  war:  613  Vorschriften  zählte  man  als  von 
Moses  gegeben  und  die  rabbinische  Kasuistik  vervielfältigte  sie 
noch.  Das  Zweite  hing  zum  Teil  damit,  zum  Teil  mit  dem  alten 
Gegensatz  gegen  die  Orgiastik  zusammen.  Während  der  alt- 
israelitische Jehovah  ein  Gott  leidenscftaftHchen  Zornes  war, 
mehr  als  irgendein  anderer,  galt  den  Rabbinen,  wie  in  China, 
jede  Erregung  als  dämonischen  Ursprungs  und  heilsgefährlich, 
also  als  Sünde.  Sehr  im  Gegensatz  gegen  die  vielfach,  wie  wir 
sahen,  vom  leidenschaftlichen, Zorn  und  Haß  oder  von  scharfem 
Ressentiment  gegen  die  Gottlosen,  denen  es  gut  geht,  getränkte 
Psalmenreligiosität  oder  das  Racheschwelgen  der  Phantasie 
im  Buch  Esther  und  auch  gegen  den  ebionitischen  Reichtumshaß 
des  Lukas-Evangeliums,  wie  er  sich  etwa  im  Gebet  der  Maria 
ausspricht,  waltet  eine,  zum  mindesten  äußerhch,  sehr  andere 
Haltung  im  Talmud  vor.  Jene  religiöse  Rationalisierung  des 
Rachebedürfnisses  an  den  Feinden  oder  Glücklichen,  welche  die 
eigene  Rache  gegen  das  Unrecht  zurückstellt,  weil  Gott  sie  dann 
um  so  gründlicher,  es  sei  hier  oder  im  Jenseits,  vollstrecken  wird 
oder  jene  noch  weitere  Sublimierung,  die  dem  Feinde  schranken- 
los verzeiht,  um  ihn  vor  andern  oder  und  vor  allem  vor  sich  selbst 
beschämen  und  verachten  zu  können,  ist  im  Talmud  nicht  nur 
bekannt,  sondern  wurde  von  den  Rabbinen  scharf  in  ihrem  Wesen 
erkannt  und  abgelehnt.  Denn  nichts  ist  so  eindrucksvoll  betont, 
als  das  Gebot:    Andere  nicht  »beschämen«  zu  wollen. 

Zunächst  innerhalb  der  Pietätsbeziehungen  der  Familie:  die 
Beschämung  der  Eltern,  die  sich  dem  Kinde  gegenüber  ins  Unrecht 
setzen,   vermieden   zu   haben   wird   als   schönste   Pietätsleisturo" 


422 


Nachtrag. 


gepriesen.  Aber  das  gleiche  gilt  auch  gegenüber  dem,  der  Unrecht 
zufügt,  vor  allem  im  Verlauf  von  Streit  und  Diskussion.  Die 
hoffnungslose  Niederwerfung  des  Judentums  durch  den  Tempel- 
sturz gab  offenbar  der  rabbinischen  Ethik  Anlaß,  sich  mit  diesen 
Problemen  des  Ressentiments  verdrängter  und  sublimierter 
Rache  gesinnungsethisch  zu  befassen.  Das  durch  Reflexion 
ungebrochenere  alte  Christentum  hat  die  Tatbestände  weit  weniger 
durchreflektiert  und  zeigt  daher  bekanntlich  manche  Proben 
ziemlich  unverhüllter  Ressentimentsethik,  die  im  talmudischen 
Judentum  bekämpft  wurde. 

Aber  allerdings  beweist  der  Kampf  der  Rabbinen  gegen  die 
religiöse  Verinnerlichung  der  Rache,  ethisch  eindrucksvoll  und 
ein  Beweis  sehr  starker  Sublimierung  des  ethischen  Fühlens  wie 
er  ist,  wohl  wesentlich:  daß  eben  auch  ihnen  nicht  verborgen 
blieb,  einen  wie  starken  Faktor  das  zur  Ohnmacht  verurteilte 
Rachebedürfnis  im  antiken  Spät  Judentum  tatsächlich  bedeutete. 
— •  Die  wache  Selbstkontrolle  des  Juden,  war  wie  dies  Beispiel 
zeigt, 'schon  im  Altertuin  überaus  stark  entwickelt.  Aber  jeden- 
falls nicht  auf  der  Basi$  einer  asketischen  Lebensmethodik. 

Gewiß  finden  sich  innerhalb  des  Judentums  asketische  Insti- 
tutionen. Von  den  kultischen  Abstinenz-  und  Reinheits- Vor- 
schriften für  die  Priester  abgesehen,  vor  allem  das  vorgeschriebene 
rituelle  Fasten  zu  bestimmten  Zeiten.  Aber  dies  ist  durchaus 
kultisch,  vor  allem  als  Mittel  der  Versöhnung  von  Gottes  Zorn, 
motiviert.  Ganz  ebenso  das  Fasten  des  einzelnen.  So  sehr  war 
dieser  Zweck  die  Regel,  daß  jeder  der  fastete,  ohne  weiteres  als 
Sünder  galt.  Hier  hätte  unzweifelhaft  eine  asketische  Lebens- 
führung Anknüpfungspunkte  gefunden:  der  Gedanke  und  die 
Predigt  von  der  Notwendigkeit  der  Buße  ist  ja  dem  antiken 
Judentum  spezifisch  und  ein  sehr  wichtiger  Ausfluß  seiner  Gottes- 
konzeption. Ein  Büßerleben  zu  führen  war  gerade  mit  zuneh- 
mender Entwertung  des  Priesteropfers  ein  dem  einzelnen  nahelie- 
gendes Heilsmittel.  Als  solche  großen  Büßer  sind  denn  zweifellos 
auch  jene  wenigen  großen  Faster  anzusehen,  welche  die  jüdische 
Religionsgeschichte  aufweist  (eigentlich  beglaubigt  nur:  R.  Zaina). 
Gelübde  wie  das  alte  Nasiräat  bestanden  als  Mittel,  Gottes 
Wohlgefallen  zu  erregen  oder  seinen  Zorn  abzuwenden,  auch  in 
der  Praxis  weiter :  auch  Paulus  hat  — .vermuthch  als  Mittel  gegen 
seine  epileptischen  Anfechtungen  —  bekanntlich  ein  Gelübde 
(auf  Zeit)  abgelegt  und  abgeleistet,  als  er  schon  Christ  war.    Zu 


Die  Pharisäer.  a2% 

einer  asketischen  Sektenbildung  aber  kam  es  erst  auf  ähnlicher 
Grundlage  weit  später,  bei  den  »Trauernden  um  Zion«,  den 
Koräern,  die  uns  hier  nicht  näher  interessieren.  Was  dagegen  auf 
dem  Boden  des  pharisäischen  Judentums  wie  »Askese«  aussieht, 
entstammt  in  Wahrheit  lediglich  dem  für  den  Pharisäismus  ent- 
scheidenden Streben  nach  levitischer  Reinheit.  Dies  Streben 
konnte  verschieden  radikal  gepflegt  werden.  Innerhalb  des  nor- 
malen Pharisäismus  führte  es  zu  jener  Steigerung  der  Exklusivität 
nach  außen  und  der  systematischen  Pflege  ritueller  Korrektheit, 
welche  wir  besprochen  haben,  und  welche  ein  Ausscheiden  aus 
der  Welt  des  ökonomischen  und  sozialen  Alltags  nicht  erforder- 
ten. Aber  das  Prinzip  konnte  natürlich  auch  bis  zu  einer 
grundsätzlichen  Ueberbietung  der  innerweltlichen  Sittlichkeit 
getrieben  werden.  Auf  dieser  Grundlage  beruht  die  charak- 
teristischste Erscheinung  des  E  s  s  e  n  i  s  m  u  s  ,  welcher  in 
diesem  Sinn  lediglich  eine  radikale  Pharisäersekte  darstellt. 
Ihr  jedenfalls  ins  2.  vorchristliche  Jahrhundert  zurückreichende 
Alter  und  ihr  möglicher  Zusammenhang  mit  den  Rechabiten 
ist  zweifelhaft,  und  ebenso  sind  manche  wichtige  Fragen  ihrer 
Lehre  nur  ganz  hypothetisch  lösbar.  Immerhin  läßt  sich  das 
Streben  nach  absoluter  levitischer  Reinheit,  äußerlich  und  ge- 
sinnungsmäßig, deutlich  als  ein  Grundelement  erkennen.  Auch 
die  Essener  waren,  wie  die  weitere  pharisäische  Bruderschaft  es 
war,  ein  Orden.  Aber  mit  weit  strengern  Eintrittsbedingungen, 
vor  allem:  feierlichem  Gelübde,  Noviziat  und  mehrjähriger  Probe- 
zeit. Auch  die  Organisation  des  Ordens  war  weit  straffer  und 
mönchsartig:  der  Vorsteher  (Mishmer)  der  Einzelgemeinde  am 
Ort  ist  unbedingte  Autorität,  die  Exkommunikation  liegt  in  den 
Händen  eines  Rats  von  100  Vollmitgliedern.  Das  Apostolat  diente 
bei  den  Essenern  wie  bei  der  offiziellen  jüdischen  Gemeinschaft 
vermutlich  vorwiegend  den  Kollekten  für  die  Ordenskasse. 
Daß  die  Apostel  stets  zu  zweit  —  wie  die  altchristlichen  — 
wanderten,  hatte  wohl  den  Zweck  gegenseitiger  Kontrolle  der 
rituellen  Korrektheit. 

Die  Essener  schlössen  sich  gegen  die  minder  Reinen  durch 
Ausschluß,  nicht  nur  des  connubium  und  der  Kommensah  tat, 
sondern  jeder  Berührung  überhaupt,  ab.  Auch  sie  lehnten  nicht 
korrekt  lebende  Priester  ab  und  bei  ihnen  scheint  daraus  nicht 
nur  eine  Entwertung,  sondern  ein  stark  wirkendes  Mißtrauen 
gegen  die  Priester  überhaupt  hervorgegangen  zu  sein,  was  sicher- 


424  Nachtrag. 

lieh  durch  die  bald  zu  erwähnende  Sonderstellung  gegenüber  dem 
Opfer  mitbedingt  war.    Rituell  drückt  sich  das  radikale  Rein- 
heitsstreben  neben  dem  starken  Akzent,  der  auf  der   Novizen- 
taufe und  auf  den  fortwährend,  bei  allen  denkbaren  Gelegen- 
heiten, wiederholten  Reinheitsbädern  lag,  zunächst  in  größerer 
Striktheit  der  spezifisch  pharisäischen  Gebote  aus.    Die  Angst 
vor  ritueller  Befleckung  und   alle   Reinheitsvorschriften   waren 
.  ins  Extreme  gesteigert.   Alles  Studium  außer  im  Gesetz  und  über 
die   biblische    Kosmologie,   galt    als   gefährlich,   weil  heidnisch, 
alles  rein  weltliche  Vergnügen  als  verwerflich  und  zu  meiden. 
Der  Sabbat  war  bei  den  Essenern  nicht  ein  Tag  der  Freude,  wie  bei 
den  normalen  Pharisäern,  sondern  absoluter  Ruhetag:    die  Be- 
gattung beschränkte  der  Essener  auf  den  Mittwoch,  angeblich, 
damit  das  Kind  nicht  am  Sabbat  zur  W^elt  komme.    Die  Tracht- 
vorschriften  (zizit)   galten  unbedingt.    Dem   Gebet  am  Morgen 
ging  eine  vorgeschriebene  Zeit  der  Kontemplation  voraus.   Nicht 
nur  Tötung,  sondern  jede  Verletzung  des  Nächsten,   auch  aus 
Achtlosigkeit,   galt   als   schwere    Selbstbefleckung.     Das   Gebot, 
nicht  zu  stehlen,  wurde  dahin  gesteigert :  auch  nicht  durch  irgend- 
welchen Gewinn  —  dessen  Rechtmäßigkeit  stets  problematisch 
schien  —  sein  Gewissen  zu  belasten.    Die  Essener  mieden  daher 
den  Handel  ebenso  wie  den  Krieg,  verwarfen  den  Geld-  und 
Sklavenbesitz  und  schränkten  den  zulässigen  Besitz  überhaupt 
auf  das  für  den  Eigenbedarf  Unentbehrliche  und  durch  Bodenbau 
und   eigene   gewerbliche   Handarbeit    zu   gewinnende   ein.     Sie 
steigerten  dementsprechend  die  alten   sozialen  Brüderlichkeits- 
gebote   konsequent   bis    zum  vollen   ökonomischen  Liebesakos- 
mismus.    Nicht  nur  die  agape,  das  Liebesmahl,  zu  welchem  die 
Besitzenden  die  Mittel  lieferten,   wird  erwähnt,   sondern  auch 
von  gemeinsamen  Häusern  und  Magazinen  und  einem  gemein- 
samen »Schatz«  berichtet  Philo:  vermutlich  wurden  die  Ueber- 
schüsse  über  den  Eigenbedarf  dort  niedergelegt,  um  der  sehr  hoch 
ausgebildeten  Armenunterstützung  zu  dienen.    Ob  dagegen  wirk- 
lich voller   Kommunismus  bestand  und  ob  auch  nur  jene  Ein- 
richtungen bei   ihnen  überall  in   voller  Ausbildung    bestanden 
haben,  ist  wohl  unsicher.     Denn  die  Essener  lebten  zwar  vor- 
wiegend in  Palästina,  aber  offenbar  keineswegs  immer  cöno bitisch 
seßhaft.     Im  Gegenteil  war  neben  der  Armenunterstützung  auch 
die  Aufnahme-  und  Unterstützungspflicht  für  zureisende  Brüder 
(also  doch  wohl:  Handwerksburschen)  eine  ihrer  Grundinstitu- 


Die  Pharisäer. 


425 


tionen    und    \'ornehmlich    diesen  Zwecken  diente  wohl  die  ge- 
meinsame Kasse. 

Zorn  und  alle  Leidenschaften  galten,  als  dämonisch  infizierte 
Zuständlichkeiten,   bei  den  Essenern  für  noch  gefährlicher,  als 
bei  den  normalen  Pharisäern,  und  im  Zusammenhang  damit  ver- 
mutlich   wurde    als    radikales    Gegenmittel    ausdrücklich    dem 
Frommen  das  Gebet  für  diejenigen,  welche  ihm  Unrecht  getan 
haben:   die  »Feindesliebe«,  eingeschärft.    Die  Heiligung  des  gött- 
lichen Namens  führte  bei  ihnen  nicht  nur  zur  Verwerfung  des 
Eides,  sondern  es  schloß  sich  daran  die  Entwicklung  einer  wirk- 
lichen   Geheimlehre    und  Arkandisziplin    an.     Diese    erforderte 
rituelle  Keuschheit  für  denjenigen,  welcher  der  in  Aussicht  ge- 
stellten Charismen  teilhaftig  werden  wollte.    Daher  die  strenge 
sexuelle  Kontinenz  und  eine  starke,  übrigens,  soweit  sie  bis  zur 
gänzlichen  Verwerfung  sich  steigerte,    in   ihren  eigenen  Kreisen 
nicht  unbestrittene  Abneigung  gegen  die  Ehe,  —  die  ja,  wie  wir 
sahen,  auch  für  den  pharisäischen  Rabbi  nach  manchen  Auf- 
fassungen  für   unerwünscht   galt.     In   jenen   Gnadengaben   der 
Geheimlehre  nun  und  dem  Streben  nach  ihnen  scheint  das  eigent- 
liche Motiv  der  besonderen  essenischen  Lebensführung  gefunden 
werden  zu  müssen.    Denn  an  diesem  Punkte  liegt  ein  gegenüber 
dem  Pharisäismus  und  dem  Judentum  überhaupt  deutlich  als 
Fremdkörper    erkennbares     Element.      Die     Geheimlehre    war, 
nach     Josephus,    in   besondern,    sorgfältig    geheim    gehaltenen 
heiligen  Schriften  aufgezeichnet  und  bei  der  Aufnahme  als  Voll- 
mitglied hatte  der  einzelne  sich  eidlich  zu  verpflichten.  Dritten 
gegenüber    zu    schweigen,    den    Ordensbrüdern   gegenüber    aber 
offen  zu  sein.   Der  Inhalt  der  Geheimlehre  scheint  in  allegorischer 
Umdeutung  der  heiligen  Erzählungen,  in  einem  sehr  ausgeprägten 
Vorsehungsglauben,  in  einer  noch  mehr  als  sonst  ausgeprägten 
Angelologie,  in  einzelnen  Sonnenkultakten  —  dem  auffallendsten 
Fremdbestandteil  —  und  in  der  an  Stelle  des  pharisäischen  Auf- 
erstehungsglaubens   gesetzten    Unsterblichkeitsverheißung    mit 
Himmel  und  Hölle  bestanden  zu  haben.    Rituell  ist  die  Ablehnung 
der  Tieropfer  ihnen  eigentümlich:   sie  schlössen  sich  damit  vom 
Tempelkult  aus,  hielten  aber  die  Beziehung  zum  Tempel  durch 
Geschenksendungen  aufrecht.    Das  Charisma  aber,  welches  die 
Arkandisziplin  gewähren  sollte,  war  allem  Anschein  nach  die  Gabe 
der  Prophezeiung,   die  Josephus  ihnen  zuschreibt  und  die  wohl 
mit  ihrem  VorsehunffSß:lauben  im  Zusammenhang  steht.    Daneben 


426 


Nachtrag. 


wird  ihre  Therapeutik,  namentlich  ihre  Kenntnis  der  Kräfte  von 
Mineralien  und  Wurzeln  gerühmt.  Ihre  Religiosität  war  sehr 
wesentlich  Gebetsreligiosität  mit  offenbar  sehr  intensiver  De- 
\'otionsandacht. 

Es  leuchtet  sofort  ein,  daß  diese  Bestandteile  der  essenischen 
Lehre  und  Praxis,  welche  nicht  mehr  eine  Steigerung  und  Ueber- 
bietung  des  pharisäischen  Reinheits-Ritualismus  waren,  auch 
nicht  dem  Judentum  entstammten.  Die  Angelologie,  auch  die 
pharisäische,  war  ja  persischen  Ursprungs.  Ebendahin  weist 
wohl  der  ziemlich  schroffe  Dualismus  in  der  Lehre  von  Leib  und 
Seele,  —  obwohl  hier  auch  hellenistische  Einflüsse  denkbar  sind. 
Ganz  dem  persischen  (oder  persisch-babylonischen)  Einfluß 
gehört  die  Sonnenverehrung  an,  welche  —  im  Gegensatz  zu  jener 
—  geradezu  unjüdisch  anmutet  und  deren  Duldung  durch  das 
korrekte  Judentum  zunächst  befremdlich  erscheint.  Die  Neigung 
zur  Ehelosigkeit,  die  Ordensgrade  und  die  Ablehnung  des  Tier- 
opfers  könnte  indischen  Einflüssen  —  durch  irgendwelche  Ver- 
mittlung —  entstammen,  aber  auch,  wie  die  Waschungen  und 
Sakramente,  dem  hellenistisch-orientalischen  Mysterienwesen, 
wie  ja  die  Schaffung  der  Geheimlehre  als  solche  eben  daher 
stammen  dürfte.  In  der  Tat:  der  essenische  Orden  bedeutet 
eine  Vermählung  von  sakramenteller  Mysterienreligiosität  mit 
dem  levitischen  Reinheitsritualismus.  Von  den  üblichen  vorder- 
asiatischen Heilandsmysterien  unterschied  ihn  das  Fehlen  eines 
persönlichen  Heilandes  als  Kultgegenstand:  die  stark  gepflegte 
messianische  Hoffnung  war  auch  bei  den  Essenern  durchaus 
Zukunftshoffnung,  wie  im  pharisäischen  Judentum.  Danach 
hätte  die  Sekte  bei  konsequenter  Beurteilung  als  heterodox 
angesehen  werden  müssen.  Indessen  darum  kam  das  Judentum 
infolge  seines  ritualistischen  Charakters  herum,  ähnlich  wie  in 
solchen  Fällen  der  Hinduismus.  Weil  die  Gemeinschaft  mit  dem 
Tempel  aufrechterhalten  wurde  und  w^eil  die  vom  Pharisäismus 
über  alles  geschätzte  mosaische  Gesetzestreue  gewahrt,  ja  be- 
sonders und  im  pharisäischen  Sinn  peinlich  gewahrt  blieb,  sah 
die  jüdische  Gemeinde  über  die  offenkundig  heterodoxen  Ein- 
schläge hinweg  und  duldete  die  Sekte  wie  eine  durch  indifferente 
Sondergelübde  und  Sonderlehre  speziahsierte  jüdische  Genossen- 
schaft, in  der  Art,  wie  sie  es  infolge  ähnlicher  Voraussetzungen 
der  jerusalemitischen  Tempel-  und  Gesetzes-treuen  Judenchrist- 


Die  Pharisäer. 


42; 


liehen  Nazaräer- Gemeinde  gegenüber  so  lange  hielt,  als  dies 
möglich  war. 

Die  Grenze  zwischen  dem  Pharisäismus  und  den  Essenern 
war  aber  allerdings  auch  in  bezug  wenigstens  auf  die  Lebens- 
führung fließend.  Zwar  eine  geschlossene  genossenschaftliche 
Organisation  dieser  Art  mit  Verpönung  des  Erwerbs  ist  auf  dem 
Boden  des  normalen  Pharisäismus  sonst  in  jener  Zeit  nicht  bekannt 
-'  -  im  Gegenteil  galten  den  Evangelien  die  Pharisäer  als  Ver- 
treter des  »Geizes«.  Aber  zahlreiche  Einzelerscheinungen,  die 
in  der  Richtung  der  gleichen  Gesinnung  lagen,  fanden  sich.  Zu- 
nächst: der  Liebesakosmismus.  Als  »Hascheina«  (die  »Ge- 
heimen«) bezeichnete  man  wohlhabende  Leute,  welche  grund- 
sätzlich und  in  großem  Maßstabe  im  geheimen  Gaben  für  Arme 
hergeben,  die  diese  ebenso  im  geheimen  und  ohne  daß  ihre 
Person  bekannt  wurde,  in  Empfang  nehmen;  und  zwar  nicht 
nur  gelegentlich  und  unorganisiert,  sondern  aus  einei?  dafür  ge- 
schaffenen gemeinsamen  Kasse.  Es  scheint  nach  dem  Talmud,  daß 
solche  in  fast  allen  Städten  bestanden:  das  rabbinische  Gebot, 
»Niemanden«  zu  beschämen  und  der  später  von  Jesus  einge- 
schärfte Grundsatz:  »daß  die  linke  Hand  nicht  wissen  solle,  was 
die  rechte  tue«,  weil  nur  dann  die  Gabe  himmlischen  Lohn  ver- 
diene, der  sonst  vorweggenommen  werde,  —  dieser  auch  für  mo- 
derne gemeinjüdische  Wohltätigkeit,  im  Gegensatz  z.  B.  zur 
puritanischen,  aber  auch  zur  normal  christlichen,  charakteristische 
Zug  der  talmudischen  Caritas  spricht  sich  darin  aus. 

Dem  Streben  nach  absoluter  Reinheit  entsprang  die  Fern- 
haltung von  allem  und  jedem  weltlichen  »Vergnügen«,  wie.  sie  der 
»Kadash«  (»Heilige«)  nach  Art  der  Essener  übte  und  auch  Eremiten 
»barnaim«  (-»Bauer«,  von  Eremitagen  nämlich)  finden  sich  ver- 
einzelt. Diese  Erscheinungen  von  wirklicher  Weltablehnung 
stehen  indessen  dem  normalen  Pharisäismus  ebenso  fremd  gegen- 
über wie  die  entsprechenden  essenischen  Regeln  und  sind  wohl 
auch  ihrerseits  durch  unjüdische  Einflüsse  zu  erklären.  Rituell 
finden  sich  gewisse  Anklänge  an  die  altchassidische  und  die 
essenische  Praxis  bei  den  »Watikim«,  welche  das  Morgengebet 
formell  streng  und  zwar  so  regelten,  daß  sein  Ende  mit  dem  Sonnen- 
aufgang zusammenfiel  —  und  was  dergleichen  Einzelerschei- 
nungen mehr  sind.  Das  pharisäische  Judentum  war  eben  trotz 
aller  rituellen  Korrektheit  und  strengen  Absonderung  von  den 
Heiden  den  verschiedensten  Invasionen  heterogener  Ritualistik 


428  Nachtrag. 

(zum  Beispiel:  Sonnenkult-Ritualistik)  ausgesetzt.  Und  wenn 
auch  die  Entwicklung  einer  eigentlichen  Geheimlehre  gerade  dem 
Pharisäismus  durchaus  fremd  war,  so  konnte  er  doch  die  Ver- 
breitung apokalyptischer  eschatologischer  Messias-Erwartungen 
und  Prophezeiungen  unmöglich  hindern,  welche  der  Sache  nach 
ähnlich  wirkten  und  von  dem  die  Luft  voll  war,  wie  am  deut- 
lichsten die  Umwelt  zeigt,  in  welcher  sich  die  evangelischen 
Geschichten  und  Mythen  abspielen. 

Die  Organisation,  rehgiöse  Lebensführung  und  Ethik  der 
Essener  sind  oft,  und  namentlich  von  jüdischer  Seite,  mit  der 
urchristlichen  Praxis  in  Beziehung  gesetzt  worden.  Die  Essener 
kennen  wie  die  Christen  die  Taufe,  das  Liebesmahl  (Agape),  den 
akosmistischen  Liebeskommunismus,  die  Armenunterstützung, 
das  Apostolat  (jedoch  im  jüdischen  Sinn  des  Begriffs)  die  Aver- 
sion gegen  die  Ehe  (für  die  Vollkommenen),  die  Charismen, 
vor  allem -die  Prophetie,  als  erstrebte  Heilszuständlichkeit  ^) . 
Ihre  Ethik  war,  wie  die  altchristliche,  streng  pazifistisch, 
empfiehlt  die  Feindesliebe,  schätzt  die  Heilshoffungen  der  Armen 
hoch,  der  Reichen  ungünstig  ein,  ebenso  wie  die  ebionitischen 
Bestandteile  der  Evangelien  es  tun.  Dazu  traten  die  der  urchrist- 
lichen verwandten  Bestandteile  der  gemeinpharisäischen  Ethik, 
denen  gegenüber  sie  ebenso  wie  die  urchristliche  in  vielen  Punkten 
eine  Steigerung  bedeutet.  x\llein  der  Charakter  dieser  Steige- 
rung ist  hier  und  dort  sehr  verschieden.  Denn  gerade  in  bezug 
auf  rituelle  (levitische)  Reinheit  lenkt  schon  Jesus  selbst  in  seiner 
Verkündigung  in  ganz  andere  Bahnen.  Das  monumental  wirkende 
Herrenwort:  daß  nicht  das,  was  in  den  Mund  geht,  unrein  macht, 
sondern  das,  was  aus  dem  Munde  geht  und  aus  einem  unreinen 
Herzen  kommt,  bedeutete,  daß  die  gesinnungsethische  Subli- 
mierung,  nicht  die  ritualistische  Ueberbietung  der  jüdischen 
Reinheitsgesetze  das  für  ihn  Entscheidende  war,  und  der  angst- 
vollen Abschließung  der  Essener  gegen  die  rituell  Unreinen  steht 
seine  sicher  bezeugte  Unbesorgtheit  vor  dem  Verkehr  und  der 
Tischgemeinschaft  mit  ihnen  gegenüber.  —  Die  auf  beiden  Seiten 
zu  findenden  ethischen  Konzeptionen  waren  aber  in  den  mannig- 
fachsten Formen  im  Entstehungsgebiet  beider  Gemeinschaften 
verbreitet  und  die  gleichartigen  Institutionen  teils  schon  dem 
pharisäischen  chabarah,  teils,  wie  anzunehmen  ist,  mannigfachen 

^)  Auch  der  Ausdruck  iy.y.X'qoia.    wird    für    ihre   Gemeindeversammlungen 
gebraucht. 


Die  Pharisäer, 


429 


Kultgemeinschaften  gemeinsam.  Vor  allem:  sowohl  die  Epi- 
phanie  eines  gegenwärtigen  persönlichen  Heilandes  und  sein 
Kult,  wie  die  gewaltige  dem  Urchristentum  spezifische  Bedeutung 
des  »Geistes<<  (7iv£ö|ji,a)  blieb  den  Essenern,  soviel  bekannt,  fremd. 

Das  Pneuma,  als  Charisma  und  Merkmal  der  Bewährung  eines 
exemplarischen  Gnadenstandes,  war  zwar  dem  Judentum  und 
auch  der  Lehre  des  Pharisäismus,  kein  fremder  Begriff.  Der  »Geist 
Jahwes«,  der  als  Berserker-Charisma  über  den  Helden  (Simson) 
und  König,  als  wilder  Zorn  über  Saul,  vor  allem  aber  als  Charisma 
der  Vision  und  prophetischen  Verkündigung,  eventuell:  des 
Wunders,  über  den  Seher,  Propheten,  Wundertäter  kommt, 
dessen  der  Hohepriester  bedarf,  um  das  Volk  gültig  entsühnen 
zu  können,  der  von  ihm  weicht  (Pinehas)  und  den  König  oder 
Helden  v^erläßt,  wenn  er  sündigt,  ist  auch  in  jedem  Lehrer  mächtig : 
wie  der  Prophet  durch  den  Geist  sieht  und  hört,  so  lehrt  auch  der 
Lehrer  durch  ihn.  Im  Talmud  heißt  er  Ruach-ha-kodesch,  in 
der  Septuaginta-Uebersetzung  von  Psalm  51,  11  und  Jesaja  63, 
10.  II  Tiveöjjia  TÖ  aytov,  sein  dämonischer  Widerpart  ist  die 
Lehre  des  »unreinen  Geistes«,  in  den  Evangelien  von  den  Schrift- 
gelehrten der  Geist  des  Beelzebub,  des  »Obersten  der  Teufel« 
genannt.  Die  Rabbinen  brauchen,  aus  Scheu  vor  dem  Gottes- 
namen, statt  des  Namens  »heihger  Geist«  oft  den  Namen  »shekina«. 
Es  entstand  die  Doktrin,  daß  der  »göttliche  Geist«,  der  am  Beginn 
der  Schöpfung  auf  den  »Wassern«  schwebte,  vom  Schöpfer  am 
ersten  Tage  geschaffen  worden  sei.  Die  Taube,  das  Symbol  des 
verfolgten  Israel,  w^ird  auch  im  Talmud  gelegentlich  als  seine 
Lieber bringerin  behandelt. 

Auch  in  der  talmudischen  Literatur  begegnet  die  Vorstellung, 
daß  der  heilige  Geist  für  die  Menschen  als  »Synegor«,  d.  h.  als 
»Paraklet«  ^) :  Fürsprecher,  Helfer  für  die  Menschen  bei  Gott  ein- 
trete. Aber  die  Lehre  von  der  Geschlossenheit  des  prophetischen 
Zeitalters  ließ  die  Annahme  entstehen,  daß  der  heilige  Geist  seit 
Maleachi  aus  der  Welt  verschwunden  sei.  Man  kann  ihn  nicht 
mehr  erlangen,  sondern  nur  den  »bat  kol«,  den  Geist,  den  der 
Rabbine  zum  richtigen  Auslegen  des  göttlichen  Gesetzes  bedarf. 
Andererseits  hatte  Joel  ^)  die  Reinheit  und  Heiligkeit  der  Er- 
wählten nach  dem  Kommen  des  Messias  so  gefaßt:  daß  dann 

^)  Philo  braucht  den  Ausdruck  für  den  »Logos«,  der  den  Hohenpriester 
stützt. 

2)    III    V.     I.    2. 


430 


Nachtrag. 


der  Heilige  Geist  allen  mitgeteilt  werde,  die  Söhne  und 
Töchter  weissagen,  die  Aeltesten  Träume  und  die  Jünglinge 
Visionen  haben  und  auch  über  Knechte  und  Mägde  der  Geist  aus- 
gegossen werden  solle.  Das  Wieder  erwachen  des  Heiligen  Geistes 
in  allen  Menschen  galt  darnach  als  Zeichen  dafür,  daß  der  Messias 
gekommen  sei  und  das  Anbrechen  des  Gottesreichs  bevorstehe. 
Diese  Vorstellung  ist  für  die  altchristliche  Konzeption  des  Pfingst- 
wunders  maßgebend  gewesen.  Den  »Geist«  in  diesem  spezifischen 
Sinn  einer  irrationalen  göttlichen  Prophetengabe  konnten  die 
Rabbinen  weder  für  sich  beanspruchen  noch  vollends  als  Merk- 
mal des  Gnadenstandes  der  Gemeindeglieder  ansprechen. 

So  hoch  daher  die  Autorität  des  rabbinischen  Lehrers  stand 
—  niemals  konnte  er  daran  denken,  die  Stellung  eines  pneumati- 
schen »Uebermenschen«  in  Anspruch  zu  nehmen.  Stets  stützte 
sich  seine  Autorität  auf  das  in  der  Thora  und  den  Propheten 
schriftlich  fixierte  Wort.  Jede  Entwicklung  in  der  Richtung  der 
Anbetung  des  Seelenhirten,  nach  Art  der  Guru-Anbetung  in 
Indien,  in  Asien  und  im  Christentum  schied  völlig  aus.  Auch  sie 
war  durch  die  jüdische  Gotteskonzeption  ausgeschlossen,  welche 
jede  Kreatur  Vergötterung  als  heidnischen  Greuel  zu  verwerfen 
zwang.  Aber  auch  als  Gegenstand  einer  Heiligen-  oder  Mysta- 
gogen- Verehrung  nach  Art  der  christlichen  oder  asiatischen  Er- 
scheinungen dieser  Art  kam  der  Rabbi  nicht  in  Betracht.  Er 
versieht  einen  religiösen  Beruf,  nicht  aber  spendet  er  Gnade: 
dies  zu  tun  war  ursprünglich,  in  begrenztem  Umfang,  das  Charisma 
des  Priesters  und  blieb  den  durch  keramitische  Abstammung 
qualifizierten  Kohanin  insofern  —  allerdings  wesentlich  formel- 
haft —  erhalten,  als  nur  sie  die  Qualifikation  hatten  den  »Priester- 
segen« zu  sprechen.  Erst  die  chassidische  Bewegung  in  Ost- 
europa schuf  in  dem  zakken,  dem  Virtuosen  der  chassidischen 
Mystik,  eine  Gestalt,  die  dem  asiatischen  Nothelfer-  und  Mysta- 
gogen-Typus  entsprach,  dessen  Ansprüche  eben  deshalb  aber  auch 
im  schärfsten  Gegensatz  gegen  die  Autorität  des  Rabbinen 
standen  und  von  diesen  als  Ketzerei  verworfen  wurden.  Der 
jüdische  Rabbi  spendete  weder  Sakramentsheil,  noch  war  er 
ein  charismatischer  Nothelfer.  Sein  religiöser  Sonderbesitz  war 
das  »Wissen«.  Dies  allerdings  war  ungemein  hoch  gewertet: 
an  Ehre  geht  er  den  Bejahrteren  und  selbst  den  Eltern  vor: 
»Wissen  geht  über  alles«.  Seine  Bedeutung  als  persönliche  Autori- 
tät lag  vor  allem  im  Beispiel,  das  er  gab :  in  seiner  exemplarischen 


Die  Pharisäer. 


43 


Lebensführung.    Deren  Merkmal  aber  war  lediglich  die  strenge 
Orientierung  am  göttlichen  Wort. 

Auch  in  seiner  pflichtmäßigen  Arbeitssphäre  war  er  ein 
Diener  des  »Worts«.  Aber  kein  »Prediger«,  sondern  ein  »Lehrer«. 
Er  lehrte  im  geschlossenen  Schülerkreise  das.  Gesetz,  nicht  aber 
bearbeitete  er  öffentlich  durch  Predigt  die  Gemeinde.  Zwar 
lehrt  er  auch  in  der  Synagoge.  Aber  im  antiken  Judentum, 
soviel  bekannt,  öffentlich  nur  an  Sabbaten  unmittelbar  vor  den 
großen  Festen  und  an  den  Kallaben-Tagen.  Zweck  war  auch 
dann :  Belehrung  der  frommen  Gemeinde  über  die  Ritual- 
pflichten in  jenen  Zeiten  ebenso  wie  er  im  übrigen  dem  einzelnen 
in  Zweifelsfällen  als  Berater  über  seine  Ritualpflichten  zur 
Seite  stand.  Denn  dies:  die  Responsentätigkeit  nach  Art  der 
römischen  Juristen,  daneben  schiedsrichterliche  und,  für  die 
dazu  in  den  »Bei  Din«  berufenen  Rabbinen,  auch  eigentlich 
richterliche  Tätigkeit,  bildete  —  neben  der  systematischen  Bil- 
dung der  Schüler  im  Gesetz  —  den  Schwerpunkt  seiner  Berufs- 
arbeit. Die  öffentliche  religiös-ethische  Predigt  an  den  Sabbat- 
nachmittagen war  dagegen  in  der  Antike  des  Judentums  ganz 
unorganisiert.  Soweit  sie  aber  stattfand  —  und  das  dürfte  in 
erheblichem  Maß  der  Fall  gewesen  sein  —  lag  sie  dajnals  ebenso 
wie  später  in  den  Händen  ganz  anderer  Persönlichkeiten,  als  der 
eigentlichen  ortsansäßigen  Rabbinen :  der  »Magyr  «,  der  rabbinisch 
geschulte  Wanderlehrer  der  späteren  Zeit  ist  sicher  eine  sehr  alte 
Erscheinung.  Als  wandernder  Sophist,  Gast  der  bemittelten 
Gemeindeglieder  bereist  er  die  Gemeinden,  sicher  genau  so  wie 
Paulus,  der  durchw^eg  in  den  Synagogen  predigte,  es  tat.  Gewiß, 
nicht  nur  wandernde  Redner  traten  auf.  Sondern  die  sehr  weit- 
gehende Lehr-  und  Predigtfreiheit  gestattete  jedem,  der  sich 
für  qualifiziert  hielt  und  der  Gemeinde  dafür  galt,  zu  predigen. 
Auch  die  »Schriftgelehrten«  taten  es,  die  das  Evangelium  eigent- 
lich rituell  voraussetzen.  Aber  offenbar  nicht  als  normale  Be- 
ruf spf  licht.  Aufgaben  lagen  andrerseits  dem  Rabbi  nur  ob, 
soweit  sie  nicht  priesterlicher  Art,  sondern  eben  rein  technisch- 
rituell zu  ordnende  Angelegenheiten  waren:  im  antiken  Judentum 
vor  allem  die  Ausrichtung  des  rituellen  Bades  (mikweh)  und 
shehitah,  das  rituelle  Schlachten  (»Schächten«),  welches  er  zu 
beaufsichtigen,  unter  Umständen  selbst  zu  vollziehen  hatte. 
Allein  die  autoritative  Interpretation  des  Gesetzes  war  und  blieb 
in  allem  die  Hauptsache. 


432 


Nachtrag. 


Die  technische  Eigenart  dieser  Gesetzesinterpretation  nun 
entsprach  der  sozial  bedingten  Eigenart  der  Schicht,  welche  ihr 
wichtigster  Träger  war :  des  Kleinbürgertums,  dem  die  Rabbinen 
der  alten  Zeit  selbst  zum  sehr  großen  Teil  angehörten.  Es  wurde 
schon  hervorgehoben,  daß  der  »gesunde  Menschenverstand« 
und  jener  praktisch-ethische  Rationalismus,  welcher  bürgerlichen 
Schichten  als  innere  Haltung  überall  naheliegt,  von  starkem  Ein- 
fluß auf  die  Art  der  rabbinischen  Behandlung  des  Gesetzes  war : 
die  »ratio«  der  Bestimmungen  statt  ihres  Buchstabens  einerseits, 
die  zwingenden  Bedürfnisse  des  Alltagslebens,  vor  allem  der 
Wirtschaft,  andererseits  kamen  so  zur  Geltung.  Dagegen  fehlte 
völlig  die  Möglichkeit  eigentlich  »konstruktiven«  rationalen 
Denkens:  —  des  eigentlich  »juristischen«  Denkens  also,  wie  es 
die  römischen  respondierenden  Juristen  und  nur  sie  betätigt 
haben,  —  was  praktisch  bedeutet :  die  Fähigkeit  zur  rationalen 
Begriffs  bildung.  Die  Rabbinen  waren  kein  rein  weltlicher 
und  vor  allem  kein  vornehmer  Juristenstand  wie  die  römischen 
Respondenten,  sondern  plebejische  religiöse  Rituallehrer.  Die 
innerliche  Bindung  an  das  positive  göttliche  Gebot  war  nicht  nur 
an  sich  strenger  als  es  die  Bindung  des  Juristen  an  das  positive 
Recht  je  sein  kann,  sondern  die  typischen  Formen  und  Schranken 
jedes  kleinbürgerlichen  Rationalismus  traten  hinzu.  Wort- 
deutung und  anschauliche  Analogie  an  Stelle  von  begrifflicher 
Analyse,  konkrete  Kasuistik  statt  Abstraktion  und  Synthese. 
Die  immerhin  weitgehend  an  praktisch  rationalen  Bedürfnissen 
aber  durchaus  am  konkreten  Einzelfall  orientierte  Spruchpraxis 
der  älteren  Rabbinen  erfuhr  zwar  eine  Art  von  »theoretischer  «Aus- 
weitung, als  nach  dem  Tempelsturz  die  großen  Rabbinenschulen 
in  Mesopotamien  und  Palästina  zu  organisierten  Mittelpunkten 
der  Spruchpraxis  wurden  und  dies  bis  nach  der  Karolingerzeit  für 
die  ganze  Kulturwelt  blieben.  Zugleich  wurde  die  Rabbinenwürde 
an  die  Ordination  (Handauflegung)  durch  den  Patriarchen  oder 
seine  legitimierten  Vertreter  gebunden  und  ein  regulärer  aka- 
demischer Studiengang  mit  Kolleghörern,  Fragen  und  Dis- 
kussionen an  den  und  mit  dem  Lehrer,  Studienpfründen  und 
Internat  vorgeschrieben.  Die  Sonderorganisation  der  phari- 
säischen Bruderschaft  war  offenbar  verschwunden:  »chaber« 
heißt  später  ein  Mann,  der  besonders  eifrig  im  Gesetz  studiert: 
der  typisch  spät  jüdische  Honoratiore,  und  »perushim«  findet  sich 
als  Bezeichnung  für  Studenten.    Der  »Geist«  des  Pharisäismus 


Die  Pharisäer.  433 

war  alleinherrschend  im  Judentum.  Aber  nicht  mehr  als  Geist  einer 
aktiven  Bruderschaft,  sondern  als  Geist  des  Schrift  Studiums 
schlechthin:  selbst  Gott  »studiert«  nach  gelegentlich  auftauchen- 
der Vorstellungen  das  zeitlos  geltende  Gesetz,  um  sich  darnach 
zu  richten,  etwa  so  wie  der  indische  Weltschöpfer  Askese  übt,  um 
die  Welt  schaffen  zu  können.  Nunmehr  konnte  ein  vom  konkreten 
Einzelfall  losgelöstes  systematisches  Denken  sich  entwickeln 
Allein  für  dessen  Besonderheit  war  teils  die  Gebundenheit  an  die 
Tradition  der  alten  Rabbinen,  teils  aber  die  eigne  soziologische 
Struktur  maßgebend. 

Der  pharisäische  Reinheits-Ritualismus  führte  zunächst  zu 
einer  Steigerung  der  rituellen  Schranken,  sowohl  nach  Außen 
wie  nach  Innen.  Auch  und  grade  nach  Innen:  Die  essenische 
Gemeinschaft  schloß  sich  aus  Furcht  vor  Befleckung  von  Connu- 
bium,  Kommensalität  und  jeglicher  pahen  Berührung  mit  dem 
Rest  der  Juden  ab,  und  es  ist  fraglich,  ob  sie  das  einzige  Kon- 
ventikel  dieser  Art  war.  Die  pharisäische  Bruderschaft  schloß  sich 
ganz  ebenso  gegenüber  den  'am  ha-arez  ab  ^),  das  jerusalemitische 
und  von  Jerusalem  priesterlich  beeinflußte  Judentum  gegenüber 
dem  samaritanischen  und  allen  andern  Resten  der  alten  lokalkul- 
tischen nicht  prophetisch  und  nicht  von  jerusalemitischer  Priester- 
schaft beeinflußten  Jahweglaubens,  nachdem  die  Samaritaner  vom 
Opfer  in  Jerusalem,  welches  sie  zu  pflegen  nicht  abgeneigt  waren, 
förmlich  ausgeschlossen  worden  waren.  So  entstand  eine  feste  und, 
weil  rituell  bedingt,  eine  kästen  mäßige  Gliederung  der  alten 
Jahwegläubigen.  Daneben  bestanden  im  Innern  die  erblichen 
Privilegien  der  Priester-  und  Levitengeschlechter  fort,  und: 
sie  waren  zwar  nicht  dem  völligen  Ausschluß  des  Connubium 
mit  andren  jüdischen  Sippen,  wohl  aber  dem  Gebot  der  Hyper- 
gamie  unterworfen.  Dazu  trat  nun  die  rituelle  Ablehnung, 
teils  Perhorreszierung,  teils  Mißbilligung  bestimmter  Gewerbe  als 
religiös  ständebildendes  Element.    Als  verachtet  und  verachtens- 


*)  Das  Lukas-Evangelium  läßt  in  auffallender  Art  zu  wiederholten  Malen 
(VII,  36.39;  XI,  38ff. ;  XIV,  i)  Jesus  bei  einem  Pharisäer  (beim  letztenmal 
sogar:  einem  Obersten  der  Pharisäer — gemeint  ist,  wie  die  Parallelstelle  zeigt, 
ein  »Oberster  der  Schule«—)  essen,  wo  die  beiden  älteren  Evangelien  davon  nichts 
wissen.  Da  Lukas  auch  in  der  Apostelgeschichte  die  Bekehrung  von  »Pharisäern« 
hervorhebt  und  die  Tischgemeinschaft  des  Petrus  mit  dem  Hellenen  Antiochias 
für  Paulus  so  wichtig  war,  so  könnte  dies  Tendenz  sein.  "Wirklich  strenge  Phari- 
säer würden  einem  'am  ha-arez  oder  unkorrekt  Lebenden  ( Joh.  8,  48  nennen  die 
Juden  Jesus  einen  »Samariter«)  die  Kommensalität  verweigert  haben. 
Max  Weber,  Religionssoziologie  HI.  28 


434  Nachtrag. 

wert  gelten  neben  Esels-  und  Kameltreibern  und  Töpferwaren- 
händlern auch  Frachtführer  zu  Lande  und  zur  See  und  Lager- 
haushalter, sie  alle  zweifellos  deshalb,  weil  ein  rituell  reines  Leben 
für  sie  unmöglich  schien,  die  erstgenannten  Kategorien  natürlich 
auch,  weil  sie  ursprünglich  fremdstämmige  Gastarbeiter  waren. 
Dazu  traten  die  mit  dem  deuteronomischen  Fluch  belegten  Berufe 
der  Zauberer  und  Wahrsager  aller  Art.  Aber  als  mißbilligenswert 
für  den  rituell  Reinen  galten  auch  Gewerbe  wie  Hausierer,  Bar- 
biere, Bader,  Tierärzte,  gewisse  Steinarbeiter,  ferner  Gerber, 
Melker,  Wollkämmer,  Weber  und  Goldschmiede.  Als  Grund  wird 
für  manche  dieser  Gewerbe  angeführt,  daß  sie  den  Ausübenden 
in  eine  stets  verdächtige  Berührung  mit  Weibern  bringe,  im 
übrigen  aber  war  offenbar  neben  traditionellen  sozialen  Wer- 
tungen auch  hier  das  allgemeine  Mißtrauen  in  die  Möglichkeit,  den 
Beruf  mit  ritueller  Korrektheit  zu  vereinigen,  maßgebend,  da- 
neben wohl  die  Abkunft  mancher  von  ihnen  von  Eingewanderten 
(so  wohl  der  Goldschmiede).  Ein  Hoherpriester  darf  nicht  aus 
einer  Familie  genommen  werden,  welche  sich  ihnen  ergeben  hat. 
Aber  außerhalb  des  pharisäischen  Ordens  scheinen  sie  jedenfalls 
nicht  alle  oder  nicht  während  der  ganzen  talmudischen  Zeit 
gestanden  zu  haben :  zum  mindesten  ein  Gerber  findet  sich  unter 
den  bekannteren  Rabbinen  (R.  Jose)  und,  wie  schon  früher  be- 
merkt, sogar  ein  Astrolog.  Besondere  Synagogen  für  einige  der 
alten  Königshandwerke:  Kupferschmiede  und  Kassierer,  finden 
sich  in  der  talmudischen  Literatur  erwähnt:  getrenntes  Sitzen 
nach  Gewerben  in  der  gemeinsamen  Synagoge  war  häufig.  Die  Be- 
rufe gerade  der  Königshandwerker  (daneben  auch  anderer)  waren 
faktisch  weitgehend  erbliche  Sippenberufe  und  die  Handwerker 
selbst  vom  König  importierte  Fremdstämmige,  was  ihre  Sonder- 
stellung wohl  erklärt.  Unter  den  mißbiUigten  Gewerben  finden 
sich  solche,  welche  später,  im  Mittelalter,  in  starkem  Maß  von 
Juden  betrieben  wurden,  und  eine  wirklich  kastenmäßige  Ab- 
sonderung zeigt  die  Ablehnung  jener  Berufe  auch  im  antiken 
Judentum  nicht.  Immerhin  zeigt  die  innere  Struktur  des  spät- 
antiken Judentums  wichtige  Züge  einer  solchen. 

Vor  allem  aber  nach  Außen  nahm  das  Judentum  zunehmend 
den  Typus  zunächst  des  rituell  abgesonderten  Gastvolks  (Paria- 
volkes) an.  Und  zwar  freiwillig  von  sich  aus,  nicht  etwa  unter 
dem  Zwang  äußerer  Ablehnung.  Die  allgemeine  Verbreitung 
des  »Antisemitismus«  in  der  Antike  ist  eine  Tatsache.  Ebenso  aber 


Die  Pharisäer. 


435 


auch :  daß  diese  erst  allmählich  wachsende  Ablehnung  der  Juden 
genau  gleichen  Schritt  hielt  mit  der  zunehmend  strengen  Ab- 
lehnung der  Gemeinschaft  mit  Nicht  Juden  durch  die  Juden  selbst. 
Die  antike  Ablehnung  gegen  die  Juden  war  weit  davon  entfernt, 
»rassenmäßige«  Antipathie  zu  sein:  der  gewaltige  Umfang  des 
Proselytismus,  von  dem  bald  die  Rede  sein  wird,  ist  hinlänglicher 
Beweis  dagegen.  Vielmehr  war  das  ablehnende  Verhalten  der 
Juden  selbst  das  schlechthin  Entscheidende  für  die  beiderseitigen 
Beziehungen.  Abweichende  und  absurd  scheinende  Riten  kannte 
die  Antike  in  reichstem  Maße:  dort  lag  der  Gerund  gewiß  nicht. 
Die  prononcierte  Asebie  gegen  die  Götter  der  Polis,  deren 
Gastrecht  sie  genossen,  mußte  freilich  als  gottlos  und  beleidigend 
empfunden  werden.  Aber  auch  das  entschied  nicht.  Der  »Men- 
schenhaß« der  Juden  war,  wenn  man  auf  den  Kern  sieht,  der 
immer  wieder  letzte  und  entscheidende  Vorwurf:  die  prinzipielle 
Ablehnung  von  Connubium,  Kommen'salität  und  jeder  Art  von 
Verbrüderung  oder  näherer  Gemeinschaft  irgendwelcher  Art, 
selbst  auf  geschäftlichem  Gebiet  verbunden  —  was  auch  nicht  zu 
unterschätzen  ist  —  mit  dem  durch  die  Chabarah  dargebotenen 
überaus  starken  Rückhalt  jedes  pharisäischen  Juden  an  der 
Bruderschaft  —  einem  Moment,  dessen  ökonomische  Wirkung 
der  Aufmerksamkeit  der  heidnischen  Konkurrenz  nicht  entgangen 
sein  kann.  Die  soziale  Isolierung  der  Juden,  dieses  »Ghetto«  im 
innerlichsten  Sinn  des  Worts,  war  primär  durchaus  selbstgewählt 
und  selbstgewollt  und  zwar  in  stetig  steigendem  Maße.  Zunächst 
unter  dem  Einfluß  der  Soferim.  Dann  unter  demjenigen  der 
Pharisäer.  Die  erst  er  en  bemühten  sich  —  prinzipiell  —  um  Er- 
haltung der  Glaubens  reinheit  der  Juden,  wie  wir  sahen. 
Ganz  anders:  die  Pharisäer.  Sie  vertraten  zunächst  und  vor  allem 
eine  (ritualistische)  Lehre:  eine  Konfession,  nicht — wenigstens 
nicht  in  erster  Linie  —  eine  Nationalität.  Und  mit  der  rücksichts- 
losen Absonderung  gegen  die  rituell  Unreinen  ging  bei  ihnen 
Hand  in  Hand  die  leidenschaftlichste  Arbeit  an  der  Propaganda 
der  eigenen  Gemeinschaft  nach  außen:  die  Proselytenmacherei : 
»ihr  Heuchler,  die  ihr  über  Land  und  Meer  fahret,  um  einen 
Proselyten  zu  machen!«  ruft  Jesus  ihnen  zu  (Math.  23,  15).  In 
der  Tat  galt  es  gerade  den  eifrigsten  Pharisäern  als  Gott  wohl- 
gefälhg,  womöglich  jedes  Jahr  einen  Proselyten  zu  machen:  die 
jüdische  Propaganda  ging  dem  Schwerpunkt  nach,  ebenso  wie  die 
altchristliche  der  nach  apostolischen  Zeit,  durch  freiwillige  Privat^ 

28* 


436 


Nachtrag. 


tätigkeit  vor  sich,  nicht  durch  die  amtlichen  Autoritäten.  Die 
Stellung  dieser  letzteren  und  auch  die  Stellung  der  offiziellen 
Literatur  war  wechselnd.  Die  alte  Tradition  des  Gesetzes  (Exodus 
XII,  48)  trug  noch  die  Spuren  der  Zeit,  wo  die  Jahwe-Religion 
der  Eidgenossenschaft  durch  den  Eintritt  von  Nachbarstämmen 
und  von  Sippen  der  »Ger«,  der  inmitten  Israels  wohnenden 
Schutzverwandten:  Metöken  und  Klienten  in  den  Vollbürger- 
verband, sich  ausbreitete.  Es  war  die  Rechtsstellung  der  Metöken 
geregelt  und  (a,  a.  O.)  auch  festgestellt,  welche  rituellen  Befug- 
nisse sie  nur  durch  Beschneidung  erwerben  konnten.  Die  Pro- 
phetie  (Jesaja  XIV,  i)  weissagte  von  den  Fremdlingen,  die  zu 
dem  in  seinem  Landbesitz  restituierten  Israel  kamen  und  dem 
»Hause  Jakobs  anhängen«  würden.  Diese  Stelle,  in  Verbindung 
mit  der  Verheißung  an  Abraham  und  den  zahlreichen  Hinweisen, 
welche  das  Kommen  aller  Völker  der  Erde  zu  Israel  und  zur  Ver- 
ehrung seines  Gottes  in  Aussicht  stellten,  schienen  die  Propaganda 
als  gottwohlgefällig  zu  erweisen,  ja  vielleicht  gerade  als  ein  Mittel, 
die  Zeit  für  das  Kommen  des  Messias  vorzubereiten.  Immer- 
hin waren  aber  die  Ansichten  auch  in  der  heiligen  Literatur 
geteilt.  Die  Ruth-  und  Jonaslegenden  waren  dem  Proselytismus 
entschieden  günstig,  eine  so  gewichtige  Autorität  wie  Esra  aber 
abgeneigt:  die  von  ihm  vorgenommene  gentilizische  Gliisderung 
sowohl  der  Priesterschaft  wie  der  neukonstituierten  Polis  Jeru- 
salem standen  zum  mindesten  dem  Eintritt  Einzelner  in  den  Ver- 
band im  Wege,  und  Esra  legte  für  die  erstrebte  Absonderung  des 
heiligen  Volkes  auf  die  Blutsreinheit  als  solche  entscheidendes 
Gewicht.  Das  alles  lag  für  das  pharisäische  Kleinbürgertum 
durchaus  anders  und  senkte  bei  seinen  Repräsentanten,  zumal 
draußen  in  der  Diaspora,  die  Wagschale  wieder  zugunsten  der 
Propaganda.  Einen  Heiden  unter  die  »shekinah«  (das  »Haus 
Gottes«)  zu  bringen,  galt  der  Mehrzahl  der  Lehrer  als  unbedingt 
verdienstlich.  Bald  so  sehr,  daß  unter  Benutzung  des  alten 
Metökenbegriffs  auch  eine  solche  Propaganda  als  wertvoll  galt, 
welche  von  der  Zumutung  der  alsbaldigen  vollen  Uebernahme 
aller  Ritualpflichten,  vor  allem  der  Beschneidung,  durch  die 
Proselyten  gegebenenfalls  Abstand  nahm  und  die  vorläufige 
Angliederung  als  bloße  »Freunde«,  Halb  Juden  betrieb.  Denn  die 
Zumutung  der  Beschneidung  war  für  die  Propaganda  unter  er- 
wachsenen Männern  begreiflicherweise  ein  sehr  ernstes  Hindernis : 
die  Zahl  der  Frauen  war  auch  deshalb  unter  den  Voll-Proselyten 


5^: 


Die  Pharisäer. 


437 


weit  größer  als  die  der  Männer.  Drei  ^)  Stufen  der  Angliederung 
wurden  unterschieden:  i.  der  »Ger-ha-toshab«,  der  »Freund«, 
der  Halb-Konvertit,  der  den  monotheistischen  Gottesglauben 
und  die  jüdische  Ethik  (des  Dekalogs)  annahm,  das  jüdische 
Ritual  aber  nicht :  sein  rituelles  Verhalten  blieb  ganz  unkontrolliert 
und  er  hatte  formelle  Beziehungen  zur  Gemeinde  nicht;  —  2.  der 
»ger-ha-sha'ar«  (»Proselyt  des  Thors«),  der  Theorie  nach  der  alte 
Metöke  unter  jüdischer  Gerichtsbarkeit:  er  legte  vor  drei  Mit- 
gliedern der  Bruderschaft  das  Gelübde  ab,  keine  Idole  zu  ver- 
ehren, die  7  noachischen  Gebote,  der  Sabbat,  das  Schweine-Tabu 
und  das  rituelle  Fasten  sind  für  ihn  verbindlich,  nicht  aber  die 
Beschneidung,  sie  sind  Passivglieder  der  Gemeinde  mit  begrenzten 
Rechten  der  Teilnahme  an  Festen  und  an  den  Feiern  in  der 
Synagoge;  —  endlich  3.  der  ger-ha-zadek  oder  ger-ha-berit 
(»Proselyt  der  Gerechtigkeit«),  der  nach  Beschneidung  und  Ueber- 
nahme  der  Ritualpflichten  in  die  volle  Gemeinschaft  aufgenom- 
men ist:  seine  Nachkommen  werden  danach  erst  in  der  dritten 
Generation  vollberechtigte  Juden. 

Die  Erwartung  bei  dieser  Praxis  ging  dahin,  daß  der  ger- 
ha-toshab  und  erst  recht  der  ger-ha-sha'ar,  mochte  er  selbst  die 
Beschneidung  scheuen,  doch  sich  entschließen  werde,  seine 
Kinder  beschneiden  und  also  zu  Voll- Juden  werden  zu  lassen, 
und  sie  trog  gewiß  in  sehr  vielen  Fällen  nicht.  Denn  jene  Praxis 
kam  den  Interessen  der  Umwelt,  vor  allem  der  Hellenen,  sehr 
entgegen.  Was  diese  am  Judentum  anzog,  war  selbstverständlich 
nicht  sein  Ritual:  dies  hätte,  dem  ganzen  Charakter  der  hellenisti- 
schen Religiosität  entsprechend,  nur  dann  der  Fall  sein  können, 
wenn  es  sakramentale  oder  magische  Erlösungsmittel  und  Ver- 
heißungen nach  Art  der  Mysterien:  irrationale  Heilswege  und 
Heilszuständlichkeiten  also  dargeboten  hätte,  und  gerade  dies 
war  beim  Judentum  nicht  der  Fall.  Sondern  die  Anziehungskraft 
ging  von  der  überaus  groß  und  majestätisch  wirkenden  Gottes- 
konzeption, der  radikalen  Beseitigung  der  als  unwahrhaftig 
empfundenen  Götter-  und  Idol-Kulte,  und  vor  allem  von  der  als 
rein  und  kraftvoll  wirkenden  jüdischen  Ethik,  daneben  auch 
von  den  schlichten  und  klaren  Zukunftsverheißungen  aus:  von 
rationalen  Bestandteilen  also.  Elemente,  welche  daran:  an  der 
Reinheit  der  Ethik  und  der  Macht  des  Gottesbegriffs  ihr  reli- 
giöses  Genüge  fanden,   zog  das   Judentum   an   sich.     Die  feste 

*)  Nicht  nur  zwei. 


438  Nachtrag. 

Ordnung  des  Lebens  rein  als  solche,  wie  sie  das  Ritual  darbot, 
war  eine  mächtige  Anziehungskraft  und  mußte  besonders  stark 
in  Zeiten  wirken,  welche  nach  dem  Zusammenbruch  der  national 
hellenischen  Staaten  die  überkommene  feste  militärische  Ord- 
nung des  Lebens  des  Bürgers  in  der  Polis  und  durch  diese  ver- 
fallen sah.  Das  Zeitalter  des  intellektuellen  Rationalismus,  mit 
seiner  zunehmenden  »bürgerlichen«  Rationalisierung  der  helleni- 
schen Religiosität,  in  den  letzten  Jahrhunderten  der  römischen 
Republik  vor  allem,  war  auch  die  große  Epoche  des  jüdischen  Pro- 
selytismus.  Wer  nach  Eigenart  oder  Schicksal  zu  irrationaler, 
mystischer  Heilssuche  disponiert  war,  wird  ihm  fern  geblieben 
sein,  und  das  Zeitalter  zunehmenden  Suchens  nach  irrationalen 
Heilszuständlichkeiten  kam  nicht  ihm,  sondern  den  Mysterien- 
religionen und  dem  Christentum  zugute.  Das  jüdische  Voll- 
ritual wird  vermutlich  für  sich  oder  für  seine  Kinder  am  häufigsten 
von  Personen  in  den  Schichten  angenommen  worden  sein,  welche 
am  Anschluß  an  die  pharisäische  Bruderschaftsorganisation 
ein  Interesse  hatten:  unter  den  Kleinbürgern,  namentlich  den 
Handwerkern  und  Kleinhändlern;  soviel  sich  erkennen  läßt,  war 
dies  in  der  Tat  so.  Obwohl  der  jüdische  Glaube  »religio  licita« 
war,  ging  der  Voll- Konvertit  doch  nach  römischem  Amtsrechte 
des  »jus  bonorum«  verlustig  und  das  jüdische  Gesetz  machte  ihn 
amtsunfähig,  weil  er  nach  ihm  am  Staatskult  nicht  teilnehmen 
durfte.  Die  jüdische  Diaspora  ihrerseits  aber  hatte  ein  starkes 
Interesse  nicht  nur  an  der  Vermehrung  ihrer  Mitglieder,  sondern 
auch  an  der  Gewinnung  von  »Freunden«  außerhalb  ihrer  selbst 
zumal  in  einflußreichen  und  amtsfähigen  Kreisen;  die  Art  der 
Lösung  des  Problems  war  deshalb  auch,  von  ihr  aus  gesehen, 
durchaus  zweckmäßig.  Praktisch  bedeutete  sie  ein  Kompromiß 
zwischen  Konfessionalität  und  Gentilizität.  Der  Geborene  und 
seit  drei  Generationen  korrekte  Jude  war  in  der  Gemeinschaft 
ständisch  bevorrechtigt  vor  den  Konvertiten  und  ihren  Kindern 
und  Enkeln.  Außerhalb  der  Gemeinschaft  standen,  etwa  so  wie 
die  »Laien«  gegenüber  den  bhikkshu's  in  Indien,  die  nicht  be- 
schnittenen aber  durch  Gelübde  verpflichteten  Proselyten  und 
die  bloßen  »Freunde«.  Bedingungslos  verbindlich  war  das  Ritual 
für  die  geborenen  Juden  und  die  beschnittenen  Konvertiten.,  teil- 
weise für  die  durch  Gelübde  verpflichteten  Proselyten,  gar  nicht 
für  die  »Freunde«.  Aber  gelegentlich  finden  sich  noch  wesentlich 
liberalere  Ansichten.    Es  wurde  geradezu  bezweifelt,  ob  die  für 


Die    Pharisäer. 


439 


das  jüdische  Volk  angeordnete  Beschneidung  wirklich  auch  für 
Nicht-Geburtsjuden  unumgänglich  zur  Konversion  sei  und  nicht 
ein  rituelles  Reinigungsbad  (also:  Taufe)  genüge.  Mischehen 
mit  (unbeschnittenen)  Proselyten  scheinen  durch  rabbinische 
Responsen  gelegentlich  legitimiert  worden  zu  sein.  Diese  An- 
sichten standen  allerdings  isoliert.  Der  praktisch  herrschende 
Zustand  spricht  sich  deutlich  in  den  Kämpfen  aus,  welche  die 
paulinische  Mission  in  der  alten  Christengemeinde  sowohl  wie 
im  Judentum  entfesselte.  Die  neutestamentlichen  Erzählungen, 
welche  darin  den  Stempel  voller  Glaubwürdigkeit  in  den  ent- 
scheidenden Punkten  tragen,  zeigen,  daß  nicht  etwa  —  wie 
noch  immer  vielfach  geglaubt  wird  —  der  Beginn  der  Mission 
unter  Heiden  (und  unbeschnittenen  Proselyten)  es  war,  was 
Konflikt  und  Sturm  hervorrief.  Die  Leiter  der  jerusalemitischen, 
streng  auf  dem  Boden  des  Rituals  und  des  Tempelkults  stehenden 
Gemeinden  hatten  sich  hier  durchaus  auf  den  Boden  der  Tatsachen 
einerseits  und  der  traditionellen  Behandlung  unbeschnittener 
Proselyten  andrerseits  gestellt.  Sie  hatten  eine  Minimalethik 
für  diese  aufgestellt  und  durch  zwei  Sendboten  nach  Antiochia 
an  die  Missionsgemeinde  geschickt  ^) :  sie  sollen  sich  von  Idolatrie, 
Blut,  Ersticktem  und  Hurerei  fernhalten,  dagegen  sonst  an  das 
Ritual  nicht  gebunden  sein.  Tun  sie  das,  so  sind  sie,  wie  das 
genannte  Schriftstück  sie  nennt:  »Brüder  aus  den  Heiden«. 
Das  war  auch  vom  pharisäischen  Standpunkt  aus  durchaus  unan- 
stößig. Nun  aber  gelangte  die  Nachricht  nach  Jerusalem,  daß 
Paulus  auch  unter  Volljuden  missioniere  und  auch  diese  zum 
Abfall  von  der  Innehaltung  des  Rituals  verleite.  Darüber  stellen 
ihn,  unter  Bezugnahme  auf  jenen  Brief,  Jakobus  und  die  Aeltesten 
namens  der  Gemeinde  in  Jerusalem  zur  Rede  2)  und  verlangen, 
daß  er  gegenüber  diesem  Verdacht  die  übliche  Reinigungsprobe 
im  Tempel  unter  Zuziehung  von  4  kraft  Gelübdes  Bußpflichtigen 
vollziehe,  der  er  sich  auch  fügt.  Die  zahlreich  aus  der  Diaspora 
anwesenden  Juden  aber,  welche  seiner  im  Tempel  ansichtig  werden, 
suchen  ihn  zu  lynchen,  weil  er  i.  gegen  das  Gesetz  und  den 
Tempelkult  agitiere,  also  Apostasie  vom  Gesetz  (unter  Juden!) 
predige,  und  weil  er  2.  einen  Unbeschnittenen  (Trophimus)  in  den 
Tempel  gebracht  habe  (was  Lukas  bestreitet)  ^) ;  der  darüber  ent- 

1)  Act.  15,  23  ff. 

2)  Act.  21,  21  ff. 

^)  Act.  21,  28.  29.    Nur  die  Stelle  Act.  22,  21  nimmt  scheinbar  einen  etwas 


440  Nachtrag. 

standene  Aufruhr  gibt  Anlaß  zu  seiner  Verhaftung.  Die  Mission 
unter  Heiden  oder  unbeschnittenen  Proselyten  wird  ihm  nicht 
vorgeworfen,  von  Jakobus  und  den  Aeltesten  vielmehr  ausdrück- 
lich belobt  ^).  Fast  ausnahmslos  predigt  Paulus  in  den  Synagogen, 
und  es  ist  klar  und  oft  hervorgehoben:  daß  die  Masse  der  unbe- 
schnittenen Proselyten  es  war,  welche  die  Kerntruppen  seiner 
Missionsgemeinden  bildeten.  Das  Judentum  hat  in  ihnen  der 
christlichen  Mission  die  Stätte  bereitet.  Für  die  christliche  Mission 
waren  freilich  mit  dem  Proselyten- Kompromiß  der  Jerusalemiter 
die  Schwierigkeiten  auch  rein  äußörlich  nicht  erschöpft.  Beide 
Teile,  die  Jerusalemiter  Aeltesten  sowohl  wie  Paulus,  lavierten 
und  taten  unsichere  Schritte.  Die  Frage  der  Kommensalität 
mit  unbeschnittenen  Proselyten  war  zwischen  Petrus  und  Paulus 
in  Antiochia  scheinbar  im  Sinn  der  Bejahung  erledigt,  dann  aber, 
unter  dem  Einfluß  des  Jakobus  war  Petrus  wieder  zurückge- 
wichen 2).  Paulus  seinerseits  aber  beschnitt,  im  Gegensatz  zu 
seinem  Verhalten  im  Fall  des  Titus  ^),  den  Timotheus  *),  um  ihm 
die  Kommensalität  kleinasiatischer  Juden  zu  verschaffen.  Die 
Jerusalemiten  sind  erst  Schritt  für  Schritt  und  nur  teilweise, 
Petrus  offenbar  nach  dem  Tode  des  Jakobus,  auf  den  Standpunkt 
des  Paulus  übergetreten.  Die  gesetzestreu  gebliebene  alte  ebio- 
nitische  Gemeinde  Palästinas  dagegen  behandelte  Paulus  als 
Apostaten.  Der,  entscheidende  Grund,  welcher  das  Entgegen- 
kommen der  Führer  der  Jerusalemiten  erzwang,  war,  wie  die 
Quellen  ergaben  ^),  die  Erfahrung:  daß  die  Konvertiten  aus  dem 
Heidentum  vom  Geist  ebenso  und  mit  den  gleichen  Erschei- 
nungen befallen  wurden,  wie  die  jüdischen  Christen.  Deshalb 
konnte  ihnen,  nach  Ansicht  des  Petrus,  bei  dessen  Predigt  in 
Cäsarea  sich  dies  ereignete,  die  Taufe  und  Gleichstellung  nicht 


andern  Standpunkt  ein  (Entrüstung  der  Menge  darüber,  daß  er  sich  als  Heiland 
zu  den  Heiden  gesendet  bezeichnet),  aber  es  ist  offensichtlich,  daß,  wenn  irgend- 
eine Version,  dann  die  Darstellung  der  Stellungnahme  des  Jakobus  und  die 
Motivierung  des  Lynch  Versuchs  authentisch  ist.  Im  übrigen  konnten  naturgemäß 
die  Juden  auch  über  das  Abspenstigmachen  ihrer  unbeschnittenen  Proselyten 
gewiß  nicht  erfreut  sein.  Aber  ein  Angriff  auf  das  Gesetz  war  darin  an  sich  nicht 
zu  finden. 

^)  Act.  21,  20. 

2)  Gal.  II,   II  ff. 

3)  Gal.  II,  3. 

*)  Act.  16,  3.    Timotheos  hatte  freilich  eine  jüdische  Mutter,  während  sein 
Vater  Grieche  war:  eod.  v.  i. 
^)  Act.   10,  45—47. 


Die  Pharisäer. 


441 


verweigert  werden.  Unabhängig  vom  historischen  Wert  der  Ein- 
zelheiten ist  die  Grundtatsache  sicher  richtig  und  beleuchtet 
scharf  die  große  Wandlung:  im  Judentum  würde  der  prophe- 
tische Geist  durch  Messung  seiner  Verkündigung  am  Gesetz 
kontrolliert  und  darnach  abgelehnt  oder  angenommen  worden 
sein.  Für  das  alte  Christentum  waren  der  Geist  und  seine 
Zeichen  und  Gaben  ihrerseits  Maßstäbe  für  den  erforderlichen 
Umfang  der  Bindung  an  das  jüdische  Ritual.  Zugleich  aber  ist 
wohl  klar:  daß  dieser  »Geist«,  das  Pneuma  von  wesentlich  an- 
derer Dynamik  war  als  der  ruach-ha-kodesch  des  korrekten 
Judentums. 

•  Die  Konkurrenz  des  Judentums  und  Christentums  um  die 
Proselytenmission  erhielt  ihren  Abschluß  seit  dem  ersten  und 
endgültig  dem  zweiten  Tempelsturz  unter  Hadrian,  nachdem 
besonders  in  dem  letzten  Kriege  zahlreiche  Proselyten  an  den 
Juden  Verrat  geübt  hatten.  Niemals  waren  innerhalb  der  jü- 
dischen Gemeinden  Bedenken  gegen  das  Proselytenmachen  ganz 
verstummt.     Jetzt  gewannen  sie  zunehmend  die  Oberhand. 

Die  Aufnahmebedingungen  für  Proselyten  wurden  geregelt 
und  die  Annahme  an  die  Zustimmung  eines  vollbesetzten  Rab- 
binenhofs  gebunden.  Die  Ansicht  tauchte  auf,  daß  die  Proselyten 
»für  Israel  so  lästig  wie  der  Aussatz«  seien.  Die  Zahl  der  Kon- 
versionen nahm  unter  dem  Druck  der  judenfeindlichen  Stim- 
mung ab.  Die  Kaiser  schritten  ein:  da  die  Konversion  amts- 
unfähig machte,  konnte  sie  nicht  geduldet  werden.  Dio  Cassius 
berichtet  von  scharfen  Gesetzen  schon  unter  Domitian.  Die  Be- 
schneidung von  Nicht  Juden  wurde  verboten  und  der  Kastration 
gleichgestellt.  Nicht  nur  die  Vollkonversion,  sondern  ebenso 
und  vielleicht  noch  mehr  die  Halbkonversion  nahm  schnell  ab: 
schon  im  3.  Jahrhundert  scheinen  die  ger-toshab  selten  gewesen 
zu  sein  und  später  galt  die  Annahme:  ihre  Existenz  sei  nur  schrift- 
gemäß gewesen,  so  lange  Israel  als  Staat  bestanden  habe.  Untef 
den  christlichen  Kaisern  wurde  selbstverständlich  die  Propaganda 
(398  n.  Chr.)  ebenso  wie  das  Halten  christlicher  Sklaven,  welches 
diese  der  Versuchung,  Proselyten  zu  machen,  aussetzte,  unbedingt 
untersagt.  Die  Verbotsgesetze  Domitians  dürften  sicherlich 
der  christlichen  Propaganda  zugute  gekommen  sein,  die  überall 
das  Erbe  des  Judentums  antrat.  Die  sehr  starke  Verschärfung 
der  Beziehungen  zwischen  Judentum  und  Christentum,  wie  sie 
schon  die,  je  nach  dem  Alter,  verschiedene   Stellungnahme  der 

Max  Weber,  Religionssoziologie  HI. 


AA2  Nachtrag.     Die  Pharisäer. 

Evangelien  ^),  vollends  aber  die  spätere  Literatur  zeigt,  ist  zuerst 
wesentlich  von  jüdischer  Seite  herbeigeführt  worden.  Die  Juden, 
als  religio  licita,  benutzten  die  prekäre  Lage  der  nicht  durch  die 
ihnen  gegebenen  Privilegien  gegen  die  Kaiserkultpflicht  gedeckten 
Christen,  um  durch  Denunziationen  die  Staatsgewalt  gegen  sie 
in  Bewegung  zu  setzen.  Sie  galten  daher  den  Christen  als  die 
Urheber  der  Verfolgung.  Die  von  beiden  Seiten  aufgerichtete 
Schranke  wurde  nun  unübersteiglich :  die  Zahl  der  jüdischen 
Konvertiten  zum  Christentum  ist  sehr  schnell  gesunken  und  war 
praktisch  etwa  seit  dem  4.  Jahrhundert  gleich  Null,  vor  allem 
innerhalb  der  breiten  Schichten  des  Kleinbürgertums,  schon  ehe 
die  Finanzinteressen  der  Fürsten  im  Mittelalter  diesen  die  Kon- 
servierung der  Juden  wünschenswert  erscheinen  ließ.  Das  Ziel 
der  Judenbekehrung  ist  vom  Christentum  sehr  oft,  in  aller  Regel 
aber  nur  mit  dem  Munde  verkündet  worden,  und  jedenfalls  blieben 
die  Versuche  der  Mission  ebenso  wie  die  Zwangsbekehrungen  zu 
allen  Zeiten  und  überall  gleich  erfolglos.  Die  Verheißungen  der 
Propheten,  Abscheu  und  Verachtung  gegen  die  christliche  Viel- 
götterei, vor  allem  aber  die,  durch  eine  beispiellos  intensive  Er- 
ziehung der  Jugend  in  einer  rituell  ganz  fest  geordneten  Lebens- 
führung geschaffene,  überaus  feste,  Tradition  und  die  Macht 
der  fest  geordneten  sozialen  Gemeinschaften,  der  Familie  und 
der  Gemeinde,  die  der  Apostat  verlor,  ohne  gleichwertigen  und 
sicheren  Anschluß  an  die  Christengemeinden  in  Aussicht  zu 
haben,  dies  alles  ließ  und  läßt  die  jüdische  Gemeinschaft  in 
ihrer  selbstgewählten  Lage  als  Pariavolk  verharren,  solange  und 
soweit  der  Geist  des  jüdischen  Gesetzes,  und  das  heißt:  der  Geist 
der  Pharisäer  und  spätantiken  Rabbinen  ungebrochen  weiter- 
bestand und  weiterbesteht 


^)  Namentlich  im  Johannes-Evangelium.  Nicht  nur  sind  dort  die  »Schrift- 
gelehrten« und  »Pharisäer«  als  Gegner  von  Jesus  sehr  oft  durch  die  »Juden« 
schlechthin  ersetzt,  sondern  vor  allem  ist  das  Maß,  in  welchem  die  Juden  ihn  ver- 
folgen, aufs  Aeu Berste  gegenüber  den  andern  Evangelien  gesteigert:  sie  trachten 
ihm  bei  Johannes  fast  unausgesetzt  nach  dem  Leben,  was  bei  den  Synoptikern 
nicht  in  gleichem  Maß  der  Fall  ist.  (Schon  bei  Lukas  sind  in  mehreren  Fällen, 
z.  B.  VIII,  7,  XI,  15,  die  »Pharisäer«  als  die  Gegner  von  Johannes  und  Jesus 
durch  »das  Volk«  oder  »Etliche«  ersetzt.) 


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