Gesammelte Aufsätze
zur
Religionssoziologie
von
Max Weber
III
Das antike Judentum
o
^^ , V 7
Tübingen
Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck)
1921
Alle Rechte vorbehalten.
Druck von H. Laiipp jr in Tübingen.
ELSE JAFFE-RICHTHOFEN
zugeeignet.
n
Vorwort zum dritten Band.
Der Verfasser hat die im ersten Band dieser Schriften zu-
sammengefaßten Aufsätze noch überarbeitet und namentlich
die Abhandlung über die chinesischen Religionsformen erheb-
lich ergänzen können. Die im zweiten und dritten Band ent-
haltenen Schriften sind dagegen fast unverändert wie in der
ersten Fassung geblieben. Die Vollendung dieses Werkes war
dem Verfasser nicht vergönnt. Er wollte das antike Juden-
tum noch durch die Analyse der Psalmen und des Buches Hiob
ergänzen und. dann das talmudische Judentum darstellen. Ein
fertiger Abschnitt über das Pharisäertum, der dazu überleitet,
fand sich im Nachlaß und ist diesem Bande als Nachtrag bei-
gefügt. Dann sollten Abhandlungen über das Früh Christentum
und den Islam den Kreis schließen. Die Vorarbeiten dafür
waren längst gemacht.
Max Weber, zu dessen Wesen die souveräne und ent-
sagungsvolle Gelassenheit gegenüber dem eignen persönlichen
Schicksal gehörte, würde vielleicht auch jetzt, wie häufig früher,
sagen :
»Was ich nicht mache, machen andere.«
München, Oktober 1920.
Marianne Weber.
vir
Inhaltsübersicht
Seite
Vorwort zum dritten Band V
Die Wirtschaftsethik der W^eltreligionen.
Das antike Judentum i — 400
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe i — 280
Vorbemerkung: das soziologische Problem der jüdischen Reli-
gionsgeschichte I. — Allgemeingeschichtliche und klimatische Be-
dingungen 8. — Die Beduinen 13. — Die Städte und die gibbo-
rim 16. — Die israelitischen Bauern 27. — Die gerira und die
Erzväterethik 34. — Das Sozialrecht der israelitischen Rechts-
sammlungen 76. — Die Berith 81. — Der Jahwebund und seine
Organe 86. — Heiliger Krieg, Beschneidung, Nasiräer und Ne-
bijim 99. — Rezeption und Charakter des Bundeskriegsgottes
126. — Die nicht jahwistischen Kulte 149. — Der Sabbat 159.
— Baal und Jahwe. Die Idole und die Lade 165. — Opfer
und Sühne 173. — Die Leviten und die Thora 181. — Die Ent-
faltung des Priestertums und das Kultmonopol von Jerusalem
186. — Der Kampf des Jahwismus gegen die Orgiastik 200. —
Die israelitischen Intellektuellen und die Nachbarkulturen 207.
— Magie und Ethik 233. — Mythologema und Eschatologien
240. — Die vorexilische Ethik in ihren Beziehungen zu der
Ethik der Nachbarkulturen 250.
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes . . 281 — 400
Die vorexilische Prophetie. Politische Orientierung der vor-
exilischen Prophetie 282. — Psychologische und soziologische
Eigenart der Schriftpropheten 292. — Ethik und Theodizee der
Propheten 314. — Eschatologie und Propheten 336 — Die Ent-
wicklung der rituellen Absonderung und der Dualismus der
Innen- und Außenmoral 351. — Das Exil. Hesekiel und
Deuterojesaja 370. — Die Priester und die konfessionelle Re-
stauration nach dem Exil 397.
Nachtrag.
Die Pharisäer 401 — 442
Der Pharisäismus als Sektenreligiosität 401. — Die Rabbinen
408. — Lehre und Ethik des pharisäischen Judentums 417. —
Der Essenismus, sein Verhältnis zur Lehre Jesu 423. — Zu-
nehmende rituelle Absonderung der Juden 434. — Proselytismus
in der Diaspora 436. — Propaganda der christlichen Apostel 439.
Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen.
Das antike Judentum*).
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe S. i.
— Vorbemerkung: das soziologische Problem der jüdischen Religionsgeschichte
S. I. — Allgemeingeschichtliche und klimatische Bedingungen S. 8. — Die
Beduinen S. 13. — Die Städte und die gibborim S. 16. — Die israelitischen
Bauern S. 27. — Die gerim und die Erzväterethik S. 34. — Das Sozialrecht der
israelitischen Rechtssammlungen S. 76. — Die Berith S. 81. — Der Jahwebund
und seine Organe S. 86. — Heiliger Krieg, Beschneidung, Nasiräer und Nebijim
S. 99. — Rezeption und Charakter des Bundeskriegsgottes S. 126. — Die nicht
jahwistischen Kulte S. 149. — Der Sabbat S. 159. — Baal und Jahwe. Die Idole
und die Lade S. 165. — Opfer und Sühne S. 173. — Die Leviten und die Thora
S. 181. — Die Entfaltung des Priestertums und das Kultmonopol von Jerusalem
S. 186. — Der Kampf des Jahwismus gegen die Orgiastik, S. 200. — Die israeliti-
schen Intellektuellen und die Nachbarkulturen S. 207. — Magie und Ethik S. 233.
— Mythologema und Eschatologien S. 240. — Die vorexilische Ethik in ihren Be-
ziehungen zu der Ethik der Nachbarkulturen S. 250.
I.
Das eigentümliche religionsgeschichtlich-soziologische Pro-
blem des Judentums läßt sich weitaus am besten aus der Verglei-
*) Die Relip[ion Israels und des Judentums ist Gegenstand einer Literatur,
deren wirkliche Beherrschung mehr als die Arbeit eines Menschenlebens erfor-
dert. Vor allem auch, weil sie qualitativ überaus hoch steht. Für die altisraeli-
tische Religion ist dabei die moderne protestantische Forschung, insbesondere
die deutsche, anerkanntermaßen führend gewesen und bis heute geblieben.
Für das talmudische Judentum ist die bedeutende Ueberlegenheit der jüdischen
Forschung im ganzen nicht zweifelhaft. Wenn hier eine Darstellung der für un-
sere Problemstellung wichtigen Seiten der Entwicklung versucht wird, so müs-
sen die Hoffnungen, dabei selbst irgend etwas Wesentliches zur Förderung der
Erörterung beitragen zu können, von vornherein auf ein äußerst bescheidenes
Maß herabgestimmt werden. Allein abgesehen davon, daß sich an der Hand des
Quellenmatcrials hie und da auch jetzt vielleicht noch manche Tatsachen in
der Art der Betonung anders einordnen lassen, als es zu geschehen pflegt, ist
naturgemäß auch die Fragestellung in Einigen Punkten eine etwas andere als,
Max Weber, Religionssoziologie III. I
2 Das antike Judentum.
chung mit der indischen Kastenordnung verstehen. Denn was
waren, soziologisch angesehen, die Juden ? EinPariavolk.
berechtigter-weise, bei den alttestamentlichen Forschern. Eine wirkliche Schä-
digung hat bisher die rein historische Betrachtung hier, wie überall, wo das gleiche
der Fall ist, nur durch das Hineintragen von Werturteilen in die rein objektive
Analyse erlitten. Fragen wie die: ob die mosaische Gotteskonzeption oder die
mosaische Ethik (gesetzt, wir könnten ihre Inhalte eindeutig feststellen) »höher«
stehen als die der Umwelt, kann jedenfalls eine rein empirische, historische oder
soziologische, Disziplin nicht beantworten. Sie sind nur von gegebenen reli-
giösen Prämissen aus überhaupt aufzuwerfen. Ein nciht ganz unerheblicher Teil
auch der rein empirischen Arbeit an den Problemen der israelitischen Religions-
geschichte aber ist in der Methode der Behandlung dadurch stark beeinflußt.
Die Frage kann natürlich so gestellt werden: ob bestimmte israelitische Kon-
zeptionen I. gemessen an den sonst in der Entwicklung der Religionen zu finden-
den Stufenfolgen mehr oder weniger altertümlich (»primitiv«), oder 2. mehr oder
weniger intellektualisiert und (im Sinn des Abstreifens magischer Vorstellungen)
rationalisiert, oder 3. mehr oder weniger einheitlich systematisiert, oder 4. mehr
oder weniger gesinnungsethisch gewendet (sublimiert) erscheinen als die ent-
sprechenden Konzeptionen der Umwelt. Es können die Anforderungen, welche
z. B. die dekalogische Ethik stellt, mit denen andrer entsprechender Gebilde
verglichen und, soweit beide im einzelnen unmittelbar parallel laufen, festge-
stellt werden, welche Anforderungen dort fehlen, die anderwärts gestellt sind und
umgekehrt. Ebenso kann die Gotteskonzeption und die Art der religiösen Be-
ziehung zum Gott auf den Grad des Universalismus, der Abstreifung anthro-
pomorpher Züge usw. bei der ersteren, der Vereinheitlichung und gesinnungs-
mäßigen Wendung bei der letzteren geprüft werden. Dabei ergibt sich z. B. leicht,
daß die israelitische Gotteskonzeption weniger universalistisch und anthio-
pomorpher ist als die ältere indische und daß die dekalogische Ethik in
wichtigen Anforderungen nicht nur gegenüber der indischen (vor allem der
jainis tischen) und zarathustrischen, sondern auch gegenüber der ägyptischen,
bescheidener ist, daß ferner gewisse zentrale Probleme (z.B. die der Theodizee)
in der israelitischen, gerade der prophetischen, Religiosität nur in einer relativ
höchst »primitiven« Form auftreten. Aber mit schlechthin unbestrittenem
Recht würde sich ein gläubiger Jude (oder Christ) dagegen entschieden verwahren;
daß damit auch nur das allergeringste über den religiösen »Wert« jener Konzep-
tionen ausgemacht sei. Jede rein empirische Arbeit behandelt selbstverständlich
die Tatsachen und Urkunden der israelitisch-jüdisch-christlichen Religionsent-
wicklung ganz genau so wie die irgendeiner anderen, sucht die Urkunden zu
interpretieren und die Tatsachen zu erklären nach schlechthin den gleichen
Grundsätzen wie jene andern, weiß daher -von »Wundern« und »Offenbarungen 3
hier so wenig etwas wie dort. Aber im einen wie im anderen Fall ist es gleich aus-
geschlossen, daß sie irgend jemandem verwehren wollte oder auch nur könnte,
die Tatsachen, welche sie empirisch, so weit dies nach Lage der Quellen möglich
ist, zu erklären sucht, als »Offenbarungen« zu bew;erten.
Alle alttestamentliche Arbeit fußt heute, auch wo sie noch so weit von
ihm abweicht, auf den großartigen Arbeiten J. Wellhausen s (den »Pro-
legomena zur Geschichte Israels«, der »Israelitischen und jüdischen Geschichte«
und von den andern Arbeiten vor allem der »Komposition des Hexateuch«),
der seinerseits die seit de Wette, Vatke, Graf nie wieder verlassenen, von
Dillmann, Reuß u. a. fortgeführten Methoden zu höchster systematischer Vollen-
dung brachte und virtuos handhabte. Seine zentrale Vorstellung von der Art
der Entwicklung der jüdischen Religion dürfte wohl mit dem Ausdruck »immanent
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. ^
Das heißt, wie wir aus Indien wissen : ein rituell, formell oder
faktisch, von der sozialen Umwelt geschiedenes Gastvolk. Alle we-
evolutionistisch« am ehesten zu kennzeichnen sein. Die eigenen, inneren Ent-
wicklungstendenzen der Jahwereligion bestimmen, wenn auch natürlich unter
dem Einfluß der allgemeinen Schicksale des Volks, den Gang der Entwicklung.
Die auffallende Leidenschaftlichkeit, mit welcher er sich gegen die glänzende
Arbeit Ed. Meyers (Die Entstehung des Judentums Halle i^c6) wehrte,
obwohl dieser Schriftsteller ihm in hohem Maße gerecht geworden ist, erklärt
sich aus dieser letztlich doch wohl religiös bedingten Prämisse. Denn die Arbeit
Ed. Meyers stellt wie bei einem Universalhistoriker der Antike zu erwarten,
das konkrete historische Schicksal und Ereignis (in diesem Fall : eine bestimmte
politische Maßregel der persischen Politik) in den Vordergrund der kausalen Zu-
rechnung und bevorzugt also eine, in diesem Sinn, »epigenetische« Erklärung.
Für die zwischen beiden erörterte Frage dürfte heute Ed. Meyer nach der
so gut wie allseitigen Meinung im Recht geblieben sein. Eine »evolutionistische«
Behandlung der israelitischen Religionsgeschichte kann namentlich dann leicht
auf den Boden von Voraussetzungen treten, welche die unbefangene Erkenntnis
trüben, wenn sie — -was übrigens gerade bei Wellhausen nicht zutraf — die Er-
gebnisse der modernen Ethnographie und vergleichenden Religionswissenschaft
für die konkrete Religionsentwicklung Israels dogmatisiert also annimmt:
jene magischen und ' animistischen« Vorstellungen welche fast über die ganze
Welt hin bei »primitiven« Völkern beobachtet werden, müßten auch in der Re-
ligionsentwicklung Israels am Anfang stehen und erst in deren weiterem
Verlaufe den »höheren« religiösen Konzeptionen Platz gemacht haben. Die
Schriften von Robertson Smith (deutsch: Die Religion der Semiten«) und die
zum Teil glänzenden Arbeiten sowohl alttestamentlicher wie anderer Gelehrter
haben zwar zweifellos, wie übrigens zu erwarten, namentlich innerhalb der ri-
tuellen Gebote und der Mythen und Legenden Israels auf Schritt und Tritt die
Analogien mit zahlreichen sonst beobachteten magischen und animistischen
Vorstellungen dargetan. (Daß man freilich auch Beweise für »Totemismus«
in Israel hat finden wollen, darüber hat sich Ed. Meyer mit Recht lustig ge-
macht.) Allein darüber wurde zuweilen vergessen, daß Israel zwar als eine bäuer-
liche Eidgenossenschaft sein geschichtliches Dasein begann, aber (ähnlich etwa
der Schweiz) inmitten einer Umwelt mit längst entwickelter Schriftkultur,
Städteorganisation, See- und Karawanenhandel, Beamtenstaaten, Priester-
wissen, astronomischen Beo*bachtungen und kosmologischen Spekulationen.
Dem ethnographischen Evolutionismus trat daher der kulturgeschichtliche
Universalismus vor allem der assyriologischen Gelehrten in radikalster Form
der sog. »Panbabylonisten', entgegen. Die Vertreter dieser Geschichtsauffas-
sung, Gelehrte vom Range Schraders (vor allem: Die Keilmschriften und das
Alte Testament, neue Auflagen von H. Winckler) und H. Wincklers (vor
allem: Geschichte Israels in Einzeldarstellungen, 2 Bde.) und der noch radi-
kalere Jensen, in vorsichtigerer Art gelegentlich auch der weit maßvollere aber
immerhin das »Prinzip« dieser Betrachtung wahrende A. Jeremias (außer dem
»Handbuch der altonental. Geisteskultur«, 1913 vor allem: »Das Alte Testament
im Lichte des alten Orients« 2. A. 1916) gingen hier sehr weit. Es hat an Ver-
suchen nicht gefehlt, die Mehrzahl z. B. aller Pentateuch-Erzählungen als astral-
theologischen Ursprungs nachzuweisenoder etwa die Propheten zu Parteigängern
einer internationalen vorderasiatischen Priesterpartei zu stempeln.
Die Vorträge und Aufsätze von Fr. Delitsch trugen dann den sog. >^ Babel-
Bibel-Streit« in breite Kreise. Von ernsthaften Forschern dürfte nun heute
wohl kaum noch, Avie es zeitweise geschah, versucht werden, die israelitische Re-
A Das antike Judentum.
sentlichen Züge seines Verhaltens zur UmWelt, vor allem seine
längst vor der Zwangsinternierung bestehende freiwillige Ghetto-
ligion aus babylonischen Astralkulten und babylonischem priesterlichem Geheim-
wissen abzuleiten. (Von ägyptologischerSeit wäre als eine extremeParallele soicher
Exzesse etwa die, wie mir scheint, gründlich verfehlte Schrift von D. Völter ,
Aegypten und die Bibel Leiden 190 j, zu nennen, mit welcher die sehr vorsichtigen
Arbeiten W. Max Müllers, vor allem »Asien und Euiopa« und die später teil-
weise zu zitierende Spezialliteratur zu vergleichen sind.) Wenn in der nachfolgen-
den Darstellung auch von den als iinbe zweifelbar anzuerkennenden Ergebnissen
der »panbabylonistischen« Arbeiten wenig die Rede ist, so keineswegs aus Gering-
achtung, sondern lediglich deshalb, weil für uns die praktische Ethik Israels
im Vordergrunde steht und für das Verständnis dieser jene kulturhistorisch
wichtigen Beziehungen, welche die Panbabylonisten interessieren, wie sich zei-
gen wird, nicht die ausschlaggebenden sind. Die Wirkung ihrer Thesen auf die
Forschung war aber eine sehr bedeutende. Durch sie wurde die israelitische
Religion zu einer Abwandlung der benachbarten Kulturreligionen gestempelt.
Das mußte auf die Fragestellungen der Alttestamentier zurückwirken. Da sich
starke Einwirkungen vor allem babylonischer, aber auch ägyptischer Kultur auf
Palästina unmöglich in Abrede stellen lassen, hatte die alttestamentliche- For-
schung, unter der Führung namentlich G u n k e 1 s , inzwischen schon ihrer-
seits an dem Entwicklungsschema Wellhausens erhebliche Korrekturen vor-
genommen. Die Tatsachen der Durchsetzung der israelitischen Religiosität mit
magischem und animistischem Vorstellungsmaterial einerseits, die Zusammen-
hänge mit den benachbarten großen Kulturkreisen andererseits traten nun aeut-
licher hervor und die Arbeit konzentrierte sich auf die in Wahrheit entscheidende
Frage: worin denn nun die schließlich doch unbezweifelbare E i g e n a.r t der
israelitischen Religionsentwicklung gegenüber jenen teils allgemein verbreiteten,
teils durch konkrete Kulturzusammenhänge bedingten Gemeinsamkeiten be-
ruhe und weiter: wodurch diese historische Eigenart bedingt sei. Aber alsbald
begann wieder die Verflechtung mit den durch eigne religiöse Stellungnahme
bedingten Wertungen. Die »Einzigkeit« wurde bei einem Teil der Forscher
alsbald wieder zum einzigartigen Wert, und der Nachweis galt z. B. etwa einer
These wie der: daß schon die Leistung des Mose eine an religiösem und sittlichem
Wertgehalt alle Gebilde der Umwelt »überragende« Schöpfung gewesen sei (Bei-
spiele dieses Typus dürften am besten manche Arbeiten des übrigens sehr ver-
dienten Baentsch darbieten, denen namentlich Budde entgegengetreten
ist). Wenn so die Forschung im einzelnen gelegentlich durch Wertungen von der
rein historisch -empirischen Feststellung des Tatbestandes abgelenkt wurde,
so sind die Ergebnisse der glänzenden Arbeit der Alttestamentier für die Kritik
der Ueberlieferung doch derart gewesen, daß auch die konservativsten Gelehrten
sich ihnen nicht mehr haben entziehen können. Die Schwierigkeit einwandfreier
positiver Feststellungen liegt namentlich in den für einen Nichtphilologen in
aller Regel nicht nachprüfbaren Kontroversen über den oft gerade in den wich-
tigsten Partien verderbten oder in unbekannten Zeiten interpolierten und
emendierten Text der Quellen. Oft hängt die Entscheidung auch an dem größe-
ren oder geringeren Radikalismus des Zweifels an der Authentizität jener Nach-
richten, an deren Verfälschung irgendein Interesse der priesterlichen Redaktoren
sich knüpfen konnte. Der Nichtfachmann wird im ganzen gut tun, alle jene
Nachrichten, für die nicht entweder nach der übereinstimmenden Ansicht der
maßgebenden philologischen Fachleute aus sprachlichen oder aber nach ihrem
eigenen Inhalt aus zwingenden sachlichen Gründen eine Verfälschung anzunehmen
ist, zunächst einmal hypothetisch daraufhin anzusehen: ob sie nicht trotz allem
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 5
existenz und die Art des Dualismus von Binnen- und Außenmoral
lassen sich daraus ableiten. Die Unterschiede gegenüber indi-
schen Pariastämmen liegen beim Judentum in folgenden drei
wichtigen Umständen: i. Das Judentum war (oder vielmehr
wurde) ein Pariavolk in einer kastenlosen Umwelt.
— 2. Die Heilsverheißungen, an welchen die rituelle Beson-
derung des Judentums verankert war, waren durchaus andere
als diejenigen der indischen Kasten. Für die indischen Paria-
kasten galt, sahen wir, als Prämie rituell korrekten, d. h. kasten-
gerechten, Verhaltens der Aufstieg innerhalb der als ewig und
unabänderlich gedachten Kastenordnung der Welt im Wege
der Wiedergeburt. Die Erhaltung der Kastenordnung wie sie
war und das Verbleiben nicht nur des Einzelnen in der Kaste,
als Mittel historischen Verständnisses brauchbar sind. Das Maß von in diesem
Sinn »konservativer« Behandlung der Quellen ist bei den einzelnen alttestament-
lichen Forschern ein sehr verschiedenes, neuerdings aber in Reaktion gegen
extreme Skepsis in einem vielfach wohl schon etwas zu weitgehenden Steigen be-
griffen. Auf einem ganz extrem konservativen Standpunkt steht z. B. das üb-
rigens ganz ausgezeichnete, ausführlichste Werk von Kittel, Geschichte
des Volkes Israels (2 Bde. in 2 Auflage 1909 bzw. 1912). Von anderen modernen
Darstellungen sei zur Einführung etwa die kurzgefaßte »Geschichte des Volkes
Israel« von H. Guthe (2. Aufl. 1904), der gute Abriß von Valeton in
Chantepie de la Saussaye's Lehrbuch der vergl. Rel. Gesch. (1897) und das die
außenpolitische Entwicklung sehr übersichtlich gliedernde "Werk von C. F.^L e h-
mann-Haupt: »Israel. Seine Entwicklung im Rahmen der Weltgeschichte«
(Tübingen T 911) genannt. Neben dem Werk von Kayser-Marti wird man
die Religionsgeschichte von S m e n d dankbar benützen. Für die wissenschaftliche
Forschung auf dem Gebiet der altern israelitischen Geschichte besonders unent-
behrlich ist aber bei aller Kritik Ed. Meyers Schrift (mit Einlagen von Luther):
Die Israeliten und ihr s Nachbarstämme (Halle 1906). Für die inneren und Kultur-
verhältnisse ist neben den Kompendien der hebräischen Archäologie von B e n-
zinger (1893) u"<i Nowack (1894) auch die Schrift von Frants Buhl
(Die sozialen Verhältnisse der Israeliten) brauchbar. Zur Religionsgeschichte
ist neben B. S t a d e s im einzelnen oft anfechtbarer, aber überaus gehaltvoller
und gedrängter »Biblischer Theologie des A. Test.« (1, 1905, II, von Berthe let, 191 1)
beachtenswert, weil ebenfalls sehr präzis formuliert, das posthume Werk von
E, Kautzsch (Die bibl. Theologie des A. T. 191 1). Zur Religionsvergleichung
die von G r e ß m a n n in Verbindung mit Ungnad und Ranke heraus-
gegebene Sammlung: Altorientalische Texte und Bilder zum Alten Testament
1909 (war mir während der Durchsicht des Manuskripts leider nicht zugänglich).
Von den zahlreichen Kommentaren zum A. T. ist für den Nichtfachmann der
von K. Marti in Verbindung mit Benzinger, Bertholet, Budde, Duhm, Holzinger,
Wildeboer herausgegebene besonders angenehm zu benutzen' Sehr verdienst-
lich und zum Teil ganz ausgezeichnet ist die auch auf weitere Kreise berechnete,
(daher teilweise etwas zu freie, vor allem auch nicht vollständige, nach Quellen-
schriften, Gegenständen und chronologisch gegliederte) moderne kommentierte
Uebersctzung der »Schriften des A. T.« von Greßmann, Gunkel, Haller, H.
Schmidt, Stärk, Volz (1911 — 14, noch in Fortsetzung begriffen). —Einzelzitate
anderer Arbeiten nachstehend an den betreffenden Stellen. Die Literatur und
5 Das antike Judentum.
sondern der Kaste als solcher in ihrer Stellung zu den anderen
Kasten: dieses eminent sozialkonservative Verhalten war Vor-
bedingung alles Heils; denn die Welt war ewig und hatte keine
»Geschichte«. Für den Juden war die Verheißung die gerade
entgegengesetzte: die Soziälordnung der Welt war in das Gegen-
teil dessen verkehrt, was für die Zukunft verheißen war und sollte
künftig wieder umgestürzt werden, so, daß dem Judentum seine
Stellung als Herrenvolk der Erde wieder zufallen würde. Die
Welt war weder ewig noch unabänderlich, sondern sie war er-
schaffen und ihre gegenwärtigen Ordnungen waren ein Produkt
des Tuns der Menschen, vor allem: der Juden, und der Reaktion
ihres Gottes darauf : ein geschichtliches Erzeugnis
also, bestimmt, dem eigentlich gottgewollten Zustand wieder
Platz zu machen. Das ganze Verhalten der antiken Juden
zum Leben wurde durch diese Vorstellung einer künftigen
gottgeleiteten politischen und Sozialre-
volution bestimmt. Und zwar — 3 : in einer ganz bestimmten
Ric-itung. Denn die rituelle Korrektheit und die dadurch be-
dingte Abgesondertheit von der sozialen Umwelt war nur eine Seite
der ihnen auf erlegten Gebote. Daneben stand eine in hohem Grade
rationale , das heißt von Magie sowohl wie von allen Formen
irrationaler Heilssuche freie religiöse Ethik des in-
nerweltlichen Handelns, innerlich weltenfern ste-
hend allen Heilswegen der asiatischen Erlösungsreligionen.
Diese Ethik liegt in Weitgehendem Maße noch der heutigen euro-
päischen und vorderasiatischen religiösen Ethik zugrunde. Und
darauf beruht das Interesse der Weltgeschichte am Judentum.
Die weltgeschichtliche Tragweite der jüdischen religiösen
Entwicklung ist begründet vor allem durch die Schöpfung des
»Alten Testamentes«. Denn zu den wichtigsten geistigen Lei-
stungen der paulinischen Mission gehört es, daß sie dies heilige
Buch der Juden als ein heiliges Buch des Christentums in diese
Religion hinüberrettete und dabei doch alle jene Züge der darin
eingeschärften Ethik als nicht mehr verbindlich, weil durch den
christlichen Heiland außer Kraft gesetzt, ausschied, welche gerade
zwar auch die qualitativ erstklassige Literatur ist derart umfangreich, daß im
allgemeinen nur da zitiert ist, wo ein besonderer sachlicher Grund dazu voilag.
Es schien mir in diesem Fall die Gefahr nicht groß, daß durch eine Unterlassung
der Anschein erweckt würde, als beanspruchte ich, hier »neue« Tatsachen und
Auffassungen vorzutragen. Davon ist keine Reds. In gewissem Umfang neu sind
einige der soziologischen Fragestellungen, unter denen die Dinge bebandelt werden.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 7
die charakteristische Sonderstellung der Juden: ihre Paiiavolks-
lage, rituell verankerten. Man braucht sich, um die Tragweite
dieser Tat zu ermessen, nur vorzustellen, was ohne sie eingetreten
wäre. Ohne die Uebernahme des Alten Testamentes als heiligen
Buches hätte es auf dem Boden des Hellenismus zwar pneumati-
sche Sekten und Mysteriengemeinschaf^-en mit dem Kult des
Kyrios Christos gegeben, aber nimmermehr eine christliche Kirche
und eine christliche Alltagsethik. Denn dafür fehlte dann jede
Grundlage. Ohne die Emanzipation von den rituellen, die kasten-
artige Absonderung der Juden begründenden Vorschriften der
Thora aber wäre die christliche Gemeinde ganz ebenso wie etwa
die Essener und Therapeuten eine kleine Sekte des jüdischen
Pariavolks geblieben. Aber gerade in dem Kern der ans dem
selbstgeschalfjnen Ghetto befreienden Heilslehre des Christen-
tums knüpfte die paulinische Mission an eine jüdische, wennschon
halbverschüttete Lehre an, welche aus der religiösen Erfahrung
des Exils Volks stammte. Denn ohne die höchst besöndersartigen
Verheißungen des unbekannten großen Schriftstellers der Exils-
zeit, der die prophetische Theodizee des Leidens Jes. 40 — 55
verfaßt hat, insbesondere die Lehre vom lehrenden und schuld-
los freiwillig als Sühnopfer leidenden und sterbenden Knecht
Jahwes wäre trotz der späteren Menschensohn-Esoterik die
Entwicklung der christlichen Lehre vom Opfertod des göttlichen
Heilands in ihrer Sonderart gegenüber andern äußerlich ähnlichen
Mysterienlehren nicht denkbar gewesen. Auf der anderen Seite
ist aber das Judentum ausgesprochenermaßen Anreger und teil-
weise Vorbild der Verkündigung Muhammeds geworden. Wir be-
finden uns also bei Betrachtung seiner Entwicklungsbedingungen,
ganz abgesehen von der Bedeutung des jüdischen Pariavolks
selbst innerhalb der Wirtschaft des europäischen Mittelalters und
der Neuzeit, vor allem aus diesen Gründen der universalhistori-
schen Wirkung seiner Religion an einem Angelpunkt der ganzen
Kulturentwicklung des Occidents und vorderasiatischen Orients.
An geschichtlicher Bedeutung kann ihm nur die Entwicklung
der hellenischen Geisteskultur und, für Westeuropa, des römischen
Rechts und der auf dem römischen Amtsbegriff fußenden römi-
schen Kirche, dann Weiterhin der mittelalterlich-ständischen
Ordnung und schließlich der sie sprengenden, aber ihre Insti-
tutionen fortbildenden Einflüsse, auf religiösem Gebiet, also des
Protestantismus, gleichgeordnet werden.
g Das antike Judentum.
Das Problem ist also : wie sind die Juden zu einem Paria-
volk mit dieser höchst spezifischen Eigenart geworden? —
Das syrisch-palästinische Bergland war abwechselnd meso-
potamischen und ägyptischen Einflüssen ausgesetzt. Die erste-
ren waren durch die Stammesgemeinschaft der in alter Zeit in
Syrien ebenso wie in Mesopotamien herrschenden Amoriter,
dann durch den politischen Aufstieg der babylonischen Macht
Ende des 3. Jahrtausends und dauernd durch den Einfluß der
kommerziellen Bedeutung Babylons, als des Entstehungsgebiets
der frühkapitalistischen Geschäftsformen, bedingt. Die ägypti-
schen Einflüsse beruhten zunächst auf den Handelsbeziehungen
schon des alten Reichs zur phönizischen Küste, auf dem ägypti-
schen Bergbau auf der Sinaihalbinsel und auf der geographischen
Nähe als solcher. Eine dauernde und feste politische Unterwer-
fung war in der Zeit vor dem 17. Jahrhundert v. Chr. von keinem
jener beiden großen Kulturzentren her möglich, Weil die damalige
militärische und administrative Technik eine solche ausschloß.
Das Pferd fehlte zwar wenigstens in Mesopotamien nicht gänzlich,
aber es war noch nicht zum Instrument einer eigenen Militär-
technik geworden. Das geschah erst in jenen Völkerwanderungen,
Welche in Aegypten die Hyksosherrschaft, in Mesopotamien
die kassitische Herrschaft begründeten. Nunmehr erst ent-
stand die Wagenkampftechnik und damit Möglichkeit und An-
reiz zu großen Eroberungsexpeditionen in ferne Gebiete. Palä-
stina wurde zuerst von Aegypten her als Beuteobjekt gesucht.
Mit der Befreiung von den Hyksos — unter deren Herrschern
anscheinend der Name »Jakob« zum' erstenmal auftaucht — be-
gnügte" sich die 18. Djmastie nicht, sondern drang erobernd bis
an den Euphrat vor. Ihre Statthalter und Vasallen blieben in
Palästina, auch als die Tendenz zur Expansion aus innerpoli-
tischen Gründen erlahmte. Die Dynastie der Ramessiden mußte
den Kampf um Palästina schon deshalb wieder aufnehmen, weil
inzwischen das starke kleinasiatische Reich der Hethiter nach
Süden vorgedrungen war und Aegypten bedrohte. Durch ein
Kompromiß unter Ramses II. wurde Syrien geteilt, Palästina
blieb in ägyptischer Hand und war es nominell bis nach dem
Ende der Ramessiden, also Während eines großen Teils der
israelitischen sog. »Richterzeit«. Tatsächlich sank aber die Macht
sowohl des ägyptischen wie des hethitischen Reichs vor allem aus
innerpolitischen Gründen so stark, daß Syrien und Palästina vom
1
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. C)
13. Jahrhundert an mehrere Jahrhunderte im Wesentlichen sich
selbst überlassen blieben, bis, seit dem g. Jahrhundert, die in-
zwischen neugeschaffene Militärmacht der Assyrer, seit dem
7. die der Babylonier und, nach einem ersten Vorstoß im 10. Jahr-
hundert, im 7. Jahrhundert auch die ägyptische Macht wieder
eingriffen und vom letzten Drittel des 8. Jahrhunderts an die
Selbständigkeit des Gebietes Stück für Stück an die assyrischen,
teilweise und zeitweise an die ägyptischen, definitiv dann an die
babylonischen Großkönige verloren ging, deren Erbe die Perser-
herrschaft antrat. Nur in jener Zwischenzeit, welche einen weit-
gehenden allgemeinen Rückgang aller internationalen politischen
und kommerziellen Beziehungen bedeutete und im Zusammenhang
damit in Griechenland die sog. dorische Wanderung sah, konnte
auch Palästina sich unabhängig von fremden Großmächten
entwickeln. Die Phönikerstädte und die in jener Zeit der Schwäche
Aegyptens von der See her einwandernden Philister von der
einen, die Beduinenstämme der Wüste Von der anderen Seite,
dann im 10. und 9. Jahrhundert das damaskenische Reich der
Aramäer, waren Palästinas stärkste Nachbarn. Gegen die letzt-
genannte Macht rief der israelitische König die Assyrer ins Land."
In jene Zwischenperiode fällt, wenn nicht die Entstehung, so
doch die militärische Höhe des israelitischen Bundes, des Reichs
Davids und dann der Königreiche Israel und Juda.
Wenn die politische Macht der großen Kulturstaaten am
Euphrat und Nil damals gering war, so hat man sich doch sehr
zu hüten, diese Epoche in Palästina sich als primitiv und bar-
barisch vorzustellen. Nicht nur blieben diplomatische und auch
kommerzielle Beziehungen, wenn auch erschwert, bestehen,
sondern auch der geistige Einfluß der Kulturgebiete dauerte
fort. Durch Sprache und Schrift war Palästina dauernd, auch
während der ägyptischen Herrschaft, dem geographisch entfern-
teren Euphratgebiet verbunden geblieben, und tatsächlich ist
dessen Einfluß vor allem im Rechtsleben, aber ebenso in Mythen
und kosmischen Vorstellungen unverkennbar. Ägyptens Ein-
fluß auf die Kultur Palästinas scheint, rein äußerlich, angesichts
der geographischen Nähe auffallend gering. Dies hatte seinen
Grund zunächst in der inneren Eigenart der ägyptischen Kultur,
deren Trägern: Tempel- und Amts-Pfründnem, jeder Proselytis-
mus fernlag. Starke Beeinflussung der palästinischen geistigen
Entwicklung durch Aegypten ist in manchen für uns wichtigen
JO Das antike Judentum.
Punkten dennoch wahrscheinlich. Aber sie erfolgte teils auf
dem Umweg über Phönizien, teils blieb sie me'ir ein nicht
ganz leicht zu fassender und meist wesentlich negativer »Entwick-
lungsreiz«. Denn jene scheinbar geringe direkte Beeinflussung
folgte außer aus sprachlichen GriJnden auch aus den tiefgehen-
den Unterschieden der natürlichen Lebensbedingungen und der
auf ihnen ruhenden sozialen Ordnung. Der aus der Notwendig-
keit der Bewässerungsregulierung und aus den königlichen Bauten
erwachsene ägyptische Fronstaat stand den Existenzformen der
Bewohner Palästinas als etwas tief Fremdartiges, ein »Dienst-
haus«, das sie als »eisernen Ofen« verabscheuten, gegenüber.
Und die Aegypter ihrerseits betrachteten alle nicht an dem gött-
lichen Geschenk der Nilüberschwemmungen und der königlichen
Schreiberverwaltung teilnehmenden Nachbarn als Barbaren.
Die religiös einflußreichen Schichten in Palästina aber lehnten
vor allem die wichtigste Grundlage der ägyptischen Priester-
macht: den Totenkult, als eine schauerliche Entwertung ihrer
eigenen, in der bei nicht hierokratisch reglementierten Völkern
typischen Art, durchaus innerweltlich gerichteten . Interessen
ebenso ab, wie sich die ägyptische Dynastie selbst unter Ameno-
phis IV. zeitweilig, aber gegenüber der schon fest verankerten
Macht der Priester vergeblich, ihnen zu entziehen suchte. Der
Gegensatz gegen Aegypten war letzt Uci in den natürlichen
und sozialen Unterschieden begründet, obwohl auch innerhalb
Palästinas die Lebensbedingungen und sozialen Verhältnisse
recht verschiedene waren.
Palästina birgt erhebliche klimatisch bedingte Gegensätze
der Wirtschaftsmöglichkeiten ^). In den Ebenen namentlich
des mittleren und Nordgebiets war neben Getreideanbau mit
Rind Viehzucht schon bei Beginn unserer Nachrichten auch Obst-,
Feigen-, Wein- und Oelbau heimisch. In den Oasen der angren-
zenden Wüste und auf dem Gebiet der Palmenstadt Jericho auch
Dattelzucht. Bewässerung aus den starken Quellen, in den pa-
lästinischen Ebenen: Regen machte den Anbau möglich. Die
sterile Wüste im Süden und Osten war und ist nicht nur den
Bauern, sondern ebenso den Hirten ein Ort des Schreckens und der
^) lieber die Naturbedingungen Palästinas sind neben den allgemeinen
Werken über Palästinakunde die zahlreichen Aufsätze in der »Zeitschrift« und
den »Mitteilungen und Nachrichten des Deutschen Palästinavereinr« zu verglei-
chen. Ueber das antike Klima (Talmudzeit) H. Klein Z. D. P.V. 37 {1914)
S. 127. ff.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 1 1
Sitz der Dämonen. Nur die vom periodischen Regen bestriche-
nen Randgebiete, die Steppen, waren und sind als Kamel- oder
Klein Viehweide und daneben in günstigen Jahren zum nomadi-
sierenden Gelegenheitsanbau von Getreide brauchbar. Aller-
hand Uebergänge bis zur Möglichkeit regelmäßigen seßhaften
Anbaus fanden und finden sich '). Insbesondere war und ist die
Art der Weiden verschieden. Zuweilen lassen sie sich als örtlich
festbegrenzte Weidebezirke von einer Ansiedelung aus ent-
weder nur für Kleinvieh oder daneben auch für Großvieh benutzen.
Häufiger aber müssen gemäß dem jährlichen Wechsel zwischen
winterlicher Regenperiode und sommerlicher regenloser Zeit die
Weiden gewechselt werden ^). Entweder derart, daß Sommer-
und Winterdörfer, die letzteren oben an den Berghängen liegend,
von den Viehzüchtern abwechselnd benutzt werden und leer-
stehen — , was übrigens auch bei Ackerbauern auf weit ausein-
anderliegenden Feldern mit Verschiedenheit der Vegetations-
periode vorkommt. Oder aber so, daß die Weidereviere der
verschiedenen Jahreszeiten so weit auseinanderliegen oder in
ihren Erträgen so wechseln, daß feste Ansiedelungen gar nicht
möglich sind. Die Kleinviehzüchter, denn nur sie kommen in
diesem Fall in Frage, leben dann nach Art der Kamelhirten der
Wüste in Zelten und treiben im periodischen Weidewechsel ihre
Herden über weite Entfernungen teils mehr Von Ost nach West,
teils mehr von Nord nach Süd, wie sich dies in Süditalien, Spa-
nien, der Balkanhalbinsel und Nordafrika ganz ebenso findet^).
Beim Weidewechsel pflegt je nach Möglichkeit die Naturweide
mit Brachweide und Stoppelweide auf den abgeernteten Feldern
kombiniert zu werden. Oder so, daß mit Zeiten der Dorfsässig-
keit Zeiten, des Nomadisierens oder der auswärtigen Arbeitssuche
abwechseln: dorfsässige Bauern im Gebirge Juda wohnen teil-
weise die Hälfte des Jahres in Zelten. Die Grade der vollen
hausgesessenen Bodenständigkeit einerseits, des Zeltnomaden-
tums andererseits sind also durch alle denkbaren Uebergänge
miteinander verbunden und labil. Wie in der Antike sind noch
^) Im Josua-Biicb (13, 19) gibt Kaleb, der Hebron zugeteilt erhalten hat,
seiner Tochter als Mitgift »Mittagsland« (erez ha negeb) und fügt auf ihre Bitte
»Quellen oben und unten« hinzu. — Das anbaufähige Land im Gegensatz zur
Steppe heißt »sadch«.
2) S. dazu namentlich die Beobachtungen Schumachers in seinem Reise-
bericht aus dem Ostjordanland, abgedr. in den Mitt. u. N. d. D.P. V. 1904 ff.
^) Darüber jetzt die vortreffliche Arbeit von R. Leonhard: dieTrans-
humanz im Mittelmeergebiet (in d. Festschr. für L.Brentano, München 1916).
j2 Das antike Judentum.
in der Gegenwart Uebergänge sowohl vom Nomadentum zum
Ackerbau infolge Zunahme der Bevölkerung und damit des
Brotbedarfs, wie auch das gerade umgekehrte : Uebergang vom
Fellachentum zum Nomadentum infolge von Versandung, vor-
gekommen. Mit Ausnahme des immerhin eng begrenzten aus
Quellen bewässerten Landes hängt eben das ganze Schicksal
des Jahres von dem Maß und der Verteilung des Regens ab ^).
Von diesem gibt es zweierlei Art. Den einen bringt der Scirocco
von Süden in oft ungeheuer starken Gewittern mit Wolkenbrüchen.
Ein starker Blitz bedeutet den Fellachen und Beduinen starken
Regen. Kommt kein Regen, so ist heute wie in der Antike »Gott
in der Ferne« und dies gilt heute wie damals als Folge von Sün-
den, besonders solchen der Schechs '^) . Für die Ackerbaukrume
namentlich des Ost Jordanlandes oft verhängnisvoll, füllt dieser
Platzregen in der Steppe die Zisternen und ist also namentlich
den Kamelzüchtern der Wüste erwünscht, für die deshalb der
regenspendende Gott ein jähzorniger Gott des Wettersturms war
und blieb. Für die Dattelpalmen und die Baum Vegetation über-
haupt ist dieser starke Regen nicht nachteilig, bei nicht allzu
großem Uebermaß nützlich. Den milden Landregen dagegen,
bei welchem die Ackerkrume und die 'Bergweiden gedeihen,
bringt jener Südwest- und Westwind, den Elia auf dem Karmel
vom Meer her erwartete. Für den Ackerbauer ist also jener
Regen der erwünschteste, bei Welchem der regenspendende Gott
nicht im Gewitter oder Sturm — die auch ihm freilich oft voran-
gehen — , sondern »in stillem, sanftem Sausen« naht.
Im eigentlichen Palästina ist die »Wüste Juda«, die Ab-
flachung des Berglands vom Toten Meer, von jeher wie heute
ein Gebiet fast ohne feste Siedelung. Innerhalb des mittel- und
nordisraelitischen Berglandes dagegen fällt im Winter (Novem-
ber bis März) so viel Regen wie in Mitteleuropa im ganzen Jahres-
durchschnitt. Daher ist in guten Jahren, d. h. wenn starke Früh-
regen (in der Antike oft schon vom Laubhüttenfest an) und Spät-
regen (bis Mai) eingetreten sind, gute Getreideernte in den Tälern
und starker Blumen- und Graswuchs an den Berghängen zu er-
warten, während allerdings beim Ausbleiben der Früh- und Spät-
regen die absolute Dürre des Sommers, die alles Gras verdorren
^) Beste meteorologische Beobachtungen jetzt von F. Exner Z. D. P. V. 33
(1910) S. 107 ff.
2) Fellachensprichwörter und Gebete, gesammelt von Dr. Cana*an, Z. D.
P.V. 36 {1913) S. 285, 291.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. I 2
läßt, sich Über mehr als zwei Drittel des Jahres erstrecken kann
und dann vor allem die Schafhirten auf auswärtigen Zukauf
von Getreide, in der Antike aus Aegypten, oder auf Fortwande-
rung angewiesen waren. Die Existenz namentlich dieser Hirten
ist also meteorologisch prekär, und nur in guten Jahren war
Palästina für sie ein Land wo »Milch und Honig« — es ist offen-
bar Dattelhonig, den die Beduinen schon in der Thutmose-Zeit
kannten, vielleicht auch Feigenhonig und daneben Honig von
wilden Bienen gemeint — »fließen«^).
Die naturgegebenen Kontraste der Wirtschaftsbedingungen
haben von jeher in Gegensätzen der ökonomischen und sozialen
Struktur sich ausgedrückt.
Am einen Ende der Skala standen und stehen die Wüsten-
Beduinen. Der eigentliche bedu, der sich auch innerhalb
Nordarabiens streng vom seßhaften Araber unterscheidet, ver-
achtete von jeher den Ackerbau, Verschmähte Haus und be-
festigte Orte, lebte von Kamelmilch und Datteln, kannte keinen
Wein, bedurfte und duldete keine Art von staatlicher Organi-
^) Ueber die Frage, ob das Land Kanaan diese Bezeichnung verdient haben
kann und was sie bedeutet, herrscht Streit. S. darüber aus der letzten Zeit
z. B. Kraus Z. D. P.V. 32, S. 151, der das «»Fließen« nach seiner Interpre-
tation talmudischer Quellen buchstäblich, als Zusammenlaufenlassen von Zie-
genmilch mit Fruchthonig aus Datteln, Feigen, Trauben verstehen wollte. Da-
gegen S i m o n s o n ebenda 33, S. 44, der mit Recht es als bildlieh gemeint
ansieht. Ebenso Dal man M. u. N. D. P. V. 1905 S. 27: »Kuchen so süß
wie Honig«, im Anschluß an die heutige Interpretation der palästinischen Juden.
Dalman hält Palästma für von jeher vieharm. Hiergegen (die m. W. beste Ab-
handlung) L. Bauer (ebenda S. 65), der auf den Milchreichtum noch in der
Gegenwart hinweist (Butter und Milch die wichtigsten Nahrungsmittel) und den
Honig auf Traubenhonig deutet, welch letztere Annahme abei Dalman
(ebenda 1906 S. 81) als für das Altertum irrig nachweist: damals sei Dattelhonig
die wichtigste Honigart gewesen. Häusler (Z. D. P.V. 35, 1912 S. 186)
zweifelt, ob der Reichtum an Honig immer bestanden habe. Allein auch in den
Amarnabriefen (Nr. 55 von Knudtzons Ausgabe) findet sich Honig als Deputat
einer ägvptischen Garnison. Der Honig, welchen der flüchtige Aegypter Sinuhe
in der Zeit Sesostris I. neben Feigen-, Oel- und Weinanbau als im Retenuland
reichlich vorhanden erwähnt, war vielleicht ebenfalls Dattelhonig. Das
Manna schmeckt (Ex 3, 13) wie Brot mit Honior. Wenn Palästina nach der Ver-
wüstung durch die Assyref wieder wie die Steppe sein wird, wo statt der Wein-
stöcke Dornen und Hecken stehen, dann werden die übrig gebliebenen Frommen
R?hm und Honig essen, wie einstmals, verkündet Jesaja (7, 22. 23). Deshalb
wird auch das Heilandskind Immanuel Rahm und Honig essen (7, 15). Das er-
innert an die Nahrung des Zeusknaben auf Kreta: Rahm und Honig. Deshalb wird
die rein eschatologische Deutung des Ausdrucks als Götterspeise von Greß-
mann (Die israelit. Eschatologie S. 207 f., s. auch die das. unten angeführte
Literatur) bevorzugt. Immerhin ist die Götterspeise eben doch wohldie ideale
Menschenspeise der Reichen in einem Steppengebiet.
JA Das antike Judenium.
sation. Wie neben anderen namentlich Wellhausen ^) es für die
epische Zeit der Araber geschildert hat, ist neben dem Muchtar,
dem Haupt der Familie (d. h. der Zeltgemeinschaft) das Sippen-
haupt, der Schech, die einzige normalerweise perennierende
Autorität. Zur Sippe zählt der Komplex von Zeltgemeinschaften,
welche sich, gleichviel ob mit Recht, von einem Ahn abstammend
wissen und deren Zelte deshalb benachbart stehen. Sie ist der durch
strenge Blutrachepflicht am festesten zusammengekittete Verband.
Gemeinschaften mehrerer Sippen bilden sich durch Gemeinsam-
keit des Wanderns und Lagerns zu gegenseitigem Schutz. Der
dadurch entstehende »Stamm« umfaßt selten mehr als einige
tausend Seelen. Ein ständiges Oberhaupt hat er nur, wenn ein
Mann sich durch kriegerische Leistungen oder schiedsrichterliche
Weisheit so ausgezeichnet hat, daß er kraft seines Charisma
als »Sayid« anerkannt wird. Sein Prestige kann dann als Erb-
charisma auf die jeweiligen Schechs seiner Sippe übergehen,
namentlich wenn diese vermögend ist. Auch der Sayid ist aber
nur primus inter pares. Im Palaver des Stammes (bei kleinen
Stämmen oft allabendlich) führt er den Vorsitz, gibt, wo sich
die Meinungen die Wage halten, den Ausschlag, bestimmt Auf-
bruchszeit und Lagerungsort. Es fehlt ihm aber ebenso wie den
Schechs jede Zwangsgewalt. Sein Beispiel und Schiedsspruch
werden von den Sippen befolgt, solange . sich sein Charisma be-
währt. Auch alle Teilnahme an Kriegszügen ist freiwillig und
wird nur durch Spott und Beschämung indirekt erzwungen. Die
einzelne Sippe begibt sich nach Belieben auf Abenteuer. Ebenso
gibt sie Fremden eigenmächtig ihren Schutz. Beides kann,
das erstere durch Repressalien, das letztere durch Rache bei
Verletzung des Gastrechts, auf die Gemeinschaft zurückwirken.
Diese selbst greift aber nur ausnahmsweise ein. Denn jeder Ver-
band, der über die Sippe hinausgeht, bleibt höchst labil. Die
Einzelsippen schließen sich nach Gelegenheit anderweit an und
trennen sich vom bisherigen Stamm. Und der Unterschied zwi-
schen einem schwachen Stamm und einer zahlreichen Sippe ist
flüssig. Allerdings kann die politische Zusammenfassung eines
Stammes auch bei den Beduinen unter Umständen zu einem
relativ festen Gebilde werden. Dann nämlich, wenn es einem
charismatischenFürsten gelingt, sich und seinerSippe eine dauernde
^) »Ein Gemeinwesen ohne Obrigkeit«, Göttinger Kaiser-Geburtstagsrede
1900.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. I 5
militärische Herrenstellung zu schaffen. Das ist indessen nach
der Natur der Sache nur dann möglich, Wenn der Kriegsfürst
entweder aus den intensiv angebauten Oasen Bodenrenten und
Tribute oder aus den Zöllen und Geleitgeldem der Karawanen
feste Einnahmen erlangt hat, mittelst deren er eine persönliche
Gefolgschaft in seinen Felsenburgen unterhalten kann '). Sonst
sind alle Machtstellungen Einzelner sehr labil. Alle Notablen
haben letzlich nur »Pflichten« und werden nur durch soziale Ehre,
allenfalls durch einen gewissen Vorzug bei der Beurteilung, ent-
golten. Trotzdem kann die soziale Ungleichheit durch Besitz
und Erbcharisma unter den Sippen eine erhebliche sein. Anderer-
seits besteht aber die strenge Pflicht der brüderlichen Nothilfe,
zunächst innerhalb der Sippe, unter Umständen aber auch
innerhalb des Stammes. Der Nichtbruder dagegen ist recht-
los, wenn er nicht durch Speisegemeinschaft in den Schutzver-
band- aufgenommen ist. Die Weidegebiete, Welche die lockere
und labile Stammesgemeinschaft in Anspruch nimmt und schützt,
werden aus gegenseitiger Furcht vor Rache innegehalten, wechseln
aber je nach Machtlage, die namentlich im Kampf um das wich-
tigste Objekt: die Brunnen, zum Austrag kommt. Appropriiertes
Bodeneigentum gibt es nicht. Krieg und Raub, vor allem Straßen-
raub, den gelegentlich auszuüben als Ehrensache gilt, stempeln
den typischen beduinischen Ehrbegriff. Berühmte Abstammung,
eigene Tapferkeit, Freigebigkeit sind die drei Dinge, die am Mann
gerühmt werden. Rücksicht auf den Adel seiner Familie und die
soziale Ehre seines guten Namens galten dem vorislamischen Ara-
ber als die ausschlaggebenden Motive alles Handelns.
Oekonomisch gilt der heutige Beduine als phantasieloser
Traditionalist ^) und dabei als friedlichem Erwerb abgeneigt.
Das wird insofern nur bedingt generalisiert werden dürfen, als
hohe Zwischenhandels- und Geleitgelderverdienste die an die
Karawanenstraßen der Wüste angrenzenden Stämme zu Inter-
essenten an diesem Handel zu machen pflegten, wo immer er be-
stand. Die hohe Heiligkeit des Gastrechts beruht zum Teil auch
auf diesem Interesse am Wanderhandel. Wie auf dem Meere
^) So ma(ht ein Retenenuschech im Lande östlich von Byblos (dort scheint
nach den neueren Annahmen der Schauplatz zu suchen zu sein), der Gebiete mit
Wein-, Ool- und Feigenanbau beherrscht, den flüchtigen Aegypter Sinuhe zu
^seinem Beamten und belehnt ihn mit Land.
*) J. Hell, Beiträge zur Kunde des Orients V. S. i6i ff. (auch zum
Vorhergehenden).
l5 Das antike Judentum.
Seehandel und Piraterie, so gehörte in der Wüste Zwischenhandel
und Straßenraub zusammen, denn das Kamel ist das vorzüglichste
aller tierischen Transportmittel ^) . Der fremde Händler wurde
und wird beraubt, soweit nicht entweder eine fremde Macht die
Straßen durch Garnisonen militärisch deckt oder die Kaufleute
feste Schutzabkommen mit den die Straßen beherrschenden
Stämmen selbst besitzen.
Von eigentlichem Beduinenrecht zeigen nun die altisraeli-
tischen. Rechtssammlungen nichts und der Tradition ist der Be-
duine der Todfeind Israels. Ewige Fehde herrscht zwischen
Jahwe und Amalek. Der mit dem »Kainszeichen«, der Stam-.
mestätowierung, versehene Ahn des Keniterstammes, Kain, ist
als Mörder von Gott zur Unstetheit verflucht und nur die furcht-
bare Härte der Blutrache ist sein Privileg. Auch sonst fehlen
beduinische Anklänge in der israelitischen Sitte fast ganz. Nur
eine wichtige Spur ist da: das Bestreichen der Türpfosten mit
Blut, als Abwehr der Dämonen, ist in Arabien verbreitet. Auf
militärischem Gebiet könnte jene meist als rein utopisch-theo-
logische Konstruktion der Prophetenzeit gedeutete Vorschrift
des Deuteronomium : daß aus dem Heeresaufgebot alle die-
jenigen, welche sich zu »feig« fühlen, ausgeschieden oder heimge-
schickt werden sollen, Wohl mit der absoluten Freiwilligkeit der
Beteiligung an Beduinenkriegsfahrten in historische Verbindung
gebracht werden. Indessen ist dafür nicht eine Uebemahme von
den Beduinen, sondern es sind wohl Reminiszenzen an die den
später zu besprechenden Viehzüchterstämmen eigenen Gewohn-
heiten, die allerdings den beduinischen entsprechen, die Quelle. —
Am anderen Ende. der Skala stand und steht die Stadt
(gir). Wir müssen sie etwas näher zu analysieren suchen. Ihre
Vorläufer waren unzweifelhaft auch in Palästina einerseits Bur-
gen kriegerischer Häuptlinge für sich und ihre persönliche Ge-
folgschaft, andererseits Zufluchtsstätten für Vieh und Menschen
in bedrohten, besonders in den der Wüste benachbarten Gebieten.
Von beiden berichtet unsere Tradition nichts ausführliches 2).
1) »Ismaelitische«, also: beduiniscbe. Händler kaufenden Joseph seinen Brü-
dern^ ab. Gen. 37, 25. ■ -
2) Von zahlreichen Burgen des Königs Hiskia, die er gebrochen habe,
berichtet in seinen Inschriften Sanherib. Von Burgen Hiskias erzählt auch die
Chronislik, ebenso von zahlreichen Grenzburgen Rehabeams. Die Garnisonen
werden Burglehen gehabt haben. Von den Städten der Amarnabriefe -waren
ein Teil offensichtlich nur derartige Burgen. Burgen besaßen auch die charis-
matischen Häuptlinge, so David und in der Frühzeit Abimelech.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 17
Die Stadt, die sie kennt, konnte ökonomisch und politisch ange-
sehen, etwas sehr Verschiedenes darstellen. Entweder nur eine
kleine befestigte Ackerbürgergemeinde mit Markt. Dann war sie
nur graduell Vom Bauerndorf verschieden. Bei voller Entwick-
lung war sie dagegen in der ganzen orientalischen Antike nicht
nur Marktort, sondern vor allem Festung und als solche Sitz
des Wehr Verbandes, des Lokalgottes und seiner Priester und des
je nachdem monarchischen oder oligarchischen politischen Macht-
trägers. Dies entspricht ganz offenbar den Analogien der mittel-
ländischen Polis.
Die syrisch-palästinensischen Städte zeigen in der Tat in
ihrer politischen Verfassung ein Entwicklungsstadium, welches
der althellenischen »Geschlechterpolis« nahesteht. Schon in vor-
israelitischer Zeit waren die phönikischen Seestädte und die
Städte der Philister als Vollstädte organisiert. Für die Zeit
Thutmoses III. ergeben die ägyptischen Quellen das Bestehen
zahlreicher Stadtstaaten in Palästina, darunter bereits solcher,
die auch in der kanaanäischen Zeit Israels weiterbestanden (so:
Lakisch) ^), In der Tell-el-Amarna-Korrespondenz erscheint
unter Amenophis IV (Echnaton) neben den Vasallenkönigen
und Statthaltern des Pharao mit ihren Garnisonen, Magazinen
und Arsenalen in den größeren Städten, am deutlichsten in Tyros
und Byblos, eine stadtsässige Schicht, Welche das Stadthaus
(bitu) in der Gewalt hat und eine eigene der ägyptischen Herrschaft
oft feindliche Politik treibt ^). Sie muß offenbar, gleichviel
welches ihre sonstige Eigenart war, ein wehrhaftes Patriziat
dargestellt haben ^). Ihr Verhältnis zu den Vasallenfürsten und
1) Vgl. W. Max Müller Je\v. Quart. R. N. S. 4 (1913/4) S. 65.
2) Das bitu vonTyrus wird (Knudtzon Nr. 89) von dem bitu des vom Pharao
eingesetzten Regenten unterschieden. Der Pharao wird vom Briefschreiber
darauf aufmerksam gemacht, daß nicht der Regent, an den er sich immer« wende,
sondern jene Kreise, die das Stadthaus beherrschen, für die Politik von Tyros
maßgebend seien. D^r Regent wird später erschlagen.
3) Wenn (Knudtzon Nr. 129) »Große« einer Stadt erwähnt werden, so bleibt
es fraglich, ob Beamte oder patrizische Sippenälteste gemeint sind, aber jeden-
falls beeinflußt die stadtsässige Bevölkerung die Politik. Die Leute von Dunip
erbitten (Nr. 50) vom König einen bestimmten Mann als Stattlialter. Ihrem
Statthalter, einem Kanaanäer, sperrt, in Gemeinschaft mit dessen abtrünnigem
Bruder, die stadtsässige Bevölkerung von Byblos die Tore. Anderwärts macht
sie gemeinsame Sache mit den im Lande vordringenden Feinden: den Regenten
droht der Tod. Die Stadt geht verloren, wenn die ägyptische Garnison infolge
Ausbleibens der Lebensmitteldeputate oder Verweigerung der Fron auf den
Dienstlehen der Statthalter und Soldaten abzieht oder etwa ihrerseits revol-
tiert. So glaube ich die Nr. 117, 37, Nr. 138, Nr. 77, 36, Nr. 8t, 33, Nr. 74, Nr.
Max Weber, Religionssoziologie UL 2
lg Das antike Judentum.
Statthaltern des Pharao war offensichtlich schon ähnlich wie später
das der stadtsässigen israelitischen Sippen zu solchen Militärfürsten,
wie etwa Abimelech, Gideons Sohn, einer war. Und auch in einer
anderen Hinsicht sind offenbare Gleichheiten der vorisraelitischen
mit der israelitischen und sogar noch der spätjüdischen Zeit
festzustellen. Noch in den talmudischen Quellen werden mehrere
Kategorien von Ortschaften unterschieden, and zwar derart,
daß zu jeder befestigten Hauptstadt eine Anzahl Landstädte
und zu beiden wieder Dörfer als politische Dependenzen gehören.
Der gleiche oder ähnliche Zustand wird aber bereits in den
Amarnabriefen ^) und dann ebenso in dem aus der Königszeit
stammenden Josuabuch '^) (Jos. 15, 45 — 47; 17, 11; 13, 23. 28;
125 und öfter berührten Verhältnisse verstehen zu müssen, in teilweiser Abwei-
chung von O. Webers vortrefflichei Interpretation in Bd. II der von Knudtzon
besorgten Ausgabe. Daß es sich bei den wegen Lebensmittelmangel abziehenden
Leuten um »Bauern« handle, scheint mir ganz unwahrscheinlich. Zwar ist der
gebrauchte Ausdruck der gleiche, der in Mesopotamien den »Colonen« (im Gegen-
satz zum vollfreien Patrizier) bezeichnet. Aber die [laxtp-oi des Pharao waren
eben der Masse nach m.it sehr kleinen Lehen (»Infanteristenlehen«) beliehene
Leute und die »huubschtschi« der Urkunden sind doch wohl damit leiturgisch
bewidmete Militärpfründner, wie sie sich in Vorderasien und Aegypten
typisch finden. Das Feld, d. h. das Lehen, des Statthalters ist in Nr, 74 infolge
von Verweigerung der Fronden unbestellt geblieben und deshalb leidet er Not.
Ebenso geht es der Garnison und deshalb fällt sie ab. Die Garnisonen sind an
Zahl offenbar sehr klein: 50 und weniger Mann Besatzung fordern die Statt-
halter gelegentlich neu an. Klein sind die Verhältnisse überhaupt: ein' Rinder-
tribut des Fürsten von Megiddo beträgt 30 Stück. Unwahrscheinlich ist es, daß
unter den Leuten, welche (Nr. 118, 36) die Stadt den Feinden ausliefern, die Bauern
zu verstehen seien: wie sollten gerade sie das machen? stadtsässige Leute sind
es, die in Byblos und sonst den Abfall bewerkstelligen. Ich kann auch dariif
O. Weber (a. a. O. S. 11 78) nicht beitreten: daß in Tyros und anderen Städten
die Aristokratie ägyptisch, der Demos aber der ägyptischen Herrschaft feindlich
gewesen sei. Ein machtvoller Demos hat damals selbst in den größeren Städten
schwerlich bestanden. Es waren doch wohl die Patrizier, d. h. stadtsässige
am Handel beteiligte reiche Sippen, welchen die Leiturgien und Steuern der ägyp-
tischen Herrschaft lästig waren. Erhebliche Geldzahlungen kommen in den Ur-
kunden vor.
1) Knudtzon Nr. 290: eine Landstadt im Gebiet von Jerusalem ist abge-
fallen. Nr. 288 wird erwähnt, daß der Vizekönig von Jerusalem früher Schiffe
auf dem Meer gehalten habe. Auf welchem ? Meines Erachtens auf dem Schilf-
meer im Süden. (Der Abfall von Seir in Edom wird erwähnt.) Die Karawanen-
straßen nach dem Schilfmeer haben die Jerusalem beherrschenden Fürsten stets,
in die Hand zu bekommen versucht. Die Herrschaft der Stadt erstreckte sich
also weit in die Wüste.
2) Außer Jos. 15, 45—47 werden nur Dörfer (zerim), nicht außerdem noch
Städte, als Dependenzen von Städten aufgeführt. Indessen wo von »Töchtern«
die Rede ist, ist sicher eine Dependenzstadt gemeint, nicht ein Dorf. Vgl. über
den ganzen Sachverhalt Sulzberger, Polity of the ancient Hebrews, Jewish Quar-
terly Review N. Ser. (1912/13) p.17. Für die viehzüchtenden Ostjordanstämme
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. ig
Vgl. Jud. II, 27 und Num. 21, 25. 32) vorausgesetzt. Er hat also
offenbar während der ganzen Dauer der für uns überblickbaren
Geschichte überall da bestanden, wo die städtische Organisation
des Wehrverbandes politisch und ökonomisch zur Vollentwick-
lung gelangte. Die abhängigen Orte waren dann in der Lage
von Periökenortschaften, d. h. politisch rechtlos. Die Herren-
sippen waren oder galten als stadtsässig. In Jeremias Heimats-
ort Anathot gibt es »nur kleine Leute«, die kein Verständnis für
seine Prophetie haben (Jer. 5, 4), also geht er in die Stadt Jeru-
salem, wo die »Großen« sind, in der Hoffnung auf besseren Erfolg.
xMler politische Einfluß liegt in der Hand dieser Großen der
Hauptstadt. Daß unter Zedekia auf Nebukadnezars Befehl
zeitweise andere als sie die Gewalt, vor allem die Aemter, inne-
haben, gilt als eine Anomalie, deren Möglichkeit Jesaja als Straf-
gericht bei fortdauernder Verworfenheit der Großen, zugleich
aber als ein furchtbares Uebel für das Gemeinwesen in Aussicht
stellte. Aber die Leute von Anathot galten weder als Metöken,
noch als Sonderstand, sondern als Israeliten, die nur nicht zu
den »Großen« gehörten ^). Hier ist also der Typus der herrschen-
den Geschlechter-Polis ganz in frühantiker Art: mit politisch
rechtlosen, aber doch als Freie geltenden Periöken-Orten entwik-
kelt.
Die Bedeutung der Sippen-Organisation blieb auch in den
Städten grundlegend. Aber neben ihre ausschließliche Bedeutung
für die soziale Organisation bei den Beduinenstämmen tritt in
der Stadt die Beteiligung am Grundbesitz als Grundlage der
Rechte und überwiegt schließlich jene. Die Gliederung pflegte im
israelitischen Altertum ein"e solche nach Vaterhäusern (beth
aboth) : Hausgemeinschaften also, zu sein, welche als Unterteile
der Sippe (mischpacha) galten, die ihrerseits Teile des Stammes
(Kuben) ist cliarakteristisch, daß stets von »Geschlechtern, Städten und Töch-
tern« geredet wird. Hier war zur Zeit der Redaktion diese Organisation noch
nicht voll durchgeführt.
^) Es scheint mir die einzige Lücke in Eduard Meyers (sowohl in: »Die Is-
raeliten und ihre Nachbarstämme« wie in »Entstehung des Judentums«) vorzüg-
lichen Ausführungen, daß diese durch die ganze Frühantike bis zur »Demokratie«
sich hinziehende Scheidung nicht betont ist. Nicht alle freien Grundbesitzer
waren in den antiken Staaten, zumal den Stadtstaaten, Aktivbürger oder gar
politisch gleichberechtigt, sondern nur die ökonomisch voll wehrfähigen; das
waren in Israel die gibbore chail. Es gab in den vollentwickelten israelitischen
Stadtstaaten sicherlich auch freie israelitische Grundbesitzer, die zu diesen
nicht gehörten und daher wie die hellenischen Periöken und die römische
Plebs außerhalb des Vollbürgerschaft standen.
20 ^^s antike Judentum.
(schebat) waren. Aber, wie wir sahen: die Tradition des Josua-
buchs läßt den Stamm bereits in Städte und Dörfer, statt in Sip-
pen imd Familien, zerfallen. Ob jeder Israelit einer »Sippe«
angehörte, könnte nach anderen Analogien fraglich sein. Die
Quellen nehmen es an: jeder freie Israelit ist wehrfähig. Aber
innerhalb der Wehrfähigen entstand eine zunehmende Diffe-
renzierung. In der Tradition werden gelegentlich (in Gibeon
Jos. 10, 2) ausdrücklich alle Bürger (anaschim, anderwärts,
z. B Jos. 9, 3 josebim) einer Stadt mit den gibborim, den Krie-
gern. (Rittern) identifiziert. Aber das ist nicht die Regel.
Unter den gibborim werden vielmehr regelmäßig die bne chail,
die »Söhne von Besitz«, d. h. die Besitzer von Erbland verstan-
den und »gibbore chail« genannt, zum Unterschiede ^) Von den
gewöhnlichen Mannen ('am), deren militärisch ausgebildeter Teil
später (Jos. 8,11; 10,7; 2 Kön.25, 4) »Kriegsmannen« ('am hamil-
chamah) genannt wird. Ein gibbor chail heißt Boas im Ruth-
buche. Die für die Auf bringung des assyrischen Tributs von König
Menahem mit einer Zwangs umlage Von je '50 Sekel belegten
größten Besitzer werden ebenso genannt (2. Kön. 15, 20, die
von Ed. Meyer s. Z. mit Recht herangezogene wichtigste
Stelle), und ebenso werden zuweilen scheinbar ganz allgemein
alle Kriegsleute bezeichnet. Aber ein »ben chail« ist ebensowenig
wie im spanischen, wörtlich gleichbedeutenden Ausdruck, »Hi-
^) »*Am« und »gibborim« nebeneinander finden sich in der ziemlich verderb-
ten Stelle des Deboraliedes (Jud. 5, 13). Vv'enn man Kittel's Lesart annimmt
und am Schluß kaggibborim liest, wie Greßmann vorschlägt, ergibt sich ein klarer
Sinn, der aber voraussetzt, daß *am und gibborim zweierlei sind, letztere »Rit-
ter«, erstere die israelitischen Bauern (cf. dafür Vers ii und 14), die »wie Ritter*
gekämpft haben, aber es eben nicht sind. Dagegen scheint die Stadt Meros
(nach Vers 23) die Verpflichtung gehabt zu haben, dem Bunde mit Rittern
(gibborim) zu Hilfe zu kommen und es ist charakteristisch, daß das Siegeslied
zwar diese Stadt, aber nicht die doch ebenso wie sie bundesbrüchigen
bäuerlichsn Stämme verflucht und also des Banns und der Vernichtung im
heiligen Krieg für wert hält. Ganz regelmäßig ist gibbor, wie in Gen. 6 oder in
den Listen der Paladine Davids, der ritterliche Recke. Farblos ist der nament-
lich im Josuabuch, aber auch in den Königsbüchern heimische Ausdruck *am
hamilchamah, »Kriegsvolk«. Jos. 10, 7 wird es n e b e n »gibbore chail« gebraucht.
Als zweierlei dürften gibbor und 'am hamilchamah wohl Jes. 3, 3 nebeneinander
auftreten. Als die ansehe chail erscheinen aber die gibborim Jes. 6. 22, und daß
keineswegs alle Kriegsleute schon als solche gibborim sind, zeigt Jer, 5, 16, wo von
dem zur Strafe Judas herbeikommenden fremden kriegerischen Volk gesagt ist, sie
seien alle »gibborim«, d. h. in diesem Fall: trainierte Krieger. — Wie überaus
kostspielig die Rüstung eines gibbor in der Zeit der Entstehung des Samuel-
buchs war, zeigt die Goliath-Erzählung. Er bedarf eines Schildträgers, wie er
auch für Saul erwähnt wird.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 2 I
dalgo« jeder Besitzer von irgendwelchem Land. Sondern »bne
chail« sind die ökonomisch kra,ft- ihres ererbten Besitzes zur
vollwertigen Selbstequipierung fähigen, also die
ökonomisch voll wehrfähigen und wehrpflichtigen, deshalb
politisch vollberechtigten Sippen. Bei diesen Sippen war überall
und in allen Zeiten, wo kostspielige Bewaffnung und Ausbildung
militärisch ausschlaggebend war, die politische Macht ^).
Auch" wo, wie in der frühen Antike sehr oft, ein erbcharis-
matischer Stadtfürst (nasi) an der Spitze der Stadt stand, hatte
er die Gewalt als primus interpares mit den Aeltesten (sekenim)
dieser Sippen zu teilen. Außerdem aber mit den Familienhäup-
tern (roschi beth aboth) seiner eigenen Sippe. Die Macht dieser
konnte so groß und zugleich das Uebergewicht der Fürstensippe
über alle anderen Sippen der Stadt und deren Aelteste so bedeu-
tend sein, daß die Stadt als eine Oligarchie der Familienhäupter
der Fürstensippe erschien, wie wir dies in der israelitischen Ge-
schichte sehr regelmäßig finden. Die Verhältnisse waren aber
wohl verschieden. Sichern wird in den Genesiserzählungen durch
eine reiche Sippe, die bne Chamor, beherrscht, deren Haupt den
Titel Nasi (Fürst) führt und »Vater Sichems« heißt (Jud. 8, 28).
Für wichtige Angelegenheiten, z. B. für die Aufnahme Fremder
in den Bürger- und Bodenrechtsverband bedarf dieses Stadt-
haupt der Zustimmung der »Mannen« (anaschim) Sichems.
Neben diese alte Herrensippe trat nach dem Midianiterkrieg
als übermächtige Konkurrentin die Sippe Gideons, welche dann
in der Revolte gegen Abimelech wieder durch die Sippe Chamors
verdrängt Wurde. Die Sippen waren, wie in frühhellenischer
Zeit, oft interlokal angesessen: zuweilen hatte eine Sippe die
Vormacht in mehreren, namentlich kleineren Städten. So hatte
in Gilead die Sippe Jairs die Macht über eine ganze Gruppe
von Zeltdörfern, die später gelegentlich auch »Städte« genannt
werden. Die reale Macht lag in aller Regel in den Händen der
»Aeltesten« (sekenim). Diese erscheinen in allen denjenigen
Teilen der Ueberlieferung, welche auf dem Boden der Stadtver-
fassung stehen, also vor allem im deuteronomischen Gesetz,
als eine »im Tor«, d. li. auf dem Marktplatz am Tor der Stadt
sitzende, Gericht haltende und die Verwaltung regelnde ständige
Behörde, die Sikne ha gir, deren Existenz im Josuabuch fürkanaa-
^) Daü die »40 000« in Israel (Jud. 5, 8) als gibbore chail gegolten hätten,
wie Ed. Meyer annimmt, erscheint ausgeschlossen. Im Deboralied werden
gibborim gerade dort nicht, sondern bei der .Stadt Meros erwähnt.
22 I^iis antike Judentum.
näische ebenso wie israelitische Städte vorausgesetzt wird. Für
die Stadt Jesreel werden neben den Aeltesten »Edle« (chorim)
erwähnt. Anderwärts tauchen neben den Aeltesten die Häupter
der Vaterhäuser (roschi beth aboth) auf, die man auch in der
Spätzeit (Esra) als Repräsentanten der Städte neben den sekenim
und den, damals offenbar mit diesen identischen, anders bezeich-
neten Stadtvorstehern findet. Im ersten Fall scheint es sich also
um einen charismatischen Dauervorzug eines oder mehrerer
Geschlechter zu handeln, welche die Stadtmagistratur stellen,
im letzteren um die Familienhäupter aller wehrhaften Sippen
der Stadt. Auch in den älteren Traditionen finden" sich solche
Unterschiede. Inwieweit diesen terminologischen Verschieden-
heiten wirklich verschiedene politische Organisationen entspra-
chen, ist aber nicht überliefert und nicht ersichtlich. Die charis-
matische Honoratiorenstellung einer Sippe hing natürlich vor
allem von ihrer militärischen Macht und, was damit zusammen-
hing, von ihrem Reichtum ab. Die Stellung dieser grundgesesse-
nen städtischen Sippen entsprach wohl etwa derjenigen Oligarchie,
welche aus der Darstellung Snouck Hurgronjes für Mekka be-
kannt ist. Die gibbore chail, die besitzenden Kriegshelden, entspre-
chen den römischen »adsidui«. Auch die philistäische Ritterschaft
bestand aus trainierten Kriegern. Ein »Krieger von Jugend auf«
wird Goliath genannt: das setzt Besitz voraus. Die altisraeliti-
schen politischen Machthaber der bergsässigen Stämme werden
dagegen gelegentlich »Stabträger« genannt, wie die homerischen
Fürsten auch.
Beim Vergleich der israelitischen mit den vorisraelitischen
und mit den mesopotamischen Verhältnissen fällt auf: daß an
Stelle des einen Stadtkönigs der Amarnazeit und noch der späten
Ramessidenepoche und des einen Ortsältesten der babylonischen
Urkunden in Israel niemals nur ein Aeltester, sondern stets
deren mehrere genannt werden ^) : ein ebenso sicheres Zeichen
der Geschlechterherrschaft wie die Mehrheit der Suffeten und der
Konsuln.
Anders gestaltete sich die Lage, wenn em charismatischer
1) Der Gegensatz ist nicht absolut. Im babylonischen Sintflutmythos
werden Volk und »Ael teste« einer Stadt vorausgesetzt (Uebersetzung bei Gunkel,
Schöpfung und Chaos S. 424 Zeile 33) und andererseits heißt Chamor der :> Vater«
Sichems, freilich wohl nur als Geschlechtseponymcs. Ein einzelner Aeltester
schon in den alten Texten aus Ur: N. d. Genouillac, Textes jurid. d. l'ep. d'Ur.
Rev. d'Assjrr. 8 (191 1) p. 2.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 23
Kriegsfüist durch Werbung einer persönlichen Gefolgschaft
oder einer besoldeten, oft fremdbürtigen, jedenfalls nur von ihm
abhängigen Leibgarde, durch Rekrutierung ihm persönlich er-
gebener Beamter (sarim) aus jenen Gefolgsleuten oder auch aus
Sklaven, Freigelassenen, politisch rechtlosen Unterklassen, es
dahin brachte, sich als Stadtherr von der Aristokratie der Aelte-
sten unabhängig zu machen. Stützte er seine Herrschaft gänz-
lich auf diese Machtquellen, so entstand jene Form des Fürsten-
tums, welche die königsfeindliche Auffassung später mit dem Be-
griff »Königtum« verband. Der alte legitime erbcharismatische
»Fürst« war für sie ein Mann, derauf dem Esel reitet: auf diesem
Reittier der vorsalomonischen Zeit soll nach ihrer Ansicht daher
auch der messianische Fürst der Zukunft dereinst wiederkommen.
Ein »König« dagegen ist ihr ein Mann, der Rosse und Kriegswagen
hält nach Art des Pharao. Mit seinem Hort, seinen Magazinen,
seinen Eunuchen und vor allem mit der in seiner Menage befind-
lichen Garde beherrscht er von seinen Burgen aus die Stadt
und die abhängige Landschaft, setzt seine Vögte über sie, gibt
seinen Gefolgsleuten, Offizieren und Beamten Lehen, vor allem
wohl Burglehen — wie sie vermutlich die »Leute von der Burg
(mill ))« in Sichem hatten (Jud. 9, 6. 20), legt Fronden auf und
erweitert dadurch den Ertrag seines eigenen Grundbesitzes.
In Sichem hat König Abimelech seinen Burgvogt sitzen (Jud. 9,
26 — 30), dem die alte erbcharismatische Autorität der bne Chamor
hat weichen müssen. Die altisraelitische Tradition sieht solche
persönliche Militärherrschaft eines Einzelnen als »Tyrannis« an.
Das Gleichnis von der Herrschaft des Dornbuschs und der
Fluch : daß Feuer vom König Abimelech auf die Patrizier von
Sichem und ebenso von diesen auf jenen ausgehen möge, kenn-
zeichnet den Gegensatz zwischen charismatischer Tyrannis und
erbcharismatischem Patriziat. Der »Tyrann« stützt sich eben,
wie in Athen Peisistratos, auf geworbene »arme Leute« (rekim)
und das sind »Taugenichtse« (phichasim« Jud. 9, 4) : — wir werden
von ihrer sozialen Herkunft noch zu sprechen haben. Der Ueber-
gang zwischen Fürstentum und Stadtkönigtum war aber in
Wahrheit natürlich durchaus flüssig. Denn in der ganzen israe-
litischen Antike blieben die großen grundsässigen Sippen und ihre
Aeltesten in aller Regel ein auch Von dem mächtigsten König
auf die Dauer nicht zu ignorierendes Element. Wie es für die
ältere Zeit die seltene Ausnahme ist, wenn von einem »Huren-
2A Das antike Judentum.
söhn«, also einem P^mporkömmling (Jephta) als charismatischem
Führer berichtet wird, so in der Königszeit bei den Beamten der
Könige. Im Nordreiche finden sich freilich mehrere Könige ohne
Vatersnamen, also ohne Abkunft aus vollwertiger Sippe; Omri
trägt überhaupt keinen israelitischen Namen. Das priester-
liche Königsrecht im Deuteronomium hält es daher für nötig,
israelitische Blutsreinheit als Vorbedingung der Königswürde
einzuschärfen. Ueberall aber hat der König mit den gibbore chail,
den voll wehrfähigen Grundbesitzern und den Honoratioren-
Vertretern: den Sekenim der großen Sippen, zu rechnen, welche
für die Redaktoren der echten politischen Tradition auch im
Deuteronomium (Deut. Kap. 21, 22, 25 im Gegensatz zu den
theologisch beeinflußten Stellen 16, 18 und 17, 8. 9) die allein
legitimen Vertreter des Volkes sind. Die Machtlage schwankte.
Ein König kann es unter Umständen wagen, im Notfall die gibbore
chail zu besteuern, wie Menahem für den assyrischen Tribut tat.
Und es ist allerdings auch zu beobachten^), daß, im Gegensatz zu
allen anderen Epochen, die Stadtältesten in der Zeit zwischen Sa-
lomo undjosia in den Quellen stärker zurücktreten; ja es ist mög-
lich, daß sie in ihrer richterlichen Stellung wenigstens in denResiden-
zen, die ja königliche Festungen waren, ganz durch die Vögte
und Beamten der Könige verdrängt wurden und nur in den Land-
gebieten ihre alte Stellung behielten, Wie dies in fast allen Monar-
chien Asiens der Fall war. Allein sobald die Machtstellung des
Königtums (z. B. infolge einer Revolution, wie unter Jehu)
sank, vollends aber nach dem gänzlichen Wegfall des Königs-
tums in nachexilischer Zeit, treten alsbald die Aeltesten in- den
Städten wieder in der alten Machtstellung auf. Was aber noch
wichtiger war: nur ganz ausnahmsweise spielten Königssklaven
und Eunuchen in der Wahrnehmung amtlicher Funktionen eine
Rolle. Fremdbürtige oder aus niedrigem Stand emporgestiegene
Gefolgsleute, Offiziere und Beamte finden sich allerdings. Am
meisten in den Anfängen des Aufstiegs eines neuen Fürsten.
Vielleicht von der Zeit Davids and Salomos abgesehen, sind aber
in normalen Zeiten die wichtigen Aemter wenigstens im judäi-
schen Stadtkönigtum ganz überwiegend in den Händen alter
einheimischer reicher Geschlechter. Einem solchen gehörte z. B.
^) Hierüber und über die Aeltesten überhaupt die gute Leipziger Disser-
tation von Seesemann, Die Aeltesten im A. T. (189 1). Auf den Gegensatz
innerhalb des Deuteronomium hat zuerst Puukko in der später zu zitierenden
Schrift über dies Rechtsbuch S. 237 hingewiesen.
I, Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 2K
auch Davids Feldhauptmann Joab an, und die Ueberlieferung (2.
Sam. 3, 39) läßt erkennen, daß gegenüber seiner mächtigen Sippe
König David nicht in der Lage war, eine Bestrafung gegen ihn
zu wagen und deshalb seine Rache auf dem Totenbett Salomo an-
empfahl. Der Haß der vornehmen Geschlechter Jerusalems spricht
aus dem Orakel Jesaias (22, 15) gegen den landfremden Haus-
meier Sebea Normalerweise hat kein König gegen den Willen der
Geschlechter dauernd regieren können. Die »Sarim von Jeru-
salem« und »von Juda«, von denen Jeremia (34, 19) spricht, gelten
ihm zugleich, wie der Zusammenhang ergibt, als Vertreter der
reichsten Familien des Landes.
Wenn so die vollentwickelte altisraelitische Stadt ein Verband
der ökonomisch Wehrfähigen erbcharismatischen Sippen war,
ganz ebenso wie die frühhellenische und die frühmittelalterliche,
so war dieser Verband auch hier ebenso wie dort labil in seiner
Zusammensetzung. Sippen wurden in der vorköniglichen Zeit
neu zu vollem Recht in die Stadt aufgenommen (Jud. 9, 26),
andere ausgetrieben, Blutrache und Fehden zwischen den Stadt-
sippen und Bündnisse einzelner von ihnen nach außen waren offen-
bar nichts Seltenes. Die Einzelsippe gewährte auch hier Fremden
ein, freilich nach der Tradition oft prekäres, Gastrecht.
Politisch entspricht dieser Zustand etwa dem, was für die
hellenische Geschlechterstadt und für Rom in der Zeil der Auf-
nahme der gens Claudia in den Bürgerverband gegolten haben
muß. Nur war der Zusammenhalt eher noch lockerer. Ein förm-
licher Synoikismos ist erst die Stadtgründung Esras und Nehe-
mias mit ihrer festen Verteilung der Leiturgien auf die zur Eiri-
siedelung in die Stadt sich verpflichtenden Sippen. Wie dagegen
die städtischen Lasten, auch die Heereslast, der Frühzeit verteilt
waren, wissen wir nicht. Im Verhältnis zu den umfassenderen
politischen Verbänden: Stamm, Bund, War die Stadt offenbar
einem Aufgebotskontingent — wie es scheint einem Vielfachen
der taktischen Einheit von 50 Mann ^), oft einer Tausendschaft
— gleichgesetzt ^) . Ueber die sonstigen Beziehungen zwischen
Stammverband und Stadt lassen uns die Quellen völlig im Dun-
keln ^). Der »Stamm« war hier Vermutlich eine Angelegenheit
^) »Füntzigern« gleich vlVJustcrn« Exod. 13, iS; Jud. 7, ii; JOb.
I, 14; 4, 12 (vgl. Ed. Meyer a a. O.)
2) Tausendschaften Orten gleichgesetzt: Jud. 6 (für Ophra).
') Ueber schebatim, mischpachoth und alapl im s. Sulzbergcr, The polity
of the ancient Hebrews, Jewish Q. R. N. S. 3 (1912/3) p. i f. mitmancben anfecht-
baren Aufstellungen.
2(3 Das antike Judentum.
jener ökonomisch wehrhaften Sippen, die ihm traditionell ange-
hörten. Die vollfreien Plebejer dagegen gehörten wohl lediglich
dem Ort ihrer Ansiedelung an: darauf läßt die formelle Behand-
lung der plebs beim Synoikismos nach dem Exil schließen. Die
Wandlung der Militärtechnik muß da mitgesprochen haben.
Jedenfalls beruhte in den philistäischen und kanaanäischen
Stadtverbänden auf dem Aufgebot der eisernen Kriegswagen
der Rittersippen die militärische und politische Herrschaft des
Patriziats über das umliegende Land und seine Bewohner und
ebenso zweifellos in den israelitischen Städten.
Nicht nur politisch, sondern, wie in der althellenischen und
altitalischen Polis, auch ökonomisch beherrschten die stadtsässi-
gen Patriziersippen das flache Land. Sie lebten von den Renten
ihres ländlichen Grundbesitzes, den sie durch fronende oder
zinsende Sklaven oder Hörige oder durch Colonen (Natural-
oder Teilpächter), die in typisch-antiker Art besonders stark aus
Schuldsklaven rekrutiert waren, bewirtschafteten und
durch Bewucherung der freien Bauern ständig vermehrten. Die
antike Klassenschichtung: der stadtsässige Patriziat als Gläu-
biger, die Bauern draußen als Schuldner, bestand also auch in den
israelitischen Städten. Die .Mittel zur Bewucherung des platten
Landes bezogen die stadtsässigen Sippen auch dort teilweise
zweifellos durch direkte oder indirekte Einkünfte aus Handels-
gewinsten. Denn Palästina War in geschichtlicher Zeit, soweit
wir zurückblicken können, ein Durchgangsland für den Handel
zwischen Aegypten, den Orontes- und Euphratgebieten, dem
Roten und dem Mittelmeer. Im Deboralied tritt die Bedeutung
der Karawanenstraßen für die Wirtschaft stark hervor: daß sie
still Hegen und die Reisenden auf krummen Pfaden schleichen
müssen, wird als Folge des Konflikts zwischen dem kanaanäischen
Patriziat und der Eidgenossenschaft ebenso stark hervorgehoben
wie das Feiern der Bauern auf dem Felde. Sehr wesentlich
um die Herrschaft über diese Straßen handelte es sich auch bei
den Versuchen der Städte, das Bergland zu unterwerfen, und sicher
sehr wesentlich auch um der Vorteile willen, die dieser Handel
bot, und nicht nur wegen der Teilnahme an der politischen Herren-
stellung, wurde die Stadtsässigkeit hier wie in der ganzen Früh-
antike von den mächtigen Sippen gesucht. Entweder sie selbst be-
teiligten sich sei es am Platzhandel oder, an der Küste, am See-
handel oder, im Binnenland, am Karawanenhandel, namentlich
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 27
wohl in der Form der Kommenda oder ähnlicher Rechtsformen
von Kapitalvorschüssen, v^^ie sie das in Israel genau bekannte
altbabylonische Recht darbot. Oder sie hatten Stapel- und Um-
schlags- oder Geleitrechte oder erhoben Abgaben. Wir wissen
das nicht näher. Jedenfalls aber lieferten diese Einkünfte wohl
wesentliche Teile der Mittel sowohl zur Landakkumulation und
persönlichen Schuldversklavung der bewucherten Bauern als
zur eigenen militärischen Equipierung und Ausbildung. Das
alles sind die typischen Erscheinungen der frühantiken Polis.
Für sie blieb hier wie überall entscheidend, daß sie Trägerin
der damals höchstentwickelten militärischen Technik war. Denn
der stadtsässige Patriziat war in Palästina Träger des von der
Mitte des 2. Jahrtausends an sich über die ganze Erde, von China
bis Irland verbreitenden ritterlichen Wagenkampfs, dessen Kosten,
bei Selbstequipierung, nur die vermögendsten Sippen aus eigenen
Mitteln ökonomisch gewachsen waren. Dem was wir von der
Polis der Mittelmeergebiete kennen, entspricht es denn auch,
daß die Bauern des besten, des r e n t e n fähigen Bodens, es
vornehmlich waren, deren Landbesitz dem Akkumulationsstreben
in patrizischen Händen am meisten ausgesetzt und militärisch
am wenigsten zum Widerstand in der Lage war. Wie in Attika
die fruchtbare Pedia der Sitz der patrizischen Grundherrschaften
war, so auch in Palästina die Ebenen. Und wie in Attika die
Diakrioi an den militärisch für die Ritterschaft am schwersten
zugänglichen Berghängen, auf dem rente losen Boden, sitzen,
so auch in Israel die freien Bauern und Hirtensippen, die auch
ihrerseits abgabepflichtig zu machen der Stadtpatriziat mit
wechselndem Erfolge versucht. —
Von diesen freien in der Frühzeit Israels offenbar zum größten
Teil außerhalb aller städtischen Verbände lebenden Bauern
und ihrer sozialen und politischen Organisation erfahren wir nun
in den Quellen gar nichts. Diese Erscheinung ist an sich typisch.
Ebenso wie man infolge des Fehlens ausführlichen Quellenmate-
rials über die freien Bauern für die römische Frühzeit geglaubt
hat, es habe außer den Patriziern nur Klienten und für die römi-
sche Spätzeit, es habe nur Großgrundbesitzer und Sklaven,
für Aegypten, es habe nur Beamte und unfreie Arbeiter oder
Bauern auf Königsland gegeben, und wie man für Sparta unwill-
kürlich mit der Vorstellung belastet ist, als habe es nur Spartiaten
und Heloten gegeben, so stehen die freien Bauern des alten Israels
28 Das antike Judentum.
im tiefen Schatten des Schweigens der Quellen, aus denen eigent-
lich fast nichts als eben ihre Existenz und ursprüngliche Macht-
stellung zu entnehmen ist. Diese ist freilich aus dem Deboralied,
welches den siegreichen Kampf des israelitischen Bauernstandes
unter Debora und Barak gegen den kanaanäischen Städtebund
unter Siseras Führung besingt, ganz unzweifelhaft ersichtlich.
Ihre Lebensverhältnisse aber sind sehr dunkel.
Ganz unbekannt ist vor allem die Art ihrer politischen Or-
ganisation. Die untereinander verschiedenen alten Bezeichnun-
gen für ihre Führer, z. B. im Deboralied, sagen uns über die innere
Struktur der politischen Verbände nichts. Ebenso nicht über Art
und Maß der sozialen Differenzierung, welche offenbar auch unter
den Bauern des Gebirges bestand. Die militärische Gliederung nach
Tausendschaften scheint schon bei ihnen heimisch gewesen zu
sein^) — die runde Zahl von 40000 Waffenfähigen im ganzen Israel,
welche im Deboralied genannt wird, legt das nahe. Aber alles weitere
ist unbekannt. Ebenso steht es mit den ökonomischen Verhält-
nissen. Von Feldgemeinschaft finden sich sichere Spuren nicht.
Man hat einige Stellen darauf gedeutet und zumVergleich die heuti-
gen Verhältnisse herangezogen, wo die vermutlich aus Abgabepäch-
tern hervorgegangenen Grundherren in einigen Gebieten Palästinas
gelegentlich Landzuteilungen vornehmen. Allein dies sind pol-
tisch bedingte Verhältnisse orientalischer Sultansherrschaft,
die nichts für die bäuerliche Frühzeit Israels ergeben. Wenn von
Jeremia berichtet wird, daß er sich auf das Land begeben habe,
um seinen Anteil unter seinen »Leuten« ('am) zu empfangen
(Jer. 37, 12), so ist diese allein wichtige, aber in ihrer Deutung
unsichere, von den dafür angeführten Stellen wohl dahin zu ver-
stehen: daß die großen Sippen unter Umständen über Landbe-
sitz verfügten, sei es über dauernd gemeinsamen Sippenbesitz,
der periodisch umgeteilt wurde, sei es über erbloses Land eines
Genossen. Jedenfalls war Jeremia kein »Bauer«. Die Stelle bei
Micha (2, 5), welche den Anteil der Frauen in der Gemeinde
(Rahel) als chelob bezeichnet, zeigt nur, daß die Anteile erst bei
*) Die »Tausendschaften« scheinen auch bei den Edomitern und im Ost-
jordanland heimisch zu sein. Gideon spricht von seiner »Tausendschaft«, dagegen
Abimelech und Sau! von ihrer Mischpacha (Ed. Meyer), Allein die Gideon-Tra^
dition ist notorisch stark überarbeitet und die Militärverfassung des charisma-
tischen Königreichs der Edomiter würde nichts Sicheres für die ursprünglich
charakteristische Organisation der Nomaden und Halbnomaden beweisen. Ed.
Meyer selbst bringt ja die Tausendschaft mit dem Kleros (chelek) in Verbindung,
welcher der Stadtsässigkeit eigen ist.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 2Q
der Siedelung mit dem Strick zugemessen wurden, beweist aber
nichts für periodische Umteilungen. Ob das »Sabbatjahr<<
irgendwie mit einer feldgemeinschaftlichen Vergangenheit zu-
sammenhängen könnte, ist später zu erörtern, bleibt aber, wie
vorweg bemerkt sei, mehr als fraglich. Im übrigen läßt sich
die Lage der freien Bauern nur indirekt erschließen. Daß der
altisraelitische Bund in stärkstem Maße gerade ein Bauernbund
war, zeigt das Deboralied, welches die Bauern den kanaanäischen
Rittern des Städtebundes entgegenstellt und rühmt, daß sie »wie
gibborim« gekämpft haben. Daß der Bund in historischer Zeit
niemals nur Bauernbund war, steht ebenfalls fest. In den Heeren
der späteren Königszeit ist von »Bauern« keine Rede mehr oder
mindestens sind diese nicht Träger der Wehrkraft. Schon die
Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß ökonomische und mili-
tärtechnische Verschiebungen hier die gleiche Rolle gespielt
haben wie überall sonst. Der Uebergang zur kostspieligeren Rü-
stung schaltet, bei Geltung des Prinzips der Selbstequipierung
des Heeres, die ökonomisch dazu nicht fähigen kleineren Grund-
besitzer überall aus dem voll wehrfähigen Heeresverbande aus,
zumal ihre ökonomische »Unabkömmlichkeit« schon an sich
wesentlich geringer ist als die der Grundherrn, die von Renten
leben. Die Heraushebung der gibbore chail aus der Masse der
freien Krieger, der 'am, beruht zweifellos auf diesem Umstand,
und es ist anzunehmen, wenn auch im einzelnen nicht greifbar,
daß der Bruchteil, welchen die Schicht der ökonomisch wehr-
fähigen und deshalb politisch vollberechtigten Krieger in Israel
bildete, sich mit zunehmender Kostspieligkeit der Rüstung zu-
nehmend verminderte. In der nachexilisch redigierten Chronistik
werden zwar die gibborim und bne Chail gelegentlich mit allen
Männern identifiziert, welche »Schild und Schwert führen«
und »den Bogen spannen« ^), oder auch einfach mit »Bogenschüt-
zen« 2). Allein die Chronistik ist (in politischer Hinsicht) für die
fromme Plebs eingenommen und deutet ihr Material entsprechend.
Nach der älteren Ueberlieferung führten die gibborim als Waffe
die Lanze, waren (vor allem) gepanzert und offenbar W^agen-
kämpfer, im Gegensatz zu dem bäuerlichen Fußvolk, dessen
Bewaffung zwar, nach dem Deboralied (Jud. 5, 8), ebenfalls aus
Schild und Lanze, zuweilen aber nur aus Schleudern bestand,
^) bo für die ostjordanisclien damals längst verschwundenen Stämme
I. Chron. 6, 18.
*) So für Benjamin i. Chron. 9, 40.
5Q Das antike Judentum,
sicher aber stets Wesentlich leichter war und dem namentlich der
Panzer fehlte ^) . Die Krieger des (damals) bäuerlichen Stammes
der Benjaminiten werden im Richterbuch »Schwertträger« genannt
(20, 35). Neben die Kosten der ritterlichen Rüstung trat aber
bei dem Vollkrieger die Notwendigkeit, für die Zwecke der krie-
gerischen Einschulung ökonomisch abkömmlich zu sein. Im
Occident haben diese Umstände zu einer entsprechenden Stände-
bildung geführt. In Israel ist die Entwicklung endgültig in eine
ähnliche Bahn geraten, nachdem die großen kanaanäischen
Städte der Eidgenossenschaft eingegliedert waren. Zwar von ei-
nem wirklichen weltlichen Adel als besonderem Stande ist zu
keiner Zeit in den Quellen die Rede. Die vollberechtigten Sip-
pen standen einander gleich: der König konnte offenbar jede
freie Israelitin heiraten. Allein nicht alle freien Sippen sind politisch
gleichgestellt. Denn natürlich bestanden durch die ökonomische
Wehrfähigkeit, welche Vorbedingung aller politischen Rechte war,
und durch die auf Erbcharisma einzelner gaufürstlicher Sippen ru-
henden politischen und sozialen Vormachtstellungen starke
Uriterschiede. Die Bedeutung einer Sippe in der vorköniglichen
Zeit bezeichnet die Tradition stets durch die Anzahl der auf
Eseln reitenden Angehörigen, die sie zählt. Für die Zeit des zwei-
ten Königsbuchs ist die Verwendung des Ausdrucks *am haarez
für die außer den Königen, Priestern und Beamten vorhandenen
politisch ins Gewicht fallenden Leute typisch. Gelegentlich be-
deutet der Ausdruck einfach »das Volk des ganzen Landes«,
nicht das »Landvolk« allein. Aber in manchen Stellen steht es offen-
bar anders ^). Es handelt sich um Leute, von denen eine Anzahl
^) David ist des Panzers ungewohnt, dagegen Goliath ein gepanzerter Ritter.
2) Im Gegensatz zu Klamroth's (Die jüdischen Exulanten in Babylonien,
Beitr. z. W. v. A. T. 10, 1912, Exkurs S. 99 f.) Annahme kann ich nicht glauben,
daß 'am haarez ursprünglich nur entweder den »Ortsangesessenen« oder den
»Untertanen«, und zwar teils P'm verächtlichem Sinn«, teils jedenfalls im Ge-
gensatz gegen König, Hierarchie und Aristokratie bezeichnet habe, also: den
»Pöbel«. Richtig ist, daß außer den Priestern der König (und die Fürsten) und die
Beamten und Offiziere von ihnen unterschieden werden. Sie sind die »Mannen«,
und zwar die landgesesaenen, ursprünglich wehrhaften Mannen. Aber zu ihnen
werden offenbar vor allem auch die landsässigen Vollsippen gezählt, der »Land*
adel« also, wenn man den Ausdruck verwenden will. Denn das — und nicht
beliebige führerlose »Bauern« — sind die Leute, die (Esra 4,4) den Bau in Jeru-
salem hindern und die Esra 3, 3 als 'amme haarezoth, als Mannen der verschie-
denen Landgebiete, erwähnt werden. Die vorexilische und exilische Bedeutung
ist allerdings bei der ungenauen Ausdrucksweise der Quellen nicht leicht
sicher festzustellen. Im Munde des Pharao in dem vermutlich spätem Zusatz
zur j ab wis tischen' Darstellung des Auszugs aus Aegypten (Ex. 5, 5) heißt der Aus-
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. ^i
(anscheinend aber nicht viele) damals durch einen besonderen
königlichen Offizier militärisch ausgebildet werden : Nebukadnezar
findet 60 solche in Jerusalem und führt sie mit fort. Sie sind
Gegner der späteren Propheten, Gegner der von Jeremia empfohle-
nen Unterwerfung unter Babel und später Gegner der zurück-
kehrenden Exulantengemeinde Jerusalems. Ganz ebenso em-
pören sich die »bne chail« und deren Führer, diesarehachailim
(2. Kön. 25, 23) gegen den der Prophetenpartei entnommenen
Statthalter Nebukadnezars, Gedalja, und erschlagen ihn. Mit den
in Jerusalem zurückgelassenen einfachen »Ackersleuten« (2. Kön.
25, 12) sind die fortgeführten 'am haarez (das. V. 19) nicht
identisch. Sie dürften vielmehr zur Partei jener sare ha chailim
gehört haben. Wo der Ausdruck »Plebs« bedeuten soll, wird
dies durch einen besonderen Zusatz kenntlich gemacht (2. Kön. 24,
14). Es steht, angesichts jener Nachricht von der militärischen
Ausbildung von 'am haarez, zur Wahl: anzunehmen, daß der
König damals zwargsweise aus der politisch rechtlosen Flebs Leute
aushob und drillen ließ, daß also diese plebejische Schicht mit
jenem Namen bezeichnet wurde. Aber ihre Beteiligung an Königs-
druck einiact): »das Volk« (Israel). Sonst ist in der älteren Literatur der Sitz
des Ausdruckes teils das 2. Königsbuchs, teils Jeremia und Hesekiel. Bei diesen
beiden Propheten ist die Stellung zum 'am haarez ausgeprägt unfreundlich.
Eine eherne Mauer soll Jeremia (i, i8) gegen König, Beamte, Priester und 'am
haarez sein wenn sie gegen ihn sich wenden sollten, lautet die Zusage Jahwes
bei seiner Berufung. Bei Hesekiel (22, 29) schindet der *am haarez den »Armen«
(ebjon) und den ger; er wird also als ein- Mann von sozialer Macht vorgestellt.
2. Kön. 25, 19 wird ein Offizier Zedekias erwähnt, der 'am haarez zu drillen
hat und 60 von diesen finden die Babylonier in der Stadt und führen sie mit nach
Babylon ab Unmittelbar vorher, bei der Belagerung Jerusalems, heißt es
(2. Kön. 25, 3), daß der 'am haarez nichts mehr zu essen gehabt habe
— wie von der Garnison der Amarnabriefe — und anschließend daran (25, 20), daß
die 'am hamilchamah, die Kriegsleute, aus der Stadt geflohen seien. Man fühlt
sich versucht, in den 'am haarez die vom Lande her ausgehobene und ausge-
bildete freie Kriegsmannschaft gegenüber den in königlicher Menage befindlichen
Kriegsleuten (Söldnern vor allem) zu finden. Dies bleibt freilich unsicher. Aber an
der berith unter Zedekia wegen Freilassung der Schuldsklaven war nach dem Be-
richt Jer. 34 19 neben Fürsten, Beamten, Priestern auch »der ganze 'am haarez«
beteiligt, es scheint also doch unter ihnen Schuldsklavenhalter gegeben zu haben,
wie die Hesekiel-Stelle nahelegt. »Der ganze 'am haarez« jubelt dem König Joas
zu (2. Kön. II, 14), bricht die Baal- Altäre ab, der 'am haarez erschlägt Amons
Mörder (des. 21, 24) und setzt nach Josias Tod den Joahas zum König ein (23, 30).
Die Sühnopferordnung ordnet nacheinander das Sühnopfer für die ganze Ge-
meinde, einen Fürsten, endlich einen 'am haarez (Lev. 4, 27). Mithin ist der
Sprachgebrauch zweifellos sehr unp äzis. Oft wird es in der Tat nur »Volk« heißen
sollen. Aber keinesfalls ist 'am haarez ursprünglich der »Untertan« oder der
Pöbel im Gegensatz zum Vornehmen oder gar der »törichte Bauer«. Die un-
wissenden Bauern heißen bei Jeremia (5, 4) dallini und bei Jesaja (2,9) heißt der
■2 2 Das antike Judentum.
akklamationen und Contrerevolutionen spricht nicht dafür.
Sondern man wird in ihnen dem Schwerpunkt nach die nationale,
aber den damahgen jahw istischen Puritanern, den Gegnern der
ländlichen Kulte, feindliche »Squirearchie« mit ihrem bäuerlichen
Anhang zu sehen haben, als welche sie nach dem Exil auftreten.
Die volle Wehrhaftigkeit und also: politische Macht lag
aber in vorexilischer Zeit in erster Linie bei den s t a d t sässigen
Sippen. Die prophetischen Quellen reden von den »Großen« im Ge-
gensatz zum »Volk« in so typischer Art, daß mit jenem Ausdruck
ein zwar offenbar nicht rechtlich geschlossener, aber doch fak-
tisch begrenzter Kreis gemeint sein muß. Die vorexilischen
Geschlechtsregister, welche bei Jerem. (24, 30) wenigstens für
Jerusalem vorausgesetzt zu sein scheinen, haben offenbar nur
die Sippen dieses Kreises umfaßt und dienten bei den welt-
lichen Sippen zweifellos der Evidenthaltung der als gibborim
Heerespflichtigen: »Chail«, »Vermögen«, heißt außerdem auch
»Heer« und (kriegerische) »Tüchtigkeit«. Die »Großen« des
prophetischen Zeitalters sind also ebenfalls jene Sippen, die in
Waffen geübte, voll gepanzerte und ausgerüstete Krieger stellten,
und demgemäß auch die PoUtik des Staates entschieden, weil sie
Gerichte und Aemter in der Hand hatten. Offenbar ist mit zuneh-
mendem Ausscheiden der Bauern aus dem Heer auch die Sippen-
verfassung bei ihnen verfallen. Denn dadurch erklärt sich am
ehesten, daß beim Synoikismos Esras so zahlreiche nicht mit
einem Geschlecht, sondern nach der bloßen Ortsgebürtigkeit
aufgeführten Leute auftauchen: die Geschlechtsregister umfaßten
eben nur die voll wehrfähigen Sippen, römisch gesprochen:
die »classis«. — ■ Der nicht zu diesen vollwertigen Sippen gehörige
freie Mann gilt nun manchen angesehenen Forschern (so Ed.
Meyer) als identisch mit dem »ger« oder »toschab« der Quellen :
dem Beisassen, Metöken ^). Allein gerade dies ist äußerst
Bauer') adam« im Gegensatz zum »isch« dem >)Mann<< im Sinn von isch hamil chamah
dem »Kriegsmann«. Sondern es sind VoU-Israeliten, offenbar die wesentlich land-
sässigen alten Heerbannpfliotigen (von denen die Grundbesitzer der Städte nicht
geschieden werden). Der Theorie galten sie nach wie vor als die Träger der Wehr-
macht und daher der politischen Rechte. In dem Rückschlag gegen die vermutlich
jahwistische Revolte gegen Amon sind sie offenbar Interessenten der länd-
lichen Kultstätten.
^) So pflegen die Ausdrücke übersetzt zu werden. E. Meyer hat für toschab
die Uebersetzung »Klient« vorgeschlagen. Aber Klient setzt ein Verhältnis
zu einem einzelnen Herrn voraus und das ist in den Quellen für toschab nicht
sicher nachweisbar. In den Rechtsbüchern heißt, scheint es, gerade der Klient
des einzelnen Hauses »ger« (Ex. 23, 12). Abraham wird mehrfach ger we toschab
I. Die israelitische Eidgenossenschaf i und Jahwe. -2^
unwahrscheinlich. Denn der nach Ausmaß seines Besitzes
nicht als Ritter wehrfähige israelitische Bauer des Debora-
heeres ond des Heerbanns Sauls kann schwerlich jene ri-
tuelle Sonderstellung eingenommen haben, welche den gerim
in älterer Zeit eignete (Fehlen der Beschneidung!). Und wo
immer von »kleinen Leuten« im Gegensatz zu den »Großen«
die Rede ist (so bei den Propheten, vor allem bei Jeremia)
sind ja gerade sie die von den Großen bedrückten israelitischen
Brüder und gelten als Träger korrekter Lebensführung und Fröm-
migkeit. Der ökonomisch nicht voll wehrfähige israelitische
freie Bauer wird vielmehr in\ wesentlichen jene Stellung einge-
nommen haben, die wir im ganzen Altertum den Agroikoi, Perioi-
koi und Plebeji zugewiesen sehen und die wir bei Hesiod ziemlich
deutlich erkennen können. Persönlich frei, entbehrt er der ak-
tiven politischen Rechte, vor allem der Teilnahme am Richter-
amt, sei es rechtlich, sei es faktisch. Darauf eben beruhte für die
Patrizier die Möglichkeit jener Bewucherung und Schuld- Ver-
sklavung, der Rechtsbeugung und Vergewaltigung des bäuer-
lichen Demos, Worüber die Klagen durch die gesamte alttesta-
mentliche Literatur gehen. Diese ökonomische Klassenschich-
tung ist Israel mit den Städten der ganzen Frühantike gemein-
sam. Die Schuldsklaven insbesondere sind eine typische Erschei-
nung. Sie finden sich in der Tradition als Gefolgschaft und Reis-
läufer bei allen charismatischen Führern, von Jephtha (Jud. ii,
3), Saul (Sam. 13, ö: den Philistern versklavte Hebräer), vor
allem David (i. Sam. 22, 2) angefangen bis zu Judas Makkabäus
(i. Makk. 3, 9). Einst der Kern des Heerbanns der israelitischen
Eidgenossenschaft im Kampf gegen den kanaanäischen wagen-
kämpfenden Stadtpatriziat, wurde der freie Bauer so mit zu-
nehmender Stadtsässigkeit der großen israelitischen Sippen und
Uebergang zur Wagenkampf technik nun zunehmend der Plebejer
innerhalb des eigenen Volks.
Der Metöke, ger oder toschab, war dagegen etwas ganz anderes.
genannt, ohne als Klient eines Einzelnen gedacht zu sein. Der toschab eines
Priesters soll ebensowenig wie sein Arbeiter Heiliges essen (Lev. 22, 10) : in dieser
Ritualbestimmung läge an sich eine Deutung auf einen Klienten nahe. Allein
es scheint sich gerade um einen nicht Haushörigen zu handeln wie es der »sakhir«,
ein freier Tagelöhner im Gegensatz zum 'ebed, dem Knecht, auch ist, der mit dem
toschab, hier wohl: deminquilin, zusammen genannt wird. Lev. 25, 47 ist toschab,
hier mit dem ger zusammen genannt, der reichgewordene freie Metöke. Was
der ursprüngliche rechtliche Sinn jedes der beiden in den Quellen oft kumulativ
gebrauchten Ausdrücke war, scheint nicht mehr feststellbar.
Max We1)cr. Religionssoziologie HI. •?
34
Das antike Judentum.
Seine Lage mu(3 aus vor- und nachexilischen Quellen kombi-
niert erschlossen werden.
In der Lage der »gerim« befanden sich vor allen Dingen große
Teile der Handwerker und Kaufieute. Dies war in den Städten
ganz ebenso der Fall wie draußen bei den Beduinen der Wüste.
Innerhalb der Stammes verbände der letzteren war, nach den
arabischen Verhältnissen zu schließen, für sie als Genossen über-
haupt kein Platz. Gerade die für den Beduinen wichtigsten
Handwerker, die Schmiede, haben bei ihnen fast immer die
Stellung entweder geradezu rituell unreiner, oder (und meist)
wenigstens vom Konnubium und gewöhnlich auch von der
Kommensalität ausgeschlossener Gast band werker gehabt. Sie
bilden eine Pariakaste, die nur traditionellen, meist: religiösen,
Schutz genießt. Ebenso die gleichfalls bei den Beduinen unent-
behrlichen Barden und Musikanten. Ganz entsprechend ist
in der Genesis (4, 21. 22) Kain der Stammvater der Schmiede
und Musikanten und zugleich (4, 17) der erste Städtegründer.
Danach darf man annehmer, daß für die Zeit der Entstehung
dieses Stammbaums diese Handwerker auch in Palästina, ähnlich
wie in Indien, als Gastvolk außerhalb nicht nur der gibborim,
sondern außerhalb der israelitischen Bruderschaft überhaupt,
standen. Daneben finden wir freilich die Auffassung bestimmter
hochqualifizierter Handwerke als freier charismatischer Künste.
Der Geist Jahwes fährt (Ex. 31, 3 f.) in Bezaleel, Sohn Uris,
Enkel Hurs, vom Stamme Juda, also: in einen Vollfreien, und lehrt
ihn in Edelmetall, Stein und Holz zu arbeiten. Neben ihm tritt
ein anderer Vollfreier vom Stamme Dan als Gehilfe auf. Sie
liefern Kultparamente. Wir erinnern uns der rituell bevorrech-
teten Stellung der Kammalarhandwerker in Indien, welche die
gleichen Künste ausübten. Und die Aehnlichkeit geht weiter.
Die Kammalar sind in Südindien privilegierte, von außen her
importierte Königshandwerker. Dan ist nach der Tradition
im Gebiet von Sidon angesiedelt und i. Kön. 7, 14 wird Von dem
Werkmeister des salomonischen Tempelbaues, Hiram, berichtet,
daß er ein Tyrier, nach Bericht der Tradition aber von einer
naphtalitischen Mutter, also ein Halbblutmann gewesen sei, den
Salomon an seinen Hof berief. Wir dürfen annehmen, daß die
für Königsbauten und militärische Bedürfnisse wichtigen Gewerbe
überhaupt als Königshandwerke organisiert Waren. In der nach-
exilischen Chronistik werden Byssosweber, Töpfer und Zimmer-
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jalnve. 2C
leute als stammfremde, vielleicht als Königshandwerker der vor-
exilischen Zeit angeführt, wie in anderem Zusammenhang zu
erörtern sein wird. Bei der Zerstörung Jerusalems führte Nebu-
kadnezar außer den wehrhaften Geschlechtern auch die Hand-
werker, vor allem wohl die Königshandwerker, aus der Stadt fort.
Bei der Rückkehr aus dem Exil und der Neukonstituierung des
Gemeinwesens unter Esra und Nehemia finden sich die Gold-
schmiede, Krämer und Salbenhändler außerhalb der alten Ge-
schlechtsverbände als Gilden organisiert. Sie wurden damals
zwar ihrer Stammfremdheit entkleidet und in den jüdischen kon-
fessionellen Gemeinde verband aufgenommen. Aber noch in der
Zeit des Sirachiden und vermutlich noch weit später galten die
Handwerker im Gegensatz zu den altisraelitischen Geschlechtern
als politisch amtsunfähig. Sie bildeten also jetzt einen spezifisch
städtischen »Demos«. Diese plebejische Schicht umfaßte aber
damals, im nachexilischen Stadtstaat, nicht nur Handwerker
und Händler. Sondern, wie Eduard Meyer überzeugend nachge-
wiesen hat, außerdem i. die zahlreichen in der Liste der unter
Kyros zurückgekehrten nicht nach der Sippe, sondern als
Männer (anaschim) aus einem bestimmten Ort des Bezirks Je-
rusalem, also als plebejische Ortsangehörige einer von der Haupt-
stadt abhängigen Landstadt aufgeführten Personen und ebenso
2. die ohne eine solche Ortsangabe mit dem Ausdruck »Söhne des
zurückgesetzten Weibes« (bne has senua) gezählten mehreren
tausend Leute, welche Michaelis und Eduard Meyer sicher mit
Recht als plebejische Ortsangehörige der Stadtgemeinde Jeru-
salem selbst ansehen. Beides sind offenbar israelitische, in den
alten Geschlechtsregistern der gibborim nicht enthalten gewesene
Plebejer. Die Angehörigen dieser Schicht, einerlei ob sie in frü-
herer Zeit als israelitische Plebejer oder (wie die meisten Hand-
werker) als Metöken gegolten hatten, Wurden also nun, nach
Eduard Meyers einleuchtend begründeter Annahme, Wenn sie
das Gesetz auf sich nahmen, mit den ihnen zugewiesenen Land-
anteilen wie ein nach dem Heimatsort benanntes Geschlecht
organisiert und so in die neuen Bürgerregister eingetragen. Die al-
ten Geschlechtsregister Wurden zwar dem Synoikismos, als
welcher die Neukonstituierung Jerusalems vollzogen wurde, zu-
grunde gelegt: als eine Quotenvertretung der alten Geschlech-
ter galten die mit Häusern in der Hauptstadt sich ansiedelnden
Familien. Aber diese Reminiszenzen an die alte Geschlechter-
o^ Das antike Judentum.
Verfassung sind später verschwunden, offenbar weil ihr miü-
tärischer Zweck in dem vorerst ganz unmihtärischen Clientelstadt-
staat fortgefallen war. Die offizielle Vorstellung der nachexili-
schen Chronistik (i. Chron. lo, 2) kennt neben dem vollfreien
Israeliten nur kultisch bedingte, positiv (wie die Priester und
Leviten) oder negativ (wie die Nethinim) privilegierte Geburts-
stände, aber keinen weltlichen. Selbst die bei der Rückkehr noch
als existierend aufgezählte Davididensippe ist später verschol-
len, denn die Stammbäume der Vorfahren von Jesus in den
Evangelien sind Fabrikate um der alten Verheißungen willen.
Die theoretisch fortbestehende Gliederung nach Sippen und die
anfänglich noch vorhandene leiturgische Gliederung (von der
bald zu reden ist) traten an Bedeutung völlig zurück hinter der
rein persönlichen Zugehörigkeit zum »kahal« oder »cheber haj-
jehudim«, dem jüdischen konfessionellen Verbände, und diese
wurde nunmehr entweder durch jüdische Abstammung und Ueber-
nahme der Ritualpflichten oder <iurch persönliche Aufnahme
erworben. Zwischen diesen beiden Kategorien : den Alt Juden und
den Neujuden, bestanden nur noch einzelne Reste ständischer
Unterschiede (vor allem im Konnubium mit den Priestern).
Sonst standen sie gleich. Nur die ständische Sonderstellung der
Priestergeschlechter blieb also bestehen und ist später gesondert
zu erörtern. Daß jetzt ebenso wie die, sei es grundsässigen,
sei es Kleinpacht-Bauern, auch alle Handwerker, wenn sie sich
zu Jahwe bekannten, zwar amtsunfähig blieben, aber als Voll Juden
angesehen wurden, bedeutete die Entstehung eines städtischen
»Demos «im Sinne der typischen Ständescheidung. Vordem Exil be-
stand er nicht, weil damals das Prinzip der rituellen Stammfremd-
heit diese Ständescheidung beherrschte. Aber auch nach dem Exil
sind die Plebejer nie als ein wirklicher »Demos« im technischen Sinn
der antiken klassischen Polis Verfassung konstituiert worden.
Und ebenso nicht als ein »popolo«, eine »Bürgerschaft«, im Sinne
des Mittelalters. Weder, wie in der Antike, eine Versammlung
nach Demoi oder Tribus oder ähnlichen lokalen Abteilungen
des politischen Wehr- und Stimmverbandes aller ansässigen
Bürger, noch, wie im Mittelalter, eine Schwurbrüderschaft und
Vertretung der Bürger nach Zünften trat jemals, soviel bekannt,
ins Leben ^). Dazu fehlten eben auch jetzt die politischen Vorbe-
^) Man hat freilich geglaubt, in den jüdischen *am. haarez eine Art von
althebräischem Parlament sehen zu können. Dafür wird (von Sulzbsrger und
besonders von Sloush, »Representative government among the Hebrews and
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 17
dingungen: die Militärorganisation des antiken Hopliten- oder
des mittelalterlichen Bürgerheeres, welche die Grundlage der
politischen Macht der occidentalen Plebejer wurde.
Die faktische soziale und ökonomische Situation war, trotz je-
ner Aenderung der Rechtslage, auch nach dem Exil im Prinzip der
vorexilischen ähnlich. Die reichen Landbesitzer residierten meist
in Jerusalem und verzehrten dort ihre Renten. Zwar gab es auch
jetzt mächtige Geschlechter, die nicht in Jerusalem selbst ansäs-
sig waren. Auch sie aber galten normalerweise als in einer Stadt
eingebürgert. Das Geschlecht der Hasmonäer heißt, obwohl
ihr Mausoleum auf einem Berge nahe dem Meeresgestade auf-
ragte, doch das vornehmste in der Stadt Modin (i. Makk. 2, 17).
Die nicht in Jerusalem zusammengesiedelten vornehmen
weltlichen Sippen waren in aller Regel Gegner der rituell kor-
rekten Judengemeinde, wovon die frommen Hasmonäer, für
die priesterliche iVbstammung in Anspruch genommen wird, eben
eine Ausnahme machten ^). Und die ökonomisch und politisch
mächtigen Geschlechter innerhalb der Städte, namentlich auch
innerhalb Jerusalems, bedrückten damals die Plebejer ganz ebenso
durch Wucher und Beugung des Rechts wie dereinst jene »Großen«
gegen welche die vorexilischen Propheten sich gewendet hatten.
Furchtbar hallen namentlich die Klagen und das Rachegeschrei
der Psalmisten gegen diese Reichen oder, wie sie bezeichnend
genannt Werden, »Fetten«, die also auch im Namen ganz dem
»popolo grasso« der mittelalterlichen italienischen Terminologie
entsprachen. Und wie nach der Tradition einst schon um Abi-
melech und dann um David, so scharen sich jetzt um Judas
Makkabäus die Unterdrückten, und zwar vor allem : die Schuld-
sklaven, als seine Gefolgschaft und schlachten mit ihm die Gott-
Pheniciens« Jew. Quart. R. N. S. 4 {1913) p. 302 ff.) die Analogie der *am Zor,
'am Zidon und *am Karthachdeschoth auf tyrischen, sidonischen und kartha-
gischen Münzen angeführt und die nach dem Beginn der Herrschaft der *am rech-
nenden Aeren. Die *am sind in diesen Fällen Familienhäupter, wohl zweifel-
los aber Vertreter nur der stadtsässigen patrizischen Sippen. Wie in Jerusalem
nach Nehem. 10 die Unterzeichner des religiösen Bundes, bildeten sie anschei-
nend eine geschlossene Zahl, was dafür spricht, daß es sich um einen oligarchischen
Wehrverband handelt, wie er in hellenischen Städten vor der Zeit der Demo-
kratie ebenfalls vorkommt.
1) Rituell betrachtet verhalten sich freilich die hasmonäischen Heroen
von Anfang an ziemlich inkorrekt. Im Gegensatz zu dem frommen Volk, welches
(i. Makk. 2, 29) in die Wüste flieht und sich am Sabbat abschlachten läßt (Vers
38), beschließt Matthatias mit seiner Gefolgschaft, auch am Sabbat zu kämpfen
(Vers 41). Sehr schnell nach der Befreiung galten die Hasmonäer den eigent-
lich Frommen als verwerfliche Hellenisten.
■2g. Das antike Judentum.
losen, das sind, wie in den Psalmen stets: die »Fetten«, in allen
Städten Judas ab (i. Makk. 3, 9). Die ökonomische Grundlage der
Ständegliederung war also sehr konstant. Das wichtige Neue war
dabei nur, daß im Verlauf der nachexilischen Entwicklung der
städtische Demos, das Kleinbürgertum, in steigendem Maße als
eigentlicher Träger der Frömmigkeit, als »Gemeinde der Chasidim«,
hervortritt und zunehmend eine schließlich, mit dem Aufkommen
der Pharisäerpartei, geradezu ausschlaggebende Rolle spielte,
obwohl formell offenbar seine politischen Rechte kaum geändert
waren. Beides: faktische Bedeutung und formelle Rechtlosig-
keit des Demos, hing mit der später zu erörternden theokratischen
Eigenart des spät jüdischen Stadtstaates zusammen. Diese
konfessionelle Grundlage des Gemeindeverbandes bedingte es auch,
daß die alten Ausdrücke für den »Metöken« nunmehr, wo die
alte Stammfremdheit der Gasthandwerker gegenüber den Israe-
liten fortgefallen War, ihren alten Sinn verloren und einen ganz
neuen später zu besprechenden gewannen (den des »Proselyten«).
Hier interessiert uns vorerst noch weiter der alte, vorexilische
Sinn. Denn trotz Konstanz der ökonomischen Grundlage
war die rechtliche Position des Demos in der vorexilischen
Zeit eine sehr abweichende gewesen.
Der Vorexilische Metöke (ger) ist von dem gänzlich Landfrem-
den, dem nokri, durchaus geschieden. Der letztere ist rechtlos.
Der ger ist zwar stammfremd, aber rechtlich geschützt. Ein Stamm-
fremder konnte aber auf zwei Arten zu einem Schutz Verhältnis
gelangen. Entweder er wurde als Schutzgenosse eines einzelnen
Hausvaters behandelt. Dann stand er in dessen rein persönlichem
Schutz, welchen ja auch der ganz fremde nokri, etwa ein durch-
reisender Gast, genießen konnte. Der Schutz gegen die Willkür
der Stammesgenossen des Schutzherrn war aber dann nur eine
Frage der Macht dieses letzteren. Nur das Mißfallen des Gottes
oder die Rache seiner Stammesgenossen konnte ihn. Wenn diese
versagte, schützen: das Schicksal der göttlichen Gäste Loths
in Sodom und des Leviten in Gibea zeigen die Lage. Als in die-
sem Sinne rechtlos galt aber in einem israelitischen Stamm auch
ein in einem anderen israelitischen Stamm zugelassener Metöke,
wie wiederum das Beispiel des Leviten in der Erzählung von der
Schandtat von Gibea zeigt. Ebenso geht daraus hervor, daß
auch der vollberechtigte Angehörige eines israelitischen Stammes,
der sich bei einem' anderen Stamm niedergelassen hat, auch bei
I . Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. ^g
einem als nahe verwandt geltenden wie Benjamin gegenüber
Ephraim, dort stets nur als Metöke, nicht als Genosse galt.
Er war fähig, ein Haus zu erwerben, wie der Ephraimit jener
Erzählung in Gibea, der als »Hausvater« bezeichnet wird. Ob
auch sonstigen Grundbesitz, ist nicht ersichtlich und für die
Frühzeit nicht wahrscheinlich, wenn auch nicht unmöglich,
für später aber sicher: von zwei Erzvätern, die als gerim galten,
wird es berichtet. (Es fragte sich ja nur, welcher Verband : Sippe
oder Ortsverband oder Stamm, darüber zu befinden hatte, und
welche sonstigen Rechte mit dem Grunderwerb verknüpft waren) ^) .
Die Wohl aus der Zeit vor dem Exil stammende Norm Lev. 25,
35 verfügt, daß ein »Verarmter« d. h. grundbesitzlos gewordener
Israelit als ger gehalten Werden solle: darnach war jedenfalls
— und ganz begreiflicherweise — Grundbesitzlosigkeit eines der
normalen Merkmale des ger, wenn es auch vielleicht nicht
universell galt. Welches aber auch seine Stellung in dieser Hin-
sicht war, ein Beisasse, der nicht nur unter dem privaten
Schutz eines Einzelnen und dem religiösen des Gastrechts steht,
sondern dessen Rechtslage von dem politischen Verband
als solchem geregelt und geschützt wurde, war was die Quellen
regelmäßig unter »ger« meinen. Dies Rechtsverhältnis wird be-
zeichnet mit dem Ausdruck »ger ascher bisch'arecha« der alten
Rechtssammlungen: »der Metöke in deinen Toren«, d. h. der
zum Rechtssprengel der Stadt als solcher gehörige, zu ihr in
einem geregelten Schutzverhältnis stehende Metöke ^j. Weder
also steht er nur in einem bloßen individuellen vorübergehen-
den Gastschutzverhältnis, wie es auch der nokri genießen kann,
noch auch andererseits in einem persönlichen dauernden Klientel-
verhältnis zu einem einzelnen Herrn. Er scheint den Quel-
len als gerichtsstandsfähig zu gelten, denn Vor seiner Be-
drückung wird gewarnt: vielleicht bedurfte er eines Gerichts-
patrons. Die nachdrückliche Vorschrift des heiligen Rechts,
daß für den Israeliten und den ger das gleiche Recht in allem zu
gelten habe, macht den Eindruck einer Neu'erung: die konfes-
^) lis könnte dies, soweit Bauernland und nicht die, vielleicht bestehenden,
Kriegerlose in Betracht kamen, recht gut als eine interne Angelegenheit des ein-
zelnen Dorfs gegolten haben. Man erinnere sich, daß auch Hesiods Familie
stammfremd nach Böotien kam, dennoch aber der Dichter dort Grundbesitzer
— technisch: ein »Periöke« — wurde.
2) Die Stellung des hier noch nicht mit in die Erörterung einbezogenen
Priesterstamms Levi in den »Levitenstädten« der Tradition zeigt am besten,
wie sich die Tradition die normale Lage eines Metöken vorstellte.
40
Das antike Judentum.
sionelle Assimilation der gerim war im Gange, ja einige ihrer
Kategorien gehörten, wie wir sehen Werden, zu den Haupt-
trägern des Jahwismus. Ursprünglich konnten aber in der Rechts-
stellung eines ger in diesem Sinn sich genau ebensogut Nicht-
israeliten befinden wie Israeliten aus einem anderen Stamme.
Das erstere war die Regel: Für den ger galten die rituellen
Vorschriften der vollfreien Israeliten ursprünglich nicht.
Diese umfaßten zwar den ganzen Hausstand, aber auch aus-
schließlich diesen durch Hausgemeinschaft und häusliches Kult-
mahl verbundenen Personenkreis. Nur die Sabbatruhe galt
in der Zeit der ältesten vorliegenden Redaktion der Rechts-
bücher auch für den ger, vermutlich zur Verhütung der Kon-
kurrenz ihrer Arbeit gegen die des Israeliten ^) . Nicht aber, nach
dem älteren Recht, die Beschneidimg — die für ihn fakultativ
war (Ex. 12, 48) — , welcher dagegen zur Zeit dieser Satzung
bereits jeder Sklave unterzogen werden sollte. Deshalb konnte
der Sklave am Passahmahl teilnehmen. Dieser Zustand muß
sich freilich schon lange vor dem Exil erheblich geändert haben.
Denn Wenn die Priestergesetzgebung (Lev. 17, 10; Num. 9, 14;
15, 15. 16) den Grundsatz aufstellte, daß für Israeliten und Metöken
in allem das gleiche Recht und die gleichen Ritualpflichten gelten
sollten, so war dies zweifellos die Folge davon, daß inzwischen zahl-
reiche beschnittene und rituell korrekt lebende gerim entstanden
waren, und Wir Werden sehen, daß und wodurch dies geschah. Der
Sklave scheint dagegen nach vordeuteronomischem Recht nicht der
Sabbatruhepflicht unterlegen zuhaben (2.Kön. 4, 22 : dieErzählung
stammt aus den Prophetenlegenden der Zeit der Jehu-Dynastie) .
Die rechtlichen und sittlichen Gebote der heiligen Schriften
sprechen nun von dem ger regelmäßig wie von einem isolierten
Individuum. Das entspricht aber, wie die Tradition erkennen
läßt, nicht einmal den Verhältnissen des vollentwickelten Stadt-
staates und keinesfalls denen der Frühzeit. Hier sind die als
gerim politisch nicht zu den israelitischen Stämmen gerechneten
Bevölkerungsteile ' ebenso wie die politisch nicht vollberechtig-
ten Israeliten (Bauern) stets als in Verbänden organisiert ge-
dacht. Die letzteren in Dörfern, die gerim teils in Orts verbänden,
^) Nach der Art der Begründung des Sabbatgebots in Nehemias Zeit, bei
welcher die Unterbindung des Wochenmarktverkehrs die Hauptsache ist, war
die Bestimmung damals zweifellos im Interesse der Israeliten (gegen unlautere
Konkurrenz der Nicht Juden) und nicht der Fremden selbst erlassen. Aehnlich
schon Arnos und Jeremia, In älterer Zeit, wo die Ruhe der Ackerarbeit der
allein entscheidende Sinn war, konnte dies freilich anders sein.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. AI
teils ohne solche in Sippen und Stämmen. Ganz ebenso bleibt
ja auch die Stammes Verfassung bestehen, wenn ein israeli-
tischer Stamm sich einem fremden politischen Verband ein-
ordnen muß. Zwar, daß die Daniten im Deboralied auf phönizi-
schen Schiffen dienen, beweist dafür nichts, da es sich hier wohl
nur um individuelle Verdingung Einzelner als Lohnarbeiter
handelt. Aber der Stamm Issachar wird im Jakobsegen ganz
allgemein ein »Fronknecht <' genannt. Die Issachariten waren also
offenbar als solche einem herrschenden fremden Stadtstaat poli-
tisch unfrei angegliedert, hatten aber ihre Stammesorganisation be-
halten. Ebenso kennt anderseits die Tradition die kanaanäischen
GiBeoniten als leiturgiepflichtige aber autonome Unterworfene
Israels, kraft eines mit ihnen von den Heeresvorständen bei der Ein-
wanderung geschlossenen Bundes. Dies Verhältnis ist wohl zu
scheiden von der ständischen Lage, in welcher sich nach dem Bericht
über die Neukonstituierung von Jerusalem unter Esra und Ne-
hemia die Torhüter, Sänger undTempeldiener (nethinim) und außer-
dem die »Knechte Salomos« befanden. Denn diese waren erb-
liche, sippenmäßig gegliederte leiturgiepflichtige Gruppen von
Juden, nicht aber gerim. Die bne Korah, deren Vorvater
als Rebell gegen die Priester schon in der Mosestradition eine
Rolle spielt, und die bne Asaph, beide Träger von Psalmen-
kunst, waren derartige Sängersippen, die einmal gerim gewesen,
jetzt aber Volljuden geworden waren. Anders die altisraelitischen
gerim. Im Gegensatz zu den nach Geschlecht und Stamm be-
zeichneten, vollfrei israelitischen charismatischen Künstlern des
Stiftshüttenberichts einerseits und dem ohne Sippenbezeich-
nung genannten fremdbürtigen Königshandwerker des Tempel-
bauberichts andereiseits galten, wie wir sahen, der Genesis die
Eisenarbeiter und Musiker als den Israeliten stammt r e m d e Sip-
pen mit einem Eponymos. Ebenso galten von den vermutlich
leiturgischen Königshandwerkern jedenfalls die Byssos we-
her i) und Töpfer 2), wohl auch die Zimmerleute 3) als gerim.
1) I Chron. 4, 21: >)Haus der Byssosarbeit«. Sie sind, in Sippen gegliedert
und gelten, neben anderen, als Nachfahren eines Sohnes Judas, charakteristi-
scherweise aber ohne eigenen Eponymos. Die Abstammung von Juda dürfte
also nachexilische Fiktion sein.
2) I. Chron. 4, 22. 23: Joas und Saraph, die in Moab Familienbäupter
(baalim) waren und »nach alten Berichten Lachern bewohnten . Sie waren Töpfer
und wohnten in umzäunten Gärten beim König für dessen Arbeit«. Sie hatten
also Dienstlehcn.
^) Joab, Serujas Sohn, heißt i. Chron. 4, 14 »Vater des Tals der Zinmicr-
12 Das antike Judentum.
Als solche galten auch die bald zu besprechenden Hirten, die
im Stammbaum (Gen. 4, 20) neben den Eisenarbeitern und
Musikern als Nachfahren Kains aufgezählt werden: Kain, der
soeben noch in der Brudermordslegende (Gen, 4, 2) im Gegen-
satz zu dem Hirten Abel als Bauer, dann, nach der Verfluchung,
als Beduine behandelt wird (4, 12), ist in diesem Stammbaum
offensichtlich ganz allgemein der Vater aller typischen Gast-
stämme innerhalb Israels, sein Bruder Seth aber der Stammvater
des seßhaften weinbauenden Israel, Welches Noah vertritt.
In der noachischen Dreiteilung der Stämme gilt Kanaan als ein
unfreier Stamm, der einerseits dem Sem, dem Stammvater
der kontinentalen Herrenvölker einschließlich der Hebräer,
andererseits dem Japhet, dem Stammvater der nördlichen und
westlichen Küsten- und Inselvölker fronpflichtig ist. Japhet
seinerseits aber »Wohnt in den Hütten Sems<<, ist also zweifel-
los als freier Metöke und vermutlich als Kaufmann gedacht.
Die, Sage wird in einer Zeit scharfer Gegensätze gegen die Reste
der Kanaanäer und freundlicher Beziehungen zu den Phönikern
entstanden sein. Eine allgemeine Zinspflicht sämtlicher noch im
Lande sitzenden Kanaanäer führt die Tradition (i. Kön. 9, 20)
auf Salomo zurück ^). Es scheint danach verschiedene Arten
von gerim gegeben zu haben; freie und fronpflichtige, über deren
Rechtsstellung im einzelnen nichts auszusagen ist ^). Wie auch
immer aber die tatsächlichen Verhältnisse gewesen sein mögen,
deren Ausdruck oder Reminiszenz alle diese Konstruktionen der
Tradition waren, so bleibt jedenfalls sicher: daß die gerim
nicht zu den, sei es als gibborim sei es als *am hamilchama, heer-
bannpflichtigen bnejisrael gerechnet und daß sie vorgestellt
leute«, eines Stadtteils von Jerusalem. Die Zimmerleute scheinen also als Ko-
loneri auf seinem Grundbesitze zu sitzen, Oder aber (und wahrscheinlicher) er
gilt als ihr Patron und hat diese Patronage als königliche Pftünde. Bei ihnen
fehlt die Angabe über gentilizi?che Gliederung.
1) Die Tradition ist höchst fragwürdig. Die Notiz in Vers 22, daß er im
Gegensatz zu den Kanaanäern alle Israeliten nur als Kriegsleute (ansehe hamil-
chamah) und Offiziere oder Beamte verwendet habe, ist tendenziös im Interesse
der israelitischen Plebejer. Die Fronpflicht auch der gemeinfreien Untertanen
ergibt sich klar aus i. Kön. 5, 12, wo die Israeliten 30 000 Arbeiter zu stellen ha-
ben. Jene Notiz zeigt aber allerdings, daß damals der nichtwehrfähige
und nicht am freien Grundbesitz beteiligte Mann ein für allemal kein Israelit,
sondern ein ger war.
2) Nach I Chron. 23, i hätte David aus sämtlichen gerim des Landes Stein-
metzen für den Tempelbau ausgehoben. Wahrscheinlich waren umgekehrt die
Steinmetzen Königshandw^erker und eben deshalb gerim.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. /j.^
wurden als s t a m m f r e m d und als organisiert, teils
als bodensässige Klientelstämme, teils aber als nicht bodensässige
Gaststämme und Gastsippen. Ursprünglich waren sie rituell
von den Israeliten geschieden und dadurch wenigstens von
einem ebenbürtigen connubium ausgeschlossen, wie die Er-
zählung von Sichem und Dina lehrt. — Die Erscheinung rituell
geschiedener Gaststämme kennen wir ja eingehend aus Indien.
Diesem Typus des eigener Bodenständigkeit entbehrenden Gast-
stamms fügen sich nun auch die beiden für uns wichtigsten und am
besten in der Ueberlieferung erkennbaren Beispiele Von gerim : die
Kleinvieh züchtenden Hirten und die levitischen Priester. Beide
teilen miteinander in der Tradition die Eigentümlichkeit, am
Grundbesitz des politisch Vollberechtigten Wehrverbandes nicht
beteiligt zu sein. Beide hatten aber wie alle gerim ein festes Rechts-
verhältnis zu der ansässigen Bevölkerung. Beiden waren in den
Stammesgebieten Israels keine Ackerländereien, wohl aber Wohn-
grundstücke — ^ meist zwar: vor den Toren — und Weiderechte
für ihr Vieh angewiesen. Aus religionsgeschichtlichen Gründen
Werden wir gerade diese beiden Kategorien noch näher betrachten
müssen. Die Hirten, weil die Tradition ihnen die »Erzväter«
zuweist und weil sie für die Prägung der prophetischen Jahwe-
religiorr eine beträchtliche historische Rolle gespielt haben.
Die Leviten aber als Träger des Jahwekults. —
Ueber welches Gebiet die oben geschilderte städtische
Organisation sich jeweils erstreckte, hing Von der politischen
Machtlage und zwar insbesondere davon ab, in welchen Gebieten
die Beduinen im Zaun gehalten werden konnten. Daher war
sie in der römischen Kaiserzeit tief in die Wüstengebiete Vor-
gedrungen, um durch die islamische Invasion wenigstens im
Ostjordanland, welches, im Gegensatz zum Westgebiet, von den
bedu okkupiert wurde, wieder vernichtet zu werden. Der An-
sturm der Beduinen gegen die städtisch organisierten Gemein-
schaften durchzieht die ganze palästinische Geschichte. In den
Amarnabriefen erscheinen die mit dem Ideogramm Sa Gaz,
dessen Aussprache bisher nicht ermittelt ist, bezeichneten Krieger
teils, und in der Regel, als Feinde, mit denen die ägyptischen
Vasallen und Statthalter zu kämpfen haben, teils aber auch als
Reisläufer im Dienst von Vasallen ^) . Die Korrespondenz
Hammurapis kennt die Sa Gaz als Nomaden an der Westgrenze
1) Knu dtzon Nr. 196.
AA Das antike Judentum.
Mesopotamiens, wo sie unter einem königlichen Vogt stehen. Die
in Syrien und Nordpalästina einbrechenden Sa Gaz verbrennen
die eroberten Städte ^). Oder aber sie Veranlassen die ansässige
Bevölkerung dazu, den ägyptischen Vasallen zu erschlagen, mit
ihnen gemeinsame Sache zu machen und >:wie Sa Gaz zu sein« 2).
Oder sie erobern die Städte, ohne sie zu zerstören, setzen sich
also offenbar als Fronherrn des platten Landes an die Stelle
der bisherigen ägyptischen Vasallen und Parteigänger. Frag-
lich bleibt nun aber in all diesen Fällen: ob diese Sa Gaz^) wirk-
lich Beduinen, also Kamelzüchter aus dem Wüstengebiet waren
oder vielleicht etwas ganz anderes.
Zwischen der bodenständigen Bevölkerung, also dem Stadt-
patriziat und den seßhaften, teils freien, teils fron- oder zins-
oder pachtpflichtigen Bauern, welche Korn, Früchte und Wein
ziehen und Rinder halten, einerseits und andererseits den freien
kamelzüchtenden Beduinen in der Mitte steht nämlich noch eine
für alle Länder der Mittelmeergebiete bis in die Neuzeit charak-
teristische Schicht: Die halbnomadischen Kleinvieh- d. h. Schaf-
und Ziegenzüchter*). Die Lebensform dieser Schicht
ist im Mittelmeergebiet überall bestimmt durch die Notwendig-
keit und, für Kleinvieh im Gegensatz zu Rindern, auch leichte
Ausführbarkeit des Weidewechsels auf weite Entfer-
nungen hin: über die Abruzzen hinweg nach Apulien, oder quer
durch halb Spanien, und ähnlich weit in Nordafrika und dem
Balkan. Diese in Spanien sogenannte »Transhumanz« ^) be-
dingt zweierlei: Einmal gemeinsame periodische Wanderung
und daher, im Gegensatz zu dem formlosen Zusammenschluß
der Beduinen, eine nach innen etwas fester geregelte Gemein-
schaft. Dann aber, nach außen, eine fest geregelte Beziehung
zu den Grundbesitzern der betroffenen Gebiete. Sowohl die
Stoppel- und Brachweiderechte wie die Wanderungswege müs-
sen fest vereinbart sein, wenn nicht die ohnehin oft gewaltsamen
Beziehungen zu dauernden Fehden führen sollen. Denn überall
1) Knudtzon Nr. 185.
^) Knudtzon Nr. 74.
3) Die Zugehörigkeit der Chabiru zu den Sa Gaz ist nach dem Bhogaz
köi- Fund nicht mehr fraglich.
*) Ueber die Bedeutung der »Schaf nomaden« für den Jahwekult s. jetzt
Luther bei Ed. Meyer (Die Israeliten u. ihre Nachbarst.) S. 120 f.
*) Sie ist neuestens von R. Leonhard (die Transhumanz im Mittelmeer-
gebiet, in der Festschrift für Brentano) in verdienstvoller Art erstmalig
zusammenfassend behandelt worden.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe, 45
haben diese Hirten die Neigung, die ihnen zustehenden Wege-
und Weiderechte zu überschreiten, ihre Herden vorzeitig in
die Felder einbrechen oder die an den Wanderstraßen liegenden
Aecker verwüsten zu lassen, wie dies Jeremia (12, 10) von seinem
Weinberg und Acker erzählt ^). Das Bestehen und die erheb-
liche Bedeutung dieses Wanderhirtentums ist für alle Epochen
Palästinas historisch sicher. Heute findet es sich auch bei Kamel-
züchtern, die aus dem Ostjordanland ihre Herden auf Stoppel
und Brache in Galiläa treiben. Das war aber nicht das Typi-
sche. Die klassischen Repräsentanten der Klein Viehzüchter in
der früheren palästinischen Antike waren die Rechabiten,
eine Genossenschaft, welche fast durch das ganze Land nord-
südlich gewandert sein muß. Denn sie waren Keniter, und dieser
Stamm grenzte einerseits an die Amalekiter der südlichen Wüste,
mit denen er gelegentlich verbündet war, andererseits findet
man ihn, im Deboralied, im Norden. Das eigentliche Weidege-
biet der JRechabiten lag zu Jeremias Zeit offenbar im judäischen
Gebirge, von wo sie bei Kriegsgefahr ihre Herden in den Mauer-
ring Von Jerusalem brachten. 2% Jahrhunderte vorher, bei der
Revolution Jehus im Nordreich, wirkten sie dort entscheidend
mit. Sie waren Kleinviehzüchter. Wie die Beduinen verschmäh-
ten sie Häuser und feste Siedelung, verpönten den festen Acker-
bau und tranken keinen Wein (Jer. 35). Dies galt ihnen als durch
den Stifter des Verbandes, den Jahwepropheten Jonadab ben
Rechab, auferlegtes göttliches Gebot. Aehnlich weit wie sie
wanderten andere Klein viehzüchterverbände. Der alte, später
Verschollene Stamm Simeon hatte nach der Tradition einerseits
kontraktliche Verhandlungen über Weiderechte im Gebiet von
Sichem angeknüpft, andererseits galten in der Tradition südliche
Teile der Wüste Juda als sein Sitz. Neben dem reinen Typus,
wie ihn die Rechabiten darstellten, gab es natürlich zahlreiche
Uebergangsformen. Irgendwelchen nach Maß und Stätte mehr
oder minder unsteten Ackerbau für den Eigenbedarf pflegen
auch Wanderhirten oft zu treiben -). Der Uebergang zu den
seßhaften Bauern war daher flüssig. Nur konnte bei ihnen die
Bodenappropriation, da das Land in erster Linie Weidegebiel
war, keine vollständige sein und der Schwerpunkt ihres Besitzes
*) Auch Jer. 6, 3 werden die Feinde, deren Kommen prophezeit wird,
mit Hirten verglichen, die ihre Zelte rundum aufschlagen und sich Weideplätze
aussuchen.
2) Der ostjordanische Held Jerubbaal- Gideon drischt Weizen: Jud. 6, ii.
1^ Das antike Judentum.
lag im Viehstand. Die langsamere Beweglichkeit des Kleinviehs
hemmte ihre Bewegungsfreiheit im Vergleich mit den Beduinen,
deren Räubereien sie daher ausgesetzt waren. Gegen diese waren
sie also die naturgemäßen Bundesgenossen der verstärkt in
gleicher Lage befindlichen ansässigen Bauern : es bestand »ewige
Feindschaft zwischen Jahwe und Amalek«. Kain, der tätowierte
Beduine, gilt, dem Hirten Abel gegenüber, als verflucht zur
ewigen Unrast. Aber daneben finden sich gelegentlich auch
Bündnisse Von Viehzüchtern (den Kenitern) mit Beduinen und
wurde die Verwandtschaft mit den Edomitern stark empfunden.
Naturgemäß war der Uebergang vom Beduinentum zur halb-
nomadischen Viehzüchterei besonders flüssig, und Kombina-
tionen der verschiedenen Arten von Vieh kamen vor, bei den
Erzvätern sowohl wie z. B.beiHiob, der als Besitzer von Schafen,
Eseln, Rindern und Kamelen, als haussässig und wein-
trinkend vorgestellt wird. Die Abkommen des Kain, der zu-
nächst als Wüstenbeduine gilt, die Keniter \), sind in histo-
rischer Zeit ein als ganz besonders gottesfürchtig gelten-
der Viehzüchterstamm, wie die Genealogie der Genesis zum
Ausdruck bringt. Die Midianiter haben in der Zeit Gideons
offenbar nicht nur Kamele als Vieh. Ebenso sicher dieEdomiter
und zweifellos auch schon jener Schech, bei welchem der flüch-
tige Aegypter Sinuhe in der Zeit des Sesostris gastliche Auf-
nahme fand. — Aehnlich flüssig war die Grenze nach der andern
Seite.
Die Beziehungen der Kleinviehzüchter zu der ackerbauen-
den ländlichen und ebenso zu der stadtsässigen Bevölkerung
beruhten normalerweise auf kontraktlich festgestellten Weide-
und Wegerechten: sie waren gerim. Diese Beziehungen konnten
sehr leicht zu einer Vollen Einbürgerung ihrer ökonomisch
leistungsfähigsten Sippen in die Städte führen, sei es durch Ver-
trag, sei es nach gewaltsamen Konflikten. Die Daniten hatten
nach der Tradition lange kein festes Gebiet in Israel (Jud. i8, i),
d. h. sie waren Wanderhirten auf judäischem Gebiet, bis sie
sich der Stadt Lajisch auf bis dahin sidonischem Gebiet bemäch-
tigten.
Die Wanderhirten unterlagen nun aber ganz allgemein
bestimmten Entwicklungstendenzen. Epochen des Friedens,
zunehmender Bevölkerung und Besitzanhäufung bedeuteten
*) Für diese zu Unrecht gelegentlich bestrittene Identität: Num, 24, 21. 22.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. yi
stets: Einschränkung der Weidereviere zugunsten zunehmender
Benutzung als Ackerland und nötigten damit zu steigender
Intensität der Ausnutzung der verbleibenden Weidereviere
selbst. Beides führte in aller Regel zu steigender Bindung der
Hirten an festere und kleinere Weidebezirke und dadurch wie-
der unvermeidlich zu einer Verkleinerung ihrer sozialen Ein-
heiten. Diese waren dementsprechend labil. Die normale soziale
Organisation der Kleinviehzüchter ähnelte derjenigen der Bedui-
nen: die Großfamilie als Wirtschaftsgemeinschaft, die Sippe als
Garantin der persönlichen Sicherheit durch Blutrachepflicht,
der Stamm, ein Verband von Sippen, als Träger der militärischen
Sicherung der Weidereviere. Diese Verbände waren, infolge jener
Umstände, beiden Klein Viehzüchtern nicht notwendig dauerhafter
als bei den Beduinen. Grade bei jenen scheint die Stammesbil-
dung besonders oft nur durch charismatische Führer geschaffen
zu sein : so wahrscheinlich der später Verschwundene Stamm Ma-
chir, ebenso vielleicht Manasse und doch wohl auch der Stamm
der >>bne Jemini<<, alles Stämme, die vom Gebirge Ephraim aus
sich in die Berg weidegebiete nach Osten und Süden Vorschoben.
Es fehlt diesen Häuptlingen aber normalerweise an einer stabilen
Machtgrundlage. Ein Stamm, der aus reinen Klein Viehzüchtern
zusammengesetzt ist, ist daher durch die Natur der Lebensbe-
dingungen eher stärkeren Chancen des Zerfalls ausgesetzt als
eine Beduinengemeinschaft es Wenigstens in dem Fall ist, daß
sie entweder in der Beherrschung von Oasen oder von Kara-
wanensferaßen einen Rückhalt für die ökonomische Stabilität
ihres Stammesfürstentums findet. Ein Beispiel für die Labilität
und den rein charismatischen Charakter des Kriegs fürstent ums
bei reinen Viehzüchterstämmen ist die Vorstellung der Tradition
von der Stellung Jephthas, eines ost jordanischen Kriegshelden,
dem von den Aeltesten des Stammes Gilead anfänglich nur die
Würde eines »kazir«, eines Kriegsführers, dem germanischen
»Herzog« entsprechend, für die Dauer des Befreiungskrieges
gegen die Ammoniter angeboten wird (Jud. ii, 6). Er lehnt das
ab und das Heer (ha*am, die Mannen) überträgt ihm nun auf
Antrag der Aeltesten die lebenslängliche, aber nicht erbliche,
Würde eines »rosch« (Häuptlings, Fürsten, Obersten, Jud. ii, ii).
Eben dahin gehören die zahlreichen ephemeren Richter (schofe-
tim) der israelitischen Frühzeit, teils nur charismatische Kriegs-
führer, teils vielleicht auch mit dem Charisma richterlicher Weis-
j^ Das antike Judentum.
heit begnadet. Ihre Macht blieb rein persönUch. Der ostjordani-
sche Held Jerubbaal-Gideon, welcher mit einer rein freiwilligen
Gefolgschaft in den Midianiterkrieg zieht, lehnt nach der Tra-
dition die ihm von »Einigen in Israel« angebotene erbliche Herr-
schaft ab (Jud. 8, 23) und begnügt sich mit seinem Beuteanteil,
aus dem er eine religiöse Stiftung macht (welche, ist anzunehmen,
ihm und seinen Nachfahren Erträgnisse von Wallfahrten abwer-
fen sollte). Dauerhafte politische Bildungen fanden sich meist
gerade auf den Zwischengebieten zwischen dem eigentlichen
Wüstenbeduinentum und den palästinischen Bergweiden im
Osten und Süden. So das Königtum der Moatiter in Ahabs
Zeiten, welches Inschriften hinterlassen hat, ebenso das der
Ammoniter schon in der Jephthazeit, namentlich aber das in
steten Beziehungen zu Juda stehende, durch eine Reihe von zehn
aufeinander folgenden Herrschern vertretene Königtum der
Edomiter vor der Unterwerfung durch David. Daß diese edo-
mitischen Könige off enbar nicht erblich aufeinander folgen, scheint
den rein persönlich charismatischen Charakter ihrer Herrscher-
stellung anzudeuten. Bei Kleinviehzüchtern waren dagegen
rein politische Bildungen sehr labil. Bedrohung durch Beduinen
oder umgekehrt die Chance kriegerischer Erweiterung der Weide-
reviere führten zu festerem Zusammenschluß im größeren Ver-
band unter einem Kriegshäuptling. Umgekehrt bedeutete in
friedlichen Zeiten die vorhin bezeichnete Entwicklungstendenz:
Abspaltung einzelner Sippen und Zerfall der Stämme. Schon
im Bericht über die Deboraschlacht finden wir den Mann der
Heldin Jael, einen Keniter, als einen Viehzüchter erwähnt, der
sich von seinem Stamm gesondert und kraft Freundschaftsver-
trags seine Zelte als ger auf dem Gebiete eines kanaanäischen
Stadtkönigs aufgeschlagen hat^). Die alten Stämme Simeon
und Levi sind schon zur Zeit der Zusammenstellung des Jakob-
segens »zerteilt und zerstreut's im noch späteren Mosessegen
(Deut. 33) wird Simeon gar nicht mehr und Levi nur noch als eine
Berufspriesterschaft erwähnt. Einzelne simeonitische Geschlech-
ter kennt die nachexilische Chronistik (i. Chron. 5, 41. 42) als
unter den Edomitern in Seir ansässig, der Rest hat »seinen An-
teil in Juda« empfangen, d. h. ist in diesem Stamm aufgegangen.
Der Stamm Rüben, einst der Hegemon des Bundes, ist im
^) Jucl. 4, 17. Der zweite Halbvers kann freilich, wie mehrfach angenom-
men wird, Einschiebung sein, beweist dann aber eben für die Zustände zur Zeit
seiner Entstehung.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. aq
Jakobsegen seiner Macht entkleidet, im Mosessegen wird darum
gebetet, daß er nicht ganz verschwinde, später ist er verschollen.
Vom Josephstamm spalten sich Viehzüchtersippen ab: im De-
boralied steht ein nachher verschollener Stamm Machir, später
ein in sich wiederum geteilter Stamm Manasse neben Ephraim.
Die Vernichtung der Stämme Simeon und Levi wird mit einem
Verrat und gewaltsamen Konflikt gegen die Sichemiten in Zu-
sammenhang gebracht. In der Tat kann ein kriegerischer Ver-
lust des Viehbesitzes, ebenso aber auch dessen Dezimierung durch
Viehseuchen einen reinen Viehzüchterstamm plötzlich zur Auf-
lösung oder Verknechtung bei den besitzenden Nachbarn bringen.
Aber schon die bloße Tatsache des Drucks der zunehmenden
Seßhaftigkeit gegen die Weidereviere wirkte ebendahin. Der
allmähliche Uebergang Vom Halbbeduinentum zur Kleinvieh-
zucht, dann zur Seßhaftigkeit und weiter zur Stadtsässigkeit
unter der Wirkung dieses Drucks spiegelt sich sowohl in den Sagen
wie in der historischen Tradition. Abraham hält in der Sage
außer Schafen auch Kamele und trinkt keinen Wein, sondern
bewirtet die drei Männer der göttlichen Epiphanie mit Milch.
Er wandert als kontraktlich weideberechtigter ger zwischen
verschiedenen Orten und erst am Ende seines Lebens läßt ihn
die Sage in Hebron nach langer Verhandlung ein Erbbegräbnis
erwerben (Gen. 23, 16). Isaak zeltet kraft Kontrakts auf dem
Gebiet von Gerar und gräbt dort Brunnen, muß aber wieder-
holt seinen Sitz wechseln. Jakob gilt zwar, im Gegensatz zu
dem Bauern Esau, wesentlich als in Zelten wohnender Vieh-
züchter, wird aber als ger in Sichem seßhaft und kauft Land
(Gen. 33, 19). Am Schluß seines Lebens gilt es als List, daß er
sich beim Pharao als reinen Kleinviehzüchter einführt, um so
als rituell gemiedener ger ohne Vermischung mit den Aegyptern
leben zu können. Er betreibt Ackerbau und bedarf Getreide zur
Nahrung. Allen Erzvätern wird Rinderbesitz zugeschrieben.
Joseph vollends reguliert als Wesir Aegyptens die dortige Grund-
steuer.
In der politischen Organisation und auch militärisch
bedeuten diese Verschiebungen tiefgreifende Wandlungen.
In der historischen Tradition finden sich für die einzelnen
israelitischen Stämme alle Uebergänge vom Halbbeduinentum
zur halbnomadischen Kleinviehzucht und von beiden durch
das Mittelstadium des Gelegenheits-Ackerbaus (Gen. 26, 12
Max Weber, Religionssoziologie IIF. .
50
Das antike Judentum.
bei Isaak) sowohl zur Ansässigkeit als städtische Herrensippen,
wie zum seßhaften Ackerbau sowohl als freie wie als fronpflich-
tige Bauern ^). Abgeschlossen tritt dann die weitgehende
universelle Wandlung zur Stadtsässigkeit hervor in der poli-
tischen Geographie Palästinas, wie sie im Buche Josua gegeben
wird. Wie Josua selbst hier mit einer ;> Stadt ^< als Lehen für seine
Dienste entgolten wird (Jos. 19, 50), so werden alle Stämme, selbst
1) Dan hatte nach der Tradition (Jud. i8, i) lange Zeit keinen festen
Wohnsitz im Lande. Im Deboralied verdingen sich die Daniten den Phönikern
als Ruderknechte. Die Tradition nennt diesen Stamm mehrfach nur , Sippe'.
Dem Jakobsegen ist er ein Räuberstamm, der »wie eine Schlange auf den Kara-
wanenstraßen liegt und das Pferd in die Ferse beißt«, dem Mosessegen ein »auf-
springender Löwe in Basan«, also im Hauran. Wahrscheinlich zur Zeit des ersten
Vordringens der Philister, wohl schon vor der Deboraschlacht, haben die Daniten
ihre damaligen Zeltstätten, das »Lager Dans« im Gebirge Juda, mit ihren mili-
tärischen Kräften (nach der Tradition 600 Mann) nicht behaupten können — ver-
mutlich waren die Philister, gegen welche der danitische Held Simson focht,
die Gegner, doch sind die betreffenden Oertlichkeiten später in judäischem Be-
sitz — ; sie wanderten daher nach Norden und ließen sich nach Einnahme und
Ausmordung der sidonischen Bergstadt Lajis in dieser nieder. Auf diese nach
ihm benannte Stadtgemeinde ist Dan später beschränkt und als Stamm nur noch
fiktiv. Daß die Stadt Dan als religiös besonders korrekt galt, macht es wahr-
scheinlich, daß die Tradition über das Wanderleben die Wahrheit berichtet.
Denn religiöse Korrektheit setzt sie für alle alten Hirtenstämme voraus. Aus
einem zweiten Spruch im Jakobsegen hat man wohl mit Recht geschlossen,
daß Dan zeitweilig seiner politischen Selbständigkeit beraubt gewesen sei. Aus-
drücklich berichtet das gleiche der Jakobsegen von dem im Mosessegen als ein
in Zelten wohnender Stamm nur kurz erwähnten Issachar als Folge des Ueber-
gangs zur Seßhaftigkeit: »Als er sah, wie schön die Ruhe und wie lieblich das
Land sei, beugte er seinen Rücken zum Tragen und wurde ein Fronknecht«,
also zweifellos : ein seßhafter Bauer : Issachar saß wenigstens teilweise in der frucht-
baren Ebene Jesreel. Der Stamm Naphthali heißt im Jakobssegen »eine flüch-
tige Hindin«, war also wohl ein Halbbeduinenstamm (wenn nicht ein bloßes
Wortspiel mit dem Namen getrieben sein sollte). Nach dem Deboralied hat er
seine Sitze auf den Bergen, während der Mosessegen ihn als von Jahwe gesegnet
am Meeresstrande seßhaft und im Besitz einer Stadt (Merom) erwähnt. Der
gleichfalls an der Meeresküste sitzende Stamm Asser, dessen durch Oelbau ge-
wonnener Reichtum sprichwörtlich war, scheint im Jakobsegen einem phöniki-
schen Stadtkönig für den Tafelbedarf zinsbar zu sein. Im Mosessegen werden
dagegen seine Festungen (Riegel von Erz und Eisen) und sein starkes Heer
gerühmt. Der Stamm Sebulon muß in der Zeit zwischen der Entstehung des
betreffenden Spruchs im Jakobsegen und des Deboraliedes seinen Wohnsitz
gewechselt haben (im Mosessegen Vers 18 scheint die Lesung verfälscht). Im
Jakobsegen sitzt er am Meer und »lehnt sich an Sidon« d. h. doch wohl: ist von
den Sidoniern abhängig, während er im Deboralied ein kriegerischer Bergstamm
ist. Der Stamm Benjamin ist im Jakobsegen ein Räuberstamm: »ein reißender
Wolf, der morgens Raub frißt und abends Raub austeilt«. Im Mosessegen ist^er
zu Ruhe und Frieden gelangt. Der Stamm Gad scheint später (zu Mesas und
Ahabs Zeit) ein moabitischer Stamm gewesen zu sein. Sein Name war wolil
der eines alten Glücksgottes.
I . Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. ' i
Juda, als Inhaber von Städten mit Dörfern als Dependenzen behan-
delt (cf. Jos. Kap. 15), in deren Bezirke das ganze Land eingeteilt er-
scheint. Selbst für die Zeit, der diese Stelle vermutlich entstammt,
traf dies wohl nur theoretisch zu. Denn die judäischen Südstämme
sind politisch noch in historischer Zeit nach Art der Beduinen
vornehmlich sippenmäßig, die Nordstämme dagegen außerdem
(und für die Verwaltung offenbar: vor allem) nach Art der
mesopotamischen Staaten in Tausendschaften und Fünfziger-
schaften gegliedert. Die Tausendschaftskontingente, als die
Aufgebots-Einheiten, konnten an sich natürlich auch auf die
Viehzüchterstämme übertragen werden. Man konnte einen ein-
zelnen Stamm oder Stammesteil einer oder mehreren Tausend-
schaften gleichsetzen und ihm selbst die Art des Aufgebots über-
lassen. Dies erfolgte dann wohl in verschiedener Art. Das De-
boralied bezeichnet die Führer der Stammeskontingente mit sehr
verschiedenen Ausdrücken, die doch wohl auf sehr verschiedene
militärische Struktur schließen lassen. Die Königsherrschaft
wird naturgemäß nach Einheitlichkeit gestrebt haben. Wie
»Fünfzigern« später der allgemeine technische Ausdruck für
Ausheben und Aufbieten wurde, so Werden in der Tradition
die Obersten der Tausendschaften und Fünfzigerschaften ganz
allgemein als Leute angesehen, die auch im Frieden in ihren
Aushebungsdistrikten Jurisdiktion haben. Dies ist indessen
zweifellos erst Produkt der Königszeit und galt wohl selbst
damals nicht allgemein und dauernd. Bei den viehzüchtenden,
gentilizisch gegliederten Ostjordanstämmen, und ebenso beim
Stamm Juda bestanden vermutlich andere Verhältnisse: als
Friedensbeamte wenigstens kennen sie, scheint es, jene Offiziere
nicht, sondern nur ihre Aeltesten.
Der nach Fünfziger- und Tausendschaften, gegliederte
Bundesheerbann ist überhaupt nicht die einzige und jedenfalls
nicht die älteste Art der Militärorganisation, welche die Quellen ken-
nen . Zwei andere Arten finden sich . Für den zwischen den Nordstäm-
men und Juda sitzenden Stamm Benjamin läßt der Bericht ( Jud. 21,
21 f.) über die Vorgänge nach dem Kampf wegen des Gibea-
frevels, — eine ätiologische Sage für die bei den Benjaminiten offen-
bar bekannt gewesene Raubehe, — es recht wahrscheinlich erschei-
nen, daß dieser Räuberstamm ursprünglich eine straffe fami-
lienlose Organisation der Jungmannschaft nach Art des »Männer-
hauses« besessen hat: vermutlich eben hierauf wird seine trotz
C2 l^as antike Judentum.
des kleinen Gebiets zeitweise große Machtstellung beruht haben.
Andererseits wurde bereits erwähnt, daß die eigentlichen Vieh-
züchterstämme in der Regel die gleiche Stellung zum Kriege
eingenommen haben, welche sich bei den Beduinen typisch findet :
absolute Freiwilligkeit der Teilnahme, also reiner Charismatis-
mus. Diesen behandelt nun das Deuteronomium als die eigentlich
klassische Art. Die Tradition läßt Gideon sein Aufgebot zweimal
sichten: zunächst darf nach Hause gehen, wer feige ist. Dann
aber wird auch noch jeder ausgeschieden, der an einer Fürth in
seinem Durst die Heldenwürde vergessen und wie ein Hund das
Wasser geleckt hat (Jud. 7, 5^). Ersteres ist ein Paradigma
für die, dem später zu erörternden tendenziösen »nomadischen
Ideal« entsprechende, Konstruktion des Deuteronomiums (Ka-
pitel 20), wonach nicht nur die Jungverheirateten und diejenigen,
welche einen Hof oder ein Feld oder einen Weinberg neu angelegt
haben, sondern jeder der sich fürchtet, daheim bleiben soll:
denn — das ist die theologische Begründung — das Vertrauen auf
Jahwe allein genügt für den Sieg. Beim Aufgebot des Judas
Makkabäus findet sich das Paradigma wiederholt. Daß diese Vor-
schriften, wie Seh Wally angenommen hat, nicht theologischer
Konstruktion, sondern alten magischen Vorstellungen entstamm-
ten, scheint nicht sicher. Dagegen werden wir später in der
freiwilligen »Weihe« zum Glaubenskämpfer (Nasir) Formen der
religiösen Heeresbildung kennen lernen, an welche diese Vorstel-
lungen anknüpfen konnten. Aber der Ursprung lag doch wohl
in Beduinengepflogenheiten.
Praktisch angesehen war ein Krieg in diesen Formen ein
reiner Gefolgschaftskrieg. In der Tat hatten fast alle Kämpfe
der israelitischen Richterzeit diesen Charakter. Im Grunde
nur für drei Fälle: den Deborakrieg, die (wohl legendäre) Bun-
desexekution gegen Benjamin und den Befreiungskrieg Sauls
ist in der Tradition das Gesamtaufgebot des Bundesheerbanns
bestimmt überliefert. Alle diese drei Fälle gehören zum Typus
des später zu besprechenden »heiligen« Krieges. Der gottge-
fällige König der Priestertradition ist zwar David. Aber die Art
wie er seine Stellung gewinnt und seine ersten Kriege führt,
ist in der iraelitischen Geschichte das letzte, zugleich schon in eine
neue Zeit hinüberführende, Beispiel des Gefolgschaftskrieges
und des charismatischen Fürstentums.
*) In der heutigen Lesung teilweise verkehrt.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 53
Den Dualismus von Bauern und Hirten zeigt auch die Tra-
dition über die ersten Könige. Saul gilt ihr als Bauer, Da-
vid als Hirt. Saul läßt sie mit dem Aufgebot des rationalen
Heerbanns, David mit Freischaarenkampf die Befreiung begin-
nen. Gewisse Unterschiede in der Struktur der Herrschaft bei-
der sind trotz des tendenziösen Charakters der jetzigen Tradi-
tion wohl noch erkennbar. Saul hatte als Grundlage seiner
Macht die eigene Sippe und die Kriegsmannschaft des Stam-
mes Benjamin hinter sich. Mit Benjaminiten besetzte er die
wichtigsten Aemter. Immerhin finden sich unter seinen Krie-
gern fremdstämmige Helden als persönliche Gefolgsleute.
David stützte sich (i. Sam. 22, i ff.) zunächst auf rein persön-
liche Gefolgschaft und diese setzte sich nach der Tradition zu-
sammen: I. aus seiner Sippe, 2. aus »Bedrängten« und zwar
vor allem aus Schuldsklaven, katilinarischen Existenzen
also, und 3. aus geworbenen kretischen und phüistäischen Söld-
nern iKrethi und Plethi i. Sam. 30, 5 und öfter). Neben diesen
Elementen tritt nun aber bei David weit stärker als schon bei
Saul und den Sauliden hervor: 4. die Gefolgschaft seiner eigent-
lichen persönlichen Genossen, jener Kreis von Paladinen und
Rittern, welche die Königstradition im einzelnen bei Namen
kennt und deren Taten sie aufzählt. Es sind das zunächst An-
gehörige judäischer, z. T. sehr mächtiger Sippen '(Joab). Neben
diese traten, durch Uebertritt von Paladinen Sauls (Abner)
auch nichtjudäische und ferner auch eine Anzahl nichtisraeli-
tischer Ritter: eine stattliche Zahl rein persönlicher »Hetairoi«.
Der Stamm Juda als solcher, zur Zeit von Davids Abfall von den
Philistern noch diesen Untertan, stellte sich erst später geschlos-
sen hinter David. Der Anschluß des Nordlandes an David aber
erfolgte erst nach Ausrottung der Sippe Sauls, und zwar kraft
eines besonderen Vertrages (berith) zwischen ihm und
den Aeltesten der Stämme. Ein Vertrag, ein Bund also, be-
gründete hier, und zwar erstmalig, die nationale Einheit aller
späteren zwölf Stämme Israels unter einem Nationalkönig. Erst
durch einen solchen Vertrag also, das ist der Standpunkt der
Tradition, wird ein charismatischer Heerführer zum legitimen,
nunmehr zum Heerbannaufgebot berechtigten Monarchen: Für-
stengefolgschaft und fürstliche Soldtruppen stehen gegenüber dem
legitimen Volksheer des durch berith eingesetzten Königs.
Dies inmitten der judäischen Viehzüchter zunächst mit Hilfe
r I Das antike Judentum.
einer persönlichen Gefolgschaft und der Macht der großen judäi-
schen Sippen begründete, davididische Königtum wurde nun aber
von Anfang an seit der Einnahme Jerusalems zum Stadt könig-
tum. Nachdem in den Revolten unter den Sauliden, dann unter
Absalon, Adonia, Jerobeam der alte Gegensatz der Bauern-
stämme gegen die Stadtherrschaft sich erhoben und schließlich
das Reich gesprengt hatte, Verfiel das Nordreich mit der Grün-
dung von Schomrom (Samaria) unter den Omriden ganz dem
gleichen Schicksal, an dem die Revolte Jehus im Erfolg nichts
änderte. Das Südreich aber war seit dem Abfall der Nordstämme
schon fast ebenso identisch mit dem Weichbild von Jerusalem
wie die theokratische Polis nach dem Exil.
Diese politische Entwicklung war es hauptsächlich, welche
neben der mindestens relativ sehr starken Verminderung der
Zahl der halbnomadischen Kleinviehzüchter auch den Zerfall
ihrer Stämme durch Verkleinerung der Weidereviere her-
beiführte. Die für uns wichtigste Folge war dabei die E n t m i 1 i t a-
r i s i e r u n g der Hirten . Ihre zersplitterten Sippen waren nunmehr
sowohl gegenüber den seßhaften Bauern wie, erst recht, gegenüber
dem wehrhaften Stadtpatriziat die schwächeren und nur gedulde-
ten. Den Abraham betrachtet die uns vorliegende Form als poli-
tisch rechtlosen Metöken der Hethiter in Hebron und anderer Städ-
te, in deren Gebiet er weilt, in Salem als Zehntpflichtigen des dorti-
gen Priesterkönigs. Jakob Wohnt nach seinem Ankauf in Sichem,
wie alle gerim, vor den Toren der Stadt (Gen. 33, 18). Zur Zeit
dieser Redaktion war sicherlich die Mehrzahl der noch vorhan-
denen Kleinviehzüchter auch tatsächlich in dieser Lage. Den-
noch gelten der Tradition die Erzväter, ebenso wie später Hiob,
als schwer reiche Männer. Höchstwahrscheinlich traf aber
auch dies für die Viehzüchter der späteren Zeit im allgemeinen
nicht mehr zu. Denn für Wanderviehzüchter besteht im allge-
meinen die Chance zu verarmen, und jedenfalls die Rechabiten
sind dem Jeremia keine Großherdenbesitzer, sondern kleine
Leute, ebenso wie der Judäer Amos von Thekoa es War, der
von Sykomorenfrüchten und seinem Vieh lebte. Im ganzen
Mittelmeerbecken war dies überall ähnlich, mit Ausnahme ver-
einzelter und dann freilich unter Umständen sehr großer Herden-
magnaten.
Diese Tatsachen sind zunächst vielleicht wichtig für die
Frage, an welche ökonomischen Kategorien die Rechtsquellen,
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. ^;
Propheten und Psalmisten denken, wenn sie von den > Armen«
(ebjonim) sprechen, wie dies so außerordentlich oft geschieht.
Erst in nachexilischer Zeit kann darunter ein städtischer Demos :
Kleinhändler, Handwerker, freie Kontraktarbeiter verstanden
(oder doch: mitverstanden) sein. In vorexilischer Zeit gehören
dahin offensichtlich vor allem die vom Patriziat bewucherten
Bauern des platten Landes. Aber außer ihnen, vielleicht stärker
als dies in den Quellen hervortritt, auch Kleinviehzüchter.
Es wäre nun an sich nicht unmöglich, daß eine Anzahl von
sozialethischen Vorschriften im Interesse der Armen, welche
namentlich in spätjüdischer Zeit, in der rabbinischen Kasuistik,
umfangreich abgehandelt werden, mit dieser Situation ursprüng-
lich zusammenhingen. Einmal das Nachleserecht und das
später sogen. Recht der »Armenecke«. Die israelitische Karität
schreibt vor, die Nachlese der Stoppeln auf dem Acker zu unter-
lassen und diesen nicht bis auf die letzte Aehre abzuernten,
sondern für die Bedürftigen etwas stehen zu lassen. In der
älteren Fassung, welche das Deuteronomium (24, 19) bewahrt,
sollen vergessene Garben nicht nachträglich geholt, sondern
den gerim, Witwen und Waisen gelassen werden. Die jüngere
Fassung (Lev. 19, 9 f.) ritualisiert in der für die priesterliche
Redaktion typischen Art dies dahin : daß Aecker und Weinberge
absichtlich nicht voll abgelesen und daß an den Enden
für gerim und Arme etwas stehenbleiben solle. Die ältere
Fassung der Vorschrift ist supersJtiöser Herkunft: die numina
des Ackerbodens verlangen ihren Anteil an dessen Früchten
und daher gehört, was liegen blieb, ihnen. Aber die offenbar
spätere Wendung zugunsten der » Armen <* läßt fragen, was unter
diesen ursprünglich Verstanden war. An dem locus classicus
für die Praxis, im Buch Ruth, ist es eine von einem Israeliten
geheiratete, dann verwitwete Stammfremde, der die Stoppel-
lese zugute kommt. Sie tat, das war wohl der ursprüngliche
Sinn, unerkannt Arbeit auf dem Acker des mit ihr verschwägerten
gibbor Boas. Also scheinen. die Kolonen und Landarbeiter des
Patriziats in erster Linie gemeint gewesen zu sein ^). Es ist
aber wenigstens denkbar, daß auch das typische Verbrüderungs-
^) Vgl. zur Frage jetzt: v. Gall Die Entstehung der humanitären For-
derungen des Gesetzes, Zf. Altt. Wiss. 30 (1910) S. 91 f., der den (an sich unzwei-
felhaften) superstitiösen Ursprung auschließlich betont. Die Frage ist aber:
warum blieb die sonst in Kulturländern verschwundene Bestimmung hier erhalten ?
c5 Das antike Judentum.
Verhältnis mit den als Metöken auf die Stoppelweide und Nach-
lese angewiesenen grundbesitzlosen Kleinviehzüchtern der typi-
sche praktische Anwendungsfall der Vorschrift gewesen sei, wie
sie auch in Arabien, wo sie noch jetzt weit verbreitet ist, den
grundbesitzlosen Klassen zugute kommt. Und die Frage muß we-
nigstens aufgeworfen werden, ob irgendwelche Zusammenhänge
mit solchen Klein Viehzucht errechten auch für eine vielbesprochene,
spezifisch israelitische sozialethische Vorschrift: das religiöse
Brachjahr (»S a b b a t j a h r«) für den palästinischen Boden
bestehen könnten. In der jetzigen Fassung der Bestimmung
besagt diese, daß alle sieben Jahre Aecker, Baumpflan-
zungen und Weinberge völlig unbestellt gelassen werden, die
freiwachsenden Früchte den Armen und eventuell den wilden
Tieren zugute kommen sollen. In dieser schroffen Form findet sich
die Vorschrift in der im allgemeinen ältesten Rechts- und Sitten-
gesetzsammlung, dem sogen. Bundesbuch (Ex. 23, 10. 11). Die
Vorschrift ist, was wohl zu beachten ist, keine Rechtsinstitution
und steht auch rein äußerlich nicht in demjenigen Teil der Samm-
lung, welcher in leidlicher systematischer Ordnung präzise juri-
stisch angegebene Tatbestände regelt, sondern unter den offen-
sichtlich der religiösen Paränese entstammenden Bestimmungen.
Sie ist eine sittliche Vorschrift, kein rechtliches Gebot. Als
Institution hat sie aber im Spät Juden tum zweifellos nicht nur
theoretisch gegolten, sondern praktische Folgen gehabt, wie
sowohl die zahlreichen Responsen der Rabbinen über das Ver-
halten gegenüber dem verbotswidrig gebauten Getreide wie auch
andere Nachrichten deutlich zeigen, und sie hat noch für die
gegenwärtigen zionistischen Siedelungsversuche in Palästina eine
Rolle gespielt 1). Die späteste Sammlung, das Priestergesetz,
enthält (Lev. 25, 4 — 7) die Vorschrift mit ausführlichem Kom-
mentar in der Form : daß man auf dem Land nicht arbeiten, son-
dern die freiwachsenden Früchte nur »Speise« sein lassen solle
für den Besitzer, seinen Knecht ('ebed), Tagelöhner (sakir),
Metöken (toschab) und Gäste und, wird hinzugesetzt, »für das
Vieh und die Tiere seines Landes c Der Sinn ist hier also ein
etwas anderer als im Bundesbuch: die im persönlichen Schutz-
^) Die Rabbinen von Jerusalem hatten sich für die Geltung des Gebots
ausgesprochen. Das gleiche hatten, wenn ich mich recht erinnere, deutsche
Instanzen getan. Dagegen sollen die ostjüdischen Rabbinen die Besiedelung
des Landes für so gottwohlgefällig erklärt haben, daß von der alten Vorschrift
dispensiert werden könne.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. cy
Verhältnis des Besitzers stehenden Personen sind diejenigen,
denen die Bestimmung zugute kommen soll. Das würde die
Deutung zulassen: daß es sich ursprünglich um ein Pacht- und
Fron-Erlaß jähr zugunsten der Kolonen gehandelt habe. Damit würde
die Art, wie die Schwur Verpflichtung der Gemeinde der Zurück-
gekehrten unter Esra das siebente Jahr erwähnt, gut zusammen-
stimmen: »wir wollen das siebente Jahreseinkommen fallen
lassend (Neh. lo, 31). Die aus der Königszeit, zwar interpoliert,
aber im ganzen doch in leidlicher Redaktion überlieferte, deu-
teronomische Sammlung endlich kennt — und dies ist bei dem
Charakter gerade dieses Gesetzbuchs als eines Kompendiums
der religiösen Ethik wichtig — das Sabbat jähr des Ackers über-
haupt nicht, sondern eine ganz andere Institution: den sie-
benjährigen Schulderlaß. Die Wahrscheinlichkeit einer Inter-
polation des Sabbat Jahrs im Bundesbuch aus dem Priester-
gesetz liegt daher überaus nahe angesichts der Unwahrschein-
lichkeit einer wirklichen Durchführung der dort gegebenen Be-
stimmungen bei den vorexilischen Ackerbauern. Wenn sie
trotzdem auf alte Gepflogenheiten zurückgehen sollten, könnte
entweder eine Institution aus dem intermittierenden Ackerbau
der W^anderhirten, also ein Rest alter zeitlicher Grenzen der
Bodenappropriation: >: Feldgemeinschaft« in diesem Sinn, zu-
grunde gelegen haben. Oder aber irgendeine typische Bestim-
mung über die Art der Brachweiderechte der Wanderhirten auf
dem Lande der seßhaften Sippen. — Zweifellos ist freilich die
Mitwirkung theologischer Konsequenzmacherei unter Einwir-
kung der Schulderlaßbestimmung des Deuteronomiums und der
allgemeinen Steigerung des Sabbatgedankens in der Exilszeit. Da-
mals wahrscheinlich ist von der babylonischen Exilsgemeinde diese
wie andere Institutionen des Spätjudentums ritualisiert und dann in
das Bundesbuch interpoliert worden. Alles in Allem bleibt die Rolle
des Wanderhirtentums für diese Vorschriften problematisch.
Wichtiger als diese sehr unsicher bleibenden Möglichkeiten
einer ökonomischen Deutung solcher einzelnen sozialethischen
Institutionen ist aber für unseren Zusammenhang die allgemeine
Auffassang, welche die volkstümliche Tradition der Königszeit
von der Lage der Kleinviehzüchter hatte und Welche in ihrer
Auffassung der Erzväter zum Ausdruck kommt. Diese Auf-
fassung ist ihrerseits eine Konsequenz charakteristischer
Verhältnisse und ist für das Judentum folgenreich geworden.
[^g Das antike Judentum.
Die Erzväterlegende behandelt die Patriarchen als ganz spezifisch
pazifistische Erscheinungen i) . Ihr Gott ist ein Gott der Fried-
fertigen (Gen. 13, 14 f.)- Sie treten als isolierte Hausväter auf.
Von politischen Verbänden unter ihnen weiß sie nichts. Sie
sind geduldete Metöken. Ihre Lage ist die von Hirten, welche
familienweise durch friedlichen Kontrakt sich von der ansässi-
gen Bevölkerung Weidereviere sichern und nötigenfalls, wie Abra-
ham und Loth, friedlich unter sich verteilen. Es fehlt ihnen jeglicher
Zug von persönlichem Heldentum. Eine Mischung von vertrauens-
voll gottergebener Demut und Gutmütigkeit mit einer von ihrem
Gott unterstützten geriebenen Verschlagenheit kennzeichnet sie.
Die Erzähler rechnen darauf, daß ihr Publikum es selbstverständ-
lich findet, wenn die Erzväter lieber ihre begehrenswert schönen
Weiber für ihre Schwestern ausgeben und dem jeweiligen Schutz-
herrn preisgeben 2), es Gott anheimstellend, sie aus dessen Harem
durch Plagen gegen den Besitzer wieder zu befreien, als daß sie
für ihre Frauenehre eintreten. Es erscheint ihnen direkt löblich,
daß sie, um die Heiligkeit des Gastrechts nicht verletzen zu müssen,
ihre eigenen Töchter statt der Gäste preiszugeben bereit sind.
Ihre Verkehrsethik ist fragwürdig. Ein ergötzliches Spiel der
Uebervorteilung herrscht jahrelang zwischen Jakob und seinem
Schwiegervater, sowohl beim Feilschen um die begehrten Weiber,
wie bei dem vom Schwiegersohn durch Knechtdienst erworbenen
Vieh . Heimlich geht schlie ßlich der Stammvater Israels dem schwie-
gerväterlichen Dienstherrn durch unter Mitnahme von dessen
Hausgötzen, damit dieser seinen Weg nicht verrate. Sogar die
Etymologie seines Namens wird diesen Qualitäten angepaßt
und es scheint, daß » Jakobstrug < eine zur Zeit der Propheten sprich-
wörtliche Wendung war. Vollends unanstö^ig erscheint es der
Sage, daß ihr ausdrücklich als frommer Hirt geschilderter Held
seinem hungrig heimkommenden, im Gegensatz zu ihm als un-
bedachter Bauer ^) und Jäger geschilderten Bruder ^) die
■) Ueber die Erzväterlegenden jetzt (zum Teil gegen Ed. Meyer) Greß-
männ, Sage und Geschichte in den Patriarchensagen Z. f. Altt. Wiss. 30 (1910)
S. 91 f., der die meisten unter die Kategorie »Märchen« rückt, was angesichts der
alten Kultorte, mit denen sie verbunden und an denen sie lokalisiert sind, wohl
zu weit geht. Aber ruit Recht tritt er der Meinung entgegen, daß die Namen not-
wendig entweder Heroen- oder Stammesnamen sein müßten.
2) Dreimal: Gen. 12, 13; 20, 2; 26, 7.
^) Denn so ist doch wohl »isch sadeh« (»Mann des Ackerfeldes« Gen. 25, 27)
zu übersetzen und nicht, wie heut mehrfach: »Der Mann, der sich auf der Steppe
(was sadeh nicht bedeutet) herumtreibt«.
*) Wie Abel dem Bauern Kain so wird der sanfte Jakob dem rauhen
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. cn
Erstgeburt um etwas Speise abfeilscht, ihn dann um den väter-
lichen Segen mit Hilfe der Mutter betrügt, später vor dem Zu-
sammentreffen mit ihm ein höchst jämmerliches Angstgebet an
seinen Gott richtet (Gen. 32, 10 f.), durch List und für einen
Kriegshelden würdelose Erniedrigung sich der gefürchteten Rache
entzieht. Spröde Tugend in Verbindung mit einer rührsamen
Großmut gegen die Brüder, die ihn aus Neid töten wollen und
in die Sklaverei verkaufen, weil er im Traum sich als ihren Herrn
gefühlt hat, ist die Eigenschaft ihres bevorzugten Helden Joseph.
Seine fiskalischen Fähigkeiten in der Ausnutzung der Notlage der
Untertanen des Pharao qualifizieren ihn zu dessen Wesir, was
nicht hindert, daß er seine Familie veranlaßt, seinem Herrn
halbwahre Auskünfte über ihren Beruf zu geben. Auch die See-
räuber- und Kauffahrerethik des vielgewandten Odysseus und
sein in Notlagen oft maßloses Jammern zur Helferin Athena
liegt ja für uns oft außerhalb des Bereichs der Heldenwürde.
Aber Dinge wie die zuerst angeführten werden von ihm doch nicht
berichtet. Es sind das Züge von Paria volksethik, deren Ein-
fluß auf die Außenmoral der Juden in der Zeit ihrer Zerstreuung
als internationales Gastvolk nicht unterschätzt werden dürfen,
und die mit dem sehr ausgeprägten gläubigen Gehorsam zu-
sammen erst das Gesamtbild der von der Tradition verklärten
inneren Haltung dieser Schicht geben. Diese aber ist eben un-
zweifelhaft eine Schicht von, als machtlose Metöken, zwischen wehr-
haften Bürgern sitzenden Kleinviehzüchtern.
Die moderne Analyse, Welche die religionsgeschichtliche
Wichtigkeit gerade dieser Schicht zunehmend betont hat, neigt
nun dazu, diesen pazifistischen Charakter der Halbnomaden
als etwas ihnen naturnotwendig Eigenes anzusehen. Aber das
trifft entschieden nicht zu ^). Er ist vielmehr erst Folge jener
Bauern Esau gegenübergestellt als »frommer Hirt, der in den Zelten blieb«.
Und wie Kain andererseits zum Beduinen wird, so ist Esau andererseits ein
gieriger Jäger.
^) Man mißver'^tehe das Folgende nicht. Die Entstehung der einzelneri heu-
tigen Erzvätererzählungen selbst wird wohl mit Recht in ein hohes Alter hinauf-
gerückt. Manches spricht dafür, daß sie teils unter der Herrschaft der Cheta
in den Steppen zwischen Syrien und Mesopotamien, teils unter ägyptischer Herr-
schaft in den südjudäischen Steppen entstanden. Zu jeder Zeit gab es natürlich
Viehzüchter in der spezifisch ohnmächtigen und pazifistischen Lage, welche sie
voraussetzen. Aber das Entscheidende: ihre Beziehung auf die Stammväter
des Jahwebundes Israels ist unbedingt spät, weil ganz und gar unvereinbar
mit den — gerade wenn man an die »Eroberung« Kanaans durch Israel glaubt —
als althistorisch vorauszusetzenden Vorgängen. Manche Erzväter-Erzählungen
^Q Das antike Judentum.
wehrlosen Zersplitterung der Kleinviehzüchter, Welche bei zu-
nehmender Seßhaftigkeit eintritt. Er fehlt durchaus, wo immer
sie in machtvollen politischen Verbänden organisiert sind.
Die Erzväter haben im Bewußtsein der Israeliten keineswegs
immer ihre in der jetzigen Redaktion der Thora niedergelegte
Stellung eingenommen. Insbesondere Abraham und Isaak kennt
die ältere vorexilische Prophetie als Personen nicht. Amos kennt
die Erzväter Isaak, Jakob, Joseph nur als Volksnamen (7, 9.
16; 3, 13; 6, 8; 7, 2; 5,6. 15). Abraham der mit Jakob bei Micha
als Empfänger der Verheißungen Jahwes erscheint (7, 20) tritt erst
bei Hesekiel (33, 24) als der volkstümliche erste legitime Inhaber
des Landes Kanaan auf. Die theologischen Literatenkreise,
speziell der sog. »Elohist« und die deuteronomische Schule,
scheinen den jetzt in der Redaktion auf ihnen liegenden Akzent
geschaffen zu haben. Ihr Charakter hat dabei offensichtlich
starke Wandlungen erfahren, welche eben mit jener sozialen De-
klassierung und Entmilitarisierung der Hirten zusammenhängen.
In der durch die Altersfolge der Stammväter ausgedrückten
alten Rangfolge der Stämme stehen Rüben, Simeon, Levi und
Juda voran, lauter wesentlich halbnomadische, zugleich aber
höchst kriegerische und als gewaltsam bekannte Stämme, von
denen die ersten drei später zersplittert Waren, Juda nach ge-
waltsamer Erlangung der Hegemonie stadtköniglich organisiert
wurde. Solche starken Viehzüchterstämme waren keineswegs
in der Lage geduldeter Metöken. Die kriegerische Tradition
kennt sie als Herren des Landes und die von ihnen abhängigen
Städte entweder als leiturgiepf lichtige Schutzverwandte, wie
Gibeon, oder als heeresfolgepf lichtig, wie im Deboralied die Stadt
Meros. Aehnliches kennt aber auch die Erzväterlegende: Isaak
wird der Stadt Gerar, deren Metöke er ist, mit zunehmendem
Reichtum und steigender Klientel zu übermächtig (Gen. 26,
14. 16). Auch Jakob ist in der ursprünglichen Tradition ein
starker Held, der einen Gott im nächtlichen Ringkampf bezwingt.
Das von ihm nach seinem Segen an Joseph (Gen. 48, 22) »mit
Pfeil und Bogen« erworbene Stück Land hinterläßt er dem füh-
renden Stamm als Vorzugserbe: es ist Sichem, der spätere Mittel-
machen unhistorische Voraussetzungen, so die Kamel Schenkung des Pharao
an Abraham, da das Kamel damals in Aegypten noch nicht bekannt war. Stamm-
väter des gesamten Israel konnten die Erzväter erst nach der Einigung des Reichs,
also nach David, werden. Vor allem scheint der ursprünglich lokale Charakter der
Vätersagen durch ihre Verknüpfung mit je einer bestimmten Kultstätte gesichert.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 6l
punkt Ephraims. Die später rezipierte pazifistische Tradition
(Gen. 33, 19) aber läßt ihn dies Grundstück charakteristischerweise
nicht erobern, sondern friedlich kaufen ^) . Das vielbesprochene
14. Kapitel der Genesis ^) endlich kennt Abraham als kriegeri-
schen Helden, der mit mehreren hundert Klienten ins Feld
zieht und den verbündeten Königen Mesopotamiens, Ham-
murapi eingeschlossen, die von ihnen im Kampf mit den kanaanäi-
schen Stadtkönigen gemachte Beute siegreich wieder abjagt. Sehr
klar tritt der Gegensatz von Kriegerehrgefühl und utilitarischem
Hirtenpazifismus in der entgegengesetzten Stellungnahme des fried-
fertigen Erzvaters Jakob einerseits, seiner kriegerischen Söhne
Simeon und Levi andererseits, zur Schändung der Dina durch
Sichem zutage (Gen. 34, 30. 31). Die in solchen Fragmenten
erhaltenen ganz andersartigen Züge sind offenbar erst unter den
Verhältnissen der späteren Zeit völlig zurückgetreten hinter
jener pazifistischen Haltung, welche den nunmehr bestehenden
Umständen entsprach^). Für die unter solchen Umständen
entstandene oder rezipierte pazifistische Tradition erst ist Ja-
kob deshalb fromm, weil er in den Zelten bleibt und ebenso
Abel der gute friedliche Hirt und sein Mörder Kain einerseits
der seßhafte gewaltsame Ackerbauer, dessen fleischloses Opfer
der Gott Verschmäht hat, andererseits der zur Unstetheit ver-
fluchte Beduine und endlich der Städtebauer: das sind die drei
typischen Gegner der nunmehrigen machtlosen zwischen sie
eingekeilten Klein Viehzüchter ^) .
^) Die spätjüdische Tradition freilich glaubt in einem Dorf bei Samaria
mit dem »Jakobsbrunnen« das Gen. 48, 22 gemeinte Grundstück zu erkennen
(Ev. Joh. 4, 5). Die jetzige Redaktion der Ueberlieferung weiß jedenfalls
von Landeroberungen Jakobs überhaupt nichts zu berichten. Dieser Zug wurde
also getilgt,
2) Das in seiner heutigen Fassung sehr späte Kapitel trägt alte Reminiszen-
zen zu einer historischen Fabel zusammen. Daß es aber geradezu ein in Babylon
zu hochpolitisch-legitimistischen Zwecken fabrizierter Staatsroman sei (so
Asmussen Z. f. \. W. 34, 1914) erscheint mir allzu unwahrscheinlich. Archiv-
studien zur Eruierung der Namensform elamitischer Könige konnten die Israeliten
der Exilszeit nicht wohl machen. Und die Namensform Kudur (Kedor) Laomer
ist echt.
^) Ueber die Erzväter und die Einwanderungsfrage jetzt auch: "Wein-
heim e r in der Z. D, M. G. 1912 (nicht alle Aufstellungen scheinen annehmbar
beachtenswert aber, was über die Stufenfolge der drei Erzväter vom »Nomaden«
Abraham bis zum »Bauer« Jakob gesagt ist).
*) Luther (bei Ed. Meyer, Die Israeliten und ihre Nachbarstämme) nimmt
an, daß erst der Jahwist die ursprünglich als ansässige Ackerbauern geschilder-
ten Erzväter absichtlich zu Halbnomaden gemacht habe, dem von Budde sog.
^2 Das antike Judentum.
Gegen den Ste^-dtpatriziat und gegen die Beduinen standen
aber beide Gruppen: Bauern und Hirten, im gleichen Gegensatz
und es entwickelte sich den erstgenannten beiden Gruppen
gegenüber daher eine Interessengemeinschaft zwischen ihnen.
Die Amarnatafeln ebenso wie das Deboralied, der Spruch
des Jakobsegens über Ephraim und die Tradition über
Gideon, Jephtha und Samuel geben diese Interessenlage in
jeweils Verschiedener Art wieder und auch die Epoche noch der
beiden ersten Könige zeigt diese Situation in ihren politischen
Konsequenzen.
Starke Unterschiede der Zusammensetzung zwischen den
einzelnen Stämmen bestanden. Asser und Dan scheinen die am
frühesten stadtsässigen, Ephraim und die Stämme Issachar,
Sebulon, Naphthali scheinen die am stärksten mit ansässigen
eigentlichen Bauern durchsetzten Stämme gewesen zu sein.
Sie waren daher vor allem durch die phönikischen, philistäischen
und kanaanäischen Stadtpatriziate in ihrer ökt3Tiomischen und
politischen Unabhängigkeit bedroht, die Issachar früh aufgab.
Die viehzüchtenden Ost Jordanstämme dagegen wurden vor
allem durch die Streif züge der Beduinen der Wüste, der Midiani-
ter und Amalekiter, gefährdet, deren Angriffe sie zwangen, sich
wie in Gideons Zeit in Höhlen zu bergen. Von den Westjordan-
stämmen hatte wesentlich Ephraim unter diesen »Pfeilschützen«
zeitweise zu leiden. Noch die Kriege der Bauern auf geböte
Sauls gehen zur einen Hälfte gegen die amalekitischen Beduinen.
Erst die Herrschaft Davids stellte durch Unterwerfung Edoms
und durch die damit gesicherte Herrschaft über die Karawanen-
straße bis zum Roten Meer für geraume Zeit das Uebergewicht
der Ansässigen über die Wüstenstämme her. An dieser Pazi-
fizierung der Wüste waren nun Stadtpatriziat, Bauern und
Hirten im ganzen gleichmäßig interessiert. Im übrigen aber
bestan4 ein oft scharfer Interessengegensatz. Zunächst zwi-
schen Bauern und Viehzüchtern. Es werden zwischen den israeli-
tischen Viehzüchterstämmen östlich des Jordan und den Ephrai-
»nomadischen Ideal« der Prophetenzeit zuliebe. Ausgeschlossen ist auch eine
solche Wandlung an sich gewiß nicht. Unwahrscheinlich ist sie aber deshalb,
weil doch viele charakteristische Züge der Erzählungen, namentlich ihre Ethik,
offensichtlich inmitten von noch sehr unbefangenen Hirten entstanden sind.
Der Ackerbau Isaaks in Gerar ist als »nomadisierender« Anbau geschildert. Das
vielbesprochene Vorkommen der Namen der Erzväter Abraham und Joseph
in ägyptischen Inschriften scheint ziemlich zweifelhaft: W. M. Müller, M. D. V.
A. G. 1907, I, S. II u. 23.
1. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. (5^
miten gewaltsame Konflikte erwähnt. Die Tradition berichtet
namentlich von einem Krieg Ephraims gegen den siegreichen
Gideon (Jud. 8, i f.) und ein.em Vergleich, der diese Gegen-
sätze aus dem Wege räumen sollte. Die Abzweigung der
Stämme Machir und Manasse über den Jordan nach Osten,
der Streit Ephraims über die Vormacht zuerst mit Gilead, dann
mit Manasse, den die Sage vom Segen Jakobs über Ephraim
und Manasse wiedergibt, ebenso die Abzweigung des »jüngeren
Bruders« Benjamin nach Süden zu, und dann der von der späteren
Legende aufgegriffene Kampf Ephraims mit dem. Räuberstamm
Benjamin stellen teils Vorstöße der Bauern in die am leichtesten
anbaufähigen Teile des von Viehzüchtern bewohnten Berglandes
dar, teils Rückstöße und Raubzüge der Viehzüchterstämme
gegen das Bauerngebiet. Die Kämpfe Judas gegen Benjamin
und ebenso schon weit früher die territoriale Ausdehnung Judas
auf vorher benjaminitisches und danitisches Gebiet waren Vor-
stöße dieses neu entstehenden Viehzüchterstammes gegen die
altisraelitischen Stämme im Norden. Dieser Gegensatz zwischen
Bauern und Viehzüchtern kommt in der ganzen frühisraelitischen
Tradition zum Ausdruck. Auch in der politischen Haltung der
Stämme nach außen.
Der Feind, gegen welchen sich gemeinsam die bereits seß-
haften, vor allem: die bergsässigen Bauern und die halbnomadi-
schen Hirten, Wenigstens des West Jordanlandes, zu wehren hatten,
war der wehrhafte Patriziat der Städte in den fruchtbaren Ebenen
und an der Küste. Männliche und weibliche Sklaven, Fronden
und Abgaben, nach dem Deboralied namentlich schönes Hausge-
webe, suchen die stadtsässigen Patrizier im Kriege zu gewinnen.
Daneben, wie schon früher bemerkt, die eigene Kontrolle über
die Karawanenstraßen. Neben der Beherrschung dieser Straßen
und dem Gewinn, den sie brachte, erstrebten die freien Bauern
und Hirten der Berge die Sicherung ihrer Fron- und Abgaben-
freiheit gegenüber dem Stadtpatriziat, und suchten womöglich
ihrerseits die Städte zu nehmen, teils um sie zu zerstören, teils
um sich selbst als Herrenschicht darin festzusetzen. Es ent-
spricht dieser Gegensatz, soweit solche Vergleiche Sinn haben,
im Wesen den Kämpfen der an der Gotthardstraße sitzenden
Schweizer Urkantone gegen Zürich, der Samniten gegen
Rom, der Aitoler gegen die hellenischen Städtebünde und
die Makedonenkönige. Mit geringer Ungenanigkeit kann man
Qa Das antike Judentum,
sagen : es kämpfte dabei das Bergvolk gegen die Ebene. Dieser
naturgegebene Gegensatz nahm erst in der Zeit des judäischen
Königtums ein Ende. Vorher beherrscht er die ganze Geschichte
Palästinas von Anfang unserer Kunde an. Schon in der Amarna-
zeit bedrohen die Feinde, Sa Gaz und Chabiri, »von den Bergen
her« die Städte in den Ebenen. In der Tradition über die Kämpfe
um den Besitz Kanaans sind es die mit eisernen Wagen versehenen
Städte, welche die Israeliten nicht nehmen können. Alle israeli-
tischen Helden der sog. Richterzeit sind Angehörige landsässiger
Sippen, die auf Eseln, den Reittieren der Berge, nicht auf Pferden
reiten und deren Reichtum und Macht, wie wir sahen, nach dei
Zahl der auf Eseln berittenen Sippengenossen geschätzt wurde.
Noch Sauls Residenz war ein Dorf in einem Bergtal und noch
Davids Heerführer Joab weiß mit den Beutepferden nichts an-
zufangen und läßt ihnen die Fesseln lähmen. Aber das Maß des
Gegensatzes gegen die Städte War bei Bauern und Viehzüchtern
verschieden. Die Hauptinteressenten des Kampfs gegen den
Städtepatriziat waren die ansässigen Bauern, die der Fron-
knechtschaft am meisten ausgesetzt waren. Der Deborakrieg
verläuft wesentlich als ein Bauernkrieg. Daß das untrainierte
Fußvolk der Berge doch wie Ritter (gibborim) gefochten und ge-
siegt hat, ist es, was ihm im Liede zum höchsten Ruhm gerechnet
wird. Einerseits die viehzüchtenden, nicht bäuerlichen, Ost-
jordanstämme Ruhen und Gilead, welche dieser Kampf nicht
interessierte, andererseits die Bundesstadt Meros, vor allem
aber charakteristischerweise der an der Küste früh stadtsässig
gewordene Stamrn Asser und der ebenfalls, auf sidonischem Ge-
biet, stadtsässige Stamm Dan blieben dem Kampfe fern. Auch
gegen die Philistäer haben die nordisraelitischen Bauern und
die Hirten des Berglands Juda erst spät gemeinsame Sache gemacht ;
die letzteren blieben dem Kampf zunächst ganz fern und den
Philistern treu. Der Ritterschaft der Philister stellt die Tra-
dition daher in Saul den benjaminitischen Bauern, welcher
vom Pfluge weg König wird, und. dann erst ihren Liebling, den
nur mit der Schleuder bewaffneten judäischen Hirten David
als typische Vertreter der beiden Kategorien von Israeliten
gegenüber. In Wahrheit freilich war David anfänglich ein berg-
sässiger Gefolgschaftshäuptling des üblichen katilinarischen
Charakters und Lehensmann der Philister, Von denen er sich
erst unabhängig machte, als er Stadtfürst von Jerusalem
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 5^
wurde: der Kampf eines seiner Recken mit Goliath fand erst
statt, als er schon König war.
Die Schaffung einer einheitlichen Militärmonarchie mit einem
Aufgebot wagenkämpfender Ritter entschied dann das Schicksal
des Heerbanns der freien Bauern und Hirten Israels. Die ben-
jaminitische Herrschaft blieb wesentlich ländliche Stammes-
hegemonie, obwohl immerhin schon Saul nach der Tradition sich
eine persönliche Gefolgschaft, teilweise von Stammfremden, hielt.
Aber der Esel war noch für Saul das charakteristische Tier.
Gegen Davids Stadtkönigtum erhoben sich stets erneut die
altbäuerlichen nordisraelitischen Gebiete. Unter Salomo wurde
dann die königliche Kriegsmacht mit Rossen und Wagen organi-
siert, die er (wenn die Lesung nicht verderbt ist) aus dem ihm
durch Heirat Verbundenen Aegypten bezog. Sofort setzte —
wie später näher zu besprechen ist — die Opposition ein,
welche bis in die Rabbinenzeit hinein Salomos Beurteilung zu
einer höchst zwiespältigen gemacht hat. Nach seinem Tode
erhoben sich gegen sein Stadtkönigtum die noch nicht städtisch
organisierten Stämme, um nach wenigen Generationen mit der
Gründung von Schomrom (Samaria) ebenfalls in ein, wiederholt
von landsässigen Usurpatoren bedrohtes, Stadtkönigtum mit
den in der Tradition und in den assyrischen Inschriften erwähnten
zahlreichen Kriegswagen der Omridendynastie auszumünden.
Die bisher wesentlich nebeneinander gelagerten sozialen Ge-
bilde: Viehzüchterstämme, Bauernstämme, Städte werden nun
in Eins geschmolzen, die Hauptstadt und die in ihr ansässigen
Herrensippen politisch ausschlaggebend. In der Zeit vor Salomo
lag dagegen der eigentliche Kern des alten Bundes in den an Zahl
zunehmend überwiegenden Bauern des Berglandes einerseits
und den an relativer Bedeutung langsam abnehmen Jen Viehzüch-
tern der Steppengebiete andererseits, zu welchen einzelne Markt-
flecken und Landstädte in den Bergflußtälern und an den Paß-
straßen, erst sekundär aber und allmählich zunehmend auch
starke Festungsstädte hinzutraten. Eine starke Zunahme der
Viehzüchter einerseits, der stadtsässigen Bevölkerung anderer-
seits muß der Hinzutritt des großen judäischen Gebiets unter
David gebracht haben. Politisch und sozial kam er nur der
Macht des Patriziats zugute, welches nun ausschlaggebend
wurde. Aber innerhalb der plebejischen Schichten bestand
der alte innere Gegensatz der seßhaften Bauern, die im Nor-
Max Weber, Religionssoziologie IH. c
55 ^äs antike Judentum.
den überwogen, zu den Klein Viehzüchtern, die im Süden vor-
herrschten, weiter und hat, wie wir sehen werden, auch für
die reHgiöse Entwicklung Folgen gehabt. Allein zunehmend
war an Stelle der alten Gliederung Israels in wehrhafte bäuer-
liche Grundeigentümer- oder Hirtensippen einerseits, schutz-
verwandte Gastsippen von Handwerkern, Tagelöhnern, Musikern
andererseits die ganz andere getreten: auf der einen Seite stadt-
sässiger grundherrlicher Patriziat als Träger der ritterlichen
Kriegerschulung, auf der anderen verschuldete oder ganz land-
los gewordene, also proletarisierte, Israeliten und zum Jahwe-
Ritual bekehrte Metöken, welche nun eine, rein mit den
Augen der Priester angesehen, einheitliche Schicht Von »Armen«
gegenüber dem Patriziat bildeten. Sie waren keine sozial oder
ökonomisch einheit iche Schicht, sondern umfassen alle nicht
zu den wehrhaften Sippen Gehörigen.
Diese sehr komplexe und überdies sehr wechselvolle, aber
allmählich sich in der Richtung der Beherrschung des flachen
Landes durch das Stadtpatriziat verschiebende soziale Zusam-
mensetzung der Israeliten spiegelt sich nun in eigentümlicher
Art in den Rechtssammlungen wieder, die uns aus
vorexilischer Zeit erhalten sind. Mehr in einzelnen Symptomen
und in dem »Geist«: der Ait der Stellungnahme zu den typischen
Gegensätzen, äußert sich die soziale Umwelt, als in der formellen
Eigenart und dem. Inhalt der Sammlungen. Denn in diesen zeigt
sich der maßgebende Einfluß des Umstands: daß Palästina von
Anfang an ein von lebhaftem Handel durchzogenes, mit Städten
ziemlich stark durchsetztes, dem Einfluß der großen Kultur-
länder mit alter ökonomischer Entwicklung stark ausgesetztes
Gebiet war. Der Gegensatz von verschuldeten Bauern gegen
stadtsässige Gläubiger war von Anfang an vorhanden. Dies
zeigt sich schon in der unter dem Namen »B u n d e s b u c h«
(Ex. 21, 21 — 22, 2o) bekannten alten Zusammenstellung unbe-
kannten, aber sicher über die erste Königszeit hinausgehenden
Alters, — einer systematisch geordneten Darstellung vor-
wiegend rechtlichen Inhalts mit Anhängen vorwiegend paräne-
tisch- verkehrssittlichen Charakters/). Beduinenrecht findet sich
darin ebensowenig wie an anderen Stellen der uns erhaltenen
1) Darüber die bekannte Schrift von Baentsch. über das Bundesbuch, und
die gemeinverständliche Darstellung von Adalbert Merx in den »Religionsge-
schichtl. Volksbüchern«.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 57
Satzungen. Weder Brunnenrechte noch das Kamel oder die
Dattelpalme kommen als Rechtsobjekte vor. Die Zisternen
spielen im »Bundesbuch« (Ex. 21, 33) nur insofern eine Rolle,
als Vieh durch Hineinfallen verunglücken kann. Aber das
Recht des Bundesbuchs ist auch kein solches von Halbnomaden
oder überhaupt von vorwiegenden Viehzüchtern. Das Vieh
kommt zwar häufig vor als ein Hauptobjekt beweglichen Ver-
mögens. Aber : vor allem das Rindvieh, erst hinter ihm die Schafe.
Archaistisch ist es gewiß, daß der stößige Ochse selbst als ver-
antwortlich gesteinigt wird ^). Aber es handelt sich dabei ganz
offensichtlich um Viehbesitz von Bauern und um Schutz von
Bauern gegen das Vieh anderer. Schädigung von Aeckern und
Weinbergen durch Vieh wird geregelt (22, 5), aber als Besitzer
des schädigenden Viehs wird ein ansässiger Landbesitzer, nicht
ein Halbnomade, vorausgesetzt. Das Pferd kommt nicht vor.
Rinder und Schafe stellen den Viehstand dar. Die Interessen
der in Dörfern und Städten seßhaften Ackerbauern kümmern
das Recht fast allein. Es wird vom Einbruch in Häuser gehandelt
(22, 2) ^nd die Haftbarkeit des Hauswirts gegenüber dem Mieter
geregelt (22, 8). Auch formell ist das Recht durchaus nicht
primitiv. Denn der Grundsatz der Talion, der auch in Babylon
bestand und keineswegs ein an sich primitives Prinzip ist, wird
im Bundesbuch (21, 22 ff. -) nur für den Fall der Schädigung
bei einer offenen Rauferei aufgestellt, dagegen, was oft übersehen
wird, nicht für Körperverletzungen anderer Art oder gar grund-
sätzlich für alle Verbrechen. Die Blutrache besteht, daneben
aber schon ein ziemlich entwickeltes Wergeid- und Bußesystem
und zum Teil auch ein eigentliches Kriminalrecht mit Unter-
scheidung von Mord und Totschlag, von Verschulden und Zufall.
Ebenso leidlich rationale Prinzipien der Risikoverteilung. All
dies repräsentiert ganz wesentlich vorgeschrittenere Stadien,
als etwa dasjenige der lex Salica. Daß es sich um eine von Baby-
lonien sehr stark beeinflußte Kultur handelt und daß auch das
Recht selbst von dort her bestimmend beeinflußt War, zeigt
sich nicht nur in den zweifellosen Parallelen in Hammurapis
1) Reste ähnlicher Auffassung finden sich in der altrömischen actio de
paupere.
*) Anders in den späteren Rechtssammlungen, bei charakteristischen
Abweichungen.
53 Das antike Judentum.
Gesetz ^), sondern vor allem in der entwickelten Geldwirtschaft '^).
Neben der Naturalleihe (22, 14) und der Viehkommenda (22, 10)
steht das Gelddarlehen (22, 25) und das Gelddepot (22, 7). Die
Leistung der Wergelder und Bußen erfolgte in Geld. Das Faust-
pfand, der Sklavenkauf, insbesondere der Verkauf eigener
Kinder (21, i f.) und zweifellos auch der eigenen Person ^)
in die Schuldknechtschaft bestehen. Auch die als Teil der Par-
änese an die eigentlichen Rechtssatzungen angehängte Fest-
ordnung (23, 14 f.) ist durchaus die eines seßhaften Ackerbau-
volkes. Das später universell rezipierte große Fest der Schaf-
züchter: das Passah, findet gar keine Erwähnung. Vielmehr
findet sich allein das später mit dem Passah verbundene Fest
der ungesäuerten Brote, also ein Bauernfest. Und auch die
übrigen Feste schließen sich an Ackerarbeit und Ernte an.
Besonders charakteristisch für den »Geist« der Sammlung
ist nun das Prozeß-, Sklaven- und Metökenrecht. Diese Teile
des Rechtsbuchs und seiner paränetischen Anhänge sind am
ehesten zu vergleichen mit den von hellenischen Aisymneten und
den römischen Dezemvirn zur Ausgleichung der Kämpfe zwi-
schen dem Patriziat und der Plebs, ähnlich aber von den mesopo-
tamischen Herrschern, Welche priesterlich beeinflußte Wohl-
fahrtspolitiktrieben, über die gleichen Punkte gegebenen Gesetzen.
Die Weitestgehenden Bestimmungen gehören allerdings der Par-
änese an. Es sollen keine Geschenke genommen werden (23, 8),
es sollen weder (23, 6) die Rechte des Armen (ebjon) zugunsten
des angesehenen Mannes noch — und dies wird vorangestellt
— das geltende Recht (23, 2) den Wünschen der Menge ent-
sprechend gebeugt werden. Dies letztere war offenbar nur mög-
1) Die Art der Formulierung der Talion (Hammurapi § 196), der Gefähr-
dung einer Schwangeren (§ 210), vor allem aber die Behandlung stößiger Rin-
der (§ 251) ist bei Hammurapi so ähnlich, daß ein Zufall ausgeschlossen ist.
(Auch die Behandlung der von der kinderlosen Ehefrau dem Manne beigelegten
Kebse (§ 145) stimmt genau mit der Hagar-Erzählung.)
* ^) Nur ist gegen Baentsch zu berichtigen, daß von geprägtem Geld im
Bundesbuch keine Rede ist. Das Geld wird natürlich dargewogen. Aber, daß
das kein »primitiver« Zustand ist (wieProcksch meint), daran sollte, abgesehen
von der alten, schon lange vor der eigenen Münzprägung Handelsverträge init
Uebersee abschließenden Handelsstadt Rom, der Umstand erinnern, daß z. B.
eine Handelsstadt wie Karthago die Münze erst mit dem Uebergang zum aus-
ländisch rekrutierten Soldheer annahm. Die ganze Handelsexpansion der Phöni-
ker geschah ohne Münze.
^) Denn dies ist 21, i f. gemeint, sonst könnte die Bestimmung ja durch
Weiterverkauf umgangen werden.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 69
lieh, wenn die Menge (rab) eine an den Aemtern nicht beteiligte,
aber zu den Vollfreien gehörige Plebs war. Der Metöke (ger)
soll nicht geschunden (22, 21), noch (im Prozeß) ungerecht be-
handelt werden (23, 9). Der Sabbath, der ja für reine Vieh-
züchter keinen rechten ökonomischen Sinn gehabt hätte, wird
ausdrücklich als ein Tag des Ausruhens für das Arbeitsvieh,
die Sklaven ('> Söhne der Magd«) ^) und Metöken motiviert
(23, 12). 'Es muß angenommen werden, daß unter diesen Metöken
hier außerhalb des Stadt Verbandes stehende Kolonen als Be-
arbeiter der Felder gedacht sind. Von dem in seiner jetzigen
Fassung entweder interpolierten oder in seinem Sinn entstellten
Sabbat jähr war schon die Rede 2). Am radikalsten ist aber
das Schuld- und das Sklavenrecht, welches mit dem Schuldrecht
unmittelbar zusammenhängt. Denn der Sklave gilt in erster
Linie als Schuldsklave, sei es daß er sich selbst oder daß ihn seine
Eltern in der Not veikauft (römisch: in mancipium gegeben)
haben. Zwar die paränetische Pfändungsschranke (Verbot der
Pfändung der Kleidung: 22, 26) geht in der israelitischen Samm-
lung ^nicht soweit, wie bei Hammurapi (Verbot der Pfändung
des Arbeitsviehs). Dagegen ist das in der Paränese enthaltene
sehr folgenreiche Verbot, beim Leihen an einen armen Volksge-
nossen diesen zu Schaden zu bringen und Zins (neschech) ^)
von ihm zu nehmen (22, 25) — die Quelle der Scheidung von
Binnen- und Außenethik im Judentum — dem babylonischen
Recht ganz fremd. Es entstammt primär der alten Brüderlich-
keitsethik des Nachbarschaftsverbandes mit seiner Pflicht zins-
loser Nothilfe. Die sehr allgemeine unpräsize Fassung schließt
es aus, daß die Vorschrift dem praktischen Rechtsleben ent-
stammte. Sie war ein religiöses Gebot und bildet die paränetische
*) Juristisch sehr korrekt formuliert, da das Recht an der Mutter ent-
scheidet.
2) Die Bestimmungen über das Sabbatjahr in ihrer jetzigen Fassung spre-
chen im Gegensatz zu denen über den Sabbattag wesentlich abstrakter von
armen Stammesgenossen (ebjonej'am, — *am ist in den älteren Quellen der Aus-
druck für die wehrhafte Mannschaft), denen die Früchte zugutekommen sollen.
Dies und die doktrinäre Bestimmung: daß eventuell das Wild die Früchte fres-
sen soll, macht spätere theologische Konstruktion wahrscheinlich.
3) Der später häufige Ausdruck »ribbith« für Zins ist offenbar erst aus
Babylonien übernommen worden. Dort war er aus der Begriffsphäre »Steuer«
oder »Untertanentribut« in die privatrechtliche Sphäre eingedrungen, vermut-
lich, weil der ursprüngliche privatrechtliche Zins auch hier in der Regel kein
fester Zins war, sondern ein Anteil an der Ernte oder am Gewinn. Lev. 25, 36
37 kommt »marbit« für »Wucher« vor.
^O Das antike Judentum.
Ergänzung für diejenigen rechtlichen Vorschriften, welche, als
für die Tendenz der ganzen Sammlung besonders wichtig, an
die Spitze aller ihrer Satzangen gestellt sind. Nämlich (21, 2 f.) :
1. ein hebräischer Knecht, ein Schuldskläve also, muß nach
6 Dienstjahren freigelassen werden, es sei denn, daß er ein Weib
aus dem Hausstand des Herrn genommen hat und, um sie zu
behalten, freiwillig in dessen dauernder Knechtschaft zu bleiben
wünscht, was dann durch eine religiöse Zeremonie (Ohrdurch-
löcherung vor dem Hausgötzen) bezeugt werden muß. Ferner:
2. eine hebräische Schuldsklavin wird frei, wenn der Herr sie nicht
entweder zu seinem Weibe oder zum Weib seines Sohnes macht,
und wenn er sie im ersteren Fall gegenüber später genommenen
Frauen in Nahrung, Kleidung oder Sexualverkehr zurücksetzt.
Diese durchaus präsizen Vorschriften waren zweifellos altes
praktisches Recht. Die ersterwähnte Bestimmung hat auch das
Gesetzbuch Hammurapis mit sogar noch kürzerer Frist (3 Jahre)
für den Fall, daß nicht Selbstverkauf, sondern Verkauf der Ehe-
frau oder der Kinder durch den Hausvater für dessen Schulden
vorliegt. Einen Verkauf der Ehefrau kennt das. israelitische
Recht überhaupt nicht. In ihm treten gegenüber dem babyloni-
schen Recht Bestimmungen zum Schutz der Person des Sklaven
dazu: schwere Körperverletzung durch den Herrn begründet
(21, 26. 27) den Anspruch auf Freilassung, Totschlag (21, 20)
Kriminalstrafe, Wenn der Tod sofort eintritt, während anderen
Falls der Grundsatz gilt: daß der Herr ja nur sein eigenes Be-
triebskapital geschädigt hat und der Sklave rechtlos ist (21, 21).
In Hammurapis Gesetz (116) finden sich Schutzbestimmüngen
dagegen, daß der Gläubiger den Schuldknecht — auch hier stets
als Sohn oder Knecht des Schuldners gedacht ^ — durch Ent-
behrungen oder Mißhandlungen sterben läßt.
Alles in allem trägt diese Rechtssammlung den Stempel
von Verhältnissen an sich, welche zwar weit engere und dürftigere,
im Rahmen von Kleinstädten sich bewegende ökonomische Zu-
stände darstellen als diejenigen der altbabylonischen Gesetz-
gebung, nicht aber prinzipiell von diesen Verschiedene. Wichtige
Gegensätze finden sich. Der Hirt der babylonischen Gesetze
ist ein angestellter Hirte des Königs oder ein privater Dienstmann
großer Herdenbesitzer (wie Jakob in der Legende bei Laban) , der-
jenige des Bundesbuchs ist ein Bauer. Individualbesitz an Land
wird (22, 5) als selbstverständlich vorausgesetzt, im übrigen frei-
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. j \
lieh über das Bodenrecht nicht gehandelt. Der Bauer ist in
Babylonien im allgemeinen Kolon, Schuldknecht, Sklave, Päch-
ter, besonders oft Teilpächter eines stadtsässigen großen Grund-
herrn. Kolonen gab es in Palästina auch. Aber das Gesetz
interessiert sich für sie nicht: sie sind gerim. Der Grundbesitzer
des Bundesbuchs ist dagegen ein mit einigen Knechten, Mägden
und eventuell auch mit Schuldsklaven oder politisch rechtlosen
Kolonen wirtschaftender, sein Land nicht, wie sehr häufig der
babylonische Grundherr, durch Administratoren, sondern per-
sönlich verwaltender Ackerbürger oder mittelgroßer Landwirt.
Es fehlt ferner der Großhändler und große Gelddarleiher Baby-
lons. Die Kaufleute sind wohl teils als Fremde, teils als Metöken
zu denken; das Rechtsbuch erwähnt sie nicht. Alle diese Ver-
hältnisse dürften von denen der Zeit des Deboraliedes vor allem
insofern prinzipiell abweichen, als die freien Bauern jetzt Plebejer
unterhalb der sich entwickelnden stadtsässigen Patriziate ge-
worden sind. Eben auf den dadurch hervorgerufenen Gegen-
sätzen innerhalb Israels hat zweifellos das Bedürfnis nach dieser
Kodifikation beruht. Die Zustände der ost jordanischen und der
zur ^eit dieser Rechtssammlung vielleicht, noch gar nicht zu
Israel gezählten Südstämme bleiben völlig außer Betracht.
Die Rechtssammlung könnte sehr wohl auf ephraimitischem
Boden, etwa in Sichem, entstanden sein. Der Ausdruck Nasi
für den Fürsten, den zu beschimpfen verboten wird (22, 27)
— die einzige politische Paränese — , paßt ebenso wie der
Gebrauch von > Elohim<< für die Gottheit eben dahin und die ganzen
Zustände in die Zeit etwa bei Beginn der Königsherrschaft.
Nicht unwesentlich verschobene Verhältnisse setzt die
aus der Zeit, als das Reich Juda in Wahrheit schon nahezu mit
der Polis Jerusalem nebst den - von ihr politisch abhängigen
Kleinstädten und Dörfern identisch War, stammende Um.ar-
beitung des Bundesbuchs voraus, welche in das d e u t e r o-
nomische »Lehrbuch« aufgenommen ist (besonders 12 — 26).
Inwieweit diese aus mindestens zwei verschiedenen Bestand-
teilen (12 — 19 und 20 — 25) zusammengesetzte Sammlung dem
unter Josia (621) von den Priestern »aufgefundenen« und dann
durch den König auf ihre Veranlassung als verbindlich oktroy-
ierten angeblichen mosaischen »Sefer hattorah« von Anfang an
zugehört hat, kann hier dahingestellt bleiben^). Wiedergabe
^) Darüber s. aus der neuesten Literatur namcntlicli A. F. V \\ \\ k k o ,
72 Das antike Judentum.
und Amendierung praktisch geltenden Rechts, theologische Lehr-
haftigkeit und sittlicher Utopismus sind in diesen Satzungen
die gleiche Verbindung eingegangen, wie in den meisten über-
lieferten derartigen Sammlungen Israels überhaupt. Aber es
ist doch die Beziehung zur realen Umwelt eines lebendigen Rechts
fühlbarer als in den späteren rein priesterlichen Sammlungen der
Exilszeit. Nach wie vor spielt der Viehbesitz (Rinder und Schafe)
eine bedeutende Rolle und werden weder Kameele noch Pferde —
welche letztere vielmehr nur als Kriegspferde des Königs in
Betracht kommen — als Gegenstand des Privatverkehrs er-
wähnt. Reichtum ist zwar in erster Linie Ueberfluß an Getreide,
Most, Oel, Feigen, Granatäpfeln, Honig, Vieh (Deut. 7, 13;
8, 8) aber auch (8, 13) an Silber und Gold. Der Erzbergbau im
Lande wird als einer von dessen Vorzügen erwähnt (8, 9). Die
Brunnen bedeuten in den Bergen von Juda zwar viel (6,11), aber
als wichtiger, auch für die Beziehung zum Gott bedeutsamer,
Unterschied gegenüber Aegypten wird erwähnt : daß man dort das
Land besäen und selbst bewässern müsse, »wie einen Gemüse-
garten« (11, 10), während auf den Bergen und Auen Palästinas
der von Gott gesendete Regen die Ernte gebe (11, 11). Die ge-
stiegene Bedeutimg des Grundeigentums tritt in dem schweren
Fluch gegen Grenzverrückung (27, 11 vgl. 19, 14) hervor, die
Abschwächung sowohl der alten patriarchalen Stellung des Haus-
vaters wie der alten Geschlossenheit und Solidarhaftung der
Sippen nach außen in dem Verbot der Antastung des Vorzugs-
erbteils des ältesten Sohns (21, 16) einerseits und der Beseitigung
der Straf haftung der Familienglieder füreinander andererseits
(24, 16). In diesem Punkt ist das Rechtsbuch ziemlich modern;
die Praxis selbst wird in einer (wohl deuteronomistischen) Tra-
dition übrigens schon König Amazia zugeschrieben (2. Kön.
14, 6). Die Blutrache besteht nach wie Vor (19, 6), aber das
Prozeßrecht einschließlich des Beweisrechts ist, namentlich durch
das (noch in unserem kanonistischen Krim.inalprozeß nachwir-
kende) Gebot des Zweizeugenbeweises verhältnismäßig weitge-
hend rationalisiert.
Das Deuteronomium (Beitr. z. W. v. A. T. ), welcher gerade diese Partien
davon ausschließen möchte. Ich halte diese Annahme für einen Teil der Rechts-
satzungen, nämlich für das sehr charakteristische Königsrecht, aus politischen
Gründen für derart unwahrscheinlich (s. später), daß mir auch für andere Be-
standteile dieses Abschnittes die Zugehörigkeit zu Josias Sefer hattorah sehr
wahrscheinlich erscheint. Wellhausen (Komposition des Hexateuch S. 189 f.)
hatte geradezu Kap. 12—26 als das Urdeuteronomium angesehen.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 7^
Das ethische Brüderlichkeitsgebot, welches im Bundesbuch
und den angehängten paränetischen Ermahnungen mehrfach
in etwas allgemeinen (dabei meist gerade in den der Interpel-
lation am meisten verdächtigen) Stellen behandelt wird, ist zu
weitgehenden sozialen Schutzbestimmungen für Witwen, Waisen,
Knechte, Arbeiter, Metöken, Kranken fortentwickelt, von denen
noch in anderem Zusammenhang unten zu reden ist. Der Fluch
gegen das Ge^chenknehmen der Richter (27, 25), gegen das
Beugen des Rechts der soeben genannten schutzbedürftigen
Personen (27, 19) und das Verbot jeder Art von Bedrückung
gegen sie (24, 17) steht neben dem Fluch gegen die Irreleitung
von Blinden (27, 18) und der Wiederholung des älteren Gebots,
das verlaufene Vieh des -Nächsten ihm zurückzustellen (22, i. 3).
Von der Witwe darf gar nicht (24, 17), von den Armen nur be-
schränkt Pfand genommen werden (24, 10. 12). Den Knecht
darf man nicht schinden (23, 17) und — eine sehr weitgehende
Bestimmung: — einen Arbeiter, der seinen Herrn verläßt, diesem
nicht wieder ausliefern (23, 16). Dem Arbeiter, auch dem Metöken
als Arbeiter, ist der Lohn am selben Tage zu zahlen (24, 15. 16).
Die steigende Bedeutung freier Tagelöhner tritt in all diesen
Bestimmungen hervor. Der Sabbat gilt auch jetzt (5, 14) als
Ruhetag im Interesse der Bauern selbst. Es werde, heißt es,
zwar immer Arme im Volk geben (15, 11), aber es sollte eigent-
lich keine israelitischen Bettler geben (15, 4) : auf diesem Grund-
satz beruhen die sozialen Bestimmungen, denen fast sämtlich
eine ziemlich geringe Präzision und also die Herkunft aus reli-
giöser Paränese nicht: geltendem Recht eignet.
Das Brach jähr für den Acker kennt die Sammlung, wie frü-
her bemerkt, nicht : ein sehr starker Beweis für dessen nachträg-
liche Interpolation im Bundesbuch, auf welchem ja das Deutero-
nomium sonst fußt. Dagegen wird, und zwar im Interesse
der Witwen und Waisen und der Metöken, die Nachlese auf dem
Acker, im Wein- und Oelgarten untersagt (24, 19 f.) und gestattet,
von den Früchten des Ackers und Weinbergs eines anderen
seinen Hunger zu stillen (23, 25. 26). Beides sind Reste alten
Nachbarschaftsrechts zwischen Grundherren und Fronpflichtigen,
vielleicht auch ein Reflex der üblichen Beziehung zwischen
ansässig gewordenen Bauern und nichtansässigen Kleinvieh-
züchtern.
Schon das Vorstehende zeigt, daß das Pfand- und Schuld-
74
Das antike Judentum,
recht das eigentliche Gebiet auch dieses Sozialrechts ist, noch
weit mehr als schon im Bundesbuch. Statt des Brach] ahrs für
den Acker kennt das Deuteronomium ein jenem noch unbe-
kanntes radikales Schuldrecht . lieber die wiederholt eingeschärfte ,
schon dem Bundesbuch bekannte sechsjährige Zeitgrenze der
Schuldknechtschaft hebräischer Schuldner (15, 12) hinaus sta-
tuiert es die Pflicht, den entlassenen Schuldknecht, da er ja
»Mehrwert« erarbeitet habe, mit einem Zehrpfennig in Naturalien
auszustatten. Vor allem aber die Kassierung aller Schulden
eines Volksgenossen — im Gegensatz zum Fremdbürtigen — im
»Erlaß jähr« (schnath schmitta, genauer: schmitta kesafim).
Während nun aber für das Sabbat jähr (schmitta karka'oth)
in spätisraelitischer Zeit Beweise praktischer Geltung vorliegen,
ist trotz der sehr nachdrücklichen Drohungen des Gesetzes gegen
alle Umgehungen und trotz der Einschärfung im Schwurbund
unter Nehemia (Neh. 10, 32) schon früh, endgültig durch Hillel,
eine Form (der sog. Prosbul) gefunden worden, welche ge-
stattete, die Erlaßjahrbestimmung kontraktlich außer Wirk-
samkeit zu setzen. Nie findet sich eine sichere Spur ihrer An-
wendung. Sie war paränetischen Ursprungs und blieb utopisch.
Aber auch die nicht paränetisch, sondern gesetzlich gebotene
Freilassung der Schuldsklaven, die das Bundesbuch ebenso wie
das babylonische Recht kannte, ist nicht einmal unter Zedekia
innegehalten worden, trotzdem in der politischen Not damals
(Jer. 34, 8 f.) ein besonderer feierlicher Beschluß (berith), dies
zu tun, gefaßt war (dessen Bruch Jeremia zu den schwersten
Unheildrohungen ve'ranlaßte) . Es ist also fraglich, ob und welche
Tragweite die Vorschriften des Schuldrechts, insbesondere
des Erlaß Jahrs, ursprünglich gehabt haben, und es scheint nicht
unwahrscheinlich, daß hier eine gelegentliche Maßregel der
Schuldentlastung zugrandelag, die dann von den theologischen
Redaktoren institutionell festgelegt und mit dem in der Exils-
zeit steigend wichtig gewordenen Sabbatgedanken in Beziehung
gesetzt worden ist. Denn der Sache nach handelt es sich um
eine »Seisachthie«, wie wir sie aus den antiken Mittelmeer-
städten kennen und wie sie ja auch jener Beschluß unter Ze-
dekia darstellte. Daß mit wachsender Geldbesitz- Akkumulation
durch den Handel der stadtsässige Patriziat und die von ihm
bewucherte Bauernschaft als typische Klassengegensätze galten,
beweist im Deuteronomium besonders deutlich die unmittelbar
!.■ Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. yc
an jenes Gebot des Erlaßjahres anschließende berühmte Ver-
heißung (15, 6) : >;Du wirst vielen Völkern leihen und wirst
von niemand borgen«, mit dem gleichbedeutenden Zusatz: »Du
wirst über viele Völker herrschen und über dich wird niemand
herrschen.« Daß das allsiebenjährige allgemeine Erlaß jähr selbst
und diese im Zusammenhang damit stehende Stelle theologi-
sche Interpolationen der Exilszeit sind, wird durch das Vorhan-
densein eines Doppelgängers in der jetzigen Redaktion höchst
wahrscheinlich. Nach Wiederholung der Verheißung (28, 12)
wird hier die genau entsprechende Drohung (28, 43. 44) für den
Fall des Abfalls von Jahwe ausgesprochen : »Der ger bei dir wird
über dich steigen und oben sein, du aber wirst heruntersteigen und
immer unten sein, er wird dir leihen, du wirst borgen, er wird
das Haupt, du wirst der Schwanz sein«, - — Ankündigungen,
die wir dem Sinne nach bei den Propheten wiederfinden werden.
Diese — wegen der Art der Erwähnung des ger — offenbar
vorexilischen Stellen bestätigen aber zugleich auf das deutlichste,
daß jener Klassengegensatz zugrunde lag. Der mittelalter-
liche und moderne Geld- und Pfand wucher der Juden, diese
Karikatur, in welcher sich jene Verheißung erfüllt hat, war
mit der Heilsverheißung wahrlich nicht gemeint. Nein, die
Verheißung sollte bedeuten: Israel wird, in Jerusalem seßhaft,
der Patriziat der Welt sein, die anderen Völker aber in
der Lage politisch untertäniger und verschuldeter Bauern draußen
Vor den Toren, genau so wie in jeder typischen Polis der gesamten
Frühantike, von der sumerisch-akkadischen Zeit angefangen,
das Verhältnis zwischen den Stadtbürgern und dem Lande war.
Noch in talmudischer Zeit wird dabei die ebenfalls für die ganze
Antike typische Lage vorausgesetzt : daß der verschuldete Bauer,
der seinen Erbbesitz dem Gläubiger hat überlassen müssen, als
Pächter, also als Kolone, auf dem früher ihm selbst ge-
hörigen Acker sitzt. So soll aber das Verhältnis der israelitischen
Stammesbrüder untereinander nicht sein dürfen: das ist der
Sinn des sozialen Schuldrechts und der zugehörigen Paränese.
Daß der Kaufmann ursprünglich stets, und auch damals
noch oft, ein Metöke war, zeigt die Art des Auftretens des ger
in der deuteronomischen Unheilandrohung. Aber so tief hatte
doch schon die Entwicklung zur Stadtsässigkeit der Israeliten
selbst gewirkt, daß jetzt die Klassenlage des Stadtpatriziats als
-T^ Das antike Judentum.
ihre selbstverständliche Zukunftsverheißung auftritt^). Israeliti-
sche, im Ausland (Damaskus) ansässige Kaufleute, werden erst-
malig in dem Vertrag Ahabs mit Benhadad (i. Kön. 21, 34)
erwähnt. In den israelitischen Städten selbst sind sie natürlich
erst recht schon längst dagewesen. Auch heute bildet der Ge-
treidehandel in, Palästina die Quelle schwerer Bewucherung
der Fellachen. — Daß es sich im Deuter onomium durchaus um
städtische Verhältnisse handelt, zeigt auch der sonstige Inhalt
des Gesetzes. Bestimmungen über die Sicherung des Hausdachs
durch eine Brüstung, damit niemand herabfällt (22, 8), Asyl-
städte für den Totschläger (19, 3), die Gerichtsstätte > in den
Toren« (16, 8), das Gebot rechten Maßes und Gewichts (25, 14. 15)
gehören alle dahin. Den armen Bruder darf man nicht bew^uchern
(23, 20), man soll ihm bereitwillig leihen (15, 8): ein Bestandteil
des alten Nothilfegebots der typischen Nachbarschaftsethik.
Dieser arme Bruder ist aber hier im Zweifel immer ein Mann
in einer Stadt (15, 7), d. h. zweifellos ein in einem Stadtbezirk
(der jetzt als selbstverständliche politische Einheit gilt) und wohl
in aller Regel als Kleinbauer, ansässiger Israelit.
Die jetzigen Rechtsnormen des Deut er onomium dürften
zwar aus der vorexilischen Zeit des Stadtkönigtums stammen
sind aber sicherlich im Exil von Theologen überarbeitet worden
Vermutlich ähnliches, nur mit ganz wesentlicher Verstärkung
des Anteils der Arbeit der Exilstheologen gilt von dem sog.
»Heiligkeitsgesetz« 2). Die in dieser Sammlang und ebenso
in der ganz im Exil entstandenen sog. »Priestergesetzgebung« ^),
welche die Masse des Stoffs des heutigen 3. und 4. und Teile
des 2. Buches Mose schuf, enthaltenen sozialen Vorschriften
sind teils ihrem Alter, teils der Realität ihrer Geltung nach pro-
blematisch. Theologische Konsequenzmacherei schuf sie, unter
Anknüpfung an Reminiszenzen aus der Vergangenheit, für ein
^) Eine Stadt der Gerechtigkeit soll Israel nach Jesajas Verheißung
(i, 26) werden.
'■^) Dieser Name für die Sammlung Lev. 17 — 26 rührt bekanntlich von Klo-
stermann her. Vorexilisch ist sie, ■weil ihr Grundstock anscheinend Priester
und Leviten nicht scheidet, nachexilisch überarbeitet aber deshalb, weil (Lev.21)
der Hohepriester (mit gesonderten kultischen Reinheitsptlichten) existiert und
mehrfach eine kleine Kultgemeinde vorausgesetzt wird (s. dazu aus neuerer
Zeit: Puukko, Das Deuteronomium S. 49).
^) Die Priesterschrift zeigt ganz unverkennbare Beziehungen zu HesekieL
Da aber die Aaroniden, nicht die Zadokiden (s. später) es sind, die sie auf den
Schild hebt, ist sie sicherlich jünger, dem Esra näherstehend, als die Prophetie
Hesekiels.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. »77
»Jahwe heiliges Volk«, ein Volk von »Metöken Jahwes« auf dem
diesem gehörigen heiligen Boden, auf welchen man von ihm zu-
rückgeführt zu werden hoffte. Wir begegnen neben dem Wucher-
verbot und der vermutlich hier zuerst in ihre jetzige Form ge-
brachten und von da aus in das Bundesbuch interpolierten
Sabbat Jahrsbestimmung zunächst einer Weiteren Abwandlung
der Schuldhaftnormen. Einen israelitischen Schuldhäftling soll
man (LeV. 25, 39. 46) nicht wie einen Leibeigenen, sondern wie einen
freien Tagelöhner halten, für Welchen (19, 13) die deuterono-
mische Bestimmung über die Lohnzahlung wiederholt wird.
Als Leibeigene darf ein Israelit nur Heiden oder Metöken be-
sitzen (Lev. 25, 44. 45), denn alle Israeliten sind Leibeigene
Gottes (Lev. 25, 42). Hat sich ein Israelit einem Metöken ver-
kaufen müssen, so soll ihn seine Sippe oder er sich selbst jeder-
zeit auslösen dürfen (25, 48). Alle iraelitischen Schuldhäftlinge
aber sollen jedenfalls alle siebenmal sieben Jahre, im sog.
Halljahr, frei werden. In diesem unter Posaunenschall auszu-
rufenden Freijahr soll aber auch jedes Grundstück, welches —
es wird als selbstverständlich angenommen (vgl. Lev. 25, 25) :
aas Not — verkauft worden ist, wieder frei an den Verkäufer
zurückfallen (25, 13 f.), falls nicht der nächste Sippenbruder
es schon vorher einlöst (25, 25), wozu er jederzeit das Recht hat.
Denn ein Verkauf von Land auf ewige Zeiten soll nicht zulässig
sein, da das Land Gottes Eigentum, die Israeliten aber darauf
nur Gottes Metöken sind: auch ein Beweis, daß als Kennzeichen
der Metöken das mangelnde Bodenrecht galt. Nur Häuser inner-
halb einer ummauerten Stadt dürfen für ewig verkauft werden
und sind nur innerhalb eines Jahres einlösbar (25, 29). Eine
weitgehende Kasuistik regelt die bis zum Halljahr anzurech-
nenden Jahresraten. — • Es steht fest, daß das Halljahr selbst
eine nie praktisch gewordene theologische Konstruktion der
Exilszeit War, und die Art der Motivierung der anderen Vor-
schriften läßt für sie das gleiche vermuten. Aber es fragt sich
immerhin, ob nicht dennoch im lebenden Recht Anknüpf imgs-
punkte vorhanden gewesen waren. Zunächst läßt die Erzäh-
lung von der Schuldsklavenfreilassung unter Zedekia (Jer. 34,
8 f.) in Verbindung mit der bei Trito-Jesaja (61, 2) vorkommen-
den Prophezeiung von einem »Gnaden jähr (schnath razon)
Jahwes« erkennen, daß die öffentliche Verkündigung eines »Frei-
lassungsjahrs« für alle Schuld versklavten offenbar nicht nur in
7 g Das antike Judentum.
jenem Einzelfall, unter Zedekia, stattgefunden hatte, sondern ein
typischer Vorgang War, vermutlich in Kriegsnot, wo man aller
Wehrhaften benötigte und wo ähnliches auch bei den Hellenen
vorkam. Dann aber könnte auch in dem Rückfall des Boden-
besitzes an die Sippe eine Reminiszenz alten Rechts stecken.
Denn es muß auffallen, daß innerhalb der Rechtssamm.lungen
nur an dieser Stelle von Kauf und Verkauf von Grund und Boden
die Rede ist, von welchem sowohl das Bundesbuch wie das Deu-
teronomium schweigen. Es fragt sich also, ob und unter welchen
Voraussetzungen eine dauernde Veräußerung Von Boden in
Altisrael zulässig war. Im babylonischen Recht ist der alte
Retraktanspruch der Sippe erst allmählich überwunden worden.
Aus Jeremias Orakeln wissen wir, daß im Fall der Absicht einer
Veräußerung von Erbland ein Vorangebot an einen Sippen-
genossen mindestens durch die Sitte vorgeschrieben und daß es
für den Berechtigten eine ungern abgelehnte Anstandspflicht
war, den Acker zu erwerben, damit er nicht an Fremde falle.
Der Himmel möge verhüten, daß er seinen Erbacker verkaufe,
erwidert in der Tradition auch Naboth dem König Ahab auf des-
sen Kaufangebot. Das zeigt, daß zur Zeit dieser Redaktion der
Geschichte der Verkauf ohne Befragung der Sippe zwai an sich als
rechtlich möglich galt, — wie dies übrigens die zahlreichen gegen
die Bodenakkumulation der Reichen eifernden Stellen der Prophe-
ten beweisen, — daß er aber für das Erbland durch die Sitte
mißbilligt Wurde. Das Priestergesetz ist, abgesehen von einer
schon erwähnten Stelle des Deuteronomium, auch die einzige
Rechtsquelle, welche das Bodenerbrecht erörtert. Indirekt
spielte dieses freilich eine Rolle bei der alten Institution der
sog. Leviratsehe. Denn das Recht und die Pflicht, die kinder-
lose Witwe des Bruders zu heiraten, um ihm »Samen zu er-
wecken«, brachte Recht und Pflicht zur Uebernahme eines Land-
besitzes mit sich, welcher im Falle der Ablehnung durch den
nächststehenden an denjenigen entfernteren Anwärter fiel,
der sich der Ehepflicht unterzog. Oder vielmehr, nach der Art
der Auffassung der Tradition (Ruth 4, i f.}, gerade umgekehrt: Wer
aus der Sippe das Land des kinderlos Verstorbenen haben wollte,
mußte die Witwe heiraten. Aus der gesamten Tradition geht
hervor, daß mindestens in der Zeit der Redaktion der Erzväter-
legende es als üblich galt, daß der Hausvater vor dem Tode
oder wenn er sich (wie dies bei dem Sirachiden erwähnt wird)
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 70
auf das Altenteil zurückzog, mit ziemlich weitgehender Frei-
heit die Verteilung seines Besitzes unter die Kinder regelte
und dabei offenbar durch feierlichen Segen und Fluch seinen
Verfügungen Nachdruck verlieh. Daß als Erben des Landes
hier wie in allen militärischen Verbänden der Antike nur die
Söhne in Betracht kamen, verstand sich von selbst. Das Deu-
teronomium suchte, wie erwähnt, den ältesten Sohn zu schützen
gegen Antastung seines Vorzugsanteils durch den Vater, der
ja sehr leicht unter dem Einfluß einer Lieblingsfrau die Kinder
ungerecht behandeln konnte, wie sich das in ägyptischen Er-
zählungen findet. Das Priestergesetz führte die Bindung weiter.
Es statuiert die Erbfähigkeit der Töchter am Grund und Boden
hinter den Söhnen (Num. 27, 8 — -lo) und bestimmt im Zu-
sammenhang damit, daß solche Erbtöchter, damit das Land nicht
dem Stamm entfremdet Werde, nur innerhalb des Stammes
heiraten sollen. Diejenigen Mädchen, zu deren Gunsten nach
der Legende Moses die Bestimmung erläßt, heiraten daraufhin
Vettern, also Sippengenossen. Stamm und Sippe werden nicht
immer scharf geschieden und es liegt nahe anzunehmen, daß
hier die Sippe und nicht der Stamm gemeint war. Denn wenig-
stens nach altem Recht scheint, wie wir sahen, der Lngenosse
des Stammes überhaupt als ger und also als unfähig zum Boden-
eiwerb gegolten zu haben '). .
Allerdings wäre es möglich, daß außer der alten Sippen-
gebundenheit auch noch andere Gewalten in die Gestaltung des
Grundbesitzes eingegriffen haben und wir in diesen Bestimmungen
Reste davon vor uns sehen ^) . Wir finden in den hellenischen
Städten den »Kleros« teils durch Sippenansprüche, teils durch
militärische Veräußerungsbeschränkungen gebunden. Das alt-
hellenische Erbtochterrecht entstammte, wenn nicht allein, so
jedenfalls auch militärischen Interessen. Dem hellenischen Aus-
druck für Kleros entsprach aber, wie Ed. Meyer mit Recht
bemerkt, der israelitische für Landlos: »Chelek«, der die Neben-
bedeutung »Beuteanteil« hat, also keineswegs agrarkommunisti-
schen oder sippenmäßigen, sondern militärischen Ursprungs
>■) JSacii Ruth 4, 3 beerbten zur Zeit der Redaktion dieser Legende auch
Mütter ihre kinderlosen Söhne. Die ganze Erzählung ist freilich juristisch un-
präzis.
2) Sulzberger a. a. O. ist, so viel ich sehe, der Einzige, der ähnliche Zusam-
menhänge vermutet. Nur hat er meines Erachtens eine ganz unwahrscheinliche
Vorstellung von der Macht des israelitischen Bundes nach Innen, der doch nur
intermittierend reagierte und gar keine Organe besaß.
go Das antike Judentum.
ist ^) : wo immer die Heeresmacht auf der Selbstequipierung
der freien Grundbesitzer ruhte, war der Landbesitz Funktion
der Wehrhaftigkeit. Ebenso hatte der bei der Leviratsehe und
den -verwandten Institutionen maßgebende Wunsch, den »Na-
men« der Sippe in Israel zu erhalten, neben später zu besprechen-
den religiösen wohl auch militärische Grundlagen : das Geschlechts-
register der ökonomisch Wehrfähigen Sippen war Grundlage des
Aufgebots. Aus dem Deboralied scheint hervorzugehen, daß
der Sollbestand des Bundesheerbanns (40 000) in runden Tau-
sendschaftsziffern festgelegt war — wie dies der späteren Rolle
der Tausendschaften als der Normalkontingente entspricht —
und aus der Nachricht über das Aufgebot gegen den Stamm
Benjamin ergibt sich, daß man in Quoten dieses Sollbestandes:
in diesem Falle -z. B. (Jud. 20, 10): einen von zehn, aufbot.
Da die Tausendschaften zweifellos auf die einzelnen Bundesglie-
der fest verteilt waren, so hatte schon deshalb der kontingent-
pflichtige Stamm, neben dem eigenen Interesse an seiner Wehr-
kraft, auch ein durch diese Bundeskriegsverfassung bedingtes
Interesse an der Erhaltung der Kriegerlose. Es ist also immerhin
möglich, daß er zu ähnlichen Maßregeln griff, wie die hellenischen
Städte, bei welchen es bekanntlich nicht leicht auszumachen ist,
welche von den in Resten überlieferten Bindungen des Kleros
alten Sippenrechten und welche . vielmehr Interessen des Mili-
tärverbandes entsprangen. Die verschiedenen Institutionen,
deren teils rudimentäre, teils theologisch entstellte Reste uns
in den Quellen entgegentreten, von den für uns ganz unkennt-
lichen Sabbat Jahrs- und den Seisachthiebestimmungen angefangen
bis zum Levirat und Erbtöchterrecht, dem Vorzugsanteil des
Aeltesten (als des Kleros-Erben) und den Resten des Sippen-
retrakts bei Erbgütern, könnten dann in solchen militaristisch
bedingten Eingriffen eine ihrer Quellen gehabt haben. Eben-
dahin würde es dann gehören, daß in Ermangelung von Leibes-
erben nach der Abraham- Geschichte (Gen. 15, 2. 3) der Groß-
knecht (in diesem Fall sogar ein aus Damaskus stammender
Kaufsklave) in das Erbe einrückt: daß ein Erbe für den Kleros
da ist, nicht: wer es ist, daran ist diese Auffassung interessiert.
Andererseits: Wer verarmt ist, d. h. wer meinen Grundbesitz
1) Gerade die Derivate des Zeitworts nachal, welches »erben«, »zum Be-
sitz erhalten« und dessen Hiphil »zum Erben machen«, »das Erbe austeilen«,
»in Besitz geben« bedeutet, werden vom kanaanäischen Lande gebraucht; das
»Erbe« sowohl wie das »Besitztum« heißen nachalah.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. gi
in der Not hat aufgeben müssen, verliert die Qualität als VoU-
Israelit und soll — nach dem Heiligkeitsgesetz (Lev. 25, 35) — wie
ein ger gehalten werden. Durch alle diese verschiedenen In-
stitutionen sollte verhütet werden, daß eine Sippe aus der Schicht
der ökonomisch voll W ehrfähigen in die Masse der zur Aufbrin-
gung der Kosten der Equipierung nicht Fähigen (römisch gespro-
chen: der »proletarii«, »Nachkömmlinge«) oder gar der ganz
Grundbesitzlosen (gerim) hinabsank. Wir werden später, bei
Besprechung des Nasiräats, noch auf einige mit solchen Mög-
lichkeiten im Zusammenhang stehende andere Hypothesen
zu sprechen kommen. Doch bleibt dies alles unsicher. Auch
könnte es jedenfalls schwerlich universell gegolten haben. Schon
deshalb, weil die eben erwähnte Bundeskriegsyerfassung des
Deboraliedes und der historischen Literatur für Nordisrael ja
nicht unbedingt notwendig zu solchen Einrichtungen führen
mußten. Denn die Aufbringung des Kontingents war vermutlich
innere Angelegenheit des einzelnen Stammes und dieser konnte
darin vielleicht verschieden Verfahren.
Dem Gesamteindruck nach bedeutet die Abfolge dieser
Rechtssammlungen eine steigende Theologisierung des
Rechts ^). Ehe wir die Quelle und die Eigenart dieses Prozesses
näher Verfolgen, müssen wir die äußeren Formen, in welcher
diese Theokratisierung der irsaelitischen Sozialordnung sich
vollzog und die Gewalten, welche sie beförderten, kennen lernen.
Eine Eigentümlichkeit der israelitischen Sozialordnung spricht
sich schon in dem Namen des ältesten Rechtsbuchs aus: Sefer.
ha berith, »Bundesbuch«. Der wichtige Begriff der »berith«
ist es, der uns daran interessiert ^) .
Ein »Schwurbund« von Gegnern der ägyptischen Herr-
schaft findet sich schon in den Amarnabrief en erwähnt ^) . Auch der
Name »Chabiru« für die Feinde der ägyptischen Statthalter
^) Höchst merkwürdigerweise hat noch ein so verdienter Forscher wie
Procksch den Versuch gemacht, wenigstens für das Deuteronomium im Ver-
hältnis zum Bundesbuch das gerade Gegenteil zu verfechten (Die Elohimquelle
S. 263 ff.).
2) Darüber die in vielem von Nachstehendem abweichende Arbeit von
Kraetzschmar, Die Bundesvorstellung im A. T. Marburg 1896 (war mir
während des Abschlusses dieser Arbeit nicht zugänglich). Stade, der das erst
späte Hervortreten der Bundesvorstellung behauptet, will letztlich nur sagen,
daß die berith des Mose nicht die Form einer G es et z gebung gehabt habe,
was sicherlich zutrifft. Aber die beherrschende Bedeutung des berith- Gedankens
wird sich stets erneut zeigen.
■'') Knudtzon Nr. 67.
Max Weber Religionssoziologie HI." 6
g2 Das antike Judentum.
in den Amarnatafeln, den man mit 'Ibri (Hebräer) identifi-
zieren wollte, wird, angesichts gewisser sprachlicher Schwierig-
keiten, neuerdings zuweilen mit dem jüdischen Ausdruck »Chaber«-
»Genosse«, zusammengebracht, der in nachexilischer Zeit den
rituell korrekten Volljuden ebenso wie »Cheber«: »Genossenschaft«,
auf den Münzen der Makkabäer ^) die voll jüdische Gemeinschaft
bezeichnet und der auch in der älteren Tradition gelegentlich
(z. B. Jud. 20, ii) Verwendet wird für die Bundesarmee (a. a. O.
in einem heiligen Krieg wegen Religionsfrevels) ^). Die Ab-
leitung von Chabiru aus diesem Wort bleibt freilich unwahrschein-
lich 3).
Daß die verschiedensten unter göttlichen Schutz gestellten
Verbrüderungen die israelitische Geschichte durchziehen, wäre
an sich nichts ihr Spezifisches. Jedes politische Bündnis, aber auch
fast jeder privatrechtliche Vertrag pflegte ja in der Antike eid-
lich, d. h durch Selbstverfluchung bekräftigt zu werden. Son-
dern das Eigenartige ist zunächst die überaus weite Erstreckang
der religiösen »berith« als der wirklichen (oder konstruierten)
Grundlage der verschiedensten rechtlichen und sittlichen Bezie-
hungen. Vor allem war Israel selbst als politisches Gemeinwesen
eine Eidgenossenschaft. Ein Israelit, auch ein Angehöriger eines
anderen Stammes, der zu den Angeredeten nur im Verhältnis
eines ger steht, redet Israeliten daher als »Brüder« (achim) an,
etwa so, wie jeder Schweizer Redner bei offiziellen Gelegenheiten
zu Schweizer Landsleuten als »Eidgenossen« zu reden hat. Und
wie David nach der offiziellen Tradition durch berith legitimer
^) Die Münzumschrift der makkabäi sehen Priesterfürsten heißt: »kohen
ha gedol w cheber hajjehudim«: »Hoher Priester und Genossenschaft der Juden«.
2) Im Krieg gegen Benjamin wegen des Frevels von Gibea. Sonst kommt
das "Wort namentlich bei Jesaia (47, 9. 12) für die Genossenschaften der Zauberer
und der Räuber, bei Hosea (6, 9) für die Genossenschaft der Priester, Prov. 21,9
und 25, 24 für die Hausgemeinschaft, in den Psalmen (119) für den Glaubens-
bruder vor. Das "Wort wurde damals etwa gleichbedeutend gebraucht mit dem
in der alten Tradition benutzten Ausdruck für Freund, Nächster: »rea*«, welches
charakteristischerweise von ra'ah, )i>weiden«, Piel: re'ah, »zum Gefährten nehmen«^
gebildet ist, also doch wohl von der Lagergemeinschaft der Beduinen- oder
Viehzüchtersippen abgeleitet ist.
^) S. jetzt die Ausführungen von Bohl (Kanaanäer und Hebräer, Beitr.
z. "Wiss. V. A. T. 9. Lpz. 191 1) S. 85. Die Identifikation mit 'Ibrim scheint dar-
nach doch möglich und wahrscheinlich. Jedenfalls fehlt aber der Begriff des
»Glaubensbruders« der vorisraelitischen Zeit nicht, wie ein später zu erwähnender
Brief eines Kanaanäers aus dem 15. Jahrhundert zeigt. In der Anrede an den
Mitisraeliten wird aber nicht der Ausdruck chaber, sondern anscheinend stets
»ach« (Bruder) gebraucht.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 33
König wird, so läßt diese auch mit seinem Enkel Rehabeam die
Aeltesten der Nordstämme über seine Alierkennung nach Art
einer Wahlkapitulation verhandeln. Aber auch die Einbür-
gerung von Viehzüchtersippen in eine kanaanäische Stadt, oder
umgekehrt die Angliederung etwa der Gibeoniten als fronpflich-
tiger Gemeinde an Israel erfolgt stets durch eine, berith genannte,
Schwur Verbrüderung. Alle gerim, auch die Erzväter, befinden
sich in ihrer Rechtslage durch berith ^) . Die Schwurverbrüderun-
gen läßt die Tradition rituell unter Herstellung der Speise-
gemeinschaft der sich Verbrüdernden vor sich gehen
(Gen. 26, 30 vgl. mit Jos. 9, 14). Die von Mose im göttlichen
Auftrag verkündete Rechtssammlung wird (Ex. 24, 7) »Buch
*) Abraham ist diirch berith ein ger in Beerseba (Gen. 21, 31. 34): Isaak
schließt einen Schwurbund mit Abimelech von Gerar (Gen. 26,28). Abimelech
erscheint dabei trotz der V. 31 betonten Beiderseitigkeit der Verpflichtung ganz
ebenso allein als derjenige, welcher die berith »macht« (26, 8) wie später Jahwe ge-
genüber Israel, weil in beiden Fällen der andere Teil der schwächere, minderberech-
tigte ist (Israel ger Jahwes !). Ebenso Israel gegenüber Gibeon (Jos. 9, 6 ff.). Kraft
Vertrages zeltet in der Deboratradition der Mann der Jae] als ger auf kanaanäi-
schem Königsgebiet. König Asa sendet kraft berith demBenhadad Tribut (i. Kön.
15, 19) ; Ahab und der von ihm gefangene Benhadad schließen eine berith (i. Kön.
20, 34) wie Jonathan mit David (i. Sam. 18, 3; 20, 8); David mit Abner (2. Sam.
3, 12); Jabes erbittet eine solche von Nachas (i. Sam. 11, i). In allen diesen Fällen
handelt es sich wie zwischen Jahwe und Israel um ein »foedus iniquum« zwischen
Ungleichstehenden; dagegen ist die berith zwischen Jakob und Laban ein
»foedus aequuln« (Gen. 31, 44), Das Völkerrecht^ welches Tyros getragen hat, heißt
(Arnos I. 4) »Bruderbund« berith achim). Schon aus diesen Beispielen folgt aber
unter allen Umständen, daß berith mit vollem Recht durch »Bund« übersetzt wird
und Kautzsch (Bibl. Theologie des A. T. S. 60) durchaus im Unrecht ist, wenn er
diesen^ für die ganze altisraelitische Religion absolut zentralen Sinn leugnet.
David wird 2. Sam. 5, 3 genau im gleichen Sinn durch berith mit den Aeltesten
König von Israel wie früher Jahwe dessen Gott. Daß die Septuaginta berith mit
Stä-9-r^%Yj, nicht mit auvO-y^xYj, übersetzt, entspricht der Auffassung ihrer Zeit,
nicht der althistorischen. Der Gotteskonzeption der priesterlichen Redaktion
(»P«), wie sie z. B. bei der Darstellung von Gottes Verheißung an Noah, Abraham,
Pinehas (Num. 25, 12) zum Ausdruck kommt, entspricht allerdings die Auffas-
sung von berith als einer einseitigen, nur durch besondere Feierlichkeit und
äußere Zeichen verbürgten privilegartigen Zusage Gottes (Gen. 9, 10). (Vgl.
dazu u. A. Holzingers Genesis-Kommentar S. 129 f., vor allem aber die sehr ein-
gehenden Untersuchungen des Sprachgebrauchs von Valeton Z. f. A.T. W. XII. X
(1892) S. if. 224.) Für die Eschatologie gab es auch einen berith mit dem
Tiere (Hör, 2, 18). Im Sinn von »Privileg« steht berith Nilm. 18, 19, im Sinn
von »Vorschrift« (»Salzberith«) Lev. 2, 13. Das Sinaigesetz nennt P niemals
»berith«, während bei J der Horebbund und die berith auf den Gefilden Moabs
typische bilaterale foedera sind. Den »ewigen Bund« (berith golam) hat Israel
(nach Jesaja 24, 5) gebrochen. Der Ausdruck »karah berith« entspricht, wie oft
bemerkt ist, durchaus dem »foedus icere«, 5pxta x£|iv£tv der Römer und Hellenen.
Bei Nehemia ist der Sprachgebrauch verblaßt und wird (Neh. 10, i) amanah
statt berith gebraucht.
6*
gA Das antike Judentum.
des Bundes« (sefer ha berith) genannt ^) und ebenso heißen auch
jene religiöben Vorschriften, welche er nach göttlichem Geheiß
auf zwei Tafeln schreibt (Ex. 34, 28) »Worte des Bundes« (dibre
ha berith). Ebenso wird der deuteronomische sefer hattorah,
das »Buch der Lehre«, als welches es zunächst (2.Kön. 22) auftritt,
in dem anschließenden Bericht über seine Annahme als Gesetz
unter Josia (2. Kön. 23, 2) »Buch des Bundes«, sein Inhalt »Worte
des Bundes« genannt. Im Josuabuch ist eine Tradition aufbe-
wahrt, wonach Josua nach vollendeter Eroberung des Landes
einen Bund (berith) mit dem Volke gemacht und den Inhalt in
das »Buch der Thora Gottes« niedergeschrieben habe. An welche
der verschiedenen Rechtssammlungen der Referent dabei ge-
dacht hat, ist nicht feststellbar. Dagegen ist (Jud. 9, 4) über-
liefert, daß in Sichem zu Abimelechs Zeit ein »Haus« eines »Bun-
desbaal« (BaaL berith) bestand, dessen Tempelschatz zagleich
als Schatz der Stadt benutzt wurde. Und die deuteronomische
Tradition (Hauptstelle: Deut. 27, 14 f.) ^) kennt eine feierliche
Zeremonie, welche angeblich erstmals bei Eroberung des Landes,
nach der späteren Vorstellung unter Assistenz von Vertretern
von sechs Stämmen auf dem Berge Garizim, von sechs anderen
auf dem Berge Ebal (zwischen denen Sichem liegt) vollzogen wurde.
Die (vier bis fünf) Varianten der Erzählung ergeben folgendes
Bild. Gegen den Garizim hin oder auf ihm wird durch die Prie-
ster für diejenigen, welche die heiligen Gebote halten, ein feier-
licher Segen gesprochen, gegen den Ebal hin oder auf ihm ein
feierlicher Fluch gegen die, welche sie Verletzen. Von diesen
^} Es bleibt freilich für das Bundesbuch sowohl wie für diese Bundesworte
fraglich, auf welchen Bsstandteil der Sammlungen sich die Ausdrücke der äl-
testen Tradition bezogen. Die a. a. O. jetzt Bundesbuch genannte früher be-
sprochene Rechtssammlung wird in ihrem' eigenen Text, in welchem das "Wort
»Bund« gar nicht vorkommt, niemals so bezeichnet, während dagegen die rituellen
Vorschriften Ex. 34 sich ausdrücklich als berith einführen und auch durch die
Zweiseitigkeit der Versprechungen dem Charakter eines Bundes besser entspre-
chen als jene anderen Sammlungen, die im wesentlichen einseitige Vorschriften
(mischpatim) enthalten. Die »Worte des Bundes« Ex. 34, 28 identifiziert der
vermutlich spätere Zusatz: »Die zehn Worte« mitdem Dekalog. Aber ursprüng-
lich bezog sich der Ausdruck offenbar auf die soeben erwähnten unmittelbar
vorhergehenden rituellen Vorschriften (s. zu der ganzen Frage Baentsch a. a. O.).
2) Das betreffende Kapitel (27) des Deuteronomium gilt allerdings für
eine junge Kompilation und Einschiebung. Aber das ursprüngliche Material
dafür kann unmöglich jungen Ursprungs sein. Die starken "Widersprüche des
Berichts und die Repräsentation der 12 Stämme durch je einen Mann kommen
wohl auf Rechnung des Redaktors, ebenso der unklare Wechsel des Standorts
(auf dem Ebal oder unten im Tal bei Sichem). Das Fragment gilt wohl
mit Recht als elohistischen Ursprungs.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 85
Geboten wird dabei (Deut. 27, 2 f.) erwähnt, daß sie auf getünch-
ten Steinen aufgezeichnet seien (was beweist, daß jedenfalls bereits
nicht mehr die Keilschrift herrschte; im übrigen ist das Alter
freilich problematisch) . Auf die Zeremonie wird in der Tradition
an noch mehreren Stellen Bezug genommen (Deut. 11, 26 f.;
Jos. 8, 30 f.; 23, I f.). Im Wesen der Sache wird sie wohl trotz
der späten (deuteronomistischen) Ueberlieferung schon in älte-
rer Zeit so oder ähnlich bestanden haben, weil die dabei erwähn-
ten Kultstätten auf den Bergen gerade diesem Redaktor wenig
sympathisch sein mußten, zumal dort nach den Ueberlieferungen
Malsteine (ein von den Puritanern verworfener Brauch) und die
alten Orakelterebinthen (ebenfalls bedenklich) standen, die
Gebeine Josephs (Grabkult) lagen und sogar (nach einem anschei-
nend babylonischen Ritus) Götterbilder vergraben waren. Die
überlieferte Fluchformel (Deut. 27, 15 f.), der sog. »sexuelle
Dekalog«, zählt zwölf bestimmte Sünden auf: Idolatrie, Fluch
gegen die Eltern, Grenzverrückung, Irreführung eines Blinden,
Beugen des Rechts der Metöken, Waisen und Witwen, sexuelle
Sünden (Inzest und Bestialität), Mord (= heimlicher Tod-
schlag), Bestechlichkeit des Richters. Wenn auch das Alter
unsicher bleibt, so besteht angesichts ihres Zusammenhangs
mit den Vorschriften des Bundesbuchs doch die größte Wahr-
scheinlichkeit, daß der »Bundesbaal« derjenige Funktionsgott war,
welcher auf Grund der offenbar regelmäßig wiederholten Ver-
fluchungen diese vom Volk feierlich auf sich genommenen Sat-
zungen schützte ^). Sein Kult aber gilt einer allerdings stark
verunstalteten Tradition als eingeführt in Sichem im Anschluß
an eine Auseinandersetzung und Verständigung Gideons und
der Ost Jordanstämme mit Ephraim während des Midianiter-
kriegs (Jud. 8, i. 33); der Bundesbaal war also doch wohl der-
*) Die Schwierigkeit, daß der Bundesbaal einen Tempel hat, die Zeremonie
aber anscheinend vom Hain (oder Gottesbaum) More ausgeht, ist wohl nicht un-
überwindlich. Der Zusammenhang mit dem Kult in Hainen und auf Bergen ,
spricht für das Alter und die Bedeutsamkeit der Zeremonie, welche, obwohl sie zur
Zeit des Deuteronomium nur noch Reminiszenz sein konnte, doch von dessen
allen jenen Kulten feindlichen Redaktoren nicht fortretouchiert worden ist.
Möglich ist, daß ihr Sinn sich inzwischen dem Geist des Deuteronomium ent-
sprechend gewandelt hatte: Ursprünglich wohl eine feierliche Dämonen Verflu-
chung in Verbindung mit Anrufung des Gottessegens, dürfte sie für die Auffas-
sung der damaligen Zeit die feierliche Abwälzung der religiösen Solidarhaftung
des Volkes für die Sünder auf diese allein durch ihre feierliche Verfluchung
bezweckt haben.
^ß Das antike Judentum.
Garant eines jener Bundesschlüsse, durch welche Israel neu kon-
stituiert wurde.
In immer wiederholten rituellen Bundesschlüssen sehen wir
sich nun auch in historischer Zeit die innerpolitische Geschichte
Israels bewegen: Die Herstellung des reinen Jahwekults
in Jerusalem unter Joas und später die Annahme des deuterono-
mischen Gesetzes unter Josia erfolgen nach der Tradition durch
berith ^), ganz ebenso der Beschluß unter Zedekia, die Schuld-
sklaven dem Gesetz gemäß freizulassen (Jer. 34, 8 f.), und dann
wiederum die feierliche Annahme der Gemeindeordnung unter
Nehemia, bei welcher, wie bei jener Fluchzeremonie, eine Anzahl
besonders wichtiger Satzungen herausgegriffen und der inzwi-
schen üblich gewordenen Beurkundungspraxis entsprechend
von den synoikisierten Geschlechtshäuptern feierlich untersiegelt
wurden (Neh. 10). Das für unsere Zusammenhänge Entschei-
dende War nun aber dabei dies : gerade die älteren, vorexilischen,
von diesen Fällen Von Recht schaffender berith des Gesamt-
volks Israel und für dieses als solches sind, in deutlichem Gegen-
satz zu den berith- Schlüssen unter Einzelnen oder mit Metöken
nicht nur Kontrakte und Verbrüderungen der beteiligten Parteien
untereinander, welche unter den Schutz des Gottes als Zeugen
und Rächers von Meineid gestellt werden. Sondern sie galten
gerade der alten, vor allem der durch den sog. » Jahwisten« Ver-
tretenen, Auffassung als Bundesschließungen mit dem Gott
selbst, der also bei der Rache des Bundesbruchs seine eige-
nen verletzten Vertragsrechte, nicht nur die seinem Schutz emp-
fohlenen Ansprüche der Vertragstreuen Partei vertritt ^) .
Diese sehr wichtige Konzeption hat die Entwicklung der is-
raelitischen Religiosität überaus stark beeinflußt. Auf die Ver-
letzung der ihm persönlich, als Vertragsschließenden, durch Eid
angelobten Vertragstreue gründet der Gott der Propheten seine
furchtbaren .Unheilsdrohungen, wie er andererseits selbst an die
Zusagen gemahnt wird, die er den Vorfahren durch Eid (so
zuerst Micha 7, 20) angelobt hat. Die ganze Beziehung schon der
legendären Vorväter Israels zu Gott hatte sich für die spätere
^) Allerdings hier durch eine berith »v o r« Jahwe, nicht durch eine berith
m i t Jahwe. Dies erklärt sich zwanglos aus der Fiktion, daß es sich nur um
erneute Verpflichtung des einen Vertragsteils: des Volkes, auf den alten Bund
mit dem Gott, den es nicht gehalten habe, handelte.
*) Der einseitige Treuschwur des Volkes unter Nehemia wird nicht
berith genannt, sondern amanah (Neh. lo, i).
I
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. g^
durch die Exilspriester bestimmte Auffassung von Anbeginn
an in immer neuen Bundesschließungen realisiert: in dem Bunde
mit Noah, dem mit Abraham, Isaak, Jakob und schließlicß dem
Sinaibund. Zwar hatte sich inzwischen die anthropomorphe
Auffassung von einem zweiseitigen Pakt mit dem veränderten
Gottesbegriff in die einer göttlichen, nur durch besondere Zu-
sage verbürgten Verfügung abgeschwächt, aber auch die Zu-
kunftshoffnung des Jeremia geht letztlich dahin, daß Jahwe künf-
tig mit seinem Volk abermals einen Bund, aber unter gnädige-
ren Bedingungen als mit den Vätern, abschließen werde. —
Woher stammt nun diese Besonderheit der israelitischen Kon-
zeption? Einige allgemeine politische Sachverhalte und ein be-
sonderes religionsgeschichtliches Ereignis trafen zusammen, um
sie entstehen zu lassen.
Die Bedeutung des »Bundes «-Begriffs für Israel an sich hat
ihren Grund darin, daß die alte Sozialverfassung Israels zum
sehr wesentlichen Teil auf einer durch Kontrakt regulierten
Dauerbeziehung grundbesitzender Kriegersippen mit Gast-
stämmen als rechtlich geschützten Metöken : Wanderhirten
und Gasthandwerkern, Kaufleuten und Priestern, beruhte. Ein
ganzes Gewirr solcher Verbrüderungen, sahen wir, beherrschte
die soziale und ökonomische Gliederung. Daß aber der Bund
m i t dem Gott Jahwe selbst eine für Israels Selbstbeurteilung
seiner Gesamtstellung unter den Völkern grundlegende Konzep-
tion wurde, hing mit folgenden weiteren Umständen zusammen.
Oben wurde die in den Lebensbedingungen begründete be-
sonders große Labilität aller politischen Verbände bei den Be-
duinen und Viehzüchtern: die Neigung aller dieser Stammes-
organisationen, sich bald in Sippen zu zersplittern, bald ander-
weit neu zusammenzuballen, besprochen. Das Schicksal der
Stämme Rüben, Simeon, Levi, Machir einerseits, Juda anderer-
seits bietet die Beispiele. Mit dieser Unbeständigkeit kontrastiert
nun auffallend die außerordentliche Stabilität eines bestimmten
Verbands typus, der sich gerade bei diesen nicht vollseßhaften
Schichten findet : des religiösen Ordens oder ordens-
artigen Kultverbandes. Als tragfähige Basis für politische und
militärische Organisationen auf lange Sicht scheint geradezu
nur ein derartiger religiöser Verband geeignet gewesen zu sein.
Ein solcher waren die Rcchabiten: Durch Jahrhunderte, von
Jehas Zeiten bis auf Jeremia, sehen wir sie fortbestehen und re-
33 Das antike Judentum. '
ligionspölitisch wirken, in der Nehemiachronik wird ein Rechabit
erwähnt, im Mittelalter noch will Benjamin von Tudela sie
unter einem »Nasi« in der babylonischen Wüste getroffen haben,
und andere Reisende glaubten ihre Spuren gar im 19. Jahr-
hundert bei Mekka zu finden. Wesentlich religiös scheint auch
der streng jahwistische Keniterstamm, dem die Rechabiten an-
gehörten, zusammengeschlossen gewesen zu sein. Denn es ist
durch Stade mindestens höchst wahrscheinlich gemacht, daß das
^Kainszeichen«, d. h. die kenitische i) Stammestätowierung^
nicht nur Stammesmarke, sondern, und zwar natürlich primär,
Kultgemeinschaftszeichen War 2) ; die indischen Sektenabzei-
chen würden die Analogie darstellen. Das großartigste Bei-
spiel eines ordensartigen Verbandes von prinzipiell ganz der
gleichen Art war auf dem gleichen Boden natürlich: der Islam
und die ihm angehörigen kriegerischen Orden, welche zahlreiche
und zwar die besonders dauerhaften islamischen Staatsgrün-
dungen geschaffen haben. — Der Tatbestand war dabei nun nicht
etwa der : daß die Lebensbedingungen der Beduinen und Halbnoma-
den eine Ordensgründung aus sich heraus »erzeugt« hätten, etwa als
»ideologische Exponenten« ihrer ökonomischen Existenzbe-
dingungen. Diese Art materialistischer Geschichtskonstruk-
tion ist hier wie sonst gleich unzutreffend. Vielmehr: wenn
eine solche Gründung erfolgte, so hatte sie. unter den Lebens-
bedingungen dieser Schichten, die weitaus stärksten Chancen,
im Auslesekampf die übrigen, labileren, politischen Gebilde
zu überdauern. O b sie aber entstand, das hing von ganz kon-
kreten religionshistorischen und oft von höchstpersönlichen Um-
ständen und Schicksalen ab. War dann die religiöse Verbrü-
derung in ihrer Leistungsfähigkeit als politisches und ökonomi-
sches Machtmittel einmal bewährt und erkannt, dann trug dies
naturgemäß zu ihrer Ausbreitung mächtig bei. Muhammeds
sowohl wie Jonadab ben Rechab's Verkündigungen sind nicht
als Produkte populationistischer oder ökonomischer Bedingungen
zu »erklären«, so sehr ihr Inhalt durch solche mitbestimmt wurde.
Sondern sie waren Ausdrücke persönlicher Erlebnisse und Ab-
^) Wie alt die Jahwefrömmigkeit bei den Kenitern ist, steht dahin, König
(Z. D. M. G. 69, 191 5) macht darauf aufmerksam, daß der erste sicher bezeugte
kenitische Jahwe-Name der des Jonadab b. Rechab ist. Dieser Prophet spielte
also vielleicht dort die Rolle des Mose.
«) Das Kainszeichen. Z. f. A.T. W. 14 (1894) S. 250 f.
,^"
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 30
sichten. Aber die geistigen und sozialen Mittel, deren sie sich
bedienten, und ferner die Tatsache des großen Erfolgs ge-
rade dieses Typus von Schöpfungen sind allerdings aus jenen
Lebensbedingungen zu verstehen. Ebenso für Altisrael.
Wie die Rechabiten ihre Bedeutung dem Zusammenschluß
als Orden, so verdankte vielleicht J u d a seinen Zusammen-
schluß als Stamm zu einem machtvollen politischen Gebilde
einer Verbrüderung durch einen besonderen Jahwebund. Der
Stamm tritt erst spät in der Geschichte auf. Das Deboralied
kennt ihn nicht. Die Quellen bezeichnen ihn, in der für Viehzüch-
ter typischen Art, gelegentlich auch als : Sippe. Er war zur Zeit
des Mosessegens in politischer Bedrängnis, zur Zeit Sauls ein
Tributärstamm der Philister. Der Jakobsegen dagegen kennt
ihn als Hegemon in Israel und zugleich als Weinbauer, während in
der aus Viehzüchterkreisen stammenden Erzväterlegende Abraham,
obwohl in dem weinberühmten judäischen Hebron ansässig, sei-
nen himmlischen Gästen keinen Wein vorsetzt. Der Stamm hatte
also — wenn er auch schwerlich, wie Guthe annimmt, erst durch
David entstand — doch unter ihm sein Gebiet erweitert
und war, offenbar unter Vermengung mit Kanaanäern, seßhaft
geworden. Die nach den offiziellen Aufzählungen und Genea-
logien später zum Stamm Juda gerechneten Sippen sind zum
Teil wohl kanaanäischen, zum Teil offenkundig beduinischen
Ursprungs: so die zeitweise mit Amalek verbündeten Keniter.
Der Stamm Simeon ist teils in Juda aufgegangen, teils unter den
Edomitern ansässig geworden. Die früheste Erwähnung eines
Leviten bezeichnet diesen als einen Judäer : offenbar wurde auch
der Stamm Levi dem Schwerpunkt nach von Juda aufgesogen.
Die noch unter Saul bestehende Sonderstellung des Stammes
dauerte in anderer Form auch unter den Davididen an : Unter
Salomo gehörte sein Gebiet wenigstens zum größten Teil
nicht zu den Provinzen des Reichs, sondern war königliche Haus-
macht. Seinen endgültigen Umfang hatte er jedenfalls erst
durch das Kriegs fürstentum Davids erhalten und vermutlich
im Zusammenhang mit der Uebernahme des reinen Jahwekults.
Schon die ihm, wie es scheint und wie namentlich Luther an-
nimmt, als Besonderheit eignende bedeutende Stellung der Prie-
ster bei der Urteilsfindung (durch Prozeßorakel) legt die Annahme
einer spezifisch religiösen Verbrüderung als Grundlage seines
so festen Stammeszusammenhalts nahe. Er wäre dann aus Frag-
QQ Das antike Judentum.
menten verschiedener ethnischer Herkanft durch Gemeinschaft
des Kults und der Priester zusammengefügt worden. Diese
Annahme wird dann ganz besonders wahrscheinlich, wenn der
Name »Jehuda« als ein Derivat von Jahwe anzusehen sein sollte.
Was schließlich die israelitische Eidgenossen-
schaft selbst anlangt, so war sie nach eindeutiger Ueber-
lieferung ein Kriegsbund unter und mit Jahwe als dem Kriegs-
gott des Bundes, Garant seiner sozialen Ordnungen und
Schöpfer des materiellen Gedeihens der Eidgenossen, insbeson-
dere des dafür nötigen Regens. Der Name »Israel«, sei es, daß er
unmittelbar »das Volk des kämpfenden Gottes« benennen sollte,
sei es daß er (unwahrscheinlicherweise) ursprünglich »Jesorel«
zu sprechen war und also den Gott bedeutete, »auf den man ver-
traut«, bringt das zum Ausdruck. Ein Stammesname war »Israel«
jedenfalls nicht, sondern der Name eines Verbandes, und zwar:
eines kultischen Bundes ^). Zur Bezeichnung eines Eponymos
hat erst die theologische Bearbeitung der Legenden vom Heros
Jakob den Namen Israel gemacht : daher der schattenhafte Cha-
rakter dieser Personifikation. — Wir müssen die Struktur des
Bundes etwas näher betrachten.
Sein Umfang hat gewechselt. Als Verband muß Israel in
Palästina schon zur Zeit des Königs Memeptah, des angeblichen
Pharao des Auszugs, existiert haben, denn es wird damals in
einer bekannten Inschrift ^) erwähnt, daß die Angriffe des
königUchen Heeres seine Mannschaften und seinen Besitz de-
zimiert hätten. In der Art der Erwähnung tritt hervor, daß
Israel, im Gegensatz zu den kleinen und größeren Stadtstaaten,
als ein nicht stadtsässiger Verband galt. Im Debora krieg bilden,
wie wir sahen, die Bauern, die zu Fuß, und deren Fürsten, die
auf weißen Eseln in das Feld ziehen, den Kern des gegen die
wagenfahrenden Ritter der Stadtkönige kämpfenden Heeres.
Das Deboralied kennt als Bundesglieder außer den am Krieg
teilnehmenden Bergstämmen Ephraim und dessen beiden
Absplitterungen Machir und Benjamin, sowie Sebulon, Naphtali
und Issachar, noch : die seßhaften Stämme Asser und Dan nahe
dem Meer und andererseits : die Viehzüchterstämme Rüben und
1) Den Namen »Israel« erhält Jakob im Mythos nach seiner berith mit
Gott (Gen. 35, 10).
2) Spiegelberg in den Ber. der Berl. Ak, d. Wiss. 1896. Steindorf in der
Z. f. A.T.W. 16.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. qj
Gilead östlich des Jordan, die sich aber der Bundeshilfe entzie-
hen; gesondert nennt es die Stadt Meros als bundbrüchig. Die
beiden Segensammlungen kennen dann die übliche Zwölfzahl
der Stämme: Machir ist durch Manasse, Gilead durch Gad
ersetzt, Juda und Simeon sind hinzugetreten, und je nachdem
Levi mitgezählt oder wie im Mosessegen als Priesterstamm be-
sonders gerechnet wird, sind Ephraim und Manasse als zwei
Stämme oder gemeinsam als das »Haus Joseph« gezählt. In
der Zeit des Deboraliedes galten aber zweifellos Weder Juda
noch Simeon noch Levi als zugehörige Stämme. Damals un.d
später galt Ephraim oder Joseph unzweifelhaft als Kernstamm
des Bundes, wie seine Voranstellung im Liede, seine Abstam-
niung von der Lieblingsfrau Jakobs und seine Kennzeichnung
als dessen Lieblingssohn (bzW. -enkel) beweisen. Der Stamm
erinnert sich im Deboralied seiner Kämpfe mit den Beduinen
und auch im Jakobsegen ist von diesen »Pfeilschützen« als seinen
Gegnern die Rede. Gerade für ihn wird im. Mosessegen ausdrück-
lich und sicher auf Grund alter Tradition eine Beziehung zu der
mosaischen Dornbuschepiphanie erwähnt. Gerade er also war
zweifellos an den Ereignissen, welche zur Rezeption Jahwes
als des Kriegsgottes Israels führten, beteiligt. Der in der Tra-
dition am frühesten einen Jahwenamen tragende Heerführer
des Bundes, Josua, ist Ephraimit und in dessen Gebiet begraben.
So wird denn auch Jahwe, der von Seir in Edom im Wetter-
sturm heranzieht und die Kanaanäer vernichtet, als Kriegs-
gott des unter Ephraims Hegemonie stehenden Bundes im De-
boralied gepriesen. Zu Ephraims Gebiet gehörte von Kultstätten
Jahwes vor allem Sichem mit dem »Bundesbaal«. Doch scheint es,
daß die eigentliche Kultstätte außerhalb der Stadt lag,
welche der Tradition als lange kanaanäisch galt. Offenbar ist
Ephraim bis zur Schaffang der nordisraelitischen Residenz
Schomron (Samaria) mit am meisten ein Verband bergsässiger
freier Großbauern geblieben, auf deren Wehrkraft Israels Macht
dereinst so sehr beruhte, daß der Stammesname später sehr
regelmäßig schlechthin für das ganze Nordreich gebraucht wurde.
Aber eine alte Reminiszenz muß Rüben, Simeon, Levi, welche
in den Segensammlungen vorangestellt werden und von der
älteren Schwester Lea abstammen, als Kern des Bundes gekannt
haben. Juda dagegen taucht überhaupt erst in verhältnismäßig
späten Segensprüchen auf und gewinnt seine Stellung erst seif
02 Das antike Judentum.
David. Dem Feldherrn Sauls, Abner, galten die Judäer noch
als »Hundsköpfe«.
Dieser in seinem Bestand labile israelitische Bund verfügte
bis zur Königszeit, soviel ersichtlich, über dauernde politische
Organe überhaupt nicht. Die Stämme stehen in gelegentlicher
Fehde miteinander. Das religiöse Völkerrecht, welches z, B, das
Umhacken der Fruchtbäume untersagte, galt, wenn es überhaupt
in alte Zeit zurückgeht, vermutlich gerade für solche Fehden
innerhalb des Verbandes. Die Bundesglieder versagen im De-
boralied teilweise die Bundeshilfe. Gelegentlich, aber nicht
immer, führt das zur Verfluchung und zum heiligen Krieg
gegen den Eidbrüchigen. Ein gemeinsames Indigenat besteht
nicht. Ein solches hatte anscheinend nur der Stamm. Schwere
Verletzung des Metökenrechtes, welches jeder Israelit in jedem
anderen Stamm genoß, rächte allerdings unter Umständen der
Bund. Irgend ein einheitliches Gericht oder eine einheitliche
Verwaltungsbehörde irgendwelcher Art bestand aber offenbar
in Friedenszeiten nicht. Die Bundeseinheit äußerte sich darin,
daß ein von Jahwe beglaubigter Kriegsheld oder Kriegsprophet
regelmäßig Autorität auch über die Grenzen seines Stammes
hinaus beanspruchte. Zu ihm kam man von weither, um Rechts-
händel schlichten zu lassen oder Belehrung über kultische und
sittliche Pflichten zu suchen. Derartiges wird von Debora
(Jud. 4, 5) berichtet, und die heute vorliegende Redaktion der
Tradition hat sämtliche charismatische Kriegshelden der alten
Bundeszeit zu »Schofetim«: »Richtern«, Israels gemacht, welche
in ununterbrochener Reihe aufeinander gefolgt wären, in ganz
Israel richterliche Autorität genossen hätten und deren letzter,
Samuel, während seines Amts alljährlich Bethel, Gilgal und
Mizpa bereist habe (i. Sam. 7, 15. 16), um »Recht zu sprechen«
und dann, nach Erwählung des Königs, sein Amt wie ein römi-
scher oder hellenischer Polis-Beamter auf Grund eines öffent-
lichen Rechenschaftsberichts und der Aufforderung, etwaige
Klagen gegen ihn jetzt vorzubringen, nach empfangener Decharge
feierlich niedergelegt habe (i. Sam. 12). Die Tradition über
Samuel ist ohne Frage eine deuteronomistische königsfeind-
liche Konstruktion, welche das Verhalten des idealen, Jahwe wohl-
gefälligen Fürsten paradigmatisch im Gegensatz zu den Königen
der Gegenwart vorführt. Wie aber steht es mit der prinzipiellen
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. gi
Stellung der »Schofetim«? Während Stade die Ansicht vertritt ^),
daß die spätere Tradition ganz einfach die alten Kriegshelden
Jahwes nachträglich zu friedlichen »Richtern« gestempelt habe,
hat Klostermann in geistreicher Art die »Richter« Israels mit
den »Gesetzessprechern« (lögsögumadr) der nordischen, vor allem
der isländischen Praxis: den Trägern der mündlichen Rechts-
überlieferung und Vorläufern der schriftlichen Rechtsfixierung,
in Parallele gestellt ^) . Er sucht auf diese Art namentlich die
Entstehung und literarische Eigenart der vor-exilischen Rechts-
bücher zu erklären, welche eben aus den öffentlichen Rechtsbe-
lehrungen dieser »Gesetzessprecher« entstanden seien. Die na-
mentlich von Puukko eingehend bekämpfte Hypothese ent-
hält nach zahlreiche;! rechtssoziologischen Analogien einen ge-
wissen Wahrheitswert. Ueberall entwickelt sich das Recht zu-
nächst durch Rechtsorakel, Weistümer, Responsen charismatisch
qualifizierter Träger der Rechtsweisheit. Aber nicht überall
nehmen diese die sehr spezifische Stellung der nordischen Ge-
setzessprecher ein, deren Amt — denn das war es — mit der Or-
ganisation der germanischen Gerichtsgemeinde eng zusammen-
hing. Die von der jetzigen Redaktion der Tradition sogenannten
»Richter« hatten offenbar ein untereinander sehr verschiedenes
Gepräge, waren aber im allgemeinen weit davon entfernt, die
eigentlichen Träger der Rechtsweisheit zu sein. Die normale
Rechtsweisung legt die Tradition in die Hände der sekenim
( Aeltesten) . Das Ordal andererseits und das reguläre Prozeß-
orakel war Sache der Priester und das letztere wurde, wie
später zu erwähnen, in älterer Zeit durch rein mechanische Mittel
(Los) erzielt. Im übrigen aber erwähnt die Tradition sehr ver-
schiedene Bezeichnungen von Honoratioren, welche innerhalb
der einzelnen Stämme traditionelle Autorität genossen. Für
eine charismatisch geübte Rechtsweisung konnte also nur neben
all diesen Quellen der Rechtsfindung Raum sein. Die Gestalten
der »Schofetim« nun, welche die heutige Fassung des sog. Richter-
buchs uns vorführt, sind sehr verschiedener Art. Sieht man von
1) Stade, Bibl. Theologie des A. T. (1905) S. 285 f.
*) Klostermann, Der Pentateuch (1907). Eingehend' kritisiert von Puukko.
Das Deuteronomium S. 176—202. K. sucht durch seine Hypothese den eigen-
tümlichen schriftstellerischen Charakter des Deuteronomium verständlich zu
machen. Es sei ein öffentlicher paränetischer Gesetzes v o r t r a g gewesen.
Der Vergleich der oAuffindungs«- Geschichte mit den »Gesetzen« Numas ist
kaum sehr fruchtbar zu nennen.
QA Das antike Judentum.
denjenigen ab, von denen nur ihre Existenz berichtet ist (Jair,.
Ebzon, Elon, Abdon), so gilt Simson als ein rein individuell
seine Fehden ausfechtender Held, Ehud ebenso, nur mit dem
Unterschied, daß er den Bedrücker Israels erschlägt, Othniel,
Samgar, Barak, Gideon, Jephtha und v^ohl auch Thola als er-
folgreiche Heerführer Israels, in Wahrheit offenbar: ihrer eignen
und benachbarter Stämme. Nur Von einem Teil von ihnen wird,
und zwar nur ganz allgemein bemerkt, daß sie Israel im Frieden »ge-
richtet« hätten. Aller Schwerpunkt liegt vielmehr in ihrer Lei-
stung als »Heilande«, das heißt; Retter aus schwerer Kriegsnot.
Daneben erscheint in einer als »heiliger Krieg« vorgestellten
Bundesexekution (Jud. 20, 28) ein Priester aus dem Elidenge-
schlecht (Pinchas) als Orakelgeber des Heeres. Reiner Priester
ist Eli. Seine Söhne werden als Priester, aber zugleich als berufene
Führer des Heerbanns gegen die Philister vorgestellt. Diese
letztgenannten Traditionen über die Eliden sind äußerst Ver-
dächtig und spät, die Tradition über Samuel aber, der bald als
Nabi, bald als Seher, bald als Prediger (i. Sam. 4, i), bald als
Nasir, bald als Priester, bald endlich als Heerführer behandelt
wird, ist schlechthin unbrauchbar. Die Zeit, in der diese Dar-
stellungen redigiert wurden, wußte von den wirklichen Verhältnis-
sen der Bundeszeit ersichtlich nichts Sicheres mehr. Die zuverläs-
sigste Quelle: das Deboralied, zeigt die Prophetin neben dem
führenden naphtalitischen Kriegshelden Barak, der als Führer des
Heerbanns eine ganze Anzahl mit ihm verbündeter Honoratioren
der andern Stämme neben sich hat. Nur von Debora und von
Samuel weiß die Tradition ausdrücklich zu berichten, daß sie
regelmäßig »Recht gesprochen« hätten, d. h. auf Verlangen Pro-
zeßorakel gaben. Das gleiche berichtet die heutige Redaktion
des Hexateuch von Mose. Von ihm und von Josua, außerdem
nur von Samuel in einem sicher legendären Fall : der Feststellung
der Königsprärogative nach Sauls Wahl, wird die Schöpfung
»objektiver« dauernd geltender Rechtsnormen und ihre schrift-
liche Fixierung berichtet. Für ein kontinuierlich funktionieren-
des »Gesetzessprechen« nach nordgermanischer Analogie ist
beiden »Schofetim« jedenfalls kein Raum. Politische Orakel, nicht
Prozeßorakel, gaben die »Propheten« von der Art der Debora,
und politisch-militärische Entschließungen, nicht Rechts-
sprüche oder Weistümer, Waren die spezifische Tätigkeit der
charismatischen »Schofetim«. Dabei ist durchaus wahrschein-
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jaliwe gc
lieh, daß beide: bewährte Propheten ebenso wie bewährte
Kriegshelden, auch im Frieden fi3r die Schlichtung von Streitig-
keiten in Anspruch genommen wurden und daß die weltlichen
Kriegshelden diese, wie überall, als Herrenrecht ihrerseits in
die Hand nahmen, wenn sie da^u gelangt waren, ihre Herrschaft
soweit zu befestigen, wie etwa Abimelech. Aber selbst die ersten
Könige galten noch nicht in erster Linie als Träger oder gar
Schöpfer von Recht, sondern als Kriegsführer. Bei David setzt
die Tradition (2. Sam. 14, 2 f.) voraus, daß der König sich in eine
Blutfehde gegebenenfalls einmischt. Aber erst Salomo hat offen-
bar die Rechtspflege systematisch in die Hand genommen
(i. Kön. 3, 16 f.) : unter ihm ist von einer von ihm erbauten Gerichts-
halle die Rede (i. Kön. 7, 7) . Vermutlich wegen dieser Neuerung galt
er der Nachwelt als Quelle richterlicher Weisheit. Aber von einer
amtlichen Fürsorge für die Einheitlichkeit des Rechtes hören
wir auch bei den Königen zunächst nichts und noch unter
Ahab kann der Hof zwar eine Rechtsbeugung durch Beein-
flussung der Richter herbeiführen^), aber nicht der König er-
scheint als Richter. Erst bei Jeremia (21, 12) erscheint der König
als vormittags zu Gericht sitzend. Aber das Gericht über den
Propheten selbst (Jer. 26) besteht aus Beamten (Sarim) und
Aeltesten (Sekenim) mit den Mannen ('am) als Gerichtsumstand
(kahal ha 'am).
Die Tradition könnte sich nicht so verhalten, wenn die Rechts-
schöpfung den Schofetim imd ihren Nachfolgern in der Macht :
den Königen, als Hauptattribut eigen und die Quelle der jetzt
vorliegenden Rechtssammlungen gewesen wäre. Die erwähnten
vereinzelten unklaren Angaben der Tradition sind ersichtlich
spätere Eintragungen einer Zeil , welche — wie wir sehen werden
— das »gute alte Recht« und den idealen pazifistischen Fürsten
der verderbten Gegenwart gegenüberstellte. Auch die Rechts-
sammlungen selbst müßten anders aussehen, wenn sie einer
für Israel ursprünglich einheitlichen regelmäßigen amtlichen
Rechtsweisung entsprungen wären. Dann müßte auch ihre wirk-
lich dauernde praktische Geltung zweifellos sein. Gerade das
Gegenteil ist aber zum mindesten für das Schuldsklavenrecht,
^) Auch Micha (7, 3) eifert dagegen, daß der Richter nach "Willkür der
Fürsten urteile.
q5 Das antike Judentum.
also den praktisch wichtigsten Teil des ganzen Sozialrechts, wie
wir sahen, sicher.
Das Recht konnte sich in Israel entwickeln einmal durch
die Rechtspraxis von Dingstätten, wie in aller Welt. Ein einmal
ergangener Rechtsspruch galt als Präzedens, von dem ungern
abgewichen wurde. »Chuk« ^) scheint der alte typische Aus-
druck für die durch Präzedenzfall entstandene verbind-
liche Sitte und Rechtsgewohnheit gewesen zu sein (Jud. 11,39).
Der nach der so entstandenen Sitte Rechtsweisungen gebende
Führer (im Deboralied auch Kriegsführer) hieß in Altisrael »cho-
kek« 2) . In den späten Quellen werden gelegentlich synonym damit
Thora, Gedah, Mischpat gebraucht. Indessen Thora war in der
präzisen Sprache Orakel und seelsorgerische Belehrung
durch die Leviten, wie wir sehen werden, Gedah, wie weiterhin
festzustellen ist, eine durch Beschluß der Heeres Versammlung
anerkannte Anordnung. Endlich »mischpat« war sowohl
»Urteil« wie Rechtsnorm, also der am entschiedendsten rein
juristische dieser Ausdrücke. Soweit es sich um Normen handelt,
scheint er besonders gern für rational formuliertes Recht ge-
braucht zu werden^), im Gegensatz zu chuk. Die auf babyloni-
schem Einfluß beruhenden Bundesbuchnormen sind mischpat,
nicht chuk^). Aber beide Rechtsquellen hatten gemeinsam,
daß sie nur schon geltendes oder als geltend vorausgesetztes
oder fingiertes Recht anwendeten oder feststellten. Für die
bewußte Neuschaffung von Recht kam in Israel zunächst das
mündliche Orakel (debar Jahweh oder debar Elohim) in Betracht.
In die kategorische Form eines solchen Gebotes : »Du sollst . . . «
kleiden auch die Theologen der späteren Zeit ihre sozialethischen
Anweisungen. Die zweite Form der bewußten Neuschöpfung,
Israel eigentümlich, war die feierliche »berith«, stets: nach
1) Chuk (undChukah) bedeutet außer traditionellem Recht und traditio-
neller Sitte auch: Naturgesetz (im Hiobbuch und bei Jeremia). Die priesterliche
Sprache besonders in Lev. und Num. braucht es für die göttliche Ordnung, oft
mit Adjektiven im Sinn von »ewig«, unabänderlich«. Chuk und thora wird bei
Arnos (2, 4) und Je?iaja (24, 5) zusammen genannt.
2) Der Chokek macht falsche Urteile (Chuk) : Jer. lo, i.
^) In der vorexilischen prophetischen Sprache ist diese Bedeutung
leidlich rein festgehalten (Amos 6,ii und später oft).
*) Gelegentlich findet sich neben mischpat und chuk auch »mischmereth«
(Gen. 26, 5), Das Wort bezeichnet ursprünglich »Geschäft« im Sinn von: zuge-
wiesene Arbeit und »Ordnung«, entstammt also bürokratischen Vorstellungen.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 07
vorangegangenem Orakel. Sie wurde natürlich nur in besonders
wichtigen Fällen, dann aber sowohl für einmalige Maßregeln:
so die Sklavenfreilassung unter Zedekia, wie für die Anerken-
nung dauernd geltender Normen verwendet: so kam sie nach
der Tradition bei Annahme des deuteronomischen Gesetz-
buchs in Anwendung. Dem Inhalt nach heute durch höchst
widerspruchsvolle Interpolationen entstellt, ist dessen vermutlich
echter Kern keinenfalls Produkt einer öffentlichen Gesetzes-
sprechertätigkeit oder überhaupt von Rechtskundigen. Sondern,
wie auch die Tradition erkennen läßt, Erzeugnis interner Arbeit
einer spezifischen Theologen- Schule, deren Charakter
hier vorerst noch unerörtert bleibt. Wieviel von den aus der
Rechtsüberlieferung entnommenen Mischpatim, welche es (cap.
12 — 26) enthält, dem publizierten Kompendium ursprünglich
angehörten, ist nicht sicher auszumachen. Jedenfalls aber sind
sie auf stadtstaatlichem Boden gewachsen, mit Theologumena
durchsetzt und eine stark theologisch geartete Fortbildung der
im »Bundesbuch« vorliegenden Rechtsnormen. Auch die Misch-
patim des Bundesbuchs aber könnten nur zum kleinsten Teil
gemeines Recht des alten Israel darstellen, passen für Viehzüch-
tergemeinschaften überhaupt nicht, sind auch keineswegs spezifisch
bäuerliches Recht, sondern — nach Abzug der vermutlich inter-
polierten Theologumena — ein Kompromiß von Interessen,
welcher die Entwicklung der typischen antiken Klassengegen-
sätze voraussetzt. Formell ist die Struktur die, daß einem, wie
Baentsch und Holzinger mit Recht darlegen, ganz leidlich syste-
matisch geordneten Kodex von Mischpatim (Ex. 21, i — 22, 16)
systemlos Einzel-debarim angehängt sind, die teils rechtlichen,
teils sittlichen, teils kultischen Charakters sind. Materiell ist
für die Mischpatim der, in hohe Vergangenheit zurückreichende,
babylonische Einfluß zweifellos. Die formale juristische Technik
und Präzision ist bei den rein profanen Mischpatim nicht gering,
bei den debarim teilweise äußerst mangelhaft. Die Redaktion
der juristischen Bestandteile muß also in den Händen erfahrener
Rechtspraktiker gelegen haben, und diese können — da der
König und seine Beamten nicht in Betracht kommen — wohl
nur in den Kreisen der an der Rechtsfindung beteiligten sekenim,
einer wichtigen und zur Rechtsbelehrung viel besuchten Gerichts-
stätte Nordisraels gesucht werden, wie etwa Sichem es war.
Der Inhalt dieser eigentlichen Rechtsnormen — im Gegensatz
Max Weber, Religionssoziologie HI. 7
Qg Das antike Judentum,
ZU der angehängten und eingefügten Paränese — entstammt
jedenfalls nicht priesterlicher Rechtsfindung. Inwieweit der im
Deuteronomium erhobene Anspruch der Priester : an der Rechts-
findung beteiligt und für zweifelhafte Fälle ausschlaggebend zu
sein, in Vorexilischer Zeit geltendem Recht entsprach, ist durchaus
fraglich. In der Königszeit muß im allgemeinen eher mit einem
Zurücktreten der Bedeutung der alten Prozeßorakel gerechnet
werden, wie sie auch für Babylonien zu beobachten ist ^). Der
deuteronomische Anspruch entspricht dem, was in Aegypten
zur Zeit der Herrschaft der Amon-Priester geltendes Recht war.
Die offensichtliche Beteiligung der Reflexion über die Gottwohl-
gefälligkeit und Billigkeit des als geltensollend dargestellten
Rechts und die Beifügung der debarim bestätigen, daß es sich beim
Deuteronomium um ein »Rechtsbuch«, also eine private und
formell unmaßgebliche, aber nach J^vt des Sachsenspiegels
oder der Sammlung des Manu populär gewordene Arbeit han-
delte. Welche unter dem Einfluß theologisch interessierter Kreise
entstand und durch Zusätze erweitert wurde. — Eine gemein-
same, formell maßgebliche Rechtsweisungsstätte Israels gab es
in der alten Bundeszeit nach . alledem nicht. Sondern nur die
intermittierende, verschieden weit reichende Macht der charis-
matischen Kriegshelden, das Ansehen bewährter Orakelgeber
und alter Kultstätten des Bundeskriegsgottes (vor allem : Silo) , end-
lich vielleicht (aber unsicher) auch einige periodische amphiktyo-
nische Ritualakte, wie möglicherweise jene sichemitische Segens-
und Fluchzeremonie und die mehrfach (Jud. 21, 19 und i. Sam. i, 3)
erwähnten jährlichen Jahwefeste in Silo. Formell wurde der
Bund aktuell nur in Zeiten eines Bundeskriegs. Dann aller-
dings übte diegedah, wie vornehmlich die ganze Heeresversamm-
lung ganz Israels genannt wird, Justiz gegen Frevler am Kriegsrecht
oder an den rituellen und sozialen Geboten Jahwes. Wie der
Ausdruck gedah für »Anordnung« zeigt, konnten durch sie auch
genereile Verfügungen getroffen werden. In beiden Fällen be-
teiligte sich das Heer selbst Wohl, wie meist in solchen Fällen,
durch Akklamation zu den Vorschlägen der vom Herzog aus
den Aeltesten der Kontingente bestimmten Kriegsobersten,
welche vielleicht den gelegentlich vorkommenden Titel »Aelteste
1) Die altbabylonische Ziviljustiz hatte sich aus der Tempeljustiz entwickelt.
Darüber und über die Mitwirkung der Priester in neubabylonischer Zeit E, Cuq
Essay sur l'organis. judic. de laChald6e, Rev. d'Assyr. 7 (igio).
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. gn
in Israel« führten. Diese werden ihrerseits vorher ein Orakel ein-
geholt haben.
Ueber die Verteilung der Beute, namentlich über die
Teilnahme der Nichtkombattanten daran, bestanden angeblich
(nach Num. 31, 27) feste Grundsätze, die jedoch in der Erzäh-
lung von Davids Beuteverteilung (i. Sam. 30, 26) als eine von
diesem eingeführte Neuerung erscheinen. Der Casus foederis
eines Bundeskrieges, dessen Heerführer und das Ziel des Krieges
wurden durchweg charismatisch und prophetisch durch Er-
weckungen und Orakel Jahwes als des Kriegsherrn des Bundes
bestimmt. Als eigentlicher Herzog eines Bundeskriegs galt
Jahwe selbst. Ihm persönlich, nicht nur den Eidgenossen, haben
die Eidbrüchigen die Hilfe versagt und verfallen daher, wie Jabes,
der Ausrottung. Ein Bundeskrieg war daher ein heiliger
Kriegt) oder er konnte es doch jederzeit werden, und wurde
in Zeiten der Not sicher immer dazu erklärt. Die gedah, das
versammelte Heer, heißt im Deboralied (Jud. 5, 11) und beim
heiligen Krieg gegen Benjamin (Jud. 20) ganz einfach die »Man-
nen Gottes« ('am Jahwe bzw. *am haelohim). Das hatte zunächst
rituelle Folgen. In der Philisterzeit wurde nach der Samuel-
tradition das tragbare Feldheiligtum: die »Lade Jahwes« in
das Heerlager gebracht und nach einem in der Priestertradition
erhaltenen Spruch der Gott rituell ersucht: sich, sei es aus ihr
als seinem Behältnis, sei es von ihr als seinem Thronsitz, zu er-
heben und dem Heer voranzuziehen, nach dem Kampf ebenso:
wieder Platz zu nehmen. Auch das Ephod, später ein priester-
liches Bekleidungsstück, erscheint gelegentlich (i. Sam. 14, 3;
23, 6. 9; 30, 7) im Lager. Durch Verfluchung der Feinde, Orakel
und Gelübde vor der Schlacht, Segenzauber während der Schlacht
wurde gesucht, Jahwes Eingreifen zu sichern. Zu den Mitteln
hierfür gehörten mindestens in Zeiten großer Kriegsnot auch Men-
schenopfer, wie sie zuletzt noch König Manasse gebracht hat.
Aber auch abgesehen von jenen besonderen Gelübden, die sich
in der ganzen Welt verbreitet finden, mußte im heiligen Kriege
das Heer die vorgeschriebene Askese üben : vor allem Fasten
und sexuelle Abstinenz. David und seine Gefolgschaft durften,
nach Annahme der Tradition, vom heiligen Brot essen, wenn
*) lieber die mit diesem Umstand zusammenhängenden Einzelerschei-
nungen hat in ausgezeichneter Art Schwally, Semit. Kriegsaltertümer, I (Der
heilige Krieg im alten Israel, Leipzig 1901) gehandelt.
7*
IQQ Das antike Judentum.
sie sich, als Krieger, sexuell enthalten hatten. Vergebens läßt
David, als sich Folgen seines Ehebruchs mit Baths ba zeigen,
deren Mann Uria aus dem Felde kommen, damit er selbst mit seiner
Frau Umgang pflege und so die Spur verloren gehe: Uria ent-
hält sich, der militärischen Disziplin gehorchend, des Umgangs.
Der Bruch der Askese, speziell des Fastens, durch einen Einzel-
nen bedroht alle mit dem Zorn Jahwes und bedingt daher den
Tod des Uebertreters : nur durch Opferung eines Ersatzmannes
wendet das Heer diesen von Sauls Sohn Jonathan ab.
Mit der Vorbereitung zum Einbruch in Kanaan unter Josua
wird von einer Tradition auch die universelle Beschneidung
in Zusammenhang gebracht. Sie war den Israeliten mit den um-
wohnenden Völkern, mit Ausnahme der von Uebersee einge-
wanderten Philister, vor allem aber mit den Aegyptern gemein-
sam, von denen sie, nach Herodot, Syrien und Phönizien ange-
nommen hatten. Sie ist der einzige vielleicht von Aegypten
übernommene Bestandteil des israelitischen Ritus. Ihr ursprüng-
licher Sinn ist bekanntlich Gegenstand ungeschlichteten Streits.
Vielleicht galt sie in Aegypten anfänglich nicht universell,
sondern für die Vornehmen ^) und würde dann entweder mit
der Jünglingsweihe der Krieger oder mit der priesterlichen Novi-
zenweihe im Zusammenhang stehen. Ihr Vollzug im Kindesalter
ist sicher erst Produkt späterer Zeit. Auch an Ismael vollzieht
Abraham sie im 13. Jahre ^). Die ätiologische Sage von Moses
und Zippora im Exodus zeigt andererseits, daß. sie jedenfalls
auch als gegen dämonische Einflüsse beim geschlechtlichen
Verkehr gerichtet galt. Inwieweit die in der rabbinischen Tra-
dition sich öfter findende Beziehung zu der Verheißung reich-
licher Nachkommenschaft alt ist, steht durchaus dahin. Dagegen
zeigt sich, daß in der friedlichen nachexilischen Zeit ihre Un-
entbehrlichkeit für Proselyten wenigstens nicht absolut fest-
stand. In älterer vorexilischer Zeit waren, was wohl zu beachten
ist, die nicht wehrpflichtigen gerim — und das war die gesamte
^) Doch ist gerade neuerdings Gunkel mit starken Gründen gegen Reitzen-
stein für die Universalität der Beschneidung in Aegypten eingetreten (Archiv
f. Pap. Forschung II, i S. 13 f.). Die späte Notiz des Origenes, wonach die Priester
die Hieroglyphen nur an Baschnittene hätten lehren dürfen, ist wohl nicht ver-
wertbar. Die Notiz Jos. 5, 8 ergibt vielmehr klar, daß dem Verfasser die Be-
schneidung eine Angelegenheit des Heeres war: um dem Hohn der Aegypter
zu entgehen, habe Josua sie vollzogen.
*) Die Beschneidung wurde in Aegypten nach den Denkmälern nicht im
Kindes-, sondern im Knabenalter vorgenommen.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. iqj
nicht bodenständige Bevölkerung des Landes — auch der Be-
schneidung jiicbt unterworfen. Dies könnte als ein Haupt-
argument für deren Herkunft aus der Kriegeraskese sprechen,
welche das Wahrscheinlichste bleibt. Andererseits aber soll
jedes Mitglied des Hausstandes, nach einer Bestimmung von
allerdings unbestimmtem Alter ^) auch der Sklave, beschnit-
ten werden, und dies gilt (Ex. 12, 48) als Voraussetzung der Teil-
nahme am häuslichen Passahmahl. Die Spuren der Herkunft
bleiben also etwas vieldeutig. Daraus, daß der Unbeschnittene
('arel) später in einen besonderen Hades gelangt (Hes. 31 18;
32, 18) ist auch nichts Sicheres zu entnehmen ^). Jedenfalls galt
der fremde Unbeschnittene in spezifischem Sinn als ritueller
Barbar und Vorhäute der Feinde wie in Aegypten nach Art
der indianischen Skalpe als Trophäen. Das weitaus Wahrschein-
lichste ist alles in allem, daß sie ursprünglich mit der Krieger-
askese und Jünglings. veihe der Jungmannschaft irgendwie zu-
sammenhängt. Ob außerdem etwa mit irgendwelcher dabei
im Ursprungsland üblicher phallischen Orgiastik, bleibt wohl
für immer im Dunkeln ^) . Hygienisch rationalistische Deutungen,
wie sie noch immer vorkommen, sind jedenfalls hier wie meist
ganz besonders unwahrscheinlich.
Neben die Maßregeln zur Heiligung des Heeres trat nun
im heiligen Krieg das rituelle Tabu für die Beute: deren Weihung
an den Kriegsgott des Bundes, der C h e r e m , der zur Zeit der
nachexilischen Umwandlung in eine befriedete konfessionelle
Gemeinde als Exkommunikation inkorrekt lebender Gemeinde-
genossen fortlebte. Reste privater Tabuierung scheinen sich
auch in Israel zu finden. Die Tabuierung und Opferung der
ganzen oder eines Teils der lebenden und toten Beute an den
^) Die Sklavenbeschneidung war sicherlich eine Neuerung, was auch in
der späten Erzählung vom Bunde mit Abraham (Gen. 17, 12) deutlich erkenn-
bar ist.
"j Ohne Motivierung, als Bundeszeichen und als im Kindesalter vorzu-
nehmen, wird die Beschneidung von den pazifistischen Erzväterlegenden durch
einfachen Befehl Gottes an Abraham eingeführt.
^) Die Möglichkeit, daß das Passah ursprünglich eine Fleischorgie beduini-
scher Krieger gewesen sei, ist zu unsicher, um für die Deutung in Betracht
zu kommen. Natürlich wäre es an sich wohl denkbar, daß die Umwandlung
in ein häusliches Fest erst Folge der früher geschilderten Zersplitterung der
Stämme der Viehzüchter mit steigender Siedelung gewesen sei. (Aehnlich E.
Meyer, Die Israeliten pp. S. 38 f.) Aber die Bestreichung der Pfosten mit Blut
und das Verbot des Blutgenusses scheinen zu zeigen, daß die Fleischorgiastik
schon in älterer Zeit beseitigt war, wenn sie bestand.
I02 I^^s antike Judentum.
Gott aber war sehr universell verbreitet und namentlich in Aegyp-
ten bekannt, wo der König kraft ritueller Pflicht die Gefangenen
abschlachtete. Die Feinde galten hier wie dort als Gottlose:
von ritterlichem Empfinden findet sich in keinem Von beiden
Fällen eine Spur. Der Cherem im Kriege konnte verschieden
weit gehen, und jedenfalls zeigen die Regeln über die Beute-
teilung, daß die Tabuierung der gesamten Beute: Männer,
Weiber, Kinder, Vieh, Häuser, Hausrat nicht die Regel war.
Zum Teil wurden nur die erwachsenen Männer: »Alles was an
die Wand pißt«, oder wohl auch nur die Fürsten und Hono-
ratioren, als Opfer geschlachtet. Außerhalb des heiligen Krieges
unterschied, wie der Islam, so auch das altisraelitische Kriegs-
recht zwischen Feinden, die sich freiwillig unterwarfen und sol-
chen, die im Kampf verharrten und beließ den ersteren das
Leben (Deut. 20, 11). Danach ist auch gehandelt worden, und
zwar innerhalb sowohl wie außerhalb des kanaanäischen Gebiets.
Erst die prophetisch beeinflußte Theorie Von der spezifischen
Heiligkeit des von Gott verheißenen Landes, wie sie in Elias
Zeit zuerst hervortritt, verlangte die absolute Reinigung dieses
Gebiets von Götzendienern (Deut. 7, 2. 3). Und nur die Theorie
der Kriegsprophet ie, dann des Exils und die Entwicklung des
Judentums zur Konfession neigte sich dem fanatischen Grund-
satz zu, daß man den Landesfeind schlechthin auszurotten habe^).
Abgesehen davon, daß bei weitem nicht alle Kriege, sondern
nur die des Bundes als solchem, und vielleicht auch sie nicht
immer, als heilige Kriege galten, zeigt der Gegensatz im Ver-
halten Sauls gegen die Anforderungen, welche die Tradition
dem Samuel in den Mund legt, die relative Jugend der letzten
Konsequenzen des Cherem. Diese wurden nun aber mit rück-
sichtloser Schärfe auch in der Gestaltung der Ueberlieferung
durchgeführt und dieses wesentlich theoretische blutige Kriegs-
recht brachte jene eigentümliche Verbindung einer fast wol-
lüstigen Grausamkeitsphantasie mit den Geboten der Milde
gegen die Schwachen und Metöken hervor, welche manchen
Partien der heiligen Schriften ihr Gepräge gibt.
In Verbindung mit der allgemeinen Kriegeraskese kennt die
israelitische Kriegsführung auch die Erscheinungen der Krieger-
^) Ein Widerspruch gegen die humanen fremdenrechtiichen Bestimmungen
der älteren Rechtssammlung ist dies natürlich nicht, denn diese betreffen den
ger, nicht aber den ganz Landfremden. Jene rituell geschiedenen Metöken
sollte es aber eben jetzt gar nicht mehr geben.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 103
ekstase in ihren beiden auch sonst verbreiteten Formen.
Entweder als Gemeinschaftsekstase, wie sie der Kriegstanz
und die Fleisch- oder Alkoholorgie der Krieger erzeugen. Davon
finden sich einige Spuren in der Tradition, deren deutlichste
das den Philistern unheimliche Kriegsgeschrei (Teru'ah i. Sam.
4, 5) der Israeliten nach dem Eintreffen der Lade Jahwes im
Kriegslager ist (vermutlich doch : ein Kriegstanz um diese) und
das gelegentlich (i. Sam. 14, 32) erwähnte Essen rohen Fleischs
und Bluts (entgegen also dem normalen Ritual) nach der sieg-
reichen Schlacht. Oder als individuelle charismatische Helden-
ekstase, wie sie sich sehr universell verbreitet bei den Helden
vom Typus des Tydeus oder Cuchullin oder der »Amok-Läufer«
und in typischer Art vor allem bei den nordischen »Berserkern«
findet, deren Ekstase sie in einem Rausch von tollwutartigem
Blutdurst sich in die Mitte der Feinde stürzen und halb besin-
nungslos abschlachten läßt, was um sie ist^). Ein typischer
Berserker dieser Art ist der Simson der Sage, einerlei ob er sei-
nem Ursprung nach, wie der Name (Schamasch) nahelegt, aus
einem Sonnenmythos stammt. Wenn der Geist Jahwes über ihn
kommt, so zerreißt er Löwen, steckt Felder in Brand, reißt
Häuser ein, schlägt mit beliebigen Werkzeugen beliebige Massen
von Menschen tot und verübt andere Akte wilder Kriegswut.
Er steht sicher als Vertreter eines Typus in der Tradition. Zwi-
schen dem als ekstatischer Berserker auftretenden Einzelhelden
und der nur akuten Gemeinschaftsekstase des Kriegstanzes
in der Mitte steht das asketische Training einer berufsmäßigen
Kriegerschaft zur Kriegsekstase. Eine solche ist in Rudimenten
wohl in den »Nasiräern« zu finden, den »Abgesonderten« 2),
ursprünglich wohl sicher asketisch geschulten Kriegsekstatikern,
welche — das einzig sicher Ueberlieferte — ihr Haar ungeschoren
ließen und sich des Alkohols, ursprünglich wohl auch des
Sexualverkehrs, enthielten^). Auch Simson galt als solcher
und ging in der ursprünglichen Legende wohl deshalb zugrunde,
^) Man unterhielt in Konstantinopel noch in später Zeit einige dieser nor-
dischen Wilden, etwa so, wie man früher Kriegselefanten hielt. Die Frage, ob
die Kriegsekstase bei den Berserkern planvoll durch Vergiftung herbeigeführt
worden sei, wird jetzt meist verneint.
2) Der Talmud zeigt, daß Nasiroth und Perischot (wovon »Pharisäer«)
damals dem Begriff nach identisch waren.
^) Daß Unterlassung der Haarschur und Alkoholabstinenz zwei ver-
schiedene Arten von Kriegeraskese repräsentiert hätten, wie teilweise (Kautzsch)
angenommen wird, scheint nicht sicher.
J04 ^^s antike Judentum.
weil er sich zum Bruch des sexuellen Tabu hatte verführen las-
sen. Die Nasiräer als Kern des Heeres finden sich in dem zwei-
fellos alten Segensspruch des Mosessegens über Joseph (Deut.
33, i6), und das »langwallende Haar« (?) der Mannen ('am),
die sich zum Kriege weihten (hithnadeb), erscheint im An-
fang des Deboraliedes. In der späteren pazifistischen Ent-
wicklung ist der Nasiräat zu einer Kasteiungsaskese kraft
Gelübdes mit rituell exemplarischer Lebensführung, vor allen
mit Enthaltung Von Verunreinigung, geworden, — was er ur-
sprünglich sicher nicht War, denn der Simson der Sage rührt
Aas (des Löwen) an, gilt aber als Nasir. Das überlieferte Na-
siräer-Ritual (Num. 6) hat schon diesen Charakter. Ursprünglich
war, neben der magischen Vorbereitung für die Ekstase, wohl
gerade die Erhaltung der physischen Vollkraft der Zweck jener
Vorschriften. Graf Baudissins Hypothese, daß der in den
Rechtsbüchern durch eine Ablösungsgebühr erseir/te alte An-
spruch Jahwes auf alle menschliche Erstgeburt ursprünglich
die Verpflichtung der Eidgenossen bedeutet habe, ihm den Ael-
testen als nasiräischen Berufskrieger zu weihen, — womit man
dann noch die Vorschrift des doppelten Erbanteils für den Ael-
testen, um ihn ökonomisch »abkömmlich« zu machen, kombi-
nieren könnte, -- bleibt eine ansprechende, aber nicht sicher
zu beweisende Vermutung, für welche vor allem der enge Zu-
sammenhang zwischen den »Nasiräern« und »Erstgeborenen«
im Mosessegen für Joseph (Deut. 33, 16. 17) sprechen könnte.
Jedenfalls macht es die Erwähnung der Nasiräer in beiden
Segensprüchen über Joseph wahrscheinlich, daß in diesem
Stamm zur Zeit dieser Sprüche ein Kern von jahwistischen
Glaubenskämpfern, eine Art jahwistischer Kriegsorden also
(wenn man den Ausdruck zulassen will), der Träger der Kampf-
kraft gewesen ist. Näheres zu wissen ist unmöglich. Ebenso
können wir nur sehr undeutlich die Beziehungen des alten Nasi-
räats zu einer andern aus der Zeit des alten Bauernheerbanns
herrührenden Erscheinung erkennen : den N e b i j i m ^) . Beide
^) Für die Etymologie pflegt man das arabische naba': verkünden und
den babylonischen Nabu, den Schreiber und Künder der Beschlüsse des Götter-
rats, heranzuziehen. Vgl. die Badeutung des Berges »Nebo«, dessen Name wohl
mit Nabu zusammenhängt. Mose sowohl wie Elia werden auf ihm bzw. in seiner
Nachbarschaft von Jahwe fortgerafft. Ueber die Prophetien der Zeit vor den
Schriftpropheten jetzt zu vgl. S e 1 1 i n , Der alttestamentliche Prophetismus,
Leipz. 1912, S. 197 ff.. i«nd G. H Öls eher. Die Propheten (1914). Vgl. Absch. II.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 105
hatten enge Berührungen. Samuel wird in der Tradition von
den Eltern in einer Art zum Jahwedienst geweiht, die dem Nasiräat
entspricht und gilt einer allerdings fragwürdigen Ueber-
lieferung als Kriegsheld gegen die Philister. Andererseits
aber gilt er auch als Nabi und Haupt einer Nebijim-Schule.
Der Nasir, der Kriegsekstatiker stand, wie immer man diese
Tradition bewertet, in jedem Fall dem Nabi,. dem magischen
Ekstatiker, nahe. Daß Nasir und Nabi ineinander übergehen,
entspricht auch durchaus dem sonst bekannten Wesen Von
Glaubenskämpferorganisationen.
Die »Nebijim« sind in keiner Art eine Israel oder
Vorderasien allein eigentümliche Erscheinung. Daß weder
in Aegypten (vor der Ptolemäerzeit) noch in Mesopotamien
die Existenz ähnlicher Formen der Ekstase bezeugt ist, son-
dern nur für Phönizien, hat sicherlich seinen Grund lediglich
in der Diskreditierung der orgiastischen Kulte und der büro-
kratischen Reglementierung und Verpfründung der Mantik
schon in der Frühzeit der Großkönigtümer, wie in China. »Pro-
pheten« heißen in Aegypten einfach die Irhaber bestimmter Arten
von Tempelpfründen. In Israel aber wie in Phönizien und
Hellas blieb, wie in Indien, die prophetische Ekstase infolge
des Fehlens der Bürokrat isierung eine lebendige Macht, und
in Israel insbesondere stand sie in der Zeit der Befreiungskriege
als Massenekstase in Verbindung mit der nationalen Bewegung.
Die israelitischen Nebijim unterschieden sich im Wesen offen-
bar nicht von den schulmäßigen Berufsekstatikern, die wir über
i die ganze Erde hin verbreitet finden. Ihre Rekrutierung erfolgte
nach persönlichem Charisma und War, wie die geringschätzige
Behandlung durch die spätere Tradition erkennen läßt, stark
plebejisch. Sie tätowierten sich offenbar (i. Kön. 20, 41), ähn-
lich den indischen Mendikanten, an der Stirn und trugen eine
Tracht, zu Welcher vor allem eine besondere Art von Mantel
gehörte, durch dessen magisch wirkendes Ueberwerfen, scheint
es, das Schulhaupt (der »Vater«) seine Jünger oder Nachfolger
designierte. Sie trieben gemeinsarn ihre Uebungen in besonderen
Behausungen, anscheinend zuweilen auf Bergen (so dem Kar-
mel) ; doch werden auch in einigen israelitischen Orten
(Gibea, Rama, Gilgal, Bethel, Jericho) »Nebijim« erwähnt.
Dauernde Askese oder Familienlosigkeit werden für sie nicht
überliefert (2. Kön. 4, i). Musik und Tanz gehörten hier wie
Io6 Das antike Judentum.
sonst ZU den Mitteln der Erzeugung der Ekstase (2. Kön. 3, 15).
Die Nebijim des phönikischen Baal, welche unter der Omriden-
Dynastie in Nordisrael Eingang fanden, verwendeten einen
Hinktanz um den Altar mit orgiastischer Selbstverwundung
als Regenzauber. Selbst Verwundung und auch (i. Kön. 20, 35 f.)
gegenseitige Verwundung gehörten neben der Erzeugung kata-
leptischer Zustände und Irrereden auch zu den Praktiken der
Jahwe-Nebijim, ohne daß wir über die Einzelheiten Genaueres
wüßten. Der Zweck war der Erwerb magischer Kräfte. Die
Mirakel, Welche (2. Kön. 4, i f.; 4, 8 f.; 4, 18 f.; 4, 38 f.; 4, 42 f.;
6. I f. ; 8, I f.) von dem letzten Meister der Zunft, Elisa, erzählt
werden, tragen durchaus das typische Gepräge der berufsmäßigen
Zauberei, wie sie in indischen und andern Magierlegenden sich
finden. . Und wie alle solche ekstatischen Zauberer wurden —
wie jene Zaubergeschichten (und die von Elia überlieferten)
erkennen lassen — Nebijim teils als Medizinmänner, teils als
Regenzauberer in Anspruch genommen, teils aber traten sie
wie die indischen Naga und die ihnen am ehesten vergleichbaren
Derwische, als Feldkapläne und wohl auch direkt als Glaubens-
kämpfer in Aktion. Als Kriegspropheten traten die Jahwe-
Nebijim in Nordisrael beim Beginn der Nationalkriege auf, vor
allem in den Befreiungskämpfen gegen die unbeschnittenen
Philister, die ja recht eigentlich Religionskriege waren. Aber
wohl damals nicht zum erstenmal, sondern in allen eigentlichen
Befreiungskriegen — deren erster der Deborakrieg war — ist
offenbar auch die ekstatische Prophetie hervorgetreten. Sie
hatte zunächst nichts mit irgendeiner »Weissagung« zu tun
(das Orakel war ja zu Gideons Zeit reines Losorakel), sondern
ihr Werk war, wie bei Debora, der »Mutter Israels« Aufruf zum
Glaubenskampf, Verheißung des Sieges und ekstatischer Sieges-
zauber. Daß freilich diese ekstatische Kriegsprophetie Einzel-
ner mit der späteren schulmäßigen Nabi-Ekstase in direkter
Verbindung stand, ist nicht sicher erweislich: das Deboralied
und das Richterbuch kennt die letztere nicht.
Aber Beziehungen bestanden wohl sicher. Denn die Kriegs-
ekstase war keineswegs auf die individuelle Ekstase der charis-
matischen Berserker und Kriegspropheten der früheren und
die Massenekstase der Derwischbanden der späteren Zeit des
bäuerlichen Heeres beschränkt. Sondern es finden sich überall die
Verbindungsglieder. Nicht nur wird von den charismatischen
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 107
Kriegsführem der sogen. Richterzeit sicher ein erhebUcher
Teil, wenn nicht alle, den Charakter von Kriegsek^tatikern
gehabt haben, sondern vor allem auch von dem ersten König
Israels ist dies ausdrücklich überliefert. Und zwar im Zusamen-
hang mit Beziehungen zu den Nebijim. Nach einer Tradition,
die den Sachverhalt nicht mehr verstand, gerät Saul angeb-
lich »zufällig« nach seiner den »Geist Jahwes« vermittelnden
Salbung unmittelbar vor seinem öffentlichen Auftreten als
König in eine Gesellschaft Von Nebijim hinein und wird selbst
von der Nabi-Ekstase erfaßt (i. Sam. lo). Aber auch später,
noch während seines Kampfs gegen David, erfaßt ihn (i. Sam. 19,
24) bei einem wiederum angeblich zufälligen Besuch in Samuels
Nabischulen, die Ekstase, so daß er nackt umhergeht, irre redet
und einen ganzen Tag in Ohnmacht ist. In einem von Jahwe ge-
sandten heiligen Wutanfall zerstückt er bei der Nachricht von
den Kapitulationsverhandlungen von Jabes den Ochsen und ruft
ganz Israel unter religiösem Fluch gegen die Säumigen zum Be-
freiungskampf auf. Seine Anfälle von Wut gegen David wertete
die davididische Tradition als Folge eines bösen, aber ebenfalls
von Jahwe stammenden, Geistes. Er war offenbar ein kriegerischer
Ekstatiker wie Muhammed. Aber ebenso wie Saul weilt auch
David in Samuels Nabiwohnungen. Er tanzt vor der Bun-
deslade, als sie im Triumph eingebracht wird. Wie die Beziehung
im einzelnen ausgesehen hat, ist aus solchen Nachrichten nicht
mehr feststellbar, aber sie bestand.
Wie die Ekstasen Sauls, so wird aber von der späteren Tra-
dition auch dieser ekstatische Akt Davids halb schonend ent-
schuldigt. Ihr erschienen diese Züge als unköniglich. Michal,
Davids Weib, spricht es ausdrücklich aus, daß ein König sich
nicht benehmen dürfe »wie ein Plebejer«, und der Spruch: »Wie
kommt Saul unter die Nebijim ? wer ist ihr (der Nebijim) Vater ?«
drückt das genau Entsprechende aus : die Verachtung dieser wür-
delosen Plebs. Einerseits die noch zu erörternde veränderte
Stellung der literarisch gebildeten Schichten der späteren Königs-
zeit zu den alten Ekstatikern spricht dabei mit. Andererseits
die inzwischen veränderte Stellung dieser Derwische infolge
der seit Davids Stadtresidenz, endgültig aber seit Salomo, durch-
aus veränderten Struktur des Königtums. Vor seiner Etablie-
rung als Stadtkönig war David ein charismatischer Fürst im
alten Sinn, den der Erfolg allein als Gottesgesalbten legitimierte.
I08 ^^s antike Judentum.
Als daher die Amalekiter die Herden und Weiber seiner Gefolg-
schaft geraubt haben, gerät er in Gefahr, von dieser kurzerhand
als dafür verantwortlich erschlagen zu Werden. Anders wurde
das mit der endgültigen Begründung der erbcharismatischen
stadtsässigen Monarchie und der Aenderung der Heeres-
verfassung, welche auf diese folgte. Salomo importierte Rosse
und Wagen aus Aegypten und schuf damit das Ritterheer. Die
königliche Menage bestand mindestens für die Leibtruppen
und einen Teil, wenn nicht alle, Wagenkämpfer (i. Kön. lo, 26),
die unter Salomo als in besondern »Wagenstädten« untergebracht
auftreten. Seitdem vermutlich heißt in der Redaktion der Tra-
dition das »Heer«, z. B. das Wagenheer des Pharao, einfach
dessen »Vermögen« (chail), der königliche Oberst darüber der
»sar chail im«. Dazu traten leiturgiepf lichtige Königshandwerker
und Untertanenfronden für die Festungs-, Palast- und Tempel-
bauten und auch für die Bestellung des sich ausdehnenden Königs-
landes, königliche Beamte mit Pfründen und Landlehen als
Offiziere und wenigstens in den Residenzen auch als Richter,
ein königlicher Drillmeister für die Heeresmannschaft, ein Kron-
schatz als Machtmittel und für Spenden an die Getreuen, zu
seiner Speisung Eigenhandel des Königs auf dem Roten Meer
und Abgaben der unterworfenen Fremdgebiete, aber auch regel-
mäßige Naturalabgaben der in 12 Bezirke eingeteilten Unter-
tanen zur monatlich reihumgehenden Versorgung der könig-
lichen Tafel, schließlich auch Arbeitsfronden nach ägyptischer
Art. Ein regulärer Harem, Verschwägerungen und Bündnisse
mit den Herrschern der großen Mächte, vor allem Aegyptens
und Phöniziens, um Weltpolitik treiben zu können, im Gefolge
davon Import fremder Kulte, teils nur in der Form von Hof-
kapellen für die fremden Prinzessinnen, teils aber auch durch
Einfügung der fremden Götter in die eigenen Kulte, waren die
sofort eintretenden Konsequenzen der Königsmacht. Das König-
tum gewann so die bei den großen Kriegsmächten des Orients
typischen Züge. Die königlichen Schreiber, der Kanzler, der
Majordomus, der Rentmeister und der typisch ägyptische Rang-
titel »Freund des Königs« (re'eh hamelech) treten auf. Auch
weltliche Stellen sind mit Priestern oder Priestersöhnen,
als den Schreibkundigen, besetzt (i. Kön. 4, i f .) und das be-
deutete hier, wie überall, eine Steigerung der Macht der schul-
mäßig gebildeten Priester an Stelle der charismatischen Ekstatiker.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. JOQ
Aber dazu trat noch anderes. Aus der lockeren Eidgenossen-
schaft von Bauern, Hirtensippen und kleinen Bergstädten ver-
suchte durch alle jene Mittel Salomo ein straff organisiertes
politisches Gebilde zu schaffen. Zwölf geographische könig-
liche Verwaltungsbezirke traten an die Stelle der durch den
Jahwebund vereinigten Stämme: diese wurden jetzt Phylen,
wie sie in allen antiken Stadtstaaten für die Repartierung der
Staatslasten bestanden. Der größte Teil des Herrenstammes
Juda scheint als Hausmacht eximiert gewesen zu sein, wie in
den meisten monarchischen Staatenbildungen. Im übrigen
knüpfte die Gliederung wohl meist an die Grenzen der alten
Stämme an. Die Teilung Josephs in Ephraim und die beiden
Manasse hängt vielleicht damit zusammen. Die Stereotypie-
rung der 12 Stämme Israels erhielt wohl erst dadurch ihren Ab-
schluß. Der wiederholte Abfall der Nordstämme änderte nach
der Gründung von Samaria gar nichts daran, daß beide Reiche
seitdem diesen Charakter behielten. Damit aber und vor allem
mit dem steigenden Gewicht des Wagenkämpferheeres mußten der
alte ekstatische Heldencharismatismus ebenso wie der alte
Bundesheerbann an Bedeutung schwinden. Das stehende Heer:
die königlichen Leibgarden und Soldtruppen, gewannen auf Ko-
sten des alten bäuerlichen Aufgebots zunehmende Bedeutung.
Die alten Gibborim waren wohl nur die panhopliefähige »classis«
(römisch gesprochen) des Eidgenossenheeres gewesen. Mit
der nunmehr steigenden Kostspieligkeit der Ausrüstung aber
wurden sie eine Ritterschaft, zu deren Gunsten der Heerbann
der Gemeinfreien zunehmend zurücktrat. Die Grundlage der
königlichen Heeresmacht bildeten in zunehmendem Umfang
die Magazine und Arsenale, welche namentlich für Hiskia (2.Chron.
32, 28) erwähnt werden. Damit trat jene Entmilitarisie-
r u n g der bäuerlichen Schichten ein, von der schon gesprochen
wurde. Der durch die Stadtentwicklung eingetretene Zustand
verhielt sich an sich zu dem der alten israelitischen Eidgenossen-
schaft etwa so wie die Hegemonie der »Großmächtigen Herren
von Bern« zu dem ursprünglichen Bauernbund der Schweizer
Urkantone. Wesentlich verschärfend aber trat dabei in Israel
hinzu die Herrschaft des Fronkönigtums. Man wußte sehr gut,
daß der alte Bund und sein Heer sozial anders ausgesehen hatten
und als etwas Neues wurden die Steuern und Königsfronden der
freien Israeliten bitter empfunden.
j jQ Das antike Judentum.
Die alten Vorkämpfer der Freiheit, die Nebijim, wurden von
der eingetretenen Aenderung stark betroffen. Sie waren die geist-
lichen Lenker der alten Bauernaufgebote gewesen. Mirjam,
Debora, nach der späteren (fragwürdigen) Tradition auch Samuel,
die alten Berserker-Helden und die Banden der Derwische
galten der populären Erinnerung als die vom »Geist« des Bundes-
kriegsgotts ergriffenen Träger der echten frommen Heldenge-
sinnung. Der Feind waren die wagenkämpfenden Ritter gewesen
— ägyptische, kanaanäische und philistäische — , gegen welche
Jahwe durch die Erweckung der Helden- und Prophetenekstase
dem Bauernheer den Sieg verliehen hatte. Jetzt aber wurde das
Heer der eigenen Könige selbst ein Aufgebot geschulter Wagen-
kämpfender Ritter und fremdstämmiger Söldlinge, in welchen
für die Nebijim und Nasiräer kein Platz mehr war. Auch die
Nabi-Ekstase und die Nasiräer - Askese wurden also — dies
war ein religionsgeschichtlich sehr wichtiger Zug dieser inner-
politischen Entwicklung — entmilitarisiert. Wir sahen
schon, wie der Degout der höfischen Gesellschaft gegen Davids
ekstatischen Tanz der Michal in den 'Mund gelegt wurde. Einen
»Verrückten« nennt ein Offizier Jehus jenen Nabi, der von dem
Haupt der Jahwe-Nebijim, Elisa, geschickt wurde, um dem
Feldherm die Salbung zum Gegenkönig anzubieten. Bei dieser
von den Rechabiten unterstützten jahwistischen Revolte Jehus
gegen die Omridendynastie traten unter der Führung des Elisa
auch die von ihm geführten ekstatischen Nebijim noch ein-
mal als politischer Faktor hervor. Es fällt aber auf, daß in den
Berichten über die Nebijim Elisas die ekstatischen Erschei-
nungen wesentlich temperierter erscheinen als in der Saul-
und Samuel-Tradition: nicht vagierende, dionysisch ra-ende
Banden, sondern durch Musik zur Ekstase angeregte seßhafte
Schulen sind ihre Träger. Und es ist überhaupt das letzte
Mal, daß wir in dieser Art von ihnen als einem politischen
Faktor hören. Die nächste Erwähnung ist eine negative: der
Prophet Amos verwahrt sich unter Jerobeam H. dagegen,
ein »Nabi« zu sein. Damit war offenbar gemeint: ein berufsmäßig
geschulter Ekstatiker, der daraus ein Gewerbe macht. Denn
an anderen Stellen braucht auch Amos den Namen Nabi als
Ehrentitel. Aber immer wieder kehrt bei den Schriftpropheten
die Klage über die Lügenhaftigkeit und Verderbnis der Nebijim.
Damit sind stets B e r u f s ekstatiker gemeint.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. i i i
Daß die berufsmäßige Nabi-Ekstase nur teilweise politisch
orientiert, im übrigen aber ein einfacher Erwerb als Magier
war, geht aus den Quellen deutlich hervor. Einen national-
israelitischen Charakter hatten offenbar diese freien Nebijim
nicht. Sie stellen ihre Dienste unter Umständen auch Nicht-
israeliten zur Verfügung. Elisa geht nach Damaskus und der
Feind Ahabs, König Benhadad, läßt ihn konsultieren. Auch
seinem am Aussatz erkrankten Feldhauptmann gibt er ein magi-
sches Heilmittel an, durch welches dieser zum Jahwe- Verehrer
bekehrt wird. Er verkündet dem Feldherren des Damaskener-
königs, Hasael, dem späteren Todfeinde Israels, seine Bestim-
mung zur Krone des Aramäerreichs. Ebenso steht er auch dem
eigenen König auf Verlangen als ekstatischer Zauberer im
Moabiterkrieg zur Verfügung. Aber in festem Dienst steht er
nicht : er gilt der Tradition als Leiter einer Gemeinschaft freier
Nebijim. Die im Königsdienst stehenden Nebijim waren inPhö-
nizien alt. König Ahab hatte Baal-Nebijim seiner phönikischen
Frau in seinen Diensten, aber, da er seine Kinder jahwistisch
benannte, sicher auch Jahwe-Nebijim. Beide in der von jeher
in Syrien typischen Art : als Pfründner, die an der königlichen Talel
lebten. Offenbar gab es aber damals schon eine Kategorie von
Nebijim, welche jede Verwertung des ekstatischen Charisma
zu irgendwelchen Erwerbszwecken perhor res zierte. Dieser Stand-
punkt wird, mit fraglichem Recht, dem Elisa zugeschrieben:
Er schlägt den Schüler, der Entgelt nimmt, mit Aussatz. Das
entspricht dem, was wir bei den Intellektuellenschichten auch
anderer Länder, bis zu den hellenischen Philosophen, als Gebot der
Standesehre wiederfinden und diesen Anschauungen entsprang
auch die Ablehnung des Nabi-Titels durch Arnos. Sowohl jene
berufsmäßigen Königstiebijim wie auch diese Schicht von freien
Nebijim aber, welche sich als Hüter der reinen Jahwe-Tradition
fühlten, sahen sich, da ihre unmittelbar militärische Bedeutung
als Glaubenskämpfer seit der Wagenkampftechnik fortfiel und
nur, für die ersteren, eine Art magische Feldkaplanschaft blieb,
jetzt darauf hingewiesen, vor allem die andere, solchen Ekstatikern
eigene Gabe zu pflegen : die ekstatische Weissagung.
Die Beziehung der Nabi-Ekstase zur Weissagung ist zweifellos
alt, wie schon der Zusammenhang des (nicht hebräischen) Wortes
*Nabi« mit dem Namen des babylonischen Orakeigotts nahelegt.
Daß die phönizischen Stadtkönige schon der Ramessidenzeit
112 l)as antike Judentum.
sich Ekstatiker als Propheten hielten und nach deren Weisungen
ebenso handelten, wie die mesopotamischen Könige nach den
Orakeln der Tempelpriester, zeiptdie Reisebeschreibung des ägyp-
tischen Schreibers und Abgesandten des Amonpriesters Wen
Amon, aus der Zeit etwa des Deboraliedes, für Byblos. Einer
der Propheten des Königs gibt in der Ekstase ein Orakel, welches
die gute Behandlung des Gastes empfiehlt und danach wird
gehandelt. Die alten charismatischen Kriegsfürsten Israels
hatten entweder ihrerseits den Gott direkt um ein Omen gebeten
oder ihre Entscheidung an ein bestimmtes Zeichen geknüpft:
so, nach der Tradition, Gideon dreimal nacheinander. Oder sie
waren von einem ekstatischen Nabi zum Krieg aufgerufen wor-
den, wie vor allem Barak von Debora. Zum erstenmal von
Saul wird in der historischen Tradition berichtet, daß er einen
»Seher« (Roeh) , der zugleich Nabi War (Samuel) , von sich
aus um ein Orakel und um magisch wirksamen Segen für das
eigene and Fluch gegen das feindliche Heer bat. Die gleichen
Leistimgen schrieb dann die Legende für die Vorzeit dem eben-
falls als ein, politischen Zauber bewirkender, Roeh und zwar,
wie die etwas unklaren Andeutungen (Num. 24, i) beweisen, als
Ekstatiker, aufgefaßten Moabiter oder Midianiter Bileam zu.
Er wird von der Legende eingeführt als herbeigeholt darch den
feindlichen König und von Jahwe wider seinen Willen gezwungen,
Israel zu segnen. Indessen das entstammt späteren Vorstellungen
Vom Wesen der prophetischen Berufung. Bileams Segenssprüche
für Israel und Unheilsdrohungen gegen Amalek, Kain, Edom
entsprechen den überall typischen Heilsprophetien.
Da die historische Situation, welche sie voraussetzen, der-
jenigen der Zeit der ersten Könige entspricht, darf man in den
ih-Ti zugeschriebenen Sprüchen die ersten sicheren Repräsen-
tanten einer Heilsprophetie für Gesamt israel sehen. Für
den Zusammenhang der Figur Bileams mit der gerade für Nord-
israel typischen Art von Ekstatik sprechen dabei die Vorwürfe,
welche ihm später (Num. 31, 16; 25, i) gemacht wurden. Ueber
diesen Heilsspruch zeitlich rückwärts führen einige der Segens-
sprüche in den Sammlungen dieser. So vor allem der für den
Stamm Joseph im Jakobsegen (Gen. 49, 22 f.), in älterer Fassung
im Mosessegen (Deut. 33, 13 f.)- Aber er scheidet sich dadurch
von jenem Bileamspruch, daß er offenbar nicht den Zweck ma-
gischer Beeinflussung bestimmter politischer Ereignisse hatte.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. i i ^
Er war keine Heilsprophetie, sondern vermutlich ein bei Stam-
mesfesten von Barden vorgetragenes Preislied auf das schöne,
fruchtbare Land des Stammes, verbunden mit dem Erflehen
des Segens des Dornbusch-bewohnenden Jahwe für die tapferen
Nasiräer und Erstgeborenen des Stammes. Aehnlich fleht der
zweifellos spätere Mosesspruch über Juda (Ex. 33, 7) den
Segen auf diesen Stamm herab, der als Von Feinden bedrängt,
aber zum Hegemon des Bundes designiert gilt. Er scheint in-
dessen wesentlich literarischen Charakters zu sein. Die andern
Stammsprüche sind teils allgemeine Preislieder auf den Landbe-
sitz oder das Heer des Stammes, oder umgekehrt Tadel- und
Spottverse oder, wie bei Rüben, Simeon, Levi, nachträgliche
Rechtfertigungen ihres Untergangs, sämtlich aber ohne eigent-
lich prophetischen Charakter. Ein anderes Gepräge trägt nur
der Spruch für Juda im Jakobsegen (Gen. 49, 9 f.). Er enthält
neben dem Lobe des weingesegneten jüdischen Landes die
Zusicherung, daß dieser Stamm das Szepter behalten und dal)
aus ihm der große Held Israels kommen werde. Der Spruch ist
ganz offenbar ein Produkt der großen Machtentfaltung Davids
und zweifellos eine vaticinatio ex eventu. Aber er hat die Art
der Heils Weissagung in der Form einer Königs pro-
phetie und ist das zeitlich vermutlich älteste erhaltene Produkt
dieser Art in Israel. An allen orientalischen Höfen, namentlich
auch im benachbarten Aegypten, war diese Art von höfischer
Heilsprophetie bekannt und sie ist seit David von den israeli-
tischen Königspropheten gepflegt worden. Im Judaspruch gilt
das Heil noch dem Stamme des Königs als dem Hegemon.
Bei den typischen Königsprophetien galt er dem Könige. Für die-
sen handelte es sich dabei vor allem darum, den Fortbestand seiner
Dynastie durch ein unzweideutiges und zugleich wirkungs-
kräftiges Orakel zu sichern. Daß ein solches dem David persön-
lich Von Jahwe gegeben worden sei, ist die Form, in welcher die
älteste überlieferte Heilsprophetie (2. Sam. 23, i f.) der Davi-
didendynastie auftritt. Hier legt der Königsprophet seinen Spruch
zugunsten der Dynastie deren erstem König selbst in den Mund,
den die Tradition als einen von Jahwes Geist ergriffenen Ek-
statiker auf dem Thron behandelt. Eine dem Salomo und seinem
Tempel freundliche spätere Tradition, wohl die gleiche, welche
seine zweifelhafte Legitimität zu stützen suchte, indem sie den
sonst in der vorprophetischen Uebcrlieferung als freien »Seher«
Max Wcl)cr, Rcligionssoziologie III. o
l JA Das antike Judentum.
geltenden Nathan zu einem in die Hof- und Priester-Intriguen
nach Davids Tod eingreifenden höfischen Parteigänger machte,
legt dagegen diesem Propheten ein entsprechendes Heilsorakel
für Salomo und den ewigen Bestand des da vididischen Throns
in Verbindung mit dem Tempelbau in den Mund (2. Sam 7, 8 f.).
Dürfte dem Orakel ein hohes Alter zugeschrieben werden, so
wäre es die früheste erhaltene Heilsprophetie des spätem Typus.
Von den späteren Königen Israels berichtet die Tradition nament-
lich für Ahab die Benutzung seiner offenbar ziemlich zahlrei-
chen höfischen Nebijim als Orakelgeber und, was stets damit
identisch ist, als Spender magisch wirkender Glücksverheißun-
gen. Unter der streng j ah wistischen Dynastie Jehus wird dann
zum erstenmal der Fall berichtet (2. Kön. 14, 25), daß ein Orakel
des Jona, des Sohnes des Amittai von Gath in Galiläa, welches
— zweifellos während des schweren Kriegs gegen die Aramäer
— einen König Voraus gesagt habe, der die Grenze des da-
vididischen Reichs wieder herstellen werde, durch die Kriegs-
taten Jerobeams IL erfüllt und daß dieser also der geweissagte
König gewesen sei. Hier tritt also die Weissagung vom Retter-
könig nicht nur — wie bei dem Judaspruch im Jakobsegen —
als literarische Form, sondern als wirkliches Orakel auf. Zweifel-
los handelt es sich auch hier um einen königlichen Heilspro-
pheten. Ihre dauernde Verwendung in beiden Teilreichen steht
auch anderweit fest und ist durch die scharfen Worte der späte-
ren unabhängigen Schriftpropheten gegen die Lügenpropheten
der Könige genügend bezeugt. —
Wie man aus dem Gesagten sieht, scheidet die heutige Fas-
sung der Tradition nicht mehr zwischen »Nabi« und >^Roeh«.
Sie behauptet vielmehr gelegentlich ausdrücklich, daß letzteres
der ältere Name für den ersteren gewesen sei — wobei sie unter
»Nabi« den spätem Schriftpropheten versteht. — Allein das trifft
zweifellos nicht zu. Alle jene heillose Unklarheit, in Welcher
heute Figuren wie Bileam, Samuel, Nathan, auch noch Elia,
vor uns stehen, schreibt sich nicht 'nur daher, daß in der
Tat hier wie überall die Uebergänge der Typen flüssig waren,
sondern aus der tendenziösen Ausmerzung und Verwischung der
alten Gegensätze. Was der typische »Roeh« ursprünglich war,
zeigt der Bericht über das zitierte Heilsorakel des Nathan:
ein Mann, der auf Grund von Traumdeutungen Ora-
kel gab, entweder also eigene oder (wie Joseph in der novellisti-
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 11:1
sehen Tradition) fremde Träume erfolgreich deutete oder — und
das war die Hauptsache — in der apathischen Ekstase Hellge-
sichte hatte. Was ihn vom alten Nabi unterscheidet, ist vor allem
die NichtVerwendung der diesem typischen orgiastischen
Rauschmittel und also auch: der Massenekstase. Er erhält seine
Gesichte einsam und wird von seinen Kunden zum Zweck der
Befragung aufgesucht. Nicht immer • — z.B. dem Nathan nicht — ,
aber in aller Regel traute man ihm magische Kräfte zu. Es
scheint, daß für einen solchen zugleich mit magischen Kräften
ausgerüsteten »Roeh« der Name »Gottesmann« (isch haelohim)
gebräuchlich war. Samuels Stellung in der historischen Tradition
erklärt sich vielleicht ursprünglich daraus, daß er zuerst in der Zeit
der Befreiungskämpfe die seitdem als klassisch zugelassenen For-
men der Jahwe-Offenbarung: Traum und hellseherische Ent-
rückungs Vision, für politische Orakel gepflegt hatte. Nathan
und Gad (2. Sam. 24, 11) unter David, Ahia' von Silo unter
Salomo und Jerobeam (i. Kön. 15, 19), Jehu der Sohn Hananis
unter Baesa scheinen diesem Typus angehört zu haben. Später
sind sie daher mit den Nebijim — freien oder Königspropheten —
in einen Topf geworfen worden. Die Erteilung politischer Orakel
war aber offenbar nicht die ursprüngliche und wohl dauernd
nicht die hauptsächliche Tätigkeit der >> Seher« gewesen. Und
andererseits waren die offiziellen Orakel der angestellten Jahwe-
priester, politische und .prozessuale, nich1 Traum- oder Visions-,
sondern Losorakel.
Auch die Roeh-Ekstase war zunächst privater Erwerb.
Die Tradition berichtet noch, wie Alltagsfragen aller Art,
z. B. nach dem Verbleib von Eselinnen, vor den Seher ge-
bracht und die kraft Hellgesichts abgegebenen Orakel durch
Geschenk entgolten werden (i. Sam. 9, 6. 7). Allerdings: der
späteren Tradition ist der Gottesmann und Seher vor allem
ein Mann, der den Willen des Bundesgottes den maßgebenden
Autoritäten : den Aeltesten, oder dem König oder einem von ihm
zum charismatischen Kriegsfürsten zu erweckenden Helden,
verkündet. So verfahren schon Samuel und Nathan. Allein
hier hat die prophetisch beeinflußte jetzige Redaktion vor allem
der deuteronomischen, den Samuel auf den Schild hebenden
Schule offenbar dem wirklichen »Seher« der alten Zeit eine ganz
andere, von ihm verschiedene Figur substituiert. Alle bisher
behandelten Typen gehören nämlich dem Gebiet der seßhaften
l iß Das antike Judentum.
bäuerlichen Stämme des Nordens an. Das ist kein Zufall, wie
sich später zeigen wird. Die Viehzüchterstämme und der ihnen ge-
nuine Jahwismus kannten dagegen — und ebenfalls nicht zufällig
— andere Arten, in Welchen die Gottheit ihren Willen kund
tut. Die älteste ist die Epiphanie. Sie findet sich bei allen Erz-
vätern, in der historischen Tradition zunächst in der legendären
Versammlung des Volks in Bochim (Jud. 2, i), zuletzt aber bei
Gideon. Aus Jahwe selbst ist dabei schon ein göttlicher Bote
geworden. Denn der spätem Tradition hat nur Mose Jahwe von
Angesicht zu Angesicht gesehen. Immer aber handelt es sich
darum: daß derjenige, welchem die Epiphanie zuteil wird,
die leibhaftige Stimme Jahwes oder seines Boten hört, nicht
ein bloßes Traum g e s i c h t empfängt. Das ist also wiederum
ein anderer Propheten typus i). Seine Vertreter behaupten, den
»Träumern von Träumen«, deren Gesichte unsicher und unkon-
trollierbar seien, überlegen zu sein. Das in ihren Augen entschei-
dende Merkmal bleibt auch in der späteren Zeit der klassischen
Prophetie das gleiche : persönlich ^luß man mit Jahwe verkehrt,
in der »Ratversammlung« des Gottes gewesen sein und die Stimme
des Herrn selbst gehört haben, wenn das Orakel gelten soll. Dem
dadurch beeinflußten Zweige der Tradition galten dem.gemäß
die Traumorakel als unklassisch und trügerisch und die bloß
Träume deutenden Seher als verdächtig. Mochte auch die Traum-
deutung, trotz des rücksichtslosen Kampfs namentlich Jeremias
dagegen, noch in späterer, nachexilischer Zeit (Joel 3, i; Daniel
2, I f.) Prestige unter babylonischem Einfluß wiedergewinnen
und jedenfalls nie gänzlich abgelehnt werden, so war doch,
wenigstens in vorexilischer Zeit, die Entstehung einer priester-
lichen Traumdeutungs lehre nach Art der mesopotamischen
Traumbücher nicht möglich. Kombinationen von »Sehen« und
»Hören« kommen vor : Amos wird von seinem Gegnern »Choseh«
genannt und seine Eingebungen sind Verbindungen von »Ge-
1) Vision und Audition sind natürlich nicht streng geschieden, sondern
in verschiedener Art verknüpft. Von Hosea als erstem wird stets nur gesagt,
daß das »Wort Jahwes« (debar Jahwe) zu ihm kam. Amos berichtet von aller-
hand Bildern, die ihm dann durch Jahwe gedeutet werden (i, i; 7, i. 4. 7;
9, i). Aehnlich gelegentlich noch bei Jeremia und, etwas anders, bei Hesekiel.
Jesaja dagegen sieht nicht Bilder, die zu deuten sind, sondern er sieht und hört
das, was er verkünden soll; oder er sieht Gottes Herrlichkeit und empfängt dann
seine Befehle. Jedenfalls aber überwog die Bedeutung der Audition. Als »Seher«
heißt der Prophet choseh (die Derivate von chasah bedeuten später: »Nacht-
gesicht«). Näheres Abschnitt II
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. ny
-ichlen« mit auditiven Deutungen dieser durch Jahwe. Aber
es sind reale Wachgesichte. Das Uebergewicht des »Hörens«
ist auch bei ihm bestimmend für den Typus.
Das Temperament eines auditiven, nicht durch Traumvision
in der apathischen Ekstase, sondern emotional durch Stimmen-
hören inspirierten Propheten, ist naturgemäß ein weit erreg-
teres and aktiveres als das eines Traum visionärs. Daher offen-
bar kam der Name »Nabi« auch für diese Orakelgeber auf.
Ihr Typus prägte nun die Tradition. Ihr ist seitdem der »Got-
tesmann« vor allem ein Mann, der den Willen des Bundesgot-
tes teils, wie die Nebijah Hulda unter Josia oder wie Jeremia
unter Zedekia auf Befragen, teils aber und zunehmend gerade
ungefragt den politischen Machthabern kündet, mag ihnen das
Orakel erfreulich sein oder nicht, ja gerade dann, wenn es ihnen un-
erfreulich ist. Samuel gilt der Tradition als 'der erste, dessen
Prestige ihm dies zu tun erlaubte, und die spätere Anschauung
legte auf die Möglichkeit, daß ein amtloser und nicht zu den
Priestergeschlechtern gehörender Mann von diesem prophetischen
Geist Jahwes ergriffen sein könne — Was offenbar gelegentlich
von den Interessenten angefochten wurde — solches Gewicht,
daß sie dafür in Eldad und Modad (Num. ii, 29) ein eigenes mosai-
sches Paradigma schuf. In der legendenumwobenen Figur des
Elia erreichte dieser Typus seinen Höhepunkt und bog zugleich
schon teilweise in den neuen des späteren (Schrift-) »Propheten« um,
der sich von dem alten Gottesmann dadurch unterscheidet, daß
seine Orakel mindestens teilsweise sich an die Adresse der poli-
tisch interessierten Oeffentlichkeit des »Publikums« wendet,
nicht nur an die verfassungsmäßigen Gewalten — je nachdem:
König oder Aelteste — allein. Elia, der durch die tendenziöse
Tradition der Nebijim Wenigstens indirekt mit der Nabischiile
Elisas — die noch ganz den traditionellen Charakter trägt —
in Beziehung gebracht wird, ist die erste spezifisch »klerikale«
Gestalt der israelitischen Geschichte. Zu einem Magier vom Typus
des Elisa hat ihn erst die Legende und die — sogar in der Tra-
dition als »Streberei« hervortretende — Absicht dieses Epi-
gonen der alten Nebijim gemacht, sich als seinen Nachfolger
hinstellen zu können. Im Gegenteil war das Eindrucksvolle
seines Auftretens offenbar gerade darin begründet, daß er kein
anderes Mittel als die einfache Anrufung Jahwes im Gebet, im
Gegensatz zu dem ekstatischen Zauber der Baals-Nebijim,
j 1 g Das antike Judentum.
verwendete. Elisa ist nicht zufällig, wie wir sehen werden, der
Tradition ein seßhafter Bauer, während Elia aus Thisbe jenseits
des Jordans, also aus dem Steppengebiet stammt und ein Wan-
derleben über das ganze Gebiet der Jahweverehrung hin bis
zum Horeb führt, von der Königin des Nordreichs mit dem Tode
bedroht, während Elisa als Kriegsmagier Ahabs fungiert. Elia
empfängt seine Befehle von Jahwe ir d r Einsamkeit und ver-
kündet sie persönlich, als Bote seines Gottes, so, wie dies die
jahwistische Anschauung seiner Zeit den Epiphanien der Engel
Jahwes zuzuschreiben pflegte. Darauf und auf der bis dahin
unerhörten Rücksichtslosigkeit seines Auftretens gegenüber den
politischen Machthabern beruhte sein beispielloses Prestige.
Historisch aber ist er wichtig als der erste historisch leidlich
sicher greifbare Unheilsprophet und darin der Vorläufer
jener Reihe großartiger Gestalten, die für unsern heutigen lite-
rarischen Bestand mit Amos beginnt und mit Hesekiel ein Ende
nimmt. Sie wurden die geistigen Träger der Opposition gegen das
Königtum und alle die von ihm (wirklich oder angeblich) ver-
schuldeten Neuerungen, von den perhorreszierten fremden und
kanaanäischen Kulten angefangen bis zum sozialen Druck gegen
die einstigen Träger des Bundesheerbanns. Wie bei den apathisch-
ekstatischen Traumsehern, so ist auch bei ihnen das entschei-
dende Unterscheidungsmerkmal gegenüber den orgiastisch-
massenekstatischen Nebijim : die Einsamkeit. Psycho-
logisch freilich, wie schon angedeutet und später zu er-
örtern, aus gänzlich andern Gründen. Soziologisch aber zunächst
deshalb, weil Unheilprophetie sich nicht, wie Heilsprophetie,
berufsmäßig lehren läßt, weil sie ferner nicht erwerbs-
mäßig verwertbar ist : denn ein böses Omen — und das war
jedes Unheilorakel — kaufte man nicht, und weil endlich alle
sozialen Gewalten und Gemeinschaften dem Unheilpropheten
aus dem Wege gehen oder ihn geradezu als Verderber des Volks
und aller guten Omina verfemen. Die Einsamkeit sowohl wie
die hier zuerst zum Grundsatz erhobene Ablehnung des Erwerbs
durch OrakeP) seitens der Unheilpropheten war also in den
Verhältnissen begründet und nur teilweise freiwillig. Sie be-
^ ) Micha (3, 5) wettert gegen jene Propheten, welche Heil weissagen,
wenn man sie bezahlt und Unheil bei schlechtem Entgelt (wobei immer zu be-
achten ist: daß die Orakel als Omina mit magischen Folgen galten). Ebenso
(3, 11) gegen das Geldnehmen der Propheten überhaupt.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. i m
dingte es aber, daß in ihnen die großen Ideologen des Jahwismiis er-
standen, die gar keine Rücksichten kannten und ebendadurch
jene gewaltigen Wirkungen erzielten, die ihnen beschieden
waren. Den Elia bezeichnet König Ahab als Unheilmenschen
und Volksverderber. Er hat in der Tat auch seelisch schon ganz
den Typus der spätem Propheten. Als einen von Jahwes zornigem
Geist Besessenen der leidenschaftlichsten Art, der nach dem sieg-
reichen Gottesurteil gegen die konkurrierenden Baalspriester vom
Karmel hochgeschürzt vor dem Königswagen her bis in die Resi-
denz hinabrennt, aber auch als Glaubenshelden, der mit meinem Gott
wie Mose ringt und schilt und von ihm einer Epiphanie gewürdigt
wird, die der des Mose zunächstkommt, als den letzten großen
Magier und den einzigen unter den von Jahwe in den Himmel
Entrückten, dem die jetzige Redaktion diese Ehre gegönnt hat,
kennt ihn die Tradition, und so hat diese Figur die Phantasie der
Gläubigen mit Wiederkunfts-Er Wartungen bis in die späteste
Zeit beschäftigt. Gleichzeitig mit dieser von der Legende ins
Uebermenschliche gesteigerten Gestalt findet sich aber in der
Tradition eine rein geschichtliche Figur, welche, von allen solchen
übernatürlichen Zügen befreit, in einem entscheidenden Punkt
ebenfalls bereits dem Typus der späteren »Propheten« entspricht
und auch von den Redaktoren der Tradition als einer ihrer Proto-
typen behandelt wird: Micha der Sohn des Jimla, der vor dem
Feldzug den Hunderten von Heilspropheten im Dienste Ahabs
mit einer Unheilsweissagung entgegentritt, die dann in Erfüllung
geht (i. Kön. 22, 8 f.). Dies: die politische Unheils-
androhung, die zugleich magisch als böses Omen gewertet
wurde, schien, wie schon den Zeitgenossen des Elia (i. Kön. 21,
20), so auch denen des Micha und Jeremia (Jer. 26, 18) das
charakteristische Merkmal einer besonderen Art von Prophetie.
Sie war politisch gefährlich. Aber es schien auch gefährlich, den
von Jahwe ergriffenen Unheilskünder anzutasten. Das Merk-
mal wurde nun auch rückwärts in die halb legendären Gestalten
der früheren »Seher« der Vorzeit hineinprojiziert und dadurch
der (angebliche) Moabiter Bileam zu einem den Israeliten, Elisa
zu einem dem Hasael wider ihren Willen Heil weissagenden
Propheten gemacht.
Das erste Auftreten der unabhängigen politisch orientierten
»Seher«, deren Nachfolger diese »Propheten« wurden, fällt nicht
zufällig ziemlich genau mit jener großen Wandlung zusammen,
1 20 -^^^ antike Judentum.
welche unter David und Salomo das K ö n i g t u m für die
politische und dadurch auch für die soziale Struktur Israels
mit sich brachte. Die Frage des Tempelbaues, Thronfolgefragen,
private Sünden des Monarchen, Kult und die allerverschie-
densten politischen und persönlichen Entschließungen — • bei
Elia zuerst auch eine soziale Ungerechtigkeit des Königs —
sind Gegenstände ihrer Orakel und ihrer meist unerbetenen,
oft außerordentlich scharfen Kritik. Diese Kritik aber legt in
der Tradition ein für allemal einen Maßstab zugrunde : das
»gute alte Recht« des altisraelitischen Bundes, so, wie die Träger
der Kritik es verstanden. Die Umwandlung des Staates in einen
Leiturgiestaat, in ein »ägyptisches Diensthaus« im Zusammen-
hang mit dem Wagenkampf und der Weltpolitik ist ihnen die
Quelle alles Uebels. Der ganze bürokratische Apparat ist ägyp-
tischer Greuel, Volkszählungen ziehen, selbst wenn Jahwe
selbst dazu — zur Strafe für Sünden — die Anregung gegeben
hat, eine Pest nach sich. Das entsprach der volkstümlichen Auf-
fassung. Die israelitischen Bauern wußten, daß sie einst für
Fronfreiheit gegen die Ritter gekämpft hatten. Jetzt spürten
sie die politische und ökonomische Uebermacht des Königs und
der Patrizier und ihre eigene zunehmende Schuldverknechtung.
Die vom König unabhängigen Seher und Propheten, die Erben
der Volkstümlichkeit der nun außer Betrieb gesetzten kriegeri-
schen Nebijim, verklären daher die Zeit, wo Jahwe selbst
als Herzog dem Bauernheer voranzog und der auf dem Esel
reitende Fürst sich nicht auf Rosse und Wagen und auf Bünd-
nisse verließ, sondern ausschließlich auf den Bundeskriegsgott
und seine Hilfe. Von hier aus kam zuerst die hohe Wertung des
»Glaubens« an Jahwes Verheißungen in die israelitische
Religiosität hinein. Der Name »Jahwe Zebaoth«, Jahwe der
Heerscharen ^), welcher dem Pentateuch und dem Richter-
buch fremd ist, wurde nun erst die von den Sehern und später,
nach ihrem Beispiel, von den Schriftpropheten, vor allem (aber
nicht: nur) den Unheilpropheten fast ausschließlich gebrauchte
Gottesbezeichnung. Die »Zebaoth« waren dabei zwar zunächst die
himmlischen Diener Jahwes, vor allem das schon imDeboralied
^) Den viel umstrittenen Begriff deutet Wellhausen und nach ihm Hehn
(Die biblische und die babylon. Gottesidee) relativ universalistisch: Jahwe ist
Herr aller Jener Geister, die in der Welt sind. Indessen ist doch die Beziehung
2U kriegerischen »Scharen« ganz unverkennbar.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 12 1
mitkämpfende Sternengeisterheer (Zebah) und die Engel. In
der weltlichen Tradition aber bedeutet Zebaoth, wie Kautzsch
mit Recht hervorhebt, an allen jenen (26) Stellen, wo das Wort
ohne Verbindung mit dem Gottesnamen vorkommt, stets den
alten Heerbann Israels. Dessen Gott war in den Augen
dieser Kreise Jahwe und an diesen ist daher zweifellos bei jenem
prophetischen Gottestitel mindestens mitgedacht. Und zwar
finden sich solche Stellen auch in der jüngeren Tradition aus einer
in der wirklichen Politik pazifistischen Zeit. Es handelt sich eben
um eine nachträgliche ideale und tendenziöse Konstruktion
der eidgenössischen Vergangenheit Israels. Die jahwistische
Unheilsprophetie brauchte den Ausdruck nicht nur, weil die
Prophetie der alten, guten Zeit Kriegsprophetie- gewesen war,
undnicht nurumzumAusdrucV zu bringen, daß Jahwe allein der
legitime Heerkönig Israels sei (was zuerst Jes. 6, 5 vgl. 2.^, 21 be-
hauptet wird) . Sondern auch deshalb, weil die alten Verheißungen
des Gottes, wie wir sehen werden, neben dem materiellen vor
allem gerade das kriegerische Heil Israels zum Gegenstand gehabt
hatten und sie davon sich nicht lossagen konnte und wollte. Neben
die pazifistische Gestaltung der Erzvätersagen, welche im Kreise
der entmilitarisierten Kleinviehzüchter ihre Heimat hatte, und
neben die Verklärung des alten Sozialrechts, vor allem des
sozialen Schuldrechts des Jahwebundes, an welchem die ent-
militarisierten Plebejer hingen, trat so die spezifisch glaubens-
kämpferische Legende der tatsächlich ebenfalls entmilitarisierten,
nur noch in ihrer Phantasie mit Jahwe gemeinsam kämpfenden
Propheten, die jetzt statt kriegerischer Derwische und ekstati-
scher Therapeuten und Regenmacher als eine Schicht literarisch
gebildeter politischer Ideologen auftraten. Nach einer gele-
gentlichen Bemerkung des Amos (2, 11 f.) scheint es, daß
die königliche Bürokratie die unbequemen demokratischen
Giaubenskämpfer, die Nasiräer und freien Nebijiir, ganz bewußt
bekämpft hat. Dies ist, nach allen Analogien von anderswoher,
an sich höchst wahrscheinlich und wird es noch mehr dadurch,
daß in Zeiten starker Regierungen auch die Prophetie schwieg.
Aber in Zeiten sinkender Macht und äußerer Bedrohung regten
sich alsbald die alten demokratischen Erinnerungen. 13ie uto-
pische Phantasie ihrer Träger sättigte sich um so mehr mit blu-
tigen Bildern kriegerischer Heldentaten Jahwes, je unmilitäri-
scher sie selbst inzwis('hcn geworden waren, — ganz so, wie wir
■'^
J22 T>n.s antike Judentum.
ja auch heute in allen Ländern das Höchstmaß von Kriegsdurst
bei jenen Literaten- Schichten erleben, welche vom Schützen-
graben am weitesten entfernt und ihrer Natur nach am wenigsten
kriegerisch geartet sind. — Der eigentliche Stein des Anstoßes
für diese Literaten mußte nun die Politik des Königstums sein,
welche alle jene Umgestaltungen der alten Heeres- und Sozial-
ordnung herbeigeführt hatte. In diesem Gegensatz gegen die po-
litischen und sozialen Umformungen fanden alle : die rechabiti-
schen und anderen von Jahwepriestern geleiteten Hirten, die
Bauern, die exemplarisch frommen Jahweverehrer, sich im Zeichen
der Verklärung der guten alten Zeit der reinen Jahwefrömmig-
keit und des freien Jahwebundes zusammen. Die äußere und
innere Unabhängigkeit dieser Kritik gegenüber dem König war
durch das Fehlen eines hierokratischen Charakters des König-
tums begünstigt. Der israelitische König hatte keine priester-
liche Würde. Zwar Ansätze dazu finden sich, wenn David
das Ephod trägt. Aber im übrigen war der König zwar in der
Lage, die Priester der von ihm sustentierten Heiligtümer an-
zustellen und zu entlassen ^), ja sie wie seine Beamten zu behan-
deln, ebenso wie große Grundherren (Micha) dies an ihren Kapellen
taten. Er konnte opfern, wie ursprünglich jeder Israelit. Aber
er hatte nicht die Qualifikation, Orakel zu geben, Weihe und
Sühne zu spenden. Dies war dem charismatisch Qualifizierten:
dem Propheten und später dem geschulten Leviten, vorbe-
halten. Das relative Zurücktreten der Bedeutung des Gemein-
schaftsopfers in der Tradition der Jahwereligion, bedingt durch
das ursprüngliche Fehlen einer perennierenden Bundesautorität
und den Charakter der Beziehung Jahwes zur Eidgenossenschaft,
kam der Selbständigkeit der hierokratischen Machtstellung
der freien Nebijim (ebenso wie später der Thoralehrer) gegen-
über dem König zugute.
Die spätere Tradition legt daher dem Samuel, den sie zu-
gleich als ,»Roeh« und »Nabi« und als Vertreter des alten Rechts
verklärt, die Schilderung des Inhalts des ihr verhaßten neuen
Königsrechts in den Mund. Weil das Volk trotz aller Warnung
darauf bestand, sich einen König zu küren, sollte Samuel es schrift-
lich (i Sam. 10, 25), also, dem alles beherrschenden Gedanken
^) Arnos 7, lo. 13: Gegen den Proph3ten klagt der Priester von Bathel
beim König Jerobeam wegen Erregung von Aufruhr an der Kultstätte und weist
jenen dann aus »des Königs Heiligtum (mikdasch) und Haus (beth)«.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 123
der berith entsprechend, nach Art einer Verfassungsurkunde
im Archiv niedergelegt haben (i Sam. 8, ii): Der König wird
Hauptleute über Tausend und Fünfzig ernennen. Er wird die
Söhne der Israeliten für die Bedienung seiner Kriegswagen pressen,
andere zum Dienst als Waffenschmiede und Wagenbauer, ihre
T()chter zum Salbenbereiten, Kochen und Backen (für seine Tafel
und den Heeresbedarf). Er wird Felder, Wein- und Oelgärten
als Lehen für seine Beamten verlangen, Ackerbestellungs- und
Erntefronden, namentlich Zwangsdienst von Knechten, Mägden,
Rindern und Eseln für sein Königsland und seinen sonstigen Be-
darf, den Zehnten von Wein, Feld uiid Kleinvieh für die Bezah-
lung seiner Offiziere und Soldaten. Die freien Israeliten werden
seine »Knechte« (d. h. Untertanen statt Eidgenossen) sein^).
Gegen diesen Zustand wendete sich die politische Tendenzlegende
und redigierte die Ueberlieferung um. Während z. B. die echte
Tradition (2 Sam. 21, 19) weiß, daß einer der Ritter Davids,
Elhanan der Bethlehemiter, den Gathiter Goliath erschlagen hat,
läßt die Tendenzlegende ihn von dem unbekannten und ungepan-
zerten Hirtenknaben David mit einem Stein nach Bauernart
getötet werden. Massenhafte Züge ähnlicher Art sind teils aus
der echten Tradition ausgelesen unter Unterdrückung anderer,
teils neu erfunden. Der Vorliebe dieser Tradition für das alte
Bauernheer verdanken wir vermutlich die Erhaltung gerade des
Deboraliedes aus den alten Liedersammlungen, andererseits
aber auch die Art, wie die Eroberung Kanaans und die Kriege
der Richterzeit legendär umgestaltet worden sind. Vor allem aber
kommt auf ihre Rechnung die Verklärung der brüderlichen Gleich-
heit und Schlichtheit der Eidgenossen in der Wüstenzeit, dieses
von Budde sehr glücklich sogenannte »nomadische Ideal«. Daher
waltet diese Tendenz ganz offensichtlich auch bei der Auslese
der uns aus den alten Rechtssammlungen allein aufbewahrten
flüher besprochenen sozialrechtlichen Bestimmungen und bei
deren vermutlich ziemlich weitgehender Interpolation mit uto-
pischen Theologumenen.
Aus der gleichen Tendenz heraus verlangten die Vertreter
der alten Tradition: der König solle nicht, um Rosse und Wagen
zu halten, »in das ägyptische Diensthaus zurückkehren« (Deut.
17, 16). Glanz und Pracht des salomonischen Hofs und Tempels
*) »Im Zorn« hat (Hosea 13, 11) Jahwe Israel den König (es handelt sich
allerdings hier um die illegitimen Usurpatoren in Nordisrael) gegeben.
j 24 Das antike Judentum.
verwarfen sie zugunsten der alten Bauernfreiheit und des alten
schmucklosen Kults auf einem Erdaltar. Allein angesichts dei
bedeutenden Interessen, welche mit dem glänzenden königlichen
Tempelkult verknüpft waren, standen diese Forderungen selbst
in den Kreisen der frommen Jabwisten nicht ohne Gegner da.
Die Stellungnahme zu Salomos grundstürzenden Neuerungen
und zum Königtum überhaupt ist demgemäß in den Quellen
uneinheitlich. Ein Teil der Tradition weiß, daß in der königlosen
Zeit Unordnung und Willkür herrschte und entschuldigt alles,
was vom späteren rituell und ethisch korrekten Standpunkt
aus als Frevel galt, damit: daß damals kein König in Israel
war und deshalb jeder »tat, was ihm gut schien«, (Jud. 17,16;
21, 25, ähnlich: 18, i; 19, i). Die gewaltige Machtstellung vor
allem Davids, aber auch Salomos als des Erbauers des Tempels,
wirkte naturgemäß in der Richtung der Verklärung gerade
dieser Könige auf Kosten sowohl des Bauernfürsten Saul wie
der späteren Teilkönige. In der Zeit großer kriegerischer Erfolge
in den Befreiungskriegen und gleich nachher war eben das Prestige
des Königtums gewaltig i). Der König empfing durch die Sal-
bung den »Geist« Jahwes, er hatte noch keinerlei dauernd wirksam
konkurrierende klerikale Priestermacht neben sich, opferte
dem Gott persönlich- im Priestergewand (nach der Tradition
tat dies David) und schaltete über Priesterstellen und Knitorte
fast so frei wie manche mesopotamischen Großkönige. Der
König gilt daher dieser Tradition als »Messias«: »Gesalbter« (lia
maschiah) Jahwes, wie nach dem Exil der Hohepriester.
Die bei der normalen Thronfolge anscheinend nicht erforderliche,
aber bei det prophetischen Legitimierung von Usurpatoren
(David, Jehu, darnach vermutlich: Saul in der einen der drei
Traditionen) vorkommende Salbung, wahrscheinlich einem alten
Brauch "einheimischer Stadtfürsten (vielleicht Jerusalems) ent-
nommen, gewann eine rituelle Bedeutung ^). — Aber ein anderer
Zweig der Tradition stand unter dem Eindruck der späteren
M Vgl. dazu K. Budde, Die Schätzung des Königstums im A. T. (Marb.
Ak. Reden Ni". 8, Marburg 1903).
^) Dagegen ist Schwallys Ableitung des Worts nadib für »Fürst«, »Edler«
von dem Sichweihen zum Krieg sehr fraglich. Nadib heißt der Fürst doch offenbar
hier wie überall als »Gebender«, »Gabenspender«; nur das Hithpael könnte ja wie
im Deboralied (Jud. 5, i) die Bedeutung »sich hingeben« haben (so auch,
nach einer fragwürdigen Lesart, an einer anderen Stelle — Jud. 5, 9 — des D'e-
bOraliedes).
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 125
Abnahme der Macht des Landes und des aufsteigenden Prestiges
der Propheten. Er weiß daher, daß, ehe Israel sich einen König
setzte, der Bundesgott selbst und er allein und unmittelbar der
Herrscher gewesen war, daß dieser keines solchen Amts-, Steuer-
und Fron- Apparats bedurft hatte wie die jetzigen Könige
\delmehr seinem Volke durch die Seher und Helden der Vorzeit
seinen Willen jeweils offenbart und ihm, wenn es seinen Geboten
gehorchte, stets erneut geholfen hatte. — Stärker noch als im
Südreiche, wo die Nähe Jerusalems wirkte, scheint diese Stim-
mung bei den ephrainiitischen Bauern geherrscht zu haben.
Von den Propheten gab zuerst Hosea ihr Ausdruck. Das Prestige
der davidischen Dynastie, der einzigen dauernd sich auf ihrem
Thron behauptenden, direkt durch die Forderung der Abschaf-
fung des Königstums anzutasten war im Südreiche kaum mög-
lich. Daher ging dort das Programm auf 'Beseitigung der Neue-
rungen, welche das Königtum gebracht hatte. Auf politischem
Gebiet vor allem: des Militarismus mit seinen Rossen und
Wagen, dem Kronschatz, des Harems der fremden Prinzes-
sinnen und ihrer Kulte und der königlichen Günstlinge als
Beamter, der Bau- und Acker fronden der Untertanen. Der
König soll, verlangt das Deuteronomium, die hochmütigen Sul-
tansallüren der Großkönige abtun und wieder ein charismatischer
primus inter pares werden, ohne viele Rosse und Wagen, — also ein
auf dem Esel reitender weiser Richter und Schirmer der einfachen
Leute. Dann wird der alte Bundesgott Jahwe, wie einst mit
dem Bauernheer, auch gegen noch so übermächtig scheinende
Feinde, mit ihm sein, wenn er nur — was Vorbedingung für alles
andere ist — den Prätensionen der Weltpolitik, die an all jenen
Neuerungen schuld war, entsagt. Wir werden sehen, wie sich
priesterliche Machtinteressen und Theologen-Ideologien in diesem
Programm zusammenfanden, welches tatsächlich unter Josia
wenige Jahrzehnte vor dem Untergang Jerusalems das deutero-
nomische Gesetz durchzuführen versuchte.
Das Königtum war in Israel kein patrimonialcs Wohlfahrts-
königtum, sondern mit der Macht der gibborim verbündet. Die
Vertreter der alten Tradition wendeten sich daher gegen beide
zugleich. Mit großer Wucht tritt diese Strömung in den Orakeln
der vorexilischen Schriftpropheten hervor. Ueber ihre politische
Stellung und Bedeutung im ganzen ist später zusammenhängend
zu reden. Hier kommt es auf die Vorwürfe an, welche sie der
] 20 ^^^ antike Judentum.
populären Kritik an den sozialpolitischen Zuständen entnahmen.
Das Geschenke nehmen, die Bestechung, die Rechtsbeugung
stehen an der Spitze (Amos 2, 6. Jesaja i, 23; 5, 3), durch welche
»Recht in Galle verwandelt« wird (Amos 6, 12), Blutgeld wird ge-
nommen (Amos 5, 12), unschuldiges Blut vergossen (Jesaja i, 15;
7,6; 22, 3) das Volk geschunden (Micha 3, 2 — 3) die Rechtsprechung
zum Vorteil der Gottlosen und zum Nachteil der Armen, Witwen
und Waisen (Jesaja 10, 2) und der Gerechten (Amos 5, 12) ver-
kehrt, statt Recht Gewaltsamkeit (Jeremia 7, 6; 22, 3) und
Schinderei geübt (Jesaja 5, 7), Acker an Acker und Haus an
Haus wird gereiht (Jesaja 5, 8; Micha 2, i. 2), die Armen (Amos
8, 4), insbesondere die »Armen im Tor« (Amos 5, 12), d. h. die
von den Stadtpatriziaten beherrschte Landbevölkerung unter-
drückt, Korn in großen Lasten von ihnen genommen (Amos
5, 11), die Weiber und* Kinder vom Hof getrieben (Micha 2, 9),
Unrecht an den Dürftigen verübt (Amos 4, i), von dem Ertrag
ihrer — entgegen dem Pfändungsverbot — gepfändeten Kleider
schlemmen die Reichen (Amos 2, 8). Hochmütig sind die Reichen
(Amos 6, 4f. ; vgl. Jesaja 3, 16), die gibborim saufen (Jesaja
5, 22; vgl. 5, 11), und das Kardinallaster ist der Geiz (Amos 9, i,
so auch nach dem Exil Habakuk 3, 9). Es sind die in aller Welt,
Vor allem aber doch im Occident, in der vorkapitalistischen —
antiken, frühmittelalterlichen — Epoche, von den plebejischen
Schichten je nachdem gegen die höfischen Beamten oder gegen
patrizische Stadtgeschlechter erhobenen Vorwürfe, deren Mund-
stück z. B. im hellenischen Altertum Hesiod ist. In Israel waren,
wie wir sahen, Königtum und reiche ökonomisch wehrhafte Sippen
in enger Verbindung, die Beamten der Könige meist den Patriziern
entnommen. Diese typischen sozialen Gegensätze treten in der
Prophetie mit großer Deutlichkeit zutage.
Stets und überall aber beruft sich diese stadtadels- und
königsfeindliche Tradition auf den alten Bund, den einst
Jahwe durch Mose mit Israel im Gegensatz zu allen anderen
Völkern geschlossen habe und auf das ganz einzigartige historische
Ereignis, welches dieser ebenfalls einzigartigen Bundesschließung
zugrundeliege. Und in der Tat: das für Israel besondersartige
Verhältnis: der Bundesschluß nicht nur unter der Garantie des
Gottes, sondern mit dem Gott selbst als Gegenpartei,
war ganz offenbar wirklich das Produkt jenes konkreten Ge-
schehnisses, auf welches einmütig die gesamte israelitische Tra-
I. Die israelitisclie Eidgenossenschaft und Jahwe. 127
dition diesen Vorgang zurückführt. Allen Propheten gilt als
Wahrzeichen einerseits der Macht des Gottes und der unbedingten
Verläßlichkeit seiner Verheißungen und andererseits der dauern-
den Dankesschuld Israels gegen ihn die Befreiung von der ägyp-
tischen Fronpflicht durch die wunderbare Vernichtung eines
ägyptischen Heeres im Schilfmeer. Und zwar war das besonders-
artige des Vorganges, daß dies Wunder bewirkt w^urde durch
einen in Israel bis dahin fremden Gott, der nun
daraufhin mit feierlicher berith unter Einrichtung des Jahwe-
kultes durch Mose als Bundesgott rezipiert wurde. Diese Re-
zeption erfolgte aber auf Grund beiderseitiger Versprechungen,
welche durch den Propheten Mose nach beiden Seiten hin vermit-
telt wurden. Die Versprechungen des Volkes begründeten seine
besondere dauernde Verpflichtung gegenüber dem Gott, und die
als Gegengabe gebotenen Versprechungen des Gottes machten
ihn in einem so eminenten Sinne, wie keinen in der Weltgeschichte
sonst irgendwo bekannten Gott, zu einem Gott der Ver-
heißung für Israel. Dies ist die unzweideutige Auffassung
der Tradition. Es ist die ganz offenbare Voraussetzung des
nirgends sonst in der Umwelt sich findenden, dagegen schon im
Deboralied Vorausgesetzten Begriffs des »Abfalls« von Jahwe
als eines spezifisch verderblichen Frevels ^) . Und es ist vor
allem die unentbehrliche gedankliche Grundlage für die nirgend-
wo sonst erreichte Bedeutung der Prophetie und der Heilsweissa-
gungen. Zwar Reichtum, langes Leben, zahlreiche Nachkommen
und ein guter Name war von jeher überall in der Welt das, was
Priester und Mystagogen dem Verehrer ihres Gottes versprachen
und was die Könige sich Von ihren Hofpropheten verheißen ließen.
Und ebenso verstand es sich überall von selbst, daß der Kriegs-
gott des Stammes oder der Gott des Königs mit ihm gegen die
Fviinde sein werde. So auch in Israel. Daß er zahlreiche Nach-
kommen haben werde, so daß das Volk wedren solle wie Sand
am Meer, Sieg über alle Feinde, Regen, reiche Ernten und sicheren
Besitz, endlich : daß der Name ^der legendären Ahnherren und der
des gesegneten Volkes selbst ein Segenswort sein werde, — dies
erhoffte man von dem angenommenen mächtigen Bundesgoll.
1) Mit Recht macht Helui (Die biblische und'die babylon.^ Gottesidee)
S. 272 darauf aufmerksam, daß dieser Begriff schon als solcher auf dem
Boden keiner andern Religion Vorderasiens wiederkehrt. Fr ist oben nur nns dem
alten berith- Verhältnis überhaupt erklärlich.
-r?S3
] 2S ^^s antike Judentum.
Aber weil das Verhältnis zu ihm auf einer berith beruhte, gewann
diese Hoffnung eine äußerst feste Grundlage und galt als auf
ausdrücklicher Verheißung: einem Schwur des Gottes, beruhend.
Die Verheißungen sind ursprünglich nicht als an besondere Bedin-
gungen geknüpft vorgestellt, und ihre ältesten Formulierungen
in der Tradition machen sie auch nicht von irgendwelchem be-
sonderen, etwa einem spezifisch sittlichen, Verhalten Israels
abhängig. Sondern sie sind — selbstverständlich — nur an die
eine Bedingung geknüpft: daß Jahwe eben Israels Gott ist und
von ihm als solcher behandelt wird: dann wird Jahwe mit ihm
gehen durch Dick und Dünn. Darauf allein kam es an und dies
allein war es, was die militaristischen Träger des »Geistes«
Jahwes, die Nasiräer und Nebijim, die Glaubenskämpfer, wußten
und (wie schon das Deboralied tut) dem Heerbann einprägten.
Die den antiken Religionen sonst ganz fremde Vorstellung
von der »Abgötterei« als eines Frevels gewann dadurch ihre
penetrante Bedeutung. — Sein eigener Eidschwur und schlechter-
dings gar nichts anderes ist es — so schärft noch das Deuter-
onomium (7, 7) ein — , was Jahwe veranlaßt, Israel vor allen
anderen Völkern zu bevorzugen, nicht etwa dessen sittlich höherer
Wert. Immerhin: dies entsprach schon der volkstümlichen An-
schauung nicht. Diese wußte — wie bei jedem Volk — da (3 andere
Völker den Israeliten ungleichwertig waren und also auch
dem Gott dafür gelten mußten. Und zwar beruhte, wie über-
all, die Ungleichwertigkeit darauf, daß sie andere Lebensgewohn-
heiten hatten, Dinge taten, die man »nie getan hat in Israel«.
Da nun Jahwe durch die berith Vertragspartner der rituellen
und sozialen Ordnungen des Bundes war, so war der Grund der
Minderwertigkeit der anderen für Jahwe eben der: daß sie seine
Ordnungen nicht kannten oder jedenfalls nicht hielten. Dieser
negative Grund der Unterscheidung, die Jahwe macht, tritt
denn auch, vereint mit jener Auffassung, im- Deuteronomium
auf. Aber die Auffassung der religiös Interessierten war schon
damals weiter gegangen. In der ganzen Welt schützen die Götter
der sozialen Ordnung diese, ahnden ihre Verletzung, belohnen
ihre Innehaltung. Die Auffassung der Beziehung zum Bundes-
gott als berith mußte dies in spezifisch gesteigerter Art glauben,
sobald man Anlaß hatte, sich die Frage nach dem Grunde des
Verhaltens des Gottes vorzulegen. Dieser Anlaß entstand mit
dem Rückgang der politischen Machtstellung Israels. Man kann
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 129
deutlich bemerken, daß die Erinnerung an Mose und den Bund
und auch die Bedeutung des »Bundes «-Gedankens überhaupt
zeitweise, nämlich unter dem Einfluß der blendenden Machtstel-
lung des Königstums, zurückgetreten war, späterhin aber, kurz
vor der Exilszeit und während der Redaktion der Priestertra-
dition im Exil, einen neuen Höhepunkt erreicht: die ganz natür-
liche Folge des Sinkens des Prestiges der politischen Gewalten
und der Frage nach dem Grunde des Verfalls. Das alte Recht
des Bundes und die Bedeutung der Innehaltung von Jahwes
Geboten als der Bedingung seiner Gnade trat nun mit großer
Gewalt hervor und prägte die Zukunftshoffnungen : sie sind jetzt
an die Voraussetzung des Gehorsams gegen die alten Gebote
geknüpft, und die »Bundes «-Vorstellung wurde so, in einer Art
wie bei keinem anderen Volk, die spezifische Dynamik der ethischen
Konzeptionen der Priesterlehre und Prophetie. Die Vorstellung,
daß die religiöse Beziehung Israels zu Jahwe durch den Begriff
eines mit ihm selbst eingegangenen »Bundes« erschöpfend ge-
kennzeichnet sei, fanden die Schriftpropheten als festes Material
vor. Die den Propheten charakteristischen Unheildrohungen
gegen Israel fehlen in den als genuin »jahwistisch« und »elo-
histisch« angesehenen Traditionen freilich noch. Auch die vermut-
lich älteste der großen ausdrücklichen göttlichen Heilsverhei-
ßungen an Abraham (Gen. 15, 18—21): die Zusage der Herr-
schaft über das Land Kanaan (nach einem Zusatz: von der
Grenze Aegyptens bis an den Euphrat!) gehört erst der von
Wellhausen so genannten »jehovistischen« Redaktion, also der
prophetischen Zeit, an. Auch sie geschieht durch förmliche
rituelle berith Gottes mit dem Erzvater. Der göttliche Schwur ist
dabei die Folge des bedingungslosen Glaubens des letzteren
an den Gott, welchen dieser ihm »zur Gerechtigkeit rechnet«.
Das ist nun schon eine ersichtlich sekundäre, weil sehr abstrakte
Fassung. Sie entspricht der von der exilischen Redaktion über-
lieferten Form (Gen. 12, 2 f.). Aber die Vorstellung von der Be-
deutung des Gehorsams rein als solchem selbst muß unbedingt
wesentlich älter sein. Denn z. B. die Geschichte von der Opferung
Isaaks als Paradigma des echten bedingungslosen Glau-
bens scheint vorprophetisch (»elohistisch«) redigiert, wenn auch
die ausdrückliche Erneuerung der Schwur zusage des Gottes aus
diesem Anlaß als späterer Zusatz gilt. Die Formulierung
des Inhalts der berith in der Form einer Verheißung als Loh n
Max Weber, Religionssoziologie III. n
j 7Q Das antike Judentum.
für Gehorsam also ist in unsern Redaktionen später. Aber so
fest stand schon bei Beginn der Aera der Schriftpropheten
die Konzeption der berith selbst, daß gleich einer der Ersten:
Hosea, den religiösen Sinn der Beziehung zum Gott nach Art
einer Ehe, jeden Verstoß gegen die Verpflichtungen Israels als
Ehebruch gegen Jahwe auffassen konnte. Und nichts spricht
deutlicher für die bis in die späteste Zeit dauernde völlige Selbst-
verständlichkeit dieser uralten Grundlage, als daß die zum Teil
höchst ausgelassenen Liebeslieder der als »Hohes Lied« in den
heutigen Kanon aufgenommenen Sammlung für eine freilich
schon stark »pietistisch «-sentimental empfindende Nachwelt
die Bedeutung als ein adäquater Ausdruck des Verhältnisses
Jahwes zu seinem Volk erlangen konnten. »Eifersucht« (kin'ah)
Jahwes gegen die anderen Götter war daher eine seiner am
festesten stehenden Eigenschaften bei allen Propheten von Hosea
bis Hesekiel ^).
Daß Jahwe ein durch die mosaische Kultordnung für den
israelitischen Kriegsbund neu rezipierter Gott war 2), sagt die
gerade in diesem Fall ältere der beiden Großen Quellensamm-
lungen, der sog. »Elohist«, sehr unzweideutig. Eine unerwartete
Epiphanie des Gottes, nach der ältesten auch im Segensspruch
für Ephraim erhaltenen Ueberlieferung in der Lohe eines Dorn-
buschs in der Wüste nahe dem Horeb, offenbart ihn dem als israe-
litischer Hirte in midianitischen Diensten aufgefaßten Mose.
Der Gott, von ihm nach seinem Namen gefragt, antwortet aus-
weichend, nach der Redaktion der Tradition mit dem etymo-
logischen Wortspiel: »Ich bin der ich bin«, nennt aber. dabei
den anscheinend nicht israelitischen Namen »Jahwe« ^). Der
1) Darüber Küchler, Z. f. A.T. Wiss. 28 (1908) S.-42 f., der zugleich nach-
weist, wie seit der Zerstörung Jersualems dieser »Eifer« sich bei Hesekiel nicht
mehr gegen andere Götter und also gegen Israel, wenn es diesen dient, sondern
nunmehr gegen die Feinde Israels kehrt.
2) Dies ist namentlich von Budde nachdrücklich betont worden (Das
nomadische Ideal im alten Testament, Preuß. Jahrb. Bd. 85, 1896 und »Die
altisraelitische Religion«).
3) Die Etymologie des Tetragrammaton Jhwh ist ebenso bestritten ge-
blieben wie die Frage, ob es aus Jah (in Eigennamen vorkommend) und Jahu
(oder Jao, — dem Namen, welchen die jüdische Gemeinde in Elefantine im 6. Jahr-
hundert braucht und der auch in theophoren Eigennamen erscheint) zu Jahwe
ergänzt wurde oder ob umgekehrt Jahu und Jah Kurzformen des letzteren Namens
waren. S. über diese Fragen und die masoretische Vokalisation außer der gang-
baren Literatur auch J. H. Levy in der Jewish Quart Rev. XV. p. 97- ^^^ Ab-
teilung von dem babylonischen Ea (A. H. Krone ebenda p. 559) erscheint phan-
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. j 2 i
Gott der Erzväter, mit dem er später identifiziert wurde, führt
in dieser älteren Quelle den Jahwenamen noch nicht, sondern
nur den »El «-Namen in verschiedenen Zusammensetzungen,
deren höchst bewertete in der späteren Tradition der Priester
»El Schaddaj« wurde: — ebenfalls ein etymologisch wohl nicht
israelitisches Wort. »Mose« ebenso wie »Pinchas« sind ägyptische
Namen, seine »kuschitische« Frau wird in einer Tradition dem
Mose von Mirjam und Aaron vorgerückt: Reminiszenzen alter
Zwiste zwischen Priestergeschlechtern, in denen jedoch wohl
eine Kenntnis davon fortlebt: daß auch später noch Jahwe und
seine Priester als ganz oder halb Landfremde galten. Die ägypti-
schen Namen beweisen natürlich in einer Zeit ägyptischer Vor-
herrschaft in Palästina und der Sinai wüste so wenig etwas für
ägyptische Herkunft des Bundesstifters oder vollends seines
Gottes, wie babylonische oder hellenische Namen bei Juden der
Spät zeit über deren Abkunft etwas aussagen. Immerhin fehlt
Mose im Gegensatz zu Josua ursprünglich die (erst spät und
künstlich konstruierte) israelitische Abstammungsbezeichnung
und ist der levitische Ursprung der auf ihn am wahrscheinlichsten
zurückgehenden (elidischen) Priestersippe ebenfalls erst spätere
Konstruktion. Wie dem sei, jedenfalls zeigt die alte Ueberliefe-
rung deutlich, daß der Gott schon außerhalb Israels verehrt wor-
den war, als er rezipiert wurde. Offenbar waren es die an Israel
südlich angrenzenden Beduinen- und Oasen- Stämme, unter denen
er organisierte Verehrung genossen hatte. Auf Bergen war von
Anfang an sein Sitz, die Oase Kades aber in der Sinaiwüste
galt der ältesten Tradition als sein eigentlicher Kultort, wo das
Grab der Prophetin Mirjam gezeigt wurde und wo vermutlich
entscheidende Akte der Konstituierung Israels sich abspielten.
Am »Haderwasser« von Kades (Deut. 33, 8), d. h. am Quell jener
Oase, an welchem seine Priester Prozeßbrakel erteilten, war der
für den Ursprung der Leviten wichtigste Ort seiner organisierten
Verehrung. Sein Priester ^) Jethro, in der Tradition Schwieger-
tastisch. Daß die Namen auf ja in den Amarnatafeln oder die ähnlichen Bestand-
teile babylonischer Namen mit Jahwe zu tun haben sollten, ist im ganzen recht
unwahrscheinlich. (Vgl. jedoch Marti in den Theol. St. u. Kr. 82, 1908, S. 321,
und W. Max Müller, Asien und Europa S. 312/3.) Den Namen mit Hehn (Bibl.
und babyl. Gottesidee) für ein Theologumenon des Mose zu halten (»er ist gegen-
wärtig«) scheint nicht möglich, da Jahwe nicht nur in Israel verehrt wurde.
^) Jethro opfert dem Jahwe als sein Priester und Aaron und die
Aeltesten Israels halten Tischgemeinschaft mit ihm.
9*
j ^2 ^^s antike Judentum.
vater und Berater des Mose, galt als Midianiter. Ebenso galt
die legenden verdunkelte Gestalt des Bileam, der in seinem
Namen weissagt, als fremder, teils moabitischer, teils ammoni-
tischer, nach der richtigen Deutung aber wohl ecjomitischer oder
midianitischer Seher, den die Israeliten später im Kriege erschla-
gen. Wie nun mit dem Vorgang in Kades die feste Ansässigkeit des
Gottes auf dem Sinai und der von einer jüngeren Tradition dorthin
verlegte Bundesschluß zu vereinigen ist, bleibt hier dahingestellt.
Die Edomiter sind früh erobernd gegen die ägyptische Grenze
zu vorgedrungen und Edom, insbesondere das Waldgebirge
Seir, der Wohnsitz Esaus (Gen. 32, 3), des älteren Bruders Jakobs,
wo später auch Geschlechter des früh verschollenen Stammes
Simeon ansässig waren (i. Chron. 5, 41. 42), galt noch Jeremia
und Obadja als alter Sitz der Jahweweisheit. Das levitische Ge-
schlecht der Korachiten (Ex. 6, 21) scheint (Gen. 36, 5) ursprüng-
lich auf Esau, also edomitische Abstammung, zurückzugehen.
Aus Seir zieht Jahwe im Deboralied zum Kampf heran und von
dorther hört noch der Dichter des schönen unter die Jesaja-
orakel geratenen Wächterlieds aus der Exilszeit, trotz der da-
maligen bitteren Feindschaft gegen Edom, den Ruf: »Wie lang
noch die Nacht«? Die Keniter, später besonders eifrige Jahwe-
verehrer, gehörten ursprünglich nicht einmal zum Stamme Juda,
geschweige denn zu Israel, für welches ja Kain sowohl in der Tot-
schlaglegende wie in dem einen der alten Bileam- Sprüche ein
Verfluchter war. Daß der Sinai, später dem Horeb gleichgesetzt,
ein Vulkan an der nordwestarabischen Küste nahe dem Schilf-
meer östlich gegenüber der heute sog. Sinaihalbinsel war, begegnet
manchem Zweifel. Niemals aber hat jedenfalls auch nur die Sage
behauptet, daß er je zum Gebiet Israels gehört habe. Ebensowenig
Kades. Und ebenso sicher galt Jahwe der alten Tradition weder
als der ursprüngliche Gott Israels, noch als Gott nur Israels,
noch als ein in Israel residierender Gott. Erst der späteren Schluß-
redaktion des Hexateuch, welche Jahwe zum Weltgott macht,
ist es selbstverständlich, daß auch die Erzväter keinen anderen
Gott als ihn verehrt haben. Der alten Tradition ist er noch in der
Jephthalegende ein Gott neben anderen , nur ein besonders
mächtiger und erhabener. Und ferner ist er zwar der »Gott
Israels« und für Jephtha »mein Gott«, so wie Kamos der Gott
des Ammoniterkönigs ist, aber doch in einem sehr besonderen
Sinne. Er war — und das blieb eine folgenreiche Vorstellung —
1. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 133
ein »Gott aus der Ferne«, von seinem entlegenen, dem Himmel
nahen Bergessitz aus waltend und gegebenenfalls persönlich
in die Geschehnisse eingreifend. Diese »Ferne« gab ihm von
vornherein eine besondere Majestät. Zwar eine der alten Ueber-
lieferungen wußte, daß auf dem Sinai die Aeltesten selbst mit
ihm zur Tafel gesessen hatten. Aber die überwiegende Ansicht
der späteren Zeit war des Glaubens, daß von allen Menschen
nur Mose ihn von Angesicht zu Angesicht gesehen (Num. 12, 6 f.)
und daß danach selbst dessen Antlitz in so übernatürlichem Glanz
geleuchtet habe, daß er es vor dem Volk bedecken mußte : — dies
letzte vielleicht eine Reminiszenz an die alten Teraphim-Masken,
von denen noch zu reden sein wird. Und die eigentliche Meinung
(Ex. 33, 20) ging dahin, daß auch Mose ihn auf seine Bitte nur
von rückwärts habe an sich vorbeiziehen sehen können, weil
jedermann, der sein Antlitz erblickte, des Todes sei. — Nicht
ein altvertrauter Orts- oder Stammesgott, sondern eine fremde
und geheimnisvolle Gestalt war es, welche der israelitischen
Eidgenossenschaft die Weihe gab.
Die Vernichtung jenes ägyptischen Heeres, auf welche das
gewaltige Prestige dieses Gottes von der Tradition zurückgeführt
wird, geschah offenbar durch eine nach plötzlicher Ebbe ebenso
plötzlich eintretende Sturmflut des Schilfmeers östlich der Sinai-
halbinsel, ziemlich wahrscheinlich — wie die Erscheinung der
Feuer- und Wolkensäule und die Feuerglut auf dem Berge an-
deuten — im Zusammenhang mit vulkanischen Erscheinungen
irgendwelcher Art. Sowohl diese Schilf meerkatastrophe wie
der ägyptische Aufenthalt Israels sind mehrfach bezweifelt wor-
den. Aber daß Viehzüchter der Steppe bei Dürre oder Bedro-
hung Schutz als Metöken im ägyptischen Grenzlande suchten,
war nach den ägyptischen Quellen nichts Ungewöhnliches; ganz
selbstverständlich war dann ihre gelegentliche Heranziehung
zu Fronden durch die Könige und ebenso naheliegend, daß sie
sich der Fronbelastung bei gegebener Gelegenheit entzogen.
Da jene Grenzfestungen, an deren Bau die Israeliten mitgewirkt
haben wollen, unter Ramses II. gebaut zu sein scheinen, Israel aber
unter dessen Nachfolger Merneptah bereits in Palästina als Feind
erwähnt wird, bleibt freilich die Chronologie der Einwanderung
und des Auszugs besonders dann sehr schwierig, wenn man die
weit früher, unter Amenophis III. imd IV., als Feinde in Pa-
lästina auftretenden »Chabiru« identifiziert mit den Ibrim,
j ^A Das antike Judentum.
den »Jenseitigen«, d. h. wohl den Ost jordanischen, als welche
die Israeliten und andere mit ihnen als verwandt geltende Stäm-
me 1) in der Tradition vom Standpunkt der Fremden aus, im
eigenen Munde der Israeliten aber, außer bei dem als Wander-
hirte gedachten Abraham, welcher stets »der Hebräer« heißt, nur
einmal im Bundesbuch ^) und sonst fast nur im Verkehr mit
Fremden bezeichnet werden^). Es ist wohl als sicher anzuneh-
men, daß die später zum israelitischen Bunde zusammenge-
tretenen Stämme in verschiedenen Wellen über das ^ west-
jordanische Land hereingebrochen sind und daß auch die Zu-
sammensetzung des Bundes selbst, wie schon früher sich als wahr-
scheinlich zeigte, gewechselt hat und Kanaanäer einerseits, frü-
here Beduinenstämme andererseits mit einbezogen worden
sind. Daß an dem ägyptischen Aufenthalt nicht alle späteren
Stämme Israels oder deren Vorfahren mitbeteiligt waren, ist
wohl ebenfalls sicher. Den viel später sich bildenden Stamm
Juda läßt die verläßlichste, weil natürlichste, Tradition von Süden
her, nicht von Osten, in seine Wohnsitze eindringen. Ob, wie
die Phöniker angeblich — absr schwerlich wirklich — vom
persischen Meerbusen her und ein Teil der Sa-Gaz-Nomaden
vermutlich von der Grenze Mesopotamiens zuwanderten, so auch
ein hinter der Abraham- (oder Abram-) Tradition sich bergender
Bestandteil der Israeliten schon früher, etwa in der Amarnazeit,
aus der mesopotamischen Steppe zugewandert ist, bleibt dunkel.
i
^) Die Identität von Sa Gaz und Chabiru nehmen nach Wincklers Fund
in Bhögazköi (M. d. D. O. G. 35, 25) jetzt die meisten Forscher, so Bohl (He-
bräer und Kanaanäer) als erwiesen an. Immerhin ist es schwerlich Zufall, daß
die Chabiru offenbar von Südosten, die Sa Gaz von Norden und Nordosten
her angreifen und nur die letzteren in Mesopotamien genannt werden.
") Dort wird der Schuldsklave als »hebräischer Knecht« bezeichnet (Ex. 21,2
ebenso im Seisachthiebeschluß Zedekias Jer. 34, 9 — 14 und Deut. 15, 12). Der
Ausdruck stand hier vielleicht in Erinnerung an den Sprachgebrauch
alter Seisachthie- Verträge des Stadtadels mit den Bauern im Gegensatz zum
nicht »hebräischen«, das hieße in diesem Fall stadtsässigen, Patrizier. Auf ähn-
lichen Gründen könnte die an sich auffällige Unterscheidung der bei den Phi-
listern verknechteten Stammesgenossen als »Hebräer« von »Israel« i. Sam. 14, 21
beruhen.
^) 'Eber ist Stammvater auch der Stämme in Arabien bis nach Yemen:
Gen. 10, 21. 24 f. (jahwistisch). Die in ältere Zeit als die Priesterredaktion
zurückgehenden Fälle der Verwendung von 'Ibrim in der Genesis (Kap. 38 f.)
und ebenso beim Auszug (Ex. i, 15 f.; 2, 6 f.) und im Samuelbuch (4, 6 f.; 13, 3.
19; 14, 11; 29,3) betreffen stets Beziehungen zu Aegyptern oder Philistern (dazu
Bohl a. a. O. S. 67). Auffällig ist, daß Num. 24, 22 (Bileamspruch) »Eber«
mit »Assur« zusammen Unheil prophezeit wird.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. it.c
Es scheint aber nicht unmöglich. Der Name (Abiram) ist in
Babylon häufig. Zwar enthält die dem Abraham zugeschriebene
Religiosität keine erkennbaren babylonischen Züge. Indessen die
Kedor-Laomer- Tradition ist doch eine auffällige Eigentümlich-
keit. Auch andere Züge der Tradition lassen mehrere Wellen
der Ueberflutung des Landes vermuten. Als Kern des altisraeli-
tischen Bundes aber, wie ihn das Deboralied kennt, galt den
Segenspruchsammlungen und der priesterlichen Tradition jeden-
falls der von Mose zum Zweck der Eroberung und Behauptung
des West Jordanlandes gestiftete Bund mit dem Gott, der das
Schilf meerwunder gewirkt hatte. An der Geschichtlichkeit der
Person des Mose i) zu zweifeln, liegt kein Grund vor 2). Es
handelt sich nur darum, welche Eigenart seiner Leistung zuzu-
sprechen ist.
Eine wirklich sichere Feststellung des Herganges erscheint
historisch schlechthin unmöglich. Die Vorstellung, daß ein Ge-
setzbuch (etwa das Bundesbuch) oder ein Katalog ethischei-
Pflichten (etwa der Dekalog) den Gegenstand der berith gebildet
habe, ist ganz unhistorisch und pragmatisch gedacht, von andern
1) Ueber Mose s. Volz, Mose (Tübingen 1907) und Greßmann,
Mose und seine Zeit (Göttingen 1913). Gegen seine Deutung als »Medizin-
mann« König Z. D. M. G. 67 (1913) S. 660 f.
2) Abgesehen von der inneren Unwahrscheinlichkeit der Erfindung ge-
rade dieser in der Tradition rein menschlichen Gestalt an sich wird die Geschicht-
lichkeit durch manche höchst auffälligen Züge der Ueberlieferung, welche auf un-
verstandene Reste alter Gegensätze schließen lassen, nur wahrscheinlicher. Der
Name (Musi) findet sich unter levitischen Geschlechtern wieder (Ex. 6, 19;
Num. 26, 58 u. öfter). Von Kindern des Mose weiß eine alte Tradition (Ex, 2,
22; 4, 20) und die danitische Priesterschaft wurde von ihm genealogisch abge-
leitet. Aber die gesamte spätere priesterlich redigierte Genealogie kennt Nach-
fahren des Mose gar nicht. Nach Ex. 18, 2 f. hat Mose seine Kinder mit seinem
Weibe zu Jethro gesandt, der sie ihm dann in die Wüste nachbringt, i. Chron. 7,
I. 16. 17 bzw. 3 werden aber die Ex, 2, 22 als Kinder des Mose genannten Gersom
und Eleasar als Kinder des Levi bzw. Aaron gerechnet (Eleasar ebenso schon
Num. 26, I und dann öfter). Um Mose zum absolut reinen Leviten zu stempeln
wird seinem Vater Amram (Ex. 6, 20 f.) dessen Nichte Jochebed zum Weibe gege-
ben. (Die Verwirrung in den Levitenstammbäumen zeigt sich besonders deutlich
Num. 26, 57 verglichen mit 58.) Moses kuschitische Frau wird ihm vorgerückt.
Die Zadokiden undAaroniden hatten eben ein Interesse daran, daß ein auf Mose
zurückgehendes blutreines Levitengeschlecht nicht existierte. Aegyptische Namen,
wie Mose selbst einer ist, finden sich bei ihrem Hauptkonkurrenten, dem Eliden-
geschlecht (Pinehas). In der ganzen historischen Tradition und bei den Pro-
pheten sowohl wie der prophetisch stilisierten Chronistik spielt Mose freilich
eine ganz auffallend geringe Rolle, was vielleicht mit der ursprünglichen Be-
ziehung nur der n o r d israelitischen Stämme (Ephraim) zur Dombusch-Epi-
phanie zusammenhängt.
l^ß Das antike Judentum.
unübersteiglichen Schwierigkeiten abgesehen. Die Uebernahme
der an den Orten seiner bisherigen Verehrung geltenden, der
Umwelt entsprechend offenbar überaus einfachen Riten
(bildloser Kult, vielleicht Beschneidung, sicher aber: Losorakel)
und gewisse allereinfachste, für einen erobernden Heerbann
von Steppennomaden geeignete soziale Brüderlichkeits-Ord-
nungen, schließlich: das Prestige der Kriegsprophetie als
solcher, sind die aus rein sachlichen Gründen und nach allen,
auch den islamischen Analogien wahrscheinlichsten Inhalte
der Verbrüderung, die ja vielleicht nicht die erste ihrer Art war.
Die besondere Schärfe, mit welcher der Gott Mord an Volks-
genossen und Verletzung des Gastrechts perhorresziert und das
strenge Beute-Tabu passen ebenfalls in diese Provenienz. Wir
werden ohne zu große Unvorsichtigkeit annehmen dürfen, daß
dies etwa die (ausdrücklich oder der Sache nach) durch die berith
übernommenen Verpflichtungen Israels waren. Sie enthalten an
sich keinerlei Bestandteile, die nicht unter ähnlichen Verhält-
nissen auch sonst geschichtlich vorkämen. Und Jahwe ? Er war
und blieb immer ein Gott der Erlösung und Verhei-
ßung. Aber das Wichtige war : sowohl Erlösung und Verheißung
betrafen aktuelle politische, nicht innerliche, Dinge.
Erlösung von der Knechtschaft der Aegypter, nicht von einer
brüchigen, sinnlosen Welt, Verheißung der Herrschaft über
Kanaan, das man erobern wollte, and ein glückliches Dasein dort,
nicht Verheißung transzendenter Güter, bot der Gott. Gerade
dieser primitive ungebrochene Naturalismus und gerade jene
auf primitive materielle und soziale Kulturverhältnisse zurück-
gehende rituelle Eigenart wurden das Wichtige. Und gerade in der
alsbald nach der Einwanderung iDeginnenden Verbindung mit den
überall verbreiteten Elementen einer rationalen und geistig
differenzierten Kultur. Denn ganz universell ist jene Erschei-
nung: daß Kulturrezeptionen im allgemeinen gerade da ganz
neue und eigenartige Gebilde erzeugen, wo sie Gelegenheit
haben und genötigt sind, sich mit Vorstellungsreihen zu verschmel-
zen, welche ihrerseits noch unsublimiert und nicht durch priester-
liche, amtliche oder literarische Prägung stereotypiert sind und
also die Anpassung der alten rationalisierten Gebilde an ganz
neue und relativ einfache Bedingungen erzwingen.
Die israelitischen, lediglich auf die mosaische Stiftung
zurückgehenden Konzeptionen stellten die in Kanaan verbreiteten
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. it^j
orientalischen Bildungselemente vor diese Notwendigkeit. Durch
welche eigenen Qualitäten aber geschah das ? Zunächst also:
welche ZügQ eignen dem, nach der Tradition, von Mose für den
(gleichviel wie beschaffenen) israelitischen Bund neu eingeführten
Gott und dessen Beziehung zu Israel?
Jahwe zeigt in der alten Tradition verschiedene charakteristi-
sche Qualitäten. Die hochgradigen anthropomorphen Züge i),
welche er gerade in den älteren und namentlich den aus dem
Süden stammenden Teilen der Tradition (des sog. »Jahwisten«)
trägt, teilt er mit den althellenischen und anderen Göttern
kriegerischer Völker. Nicht überall und vielleicht nicht von An-
fang an, aber offenbar sehr früh und dann sehr regelmäßig haftet
ihm aber ein Zug an, der in dieser Stärke sich nicht oft findet:
daß seine Nähe, unter Umständen selbst die Nähe der von seinem
»Geist« (ruach) befallenen »Gottesmänner« unheimlich und ge-
fährlich, sein Anblick, wie wir sahen, tödlich ist. Der für Jahwe
in besonders hohem Grade spezifische Begriff der Heiligkeit
besagt, wie, anschließend an Graf Baudissins Untersuchungen,
jetzt allgemein angenommen wird, ursprünglich ausschließlich
oder wesentlich diese aus der Gefahr jeder Berührung und jedes
Erblickens des Gottes folgende Unnahbarkeit und Abgesondert-
heit von allen nicht eigens für das Ertragen seiner Nähe rituell
qualifizierten Menschen sowohl wie auch Gegenständen. Diese
wichtige Qualität hängt offenbar zum Teil mit der später zu bespre-
chenden alten Bildlosigkeit seines Kults, zunächst aber
mit seiner jetzt zu besprechenden Natur und der Art seiner
Manifestationen zusammen. Er ähnelt dem indischen Indra,
denn wie dieser ist er, für Israel wenigstens, zunächst und vor
allem Kriegsgott. »Einen Kriegsmann« (isch hamilchamah)
nennt ihn eine Variante eines alten Berichts (Ex. i8, 25). Nach
Blut, dem Blut der Feinde, der Ungehorsamen, der Opfer lechzt
er. Ueber alle Maßen gewaltig ist seine Leidenschaft. In seinem
Grimm verzehrt er die Feinde mit Feuer oder läßt sie von der
Erde verschlingen, stürzt sie, wie die Wagen der Aegypter nach
dem alten Doppelzeiler des Mirjamreigens, ins Meer oder läßt
ihre Wagen wie die der Kanaanäer in der Deboraschlacht im
regengeschwollenen Bach stecken bleiben, so daß die israelitischen
Bauern sie ebenso abschlachten konnten, wie dies der lateinischen
1) Die verschiedensten Körperteile Jahwes: Augen, Ohren, Na?e, Lippen,
Hand, Arm, Herz, Atem werden teils genannt, teils als vorhanden vorausgesetzt.
I -jg Das antike Judentum.
Ritterschaft in Griechenland einmal in der späten Kreuzzugs-
zeit widerfuhr. Noch bei den Propheten ist die Furchtbarkeit
seines Zorns und seiner Kriegsmacht der hervorstechende Zug.
Großartig wie sein Zorn ist aber auch seine Gnade. Denn sein
leidenschaftliches Herz ist wandelbar. Ihn reut es, den Menschen
Gutes getan zu haben, wenn sie es ihm schlecht vergelten, und dann
wieder gereut ihn sein übergroßer Zorn. Die späte rabbinische
Tradition läßt ihn selbst beten (!) : daß seine eigene Barmherzig-
keit über seinen Zorn die Oberhand behalten möge. Im Wetter-
sturm zieht er persönlich dem Heerbann zu Hilfe. Und seinen
Freunden hilft er, wie Athene dem Odysseus, unbedenklich
auch in List und Trug. Aber man ist nie sicher, durch irgend
ein unwissentliches Versehen seinen Grimm zu reizen oder von
einem göttlichen Numen aus dem Kreise seiner Geister ganz
unerwartet und unmotiviert überfallen und mit Vernichtung be-
droht zu werden. Der »Geist«, die ruach, Jahwes, ist in vor-
prophetischer Zeit weder eine ethische Potenz noch ein religiöser
Dauerhabitus, sondern eine akute dämonisch-übsrmenschliche
Kraft verschiedenen, sehr oft und vorzugsweise absr furchtbaren
Charakters. Die wilden charismatischen Kriegshelden der is-
raelitischen Stämme, Berserker wie Simson, Nasiräer und ek-
statische Nebijim, wissen sich von dieser Kraft erfaßt und fühlen
sich als seine Gefolgen. Alle Kriegspropheten und -prophetinnen
treten in Jahwes Namen auf; auch die Träger eines anderen
theophoren (Baals-) Namens wie Jerubbaal nehmen als Kriegs-
fürsten einen neuen Namen (Gideon) an.
Zum Kriegsgott eignete sich Jahwe ebenso wie Indra um
deswillen, weil er wie dieser ursprünglich ein Gott der großen
Naturkatastrophen war. Erdbeben (i. Sam. 14, 15 :
Jes. 2, 12 f.; 46, 7), vulkanische Erscheinungen (Gen. 19, 24;
Ex. 19, II ; Psalm 46, 7) unterirdisches (Jes. 30, 27) und himmlisches
Feuer, der Wüstenwind von Süden und Südosten (Sach. 9, 14)
und die Gewitter sind die Begleiterscheinungen seines Auftretens,
die Blitze wie bei Indra seine Pfeile (Ps. 18, 15) noch bsi den
Propheten und Psalmisten. Zum Umkreise der Naturkatastro-
phen gehörte für Palästina auch die Insekten-, vor allem die
Heuschreckenplage, welche der Südostwind ins Land brachte.
Mit Heuschrecken plagt daher der Gott die Feinde seines Volks
und Schwärme von Hornissen sendet er vor ihm her, die Feinde
zu verwirren, Massen von Schlangen zur Bestrafung des eigenen
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. j oq
Volkes. Endlich: die Seuchen (Hos. 13, 14). Mit Pest schlägt
der Gott die Aegypter, ebenso die Philister und andere, die sich
an seiner heiligen Lade vergreifen (i. Sam. 4, 8; 6, 6. 19). Der
Schlangenstab seiner Priester im Tempel von Jerusalem deutet
wohl auf diese einstige Bedeutung als Pestgott hin. Denn als
»Herr« der KranKheit konnte er sie auch abwehren und war ihr
Arzt, wie überall im gleichen Fall. Alle furchtbaren und schick-
salhaften Naturerscheinungen also waren die Domäne des Gottes :
er vereinigte die Züge Indras mit denen Rudras. Neben jenem
Charakter kriegerischer und naturmythischer Wildheit zeigt er
freundlichere Züge schon in der alten Tradition als Herr des
Regens. Nachdrücklich weist er sein Volk darauf hin, daß in
Israel nicht wie in Aegypten der Ackerertrag durch die Bewässe-
rung bedingt werde — also, heißt das, ein Produkt der büro-
kratischen Verwaltung des irdischen Königs und der eigenen
Arbeit des Bauern sei — , sondern durch den von ihm, Jahwe,
nach seiner freien Gnade gespendeten Regen. Die starken Ge-
witterregen, wie sie namentlich dem an die Wüste angrenzenden
Steppengebiet eigneten, waren sein Werk. Der Regen verknüpfte
ihn von Anfang an mit dem Einzelnen und seinen ökonomischen
Interessen und erleichterte das später immer mehr hervor-
tretende Eindringen der Züge eines gütigen Natur- und Himmels-
gottes in sein Bild. Vor allem unter dem Einfluß der in den um-
liegenden Kulturländern und auch in Palästina selbst verbreiteten
Konzeptionen höchster Himmelsgötter trat diese Sublimierung
und Rationalisierung des Bildes des Gottes zu einem weisen
Weltenlenker ein. Daneben war auch der, wie wir sehen werden,
bei den israelitischen Intellektuellen sich entwickelnde Vorseh-
ungsglauben mitbestimmend. Aber nie verschwanden aus seinem
Bilde die von dem alten Jahwe stammenden Züge des furchtbaren
Katastrophengottes. In all jenen Mythologemen und mytholo-
gisch beeinflußten Bildern, deren Benutzung der Sprache der
Propheten ihre unvergleichliche Großartigkeit verleiht, spielen
diese Züge die entscheidende Rolle. In erster Linie solche Macht-
beweise, nicht Beweise weiser Ordnung, sind, bis tief in die
exilische und nachexilische Zeit, die von Jahwe gelenkten Natur-
vorgänge. Der Zusammenhang der bis in die Zeit nach dem Exil
stets festgehaltenen Qualitäten Jahwes als eines Gottes der
furchtbaren Natur katastrophen, nicht der ewigen Natur-
Ordnung war, außer in der allgemeinen Verwandtschaft
IAO Das antike Judentum.
jener Vorgänge mit dem Kriege, eben rein historisch dadurch
begründet, daß der Gott sich dieser seiner Macht, zuerst gegen
die Aegypter, dann, in der Deboraschlacht, gegen die Kanaanäer
und ebenso später gegen Israels Feinde in der Schlacht bedient
hatte. Der »Gottesschrecken« (cherdath Elohim, i. Sam. 14,
15) : die durch Natureingriffe, namentlich Erdbeben (a. a. O.)
und schwere Gewitter (Deboraschlacht) erregte Panik der Feinde
wurde ihm zugeschrieben und eine solche, vulkanisch bedingte,
Panik (der Aegypter) hatte zur Rezeption des Gottes geführt.
Das blieb unvergessen.
Praktisch wichtig war nun aber vor allem, daß Jahwe
wenigstens für das alte Israel trotz dieses Charakters auch eir
sozialer Verbandsgott wurde und blieb. Auch das
in besonderem Sinn. Er war, wie wir annehmen müssen: seit
Mose, der Bundesgott des israelitischen Bundes und, dem Zweck
des Bundes entsprechend, vor allem der Bundeskriegsgott. Aber
dies war er in sehr eigener Art. Durch einen Bundes vertrag
ist er dazu geworden. Und dieser Vertrag mußte außer unter den
Bundesgliedern auch mit ihm selbst abgeschlossen werden
deshalb, weil er nicht ein inmitten des Volkes residierender
oder schon bekannter, sondern ein bisher fremder Gott war
und ein »Gott aus der Ferne« blieb. Dies war das Entscheidende
der Beziehungen. Jahwe war ein Wahlgott. Durch berith mit
ihm hat sich ihn das Bundesvolk erwählt, ganz ebenso wie es sich
später durch berith seinen König einsetzte. Und umgekehrt
hat er dieses Volk aus allen anderen nach freiem Entschluß
erwählt. Das hält er dem Volk durch die priesterliche Thora
und die prophetischen Orakel später immer wieder vor: aus freier
Gnade hat er dies und kein anderes Volk sich als sein Volk aus-
ersehen, ihm Verheißungen gegeben wie keinem andern und dafür
seine Versprechungen entgegengenommen. Und daher war nun
überalLr wo das Bundesvolk als solches eine berith machte, er,
der Gott, der ideelle Gegenpartner. Alle Verletzungen der heiligen
Satzungen waren also nicht nur Verstöße gegen Ordnungen,
die er garantiert, wie dies andere Götter auch tun, sondern
Verletzungen der feierlichsten Vertragsverpflichtungen gegen
ihn selbst. Ihm persönlich, nicht nur dem Bunde, verweigert die
Heerfolge, wer dem Bundesaufgebot nicht folgt : er ist »Jahwe
nicht zu Hilfe gezogen«. Das Bundesheer wird »Mannen Gottes«
(,am haelohim) genannt (Jud. 20, i f.).
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe, iai
Auf diese Art wurde er aber außer zum Bundeskriegsgott
auch zum Vertragspartner des durch berith festgestellten Bundes-
rechts, vor allem »der sozialrechtlichen Ordnungen. Da der Bund
als solcher ein Verband von Stämmen zunächst ohne alle staat-
liche Organisation war, konnten ja neue Satzungen gleichviel
ob kultischer oder rechtlicher Art im Prinzip gar nicht anders
als durch neue Vereinbarung (berith) auf Grund eines Orakels
entstehen, ganz ebenso wie der ursprüngliche Bund. Alle diese
Satzungen standen damit auf der gleichen Grundlage wie das
alte Vertrags Verhältnis, welches zwischen ihm und dem Volk
bestand. Insofern war gerade in der Zeit vor dem Königtum
die »berith« staatsrechtlich durchaus nichts nur Theoretisches.
Ebenso aber auch nicht für die religiöse Vorstellung. Bei Je-
remia (2, 5) fragt Jahwe: welches Unrecht denn die Väter an
ihm erfunden hätten? Und andrerseits mahnt ihn Jeremia
(14, 21) : seinen Bund mit Israel nicht zu brechen.
Weder konnte dieser als Vertragspartner geltende Bundes-
gott in Israel als ein bloßer Funktionsgott irgendwelcher Natur-
vorgänge oder sozialen Einrichtungen angesehen werden. Noch
war er ein Lokalgott in dem Sinn, wie die orientalischen Städte
einen solchen überall kannten. Auch nicht ein bloßer Gott des
»Landes«. Sondern die Personen gemeinschaft des israeli-
tischen Bundesheeres mußte bei jener Auffassung als sein mit ihm
durch die Bundesgemeinschaft verbundenes Volk gelten. Dies
war die eigentlich klassische Auffassung der Tradition. Die Ueber-
tragung der Heiligkeit auf den politischen Landbesitz als das
»Heilige Land« ist erst eine spätere, vermutlich durch heterogene,
teils dem Baalkult, teils der Lokalisierurg Jahwes als Gott der
Königsresidenz entstammende Gottesvorstellungen vermittelte
Konzeption, die sich in der Königszeit für David in einer Tra-
dition unsicheren Alters, dann im Nordreich bei Elisas Bekehrung
des Naeman zuerst bezeugt findet.
Jahwe schützt als Garant der Bundesordnungen Sitte und
Brauch. Das, was in Israel »unerhört« ist, ist auch ihm ein Greuel.
Er war aber seinem ursprünglichen Charakter entsprechend
Garant des Bundesrechts und der Sitte nicht in dem Sinne
wie Varuna oder ähnliche Götter es waren: Hüter der schon an
sich vorhandenen Heiligkeit der unabänderlichen Ordnung:
des Rechts oder einer an festen Maßstäben zu messenden »Ge-
rechtigkeit«. Nein, durch positive berith mit ihm war dies
jj^2 I^^s antike Judentum.
positive Recht für Israel geschaffen; es war nicht immer da-
gewesen und es konnte sein, daß es durch neue Offenbarung und
neue berith mit dem Gott wieder geändert wurde. Nicht erst
Paulus, sondern, wenn auch nur gelegentlich, schon einzelne
Propheten (Jeremia, Hesekiel) glaubten, daß der Gott manche
Satzungen dem Volk als ein hartes Joch oder zur Strafe aufer-
legt habe, ganz ebenso wie — nach dem volkstümlichen Mythos
— dem Adam die Arbeitsmühsal und den Tod. Das Recht war
nicht ein ewiges Tao oder Dharma, sondern eine positive gött-
liche Satzung, über deren Innehaltung Jahwe eiferte. Zwar
hat der ethische Rationalismus der deuteronomischen Schule
später gelegentlich (Deut. 4, 2) das Gesetz Gottes als »ewig«
bezeichnet und die ursprüngliche sittliche Vollkommenheit
(Deut. 4, 8) der gerechten Ordnungen des Gottes gerühmt, wie
sie kein anderes Volk besitze. Allein diese gelegentlichen paräne-
tischen Argumentationen enthalten nicht die aus dem »berith«-
Charakter des Rechts unvermeidlich sich ergebende typische
Stellungnahme. Die Verfügungen des Gottes stehen in seiner
Hand und sind an sich wandelbar. Er kann sich durch berith
an sie binden, aber das ist dann Ergebnis seines freien Willens-
entschlusses. Ewige Ordnungen kennt denn auch erst die
priesterliche Redaktion und zwar sind dies fast durch-
weg kultische oder auf die Rechte der erst in der Exils-
zeit zum Kultmonopol aufgestiegenen Aaroniden bezügliche
Normen, welche, gerade weil sie Neuerungen waren, pathetisch
mit diesem Ausdruck (chukath golam) belegt wurden (Ex. 27,
21 ; Lev. 3, 17 ; 16, 31 ; 23, 14. 31. 41 ; Deut. 12, i betreffen kultische,
Lev. 7, 37; 24, 3; Num. 18, 23 priesterrechtliche Ordnungen
aus der Exilszeit ; i. Gen. 9, 14: berith golam die theologischen
Konstruktionen des noachischen Bundes). Die einzige weltliche
»ewige« Ordnung: die Bestimmung, daß für ewige Zeiten Israel
und die gerim die gleichen Rechte haben sollen, ist ebenfalls
eine von den Priestern geschaffene Neuerung der Exilszeit.
Man kann solche Novellen geradezu an der Verwendung des Aus-
drucks »ewig« erkennen. Niemals wird in der alten Literatur
Israels behauptet, daß diese und keine andere Sozialordnung
an sich die ewig unabänderlich kraft ihrer inneren Voll-
kommenheit geltende sei und deshalb von Jahwe gehütet werde.
Es ist im höchsten Grade bezeichnend, daß der Gott, als er dem
Hiob auf dessen Verlangen, ihm Rede zu stehen über die Unge-
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. i^^
rechtigkeit der Ordnung des Menschendaseins, im Wettersturm
erscheint, mit keinem Wort die Weisheit seiner Ordnung der
menschlichen Beziehungen vertritt, wie sie etwa dem Konfuzianer
selbstverständlich war, sondern ganz und gar nur seine souveräne
Macht und Größe in den Naturereignissen. Bis in die Zeiten
der Entstehung der alt christlichen Naturrechtslehre hinein
ist diese historisch bedingte Eigenart des, Gottes folgenreich ge-
wesen.
Von Anfang an lagen gewisse Züge einer über Israel hinaus-
greifenden Stellung und in diesem Sinn eines gewissen Univer-
salismus in der Konzeption Jahwes, richtiger: in der eigen-
artigen Beziehung, in der sich, aus rein historischen Gründen,
der israelitische Bund zu diesem Gott befand. Man hat sich neuer-
dings darüber gestritten, ob Monolatrie (exklusive Verehrung
nur eines von den mehreren Göttern), Henotheismus (aktuelle
Behandlung des gerade angerufenen Gottes als des einzig mäch-
tigen) oder Monotheismus (prinzipielle Einzigkeit) die alte
Jahwe Vorstellung beherrscht haben. In dieser Art ist wohl
schon die Frage falsch gestellt. Die Anschauung hat nicht nur
gewechselt, sondern war zur selben Zeit je nach den sozialen
Kreisen ganz verschieden. Für den Krieger war es klar : daß der
Gott, den er anruft, sein Gott sei und folglich der Gott d,er
Feinde ein anderer: so behandelt das Richterbuch (ii, 24) in
der Jephtha-Er Zählung, das Königsbuch (2. Kön. 3, 27) in der
Erzählung vom Moabiterkrieg die Götter Jahwe und Kamos ^).
Für den König und die stadtsässigen, vor allem die Tempel-
priester- und Patrizier- Schichten, aber auch für den städtischen
Massenglauben war es klar: daß der Gott im Tempel der Stadt
lokalisiert sei, daß anderwärts also andere Götter seien, daß der
eigene Gott mit der Existenz der Stadt stehe und falle, daß, wer
aus der Stadt (oder dem zugehörigen Lande) gehen müsse, dem
eigenen Gott nicht dienen könne, sondern fremden Göttern
dienen müsse (so David: i. Sam. 26, 19), daß dagegen, wer aus
fremdem Land kommt, dem einheimischen Gott zu dienen
gut tue, weil dieser sich sonst rächen könnte (so Jahwe an den
assyrischen Kolonisten in Samaria, 2. Kön. 17, 25. 26). Dies ist
Produkt stadtsässiger Kultur. Für den Israeliten einer Tempel-
stadt, zumal Jerusalems, war Jahwe im Tempel ansässig. Für
*) Es scheint, daß auch Kamos ein mehreren Stämmen gemeinsamer Gott
gewesen ist.
J4A Das antike Judentum.
eine solche Lokalisierung bot seit alters die Lade Jahwes natur-
gemäßen Anlaß. Das überlieferte Ritual zeigt, daß die Krieger im
Felde sich ihn als auf diesem Lagerheiligtum anwesend vorstellten.
Ganz anders war naturgemäß der Standpunkt der halbnomadi-
schen Viehzüchterstämme. Der von ihnen beeinflußten Tradition
versteht es sich von selbst, daß der Gott auch im fremden Land
mit dem Israeliten ist (Gen. 28, 20) . Sie wissen recht gut, daß Jahwe
auch von nichtisraelitischen Stämmen verehrt wird und ihre
Legenden setzen daher das gleiche als selbstverständlich nicht
nur von Laban (Gen. 24, 50 ; 31, 49), immerhin einem Verwandten,
sondern auch für Abimelech von Gerar (Gen. 20, 11; 21, 23)
voraus. In der Joseph-Novelle (Gen. 41, 39) ist sogar jene Auffas-
sung spürbar, die bei handeltreibenden Weltvölkern, wie den
Hellenen und den späteren Römern, typisch war: die naive
Identifikation bestimmter fremder Götter mit den eigenen,
wie sie im nachexilischen Judentum sich für den Gott des Nebu-
kadnezar (bei Daniel) und des Perserkönigs findet. Im ganzen
aber war diese Vorstellungsweise dem älteren Israel fremd,
weil Jahwe durch berith sein Gott geworden war. Das schloß,
nach der ursprünglichen Vorstellung, zum mindesten aus, daß
er im gleichen Sinn wie für Israel auch der ganz persönliche
Schutzgott fremder Könige sei, wie etwa Marduk und Ahura-
mazda es waren. Die beruflichen Jahwepropheten der alten Zeit,
die Nebijim und Seher, waren offenbar weder von der Einzigkeit
noch auch davon überzeugt, daß gerade nur in Israel ihr Gott
zu Hause sei. Sie hatten zum Teil internationale Kundschaft
und die Elia-Tradition setzt wenigstens an einer Stelle (i. Kön.
17, 9) voraus, daß auch die Witwe in Sidon Gebote Jahwes
von diesem empfange. Im übrigen war ihr Gott zwar nicht der
einzige, aber natürlich der stärkste von allen, die andern letztlich
»Nichtse«. Das konnte auch die alte jahwistische Kriegertradition
(Jos. 2, 9) akzeptieren. Ihr kam es vor allem auf die Sonderstellung
Israels kraft der berith an. Für sie stand fest : Mochten auch andere
Jahwe verehren, Israel stand doch in seiner besonderen Hut.
Jahwe war ihr nicht der Feind fremder Völker ; — dieser Anschauung
hat sich erst der nationale Fanatismus der königlichen Heils-
propheten und der konfessionelle Fanatismus der Priester nach
dem Exil gelegentlich genabelt. Aber, wie wir später sehen
werden: auf Israel allein kam es ihm an, wie dies ja von jedem
Lokalgott oder Lokalheiligen und jeder lokalisierten Madonna
I . Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. iac
aller Zeiten auch erwartet wurde, — nur daß bei Jahwe eben
die im Resultat ähnliche Vorstellung ursprünglich nicht
von der Lokalisierung, sondern gerade von einem (relativen)
Universalismus und der partikulären berith mit Israel ausging.
Die verschiedenen Auffassungen aber standen nebeneinander
und ihre logische Gegensätzlichkeit wurde, wie üblich, nicht
empfunden. Jedenfalls l^at man sich zu hüten, die »partikulari -
stischere« Gottesauffassung für die notwendig ältere zu halten.
In gewissem Umfang und Sinn trifft das Gegenteil zu, und bei
Jahwe war dies unvermeidlich so. In der rhythmischen alten Gottes-
rede Ex. 19, 5 nennt Jahwe sich, ehe er den Inhalt des za schließen-
den Bundes verkündet, der Israel za seinem Eigentum machen
soll, geradezu den »Herren der ganzen Welt«. Auch diese Auf-
fassung fand sich also schon in vorprophetischer Zeit gelegent-
lich neben den anderen. »Universalistisch« in diesem. Sinn treten
ja auch die Götter anderer Völker auf. Vor allem die Groß-
königsgötter der Hauptstädte der Weltreiche. In Aegypten hat
Amon unter der Priesterherrschaft der späteren Ramessidenzeit
universelle Macht der Heilsspendung in Anspruch genommen^).
Aehnliches werden die Berater und Hofpropheten israelitischer
Könige in Erinnerung an das Davidsreich von Jahwe verkündet
haben ^j. Aber historisch ruhte der basondersartige (relative)
Universalismus Jahwes nicht auf dieser Grundlage. Sondern: auf
der Tatsache seiner Rezeption . Jahwe hatte eben in einem anderen
Sinn als andere Götter bereits bestanden and seine Macht be-
währt, ehe Israel ihm opferte. Das hatte gewichtige kultische
Konsequenzen. Mochten auch Opfer als ihm angenehm, folg-
lich als geeignete Mittel gelten, seine Gunst zu gewinnen. —
schwerlich konnte doch die sonst so häufige Vorstell ang auf-
kommen: daß der Gott in seiner Existenz davon abhängig sei.
daß sie ihm dargebracht würden ^ ) . Er thronte in der Ferne auf
1) Wen Amon (Breastead Records IV, S. 80) trägt dem König von Byblos
vor: daß die Pharaonen (deren Silbersendungen der König von Byblos vermißt)
nicht das haben leisten könne, was der Gott Amon zu leisten vermöge (der
eben deshalb keinen materiellen Geschenke schicke), nämlich: Leben und Ge-
sundheit zu verleihen (was freilich mit dem Hofstil des Alten Reiches nicht
harmoniert). Auch der König von Byblos »gehöre« dem Amon, dem zu gehor-
chen für jedermann Heil bringe.
^) Ueber die Unterschiede der Göttergestalten der Umwelt, insbesondere
Mesopotamiens, von Jahwe, ausgezeichnet: Hehn, Die biblische und die baby-
lonische Gottesidee Leipzig, 1913.
ä) In Aegypten bedürfen die Götter im Gegensatz dazu der Nahrung
Ma\ \V r b c r . Keligionsso/iologie HI. 10
lAiß Das antike Judentum.
seiner Bergeshöhe und bedurfte ihrer nicht, wenn er sie auch gern
genoß. Dazu kam nun aber, was wohl zu beachten ist, in
der Zeit vor dem Königtum in Friedenszeiten das Fehlen jeg-
licher politischen oder hierokratischen
Instanz, die im Namen des Bundes hätte Opfer
darbringen können: wir wissen von solchen gar nichts
und ihre Existenz scheint ausgeschlossen. Das Opfer also konnte
schlechterdings, gerade in alter Zeit, in der Beziehung zu Jahwe
nicht jene Bedeutung gewinnen, wie anderwärts. Insofern
waren also die Propheten später ganz im Recht, nicht nur für
die Wüsten zeit, sondern für den israelitischen Bund überhaupt,
wenn sie betonten: damals habe man Gott nicht' durch Opfer gedient.
Da die spezifische Form, durch welche das Bundesvolk immer
wieder mit ihm in Berührung trat, die berith war, so lag es nahe,
die Erfüllung der durch berith mit ihm geheiligten Gebote
für mindestens so wichtig oder eigentlich für wichtiger zu halten
als die von den Einzelnen nach Gelegenheit und später von den
Königen und Tempelpriestern dargebrachten Opfer, wie dies denn
von einem Teil der reinen Jahwe Verehrer auch immer erneut
geschah^). Es hat in der späteren Königszeit immer in Israel
eine Partei gegeben — und ihr haben gerade die gewaltigsten
Schriftpropheten, wie Amos und Jeremia zugehört — , welche
die Erinnerung an diesen Zustand wach erhielt und alle und jede
Opfer als Jahwe letztlich gänzlich gleichgültig hinstellte. Be-
greiflicherweise hingen gerade die am wenigsten an festen Kult-
stätten seßhaften, also die Kleinvieh züchterschichten, am meisten
dieser Auffassung an. Genaue Innehaltung der ihm spezifischen
Riten and im übrigen Gehorsam gegen seine Offenbarungen
war augenscheinlich das, was der gewaltige himmlische Kriegs-
fürst in Wahrheit verlangte: diese folgenreiche Auffassung
ist — wiederum politisch bedingt — zweifellos von Anfang an
in Israel gerade bei den eifrigsten Hütern der alten Tradition le-
bendig geblieben. Mochten die ursprünglich von ihm dem Krieger-
bunde auferlegten ethischen Gebote noch so primitiv und barba-
risch gewesen sein (was heute nicht mehr sicher auszum.achen
durch das Opfer der Menschen (v. Bissing, Sitz.b. der Münchener Ak. d. W.
Phil.-hist. Kl. igii Nr. 6), ganz ebenso wie die Totenseelen.
^) Zu allen diesen Zusammenhängen vgl. besonders Buddes Vortrags-
zyklus über die altisraelitische Religion, der wohl am schärfsten die Bedingtheit
des ethischen Charakters der Religion Israels durch den Charakter des
Gottes als eines Wahlgottes gesehen und betont hat.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. j ^j
ist), — in jenem Sinn war er doch eben unvermeidlich weit mehr als
andere Götter ein ganz spezifisch auf die Erfüllung bestimmter
Gebote : ritueller und sozial-ethischer Alltags-Normen, »eifern-
der« Gott. Wohlgemerkt: nicht ein Gott, der eine ewig gültige
Ethik schätzte oder selbst an ethischen Maßstäben gemessen würde.
Das stellte sich erst allmälich als Produkt des Intellektuellen-
rationalismus ein. Nein, er verfuhr wie ein König, in Zorn und
Leidenschaft, wenn die ihm kraft berith geschuldeten Pflichten
nicht erfüllt werden. Es handelte sich um Pflichten, wie sie der
erkorene Herr vom Untergebenen verlangt, um ganz positive
Verpflichtungen, über deren absoluten ethischen Wert man zu-
nächst nicht grübelte und nicht zu grübeln hatte. Das was
»in Israel nicht erhört« war und das positiv durch berith Fest-
gestellte war der Inhalt des Gesollten. Aber auf dessen Erfüllung
hielt der Gott mindestens soviel, nach einer schon früh ver-
breiteten Ansicht sogar mehr, als auf Opferdienst. Schon Tradi-
tionen von hohem Alter zeigen ihn in gewaltigem Zorn nicht nur
wegen ritueller, sondern auch wegen ethischer Frevel. Und als
selbstverständlich wird vorausgesetzt, daß der heilige Krieg
des Bundes wegen schwerer Verstöße gegen ethische Pflichten
— ^ wegen solcher Dinge, die »in Israel nicht gesehen worden waren«
(Jud. 19, 30) — über Bundesglieder verhängt werden konnte.
Der Grund aber für ein Einschreiten des Bundes aus solchen
Gründen, also für eine spezifisch stark ethische Orientierung
des altisraelitischen Bundesrechts, lag in der religiösen Soli-
darhaft der Bundesglieder für die Frevel aller einzelnen. Diese
überaus wichtige und folgenreiche Voraussetzung einer Haftung
der Gesamtheit für jeden in ihrer Mitte wissentlich oder unwissent-
lich geduldeten Frevler war, wie dem Repressalienrecht aller
internationalen Beziehungen bis heute, so dem religiösen Glauben
eines Volkes selbstverständlich, welches wie Israel seinem Gott
als ein Verband freier Volksgenossen gegenüber-
stand. Während die Haftung des einzelnen für die Sünden
seiner Vorfahren und Nächstversippten sich in babylonischen
Hymnen findet, war jene Solidarhaft des ganzen Volkes für alle
einzelnen — die Voraussetzung aller prophetischen Unheils-
vei kündigungen — in einem rein bürokratischen Staat natur-
gemäß gedanklich nicht entwickelt. Die politische Struktur
^pielte also auch hier eine entscheidende Rolle. Wie die Volks-
genossen füreinander, so haften die Nachfahren bis in entfernte
jAg Das antike Judentum.
Glieder für Frevel der Vorfahren. Das war bei der Blutrache
ganz ebenso und also nichts Auffallendes. Und mit Abschwächung
der Blutrache änderte sich das: die deuteronomische Speku-
lation sah in beiden Arten der Haftung für fremdes Verschulden :
für den Genossen wie für die Voreltern, eine Härte, ohne doch
die Anschauung wirklich beseitigen zu können. Für Israel war
sie eine Folge des berith-Verhältnisses mit dem Gott selbst.
Die Qualität des Gottes als eines durch besonderen Vertrags -
akt angenommenen Bundeskriegsgotts und Garanten des Bundes-
rechts erklärt auch noch eine Eigentümlichkeit von großer Trag-
weite: er war und blieb, bei allera Anthropomorphismus, unbe-
weibt und daher kinderlos. Auch die bne Elohim des sechsten Ge-
nesiskapitels waren keine »bne Jahwe«. Eine weibliche Ergänzung
konnte bei der Eigenart seiner Stellung gar nicht in Frage kommen .
Sie fehlte ihm ebenso, wie sie auch sonst gelegentlich gewissen Funk-
tionsgöttern, welche soziale Ordnungen garantieren, (Varuna,
Apollon) und importierten Göttern (Dionysos) aus ganz ähn-
lichen Gründen fehlte. Bei Jahwe aber trug dieser Umstand sicher
sehr wesentlich dazu bei, ihn von Anfang an als etwas, anderen
Göttergestalten gegenüber. Besondersartiges, Weltferneres er-
scheinen zu lassen ; vor allem hemmte er — wie wir sehen werden
— echte Mythenbildung, die immer »Theogonie« ist. Auch diese
sehr wichtige Eigentümlichkeit war also vermutlich durch
jene politische Besonderheit der Entstehung seines Kults bedingt.
Solche Züge von Präeminenz des Bundesgotts begründeten
aber, wie wir schon sahen, keineswegs notwendig einen Anspruch
auf Exklusivität seiner Geltung. Wie es nach außen den Göttern
anderer Völker gegenüber stand, davon war schon die Rede :
Jephtha behandelt die Existenz und Macht des ammonitischen
und später auch moabitischen Gottes Kamos als ganz selbst-
verständlich. Noch unter Ahab ist die Auffassung keine andere:
der Moabiterkönig vermag durch das Opfer seines eigenen Sohnes
den Kamos so zu stärken, daß sein Grimm gegen Israel und dessen
Gott die Oberhand gewinnt. Aber — worauf es hier ankommt
— auch nach innen bestand der Tatsache nach die Exklusivität
nicht. Hinsichtlich der Halbbeduinen der Steppe ist es allerdings
sehr wahrscheinlich, daß der große Kriegsgott des Bundes für
sie von Anfang an der einzige in Betracht kommende Gott war.
Diese Monolatrie erklärt sich sehr einfach daraus, daß bsi ihnen
differenzierte Kultur, welche Funktionsgötter er-
I, Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. iaq
zeugt, nicht bestand und daß die politische Gemeinschaft
bei ihnen schlechterdings nichts als nur den kriegerischen Schutz
der Weidereviere und der Eroberungen nach außen zu besorgen
hatte. Vermutlich von Anfang an sind daher gerade diese halb-
nomadischen Stämme, vor allem die Südstämme, die Vertreter
der »Einzigkeit« Jahwes im Sinn der Monolatrie gewesen. Und
von da aus ist diese Auffassung auf die berufsmäßigen Vertreter
derjenigen Funktion übergegangen, welche Jahwe von Anfang
an eigentümlich war: die Kriegspropheten. Das
älteste Dokument, in welchem die Verehrung »neuer Götter«
durch Israel tadelnd erwähnt wird, ist das Deboralied (Jud. 5, 8).
Alle Kriege gegen die Patriziate der StädtC; der kanaanäischen
wie der philistäischen, sind in Jahwes Namen geführt worden ,
und bei solchen Gelegenheiten tauchte bagreiflicherweise jedes-
mal die Auffassung auf: daß eine Bundespflicht der Israeliten
die ausschließliche Verehrung des Gottes sei, der ihnen im Kriege
zu helfen verheißen hatte. Alle nicht weltlichen, sondern pro-
phetischen — männlichen oder weiblichen — Führer in den Be-
freiungskriegen waren Feinde aller anderen Götter oder wurden
es im Kriege. Aber im übrigen ist für die seßhaften, Israeliten
nichts sicherer, als daß sie noch »andere Götter« außer Jahwe
hatten. Und zwar zunächst ganz legaler Weise. Der Besitz
anderer Götter bedeutete ja lediglich den Bestand anderer, dem
Jahwe nicht gewidmeter Kulte, und daß es solche, auch abge-
sehen von den importierten auswärtigen Numina, gab, hat auch
die priesterliche Redaktion der heiligen Schriften nicht verwischen
können ^).
Zunächst berichtet die Tradition von Sippenkulten und Haus-
heiligtümern. David entschuldigt sich beim Opferfest des Saul
mit einem Kultfest seiner Sippe, von welchem die Kultordnungen
Jahwes nichts wissen. Nicht nur Laban ferner, sondern (nach
den Bestimmungen des Bundesbuchs über die Erbversklavungs-
zeremonie und nach der Erzählung über die Flucht Davids aus
seinem Hause) jeder vollversippte Israelit hatte ursprünglich eine >
heilige Stätte im Haus und einen Hausgötzen. Was diese »T e r a-
p h i m« letztlich gewesen sind, ob sie vielleicht identisch waren
mit Masken oder Puppen, welche das Sippen- oder Familien-
^) Ge^cn die sehr prononcierle Ansicht von 1£ e r d m a n s (in den Alttest. -
Studien), wonach manche Teile des A. T. Jahwe überhaupt nicht kennen und spe-
aifisch polytheistisch seien, s. Steuer na gel in der Theol. Rundschau
1908, S. 2\2 f.
1 5ü 3)as antike Judentum,
haupt beim orgiastischen Mimus zu tragen hatte, ist nach Lage
der Quellen vielleicht nicht sicher auszumachen und soll hier
nicht erörtert werden. Wohl aber beweist die Art, wie sie aus den
emendierten Redaktionen verschwinden, daß sie nichts mit
einem (ganz unwahrscheinlichen) »häuslichen Jahwekult« zu schaf-
fen hatten, so wenig wie vermutlich jene Sippen feste. Im einzelnen
freilich bleibt alles unsicher.
Auf recht problematischem Boden befindet man sich ebenso
auch bei der wichtigen Frage, ob und welche Art von Toten-
kult in Altisrael geherrscht hat und inwieweit dessen spä-
teres vollkommenes Fehlen mit dem Zurücktreten der sozialen
und kultischen Bedeutung der vS i p p e n zusammenhängt.
Die geistvollen Konstruktionen eines ursprünglichen Ahnen-
kults in Israel von Stade und Schwally haben der eindringenden
Kritik namentlich Grüneisens nicht standhalten können. Aller-
dings scheint die Totenseele in der altpalästinensischen Magie
einmal eine sehr beachtete Potenz gewesen zu sein. Aber in
der späteren Zeit ist gerade sie eine sehr problematische Figur.
Daß die »Seele« nichts notwendig Einheitliches ist, teilt die
israelitische Auffassung mit sehr vielen anderen, auch mit jener
ägyptischen Vorstellung, welche zum mindesten dem König eine
Mehrheit von Seelen zuschreibt. Ab3r die schon in früher Zeit
die ägyptische Spekulation beherrschende einheitliche Kon-
zeption des »Kai« ist in Israel nicht übernommen und scheint
auch keinen Einfluß geübt zu haben. Die spätere, auf Verschmel-
zung v^erschiedenartiger älterer eigener und einiger vermutlich
übernommener Vorstellungen zurückgehende Auffassung unter-
schied am Menschen dreierlei: i. den Körper (basar), 2. die im
Blut sitzende ^) Seele (nefesch) als Trägerin der normalen
Affekte, der »Individuation« (wie wir sagen würden) und aller
gewöhnlichen Lebenserscheinungen überhaupt und 3. den »Geist«,
den »Lebensodem« (mach). Ruach ist dabei ein von Jahwe
dem Menschen eingeblasener göttlicher Windhauch, durch dessen
Vorhandensein aus dem ganz kraftlosen oder nur vegetativ be-
seelten Körper erst ein lebendiger Mensch wird: »von den vier
Winden her« läßt Jahwe durch ein Zauberwort des Hesekiel
in dessen Vision den Odem kommen, der die über Israels Boden
verstreuten Totengebeine wiederbelebt. Außerdem und vor allem
aber ist nun ruach jene besondere göttliche Kraft, welche, der
^) Im Herzen sitzt der Verstand, in den Nieren die Affekte.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. jci
»mana« und »orenda« entsprechend, als Charisma übsralltäg-
1 icher Leistung im Helden, Propheten, Künstler und umgekehrt
als dämonische Besessenheit in schweren Affekten und außer-
alltäglichen Zuständlichkeiten sich äußert. Nefesch und ruacb
sind in den Quellen nicht immer scharf geschieden. Es scheint,
daß der in der späten Redaktion der Schöpfungsgeschichten
(Gen. i) sich findende Dualismus von lebendigem Gottesodem
(dem »Wehen« der Gottheit) und totem Chaos von phönikischen
Vorstellungen her durch Vermittlung der Intellekt aellenspeku-
lation rezipiert worden ist und die Konzeption eines Dualismus
ruach-basar ermöglicht hat. Dieser kam den feindlichen Ten-
denzen der Priester gegenüber dem Totenkult entgegen. Nach
der späteren Vorstellung kehrt nämlich die mach, als substantiell
den Winden gleich, mit dem letzten Atemzug zum Odem des
Himmels zurück, geht mithin als Individualität unter und
ein Totenreich der Individualseelen fällt damit ganz fort. Das ent-
sprach dem alten Volksglauben keineswegs. Die ursprüngliche
Vorstellung über das Schicksal der nefesch ist zwar nicht immer
ganz klar, ging aber offenbar dahin, daß sie fortbestehe. Einmal,
bei Jeremia, findet sich die auch in Altägypten ursprüngliche
Annahme: daß die Seele im Grabe weile. Dabei handelt es sich
aber um eine Heroine (Rahel) und der Grund jener Vorstellung
war zweifellos, daß in diesem Fall ein alter Grabkult existierte.
Dagegen ein »Ahnenhimmel« der S i p p e n genossen scheint nicht
nachweisbar. Sippengräber finden sich für einzelne vornehme
Geschlechter, noch in der Spätzeit z. B. für die Makkabäer
und, nach der Tradition der Priester, für die Erzväter. Nur bei
seßhaften Stämmen waren solche möglich. Der vermutlich alte
Ausdruck: »zu seinen Vätern versammelt werden« bedeutete
jedenfalls eher: Versammlung zu den gemeinsam beerdigten
Sippengenossen als: in einen besonderen Ahnenhimmel, zumal er
mit dem anderen Ausdruck : »zu seinen Leuten ('am) versammelt
werden« abwechselt, der sowohl Sippengenossen wie Kriegs-
kameraden bedeuten kann. Auch ein Kriegerhimmel ist ge-
schichtlich nicht nachweisbar. Besonders von ihm begnadete
religiöse Helden raffte Jahwe, nach der volkstümlichen Vorstel-
lung, hinweg: sie existieren weiter unter seinen himmlischen
Heerscharen, d. h. (wie in Aegypten nach einer Vorstellung)
im leuchtenden Sternenheer oder vielleicht auch in seinem himm-
lischen Rat, während die korrekte J Ansicht wohl die war:
152
Das antike Judentum.
daß er sie in seinen Armen sanft verlöschen lasse, wie den Mose.
Die nephesch aller anderen aber führt ein Schattendasein im Hade.s,
der »Scheol«. Aus dieser ist nicht, wie in Aegypten, ein Ort
seliger Existenz der Begnadeten ausgeschieden oder eine Chance
der Wiedergeburt eröffnet. »Schlaff« (rephaim), wie bei den
Hellenen, sind vielmehr alle Totengespenster. Allerdings des-
halb nicht ungefährlich. Die Steinigung eines von einem bösen
oder einem mit dem cherem belegten Geist besessenen Menschen
oder Tieres hatte zweifellos den Zweck, seiner unruhigen Toten-
seele den Weg so gründlich zu verschütten, daß sie nicht umgehen
konnte. Während in Aegypten aus ähnlichen Anfängen die
Lehre vom »Kai« entwickelt wurde ^), ist die israelitische Vor-
stellung von der »Seele« durchaus widerspruchsvoll geblieben
Das strenge rituelle Verbot des Blutgenusses wird von der späteren,
deuter onomischen und priesterlichen, Auffassung gelegentlich
damit begründet, daß man die Seele auch eines Tiers nicht essen
dürfe: das gibt bösen Zauber und vielleicht Besessenheit. Aber
eine Lehre von den Schicksalen der Tier- und Menschenseelen
hat sich nicht entwickelt. Im Hades lebte die nephesch nur als
schattenhaftes Abbild des Lebenden, weil sie weder Blut
noch Odem hatte. Man erfährt dort nach der Vorstellung auch
der Psalmisten nichts von Jahwes Taten ur.d kann ihn nicht prei-
sen: das Gedenken ist erloschen. Wie Achilleus wünscht man vor
diesem Schicksal so lange als möglich bewahrt zu werden und
empfindet diese Existenz nicht als ein »jenseitiges Fortleben«.
Vollends weiß man nichts von »jenseitiger Vergeltung«, wie sie
das aus den chthonischen Kulten entwickelte Totengericht in
Aegypten, die Grundlage der dortigen priesterlichen Beeinflussung
der Ethik, darstellte. Spärliche Anfänge einer Tartaroskonstruk-
tion für Uebeltäter finden sich bei späteren Propheten zwar,
sind aber ebensowenig weiter ausgebaut worden, wie bei den
Hellenen und Babyloniern. Der verschwommene Charakter
all dieser Vorstellungen erklärt sich am einfachsten daraus,
daß Scheol sowohl wie nefesch alte Bestandteile des Heeres- und
Volksglaubens waren und daß die Träger des Jahwismus beides
gleichermaßen beiseite ließen, ihrerseits dagegen mit dem anfäng-
^) In Aegypten ist Kai die »Lebenskraft«, also »Seele« und zugleich die
Nahrung, deren die Seele bedarf, um zu existieren. Sie entspricht der nephesch
insofern, als sie es ist, die in das Totenreich geht. (v. Bissing, vSitzb. der Münch.
Ak. d. W. Phil.-hist. Kl. 1911 Nr. 6.)
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 15^
lieh wohl aus der animistischen Wiedergeburtsvorstellung der
Kriegeraskese entnommenen, dann mit dem göttlichen Welt ödem,
dem Winde Jahwes, in Beziehung gesetzten Begriff der »mach«
operierten ^) und kein Fortleben einer »Seele« in einem Jen-
seits kennen wollten ^). Sondern was fortlebte und fortleben
sollte, war bei ihnen etwas ganz anderes: der gute Name ^)
des Helden bestand unter den Kameraden und Nachfahren
weiter. Die Hochschätzung des Namens ist eine typische Beduinen -
Wertung, wie wir sahen. Aber sie herrschte auch in Aegypten.
Wie dort, so bestand auch in Israel die Vorstellung: daß jeder
Name etwas, wie dem Ding, so der Person Wesenhaftes, irgendwie
Reales sei. Daß Jahwe den »Namen« des Frevlers aus seinem
»Buch« austilgen werde, ist Ausdruck für die ihm angedrohte
Vernichtung für immer (Ex. 32, 32. 33 f). Die Bedeutung des
persönlichen Charisma und des Kriegsheldenruhms in Verbin-
dung mit der herrschenden Sippengliederung und Benennung
der vornehmen Sippen nach dem Ahnen als Eponymos wirkte
wohl dahin, diese Vorstellung zu verstärken. Der Name eines
Menschen, den der Gott im Leben sichtbar gesegnet hat,
kann zu einem »Segenswort« werden, welches noch späte Ge-
schlechter als solches gebrauchen. Daß dies seinem Namen ge-
schehen solle, ist die höchste Verheißung, welche Abraham
von Jahwe erhält. Denn in der einzigen alten (jahwistischen)
Redaktion des später (Gen. 18, 18; 22, 18; 26, 4; 28, 14) umge-
stalteten Wortes (Gen. 12, 2. 3) lautet dies dahin., daß Abrahams
Name »ein Segenswort werden« und daß künftig einmal »alle
Geschlechter auf Erden sich mit seinem Namen segnen sollen«.
Das bedeutete an sich nur : daß er selbst und die Seinen ein welt-
bekannt gesegnetes Leben führen werden. Irgendeine »messiani-
sche« Deutung lag ganz fern. Um dieses Werts des Namens willen,
damit der Name in Israel nicht ausgetilgt werde, ersehnte man
große Nachkommenschaft (Deut. 25, 6. 7. 10; Ruth. 4, 5. 10;
i^Sam. 14, 22; 2. Sam. 14, 7) ^). Nicht aber, wie anderwärts,
^) Jedoch schwört Jahwe bei seiner »nephesch«.
*) Aus einer Vermischung der beiden dichDtomischeii Vorstellungen wäre
also die spätere Trichotomic entstanden. Auch Kautzsch, der sich entschieden
gegen die Trichotomie wendet, muß doch im Wesen der Sache ihre spätere Exi-
stenz zugeben.
^) Giesebrecht, Die alttestam. Schätzung des Gottesnamens und ihre
religionsgesch. Grundlagen, Königsberg 1901.
*) Wenn Hieb seine Zuversicht darauf setzt, daß »sein Bluträcher lebe«,
so meint er damit: daß Jahwe seinen durch die Verdächtigungen der Freunde
ICA Das antike Judentum.
um der Totenopfer willen^). Zwar existierten solche. Aber daß
die Opfer für das Geschick des Toten oder für das des Opfernden
selbst besonders wichtig seien, ist wenigstens in den uns zugäng-
lichen Quellen nirgends angedeutet -). Dies Schweigen hängt
wenigstens ursprünglich nicht, wie man wohl glauben könnte,
mit einem bewußten Kampf der Priester gegen eine bereits be-
stehende am Ahnenkult verankerte Macht der Sippen zu-
sammen. Zwar für die spätere Zeit ist der Gegensatz der Wir-
kungsrichtung von Priesterreligion und Sippenmacht, wie sich
mehrfach zeigen wird, unzweifelhaft. Aber er blieb auch dann
wesentlich latent und ist jedenfalls nicht der Ausgangspunkt
der vollkommen fremden Stellung des Jahwismus gegenüber
allem Totenkult gewesen. Denn Sippenmacht und Totenkult
gehen zwar oft, aber nicht notwendig und immer zusammen.
In Aegypten hat der so intensiv wie nirgends sonst gepflegte
Totenkult keineswegs zur Bildung von magisch oder kultisch
augetasteten guten Namen wieder herstellen werde. Den Eunuchen, deren
Zulassung zur Gemeinde — entgegen dem älteren, auf dem Gegensatz gegen die
Königseunuchen beruhenden Verbot — Tritojesaja (56, 4. 5) ausspricht, stellt
er »3inen besseren Namen«, als durch Söhne und Töchter, in Aussicht, wenn
sie die göttlichen Gebote erfüllen.
1) Auch in Aeg3^pten ist es der Name, der fortleben muß, nicht die
Nachkommenschaft des Toten als solche. Der Kult liegt bei den Vermögenden
nicht den Nachfahren, sondern den mit Pfründen bewidmeten Totenpriestern
ob. Die Fortexistenz des Namens aber bedingt die Fortexistenz der Seele
im Jenseits. Gerade diese nahe Verwandtschaft der Auffassung von der Bedeutung
des Namens in Israel mit der in Aegypten beleuchtet das Tendenziöse der Ab-
lehnung aller Jenseitserwartungen und Totenkulte nur um so stärker. — Dem
Mißbrauch des Namens Jahwes entspricht die Strafe (Erblindung), welche
Ptah nach einer Inschrift (im Brit. Mus.) wegen Mißbrauchs seines Namens
verhängt hat. (Ermai, Sitz.b. der Berl. Ak. d. Wiss. Phil.-hist. Kl. 1911, p. 1098 f.)
2) Ed. Meyers oft ausgesprochene Ansicht,' daß die Totenopfer nicht um
der Macht der Toten willen gebracht werden, sondern umgekehrt die Ohnmacht
der Toten zur Voraussetzung haben, die ohne sie nicht bestehen können, ist
einseitig. Es ist z. B. im Allgemeinen ganz richtig, daß sowohl Götter wie
Totenseelen der Opfer bedürfen (wie die homerischen Schatten im Hades
des Blutes). Aber für Aegypten ergeben die Inschriften schon des Alten Reichs
die Macht der Toten. Der Tote stellt dem, der sein Heil verletzt, Rache, dem,
der ihm Gebete und Opfer bringt, Fürsprache bei dem großen Gott oder anderen
Segen in Aussicht. Und der ganze chinesische Ahnenkult, vor allem gerade
die in ihrem Sinn ganz vergessenen Trauerbräuche dort, haben die Macht der
Totenseele zur Voraussetzung. Das Machtverhältnis ist also gegenseitig: der
Tote bedarf der Opfer, aber er hat, wie die Götter, auch die Macht, sie oder ihr
Unterlassen zu vergelten. Durchaus zutreffend ist nur: daß der »Ahnenkult« als
solcher keine universelle Durchgangsstufe der Religion ist. Schon deshalb,
weil — wie Aegypten zeigt — Toten kult und Ahnen kult in keiner Art not-
wendig zusammenfallen.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. jc^
gebundenen Sippenverbänden geführt ^), die dort vielmehr so
vollständig wie fast nirgends sonst fehlten, weil die Patrimonial-
bürok-atie des Fronstaates die Bedeutung der Sippen bereits
gebrochen hatte, ehe der Totenkult seine alles überragende letzte
Ausgestaltung erhielt. Die stark entwickelte alte israelitische
Sippsngliederung andererseits hat doch keinen wirklichen Ahnen-
kult chinesischen oder indischen und auch keinen Totenkult
ägyptischen Gepräges entstehen lassen. Gewiß hatte er sich
aus der hauspriesterlichen Stellung des Familienhauptes und den
Sippenkulten leicht entwickeln können, und wenn er entstanden
wäre, so würde er die Macht und das rituelle Prestige der Sippen
außerordentlich gesteigert und dadurch der Ausbreitung des
reinen Jahweglaubens ernstliche Widerstände bereitet haben.
Die Gastvölkerorganisation hätte dann vielleicht zur Kasten-
bildung führen können. Insofern war es allerdings von nicht ge-
ringer Bedeutung, daß der Jahweglauben offenbar von Anfang
an der Entstehung eines Toten- oder Ahnenkults
ablehnend gegenüberstand^). Denn die typischen An-
sätze zur Entstehung solcher Kulte scheinen bestanden zu haben.
Sicher feststellbar ist ein Kult von wirklichen oder angeblichen
Stammesheroen zwar nicht, aber die Erwähnung von Gräbern
einiger von ihnen macht Kulte wahrscheinlich, die dann von
der späteren Priesterredaktion sehr geflissentlich umgedeutet
wurden. Mehr als die hohe Wertung der Leichenpietät im (apo-
kryphen) Tobit-Buch, die vielleicht persisch beeinflußt ist,
zeigen die Erwähnung der Totenopfer und Trauerbräuche im
Deuteronomium (26, 14) und die Reste der Totenorakel,
daß der Weg zum Totenkult begangen war. Und noch weit mehr
als all diese Spuren spricht dafür gerade die ganz offensichtlich
bewußte schroffe Ablehnung aller dieser Ansätze durch die Jahwe-
religion, welche ihnen die Entwicklung abschnitt. Denn diese
^) Scnon die Toten des Alten Reichs wenden sich in den Grabaufschriften
nicht an die Nachfahren, sondern an jedermann, der ihrem Grabe naht, um GeSete
und Opfer und versprechen jedem, der ihnen willfährig ist, Fürsprache. Der
Totendienst aber wird durch Priesterpfründen gesichert, nicht durch religiöse
Pflicht der Nachfahren.
2) Die Ablehnung der ägyptischen Totenkulte folgte keineswegs schon
an sich aus der Stammfremdheit und der Verschiedenheit der Lebensverhältnisse.
Die ebenfalls stammfremden libyschen Beduinen hatten das gesamte Toten-
zeremoniell der Aegypter übernommen (s. Breastead, Records IV, 669, 726 ff.).
Ebenso wie libysche sind aber auch semitische Beduinen-SchSchs sehr oft in
Aegypten und auch am Hof zu finden. Auch Syrer mit ägyptisclvtheophoren
Namen kamon Anri vor.
j c^ Das antike Judentum.
Gegnerschaft hat einen augenfällig tendenziösen Charakter.
Nicht etwa die Unreinheit alles Toten und alles auch nur indirekt
zum Grabe in Beziehung Stehenden, wie etwa des Trauerbrots,
ist dafür entscheidend. Denn »unrein«, d.h.: Quelle magischer
Befleckung, war der Tote und was ihn anging, auch da, wo er
Gegenstand eines Kults war, z. B. in Aegypten. Daß dem Jahwe-
priester jede Beteiligung an der Totentrauer außer für die aller-
nächsten Angehörigen unbedingt untersagt war, geht aber immer-
hin über das hinaus, was dadurch bedingt wäre. Ebenso die
absolute rituelle Unreinheit aller Vorräte, von denen auch nur
Teile für Totenopfer verwendet oder bei Totenmahlen gegessen
waren : es war geradezu Gegenstand des »negativen Sündenbekennt-
nisses«, welches der Einzelne, wenn er »vor Jahwe erschien«,
abzulegen hatte, daß das zu Opfernde in dieser Hinsicht rituell
rein sei (Deut. 26, 14). Nicht minder die Perhorreszierung
der Totenorakel. Denn sie erfolgte nicht etwa, wie bei manchen
anderen verbotenen Orakelpraktiken, weil sie trügerisch wären,
sondern obwohl sie, wie ja das Beispiel der Beschwörung Samuels
zeigt, wirksam waren und die Wahrheit enthüllten. Nein: sie
waren eine Konkurrenz gegen die von den Jahwepriestern
gehandhabten Orakelformen und entstammten Kulten, welche
für diese offenbar eine gefährliche Rivalität bedeuteten. Neben
einheimischen chthonischen Kulten war vor allen Dingen gerade
der ägyptische Totenkult in der unmittelbaren Nachbarschaft
offenbar ein Feind, gegen welchen die Verpönung alles Totendien-
stes sich richtete^). Die in Palästina zahlreich gefundenen
Skarabäen dienten bekanntlich als magischer Schutz für den
Toten vor dem Totenrichter und machen es sehr wahrscheinlich,
daß die ägyptische Art des Totenkults nicht unbekannt war.
Nichts beweist aber deutlicher das tiefe Unbehagen, mit welchem
die Jahwereligion aus diesem überall spürbaren Gegensatz gegen
die, ägyptische Esoterik und chthonische Mysterien heraus
allen Angelegenheiten des »Jenseits« gegenüberstand, als das
unvermittelte Abbrechen aller scheinbar unvermeidlich dort-
hin führenden Gedankengänge ^) in der ganzen alttestament-
1) Das ausdrückliche Verbot der Selbstverwundung bei der Totentrauer
(Lev. 19, 18) freilich ist gegen Ekstatik und ekstatische Magie gerichtet (s. u).
Die Technik der Einbalsamierung aber war in Israel bekannt: Gen, 50, 2. 3.
*) So in der Vision Hesekiels von den Totengebeinen, deren Wiederbele-
bung durch Zauberwort ausschließlich als ein Machtbeweis Jahwes gewertet
wird. Auch dem 'Ebed Jahwe Deuterojesajas ist nur ein ruhmvolles Zukunfts-
r. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jaluve. i ^7
liehen Literatur mit Einschluß sämtlicher Propheten, Psalmisten
und Legendendichter. Den Propheten (Jes. 28, 15) bedeutet ein
politisches Bündnis mit Aegypten den Bund mit Scheol, das
heißt mit den Totengöttern: das erklärt mit ihre hartnäckige
Feindschaft gerade gegen diese Anlehnung.
Bei all dem hat man nun aber doch den Eindruck, daß der in
Babyloii esoterisch bestehende, durch Astralmythen bedingte
Auferstehungsglaube, der plötzlich im Danielbuch als fertige
Vorstellung hervortritt und nach der Makkabäerzeit (pharisäischer)
Volksglaube wird, auch in vorexilischer Zeit nicht etwa unbekannt
war ^). Die offizielle babylonische Religion weiß freilich von
solchem Glauben ebensowenig etwas wie die israelitische. Der
Tod ist ihr ein unvermeidbares Uebel alles Menschentums. Denn die
Lebenspflanze ist unter der Obhut böser Dämonen tief verborgen
in der Unterwelt, die auch dort ein reines Schattenreich ist. Und
nur vereinzelte Sterbliche sind, wie in Israel, durch Göttergnade
in ein seliges Dasein entrückt. Aber in Israel ist nicht nur ein
Ignorieren, sondern Ablehnung zu spüren. Das ganze Gebiet
des Totenreichs und des Schicksals der Seele blieb der offiziellen
piiesterlichen und prophetischen Religion unheimlich. Bis auf
die Zeit der Pharisäer, welche darin Wandel schufen, operieren
ihre Repräsentanten, gerade die größten unter ihnen, niemals
mit dem in der ägyptischen und der zarathustrischen Religion
heimischen Gedanken einer jenseitigen Vergeltung. Die Pietät
gegen die lebenden Eltei n wird hoch gerühmt und ihr Bruch streng
verpönt, aber von einem Jenseitsschicksal noch so glänzender
Ahnen ist niemals die Rede, obwohl doch die Vergeltung und der
gerechte Ausgleich das war, was die Jahwegläubigen von ihrem
Gott erhofften und obwohl die Solidarität der Sippe mit ihrer
Haftung der Nachfahren für die Sünden der Väter feststand.
In späterer Zeit haben, wie wir sehen werden, die Verheißungen
der Propheten durch ihre Eigenart diese Ablehnung aller indivi-
duellen Jenseitsvergeltung zugunsten dar kollektiven diesseitigen
Hoffnungen mit bedingt. In der Frühzeit aber ist diese für die
Rechtssammlungen wie die Geschichtsschreiber gleichmäßig
charakteristische Ablehnung jeder Jenseitsspekulation, zumal
leben in Aussicht gestellt, wobei aber diese zwischen eschato logischer Persön-
lichkeit und Personifikation gleitende Gestalt offenbar in der zweiten Qualität
in Betracht kommt.
^) Ueber die ganze Frage Beer in der schönen Abhandlung über den bibli-
schen Hades (Theol. Abh. für H. Holtzmann 1902).
j rg Das antike Judentuin.
in der Nachbarschaft des sehr genau bekannten x\egypten, doch
wohl kein Zufall. Freilich : der nächste und unmittelbarste Gegner
waren vermutlich die orgiastischen Kulte der chthonischen
kanaanäischen Numina. Die Aufzählung der verpönten Trauer-
bräuche (Einritzen von Wunden, Kahlscheren des Haupts
und Aehnliches) bei den Propheten (Amos, Jesaja, Micha) und
inderThora (Lev. 19, 28; Deut. 14, i) zeigt auch keine spezi-
fisch ägyptischen, sondern allgemein chthonische Züge. Und mo-
tiviert ist das Verbot (Deut. 14, 2) durch die Beziehung zu Jahwe,
also: kultisch. Jahwe hat eben, so viel bekannt, nie und
nirgends Züge eines chthonischen Gottes
an sich getragen. Immer residiert er auf 'den Bergen oder im
Tempel, nie in der Erde. Niemals wird Scheol, der Hades, als
von ihm geschaffen hingestellt: es ist die einzige unter allen
Stätten des Weltalls, von der dies nicht behauptet wird. Niemals
ist er der Gott der Toten oder eines Totenreichs. Die Kulte der
chthonischen und der Totengötter haben eben überall sehr spe-
zifische Eigentümlichkeiten, von denen sich keinerlei Spur im
Jahwekult nachweisen läßt. Ebensowenig ist er jemals ein
Vegetationsgott oder Gestirngott gewesen: — Gottheiten, deren
Kulte die Auferstehungshoffnungen zu erzeugen pflegen. Dieser
kultische Gegensatz war unzweifelhaft für die Stellung-
nahme der Jahwepriester und Thoralehrer der entscheidende.
Aber mit Totenkulten verbundene Auferstehungsvorstellungeii
waren wohl auch in Palästina nicht unbekannt. Nur die Jahwe -
priesterschaft hatte mit ihnen nichts zu tun und wollte mit ihnen
auch nichts zu tun haben, weil ihre eigenen rituellen Gepflogen-
heiten mit siderischen ebenso wie mit chthonischen Kulten unver-
einbar waren . Und neben dem äußeren Gegensatz gegen Totenprie-
ster und Totenorakeldeuter war wohl auch die Befürchtung, bei je-
den Konzessionen an irgendwelchen Jenseitsspekulationen durch
Kulte von der unermeßlichen Popularität des ägyptischen
Osiriskults, sei es durch diesen selbst oder eine an ihn anknü-
pfende Esoterik von Auferstehungsmysterien, überrannt oder
zurückgedrängt zu werden, für ihr Verhalten maßgebend. Zu-
statten kam ihnen bei der Ablehnung aller Toten- und Ahnen-
kulte wohl auch, daß die durch die Struktur der ägyptischen
Sozialordnung gegebene Verklärung der buch mäßig fixierten
Weisheit der Ahnen als solcher für das alte Israel nicht in
Betracht kam. Ebenso: daß eine eigentliche Adelsentwicklung
1. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 159
mit individueller Ahiienverehrung ausblieb. Denn so wenig ein
schon entwickelter »Ahnenkult« Anlaß der Feindschaft der
Jahwepriester gegen die Trauerbräuche war, so zeigt doch
die Zusammenstellung des Verbotes der Trauerkasteiung durch
Körpereinschnitte mit der Tätowierung (Lev. 19, 28) :
zweifellos einer Tätowierung mit dem vom Stammesvater über-
kommenen Sippen- und Stammeszeichen, daß die Gegnerschaft
im praktischen Effekt auch der kultischen Bedeutung der Sippen
als solcher galt. Der Kampf der reinen Jahwegläubigen gegen
die Entstehung von Kultverbänden der Sippen hinderte seiner-
seits auch wieder die Entstehung eines Ahnenkults, für den Sip-
penverbände ja die Stätte abgegeben hätten. Die Sippenfeste
sind denn auch später durchaus verschwunden.
Dagegen hatte sich der Jahwekult zunächst damit abzu-
finden gehabt, daß im iVckerbaugebiet Palästinas die üblichen
Götter der Ackerbauer: siderische und typische Vegetations-
götterkulte, fortbestanden. Neben den schon vorhandenen oder
importierten phönizischen Kulten (vor allem : Moloch und Astarte)
und mesopotamischen Gottheiten (Tammuz, der Mondgott Sin),
die niemals von den Jahwepriestern anerkannt wurden, scheint
durch die Legende von Jephthas Tochter der Bestand von jähr-
lichen Klageriten um den Tod einer alten weiblichen Vegetations-
gottheit bezeugt zu sein. Diese fremden Götter haben aber auf
die Gestaltung der Jahwereligion keine entscheidende Be-
deutung gehabt und interessieren hier nicht. Denn ihr Einfluß
wirkte zwar in massenhaften Einzelheiten, aber nicht in den für die
grundlegenden Formen der Lebensführung entscheidenden Riten
nach. Mit einer Ausnahme. Die überaus wichtige Institution
des Sabbat^) hängt mit dem Schabattutage des auch in
Babylon herrschenden Mondkults offensichtlich zusammen. Wie
die Etymologie des hebräischen Worts für »schwören«: »sich
besiebenen« zeigt, ist die in Babylonien eingebürgerte Heiligkeit
der Siebenzahl und wohl auch der »Siebengötterschaft« auch in
Palästina alt. Aber die beiderseitige Geltung des Sabbats beruht
schwerlich auf eigentlicher Uebernahme, sondern wohl auf
gemeinsamer Ueberliefcrung. Schon bei den frühesten Erwäh-
1) Ueber den Sabbat vgl. jetzt besonders die sehr präzise Abhandlung
von G. Beer, Einleitung in die Uebersetzung des Mischna-Traktats »Scliabbath«
(in den Ausgew. Mischnatraktaten, herausgeg. v. P. Fiebig, Nr. 5, Tübingen 1908)
S. IG f. Ferner: Hehn, Siebenzahl und Sabbat bei den Babyl. u. im. A. T.
(Leipz. Semit. Stud. II, 5, 1907).
l5o ^^^ antike Judentum.
nungen des Sabbats treten die Unterschiede hervor. . In Meso-
potamien war der Schabattutag streng an den Mondumlauf:
Neumond, Vollmond, später die durch 7 teilbaren Tage des Monats
und den 7 X J. Tag, gebunden. In Israel ging der jeweilig
siebente Tag als Feiertag unbekümmert um die Mondphasen
durchlaufend weiter, obwohl die Heiligkeit des Neumonds auch
dort alt war^) und anscheinend auch für die einstige Heiligkeit
des Vollmonds sich Spuren finden. Vielleicht hat der Name
Sabbat ursprünglich Vollmondtag bedeutet, wie Beer annimmt
und ist erst später auf den »siebenten Tag« (Ex. 23, 12; 34, 21)
übertragen worden. Gemeinsam war mit Babylonien nur die
Verwendung der Siebenzahl, verschieden die Art, wie sie geschah.
In Mesopotamien ferner war der Schabattu in historischer Zeit
ein Bußtag. In Israel war der siebente Tag zunächst offenbar
ganz und gar ein fröhlicher Tag der Arbeitsruhe, an welchem
man andere Dinge als die übliche Berufsarbeit besorgte, nament-
lich auch die Gottesmänner aufsuchte (2. Kge. 4, 23). Wie vor allem
noch die Nehemiachronik (13, 15) zeigt, war ei aber auch der
Tag für die Bauern, zur Stadt, zum Markt und zur Kirmeß zu
fahren ^), ebenso wie die römischen Nundinae and wie der
eine Tag der, in manchen Gemüseländern herrschenden, kürzeren
5 Tage-Woche dort. Die Anklage des Propheten Amos (8, i)
gegen diejenigen Getreideverkäufer, denen der Sabbat, als Ge-
schäftsstörung, zu lang ist, zeigt, daß schon damals die Arbeits-
ruhe wenigstens für die /wie der Zusammenhang ergibt ; stadt-
sässigen, berufsmäßigen) Händler durchgeführt wurde. Schon
die Rücksicht auf die sonst eintretende Begünstigung der Kon-
kurrenz der Gerim hatte dies nötig gemacht (y^\. ganz analog:
Neh. 13, 16 f.). Sklaven und Vieh scheinen nach der aus der
Zeit der Jehu-Dynastie stammenden Prophetenlegende (i. Kön.
4, 22) damals noch nicht, sondern erst in der deuteronomischen
Zeit einbegriffen worden zu sein. Wohl erst damals wurde der
karitative Zweck in den Mittelpunkt gerückt. Seine letzte Stei-
^) Neumonde und Sabbate galten den frühem Propheten als Fest-
tage Jahwes.
2) Meinholds Gedanke (zuletzt: Z. f. A.T. W^iss. 29, 1909), daß der
Sabbat erst im Exil zum Wochentag geworden sei, erscheint deshalb nicht an-
nehmbar. Gerade die in Palästina Gebliebenen kannten offenbar den festen Wo-
chensabbat als Markttag. Aus eben diesem Grunde kann ich auch Beer's An-
nahme, daß der Sabbat gerade und erst im Exil in Babylon zum durchlaufenden
Wochentag geworden sei, nicht teilen.
I. Die isiaelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. i5l
gerung zu dem, neben der Beschneidung, wichtigsten M'_u-kmal
Israels und einer absoluten und dabei rein rituellen Enthaltungs-
pflicht von aller über das rituell vorgeschriebene Maß hinausgehen-
den Tätigkeit erhielt er erst in der Exilszeit durch das Streben
der Priester nach absolut unüb3rsteiglichen »konfessionellen«
Unterscheidungspflichten Israels. Er wurde nun — da die bloße
Tatsache der Beschnittenheit ja keine Gewähr der wahrhaft
gottgefälligen Lebensführung bot — zu einem der wiederholt
und immer pathetischer eingeschärften rituellen Hauptgebote
Israels und stand an Bedeutung neben dem Verbot des Mor-
des, der Idolatrie und des Blutgenusses. Nun erhielt er durch
die Redaktion des Sechstagewerksmythos einen kosmischen
Hintergrund. Der priesterlichen Auffassung dieser Zeit galt
die Verletzung der Sabbatruhe als todeswürdiger Frevel
(Ex. 31, 14 f.). Der Ursprung aber ist sicherlich nicht bei den
Viehzüchtern der Wüste oder Steppe — wo er praktisch undurch-
führbar oder ohne Bedeutung ist und die Mondphasen wenig
wichtig sind — sondern in einem Ackerbaugebiet zu suchen,
wobei dann die Frage, ob es sich bei der Siebenzahl um Planeten-
rechnung oder Vierteilung des Mondumlaufs handelte, sicher
mit Recht zunehmend zugunsten der letzteren Annahme beant-
wortet wird ^) . Daß aber der Feiertag in Israel im Gegensatz
zu Babylonien durchlaufend wurde (oder : blieb) , erklärt sich ein-
fach aus dem stärkeren Vorwiegen der am lokalen Stadtmarkt
orientierten bäuerlichen Wirtschaftsinteressen und Gepflogen-
heiten in Palästina, dagegen des vornehmen astronomischen
Priesterwissens bei den Babyloniern. Hier war die astronomische
Korrektheit rituell wesentlich, bei den Israeliten dagegen war in
der Zeit der Fixierung der Sabbatgewohnheiten das Interesse
der Bauern und Kleinstädter an regelmäßiger Wiederkehr
des Markttages ausschlaggebend. Endgültig hat sich das Durch-
laufen des Sabbats wohl mit der Erstarkung der Marktwirtschaft
durchgesetzt: das spezifische Stadtstaatgesetz, das Deutero-
nomium, erwähnt die alten Mondfeste nicht mehr. Siderische
Korrektheit vermochten die Israeliten aus eigener Kraft doch
nicht zu erreirhcn: man muß sich erinnern, welche Poin eine
^) Budde weist immerhin auf Arnos 5, 26 hin (assyrische Namen des
Saturn). Gegen den Glauben an die große Bedeutung des Mondkults (Sinai-
Name, Namen der Frauen Abrahams) für die Jahwereligion jetzt König, Z. D.
M. G. 69 (1915) S. 280 f.
Max Wcl.er, Rcligionssoziologie III. H
]52 -^^^ antike Judentum.
korrekte Feststellung mancher an sich einfacher astronomischer
Tatbestände noch den Rabbinen der Spätzeit gemacht hat.
Ließ sich der Sabbatritus leicht aus dem Zusammenhang
mit dem Mondkult lösen und der Jahwereligion einfügen, ja
sogar zu einem ihrer rituellen Hauptgebote machen, so bereiteten
auf die Dauer um so größere Schwierigkeiten andere Kulte der
Ackerbauer, welche die Israeliten des Jahwebundes, durch Bei-
tritt ansässiger Stämme und eigenen Uebergang zur Seßhaftig-
keit in ihrer Mitte teils vorfanden, teils übernahmen. Wie in den
Amarnatäfeln die Götter der Chabiru »ilani« genannt werden,
so heißen die Gottheiten der Kanaanäer und der nördlichen
ansässigen Israeliten Elohim, ein Name, der hie und da viel-
leicht auch für israelitische Götter noch als Plural verstanden
wurde — das Attribut wird, öfters in den Plural gesetzt — , in
der gegenwärtigen Redaktion aber, wenn von israelitischer
Religion die Rede ist, durchweg als eine Einzahl gedacht ist.
Davon scheint allerdings gerade eine Stelle im vBundesbuch«
(Ex. 22, 8) eine Ausnahme zu machen und ebenso scheinen die
grammatischen Verhältnisse bei den Anreden Abrahams an die
göttliche Epiphanie der drei Männer es wahrscheinlich zu machen,
daß die Einzahl der Anrede eine polytheistische Auffassung als
Quelle nicht ausschloß. Der Plural als Bezeichnung eines prä-
eminenten und zugleich abstrakten in der Ferne des Himmels
thronenden höchsten Wesens war gerade im benachbarten
Phönizien, aber anscheinend auch in Palästina verbreitet ^)
und im späteren Sprachgebrauche Babyloniens ist der Plural
»ilani« ebenso wie Elohim in Israel Bezeichnung der »Gottheit«.'
Trotzdem bleibt wahrscheinlich, daß eine Pantheonbildung
irgendwelcher Art dem Ausdruck ursprünglich zugrundelag.
Aber namentlich Hehn hat glaublich gemacht, daß schon
die Einwanderung der Israeliten die Bezeichnung als Koliektivum
für die »Gottheit« oder den »höchsten Gott« vorfand. Für die
Jahweverehrer stand naturgemäß die Suprematie des Bundes-
1) Baumgärtel, Elohim außerhalb des Pentateuch (Beitr. z. Wiss.
V. A. T. 19, 1914) weist nach, daß Elohim als Gottesname vom Richterbuch
zu den Samuel- und weiter zu den Königsbüchern an Häufigkeit abnimmt,
im zweiten und dritten Psalmen- Komplex und im Koheleth-Buch durchweg,
bei den Propheten fast nie gebraucht wird und daß die offenbar sprichwört-
lichen Wendungen mit »Elohim« altkanaanäisches Sprachgut sind. Der Ge-
brauch in späten Schriften hat natürlich in der Scheu vor dem Tetragrammaton
seine Ursache.
I. Die israelitische Eidgenbssenschafl und Jahwe. 163
gottes Jahwe fest. Er war ihnen »Elohim«, weil er ihre »Gott-
heit« schlechthin war^). Dies fand in der Stellung des höchsten
Himmelsgottes in Babylonien und den von dort beeinflußten
Gebieten eine Parallele, und der Brief des Kanaanäers Achijam
bezeichnet (15. Jahrh.) den höchsten Gott als »Bei ilanu«, »Herr
der Götter«. Mit solchen höchsten Himmelsgöttern wurde Jahwe
naturgemäß besonders leicht verschmolzen. Er heißt noch in rela-
tiv späten Stellen ein »Gott der Götter«. Die Erinnerung dar-
an, daß dies einst ihm gegenüber selbständige Götter waren > lebt
außer in zornigen Bemerkungen des Jesaja gegen die Elim auch in
den Namen einiger von ihnen und der offensichtlich nachträglichen
Identifikation mit Jahwe fort. Den »höchsten Gott«, El eljon
— nach andern Nachrichten wohl ein phönizischer Name für den
Himmelsgott an der Spitze des Pantheon — läßt eine freilich
in der jetzigen Redaktion späte Tradition zu Abrahams Zeit
in Jerusalem (?) durch den Priester könig Malkisedek verehrt
werden und den gleichen Ausdruck wendet Abraham dann für
Jahwe an 2). Die alte Bezeichnung El Schaddaj; nach Delitzsch
mit Shadu: (babyl.) Berg, zusammenhängend, bezeichnet
das gleiche ^). Andere himmlische Wesen galten der späteren
Auffassung als ihm untergeordnete Boten und Helfer. Aber ur-
sprünglich waren sie sicherlich auch ihrerseits Götter, wie wieder-
um die überaus schwankende Behandlung der drei Gestalten
der Epiphanie bei Abraham im Hain Mamre Und ebenso aie bei
göttlichen Ratschlüssen in der Genesis sich öfter findende Selbst-
bszeichnung »wir« zu zeigen scheint. »Die Kinder der Elohim«
finden in dem verstümmelten alten Titanenmythos (Gen. 6)
Gefallen an den Töchtern der Menschen und zeugen mit ihnen
dieNephilim (Nuni.4, 13), die Giganten (der großen Sternbilder),
von denen die Enaksöhne (Num. ebenda), und jene Ritter (gib-
borim) der verschollenen kanaanäischen Urzeit abstammten,
gegen welche die Ahnen zu kämpfen hatten und welche nach
dem ursprünglichen Zusammenhang der Himmclsgott in der
^) Helui a. a. U. (etwas abweichend und meines Krachtcns niclit ganz unbe-
denklich formuliert).
^) Späte Quellen, so der Sirachide und gelegentlich die Psalmen und das
Danielbuch, kennen —wohl mit Rücksicht auf eine Proselyten-Umwelt — wieder
den »höchsten« Gott. (Hehn a. a. O.)
^) Bei Hiob {5, 17; 8, 5) wird es mit TiavioxpocTcop übersetzt. Die
Priester-Rezension der Genesis verwendet es zum Zweck der Identifikation der
alten ephraimitischen El-Kulte mit dem späteren Jahwekult.
ißA Das antike Judentum.
Sintflut vernichtete. Das Sternenheer, sahen wir, war im Debora-
Hed in Nordisrael der Kern jener himmlischen Gefolgschaft
von der Jahwe auch später in den prophetischen Visionen um-
geban ist. Numina, welche mit Jahwe nicht identisch scheinen,
lauern den Helden auf und eine solche Gottheit wird von Jakob
im Ringkampf bezwungen. Direkte Einwirkungen der Echnaton-
schen Sonnenreligion auf die Jahwereligion sind sehr unwahr-
scheinlich, schon weil die ohnehin unsichere Propaganda in Pa-
lästina^) sicher wenig intensiv war und weit zurücklag. Die
nordisraelitische abstrakte Gottesbezeichnung »El« ^) ent-
spricht dagegen der babylonischen und die Verehrung des höch-
sten Gottes auf dem Garizim und anderen Bergeshöhen dem
babylonischen Versuch, durch Verehrung auf riesigen Terrassen-
türmen dem Himmelsgott so nahe wie möglich zu sein.
Fast alle diese vorderasiatischen Götter hatten astralen
und meist zugleich vegetativen Charakter und waren einander
sehr ähnlich ^). Wie überall war bei ihnen die Entwicklung
zur Personalität erst allmählich eingetreten : ursprünglich war
der Sternengeist von dem Stern selbst nicht zu trennen *)
und erst Funktionsgötter der Kultur, wie z. B. der babylonische
Schreibergott Nabu, waren von Anfang an ganz persönlich auf-
gefaßt. Aber eine gewisse Neigung zum Zurückgleiten ins
1) Daß der König (Echnaton) »seinen Namen für ewig auf das Land (Jeru-
salem) gelegt hat« (Amarnataf ein), bedeutet nicht, wie geglaubt worden ist, daß
dort solarer Monotheismus bestand, sondern: politische Herrschaft.
2) Greßmann (Z. A.T. W. 30, 1910, S. i f.). vertritt die Ansicht, daß die
»Elim« die Götter der halbnomadischen Stämme im Gegensatz zu den Baalim-
den Göttern der ansässigen Ackerbauern, gewesen seien. Dafür spricht in der
Tat sehr vieles. Zunächst, daß der Name »Baal« in den ganzen Erzvätergeschich-
ten, überhaupt in der Genesis, nie vorkommt. Dann die Natur der Sache, welche
Baal als »Herrn« des Ackerbodens erscheinen läßt, und die zweifellose Beziehung
zu den Baalen der Küstenstädte, vor allem Phöniziens, während El nach Osten
weist, wo die Nomadenstämme zwischen Mesopotamien und Syrien hin- und
hcrwechselten. Die Bezeichnung der Chabiri-Götter als »ilani« läßt sich dagegen
eher für das Gegenteil anführen: der Name muß darnach den ansässigen Be-
wohnern ebenfalls bekannt gewesen sein. Und ebenso ist »El eljon« doch wohl
ein Gott eines Kulturvolks. In jedem Fall aber scheint die These fachmänni-
scher Erwägung wert, da sie der Konstruktion des Priesterkodex über die
vormosaische Gottes Verehrung bei den Erzvätern (El schaddaj) ihr Recht geben
würde.
8) Luther bei Ed. Meyer (Die Israeliten usw.) nimmt an, daß zu Davids
Zeit die Baal- Kulte kanaanäische Bauernkulte (also wohl orgiastischen Charak-
ters) waren, die El-Kulte an Bäumen und Hainen hafteten, der Jahwekult in
Gibeon ( ? ) und Silo Kult des Kriegsgottes war.
*) So Hehn a. a. O. in Uebereinstimmung mit D h o m m e , La relig.
babyl. et ass3''r.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. ißc
Unpersönliche blieb an den meisten haften; gerade die höchsten
Himmelsgötter (so Anu in Babel) waren überall abstrakt und
dem Volkskult fremd. Ueberall bestand die Neigung zum
Synkretismus und zur Erhebung des Sonnengottes zum höchsten,
in den Augen der Intellektuellen im Grunde einzigen Gott. Davon
finden sich aber in Palästina nur dürftige Spuren, wenn schon
die Elohim-Abstraktion immerhin auf diesem Wege gelegen
hatte.
Die wichtigste mit Jahwe wirklich konkurrierende Gottes-
konzeption war vielmehr kanaanäischeU; stark phönizisch be-
einflußten Ursprungs und gehörte einem Typus an, welcher
in der entwickelteren babylonischen Religion schon stark um-
geformt war. Es ist der Baal- Typus. Der ursprüngliche
oder richtiger : der zur Zeit der Okkupation herrschende Sach-
verhalt war der: daß ein besonderer Gott der »Herr« über be-
stimmte Dinge oder Vorgänge der Natur oder des sozialen Lebens
war, so wie sich das in primitiver Form über die ganze Erde
verbreitet bei Naturvölkern findet und so wie etwa der indische
»Gebetsherr« oder die altchinesische Landesgottheit es auch war.
Dinge oder Vorgänge »gehören« dem betreffenden Baal sowie
einem Menschen ein Stück Land oder Vieh oder ein von ihm
monopolisierter »Beruf« gehört. Daraus entstehen vor allem
zwei Kategorien von Göttern. Einmal Funktionsgötter, wie viel-
leicht der »baal berith« einer war. der »Bundesherr«, der für Bun-
desschlüsse »kompetent« war, sie schützte und ihre Verletzung
rächte. Oder der baal zebul von Ekron, der »Herr« der Pest
verbreitenden Fliegen. Oder der »Herr« der Träume oder des Zorns
usw. — Andererseits: Götter, denen der fruchttragende Boden,
gehört: die »Lokalgötter« in diesem spezifischen Sinn. Während
der israelitische Bundesgott Jahwe ein Gott der personalen
Volksgemeinschaft war, ähnlich dem Bei des assyrischen Krie-
gervolkes, aber noch mehr nach Art eines Heerkönigs geartet,
war der palästinische Baal eines Orts der Herr des Landes und
all seiner Erträgnisse nach Art eines patrimonialen Grundherrn,
ähnlicher dem babylonischen Bei, dem Herrn der fruchtbaren
Erde. Wir werden später die große rituelle Bedeutung dieses
chthonischen Charakters wenn auch sicher nicht aller, so doch
der praktisch wichtigsten Baal-Kulte kennen lernen. Dem Baal
gebühren die Erstlinge aller Früchte vom Boden, Vieh, Menschen,
die von diesem Lande leben : — was die Priester auf Jahwe über-
j55 ^^^ antike Judentum.
tragen haben, dem das ursprünglich unbekannt war. Das reli-
giöse Motiv der früher erwähnten Pflicht, das Land nicht ganz
abzuernten (Lev. 19, 9 und 23. 22) ist wie die Motivierung :
»ich bin Jahwe euer Gott« beweist, aus jenem Vorstellungs-
kreis entnommen. Jene nicht unbedingt gegensätzliche, absr
doch abweichend gerichtete Vorstellung: Gott der Personal-
gemeinde einerseits, des Ortsverbands andererseits, Himmels-
gott dort, Erdgott hier, lag zwischen den Konzeptionen von Jahwe
und Baal. Im kanaanäischen Lande ist die zweite, aus der Stadt -
sässigkeit und patrizischen Grundherrlichkeit unmittelbar fol-
gende, Vorstellung sicher sehr alt. Jede Stadt hatte ihre eigenen
Lokalgötter dieses Gepräges. In der Amarnazeit klagen die Statt-
halter dem König, daß die Stadtgottheiten, durch deren Huld
der Pharao Herr der Stadt sei, die Stadt verlassen haben und des-
halb diese den Feinden verfalle. Die Israeliten scheinen einer
ganzen Anzahl von Göttern mit Sondernamen, so dem unter
einem Stierbild verehrten Hadad, den Baal-Namen beigelegt zu
haben, ebenso dem unter der Omriden-Dynastie importierten
phöni zischen Milk oder Melkart. Jedenfalls war die wichtigste
mit Jahwe konkurrierende, weil funktionell sehr universelle
Gestalt der Baal des Orts, der Eigentümer des »Landes« in
wirtschaftlichem und politischem Sinn. Bei friedlicher oder ge-
waltsamer Angliederun g von Städten an Israel verblieben diese
Baale natürlich im Besitze der Stadt und ihrer Heiligtümer.
Nach der ursprünglichen Vorstellung tat das dem großen Bundes-
kriegsgott keinen Abbruch. Irgendwie freilich mußte seine Stel-
lung zu ihnen mit seinem steigenden Prestige reguliert werden.
Er konnte entweder als Himmelsgott an die Spitze eines Pantheon
treten, und derartiges scheint in der Elohimbenennung nachzu-
klingen. Er geriet dann freilich in Gefahr, wie alle solche höchsten
Himmelsgötter zu verblassen, wo imm^r er keine dauernde Kult-
stätte für Alltagsbedürfnisse hatte. Die Baale blieben dann
Herren der lebendigen Kulte. Oder er wurde einfach mit den
Baalen identifiziert oder in der. Verehrung irgendwie mit ihnen
verbunden. Bis in die Zeit nach dem Exil ist Jahwe sogar mit
ganz fremden Göttern zusammen in einem und demselben Tempel
von Juden mit der größten Unbefangenheit verehrt worden *),
1) Dies war in Syene nach den Papyri in der dortigen, nach den vielen ephrai-
mitischen Namen zu schließen, aus Nordisrael stammenden Gemeinde (Bacher
J. Q. R. XIX, 1907, S. 441) der Fall. (Näheres darüber beiMargolis J. Q. R. N. S. 2
(1911/12) S. 435: die Opfergaben Averden unter Jasu, einen Gott und eine
Göttin verteilt.
1. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jaliwe. ißj
Bei einer Kombination mit dem Lokalgott Baal mußte dann
in Zeiten friedlichen Gedeihens naturgemäß mehr der Baal,
in Zeiten großer Kriegsnot mehr der Jahwe in der Mischgott-
heit (oder in der kombinierten Verehrung) hervortreten ^). Das
ist tatsächhch geschehen und erklärt die Erscheinung, daß die
später gegen Baal eifernden puritanischen Jahwepropheten
gerade in Zeiten friedlichen Gedeihens den schwersten Stand
hatten, daß dagegen jeder Nationalkrieg und jede fremde Be-
drückung und Bedrohung sofort Jahwe, dem alten Gott der Schilf-
meerkatastrophe, zugute kam. Für große Zeiträume darf aber
ein friedliches Nebeneinander mit sehr starkem, aber nicht als
Gegnerschaft gegen Jahwe aufgefaßtem Hervortreten der Baale
angenommen werden. Auch bei gefeierten Helden Nordisraels
finden sich Namen mit Baal: So namentlich Jerub-Baal, der
dann als Kriegsheld Jahwes ganz charakteristischerweise einen
neuen Namen (Gideon) erhielt; ähnlich noch Söhne des gut
jahwistischen Königs Saul, deren Namen die spätere Tradition
charakteristisch verändert hat.
Infolge der häufigen Identifikation mit lokalen oder funk-
tionellen Baalen nahm der Jahwekult auch deren kultische
Attribute an. Vor allem: die Kultbilder. Der ursprüngliche
israelitische Bundeskult ist nach Ausweis der Tradition und auch
der Ausgrabungen mit höchster Wahrscheinlichkeit als b i 1 d-
1 o s anzusehen und war offenbar in dieser Form übernommen
worden. Dies war freilich gewiß nicht das Produkt irgendeiner
spekulativen »Höhe« der alten Gottesvorstellung. Sondern ge-
rade umgekehrt eine Folge primitiver Kultmittel, welche, bei
der hohen Heiligkeit des alten Bundeskriegsrituals, besonders
früh und definitiv stereotypiert wurden. Der Gott blieb einfach
deshalb bildlos, weil er es in der Zeit seiner Rezeption infolge des
materiellen Kulturstandes der Gegend, in welcher er rezipiert
wurde, noch war. Aus dem gleichen Grund schreiben die ältesten
Rechtsbücher einen einfachen Altar aus Erde und unbehauenen
Steinen vor, wie er damals dort gebräuchlich war. Die Erhal-
tung dieser Bildlosigkeit auch in Zeiten entwickelter Kunstübung
ist durchaus nichts dem Jahwekult Spezifisches. Sie ist vielfach,
*) Für die Ausländer scheint bei dem durch berith festgelegten nationalen
Charakter Jahwes Baal in der Mischgottheit die Hauptrolle gespielt zu haben.
In Aegypten findet er sich, wie W. Max Müller nachweist, als kriegerischer auf
Bergen wohnender fremder Gott rezipiert, also mit Zügen, die sicherlich
nicht seinem Bild, sondern dem Jahwe ^ entstammen.
j^^ Das antike Judentuin.
z. B. bei manchen fiühhellenischen und altkretischen Kulten
nachweisbar und findet sich auch bei den, ebenso wie Israel,
von Babylon her beeinflußten Iraniern. Entscheidend für ihre
Erhaltung an einigen der wichtigsten Kultstätten waren zweifel-
los die dortigen althergebrachten und um dieses Alters willen
besonders heilig gehaltenen Kultformen, welche die Rezeption
von Ikonen erschwerten : die Scheu vor bösem Zauber im Fall
der Aenderung. Der israelitischen Entwicklung spezifisch oder
wenigstens in annähernd ähnlicher Art nur noch der von ihr be-
einflußten islamischen und teilweise der zarathustrischen ähn-
lich war nur die Penetranz der Wirkung, Anderwärts beschränkte
sich die Verpönung der Bilder auf einige Kult orte oder auf die
betreffenden Götter und ließ der Kunstübung im übrigen inner-
halb wie außerhalb der religiösen Sphäre freien Raum. In Israel
wurde Jahwe zum einzigen Gott und haben die Vertreter des
bildlosen Kults nicht nur, gleichzeitig mit Steigerung dieser An-
sprüche Jahwes auf Monolatrie, die Verpönung der Bilder Jahwes,
sondern die Verwerfung aller bilderartigen Paramente vertreten
und diesen Standpunkt schließlich bis zu einem Grade gesteigert,
welcher aller Ausübung bildender Kunst sich nahezu prinzipiell
feindselig gegenüberstellte, wie dies das zweite Gebot in seiner
endgültigen Formulierung tat. Das ist für die Unterdrückung
der Kunst Übung und des Kunstsinns im späteren Judentum
von größter Tragweite gewesen. Diese letzte ganz radikale
theologische Konsequenzmacherei war indessen* erst ein Pro-
dukt des priesterlichen Strebens nach absolut wirksamen rituellen
»Unterscheidungsgeboten«. Sie findet sich in den älteren Quellen,
wo ja sogar zweifelhaft ist, ob der jahwistische Puritanismus
nur Gußbilder, die Produkte städtischer Kultur, oder auch (oder ;
gerade) Schnitzbilder oder alle Bilder verpöne — die drei »De-
al oge« befinden sich da untereinander im Widerspruch — und
wo die Kunstfertigkeit der Paramentenhandwerker als göttliches
Charisma galt, noch in keiner Art. Sie wuchs erst im Verlauf
des überaus heftigen Kampfs, den die Vertreter des alten bild-
losen Kults gegen die auf dem Kulturboden Kanaans entstandenen
Jahwebilder und anderen Kultparamente zu führen hatten, zu
dieser Schärfe empor. Die Art dieser Paramente ist durch die
spätere Tradition stark verwischt. Insbesondere nimmt das
Ephod^) eine unbestimmte Stellung ein. Wie bei den
*) Unter den neueren Bearbeitungen vgl. S e 1 1 i n in der Nöldeke-Fest-
schrift (1906).
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. i^Q
Teraphim ist bei ihm nicht sicher auszumachen, was es ursprüng-
lich war. Der gelegentlich behauptete phallische Charakter ^)
ist schwerlich erweislich. Manche Nachrichten könnten anneh-
men lassen: ein Bild, andere: ein Umhang mit Tasche für die
Orakeltafeln, noch andere: ein Bekleidungsstück. Eine Aende-
rung des Sinnes unter dem Einfluß der späteren Auffassung
des bildloscn Kults ist sehr möglich. War es anfänglich ein
bildartiges Parament, so ist es dem ursprünglichen Kult Jahwes
vermutlich fremd gewesen. Die Nachricht, welche am meisten
diese Deutung nahelegt, ist nordisraelitisch. Ob das »Stiftszelt«
Jahwes mehr als eine spätere theoretische Konstruktion war,
kann hier dahingestellt bleiben. Denn weit wichtiger und ein
spezifisches Parament des bildlosen Jahwekultes war die trag-
bare »Lade Jahwe s«.
Ob diese Lade, wie namentlich Ed. Meyer annahm, ursprüng-
lich ein Fetischkasten und also ägyptischen Ursprungs oder ob
sie, wie M. Dibelius ^) wahrscheinlicher gemacht hat, ursprüng-
lich ein kastenförmig aussehender Himmelthron und also vorisrae-
litisch-palästinischen Ursprungs war, ob sie, wenn dennoch ein
Kasten, ursprünglich einen heiligen Stein, vielleicht mit Runen,
enthielt oder — wie das Schwally nach Analogie eines islamischen
Feldheiligtums (des Machmal) annimmt — von Anfang an ein leerer
Kasten war, in welchen man den Gott gebannt hatte, wird wohl
nie sicher auszumachen sein. Jedenfalls hat aber Dibelius es
aus den ältesten Nachrichten (Num. lo, 35. 36 in Verbindung
mit I. Sam. i, lo und 4, 4 und dem Bilde des Jeremia 3, 16)
höchst wahrscheinlich gemacht, daß sie in der Zeit der Befrei-
ungskriege gegen die Philister ein kerubengeschmückter Sitz
sein sollte, auf welchem Jahwe unsichtbar thronte und den man
in Kriegsnot auf einem Wagen in das Lager fuhr. Jahwe wurde
dann vor der Schlacht durch eine rhythmische Anrufung auf-
gefordert, sich gegen die Feinde zu erheben, nach dem Siege eben-
so, wieder Platz zu nehmen (Num. 10, 35. 36). In der (späten)
Samuellegende erscheint Jahwe als in oder wohl auf der Lade
im Heiligtum lokalisiert. Das ist vielleicht Produkt späterer
Auffassung aus der Zeit der vollen Seßhaftigkeit, — obwohl das
Nebeneinanderstehen logisch unvereinbarer Vorstellungen vom
*) Foote, Journ. of Bibl. Lit. 21, 1902.
=•) Die Lado Jahwes (Forsch, z. Rel. u. Lit. des A. T. J. Gott. 1906). lieber
len bildloscn Kult auf Kreta A. f. Rcl.-W. VIT S. 117 f.
I/O
Das antike Judentum.
Gott an sich häufig ist. Der Glaube, daß Jahwe im Krieg auf der
Lade unsichtbar throne, war mit der Ansicht, welche z. B. da?
Deboralied von seinem Herbeistürmen vom Sitz auf dem Wald-
ge"birge Seir hatte, nicht gleichartig, aber vielleicht nicht absolut
unvereinbar. Es ist jedenfalls wohl kein Zufall, daß die Perser,
— wie die Israeliten ein bergsässiges Nachbarvolk wagenkämpfen-
der Ebenen Völker — nach Herodot (7, 40) ebenfalls ihren unsicht-
baren Gott Ahuramazda auf einem Wagen mit in den Krieg
führten ^) . Man wollte ursprünglich wohl den wagenfahrenden
Kriegskönigen und Idolen der Feinde den wagenfahrenden Him-
melskönig entgegenstellen. Leere Götterthrone sind von Reiche!
mehrfach, auch im hellenischen Gebiet, nachgewiesen. Ein Gott,
dessen von alters überkommener Kult b i 1 d 1 o s war, mußte
eben ein — normalerweise — unsichtbarer sein und eben
aus dieser Unsichtbarkeit seine spezifische Dignität und Un-
heimlichkeit speisen. Auch hier war die rein historisch gegebene
Form des Kults des Bundesgottes der Anlaß für jene S p i r i-
t u a 1 i s i e r u n g des Gottes, die durch eben jene Qualitäten
nicht nur ermöglicht, sondern sehr nahegelegt wurde. Die Lade
ist in der Tradition an Silo und das alte elidische Priestergeschlecht
dort gebunden, also nordisraelitisch. Ebenso ist sie sehr intim
mit der Qualität Jahwes als Kriegsgottes und Herren der Heer-
scharen (Zebaoth) verknüpft. Indessen weiß das Deboralied
und die Kriegsgeschichte vor der Philisterzeit nichts von ihr
und auch damals ist ihr Auftreten ephemer, so daß Zeit, Anlaß
und Umfang ihrer ursprünglichen Anerkennung als jahwistischen
Kultparaments und Kriegswahrzeichen unsicher bleiben. Zur
»Bundeslade«, also dem Behältnis der Gesetzestafeln, hat sie erst
die deuteronomistische Theologie gemacht, welcher die an die Lade
anknüpfende, den Gott in ihr oder auf ihr lokalisierende Gottesauf-
fassung nicht mehr zusagte. Jedenfalls war die leere Lade und
ihre Bedeutung ein Symptom und wohl auch ein Anlaß jener rela-
tiven Spiritualisierung dieser anthropomorphen Gottes Vorstellung,
• wie sie durch die Tatsache der Bildlosigkeit des Kults unmittel-
bar bedingt wurde. Der Sitz des Bundesgottes auf dem Waldge-
birge Seir war selbstverständlich ganz ohne Bilder und Tempel,
von denen keine Spur bekannt ist. — Die Hiskia-Annalistik ergibt,
daß ein Schlangenstab, die sogenannte eherne »Schlange«,
^) Auch die höchsten babylonischen Götter wurden anscheinend nicht
in Idolform auf ihren Thron gesetzt, sondern, statt ihrer, Symbole (so Anu, Enlil).
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jalnve. j*?!
ZU den — im Gegensatz zu den salomonischen Prachtgeräten
— auf Mose zurückgeführten und, weil unverstanden und ätio-
logisch legendär gedeutet, offenbar wirklich alten Paramenten
des späteren jerusalemitischen Kults gehört hat. Mose wird in
der Tradition auch als therapeutischer Wundertäter behandelt,
insbssondere als Retter aus einer Pestnot. Das würde dazu gut
stimmen, daß zu Jahwes spezifischen Kampfmitteln gegen seine
Feinde auch die Seuchen gehörten. Nach einer angesichts der
ätiologischen Sage naheliegenden, aber natürlich nicht erweislichen
Annahme wäre der Schlangenstab ^) ein Emblem solcher
Jahwepriester gewesen, die Medizinmänner waren und später
verschwunden sind. — Damit sind aber die eigentlich alten jah-
wißtischen Paramente erschöpft.
Als nun mit der intimen Vermengung Jahwes und Baals
der Bilderdienst des Kulturlandes in den nordisraelitischen
Jahwekult eindrang, wurde Jahwe namentlich als Stier, also
wohl als der Fruchtbarkeitsgott der Ackerbauer, dargestellt.
König Jerobeam, der einen Jahwenamen trägt und einen Jahwe -
Propheten auf seiner Seite hatte, wurde es zum Verdienst ange-
rechnet 2), daß er, zum Zweck der Emanzipation von Jerusalem,
an einigen nordisraelitischen Kultorten Jahwes vergoldete
Stierbilder aufrichtete, eines davon in Dan, einer als besonders
korrekt geltenden, von einem angeblich von Mose abstammenden
Priestergeschlecht geleiteten Kultstätte. Von den nordisraeli-
tischen Propheten unter den Omriden, Elia und Elisa: rück-
sichtslosen Gegnern der unter phönizischem Einfluß sich stark
entwickelnden Baalkulte, ist nicht die geringste Einwendung
gegen den offenkundig bestehenden Gebrauch solcher Jahwe-
bilder berichtet. Aber allerdings kann es kaum zweifelhaft sein,
daß von dem damals eröffneten Kampf gegen die durch aus-
wärtige Prinzessinnen und Bündnisse importierten fremden
Kulte, die sämtlich Idolkulte waren, der Kampf gegen die Idole
als solche auch innerhalb des Jahwismus seinen Ausgang nahm.
Er konnte anknüpfen an jene im Lande bestehenden Kultstätten,
an welchen Jahwe ebenso wie zweifellos an den alten außerisraeli-
tischen Kultorten der Wüste, bildlos verehrt wurde. Die Priester
^) Auch der phönikische Arztgott Eschmiui hat ein Schlangensymbol.
^) Der angebliche Zorn des Propheten A'iia (i. Kön. 14) darüber ist spätere
Legende. Den wirklichen Grund der Gegnerschaft der Leviten zeigt i. Kön. 12,
31 se'ir klar: die Anstellung von Plebejern als Priester.
j ^2 ^^s antike Judentum.
dieser Kultstätten mußten geneigt sein, allein diese Form als
korrekt anzusehen und konnten die mit steigender äußerer Be-
drängnis steigende Sorge um die Korrektheit des Jahwekultes
in der Form, wie sie in der Zeit der alten Siege Israels gewesen war;
für sich mobil machen. Wo die Lade Jahwes das allerheiligste
Kultobjekt bildete, und das war bis auf David in Silo, kann von
jeher nur bildloser Dienst bestanden haben. Daß in Jerusalem
seit der Ueberführung der Lade dorthin der Dienst zunächst
ganz bildlos war, ist ebenfalls kein Grund zu bezweifeln. Die
Tradition läßt aber erkennen, daß die heilige Lade vor der
Gründung des Kultstätte in Jerusalem durch David längere Zeit
halb vergessen in einem Privathaus gestanden hatte, nachdem
die Philister sie in der Schlacht genommen und vermutlich Silo
zerstört hatten. Es hatte daher wahrscheinlich einen ersten ent-
scheidenden Wendepunkt zugunsten der Machtstellung des
bildlosen Jahwekults bedeutet, als David durch Ueberführung
gerade dieses Wahrzeichens der bildlosen Verehrung des Bundes-
kriegsgotts diese zur Kult form der Königsresidenz machte.
Ihm hatte vermutlich der Bund mit den elidischen, aus Silo
vertriebenen, Priestern von Anfang an die Stütze gegen den zwar
jahwistischen, aber nordisraelitisch, an der kombinierten Jahwe-
Baal- Verehrung, orientierten Saul gegeben. Dafür richtete dieser
unter jenen Priestern ein berüchtigtes Blutbad an, welches ihm die
Tradition mit einem noch in der heute vorliegenden Fassung
nachwirkenden Haß vergolten hat. Der Süden wurde nun das
Zentrum des Glaubens an die alleinige Korrektheit der bildlosen
Verehrung. Der salomonische Tempel bedeutete zwar schon an
sich einen Rückschlag * gegenüber diesem puritanischen Kult.
Nicht nur trug er, wie es scheint, einen Weihespruch, der auf
Sonnenverehrung, wie sie bei vielen Dynastien über die Erde hin
als Königskult verbreitet war, schließen läßt : — später wird auch
ein Sonnenwagen mit Rossen erw ahnt — , sondern er verstieß auch
offensichtlich gegen die alte Vorschrift, Jahwe auf einem ein-
fachen Erdaltar ohne behauene Steine zu verehren. Der späteren
Forderung absoluter Meidung ikonenartiger Paramente hat er
zweifellos in vielen Einzelheiten nicht entsprochen. Der Sturz
des Elidenpriesters Abjathar hängt wohl mit jenen Neuerungen
des an Aegypten und Phönizien orientierten Fronkönigtums
zusammen. Aber damals standen offenbar nicht sie im Mittel-
punkt des Interesses. Der eigentliche Kampf dagegen begann
l. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. ly^
irst weit später. Als längst die allerverschiedensten Paramente
als Anklänge an auswärtige Kulte verdächtig geworden waren,
ist doch eine prinzipielle Opposition gegen alle Bilder noch nicht
bemerkbar. Sie begann in der Zeit des Hosea und erreichte ihren
ersten Erfolg in der Zeit des Hiskia. Damals schon machte sie
nicht einmal vor dem auf Mose zurückgeführten alten Parament
des Schlangenstabes Halt, welches von diesem König zertrümmert
wurde. Es wirkte die zunehmende politische Sorge um die Ab-
wendung aller denkbaren Gründe des Zornes des alten einst bild-
los verehrten Kriegsgottes der Ueberlieferung zusammen mit
dem inzwischen sublimierten Gottesbsgriff der Intellektuellen-
Kreise, denen gerade die Unsichtbarkeit und Bildlosigkeit
des Gottes für ihre Konzeptionen wertvoll war und die nun das
Menschenwerk der Handwerker in den fremden Idolkulten
mit seiner majestätischen Uebermenschlichkeit kontrastierten
und verspotteten. Der Baalkult wurde nun als Quelle des
Eindringens dieses Greuels in den Jahwekult verfolgt. Aber die
zunehmende Schärfe dieses . Kampfs gegen den Baalkult hing
außerdem allerdings zusammen mit sehr tiefgehenden inneren
Eigentümlichkeiten der Gottesverehrung, welche
mit dem altkanaanäischen Baalkult untrennbar verknüpft, der
genuinen jahwistischen Religiosität aber schlechthin gegensätz-
lich war. Wir müssen zum Verständnis dessen etwas weiter aus-
holen und uns zunächst mit. den Trägern des Kultbstriebs: den
Priestern, befassen.
Es ist mit hinlänglicher Sicherheit bezeugt, daß die is-
raelitische Frühzeit keinen von Bundes wegen allgemein aner-
kannten Priesterstand ^) hatte, vor allem keinen, der ein Mono-
pol des Opfers im Namen des Bundes als solchen für den Bundes-
gott gehabt hätte. Der Beziehung des israelitischen Bundes
zu Jahwe mußte ja die spätere Bedeutung des Opfers notwendig
fehlen. Denn vor dem Königtum gab es wie schon gesagt gar
keine Bundesinstanz, welche zur regelmäßigen Darbringung
von Opfern in Friedenszeiten kompetent gewesen wäre. Nur
im Kriege war eine Einheit des Bundes vorhanden, und dann war
nach der Tradition die teilweise oder auch vollständige Tabu-
lierung der Beute das spezifische rituelle Mittel, dem Gott
^) Grundlegend Grat Baudissins Gosch. des alttest. Priestertums (Leipzig
1889). Manche Annahmen, vor allem die zeitliche Priorität des Priesterkodex
vor dem Deuteronomium, sind heut aufgegeben.
j <-, A Das antike Judentum.
das Seinige zu geben. Diese Maßregel interessierte den Gott
ja auch weit stärker am Siege Israels als ein vorheriges Opfer.
Natürlich wurden Jahwe wie allen Göttern wohl von jeher
Opfergaben dargebracht, um sein Wohlwollen zu gewinnen.
In Kriegszeiten auch von Bundes wegen, in Friedenszeiten aber
von den einzelnen je nach Anlaß. Nach der Theorie der Tra-
dition war jede Mahlzeit, jedenfalls jede Fleischmahlzeit, in dem
allerdings sehr weiten Sinne ein »Opfermahl«, -daß der Gott daran
durch Spenden- seinen Anteil zu erhalten hatte. Vor der Schlacht,
und sonst nach Bedarf an den alten Kultstätten, opferten ihm die
Fürsten und ebenso gegebenenfalls die Sippenhäupter. Nur die
Blutbesprengung des Altars scheint eine zuverlässige Tradition
dem Mose, also: Berufspriestern, vorzubehalten. Aber ob diese
Kultform außerhalb Silos verbreitet und wie alt sie war, steht
nicht fest. Die spätere priesterliche Theorie stellt freilich schon
Sauls Opfer ohne Zuziehung Samuels (den sie dabei zum Priester
stempalt) paradigmatisch als einen ihm zum Verderben gereichen-
den Eingriff in die Priesterbefugnisse hin. Dem geltenden Recht
entsprach dies aber noch viel später keineswegs. David trägt
im Samuelbuch Priestertracht und spricht den Segen. Unter
König Ussia spielt sich in der priesterlich bearbeiteten Königs-
tradition der gleiche Konflikt wie angeblich zwischen Saul und
Samuel ab ^). Als sicher ist freilich anzunehmen, daß Fürsten und
große Grundherren sich rituell geschulte Priester hielten. Aber
sie wählten diese ursprünglich gänzlich frei. In der älteren,
später vom Chronisten ausgemerzten Tradition macht David
zwei seiner Söhne zu Priestern 2). Das Entsprechende tut
im Richterbuch ein großer ^ Grundbesitzer im Norden, Micha,
nach einer Tradition, von der in anderem Zusammenhang bald
zu reden sein wird. Die Heiligtümer, welche in dieser Art von
Fürsten und Privaten ausgestattet waren, galten als ihr Privat-
besitz. Sie hatten darin das Hausrecht : so die nordisraelitisehen
Könige in Jerobeams Stiftung in Bethel (Amos 7, 13); was sie
befehlen, führt der von ihnen angestellte Priester, ihr Beamter,
aus, und zwar nach der Tradition, z. B. in Jerusalem auch Altar-
bauten nach fremdem Muster (2. Kön. 16, 10). Eine Gesamt-
> — ^ — .
^) Ussias Opfer behandelt auch, erst der (nachexilische) Chronist (2. Chron.
16 ff.) als schwere Sünde.
^) 2. Sam. 8, 18. Ebenda 20, 26 wird ein Jairit als sein Erzkaplan neben
den Ptiestern Zadok und Abjathar erwähnt. Die nachexilische Chronistik
tilgte dann die Söhne Davids.
I. Die israelitische Eidgenossenschafi und Jahwe. j-c
Organisation der Opferpriesterschaft fehlte schon infolge der
Konkurrenz der Opferstätten, bei welcher im Nordreich begreif-
licherweise die privaten »Eigenkirchen« gegenüber den könig-
lichen Stiftungen nicht in dem Maß im Nachteil waren wie in
dem zentralisierten jüdischen Stadtstaat. Der Oberpriester führte
den Namen: »der Priester« (ha kohen); spät erst findet sich in
Jerusalem (2. Kön. 25, 18) der Titel Haupt priester (kohen ha
rosch) ; das Vorkommen des nachexilischen Titels »Hoherpriester«
(kohen ha gedol) ist unsicher (2. Kön. 22, 4. 8 und 23, 4 ist als
Glosse verdächtig, vgl. 2. Kön. 11, 9 f., wo für den gleichen
Oberpriestei Jojada ^) der Titel ha kohen steht). In jedem
Fall aber werden die Kultpriester der Königstempel als könig-
liche Beamte aufgezählt (2. Sam. 8, 16 f., 20, 23 f.), begleiten den
König ins Feld und haben mit der einen Ausnahme des Jojada
unter Athalja in vordeuteronomischer Zeit keine irgendwie be-
merkenswerte selbständige politische Rolle gespielt. Am aller-
wenigsten galten sie als Häupter einer religiösen »Gemeinde«.
Eine solche gab es nicht. Der Heerbann war in alter Zeit die
Gemeinde, auch in religiösen Dingen, später die Landsgemeinde
der Vollisraeliten. Das über Jeremia urteilende Gericht besteht
aus den königlichen Sarim und den Sekenim, deren Rolle bei
der Urteilsfällung fraglich bleibt. Die 'am (Mannen) bilden den
»Umstand« dieser Gerichtsgemeinde (kahal), die Priester sind
die Anklänger, sitzen aber nicht im Gericht. Der König (Josia),
nicht der Oberpriester (Hilkia) beruft die Gemeinde zusammen,
auch wo es sich um eine religiöse berith handelt. Wie es mit dem
alten Priesterkönigtum in Jerusalem stand, von welchem die zwei-
felhafte Tradition Gen. 14 wissen will und in wessen Interesse diese
Ueberlieferung repristiniert wurde, bleibe dahingestellt. Jedenfalls
war der alten Tradition der Fürst auch zum Opfern für seinen Ver-
band legitimiert und rituell qualifiziert. Ebenso sicher gab es nun
aber von jeher alte von weither aufgesuchte Kultstätten, an wel-
chen ganz ausschließlich die dortigen erbcharismatisch qualifi-
zierten Priestergeschlechter nach alten Regeln sowohl für Fürsten
wie für Private besonders feierliche Zeremonien leiteten. So vor
allem das Geschlecht der Eliden an der den Propheten (Jeremia)
als besonders alt und rein jahwistisch geltenden Kultstätte
in Silo. Ueber die dortige sicherlich alte Opferpraxis scheint die
^) Vgl. Struck, Das alttest. Oberpriestertum, Taeol. St. u. Kr. 81
(1908) S. i f.
] -(5 ^^^ antike Judentum.
Tradition zu ergeben: daß die Kunden im Zusammenhang mit
individuellen Gebeten um Erfüllung bsstimmter Wünsche Fleisch-
opfer darbrachten, daß davon der Priester seinen Anteil nahm,
daß aber außerdem auch Opfermahle mit Trunkenheit der Teil-
nehmer nichts Seltenes waren. Die Bedeutung der Opfermahle
hat uns später zu beschäftigen und der sehr komplizierten Ge-
schichte des altisraelitischen Opfers übsrhaupt soll nicht nach-
gegangen werden ^) . Hier halten wir vms zunächst an die Opf er-
gaben und sehen, daß diese in Israel wie überall zunächst als
geeignete Mittel galten, der bittenden Anrufung des Gottes
Nachdruck zu verleihen. Die ältesten Kult Ordnungen, wie sie die
kultischen Anhänge des Bundesbuchs erhalten haben, schrieben
nur allgemein vor: daß der Israelit dreimal jährlich vor Jahwe
erscheinen solle und zwar »nicht mit leeren Händen«. Andere
sicher alte Bestimmungen gibt es nicht, und wie weit die prakti-
sche Bedeutung dieses Gebots reichte, ist nicht feststellbar.
Die Bedeutung des Gabe-Opfers verschob sich zunächst
quantitativ mit zunehmendem Prestige des Bundes-Kriegs-
gotts, wie sie die Expansion mit sich brachte, und vor allem mit
Errichtung des Königtums. Die Davididen und im Norden Jero-
beam richteten königliche Kultstätten mit regelmäßigen Opfern
ein.
Weit wichtiger aber wurde die Verschiebung des Sinnes
des Gabe-Opfers, welche mit zunehmender Verdüsterung der
politischen Lage des Landes im weiteren Verlauf der Königs-
herrschaft eintrat. Denn die Frage mußte nun entstehen: woher
denn diese ungünstige Entwicklung der politischen und mili-
tärischen Lage Israels komme ? Die Antwort konnte nur lauten:
der Zorn Gottes lastet auf dem Volke. Der israelitische »Sünde «-
begriff knüpft, wie die alten mesit von chatah »verfehlen« ab-
geleiteten Worte zeigen, an rein objektive Tatbestände an.
Ein Verstoß, offenbar zunächst und vor allem ein ritueller Ver-
stoß, erregt den Zorn des Gottes. Furcht vor rituellen Fehlern
und ihren Folgen war daher hier wie üb3rall das älteste Motiv,
Sühne zu suchen. Aber: Jahwe war auch Vertragspartner der
berith mit Israel, und das alte auf Kameradschaftlichkeit und
brüderlicher Nothilfe aufgebaute Sozialrecht galt daher als ihm
gegenüber verpflichtend. Der Sündenbegriff mußte sich daher
früh auch auf inhaltlich »ethische«, zunächst: die s o z i a 1 e t h i-.
*) Kurzer (aber nicht unbestreitbarer) Abriß bei Stade.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 177
sehen Gebote erstrecken. Vor allem die jahwistische Kritik
an den durch die Stadtsässigkeit bedingten sozialen Verschiebun-
gen und an der Haltung des Königtums hat den Begrilf der
»Sünde« hier, wie unter ähnlichen Verhältnissen auch ander-
wärts, z. B. in der sumerischen Inschrift Urukaginas, über das
rituelle Gebiet hinaus auf das sozialethische erweitert. Der ge-
waltige Kriegsgott knüpfte — das schien offenbar — seine Gnade
an die Befolgung seiner durch berith feierlich angenommenen
Gebote, neben den rituellen Vorschriften ^) besonders an die
Innehaltung des von ihm garantierten alten Bundesrechts. Bei
Mißerfolgen und politischer Bedrängnis wurde naturgemäß die
Feststellung : welcher sozial relevante Frevel wohl den Zorn
des Gottes erregt haben Und wie man ihn beschwichtigen könne,
eine immer allgemeiner erörterte Frage. Schwere Bedrängnis
wurde aber seit dem 9. Jahrhundert die chronische Lage der beiden
Königreiche. Mit alledem trat die Bedeutung des Opfers als
eines Mittels, Schuld zu sühnen, wie die Quellen deutlich
erkennen lassen, immer mehr in den Vordergrund bis zu schließ-
lich überragender Wichtigkeit. Von den vermutlich sehr mannig-
faltigen Arten der Sühnopfer der einzelnen Kultstätten sind zwei.,
chattat und ascham, wohl durch rein zufällige Umstände später
allein kanonisch geworden ^) . Damit aber steigerte sich die Not-
wendigkeit, ritual- und rechts kundige Jahwepriester zur Erfor-
schurgdes Willens des Gottes und der zu sühnenden Verfehlungen
angehen zu können. Die mit steigender Rationalisierung des
Lebens überall, auch in Mesopotamien, sich steigernde Nach-
frage nach Mitteln der Sündenfeststellung und Sündenabbüßung
^) Es ist aber durchaus fraglich, ob außer der Beschneidung und den
Vorschriften für die Krieger (insbesondere die Nasiräer) irgend welche all-
gemein gültigen Riten bestanden.
2) Chattat und ascham, die in der jetzigen Redaktion in schlechthin unent-
wirrbarer Art ineinandergreifen und doch als zweierlei behandelt werden, sind
als feststehende gemeinisraelitische Institution erst bei Hesekiel erwähnt. Vor-
her ist weder i. Sam. 3, 14 (wo von Sebach- und Mincha-Opfern als Sühnemitteln
die Rede ist), noch Deut. 12, wo ausführlich von Opfern gesprochen wird, die Rede
von ihnen. Das letztere zeigt sehr deutlich, daß die beiden Opferarten nicht dem
Jerusalemiter Tempel kult entstammen. Daraus aber zu schließen, daß sie
sich überhaupt erst in der Exilzeit oder kurz vorher entwickelt hatten, wie hie und
da geschieht (u. a. von Benzinger), wäre sicher falsch. Hesekiel mag der Erste
sein, der sie als gemeinisraelitische Opfer ansah. Aber der Begriff ascham findet
sich schon in der Samueltradition (Buße der Philister). Die beiden Opferarten
gehörten eben (sozusagen) der levitischen »Privatpraxis« an, für die sich das Deu-
teronomium nicht weiter interessierte. Nach den Vorschriften des Priester-
gesetze« wäre chattat die umfassendere der beiden O^ferarten.
Max Weber, Beligionasoziologie HI. 12
j 7g Das antike Judentum.
gewann unter dem Druck des politischen Schicksals Israels
dort besondere Wucht. Mit der wachsenden Bedeutung
des Sühnopfers und der Belehrung über Jahwes Willen wuchs
also die Nachfrage nach Trägern des Wissens von Jahwe
und seinen Geboten. Denn es war ja nicht in erster Linie die Dar-
bringung des Opfers selbst, so wichtig dessen Korrektheit sein moch-
te, sondern vor allem die Erforschung des göttlichen Willens und der
vorgekommenen Verstöße dagegen dasjenige, was man begehren
mußte. Sowohl die politischen und lokalen Verbände wie die Ein-
zelnen als solche kamen in diese Lage. Angelegenheiten des po-
litischen Verbandes als solchen waren vor allem die Beeinflussung
des Kriegsglücks und die Erzeugung von reichlichem Regen.
Beides steht bei den Verheißungen Jahwes für Gehorsam und
rechtes Verhalten nebeneinander. Dazu trat für den einzelnen
die Nothüfe in persönlicher Bedrängnis aller Art. Mose ebenso
wie noch Elia tun in der Tradition sowohl politische, vor allem
Kriegs-, Regen- und Speisewunder, wie private Heilungswunder,
erforschen den Willen Gottes und die Verstöße dagegen. Dies
letztere war und wurde immer mehr die eigentliche Leistung der
beruflichen Träger des Jahwismus.
Die Quellen zeigen nun, daß für die Erforschung des gött-
lichen Willens zunächst fast alle Arten von Mitteln, welche die
Kulturwelt ringsum kannte, auch in Palästina vorkamen. Aber
nicht alle galten der israelitischen Tradition als gleich legitim.
Die vom Standpunkt der strengen Jahwereligion später (Num. 12,
6) als korrekt geltenden Formen waren nur drei: i. Verkündi-
gung durch Jahwe an einen in seiner Vollmacht redenden wahren
Seher und Propheten: woran man einen »wahren« vom »falschen«
Propheten unterschied, bleibt für später zu erörtern; 2. für
gewisse Fälle: das Losorakel der berufsmäßigen Orakelpriester
mit Hilfe der Orakeltafeln (urim und thummim) und vielleicht
ursprünglich auch des Pfeilorakels; 3. endlich auch, aber mit
zunehmenden Vorbehalten dagegen, die Traumvision. Alle an-
deren Formen von Erforschung sei es der Zukunft, sei es prozeß-
wichtiger oder sonst erheblicher Tatsachen oder endlich und na-
mentlich der Willensmeinung des Gottes galten einer zunehmend
siegreichen Anschauung als fluchens werte, unter Umständen
todeswürdige Magie oder einfach als Schwindel. Nur für einige
wenige Fälle, insbesondere für Erprobung der ehelichen Treue
einer Frau, hielt sich das Ordal bis in die deuteronomische Zeit.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. j^g
Das Losorakel, dessen alte Heiligkeit ganz ebenso wie Jahwes
Bildlosigkeit durchaus auf seiner der Kulturlosigkeit der Steppe
entsprechenden Einfachheit beruhte, hat bis in die späte vor-
. exilische Zeit bestanden, aber gegenüber der Befragung von
Sehern, Propheten und anderen Wissenden in abnehmender
Bedeutung. Die Exilstradition läßt es durch den Verlust der
Lostafeln untergegangen sein. Ebenso haben, trotz der Verpönung,
die Toten Orakel und alle andere Formen der Divination natürlich
fortbestanden. Aber ganz ersichtlich mit abnehmender Bedeu-
tung. An sich war ja die Zunahme der Befragung von Sehern,
Propheten und Ritualkundigen auf Kosten sowohl der Losform
wie anderer irrationaler Entscheidungsformen eine ganz naturge-
mäße Folge der zunehmenden Kompliziertheit der zu stellenden
Fragen, welche immer weniger mit einem einfachen »Ja« oder
►>Nein« oder durch einfaches Los beantwortet werden konnten.
Aber dazu trat für den genuinen Jahwismus der andre, in der
Besonderheit der Beziehung zu Jahwe liegende Grund : wenn
Jahwe zürnte und der Nation oder dem einzelnen nicht half,
so mußte daran eine Verletzung der berith mit ihm
die Schuld tragen. Hier mußte also die Fragestellung sowohl
der amtlichen Instanzen wie der einzelnen einsetzen: welches
seiner Gebote war übertreten worden ? Darauf konnten
irrationale Divinationsmittel keine Antwort geben, sondern nur
die Kenntnis der Gebote selbst und die Gewissenserforschung.
So drängte der in den genuin jahwistischen Kreisen lebendige
Gedanke der »berith« alle Erforschung göttlichen Willens in die
Bahn einer mindestens relativ rationalen Fragestellung
und rationaler Mittel ihrer Beantwortung. Mit großer Schärfe
wendete sich daher die unter dem Einfluß der Intellektuellenschich-
ten stehende priesterliche Paränese gegen die Wahrsager, Vogel-
schauer, Tagewähler, Zeichendeuter, Totenbeschwörer als gegen
charakteristische heidnische Arten der Gottesbefragung ^).
Die Schriftpropheten und die ihnen nahestehenden streng jah-
wistischen Kreise haben dann, wie wir sehen werden, auch die
Verläßlichkeit der Traumwahrsagerei angegriffen, was teils
mit der spezifischen Berufsqualifikation dieser Propheten, teils
mit ihrer Auffassung von Jahwes Eigenart und Absichten
zusammenhing. Der vor ihrer Zeit geführte Kampf gegen die
1) Deut. i8, lo. II. 14; Lev. 19, 21. 26. 28; Num. 23, 23.
12 *
l8o Das antike Judentum.
irrationalen Formen der Divination und Magie hatte natürlich
neben den angegebenen rationalen auch einfach zufällige histori-
sche Gründe in dem Ausgang des Konkurrenzkampfs der ver-
schiedenen Priester- und Wahrsagerkategorien gegeneinander
und in demjenigen technischen Zustand, in welchem sich die
Orakelkunst bei den Trägern der siegreichen Form damals be-
fand. Ueberall, in China, Indien und in den alten sumerischen
Stadtstaaten, finden wir ja den »Zauberer« als den verketzerten
und illegitimen Konkurrenten der aus oft sehr zufälligen Kon-
stellationen heraus rezipierten legitimen Priesterschaft und diese
Verpönung betrifft dann auch seine Praktiken. Das Losorakel
war an sich gewiß nicht rationaler als die babylonische Leber-
schau: nur freilich gab es keinen Anknüpfungspunkt für kos-
mische Spekulationen wie diese. Daß gerade die erwähnten
Arten der Willenserforschung rezipiert wurden, war freilich auch
insofern nicht nur zufällig, als sie bedingt war durch Ausschei-
dung aller mit chthonischen Kulten und der ihnen eigenen Art
der Ekstatik zusammenhängenden Praktiken^). Wir werden
diese Seite des Gegensatzes bald kennenlernen.
Wer war nun Träger der Befragung Jahwes?
Von der etwas schwankenden Rolle der alten »Seher« war
bereits die Rede. Sie sind später ganz verschwunden. Aber da
der alte Jahwismus des Kriegsbundes zwar die Kriegsekstatiker
und emotionalen Kriegspropheten und ebenso die Befragung
der apathisch-ekstatischen Seher gekannt hatte, nicht aber einen
amtlichen Bundeskult, so ist es — und das war wichtig — den
Priestern nicht möglich gewesen, nun den Anspruch darauf
zu erheben, ihrerseits das Monopol der Orakelkunst in Händen
zu haben. Sie haben von Anfang an, zweifellos ungern genug,
zugestehen müssen, daß die Prophetengabe auch außerhalb ihres
Kreises möglich und verbreitet sei. Die Spannung blieb trotzdem
bestehen, zum mindesten für alle diejenigen Propheten, welche
nicht, wie die Priester der großen Residenzen selbst, im Königs-
dienst standen. Daß der Kult königlicher Kult war, diskre-
ditierte das »Opfer« als solches in den Augen der zum König-
tum skeptisch stehenden Kreise. Die Priester mußten sich damit
begnügen, alle diejenigen Praktiken auszurotten, welche Gegen-
^) Die Bemerkung Lev. 20, 6 zeigt, daß der Gegensatz gegen die eksta-
tische Magie (s. u.) auch hier hineinspielte.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. igi
stand eines eigentlich zunftmäßigen und kultartigen Betriebes
waren und dadurch mit ihnen in unmittelbare Konkurrenz
traten. Den regelmäßigen Betrieb des Jahwekults und aller mit
ihm zusammenhängenden Praktiken suchten sie für sich zu mono-
polisieren. Wer aber waren sie selbst ?
Wie die Priester an den Kultstätten der alten Zeit eigent-
lich geartet waren, ist nicht sicher zu ermitteln. Das alte Prie-
stergeschlecht der Eliden von Silo wurde durch David nach
Jerusalem verpflanzt, durch Salomo degradiert. Ein Mann,
den erst die spätere Tradition mit einem von ihrem Standpunkt
aus korrekten Stammbaum versehen hat, der aber in der alten
Ueberlieferung nicht einmal ein israelitisches Patronymikon
trägt: Zadok, wurde leitender Priester in Jerusalem. Das König-
tum schaltete sowohl über die Besetzung dieser Priesterstellen
wie über die ökonomische Versorgung der Priester offenbar
nach Ermessen, nahm auch zunächst noch das Recht eigenen
Opfems in Anspruch. Noch unter Joas hat der König eine
Neuordnung der Pfründe nversorgüng der Jerusalemiter Priester
unter Staatskontrolle vorgenommen. Dies alles änderte sich
formell erst mit der deuteronomischen Reform in den letzten
Zeiten des Reiches Juda. Die Priesterschaft von Jerusalem
fühlte sich damals stark genug, die Zehentrechte und sonstigen
Abgabeansprüche des Gottes, welche das Vorrecht einiger Kult-
stätten, vielleicht — nach der Malkisedek-Tradition zu schließen —
gerade Jerusalems, auf beschränktem Gebiet gewesen sein moch-
ten, als universell für den ganzen Umkreis Israels, damals also:
des judäischen Reiches, gültig hinzustellen und, wie wir
sehen werden, gleichzeitig eine ungeheure Steigerung ihres
eigenen Kultmonopols in Anspruch zu nehmen. Eine gewaltige
Zunahme des Prestiges der Priesterschaft mußte dem vorange-
gangen sein. Diejenige Jahwepriesterschaft nun, welche dem
deuteronomischen Gesetzbuch als von jeher allein legitim gilt,
wird in diesem Kompendium als die »levitischen Prie-
ster« bezeichnet.
Der Name »Levi« hat keine hebräische Etymologie ^).
Es ist möglich, daß Leviten auch außerhalb Israels im Dienste
*) Schneider, Dip Entwicklung der Jahwereligion und der Mosessegen
(Leipzig Semit. Stud. V, i. iqoq) glaubt »Levi« von der »Schlange« herleiten zu
können, beruft sich auch auf Adonijas Zug zum Schlangenstein und auf den
Namen eines Vorfahren von David.
j ^2 I^^s antike Judentum,
des minäischen Stammesgottes Wadd tätig waren ^). Wie alt
die Verbreitung dieser gelernten Priester eigentlich ist, steht nicht
fest 2). Sicher scheint nur, daß sie ursprünglich in Nordisrael
wenig heimisch waren, sich dorthin durch Einzeleinwanderung
verbreitet hatten und jedenfalls von Jerobeams Dynastie, ver-
mutlich aber noch später, mindestens nicht als einzig legitime
Jahwepriesterschaft anerkannt waren. Schlechthin alle Anzeichen
weisen auf einen südlichen Ursprung, in der Steppe am Wüsten-
rand, in der Oase von Kades und in Seir. Einer ziemlich alten
Tradition sind die Leviten zuerst die ganz persönliche Gefolg-
schaft des Mose ^), die er gegen widerspenstige und ungehorsame
Gegner aufruft und welche in einem Blutbad unter den eigenen
Nächstversippten seine Autorität sichert. Diese Tradition,
ebenso aber auch der Mosessegen ergeben nach Eduard Meyers
einleuchtender Interpretation, daß jedenfalls dieser Zweig der
Ueberlieferung sie nicht als Erbkaste kannte: im Gegenteil
mußte man nach dem Mosessegen Vater und Bruder verleugnen,
um Levit-^u sein. Sie waren für diese Auffassung also ein gelernter
Berufsstand. Daß sie später gentilizisch gegliedert und als erb-
charismatisch qualifizierter Stamm auftreten, würde nichts da-
gegen beweisen: diese Entwicklung findet man außerhalb wie
innerhalb Israels immer wieder. Indessen andere Teile der Tra-
dition kennen einen nicht priesterlichen wehrhaften »Stamm
Levi« *) als politischen Genossen der Stämme Israels, insbe-
sondere der Stämme Simeon und Juda, und der Jakobsegen"
weiß nichts davon, daß gerade er ein Priesterstand sei oder daß
es überhaupt levitische Priester gebe. Vielmehr erzählen die
Quellen von seinen militärischen Gewalttaten gemeinsam mit
Simeon, und der Jakobsegen weissagt Levi die Zerstreuung
wegen eines Frevels: Männer haben sie getötet und »den Stier
verstümmelt«. Sie sollen »in Jakob« und »in Israel« zerstreut wer-
den, wie Simeon. Mose gehörte der späteren Priestertradition
*) So " £d. Meyer. Vgl. die Inschrift bei D. H. Müller, Denkschr.
d. Kais. Ak. d. Wiss. Wien, Phil.-hist. Kl. 37 (1888).
2) Der Jakobsegen kennt keine levitischen Priester. Erst der Mosessegen
kennt die Leviten und zwar als Thoralehrer und Priester. (Vgl. Ed. Meyer,
Die Israeliten usw. S. 82 f.)
3) Isch chasidecha, »Mann deines Getreuen«, des Mose, im Mose?segeu
(Deut. 33, 8) für Levit.
*) Vielleicht auch die Inschrift der Ramessidenzeit, die einen s>Lui-eU als
Stammesnamen zu kennen scheint.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. jg?
zum Stamme Levi als Mitglied. Vielleicht galt er der älteren,
später tendenziös ausgemerzten, Tradition als Stammvater oder
wenigstens als Archeget derjenigen Sippen des Stammes Levi,
welche Leviten im rituellen Sinne waren oder wurden. Denn
unbedingt muß es zur Zeit des Jakobsegen Glieder eines Stammes
Levi gegeben haben, welche nicht »Leviten« im späteren Sinne
waren. Es steht nun zur Wahl, entweder anzunehmen: daß die
Glieder eines durch politische Katastrophen oder ökonomische
Wandlungen zerstreuten Stammes Levi sich ganz oder teilweise
der Pflege des Jahweopfers und Jahweorakels zugewendet
und Jahwepriester geworden seien ^). Oder: daß umgekehrt
einmal aus dem zuerst auf persönlicher Einschulung ruhenden,
dann erbcharismatischen Beruf sstand der im Süden, interethnisch,
verbreiteten »Leviten« Laiensippen, solche also, bei denen die
rituelle Schulung und Tradition erloschen war, als ein »Stamm«
angesehen wurden oder wirklich als ein solcher sich konstituiert
und mit Simeon verbunden haben, später aber ebenso wie dieser
Stamm zerfallen seien. Bei den Brahmanen in Indien finden wir
ja wie bei den Leviten den Kampf der personalcharismatischen
und berufsständischen mit der erbcharismatischen und geburts-
ständischen Qualifikation. Auch bei ihnen war und ist bei weitem
nicht j eder geburtsständische Brahmane rituell zu den Privilegien
der Brahmanen : Opfer, Vedalehre, Pfründen, qualifiziert. Sondern
nur der, welcher das rituell vorgeschriebene Leben geführt und
nach richtiger Lehre die Weihe empfangen hat. Auch in Indien
gibt es ganze Dörfer, die nur von damit belehnten Brahmanen, die
zum Teil die Vedaschulung ganz oder fast ganz aufgegeben haben,
bewohnt sind. Die Möglichkeit besteht also, daß es auch bei den
Leviten ähnliches gegeben hat. Die Art, wie im Deuteronomium
die Ausdrücke »Leviten« und »Priester« kombiniert werden,
könnte den Gedanken nahelegen, daß es auch damals nicht
geschulte und nicht rituell reine, also zum Praktizieren nicht
qualifizierte Levitenabkömmlinge gegeben hat, die nicht »Prie-
ster« Avaren (bzw. sein konnten). Es ist diese Annahme sogar
praktisch fast nicht abzu>veisen. Denkbar wäre dann, daß das
Zerstreutleben dieser auch damals zu keinem von den anderen
^) Ed. Meyer (Die Israeliten usw.) hält es für sicher, daß der »Stamm«
Levi in Meriba (dem »Prozeßwasser«) ansässig war (also eine Art von Pandit-Ge-
schlechtern indischer Art darstellte).
l^A Das antike Judentum,
Stämmen zu zählenden »Laien-Leviten« der Tradition den Anlaß
dazu gab, sie mit Simeon gemeinsam in den Sichem-Frevel zu
verstricken.
In deuteronomischer Zeit waren die levitischen Priester
erbcharismatisch in Sippen gegliedert und ständisch abgesondert,
beanspruchten das Monopol bestimmter Orakelformen, der Prie-
sterlehre und der Priesterstellen. Dies mit Erfolg wenigstens im
Süden. Im Norden findet sich die Erwähnung levitischer Priester
nur zweimal im Richterbuch (Kap. 17 f. für Dan und Ephraim) ;
zur Zeit der Redaktion dieser Partie unsicheren Alters scheinen
die Leviten noch ein Berufsstand, kein Geburtstand gewesen zu
sein. Als solcher erscheinen sie dagegen in den von der priester-
lichen Tradition beeinflußten Darstellungen der Wüsten- und
Eroberungsgeschichte und im Deuteronomium. Diese Tradition
behandelt die Leviten schlechthin als die geschulten erblichen
Jahwepriester. Dabei haben die einzelnen Leviten privaten Be-
sitz, auch Haus- und Grundbesitz aller Art. Zugewiesen ist ihnen
das Monopol der Vollziehung des Opfers, soweit ein Priester mit-
wirkt, ferner das ausschließliche Recht des Losorakels und der
Lehre und die für alles dieses zu leistenden Abgaben und Kasua-
lien, in der Theorie der jetzigen Redaktion des Deuter onomiums
ferner: das Zehntrecht von allem Ertrag des Bodens.
Der älteren Tradition sind die Leviten rechtlich gerim ^).
Ja sie sind geradezu der vollendetste Typus des »Gaststammes«
innerhalb der israelitischen Gemeinschaft. Sie haben diese Stel-
lung in der jetzigen Redaktion am reinsten bewahrt. Wir finden
in der Erzählung vom Frevel von Gibea einen Leviten als Metöken
der Ephraimiten. Zweifellos lebte er von Kasualien. Die Leviten
standen außerhalb des Verbandes der Kriegshufenbesitzer. Sie
entbehrten der Wehrpflicht (Num. i, 49; 2, 33) und ihr Dienst galt,
wie die Bezeichnung: *ebed zeigt, als Metökenleiturgie gegen-
über der politischen Gemeinde. Ihre Rechtsstellung wurde zu-
nehmend fest geregelt und ihre innere Gliederung nach Vater-
häusern (Ex. 6, 25; Num. 3, 14 f.) entspricht sowohl der Art, wie
ein indischer Gaststamm, wie derjenigen, wie die damaligen israe-
litischen Stämme gegliedert waren. Die ^Vorschrift eines Zweiges
der Tradition (Num. 35, 2 f.) über die ihnen zuzuweisenden
^) Genau so, wie übrigens jeder Israelit in dem Gebiet eines anderen israe-
litischen Stammes.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe, i3c
Levitenstädte ^) muß nicht notwendig fiktiv sein, sondern kann
darauf beruhen, daß in manchen Städten ihr Unterhalt durch
Zuweisung von Hausgrundstücken und Weideland neben Anteil
an den Steuererträgen bestimmter Ortschaften gesichert war,
wie sich ähnliches ja auch für Fürsten (Josua) findet und wie es
auch manchen indischen Analogien entspricht. Nach einer an-
deren freilich noch fragwürdigeren Tradition (Lev. 25, 32 f.),
welche von Feldgrundstücken der Leviten spricht, wären diese
. ganz unveräußerlich — wohl deshalb, weil leiturgisch belastet —
und auch ihre Häuser nicht, wie bei andern Israeliten, frei für
immer verkäuflich gewesen 2). Man wird jedenfalls wohl
örtlich recht verschiedene Arten ihrer Ausstattung annehmen
dürfen ^).
Die Analogie mit den Brahmanen geht in manchen Punkten
noch weiter. Jene Lage der Leviten als Gaststamm mit fest-
geregelter Stellung war nicht die einzige und vermutlich nicht
die ursprüngliche Form ihrer Beziehung zu Israel. Die Tradition
berichtet, wie schon erwähnt, von Fürsten und Grundherren,
daß sie entweder, wie dies bei Jerobeam mißbilligt wird (i. Kern.
12, 31), niedrig Geborene, teils aber ihre eigenen Söhne oder Ver-
wandten als Priester an ihren Hauskapellen (»Eigenkirchen« im
Stutzschen Sinn) anstellten. Das letztere erzählt eine alte da-
nitische Tradition auch von dem Grundherren Micha in Nord-
israel. Von diesem wird nun aber weiter berichtet, wie er sich
später mit einem aus Juda zuziehenden Leviten in Beziehung
setzt, diesen mit dem Dienst an seinem Heiligtum betraut und
zu seinem »Vater« (dem indischen Guru entsprechend) macht,
schließlich aber : wie die auf der Wanderung nach Norden begriffe-
nen Daniten das Bild aus dem Heiligtum und den Leviten mit-
nehmen und ihm die erbliche Priesterschaft ani Tempel der neu-
gegründeten Stadt im Sidoniergebiet übertragen »bis auf diesen
Tag«. Dies entspricht genau der Art der Ausbreitung der Brah-
manen in Indien. Ebenso sind die späteren levitischen Hofkapläne
die Parallele des brahmanischen Purohita. Man sieht hier deutlich,
welche Motive zur Ausbreitung der Leviten führten: offenbar
^) Zu ihnen gehören auch die Asylstädte.
2) Ihr Vieh wird (Num. 3, 41. 45) als >Vieh Jahwes* bezeichnet.
^) Sie wohnen (Jos. 14, i) wie alle gerim, in den »Vorstädten« (migraschim).
Anteil am Acker erhalten sie nicht: den behält z. B. in Hebron Kalob für sich.
jgg Das antike Judentum.
ihre überlegene rituelle Schulung für den Opferdienst, vor allem
aber für die »Seelsorge«, d.h. die 'Beratung über die Mittel,
Jahwe günstig zu stimmen und seinen Zorn abzuwenden. Die
Fürsten und Grundherren stellen sie an nicht nur um ihres per-
sönlichen Bedarfs nach solcher Beratung willen, sondern zweifel-
los auch um ihres Prestiges als Herren der Kultstätten und um
der Einkünfte willen, welche der Ruf eines von einem geschulten
Priester versorgten Heiligtums seinem Besitzer abwarf: wir
sahen ja, wie Gideon seinen Beuteanteil zur Errichtung einer
Kapelle mit einem Bild verwendete. Daß Gemeinden als solche
sie beriefen and ausstatteten, wird später — wie bei den Daniten
— auch vorgekommen sein. Daneben stand ihre freie Erwerbs-
tätigkeit. Auf diese Art hatten die Leviten im Wege allmählicher
Ausbreitung ihr in deuteronomischer Zeit innerhalb des judäi-
schen Gebietes im wesentlichen anerkanntes Monopol erlangt.
Das Deuteronomium setzt voraus, daß in jedem Ort ein Levit
sitzt und von den Opfern leben will. Ohne Widerstand ist diese
Ausbreitung nicht erfolgt, wie der Fluch des Mosessegens gegen
ihre »Hasser« (Deut. 33, 11) zeigt. Es gab, wie in der Tradition die
Revolte der später als degradierte Leviten erscheinenden Kora-
chiten in Verbindung mit Abkömmlingen Rubens gegen die
Vormacht der Priesterschaft, in der priesterlichen Redaktion
beweist, eine machtvolle Schicht innerhalb Israels, welche sich
erinnerte, daß von einer solchen klerikalen Vormacht, insbe-
sondere von einem Opfer- und Orakelmonopol einer erblichen
Kaste, ursprünglich nichts bekannt gewesen war. Jahwe hatte
durch Propheten und Seher seinen Willen offenbart. Es scheint,
daß gerade der alte Hegemon des Bundes, der Steppenstamm
Rüben, auf diesem Standpunkt gestanden hat. Seine Zerstreu-
ung wäre dann vielleicht dem Fehlen einer fest organisierten
Priesterschicht mit zuzuschreiben, deren Existenz Judas Stärke
bedingte. Die Schulung der levitischen Orakelgeber und wohl
vor allem die zunehmend hinter ihnen stehende Macht des Königr
tums haben diese Anfechtungen zum Schweigen gebracht. Für
die Zeit vor dem Untergange Nordisraels bleibt es trotzdem
durchaus problematisch, welches Maß von Machtstellung die
Leviten und ihre Orakel dort im Konkurrenzkampf eingenommen
haben.
Rituell scheinen sich die Leviten von Anfang an, wie die
Brahmanen, durch Innehaltung bestimmter Reinheitsvorschriften
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 13?
von den »Laien« geschieden zu haben. Hier interessiert davon
lediglich die besonders strenge Meidung der Berührung mit Toten
und allem, was mit Gräberkult zu tun hat: offenbar war diese
Priesterschaft die Hauptträgerin des Gegensatzes gegen den be-
nachbarten ägyptischen Totenkult, lieber die spezifischen
Leistungen der Leviten in der Zeit ihrer universellen Anerkennung
gibt der Mosessegen (Deut. 33, 8 f.) eindeutig Auskunft. Gar
nicht erwähnt ist darin eine therapeutische Funktion der Le-
viten, obwohl Mose selbst therapeutische Magie zugeschrieben wird,
wie wir sahen, und der Schlangenstab vielleicht ein Rest einstiger
magischer Therapeutik war. Noch später ist den Priestern die
Feststellung des Aussatzes zugewiesen. Aber im übrigen hören wir
von Therapie der Leviten gar nichts und der Aussätzige gehörte spä-
ter vor ihr Forum wesentlich als rituell unrein . (Wie es mit der ärztli-
chen Kunst in Altisrael stand, ist Völlig unbekannt. Die Empfehlung
des Arztes und der Apotheke durch den Sirachiden spiegelt Ver-
hältnisse der hellenistischen Zeit wider.) Es ist also anzunehmen,
daß eine eigentliche magische Therapie in historischer Zeit nicht
mehr in ihren Händen lag. Der Kranke gehörte nur in ihre »Seel-
sorge«, von der später zu reden ist. Irrationale therapeutische
Mittel scheinen sie nicht angewendet zu haben. Vorangestellt
ist im Mosessegen (V. 8) die Erinnerung an das Losorakel des
»Haderwassers« (der Prozeßorakelquelle) von Kadesch, dann
kommt (V. 10) die Pflicht der Belehrung über mischpatim und
thora, dann erst, zuletzt : Räucherwerk und Vollopfer. Mose hat
(nach V. 8) dem Jahwe das Orakel im Ringen entwunden: ge-
meint ist dabei das Prozeßorakel. Das levitenfreundliche deutero-
nomische Gesetz ermahnt dazu, Prozeßsachen »vor Jahwe zu
bringen«, und dieUeberlieferung läßt Mose, außer in besondern
Fällen als Magier, den ganzen Tag durch Prozeßgeschäfte in An-
spruch genommen sein, bis er sie auf Jethros Rat den Sarim
der Königszeit überträgt, die als ihm untergeordnet vorgestellt
werden. Aus Laien und Priestern gemischte Gerichte schlägt
noch eine späte Tradition vor (Deut. 17, 8; 19, 17). Diese An-
gaben sind Spuren einer sich auch sonst findenden Spannung
zwischen weltlicher und hierokratischer Rechtsfindung. In
Babylon hatte die Generation vor Hammurapi die Priester
zugunsten der Laien aus den Gerichten ausgeschaltet und auf
die bloß technische Vollziehung von Orakeln in dem von Laien-
richtern instruiertem Prozeß beschränkt. Der Kodex Hammurapi
I 38 ^^s antike Judentum.
erwähnt das für den Verdacht der Zauberei und des Ehebruchs
der Frau. In Israel ist das Orakel in den Rechtssprüchen auf den
zweiten dieser Fälle beschränkt. Laienrichter: die Aeltesten oder
die königlichen Beamten, entschieden wenigstens in Nordisrael
allein die Prozesse. Im Süden muß, wie schon früher angedeutet,
nach der Bedeutung von Kadesch und der Prozeßorakeltätig-
keit im Mosessegen, die Stellung der Priester im Prozeß allem
Anschein nach weit bedeutender gewesen sein. Daß die Priester
dort, wie gelegentlich angenommen wird, jemals wirklich als
ordentliche Richter fungiert haben, ist, wie gesagt, nicht erweislich.
Wohl aber als Schiedsrichter und Orakelstätte, an die sich
Parteien und Richter mit Rückfragen wenden. Ihre stärkere
Position im Süden ist an sich leicht erklärlich. Wie die politi-
schen Verbände der halbnomadischen Stämme nur als religiöse
Bünde stabil zu bleiben pflegten, so hatte bei ihnen auch — gegen-
über der an persönliches Prestige gebundenen Macht des Schechs
— nur das priesterliche Orakel eine wirklich überindividuell zwin-
gende Gewalt. In den »mischpatim«des aus Nordisrael stammenden
Bundesbuches, kenntlich an der abstrakten hypothetischen Formu-
lierung des Tatbestandes mit »wenn« . . ., haben wir, wie früher
erwähnt, den Niederschlag einer alten durch babylonische Vor-
bilder beeinflußten Laienjurisprudenz. Nur gelegentlich kleiden
sich rein profane Gebote in die Forni der »debarim«:' »du sollst« . .
oder »du sollst ^icht«. Nicht ausschließlich also, aber doch stark
vorwiegend ist diese Form jedoch jenen Geboten und Verboten
eigen, welche rituellen oder religiös -ethischen Charakters sind
und zweifellos nicht auf profane Juristen, sondern entweder auf
Orakel von Propheten oder auf priesterlich gelehrte Gebote
zurückgehen. Wir werden über die Art der Entstehung dieser
letzteren, also der nicht prophetischen, sondern priesterlichen
Vorschriften, noch zu reden haben. Jedenfalls sind daran die
Leviten, denen der Mosessegen die Pflicht des Unterrichts des
Volkes sowohl in den Rechten (Mischpatim) als in den »Thoroth«
zuspricht, beteiligt. Die an sich profanen Mischpatim (von schafat :
»richten«) waren vom jahwistischen Standpunkt aus religiös er-
heblich, weil und soweit sie als Teile der berith mit Jahwe galten.
DieChukim, die (rituellen) Traditionen zu lehren wird den Leviten
(lo, ii) aufgetragen.
Der levitische Lehrer hatte jedenfalls im Prinzip nur
mit dem zu tun, was rituell für die Lebensführung geboten
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. i3q
war. Aber die Scheidung von »jus« und »fas« ist hier noch
weniger als bei anderen hierokratisch beeinflußten Sozialord-
nungen durchgeführt worden. In der praktischen Tätigkeit
der Leviten hatte in der Zeit des Mosessegens das Losorakel
gerade in Rechtsstreitigkeiten (wie der Name Meribath ergibt)
in Tätigkeit zu treten, ynd nachdem die Thora rationale reli-
giöse Unterweisung geworden war, wurde der Unterschied erst
recht flüssig. Denn darüber: was als Bestandteil der von Jahwe
garantierten alten Bundesordnungen anzusehen sei, entschieden
ja die Leviten nach der Thora. Ursprünglich aber heißt »Thora«
nicht, wie gelegentlich noch immer übersetzt wird, »Ge-
setz«, sondern: »Lehre«. Freilich knüpft der Begriff ebenfalls
an das alte Losorakel der Leviten an^). In den Quellen be-
zieht er sich jetzt in aller Regel auf die Gesamtheit der von Prie-
stern zu lehrenden Bestimmungen. Im Mosessegen, wo Thora
von Mischpat unterschieden ist, bedeutet sie aber offenbar
speziell die rituellen und ethischen, vor allem aber auch: sozial-
ethischen, jedenfalls: nicht die rechtlichen Gebote des Bun-
desgottes. Mag nun der im Mosessegen (erst hinter Vers 9 und
getrennt von Vers 8) etwas nachklappende Vers (10) über die
Thora nachträglich hineingekommen sein, so lehrt er doch (im
Zusammenhalt mit Vers 8 und der sonstigen Tradition) deutlich,
auf welchen Leisturgen die Ausbreitung und Macht der Leviten
beruhte: auf der Beantwortung nicht prozessualer Anfragen
ihrer »Kundschaft«. Orakel geben war zwar von Anfang an
die spezifische Form ihrer Leisturg auch hier. Ab^r für den
Privatbsdarf hätten das rein mechanische Loswerfen auch rituell
Ungeschulte erlernen können, und wir sehen in der Tat aus den
Gideon- und Jonathan-Geschichten, daß Omina und Pfeilorakel
zur Ermittlurg des Willens Jahwes sowohl wie zur Tatsachen-
feststellung auch von Nichtleviten benutzt wurden. Die rituelle
Korrektheit des Verfahrens bsi der Befragung Jahwes war das
Entscheidende. Auf diese rituelle Korrektheit mußten vor allem
amtliche Instanzen, richterliche und politische, bei Anfragen un-
bedingtes Gewicht legen, und für sie blieb daher das levitische
Losorakel dauernd wichtig. Was aber die Privatkundschaft an-
langt, so konnte ihren Bedürfnissen diese primitive Form, bei
*) Der Name »Thora« wird von »Loswerfen« abgeleitet. So Ed. Meyer
(Die Israeliten usw.) S. 95 f.
IQQ Das antike Judentum.
aller offiziellen Anerkennung ihres Prestiges (noch : in Esras
Zeit, als sie längst nicht mehr bestand) unmöglich auf die Dauer
genügen. Die sozialen Verhältnisse und dadurch die zu stellen-
den Fragen komplizierten sich. Wir sahen, wie in der aus der
Zeit der Blüte der Kultstätte in Dan stammenden Tradition
(Jud. 17) der Grundherr Micha den . zuwandernden Leviten,
angeblich einen Abkömmling des Moses, zu seinem »Vater« macht,
d. h. ihm neben dem Bildkult vor allem die Spendung von Be-
lehrung über seine, des Stifters, Pflichten gegen Jahwe überträgt
(wie in Indien dem brahmanischen Beichtvater). Ebenso War
schon von der stets zunehmenden Bedeutung der Chattat- und
Ascham-Opfer neben den alten Gabeopfern (Bittopfern) die
Rede. Diese steigende Bedeutung des Bedürfnisses nach Sünden-
sühne ging mit der zugunsten der rationalen Beantwortung ge-
stellter Fragen abnehmenden Bedeutung der mechanischen Los-
orakel zusammen. Eben an das Orakejgeben für Private
schloß sich naturgemäß diese zunehmend rationale Belehrung
an. Flüssig war die Beziehung zur Prophetie und zum Kult-
priestertum. Zwar scheidet Jeremia klar zwischen der Thora,
-die Sache der Priester, und dem dabar Gottes, welches Sache der
Prophetie sei. Aber die Bedeutung von »Thora« als »Orakel«
(und also insofern gleichbedeutend mit »debar Jahwe)« findet
sich bei Jesaja (i, 10 und 8, 16. 20), und einmal (8, 16) wird so
eine den Jüngern versiegelt übergebene Orakelrolle des Pro-
pheten bezeichnet. »Thora-Lehrer« (Thosfe hattora: Leute,
die »mit der Thora umgehen«) nennt auch Jeremia (2, 8) n e b e n
den Priestern, den Kohanim : wohl den Kultpriestern des Jerusa-
lemitertempels.
Jedenfalls aber gewannen die Leviten ihr Prestige nicht
durch Schulung zum Opferkult für die Gemeinschaft,
sondern durch die Schulung im rein rationalen Wissen von Jah-
wes Geboten, den rituellen Mitteln, Verstöße dagegen — durch cha-
kat, ascham, Fasten oder andere Mittel — wiedergutzumachen und
dadurch bevorstehendes Unheil abzuwehren, schon eingetretenes
rückgängig zu machen. Das interessierte zwar König und Gemein-
schaft auch. Aber vor allem doch die Privatkundschaft. Mit
zunehmender politischer Bedrängnis Israels nahm grade dies Be-
dürfnis universell zu. Ihm durch Belehrung der Kundschaft abzu-
helfen: das wurde nun ausschließlich der Sinn der levitischen
»Thora«. Sie wird gegen Lohn gegeben (Micha 3, 11). Dem Le-
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. iqi
viten wird die Sünde gebeichtet (Num. 5, 6) und er »versöhnt«
dann den Schuldigen mit Jahwe (Lev. 4, 20. 31; 5, 10; 6, 7):
das ist seine für die Privatkundschaft wichtigste Leistung. Mit
dem Zurücktreten der alten dem bäuerlichen Heerbann ange-
hörigen ekstatisch-irrationalen Kriegspropheten und Nebijim
parallel geht dieser Aufstieg der — mag man sich zunächst
die Inhalte so primitiv vorstellen wie man will — doch jedenfalls
relativ rationalen, weil lehrhaften Beeinflussung
durch die Leviten.
In die Bahn rationaler Methodik wurde die leviti-
sche Thora auch durch die technische Eigenart ihres Orakelmit-
tels gedrängt. Gegenüber der Eingeweideschau, der Beobachtung
des Vogelfluges oder anderer Verhaltungsweisen von Tieren, voll-
ends absr gegenüber jeder Art von ekstatischer Mantik war schon
das primitive Auslosen der Antwort auf konkrete Fragen
mit »Ja« oder »Nein« mit dem absoluten Minimum von Esoterik,
emotionaler oder mystischer Irrationalität belastet. Es gab keinen
Anlaß zur Entstehung solcher Theoreme, wie sie uns die baby-
lonische Omina-Literatur darbietet. Vielmehr erzwang es etwas
ganz anderes: damit durch einfaches Losen der Tatbestand und
der konkrete Wille des Gottes festgestellt werden könne, mußte
die Frage richtiggestellt sein. Darauf also kam alles an und der
Levit mußte sich mithin eine rationale Methodik aneignen, die
Probleme, die dem Gott vorgelegt wurden, auf einen mit »Ja«
oder »Nein« beantwortbaren Ausdruck zu bringen. Zunehmend
aber mußten auch Fragen auftauchen, die mit den Mitteln des
Loses und mit »Ja« oder »Nein« überhaupt nicht direkt er-
ledigt werden konnten. Ehe sie vor den Gott gebracht wurden,
mußten komplizierte Vorfragen erledigt sein, und in sehr vielen
Fällen war nach dieser Erledigung gar nichts mehr übrig, was
der Ermittlung durch das Losorakel bedürftig gewesen wäre.
War insbesondere durch Befragung festgestellt : um welche Sünde
des Kunden es sich handelte, so stand die Art der Sühne tradir
tionell fest. Nur wo die Person des Sünders fraglich war,
mußte, wie die Achan-Erzählung paradigmatisch zeigt, das
Losorakel helfen. Gerade für die privaten Bedürfnisse aber trat
es an Bedeutung unvermeidlich immer mehr zurück zugunsten
der rationalen Sünden-Kasuistik, bis der theologische Ratio-
nalismus des Deuteronomium (18, 9 — 15) das Losen der Sache
nach überhaupt diskreditierte, es mindestens gar nicht erwähnte.
JQ2 Das antike Judentum.
und für die Fälle, in denen es bisher üblich und unvermeidlich
gewesen war: — wo nämlich die Traditionen der Thoralehrer
versagten — , die Befragung der Propheten als einziges Mittel
übrig ließ.
Das Prestige der levitischen Thora hat Wandlungen durch-
gemacht. Beginnend, wenn den betreffenden Erinnerungen
irgend zu trauen ist, schon in der Zeit des alten Bundes, stei-
gerte es sich unvermeidlich mit dem Eintritt der judäischen
Südstämme in den Verband, wurde dann vielleicht durch die
Trennung der Reiche wieder geschwächt, stieg aber wieder mit
sinkendem Prestige der nördlichen Könige und wurde im Süd-
reich zunehmend alleinherrschend. In Aegypten war das Sühn-
opfer, wie es scheint, nicht bekannt. Magier standen hier an der
Stelle, welche die Leviten in Israel einnahmen. Gelegenheit und
Anlaß zu rationaler Belehrung über die ethischen Pflichten
scheint, jedenfalls in späterer Zeit, wesentlich der Totenkult
der Osirispriester, der volkstümlichste von allen, geboten zu
haben. Dagegen findet sich die Sühne der Sünde durch Opfer
in Mesopotamien, vor allem aus Anlaß von Krankheit, die als
Folge göttlichen Zorns galt. Der Sünder hatte unter Leitung
des Priesters die alten (zum Teil vorbabylonischen) Bußpsalmen
zu rezitieren, um die rituelle Unreinheit (assyrisch: mamitu)
von sich abzuwälzen. Aber der Charakter des Vorgangs war auch
hier, wie in Aegypten, magisch, nicht ethisch-paränetisch. Und das
für Babylonien zwar von Hesekiel (21, 26) erwähnte, aber aus
der Priestertechnik, soviel bisher bekannt, längst verschwundene
Losorakel war hier nicht durch rationale Thora, sondern durch
Sammlung und Systematisierung der Omina und eine priester-
liche Fachlehre ihrer Deutung ersetzt, welche uns in einer höchst
monströsen Literatur erhalten ist ^). Wir werden später erörtern,
auf welchen Gründen dieser wichtige Unterschied der Entwicklung
beruhte.
Die Leviten paßten sich bei ihrer Verbreitung den vorhan-
denen Zuständen an. Wie das Beispiel des Micha zeigt, hatten
die älteren Leviten sich dem Idolkult des Nordreichs unbedenk-
lich gefügt; vermutlich gehörten sie dort zu den Trägern der
Vorstellung, daß die Idole eben Jahwe-Idole seien. Aber ihr nach
1) S. dazu U n g n a d , Die Deutung der Zukunft bei den Babyloniern
und Assyrem, Leipzig 1909.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. jq'?
der Tradition unzweifelhafter Ursprung aus dem Süden ließ,
als der Bilderstreit bsgann, den Nachschub sicherlich mit steigen-
dem Gewicht in die Wagschale der Bilderfeinde fallen. Sehr
wahrscheinlich ist ein Teil der später, wie bald zu erörtern, zu
priesteramtsunfähigen Leviten und Tempeldienern degradierten
Leviten aus idolatrischen Levitengeschlechtern hervorgegangen,
wofür die Entwicklung des Brahmanentums in Indien ja eben-
falls Analogie bieten würde.
Wie bei den Brahmanen, so lag bei den levitischen Priestern
die eigentliche Quelle ihres Prestiges im >> Wissen« von den maß-
geblichen Vorschriften Jahwes. Nur eben — bei der aus politischen
Gründen weit geringeren Bedeutung und größeren Jugend
des Kults und dem Fehlen eines heiligen Buches vom Charakter
des Veda — im Wissen von positiven rituellen und ethischen
Geboten und der Art, wie man durch deren Befolgung den
Gott günstig stimmt oder seinen durfch Verstöße dagegen er-
regten Zorn besänftigt. Es war so, als ob es in Indien nur gri-
hyasutras und darma^astras und überhaupt an rituellen Geboten
nur ganz wenige einfache Vorschriften gegeben hätte. Darin lag
der überaus große Unterschied gegenüber den Brahmanen.
Und dann: in dem Fehlen jeder Esoterik im indischen Sinn.
Weder ein magisches oder ein Mystagogen- Wissen, noch ein
Buchwissen, noch astrologisches, therapeutisches oder anderes
Geheimwissen brachte diese von Süden her langsam das Land
überflutende Welle. Mystagogie konnte sich nur auf dem Boden
der Nabi-Ekstase entwickeln und hat sich auch daraus, wie wir
aus den Elisa-Mirakeln sehen, entwickelt. Daß die »Gottesmän-
ner«, Gegenstände scheuer Furcht und gläubiger Verehrung,
als magische Nothelfer nicht nur, sondern auch als Fürbitter bei
Jahwe eintreten und Sündenvergebung erwirken, ist, von Gen.
20, 7 angefangen, massenhaft in der Tradition bezeugt. Aber es
hat sich daraus nicht, wie in Indien, eine anthropolatrische
Verehrung lebender Heilande entwickelt. Die levitische Thora
hat das verhindert. Diese Männer des Südens und ihre rechabiti-
schen und andern Verbündeten wußten nur: daß das alte gute
Recht der Jahwe-Eidgenossenschaft durch berith Jahwes mit
dem israelitischen Heerbann nach Verkündigung durch Mose
dereinst festgestellt war und daß jede Verletzung dieser Sat-
zungen Jahwes Zorn hervorrufen müsse. Neben dem, wie das
Max Weher, Religionssoziologie UI. '3
jQ^ Das antike Judentum.
Deuteronommm zeigt, schlichten Ernst ihrer Opferpraxis standen
bei ihnen die damals noch einfachen Ritualgebote und die r a-
tionale Lehre der privaten und Sozialethik. —
Die Leviten werden sich, wie die Brahmanen, mancherlei
alte örtliche Priesterschaften assimiliert haben. Andererseits
kann es keinem Zweifel unterliegen, daß heftige Kämpfe der
Priestergeschlechter der einzelnen Kultstätten stattgefunden
haben. Priester, die sich an verworfenen Kulten beteiligten,
wurden deklassiert ^). Das -ursprüngliche Verhältnis der von
Süden zuwandernden Leviten zu den altansässigen Kultpriester-
geschlechtern ist problematisch. Das alte Priestergeschlecht
der Eliden in Silo, welches nach dem in ihm vorkommenden
ägyptischen Namen (Pinchas) am wahrscheinlichsten auf Mose
zurückgeht, wird zwar später als ein Levitengeschlecht behandelt.
Ebenso das danitische Priestergeschlecht. Aber ursprünglich
scheinen die Eliden nicht als Leviten zu gelten, und vollends
undeutlich bleiben die ursprünglichen Verhältnisse zu den bei-
den großen Priestergeschlechtern, welche, das eine in der deutero-
nomischen und frühexilischen, das andere in der nachexilischen
Zeit, die entscheidende Rolle spielen: den Zadokiden und den
Aaroniden. Die späteren levitischen Stammbäume beider sind
natürlich gefälscht. Die Zadokiden waren seit Salomo das füh-
rende jerusalemitische Königspriestergeschlecht. Dem Deutero-
nomium galten sie als levitisch; sie müssen also — ein Beweis
für das damals schon als althistorisch feststehende Prestige der
Leviten — bereits vorher mit diesen sich zu verschmelzen für
klug gehalten haben. Am problematischsten bleibt dagegen die ur-
sprüngliche Stellung der Aaroniden und der Figur Aar ons selbst 2).
In den ältesten vordeuteronorriischen Nachrichten (Ex. 24, i. 9;
18, 12) scheint Aaron als der vornehmste der Aeltesten Israels
zu gelten, also nicht als ein Priester. In den späteren, insbesondere
den exilischen, Redaktionen ist er Priester und steigt fortwährend,
zuerst zum Sprecher des Mose, der schwerer Zunge ist, dann zum
Bruder der Prophetin Mirjam, dann zum Bruder, und zwar zum
älteren Bruder, des Mose selbst. Und schließlich kommt es in der
spätesten Redaktion vor, daß er auch allein und direkt Offen-
^) So die vermutlich aus den orgiastischen Kulten stammenden »Sängern
und »Nethinim« der nachexilischen Zeit.
^) Ueber Aaron vgl. Westphal, Aaron und die Aaroniden, Z. f. A.-T. W.
26 {1906).
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. iqc
barungen über seine und seines Geschlechts Rechte erhält (Lev.
10, 8; Num. i8, i. 9. 20) ^). Die Zadokiden wurden nun als ein
Teil der Aaroniden behandelt. Dem Mose wird mit erstaunlicher
Dreistigkeit seine in der alten Tradition vorkommende Nach-
kommenschaft, zu der sich außer dem Priestergeschlecht der
Eliden vor allem das in Dan rechnete, fortkonfisziert und dem
Aaron zugeschrieben. Da die jahwistische Renzension Aaron
gar nicht gekannt zu haben scheint und er mit dem Stierdienst
in Verbindung gebracht wird, so hat man auf nordisraelitischen
Ursprung geschlossen. Da die aaronidische Rezension der Abra-
hamsage (Gen. 17) sich Gott dem Abraham als »El Schaddaj«
vorstellen läßt, so ist es möglich, daß die Aaroniden ein altes
El-Priestergeschlecht waren und deshalb auf diese Feststellung
der Identität ihres Gottes mit dem im Exil zum einzigen Welt-
gott erhobenen Jahwe Gewicht legten. Die Notiz im letzten
Verse des Josuabuchs könnte Beziehungen zu Benjamin vermuten
lassen, dem in der spätem Redaktion der Jakoblegende so stark
bevorzugten Lieblingssohn. Indessen bleibt das alles Unsicher.
Die heftigen Kämpfe unter den Priestergeschlechtern spiegelt
die Tradition neben zahlreichen Retouchierungen der Fassung
auch in den gegenseitigen Fluchsprüchen wider. Dem vermut-
lich alten überschwenglichen Segensspruch für Pinchas, den
Ahn des elidischen Priestergeschlechts in Silo, steht nach dem
Sturz der Eliden unter Salomo die im Samuelbuch verzeichnete
Unheilsdrohung gegen dies Geschlecht gegenüber. Gegner der
Priesterautorität, wie die Korachiten, werden von der Erde
verschlungen: später sind sie degradierte Sängersippen. Auch
der Widerstand nicht nur der puritanisch gesinnten jahwistischen
Priesterschaft, sondern vor allem der Interessenten der alten
Kultorte im Norden gegen den salomonischen Tempelbau und
gegen das dadurch gegebene Uebergewicht dieser Kultstätte
muß, wie die Spuren in der umredigierten Tradition ergeben, sehr
stark gewesen sein. Und sicherlich ist der Abfall des Nordreiches
sehr wesentlich mitbedingt gewesen durch diese Gegensätze der
Priesterschaften und ihrer Kultregeln, wie Jerobeam^ Maßregeln
zugunsten von Dan und Bethel, vor allem aber deren Motivierung
durch den König ergeben. Am deutlichsten zeigt sich aber die
^) Schneider a. a. O. will die Aaronidon von der Bundeslade ableiten, Was
an sich nahe läge. Aber sie sind nirgends, wie er annimmt, mit Silo verknüpft.
13*
jQ^ Das antike Judentum.
Schärfe der Gegensätze darin, daß in den gegenseitigen Tendenz-
legenden auch die Stammväter des Jahwekults nicht geschont
werden. Gegen Mose selbst schreibt die Legende der aaronidi-
schen Priester dem Aaron und der Prophetin Mirjam schwere
Vorwürfe zu, vor allem seine Mischehe. Die Tradition weiß,
daß seine Nichtbeteiligung am Einmarsch in das gelobte Land
Folge seiner Sünde war. Andererseits wird aber Mirjam dafür
nach der mosaischen Legende vom Aussatz geschlagen. Ganz
schwankend ist vor allem die Stellung Aarons selbst, dem neben
sonstigen Irrungen vor allem die Beteiligung am Stierdienst —
ein in der Zeit der Endredaktion dieser Tradition todeswürdiges
Verbrechen — vorgeworfen wird, dem aber dennoch in der Tra-
dition nichts Uebles dafür widerfährt.
Dieser Kampf der Priesterschaften untereinander mußte
sich verstärken, als diejerusalemiter Priesterschaft (damals: die
Zadokiden) nach der politischen Vernichtung des Nordreiches
die letzte Konsequenz zog und den, gegenüber der klaren alten
Tradition ganz unerhörten, Anspruch aufstellte; daß fortan
nur in Jerusalem ein Tempel und eine rituell voll-
wertige Opferstätte bestehen solle, die alte Verehrung Jahwes
auf Höhen und unter Bäumen und an den alten ländlichen
und provinzialen Kultstätten in Bethel, Dan, Sichem und an
anderen Orten aufzuhören habe. Die Forderung war wohl nicht
absolut neu, sondern entstand vermutlich gleich nach dem Unter-
gang des Nordreichs. Denn es scheint, daß schon Hiskia in der
schweren Kriegsnot gegen Sanherib einen Anlauf zu ihrer Ver-
wirklichung genommen hatte. Aber der Widerstand der ideellen
und materiellen Interessenten der ländlichen Kultstätten: der
Bauern und Grundherren, war damals wohl zu stark. Unter
Manasse, der seinerseits als assyrischer Vasall mesopotamischen
Sterndienst in Jerusalem pflegte, war keine Rede mehr davon.
Sein gleichgesinnter Nachfolger Amon wurde, vermutlich auf
Anstiften der jahwistischen Partei, durch eine Militärrevolte,
ähnlich wie seinerzeit die Omriden im Nordreich, beseitigt.
Die Stärke der Widerstände gegen die Priesterforderung zeigte
sich aber damals darin, daß die hier erstmalig unter dem später
oft wiederkehrenden Parteinamen 'amme ha arez, »Landleute«,
auftretenden Interessenten der ländlichen Kultstätten die Revo-
lution niederwarfen. Aber es gelang den mit vornehmen, den
jahwistischen Parteien befreundeten Adelssippen verbündeten
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. iq^
Priestern, auf den unmündigen Josia Einfluß zu gewinnen und als
die große Koalition gegen das assyrische Reich, die ihm den
Untergang brachte, sich vorbereitete, tauchte die Forderung
erneut auf. Sie war die Kernforderung des deute r onomischen
Gesetzbuchs, eines literarischen Produkts der um die Jerusa-
lemiter Priesterschaft gruppierten Intellektuellenschicht. Man
ließ es durch Angestellte des Tempels in diesem »auffinden«.
Die utopische Hoffnung, durch Erfüllung der in diesem, angeblich
den echten alten mosaischen sefer hattorah repräsentierenden
Fund enthaltenen Gebote Jahwes Hilfe gegen den durch Palä-
stina marschierenden Pharao Necho zu erlangen, war es offenbar,
die König Josia veranlaßte, das Volk in feierlicher berith auf
dies Gesetz zu verpflichten, die alten Kultstätten zu zerstören
und durch Totengebeine rituell zu verunreinigen (621). Die Nie-
derlage und der Tod des Königs in der Schlacht bei Meggiddo
machte indessen allen diesen Hoffnungen ein Ende und war
überhaupt ein furchtbarer Schlag für die levitische Jahwe-Partei.
Der augenscheinliche Anspruch des Kompendiums, an die Stelle
aller anderen Rechtssammlungen zu treten, war damit zunächst
dahingef allen. Aber als ideale Forderung der damals allein fest
organisierten Jerusalemiter Priesterschaft blieb er bestehen.
In kluger Weise hatten seine Redaktoren mit jenem Monopol-
anspruch andere, ihrer eigenen Machtstellung zugute kommende,
zugleich aber sehr populäre Forderungen verbunden. Zunächst
den alten Protest gegen das salomonische Fronkönigtum. Nie
war vergessen worden, daß auch die an Prestige höchststehende,
davididische Dynastie durch berith der Aeltesten den Thron
erlangt hatte und daß der alte israelitische Führer ein auf dem
Esel reitender charismatischer Volksfürst ohne Kriegswagenpark,
Hort, Harem, Fronden, Steuern und ohne weltpolitische Allüren
gewesen war. Das sollte nun im Ernst wieder hergestellt werden.
Die Entscheidung über die Würdigkeit der Könige sollte das
alte Losorakel der Priester geben, der König an das deuteronomi-
sche mosaische Gesetz, das er täglich lesen sollte, gebunden sein.
Entsprechende Berichte über die Art, wie Saul von Samuel zum
König kreiert worden sei, wurden nun den alten Ueberlieferungen
eingefügt, ebenso die Legende vom Sieg des Hirtenknaben
David über Goliath an Stelle der echten Tradition. In der Um-
redaktion der Königstradition erhielt nun jeder König seine
Zensur je nach seiner Stellung zum Idol- und Höhendienst.
jgg Das antike Judentum.
Aus ähnlichen Gründen war das alte Sozialrecht des Bundes-
buchs entsprechend umgestaltet in das neue Kompendium
aufgenommen worden. Da der babylonische Lehensherr des
Zedekia ein Interesse an der Schwächung der Königsgewalt
hatte, so ist durchaus glaubhaft, daß unter diesem Fürsten einige
Zeit mit diesen Forderungen wirklich Ernst gemacht wurde.
Die Exilszeit überkam, neben den erst teilweise und unvoll-
kommen vereinheitlichten anderen Sammlungen von Legenden
und Traditionen, dies Kompendium als die einzige ganz in sich
geschlossene Theologie. Die praktisch weittragendste Forderung
des deuteronomischen Gesetzes war von Anfang an das Kult-
monopol Jerusalems und seiner Priesterschaft. Zugleich frei-
lich diejenige, welche die erheblichsten Schwierigkeiten schuf.
Von dem Widerstand der nicht jerusalemitischen Laieninteressen-
ten ganz abgesehen, — was sollte aus jenen Leviten und
andern Priestern werden, die bisher an den andern Kultstätten
amtiert hatten ? Das später ^ehr stark interpolierte deuter onomi-
sche Gesetz enthält darüber in der jetzigen Redaktion zwei wider-
sprechende Bestimmungen. Einerseits die Mahnung an alle Israe-
liten, die »Leviten in ihren Toren« nicht ohne Nahrung zu lassen:
diese sollten also Rentner ohne Kultrecht werden und mit den
Priestern nur das Recht der »Lehre« des Gesetzes teilen. Anderer-
seits die Bestimmung, daß -diese Priester nach Jerusalem über-
siedeln und am dortigen Kult teilnehmen könnten: — eine jeden-
falls nicht von den Priestern selbst in das Gesetz gebrachte Be-
stimmung, deren Ausführung denn auch, als damit Ernst gemacht
wurde, die Jerusalemiter Priesterschaft nicht zuließ. Darüber
kam das Exil und das hieß : die Fortführung aller Priestergeschlech-
ter. Im zwingenden Interesse der gesamten Priesterschaft
lag es nun, sich zu vertragen. Noch Hesekiel hatte das Monopol
der Jerusalemiter Zadokiden vertreten und von ihnen der deutero-
nomischen Theorie entsprechend die »Leviten« als Priester zweiten
Grades, ohne Opferrecht, geschieden. Aber das Monopol der Zado-
kiden war offenbar nicht durchzusetzen. Das schließliche Kom-
promiß in der Perserzeit, für dessen Inhalt wahrscheinlich auch
das Maß des höfischen Einflusses der einzelnen Geschlechter
maßgebend war, hat offenbar der schriftgelehrte Priester Esrä
gefunden, indem er die Zadokiden als einen Teil der Aaroniden
behandelte und diesen allen die Qualifikation zum Opferdienst
an der alleinigen Kult statte Jerusalem gab, alle anderen als
I, Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. iqq
levitisch anerkannten Geschlechter zu ihnen unterstellten
reihum dienenden Subalternbeamten des Kults degradierte,
gewisse andere zu leiturgischen »Tempelsklaven« (Nethinim)
Sängern und Türhütern. Die Dreiteilung der Hierokratie:
Priester, Leviten, Nethinim und, nachdem diese letzteren ver-
schwunden waren: Priester und Leviten, die noch in den Evan-
gelien besteht, entstammt dieser Regulierung. Das Mittel, sie
annehmbar zu machen, war die Ordnurg der materiellen
Verhältnisse: die universelle Zehentpflicht des ganzen heiligen
Bodens wurde durchgeführt und der Ertrag dieser und einiger
hier nicht interessierender anderer Gefälle unter die beteiligten
hierokratischen Interessenten verteilt. Die besonderen Verhält-
nisse einerseits der Exilsgemeinde, andererseits die später zu er-
wähnende Art der politischen Beziehungen zum Perserhof, wel-
che für die Neuregelung maßgebend waren, bedingten diese Art
der Erledigung der alten Kämpfe, welche durch massenhafte
Interpolation der alten Satzungen und Traditionen und durch
die Neukodifikation der Bestimmungen des von Esra durch feier-
liche Verpflichtung der synoikisierten Gemeinde auferlegten
sogenannten »Priesterkodex« legitimiert wurde. Uns sollen
hier die Einzelheiten dieser äußeren Regulierung nicht näher
angehen. Wir kehren vielmehr nochmals in die vorexilische
Zeit zurück und betrachten die inneren Konsequenzen und die
Triebkräfte der eigenartigen Entwicklung.
Die Kultmonopolisierung in Jerusalem hatte zunächst
eine sehr wichtige Konsequenz: die Profanierung der bis dahin
wenigstens theoretisch als »Opferung« und »Opfermahl« geltenden
häuslichen Schlachtungen und Fleischmahlzeiten. Diesen Cha-
rakter verloren sie jetzt, wo nur in Jerusalem Opfer stattfinden
konnten, vollständig. Und nur der Vorbehalt : daß wenigstens die
nicht zu entfernt wohnenden Abgabspflichtigen ihre Opfergabe
in der heiligen Stadt selbst als Opfermahl verzehren sollten —
den anderen wurde Umwechselung in Geld gestattet — blieb,
in zunächst problematischer Bedeutung, bestehen. Jene Pro-
fanierung aller privaten Mahle war, nach der Ablehnung des
Totenkults, der letzte Schlag, welchen der Jahwismus der Mög-
lichkeit einer sakralen Bedeutung der Sippe versetzte : es
konnte fortan keine vom Sippen haupt geleiteten Kultmahle
mehr geben. Denn das Passahmahl war längst kein Sippenmahl
mehr, sondern ein häusliches Familienfest. Das schnelle Schwin-
200 T>Sifi antike Judentum.
den der Bedeutung der Sippen in nachexilischer Zeit hängt wohl
auch damit zusammen. Als eine absichtsvoll gegen die Sippen
gerichtete Maßregel ist jene Bestimmung, welche diesen Erfolg
haben mußte, freilich wohl kaum gedacht gewesen: sie war ein
Nebenerfolg der Kultmonopolisierung, wie schon die Halbheit
der für das Verzehren der Abgaben geschaffenen Bestimmungen
zeigt. Die Bedeutung der Kultmahle als solche war vielmehr schon
in vorexilischer Zeit langsam aber nachdrücklich ihres einstigen
Sinns entkleidet worden. Ihrem einstigen Sinn und dem mit
dem Vordringen der Leviten eng zusammenhängenden Prozeß
seiner Aenderung müssen wir uns jetzt zuwenden. Denn hier liegen
sehr tiefgehende Eigentümlichkeiten der puritanischen Jahwe-
religion, welche die Stellungnahme ihrer Vertreter zu den an-
dern Kulten erst verständlich machen.
Es ist Ed. Meyers Verdienst, auf einen charakteristischen
Gegensatz des Ritus bei der israelitischen »berith« aufmerksam
gemacht zu haben, der zwischen der Hauptkultstätte Nord-
israels, Sichem, einerseits und Jerusalem andererseits bestand.
Der Bund in Sichem hatte nach dem Josuabuch den Charakter
eines Kultmahls, also einer Speisegemeinschaft: einer »Koi-
nonia«, mit dem Gott, so wie sie auch in einer alten nordisraeli-
tischen Erzählung vom Sinaibunde berichtet wird, wo die siebzig
Aeltesten ebenso an Jahwes Tafel Gäste sind, wie umgekehrt er
zum Opfermahl der Kultgenossen zu Gaste kommt. Sehr anders
ist der überlieferte Ritus in Juda, der besonders eingehend für
die berith unter Zedekia berichtet und von der Legende auch
für Gottes berith mit Abraham als geltend vorausgesetzt wird.
Das Opfertier wird zerstückt und zwischen den Stücken gehen die
sich verpflichtenden: König, Priester und, je nachdem, Sippen-
älteste oder Mannen ('am) sämtlich hindurch. In jener Legende
tut dies Jahwe nächtlicherweile. Eine sakramentale Koinonia
mit dem Gott fand hier also nicht statt. Die Zerstückelung eines
Opfertiers findet sich nun in einer anderen Zeremonie wieder.
Der Held oder Prophet, der Israel zum heiligen Kriege gegen
Fremd Völker oder frevelnde Eidgenossen aufrufen will, zerstückt
ein Tier und sendet die Stücke im Lande umher. Das gilt als
Mahnung an die Pflicht, Jahwe Heerfolge zu leisten. Diese Form
wird nur zweimal, aber gerade für Nordstämme: Ephraim und
Benjamin, berichtet. Nimmt man irgend eine Beziehung zu der
judäischen Form der berith an, was immerhin nahe liegt, so könnte
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 201
also diese Form auch im Norden nicht unbekannt gewesen sein.
Dann wäre wohl anzunehmen, daß die bei der f est ar gesessenen
Bevölkerung von Sichem übliche Koinonia die altkanaanäische
Form der Herstellung einer Beziehung zum f r i e~d liehen
Gott, dagegen bei den minder fest seßhaften Bauern und Hirten
der Berge jene andere dem Bundeskriegsgott Jahwe eigene.,
der Kriegs Verbrüderung dienende Form ursprünglich hei-
misch gewesen sei. Dafür spricht eine erhebliche Wahrschein-
lichkeit auch deshalb, weil diese Zerstückung des Opfertiers
doch wohl als ein rituelles Rudiment der alten orgiastischen
Zerreißung des Opfertiers — bei den afrikanischen Beduinen :
eines Hammels — anzusprechen ist, wie sie sich namentlich
bei Gebirgs- und Steppenvölkern findet, und wie sie bei den
Iraniern erst durch Zarathustra, vielleicht unter dem Einfluß
mesopotamischer Bildung, ausgerottet worden zu sein scheint.
]\Ian wird in der Annahme kaum fehl gehen, daß auch bei den
judäischen Stämmen ein planvoller Kampf gegen die ursprüng-
liche, z. B. auch im Pyonysoskult sich findende, Fleischorgie diese
beseitigt hat. Vielleicht bedeutet das spätere rituelle Verbot
des Blutgenusses eine Etappe auf diesem Wege, und
dann würde die an sich späte Motivierung: daß man »die Seele
des Tiers nicht essen dürfe«, doch Spuren des einstigen animisti-
schen Sinnes aufbewahren. Denn, wie wir gelegentlich sahen:
für das Heer im Kriege galt jenes Verbot anscheinend ursprüng-
lich nicht. Es wäre die Entwicklung dann so zu denken;
daß der Blutgenuß, der ursprünglich nur in normalen Zeiten,
außerhalb der dem Kriegsgott vorbehaltenen Fleischorgie, unter-
sagt war, später, unter dem Einfluß des uns bekannten Ent-
militarisierungsprozesses und der Beseitigung der Orgien, als ein
für allemal verboten gegolten hätte. Doch kann dies nur als
unsichere Hypothese gelten. In der Ueberlieferung findet sich
schließlich (Ex. 24, 6. 8) noch eine dritte Form der Eingehung
einer berith: die Besprengung der Jahwegemeinde mit Opfer-
blut, mit welchem zugleich auch der Altar besprengt wurde.
Sie setzt Mitwirkung des Priesters voraus, denn nur er kann
jenen Akt vornehmen. Da sie in die sehr alte Erzählung vom ge-
meinsamen Mahl Jahwes mit den Aeltesten eingeflochten ist:
— diese Tischgemeinschaft ist hier Folge der geschlossenen
berith, nicht ihrerseits Stiftung der religiösen Koinonia — ,
so mag auch sie alt und in diesem Fall südlichen Ursprungs sein.
202 ^^^ antike Judentum.
Auch dies ist unsicher. Für uns ist lediglich wichtig: daß den
Südstämmen eine Zeremonie, welche eine sakramentale Koi-
nonia mit dem Gott herstellte, in historischer Zeit unbekannt war.
Denn damit kommen wir zu einem wichtigen Punkt, der den ent-
scheidenden Gegensatz des südlichen reinen Jahwismus gegen die
nordisraelitische Verschmelzung mit Baal- und verwandten
Ackerbaukulten bedingte und zu dessen äußeren Zeichen
jener an sich mehr formale Gegensatz der berith gehört.
Die Baalkulte, wie die meisten alten Ackerbaukulte, waren
und blieben bis zuletzt orgi astisch, und zwar insbesondere
a 1 k o h o 1- und sexual orgiastisch. Die rituelle Begattung
auf dem Acker als homöopathischer Fruchtbarkeitszauber,
die alkoholische und orchestische Orgie mit der unvermeidlich
sich anschließenden Sexualpromi^^kuität, abgemildert später
zu Opfermahl, Singtanz und Hierodulenprostitution, sind mit
voller Sicherheit als ursprüngliche Bestandteile auch der israeli-
tischen Ackerbaukulte nachzuweisen. Die Reste liegen zutage.
Der »Tanz um das goldene Kalb«, gegen welchen nach der Tra-
dition Mose, die »Hurerei«, gegen welche die Propheten eifern,
die kultischen Reigen, von denen überall die Spuren vorhanden
sind, die in den Rechtssammlungen, in den Legenden (Tamar)
und bei den Propheten ausdrücklich bezeugte Existenz der
Hierodulen (Kedeschen) ergeben den sexual-orgiastischen Cha-
rakter der alten fröhlichen Baalskulte. Dieser geht auch aus den
ausdrücklichen Angaben der Quellen hervor. Die weibliche Ge-
fährtin, die Baalat, fehlte den Baalen so wenig wie den indischen
Fruchtbarkeitsgöttern. Sie war mit Astarte und diese mit der
babylonischen Istar, der Gottheit der Sexualsphäre, identisch.
Von den Baalkulten her drang bei der Vermischung mit Jahwe
die Sexualorgiastik auch in die Jahwekulte ein. Die Existenz von
Hierodulen auch am Tempel von Jerusalem ist bezeugt.
Gegen diesen orgiastischen, den alkohol- und insbesondere
den sexual orgiastischen Charakter der Baalkulte und der
durch sie beeinflußten Religiosität richtete sich nun der leiden-
schaftliche Kampf der Vertreter des reinen Jahwismus. Der
Kampf der Rechabiten gegen den Wein war keine bloße Kon-
servierung alter Steppengewohnheiten, sondern vor allem Kampf
gegen die Alkoholorgiastik der seßhaften Bevölkerung. Vor
allem aber die Stellungnahme des jahwistischen Rituals Und der
jahwistischen Ethik zum Sexualleben sind Zeugen dieses tief-
I. Die israelitische Eidgenosseiischaft und Jahwe. 20^
gehenden Gegensatzes. Den Baalen dienen heißt ein für allemal
ihnen »nachhuren«. Die ganze Reglementierung der Sexualsphäre
hat von dem Kampf dagegen ihren im Judentum dauernd
nachwirkenden Charakter erhalten. Die religiöse Verpönung
der Verletzung einer fremden Ehe als todeswürdigen Frevels
entspricht freilich lediglich dem, was in allen prophetisch und
priesterlich reglementierten Religionen wiederkehrt und ist
nur besonders streng in der Art der Strafe. Die Auffassung der
Ehe als eines Mittels zur Erzeugung von Kindern und zur öko-
nomischen Sicherung ihrer Mutter enthält natürlich erst recht
nichts spezifisch Israelitisches, sondern war universell verbreitet.
Ebenso ist der ausgeprägte Naturalismus in der Art der Auffassung
der Sexual Vorgänge in keiner Art nur Israel eigentümlich. Die
kultischen und kriegerasketischen Keuschheitsregeln, Tabuie-
rungen und Unreinheitsvorschriften für Menstruierende usw.
waren in freilich sehr verschiedener Art ebenfalls sehr weit ver-
breitet und lediglich Ausdruck der Betrachtung der Sexual-
sphäre als eines spezifisch dämonisch beherrschten Gebiets,
wie sie überall gerade durch den Eindruck der Sexualorgiastik
den Trägern rationaler Kulte und Religiositäten nahegelegt war.
Aber der Grad und die Art, wie sich das israelitische Ritual und
die israelitischen Legenden, gerade soweit sie spezifisch jahwi-
stisch beeinflußt sind, mit dieser Sphäre befassen, zeigt allerdings
einen sehr radikalen Grenzfall dieser Auffassung, der sich schlech-
terdings nur aus dem tendenziösen Gegensatz gegen die Baal-
orgiastik erklärt, ganz ähnlich wie wir die Ablehnung jeglicher
Jenseitsspekulationen vermutungsweise auf eine Tendenz gegen
den ägyptischen Totenkult zurückführen mußten. Auf dem Ge-
biet des Sexuellen tritt diese Tendenz gegen die orgiastische
Schamlosigkeit, als deren Träger die Kanaanäer verachtet und
verflucht werden, vor allem in der schroffen ^erhorreszierung
jeglicher physischen Entblößung hervor. Die bloße Tatsache
einer solchen oder das bloße begehrliche Anblicken eines Ver-
wandten wird (Lev. 20, 10) als Incest und todeswürdiges Ver-
brechen behandelt, und der Stammvater der /Kanaanäer gilt
der Genesis als der Urheber all jener Schamlosigkeit, welche
die Verfluchung dieses Volks zu ewiger Knechtschaft verschuldet
haben soll. Andererseits wird auch (Lev. Kap. 18) jeder Incest,
jedes Anrühren des väterlichen Harems, aber auch jede andere
unerlaubte Geschlechtsverbindung unter dem Bilde einer physi-
204 ^^^ antike Judentum.
sehen Entblößung bezeichnet. Die Zulassung von Stufen am Altar
war im alten Ritual ganz verboten (Ex. 20, 26), weil sonst eine
Entblößung gegenüber jenen Stufen, die schon zum ideellen Sitz
Jahwes gehörten, stattfinden konnte. Daß sie »nackt« sind,
ist bei den ersten Menschen das allererste, was ihr, nach dem Ge-
nuß vom Baum der Erkenntnis erwachtes, Unterscheidungsver-
mögen für das, was »gut« und »böse« ist, dokumentiert. Die
gleiche Anschauung und Tendenz geht durch alle hierher gehörigen
Bestimmungen und Kasuistiken hindurch. Die Sünde Onans
ist perhorres ziert. Nach der jetzigen Tradition allerdings als Ver-
brechen gegen die Pflicht, dem Bruder Nachkommenschaft
zu erwecken. Ursprünglich aber war ihre ausdrückliche Verwer-
fung wohl bedingt durch die Gegnerschaft der Jahwisten gegen
gewisse Molochorgien (Lev. 20, 2), bei denen männlicher Samen
geopfert wurde. Alle Arten verpönten, weil orgiastischen oder
incestuösen oder widernatürlichen Geschlechtsverkehrs fallen
— zwar nicht allein sie, aber sie doch in allererster Linie — unter
den spezifisch jahwistischen Begriff der »Narrheit« (Gen. 34, 7;
Deut. 22, 21) und dies Wort bezeichnete in der Sprache noch der
spätesten Tradition und selbst noch der Evangelien das äußerste,
was gegen einen Israeliten gesagt werden konnte. Alle spezifisch
israelitischen, hier nicht ins einzelne zu verfolgenden Reglemen-
tierungen der Sexual Vorgänge haben daher nicht ethischen,
sondern rituellen Charakter. Die materielle Sexualethik
Altisraels war nicht strenger als andere priesterliche Reglementie-
rungen. Der Ehebruch des Dekalogs war Verletzung der Ehe
eines fremden Mannes, nicht Bruch der eigenen Ehe. Den Ge-
schlechtsverkehr des Mannes außerhalb der Ehe zu verpönen
hat erst die spätere nachexilische Zeit begonnen und zwar —
ganz ebenso wie die Konfuzianer und die ägyptische Spruch-
weisheit z. B. Ptahoteps — zuerst nur unter Gesichtspunkten
der Lebensklugheit. Ein Ausdruck für »Keuschheit« im ethischen
Sinn des Worts fehlt der alten Sprache Israels. Erst unter persi-
schem Einfluß, wie wir sehen werden, ging die Reglementierung
weiter und auch zunächst nur in unkanonischen Schriften (Tobit) .
Nach altisraelitischer Auffassung dagegen konnte die Verführung
eines Mädchens ohne vorherigen Kontrakt mit ihrer Sippe zwar
deren Rache hervorrufen, wie der Fall der Dina zeigt ; die Rechts-
sammlungen schreiben aber als Sühne nur die Heirat d. h. den
Erwerb des Mädchens durch Zahlung des Kaufpreises vor, ähnlich
I
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 205
wie die angelsächsischen Gesetze den Fall als eine Art von Sach-
bsschädigung behandeln. Die Antipathie gegen das, was als
sexuell schamlos galt, hat auch nichts mit einer besondern »Rein-
heit der Sitten« etwa der Beduinen zu schaffen. Gerade den Ara-
bern der Wüste wirft Jeremia (3, 2) vor, daß sie »Hurerei an der
Straße« treiben, d. h. — wie das Verhalten der Tamar zeigt —
an den Stellen, wo sich die käuflichen Dirnen aufzuhalten pflegten,
darunter auch die Hierodulen der Tempel, welche die Propheten
mit allen anderen Resten der Sexualorgiastik verwerfen. Nur
die homöopathische sexuelle Orgie war den Beduinen im
Gegensatz zu den Ackerbaukulten rituell fremd.
Der spezifisch rituelle, nicht primär ethische Charakter der
ganzen Sexualkasuistik nun, der sich auch später immerhin
weitgehend erhalten hat, gibt ihr, weil er zwar nicht der Art,
aber dem Grade und der tendenziösen Penetranz nach sich nur
hier findet, eine eigenartige Note. Die Verbindung der alten
naturalistischen Unbefangenheit in der Behandlung und Erörte-
rung der Sexualvorgänge an sich, verbunden mit dieser ganz
und gar rituellen Angst vor der rein physischen Entblößung
hat mit jener besonderen Art von Würdegefühl, welches sich mit
unsren durch feudale oder bürgerliche Konvention hindurchge-
gangenen Schamgefühlsreaktionen zu verknüpfen pflegt, gar
keine Beziehung. Sie erscheint der durch feudale, bürgerliche und
christliche Vorstellungen beeinflußten modernen Schamempfin-
dung leicht wie eine Karikatur eines echten Schamgefühls in
dem uns geläufigen Sinn. Die Quelle jener Besonderheit liegt
aber historisch ganz und gar in dem schroffen Gegensatz gegen
die Orgiastik der nordisraelitischen Ackerbauer, wie sie die Prie-
sterschaft pflegte. Der Islam kennt ja ähnliches und ist in allen
Gebieten seiner Verbreitung wegen seiner Antipathie gegen die
Nacktheit Träger der Entwicklung der Textilindustrie oder doch
eines Marktes für sie geworden. —
Diese Gegnerschaft gegen die Orgiastik und orgiastische
Ekstatik bestimmte nun auch die Stellungnahme des Südens
zu den aus beiden hervorgegangenen ekstatischen Virtuosen. Die
alten massenekstatischen Nebijim waren unbestreitbar eine
wesentlich nordisraelitische, teils aus phönizischen, teils aus kana-
anäischen Baalskulten hervorgegangene Erscheinung. Noch
Sacharja nimmt (13, 5) als selbstverständlich an, daß die falschen
Propheten Ackerbauer seien und daß ihre angeblichen Selbstver-
2o6 ^^^ antike Judentum.
wundungen von den Nägeln von Dirnen herrührten. In aller
Welt haben sich ja die dem orgiastischen Massenkult dienenden
charismatischen Ekstatiker zu Zünften oder Schulen zusammen-
geschlossen. Die Nabischulen des Elisa und schon der früheren
Zeiten entsprachen nur dieser allgemeinen Erscheinung. Die
Orgiastik, aus welcher die Nabiekstatik stammte, war, sahen
wir, vor allem homöopathische Fruchtbarkeitsorgiastik. Etwas
Derartiges kannten die Nomaden und Halbnomaden nicht. Wenn
sie wirklich einmal die Fleischorgie gekannt haben, dann als Be-
standteil der Kriegerekstatik. Zwar das älteste Israel, gerade
auch Nordisrael, kannte die nasiräische Kriegeraskese und die
Kriegerekstase der Berserker. Eberiso waren die alten massen-
ekstatischen Nebijim, wie wir sahen, wenigstens zum Teil auch
Kriegspropheten. Aber dreierlei zeigt sich: einmal, daß für die
nasiräischen Kriegsekstatiker im Gegensatz zur kultischen
Orgiastik der Baale gerade die Alkohol abstinenz vorge-
schrieben war. Dann, daß die klassische Kriegsprophetie der Zeit
Debora's, im Gegensatz zu den Nebijim E i n z e 1 prophetie war.
Endlich fällt auf, daß das Deboralied von »anderen Göttern«
spricht, denen sich Israel hingegeben habe. Es können damit
schlechterdings nur die Landesgötter, also die Baale, gemeint
sein. Jahrhunderte später sehen wir wiederum die Einzelprophetie
des Elia im Kampf gegen die gleichartigen »anderen Götter«
und die orgiastische Massenekstatik. Der Prophet, den Jehu
auf seinem Wagen mitführt, ist ein Rechabit, also Gegner der
Alkoholorgiastik. Immer wieder geht dieser Kampf vorwiegend
von Männern aus, welche entweder dem Süden oder doch vor-
wiegend den Viehzüchterverbänden entstammen. Der typische
Einzelprophet Elia, der Todfeind der Baalekstatik, stammt
aus Gilead und ist ein typischer Wandernomade. Elisa, der Mas-
senekstatiker, war nach der Tradition ein Bauer. Gleich der
erste wiederum geraume Zeit später gegen die Kultpraxis des
Nordens auftretende Prophet, Amos, ist ein Hirt aus Thekoa.
Daraus folgt: aus dem Norden kamen unter dem Einfluß der
kanaanäischen Orgiastik und Ekstatik die massenekstatischen
Nebijim und die irrationalen und emotionalen Formen der
Magie, aus dem Süden, welcher die Ackerbauorgiastik nicht kannte,
die rationale levitische Thora und die rationale ethische Sendungs-
prophetie, die da weiß, daß diese Schamlosigkeiten Jahwe ein
Greuel sind und daß Kult und Opfer überhaupt dem alten Bundes-
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 20/
gott gar nichts bedeuten gegenüber der Erfüllung seiner alten
Gebote. Der Zwiespalt zog sich also offenbar latent durch die
ganze israelitische Geschichte von der Einwanderung angefangen.
Er nahm akute Formen an mit Zunahme des rationalen
Charakters der Gedankenwelt jener beiden Mächte, welche der
Orgie feindlich waren: der Leviten und der Unheilspropheten.
Diese war wenigstens zu einem Teil Folge der Zunahme der lite-
rarischen Intellektuellenkultur als solcher. Daher haben wir
uns die Art klarzumachen, wie die' miteinander teils latent,
teils offen ringenden elementaren Grundlagen jener unterein-
ander grundverschiedenen Religiositäten innerhalb der altisraeli-
tischen Literaten sich auswirkten. —
Die literarische Produktion des vorexilischen Israel war
offenbar so reichhaltig und vielgestaltig wie irgendeine Literatur
der Welt. Neben den teils nach Kriegerart glühend sinnlichen,
teils höfisch schwülen, teils ländlich anmutigen Minneliedern,
die am fröhlichen Königshof von Thirza und wohl schon vorher
vorgetragen, später bis in die Zeit persischen Einflusses hinein
abgewandelt und als »Hohes Lied« gesammelt wurden, und neben
einigen übsraus schwungvollen " Königspreisliedern, welche die
Psalmensammlung enthält, sind innerhalb und außerhalb dieser
auch eine Anzahl religiöser H3niinen erhalten, welche das Walten
des großen Himmelsgottes in der Natur nach babylonischer Art in
nirgends überbotener Vollendung verherrlichen. Weltliche so-
wohl wie religiöse Barden müssen also, und zwar als eine Schicht
oberhalb der Träger der rein volkstümlichen Dichtung, mindestens
in der Königszeit existiert haben. Denn es handelt sich um ausge-
sprochene Kunstdichtung. Und das Deboralied, ein vorzüg-
lich gelungenes Gelegenheitsgedicht, halb religiöses Siegeslied,
halb politisches Spottgedicht gegen die alten Feinde in den Städten
und gegen säumige Bundesgenossen, zeigt ein noch weit höheres
Alter dieser Gattung. Die jedenfalls — nach dem in Wen
Amons Reisebeschreibung bezeugten Papyrus - Import nach
Byblos — in das Ende des zweiten Jahrtausends zurückgehende,
wenn auch dokumentarisch erst durch den moabitischen Mesa-
stein (9. Jahrhundert) belegte Buchstabenschrift war das bei
weitem am leichtesten erlernbare von allen Verstiindigungsmitteln
der ganzen damaligen Welt. Erfunden ist es wohl sicher im Dienste
geschäftlicher Interessen der Kaufleute und also vermutlich in
Phönizien. Diese Schrift erleichterte aber das Entstehen einer
2o8 ^^^ antike Judentum.
eigentlichen zum Lesen bestimmten Literatur in Israel und
zugleich die Verbreitung der Schreib- und Lesekunst dort ganz
außerordentlich. Zunächst freilich kam sie den Kanzleien der
Könige zugute. Die Würde des Mazkir (meist als »Kanzler«
übersetzt, wohl zugleich Reichsannalist und »Erinnerer« des Kö-
nigs) und die Soferim am Hofe Davids und beider Königreiche
zeigen, daß jedenfalls seit David, vielleicht, wie eine erhaltene
Liste (i. Sam. 14, 49 f.) nahelegt, in den Anfängen schon seit
Saul, die Schriftlichkeit der Verwaltung bestand. Für Salomos
Fronstaat war ein Stand schriftkundiger, offenbar nicht selten
aus den Priestern, aber auch aus gebildeten weltlichen Sippen
rekrutierter, Beamter unentbehrlich. Auf offizielle Königs-
annalen wird in den späteren pragmatisch umredigierten
Königsgeschichten immer wieder Bezug genommen und ebenso
existierte wohl eine jerusalemitische Tempelannalistik. Es muß
ferner, mit Kittel, angenommen werden, daß schon die ersten
Redaktionen der Geschichten von Davids Königtum von einem
zwar zu den königlichen Archiven zugelassenen, dabei aber
doch unabhängig nach seiner eigenen Ansicht über die Dinge
schreidenden Erzähler verfaßt sind.
Die große Freiheit der Ueberlieferung gegenüber dem doch
immerhin zeitweise machtvollen Königstum überhaupt hängt
zusammen einerseits mit der starken Stellung, welche, wie wir
sahen, im Gegensatz zu den meisten anderen monarchischen
Staatsbildungen des Orients, die wehrhaften großen Sippen in
Israel sich bewahrt hatten. Andererseits mit der Bedeutung
der dem Königtum innerlich unabhängig und sehr kritisch
gegenüberstehenden, aber von ihm um des Prestiges des alten
Bundeskriegsgottes willen nicht zu ignorierenden Gruppen der
Träger seines »Geistes«: der Seher und der berufsmäßigen Jahwe-
lehrer.
Aus den Kreisen der schulmäßig organisierten Nebijim des
Nordens stammen die in das Königsbuch hineingenommenen
Mirakelerzählungen. Aber ein Teil der Elia-Berichte und ebenso
die doch wohl vordeuteronomische erste Redaktion der Erzählungen
von den Sehern der Vorzeit, Samuel vor allem, zeigen, daß es
Kreise gab, welche sich nicht nur dem höfischen, sondern ebenso
dem schulmäßig organisierten prophetischen Einfluß völlig ent-
zogen und daneben andere, die zwar Beziehungen zum Hof, aber
auch zu dem gegenüber dem Königtum kritischen Jahwismus
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 20Q
unterhielten und diesen systematisch unterstützten. Dies konnten
nur begüterte und poHtisch einflußreiche fromme Laien sein.
Wir finden denn auch in der Zeit des Jeremia vornehme Sippen,
aus denen stets erneut Hofbsamte hervorgshen, die aber offen-
bar zugleich durch Generationen hindurch Protektoren der dem
Hof und den Priestern gegenüber rücksichtslos kritischen großen
Jahwepropheten waren. Derartiges mußte sich einstellen, so-
bald einmal das Prestige des Königtums durch äußere Mißerfolge
ins Wanken geriet. Diese unabhäng'gen Laienkreise und die
von ihnen geschützten reinen Jahweverehrer sind es nun offenbar
gewesen, welche sich schon früh der Sammlung der noch vorhan-
denen alten Ueberlieferungen über die vorkönigliche Zeit ange-
nommen haben. Die gelegentlich zitierten alten Liedersamm-
lungen: das »Buch der Kriege Jahwes« und das »Buch vom Bra-
ven« lagen wohl schon seit der ersten Königszeit gesammelt vor.
Vermutlich Laien haben sich der Sichtung der volkstümlichen,
im Sinne des Jahwismus verwertbaren, nicht rein militaristi-
schen Dichturgen zugewendet. Die alten Legenden, Märchen,
Gleichnisse und Sprüche haben zweifellos zunächst in den Händen
eines Standes volkstümlicher wandernder Sänger und Erzähler
gelegen, die auf der ganzen Erde bei bäaerlichen und halbnomadi-
schen Bevölkerurgen sich finden. Die alte Tradition weiß aller-
dirgs nur von ein-em Gastvolk der Musikanten, der Abkömmlinge
Jubais. Aber die Erzähler haben nicht gefehlt: die älteren Erz-
väterlegenden machen unbedingt den Eindruck dieser Herkunft.
Dagegen hat baispielsweise die umfangreiche Josephgeschichte in
der jetzigen Form bereits den Charakter einer von einem gebildeten
Dichter für jahwistische Gebildete kunstvoll geformten erbaulichen
»Novelle«, ist also Kunstdichtung. Es bestanden also Zwischen-
glieder und vor allem wohl direkt Beziehungen zwischen literarisch
gebildeten und dabei politisch und religionspolitisch interessierten
unabhängigen Laienkreisen und den Trägern der volkstümlichen
Spruch- und Legendendichtung. Diese ergeben sich auch aus
dem Charakter einiger erhaltener Erzeugnisse der »Maschal«-
(Gleichnis-) Gattung. An plastischer Phantasie steht ein Maschal
wie das Dornbuschgleichnis der Abimelechgeschichte o er das
dem Nathan in den Mund gelegte Gleichnis vom Schaf des Armen
den am besten gelungenen Gleichnissen der Evangelien eben-
bürtig zur Seite. Sie unterscheiden sich in dieser Hinsicht auf-
Max Weber, Religionssoziologie HI. M
2IO ^^^ antike Judentum.
fällig von dem typischen späteren rabbinischen Maschal i).
der fast stets ein Erzeugnis des Buchdenkens ist, daher meist nur
in der Groteske unmittelbar plastisch wirkt ^) . Der Unterschied
ist etwa so, wie zwischen den Gleichnissen von Jesus und denen
des Paulus, der sich bekanntlich gelegentlich, (wo er landwirtschaft-
liche Gleichnisse wagt) charakteristisch im Bilde vergreift^).
Zur Zeit des Jeremia finden sich zuerst (i8, i8) Spuren jener
Art der Beratung in praktischen utilitarischen AHtagsproblemen
durch Gebildete, wie sie die späteren Chokma-(Weisheits-)Lehrer
und ihre Literaturprodukte bieten. Aber diese Art Beziehung
des Literatentums zu plebejischen Interessen trat offenbar in vor-
exilischer Zeit noch weit zurück hinter dem damals alles beherr-
schenden politischen und damit untrennbar verknüpften reli-
giösen und religiös unterbauten sozialpolitischen Interesse.
Die beiden vorhin zitierten Gleichnisse sind dafür Beispiele.
Sie sind ersichtlich weit davon entfernt, naive Produkte rein
künstlerischer iVrt zu sein, sondern stehen im Dienst königs-
feindlicher jahwistischer Tendenzen. Die ganze, nach den
Zitaten und Resten zu schließen, überaus reiche und vielgestal-
tige vorexilische Volksdichtung und Literatur wurde so unter
religionspolitischen Gesichtspunkten verarbeitet. Wenn aus ihr
nur das und nur in der Form erhalten ist, was und wie es Auf-
nahme in den jetzigen Kanon fand, so ist dies das Resultat einer
höchst penetranten geistigen Arbeit jahwistisch interessierter Intel-
lektuellenschichten. Zum Teil vollzog sich diese erst in der exili-
schen, zu einem wesentlichen Teil aber bereits in der vorexili-
schen imd zwar teilweise schon in einer noch vor dem ' i\uf-
treten der Schriftpropheten liegenden Zeit. Die Leistung dieser
Zusammenarbeitung, mag sie uns heute in vielen Punkten, auf
die zum Teil schon Goethe hinwies, literarisch unbefriedigt lassen,
war dennoch sehr bedeutend, wenn man ihre Schwierigkeiten
bedenkt. Zwischen den literarischen Produkten der vorexili-
schen Zeit sowohl wie zwischen ihren Trägern bestanden nach
Tendenz und Gesinnung scharfe Gegensätze. Zunächst standen
^) Beispiele davon hat z.B. Fiebig (Altjüd. Gleichnisse und Gleich-
nisse Jesu, Tübingen 1904) gesammelt.
2) Hiervon sind gerade manche der älteren, der palästinensischen Tannaiten-
Epoche angehörende, am meisten ausgenommen, namentlich einzelne im Trak-
tat Pirke 'aboth. Ueberhaupt ist das Urteil natürlich nur relativ gemeint.
^) Rom. IT, 17 das völlig falsche Gleichnis vom Okulieren!
1. Die israelitische Eidgenobsenschafl und Jahwe. 2 1 I
in dieser Hinsicht die Erzeugnisse der königlichen Heilsprophetie,
des nationalen Bardentums und der nationalen Geschichtser-
zählung mit den Zweigen der vom Königtum zurückgedrängten
Schichten der Jahwegläubigen in unversöhntem Gegensatz.
In den im »Hohenlied« gesammelten Resten der alten erotischen
Dichtun 4 und ebenso in den nicht zahlreichen erhaltenen alten
Königspsalmen weht eine völlig andere Luft als in den literari-
schen Produkten der jahwistischen Ir|,tellektuellen. Die Reli-
giosität der Könige stand natürlich, wo sie sich ungeschminkt
äußert, auch in allen Nachbargebieten mit der Volksfrömmigkeit
in starkem Kontrast. Zu essen bis er satt ist, zu trinken bis
er berauscht ist, Gesundheit, langes Leben, Herzens- und Sinnen-
freude, den Nachkommen ewige Herrschaft, jeden Ta^ Freude
und hohen Nilstand begehrt Ramses IV im Gebet von Osiris
als Gegenleistung gegen das, was er ihm gegeben hat. Lebens-
genuß und lange glückliche Regierung ist ganz ebenso auch das
Gebet aller bbaylonischen Könige bis auf Nebukadnezar. Anders
dürfte es auch in Israel nicht gewesen sein. Wenn die heutige
Tradition dem Salomo das früher erwähnte fromme Gebet
in den Mund legt, so entsprachen dem die ebenfalls oft sehr from-
men Inschriften Nebukadnezars und anderer Großkönige: hier
wie dort handelt es sich um Priesterprodukte. Die unglaubliche
Prahlsucht der ägyptischen ebenso wie der mesopotamischcn
Großkönige wird sicher auch den Königen Israels in der Zeit
ihrer Macht geeignet haben und stand hier wie dort in schroffstem
Widerspruch mit dem Bedürfnis der Plebejer nach einem gnädigen
Fürsprecher und Nothelfer und mit Jah^^es von jeher besonders
schwerem Zorn gegen die Hybris der Menschen. — Jahwe war
niemals ein Gott der Dynastie, . wie Assur, Marduk
oder Nebo, sondern von alters her ein Gott der israelitischen
Eidgenossen. Aber immerhin hatten die Dynastien sich, seinen
Kult zu eigen gemacht und die Könige jahwistische Barden
und Heilspropheten in ihrem Dienst. Und neben den Jahwe -
traditionen liefen die mannigfachsten ätiologischen Kultsagen
einheimischer Götter und Heroen und zahlreiche entweder aus
Aegypten und Mesopotamien, direkt oder über Phönizien, im-
portierte oder mit diesen Gebieten seit alters gemeinsame Mythen
und Vorstellungen um, an deren einfache Ausmerzung nicht zu
denken war. Die Aufgabe der Zusammenarbeitung war schwer.
Aber auch di(^ Produkte der eigentlichen Intellektuellenkultur
14*
212 I^as antike Judentum.
in Palästina müssen eine bedeutende Rolle gespielt haben. Es
fragt sich, wie sie sich zu denen der benachbarten Kulturgebiete
verhielten.
Die nominelle ägyptische Herrschaft bestand bis fast
gegen Ende der Richterzeit. Allerdings haben nach den Amarna-
briefen die Pharaonen die religiöse Eigenart des Landes nicht
angetastet und eine effektive politische Macht nach Ramses II
nur selten noch entfaltet. Aber die Möglichkeit geistigen Ver-
kehrs bestand wie in alter Zeit. In der Zeit des Sesostris kannte
man bei den halbbeduinischen Herren der Gebiete östlich von
Byblos einen lebenden ägyptischen Weisen dem Renommee
nach, oder der Erzähler der Sinuhegeschichte durfte diese Mög-
lichkeit wenigstens voraussetzen. In der Zeit völligen Verfalls
der Ramessidenherrschaft (um iioo) weiß allerdings der Stadt-
könig von Byblos nichts von dem ägyptischen Amon und seiner
von dessen Abgesandten Wen Amon geschilderten Macht ^).
Wohl aber scheinen seine Hofpropheten etwas davon gewußt
zu haben : daher erklärt sich vermutlich das Orakel eines von ihnen
zugunsten jenes Böten. Jedenfalls aber war man, infolge des
Karawanenverkehrs, in Südpalästina gut orientiert über Aegypten.
Nicht nur übernahm Salomo die Kriegswagentechnik und offen-
bar teilweise auch die Art der Tempelanlage (das »Allerhei-
ligste«) 2) ägyptischen Mustern, sondern vor allem die Joseph-
novelle zeigt eine immerhin genaue Kenntnis ägyptischer Zu-
stände und deutet überdies (einerlei ob mit Grund) Beziehungen
zu der Tempelpriesterschaft von Heliopolis an, der Hauptstätte
ägyptischer Weisheit. Daß alle Lehre und Kunst von Aegypten
nach Phönizien gekommen sei, erkennt der König von Byblos
dem Wen Amon gegenüber an ^) . Eine der Traditionen über
Mose macht auch ihn zum Träger ägyptischer Weisheit. Die Be-
schneidur g wäre nach der Josua-Tradition unmittelbar, nicht
über Phönizien, von Aegypten her übernommen. In vielen
Einzelheiten, die teils nicht interessieren, teils seinerzeit erwähnt
wurden, finden sich weitere Spuren. König Merneptah erwähnt
Kriege, die sein Heer in Palästina gegen Israel geführt habe. Daß
1) Der Reisebericht Wen Amons ist jetzt in Breasteads Records IV 563 ff.
bequem zugänglich.
*) Auch das ägyptische Allerheiligste ist dunkel und darf nur vom König,
wie später in Israel nur vom gesalbten Hohenpriester, betreten werden.
^) Reisebericht, Breastead a. a. O. 579.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 213
aber die Beziehungen keineswegs immer unfreundliche waren,
geht daraus hervor, daß neban den stammverwandten Edomitern
später ausdrücklich die Aegypter als qualifiziert zur Aufnahme
in die israelitische Gemeinde bezeichnet werden, obwohl die Tradi-
tion, nicht ganz korrekt, voraussetzt, daß die Erzväter in ihrer
Eigenschaft als Viehzüchter in Aegypten als >>unrein« gegolten
hätten ^). Die palästinischen Ausgrabungen haben, wie schon
erwähnt, massenhafte Skarabäen, die für Aegypten »ebenso
charakteristisch sind wie das Kreuz für das Christentum« (wie
Erman sich ausdrückt) zutage gefördert. — Angesichts alles
dessen ist es nun eine der auffälligsten Tatsachen : daß in der ge-
samten Tradition diese ägyptische Herrschaft absolut totgeschwie-
gen wird und daß spezifisch ägyptische Einschläge gerade in
den älteren Grundlagen der israelitischen Religiosität so gut wie
ganz fehlen, während später solche, wie wir sehen werden, viel-
leicht sich geltend machten. Jenes Schweigen hat Eduard Meyer
nur mit der Jugend der israelitischen Tradition erklären zu können
geglaubt. Allein diese bewahrt sonst gelegentlich Züge von hohem
Alter auf, wie z. B. die verschollenen Beziehurgen nach Meso-
potamien hin. Das Schweigen über die politische Herrschaft
ist wohl dadurch zu erklären, daß vom Standpunkt schon der
Chabiru und der Sa Gaz in der Amarnazeit die Herrschaft
des Pharao gar nicht praktisch in die Erscheinung trat, da sie
ja lediglich mit seinenVasallenfürsten zu tun hatten. Die wenigen
Razzias abgerechnet, war dies später erst recht so. Die sonstige
Fremdheit aber gegenüber der ägyptischen Kultur erklärt sich
ausschließlich, aber auch ausreichend, aus ganz bewußter Ab-
lehnung durch die Träger des Jahwismus. Abgelehnt wurde
der ägyptische Fronstaat, dessen entscheidende Züge ja gerade
das waren, dessen Uebernahme durch das einheimische Königtum
den entmilitarisierten Schichten am tiefsten verhaßt war. Ab-
gelehnt wurde ebenso der charakteristischste Teil. der ägypti-
schen Frömmigkeit: der Totenkult. Neben der radikalen Dies-
seitigkeit des alten Bundeskricgsgotts mit seiner rein innerwelt-
lichen Orientiertheit war dafür, wie wir sahen, der Umstand
^) Die rituelle Fremdheit der Aegypter gegenüber den Hellenen beruhte
nach Herodot darauf, daß diese Kuhfleisch aßen und es deshalb für Aegvptei
unmöglich war, sie zu küssen oder ihre Eßgeräte zu benutzen. Dies, nicht die
Viehzüchterqualität als solche, könnte der Vorstellung des Berichts Gen. 43, 32
augrunde liegen.
2 lA Das antike Judentum.
maßgebend, daß Jahwe zwar zu verschiedenen Zeiten verschie-
denartige Züge vereinigte, aber jedenfalls niemals ein chthoni-
scher Gott gewesen war, sondern zu diesen Gottheiten und der
spezifischen Art ihrer Kulte stets im schärfsten Gegensatz stand.
Dazu trat nun, daß das Verständnis der ägyptischen Sakralschrift
und die ägyptische Priesterbildung überhaupt Fremden unzu-
gänglich war. Die ägyptischen Weisheitslehrer (Ptahotep) emp-
fehlen zwar, wie das Deuteronomium, den Volksunterricht,
aber ausdrücklich mit Ausschluß der eigentlich priesterlichen
Geheimlehre, von der die israelitischen Lehrer denn auch weder
etwas wußten, noch vermutlich etwas hätten wissen wollen.
Ebenso stand es auf ägyptischer Seite. Besiegte Feinde mußten,
wie überall, den siegreichen Göttern Aegyptens Ehre erweisen.
Aber dadurch wurden sie nicht Aegypter. Tempel ägyptischer
Götter gab es nach den Inschriften in Syrien, und unter den
Ramessiden auch solche syrischer Götter in Aegypten. Aber an
dem. grundlegenden, durch die soziale Eigenart der ägypti-
schen Schreiberkultur fest gegebenen Verhältnis änderte das
nichts. Eine Eingliederung in die ägyptische Erziehung und Weis-
heit war nur für den Einzelnen als Einzelner möglich und bedeu-
tete ein völliges Aufgeben der eigenen geistigen Selbständig-
keit. Sie wäre für das Volksganze überdies von der Annahme
der verhaßten Schreiberbureaukratie untrennbar gewesen. Auch
wurde der ägyptische Tierdienst, den die Priester in Aegypten
erst ziemlich spät und im Interesse der hierokratischen Beherr-
schung der Massen systematisiert hatten, von der jahwistischen
Religiosität, nach der nur einmaligen Erwähnung bsi Hesekiel
(8, lo) zu schließen, als ein besonders würdeloser Greuel ver-
worfen. Er entsprach den Beziehungen freier Viehzüchter zu
ihrem Vieh in keiner Art und war auch der überkommenen
Eigenart Jahwes besonders fremd. Diese Ablehnung aller ent-
scheidenden Züge der ägyptischen Kultur beweist uns nun
immerhin das eine: daß wir das Vorhandensein selbständiger
und b 3 wußter geistiger Träger der Jahwereligion in Palä-
stina und ebenso in den Oasen von Edom und Midian, wie sie
die Tradition bszeügt, als eine historische Tatsache vor-
auszusetzen haben. Denn während sowohl lybische wie asiati-
sche Beduinen gleichm^äßig in fortwährendem Verkehr mit Ae-
gypten standen, Palästina aber lange Zeit von Aegypten aus direkt
I. Die isiaeliiische Eidgenossenschaft und Jahwe. 2 I 5
beherrscht wurde, haben zwar die ersteren^), nicht aber die
letzteren, jedenfalls nicht die Jahweverehrcr unter ihnen, irgend-
welche Züge der ägyptischen Religion übernommen. Die eigent-
liche Priesterlehre und vollends die schon im dritten Jahrtausend
entwickelte spekulative Theologie der Aegypter — ursprünglich
eine höchst naturalistische, später eine pantheistische Speku-
lation 2) — • blieben denn auch den levitischen Jahwisten gänz-
lich fremd. Dagegen in der volkstümlichen Frömmig-
keit und religiösen Ethik werden wir weiterhin erhebliche Ver-
wandtschaftsspuren finden.
Verwickelter ist die Beziehung zur mesopotamischen Geistes-
kultur. Einst, in der Amarnazeit, hatte die Keilschrift und die
babylonische Diplomaten- und Handelssprache ganz Vorder-
asien beherrscht und wurde von gebildeten Aegyptern verstanden.
Die Vorstellung von den Sternengeistern und ihrem Eingreifen
in irdische Geschehnisse war, wie das Deboralied lehrt, auch in
Israel heimisch. Und sogar der Schreibergott Nebo hatte an-
scheinend eine Kultstätte, und zahlreiche Einzelheiten aller
Art sprechen von alten geistigen Gemeinsamkeiten und Re-
zeptionen. Vor allem waren Maß und Gewicht, auch Münzge-
wicht, ferner aber das Recht und wichtige Teile der kosmo-
gonischen Mythen gemeinsam. Die Enge der Beziehung scheint
sich freilich verschoben zu haben, als die in der homerischen
Zeit bestehende Handelssuprematie der Phöniker aufkam. Die
alten in den ägyptischen Inschriften auftauchenden Seehandels-,
Seeräuber- und Reisläufervölker des Mittelmeers traten damals,
wenigstens relativ, zugunsten der phönikischen Meerbeherrschung
zurück: große Völkerwanderungen waren dabei mitbeteiligt.
Die phönikische Buchstabenschrift verdrängte damals in Palästina
die Keilschrift, und die Bedeutung der babylonischen Sprache
nahm langsam zugunsten der aramäischen ab. Winckler stellt
zwar fest; daß noch im 9. und selbst bis in das 7. Jahrhundert
die babylonische Sprache in Syrien gut gekannt worden ist.
Ihre endgültige Bedeutung als universelle Diplomatensprache
Vorderasiens hat die aramäische Sprache erst in der Perserzeit
erlangt. Immerhin trat Babylon für längere Zeit in den Hinter-
grund. Phönikische Königshandwerker arbeiteten an Salomos
*) Wie wir sahen, sogar den Totenkult.
2) Erman, Sitzungsber. der Berl. Ak. d, Wiss. Phil. -bist. Kl. 191 1, p. 1109.
2l6 D^s antike Judentum.
Tempel. Phönikische Sklavenhändler begleiteten die israeliti-
schen Heere zur Verwertung der Gefangenen. Die Kulte der
phönikischen Baale, des Moloch und der Astarte wanderten ein.
Die Kosmogonien, die in Palästina umliefen, trugen, nach
Ansicht der Fachleute, wesentlich phönikisches Gepräge. Ein-
zelne israelitische Stämme gerieten in phönikische Botmäßigkeit,
andere schickten Arbeitskräfte in phönikische Häfen. Königs-
nebijim phönikischer Art wurden in Nordisrael gebalten.
Die phönikischen Kulte hat erst Elia und die Revolution
Jehus vernichtet. Die alten ekstatischen Nebijim wurden von
den Puritanern verworfen. Die phönikischen Menschenopfer und
die gnostisch raffinierten onanistischen Molochopfer verpönten
die Verbote des Deuteronomium und des Heiligkeitsgesetzes.
Mit dem Neuaufstieg der mesopotamischen Großmächte
steigerte sich deren Einfluß wieder. Zeitweise ist in Jerusalem
von den tributär gewordenen Königen (namentlich Manasse)
das babylonische Himmelsheer: die Gestirne also, angebetet
worden. Mesopotamien galt in den umlaufenden Paradies-
und Sintfluterzählungen seit alters und auch jetzt wieder als
Mittelpunkt der Welt, die großen Terassentempel dort waren
als Versuche, dem Himmelsgott nahezukommen, bekannt. Die
Einzelheiten interessieren hier nicht. Denn die Hauptsache
steht fest : eine Rezeption der Priesterweisheit fand nicht
statt. Schon die babylonische (sumerische) Sakralsprache vieler
wichtiger Stücke schloß eine unmittelbare Uebernahme dieser
durch die israelitischen Priester aus. Wir wissen aber überhaupt
gar nichts davon, daß man in Palästina jemals Bestandteile der
babylonischen heiligen Literatur zu Kultzwecken benutzt hätte.
Erst viel später, in der Zeit der Abfassung der Psalmen, zeigen
sich Anklänge an einzelne Hymnendichturgen Babyloniens.
Vor allem: gerade die für die Gestaltung der Religion entschei-
denden kultischen und theologischen Grundlagen der phöniki-
schen sowohl wie der babylonischen Religion wurden von der
jahwistischen Religiosität nicht nur nicht übernommen, sondern
gan z bewußt abgelehnt. Insbesondere wurden der babylonische
Gestirndienst und die Astrologie nicht rezipiert, also der Grundpfei-
ler dessen, was man neuerdirgs (A. Jeremias) als »babylonische
Weltanschauung <t bezeichnet hat. Man kannte oder verstand die
eigentliche Geheimlehre der babylonischen Priester vom Makrokos-
mos und Mikrokosmos in Palästina vermutlich ebensowenig wie die
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 217
der ägyptischen, mögen auch Spekulationen und Manipulationen
mit heiligen Zahlen und Weltperioden in noch so viel Einzelheiten
eine Rolle in der jetzt vorliegenden Redaktion der Ueberlieferung
spielen, übrigens vielleicht erst infolge exilischer und nachexili-
scher Ueberarbeitung.
Gerade eine Grundlehre: den astrologischen Determinismus,
hat man aber ersichtlich recht gut verstanden und eben deshalb
ganz bewußt abgele hnt. Denn was sollte die levitische
Thora oder das Orakel der Propheten nutzen, wenn das Schicksal
des Einzelnen in den Sternen geschrieben stand ? Mit ihren seel-
sorgerischen und auch mit ihren Machtinteressen war dieser
Determinismus, der nur für die Gnosis von Erlösungskonventikeln
Raum ließ, ganz und gar unvereinbar. Man verwarf also diese
Lehren, welche dem massiv politischen jahwistischen Gottesbegriff
widerstrebten. Schon Jesaja (24, 23) und ebenso Jeremia (10, 2),
von dem man eine besonders nahe Beziehung zur babylonischen
Priesterschaft voraussetzen müßte, versichern Israel, daß vor
Jahwes Macht die Gewalt der Sterne dahinschwinden werde.
In der Exilszeit verhöhnt, in Babylon selbst, Deuterojesaja
nicht nur die babylonischen Magier im allgemeinen, sondern vor
allem auch (47, 13) ihre astronomische Wissenschaft und Astro-
logie. Auch in nachexilischer und rabbinischer Zeit b?stand
der Satz: In Israel gelten keine Planeten. Nicht, daß der Einfluß
der Gestirne auf die Vorgänge der Erde bezweifelt worden wäre.
Das tun auch die Propheten nicht. Ebensowenig wie die Priester
die Realität der Totenorakel und also der damit verbundenen
Jenseitsvorstellungen bezweifelten. Im Exil hat man offenbar
gelegentlich babylonische Astrologen konsultiert, und noch ein
Rabbine wird im Privatberuf als Astrologe bezeichnet. Der astro-
logische Glaube an sich bestand ja über die ganze Erde hin,
von China bis Rom und in die occidentale Neuzeit. Man glaubte
an die Sterne auch in Israel. Aber das Entscheidende war: Wie
in China noch in den letzten Jahrzehnten eine Eingabe des
Hanlinpräsidenten den regierenden Kaiserinnen vorhielt: nicht
die Gestirnkonstellation, sondern die (konfuzianische) Tugend
des Herrschers bestimme die Geschicke des Landes, und wie
in Indien K a r m a n das Schicksal einschließlich des Horos-
kops bestimmt, so sind auch in Israel nicht die Sternen-
geister die Herren der Menschenschicksale. In rabbinischer
Zeit drückte sich das in dem charakteristischen Glauben aus,
2i8 Das antike Judentum.
den der Talmud ausspricht: daß zwar alle anderen Völker der
astrologischen Heimarmene verknechtet seien, Israel aber, kraft
seiner Erwählung durch seinen Gott, nicht. In vorexilischer
Zeit waren die Sternengeister die Zebah und wie alle Zebaoth
Diener des Gottes Israels. Er allein war der Lenker aller Ge-
schicke: darauf kam es an und das schloß gerade die entschei-
denden Grundlagen der babylonischen Bildung von der Ueber-
nahme aus. In der Exilszeit finden wir demgemäß in Babylon die
Juden zwar in allen möglichen zum Teil sehr angesehenen Lebens-
stellungen, aber mit der charakteristischen Ausnahme des Schrei-
berberufs. Das konnte keinerlei sprachliche Gründe haben,,
denn die aramäische Volkssprache hatten die Israeliten gelernt,
und die Aneignung der offiziellen babylonischen Sprache würde
ihnen keine Schwierigkeiten gemacht haben. Wir finden ja auch
in der späteren Tradition vorausgesetzt, daß Juden in allerhand
Hofämtern und als Eunuchen der babylonischen Könige und
ihrer Nachfahren, der Perserkönige, zu Einfluß gelangten. Der
Ausschluß vom Schreiberberuf hatte also zweifellos andere
und zwar vermutlich kultische Gründe: die Unmöglichkeit,
diese durch Priester vermittelte Bildung sich ohne Verstoß
gegen die Gebote der jahwistischen Religiosität anzueignen.
Verwandt blieb die israelitische der babylonischen und ebenso
der phönikischen offiziellen Religiosität im Gegensatz zur ägyp-
tischen in einem wichtigen Punkt: der Ignorierung des Jenseits
und der sich daran anknüpfenden Spekulationen. Aber die spe-
zifisch babylonischen Gotteskonzeptionen: der Synkretismus,
das Götter-Pantheon, die henotheistische Absorption von
Göttergestalten durch die jeweils als Hauptgott angesehene
Gestalt als deren »Erscheinungsformen«, die immer wieder
überragende Stellung des Sonnengotts blieben der israelitischen
Gotteskonzeption ebenso fremd wie die andersartigen, aber im
Resultat vielfach ähnlichen ägyptischen Konzeptionen. Wo sich
in Babylonien »monotheistische« Tendenzen zeigen, sind sie we-
sentlich entweder solar oder politisch-dynastisch bedingt, meist
aber beides, ähnlich wie es die Reform des Echnaton in Aegypten
war. Jahwe aber war nun einmal weder ein Sonnengott noch ein
Gott der Dynastie, sondern ein eidgenössischer Bundesgott.
Die in Babylonien starke Tendenz ferner, von den chthonischen
und Vegetationskulten aus die Götter des den Menschen, Tieren,
Pflanzen gemeinsamen Lebens und der Fruchtbarkeit zu Not-
Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 2 IQ
hflfergottheiten, insbesondere Istar zur barmherzigen Fiirspre-
cherin zu machen, mußte dem Jahwismus fremd bleiben. Jahwe
selbst und allein ist der Heiland. Nergal, der ähnlich wie ur-
sprünglich Jahwe ein Gott gewisser furchtbarer Volksgeißeln,
vor allem auch der Seuchen war, stand ihm als Gott des Toten-
reichs fremd gegenüb.n- und die in theophoren Eigennamen
auch in Kanaan hervortretende Verehrung Adads, der als Gott
des Sturms und Kriegs mit Jahwe Verwandtschaft zeigte, hat
auf dessen Konzeption keinen ersichtlichen Einfluß ausgeübt.
Eine den babylonischen Priestern gleichartige Bildungsschicht gab
es in Israel, eine den israelitischen Thoralehrern gleichartige Bil-
dungsschicht gab es in Babylonien nicht. Die unter allen Um-
ständen, bei noch so vielen Einzelanklängen, feststehende Ab-
lehnung gerade der imponierendsten Produkte der babylonischen
Gestirnkunde zeigt wiederum deutlich die große Selbstän-
digkeit der intellektuellen Kultur in Palästina gegenüber
den Nachbarländern.
Wir haben uns also sehr zu hüten, uns Palästina als ein zu
irgendeiner historischen Zeit von eigenen Bildungsschichten
entblößtes Gebiet vorzustellen, in welchem nur barbarische Magie
und ganz primitive religiöse Vorstellungen geherrscht hätten.
In einem Briefe eines Kanaanäers aus etwa dem 15. Jahrhundert
an einen Fürsten wird die Gnade des Herrn der Götter für diesen
gewärtigt, denn er, der Fürst, sei ein »Bruder«, welcher »Liebs«
im Herzen trage, also doch wohl: ein Glaubensgenosse. Und der
Absender fährt fast im Missionarstil fort, die Bedeutung der Gnade
dessen, der »über seinem Haupt« und auch »über den Städten«
sei, für den Erfolg des Königs zu betonen. DL^artige Konzeptionen
lagen den Hirten und Bauern des altisraelitischen Heerbanns
gewiß fern. Aber für die bedeutenderen Städte sprechen alle
Anzeichen gegen die Annahme ihres völligen Schwindens. Um
so erfolgreich, wie es geschah, die religiösen Konzeptionen großer
Kulturgebiete, deren Einfluß in allen anderen Sphären ganz offen-
sichtlich ist, ablehnen und eigene, davon charakteristisch ab-
weichende Konzeptionen schaffen zu können, mußte eine eigene
Bildungsschicht vorhanden sein, welche die in der Umwelt
vorhandenen alten Orakel und Verheißungen selbständig auf-
nahm und rational verarbeitete. Das konnten weder die ekstati-
schen Nebijim, deren Schulüberlief erurg nur Mirakelerzählungen
von der Art der Elisageschichten produzierte, noch die höfischen
2 20 ^^^ antike Judentum.
Kreise, welche jene verachteten, noch endlich die Hirten und
Bauern und ihre Kriegspropheten sein. Zwar hat man keinen
Grund, sich das israelitische Landvolk als besonders »stumpf«
vorzustellen, wie gelegentlich ^) geschieht. »Stumpf« wird
der Bauer überall erst, wo er in einen ihm fremdartig gegenüber-*
stehenden bürokratischen oder leiturgischen Großstaatmechanis-
mus eingespannt oder grundherrlicher Verknechtung preisge-
geben ist, wie in Aegypten, Mesopotamien, den hellenistischen
und dem spätrömischen Staatswesen. Im Gegensatz dazu war
der vorexilische israelitische Plebejer zuerst wirklich, später
seiner Erinnerung und seinem Anspruch nach, ein freier wehr-
hafter Eidgenosse, der die Ritterschaft der Kulturgebiete besiegt
hatte. Aus sich selbst hätte er freilich die rationalen Konzep-
tionen der alttestamentlichen Schriften nie zu schaffen vermocht.
Das mußten andere für ihn tun. Aber für die meisten von ihnen
war er aufnahmefähig. Und gerade in dem Aufeinanderwirken
einer begeisterten Intellektuellenschicht mit diesem Publikum
von Schichten, welche durch die Entwicklung der Königszeit
entmilitarisiert und sozial deklassiert waren, liegt eines der Ge-
heimnisse der Entfalturg des Jahwismus. Kaum je sind ganz
neue religiöse Konzeptionen in den jeweiligen Mittelpunkten
rationaler Kulturen entstanden. Nicht in Babylon, Athen,
Alexandria, Rom, Paris, London, Köln, Hamburg, Wien, sondern
in dem Jerusalem der vorexilischen, dem Galiläa der spätjüdi-
schen Zeit, in der spätrömischen Provinz Afrika, in Assisi, in
Wittenberg, Zürich, Genf und in den Außengebieten der hol-
ländisch-niederdeutschen und englischen Kulturzonen, wie Fries-
land und Neu-England, sind rationale prophetische oder refor-
matorische Neubildungen zuerst konzipiert worden. Aber frei-
lich nie ohne den Einfluß und Eindruck einer benachbarten
rationalen Kultur. Der Grund ist überall ein und derselbe: um
neue Konzeptionen religiöser Art zu ermöglichen, darf der Mensch
noch nicht verlernt haben, mit eigenen Fragen den Gescheh-
nissen der Welt gegenüberzutreten. Dazu hat gerade der abseits
von den großen Kulturzentren lebende Mensch dann Anlaß,
wenn der Einfluß jener ihn in seinen zentralen Interessen
zu berühren oder zu bsdrohen beginnt. Der einmal inmitten
kulturgesättigter Gebiete lebende, in ihre Technik verflochtene
Mensch stellt solche Fragen ebensowenig an die Umwelt, wie
1) z. B. von Klamroth, a. a. O.
I
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 221.
etwa das Kind, welches täglich auf der elektrischen Bahn zu
fahren gewohnt" ist, von selbst auf die Frage verfallen würde:
wie diese es eigentlich anfängt, in Bewegung gesetzt werden zu
können. Die Fähigkeit des Erstaunens über den Gang der
Welt ist Voraussetzung der Möglichkeit des Fragens nach ihrem
Sinn. Jene Erlebnisse nun, welche die Israeliten vor dem Exil
gemeinsam hatten und die ihnen Anlaß zu solchen Fra Bestellungen
gaben, waren: die großen Befreiungskriege und die Entstehung
des Königtums, die Entstehung des Fronstaats und der stadt-
sässigen Kultur, die Bedrohung durch die Großmächte, nament-
lich aber: der Zusammenbruch des Nordreichs und das jedermann
sichtbar vor Augen stehende gleiche Schicksal des Südreichs
als des letzten Restes unvergessener Herrlichkeit. Dann das
Exil. Die Freiheitskriege schufen das Prestige Jahwes als Kriegs-
gott. Die soziale Deklassierung und Entmilitarisierung der Träger
des alten Jahweheerbanns schufen die jahwistische Geschichts-
legende. Die ganz großen Fragen der Theodizee aber warf er^t
der drohende Zusammenbruch des Reiches auf.
Der zweiten Epoche gehört nun offenbar im wesentlichen
jene geistige Arbeit an, welche die beiden großen später zusam-
mengearbeiteten Redaktionen des Hexateuch schuf, Erzeugnisse
zweier religiöser Literatengruppen, die heute nach der Art des
verwendeten Gottesnamens als »jahwistische« und »elohistischeo
unterschieden zu werden pflegen ^). Diese Sammler und Schrift-
steller standen augenscheinlich selbständig neben den ursprüng-
lichen Bearbeitern der rein historischen Traditionen und Le-
genden in den Richter- und Königsbüchern. Denn alle Versuche,
die Scheidung der beiden Schulen auch in diesen Schriftwerken
durchzuführen, scheinen mißglückt zu sein. Der Bildungsgrad
beider Sammler oder Sammlerschulen muß als erheblich gelten,
weil sie zahlreiche Namenetymologien und ätiologische Erzäh-
lungen bringen, welche entschieden geistreich und meist keines-
falls volkstümlichen Ursprungs sind. Der letzten Epoche gehört
die Jerusalemiter deuteronomische Schule an, der Exilszeit und
^) Ueber die Verteilung des Stoffes des Hexateuch auf die beiden Samm-
lungen und auf spätere (deuteronomische, priesterliche, sonstige) Einschübe haben
seit de Wette Generationen von Forschern gearbeitet. Die grundlegenden
Resultate sind unter dei großen Mehrheit der Forscher nicht bestritten, so-
viel Einzelpunkte zweifelhaft bleiben. Nur die Versuche, die großen Sammlungen
immer weiter in Schichten zu zerlegen, haben als Rückschlag den aussichtslos
scheinenden Versuch gezeitigt, auch die gesicherten Resultate wieder anzufechten.
222 D^^ antike Judentum.
teilweise der Zeit nachher die im engeren Sinn priesterliche Er-
gänzung und Ueberarbeitung der vorhergehenden Epochen, wenn
auch deren Anfänge in die Zeit vor dem Exil zurückreichen werden .
Die jahwistische und die elohistische ^) Sammlung stehen
noch nicht unter dem schweien Theodizeeproblem, welches
durch den Niedergang der nationalen Staatswesen aufgeworfen
werden mußte. Ihr Monotheismus ist maiver« Monotheismus.
Ebenso fehlt ihnen noch die Kenntnis des Kampfs der aufsteigen-
den Priestergewalt mit der prophetischen, gegen den Opferdienst
indifferenten Bewegung. Ebenso wissen sie noch nichts von dem
späteren Abscheu gegen die alten ländlichen Kultstätten und
gegen die Kultparamente und Bilder. Dagegen sind diese Samm-
lungen, von denen die eine bis in Saldmos Zeit, die andere bis
mindestens ins 8. Jahrhundert hinaufreichen, beeinflußt von der
sozialen Problematik, welche das Königtum hervorgebracht hat.
Daher bilden in beiden die Erzväterlegenden — mit denen der Elo-
hist überhaupt erst beginnt — einen wichtigen Teil der Darstellung
und beide befassen sich dann ausführlich mit dem Auszug aus
Aegypten und der Eroberung Kanaans unter Mose und Josua,
mit den kultischen, sittlichen und rechtlichen Geboten, welche
Jahwe damals dem Volk auferlegt hat. An Alter des Materials
dürfte, wie in den Segensammlungen, bald die eine bald die andere
in frühere Zeiten hinaufreichen. Ob das Bundesbuch und der
ethische Dekalog einen ursprünglichen Bestandteil der elo-
histischen Sammlung, der kultische Dekalog der jahwistischen
Sammlung gebildet haben, ist in keiner Art sicher, auch für die
Charakteristik sachlich nicht wichtig. Denn beide Sammler
wirken durch die Art ihrer Erzählung an sich ethisch paradig-
matisch und bezwecken dies auch, so wenig es ihnen gelungen
ist, die oft recht unethischen Bestandteile der alten Sagen aus-
zumerzen. Für die Zeit seit Abraham haben beide Sammlungen
annähernd das gleiche Material verwendet. Einen eigentlichen
Gegensatz der »Tendenz« zwischen ihnen zu konstruieren wäre
^J Ueber das Verhältnis beider jetzt sehr schön die Schrift von P r o c k s c h,
Die Elohimquelle (Uebersetzung und Erläuterung) Leipzig 1906. Procksch
nimmt einen gewissen Einfluß des Elia auf die Redaktion an und sucht (p. 197)
in geistreicher Art namentlich den Gebrauch des Elohim-Namens von daher
(Absicht, die Einzigkeit des Werts zu betonen) zu erklären. Ueber die wichtige,
aber für den Nichtfachmann ganz unentscheidbare Frage eines ursprünglich
rhythmischen Charakters der Erzählung s. Sievers, Abh. der Kgl. Sachs. G. d.
Wiss. XXI— XXIII (1901, 1904, 1906), mit dem Procksch S. 210 f. sich ausein-
andersetzt.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 223
irreführend. Beide verklären, der Stimmung ihres PubUkunis
entsprechend, die Zeit der Entstehung des Volks. Ebenso läßt
sich eine größere »Volkstümlichkeit« von keiner von beiden oder
wenn man will bald von dieser bald von jener behaupten. Schwer-
lich absichtslos lassen sie beide die damals volkstümlichen Ver-
heißungen: — Israel zum großen Volk zu machen, seine Freimde
zu segnen, die Feinde zu verfluchen und einen Namen zu hinter-
lassen, mit dem sich noch in später Zeit alle anderen Geschlechter
der Welt segnen werden, — nicht etwa einem König oder dessen
Ahnen, sondern den alten legendären Stammvätern des Volks
gegeben sein. Vielleicht ist diese Auffassung der alten Legenden-
helden als Stammväter Gesamt-Israels eine der Leistungen dieser
Schriftsteller. Die ihnen gegebenen Verheißungen aber sind bei
ihnen noch unbedingte, an keine Leistung geknüpfte Zusagen
der Freundschaft des Gottes für Israel durch Dick und Dünn.,
was der späteren prophetischen Anschauung ganz ebenso
stracks zuwiderlief j wie dies dieHeilsprophetienderKönigsnebijim
taten. Ferner spielt die Verklärung des Mose weder in der poli-
tischen noch in der hymnischen noch in der prophetischen Li-
teratur, noch natürlich in der späteren priesterlichen Redaktion,
welche ihm nach Möglichkeit den Priester Aaron unterschob,
eine solche Rolle wie bei ihnen. Und doch erweisen dasDeboraUed
und die später in das Deuteronomium eingefügte Segensspruch -
Sammlung sein volkstümliches Prestige als unbedingt und alt,
nicht erst nachträglich konstruiert. Alte populäre, dem König-
tum schwerlich bequeme, Traditionen setzten also diese Sammler
fort. Und zwar jede von beiden Schulen in einer etwas ab-
weichenden Art. Beiden sind die Erzväter friedliche Hirten.
Aber die elohistische Sammlung betont stärker ihre Stellung
als gerim der ansässigen mit ihnen durch berith Verbrüder-
ten Bevölkerung, während anderseits die offenbar stärker levi-
tisch beeinflußte jahwistische Erzählung (in der Geschichte von
Isaaks Brautwerbung) bereits die Abneigung gegen die Misch-
ehen mit den Kanaanäern kennt. Daß die Ackerarbeit Folge
eines göttlichen Fluchs sei, ist wesentlich die Ansicht des Jah-
wisten. Ihm ist das Paradies ein bewässerter und bepflanzter
Fruchtgarten nach Art einer Steppenoase. Der Elohist, der den
Mosessegen aufgenommen hat, scheint etwas von einem An-
spruch des Stammes Joseph auf die Königswürde zu wissen , während
beim Jahwisten im Jakobsegen Juda statt Rüben und Joseph
224 ^^^ antike Judentum.
Träger der Verheißung ist. Diese und ähnliche spezifische Züge
machen die von namhaften Forschern vertretene Annahme
wahrscheinUch, daß im ganzen die elohistische Redaktion mehr
nördlich, die jahwistische mehr südlich beeinflußt ist, während
dem Alter nach bald die eine bald die andere, im großen Durch-
schnitt wohl eher die jahwistische Sammlung als die etwas ältere
gelten darf. Auch daß der Elohist den Abraham und überhaupt
alle religiösen Heroen als Nebijim, die Helden aus Joseph als
Nasiräer aufzufassen geneigt ist, zeugt für seine im ganzen nörd-
liche Herkunft. Ebenso, daß in der elohistischen Redaktion die
Einsetzung der Aeltesten in Israel ätiologisch begründet wird,
während für die jahwistische Mose, also: die levitischen Priester,
die Rechtsfinder sind, wie es im Süden vermutlich mindestens
dem Anspruch nach weitgehend der Fall war. Puritanische
Einflüsse sind beim Jahwisten leicht zu finden. Wenn in der
jahwistischen Sündenfallerzählung die Schlange eine so hervor-
ragende Rolle spielt, so dürfen wir uns erinnern, daß den ägypti-
schen Magiern in der Auszugserzählung ähnliche Stäbe zuge-
schrieben werden wie der mosaische Schlangenstab im Tempel
von Jerusalem und daß dieser Schlangenstab des Mose von der
elohistischen Redaktion der Wüstengeschichte mit magischer
Therapie in Zusammenhang gebracht wird. Hat es also je, wie
teilweise angenommen wird, einen Schlangenkult und levitische
»Medizinmänner« gegeben, so dürfte die schroffe Ablehnung
durch die jahwistische puritanische Tradition, welche unter
Hiskia zur Zertrümmerung des Idols führte, sich hier darin
äußern, daß nun gerade die Schlange und ihre an sich unbe-
zweifelte Weisheit als Quelle alles Bösen hingestellt wurde.
Ob dabei, wie teilweise angenommen wird, auch die häufige Quali-
tät der Schlange als Goctestier für das Totenreich mitspielte.,
scheint nicht sicher auszumachen.
Der Unterschied der Provenienz scheint sich auch in der
Behandlung der Gotteskonzeption auszudrücken.- Zwar für
beide Sammlungen stand als Ausgangspunkt absolut fest die
Qualität des Gottes als eines persönlichen die Geschicke der Men-
schen in der Welt durch sein Eingreifen bestimmenden, aber
mit Israel seit Mose durch berith und Eidschwur verbundenen
und dessen Satzungen garantierenden Herrn. Daran war nicht
zu rütteln. Der Jahwe des Mose und der alten Kriegspropheten
war eben niemals jener ganz primitive Unhold, zu dem man ihn
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 22 5
im Interesse einer geradlinigen Entwicklung gelegentlich hat
stempeln wollen. Andererseits konnte er nicht zu einer unper-
sönlichen Weltpotenz verflüchtigt werden wie in China und In-
dien. Gewisse universalistische Züge trägt er, aus den früher
erörterten Gründen, bei beiden Sammlern. Nur in verschiedener
Art. Die jahwistische Auffassung stellt ihn, wie man oft bemerkt
hat, in zuweilen sehr drastisch anthropomorpher Form dar.
Von den grandiosen aber abstrakten Konstruktionen der Exils-
priester, wonach Jahwes über dem Chaos brütender Geist durch
ein Zauberwort das Licht aufblitzen läßt und dann weiter Tag für
Tag durch sein bloßes Gebot eins nach dem andern aus dem
Nichts entsteht (Gen. i), ist keine Rede. Jahwe hat (Gen. 2)
auf der bis dahin wüsten und dürren Erde zuerst Wasser quellen
lassen, dann den Menschen aus Erde geformt, durch Einblasen
seines Odems belebt und dann erst Pflanzen und Tiere entstehen
lassen. Diese stellt er nun dem Menschen vor und überläßt ihm
das nach Auffassung seiner Zeit und (ägyptischen) Umwelt
höchst wichtige Geschäft: sie zu benennen. Es will ihm zuerst
nicht gelingen, eine dem Menschen zusagende Gesellschaft für
diesen zu bieten, bis er aus einer Rippe das Weib erschafft,
welches der Mensch sofort als seines Wesens erkennt. In der
Abendkühle spaziert dieser Gott in seinem Garten Eden, in den
er auch den Menschen hineinsetzt, wie ein Schech einer Oase.
Er verhört ihn persönlich, als er verbotswidrig an seine Bäume
gegangen ist und jagt ihn zur Strafe mit einem Fluch hinaus.
Er muß aber dabei den Menschen, der sich versteckt hat, erst
suchen und rufen. Ebenso muß er, um den Riesenbau in Babylon
zu sehen, erst dorthin niederfahren. Hat er etwas zu befehlen
oder zu verheißen, so erscheint er den Menschen persönlich. Noch
den Mose hat er, im Widerspruch mit der späteren Tradition,
sein Angesicht wirklich schauen lassen, auch mit den Aeltesten
Israels zusammen auf dem Sinai getafelt. Es ist also ein Gott
der leibhaftigen Epiphanien, ganz und gar nach menschlichen
Motiven handelnd, aber doch ein Gott, der die ganze Erde gemacht
hat und auch in Babylon, dem Mittelpunkt der Weit, seine Macht
äußert. •
Diese anthropomorphe Leibhaftigkeit nun war der elohisti-
schen, bei aller Volkstümlichkeit darin doch weit mehr unter
den alten im Norden stärker gebliebenen Kultureinflüssen ste-
henden Auffassung offenbar peinlich. Ihr ist der Gott Israels
Max Wehe r, Religionssoziologie HI. ^5
220 ^^^^ antike Judentum.
der höchste Himmelsgott, der nicht auf Erden unter den Men-
schen wandelt. Sie läßt in der jetzigen Redaktion diese Urge-
schichte ganz beiseite und beginnt mit den Erzväterlegenden,
wobei dahingestellt bleiben muß, ob dies ursprünglich so war
oder ob vielleicht die spätere Zusammenarbeitung hier elohisti-
sche Auffassungen nicht übernehmen wollte, welche mit der
Gottesvorstellung ihrer Zeit sich nicht mehr vertrugen. Jedenfalls
läßt die elohistische Redaktion die göttlichen Befehle und Ver-
heißungen mit Vorliebe entweder im Traum, oder durch einen
Ruf vom Himmel oder endlich durch einen Boten (malak) oder
Engel des Gottes erfolgen. Vereinzelt (Gen. 15, 6) kommt dies
auch beim Jahwisten vor. Die Konzeption der Gottesboten ist
alt. Das nordisraelitische Deboralied kennt ihn bei der Verflu-
chung von Meros. Der Elohist verwandelt aber alle überlieferten
Theophanien in ein Auftreten solcher Mittelwesen. Das ist ein
offenbares Theologumenon. Ihm traten in den späteren Redak-
tionen der Sammlungen andere, an sich vielleicht alten Vorstel-
lungen entnommen, zur Seite. So die unpersönliche »Herrlichkeit«
(kabod) des Gottes. Sie wird namentlich dazu benutzt, die bei
der seßhaften, namentlich der stadtsässigen, Bevölkerung üb-
liche Vorstellung von der Lokalisierung des Gottes am Kult-
ort, namentlich im Tempel, mit der Konzeption des fernen großen
Himmelsgotts zu versöhnen. Nicht er selbst, sondern seine kabod
hat sich in Gestalt einer strahlenden Wolke an der Kultstätte
niedergelassen (Ex. 40, 34 f.). Oder es stellt sich eine andere
unpersönliche Macht, das »Antlitz« (phanim), das »Wort« (dabar),
der »Geist« (ruach), besonders oft aber nach ägyptischer Art
der »Name« (schäm) Gottes als wirkend ein. Die schwerlich
feststellbare Herkunft all dieser Theologumena soll uns hier nicjit
interessieren, nur von dem zuletzt genannten ist bald noch näher
zu reden.
Solchen Spiritualisierungstendenzen kamen nun die alten
Erzväterlegenden insofern entgegen, als in ihnen wie in allen
solchen theologisch nicht verarbeiteten volkstümlichen Erzäh-
lungen vornehmlich die Menschen handelten, und nicht, wie in
der jahwistischen Urgeschichte, der Gott. Zwar einige besonders
alte, weil ursprünglich polytheistische, Epiphanien mußten
beibehalten werden. Aber der Erzvätergott wurde im allgemeinen
ein Gott mit geheimnisvollen Zügen, den man nur indirekt,
in allerhand Fügungen des Schicksals, erkennt. Ein erbaulicher,
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 227
zuweilen rührsamer Zug, wie ihn namentlich die künstlerisch
ausgeführte religiöse Novellistik zu erzeugen pflegt, tritt öfter,
am deutlichsten in der Josephgeschichte und in der Erzählung
von der Opferung Isaaks hervor. Diese Art der Pragmatik war
Quelle desjenigen Rationalismus, der zum Vorsehungsglaubeu
führte. Andererseits zeigen jene Theologumena doch auch
eine gewisse Neigung zur Entwicklung unpersönlicher göttlicher
Potenzen: Vorstellungen, welche gerade mit der orgiastisch-ek-
statischen Eigenart der nordisraelitischen Gottbesessenheit ebenso
wie überall sonst in innerer Verwandtschaft standen.
Aber eben diese theologische Tendenz wurde später offen-
bar bewußt wieder verlassen. Nur jenes der steigenden Majestät
des Gottes dienliche und die allzugrob anthropomorphen Theo-
phanien vermeidende, alte Theologumenon vom Gottesboten
ist dauernd beibehalten, die andern vor dem Exil nur
rudimentär entwickelt. Der Grund war offenbar rein praktisch.
Die levitische Priesterthora : die Beratung der von Mißgeschick,
also von Gottes Zorn, Verfolgten hatte an Bedeutung gewonnen
Tmd der Kampf der puritanischen Jahwisten des Südens gegen
die orgiastische Gottesgemeinschaft und Gottbesessenheit des
Nordens ein.^esetzt. Das Interesse an rationaler Belehrung
über die Absichten und Befehle des Gottes, übsr kultische und
ethische Sünden vor allem und die Abwehr von deren Folgen,
hatte sich entwickelt und dies Theodizee-Bedürfnis mußte
um so mehr an Bedeutung steigen, je bedenklicher sich die
politische Lage des Volkes gestaltete. Diesem plebejischen
Bedürfnisse aber kam der leibhaftige massive, dereinst mit den
Menschen persönlich verhandelnde Gott der jahwistischen Re-
daktion weit besser entgegen als die sublimiertere Auffassung
der elohistischen Schule. Man bedurfte der verständlichen
Motivierung der göttlichen Ratschlüsse und dazu der Möglich-
keit, sich auf persönliche leibhaftige Aeußerungen von ihm zu
berufen. Die vorexilischen Propheten erhalten ihre Befehle
und Orakel nicht durch Boten, sondern unmittelbar, obwohl
sie im übrigen durch die elohistische Auffassung oft ganz offen-
sichtlich besonders stark beeinflußt sind: — Folge des nordisraeli-
tischen Schauplatzes des ersten, stark nachwirkenden, Auf-
tretens der Prophetie. Bei der Zusammenarbeitung der alten
Sammlungen durch die, nach Wellhausens Vorgang, heute
meist als »jehovistisch« bezeichnete Redaktion tritt deshalb der
«5*
228 ^^^ antike Judentum.
alte Gott der Väter und des Bundes wieder sehr oft persönlich
auf. Und nunmehr, dem rationalen Bedürfnis der Intellektuellen
entsprechend, vor allem: redend (Gen. 13, 14 f.) oder mit seinen
Propheten argumentierend. Oder es werden geradezu seine in-
ternen Erwägungen wörtlich vorgeführt (Gen. 16, 17 f.). Dafür
bot schon die ältere jahwistische Darstellung jener Uebsrlegungen,
welche Jahwe zur Bestrafung des Sündenfalls und zur Zerstö-
rung des babylonischen Terrassenturms veranlaßt hatten, das
Vorbild. Aber die Art der Motive ändert sich. In der primitiven
Vorstellung, die noch bei dem Jahwisten nachwirkt, waren wie
in allen alten Mythen egoistische Interessen, vor allem die Eifer-
sucht des Gottes gegen die ihn bedrohende Hybris: die zuneh-
mende Weisheit und Macht der Menschen, für seine Entschlüsse
maßgebend. In den späteren Redaktionen dagegen ist wohl-
wollende Fürsorge für die Menschen das entscheidende Motiv.
In der Schlußredaktion der Erzählung vom Wüstenzug erwägt
z. B. der Gott die verschiedenen Möglichkeiten des Verhaltens
der Israeliten, zu deren Standhaftigkeit er geringes Zutrauen hat,
je nach dem Weg, den er sie führt, und entschließt sich danach
lediglich in ihrem Interesse. Das Charakteristische bleibt: daß
überall nach rein menschlich verständlichen Motiven
des Gottes gefragt und darnach die Darstellung gestaltet wird.
Deutlich ist auch sonst zu sehen, wie das intellektualistische
Streben nach Sublimierung der Gotteskonzeption mit den Inter-
essen der praktischen Seelsorge im Streit lag. Die alten
Sagen ließen in unbefangener Weise Jahwe sich seine Entschlüsse
und Handlungen »gereuen«. Schon ziemlich früh schien dem
Rationalismus der Schriftsteller zweifelhaft, ob dies der Maje-
stät eines großen Gottes angemessen sei. Bileam wird daher
der Spruch in den Mund gelegt, daß Gott nicht »ein Mensch sei,
den etwas gereuen könne << und dies wurde dann öfter wiederholt
(Num. 13, 19; I. Sam. 15, 29). Allein das praktische Bedürfnis
der levitischen Paränese stand der Durchführurg dieser Subli-
mierung im Wege. Wenn die einmal gefaßten Entschlüsse
des Gottes endgültig feststanden, dann waren ja Gebet, Gewissens-
erforschung und Sühne nutzlos. Es war dann die gleiche fatali-
stische für die Seelsorgerinteressen der Thoralehrer verderbliche
Konsequenz zu befürchten, die man an der astrologischen Deter-
miniertheit der Schicksale scheute. Immer wieder läßt daher die
spätere Redaktion der Mosegeschichten den Propheten den Zorn
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 220
Jahwes durch seme Fürbitte besänftigen. Jahwe ändert seinen
Entschluß, entweder auf Fürbitte oder auf Reue und Buße hin.
Das gleiche läßt die Nathan-Tradition dem David und die Elia-
Tradition dem Ahab widerfahren, als sie Buße tun. Dieser
anthropomorphe und daher verständliche Gott kam eben da-
mals geradeso wie heute den praktischen Notwendigkeiten der
Massen-Seelsorge besser entgegen. Das de uter onomische Kom-
pendium fand den Ausweg, daß Jahwe im voraus sein Verhalten
von dem Handeln der Menschen abhängig macht: »Seht, ich
lege euch heute Segen und Fluch vor«, — wählt.
Aehnlich und aus ähnlichen Gründen zwiespältig blieb die
Stellungnahme in anderen Problemen, vor ^.llem in der letzten
Frage : der Theodizee. Die alte Grundlage der Beziehung Jahwes
zu seinem Volk war die berith. Der Eidschwur Jahwes, mit diesem
Volk als mit dem seinigen sein zu wollen, schien aber durch das
stete Unheil, welches politisch teils drohte, teils hereinbrach,
in Frage gestellt zu sein. Der Jabwist hilft sich gelegentlich,
in der ziemlich spät übernommenen Sintflutsage, damit, daß ein
für allemal alles Tun der Menschen »böse von Jugend auf« sei. •
Darnach hatten die Menschen schlechthin alles Ueble verdient.
Aber da Jahwe trotz allem nun einmal den lieblichen Geruch des
Opfers nicht entbehren mag, beschließt er gerade um der Unver-
meidlichkeit ihres üblen Tuns halber in Zukunft wenigstens
nicht mehr in einer Sintflut die ganze Welt zu verderben (Gen. 8,
2i): — übrigens ein Anklang an den Schluß der babylonischen
Sintflutsage, wie noch zu erwähnen sein wird. Jene pessimistische
Beurteilung der Menschen stammte wohl aus der Beichtpraxis
der südlichen Thoralehrer. Sie war nicht die allgemein rezipierte,
welche in Israel stets den Menschen als schwach, aber nicht als
konstitutionell verderbt ansah. (Nur die Unheils-Prophetie
der Endzeit Israels neigte wieder dazu.) Daß vor Jahwe niemand
unschuldig sei, war eine weit adäquatere Formulierung (Ex. 34, 7)
und dies Argument entsprach offensichtlich auch den prakti-
schen Bedürfnissen der Seelsorge gegenüber schuldlos Leidenden.
Indessen damit war das Problem des speziellen Unheils Israels,
welches doch immerhin Jahwes Volk war, nicht gelöst. Das ge-
gebene Mittel hierfür war natürlich der Hinweis darauf: Jahwe
habe seine alten Verheißungen selbstverständlich an die Bedin-
gung geknüpft, daß das Volk seinen rituellen und ethischen Ver-
pflichtimg en nachkomme, und das sei nicht geschehen. Tatsäch-
2^0 ^^^ antike Judentum,
lieh wurden denn auch allmählich alle alten Verheißungen aus
ursprünglich unbedingten Versprechungen Jahwes in bedingte
Zusagen für den Fall des Wohl Verhaltens umstilisiert. Auch das
entstammte zweifellos den praktischen Bedürfnissen nach einer
rationalen Theodizee und war vor allem, wie wir sehen werden,
eine Grundthese der Prophetie. Indessen erhoben sich Schwierig-
keiten: Die alte Vorstellung der Solidarhaftung der Gemeinschaft
für das Tun aller Einzelnen und der Nachfahren für das der Vor-
väter, wie es dem Bluträcher und dem politischen Feind gegen-
über bestand, war in einer freien Eidgenossenschaft ursprünglich
eine Selbstverständlichkeit und auch pragmatisch sehr brauch-
bar i). Dagegen war aber die Frage zu fürchten: was nutzte
dem Einzelnen die Erfüllung der Gebote Jahwes, wenn das Tun
anderer ihn dennoch schuldlos in Unheil verstrickte ? Für die
Sünden der Mitlebenden gab es das Auskunftsmittel, die Sünder
durch Cherem dem Gott zu weihen und zu steinigen. Das geschah
denn auch ganz ebenso, wie man etwa einen alten Frevel gegen
eine Metöken gemeinde durch Auslieferung der Frevler oder ihrer
Angehörigen von sich abwendete, was unter David mit der
Familie Sauls an Gibeon geschehen sein soll. Die sichemitische
Fluch- und Segenszeremonie hat wenigstens in späterer Zeit
wohl ebenfalls dem Zweck gedient: die Haftung der Gemein-
schaft durch Abladung des Fluchs auf die Person der Sünder
von ihr abzuwälzen. Die Todesstrafe gegen den Mörder wurde
ausdrücklich als Reinigung des Landes von der Solidarhaft
für die Schuld gegen Jahwe aufgefaßt, für Fälle, wo der Mörder
nicht auffindbar war, besondere Sühne-Zeremonien geschaffen.
Indessen für die Sünden der Vorfahren gab es dies Mittel nicht.
Hier galt das bittere, von Hesekiel zitierte Volkssprichwort:
»Die Väter haben Herlinge gegessen und den Söhnen sind davon
die Zähne stumpf geworden.« Auch da drohten also fatalisti-
sche, den Seelsorgeinteressen abträgliche Konsequenzen. Des-
halb offenbar entschloß sich, wie früher erwähnt, die deutero-
nomische Schule unter dem Einfluß der levitischen Thoralehrer
dazu, die Haftung der Nachfahren für die Väter überhaupt
ganz abzulehnen, für die Rechtspraxis ebenso wie in der ethischen
Verantwortlichkeit. Jedoch die Schwierigkeit war, daß man
^) Vgl. über die Entwicklung der Vorstellung namentlich L ö h r , So-
zialismus und Individualismus im A. T. (Beiheft lo zur Z. f. A- T. W. 1906)
Die Schrift ist gut, nur der Titel vielleicht etwas irreführend.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 23 1
den Gedanken der Vergeltung für Sünden der Vorfahren schließ-
lich doch zum Zweck der Theodizee nicht entbehren konnte,
da es keine Jenseitsvergeltung gab und die Beobachtung immer
wieder zu lehren schien, daß der Einzelne eben nicht nach Ver-
hältnis seiner Sünden und Guttaten gestraft und belohnt wurde.
Vor allem für die politische Theodizee war die Annahme unent-
behrlich und wurde es wohl namentlich nach der bitteren Erfah-
rung der Schlacht von Megiddo. Die Propheten haben denn auch
stets mit der Solidarhaftung der Gemeinschaft und der Nach-
fahren für die Väter gearbeitet. Der Solidarhaftsgedanke ist da-
her niemals wirklich definitiv aufgegeben worden. Unmittelbar
nebeneinander stehen noch in der priesterlichen Redaktion
(Num. 14, 18) die Versicherung von Gottes Gnade und Barm-
herzigkeit und von seiner Rache bis ins dritte und vierte Glied.
Die Zwiespältigkeit entstammte dem Gegensatz der Bedürf-
nisse der pragmatischen politischen Prophetie gegen die In-
teressen der priesterlichen Seelsorge und den Rationalismus
der Bildungsschicht. Gemeinsam aber war allen als Resultat:
der Gott sollte ein Gott der gerechten Vergeltung
sein und diese Qualität wurde namentlich von der deuterono-
mischen Schule auf das nachdrücklichste betont.
Die Gebote des Gottes selbst sowohl wie die Sühne für Ver-
stöße wurden dabei zunehmend gesinnungsethisch sublimiert.
Der unbedingte Gehorsam als solcher und das unbedingte Ver-
trauen auf seine, wie es immer wieder scheinen konnte, proble-
matischen Verheißungen, nicht aber die äußere Art des Tuns waren
das, worauf es dem himmlischen Herrscher ankam. Der Gedanke
selbst findet sich schon in der jahwistischen Erzählung von Abra-
hams Berufung zur Uebersiedelung nach Kanaan und der Ver-
heißung eines Sohnes: blindlings folgt Abraham jener und daß
er dieser blindlings glaubt, wird ihm von Gott »^ur Gerechtigkeit
gerechnet« (Gen. 15, 6). Daß der Gedanke zuerst in einer Erz-
vätersage sich findet, ist nicht zufällig. Denn innerhalb der
pazifistischen Hal])nomaden fand sich zweifellos eine der Stützen
jener Partei, welche dem durch die Könige und ihre Priester
eingerichteten Opferkult die These entg?genstellte : daß der alte
Bundesgott überhaupt nicht am Opfern, sondern allein am
Gehorsam gegen seine Gebote Gefallen finde, vor allem aber:
daß die Gemeinde selbst heilig sei und also der
Priester nicht bedürfe. Rückhalt fand dieser priesterfeind-
232 -^^s antike Judentum.
liehe Glaube natürlich in der alten Kriegeraskese und Krieger-
ekstase, überhaupt in den Zuständen der alten Zeit, welche ein
beamtetes und vollends erbliches Bundespriestertum nicht gekannt
hatte. Aber ohne Zweifel lag er auch den intellektuellen Schichten
nahe. Und schließlich darf es als sehr wahrscheinlich gelten, daß
der Orden der Rechabiten, an welchem der Gegner der Priester
von Jerusalem, Jeremia, ein solches Gefallen fand, einer seiner
Träger war. Auch alle diejenigen Leviten, welche nicht an Kult-
stätten angestellt waren , ^-sondern lediglich durch Seelsorge
und Thoralehre ihr Auskommen fanden, konnten sich ihn zu
eigen machen. Ihm entsprach der andere Gedanke: daß nicht
in den vom Sünder zur Sühne gebrachten Opfern und in ähnlichen
Handlungen, sondern in der bußfertigen Gesinnung als solcher
die für Jahwe entscheidende Genugtuung liege, welcher wohl
in den gleichen Intellektuellenkreisen heimisch war und von den
Redaktoren der Tradition den alten Sehern (zuerst dem Nathan)
in den Mund gelegt wurde. Ein anderer Teil der Leviten frei-
lich, namentlich die der deuteronomischen Schule zugehörigen,
war mit den Interessen des Kults und Opfers zu eng verknüpft,
um solche Konsequenzen ziehen zu können. Gerade die jah-
wistische, im ganzen mehr südliche und von Leviten beeinflußte
Redaktion hat die rein kultischen Gebote (den sog. kultischen
Dekalog) in sich aufgenornmen. Aber jener Gedanke selbst
blieb, vor allem in der Prophetie, lebendig, solange die Priester
mit dem Königtum verbunden waren. Auch die spätere priester-
liche Redaktion hat seine Spuren nicht ausmerzen können.
Sie hat zwar in den Mosegeschichten das Strafgericht Jahwes
über die korachitischen Leviten an eben jene ketzerische Behaup-
tung von der Heiligkeit der Gemeinde und der Entbehrlichkeit
der Priester geknüpft, aber sie hat nicht hindern können, daß
sie in der Niederschrift der Orakel der mächtigsten Propheten-
gestalten in höchst wuchtiger Form fortlebte.
Eine spezifisch plebejische Wendung nahm diese
Gesinnungsethik des gehorsamen Gottvertrauens nun durch die
Ausgestaltung, welche der alten mythologischen Vorstellung
vom Neid und Haß des Gottes gegen die Hybris der Menschen
in der Paränese der Thoralehrer gegeben wurde. Wenn ägypti-
sche Weise Gehorsam, Schweigen und Mangel an Selbstüber-
hebung als gottwohlgefällige Tugenden rühmen, so war die büro-
kratische Subordination die Quelle. In Israel war es der plebeji-
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe, 2^^
sehe Charakter der Kundschaft. Der Stolz und Hochmut, das
Pochen auf die eigene Kraft, wie es die Könige, und ihre Kriegs-
helden repräsentieren, war dem Gott jener Plebejer, mit deren
Beratung und Seelsorge sich die Thoralehrer und die Kreise, aus
welchen die Propheten hervorgingen, zu befassen hatten, verhaßt
und der eigentliche Frevel. Mißfällig waren Jahwe die Erotik
(nach Arnos) und das fröhliche Zechen (nach Jesaja) der Gibborim.
Dem Propheten Zephanja (3, 12) steht fest, daß nur das arme
Volk das wirkliche, alles Gott anheimstellende Vertrauen zu ihm
habe und deshalb seinerzeit allein von ihm mit dem Untergang
verschont werde. Das Mißfallen Jahwes an den Großen schienen
ja die Mißerfolge dieser hochmütigen Kaste gegen die auswärtigen
Feinde, im Gegensatz gegen die Zeit des alten Bauernheers, zu
beweisen. Das unbedingte demütige Vertrauen nur auf ihn allein
konnte vielleicht den alten Bundesgott veranlassen, wieder wie
dereinst unbedingt mit seinem Volke zu sein. Damit stehen wir
wieder, wie schon wiederholt, vor einem Grundmotiv der utopi-
schen politischen Ethik der Propheten und des darin von ihnen
beeinflußten Deuter onomiums. Davon wird besonders zu reden
sein. Hier machen wir uns nur noch einige der Umstände deut-
lich, auf welchen in Israel die formellen Eigentümlichkeiten
der ganzen Beziehung der Menschen zum Gott beruhten, vor
allem: der gewaltige Akzent dieser rationalen Gesinnungsethik.
Es war vor allem das Fehlen der sonst üblichen Macht-
stellung der Magie oder vielmehr — da die Magie in Israel
so wenig wie irgendwo jemals aus der Praxis der Massen wirklich
ganz verschwunden ist — ihre systematische Bekämpfung
durch die Thoralehrer, welche für ihr Schicksal innerhalb der
alttestamentlichen Frömmigkeit ausschlaggebend gewesen ist.
In Israel gab es Magier aller Art. Aber die maßgebenden jahwisti-
schen Kreise, vor allem die Leviten, waren keine Magier, sondern :
Träger von Wissen. Das waren nun, sahen wir, die Brahmanen
auch. Aber das Wissen war in Israel ein von dem ihrigen grund-
verschiedenes. Als in der jahwistischen Paradieseserzählung
die Schlange dem Weib anrät, vom Baum der Erkenntnis zu
essen, stellt sie den Menschen in Aussicht, daß sich ihnen »die
Augen auf tun und sie sein werden wie Gott selbst ist«. Und
sie hat nicht etwa die Unwahrheit gesagt. Denn nachdem Jahwe
den Menschen und die Schlange verflucht hat, fügt er hinzu:
vder Mensch ist geworden wie unsereiner«, also: wie ein Gott,
2'IA Das antike Judentum.
— durch das Wissen, — und er jagt ihn aus dem Garten,
»damit er nicht noch von dem Baum des Lebens nehme und esse
und unsterbUch werde«. Also der Besitz zweier Dinge: Unsterb-
lichkeit und Wissen macht zum Gott. Welches Wissen aber?
An beiden erwähnten Stellen heißt es: die Erkenntnis davon,
»was gut und böse ist«. Dies also ist das Wissen, welches nach
der Vorstellung dieses vorprophetischen Schriftstellers Gott gleich
macht. Freilich: daß es ein rational ethisches und nicht ein
rein rituelles oder esoterisches Wissen war, verstand sich auch
danach nicht von selbst. Auch in Aegypten wird der von der
priesterlichen Schriftbildung entblößte Plebejer als ein Mann
bezeichnet, der »nicht weiß was gut und böse ist«. Und in der
Paradieserzählung ist die rein rituell bedingte Verpönung
der Nacktheit, und nicht ein rational ethisches Wissen das,
was der Mensch, soviel wir sehen, durch das Essen vom Baum
der Erkenntnis erfährt. Aber schon Micha, zu Hiskias Zeit,
betont (6, 8), daß dem Menschen, also: jedem Menschen, »gesagt
sei, was gut ist : das Halten der göttlichen Gebote, Liebe zu üben,
und vor Gott demütig zu sein«. Es handelt sich also nicht um
esoterisches und auch nicht um bloß rituelles Wissen, sondern um
durchaus exoterisch gelehrte Ethik und Rarität. Die Pflege
gerade dieser Art von Belehrung war das der levitischen Thora
eigentümliche und wir sahen, daß die besondersartige Beziehung
zu Jahwe als dem persönlichen Partner der berith mit der Eid-
genossenschaft zuerst diesen starken Akzent auf das »Halten seiner
Gebote« gelegt hatte. Darin lag die Vorzugsrolle des Gehor-
sams und der Ethik gegenüber den bei der Struktur des Bundes
notwendig so gut wie ganz fehlenden kultischen und den vermut-
lich in älterer Zeit nur in wenigen einfachen Regeln entwickelten
rein rituellen Geboten. Bei der Solidarhaftung der Gemeinschaft
Jahwe gegenüber für die Verfehlungen aller Einzelnen war diese
ethische Problematik ein eminentes Interesse jedes einzelnen
Volksgenossen ^) , vor allem aber : der an den Schicksalen des
Landes interessierten Intellektuellen. Von da aus hat diese
Vorstellung von dem Wesen des göttlichen Wissens die Kreise
der zunehmend entmilitarisierten jahwistischen Plebejer und aller
jener Intellektuellen, die am guten alten Recht hingen, zu be-
1) Andeutungen über die Bedeutung des, wie er sich ausdrückt, »demo-
kratischen« Charakters Israels für die Eigenart der israelitischen Ethik finde ich
namentlich bei Hehn a. a. O. S. 348.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 2^5
herrschen begonnen. Seine Bedeutung nahm stetig zu. Das
göttliche Charisma hatte die alte Zeit nur als Kriegsekstase und
Kriegsprophetie gekannt. Beide waren verfallen. Die Tendenz,
Mose zu einem Magier zu machen, dessen Zauber nach Art des
indischen Hofbrahmanen den Sieg entschied, hat, wie die Ansätze
in der Tradition zeigen, bestanden. Aber dergleichen gab es jetzt
nicht mehr. Einen Propheten, dem Jahwe von Angesicht zu Ange-
sicht erschienen wäre, hatte er seither nicht erweckt. Denn die
Zeiten waren andere geworden. Die Kriegsorakel des Elisa sind
der letzte in der Tradition zu findende Nachklang dieser Art
von magischer politischer Prophetie. Die Leviten, die
einzigen kontinuierlichen perennierenden Träger des Jahwe-
glaubens, fühlten sich, kraft der Art ihrer sozial wichtigsten
Funktionen, als Träger des Wissens davon, durch welche Sünden
man sich Unheil zuziehe und wie man sie wieder gutmachen könne.
Wenn wirklich der Name jide'oni, der (Lev. 20, 27; 2. Kge. 23, 24)
die Orakelgeister bezeichnet, welche gewisse Magier bewohnen,
soviel wie »kleines« Wissen bedeuten sollte, so würde dies den
spezifischen magiefeindlichen Wissensstolz der Vertreter des
Jahwismus kennzeichnen. Die israelitischen Schriftpropheten
haben allerdings gelegentlich auch Königen Rat erteilt, ebenso
wie Hofpropheten und Magier. Aber stets im Sinn der levitischen
Thora: Gehorsam gegen Jahwe und unbedingtes Vertrauen
auf ihn. Keiner von ihnen hat dem Lande durch Zauber zu
helfen gesucht.
Selbstverständlich gab es Anläufe zur Entwicklung magischen
Gotteszwangs auch innerhalb der rein jahwistischen Kreise
von jeher und vielleicht bis in ziemlich späte vorexilische Zeit.
Neben anderen, mehr nebensächlichen Spuren ist namentlich
die, sehr universell verbreitete, Zauberkraft des Gottes namens,
der Glaube also: daß der Gott, wenn man seinen Namen kenne
und richtig anrufe, gehorchen werde, ganz offenbar in der Ent-
wicklung begriffen gewesen. Nicht ohne Grund weicht Jahwe
bei der Dornbuscherscheinung der Nennung seines Namens
zunächst aus, und ebenso jenes Numen, mit dem Jakob ringt.
Als später Mose als Gunst von Jahwe begehrt, ihn von Angesicht
zu schauen, weist dieser ihn an, seinen Namen zu nennen. Dieser
also zwang ihn. Die weitverbreitete Vorstellung war, wie wir
schon sahen, namentlich in Aegypten heimisch. Der Name Jah-
wes ist auch ebenso das Symbol seiner Macht, wie der Name des
2-1^ Das antike Judentum.
Pharao für diesen. Wie der König in den Amarnabriefen »seinen
Namen auf Jerusalem gelegt« hat, so ist Jahwes Name über
Israel (Deut. 28, 10; Jer. 14, 9) oder: über Jerusalem (Jer. 25, 29)
oder: über einen Propheten (Jer. 15, 16) »ausgerufen«, »wohnt«
in Jerusalem, wo ihm »ein Haus gebaut ist«, »kommt von fem«
(Jes. 30, 27), »ist nahe« (Psalm 75, 2) und Jahwe wirkt durch ihn
(Psalm 30, 27) zugunsten aller, die »seinen Namen lieben« (Psalm
5, 12; 69, 37; 119, 32). Teilweise handelt es sich um das schon
erwähnte Theologumenon, um Jahwes anthropomorphe per-
sönliche Anwesenheit auszuschalten. Aber teilweise handelt es
sich auch um jene gerade in Aegypten herrschende Vorstellung
vom Wesen des Namens und es ist schwerlich Zufall, daß fast
alle charakteristischen Stellen dieser Art deuteronomistisch
sind, also der Zeit entstammen, welche überhaupt die größte
Verwandtschaft mit ägyptischen Frömmigkeitsformen zeigt.
Die spezifische Heiligkeit des Gottesnamens, wie sie auch in
Aegypten galt, wo einerseits Isis dem Ra durch Kenntnis seines
Geheimnamens seine Macht entreißt, andererseits Ptah den
»Mißbrauch« seines Namens rächt, stieg auch in Israel, wo das
sonst vielfach verbreitete Tabu des Gottesnamens ursprünglich
nicht galt. Der späteren Auffassung galt der Versuch, durch
das Mittel der Namensnennung den majestätischen Gott zu
zwingen, als schwerer Frevel, den er rächen werde. Die noch
während der prophetischen Epoche herrschende Unbefangenheit
im Gebrauch des Namens wich jener spezifischen Scheu, für wel-
che Ansätze schon früh vorhanden gewesen sein müssen. Das in
unbekannte Zeit zurückgehende dekalogische Verbot des Namens-
mißbrauchs meint zweifellos den Versuch, magischen Gottes-
zwang auszuüben. Die Ablehnung dürfte auch hier auf bewußten
Gegensatz gegen Aegypten und vielleicht wiederum gerade gegen
den Totenkult zurückgehen. Denn nirgends ist die Bedeutung
der Gottesnamen in Aegypten so zentral wie im 125. Kapitel
des Totenbuchs, wo ihr richtiger Gebrauch das Schicksal der
Seele entscheidet. An jeder Pforte des Hades verlangt der be-
treffende Gott von dem Toten, daß er seinen Namen wisse, ehe
er ihn passieren läßt. Schwerlich sind einerseits die Anklänge,
andererseits die schroffe Ablehnung ganz zufällig.
Die Verwerfung der Magie bedeutete praktisch vor allem:
daß sie nicht, wie anderwärts, von den Priestern zwecks Dome-
stikation der Massen systematisiert wurde. In Baby-
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 237
lonien vollzog sich ihre Systematisierung unter dem Druck des
Theodizee- Bedürfnisses, war also rationalen Ursprungs.
Die Erfahrung, daß auch der Schuldlose leidet, schien mit dem
Vertrauen auf die Götter nur dann vereinbar, wenn nicht sie,
sondern Dämonen und böse Geister die Urheber des Uebels waren :
die Theodizee lenkte damit in die Bahn eines latenten und halben
Dualismus ein ^). Davon konnte in Israel keine Rede sein.
Daß auch alles Uebel von Jahwe stamme, war eine der Grund-
thesen schon des ersten Propheten (Amos). Der Entwicklung der
magischen Dämonenabwehr stand daher in Israel, wo alles Uebel
Strafe oder Verfügung des mächtigen Gottes war, die Entwick-
lung der rein ethischen Priesterthora und Sündenbeichte
als des eigentlichen Machtmittels der levitischen Priester gegen-
über. Dies wirkte durch das ganze Gebiet der religiösen Entwick-
lung Israels hindurch. Zunächst: wo bei den asiatischen Reli-
gionen der »Zauber« steht, da steht bei den Israeliten: das »Wun-
der«. Der Magier, der Heiland, der Gott Asiens »zaubert«, der
Gott Israels dagegen tut auf Anrufung und Fürbitte »Wunder«.
Ueber den tiefgehenden Gegensatz wurde schon früher gesprochen.
Das Wunder ist, gegenüber dem Zauber, das rationalere Gebilde.
Die Welt des Inders blieb ein irrationaler Zaubergarten. Ansätze
einer gleichartigen Entwicklung sind in Israel in den Mirakeln
der Elisageschichten zu finden, deren Irrationalität durchaus auf
gleicher Stufe mit den asiatischen Zaubereien steht. Diese Vor-
stellungsart hätte sehr leicht die Oberhand gewinnen können.
Es war offenbar immer wieder der Kampf gegen alle o r g i a s t i-
sche Ekstatik, welche es bedingte, daß in den genuinen
jahwistischen Legenden, etwa in den Erzvätergeschichten, aber
auch der Mose- und Samueltradition, überhaupt in den alttesta-
mentlichen Schriften so stark wie sonst in keinem heiligen Buch,
nicht der Zauber, sondern das aus sinnvollen, verständlichen
Absichten und Reaktionen des Gottes entspringende Wunder
herrscht und daß selbst dieses gerade in vielen alten Partien, am
meisten den Erzväterlegenden, relativ sparsam verwendet wird.
Dies Fehlen des Zaubers vor allem drängte alle Fragen nach dem
Grunde des Geschehens, der Schicksale und Fügungen, in die
Bahnen des Vorsehungs glaubens : der Vorstellung also
von einem geheimnisvoll und doch letztlich verständlich die
*) Ueber den Dämonen glauben als Produkt eines Theodizeebedürfnisses
hat J. Morgenstern M. d. V. A. Ges. 1905, 3 einige Andeutungen gemacht.
2^8 ^^^ antike Judentum.
Welt und insbesondere die Geschicke seines Volkes lenkenden
Gottes: »ihr gedachtet es schlimm zu machen, aber Gott hat es
gut gemacht«, wie die elohistische Kunstdichtung der Joseph-
legende es ihren Helden prägnant formulieren läßt. Gottes Wille
behält hier ebenso das Feld gegenüber menschlichen Versuchen,
ihm zu entrinnen, wie in indischen Erzählungen das »Schicksal«
über alle Kniffe, ihm ein Schnippchen zu schlagen, triumphiert.
Aber: nicht Karman wie dort, sondern eine rationale Vorsehung
des persönlichen Gottes bestimmt in Israel dieses Schicksal.
Diesem, bei aller Leidenschaftlichkeit seines Grimmes,
dennoch im letzten Grunde rational und planmäßig handelnden
Gott der Intellektuellen war nun zweierlei eigentümlich. Zu-
nächst : er war, wie schon angedeutet, ein Gott von Plebejern.
Das darf nicht mißverstanden werden. Jahwe in dieser Gestalt
war nicht etwa der Gott der »Volksfrömmigkeit« und kam voll-
ends nicht den Bedürfnissen der »Massen« entgegen. Vielmehr
war er gerade in seiner schließlich siegreichen Konzeption stets
ein Gott, den eine Schicht teils von Propheten (Kriegspropheten,
später Thorapropheten) und Thoralehrern dem Volk zu o k-
troyieren suchte. Oft gegen Widerstand. Denn die genuinen
Bedürfnisse der Massen gehen überall auf Nothilfe durch Magie
oder Heilande und so war es auch in Israel. Und ebenso sind auch
weder die Ideale noch die Idealisten der Jahwefrömmigkeit
etwa dem Kreise der »armen Leute« als solcher entnommen.
Der ökonomisch gut situierte und dabei fromme Israelit ist vor
dem Exil der Held nicht nur der gesamten echten Königstradi-
tion, sondern auch der alten Bruchstücke der Ueberlieferungen
aus der Richterzeit. Und auch für die fromme Legende waren
die Erzväter schwer reiche Leute. Reichtum sollte ja nach
den alten Verheißungen hier wie überall der Lohn der Frömmig-
keit sein. Die literarisch gebildeten Träger des Jahwewissens
selbst waren aller Wahrscheinlichkeit nach zumeist Angehörige
vornehmer Sippen. Aber: nicht nur zeigt gleich der Beginn
der Prophetenzeit (Amos), daß dies bei weitem nicht immer der
Fall war. Sondern vor allem : die Kreise, deren puritanisch echte,
der Orgiastik, Idolatrie und Magie abholde Frömmigkeit
die Literaten züchten zu können hofften und tatsächlich
erfolgreich züchteten, v/aren in sehr starkem Maße Plebejer-
schichten mindestens in dem Sinn : daß sie nicht am Besitz der
politischen Macht partizipierten und nicht Träger des
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 239
Militär- und Fronstaats der Könige und der sozialen Machtstellung
des Patriziats waren. Das äußert sich deutlidi in der Redaktion
der Tradition. Nirgends, außer in Resten in den Königsgeschich-
ten, kommt adeliges Heldentum zu Worte. Sondern fast durch-
weg ist es der friedlich fromme Bauer oder Hirt, der verklärt wird
und an dessen Anschauungskreis die Art der Darstellung und Dar-
legung angepaßt ist. Keine Rede freilich von demagogischem
Buhlen um die Masse. Zugunsten des großen Haufens soll der
Richter das Recht so wenig beugen wie zugunsten des Vornehmen,
verlangte, wie in Aegypten, die levitische Paränese, und für
Sauls Unstern wird u. a. auch verantwortlich gemacht, daß er
sich dem törichten Volk gefügt habe. Vielmehr: das Wissen von
Jahwes Geboten entscheidet über den Wert und die Autorität
des Einzelnen. Aber das »nomadische Ideal« nach Art der Recha-
biten und die Erinnerung an den bäuerlichen Heerbann
beherrschte die Ideale auch der Bildungsschicht. Daß nur die
Erfüllung der Gebote des Himmels das Schicksal des Staates
und Volkes gewährleiste, war zwar die Grundüberzeugung der
Konfuzianer ganz ebenso wie der radikalen Jahwisten. Aber dort
war es eine vornehme, ästhetisch kultivierte literarische Pfründ-
nerschicht, deren Tugenden entschieden, hier aber galt die Ver-
klärung zunehmend den Tugenden eines idealen israelitischen
Plebejers in Land und Stadt. Zunehmend mit dem Vorstellungs-
kreis dieser ihrer Kundenschicht rechnete die levitische Paränese.
Das Besondersartige aber war dabei: daß hier und nur hier plebeji-
sche Schichten Träger einer rationalen religiösen Ethik wurden.
Das Zweite, ebenfalls höchst Wichtige aber war: Jahwe
blieb ein Gott der Geschichte, und zwar insbesondere :
der politisch-militärischen Geschichte. Das unterscheidet ihn
von allen asiatischen Göttern und hatte seinen Grund in dem
Ursprung seiner Beziehungen zu Israel. Für seine getreuesten
Verehrer blieb er immer der eidgenössische Bundeskriegsgott.
Mochte er außerdem der Regengott sein und mochte ihn die
Spekulation Nordisraels zum Himmelskönig steigern, für die
eigentlich jahwistische, namentlich auch die prophetische Fröm-
migkeit blieb er der Gott politischer Schicksale. Kein Gott also,
mit dem man mystische Vereinigung durch Kontemplation
suchen konnte, sondern ein übermenschlicher und doch verständ-
licher persönlicher Herr, dem man zu gehorchen hatte. Er hatte
seine positiven Gebote gegeben, daran hatte man sich zu halten.
240
Das antike Judentum.
Man konnte seine Heilsabsichten, die Gründe seines Zorns und
die Bedingungen seiner Gnade erforschen, wie bei einem großen
König. Aber darüber hinaus gab es: nichts. Die Entwicklung
einer Spekulation über den »S i n n« der Welt nach indischer
Art war auf dem Boden dieser Voraussetzung vollständig ausge-
schlossen. Aus untereinander verschiedenen Gründen ist sie
auch bei den Aegyptern und Babyloniern nicht über gewisse
sehr enge Grenzen hinausgegangen. Im alten Israel war für sie
schlechthin kein Boden.
Wenn so nach der einen Richtung die Rationalisierung des
Weltbildes in feste Schranken gebannt blieb und gerade dadurch
durchführbar wurde, so setzte auf der anderen Seite die Eigen-
art Jahwes auch seiner Mythologisier ung feste Grenzen.
Jahwes Gestalt war wie die jedes Gottes mit Mythologemen be-
haftet. Die grandiosesten Bilder der Propheten und Psalmisten
von der Art seines Handelns und seiner Epiphanien entstammen
ganz zweifellos sehr altem und verbreitetem Mythenschatz. Die
in Babylonien und zweifellos auch schon im vorisraelitischen
Kanaan verbreiteten Vorstellurgen vom Urdrachen, von den
Ungeheuern und Giganten, mit welchem der die jetzige Welt
hervorbringende Gott zu ringen hat, lebten außerhalb der prie-
sterlich redigierten Kosmogonie in Gestalten wie Leviathan,
Behemoth, Rahab fort, innerhalb ihrer aber in der Benennung
des chaotischen Urgewässers mit dem gleichen Namen, den der
babylonische Urdrache trägt (Tehom: Tiamat). Der bewässerte
Gottesgarten Eden, die Behandlung des Urmenschen als Acker-
bauer, die großen Weltflüsse, das armenische Gebirge in der
jetzigen Redaktion der Urgeschichte zeigen, daß alle diese Mythen
nicht ursprünglich in der Steppe oder im palästinischen Bergland
zu Hause waren. Der patriarchale Pflanzer des Gottesgartens
paßt mit dem Rudiment der Gigantomachie im 6. Kapitel der
Genesis schlecht zusammen. Und die von der spätesten priester-
lichen Redaktion rezipierte Vorstellung von dem über den Was-
sern brütenden Gotteshauch gehört wiederum einer anders-
gearteten Vorstellungsreihe an. Die ältere jahwistische Kosmo-
gonie läßt Jahwe die Welt nicht »aus dem Nichts« erschaffen.
Aber immerhin: was auf der Erde entsteht, bringt er allein
hervor. Diese von Peisker ^) glücklich als »naiver Monotheis-
^) Die Bezielmngen der Nichtisraeliten zu Jahwe nach der Anschauung der
altisraelitischen Quellenschriften (Beih. z. Z. f. A.T. Wiss. XV, 1907).
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe, 24 1
mus<< bezeichnete Vorstellung hat mit Einzigkeit und Universalis-
mus des Gottes nichts zu tun. Denn in fast allen Kosmogonien
schafft ein Gott die Welt und an die anderen wird nicht gedacht.
Charakteristisch aber ist, daß der in Versen gedichteten babylo-
nischen Ursage hier ein schlichter Prosabericht gegenübersteht,
ebenso wie die mythologischen Bilder der Propheten und erst
recht der Priester im Laufe der Zeit zunehmend abstrakt und
immer weniger plastisch sich gestalten: die typische Folge der
Verarbeitung mythischer Vorstellungen durch theologischen Ra-
tionalismus. Das Endprodukt: der unerreicht majestätische,
aber ganz unplastische Schöpfungsbericht im jetzigen ersten Ka-
pitel der Genesis ist eine typische Priesterleistung, entstanden
in der Exilszeit im bewußten Gegensatz gegen die babylonische
Umwelt. Alle Phantasmen der babylonischen Ursage, die Spal-
tung des Drachens vor allem, sind fortgeläutert, dieser selbst
in ein Urgewässer entpersönlicht. Und die Schöpfung erfolgt
durch das bloße »Wort« des Gottes, w^elches das Licht aufblitzen
und die Gewässer sich teilen läßt, so wie ja sein Wort es ist, wel-
ches aus dem Munde der Lehrer an die Menschen ergeht. Erst
damals vielleicht sind aus dem unvermittelt daneben bestehen
gebliebenen älteren Berichte die theogonischen und giganto-
machischen Reste fast ganz ausgemerzt worden. Dann hier
war die entscheidende Grenze für die Mythenbildung des Jahwis-
mus. Jahwe vertrug wohl einzelne Mythologeme, aber er vertrug
gerade die eigentliche Krönung aller großen Mythensysteme:
die Theogonie, auf die Dauer nicht. Innerhalb Israels, welches
ihn von außen rezipiert hatte, war der Boden für theogonische
Jahwemythen schon deshalb nicht günstig, weil er ein unbeweibter,
bildlos verehrter Gott blieb, für den ein die künstlerische oder
dichterische Phantasie anregender, aus Orgiastik und mimischem
Dämonenzauber geborner Kult — die normale Quelle aller
Mythensysteme — nicht bestand, und der nüchterne Opferkult
überhaupt nicht das für die Beziehung zum Gott Wichtigste war.
Denn neben jenen persönlichen Zügen brachte auch seine
Stellung als Garant der sozialrechtlichen Ordnung ihn in Gegen-
satz zu den in Kanaan ebenso wie in ganz Vorderasien umlau-
fenden Göttermythologien. Er unterschied sich dadurch auch
von den großen Universalgöttern der Religionen der Kultur-
gebiete. Das Wirkungsfeld dieser mit Einschluß des Echnaton'-
schen Sonnengottes war in erster Linie: die Natur. Die politi-
M a X Weher, Relii^ionssozioloßie HI. 16
242 I^^s antike Judentum.
sehen Schicksale pflegte der Lokalgott der Residenz, die sozialen
Ordnungen ein oder mehrere Funktionsgötter und erst sekundär
der große Himmelsgott zu garantieren. Auch Jahwe war nun,
und zwar zweifellos gerade ursprünglich, ein Naturgott. Aber
ein Gott bestimmter Natur katastrophen, welche der
levitischen Paränese als Ausdruck seines Grimms gegen Un-
gehorsam galten. Diese Verknüpfung seines Verhaltens mit dem
größeren oder geringeren Gehorsam der Einzelnen stand in Israel
mit steigender Bedeutung der Thora immer fester. Damit aber
waren alle Naturmythologeme einer nüchtern rationalen Orien-
tierung des göttlichen Handelns untergeordnet. Die für die is-
raelitische Bildungsschicht unvermeidliche Rezeption univer-
salistischer kosmologischer Mythen in die Jahwevorstellung
mußte infolgedessen für die Gestalt, welche diese Mythen dabei
annahmen, weitgehende Folgen haben: sie wurden ethisch
gewendet. Andererseits aber ist ein Einfluß der Mythenrezeption
auf die Art der Gotteskonzeption und auf die Soteriologie nur
in sehr geringem Grade zu finden, in geringerem jedenfalls,
als man erwarten könnte.
Die durchaus sekundäre Bedeutung der kosmogonischen
und anthropogonischen Mythen für die jahwistische Religiosität
tritt wohl in nichts deutlicher hervor, als in dem Fehlen fast jeg-
licher Anspielung auf den für unsere heutige Vorstellung so grund-
legenden Mythos vom »Sündenfall« des ersten Menschenpaares.
Ein soteriologisch irgendwie bedeutsames, für Jahwes Verhalten
zu Israel oder zu den Menschen überhaupt entscheidendes Er-
eignis ist er in der ganzen alttestamentlichen Literatur nicht ge-
worden. Es finden sich nur ganz vereinzelte und zwar nur para-
digmatische Anspielungen (Hosea 6, 7). Für die Heilslehre
grundlegend wurde Adams Fall erst durch bestimmte Speku-
lationen des alten Christentums, und zwar auf Grund von Vor-
stellungen, welche ihre Herkunft aus der orientalischen Gnosis
nicht verleugnen, aber der genuinen israelitischen Religiosität
fernlagen. Adams und Evas Fall ist allerdings ätiologischer
Mythos für den Tod, die Mühsal der Arbeit und des Gebarens
und die Feindschaft mit der Schlange, — später: mit allen Tieren.
Aber darin erschöpft sich seine Bedeutung. Wenn die Rabbinen
später die Verehrung des goldenen Kalbes als ungleich schwereren
Frevel ansehen als den Ungehorsam Adams: — weil dort eine
berith gebrochen wurde, hier aber nicht — , so entspricht das
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 243
durchaus der alten uns bekannten Ginindlage der Stellung
Jahwes zu Israel, welche der Mythos unerschüttert ließ. Zwar
faßt schon Hosea (a. a. O.) auch Adams Frevel als Bruch einer
»berith« auf. Aber eine folgenreiche Konzeption wurde dies für
die israelitische Religiosität nicht. Umgekehrt war dagegen die
Beeinflussung des Mythos durch die Eigenart Jahwes grund-
stürzend. Wo der schon in den Amarnatafeln als Uebungs-
stück für Schreiber enthaltene babylonische Mythos vom Ur-
menschen Adapa diesen die Unsterblichkeit durch Befolgung
eines falschen Ratschlags eines anderen Gottes verscherzen läßt
und ihn übrigens als von vornherein »unrein« und deshalb für
Anus Himmel disqualifiziert behandelt, gestaltet die israeliti-
sche Konzeption daraus das höchst eindrucksvolle Paradigma
von den Folgen des Ungehorsams.
Diese Wendung ist unzweifelhaft eine Leistung der leviti-
schen Thora, die dann erst in der Schlußredaktion der Urgeschichte
endgültig rezipiert ist. Denn bei Hesekiel (28, 13 ff.) und im Hiob-
buch (15, 7) zeigt sich noch die Spur einer ganz anderen Auf-
fassung, welche in dem Urmenschen eine Gestalt voll Weisheit
und Schönheit sah, die in dem (nach babylonischer Art) edel-
steingeschmückten Gottesgarten auf dem auch den Psalmen
bekannten, der Berggottnatur Jahwes entsprechenden wunder-
baren Gottesberg wie ein Cherub ohne Makel lebte, aber durch
seine Hybris in Schuld verstrickt und von Jahwe herabgestürzt
wurde. Hier war also der Urmensch keineswegs der »reine
Tor« des jahwistischen Paradiesesmythos. Da Hesekiel zweimal
Noah, Hiob und Daniel (14, 14. 20) als drei weise und fromme
Leute der alten Zeit, Daniel sogar (28, 3) als allwissend schildert,
so war offenbar hier die aller Priestertradition naheliegende
Verklärung der übermenschlichen Weisheit der Altvordern
in der Entwicklung begriffen, welche dann später von den nach-
exilischen Chokmalehrern in ganz anderer Art wieder aufgenom-
men wurde. Den eigentlichen Thoralehrern blieb sie fremd. Bei
der Sintflutsage, dem nach Annahme der Fachleute am spätesten
rezipierten Mythos, kam das babylonische Vorbild dem ethischen
Bedürfnis insofern entgegen, als ein auch in den Erzväterlegenden
vorkommendes Motiv wenigstens gestreift war. Die Götter machen
dem Enlil, der die Sintflut losgelassen hat, zum Vorwurf, daß
er alle Menschen ohne Unterschied, ob sie gesündigt haben oder
nicht, habe vertilgen wollen : nur Ea's heimlicher Rat hatte dem
2AA Das antike Judentum.
babylonischen Gegenbild des Noah die Rettung ermöglicht.
Bei der Rezeption der Sintflutsage war nun die charakteristische
Aenderung die : daß Jahwe die Sintflut nicht wieder zu schicken
beschließt, weil aller Menschen Trachten von Jugend auf
verderbt ist; ihm liegt eben an dem Bestand und Schicksal der
Menschen um deren selbst willen. Es ist wiederum nicht die
Tatsache einer ungewöhnlich »erhabenen« Sittlichkeit, die man
den Israeliten zugeschrieben hat, welche die Erklärung dieser
charakteristischen Aenderungen bedingte. Die alte israelitische
Ethik war derb und schlicht. Es war der Umstand: daß hier die
Seelsorge an den plebejischen Schichten infolge der historisch
gegebenen Eigenart Jahwes und seiner Beziehung zu Israel
ethischen und nicht magischen Charakter hatte, daß Mythen
sie daher nur in paradigmatischer Funktion interessierten. Gött-
liche rational bedingte Wunder, Macht-, Straf- und Belohnungs-
Erweise bedurfte sie für ihre Zwecke, nicht Zauber- und Helden-
geschichten.
Eine für die spätere Entwicklung folgenreiche Konzeption,
die in Verbindung mit den kosmogonischen Mythen aufgenommen
wurde, war das durch ethische Schuld verscherzte Paradies
und der in ihm herrschende Stand des Friedens und der
Unschuld. Die äußerliche Form des Paradieses hat offenbar
gewechselt. Die Konzeption des »Gottesberges« im Exil (bei
Hesekiel 28, 11 ff., 31, 8. 9. 16; 36, 35) hatte offenbar den Zweck,
Jahwe von der Lokalisation in Jerusalem zu befreien und seine
Stellung als Universalgott zu festigen. Von den Thoralehrern
war die alte jahwistische Auffassung rezipiert. Ein eigentlicher
Paradieses-Mythos ist bisher in Babylonien nicht nachgewiesen,
obwohl ein göttlicher Zauberpark mit Edelsteinbäumen und auch
ein von Göttern gegrabener Kanal sich finden. Mythen von einem
Urständ des Friedens mit den Tieren sind von Usener ^) als
ziemlich verbreitet nachgewiesen und existierten anscheinend
auch in Babylonien (Gilgamesch-Epos), wo, wie es scheint,
ebenso wie in der Genesis das Weib die Schuld an dem Verlust
trug. Der Mythos von einem durch Gott gepflanzten und be-
wässerten friedlichen Garten und dem aus ihm zur Mühsal des
Bodenanbaus und Kampf mit Schlangen hinausgestoßenen Men-
schen ist auch an sich am wahrscheinlichsten in einem Lande
wie Mesopotamien entstanden; wie alt er in Kanaan ist, läßt
^) Relig.-gesch. Unters. Bonn 1899, S. 210 f.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 245
sich nicht sagen. Den Ursprung aus einem Gartenbauland legt
auch die noch jetzt hindurchschimmernde Vorstellung nahe:
daß die Menschen ursprünglich, solange der Frieden mit den
Tieren bestand, von vegetarischer Kost gelebt hätten: auch da-
für finden sich im Gilgamesch-Epos gewisse Andeutungen. Einen
Stand der unwissenden Unschuld scheint aber keine für die
Uebertragung in Betracht kommende Religion zu kennen ^)
und vor allem in der besonderen Wendung der Unwissenheit
als Unkenntnis von der Unzulässigkeit des »Nackten« ist der
Einschlag der rituellen Besonderheit des Jahwismus sofort er-
sichtlich. Die zentrale Bedeutung des berith-Gedankens legte
die Israel eigentümliche Vorstellung nahe, daß die friedliche
Beziehung der Urmenschen zu den Tieren auf einer berith Jah-
wes mit den Tieren beruht habe und daß Jahwe in Zukunft
eine solche berith erneut machen könne und werde: ein Gedanke,
der schon bei den ersten Propheten (Hosea 2, 18; Jesaja 11, i)
auftritt. Und hier lag eben das Wichtige der Vorstellung. Hatte
man die selige friedliche Urzeit einmal verscherzt, so konnte sie
vielleicht bei entsprechendem Verhalten künftig wiederkehren;
und es scheint nicht zweifelhaft, daß diese eschatologi-
s c h e Vorstellung, mit der die Propheten arbeiten, bereits vor
ihnen verbreitet war. Dieser Endzustand wird wie Eden sein
(Jes. 51, 3), Frieden unter den Menschen wird herrschen, die
Schwerter wird man in Pflugscharen umschmieden (Jes. 2, 4)
und Bogen, Schwert und Krieg wird vom Lande fern bleiben
(Hos. 2, 18), die Erde wird durch Himmelsgnade Korn, Most
und Oel in Fülle hervorbringen (Hos. 2, 22). Das sind Heils-
hoffnungen spezifisch pazifistischer unmilitärischer
Bauern.
Diese Friedenserwartungen waren nicht die einzige Form
eschatologischer Hoffnungen, welche auf die vorprophetische
Zeit zurückgehen, sondern neben ihnen standen, entsprechend
der Verschiedenheit der sozial bedingten Interessenlage, andere.
Die volkstümliche Zukunftshoffnung der Krieger sah anders
aus. Schon bei den ersten Propheten (Amos) finden wir die Er-
wartung eines »Tages Jahwes« (jom Jahwe), der nach der bis
1) Für den babylonischen Mythos vom Urmenschen ist Adapa keineswegs
im Stande der Unschuld, sondern ein unreiner Mensch, dessen Eindringen in
Anu's Himmel bedenklieb ist (v. 57 der Uebersetzung bei Gunkel a. a, O.). Sonst
sind, wie schon bemerkt, die Urmenschen meist Träger hoher gottverliehener
Weisheit.
246 ^^^ antike Judentum.
dahin gangbaren Vorstellung ein Tag großen Heils für Israel
ist. Was war sein ursprünglicher Sinn ? Jahwe war ein Kriegsgott
und folglich war es ein siegreicher Schlachttag, so wie einst der
»jom Midian« (Jes. 9, 3), der Tag des Sieges Gideons also, ge-
wesen war. Die alten Losorakel gaben ja dem Kriegshelden,
wie wir bei Gideon und öfter sehen, Tag und Stunde, zu welcher
Jahwe die Feinde »in Israels Hände geben« werde, genau an:
daher wohl die Vorstellungsweise. Und die Mittel des alten
Katastrophengottes waren bekannt: der »Gottesschreck« durch
Erdbeben oder Wetterkatastrophen. Der Tag Jahwes war also
ein Tag des Schreckens (jom mehumah, Jes. 22, 5), aber in den
Augen der Krieger natürlich : für die Feinde Israels, nicht für Israel
(Amos 5, 18 — 20). Daneben scheint eine andere, pazifistischere,
Vorstellung ihn als ein Tag fröhlichen Opfermahls angesehen zu
haben (Zeph. i, 7), zu dem Jahwe die Seinen zu Gaste lud.
Diese je nachdem mehr pazifistischen oder mehr kriegeri-
schen Zukunftshoffnungen verbanden sich nun mit den Ver-
heißungen der königlichen Heilsprophetie. Vor allem Greß-
mann ') hat darauf aufmerksam gemacht, daß an den benach-
barten Großkönigshöfen ein ziemlich fester »Hofstil« für solche
bestand. Jeder König wird von den heilsprophetischen Barden
als Bringer einer Segenszeit gepriesen: Kranke werden gesund,
Hungernde satt, die Nackten gekleidet, die Gefangenen amne-
stiert (so für Assurbanipal), den Armen ihr Recht verschafft
(so oft in babylonischen Königsinschriften, in Israel: Psalm 72).
Der König selbst ist von dem Gott (in Babylon: Marduk) er-
wählt (so David von Jahwe 2. Sam. 6, 21), zu seinem Priester
gemacht (so Psalm iio), oder er ist von ihm adoptiert (so der
König Israels Psalm 2, 7) oder geradezu gezeugt (ebenda). Daß
er dies ist, sein Charisma also, hat der König durch das dem
Volk widerfahrende Heil zu bewähren (wie in China und überall
bei genuin charismatischer Auffassung) . Um ihm seine göttliche
Abstammung zu beglaubigen, wird schon in früher mesopotami-
scher Zeit, für den Sumerer Gudea, für Sargon, den Gründer der
babylonischen Macht, dann in der Spätzeit Assyriens für Assur-
nasirpal, dem König nachgesagt: daß sein Vater oder daß auch
seine Mutter unbekannt sei, daß er in der Verborgenheit oder auf
^) In der vorzüglichen Abhandlung: Der Ursprung der israelitisch- j üdi-
schen Eschatologie (Forsch, z. Rel. und Lit. des A. und N. T. 6. Götlingen TQ05.
Zur Kritik: Sellin, Der alttest. Prophetismus, Leipzig 1912, S. 105 ff.).
1. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 247
den Bergen, also von einem Gott, gezeugt worden sei. Nament-
lich — aber nicht nur — Usurpatoren greifen zu diesem Mittel
der Legitimierung. Auch diese Vorstellung scheint in Israel
bekannt gewesen zu sein, denn Jesaja bedient sich ihrer, als er
dem glaubenslosen König Ahas den bald erscheinenden, ja viel-
leicht schon jetzt geborenen Heilskönig, den Immanuel, entgegen-
hält, der ganz diese Züge trägt. Je nach der mehr militaristischen
oder pazifistischen Schicht ist dann der Heilskönig ein Monarch,
der auf Rossen und Wagen kommt (Jer, 17, 25; 22, 4) oder ein
auf dem Esel reitender Fürst nach Art des altisraelitischen
charismatischen Helden der Bundeszeit (Sach. 9^ 9 f.) und ein
Friedensfürst, wie der jesajanische Immanuel. Im Judäerreich
wurde naturgemäß aus dem Davididenstamm, daher aus Bethle-
hem, dieser »Gesalbte« (ha maschiah, das heißt einfach: der
König) erwartet, der ein »Heiland« (moschua') sein wird, als
welcher Jerobeam IL von seiner Zeit aufgefaßt wurde. Die
Besonderheit dieser Hoffnungen in Israel ist politisch bedingt.
Während die starke, unvordenklich alte Stellung des König-
tums in den großen Kulturgebieten dort die soteriologischen Hoff-
nungen wesentlich an den lebenden König knüpfte M und nur
ganz ausnahmsweise — wie unter Bokchoris — eigentlich »mes-
sianische« Heilserwartungen sich finden, lag dies in Israel anders.
Zwar mit der erstarkenden Stellung des Priestertums war auch
in Aegypten der König (so unter der 21. Dynastie) nur der
von Ammon anerkannte und legitimierte Herr, nicht mehr,
wie wenigstens nach der offiziellen Auffassung des Alten
Reichs, selbst lebender Gott; und in Mesopotamien war es in
historischer Zeit stets so. Aber in Israel trat, zumal im Nord-
reich mit seinen steten Militärrevolten und Usurpationen, das
Königtum als Heilsbringer stark gegen andere Erwartungen zu-
rück. Für Hosea gibt es einen legitimen König überhaupt nicht,
— was der Zeitlage entsprach. Und auch sonst stand der offi-
ziellen königlichen Heilsprophetie und Zukunftsweissagung die
Hoffnung gegenüber: daß entweder Jahwe selbst dereinst das
Regiment in die Hand nehmen, die fremden Götter vernichten
( Jes. 10, 3. 4) und die Welt neu gestalten werde -) oder daß
1) Der Pharao (Ramses II.) als Fürsprecher zur Erwirkung von Regen:
Breastead Records II, 426 (sogar für das Land der Cheta!).
2) Dies: daß Jahwe dereinst Herr der Welt werden solle, nicht: daß
er — wie Sch'Jn a. a. O. es deutet — es jetzt schon sei, ist die alte Hoffnung,
auch des Schilf meerliedes Ex 15, Auch ist nicht, wie Seilin annimmt, ein »Ge-
248
Das antike Judentum.
er einen übermenschlichen Wundertäter schicken werde, dies
zu bewerksteUigen. Dieser wird dann alle fremden Bedränger,
aber nicht nur sie, sondern auch die Uebeltäter im eigenen Lande
vernichten : zu dieser spezifisch ethisch gewendeten Hoff-
nung verdichtete sich, unter dem Einfluß der besondersartigen
Beziehung Jahwes zu seinem Volk kraft der berith, die Hoff-
nung in Israel und nur dort. Es finden sich von einer derartigen
Wendung anderwärts keine Spuren und sie konnte auch,
unter der Herrschaft der Magie als universellen Heilsmittels,
sich anderwärts nicht entwickeln. Daraus folgte aber: daß
das Kommen des Tages Jahwes Unheil auch über die Sünder
im eigenen Volk bringen werde. Nur ein Rest ^) : schea-
rith, wird vor Jahwes Zorn bestehen: mit diesem für alle Pro-
pheten grundlegend wichtigen »Rest «-Gedanken arbeitet gleich
der erste von ihnen, Arnos, als mit einer festen Vorstellung,
und Jesaja nannte einen seiner Söhne Schear jaschub (»Rest be-
kehrt sich«). Natürlich: ein sittlich qualifizierter Rest, — so
daß die eschatologischen Naturmythologien der Umwelt auch
hier ethisch gewendet wurden. Von den beiden möglichen
Vorstellungen über die Person des eschatologischen Helden war
die im allgemeinen in den jahwistischen Kreisen herrschende
offenbar: daß Jahwe selbst seine Sache gegen seine Feinde füh-
ren werde. Die andere: daß ein eschat ©logischer Held in seinem
Auftrag handeln werde, führte entweder in die Bahnen der könig-
lichen Heilsprophetie — wie meist in Jerusalem, wo die Davi-
diden Träger dieser Hoffnung waren — oder sie führte zu eso-
terischen Mythologemen. Der Retter wurde dann eine über-
irdische Gestalt. Wie ein »Stern« geht er auf im Bileamspruch
(Num. 24, 17). Er ist ein »Vater für ewig« (in der freilich zweifel-
haften üblichen Lesart der Stelle Jes. 9, 5). Sein Ursprung ist
in den unvordenklichen Tagen der Vorzeit (Mich. 5, i). Diese
dunkeln Andeutungen, die in dem »Gottesknecht« des Deutero-
jesaja im Exil ihre Fortbildung erfuhren, sind nirgends näher aus-
geführt. In den bisher aus der Umwelt Israels vorliegenden Doku-
richt« Jahwes, sondern das Entbrennen seines Zorns das, was erwartet wird.
Der Gedanke eines eigentlichen »Weltgerichts« ist zum mindesten nie wirklich
ausgeführt, und wo er anklingt, ist es Jahwe, der — als Partner der berith —
einen Prozeß hat mit den Einwohnern des Landes: er ist Partei, nicht: Richter
(so bei Hosea und im Deuteronomium).
1) Ueber diese Konzeption s. Dittmann, Theol. St. u. Kr. 87 (1914)
S. 603 f.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe, 24Q
menten finden sich keine unmittelbaren Analogien; die Einwir-
kung iranischer Vorstellungen ist äußerst fraglich, und es handelt
sich bei Yima und den anderen in Betracht kommenden Gestalten
der älteren iranischen Religion auch nicht um eschatalogische
Heilsbringer. Da die entscheidende Stelle (Micha a. a. O.) das
Davididengeschlecht als Träger der Heilshoffnung hinstellt
und die Vorstellung eines Fortraff ens großer Gotteshelden in
Jahwes Himmel in Israel nicht fehlte (Henoch, Elia), so ist dort
wohl an die Wiederkehr Davids selbst gedacht. Das der israeli-
tischen Erwartung Eigentümliche ist dabei die steigende In-
tensität, mit welcher, sei es das Paradies, sei es der Heilskönig,
das erste aus der Vergangenheit, das zweite aus der Gegenwart,
in die Zukunft projiziert wurden. Das geschah nicht nur in
Israel. Aber mit derartiger und zwar offenbar stetig zunehmender
Wucht ist diese Erwartung nirgends in den Mittelpunkt der Reli-
giosität getreten. Die alte berith Jahwes mit Israel, seine Ver-
heißung in Verbindung mit der Kritik der elenden Gegenwart
ermöglichte das ; aber nur die Wucht der Prophetie machte Israel
in diesem einzigartigen Maße zu einem Volk der »Erwartung«
und des »Harrens« (Gen. 49, 18).
Die Vorstellung endlich, daß die erwartete Zukunftskata-
strophe Heil und Unheil und zwar zuerst Heil, dann Unheil,
bringen werde, findet sich wenigstens in einigen Ansätzen im
ägyptischen Glauben bezeugt. Man pflegt sie, ohne (bisher)
genügenden Beweis ^), als ein festes Schema der Zukunfts-
^) Die ägyptischen Unheils- und Heilsprophetien linden sich erörtert
von J. Krall in der Festgabe für Büdinger (ein sprechendes Lamm prophezeit
vor einem gewissen Psenchor unter König Bokchoris zuerst ein vom Nordosten
über Aegypten hereinbrechendes Unheil, dann eine Glückszeit und stirbt dann),
von Wessely (Neue griechische Zauberpapyri in den Denkschr. d. Kön. Ak.
d. Wiss. Phil.-hist. Kl. 42) und ergänzend und abschließend von Wilcken (Hermes
40: die sog. »Prophezeiung des Töpfers«, Unheil von Osten und die Zerstörung von
— anscheinend — Alexandria, vielleicht nach einem älteren Muster). Ed. Meyer
(Sitz.-Ber. der Ak. d. Wiss. 31, 1905) nahm u. a. auf Grund eines von Lange
kommentierten Papyrus, an, daß die Prophezeiung eines Heilskönigs auch für
Aegypten nachgewiesen sei. Indessen die neue Lesung von Gardiner zeigt,
daß in diesem Fall ebenso wie beim Pap. Golenischefi, der ähnlich gedeutet wurde,
dies nicht zutrifft, sondern im einen Falle ein Gott, im anderen ein lebender König
gemeint ist. Die von Herodot erwähnte Prophezeiimg an Mykerinos und die \on
Manetho erwähnte Amenophis-Prophezeiung (E. Meyer a. a. O., S. 651) sind nicht
hinlänglich authentisch überliefert. Alles beweist nur: daß Unheils- und Heils-
Prophetie auch in Aegypten existierten, ergibt aber bisher nichts genügend be-
stimmtes für die behauptete Uebemahme eines in Aegypten bestehenden festen
»Schemas« durch die israelitische Prophetie. S. Ali cluiitl IT.
2 CO I^äs antike Judentum.
erwartung anzusehen, dessen Uebernahmc durch die Propheten
den charakteristischen Zug ihrer Verkündigung konstituiert
habe. TatsächUch beherrscht das Schema wenigstens einen er-
heblichen Teil der vorexilischen Prophetie, ohne übrigens rein
an sich deren spezifische Eigenart irgendwie erschöpfend zu
charakterisieren. Die Herkunft aus kultischen Eigentümlichkeiten
der chthonischen und gewisser siderischer Götter läge, wenn
dies »Schema« tatsächlich als solches existiert hätte, nahe: Nacht
und Winter brechen erst vollends herein, ehe die Gottheiten der
Sonne und der Vegetation ihre Kraft wieder entfalten können. In-
wieweit dabei die weithin über die Welt und so auch in der Nach-
barschaft verbreiteten Vorstellungen von dem Leiden eines
Gottes oder Heros, ehe er zur Gewalt gelangt, herstammend aus
den Kultmythen der siderischen und Vegetationsgötter, auch in
die volkstümliche israelitische Vorstellung übergegangen waren,
muß dahingestellt bleiben. Daß Israel namentlich jene Kind-
heitsmythen, wie sie sich daran anzuknüpfen pflegten, kannte,
zeigt die Geschichte von der Jugend des Mose. Die vorexilische
Prophetie .hat mit diesen volkstümlichen Konzeptionen, sie in
ihrer Art abwandelnd, gearbeitet. Die Priesterschaft und die
theologischen Intellektuellen überhaupt haben, soviel ersichtlich;
sie gemieden und statt dessen die nüchterneren Verheißungen
materiellen Wohlstandes, starker und geehrter Nachkommen-
schaft und eines großen, als Segenswort gebrauchten Namens
verwertet. Vermutlich mieden sie die volkstümliche Eschatolo-
gie wegen ihres Zusammenhangs mit fremden astralen, chthoni-
schen oder Toten-Kulten. Wo eine Verheißung einer Zukunfts-
persönlichkeit auftritt, ist es bei ihr nicht ein König, sondern
ein Prophet wie Mose (Deut. i8, 15. 19). Die Hoffnung, daß
Jahwe selbst in der Zukunft die Herrschaft wieder in die Hand
nehmen werde, wie er sie — nach der zuerst in der prophetischen
Zeit auftauchenden Vorstellung der Samuel-Legende — ■ einst
vor der Errichtung des Königtums gehabt habe, gehört wohl im
wesentlichen erst der Exilszeit ai>, wo (bei Deuterojesaja) der
Heilands-Titel auf Jahwe angewendet wird.
Wir werden die Art, wie die Prophetie diese Zukunftser-
wartungen verwertet hat, gesondert zu besprechen haben. Vor-
her aber werden wir zweckmäßigerweise die Leistung ihrer
Konkurrentin in der Prägung des Judentums erörtern: der vor-
exilischen Thoralehre. Denn nicht die Prophetie schuf
I, Die israelitische Eidgenossenschafl und Jahwe. 2s I
den materiellen Inhalt der jüdischen Ethik, so wichtig
ihre Konzeptionen für deren Geltung wurden. Sie setzte viel-
mehr gerade den Inhalt der Gebote als bekannt voraus
und man würde aus den Propheten allein niemals auch nur an-
nähernd vollständig die ethischen Anforderungen Jahwes an den
Einzelnen entnehmen können. Diese Anforderungen waren eben
von einer ganz anderen Seite her geprägt : durch die 1 e v i t i-
sche Thora. Resultat ihrer Arbeit waren auch diejenigen
Gebilde, welche wir heute als besonders bedeutsame Schöpfungen
der israelitischen Ethik anzusehen pflegen: die »Dekaloge«
(eigentlich: der eine, »ethische«, Dekalog i) Ex. 20, 2 f.; Deut.
5. 6 f. und die beiden Dodekaloge Ex. 34, 14 f. und Deut. 27, 18 f.).
Man hat immer wieder versucht, für diese Sammlungen ein be-
sonders hohes Alter, womöglich mosaischen Ursprung, wahr-
scheinlich zu machen. Vor allem mit dem Argument: daß das
»Einfache« an der Spitze der »Entwicklung« gestanden haben
müsse. Das ist schon an sich auf diesem Gebiet nicht immer
richtig. Unser »ethischer« Dekalog insbesondere (Ex. 20, 2—17;
Deut. 5, 6—18) erweist die (relative) Jugend seiner Geltung
als gemeinverbindliche Norm schon durch das Schnitzbilder-
verbot ^ welches dem gemeinisraelitischen Brauch der älteren
Zeit nicht entspricht. Ferner auch dadurch, daß er vom »Haus«
des Nächsten und vom Gerichtszeugnis spricht, also feste Häuser
und Prozeßverfahren mit Zeugenverhör voraussetzt. Weiter durch
die sonst in vorexilischer Zeit nirgends so stark hervortretende
Scheu vor dem Mißbrauch des Jahwenamens. Endlich durch die
abstrakte Fassung des 10. Gebots: »laß dich nicht gelüsten«,
selbst wenn der gesinnungsethische Sinn des Worts erst später
an die Stelle des ursprünglichen massiveren (»betrügerisch mani-
pulieren«) getreten sein sollte. Nebenbei steht auch das all-
gemeine Verbot des »Tötens« mit dem Blutracherecht in Wider-
spruch, Andererseits enthält der etliische Dekalog keineswegs
alle gerade dem alten Israel fundamental charakteristischen
Vorschriften: jede Erwähnung der Beschneidung fehlt und von
den rituellen Speisegeboten ist keine Rede. Abgesehen von der
starken Betonung des Sabbat könnte der ethische Dekalog
daher geradezu den Eindruck einer von Intellektuellen geschaffe-
nen Formel einer interkonfessionellen Ethik machen : und er hat
ja auch dem Christentum stets erneut als ethisches Orientierungs-
1) Ueber den Dekalog s. Matthes Z. f. A. T. Wiss. 24, S. 17.
2C2 ^^s antike Judentum.
mittel gedient. Das ist weder bei den früher erwähnten Ver-
fiuchungsformeln der Sichemer Zeremonie (Deut. 27. 14 — 26), die
man als »sexuellen Dekalog« zu bezeichnen pflegt, noch bei dem
einzigen in jahwistischer Fassung erhaltenen Gebotenverzeichnis,
den im Text als »Wort des Bundes« (debarhaberith) bezeichneten
Vorschriften Ex. 34, 14 — 26 (dem sog. »kultischen Dekalog«)
der Fall. In dem erste ren werden bei den sozialen Schutzvor-
schriften die für Israel charakteristschen gerim neben den Wit-
wen und Waisen genannt. In dem letzteren aber wird neben der
Vorschrift der Monolatrie (Verbot des Anbetens eines anderen
»El«) und der Gußbilder das Verbot der Teilnahme an den kanaa-
näischen Opfern und jeder »berith« mit Kanaanäern überhaupt
sehr nachdrücklich eingeschärft, woran sich dann Vorschriften
über die Sabbatruhe und die Feste, die jährlich dreimaligen Wall-
fahrten zur Kultstätte, die Erstlingsabgaben an Jahwe, — alle
in ziemlich allgemeinen Ausdrücken gehalten, — und schließlich
drei sehr spezialisierte und unzweifelhaft sehr alte rituelle
Speisebestimmungen, darunter eine über das Passah, schließen.
Da in diesem »kultischen« Dekalog x\ckerbaufeste und Passah
beide vorkommen, Fälle von berith mit Kanaanäern mindestens
bis Salomo existierten, andererseits das (übrigens in -diesem
Dekalog nicht unbedingt verbotene ^) connubium mit ihnen,
wie die Legende von der Brautwerbung für Isaak wahrschein-
lich macht, bei den jahwistischen Viehzüchtern am frühesten
Bedenken erregt hat, so kann diese Komposition in ihrer jetzigen
Form nicht übermäßig alt sein. Für den sog. »sexuellen Dekalog«
gilt insofern das gleiche, als er voraussetzt, daß die Aufstellung
von Schnitz- oder Gußbildern, die Jahwe ein Greuel sind, nur
noch »insgeheim« erfolge, — was bis in die späte Königszeit
selbst in Juda nicht der Fall war. Die zweifellose (relative)
Jugend des jetzigen Inhalts würde nun das Alter von dekalog-
artigen Gebotsammlungen in Israel nicht ausschließen. Aber
schon die Unterschiede der jetzigen Dekaloge, denen allen
gerade die zweifellos jüngsten Bestimmungen (Bildverbot) gemein-
sam sind, machen die ursprüngliche Form problematisch und
dazu tritt die Erwägung: daß jedenfalls solche Katechismus-
^) Es wird nur als für die Treue gegen Jahwe gefährlich hingestellt.
Allerdings scheint die Fassung zu zeigen, daß gleichgeordnetes connu-
bium nur bestand, wo ein berith geschaffen war, was anderen, z. B. römischen,
Verhältnissen entspräche und auch mit den Voraussetzungen der Dina-Ge-
schichte stimmen würde.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 253
artigen paränetischen Gebilde, wie der Dekalog Ex. 20 eines ist,
nach den indischen Analogien zu schließen, nie am Anfang einer
Entwicklung zu stehen pflegen, sondern relativ späte Produkte
lehrhafter Absichten sind. Wir finden denn auch in der vorexi-
lischen Literatur, vor allem der prophetischen, keine sichere
Spur davon, daß den Dekalogen irgendw^elche spezifische Würde
und Bedeutung zugeschrieben wäre, ja daß sie überhaupt als
allgemein bekannt vorausgesetzt ^) worden wären. Möglich
') Vergleicht man die Ethik speziell des ethischen Dekalogs mit der Ethik
der vorexilischen Propheten, so fällt auf, daß diese niemals eine Anspielung auf
die besondere Dignität dieser Zusammenstellung machen, wie es zu erwarten
wäre, wenn sie schon damals gegenüber anderen Normen durch das Prestige des
Ursprungs von Mose selbst ausgezeichnet gewesen wäre. Zunächst fällt es den
Propheten der vorexilischen Zeit in keiner Weise ein, ihrerseits mit dem Namen
Jahwes sparsam umzugehen. Indessen dies konnte als ihr Vorrecht in ihrer Ei-
genschaft als Propheten angesehen werden. Allein auch sonst finden wir, daß
die Tugend- und Sünden-Aufzählungen der Propheten mit den dekalogischen
im Ganzen nicht viel gemein haben. Sehen wir von den Vorschriften der spezifi-
schen sozialpolitischen Paränese ab, die bei den Propheten besonders stark in den
Vordergrund treten, wie wir später sehen werden, und die im Dekalog gar keine
Stelle finden, so ist der Kampf gegen die »anderen Götter« und gegen die Bilder
freilich die eigentlichste Domäne der Prophetie. Anklänge an die Formulierun-
gen des dekalogischen »i. Gebotes« finden sich am ehesten bei Hosea (12, 10;
13, 4). Aber im übrigen werden bei Arnos Geiz (9, i) als Kardinallaster, daneben
Kornfeilschen (8, 5, am Sabbat) falsche Wage (8, 5) und Betrug gegen Arme
(8, 6), femer Unzucht (2, 7: Schlafen von Vater und Sohn bei der gleichen Dirne)
gegeißelt. Die erstgenannten Laster gehören offensichtlich mit der prophetischen
Sozialethik zusammen, das letzte mit dem Gegensatz gegen das Hierodulenwesen.
Zur Ethik des Dekalogs hat kein von diesen Propheten besonders hervorgeho-
benes Laster eine charakteristische Beziehung. Bei Hosea werden (4, 2) Gottes-
lästerung, Lügen, Morden, Stehlen, Ehebrechen als verbreitete Sünden aufge-
zählt. Das sind Dekalogsünden. Es fehlt außer dem Sabbat und der Eltempietät
das 10. Gebot, und das »Lügen« ist im Dekalog bekanntlich nur vor Gericht
verboten. Immerhin aber ist dies bis auf Jeremia die stärkste Annäherung
eines prophetischen an den dekalogischen Sünden 1< atalog. Solhe Hosea den
Dekalog -^ was unsicher bleibt — tatsächlich gekannt haben, so w.ire das viel-
leicht ein Hinweis auf dessen Ursprung im nordisraelitischen Gebiet: Hosea
nennt das Wissen von jenen göttlichen Geboten: Kenntnis (dagath) von »Elo-
him*. Immerhin bleibt alles ganz unsicher. Bei Micha (6, 10 — 12) werden falsches
Gewicht und Maß und unrechtes Gut erwihnt, was alles zum Dekalog nicht in
charakteristischer Beziehung steht. In den echten Jesajaorakeln und bei Ze-
phanja ist keine zum Dekalog in Beziehung zu setzende Reihe von Sünden auf-
geführt. Von eigentlich privaten Lastern erwähnt Jesaja das im Dekalog ganz
fehlende Saufen {5, 11), alle anderen Stellen sprechen wesentlich Klagen aus,
die sich gegen das ungerechte Treiben der Vornehmen richten. Eine Anspielung
auf das zehnte Gebot könnte vielleicht bei Micha (2, 2) gefunden werden, doch
ist das Aneinanderreihen von Aecker;i durch Wucher eine allgemeine sozial-
ethische Klage der Propheten gegen die Reichen. Erst bei Jeremia findet sich
wieder die Mehrzahl der Dekalogsünden: Raub und Diebstahl, Mord, Meineid
(7, 9), Ehebruch (5, 8), Betrug gegen den Freund (9, 4), Sabbatverletzung (17,
254
Das antike Judentum.
scheint, daß der »ethische« Dekalog in der Zeit Hoseas in Nord-
israel schon bekannt war. Sicher ist auch das in keiner Weise.
Allein in jedem Fall ist die angebliche Sonderstellung der drei
Dekaloge, von der alle jene Ansichten ausgehen, ganz unbegründet.
Ganz offensichtlich gilt das für den »kultischen« und den »sexuel-
len« Dekalog. Die Zusammenstellung der Sexualgebote Lev. i8,
die Sammlung kultischer, ethischer, ritueller und karitativer Sat-
zungen Lev. 19 : die umfassendste, auch die Gebote unseres »ethi-
schen Dekalogs« einschließende Sammlung von allen, endlich
auch die Sammlung Lev. 20, rituelle und sexualethische Vor-
schriften enthaltend, sind, wie der Augenschein lehrt, schlechthin
gleichartig mit dem »kultischen« und »sexuellen« Dekaloge,
und mindestens Lev. 19 geht auf eine Sammlung zurück, die
ihrem ursprünglichen, wenn auch überarbeiteten Bestand nach
keineswegs jünger sein muß, als irgendeiner der Dekaloge. Die
Frage des Alters hängt aber mit der anderen zusammen : wel-
chen Ursprung denn diese Sammlungen vermutlich ge-
habt haben?
Hervorragende Forscher haben geglaubt, sie als alte Bestand-
teile kultischer »Liturgien« auffassen zu sollen. Die Analogien
sprechen aber entschieden gegen diesen Ursprung. Uns sind aus
Aegypten und Babylonien Sündenkataloge erhalten, welche
schon öfter mit den israelitischen Sammlungen in Parallele
gestellt worden sind. Woher stammen nun diese ? Nicht aus
dem Kultus, sondern aus der »S e e 1 s o r g e« der Magier und
22), also hier zuerst der Sache nach alle dekalogischen Sünden außer dem Miß-
brauch des göttlichen Namens und dem 10. Gebot. Aber irgend eine Bezugnahme
auf die besondere Heiligkeit gerade des Dekalogs oder auf seine so charakteri-
stischen Formulierungen oder auch nur auf die Existenz einer solchen Samm-
lung läßt sich weder bei ihm noch bei anderen Propheten erkennen. Es sei denn,
daß man wiederum bei Micha (6, 8) eine sehr allgemein gehaltene Betonung der
Bedeutung des Haltens der Mischpatim darauf beziehen wollte; was aber schon
formell unzulässig erscheint, da die Dekaloge debarim, nicht mischpatim sind.
Dagegen findet sich namentlich bei Jeremia eine gegenüber dem Dekalog viel
weiter gehende gesinnungsethische Sublimierung und Systematisierung der
jittlichen Gesamthaltung, von der später zu reden sein wird. Und schon bei
Micha treten gesinnungsethische Ansprüche auf, wie, neben der »Demut« vor
Gott, die Uebung von »Liebe« (6, 8), welche der Dekalog gar nicht kennt. Alles
in allem: die Prophetie weiß nichts von einem »mosaischen« Dekalog, vielleicht
überhaupt von keinem solchen. Das alles scheint die hier vertretene Annahme
von der relativen Jugend und dem rein pädagogischen Zweck des ethischen De-
kalogs zu bestätigen. Andrerseits geht die Herabrückung in nachexilische Zeit
nicht nur (wie selbstverständlich) für den sexuellen und kultischen Dekalog
zu weit, sondern auch für den ethischen.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 255
Priester. Der von Krankheit oder Unglück Verfolgte, der beim
Priester Rat sucht, wie er den Zorn des Gottes beschwichtigen
solle, wird von diesem nach Sünden abgefragt, die er etwa be-
gangen haben könnte. Dafür haben die Priester zweifellos früh
feste Schemata entwickelt. Für Babylon ist ein erhaltener Sün-
denkatalog ganz unmittelbar ein solches Schema und das gleiche
ist zweifellos der Ursprung des Sündenkatalogs des ägyptischen
Totenbuchs, welcher die Sünden angibt, nach welchen die 42
Totenrichter im Hades den Toten befragen werden.
Wir sahen, daß die Thora der Leviten genau in dieser Rich-
tung lag. Sündenbeichte und gegebenenfalls Erstattung unrechten
Guts an den Geschädigten mit 20% Zuschlag schreibt die Prie-
stergesetzgebung ausdrücklich vor (Num. 12, 6) , sicherlich
auf Grund alten Brauchs. Die überlieferten Vorschriften über
die levitischen Schuld- und Sühnopfer zeigen auch die Gelegen-
heit, bei welcher gerade diese »Beichte« des Opfernden vorgenom-
men wurde: ein privates Opfer, nicht: ein Kultakt. Mit
steigender Bedrängnis von außen und dadurch steigendem Druck
des allgemeinen Sündengefühls steigerte sich die Bedeutung
gerade dieser Tätigkeit der Leviten. Die Erklärung, welche nach
dem Deuteronomium (26, 13 f.) in jedem dritten Jahre der Is-
raelit bei Opferung des Zehnten an Leviten, gerim, Witwen und
Waisen abzugeben hat: daß er diese Ablieferung richtig besorgt,
keines der Gebote Jahwes übertreten und insbesondere nichts von
dem Abgelieferten in Unreinheit oder Totentrauer gegessen
oder einem Toten geopfert habe, hat genau die Form der ägypti-
schen Sündenreinheitserklärung. Man braucht aber einen zum
Abfragen bestimmten Sündenkatalog nur in positive Vorschriften
umzukehren und man hat eine Liste göttlicher Gebote, wie sie
insbesondere auch die Dekaloge darstellen. Daher stammen sie
und alle ähnlichen Sammlungen. Nicht aus dem gemeinsamen
Kult, an dem ja die von Unglück Geschlagenen, als von Gottes
Zorn verfolgt, gar nicht teilnehmen durften,
sondern vielmehr aus der Beichtpraxis der Leviten gegenüber
den »Mühseligen und Beladenen«. Mit ihnen als »Kunden«
hatte sich der Levit in der Praxis fortwährend zu befassen : d a-
h e r die Vorliebe der Thora für diese gedrückten Schichten
und der Zorn gegen die »Hochmütigen«, die sich nicht geneigt
zeigen, sich vor Gott, d.h. vor dem Leviten, zu »demütigen«
(und: ihn für die Versöhnung mit Jahwe zu entgelten).
2Cß Das antike Judentum.
Indirekt war freilich auch die Gemeinschaft an der Sünden-
beichte interessiert. Deshalb : weil sie solidarisch haftete. Das
»Erscheinen vor Jahwe«, welches der kultische Dekalog für alle
Israeliten anordnet, hatte vielleicht den Zweck, eine präven-
tive Abfragung der Erscheinenden nach Sünden zu ermöglichen,
damit sie und die Gemeinschaft vor dem Zorn Jahwes bewahrt
blieben. Jedenfalls aber sollte es die priesterliche Machtstellung
sichern. Die sichemitische Zeremonie verfluchte namens der
Gemeinschaft diejenigen, welche eine (durch den Leviten unge-
sühnte !) Sünde auf sich hatten, auf daß nicht die Gemeinschaft
unter Jahwes Zorn leide: diesen Zweck und die Sündenverflu-
chung selbst haben vermutlich erst die levitischen Thoralehrer
in den ursprünglich wohl für die einfache Dämonenverfluchung
bestimmten Ritus nachträglich hineingebracht. Dem gleichen
Zweck : Reinhaltung der Gemeinschaft von Sünden, um den Zorn
des Gottes von ihr fernzuhalten, diente ja nach der Auffassung
der levitischen Priester auch die von ihnen als Pflicht und Recht
in Anspruch genommene Aufgabe der Belehrung des Volks über
die Thora überhaupt. Die deuteronomische Vorschrift, die Thora
alle sieben Jahre öffentlich verlesen zu lassen, ist ebenso jung wie
die Konstruktion des »Erlaßjahrs«, mit dem sie (Deut. 31, 11. 12)
verbunden ist; schon daß auch die gerim sie hören sollen, zeigt das.
Das Interesse der Gemeinde an der Sündenbeichte und
Sündenkatalogisierung stieg eben mit den steigenden Zeichen
göttlichen Zorns,
Die Abweichungen der Sammlungen und auch das seltsame
Nebeneinanderstehen der im Wesen dem gleichen Zweck dienenden
»Schuldopfer« und »Sühnopfer« (Chattat und Ascham) in der
jetzigen Redaktion erklären sich daraus, daß eben keine einheit-
liche Organisation, sondern zahlreiche bekannte Amtssitze von
Leviten und bis zum Siege Jerusalems auch zahlreiche leviti-
sche Opferstätten nebeneinander standen. (Ein solcher alter
Sitz levitischer Weisheit, an den man sich mit Fragen wandte,
wird 2. Sam. 20, 28 erwähnt.)
Jedenfalls aber : Die drei sogenannten Dekaloge dürfen nicht
anders angesehen werden als die andern ähnlichen Sammlungen.
Daß man ihnen auch in der wissenschaftlichen Betrachtung
bei uns jene Sonderstellung einräumte, hatte außer in der späten
Legende von der »Bundeslade« als dem Aufbewahrungsort von
zwei die Gebote enthaltenden Steintafeln, offenbar auch in der
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 2^7
Hoffnung seinen Grund : auf diese Art etwas greifen zu
können, was an inhaltlichen Geboten auf Mose
zurückgeführt werden könnte. Aber diese Hoffnung ist doch wohl
ganz vergeblich. Die Rezeption Jahwes als Bundesgott und des
levitischen Orakels sind die beiden Leistungen, welche mit
gutem Grund auf Mose zurückgeführt werden dürfen. Das ist
nicht wenig: aus der Eigenart des Bundesgotts und der Leviten
folgte — unter Mitwirkung bestimmter historischer Verkettun-
gen — später. alles andere. Aber die durch jene Hoffnung bedingte
Sonderstellung der Dekaloge ist aufzugeben. Wenn die mosai-
sche berith über die aus der Rezeption ohne weiteres folgenden
rein rituellen Verpflichtungen hinaus inhaltliche Gebote
enthalten haben sollte, dann sicher nur solche, welche der Erhaltung
des Friedens innerhalb des Heerbanns dienten, über die Rache
vergossenen Blutes und vielleicht »sozialpolitische« Schutz-
bestimmungen für verarmende wehrhafte Sippen. Was aber
die inhaltliche Ethik anlangt, so zeigen die Quellen, daß im alten
Israel zunächst, wie überall, die Sitte der letzte Maßstab des
»Sittlichen« war. Nie findet eine Bezugnahme auf »Gebote«
statt. Nebalah, »Ruchlosigkeit«, war das, was in Israel »unerhört«
war. Erst die levitische Thora begann für die Zwecke der Sünden-
beichte Einzelgebote zu formulieren und zu katalogisieren.
Der »ethische« Dekalog (Ex, 20) nimmt unter ihnen allerdings
eine von andern ähnlichen Sammlungen kaum irgendwo erreichte
Sonderstellung ein. Aber nicht weil er »mosaisch« wäre. Das ist
er am allerwenigsten. Sondern weil er wahrscheinlich den Ver-
such darstellt, eine summarische Jugendlehre für die
Heranwachsenden — deren Unterricht über Gottes Willen ja
(Ex. 13, 8. 14 und öfter) vorgeschrieben war — zu bieten, ebenso
wie die indischen Dekaloge dem Laien- (und außerdem dem No-
vizen-) Unterricht dienten. Der Wucht, Plastik und Präzision
seiner Formulierung, nicht der Sublimierung oder Höhe seiner
ethischen Ansprüche (die tatsächlich recht bescheiden sind)
verdankt er seine Stellung. Seine wichtigsten Eigenarten aber,
vor allem seine Aussonderung aus der Verbindung mit rituellen
Vorschriften einerseits, sozialpolitischen andererseits, verdankt
er zweifellos der Adresse, an die er sich wendete : es sind weder
die politischen Gewalten, noch sind es die Angehörigen einer
Bildungsschicht, die er belehren will, sondern der Nachwuchs
des breiten bürgerlichen und bäuerlichen Mittelstandes, des »Vol-
M a X Weber, Religionssoziulogie Hl, 17
2C8 -D^s antike Judentum.
kes«. Deshalb enthält er nur das, was alle Altersklassen im All-
tagsleben beobachten sollen, nicht mehr. Die »zehn Gebote«
dienen ja auch bei uns wesentlich dem Zweck der elementaren
Jugend- und vor allem : Volks- Belehrung. Weit entfernt
also, daß der Gemeinschaftskult, womöglich der Tempelkult, die
Quelle der zahlreichen »debarim«und Thorasammlungen, darunter
auch der Dekaloge, gewesen wäre, entsprangen sie der levitischen
Seelsorge und dem Lehrbetrieb, für welchen wir alsbald
im Exil in Babylon das »Lehrhaus« antreffen, also: dem histori-
schen Vorläufer der späteren Synagoge, der mit »Kult «
ursprünglich gar nichts zu schaffen hatte.
Wie die Brahmanen ursprünglich aus der rituellen und
magischen Seelsorge für die einzelnen, so sind die levitischen
Thoralehrer nicht aus Funktionen im Gemeinschaftskult, sondern
gerade aus der rituellen und ethischen Seelsorge vor allem für
die einzelnen (einschließlich des Fürsten) zu ihrer Machtstellung
und kulturhistorischen Bedeutung aufgestiegen und ihre Be-
teiligung im Kult war vielleicht überhaupt erst sekundär, jeden-
falls aber nicht die Hauptsache. Gerade das Fehlen einer Kult-
Zentralisation und eines amtlichen Organs für einen Bundeskult
im alten Jahwebunde gab sowohl den alten Propheten und
Sehern, wie den Leviten ihr starkes Gewicht. Mit diesem Gewicht
hatten die eigentlichen Kultpriester auch in der Königszeit schon
deshalb zu rechnen, weil breite Kreise der im Besitz der Rechts-
überlieferung befindlichen Laien den Leviten starken Rückhalt
gewährten. Und zwar sind es anscheinend gerade manche vor-
nehmen Sippen gewesen, deren Angehörige im königlichen Dienst
standen und dadurch im Gegensatz zu den Sippen der alten
Sekenim zu einer rationalen Betrachtung des Rechts nach Art
der levitischen Paränese neigten, die innere Opposition gegen die
sultanistischen Anwandlungen der Könige aber mit den levistisch-
jahwisüschen Kreisen einerseits, den Sekenim andererseit teilten.
Die Prophetin Hulda war Frau eines solchen Beamten. Die gleiche
Provenienz tritt in einer deuteronomischen Sammlung ziemlich
deutlich hervor, für welche »Schofetim«, offenbar: Laienrichter
anderer Art als die Sekenim, mit den Leviten gemeinsam Träger
der Rechtsprechung sind, während die alte Tradition durchweg
die Sekenim als die eigentlich legitimen Vertreter des Volkes be-
handelt.
Ursprünglich als Losorakelgeber, dann als Seelsorger und da-
1. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 259
durch rationale Thoralehrer, hatten die Leviten ihre Machtstellung
erlangt. Eine strenge Trennung von »jus« und »fas« war mit ihrer
zunehmenden Bedeutung und der steigenden Berücksichtigung
ihrer Anschauungen durch die jahwistisch interessierten Laien
nicht aufrechtzuerhalten. Die alte nie vergessene Bedeutung der
»debarim Jahwe« für alle wichtigen Entschließungen kam ihrem
Einfluß auch auf die Rechtsanschauungen zugute. Die Theo-
logisierung des Rechts einerseits, die Rationalisierung der reli-
giösen Ethik andererseits Waren die Folge dieser Zusammen-
arbeit jahwistisch frommer Laien mit ethisch reflektierenden
Priestern. Das wichtigste Produkt dieser Zusammenarbeit, ent-
standen unter dem beherrschenden Einfluß der Jerusalemiter
Priesterschaft nach dem Zusammenbruch des Nordreichs, war
nun: das D e u t e r o n om ium. Es ist uns schon begegnet
I. als Redaktion der Mischpatim, 2. als Kompendium der jahwisti-
schen gegen den salomonischen Fronstaat und die »Weltpolitik«
gerichteten Forderungen nach Beschränkung der Königsgewalt,
.3. als Kompendium der kultischen Monopolansprüche der Prie-
ster von Jerusalem. Diesen kultischen Monopolansprüchen trat
nun 4. der Monopolanspruch auf die Thora zur Seite. Der Israelit
soll (Deut. 17, 10) nach dem handeln, was an der von Jahwe
bestimmten Kultstätte in Jerusalem gelehrt wird. Kultpriester
als solche pflegen im allgemeinen nicht Träger rational ethischer
Lehre zu sein, sondern sind in aller Regel rein ritualistisch orien-
tiert. So war es auch in der Zeit des zweiten Tempels. Damals
war das große »Beth Din in der Quaderkammer« des Tempels
von Jerusalem — dessen Stellung und Bedeutung Büchler in
glänzenden Untersuchungen aufgedeckt hat — die Zentralin-
stanz für die Entscheidung aller rituellen Fragen der Lebens-
führung und zugleich zur Abgabe von Gutachten über Fragen des
»fas« auf Anfrage der weltlichen Gerichte zuständig. Daß eine
formal organisierte und anerkannte einheitliche Instanz dieser
Art in vorexilischer Zeit in Jerusalem bestanden hätte, ist nicht
überliefert. Aber die gebildetste Großstadt-Priesterschaft des
Landes wahrte durch jene Bestimmung den Anspruch, maßgeb-
lich den Willen Jahwes für die Gerichte, Thoralehrer und Privaten
interpretieren zu können.
Das Deuteronomium wollte ein Kompendium der levitischen
Lehre, das maßgebliche »Sefer hattorah«, sein. Später wird uns
seine Beziehung zu der Verkündigung der Propheten zu beschäf-
17*
260 Das antike Judentum.
tigen haben. Hier geht uns jetzt sein Gehalt an levitischer Parä-
nese und an theologischer Rationalisierung der Ethik an. Die nur
von orientalistischen Fachmännern zu entscheidende Frage,
ob etwa das unter Josia angenommene Kompendium, wie Puukko
im Gegensatz zu Wellhausen glaubt, ursprünglich nur aus diesen
paränetischen Teilen und den auf die Kult- (und wohl auch : Thora-)
Konzentration und die damit zusammenhängenden Verhält-
nisse bezüglichen Bestimmungen bestand, die übrigen aber,
also nicht nur die unmittelbar prophetischen, zum Teil sicher
erst exilischen oder nachexilischen, sondern auch die Mischpatim
und das Königsrecht erst später damit verschmolzen worden sind,
kann hier dahin gestellt bleiben. Denn auf jeden Fall entstammten
auch in diesem Fall sowohl das Königsrecht wie auch die Bear-
beitung der Mischpatim dem gleichen oder einem nahe verwandten
Theologenkreis und verfolgten die gleiche Tendenz. Die eigentlich
paränetischen Partieen des Deuteronomium sind das Werk eines
Einzelnen, offenbar eines Thoralehrers aus dem Kreise der Tem-
pelpriesterschaft von Jerusalem. Aber die Art der »Auffindung«
und die dabei genannten Personen gestatten den Schluß : daß das
Ganze ein gut vorbereiteter Akt einer bereits um eine entsprechende
Anschauung gescharten Partei war.
»Höre Israel, Jahwe ist unser Gott, Jahwe allein«, — der
Anfangssatz des heutigen jüdischen Morgengebets, steht an der
Spitze der Paränese. Er ist ein eifersüchtiger Gott (Deut. 6, 15),
aber er ist treu (7, 9), er hat den Bund mit Israel, welches er er-
wählt hat (7, 6), beschworen (7, 12) und hält ihn durch tausend
Geschlechter; er liebt sein Volk (7, 11) und wenn er es Mühsal
und Not erdulden ließ, so hat er das getan, um die Echtheit seiner
Gesinnung zu erproben (8, 2. 3). Denn er knüpft seine Liebe und
Gnade daran, daß seine Gebote gehalten werden (7, 13); wenn
nicht, so wird er den Sünder und zwar ihn selbst, ohne Aufschub
(auf andere Generationen) strafen (7, 10) . Vor allem aber haßt er
den Hochmut und das Selbstvertrauen (8, 14), besonders das
Vertrauen auf die eigene Stärke (8, 17), welches zumal dann leicht
eintreten kann, wenn Israel reich geworden ist (8, 12. 13). Und
ebenso die Selbstgerechtigkeit (9, 4) ; denn er hat Israel nicht
erwählt und bevorzugt um seiner Tugenden willen. Diese hat es
gar nicht, es ist das geringste der Völker (Deut. 7, 7. 8), — eine
höchst nachdrückliche Ablehnung alles kriegerischen nationalen
Heldenstolzes. Sondern er erwählte es wegen der Laster der
I, Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 26 1
anderen Völker (9, 5. 6), worunter zweifellos vor allem die Sexual-
orgiastik (23, 18) und andere »Landessitten« Kanaans (12, 30)
verstanden sind. Nach solchen Sitten des Landes soll man nicht,
in der Meinung, dies den Göttern des Landes schuldig zu sein,
leben, sondern nach Jahwes Geboten allein. Alle Magie und Zei-
chendeutung jeder Art (18, 10. 11), alle Menschenopfer (18, 10),
aber auch alle Bundesschließungen (7, 2) und das connubium
(7, 3) mit den Kanaanäem sind wegen der Gefahr des Abfalls
streng verboten: alle Feinde sind ein für allemal dem Cherem
verfallen. Jeden, der zum Abfall von Jahwe verleitet und
sei es ein Prophet (13, 6) oder der eigene Bruder oder Sohn,
muß man mit eigener Hand den Steinigungstod erleiden lassen
(13, 7). Was die Beziehung des Frommen zu Jahwe anlangt,
so soll man ihn fürchten, verehren, nur bei ihm schwören (6, 13),
vor allem aber: ihn lieben (7, 9) und seinen Verheißungen
unbedingt vertrauen: Jahwe hat die Macht, Israel seine Zusagen
zu halten auch noch so viel stärkeren Völkern gegenüber (7, 17.
18) und das Wunder des Manna in der Wüste hat gezeigt, daß der
Mensch nicht von Brot allein lebt, sondern von allem, was Jahwe
geschaffen hat (8, 3). Die Macht des Gottes wird ins Riesenhafte,
Monotheistische, gesteigert: er ist allein der Gott des Himmels
und der Erde und kein anderer (4, 39) ; Himmel und Erde und
alles gehört ihm (10, 14), er allein und kein anderer ist Gott
(4> 35) heißt es in vielleicht erst im Exil entstandenen Zusätzen.
Aber dieser Wundermacht wird er sich für Israel nur dann be-
dienen, wenn es ihm gehorcht und seine Gebote hält. Dann — diese
Bestandteile der später im Exil stark erweiterten Verheißungen
und Flüche (Kap. 28) werden als ursprünglich gelten dürfen —
wird materielles Wohlergehen aller Art eintreten, die Feinde wird
Jahwe, wenn sie kommen, niederstrecken, dem Lande Regen
geben und Israel zum Gläubiger anderer Völker, zum Patriziat
also, machen; entgegengesetztenfalls wird er in allem das gerade
Umgekehrte tun.
Es ist viel und in meist steriler, weil konfessionell-apolo-
getischer Art darüber gestritten worden, ob »Furcht« das für Israel
im Gegensatz zu andern Religionen maßgebende Motiv
sittlichen Handelns gewesen sei^). Nun lehrt jede realistische
Beobachtung, daß dieses Motiv für Massenreligionen — im Ge-
^) Vgl. für die vorexilische Zeit darüber jetzt die in ihrer Art gute Abhand-
lung von Schultz in den Theol. Stud. u. Krit. 63 (1896).
202 Das antike Judentum.
gensatz zu Virtuosenreligionen — überall in der Welt
(neben dem qualitativ ähnlichen Motiv der Hoffnung auf dies-
seitige oder jenseitige Belohnung) seine beherrschende Rolle ge-
spielt hat. Wie die levitischen Thoralehrer durch das Sünden-
sühneverfahren, so hat die abendländische Kirche durch die Buß-
ordnungen und nicht durch die Predigt der Liebe die Domesti-
kation der Massen in die Wege geleitet. Der Predigt der Gottes-
und Nächstenliebe in der christlichen Kirche stehen genau
gleichartige und genau gleich ernst gemeinte israelitische (vor
allem: rabbinische) Lehren gegenüber. Zutreffend ist nur eins:
der ritualistische Charakter einer Religiosität bedingt
natürlich, je stärker er vorherrscht, desto mehr, daß die Be-
sorgnis vor rein formalen, für die moderne Vorstellung
gesinnungsethisch irrelevanten, Verstößen die religiöse Beziehung
färbt. Und zutreffend ist ferner: daß die Entwicklung der vor-
exilischen Ethik sehr stark unter dem Druck der Angst, man ist
fast versucht zu sagen: der »Kriegspsychose«, angesichts der
furchtbaren Raubkriege der großen Eroberungsreiche sich voll-
zog ^). Davon wird später zu reden sein. Die Ueberzeugung ;
daß nur ein Gotteswunder, nicht Menschenkraft, retten könne,
war die Grundstimmung des deuteronomistischen Kreises.
Die utopistischen Kriegsregeln des Deuteronomium und sein
Königsrecht stimmen zu diesen prinzipiellen Grundlagen auf das
beste. Auch in Aegypten wird in dem Gedicht des Pentaur
gesagt : daß Ammon allein den Sieg bewirke und nicht eine Million
Soldaten. Aber gehandelt wurde darnach nicht. Auch die
Priestermacht in Aegypten entspricht den Anforderungen der
Priester von Jerusalem. Aber in Israel mußten diese Züge ganz
wesentlich penetranter wirken. Sie alle beruhten auf dem Pre-
stige Jahwes, der allein, ohne Zutun Israels, alles zum besten
lenken kann und lenkt, wenn man ihm nur vertraut. Dies an den
Ammonglauben erinnernde, aber weit stärker durchgeführte
Prestige Jahwes war in Jerusalem offenbar durch die, Jesajas
Verheißung gemäß, unter Hiskia wider alle Wahrscheinlichkeit
eingetretene Errettung aus der Belagerung durch Sanherib er-
zeugt. Die Heils- und Unheilsdrohungen entstammen zum Teil
den von der Heils- und Unheilsprophetie geprägten Schemata.
1) Dennoch ist eine solche Sündenangst wie etwa bei Alphons v. Liguori
oder bei manchen Pietisten in Israel sowohl wie im Judentum nirgends auf-
findbar.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 263
Aber nur zum Teil: die Verheißung über das Geldleihen ist spe-
zifisch bürgerlich-jerusalemitisch. Die strenge Monolatrie war
eine damals schon alte jahwistische Forderung und das nach
Innen gewendete Korrelat des Monopols der jerusalemitischen
Priester nach außen. Der dem Wesen nach schon streng konfes-
sionelle Abschluß nach außen entsprach teils Priester-Interessen,
teils der Frömmigkeit einer stadtbürgerlichen, aber hierokratisch
von Thoralehrem geleiteten Intellektuellenschicht. Dem Ab-
schluß gegen die »Fremden« (nakhri) entsprach nach Innen die
religiöse und sozialethische Gleichstellung der frommen und rituell
korrekten gerim mit den Israeliten, das Produkt der Entmili-
tarisierung der Plebejer: Jeremia stellte ja zur gleichen Zeit
die Rechabiten, also typische gerim, den Israeliten als Träger
exemplarischer Gottwohl gefälligkeit hin. »Plebejisch« ist nicht
nur die völlige Fremdheit gegenüber allen realen politisch-mili-
tärischen Bedürfnissen und jeglicher Heldengesinnung; sondern
die ganze Art der gesinnungsethischen Beziehurg zum Gott:
Demut, Gehorsam, vertrauensvolle Hingabe — daher das Ver-
bot, »Gott zu versuchen«, d. h. Wunder von ihm als Zeichen seiner
Macht zu verlangen (Deut. 6, i6: es wird auf den Vorgang in
Massa exemplifiziert, vgl. Ex. 17, 2. 7) — vor allem eine pietistisch
anmutende »Liebe« zu ihm, die vorher nur etwa bei Hosea (wenig-
stens nur bei ihm vorher sicher datieibar) als Grundstimmung
bezeugt ist. Fromme Stimmung und eine gelegentlich in der
Paränese pathetische, aber doch von aller radikalen und gott-
besessenen Leidenschaft freie, gesinnungsethische Sublimierung
der inneren Hingabe an den Gott kennzeichnen die Gesamt-
haltung. Durch die großen Propheten ist dieses Kompendium
zwar, wie schon das hier Gesagte ergibt, in seinen grundlegenden
utopistischen Voraussetzungen ganz entscheidend bedingt, aber
es ist keinenfalls ihr Werk, wie wir später bei Betrachtung jener
leicht sehen werden. Dagegen wird von den Fachleuten angenom-
men — was an sich wahrscheinlich ist — , daß der Redakteur
des Deute ronomium die jahwistischen und elohistischen Samm-
lungen gekannt und namentlich die letzteren gelegentlich be-
nutzt hat.
Der Abschluß der deuteronomischen Arbeit liegt wohl zeit-
lich nahe der (von Wellhausen sogenannten »jehowistischen«)
Zusammenarbeitung der jahwistischen und elohistischen Redak-
tion der alten Erzväter-Legenden und levitischen Mose-Tradi-
204 ^^^ antike Judentum.
tionen. Es sind zahlreiche an die im Deuteronomium vertretene
Rehgiosität unmittelbar erinnernde Einträge in diesen — später
durch priesterliche Ergänzung, Interpolation und teilweise
Ueberarbeitung veränderten — Redaktionen zu finden, und der
»Jehovist« hat vor allem die großen Verheißungen an die Vor-
väter teils neu eingefügt, teils ergänzt. Gemeinsam mit dem
Deuteronomium ist ihm dabei das Absehen vom Königtum:
nicht dem Könige, sondern dem frommen Volk wird, in An-
knüpfung an die alten, Bileam zugeschriebenen Segenssprüche
aus der Zeit vor dem salomonischen Fronkönigtum, das Heil (an
die Adresse seiner legendären Stammväter) verheißen. Theolo-
gisch interessierte fromme Laienkreise in Gemeinschaft mit Le-
viten dürften die Stätten sein, aus denen beide Arbeiten hervor-
gingen, nur daß beim Deuteronomium die unmittelbare Beteili-
gung der Priester weit stärker gewesen ist, weil es sich hier um
ein durch priesterliche Interessen bestimmtes, allerdings aber
auf der Thorader Leviten ruhendes, paränetisches Werk handelt.
In religiöser Hinsicht eignet der Paränese des Deuterono-
mium die starke Betonung des Vergeltungsgedankens und Vor-
sehungsglaubens, die erbauliche, weiche, karitative, oft misera-
bilistische Gestaltung der inneren Beziehung Gottes zu den Men-
schen und umgekehrt, und der durchweg plebejische Charakter
der ganzen demütig ergebenen Frömmigkeit. Es sind das Züge,
die in ausgeprägtem Maße auch der ägyptischen Volksfrömmigkeit
des »Neuen Reichs« eignen und schon im Alten Reich Anknüp-
fungsquellen finden. Schon dort liebt, nach Ptahoteps Weis-
heitslehren, Gott vor allem: den Gehorsam. Die Denksteine
von Handwerkern aus der Zeit der Ramessiden fügen hinzu:
daß er »unbestechlich« ist. Kleinen wie Großen seine Macht zeigt,
daß Ammon aber vor allem den Armen hört, wenn er zu ihm
schreit, daß er auch von ferne — wie Jahwe — herbeikommt
zu helfen, mit der »süßen Luft« des Nordwinds, der dort ebenso
ersehnt wurde, wie das »stille sanfte Sausen« des West in Palä-
stina, daß man auf ihn hoffen und ihn lieben solle, daß er seinen
Zorn nicht den ganzen Tag über dauern lassen werde. Der
Mensch ist, wie in der israelitischen Thora, nicht erbsündlich
verderbt, aber töricht von Natur, er kennt »gut und böse« nicht.
Gebet und Gelübde — die gleichen Mittel wie in Israel — stim-
men ihn gnädig, vor allem aber : recht tun. Denn der Vergeltungs-
gedanke hat in der Frömmigkeit des Neuen Reichs offenbar
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 265
stark zugenommen und Krankheit ist natürlich auch hier die
übliche Form göttlicher Strafe. Man sieht: diese ganz persönliche
Frömmigkeit ist wesensgleich der überall in der Welt in plebeji-
schen Klassen verbreiteten. Sie hat in Indien zur Heilands-
Religiosität geführt. In Aegypten ist es der Pharao, durch dessen
Fürsprache und Mittlerschaft man Heil erhofft, aber: wesentlich
politisches Heil oder Regen, die Heilsgüter, für welche der po-
litische Verband überall sorgt. Das private Ergehen des einzelnen
galt zwar ebenfalls als vom Charisma des Pharao abhängig.
Aber : die Bürokratie stand zwischen ihm und den Massen. Und
die persönliche Religiosität der Pharaonen war die typische
rein materielle do ut des-Moral: Das hatte mit jener plebeji-
schen Frömmigkeit gar keine Beziehung. Und unvermittelt neben
ihr stand die grobe Magie der Priester, an welche sich der
Nothilfsbedürftige wendete. Eine ethische Belehrung der Massen
lag eben nicht nur den auf ihre theologische Esoterik stolzen
ägyptischen Priestern fem, sondern auch ihre materiellen Inter-
essen verwiesen sie auf das viel einträglichere Geschäft des Verkaufs ,
von Totenbuchrollen und Skarabäen. Es existierte also in Aegyp-
ten zwar eine plebejische Frömmigkeit ganz gleichartigen Ge-
präges wie im vorexilischen Israel und bei den fortwährenden
direkten Beziehungen sind Einflüsse von dort nach* hier keines-
wegs unwahrscheinlich, wennschon natürlich nicht strikt nach-
weisbar. Aber sie wurde niemals Gegenstand einer systemati-
schen Rationalisierung sei es prophetischer sei es priesterlicher
Art. Und ganz ähnlich stand es in Babylonien. Die alten Buß-
psalmen der stadtbürgerlichen Zeit Mesopotamiens, aus der
Bibliothek Assurbanipals und anderen Quellen bekannt, stehen
an Stimmungsgehalt der israelitischen Psalmenfrömmigkeit über-
aus nahe, ja gelegentlich drängt sich der Gedanke einer Be-
einflussung unmittelbar auf. Die Frömmigkeit des Nebukad-
nezar und der ersten Perserkönige stand ebenfalls der israeli-
tischen nahe und dies war den Propheten ihrer Zeit auch be-
kannt, die nicht ohne Grund sie als »Knechte« Gottes bezeichnen.
Aber auch dort fehlt die systematische Rationalisierung zu einer
Alltagsethik der Massen. Es fehlte außer der rationalen Thora-
lehre eben zwar nicht die Prophetie überhaupt, aber : die spezifisch
israelitische Art der Prophetie. Daß sie fehlte und nur in Israel
bestand, hatte (s. u.) in rein politischen Umständen seinen Grund.
Wenn so die Thoralehrer im Mittelpunkt der Entwicklang
256 ^^^ antike Judentum.
der religiösen Ethik standen, so erübrigt ein kurzer Blick auf
deren m a t e r i a 1 e Anforderungen, um noch die Frage auf-
zuwerfen, ob sie etwa den Inhalt ihrer ethischen Lehren von
anderswoher übernommen haben und wie er sich überhaupt zu
der politischen Ethik anderer Kulturgebiete verhält.
Zur Würdigung der inhaltlichen Eigenart der altisraeliti-
schen Ethik, wie sie in den Dekalogen, aber natürlich ganz eben-
so und zum Teil noch deutlicher in den sonstigen ethischen
Debarim sich äußert, interessiert .im ganzen mehr als die viel-
fachen, aber im allgemeinen rein ethisch nicht sehr ertragreichen,
jedenfalls darin kaum über das überall Selbstverständliche hinaus-
gehenden Parallelen mit babylonischen Sündenregistern ^) die
Vergleichurg mit der ägyptischen Sündenliste des 125. Ka-
pitels des Totenbuchs ^). Sie lag schon vor der Entstehung
des israelitischen Bundes fertig vor und gab zweifellos die Anfor-
derungen der Priester so wieder, wie sie auch bei Gelegenheit
der Sündenabfragung an die Kundschaft gestellt wurden. Der
Unterschied gegenüber den Anforderungen des ethischen Dekalogs
ist im einzelnen zuweilen erheblich ; aber andererseits finden sich
starke Anklänge. Dem dekalogischen Verbot des »Mißbrauchs«
1) Von den babylonischen Sündenlisten ist die von Zimmern (Beitr. 1)
edierte, auch von Sellin a. a. O. S. 225 angezogene die der dekalogischen Ethik
am meisten verwandte. Verachtung der Eltern und Beleidigung der älteren
Schwester, Ehebruch, Töten, Betreten des Hauses des Nächsten, Fortnahme des
Kleides des Nächsten stehen dekalogischen Sünden am nächsten. Grenzver-
rückung, Festhaltung oder Nichtbefreiung Eingekerkerter (zweifellos: Schuld-
häftlinge), lose und unflätige Reden, Lüge und Unaufrichtigkeit gehören zu den
zwar nicht im Dekalog, aber doch in der levitischen Paränese verpönten Un-
tugenden, während die Verschuldung von Streit unter Eltern und Kindern oder
unter Geschwistern und das Unrecht, »im Kleinen zu geben, im Großen zu ver-
weigern«, keine direkten Parallelen finden. Daß damit rein rituelle Fehler auf
eine Stufe gestellt werden, entspricht dem »kultischen« und dem »sexuellen« De-
kalog Israels. Auffällige Parallelen der beiderseitigen Ethik finden sich im übrigen,
soviel bisher erkennbar, nicht. Insbesondere scheint es, daß der babylonischen
(im Gegensatz zur ägyptischen und levitischen) Paränese die Betonung der
»Nächstenliebe« gefehlt hat: vermutlich eine Folge der weit stärkeren Entwick-
lung des kaufmännischen Geschäftslebens in der Großstadt Babylon. Ebenso
fehlt (wiederum im Gegensatz zu Aegypten) die gesinnungsethische Sublimie-
rung: die Bekämpfung des »Gelüstens« wie im 10. Gebot. In Aegypten ist die
stärkere Betonung der »Gesinnung« vermutlich durch die besondere Bedeutung,
welche dem »Herzen«, als dem Träger des Wissens von eigenen Sünden, im Toten-
gericht beigelegt wurde, zuerst veranlaßt worden.
2) Es ist hier nach der Uebersetzung von P i e r r e t (Le Livre des Morts,
Paris 1882) zitiert. Dabei sind mit »E« die Einleitung, mit »S« der Schluß, mit
»A« und »B« die beiden je 21 Bekenntnisse umfassenden Hälften des 125. Kapitels
bezeichnet.
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 267
des göttlichen Namens entspricht dort die Versicherung, nie
einen Gott »beschworen«, d. h. durch Magie gezwungen zu haben
(B. 30). Gegenüber dem »keine anderen Götter haben« (ursprüng-
lich: »keinen anderen Göttern opfern«) ist die ägyptische For-
derung: Gott nicht im Herzen zu verachten (B. 34) infolge der
stärkeren pantheistischen Wendung der ägyptischen Frömmig-
keit stärker ins Gesinnungsmäßige gewendet. Die deuteronomi-
sche Forderung: Gott zu lieben ist in den ägyptischen Kata-
logen in dieser allgemeinen Form nicht ausdrücklich vertreten.
Daß dagegen Gott den Gehorsam liebt, weiß schon Ptahotep
(Pap. Prisse). (Dieser Gehorsam und das »Schweigen« sind dort
stark politisch orientiert. Die ägyptische Forderung der Unter-
tanenloyalität (B. 22, 27 und Kap. 17, 1. 3. 48, Kap. 140) fehlt
im ethischen Dekalog ganz und ist auch außerhalb seiner auf das
Gebot, »dem Fürsten des eigenen Volkes nicht zu fluchen«, re-
duziert (Ex. 22, 27, vgl. 2. Sam. 16, 9 und Jes. 8, 21) ^). Die
dekalogische Eltempietät und ebenso die vom Deuteronomium
unter Androhung der Steinigung eingeschärfte Pflicht des Ge-
horsams gegen die Eltern (Deut. 22, 6. 7) bezieht sich wohl sicher
ebenso wie die vielen Bestimmungen der babylonischen Rechts-
literatur gegen pietätlose Kinder auf Respekt gegen die alten,
vor allem die im Altenteil sitzenden Eltern, mit denen sich noch
der Sirachide befaßt. Diesem dekalogischen und deuteronomi-
schen Pietätsgebot gegen die Eltern und den in Urkunden
häufigen babylonischen schweren Strafdrohungen gegen den
Sohn, der zu Vater oder Mutter sich unehrerbietig äußert, steht
im Totenbuch nur (B. 27) die Erklärung gegenüber: gegen den
Vater keine Uebeltat begangen zu haben. Im übrigen freilich
schärfte die Priester- und Schreiberethik der Aegypter die Ehrung
des Alters, der Lehren der Eltern und der Tradition unablässig
ein, wie denn auch in Israel geboten wird: »vor einem grauen
Haupt aufzustehen« (Lev. 19, 32). Dem Verbot des Tötens im
Dekalog entspricht im Totenbuch die Versicherung, nicht ge-
tötet und nicht zum Mord angestiftet zu haben (E7 A18). Dem
^) Dagegen galt wenigstens der deutcronomischen Tradition (i. Sam. 24;
26, 9; 31, 4; 7. Sam. I, 14) der Mord des Königs, auch des von Jahwe schon ver-
worfenen Königs, wegen der magischen Bedeutung der Salbung als schwerer
Frevel, — offenbar im bewußten Gegensatz gegen die Usurpationen und Blut-
bäder im Nordreich, die, obwohl doch Jehu gerade mit Hilfe und auf Anstiftung
der Jahwepartei die erste derartige Schlächterei verübt hatte, auch Hosea scharf
mißbilligt.
208 D^s antike Judentum.
»Schinden« der Armen und der gerim (Ex. 23, 9) steht im ägyp-
tischen Katalog das Verbot jeder Gewalttat (A 14) und der An-
stiftung von Schaden (A 20) gegenüber. Zahlreiche Grabinschrif-
ten ägyptischer Monarchen und Beamten rühmen, daß der Tote
die Armen nicht bedrückt habe. Das dekalogische Verbot des
Ehebruchs, die Verpönung des Incests auch in der Form bloßen
begehrlichen Anblickens einer Verwandten und die Verbote der
Onanie finden eine Analogie in dem Verbot aller Arten von
Unzucht (Ehebruch, Hurerei, Onanie A 25. 26, B 15. 16). Das
Verbot des Stehlens und das zehnte Gebot des ethischen Deka-
logs ist im Totenbuch in dem Verbot des Stehlens (A 17) oder
irgendeiner Aneignung von fremdem Gut (A. 23) ausgedrückt.
Das Verbot des falschen Zeugnisses wird durch das Verbot jeder
Art von Lüge (E 7, A 22) und Illoyalität (A 30) überboten.
Die Ablenkung eines Kanals (E 10) findet ihre Parallele in dem
israelitischen Fluch gegen die Grenzverrückung, das Verbot
falscher Wage (E 9) gehört auch der levitischen Paränese an.
Das an der Spitze von allen anderen stehende ägyptische Be-
kenntnis: dem Nächsten nichts Böses getan (E 4) und die noch
weiter gehende Versicherung: »niemanden Herzensqual verur-
sacht« (A 10) und »niemanden weinen gemacht« (A 24), nie-
manden »erschreckt« (B 18) zu haben, hat ihre Parallele in Israel
in der mehr formalen allgemeinen Vorschrift, dem Nächsten nicht
unrecht zu tun (Lev. 19, 13), die an karitativer Sublimierung
hinter den ägyptischen Vorschriften zurückbleibt. Das allge-
meine Gebot der »Nächstenliebe« ist bekanntlich in Israel mit dem
Verbot, Rache gegen den Volksgenossen nachzutragen, identisch,
welches auch im Totenbuch (A 27) sich findet. Dagegen fehlen
im ägyptischen Katalog solche positiven Vorschriften, wie die
Vorsorge für das verirrte Vieh des Nächsten (Deut. 22, 1—4)
— es wird an einer Stelle nur Zurechtweisung des verirrten Men-
schen gelobt ^ und vollends fehlt das Gebot (Ex. 23, 4—5) der
Zurückführung des verirrten Viehs des »Feindes« dort ganz. In der
bekannten ägyptischen »Unterhaltung der Katze mit dem Schakal«
wird vielmehr die Vergeltung von Bösem mit Gutem kritisiert.
Gänzlich fehlen andererseits natürlich im Dekalog sowohl wie in
der altisraelitischen Ethik überhaupt die aus den Schicklichkeits-
konventionen der ägyptischen Schreiber entnommenenen Regeln,
welche zum Teil in das Gebiet des guten Geschmacks, zum Teil aber
auch in das einer sehr sublimierten Ethik fallen. Dahin gehören
I, Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 269
z. B. das Verbot der ägyptischen Schreiberethik (Ptahotep) : den
Gegner durch Ueberlegenheit im Disputieren zu beschämen und die
auch im Totenbuch wiedergegebenen Verbote: sich überhaupt
in Worten gehen zu lassen, zu übertreiben, in Erregung zu geraten
und heftig zu werden, vorschnell zu urteilen, zu prahlen, gegen die
Wahrheit taub zu bleiben (B 25. 29, A 34. 33, B 18. 23 21. 19).
Derartiges taucht erst im nachexilischen Judentum auf, als die
Träger der jüdischen Lehre selbst »Soferim « und weiterhin gelehrte
Rabbinen geworden waren.
Auf dem Gebiet der eigentlichen Wirtschafts ethik
war die ägyptische Moral ausgezeichnet durch eine sehr starke
Bewertung der beruflichen Pflichttreue und Pünktlichkeit bei
der Arbeit: die ganz natürliche Konsequenz der auf leiturgisch
gegliederter und bürokratisch geleiteter Arbeit ruhenden halb
staatssozialistischen Wirtschaft. Aehnliche Züge, wenn schon
weit weniger deutlich, finden sich auch in Babylonien, wo es
anscheinend zeitweise üblich war, die Prinzen praktisch die Bau-
arbeiten auch manuell lernen zu lassen. Darin spricht sich die
zentrale Bedeutung der königlichen Bauten aus. In Aegypten
tritt ein starker Berufsstolz von Kunsthandwerkern (namentlich
Kunststeinmetzen) schon in der Zeit des alten Reichs hervor,
so wie ja auch in Israel Jahwe die Kunsthandwerker der mosai-
schen Tempelparamente mit seinem Geist ausgerüstet hat.
Die große Labilität des ägyptischen Reichtums, das (namentlich
im Neuen Reich) sehr häufige Aufsteigen von Plebejern in der
Bürokratie ließ hier schon früh die Vornehmheitsvorstellungen
des grundherrlichen Amtsadels zurücktreten, und so wurde die
wirtschaftliche Aktivität schon von Ptahotep als alleiniges Mittel,
den Reichtum zu erhalten, gepriesen. Aber der bürokratische
Charakter des politischen Verbandes und der strenge Traditionalis-
mus der Religion setzten der Tragweite dieser Auffassung enge
Grenzen. Das Standesgefühl der Schreiberklasse, wie es sich in
der Ramessidenzeit in einer höhnischen Satire auf alle anderen
Berufe, militärische wie wirtschaftliche, äußerte, verachtete
alle illiterate Tätigkeit als elendes Banausentum. Während eine
scharfe Scheidung persönlicher Freiheit und Unfreiheit fehlte,
war die Schranke zwischen Literaten und Illiteraten sehr schroff.
Wer Vornehmer (sar) war, darüber entschied die Erziehung
allein. Und die absolute hierarchische Subordination der Büro-
kratie bestimmte das Lebensideal. »Ma«, die »Loyalität«, welche
^1'^!
270 Das antike Judentum.
zugleich »Schicklichkeit«, »Rechtlichkeit« und »Pflichttreue« war,
— ein etwas modifiziertes Gegenbild der chinesischen Bürokraten-
tugend, des Li, — bildete den Inbegriff aller Vortrefflichkeit.
Die Nachahmung des Vorgesetzten, die unbedingte Aneignung
seiner Ansichten, die strenge Innehaltung der Rangordnung,
auch in der Lage der Gräber in der Nekropole, waren Pflichten
des loyalen Untertans. »Sein Leben lang sich zu bücken« galt
als des Menschen Schicksal. Die Berufskonzeption blieb dem-
gemäß streng traditionalistisch. Den Arbeiter außerhalb seines
gewohnten Berufs zu beschäftigen war verboten. Andererseits
war der urkundlich bezeugte Streik der Arbeiter in der Nekropole
von Theben nicht sozial bedingt, sondern erstrebte nur die Liefe-
rung der gewohnten Gebühmisse, das »tägliche Brot« im
Sinn des christlichen Vaterunser.
In Israel findet sich in der Zeit vor dem Sirachiden eine
so starke ethische Einschätzung der Arbeitstreue wie in Aegyp-
ten nicht. Die bürokratische Organisation fehlte eben und der
Begriff der »ma« hatte hier keine Stätte, am wenigsten in der
religiösen Ethik, welche ja den bürokratischen Fronstaat als das
»ägjrptische Diensthaus« verabscheute. Von der Schätzung
ökonomischer Aktivität als einer Tugend spüren wir nichts.
Geiz ist im Gegenteil das eigentlichste Laster. Darin zeigt sich :
daß hier die Feinde des Frommen die städtischen Patrizier sind.
Irgendwelche »innerweltliche Askese« vollends fehlte dort wie
hier. Wenn in Aegypten vor den Frauen gewarnt wird, weil
ein kurzer Augenblick des Genusses durch schweres Unheil
bezahlt werde, so ist das eine Regel der Lebensklugheit nach Art
der konfuzianischen Ethik und findet in der nachexilischen Zeit
Analogien in der jüdischen Literatur. Aber im übrigen blieb in
Aegypten und Mesopotamien Lebensgenuß, temperiert durch
Lebensklugheit, letztlich das Ziel alles Strebens. Davon unter-
schied sich die israelitische Gesinnung vor allem durch die mehr,
als sich dies auch anderwärts, namentlich in Babylonien, beobachten
läßt, zunehmende, stark durch die politischenSchicksale mitbedingte
Sündenfurcht- und Bußstimmung. Der Grad der gesinnungsethi-
schen Sublimierung war ähnlich der ägyptischen, und im ganzen,
wenigstens in der Massenpraxis, wesentlich feiner ausgebildet als in
der im praktischen Leben stets wieder magisch behandelten und da-
durch gebrochenen babylonischen Sündenkonzeption ^).
^) Ueber die Konzeption der Sünde und ihre Entwicklung in der babylo-
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 271
In einer wichtigen Hinsicht stand die israelitische Ethik,
bei allen Anklängen im einzelnen, im Gegensatz zur ägyptischen
und ebenso zur mesopotamischen : in der relativ weitgehenden
rationalen Systematisierung. Denn dafür allerdings kann schon
die bloße Existenz des ethischen Dekalogs und anderer ähnlicher
Gebilde im Gegensatz zu den ganz unsystematischen Sünden-
registern in Aegypten und Babylon als ein Merkmal angesehen
werden. Aus keinem dieser beiden Kulturgebiete ist femer irgend
etwas überliefert, was einer systematischen religiös-ethischen
Paränese von der Art des Deuteronomium gleich käme oder auch
nur ähnlich wäre. Soweit bekannt, gab es neben lehrhafter Le-
bensweisheit und dem esoterischen Totenbuch in Aegypten, und'
neben Sammlungen magisch wirksamer Hymnen und Formeln,
welche auch ethische Bestandteile enthalten, in Babylonien
keine einheitlich zusammengefaßte religiös fundamentierte Ethik,
wie sie schon im vorexilischen Israel existierte. Dort war sie das
Produkt der durch zahlreiche Generationen fortgesetzten ethi-
schen Thora der Leviten und, wie noch auseinanderzusetzen:
der Prophetie. Die Prophetie wirkte nicht sowohl auf den Inhalt
— den sie vielmehr als gegeben hinnahm — als auf die Herstel-
lung der systematischen Einheitlichkeit durch Beziehung des
Gesamtlebens des Volks und aller einzelnen auf die Innehaltung
von Jahwes positiven Geboten. Sie eliminierte ferner die Vor-
herrschaft des Rituellen zugunsten des Ethischen. Die leviti-
sche Thora ihrerseits prägte dabei den Inhalt der ethischen Ge-
bote. Beide gemeinsam aber gaben der Ethik den zugleich
plebejischen und rational systematischen Charakter. —
Ein charakteristischer Bestandteil der altisraelitischen Ethik,
der ihr mit andern gemeinsam ist, bedarf noch eines etwas näheren
Eingehens. Die oben besprochenen ethischen Vorschriften zeigen
zum Teil jenes sehr ausgeprägt karitative Gepräge,
wie es der heute vorliegenden Redaktion der Thora überhaupt
eignet. Dahin gehören vor allem die zahlreichen Bestimmungen
zugunsten der Armen, Metöken, Witwen, Waisen, wie sie schon
in den älteren Sammlungen, namentlich aber im Deuteronomium
sich finden, dessen Gott ein unbestechlicher, die Person nicht
uischen Religiosität Schollmeyer, Sumerisch-babylonische Hymnen
und Gebete an Samas (Stud. z. G. u. Kr. d. Alt. Erg.-Bd. Paderborn 1912)
J. Morgenstern, The doctrine of sin in the Bab. ReJ. (M. d. V. A. Ges.
Berlin 1905, 3).
•272 ^^s antike Judentum.
ansehender Richter ist, welcher jenen Schwachen »ihr Recht
schafft« (Deut. lo, i6). Die Schuldknechtschaftsbestimmungen
des formalen Rechts wurden, wie wir sahen, von der Paränese
durch weitgehende Bestimmungen über Lohnzahlung, Schuld-
erlaß, Pfändungsschranken und allgemeine Karitätsbestimmungen
ergänzt. »Den Armen die Hand aufzutun« (Deut. 15, 11), dem
Elenden, Armen, Beraubten (Jerem. 22, 16), dem Unterdrückten
(Jes. 1, 17) zu helfen, sind wohl die allgemeinsten Formulierungen
dieser Pflichten, in deren Umkreis auch die früher besprochenen
Nachlese- und Brach]* ahrsbestimmungen eingegliedert erscheinen.
Die Quellen lassen die stetig zunehmende Bedeutung dieser
Bestandteile der Paränese mit steigender hierokratischer Be-
einflussung der ursprünglich keineswegs besonders sentimentalen
israelitischen Ethik erkennen. Woher stammt dieser Zug?
Die beiden klassischen Gebiete der Entwicklung der Karität
waren: Indien einerseits, Aegypten andererseits. In Indien waren
vor allem Jainismus und Buddhismus die Träger. Ganz allge-
mein aber das durch den Samsaraglauben wesentlich verstärkte
Gefühl der Einheit alles Lebendigen. Wir sahen nun, daß die
indische Karität, wie sie auch in den Dekalogen der Buddhisten
Ausdruck fand, sehr bald ein formales und fast rein rituelles Wesen
annahm. In Aegypten war die Karität sehr stark durch die büro-
kratische Struktur des Staates und der Wirtschaft mitbedingt.
Die Könige des »Alten« und »Neuen« und die Feudalfürsten des
»Mittleren« Reichs waren Fronherren und als solche interessiert
an Schonung der Arbeitskraft von Mensch und Tier, die sie gegen
die achtlose Roheit der Beamten zu schützen suchten. Deut-
lich tritt in den ägyptischen Quellen hervor, wie stark dies bei der
Entwicklung des Armenschutzes mitsprach ^). Die Beamten,
welche dem König für den ökonomischen und populationistischen
Zustand des Landes verantwortlich und außerdem der jederzeit
und wie es scheint unmittelbar an den König zulässigen Beschwerde
der Untertanen ausgesetzt waren, rühmen sich in den Inschriften
schon des Alten Reichs : daß sie in Hungersnot geholfen, nieman-
den seine Felder fortgenommen, nicht die Untergebenen anderer
Beamter mißbraucht, niemals einen Streit unredlich geschlichtet,
niemandem seine Tochter fortgenommen oder vergewaltigt,
kein Eigentum verletzt, die Witwen nicht bedrückt, oder: daß
^) Z. B. Breastead, Records III, 51 : Verbot, einen Armen, der dem König
Frondienste leisten muß, inzwischen um seine Existenz zu bringen (19. Dynastie).
I. Die israelitische Eidgenossenschaft upd Jahwe. 273
sie den Hungrigen gespeist, den Nackten gekleidet, Leute, die
kein Boot hatten, über den Strom gesetzt, die Ställe ihrer Unter-
gebenen mit Vieh gefüllt haben ^). Ueberall sieht man, daß
es sich dabei um die Bevölkerung des dem Beamten vom Pharao
anvertrauten Verwaltungsbezirks handelt. Ganz allgemein drük-
ken die Beamten sich auch so aus: daß sie »niemals jemanden
etwas Böses zugefügt«, vielmehr getan hätten, »was allen gefiel«.
Verdacht und Verpönung des Geschenknehmens der Richter
ist bei den ägyptischen religiösen Dichtern und Moralisten
fast so allgemein wie bei den israelitischen Propheten. Die Angst
vor dem König, der ja schließlich — wie der Zar in Rußland —
weit fort war, wurde dabei ergänzt durch die Angst vor Be-
schwerden bei einer anderen Instanz: den Göttern. Niemand,
sagt ein Monarch aus der Zeit der fünften Dynastie, habe er
geschädigt, so daß er sich »beim Stadtgott beklagt hätte«. Der
Fluch des Armen wurde gefürchtet, unmittelbar wegen des mög-
lichen Eingreifens des Gottes, mittelbar wegen der Gefährdung
des für die ägyptische Vorstellung so überaus wichtigen guten
Namens bei der Nachwelt. Der Glaube an die magische Wirk-
samkeit eines auf wirkliches Unrecht gegründeten Fluchs war
in Vorderasien offenbar allgemein: dies »demokratische Macht-
mittel« stand also auch dem Letzten und Aermsten zu Gebote.
Die ägyptischen Beamten verfehlen daher nicht zu betonen,
daß das Volk sie »liebte«, weil sie taten, was ihm gefiel. Zwar
irgendeine Verantwortung der Großen gegenüber dem Volk
ist der ägyptischen Vorstellung womöglich noch fremder, als
der israelitischen. Aber ein Mann wird »wie Gott« sein, wenn
seine Arbeiter ihm Vertrauen schenken. Denjenigen dagegen,
der »wie ein Krokodil« gegen sie verfährt, trifft der Fluch. Die
vornehme Schreiberethik des Ptahotep betont daher, daß
die Uebung der Karität vergolten werde durch die Beständig-
keit der eigenen Stellung (ursprünglich wohl : von Pharao, dann :
von Gott). Die Denksteine der kleinen Leute (Handwerker)
des 13. und 12. Jahrhunderts selbst aber getrösten sich der Hoff-
nung, daß Ammon auf die Stimme des »betrübten Armen« (im
Gegensatz zum »frechen« großen Mann, Krieger, Beamten)
1) Breastead, Records I, 239. 240. 281. 328 f. 459. 523 (durchweg aus dem
alten Reich, von der 1. Dynastie angefangen).
Max Weber, Religionssoziologie HI, lg
2 74 ^^^ antike Judentum.
ZU hören pflege. Denn Gott leitet und schützt alle seine Geschöpfe,
auch Fische und Vögel ^).
Ganz ebenso wie die Beamten verhalten sich die Könige.
Nicht nur die ägyptischen, sondern ebenso alle dem vorder-
asiatischen Kulturkreis angehörigen. Und zwar schon seit der
frühesten monumental zugänglichen Zeit. Neben allerhand
Freveln gegen göttliches Eigentum und die Staatsordnung
ist es die harte Bedrückung der ökonomisch Schwachen, welche
nach Urukagina seinen Vorgängern Gottes Zorn zugezogen hat
und seine eigene Usurpation legitimiert. In diesem Fall eines
Stadtkönigtums waren es die Härten des Uebergangs zur Geld-
wirtschaft: Verschuldung und Versklavung, die, wie in Israel,
gemeint sind. Die Usurpatoren regieren, wie \Yir bei Abimelech
sahen, überall mit dem Demos gegen die großen Sippen. In
Aegypten und den späteren mesopotamischen Großkönigtümern
ist es die übliche patrimonial-bürokratische Wohlfahrtsstaats-
legende, welche den Charakter der formelhaft gewordenen Königs -
karität prägt. Ramses IV. rühmt sich, keine Waise und keinen
Armen geschädigt und niem.anden seinen Erbbesitz genommen
zu haben. Nebukadnezar spricht sich ähnlich aus. Kyros vermutet,
daß die übermäßige Belastung des babylonischen Volks durch
Nabunahid Gottes Zorn über diesen König verursacht habe
und Darius in der Behistun-Inschrift stellt sich ganz ebenso
auf den Boden königlicher Wohlfahrts- und Schutzpolitik für
die Schwachen. Diese war also Gemeingut aller orientalischen
Patrimonialstaaten, wie der meisten derartigen Monarchien über-
haupt. In unmittelbarer Nachbarschaft Israels und hier wohl
unter ägyptischem Einfluß zeigt eine phönikische Königsinschrift
(die älteste phönikische Inschrift, welche bisher existiert) ganz die
gleichen Züge ^). Von da werden den Schreibern der Könige
Israels verm.utlich diese schließlich wohl überall formelhaft er-
starrten, aber deshalb doch nicht notwendig wirkungslosen
Maximen zugetragen worden sein.
Diese aus der patrimonialen Wohlfahrtspolitik und ihrer
1) Dokumente der ägyptischen Volksfrömmigkeit der Ramessidenzeit
bei Er man, Sitz.-Ber. d. Berl. Ak. d. W. Phil.-hist. Kl. ii, 1086 f. Ueber
den zunehmenden Vergeltungsglauben im Neuen Reich: Poertner, Die
ägyptischen Totenstelen als Zeugen des sozialen und religiösen Lebens ihrer
Zeit (Stud. z. G. u. Kr. d. Alt. 4, 3 Paderborn 191 1).
2) Ueber die Inschrift Kalumus s. Littmann, Sitz.-Ber. d. Berl. Ak. Phil.-
hist. Kl. vom 16. XL II (S. 976 f.).
PT''
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 27 5
Projektion in das himmlische Weltregiment erwachsene Karitäts-
ethik wurde in Aegypten anscheinend zuerst von den kleinen
Patrimonialfürsten und Feudalherren des Mittleren Reichs aus den
von jeher vorhandenen Ansätzen heraus ganz bewußt entwickelt,
und dann später von den Schreibern. Priestern und priesterlich
beeinflußten Moralisten, dem allgemeinen Typus der hierokrati-
schen Sozialpolitik entsprechend, systematisiert. An der Spitze
aller näher spezialisierten Versicherungen, welche im 125. Kapitel
des Totenbuchs der Tote im »Saal der Wahrheit« abzugeben hat,
steht die Erklärung: , Niemand über sein festgesetztes Maß
zur Arbeit genötigt zu haben (E 5) . Die Herkunft aus der Fron-
staatsverwaltung ist offenbar. Dann folgen die Versicherungen:
niemand in Furcht, Armut, Leiden, Unglück, Hunger, Trauer
gebracht, nicht die Mißhandlung eines Sklaven durch seinen Herrn
verursacht (E 6), keinem Säugling die Milch verkürzt, das Vieh
nicht mißhandelt (E 9) und keinem Kranken Böses getan zu
haben (B. 26). Am Schluß des ganzen Bekenntnisses aber (B 38)
findet sich die Versicherung: Gott durch die eigene »Karität«
(mar) sich verbunden, »dem Hungrigen Brot, dem Durstigen
Wasser, dem Nackten Kleider, dem, der des Kahns ermangelte,
einen solchen gegeben zu haben«. In Verbindung mit dem schon
erwähnten ethischen Verbot, einem anderen Schmerz zuzu-
fügen, oder Angst einzujagen, dem Nächsten überhaupt Böses
zu tun und mit der in der ägyptischen Ethik auftauchenden,
aber allerdings bestrittenen, Vorschrift, auch dem Feinde Gutes
zu erzeigen, bedeuten diese Gebote rein inhaltlich angesehen,
eine weitgehende Vorwegnahme der Karität der christlichen
Evangelien.
Die altisraelitische Karität ist in ihrer Entwicklung vermut-
lich, sei es direkt, sei es auf dem Wege über Phönizien, von Aegyp-
ten her beeinflußt worden. Am stärksten in deuteronomischer
Zeit. Daß Jahwe den Schwachen als solchen (die Frau gegen
den Mann, die Kebse gegen die Frau, den verstoßenen Sohn)
schützt, ist allerdings eine Uebcrzeugung schon der vordeutero-
nomischen Epoche (Gen. 16,5. 7; 21, 14; i. Sam. 24, 13). Sie findet
sich beim Jahwisten wie beim Elohisten und hatte religiös die
gleiche Grundlage wie die ägyptische : der Arme und Bedrückte
»schreit zu Jahwe« (Deut. 24, 15) und dieser als der himmlische
König kann dann Rache an dem Bedrücker nehmen. Die in der
israelitischen Exilsethik herrschend gewordene Vorstellung:
• i8*
2^5 ^^^ antike Judentum.
daß das Erdulden des Drucks das richtige, weil die Rache des
Gottes am sichersten herbeiführende Verhalten sei, fand damals
in der sozialen Ohnmacht der bedrückten Klassen ihren Grund,
geht aber wohl auf die alte Bedeutung des bei den Nachfahren
gesegneten Namens zurück. Denn es wird, entsprechend der
Wirkung des Fluches, umgekehrt der Segen des Armen, gegen
den man sich den Karitätsgeboten entsprechend verhält, von
Jahwe »zur Gerechtigkeit gerechnet« (Deut. 24, 13). Die Paränese
der Leviten, die von ihnen beeinflußte Sichemitische Fluch-
formel und die dem Bundesbuch angehängten Debarim, dann das
Deuteronomium und die Priestergesetzgebung entwickelten die
Rarität immer systematischer weiter. In den materiellen Anfor-
derungen weicht die israelitische Rarität, bei zahlreichen augen-
fälligen und schwerlich zufälligen Aehnlichkeiten, vor allem in
der allgemeinen Temperierung ab. Nicht eine priesterlich be-
einflußte Patrimonialbürokratie, sondern eine priesterlich be-
einflußte Gemeinschaft freier Sippen von Bauern und Hirten
war ihr Träger, mochte vielleicht auch die Wohlfahrtsstaats-
Ethik frommer Rönige nach ausländischem Beispiel sie zuerst im
Munde geführt haben. Natürlich kommen auch in Israel Be-
drückungen durch die königlichen Beamten nach ägyptischer Art
vor. Und auch — was offiziell in Aegypten unmöglich ist —
durch den Rönig selbst. Dagegen lassen die Priester in ihrer
paradigmatischen Redaktion Jahwe durch das von den Propheten
verkündete Unheil reagieren. Aber in erster Linie war doch die
Bedrückung nicht durch eine Bürokratie, sondern durch einen
städtischen Patriziat das zu bekämpfende Uebel und die Verhält-
nisse waren weit einfacher. Die gesinnungsethische Sublimierung
der Rarität geht daher in der vorexilischen Ethik nur teilweise
so weit wie in Aegypten, während andererseits die Einzel Vor-
schriften mehr dem patriarchalen Hausgemeinschaft- und Nach-
barschaftscharakter der Beziehungen entsprechen, als die -Ab-
straktionen der ägyptischen Schreiber. Erst die pazifistisch
und städtisch gewordene Epoche der Thora unmittelbar vor
und im Exil brachte die Abstraktionen des Heiligkeitsgesetzes.
So das Verbot: statt offener Aussprache Haß und Rachgier gegen
den »Nächsten«, d. h. (Lev. 19, 18) gegen die Rinder des eigenen
Volks (und, nach 19, 34, auch den ger) im Herzen zu tragen und
in Verbindung damit den prinzipiellen Satz: »Du sollst deinen
Nächsten lieben wie dich selbst « (Lev. 19, 18) . Diese Verpönung der
T, Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 2 77
Rachgier könnte als Rückschlag der levitischen Paränese gegen
die den (politischen) Rachedurst stark fördernden Verheißungen
mancher Propheten erscheinen. Die Vorschrift der Nächstenliebe
gegen die Volksgenossen zeigt indessen schon durch den ein-
schärfenden Zusatz: »Denn ich bin der Herr«, daß es sich auch
hier um die häufig wiederholte Vorschrift handelte: die Rache
Gott anheimzustellen, dessen Sache sie sei (Deut. 32, 35) und
der sie, wie man hoffen durfte, dann um so gründlicher vollbrin-
gen werde. Dieses Gott anheimstellen der Rache, welches also
keine eigentlich ethische Bedeutung hat, ist ganz aus dem Empfin-
dungskreis plebejischer und zwar politisch ohnmächtiger Schich-
ten geboren. Als Paradigma für die dadurch um so befriedigen-
der gestaltete Rache wurde offenbar die Geschichte von David
und Nabal (i. Sam. 25, 24. 29) komponiert. Für die Thoralehrer
war der Vorbehalt der Rache für Gott die naturgemäße ethische
Parallele der Beseitigung der Blutrache auf rechtlichem Gebiete
und das positive Gebot der »Liebe« des Nächsten eine Ueber-
tragung der Grundsätze der alten Sippenbrüderlichkeit auf den
Glaubensbruder. Erst die rabbinische Deutung hat aus ihr
die positive Vorschrift gemacht: daß man den Nächsten auch
rein innerlich nicht hassen und mit Rachewünschen verfolgen
dürfe, ohne doch in der Praxis selbst des eignen Empfindens
damit vollen Erfolg zu haben ^) .
Neben den Schutz der Armen tritt auch in der israelitischen
— wie gelegentlich in der ägyptischen — Rarität der Schutz der
mit Krankheiten und vor allem der mit Gebrechen Behafteten.
Man soll ihnen nicht fluchen und Blinden nichts in den Weg
legen oder sie irreführen (Lev. 19, 14). Einem Verirrten den Weg
zu weisen und Kranken nichts Böses zu tun schrieb auch die
ägyptische Rarität vor, die sich sonst mit jenen Bresthaften
nicht näher befaßte. Die Abwehr von Gebrechen, Krankheit und
ähnlichem Elend pflegte die Heilsprophetie der Großkönige dem
regierenden Monarchen zuzurechnen. Darin bewährte er sein
Charisma. Der eigentümliche Spruch für David (2. Sam. 5, 68)
bei der Einnahme von Jerusalem hängt wohl mit der^gleichen
Vorstellung von der Wundermacht des Regiments eines charis-
*^') Auch R. Chanina, den Büchler (Der galiläische Amhaaiez S. 14, Anm.)
gegen protestantische Forscher polemisch als Muster jüdischer Sittlichkeit
vorführt, starb in eine ThoraroUe gewickelt, weil er so der Rache Gottes
an seinen Peinigern sicherer zu sein glaubte.
n
273 Das antike Judentum.
matisch qualifizierten Herrschers zusammen. In der levitischen
Thora ist der Grund des Bresthaftenschutzes aber darin zu finden,
daß sie zu den vornehmlichsten Beichtkindern der Leviten ge-
hörten und die Erfahrung von ihrer Frömmigkeit zu häufig war,
um die alte magische Vorstellung: daß der Kranke persönlich
ein wegen Frevel Gottverhaßter sei, unbedingt aufrechtzuer-
halten. Er konnte für die Sünden seiner Vorfahren leiden müssen
und bei Tauben und Blinden vermochte die Annahme, daß sie
unter einem geheimnisvollen göttlichen Walten stehen, leicht
die Vorstellung zu erzeugen: daß sie auch über Kräfte verfügen,
die anderen abgehen, wie dies die weite Verbreitung der Schätzung
der Blinden erkennen läßt. Ihre Verletzung schien jedenfalls
geeignet, den Zorn des Gottes zu reizen.
Endlich finden sich im Deuteronomium eine Anzahl Tier-
schutzbestimmungen wie die zum Schutz der Vogelmutter
(22, 6. 7) und das berühmte Verbot (25,4), dem dreschenden
Ochsen das Maul zu verbinden, — während auf den römischen
Plantagen die Sklaven am Mühlstein einen Maulkorb trugen.
Die Wertung des Sabbats als eines Ruhetags auch für das Vieh
und des Sabbat jahrs als Gelegenheit für die Tiere, sich frei zu
nähren, tritt hinzu. Inwieweit diese Theologumena wesentlich
mit dem in ganz Vorderasien verbreiteten Glauben vom einst-
maligen und für künftig wiedererhofften Paradiesesfrieden
zwischen Mensch und Tier oder etwa auch mit irgendeinem viel-
leicht aus Ackerbaukulten örtlich erwachsenen alten rituellen
Vegetarismus zusammenhängen oder einfach als Konsequenz
des Liebesgebots entstanden sind, lassen die israelitischen Quellen
unerkennbar. Bileams sprechender Esel ist einfach ein volks-
tümliches Fabeltier, wie es sich sonst auch findet (so in dem pro-
phetischen Lamm unter Bokchoris in Aegypten) . In Aegypten
beruhte das Verbot der Mißhandlung des Viehs ursprünglich
wohl auf dem Interesse des Königs an seiner Arbeitsfähigkeit.
Bei Ramses II. findet sich das charakteristische Versprechen
an die Pferde, welche ihn aus der Schlacht von Kadesch gerettet
hatten, daß sie fortan im Palast in seiner Gegenwart gefüttert
werden sollen,, ganz ebenso wie er seinen Arbeitern die richtige
Leistung ihrer Gebühmisse verspricht: ein Ausfluß der typischen
Beziehung des Reiters oder Stallherren zu seinen Tieren. Der
priesterlich systematisierte, volkstümliche Tierkult und die Fähig-
keit der Totenseelen, in Tiergestalten einzugehen, war wohl nicht
I. Die israelitische Eidgenossenschaft und Jahwe. 270
Quelle der tierfreundlichen Gesinnung, aber diese Konzeptionen
beförderten naturgemäß die Tierkarität. In Israel ist die Sabbat-
ruhe für das Vieh, wie für die Sklaven, wie ihr Fehlen in der Le-
gende 2. Kön. 4, 23 ergibt, erst Produkt der spätköniglichen,
vermutlich der deuteronomischen Zeit. Die Tierfreundlichkeit
überhaupt war möglicherweise wenigstens in ihrer allgemeinen
Richtung ägyptisch beeinflußt.
Alles in allem ist eine Beeinflussung der israelitischen Ethik
und Karität in der späten vorexilischen Zeit durch das Beispiel
der großen Kulturgebiete in vielen Einzelheiten nicht nur nicht
ausgeschlossen, sondern namentlich von Aegypten her, direkt
und auf dem Wege über Phönizien, recht wahrscheinlich. Die ent-
scheidenden Züge dieser Art von Karität haben sich freilich auch
ohne Entlehnung überall da herausgebildet, wo eine hinlängliche
Stärke der priesterlichen Interessen an ihren mit Gebrechen oder
Unglück behafteten Kunden eine Rationalisierung der Fürsorge
für die Schwachen als solche bedingte. Immerhin hat die israeli-
tische Thora die Gebote auch da", wo die Annahme einer Beein-
flussung naheliegt, selbständig abgewandelt.
Weit wichtiger als alle Einzelabweichungen ist aber der
schon betonte prinzipielle Sachverhalt : die Abwesenheit magischer
Surrogate für die Erfüllung der Gebote. Die ägyptische Priester-
lehre beispielsweise mochte ethische oder karitative Gebote
aufstellen, welches Inhalts immer, — was konnte sie ihnen für
Nachdruck geben, wenn es ganz einfache magische Mittel gab,
um den Toten zu befähigen, im entscheidenden Augenblick
vor dem Totenrichter seine Sünden zu verhehlen? Und
das war der Fall. Der Bitte an das eigene Herz^ im Totenbuch
(Kap. 30, L. i), nicht gegen den Toten zu zeugen, wurde später
durch Mitgabe eines geweihten Skarabäus Nachdruck gegeben,
welcher das Herz befähigte, der Zaubergewalt der Totenrichter
zu widerstehen und die Sünden zu verschweigen. Die Götter
wurden also überlistet. Nicht ebenso kraß lag es in Babylon.
Immerhin war auch dort in neubabylonischer Zeit Magie aller
Art das spezifische und populäre Einwirkungsmittel auf die un-
sichtbaren Gewalten. Mit zunehmender Rationalisierung der
Kultur hatte zwar die Sündenstimmung seinerzeit auch in Me-
sopotamien namentlich unter der pazifistischen bürgerlichen
Bevölkerung zugenommen. Aber die stimmungsvollen sumeri-
schen und altbabylonischen Bußpsalmon sind später als rein
2go ^^^ antike Judentum.
magische Formeln und oft ohne Rücksicht auf den Sinngehalt
verwendet worden, nachdem an die Stelle der großen Götter
im Volksglauben die bösen Geister als Urheber des Uebels ge-
treten waren. Im alten Jahwismus dagegen fehlte diese Art von
Magie und war schon deshalb die Bedeutung der einmal als ver-
bindlich geltenden ethischen Gebote notwendig wesentlich realen.
Dies hatte außer in der andersartigen Wendung des Theodizee-
problems wiederum in dem uns schon oft begegneten Umstand
seinen Grund: daß in Isarael als in einem Verband freier Volks-
genossen, welche aus der berith solidarisch für die Innehaltung
der Gebote des Bundesgottes hafteten, alle Einzelnen die Rache
zu fürchten hatten, wenn sie die Verletzungen seiner Gebote in
ihrer Mitte duldeten. Ausstoßung des mit dem Gott unversöhnten
Sünders, Bannung und Steinigung waren daher die Mittel, mit wel-
chen hier gegen die Sünde reagiert wurde. Die Vollstreckung der
Todesstrafe ohne Gnade war an gewissen schweren Sündern Pflicht,
weil das einzige Mittel der Entsühnung der Gemeinschaft als solcher .
Dies Motiv fiel in bürokratischen Monarchien und vollends bei
Vorhandensein von Berufsmagiern gänzlich fort. Es findet seine
Analogie an der Haftung der altchristlichen und der puritanischen
Abendmahlsgemeinde für die Entfernung jedes offensichtlich Ver--
worfenen vom Tisch des Herrn im Gegensatz zum Katholizismus,
Anglikanismus und Luthertum. Die spezifisch ethische Wendung
der Levitenthora mußte unter dem stetigen Druck dieses Inter-
esses immer stärkeren Rückhalt gewinnen. Die Stellung der
Leviten selbst aber entstammte ihrem Verhältnis zu ihrer Privat-
kundschaft. Zu alledem hatte die Stiftung der alten berith durch
Mose und die Uebemahme der Orakelfunktion den ersten Anstoß
gegeben. Insofern also gilt Mose tatsächlich mit Recht als Ur-
heber dieser wichtigen ethischen Entwicklung. Andererseits
aber wäre die Entfaltung der israelitischen Religiosität zu dem
gegen alle Zersetzung von außen her widerstandsfähigen Gebilde,
als welches sie durch die Geschichte gegangen ist, unmöglich
gewesen ohne das Eingreifen jener schon mehrfach gestreiften
eigenartigsten und folgenschwersten Erscheinung, die sie hervor-
gebracht hat: der Prophetie. Ihr müssen wir uns jetzt zu-
wenden.
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. 28 1
n.
11. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. Die
vorexilische Prophetie. Politische Orientierung der vorexilischen Prophetie.
S 282. — Psychologische und soziologische Eigenart der Schriftpropheten.
S. 292. — Ethik und Theodizee der Propheten. S. 314 — Eschatologie und
Propheten. S. 336. — Die Entwicklung der rituellen Absonderung und der
Dualismus der Innen- und Außenmoral. S, 351. — Das Exil. Hesekiel und
Deuterojesaja. S. 379. — Die Priester und die konfessionelle Restauration nach
dem Exil, S. 397.
Nach jener Pause in der Eroberungspolitik der Großstaaten,
welche das Entstehen des israelitischen Bundes ermöglichte,
begannen seit dem 9. Jahrhundert die mesopotamischen Groß-
könige und später auch Aegypten ihre Expansionspolitik von
neuem. Syrien wurde nun einer der Schauplätze bisher un-
erhörter kriegerischer Ereignisse. Eine so furchtbare Kriegs-
führung, wie namentlich die der Assyrerkönige, war in diesen
Dimensionen noch nie erlebt worden. Die Keilinschriften
dampfen von Blut. Der König berichtet im Ton trockener Proto-
kolle von den Mauern eroberter Städte, die er mit abgezogenen
Menschenhäuten überspannt habe. Die wahnsinnige Angst vor
diesen erbarmungslosen Eroberern spricht aus der erhaltenen
israelitischen Literatur der Zeit, vor allem auch aus den Orakeln
der klassischen Prophetie, welche mit steigender Verdüsterung
des politischen Horizonts ihren typischen Charakter annahm.
Die vorexilischen Propheten^) von Amos bis
Jeremia und Hesekiel waren, mit den Augen der außenstehenden
1) Aus der neuesten Literatur, vor allem das, bei einzelnen anfechtbaren,
Aufstellungen, sehr verdienstvolle Werk von G. Kölscher, Dje Propheten 1914,
welches die ganze Vorgeschichte mit Verwertung moderner psychologischer Er-
fahrung bietet. — Für die einzelnen Propheten die modernen Kommentare.
Ueber die ekstatischen Zuständlichkeiten der Propheten glänzend wie immer:
H. Gunkel, Die geheimen Erfahrungen der Propheten (Vortrag, >Suchen der
Zeitc I 1903), im Auszug in den >Schriften des A. T.« II, 2, der Uebersetzungen
und z. T. vortreffliche Einzelkommentare von H. Schmidt bringt (Amos und
Hosea in II. i), nebst einer zur Einführung sehr geeigneten Analyse der literari-
schen Eigenart. Aus der sonstigen Literatur : Giesebrecht, Die Berufs-
begabung der alttest. Propheten, Göttingen 1897. Cornill, Der israelit.
Prophetismus (6. Aufl. Slraßburg 1906). Seil in, Der alttest. Prophelismus
Leipzig 1912). Weitere Literatur am gegebenen Ort. Ueber das »Ethos« alttest.
Propheten vieles Zutreffende bei Troeltsch im »Logos« Bd. VI S. 17, wo
der utopische Charakter der >Politik« mit Recht stärker betont ist als sonst. — Hier
wird auf alle Einzelanalyse verzichtet.
2<^2 ^^^ antike Judentum.
Zeitgenossen angesehen, vor allem : politische Dema-
gogen und, gelegentlich, Pamphletisten ^) . Das kann zwar
sehr mißverstanden werden. Richtig verstanden aber ist es
eine unentbehrliche Erkenntnis. Es bedeutet zunächst: Sie
sprachen. Schriftstellernde Propheten kennt erst das Exil.
Und zwar sprachen sie öffentlich zum Publikum. Ferner heißt
es: Sie hätten weder ohne die Weltpolitik der die Heimat be-
drohenden Großmächte — von der die Mehrzahl ihrer eindrucks-
vollsten Orakel handeln — , noch auch andererseits auf dem
eigenen Boden dieser Großmächte selbst entstehen können".
Und dies hatte eben seinen Grund darin, daß auf deren Boden
eine »Demagogie« unmöglich war. Gewiß läßt auch der assyrische,
babylonische, persische Großkönig, wie jeder antike und wie
auch der israelitische Herr, sich durch Orakel in seinen poli-
tischen Entschlüssen bestimmen oder doch den Zeitpunkt und
die Einzelheiten seiner Maßregeln dadurch festlegen. Der baby-
lonische König z. B. fragt vor jeder Ernennung eines hohen
Beamten bei den Orakelpriestern nach dessen Qualifikation.
Indessen: das war eine höfische Angelegenheit. Nicht auf den
Gassen und nicht zum Volk sprach dort der politische Prophet.
Dafür waren weder die politischen Vorbedingungen gegeben
noch wäre es gestattet worden. Es liegen Anzeichen vor und
es entspricht den Verhältnissen der bürokratischen Staaten, daß
die öffentliche Prophetie dort ausdrücklich verboten war. Ins-
besondere galt dies für die jüdische Exil zeit, wo scharfe Re-
pressionen durch Andeutungen der Quellen wahrscheinlich ge-
macht werden. Eine im Sinn der klassischen Zeit politische
Prophetie ist in Vorderasien und Aegypten wenigstens bisher
ganz unbekannt. Anders in Israel und vor allem im Stadtstaat
Jerusalem.
Die alte politische Prophetie der Bundeszeit hatte sich an
die Gesamtheit der Eidgenossen gewendet. Sie war aber eine
Gelegenheitserscheinung. Eine feste gemeinsame Orakelstätte
wie Dodona oder Delphoi hatte die Eidgenossenschaft nicht
gekannt. Das priesterliche Losorakel, die einzige als klassisch
geltende Form der Befragung des Gcttes, war technisch primitiv.
^) So Jesajas Pamphlet gegen Sebna (22, 15 f.) mit dem Postskript gegen
den in der ersten Redaktion lobend erwähnten Eljakim. Ebenso Jeremias
schriftlicher Fluch gegen Semaja.
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. 28^
Mit der Königsherrschaft fiel die freie Kriegsprophetie dahin,
und schwand das Bundesorakel an Bedeutung gegenüber den
Hofpropheten. Erst mit dem Steigen der äußeren , Gefährdung
des Landes und der Königsmacht entfaltete sich die freie Prophe-
tie. Elia war dem König und seinen Propheten nach der Tra-
dition öffentlich entgegengetreten; aber er hatte landflüchtig
werden müssen. Ebenso noch Amos unter Jerobeam IL Unter
starken oder durch Anlehnung an eine Großmacht gesicherten
Regierungen, z. B. in Juda unter Manasse, schwieg noch nach
Jesajas Auftreten die Prophetie oder vielmehr: wurde sie zum
Schweigen gebracht. Mit sinkendem Prestige der Könige und
steigender Bedrohung des Landes stieg ihre Bedeutung wieder.
Zugleich rückte der Schauplatz ihres Wirkens immer mehr nach
Jerusalem. Von den ersten Propheten trat Amos an der Kult-
stätte in Bethel auf, Hosea im Nordreich. Schon für Jesaja ist
aber Weideland und Oede identisch (5, 17; 17, 2. 22 f.) : er ist
ganz und gar Jerusalemiter. Der Ort seines Auftretens scheint
mit Vorliebe der öffentliche Tempelhof gewesen zu sein. Dem
Jeremia endlich befiehlt Jahwe: »Gehe auf die Gassen von
Jerusalem und rede öffentlich.« In Zeiten der Not kommt
es vor, daß ein König, wie Zedekia, heimlich um ein Gotteswort
zum Propheten sendet. Aber in aller Regel tritt der Prophet auch
dem König und seiner Familie öffentlich, persönlich auf der
Straße oder durch öffentlich gesprochenes oder — ausnahms-
weise — einem Jünger diktiertes ^) und dann ^ erbreite tes Wort
gegenüber. Es kommi vor, daß einzelne oder auch Deputationen
der Aeltesten vom Propheten Orakel erbitten und erhalten (auch
von Jeremia: 21, 2 f.; 37, 3; 38, 14; 42, i f.). Ersichtlich weit
häufiger aber: daß er von sich aus, d. h. unter einer spontanen
Eingebung, auf dem Markt zum Publikum spricht oder auch zu
den Aeltesten am Tor. Denn der Prophet deutet zwar auch das
Schicksal einzelner. Aber in aller Regel nur das von politisch
wichtigen Personen. Und weit überwiegend befaßt er sich mit dem
Schicksal des Staates und Volkes. Und zwar immer in der Form
emotionaler Invektiven gegen die Machthaber. Der »Demagoge«
taucht hier zum erstenmal geschichtlich beglaubigt auf, etwa
^) Daß das vorkam, zeigt die Einsiegelung eines Orakels des Jesaja durch
seine Jünger (8, l6) und das schriftliche Fluchorakel des Jeremia gegen Babel
(51, 59 f.)
284 ^^^ antike Judentum.
in der gleichen Zeit, wo die homerischen Gesänge die Figur des
Thersites prägten. Aber in der frühhellenischen Polis verläuft
die Versammlung der Notablen, bei der das Volk in aller Regel
höchstens zuhört und durch Akklamation mitwirkt, wie dies in
Tthaka geschildert wird, in geordneter Rede und Gegenrede
und wird das Wort, durch Ueberreichung des Stabes erteilt.
Der Demagoge der perikleischen Zeit andererseits ist ein welt-
licher, den Demos durch seinen persönlichen Einfluß leitender
Politiker, welcher in der staatlich geordneten souveränen Eklesia
spricht. Die homerische Zeit kennt die Befragung des Sehers
inmitten der Versam.mlung der Ritterschaft. Später ist das
verfallen. Gestalten wie Tyrtäos und die soionische dichterische
Kriegsdemagogie zur Eroberung von Salamis erinnern wohl am
ehesten an die alte freie politische Prophetie d^^r israelitischen
Eidgenossenschaft. Aber die Gestalt des Tyrtäos ist mit der
Entwicklung des disziplinierten spartanischen Hoplitenheeres
verwachsen, und Solon war bei aller Frömmigkeit ein rein welt-
licher Politiker mit lichtem und klarem, das Wissen von der
Unsicherheit des Menschenloses mit dem sicheren Glauben an
den Wert des eigenen Volkes verbindenden, im Innersten »ratio-
nalistischen« Geiste und dem Temperament des Predigers vor-
nehmer und dabei frommer Sitte. Weit eher ist die orphische
Religiosität and Prophetie der israelitischen verwandt. Mit
diesen plebejischen Theologen suchte die plebejerfreundliche
Tyrannis, vor allem die der Peisistratiden, Verbindung. Ebenso
gelegentlich die Politik der Perser in der Zeit der Unterwerfungs-
versuche. >>Chresmologen«, wandernde Orakelgeber, und weis-
sagende Mystagogen aller Art durchzogen im 6. und in der ersten
Zeit des 5. Jahrhunderts Griechenland, von Privaten sowohl
wie von Politikern, namentlich Exulanten, gegen Lohn konsul-
tiert. Dagegen ist nichts davon bekannt, daß jemals eine reli^
giöse Demagogie nach Art der israelitischen Propheten in die
Politik der hellenischen Staaten eingegriffen hätte. Pythagoras
und seine Sekte, deren politischer Einfluß sehr beträchtlich war,
wirkten als Seelendirektoren des unteritalischen Stadtadels, nicht
als Propheten der Gasse. Die vornehmen Weisheitslehrer von
der Art des Thaies verkündeten nicht nur Sonnenfinsternisse und
spendeten Klugheitsregeln, sondern griffen sämtlich in die Politik
ihrer Städte ein, teilweise in leitender Stellung. Aber ihnen
fehlte die Ekstatikerqualität. Ebenso Piaton und der Akademie,
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. 28 s
deren — letztlich utopische — Staatsethik auf die Entwicklung
des Schicksals (und Zerfalls) des syrakusanischen Reiches von
großem Einfluß war. Die ekstatische politische Prophetie aber
blieb hierokratisch organisiert in den offiziellen Orakelstätten,
welche auf die offiziellen Fragen der Bürgerschaften in geschmei-
digen Versen Antwoit gaben. Die feste militärische Ordnung der
Städte lehnte die freie emotionale Prophetie ab. — Dagegen führt
in Jerusalem eine rein religiöse Demagogie das Wort, deren Orakel
finstere Geschicke der Zukunft blitzartig aus düsterer Schwüle
aufleuchten lassen, welche autoritär a iftritt und jede geordnete
Verhandlung meidet. Der Prophet war formell reiner Privat-
mann. Aber um deswillen wai er natürlich keineswegs eine den
offiziellen politischen Gewalten gleichgültige Figur.
Vornehme, i,m Königsdienst stehende Bürger sind es, die
Jeremias gesammelte Orakel vor den Staatsrat und den König
bringen; denn jedes solche Orakel war ein staatlich wichtiges
Vorkommnis. Nicht etwa nur, weil es die Stimmung der Masse
beeinflußte. Sondern auch, weil es ganz unmittelbar magisch,
als Bann wort, böses oder gutes Omen den Gang der Ereignisse
beeinflussen konnte. Angstvoll, zornig oder gleichgültig, je^nach
der Lage, stehen die Gewalthaber diesen mächtigen Demagogen
gegenüber. Bald suchen sie sie in ihren Dienst zu ziehen, bald
handeln sie wie König Jojakim, der, in seinem Wintersöller
sitzend, mit ostensibler Gelassenheit Blatt für Blatt jener ge-
sammelten Unheilsorakel, welche die Hofbeamten ihm vorlesen,
ins Herdfeuer wirft, bald schreiten sie gegen sie ein. Unter
starken Regierungen war die Prophetie verboten, wie unter
Jerobeam H. die Klage desAmos darüber zeigt. W^enn dieser
Prophet Gottes Zorn über Israel verkündigt, weil man das Prophe-
zeien zu unterdrücken versuche, so war das etsva das gleiche,
wie wenn ein moderner Demagoge Preßfreiheit verlangt. Tat-
sächlich war auch das Prophetenwort nicht auf mündliche Mit-
teilung beschränkt. Bei Jeremia tritt es als offener Brief auf.
Oder Freunde und Jünger des Propheten zeichnen das gespiochene
Wort auf und es wird zur poHtischen Flugschrift. Spät'^r, oder
gelegentlich (wie ebenfalls bei Jeremia) schon gleichzeitig, werden
diese Blätter gesammelt und revidiert: die früheste unmittelbar
aktuelle politische Pamphletliteratur, die wir kennen.
Diesem Charakter und der ganzen Situation entspricht nun
auch die Form und Tonart der vorexilischen Propheten. Alles ist
2 86 ^^s antike Judenlum.
auf aktuelle demagogische Wirkung, in aller Regel von Mund
zu Mund, berechnet. Die Gegner der Propheten werden bei
Micha redend eingeführt. Sie werden ganz persönlich bekämpft
und an den Pranger gestellt, und wir hören sehr oft von tätlichen
Konflikten. Alle Maßlosigkeit und die rasendste Leidenschaft
der Parteikämpfe etwa in Athen, oder Florenz wird erreicht und
zuweilen überboten durch das, was wir in den Zornredsn und
Orakelflugblättern besonders des Jeremia an Flüchen, Drohungen,
persönlichen Invektiven, Verzweiflung, Zorn und Rachedurst
finden. Unsauberer persönlicher Lebenswandel wird den Gegen-
propheten in einem Brief Jeremias an die nach Babylon Fort-
geführten nachgeredet (29, 23). Dem Gegenpropheten Chananja
bringt Jeremias Fluchweissagung den Tod. Wenn Jahwe seine
Drohworte gegen das eigene Volk, die doch er ihm in den Mund
gelegt hatte, trotz allen Frevels unerfüllt läßt, so gerät er in
Wut und verlangt angesichts des Spottes der Feinde, von seinem
Gott, daß er den angekündigten Tag des Unheils nun auch kom-
men lasse (17, 18), daß er ihn räche an seinen Verfolgern (15, 15),
daß er die Schuld der Gegner gegen ihn ohne Sühne bestehen
lasse (18, 23),d. h. : künftig um so furchtbarer seinerseits rächen
möge. Er scheint oft förmlich zu schwelgen in der Vorstellung
von der Entsetzlichkeit des von ihm angekündigten, sicher kom-
menden Unheils des eigenen Volks. Aber allerdings auf der
andern Seite — und das ist ein Unterschied gegen die Partei-
demagogen in Athen und Florenz — : nachdem das Unheil bei
Megiddo und später, nachdem die jahrzehntelang angekündigte
Katastrophe über Jerusalem hereingebrochen ist: keine Spur
von Triumph darüber, daß die Vorhersage recht behalten habe.
Und auch nicht wie vorher dumpfe Verzweiflung. Sondern neben
schwerer Trauer die Eröffnung von Hoffnung auf Gottes Gnade
und bessere Zeiten. Und bei allem wilden Zorn über die Ver-
stocktheit der Hörer läßt er sich durch Jahwes Stimme mahnen :
nicht durch unedle Worte das Recht zu verwirken, Jahwes Mund
zu sein: er solle edle Worte reden, dann werde Jahwe die Herzen
der Menschen ihm zuwenden (15, 19). Zwar ungebändigt durch
priesterliche oder ständische Konventionen und gänzlich un-
temperiert durch irgendwelche, sei es asketische oder kontem-
plative, Selbstdisziplin entlädt sich die glühende Leidenschaft
der Propheten und öffnen sich in i,hnen alle Abgründe des Men-
schenherzens. Und dennoch, trotz aller dieser Menschlichkeiten,
I
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. 287
von denen diese Titanen des heiligen Fluchens wahrlich nicht
frei waren, ist es dennoch nicht die eigene Person, sondern die
Sache Jahwes, des leidenschaftlichen Gottes, die über all dem
wilden Toben souverän gebietet. — Der Leidenschaft des Angriffs
entsprach die Reaktion der Angegriffenen. Zahlreiche Verse,
namentlich wieder des Jeremia, die gelegentlich wie Ausgeburten
von Verfolgungswahn anmuten, schildern, wie die Feinde bald
zischeln, bald lachen, bald drohen und höhnen. Und das ent-
sprach den Tatsachen. Auf offener Straße treten die Gegner
den Propheten entgegen, beschimpfen sie und schlagen sie ins
Gesicht. König Jojakim läßt sich den Unheilspiopheten Uria
von Aegypten ausliefern und hinrichten, und wenn Jeremia, der
wiederholt in Haft genommen und mit dem Tode bedroht wurde,
dem entging, dann wesentlich aus Angst vor seiner Zaabermacht.
Stets aber schwebt Leben und Ehre der Propheten in Gefahr
und lauert die Gegenpartei darauf, sie durch Gewalt, List und
Spott, Gegenzauber und Gegenprophetie zu vernichten. Vor
allem auch durch Gegenprophetie. Nachdem Jeremia acht Tage
lang mit einem Jochbalken auf den Schultern umhergegangen
ist, um die Unabwendbarkeit der Unterwerfung unter Nebukad-
nezar handgreiflich zu machen, tritt ihm Chananja entgegen,
ergreift und zerbricht das Joch, um das böse Omen zu zerstören,
vor allem Volk. Worauf Jeremia zunächst betroffen davongeht,
dann aber mit einem eisernen Joch wieder erscheint, höhnisch
fordernd, daß der Gegner auch an ihm seine Kraft bewähre und
ihm den baldigen Tod verkündend. Diese Propheten sind mitten
hineingerissen in einen Strudel von Parteigegensätzen und
Interessenkonflikten. Und zwar vor allem: in betreff der aus-
wärtigen Politik. Das konnte nicht anders sein. Um Sein oder
Nichtsein des nationalen Staatswesens gegenüber dem Gegen-
satz der assyrischen Weltmacht auf der einen, der ägyptischen
auf der andern Seite handelt es sich. Partei mußte ergriffen
werden und niemand, der öffentlich wirkte, kam um die Frage
herum: für wen? so wenig wie Jesus die Frage erspart blieb:
ob es recht sei, den Römerzins zu zahlen? Ob die Propheten
wollten oder nicht, sie wirkten tatsächlich im Sinne jeweils einer
der sich wütend bekämpfenden innerpolitischen Koterien, welche
zugleich jede Träger einer bestimmten Außenpolitik waren, und
galten daher als deren Parteigenossen. Nebukadnezar hat nach
dem zweiten F'all Jerusalems in seinem Verhalten zu Jeremia
283 ^^^ antike Judentum.
dem Rechnung getragen, daß der Prophet im Sinn der Lebens-
treue seines Königs gewirkt hatte. Wenn wir die Sippe Saphans
durch mehrere Generationen die Propheten ^) und die deutero-
nomische Bewegung stützen sehen, so mag dabei recht wohl auch
außenpolitisch .^s Parteiinteresse beteiligt gewesen sein. Zu glau-
ben aber, daß politische Parteigängerschaft bei den Propheten
selbst: etwa für Assyrien bei Jesaja oder für Babylon bei Jeremia
bestimmend für den Inhalt der Orakel gewesen sei, durch welche
sie von Bündnissen gegen jene Großmächte abrieten, wäre ein
schwerer Irrtum. Unter Sanherib hat derselbe Jesaja 2), der
vorher in Assur das Werkzeug Jahwes sah, sich im Gegensatz
zu der Verzagtheit des Königs und der Großen rücksichtslos
gegen den Großkönig und gegen die Kapitulation gewendet.
Wie er anfangs die Assyrer als Vollstrecker wohlverdienter Strafe
beinahe begrüßte, so verflucht er später dies gottlose, übermütige,
unmenschlich grausame, nur auf Macht und Vernichtung anderer
ausgehende Königsgeschlecht und Volk und weissagt ihm den
Untergang, den dann später, als er einfrat, die Propheten jubelnd
begrüßten. Und Jeremia hat zwar unablässig die Unterwerfung
unter die Macht Nebukadnezars gepredigt bis zu einem Ver-
halten, welches wir heute Landesverrat nennen würden: denn
was ist es anders, wenn er (21,9) beim Anmarsch des Feindes
denen, die überlaufen und sich ergeben werden, Gnade und
Leben in Aussicht stellt und den andern Verderben? Aber der-
selbe Jeremia, welcher Nebukadnezar noch in seinem letzten
Orakel (aus Aegypten) gelegentlich den »Knecht Gottes« nennt
(43, 10), den der Vertreter des Königs nach der Einnahme
Jerusalems beschenkt und nach Babylon lad, hatte dem Reise-
marschall des Königs Zedekia für die Fahrt nach Babylon
ein Blatt mit einem prophetischen Fluch über diese Stadt mit-
gegeben, unter der Anweisurg, es dort laut zu lesen und dann
in den Euphrat zu werfen (Jer. 51, 59 ff.), um durch diesen Zauber
die verhaßte Stadt dem Untergang zu weihen. Es zeigt sich in
alledem, daß die Propheten zwar der Art ihres Wirkens nach ob-
jektiv politische, und zwar vor allem weltpolitische, Demagogen
1) S. für Jeremia: 26, 24; 29, 3; 36, 11 ; 40, 6.
2) S. über Jesajas politische Stellung insbesondere: Küchler, Die
Stellung des Propheten Jesaja zur Politik seiner Zeit (Tübingen 1906). Bemer-
kungen darüber auch bei Procksch, Geschichtsbetrachtung und üeschichts-
überlieferung bei den vorexil, Propheten (Leipzig 1902),
n. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. 289
und PublizibLL'u Wciven. aber subjektiv nicht politische Partei-
gänger. Sie waren überhaupt nicht primär an poUtischen In-
teressen orientiert. Niemals hat die Prophetie etwas über einen
»besten Staat« ausgesagt (von Hesekiels hierokratischer Kon-
struktion in der Exilszeit abgesehen), niemals vollends versucht,
wie die philosophischen Aisymneten und vollends die Akademie,
sozialethisch orientierte politische Ideale durch Beratung von
Machthabern in die Realität umsetzen zu helfen. Der Staat und
sein Treiben . interessierten sie nicht um seiner selbst willen.
Vollends war ihre Fragestellung nicht die der Hellenen: wie man
ein guter Bürger werde? Sondern sie war, wie wir sehen werden,
ganz und gar religiös, an der Erfüllung von Jahwes Geboten,
orientiert. Was gewiß nicht ausschließt, daß wenigstens Jeremia
auch die realen Machtverhältnisse seiner Zeit vielleicht bewußt
richtiger einschätzte als die Heilspropheten. Nnr war nicht dies
für seine Haltung entscheidend. Denn diese realen Machtverhält-
nisse waren eben nur durch Jahwes Willen so gestaltet. Er
konnte sie ändern. Jesajas Mahnung zum Ausharren gegen die
Angriffe Sanheribs schlug jeder realpolitischen Wahrscheinlich-
keit ins Gesicht, und wenn man ernstlich behauptet hat, er habe
— vor dem König selbst ! — Nachricht von den Umständen
gehabt, die Sanherib zum Abzug veranlaßten, so ist dieser Ratio-
nalismus in der Tat jenen Versuchen gleichwertig, welche das
Wunder bei der Hochzeit zu Kana aus der Verwendung von
Likören erklärten, die Jesus heimlich mitgebracht habe.
Ganz unglaubhaft bleiben vollends die von manchen Pan-
babylonisten nicht ohne Geist aufgespürten Beziehungen der
Jahwepropheten zu innerpolitischen Parteien — einei »Priester-
und Bürger-Partei << — der Weltreiche, vor allem der mesopotami-
schen. Natürlich ist kein Zweifel, daß dis jeweiligen außenpoliti-
schen Beziehungen, auch die Parteigängerschaften, fast stets
religiöse Rückwirkungen im Innern hatten. Die Parteigänger
Aegyptens pflegten ägyptische, die Assyriens Babylons und
Phöniziens die dortigen Kulte und im Fall einer politischen
Allianz war die Verehrung der betreffenden Götter eine fast
unentbehrhche Bekräftigung, die ein Großkönig bei aller son-
stigen Toleranz als Zeichen politischer Obödienz vermutlich
geradezu forderte. Und ferner sprechen hinlängliche Angaben
dafür, daß beispielsweise Nebukadnezar nicht abgeneigt war,
sowohl nach der ersten wie nach der zweiten Einnahme Jeru-
M.1X Weber, Religionssoziologic HI. 19
200 ^^s antike Judentum.
salems und der Wegführung der ägyptisch gesinnten Partei den
Einfluß der Jahweverehier ähnlich als Stütze seiner Herrschaft
zu benützen, wie später Kyros und Dareios es taten. Auch die
Politik Nechos nach der Schlacht bei Megiddo scheint schon ähn-
liche Wege haben gehen zu wollen ^), ohne dadurch die Pro-
pheten für Aegypten zu gewinnen. Als erster Ansatz zu dieser
von der altassyrischen abweichenden wichtigen Maxime: mit
Hilfe der einheimischen Priester zu herrschen, darf wohl das
überlieferte Entgegenkommen der Assyrer gegenüber den reli-
giösen Bedürfnissen von Samaria nach der Zerstörung '{2. Kön.
17, 27 f.) gelten. Mit dieser Wendung der Religionspolitik der
Großstaaten verlor die Fremdherrschaft für die Propheten viel
von ihren religiösen Schrecken und es liegt nahe, daß dies die
Stellungnahme vor allem des Jeremia mit beeinflußt hat. Aber
die ursächliche Bedeutung solcher Momente ist bei ihnen allen
ganz offenbar nicht zu vergleichen mit der Tragweite, welche
solche »kirchenpolitischen« Erwägungen vermutlich bei dem Ver-
halten der hellenischen Orakel, vor allem: des delphischen Apollon,
den Persern gegenüber gehabt haben. Auch hier war die Ueber-
zeugung, daß das Verhängnis mit den Persern sei, seit dem wunder-
gleichen Aufstieg des Kyros und Dareios die Grundvoraussetzung
der Haltung der Orakel. Aber die schmeichelhafte Devotion
des Königs und des Mardonios und die ausgiebigen Geschenke,
die sie darbrachten, in Verbindung mit der berechtigten Erwar-
tung, daß im Falle des Sieges die Perser auch hier mit Hilfe der
Priester die Domestikation der entwaffneten Bürgerschaften be-
werkstelligen würden, waren doch höchst substanzielle Stützen
dieser Stellungnahme. Diese materiellen Erwägungen fielen bei
den Propheten völlig fort. Jeremia entzog sich der Einladung
nach Babylon, und von seiner zutreffenden Einschätzung der
Machtlage bis zum Bestehen einer internationalen Parteigänger-
schaft der Priester und Bürger einerseits, des Militäradels anderer-
seits, an welche manche Panbabylonisten glauben, ist denn doch
ein sehr weiter Weg. Derartiges ist völlig unglaubhaft, und wir
werden sehen, daß die Stellungnahme zu den auswärtigen Bünd-
nissen überhaupt und insbesondere die sehr beständige Abneigung
1) Dafür spricht, daß dem von ihm eingesetzten König ein theophorer
(Jahwe-) Name gegeben wurde.
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. 29I
der Propheten gegen das ägyptische Bündnis durch rein religiöse
Motive gegeben war.
Ebensowenig wie in dar auswärtigen war die Stellungnahme
der Propheten in der inneren Politik, so prononciert sie hervor-
traten, primär politisch oder sozialpolitisch motiviert. —
Die Propheten sind ihrer ständischen Herkunft nach uneinheit-
lich. Es ist gar keine Rede davon, daß sie vorwiegend prole-
tarischen oder auch nur negativ privilegierten ^) oder bildungs-
losen Schichten entstammten. Erst recht nicht wurde ihre
sozialethische Stellungnahme durch ihre persönliche Abstam-
mung bestimmt. Denn sie war durchaus einheitlich trotz sehr
verschiedener sozialer Herkunft. Durchweg vertraten sie leiden-
schafthch die sozialethischen Karitäts geböte der levitischen Par-
änese zugunsten der kleinen Leute und schleuderten ihre zornigen
Flüche mit Vorliebe gegen die Großen und Reichen. Aber Jesaja,
der dies unter den älteren Propheten mit am heftigsten tat, war
ein Abkömmling aus vornehmer Sippe, vornehmen Priestern eng
befreundet, verkehrte mit dem König als Berater und Arzt und
war ohne Zweifel in seiner Zeit eine der angesehensten Persönlich-
keiten der Stadt. Zephanja war ein Davidide und Urenkel des
Hiskia, Hesekiel ein vornehmer Jerusalemiter Priester. Diese
Propheten waren also begüterte Jerusalem iten. Micha und
Jeremia stammten der eine aus einer Kleinstadt, der andere aus
einem Dorfe, Jeremia aus einer landpriest erlichen Sippe, die mit
Grundbesitz angesessen war, vielleicht dem alten Elidenhause ^).
Er kaufte verarmten Verwandten Land ab. Nur Amos war ein
kleiner Viehzüchter: er nennt sich einen Hirten, der von Syko-
morenfrüchten (der Nahrung der Armen) gelebt habe, und
stammte aus einer Kleinstadt Judas, war dabei aber ersichtlich
sorgfältig gebildet: gerade er kennt z. B. den babylonischen
Tiamat-Mythos. Aber wie Jesaja, bei allen schweren Fluchworten
gegen die Großen, doch die Herrschaft des ungebildeten zucht-
losen Demos als den ärgsten aller Flüche verkündet, so ist auch Jere-
mia trotz seiner immerhin demokratischeren Herkunft und bei einer
*) Dies ist namentlich für Amos (z. B. von Winckler) behauptet worden.
JVTit Recht dagegen: Küchler a. a. O.
*) Für diese natürlich unbeweisbare Annahme spricht die Art, wie er
wiederholt Silo als die erste Stätte der reinen Jahwe- Verehrung erwähnt und
die Zerstörung Jerusalems mit der zweifellos halb vergessenen, Jahrhunderte
aurückliegenden, Verwüstung von Silo vergleicht.
19 ♦
2g2 Das antike Judentum.
noch schärferen Tonart gegen die Frevel des Hofs und der Großen
ganz ebenso scharf gegen die plebejischen Minister Zedekias.
Auch er hält es für selbstverständlich, daß kleine Leute nichts
von religiösen Pf Hebten verstehen. Von den Großen dagegen
könnte man das verlangen und eben deshalb waren sie des Fluches
wert. Ein persönliches Moment könnte bei diesem Propheten
vielleicht bei der besonders scharfen Gegnerschaft gegen die
Jerusalemiter Priester dann mitspielen, wenn er wirklich von
dem einst zugunsten des Zadok von Salomo nach Anathot ver-
bannten Priester Abjathar abstammen würde. Aber auch das
spielt gegenüber den sachlichen Gründen höchstens eine ver-
schärfende Rolle. Jedenfalls aber war kein Prophet Träger
»demokratischer« Ideale. Das Volk bedarf in ihren Augen der
Leitung und auf die Qualitäten der Leitenden kommt daher alles
an (Jes. i, 26; Jer. 5, 5). Kein Prophet verkündet vollends irgend
ein religiöses »Naturrecht« und noch weniger gar ein Revolutions-
oder Selbsthilferecht der von den Großen gequälten Massen. In
etwas derartigem würden sie zweifellos den Gipfel der Gottlosig-
keit erblickt haben. Sie desavouieren ihre gewaltsameren Vor-
läufer: Jehus Revolution, ein Werk der Elisaschule und der
Rechabiten, verwarf Hosea mit den schärfsten Flüchen und
kündete Jahwes Rache dafür an. Kein Prophet war — mit der
charakteristischen Ausnahme der theologischen Idealkonstruk-
tion eines Zukunftsstaats bei Hesekiel in der Exilszeit -- Ver-
künder sozialpolitischer Programme. Sondern: was sie an posi-
tiven sozialethischen Forderungen mehr voraussetzen als ihrer-
seits aufstellen, entspricht der levitischen Paränese, deien Exi-
stenz und Kenntnis bei allen als selbstverständlich behandelt ist.
Die Propheten sind also nicht ihrerseits Träger demokratischer
sozialer Ideale, sondern die politische Situation: die Existenz
einer starken politisch-sozialen Opposition gegen das Fronkönig-
tum und die gibborim, gab ihrer primär religiös bedingten Ver-
kündigung den Resonanzboden und wirkte auch auf den Inhalt
ihrer Vorstellungswelt ein. Dies aber geschah durch Vermittlung
derjenigen Intellektuellen schichten, welche die Er-
innerung an die alten Traditionen der vorsalomonischen Zeit
pflegten und ihnen sozial nahestanden.
Ständisch einte die Propheten ein wichtiges Prinzip: die
Unentgeltlichkeit ihrer Orakel. Sie schied sie von den
Königspropheten, die von ihnen als Landverderber verflucht
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes, 293
werden und von allem Eiwerbsbetrieb nach Art der alten Seher
oder Traumdeuter, die sie verachten und verwerfen. Die voll-
kommene innere Unabhängigkeit der Propheten war dabei nicht
50 sehr die Folge, als vielmehr eine der wichtigsten Ursachen
jener Praxis. Sie kündeten vorwiegend Unheil und niemand
konnte wissen, ob er bei einer Anfrage nicht wie König Zedekia
eine Unheilsweissagung empfing, und damit ein böses Omen.
Ein solches bezahlt man nicht und einem solchen setzt man sich
auch nicht aus. Vornehmlich ungebeten und von sich aus ge-
trieben, selten auf Anfrage, schleudern daher die Propheten ihre
oft furchtbaren Orakel der Hörerschaft entgegen. Aber als stän-
disches Prinzip entspricht jene Praxis der Unentgeltlichkeit der
gleichartigen Praxis gerade vornehmer Intellektuellenschichten;
religionssoziologisch wichtige Ausnahmen davon waren die spä-
tere Uebernahme dieses Prinzips durch die plebejischen In-
tellektuellenschichten der Rabbinen, und von da: der christlichen
Apostel. — Auch ihre )>Gemeinde«, soweit man den Ausdruck
gebrauchen kann (worüber später), fanden die Propheten keines-
wegs nur oder vorwiegend im Demos. Im Gegenteil: wenn sie
überhaupt einen persönlichen Anhalt hatten, so waren einzelne
vornehme fromme Häuser in Jerusalem die Patrone, zuweilen durch
mehrere Generationen. Bei Jeremia die gleiche Sippe, welche
auch bei der »Auffindung« des Deuteronomium beteiligt war.
Unter den Sekenim, als den Hütern der frommen Traditionen und
vor alle.Ti: des überlieferten Respekts vor der Prophetie, fanden
sie am ehesten Rückhalt. So Jeremia bei seinem Kapitalprozeß,
ebenso Hesekiel, den die Aeltesten im Exil konsultieren. Niemals :
bei den Bauer n. Zwar alle Propheten eifern geger die Schuld-
versklavung, die Pfändung der Kleidung, überhaupt die Verlet-
zung der Karitätsgebote, wfelche den kleinen Leuten zugute
kam.en. In Jeiemias letzter Zukunftshcffnung sind Bauern und
Hirten die Träger der Frömmigkeit. Aber in dieser Art ist das
auch nur bei ihm der Fall. Und auch zu seiner Anhängerschaft
gehörten die Bauern so wenig wie die ländliche Squirearchie.
im Gegenteil war der am haarez je länger je mehr Gegner der
Propheten, speziell auch des von seiner eigenen Sippe bekämpften
Jeremia, weil sie als stienge Jahwisten gegen die ländliche
Orgiastik der Ackerbaukulte tind die damit am stärksten be-
fleckten, also die ländlichen, vor allem: die Baalkultstätten.
eiferten .n ,]»^}y^n die f andh-ovölkerung aus ökonomischen sowohl
2Q4. T>^s antike Judentum.
wie aus idealen Gründen hing. — Nie fanden sie Rückhalt beim
König. Denn sie waren Träger der jahwistischen, gegen das
mit realpolitisch notwendigen Konzessionen an fremde Kulte,
mit Trunk und Völlerei, mit den salomonischen fronstaatlichen
Neuerungen belastete Königtum sich wendenden, Tradition. Bei
keinem Propheten spielt Salomo die geringste Rolle. Stets ist, wenn
überhaupL ein König erwähnt wird, David der fromme Herrscher.
Die Könige des Nordreichs gelten dem Hosea als illegitime, weil
ohne Jahwes Willen zum Thron gelangte Usurpator ui. Amos
nennt die Nasiräer und Nefcijim unter den Institutionen Jahwes,
aber nicht: den König. Zwar die Legitimität der Davididen hat
kein Prophet angefochten. Aber der Respekt auch vor dieser
Dynastie, so wie sie war, war nur ein bedingter. Jesajas Immanuel-
Prophetie war doch wohl die Verkündigung eines gottgesendeten
Ursurpators. Und doch war bei ihm am meisten Davids Zeit-
alter der Höhepunkt der nationalen Geschichte. Vollends die
Rücksichtslosigkeit der Angriffe gegen das Verhalten der einzelnen
zeitgenössischen Könige stieg. Solche rasenden Ausbrüche des Zorns
und der Verachtung wie bei Jeremia gegen Jojakim, der wie ein Esel
verscharrt (22, 19), und gegen die offenbar am Astartekult be-
teiligte Königin-Mutter, der die Röcke über den Kopf gezogen
werden sollen, daß jeder ihre Schande sehen möge (135 18 ff.)
finden sich nicht oft. Aber schon Jesaja ruft sein Wehe über
das Land, dessen König »ein Kind ist und von Weibern geleitet
wird« und dem Herangewachsenen trat er peisönlich schroff
entgegen. Von Elia hat die prophetische Tradition absichtlich
gerade seine Konflikte mit Ahab aufbewahrt. Die Könige ver-
galten diese Abneigung. Nur in unsicheren Zeiten lassen sie sie
gewähren, fühlen sie sich aber sicher, so greifen sie, wie Manasse,
zu blu+iger Verfolgung. Den Zorn der Propheten gegen die
Könige erregte, neben der politisch bedingten Pflege fremder oder
unkorrekter Kulte, vor allem die in ihren Mitteln und Voraus-
setzungen unheilige Weltpolitik als solche. Insbesondere: das
Bündnis mit Aegypten. Obwohl flüchtige Jahwepropheten, wie
Uria, in Aegypten Zuflucht fanden, obwohl ferner die ägyptische
Herrschaft sicherlich die weit sanftere und religiös ganz un-
propagandistische war, warfen sich die Propheten gerade gegen
dieses Bündnis am stärksten in Harnisch. Der Grund Iritt bei
Jesaja (28, 18) hervor: Es ist der »Bund mit Scheol«, d. h. : mit
den chthonischen Göttern des Totenreichs, den sie \erab-
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. 295
scheuen ^) . Man sieht : sie stehen darin v^ollkommen auf dem
Boden der priesterlichen Tradition, und ihre politische Haltung
ist auch in solchen Einzelzügen durchaus religiös und nicht real-
politisch bedingt. Wie gegen den König, so eifern die Propheten
auch gegen die Großen: vor allem die Sarim und Gibborim.
Sie verfluchen neben der Ungerechtigkeit ihres Gerichts vor
allem ihre unfromme Lebensweise und Völlerei. Aber es ist deut-
lich zu erkennen, daß der Gegensatz von solchen Einzellastern
unabhängig war. Der König und die politisch-militärischen
Kreise konnten mit den rein utopisch orientierten Mahnungen
und Ratschlägen der Propheten schlechterdings nichts anfangen.
Wenn schon die hellenischen Staaten des 6. und 5. Jahrhunderts
zwar die Orakel regelmäßig konsultierten, aber — obwohl diese
dort durchweg politisch orientiert waren ■ — gerade in den
Zeiten großer Entscheidungen, wie z. B. über den Perserkrieg,
schließlich nicht befolgten, so war dies den Königen von
Juda überhaupt in aller Regel politisch unmöglich. Und das
Wardegefühl der dem prophetischen Glaub3n hier wie überall
gleich fernstehenden Ritterschaft zumal mußte die Würde-
loäigkeit der Ratschläge Jeremias gegenüber Babylon ohne
weiteres ablehnen. Ihr waren diese auf der Gasse schreienden
Ekstatiker an sich verächtlich. Offensichtlich ist andererseits,
daß die von den Ititelligenzschichten genährte populäre Oppo-
sition gegen die vornehme Kriegerschaft und den Patriziat der
Königszeit als solche bei der Haltung der Propheten mitspielte.
Der Geiz ist das vornehmste aller Laster, d. h. : die Bewucherung
der Armen. Und für die königliche Armee interessieren sich diese
Propheten nicht. Ihr Zukunftsreich ist ein Friedensreich. Dabei
waren sie keineswegs an sich so etwas wie »kleinjüdische« Pazi-
fisten. Die Herrschaft über Edom und über jene Völker, »über
welche Jahwes Name genannt ist«, wurde Juda von Arnos
(9, 12) verheißen. Und die alten populären Weltherrschafts-
hoffnun^en brachen immer wieder durch. Aber zunehmend geht
die Ansicht dahin: ausschließlich durch ein Gotteswunder, wie
einst am Schilfmeer, nicht aber durch eigene Militärmacht werden
die politischen Ansprüche Israels verwirklicht werden. Am aller-
wenigsten aber durch politische Bündnisse. Gegen diese richtet
'^*) Daß an einer andern Stelle unter den Göttern, die Jahwe vernichten
sTird, geradezu Osiris genannt sei, ist eine Konjektur Duhms.
2q6 Das antike Judentum.
sich der Zorn der Propheten immer aufs neue. Der Grund der
Gegnerschaft ist wiederum ein religiöser. Es ist keineswegs nur
die Gefahr fremder Kulte. Sondern daß Israel in der berith mit
Jahwe steht, dem niemand Konkurrenz machen darf, keinen-
falls das Vertrauen auf menschliche Hilfe: das ist gottloser
Unglaube, der Jahwe erzürnt. Wenn Jahwe das Volk, wie Jeiemia
sah, zur Untei werfung unter Nebukadnezar bestim.mt hatte,
so hatte man sich dem zu fügen. Bündnisse zum Schutz gegen die
Großkönige waren Frevel, solange sie Vollstrecker seines Willens
waren. Waren sie es nicht und wollte er also Israel helfen, so
half er allein, lehrte Jesaja, der aus diesem Grund wohl als erster
unermüdlich gegen ausnahmslos jedes im Werk befindliche Bünd-
nis eiferte. Man sieht : alles, sowohl in der außenpolitischen wie
in der innenpolitischen Haltung, war rein religiös motiviert,
nichts" realpolitisch. Religiös bedingt war schließlich auch die
Beziehung zu den Priestern.
Kein Prophet vor Hesekiel nennt die Priester mit positi\er
Bewertung. Amos kennt, wie schon gesagt, nur Nasiräer und
Nebijim als Jahwes Werkzeuge, nennt aber die Priester nicht.
Und schon die bloße Existenz dieser Art von freier Prophetie
ist für die Zeit ihres Emporkommens ein klares Symptom \ on
Schwäche der Priestergewalt. Wäre die Stellung der Priester
schon die gleiche gewesen wie in Aegypten oder auch nur wie
in Babylon oder wie in Jerusalem "nach dem Exil, so wäre die
freie Prophetie zweifellos, als gefährlichste Konkurrentin, von
ihnen erstickt worden. Aber das war infolge des ursprünglichen
Fehlens einer zentralen Kultstätte und eines offiziellen Opfers
in der Bundeszeit und bei dem feststehenden Prestige der alten
Königspropheten und Seher und dann des Elia und der Elisa-
ächule nicht möglich. Mächtige Sippen fromm.er Laien standen
hinter den Propheten und die Priester mußten sie daher gewähren
lassen, so schroff die Gegensätze oft aufeinanderstießen. Keines-
wegs durchgängig war dies freilich der Fall. Jesaja stand mit
Priestern von Jerusalem in enger Verbindung, Hesekiel war
durchaus priesterlich orientiert. Andererseits finden wir aber
die denkbar schärfsten persönlichen Konflikte mit den Kult-
priestern gleich zuerst bei Amos in Bethel und noch zuletzt bei
Jeremia in Jerusalem. Der Prozeß des letzteren (Jer. 26) mutet
fast wie ein Vorspiel zu dem an, was 600 Jahre später am gleichen
Ort geschah, und die Ueberlieferung der Vorgänge hat vielleicht
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. 297
in der Tat irgendwie darauf nachgewirkt. Jeremia wurde auf
den Tod angeklagt, weil er dem Tempel das Schicksal des von
den Philistern dereinst zerstörten Heiligtums in Silo geweissagt
hatte. Er wurde vor das Gericht der Beamten und Aeltesten
geschleppt, und die Priester und Heilspropheten fungierten als
seine Ankläger. Aber der Unterschied der Zeiten zeigte sich im
Resultate: Jeremia wurde auf Veranlassung der Aeltesten trotz
der Anklage der Priestei freigesprochen mit der Begründung,
daß der Präzedenzfall des Micha vorliege, der unter Hiskia
ähnliches geweissagt habe^). Der Vorgang ergibt immerhin,
daß Weissagungen gegen den Tempel selbst selten waren. Und
vor allem enthielten auch derartige Orakel ja letztlich keine
Anzweiflung seiner Legitimität. Zwar tröstete Jeremia sich und
andere später über den Verlust der heiligen Lade unter Nebukad-
nezar leicht. Aber immerhin behandelt jene Weissagung den
Tempelsturz doch als an sich ein Unheil, welches nur bedingt
als Sündenstrafe für den Fall fehlender Bekehrung, in Aussicht
gestellt wurde (26, 13). In der Tat hat kein Prophet den Tempel
geradezu bekämpft. Arnos, der das Opfer in Bethel und Gilgal
geradezu ein »Freveln« nennt (4, 4; 5, 5), meint damit vermut-
lich zunächst nur die bei allen Vertretern der Hirtenfrömmigkeit
tief verhaßten Kultformen der Ackerbauer. Das Volk soll da
nicht hingehen, sondern »Jahwe suchen« (das.), und als Sitz
Jahwes kennt Amos den Zion, wie Hosea Juda als einzig un-
befleckte Stätte Jahwes. Jesajas Zuversicht auf die Uneinnehm-
barkeit Jerusalems in seinen Spätorakeln war zweifellos auf den
Tempel gegründet. In einer Tempelvision hatte er ja in seiner
Jugend den himmlischen Hofstaat gesehen. Für Micha blieb
trotz seines Unheilsorakels der Zion in Zukunft die Stätte der
reinen Thora und Prophetie Jahwes. Nur gegen die Unreinheit
auch des dortigen Kults: vor allem die Befleckung durch Hiero-
dulen, eiferten die Propheten. Noch bei Hosea erschöpft sich
fast die ganze Kraft des Propheten im Kampf gegen die Baal--
kulte, der dann die vorexilische Prophetie durchzieht. Aber
allerdings eifern sie nirgends für den korrekten Priesterkult.
Jeremia hat das Deuteronomium, also die Zentralisierung des
Kults im Tempel von Jerusalem, offenbar anfänglich begiüßt
(11, 3), um freilich später (8,8) es als Produkt des »Lügengriffels
*) In der jetzigen Fassung bei Micha (j, 55) stimmt das nicht ganz.
2q8 Das antike Judentum.
der Schreiber« zu bezeichnen, weil seine Urheber an dem falschen
Gottesdienst festhalten (8, 5) und das Propheten wort ver-
werfen (8, 9). Was damit gemeint ist, ergibt eine andeie Stelle
(7, 4. II ff.) klar: der Tempel an sich ist nutzlos und wird das
Schicksal Silos erleiden, wenn nicht das Entscheidende: die
Wandlang in der Lebensführung, erfolgt. Neben einzelnem
sozialethischem Unrecht wird hier vor allem das Vertrauen auf
»unnötige Lügenworte<< (der Zionspriester) hervorgehoben (7, 8).
Dies letzte war eben das allein Entscheidende: der Ungehorsam
gerade der Priester gegen jene göttlichen Gebote, welche der
Prophet als unmittelbar von Jahwe eingegeben verkündet. Und
außerdem: ihre persönliche Sündhaftigkeit. In typischer Art
erkennt so der persönliche Charismatiker das Amts-Charisma
nicht als Qualifikation zum Lehren an, wenn der lehrende Priester
persönlich unwürdig ist. Für die, am Kult nicht beteiligten, Pro-
pheten war natargemäß die Lehre des göl tlichen Wortes (dabar),
wie sie es vernahmen, das religiös allein Wichtige und also auch
an der Tätigkeit der Priester die Lehre (thora), nicht der Kult
(Jer. 8,6; 18, 18), auch in Jerusalem (Micha 4, 2). Ebenso war
ihnen naturgemäß beim Volk nur der Gehorsam gegen die debarim
und die thora wichtig und nicht das Opfer. Und ebenso nicht
jene rituellen Gebote, welche später im Exil zu so aus-
schlaggebender Bedeutung gelangten: Sabbat und Beschneidung.
Des Sabbat des ungehorsamen Volks ist Jahwe schon bei Amos
— einem Hirten! — satt i), und der äußeren Beschneidung
setzt Jeremia (9, 24 f.) die »Beschneidung der Vorhaut des
Herzens« als allein wesentlich entgegen. Nicht eine Ablehnung,
wohl aber eine starke Entwertung aller Riten ist daraus heraus-
zuhören. Die Propheten haben auch hier die aus der Thora
erwachsenen Konzeptionen der Intellektuellen akzeptiert : Jahwe
war, wenigstens dem Postulat nach, ein Gott gerechter ethischer
Vergeltung und das (diesseitige) Glück des Einzelnen —
von dem Jesaja 3, 10 die Rede ist — galt ihnen ebenso ^Is un-
mittelbare »Frucht der Werke«, wie das des Volks: diese massive
ethische Werkgerechtigkeit stand, bei den älteren Propheten
wenigstens, dem ebenso massiven Ritualismus der Priester gegen-
über. Der Gegensatz gegen die priesterliche Bewertung des
1) Daß Jer. 17, 19 f. nicht von Jeremia stammt, ist mit Recht all-
gemein angenommen worden.
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. 200
Opfers insbesondere steigerte sich, namentlich bei Arnos und
Jere.nia, bis zu völliger Entwertung. Opfern ist von Jahwe nicht
befohlen und daher nutzlos (Jer. 6, 20; 7, 21). In der Wüste
habe man nicht geopfert, argumentiert schon Amos (5, 5). Wenn
das Volk ungehorsam ist, seine Hände voll Blut sind, dann sind
Jahwe alle seine Opfer und Fasten ein Greuel, lehrte auch Jesaja
(i, II f.). Daß in solchen Worten keine bedingungslose Ver-
werfung von Kult und Opfer Hege, ist bei Jesajas Beziehung
zur Priesterschaft und seiner Schätzung der Tempelburg als
sicher anzunehmen und gilt daher wohl auch für die anderen
Propheten. Immerhin ist die Haltung zum Opfer in den Orakeln
kalt bis zur Feindseligkeit. Es klingt eben in alledem in der
Prophetie das »nomadische Ideal«, infolge der Verklärung dieser
königlosen Vergangenheit di.rch die Literatentradition, stark an.
Zwar ist selbst der Hirte Amos, da er Juda Weiijreichtum ver-
heißt (9, 13), ebensowenig ein Rechabit gewesen wie Jeremia,
der einzige Prophet, der mit dem Orden in persönliche Beziehung
trat und dessen Frömmigkeit Israel als exemplarisch vorhielt,
selbst aber noch im xA.lter einen Acker kaufte. Aber verglichen
mit der üppigen und deshalb hochmütigen und Jahwe ungehor-
samen Gegenwart blieb doch die Wüstenzeit auch den Propheten
die eigentlich fromme Epoche. Zur Steppe wird Israel in der
Endzeit, durch die Verwüstung, wieder werden, und der Heils -
könig sowohl wie die Uebriggebliebenen essen die Steppen-
nahrung: Honig und Rahm.
Man hat die Haltung der Propheten, alles in allem, oft als
7 Kulturfeindschaft« bezeichnet. Das darf nicht als persönliche
'>Kulturlo3igkeit« verstanden werden. Sie sind vielmehr nur auf
dem großen Resonanzboden der weltpolitischen Bühne ihrer
Zeit und ebenso nur im Zusammenhang mit einem weitverbreiteten
Kulturraffinement und einer starken Bildungsschicht denkbar,
wenn auch andererseits, aus den erörterten politischen Gründen,
nur im Rahmen eines Kleinstaates, ähnlich wie etwa Zwingli
nur in einem Kanton. Sie alle waren schriftkundig und offenbar
im ganzen zutreffend orientiert über die Eigenart der ägyptischen
und mesopotamischen Kultur, insbesondere auch die Gestirn-
kunde, wie denn die Art des Gebrauches der heiligen Zahlen,
z. B. der 70 bei Jeremia, auf eine mehr als nur ungefähre Be-
kanntschaft Wohl schließen läßt. Jedenfalls aber ist kein Zug
überliefert, der auf irgendwelche Ansätze von Weltflucht oder
^OO ^^^ antike Judentum.
KulturablehiiLing im indischen Sinne schließen ließe. Die Pro-
pheten kennen außer der Thora auch die chokma oder 'ezah
(Jer. 18, 18) der Lebensklugheitslehrer (chakamim). Aber frei-
lich dürfte andererseits ihre Bildungsstufe mehr den Orphikern
und Volkspropheten in Hellas als den vornehmen Weisen von
der Art des Thaies entsprochen haben. Nicht nur allen ästhe-
tischen und allen Werten vornehmer Lebensführung überhaupt,
sondern auch aller weltlichen Weisheit stehen sie mit ganz frem-
den Augen gegenüber. Auch diese Haltung wurde zwar gestützt
durch die traditionelle antichrematistische, dem Hof, den Be-
amten, den gibborim und den Priestern abgeneigte Haltung
der puritanisch Frommen ihrer Umwelt. Innerlich bedingt aber
war sie rein religiös durch die Art, wie sie ihre Erlebnisse verar-
beiteten. Diesen müssen wir uns jetzt zuwenden.
Psychologisch angesehen waren von den Propheten der
vorexilischen Zeit die große Mehrzahl — nach den Selbstzeug-
nissen jedenfalls: Hosea, Jesaja, Jeremia, Hesekiel — zweifellos,
und man kann ohne allzugroße Unvorsichtigkeit sagen: nach
sicherer Vermutung alle, wenn auch in sehr verschiedenem Grade
und Sinn, Ekstatiker. Schon ihre persönliche Lebensführung,
soweit wir davon etwas hören, war die von Sonderlingen. Jereniia
bleibt auf Jahwes Befehl, weil das Unheil bevorsteht, ledig.
Hosea scheint auf Jahwes Befehl tatsächlich, vielleicht wieder-
holt, eine Dirne geheiratet zu haben. Jesaja verkehrt auf Jahwes
Befehl (8, 3) mit einer Prophetin, deren Kind er dann den vorher
ihm vorgeschriebenen Namen gibt. Seltsame symbolische Namen
der Prophetenkinder spielen überhaupt eine große Rolle. Patho-
logische Zuständlichkeiten und pathologische Handlungen ver-
schiedenster Art begleiten ihre Ekstase oder gehen ihr voran.
Es ist nicht zweifelhaft, daß gerade diese Zuständlichkeiten
ursprünglich als wichtigste Beglaubigung des prophetischen
Charisma galten und daß sie sich also auch, wenn schon in milderer
Form, dann fanden, wenn uns von solchen nichts überliefert ist.
Indessen berichtet ein Teil der Propheten ausdrücklich von
ihnen. Jahwes Hand »lastet schwer« auf ihnen. Der Geist
'>packt;> sie. Hesekiel (6, 11; 21, 19) klatscht in die Hände,
schlägt sich die Seilen und stampft den Boden. Jeremia (23, 9)
wird wie ein Trunkener und schlottert an allen Gliedern. Das
Gesicht der Propheten verzerrt sich, wenn der Geist über sie
kommt, der Atem versagt, sie stürzen zuweilen betäubt, zeit-
II, Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. ßoi
weilig des Sehens und der Sprache beraubt, zu Boden, winden
sich in Krämpfen (Jes. 21). Sieben Tage lang dauerte bei Hesekiel
13? 15) <^i^^ Lähmung nach einem seiner Gesichte. Die Propheten
vollziehen seltsame, als ominös bedeutsam gedachte, Handlungen.
Hesekiel baut sich wie ein Kind aus Ziegelsteinen und einer
eisernen Pfanne ein Belagerungsspiel. Jeremia zerschmettert
öffentlich einen Krug, vergräbt einen Gürtel und gräbt ihn ver-
fault wieder aus, läuft mit einem Joch auf dem Nacken umher,
andere Propheten mit eisernen Hörnern oder, wie Jesaja während
län;erer Zeit, nackt. Wieder andere, so noch Sacharja, bringen
sich Wunden bei, noch anderen wird eingegeben, ekelhafte
Nahrung zu sich zu nehmen, wie dem Hesekiel. Ihre Verkündi-
gungen schreien sie (karah) bald laut in die Welt: teils in un-
verständlichen Worten, teils in Verwünschungen, Drohungen,
Segnungen: manchem läuft dabei der Geifer aus dem Munde
(hittif, »geifern <' = prophezeien), bald murmeln sie oder stam-
meln. Visuelle und auditive Halluzinationen, aber auch abnorme
Geschmacks- und Gemeingefühlsensatioiien verschiedenster Art
berichten sie von sich (Hes. 3, 2). Sie fühlen sich schwebend
(Hes. 8, 3 und öfter) und durch die Luft getragen, haben Hell-
gesichte von örtlich fernen Ereignissen, wie an eblich Hesekiel
in Babylon zur Stunde des Sturzes Jerusalems, oder von zeitlich
entfernten kommenden Dingen, wie Jeremia (38, 22) von Zede-
kias Schicksal. Sie schmecken fremdartige Speisen. Vor allem:
sie hören Töne (Hes. 3, 12 f.; Jes. 4, 19), Stimmen (Jes. 40, 3 f.)
um sich, einzelne sowohl wie Dialoge, besonders oft aber: an
sie selbst gerichtete Worte und Befehle. Sie sehen halluzina-
torisch blendenden Lichtglanz und in ihm Gestalten übermensch-
licher Art: die Herrlichkeit des Himmels (so Jes. 6, auch Amos
),. i). Oder sie sehen real beliebige gleichgültige Gegenstände:
einen Fruchtkorb, ein Bleilot, und plötzlich wird ihnen, meist
durch eine Stimme, deutlich, daß diese gewaltige Schicksalsschlüsse
Jahwes bedeuten (so namentlich Amos). Oder sie machen, wie
namentlich Hesekiel, authypnotische Zustände durch. Zwangs-
handlungen und vor allem Zwangsreden treten auf. Jeremia
fühlt sich gespalten in ein doppeltes Ich. Er fleht seinen Gott
an, ihm zu erlassen, daß er spreche. Er will nicht, er muß reden,
was er als ihm eingegeben und nicht aus sich selbst kommend
fühlt, ja was er reden zu müssen als furchtbares Geschick
empfindet (Jer. 17, 16). Spricht er nicht, so erleidet er furchtbare
^Q2 Das antike Judentum.
Qualen, Gluthitze erfaßt ihn, und er kann den schweren Druck
nicht ohne Entlastung ertragen. Wer diesen Zustand nicht kennt
und nicht aus solchem Zwang, sondern »aus eigenem Herzen«
redet, der ist ihm überhaupt kein Prophet. Eine solche ekstatische
Orakelprophetie ist für x\egypten und Mesopotamien und auch
für das vorislamische Arabien bisher nicht nachweisbar, sondern
in der Nachbarschaft Israels nur (als Königsprophetie wie in
Israel) in Phönizien und, unter strenger priesterlicher Kon-
trolle und Deutung, an den Orakelstätten der Hellenen. Nir-
gends aber ist eine freie Demagogie von weissagenden Ek-
statikern von der Art der israelitischen Propheten überliefert.
Zweifellos nicht deshalb, weil die betreffenden Zuständlichkeiten
nicht existiert hätten. Sondern deshalb nicht, weil in den büro-
kratischen Königreichen wie bei den Römern die Reli^ions-
polizei eingegriffen hätte, bei den Hellenen aber diese Zuständ-
lichkeiten in historischer Zeit nicht mehr als heilig, sondern
als Krankheiten und würdelos galten und nur die traditionellen
priesterlich reglementierten Orakel allgemein anerkannt waren.
In Aegypten taucht die ekstatische Prophetie erst in der Ptole-
mäerzeit, in Arabien in Muhammeds Zeit auf.
Die untereinander teilweise charakteristisch verschiedenen
Zuständlichkeiten der Propheten physiologisch, psychologisch
und eventuell pathologisch zu klassifizieren und zu deuten, soweit
dies möglich sein sollte — die bisherigen, namentlich an Hesekiel
gemachten. Versuche überzeugen nicht — , wäre hier nicht der
Ort. Es böte auch, wenigstens für uns, kein entscheidendes
Interesse. Wie in der ganzen Antike, so galten auch in Israel
psychopathische Zustände als heilig. Berührung mit Irrsinnigen
wirkte noch in rabbinischer Zeit Tabu. Der königliche Aufseher
über die Propheten wird (Jer. 29, 24 f.) >^ Aufs eh er über W^abn-
sinnige und Propheten« genannt, und ebenso läßt die Tradition
schon den Offizier Jehus beim Anblick des Prophetenschülers,
der diesem die Königssalbung anbieten sollte, fragen: was dieser
Irrsinnige wolle? Indessen nicht dies geht uns hier an, sondern
etwas ganz anderes. Zunächst der emotionale Charakter
der prophetischen Ekstase als solcher, der sie von allen indischen
Formen der apathischen Ekstase scheidet. Wir sahen schon früher
(Abschnitt I), daß der vorwiegend auditive Charakter der klassi-
schen Prophetie, im Gegensatz zu der wesentlich visuellen apa-
thischen Ekstase der alten »Seher«, zunächst rein historisch
II, Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. ^03
bedingt war in dem Gegensatz der südlichen, jahwistischen Vor-
stellung von der Art, wie Jahwe sich offenbart, gegenüber dem
Norden. Die leibhaftige »Stimme« des Gottes trat an die Stelle
der alten leibhaftigen Epiphanie, welche der Norden mit seiner
andersartigen Gottesvorstellung theoretisch verwarf und welche
der psychischen Qualität der nordischen, aus der Orgiastik zur
apathischen Ekstase sublimierten Frömmigkeit nicht entsprach.
Jene zunehmend ausschließliche Anerkennung des auditiven
Charakters der Eingebung als des allein die Echtheit gewähr-
leistenden Merkmals hing mit der Zunahme der aktuellen poli-
tischen Erregtheit der Hörer zusammen, welcher der em.otionale
Charakter der Prophetie entsprach. Eine fernere wichtige Eigen-
tümlichkeit liegt in der Tatsache: daß die Propheten selbst diese
ihre außeralltäglichen Zuständlichkeiten, Gesichte, Zwangs-
reden und Zwangshandlungen sinnhaft deuten. Und zwar
trotz ihrer offenbar großen psychologischen Verschiedenheit
immer in einer und derselben Richtung. Schon das Deuten an
sich ist, so nahe es uns heute zu liegen scheint, ganz und gar nicht
selbstverständlich; denn es setzt zunächst voraus, daß die ek-
statische Zuständlichkeit nicht schon an sich als persönlicher
Heilsbesitz und nur als solcher gewertet wird, sondern daß ihr
ein ganz anderer Sinn zugeschrieben wird: der Sinn einer »Sen-
dung«. Und dies manifestiert sich noch stärker in der Einheit
der Deutung. Machen wir uns das etwas näher im einzelnen
klar.
Nur zum Teil sprechen die Propheten unmittelbar in der
Ekstase (Jes. 21, 17; Jer. 4, 19 f.). Meist aber über ihre
Erlebnissein der Ekstase: »Jahwe sprach zu mir« ist der
übliche Orakelanfang. Da gibt es mancherlei Abstufungen:
Einerseits Hesekiel, der, obwohl ein echter und zwar anscheinend
ein schwer pathologischer Ekstatiker, aus manchen seiner Visionen
ganze Abhandlungen herauspreßt. Andererseits zahlreiche kurze
Verse der vorexilischen Propheten, die unmittelbar im höchsten
Affekt und anscheinend in der Ekstase selbst den Adressaten ins
Gesicht geschleudert werden. Die höchste ekstatische Aktualität
erreichen im allgemeinen solche Ausrufe, zu welchen der Prophet
ungefragt i), rein unter dem Druck der Eingebung Jahwes, in
*) Bei Hesekiel (8, i) tritt allerdings die Ekstase einmal in Anwesenheit
der ihn konsultierenden Aeltesten auf.
OQ^ Das antike Judentum,
besonders gefahrvoller Lage des Landes oder unter einem be-
sonders erschütternden Eindruck von Sünde hingerissen wird.
Ihnen stehen als Gegensatz jene bei den klassischen Propheten
verhältnismäßig seltenen Fälle gegenüber, in welchen er vorher
gefragt worden ist. Nur selten scheint er dann die» Antwort
alsbald gegeben zu haben. Sondern wie Muhammed grübelte
er über den Fall im Gebet, Jeremia einmal zehn Tage, bis der
ekstatische Anfall eintrat (Jer. 42). Aber auch dann wird das
Gesehene oder Gehörte offenbar in der Regel nicht alsbald hinaus-
geschleudert unter die harrenden Hörer. Denn es ist oft dunkel
und vieldeutig. Der Prophet grübelt dann im G^bet über den
Sinn. Erst wenn er die Deutung hat, dann spricht er. Er redet
teils in der Form der Gottesrede: Jahwe spricht unmittelbar
in der e:sten Person, teils in der Form eines Berichtes über seine
Worte. Die Menschenrede überwiegt bei Jesaja und Micha,
die Gottesrede bei Amos, Hosea, Jeremia, Hesekiel. Endlich
das Deuten von Begebenheiten, auch des eigenen Alltagslebens,
als bedeutsamer Zeichen Jahwes liegt allen Propheten überhaupt
nahe (vgl. besonders Jer. Kap. 32). — Wenn nun aber irgend
etwas, dann sehen wir dies den typischen Aussprüchen der
vorexilischen Propheten ganz allgemein an : daß sie in ungeheurer
Emotion gesprochen oder, wie es einmal von Jesaja (5, i)
heißt, gesungen worden sind. Gewiß finden sich einzelne Verse,
die vielleicht geflissentlich undeutlich gehalten sind, wie das
bekannte Kroisosorakel des delphischen Apollon, und ebenso ein-
zelne verstandesmäßige Ausarbeitungen, wie bei Hesekiel. Aber
die Regel ist das nicht. Man glaubt ferner wohl mit Recht die
bewußte Innehaltung bestimmter Stilregeln der prophetischen
Dichtung zu erkennen. (Von den in Betracht kommenden sei
etwa erwähnt: das regelmäßige Nichtnennen des Namens des
Gemeinten, außer wo ihm geflucht werden soll.) Indessen ändert
das an dem aktuell-emotionalen Charakter der Prophetie nichts.
Allerdings setzte die Gotteskonzeption dem Inhalt des Erlebens
Schranken. Die Leibhaftigkeit der Stimme Jahwes bei den
Propheten ist der Ausdruck davon, daß einerseits der Prophet
sich unbedingt »des Gottes voll« fühlte, andererseits die Art der
traditionellen Majestät Jahwes ein wirkliches »Eingehen« des
Gottes in die Kreatur ausschloß und daß daher der damit nächst-
verwandte Ausdruck gewählt wurde ^). Jedenfalls aber reichen
*) Mit Recht macht übrigens Seilin a. a. O. S. 227 darauf aufmerksam,
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. ^0$
alle uns bekannten hellenischen Orakelsprüche, die stets auf
Bestellung geliefert wurden, in ihrer temperierten Formvoll-
endung nicht von fern an die Macht der Emotion in den spon-
tanen prophetischen Versen des Amos, Nahum, Jesaja, Zephanja,
Jeremia heran. Selbst in der teilweise verstümmelten Ueberliefe-
rung wird die an sich große Macht der Rhythmik noch überboten
durch die Glut der geschauten Bilder, die immer konkret, anschau-
lich, gedrungen, schlagend, erschöpfend, oft von ganz unerhörter
Herrlichkeit und Furchtbarkeit, zu dem Grandiosesten gehören,
was in dieser Hinsicht die Weltdichtung hervorgebracht hat und
nur da unplastisch werden, wo die persönlichen Großtaten des un-
sichtbaren Gottes für Israel in phantastischen aber unbestimmten
Zukunftsbildern aus der vagen Vision herausgestaltet werden
mußten. Woher stammt nun diese Emotion, wenn doch in minde-
stens vielen Fällen die eigentlich ekstatische pathologische Er-
regung schon zurücklag und abgeklungen war ? Nun, sie stammt
eben nicht aus dem Pathos dieser psychopathischen Zuständ-
lichkeiten als solcher, sondern aus der stürmischen Gewißheit
der gelungenen Erfassung des Sinnes dessen, was der Prophet
erlebt hatte: daher, deutlicher ausgedrückt, daß der Prophet
eben nicht wie ein gewöhnlicher pathologischer Ekstatiker, ein
Gesicht gehabt, Träume geträumt oder rätselhafte Stimmen
gehört hatte, sondern, daß er darüber klar geworden war, ja es
durch leibliche göttliche Stimme gehört zu haben versichert
war: was Jahwe mit diesem Wachträumen oder Gesicht oder
dieser ekstatischen Erregung gemeint und ihm in verständlichen
Worten zu sagen befohlen hatte. Das ungeheure Pathos, in dem
er spricht, ist in manchen Fällen eine sozusagen postekstatische
Erregung von wiederum halbekstatischem Charakter, hervor-
gerufen durch die Gewißheit, wirklich selbst — wie die Propheten
es ausdrücken — »in Jahwes Ratsversammlung gestanden« zu
haben, sein Mundstück zu sein, zu sprechen was er zu ihnen ge-
sprochen hatte oder was er sozusagen durch sie hindurchsprach.
Der typische Prophet befindet sich anscheinend in einem steten
Zustand der Spannung und des dumpfen Brütens, in welchem
il)m selbst die imscheinbarsten Dinge des Alltags zu beängstigen-
daß die Art, .n welcher das göttliche Wort an den Propheten gelangt, in aller
Regel gar nich näher angegeben wird. Das Entscheidende war eben: die lür
die Propheten evidente und also gelungene Deutung seiner Absichten.
Max Weber, RcHgionssoziologie TIT. 20
TQÖ ^^^ antike Judentum,
den Rätseln zu werden vermochten, weil sie irgend etwas be-
deuten konnten. Eine ekstatische Vision war gar nicht nötig,
ihn in diese Spannung zu versetzen. Wenn sie sich löste
— und sie löste sich durch das Aufblitzen der Deutung, die
sich als ein Hören der göttlichen Stimme einstellte — , dann
brach das Prophetenwort hervor. Pythia und deutender priester-
licher Dichter waren hier nicht getrennt : der israelitische Prophet
war beides in einer Person, das erklärt den ungeheuren Schwung.
Dazu treten nun noch zwei weitere wichtige Umstände.
Einmal: daß diese Zuständlichkeiten der Propheten weder
— wie z. B. auch die Ekstase der Pythia — an die x\nwendung
der überlieferten Rauschmittel der Nebijim, noch überhaupt
an irgend eine äußere Masseneinwirkung, eine ekstatische Gemein-
schaft also, geknüpft waren. Nichts von alledem findet sich bei
den klassischen Propheten unserer Schriftensammlang. Sie such-
ten die Ekstase nicht. Sie kam ihnen. Von keinem von ihnen hören
wir ferner, daß er durch Handauflegung oder irgendwelche
Zeremonien in eine Prophetengilde aufgenommen worden sei
oder überhaupt einer Gemeinschaft, gleichviel welcher Art, an-
gehört habe. Stets geht vielmehr die Berufung direkt von Jahwe
an ihn, und die Klassiker unter ihnen erzählen uns ihre Berufungs-
vision oder -audition. Keiner von ihnen benutzt irgendwelche
Rauschmittel, die sie vielmehr bei jeder Gelegenheit als Götzen-
dienst verfluchen. Auch vom Fasten — welches die Tradition
einmal von Mose berichtet (Ex. 34, 28) — hören wir bei vor-
exilischen Propheten als von einem Mittel zur Ekstase nichts.
Die emotionelle Ekstase tritt daher — und das vor allem sei
hier festgestellt — bei ihnen auch nicht so auf, wie später inner-
halb der altchristlichen Gemeinde (und deren möglichen \^or-
gängern). Im apostolischen Zeitalter kam der Geist nicht
oder doch in aller Regel und in den von der Gemeinde als typisch
bewerteten Formen nicht über den einsamen Einzelnen, sondern
über die gläubige Versammlung oder in ihr auf einen oder
einige ihrer Teilnehmer. Auf die »Gemeinde« wird »der Geist
ausgegossen«, wenn das Evangelium verkündet wird. In ihrer
Mitte, nicht in einsamer Kammer, entwickelt sich das Zungen-
reden und die anderen »Gaben des Geistes«, auch die damalige
Prophetie. Sie alle waren, in aller Regel wenigs+ens, offenbar
Folgen der Massenwirkung oder richtiger des Massenzusammen-
seins, zeigten sich an dies Zusammensein als, mindestens normale,
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. ^o7
Vorbedingung gebunden^). Die ganze kulturhistorisch so un-
endlich wichtige religiöse Schätzung der Gemeinde als
solcher, als der Trägerin des Geistes, im Urchristentum hatte
ja diesen Grund: daß eben sie, das Zusammensein der Brüder,
vorzugsweise, diese heiligen Zuständlichkeiten produzierte. Gänz-
lich anders die alten Propheten. Gerade in der Einsamkeit
kommt der prophetische Geist über sie. Und nicht selten treibt
er sie zunächst in die Einsamkeit, auf das Feld oder in die Wüste,
wie das noch Johannes und Jesus geschah. Wenn aber die
Sendung den Propheten auf die Gasse, unter die Menge jagt,
dann ist dies wiederum erst Folge der Deutung, die er seinem
Erlebnis gibt. Nicht aber, wohl gemerkt, ist dies Auftreten in
der Oeffentlichkeit dadurch motiviert, daß der Prophet nur
oder doch gerade dort, unter der Einwirkung der Massensug-
gestion, des heiligen Erlebnisses fähig wäre. Die Propheten
wissen sich nicht, wie die alten Christen, als Glieder einer pneu-
matischen Gemeinschaft, die sie trägt. Im Gegenteil. Un-
verstanden und gehaßt von der Masse der Hörer wissen sie sich,
niemals von ihnen getragen und gehegt als von gleichgestimmten
Genossen, wie die Apostel in der alten christlichen Gemeinde.
Nicht ein einziges Mal sprechen daher die Propheten von ihren
Hörern oder Adressaten als von ihren »Brüdern«, was die christ-
lichen Apostel immer tun. Sondern das ganze Pathos innerer
Einsamkeit liegt über ihrer gerade in der vorexilischen Prophetie
überwiegend harten und bitteren — oder wenn, wie bei Hosea,
weichen, dann wehmütigen — Stimmung. Nicht Schwärme von
Ekstatikern, sondern ein oder einige (Jes. 8, i6) treue Schüler
teilen ihren einsamen Rausch und ihre ebenso einsame Qual.
Regelmäßig sind sie es offenbar gewesen, die ihre Gesichte auf-
zeichneten, oder sie ließen sich vom Propheten deren Deutung
in die Feder diktieren, wie Baruch, der Sohn des Neria, für Jeremia
es tat. Gegebenenfalls sammeln sie sie zum Zweck der Ueber-
reichung an die, welche sie angehen. Wenn aber der vorexilische
Prophet unter die Menge tritt und zu reden anhebt, so hat er in
aller Regel das Gefühl, vor Menschen zu stehen, welche von
Dämonen zum Bösen: zur Baalorgiastik oder zur Idolatrie oder
*) Das »Zungenreden« durchweg, aber auch die (damals Gegenwarts-)
»Prophetie«. Aehnl ich wieder bei den Täufern und Quäkern des i6. und 17. Jahr-
hunderts, heute am ausgeprägtesten in amerikanischen Negerkirchen (auch der
Negerbourgeoisie, z. B. in Washington, wo ich es erlebte).
20*
TQg Das antike Judentum,
zur sozialen oder ethischen Sünde oder zur schlimmsten politi-
schen Torheit : zum Widerstände gegen Jahwes Ratschlüsse, ver-
lockt sind, jedenfalls aber: vor Todfeinden oder vor solchen, denen
sein Gott furchtbares Unheil zugedacht hat. Die eigene Sippe
haßt ihn (Jer. ii, 19, 21; 12, 6) und gegen sein Heimatdorf
schleudert Jeremia den Fluch (11, 22. 23). Aus einsamem Ringen
mit seinen Gesichten kommt der Unheilspiophet, und in die
Einsamkeit seines Hauses kehrt er, mit Grausen und Furcht
betrachtet, immer ungeliebt, oft verhöhnt, verspottet, bedroht,
bespien, ins Gesicht geschlagen, wieder zurück. Die heiligen
Zuständlichkeiten dieser Propheten sind, in diesem Sinn, durch-
aus endogen ^) und wurden auch so, und nicht als Produkte
einer emotionalen aktuellen Massenwirkung, von ihnen und den
Hörern empfunden: nicht irgendeine Wirkung von außen her,
sondern die eigene gottgesendete Zuständlichkeit' versetzt die
Propheten in den ekstatischen Habitus. Und die überkommene
hohe Schätzung der Ekstase als an sich heilig tritt gerade im-
prophetischen Zeitalter sichtbar immer weiter zurück. Pro-
phetie und Gegenprophetie standen ja gegeneinander auf der
Gasse, beide durch Ekstase in gleicher Art legitimiert, einander
gegenseitig verfluchend. Wo war da, mußte jedermann fragen,
Jahwes Wahrheit? Das Ergebnis war: die Echtheit der Pro-
pheten erkennt man nicht an der Ekstase als solcher. Diese
sank damit, der Sache nach, wenigstens in der Verkündigung,
an Bedeutung. Es ist nur ausnahmsweise und nur als Mittel
zum Zweck davon die Rede: was der Prophet in ihr an eigenen
Gefühlslagen erlebt. Denn darauf kam — im Gegensatz zu In-
dien — gar nichts an. Es verbürgt die Echtheit nicht. Nur das
Hören der leibhaftigen Stimme Jahwes, des unsicht-
baren Gottes, gab dem Propheten selbst die Gewähr, daß er
sein Werkzeug sei. Deshalb wird darauf der ungeheure Nach-
druck gelegt. Darauf, nicht auf die Art seiner heiligen Zuständ-
lichkeiten, beruft er sich. Die Propheten scharten daher keine
Gemeinde um sich, innerhalb deren Massen-Ekstasen oder massen-
bedingte Ekstasen oder überhaupt ekstatische Erweckungen als
Heils weg gepflegt worden wären. Davon ist für die klassische
1) Es muß natürlich stets der Vorbehalt gemacht werden, daß alle Gegen-
sätze durch Uebergäng3 verbunden sind und auch bei den Christen Aehnliches
sich findet. Vor allem sind auch dort die Einzelnen der psychische »Ansteckungs-
herd«.
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkeb. loo
Jahweprophetie nicht das geringste bekannt. Die Art ihrer
Verkündigung widerspricht dem. x\n keiner Stelle wird der
Erwerb oder Besitz eines ekstatischen Zustandes oder der Fähig-
keit, Jahwes Stimme zu vernehmen, wie der Prophet selbst sie
hatte, auch für die Adressaten seiner Verkündigung als Bedingung
Iiingestelit, wie in den altchristlichen Quellen der Besitz des
Pneuma. Das prophetische Charisma ist vielmehr das schwere,
oft als qualvoll empfundene Amt des Propheten und niemands
sonst. Niemals ist es ihr Ziel, wie das der frühchristlichen Pro-
phetie, den Geist über die Hörer kommen zu lassen. Im Gegen-
teil: das prophetische Charisma ist ihr Privileg. Und zwar ist
es ein freies göttliches Gnadengeschenk ohne alle persönliche
Qualifikation. In den Berichten über die Art ihrer Berufungs-
ekstase wird diese erste Ekstase, die den Propheten zum Pro-
pheten macht, niemals als Frucht von Askese oder Kontemplation
oder etwa von sittlichen Leistungen, Bußübungen oder anderen
Verdiensten hingestellt. Ausnahmslos ist sie, dem endogenen
Charakter des Zustandes entsprechend, gerade umgekehrt ein
plötzliches unmotiviertes Geschehen. Jahwe ruft den Arnos
von der Herde fort. Oder ein Engel Jahwes berührt mit
glühender Kohle oder Jahwe selbst mit dem Finger den
Mund des Jesaja und Jeremia und weiht sie dadurch. Teils
sträuben sie sich, wie Jeremia, angstvoll gegen die mit diesem
Charisma auf sie gelegte Pflicht, teils bieten sie sich, wie Jesaja,
freudig dem Gott, der nach einem Propheten sucht, an. Und
im Gegensatz zu indischen, ebenso zu den hellenischen Propheten
von der Art des Pythagoras und der Orphiker, aber auch noch
den rechabitischen Puritanern, denkt auch kein israelitischer
Prophet daran, einen die AUtagssittUchkeit rituell oder asketisch
überbietenden Heilsweg zu ergreifen. Nichts von alledem. Hier
zeigte sich die ungeheure Tragweite einmal der berith-Konzeption,
durch welche eindeutig feststand, was Jahwe von seinem Volke
verlangte, in Verbindung mit der levitischen Thora, welche
diese seine Forderungen allgemeingültig festgestellt hatte. Der
Umstand, daß die Thora nicht aus dem persönlichen Heilsstreben
einer vornehmen literarischen Schicht von Denkern, sondern
iius der Sündenbeicht- und Sühne-Praxis praktischer Seel-
sorger hervorgegangen war, trug hier seine Früchte: ohne
Berücksichtigung dieses Umstandes bleibt die ganze Entwick-
lung völlig unverständlich. Auch in der Qualifikation der Pro-
Tjo D^s antike Judentum.
phetie selbst äußerte sich das. Die Ekstase als solche legitimierte
nicht mehr, wie wir sahen. Sondern allein das Hören der Stimme
Jahwes. Aber was gewährleistete den Hörern, daß der Prophet
wirklich, wie er behauptete, Jahwes Stimme vernommen hatte ?
Darauf gab es teils zeitgeschichtlich, teils religiös und ethisch
bedingte Antworten. Zeitgeschichtlich und durch Jahwes Unheils-
natur bedingt war es, daß Jeremia (23, 29) den überkommenen
Gegensatz gegen die königliche Heilsprophetie als Merkmal
hinstellte. Das erklärt sich aus dem sozialen Kampf gegen
das Fronkönigtum und die gibborim. Der echte Prophet kündet
diesen verworfenen Großen kein Heil. Ethisch bedingt aber
war: die Bindung an die Gebote Jahwes, wie sie jedermann
bekannt waren (23, 22) : Nur der Prophet, der das Volk zur
Sittlichkeit anhält und die Sünden (durch Unheildrohung) straft,
ist kein Lügenprophet. Allgemein bekannt aber Waren die
Gebote Jahwes wiederum: durch dieThora. Diese ist so immer
wieder die freilich selten ausdrücklich bezeichnete, weil ganz
selbstverständliche,* Voraussetzung der gesamten Prophetie. —
Auch die hellenischen Weisheitslehrer des 6. Jahrhunderts ver-
künden die unbedingte Verbindlichkeit des Sittengesetzes, und
zwar in der Sache selbst eines sehr ähnlichen wie das der Pro-
pheten war, — wie die Sozialethik der hellenischen Aisymneten-
Gesetzgebungen derjenigen des Bundesbuchs innerlich, wie wir
sahen, verwandt ist. Aber der Unterschied war, daß in Hellas,
wie in Indien, die eigentlich religiösen Heilskünder und Pro-
pheten das Heil an spezielle Voraussetzungen rituellen
oder asketischen Charakters knüpften, überhaupt: Bringer von
»H e i 1«, vor allem : von jenseitigem Heil, waren. Im
geraden Gegensatz dazu kündeten die israelitischen Propheten
Unheil, und zwar diesseitiges Unheil und zwar wegen
Sünden gegen das a 1 1 g e m ei n , für jeden Israeliten, gültige
Gesetz ihres Gottes. Indem die Innehaltung dieser Alltags-
sittlichkeit als Spezialpflicht Israels kraft der beschworenen
berith galt, wirkte das ganze gewaltige Pathos eschatologischer
Drohungen und Verheißungen auf die Innehaltung dieser schlich-
ten Gebote, die jedermann zu halten imstande war und die nach
der Ansicht der Propheten auch die Nichtisraeliten in der End-
zeit halten würden. Die große historische Paradoxie war also:
daß so die spätere offizielle Alltagsethik des christlichen Abend-
landes, deren Inhalt sich von der in .althellenischer sowohl wie in
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. -in
hellenistischer Zeit geltenden Lehre und Lebenspraxis des Alltags
nur in Sexuellen unterschied, hier zum Gegenstand der
ethischen Sonder pf licht eines von seinem Gott, dem mäch-
tigsten von allen, erwählten Volkes gemacht und mit utopischen
Prämien und Strafen eingeschärft wurde. Auf das sittlich richtige
Handeln, und zwar das Handeln gemäß der Alltags-
sittlichkeit, kam für das besondere, Israel in Aussicht gestellte
Heil alle-3 an. So trivial und selbstverständlich das scheinen
könnte — nur hier ist es zur Grundlage religiöser Ver-
kündigung gemacht worden und sehr besondere Bedingungen
führten dazu. —
Kraft ihrer Berufimg nehmen die Propheten spezifische
Qualitäten in Anspruch. Verhältnismäßig selten und nur bei
einem dieser vorexilischen Propheten (Hosea 9, 10; Jesaja 30, i;
Micha 3, 8) wird der Ausdruck »Geist« (ruach) Jahwes auf ihren
spezifischen inneren Besitz angewendet, obwohl gelegentlich
(Hos. 9, 7) der Ausdruck »Geistmensch« (isch haruach) von
einem Schriftpropheten vorkommt. Erst bei Hesekiel, dann
bei Deuteroje aja und den nachexilischen Propheten tritt der
Ausdruck häufig auf. Es scheint, daß der Gegensatz gegen die
berufsmäßigen Nebijim die älteren Propheten veranlaßte, ihn
nicht oder selten zu brauchen. Außerdem der Umstand, daß
eben die »ruach« im Sprachgebrauch wesentlich die irrationalen
und aktuell ekstatischen Zustände bezeichnete, die Propheten
aber ihre spezifische Würde gerade in dem habituellen Besitz
des bewußten klaren und kommunikablen Verständnisses
von Jahw'es Absichten fanden. Erst bei Hesekiel ist die ruach
wieder eine geheimnisvolle göttliche Kraft, die zu mißachten
ebenso frevelhaft ist, Wie in den Evangelien, und rrst im Exil
(Deuterojes. 40, 13; 42, i; 48, 16) wird der »Geist« eine tran-
szendente und schließlich (Gen. i, 2) eine kosmische Größe, für
welche Tritojesaja zuerst den Ausdruck »heiliger Geist« (59, 21
63, 14) braucht. Aber wenn das prophetische Charisma vor
allem die Fähigkeit rationalen Verstehens Jahwes be-
deutet, so enthält es doch auch ganz andere, irrationale Quali-
täten. Zunächst: magische Kräfte. Jesaja, der allein von allen
Schriftpropheten auch als ärztlicher Ratgeber bei einer Krank-
heit» des Königs Hiskia erwähnt wird, fordert in einer politisch
schwierigen Lage den König Ahas auf, von ihm die Beglaubigung
für sein politisches Orakel durch ein Wunder zu verlangen, und
m-^
r3 1 2 Das antike Judentum.
als der König ausweicht und er daraufhin die berühmten Worte
von dem »jungen Weibe« spricht, das schon jetzt schwanger sei
mit dem Heilsfürsten Immanuel, da ist dies, wie die Situation
ergibt, nicht nur eine Weissagung, sondern eine das verheißene
Heil bewirkende Verkündigung eines Entschlusses Jahwes, wel-
cher Folge des Unglaubens des Königs ist. Die Propheten haben
die Macht, durch ihr Wort zu töten (Hos. 6,5; Jer. 28, 16).
Jeremia gibt einem Boten eine Fluchformel über Babel mit,
deren Verlesung und Versenkung im Euphrat das geweissagte
Unheil bewirken soll. Stets aber ist es nicht irgendeine sympa-
thetische oder andere zauberische Manipulation, sondern das
einfache (gesprochene oder geschriebene) Wort, welches das
Wunder bewirkt. Und vor allem tritt diese magische Gewalt,
die im Selbstbewußtsein von Jesus so wichtig war, in den Selbst-
zeugnissen der Propheten völlig zurück. Sie erwähnen sie nie
als Beweis ihrer göttlichen Legitimation und nehmen sie über-
haupt nicht eigentlich für sich persönlich in Anspruch. Gewiß:
Jeremia Weiß sich (i, 10) von Jahwe über alle Völker gesetzt,
um sie zu verderben oder ihnen den »Taumelbecher« zu reichen
(25,15!). Aber immer wieder lenkt dies Selbstgefühl in das
Bewußtsein um, nichts als Werkzeug zu sein. Nicht ihr eigener
Wille, sondern der ihnen durch leibhaftige Stimme mitgeteilte
Entschluß Jahwes, sein »Wort«, ist es (Jer. 23, 29), welches das
Geweissagte bewirken wird. Die Kenntnis dieser Entschlüsse
und der Wundermacht Jahwes und ihres Wirkens ist es allein,
die sie für sich in Anspruch nehmen. »Nichts tut Jahwe«, ver-
sichert Amos, »ohne es seinen Propheten zuvor zu offenbaren«
das ist die Quelle ihres Selbstbewußtseins. In gewissem Um-
fange nehmen die Propheten allerdings auch in Anspruch, Jahwes
Entschlüsse beeinflussen zu können. Gleich bei Amos kommt
es vor, daß der Prophet als Fürbitter auftritt, so wie die Tra-
dition dies dem Mose und auch dem Abraham zuschreibt. Aber
nicht immer ist Jahwe zu erbitten. Es kommt vor, daß er erklärt,
»selbst wenn Mose oder Samuel vor ihn treten«, seinen Entschluß
nicht ändern zu wollen. Und niemals rechnete der Prophet auch
nur mit der Möglichkeit, seinerseits Jahwe durch Zauber be-
zwingen zu können. Das wäre im Gegenteil diesem furchtbaren
Gott gegenüber ein tödlicher Frevel. Ebensowenig wird dei
Prophet jemals auch nur seinem eigenen Ausspruch nach zum
Heiland oder auch nur zum exemplarischen religiösen Virtuosen.
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. ^ i 3
Niemals nimint ei hagiolatrische Verehrung für sich in Anspruch.
Niemals Sündlosigkeit. Die ethischen Ansprüche, die er an sich
stellte, waren nicht verschieden von denen, welche an alle ge-
stellt wurden. Freilich erscheint als sicheres Merkmal der Lügen-
propheten, neben dem Fehlen sittlicher Ermahnung des Volkes
und der Unheildrohungen, auch ihre eigene Unbekehrtheit und
ihr Ungehorsam gegen die göttlichen Gebote: ein dauernd sehr
wichtiges und für den Charakter der ReUgiosität folgenreiches
Qualifikationsmerkmal. Aber daß er selbst sittlich nie fehle,
behauptet z. B. Jeremia keineswegs. Daß er auf Veranlassung
Zedekias den Parteigängern Aegyptens die Unwahrheit sagt
(38, 28), um den König nicht bloßzustellen, entspricht der Erz-
väterethik — und übrigens dem Umstand, daß Jahwe selbst den
>Lügengeist<< in seine Dienste nimmt — : die Wahrheitspflicht der
altisraelitischen (auch der dekalogischen) sowohl wie der homeri-
schen Ethik ist nicht so unbedingt wie die der indischen und
steht auch hinter den Anforderungen z.B. des Siraciden zurück.
Aber es zeigt jedenfalls, daß der Prophet, der als solcher auf
unbedingten Glauben Anspruch macht, sein Amt und sein per-
sönliches Verhalten scheidet. Die für manche Propheten typi-
schen furchtbaren Maßlosigkeiten von Haß und Zorn gegen die
Gegner würde die Thora schwerlich gebilligt haben. Zwar die
Wirkung seiner Worte auf die Herzen des Volkes scheint Jahwe
gelegentlich an die Bedingung zu knüpfen, daß der Prophet
Gott wohlgefällige »edle Worte rede«. Aber im übrigen weiß
Jeremia sich »unrein« und schwach. Kein Prophet hat nach
seiner Selbstbeurteilung etwas Eigenes an Heilsbesitz, er ist
stets nur Mittel der Verkündung göttlicher Gebote. Immer
bleibt er nur Werkzeug und Knecht seines jeweiligen Auftrags.
Nie sonst ist der Typus der »Sendungsprophetie« so rein aus-
geprägt gewesen. Auch nicht in der altchristlichen Gemeinde.
Keiner der Propheten gehörte einem esoterischen »Verein« an,
wie später die Apokalyptiker. Und keiner der Propheten hat
daran gedacht, eine »Gemeinde« zu stiften. Daß dafür jede
Voraussetzung, insbesondere die Schaffung einer neuen kulti-
schen Gemeinschaft, wie sie der Kult des Kyrios Christos
bot, fehlte und bei dem Vorstellungskreis der Propheten fehlen
mußte, ist ein soziologisch entscheidender Unterschied gegen die
altchristliche Prophetie. Die Propheten stehen inmitten einer
politischen Volksgemeinschaft, deren Schicksale sie interessieren.
7,lA Das antike Judentum.
Und sie sind rein ethisch, nicht kultisch, interessiert, im
Gegensatz zu den christlichen Missionaren, welche vor allem
das Abendmahl als Vermittlung der Gnade brachten. An diesem
Punkte zeigt sich in der Tat ein den spätantiken Mysterien-
gemeinschaften entstammender Einschlag des alten Christentums,
der den Propheten völlig fremd war. Dies alles hängt nun wieder
mit der Eigenart der israelitischen Beziehungen zu dem Gott
zusammen, in dessen Namen die Propheten reden, und mit dem
Sinn ihrer Verkündigung. Beide aber lieferte ihnen eben jene
religiöse Vorstellungswelt, welche durch die israelitischen In-
tellektuellen, vor allem durch die levitische Thora, vorbereitet
war. Sie haben, soviel erkennbar, weder eine neue Gottes-
konzeption noch neue Heilsmittel noch auch nur neue Gebote
verkündet, zum mindesten keine verkünden wollen. Sowohl ihr
Gott wird als jedermann bekannt vorausgesetzt wie ebenso:
daß »dem Menschen gesagt ist, was ihm frommt« (Micha 9).
Nämlich: jene Gebote Gottes zu halten, die er aus der Thora
kennt. »Thora Gottes« nennt Jesaja auch seine eigene Verkündi-
gung (30, 9). Auf die Uebertretung dieser schon bekannten
Gebote nehmen die Propheten durchweg Bezug.
Ebenso aber lieferte ihnen die Umwelt die im Mittelpunkt
ihrer Verkündigung stehenden Probleme. Die Kriegsangst
des Volkes brandete mit der Frage nach den Gründen des gött-
lichen Zornes, nach den Mitteln ihn gnädig zu stimmen, nach
den nationalen Zukunftshoffnungen überhaupt, an sie heran.
Panik, Wut und Rachedurst gegen die Feinde, Angst vor Tod,
Verstümmelung, Verwüstung, Exil (schon bei Arnos) , Versklavung,
und die Frage: ob Widerstand oder Unterwerfung oder Bündnis
mit Aegypten oder Assm oder Babel das Richtige sei, bewegten
die Bevölkerung, wirkten auf die Prophetie zarück. Bis ins
Innerste ihrer Vorstellungswelt wirkte diese allgemeine Erregung
auch dann, wenn sie aus eigenem Antrieb an die Oeffentlichkeit
traten.
Auf die Frage nach dem Warum des Unheils war die Ant-
wort von Anfang an: es war Jahwes, des eigenen Gottes Wille
so. So einfach das scheint, war es doch alles andere als selbst-
verständlich. Denn so viel Einzelzüge von Universalismus die
Konzeption dieses Gottes auch, wenigstens in der Vorstellung
der Intellektuellen, schon in sich aufgenommen hatte, so hätte
der volkstümlichen Ansicht doch die Annahme eher entsprochen:
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. ijt
entweder, daß die fremden Götter zurzeit aus irgendwelchen
Gründen die stärkeren seien, oder: daß Jahwe seinem Volk nicht
helfen wolle. Aber über dies letzte ging die prophetische Ver-
kündung hinaus und behauptete: daß er selbst, absichtlich,
das Unheil über sein Volk bringe. »Geschieht der Stadt ein
Unglück und Jahwe täte es nicht« fragt Arnos (3, 6). Darüber,
ob solche göttlichen Entschlüsse aktuell bedingt seien, wie die
meisten Orakel voraussetzen, oder ob »von den Tagen der Vor-
zeit her« das Verhängnis von Jahwe bereitet sei, wie Jesaja (37,
26) behauptete, wurde je nach den Umständen, vor allem: je
nachdem mehr der erzürnte Bundesgott oder mehr der erhabene
Weltmonarch im Vordergrund der Vorstellungswelt lebte, ver-
schieden geurteilt. Aber in beiden Fällen war jene für die volks-
tümliche Ansicht furchtbare Behauptung des Arnos aus den
besonderen geschichtlichen Grundlagen des Jahwismus erwachsen.
Das Entscheidende war dabei: Jahwe war von jeher, woran
Amos (6, 6 f.) sehr ausführlich erinnert, vor allem ein Gott der
Naturkatastrophen, welcher Pest und furchtbares Unheil aller
Art über die, welchen er zürnte, senden konnte und oft gesendet
hatte. Vor allem kriegerisches Unheil hatte er wieder und wieder
über die Feinde gesandt und Israel daraus errettet, oft aber
erst, nachdem er es lange Zeit solches Unheil hatte erdulden
lassen. Deshalb, und nur deshalb, wurden die Propheten
Politiker: das politische Unheil, und nur dies, stand jetzt
drohend vor der Tür, eben das, was in Jesajas eigentliche Wir-
kungssphäre fiel. Seine Bedeutung, die anfänglich noch hinter
den erwarteten kosmischen Naturkatastrophen zurücktrat, nahm
in der Unheilweissagung stetig zu. Jahwe und keinem anderen
Gott mußte es zugeschrieben werden. Er war aber andererseits
der Gott, welcher Israel allein aus allen Geschlechtern der Erde
erwählt hatte. »Eben darum«, läßt Amos (3, 2) ihn mit gewollter
Parodoxie sagen, »suche ich an euch heim alle eure Schuld.«
Israel allein stand eben in der berith zu ihm, deren Bruch Hosea,
der vielleicht zuerst den Gegensatz des Gottesvolkes gegen die
unreinen »Völker« festgelegt hat (9, i f.), dem Ehebruch ver-
glich. Seinen Vorvätern hatte er bestimmte Verheißungen ge-
macht und einen Schwur geleistet. Diese Verheißungen hatte er
gehalten und in Krieg und Frieden unermeßlichen Segen über
das Volk gebracht. Er wird von den Propheten gemahnt, seinen
Bund nicht zu brechen und er seinerseits fragt ( Jer. 2, 5) : welches
Tjg Das antike Judentum.
Unrecht — gemeint ist: welches bundeswidrige Verhalten —
denn die Vorväter Israels an ihm, Jahwe, gefunden hätten?
Aber die Erfüllung der Verheißungen war an die Bedingung
geknüpft, nicht nur daß sie ihm allein als ihrem einzigen Gott
die Vertragstreue hielten und nicht anderen Kulten sich zu-
wendeten, sondern auch und zwar bei den meisten Propheten
(Amos, Micha, Jeremia, aber auch Jesaja) vor allem: an die
Innehaltung jener Gebote, die er ihnen auferlegt hatte. Und
zwar hauptsächlich der nur ihnen- auferlegten. Es gibt näm-
lich schon nach Amos Unrecht, welches Jahwfe als Weltmonarch
auch an anderen, namentlich den Israel benachbarten, Völkern
ahndet. Dazu gehört (Amos i, 3 ff.) die Verletzung einer Art
von religiösen Völkerrechts, dessen Geltung unter den palästini-
schen Völkern vorausgesetzt wird. Natürlich vor allem Ver-
letzungen gegenüber Israel: die barbarische Verwüstung Gileads
durch die Damaskener, der Raub und Verkauf von Gefangenen
an die Edomiter durch Gaza und Tyros, die Mitleidlosigkeit
der Edomiter im Kriege, Aufschlitzen schwangerer Frauen durch
die Ammoniter. Darin Hegt nichts Besonderes. Aber Jahwe
ahndet auch Unrecht dritter Völker gegenüber Dritten: so die
Verbrennung einer edomitischen Königsleiche durch Moabiter.
Darin äußert sich wohl die als Stammverwandtschaft gedeutete
Kulturgemeinschaft der palästinischen Völker. Vielleicht auch:
völkerrechtliche Verbindungen. Den Edomitern wird ihr Unrecht
als Verletzung der »Bruder «-Beziehung zu Israel, Tyros geradezu
als Mißachtung eines »Bruderbundes«, vermutlich also einer
beschworenen kriegsvölkerrechtlichen Abmachung über die Ge-
fangenenbehandlung vorgehalten; es scheint möglich, daß auch
mit anderen Nachbarvölkern ähnliche Abkommen bestanden,
welche die Rache JaliWes motivierten. Die rein ethische Wen-
dung vollzog sich mit der universalistischen Steigerung der
Gotteskonzeption. Gegenüber den mesopotamischen Qroßkönigen
gilt bei Jesaja deren maßlos grausame Kriegführung an sich als
Grund für Jahwes Zorn. Dann aber die Hybris dieser Welt-
monarchen, die Jahwes Eifersucht erregen mußte.
Im Gegensatz dazu wird nun nach Amos Israel selbst wegen
aller Schuld gestraft. Es zieht sich seinen Grimm zu vor
allem durch Verletzung der »Gerechtigkeit«, das hieß aber; der
ihm eigentümlichen sozialen Institutionen. Bei den meisten
Propheten gelten dafür jene Brüderlichkeitsgebote, welche die
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. T^iy
levitische Paränese im iVnschluß an die alten Rechtssammlungen
entwickelt hat. Bei Arnos stehen (2, 6 f.) charakteristisch neben-
einander zunächst: die Verleitung der Nasiräer zum Bruch ihrer
rituellen Pflichten und die Unterdrückung der Nebijim -einer-
seits und andererseits der Bruch der Gebote des Bundesbuchs
über die Behandlung israelitischer Schuldgefangener und über
die Pfändung der Kleidung: Bestandteile der alten Kriegs- und
Sozialverfassung also., deren Garant in den Zeiten der Eidgenossen-
schaft . Jahwe war. Die besondere Stellung Jahwes zu Israel
als Vertragspartner der Eidgenossenschaft tritt darin besonders
klar hervor. In den Orakeln anderer Propheten wird neben
den groben (im wesentlichen den dekalogischen) Privatsünden
vor allem die Unbrüderlichkeit in allen ihren Formen, besonders
aber, wie in der gesamten vorderasiatisch-ägyptischen Karitäts-
ethik, als Unterdrückung der Armen im Gericht und durch
BeWucherung herangezogen. In allen diesen Motivierungen von
Jahwes Zorn aber, schon in den gewollten Paradoxien bei Amos,
zeigt sich die Wirkung intensiver Intellektuellenkultur. Sozial-
ethische Motivierungen göttlicher Strafen finden sich auch ander-
wärts. Die Patrimonialbürokratie der Großkönigreiche hatte
überall in der Nachbarschaft das patriarchale und karitative
»Wohlfahrtsstaatsideal <t entstehen lassen und überall war dort
der Glaube verbreitet : daß gerade der Fluch des Armen gegen
den Bedrücker besonders unheilbringend sei, die, offenbar durch
phönizische Vermittlung, auch in Israel sich fand: Könige des
Zweistromlandes werfen besiegten Gegnern inschriftlich vor, daß
sie soziales Unrecht an den Untertanen verübt haben (so schon
Urukagina und noch Kyros). Und vollends in den chinesischen
Quellen findet sich beim Dynastiewechsel oder bei Eroberungen
eines Teilstaates durch einen anderen Herrscher sehr häufig der
Hinweis auf vorschriftswidrige Behandlung der Untertanen und
unklassischen Lebenswandel. In allen solchen Fällen ist diese
Motivierung Produkt priesterlicher oder ritualistischer Intellek-
tuellenschichten in bürokratisierten Staaten. Das Besondere bei
Israel war zunächst nur : daß eben diese karitativen Ansprüche
an die herrschenden Schichten, vor allem die königlichen Be-
amten, übernommen wurden, welche überall sonst der Ent-
wicklung eines nationalen bürokratischen Apparates und einer
entsprechenden Bildungsschicht zu folgen pflegen i), während
*) Denn die Karitätsgebote der Thora waren selbstverständlich nicht
^i8 Das antike Judentum.
eben diese, patrimonialkönigliche, Entwicklung als solche zu-
gunsten des alten Gaufürstenideals von den Frommen israeliti-
schen Intellektuellen abgelehnt wurde. Und ferner: daß die
Motivierung in den Unheildrohungen von Propheten sich findet
und daß sie nicht nur den Herrscher persönlich, sondern das
aus der berith solidarisch für die Sünden der Könige und Großen
haftende Volk als solches mit Strafe bedroht. Dies hing eben
mit der Besonderheit der politischen und religiösen Konstitution
Israels zusammen. —
Auch im übrigen finden wir bei den Propheten die Geistes-
arbeit der israelitischen Rechtsprechung und Weisheitslehre.
Die Propheten nennen nebeneinander: »chuk« die (wie wir
sahen) durch Rechtsorakel der Chokekim festgestellte alte Ge-
wohnheit, und »thora«, die rationale levitische Lehre (Amos 2, 4;
Jes. 24, 5), endlich »mischpat«, das in Urteilssprüchen (Jes. 16, 5)
und Satzungen der sarim und sekenim ausgesprochene Recht
als die, neben ihren eigenen Orakeln: den »debarim Jahwe«,
maßgeblichen Quellen der Sittlichkeit. Bei allem gelegentlich
scharfen Gegensatz gegen die Richter, vor allem die sarim, die
chokekim und auch die Thoralehrer, die das Wort nutzlos nur
im Munde führen, wird die Verbindlichkeit dieser Normen nicht
angefochten und auch die chokma, die Lebensklugheit der
Weisheitslehrer, nicht prinzipiell verworfen. Allerdings ist die
Stellung verschieden. Kein Prophet erhebt zwar, sahen wir,
den Anspruch, neue Gebote zu verkünden, wie Jesus es gelegent-
lich mit Nachdruck tat: »es steht geschrieben, ich aber sage euch«.
Sondern die Verfälschung des längst offenbaren wahren Wülens
Jahwes durch den »Lügengriffel der Schreiber« und die »Trug-
sprüche«, welche die Chokekim zum Nachteil der Armen geben
(Jes. 10, I f.), sind das Sündhafte, ebenso wie die immer wieder
gebrandmarkten ungerechten Urteile der bestochenen Richter.
Gelegentlich freilich findet sich aus der Souveränität des von
Jahwe in seinen Rat gezogenen Propheten völlige Ablehnung
des Werts der Chokma sowohl wie der Gebote (Mizwat), welche
die Lehrer »nur im Munde führen« (Jes. 29, 13. 14). Indessen
diese bei Jeremia noch gesteigerte Skepsis gegen die Lehrer
mehr aus der bäuerlichen Nachbarschaftsethik als solcher, welche von solcher
Sentimentalität wie alle Bauemethik weit entfernt war, sublimiert. Sie gehörten
der Ideologie des vorderasiatisch-ägyptischen Königtums und seiner Literaten :
Priester und Schreiber, an.
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. :>iq
persönlich änderte nichts daran, daß eben doch die positiven
Gebote der leyitischen Thora und die der Propheten in der
Sache identisch waren.
Die Bedeutung der Thora für die Prophetie geht aber über
die Darbietung des materiellen Inhalts der Gebote hinaus. Die
prophetische Grund Vorstellung : daß Jahwe um sittlicher, ins-
besondere sozialethischer Verfehlungen willen furchtbare Uebel
verhänge, hatte ja in der Beicht- und Sühnepraxis der Leviten
und deren Entwicklung durch ihre sittlich-rationale Paränese
ihre ursprüngliche Stätte. Auch die Uebert ragung des Gedankens
von der Rache des Gottes gegen Sünden und Verfehlungen ein-
zelner auf solche des Volkes als einer Einheit ist, gleichviel wie
alt das in der jetzigen Redaktion niedergelegte priesterliche
Sühnerilual für ganze Gemeinden sein mag, doch unbedingt
vorprophetisch. Denn diese wichtige Vorstellung folgte aus dem
niemals vergessenen Charakter Israels als eines aus der berith
solidarisch haftenden Verbandes freier Volksgenossen. Die Orakel
des Arnos setzen diese Unheilstheodizee voraus. Aber wie jede
Theodizee ist auch diese wohl zunächst geistiger Besitz nur von
Intellektuellenschichten gewesen. Daß sie von einem Visionär
wie Amos der Oeffentlichkeit in dieser ungeheuren Wucht aktuell,
als Grund jetzt bevorstehenden Unheils, verkündet wurde, war
vermutlich das noch nicht Dagewesene, was den gewaltigen Ein-
druck erklärt, der in der Aufbewahrung der Orakel dieses Pro-
pheten als des ersten von allen sich ausspricht. Außerdem natür-
lich das Eintreffen des Unheils, welches ja in einer Zeit politischer
und wirtschaftlicher Blüte unter der Herrschaft Jerobeams II.
geweissagt war. Denn wenn oben betont wurde, daß die Stellung
der klassischen Prophetie bedingt war durch die sinkende Macht
und steigende Bedrohung der beiden Königreiche, so darf das
nicht mißverstanden werden. Nicht etwa das Auftreten von
Unheilspropheten als solches war dadurch hervorgerufen. Als
ein Unheilsprophet gegen den König trat schon Elia auf, und
auch Unheilsprophetien gegen das Volk hat es vielleicht schon
vor Amos gegeben. Die Unheilsvisionen der Propheten, waren
an sich »endogen« bedingt. Jeder Blick in ihre Schriften
lehrt ja: daß wir es mit Persönlichkeiten zu tun haben, deren
harte, bittere und leidenschaftlich düstere Temperierung in den
meisten von ihnen selber, ohne Rücksicht auf die Augenblicks-
lage, vorgebildet war. Sie sehen die Welt voll Unheil gerade im
:^20 Das antike Judentum.
vollen Sonnenglanz scheinbaren Glücks. Assur wird bei Arnos
nicht mit Namen genannt : »der Feind« heißt es,., und »jenseits
von Damaskus« soll das geweissagte Exil liegen. Das war deut-
lich genug. Als Grund aber, das Unheil gerade von daher kommen
zu sehen, führt der Prophet die Verehrung mesopotamischer
Gottheiten an (5, 27). Nicht die Weltlage, sondern die Verderbnis
rund um sie her begründet ihre düsteren Ahnungen, die auch
bei Jesaja gerade in der Zeit nach Sanheribs Abzug sich, im
Gegensatz zu seiner Siegeszuversicht vorher, wieder einstellten
(22, 14). Das wirklich hereinbrechende Unglück scheint die
Propheten eher innerlich zu entlasten: die Verderbnis, die sie
um sich herum erblickten, schien eben dann endlich ihre Sühne
zu finden und damit getilgt zu werden. Es bleibt freilich mehr
als fraglich, wieweit man deshalb von einem spezifischen »Persön-
lichkeitstypus« der Propheten im Sinne einer eindeutigen Prä-
disposition zu jener Gefühlslage sprechen darf. Denn selbst die
verstümmelten Reste ihrer Orakel lassen uns die Grundver-
schiedenheit ihrer Temperierung erkennen: die stürmische, heiße,
ungebrochene Leidenschaft des Amos, die Weichheit und Wärme
der werbenden Liebe des Hosea, den stählern vornehmen und
selbstsicheren Schwung und die starke und tiefe Begeisterung des
Jesaja, die weiche, schwer unter depressiven Gefühlslagen und
Zwangsvorstellungen leidende, aber durch den Zwang der Be-
rufung zu verzweifeltem Heroismus zusammengeraffte Seele
Jeremias, den ekstatisch aufgeregten, aber innerlich kalten
Intellektualismus Hesekiels — alle diese Gegensätze lassen sich
greifen und ändern doch an dem Charakter ihrer Unheilsprophetie
nichts. Vor allem beweisend ist ein Umstand: mit dem endgültigen
Tempelsturz ist die Unheilsprophetie alsbald zu Ende und
die Tröstimg und Heils Weissagung beginnt. Die Unheils Weis-
sagung war also Produkt tiefen Absehens vor dem Greuel des
Abfalls von Jahw^e und seinen Geboten und furchtbarer Angst
vor den Folgen, des felsenfesten Glaubens an Jahwes Ver-
heißungen und der verzweifelten Ueberzeugung: daß das Volk
sie verscherzt habe oder zu verscherzen im Begriff stehe. Mit
welchem Grade von Wahrscheinlichkeit aber das furchtbare
Unheil bevorstehe, darüberhat die Ansicht auch ein und desselben
Unheilspropheten offenbar gewechselt. Bald, namentlich bei
Amos und Jeremia, gelegentlich auch beim jugendlichen Jesaja,
schien jede Hoffnung eitel. Bald gab es Möglichkeiten, Wahr-
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. ■221
scheinlichkeiten, ja Sicherheiten der Rettung oder doch — und
das ist die Regel — der Wiederkehr besserer Zeiten nach dem
Unheil. Kein Prophet hat diese Hoffnung dauernd absolut be-
stritten. Und er hätte es ja, wollte er sich irgend eine Wirkung
auf seine Hörer versprechen, auch nicht bestreiten können. Diese
Wirkung aber war den Propheten trotz des endogenen Charakters
ihrer Ekstase nicht einfach gleichgültig. Sie fühlten si^h als
»Wächter« und »Prüfer« von Jahwe bestellt. Nur der galt Jeremia
als echter Prophet, welcher die Sünden des Volks geißelt und
— im Zusammenhang damit — Unheil kündet. Dann aber durfte
das Unheil nicht absolut und endgültig sein, sondern bedingt
durch die Sünde. Die Propheten, schon Jesaja, noch mehr aber
Jeremia, schwanken in ihrer Haltung. Wo sie pädagogisch wirken
wollen, ist Jahwe ein Gott, der sich seine Entschlüsse reuen läßt.
Wo sie unter dem unmittelbaren Eindruck der Verderbnis reden,
erscheint alles umsonst und hoffnungslos. Wie schwer die prak-
tischen seelsorgerisch-pädagogischen Bedenken vor allem der
Thoralehrer wogen, zeigt gegenüber dei bei Jesaja anklingenden
Vorstellung einer Prädestination der Unheilsschicksale die offen-
bar den Intellektuellenkreisen entstammende paradigma tische
Erzählung von Jona, deren eigentliches Thema ja ist: die Un-
wandelbarkeit der prophetischen Unheilsverkündung auszu-
schließen und vielmehr die Wandelbar keit der Entschlüsse Jahwes
zu rechtfertigen. Solche Erwägungen, welche für die in der
Seelsorge bestehenden Thoralehrer und noch mehr für die priester-
lichen Redaktoren maßgebend sein konnten, haben die ihren
Gesichten hingegebenen Ekstatiker selbst freilich nicht aus-
drücklich angestellt. Unbegründet scheint es andererseits, aus
diesem Grunde anzunehmen, die Heils Verheißungen seien den
Propheten überhaupt erst von der priesterlichen Redaktion in
den Mund gelegt worden. Denn man erkennt deutlich die bei
Amos nur einmal (5, 15), bei Hosea mehrere Male, and noch
weit häufiger bei Jesaja und, trotz seines Pessimismus, am stärk-
sten und ganz prinzipiell bei Jeremia (7, 23) sich einstellende
pädagogische Absicht. Gegen jene Annahme der Interpolation
spricht überdies das Vorhandensein ganz bestimmter Heüs-
kategorien, wie des sich rechtzeitig bekehrenden »Rests« schon
bei den ersten Propheten (Amos). Vielmehr die traditionelle
Hoffnung der Paränese und der eigene immer wieder auftauchende
Gedanke: daß das Unheil unmöglich das Ende von Jahwes
Max Weber, Rcligionssoziologie HI. 21
^22 ^^^ antike Judentum.
Plänen mit Israel sein könne, ließ das Heil, sei es auch in un-
bestimmter Art und nur für jenen »Rest, der sich bekehrt«,
immer neu erstehen, und die pädagogische Absicht half dabei
zunehmend, mochte auch im Einzelfall die Beklemmung nichts
als düsteres Schicksal geschaut haben. Eine eindeutige psychische
Determiniertheit zur »politischen Hypochondrie« als Quelle ihrer
Stellungnahme ist jedenfalls schwerlich anzunehmen.
Wenn die Unheüsprophetie in starkem Maße aus der eigenen
durch Veranlagung und aktuelle Eindrücke bedingten psychischen
Disposition der Propheten abzuleiten ist, so steht doch nicht
weniger fest, daß es ganz und gar die geschichtlichen Schicksale
Israels waren, welche dieser Verkündigung ihre Stellung in der
Religionsentwicklung verschafften. Nicht nur in dem Sinne,
daß uns die Tradition naturgemäß gerade Orakel solcher Pro-
pheten aufbewahrt hat, welche eingetroffen waren oder ein-
getroffen zu sein schienen oder deren Eintreffen noch erwartet
werden konnte. Sondern das zunehmend unerschütterliche
Prestige der Prophetie überhaupt beruhte auf jenen wenigen,
aber für die Zeitgenossen ungeheuer eindrucksvollen Fällen, in
denen sie durch den Erfolg unerwartet Recht behielten. Dahin
gehörten zunächst die Unheilsorakel des Amos über das damals
mächtige Nordreich. Dann die Unheüsorakel des Hosea über die
Jehudynastie und über Samaria. Dann die Heilsorakel des
Jesaja für Jerusalem bei der Belagerung durch Sanherib. Aller
Wahrscheinlichkeit zum Trotz mahnte er mit nachtwandlerischer
Sicherheit zum Ausharren. Und wenn schließlich der Enderfolg
wohl eine verhüllte Unterwerfung des Königs war : — daß die
Belagerang Jerusalems nicht zu einer Kapitulation führte, scheint
sicher, da Sanherib in seinem Bericht darübej- dies selber nicht
behauptet. Dann und vor allem die Bestätigung der furchtbaren
Unheilsorakel des jungen Jesaja, des Micha, vor allem aber des
Jeremia und Hesekiel durch die Einnahme und Zerstörung
Jerusalems. Endlich die vorhergesagte Heimkehr aus dem Exil.
Seitdem war die Autorität der Prophetie, welche nach der schwe-
ren Enttäuschung der Schlacht von Megiddo augenscheinlich
gelitten hatte, unerschütterlich. Daß die überwiegende Mehr-
zahl sogar der in die uns erhaltene Sammlung aufgenommenen
Orakel nicht eingetroffen war, wurde völlig vergessen. Denn
demgegenüber war es für die Prophetie von Nutzen: daß die
Wandelbarkeit der Entschlüsse Jahwes von Anfang an, schon
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. 02^
bei Arnos, sehr nachdrücklich festgehalten war und die Anhänger
der Prophetie sich hinter sie zurückziehen konnten, wie ja die
Bußpraxis der Leviten diese Wandelbarkeit gleichfalls voraus-
setzte, indem die Sündenvergebung die Abwehr des drohenden
Unheils verbürgte. Auch bei den Propheten wurde deshalb
Jahwe — so sehr und in so gesteigertem Maße er bei ihnen ein
Gott des Zornes und der Rache blieb und so schroff er im Einzel-
fall an seinem Zorne festhielt — doch immer wieder ein Gott
der Gnade und Vergebung. Daß er dies war, unterschied ihn
nach der prophetischen Ansicht von allen anderen Göttern.
Ein weicher Zug geht durch derartige Gnadenprophetien, die
sich namentlich bei Hosea und Jeremia, aber auch in manchen
Orakeln des Jesaja finden. Jahwe wirbt um die Treue Israels
\vih ein Liebender um die der Geliebten.
Aber im ganzen mußten Jahwes Züge, auch da wo diese
gnädige Seite betont wurde, sich bei den Propheten doch un-
gleich majestätischer gestalten als in den literarischen Produkten
aus den Kreisen der Thoralehrer, wie sie etwa das Deuteronomium
repräsentierte. Ein Gott, der die großen Weltkönige als Mittel
zur Bestrafung israelitischer Sünden zur Verfügung hatte und
mit ihnen nach Belieben schaltete, mußte an Universalismus
und Erhabenheit zu einer ganz anderen Höhe emporsteigen
als der alte Bundesgott Israels und der bürgerliche Gnaden-
spender der Leviten. Die Propheten bevorzugen sämtlich in
zweifellos beabsichtigter Anknüpfung an das alte heroische Zeit-
alter den Namen »Jahwe Zebaoth«, also die Bezeichnung des
Bundeskriegsgottes. Aber mit ihm verschmolzen jetzt die Züge
eines ganz großen Himmels- und Weltgottes. Der Hofhalt der
Großkönige, die ja für Israel eine ähnliche Rolle spielten wie
der persische Basileus, obwohl auch er der Landesfeind war,
für die Hellenen etwa in Xenophons Kyrupädie, gab das Bild
des himmlischen Hofstaates, in dem nicht mehr der alte Kriegs -
fürst seine Gefolgsleute, die »Göttersöhne«, um sich hatte, son-
dern eine Schar dienstbarer Himmelsgeister, welche sogar in
der Tracht babylonischen und ägyptischen Mustern entnommen
waren. Sieben Geister, den sieben Planeten entsprechend, um-
standen seinen Thron, darunter einer mit der Schreibfeder und
in Linnen gekleidet, dem Schreibergott entsprechend. Seine
Späher reiten auf Rossen in den Farben der vier babylonischen
Windgötter, durchstreifen die Welt und erstatten Bericht. Auf
^24 ^^^ antike Judentum.
einem Wagen mit Keruben, offenbar babylonischen hieratischen
Figuren gleichend, fährt der Himmelskönig in überirdischem
Glanz daher. Gewiß kommt es trotzdem noch vor, daß er die
Naturgeister zu Zeugen anruft gegen das Vertragsbrüchige Israel,
wie in einem Prozeß. Aber in der Regel ist er der souveräne Herr
über die ganze Welt der Kreaturen. Die milde Gnadenfülle,
die ihm gelegentlich zur Verfügung steht, hindert nicht, daß
er auch wieder, wie die weltlichen Könige, gänzlich amoralische
Züge an sich trägt. Wie die indischen Patrimonialkönige ihre
agents provocateurs, so sendet er seinen »Lügengeist«, um seine
Feinde zu verblenden. Die eigenen Propheten graut es gelegent-
lich vor ihm. Jesaja nennt seinen Ratschluß gegen Assur, das
er doch selbst als Werkzeug berufen, »barbarisch«. Hesekiel
(20, 25), welcher an gleichartigen Vernichtungsplänen Jahwes
gegen die von ihm selbst herbeigerufenen Feinde Israels gar
keinen Anstoß nimmt, glaubte doch auch, daß er dereinst Gesetze
zum Verderben des eigenen Volkes gegeben habe. Daß er un-
gehorsamen israelitischen Königen absichtlich falsche Ratschläge
sendet, war der Tradition selbstverständlich. Nur Hosea (11, 9)
hat an solchen Zügen Anstoß genommen und, wenn die freilich
zwischen Wellhausen und andern bestrittene Lesart richtig ist,
Jahwe sagen lassen: er handle nicht »nach Leidenschaft«, weil
er »heilig sei und kein Verderber«. Aber auch den Jesaja brachte
die Erfahrung, daß das klare Prophetenwort von Israel dennoch
verworfen und unbeachtet bleibe, zu der* Ueberzeugung, daß
Jahwe selbst es nicht anders wolle, daß er das Volk geradezu
verstocke, um es zu verderben. Diese auch in der neutestament-
lichen Verkündigung und später im Calvinismus wichtig ge-
wordene Vorstellung nahm hier ihren Anfang. Von dem helleni-
schen Weltgott, etwa des Xenophanes, blieb Jahwe durch solche
aktuell-leidenschaftliche Züge weit geschieden. Er blieb also,
alles in allem, ein furchtbarer Gott. Oft scheint letzter Zweck
seines Tuns lediglich die Verherrlichung der eigenen Majestät
über alle Kreaturen. Das teilte er eben mit den irdischen Welt-
monarchen. Daher bleibt sein Gesamtbild schwankend. Ein
und derselbe Prophet sah ihn bald in übermenschlicher heiliger
Reinheit und dann wieder als den alten Kriegsgott mit dem
wandelbaren Herzen. Wenn er dadurch hochgradig anthropo-
morphe Züge behielt, so wagen doch gerade die am stärksten
erlebenden Propheten nicht mehr, wie die alten jahwistischen
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. ^25
Erzähler, ihren Visionen der himmlischen Herrlichkeit allzu
krnkrete Züge zu verleihen, wenigstens soweit der von alters her
unsichtbare Gott persönlich in Betracht kommt. Was sie sehen,
ist »wie ein Thron«, aber doch kein wirkHcher Thron: auch Jesaja
erblickt nur den herab wallenden Königsmantel, nicht den Gott
selbst.
Der Aufenthalt Jahwes blieb ebenso mehrdeutig wie sein
Wesen. Daß er Himmel und Erde geschaffen und den Stern-
bildern ihre Stätte gewiesen hatte, wie schon Amos sagt, hinderte
nicht, daß er, nach demselben Propheten, »vom Zion her brüllte«.
Jesaja hatte seine Vision der göttlichen Herrlichkeit als Tempel-
vision. Diese Lokalisierung hätte das Prestige Jahwes beim
Untergang des Tempels gefährden müssen. Ungezählte Heilig-
tümer sah man von den Eroberern verwüstet und ihre Idole
fortgeschleppt, ohne daß deren Götter sich zu wehren vermochten.
Sollte das Jahwe auch widerfahren? Die Propheten schwank-
ten. Jesaja war in manchen späten Orakeln, nach dem Abzug
Sanheribs, im Gegensatz zu seinen früheren Drohungen felsen-
fest überzeugt, daß Jerusalem als Sitz Jahwes niemals fallen
könne. Aber nachdem Amos und Hosea den Untergang des
Nordreichs als von Jahwe selbst beabsichtigt vorhergesagt hatten,
wurde, wie schon in Jesajas Frühoiakeln, seit Micha und end-
gültig seit Jeremia auch der Untergang Jerusalems selbst ein
im Rat Jahwes beschlossenes Schicksal, dessen schließlicher
Eintritt also an dem Prestige des Gottes nun nichts änderte,
es vielmehr steigerte. Die eigenen Götter der siegreichen Groß-
könige konnten nicht die Urheber dieser Katastrophe sein. Sie
wa en besudelt mit den Greueln des Hierodulenwesens und
Idoldienstes oder gar mit dem verächtlichen Tierdienst der
Aegypter. Alle solche Götter anderer Völker konnten daher
höchstens Dämonen sein und wurden Jahwe gegenüber zu
»Nichtsen«. Seit Hosea setzte die Verwerfung und Verspottung
des Idolkultes ein und wurde in zunehmender Konsequenz von
den Intellektuellen auf die UeVerlegrng gestützt: daß das Idol
Menschen werk und deshalb ohne religiöse Bedeutung, am aller-
wenigsten aber der Sitz eines Gottes sei. Daß die anderen Götter
überhaupt nicht existierten, ist indessen nicht einmal in der
Exüszeit von Deuterojesaja behauptet worden. Immerhin stieg
Jahwe der Sache nach durch die Unheilstheodizee der Propheten
zum Range des einzigen für den Weltlauf entscheidenden Gottes
■7 2Ö ^^^ antike Judentum.
empor. Besonders wichtig war nun dabei: Einmal, daß er die
alten Züge des furchtbaren Katastrophengottes behielt. Dann:
die Anlehnung der Unheiltheodizee an die Sündenbeicht-Praxis
der levitischen Thoia. Und schließlich: die mit beidem zusammen-
hängende Wendung des Berithgedankens bei Amos, welche ihn
selbst zum Urheber alles Unheils machte. Denn die Folge von
alledem war eben: daß in der prophetischen Auffassung nie
irgendwelche neben Jahwe existierende und ihm gegenüber
irgendwie selbständige oder ihm feindliche Dämonen die Uebel
über den Einzelnen und über Israel sendeten, sondern er allein
alle Einzelheiten des Weltlaufs bestimmte: wie wir sahen, war
dieser Monismus die wichtigste Voraussetzung der ganzen Pro-
phetie. Der überall in der Welt volkstümliche Dämonenglaube
drang wenigstens in die Intellektuellenreligiosität erst des
späten nachexilischen Judentums ein, in vollem Umfang erst
unter persischen dualistischen Einflüssen. Den Propheten war
der babylonische Dämonenglaube sicher nicht unbekannt. Aber
er blieb für ihre Konzeptionen ebenso unbedeutsam wie die
astrologischen, mythologischen und esoterischen Lehren ihrer
Umwelt. Daß Jahwe der Gott eines politischen Verbandes: der
alten Eidgenossenschaft, gewesen und für die puritanische Auf-
fassung geblieben war, erhielt ihm andererseits jenen durch allen
kosmischen und historischen Universalismus, den er annahm, un-
vertilgbaren Zug: ein Gott des Handelns, nicht: der ewigen
Ordnung, zu sein. Aus dieser Qualität folgte der ent-
scheidende Charakter der religiösen Beziehung.
Schon die unmittelbaren Erlebnisse der Propheten selbst
werden durch die für sie feststehenden Qualitäten des Gottes
geformt. Immer kreist ihre Phantasie um das Bild eines himm-
lischen Königs von furchtbarer Majestät. Dies betrifft zunächst
ihre visuellen Erlebnisse. Die Rolle des Visionären war, sehen
wir, bei den einzelnen Propheten verschieden. Am größten bei
dem ältesten Propheten, Arnos, der daher auch »Seher« (choseh)
genannt wird. Aber auch bei den anderen Propheten, vor allem
Jesaja und Hesekiel, fehlt sie nicht. Und die Propheten sehen
auch anderes als nur die himmlische Herrlichkeit. Sie erblicken
hellseherisch in der Ferne ein anrückendes Heer auf einer Paß-
hohe oder von Babylonien aus den Tod eines mit Namen ge-
nannten Mannes im Tempel von Jerusalem. Oder der Prophet
wird von einem aus Feuerglanz bestehenden Wesen an den
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. ^2 7
Haaren von dort nach hier entrückt. Immer aber handelt es
sich dabei um ein unmittelbares Eingreifen jenes göttlichen
königlichen Machthabers, dessen er inne wird. Oder wenn der
Prophet einen Mandelzweig oder einen Korb mit Obst sieht,
so hat das etwas zu bedeuten und ist als Symbol von Gott ge-
formt. Bald sind es Träume, besonders oft aber ist es ein Wach-
tiäumen, in welchem diese Visionen den Propheten bedrängen.
Aber solche visuellen Erlebnisse werden, wie in anderem Zu-
sammenhang schon erörtert, bei dem Propheten bei weitem und
in höchst charakteristischer Art an Bedeutung überragt von den
Gehörserlebnissen. Der Prophet hört entweder eine Stimme,
die zu ihm spricht, ihm Befehle und Aufträge gibt, etwas zu
sagen, unter Umständen auch: etwas zu tun oder, wie wir bei
Jeremia sahen, eine Stimme spricht aus ihm, er mag wollen oder
nicht. Das Ueberragen dieser Gehörserlebnisse über die Visionen
war, wie schon einmal betont, kein Zufall. Es hing zunächst
mit der überlieferten Unsichtbarkeit des Gottes zusammen,
die es ausschloß, daß über ihn selbst und seine Erscheinung etwas
ausgesagt werden konnte. Aber es war auch Folge der für die
Propheten allein möglichen Art, einer Beziehung zu diesem Gott
inne zu werden. An keiner Stelle findet sich bei den Propheten
jene mystische Entleerung von allem Sinnlichen und Geformten,
welche die apathische Ekstase Indiens einleitet, nirgends auch
jene stille beseligende Euphorie des Gottbesitzes, selten der
Ausdruck gottinniger Andacht und niemals des für den Mystiker
typischen erbarmend-mitleidvollen Brüderlichkeitsgefühls mit
allem Kreatürlichen. In einer erbarmungslosen Welt des Krieges
lebt, herrscht, redet, handelt ihr Gott und tief unseÜg ist das
Zeitalter, in welches sich die Propheten hineingestellt wissen.
Vor allem aber: unselig im tiefsten Innern sind gerade manche
der Propheten selbst. Nicht alle und nicht immer, aber oft ge-
rade in den Augenblicken größter Gottesnähe. Von den vor-
exilischen Propheten hat Hosea den Zustand der Ergriffenheit
vom Geiste Jahwes als beglückenden Besitz, Amos das Bewußt-
sein, in alle seine Pläne eingeweiht zu werden, als Stütze stolzer
Selbstgewißheit empfunden. Jesaja drängt sich zu der Ehre
der Prophetie. Aber schon er empfindet sie angesichts mancher
furchtbaren Verkündungen des Gottes und der Härte seiner
Entschlüsse gelegentlich als ein schweres Amt. Jeremia vollends
bedeutet sein Prophetenamt eine unerträgliche Last. Nie
•528 ^^^ antike Judentum.
jedenfalls ist die Nähe Jahwes ein seliges Innewohnen des Gött-
lichen, vielmehr immer Pflicht und Gebot, meist jagende stür-
mische Forderung. Wie ein Mädchen vom Mann oder wie der
unterlegene Ringer fühlt sich Jeremia von Jahwe vergewaltigt.
Auch dieser religionsgeschichtlich wichtige Tatbestand, grund-
verschieden von aller indischen und chinesischen Prophetie,
ergab sich nur zum Teil aus psychischen Vorbedingungen, zum
andern aber aus der Deutung, welche der jüdische Prophetis-
mus seinen Erlebnissen zu geben gezwungen war. Gezwungen
durch die Art des Glaubens, in den er hineingebannt war und
der, als unerschütterliches Apriori vor allen ihren Erlebnissen
stehend, die A u s 1 e s e derjenigen Zuständlichkeiten bestimmte,
welche als echt prophetische gelten durften. Die beispiellose
Wucht sowohl wie die feste innere Schranke dieser Prophetie
fanden darin ihre Begründung. Die Propheten konnten infolge
jenes Apriori nicht »Mystiker« sein. Ihr Gott war — bis auf
Deuterojesaja — durchaus menschlich verständlich und
mußte es sein. Denn: er war ein Herrscher, von dem man zu
wissen begehrte, wie seine Gnade zu erlangen sei.
Nirgends und niemals wird von den Propheten oder (soviel
wir wissen) ihrem Publikum die Frage nach einem »Sinn« der
Welt und insbesondere des Lebens, nach einem rechtfertigenden
Grunde seiner brüchigen, leid- und schuldbehafteten Vergäng-
lichkeit und seiner Widersprüche auch nur aufgeworfen, wie sie
in Indien aller heüigen Erkenntnis den entscheidenden Antrieb
gab. Und was damit zusammenhängt: nie und nirgends ist
es das Bedürfnis nach Rettung, Erlösung, Vollendung der eigenen
Seele aus und gegenüber dieser unvollkommenen Welt, was den
Propheten oder sein Publikum zum Gott treibt. Niemals vcllends
fühlt sich der Prophet durch sein Erlebnis vergottet, mit dem
Göttlichen vereinigt, entrückt der Qual und Sinnlosigkeit des
Daseins, wie dies dem indischen Erlösten widerfährt und für
ihn den eigentlichen Sinn religiösen Erlebens darstellt. Niemals
weiß er sich dem Leiden oder auch nur der Knechtschaft unter
der Sünde entronnen. Nirgends ist Raum für eine unio mystica
oder gar für die innere seelische Meeresstille des buddhistischen
Arhat. All dergleichen gab es nicht und vollends eine meta-
physische Gnosis und Weltdeutung kam gar nicht in Betracht.
Denn das Wesen Jahwes enthielt nichts Uebersinnliches in der
Bedeutung von etwas jenseits von Verstehen und Begreifen
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. 32Q
Liegendem. Seine Motive waren menschlichem Verständnis nicht
entrückt. Im Gegenteil war gerade das Verstehen der Entschlüsse
Jahwes aus berechtigten Motiven die Aufgabe des Propheten
ebenso wie die des Thoralehrers. Jahwe war ja sogar bereit,
vor dem Gericht der Welt das Recht seiner Sache zu vertreten.
Höchst einfach und offenbar erschöpfend wird bei Jesaja (28,
23 — 29) die Art seines Weltregimentes in einem der bäuerlichen
Wirtschaft entnommenen Gleichnis dargestellt; das genügte als
Theodizee ebenso vollständig wie in den ganz ähnlichen Gleich-
nissen von Jesus, die in dieser Hinsicht von durchaas ähnlichen
Voraussetzungen ausgehen. Eben diesen rationalen Charakter
sowohl des Weltgeschehens selbst, welches weder durch blinden
Zufall noch durch magische Zauberkräfte bestimmt ist, sondern
verständliche Gründe hat, wie auch der Prophetie selbst: daß
ihre Orakel im Gegensatz zur gnostischen Esoterik verständlich
waren für jedermann, empfanden die Juden auch später als das
ihren Propheten Spezifische. Von prinzipieller »Unerforschlich-
keit« konnte keine Rede sein, so gewiß Jahwes Horizont un-
vergleichlich war mit demjenigen der Kreatur. Diese prinzipielle
Verständlichkeit der göttlichen Ratschlüsse war es, welche jede
Frage nach einem Sinn der Welt, der noch hinter ihm gelegen
hätte, ebenso ausschloß wie seine majestätische Herrscherpersön-
lichkeit jeden Gedanken an mystische Gottesgemeinschaft als
Qualität der religiösen Beziehung zu ihm. Etwas derartiges
oder vollends die Selbstvergottung konnte kein echter Jahwe-
prophet und keine Kreatur überhaupt in Anspruch zu nehmen
wagen. Der Prophet konnte nie zum dauernden inneren Frieden
mit Gott kommen: das schloß dessen Natur aus. Er konnte nur
seinen inneren Druck entladen. Die positive, euphorische Wen-
dung seiner Gefühlslage aber mußte er in die Zukunft projizieren:
als Verheißung. Das bestimmte die Auslese der prophetischen
Temperamente. Es besteht gar kein Grund zu der Annahme,
daß auf palästinischem Boden apathisch-mystische Zuständlich-
keiten indischen Gepräges etwa nicht auch gefühlt worden seien.
Es läßt sich nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, ob nicht
Propheten wie Hosea und vielleicht auch noch andere ihrerseits
derartigen Zuständlichkeiten zugänglich gewesen wären. Aber
ebenso wie emotionale Ekstasen des israelitischen Typus in
Indien sich vermutlich entweder einer leidenschaftlichen Kastei-
ungsaskese zugewendet hätten oder ihre Träger, wenn sie als
3 -IQ Das antike Judentum.
Demagogen aufgetreten wären, nicht als Heilige, sondern als
Barbaren gegolten und keine Wirkung geübt hätten, — so mußte
es umgekehrt den apathisch-ekstatischen Zuständlichkeiten in
Israel gehen. Sie wurden von der Jahwereligion nicht als reli-
giöser Heilsbesitz gedeutet und wurden daher nicht, wie in
Indien, Gegenstand schulmäßiger Züchtung. Vollends ano-
mistische Konsequenzen des ekstatischen Gottbesitzes wurden
scharf abgelehnt. Ein Lügenprophet ist nach Jeremia jeder,
der das Gesetz Jahwes mißachtet und das Volk nicht zu ihm
hinzuführen trachtet.
Wenn so das mystische Haben eines außerweltlichen Gött-
lichen abgelehnt wurde zugunsten des aktiven Handelns im
Dienst des überweltlichen, aber prinzipiell verständlichen
Gottes, so ebenfalls die Spekulation über den Seinsgrund der
Welt zugunsten der schlichten Hingabe an die positiven gött-
lichen Gebote. Irgend eine philosophische Theodizee wurde
gar nicht zum Bedürfnis ; und wo sich dies Problem, an welchem
in Indien immer erneut gearbeitet wurde, doch meldete, wurde
es mit den denkbar einfachsten Mitteln erledigt. Ueber den
Auszug aus Aegypten zurück reicht das Denken der vorexilischen
Propheten bis auf Hesekiel nicht. Nicht nur die Erzväter spielen
— • im Gegensatz zum Deuteronomium — eine sehr bescheidene
Gelegenheitsrolle, sondern noch der »Urmensch« des Hesekiel
(28, 17) weist auf eine ganz andere Abwandlung des Adam-
Mythos als die später rezipierte ist. Die Legende vom goldenen
Kalb ist Hosea offenbar nicht bekannt: bei ihm spielt der
Frevel mit dem Baal-Peor die entsprechende Rolle. Immer nur
auf das Motiv des Bundesschlusses Jahwes mit Israel als mit
einem Verband, dessen Glieder solidarisch füreinander und auch
für die Taten der Ahnen haften, nicht aber auf erbsündliche
Qualitäten der Menschen, auch nicht etwa auf Adams Sünden-
fall, wird Jahwes Zorn zurückgeführt. Der Mensch erscheint
als durchaus zulänglich, Jahwes Gebote zu erfüllen, wenn er
es auch leider selten wirklich dauernd tut und deshalb des Er-
barmens Jahwes immer erneut bedarf. Auch handelt es sich
den Propheten überhaupt nicht in erster Lienie um die Frage
der sittlichen Qualifikation der Einzelnen, sondern um
die Folgen, welche das gottwidrige Tun der berufenen Vertreter
des Volks, der Fürsten, Priester, Propheten, Aeltesten, Patrizier
und erst in zweiter Linie auch das aller anderen Volksgenossen
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. ^^\
Über die Gesamtheit bringen konnte und mußte. Zuerst
bei Hesekiel (Kap. 14 u. 18) wird das Problem ausdrücklich auf-
geworfen: warum eigentlich die Gerechten mit den Ungerechten
leiden müßten und wo dafür ein Ausgleich sei. Bei Jeremia
(31, 29) wird nur für das Zukunftsreich in Aussicht gestellt, daß
ein jeder nur für seine Missetat zu büßen haben werde und
man nicht mehr sagen werde: »Die Väter haben Herlinge gegessen
und den Kindern sind davon die Zähne stumpf geworden.«
Das Deuteronomium hatte, wie wir sahen, mit dem Grundsatz
der Solidarhaft gebrochen. Es ist charakteristisch für die Eigen-
art der gänzlich an den Schicksalen der Volks gesamtheit,
nicht des Einzelnen, orientierten Prophetie, daß sie gerade in
diesem Punkt konservativer blieb. Allerdings: für das Endheü
wird von Anfang an, schon bei Amos, erwartet, daß der fromme
»Rest« vom Unheil verschont und am Heil beteiligt werde.
Und auch jene Frage der Theodizee wird bei Hesekiel dahin
beantwortet oder eigentlich nicht beantwortet: daß Jahwe die
Gerechten am Tage des Unheils verschone, diejenigen, welche
nicht gewuchert, welche Pfandgut wiedererstattet, Wohltätig-
keit geübt haben, belohnen werde, und daß alle die, welche sich
rechtzeitig bekehren werden, nicht sterben sollen. Aber das
sündige Volk soll um einiger noch so frommer Menschen willen
nicht errettet werden (14, 18). Die Hoffnung war lediglich: dem
'>Rest von Jakob«, der ihm treu bleiben würde, würde Gott,
wenn die Zeit der Rache vergangen wäre, eine bessere Zeit kom-
men lassen. Aber inzwischen galt für die Prophetie in der Be-
ziehung zu Jahwe wie bei Blutrache, Fehde und Krieg: daß
der Einzelne für das einzustehen hatte, was seine Stammes- und
Sippengenossen taten oder die Vorfahren getan und ungesühnt
gelassen hatten. Verfehlungen gegen die Bundespflicht waren
wieder und wieder geschehen und auch in der Gegenwart leicht
nachzuweisen. Folglich war der Gott schlechthin immer im Recht
und irgendwelche Probleme einer Theodizee gab es nicht. Am
allerwenigsten schließlich führten sie zu Jenseitserwartungen.
Der Vorstellung, daß das eschatologische Ereignis ein »Gericht«
sei, klingt an, ist aber nirgends ausgeführt ^) : es genügt der
»Zorn« des Gottes, um alles zu motivieren. Das Schattenreich
des Hades galt allen vorexilischen Propheten ganz ebenso wie
») Vgl. Sellin a. a. O. S. 125.
-2^2 D^s antike Judentum.
den Babyloniern als unvermeidlicher Aufenthalt aller Toten,
die Jahwe nicht, wie einige große Helden, zu sich genommen hatte.
Das Sterben als solches galt als Uebel, das vorzeitige, gewalt-
same unerwartete Sterben als Zeichen göttlichen Zornes. Scheol
sperrt den Rachen auf bei Jesaja (5, 14) und die Rettung vor
Scheol, von der Hosea (13, 14) spricht, ist nicht etwa Rettung
vor einer »Hölle«, sondern einfach vor dem physischen Tode.
Der prophetische Horizont blieb darin wie der offizielle baby-
lonische völlig diesseitig, sehr im Gegensatz zu den hellenischen
Mysterien und der orphischen Religion, welche durchweg mit
Jenseits Verheißungen arbeiteten. Sie kümmerte eben das indi-
viduelle Heil, die israelitische Prophet ie dagegen, obwohl
sie an die Seelsorge der Leviten anknüpfte, nur das Schicksal
des Volkes als eines Ganzen: immer erneut zeigt sich darin ihre
politische Orientierung. Auch die babylonischen und sonstigen
Hadesfahrtmythen ließ die Prophetie ganz beiseite. Sie hatten
ja mit dem Zukunftsschicksal der frommen Gemeinde nichts
zu schaffen und paßten nicht in den Jahwe-Glauben hinein.
Erst in einem fälschlich dem Jesaja zugeschriebenen Gedicht
der Exilszeit finden sich Spuren von Unterscheidungen im Schick-
sal der Toten im Hades, zweifellos unter dem Einfluß spätbaby-
lonischer Vorstellungen. Und auch da noch behält der Hades
ganz den homerischen Charakter: Alle, auch die großen Könige,
sind kraftlose Schatten, nur werden bestimmten großen Ver-
brechern besondere Strafen zuteil (Jes. 14, 9 f., 19 f.). Ganz
konkret und positiv, rein diesseitig, waren Jahwes Gebote,
ebenso konkret und ebenso rein diesseitig seine alten Ver-
heißungen. Nur aktuelle Probleme konkreten inner weltlichen
Handelns konnten auftauchen und Antwort fordern. Alle andere
Problematik blieb ausgeschaltet. Man muß sich die dadurch
bedingte ungeheure seelische Kräfteökonomie ganz klarmachen,
um die Tragweite dieses Sachverhaltes zu ermessen. Wie etwa
für Bismarck die Ausscheidung alles metaphysischen Grübelns
und statt dessen der Psalter auf seinem Nachttisch eine der
Vorbedingungen seines durch Philosopheme ungebrochenen Han-
delns war, so wirkte für die Juden und die von ihnen beeinflußten
religiösen Gemeinschaften diese niemals wieder ganz nieder-
gebrochene Barrikade gegen das Grübeln über den Sinn des
Kosmos. Handeln nach Gottes Gebot, nicht Erkenntnis des
Sinns der Welt frommte dem Menschen.
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. 112
Ihre spezifische Eigenart empfängt eine Ethik nun nicht
durch die Besonderheit ihrer Gebote — die israelitische Alltags-
ethik war derjenigen anderer Völker nicht unähnlich — , sondern
durch die zentrale religiöse Gesinnung, welche hinter ihr
steht. Auf deren Prägung war die israelitische Prophetie von
sehr starkem Einfluß.
Die entscheidende religiöse Forderung der Propheten
war nicht die Innehaltung einzelner Vorschriften, so wichtig diese
an sich war und so sehr sich der echte Prophet als Sittenwächter
fühlte und noch bei Jesaja (3, 10) gelegentlich die massivste
Werkgerechtigkeit das Wort führt. Sondern: der Glaube.
Nicht in irgendwie gleichem Maß : die Liebe. Diese war
allerdings bei dem nordisraelitisch orientierten Hosea (3, i)
das religiöse Grund Verhältnis zwischen dem Gott und seinem
Volk und auch bei anderen Propheten, vor allem bei Jeremia
(2, I f.) ist in stimmtmgsvoller Lyrik die in der Vorzeit bestehende
bräutliche Liebesbeziehung Jahwes zu Israel geschildert. Aber
das ist nicht das Vorwaltende und vor allem ist niemals eine
Liebesgemeinschaft m i t Gott die spezifische heilige Zuständ-
lichkeit. Den Grund kennen wir schon.
Die Forderung des Glaubens nun ist innerhalb Israels ver-
mutlich von den Propheten, und 2 war von Jesaja (7, 9), zuerst
mit diesem ungeheuren Nachdruck erhoben worden. Das stimmt
zu der Art der prophetischen Eingebung und zu deren Deutung.
Die göttliche Stimme ist es, die sie hören, und diese verlangt
zunächst schlechthin nichts anderes von ihnen selbst und durch
sie vom Volk, als: Glauben. Der Prophet mußte ja Glauben
für sich selbst fordern und dieser hatte den ihm aufgetragenen
Verkündigungen seines Gottes zu gelten. Der Glaube, den die
jüdischen Propheten verlangten, war daher nicht jenes innere
Verhalten, welches Luther und die Reformatoren darunter ver-
standen. Er bedeutete wirklich nur das bedingungslose Ver-
trauen darauf, daß Jahwe schlechthin alles vermöge, daß seine
Worte ernst gemeint seien und aller äußeren Un Wahrscheinlich-
keit zum Trotz in Erfüllung gehen werden. Diese Ueberzeugung
ist gerade von den größten Propheten, vor allem Jesaja und
Hesekiel, zur Grundtatsache ihrer Stellungnahme gemacht wor-
den. Gehorsam und vor allem Demut sind die daraus folgen-
den Tugenden und auf beide, namentlich aber auf die Demut:
die strenge Meidung nicht nur der Hybris im hellenischen Sinn,
^^A - Das antike Judentum.
sondern letztlich jedes Vertrauens auf die eigene Leistung und
allen Selbstruhms legte Jahwe ganz besonders Gewicht: eine
für die spätere Entwicklung der jüdischen Frömmigkeit folgen-
reiche Vorstellung. Die alte, die Lebensklugheit der homerischen
und noch der solonischen und herodotischen Zeit durchziehende
Furcht vor dem Neid der Götter durch allzugroßes Glück und
ihrer Rache gegen stolzes Selbstvertrauen blieb d o r t in der Wir-
kung in den Schranken einer klugen und herben Ansicht vom
Menschenlos. Die Zumutung einer »Demut« im Sinn der Pro-
pheten wäre, der Helden würde anstößig gewesen und ein eigent-
licher Vorsehungsglauben mit seiner Forderung, Gott allein die
Ehre zu geben und dem unterwürfigen Sichfügen in seine Rat-
schlüsse konnte nur in der Nachbarschaft von Weltmonarchien,
nicht in Freistaaten die Herrschaft gewinnen. Bei den Pro-
pheten aber ist diese Note absolut herrschend geworden. Die
Großkönige scheitern und ihre Reiche gehen zugrunde, weil sie
sich selbst, nicht Jahwe, die Ehre ihrer Siege geben. Und die
Großen im eigenen Lande treiben es zu ihrem Verderben nicht
anders. Wer dagegen in Demut und völligem Gehorsam vor
Jahwe wandelt, mit dem ist er, und der hat schlechthin nichts
zu fürchten. Das war nun auch die Grundlage der prophetischen
Politik. Die Propheten waren Demagogen, aber alles andere
als Realpolitiker oder politische Parteimänner überhaupt. Damit
konimen wir auf das zurück, was eingangs gesagt war.
Die politische Stellungnahme der Propheten war rein religiös,
durch die Beziehung Jahwes zu Israel motiviert, politisch an-
gesehen aber durchaus utopischen Charakters. Jahwe allein
\vird alles nach seinen Absichten lenken. Und diese Absichten
sind angesichts des Verhaltens seines Volkes für die nächste
Zukunft drohend und furchtbar. Die Großkönige und ihre
Heere sind, wie wir sahen, sein Werkzeug. Insofern ist ihr Tun
gottgewollt und Jesaja findet den Willen Jahwes, sie, die er
doch selbst gerufen, zu vernichten, »barbarisch«. Für Jeremia
ist Nebukadnezar »Gottes Knecht« und im spätnachexihschen
Danielbuch wird er infolge dieser Bezeichnung zu einem zu
Jahwe Bekehrten.
In der Art dieser Konzeptionen und vor allem: in ihrer
Rezeption durch die israelitische Frömmigkeit tritt wieder die
Sonderstellung Israels hervor. Unheilsorakel hat dem eigenen
Volk in einer ganz ähnlichen Lage: beim Bevorstehen des Perser-
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. ^^^c
angriffes, auch der delphische ApoUon gegeben: den Rat, zu
fliehen bis an die Enden der Erde. Aber das war verhängtes
Schicksal, nicht Folge von religiöser Schuld. Indessen auch
die Vorstellung, daß ein erzürnter Gott, auch der eigene Verbands-
gott, Unglück, insbesondere auch kriegerisches Unglück, über
das eigene Volk kommen läßt, ist in der ganzen Antike weit
verbreitet und findet sich namentlich auch in der frühhellenischen
Poesie. Und auch die weit spezifischere Vorstellung: daß ein
universeller Gott zur Strafe für Schuld des Volkes die Feinde
gegen die Stadt heranführt und diese dadurch entweder dem
Untergang nahe bringt oder wirklich untergehen läßt, ist nicht
der israelitischen Prophetie eigentümlich. Sie findet sich bei
Piaton, im Kritiasfragment und im Timaios, — Schriften, die'
wohl unter dem furchtbaren Eindruck des Sturzes der Macht
Athens nach Aigospotamoi standen. Und auch hier gelten
ähnliche Untugenden wie dort: Chrematismus und Hybris, als
Gründe des göttlichen Einschreitens. Aber diese theologischen
Konstruktionen eines phüosophischen Schulhaupts blieben ohne
alle religionsgeschichtliche Wirkung. Die Gassen von Jerusalem
und der Hain des Akademos waren sehr verschiedene Verkün-
digungsstätten, dem vornehmen Denker und politischen Päda-
gogen der gebildeten Jugend Athens und — gelegentlich —
syrakusischer Tyrannen oder Reformatoren lag die wilde Dema-
gogie der Propheten ganz fern, und die geordnete athenische
Ekklesia mit ihrer rational geordneten Beratung wäre bei aller
Deisidaimonie und emotionalen Erregbarkeit doch keine Stätte
ekstatischer Orakel gewesen. Vor allem aber fehlte durchaus die
spezifisch-israelitische Konzeption sowohl der Katastrophen-
Natur Jahwes wie der speziellen berith des Volkes mit dem Gott,
welche erst der ganzen Vorstellung die pathetische Resonanz
einer Bestrafung des Bruchs eines Vertrags mit diesem furcht-
baren Gott selbst gab. Eine so beträchtliche Rolle daher Orakel
ebenso wie Omina in der hellenischen Antike bei einzelnen poli-
tischen Entschlüssen gespielt haben, so hat sich doch eine solche
prophetische Theodizee daraus nicht entwickelt, wie sie die
Schriftpropheten von Anfang an der Deutung ihrer Unheils-
geschichte zugrunde legten. Zwar ist das Sehen des Unheils nicht
die Folge dieser Art der Deutung. Wie Jeremia sich von Jahwe
bezeugen läßt: daß er den Tag des Unheils für Juda nicht gerufen,
sondern verkündet habe, was ihm, zu seiner Qual, befohlen war,
2^6 I^^s antike Judentum.
SO sträubt sich, sahen wir, Jesaja innerHch gegen gewisse Un-
heilsdrohungen gegen Assur. Aber die Deutung des einmal ge-
schehenen Unheils für Israel verläuft dann in den Bahnen,
welche die Konzeptionen der israelitischen Intellektuellen und
vor allem der Thoralehrer auf Grund der alten berith -Vor-
stellung gewiesen hatten.
Für Israel galten die Gebote der Paränese. Gegen andere
Völker schreitet Jahwe dann ein, wenn seine Majestät frech
angetastet wird. Die bekannten Fluchsprüche Jesajas gegen
Assyrien sind nach ihrer Begründung ausschließlich dadurch
motiviert, daß der nähere Eindruck von dem Verhalten dieser
Könige es dem Propheten unmöglich erscheinen ließ, daß Jahwe
dies dauernd gewähren lasse. Irgendwelche realpolitischen Er-
wägungen waren also bei dem scheinbaren Wechsel der Stel-
lung des Propheten zu Assur nicht im Spiel. Und was Jerusalem
anlangt, so wechselte seine Stellung gleichfalls aus rein religiösen
Gründen. Die verderbte Stadt schien anfangs dem Untergang
geweiht. Die Jahwefrömmigkeit Hiskias brachte ihn zu der
Ansicht: daß Jerusalem niemals fallen werde. Trotz der Be-
stärkung dieser Ansicht durch den Abzug Sanheribs führte ihn
dann der Eindruck der unverändert fortbestehenden Frevel zuletzt
wieder zum Pessimismus: Das werde nun niemals verziehen wer-
den. Ebenso ist bei den anderen Propheten stets das jeweilige
religiöse Verhalten der maßgebenden Schichten das für sie Ent-
scheidende. Zuweilen scheint es fast bei jedem von ihnen, daß
sie an allem Heil verzweifelten. Bei Amos, Jesaja und Jeremia
muß dies zeitweilig auch so gewesen sein. Aber endgültig hat
das bei keinem vorgehalten. — Utopisch aber, wie ihre Politik, war
auch ihre Zukunftserwartung, die erst als alles be-
herrschender Hintergrund die ganze Gedankenwelt der Pro-
pheten innerlich zusammenhält.
Die Phantasie der Propheten ist gesättigt mit kommenden
kriegerischen und teüweise kosmischen Schrecknissen. Dennoch
aber, vielmehr: eben deshalb, träumen sie alle von einem kommen-
den Friedensreich. Schon bei Hosea, dann ebenso bei Jesaja
und Zephanja nimmt dies Zukunftsreich die üblichen babylonisch-
vorderasiatischen paradiesischen Züge an. Daß freilich die
astronomische babylonische Lehre von der durch die Präzession
der Nachtgleichen bedingten periodischen Weltumwälzung sich
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. ^•27
bei den Propheten finde, ist mit Unrecht behauptet worden^).
Die damit keineswegs notwendig zusammenhängenden, irgendwie
fast in der ganzen Welt verbreiteten, in der Antike noch inVergil's
vierter Ecloge in der typischen Form des nach der eisernen
Zeit wiederkehrenden goldenen Zeitalters verbreiteten Urstands-
vorstellungen und Zukanftshoffnungen sind es, die hier den
besonderen Voraussetzungen der Beziehung Israels zu Jahwe
angepaßt werden. Eine neue b e r i t h mit Israel, aber auch
mit dessen Feinden und sogar mit den wilden Tieren wird Jahwe
aufrichten. Die pazifistische Hoffnung kehrt seitdem, abwechselnd
mit Erwartungen der Rache an den Feinden, immer wieder.
Der wunderbare eschatologische Königsknabe Immanuel, der
Honig und Rahm ißt, ist bei Jesaja ein Friedensfürst, der bis
an die Enden der Erde waltet. Daß der Tod wieder verschwinden
wird, hat kein Prophet zu versprechen gewagt. Aber (Trito-
jesaja 65, 20) ein jeder soll »seine Jahre erfüllen«. Indes neben
solchen Konzeptionen, welche offenbar durch Uebertragung volks-
tümlicher Urstandsmythen in die Intellektuellen- Spekulationen
vorbereitet waren, stehen die massiven Zukunftserwartungen
der Bürger und Bauern. Vor allem: äußeres Wohlergehen aller
Art. Daneben aber: Rache an den Feinden. Wenn diese voll-
streckt ist, dann werden Rosse und Wagen und aller Apparat
des Königtums, sein Prunk und die Paläste seiner Beamten
dahinsinken und verschwinden und ein Heilsfürst nach der Art
der alten Gaufürsten auf einem Esel reitend in Jerusalem ein-
ziehen. Dann wird der Militär apparat überflüssig und aus den
Schwertern werden Pflüge geschmiedet.
Wie verhält sich nun diese bald mehr bürgerlich, bald
paradiesisch vorgestellte Heilszeit zu der von allen vorexüischen
Propheten verkündeten Unheilsdrohung? Man hat vielfach ge-
glaubt, ein einheitliches »Schema«: erst furchtbares Unheil, dann
überschwengliches Heil, als durchgehenden Typus der Weis-
sagung feststellen zu können und angenommen, daß dieser Typus
aus Aeygpten übernommen worden sei. Die Existenz eines solchen
einheitlichen Schemas für Aegypten scheint durch die bisher
dafür beigebrachten Beispiele — im Grunde: nur zwei — nicht
^) Am ehesten könnte der »große« Tag Jahwes bei Zeph. i, 14 an die großen
Welttage erinnern. Aber es zeigt sich sofort, daß davon keine Rede ist. Vor
«lern Exil ist von alledem nur sehr allgemeine Kunde nach Israel gedrungen.
Max Weber, Religionssoziologie UI. 22
o9g Das antike Judentum.
hinlänglich gesichert. Auch würde die Einwirkung der zweifellos
auch in Palästina verbreiteten Vegetations- und Astralkulte mit
ihren in Peripetien verlaufenden Mythologemen wohl ebenso
naheliegen (so besonders Jes. 21, 4 f.) Denn bei ihnen galt
allgemein : daß es erst völlig Nacht oder völlig Winter geworden
sein muß, ehe die Sonne oder der Frühling wiederkehrt. Daß
dies die Phantasie über den eigentlichen Kultkreis hinaus be-
einflussen konnte, ist zweifellos, wenn es auch nicht sicher ist,
ob eine Einwirkung auf die Propheten von da aus stattgefunden
hat. Denn zunächst läßt sich das angebliche Schema nicht all-
gemein in der Prophetie nachweisen. Gerade bei den älteren
Propheten sind die Orakel, welche ihm entsprechen, keineswegs
die Regel. Bei Arnos findet sich von einer Peripetie nur ein Bei-
spiel (9, 14). Sonst nur die Hoffnung, daß vielleicht, aber nicht
sicher, der Rest, der sich bekehrt, durch Jahwes Gnade erhalten
bleiben werde und nur die Sünder sterben (6, 15 ; 9, 8. 10), während
die meisten seiner Orakel nur Unheilsdrohungen enthalten. Bei
Hosea scheint das Schicksal des Nordreichs und dasjenige Judas
verschieden. Bei Jesaja finden sich Unheilsorakel ohne Heils-
weissagung und steht die Heilsweissagung vom Immanuelknaben
außer Zusammenhang mit einem Unheilsorakel. Eine eigentliche
Peripetie vom Unheil zum Heil findet sich bei ihm vor allem
in einem Orakel (21, 4 f.), wo Jerusalem im Hades versinkt,
dann aber gerettet wird. Und dies erinnert allerdings an kultische
Mythologeme. Ebenso findet sich aber bei fast allen Propheten
der von jenem Schema ganz abweichende deuteronomische
Typus der Alternative: entweder Heil oder Unheil, je nach
dem Verhalten des Volkes, ziemlich oft (Amos 5, 4 — 6; Jes. i, 19.
20: vordeuteronomisch, Jer. Kap. 7 and 18, Hes. Kap. 18:
nachdeuteronomisch). Allgemein richtig ist nur, daß kein Pro-
phet ausschließlich Unheilsorakel verkündet hat. Weiter: daß
in einigen Fällen die Heils Weissagung mit der Unheilsdrohung
als Peripetie nach der Befriedigung von Jahwes Zorn und als
Lohn für den frommen »Rest« verknüpft ist, daß ferner das
Unheil in vielen Orakeln als ganz unabwendbar und unter allen
Umständen hereinbrechend erscheint, wie ein längst verhängtes
Schicksal, und daß endlich, wenn man die Gesamtheit der Orakel
eines Propheten überblickt, allerdings der Eindruck entstehen
muß: daß beides, Unheü wie Heil, und natürlich zuerst das
erstere, unweigerlich kommen werde. Die Unabwendbarkeit des
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. ^^g
Unheils erscheint als Folge der Sünden schon der Vorväter,
die grundlos den Bund brachen (Jer. 2, 5). Aber diese fatalistische
Vorstellung ist bei der Mehrzahl der Propheten ebensowenig
festgehalten wie bei den Thoralehrern. Der Weg der Umkehr
und Abwendung des Unheils steht offen, wenn sehen ihn nur
ein »Rest« beschreiten wird. Eine Einheitlichkeit im Sinne eines
Schemas besteht, wenn man die einzelnen Orakel vergleicht,
nicht einmal bei einem und demselben Propheten. Sondern
je nach dem Sündenstand und der Weltlage wechselt das, was
geweissagt wird. Die Prophetie kennt die hellenische Moira und
die hellenistische Heimarmene nicht, sondern Jahwe, dessen
Entschlüsse wechseln je nach dem Verhalten der Menschen.
Im wesentlichen Gemeingut waren nur die beiden Vorstellungen :
einmal, daß »jener Tag«, der »Tag Jahwes«, den sich die volks-
tümliche Hoffnung als einen Tag des Schieckens und Unheils,
vor allem kriegerischen Unheils, für die Feinde, für Israel aber
als einen Tag des Lichts vorstellte, auch ein Tag des Unheils
für das eigene Volk, jedenfalls für die Sünder in ihm, sein werde.
Nach der Art, wie Amos dies verkündet, scheint es, daß diese
wichtige Konzeption tatsächlich sein geistiges Eigentum war.
Zwar blieb die Deutung als eines Tages des Heils für Israel
weiter bestehen. Aber die Annahme, daß zugleich oder vorher
ein schweres Unheil als Sündenstrafe kommen werde, blieb
Gemeingut der Prophetie. Ebenso die Konzeption des »Restes«,
dem das Heil gespendet werde, wie er schon bei Amos sich findet,
bei Jesaja aber, der seinen Sohn danach benannte, klar ent-
wickele, ist. Da nun diese beiden Vorstellungen zusammen das
Schcjua: Unheil für das Volk (oder füi die Sünder), Heil für den
Rest, ergeben, so stellt eine Peripetie vom Unheil zum Heil
oder eine Kombination beider in der Tat den Typus dar, zu
welchem die prophetische Verheißung immer wieder gravitiert.
Dies lag indessen schwerlich in einem übernommenen Schema,
sondern einfach in der Natur der Sache selbst, sobald einmal der
Charakter des »Tages Jahwes« als (wenigstens: auch) eines
Unglückstages angenommen wurde. Denn da eine schlechthin
hoffnungslose Unheilsdiohung keinen pädagogischen Sinn zu-
gelassen hätte, mußte sich dann der Typus der Peripetie zum
mindesten bei der Auslese durch die Sammler durchsetzen. Für
die Propheten selbst ist freilich von der Annahme primär päd-
agogischer Zwecke bei den Unheilsdrohungen im allgemeinen
-3 4.0 ^^s antike Judentum.
abzusehen. Sie kündeten, was sie schauten und hörten. Eigent-
liche »Bußprediger« in "jenem Sinne des Wortes, wie sie in der
Zeit der Evangelien und im Mittelalter auftraten, waren sie nicht.
Der Ruf nach Buße und Einkehr fehlte bei ihnen natürlich nicht.
Im Gegenteil gehörte die Sündenanklage ja nach Jeremia geradezu
zu den Merkmalen des echten Propheten: dieser wichtige Grund-
satz scheidet sie von allen Mystagogen. Am leidenschaftlichsten
erhob ihn gleich anfangs Hosea und ebenso findet er sich bei
Jeremia (Kap. 7). Aber als unmittelbarer Inhalt der großen
Visionen und Auditionen wird allerdings in aller Regel einfach
wiedergegeben : was Jahwe an Unheil und Heil bereits beschlossen
hat und eventuell: warum, und dem Volke hart und klar,
ohne alle Vermahnung, zugemutet: sich dem zu fügen, was es
oder die Vorfahren verschuldet haben ^) . Die eigentlichen
paränetischen Scheit- und Bußreden und Mahnungen der Pro-
pheten selbst werden dagegen in der Regel nicht als debarim
Jahwes, sondern als eigene Reden der Propheten, die in seinem
Auftrag erfolgen, eingeführt. Jedenfalls war das Schema: Unheil,
dann Heil, durch die Natur der Sache gegeben und ist auch
ohne Annahme einer Uebernahme verständlich.
Die ungeheure Leidenschaft der prophetischen Anklage,
Drohung und der meist in ganz allgemeinen Wendungen sich
bewegenden Mahnung im Unterschied zu der im Deuteronomium
mehr erbaulichen, in der älteren Paränese wuchtigen, aber sach-
lichen und die Anforderungen spezialisiert aufzählenden Thora
ist nicht nur bedingt durch Temperamentsunterschiede. Sondern
vor allem ist umgekehrt die Temperierung ihrerseits bedingt durch
die Aktualität der Zukunftserwartungen der Propheten.
Nur selten erscheint das erwartete Unheil oder Heil in eine
weitere Zukunf^ gerückt. Meist kann es jederzeit hereinbrechen.
In aller Regel aber steht es mit Wahrscheinlichkeit oder Sicher-
heit ganz unmittelbar vor der Tür. Schon sieht Jesaja das
junge Weib schwanger, das den eschatologischen Königsknaben
gebiert. Jeder einzelne Heereszug der mesopotamischen Herr-
scher, namentlich aber Ereignisse wie der Skytheneinbruch, konn-
ten das Heranziehen jenes »Feindes vom Norden« — vermutlich
*) Bsi Arnos (mit Ausnahms einer Stelle) und selbst an einer Stelle Hoseas
(5, 4) tritt das Unheil als unabwendbar auf, offensichtlich, weil der Inhalt der
Vision dahin ging, Aehnlich mehrfach bei Jesaja und wieder ganz überwiegend
bei Jeremia,
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. jai
einer Gestalt der populär-mythologischen Erwartung — be-
deuten oder einleiten, den namentlich Jeremia als Bringer des
Endes kommen sah, und die furchtbaren Schicksalsperipetien
der im Kampf begriffenen Staaten erhielten diese Erwartung
lebendig. Gerade dieser aktuelle Charakter der Endhoffnung
war aber das für die praktisch-ethische Bedeutung der Prophetie
absolut Entscheidende. Eschatologische Erwartungen und Hoff-
nungen waren volkstümlich offenbar überall rund umher ver-
breitet. Aber ihre vage Unbestimmtheit ließ, wie stets in ähn-
lichen Fällen, das praktische Verhalten so gut wie vollkommen
unberührt. Die Märchenerzähler oder der Mummenschanz bei
Kultspielen, allenfalls der intellektuelle Gnostiker in seinem
esoterischen Konventikel, wußte damit zeitlich oder personal
eng begrenzte Wirkungen zu erzielen. Nirgends waren oder
wirkten diese Erwartungen als etwas unmittelbar Aktuelles,
bei der ganzen Lebensführung in Rechnung zu Stellendes. Ak-
tuelle Erwartungen erregte die Prophetie der königlichen Heils-
propheten oder auch der, wie bei den Hellenen, wandernden
Chresmologen. Aber es waren im ersten Fall enge höfische
Kreise, im anderen die einzelnen Privaten, welche sie, mehr
oder minder, in Rechnung stellten. Hier aber, infolge der poli-
tischen Struktur und Lage Israels, wußte — wie Jeremias Kapital-
prozeß zeigt, — zum mindesten in den Kreisen der Aeltesten
jedermann noch nach loo Jahren von einem Unheilsorakel,
wie dem des Micha, und die ganze Bevölkerung geriet in Be-
wegung, wenn ein Prophet mit auffallenden Drohungen auftrat.
Denn das geweissagte Unheil war ganz aktuell, giiff jeder-
mann an die Existenz und nötigte jedermann zu fragen: was
zu seiner Abwendung geschehen könne. Und dann: eine durch
die auffallendste Bestätigung einiger unvergessener Unheüs-
Orakel legitimierte Prophetie stand dahinter, ihrerseits gestützt
durch die starke alte Opposition gegen das Königtum. Nirgends
sonst war eine derart aktuelle Erwartung durch eine rück-
sichtslose öffentliche Demagogie vertreten und zugleich in
Verbindung gebracht mit der altüberlieferten Vorstellung von
der berith Jahwes mit Israel.
Für die wahrhaft Jahwe-gläubigen Kreise mußte natur-
gem.äß gerade diese Aktualität der Enderwartung entscheidend
sein. Wir kennen aus dem Mittelalter und der Reformationszeit,
ebenso aus der alten Christengemeinde, die gewaltige Wirkung
a^2 Das antike Judentum.
solcher Erwartungen. Auch in Israel sind sie für die Lebens-
führung jener Kreise offenbar völlig ausschlaggebend gewesen.
Aus ihnen allein erklärt sich letztlich die utopistische Welt-
indifferenz der Propheten. Wenn sie von allen Bündnissen
abmahnen, wenn sie sich immer wieder gegen das eitle, hoff artige
Treiben dieser Welt wenden, wenn Jeremia ledig bleibt, so hat
das bei ihnen denselben Grund wie die Mahnung bei Jesus:
Gebet dem Kaiser was des Kaisers ist, oder wie die Mahnungen
des Paulus, daß ein jeder in seinem Beruf bleibe und daß man
ledig oder verheiratet bleiben möge, wie man sei, und die Weiber
habe als hätte man sie nicht. All diese Dinge der Gegenwart
sind ja vollkommen gleichgültig, denn das Ende steht unmittel-
bar bevor. Wie in der frühchristlichen Gemeinde, so prägte
auch bei den Propheten und ihrem Anhang diese Aktualität der
Enderwartung die ganze innere Haltung und war das, was ihrer
Verkündigung die Macht über die Hörer gab. Und trotz des
Zögerns des Heilstages fand jeder neue Prophet den gleichen
leidenschaftlichen — wenn auch vor dem Exil auf engere Kreise
beschränkten — Glauben wieder, ein volles Jahrtausend lang
bis zum Untergang Bar Kochbas. Es waren auch hier gerade
die Unwirklichkeiten, welche wirkten, deren Spuren sich am
tiefsten in die Religion eingruben und welche ihre Macht über
das Leben begründeten. Sie allein gaben dem Leben, was es
erträglich machte: Hoffnung. Vor allem der völlige Verzicht
auf alle Jenseitshoffnungen und auf jede Art von wirklicher
Theodizee — trotz des steten Fiagens nach den Gründen des
Unheils und des Postulats eines gerechten Ausgleichs — konnte
am leichtesten in einer Zeit ertragen werden, wo jeder Lebende
erwarten mußte, das eschatologische Ereignis noch selbst zu
erleben. In einer Stimmung steten Harrens lebten diese leiden-
schaftlichsten Menschen, welche Israel hervorgebracht hat. Un-
mittelbar nach dem Hereinbruch des Unheils erwartete man
ja das Heil. Nichts zeigt dies deutlicher als Jeremias Verhalten
beim bevorstehenden Sturz der Stadt: der Ankauf eines Ackers,
weü doch bald die erhofften neuen Zeiten kommen werden, und
die Mahnung an die Exilierten, sich auf dem Weg Zeichen zu
machen, um den Rückweg zu finden.
Das erwartete Heil selbst wurde allmählich sublimiert. Die
nebeneinanderstehenden Endhoffnungen: teils chiliastische Er-
wartungen eines im kosmischen Sinn paradiesischen End-
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. '^A^
zustandes bei Hosea und Jesaja, teils die ganz massive bürger-
lich materielle deuteronomische Hoffnung: Israel werde das
Jerusalemiter Patriziervolk sein, die anderen Völker die schuld-
verknechteten und zinsenden Bauern, traten beide zunehmend
zurück, um erst in nachexilischer Zeit wieder aufzutreten, die
erste bei Joel, die zweite bei Tritojesaja (6i, 5. 6). Neben der
politischen Erwartung eines militärischen Siegs und einer äußeren
Herrschaft Israels über die Völker, wie sie namentlich bei Micha
(4, 13) sich findet, und neben den alten bäuerlichen Verheißungen
reicher Ernten und äußeren Wohlstands (bei Amos) standen bei
den Propheten die weit idealeren pazifistischen Zukunftshoff-
nungen: ein Friedensreich mit der Tempelburg als Mittelpunkt
(Jesaja), als einziger Sitz der Thora, der Weisheit und Lehre für
alle Völker (Micha). Die schon bei Hosea (2,21) sich findende
Hoffnung, daß Jahwe dereinst in einer neuen berith mit Israel
ihm »Gnade, Erbarmen und Erkenntnis« verbürgen werde,
vertiefte sich bei Jeremia (31, 33. 34) und Hesekiel (Kap. 36)
gesinnungsethisch: Jahwe wird eine gnädigere berith, als es
der alte harte Bund mit seinen schweren Gesetzen war, mit
seinem Volk schließen. Das steinerne Herz wird er ihnen nehmen
und ihnen ein Herz von Fleisch und Blut geben, einen neuen
Geist in sie legen und bewirken, daß sie von sich aus Gutes tun.
'/Ich lege mein Gesetz in sie hinein, in ihr Herz schreibe ich es.«
Dann »brauchen sie nicht mehr einander zu lehren«, denn sie
kennen Jahwe. Und solange die kosmischen Ordnungen bestehen,
werden sie dann nicht aufhören, sein Volk zu sein. Daß die
Tatsache der Sünde an sich ein Problem der Theodizee sein kann,
klingt hier wenigstens von fern an. Das Ganze aber ist eine
hochgradige ethische Sublimierung der einst, in einem dem Amos
(freilich mit fraglichem Recht) zugeschriebenen Gedicht, ent-
wickelten Hoffnungen (9, 11). Die Idee dieses auf reiner Gesin-
nung ruhenden »neuen Bundes« ist noch für die Entwicklung
des Christentums von Bedeutung gewesen. Die Sünde selbst,
deren Fortnahme durch Jahwe erhofft wird, ist auch ihrerseits
sehr verinnerlicht, als eine einheitliche, gottfeindliche Gesinnung
aufgefaßt, die Beschneidung der »Vorhaut des Herzens« ist bei
Jeremia das Entscheidende, nicht irgendwelche Aeußerlich-
keiten. Auch das ist bekannten evangelischen Aussprüchen sehr
ähnlich. Nicht mehr nur -eine soziale, sondern eine rein religiöse
Utopie ist hier geschaut. Bei Jeremia gestalteten sich gleichen
■2AA Das antike Judentum.
Schrittes mit dieser Verinnerlichung und Sublimierung der Zu-
kunftserwartungen die äußerlichen Hoffnungen ungemein be-
scheiden. Während das Deuteronomium den Stadtstaat und die
patrizische Stellang der Frommen voraussetzte und die Prophetie
im übrigen, wo sie auf diese Hoffnungen zu sprechen kommt,
die Juden wenigstens als das geistige Herrenvolk der Erde, als
deren Lehrer und Führer sieht, ist bei Jeremia auch das ver-
schwunden. Der Zion wird bei ihm nur einmal (31, 6) als Sitz
der Jahweverehrung erwähnt. Zwar kennt auch er das Herren-
volksideal in seiner sublimierten Form. Aber er wird mit dem
Alter genügsamer. Fromme Hirten und Bauern sind es (31, 24),
welche Jahwe künftig segnen wird, und daß man überhaupt
künftig einmal wieder im Lande säen und ernten werde, damit
bescheidet er sich. Eine Art von »Glück im Winkel« drohte die
großen eschatologischen Weltherrschafts-Erwartungen zu ver-
drängen : wir befinden uns im vollen Elend der hereingebrochenen
Verwüstung und die Prophetie Jeremias endet am Schluß seines
Lebens im Verzicht. Fügung in dies von Jahwe verhängte
Schicksal, Verbleiben im Lande, Gehorsam gegen den baby-
lonischen König und dann gegen dessen Statthalter empfiehlt
er und warnt vor der Flucht nach Aegypten. Und während er
zuerst die baldige Wiederkehr der Exilierten erwartet hatte,
riet er ihnen späterhin, sich in den neuen Wohnsitzen häuslich
einzurichten. Nach der Ermordung Gedaljas und seiner eigenen
Verschleppung nach Aegypten stand er offenbar am Ende seiner
Hoffnungen, wie das erschütternde, tief resignierte Testament
an seinen getreuen Jünger Baruch bezeugt: »Siehe ich bringe
Unheil über alles Fleisch, raunt Jahwe, dir gebe ich dein Leben
zur Beute allerorten, wohin du gehst.« Nach spätjüdischer
Tradition sei er in Aegypten gesteinigt worden. — Diese völlig
pessimistische und nichts als fügsame Haltung hätte nun freilich
unmöglich die Unterlage für eine Aufrechterhaltung der Gemein-
schaft unter den Exilsverhältnissen bieten können. Schon wegen
jenes Rates an die Exilierten, sich in Babel einzurichten, geriet
er sofort in heftigen Konflikt mit dem Gegenpropheten Semaja,
wie die gereizte Korrespondenz nach Babylon zeigt. Vor allem
die Aktualität der Rückkehrhoffnung wurde in schroffem Gegen-
satz zu ihm von Hesekiel, dem hervorragendsten mit in das
Exil verschleppten Propheten, aufrechterhalten. — In der Tat
war sie unumgänglich nötig, um die Gemeinde überhaupt zu-
IL Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. ^aC
sammenzuhalten. Die für die mächtige Wirkung der Pro-
pheten ausschlaggebenden Endhoffnungen waren selbstverständ-
Hch nicht die subUmierten, sondern die neben ihnen bei allen
Propheten fortbestehenden massiven Formen. Eschatologische
Vorstellungen, die nicht aktuell den Anbruch des jüngsten
Tages und der Auferstehung in Aussicht stellen, haben nach
aller Erfahrung ebenso selten starke Wirkungen erzielt wie irgend-
welche weit in die Zukunft hinausgeschobenen rein irdische
Heilshoffnungen. Gerade daß hier der »Tag Jahwes« als ein
Ereignis verkündet wurde, das jeder noch jetzt zu erleben hoffen
odei befürchten durfte und daß höchst massive diesseitige
Umwälzungen in Aussicht standen, war das Entscheidende.
Der verschiedenen Gestaltung der Endhoffnungen entsprach
auch die verschiedene Formung der Vorstellung von der heil-
bringenden Persönlichkeit. Bei Arnos fehlt eine solche über-
haupt, der ganze Nachdruck lag auf dem zu rettenden »Rest«
des Volks. Aber bei den anderen Propheten sättigten sich die
Heilserwartungen mit Bildern eines Retters, wie sie die Tradition
in den alten Bundeshelden, den Schofetim, den »Heilanden«,
gekannt hatte, und verband damit die eschatologischen Vor-
stellungen, welche die Umwelt darbot. Freilich boten diese
letztlich das nicht, was man hätte brauchen können. Denn von
den Möglichkeiten der Gestalt dieses rettenden Heilandes schieden
für die prophetische Vorstellung sowohl die Inkarnation wie die
physische göttliche Zeugung und die eigentliche Apotheose aus,
da sie alle mit Jahwes überlieferter Eigenart nicht vereinbar
waren. Daß einem fremden König (Kyros) die Heilandsrolle
zufallen werde, ist erst eine Vorstellung der Exilszeit (Deutero-
jesaja). Die Rettergestalt mußte in Israel mit dem »Tage Jahwes«
in Beziehung gesetzt werden, also mit einem ganz konkreten
eschatologischen Ereignis, dessen Natur, sahen wir, aus der
überlieferten Eigenart des Katastrophengottes folgte. Eine in
diesem besonderen Sinn »eschatalogische« Retterkönigsgestalt
aber kannten die Kulturreligionen und Kulte der Umwelt (und
übrigens auch die iranische Religion) nicht. Ihnen konnten wohl
am ehesten Spekulationen von einem präexistenten Heiland, astra-
len (im Bileamspruch Num. 24, 17) oder urmenschlicheiji Charak-
ters (am deutlichsten wohl Hiob 15, 7 f., Anklänge vielleicht
Jes. 9, 5, Micha 5, i, Hes. 28, 17) entnommen werden. Aber
wenn auch solche Kultlegenden oder auch Intellektuellen-
oAiß Das antike Judentum.
Spekulationen in geheimnisvollen Andeutungen der Propheten
gelegentlich anklingen, so hat doch keiner von ihnen den Ent-
schluß gefunden, sich auf den Boden derartiger, notwendig zur
Mysterien-Esoterik führenden Vorstellungen zu stellen, schon
aus Sorge, daß dadurch Jahwes alleiniger Majestät Abbruch
geschehe. Die Gestalt mußte kreatürlichen Charakter bewahren.
So blieb entweder die in der Umwelt, soviel bekannt nicht ver-
breitete, aber aus der Heilskönigprophetie sehr leicht ableitbare
Barbarossahoffnung, in Israel also : die Wiederkehr Davids. Oder
das Ei scheinen eines neuen israelitischen Retterkö-nigs, entweder
als Sproß aus dem Davididenstamm oder als ein Wunderkind
mit den, namentlich in Mesopotamien und zwar bei lebenden
Königen (namentlich: bei Ursurpatoren) sich findenden Zügen
einer irgendwie übernatürlichen, also vor allem: vaterlosen,
Zeugung. Alle diese Möglichkeiten finden sich, die erste bei fast
allen Propheten, die letzte namentlich bei Jesaja in der Weis-
sagung des Immanuelkindes, des Sohnes des »jungen Weibes«.
Die Legitimität der Davididen hat kein Prophet, auch
nicht die im Nordreich auftretenden: Amos und Hosea, ange-
zweifelt. Der Zion ist für Amos Jahwes Sitz, für Hosea ist
Juda von den Sünden Israels unbefleckt, vor allem auch von
der Schande der Ursurpatoren. Er scheint an einen Untergang
Judas überhaupt nicht geglaubt zu haben. Auch bei Jesaja
scheint der »Rest« ursprünglich Juda gewesen zu sein. Für Micha
kommt der Heilskönig aus dem Heimatsitz der Davididensippe,
Bethel Ephrat. Bei Jesaja ist es allerdings wahrscheinlich, daß
die Figur des Heilsknaben Immanuel eine Atsage an die un-
gläubige Königsfamilie bedeutete ^) und bei Jeremia und Hese-
kiel treten die Hoffnungen auf die alte Königsdynastie stark
zurück. Neben Davididen findet sich bei Hesekiel (21, 32) auch
die Hoffnung auf jemand, »der das Recht hat, das ich (Jahwe)
ihm gebe«. Königsfeindlich aber sind die Verheißungen der
Propheten nur im Sinn der volkstümlichen, von den Intellek-
^) Merkwürdigerweise glaubt auch Kölscher (S. 229 Anm. i), es könne sich
nicht um eine eschatologische, sondern um eine reale und bekannte Figur (even-
tuell: Jesajas eigenes Weib und Sohn!) handeln, weil sonst mit dem Wunder-
zeichen ja »nichts bewiesen« sei: allein es soll gar nichts »bewiesen« werden,
sondern die Folge der Ungläubigkeit des Ahas ist die visionär, aber als a k-
tuelle Erwartung geschaute Begebenheit: seine Verwerfung zugunsten der
Heilsknaben.
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. ^aj
tuellen gestützten, Opposition: der Heilsfürst ist nicht aus-
drücklich ein Kriegskönig, der seinerseits Israels Rache an
den Feinden vollzieht, obwohl natürlich auch diese Vorstellung
gelegentlich existiert. Die Regel iet aber, daß Jahwe selbst die
Strafe vollstreckt. Daß die Gestalt des Retters die Züge eines
Propheten und Lehrer? annahm, war zwar schon in der vor-
exilischen Zeit vorbereitet durch die starke Betonung der Thoia
als dessen, was in der Endzeit Zion der Welt zu bieten habe
und durch die deuteronomische Weissagung: daß Jahwe Israel
»einen Propheten von der Art des Mose« erwecken werde. Die
Prophetie hat seit Hosea (12, 11) den Mose, neben ihm seit
Jeremia (15, i) und dem Deuteronomium den Samuel zu Arche-
geten des eigenen Berufs gestempelt. Der wesentlich rein religiöse
Charakter, der diesen Gestalten, im Gegensatz zu den Herrschern
und Heerführern gewahrt w^erden konnte: ■ — sie sind Berater
imd Mahner, nicht Volksführer — ließ beide dazu geeignet
erscheinen. Ihnen gesellte sich ganz naturgemäß die sagen -
umsponnene Gestalt des Elia bei, von dem als Erstem bekannt
war, daß er als Unheilsprophet im späteien Sinn dem König
entgegengetreten war. Aber die traditionelle Vorstellung vom
»Tage Jahwes« als einer politischen und Naturkatastrophe er-
schwerte es, an die Stelle des volkstümlichen Retterkönigs eine
rein geistliche Figur za schieben. Die eigentlich eschatologische
Konzeption eines rettenden Lehrers gehört daher erst der Exils-
zeit an, und erst in der Spätzeit hat die Hoffnung auf die Wieder-
kehr des Elia, des königsfeindlichen Magiers, jene Popularität
gewonnen, welche aus dem Neuen lestament bekannt ist. Bei
den Propheten spielt die Spekulation über die Art dieser eschato-
logischen Gestalt ersichtlich eine ganz geringe Rolle. Die Haupt-
sache ist bei ihnen: die durch ein imgeheures Tun Jahwes
selbst herbeigeführte baldige gewaltige Umwälzung: da-
durch unterscheiden sie sich vom Deuteronomium, welches
allerhand Segens- und Unsegens -Weissagungen nach Sitten-
prediger-Art paränetisch aneinanderreiht. Das menschliche Tun
bei jener Umwälzung ist ihnen letzUch uninteressant; die Vor-
stellungen darüber wechseln. Das absolute Wunder ist
der Angelpunkt aller prophetischen Erwartung, ohne welchen
sie ihre spezifische Pathetik verlieren würde. Wirklich ganz
klar oder auch nur beständig wurde deshalb das Bild der Messias-
gestalt meist nicht einmal bei einem und demselben vorexilischen
o^g Das antike Judentum.
Propheten. Auch die Rolle, welche solche Weissagungen bei
den einzelnen spielten, blieb verschieden und sank auf einen
Tiefpunkt bei Jeremia, bei welchem wieder, wie bei Arnos, der
ganze Nachdruck auf dem bekehrten Rest des Volkes als solchem
liegt und sich nur eine eigentlich »messianische« Weissagung
findet. Aehnlich steht es bei seinem Zeitgenossen Hesekiel.
Das Prestige der Davididendynastie war tief in den Schatten
getreten. Wir befinden uns eben schon auf dem Wege jener
tiefgreifenden Umgestaltung, welche aus dem »Volk Israel« die
Gemeinschaft der »Juden« machte. Juda tritt als Träger der
Verheißungen schon seit dem Verfall des Nordreichs, bei Hosea ,
dann aber bei den späteren Propheten zunehmend hervor, wenn-
schon die Hoffnung auf die Wiedervereinigung des ganzen Volkes
in der Endzeit nicht aufgegeben wurde.
Ehe wir dieser Entwicklung zum Judentum nachgehen, ist
nur noch kurz die Frage zu berühren: welchen Einfluß die
vorexilischen Propheten im Verhältnis zu den anderen treiben-
den Kräften in der Entwicklung der Ethik gehabt haben. Alle
inhaltlichen Gebote übernahmen sie ja, wie wir sahen, aus der
Thora der Leviten. Die Vorstellung von Jahwes berith mit
Israel und die wesentlichen Züge der ihnen spezifischen Gottes-
konzeption fanden sie ebenfalls vor. Soziale Schichten, welche
dem Königtum und der materiellen und ästhetischen Kultur
der Vornehmen ähnlich gegenüberstanden wie sie, hat es schon
vorher gegeben. Und auch außerhalb der rechabitischen Kreise
ist die skeptische Stellung zum Opfer höchst wahrscheinlich
immer vorhanden gewesen. Die Frage ist: ob das als Stütze der
Ethik dienende mächtige Pragma des göttlichen Unheil- und
Heilsplanes einerseits, die weitgehende gesinnungsethische Subli-
mierung der Sünde und des gottwohlgefälligen Sichverhaltens
andererseits den Propheten allein zuzuschreiben sind oder als
Erzeugnisse vorprophetischer Intellektuellenkultur anzusprechen
sind. Da spricht nun alle innere Wahrscheinlichkeit dafür, daß
die Entwicklung dieser Konzeptionen aus einer Zusammenarbeit
der Propheten mit der allmählichen Rationalisierung der le-
vdtischen Thora und dem Denken frommer gebildeter Laien-
kreise erwachsen ist. Schon die zunehmende Koinzidenz der
prophetischen Sündenregister mit den dekalogischen Geboten
spricht dafür. Die Propheten selbst waren, am Maßstab ihrer
Zeit gemessen, gebildete Männer und standen im freundlichen
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. ^aq
Verkehr, wennschon gelegentlich in Spannung, zu jenen Kreisen,
welche in die deuteionomische Schule ausmündeten. Die syste-
matische ethische Kasuistik wird bei den Thoralehrern, die
Führung und Paroleausgabe bei der gesinnungsethischen Sub-
limierung und Zusammenraffung aber bei den prophetischen
Eingebungen gelegen haben. Man braucht nur die erbauliche
und bürgerliche Vorstellungs- und Darstellungsweise des Deutero-
nomisten mit Jesajas Orakeln zu vergleichen, um die Vorstel-
lung abzuweisen (die ernsthaft aufgetaucht ist), daß er dies
paränetische Werk selbst verfaßt und »eingesiegelt« seinen
Jüngern übergeben habe. Das ist einfach undenkbar und die
Alternative: »Segen oder Fluch je nach Verhalten«, entsprach
der Volkspädagogik der Thoralehre ebenso, wie sie den Visionen
kommenden Unheils gerade bei diesem und den späteren Pro-
pheten fremd ist. Entscheidend für den Gegensatz war hier die
ungeheure Aktualität der furchtbaren Erwartungen der
durch und durch an den politischen Katastrophen
orientierten Propheten, im Gegensatz zu der einerseits die indi-
viduelle Vergeltung der Sünden und der Frömmigkeit ihrer
Kundschaft: der Einzelnen, andererseits in der Zukunft liegende
und dabei ziemlich hausbackene Hoffnungen und Befürchtungen
für das Bürgertum im vermahnenden Ton ausmalender Sitten-
predigt des Deuteronomium. Dennoch ist das Deuteronomium
natürlich nicht ohne die Prophetie denkbar. Denn auf den
Propheten der Zukunft hofft ja gerade dies Werk. Und die
naiven Kriegsregeln des Deuteronomium sind ganz in pro-
phetischer Art rein utopistisch und nur aus der Uebernahme
der bei den Propheten unmittelbar erlebnismäßigen Glaubens-
konzeption zu erklären. . Nur ist alles ins Alltägliche und Stim-
mungshafte transponiert. Ebenso ist — was hier nicht verfolgt
werden kann — die gesamte jetzige Redaktion der Tradition und
Thora, soweit sie als vorexilisch angesehen werden darf, pro-
phetisch, wenn auch in sehr verschiedener Intensität, beeinflußt,
wennschon zweifellos von ihrerseits nicht prophetischen Redaktoren
ausgestaltet. Voi allem aber: ohne das gewaltige Prestige dieser
in allem Volk bekannten und gefürchteten Demagogen wäre die
Autorität der, von jeder rein volkstümlichen ebenso wie von einer
rein kultpriesterlichen Auffassung der Beziehung Israels zu seinem
Gott gleich fernen, Konzeption Jahwes als des Jerusalem zer-
störenden und wieder aufbauenden Weltgottes schwerlich jemals
oCQ Das antike Judentum.
durchgedrungen. Es ist völlig undenkbar, daß ohne die er-
schütternden Erfahrungen einer Bestätigung der in aller Oeffent-
lichkeit gespiochenen, noch nach hundert Jahren im Gedächtnis
haftenden (Jer. 26, 18) prophetischen Unheilsworte der Glaube
des Volkes durch die furchtbaren politischen Schicksale nicht
nur nicht zerbrochen, sondern in einer einzigartigen und ganz
unerhörten historischen Paradoxie gerade erst definitiv gefestigt
worden wäre. Der ganze innere Aufbau des »Alten Testaments«
ist ohne die Orientierung an den Orakeln der Propheten undenk-
bar, und indem dieses heilige Buch der Juden auch ein solches
der Christen wurde und die ganze Deutung der Sendung des
Nazareners vor allem durch die alten Verheißungen an Israel
bestimmt wurde, reicht der Schatten dieser Riesengestalten
durch die Jahrtausende bis in die Gegenwart hinein. Ohne die
großartigen Deutungen von Jahwes Absichten und die felsen-
feste Zuversicht auf seine Verheißungen trotz alledem, ja gerade
wegen alles dessen, was er, der unheimlichen Vorhersage gemäß,
über sein Volk verhängte, wäre andererseits auch niemals jene in-
nerisraelitische Entwicklung denkbar gewesen, welche allein einen
Fortbestand der Jahwegemeinschaft nach der Zerstörung Jerusa-
lems ermöglichte: vom politischen zum konfessionellen Verband.
Vor allem wieder die gewaltige emotionale Aktualität der
eschatologischen Erwartung entschied hier alles. Gerade ihrer be-
durfte man im Exil am unbedingtesten. Mit der bloßen Thoraund
deren erbaulichen Ermahnungen und Vertröstungen der deutero-
nomischen Intellektuellen wäre nichts getan gewesen. Rache-
durst und Hoffnung waren die naturgemäßen Triebfedern alles
Handelns der Gläubigen und nur die Prophetie, die jedem die
Hoffnung gab, die Befriedigung dieser leidenschaftlichen Er-
wartungen noch selbst zu erleben, konnte hier den religiösen
Zusammenhalt der politisch zertrümmerten Gemeinschaft geben.
Und gerade daß die Propheten keinerlei Handhabe für die Bil-
dung einer neuen religiösen Gemeinschaft geboten hatten,
daß lediglich die ethische und zwar: gesinnungsethische, Sub-
limierung der überlieferten Religion den unmittelbar praktisch-
ethischen Inhalt ihrer eschatologischen Verkündigung bildete,
machte es möglich, daß der neue konfessionelle Verband, indem
er sich rituell einkapselte, sich als unmittelbare Fortsetzung
der alten rituellen Volksgemeinschaft fühlte: was dem Christen-
tum nicht dauernd möglich war. —
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. -2 c i
Die Leistung der Prophetie wirkte zusammen mit den
überkommenen rituellen Gewohnheiten Israels, um das hervor-
zubringen, was dem Judentum seine Pariastellung in der Welt
eintrug. Die israelitische Ethik insbesondere erhielt ihr dafür
entscheidendes Gepräge durch den exklusiven Charakter, welchen
ihr die Entwicklung der Priesterthora gab. Auch die ägyptische
Ethik war exklusiv insofern, als sie, wie alle antiken Ethiken,
den Nichtlandsmann selbstverständlich ignorierte. Ein Aus-
schluß des Konnubium mit Fremden scheint bei den Aegyptein
allerdings nicht bestanden zu haben, auch keine allgemeine
rituelle Unreinheit dieser. Dagegen scheinen die Aegypter, im
Gegensatz zu Israel, die Berührung des Mundes und Geschirrs
solcher Völker, welche Kuhfleisch aßen, ähnlich den Indern
gemieden zu haben. In Israel fehlte ursprünglich jede rituelle
Absonderung von Fremden und gewann die im wesentlichen
dem allgemeinen Typus entsprechende Exklusivität ihre besondere
Note erst durch ihre Verbindung mit der Entwicklung zum kon-
fessionellen Verband. Diese Umgestaltung der israelitischen Ge-
meinschaft begann allerdings unter dem Einfluß der Thora und
der Prophetie schon vor dem Exil. Sie äußerte sich zunächst in
der zunehmenden Einbeziehung der Metöken (gerim) in ihre
rituelle Ordnung. Ursprünglich hatte der ger, wie wir sahen,
damit nichts zu tun. Die Beschneidung war eine nicht nur israeli-
tische Institution, innerhalb Israels aber obligatorisch nur für
die Wehrmacht, der Sabbat ein vermuthch über den Kreis der
Vollisraeliten und vielleicht über den Kreis der Jahweverehrer
hinaus verbreiteter Ruhetag, der allmählich zum Rang eines
paränetischen Grundgebots aufgestiegen war. Daß der ger sich
beschneiden lassen und dann am Passahmahl teilnehmen durfte
(Ex. 12, 48), war zweifellos bereits eine durch die pazifistische
Umformung der jahwistisch frommen Kreise bedingte Neuerung.
Daraus wurde nun (Num. 9. 14) eine Pflicht des ger. Wohl schon
vorher war auch den gerim der Blutgenuß (Lev. 17, 10) und
das Molochopfer (Lev. 20, 2) bei Todesstrafe verboten und vor
allem die Sabbatruhe auferlegt worden. Die deuteronomische
und endgültig die exilische Priesterlehre (Num. 9, 14; 15, 15. 16)
machte dann allen rituellen Unterschieden zwischen Vollisraeliten
und gerim ein Ende: »ein Recht« sollte für sie und die Israeliten
gelten für ewige Zeiten. (Danach der offensichtlich nachträgliche
Zusatz Ex. 12, 49.) Nach Deut. 29, 11 gehören die gerim mit
T^2 Das antike Judentum.
zum Bunde mit Jahwe und dies wird im Josuabuch (8, 33) sogar
in die sichemitische Fluch- und Segenszeremonie eingefügt (die
späte Vorschrift Deut. 31, 12 bestimmt daher ausdrückhch:
daß die Thora auch für sie öffentüch vorgelesen werden soll),
das Interesse der Priester an der Kundschaft der gerim, unter
denen sich so exemplarische Fromme wie die jahwistischen Vieh-
züchter befanden, — während die »Vornehmen« in der Erzählung
von dem Aufruhr der Korachiten mit diesen zusammen als
Priestergegner figurieren — , in Verbindung mit der Entmilitari-
sierung der israelitischen Bauern und Ackerbüiger waren die
treibenden Kräfte dabei. Die politisch rechtlosen oder minder-
berechtigten Schichten waren hier, wie auch sonst oft, ein zu-
nehmend wichtiges Arbeitsfeld der Leviten, und im Exil: der
Priester. Wohl erst aus der Exilszeit stammen die in die jetzige
Redaktion des Deuteronomium (23, 8) aufgenommenen Vor-
schriften über die Aufnahme ganz Fremder, zunächst der Aegypter
und Edomiter, in die volle rituelle Gemeinschaft. An Stelle des
alten Verbandes der ansässigen Krieger mit den durch berith
angeghederten Gaststämmen der gerim trat nun zunehmend ein
rein ritualistischer Verband, und zwar ein — wenigstens ideeller —
Gebietsverband mit Jerusalem als postulierter Hauptstadt.
In der Frage der Zukunftsgestaltung der Jahwegemeinde
war anfänglich die Stellungnahme keine einheitliche. Bald nach
der ersten Fortführung empfahl Jeremia den Exulanten, sich
in Babylon heimisch zu machen. Nach der Zerstörung Jeru-
salems trat er andererseits dafür ein, daß die im Lande Gelassenen
dort bleiben sollten. Es wäre dann ein ländliches Gemeinwesen
mit Mizpah als Mittelpunkt unter babylonischer Hoheit entstanden.
Mit der größten Schärfe wendete sich aber hiergegen Hesekiel
(nach der vermutlich richtigen Deutung von 33, 25). Jerusalem
war ihm, dem Priester, die einzig legale Kultstätte, und ohne
das Festhalten an den Verheißungen für den Zion gab es keine
Zukunftshoffnung. Praktisch hatte er damit unzweifelhaft recht.
Das Gebot der rituellen Einheitlichkeit des Volkes einschließlich
der gerim wurde nun in Verbindung gebracht mit der schon in der
Zeit des Amos behaupteten spezifischen rituellen Reinheit des
Landes, welches Jahwe Israel gegeben habe, im Gegensatz zu
andern Ländern. Der zunehmende konfessionelle Eifer der Exils-
priester verlangte daher theoretisch: daß darin rituell Unreine
als dauernd Ansässige nicht geduldet werden sollten. Fast in
IL Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. ^Cß
dem Augenblick also, wo Israel seine reale Gebietsgrundlage
verlor, wurde so für das sich nunmehr entwickelnde international
ansässige Gastvolk der ideale Wert der politischen Gebiets-
grundlage endgültig rituell festgelegt: nur in Jerusalem durfte
geopfert werden und im Gebiet Israels sollten nur rituell Reine
dauernd ansässig sein. Alle rituell reinen Verehrer Jahwes aber,
gleichviel ob Israeliten oder gerim oder Neukonvertiten, waren
nun konfessionell gleichwertig.
Die rein religiöse, auf den prophetischen Verheißungen
ruhende Natur der Gemeinschaft bedingte nun, daß diese kon-
fessionelle Absonderung nach außen an Stelle der politischen
trat und sich wesentlich verschärfte. Wir verfolgen dies zunächst
an der Entwicklung der materialen Ethik. Die Pflichten des
Israeliten waren selbstverständlich von Anfang an, wie ursprüng-
lich bei allen Völkern der Erde, vei'schieden, je nachdem es
sich um einen Stammesbruder oder einen Stammfremden han-
delte. Die Erz Väterethik behandelte Ueberlistung und Täuschung
auch der ethnisch nächststehenden Stammfremden, wie der
Edorhiter (Esau) oder der Nomaden des Ostens (Laban)
als unanstößig. Jahwe befiehlt Mose, den Pharao zu belügen
(Ex. 3, i8; 4, 23; 5, i) und hilft den Israeliten, sich durch Unter-
schlagung beim Auszug in den Besitz ägyptischen Guts zu setzen.
Auch innerhalb Israels selbst bestand, wie wir sahen, die Stammes-
scheidung mit ähnlichen Konsequenzen. Der ger war rechtlich
im Rahmen der mit seiner Gemeinschaft bestehenden berith,
ethisch nur durch die levitische Paränese geschützt. Aber irgend
welche »Fremdenfeindschaft« fehlte der älteren Zeit. Unter den
gerim befanden sich, wie die Tradition weiß, auch kanaanäische
Gemeinden (Paradigma: Gibeon). Erst der gegen die kana-
anäische Sexualorgiastik gerichtete jahwistische Puritanismus
einerseits, Salomos nationales Königreich andererseits verschärf-
ten zunächst den Gegensatz gegen die Kaaaanäer einschließlich
der kanaanäischen gerim. Alle Kanaanäer galten der exilischen
Anschauung als Feinde und \ on Jahwe wegen sexueller Scham-
losigkeit zur Knechtschaft, späterhin, wegen der Heiligkeit des
Landes imd damit sie Israel nicht zum Abfall verführen (Ex. 23,
23 L; 34, 15), zur Ausrottung bestimmt. Eine berith mit ihnen
war nach diesep Auffassung unzulässig, es sei denn, wie die
Sichem-Tradition vorbehält, daß sie durch Beschneidung in die
rituelle Gemeinschaft eintreten: angesichts der wohl zweifel-
Max Weber, Religionssoziologic III. 2^
^ CA Das antike Judentum.
losen Heri schal t der Beschneidung unter den Kanaanäern, wie
schon bemerkt, eine späte Eintragung. Denn die Beziehung
Israels zu den Nichtisiaeliten war in der älteren Zeit umgekehrt
durchaus politisch bedingt gewesen, auch in kultischer und
ritueller Hinsicht. Weder bestand ursprünglich Ausschluß der
Kommensalität, noch — was damit zusammenhing — Inkom-
patibilität fremder Opfer. Die Speisegemeinschaft mit den
Gibeoniten war freilich, wie der Wortlaut der Stelle ergibt, kein
>>Opfermahl«, sondern einfache Kommensalität als Folge der
berith. Aber immerhin: die Israeliten nahmen bei einer rituellen
Gelegenheit fremde Speise. Die Erzählung von der Mahlzeit
Josephs und seiner Brüder und der Aegypter (Gen. 34, 32) zeigt,
daß die Ablehnung der Kommensalität mit Fremden durch die
Aegypter zur Zeit der Entstehung dieser Tradition als deren
Besonderheit im Gegensatz zu Isiael galt. Die unter dem Ein-
fluß des jahwistischen Puritanismus zunehmend sich verschärfen-
den Verbote der gemeinsamen Opfermahlzeit mit Fremden
(Ex. 34, 16; Num. 25, I f.) wären schwerlich nötig gewesen, wenn
nicht auch solche ursprünglich wie in aller Welt, so auch bei den
Israeliten vorgekommen wären. Fraglich mag bleiben, ob der
mit Opfern verbundene Vertrag von Jakob und Laban (Gen; 31,
53 f.) dem Elohisten (der den Laban als Diener anderer Götter
behandelt) als eine solche gegolten hatte. Aber noch in den
Elisageschichten findet sich bezeugt, daß ein Jahwe Verehrer,
der in fremden Diensten steht, wie Naeman, nach damaliger
Anschauung am Kult des Gottes seines Königs teilnehmen durfte,
zweifellos weil dies ein politischer Akt war : eine Ansicht, welche
der späteren konfessionellen jüdischen Auffassung, die gegenüber
der Zumutung des Königs- und Kaiserkults das Martyrium
wählte, ein Greuel gewesen wäre. Die volle Konsequenz aus der
strengen Monolatrie, wie sie durch die berith bedingt war, ist
eben erst in der Zeit der Konfessionalisierung gezogen worden.
Auch Konnubium findet sich unbedenklich erwähnt. Eine
Gefangene, und zwar dem Zusammenhang nach eine gefangene -
Kanaanäerin, darf man zum Weibe nehmen. Daß sie als Kon-
kubine galt und daß der Grundsatz aufgestellt wurde : der Sohn
der Magd soll in Israel nicht erben, war hier wie überall erst
Entwicklungsprodukt einer Epoche, in welcher die begüterten
Sippen ihre Töchter bei der Heirat mit einer Ausstattung ver-
sahen und daher für deren Kinder das Monopol der Legitimität
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. ^cc
beanspruchten. Vielleicht von hier aus begannen zuerst die
Bedenken gegen das Konnubium mit Ungenossen. die dann in
der Zeit dei Prinzessinnen-Heiraten bei den Frommen sich aus
konfessionellen Gründen schnell steigerten. Erst die Exilszeit
aber schritt zu wirklichen Mischeheverboten. Noch der Stamm-
baum Davids weist ja nach der Ruth-Erzählung eine Fremde auf ..
Die innei liehe Beziehung zu den Nichtisraeliten spiegelt
sich am deutlichsten in der Entwicklung der Stellung Jahwes
zu ihnen ^). Für diese aber waren zunächst rein poli-
tische Motive n^aßgebend. Sie sind ihm an sich gleichgültig.
Wenn Krieg mit ihnen ausbricht, steht er natürlich auf Israels
Seite. Aber die Fremden sind ihm, auch wenn sie andere Götter
verehren, nicht als solche verhaßt. Wenn sie im Krieg Israel
Hilfe leihen oder ihm sonst nützen (Hobab als Führer durch die
Wüste Num. lo), vollends wenn sie ihr Volk an Israel verraten
(Rahab und der Spion in Lu. 5, Jos. 2, Jer. i), so erhalten sie
das Privileg, als gerim in Israel zu wohnen. Daß fremde
Völker um ihrer selbst willen bekämpft werden müßten, davon
ist keine Rede. Im Gegenteil: Jahwe mißbilligt ganz offen-
sichtlich ihre politisch unkluge und vor allem ; verräterische
Schädigung (wie bei Sichem) und der pazifistische Erzvätergott
hat offensichtlich Freude an Abrahams Güte gegen Lot bei der
friedhchen Landesteilung (Gen. 13) und erhört Abrahams Für-
bitte für Abimelech. Die Güte Fremder gegen Israel mit Bösem
zu vergelten erscheint gelegentlich als Jahwe nicht wohlgefällig.
Nie wird im Namen Jahwes in der alten Ueberlieferung anderen
Völkern ihre Verehrung ihrer eigenen Götter vorgeworfen; die
Legitimität der andern Götter für sie wird andererseits nur aus-
nahmsweise (in der Jephtha-Erzählung und in der ursprüng-
lichen Fassung der Erzählung vom Sohnesopfer des Königs
von Moab) anerkannt. Das alles sind allgemein übliche Stellung-
nahmen, leicht modifiziert nur durch das besondere berith-
Verhältnis Jahwes zu Israel. Aber Jahwe hat nach der Erz-
väterlegende (Gen. 27, 40) auch Edom, einem alten Sitz seiner
Verehrung, eine Verheißung, wenn au'';h eine bescheidenere, ge-
geben; ebenso dem offenbar gleichfalls als der Jahweverehrung
zuneigend angesehenen Ismael.
*) Vgl. dazu die gute Arbeit von P e i s k e r. Ueber die im einzelnen
nicht weiter feststellbare Bedeutung des palästinischen Kriegsvölkerrechtsbundes
ist .schon oben gesprochen.
23*
T^ 1-5 Das antike Judentum.
Eine universalistische Rationalisierung dieser Vorstellungen
begann mit dem theologischen Theodizee-Bedürfnis, welches aus
der berith mit Jahwe dessen Recht, Israel im Falle des Ungehor-
sams zu züchtigen, ableitete, um die politische Bedrohung und
die Niederlagen zu erklären . Jahwe bleibt nach wie vor indifferent
gegen die anderen Völker. Aber er benutzt sie als »Gottesgeißel«
(Peisker) gegen das ungehorsame Israel, um, sobald sein Volk
sich wieder gebessert hat, sie wieder durch Israel niederschlagen
zu lassen. So in typischer Art in der Pragmatik des jetzigen
Richterbuches. Auf Israel, und nur auf Israel, kommt es Jahwe
an, die andern sind nur Mittel zum Zweck. — Allein, damit sie
das sein konnten, mußte Jahwe die Macht haben, sie zu seinen
Zwecken nach Belieben zu gebrauchen. Er mußte also mindestens
teilweise auch ihr Geschick bestimmen. Er tat das durchaus
nicht nur zu ihrem Nachteil. Die Begrenzung der Wohnsitze
Israels, die sein Werk ist, geschah zwar nicht im Interesse der
andern Völker, aber sie kam doch ihnen ?ugute. Offenbar der
Ausdruck des damals gerade bestehenden friedlichen Zustandes
mit Moab und Edom sind die deuteronomischen Erklärungen:
daß er, Jahwe, den Kindern Esaus Seir und den Kindern Lots
Moab zu bewohnen gegeben habe (Deut. 2, 4. 9) und das darauf
begründete Verbot, sie mit Krieg zu überziehen. Seine Ver-
fügungen über die Fremden wurden denen über Israel in vieler
Hinsicht immer ähnlicher. In der priesterlichen Redaktion, der
Auszugslegende ist es Jahwe, der Pharaos Herz verstockt (Ex.
7, 2) — was dem deuteronomischen Vorstellungskreis entspricht — ,
um seine Macht umsomehr verherrlichen zu können. Subjektiv
zwar kennen die Fremden — so der Pharao — Jahwe nicht
(Deut. 5, 2, elohistisch) , aber der Glaube, daß Jahwe es sei,
welcher die Philister und Aramäer aus der Ferne herbeigeführt
habe, muß doch schon über die ersten Propheten zurückgehen,
da diese ihn voraussetzen. Erst mit dem zunehmenden Uni-
versalismus der Gotteskonzeption wurde die Sonderstellung
Israels durch Jahwe jene Paradoxie, die nun zu motivieren
versucht wurde durch erneute Betonung der alten berith-Kon-
zeption (jetzt in der Form einer einseitigen, durch Gehorsam
bedingten göttlichen Zusage aus grundloser Liebe oder wegen
des ihm wohlgefälligen unbedingten Vertrauens der Vorfahren
oder wegen der — kultischen — Greuel der anderen Völker).
Aus einer historisch bedingten sozialen Form des politischen
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. ^57
Verbandes wurde die berith also nun ein theologisches Kon-
struktionsmittel. Jetzt erst, wo Jahwe immer mehr der gött-
liche Souverän des Himmels und der Erde und aller Völker ge-
worden war, wurde Israel das von ihm »auserwählte« Volk.
Auf diese Auserwähltheit wurden nun die besonderen rituellen
und ethischen Pflichten und Rechte der IsraeHten, wie wir bei
Arnos sehen, begründet. Der an sich überall urwüchsige Dua-
lismus der Binnen- und Außen-Moral erhielt
jetzt für die Jahwegemeinde diesen pathetischen Unterbau.
Auf ökonomischem Gebiet war er am augenfälligsten und
ausdrücklichsten im Wucherverbot, demnächst in den sozialen
Schutz- und Brüderlichkeits-Bestimmungen der karitativen Par-
änese heimisch. Denn es verwarf ursprünglich nur (Ev. 22, 25)
die Ausbeutung des armen — zweifellos (cf. Jer. 25, 36) des
verarmten Bruders, und bezog sich nur auf die Vollisrae-
Uten ('am). Ausdrücklich gestattete das Deuteronomium den
Wucher am Konfessions-Fremden (nakhri). Ursprünglich war es,
wie die hierher gehörigen deuteronomischen Verheißungen und die
parallelgehenden Unheilsdrohungen (von denen letztere statt des
nakhri noch den ger nennen) zeigen, der Wucher am ger. Wucher
bleibt zwar Wucher. Aber, so ist Deut. 23, 20 zu verstehen, auch
diesen Wucher wird Jahwe, wie alle anderen Unternehmungen
des Israeliten, durch Erfolg segnen, wenn er nur an seinem
Bruder nicht wuchert. Ebenso sind alle anderen sozialethischen
Bestimmungen: Sabbatjahr, Armenecke, Nachlese, auf die gerim
und die ebjonim des eigenen Volkes beschränkt. Der »Nächste«
ist immer der Volks- oder jetzt der Konfessionsgenosse. Nicht
minder gilt dies für die gesinnungsethische Paränese: gegen den
Angehörigen des eignen Volkes soll man keinen Haß im Herzen
tragen, sondern ihn »lieben wie sich selbst«, der »Feind«, dessen
Vieh man nicht irregehen lassen soll (Ex. 23, 4), ist nicht ein
Landfremder im politischen Sinn, sondern, wie Deut. 22, i
zeigt, der Volksgenosse, mit dem man verfeindet ist. Wohl-
wollendes und rechtliches Verhalten eines Israeliten gegen einen
Fremden kann zwar den guten Ruf Israels vermehren und daher
Jahwe wohlgefällig sein. Aber die sittlichen Gebote der Paränese
sind nur auf die »Brüder« beschränkt. Das Gastrecht blieb wie vor
alters heilig. Aber sonst wurden nur schwere Greuel gegen Fremde,
die Israels guten Ruf gefährden, auch von Jahwe mißbilligt.
Die Scheidung \'on () k o n o m i s c h e r Binnen- und Außen-
2tg Das antike Judentum.
ethik ist für die religiöse Wertung der Wirtschaftsgebarung dauernd
bedeutsam geblieben. Niemals konnte, in dem Sinne, wie imPuri-
tanismus, die auf dem Boden der formalen Legalität stebende
rationale Erwerbs Wirtschaft religiös positiv b e w e r t e t
werden, und das ist auch tatsächlich nicht geschehen. Das hinderte
der Dualismus der Wirtschaftsethik, welcher bestimmte, dem
Glaubensbruder gegenüber streng verpönte Arten des Verhaltens
dem Nichtbruder gegenüber zuAdiaphora stempelte. Dies
war das Entscheidende. Es hat den jüdischen Theoretikern
der Ethik Schwierigkeiten bereitet: wenn Maimonides der An-
sicht zuneigte, daß das Zinsennehmen vom Fremden geradezu
religiös geboten sei, so ist das — neben der zeitgeschicht-
lichen Lage der Juden — ■ zweifellos diuxh die Abneigung gegen
die für jede formalistische Ethik gefährliche Zulassung von
solchen Adiaphora mitbedingt. Die spät jüdische Ethik hat den
Wucher im Sinn einer rücksichtslosen Ausbeutung auch gegen-
über Nicht Juden mißbilligt. Aber gegenüber den massiven Worten
der Thora und der inzwischen eingetretenen sozialen Lage mußte
der Erfolg prekär sein, und jedenfalls blieb der Dualismus in der
Zinsfrage bestehen. Theoretische Schwierigkeiten ethischer
Denker sind natürlich Nebensache. Praktisch aber bedeutete
dieser die ganze Ethik durchziehende Dualismus: daß jener
spezifische Gedanke der religiösen »Bewährung« durch rationale
»inner weltliche Askese« fortfiel, der dem Puritanismus eignet.
Denn dieser konnte nicht auf etwas an sich Verwerflichem, nur
gewissen Kategorien von Personen gegenüber »Erlaubtem«, fußen.
Die ganze religiöse »Berufs «-Konzeption des asketischen Pro-
testantismus fiel damit von vornherein fort, und daran konnte
die überaus hohe (aber : traditionalistische) Schätzung der treuen
Arbeit im Beruf, die wir (bei Jesus Sirach) finden werden, nichts
ändern. Der Unterschied liegt deutlich zutage. Die Rabbinen
haben zwar, zumal in der Zeit der Proselyten-Propaganda, höchst
nachdrücklich ein rechtliches und ehrbares Verhalten der Juden
gegenüber den Wirts Völkern eingeschärft, wie wir sehen werden.
In diesem Punkt unterscheidet sich die talmudischc Lehre in
nichts von den ethischen Prinzipien anderer Glaubensgemein-
schaften. Insbesondere hat das antike Christentum (Clemens
von Alexandrien) bezüglich der Wirtschaftsethik dem gleichen
Dualismus zugeneigt, den das alttestamentliche Wucherrecht
bannte. Der puritanische Glaubenskämpfer stand dem Glau-
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. •i^Q
beiisfremden mit dem gleichen — teilweise durch die alttestament-
liche Stimmung gespeisten — Abscheu gegenüber wie die Priester-
gesetzgebung Israels dem Kanaanäer, und daß vollends ein nicht
glaubensverwandter König ein »Knecht Gottes« sein könne, wie
dies die israelitische Propheiie z.B. von Nebukadnezar und Kyrcs
ausdrücklich sagt, wäre keinem Puritaner je in den Mund ge-
kommen. Aber auf dem Gebiet der W irtschafts ethik tritt in den
Kundgebungen der christlichen Sektierer etwa des 17. und 18. Jahr-
hunderts (vor allem der Baptisten und Quäker) der Stolz insbe-
sondere darauf zutage, daß sie gerade im wirtschaftlichen Ver-
kehr mit den Gottlosen Legalität, Ehrlichkeit, Billigkeit an
die Stelle von Fälschen, Uebervorteilung, Un Verläßlichkeit gesetzt
haben, daß sie das System der festen Preise durchgeführt haben,
daß ihre Kunden, selbst wenn sie nur ihre Kinder schicken,
doch stets reelle Ware gegen reellen Preis erhalten, daß die Depots
und Kredite bei ihnen sicher stehen, daß eben deshalb sie, ihre
Handelsläden, ihre Banken, ihre Gewerbetreibenden von den
Gottlosen als Kunden vor allen Andren bevorzugt werden, kurz:
daß ihr überlegenes, religiös bedingtes Wirtschaftsethos
ihnen die Ueberlegenheit über die Konkurrenz der Gottlosen
nach dem Prinzip verschaffe: »honesty is the best poHcy.« Ganz
wie man es in den Vereinigten Staaten noch bis in die letzten
Jahrzehnte im Mittelstand als Realität erleben konnte. Und
ähnlich wie es für die Jaina und Parsen in Indien zutraf : — nur
daß hier die rituelle Gebundenheit den Konsequenzen für die
Rationalisierung des Wirt Schaftsbetriebs feste Schran-
ken setzte. So wenig wie ein korrekter Jaina oder ein Parse
würde ein frommer Puritaner jemals sich in den Dienst des
kolonialen Kapitalismus, des Staatslieferanten-, Steuer- und
Zollpächter- oder Staatsmonopol-Kapitalismus gestellt haben.
Diese spezifischen Formen des antiken, des außereuropäischen
und des vor der modernen bürgerlichen Entwicklung liegenden
Kapitalismus waren ihm ethisch verwerfliche und Gott miß-
fällige Arten roher Geldakkumulation. — Ganz anders die jüdische
Wirtschaftsethik. Zunächst konnte es unmöglich ohne Wirkung
bleiben, daß die Ethik gerade der Erzväter gegenüber den »Un-
geriossen« doch einen sehr penetranten Einschlag der Maxime:
»Qui trompe-t-on ?« enthielt. Jedenfalls fehlte jedes s o t er i o-
logische Motiv zur ethischen Rationalisierung der ökono-
mischen Außenbeziehungen: jede religiöse Prämie darauf. Das
-3^Q Das antike Judentum.
hatte für die Art der ökonomischen Betätigung der Juden weit-
reichende Folgen. Gerade in den vom Puritanismus perhorres-
zierten Formen des Staats- und Raub-Kapitahsmus war — neben
reinem Geldwucher und Handel — der jüdische Paria-Kapitalis-
mus seit der Antike ebenso zu Hause wie etwa derjenige der
hinduistischen Händlerkasten. Das galt in beiden Fällen als
ethisch prinzipiell unbedenklich. Zwar wer als Zollpächter gott-
loser eigener Fürsten oder gar fremder Mächte das eigene Volk
auswucherte, war tief verworfen und galt den Rabbinen als
unrein. Aber dem fremden Volk gegenüber war — von selten
der Moralisten natürlich mit dem Vorbehalt, daß eigentlicher
Betrug überall verwerflich sei — diese Art des Vermögenserwerbs
ein ethisches Adiaphoron. Niemals aber konnte deshalb öko-
nomischer Erwerb, eine Stätte religiöser »Bewährung« werden.
Wenn Gott die Seinen durch ökonomischen Erfolg »segnete«, so
nicht um ihrer ökonomischen »Bewährung« willen, sondern
weil der fromme Jude außerhalb dieser Erwerbstätigkeit
gottgefällig gelebt hat (so schon in der deuteronomischen Wucher-
lehre). Denn — wie wir später sehen werden — das Gebiet der
Bewährung der Frömmigkeit in der Lebensführung liegt beim
Juden auf einem durchaus anderen Gebiet als dem einer rationalen
Bewältigung der »Welt«, insbesondere der Wirtschaft. Welche
Bestandteile der religiös bedingten Lebensführung die Juden
befähigten, eine Rolle in der Entwicklung, unsrer Wirtschaft
zu spielen, wird später erörtert werden. Jedenfalls haben
jene orientalischen, südeuropäischen und osteuropäischen Gebiete,
in denen sie am längsten und meisten heimisch waren, weder in
der Antike noch im Mittelalter noch in der Neuzeit die dem
modernen Kapitalismus spezifischen Züge entwickelt.
— Ihr wirklicher Anteil an der Entwicklung des Okzidents
beruhte höchst wesentlich auf dem G a s t v o 1 k charakter,
den die selbstge wollte Absonderung ihnen aufprägte.
Diese Gastvolksstellung nun wurde durch die rituelle
Abschließung begründet, welche, in der deuteronomischen Zeit
wie wir sahen, verbreitet, in der Exilszeit und durch die Gesetz-
gebung des Esra und Nehemia durchgeführt wurde.
Der Untergang des nationalen Staatswesens und das Exil
bedeutete für Nordisrael und für Juda verschiedenerlei. In
Samaria hatten die Assyrerkönige im Austausch für die fort-
geführten Krieger mesopotamische Kolonisten angesiedelt, die,
I
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. ^5l
wie die lieber lieferung erkennen läßt, sehr schnell »den Göttern
des Landes«, also den Formen des dortigen Jahwedienstes, sich
anbequemten, angeblich durch schreckhafte Mirakel Jahwes
dazu veranlaßt. Jerusalem hatte Nebukadnezar offenbar — • da
er es gern als Stützpunkt gegen Aegypten benützt hätte — sehr
widerwillig nach längerer Ueber legung, dann aber gründlich,
zerstört und in wiederholter Deportation die stadtsässigen
Patrizier- und Beamtenfamilien, also den Hofadel, die geschulten
Krieger und Königshandwerker, die Hierarchie und wohl auch
landsässige Honoratioren fortgeführt. Es blieben wesentlich
Kleinbauern im Lande und es fand — da Babylonien längst
nicht mehr über eine starke Bauernbevölkerung verfügte —
keine Besiedelung mit mesopotamischen oder anderen Kolo-
nisten statt 1). Das Schicksal der Exilierten in Babylonien
scheint gewechselt zu haben. Sicher ist, daß große Teile von
ihnen — wenn auch schwerlich alle — zwar in der Nähe der
Hauptstadt, aber ländlich angesiedelt wurden und zwar zweifel-
los so, daß sie, wie wir dies von jeher in den Inschriften der
mesopotamischen Großkönige finden, einen Kanal zu graben
(oder wieder herzurichten) hatten, also in eignen Orten zusammen-
wohnten und dem König von dem so gewonnenen Land Steuern,
nach Bedarf aber auch Fronden leisteten. Die Fronden werden
von den Propheten (Jes. 47, 6; Jer. 5, 19; 28, 14; Klagel. i, i;
5, 5) erwährit. Ueber Mangel, in einem Fall geradezu über Hunger,
wird geklagt (Jes. 51, 14). Eine Zunahme des Drucks unter
König Nabunahi im Gegensatz zu der Behandlung unter
Evil-Merodach , wie sie Klamroth als wahrscheinlich ansieht,
wäre nicht erstaunlich, da aus den Inschriften des Kyros hervor-
geht, daß jener König die Fronlasten auch für das eigene Volk
gesteigert hat. Einzelne Einkerkerungen, die nach prophetischen
Stellen wahrscheinlich sind, haben wohl in Renitenz und diese
in der Wirksamkeit von Heilspropheten (Jer. 29, 21) ihren Grund,
wie sie wenigstens bis zum Sturz Jerusalems unter Zedekia
vorgekommen sind. Immerhin kann der Druck in der Regel
rein objektiv nicht schwer gewesen sein, da schon Jeremias
1) Mit Recht betont bei Klamroth, Die jüdibciien Exulanten in
Babylonien (Beitr 7. Wiss. v. A. T. 10, Leipzig 1912). Die wertvolle Schrift
ist weiterhin wiederholt benützt. Ihre einzige schwache Seite ist vielleicht,
daß sie zuweilen noch mehr Angaben über die tatsächlichen Verhältnisse der
Exilsgemeinde in Prophetenstellen zu finden sucht, als ihnen entnommen werden
kann und daß sie die Schilderungen vom Elend der Exulanten allzuwörtlich glaubt.
•:>(52 Das antike Judentum.
Brief an die Häupter der Exilsgemeinde voraussetzt, daß die
Exulanten Erwerbsfreiheit besaßen und in der Lage waren, sich
in Babylonien im wesenthchen nach Beheben einzurichten. In
zunehmendem Maße finden wir denn auch die Exiherten in der
Hauptstadt selbst und zwar in den von der pennsylvanischen
Expedition gefundenen und herausgegebenen Muraschu-Doku-
menten in den verschiedensten Berufsstellungen, mit einziger Aus-
nahme der durch Teilnahme an der babylonischen Schreibe r-
Erziehung (welche offenbar den Juden ebenso wie andern Nicht-
babyloniern verschlossen blieb) bedingten rein politischen Amts-
stellungen ^). Die Zahl der jüdischen Namen in Babylon nimmt
besonders seit der Perserzeit, zu und man findet nun Juden
als Landbesitzer, Rentenkollektoren, Angestellte babylonischer
und persischer Notablen. Endlich und zweifellos zunehmend:
im Handel und insbesondere im Geldverkehr, der ja in Baby-
lonien zuerst, schon in Hammurapis Zeit, den Typus des »Geld-
mannes« hatte entstehen lassen. Die geringe ethnische und, nach
der Annahme des aramäischen Volksidioms durch die Exulanten,
sprachliche Unterschiedenheit haben von Anfang an gehindert,
daß wie in Aegypten Verfolgungen oder eine Ghetto-artige
Existenz, wie sie die gleichzeitigen Assuan Papyri zeigen, sich
entwickelten. Die Gemeinde blühte zunehmend. Nächst den
Persern scheint sie von allen Fremdvölkern die erheblichste
Rolle zu spielen. Die Vermögens Verhältnisse eines erheblichen
Teiles der Exulanten haben sich, wie die bedeutenden Tempel -
bauspenden bei der Rückkehr beweisen, sehr günstig entwickelt
und die Zahl gerade der Reichen, welche es vorzogen, in Babylon
zurückzubleiben, um ihren Besitz nicht zu verlieren, war nicht
gering. Das war freilich unter der Perserherrschaft, welche
ausgesprochen judenfreundlich war und jüdische Eunuchen, wie
Nehemia, als persönliche Vertrauensleute des Königs sah. Aber
eine systematische Bedrückung gerade der Exilierten durch
die babylonische Regierung ist durchaus unwahrscheinlich. Von
religiöser Intoleranz ist nichts zu ermitteln, und so sehr gegebenen-
falls die Großkönige darauf hielten, daß ihren Göttern von den
Besiegten Ehrfurcht erzeigt wurde, so schritten sie, wie alle antiken
Machthaber, doch nur ein, wo die Staatsräson es verlangte.
1) Vgl. S. Daiches, The Jews in Babyl. in the time of Ezra and
Nehemia acc. to Bab. inscr. (Publ. Jev. Con. No. 2, London 1910).
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. ^ö^
Dabei fehlte nun allen diesen orientalischen Monarchien ein
eigentlicher Herrscher k u 1 1 von der Art des späteren römischen
Kaiserkults, denn der Herrscher verlangte zwar die Proskynese
und unbedingte Obödienz, stand aber doch unter den Göttern.
Dieser Umstand erleichterte die Toleranz. Dennoch war der
Haß gegen Babel sehr stark, wie die jubelnden Unheilsprophet ien
Deuterojesajas beim Herannahen des Perserkrieges zeigen. Es
zeigt sich: daß die Exilsgemeinde im Lauf des Exils fest zu-
sammenwuchs. Dies aber war die Leistung vor allem der Prie-
ster, deren Masse erst mit der letzten Deportation bei der
Zerstörung Jerusalems fortgeführt wurde: vorher hatte Nebu-
kadnezar offenbar gehofft, an ihnen eine Stütze zu haben.
Autorität hatten unter den Exilierten zunächst die »Ael-
testen«, welche in Jeremias Brief (Jer. 29, i) an der Spitze
und vor den »Priestern und Propheten« genannt werden. Offiziell
blieben sie vielleicht dauernd die der babylonischen Regierung
gegenüber verantwortlichen Vertreter. Zwar hatte König Evil-
Merodach den vorletzten judäischen König Joj achin nach langer
Gefangenschaft begnadigt und an seine Hoftafel gezogen. Die
Davididen als die Königssippe werden damit in der Exulanten-
gemeinde einen Ehrenvorrang gewonnen haben. Aber zunächst
schwerlich mehr. Tatsächlich traten vielmehr — neben einigen
Propheten, von denen später die Rede sein wird — zunehmend
die Priester in den Vordergrund. Aus ähnlichen Gründen, wie
in der Völkerwanderungszeit die Macht der Bischöfe stieg. Man
erkennt ihre starke Bedeutung schon in der ersten Zeit im Hese-
kiel-Buche. Hesekiel war priesterlicher Abkunft. Sein Plan
eines israelitischen Zukunftsstaates zeigt die Diskreditierung der
Königsmacht. Der Fürst (Nasi) ist im Grunde nur ein Kirchen-
patron für die theokratisch gebildete Gemeinde. Der »Hohe-
priester« des Tempels von Jerusalem tritt bei ihm .zuerst als
zentrale Gestalt der künftigen hierokratischen Ordnung hervor.
Die utopischen und zugleich schematischen Einzelvorschläge
meines Projektes interessieren uns hier nicht. Praktisch bedeut-
sam wairde davon neben der Figur des Hohepriesters vor allem
die hier zuerst durchgeführte ständische Scheidung der Kult-
priester, der Kohanim, von den übrigen, nicht zum Opferkult
qualifizierten »Leviten«. Aber eben da lagen naturgemäß die
Schwierigkeiten: bei Hesekiel spielen noch die Jerusalemcr
Zadokiden als die alleinigen Kohanim die ausschlaggebende Rolle.
-354 ^^^ antike Judentum.
Auf dieser Grundlage war eine Einigung der verschiedenen
Priestergeschlechter nicht möglich. Erst der weitere Verlauf der
Entwicklung muß den Ausgleich mit den nicht zadokidischen
Priestern, den Aaroniden, gebracht haben. Mit Beginn der
Perserherrschaft gewannen die Priester die unbedingte Führung.
Dies hing mit der ganz konsequent befolgten Politik der Perser-
könige zusammen, welche überall die Hierokratie in den Sattd
setzten, um sie als Domestikationsmittel der abhängigen Völker
zu benutzen. Schon Kyros bezeugte zwar einerseits den baby-
lonischen Göttern seine Ehrfurcht, rühmt sich aber anderer-
seits, alle jene Götter, w^elche die Babylonier depossediert und
deren Bilder und Schätze sie nach Babel zusammengeschleppt
hatten, wieder an ihrer alten Wohnstätte installiert zu haben.
Demgemäß gestattete er auch den Israeliten die Heimkehr.
Immerhin war er in seiner Benutzung der Priester noch nicht
so konsequent wie Darius. Die persische Politik hatte sich zu-
nächst auf die legitime Davididendynastie zu stützen gesucht.
Nacheinander finden sich zwei Davididen, Scheschbazar und
Serubbabel, als Nasi der Zurückgekehrten. Aber vermutlich
weil die Stellung der Davididensippe sich in den Wirren des
falschen Smerdes als politisch bedenklich erwiesen hatte, mußte
davon abgegangen werden. Dem Serubbabel war damals von
dem Propheten Haggai die alsbaldige Herstellung der Krone
Davids geweissagt worden. Ob Serubbabel einen entsprechenden
Versuch gemacht hat, ist ungewiß. Er ist aber seitdem ver-
schwunden und seine Sippe kam für die Perser nicht mehr in
Frage. Ganz allgemein und prinzipiell ging die Politik des
Darius von dem Bündnis mit den nationalen Priesterschaften
aus. Für Aegypten ist dokumentarisch die Herstellung der
alten Priesterschulen durch ihn bezeugt. Die kirchenartige
Organisation der ägyptischen Religion mit ihren Synoden und
ihrer nationalen Machtstellung datiert erst von daher. Für
kleinasiatische Apollonkulte findet sich Aehnliches. Für Alt-
Hellas steht fest, daß die Perser sowohl das delphische Orakel
wie allerhand plebejische Propheten auf ihrer Seite hatten, und
daß der Ausfall der Schlachten von Marathon, Salamis und
Platää es war, der die priesterfreie hellenische Kultur davor
bewahrte, der orphischen Seelenwanderungslehre oder anderen
Mystagogien und der Beherrschung durch eine Hierokratie unter
persischer Protektion ausgeliefert zu werden. Ganz entsprechend
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. oßc
und mit durchschlagendem Erfolg orientierte sich seit ihm, und
noch konsequenter seit Artaxerxes, die persische Politik gegen-
über den israelitischen Priestern. Die Priester hatten kein
Interesse an einer Herstellung der Königsmacht der Davididen,.
sondern zogen es vor, nötigenfalls unter fremdstämmigen und
deshalb der Gemeinde fernstehenden Statthaltern selbst die für
alle sozialen und innerpolitischen Verhältnisse ausschlaggebende
Macht zu sein. Dem Interesse der persischen Politik kam dies
entgegen. Die Schaffung der vor dem Exil völlig unbekannten
Figur des »Hohenpriesters« als eines, durch gesteigerte
Reinheitsanforderungen, Privileg des Betretens des Allerheilig-
sten im Tempel und ausschließliche Qualifikation zum Vollzug
bestimmter Riten ausgezeichneten, Repräsentanten der Hiero-
kratie war das Produkt der gemeinsamen Arbeit der priesterlich
beeinflußten Exilsprophetie und der priesterlichen Redaktion
und Interpolation der Ritualgebote. Die priesterliche Redaktion
der Mischpatim und der Thora erwähnt den »Fürsten« (Nasi)
nur im Verbot, ihm zu fluchen und sieht im übrigen von
ihm vollständig ab. Dies alles entsprach durchaus den An-
forderungen der persischen Politik. Die Priester hatten aber
auch im übrigen der Verständigung mit dem persischen König-
tum, wie sie unter Artaxerxes stattfand, sehr konsequent vor-
gearbeitet. Zunächst durch eine eifrige Registrierung der als
vollwertig anzuerkennenden Sippen der Priester und der nunmehr
von ihnen geschiedenen nicht priesteramtsfähigen Leviten und
Kultdiener und ebenso der Gemeindegenossen. Damals sind
jene umfassenden, zum Teil der älteren Tradition offenkundig
widersprechenden Geschlechtsregister fabriziert worden, welche
einen so bedeutenden Bruchteil der jetzigen priesterlichen Redak-
tion der Tradition ausmachen und für die Zukunft als einzige
Beglaubigung der rituellen Qualifikation gelten sollten. Die
weitere Arbeit bestand in der Festlegung und schriftlichen Fixie-
rung sowohl der Kultordnung wie der rituellen Gebote für die
Lebensführung und in einer entsprechenden Ueberai-beitung der
gesamten bis dahin schriftlich vorliegenden geschichtl.chen
Ueberlieferung und levitischen Thora. Sie erhielt damals, im
5. Jahrhundert, n der Hauptsache ihre, jetzige Gestalt. Nach-
dem diese Vorarbeiten geleistet waren, gelang es den Priestern
durch ihre höfischen Beziehungen unter Artaxerxes, durch^iusctzen,
I. daß ein jüdischer Eunuche und Günstling des Königs, Nehemia,
1^6 D^s antike Judentum.
mit der Vollmacht eines Statthalters das Gemeinwesen in Jeru-
salem neu organisierte und durch Ummauerung der Stadt und
Synoikismos seinen Bestand sicherte — , 2. daß ein Priester.
Esra, das von den Priestern der Exilsgemeinde in Babylon aus-
gearbeitete »Gesetz« kraft königlicher Autorität als für dies
Gemeinwesen verbindlich verkündete und die Vertreter der
Gemeinde durch feierliche Urkunde darauf verpflichtete. Uns
interessiert hier an diesen Vorgängen zunächst vornehmlich die
Durchführung der rituellen Absonderung der Gemeinde.
Sie wurde im Exil vollzogen, nachdem das annähernd voll-"
ständige Aufgehen der von Assyrien deportierten Nordisraeliten
in der aufnahmebereiten Umwelt die Priester .und Thoralehrer
darüber belehrt hatte, welche entscheidende Bedeutung für ihre
eigenen Interessen die Errichtung solcher rituellen Schutzwälle
haben mußte.
Das absolute Verbot der Mischehen war der praktisch
wichtigste Punkt. Endgültig wurde es von Esra unter Zuhilfe-
nahme sehr theatralischer Mittel durchgesetzt und sofort mit
voller Rücksichtslosigkeit auch die Lösung der bestehenden
Mischehen erzwungen. Wie wenig es bis dahin bestand, zeigt
sich außer bei den älteren Quellen (Gen. 34, 38; Jud. 3. ; Deut.
21, 10) und in dem Mischblut der Davididen (Ruth!) darin, daß
von den in Israel Ansässigen neben angesehenen Geschlechtern und
nicht wenigen Priestern und Leviten die hohepriesterliche Familie
an dem Frevel beteiligt \var (Esra 10, 18 f.). In der priester-
lichen Redaktion hat dieser Kampf gegen das Konnubium sich
in einer ganzen Reihe von Theologumena niedergeschlagen. So
in der Verpönung der Vermischung von verschiedenerlei Samen
auf dem Acker, von verschiedenerlei Gespinnst beim Weben
und von Bastardtieren. Daß diese Verbote wenigstens teilweise
an alte Superstitionen unbekannter Herkunft anknüpften, ist
nicht unmöglich. Im allgemeinen aber ist weit wahrscheinlicher,
daß sie allesamt späte Theologumena formalistischer Priestei
aus Anlaß der Perhorreszierung der »Vermischung« mit Nicht-
juden sind. Denn z. B. die anstandslose Benützung des Maul-
esels steht für die vorexilische Zeit fest. Nächst dem Konnubium
kommt für den kastenartigen Abschluß nach außen die K o m-
mensalität in Betracht. Wir sahen, daß sie auch mit
rituell Fremden anstandslos geübt wurde, natürlich aber, wie
überall, nur innerhalb des Kreises der entweder durch berith
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. 'ißy
dauernd Verbundenen oder durch Gastrecht zeitweüig Ver-
bündeten. Bei der gesonderten Mahlzeit der Aegypter und der
Hebräer in der Joseph- Geschichte wird die Ablehnung der
Kommensalität den Anschauungen der Aegypter im Gegensatz
zu den Israeliten zugeschoben. Erst der außerordentliche Nach-
druck, den die Priestergesetzgebung auf die S p e i s e g e s e t z e
legte, schuf praktisch fühlbare Schwierigkeiten.
Weder im »kultischen Dekalog« — der doch eine höchst
spezialisierte, später folgenreich erweiterte Speisevorschrift (das
Böckchen nicht in der Milch der Mutter zu kochen) enthält — ,
noch in anderen sicher vorexüischen Satzungen sind die später
hauptsächlich charakteristischen sonstigen israelitischen Speise-
verbote enthalten oder erwähnt, nämlich außer dem Verbot
zahlreicher, zum Teil sehr wichtiger Tiere (Lev. ii), i. das
Verbot des Hüftnervs, welches in seiner späteren Speziali-
sierung fast jeden Genuß von Fleisch der Hinterviertel aus-
schloß; 2. das Verbot des Fettes (Lev. 3, 17; 7, 23. 25), welches
später, interpretierend auf Vierfüßler beschränkt, die Israeliten
zum Gänsefettverbrauch zwang; 3. das Blutverbot, welches
zum Aussalzen und Auswässern des Fleisches nötigte; 4. das
Verbot des Gefallenen und Zerissenen, welches (in Gemeinschaft
mit Nr. 3) die rituelle Regulierung des Schlachtens bedingte.
Einige von ihnen (z. B. Lev. 3, 17) charakterisieren sich schon
durch die Form als Novellen der Priestergesetzgebung. Der
Genuß von Eselfleisch wird 2. Kön. 6, 25 vorausgesetzt. Das
Verbot des Gefallenen und Zerrissenen wird bei Hesekiel (4, 14
vgl. mit 44, 31) nur für die Priester als geltend vorausgesetzt
und bei Tritojesaja (66, 3) nur das Opfern von S a u b 1 u t
als Greuel angeführt. Teils als allgemeine Tabuierungen, teils
als Opf ertabuierungen zugunsten des Gottes ^) , teils als priester-
liche Reinheitstabuierungen müssen einige ihrer Bestandteile,
vermutlich das Bedenken gegen Schweine- und Hasenfleisch
und das in der Samueltradition (i. Sam. 14, 33 f.) erwähnte
Verbot des Blutgenusses, in alte Zeit zurückreichen. Die ätio-
logische Sage, ein im allgemeinen sicheres Kennzeichen hohen
Alters, findet sich nur für die Gepflogenheit, den Hüft nerv nicht
zu essen, eine metaphysische, also relativ späte, Deutung (aus
dem Seelenglauben) für das Blutverbot; das in der Spätzeit
*) Jud. 13, 4 scheint zu ergeben, daß das Verbot, »Unreine« zu essen,
ursprünglich für Laien nur kraft Gelübdes verpflichtend war.
■j^H ^^s antike Judentum.
des Judentums auf jede Art von gemeinsamem Kochen von
Fleisch und Milch erstreckte Verbot des Kochens junger Böcke
in der Muttermilch im sog. kultischen Dekalog scheint einem
örtlichen Tabu des Sichemitischen Kultes zu entstammen und
steht ohne Motivierung als positive Satzung da. Die Untersagung
des Genusses gefallenen oder zerrissenen Viehs kann mit Opfer-
vorschriften zusammenhängen. Für die Verbote bestimmter
Arten von Tieren findet sich nirgends eine ätiologische Legende.
An ihrer Stelle steht vielmehr eine Art von naturwissenschaft-
licher Distinktion, die sicher nicht alt, sondern Produkt priester-
licher Schematisier ung ist, sich in sehr ähnlicher, teilweise gleicher
Art bei Manu (V, § ii ff.) findet und vermutlich den Kreis der
verpönten Fleischarten stark erweitert hat. Den einzelnen Ver-
boten in ihren Entstehungsgründen nachgehen zu wollen, bleibt
vermutlich ganz vergebliche Mühe. Daß das Schwein in Palästina,
auch herden weise, gehalten wurde, steht noch für die Zeit der
Evangelien fest. Die Borsten galten auch später nicht als un-
rein, sondern nur der Genuß des Fleisches. Erst die talmudische
Zeit sah den Kleinviehzüchter, aber jeden, auch den Ziegen-
züchter: einst den Träger des frommen Jahwismus, als unrein
an, aber nicht wegen des Schweinefleischgenusses, sondern wegen
seiner levitisch unreinen Lebensführung. Das wahrscheinlichste
wäre an sich, daß ebenso wie bei dem kirchlichen Verbot des
Pferdefleisches in Germanien auch hier Verpönung der Opfer-
mahlzeiten fremder Kulte zugrunde lag. Das ziemlich weit
— auch in Indien und Aegypten verbreitete — Verbot kann
aber auch von auswärts übernommen sein.
Einschneidender als diese Ablehnung einer Reihe von immer-
hin sonst recht stark beliebten Fleischgerichten mußten das Verbot
des Blutgenusses und die zunehmende Aengstlichkeit der Meldung
allen nicht wirklich durch Schlachtung ums Leben gekommenen
Viehs auf die Möglichkeit der Kommensabilität wirken, sobald
daraus die Notwendigkeit einer rituell kontrollierten' und ge-
regelten besonderen Methode des Schlachtens (schachat) aller
Tiere abgeleitet wurde, wie es in der nachexilischen Zeit geschah.
Alles nicht korrekt geschlachtete Vieh galt nun als »Aas« (nebelah),
auch dann, wenn die Inkorrektheit etwa auf einer Scharte im
Messer (weil dann »gerissen« worden war) oder auf anderen
Versehen des Schächters beruhte, dessen Kunst erst in langer
Uebung zu lernen war. In der Notwendigkeit,- einen rituell
I
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. ^50
korrekten »Schacht er« in der Nähe zu haben, beruhte die
Schwierigkeit für korrekte Juden, isoHert oder in kleinen Ge-
meinden zu wohnen, welche in den Vereinigten Staaten noch
bis in die Gegenwart die Zusammendrängung der rituell ortho-
doxen Juden in den großen Städten beförderte (während die
Reform Juden in der Lage waren, dem sehr einträglichen Geschäft
der isolierten Bewucherung der Neger auf dem Lande nach-
zugehen). Die kasuistische Ausgestaltung dieses Speise- und
Schlachtungsrituals gehört erst der antiken Spätzeit an, geht
aber allerdings in allen Grundlagen auf die exilische Priester-
lehre zurück. — Die Kommensalität wurde durch diese Rituali-
sierung "der Speisegewohnheiten sehr erschwert. Ein wirkliches
Kommensalitätsverbot hat das offizielle Judentum niemals ge-
kannt. Die Mahnung des (apokryphen) Jubiläenbuches (22, 16),
sich von den Heiden zu trennen und nicht mit ihnen
zu essen, ist ebensow^enig rezipiert worden wie jemals eine
allgemeine Unreinheit der Häuser der Heiden oder ihrer persön-
lichen Berührung statuiert worden ist. Nur für den Juden, der
eine Kulthandlung vornehmen wollte, galt in späterer Zeit das
Gebot strengster Absonderung von allem Heidnischen (Joh. 18,
28). Immerhin bestätigen die Berichte der hellenischen und
römischen Schriftsteller, daß korrekte Juden gegen jede Kommen-
salität mit Nicht Juden naturgemäß erhebliche Bedenken trugen;
der Vorwurf des »odium generis humani« geht zweifellos in erster
Linie darauf zurück ^) .
Als eines der wichtigsten rituellen »Unterscheidungsgebote«
trat in der Exilszeit die strikte Sabbat heiligung in den
Vordergrund, einmal weil sie, im Gegensatz zur bloßen Tatsache
des Beschnittenseins, ein sicheres und jedermann sichtbares
Merkmal dafür abgab, daß der Betreffende tatsächlich seine
Zugehörigkeit zur Gemeinde ernst nehme, dann weil die kul-
tischen Feste an die Kultstätte Jerusalem gebunden waren und
der Sabbat die einzige von allem kultischen Apparat unabhängige
Feier darstellte. Die Sabbatruhe erschwerte die Zusammen-
arbeit in der Werkstatt mit Ungenossen natürlich sehr erheblich
^) Korrekte Juden trugen infolge der Speisegesetze zwar im allgemeinen
kein Bedenken, NichtJuden bei sich Gastfreundschaft zu gewähren, lehnten
aber die Gastfreundschaft der Heiden und Christen ihrerseits ab. Hiergegen
eifern die fränkischen Synoden als gegen eine Erniedrigung der Christen und
schärfen ihrerseits den Christen Ablehnung der jüdischen Gastfreundschaft ein.
Max Weber, Religionssoziologie TIT. 24
^ -Q ^^^ antike Judenlum.
und trug dadurch und durch seine große Auffälhgkeit tatsächhch
in sehr starkem Maße zur Absonderung bei. In Gestalt des
majestätischen Schöpfungsberichts der priesterHchen Redaktion
erhielt der Sabbat vermöge des göttlichen Sechstageweikes
nun auch seinen höchst eindrucksvollen ätiologischen Mythos.
Die Ritualisierung des Sabbats äußerte sich in umfassenden
Einschüben in den Text des Dekalogs. Das aus dem Jahwisten
stammende Gebot der Unterbrechung der Feldarbeit (Ex. 34,
21) und die elohistische allgemeine Vorschrift der Arbeitsruhe
(Ex. 23, 12) wurde nun erst zur Untersagung jeglicher Beschäf-
tigung, zum Verbot des Verlassens der Wohnung (Ex. 16, 29),
— später durch die Begrenzung des »Sabbatwegs« mit mancherlei
Möglichkeiten der Umgehung gemildert — , des Feueranzündens
(Ex. 35, 3), so daß schon am Freitag gekocht werden mußte
— für die Lampe durch Umgehungsmöglichkeiten gemildert — ,
des Lastentragens und Begrabens von Lasttieren, des Gehens
zu Markt, des Abschlusses irgendwelcher Geschäfte, des Kämp-
fens und der lauten Rede (Jer. 17, 19; Tritojes. 58, 13; Neh. 10,
32; 13, 15 ff.). Die Ableistung von Kriegsdienst w-urde in seleu-
kidischer Zeit wesentlich wegen des Sabbats und der Speise-
verbote für unmöglich erklärt: die endgültige Entmilitarisierung
der frommen Juden, außer für Fälle des Glaubenskriegs, wo
nach makkabäischer Ansicht der Zweck die Mittel heiligte, war
dadurch besiegelt.
Ansätze zur Schaffung einer besonderen Tracht, wie
sie in ähnlicher Art später die »tefillin« für die exemplarisch
Frommen darstellten, finden sich, sind aber, w^enigstens zunächst,
offenbar nicht w^eiter entwickelt worden.
Die im Spätjudentum ebenso wie im frühen Christentum
praktisch wichtigen Bedenken gegen jede Beteiligung an Ar-
beiten, welche auch nur indirekt heidnischem Opferkult zugute
kamen, und gegen jeden sozialen Verkehr, welcher die Gefahr
einer indirekten Beteiligung an solchen Kulthandlungen be-
deuten konnte, sind erst von den Rabbinen entwickelt worden.
Aber die Grundlagen lieferten Prophetie und Thora. Und hier,
in der Ablehnung der Gemeinschaft bei irgend einem Opfer-
mahl, lag das für die politische Parialage der Juden Entschei-
dende, in der Antike Einzigartige. An diesen Absonderungsten-
denzen ist das Charakteristische, daß ihr Träger die babylonische
Exils gemeinde und die von ihr aus maßgebend beeinflußten
I
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes
0/
Organisatoren der Gemeinschaft der Zurückgekehrten in Palästina
war. Im Gegensatz zu der — ^ nach den vorwiegenden Namen zu
schUeßen — offenbar stark nordisraehtischen, daher die nord-
israeUtische synkretistische Tradition fortsetzenden ägyptischen
Exulantengemeinde war die babylonische Gemeinde judäischen
und — wie auch die zahlreichen Namensneuschöpfungen der
Exilszeit in Babylon zeigen, die alle auf »jah«, nicht auf »el«,
gebildet sind — streng jahwistischen Ursprungs. Vor allem
aber hatte sie die Kontinuität der prophetischen Tradition
in ihrer Mitte, im Gegensatz zu Aegypten, wohin die jüdischen
Gegner der Prophetie sich gewendet und Jeremia gewaltsam
verschleppt hatten, und dessen politisches Bündnis von der Pro-
phetie stets besonders scharf abgelehnt worden war. Wenn man
die im ganzen meist viel günstigere Lage der babylonischen
gegenüber den ägyptischen Exulanten, vor allem die weit geringere
Ablehnung durch die Umgebung, erwägt und demgegenüber die
Tatsache, daß dennoch die babylonischen und nicht die ägyp-
tischen Juden die Führung bei der Schaffung der entscheidenden
rituellen Schranken nach außen und der Gemeindeorganisation
nach innen hatten, ebenso wie sie später die Träger der Talmud-
bildung waren, so kann man daran die ganz überragende Bedeu-
tung der Prophetie und der von ihr getragenen Hoffnungen für
die Bildung und Erhaltung des Judentums ermessen. Priester
gab es natürlich auch in den ägyptischen Gemeinden. Aber die
prophetisch beeinflußte Priesterschaft in Babylon, welche die
deuteronomische Tradition lebendig in ihrer Mitte pflegte, war
allein der Kern der Fortbildung. In Palästina stützte die b ü r-
g e r 1 i c h e Bevölkerung im Gegensatz sowohl zu den reichen
landsässigen Sippen wie zu den reichen Priestern die puritanische
Tradition. Die folgenreichen sozialen Gegensätze der nach-
exilischen Zeit zeigten sich gleich im Ar fang. Gegner der Zurück-
gekehrten waren von Anfang an die Samaritaner. Die
nach der Tradition (2. Kön. 17, 24) aus mesopotamischen und
aramäischen Städten eingesiedelte, mit den einheimischen Israe-
liten verschmolzene Bevölkerung verehrte unter Leitung
nordisraelitischer Priester Jahwe, aber vielfach in Gemeinschaft
mit anderen Gottheiten. Ihre einflußreichsten Schichten waren
einerseits die an den Hof halt des Statthalters, der stets in Samaria
geblieben ist, sich anschließenden Beamten und anderen In-
teressenten, andererseits die reichen Sippen des platten Landes
'i^l 2 L)^^ antike Judentum.
und der Landstädte, welche an den Landkulten interessiert waren.
Als, wie es scheint erst unter Darius, der Tempelbau in Jeru-
salem begann, erboten sie sich zur Mitarbeit, wurden aber von
Serubbabel, wie Rothstein ^) wahrscheinlich gemacht hat, in-
folge eines Orakels des Haggai (2, 10 f.) abgewiesen (Esra 4, 3)
und setzten daraufhin die Sistierung des Tempelbaus durch.
Ihre Feindseligkeit gegen die Jerusalemiten bestand weiter und
insbesondere hinderten sie jeden Versuch, die Stadt zu befestigen.
Die Widersacher, vor welchen die Jerusalemiten beständig in
Angst lebten (Esra 3, 3), wurden »amme haarezoth« genannt.
Die Verhältnisse unter Nehemia zeigen aber, daß von den be-
sitzenden Schichten der Stadt Jerusalem und des umliegenden
Landgebietes selbst, sowohl Laien wie Priestern und Beamten,
ein erheblicher Teil, vor allem die hohepriesterliche Familie selbst,
mit den Gegnern des babylonischen Puritanismus verschwägert
und teils im Einverständnis teils in ihrer Stellung schwankend
war (Neh. 5, i; 6, 17 f.)- So ist es auch geblieben. Noch in
hellenistischer Zeit (wie es nach Josephus scheint) ist ein Bruder
des Hohenpriesters mit einem Samaritaner Statthalter verschwä-
gert und dorthin übersiedelt 2). Nur die königlichen Vollmach-
ten, welche Esra und Nehemia besaßen, veranlaßten offenbar
die Vornehmen, sich überhaupt zu fügen. Am Bau der Mauer
beteiligen sich zwar die plebejischen Thekoiten, aber die Großen
(adirim) der Stadt Thekoa nicht (Neh. 3, 5). Auch die besitzenden
Schichten der Jerusalemiten wuchern den Kleinbesitz genau so
aus wie vor dem Exil, so daß ein scharfer Konflikt entsteht
(Neh. 5, 7). Nehemia seinerseits stützt sich neben einer Eskorte
auf seine offenbar sehr großen persönlichen Geldmittel und
wohl auch diejenigen der babylonischen Exulanten, im übrigen
aber auf die Massen. Um die Wohlhabenden Jerusalems zum
Schulderlaß zu zwingen, beruft er (Neh. 5, 7) eine »große Ge-
meinde« (kahal hagedolah). Ebenso beruft Esra (10, 8) zur
Erzwingung der Lösung der Mischehen die »Exulantengemeinde«
(kahal hagolah) und zwar unter Androhung geistlicher Strafen:
der Ausstoßung aus der Gemeinde der golah und des cherem
>•) Juden und Samaritaner (Beitr. z. W. v. A. T. 3, Leipzig 1908). Zu
Jeremias Zeit (41, 5) kamen Leute aus Sichern und Samaria zur Teilnahme am
Tempelopfer.
*) Der Vorgang hat sich jedoch vielleicht schon in nehemianischer Zeit
abgespielt.
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes, -2 72
gegen den Besitz des Nichterscheinenden. Ob der cherem in
diesem Fall nur Tabuierung, also Boykott, oder effektive Zer-
störung bedeutete, muß dahingestellt bleiben: die Fehde blühte
im Lande, wie die Darstellung Nehemias zeigt. In den Esra-
Annalen (6, 21) findet sich die Bezeichnung »Nibdalim« (»die sich
Absondernden«) für die Gemeinde der rituell korrekten Exulanten
und derjenigen, die sich ihnen anschlössen. Diese Gemeindc-
bildung selbst aber war zweifellos erst das Werk des Nehemia.
Formell lief die Leistung des Nehemia hinaus auf zweierlei:
1. Synoikismos der Geschlechter und eines ausgelosten Teiles
des Landvolkes in der nun befestigten vStadt Jerusalem. Ferner
2. Bildung einer Gemeinde, welche bestimmte Minimalverpflich-
tungen durch eine von Nehemia, den Vertretern der Priester,
Leviten und den »Häuptern« (raschim) des Volks (ha ^am) unter-
schriebene und untersiegelte Schwurverbrüderung auf sich nahm.
Nämlich (Neh. 10) : i. Aufhebung des Konnubium mit den amme
haarezoth, 2. Boykott allen Markt Verkehrs am Sabbath, 3. Erlaß
jedes siebenten Jahreseinkommens und aller Schuldforderungen
in dem betreffenden Jahr, 4. Kopfsteuer von Y^ Schekel jährlich
für Tempelbedarf, 5. Holzlieferungen für den Tempelbedarf,
6. Erstlinge bzw. Erstlings-Ablösung gemäß dem Priestergesetz,
7. Naturalienlieferungen an die Tempelpriester und Levitenzehnt,
8. Unterhaltung des Tempels selbst. Der Bericht des Chronisten
läßt diese Verbrüderung an die Oktroyierung des mosaischen
Gesetzes, d. h. der exilspriesterlichen Redaktion der Kult- und
Ritualvorschriften sich anschließen. Aber trotz der gerade in
diesem Gesetz vorgesehenen bedeutenden kultischen Stellung
des Hohenpriesters ist dieser auch an diesem Akt gänzlich un-
beteiligt, wie seine Unterschrift auch nicht unter den Garanten
der Gemeindebildung des Nehemia erscheint. Die eigentümliche
Zwitterstellung der Neugründung tritt in alledem zutage und
b3stand fast im ganzen Verlauf der weiteren jüdischen Geschichte
fort. Einerseits handelte es sich um eine formal freiwillige reli-
giöse Gemeindebildung. Andererseits beanspruchte diese Gemein-
schaft der exemplarisch Korrekten letztlich allein die Erbin
der sakralen und deshalb auch der politischen Stellung Israels
zu sein. Indes die wirklichen politischen Vollmachten ruhten
stets in den Händen entweder des persischen Satrapen und
später des hellenistischen Statthalters und ihrer Beamten, oder
eines Spezialbevollmächtigten des Königs, wie Nehemia es der
27 4 l^as antike Judenium.
Sache nach war. Ebenso beruhte auch die Stellung des Esra
formell allein auf der vom persischen König ihm verliehenen
Autorität. Ob der vom Chronisten wiedergegebene schriftliche
Auftrag des Königs, das Gesetz des »Gottes des Himmels« durch-
zuführen (Esra 7, 23) und dazu nötigenfalls Gewalt anzuwenden
(das. 26), wirklich authentisch ist, mag dahingestellt bleiben;
aber seine Stellung gegenüber dem Hohepriester ist ohne eine
weitgehende königliche Vollmacht nicht denkbar. Irgendwelche
weltliche Gewalt, insbesondere Gerichtsgewalt, ist den Funk-
tionären der neuen Gemeinde vom König offenbar nicht ver-
liehen worden. Der in Samaria residierende Statthalter scheint
die Gerichtsbarkeit, jüdische lokale Bezirksbeamte die örtliche
Verwaltung gehabt zu haben, als Nehemia in Jerusalem eintraf.
Darin und in den Abgabepflichten an den König ist offenbar
keine dauernde Aenderung eingetreten. Nur die Priester, Leviten
und Tempeldiener befreit der (angebliche) Brief des Königs
von der Besteuerung. Aber von einem eigenen Regierungsrecht
der Gemeinde hören wir nichts. Ebenso sind die Priester- und
Levitenzehnten wirklich zwangsweise wohl nur in jenen Zwischen-
epochen erhoben worden, in welchen ein rituell korrekter jüdi-
scher Fürst regierte und soweit seine Macht reichte. Religiöse
Zwangsmittel: der Bann im Nehemiabund, später die rituelle
Deklassierung der nicht Verzehnt enden als 'Am haarez mußten
den Eingang garantieren. Die Unklarheit dieser Lage, die Quelle
stets neuer Konflikte, spricht sich in den Dokumenten deutlich
aus. Die Judenschaft war ein rein religiöser Gemeindeverband:
auch die Abgaben, die sie sich auferlegte, scheinen formell frei-
willig übernommen zu sein. Der Brief der oberägyptischen
Juden aus dem Jahre 408/7 mit der Bitte um Verwendung
für den Wiederaufbau ihres Jahwetempels ist sowohl an den
Statthalter in Samarien wie an den Statthalter in Jerusalem
gerichtet, nachdem sie vorher dieserhalb bereits — ohne Ant-
wort zu erhalten — »an den Hohenpriester und die Priester in
Jerusalem, seine Kollegen« geschrieben hatten. Offenbar war
ihnen nicht ganz klar, wer eigentlich die zuständige Instanz
sei. Daß sie von den Jerusalemiter Priestern keine Antwort
erhielten, ist übrigens nicht erstaunlich.
Denn die jüdische Gemeindebildung bedeutete die rituelle
Trennung von den Samaritanern und allen nicht formell in die
Gemeinde aufgenommenen israelitischen oder halbisraelitischen
I[. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. ^j^
Landesbewohnern. Vor allem von den Samaritanern, obwohl
diese die gesamte Thora in der Redaktion der Exilspriester an-
nahmen und aaronidische Priester hatten. Das Kultmonopol
Jerusalems war hier der entscheidende Differenzpunkt. Auf dieses
Kultmonopol hin hatten die babylonischen Exulanten charak-
teristischerweise entscheidendes Gewicht gelegt. Nur von ihrer
Seite geschah dies. Die ägyptische Exulantengemeinde hat,
wie die Urkunden aus Elephantine zeigen, sich einen eigenen
Tempel geschaffen und noch der in den Wirren der makkabäischen
Parteikämpfe nach Aegypten entwichene Hohepriester Onias
hat keine Bedenken getragen, dort einen Tempel zu bauen. Der
ein ganzes Jahrtausend währende überragende Einfluß der baby-
lonischen Exulanten tritt in nichts deutlicher hervor, als darin,
daß schließlich doch sie ihr von Anfang an festgehaltenes Prinzip
durchsetzten. Daß die leitenden Priestergeschlechter und die
vornehmen prophetisch beeinflußten Kreise, welche das Deuter o-
nomium geschaffen hatten, dorthin exportiert waren und die
Kontinuität der Tradition verbürgten, war dafür wichtiger als
die überragende ökonomische Stellung der babylonischen Exu-
lanten, welcher diejenige der alexandrinischen Gemeinde später
mindestens ebenbürtig war. Dazu aber traten die ethnischen,
insbesondere die sprachlichen Verhältnisse: die babylonischen
Juden blieben auf dem Boden der aramäischen Umgangssprache
in voller Gemeinschaft mit dem Mutterlande, die Juden in den
hellenistischen Gebieten nicht — was noch in dem Schicksal
der christlichen Mission bei den beiderseitigen Proselyten charak-
teristisch nachwirkte. Soteriologisch wurde die Etablierung des
Opfermonopols Jerusalems in Verbindung mit der Diaspora-
existenz der Juden insofern eminent wichtig, als jetzt das Opfer
•erstmalig exklusiv den Charakter des Gemeinde Opfers an-
nahm. Dem täglichen Opferdienst in Jerusalem stand gegen-
über : daß der Einzelne nunmehr überhaupt a u f h ö r t e
zu opfern, chakat und ascham mindestens für den Diaspora-
juden nur in der Theorie fortbestanden: der Einzelne zahlte
eine feste Abgabe nach Jerusalem, statt selbst zu opfern. Prak-
tisch aber bot der Sieg dieser babylonischen Auffassung für die
internationale Verbreitung des Judentums die größten Vorteile.
Daß der Kult in Jerusalem ordnungsmäßig stattfand, war,
als von Jahwe geboten, für die Diasporajuden wesentlich. Aber
als Gastvolk in fremdem Lande gewannen sie natürlich ungemein
-tyß Das antike Judentum.
an Bewegungsfreiheit, wenn sie nicht mit der Pflicht eigener
Tempelbauten im fremden Land belastet waren.
Dem Prinzip gemäß lehnte die Gola jeden andern Tempel
als illegal ab. Fortan verschärfte sich der Gegensatz gegen die
Samaritaner immer weiter. Wir finden schon in der Zeit der
Ptolemäer Juden und Samaritaner in Aegypten in bitterer
Konkurrenz miteinander. Das Schicksal der Samaritaner soll
uns hier weiter nicht bekümmern. Sie haben religionsgeschicht-
lich das immerhin wichtige negative Interesse: daß man an
ihrem Schicksal im Vergleich zu dem der Juden studieren kann :
was der nur an der Thora orientierten Religion der israelitischen
Priester fehlte, um »Weltreligion« zu werden. Die bne JisraeL
wie sie sich nannten, blieben rein ritualistisch. Es fehlte ihnen
I. die Anknüpfung an das judäische Prophetentum, welches
sie ablehnten: ihre Messiashoffnung blieb daher eine Hoffnung
auf einen inner weit liehen Fürsten, den ta'eb (»Wiederkehren-
den«), ohne das ungeheure Pathos der prophetischen Theodizec
und Sozialrevolutionären Zukunftshoffnung. Es fehlte ihnen 2.
trotz der Existenz von Synagogen die Fortbildung des Gesetzes
durch jene plebejische Schicht volkstümlicher Autoritäten, welche
•die Rabbinen repräsentierten und ihr Produkt: die Mischna.
Deren Bedeutung werden wir später kennen lernen. Das Pharisäer-
tum, aus dessen Geist der Talmud geboren ist, haben sie nicht
entwickelt, die Auferstehungshoffnung lehnten sie ab, auch darin
der sadduzäischen Partei in Jerusalem verwandt, mit der sie
auch die freundlichere Beziehung zum Hellenismus teilten. Es
fehlte also, kann man sagen, die konfessionelle Ent-
wicklung, die an dem Inhalt der prophetischen und rabbinischen
Soteriologie und an dem eigentümlichen pharisäischen Rationa-
lismus verankert war. Sie haben noch im Mittelalter revivals
erlebt (14. Jahrhundert) und noch im 17. Jahrhundert im Orient
verbreitete Kolonien (bis nach Indien) gehabt, aber eine na-
tionale religiöse Ethik, die den Okzident hätte gewinnen können,
nicht entwickelt. Nur als jetzt sehr kleine Sekte (und notorisch
als die ärgsten Gauner des Orients, deren Fälschungen auch
ernste Gelehrte zum Opfer gefallen sind), existieren sie bis heute.
Als Resultat der Entwicklung ist festzustellen: daß die
»Juden«, wie die Gemeinschaft von nun an auch offiziell heißt,
eine rituell abgesonderte konfessionelle Gemeinde geworden waren,
die sich durch Geburt und durch Aufnahme von Proselyten
fr-
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. ^jy
rekrutierte. Denn parallel der rituellen Absonderung geht die
Begünstigung des Eintritts von Proselyten. Der eigentliche
Prophet des Proselytismus ist Tritojesaja (Jes. 56, 3. 6). Während
der Priesterkodex nur von der Gleichstellung des »ger« mit den
alt hurtigen Israeliten spricht, den »Fremden« (nechar) aber
ausdrücklich vom Passah ausschließt (Ex. 12, 43), ruft Trito-
jesaja den Fremden (nechar), der, vor allen Dingen, den Sabbat
und überdies die anderen Gebote Jahwes hält, zur Teilnahme
Lim »Bunde« und damit am Heil Israels. Proselyten sind anschei-
nend schon in der ersten Exilszeit gemacht worden. Das mußte
sich in der Perserzeit, als die Juden zu Hofämtern aufstiegen,
noch steigern. Die Geschichte von Elisa und Naeman scheint
als Paradigma für eine vermutlich damals zugelassene (später
als Rückschlag gegen den römischen und hellenistischen Herr-
scherkult streng verpönte) sehr laxe Praxis in bezug auf die
Haltung gegenüber den fremden Reichsgöttern seitens der jüdi-
schen Höflinge in die Redaktion der Königsgeschichten auf-
genommen zu sein. Vielleicht gerade auf Nehemia persönlich
ist die Zulassung der früher ausgeschlossenen Eunuchen bei
Tritojesaja zugeschnitten. Die nachexilische Zeit hat dann den
allgemeinen Grundsatz in die Thora gebracht, daß Fremdsippen
durch Uebernahme der Pflichten des Gesetzes nach drei Gene-
rationen den Alt Juden völlig gleichgestellt sind und nur das
Konnubium mit Priestern nicht haben. Man wendete, wie später
zu erörtern sein wird,. die alten Grundsätze von der Behandlung
der gerim auf diejenigen Fremden an, die ohne Uebernahme der
vollen Gesetzespflichten sich als Freunde zur Gemeinde hielten.
Innerhalb der Juden selbst kennt der Chronist nur die Stände der
Kohanim (Priester), das heißt: der x\aroniden-x\bkömmlinge,
der Leviten und der später verschwundenen, kastenartig de-
klassierten, Nethinim (Tempeldiener nebst den sonstigen Kate-
gorien des niederen Tempeldiensts). Die bevorrechtigten Stände
standen aber mit allen andern Altjuden in vollem Konnubium
und voller Kommensalität ; sie waren ursprünglich nur durch
verhältnismäßig einfache spezifische Reinheitspflichten belastet,
die beim Hohenpriester noch weiter gesteigert waren. Wie sich
nun einerseits sozial die vornehmen Priestergeschlechter von den
gewöhnlichen Aaroniden differenzierten und wie andererseits
rituell der Begriff des 'Am haarez, nach dem Exil zunächst iden-
tisch mit der außerhalb des kahal hagolah, der durch Verpflich-
^^yg Das antike Judentum.
tung auf das Ritual gebildeten Gemeinde, stehenden Lande- -
bewohner, vor allem den Samaritanern, sich weiterhin wandelte,
ist später zu besprechen. Jedenfalls waren die Juden durch die
von der babylonischen Exulantengemeinde herbeigeführte Ok-
troyierung des Ritualgesetzes und die Bildung der Golah-Ge-
meinde ein Paria volk mit einem Kultmittelpunkt und einer
Zentralgemeinde in Jerusalem und mit internationalen Filialge-
meinden geworden.
Ihre folgenreichste soziale Besonderheit bestand von Anfang
an darin: daß eine wirklich ganz korrekte Innehaltung des
Rituals für die Bauern ganz außerordentlich erschwert war.
Nicht nur weil der Sabbat, das Sabbatjahr, die Speisevorschriften
an sich für ländliche Verhältnisse schwer einzuhalten waren.
Sondern vor allem: weil mit zunehmender kasuistischer Ent-
wicklung der für das Verhalten maßgeblichen Gebote eben die
Lehre im Ritual zum Erfordernis korrekten Lebens werden
mußte. Die Priest erthora aber reichte naturgemäß in die Land-
orte nur wenig hinein. Die Innehält ung der später, wie wir
sehen werden, von den exemplarisch Frommen immer weiter
propagierten eigentlichen levitischen Reinheitsgebote vollends
war für die Bauern, im Gegensatz zur Stadtbevölkerung, über-
haupt so gut wie ausgeschlossen. Dieser Erschwerung stand
für die Bauern kein Gewinn an Anziehungskraft gegenüber.
Der Festkalender der Exilspriester, den Esra oktroyierte, hatte
alle alten Feste ihrer früheren Beziehung zu dem Ablauf dei
ländlichen Arbeit und Ernte beraubt. Vollends die unter Fremd-
völkern lebenden Juden konnten nicht leicht in ländlichen
Orten ein rituell irgendwie korrektes Dasein führen. Der Schwer-
punkt des Judentums mußte sich zunehmend in der Richtung
verschieben, daß sie ein stadtsässiges Pariavolk wurden,
— wie es ja auch geschehen ist.
Niemals aber würde sich eine zunehmend »bürgerliche«
Glaubensgemeinschaft in diese Parialage freiwillig begeben und
für die Teilnahme an ihr mit weltumspannendem Erfolg Pro-
selyten gewonnen haben ohne die Verheißungen der P r o p h e-
t i e. Die unerhörte Paradoxie, daß einem Gott, der sein er-
wähltes Volk nicht nur nicht gegen die Feinde schützt, sondern
in Schmach und Verknechtung stürzen läßt und selbst stürzt,
nur um so inbrünstiger angehangen wurde, findet in der Geschichte
sonst kein Beispiel und ist nur aus dem gewaltigen Prestige
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. -iyg
der pioplicLisciiL'H Verkündigung erklärlich. Dies Prestige be-
ruhte, wie wir sahen, rein äußerlich auf dem Eintreffen bestimmter
Weissagungen der Propheten, oder richtiger darauf : daß bestimmte
Ereignisse als deren Erfüllung gedeutet wurden. Man kann die
Festigung dieses Prestiges gerade inmitten der Exilsgemeinde
in Babylon deutlich erkennen. Während die ägyptische Partei
den Jeremia gewaltsam mitschleppt und trotz der furchtbaren
Erfüllung seiner Orakel, vielleicht eben dieserhalb, haßt — angeb-
lich hat sie ihn gesteinigt • — , schlägt in Babylon Hesekiel gegen-
über, den man anfänglich als Narren verspottet hatte, mit der
niederschmetternden Nachricht vom Fall Jerusalems die Stim-
mung völlig um. Wer nicht endgültig verzweifelte, hielt sich
hinfort an ihn als Berater und Tröster und suchte seinen Rat.
Und während die Samaritaner begreiflicherweise eine Prophetie,
welche dem alten Reich von Samaria dauernd nur Unheil ver-
kündet und sich weiterhin nur für Jerusalem interessiert hatte,
ablehnten, gewann die Prophetie innerhalb der Exilsgemeindc
ihre endgültige Stellung durch die Erfüllung jener Heilsweis-
sagungen, welche die Heimkehr aus dem Exil verkündeten, an
welche man sich während der Exils'zeit in Babylon klammerte
und als deren Erfüllung man die Errichtung der Gola-Gemeinde
in Jerusalem ansah. Diese Gemeinde erschien als jener »Rest«,
dessen Errettung seit Amos und vor allem seit Jesaja verheißen
war und dessen Zukunft im Exil den Gegenstand der nunmehr
zur Heilsweissagung umschlagenden Prophetie gebildet hatte.
Unmittelbar nach dem Sturz Jerusalems, der vollen Erfüllung
der furchtbaren Drohungen Jahwes, vollzog sich dieser Um-
schlag zur Heilsprophetie bei Jeremia und vor allem bei Hesekiel.
Und wenn bei dem weichen Melancholiker Jeremia warmherzige
Tröstung und eine sich selbst bescheidende Hoffnung darauf,
daß noch einmal friedlicher Ackerbau im Heimatlande möglich
sein werde, im Grunde den ganzen Inhalt der Zukunftserwartung
ausmachte, so schwelgte der Ekstatiker Hesekiel in Träumten
von einer furchtbaren Endkatastrophe der Feinde, unerhörten
Wundern und einer glorreichen Zukunft. Unmittelbare Droh-
\mgen gegen Babel, wie sie bis zum Sturz Jerusalems von ek-
statischen Heilspropheten noch verkündet worden waren und
das scharfe Einschreiten der Regierung und die Mahnungen
Jeremias zur Geduld und Fügsamkeit hervorgerufen hatten,
■jgo ^^^ antike Judentum.
konnte er ^) nicht wagen. Die Perser wareii noch nicht aut-
getaucht. Er bewegte sich daher in dunklen Andeutungen seiner
Hoffnungen. Unheilsorakel gegen die schadenfrohen Nachbarn:
Tyros, Sidon, Ammon, Moab, Edom, die Philisterstädte und
gegen das als unverläßlicher Bundesgenosse erprobte Aegypten
schaffen Raum für die Hoffnung auf Herstellung Israels durch
die Macht Jahwes allein. Die Drohungen gegen Aegypten ver-
wenden mythische Motive einer Weltkatastrophe. Gog, wie es
scheint, ein, an die Person eines inner kleinasiatischen Fürsten
(von Tubal und Mesech: 38, 2) anknüpfend, phantastisch zu
einem Gebieter des Nordlandes, der alten Quelle aller Völker-
wanderungen, gesteigerter Barbarenkönig, führt dereinst alle
wilden Völker gegen das hergestellte heilige Volk Jahwes und
in einem fürchterlichen Gemetzel, bei dem den Israeliten fast
nur die Aufgabe der Aufräumung des zu einem einzigen Leichen -
felde verunreinigten heiligen Landes verbleibt, bereitet Jahwe
ihm und damit allen Feinden Israels, die er selbst herbeigerufen
hat, den Untergang (Kap. 38 und 39). Und was dann ? Ursprüng-
lich hatte Hesekiel an die Wiederkunft Davids oder eines Davi-
diden gedacht (34, 23). Aber das unbelehrbare Verhalten des
Königsgeschlechtes und die Erkenntnis, daß nur die Priester-
gewalt die Gemeinde zusammenhalten könne, wandelte seine
Ideale. Er selbst war Zadokide und so formte sich seine end-
gültige Hoffnung, nach fünfundzwanzig] ähriger Gefangenschaft,
zu jener rational geordneten Theokratie, von der oben gesprochen
wurde. Die Königshoffnung ist begraben. Aber reiche inner-
weltliche Wohlfahrt und — wie schon bei Jeremia — ein neuer
ewiger Bund mit dem Volk, dem Jahwe ein neues lebendiges
Herz geben wird von Fleisch und Blut statt des steinernen
Herzens, das sie ins Verderben führte (36, 26. 27), ein hoher
Ehrenplatz vor allen Völkern zur Ehre von Jahw^es Namen
sind den treu Gebliebenen sicher. Die wilden ekstatischen Visionen
und Auditionen seiner Frühzeit sind abgeklungen, in breit aus-
gesponnenem Bilde malt Hesekiel die Zukunftsverfassung und
münzt seine Gesichte kunstvoll und pedantisch zu einer intellek-
tuell ausgedachten Utopie um (Kap. 40 ff.) : er ist der erste
im eigentümlichen Sinn schriftstellernde Prophet ^).
1) Ueber Hesekiel vgl. Herrmann, Ezechielstudien, Berlin 1908.
2) Denn da das Zukunftsgericht den späteren kirchenpolitischen Projekten J
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. ■2gi
Aber Hesekiel war, wie schon erwähnt, nicht nur Schrift-
steller, sondern als Priester auch seelsorgerlicher und — sozu-
sagen — • »religionspolitischer« Berater sowohl der einzelnen
Exulanten wie der im Exil maßgebenden Vertreter der Gläubigen :
der Aeltesten. Als ein »Wächter« des Volkes erscheint er sich
selbst. Und in den Erfahrungen dieser Seelsorge mußte auch
ihm das Problem der »Schuld« an dem über Israel verhängten
Unheil, vor allem der Kollektivschuld und Solidarhaftung, welches
die Thoralehre beschäftigt hatte, besonders nahe treten. Man
bemerkt deutlich, wie er dazu Stellung sucht. In der Qual seiner
pathologischen Lähmungen fühlt er sich (4, 5) gelegentlich als
bestimmt, die alte Kollektivschuld des Volkes abzubüßen. Im
wilden Zorn seiner Unheilsorakel andererseits beschuldigt er
Nvie seine Vorgänger oft die Gesamtheit des Volkes der hoffnungs-
losen Verworfenheit und kündet scheinbar den allgemeinen end-
gültigen Untergang an. Aber das war ihm selbst unerträglich,
und angesichts des mindestens zum Teil unverschuldeten Leidens
der Exulanten im Gegensatz zu der politischen Unbelehrbarkeit
und dem ökonomischen Eigennutz der in Jerusalem Gebliebenen
ist ihm im Gegensatz zu diesen allein die Gola Träger aller Hoff-
nung und künftigen Heiles (11, 16), während die Daheimgeblie-
benen alles Unheil verschuldet haben. Aber nach dem Sturz
Jerusalems fiel auch das für die Bedürfnisse der Theodizee fort,
so sehr diese Ueberzeugung seither das religiöse Selbstbewußt-
sein der Exilsgemeinde als solcher gestützt und bestimmt hat.
Innerhalb der Exilierten bestand und verschärfte sich die öko-
nomische Differenzierung und wuchs auf der einen Seite die
Neigung der Gutsituierten zu Indifferenz und Anpassung, auf
der andern Seite das Ressentiment der frommen Armen empor.
Unerträghch und nicht aufrecht zu erhalten war der Gedanke,
auch jetzt noch kollektiv für Sünden der Väter in abgelebten
Zeiten büßen zu sollen. Das Bedürfnis nach einer Prämie für
die Treue gegen Jahwe wurde gebieterisch, und entschlossen
brach nun auch Hesekiel, wie vorher schon die Deuteronomisten-
schule, mit dem alten Solidarhaftsgedanken (Kap. 18 und 33).
der Exilspriester und. deren Ausführung durch Esra und Nehemia nicht ent-
spricht, so ist keinerlei Grund für die Annahme, daß diese Partien spätere Zu-
sätze seien wie oft angenommen wird. Der Umschlag von halb pathologischer
und eschatologischer Apokalyptik des Ekstatikers zum intellektualistischen
Ausklügeln eines Zukunftsstaatsprojektes ist durchaus nichts Singuläres.
^g2 Das antike Judentum*
und zugleich mit der, vermutlich durch die Eindrücke des bab}'-
lonischen Sternenglaubens nahegelegten Vorstellung, daß Jahwe
unerbittlich vergelte, daß »unsere Sünden auf uns« seien wie ein
Schicksal, eine Ansicht, die für die Seelsorge nachteilige fata-
listische oder zur Magie oder Mystagogie führende Konsequenzen
haben mußte. Es gibt überhaupt keine unentrinnbare Schuld-
belastung des Einzelnen, sei es durch eigene Sünden oder durch
die Erbschuld der Väter. Jahwe vergibt dem Einzelnen nach
seinem Wandel: wer gerecht ist, die Mischpatim und Karitäts-
gebote Jahwes und sein chukkot hält,' der wird leben; die auf-
richtige Bekehrung löscht auch schwere Schuld aus. Die. seit-
dem herrschende Buße Stimmung der Gola wurde dadurch
religiös unterbaut und zugleich jener Unterschied der allein zum
Heil berufenen demütigen »Frommen« im Gegensatz zu der
Frivolität der Reichen und Mächtigen vorbereitet, welcher später,
vor allem in den Psalmen, die jüdische Religiosität stempelte.
Aber das Bedürfnis, die Gemeinde durch Unterscheidungszeichen
fest in der Hand der Priester zu halten, zu denen Hesekiel selbst
gehörte, wendete bei ihm die positiven Anforderungen an das
Verhalten durchaus nach der kultischen und ritualist ischen Seite,'
wie früher ausgeführt wurde. So stehen Gesinnungsethik — das
schöne Bild von der Umwandlung des steinernen Herzens in
ein Herz von Fleisch und Blut — und priesterlicher Formalismus
scheinbar unvermittelt nebeneinander : erstere ein Vermächtnis
der alten, insbesondere der jeremianischen Prophetie und auch
Erzeugnis des eigenen religiösen Erlebens, letzterer der Nieder-
schlag der praktischen Interessen des Priesters.
Bei den Propheten der ersten nachexilischen Zeit steht es
ähnlich. Haggai und Sacharja, die Heilspropheten der kurzen
Periode der Hoffnung unter Serubbabel, sind noch einmal rein
national, am Königtum und Tempel, orientiert. Die Nacht-
gesichte Sacharjas, eines gebildeten Priesters, sind eine Kunst-
komposition: die Planetengeister in den 7 Augen (3, 9), der »An-
kläger« und die Engel im Himmel zeigen babylonische Einflüsse,
das Zitieren der alten Propheten (i, 6) als Autoritäten und der
Engel Jahwes als Träger der göttlichen Befehle, statt der unmittel-
baren Eingebung, den schriftstellerisch abgeleiteten Charakter
und die Scheu vor der alten naturalistischen Leibhaftigkeit;
in der Sache selbst dreht sich alles um den Tempelbau, nach
dessen Vollendung das Heil eintreten wird. Umgekehrt findet
II, Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. -g^
-ich auf fallenderweise in den Orakeln Tritojesajas (66, i f.)
^dne Ablehnung des Tempels, da der Himmel selbst Jahwes
Tempel sei, eine modifizierte Erinnerung an die relative In-
differenz gegen den Kult bei der alten Prophetie, und ebenso
die alte starke Betonung der sozialen und humanitären Pflichten
(58, I f.) als wichtiger als alles Fasten. Die Abgötterei und die
fremden Kulte sind wie vor dem Exil die entscheidenden Frevel.
Andererseits liegt gerade bei diesem Propheten starker Nach-
druck auf der Erfüllung der äußeren rituellen Lebensordnungen,
welche jetzt das einzige Zeichen der Zugehörigkeit -zur Gemeinde
waren. Noch einmal entlud sich bei ihm die Hoffnung auf den
Tag Jahwes (66, 12 f.) ak den Tag der Tröstung für Israel, des
Unheils für die Feinde, und furchtbarer Rachedurst gegen die
Feinde lebt in dem- großartigen Bilde des wie ein Winzer vom
Blut der Edomiter geröteten, über die Berge daherschreit enden
Gottes (63, I f.). Ebenso findet sich bei Joel (2, 20) der jetzt
schon schematisch auftretende »Feind von Norden« imd ein
phantastisch ausgemaltes Völkergericht (4, i f.). Aber im ganzen
hat sich die Verschiebung vollzogen, welche durch die Lage der
kleinbürgerlichen Gemeinde gegenüber dem feindlichen oder
indifferenten Patriziat bedingt war: die Frommen im Gegensatz
zu den Gottlosen sind bei Tritojesaja ebenso wie bei den andern
Propheten der Zeit, so Maleachi (3, 18), die Träger der Heils-
te-Wartungen und Gott ist ein Gott der Demütigen (Tritojes. 57,
15). Der Zukunftskönig reitet bei Deuterosacharja (9, g f.) auf
einem Esel, weil er ein Fürst der Demütigen und Armen ist.
Die Gerechtigkeit durch den Glauben bei Habakuk (2, 4) ent-
spricht den jesajanischen Konzeptionen, ohne dessen aktuelle
utopistische Großartigkeit zu erreichen. Denn alles ist ins Klein-
bürgerliche transponiert. Eine schwere Heuschreckenplage gibt
Joel (2, 12) Anlaß zu einer eigenartig konzipierten Bußpredigt,
die aber doch lediglich auf Fasten, Opfer, einen Büß- und Bet-
tag hinausläuft, während Maleachi die Mischehen für den Zorn
Jahwes verantwortlich macht. Zwar liebt Jahwe sein Volk
(Mal. 1,1), aber der Fromme erwartet Lohn (Tritojes. 58, 6. 9)
und bei Maleachi (i, i f.) ist der persische Gedanke einer Buch-
führung des Gottes über die Taten der Menschen übernommen.
Andererseits findet sich bei Deuterosacharja (11, 4 f.) scheinbar
(-'ine Uebernahme der Theorie von den vier Weltreichen. Bei
Joel dagegen die alte schon vorprophetische utopische Hoffnung
2 8^ Das antike Judentum.
auf einen paradiesischen Endzustand sehr reahstisch in einem
Gemälde üppigen Wohlstandes nach Art der alten volkstüm-
lichen Erwartungen. Eine eigentümliche Mischung von Literaten-
bildung mit zuweilen eindrucksvoller religiöser Wärme, anderer-
seits aber: Anpassung an die hausbackenen Sitten und Bedürf-
nisse der bürgerlichen Angehörigen einer im ganzen in fried-
lichen und behaglichen, freilich kleinen Verhältnissen lebenden
Gemeinde beherrscht große Teile dieser Spätlingsprophetie. Aus-
drücklich bezeugt ist öffentliches politisches Auftreten von
Propheten für die Zeit Nehemias, der mit den Heilspropheten
seiner Zeit harte Kämpfe hatte. Aber viele Orakel und prophe-
tische Lieder dieser Epoche tragen reinliterarischen Charakter wie
schon in der Exilszeit seit der späteren Periode Hesekiels und
wie zahlreiche Psalmen, von denen es oft rein zufällig ist, daß
sie nicht zu den Prophetenliedern gezählt werden (und um-
gekehrt). Damit ist nicht etwa gesagt, daß sie ohne Bedeutung
für die religiöse Entwicklung gewesen wären, wennschon nicht
immer für die ihrer eigenen Zeit.
Die literarische Exilsprophetie hatte vor allem die radikalste
und man kann sagen : die einzig wirklich ernsthafte T h e o-
d i z e e geschaffen, welche das antike Judentum überhaupt
hervorgebracht hat. Sie ist zugleich eine Apotheose des Leidens,
des Elends, der Armut, der Erniedrigung und Häßlichkeit, wie
sie in dieser Konsequenz nicht einmal in der neutestamentlichen
Verkündigung wieder erreicht worden ist. Der heute als »Deute -
rojesaja« bezeichnete Schriftsteller (Jesaja 40 — 55 ^), welcher
, *) Während die Entstehung dieser Kapitel des jetzigen" Jesajabuchs in
der Exilszeit völlig feststeht und auch die Nichtidentität ihres Verfassers mit
der der nachfolgenden Stücke (Tritojesaja) zunehmend anerkannt ist, bleibt
die Frage, ob die dem Deuterojesaja zugerechneten Kapitel einem Verfasser
zuzuschreiben sind oder die sog. 'ebed-Jahwe-Lieüer einem anderen, bestritten
und sind jene Lieder vom »Gottesknecht« selbst nach wie vor eine crux inter-
pretum. Aus der Literatur sei außer auf Duhms Jesaja- Kommentar auf Sellins
Schrift: Die Rätsel des deuterojesajanischen Buchs (1908), von anderen Ar-
beiten auf Greßmanns Erörterung in seiner früher zitierten »Eschatologie«
(1905) und Laues Artikel in den Theologischen Studien und Kritiken (1904)
sowie Giesebrechts Arbeit: Der Knecht Jahwes des Deuterojesaja (1902) ver-
wiesen, namentlich aber auf Rothsteins sehr eingehende Besprechung der älteren
Darlegungen Sellins (im ersten Band von dessen Studien zur Enstehungs-
geschichte der jüdischen Gemeinde nach dem babylonischen Exil, 1901) in
den Theologischen Studien und Kritiken 1902 I S. 282. Aus der neuesten Litera-
tur besonders: Staerk in den Beitr. z. Wiss. v. A. T. 14 (1912), der zwischen
den vier Liedern Jes. 42, i f., 49, i f., 50, 4 f., 52, 13 f. und den sonstigen Gottes-
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. ^^c
diese Konzeption schuf, schrieb anonym offenbar mit Rücksicht
auf die babylonische Zensur^), welche er wegen seiner überaus
leidenschaftlichen Hoffnungen auf die von ihm (zu Unrecht)
erwartete Zerstörung Babels durch Kyros allerdings zu fürchten
hatte.
Die Stellung zur Armut und zum Leiden überhaupt hat in
der israelitischen Religiosität verschiedene Stadien durchlaufen
und zwar nicht derart, daß das ältere durch das jüngere je voll
verdrängt worden wäre. Die ursprüngliche Annahme war hier
wie überall: daß der vermögende, gesunde, angesehene Mann
in des Gottes voller Gnade steht. Die Erzväter sowohl wie Boas,
Hiob und andere Frommen sind reiche Leute. Vermögensverfall,
Krankheit, Elend galten als Zeichen göttlichen Zornes. Hiobs
knechtsliedem, in welchen der 'ebed zweifellos das Volk Israel sei, scheidet.
In jenen vier Liedern sei er eine individuelle Figur und zwar in den drei ersten
teils eine heroische, teils eine Märtyrergestalt, vorgestellt als ein präexistenter
universeller Erretter, in Wahrheit eine Uebertragung der Davididenhoffnung
auf das Prophetentum. Die Kritik an Sellin wirkt vielfach überzeugend. Den-
noch bleiben dessen Aufstellungen in wichtigen Punkten dauernd wertvoll.
Sellin ist der Hauptvertreter der Jojachin-Hypothese und zugleich der Einheit-
lichkeit des deuterojesajanischen Buches. Von dieser Einheitlichkeit der Ver-
fasserschaft des unter dem begeisternden Eindruck der Hoffnungen auf Kyros
vermutlich stückweise entstandenen und dann zusammengefaßten Buchs legt
der Inhalt «in bei unbefangener und unvoreingenommener Lektüre steigend
empfundenes Zeugnis ab. Dagegen scheint die Deutung auf Joj achin schwer
annehmbar, namentlich weil es sich um einen Mann mit Thora-Lehrgabe, also
einen Propheten, nicht einen König handelt. Das Buch macht den Eindruck
der religiösen Kunstdichtung eines geistig sehr hochstehenden enthusiastischen
Denkers, der für einen kleinen Kreis ähnlich Gestimmter schrieb. Es ist daher
die Annahme statthaft, daß das Schwanken zwischen individueller und kollek-
tiver Deutbarkeit absichtsvolle Kunstform dieser prophetischen Theodizee ist.
Der für uns entscheidende Kernpunkt der Hypothese Sellins liegt aber darin:
daß die bei der Entstehung auf ein Individuum (Joj achin) bezogenen Lieder
nach dessen Tod vom Verfasser selbst auf das Volk Israel übertragen worden
und deshalb in den Zusammenhang mit den erst damals, unter dem Eindruck
des Anrückens des Kyros, entstandenen Stücken verarbeitet worden seien.
Damit akzeptiert Sellin im Resultat die Behauptung: daß Deuterojesaja bei
der Schlußredaktion jedenfalls nicht mehr Joj achin, sondern das Volk Israel
bzw. dessen frommen Kern als den Träger der ursprünglich auf den König be-
zogenen Qualitäten ansah. Nur philologische Fachleute können das entscheidende
Wort über die geistreiche Konstruktion sprechen. In jedem Fall war auch dann
die Absicht des Verfassers bei der Schlußredaktion die hier vorausgesetzte:
Mehrdeutigkeit.
*) Merkwürdigerweise hat sich außer Duhm neuestens auch Hölscher
(wegen Jes. 52, 11 und 43, 14) für außerbabylonische Provenienz ausgesprochen
und auf Aegypten (insbesondere Syene wegen 49, 12) geraten. Allein dies scheint
schon wegen des aktuellen Interesses an Kyros nicht annehmbar, ganz abgesehen
von dem starken Interesse an rein babylonischen Dingen.
Max Weber, Religionssoziologic UI. 25
3 86 I^^s antike Judentum.
Freunden ist das selbstverständlich, und auch die Propheten dro-
hen dieses Schicksal als Strafgericht an. Wir sahen aber, wie
sich die Stellung zu den sozialen Schichten mit dem Uebergang
zur stadtsässigen Kultur verschob, als der wehrhafte israelitische
Bauer und Hirt ein zunehmend pazifistischer Periöke und von
Schuldknechtschaft bedrohter Armer (ebjon) geworden war,
an Stelle der Kriegspropheten fromme Seher, an Stelle der patriar-
chalen ländlichen Fürsten dagegen der König,* die Fronherrschaft,
die Ritter und patrizischen Gläubiger und Grundrentner getreten
waren und als ferner die Karitätsethik der benachbarten König-
tümer die Paränese der Thoralehrer beeinflußt hatte. Die Lebens-
führung der Reichen und Vornehmen war ersichtlich weder
kultisch noch ethisch einwandfrei. Ihr Prestige sank überdies
durch Abnahme der Machtstellung des Staates. Schon bei
Zephanja findet sich die Armut des beim Strafgericht übrig-
bleibenden Volks mit seiner Frömmigkeit in Beziehung gebracht.
Aber der Standpunkt der vorexilischen Ethik war sonst eine
solche positive Schätzung der Armen als der Frommen nicht.
Der Arme, Kranke, Bresthafte, die Waisen, Witwen, Metöken,
Lohnarbeiter waren Objekte der pflichtmäßigen Karität, nicht
aber selbst Träger höherer Sittlichkeit oder einer spezifischen
religiösen Würde. Die Herrschaft der Plebejer galt als Strafge-
richt. Immerhin wurde unter dem Einfluß der levitischen Par-
änese Jahwe zunehmend als ein Gott angesehen, der den Elenden
und Bedrückten zu ihrem Recht verhilft, ohne daß natürlich
dabei irgend etwas wie ein naturrechtlicher Gleichheitsanspruch
anklänge. Aber allerdings wurde bei der prophetischen und
deuteronomischen Konzeption Jahwes als eines Gottes, der vor
allem die Hoffart haßt, die spezifisch plebejische Tugend der
Demut zunehmend ausschließlich geschätzt. Von diesen Vor-
stellungen aus und auf Grund der von ihm konsequent zu Ende
geführten universalistischen Gotteskonzeption zog nun im Elend
des Exils Deuter ojesa ja die Linien zu Ende. Bei ihm ist der Reiche
als solcher an einer Stelle (53, 9, freilich unsicherer Lesart) derart
mit dem Gottlosen identifiziert, daß von dem Gottesknecht ein-
fach gesagt wird, er sei (trotz seiner Gerechtigkeit) »wie ein Rei-
cher« gestorben. Gerade die Frommen des Exils sind oft von den
Feinden bedrängte und mißhandelte Leute. Dafür schuf Deutero-
jesaja, da die Begründung durch die Taten der Vorfahren nicht
mehr akzeptiert wurde, eine neue Theodizee. Jahwe ist ihm
I
I
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. ^gj
Weltgott. Die Existenz der anderen Götter wird nicht unbedingt
geleugnet, aber Jahwe wird sie vor seinen Stuhl fordern und ihre
angemaßte Würde zunichte machen. Jahwe allein ist der Welt-
schöpfer und Lenker der Universalgeschichte, deren Gang sich
nach seinen verborgenen Absichten vollzieht. Das schmähHche
Schicksal Israels aber ist eines und zwar das wichtigste der
Mittel zur Verwirklichung weit weiser Heilspläne. Zunächst für
Israel selbst ist es Läuterungsmittel (Jes. 48, 10). Nicht »wie man
Silber abscheidet«, läutert Jahwe seine Getreuen, sondern »im
Ofen des 'Elends« macht er es zu seinem auserwählten Volk«.
Aber: nicht nur um Israels selbst willen, wie in der gesamten
sonstigen Prophetie, sondern auch um der anderen Völker willen.
Dies Thema ist ausgeführt in den viel erörterten Liedern vom
»Gottesknecht« ('ebed Jahwe). Die eigentümliche Konzeption
dieser Figur schwankt wenigstens in der Fassung, welche der
Text endgültig erhielt, offensichtlich zwischen einer Einzeigest alt
und einer Personifikation des Volkes Israel oder vielmehr: seines
frömmsten Kerns. Man hat für jene Einzelfigur neben mancherlei
unannehmbaren Persönlichkeiten an den in jugendlichem Alter
nach Babel geführten und nach langjähriger Kerkerhaft be-
gnadigten und an die königliche Tafel gezogenen König Joj achin
gedacht, mit dessen Befreiung aus der Gefangenschaft das König-
buch abschließt. Indessen, wenn man nicht die einzelnen Lieder
auf ganz verschiedene Träger der Gottesknechtsqualität beziehen
will, so ist weder diese, noch irgendeine andere Annahme wirk-
lich zwingend und kann auch die Frage: ob Einzelperson oder
Kollektivpersonifikation, nicht einheitlich beantwortet wer-
den. Schicksale und Leiden, die seinem Publikum allbekannt
und alltäglich waren, vor allem die »durchbohrten« Knöchel
der Gefangenen, scheint der Verfasser mit Zügen einer eschato-
logischen Gestalt ungewisser Herkunft verknüpft zu haben
und es ist offenbar absichtsvolle Kunstform, wenn er zwischen
jenem persönlichen Träger des Leidensschicksals und dem lei-
denden Kollektivum derart hin- und hergleitet, daß selbst im
Einzelfall zuweilen schwer zu sagen ist, welche Deutungsmöglich-
keit vorschwebte. Israel ist der Knecht Jahwes, heißt es (49, 3)
und schon vorher (48, 20) wird gesagt, daß Jahwe seinen Knecht
Jakob erlöst habe. Aber unmittelbar nach der ersten Stelle
ist (49, 5. 6) der Knecht Jahwes dazu berufen, Jakob zu bekehren
und die Stämme Israels wieder aufzurichten. Denn Jahwe hat
25*
^88 Das antike Judentum.
ihm die Zunge eines Jüngers gegeben, um zu den Ermüdeten
zur rechten Zeit zu reden (50, 4) : und auch weiterhin wird (53, 11,
in freiUch unsicherer Lesung) seine Erkenntnis als Quelle des
Heils hingestellt. So pflegte von Propheten oder Thoralehrern
gesprochen zu werden, und man wird daher in dem Gottesknecht
eine Personifikation der Prophetie zu finden geneigt sein. Dies
um so mehr, als die Weissagung des Schriftstellers, der die Magie
und Astronomie der babylonischen Weisen kennt und ablehnt,
weiter dahin geht : daß der Gottesknecht zum »Licht für die Hei-
den« bestimmt sei und zum »Heil bis an das. Ende der Welt.«
{49, 6.) Daß es das gewaltige Selbstgefühl der Prophetie ist,
welche sich angesichts der bevorstehenden Erfüllung der alten
Verheißungen durch Kyros hier als übernationale Universal-
macht fühlt, dafür sprechen auch andere Stellen und die Natur
der Sache selbst. IJnleugbar klingen andererseits manche Stellen
so, als handle es sich um einen Herrscher, nicht einen Propheten.
Aber ein Hierokrat und Volksführer war der Archetypos der
Prophetie, Mose, auch gewesen, und gerade die Exilszeit hatte die
Figur des weisen Priesterfürsten Melchisedek wieder hervorge-
sucht. Dem Gottesuniversalismus entsprach die Weltmission.
Wenn auch Deuterojesaja selbst sich mit ihr nicht im einzelnen
befaßt, so ist es doch nicht zufällig, daß der spätere Zusammen-
steller des jetzigen Jesajabuchs unmittelbar an seine Schrift
die jenes nachexilischen anonymen Schriftstellers (Tritojesaja)
angeschlossen hat, des energischsten Vertreters der religiösen
Weltpropaganda und der religiösen Gleichwertigkeit aller Prose-
lyten, wenn sie sich Jahwes Ordnungen fügen. (Jes. 56, 6. 7.)
Aufgabe und Ehre der Weltmission ist in der Tat schon bei
Deuterojesaja ideell begründet und er ist zugleich unter den
Heilspropheten derjenige, welcher verhältnismäßig am wenig-
sten von einer sozialen Ueberordnung der Juden über die anderen
Völker als Heilsziel redet oder Rache an den Feinden verheißt,
wie fast alle anderen es tun: auch Tritojesaja wieder (60, 10.
14- 15) j der die Untertänigkeit der Heiden als Ausgleich für die
lange Schande Israels in Aussicht stellt. Auch Deuterojesaja
verkündet zwar ausführlich das Strafgericht über Babel (Kap. 47) ,
Erniedrigung und Vergeltung gegen die Feinde Israels (49, 23. 26
und sonst). Aber dies ist nicht der Kern seiner Heils Weissagung.
Auch bei ihm hat Gott sein Angesicht vor Israel verborgen wegen
der Gottlosigkeit der Väter und er ermahnt, den Herrn zu suchen,
I
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. -jgn
sich ZU bekehren und gottlose Wege und Gedanken zu meiden
(55, 6. 7). Aber diese Wertung des Elends als Strafe für Sünden,
wie ebenso jene bei diesem Propheten nur gelegentlich ange-
deuteten Mahnungen zur Buße treten weit zurück hinter einer
ganz anderen und positiven soteriologischen Bedeutung des
Leidens als solchen. Und zwar gerade, im schärfsten Gegensatz
zur vorexilischen Prophetie: des unschuldigen Leidens.
Auch da wieder schwankt die Ausdrucks weise so, daß bald Israel
oder die Prophetie als Träger dieses heilsbedeutsamen Leidens
gedacht erscheint, bald eine eschatologische Einzeigest alt. Die
Leute, welche Gerechtigkeit und Lehre (Thora) kennen, werden
ermahnt, die Schmähungen und Drohungen der Welt nicht zu
fürchten (51, 7), und in der ersten Person rühmt der Prophet : daß
er, dem der Herr die Gabe der Lehre gegeben hat (50, 4), seinen
Rücken den Schlagenden und sein Gesicht den Raufern geboten
und sein Antlitz »nicht vor Schmach und Speichel verborgen«,
sondern »zum Kieselstein gemacht« habe (50, 6. 7), da er ja wußte,
daß der Herr mit ihm sei und ihn nicht zuschanden werden lasse.
Hier scheint also unter dem Gottesknecht offenbar die Prophetie
als solche verstanden zu sein. Aber in den weiteren Liedern wii d
die Gestalt wieder ausgesprochen persönlich und soteriologisch
gewendet. Viele entsetzen sich über den Knecht Jahwes, weil
er häßlicher ist als andere (52, 14, von manchen Gelehrten als
Glosse angesehen). Er ist der aller ver acht etste, von allen Men-
schen verlassenste, voll Schmerzen und Leiden, einer, vor dem
man sein Antlitz verbirgt, weil man ihn für nichts rechnet (53,
3. 4) und weil man ihn für einen von Gott zur Strafe Gezeichneten
und Geschlagenen hält. »Wir hielten ihn dafür«, heißt es, —
so daß hier, je nachdem, das verachtete Israel oder dessen vom
eigenen Volk verschmähte Propheten personifiziert sein könnte.
Daß der Gottesknecht (53, 13) für die Uebcltäter bittet, ist kein
für die Stellung der Prophetie neuer Gedanke, (Jer. 15, i; Hes.
14, 14.) Daß er sein Leben hingibt, um »der Vielen Sünden zu
tragen«, könnte allenfalls, wenn auch mit großen Schwierigkeiten,
noch an der Grenze dessen stehen, was auch von altisraelitischen
Gottesmännern, wie Mose, geglaubt wurde, der sein eigenes
Leben darbietet, wenn seinem Volke nicht vergeben werden
sollte (Ex. 32, 32). Stellvertretendes Sühnopfer war an sich ein
auch in Altisrael heimischer Gedanke. Schon für Hesekiels
ekstatische Krampfzustände findet sich einmal (4, 5) die Vorstel-
oQO Das antike Judentum.
lung, daß der Prophet die vielen Jahre von Schandtaten Israels
durch ebensoviel Tage der Lähmung abbüßen müsse für sein
Volk, welches den Heiden zum Spott dahingegeben sei (5, 15).
Bei Deuterojesaja wird aber der volle Nachdruck darauf gelegt
(53? 12) : daß der Gottesknecht um seines Leidens willen z u
den Sündern gezählt und bei den Gottlosen ver-
scharrt wurde, obwohl er nicht zu ihnen gehörte. Dadurch
eben trug er die Sünde vieler, daß er »um unserer Sünden willen
durchbohrt und geplagt« war, daß Jahwe »die Strafe auf ihn
legte« (53, 5. 6) und seine heilbringende Leistung wird darin
gefunden, daß er bei den Martern »seinen Mund nicht auf tat,
wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird« und seine
Seele d. h. sein Leben zum Schuldopfer hingab (53, 7. 10). Nicht
daß er geopfert wurde oder sich opferte, sondern daß er seiner-
seits noch dazu als Sünder und unter Gottes Zorn stehend galt,
ist dabei, wie später bei Hiob, das Höchstmaß des Leidens. Von
den einmal durch Deuterojesaja aufgenommenen Gedanken -
zusammenhängen aus sind diese Konzeptionen nichts derart
Heterogenes, daß die Annahme von Vorstellungen fremder
Provenienz irgendwie zwingend wäre. Sie erscheinen an sich nur
als konsequente Zusammenfassung und rationale Umdeutung
schon vorhandener Ansätze. Die rein äußerlichen Schilderungen,
namentlich die »Durchbohrung«, legen an sich nur nahe, an
einen jüdischen Märtyrertypus zu denken. Aber gewiß kann es
nicht als unmöglich gelten, daß eine eschatologische Gestalt
einer Volksmythologie mit vorgeschwebt hat, welche, wenn es
sich so verhielte, ihrerseits einem der verbreiteten Kulte, sei es
des Tammuz (wie vielfach angenommen wird), sei es eines an-
deren sterbenden Gottes, etwa des im Zusammenhang mit dem
gleichen Bilde vom »Durchstochenen« bei Deuterosacharja
(12, 10) erwähnten Hadad Rimon von Megiddo entstammen
würde. Aber wenn wirklich eine solche Uebernahme oder Be-
einflussung vorliegen sollte, was durchaus zweifelhaft
bleibt, so wäre die grundstürzende Umprägung des Sinnes nur
um so eindrucksvoller. Jede Beziehung zu Sünden einer Gemein-
schaft und zu dem soteriologischen Zweck, sie zu sühnen, fehlte
ja diesen sterbenden Göttern. Ganz anders hier. Der aus
mythologisch konstruierten kosmischen oder theogonischen Grün-
den sterbende Gott oder Gottessohn ist, dem Wesen des Jahwis-
mus entsprechend, ein als Schuldopfer sich selbst darbringender
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. igi
Gottes k n e c h t geworden. Der Erlöser ist nicht der sterbende
Gottesknecht, sondern Jahwe selbst (54, 8), der nun, den Verhei-
ßungen anderer Propheten entsprechend, mit seinem Volk einen
Friedensbund schließt ewiger als die Berge (54, 10), die Gnade
Davids erneuernd (55, 3). Das schuldlose Martyrium des Gottes-
knechts ist für Jahwe das Mittel, dies tun zu können. D a-
r i n liegt das für die überlieferten Vorstellungen in der Tat
Fremdartige, Warum bedarf es dieses Mittels? »Nicht sind
meine Gedanken euere Gedanken, noch meine Wege euere Wege«
(55, 8). Also wohl: ein nur dem Kreise der Eingeweihten ver-
ständliches Mysterium, was wiederum für die Beeinflussung
der Phantasie des Propheten durch irgendeinen eschatologischen
Mythos spricht ^). Allein, wie man oft hervorgehoben hat: die
ethische Wendung dieser Soteriologie fehlte allen bisher bekannten
Mythologemen von sterbenden oder auferstehenden Vegetations-
oder anderen Göttern und Helden. Sie alle pflegten vollkommen
unethisch zu sein. Diese Wendung war also, soviel ersichtlich,
geistiges Eigentum des Propheten. Ihre Art und Weise will aber
richtig gesehen werden. Sie liegt nicht oder doch nur ganz neben-
her in der, gemäß prophetischer Tradition, auch von Deutero-
jesaja erwähnten Funktion des Leidens als Strafe früherer Sünden.
Vielmehr wird, je mehr die Gottesknechtsgestalt in den Vorder-
grund tritt, desto nachdrücklicher betont, daß sein Leiden u n-
verdient war. In der Tat waren ja doch die anderen Völker
und die Gottlosen gewiß nicht besser als das leidende auserwählte
Volk Jahwes. Auch auf den Bruch der alten berith legt gerade
dieser Prophet weniger Gewicht als andere. Er knüpft dagegen,
was bei den früheren Propheten seltener geschah, an die Ver-
heißungen für Abraham (51, 2) und Jakob an. Aber auch das
ist peripherisch. Nicht die Verheißungen und nicht die berith,
sondern die Frage der Theodizee des Leidens Israels unter ganz
universellen Gesichtspunkten eines weisen göttlichen Weltregi-
ments ist ihm Problem. Was ist unter solchen Fragestellungen
nun für ihn der Sinn seiner Verklärung des Leidens, der Häß-
*) Die »Berufung vom Mutterleibe an« {49, 1) entspricht babylonischer
Königsterminologie einerseits, der providentiellen Berufung Jeremias im Mutter-
leib ( Jer. I, 5) andererseits. In der Diktion des Schriftstellers hat Sellin (a. a. O.
S. loi ff.) starke Anklänge an babylonische Hymnen und Klagelieder überzeugend
nachgewiesen (vgl. übrigens schon Kittel Z. f. A. T. W. 1898; Cyrus und Deutero-
jesaja).
og2 Das antike Judentum.
lichkeit und des Mißachtetseins ? Es ist selbstverständlich nicht
Zufall, sondern Absicht, daß der Prophet die eschatologische
Person immer wieder in eine Personifikation Israels oder der
Prophetie hinübergleiten läßt und umgekehrt, und daß infolge-
dessen Israel bald als Träger, bald als Objekt der Erlösung er-
scheint. Der Sinn des Ganzen ist eben: die Verklärung
der Pariavolkslage und des geduldigen Aus-
harrens in ihr. Dadurch wird der Gottesknecht und das
Volk, dessen Archetypos er ist, zum Heilbringer der Welt. Mochte
jener also als persönlicher Heiland gedacht sein, so war er es eben
doch nur dadurch: daß er die Parialage des Exilsvolks freiwillig
auf sich nahm und das Elend, die Häßlichkeit, das Martyrium
klaglos und widerstandslos duldete: Alle Elemente der utopischen
evangelischen Predigt : »widersteht nicht dem Uebel mit Gewalt«,
sind hier vorhanden. Die Pariavolkslage als solche und ihr ge-
horsames Erdulden wird dadurch zur höchsten Staffel der reli-
giösen Würde und Ehre vor Gott erhoben, daß sie den Sinn einer
welthistorischen Mission empfängt. Diese enthusiastische Ver-
klärung des Leidens, als des Mittels, der Welt zum Heil zu dienen,
ist dem Propheten offenbar die letzte und in ihrer Art höchste
Steigerung der Verheißung an Abraham, daß sein Name dereinst
ein »Segenswort für alle Völker« werden soll.
Die spezifisch miserabilistische Ethik des NichtWiderstandes
lebte in der Bergpredigt wieder auf, und die Konzeption vom Opfer-
tod des schuldlos gemarterten Gottesknechts half die Christologie
entbinden ^) . Freilich nicht diese Konzeption allein , sondern
^) Die Perikope vom Gottesknecht ist besonders stark bei den Synoptikern
und in der Apostelgeschichte, demnächst im Römer- und ersten Korinther-
briefe, aber auch bei Johannes benutzt, i. Kor. 15, 3 ergibt, daß die Vorstellung
von dem als Sühnopfer sterbenden Heiland dem Paulus schon durch Tradition
vorlag. Die Bezugnahme auf die prophetische Verkündigung findet sich als
von Jesus ausgesprochen Matth. 26, 24 (= Jes. 53, 7. 8). Daß Jesus der Erwählte
(Luc. 9, 35 = Jes. 53, 12), das Wohlgefallen Gottes (Matth. 3, 17 = Jes. 42, i),
sündlos (Joh. 8, 46= Jes. 53, 5), das Lamm Gottes (Joh. i, 29. 36 = Jes. 53, 4I.),
das Licht der Völker (Joh. i, 5 = Jes. 42, 6 f.), berufen, die Mühseligen zu er-
quicken (Matth. II, 28 = Jes. 55, i f.), in Niedrigkeit gelebt habe (Phil. 2, 7
= Jes. 53, 2. 3), Verkennung (Act. 8, 32 f. = Jes. 53, 7. 8), Anklage (Math. 26,63)
und Mißhandlung (Matth. 27, 26) schweigend wie ein Lamm geduldet, Fürbitte
für die Frevler eingelegt (Luc. 23, 34 = Jes. 53, 5 f.), als Lösegeld für die Sünden
anderer gestorben (Matth. 20, 28 = Jes. 53, 10 f.) sei, dadurch Sündenvergebung
erwirkt habe (Luc. 24, 47 = Jes. 53, 5 f.) und von Gott verherrlicht worden sei
(Joh. 13, 31 ; 14, 13; Act. 3, 13 = Jes. 49, 5; 55, 5), wird in oft wörtlicher Parallele
mit Deuterojesaja ausgeführt. Besonders charakteristisch ist Rom. 4, 25 ( =
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. 393
in Verbindung mit der späteren Apokalyptik : der Menschensohn-
lehre ^) des Danielbuchs und anderen Mythologemen. Aber
immerhin: das Kreuzeswort: »Mein Gott, mein Gott, warum
hast du mich verlassen«, bildet den Anfang des 22. Psalms, der
von Anfang bis zu Ende Deuterojesajas Miserabilismus und Gottes-
knechtsprophezeiung verarbeitet ^) . Wenn tatsächlich nicht
erst der christliche Gemeindeglaube, sondern Jesus selbst diesen
Vers auf sich angewendet haben sollte, dann würde dies nicht
etwa, wie jenes Kreuzeswort merkwürdigerweise oft gedeutet
worden ist, auf einen Tiefstand der Verzweiflung und Enttäu-
schung, sondern gerade umgekehrt mit Sicherheit auf ein im
Sinn Deuterojesajas messianisches Selbstgefühl und die am Schluß
des Psalms ausgedrückten Hoffnungen bei ihm schließen lassen.
Dagegen innerhalb der jüdischen kanonischen Literatur ist
dieser Psalm das einzige vollinhaltlich an Deuterojesajas
Soteriologie orientierte Erzeugnis, während allerdings einzelne
Zitate und Anklänge an ihn in den Psalmen sich mehrfach finden.
Zwar die deuterojesa janische Stimmung, das »Wurmge-
fühl« (41, 14) und die positive Wertung der Selbsterniedrigung
und Häßlichkeit hat weithin im Judentum nachgewirkt, wie
sie später im Christentum bis in den Pietismus hinein ihre Folgen
gehabt hat. Dagegen ist die Konzeption des leidenden und für
die Sünden anderer als schuldloses Opfer freiwillig sterbenden
(jottesknechts im Judentum zunächst gänzlich verschollen.
Jes. 53, 12), wo Paulus die gänzlich mißverständliche Uebersetzung der LXX
zugrunde legt. Auch die Rolle der Apostel wird übrigens gelegentlich (Act. 13,
47 = Jes. 49, 6) mit deuterojesajanischen Bildern bezeichnet. Alle Stellen
sind sehr bequem zusammengestellt bei E. Huhn, Die messianischen Weis-
sagungen des israelitisch-jüdischen Volks II (1900).
*) Sehr oft wird statt des »Gottesknechts« einfach der »Menschensohn«
eingesetzt, was den Weg der Uebernahme (Mysterien) kennzeichnet.
^) Vers 17, wo von den »Händen und Füßen« geredet wird, ist in der
Lesart verderbt. Es kann also fraglich sein, ob dort von Einschnürung oder
Durchbohrung der Knöchel wie bei einem Gefangenen die Rede ist. Aber schon
'lie Uebersetzung der LXX scheint zu beweisen, daß es der Fall war. Und das
gleiche zeigen die folgenden Verse, wo von der Verteilung der Gewänder und dem
Loswerfen darüber gesprochen ist. Die christliche Gemeinde aber muß, vielleicht
infolge der LXX, jenen Vers unbedingt auf eine Kreuzigung bezogen haben,
denn die ganze Darstellung der Evangelien ist offensichtlich durch Psalm 22
l)eoinflußt. Danach ist es doch recht wahrscheinlich, daß der »Durchbohrte«
des Deuterojesaja hier vorgeschwebt hat, jedenfalls aber, daß die übliche Auf-
lassung Psalm 22 so deutete, wie denn die christliche Gemeinde auch sonst die
(k>ttesknechtslieder und diesen Psalm promiscue als Weissagungen auf Chiistus
benutzt und die Darstellung der Passion danach geformt hat,
nQA Das antike Judentum.
und zwar offenbar sofort. Das erklärt sich aus den Ereignissen.
Nach Deuterojesajas Meinung sollte die Erlösung und also der
Lohn des leidenden Gehorsams unmittelbar bevorstehen. Er
sah (45, i) den Gesalbten des Weltgottes, Kyros, vor den Toren
Babels, das er vernichten werde. Aber Babel blieb stehen und
Kyros verhielt sich wie sein legitimer König. Freilich: die Rück-
kehr aus dem Exil fand statt. Aber die Verhältnisse gestalteten
sich nicht so, daß man sie als Zustand der Erlösung empfunden
hätte. Und es war ja auch an sich unmöglich, daß diese Theodizee
eines theologischen Denkers Gemeingut eines Gemeindeglaubens
wurde, so wenig wie dies den Erlösungskonzeptionen indischer
Intellektueller widerfuhr. Zwar der zu Unrecht durchstochene
und am Ende der Tage belohnte Gerechte als Bild für Israel
findet sich bei Deuterosacharja und in den Psalmen. Im Daniel-
buch (11, 33 und 12, 3) und vor allem in dem apokryphen Weis-
heitsbuch ist Deuterojesaja ausgiebig benutzt. Dem Stande der
Verfasser entsprechend sind dort die Weissagungen vom Leiden
und der dann wieder eintretenden Erhöhung des Gottesknechts
auf die Thoralehrer oder das gerechte Volk Israel bezogen worden.
Aber die Benutzung ist ganz unvollständig und vor allem findet
sich für die Annahme eines durch sein freiwilliges und klagloses
Leiden die Sünden des Volkes Israel oder gar der ganzen Welt
sühnenden Dulders kein Anhalt. Hiob weiß von der deutero-
jesajanischen Art von Theodizee des Leidens und von dessen
Gott wohlgefälligkeit nicht das mindeste und vollends die naive
Messiashoffnung des Volksglaubens hat niemals daran angeknüpft.
Das gleiche gilt von der frührabbinischen Literatur. Sie kannte
wohl einen im Krieg fallenden, aber nicht einen als Heiland
leidenden Messias. Erst im Talmud (b. Sanh. 98 b) findet sich
eine solche Gestalt und erst seit etwa dem 3. Jahrhundert n. Chr.
scheint die Lehre vom leidenden Messias und von der Verdienst-
lichkeit des Leidens rein als solchen unter schwerem Druck wieder
in den Vordergrund zu treten i). Bis dahin blieb nur der na-
mentlich durch einige Psalmen vermittelte und verstärkte Stim-
mungsgehalt jener, wie sich aus den wiederholten Zitaten ergibt,
wohlbekannten deuterojesajanischen Stellungnahme zum klag-
1) Hierzu Dalmann. Der leidende und sterbende Messias der Synagoge
im ersten nachchristlichen Jahrhundert (Schriften des Inst. Jud. IV, Berlin
1888). Das stellvertretende Leiden an sich war dagegen der rabbinischen Zeit
ein durchaus geläufiger Gedanke (4. Makk. 6, 29; 17, 22).
w
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. ^gc
losen Leiden das, was nachhaltig wirkte. Das duldende und har-
rende Pathos der Parialage und die fremden Augen, mit denen die
Juden durch die Welt gingen, hatten an diesem außerordent-
lichen Buch ihre stärkste innerliche Stütze, bis dies Produkt
der Exilszeit in dem werdenden Christusglauben als stärkstes
Ferment wirkte.
Daß die Propheten der Exilszeit und ebenso ein beträcht-
licher Teil der nachexilischen, religiöse Schriftsteller und nicht
mehr aktuelle religionspolitische Demagogen waren und nach
den Zeitbedingungen sein konnten, hat auf die Stilform nicht
nur, sondern auckauf die Auffassung vom prophetischen Charisma
seine Konsequenzen gehabt. Die ältere Prophetie spricht im
allgemeinen ^) nicht, wie die Terminologie der alten nord-
israelitischen Ekstatiker, von einer Innewohnung des »Geistes«
(ruach) Jahwes im Propheten. Wir sahen, daß ihr diese Vor-
stellung fernlag. Leibhaftig redet des Gottes Stimme zu ihnen,
oder aus ihnen, gewissermaßen durch sie als Instrumente hindurch,
die sich seinen Reden nicht widersetzen können, und wo der
Gott selbst ein »Geist« genannt wird, geschieht dies, um seine
weite Distanz vom Menschen zu kennzeichnen. Die »Hand«
Jahwes packt den Propheten unmittelbar, er redet, wie Jesaja,
die »Thora Gottes«. Das zwar nicht allein Vorherrschende, aber
doch Charakteristische bei ihnen allen ist also ein freilich durch
bastimmte Vorstellungen von den Beziehungen zwischen Gott
und Menschen in seiner Ausdeutung bestimmter und in seinen
Aeußerungen gebändigter aktuell und sehr emotional ekstatischer
Habitus. Darin trat mit dem Wegfall der politischen Aktualität
Wandel ein. Schon in den Spät orakeln Hesekiels ist alle ursprüng-
liche Wildheit von ihm abgefallen. Bei Deuterojesaja ist von
emotionaler Ekstase nichts zu spüren. Bei Tritojesaja (6i, i)
ist der prophetische »Geist des Herrn Jahwe« (ruach adonai
Jahwe) als ein dauernder Habitus »über« dem Propheten
und treibt ihn, zu lehren. Aktuelle emotionelle Zustände finden
sich immer wieder dann, wenn politische Entschließungen der
unmittelbaren Gegenwart zu beeinf Kissen waren oder der Rache-
durst gegen die politischen Feinde sich entlud, wie bei der Winzer-
vision Tritojesajas. Aber selbst die aktuelle Heilsprophet ie der
Serubbabelzeit unterscheidet sich im prophetischen Habitus
^) Bei Hosea ist der Prophet der >Mann des Geistes«.
•2Q^ Das antike Judentum.
von der vorexilischen Prophetie. Nachtgesichte, d. h. Traum-
visionen, welche diese abgelehnt oder doch als minderwertig
angesehen hatte, treten wieder in den Vordergrund wie bei den
alten »Sehern«: Sacharja war eben ein Priester und kein Dema-
goge. Und der »Geist«, der bei Haggai, dann bei Joel und Deutero-
jesaja wieder eine Rolle spielt, ist teils ein Theologumenon zur
Vermeidung der alten, jetzt peinlich empfundenen Leibhaftig-
keits Vorstellungen, teils aber eine prophetische Zukunftshoff-
nung geworden. Vor allem: Träger dieses »Geistes« ist die Ge-
meinde. Die (vielleicht aus Ueberarbeitung stammende)
Erklärung Jahwes bei Hesekiel (39, 29), daß .er auf das Haus
Israel seinen Geist ergossen habe und deshalb in Zukunft nach
dem Kommen des Heils nicht mehr von ihm abwenden werde,
ist bei Deuterojesaja (44, 3) in eine Zukunftsverheißung: seinen
Geist, das heißt (wie 42, i angibt) : den Geist der Prophetie, auf
den Samen Israels ergießen zu wollen, verwandelt. Das gesamte
»Volk im Lande« ist Träger des Geistes. Wenn T^ritojesaja
(63, 10. 11) von der Verletzung des in der mosaischen Zeit von
Jahwe unter das Volk gegebenen »heiligen Geistes« durch dessen
Hissetaten spricht und schon bei Haggai (2, 6) die Wiederkehr des
Geistes Jahwes, unter Bezugnahme auf Jahwes Versprechen beim
Auszug verheißen wird, so ist nach dem Wortlaut wohl nicht an
das Ergriffenwerden der 70 Aeltesten vom ekstatischen Pro-
phetengeist (Num. II, 25) gedacht, sondern an die spezifische
Heiligkeit des bundestreuen Volks (Ex. 19, 5) als Dauerhabitus.
Aber allerdings hatte die priesterfeindliche (korachitische) Theorie
der vorexilischen Zeit die gleichmäßige Heiligkeit und charis-
matische Qualifikation aller Gemeindeglieder, nicht nur der Prie-
ster, daraus abgeleitet.
Bei den Propheten der nach exilischen Spätzeit, Joel (3, i)
und Deuterosacharja (12, 10) nimmt dann auch die Geistes-
konzeption wieder wesentlich andere Formen an. Deutero-
sacharja zwar stellt der Gemeinde, den »Bürgern (joscheb) von
Jerusalem « und denDavididen an ihrer Spitze, nur den Geist des
Gebets für den Tag Jahwes in Aussicht. Aber dieser soll sich
manifestieren in der leidenschaftlichen, nach Art der Vegetations-
kulte gearteten Klage um den »Durchbohrten«, offenbar wieder
jene deut er ojesa janische eschatologische Gestalt des frommen Got-
tesknechts und Märtyrers, also: in ekstatischen Bußeausbrüchen.
Bei Joel aber ist es der alte ekstatische emotionale Propheten-
^■'
»
II. Die Entstehung? des jüdischen Pariavolkes. ^gj
geist, der vor Beginn jenes »Tages Jahwes«, an dem nur die,
welche Jahwes Namen anrufen, gerettet werden, über alle Ge-
meindeglieder, ihre Söhne, Töchter, Knechte und Mägde ergossen
werden, Träume bei den Aeltesten, Visionen bei der Jungmann-
schaft hervorrufen und die Kinder weissagen lassen soll. Hier ist
zweifellos auf die alten Traditionen über die Laienekstase zurück-
gegriffen und die Endhoffnung also an die Wiederkehr des Uni-
versalismus der Prophetengabe geknüpft. Die Konzeption ist
für die Entwicklung des Christentums wichtig geworden. Unter
Berufung auf diese ausführlich zitierte Stelle wird (Art. 2, 16 ff.)
über das Pf ingst wunder berichtet. Auf dies Wunder legte offen-
bar nur um ihretwillen: weil darnach das Bevorstehen des
(christlich verstandenen) Tages »des Herren«, wie Joel es ange-
kündigt hatte, sicher schien, die christliche Mission so großes
Gewicht. Für die urchristliche Frömmigkeit war durch diese
und nur diese Stelle in der jüdischen prophetischen Literatur
der »Geist« als eine ekstatische Massen er scheinung, wie sie
für die christliche Gemeinde, im stärksten Gegensatz zur vor-
exilischen Prophetie, charakteristisch war, legitimiert.
Innerhalb der jüdischen Entwicklung zeigen solche Stellen
nur, daß der genuine »Geist« der alten Prophetie im Schwinden
war. Er schwand nicht etwa kraft einer »immanenten« psychi-
schen Gesetzlichkeit geheimnisvoller Art. Sondern er schwand,
weil die Polizei der Priestermacht innerhalb der jüdischen
Gemeinde der ekstatischen Prophetie ganz ebenso Herr wurde
wie das bischöfUche und Presbyter-Amt der pneumatischen
Prophetie in der altchristlichen Gemeinde. Das ekstatische
prophetische Charisma hat auch weiterhin im Judentum existiert.
Die Visionen, welche Daniel und Henoch zugeschrieben werden,
sind ekstatischen Charakters und ebenso zahlreiche Erlebnisse
anderer Apokalyptiker, wenn auch der psychische Tatbestand
sowohl, wie die Sinndeutung, gegenüber der alten Prophetie
stark verschoben sind und vor allem die schriftstellerische Kunst -
form stark über das aktuelle emotionale Erleben die Oberhand
gewinnt. Aber von all diesen späteren Schriften hat nur das Paniel-
buch sich offizielle Anerkennung und später Aufnahme in den
Kanon zu erzwingen gewußt. Alle anderen wurden toleriert,
galten aber als unklassische Privatarbeiten oder geradezu als
heterodox. Der Betrieb dieses Sehertums wurde damit Ange-
legenheit von Sekten und Mysteriengemeinschaften. Ebenso
i3q3 Das antike Judentum.
gab es aktuelle religionspolitische Prophetie bis in die Endzeit
des zweiten Tempels. Der populären Meinung stand die Gött-
lichkeit der Prophetengabe fest und alle Propheten hatten Zu-
lauf. Aber die Priester standen zu ihnen stets im Gegensatz.
Der priesterlichen Reform Esras und Nehemias standen die
Vertreter der politischen Prophetie feindlich gegenüber. Von
den Orakeln solcher Propheten ist nichts erhalten: die Priester
rez'.pierten nur, was sich der priesterlichen Gemeindeordnung
einfügte. Eine gewisse Diskreditierung des prophetischen Charis-
ma war dadurch erleichtert, daß die Orakel einander widerspra-
chen. Schon der Gegensatz der Orakel des Jesaja und Micha,
Jesaja und Jeremia, Jeremia und Hesekiel hatte den Glauben
erschüttern müssen: daß jede prophetische Ekstase als solche
die Gewähr in sich trage, Trägerin göttlicher Verkündigung
zu sein. Woran sollte man nun die Echtheit der Prophetie er-
kennen ? Die Wundermacht hatten erfahrungsgemäß auch falsche
Propheten besessen (Deut. 13, 3). Seit dem Deuteronomisten
(18, 22) antwortete man auf jene Frage; am Eintreffen der
Weissagung. Indessen das war für die Zeit bis dies sich entschied,
also gerade für die Zeit auf die es ankam, kein Kriterium. Daher
hatte Jeremia (23, 22) als zweites Merkmal angegeben : daß
der Prophet nur dann echt sei, wenn er die Sünder korrigiere,
also die Gemeinde an Jahwe und sein Gesetz binde,
sonst sei er ein Lügenprophet — was wiederum in der zunehmen-
den Rolle des ethischen Kriteriums in der altchristlichen
Gemeinde seine Parallele findet. Der festgefügte Respekt vor
der Arbeitsleistung der levitischen Thora trug hier seine
Früchte in der jüdischen wie später die Rezeption des »Alten
Testaments« in der christlichen Gemeinde. Innerhalb der nach-
exilischen Gemeinde gelang es den Priestern, das Prestige der
alten Nabi-Ekstase völlig zu brechen. Das Resultat liegt vor in
Deuterosacharjas Verhöhnung -der Propheten als der Träger des
Geistes »der Unreinheit« (13, i ff.). Mit den Götzen werden am
Tage Jahwes auch die Propheten aus dem Lande getrieben.
Wer sich als solcher gebärdet, den werden seine Eltern als Be-
trüger entlarven und erstechen, er wird sich seiner Traumge-
sichte schämen, kein Haarkleid (Prophetenmantel) mehr anziehen,
zugestehen, daß er ein Bauer ist und daß seine angeblichen Stig-
mata von den Nägeln von Huren herrühren. In der Form dieser
schnöden Selbst Verspottung der Prophetie zwang die priesterliche
I
II. Die Entstehung des jüdischen Pariavolkes. -jgg
Redaktion diese gefährliche Konkurrentin, sich selbst das Leben
zu nehmen. Wie in der christlichen Amtskirche, so galt fortan
auch im offiziellen Judentum das prophetische Zeitalter als
geschlossen, der prophetische Geist als erloschen: die überall
bei voller Entfaltung der priesterlichen Hierokratie zu deren
Sicherung gegen religiöse Neuerer eintretende Entwicklung.
Der zuerst bei Tritojesaja in einer der nachdrücklichsten prophe-
tischen Bußpredigten (63, 10. 11) auftretende Ausdruck »ruach
ha kodesch« (in der LXX mvevjua ro äytov, »heiliger Geist«)
wird in einem tief pessimistischen Bußpsalm (51, 13) wieder wie
dort als ein Habitus des in Jahwes Gnade Stehenden aufgefaßt.
Die Taube, das Symbol des verfolgten Israel (Psalm 74, 19),
wird von den Rabbinen zugleich als Trägerin dieses Habitus
gebraucht, der von dem christlichen emotionalen Pneuma inner-
lich ebenso tief verschieden ist, wie von dem alten Prophetengeist,
den nach der späteren Lehre seit Maleachi niemand mehr er-
langt hat. Auch jetzt noch kann zwar, wenn Gott es will, eine
geheimnisvolle himmlische Stimme (bath kol) als lauter Ruf oder
leises Flüstern gehört werden. Aber sie zu hören ist keine
Prophetengabe. Denn sie ertönt Sündern je nach den Umständen
ebenso wie Gerechten und Lehrern, in der Art wie auch im
Neuen Testament, Unheil oder Glück und Größe kündend oder
zur Bekehrung rufend. Sie zu hören ist kein Vorzugsbssitz
Einzelner; man kann sie gar nicht »besitzen« oder von ihr be-
sessen werden, wie einst die Propheten von Jahwes Geist. Sie
zu vernehmen ist (Yoma 9 b) zwar eine Gnadengabe für Israel,
aber eine mindere als der alte Prophetengeist.
Der zunehmende bürgerliche Rationalismus des in die (re-
lativ) befriedete Welt zuerst des Perserreichs, dann des Hellenis-
mus eingebetteten Volks hatte den Priestern diese Erstickung
der Prophetie ermöglicht. Daneben die schriftliche
Fixierung der maßgebenden Tradition und die dadurch bedingte
Aenderung der Lehre und Sittendisziplin. Als die politischen
Ereignisse der Makkabäerzeit wieder das Auftreten von Leitern
des Demos gegen die vornehme Priesterschaft und die hellenisti-
sche Indifferenz der Reichen und Gebildeten herbeiführte, hatten
diese Demagogen daher ein gänzlich anderes Gepräge als die
Propheten der Vergangenheit.
Die Gestaltung der Frömmigkeit in der nunmehr vom pr(j-
phetischen Charisma entblößten jüdischen Gemeinschaft wurde
AQQ Das antike Judentum,
abermals sehr wesentlich mitbestimmt durch jene soziale Gliede-
rung, welche die Nehemia-Berichte erkennen lassen. Die »From-
men«, die chasidim, wie sie namentlich in der frühmakkabäischen
Zeit, die 'anawim, wie sie daneben in den Psalmen genannt
\vurden, die Hauptträger der nun beginnenden Entwicklung
der jüdischen Religiosität, sind vornehmlich (wenn auch gewiß
nicht ausschließlich) ein städtischer Demos von Ackerbürgern,
Handwerkern, Händlern und stehen in der typisch antiken Art
in oft äußerst schroffem Gegensatz zu den begüterten stadt-
und landsässigen Geschlechtern, weltlichen sowohl wie priester-
lichen. Das war an sich nichts Neues. Neu war nur der Grad und
die Art, in welcher dieser Kampf sich jetzt äußerte. Schuld daran
trug der wesentlich städtische Charakter des Demos. In der
vorexilischen Prophetie noch lediglich Objekt der von den pro-
phetischen und levitischen, insbesondere deuteronomistischen
Kreisen gepredigten Karität, beginnen die Frommen jetzt ihrer-
seits sich auszusprechen und als Jahwes erwähltes Volk im Gegen-
satz zu ihren Gegnern zu fühlen. Die Stätte, an welcher in unseren
Quellen ihre religiöse Stimmung am deutlichsten zum Ausdruck
kommt, ist: der Psalter.
1
40I
Nachtrag.
Die Pharisäer.
Der Pharisäismus als Sektenreligiosität S. 401. — Die Rabbinen S. 408. —
Lehre und Ethik des pharisäischen Judentums S. 417. — Der Essenismus, sein
Verhältnis zur Lehre Jesu S. 423. — Zunehmende rituelle Absonderung der Juden
S. 434. — Proselytismus in der Diaspora S. 436. — Propaganda der christlichen
Apostel S. 439.
Seit der Makkabäerzeit vollzog sich jene überaus wichtige
Umwandlung im Judentum, welche ihm schließlich den end-
gültigen Charakter aufprägte : die Entwicklung des Phari-
säismus. Ihre Vorläufer reichen in die nationale Erhebung der
Makkabäerzeit selbst zurück. Das zunächst im Mittelpunkt
Stehende war die Reaktion gegen den Hellenismus ^), dem die
oberen Schichten verfielen. Die Psalmen erwähnen die »Chasidim«
als die »Frommen«, als diejenigen, heißt das, welche am Brauch
der Väter festhielten. Sie waren die Anhänger des Judas Makka-
bäus, die einerseits — entgegen der ganz strengen Auslegung des
Gesetzes — auch am Sabbat fochten, andrerseits besonders nach-
drücklich die alte Gesetzestreue betonten. Es scheint irrig, in
ihnen, den »Heiligen der alten Zeit« (Chasidim-ha-Rischonim) ,
wie sie der Talmud nennt, eine besonders organisierte Sekte zu
vermuten, obwohl einige Stellen ^) dies nahelegten ; sondern die
auvaywyif] 'AatSacwv der Makkabäerbücher ist wohl einfach der
kahal chasidim der Psalmen, die Versammlung des frommen,
antihellenistisch gesinnten Volks, welches die Bewegung stützte ^) .
Neben den »Zad 'kim« gedenken noch die i8 Segenssprüche der
»Chasidim«, was allein schon gegen ihren Sektencharakter spricht.
^) Die schwere Gefahr der Hellenisierung meint wohl Psalm 12, 2.
2) S. Makkab. 7, 12.
^) Einerlei ob ihre direkt militärische Leistung vielleicht, wie Wellhausen
annimmt, gering war.
Max Weber, Religionssoziologie III. 26
402 Nachtrag.
Gewisse Eigentümlichkeiten : so die Gepflogenheit, vor dem ritu-
ellen Gebet sich eine Stunde meditierend zu sammeln, werden
ihnen immerhin zugeschrieben. Die Bewegung starb ab ^),
als sich die Makkabäerherrschaft, notgedrungen, den Bedürfnissen
eines weltlichen Kleinstaats akkommodierte und ausgeprägte
Züge eines hellenistischen Kleinkönigtums annahm. Die Er-
kenntnis, daß dies politisch unvermeidlich sei, hat bei den From-
men damals geradezu die Ueberzeugung entstehen lassen, daß
die Fremdherrschaft einem angeblich jüdischen, daher das natio-
nale Prestige genießenden, aber unvermeidlich dem strengen
Gesetz untreuen Judenkönig vorzuziehen sei, wie sie noch in der
von den Frommen an Augustus nach Herodes Tode gerichteten
Bitte, nicht den Archelaos zum Herrscher zu machen, zum Aus-
druck kam. An Stelle der chassidischen trat seit jener Zeit die
»pharisäische« Bewegung 2).
Peruscha (Plural peruschim, aramäisch perixhaya, darnach
das hellenische ^aptaatot) heißt jemand, der sich »fernhält«,
— von unreinen Personen und Sachen natürlich. Dies war der
Sinn auch der alten Chasidim-Bewegung. Aber die Pharisäer
geben der Bewegung die Form eines Ordens, einer »Bruder-
schaft«, chaburah, in den nur aufgenommen wurde, wer sich vor
drei Mitgliedern förmlich zur strengsten levi tischen Reinheit ver-
pflichtete. Nicht jeder freilich, der als »Pharisäer« tatsächlich
lebte, trat auch, als chaber, in den Orden. Aber der Orden bildete
den Kern der Bewegung. In allen Städten, wo Juden lebten,
hatte er seine Verzweigungen. Seine Mitglieder beanspruchten,
weil sie in der gleichen Reinheit lebten, die gleiche persönliche
Heiligkeit für sich wie die korrekt lebenden und eine höhere als
die unkorrekt lebenden Priester. Das Charisma des Priesters als
solchen wurde entwertet zugunsten der persönlichen durch den
Lebenswandel bewährten religiösen Qualifikation. Diese Wand-
lung ist naturgemäß erst allmählich eingetreten. Noch im
2. Jahrhundert, zur Zeit der Abfassung des Buchs der Jubiläen,
waren die Gelehrten und Lehrer die religiösen Führer des Bürger-
tums, zum mindesten in aller Regel noch Angehörige priester-
licher und levitischer Geschlechter. Die gegenüber den nationalen
und religiösen Erwerbungen der Frommen schwankende und oft
1) Man rechnet ihr Ende gewöhnlich mit Joshua Katnuta.
') Ueber sie jetzt: Elbogen, Die Relig. Ansch. der Pharisäer. Berlin
1904.
Die Pharisäer. ^03
anstößige, weil unvermeidlich zu politischen Kompromissen
genötigte und geneigte Haltung der Aristokratie änderte diese
Lage allmählich gründlich.
Das für das Judentum Entscheidende an der Bruderschafts-
bewegung war : nicht nur von den Hellenen, sondern auch und
gerade von den nicht heilig lebenden Juden sonderten sie sich
ab. Es entstand der Gegensatz der pharisäischen »Heiligen«
gegenüber den 'am ha-arez ^), den »Landleuten«, den »Unwis-
senden«, die das Gesetz nicht kennen und nicht halten.
Der Gegensatz wurde auf das äußerste gesteigert, bis an die
Grenze der rituellen Kastenabsonderung. Der chaber muß sich
verpflichten, einen Priester oder Leviten, der kein rituell rein
lebender Jude, also ein 'am ha-arez ist, nicht in Anspruch zu
nehmen, keine Tischgemeinschaft mit Heiden
oder mit 'am h a-a rez zu halten, Connubium und
Assoziation mit ihnen zu meiden und überhaupt den Verkehr mit
ihnen aufs äußerste einzuschränken. In dieser Schärfe war
das eine Neuerung. Wohl nicht überall, aber selbst-
verständlich sehr oft war die Entstehung furchtbaren Hasses
zwischen den Chaberim und dem 'am ha-arez die Folge : die zorn-
sprühenden Reden von Jesus von Nazareth gegen die Pharisäer
geben davon Zeugnis genug. Hier also haben wir : die Sekte.
Und zwar die interlokale Sekte, die Sekte, welche dem chaber,
der in einen fremden Ort kam, mit Empfehlungsbriefen seiner
Bruderschaft versehen, sofort Heimatsrecht in einer Gemeinschaft
Gleichgesinnter verschaffte, die deshalb zu seinen Gunsten sozial
(und, ungewollt, aber tatsächlich: auch ökonomisch) genau so
wirkte, wie Sekten überall (am stärksten in den Gebieten der
puritanischen und täuferischen Sekten der Neuzeit) gewirkt haben.
Von den Pharisäern hat Paulus die Technik der Propaganda und
der Schöpfung einen unzerstörbaren Gemeinschaft gelernt. Der
gewaltige Aufschwung der jüdischen Diaspora seit der Makka-
bäerzeit und die völlige Unerschütterlichkeit ihres Bestandes durch
die fremde Umwelt, von der sie sich absonderten, war zu einem
sehr wesentlichen Teile das Erzeugnis ihrer Bruderschaftsbe-
wegung. Ihre historische Bedeutung gerade für die Diaspora und
') Der Name 'am ha-arez ist seit der Redaktion der Bücher Esra (IX, i) und
Nehemia (X, 31) technisch. Als eine religiös minderwertige »Masse« aber ent-
standen sie im Gegensatz zunächst zu den Chasidim, dann den Pharisäern, seit
der Makkabäerzeit.
26*
404 Nachtrag.
für die Prägung der jüdischen Eigenart wird noch klarer, wenn
wir die praktischen Leistungen der Pharisäer betrachten.
Der Gegner der Pharisäer war die jüdische Bluts- Aristokratie
der großen patrizischen Geschlechter und vor allem : der Priester-
adel der Zadokiden (»Sadduzäer«) und alles, was mittelbar an
ihm hing. Gewiß nicht der Form und äußeren Haltung nach : auf
das strengste hält gerade der fromme Pharisäer darauf, daß alles
dem Priestergesetz entsprechend richtig verzehntet wurde. Aber
der Sache nach. Schon durch die Forderung: daß der Priester im
pharisäischen Sinn korrekt lebe, um Verwendung zu finden.
Dazu traten nun die von den Pharisäern teils als Bruderschaft
offiziell, teils unter dem Druck ihres Einflusses geschaffenen Ge-
meindeinstitutionen. Denn die »Gemeinde« wird jetzt Träger
der Religion, nicht mehr das Erbcharisma der Priester und Le-
viten. Abgesehen von einer Reihe kleiner ritueller Differenzen
trat dies in folgenden Neubildungen am deutlichsten hervor.
Die Bruderschaften hielten ihre Eucharistien (»Liebesmahl«),
ganz ähnlichen Charakters und sicherlich vorbildlich für die spätem
christlichen Institutionen gleicher Art. Auch die Segnungen der
Mahlzeit bestanden schon ganz ähnlich. Die Pharisäer schufen
ferner die sehr populäre Wasser-Prozession — ähnlich wie die
Prozession der charitonitischen Gurus in Indien. Sie schufen vor
allem : die Synagoge, die bald zu besprechende zentrale Institution
des Spät Judentums, welche dem Diaspora- Juden den priester-
lichen Kult ersetzte, und den höheren und niederen Unterricht
im Gesetz, der für die Prägung des Judentums grundlegend wurde.
Langsam aber tiefgreifend änderten sie ferner den Sinn des
Sabbat und der Feste. An Stelle des priesterlichen Tempelfests
trat — ganz wie wir dies auch als Symptom der Emanzipation
von den Brahmanen in Indien bemerkten — das häusliche oder
synagogale Fest und damit eine unvermeidliche Entwertung des
Opfers und des Priest ertums, schon ehe der zweite Tempel fiel.
Vor allem: man geht jetzt zum gesetzeskundigen Lehrer, nicht
mehr zum Priester, wenn man in äußerer oder innerer Not oder
im Zweifel über rituelle Pflichten ist. Die Entscheidungen der
im pharisäischen Sinn gebildeten Soferim galten dem Juden als
Gesetz, — Tod als Folge ihrer Uebertretung. Aber dafür nimmt
der Sofer auch das Recht in Anspruch, von Gesetz und Gelübden
gegebenenfalls dispensieren zu können, eine begreiflicherweise
höchst populäre Funktion. Und die Art, wie gerade der pharisäisch
Die Pharisäer.
405
geschulte Sofer seine Entscheidungen gab, akkommodierte sich
— bei aller Strenge der rituellen Reinheitsforderung — ganz
wesentlich dem Interesse der bürgerlichen Schichten. Insbe-
sondre der Kleinbürger, in denen die Bruderschaften hier wie
stets vornehmlich wurzelten. Die philosophische Spekulation
wurde naturgemäß als gefährlich und vor allem als hellenistisch,
abgelehnt. Man soll nicht über die Gründe der Ritual Vorschriften
grübeln, sondern sie einfach erfüllen: »die Furcht vor der Sünde
geht über die Weisheit.« Aber dieser Verwerfung des philo-
sophischen Rationalismus ging ein praktisch-ethischer Rationalis-
mus von jenem Typus zur Seite, wie ihn Kleinbürgerschichten
zu entwickeln pflegen. Praktische Alltagsbedürfnisse und der
»gesunde Menschenverstand« beherrschen die Art der Erörterung
und Austragung von Kontroversen. Und diese waren gerade in
der für die Prägung des Judentums entscheidenden Zeit : in den
je zwei Jahrhunderten vor und nach Beginn unserer Zeitrechnung
in überaus geringem Umfang »dogmatischen« Charakters (so daß
die Existenz und selbst die Möglichkeit und religiöse Zulässigkeit
einer jüdischen Dogmatik bisher prinzipiell strittig blieb), viel-
mehr durch und durch auf die Fragen des Alltags ausgerichtet.
Wie die Propheten im Talmud wegen ihrer »Verständlichkeit«
für jedermann hoch gewertet werden, so ist auch alle Talmud-
Lehre unmittelbar verständlich, dem bürgerlichen Durchschnitts-
denken angepaßt und in diesem Sinn »rational«. Ueberall haftete
die sadduzäische Praxis am Buchstaben: z. B. an der wörtlichen
Erfüllung des Talion: »Auge für Auge«; die pharisäische Praxis,
wie sie etwa R. Simon ben Jochai repräsentierte, ging dagegen
auf die »ratio« der Vorschriften ein und schaltete sinnwidrige
Vorschriften aus oder deutete sie um (es wurde z. B. statt der
Talion Buße nach Einigung zugelassen). Die pharisäische Praxis
kam den ökonomischen Interessen der Frommen — die an ihnen
als den Vertretern verinnerlichter Frömmigkeit hingen — ent-
gegen: namentlich die Uebernahme der Ketubah-Verschreibung
und anderer ehegüterrechtlicher Schutzmaßregeln scheint ihr
Werk gewesen zu sein. Der ethische Rationalismus zeigt sich in
der Behandlung der Tradition. Das »Buch der Jubiläen«, eine
spezifisch pharisäische Leistung ^), retouchicrte die gesamte
Schöpf ungs- und Erzväter- Geschichte im Sinn der Ausmerzung
*) Geschrieben Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr. Charles, The Book
of Jubilees London 1902,
406
Nachtrag.
des Anstößigen. Auf der andern Seite aber paßte man sich de
überall in der Welt urwüchsigen Geisterglauben an. Die durch
persische Einflüsse mitbestimmte gemeinorientalische Angelo-
und Dämonologie, wie sie auch das antike Spätjudentum kennt,
wurde ganz wesentlich unter pharisäischem Einfluß und durchaus
entgegen den vornehmen Bildungsschichten akzeptiert. Neben
der Akkommodation an gegebenen Massenglauben auch aus
»rationalen« Gründen: der höchste Gott wurde dadurch von der
Verantwortung für die Brüchigkeit und Unvollkommenheit der
Welt wenigstens teilweise entlastet. Die Steigerung des Vor-
sehungsglaubens ^) und die starke Betonung der »Gnade« Gottes
entstammt ähnlichen Motiven in andrer Wendung und entspricht
den überall verbreiteten religiösen Tendenzen plebejischer Schich-
ten. Der bürgerliche Charakter der die Religiosität vornehmlich
tragenden Schichten erklärt auch die bedeutende Verstärkung,
welche die Heilands- und Jenseitserwartungen unter dem Ein-
fluß der Pharisäer erfuhren : die messianische Hoffnung und der
Glaube an Auferstehung der Toten zu einem bessern Leben
wurden durchaus von Pharisäern getragen, und mindestens der
letztere wurde von den vornehmen Sadduzäern unbedingt und
entschieden abgelehnt.
Auf der andern Seite waren freilich die pharisäischen An-
sprüche an den frommen Juden sehr bedeutende. Das »himm-
lische Königreich« sollte verbreitet werden, das »Joch«^) dieses
Königreichs (ol malkas schamajim) oder das »Joch der Gebote«
(ol hamizwoth) mußte auf sich nehmen, wer daran teilhaben
wollte. Das ist nur durch ein strenges Training möglich, wie es
die pharisäischen Rabbinen in den Lehrinstitutionen des Spät-
judentums anstrebten. »Heiligkeit« des Lebens wird verlangt.
Rein um Gottes willen, nicht um Lohn und Vorteil, sollen seine
Gebote gehalten werden. Vor allem aber: jene Gesetze, welche
der strengen Scheidung der Frommen von den Heiden und
»Auch- Juden« dienten. Beschneidung und Sabbatruhe galten
nun um dieses ihres Sondercharakters willen, zur Unterscheidung
von den andren als absolut zentrale Gebote und der Sabbat
1) stets freilich hat wenigstens die orthodoxe heidnische Prädestination die
behirah, die ethische Willensfreiheit: Wahlfreiheit zwischen Heil oder Verderben,
unangetastet gelassen. Man hat es gelegentlich vorgezogen, Gottes Allwissen-
heit als eine nur bedingte vorzustellen, als daran zu rütteln.
^) So heißt es auch im täglichen Gebet, der »Schoma«
b
Die Pharisäer. 407
wurde, was die Schwere der Beurteilung seiner Verletzung an-
langt, offenbar ganz wesentlich verschärft.
Und es ist auch klar und für unsere Zusammenhänge wichtig :
in welcher Richtung. Das Pharisäertum war seinem Schwerpunkt
nach bürgerlich-städtischen Charakters. Keine Rede davon, daß
dies in persönlicher Hinsicht exklusiv der Fall gewesen wäre.
Im Gegenteil: eine ganz erhebliche Anzahl der bedeutendsten
talmudischen Rabbinen waren Grundbesitzer. Aber die Art der
Heiligkeit, welche sie pflegten, und das Gewicht, welches auf
die (hebräische, also : zunehmend fremdsprachliche) Bildung
gelegt wurde, — wie wir noch sehen werden — und zwar nicht
nur bei den Autoritäten, sondern bei jedermann, schloß es zu-
nehmend aus, daß der Schwerpunkt ihrer Anhänger unter den
Bauern gefunden werden konnte. Es ist kein Zufall, daß 'am
ha-arez, der Nicht-Pharisäer, eben ursprünglich der »Landmann«
ist, daß auch die jüdischen Kleinstädte mindestens nicht führend
sein konnten: »was kann von Nazareth Gutes kommen«? Die
chabarah, der pharisäische Orden, war ja ein Ersatz des bäuer-
lichen Nachbarverbands für nicht mehr bodenständige Stadt -
insassen und als solcher deren äußeren und inneren Interessen
adäquat. Die Umgestaltung des Judentums zu einem inter-
lokalen wesentlich stadtsässigen, jedenfalls dem Schwerpunkt
nach nicht bodensässigen Gastvolk ist ganz wesentlich unter
pharisäischer Führung erfolgt.
Die im ganzen, doch sehr starke Verschiebung der jüdischen
Religiosität haben die Pharisäer nur zum Teil kraft der Beherr-
schung der traditionellen Gewalten vollzogen. Unter Johannes
Hyrkanus waren sie eine mächtige Partei, Salome Alexandra
(78 — 69) lieferte ihnen den Sanhedrin aus, Aristobulos stieß sie
wieder hinaus, während Herodes sich gut mit ihnen zu stellen
suchte. Ihre endgültige Herrschaft begann mit dem Sturz des
Tempels: nunmehr wurde alles Judentum pharisäisch, die Saddu-
zäer eine heterodoxe Sekte. Aber schon vorher hatte Umgestal-
tung der rehgiösen Autorität begonnen, welche für ihre Herr-
schaft entscheidend war. Die Geburtsaristokratie hatte der
»Bildungs «-Aristokratie zu weichen: Nachkommen von Pro-
selyten sind oft die allerbesten Köpfe der Pharisäer gewesen. Vor
allem aber ist der Machtaufstieg der Rabbinen ein Produkt
der pharisäisch-bürgerlichen Entwicklung des Judentums. Die
Rabbinen waren in den entscheidenden Zeiten der Entwicklung
408 Nachtrag.
des Judentums, eine Schicht, wie sie nur im Christentum der
ersten Zeit und in den christHchen Sekten sich — immerhin nur
sehr entfernt ähnHch — wiederfinden.
Die Rabbinen sind nicht etwa eine »pharisäische Institution«:
sie haben mit der Bruderschaft formell nicht das mindeste zu
tun. Aber sie hängen im Anfangsstadium ihrer Entwicklung auf
das Engste mit jener Bewegung zusammen; die hervorragenden
Lehrer der Epoche, in welcher die Mischnah entstand, waren,
wenn nicht der Form, doch ihren Ansichten nach Pharisäer und
der »Geist« des Pharisäismus bestimmte ihre Lehre. Vorweg
zu bemerken ist, daß der Name »Rabbi« (von Rab, groß, also
Rabbi = »Mein Meister«), soweit jüdische Quellen reichen, erst
nach dem Tempelsturz ^) zum festen Titel wurde ^) . Vorher war
»Sofer«, Schriftkundiger, eine Bezeichnung mit festem, sachlichem
Inhalt, der »Lehrer« aber die Respektsperson. Es wird gleich-
wohl unbedenklich sein, den Ausdruck schon für die Zeit vor dem
Untergang Jerusalems für die schriftgelehrten Autoritäten der
Gemeinde zu brauchen, da die Anrede höchst wahrscheinlich
zwar nicht nur, aber sicher auch und vor allem ihnen schon damals
gegeben wurde. Was sind nun die »Rabbinen« in diesem Sinn?
Eine formelle Legitimation als »Rabbi« gab es erst seit der
Entstehung des Patriarchats, d. h. also nach dem Tempelsturz:
die Rabbinen bedurften damals der förmlichen Ordination, und
die Entstehung der mesopotamischen und palästinensischen
Akademien schuf einen festen Bildungsgang. Von alledem war
vorher keine Rede. Eine offizielle Legitimation der »Rabbinen«
als solcher fehlte, soviel bekannt, durchaus. Die Tradition der
durch Schriftkunde und rezipierten Schriftauslegung ausgezeich-
neten und anerkannten Soferim war das einzige Merkmal: ihre
persönlichen Schüler und wiederum deren Schüler galten als
in erster Reihe qualifiziert. Die Persönlichkeiten, deren Aus-
sprüche der Talmud zitiert, sind durchaus nicht nur Soferim
oder geschulte Rabbinen: im Gegenteil, mit einer gewissen Ab-
sichtlichkeit legt die Ueberlieferung gelegentlich gerade besonders
feine Interpretationen der Thora und der Pflichtenlehre etwa
dem Eseltreiber eines Rabbinen (Jonatham) in den Mund und
läßt geschulte Rabbinen bei einem als fromm und daher weise
•
^) Zuerst für Gamaliel den Aelteren.
*) Jüdischerseits w'rd deshalb. Matth. XXIII, 7, 8 als »Anachronismus*
erklärt.
Die Pharisäer. 40Q
bekannten Feldarbeiter (wie Abba Chilkijat) sich Rats erholen.
Immerhin aber wird dies doch als etwas besondres angesehen.
Es beweist, daß die Scheidung keine scharfe war, aber jener Esel-
treiber wird doch ausdrücklich als ein »Unwissender« von dem
Rabbinen unterschieden. Er ist kein Rabbi. Die Verhältnisse
welche die Evangelien voraussetzen, zeigen ebenfalls, daß damals
wenigstens eine nach außen fest geschlossene Organisation nicht
bestand, sondern konsultiert wurde, wer sich tatsächlich durch
das Charisma der Gesetzeskenntnis und Auslegungskunst legiti-
mierte. Es wurde offenbar nur negativ, durch Repression, einge-
schritten — sei es von den Priestern, sei es durch Selbsthilfe
(Lynchjustiz) der Massen unter Führung von einzelnen oder (und
wohl meist) der Pharisäergemeinde — wenn die Art der Auslegung
anstößig war und eine hinlänglich starke Gegner-
schaft fand: die evangelischen Erzählungen zeigen: wie stark
die Rücksicht auf die Popularität eines Lehrers war. Die offiziellen
Instanzen scheuen vor dem Einschreiten selbst gegen offenkun-
dige Irrlehre zurück, wenn »das Volk« an der Person des Lehrers
hängt 1) . Die rein durch Schulung und daneben Schule gestützte,
formell charismatische Autorität der rabbinischen Lehrer findet
ihre Analogien in zahlreichen ähnlichen Erscheinungen, von den
römischen respondierenden Juristen (vor der Zeit der Konzessions-
pflichtigkeit) bis zu den indischen Gurus. Indessen bestehen
wichtige Unterschiede und diesen, also den besonderen Eigen-
tümlichkeiten der Rabbinen, haben wir uns nun zuzuwenden,
Sie waren zunächst eine, dem Schwerpunkt nach, plebeji-
sche Intellektuellenschicht. Nicht, daß unter ihnen vornehme
und wohlhabende Männer überhaupt gefehlt hätten. Allein jeder
Blick in die Personalien der im Talmud als Autoritäten oder als
exemplarisch angeführten Rabbinen (und andern Gewährs-
männern) zeigt: daß in weitestem Umfang der Plebejer, bis zum
Tagelöhner auf dem Felde herunter, das Wort führt und daß
unter den Rabbinen selbst die Besitzenden und Vornehmen sich
in geringer Minderheit befinden. Daran besteht für die Zeit der
Komposition des Talmud und vorher keinerlei Zweifel. »Plebejer«
waren nun zahlreiche Mystagogen und Sektenleiter anderer
Religionen auch, wie wir sahen. Aber von ihnen unterschieden
sich die (alten) Rabbinen vor allem dadurch, daß sie ihre Funktion
^) Im allgemeinen war dies freilich nur dann der Fall, wenn der Betreffende
nicht nur Lehrer, sondern ein durch Wundermacht qualifizierter »Prophet« war.
4IO
Nachtrag.
als Berater und rituelle Rechtsfinder nebenamtlich,
neben ihrem weltlichen Beruf, versahen. Das war kein Zufall,
sondern Folge des strengen Verbots, das Gesetz
gegen Entgelt zu lehren (und auszulegen) ^) . Dies Verbot
— welches wiederum in dem paulinischen : »Wer nicht arbeitet,
soll auch nicht essen«, nur seine Fortsetzung fand, schloß erstens
ihre Entwicklung zu Mystagogen indischen Gepräges völlig aus
und gibt zweitens auch in immerhin wichtigen Punkten die Er-
klärung für manche Eigenart ihrer Lehre. Man hat die Berufs-
stellungen führender Rabbinen oft zusammengestellt. Wie be-
greiflich, finden sich zahlreiche Landbesitzer darunter. Sicherlich
meist Landrentner, denn diese hatten die Muße, sich ganz dem
Studiuni hinzugeben. Es fällt aber auf, daß gerade unter den
bedeutendsten älteren Autoritäten des Talmud — also in der
Zeit vor dem Tempelsturz — sich neben einigen — nicht sehr
vielen — Kaufleuten vor allem gerade Handwerker: Schmiede,
Sandalenmacher, Zimmerleute, Schuhmacher, Gerber, Baumeister,
Wasserfahrer, Weinprober, Holzschläger finden und daß u. a.
gerade die beiden ersten berühmten Schulstifter und scharfen
Kontroversisten, Hillel d. Ae. und Shammai, Handwerker waren.
Das sind also Leute genau derselben sozialen Schicht, der Paulus
und die in seinen Briefen erwähnten Persönlichkeiten angehörten.
Richtig ist, daß das jüdische Gemeinderecht der Talmudzeit
den Rabbinen ^) Erleichterungen gewährt : Freiheit von Steuern
und von den meisten (nicht allen) Fronden und das Recht des
Vorverkaufs seiner Produkte auf dem Markt vor andern ^) . In-
dessen ganz abgesehen von der Frage, ob diese Privilegien schon
in der Zeit des zweiten Tempels bestanden, so galt es auch später
für durchaus in der Ordnung, daß der Rabbi seinen Unterhalt
durch Arbeit verdiene. Ein Drittel des Tags soll er arbeiten, den
Rest studieren, oder er arbeitet im Sommer und studiert im
Winter. Auch gab es später mancherlei Arten der Umgehung:
^) Auch bei indischen Gurus kam und kommt es gar nicht selten vor, daß
sie im Hauptberufe etwa Händler oder Grundbesitzer und Rentner sind — aber
für die jüdischen Rabbinen der älteren Zeit war es notwendig, ihren Unter-
halt aus andern Quellen als dem »geistlichen« Beruf zu suchen, während der in-
dische Guru in aller Regel mindestens auch, meist vorwiegend, von den Spor-
tein und Spenden lebte, die seine geistliche Funktion ihm eintrug. Dem Guru
entsprach darin im (östlichen) Judentum nicht der Rabbi, sondern der neu-
chassidische charismatische Mystagoge, von dem später die Rede sein wird.
^) Im Talmud heißt das: den ordinierten Rabbinen.
3) B. B. 22 a.
Die Pharisäer.
411
€S wurde gestattet sich, wenigstens bei richterlicher Tätigkeit,
»Zeitversäumnis« (lacram oenans) ersetzen zu lassen und Ge-
schenke werden naturgemäß immer vorgekommen sein. Immer-
hin leisteten bis zum 14. Jahrhundert etwa die jüdischen Rab-
binen alle ihnen obliegenden Arbeiten im Prinzip ohne Entgelt,
ursprünglich aber im »Nebenberuf«. »Besser ist Geldverdienst
durch eigner Hände Arbeit, als der Reichtum des Rash galut«
— des Kirchenhaupts! — »der von anderer Geld lebt«, galt für
die alten Rabbinen als Maxime. Erwerbstätige und zwar zum
immerhin erheblichen Teil dem Handwerk angehörige Leute also
sind es, welche wir hier als geistige Träger einer Religiosität
finden. Wir stoßen — von den wenigen Ansätzen im mittel-
alterlichen Indien abgesehen — hier zum erstenmal auf dies
Phänomen. Orientieren wir uns über seine Tragweite durch einen
Vergleich mit anderen Schichten.
Die Rabbinen ^) waren zunächst und vor allem : keine
Magier oder Mystagogen. Dadurch unterschieden sie sich grund-
sätzlich von der großen Masse der indischen und ostasiatischen
plebejischen Seelenhirten aUer Art. Sie wirkten durch Belehrung
in Wort und Schrift, diese durch Zauber, und ihre Autorität ruhte
auf Kenntnis und intellektueller Schulung, nicht auf magischem
Charisma. Dies war zunächst Folge- der Stellung, welche die
Magie überhaupt im nachprophetischen Judentum einnahm.
In ihm ist die Vorstellung: daß man durch Zauber die Gottheit
zwingen könne, radikal ausgerottet. Die prophetische Gottes-
konzeption schloß diese Vorstellung ein für allemal aus. Die
Magie in diesem ursprünglichen Sinn gilt dem Talmud daher als
' unbedingt verwerflich und gotteslästerlich. Als bedenkhch oder
verdächtig galt letztlich jede Form des Zaubers überhaupt.
Freilich mit starken Einschränkungen. In den beiden Formen
des Exorzismus und der Krankenheilung durch Wort-
zauber bestand die Magie weiter und wurde teils faktisch ge-
duldet, teils geradezu als legitim angesehen : hier handelte es sich
nicht um Zwang* gegen Gott, sondern gegen die Dämonen, und
diese spielten gerade im Pharisäismus eine anerkannte Rolle,
wie wir sahen. Allein ihr Betrieb gehörte nicht zu den irgendwie
normalen Geschäften der Rabbinen. Das Charisma des Wunders
^) Gemeint sind, wo nichts andres gesagt ist, hier stets a priori: die
Rabbinen der Epoche, mit der wir es hier zu tun haben: der Zeit, welche das
Material für die Talmud-Komposition geliefert hat.
412
Nachtrag.
im Übrigen aber leugnete das Judentum, auch das pharisäische
Judentum, zwar keineswegs. Die EvangeHen lassen wiederholt
die Juden, und ausdrücklich auch die Schriftgelehrten und Phari-
säer, ein »Zeichen« von Jesus verlangen. Aber die Wunder macht
haftet an dem Propheten, der sich dadurch als von Gott
gesendet legitimiert, wenn er nämlich diese Gabe wirklich von
Gott hat, und nicht von den Dämonen. Mit dem Prophetismus
aber lebt das schriftgelehrte Rabbinentum in sehi naturgemäßem
Spannungsverhältnis, welches jeder ritualistisch an einem Gesetz-
buchorientierten Schicht von Wissenden gegenüber dem propheti-
schen Charisma eignet. Zwar wurde die Möglichkeit des Auf-
stehens von Propheten nicht geleugnet, — wenigstens ursprüng-
lich nicht. Umso dringender wird vor falschen Propheten ge-
warnt. Entscheidend dafür war: daß die jüdische Prophetie
ein für allemal daran gebunden war : Sendungs prophetie
zu sein, im Auftrag des überweltlichen Gottes, nicht aber kraft
eigner Göttlichkeit oder Gottbesessenheit zu verkünden. Ein
solcher Prophet ist der, der »ohne Auftrag« redet und lehrt.
Woran aber erkennt man das? Welches ist das Merkmal
für Falschheit oder Wahrheit eines Propheten ? Dafür war vor
allem Jeremias (23, 9 ff.) in der rabbinischen Deutung maßgebend.
Nicht nur ist der Prophet selbstverständlich unwahr, der falsche
Götter lehrt oder dessen Prophezeiungen nicht eintreffen ^) .
Sondern jeder Prophet ist an das Gesetz und Gottes Gebote
gebunden und wer davon abtrünnig zu machen sucht, ist ein
falscher Prophet. Vor allem also: nur wer das Volk von seinen
Sünden bekehrt, kann wirklich von Gott gesendet sein. Denn
nicht Visionen und Träume, sondern die Hingabe an die klar im
Gesetz niedergelegten Befehle Gottes gibt den Beweis für die
Wahrheit des Propheten: dafür, daß er kein »Träumer« ist. Die
Visionen und Träume hatte schon die alte priesterliche Tradition
diskreditiert, weil sich zeigte, daß es auch (und gerade) Visionen
gegeben hatte, die das Volk zum orgiastischen Baalsdienst be-
kehrt hatten. Ebenso aber konnten Wunder im Namen von
Dämonen getan werden. Und deshalb ist die bloße Wundermacht
keine Bewährung des echten prophetischen Charisma. Und selbst
wenn der Prophet in seiner Lehre die Zeichen der göttlichen Sen-
dung an sich zu tragen schien, gab das Charisma der Wundermacht
rein als solches noch keine endgültige Gewähr dafür, daß dem wirk-
^) Deut. 13, 2 — "3 18, 20 f.
Die Pharisäer.
413
lieh so sei : auf Grund der bloßen Wundermacht kann auch den
korrekt lehrenden Propheten nur allenfalls die Macht des Dis-
penses vom Gesetz im Einzelfall zugestanden werden — wie sie
auch die Rabbinen in Anspruch nahmen — nicht mehr. — Für
uns interessiert hier wesentlich: daß die Festhaltung der kor-
rekten gesetzlichen Ethik und der Kampf gegen die Sünde die
letzten unbedingten Maßstäbe waren, an denen die Echtheit einer
Prophetie gemessen wurde.
Die Rabbinen leiteten ihre Autorität auch nicht aus in
ihren Kreisen gepflegten Geheimnissen ab. Wenn eine ganze
Reihe kosmologischer, mythischer, magischer Anschauungen und
Praktiken der babylonischen, vielleicht auch hie und da der
ägyptischen Priester, mehr oder weniger umgebildet oder nicht,
übernommen wurden — namentlich für rituelle Kalenderzwecke
— , so doch gerade der entscheidende höchste und esoterische
Gehalt der babylonischen Priesterweisheit nicht: weder die
Sternenkunde, Astronomie und Astrologie, noch die Divination
(Leber- oder Vogelschau). Die letztere war ausdrücklich ver-
boten ^), obschon sie gewiß in der Bevölkerung dennoch vorkam.
Auch findet sich einmal als talmudischer Beruf ein Astrologe,
und das Horoskop wird gelegentlich hier wie in aller Welt gestellt
worden sein. Aber die Rabbinenlehre verbot ausdrücklich die
Befragung der Chaldäer: »für Israel gibt es keine Propheten«.
Die jüdische Priesterschaft hatte auch diese Konkurrenten mit
Erfolg eliminiert und die alte rabbinische Anschauung lehnte
diese heidnische Wissenschaft und vor allem den astrologischen
Determinismus wenigstens in der alttalmudischen Zeit als Ver-
letzung der Majestät und Entschlußfreiheit Gottes entschieden
ab, verfügte auch^ bei der sozialen Lage der Rabbinen, gar nicht
über die wissenschaftlichen Traditionen und Hilfsmittel, sie zu
pflegen.
Wenn die Rabbinen keine Magier, Propheten, esoterische
Philosophen, Astrologen oder Auguren waren, so auch nicht
Träger einer esoterischen Heilslehre, einer Gnosis. Nicht nur
die besondere Form der vorderasiatischen Gnosis mit ihrem Demi-
urgen und ihrem Anomismus war geradezu verboten und ver-
worfen, sondern wenigstens in der klassisch-talmudischen Zeit
alle Gnosis überhaupt. Wiederum war es die Entwertung des
Gesetzes und des ethisch korrekten Handelns durch die gnostisch-
*) Deut. XVIII, II.
414 Nachtrag.
mystische Heilssuche, was dafür entscheidend war. Nicht nur die
in vornehmen Intellektuellenschichten typischen Formen der
Mystik, sondern jede rein mystische Heilssuche galt als bedenk-
lich, als ein »Träumen«, das die Gefahr der dämonischen Irre-
leitung in sich trägt. Vollends galt dies für die ekstatische
Gottbesessenheit, dem alten Kampf der Propheten gegen die
Orgiastik entsprechend. Wie die »Verständlichkeit« der Pro-
pheten dem Talmud zu den Merkmalen ihrer Bewertung gehört,
so lehnt die rabbinische Auslegung stillschweigend aber ganz
konsequent alle irrationalen und enthusiastischen Mittel, zu Gott
zu gelangen, ab. Dies ist nicht etwa als eine Folge der »Klassen-
lage« zu erklären: denn massenhafte Mystagogen im Orient und
Okzident haben ihr Publikum gerade im Kleinbürgertum ge-
habt, dessen Prädisposition für die Stellungnahme zur mystisch-
ekstatischen Religiosität überall durchaus vieldeutig gewesen ist.
Sondern es war Folge des historisch gegebenen Charakters der
jüdischen Tradition, wie er durch Priestergesetz einerseits, durch
die Prophetie andererseits fixiert worden war. Für denjenigen
Juden jedenfalls, der den Zusammenhang mit dem Gesetz nicht
aufgeben wollte, also für den Pharisäer. Nicht nur führte das
pflichtmäßige anhaltende Studium des Gesetzes rein an sich
ihn, negativ, kraft des ethisch rationalen Gehalts der Thora und
Propheten, von den irrationalen Formen der Heilssuche ab.
Sondern die heiligen Schriften gaben ihm auch einen Ersatz
für das Fehlende, wenn er es als solches empfand. Die gewaltige
Pathetik der großen Propheten, die begeisternde Gewalt und der
Enthusiasmus der nationalen Geschichtsschreibung, der schlichte
aber leidenschaftliche Ernst der Schöpfungs- und Menschheits-
Mythen, der starke Stimmungsgehalt der Psalmen, der Hiob- und
andren Legenden und der Spruchweisheit bildete einen Rahmen
für religiöses Innenleben fast aller erdenklichen Gefühlslagen, wie
er in dieser Art nicht zum zweiten Male gefunden werden konnte.
Das Einzigartige bestand dabei weniger in dem materiellen
»Erlebnis «-Gehalt rein an sich, für dessen Einzelbestandteile sich
zweifellos in den verschiedensten heiligen Schriften über die ganze
Erde hin irgendwelche Probleme finden lassen. Sondern einmal
in der Zusammendrängung dieses Gehaltes auf einen derart
knappen Raum, dann aber und namentlich in dem volkstümlichen
Charakter und der absoluten Verständlichkeit der heiligen Texte
für jedermann. Nicht daß babylonische, mythische und kos-
Die Pharisäer.
415
mologische Motive in die biblischen Erzählungen übernommen
sind, ist das Wichtige. Sondern: daß sie dabei aus dem Priester-
lichen in das Volkstümliche zurücktransponiert worden waren.
Es war die unmittelbar verständliche und zugleich hochpatheti-
sche prophetische Gotteskonzeption, welche auch dieses Moment:
die »spezifische Verständlichkeit« der erzählten Hergänge nicht
nur, sondern vor allem: der »Moral«, die aus den Geschichten
folgte, für jedermann, auch für jedes Kind, bedingten ^). Ver-
ständlich waren dem hellenischen Kinde (und sind es jedem Kinde)
die homerischen Helden, dem indischen Kinde die erzählenden
Teile des Mahabharata. Aber der ethische Gehalt des Bhagavagita
wird keinem, auch keinem indischen Kinde verständlich sein und
die echte Erlösungslehre des Buddha auch nicht. Auch nicht
deren Kosmologie und Anthropologie, die Produkte intensiven
Denkens sind. Hingegen ist der »Rationalismus«, vor allem der
moralistische, aber auch der pragmatisch-kosmologische, der
aus den jüdischen heiligen Schriften spricht, so unmittelbar
populär und gerade in den entscheidenden Teilen auf kindliches
Verständnis zugeschnitten, wie kein andres heiliges Buch auf der
Welt, vielleicht die Geschichten von Jesus von Nazareth aus-
genommen 2). Von allen kosmogonischen und anthropologischen
Mythologemen ist eben das Pragma des überweltlichen, teils wie
ein Vater, teils wie ein bald gnädiger, bald ungnädiger König die
Geschicke der W>lt leitenden, sein Volk zwar Hebenden aber doch,
wenn es ungehorsam ist hart strafenden, aber durch Gebet, Demut
und sittliches Wohlverhalten wieder zu gewinnenden Einheitsgott
diejenige Konstruktion, welche alle Geschehnisse der Welt und
des Lebens in einer Art rational verständlich macht, wie sie
der unbefangenen, nicht durch philosophische Spekulation subli-
mierten Auffassung der Massen und der Kinder entspricht. Diese
rationale Verständlichkeit aber, welche die in der Gemeinde durch
Lehre, Predigt, Lektüre allgemein bekannte religiöse Heils-
'pragmatik der Mythen, Hymnen und Propheten auszeichnete,
zwang auch das rabbinische Denken in ihre Bahnen. Ein esoteri-
scher gnostischer Heilsaristokratismus konnte wenigstens pri-
mär auf diesem Boden nicht leicht wachsen, oder wenn er
^) Wo diese Selbstverständlichkeit, wie etwa bei dem Hiob-Problem und
sonst gelegentlich, vielleicht in Wahrheit nicht vorhanden war, da schien es
wenigstens so.
2) Oder: die chinesische Jugendlehre, aber diese aus absolut andren Gründen.
41 6 Nachtrag.
danach entstand, nicht leicht um sich greifen. Entstehen aber
konnte eine Esoterik am ehesten im Anschluß an jene teils an
sich dunkeln, teils in ihrem ursprünglichen Sinnzusammenhang
vergessenen Visionen der Propheten, welche dem von Gott aus
der Gnade gestoßenen Volk eine bessere Zukunft verhießen.
Tatsächlich haben denn auch hier die Spekulationen religions-
philosophischer Art angeknüpft. Von ihnen wird später die
Rede sein. Zweierlei aber gehört schon in unsern Zusammenhang.
Zunächst: die eigentlich spekulativen Eschatologien, wie sie in
Anknüpfung an die Daniel- und Henoch-Literatur und durch
Uebernahme von Heilands- Spekulationen persischen und baby-
lonischen Ursprungs entstanden, die Lehren vom »Menschen-
sohn«, vom Matathron und ähnliche, blieben dem Kreise der
eigentlich pharisäischen Rabbinen im allgemeinen zwar bekannt,
doch aber in ihm fremd. Sie sind — gewiß nicht nur, aber offen-
bar in besonders starkem Maße — gerade in Konventikeln der
'Am ha-arez gepflegt worden, und auch Jesus oder die Seinen ent-
nahmen ihre Menschensohn- Vorstellungen zweifellos dorther und
nicht aus der pharisäischen und rabbinischen Lehre. Für diese
blieb der Messias ein für die Zukunft verheißener irdischer König
der Juden, der sein Volk mit Hilfe des wiederversöhnten Gottes
zur alten Herrlichkeit erhöhen und seine Feinde ihm entweder
vernichten oder — wie in den Psalmen — ihm als Knechte unter-
werfen oder endlich zum Glauben Israels bekehren werde. Oder
in Verbindung mit der Auferstehung : der König, in dessen Reich
die auferstandenen Frommen ein neues und reines Leben führen
werden. Ferner aber: alle diese zum Gegenstand metaphysischer
und also leicht zur Esoterik leitenden Spekulationen geeigneten
Hoffnungen waren eben : Hoffnungen, Erwartungen für die Zu-
kunft. Klar ist, daß diese Erwartungen eine gewaltige Pathetik
in die Frömmigkeit des Juden tragen konnten und mußten, so oft
sich die Gedanken auf sie richteten: in der Existenz solcher »End«-
Erwartungen überhaupt liegt einer der Grundunterschiede"
gegenüber aller indischen Heilandsreligiosität. Schien vollends,
angesichts ungewöhnlicher Zeichen und Umwälzungen oder unter
der Einwirkung esch atalogischer Propheten ihre Erfüllung nahe,
so konnten sie Quellen des mächtigsten, unter Umständen wil-
desten Enthusiasmus werden und sind es gewesen. Aber im All-
tagsdasein oder wenn durch die Umstände der Blick von ihnen
fortgelenkt war, reduzierte sich ihre Wirkung unvermeidlich auf
Die Pharisäer.
417
eine stimmungshafte, die Ordnung der Welt, das eigne Volk und
den Frommen selbst zugleich als unzulänglich anklagende und
auch wieder mit sich und dem Geschick versöhnende, Sehnsucht
nach einer Erlösung von Leid und Not, welche dem »glaubens-
religiösen« Charakter der jüdischen Religiosität zugute kam.
So war es namentlich in der talmudischen Zeit nach dem Tempel-
sturz unter Hadrian, als die messianischen Hoffnungen in weite
Ferne rückten. Auf das praktische Handeln konnte nur die Frage
Einfluß üben: welches Verhalten der Menschen denn die An-
wartschaft auf ein baldiges Kommen des Erlösers und auf die
eigne Teilnahme am Reich der Auferstandenen gewähren oder
steigern könne. Darauf aber antwortete die rabbinische Lehre
in Anlehnung an die priesterliche Paradigmatik der heiligen Ge-
schichten und an die Propheten naturgemäß wiederum mit dem
Hinweis auf das Gesetz, dessen Bedeutsamkeit dadurch pathetisch
gesteigert wurde. Die Sünde der Gemeinde, ihrer amtlichen
Autoritäten als solcher (der Abfall von Gott vor Altem) war
in den Augen der Rabbinen zweifellos auch deshalb die schwerste
aller Sünden, weil sie das Kommen des Messias für weitere Zeiten
verscherzte und also alle Frommen mit um ihre Hoffnung betrog.
Andererseits waren die universalistischen Verheißungen der
Thora und der Propheten, wonach alle Völker zu Gott und
Israel gebracht werden sollen, sicherlich einer der entscheidenden
Antriebe für den Proselytismus, wie noch zu erwähnen sein wird.
Aber für den einzelnen kam nur das Gesetz und seine Erfüllung
in Betracht. Einen andern Heilsweg gab es überhaupt nicht.
Der vorgezeichnete Weg aber war jedem zugänglich.
Denn wie dem intellektualistisch-mystischen Heilsaristokratis-
mus, so standen die Rabbinen auch der Askese im letzten
Grunde ablehnend gegenüber.
Gänzlich fern lag dem altern ebenso wie dem pharisäischen
Judentum der ethische Dualismus von »Geist« und »Materie«
oder von »Geist« und »Leib« oder von »Geist« und »Fleisch«
oder von götthcher Reinheit und Verderbtheit der »Welt«, wie
ihn der hellenistische Intellektualismus herausgearbeitet, der
Neuplatonismus bis zu dem Gedanken gesteigert hatte: daß
der Leib »Kerker« der Seele, ein Pudendum, sei, und wie einzelne
Kreise hellenistisch-jüdischer Intellektueller (Philo) ihn von da
übernommen hatten und dann das Christentum des Paulus
zur Grundkonzeption seines ethischen Weltbildes machte. Nichts
Max Weber, Religionssoziologic UI. 27
41 8 Nachtrag.
von alledem ist dem pharisäisch-talmudischen Judentum bekannt.
Gewiß: Gott ist Schöpfer und Herr der Welt und der Menschen,
die Menschen sind seine Geschöpfe, nicht seinie Sprößlinge oder
Emanationen. Er hat sie, auch das auserwählte Volk, geschaffen,
nicht gezeugt. Das folgt für das prophetische Judentum aus
dem Universalismus und den gewaltigen Machtattributen, die
ihm im Zusammenhang damit zugeschrieben werden, um seine
absolute Souveränität auch gegenüber dem eigenen Volke be-
tonen zu können: er ist der >Gott der Weltgeschichte.
Aber auf diesem »Dualismus«, den man als charakteristiscli
jüdisch oder jeweils »semitisch« im Gegensatz zu jenen andern
Konzeptionen hat ^ hinstellen wollen, ruht für die praktische
Ethik ein entscheidender Akzent nur insofern, als jede Theodizee
dadurch entbehrlich gemacht, die absolute Ohnmacht des Men-
schen gegen Gott, vor allem im Sinn des absoluten Ausschlusses
magischen Gotteszwangs, festgestellt und der religiöse »Glaube«
die spezifische Färbung des kindlichen »Gehorsams« gegen den
Weltmonarchen annehmen mußte. Das war gewiß wichtig
genug. Aber »Weltablehnung« oder »Welt entwert ung« folgte
daraus in gar keiner Weise.
Der jüdische Gott ist ein patriarchaler Monarch : als gnädiger
»Vater« seiner Kinder erweist er sich, die ja nach seinem Eben-
bild geschaffen sind. Die Welt ist nicht schlecht, sondern gut,
wie die Schöpfungsgeschichte zeigt. Der Mensch ist schwach,
wie ein Kind, und daher wankelmütig in seinem Willen und der
Sünde, das heißt: dem Ungehorsam gegen den väterlichen
Schöpfer, zugänglich. Nicht nur der einzelne ist es, sondern
— worauf das Gewicht liegt — gerade auch die Gesamtheit,
das Volk. Und dadurch verscherzt sowohl der einzelne, wie auch
das Volk als Ganzes sich dann seine Liebe und Gnade, für sich
und die Nachfahren, oft für lange Zeit und in manchen Hinsichten
dauernd. So haben Adam und Eva durch Ungehorsam für alle
ihre Nachfahren den Tod, die Schmerzen der Geburt, die Unter-
werfung der Frau unter den Mann und die Notwendigkeit und
Mühsal der Arbeit verschuldet. Aber gerade die rabbinische
Anschauung war geneigt, den Abfall des Volks, die Verehrung
des goldenen Kalbes und der Baalim, welche den Sturz des
jüdischen Volks verschuldet hatten, weit schwerer zu beurteilen
als Adams Fall. Es fehlt, so hart das ungehorsame Volk gescholten
wird, durchaus der Gedanke der »Erbsünde« oder der kreatür-
Die Pharisäer.
419
liehen Verderbtheit oder der Verwurh-niieit des SinnHchen. Und
vollends ganz fern liegt der Gedanke, daß die Abkehr von der
Welt Voraussetzung des religiösen Heils sei. Das Verbot der
»Bildnisse lind Gleichnisse« war gewiß eine höchst wichtige
Quelle der negativen Beziehung des Judentums zur künstlerischen
Sinnenkultur. Aber es war ebenso wie die Scheu vor dem Aus-
sprechen des Namens Jehovas magischen und idolfeindlichen
Ursprungs und dann in den Zusammenhang der Vorstellungen von
(jottes Majestät und Allgegenwart in seiner Schöpfung hinein-
gestellt und wurde vom Pharisäismus vor allem auch als Unter-
scheidungsmerkmal gegenüber den idolatrischen Fremdvölkern
als bedeutsam empfunden. Nicht aber war es seinerseits Ausfluß
von »Sinnenfeindschaft« oder Weltabkehr.
Fern liegt auch dem pharisäischen Judentum die Verwerfung
des Reichtums oder der Gedanke, daß er gefährlich und
sein unbefangener Genuß heilsgefährlich sei. Für gewisse priester-
liche Funktionen galt Reichtum geradezu als Vorbedingung. Im
übrigen hatten die Propheten und Psalmen die unbrüderliche
Ausnutzung der ökonomischen Macht als Sprengung der alten,
durch Jahwes Gebote geheihgten Nachbarschaftsethik und
Brüderlichkeit der Volksgenossen schwer gegeißelt. Darin folgte
ihnen die pharisäische Kleinbürgerethik selbstverständlich nach.
Die alten Bestimmungen gegen den Wucher und zugunsten der
Schuldner und Sklaven und die priesterlichen Konstruktionen
der Sabbat Jahrswoche und des Schulderlasses im Jubeljahr wur-
den nun kasuistisch ausgestaltet, wie wir noch sehen werden.
Aber es fehlt gerade jeder Ansatz zu einer ökonomisch geordneten
Methodik innerweltlicher Askese. Ebenso aber zu einer Sexual-
askese. Es wird zwar gelegentlich für den Rabbi die Frage er-
örtert, ob er nicht besser unverehelicht bleibe, um sich ganz unge-
stört dem Studium widmen zu können. Aber das hat mit »Askese«
nichts zu schaffen, so bemerkenswert es ist, daß die für das Heil
der Gemeindegenossen wichtige Arbeitspflicht hier das alte Gebot
der Erzeugung von Nachkommen zu erschüttern die Kraft hatte.
Aber sonst ist, von den innerhalb wie außerhalb des Judentums
bekannten kultischen und magischen Reinheitspflichten nichts
von Bedenken gegen den Sexualverkehr und gegen die Freude
am Genuß der Weiber zu bemerken. Die unbefangene Welt off en-
lieit; daß dem altisraelitischen Krieger Zeit gelassen werden soll,
>)sich seines Weibes zu erfreuen«, würde aucli für den talinudisclicMi
420 Nachtrag.
Juden gelten. Der rücksichtslose Kampf gegen die »Hurerei«:
— daß neben Mord und Idolatrie dies als die dritte größte Sünde
gilt — stammt aus dem alten priesterlichen Kampf gegen die
Baal-Orgiastik, und die strenge Einschränkung des Geschlechts-
verkehrs auf die legitime Ehe entspricht durchaus den indischen
(und sonstigen) Geboten gleicher Art, der scharfe Kampf gegen
jede Form von Onanie (einschließlich des onanismus matri-
monialis) dem bibh sehen Fluch dagegen, der durch den scharfen
Kampf gegen die onanistische Moloch-Orgiastik ^) bedingt war.
Die außerordentlich nachdrückliche Anempfehlung früher Ehe
— es galt jeder als Sünder, der sie über ein bestimmtes Alter
verschob — entspringt (wie bei Luther) der Ueberzeugung, des
ungebrochen sinnlichen Volks, daß sonst Sünde unvermeidlich
sei. Die Sexualvorgänge verharren in unbefangener Naturalistik.
Die alte Perhorreszierung der Entblößung und aller Nacktheit
— erwachsen wohl aus dem Kampf gegen die Orgiastik und viel-
leicht verschärft durch den Gegensatz gegen das hellenische
Gymnasion — geht mit höchst unverhülltem Sprechen und
(später) Reglementieren über das Sexualverhalten im Interesse
teils der levitischen Reinheit, teils der Hygiene Hand in Hand;
beide Erscheinungen kennt bekanntlich auch der Islam und andre
auf »Reinheit« abgestellte ritualistische Religionen. Es geht
teilweise weiter als katholische Beichtspiegel und Beichtstuhl-
praxis und wirkt peinlich und oft widerlich für unser modernes
erotisches Empfinden und ein feudal oder vornehm bildungs-
ständisches Würdegefühl, wie es dem Judentum ebenso wie der
katholischen Kaplanokratie freilich fremd war. Alkohol- und
Fleischabstinenz, wie sie für den korrekten Hindu galt und gerade
von den vornehmen Schichten praktiziert wurde, ist für den Rab-
binen und frommen Laien im Judentum unbekannt: die alte
von den Priestern und Propheten bekämpfte Baal-Orgiastik.
war eben offenbar dem Schwerpunkt nach sexuelle, also Frucht-
barkeits- und nicht alkoholische Rausch-Orgiastik.
Wie das Weib und der Wein des Menschen Herz erfreut, so
der Reichtum und alle rituell erlaubten Genüsse dieser Welt,
und die Grundstimmung der altrabbinischen Haltung zur W^elt
drückt im ganzen wohl das talmudische Wort aus, daß das Para-
dies dem gehört, »der seinen Gefährten lachen macht«. Eine
prinzipiell asketisch bedingte Lebensmethodik aber dürfen
1) Lev. XVIII, 2. 3.
Die Pharisäer. 42 I
wir jedenfalls unter keinen Umständen auf dem Boden des phari-
säischen Judentums suchen. Es verlangte strengen Ritualismus,
wie die indische offizielle Religiosität und war im übrigen eine
im Vertrauen auf Gott und seine Verheißungen und in der Furcht
vor der Sünde als Ungehorsam gegen ihn und vor dessen Folgen
lebende Glaubensreligiosität, aber es bedeutete sicherlich nicht
eine asketische Lebensführung. In einem Punkt freilich ähnelt es
in der Art seiner Lebensführung den rationalen asketischen
Prinzipien : in dem Gebot wacher Selbstkontrolle und unbedingter
Selbstbeherrschung. Die Notwendigkeit der erst er en war die
unvermeidHche Folge der f ort w^ähr enden Messung der Korrekt-
heit der eigenen Lebensführung am Gesetz mit seiner außerordent-
lichen Vielzahl der rituellen Gebote und, namentlich, Verbote,
auf die zu achten war: 613 Vorschriften zählte man als von
Moses gegeben und die rabbinische Kasuistik vervielfältigte sie
noch. Das Zweite hing zum Teil damit, zum Teil mit dem alten
Gegensatz gegen die Orgiastik zusammen. Während der alt-
israelitische Jehovah ein Gott leidenscftaftHchen Zornes war,
mehr als irgendein anderer, galt den Rabbinen, wie in China,
jede Erregung als dämonischen Ursprungs und heilsgefährlich,
also als Sünde. Sehr im Gegensatz gegen die vielfach, wie wir
sahen, vom leidenschaftlichen, Zorn und Haß oder von scharfem
Ressentiment gegen die Gottlosen, denen es gut geht, getränkte
Psalmenreligiosität oder das Racheschwelgen der Phantasie
im Buch Esther und auch gegen den ebionitischen Reichtumshaß
des Lukas-Evangeliums, wie er sich etwa im Gebet der Maria
ausspricht, waltet eine, zum mindesten äußerhch, sehr andere
Haltung im Talmud vor. Jene religiöse Rationalisierung des
Rachebedürfnisses an den Feinden oder Glücklichen, welche die
eigene Rache gegen das Unrecht zurückstellt, weil Gott sie dann
um so gründlicher, es sei hier oder im Jenseits, vollstrecken wird
oder jene noch weitere Sublimierung, die dem Feinde schranken-
los verzeiht, um ihn vor andern oder und vor allem vor sich selbst
beschämen und verachten zu können, ist im Talmud nicht nur
bekannt, sondern wurde von den Rabbinen scharf in ihrem Wesen
erkannt und abgelehnt. Denn nichts ist so eindrucksvoll betont,
als das Gebot: Andere nicht »beschämen« zu wollen.
Zunächst innerhalb der Pietätsbeziehungen der Familie: die
Beschämung der Eltern, die sich dem Kinde gegenüber ins Unrecht
setzen, vermieden zu haben wird als schönste Pietätsleisturo"
422
Nachtrag.
gepriesen. Aber das gleiche gilt auch gegenüber dem, der Unrecht
zufügt, vor allem im Verlauf von Streit und Diskussion. Die
hoffnungslose Niederwerfung des Judentums durch den Tempel-
sturz gab offenbar der rabbinischen Ethik Anlaß, sich mit diesen
Problemen des Ressentiments verdrängter und sublimierter
Rache gesinnungsethisch zu befassen. Das durch Reflexion
ungebrochenere alte Christentum hat die Tatbestände weit weniger
durchreflektiert und zeigt daher bekanntlich manche Proben
ziemlich unverhüllter Ressentimentsethik, die im talmudischen
Judentum bekämpft wurde.
Aber allerdings beweist der Kampf der Rabbinen gegen die
religiöse Verinnerlichung der Rache, ethisch eindrucksvoll und
ein Beweis sehr starker Sublimierung des ethischen Fühlens wie
er ist, wohl wesentlich: daß eben auch ihnen nicht verborgen
blieb, einen wie starken Faktor das zur Ohnmacht verurteilte
Rachebedürfnis im antiken Spät Judentum tatsächlich bedeutete.
— • Die wache Selbstkontrolle des Juden, war wie dies Beispiel
zeigt, 'schon im Altertuin überaus stark entwickelt. Aber jeden-
falls nicht auf der Basi$ einer asketischen Lebensmethodik.
Gewiß finden sich innerhalb des Judentums asketische Insti-
tutionen. Von den kultischen Abstinenz- und Reinheits- Vor-
schriften für die Priester abgesehen, vor allem das vorgeschriebene
rituelle Fasten zu bestimmten Zeiten. Aber dies ist durchaus
kultisch, vor allem als Mittel der Versöhnung von Gottes Zorn,
motiviert. Ganz ebenso das Fasten des einzelnen. So sehr war
dieser Zweck die Regel, daß jeder der fastete, ohne weiteres als
Sünder galt. Hier hätte unzweifelhaft eine asketische Lebens-
führung Anknüpfungspunkte gefunden: der Gedanke und die
Predigt von der Notwendigkeit der Buße ist ja dem antiken
Judentum spezifisch und ein sehr wichtiger Ausfluß seiner Gottes-
konzeption. Ein Büßerleben zu führen war gerade mit zuneh-
mender Entwertung des Priesteropfers ein dem einzelnen nahelie-
gendes Heilsmittel. Als solche großen Büßer sind denn zweifellos
auch jene wenigen großen Faster anzusehen, welche die jüdische
Religionsgeschichte aufweist (eigentlich beglaubigt nur: R. Zaina).
Gelübde wie das alte Nasiräat bestanden als Mittel, Gottes
Wohlgefallen zu erregen oder seinen Zorn abzuwenden, auch in
der Praxis weiter : auch Paulus hat — .vermuthch als Mittel gegen
seine epileptischen Anfechtungen — bekanntlich ein Gelübde
(auf Zeit) abgelegt und abgeleistet, als er schon Christ war. Zu
Die Pharisäer. a2%
einer asketischen Sektenbildung aber kam es erst auf ähnlicher
Grundlage weit später, bei den »Trauernden um Zion«, den
Koräern, die uns hier nicht näher interessieren. Was dagegen auf
dem Boden des pharisäischen Judentums wie »Askese« aussieht,
entstammt in Wahrheit lediglich dem für den Pharisäismus ent-
scheidenden Streben nach levitischer Reinheit. Dies Streben
konnte verschieden radikal gepflegt werden. Innerhalb des nor-
malen Pharisäismus führte es zu jener Steigerung der Exklusivität
nach außen und der systematischen Pflege ritueller Korrektheit,
welche wir besprochen haben, und welche ein Ausscheiden aus
der Welt des ökonomischen und sozialen Alltags nicht erforder-
ten. Aber das Prinzip konnte natürlich auch bis zu einer
grundsätzlichen Ueberbietung der innerweltlichen Sittlichkeit
getrieben werden. Auf dieser Grundlage beruht die charak-
teristischste Erscheinung des E s s e n i s m u s , welcher in
diesem Sinn lediglich eine radikale Pharisäersekte darstellt.
Ihr jedenfalls ins 2. vorchristliche Jahrhundert zurückreichende
Alter und ihr möglicher Zusammenhang mit den Rechabiten
ist zweifelhaft, und ebenso sind manche wichtige Fragen ihrer
Lehre nur ganz hypothetisch lösbar. Immerhin läßt sich das
Streben nach absoluter levitischer Reinheit, äußerlich und ge-
sinnungsmäßig, deutlich als ein Grundelement erkennen. Auch
die Essener waren, wie die weitere pharisäische Bruderschaft es
war, ein Orden. Aber mit weit strengern Eintrittsbedingungen,
vor allem: feierlichem Gelübde, Noviziat und mehrjähriger Probe-
zeit. Auch die Organisation des Ordens war weit straffer und
mönchsartig: der Vorsteher (Mishmer) der Einzelgemeinde am
Ort ist unbedingte Autorität, die Exkommunikation liegt in den
Händen eines Rats von 100 Vollmitgliedern. Das Apostolat diente
bei den Essenern wie bei der offiziellen jüdischen Gemeinschaft
vermutlich vorwiegend den Kollekten für die Ordenskasse.
Daß die Apostel stets zu zweit — wie die altchristlichen —
wanderten, hatte wohl den Zweck gegenseitiger Kontrolle der
rituellen Korrektheit.
Die Essener schlössen sich gegen die minder Reinen durch
Ausschluß, nicht nur des connubium und der Kommensah tat,
sondern jeder Berührung überhaupt, ab. Auch sie lehnten nicht
korrekt lebende Priester ab und bei ihnen scheint daraus nicht
nur eine Entwertung, sondern ein stark wirkendes Mißtrauen
gegen die Priester überhaupt hervorgegangen zu sein, was sicher-
424 Nachtrag.
lieh durch die bald zu erwähnende Sonderstellung gegenüber dem
Opfer mitbedingt war. Rituell drückt sich das radikale Rein-
heitsstreben neben dem starken Akzent, der auf der Novizen-
taufe und auf den fortwährend, bei allen denkbaren Gelegen-
heiten, wiederholten Reinheitsbädern lag, zunächst in größerer
Striktheit der spezifisch pharisäischen Gebote aus. Die Angst
vor ritueller Befleckung und alle Reinheitsvorschriften waren
. ins Extreme gesteigert. Alles Studium außer im Gesetz und über
die biblische Kosmologie, galt als gefährlich, weil heidnisch,
alles rein weltliche Vergnügen als verwerflich und zu meiden.
Der Sabbat war bei den Essenern nicht ein Tag der Freude, wie bei
den normalen Pharisäern, sondern absoluter Ruhetag: die Be-
gattung beschränkte der Essener auf den Mittwoch, angeblich,
damit das Kind nicht am Sabbat zur W^elt komme. Die Tracht-
vorschriften (zizit) galten unbedingt. Dem Gebet am Morgen
ging eine vorgeschriebene Zeit der Kontemplation voraus. Nicht
nur Tötung, sondern jede Verletzung des Nächsten, auch aus
Achtlosigkeit, galt als schwere Selbstbefleckung. Das Gebot,
nicht zu stehlen, wurde dahin gesteigert : auch nicht durch irgend-
welchen Gewinn — dessen Rechtmäßigkeit stets problematisch
schien — sein Gewissen zu belasten. Die Essener mieden daher
den Handel ebenso wie den Krieg, verwarfen den Geld- und
Sklavenbesitz und schränkten den zulässigen Besitz überhaupt
auf das für den Eigenbedarf Unentbehrliche und durch Bodenbau
und eigene gewerbliche Handarbeit zu gewinnende ein. Sie
steigerten dementsprechend die alten sozialen Brüderlichkeits-
gebote konsequent bis zum vollen ökonomischen Liebesakos-
mismus. Nicht nur die agape, das Liebesmahl, zu welchem die
Besitzenden die Mittel lieferten, wird erwähnt, sondern auch
von gemeinsamen Häusern und Magazinen und einem gemein-
samen »Schatz« berichtet Philo: vermutlich wurden die Ueber-
schüsse über den Eigenbedarf dort niedergelegt, um der sehr hoch
ausgebildeten Armenunterstützung zu dienen. Ob dagegen wirk-
lich voller Kommunismus bestand und ob auch nur jene Ein-
richtungen bei ihnen überall in voller Ausbildung bestanden
haben, ist wohl unsicher. Denn die Essener lebten zwar vor-
wiegend in Palästina, aber offenbar keineswegs immer cöno bitisch
seßhaft. Im Gegenteil war neben der Armenunterstützung auch
die Aufnahme- und Unterstützungspflicht für zureisende Brüder
(also doch wohl: Handwerksburschen) eine ihrer Grundinstitu-
Die Pharisäer.
425
tionen und \'ornehmlich diesen Zwecken diente wohl die ge-
meinsame Kasse.
Zorn und alle Leidenschaften galten, als dämonisch infizierte
Zuständlichkeiten, bei den Essenern für noch gefährlicher, als
bei den normalen Pharisäern, und im Zusammenhang damit ver-
mutlich wurde als radikales Gegenmittel ausdrücklich dem
Frommen das Gebet für diejenigen, welche ihm Unrecht getan
haben: die »Feindesliebe«, eingeschärft. Die Heiligung des gött-
lichen Namens führte bei ihnen nicht nur zur Verwerfung des
Eides, sondern es schloß sich daran die Entwicklung einer wirk-
lichen Geheimlehre und Arkandisziplin an. Diese erforderte
rituelle Keuschheit für denjenigen, welcher der in Aussicht ge-
stellten Charismen teilhaftig werden wollte. Daher die strenge
sexuelle Kontinenz und eine starke, übrigens, soweit sie bis zur
gänzlichen Verwerfung sich steigerte, in ihren eigenen Kreisen
nicht unbestrittene Abneigung gegen die Ehe, — die ja, wie wir
sahen, auch für den pharisäischen Rabbi nach manchen Auf-
fassungen für unerwünscht galt. In jenen Gnadengaben der
Geheimlehre nun und dem Streben nach ihnen scheint das eigent-
liche Motiv der besonderen essenischen Lebensführung gefunden
werden zu müssen. Denn an diesem Punkte liegt ein gegenüber
dem Pharisäismus und dem Judentum überhaupt deutlich als
Fremdkörper erkennbares Element. Die Geheimlehre war,
nach Josephus, in besondern, sorgfältig geheim gehaltenen
heiligen Schriften aufgezeichnet und bei der Aufnahme als Voll-
mitglied hatte der einzelne sich eidlich zu verpflichten. Dritten
gegenüber zu schweigen, den Ordensbrüdern gegenüber aber
offen zu sein. Der Inhalt der Geheimlehre scheint in allegorischer
Umdeutung der heiligen Erzählungen, in einem sehr ausgeprägten
Vorsehungsglauben, in einer noch mehr als sonst ausgeprägten
Angelologie, in einzelnen Sonnenkultakten — dem auffallendsten
Fremdbestandteil — und in der an Stelle des pharisäischen Auf-
erstehungsglaubens gesetzten Unsterblichkeitsverheißung mit
Himmel und Hölle bestanden zu haben. Rituell ist die Ablehnung
der Tieropfer ihnen eigentümlich: sie schlössen sich damit vom
Tempelkult aus, hielten aber die Beziehung zum Tempel durch
Geschenksendungen aufrecht. Das Charisma aber, welches die
Arkandisziplin gewähren sollte, war allem Anschein nach die Gabe
der Prophezeiung, die Josephus ihnen zuschreibt und die wohl
mit ihrem VorsehunffSß:lauben im Zusammenhang steht. Daneben
426
Nachtrag.
wird ihre Therapeutik, namentlich ihre Kenntnis der Kräfte von
Mineralien und Wurzeln gerühmt. Ihre Religiosität war sehr
wesentlich Gebetsreligiosität mit offenbar sehr intensiver De-
\'otionsandacht.
Es leuchtet sofort ein, daß diese Bestandteile der essenischen
Lehre und Praxis, welche nicht mehr eine Steigerung und Ueber-
bietung des pharisäischen Reinheits-Ritualismus waren, auch
nicht dem Judentum entstammten. Die Angelologie, auch die
pharisäische, war ja persischen Ursprungs. Ebendahin weist
wohl der ziemlich schroffe Dualismus in der Lehre von Leib und
Seele, — obwohl hier auch hellenistische Einflüsse denkbar sind.
Ganz dem persischen (oder persisch-babylonischen) Einfluß
gehört die Sonnenverehrung an, welche — im Gegensatz zu jener
— geradezu unjüdisch anmutet und deren Duldung durch das
korrekte Judentum zunächst befremdlich erscheint. Die Neigung
zur Ehelosigkeit, die Ordensgrade und die Ablehnung des Tier-
opfers könnte indischen Einflüssen — durch irgendwelche Ver-
mittlung — entstammen, aber auch, wie die Waschungen und
Sakramente, dem hellenistisch-orientalischen Mysterienwesen,
wie ja die Schaffung der Geheimlehre als solche eben daher
stammen dürfte. In der Tat: der essenische Orden bedeutet
eine Vermählung von sakramenteller Mysterienreligiosität mit
dem levitischen Reinheitsritualismus. Von den üblichen vorder-
asiatischen Heilandsmysterien unterschied ihn das Fehlen eines
persönlichen Heilandes als Kultgegenstand: die stark gepflegte
messianische Hoffnung war auch bei den Essenern durchaus
Zukunftshoffnung, wie im pharisäischen Judentum. Danach
hätte die Sekte bei konsequenter Beurteilung als heterodox
angesehen werden müssen. Indessen darum kam das Judentum
infolge seines ritualistischen Charakters herum, ähnlich wie in
solchen Fällen der Hinduismus. Weil die Gemeinschaft mit dem
Tempel aufrechterhalten wurde und w^eil die vom Pharisäismus
über alles geschätzte mosaische Gesetzestreue gewahrt, ja be-
sonders und im pharisäischen Sinn peinlich gewahrt blieb, sah
die jüdische Gemeinde über die offenkundig heterodoxen Ein-
schläge hinweg und duldete die Sekte wie eine durch indifferente
Sondergelübde und Sonderlehre speziahsierte jüdische Genossen-
schaft, in der Art, wie sie es infolge ähnlicher Voraussetzungen
der jerusalemitischen Tempel- und Gesetzes-treuen Judenchrist-
Die Pharisäer.
42;
liehen Nazaräer- Gemeinde gegenüber so lange hielt, als dies
möglich war.
Die Grenze zwischen dem Pharisäismus und den Essenern
war aber allerdings auch in bezug wenigstens auf die Lebens-
führung fließend. Zwar eine geschlossene genossenschaftliche
Organisation dieser Art mit Verpönung des Erwerbs ist auf dem
Boden des normalen Pharisäismus sonst in jener Zeit nicht bekannt
-' - im Gegenteil galten den Evangelien die Pharisäer als Ver-
treter des »Geizes«. Aber zahlreiche Einzelerscheinungen, die
in der Richtung der gleichen Gesinnung lagen, fanden sich. Zu-
nächst: der Liebesakosmismus. Als »Hascheina« (die »Ge-
heimen«) bezeichnete man wohlhabende Leute, welche grund-
sätzlich und in großem Maßstabe im geheimen Gaben für Arme
hergeben, die diese ebenso im geheimen und ohne daß ihre
Person bekannt wurde, in Empfang nehmen; und zwar nicht
nur gelegentlich und unorganisiert, sondern aus einei? dafür ge-
schaffenen gemeinsamen Kasse. Es scheint nach dem Talmud, daß
solche in fast allen Städten bestanden: das rabbinische Gebot,
»Niemanden« zu beschämen und der später von Jesus einge-
schärfte Grundsatz: »daß die linke Hand nicht wissen solle, was
die rechte tue«, weil nur dann die Gabe himmlischen Lohn ver-
diene, der sonst vorweggenommen werde, — dieser auch für mo-
derne gemeinjüdische Wohltätigkeit, im Gegensatz z. B. zur
puritanischen, aber auch zur normal christlichen, charakteristische
Zug der talmudischen Caritas spricht sich darin aus.
Dem Streben nach absoluter Reinheit entsprang die Fern-
haltung von allem und jedem weltlichen »Vergnügen«, wie. sie der
»Kadash« (»Heilige«) nach Art der Essener übte und auch Eremiten
»barnaim« (-»Bauer«, von Eremitagen nämlich) finden sich ver-
einzelt. Diese Erscheinungen von wirklicher Weltablehnung
stehen indessen dem normalen Pharisäismus ebenso fremd gegen-
über wie die entsprechenden essenischen Regeln und sind wohl
auch ihrerseits durch unjüdische Einflüsse zu erklären. Rituell
finden sich gewisse Anklänge an die altchassidische und die
essenische Praxis bei den »Watikim«, welche das Morgengebet
formell streng und zwar so regelten, daß sein Ende mit dem Sonnen-
aufgang zusammenfiel — und was dergleichen Einzelerschei-
nungen mehr sind. Das pharisäische Judentum war eben trotz
aller rituellen Korrektheit und strengen Absonderung von den
Heiden den verschiedensten Invasionen heterogener Ritualistik
428 Nachtrag.
(zum Beispiel: Sonnenkult-Ritualistik) ausgesetzt. Und wenn
auch die Entwicklung einer eigentlichen Geheimlehre gerade dem
Pharisäismus durchaus fremd war, so konnte er doch die Ver-
breitung apokalyptischer eschatologischer Messias-Erwartungen
und Prophezeiungen unmöglich hindern, welche der Sache nach
ähnlich wirkten und von dem die Luft voll war, wie am deut-
lichsten die Umwelt zeigt, in welcher sich die evangelischen
Geschichten und Mythen abspielen.
Die Organisation, rehgiöse Lebensführung und Ethik der
Essener sind oft, und namentlich von jüdischer Seite, mit der
urchristlichen Praxis in Beziehung gesetzt worden. Die Essener
kennen wie die Christen die Taufe, das Liebesmahl (Agape), den
akosmistischen Liebeskommunismus, die Armenunterstützung,
das Apostolat (jedoch im jüdischen Sinn des Begriffs) die Aver-
sion gegen die Ehe (für die Vollkommenen), die Charismen,
vor allem -die Prophetie, als erstrebte Heilszuständlichkeit ^) .
Ihre Ethik war, wie die altchristliche, streng pazifistisch,
empfiehlt die Feindesliebe, schätzt die Heilshoffungen der Armen
hoch, der Reichen ungünstig ein, ebenso wie die ebionitischen
Bestandteile der Evangelien es tun. Dazu traten die der urchrist-
lichen verwandten Bestandteile der gemeinpharisäischen Ethik,
denen gegenüber sie ebenso wie die urchristliche in vielen Punkten
eine Steigerung bedeutet. x\llein der Charakter dieser Steige-
rung ist hier und dort sehr verschieden. Denn gerade in bezug
auf rituelle (levitische) Reinheit lenkt schon Jesus selbst in seiner
Verkündigung in ganz andere Bahnen. Das monumental wirkende
Herrenwort: daß nicht das, was in den Mund geht, unrein macht,
sondern das, was aus dem Munde geht und aus einem unreinen
Herzen kommt, bedeutete, daß die gesinnungsethische Subli-
mierung, nicht die ritualistische Ueberbietung der jüdischen
Reinheitsgesetze das für ihn Entscheidende war, und der angst-
vollen Abschließung der Essener gegen die rituell Unreinen steht
seine sicher bezeugte Unbesorgtheit vor dem Verkehr und der
Tischgemeinschaft mit ihnen gegenüber. — Die auf beiden Seiten
zu findenden ethischen Konzeptionen waren aber in den mannig-
fachsten Formen im Entstehungsgebiet beider Gemeinschaften
verbreitet und die gleichartigen Institutionen teils schon dem
pharisäischen chabarah, teils, wie anzunehmen ist, mannigfachen
^) Auch der Ausdruck iy.y.X'qoia. wird für ihre Gemeindeversammlungen
gebraucht.
Die Pharisäer,
429
Kultgemeinschaften gemeinsam. Vor allem: sowohl die Epi-
phanie eines gegenwärtigen persönlichen Heilandes und sein
Kult, wie die gewaltige dem Urchristentum spezifische Bedeutung
des »Geistes<< (7iv£ö|ji,a) blieb den Essenern, soviel bekannt, fremd.
Das Pneuma, als Charisma und Merkmal der Bewährung eines
exemplarischen Gnadenstandes, war zwar dem Judentum und
auch der Lehre des Pharisäismus, kein fremder Begriff. Der »Geist
Jahwes«, der als Berserker-Charisma über den Helden (Simson)
und König, als wilder Zorn über Saul, vor allem aber als Charisma
der Vision und prophetischen Verkündigung, eventuell: des
Wunders, über den Seher, Propheten, Wundertäter kommt,
dessen der Hohepriester bedarf, um das Volk gültig entsühnen
zu können, der von ihm weicht (Pinehas) und den König oder
Helden v^erläßt, wenn er sündigt, ist auch in jedem Lehrer mächtig :
wie der Prophet durch den Geist sieht und hört, so lehrt auch der
Lehrer durch ihn. Im Talmud heißt er Ruach-ha-kodesch, in
der Septuaginta-Uebersetzung von Psalm 51, 11 und Jesaja 63,
10. II Tiveöjjia TÖ aytov, sein dämonischer Widerpart ist die
Lehre des »unreinen Geistes«, in den Evangelien von den Schrift-
gelehrten der Geist des Beelzebub, des »Obersten der Teufel«
genannt. Die Rabbinen brauchen, aus Scheu vor dem Gottes-
namen, statt des Namens »heihger Geist« oft den Namen »shekina«.
Es entstand die Doktrin, daß der »göttliche Geist«, der am Beginn
der Schöpfung auf den »Wassern« schwebte, vom Schöpfer am
ersten Tage geschaffen worden sei. Die Taube, das Symbol des
verfolgten Israel, w^ird auch im Talmud gelegentlich als seine
Lieber bringerin behandelt.
Auch in der talmudischen Literatur begegnet die Vorstellung,
daß der heilige Geist für die Menschen als »Synegor«, d. h. als
»Paraklet« ^) : Fürsprecher, Helfer für die Menschen bei Gott ein-
trete. Aber die Lehre von der Geschlossenheit des prophetischen
Zeitalters ließ die Annahme entstehen, daß der heilige Geist seit
Maleachi aus der Welt verschwunden sei. Man kann ihn nicht
mehr erlangen, sondern nur den »bat kol«, den Geist, den der
Rabbine zum richtigen Auslegen des göttlichen Gesetzes bedarf.
Andererseits hatte Joel ^) die Reinheit und Heiligkeit der Er-
wählten nach dem Kommen des Messias so gefaßt: daß dann
^) Philo braucht den Ausdruck für den »Logos«, der den Hohenpriester
stützt.
2) III V. I. 2.
430
Nachtrag.
der Heilige Geist allen mitgeteilt werde, die Söhne und
Töchter weissagen, die Aeltesten Träume und die Jünglinge
Visionen haben und auch über Knechte und Mägde der Geist aus-
gegossen werden solle. Das Wieder erwachen des Heiligen Geistes
in allen Menschen galt darnach als Zeichen dafür, daß der Messias
gekommen sei und das Anbrechen des Gottesreichs bevorstehe.
Diese Vorstellung ist für die altchristliche Konzeption des Pfingst-
wunders maßgebend gewesen. Den »Geist« in diesem spezifischen
Sinn einer irrationalen göttlichen Prophetengabe konnten die
Rabbinen weder für sich beanspruchen noch vollends als Merk-
mal des Gnadenstandes der Gemeindeglieder ansprechen.
So hoch daher die Autorität des rabbinischen Lehrers stand
— niemals konnte er daran denken, die Stellung eines pneumati-
schen »Uebermenschen« in Anspruch zu nehmen. Stets stützte
sich seine Autorität auf das in der Thora und den Propheten
schriftlich fixierte Wort. Jede Entwicklung in der Richtung der
Anbetung des Seelenhirten, nach Art der Guru-Anbetung in
Indien, in Asien und im Christentum schied völlig aus. Auch sie
war durch die jüdische Gotteskonzeption ausgeschlossen, welche
jede Kreatur Vergötterung als heidnischen Greuel zu verwerfen
zwang. Aber auch als Gegenstand einer Heiligen- oder Mysta-
gogen- Verehrung nach Art der christlichen oder asiatischen Er-
scheinungen dieser Art kam der Rabbi nicht in Betracht. Er
versieht einen religiösen Beruf, nicht aber spendet er Gnade:
dies zu tun war ursprünglich, in begrenztem Umfang, das Charisma
des Priesters und blieb den durch keramitische Abstammung
qualifizierten Kohanin insofern — allerdings wesentlich formel-
haft — erhalten, als nur sie die Qualifikation hatten den »Priester-
segen« zu sprechen. Erst die chassidische Bewegung in Ost-
europa schuf in dem zakken, dem Virtuosen der chassidischen
Mystik, eine Gestalt, die dem asiatischen Nothelfer- und Mysta-
gogen-Typus entsprach, dessen Ansprüche eben deshalb aber auch
im schärfsten Gegensatz gegen die Autorität des Rabbinen
standen und von diesen als Ketzerei verworfen wurden. Der
jüdische Rabbi spendete weder Sakramentsheil, noch war er
ein charismatischer Nothelfer. Sein religiöser Sonderbesitz war
das »Wissen«. Dies allerdings war ungemein hoch gewertet:
an Ehre geht er den Bejahrteren und selbst den Eltern vor:
»Wissen geht über alles«. Seine Bedeutung als persönliche Autori-
tät lag vor allem im Beispiel, das er gab : in seiner exemplarischen
Die Pharisäer.
43
Lebensführung. Deren Merkmal aber war lediglich die strenge
Orientierung am göttlichen Wort.
Auch in seiner pflichtmäßigen Arbeitssphäre war er ein
Diener des »Worts«. Aber kein »Prediger«, sondern ein »Lehrer«.
Er lehrte im geschlossenen Schülerkreise das. Gesetz, nicht aber
bearbeitete er öffentlich durch Predigt die Gemeinde. Zwar
lehrt er auch in der Synagoge. Aber im antiken Judentum,
soviel bekannt, öffentlich nur an Sabbaten unmittelbar vor den
großen Festen und an den Kallaben-Tagen. Zweck war auch
dann : Belehrung der frommen Gemeinde über die Ritual-
pflichten in jenen Zeiten ebenso wie er im übrigen dem einzelnen
in Zweifelsfällen als Berater über seine Ritualpflichten zur
Seite stand. Denn dies: die Responsentätigkeit nach Art der
römischen Juristen, daneben schiedsrichterliche und, für die
dazu in den »Bei Din« berufenen Rabbinen, auch eigentlich
richterliche Tätigkeit, bildete — neben der systematischen Bil-
dung der Schüler im Gesetz — den Schwerpunkt seiner Berufs-
arbeit. Die öffentliche religiös-ethische Predigt an den Sabbat-
nachmittagen war dagegen in der Antike des Judentums ganz
unorganisiert. Soweit sie aber stattfand — und das dürfte in
erheblichem Maß der Fall gewesen sein — lag sie dajnals ebenso
wie später in den Händen ganz anderer Persönlichkeiten, als der
eigentlichen ortsansäßigen Rabbinen : der »Magyr «, der rabbinisch
geschulte Wanderlehrer der späteren Zeit ist sicher eine sehr alte
Erscheinung. Als wandernder Sophist, Gast der bemittelten
Gemeindeglieder bereist er die Gemeinden, sicher genau so wie
Paulus, der durchw^eg in den Synagogen predigte, es tat. Gewiß,
nicht nur wandernde Redner traten auf. Sondern die sehr weit-
gehende Lehr- und Predigtfreiheit gestattete jedem, der sich
für qualifiziert hielt und der Gemeinde dafür galt, zu predigen.
Auch die »Schriftgelehrten« taten es, die das Evangelium eigent-
lich rituell voraussetzen. Aber offenbar nicht als normale Be-
ruf spf licht. Aufgaben lagen andrerseits dem Rabbi nur ob,
soweit sie nicht priesterlicher Art, sondern eben rein technisch-
rituell zu ordnende Angelegenheiten waren: im antiken Judentum
vor allem die Ausrichtung des rituellen Bades (mikweh) und
shehitah, das rituelle Schlachten (»Schächten«), welches er zu
beaufsichtigen, unter Umständen selbst zu vollziehen hatte.
Allein die autoritative Interpretation des Gesetzes war und blieb
in allem die Hauptsache.
432
Nachtrag.
Die technische Eigenart dieser Gesetzesinterpretation nun
entsprach der sozial bedingten Eigenart der Schicht, welche ihr
wichtigster Träger war : des Kleinbürgertums, dem die Rabbinen
der alten Zeit selbst zum sehr großen Teil angehörten. Es wurde
schon hervorgehoben, daß der »gesunde Menschenverstand«
und jener praktisch-ethische Rationalismus, welcher bürgerlichen
Schichten als innere Haltung überall naheliegt, von starkem Ein-
fluß auf die Art der rabbinischen Behandlung des Gesetzes war :
die »ratio« der Bestimmungen statt ihres Buchstabens einerseits,
die zwingenden Bedürfnisse des Alltagslebens, vor allem der
Wirtschaft, andererseits kamen so zur Geltung. Dagegen fehlte
völlig die Möglichkeit eigentlich »konstruktiven« rationalen
Denkens: — des eigentlich »juristischen« Denkens also, wie es
die römischen respondierenden Juristen und nur sie betätigt
haben, — was praktisch bedeutet : die Fähigkeit zur rationalen
Begriffs bildung. Die Rabbinen waren kein rein weltlicher
und vor allem kein vornehmer Juristenstand wie die römischen
Respondenten, sondern plebejische religiöse Rituallehrer. Die
innerliche Bindung an das positive göttliche Gebot war nicht nur
an sich strenger als es die Bindung des Juristen an das positive
Recht je sein kann, sondern die typischen Formen und Schranken
jedes kleinbürgerlichen Rationalismus traten hinzu. Wort-
deutung und anschauliche Analogie an Stelle von begrifflicher
Analyse, konkrete Kasuistik statt Abstraktion und Synthese.
Die immerhin weitgehend an praktisch rationalen Bedürfnissen
aber durchaus am konkreten Einzelfall orientierte Spruchpraxis
der älteren Rabbinen erfuhr zwar eine Art von »theoretischer «Aus-
weitung, als nach dem Tempelsturz die großen Rabbinenschulen
in Mesopotamien und Palästina zu organisierten Mittelpunkten
der Spruchpraxis wurden und dies bis nach der Karolingerzeit für
die ganze Kulturwelt blieben. Zugleich wurde die Rabbinenwürde
an die Ordination (Handauflegung) durch den Patriarchen oder
seine legitimierten Vertreter gebunden und ein regulärer aka-
demischer Studiengang mit Kolleghörern, Fragen und Dis-
kussionen an den und mit dem Lehrer, Studienpfründen und
Internat vorgeschrieben. Die Sonderorganisation der phari-
säischen Bruderschaft war offenbar verschwunden: »chaber«
heißt später ein Mann, der besonders eifrig im Gesetz studiert:
der typisch spät jüdische Honoratiore, und »perushim« findet sich
als Bezeichnung für Studenten. Der »Geist« des Pharisäismus
Die Pharisäer. 433
war alleinherrschend im Judentum. Aber nicht mehr als Geist einer
aktiven Bruderschaft, sondern als Geist des Schrift Studiums
schlechthin: selbst Gott »studiert« nach gelegentlich auftauchen-
der Vorstellungen das zeitlos geltende Gesetz, um sich darnach
zu richten, etwa so wie der indische Weltschöpfer Askese übt, um
die Welt schaffen zu können. Nunmehr konnte ein vom konkreten
Einzelfall losgelöstes systematisches Denken sich entwickeln
Allein für dessen Besonderheit war teils die Gebundenheit an die
Tradition der alten Rabbinen, teils aber die eigne soziologische
Struktur maßgebend.
Der pharisäische Reinheits-Ritualismus führte zunächst zu
einer Steigerung der rituellen Schranken, sowohl nach Außen
wie nach Innen. Auch und grade nach Innen: Die essenische
Gemeinschaft schloß sich aus Furcht vor Befleckung von Connu-
bium, Kommensalität und jeglicher pahen Berührung mit dem
Rest der Juden ab, und es ist fraglich, ob sie das einzige Kon-
ventikel dieser Art war. Die pharisäische Bruderschaft schloß sich
ganz ebenso gegenüber den 'am ha-arez ab ^), das jerusalemitische
und von Jerusalem priesterlich beeinflußte Judentum gegenüber
dem samaritanischen und allen andern Resten der alten lokalkul-
tischen nicht prophetisch und nicht von jerusalemitischer Priester-
schaft beeinflußten Jahweglaubens, nachdem die Samaritaner vom
Opfer in Jerusalem, welches sie zu pflegen nicht abgeneigt waren,
förmlich ausgeschlossen worden waren. So entstand eine feste und,
weil rituell bedingt, eine kästen mäßige Gliederung der alten
Jahwegläubigen. Daneben bestanden im Innern die erblichen
Privilegien der Priester- und Levitengeschlechter fort, und:
sie waren zwar nicht dem völligen Ausschluß des Connubium
mit andren jüdischen Sippen, wohl aber dem Gebot der Hyper-
gamie unterworfen. Dazu trat nun die rituelle Ablehnung,
teils Perhorreszierung, teils Mißbilligung bestimmter Gewerbe als
religiös ständebildendes Element. Als verachtet und verachtens-
*) Das Lukas-Evangelium läßt in auffallender Art zu wiederholten Malen
(VII, 36.39; XI, 38ff. ; XIV, i) Jesus bei einem Pharisäer (beim letztenmal
sogar: einem Obersten der Pharisäer — gemeint ist, wie die Parallelstelle zeigt,
ein »Oberster der Schule«—) essen, wo die beiden älteren Evangelien davon nichts
wissen. Da Lukas auch in der Apostelgeschichte die Bekehrung von »Pharisäern«
hervorhebt und die Tischgemeinschaft des Petrus mit dem Hellenen Antiochias
für Paulus so wichtig war, so könnte dies Tendenz sein. "Wirklich strenge Phari-
säer würden einem 'am ha-arez oder unkorrekt Lebenden ( Joh. 8, 48 nennen die
Juden Jesus einen »Samariter«) die Kommensalität verweigert haben.
Max Weber, Religionssoziologie HI. 28
434 Nachtrag.
wert gelten neben Esels- und Kameltreibern und Töpferwaren-
händlern auch Frachtführer zu Lande und zur See und Lager-
haushalter, sie alle zweifellos deshalb, weil ein rituell reines Leben
für sie unmöglich schien, die erstgenannten Kategorien natürlich
auch, weil sie ursprünglich fremdstämmige Gastarbeiter waren.
Dazu traten die mit dem deuteronomischen Fluch belegten Berufe
der Zauberer und Wahrsager aller Art. Aber als mißbilligenswert
für den rituell Reinen galten auch Gewerbe wie Hausierer, Bar-
biere, Bader, Tierärzte, gewisse Steinarbeiter, ferner Gerber,
Melker, Wollkämmer, Weber und Goldschmiede. Als Grund wird
für manche dieser Gewerbe angeführt, daß sie den Ausübenden
in eine stets verdächtige Berührung mit Weibern bringe, im
übrigen aber war offenbar neben traditionellen sozialen Wer-
tungen auch hier das allgemeine Mißtrauen in die Möglichkeit, den
Beruf mit ritueller Korrektheit zu vereinigen, maßgebend, da-
neben wohl die Abkunft mancher von ihnen von Eingewanderten
(so wohl der Goldschmiede). Ein Hoherpriester darf nicht aus
einer Familie genommen werden, welche sich ihnen ergeben hat.
Aber außerhalb des pharisäischen Ordens scheinen sie jedenfalls
nicht alle oder nicht während der ganzen talmudischen Zeit
gestanden zu haben : zum mindesten ein Gerber findet sich unter
den bekannteren Rabbinen (R. Jose) und, wie schon früher be-
merkt, sogar ein Astrolog. Besondere Synagogen für einige der
alten Königshandwerke: Kupferschmiede und Kassierer, finden
sich in der talmudischen Literatur erwähnt: getrenntes Sitzen
nach Gewerben in der gemeinsamen Synagoge war häufig. Die Be-
rufe gerade der Königshandwerker (daneben auch anderer) waren
faktisch weitgehend erbliche Sippenberufe und die Handwerker
selbst vom König importierte Fremdstämmige, was ihre Sonder-
stellung wohl erklärt. Unter den mißbiUigten Gewerben finden
sich solche, welche später, im Mittelalter, in starkem Maß von
Juden betrieben wurden, und eine wirklich kastenmäßige Ab-
sonderung zeigt die Ablehnung jener Berufe auch im antiken
Judentum nicht. Immerhin zeigt die innere Struktur des spät-
antiken Judentums wichtige Züge einer solchen.
Vor allem aber nach Außen nahm das Judentum zunehmend
den Typus zunächst des rituell abgesonderten Gastvolks (Paria-
volkes) an. Und zwar freiwillig von sich aus, nicht etwa unter
dem Zwang äußerer Ablehnung. Die allgemeine Verbreitung
des »Antisemitismus« in der Antike ist eine Tatsache. Ebenso aber
Die Pharisäer.
435
auch : daß diese erst allmählich wachsende Ablehnung der Juden
genau gleichen Schritt hielt mit der zunehmend strengen Ab-
lehnung der Gemeinschaft mit Nicht Juden durch die Juden selbst.
Die antike Ablehnung gegen die Juden war weit davon entfernt,
»rassenmäßige« Antipathie zu sein: der gewaltige Umfang des
Proselytismus, von dem bald die Rede sein wird, ist hinlänglicher
Beweis dagegen. Vielmehr war das ablehnende Verhalten der
Juden selbst das schlechthin Entscheidende für die beiderseitigen
Beziehungen. Abweichende und absurd scheinende Riten kannte
die Antike in reichstem Maße: dort lag der Gerund gewiß nicht.
Die prononcierte Asebie gegen die Götter der Polis, deren
Gastrecht sie genossen, mußte freilich als gottlos und beleidigend
empfunden werden. Aber auch das entschied nicht. Der »Men-
schenhaß« der Juden war, wenn man auf den Kern sieht, der
immer wieder letzte und entscheidende Vorwurf: die prinzipielle
Ablehnung von Connubium, Kommen'salität und jeder Art von
Verbrüderung oder näherer Gemeinschaft irgendwelcher Art,
selbst auf geschäftlichem Gebiet verbunden — was auch nicht zu
unterschätzen ist — mit dem durch die Chabarah dargebotenen
überaus starken Rückhalt jedes pharisäischen Juden an der
Bruderschaft — einem Moment, dessen ökonomische Wirkung
der Aufmerksamkeit der heidnischen Konkurrenz nicht entgangen
sein kann. Die soziale Isolierung der Juden, dieses »Ghetto« im
innerlichsten Sinn des Worts, war primär durchaus selbstgewählt
und selbstgewollt und zwar in stetig steigendem Maße. Zunächst
unter dem Einfluß der Soferim. Dann unter demjenigen der
Pharisäer. Die erst er en bemühten sich — prinzipiell — um Er-
haltung der Glaubens reinheit der Juden, wie wir sahen.
Ganz anders: die Pharisäer. Sie vertraten zunächst und vor allem
eine (ritualistische) Lehre: eine Konfession, nicht — wenigstens
nicht in erster Linie — eine Nationalität. Und mit der rücksichts-
losen Absonderung gegen die rituell Unreinen ging bei ihnen
Hand in Hand die leidenschaftlichste Arbeit an der Propaganda
der eigenen Gemeinschaft nach außen: die Proselytenmacherei :
»ihr Heuchler, die ihr über Land und Meer fahret, um einen
Proselyten zu machen!« ruft Jesus ihnen zu (Math. 23, 15). In
der Tat galt es gerade den eifrigsten Pharisäern als Gott wohl-
gefälhg, womöglich jedes Jahr einen Proselyten zu machen: die
jüdische Propaganda ging dem Schwerpunkt nach, ebenso wie die
altchristliche der nach apostolischen Zeit, durch freiwillige Privat^
28*
436
Nachtrag.
tätigkeit vor sich, nicht durch die amtlichen Autoritäten. Die
Stellung dieser letzteren und auch die Stellung der offiziellen
Literatur war wechselnd. Die alte Tradition des Gesetzes (Exodus
XII, 48) trug noch die Spuren der Zeit, wo die Jahwe-Religion
der Eidgenossenschaft durch den Eintritt von Nachbarstämmen
und von Sippen der »Ger«, der inmitten Israels wohnenden
Schutzverwandten: Metöken und Klienten in den Vollbürger-
verband, sich ausbreitete. Es war die Rechtsstellung der Metöken
geregelt und (a, a. O.) auch festgestellt, welche rituellen Befug-
nisse sie nur durch Beschneidung erwerben konnten. Die Pro-
phetie (Jesaja XIV, i) weissagte von den Fremdlingen, die zu
dem in seinem Landbesitz restituierten Israel kamen und dem
»Hause Jakobs anhängen« würden. Diese Stelle, in Verbindung
mit der Verheißung an Abraham und den zahlreichen Hinweisen,
welche das Kommen aller Völker der Erde zu Israel und zur Ver-
ehrung seines Gottes in Aussicht stellten, schienen die Propaganda
als gottwohlgefällig zu erweisen, ja vielleicht gerade als ein Mittel,
die Zeit für das Kommen des Messias vorzubereiten. Immer-
hin waren aber die Ansichten auch in der heiligen Literatur
geteilt. Die Ruth- und Jonaslegenden waren dem Proselytismus
entschieden günstig, eine so gewichtige Autorität wie Esra aber
abgeneigt: die von ihm vorgenommene gentilizische Gliisderung
sowohl der Priesterschaft wie der neukonstituierten Polis Jeru-
salem standen zum mindesten dem Eintritt Einzelner in den Ver-
band im Wege, und Esra legte für die erstrebte Absonderung des
heiligen Volkes auf die Blutsreinheit als solche entscheidendes
Gewicht. Das alles lag für das pharisäische Kleinbürgertum
durchaus anders und senkte bei seinen Repräsentanten, zumal
draußen in der Diaspora, die Wagschale wieder zugunsten der
Propaganda. Einen Heiden unter die »shekinah« (das »Haus
Gottes«) zu bringen, galt der Mehrzahl der Lehrer als unbedingt
verdienstlich. Bald so sehr, daß unter Benutzung des alten
Metökenbegriffs auch eine solche Propaganda als wertvoll galt,
welche von der Zumutung der alsbaldigen vollen Uebernahme
aller Ritualpflichten, vor allem der Beschneidung, durch die
Proselyten gegebenenfalls Abstand nahm und die vorläufige
Angliederung als bloße »Freunde«, Halb Juden betrieb. Denn die
Zumutung der Beschneidung war für die Propaganda unter er-
wachsenen Männern begreiflicherweise ein sehr ernstes Hindernis :
die Zahl der Frauen war auch deshalb unter den Voll-Proselyten
5^:
Die Pharisäer.
437
weit größer als die der Männer. Drei ^) Stufen der Angliederung
wurden unterschieden: i. der »Ger-ha-toshab«, der »Freund«,
der Halb-Konvertit, der den monotheistischen Gottesglauben
und die jüdische Ethik (des Dekalogs) annahm, das jüdische
Ritual aber nicht : sein rituelles Verhalten blieb ganz unkontrolliert
und er hatte formelle Beziehungen zur Gemeinde nicht; — 2. der
»ger-ha-sha'ar« (»Proselyt des Thors«), der Theorie nach der alte
Metöke unter jüdischer Gerichtsbarkeit: er legte vor drei Mit-
gliedern der Bruderschaft das Gelübde ab, keine Idole zu ver-
ehren, die 7 noachischen Gebote, der Sabbat, das Schweine-Tabu
und das rituelle Fasten sind für ihn verbindlich, nicht aber die
Beschneidung, sie sind Passivglieder der Gemeinde mit begrenzten
Rechten der Teilnahme an Festen und an den Feiern in der
Synagoge; — endlich 3. der ger-ha-zadek oder ger-ha-berit
(»Proselyt der Gerechtigkeit«), der nach Beschneidung und Ueber-
nahme der Ritualpflichten in die volle Gemeinschaft aufgenom-
men ist: seine Nachkommen werden danach erst in der dritten
Generation vollberechtigte Juden.
Die Erwartung bei dieser Praxis ging dahin, daß der ger-
ha-toshab und erst recht der ger-ha-sha'ar, mochte er selbst die
Beschneidung scheuen, doch sich entschließen werde, seine
Kinder beschneiden und also zu Voll- Juden werden zu lassen,
und sie trog gewiß in sehr vielen Fällen nicht. Denn jene Praxis
kam den Interessen der Umwelt, vor allem der Hellenen, sehr
entgegen. Was diese am Judentum anzog, war selbstverständlich
nicht sein Ritual: dies hätte, dem ganzen Charakter der hellenisti-
schen Religiosität entsprechend, nur dann der Fall sein können,
wenn es sakramentale oder magische Erlösungsmittel und Ver-
heißungen nach Art der Mysterien: irrationale Heilswege und
Heilszuständlichkeiten also dargeboten hätte, und gerade dies
war beim Judentum nicht der Fall. Sondern die Anziehungskraft
ging von der überaus groß und majestätisch wirkenden Gottes-
konzeption, der radikalen Beseitigung der als unwahrhaftig
empfundenen Götter- und Idol-Kulte, und vor allem von der als
rein und kraftvoll wirkenden jüdischen Ethik, daneben auch
von den schlichten und klaren Zukunftsverheißungen aus: von
rationalen Bestandteilen also. Elemente, welche daran: an der
Reinheit der Ethik und der Macht des Gottesbegriffs ihr reli-
giöses Genüge fanden, zog das Judentum an sich. Die feste
*) Nicht nur zwei.
438 Nachtrag.
Ordnung des Lebens rein als solche, wie sie das Ritual darbot,
war eine mächtige Anziehungskraft und mußte besonders stark
in Zeiten wirken, welche nach dem Zusammenbruch der national
hellenischen Staaten die überkommene feste militärische Ord-
nung des Lebens des Bürgers in der Polis und durch diese ver-
fallen sah. Das Zeitalter des intellektuellen Rationalismus, mit
seiner zunehmenden »bürgerlichen« Rationalisierung der helleni-
schen Religiosität, in den letzten Jahrhunderten der römischen
Republik vor allem, war auch die große Epoche des jüdischen Pro-
selytismus. Wer nach Eigenart oder Schicksal zu irrationaler,
mystischer Heilssuche disponiert war, wird ihm fern geblieben
sein, und das Zeitalter zunehmenden Suchens nach irrationalen
Heilszuständlichkeiten kam nicht ihm, sondern den Mysterien-
religionen und dem Christentum zugute. Das jüdische Voll-
ritual wird vermutlich für sich oder für seine Kinder am häufigsten
von Personen in den Schichten angenommen worden sein, welche
am Anschluß an die pharisäische Bruderschaftsorganisation
ein Interesse hatten: unter den Kleinbürgern, namentlich den
Handwerkern und Kleinhändlern; soviel sich erkennen läßt, war
dies in der Tat so. Obwohl der jüdische Glaube »religio licita«
war, ging der Voll- Konvertit doch nach römischem Amtsrechte
des »jus bonorum« verlustig und das jüdische Gesetz machte ihn
amtsunfähig, weil er nach ihm am Staatskult nicht teilnehmen
durfte. Die jüdische Diaspora ihrerseits aber hatte ein starkes
Interesse nicht nur an der Vermehrung ihrer Mitglieder, sondern
auch an der Gewinnung von »Freunden« außerhalb ihrer selbst
zumal in einflußreichen und amtsfähigen Kreisen; die Art der
Lösung des Problems war deshalb auch, von ihr aus gesehen,
durchaus zweckmäßig. Praktisch bedeutete sie ein Kompromiß
zwischen Konfessionalität und Gentilizität. Der Geborene und
seit drei Generationen korrekte Jude war in der Gemeinschaft
ständisch bevorrechtigt vor den Konvertiten und ihren Kindern
und Enkeln. Außerhalb der Gemeinschaft standen, etwa so wie
die »Laien« gegenüber den bhikkshu's in Indien, die nicht be-
schnittenen aber durch Gelübde verpflichteten Proselyten und
die bloßen »Freunde«. Bedingungslos verbindlich war das Ritual
für die geborenen Juden und die beschnittenen Konvertiten., teil-
weise für die durch Gelübde verpflichteten Proselyten, gar nicht
für die »Freunde«. Aber gelegentlich finden sich noch wesentlich
liberalere Ansichten. Es wurde geradezu bezweifelt, ob die für
Die Pharisäer.
439
das jüdische Volk angeordnete Beschneidung wirklich auch für
Nicht-Geburtsjuden unumgänglich zur Konversion sei und nicht
ein rituelles Reinigungsbad (also: Taufe) genüge. Mischehen
mit (unbeschnittenen) Proselyten scheinen durch rabbinische
Responsen gelegentlich legitimiert worden zu sein. Diese An-
sichten standen allerdings isoliert. Der praktisch herrschende
Zustand spricht sich deutlich in den Kämpfen aus, welche die
paulinische Mission in der alten Christengemeinde sowohl wie
im Judentum entfesselte. Die neutestamentlichen Erzählungen,
welche darin den Stempel voller Glaubwürdigkeit in den ent-
scheidenden Punkten tragen, zeigen, daß nicht etwa — wie
noch immer vielfach geglaubt wird — der Beginn der Mission
unter Heiden (und unbeschnittenen Proselyten) es war, was
Konflikt und Sturm hervorrief. Die Leiter der jerusalemitischen,
streng auf dem Boden des Rituals und des Tempelkults stehenden
Gemeinden hatten sich hier durchaus auf den Boden der Tatsachen
einerseits und der traditionellen Behandlung unbeschnittener
Proselyten andrerseits gestellt. Sie hatten eine Minimalethik
für diese aufgestellt und durch zwei Sendboten nach Antiochia
an die Missionsgemeinde geschickt ^) : sie sollen sich von Idolatrie,
Blut, Ersticktem und Hurerei fernhalten, dagegen sonst an das
Ritual nicht gebunden sein. Tun sie das, so sind sie, wie das
genannte Schriftstück sie nennt: »Brüder aus den Heiden«.
Das war auch vom pharisäischen Standpunkt aus durchaus unan-
stößig. Nun aber gelangte die Nachricht nach Jerusalem, daß
Paulus auch unter Volljuden missioniere und auch diese zum
Abfall von der Innehaltung des Rituals verleite. Darüber stellen
ihn, unter Bezugnahme auf jenen Brief, Jakobus und die Aeltesten
namens der Gemeinde in Jerusalem zur Rede 2) und verlangen,
daß er gegenüber diesem Verdacht die übliche Reinigungsprobe
im Tempel unter Zuziehung von 4 kraft Gelübdes Bußpflichtigen
vollziehe, der er sich auch fügt. Die zahlreich aus der Diaspora
anwesenden Juden aber, welche seiner im Tempel ansichtig werden,
suchen ihn zu lynchen, weil er i. gegen das Gesetz und den
Tempelkult agitiere, also Apostasie vom Gesetz (unter Juden!)
predige, und weil er 2. einen Unbeschnittenen (Trophimus) in den
Tempel gebracht habe (was Lukas bestreitet) ^) ; der darüber ent-
1) Act. 15, 23 ff.
2) Act. 21, 21 ff.
^) Act. 21, 28. 29. Nur die Stelle Act. 22, 21 nimmt scheinbar einen etwas
440 Nachtrag.
standene Aufruhr gibt Anlaß zu seiner Verhaftung. Die Mission
unter Heiden oder unbeschnittenen Proselyten wird ihm nicht
vorgeworfen, von Jakobus und den Aeltesten vielmehr ausdrück-
lich belobt ^). Fast ausnahmslos predigt Paulus in den Synagogen,
und es ist klar und oft hervorgehoben: daß die Masse der unbe-
schnittenen Proselyten es war, welche die Kerntruppen seiner
Missionsgemeinden bildeten. Das Judentum hat in ihnen der
christlichen Mission die Stätte bereitet. Für die christliche Mission
waren freilich mit dem Proselyten- Kompromiß der Jerusalemiter
die Schwierigkeiten auch rein äußörlich nicht erschöpft. Beide
Teile, die Jerusalemiter Aeltesten sowohl wie Paulus, lavierten
und taten unsichere Schritte. Die Frage der Kommensalität
mit unbeschnittenen Proselyten war zwischen Petrus und Paulus
in Antiochia scheinbar im Sinn der Bejahung erledigt, dann aber,
unter dem Einfluß des Jakobus war Petrus wieder zurückge-
wichen 2). Paulus seinerseits aber beschnitt, im Gegensatz zu
seinem Verhalten im Fall des Titus ^), den Timotheus *), um ihm
die Kommensalität kleinasiatischer Juden zu verschaffen. Die
Jerusalemiten sind erst Schritt für Schritt und nur teilweise,
Petrus offenbar nach dem Tode des Jakobus, auf den Standpunkt
des Paulus übergetreten. Die gesetzestreu gebliebene alte ebio-
nitische Gemeinde Palästinas dagegen behandelte Paulus als
Apostaten. Der, entscheidende Grund, welcher das Entgegen-
kommen der Führer der Jerusalemiten erzwang, war, wie die
Quellen ergaben ^), die Erfahrung: daß die Konvertiten aus dem
Heidentum vom Geist ebenso und mit den gleichen Erschei-
nungen befallen wurden, wie die jüdischen Christen. Deshalb
konnte ihnen, nach Ansicht des Petrus, bei dessen Predigt in
Cäsarea sich dies ereignete, die Taufe und Gleichstellung nicht
andern Standpunkt ein (Entrüstung der Menge darüber, daß er sich als Heiland
zu den Heiden gesendet bezeichnet), aber es ist offensichtlich, daß, wenn irgend-
eine Version, dann die Darstellung der Stellungnahme des Jakobus und die
Motivierung des Lynch Versuchs authentisch ist. Im übrigen konnten naturgemäß
die Juden auch über das Abspenstigmachen ihrer unbeschnittenen Proselyten
gewiß nicht erfreut sein. Aber ein Angriff auf das Gesetz war darin an sich nicht
zu finden.
^) Act. 21, 20.
2) Gal. II, II ff.
3) Gal. II, 3.
*) Act. 16, 3. Timotheos hatte freilich eine jüdische Mutter, während sein
Vater Grieche war: eod. v. i.
^) Act. 10, 45—47.
Die Pharisäer.
441
verweigert werden. Unabhängig vom historischen Wert der Ein-
zelheiten ist die Grundtatsache sicher richtig und beleuchtet
scharf die große Wandlung: im Judentum würde der prophe-
tische Geist durch Messung seiner Verkündigung am Gesetz
kontrolliert und darnach abgelehnt oder angenommen worden
sein. Für das alte Christentum waren der Geist und seine
Zeichen und Gaben ihrerseits Maßstäbe für den erforderlichen
Umfang der Bindung an das jüdische Ritual. Zugleich aber ist
wohl klar: daß dieser »Geist«, das Pneuma von wesentlich an-
derer Dynamik war als der ruach-ha-kodesch des korrekten
Judentums.
• Die Konkurrenz des Judentums und Christentums um die
Proselytenmission erhielt ihren Abschluß seit dem ersten und
endgültig dem zweiten Tempelsturz unter Hadrian, nachdem
besonders in dem letzten Kriege zahlreiche Proselyten an den
Juden Verrat geübt hatten. Niemals waren innerhalb der jü-
dischen Gemeinden Bedenken gegen das Proselytenmachen ganz
verstummt. Jetzt gewannen sie zunehmend die Oberhand.
Die Aufnahmebedingungen für Proselyten wurden geregelt
und die Annahme an die Zustimmung eines vollbesetzten Rab-
binenhofs gebunden. Die Ansicht tauchte auf, daß die Proselyten
»für Israel so lästig wie der Aussatz« seien. Die Zahl der Kon-
versionen nahm unter dem Druck der judenfeindlichen Stim-
mung ab. Die Kaiser schritten ein: da die Konversion amts-
unfähig machte, konnte sie nicht geduldet werden. Dio Cassius
berichtet von scharfen Gesetzen schon unter Domitian. Die Be-
schneidung von Nicht Juden wurde verboten und der Kastration
gleichgestellt. Nicht nur die Vollkonversion, sondern ebenso
und vielleicht noch mehr die Halbkonversion nahm schnell ab:
schon im 3. Jahrhundert scheinen die ger-toshab selten gewesen
zu sein und später galt die Annahme: ihre Existenz sei nur schrift-
gemäß gewesen, so lange Israel als Staat bestanden habe. Untef
den christlichen Kaisern wurde selbstverständlich die Propaganda
(398 n. Chr.) ebenso wie das Halten christlicher Sklaven, welches
diese der Versuchung, Proselyten zu machen, aussetzte, unbedingt
untersagt. Die Verbotsgesetze Domitians dürften sicherlich
der christlichen Propaganda zugute gekommen sein, die überall
das Erbe des Judentums antrat. Die sehr starke Verschärfung
der Beziehungen zwischen Judentum und Christentum, wie sie
schon die, je nach dem Alter, verschiedene Stellungnahme der
Max Weber, Religionssoziologie HI.
AA2 Nachtrag. Die Pharisäer.
Evangelien ^), vollends aber die spätere Literatur zeigt, ist zuerst
wesentlich von jüdischer Seite herbeigeführt worden. Die Juden,
als religio licita, benutzten die prekäre Lage der nicht durch die
ihnen gegebenen Privilegien gegen die Kaiserkultpflicht gedeckten
Christen, um durch Denunziationen die Staatsgewalt gegen sie
in Bewegung zu setzen. Sie galten daher den Christen als die
Urheber der Verfolgung. Die von beiden Seiten aufgerichtete
Schranke wurde nun unübersteiglich : die Zahl der jüdischen
Konvertiten zum Christentum ist sehr schnell gesunken und war
praktisch etwa seit dem 4. Jahrhundert gleich Null, vor allem
innerhalb der breiten Schichten des Kleinbürgertums, schon ehe
die Finanzinteressen der Fürsten im Mittelalter diesen die Kon-
servierung der Juden wünschenswert erscheinen ließ. Das Ziel
der Judenbekehrung ist vom Christentum sehr oft, in aller Regel
aber nur mit dem Munde verkündet worden, und jedenfalls blieben
die Versuche der Mission ebenso wie die Zwangsbekehrungen zu
allen Zeiten und überall gleich erfolglos. Die Verheißungen der
Propheten, Abscheu und Verachtung gegen die christliche Viel-
götterei, vor allem aber die, durch eine beispiellos intensive Er-
ziehung der Jugend in einer rituell ganz fest geordneten Lebens-
führung geschaffene, überaus feste, Tradition und die Macht
der fest geordneten sozialen Gemeinschaften, der Familie und
der Gemeinde, die der Apostat verlor, ohne gleichwertigen und
sicheren Anschluß an die Christengemeinden in Aussicht zu
haben, dies alles ließ und läßt die jüdische Gemeinschaft in
ihrer selbstgewählten Lage als Pariavolk verharren, solange und
soweit der Geist des jüdischen Gesetzes, und das heißt: der Geist
der Pharisäer und spätantiken Rabbinen ungebrochen weiter-
bestand und weiterbesteht
^) Namentlich im Johannes-Evangelium. Nicht nur sind dort die »Schrift-
gelehrten« und »Pharisäer« als Gegner von Jesus sehr oft durch die »Juden«
schlechthin ersetzt, sondern vor allem ist das Maß, in welchem die Juden ihn ver-
folgen, aufs Aeu Berste gegenüber den andern Evangelien gesteigert: sie trachten
ihm bei Johannes fast unausgesetzt nach dem Leben, was bei den Synoptikern
nicht in gleichem Maß der Fall ist. (Schon bei Lukas sind in mehreren Fällen,
z. B. VIII, 7, XI, 15, die »Pharisäer« als die Gegner von Johannes und Jesus
durch »das Volk« oder »Etliche« ersetzt.)
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